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Historisclie ZeitsicMt
Begrfiadet voa HEINRICH v. SYBEL
Unter Mitwirkung von
Paul Bailleu, Otto Hintze, Oho Krauske,
Max Lenz, Sigm. Riezler, Moriz Ritter, Konrad Varrentrapp,
Karl Zeumer
herausgegeben von
FRIEDRICH MBINBCKB
Der ganzen Reihe lOl. Band
Dritte Folge — 5. Band
MÜNCHEN UND BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG
1906.
INHALT.
Aufeätze.- 3^„
Richard Löwenheri im Heiligen Lande. Von Alezander Gartellieri . . . 1
Die Anfinge der veneiianiachen Oaleerenfahrten nach der Nordsee. Von
AdoU Schaabe 28
Ober GIsterecht und Gattgerichte in den deutschen Stldten des Mittelalters.
Von Alfred Schultse 473
Die Missionspllne des Ignatius von Loyola nnd die Gründung des Jesuiten-
kollegs in Messina im Jahre 1548. Von Friedrich Meyer 237
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. Von Moris Ritter 253
Ober die Ursachen der Fransösischen Revolution. Von Adalbert Wahl . . 283
Die Geschichtschreibung des Vatilcanischen Konzils. Von Carl Mirbt. . . 529
Louis Erhardt. Von Friedrich Mein eclce 90
Miszellen.
Zur Geschichte des karollnglschen Kriegswesens. Von W. Erben 321
Zur Gcachi^te Belgiens im Mittelalter. Von F. Keutgen 601
Die Denkschrift des Gnfen von Finckenstein .Über die Freiheiten der Ritter-
schaft« (1811). VeröHentlicht von Friedrich Meusel 337
Zu Johannes Ronge. Von Hermann Oncken 100
Lriteraturbericht.
Seite
Ibissenprobiem 612
Makedonen 615
Rom 104. 360 ff .
Christentum 356
Deutsche Geschichte 361 ff.
Mittelalter:
Quellen 113. 623
Politische Geschichte 107. 114. 369. 618
Wirtschafts- und Rechtsge-
schichte . . 115. 119. 378 f. 621 IL
Reisen 118
16. Jahrhundert:
Reformation und Gegenreforma-
tion 120 «. 380
Guicciardini 624
Seite
17. und 18. Jahrhundert:
Zeit Ludwigs XIV 382
Zeit Friedrichs des Großen 127 ff. 384 ff.
Preußische Heerführer .... 627
Zeitalter Napoleons 133 ff.
19. Jahrhundert:
Preußen 392 ff.
Österreich 629
Saint-Simon 142
Deutsche Landschaften:
Baden 144
Straßburg 396
Pfalz 400
Frankfurt 145. 632
195494
IV
Inhalt.
Seite
Westfalen 148
Mühlhausen in Thüringen ... 149
Sachsen 403
Meclclenburg 404
Hanse 150
Österreich :
Historischer Atlas 153
19. Jahrhundert 629
Schweiz :
Politische Geschichte (16. Jahrh.) 159
Kirchengeschichte . . . 157. 161. 405
Niederlande (1692-1715) 164
Frankreicti :
Mittelalter 165 ff .
Seite
16. Jahrhundert 407
18. Jahrhundert 410 ff .
Italien:
Mittelalter 415
16. Jahrhundert 418
18. Jahrhui\dert 124
England:
Mittelalter 171
Thomas Cromwell 421
O. Cromwell 177
Maitiand 419
Ruthenen 180
Mohammed 182
Alphabetisches Verzeichnis der besprochenen
Schriften.
(Enthält auch die in den Aufsätzen und den Notizen und Nachrichten besprochenen
selbständigen Schriften.)
Seite
Annaies Marbacenses ed. Bloch. 198
A r b u s o Wy Grundriß der Geschichte
von Liv-, Est- und Kurland . . 691
Arnold, Das eheliche Güterrecht
von MUlhausen im Elsaß am Aus-
gang des Mittelalters 225
Aus dem geistigen Leben und Schaf-
fen in Westfalen 148
Baltische Bürgerlcunde 692
Bärge, Andreas Bodenstein von
Karlstadt. Bd. 2 206
Barlchausen, Francesco Guicciar-
dinis politische Theorien in sei-
nen Opere inedite 624
Barth, Hildebert von Lavardin
und das IcirchÜctie Stellenbeset-
zungsrecht 648
Baumgartner, Geschichte und
Recht des Arctiidiakonates der
oberrheinischen Bistümer mit
Einschluß von Mainz und Würz-
burg 649
Beclcer, Der Dresdner Friede und
die Politik Brühls 385
Begemann, Die Haager Loge von
1637 und der Kölner Brief von
1535 211
Beschorner, Geschichte der säch-
sischen Kartographie im Grund-
riß 403
Beß s. Unsere religiösen Erzieher.
Bibliothek wertvoller Memoiren.
Bd. 1-6 185
Bindschedler, Kirchliches Asyi-
recht und Freistätten in der
Schweiz 157
Binz 8. Handschriften.
Seite
Bitterauf, Napoleon 1 678
B 1 a n c h e t , Les Enceintes Romaines
de la Gaule 354
Böhmer, Regesta imperii 1,2. AufL
1, 3 besorgt von J. Lechner . . 195
Bondois, La translation dessaints
MarceUin et Pierre 113
Bot he. Die Entwicklung der direk-
ten Besteuerung in der Reichs-
stadt Frankfurt bis zur Revolution
1612-1614 145
B o t h e , Frankfurter Patrizierver-
mögen im 16. Jahrhundert ... 632
Brabant, Das Heilige Römische
Reich teutscher Nation im Kampf
mit Friedrich dem Großen . . 127
Brandl s. Klein.
Brettiolz, Das mährische Landes-
archiv, seine Geschichte, seine
Bestände 690
Brunner, Politische Bewegungen
in Nürnberg 1848/49 460
Capasso, II govemo di Don Fer-
rante Gonzaga in Sicilia dal 1535
al 1543 .418
Gartellieri, Philipp II. August,
König von Frankreich. Bd. 2 . 167
Clausing, Der Streit um die Kar-
tause vor Straßburgs Toren 1587
bis 1602 398
Giemen, Alexius Chrosner, Herzog
Georgs von Sachsen evangeli-
scher Hofprediger 444
Couiin, Der gerichtliche Zwei-
kampf im altfranzösischen Pro-
zeß. I 165
Inbiau
Seite
Gourteaut, BUite de Monluc Hi-
storien 407
Creutzberg, Kmrl von Miltitx. . 120
D a e n e II , Geschichte der Vereinig-
ten Staaten von Amerika ... 222
Delbrück, Geschichte der Kriegs-
kunst. III ...'..... 321
Denkschrift zur Hundertjahrfeier
der SUdt Mühlheim a. d. Ruhr . 688
Dormann, Die Stellung des Bis-
tums Freising im Kampfe zwi-
schen Ludwig dem Bayern und
der römischen Kurie .... 6&3
D o 1 1 i n , Manuel pour servir k l'tftude
de TAntiquittf CelUque .... 430
Dfirrwaechter, Wege und Ziele
des Historischen Vereins Bam-
berg 225
Durand, Die Memoiren des Mar-
quis d'Argenson 670
V. Eberhardt, Aus Preußens
schwerer Zeit 458
Eccardus, Geschichte des niede-
ren Volkes in Deutschland. . . 368
Esser, Geschichte der Cluniazen-
serklöster in der WestsciNreic
bis zum Auftreten der Gister-
zlenser 405
Erzieher des preußischen Heeres.
Herausgegeben von v. Pelet-
Narbonne 627
Escher- Ziegler, Eine schweize-
rische Garnison zur Beschützung
der Neutralität der ReichssUdt
Straßburg 224
d 'Est er, Zeitungswesen in West-
falen 215
Festschrift zur 49. Versammlung
Deutscher Philologen und Schul-
mlnner in Basel im Jahre 1907 . 190
Fieger, P. Don Ferdinand Ster-
zinger 672
Fineisen, Die Akzise in der Kur-
pfalz 685
Fi not. Das Rassenvorurteil ... 612
Fischer, Der hl. Franziskus von
Assisi während der Jahre 1219
bis 1221 199
Flamm, Der wirtschaftliche Nie-
dergang Freiburgs i. Br. und die
Lage des städtischen Grundeigen-
tums im 14. und 15. Jahrhundert 684
Folz, Kaiser Friedrich II. und Papst
Innozenz IV 371
Fresset, Das Ministerialenrecbt
der Grafen von Tecklenburg . . 467
Fr icke, Memoiren und Lebens-
schicksale des Grafen Tourville . 452
F r i c k e , Untersuchungen zur älteren
holsteinischen Geschichte ... 197
„ . . . Ä Seite
Fried jung. Osterreich von 1848
bis 1860. l.Bd : Die Jahre der Re-
volution und der Reform 1848—51 629
Friedrich, Studien zur Vorge-
schichte der Tage von Kanossa . 435
Fr ii 8, Bemstorffsche Papiere. Bd. 2 673
Führer durch Berlin und seine
wissenschaftlichen Institute . . 695
FUß lein, Anfänge des Herren-
meistertums in der Ballel Bran-
denburg 438
Fustel de Coulange, Der antike
Staat 191
Gagliardi, Novara und Dijon . . 159
Gardiner, Oliver Cromwell. . . 177
O fröre r, Straßburger Kapitelstreit
und Bischöflicher Krieg im Spiegel
der elsäss. Flugschriftenliteratur 398
Glaser, Montesquieus Theorie vom
Ursprung des Rechts 670
Golowkihe, La cour et la rigne
de Paul I" 676
Gottlob, Ablaßentwicklung und
Ablaßinhalt im 11. Jahrhundert . 196
Grabowsky, Recht und Staat. Ein
Versuch zur allgemeinen Rechts-
und Staatslehre . 637
Oranderath, Geschichte des Vati-
kanischen Konzils 533
Greving, Johann Ecks Pfarrbuch
für U. L. Frau in Ingolstadt . . 380
Grundriß der Geschichtswissenschaft
zur Einführung in das Studium
der deutschen Geschichte des
Mittelalters und der Neuzeit.
Herausgegeben von A. Meister.
I, 1 und 2 -361
Guggenberger, Die Legation des
Kardinals Pileus in Deutschland.
1378-1382 114
Guillaume, Proc^s-verbaux du
Comittf d'instruction publique
de la Convention nationale. VI . 675
Hagedorn, Ostfrieslands Handel
und Schiffahrt im 16. Jahrhundert 688
Halphen, Le comt^ d'Anjou au
XI« si^cle 648
Die Handschriften der öffentlichen
Bibliothek der Universität Basel. I.
Die deutschen Handschriften der
öffentlichen Bibliothek der Uni-
versität Basel. I. Bd. Beschrie-
ben von Binz 637
Harnack s. Klein.
Hauck, Kupprecht der Kavalier,
Pfalzgraf bei Rhein (1619—1682) 668
H a u s e r , Les compagnonnages d'arts
et mdtiers ä Dijon aux 17* et
18« sidcle 671
Held mann. Die Rolandsbilder
Deutschlands in dreihundert-
n
jihtifcr PBnrhMf wmd aatdk dem.
QmfOlem ttl
Heldaaaa, RoindMpidBffwca,
KidMerbUder oder Kteiffibadcr? «21
Herakes, Die ScUaeht bei Crc-
feld ri73«> 214
H^ffaaaa, Die Miircdof, ihre
Spradie «üd ihr Volkstoa . . «15
H^llvec. Dr, Georg HeMcr . . iM
Hoppe, Ewtbmchoi Wichanon voa
Macdcborc 4»
Hralevflkyj.GescUdttedesakrü-
■leciMi (rätbeattchen) Volkes.
1. Bd. Ui
fflflfaer. Des RecbtsimtitBt der
kUMerlicben Ezemtioa .... 4»
Isstea, Die AnOnfe der Fngfer
(bis I4*e ^79
iraa Kalkes, La fia da r^fime es-
pagnol aaz Pajs-Bas IM
Kleis, Weadlaad, Braadl «ad
Haraack^UalTersititaMlSciMle 1»
Klette. Die Christenkalastropbe
anter Nero M3
K B i e b , Gctchicbte der katbollscbea
Kirche io der freiea Reichsstadt
MOhihaasea i. Thflr 149
Kaorr, Die verzierten Terra-Sigll-
latsffefifle ron RottveU .... 193
La Mantla. Capitoli Anfiofaii sal
diritto di sifillo della cancelleria
regia per la Sicilia posteriori al
1272 453
Lampe, Die Sciilaclit bei Maaper-
tois 6S4
Lechner s. Böhmer.
Lefeuvre, Les communs en Bre-
tagne k la fin de fanden r^ime
(1647-1789) 671
Le Olay, Theodore de Neuhoff, Roi
de Corte 124
Le Monnier, Les stigmates de
Saint Fran^ois 199
L i e r m a n n , Das Ly ceum Carolinum.
Ein Beitrag zur Geschichte des
Bildungswesens im Großherzog-
tum Frankfurt 679
Der römische Limes in Österreich.
Heft 7 u 8 104
L Ö h n e r t , Personal- und Amtsdaten
der Trierer Erzbischöfe des 10. bis
15. Jahrhunderts 434
Loserth, Bericht über die Ergeb-
nisse einer Studienreise in die
Archive von Linz und Steyregg . 449
Lossen, Staat und Kirche in der
Pfalz im Ausgang des Mittelalters 400
Luchaire, Documenti per ia storia
dei rivolgimenti politici dei co-
mune di Siena dal 1354 al 1369 . 415
Seite
Lagiabibl a QmeOtm.
de Magistris.
CofTSi fra b repaböGca Te
ePaoio V
Maalock, Fri
KovreapoBdeBz mit Arxtea . . . U2
llarr^. Die Eorvieklang der Lan-
dcabobeit aa der Grafscbaft Mark
bis Mmm Ende des IX jahrfam-
deits 2Z7
▼oa der Marvitz. Vom Leben
mm preaüicbca Hofe ISIS- 1852 395
Mayer, Die I Biiaag der deatacbca
Frage im Jahre 1814 bmI die
Ott utHLht Arbeitubeacgujig 461
Mecklenburgisches
22. Bd
Meister s. Gmndriü.
Meltziag, Das
Medici BMl seioe Vorliofer . . 203
Merriman. Life and lecters of
Tboatts Cromsren 421
Mensel, Friedrich Aagnst Lodwig
von der Marwitz 192
Ed. Meyer, Ägypten zur Zeit der
Pjraaiideiierbaner. (Seadschril-
ten der Dentscben Orient-Gcsell-
scfaaft. Nr. 5) 439
Meynier, Un Repräsentant de la
Bourgeoisie Angevine k r Assem-
bl^ Nationale Constitnante et k
la Convention Nationale . . . 412
Mitteilungen des Russischen Archio-
logischen Instituts zu Konstanti-
nopel XII 644
V. Möller, Aymar du Rivail, der
erste Rechtshutoriker .... 659
Mollat, Stades et docnments sur
lliistoire de Bretagne, XIII.-XVI.
siicles 205
Monod, Essai sur les rapports de
Pascal II avec Philippe I«. . . 166
Monumenta Germaniae, Constitu-
tiones III und IV ed. Schwelm 651
Moräne, Paul !•* de Russie avant
ravtoement 1754—17% .... 676
Muckle, Saint-Simon und die öko-
nomische Geschichtstheorie . . 142
Ed. Müller, F. K. v. Savigny . . 219
Fr. Müller, Karl Friedrich v Car-
dell, ein Demminer als Königl.
Schwedischer Generalfeldzeng-
meister 680
Müller, Zur Beurteilung der Per-
sönlichkeiten im Feldzuge von 1815 457
Mulder, Dietrich von Nieheim.
Zijne opvatting van het concilie
en zijne kronick 623
Nazelle, Le protestantisme en
Saintonge sous le regime de la
r^vocation 1685-1789 669
Historiscbe Zeitschrift
Beiladet voa HEINRICH v. SYBEL
Unter Mitwirkung von
Paul Bailleu, Otto Hintze, Oho Krauske,
Max Lenz, Sigm« Riezler, Moriz Ritter, Konrad Varrentrapp,
Karl Zeumer
herausgegeben von
FRIEDRICH MBINBCKB
Der ganzen Reihe 101. Band
Dritte Folge — 5. Band
MÜNCHEN UND BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG
1906.
VIII
lobAlt.
Seite
Untere religlOien Erxieher. Hermut-
fegeben von Befi 356
Vancsa, Geichicbte Nieder- und
OberAtterreichs. 1 691
de! Vecchio, Su Im Teoria dei
Gontratto Sociale 410
Veil, Dat Schalfest des Straßbur-
ger Gymnasiums im 18. Jahr-
hundert 684
Vogel. Die Normannen und das
Frinlclsche Reich bis aur GrOn-
dung der Normandie 107
Voll, Die Erinnerungen der Prin-
sessin Wilhelmlne von Oranlen
an den Hof Friedrichs d Gr. (1751
bis 17o7) 384
WardfProthero, Stanley Lea-
thesy The Cambridge Modem
History. Vol. V: The age of
Louis XIV 382
— , The Cambridge Modem History.
DC: Napoleon 133
Wendland s. Klein.
Seite
Widmann, Weltgeschichte. Bd. 3
u. 4 634
Wiegand, Das politische TesU-
ment Friedrichs d. Gr. vom Jahre
1752 452
W i m m e r » Deutsches Pflanrenleben
nach Albertus Magnus .... 198
W in iara, Erbleihe und RentenlEanf
in Österreich ob und unter der
Enns im Mittelalter 230
Wolf, Aus KurlLOln im 16. Jahr-
hundert 123
V Wretschico, Zur Frage der Be-
setaung des erzbiscböflichen
Stuhles in Salzburg im Mittel-
alter 649
Zelle, Die Hundert Tage, von Elba
bis Helena 141
Ziegler, Die PoUtik der SUdt
Strafiburg im Bischöflichen Kriege
1592-93 398
Ziekursch, Sachsen und Preußen
um die Mitte des 18. Jahrhun-
derts 385
Notizen und Nachrichten. g^j^^
Allgemeines 184. 424. 633
Alte Geschichte 188. 427. 639
Römisch-germanische Zeit und frUhes MitteUiter bis 1250 ... . 192. 431. 645
Spiteres MitteUiter (1260-1500) 200. 437. 651
Reformation und Gegenreformation (1500—1648) 206. 442. 659
16«— 1789 212. 451. 668
Neuere Geschichte seit 1789 216. 454. 674
Deutsche Landschaften 224. 464. 681
Vermischtes 233. 470. 693
Berichtigung 700
Historiscbe Zeitschrift
Begrfladet von HEINRICH v. SYBEL
Unter Mitwirkung von
Paul Bailleu, Otto Hintze, Otto Krauske,
Max Lenz, Sigm. Riezler, Moriz Ritter, Konrad Varrentrapp,
Karl Zeumer
herausgegeben von
FRIEDRICH MBINBCKB
Dritte Folge — 5. Band — 1. Heft
Der ganzen Reihe 101. Band
MÜNCHEN UND BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG
1908.
Zur gefl. Beachtung!
Die HISTORISCHE ZEITSCHRIFT (3. Folge) erscheint in Heften von ä 15 Bogen
Umfang In iweimonatlichen Zwischenräumen. Je 3 Hefte bilden einen Band, dessen
Inhaltsverzeichnis sich jeweils am Schlüsse des dritten Heftes befindet.
Der Preis eines Bandes (45 Bogen) beträgt M. 14.—.
Sendungen für die RedaktiOD der Historischen Zeitschrift sind an Prof. Dr.
MEINECKE, FREIBURO 1. B., Längenhardstraße 3, zu richten.
Rezensioasexemplare
sind entweder direkt an die Redalction oder an die Verlagsbuchhandlung
R. OLDENBOURO, MÜNCHEN, OlUckstraße 8, zu senden.
Die Versendung der zur Besprechung einlaufenden Bücher an die Rezensenten.
erfolgt durch die REDAKTION.
INHALT.
Aufsätze. Seite
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. Von Alexander Garteilieri . . . 1
Die Anfinge der venezianischen Oaleerenlahrten nach der Nordsee. Von
Adolf Schaube 28
Louis Erhardt. Von Friedrich Meinecice 90
MiszeUen.
Zu Johannes Ronge. Von Hermann Oncken 100
Literaturbericht
Seite
Römisch-germaxiische Zeit.
Der römische Limes in Österreich.
Heft 7 u. 8 104
Mittelalter.
Vogel, Die Normannen und das
Fränkische Reich bis zur Grün-
dung der Normandie 107
Bondois, La translation dessaints
Marcellin et Pierre 113
Ouggenberger, Die Legation des
Kardinals Pileus in Deutschland.
1378-1382 114
Süß mann. Die Judenschuldentil-
> gungen unter König Wenzel . . 115
Newett, Canon Pietro Gasola's
Pilgrimage to Jerusalem in the
year 1494 118
Rudorff, Zur Rechtsstellung der
Gäste im mittelalterlichen städti-
schen Prozeß 119
i6. Jahrhundert.
Creutzberg, Karl von Miitits. . 120
Wolf, Aus Kurköln im 16. Jahr-
hundert 123
i8. Jahrhundert.
le G lay, Theodore de Neuhoff, Roi
de Corse 124
Brabant, Das Heilige Römische
Reich tentscher Nation im Kampf
mit Friedrich dem Großen . . 127
Seite
132
Mamlock, Friedrichs des Großen
Korrespondenz mit Ärzten . . .
Napoleonische Zeit.
Ward u. a , The Cambridge Modern
History. IX: Napoleon .... 133
▼. Taysen, Wanderungen auf dem
Jenaer Schlachtfelde 139
Schottmflller, Der Polenaufstand
1806A)7 140
Zelle, Die Hundert Tage, von Elba
bis Helena 141
19. Jahrhundert.
Muckle, Saint-Simon und die öko-
nomische Geschichtstheorie
142
Deutsche Landschaften.
Roller, Die Einwohnerschaft der
Stadt Durlach im 18. Jahrhundert 144
Bot he. Die Entwicklung der direk-
ten Besteuerung in der Reichs-
stadt Frankfurt bis zur Revolution
1612-1614 145
Aus dem geistigen Leben und Schaf-
fen in Westfalen 148
K n i e b , Geschichte der katholischen
Kirche in der freien Reichsstadt
Mtthlhausen 1. ThUr 149
Stein, Hansisches Urkundenbuch.
10. Bd 150
Österreich.
Richter, Historischer Atlas der
österreichischen Alpenländer. 1 . 153
IV
Inhalt.
Schweiz.
Seite
Bindschedler, Kirchliches Asyl-
recht und Freistätten in der
Schweiz 157
Gagliardiy Novara und Dijon . . 159
Steffens und Reinhardt, Nun-
tiaturberichte aus der Schweiz
seit dem Konzil von Trient. 1, 1 161
Niederlande,
van Kalken, La f in du regime es-
pagnol aux Pays-Bas 164
Frankreich.
Coulin, Der gerichtliche Zwei-
kampf im altfranzösischen Pro-
zeß. I 165
Seite
Monod, Essai sur les rapports de
Pascal 11 avec Philippe l*' . . . 166
Cartellieri, Philipp II. August.
König von Frankreich. Bd. 2 . 167
England.
Oman, The Great Revolt of 1381 . 171
Gardiner, Oliver Cromwell. . . 177
Osteuropa.
HruSevskyj, Geschichte des ukrai-
nischen (ruthenischen) Volkes.
1. Bd 180
Orient.
Reckendorf, Mohammed und die
Seinen 182
Verzeichnis der in den „Notizen und Nachrichten"
besprochenen selbständigen Schriften.
Seite
Bibliothek wertvoller Memoiren.
Bd. 1-6 185
Klein, Wendland, Brandl und
H a r n a c k , Universität und Schule 185
Festschrift zur 49. Versammlung
Deutscher Philologen und Schul-
männer in Basel im Jahre 1907 . 190
Fustel de Coulange, Der antike
SUat 191
Knorr, Die verzierten Terra-Sigil-
latagefäße von Rottweil .... 193
Böhmer, Regesta imperii 1, 2. Aufl.
1, 3 besorgt von J. Lechner . . 195
Gottlob, Ablaßentwicklung und
AblaOinhalt im 11. Jahrhundert . 196
S c h i 1 1 m a n n , Beiträge zum Urkun-
denwesen der älteren Bischöfe
vo.i Cammin (1158—1343) ... 197
F r i c k e , Untersuchungen zur älteren
holsteinischen Geschichte . . . 197
Annales Marbacenses ed. Bloch. 198
W i m m e r , Deutsches Pflanzenleben
nach Albertus Magnus .... 198
Fischer, Der hl. Franziskus von
Assisi während der Jahre 1219
bis 1221 199
Le Monnier, Les stigmates de
Saint Fran9ois 199
Meltzing, Das Bankhaus der
.Medici und seine Vorläufer . . 203
Mollat, £tudes et documents sur
rhistoire de Bretagne, XIII.-XVI.
siöcles 205
Seite
Bärge, Andreas Bodenstein von
Karlstadt. Bd. 2 206
Begemann, Die Haager Loge von
1637 und der Kölner Brief von
1535 211
Hermkes, Die Schlacht bei Cre-
feld (1758) 214
d 'Ester, Zeitungswesen in West-
falen 215
Noack, Deutsches Leben in Rom,
1700—1900 218
Ed. Müller, F. K. v. Savigny . . 219
Daenell, Geschichte der Vereinig-
ten Staaten von Amerika . . . 222
Escher-Ziegler, Eine schweize-
rische Garnison zur BeschUtzung
der Neutralität der Reichsstadt
Straßburg 224
Arnold. Das eheliche Güterrecht
von MUlhausen im Elsaß am Aus-
gang des Mittelalters . . . . . 225
DUrrwaechter, Wege und Ziele
des Historischen Vereins Bam-
berg 225
Marr^, Die Entwicklung der Lan-
deshoheit in der Grafschaft Mark
bis zum Ende des 13. Jahrhun-
derts 227
Win^arz, Erbleihe und Rentenkauf
in Österreich ob und unter der
Enns im Mittelalter 230
l?n* A^m% RM/4iKl«tflAr« Die ersten 4 Seiten der einzelnen Hefte, Titel und In-
rur aen DUaiomaer. haltsverzeichnis, kommen beim Binden eines Bandes,
der sich aus 3 Heften zusammensetzt, in FortfalL Titel und Inhaltsverzeichnis für
einen Band befinden sich jeweils am Schlüsse des 3. Heftes.
Richard Löwenherz im Heiligen Lande.')
Von
Alexander Cartellieri.
Als Friedrich Schiller seine universalhistorische Ober-
sicht über die Kreuzzüge schrieb, da hielt er es für nötig,
sich wegen der Wahl des Stoffes zu entschuldigen. Er
begründete, daß auch diese Bewegungen, bei deren Schilde-
rung er von Torheit, Raserei, Gewalttätigkeit sprach, eine
notwendige Entwicklungsstufe auf der Bahn der Auf-
klärung gewesen seien. Durch Nachdenken über Ge-
schichte belehrt, sind wir heute zurückhaltender im Urteil
geworden. Wir versuchen, ein Gebilde der Vergangen-
heit rein aus sich selbst zu würdigen und unser Wert-
urteil aus der Zeit für die Zeit zu entnehmen. So möchte
ich es auch halten mit der Persönlichkeit, die zu ver-
gegenwärtigen ich heute die Ehre habe. Richard Löwen-
herz im Heiligen Lande soll auf Grund zuverlässiger zeit-
genössischer Mitteilungen, unter strenger Abweisung alles
sagenhaften Beiwerks, vor uns erstehen.
Die Stimmung der Gegenwart ist meinem Vorhaben
allerdings nicht günstig. Alle Kulturperioden liegen
uns zurzeit näher als die ritterliche. Neben dem farben-
prächtigen Qemälde, das Meister der Geschichtswissen-
*) Die Belege, auf denen dieser Vortrag beruht, linden sich
entweder in meinem „Philipp August* oder werden später gegeben
werden.
Historische Zeitschrift (101. Bd.) S. Folge 5. Bd. 1
2 Alexander Cartellieri,
Schaft von der italienischen Renaissance entworfen haben,
versinkt die Barbarei des sog. Mittelalters in tiefes Dunkel.
„Was sind uns,^ so schrieb kürzlich ein Schriftsteller in
einer weitverbreiteten Tageszeitung, „heute die staufischen
Kaiser?" Diese Mißachtung wäre scharf zu rügen, wenn
sie nicht großenteils auf mangelnder Kenntnis beruhte.
Es ist heute nicht leicht möglich, sich eine anschauliche
Vorstellung zu machen von den Jahrhunderten, in denen
Rittertum und Priestertum die Führung auf allen Gebieten
hatten. Um so reizvoller ist aber auch der Versuch, in
weniger Bekanntes einzudringen. Denken und Fühlen von
Menschen zu erschließen, die uns so unendlich fern
stehen oder zu stehen scheinen. Die Geschichte der
Kreuzzüge ist dazu besonders geeignet. In ihnen gehen
die beiden Betätigungen des Zeitgeistes, die wir nannten,
Rittertum und Priestertum, eine innige Verbindung ein,
und Richard Löwenherz ist ein glänzender Vertreter dieser
Verbindung.
Einen Irrtum müssen wir von vornherein vermeiden,
wollen wir nicht von Richard ein ganz schiefes Bild be-
kommen: wir dürfen ihn nie und nimmermehr für einen
Engländer halten, wenn er auch König von England war
und wir mangels einer besseren zusammenfassenden
Benennung den Ausdruck „englisch" gar nicht entbehren
können. Richard war durch und durch Franzose, ein
Angiovine durch seinen Vater, ein Poitevine durch seine
Mutter, ein Normanne durch seine Großmutter. England
liebte er nicht und hielt sich nur selten dort auf, war
zufrieden, wenn es ihm Geld und Söldner lieferte.
Einer seiner Begleiter auf dem Kreuzzuge, der ihm
auch den Beinamen „Löwenherz" gegeben hat, schildert
ihn folgendermaßen: „Der König war groß von Gestalt,
von elegantem Äußern; das Haupthaar hielt die Mitte
zwischen rot und gelb, die Glieder waren geschmeidig.
Arme und Beine lang. Benehmen und Haltung würdig
und echt königlich. Niemand war geschickter als er,
das Schwert aus der Scheide zu ziehen und einen Hieb
zu führen." Dem Vater, jenem vorsichtigen, gern zu-
wartenden Heinrich IL, war er in allem unähnlich. Das
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 3
Erbteil der Mutter, der schönen Eleonore von Aquitanien,
die man die hervorragendste Frau der Zeit nennen darf,
war die helle Freude am heiteren Lebensgenuß, wie er
im Süden Frankreichs üblich war, am Gesang der Spiel-
leute und feiner ritterlicher Sitte. In merkwürdiger Weise
verband er damit die ganze ungefüge Kraft, wilde Kampf-
lust und heiße Begierde nach rotem Golde seiner nor-
mannischen Vorfahren, so daß man ihn wohl mit den
alten Wikingern vergleichen darf. Die ungezügelten Triebe
seiner Brust waren durch die unseligen Zwistigkeiten
im Schöße seiner Familie, die uns an die fluchbeladenen
Geschlechter der griechischen Tragödie erinnern, erst
recht entfacht worden.
Herzog Richard von Aquitanien zählte dreißig Jahre,
als der große Sultan Saladin das durch innere Parteiungen,
Weiberregiment und Raubrittertum geschwächte Reich
Jerusalem über den Haufen warf. Nicht anders als 1806
nach der Schlacht bei Jena, so öffneten 1187 nach der
Niederlage bei Hattin alle Festungen in kopflosem Ent-
setzen dem Sieger ihre Tore. Das Heilige Land schien
völlig verloren, wenn nicht der tapfere und vielgewandte
Markgraf Konrad von Montferrat Tyrus behauptet hätte.
Im ganzen Abendlande erregte die Schreckenskunde
bitteren Schmerz und leidenschaftliche Rachegedanken.
Die Sache lag für die damalige Weltanschauung so un-
endlich einfach. Das Land, wo Christus für alle gelitten
hat, ist von den Feinden, den canes immundi, erobert
worden. Darum muß jeder Christ seine Waffen umgürten
und zur Wiedergewinnung des Verlorenen ausziehen.
Wer zu Hause bleibt, ist ein Feigling. Im Banne solcher
Auffassung stand auch Richard. Kaum hatte er die
Hiobspost vernommen, als er vor allen anderen, der erste
unter den größeren Fürsten, sich das Kreuz anheften ließ
und auf die Ausführung seines Gelübdes das heilige
Abendmahl nahm. Das hinderte ihn nicht, in dem neu aus-
brechenden Kampfe der Engländer und der Franzosen,
die sämtlich das Kreuz genommen hatten und doch die
weltlichen Händel nicht vergessen konnten, den eigenen
Vater bis in den Tod zu verfolgen. Sobald er aber selbst
4 Alexander Cartellieri,
die Krone trug, dachte er nur noch daran, durch seine
Kreuzzugsvorbereitungen jedermann in Schatten zu
stellen. Vor allem brauchte er dazu Geld, und um es
zu bekommen, begann er einen schamlosen Handel mit
geistlichen und weltlichen Würden und Ämtern. Er würde
auch London verkaufen, meinte er in bissiger Selbst-
ironie, wenn er nur einen Käufer fände. Aber er erreichte
seinen Zweck. Mit einer gewaltigen Flotte von im ganzen
219 Galeeren und Frachtschiffen, großen Vorräten, treff-
lichen Kriegsmaschinen und Waffen, vor allem mit einem
wohlgefüllten Schatze trat er die Ausreise an. Er und
König Philipp August von Frankreich verpflichteten sich
eidlich, gemeinsam das Heilige Grab den Ungläubigen
zu entreißen und, was bezeichnend ist, auch die Kriegs-
beute redlich zu teilen. So finden wir neben den zweifel-
los vorhandenen idealen Motiven der Kreuzzugsbewegung
auch sehr starke materielle.
Kaum ist eine stärkere Verschiedenheit denkbar als
zwischen den Herrschern, die wegen der politischen Ver-
hältnisse Erbfeinde sein mußten und noch dazu sehr
triftige persönliche Gründe hatten, es zu sein. Das Schick-
sal einer Frau spielte fortwährend in ihre Beziehungen
hinein : Philipp Augusts Schwester Adelaide war am eng-
lischen Hofe, wo sie als Braut Richards weilte, von ihrem
künftigen Schwiegervater Heinrich 11. verführt worden,
und Richard dachte an eine andere Ehe. So erklärt sich
die Glut des Hasses, die sie entzweite und die durch
tägliche Reibungen noch vermehrt wurde. Um ihr Ver-
hältnis richtig zu würdigen, muß man immer im Auge
behalten, daß der König von Frankreich der Lehens-
herr, der König von England, nicht als solcher, aber
als Herzog der Normandie und Graf von Poitiers, der
Lehens mann war. Jener hatte mehr Rechte, dieser mehr
Pflichten.
In der Feindschaft der Könige lag schon der Keim
des Mißlingens für das ganze Unternehmen. Zum Aus-
bruch kam sie zuerst während des Winteraufenthalts in
Messina. Später, im Heiligen Lande, wurde sie immer
heftiger. Philipp August war der erste, der daselbst ein-
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 5
traf (20. April 1191). Die Lage, die er vorfand, war
wenig erfreulich. Seit fast zwei Jahren lag Wido von
Lusignan, mehr dem Namen als der Tat nach König des
morgenländischen Reiches, vor Akkon, der stärksten Burg
des Küstenlandes. Er war ein schöner und tapferer
Haudegen, aber ein unfähiger Führer, und entschiedene
Erfolge waren bisher nicht erzielt worden. Unter den
neu ankommenden Abendländern räumte das Klima noch
mehr auf als der unablässige Kampf. Tausende und
Abertausende mußten in den heißen Sand Syriens ge-
bettet werden. Die Oberlebenden spalteten sich in zwei
Parteien, da jenem Wido der schon genannte Konrad von
Montferrat die Krone streitig machte.
Mit großer Umsicht traf Philipp August vor Akkon
seine Vorkehrungen. Besonders bemühte er sich, das
Lager der Christen gegen das Entsatzheer Saladins, der
persönlich herbeigeeilt war, zu befestigen. Richard fuhr
nicht direkt von Sizilien nach Palästina. Um die Zufuhr
für das Belagerungsheer zu sichern, ging er nach Zypern,
wo sich ein byzantinischer Prinz zum Gewalthaber auf-
geworfen hatte. In 14 Tagen eroberte er die Insel, die
etwa so groß ist wie Kurhessen, nahm den Griechen
gefangen und machte unermeßliche Beute. Die dringenden
Mahnungen des Königs von Frankreich, seine Abfahrt
zu beschleunigen, schlug er seiner Art nach in den Wind
und jagte von Abenteuer zu Abenteuer. Philipp August
hätte Akkon wohl ohne ihn nehmen können. Wenn er
es nicht tat und die Vertragsbestimmungen, wonach alle
Erwerbungen gemeinsam gemacht werden sollten, genau
beobachtete, so leitete ihn die Erwägung, daß es für ihn
nicht ratsam sei, allein die blutige Arbeit zu verrichten,
während dann Richard mit ungeschwächten Truppen
gleich auf das eigentliche Ziel des Kreuzzuges, nämlich
Jerusalem, losgehen könnte. Richard sah es natürlich
gerne, wenn die Stadt unbezwungen blieb, solange er
nicht am Kampfe teilnahm, und erst als er hörte, daß
die Einnahme unmittelbar bevorstehe, brach er auf. An
der syrischen Küste traf er ein ungewöhnlich großes
sarazenisches Frachtschiff, das mit Lebensmitteln und
6 Alexander Cartellieri,
Waffen für die Garnison schwer beladen war, und brachte
es zum Sinken.
Diese glückliche Tat, der Ruf, der ihm von Zypern
vorauseilte, nicht zum wenigsten seine gefüllte Kasse,
aus der er freigebig schöpfte, bereiteten ihm den freudig-
sten Empfang. Ihm zu Ehren erstrahlte das Lager die
ganze Nacht hindurch in festlicher Beleuchtung. Um
recht deutlich zu machen, mit welchen Gefühlen sein
König aufgenommen wurde, vergleicht ihn ein Engländer
mit Christus, der wiederkomme, um auf Erden das Reich
Israel herzustellen. Lehrreicher als solche Übertreibung
ist die Ansicht der Umgebung Saladins. Sie rühmt an
ihrem Feinde das gesunde Urteil, die große Erfahrung,
die äußerste Verwegenheit und Ehrbegier, hebt auch
richtig hervor, daß er dem französischen König an Rang
nachstand, ihn aber an Schätzen, Kriegsruhm und Helden-
mut übertraf.
Vom ersten Augenblick seiner Ankunft im Lager an
versuchte Richard ohne jede Rücksicht auf seinen Lehens-
herrn und die anderen, schon lange an der Belagerung
teilnehmenden Barone sich auf alle Weise in den Vorder-
grund zu drängen, um als hervorragendster Führer der
Christen überhaupt gepriesen zu werden. Er benutzte
seine überreichen Geldmittel, um die nur allzuvielen ver-
armten Ritter an sich zu ketten, ja er scheute sich nicht,
durch höhere Löhnung dem französischen Könige Knechte
abspenstig zu machen, so daß dessen Maschinen un-
bewacht blieben und den Sarazenen in die Hände fielen.
In dem Streit um die Krone Jerusalems griff Richard
lebhaft für Wido von Lusignan ein, während Philipp
August für Konrad eintrat. Dieser war zweifellos bei
weitem vorzuziehen, aber Wido war poitevinischer Vasall,
Richard völlig ergeben und ihm daher genehmer. So
veranlaßte die Anwesenheit der Könige eine womöglich
noch stärkere Spaltung im Heere als vorher, und von
einem einheitlichen Oberbefehle, der naturgemäß Philipp
August hätte zustehen müssen, konnte keine Rede sein.
Es waren Zustände ähnlich denen der österreichisch-
preußischen Kriegführung gegen die erste französische
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 7
Republik. Einsichtige Zeitgenossen waren voller Be-
trübnis. So sagt einer: „In jedem Unternehmen, an dem
die Könige und ihre Leute beteiligt waren, leisteten sie
zusammen weniger, als wenn jeder allein gewesen wäre.
Der König von Frankreich und seine Leute verachteten
den König von England und die Seinen und umgekehrt
„Vor Akkon," klagt ein anderer in Erinnerung an ein
Bibelwort, „richteten die Könige nichts aus, weil unter
ihnen Streit herrschte, wer der größte wäre."
Nicht anders meint es ein Italiener. Nur steigert er
die Wirkung durch Rhetorik: „Mit den Königen kam
die Verführerin zu allem Bösen, Tochter des Teufels,
mächtigste Königin der Hölle, die Zwietracht, und setzte
sich in ihre Mitte samt ihrer erstgeborenen ausgezehrten
und scheelblickenden Schwester, der Eifersucht. Die
Könige wie das ganze Heer der Christen spalteten sich
im Wollen wie im Tun. Wenn dem Franzosen der An-
griff auf die Stadt gefiel, so mißfiel er dem Engländer,
und was dem Engländer gefiel, mißfiel clem Franzosen.
Die Zwietracht führte fast zum offenen Kampfe."
Um wenigstens in irgendeiner Form ein Zusammen-
wirken zu ermöglichen, wurde ein Abkommen getroffen,
wonach, wenn der eine stürmte, der andere das Lager
gegen Saladin verteidigen sollte. Da erkrankte Richard,
wohl infolge der Oberanstrengung in dem ungewohnten
Klima. Durch maßlosen Waffensport und tolle Aus-
schweifungen war sein riesenstarker Körper ohnehin ge-
schwächt. Philipp August nahm darauf keine Rücksicht
und versuchte, die Stadt schnell in seine Gewalt zu
bringen. Aber auch er erkrankte, vermutlich an Schweiß-
fieber: die Haare fielen aus und die Haut schälte sich
ab. Von den Gefühlen, die diese Kreuzfahrer gegen-
einander beseelten, gibt das in französischen Kreisen
verbreitete Gerücht eine Anschauung, daß Philipp August
auf Betreiben Richards vergiftet worden sei.
Zunächst war die Enttäuschung der Christen groß:
die mit solcher Sehnsucht erwarteten Könige waren da
und es geschah nichts Rechtes. Durch Schaden klug
8 Alexander Cartellieri,
geworden, gab man jetzt den Versuch auf, mit Türmen
an die Mauern heranzukommen, weil diese regelmäßig
trotz aller Panzerung durch griechisches Feuer zerstört
wurden. Jetzt rückten die Belagerer mit einem großen
Wall immer näher: sie hoben die Erde hinten aus und
schütteten sie vorne wieder auf. Diesem Wall konnte
kein Feuer etwas anhaben. Darauf standen Stein-
schleudermaschinen, von denen eine vom Lagerwitz die
„böse Nachbarin" genannt wurde. Ihr antwortete aus
der Stadt eine andere, die „böse Tante". Richards Ma-
schinen galten für die besten. Er benutzte besonders
harte und scharfe Steine, die er als Ballast aus Sizilien
mitgebracht hatte. Ein solcher erschlug einmal zwölf
Menschen.
Anfang Juli war die Mauer so weit beschädigt, daß
Philipp August, der zuerst gesund geworden war, mit
äußerster Anspannung stürmen ließ. Er erreichte auch,
daß die Garnison wegen vollständiger Erschöpfung ihrer
Kräfte einer Kapitulation geneigt wurde, freilich noch ohne
Zustimmung Saladins. Während darüber Verhandlungen
stattfanden und Waffenruhe von französischer Seite ge-
boten war, gab Richard seinen Leuten den Befehl zum
Angriff. Persönlich konnte er noch nicht stürmen, dazu
war er viel zu schwach. Aber er ließ sich unter ein
im Stadtgraben stehepdes Schutzdach tragen und schoß
von hier, in eine seidene Decke gehüllt, Sarazenen mit
der Armbrust von der Mauer herunter. Als er sah, daß
ein durch Mineure unterhöhlter Turm zu wanken anfing,
machte er durch seinen Herold bekannt, er wolle für
jeden herausgebrochenen Stein zwei, dann drei, endlich
vier Goldstücke geben. Das war ein guter Monatssold,
und den Eifer der Knechte kann man sich denken. Der
Turm stürzte auch zusammen, aber trotzdem vermochten
die Engländer nicht einzudringen. Die Franzosen be-
teiligten sich nicht, und Philipp August war über den Bruch
des Stillstandes so empört, daß er nahe daran war, die
Engländer gewaltsam zurückzutreiben.
Als sich dann die Vertreter der Garnison wegen der
einzelnen Bedingungen erkundigten, gab es im Rate der
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 9
Fürsten gleich wieder Meinungsverschiedenheiten. Die
Franzosen wollten den Einwohnern gestatten, beim Aus-
zuge ihre Habe mitzunehmen. Sie wurden vom Mark-
grafen Konrad beraten, und dieser als Bewerber um die
jerusalemitische Krone wollte die Gegensätze zwischen
Christen und Mohammedanern nicht verschärfen, sondern
mildern. Saladin hatte den von ihm genommenen
Städten seinerzeit das gleiche gewährt. Richard wurde
nur von seiner Habsucht geleitet, wenn er erklärte, er
wolle nach langer und mühseliger Belagerung nicht in
eine leere Stadt einziehen. Eine Eroberung mit stürmender
Hand und nachfolgende Plünderung wären mehr nach
seinem Geschmacke gewesen. Um die dauernden Be-
dürfnisse des Heiligen Landes kümmerte er sich in seinem
Eigennutze nicht. Nur mit Mühe wurde eine Einigung
erzielt und Akkon am 12. Juli 1191 übergeben. Saladin
sollte das bei Hattin eroberte heilige Kreuz und 1500 christ-
liche Gefangene innerhalb einer bestimmten Frist ausliefern
und 200000 Goldstücke zahlen. Als Geiseln für die
pünktliche Ausführung sollten die Verteidiger Akkons
in die Gefangenschaft gehen und, falls die Frist vor der
Ausführung abliefe, auf Gnade und Ungnade der Könige
angewiesen sein.
Gleich nach der Besetzung Akkons spielte sich
Richard so auf, als wenn er alles allein gemacht hätte,
und die Empörung über die Obergriffe seiner Ritter
gegenüber den alteingesessenen Bürgern, überhaupt allen
Nicht-Engländern, war bald allgemein. Damals geschah
es auch, daß er jene Freveltat beging, die ihm selbst
so lange Leiden bringen sollte. Herzog Leopold von
Österreich, der sich mit Recht zu den angesehensten
Fürsten des Heeres zählte, hißte sein Banner auf einem
Turme und beanspruchte den angrenzenden Stadtteil als
sein Eigen. Das erregte den leidenschaftlichen Zorn
Richards, dem Leopold als Verwandter Konrads von
Montferrat und Isaaks von Zypern sowie als Anhänger
Philipp Augusts verhaßt war, und er stiftete seine Mannen
an, das Banner herunterzureißen : unter höhnischen Zu-
rufen traten sie es in den Kot.
10 Alexander Cartellieri,
Man hat diesen Vorfall bisher vereinzelt betrachtet
und daher nicht richtig aufgefaßt. Wer die Geschichte
des Kreuzzuges auf Grund aller Quellen übersieht^ erkennt
in dem Ereignis nur eine besonders auffällige Kund-
gebung der Willkür Richards, die wegen der Person des
Beleidigten und namentlich wegen der weittragenden
Folgen der Beleidigung mehr Eindruck gemacht hat als
andere.
Das gewalttätige Benehmen Richards, der auf seine
militärische und finanzielle Obermacht pochte, verhinderte
jedes gedeihliche Zusammenwirken mit den Franzosen.
Philipp August dachte seit einiger Zeit an Heimkehr,
da ihm der Tod des Grafen Philipp von Flandern die
Aussicht auf Gebietserwerbungen eröffnete, und seine
geschwächte Gesundheit einen willkommenen Vorwand
bot. Er mußte feierlich schwören, in Richards Abwesen-
heit dessen Land nicht anzugreifen, und segelte dann
am 31. Juli ab. Der Hauptteil seines Heeres blieb aber
unter dem Befehle des Herzogs Hugo 111. von Burgund
zurück.
Laute Flüche und Verwünschungen gaben den schei-
denden Franzosen das Geleit. Es galt als schmähliche
Feigheit, sich dem heiligen Krieg auch wegen Krankheit
zu entziehen. Richards Ansehen stieg. Er war jetzt
unbestrittener Anführer. Seine Sache war es, zu zeigen,
was er leisten konnte.
Das erste große Ereignis, für das er allein auf-
zukommen hat, ist das berüchtigte Blutbad vom 20. August.
Es ist nicht unwichtig, um den Charakter des Königs
kennen zu lernen. Man erinnert sich der Bedingungen
der Kapitulation. Im Laufe des Juli hatten noch Ver-
handlungen zwischen Saladin und den Königen statt-
gefunden, in denen Ergänzungen oder Erläuterungen
vorgenommen wurden. Die Einzelheiten stehen nicht
fest. Damals war Philipp August noch anwesend und
es liegt nahe, zu vermuten, daß Richard sich auch dies-
mal nicht an das halten wollte, was jener abgemacht
hatte. Jedenfalls stimmten Saladin und Richard nicht
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. ]]
überein in betreff der gegenseitigen Leistungen. Keiner
traute dem anderen. Saladin wollte seinen Verpflichtungen
wohl nachkommen, aber Geiseln dafür haben, daß auch
die Christen wirklich die ihren befreiten. Richard ver-
langte, der Sultan sollte sich mit seinem Eide begnügen.
Saladin brach daraufhin die Verhandlungen ab. Von
seinem realpolitischen Standpunkte aus war das Leben
einer auch größeren Zahl Glaubensgenossen weniger
wert als die dem Islam drohende Gefahr, wenn der Mut
der Christen durch die Wiedergewinnung des Kreuzes
gehoben und ihre Angriffskraft durch ihre bisher ge-
fangenen Brüder und hohe Geldsummen verstärkt wurde.
Er dachte wohl, Richard würde die Geiseln in die Sklaverei
verkaufen. Richard scheute aber vor der äußersten
Folgerung nicht zurück. Wütend darüber, daß ihm soviel
Gold entging, gab er Befehl, die Unglücklichen, 2600 an
der Zahl, in die Ebene hinauszuführen und abzuschlachten.
Nur eine kleine Auswahl von vornehmen und reichen
Leuten, die viel Lösegeld einbringen konnten, wurde
verschont. Von all den christlichen Chronisten, die das
Blutbad erwähnen, tadelt es nur einer, allerdings ohnehin
kein Freund der Engländer. Wieweit die Verrohung der
Pilger fortgeschritten war, ergibt sich deutlich auch daraus,
daß sie erst die Eingeweide ihrer Opfer und dann die
Asche der verbrannten Leiber durchwühlten, weil jene
Edelsteine verschluckt haben sollten.
Der Vorgang erweckt die Erinnerung an einen
anderen ähnlichen, der sich nicht weit von Akkon in
neuerer Zeit abspielte, an jenes Gemetzel der in Jaffa
gemachten Gefangenen durch Napoleon I. auf seinem
ägyptischen Feldzug. Wenn aber der Korse es für
militärisch notwendig hielt, so zu handeln, so darf solches
von Richard doch kaum gesagt werden, und das einzige,
was man für ihn anführen kann, ist die grausame Auf-
fassung des Christentums seiner Zeit.
Saladin vergalt nicht Gleiches mit Gleichem. Die
schon versammelten christlichen Gefangenen schickte er
in die Haft zurück, ohne ihnen ein Leid anzutun, tötete
allerdings im Fortgang des Krieges diejenigen, die in
12 Alexander Cartellieriy
seine Hände fielen, mußte es wohl auch tun, um die
Erregung seiner Leute zu dämpfen.
Richard traf die notwendigen Maßregeln für den
Marsch auf Jerusalem. Der Weg führte der Küste ent-
lang bis Jaffa, und von dort hoffte der König das Ziel
der allgemeinen Sehnsucht zu erreichen. Sehr zweck-
mäßig war, daß er zur Verminderung des Trosses alle
unnützen Weibspersonen entfernte und nur eine Anzahl
rüstiger Wäscherinnen, die zu Fuß gehen konnten, behielt.
Am 22. August fand der Aufbruch statt. Die Christen,
für deren Verproviantierung die Flotte sorgte, zogen un-
weit der Küste südwärts, die Muslimen folgten ihnen auf
den Höhen. Eigenartig war die Marschordnung. Man
weiß, daß die Hauptgefahr, die den abendländischen
Truppen drohte, in der Tötung nicht der durch den
Panzer geschützten Reiter, sondern der unbewehrten
Pferde durch den feindlichen Pfeilregen lag. Man muß
es durchaus vermeiden, sich etwa die Bewaffnung der
Begleiter Richards, ähnlich den Plattenrüstungen vor-
zustellen, die man in vielen Sammlungen sieht, die aber
aus sehr viel späterer Zeit stammen und schon auf
Feuerwaffen Bedacht nehmen. Die Reiterei der Kreuz-
zugszeit war leicht, wie sich schon daraus beweisen läßt,
daß die Christen ohne weiteres die erbeuteten Rosse be-
nutzen konnten. Das wäre bei sehr erheblicher Ver-
schiedenheit des Gewichtes unmöglich gewesen. Um
den Feinden ihre gewohnte Taktik zu verleiden, umgab
Richard seine Reiterei, Ritter und berittene Knechte, mit
Fußsoldaten, die jeden Ansturm mit Armbrust und Spieß
abwehrten. Die Fußsoldaten trugen einen dicken filz-
artigen Rock und darüber einen Maschenpanzer. Pfeile
drangen nicht durch, und es wird erzählt, daß einer von
ihnen wohl zehn Pfeile im Rücken stecken hatte und
dennoch ruhig im Gliede weitermarschierte. Zur Ver-
ringerung der durch die andauernde Gefechtsbereitschaft
verursachten Beschwerden teilte sich das Fußvolk in
zwei Hälften: die eine wehrte den Feind ab, bewegte
sich also an der Bergesseite, die andere ruhte sich aus,
marschierte am Meeresstrande. So kam man langsam.
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 13
aber sicher vorwärts, und die Muslimen hatten keine Ge-
legenheit, einen Schlag zu führen. Erst in der Nähe von
Arsuf ergab sich die Unmöglichkeit, länger an der Küste
zu t)leiben, weil das Gestrüpp zu dicht war. Das Heer
mußte auf schlechten Pfaden emporklimmen und war
erschöpft, als es wieder die Ebene erreichte. Richard
selbst erlitt hier eine, allerdings leichte Verwundung.
Der Entfernung der Flotte wegen gingen die Lebens-
mittel aus, und es mußte Pferdefleisch herhalten. Diese
Lage blieb Saladin natürlich nicht verborgen. Er war fest
entschlossen, die Christen zu vernichten.
So kam es am 7. September zur Schlacht von Arsuf,
die unter den militärischen Ruhmestaten Richards an
erster Stelle genannt zu werden pflegt. Als er sah, daß
die Sarazenen ihn auf drei Seiten umzingelten und nur
noch die Meeresseite frei blieb, traf er seine Anstalten
für den nicht mehr zu vermeidenden Kampf. Alles Ge-
päck wurde an den Strand gebracht. Ostlich vom Gepäck
gliederte sich das Heer. Die Spitze hielten die Templer,
dann kamen die Bretagner und Angiovinen, zu dritt
König Wido und die Poitevinen, zu viert Normannen und
Engländer mit dem königlichen Standartenwagen, endlich
die Johanniter. Die Franzosen bildeten eine Gruppe für
sich. Jede Reiterschar hatte ihren eigenen Führer und
war von dem dazugehörigen Fußvolk umgeben. Die
Bogen- und Armbrustschützen machten immer den Be-
schluß. Zwischen der marschierenden Heeressäule und
den vom Feinde besetzten Höhen hielt sich Richards
Neffe, Graf Heinrich von Champagne, um die Bewegungen
der Feinde zu beobachten. Richard selbst und der
Herzog von Burgund als die Oberbefehlshaber, beide
von auserlesener Ritterschaft umgeben, wechselten je
nach Bedürfnis ihre Stellung, um die nötigen Weisungen
zu geben. Die Ebene war von den dichten Reihen der
Marschierenden vollständig erfüllt. Kein Apfel hätte zur
Erde fallen können, sagt einer, der dabei war. Die
Sarazenen hatten daher keinen rechten Platz, sich zu
entwickeln, und begnügten sich zunächst mit einer leb-
haften Beschießung. Da die Christen ruhig weiterzogen.
14 Alexander Cartellieri,
gab Saladin Befehl zum Angriff mit der blanken Waffe.
Sofort stürzten sicfi seine Reitermassen auf die Nach-
fiut und versuchten, genau so wie die Mamelucken in
der Schlacht bei Abukir gegenüber Napoleon, eine Ein-
bruchsteile zu finden. Es gelang ihnen nicht, da die
Armbrustschützen unerschütterlich blieben und ihnen
die größten Verluste zufügten. Richard hatte strengsten
Befehl gegeben, die Reiterei solle nicht früher angreifen,
als bis er das Zeichen dazu gäbe. Ihm lag daran, den
Feind, der nur allzuleicht entfloh, in größtmöglicher Nähe
zu haben. Die Christen mußten sich daher längere Zeit
beschießen lassen, und das erzeugte bei den Rittern, die
viele Pferde verloren, tiefgehende Erbitterung. Der
Großmeister der Johanniter ging zum König und bat um
Abhilfe. Aber dieser sagte bloß: „Lieber Meister, man
kann nicht überall sein.'' Inzwischen benutzte der Mar-
schall des Ordens die Abwesenheit des Großmeisters und
galoppierte unter Anrufung des heiligen Georg aus der
Reihe heraus gegen die Muslimen. Da glaubten alle
Christen, das Zeichen sei gegeben, das Fußvolk bot Raum,
die Reiter griffen nach ihren Lanzen und wandten ihre
Rosse zum Angriff. Ein arabischer Berichterstatter
schildert uns anschaulich den Eindruck, den er gewann,
als plötzlich ein lauter Kriegsruf erscholl, die christliche
Reiterei aus der Masse des Fußvolks herausbrach und
gerade in dem Augenblicke, da der Feind ihrer Herr zu
werden hoffte, alles überrannte, was ihr in den Weg kam.
Vergeblich machte Saladin den Versuch, die Fliehenden
zu sammeln. Da sie die Höhen nicht so rasch wieder
hinaufkonnten, hatten sie ungeheure Verluste. Richard
selbst schrieb in die Heimat, der Sultan habe an diesem
Tage mehr Leute eingebüßt als in allen vorhergehenden
Kriegen.
Die Schlacht bei Arsuf hat von jeher die Aufmerk-
samkeit der Militärhistoriker auf sich gezogen, und
zweifellos gewährt sie einen lehrreichen Einblick in das
Kriegswesen der Zeit. Man hat Richard den Vorwurf
gemacht, er habe den glänzenden Sieg nicht hinreichend
ausgenutzt, namentlich die Verfolgung zu früh eingestellt;
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 15
aber es erscheint fraglich, ob er es hätte wagen können,
seine Leute in die bewaldeten Höhen zu schicken, wo
ihnen überall ein Hinterhalt drohen konnte. Es liegt
daher kaum ein Anlaß vor, sein Verdienst zu schmälern.
Wenn er auch die zum Siege führende Taktik nicht
erfunden hatte, so wandte er sie doch sachgemäß und
erfolgreich an, verstand es dieses eine Mal, einen be-
stimmten Plan einheitlich durchzuführen und sich die
Mitwirkung aller Barone, vornehmlich der Franzosen, zu
sichern.
Was war jetzt mehr geboten als sofortiger Marsch
auf Jerusalem? Aber schon kommen wir in Zeiten, in
denen wir die lange Untätigkeit des Königs gar nicht
begreifen können. Man möchte glauben, daß er dazu
neigte, nach heldenhafter Anstrengung einer Art Mattig-
keit zu verfallen. Ob sein Körper ihm schließlich nach
allzu starken Zumutungen den Dienst versagte? Oder
ob, was bei dem Charakter des Königs wohl möglich
wäre, er in wildem Sinnentaumel seine Erfolge immer
erst genießen wollte? Übler war, daß er wohl dreinzu-
schlagen, aber gar nicht Menschen zu behandeln wußte.
Saladin war durch die Niederlage derart erschreckt,
daß er sich entschloß, nicht nur andere geringere Burgen,
sondern auch das überaus feste Askalon, die Braut
Syriens, wie man es nannte, zu zerstören, nur um zu
vermeiden, daß die Christen daraus einen Stützpunkt
für Angriffe auf Ägypten machten. Da Askalon am Meere
liegt, war die Möglichkeit dauernder Verbindung mit
Europa besonders zu berücksichtigen. Als Richard sich
darüber vergewissert hatte, daß Saladin sein Vorhaben
wirklich ausführte, wollte er schleunigst dahin gehen, die
wenig zahlreichen Sarazenen vertreiben und die Stadt
in Besitz nehmen, um von dort aus spätere Unter-
nehmungen ins Werk zu setzen. Davon wollten aber
die Franzosen nichts wissen, und sie stimmten im Kriegs-
rat für die Neubefestigung von Jaffa, wohin man inzwischen
gelangt war, und dann sofortigen Vormarsch nach Jeru-
salem, um ihre Pilgerfahrt tunlichst abzukürzen. Richard
gab nach. Es ist schwer zu sagen, wer mehr Recht
16 Alexander Cartellieri,
hat. Gerade bei den Kreuzzügen kommen so viele ideale
Gesichtspunkte in Frage, daß eine rein militärische
oder rein politische Betrachtung doch nicht ausreicht.
Der Hauptfehler Richards liegt darin, daß er den Be-
schluß des Kriegsrates nur lau förderte. Zum Teil er-
klärt sich das aus der Anknüpfung von Friedensverhand-
lungen, zum Teil aus dem üblen Einfluß des langen Auf-
enthalts der Christen in Jaffa, das für das ohnehin schwer
in Ordnung zu haltende Heer zu einem Capua wurde.
Allerhand liederliches Volk kam von Akkon herbei, und
die Mannszucht lockerte sich bedenklich. Man gewinnt
den Eindruck, daß die Christen sich für den Zwang,
den sie sich auf dem Küstenmarsch auferlegt hatten,
schleunigst entschädigen wollten. Der König ließ die
Dinge gehen und befriedigte seine Eitelkeit mit kleinen
Erfolgen, die seine Tapferkeit weit und breit zum
Schrecken der Feinde machten. An Vorsicht ließ er es
nur allzu leicht fehlen und bedachte gar nicht, welche
Bedeutung sein Leben als das des Oberbefehlshabers
für die christliche Sache hatte. Er führte Krieg, wie
wenn es sich um ein Turnier in der Normandie han-
delte. Als er einmal bei einem Streifzuge eingeschlafen
war, wurde er überfallen. Es gelang ihm, sein Pferd,
den durch seine Schnelligkeit berühmten zyprischen
Renner, zu besteigen, und tollkühn verfolgte er die
Feinde bis in ihren Schlupfwinkel. Aber von der Ober-
zahl gepackt, hätte er sein Leben verloren ohne die Auf-
opferung eines seiner Mannen, der sich für ihn ausgab.
Sieben Wochen dauerte der Aufenthalt in Jaffa, und
erst Ende Oktober begann der Vormarsch auf Jerusalem,
für den Richard mühsam lässige Krieger hatte heran-
holen müssen. Langsam zog man vorwärts. Die Ab-
sicht war, auf dem Wege liegende Burgen wieder auf-
zubauen und damit die Rückkehr zu sichern. Man kann
sich leicht vorstellen, wie wenig solche Schanz- und
Mauerarbeit geeignet war, die Stimmung des Heeres
frisch zu halten.
Anfang November wurden die Furiere des Heeres
in der Nähe von Bombrak angegriffen. Richard sandte^
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 17
da er selbst mit Bauen beschäftigt war, einige seiner
Getreuen voraus und kam dann selbst nach. Inzwischen
war das kleine Häuflein der Christen umzingelt worden,
und man riet ihm dringend ab, ihnen zu Hilfe zu eilen.
Jene seien doch nicht mehr zu retten, und es sei besser,
daß sie allein fielen als er noch mit ihnen. Treffe ihn
Unglück, so sei die christliche Sache verloren. Aber
Richard erklärte, er habe sie hingeschickt, darum dürfe
er sie auch nicht im Stiche lassen. Stürben sie ohne
ihn, wolle er nicht mehr König heißen. Sprach's und
spornte sein Roß vorwärts. So furchtbar regneten seine
Hiebe herab, daß abgeschlagene Arme und Köpfe herum-
flogen. Wie eine Herde stoben die Muslimen auseinander.
Wir sehen hier bei Richard stark ausgeprägt den alt-
germanischen Zug der Treue bis in den Tod, wie ihn
das Nibelungenlied hervorhebt. Das Band, das seine
Mannen an ihn knüpft, sieht er als unlöslich an. Er
ist ebenso bereit, sich für sie zu opfern, als jener Ritter
für ihn. Es herrscht volle Gegenseitigkeit, und die
Königswürde vermag das Lehensverhältnis nicht zu er-
schüttern. Nur zog Richard, wie früher betont wurde,
aus politischen Gründen gegenüber seinem Lehensherrn
von Frankreich die entsprechende Folgerung nicht.
In der Nähe von Ramla blieb das Heer sechs Wochen.
Fortwährend gingen Gesandte zwischen Saladin und dem
Könige hin und her, aber auch Markgraf Konrad suchte
den Sultan zu einem Sonderabkommen zu bewegen^
dessen Spitze sich gegen die Engländer richtete. Aben-
teuerlich dünkt uns der Plan, der damals auftauchte, daß
Saladins Bruder eine Schwester oder Nichte Richards
heiraten sollte, um künftige Eintracht zu befestigen. Aber
Richard setzte einen Dispens des Papstes voraus, und
man darf nicht vergessen, daß Geschichten von wunder-
baren Bekehrungen zum Christentum damals weit ver-
breitet waren.
Saladin konnte sich nur freuen, wenn er Zeit ge-
wann. Denn die Christen hatten jetzt alle Unbilden
eines syrischen Winters zu überstehen. Sie wußten gar
nicht, wie sie sich vor dem unaufhörlichen Regen retten
Historische ZeiUchrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 2
18 Alexander Cartellieri,
sollten. Die Waffen rosteten, die Kleider verfaulten, die
Vorräte verdarben, die Zelte wurden vom Sturm um-
geworfen. Trotzdem war der Eifer groß und alles voll
sehnsüchtiger Erwartung. Denn man war bis Bet Nuba,
eine Tagereise von der heiligen Stadt, gekommen, und
schon rechnete man mit baldiger Erfüllung aller Wünsche.
Kranke ließen sich aus Jaffa in Sänften herbeitragen, um
ja nur nicht später als dringend notwendig zum Grabe
des Erlösers zu gelangen.
• Ganz anders war die Meinung aller derjenigen, die
das Land seit jungen Jahren kannten und dort auch zu
bleiben gedachten. Der lauten, aber unklaren Be-
geisterung der Pilger trat die ruhige Überlegung der
Ansässigen entgegen. In erster Linie stellten die Templer
und Johanniter dem Könige vor, Saladin würde sie an-
greifen, während sie Jerusalem belagerten, genau wie er
es vor Akkon getan, und könne sie naturgemäß sehr
viel leichter als dort vom Meere als ihrer einzigen Zu-
flucht abschneiden. Gelinge es ihnen aber, Jerusalem zu
nehmen, so sei auch das nicht unbedenklich. Denn die
fremden Pilger würden eiligst heimkehren und wer würde
übrigbleiben, um die Verteidigung der großen Stadt zu
übernehmen? Sie empfahlen, umzudrehen, Askalon
wieder aufzubauen und von dort aus die Zufuhr aus
Ägypten zu unterbrechen, also indirekt dem Sultan zu
schaden. Das bedeutete nicht mehr und nicht weniger
als ein Zurückkommen auf das, was Richard schon von
Jaffa aus gewollt hatte. Nur war, wenn man jetzt so
handelte, der ganze verlustreiche und unendlich müh-
selige Vormarsch auf Jerusalem vergeblich gewesen.
Trotzdem wurde der Entschluß gefaßt, zurückzugehen.
Am 13. Januar 1192 verbreitete sich die üble Kunde
im Heere. Da gab es nicht nur Enttäuschung und
Trauer, sondern auch Bitterkeit und Ingrimm genug.
Viele verwünschten den langsamen Marsch und den
vielen Aufenthalt.
Von diesem Augenblick an hatte Richard als Ober-
befehlshaber kein Glück mehr. Wie übel wurde er dafür
belohnt, daß er in Jaffa nachgegeben hatte ! Die Spannung
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 19
zwischen ihm und den Franzosen wurde verschärft durch
Konrad von Montferrat. Außerdem gab es blutige Händel
zwischen Pisanern und Genuesen in Akkon, kurz Streit
und Mißstimmung überaU.
Richard war mit dem Aufbau Askalons beschäftigt,
sparte dabei weder Geld noch Mühe. Auf seine Kosten
sollen drei Viertel der Stadt hergestellt worden sein. Da
bekam er, während sich um Ihn herum eine allgemeine
Auflösung ankündigte, noch die aufregendsten Nach-
richten aus der Heimat, wo sein Bruder Graf Johann
ohne Land geradezu hochverräterische Pläne auszuführen
suchte, die königlichen Beamten verjagte, Burgen und
Einkünfte in Besitz nahm. Richard verhehlte sich den
Ernst der Lage Englands nicht. Er berief seine Barone
zusammen und tat ihnen kund, daß er abfahren müsse.
Aber er wolle auf seine Kosten eine ansehnliche Streit-
macht im Heiligen Lande unterhalten. Groß war der
Schmerz aller, die es hörten. Gerade von Richard hätte
man das nicht erwartet, was er ein Jahr vorher Philipp
August so verächtlich vorgeworfen hatte. Für die rich-
tigen Kreuzzugsfanatiker, wie sie namentlich unter den
ungebildeten, besitzlosen und unverantwortlichen Pilgern
zahlreich waren, gab es überhaupt nichts auf Erden, was
von dem Gelübde, das Heilige Grab zu befreien, lösen
konnte, es sei denn der Tod. Alle Barone verlangten
unter diesen Umständen eine Königswahl für das Reich
Jerusalem, sonst würden auch sie fortgehen. Als Richard
fragte, wen sie wollten, nannten sie ohne Ausnahme
nicht etwa Wido, den Parteimann der Engländer, der
sich noch als König betrachtete, sondern den Markgrafen
Konrad von Montferrat, da dieser der tüchtigste sei.
Richard sprach nicht dagegen, begnügte sich nur, den
einen oder den anderen daran zu erinnern, daß er früher
vom Markgrafen nichts habe wissen wollen. Leicht
mochte es ihm nicht werden, den Vertreter der franzö-
sischen Partei, seinen Feind, jetzt noch so spät anzu-
erkennen und damit seine ganze bisherige morgen-
iändische Politik zu verdammen. Aber die Not war groß,
und er entsandte daher einige Herren nach Tyrus, um
2*
20 Alexander Cartellieri,
die Wahl zu verkünden. Konrad konnte sich nicht lange
freuen, endlich den Platz erreicht zu haben, auf den ihn
sein Ehrgeiz und seine hervorragenden Eigenschaften
schon lange beriefen. Unmittelbar nachher, am 28. April,
wurde er ermordet. Ein geheimnisvolles Dunkel schwebt
bis heute über den Anstiftern der blutigen Tat. Voll-
zogen wurde sie von zwei Assassinen, Mitgliedern jener
merkwürdigen Genossenschaft, deren Tätigkeit schon
durch den Namen allein gekennzeichnet wird. Sehr bald
kam Richard in den Verdacht, den ihm verhaßten Mark-
grafen aus dem Wege geräumt zu haben, und in Frank-
reich wie in Deutschland, das heißt überall, wo Richard
Feinde hatte, glaubte man dem Gerüchte nur zu gerne.
Die Forschung wird es abweisen, wenn sich auch kein
zwingender Beweis führen läßt. Richards Art war es
nicht, Meuchelmörder auszusenden, denn Feigheit lag
ihm fern. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Konrad der
Rache des Scheiks der Assassinen zum Opfer gefallen^
weil er sich geweigert hatte, für eine durch seine Unter-
gebenen verübte Plünderung Genugtuung zu gewähren.
Seine Erhebung zur höchsten Würde mag die Vollziehung
beschleunigt haben.
Konrads Nachfolger wurde Graf Heinrich von Cham-
pagne, der mit Richard verwandt war und immer gut
mit den Engländern gestanden hatte. Richard machte
damals in der Gegend von Ramiah Jagd auf Sarazenen,
denn anders kann man es nicht nennen, wenn er von
seinen Ritten ein oder zwei Dutzend Sarazenenköpfe am
Sattel mitbrachte. „Durch einen einzigen Menschen,"
rühmt unser Gewährsmann, „sind niemals so viele Un-
gläubige getötet worden." Dann ging Richard an die
Belagerung von Darum, der südlichsten Burg des Reiches.
Als die Schleudermaschinen zu Wasser ankamen, lud er
als erster einen Balken auf seine Schulter und trug ihn
schweißtriefend über eine Meile weit durch den Sand.
Auch hier wieder tritt der Grundzug seines Wesens her-
vor: immer der erste sein, mag es sein, was es will.
Die Burg wurde genommen, noch ehe Graf Heinrich
und die Franzosen ankamen, und das bereitete den
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 21
Engländern große Freude. Aber ihr König empfing auf
dem Wege nacfi Askalon Nachrichten aus der Heimat,
schlimmere als die früheren. Ganz England sei in Auf-
ruhr, Philipp August treffe Anstalten, sich mit Johann
zu verbünden. Abermals entschloß sich Richard zur
Heimkehr. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb,
weil er ja dagegen gewesen war, wollten die Barone jetzt
nach Jerusalem. Wieder genoß die arme, nur zu oft
enttäuschte Pilgerschar einige Tage freudigster Erregung,
wieder wurden aller Herzen von seliger Erwartung ge-
schwellt. Und dann sollte Richard, der auserkorene
Olaubensheld, fehlen? Das bekümmerte einen ihm treu
ergebenen Kleriker aus Poitou, und er richtete es so
ein, daß ihn der König sah, als er laut weinend am
Zelte vorüberging. Richard rief ihn auch an und fragte
nach der Ursache solches Kummers. Jener ließ sich
erst das Versprechen geben, daß ihm sein Freimut nicht
schaden würde, und stellte ihm dann in beredten Worten
vor, wie Gott ihn bisher bei allen seinen Unternehmungen
seit seinen Grafenjahren sichtlich gesegnet, aus so mancher
schweren Gefahr und aus tödlicher Krankheit gerettet
habe. „König," so schloß er, „Ihr seid cjer Vater der
Christenheit. Wenn Ihr sie im Stich laßt, so ist sie ver-
raten und verkauft." Man kann sich denken, in welchen
inneren Zwiespalt Richard geriet. Auf der einen Seite
die quälende Sorge um sein Land und seine königliche
Würde, auf der anderen die Scham, unverrichteter Sache
aus dem Dienste seines himmlischen Herrn zu scheiden,
die Mannentreue gegen Christus zu verleugnen. Die
irdische Pflicht trat vor der überirdischen zurück. Er
änderte wieder seinen Plan und machte durch den Herold
bekannt, er wolle unter allen Umständen bis Ostern 1193
ausharren. Jedermann solle sich zum Marsche nach der
heiligen Stadt rüsten.
Auch diesmal gelangte man wieder bis Bet Nuba,
wie im Winter vorher, aber nicht weiter. Während hier
hin und her beraten und der Versuch gemacht wurde,
allerlei saumseliges Volk zur Verstärkung heranzuziehen,
ging Richard seiner Art nach wieder auf Abenteuer aus.
22 Alexander Cartellieri,
Einmal sah er, während er einen Trupp Feinde ver-
folgte, Jerusalem vor sich, und man behauptete, die Nähe
des allgemein gefürchteten Helden allein habe den Be-
wohnern einen solchen Schrecken eingejagt, daß die Er-
oberung ein leichtes gewesen wäre. Aber er hatte zu-
nächst andere Dinge im Kopfe. Es galt, eine besonders
große Karawane aus Kairo abzufangen. Er überfiel sie,
sagt ein Augenzeuge, so wie der Windhund den Hasen
jagt. Keine Rüstung widerstand seinem Schwerte. Die
Beute an Kostbarkeiten und Waffen war ganz außer-
gewöhnlich reich. Auf dem Rückweg wurde die Ver-
einigung mit Graf Heinrich vollzogen, und das Heer war
noch einmal vollzählig.
Jetzt war es aber auffallenderweise Richard, der
einen Angriff auf Jerusalem widerriet, gestützt auf seine
langjährige kriegerische Erfahrung. Er meinte, Saladin
könne ihnen die Lebensmittel abschneiden und Jerusalem
sei zu groß für die geringe christliche Macht. Er ver-
wies auf das Urteil eines aus den verschiedenen Heeres-
gruppen zu wählenden Ausschusses, und dieser, in dem
die beiden Ritterorden und die morgenländischen Christen
die Mehrheit hatten, entschied sich für die Eroberung
von Kairo. Hauptsächlich der bei der großen Hitze
vorauszusehende Wassermangel wurde als Grund gegen
weiteres Vorrücken auf Jerusalem genannt. Ungemein
lebhaft äußerte sich der Unwille des Heeres, als am
4. Juli abermals der Rückzug angetreten wurde. Vor
allem waren die Franzosen empört, und sie suchten
Richard die Schuld an dem ganzen mißlungenen Unter-
nehmen aufzubürden. Herzog Hugo von Burgund machte
Spottverse auf ihn und ließ sie öffentlich vortragen.
Richard blieb eine entsprechende Antwort nicht schuldig,
und damit wurde der Zwist zwischen den beiden Natio-
nalitäten erst recht entfacht. Sie marschierten und lagerten
von nun an getrennt.
Als Richard der allgemeinen Zerfahrenheit um ihn
herum inne wurde, versuchte er durch Verhandlungen
mit Saladin zu einem befriedigenden Abschluß des Kreuz-
zuges zu gelangen. Aber dieser forderte als erstes die
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 23
Schleifung Askalons, und deshalb kam zunächst keine
Einigung zustande.
Nach fast einem Jahre zog das christliche Heer in
demselben Akkon wieder ein, das es einst mit aus-
schweifenden Hoffnungen auf die Eroberung Jerusalems
und die Niederwerfung des Islam verlassen hatte. Jaffa,
das Saladin hart bedrängte, wollte Richard für die Christen
retten. Wenn er eine ganz bestimmte, scharf umgrenzte
Aufgabe vor sich hatte, wo vor allem Kühnheit und Kraft
notwendig waren, dann war er an seinem Platze. Mit
geringer Begleitung vor dem Hafen angekommen, erfuhr
er, daß die Burg schon so gut wie genommen seL
Während er deshalb zu landen zögerte, kam ein Priester
herangeschwommen und bat dringend im Namen der
hart bedrängten Verteidiger um Hilfe. Augenblicklich
sprang der König ins Wasser, das ihm bis an den Gürtel
reichte, und langte, wie das seine Art war, unter den
Ersten am Ufer an. Die ihm entgegeneilenden Feinde
zersprengte er rasch, drang durch eine kleine Pforte,
die er erspähte, ein, und in kürzester Frist hatte er die
Burg entsetzt Da rückte Saladin selbst mit Obermacht
heran und näherte sich unbemerkt dem christlichen Lager.
Erst im letzten Augenblicke wurden die Engländer ge-
weckt. Richard und seine Ritter mußten, nur halb ge-
rüstet, zu Pferde steigen. Die Aufstellung, die er wählte,
um sein Häuflein nicht erdrückt zu sehen, verdient unsere
Aufmerksamkeit. Die Mitte eines Kreises bildeten etwa
50 Ritter, die aber längst nicht alle und, wenn, schlecht
beritten waren. Von den Fußsoldaten ringsherum ließ
sich die erste Reihe auf das rechte Knie nieder, hielt in
der linken Hand den breiten Schild, in der rechten die
fünf bis sechs Meter lange Lanze, die mit dem unteren
Ende des Schaftes in die Erde gerammt wurde und den
Feinden also schräg entgegenragte. Von den Schützen
der. zweiten Reihe schoß immer einer über den Kopf
des Vordermannes durch die Lücke zwischen zwei
Schilden hindurch, während ein anderer die Armbrust
spannte und zureichte. Diesen kleinen, aber lanzen-
starrenden, unbeweglich standhaltenden Kreis gewalt-
24 Alexander Cartellieri,
sam zu sprengen, wagte die wild anstürmende musli-
mische Reiterei nicht. Im richtigen Augenblicke stürzte
sich der König, dessen Person aliein schon Entsetzen
verbreitete, mit seinen paar Reitern in das dichteste Ge-
wühl der Sarazenen. Ein Augenzeuge schildert anschau-
Jich, wie er kämpfte. Um sich etwas Ähnliches vorzu-
-stellen, muß man schon auf die alten Heldenlieder und
Sagen zurückgreifen. Richard bahnte sich überallhin
einen Weg, vorwärts wie rückwärts. Ob er einen Men-
schen oder ein Pferd traf, alles schlug er in Stücke.
Mit einem gewaltigen Hiebe trennte er Kopf und Arm
eines eisenbewehrten Emirs vom Rumpfe. An den Händen
platzte ihm die Haut vor Anstrengung. Roß und Reiter
waren dermaßen mit steckengebliebenen Pfeilen bedeckt,
daß sie aussahen wie ein Stachelschwein. Aber auch
übermenschliche Tapferkeit würde den König nicht ge-
rettet haben, hätte ihm nicht ein Abgesandter von Sala-
dins Bruder, der ihn bewunderte, zwei edle Rosse ge-
bracht, was Richard zu der Bemerkung veranlaßte, in
solcher Not würde er auch von seinem Todfeinde kein
Geschenk zurückweisen. Schließlich gelang es ihm, aus
der Stadt und der Flottenmannschaft einige Verstärkungen
heranzuziehen und durch erneuten Angriff den Feind
zum Rückzug zu bewegen.
Es war der letzte schöne Erfolg Richards im Heiligen
Lande. Infolge der Überanstrengung erkrankt, von den
Franzosen gemieden, seiner Geldmittel entblößt, aus der
Heimat immer lauter zurückgerufen, mußte er wohl oder
übel Frieden schließen. Er versuchte es noch einmal,
sich Askalon, das er unter solchen Mühen und Kosten
wieder aufgebaut hatte, zu sichern.
Aber es war vergeblich. Die schwere Kunst diplo-
matischen Meinungsaustausches in einer verlorenen Sache
verstand er nicht, weil es ihm an Ruhe, Geduld und
Menschenkenntnis fehlte. Auch war er nicht mehr zu
fürchten, und Saladin beharrte auf seiner Forderung. Der
Friede kam am 2. September 1192 zu Jaffa unter fol-
genden Bedingungen auf drei Jahre zustande: Die
Christen behielten die Küste, d. h. Tyrus, Akkon, Haifa,
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 25
Cäsarea, Jaffa. Ramiah und Lydda sollten geteilt, Aska-
lon gemeinsam geschleift werden. Jerusalem und alles
Land, abgesehen von dem Küstenstrich, gehörte den
Sarazenen. Die Herrschaften Antiochien und Tripolis
konnten in den Vertrag mit einbezogen werden. Die
Christen durften frei und ungehindert, aber als unbe-
waffnete Pilger das Heilige Grab aufsuchen.
Einige Wochen später, sobald es seine Gesundheit
erlaubte, am 9. Oktober segelte Richard heim, ein halbes
Jahr früher, als er es einst laut verkündet hatte. Was
hatte er erreicht? Akkon war der Übergabe nahe, als
er ankam, Tyrus gehörte schon den Christen, nur die
anderen genannten Orte hatte er gewonnen und zum
Teil wieder aufgebaut. Nimmt man den Zugang zum
Heiligen Grabe dazu, so war das alles, sicher verschwin-
dend wenig, wenn man seine hochfliegenden Pläne und
den ungeheuren Aufwand an Gut und Blut bedenkt.
So urteilten auch schon Zeitgenossen, das ganze Unter-
nehmen sei doch mißlungen, da Jerusalem in den Händen
der Ungläubigen geblieben sei; aber ein Gefährte Richards
fertigt sie damit ab, daß die Pilger, die so viel erduldet,
den Märtyrern gleich ihren Platz an der Seite Gottes im
himmlischen Paradiese eingenommen hätten. Politisch
kann man nur sagen, daß der gewaltige Ansturm des
Abendlandes und mehr noch der im Frühjahr 1193 ein-
tretende Tod Saladins den Resten der christlichen Herr-
schaft eine längere Frist gewährten, als man es nach
den ersten Siegen des Sultans von 1187 für möglich
gehalten hätte.
Richard trägt ohne jeden Zweifel einen großen Teil
der Schuld an der Geringfügigkeit des Ergebnisses.
Gerne wird man seinen tollkühnen Mut bewundern, ihm
die Krone des Rittertums zusprechen, aber er war eben
nicht bloß Ritter, sondern großer Vasall und König. Die
Pflichten, die ihm solch eine hervorragende Stellung auf-
legte, hat er nicht erfüllt. Als Vasall, solange Philipp
August da war, verstand er es nicht, sich unterzuordnen,
als Oberbefehlshaber, als er allein war, nicht, Befehle
zu geben. Er tat doch endlich immer das, was er erst
26 Alexander Cartellieri,
keinesfalls hatte tun wollen. Er war ebenso eigenmächtig
wie unselbständig, unstet wie wankelmütig. Durch Auf-
stellung und Verwendung von Truppen hat er sich aus-
gezeichnet und sie vor allem durch seine persönliche
Leistung angefeuert: der schwierigen Aufgabe, ein ge-
mischtes und der Natur der Sache nach unbotmäßiges
Heer zu leiten, war er nicht gewachsen.
Aber er hatte das große Glück, daß aus seiner Um-
gebung die besten und ausführlichsten Berichte über den
Kreuzzug stammen, während sie vom französischen
Standpunkte aus fehlen. Er hatte, wie man treffend ge-
sagt hat, eine gute Presse, und in alter und neuer Zeit
haben Sage und Dichtung seine wunderbaren Taten ge-
priesen, ihn als nationalen Helden Englands gefeiert.
Lange erhielt sich die Erinnerung an ihn im Orient.
Jedermann kennt die Geschichten, die immer wieder er-
zählt werden : sarazenische Mütter beruhigen ihre schrei-
enden Kinder mit den Worten: „Sei still, dort kommt
der König von England 1" Sarazenische Reiter sagen
zu ihrem Roß, wenn es vor einem Strauche scheut:
„Glaubst du denn, der König von England sitzt darin?"
Lehrreich ist das Urteil des größten Feindes, des
Sultans Saladin. Willig erkannte er Richards Tapferkeit
und schöne Freigebigkeit an, tadelte aber seine Unüber-
legtheit und Maßlosigkeit. Durch diese beiden Fehler
hatte Richard sich im Heiligen Lande unter seinen Mit-
streitern so erbitterte Feinde geschaffen, daß es ihn
nachher fast sein Reich gekostet hätte. Es ist bekannt,
wie er auf dem Heimwege vom Herzog von Österreich
gefangen genommen, dem deutschen Kaiser Heinrich VL
ausgeliefert, zur Freude Philipp Augusts lange in Haft
gehalten und erst gegen ein ungeheures Lösegeld be-
freit wurde. Die wirklichen und vermeintlichen Gewalt-
taten, die er auf dem Kreuzzuge begangen hatte, spielten
eine entscheidende Rolle in der europäischen Politik
jener Jahre. So gewinnt sein Aufenthalt im Heiligen
Lande doch eine weit über bloße Abenteuer und Reiter-
streiche hinausgehende Bedeutung. In unseren Zeiten,
da alle Welt von englischen Weltreichsplänen spricht,
Richard Löwenherz im Heiligen Lande. 27
ist es vielleicht auch nicht unangebracht, daran zu er-
innern, daß damals zum ersten Male eine gewaltige eng-
lische Flotte das Mittelmeer durchfurchte, ein englischer
König Zypern eroberte, Palästina mit dem Rufe seiner
Taten erfüllte und von dort aus Ägypten zu gewinnen
plante. Aber nicht als großer Politiker oder großer Feld-
herr hat Richard das vollbracht, sondern als der stärkste
und kühnste Ritter seiner Zeit. Darin liegt sein unver-
gänglicher Ruhm, darin aber auch die Grenze seines
Wesens.
Die Anfänge der venezianischen Galeeren-
fahrten nach der Nordsee.
Von
Adolf Schaube.
Inhalt: I. Bisherige Anschauungen von dem Beginn dieser
Fahrten. II. Ihr wirklicher Beginn. Veranlassung. III. Orga-
nisation der ersten Fahrt. Zeitweilige Freigabe der Han-
delsschiffahrt nach Flandern. IV. Fünf Fahrten nach Brügge
und Antwerpen 1317 — 1319. V. Fahrten bis zur Errichtung
des venezianischen Konsulats in Brügge 1322. VI. Brügge
oder Antwerpen. Die Malatolta. Übersicht über die äußere
Geschichte der Galeerenfahrten im nächsten Jahrzehnt.
VII. Innere Verhältnisse: Fahrt- und Aufenthaltszeiten,
Zwischenstationen, Zulassung der Fremden, Förderung der
Fahrten gegenüber der Konkurrenz, Sorge für Ausfuhr der
draparia Flandriae, Abgabenfreiheit, Frachtermäßigungen.
Die Warenbewegung bei Hin- und Rückfahrt. VIII. Un-
freundliches Verhältnis zu England. Umschwung infolge
des Hundertjährigen Krieges.
I.
In einer seiner gehaltvollen, an fruchtbaren An-
regungen reichen Abhandlungen zur Geschichte der Erd-
kunde hat Peschel bemerkt, daß ihm in bezug auf das
Zeitalter der großen überseeischen Entdeckungen viel
wichtiger als das gewöhnlich für das Entscheidungsjahr
geltende Jahr der Entdeckung Amerikas das Jahr 1318
erscheine, in dem zuerst fünf venezianische Galeeren
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 29
Gewürze nach Antwerpen gebracht hätten.^) Man wird sich
dem darin enthaltenen Werturteil nicht anzuschließen
brauchen und doch anerkennen können, daß die Ein-
richtung eines regelmäßigen Seeverkehrs von den Ge-
staden Italiens nach denen der Nordsee in der Geschichte
des Handels und der allgemeinen Kultur in der Tat einen
sehr erheblichen Fortschritt bedeutet. Dem Jahre 1318
kann allerdings die ihm zugedachte Ehre auf keinen
Fall verbleiben, da die von Peschel angeführte Fahrt gar
nicht die erste der venezianischen Galeerenfahrten nach
Flandern gewesen ist.
Pigeonneau, der Verfasser einer geschätzten franzö-
sischen Handelsgeschichte, läßt die erste venezianische
Galeere in Antwerpen im Jahre 1312 landen, im Jahre
1318 die Signorie einen Handelsvertrag mit Brügge
schließen und seit dem Jahre 1325 alljährlich eine vene-
zianische Flotte von 15 Schiffen nach dem Norden gehen,
die zum Teil für England, zum Teil für Flandern be-
stimmt gewesen sei. 2) Ich muß gestehen, in arger Ver-
legenheit zu sein, wenn ich sagen sollte, worauf diese
Nachrichten fußen; indessen habe ich Grund zu glauben,
daß auch des Verfassers Verlegenheit nicht geringer
wäre, wenn er uns die Quellen für seine mit so großer
Bestimmtheit vorgebrachten Angaben mitteilen sollte. In
Wahrheit wird sich uns ergeben, daß jede einzelne dieser
Angaben tatsächlich unrichtig ist.
Zwei andere französische Forscher haben gemeint,
die flandrischen Handelsfahrten der Venezianer bis in
das 13. Jahrhundert zurückrücken zu können. ^) A. Baschet
») Ausland 1869, Nr. 14 (Abh. zur Erd- und Völkerkunde
von O. P., herausg. von Löwenberg, N. F. 1878, S. 111). S. auch
Peschels Gesch. des Zeitalters der Entd. S. 44 und seine Gesch.
der Erdkunde, 2. Aufl. bes. von Rüge, München 1877, S. 192.
«) Histoire du commerce de la France I (Paris 1887), 226.
») Pincharts Essai sur les relations commerciales des Beiges
avec le Nord de Vltalie et particulikrement avec les Vänitiens,
depais le XI I^ jusqu'au XVI^ siicle (Messager des Sciences hisL,
des arts etc, de la Belgigue, ann^e 1851, Gand, p. 9—25) erwähne
ich nur; es ist eine ganz hübsch geschriebene Skizze, die aber
wissenschaftlichen Wert nicht beansprucht.
30 Adolf Schaube,
nennt 1273 das fUr diese Fahrten zuerst urkundlich be-
glaubigte Jahr^); alljährlich sei in dieser Zeit aus dem
Hafen des reichen Venedig jene Handelsflotte ausgelaufen,
der die Signorie mit Rücksicht auf ihre Bestimmung den
Namen der flandrischen Galeeren gegeben habe; zwei-
mal auf jeder dieser Reisen sei dabei in dem englischen
Hafen Southampton Station gemacht worden. Baschet
fuhrt das urkundliche Zeugnis, auf das er sich stützt,
zwar nicht an, aber ich glaube es zu kennen; es bestätigt
zwar seine Angaben durchaus nicht, ist aber wichtig,
weil es meines Wissens das älteste Zeugnis ist, das uns
von direkten kommerziellen Beziehungen zwischen Venedig
und Flandern positive Kunde gibt. Es ist ein Beschluß
des Großen Rats von Venedig vom 19. Dezember 1273^),
der zunächst allen Venezianern und Fremden, die von
Venedig nach Marseille, Montpellier, Aigues-Mortes oder
sonst einem Hafen der französischen SUdkiiste fahren
wollten, unter Beschränkung des Exports auf die aus
der Levante, der Romania und aus Slavonien stammenden
Waren und auf die Erzeugnisse der venezianischen In-
dustrie, Abgabenfreiheit verheißt und dann fortfährt:
et si iverint ad feras vel in Flandriam . . . et deinde
venerint Veneciam cum draparia, debeant esse franchi de
tanta mercatione quanta traxerint de Venecia, Wer von
diesen Kaufleuten also von Südfrankreich aus nach den
Champagner Messen oder nach Flandern weiterging, ge-
noß für die Tuche, die er bei der Rückkehr von da nach
Venedig einführte, Abgabenfreiheit bis zur Höhe des
Wertes der Waren, die er aus Venedig ausgeführt hatte.
Daß die in diesem Zusammenhange und unter der Auf-
schrift yyde forma navigantium mercatorum ad partes
») La diplomatie v^nitienne (Paris 1862) p. 106: la date docu-
mentaire est 1273.
') Mas Latrie, Commerce et expiditlons militaires de la France
et de Venise au moyen-dge, in: Milanges Historiques. Choix de
documents III (Paris 1880), p. 15. In Obersetzung bei Marin, Stör,
del commercio de' Ven. V, 295 f. mit dem irrigen Datum 13. Dez.
1272; auch R. Brown, CaL of Statepapers I, p. 2, no. 5 gibt den
13. Dez., während der Beschluß 1273, ind. II, 13 exe ante Dec.
datiert. Vgl. Heyd, Hist. du commerce du Levant II, 713.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 31
Provinciae et ad Marsiliam, Montempessulanum et
Aquas Mortuds*" stehende Stelle des Ratsbeschlusses
nicht auf Seefahrten nach Flandern gedeutet werden kann,
sondern allein die Fortsetzung der nach Südfrankreich
gehenden Seereisen zu Lande bis zu den Messen der
Champagne und nach Flandern hin im Auge hat, dürfte
danach klar sein.
Immerhin bedeutet es einen wichtigen Fortschritt in
der Richtung der späteren Entwicklung, wenn wir in
dieser Zeit Venedig seinen Seeverkehr mit Südfrank-
reich sorgfältig pflegen sehen. Während sich in der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts nur sehr geringe
Spuren eines solchen Verkehrs zeigen^), hat Venedig
im Mai 1267 einen eigenen Handelsvertrag mit Mont-
pellier geschlossen^), und als König Philipp III. von
Frankreich im Jahre 1278 mit der Gemeinschaft der auf
den Champagner Messen verkehrenden lombardischen
und toskanischen Kaufleute ein Abkommen traf, das dar-
auf hinauslief, an Stelle von Montpellier das zum fran-
zösischen Königreiche gehörige Ntmes mit dem Seehafen
Aigues-Mortes zum Umschlagsplatz für den italienisch-
französischen Handelsverkehr zu machen, haben auch
zwei Konsuln von Venedig bei diesem Abkommen mit-
gewirkt.')
Aus solchen Tatsachen hat Perret, der Geschicht-
schreiber der Beziehungen Frankreichs zu Venedig im
Mittelalter, den Schluß ziehen zu können geglaubt, daß
zweifellos um diese Zeit die venezianischen Fahrten nach
Flandern und Aigues-Mortes organisiert worden seien*)
*) Siehe hierüber meine bis 1250 geführte Handelsgesch. der
romanischen Völker des Mittelmeergebiets (München und Berlin
1906) S. 606.
*) A. Germain, Hist, de la commune de M. (Mp. 1851) II, 522.
*) Ordonnances des rois de France IV, 669. Goldschmidt,
Universalgesch. d. Handelsrechts I, 195 ff.
*) P. M. Perret, Hist. des relations de la France avec Venise
du XI 11^ sUcle ä l'avinement de Charles VIII (Paris 1896, nach-
gelassenes, für das 14. und 15. Jahrhundert wegen der archiva-
lischen Forschungen, die es enthält, sehr verdienstliches Werk
des allzufrüh verstorbenen Verfassers) I, 14.
32 Adolf Schaube,
— ein Schluß, der, wenigstens was Flandern betrifft,
allzu kühn genannt werden muß. Allerdings weiß er
zur Unterstützung seiner Ansicht noch einen Beschluß
des Großen Rats von Venedig vom März 1289 anzuführen,
wonach die Kaufmannsgaleeren, die nach Frankreich und
Flandern gingen, mit Rücksicht auf die kriegerischen
Zeitläufte von Kriegsschiffen geleitet werden sollten^);
wäre das richtig, so würden wir die venezianischen
Galeerenfahrten nach Flandern allerdings als im Jahre
1289 schon völlig eingebürgert erachten müssen. Die
ganze Angabe Perrets beruht aber nur darauf, daß er
seinen Gewährsmann Marin völlig mißverstanden hat.
Das Dekret des Großen Rats vom 25. März 1289 hat
einen ganz anderen Inhalt; es zieht nur eine frühere
Verordnung, die den Venezianern die Schiffahrt in den
Gewässern zwischen Civitavecchia und Nizza wegen des
Krieges zwischen Genua und Pisa verboten hatte, zurück,
da der Grund des Verbots nunmehr fortgefallen sei.^)
Im Hinblick auf dieses Dekret hat Marin dann an anderer
Stelle^) verallgemeinernd ausgeführt, daß Venedig im
Falle eines Krieges zwischen den westlichen Seemächten
seinen Untertanen den Seehandel nach Westen hin zu
untersagen pflegte; zu größerer Sicherheit des Handels
habe man sodann allgemein bestimmt (venne poi stabi-
lito), daß Waren nach Frankreich und nach Flandern
ebenso auf den großen, gleichmäßig für den Handels-
wie für den Kriegsgebrauch verwendbaren Galeeren zu
transportieren seien, wie es im Verkehr mit der Romania,
mit Trapezunt und Zypern üblich war. Aus dieser der
Zeit nach völlig unbestimmt gelassenen und quellen-
mäßig nicht weiter belegten Bemerkung Marins hat sich
Perret den Inhalt des Dekrets von 1289 konstruiert; daß
Marin selbst diesen Inhalt an anderer Stelle getreu an-
gibt, ist ihm entgangen.
Am meisten Anklang hat bisher der Ansatz der
ersten Fahrt venezianischer Galeeren nach Flandern zum
^) Perret I, 15 unter Zitierung von Marin V, 297.
«) Marin V, 196.
») Ebd. p. 297.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 33
Jahre 1317 gefunden. Er rührt von Rawdon Brown
her, dem eifrigen und glücklichen Durchforscher der
venezianischen Archive; seine Ansicht hatte um so mehr
Anspruch auf allgemeine Beachtung, als sie unmittel-
bar aus dem archivalischen Material Venedigs geschöpft
war.^) Es ist daher nur natürlich, daß so bedeutende
Forscher wie L. Goldschmidt 2), W. Götz»), G. Schanz*),
Gh. de la Roneifere ^), sich dieser Ansicht einfach an-
geschlossen haben, und es entsprach durchaus dem
Stande der wissenschaftlichen Forschung, daß R. Mayr
das Datum 1317 auch in sein Lehrbuch der Handels-
geschichte aufgenommen hat.^) Heyd allerdings gab die
Ansicht Rawdon Browns nur mit einem Vorbehalt wieder.
Er machte darauf aufmerksam, daß sich Angaben über
die Frachtsätze für die mit den flandrischen Galeeren
Venedigs zu befördernden Waren schon in dem kauf-
männischen Handbuche Pegolottis vorfänden, und es sei
anzunehmen, daß dieser Florentiner seine Nachrichten
während seines Aufenthaltes in den Niederlanden in den
Jahren 1315—1317 gesammelt haben werde. '^) Nun ist
aber Pegolottis Pratica di Mercatura in Wahrheit erst
zwei Dezennien später verfaßt®), und ein so eminent auf
die Praxis berechnetes Werk konnte doch nicht veraltetes
Material geben ; zudem konnte es für ihn als ein Mitglied
*) Calendar of State Papers, relating to english affairs,
existing in the archives of Venice vol. I (1202 — 1509), ed. R. Brown
(London 1864), p. LXI, CXXII, CXXXII.
•) Universalgesch. d. Handelsr. I, 187.
•) Verkehrswege im Dienste des Welthandels (Stuttgart 1888)
S. 626 ff.
*) Englische Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters
(Leipzig 1881). Seine Behauptung freilich (I, 120): „Die ersten
sieben Fahrten der venezianischen Flottillen fielen in die Jahre
1317, 1319, 1322, 1325, 1334, 1336,' ist ganz unzutreffend; von einer
Regelmäßigkeit dieser Fahrten könnte ja dann auch keine Rede sein.
») Histoire de la marine franfaise I (Paris 1899), 382.
•) Wien 1894, S. 91 f.
0 Heyd 1. c. II, 720.
*) S. hierüber meine Abh. in Conrads Jahrb. 60 (1893), 56
Anm. 3.
HUtorische ZeitschrUt (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 3
34 Adolf Schaube,
des Welthauses der Bardi wahrlich nicht schwer sein,
sich fUr die verschiedensten Handelsgebiete zuverlässige
Nachrichten zu beschaffen. In der Tat wird sich uns er-^
geben, daß Pegolottis Angaben nicht auf die ersten An-
fänge, sondern auf ein späteres Entwicklungsstadium der
venezianischen Galeerenfahrten nach Flandern zu be-
ziehen sind. Heyds Bedenken gegen das Jahr 1317
ruhte also auf einer irrigen Voraussetzung. Wenn sich
Aloys Schulte in seinem großen, weit über das
in seinem Titel umschriebene Gebiet hinausgreifenden
Werk dahin äußert, daß der regelmäßige Schiffsdienst
zwischen Venedig und Flandern sehr wahrscheinlich 1317,
vielleicht schon etwas früher begonnen habe^), so mag
er durch Heyds Bedenken zu dieser vorsichtigen Stellung-
nahme veranlaßt sein; der Sache nach traf sie das
Richtige; die erste venezianische Galeerenfahrt nach der
Nordsee hat in der Tat schon ein paar Jahre zuvor
stattgefunden.
11.
Für die ersten Anfänge dieser Fahrten gibt es nun
wirklich keine andere und keine bessere Quelle als die
schon von Rawdon Brown benutzte. Die entscheidenden
Beschlüsse über diese Fahrten hatte der Rat der Pregadi
zu fassen; in seinen Akten müssen wir erwarten, auch
über die erste Einführung und Einrichtung dieser Fahrten
den zuverlässigsten Aufschluß zu finden. Leider hat es
ein ungünstiges Geschick gewollt, daß die Folianten
selbst, in denen diese Ratsbeschlüsse aufgezeichnet waren,
gerade für die Zeit, auf die es uns in erster Linie an-
kommen müßte, verloren sind: nur vom Dezember 1300
bis zum Februar 1302 und dann wieder seit dem März
1332 sind sie erhalten. Zum Glück aber besitzen wir
auch für die verlorene Foliantenreihe die Indices, die man
in der venezianischen Kanzlei zur Erleichterung der
*) Gesch. des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen
Westdeutschland und Italien mit Ausschluß von Venedig I (Leipzig
1900), 348.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 35
Auffindung früherer Beschlüsse hergestellt hat; unter be-
stimmten Stichworten, wie officiales armamenti, Provincia,
ambaxatores, geben diese „rubrice consiliorum de Rogatis
et Quadraginta'' j wie sie selbst sich nennen, mehr oder
minder kurz den Hauptinhalt der betreffenden Senats-
beschlüsse wieder. Durch das Verdienst Gius. Giomos
liegt uns diese wertvolle Quelle in sorgfältiger Publikation
vor^); der Abschnitt unter der Rubrik: „Flandria, Fran-
cia, Anglia, Maiorica, Yspania et Aragonia^ erregt natür-
lich am meisten unser Interesse; doch findet sich auch
unter anderen Rubriken manche für die Geschichte der
flandrischen Fahrten wichtige Notiz.
Diese Regesten sind nun an sich nicht datiert oder
doch nur ganz ausnahmsweise; doch sind sie innerhalb
jedes einzelnen Abschnittes nach den Folianten, denen sie
entstammen, geordnet, und wir wissen von jedem dieser
Bücher, welchen Zeitraum es umspannte.^) Was Flandern
betrifft, so ergibt sich, daß die ersten drei Bücher über
den Verkehr Venedigs mit diesem Lande überhaupt nichts
enthalten haben; erst mit dem vierten Buche, das den
Zeitraum vom Februar 1313 bis zum April 1317 umfaßte,
ändert sich das. Auf die diesem Buche entstammenden
Regesten'*) nun stützt sich die Ansicht Rawdon Browns,
daß die erste venezianische Galeerenfahrt nach der Nord-
see unter dem Kommando des zugleich zum Gesandten
für Flandern und England bestellten Gabriel Dandolo
gestanden habe und in das Jahr 1317 zu setzen sei.
Nun ist es merkwürdig, daß Brown ebenso wie alle
späteren Forscher ganz unbeachtet gelassen haben, daß
wir nicht nur das Buch, sondern auch die Stelle inner-
halb des Buches kennen, der die einzelnen Regesten
entnommen sind. Nur dann konnten ja diese kurzen
*) Le rubhriche dei Libri Misti dei Senato perduti, trascritte
da Gius, Giomo, erschien zuerst seit 1879 im Archivio veneto
vol. 17 — 30, dann separat unter dem Titel: / Misti dei Senato
della repubblica Veneta, 1293—1331. Venedig 1887. Ich zitiere
nach der Zeitschrift.
•) Übersicht darüber Arch, ven, 17, 129.
») Arch. ven. 19, 90 f.
3»
36 Adolf Schaube,
Regesten ihren praktischen Zweck erfüllen, wenn der
Epitomator jedem Regest auch die Blattzahl hinzufügte^
auf der der betreffende Beschluß zu finden war. Es liegt
auf der Hand, daß wir in diesen Blattzahlen ein ganz
wesentliches Hilfsmittel zur Datierung der einzelnen Be-
stimmungen besitzen, da die Beschlüsse des Rates der
Pregadi selbstverständlich in chronologischer Folge zur
Eintragung gelangt sind; aus besonderer Veranlassung
könnte ja auch einmal eine Abweichung davon statt-
gefunden haben, aber doch sicher nur höchst selten.
Wenn wir nun die Beobachtung machen, daß unter der
Rubrik Flandria etc, Buch IV, das Regest: „ser Gabriel
Dandulo sit capitaneiis et amhaxator*" mit der Blattzahl
182 versehen ist, während die ersten auf die Flandern-
fahrt bezüglichen Regesten die Blattzahlen 40, 41, 42,
43^) tragen, so ist damit allein schon zur Genüge dar-
getan, daß diese Bestimmungen sich unmöglich auf ein
und dieselbe Fahrt beziehen können. Die Zahl der
Blätter des Folianten hat, wie ich bei einer Durchmusterung
der Publikation Giomos festgestellt habe, 185 betragen,
allenfalls könnte es auch eins mehr sein; da der Band
mit dem April 1317 endete, so ist es für die Ernennung
Dandolos allerdings gerechtfertigt, sie in das Jahr 1317
zu setzen. Die Blätter 40 ff. gehören aber noch dem ersten
Viertel des Folianten an; die rein mechanische Wahr-
scheinlichkeit spricht also schon dafür, daß sie noch dem
ersten der vier Jahre, die der Foliant umspannte, also
dem Jahre 1313, zuzurechnen sind. Ein glücklicher Zu-
fall ermöglicht uns aber eine noch weit genauere Datie-
rung. Ein auf die Verleihung des venezianischen Bürger-
rechts bezüglicher Beschluß, der die Blattzahl 45 trägt,
findet sich in den Registerbänden der Provveditor del
Comun wieder und trägt hier das genaue Tagesdatum
des 3. Oktober 13132), und wie um jeden Zweifel aus-
*) Rawdon Brown selbst gibt von dem besonders reich-
haltigen Regest aus Blatt 41 ein schönes Faksimile (Nr. 2), das
diese Blattzahl sehr deutlich wiedergibt.
*) Giomo, Regesti di alcune deliberazioni del Senato „Misii*'
im Arch, ven. 31, 193, no. 302.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 37
zuschließen, sind wir auch für Blatt 46 in der Lage, ein
genaues Datum anzugeben: ein an dieser Stelle ver-
zeichneter, die Poschiffahrt betreffender Vertrag Venedigs
mit der Kurie und Ferrara trägt im Capitolare des Officio
al Cattaver das Datum des 8. Oktober 1313.^) Danach
haben wir die offenbar untereinander zusammenhängenden
Beschlüsse bezüglich der flandrischen Galeeren, die auf
Blatt 40—43 standen, zur zweiten Hälfte des September
anzusetzen, und da sich auf Blatt 41 die Bestimmung
fand, daß die Galeeren ihre Fahrt zwischen Anfang und
Mitte März anzutreten hätten, so sind wir damit auf ein-
fache Weise zu folgendem wichtigen Ergebnis gelangt:
Die für die erste staatlich organisierte Fahrt
venezianischer Galeeren nach Flandern ent-
scheidenden Beschlüsse sind im Rat der Pre-
gadi im September 1313 gefaßt worden; im
März 1314 haben die ersten „flandrischen
Galeeren" Venedig verlassen.
Es fragt sich, ob wir nun auch erkennen können,
welche Gründe für die Entschließung der venezianischen
Regierung im Herbst 1313 maßgebend gewesen sein
mögen.
Gerade in dieser Zeit hatte Venedig, das seit dem
Sommer 1312 von dem tüchtigen Dogen Giovanni Soranzo
geleitet wurde, seine volle Bewegungsfreiheit wiederer-
langt; der mit dem Heiligen Stuhl um Ferrara geführte
Kampf war zu Ende 2); die im Frühjahr 1309 über
Venedig verhängte päpstliche Exkommunikation war im
Februar 1313 feierlich aufgehoben worden, für den Ver-
kehr mit fremden Völkern von erheblicher Wichtigkeit,
da der päpstliche Bann nur zu leicht zum Anlasse oder
Vorwande eines gewalttätigen Vorgehens gegen die vene-
zianischen Kaufleute genommen werden konnte; die
Kapitulation von Zara (23. September 1313) stellte gerade
damals den vollen Frieden in der Adria wieder her.
>) Ebd. no. 303.
») S. über diesen Krieg die Monographie von G. Soranzo:
La guerra tra Venezia e la S, Sede per ii dominio di Ferrara
(a. 1308—1313). Cittä di Castello, 1905.
3S Adolf Schaube,
Auf der anderen Seite ließen sich zur selben Zeit
auch die Verhältnisse in den Niederlanden für friedliche
Handelsunternehmungen ungewöhnlich günstig an. Ende
Juli 1313 wurde zwischen König Philipp dem Schönen
von Frankreich und den Flamländern ein Abkommen
getroffen'), das Aussicht auf eine längere Dauer des
Friedens zu bieten schien ; sicher hatte die Signorie- bei
ihrem Beschluß auch schon Kenntnis davon, daß der
Papst am 27. August die Flamländer von dem Interdikt
befreit hatte, das wegen Verletzung der mit Frankreich
geschlossenen Verträge über sie verhängt worden war .2)
Waren damit die allgemeinen Vorbedingungen ge-
geben, unter denen der Entschluß der Signorie reifen
konnte, so fehlte es für Venedig auch nicht an ganz be-
stimmten Gründen, gerade damals den im Verkehr
mit Flandern bisher allein üblichen Landweg durch den
Seeweg zu ersetzen. Diese Gründe liegen in Irrungen
mit Mailand einerseits und in den Wirren im oberen
Deutschland anderseits. Für den Import der flandri-
schen Tuche auf dem Landwege kamen aber für Venedig
entweder die Straßen durch das mailändische Gebiet
oder die durch Tirol und Oberbayern fast ausschließlich
in Betracht. Im Sommer 1313 hatte der Rat der Pregadi
die formelle Erklärung abgegeben, daß das Vorgehen
der Mailänder gegen die Venezianer in Zollsachen mit
den bestehenden Verträgen nicht in Einklang zu bringen
sei^); man forderte Zurückgabe der seit zwei Jahren
überhobenen Beträge, widrigenfalls man zur Beschlag-
nahme der im venezianischen Machtbereich vorhandenen
^) Ratifikation desselben durch den apostolischen Legaten
am 3\. JuW; Cod, dipL Flandriae, ed. Th.de Limburg-Stirum
(Brügge 1879) I, 98.
') Genaue Darstellung der flandrisch-französischen Verhält-
nisse bei F. Funck-Brentano: Les Origines de la Guerre de Cent
Ans, Philippe le Bei en FL (Paris 1896) p. 527, 630, 635, 640.
.') Misli del senato 1. IV, c. 24: Declaratum fuit quod non
potueruntMediolanenses facere que fecerunt contra nostros de daciis.
Item quod satisfaciant nostris de denariis acceptis per eos a
2 annis citra, quod si non fecerint, intromitti faciemus bona eorum,
Arch. ven, 24, 98.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 39
mailändischen Waren schreiten würde. Im Oktober wurde
der Beschluß erneuert, als man den zu Verhandlungen
mit Mailand bevollmächtigten Unterhändlern Direktiven
für ihre Haltung gab; Venedig erklärte sich damals be-
reit, fUr jedes durch das Mailändische transitierende
Stück Tuch (pro qualibet pecia panni) 30 imp. und die
seit alters in Ponte Tresa am Luganer See und am Lago
Maggiore für den Erzbischof erhobenen Abgaben zu
zahlen, während die Mailänder von jedem Stück Tuch
bei der Einfuhr nach Venedig 10 sol. ven. entrichten
sollten.^) Doch dauerte die Differenz noch geraume Zeit
an, wie aus der im folgenden Jahre abgegebenen Er-
klärung hervorgeht, daß die in Venedig seßhaft ge-
wordenen mailändischen Handwerker von dem Vorgehen
gegen die Mailänder nicht mit betroffen werden sollten.^)
Waren so die westlichen Alpenstraßen für den vene-
zianischen Handel gesperrt oder doch nur unter er-
heblichen Schwierigkeiten zu benutzen, so waren die
östlichen mindestens stark gefährdet durch die Kämpfe,
die im oberen Deutschland zwischen den oberbayerischen
Herzögen und den habsburgischen Brüdern ausgebrochen
waren, Kämpfe, die bekanntlich am 9. November 1313
zu der Schlacht bei Gammelsdorf geführt haben^); dazu
hatte der am 24. August in Italien erfolgte Tod Kaiser
Heinrichs VII. die Aussicht auf eine weitere Steigerung
der deutschen Wirren eröffnet, so daß auch die östlichen
Landwege für längere Zeit für den friedlichen Handels-
verkehr in hohem Grade unsicher erscheinen mußten.
Unter diesen Verhältnissen lag es nahe genug, das
System der Fahrten mit armierten Galeeren, das Venedig
für den Transport wertvoller Waren im Verkehr mit der
Levante seit geraumer Zeit erprobt hatte, nunmehr auch
auf den Verkehr mit Flandern zu übertragen. Das lag
um so näher, als man damit nicht etwa noch ganz un-
0 MisH IV, c. 48; 1. c.
•) Non incUidantur in processibus contra Mediolanenses f actis,
ib. c. 72; Verbot der Einfuhr mailändischer Tuche: ib. c. 113.
») Näheres S. Riezler, Gesch. Bayerns II (1880), 298 f., 304.
Erst 17. April 1314 Friede zu Salzburg.
40 Adolf Schaube,
betretene Pfade des Seeverkehrs einschlug. Vielmehr
war die Handelsschiffahrt der mit Venedig rivalisierenden
Mittelmeermacht, der Genuesen, nach England sowohl
wie nach Flandern damals schon in vollem Gange ^);
so trat zu allem anderen noch der Antrieb hinzu, den
Wettbewerb mit der Nebenbuhlerin auch auf dem Gebiete
der ozeanischen Handelsschiffahrt aufzunehmen.
III.
Über die Organisation der ersten Flandernfahrt hatte
der Rat der Pregadi sehr eingehende Bestimmungen
getroffen; auch was uns die Regesten davon erhalten
haben, ist verhältnismäßig reichhaltig. 2)
Vor allem interessiert, daß diese erste Fahrt vom
Staate recht beträchtlich subventioniert worden ist. Zu
«der Fahrt wurden Galeeren von zweierlei Art, eines
größeren und eines kleineren Typs, zugelassen; den
Unternehmern zahlte der Staat eine Subvention, die bei
den kleineren Galeeren 15 1. gr. monatlich (rund 1500 M.)
betrug.^) Wenn sie bei den größeren Galeeren um ein
Fünftel geringer war, so wird man zunächst geneigt sein,
den Grund für diese Differenz in ihren größeren Fracht-
einnahmen zu suchen; indessen wird dieser Grund da-
durch hinfällig, daß auch die Frachtsätze bei den größeren
Galeeren um ein Fünftel niedriger normiert wurden als
bei den kleineren. Es scheint mir nur die Annahme
übrigzubleiben, daß die Regierung einer auf Ver-
wendung des größeren Galeerentyps für die neuein-
gerichteten Flandernfahrten gerichteten Strömung zwar
insoweit nachgab, als sie diese Galeeren überhaupt zu-
ließ, daß sie aber andererseits alles tat, um den arma--
tores die Wahl der kleineren Galeeren empfehlenswert
*) Den Genuesen gebührt das Verdienst, die Trennung der
Seehandelsgebiete des südlichen und des nordwestlichen Europa
aufgehoben zu haben ; auch dieser wichtige Vorgang bedarf noch
besonderer Untersuchung.
«) Misti Senato 1. IV, c. 40-43 im Anh. ven, 19, 90 f.
») Volentes armare in Flandria cum galeis minoris mensure
habeant /. 15 in mense grossonim, et cum galeis majoris mensure
L 12 in mense gr.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 41
erscheinen zu lassen. Übrigens entsprachen diese kleinen
Galeeren in ihren Größenverhältnissen den für die Fahrten
nach Klein-Armenien gebräuchlichen; ausdrücklich wird
bestimmt, daß sie so viel Ladung einnehmen dürften wie
die armenischen Galeeren.^) Weiterhin ist dann von
zwei verschiedenen Typs der flandrischen Galeeren nie
mehr die Rede; der kleinere Typ dieser „galee grosse"
(denn als solche werden alle bei diesen staatlich organi-
sierten Fahrten verwendeten Galeeren bezeichnet) hat
also rasch den Sieg davongetragen.
Die Subvention wurde für 4 Monate auf jeden
Fall gezahlt; verstrich bis zur Heimkehr der Galeeren
eine längere Zeit, so wurde die Subvention entsprechend
erhöht, jedoch nicht über eine Gesamtzeit von 6 Monaten
hinaus. Man veranschlagte also die für eine solche
Galeerenfahrt nach Flandern bis zur Wiederankunft in
Venedig erforderliche Zeit auf durchschnittlich fünf
Monate; rechnet man auf den Aufenthalt in Flandern
rund 50 Tage, so nahmen Hinfahrt und Rückfahrt im
Durchschnitt eine ebenso lange Zeit in Anspruch.
Zur Deckung der für die flandrischen Galeeren er-
forderlichen Mittel wurde die Behörde der Extraordinarii
angewiesen, dem Konstantinopler Fonds leihweise 10000 1.
(rund 30000 M.) zu entnehmen; es ist das ein Betrag,
der gerade ausgereicht haben würde, um die viermonat-
liche Subvention für fünf kleinere Galeeren zu be-
streiten.
Nicht ganz sicher ist, ob eine Stelle der Regesten,
nach der dem von der Regierung ernannten Geschwader-
kommandeur (capitaneus) das Recht der Annahme der
Armbrustschützen und der Ruderer (^Äß//5/am und vogerii)
zustand und ihm auf Kosten der Regierung ein Navi-
gationsoffizier (admiratus) und ein Arzt mitgegeben
wurden, sich gerade auf unsere Fahrt bezieht 2); daß sie
') Später, Anfang 1329, heißt es einmal: Galee navigaiure
ad dictum viagium Flandrie et Armenic sint unius calapi et men-
sure etc. Misti Sen, XI, c. 67 {Arch, ven, 19, 100).
«) Misti 1. IV, c. 74, rubr, : „galee annale indifferenter per spe-
ciales personas," Arch, ven. 18, 52.
42 Adolf Schaube,
aber auch auf diese zutrifft, ist mit Sicherheit anzu-
nehmen.
Um das Gelingen der neueingerichteten Fahrt mög-
lichst sicherzustellen, beschloß man, von den mancherlei
für solche Fahrten sonst üblichen Beschränkungen ab-
zusehen; danach wurden Fremde für die Ausreise wie
für die Rückfahrt mit diesen Galeeren allgemein zu-
gelassen und den armatores die Annahme von Waren
jeglicher Art von jedermann ebenfalls für Hin- wie Rück-
fahrt zugestanden, natürlich nur soweit die zulässige
Maximalbelastung dadurch nicht überschritten wurde.*)
Die Haupteinnahme der armatores oder patroni be-
stand natürlich in den Frachtgeldern, die ihnen zufielen.
Ihre Höhe wurde vom Staate festgesetzt und \yar für
die kleineren Galeeren^) in folgender Weise normiert:
Bei groben Waren (havere grosso) einschließlich Alaun
waren vom Tausend kleiner Pfund (302,4 kg) 20 sol.
gross. (97,5 M.) zu erheben; bei feinen Waren (havere
sottile) betrug der Frachtsatz für die Last von 400 kleinen
Pfund 15 sol. gr., für das kleine Tausend also 37^2 sol.
gr., beinahe doppelt so hoch wie bei groben Waren.
Ausgenommen waren besonders wertvolle Waren, bei
denen die Fracht nach Wertanteilen berechnet wurde;
bei Edelmetallen und Kostbarkeiten (predaria) waren
2%, bei Drogen (speciaria), Seide und ähnlichen Waren
2V2%> bei Kermes (grana) 3^2% vom Wert an Fracht
zu entrichten.
Fanden diese Sätze in erster Linie bei der Ausreise
Anwendung, so kamen für die Rückreise vor allem die
Sätze für Tuche und Wolle in Betracht. Vom Ballen
Tuche zu je 10 Stück wurden 20 sol. gr., vom Ballen Wolle
im Gewicht von 500 kleinen Pfund 30 sol. gr. an Fracht
*) Qui recipiant omnes mercaiiones ab omnibus, tarn eundo
quam redeundo, usque ad suum plenum,
') Für die größeren heißt es nur: Galee vero majoris men-
sure accipiant de naulo quintum minus predictis ; auch daraus
geht hervor, daß man die kleineren Galeeren als die eigentlich
in Betracht kommenden ansah.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 4^
erhoben. Das bedeutet für Wolle 60 sol. gr. vom kleinen
Tausend, also das Dreifache des Frachtsatzes für grobe
und mehr als das Anderthalbfache des Frachtsatzes für
feine Waren. Für Tuche stellt sich das Verhältnis
weniger hoch. Den Ballen panni nobiles, und nur solche
kamen bei dem Tuchexport aus Flandern in Betracht,
rechnete man in Venedig zu 260 großen Pfund Gewichts^
was rund 400 kleinen Pfund entspricht^), so daß sich
also für das kleine Tausend ein Frachtsatz von rund
50 sol. gr. ergibt. Auf unser metrisches Gewicht reduziert,
würden wir also für ein Quantum von 100 kg folgende
Frachtskala erhalten:
havere grossum einschließlich Alaun 32,24 M.
havere sottile (Gewürze etc.) . . . 60,45 „
Tuche 80,60 „
Wolle 96,72 „
Während die Frachtgelder den Unternehmern zu-
fielen, bestand der direkte Gewinn, den der Staat aus
diesen Galeerenfahrten zog, in den Zolleinnahmen. Als
Grundsatz wurde hingestellt, daß die Einfuhrzölle von
den mit diesen Galeeren importierten Waren in der-
selben Höhe erhoben werden sollten, als wenn ihr Trans-
port auf dem Landwege erfolgt wäre; für flandrische
Tuche wird dieser Grundsatz noch besonders hervor-
gehoben, während für Wolle ein besonderer (niedrigerer)
Zoll in Höhe von \%% des Wertes festgesetzt wurde. 2)
Als man im Oktober oder November, in einigem Wider-
spruch mit dem vorher aufgestellten Grundsatz voller
Bewegungsfreiheit, den flandrischen Galeeren die Mit-
führung von ribolium (Most, Schaumwein) bis zu 40
Amphoren (240 Hektoliter) gestattete, setzte man für
*) Genauer 410,8 Pfund; nach Pegolotti war das Verhältnis
der beiden Pfunde wie 100:158.
*) Adducentes drappariam de Flandria cum galeis solvant
datium sicut $i adducerentur per terram. De lana vero et aliis
solvatur Ih pro centenario. Wenn es danach scheinen könnte,
daß 1V,% der auch sonst geltende Satz war, so heißt es doch
weiterhin allgemein: Datium solvatur quantum solveretur sl ad-
ducerentur per terram.
44 Adolf Schaube,
diesen Artikel einen Ausfuhrzoll von 3 gr. pro urna
(1,22 M.) fest.i)
Die Abfahrt der Galeeren ging im zeitigen Frühjahr
vor sich; bei einer Konventionalstrafe von 5000 1.
(15000 M.) hatten sich die Unternehmer verpflichten
müssen, die Ausreise zwischen dem 1. und 16. März 1314
anzutreten. Im übrigen wissen wir von dieser ersten
flandrischen Galeerenfahrt nur, daß Mallorka unterwegs
angelaufen wurde, wo ein venezianischer Unterhändler
an Land gehen sollte. 2)
In den Jahren 1315 und 1316 haben staatlich organi-
sierte Galeerenfahrten nach Flandern nicht stattgefunden.
Im Frühjahr 1315 etwa faßte vielmehr der Rat der Pre-
gadi bezüglich der Handelsschiffahrt nach Flandern
folgenden Beschluß: Terra aperiatur ita, quod navigia
Venetorum possint ire in Flandriam et redire dando
plezariam de exequendo vlagio, et Veneti et forenses
possint ducere et portare ut poterant cum galeis,
que pridie navigarunt^) Zunächst beweist also die
Stelle, daß die vorjährige Galeerenfahrt, was immerhin
noch hätte bezweifelt werden können, wirklich zur Durch-
führung gelangt ist. Sollte man aber das „pridie'^ des
venezianischen Kanzleistils nicht auf das vergangene
Jahr beziehen wollen, so müßte man annehmen, daß
kurz vor diesem Ratsbeschluß schon eine zweite Galeeren-
») Lib. IV, c. 50 (Arch, ven. 19, 91). „Riboilium et vinum quod
conducetur de partibus Sclavonie^ heißt es 1339 in einem vene-
zianischen Abgabentarif; S. Romanin, ßtoria documentata dl
Venezia IM, 384.
*) Lib. IV, c. 49: Miitatur una persona cum eis (seil, galeis
Flandr.) ostensura nostram justiclam contra Petrum Glronum.
Sein Schiff S. Antonius war im Hafen von Konstantinopel von
der venezianischen Flotte unter Ruggiero Morosini verbrannt
worden, was Anlaß zu jahrelangen. Verhandlungen mit Mallorka
und Aragon gab. Commemoriali ed. Predelli 1, no. 556 (1312),
558 (1313), 643 (1314 f.), 710 (1316). S. auch Arch, ven, XVII, 260
(1. in, c. 131, 133): Mittantur Regi Major, sententia et processns
facti in questlone Petri Gironi,
•) Misti 1. IV, c. 118; Arch, ven, 19, 91. Kürzer unter der
Aufschrift: disarmatum navigium, ib. 105: Terra aperiatur dlsar^
matis navigils eundl in Flandriam et forensibus.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 45
fahrt nach Flandern abgegangen sei; allerdings wissen
wir, daß die Signorie beschlossen hatte, für dieses Jahr
acht Galeeren zum Zwecke des Handels in eigener Regie
auszurüsten^); ob aber einige davon für Flandern bestimmt
waren, steht doch sehr dahin.
Keinesfalls aber darf man aus dem Unterbleiben der
staatlichen Fahrten in diesem und dem folgenden Jahre
auf ein Mißlingen der ersten Galeerenfahrt schließen.
Vielmehr ist die Ursache für dieses Unterbleiben in
erster Linie gerade in dem Umstände zu suchen, den
man früher als Grund für den Beginn der direkten See-
fahrten der Italiener nach der flandrischen Küste geltend
machen zu können gemeint hat 2): in der strengen
Handelssperre, die der Nachfolger Philipps des Schönen,
Louis X., aus Anlaß des bald wieder ausgebrochenen
Zwistes mit Flandern im Jahre 1315 diesem Lande gegen-
über proklamierte und so eifrig betrieb, daß er auch
König Robert von Neapel und den englischen König,
dessen Beamte sich freilich bald sehr lässig erwiesen,
zum Anschluß an diese Sperre zu bestimmen wußte.^)
Die venezianische Politik aber strebte in dieser Zeit kon-
sequent danach, das gute Einvernehmen mit Frankreich
aufrechtzuerhalten. So fürchtete Venedig offenbar, durch
Fortsetzung seiner staatlich organisierten Galeerenfahrten
den Schein der Parteinahme für Flandern zu erwecken.
Andererseits erschien ihm die Weiterentwicklung der
eben angeknüpften direkten Handelsbeziehungen zur See
') Misti 1. IV, c. 106, rub. „Armate galee per comune ad mer-
catum^ : Armentur per Comune galee 8 pro mercatoribus {Arch.
ven, 17,260). Die Zeit läßt sich nur ungefähr danach bestimmen,
daß c. 46 zum 8. Oktober 1313, c. 147 aber zum 18. Oktober 1315
datiert (ib. 31, 194, no. 306).
«) Schanz I. c. I, 118: Ein politisches Zerwürfnis zwischen
Frankreich und Flandern (1315/16) trug hauptsächlich dazu bei usw.
•) Genaueres über die damaligen Kämpfe bei de La Roneifere
I. c. 375 ff., über den Anschluß König Roberts bei G. Yver, Le
commerce et les marchands dans VItalie märidionaie (Paris 1903)
p. 216 f. Antwort Eduards II. auf französische Beschwerden über
fortwährende Transporte zwischen England und Flandern bei
Rymer, Foedera 111, 555 (17. März 1316).
46 Adolf Schaube,
mit Flandern doch so wichtig, daß es die Handelsschiff-
fahrt von Venedig nach Flandern völlig freigab und nur
zur Sicherung der Teilnehmer an diesen Fahrten von
den Schiffseignern Bürgschaftsstellung dafür verlangte,
daß sie ihre Reise auch wirklich durchführten. Eine
besondere Vergünstigung gewährte die Signorie für diese
Fahrten noch dadurch, daß sie für die Ausfuhr kretischen
Weines von Venedig nach Flandern Zollfreiheit zugestand^),
für einen Exportartikel also, der namentlich im Verkehr
mit England (Malvasier) zu erheblicher Wichtigkeit
gelangt ist.
Im Jahre 1316 gab die schwere Hungersnot, die die
Niederlande und die angrenzenden Teile von Deutsch-
land, Frankreich und Burgund sowie England heimsuchte,
für die Ausdehnung der Handelsschiffahrt des Mittel-
meergebiets nach der Nordsee noch einen besonderen
Anstoß; Villani weiß uns zu berichten, daß der Mangel
an Lebensmitteln in diesen Gebieten so groß war, daß
alle Hungers gestorben wären, wenn die Kaufleute nicht
um des hohen Gewinnes willen, der ihnen hier winkte,
Lebensmittel zur See aus Sizilien und Apulien nach den
Gestaden der Nordsee geschickt hätten.^) Daß Venezianer
an diesem Handel beteiligt waren, ist um so mehr anzu-
nehmen, als zu jener Zeit ein großer Teil des Getreide-
exports aus Unteritalien in ihren Händen gelegen hat.*)
Gerade in diesem Jahre sehen wir in der Tat auch
venezianische Schiffe an der englischen Küste auftauchen.
Die ,,Rugine de Venesia" und die „Dode de Venesia^,
zwei Fahrzeuge, die als „dromonds'' bezeichnet werden*),
») Misti Sen. 1. IV, c. 119 (Arch, ven. 19, 91).
*) Giov. Villani, Chroniche storiche etc., ed. Dragomanni,
1. IX, c. 80.
') S. meine Handelsgesch. S. 493.
*) Calendar of the Patent Rolls, Edward II, 1313—1317 (Lon-
don 1898), p. 510. Die englische Bezeichnung dromond scheint
identisch mit der italienischen tarida, über welche Heyck: Genua
und seine Marine (Innsbruck 1886) S. 81 ff. zu sehen. Eine tarida
der Ruzzini wird 1312 in einem Bericht des venezianischen Bailo
von Armenien erwähnt : Commemoriali I, no. 550. Die Namen der
Schiffe beziehen sich, wie in Venedig üblich, auf ihre Padroni.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 47
mit Wein und anderen Waren beladen, erschienen im
Sommer dieses Jahres im Kanal; am 8. Juli I3I6 wurden
ihren Patronen Luca Ruzzini einerseits, Niccolb Duodo
und Pietro Amato andererseits, zugleich für alle Leute und
Waren auf ihren Schiffen königliche Geleitsbriefe aus-
gestellt, die bis Michaeli Gültigkeit hatten. Hatte König
Eduard II. doch am 16. März dieses Jahres in einer be-
sonderen Proklamation allen Kaufleuten und Fremden,
mit Ausnahme der Flamländer und der Schotten, die
Feinde des englischen und französischen Königs seien,
um falschen Auffassungen zu begegnen, sicheres Geleit
auf ein Jahr verheißen, wenn sie mit Getreide und anderen
Lebensmitteln, Wein, Spezereien und anderen Waren in
sein Königreich kämen.^)
Es ist das älteste Zeugnis von einem Verkehr vene-
zianischer Schiffe mit England, das wir besitzen; auch
von einem Handelsverkehr der Venezianer, der sich auf
dem Landwege bis England hinüber erstreckt hätte, sind
vorher nur sehr geringe Spuren wahrzunehmen.^) Das gilt
auch noch für die ganze Regierung König Eduards I. (1272
bis 1307). Während die acht starken, auf diese Zeit be-
züglichen Bände der Patent und Close Rolls eine Fülle ita-
lienischer Namen enthalten, begegnet nur ein einziges Mal
ein venezianischer Kaufmann unter ihnen; am 15. Januar
1281 wurden 200 m. st. zur Auszahlung an Jakob von
Venedig, der in geschäftlichen Beziehungen zur Königin
Eleonore stand, angewiesen.^) So beruht denn auch die
Nachricht von einem Privileg, das König Eduard den
") Fat, Rolls 1. c. p. 440 (zur Hungersnot vgl. p. 501, 23. Mai
1316).
«) Hierüber, besonders auch über die merkwürdige Rolle des
Job. Sucuhull, s. meine Handelsgesch. S. 412.
») CaL of the Patent Rolls (1272—1281) p. 422. Dagegen ist
Peter de Veneise, der 10. März 1273 unter lauter Engländern ge-
nannt wird, gegen die eine Witwe in der Grafschaft Middlesex
wegen des Todes ihres Gemahls eine Klage eingereicht hat (ib.
p. 32), schwerlich ein Venezianer. Die Bände der Patent und
Close Rolls liegen nunmehr für die Regierungen Edwards 1. und 11.
vollständig vor, mit alleiniger Ausnahme des 5. Bandes der Close
Rolls für Edward I. (1302-1307).
48 Adolf Schaube,
Venezianern im Jahre 1304 verliehen haben sollte, nur
auf einem argen Mißverständnis Baschets und Roma-
nins, und nur dieses wieder ist die Quelle Hazlitts,
wenn dieser leichtfertige Schriftsteller auch die Miene
annimmt, als ob er das Privileg des Königs selbst ge-
sehen, so daß er sogar mancherlei aus seinem Inhalt
mitzuteilen weiß.^)
IV.
Im Januar 1317 beschloß man in Venedig, die Ga-
leerenfahrten nach Flandern wieder aufzunehmen 2); waren
doch auch zwischen Frankreich und Flandern trotz der
fortbestehenden Gegensätze die Handelsbeziehungen seit
dem Spätherbst 1316 wiederhergestellt worden.*) Man
stellte diesmal geeigneten Bewerbern vollständig aus-
gerüstete Galeeren (cum armis et corredis) von Staats
wegen unentgeltlich zur Verfügung; zwei der armatores
für diese Fahrt, Michele Dolfin und Dardi (Leonardo)
Bembo, dem wir noch mehrfach begegnen werden, sind
uns mit Namen bekannt. Man regelte nun auch die
Oberfahrtskosten für die Kaufleute, die die Fahrt mit-
machten; wenn ein famulus sie begleitete, hatten sie
3 grossi (1,22 M.) pro Person und Tag, sonst nur 2 grossi
(0,81 M.) zu zahlen. Der Geschwaderkommandeur sollte
») Baschet 1. c. beruft sich auf einen acte authentlque d*une
concession de libre commerce aux V, en Fl andre et en Angleterre
von 1304 in den Libri commem, des Archivs t. I, p. 60 f., ebenso
Romanin III, p. 99 Anm. 9. Wie das für Flandern und England
zugleich geschehen sein sollte, bleibt unklar; in Wahrheit zeigt
uns der Druck der Commemoriali durch Predelli, daß an dieser
Stelle „lettere^ der gardes des foires gegen zwei von der Messe
von Troyes flüchtige Venezianer vom Oktober 1304 stehen; unter
den Geschädigten ist ein Tuchkaufmann von Mecheln und ein
Rob. Anglicus von Provins, Commem. 1, no. 188—204. Vgl. W. C.
Hazlitt, The History of the origine and rlse of Venise (London
1858 ff.) 111, 39 und IV, 241 (ohne Quellenangabe).
») Misti Senato 1. IV, c. 166-169 (Arch. ven, 19, 91 f.), zeitlich
gut bestimmt dadurch, daß ein Beschluß vom 27. Januar 1317 auf
c. 168 stand (ib. 31, 194, no. 308).
•) König Philipp V. bewilligte den Flamländern am 5. Nov.
1316 sogar ein Moratorium; L. Gilliodts-van Severen, Inventaire
des Chartes de Bruges VI (Brügge 1876), 530, no. 1321.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 49
gleichzeitig mit den Funktionen eines Gesandten betraut
werden^); seine Wahl erfolgte erst kurz vor der Abfahrt
der Galeeren, im April; sie fiel auf Gabriel Dandolo.^)
Brown und Heyd nehmen an, daß er auch mit einem
Kreditiv für England versehen gewesen sei.») Ein
positiver Anhalt dafür fehlt; ich halte es gerade deshalb
für unwahrscheinlich, weil er zugleich Admiral war und
seine Flottille schwerlich für längere Zeit im Stiche lassen
durfte, um nach London zu gehen.
Auf den guten Erfolg seiner Sendung nach Flandern
läßt sich daraus schließen, daß im folgenden Jahr, 1318,
zum erstenmal zwei Galeerenfahrten nach Flandern
stattgefunden haben. Schon im Dezember 1317 beschloß
man eine starke Herabsetzung der 1313 normierten Fracht-
sätze ; von 37^2 sol. gross, für das kleine Tausend feiner
Waren ging man auf 27 herunter.*) Vor allem aber tritt
die günstige Entwicklung, die die Flandernfahrten ge-
nommen^), darin zu Tage, daß sich nun zuerst Unter-
nehmer fanden, die bereit waren, für die Überlassung
staatlicher Galeeren für diese Fahrt einen nicht ganz un-
erheblichen Preis zu zahlen; auf eine Petition des Marino
>) Hierher gehört Arch, ven. 18,53, Rubrik: Galee armate etc.:
Capitaneus fiat et ambaxator habiturus Ib. 4 in mense; solemni-
tos electionis et commissio ; c. 67 steht hier irrig für 167. Sein
Gehalt war also pro Monat auf etwa 400 M. bemessen.
•) Lib. IV, c. 182 {Arch. ven. 19, 92).
») R. Brown 1. c. p. LIII (außerdem irrig zu 1316), CXXII.
Heyd II, 720.
*) Lib. V, c.26f. (Arch. ven. 19, 92). Zur Zeitbestimmung:
auf Blatt 19 des im ganzen 193 Blatt vom Mai 1317 bis März 1320
umfassenden 5. Buches stand ein Beschluß vom 28. Oktober, auf
Blatt 23 ein solcher vom 29. November 1317. Über die Fracht-
sätze bemerkt der Epitomator nur : Naulum galearum FL sit sol-
dorum 27 gr. de milliare subtili, et cetera multa. Übrigens wurde
die Zollfreiheit für diese Fahrt zuerst auch auf istrischen Wein,
Rosinen und gequetschte Trauben (uva passa et masere) aus-
gedehnt. Lib. V, c. 32, 37 (ib.).
*) An einer der ersten F'ahrten nach Brügge hat auch der
bekannte Verfasser des Über Secretorum fidelium Crucls (voll-
endet 1321), Marino Sanudo, teilgenommen (Bongars II, 72): Jam
ego presens cap. consumaveram, et ecce per mare de Ven. ad
partum Cluse in Flandriam cum galeis armatis veniens etc.
HistorUche Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 4
BO Adolf Schaube,
Zeno beschloß man, falls er selbst keine geeignete Galeere
besäße, ihm eine solche von Staats wegen für 10 1. gr.
(rund 1000 M.) monatlich zu vermieten; in derselben
Weise sollte mehreren anderen Personen gegenüber ver-
fahren werden.*) Schließlich ging, im Februar oder
anfangs März 1318, ein Geschwader von drei Galeeren
unter dem Kommando von Paolo Morosini nach Flandern
ab; als es die Balearen passierte, suchten und fanden
griechische Sklaven, die offenbar von den Katalanen aus
ihrer Heimat im Archipel auf einem ihrer Raubzüge
entführt worden und nun auf einer Barke entflohen waren,
bei den Venezianern eine Zuflucht; Morosini schützte
sie, und auch Dardi Bembo, der auf der Rückfahrt das
Kommando führte, verweigerte dem Statthalter von
Mallorka gegenüber ihre Herausgabe.^)
Die zweite Fahrt dieses Jahres ist darum denkwürdig,
weil sie zuerst Antwerpen zu ihrem Ziele hatte, während
bis dahin Brügge mit seinem Hafen Sluis am Zwyn, der
Haupthandelsplatz Flanderns, das selbstverständliche Ziel
dieser Fahrten gewesen war. Der zeitgenössische niederlän-
dische Chronist van Heyst berichtet uns, daß im Mai 1318
zwei „ghaleyen van Venegien^ nach Antwerpen kamen;
ausdrücklich betont er, daß dies die ersten Galeeren
gewesen seien, die den Hafen von Antwerpen angelaufen
hätten.^) Aus unseren Regesten geht das besondere Ziel
dieser Fahrt nicht hervor, wohl aber bestätigen sie, daß
an dieser Fahrt in der Tat nur zwei Galeeren teilge-
nommen haben ; für eine größere Zahl von Schiffen mag
>) Lib. V, c. 28 {Arch. ven. 19, 93).
') Als Piero di Cardona von Mallorka wegen dieses ^Raubes**
der Venezianer im Frühjahr 1320 persönlich in Venedig eine ihn
befriedigende Entschädigung erlangte, rief das immer weitere
Ansprüche hervor, die bei Dalmasio de Banolis, dem neuen
Statthalter von Mallorka, bei den Venezianern von Zara her in
sehr üblem Angedenken, eifrige Förderung fanden. Commem, II,
Reg. no. 214, 219, 234, 260. Wenn Dalmasio als Jahr der Tat 1317
angibt, so erklärt sich das aus der Jahreszählung von Ostern zu
Ostern. Ober Dalmasio s. Romanin III, 91 ff.
») D'Boeck der Tyden, 158 bei F. H. Mertens en K. L. Torfs,
Geschiedenis van Antwerpen II (A. 1846), 90.
Die Anfänge der venez. Gaieerenfahrten nach der Nordsee. 51
die Fracht, die sich für Antwerpen fand, wohl nicht aus-
gereicht haben. Der Rat der Pregadi hatte sich die Aus-
wahl der Padroni für die beiden staatlichen Galeeren
aus der Zahl der Bewerber vorbehalten^); am Tage
nach der Wahl hatten sich die Gewählten endgültig zu
entscheiden. Im September waren sie wieder in Venedig
zurück; damals beschloß man, die beiden Schiffe, die sich
offenbar sehr gut bewährt hatten, sogleich wieder an die
Bestbietenden zu vermieten.^) Eine Unfreundlichkeit gegen
Brügge braucht man in dieser Fahrt nach Antwerpen
um so weniger zu sehen, als sie der Fahrt nach Brügge
so rasch gefolgt ist ; die Galeeren der ersten Reise waren
sicher noch nicht zurück, als die zweite angetreten wurde.
Es war nur natürlich, daß Venedig auch mit dem Haupt-
handelsplatz des Herzogtums Brabant direkte Handels-
beziehungen anknüpfte; verkehrten doch auch andere
Italiener, die Florentiner namentlich, unbehindert an
beiden Plätzen. Immerhin war es für die ganze Ent-
wicklung des venezianisch- niederländischen Verkehrs sehr
wertvoll, daß Venedig nicht unbedingt nur an den einen
dieser beiden Plätze gebunden war.
Auch im Jahre 1319 haben zwei Fahrten der flan-
drischen Galeeren stattgefunden, nur ging diesmal umge-
kehrt die erste Fahrt nach Antwerpen, die zweite nach
Brügge. So vervollkommnet hatte sich, dank großenteils
der unablässigen Fürsorge der venezianischen Regierung,
») Lib. V, c. 45, 48 (Arch. ven, 18, 53; Rubrik: galee armate
indiff. per spec. personas) : Patroni istarum 2 galearum fiant in
isto consilio per electionem etc.
») Ib. 88 (Arch. ven. 17, 267; Rubrik: Comune) : lUe 2 galee
comunis que venerunt de Flandria, dentur ad naulum per incan-
tum cum condicione etc. (sie). Das folgende Blatt 89 enthält einen
Beschluß vom 22. September 1318 {Arch. ven. 31, 195, no. 317).
Im Herbst 1318 kam auch ein Rechtsstreit, betr. die Befrachtung
des Schiffes der Michele, das mit Wein, Mandeln, Kümmel u. dgl.
beladen nach Flandern gegangen war, zur Entscheidung; die
Ufficiali al Cattaver wurden angewiesen, von einem der Ver-
frachter 156. 7. 5 1. di gr. für Waren und Fracht einzuziehen.
Commem. II, Reg. no. 138; in welches Jahr die Fahrt gehört, ist
nicht ersichtlich.
4
*
52 Adolf Schaube,
im Lauf der Zeit die Technik des Schiffsbaus, daß man
keinerlei Bedenken trug, mit diesen Galeeren mitten im
Winter die stürmischen Gewässer des Golfs von Biskaja
und des Kanals zu kreuzen. Noch im November 1318
hat man die erste Fahrt beschlossen. Man betonte, daß
den Kaufleuten bei der Mitnahme ihrer Tische (trapuntis),
Schreine, Felleisen und Waffen keine Schwierigkeit bereitet
werden sollte und setzte die Stärke der Bemannung für
jede Galeere nunmehr auf 200 Mann fest; auch Anzahl*
und Art der mitzuführenden Waffen wurden genau vor-
geschrieben. Brod (panatica) war für einen Monat,
Fleisch für 22 Tage mitzunehmen.') So wird man An-
fang Januar 1319 aufgebrochen sein, da wir wissen, daß
die drei Galeeren dieser Expedition Antwerpen noch im
Februar erreicht haben.^) Die fünf venezianischen Galeeren
des Jahres 1318, von denen Peschel spricht, setzen sich
in Wahrheit aus diesen drei von 1319 und den zwei
Galeeren der vorigen Fahrt zusammen.^)
Wieder befand sich die erste Expedition noch in den
Niederlanden, als die zweite, diesmal in der Stärke von
fünf Galeeren, in der zweiten Hälfte März nach Brügge
aufbrach. Ursprünglich war ein früherer Abfahrtstermin
beschlossen gewesen ; aber obwohl ein Antrag auf Änderung
dieses Beschlusses mit einer Geldbuße von 100 1. (300 M.)
bedroht war, brachten vier Ratsherrn, denen die armatores
») Lib.V, c. 97 {Arch, ven. 19,92 und 24,94; Blatt 96 enthielt
einen Beschluß vom 22. November 1318, ib. 31, 195, no. 318):
Teneatur galea quelibet habere in armario WO inter supraensegnas
et zupellosy 125 curazias, et ultra 60 arma a capite et homines
200 pro galea.
*) van Hey st 1. c. „Item in Februario, in 't selve jaer qua-
men noch drye ghaleyen V Antw. van Venegien*', Für den Chro-
nisten war es in der Tat dasselbe Jahr; das neue begann für ihn
erst mit dem Karfreitag unseren Stils.
") Er schöpfte aus Guicciardini, Descrittione dei Paesi bassi
(Anversa 1567) p. 119, dessen Angabe, daß im Jahre 1318 zuerst
fünf venezianische Galeeren nach Antwerpen gekommen seien,
ganz richtig war, da auch für ihn der Februar 1319 noch zum
Jahre 1318 gehörte; er hat nur die Schiffe beider Expeditionen
zusammengefaßt. Es liegt also kein Widerspruch vor, wie Heyd
II, 72P meint. '
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 53
Schadloshaltung zugesagt, doch einen solchen Antrag
ein, der nun auch Annahme fand. Venedig befand sich
damals in Differenzen mit den Provenzalen ^) ; wohl aus
Besorgnis vor provenzalisch-neapolitanischen Kaperschiffen
verordnete man, daß die fünf Galeeren bei Strafe von
1000 1. auf der Hin- wie Rückreise im Konvoi fahren
müßten ; die zyprischen und armenischen Galeeren sollten
mit ihnen zugleich aufbrechen und bis zur Höhe von
Otranto ebenfalls mit ihnen „in conserva" fahren. Ein
Gesandter der Republik machte die Fahrt mit, für dessen
Oberfahrt 396 1. (rund 1200 M.) bezahlt wurden.^) Von
seiner Tätigkeit ist uns leider nichts bekannt.
So zweckmäßig durch solche Maßnahmen für die
Sicherheit der Fahrt gesorgt war, sie konnten nicht
verhindern, daß man mit den Engländern in üble Diffe-
renzen kam, Differenzen, die für uns lehrreich sind, weil
sie uns einen Einblick in die Art des Handels eröffnen,
der damals von den flandrischen Galeeren aus mit Eng-
land getrieben wurde. Keineswegs nämlich pflegten diese
Galeeren des Handels wegen in England selbst anzu-
legen; vielmehr legten sie sich am Zielpunkte fest, und
von hier aus unternahmen dann manche der Kaufleute,
die die Fahrt mitgemacht, ihre Handelsreisen, die sich
auch nach England hinüber erstreckten. So hatte in
diesem Jahre Tommaso Loredan seinen Faktor Niccolb
Basadonna mit rund 100 Zentner Zucker, 10 Zentner
Kandis und 4 I. tur. gross. Bargeld im Gesamtwerte von
3580 1. (10750 M.) nach England hinübergeschickt; er hatte
seine Ware auch glücklich in London verkauft und war
dann zur St. Bothulfs-Messe nach Boston gereist (im
Juli; Beginn am 24. Juni). Hier hatte er von dem Erlös
Wolle eingekauft und diese auf zwei englischen Koggen
verladen, die ihn und seine Waren zu den Galeeren nach
Flandern zurückbringen sollten; unterwegs aber wurde er
getötet und seine Ware von der englischen Besatzung
') Arch. ven. 20, 301.
•) Lib. V, c. 120-125 (Arch, ven. 19, 92 f., dazu 27, 386 und
18, 318).
54 Adolf Schaube,
geraubt.^) Weiteres kam bald hinzu. Als die auf der
Rückfahrt begriffenen Galeeren in Southampton angelegt
hatten, gerieten die Venezianer mit Bürgern von South-
ampton und Leuten von der Insel Wight in einen
schweren Konflikt; eine blutige Schlägerei entstand, bei
der es auf beiden Seiten sogar mehrere Tote gab.
Näheres über den Anlaß wissen wir nicht, nur scheint
es, daß die Venezianer hier der angreifende Teil gewesen;
vielleicht war die Kunde von der Ermordung ihres Lands-
mannes und dem Raube seiner Waren jetzt erst zu den
Venezianern auf den Galeeren gelangt. Daß der ganze
Vorgang, der zu einer lange anhaltenden Spannung
zwischen Venedig und England führte, diesem Zeitpunkte
angehört, erfahren wir überhaupt nur durch eine Ordre
des englischen Königs an die Stadt Southampton vom
7. Oktober 1319, sie möge wegen ihrer Streitigkeiten
mit den Venezianern die Kaufleute von der Gesellschaft
der Bardi nicht beunruhigen, da er diese und ihre Habe
in seinen besonderen Schutz genommen habe.^) In welcher
näheren Beziehung das florentinische Welthaus zu diesen
Vorgängen stand, bleibt unklar; möglich ist, daß es mit
den Venezianern über die Einnahme eines Wolltrans-
portes in Southampton akkordiert hatte; jedenfalls sehen
wir es damals auch sonst mit den Venezianern mehrfach in
enger Verbindung; so wurde noch am 30. November
desselben Jahres den venezianischen Kaufleuten Peter
Nicholaus und Franz Scarpache, die im Dienst der Bardi
») Cotnmemoriali II, Reg. no. 191 (daß es 3580 I. di gross,
gewesen, ist sicher irrig); R. Brown I, p. 3 f. Marin V, 306. Vgl.
noch Brown I, p. LVIII f., der Basadonna zum captain oder super
cargo eines venezianischen Handelsschiffes macht, und Romanin
III, 99. Über englische Piraten hatten in diesem Jahre auch die
Kaufleute von Brügge zu klagen. Cartulaire de Vancienne Estaple
de BrugeSy 6± Gilliodts-van Severen (Brügge 1904) I, 150, no. 212.
«) Calendar of Close Rolls, £dw. II, 1318—1323 (1895) p. 1591.
Früher setzte man den Vorgang mit Rawdon Brown I, p. LXIX
erst in das Jahr 1322 und Schanz I, 119 behauptet sogar, die eng-
lischen Seeleute seien am 10. April 1323 von fünf venezianischen
Galeeren überfallen worden, während dieser Tag in Wahrheit der
Tag einer vorläufigen Beilegung des Streites beider Nationen ist.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 55
standen und mit Waren derselben in das Königreich
kamen, ein königlicher Geleitsbrief auf ein Jahr ausgestellt.^)
Als die Galeeren gegen Ende September nach Venedig
zurückkehrten, untersagte man unter dem ersten Eindruck
der Nachrichten, die sie mitbrachten, alle Vorkehrungen
für eine neue Flandernfahrt bis auf weitere Ordre 2); am
10- November erstattete Donato Albasii, der wohl zu
Lande heimgekehrt war, über die Affäre Basadonna im
Senat genauen Bericht.**)
V.
Wohl noch Ende 1319 einigte man sich in Venedig
dahin, eine Gesandtschaft nach England zu schicken,
zugleich aber auch alle Vorbereitungen für eine neue
Fahrt nach Flandern zu treffen.*) Zum Gesandten wurde
Johannes de Lege*) ausersehen, der am Anfang des
Jahres 1320 die Reise nach England auf dem Landwege
angetreten haben muß; am 13. März schon wurde ein
Antrag eingebracht, eine Kommission von acht Sach-
verständigen zu ernennen, die das Recht haben sollte,
in Gemeinschaft mit der für diese Angelegenheit schon
bestehenden Kommission von drei Mitgliedern und der
') Cal, of Patent Rolls, Edw, II, 1317—1321, p. 409. Wenige
Monate später (20. Februar 1320) erhalten Peter Scorpaz und sein
Bruder Franz (der zweite sicher mit dem obengenannten iden-
tisch), Kaufleute von Venedig, sicheres Geleit für ihren Handel
in verschiedenen Teilen des Königreichs (ib. 423), und einige
Jahre darauf erscheint Peter Scarepac' von Venedig als Gläubiger
von 300 1. sterl. gegenüber dem Prior von St. Swithin's in Win-
chester. Close Rolls, Edw. 11, 1323—1327, p. 383, — ein Fall, der
für einen Venezianer in England ganz vereinzelt dasteht.
») Lib. V, c. 157 {Arch. ven. 19, 93); c. 158 datiert vom 27. Sep-
tember 1319 (ib. 31, 196, no. 319). Gleichzeitig eine Anweisung
auf Zahlung von 10 1. gr. (1000 M.) an die Häuser Bembo und
Tingo (Uli de ca B, et T,) „de datio galearum redeuntlum de
Flandria'' {Arch, ven. 19, 93 und 27, 100).
») Commemoriali l. 11, no. 319.
*) Auf diese neue Fahrt beziehen sich Misti Senato 1. V,
c. 172-178, 182, 185 und 1. VI (mit dem April 1320 beginnend),
c. 1, 3 (Arch. ven. 19, 93).
*) Der Name wird erst später genannt : Misti 1. VI, c. 74, 79
(ib. 94).
56 Adolf Schaube,
Signorie den Gesandten in Ergänzung seiner Instruktion
mit weiteren Anweisungen zu versehen; der Antrag er-
langte indessen nicht die Mehrheit.^) Es war wohl ein
Erfolg der Bemühungen des Gesandten, daß König
Eduard IL am 18. April 1320 den venezianischen Kauf-
leuten, die mit Waren in sein Königreich kämen um
Handel zu treiben, einen allgemein gehaltenen Sicherheits-
brief für ein Jahr ausstellte.^)
Inzwischen war für die bevorstehende Fahrt der „ordo
galearum^ festgestellt worden; Wolle sollte diesmal ab-
gabenfrei sein, nur blieb es verboten, Wolle anderswo
als in Venedig selbst zu löschen; kurz vor der Abfahrt
bestimmte man noch, daß außer dem kretischen auch
jeder andere außerhalb der Adria gewachsene Wein
zollfrei sein sollte, so daß es scheint, daß es Schwierig-
keiten gemacht hat, für die Galeeren volle Ladung zu
erhalten. Weniger angenehm mußte es die „mercatores
Flandriae'' berühren, daß sie zu den Kosten der Ver-
handlungen mit Karl von Valois in Sachen der französi-
schen Malatolta mit einhalb Prozent von dem Werte ihrer
Waren beitragen sollten.^) Zum Capitaneus wurde Marino
Morosini mit einem Monatssalär von 6 I. gross. (600 M.)
bestellt und ihm ein Wundarzt (medlcus cirurgie) mit-
gegeben, der ebenfalls von der Regierung honoriert
wurde. England anzulaufen verbot man ausdrücklich,
solange nicht der Abschluß einer „concordia'' erzielt
wäre; frühestens im Mai ist das Geschwader erst abge-
gangen.
In der Vorbereitungszeit für diese Expedition, noch
im venezianischen Jahre 1319, das bekanntlich bis zum
Ende Februar 1320 unseres Stils reichte, stellte man auch
die Instruktion für einen Gesandten nach Flandern fest,
die erste, die uns erhalten ist; sie war für den nach
*) Brown p. 4, no. 13.
«) Patent Rolls, Edw, II, 1317—1321, p. 440.
») Lib. V, c. 178 {Arch. ven, 17, 267: Rubrik: Comune). Etwas
später setzte man diese Abgabe für Venezianer, die zu Lande
Waren nach Frankreich schickten, auf P/© ^est. Lib. VI, c. 50
(ib. 19, 95).
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 57
England gehenden Gesandten oder, falls dieser nicht nach
Flandern käme, für eine andere geeignete Persönlichkeit,
die die Mission nach Flandern übernahm, bestimmt.^)
Zunächst sollte der Gesandte dem Grafen und den
Schöffen von Brügge dafür danken, daß sie dem Er-
suchen der Signorie gemäß gegen den Venezianer Alipetro
Buscarini eingeschritten wären, der sich einige Jahre
zuvor in Pisa der Beihilfe zu einem groben Betrüge mit
nachgemachten Edelsteinen schuldig gemacht hatte und
deswegen in Venedig verurteilt worden war. 2) Sodann
sollte er im Namen der Republik fordern, daß die Vene-
zianer, wie in so vielen anderen Ländern, auch in Brügge
einen Konsul aus ihrer Mitte bestellen dürften, dem die
Gerichtsbarkeit in ihren eigenen Streitigkeiten zustehen
sollte'); auch sollten Venezianer um Schulden nicht eher
verhaftet werden dürfen, als bis sie als Schuldner er-
wiesen seien. Auch in kommerzieller Beziehung hatte
der Gesandte allerlei Gravamina vorzubringen : die Vene-
zianer sollten ihre Seide wie ihre anderen Waren an
jedem Tage frei auslegen und verkaufen und ihre Ballen
nach Belieben in mehr oder weniger Teile zerlegen
dürfen ; das Gewicht sollte für Venezianer wie Flamländer
das gleiche sein*); die Maklergebühren seien herabzu-
setzen; auch sollte den Venezianern kein Hindernis be-
reitet werden dürfen, wenn sie Brügge verlassen wollten.
Alle Zugeständnisse sollte der Gesandte sich bemühen,
in einem förmlichen Vertrage schriftlich aufgezeichnet zu
>) Commemoriall II, Reg. no. 202. Marin V, 304 f. Romanin
III, 99.
«) Näheres über diese Affäre Commem, II, no. 45, 432, 456;
sie fand erst 1326 mit der Zahlung von 1100 Goidfl. durch die
Erben Alipietros an den Bevollmächtigten des geschädigten
Genuesen Guglieimo Cibo ihren Abschluß.
») Quod nostri fideles possint habere consulem qui jus faciat
inter nostros de questionibus que onrentur inter nostros, Brown
I, p. LIX bezieht diese Stelle irrtümlich auf England.
*) Klagen auch der Deutschen darüber s. z. B. Hanserezesse
I, Nr. 81 (1305), abgestellt durch den Garantiebrief Brügges betr.
die öffentliche Wage vom 24. Dezember 1318 (Hans. Urkundenb.
II, 138, Nr. 336).
58 Adolf Schaube,
erhalten. Wäre nicht alles zu erreichen, so sollte er vor
Abschluß des Vertrages erwägen, ob es nicht zweckmäßig
wäre, vorher nach Antwerpen zu gehen, wo die Venezianer
im Jahre zuvor eine gute Aufnahme gefunden hätten.
Die Instruktion ist auf jeden Fall lehrreich; inwieweit
ihre Forderungen gerade in diesem Zeitpunkt mit Nach-
druck geltend gemacht wurden, steht dahin; zum Ab-
schluß eines Vertrages mit dem Grafen und der Stadt
Brügge ist es damals, soviel wir wissen, nicht gekommen.
Aber auch bei dem Konkurrenten Flanderns erreichten sie
zunächst nicht mehr; denn wenn Herzog Johann von
Brabant am 1. Oktober 1320 in Beantwortung eines
Schreibens des Dogen die in seinen Landen handel-
treibenden Venezianer seines Schutzes und jeder An-
nehmlichkeit versicherte^), so entsprachen auch diese sehr
allgemein gehaltenen Zusicherungen sicherlich nicht den
Wünschen der Venezianer.
So wenig also Venedig in diesem Jahre an den Ge-
staden der Nordsee zu seinem vollen Ziele kam, rein
kommerziell bedeutete seine Flandernfahrt wieder einen
vollen Erfolg, und trotz der mit England fortbestehenden
Spannung nahm gerade die englische Wolle einen sehr
bedeutenden Teil der Rückfracht der Galeeren ein. Im
August 1320 gestattete König Eduard II. einer ganzen
Anzahl italienischer Kaufleute, Wolle aus England zu
exportieren und auf die im Zwyn liegenden venezianischen
Galeeren zu verfrachten, wobei sie Garantie dafür zu
leisten hatten, daß die Wolle nicht etwa in Flandern^
Brabant oder Artois abgesetzt wurde, sondern wirklich
nach Venedig gebracht wurde; außer dem Wollzoll war
für diese Erlaubnis eine besondere Summe an das könig-
liche Schatzamt zu zahlen.^) Ob der Gesandte Venedigs
0 Commem, II, no. 241. Vgl. Romanin III, 100.
*) Erhalten sind die entsprechenden königlichen Orders an
die Erheber des Wollzolls in den Häfen von London, Southanipton
und Boston, vom 4. bis 22. August 1320; CaL of the Close Rolls,
Edw. II, 1318-1323, p. 251 f. Ebenda p. 250 ff. steht noch eine
ganze Anzahl ähnlicher Stücke aus derselben Zeit, Ende Juli bis
Ende August, für Kaufleute aus Asti, Lucca, Florenz und Genua^
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 59
hierbei mitgewirkt hat, steht dahin ; jedenfalls reicht das
Interesse der exportierenden Kaufleute und das finanzielle
Interesse der stets geldbedürftigen englischen Krone zur
Erklärung des Vorganges vollkommen aus. Mit einem
sehr bedeutenden Quantum, nicht weniger als 800 Sack,
waren Galvanus Guch (Guccii) und Donatus Baroni und
die von ihnen mitvertretenen Florentiner Kauf leute beteiligt;
Galvanus vertrat die Interessen der Gesellschaft in London,
wo 685 Sack zur Verschiffung gelangten, während Donatus
die Versendung der übrigen 115 in Southampton über-
wachte.*) Von London aus wurden unter denselben Be-
dingungen ferner nach dem Zwyn versandt: 110 Sack
für Almarico Caisoli von Piacenza, 100 Sack für die
Bardi, 50 Sack für Chatus Merconaldi (Gatto Marcovaldi)
von Siena, 70 Sack für More Bonsignori und Pietro
Falconieri, die wohl beide auch aus Siena waren; dazu
traten noch 40 Sack für Manfredino Garetta, Kaufmann
von Asti, die in Boston expediert wurden — im ganzen
also 1170 Sack, die auf rund 195000 kg Gewicht zu ver-
anschlagen sind. Wir sehen also, welche wichtige Rolle
den Kaufleuten des italienischen Binnenlandes, die ja seit
langer Zeit schon im englischen Handel tätig waren, bei
der Befrachtung auch der venezianischen Galeeren zu-
gefallen ist; allerdings mag gerade in diesem Jahre die
Zollfreiheit, die Venedig der eingeführten Wolle gewährt
hatte, einen besonderen Anreiz auf die Kaufleute des
Binnenlandes ausgeübt haben, zumal diese mit ihrer
Wolle noch einen beträchtlichen Weg von Venedig bis
in ihre Heimat zurückzulegen hatten. Schon das folgende
Jahr brachte denn auch in dieser Beziehung einen voll-
ständigen Umschlag.
die aber auf die venezianischen Galeeren keinen Bezug nehmen;
s. dazu noch Patent Rolls, 1317—1321, p. 496 t. (5. u. 9. August
1320).
*) Diese 115 Sack hatte der Sheriff von Southampton gemäß
einem Befehle des Königs, der sich gegen die Wolle und die
sonstigen Waren der fremden Kaufleute, der Deutschen wie der
anderen, richtete, schon beschlagnahmt; am 23. Juli hatte der
König aber ihre Freigabe verfügt; Close Rolls 1. c. p. 251.
60 Adolf Schaube,
Als man sich im Januar 1321 im Rat der Pregadi
mit der nächsten Galeerenfahrt nach Flandern zu be-
schäftigen begann (das System der Doppelfahrten findet
sich nur in den Jahren 1318 und 1319), faßte man zuerst
wieder die Beziehungen zu England ins Auge. Man
erwog, die Signorie in Gemeinschaft mit Sachverständigen
zu ermächtigen, den Gesandten in England mit neuen
Instruktionen zu versehen^); die y^pro concordia Anglie''
erforderliche Summe sollte zunächst vom Getreideamt
vorgeschossen und dann bei der Rückkehr der Galeeren
durch Erhebung einer besonderen Abgabe von 20 gross,
(ca. 8 M.) von jedem Sack Wolle mit Zinsen zurücker-
stattet werden.2) Doch kam man von diesen Absichten
wieder zurück und zog es im Frühjahr vor, den Ge-
sandten schriftlich zu ermächtigen, falls er nicht imstande,
mit den ihm bewilligten Geldmitteln die Verständigung
zu erzielen (concordiam complere)^ für diesen Zweck
50 M. Sterl. mehr auszugeben. Aber die Sache rückte
nicht vorwärts. Am 1. März 1321 war man gerade so
weit, daß der König, der Forderung des Dogen ent-
sprechend, eine königliche Kommission mit dem Bischof
von Exeter an der Spitze zur Untersuchung des Vorfalles
in Stadt und Hafen Southampton ernannte.^) So führte
die Unzufriedenheit mit den Erfolgen des Gesandten am
14. Mai zu dem Antrage, der Signorie Vollmacht zu er-
teilen, die Angelegenheit anderen geeigneten Personen,
die im übrigen die gleiche Instruktion und die gleiche
Berechtigung zu Ausgaben haben sollten wie Johannes
de Lege, zu übertragen^); zunächst aber blieb die eng-
lische Angelegenheit weiter in der Schwebe.
Noch im Januar hatte man auch die Ordnungen für
die neue Galeerenfahrt (ordines galearum Flandrie) aufge-
*) Lib. VI, c. 53 (i4rcÄ. ven, 19, 94) mit der Bemerkung ^can-
cellatum'*,
«) Brown, Cal. I, 5, no. 15; =1. VI, c. 54. Beschluß vom
27. Januar, mit der Bemerkung: Sed est cancellatum. Wenn
Brown 20 (sol,) gross. liest, so ist das sol. sicherlich nur eine
falsche Ergänzung.
•) Pat Rolls, 1317-1321, p. 605.
*) Brown, CaL 1, 5, no. 16.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 61
stellt^); für jede Fahrt arbeitete man solche Ordnungen
von neuem aus, wobei natürlich eine Reihe bewährter
Vorschriften immer wieder übernommen wurde, während
man zugleich Gelegenheit hatte, sich veränderten Ver-
hältnissen oder neu hervortretenden Bedürfnissen genau
anzupassen ; eine ganz ähnliche Erscheinung, wie sie die
Konsular-Statuten der italienischen Städte des 12. Jahr-
hunderts zeigen und merkwürdig abweichend von den
in moderner Zeit üblichen die Prätention der Dauer an
der Stirn tragenden Reglements.
An die Spitze stellte man, daß für die bevorstehende
Fahrt Waren von Fremden gänzlich ausgeschlossen sein
sollten; weder in Venedig, noch an der Zielstation, noch
irgendwo unterwegs dürften solche von den Galeeren an
Bord genommen werden. Die Zölle wurden in der Höhe
wiederhergestellt, wie sie früher bestanden hatten; doch
wurde jetzt für Leinwand und Flaggentuch (tele et
stamegne) Zollfreiheit proklamiert. Es sollte wohl das
Vertrauen auf den Erfolg dieser Fahrt heben, daß man
sogleich beschloß, daß in diesem Jahre keine andere
Galeerenkarawane ausgerüstet werden dürfte, die einen
jenseits von Gibraltar gelegenen Hafen zum Ziele hätte^);
für die Fahrt selbst bestimmte man, daß der Aufenthalt
an der Zielstation nicht über 40 Tage dauern sollte, eine
Fristbestimmung, die sich eng an die in den Nieder-
landen wie in England herkömmliche Aufenthaltsbe-
schränkung der Fremden anschloß.
Wie üblich, unterwarf man die Galeeren, die zur
Beteiligung an der Fahrt angemeldet wurden, einer genauen
Prüfung auf ihre Seetüchtigkeit im allgemeinen sowie
darauf, ob sie den besonderen für die Fahrt nach der
Nordsee zu stellenden Bedingungen entsprachen; die
Maße der Galeere des Giustiniano Giustiniani, so be-
stimmte man damals, dürfe keine der flandrischen Galeeren
») Lib. VI, c. 59—63 (Arch, ven, 19, 94 f.); c. 60 enthielt eine
vom 29. Januar 1321 datierte Bestimmung (Arch, ven. 31, 197,
no. 328).
') Non possit aliquis pro illo anno armare per aliquant
aliam muduam pro transeundo montem de Zibeleta.
62 Adolf Schaube,
Überschreiten. Gerade aus diesem Jahre sind uns nun
die Maße von vier Galeeren, die an der Fahrt teilge-
nommen haben — es waren die von Marino Zeno,
Pancrazio Capello, Marino Capello und Andreasio Moro-
sini — erhahen; sie wurden im Arsenal aufs genaueste
registriert und weichen im übrigen untereinander nur
wenig ab.^) Auch bestimmte man damals, daß der Ge-
schwaderkommandeur die armatores anzuhalten hatte,
für den baldigen Ersatz abgängig gewordener Mannschaften
zu sorgen ; im übrigen wurden alle weiteren Vorkehrungen
für die Fahrt bis zur Rückkehr der Galeeren aus dem
Schwarzen Meer verschoben.^) Die Rücksicht au! die
für Flandern einzunehmende Ladung wie auf die An-
werbung bewährter Mannschaften mag in gleicher Weise
auf diesen Beschluß bestimmend gewirkt haben.
So verzögerte sich die Abfahrt der Galeeren in
diesem Jahre beträchtlich ; schließlich^) wurde den arma-
tores der 15. Mai als Termin gesetzt und bestimmt, daß
im Falle der Überschreitung dieser Frist die angeworbenen
Mannschaften von diesem Termin an bis zum Tage der
Abfahrt Anspruch auf vollen Unterhalt und auf die flälfte
ihres Soldes hätten. Sechs Galeeren machten die Fahrt
mit; falls der von der Regierung bestellte Capitaneus
einmal verhindert sein sollte, das Kommando zu führen,
sollten die Kaufleute aus ihrer Mitte (man erkennt an
diesem Zuge so recht die Beteiligung der venezianischen
Aristokratie an diesen Fahrten) einen Stellvertreter wählen,
dem ein Anspruch auf Entschädigung dafür nicht zu-
stand. Der steten Bereitschaft der Flotte diente die
Bestimmung, daß der Capitaneus in Städten oder be-
festigten Ortschaften nicht an Land gehen durfte. Eine
bestimmte Zielstation faßte man diesmal nicht von vorn-
herein ins Auge ; mit Rücksicht offenbar auf die unruhigen
0 Commem, 1. 11, Reg. no. 256. Marin V, 211 f. S. auch Jal,
Archäologie navale (Paris 1840) H, 60.
*) Non ponatur banchum pro armando usque ad reditum
galearum de Mari Majori.
') Das Folgende 1. VI, c. 79-85 (1. c.), etwa in den April
1321 zu setzen.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 63
und häufigem Wechsel unterworfenen Verhältnisse in
Flandern, die man von Venedig aus schwer übersehen
konnte, überließ man es dem Kommandeur, in Gemein-
schaft mit den armatores und den mercatores sich an
Ort und Stelle über den Hafen schlüssig zu werden, in
dem man Aufenthalt zu nehmen gedachte (ubi foret
melius portum facere). Von der Flotte aus sollte auch
eine zuverlässige Persönlichkeit entsandt werden, die mit
dem Grafen von Flandern und dem Herzog von Brabant
über den Abschluß von Verträgen in Verhandlungen
treten sollte (tractet pacta)\ als man etwas später im
Rate der Pregadi beschloß, einen der in Frankreich
weilenden Venezianer mit Verhandlungen beim Könige
zum Zwecke der Abschaffung der Malatolta zu betrauen^),
fügte man hinzu, daß er auch in Brügge und in. Brabant
„de commodo mercatorum" verhandeln sollte.
Doch kamen die Venezianer mit ihrem Streben nach
festen Verträgen erst im folgenden Jahre in Flandern
endlich an ihr Ziel.
Schon Mitte Dezember machte man sich schlüssig^),
für die Flandernfahrt des Jahres 1322 wieder sechs Ga-
leeren durch einzelne Unternehmer ausrüsten zu lassen.
Zugleich gab man das Experiment mit dem Ausschluß
der Fremden und ihrer Waren wieder auf; sie sollten
„more solito^ auf Hin- wie Rückfahrt wieder zugelassen
werden mit der einzigen Beschränkung, daß ihr Import
nach Venedig ihren Export mit diesen Galeeren an Wert
nicht überschreiten dürfte^); ihre Waren außerhalb Venedigs
oder des Zielpunktes der Fahrt zu laden oder zu löschen
blieb allerdings streng untersagt. Es deutet wohl auf
den Weg, den man im vergangenen Jahre zur Umgehung
des Verbots nicht selten eingeschlagen haben mag, wenn
») Lib. VI, c. 91 {Arch, ven, 19, 95). Er sollte dafür ausgeben
dürfen usque flor, 100, quos solvant mercationes que de hinc con-
ducentur ad dictas partes (seil. Franeie),
«) Lib. VI, c. 123-125, 130 f. {Arch. ven. 19, 95 f.). Auf c. 124
ein Beschluß vom 15. Dezember 1321 (Arch, ven, 31, 197, no. 330).
') Arch. ven, 24, 94; rub. Forenses,
64 Adolf Schaube,
den Fremden nunmehr verboten wird, etwas von ihrer
Habe einem Venezianer in Commenda zu geben.^)
Im März beschloß man 2), zur Wahl des capitaneus
galearum Flandrie zu schreiten; sein Gehalt bemaß man
für diesmal auf nur 3 I. gross. (300 M.) monatlich ; ein
Verlassen der Galeeren blieb ihm, wie im vorigen Jahre,
untersagt; auch durfte er sich selbst am Handel mit
Flandern während seiner Fahrt nicht beteiligen. Neu ist
auch, daß er sich durch Absendung eines Kuriers zu
Lande mit der Signorie in Verbindung setzen sollte.
Das Geschwader war noch nicht abgegangen, als
man sich entschloß, auf dem Landwege eine solenne
Gesandtschaft an den Grafen von Flandern und den
Herzog von Brabant zu schicken^), deren Aufgabe es
offenbar war, den Galeeren, sei es in Brügge oder in
Antwerpen, eine gute Aufnahme zu sichern; war doch
die Bestimmung, die den maßgebenden Personen au!
dem Geschwader in bezug auf die Zielstation freie Hand
ließ, noch in Kraft. Die Wahl fiel auf Pietro Zeno und
Perono Giustinian^), und ihnen winkte nunmehr in
Flandern ein schöner Erfolg.
Am 22. Mai 1322 ließ Graf Robert die von ihm den
venezianischen Kaufleuten gemachten Zugeständnisse zur
öffentlichen Kenntnis bringen. Vor allem war wichtig,
daß sie nunmehr das von ihnen so dringend gewünschte
Konsulat wirklich erhielten. Keiner sollte um Schulden
verhaftet werden, der nicht gerichtlich als Schuldner
festgestellt war; auch in anderen Fällen sollte immer nur
der Schuldige selbst belangt werden dürfen. Ihre Klagen
wegen der Maklergebühren und der Gewichte sollten
berücksichtigt werden, und in ganz Flandern sollten sie
ihre Waren frei verkaufen dürfen, wobei der Graf nur
die besonderen Verhältnisse von Brügge vorbehielt. Eine
*) Ebd. : Aliquis forensis non possit recommendare Veneto de
suo; c. 132.
») Lib. VII, c. 1 ff. (das Buch beginnt mit dem März 1322).
») Ebd. c. 8 {Arch. ven, 19, 97).
*) Geht aus 1. VII, c. 58, 60 {Arch. ven, \% 9t) hervor. Richtig
auch bei Romanin III, 100.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 65
ganz analoge Bekanntmachung erließen Bürgermeister,
Schöffen und Rat von Brügge am Dienstag nach Trinitatis
(8. Juni), in der nur einige Punkte noch genauer geregelt
waren.^) So wurde ausdrücklich festgesetzt, daß fortan
nur ein Gewicht gebraucht und auch von den Venezianern
nur die übliche Maklergebühr erhoben werden dürfte;
nach ihrer Ankunft in Brügge durften sie 4ü Tage hin-
durch ihre Waren hier verkaufen; auch sollten sie mit
ihren Waren das Stadtgebiet nach Belieben verlassen und be-
treten dürfen, vorausgesetzt, daß sie die vorgeschriebenen
Abgaben entrichteten und ihre Schulden beglichen. Endlich
versprach die Stadt, die Venezianer gegen jedermann zu
schützen, der ihnen Unrecht täte; wenn nötig, würde
sie dazu auch die Unterstützung von Gent und Ypern
nachsuchen.
Allerdings war die Rechtsgültigkeit aller dieser Frei-
heiten in beiden Proklamationen zunächst auf die Dauer
von drei Jahren, von Johanni 1322 an gerechnet, be-
schränkt; doch ließ sich wohl annehmen, daß die einmal
gewährten Privilegien nicht so leicht wieder zurückge-
zogen werden würden.
VI.
Wenn ein gleichmäßig ruhiger Fortgang in der Ent-
wicklung dieser Galeerenfahrten auch nach den Privi-
legien von 1322 nicht eintrat, so liegt der Grund dafür
zum großen Teil in den schweren politischen und sozialen
Stürmen, von denen Flandern damals erfüllt war. Sie
haben auch in erster Linie darauf eingewirkt, ob sich die
Venezianer für Brügge oder Antwerpen entschieden;
wenn es irgend anging, zogen sie den damals kommerziell
noch erheblich bedeutenderen Hafen am Zwyn der
Scheidestadt vor.
So beruht es auch nur auf einem Mißverständnis,
wenn Schulte einen entscheidenden Grund dafür, daß
Brügge der Rivalin den Rang ablief, darin sucht, daß
sich der Graf von Flandern mit einer jährlichen Mala-
») Commemoriali II, Reg. no. 321, 322.
Hifltoriflcbe ZeitscbriH (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd.
66 Adolf Schaube,
tolta von 100 flor. begnügte.^) Mit diesem „Ungelt" hat
es eine ganz andere Bewandtnis; diese Warensteuer war
gar keine gräfliche, sondern eine französische Steuer,
die für den König auch in dem lehnsabhängigen Flandern
erhoben wurde. Die Hoffnung, die die Signorie noch
im Jahre 1321 gehegt hatte, beim Könige eine Befreiung
ihrer Untertanen von dieser Steuer erwirken zu können*),
hatte sich als trügerisch erwiesen; so strebte Venedig
wenigstens danach, die als Wertzoll der Willkür der Er-
heber nur zu sehr ausgesetzte, dem fiandel höchst un-
bequeme Steuer durch Zahlung eines Pauschquantums
abzulösen. Im Jahre 1323 beauftragte man drei Kauf-
leute, mit den officiales regit darüber zu verhandeln;
sie waren ermächtigt, mit ihren Anerbietungen bis zu
einem jährlichen Pauschquantum von 300 fl. zu gehen.«)
Zwei Jahre darauf weilte Dardi Bembo lange Zeit am
französischen Hofe „pro privilegio obUnendo"^)\ es steht
sicher im Zusammenhang damit, daß man in diesem
Jahre ausnahmsweise seit langer Zeit wieder einmal eine
Fahrt von drei Galeeren nach der Provence einrichtete
und subventionierte.*^) Derselbe Bembo traf im folgenden
Jahre ein vorläufiges Abkommen mit der überwiegend
aus Florentinern bestehenden Gesellschaft, die vom Könige
die Erhebung der Malatolta von Johanni 1326 an für
drei Jahre in Pacht erhalten hatte®); mit ihrem General-
agenten für Flandern, Guelfo degli Amici von Piacenza,
verständigte er sich dahin, daß Venedig zunächst für
zwei Jahre jährlich 200 flor. zahlen sollte, wofür seine
>) Gesch. d. mittelalterl. Handels I, 348.
») Oben S. 60.
') Misti Sen. 1. VH, c. 84: qui concordent cum officialibus
regiis pro mala tolta usque 300 flor. (Arch, ven, 19, %).
*) Misti 1. IX, c. 28, 39, 44 (Arch. ven. 19, 97; 20, 297; 27, 388).
Irrig machen ihn Brown I, p. CXXXIl und Perret p. 22 zum da-
maligen Capitaneus galearum,
*) Ebd. 26—29, 44 f. (Arch. ven. 20, 302).
•) Commem. 1. III, no. 310. Die Pächter waren der Genuese
Francesco de' Garimbanti und die Florentiner Bindo de' Marchi
und Naldo Falconi, zu denen mit Genehmigung des Königs noch
Bonato degli Spini hinzutrat.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 67
Untertanen in der ganzen Grafschaft Flandern Befreiung
von der Malatolta genießen sollten. Im Sommer 1327
ermächtigte die Signorie ihren Unterhändler Dardi Bembo
sowie den Admiral ihrer Galeeren und ihren Konsul in
Flandern, das getroffene Abkommen zu erfüllen^); am
21. August hat Giovanni Lioni zu Antwerpen die 400 fl.
im Auftrage der Signorie ausgezahlt.^) Die Gesellschaft
zeigte sich bereit, das Abkommen mit Venedig auch für
das dritte Jahr ihres Kontrakts in Kraft zu lassen; die
Signorie aber suchte jetzt eine Ermäßigung des Pausch-
quantums herauszuschlagen und wies ihren Konsul im
Jahre 1328 an, über eine Herabsetzung desselben auf
100 flor. zu verhandeln^); ob er damit Erfolg hatte, wissen
wir nicht. Man sieht, wenn die Angelegenheit der Mala-
tolta in der Frage, ob Brügge oder Antwerpen, überhaupt
eine Rolle gespielt hätte, so hätte sie nur zuungunsten
von Brügge und zugunsten von Brabant, das von Frankreich
nicht lehnsabhängig war, ins Gewicht fallen können.
Nun habe ich nicht die Absicht, den flandrischen
Fahrten auch nach 1322 noch im einzelnen zu folgen;
nur die flauptmomente aus ihrer äußeren Geschichte
sollen für das folgende Jahrzehnt noch hervorgehoben
werden.
Im Jahre 1323 wurden die sieben flandrischen Ga-
leeren, die Venedig am 26. April verlassen hatten, viel-
leicht noch Zeugen der wilden Zerstörung, die die Be-
wohner von Brügge selbst im August über die Hafen-
stadt Sluis verhängten, da die törichte Verleihung des
Ortes an Johann von Namur durch den jungen Grafen
Louis von Nevers, Roberts Nachfolger, sie ein Selbständig-
werden ihrer bisherigen Hafenstadt befürchten ließ; im
>) Misti 1. X, c. 81 (Arch. ven. 19, 99). Die gleiche Ermäch-
tigung war übrigens auch schon ein Jahr zuvor dem Admiral
und dem Konsul erteilt worden, ib. IX, c. 83 (19, 98), ohne da-
mals zur Erfüllung zu führen.
') Die bezüglichen Dokumente hat Lioni dem Dogen am
15. März 1328 überreicht. Commem, 1. c.
') Misti 1. XI, c. 14 (Arch, ven. 19,99): Scribatur consuli nostro
Flandrie, quod tractet et concordet factum male tolte usque ad
100 florenos. Das ist die Stelle, die Schulte im Auge hat.
5*
68 Adolf Schaube,
November brach dann noch ein gefährlicher Aufstand
der niederen Volksklassen in Brügge aus.^) So ist es
klar, weshalb man in Venedig im Jahre 1324 von vorn-
herein beschloß, die Galeeren diesmal nach Antwerpen
zu entsenden.2) Wie erfreut man in Antwerpen darüber
war, zeigen uns zahlreiche Posten der Stadtrechnungen
dieses Jahres^), das Stückfaß Wein, das man dem Kom-
mandeur der Galeeren in seine Behausung abrollen ließ,
die kleineren Weinspenden an vornehme Venezianer, wie
Dardi Bembo und Giovanni Zorzi*), das Geldgeschenk
an diejenigen, denen man die Wahl Antwerpens haupt-
sächlich zu verdanken meinte^), die Kosten für Gesandt-
schaften und Boten, die Antwerpen im Interesse der
Venezianer an den Herzog von Brabant und andere
Personen schickte und für Kuriere, die nach Venedig
gingen.«)
Als man in Venedig trotzdem beschloß, im folgenden
Jahre die Galeeren, die diesmal von Perono Giustinian
') H. Pirenne, Gesch. Belgiens II (Gotha 1902), 95 f., 102 fL
Villani 1. c. IX, 221, 232 (nach ihm zählte Sluis damals, abgesehen
von der fluktuierenden Bevölkerung, 1500 abitanti). Hans. Ur-
kundenbuch II, 170. Verordnung des Grafen Louis von Nevers
über das Stapelrecht Brügges gegen die Ansprüche von Sluis:
Cartulaire de l'anc. Estaple de Bruges, 6d. Gilliodts-van Severen
(Brügge 1904) I, 158, no. 223 (9. April 1324).
«) Misti Senato 1. VIII, c. 4 {Arch. ven, 19, 97). Vgl. Heyd
1. c. II, 721.
») Bei Mertens en Torfs 1. c. II (Beilage), 541 f.
*) Wenn man in der Börse zu Antwerpen die Szene, wie
diese beiden als Befehlshaber venezianischer Galeeren und Ab-
gesandte der Signorie in Antwerpen feierlich empfangen wurden^
durch J. Swerts in einem Wandgemälde darstellen ließ, so hat
man der geschichtlichen Wahrheit damit doch nicht entsprochen;
Bembo wenigstens war schon vor der Ankunft der Galeeren in
Antwerpen, wie aus der Stadtrechnung hervorgeht. Vgl. P. G^nard^
Anvers ä travers les dges (Brüssel 1888) II, 398 und Abbildung
p. 361.
*) 300 kleine Gulden (450 L payement) den ghenen, die daer
toe holpen dat de galeiden dit jaer t'Antw, quamen,
•) Rogekene, der commune messalgier van Venegien,
dat hi droech der stat brieve van A, ane den hertoghe ende ane
de stat van Venegien, 2 deine güldene.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 69
befehligt wurden, wieder nach Brügge gehen zu lassen,
machte man vonseiten der Stadt Antwerpen und des
Herzogs von Brabant alle Anstrengungen, die Venezianer
von diesem Gedanken abzubringen; wenn die Stadt ver-
sprach, ihnen allen erlittenen Schaden zu ersetzen, so
scheint sich das auf uns sonst nicht bekannte Vorfälle
bei der letzten Fahrt zu beziehen.^)
Gegen Ende des Jahres 1325 kam es zu einem
schweren Konflikt zwischen der Volkspartei in Flandern,
insbesondere Brügge, und der französischen Krone; der
König ließ am 4. November 1325 über seine Feinde das
Interdikt und die Handelssperre verhängen, die erst am
19. April 1326 durch den Frieden von Arques wieder
aufgehoben wurden.^) Wenn die Signorie sonach für die
Galeeren dieses Jahres, die Venedig Mitte April verließen,
Antwerpen als Zielstation bestimmte^), so erklärt sich
das ohne weiteres aus ihrer gewohnten Rücksichtnahme
auf die französische Politik. Für die Fahrt von 1327 de-
signierte der Rat der Pregadi im Geheimen zwölf Personen
aus der Zahl der mitreisenden Padroni und Kaufleute,
die mit dem Capitaneus zusammen draußen in Flandern
selbst entscheiden sollten „ubi galee debeant portum
facere''^)] aus dem Umstände, daß die Urkunde über jene
Zahlung Lionis an den Pächter der Malatolta^) am
21. August 1327 vor den Schöffen von Antwerpen auf-
genommen ist, glaube ich schließen zu können, daß die
Galeeren auch in diesem Jahre wieder nach Antwerpen
gegangen sind.
Im Jahre 1328 hatte man wegen des Seekrieges, in
den Venedig mit Savona und der genuesischen Außen-
') Commemoriali 1. II, no. 425—427. Daß Perono Giustinian
damals Gap. war, ergibt sich aus Misti Sen. 1. IX, c. 78 im Zu-
sammenhalt mit 1. IX, c. 7 (Arch. ven. 19, 97 f.).
») Pirenne I. c. 105 f.
») Recedant galee usque ad medium Aprilem etc, faciant por-
tum in Angversam pro hoc viagio: Misti 1. IX, c. 60 u. 79 {Arch.
ven. 19, 97 f.).
•) Ebd. 1. X, c. 48 (ib. 19, 99).
») Oben S. 67.
70 Adolf Schaube,
partei verwickelt war, schon beschlossen, die Flandern-
fahrt ausfallen zu lassen^); als aber durch Castruccios
Vermittlung die Beilegung des Streites gelungen war,
entschloß man sich, trotz der vorgerückten Jahreszeit
doch noch, die Fahrt, wenn auch mit einer geringeren
Zahl von Galeeren als sonst üblich geworden, (nur vier)
zu unternehmen.^) Die Entscheidung über die Ziel-
station sollte der Mehrheit der mitreisenden Kaufleute
zustehen, mit der Maßgabe indes, daß Antwerpen zu
wählen sei, falls sich Brügge im Kriege mit dem fran-
zösischen Könige befände.^) Nun war letzteres zunächst
tatsächlich noch der Fall; am 23. August aber errang
der neue König, Philipp von Valois, seinen entscheidenden
Sieg bei Cassel und konnte bald darauf mit dem Grafen
seinen Triumpheinzug in dem völlig gedemütigten Brügge
halten*); so sind die erst im Herbst eintreffenden vene-
zianischen Galeeren wahrscheinlich doch in Brügge vor
Anker gegangen. Durch einen Kurier übersandte die
Signorie dem Admiral die Erlaubnis, seine Rückreise bis
zum 10. Februar zu verschieben^); auch hielt man dies-
mal, namentlich wohl mit Rücksicht auf die geringere
Zahl der Galeeren, besondere Maßnahmen zur Sicherung
ihrer fleimkehr für erforderlich und beauftragte die in
der Adria stationierte Wachtflottille, den Galeeren bis
Sizilien entgegenzufahren.®) Inzwischen hatte man sich
schon über die Fahrt des Jahres 1329 schlüssig gemacht;
eine Kommission von drei Sachverständigen sollte y,de
portu galearum*' und über eine nach Flandern zu schickende
Gesandtschaft die Entscheidung treffen; sie beschloß im
März, daß einer der mitreisenden Kaufleute zugleich
») Misti Sen. 1. XI, c. 12: Non armetur in Flandria pro pre-
senti mudua.
«) Villani I. c. 1. X, c. 64. Misti 1. XI, c. 17 ff. (Arch. ven. 19, 99).
») Misti 1. XI, c. 29 (Arch. ven. 19, 100).
*) Pirenne 1. c. II, 109 ff.
*) Misti 1. XI, c. 62.
•) Ebd. c. 84 {Arch, ven, 18, 45): Capitaneus culfi si sibi vide-
bitur exten dere se ultra confines suos pro securitate quatuor que
expectantur de Flandria; dazu c. 91 (ib. 19, 100), wo Sizilien ge-
nannt ist.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 71
als Gesandter an den Grafen und an die Schöffen von
Brügge funktionieren sollte^); die Entscheidung war also
wieder zugunsten von Brügge gefallen.
Was im Jahre 1328 nur gedroht hatte, geschah im
Jahre 1331 wirklich. Bedenklich erschien zunächst ein
schweres Zerwürfnis Venedigs mit dem Welthause der Bardi
(1330), die nicht nur den König von England ganz auf
ihrer Seite hatten, sondern auch den französischen König
zu bestimmen wußten, die Beschlagnahme aller vene-
zianischen Waren in seinem Lande anzuordnen.^) Als
man trotzdem, in der floffnung auf baldige Beilegung
des Konflikts, beschlossen hatte, im kommenden Frühjahr
mindestens sieben Galeeren nach Flandern zu schicken^),
brach der genuesisch-katalanische Krieg aus, der es
Venedig, nachdem es der Beteiligung an diesem Kriege
glücklich auszuweichen gewußt^), doch rätlich erscheinen
ließ, die Galeerenfahrt aufzugeben; um die armatores
wenigstens einigermaßen zu entschädigen, beschloß man
damals, ihren Galeeren, die sonst immer nur fünf
Jahre hindurch in Dienst gestellt werden durften, aus-
nahmsweise ein sechstes Lebensjahr zuzubilligen.^)
Im folgenden Winter faßte man dann zeitig die vor-
bereitenden Beschlüsse für die Flandernfahrt des Jahres
1332.*) Offenbar mit Rücksicht auf das Ausfallen der
Fahrt im vergangenen Jahre sollten diesmal mindestens
') Ebd. c. 62 ff., 94; 1. XII, c. 6 (ib. 100 f.).
») Ebd. 1. XIII, c. 74 {Arch. ven. 19, 101 ; 24, 110), c. 90 (ib. 27,
%), c. 106 (ib. 24, 110). Dazu Davidsohn, Forsch, z. Gesch. von
Florenz III, 192, Nr. 974.
») Ebd. I. XIII, c. 88 (ib. 19, 101).
*) Villahi 1. c. 1. X, c. 172.
*) Misti I. XIII, c. 101 : Armata Flandrie debeat remanere et
non ire; 1. XIV, c. 3: Quod in alleviatione damnorum patronorum
galearum FL non permissorum navigare elongetur ter minus ipsis
galeis ultra tempus 5 annorum per I annum. Die als „Perpetua"
bezeichnete Bestimmung: „Nulla galea que transiverit tempus
5 annorum, possit armari Veneciis, nee de extra pro venire Vene-
das'' steht schon in Buch III; Arch, ven, 18, 52.
•) Misti Sen. 1. XIV, c. 80 ff. {Arch. ven. 19, 101 f.). Mit dem
Februar 1332 enden die von Giomo publizierten Regesten, da
vom März an die Bände der Misti Senato selbst erhalten sind.
72 Adolf Schaube,
neun Galeeren zur Reise nach Flandern armiert werden,
bis zum 18. April sollte das Ladegeschäft beendet sein
und die Ausreise spätestens am 23. April erfolgen. Das
Studium der Frage, welcher Hafen als Zielstation zu
wählen sei, übertrug man diesmal den Provveditori del
Comun; ihre sehr eingehenden Vorschläge, die am
23. März die Zustimmung des Rates der Pregadi fanden,
liegen uns vor.^) Sie sprachen sich für Brügge aus,
aber keineswegs vorbehaltslos. Bezüglich des Waren-
verkaufs sollte man auf völliger Freiheit des Weiterver-
kaufs für alle Waren, die Fremde oder Einheimische in
Brügge von den Venezianern kauften oder kaufen ließen,
bestehen; ebenso sollten die Venezianer untereinander
ganz nach Belieben verkaufen und wiederverkaufen dürfen.
Ferner sollte zur Besserung von Mißständen an der
öffentlichen Wage gefordert werden, daß sie sich zur
Kontrolle an der Wage einen eigenen Wieger mit
eigenem Gewicht halten dürften und daß ein recht-
schaffener, auf sein Amt zu vereidender Mann als Wiege-
meister eingesetzt werde, dem im Falle des Unterschleifs
empfindliche Strafen und Amtsentsetzung drohten.
Die Erfüllung dieser Forderungen sollte conditio sine
qua non sein; würden sie nicht in vollem Umfange er-
reicht, so war der Capitaneus galearum angewiesen,
Brügge zu meiden und nach Brabant zu gehen. Darüber
hinaus sollten aber noch andere Forderungen erhoben
werden, u. a. sorgfältige Bewachung der Galeeren in
Sluis, Unterlassung des Kreditgebens an die Mann-
schaften, Herabsetzung der für einige Waren übermäßig
hohen Maklergebühren 2), Überlassung des Nachlasses
verstorbener Venezianer allein an den Konsul, Gewährung
^) Bei Romanin HI, 376 f. (Druck mangelhaft). Unvollständig
und ungenau bei Marin V, 309.
*) Nach Pegolotti p. 246 hatte in Brügge jedermann an
Maklergebühr für Seide 3»/,°/o des Wertes zu zahlen; die Vene-
zianer dagegen hatten nach ihm während der Zeit, wo ihre
Galeeren dort waren, auf Grund eines ihnen von der Stadt ein-
geräumten Vorzugsrechts nur die Hälfte davon zu entrichten.
Dies Privileg wird also den Venezianern 1332 oder doch wenig
später zugestanden worden sein.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 73
einer Abzugsfrist von einem halben Jahre, falls die
Machthaber nicht mehr gewillt wären, die Sicherheit der
venezianischen Waren in ihrem Gebiete zu gewährleisten.
Dazu sollte natürlich die Bestätigung der schon früher
erlangten Zugeständnisse treten, wobei das venezianische
Konsulat besonders hervorgehoben wird. Die Verhand-
lungen wegen dieser Forderungen sollten durch Kauf-
leute, die schon in Brügge weilten, oder solche, die zu
Lande nach Flandern abzureisen im Begriff waren, ge-
führt werden; offenbar wollte man diesmal ihr Ergebnis
in Venedig selbst abwarten, da man die ursprünglich auf
den 23. April festgesetzte Abreise der Galeeren bis zum
28. Juni hinausschob; man war so in der Lage, einen
weit stärkeren Druck als sonst auf die Machthaber in
Flandern auszuüben. Die Fahrt ist tatsächlich mit zehn
Galeeren ausgeführt worden^); es ist meines Wissens
die stärkste Galeerenflotte, die Venedig jemals nach
Flandern entsandt hat.
VII.
Auch den inneren Verhältnissen dieser Flandern-
fahrten in der ersten Periode ihres Bestehens müssen
wir uns noch zuwenden Wie sie regelmäßig Jahr um
Jahr stattfanden, so bildete sich in dieser Zeit auch schon
eine gewisse Regelmäßigkeit in bezug auf Ausreise, Auf-
enthalt in der Fremde und Heimreise heraus, von der
durch besondere Umstände veranlaßte Abweichungen
freilich nicht selten waren. Aber wo ein bestimmter
Termin für die Ausreise von vornherein festgesetzt ist,
bewegt er sich innerhalb der Tage vom 12. bis 26. April 2);
vier oder fünf Tage vorher sollte des Ladegeschäft be-
endet sein. Die Aufenthaltsdauer wird in dem Privileg
Brügges für Venedig von 1358 auf 45 Tage, wie es seit
») Geht aus den späteren Beschlüssen bei Marin V, 311
hervor.
*) 1323: 26. April; 1326: usque ad medium Aprilem; 1329,
1332, 1334: 12., 23., 13. April. Das ist fast genau die Zeit, die
Uzzano noch im 15. Jahrhundert als Abfahrtszeit der Galeeren
angibt: zwischen 8. und 25. April (bei Pagnini, della Decima IV, 104).
74 Adolf Schaube,
alters üblich, angegeben^); schon Ende 1326 schrieb
man die gleiche Zeit, ungerechnet die Tage der Ankunft
und Abfahrt, vor; Ende 1328 ließ man bei zwingender
Veranlassung (pro necessitate) noch weitere fünf Tage
zu 2), und am 25. November 1323 überließ man es für
die nächste Fahrt dem Ermessen des Admirals, im Ziel-
hafen 45 bis 50 Tage zu verweilen ; war mit dem 50. Tage
der 25. August noch nicht erreicht, so hatte er das Recht,
bis zu diesem Tage zu warten, wenn er damit im Interesse
der Beteiligten zu handeln meinte.^)
Es erhebt sich die Frage, wie es mit dem Anlaufen
von Zwischenstationen zum Zwecke des liandels stand;
denn daß es zu anderen Zwecken, zur Ergänzung des
Proviants oder des Trinkwassers, der Witterung oder
nötiger Reparaturen wegen vorkam, ist selbstverständlich.
Anfänglich war jedes Einnehmen oder Löschen von
Ladung unterwegs durchaus verboten; doch klammerte
man sich in Venedig auch hier nicht an ein Prinzip.
Wichtigste Zwischenstation war jederzeit und von vorn-
herein Mallorka. Für die nach Antwerpen gerichtete
Fahrt von 1324 bestimmte man, daß die Galeeren nach
Mallorka und anderwärts grobe Waren, natürlich nur
innerhalb des für solche Waren festgesetzten Maximums,
transportieren dürften^), und für die flerbstfahrt von 1328
wurde den Galeeren gestattet, falls sie in Venedig nicht
volle Ladung fänden, in Mallorka und jenseits davon
Waren, insbesondere Safran und Alaun, einzunehmen;
1329 wird die gleiche Erlaubnis, unter Beschränkung auf
Mallorka, allein für havere grossum, havere casselle und
Safran ausgesprochen.^) Erst im Jahre 1332 wandte man
*) CartuL de Vancienne Estaple de Bruges 1. c. no. 298, p. 222.
«) Misti Sen. I. X, c. 23, I. XI, c. 63 {Arch. ven. 19, 98 u. 100).
») Romanin IIl, 378. Marin VI, 269.
*) Lib. Vin, c. 5 (Arc/i. ven. 19, 97).
*) Lib. XI, c. 18 u. 63 (ib. 99 f.). Wenn es an ersterer Stelle
heißt: possint in Maiorica et supra caricare mercationes grossas,
seil, zafaranum et lumen non transeundo signa, so liegt eine
ungenaue Ausdrucksweise des Epitomators vor, da Safran selbst-
verständlich nicht zu den merc. grossae gehörte. Die Bedeutung
von havere casselle ergibt sich am besten aus den Stat. navium
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 75
auch den Häfen des iberischen Festlandes eine größere
Aufmerksamkeit zu. In einem Beschlüsse der Pregadi
von diesem Jahre heißt es, daß man nach kaufmännischen
Berichten in Cadix, Sevilla und Lissabon nicht wenig
Nutzen und Förderung für den Handel Venedigs zu er-
warten habe und daß man es deshalb dem Admiral und
den armatores oder der Mehrheit derselben anheimgebe,
auf der Ausreise diese Häfen anzulaufen und zwei bis
vier Tage in jedem derselben zu verweilen, um sich zu
überzeugen, inwieweit diese Häfen wirklich den Erwartun-
gen entsprächen. Jedenfalls mit Rücksicht auf die unge-
wöhnlich große Stärke der Flotte in diesem Jahre ge-
stattete man den Galeeren damals auch, in Mallorka
Lammfelle aus der Berberei als Ladung einzunehmen.
Auf der Rückreise sollten die Galeeren, falls nach Ein-
nahme aller in Brügge und Brabant zur Verladung nach
Venedig bestimmten Waren noch Schiffsraum übrig,
Waren für Cadix annehmen und den dort gelöschten Teil
der Ladung durch Ladung nach Venedig ersetzen dürfen.^)
Übrigens hatte Venedig mit Kastilien in dieser Zeit nicht
selten Schwierigkeiten; erst im Jahre zuvor hatte die
Signorie die Beschlagnahme aller bona hominum regis
Ispanie angeordnet, um für Schäden Vergeltung zu üben,
die Venezianern von Spaniern zugefügt worden waren. 2)
Pegolottis Bemerkung, daß die flandrischen Galeeren
auf der Ausreise unterwegs keinerlei Ladung von einem
Venezianer einnehmen durften, daß sie aber auf der
Rückreise überall und von jedermann Waren anzunehmen
ermächtigt gewesen wären ^), muß, wenn sie wirk-
von 1255 (rub. 55), wonach jeder Kaufmann oder marinarius nur
eine cassela mitführen darf „sad mittendum in ipsa quicquid
voluerit" ; der servitor (famulus) ist von diesem Recht ausge-
schlossen. Neue Ausgabe von Predelli und Sacerdoti im Nuovo
Arch, ven,, n, s., V (1903), p. 211
>) Marin V, 310 f. Romanin III, 378 (HI, 101 heißt es irrtüm-
lich 1322 für 1332).
») Ulis de ca Geno et Nigro Cauco; Misti I. XIV, c. 20 II. {Arch.
ven, 19, 101 u. 18, 57). Über Irühere Differenzen ib. X, 50, 81 ;
XI, 19, 22.
») Bei Pagnini III, 140.
76 Adolf Schaube,
lieh ganz zutrifft, auf einer jüngeren Bestimmung be-
ruhen.
Den Fremden blieb die Benutzung der flandrischen
Galeeren nach dem bald als verfehlt erkannten Experi-
ment von 1321 durchaus gestattet, freilich mit einer Ein-
schränkung von allergrößter Wichtigkeit : sie sollten nicht
mehr Ware aus Flandern nach Venedig einführen dürfen,
als dem Wert der von ihnen aus Venedig ausgeführten
Ware entsprach.^) Darin lag zunächst, daß sie nicht
eigene von auswärts nach Venedig gebrachte Waren
nach Flandern exportieren durften ; war ihnen doch auch
die Einfuhr von Levantewaren nach Venedig ohnehin
untersagt. 2) Sie waren also darauf angewiesen, zum
Export nach Flandern geeignete Waren in Venedig selbst
erst zu erstehen und nur den Erlös derselben durften
sie dann, in Tuche oder Wolle umgesetzt, auf den
Galeeren von Flandern nach Venedig schaffen lassen;
eine Handelsfreiheit in unserem Sinne bestand also für
die Fremden auch rücksichtlich der flandrischen Galeeren
keineswegs. Eine andere Frage ist, ob man mit Rück-
sicht auf praktische Vorteile nicht doch gegebenenfalls
von diesen Grundsätzen Ausnahmen gemacht hat.
Jedenfalls war man von Seiten der Regierung be-
müht, diese flandrischen Galeerenfahrten in jeder Be-
ziehung zu fördern, gleichzeitig aber den Handel soviel
wie möglich an Venedig zu binden. So verbot man am
19. Dezember 1333 allen Schiffen, die mit Waren aus
der Levante kamen, bei hoher Buße über die Ostküste
Siziliens hinauszufahren, da die Erfahrung gelehrt habe,
daß viele dieser Fahrzeuge direkt nach Sizilien, Pisa,
Aigues-Mortes und Mallorka gingen, um hier die Waren
der Levante abzusetzen, die dann von da aus in das
*) Misti XI, c. 63 : Quod forenses et havere ipsorum possint
ire et redire secundum usum cum dictis galeis, conditione quod
quantum extraxerlnt de Ven, possint conducere de Flandria et non
plus, et non possint levare havere forensium alicubi (Herbst 1328).
Ähnlich I. X, c. 23.
«) Ebd. I. V, c. 86 (1318).
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 77
Binnenland und bis nach Flandern hinein weiterzugehen
pflegten.*)
So schien dieser Handel also auch den Galeeren-
fahrten nach Flandern Abbruch zu tun. Aber auch im
Interesse ihrer Rückfracht suchte man die flandrischen
Galeeren gegen Konkurrenz zu schützen. Für die Zeit
der Flandernfahrt von 1332 verbot man nicht kriegs-
mäßig armierten Handelsfahrzeugen den Transport von
Wolle von Cadix oder einem der diesseits von Cadix ge-
legenen Häfen aus nach Venedig 2) und gleichzeitig be-
legte man die Einfuhr englischer oder flandrischer Wolle
auf dem Landwege mit einer Buße von 25% des Wertes;
für die Fahrt von 1334 wissen wir, daß das entsprechende
Verbot am 14. Dezember 1333 beschlossen, am folgenden
Tage verkündet wurde, am 1. März in Kraft trat und bis
einen Monat nach Antritt der Heimreise durch die
Galeeren in Kraft geblieben ist; ausdrücklich wurde dies
Verbot damit begründet, daß die flandrischen Galeeren
volle Ladung finden und nicht wegen der Wollzufuhr
zu Lande Verluste erleiden sollten.^) Die Konkurrenz-
fähigkeit des Landtransportes ist damit außer allen
Zweifel gestellt und der Gedanke, daß die größere
Billigkeit des Seetransports einen wichtigen Anstoß zu
diesen Galeerenfahrten gegeben haben müßte*), auf das
bündigste als hinfällig erwiesen ; der Transport auf diesen
Galeeren mit ihrer starken Bemannung und ihrem ver-
hältnismäßig geringen Fassungsraum gestaltete sich eben
recht kostspielig und war deshalb auch der Hauptsache
nach auf besonders wertvolle Waren beschränkt.
>) UArmeno Veneto. Yen, 1893, 11, 114, no. 237: non declinant
cum mercationibus Venecias ut deberent.
•) Lib. XIV, c. 80, 84 {Arch, ven. 19, 102).
») Misti Senate I. XVI, c. 45 bei Brown I, 7, no. 23.
*) Peschel, Zeitalter der Entdeckungen S. 44. Schanz I. c.
I, usf. Wenn ebenda auch die Versicherungsprämien im See-
und Landtransport zum Vergleich herangezogen werden, so ist
zu bemerken, daß das Versicherungswesen damals überhaupt
noch nicht bestand. S. hierzu meine Abhandlungen in den Conrad-
sehen Jahrbüchen 60 (1893), p. 40 ff. und 61, 481 ff.
78 Adolf Schaube,
Während nun das kostbare Rohprodukt der Wolle in
Venedig selbst und den gewerbfleißigen Städten des
italienischen Binnenlands willige Abnehmer fand, war
ein großer Teil der edlen Tuche, die die flandrischen
Galeeren heimbrachten, zur Wiederausfuhr aus Venedig
nach dem Osten bestimmt. Mehrfach wird verordnet,
daß der Rat der Pregadi binnen 14 Tagen nach der
Heimkehr der Galeeren für diese Wiederausfuhr Fürsorge
zu treffen habe^); und mehrfach erfahren wir auch von
der Art dieser Fürsorge. Anfang 1323 wurde bestimmt,
daß eine Galeere, die Gesandte nach Sklavonien zu bringen
hatte, sodann „cum drapparia Flandrie'' nach Kreta und
Negroponte zu gehen hätte 2); im Spätherbst desselben
Jahres heißt es von der eben angekommenen drapparia^
daß sie „in solario" untergebracht werden sollte, so lange
offenbar, bis ihre Wiederausfuhr erfolgte, für die dann
am Anfang des folgenden Jahres die in der Adria statio-
nierten Wachtgaleeren (galeae culfi) bestimmt worden
sind.^) Und im Spätherbst 1326 beschloß man die Er-
nennung eines Capitaneus culfi und die Armierung
zweier Galeeren, die nur der Ausfuhr der drapparia
Flandrie dienen und dabei ihre Fahrt bis Negroponte
ausdehnen durften.^) Man fand also schon an der Ost-
seite der Adria, in Griechenland sowie auf Kreta und
Euboea ein reiches Absatzgebiet für diese Tuche, während
ein nicht geringer Teil derselben offenbar mit den regel-
mäßigen Galeerenfahrten nach Konstantinopel, Zypern,
Klein-Armenien und dem Schwarzen Meere weiter-
gegangen ist. Denn mit gewöhnlichen Handelsfahrzeugen
wurde der Export dieser kostbaren Ware im allgemeinen
0 Lib. X, c. 23 (in bezug auf die Fahrt von 1327): Teneantur
consiliarii post reditum galearum infra dies 15 venire ad con-
silium Rogatorum ad videndum de dando exitum drapparie.
Ebenso 1. XI, c. 65.
«) Lib. Vn, c. 65, 89 (Arch. ven, 18, 54).
') Lib. VII, c. 118 (ib. 19, 96); c. 134 (ib. 18, 43; Culfi et Ro-
man ie custodia): Drapparia Flandrie adducta per alias galeas
possit portari cum galeis culfi,
*) Lib. X, c. 4 (ib. 17, 261 und 271; rub, Armate galee per
comune ad mercatum).
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 79
nicht gestattet; es ist durchaus als Ausnahme anzusehen,
wenn diese Erlaubnis im Jahre 1314 einmal erteilt worden
ist.i) Die Vorstellung aber, daß diese Handelsflotten
die Vermittler eines großartigen Produktenaustausches
zwischen Ägypten und Flandern gewesen sind 2), bedarf
nach mehr als einer Richtung starker Einschränkungen,
zumal der Handel Venedigs mit Ägypten gerade in
dieser Zeit infolge der kirchlichen Handelsverbote und
der Eröffnung neuer Handelswege nach dem Osten
einen wesentlichen Rückgang erfahren hatte.
Eine ganz besondere Begünstigung der Galeeren-
fahrten nach Flandern war die vollständige Abgaben-
freiheit der mit ihnen aus- oder eingeführten Waren, die
sich bei letzteren auch auf die Wiederausfuhr oder auf
ihren Verkauf in Venedig selbst erstreckte. Wir erfahren
das durch Pegolotti, während in den ersten Jahren, wie
wir wissen, ein ganz anderes System geherrscht hatte.
1320 hatte man zuerst Zollfreiheit für Wolle beschlossen,
das folgende Jahr der Reaktion führte die üblichen Ab-
gaben wieder ein, dann aber verschwindet das datium
ganz aus den Regesten, so daß es damit wahrscheinlich
wird, daß der uns von Pegolotti mitgeteilte Grundsatz
schon am Anfang der zwanziger Jahre zu allgemeiner
Geltung gelangt ist.') So bestand der Vorteil, den der
Staat aus diesen Fahrten zog, nur in der Hebung von
Handel und Industrie; auch der Brauch der Verwertung
staatlicher Galeeren, die eine Einnahmequelle für den
Staat hätte werden können, ist gerade bei den Flandern-
fahrten in dieser Zeit mehr und mehr abgekommen ; die
Galeeren, deren Maße im Jahre 1321 aufgezeichnet
*) Drapparia et omnes mercature, que non possint portari
nisi cum galeis armatis, possint portari cum disarmato pro hac
mudua; Hb. IV, c. 84 (ib. 19, 105). Anfang 1321 lehnte man einen
dahingehenden Antrag ab: Posita parte tunc utrum drapparia et
alie mercationes possint portari cum navigiis disarmatis, capta
est pars de non. Lib. VI, c. 66 (ib. 18, 53; rub, Galee armate in-
differenter per speciales personas).
•) So Heyd II, 722.
») Pegolotti p. 140. Oben S. 66.
80 Adolf Schaube,
wurden, gehörten Privatpersonen; Ende 1323 gab man
den Bau von Galeeren für die Flandernfahrt in den da-
für festgesetzten Maßen allgemein frei mit dem Hinzu-
fügen, daß aber nicht etwa Übernahme dieser Galeeren
durch den Staat beansprucht werden dürfte; im Herbst
1329 erklärte man, gegenwärtig keine „galee grosse de
mensura galearum Flandrie'', wohl aber sechs Galeeren
in den Maßen der Alexandrienfahrer und vier in denen
der Wachtgaleeren der Adria bauen zu wollen^); und
am 25. November 1333 beschloß man, daß alle Unter-
nehmer, die sich für die nächste Fahrt, die mit acht
Galeeren ausgeführt werden sollte, einschreiben lassen
würden, damit zugleich die Berechtigung, sich neue
Galeeren bauen zu lassen, erhalten sollten. 2)
Auch eine nicht unwesentliche Ermäßigung der
Frachtsätze hat in dem Vierteljahrhundert, das ungefähr
von der Aufstellung des ersten Frachttarifs im Jahre
1313 bis zur Abfassung des Pegolottischen Handbuches
verstrichen ist, stattgefunden. Nur Wolle hat ihren alten
hohen Frachtsatz von 60 sol. gr. vom kleinen Milliare
(302,4 kg) beibehalten; Tuche jeder Art sind jetzt nicht
mehr nach Ballen, sondern auch nach Gewicht, und zwar
zum halben Satz der Wolle tarifiert, wie es zuerst für
Leinwand im Jahre 1322 begegnet; gleichzeitig erscheint
Bernstein (ambrum) zum erstenmal, auch mit demselben
Frachtsatz von 25 sol. gr., den noch Pegolotti kennt ^);
Kupfer und Zinn sind von 20 sol. auf den vierten Teil
davon herabgegangen.
Von den Waren, die für den Export nach Flandern
in Betracht kamen, zeigt nur Zucker in Fässern den
Satz von 30 sol. gr. vom kleinen Tausend; Pfeffer,
Brasilholz in Kisten, Gewürznelken, Muskatblüte und alle
feinen Spezereien sind mit 27 sol. auf dem Satze von
0 Oben S. 56. Misti 1. VII, c. 126 (Arch. ven. 19,97; 17,269);
I. XII, c. 65 (ib. 17, 262). Privatgaleeren waren es natürlich auch,
denen man 1331 wegen des Ausfalls der Flandernfahrt ein Lebens-
jahr zulegte; oben S. 71
«) Romanin III, 378 f.
•) Der Tarif Pegolotti p. 140. Misti Senato I. VI, c. 130.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 81
1317 stehengeblieben'), Rauchwaren zeigen den schon
1321 für sie sowie bearbeitetes Leder und Baumwollgarn
bestehenden Satz von 25 sol.^) Staubzucker in Kisten
ist auf 22, Wachs auf 20, Alaun, Waid und Krapp auf
15 sol. gr. ermäßigt. Kermes in Säcken ist die einzige
Ware, die eine Steigerung der Fracht, von 3^2 auf 4%
des Wertes aufzuweisen hat, Rohseide ist auf 2% zurück-
gegangen, während Seidenstoffe (buccherami) aller Art
jetzt neu mit 3% tarifiert sind. Vom kretischen Wein
waren für die Amphora 25 sol. gr., vom Hektoliter also
etwa 20 M., an Fracht zu entrichten. Daß Pegolotti
diesen Frachttarif in sein Handbuch aufgenommen hat,
ist ein deutliches Zeichen von dem praktischen Interesse,
das die venezianischen Flandernfahrten auch für den
Handel der Florentiner besaßen.
Suchen wir uns zuletzt noch ein Bild von der
Arbeitsleistung dieser Galeeren, von dem Quantum der
Warenbewegung, die sie zwischen Venedig und der
Nordsee vermittelten, zu verschaffen. Die Ausmessungen
dieser Galeeren sind uns wohlbekannt; für unseren
Zweck, eine allgemeine Vorstellung zu ermöglichen, wird
es genügen, die Hauptmaße anzugeben: ihre Länge be-
trug 4078 m, die Breite in der Mitte am oberen Schiffs-
rand 5,5, am Schiffsboden 3,3 m, die Tiefe endlich 2,5 m.^)
Es waren Ruderschiffe mit Segelvorrichtung; von der
200 Mann starken Besatzung waren 175, später 180 Mann
Ruderer.*) Natürlich nahm das Ruderwerk einen be-
trächtlichen Teil des ohnehin nicht sehr großen Fas-
sungsraumes fort; man rechnete die Tragfähigkeit von
>) Oben S. 49.
•) Misti 1. VI, c. 61 : de curamine concio, bombice filato et
pilizaria,
») Marin V, 211 f. Oben S. 46.
*) Misti 1. X, c. 23; 1. XI, c. 63: conducant homines 200 sol-
datos de suo saldo de quibus sint vogerii 175 (1328). Für 1334
heißt es bei Romanin III, 380: Cum galee Fl, habere debeant
homines solutos 200, quod de ipsis sint homines ad remum 180,
ex quibus sint ballistarii 12 (etc.),
Hittoritche Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 6
82 Adolf Schaube,
acht bis zehn Galeeren erst gleich der eines Voll-
schiffes. ^)
Jede der flandrischen Galeeren beförderte eine Last
von 280 milliaria kleinen Gewichts = 84672 kg, also
von 842/3 Tonnen, das ist nicht mehr als die Ladung von
8V2 der früheren Normalgüterwagen unserer Eisenbahnen.
Dieses Quantum begegnet uns als Ladegewicht der Ga-
leeren schon im Jahre 13212), und 1333 wird es als
unerläßliche Bedingung für alle Neubauten von Galeeren,
die dem Verkehr mit Flandern zu dienen bestimmt
waren, ausdrücklich vorgeschrieben.^) Wenn nun der
alleinige Zweck dieser kriegsmäßig armierten Galeeren,
die ein verhältnismäßig sehr hohes Maß von Sicherheit
gewährleisteten, in dem Transport besonders wertvoller
Waren bestand, so ließ sich doch schon mit Rücksicht
auf die zweckmäßige Unterbringung und Verstauung der
Waren keineswegs der ganze zur Verfügung stehende
Raum für diesen Zweck ausnützen. Für die Rückfahrt
von Flandern her wurde das Verhältnis schon 1321 dahin
geregelt, daß Eisen, Blei, Kupfer, Zinn und andere
Metalle als Ballast bis zu einem Quantum von 80 kleinen
Tausend (24192 kg), die übrigen Waren aber, wie vor
allen Dingen Wolle und Tuche, bis zu 200 kleinen
Tausend (60480 kg), als Fracht eingenommen werden
dürften, und dabei ist es in der nächsten Zeit im wesent-
lichen verblieben.^) Für die Hinfahrt gestaltete sich die
^) S. meine Abhandlung über die wahre Beschaffenheit der
Versicherung in der Entstehungszeit des Versicherungswesens:
Jahrb. f. Nationalök. u. Statistik 60 (1893), 43.
») MlsH 1. VI, c. 61 f. Ferner I. X, c. 22 (für 1327): Quod dicte
galee non possint portare ultra milliaria 280 mercimoniorum ad
subtile; 1. XI, c. 62 (für 1329).
') Bei Romanin III, 378 f.: cum conditione quod dicte galee
possint portare miliaria 280 ad pondus subtile de mercimoniis.
*) Misti Sen, 1. VI, c. 61f.; 1322 fügte man hinzu, daß sich
unter den 200 mill. tele bis zum Höchstgewicht von 20 mill. be-
finden dürften, c. 130 f; 1326 gestattete man ausnahmsweise,
pro galea 10 milliaria von havere subtile (ausgenommen Wolle)
mehr zu laden non transeundo signa; 1. IX, c. 104. Für 1334 be-
stimmte man, daß Metalle als Ballast nunmehr bis zu 80 mill, ad
pondus grossum mitgenommen werden durften (Romanin III, 379),
Die Anfänge der Venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 83
Beschaffung besonders wertvoller Waren in dem er-
wünschten Umfange offenbar schwieriger. Im Jahre 1321
zwar hatte man die Ladung von merces grossae, zu denen
auch Eisalaun (alumen de roza) gerechnet wurde, auf
70 kleine Tausend (21168 kg) beschränkt; schon im
folgenden Jahre aber erhöhte man sie wie bei der Rück-
fracht auf 80.^) Im Jahre 1328 bestätigte man das, fügte
aber hinzu, daß jede Galeere in Venedig mindestens
100 kleine Tausend de mercationibus subtilibus laden
müßte, widrigenfalls den Padrone eine Strafe von 40 sol.
gr. (200 M.) für jedes fehlende Milliare traf; Alaun und
Baumwollgarn sollten zu den merces grossae gerechnet
werden. Dieses Minimum ließ also die Möglichkeit, daß
der Galeere bei ihrer Ausreise 100kleineTausend(30240kg)
zur Volladung fehlten ; darum erklärte man damals auch
die Ergänzung der Ladung in Mallorka und an anderen
Orten jenseits davon für zulässig. 2) Für die Fahrten
von 1332 und 1334 erhöhte man dieses Minimum auf
120 kleine Tausend und ermäßigte die Buße auf die
Hälfte; zu den merces grossae rechnete man jetzt außer
den genannten Waren auch Staubzucker, Rosinen, Bar-
chentstoffe (fustagni) und pulverisierten Krapp (rubea
macinata):^) Die Ladebeschränkung für grobe Waren auf
ein Maximum von 80 kleinen Tausend fiel weg; doch
mußte, falls bis drei Tage vor dem letzten Ladetermin
feine Waren als Fracht über das Minimum von 120
Milliaria hinaus angeboten wurden und sonst kein Raum
mehr zur Verfügung stand, durch Wiederausladen von
groben Waren für sie Raum geschaffen werden; den
zuwiderhandelnden Padrone traf eine Buße in der
während bisher 70 mill. das zulässige Maximum gewesen sei.
Diese Erhöhung mag wohl mit der großen Zahl von Galeeren
zusammenhängen, die man gerade in diesen Jahren abfertigte.
») MisH 1. VI, c. 61, 130.
*) Ebd. 1. XI, c. 18. Die besonderen Verhältnisse der Fahrt
von 1328 (oben S. 69 f.) sind auf diese Bestimmungen sicher von
Einfluß gewesen. 1327 hatte man die Mitnahme von Malvasier,
der auf die merces grossae anzurechnen war, auf 21 anforae be-
schränkt; I. X, c. 49.
») Ebd. 1. XIV, c. 80 f. Romanin 111, 379.
6*
84 Adolf Schaube,
doppelten Höhe der für die betreffende feine Ware zu
entrichtenden Fracht.
Nimmt man nun die Zahl der in unserem Zeitraum
jährlich abgefertigten flandrischen Galeeren mit durch-
schnittlich sechs an und rechnet man weiter, daß jede
derselben von feinen Waren (also Gewürzen, Spezereien,
Drogen, Seide, feinen Geweben u. dgl.) eine Fracht von
150 Milliarien erhielt^), so gelangten danach im Durch-
schnitt jährlich 272160 kg, also 5443 Zentner von diesen
zum allergrößten Teil aus der Levante stammenden
Waren mit den flandrischen Galeeren zum Export.
In umgekehrter Richtung können wir annehmen, daß
die Galeeren im allgemeinen ihre volle Ladung von je
200 Milliarien an Wolle und Tuchen (andere Waren,
wie Bernstein, kamen nicht wesentlich in Betracht) er-
hielten, so daß sie im Jahresdurchschnitt 362880 kg =
7258 Zentner dieser kostbaren Waren nach Venedig
brachten. Wie sich dieses Quantum auf Wolle und Stoffe
verteilte, können wir freilich nicht sicher sagen. Rechnet
man den englischen Sack Wolle zu 166 kg^), so hätte
eine Galeere, wenn sie außer dem Ballast nur Wolle
geladen hätte, das Gewicht von 364 Sack zu transportieren
vermocht. Jene 1170 Sack, für die wir im Jahre 1320 die
englische Ausfuhrlizenz zu den im Zwyn liegenden Ga-
leeren nachgewiesen haben ^), beanspruchten also für sich
allein mehr als den ganzen für feine Waren verfügbaren
Schiffsraum von drei Galeeren, und den vollen Umfang
des Wolltransports der Galeeren dieses Jahres werden
diese Lizenzen schwerlich decken; leider ist uns die
Zahl der Galeeren dieses Jahres nicht bekannt, doch rst
sie schwerlich über sechs hinausgegangen. Vielleicht
*) Das erscheint gerechtfertigt, da die Zulassung des Mini-
mums von 120 mill. für die Fahrten von 1332 und 1334 sich
offenbar aus der ungewöhnlichen Stärke der Galeerenflotte (10
und 8) in diesen Jahren erklärt; je weniger Galeeren, desto mehr
war natürlich auf volle Ladung zu rechnen.
•) S. meine Abh. über die Wollausfuhr Englands von 1273
in der Vierteljahrschr. f. Sozial- u. Wirtschaftsgesch. 1908, S. 40 f.
») Oben S. 59.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 85
kann man auf ein ungefähres Verhältnis des Exports
von Wolle und Stoffen wie 2 : 1 schließen. Dann würden
die flandrischen Galeeren jährlich durchschnittlich etwa
1000 Ballen Tuche (121000 kg) und rund 1450 Sack
Wolle (242000 kg) nach Venedig geführt haben. Danach
kann es nicht weiter Wunder nehmen, daß auch der
Landimport dieser Waren nach Venedig seine Wege
weiterging; doch kann darauf hier nicht eingegangen
werden; nur auf den wichtigen Vertrag Venedigs mit
Como vom Jahre 1328 sei noch kurz hingewiesen.^)
VIII.
Einen Punkt haben wir ganz aus den Augen ver-
loren: die Entwicklung der Beziehungen Venedigs zu
England in dieser Zeit. Als im Frühjahr 1322 Pietro
Zeno und Perono Giustinian nach den Niederlanden
entsandt wurden, beschloß man, sie auch mit der Er-
ledigung des yyfadum Anglie" zu betrauen; in einem
weiteren im Spätherbst des Jahres gefaßten Beschlüsse
gab der Senat unter gewissen (nicht mitgeteilten) Vor-
behalten seine Zustimmung zum Abschluße der „concordia''
mit dem englischen Könige gemäß der den Gesandten
seinerzeit erteiften Instruktion. 2) Im April 1323 endlich
schien die Einigung erreicht. Nicht weniger als fünf
englischerseits ausgestellte Dokumente liegen uns darüber
vor. Am 10. April erklären 1. 14 Bürger von South-
ampton, die speziell geschädigt waren, wegen ihrer An-
sprüche auf Schadenersatz befriedigt zu sein; 2. Mayor
und Gemeinde von Southampton, daß Venedig für die
von den Leuten seiner fünf Galeeren verursachten Schäden
volle Genugtuung gegeben habe und daß niemand
weiter einen Venezianer deswegen belästigen dürfe;
3. gibt Ritter John von der Insel Wight bezüglich
der von seinen Leuten erlittenen Schäden die gleiche
0 Marin VI, 272 f.
«) Lib.VII, c. 8, 58. 60 (Arch. ven. 19, 97 u. 96); dazu c. 13
(ib. 17, 136). Brown I, p. CXXII setzt diese Gesandtschaft irrig
zu 1321 an.
86 Adolf Schaube,
Erklärung ab.^) Am 16. April erläßt 4. der König für
die Padroni, Kaufleute, Führer und Mannschaften der
fünf Galeeren wegen der Totschläge, die in ihrem Streit
mit den Leuten vonSouthampton und Wight vorgekommen,
so daß sie sich seitdem scheuten, in das Königreich zu
kommen, einen Pardon, unter der Bedingung, daß sie
bereit wären, Recht zu geben, wenn jemand sie ge-
richtlich zu belangen wünschte 2); gleichzeitig erläßt er
5. einen Generalpardon wegen des Geschehenen für alle
Venezianer, da sie Bedenken trügen, das Königreich zu
besuchen; feierlich erklärte er, daß die Venezianer mit
ihren Galeeren und Waren in voller Sicherheit nach Eng-
land kommen, dort sich aufhalten und Handel treiben
und ebenso unbehindert wieder zurückkehren dürften.')
Indessen stellten diese Dokumente, wie die weitere
Entwicklung zeigt, die Venezianer keineswegs zufrieden;
insbesondere wird der Passus, der auch jetzt noch ein
gerichtliches Vorgehen Einzelner gegen die an dem Vor-
fall von 1319 Beteiligten zuließ, den Widerspruch der
Signorie erregt haben, so daß ein Abschluß auch jetzt
nicht erfolgte. Vielmehr kam es gerade in diesem Jahre
zu einem Zusammenstoß der beiden Nationen zur See.
Als im September 1323 die sieben mit ihren Waren von
Flandern zurückkehrenden venezianische^ Galeeren auf
dem Heimwege waren, wurden sie im Kanal von 34 eng-
lischen Koggen in räuberischer Absicht angefallen. Aber
die Piraten hatten die Gefechtskraft dieser Galeeren mit
ihrer starken Besatzung arg unterschätzt; sie wurden
von den Venezianern mit schweren Verlusten abgewiesen
und verloren zehn ihrer Schiffe.**)
So hatten sich die Venezianer bei der in damaliger
Zeit zu Übergriffen nur zu sehr geneigten englischen
>) Commemoriali IH, Reg. no. 47—49. Brown I, 5. Der letzte
Akt vollständig bei Rymer, Foedera, Record Edit. II, 514. Regest
in CaL of the Close Rolls p. 696.
*) CaL of the Patent Rolls, Edw. II, 1321 — 1324 (Lond. 1904),
p. 276.
») Rymer, Foedera, //. Ed, II, 2, p. 69.
*) Giov. Villani, ed. Dragomanni 1. IX, c. 224; die Ausgabe
bei Muratori (c. 223) hat nur 24 cocche.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 87
Küstenbevöikerung tüchtig in Raspelet gesetzt; da die
schwächliche Regierung Eduards 11. offenbar jede Ver-
antwortung für diesen Akt derPiraterie ablehnte, so konnten
die Verhandlungen über ein dauerhaftes Abkommen
zwischen beiden Staaten trotz dieses Vorfalls ihren Fort-
gang nehmen. Am 10. März 1324 wurde der vom Könige
im Jahre zuvor erlassene Pardon und Generalpardon,
nunmehr unter Zustimmung des Parlaments von West-
minster, erneuert und dabei betont, daß dieser Pardon
für alle Zeiten Gültigkeit haben sollte.^)
Aber das genügte den Venezianern noch nicht. Um
zu einer ganz einwandfreien, sie völlig sicherstellenden
Fassung der Delcrete des Königs zu gelangen, bedienten
sie sich nunmehr der Vermittlung der großen floren-
tinischen Banken, die in England höchst einflußreich
waren und auch in Venedig ihre Vertreter hatten. So
erging im Sommer 1324 ein Schreiben der Signorie an
die Peruzzi und die Bardi „pro concordia AngUe'''^)\ es
ist wohl ein Erfolg dieser Vermittlung, daß der König am
26. Februar 1325 allen Baillis in seinem Reiche zu wissen
tat, daß er alle Kaufleute und Seeleute von Venedig für
zwei Jahre unter sein sicheres Geleit genommen; ins-
besondere betont er, daß wegen Übertretungen oder
Schulden nur der Schuldige oder Schuldner oder dessen
Bürgen belangt, niemals aber andere Venezianer des-
wegen in Person oder in ihrer Habe angetastet werden
dürfen. 3) Etwa im Mai beschloß dann die Signorie, den
Peruzzi außer ihren bisherigen Auslagen noch 50 M. SterL
(rund 2200 M.) zu bewilligen, wenn sie ein anderes
Dekret (als das von 1323/24) vom Könige erwirkten^);
nicht lange darauf setzte man selbst ein Schriftstück in
der Fassung auf, wie man es vom englischen Könige
») Rymer, Foedera, Rec Edit. II, 546 (H. II, 2, 93). CaL of
Fat. Rolls, Edw. II, 1321 — 1324, p. 368.
») Lib. VIII, c. 35 (Anh. ven. 19. 97).
•) CaL of Patent Rolls, Edw. II, 1324—1327 (London 1904),
p. 100.
') Lib. IX, c. 25 (Arch. ven. 19, 98).
S8 Adolf Schaube,
durch die Vermittelung der florentinischen Banken zu
erlangen wünschte.^)
Und nun kam man wirklich zum Ziele. Nachdem
das in Westminster versammelte Parlament am 18. November
seine Zustimmung dazu gegeben, erklärte der König am
6. Dezember 1325 nochmals jene Vorkommnisse von
Southampton für völlig verziehen; allen seinen Unter-
tanen verbot er nunmehr, die Venezianer deswegen noch
irgendwie zu behelligen; fortan sollten alle Venezianer
mit ihrer Habe und ihrer Ware im ganzen Königreich
in voller Sicherheit kommen und gehen dürfen. 2)
Am 26. Mai 1326 fand die Sache im Dogenpalast in
einem offiziellen Akte zwischen dem Dogen und den
Vermittlern ihren Abschluß; der Doge bestätigte den
Vertretern der Peruzzi und der Bardi, Niccolb Lamber-
teschi und Andrea di Borgognone, die Übergabe der
auf den Frieden mit England bezüglichen Dokumente,
wogegen diese über den Empfang der ihren Häusern
für die Vermittlung zustehenden Gelder in Höhe von
500 M. Sterl. Quittung leisteten.»)
Trotz der mit so vielen Mühen endlich erreichten
Verständigung hören wir nichts von einem Aufschwung
des venezianischen Handels mit England. Wohl scheint
der neue König Eduard III. den Venezianern günstiger
gesinnt gewesen zu sein, als sein Vorgänger; am 20. März
1330 legte er bei der Signorie Fürsprache für die mit
Venedig in Differenzen geratenen Bardi ein^); noch im
Frühjahr 1332 aber beschloß Venedig, die flandrischen
0 Lib. IX. c. 35 (ib. 19, 97 und 17, 270): Forma litterarum
quam voluimus impetrare a Rege Anglie pro facto Peruciorum et
Azaiolorum, Abgesehen von der schlechten Fassung des „pro
facto'' hat der Epitomator auch die Acciaiuoli nur irrtümlich für
die Bardi hineingebracht, wie die schließliche finanzielle Abwick-
lung der Sache zeigt.
») Cal. of Patent Rolls 1. c. p. 195. Commemoriali 11, no. 453,
in, no. 70. Brown I, 6.
') Commem, 111, Reg. no. 84.
*) Rymer, Rec. Ed. 11, 783; CaL of the Close Rolls, Edw. III,
1330—1333, p. 131. Oben S. 71.
Die Anfänge der venez. Galeerenfahrten nach der Nordsee. 89
Galeeren unter keinen Umständen nach England gehen
zu lassen.^)
Diese entschiedene Ablehnung ist höchst bemerkens-
wert; offenbar beruht sie auf der in Venedig fest-
gewurzelten Überzeugung, daß ein freundschaftliches
Einvernehmen mit Frankreich für das Gedeihen der
flandrischen Fahrten von entscheidender Bedeutung sei.
Aber die Zeit war nahe, wo sich die Bedingungen,
unter denen diese Fahrten bisher stattgefunden, völlig
ändern sollten. Der hundertjährige Krieg brach aus;
das furchtbare Elend, das die strenge, von Eduard III.
über Flandern verhängte Sperre der Wolleinfuhr und
Tuchausfuhr rasch in dem Lande hervorrief (1336/37)2),
zeigte den gewaltigen wirtschaftlichen Einfluß Englands;
der glänzende Sieg bei Sluis, wenige Monate, nachdem
Venedig ein ihm von Eduard angetragenes Bündnis
gegen Frankreich abgelehnt, brachte England die Vor-
herrschaft in den Gewässern des Kanals (1340); die
Einnahme von Calais machte es zum Herrn des Seewegs
nach Flandern. Es ist bezeichnend für den eingetretenen
Umschwung, daß noch während der Belagerung von
Calais 1347 der venezianische Konsul von Brügge,
Nicholetto Contarini, der erste, den wir mit Namen
kennen'), vor dem Sieger von Cr^cy erschien und um
einen königlichen Geleitsbrief für die vier flandrischen
Galeeren Venedigs nachsuchte.
') MUH Senate XV, 1 bei Brown, Cal, 1, 7, no. 22.
«) Pirenne II, 122 ff.
») Rymer, Foedera III, 116 (Rec. Ed.). Cal. of Ciose Rolls,
Edw. I!I, 1346—1349, p. 210 (mit der verstümmelten Namensform:
Nie. de Comaryn).
Louis Erhardt.
Von
Friedrich Meinecke.
Was Louis Erhardt der Historischen Zeitschrift ge-
wesen ist, habe ich im Geleitworte zum 100. Bande der
Historischen Zeitschrift angedeutet, habe aber dabei nur
eben eine Seite von dem, was er für sie geleistet, be-
rührt. Jetzt ist es mir eine wehmütige Genugtuung, daß
ihm diese Dankesworte, die ich ihm öffentlich schuldete,
in den letzten umwölkten Wochen seines Lebens noch
eine kleine Freude bereitet haben. Am 21. Januar d. J.
hat er, gequält durch langjährige Nervenschwäche und
tiefe Melancholie, durch eigene Hand geendet. Sein
Leben, und insbesondere sein wissenschaftliches Leben,
hat auch im früheren Verlaufe von außen viel mehr
Schatten als Sonne empfangen. So sind die starken
Keime, die in ihm lagen, nicht zu ihrer vollen Entwick-
lung gekommen, und so ist auch sein Name nicht weit
über den Leserkreis der Historischen Zeitschrift hinaus-
gedrungen, und innerhalb dieses waren es auch nur ganz
wenige, die den vollen Wert dieses herrlichen Menschen
ganz kannten. Ihre Freundespflicht ist es, jetzt zu sagen^
was man an ihm verloren hat.
Er wurde am 21. September 1857 in Gadebusch
geboren, verlor früh seinen Vater und wuchs in be-
drängter äußerer Lage auf. Die Energie seiner Mutter
und die Hilfe der älteren Geschwister ermöglichten es,
Louis Erhardt. 91
daß er das Gymnasium in Schwerin besuchen und seit
Ostern 1875 in Göttingen, Berlin und Leipzig studieren
konnte. In Leipzig promovierte er im Dezember 1878,
dann kamen bis 1882 Jahre des Hauslehrerlebens, die
ihn bis nach Rumänien führten. Zurückgekehrt, lebte
er als Schriftsteller und Privatgelehrter, der sich auf die
Habilitation vorbereitet, vorzugsweise in Berlin. Die
Folgen eines schweren Typhus in den Jahren 1883 oder
1884 knickten seine Arbeitskraft derart, daß er erst 1893
mit dem Werke, das seiner Habilitation dienen sollte,
der „Entstehung der homerischen Gedichte" (erschienen
1894) fertig wurde. Damals lernte ich ihn durch Ver-
mittlung Sybels, der ihn seit Jahren schätzte, kennen als
einen tieferschöpften und mit dem letzten Aufgebot
seiner Kräfte ringenden Mann, der auch mit seinen mate-
riellen Hilfsquellen zu Ende war. Sybel nahm ihn in
den preußischen Archivdienst, beim Geheimen Staats-
archiv in Berlin, auf und sicherte ihm dadurch wenigstens
seine äußere Existenz. Aber sein Buch, das er „blut-
schwitzend'', so drückte er sich damals aus, zu Ende
führte, brachte ihm eine herbe Enttäuschung. Die philo-
logische Kritik lehnte es zumeist, zum Teil in recht bru-
talem Tone, ab oder ignorierte es, und die philosophische
Fakultät der Berliner Universität wies 1894 sein Habili-
tationsgesuch zurück. Noch eine andere schwere Lebens-
erfahrung kam damals hinzu; seine Schwingen waren
seitdem geknickt, und so kräftig sich auch sein stolzer
wissenschaftlicher Charakter behauptete, mit Mut und
Kraft für größere Leistungen war es vorbei. Das, was
er noch schaffen konnte, kam der Historischen Zeitschrift
einerseits und dem Archivdienste anderseits zugute. Für
die Historische Zeitschrift hat er seit 1893 die drei ersten
Abteilungen der „Notizen und Nachrichten" über fünf
Jahre allein bearbeitet, dann sich entlasten lassen, aber
die Abteilung „Allgemeines" bis zum Jahre 1905 (Bd. 95, 1)
fortgeführt. Eigentlich aber war er in den Jahren, in
denen ich mit ihm zusammen am Geheimen Staatsarchiv
beschäftigt war, der Mitredakteur unserer Zeitschrift
überhaupt, weil ich das Bedürfnis fühlte, in jeder wich-
92 Friedrich Meinecke,
tigeren Angelegenheit sein immer selbständiges und
charaktervolles Urteil zu hören. Als Archivar wurde er
bald einer der tätigsten Beamten des Archivs, der nicht
nur unermüdlich und hingebend im kleinen war, sondern
auch mit dem Sinne für System und Zusammenhang, der
ihm eigen war, die größeren organisatorischen Aufgaben
seines Berufes einsichtig förderte. Man konnte aus der
konzentrierten, fast verbissenen Energie, mit welcher der
körperlich oft Leidende jede Arbeit hier anpackte, ent-
nehmen, was für eine hohe moralische Spannkraft in
ihm steckte, und ab und zu blitzten im Verkehr mit
seinen Freunden auch noch hellere und freudigere Seiten
an ihm auf. Auch wir wußten freilich nicht immer, was
ihn innerlich bewegte, denn er verbarg uns manches
Schmerzliche, was er erfahren, verbarg uns auch, daß
er in eigener Dichtung Freude und Trost suchte und
sogar ein wirklicher Dichter zu sein glaubte. Aber wir
meinen trotzdem ihn gekannt zu haben. Wir liebten
ihn um seines goldreinen, warmen und treuen Gemütes,
um seines unbeugsamen Idealismus willen, und freuten
uns auch des Eckigen und des Altmodischen, das dieser
Idealismus hatte, da er sich oft zu hartnäckigem Morali-
sieren versteifte und gern auf Dinge schalt, die man
tragen muß, aber schwer bessern kann. Solch Rigoris-
mus schloß eine behaglich-harmlose Lebensfreude aber
nicht aus, und zuweilen kam selbst der derb-gutmütige
Mecklenburger, der auch in ihm saß, zum Vorschein,
aber mehr und mehr wurden solche Regungen gegen
Ende seines Lebens wieder erstickt durch den Druck
seiner körperlichen Hinfälligkeit. Sein Junggesellenleben
wurde einsamer und düsterer, seine Briefe klangen immer
trüber, und mit seinem eigensinnigen Pessimismus ver-
sperrte er sich auch die Wege, die zu seiner Genesung
oder wenigstens zur Milderung seiner Neurasthenie viel-
leicht führen konnten. So kam denn die Katastrophe,
ein Akt akuter Melancholie, aber vorbereitet durch alles
Schwere seines Lebens.
Louis Erhardt. 93
Erhardts wissenschaftliche Bedeutung genau zu be-
zeichnen, könnte nur jemandem gelingen, dem seine
beiden Hauptarbeitsgebiete, die altgermanische und die
altgriechische Zeit, gleichmäßig vertraut wären. Ich kann
hier nur eben versuchen, die allgemeinen Eindrücke, die
mir seine Schriften machen, zu ergänzen aus der Kennt-
nis seiner Persönlichkeit. Diese aber wieder war ein
wissenschaftlicher Wert für sich. Das Wertvolle an ihr
war die unbedingte Selbständigkeit, die innere geistige
Freiheit, die Freiheit insbesondere von Schulmeinung
und Menschenfurcht, die stolze Verachtung alles äußeren
Klüngels, aller gemachten Autoritäten. Es war eine
wahre Freude, inmitten des Schwarmes von Gelehrten,
die nach Schulen und Richtungen sich abstempeln lassen
und andere wieder abstempeln, einmal einem Manne zu
begegnen, der ganz autonom einherging und ein echter
Republikaner der Gelehrtenrepublik war. Es ist mir nicht
einmal der besondere Einfluß eines bestimmten Lehrers
aus seiner Studienzeit mit Sicherheit bekannt. Er sprach
am meisten noch von Noorden und von Steinthal, zu dem
er jedenfalls dann in ein nahes persönliches Verhältnis trat.
Er lernte gleichmäßig von Historikern, Sprachforschern
und klassischen Philologen, und es wurde dann der Ge-
danke und der Ehrgeiz seines eigenen Forscherlebens,
eine Synthese dieser drei Wissenschaften darzustellen,
weil nach seiner Meinung nur durch sie das Gebiet,
dem seine Neigung galt, die Frühzeit der indogerma-
nischen Völker, aufgehellt werden konnte. Daß die vor-
und frühgeschichtliche Forschung auch noch weiter aus-
greifen muß und mit Anthropologie, Ethnologie, Geo-
logie usw. Hand in Hand gehen muß, hat er selbst
grundsätzlich später in vollem Umfange anerkannt, wie
sein letzter, in der Historischen Zeitschrift Bd. 98 er-
schienener Aufsatz über die Anfänge und Grundbedin-
gungen der Geschichte zeigt; aber im ganzen blieb er
auf der historisch-philologisch-linguistischen Basis, die
er sich durch seine Erstlingsarbeiten über „Kelten, Belgier
und Germanen" 1878 und „Älteste germanische Staaten-
bildung" 1879 erobert hatte. Er versuchte hier nachzu-
94 Friedrich Meinecke,
weisen, daß Nervier und Trevirer germanische Stämme
gewesen seien, betonte aber anderseits sehr stark das Ver-
wandte in den Zuständen der Kelten und Germanen und
führte die germanische Staatenbildung zurück auf die krie-
gerisch-monarchischen Bedürfnisse der Wanderzeit. Krie-
gerische Verbände unter je einem Führer bilden die Grund-
lage der späteren Gaue, der princeps des Tacitus ist der
Gaufürst von mehr monarchischem als republikanischem
Charakter. Kriegerische Bedürfnisse können zum Zu-
sammenschluß mehrere Gaue zu einer civitas und zu
einem Königtume führen. So ist es eine organische,
allmähliche Entwicklung, die von der Wanderzeit zum
Königtum der Völkerwanderung hin führt, und eine wirk-
liche „Staatenbildung", die die Germanen schon zur Zeit
Cäsars vollzogen und durch die sie bewiesen, daß sie
keine so rohen Barbaren waren, wie man sie sich oft
vorstellt. Diese Grundgedanken seiner Schrift: Relative
Reife der germanischen Zustände, enge Verwandtschaft
der indogermanischen Völker untereinander, allmähliches,
stetiges Wachstum in ihren Urzuständen aus hoher
innerer Begabung heraus, — hat er sein ganzes Leben
durch mit fast romantischer Gesinnung festgehalten und
jede Forschung, die nicht zu ihnen stimmte, als Verkehrt-
heit getadelt (vgl. z. B. seinen gegen Wittich und Hilde-
brand gerichteten Aufsatz „Staat und Wirtschaft der Ger-
manen zur Zeit Cäsars", Hist. Zeitschr. Bd. 79). In seinen
letzten Lebensjahren noch war es ihm vergönnt, einen
Lieblingsgedanken seiner Jugend wieder aufzunehmen
und seine Hypothese über Einwanderung der Germanen
und Urheimat der Indogermanen zu entwickeln (Histor.
Vierteljahrschrift 8, 1905). Da malt er es denn aus, wie
sich der indogermanische Stamm am Fuße des Kaukasus
im Laufe von Jahrtausenden entwickelt hat „zu einer
besonderen Rasse von wundervoller Eigenart, voll reicher,
aber nicht ausschweifender Phantasie, voll Energie und
Kraft zu wirken, lebensfroh und sterbensmutig". Er
sprach damit auch sein eigenes Charakterideal aus, das
festzuhalten ihm doch so furchtbar schwer gemacht
wurde durch sein Schicksal.
Louis Erhardt. 95
So haben Phantasie und Gemüt seine eigene For-
schung immer getragen und ihre Resultate beeinflußt.
Aber auch dieser letzte Aufsatz, wo er sich am weitesten
herauswagte mit seiner Phantasie, beruhte in den Dar-
legungen über die Einwanderung der Germanen auf einer
feinfühligen kritischen Analyse der Taciteischen Angaben.
Und die Sorgfalt und Schärfe seiner Quellenbenutzung
und Kritik wurde schon seinen Erstlingsschriften von
solchen nachgerühmt, die seine Resultate sonst nicht
annehmen wollten. Seine sachkundigen und strengen
Rezensionen frühgermanischer Forschungen in der Histo-
rischen Zeitschrift und den Göttinger Gelehrten Anzeigen
genossen in den achtziger Jahren großes Ansehen. So
will es einem nicht so recht in den Sinn, daß Erhardt,
als er auf das Gebiet der griechischen Urgeschichte
überging, zum reinen Dilettanten geworden sein und
seine gute Methode ganz vergessen haben sollte. Viel-
mehr glaube ich, daß die klassischen Philologen sich
die Kritik der Erhardtschen Homerhypothese etwas zu
leicht gemacht haben. Sie widersprach den augenblick-
lich herrschenden Meinungen und fand nicht die Gnade
der Meister vom Stuhle, und ich will auch nicht leugnen,
daß der Hang zu einem eigensinnigen Doktrinarismus,
den unser Freund hatte, seine Arbeitsweise geschädigt
haben könnte, als er an die Aufhellung der Entstehungs-
geschichte der homerischen Gedichte ging. Aber wer
mit unbefangenem Sinne die große Einleitung seines
Homerbuches auf sich wirken läßt, muß zugeben, daß
hier ein ungewöhnlich fester, ernster und reifer Kopf
spricht, daß hier eine geistvolle, bedeutende und inner-
lich durchaus mögliche Auffassung von der Entstehung
der homerischen Epen vorgetragen wird. Es ist weitaus
das Beste, was Erhardt geschrieben hat, und es sollte
nicht in Vergessenheit geraten. Und ich halte es gar
nicht für ausgeschlossen, daß das Buch noch eine Zu-
kunft hat und spätere Forscher daran wieder anknüpfen
können.
Erhardt kam zu Homer durch seine Lieblingsidee
von der Vergleichbarkeit altgermanischer und altgriechi-
96 Friedrich Meinecke,
scher Zustände. Er studierte die ältesten griechischen
Verfassungsverhältnisse und fand bald, daß er sich den
Weg dazu erst bahnen müsse durch die Untersuchung
der Hauptquelle, eben der homerischen Gedichte. Er
kehrte sich dabei nicht an das, was die Notabilitäten der
klassischen Philologie gerade lehrten, sondern knüpfte
an die älteren Gedanken Jakob Grimms und Wilhelm
V. Humboldts über das Wesen des Volksepos und des
Volksgeistes an, wobei er übrigens einen Anhalt an
der von Lazarus und Steinthal begründeten, ja auch
von Humboldt ausgehenden Richtung der Völkerpsycho-
logie hatte. Durch eine eindringende Analyse des Inhalts
der Ilias bestätigte sich ihm die Auffassung, daß die
homerischen Gedichte Volksepen im strengsten Sinne des
Wortes seien, Schöpfungen des altgriechischen Volks-
geistes in jahrhundertelanger Arbeit, in denen schlecht-
hin nirgends eine einzelne Dichterpersönlichkeit, nirgends
ein zusammenfassender Dichterplan zutage trete. Wie
der Baum mit seinen Jahresringen, so seien auch diese
Epen gewachsen, auf Schritt und Tritt spüre man bei ^
ihrer Analyse hier Verwitterung, dort frische Triebe,
überall aber unabsichtliche Entwicklung und deswegen
Widersprüche und Diskrepanzen in allem, die man aber
nicht mit hochmütiger und skeptischer Kritik bemäkeln,
sondern als organisch Gewordenes anzuerkennen habe.
Diese Auffassung vom schaffenden Volksgeiste, wie er
sie hier vertrat, verdient durchaus nicht den Vorwurf, daß
sie mystisch-verschwommen sei, denn er dachte sich,
gemäß den Überlieferungen selbst und den Analogien
anderer Volksdichtung, den Hergang ganz konkret so,
daß berufsmäßige Sänger Generationen hindurch die
Hauptträger des epischen Gesanges gewesen seien,
aber sie fungierten dann eben mehr als Sänger wie
als Dichter, mehr als Organe ihrer Volksgenossenschaft,
als priesterliche Werkzeuge der Musen denn als Indi-
vidualitäten. Er leugnete durchaus nicht, daß auch große
Dichter unter diesen Sängern gewesen sein konnten, die
nebenher, wo sie anderes dichteten, vielleicht schon als
Individuen dichten mochten, aber, wenn sie mitwirkten
Louis Erhardt. 97
am Volksgesang y unwillkürlich hineingerissen wurden
in dessen Strom und so ihr Selbst auslöschten. Dem
Einwände, daß die homerischen Epen doch trotz aller
Brüche im einzelnen große Einheiten im ganzen bildeten,
die zum mindesten auf eine individuelle Redaktoren-
tätigkeit deuteten, konnte er leicht begegnen, indem er
genau zwischen äußerer und innerer, formaler und vir-
tueller Einheit unterschied. Die formale und äußere
Einheit einer individuellen Dichtung oder Zusammen-
arbeitung von Dichtungen besitzen die Epen nicht, wohl
aber jene virtuelle Einheit, wie sie auch die Sprache
eines Volkes hat, eine innere Einheit der Handlung, die
von vornherein, lange vor der Ausbildung der Volks-
epik selbst schon, keimhaft vorhanden war in einfachen
Naturmythen; um diese setzte sich dann Schicht auf
Schicht, es kam auch historischer Stoff hinein, es kam
innerhalb des überlieferten Rahmens ferner zur Aus-
bildung größerer und kleinerer Rhapsodien, Lieblings-
^ stücke des Volkes, die aber immer, darin wich er von
der Lachmannschen Theorie ab, im Zusammenhange der
einheitlichen Kernhandlung ausgebildet und überliefert
wurden.
Seine Hauptthese ist also, daß die Gesamtheit, ohne
Eingreifen einzelner individueller Genies, diese Epen
so schaffen konnte, wie sie uns vorliegen. Das ist das
große und interessante Problem, das er aufstellte und
das ernsthafter erwogen zu werden verdient, als es ge-
schehen ist. Man muß sich dabei ganz freimachen von
allen Schlagworten und Vorurteilen kollektivistischer oder
individualistischer Art. Natürlich kann man sich keine
geniale Dichtung ohne Dichtergenie denken, aber das
dichterische Genie selbst wird ja von der Erhardtschen
Theorie auch nicht ausgemerzt. Nur seine Individualität
läßt sie, nicht etwa untergehen, sondern aufgehen im
Strome der Volksdichtung und sich priesterlich ihr hin-
geben. Es ist deswegen so verfehlt wie nur möglich,
wenn man der Erhardtschen Auffassung eine demokra-
tische und nivellierende Tendenz vorgeworfen und sie in
Zusammenhang gebracht hat mit dem modernen sozio-
Hittoritcbe Zeitochrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 7
■98 Friedrich Meinecke,
logischen Kollektivismus (vgl. Pöhlmanns Aufsatz über
Erhardts Buch, Histor. Zeitschr. Bd. 73). Niemand konnte
schärfer über die modernen Soziologen sprechen als
Erhardt, wie seine langjährige Mitarbeit an den Notizen
und Nachrichten dieser Zeitschrift beweist. Wenn man
denn seine Auffassung vom Verhältnis des Individuums
zur Gesamtheit Kollektivismus nennen will, so war es ein
Kollektivismus von ganz anderem Schlage als der gewöhn-
liche moderne. Dieser sucht in den kollektiven Größen
die streng kausal wirkenden Faktoren auf, die das Leben
des einzelnen bestimmen, und erkennt dabei in Natur
und Geschichte nur eine und dieselbe Art von Kausa-
lität an. Der Erhardtsche Kollektivismus sah in den kol-
lektiven Größen die Mächte, denen der einzelne sich mit
sittlicher Tat hingeben müsse, sah „die wahre geistige
Freiheit im Erkennen und Vollbringen des Notwendigen*
und glaubte an eine besondere geistige Kausalität, an
höhere geistige Notwendigkeiten in der Geschichte, die
über den kausalen Bedingtheiten im einzelnen stünden.
In der Humboldtschen Ideenlehre, die er vor Jahren in
dieser Zeitschrift (Bd. 55) eindringend interpretiert hat,
sah er die klassische, für alle Zeiten gültige Begründung
dieses Glaubens. Wer aber zu Humboldt schwört, wird
wohl nicht in Verdacht geraten, für den modernen Kol-
lektivismus etwas übrig zu haben.
Demnach war es also ein rein ethischer Kollektivis-
mus, den Erhardt vertrat. Er sah diejenigen Perioden
der Geschichte als die fruchtbarsten und größten an, in
denen der einzelne demütig und treu dem Ganzen, in
dem er lebt, der Aufgabe, die ihm Zeit und Geschick
stellen, seine Kraft widme. So hat er gedacht und so
hat er selbst gelebt.^) Er hielt deswegen die Über-
') Sehr schön hat dies der Nachruf, den O. Hintze ihm im
Verein für Geschichte der Mark Brandenburg (SitzungsprotokoU
vom 12. Februar 1908) gewidmet hat, ausgedrückt: „Es ist eine
großartige Selbstlosigkeit in seiner Tätigkeit (als Archivar). Es
wurde ein Ziel seines Lebens, da er selbst auf eigene große Er-
folge nicht mehr ausging, andere zu fördern, für ein Allgemeines
seine Kräfte einzusetzen.^
Louis Erhardt. 99
Schätzung des Individuums allerdings für eine Zeitkrank-
heit und fand auch im mündlichen Gespräche nicht
scharfe Worte genug für die lächerliche Anmaßung derer,
die um jeden Preis ihre kleine Individualität geltend
machen wollen. Und er ging so weit, sich die Gegner-
schaft gegen die Anerkennung des Volksepos aus dem
„Sträuben des Individuums gegen die Anerkennung der
Volkstätigkeit überhaupt, dem Verkennen der wahren
Bedeutung des Volkes und des Volksgeistes'' zu erklären.
Es tritt hier deutlich zutage, wie er in den von
Humboldt und den Romantikern ausgebildeten Lehren
vom Volksgeiste und von dem geistigen Charakter der
die Geschichte im großen beherrschenden Mächte zu-
gleich aufs festeste wurzelte und sie doch mit einer ganz
persönlichen Nuance ethisch weiterbildete und anwandte.
Wenn wir im Freundeskreise mit ihm zusammensaßen,
spürten wir oft diese seine Eigenart und spürten zugleich,
daß er von etwas anderem, älterem Schlage war als wir,
daß er näher und enger an die Zeit Humboldts und
Grimms heranreichte, daß er viel mehr Glaubenskraft,
viel weniger Skepsis hatte, als der durchschnittliche
moderne Forscher heute hat. Immer, wenn wir relativierten,
war er der Absolutierende. Aber er widerlegte zugleich
dabei in jedem Augenblicke das Wort, das er in seiner
Homereinleitung gewagt hat: „Gerade in der Wissen-
schaft tritt das Individuelle ganz zurück." Seine Freunde
werden ihn nie vergessen und wünschen, daß auch die
Wissenschaft ihn nicht vergessen möchte.
?♦
Miszellen.
Zu Johannes Ronge.
Von
Hermann Oncken.
Der jüngst in dieser Zeitschrift (Bd. 99, S. 515—530) unter-
nommene Versuch G. Kaufmanns, den politisch - religiösen
Charakter von Johannes Ronge gegenüber der Schilderung
Treitschkes in eine richtige Beleuchtung zu rücken, dürfte durch
die Mitteilung des unten folgenden Briefes aus dem Jahre 1861
ergänzt werden. Der in den Akten des Nationalvereins ^) auf-
bewahrte Brief ist, allem Anschein nach, an den Rechtsanwalt
Feodor Streit in Koburg, damals Ausschußmitglied und Ge-
schäftsführer des Nationalvereins, gerichtet. Er läßt die cha-
rakteristischen Züge des Mannes deutlich hervortreten: Haß
gegen die katholische Hierarchie, Drang zur agitatorischen
Tätigkeit, ein redliches patriotisches Streben, das von eigen-
süchtigen und eiteln Motiven und auch von der „Verbitterung
einer elfjährigen Verbannung* (G. Kaufmann a. a. 0.) frei er-
scheint; daneben aber eine völlige Unklarheit darüber, ob sich
Politik und Religion, deren Trennung er als prinzipiell not-
wendig anerkennt, auf dem von ihm vorgeschlagenen Wege
würden praktisch auseinanderhalten lassen.
*) Die Akten des Nationalvereins, soweit sie bei den Geschäfts-
führern des Ausschusses (erst Streit, dann Nagel) erwachsen
sind, wurden bei der im Jahre 1867 erfolgten Auflösung an
Rudolf v. Bennigsen abgeliefert und beruhen noch heute auf
dem Gute zu Bennigsen. Sie sind nur zum Teil geheftet und
geordnet. Ihrem Ursprung entsprechend, enthalten sie über-
wiegend geschäftliche Papiere; was an poütischem Gehalte In
ihnen steckt, habe ich in dem ersten Bande meiner demnächst
erscheinenden Biographie Bennigsens zu verwerten gesucht.
Zu Johannes Ronge. 101
Wie sich aus den Akten des Nationalvereins ergibt, wurde
der Antrag Ronges von den Leitern des Vereins abgelehnt,
nicht nur aus dem formalen Grunde, daß eine solche aus-
drückliche Bevollmächtigung, wie sie gewünscht ward, über-
hanpt nicht üblich war, sondern vor allem auf Grund einer
naheliegenden sachlichen Erwägung. Wie konnte der National-
verein seine wesentlich politische Agitation durch die Person
Ronges mit rein kirchlichen Bestrebungen in Verbindung
bringen: das hieß alle Katholiken, die in ihrer Kirche zu
bleiben gedachten, von vornherein vor den Kopf stoßen!
Das Verhältnis zu den Katholiken war überhaupt die schwache
Seite des Nationalvereins, da seine (mehr oder minder her-
vortretende) kleindeutsche Tendenz mit ihrer Ausschaltung
der Deutschösterreicher tatsächlich die Zerspaltung der deut-
schen Katholiken, in ihrer kulturellen Einheit wie in ihrem
politischen Zusammenhange, zur Folge haben mußte. Diese
ausschließende Tendenz durfte durch die enge Verbindung
mit einer so ausgesprochenen Persönlichkeit nicht noch weiter
verstärkt werden. Das Problem, in einem konfessionell seit
Jahrhunderten gespaltenen Volke neue Formen staatlicher
Einheit zu finden, hing so wie so mit den Lebensinteressen
der Konfessionen aufs innerlichste zusammen, und die poli-
tische Machtentscheidung trug in ihren Falten, wie auch die
Folge gezeigt hat, eine Neubelebung der alten kirchlichen
Gegensätze, die in der Anarchie des alten Reiches im 18. Jahr-
hundert mehr und mehr zurückgetreten war, in dem neuen
Reiche aber vom ersten Augenblick an sich wieder erhoben.
Breslau, den 24. April 1861.
Ich habe Ihr freundliches Schreiben voriges Jahr in London
erhalten und habe mich im Londoner Nationalverein als Mit-
glied einschreiben lassen. Seitdem habe ich Gebrauch von der
Amnestie gemacht und befinde mich seit 5 Wochen in Breslau.
Die politischen Verhältnisse in Deutschland sind der Art, daß
ich es für Pflicht halte, auch als Staatsbürger thätig zu sein
und namentlich für die Zwecke des Nationalvereins zu wirken,
obgleich ich viel für die religiöse Reform zu tun finde. Es liegt
wohl klar auf der Hand, daß die religiöse Reform leidet, wenn
das Vaterland im Großen leidet, und daß die politische Reform
102 Hermann Oncken,
Schritt halten muß mit der religiösen. Der Mangel an Einheit
der religiösen und politischen Reformen des Mittelalters hat
uns bekanntlich viel geschadet und ich will für meinen Teil
nicht einen ähnlichen Fehler begehen in unsrer Zeit. Wenn
ich es aber für Pflicht halte, die Einheit und Selbständigkeit
Deutschlands mit Rücksicht auf seine politische oder staatliche
Form zu fördern, so verwechsle ich durchaus nicht Religion
und Politik und würde durchaus nicht die Gemeinden benutzen,
um meine individuelle politische Oberzeugung zur Geltung zu
bringen. Niemals werde ich politische Gegenstände auf der
Kanzel verhandeln. Aber ich bin nicht bloß Prediger, sondern
auch Staatsbürger und nach meiner religiösen Anschauung
sind die Pflichten für die Nation religiöse Pflichten. Denn
wenn die Liebe zum einzelnen Mitmenschen Sache der Moral
ist, so muß die Liebe zu Millionen meiner Mitmenschen, welche
meine Nation ausmachen, im höheren Grade Sache der Moral sein.
Ich schickte diese wenigen Sätze voraus, um meinen Vor-
schlag zu begründen oder verständlicher zu machen. Dieser
geht dahin „Daß Sie mir von Seiten des Vorstandes
die Vollmacht geben neue Vereine zu begründen
oder Mitglieder zu werben und Versammlungen
anzuregen, zu halten etc. in den verschiedenen
Städten wo ich Elemente vorfinde*. Ich bereise jetzt
die meisten größeren und kleineren Städte und kann in dieser
Beziehung viel thun. Leider finde ich in Schlesien noch gar
wenig gethan. Wir haben selbst in Breslau noch keine Ver-
sammlung gehabt. Es gehört mehr Begeisterung, Schwung
und Organisationstalent zu dieser Sache und ich will meine
Kräfte gerne verwerten. Bis jetzt habe ich bei vielen Politikern
eine schädliche Rücksichtsnahme auf die katholische Hierarchie
und das Pfaffentum gefunden und man hat die Reformpartei,
weil sie numerisch kleiner ist, geradezu verleugnet. Indes
nutzt dies zarte Rücksichtnehmen unter den Katholiken nichts,
und auf der anderen Seite werden die tätigen Kräfte der
Reformpartei unbenutzt gelassen. Die katholische Geistlichkeit
und orthodoxe Katholiken werden uns wahrlich nicht helfen,
ein einiges Deutschland zu schaffen. Der polnische Aufstand
hat wieder klar gezeigt, welch eine Thorheit es ist, sich auf
das Pfaffentum zu stützen bei einer Fortschrittsbewegung!
Zu Johannes Ronge. 103
Das Pfaffentum ist faul durch und durch und lasterhaft, und
jede Bewegung, die sich mit ihm in Verbindung setzt, muß
notwendig verunglücken.
Es versteht sich von selbst, daß ich bei der Organisation
von Vereinen, die sich dem Nationalverein anschließen, alle
religiösen Parteisachen unberührt lasse und nur die Zwecke
des Vereins fördere, die im Programm angegeben sind, die
aber dem Prinzip nach aufs Innigste mit der religiösen Reform
zusammenhängen und die wir als gewissenhafte Glieder der
Gemeinden fördern müssen in unserer Stellung als Staats-
bürger. Das Letztere wird Ihnen den Schlüssel zu meiner
Erklärung geben, die ich meinem Anerbieten beifüge: , Sollte
der Vorstand des Nationalvereins in Gotha auf mein Aner-
bieten nicht eingehen, so würde ich es bedauern aber mich
von der Erfüllung meiner Pflichten für das Vaterland nicht
abhalten lassen und Vereine bilden auch ohne formale Voll-
macht, welche jene Zwecke verfolgten und förderten."
Vom Mai ab gebe ich eine Monatsschrift heraus und
werde darin auch die Pflichten behandeln, welche jeder
Deutsche als Staatsbürger hat. Ich habe hiemit die Hand zur
Mitwirkung geboten, und werde gern in der Weise wirken,
in welcher es nötig ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen,
und in allen wichtigen Dingen den Rat des Vorstandes ein-
holen. Es würde mir lieb sein, wenn Sie die Sache vermittelten,
damit nicht zu viel Zeit verloren geht. Wahrlich, es ist traurig,
daß in der großen Provinz Schlesien bis jetzt noch kein
Zweigverein des Nationalvereins besteht, während Gefahren
uns umringen und die Schande in der Holsteinischen Ange-
legenheit so groß wird, daß sie kaum mehr zu ertragen ist.
Einer freundlichen Antwort entgegensehend, zeichnet
'"'^ G'"ß Johannes Ronge.
NB. Man hat oft behauptet, ich sei extremer Parteimann
und hielte mich starr an eine bestimmte Form. Darum halte
ich für nötig zu erklären, daß es mir gar nicht auf Namen
ankommt, und daß ich die Verfassung fördre, welche den
Zuständen unserer Nation angemessen ist. Gesetze und Rechte
sind mir die Hauptsache, nicht die Form der Verfassung und
der Name des Oberhauptes.
Literaturbericht.
Der römische Limes in Österreich. Heft 7 und 8. Wien, Holder.
1906—1907. 142 Sp., 2 Tafeln bzw. 224 Sp., 3 Tafeln. 4*.
In dem 7. Hefte der rühmlich bekannten Publikation (vgl.
H. Z. 98, 140) sind die Ergebnisse der im Jahre 1904 ausge-
führten Grabungen der österreichischen Limeskommission
niedergelegt. Berichterstatter ist auch diesmal der rührige
und scharf beobachtende Leiter der Grabungen, Oberst von
Groller. Erfreulicherweise ist in dem Berichtsjahre nicht allein
an dem ersten und bedeutendsten- Objekt für die Tätigkeit der
Kommission, Carnuntum, sondern auch an dem zweiten, an
der österreichischen Limesstrecke gelegenen großen Legions-
lager, Lauriacum bei Enns, gearbeitet worden.
Der erste Abschnitt des Heftes (Sp. 5 — 46) berichtet
denn auch über die Untersuchungen an diesem Punkte. Wie
bei allen von der österreichischen Limeskommission bisher
untersuchten Kastellen hat sich auch bei Lauriacum der alte
Wallgraben in Form einer deutlichen Bodensenkung sichtbar
erhalten, und zwar in solcher Vollständigkeit, daß Form und
Größe des Lagers ohne weiteres erkennbar sind. Der jetzt
freigelegte Teil der nordöstlichen Umfassungsmauer von etwa
365 m Länge bietet außer dem nördlichen Eckturme noch drei
nach innen einspringende Zwischentürme; vor der Mauer lag
ein doppelter Graben, von denen der äußere bedeutend breiter
und tiefer war als der innere. Fast möchte man annehmen, daß
allein jener ein wirklich offener Graben gewesen, der kleinere,
in seinem schwachen Profil kaum ein Hindernis bildende, aber
zur Aufnahme irgendeines künstlichen Annäherungshindernisses
Römisch-germanische Zeit. 105
gedient habe. Hinter der Mauer wurden das entsprechende
Stück der Wallstraße und eine Entwässerungsanlage festgestellt.
An eine kurze Übersicht über frühere Funde in Lauriacum
schließt sich dann der Bericht über die Auffindung eines
weiteren, in alter Zeit wohl auf einer Donauinsel gelegenen
Lagers bei Albing (Sp. 39—46), welches nach den 1905 dort
fortgesetzten Grabungen sich als das größte aller am öster-
reichischen Limes bisher untersuchten Kastelle von über
412 X ^6S m Seitenlänge herausgestellt hat. Die zeitliche
Bestimmung dieser gewiß eine Hauptrolle im Verteidigungs-
system Noricums bildenden Anlage scheint noch nicht klar zu
sein.
Im Legionslager Camuntum wurde ein westlich vom
sog. Quästorium gelegener gewaltiger Bau oder richtiger
Gebäudekomplex freigelegt; hier ließen sich deutlich zwei
Bauperioden scheiden. Außer kleineren Aufdeckungen von
Teilen der Lagerstraßen und Kanäle wurde dann außerhalb
des Lagers in der Zivilstadt das große, schon früher in An-
griff genommene Gebäude vor der südlichen Lagerecke fertig
untersucht und eine weitere Gebäudegruppe ausgegraben. An
jeden der verschiedenen Ausgrabungsberichte schließt sich,
wie üblich, die Beschreibung und Abbildung der erhobenen
Einzelfunde, unter denen sich manche bemerkenswerte Stücke
befinden. Den Beschluß macht ebenfalls nach feststehendem
Brauch Bormanns Veröffentlichung der inschriftlichen Funde;
unter ihnen ist diesmal ein kleines Altärchen des collegium
der capsari leg, XIV gem., welche Bormann als Lazarettge-
hilfen auffassen möchte, erwähnenswert, sowie der Grabstein
eines Soldaten derselben Legion, der jedenfalls noch dem
1. Jahrhundert anzugehören scheint; ob er gerade, einer von
Bormann mitgeteilten Vermutung Goldfingers entsprechend,
von einem gänzlich unbezeugten Durchmarsch der Legion
während des Jahres 68/69 n. Chr. G. herrührt, bleibt dagegen
sehr zweifelhaft.
Das 8. Heft enthält den Bericht über die Grabungen im
Jahre 1905.
Zum ersten Male seit Bestehen der Kommission haben
in diesem Jahre die Grabungen in Carnuntum nur den kleineren
und sachlich weniger wichtigen Teil ihrer Tätigkeit gebildet;
106 Literaturbericht
es ist nur zu begrüßen, daß sich diese Tätigkeit mehr und
mehr auch den anderen in so reicher Fülle vorhandenen Ob-
jekten und Fragen zuwendet. Außer einer Nachuntersuchung
an dem einen Turme des rechten Prinzipaltores wurde in
Carnuntum überhaupt nicht am Lager gearbeitet; dagegen
wurde in dem östlich vom Lager gelegenen Teil der Zivil-
niederlassung durch eine Reihe von Versuchsschnitten neben
zahlreichen interessanten Einzelheiten die sichere Tatsache
festgestellt, daß auch hier eine geschlossene Bauweise ge-
herrscht hat.
Weit wichtiger waren aber die Grabungen in dem zweiten
Legionslager der österreichischen Donaugrenze, Lauriacum bei
Enns. In der nördlichen Ecke dieses Lagers wurde eine Reihe
langer, in der Hauptsache einander gleichartiger Bauten auf-
gedeckt, die unzweifelhaft richtig als Mannschaftskasernen
gedeutet werden. Sie haben große Ähnlichkeit mit den
Zenturienkasernen des Neußer Lagers am Niederrhein; nur
fehlt in Lauriacum die in Neuß regelmäßig mit der Mann-
schaftskaserne verbundene Wohnung des Zenturionen.
Für unsere Kenntnis des römischen Militärwesens ist es
nicht ohne Bedeutung, daß auch in Lauriacum, welches allem
Anschein nach erst um die Wende des 2. und 3. Jahrhunderts
erbaut worden ist, die Zusammengehörigkeit von je zwei
kleinsten taktischen Einheiten noch gewahrt erscheint: die
Zusammenfassung je zweier Zenturien zu einem Manipel kann
also auch in dieser Zeit nicht gänzlich aufgehört haben. Vor
den Kasernen nach der via angularis zu befanden sich freie
unbebaut gelassene Alarm- und Formierungsplätze, wie sie
in kleinerem Maße auch in dem Limeskastell Niederbieber im
Jahre 1906 nachgewiesen worden sind.
Endlich wurde ein 1904 bereits angeschnittenes, nur fünf
Kilometer von Enns gelegenes Lager bei Albing weiter unter-
sucht und der größte Teil seiner Umfassung festgestellt: es
erweist sich als das größte in Österreich bisher bekannte
römische Lager und bedeckt eine Fläche von über 230 Hektar»
In einem historisch wervollen Anhang behandelt F. Kenner
die im Lager Lauriacum bisher zutage gekommenen römischen
Münzen. Diese eingehende Behandlung leitet von der Be-
schränkung auf die Schilderung des tatsächlich Festgestellten
Mittelalter. 107
über zu dem Versuche, die ermittelten Tatsachen auch historisch
zu verwerten und mit unserer dürftigen literarischen Über-
lieferung in Verbindung zu setzen; ein Versuch, wie er bei
den vortrefflichen Arbeiten der österreichischen Kommission
bisher noch größtenteils vermißt wurde. Wenn man den Dar-
legungen des sachkundigen Verfassers auch nicht in allen
Punkten wird zustimmen können, so scheint doch der von Kenner
aus dem Münzmaterial gezogene Schluß sicher, daß das Lager
von Lauriacum erst an Stelle des damals geräumten Lagers
von Albing unter Commodus oder Septimius Severus erbaut
worden ist Eine nur kurz dauernde Besetzung und eine
absichtliche friedliche Räumung des Albinger Lagers scheint
mir auch durch die zu den ausgedehnten Grabungen in gar
keinem Verhältnis stehenden Geringfügigkeit der Kleinfunde
in Albing zu bestätigen.
Wiesbaden. E, Ritterling,
Die Normannen und das Fränkische Reich bis zur Gründung der
Normandie(799— 911). Mit einer Karte. Von Walther VogeL
(Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren
Geschiebe. Herausgegeben von Karl Hampe, Erich Marcks
und Dietrich Schäfer. 14. Heft.) Heidelberg, Garl Winter.
1906. XV u. 442 S.
Je mehr in der karolingischen Zeit durch die im ganzen
so spärlich fließenden, zum größten Teil edierten und leicht
zugänglichen Quellen der Raum für Spezialarbeiten auf dem
Gebiete der politischen Geschichte eingeschränkt wird oder
unfruchtbare, zum Teil vielleicht für immer unlösbare Kontro-
versen von neuem Bearbeitung finden, um so gegebener er-
scheint es gerade hier zusammenzufassen, zumal die
historisch-kritische Arbeit im Laufe der Jahre so unendlich
viele, teilweise sehr wertvolle Einzelleistungen hervorgebracht
hat. Zwar haben wir die Kirchengeschichte Haucks, die Jahr-
bücher, Mühlbachers Karolinger, Parisots y,Le royaume de
Lorraine* und manches andere Werk weiterer Spannung und
allgemeineren Charakters; aber ganz abgesehen von dem Be-
dürfnis einer Papstgeschichte und einer allgemeinen Geschichte
jener Epoche, welche den Gewinn aller Einzelarbeit der letzten
Jahrzehnte verarbeitet, sind auf den entlegeneren Gebieten noch
108 Literaturbericht
manche Lücken auch in zusammenhängender Darstellung der
politischen Geschichte der karolingischen Jahrhunderte aus-
zufüllen. Das Verdienst, die bisher sehr unvollkommen be-
arbeitete Geschichte eines bedeutsamen, nicht immer genügend
berücksichtigten Faktors jener Zeiten erschöpfend im Zu-
sammenhange behandelt zu haben, kommt dem vorliegenden
Werke zu. Es hat zum Inhalt die Einfälle der Normannen in
das fränkische Reich bis zur Begründung der Normandie.
Der Vf. macht uns zunächst mit der vorhandenen Lite-
ratur und mit den Quellen bekannt, auf die seine Darstellung
sich gründet. In eingehender Untersuchung legt er dar, daß
die Heimat der Normannen, welche sich das fränkische Reich
als Zielpunkt ihrer Züge gewählt hatten, in der Hauptsache
Dänemark war. Übervölkerung ist die wesentliche Ursache
gewesen, die zu ihren Fahrten den Antrieb gab. Wenn man
sich die Wikinger vornehmlich als Seeräuber denkt, so ist
diese Vorstellung irrig. Viel eher sind sie als Landräuber
zu bezeichnen, da ihnen die Flotte fast immer nur Trans-
portmittel und Stützpunkt, nicht aber ein Kampfeswerkzeug
war; den Engländern, die über stärkere Schiffe verfügten,
unterlagen sie meist in den Seekämpfen. V. schildert uns
ausführlich das Wesen der normannischen Heere und Flotten,
das während der von ihm behandelten Zeit verschiedene
Wandlungen durchmachte. Für 'die Franken war das Fehlen
einer Seemacht verderblich; es ermöglichte, daß die Erfolge
der Normannen beinahe während der ganzen Periode so
nachhaltige waren.
In anziehender Darstellung werden uns dann die Wikinger-
züge vorgeführt; insbesondere ist dabei zu beachten, wie
sehr sie im Verlauf des 9. Jahrhunderts ihren Charakter änderten.
Solange Ludwig der Fromme regierte und durch seine Herr-
schaft die Einheit des fränkischen Reiches äußerlich noch be-
stand, erfolgten die Angriffe nur durch kleinere Gruppen von
Wikingern und auf einem Gebiete verhältnismäßig geringen
Umfangs. Wenn wir von Friesland absehen, das schon in
der letzten Lebenszeit Ludwigs ein häufiges Ziel normannischer
Einfälle war und bereits in jenen Jahren als ihr tatsächliches
Besitztum angesehen werden muß, so waren es doch zuerst
nur die Küstengebiete des Frankenreiches, die von ihnen heim-
Mittelalter. 109
gesucht wurden. Mit dem Streite der Brüder, der nach dem
Tode des Vaters um das karolingische Erbe entflammt, ist den
Wikingern die Schwäche des Reiches dargetan, und sofort
erweitert sich der Umkreis ihrer Invasion in weitestem Maße.
Sie fahren in die Flußmündungen ein und dringen, besonders
auf den großen Strömen, aufwärts in das Land, das sie weit
und breit verheeren. Reicher Erfolg begleitet sie auf ihren
Beutezügen; Städte wie Hamburg, Nantes, selbst Paris fallen
ihnen zum Opfer, werden zerstört, die Bretagne, Aquitanien,
Friesland geplündert. Der glückliche Fortgang der bisherigen
Wikingerfahrten hat dann um die Mitte des Jahrhunderts weit
größere Massen von Dänen, die bereit waren, ihre Heimat zu
verlassen, auf dieselben Spuren gelenkt. Heere und Flotten
von gewaltiger Macht überschwemmen das ganze westfränkische
Reich, Lothringen und Friesland; es ist die Zeit, in der die
Angriffe der Normannen hier ihren Höhepunkt erreichen
(850 — 878). Allgemeine Hilflosigkeit gegenüber diesen Feinden,
häufige Uneinigkeit im eigenen Lager und Empörungen der
westfränkischen Großen, die Unfähigkeit Karls des Kahlen zu
organisierter, kraftvoller und ausdauernder Abwehr benehmen
den Franken zunächst jegliche Möglichkeit des Widerstandes.
Nicht mehr handelt es sich jetzt nur um einzelne Raubzüge
der furchtbaren Gegner, sondern es dringen bereits große
Heerscharen in das Land, deren Ziel es ist, sich dauernd in
fränkischen Gebieten festzusetzen, sich in denselben eine neue
Heimat zu begründen. Nur unter schmählichen Abzugs-
bedingungen wird oftmals ein vorübergehender Friede oder
Waffenstillstand in einzelnen Landesteilen von ihnen erkauft.
Die Vertreibung zahlreicher eingesessener Franken durch die
Normannen und die weitere Abnahme der kleineren Gemein-
freien hat einerseits das unerhörte Raubunwesen, von dem
uns die Quellen jener Zeit so viel zu erzählen wissen, zur
Folge gehabt, andererseits auf die Stärkung und den Sieg des
Lehenswesens in Westfranken weittragenden Einfluß geübt.
Gegen die Mitte der genannten Periode, schon in der Zeit
Roberts von Anjou, zeigt sich das Bild ein wenig zugunsten
der Franken verändert. Man beginnt mit einer planmäßigen
Gegenwehr, die manche Erfolge aufweist; so daß unter dem
Hinzutreten anderer wichtiger Momente etwa seit den sieb-
1 10 Literaturbericht.
ziger Jahren eine Abnahme der eigentlichen Einfälle — nament-
lich im südlichen Gallien — und eine auf bestimmten Ursachen
beruhende Nordwärtskonzentrierung der Normannen zu be-
merken ist.
Die gewaltigste und bedeutungsvollste Invasion der Nor-
mannen im Frankenreiche aber stand noch bevor; nach dem
frühzeitigen Tode König Ludwigs des Stammlers setzte sie
ein. Abermals verändert sich in dieser letzten Periode der
Normanneneinfälle der Charakter derselben; die plündernden
Wikinger wurden allmählich zu „erobernden Kolonisten*, wo-
für das — freilich zukunftslose — Königtum Gottfrieds am Nieder-
rhein ein erstes, interessantes Beispiel bietet. Es ist von nun
ab im wesentlichen ein einziges großes Heer, welches dauernd
im Frankenreiche haust, auf ein festes Standlager gestützt,
und weithin die fränkischen Lande, in dieser Zeit besonders
auch die östlichen Teile Westfrankens, Rhein- und Mosel-
gebiet, sogar Burgund unsicher machte. Bald nach der
Schlacht von Löwen sieht sich dann das Heer, hauptsächlich
um den Folgen der großen Mißernte des Sommers 892 zu
entgehen, genötigt, seinen Abzug nach England zu bewerk-
stelligen. Noch einmal kehrten die Normannen nach West-
franken zurück, jetzt aber nur mehr in der Absicht, in Frieden
sich dort niederzulassen: die Normandie, seit 899 etwa in
ihrem tatsächlichen Besitz, wird — nicht ohne daß diese
letzte Zeit kampflos verlaufen wäre — ihrem Führer Rollo, der
dem westfränkischen Könige die Lehenshuldigung leistete, in
der Zusammenkunft zu S. Clair (911) überlassen und damit
die Begründung eines besonderen Bestandteils des fränkischen
Reiches durch die Normannen förmlich anerkannt.
V.s Buch schildert uns sonach gewissermaßen den Ein-
tritt der Normannen in die europäische Geschichte, in der sie
in der Zukunft unter berühmten Führern noch eine weit
wichtigere, weil mehr oder ausschließlich aufs Positive ge-
richtete Rolle zu spielen berufen waren. Wir können seinem
verdienstvollen Werke hohe Anerkennung zollen. Mit siche-
rem Blicke erkennt er aus dem Vielen das Wesentliche her-
aus, dabei immer das Ganze im Auge behaltend. Wenn auch
einzelne Absätze, wie z. B. § 37 (der Reichstag zu Pttres 864)
vielleicht ein wenig breit angelegt sind, so leidet doch die
Mittelalter. 111
Arbeit im ganzen keineswegs an Weitschweifigkeit. Im Gegen-
teil ist zu bemerken, daß der Vf. seinen zum Teil ziemlich
spröden Stoff uns meist sehr anschaulich vorzuführen weiß,
daß er ihn in sachgemäßer und klarer Anordnung zu dispo-
nieren verstanden hat Was Einzelheiten anbetrifft, so über-
rascht die verhältnismäßig günstige Charakteristik Karls des
Kahlen nach allem, was voraufgegangen ist; er hatte gerade
noch in seinen letzten Lebensjahren Mißerfolg auf Mißerfolg,
besonders aber in sein en kriegerischen Unternehmungen, er-
lebt. Niemals war er ein zielbewußter Politiker von großem
und weitschauendem Geiste, immer nur ein verschlagener
Rechner von diplomatischen Fähigkeiten gewesen: diesen
Eindruck gewinnen wir aus allen guten Quellen, die uns
von diesem Könige berichten. Daß er sich in der Nor-
mannennot nicht als schlechterer Regent als die übrigen
fränkischen Fürsten erwies, werden wir zugeben können; aber
es dürfte überhaupt schwer fallen, untauglichere Herrscher
nachzuweisen, als es ein Lothar IL oder Karl IIL (der Dicke)
gewesen sind. — Der vergeblichen Belagerung von Paris
durch die Normannen (885 — 886) schreibt V. mit Recht eine
erhebliche Bedeutung zu, indem er einerseits die Stellung
und die Verdienste deutlich charakterisiert, die sich Graf
Odo, der Vorläufer der Capetinger, damals erwarb, während
das westfränkische Karolingerkönigtum in seiner Schwäche
verharrte, andererseits aber ihren^ stark hemmenden Einfluß
auf weitere Normannenzüge betont. Dagegen tritt ihm der
Einfluß und der Eindruck der Schlacht an der Dyle zurück;
V. erkennt den moralischen Erfolg derselben durchaus an,
schätzt aber die Folgen der Niederlage in zweifellos richtigem
Urteil nur gering ein. Mit guten Gründen verlegt er den
Zeitpunkt der Schlacht in die zweite Oktoberhälfte (891),
während Dümmler (Ostfränkisches Reich III, 351) u. a. sie
zum 1. November ansetzten. Überhaupt befleißigt sich V.
durchgehend einer höchst sorgsamen und besonnenen Einzel-
kritik; er vermag seine literarischen Vorgänger, besonders
auch die Jahrbücher Dümmlers, vielfach zu verbessern und
zu ergänzen, und wenn auch manche Einzelfragen streitig
bleiben mögen, so ist in der großen Mehrzahl der Fälle die
scharfe Interpretation und Kritik der Quellen und das nach
1 12 Literaturbericht.
reiflicher Prüfung gefällte Urteil durchaus überzeugend, die
Darstellung selbst nur auf sichere und zuverlässige Quellen
gestützt.
Im ganzen ist zu sagen, daß die vorliegende Arbeit unter
umfassendster Heranziehung der in Betracht kommenden
Quellen geleistet wurde und daß auch die Literatur, ins-
besondere was die nordische, französische, deutsche angeht,
in gebührendem Maße berücksichtigt worden ist. Wie der
Rezensent aber oft noch aus seinem eigensten Arbeitsgebiete
Quellenstellen oder Literatur nachzuweisen imstande ist, die
in dem besprochenen Werke übersehen wurden, so vermag
auch ich hier zwei Stellen anzuführen, die, wenn ich
nicht irre, V. entgangen sind. Papst Nikolaus I. erwähnt in
einem Schreiben (863), das die Antwort auf einen Synodal-
bericht westfränkischer Bischöfe darstellt, deren Aussage, daß
sie in ihren Provinzen unter den häufigen Feindseligkeiten
der Normannen (paganorum) zu leiden hätten (Jaff6- Ewald
Reg. no. 2723, Migne, PatroL laL CXIX, 827 B); wichtiger
erscheint die Stelle in seinem gleichzeitigen Brief an Karl den
Kahlen: „tantoque de Northmannorum vobis subada rabie
grates auctori exsultantes rependimus'' (J.-E. Reg. no. 2722,
Migne, Patr. laL CXIX, 837 B), die sich wohl auf den 862
erfolgten Abzug der Normannen aus dem Seinegebiete be-
zieht, demnach bei V. S. 187 — 188 zu ergänzen wäre. —
Bischof Aktard von Nantes, dem 868 durch Hadrian II. das
Pallium verliehen und erst 871 ein Erzbistum (Tours) über-
tragen wurde, wird versehentlich schon S. 137 f. als Erzbischof
bezeichnet. S. 225 Anm. 2 wäre statt Baronius für den Brief
des Adventius die neue Ausgabe in den MG. Epist. VI,
233 sq. (no. 16) zu zitieren gewesen.
In zwei Beilagen behandelt V. dann noch: 1. das dänische
Königshaus und die Verwandschaften unter den dänischen
Wikingerführern im 9. Jahrhundert und 2. Paris in der Nor-
mannenzeit (nach Favre, Eudes, Comte de Paris et Roi de
France S. 19 — 26). Endlich ist noch der Karte zu gedenken,
die in ihrer trefflichen Ausführung einen unentbehrlichen Be-
standteil dieses tüchtigen Werkes ausmacht.
Berlin. Ernst Pereis.
Mittelalter. 113
La translation des saints Marcellin et Pierre, itude sur Einhard
et sa vie politique de 827 ä 834 par Marguerite Bondois.
Paris, Honori Champion. 1907. 116 S.
Die letzten Jahrzehnte haben uns über den berühmten
Biographen Karls des Großen mehrere neue Arbeiten ge-
bracht. So die Studie von Bacha, die Abhandlung von Hampe
im Neuen Archiv (Bd. 21), desselben neue Ausgabe der
Epistolae Einharti in den Monumenta Germaniae, das Büch^
lein von Kurze. Hierzu gesellt sich nun die oben erwähnte
Schrift, welche ein Heft der Bibliothkque de Vtcole des
hautes itudes bildet. Sie behandelt zunächst die Translatio
SS. Marcellini et Petri, den Reliquienkult jener Zeit überhaupt
und die persönliche Wundergläubigkeit Einhards; weiterhin
sein Walten als Laienabt verschiedener Klöster und seine
Bauten in Seligenstadt, endlich seine politische Rolle, be-
sonders in den Jahren 827 bis 834. Die Verfasserin sucht
die Abfassungszeit der einzelnen Bücher der Translatio ge-
nauer und zum Teil anders, als es bisher geschehen, zu be-
stimmen (s. jedoch die Berichtigung von Holder-Egger, N. Arch.
33, 233). Die rhythmische Passio der Märtyrer spricht sie
Einhard ab und tritt den Beweis an, daß die darin verarbeitete
Legende ihm noch nicht bekannt gewesen sei — obwohl eine
Stelle wie M. G. Epp. V, p. 113 (qui etiam percussori suo
peperceruni) dagegen geltend gemacht werden könnte. Ein-
hards schwankendes politisches Verhalten beurteilt die Ver-
fasserin strenger als einzelne andere Forscher und bekämpft
die Ansicht, daß er zu den Anhängern Lothars gehört habe.
Außerdem legt sie dar, daß er sich seit 830 keineswegs von
den Staatsgeschäften ganz zurückzog. Die verhältnismäßig
umfangreiche Schrift ist mit sehr großem Fleiße verfaßt. Be-
sonderes Lob verdienen die eingehenden psychologischen
Analysen. Unter den Vorarbeiten verdankt die Verfasserin
namentlich denen Hampes viel, weicht jedoch von seinen An-
sichten mehrfach ab. Zu Berichtigungen bietet sich nur wenig
Anlaß. Am wenigsten befriedigt die Zitierweise, wie man es
auch kaum billigen kann, daß die Epistolae Einharti nach der
veralteten Ausgabe von Teulet zitiert werden, weil in ihr die
Reihenfolge der Handschrift beibehalten ist. Die Zitate aus
Kapitularien nach Mansi S. 71 N. 2 sind nach M. G. Capitu*
Historische Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 8
1 1 4 Literaturbericht.
laria reg. Francor. I, p. 125. 119 zu verbessern; desgleichen
S. 80 N. 6 nach Capp, 1, p. 68. Der I.Band von Wattenbachs
^Geschichtsquellen^ hätte in der neuesten, 7. Auflage benutzt
werden sollen. S. 82 N. 1 ist in der Liste der Erzkapellane
Karls d. Gr. und Ludwigs d. Fr. Fulrad zu ergänzen , Ebroin
zu streichen. S. 108 N. 2 steht chancelier statt archichapelain.
Daß die Bezeichnung „Nikolaiten*" nicht erst so spät, wie
die Verfasserin S. 93 N. 1 argwöhnt, in die Ann. Fuldenses
eingeschwärzt sein kann, wird schon durch die im Anfange
des 10. Jahrhunderts verfertigte Schlettstadter Handschrift be-
wiesen. Doch genug solcher kleiner Korrekturen, wenn man
sie auch noch etwas vermehren könnte. Hinsichtlich der
Stelle bei Nithard über die Leiber der Heiligen (S. 42 N. 3)
sei noch auf die kürzlich erschienene neue Ausgabe von
Ernst Müller hingewiesen.
Berlin. B. v. Simson.
Die Legation des Kardinals Pileus in Deutschland, 1378 — 1382.
Mit einem Anhange: Die Frage der zweiten und dritten
deutschen Legation des Kardinals Pileus in den Jahren
1394 und 1398. Von Karl Guggenberger. (Veröffentlichungen
aus dem Kirchenhistorischen Seminar München. IL Reihe,
Nr. 12.) München, Lentner. 1907. Vlll u. 138 S.
Man wird vielleicht die Frage aufwerfen, ob es angebracht
war, mit dem Gegenstand der vorliegenden Arbeit ein Buch
zu füllen, wenngleich man gegenüber der sorgfältigen Zu-
sammenstellung des Tatsachenmaterials, der eine umfang-
reiche, durch Umfrage an mehr denn 150 Archive und andere
wissenschaftliche Anstalten ermöglichte Heranziehung bisher
ungedruckter Quellen zugute gekommen ist, nicht undankbar
sein darf. Die Lektüre wird dadurch erschwert, daß die von
gewöhnlichen Sterblichen befolgten Regeln der Zeichensetzung
für Guggenberger nicht zu existieren scheinen, — sie wird auch
nicht genußreicher dadurch, daß man neben anderen stilistischen
Besonderheiten und Verstößen auf Schritt und Tritt einer un-
bezwinglichen Neigung zu wenig schönen Superlativen („treue-
stens*, »eindringlichst*, „nachdrücklichst*, „entgegenkom-
mendste usw.) begegnet. Aber wie gesagt, Fleiß und Sorg-
falt haben nicht gefehlt, und die Arbeit wird manchem bei der
Mittelalter. 115
Beschäftigung mit den in die ersten Jahre der großen Kirchen-
spaltung fallenden Ereignissen von Nutzen sein. Wesentliche
Änderungen in unserer Auffassung von der Reichspolitik
und ihrer Behandlung der kirchlichen Fragen ergeben sich
übrigens nicht.
Soweit ich sehe, ist dem Vf. an wichtiger Literatur kaum
etwas entgangen ; aufgefallen ist mir nur, daß er Herm. Haupts
Aufsätze in der Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins N. F.
Bd. V u. VI (Das Schisma des ausgehenden 14. Jahrhunderts
in seiner Einwirkung auf die oberrheinischen Landschaften
und weiter Markgraf Bernhards I. von Baden kirchliche Politik
während des großen Schismas 1378—1415) nicht herange-
zogen hat, in denen er mehrere Urkunden des Pileus und
einen Hinweis auf ein an anderer Stelle veröffentlichtes Stück
gefunden hätte. Hieraus ergeben sich einige Ergänzungen
und Berichtigungen zu dem vom Vf. (S. 105 ff.) aufgestellten
Itinerar des Legaten. Die von Haupt in Bd. V, S. 67 (Nr. 8 u. 9)
abgedruckten Urkunden nennen als Ausstellungsort für den
19. Juni 1381 Prag. Ohne auf die Wichtigkeit dieser Nachricht
— Pileus befindet sich damals auf der Rückreise von England
— näher einzugehen, beschränke ich mich im Hinblick auf
die bei 0. verzeichnete Ortsangabe Kaub zum Tag darauf
(20. Juni) auf die Feststellung, daß die in den Urkunden des
Kardinals sich findenden Ortsangaben also nicht immer dem
wirklichen Aufenthalt entsprechen.
In einem Anhang setzt sich G. mit Jos. Kaufmann und
Th. Lindner über die Frage der zweiten und dritten deutschen
Legation des Pileus in den Jahren 1394 und 1398 auseinander.
Er ist der Ansicht, daß beidemal von einer Legation nicht
die Rede sein könne, und damit hat er meiner Meinung nach
das Richtige getroffen.
Straßburg i. E. Hans Kaiser,
Die Judenschuldentilgungen unter König Wenzel. Von A. SfiO-
mann. (Schriften der Gesellschaft zur Förderung der
Wissenschaft des Judentums.) Berlin, Lamm. 1907. XV u.
203 S.
Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht die Interpretation
und Wertung der beiden großen Judenschuldentilgungsgesetze
1 1 6 Literaturbericht.
König Wenzels von 1385 und 1390. Der Vf. wendet sich
gegen ein Buch von Eugen NUbling (Die Judengemeinden des
Mittelalters), der in diesen Gesetzen wohltätige politische
Maßnahmen sah, während SUßmann, Hegel folgend, sie im
wesentlichen als «Beraubungen'*, sagen wir lieber: «finanzielle
Schiebungen", betrachtet. Zweifellos ist dem Vf. dieser Kern
seines kleinen Buches vortrefflich gelungen. Zwar ist seine
Auffassung nicht original, aber zum ersten Mal werden die
Vorstadien, die Ausführung und die Wirkung jener Ge-
setze unter Heranziehung der neuesten UrkundenbUcher in
allen Einzelheiten dargestellt. Den Faden, an dem die Unter-
suchung läuft, bildet naturgemäß die Politik König Wenzels.
Hier freilich möchte ich einen ersten Einwand erheben. Allzu-
sehr erscheint doch die Politik des Königs ausschließlich von
der Gier nach den jüdischen Schätzen bestimmt. So wird
denn gleich zu Eingang (S. 8) das Verdammungsurteil über
Wenzel vorweggenommen. Wenn er sich wieder einmal
den Städten nähert, so sind nach S. selbstverständlich seine
Bündnisanträge unaufrichtig, was er will, ist nur ein neuer
Anschlag auf die Juden. Vielleicht hätte den Vf. die Disser-
tation von Messerschmidt: Der rheinische Städtebund von
1381 — 1389 (Marburg 1906) auch auf andere, rein politische
Motive aufmerksam gemacht. Daß S.s Motivierung nicht aus-
reicht, ergibt schon die eine Erwägung, daß der König, wenn
ihm nur am Geld der Juden gelegen gewesen wäre, das
Widerstreben der Städte dadurch hätte brechen können, daß
er sich entschlossen auf die fürstliche Seite stellte. Die Städte
wußten eben, daß er sie nicht ganz konnte fallen lassen, dar-
aus erklärt sich ihre widerstrebende Haltung in der Judenfrage.
Schwerer aber wiegt ein anderer Fehler, der Mangel einer sorg-
fältigen rechtsgeschichtlichen Grundlegung. Der Leser wird
gleich in mediasres, in die Zeit Wenzels, geführt, und da ihm nicht
gesagt ist, welches die Rechte des Königs an der Judenschaft
des Reiches ursprünglich waren und was um 1378 aus ihnen
geworden war, so muß er ein besonderes Studium anstellen,
um dem, was dann geschah, nicht ganz verständnislos gegen-
überzustehen. Es mußte vollständig zusammengestellt werden,
welche Rechte an den Juden bis dahin dem Reiche verloren
gegangen waren und an wen. Nur so begreift man, was
Mittelalter, 117
Wenzel im Grunde wollte: Die Zurückgabe der Judensteuer
wenigstens seitens der Reichsstädte. Dies Ziel hat S. infolge-
dessen nicht recht herausgearbeitet: Die Maßnahmen des Königs
von 1385 sind ein Kompromiß zwischen ihm und den Städten,
die von 1390 eine Pression auf die Städte, da sie zugunsten
derjenigen, die etwas nachgaben, abgeändert wurden. Die
eigentümliche Verschiedenheit in der Haltung des rheinischen
Bundes von der des schwäbischen ist S. (S. 84) nicht ent«
gangen; wenn er aber meint, die rheinischen Städte hätten
das uneingeschränkte Verfügungsrecht über ihre Juden gehabt,
so nur Nachteile von der Schuldentilgung erwartet und des-
halb widerstrebt, so ist das eine Verlegenheitsauskunft. Denn
Belege hat er keine, und tatsächlich hatten die rheinischen
Städte auch nicht mehr Rechte als die schwäbischen. Neben die
von Messerschmidt S. 167 beigebrachte wirtschaftliche Erklärung
möchte ich eine rechtliche setzen : Im rheinischen Bund über*
wogen die Freistädte Mainz, Worms, Speyer, Straßburg, die
der königlichen Ingerenz viel weniger unterlagen als die im
schwäbischen Bund fast ausschließlich dominierenden Reichs-
städte. Hoffentlich nimmt der Vf. Gelegenheit, die Lücken,
die hier angemerkt werden mußten, auszufüllen und diese
Epoche der Finanzgeschichte des Reiches in ihre Zusammen-
hänge einzustellen. Dann aber möchte ihm zu raten sein, in
der Wiedergabe von Urkunden sorgfähiger zu verfahren und
sich mit ihrem Formelwesen vertraut zu machen; denn es be-
gegnen ihm Entgleisungen, die man in der Arbeit eines
zünftigen Historikers nicht erwarten sollte. Nicht immer sind
sie bedeutungslos wie S. 44^), 93^); S. 10 wird berichtet, der
König habe 1383 „Räte in die rheinischen Gemeinden senden
wollen, um den zehnten Teil der Judeneinkünfte der
Städte in Beschlag zu nehmen*. Die betreffende Akte (Reichs-
tagsakten I, n. 233) sagt aber „daz sie(dieFürsten)... dem
konige das zehende teil folgen laißent*. Es ist also von den
Städten gar nicht die Rede; auch kann ebensogut eine zehn-
prozentige Vermögenssteuer von den Juden gemeint sein. Die
5800 Gulden, die Regensburg 1385 zahlte, gingen als Ent-
schädigungszahlung an den Pfandinhaber der Regensburger
Judenschaft, den Herzog von Bayern, nicht als außerordentliche
Judenbedc an Wenzel, wie S. S. 72 meint; was die Regens-
1 1 8 Literaturbericht.
burger Juden damals dem König gaben, ist nicht bekannt.
Ihren Wert für die Geschichte der Finanzpolitik einer großen
Gruppe deutscher Städte behält aber die Schrift trotz dieser
Ausstellungen.
Göttingen. H. Niese.
Canon Pietro Casola's Pilgrimage to Jerusalem in the year 1494
by M. Margaret Newett B. A. Formerly Jones Fellow
history. Manchester at the Univers, Press. 1907. 427 8.
Unter den Publikationen der Universität Manchester ist
dieses neuerdings erschienene Buch von nicht geringem Inter-
esse. Der mailändische Priester Pietro Casola hat im Jahre
1494 in seinem 67. Jahre eine Pilgerreise nach Jerusalem
unternommen und seine Erlebnisse auf derselben für Freunde
in Mailand zu deren Belehrung und Unterhaltung niederge-
schrieben. Als ein scharfer und kenntnisreicher Beobachter,
als ein Mann von reicher Erfahrung, Weltgewandtheit und
praktischer Lebensphilosophie gibt er in lebendiger Darstellung
ein höchst anziehendes Bild vom Verlaufe seiner Reise, die
er von Mailand nach Venedig und von da auf einer Galee
über Zara, Ragusa, Modone, Candia, Rhodus und Limasol nach
Jaffa gemacht hat, wo er am 17. Juli 1494 angekommen ist,
um von da nach Jerusalem zu pilgern und die hl. Orte daselbst,
ebenfalls Bethlehem, den Jordan und Jericho zu besuchen und
nach einem fast sechswöchentlichen Aufenthalte im Gelobten
Lande von Jaffa aus wieder auf demselben Wege heimzu-
fahren. Fast drei Viertel seiner Erzählung handelt von seinen
Erlebnissen auf der Hin- und Rückfahrt und nur ein Viertel
derselben von seinem Aufenthalte in Palästina. Ganz besonders
wertvoll und anziehend ist u. a. was er über seinen Aufent-
halt in Venedig des längeren auf S. 134—154 und 336—341
zu berichten weiß. Casolas Pilgerreise war in Vergessenheit
geraten, bis anfangs der fünfziger Jahre des vorigen Jahr-
hunderts Graf G. Porro das Manuskript in der Trivulziana zu
Mailand entdeckte und im Jahre 1855 mit einer ungenügenden
Einleitung und Anmerkungen in 100 Exemplaren, welche jedoch
nicht in den Buchhandel gekommen sind, hat drucken lassen.
Es war deshalb ein dankenswertes Unternehmen, dem sich
Mittelalter. 119
die gelehrte, der Studien halber in Venedig wohnende Eng-
länderin, Fräulein M. Newett, unterzogen hat, nach dem alt-
italienischen Texte der Handschrift eine englische Obersetzung
zu fertigen und dieselbe nebst einer sehr instruktiven, auf
genauer Kenntnis des einschlägigen, zum Teil im Staatsarchiv
zu Venedig befindlichen literarischen Materials beruhenden
Einleitung über mittelalterliche, vornehmlich von Venedig aus
unternommene Pilgerreisen, und mit Noten und einem genauen
Namen- und Sachregister versehen, herauszugeben. Nicht
unerwünscht wäre es, wenn diese bis in die neueste Zeit fast
ganz übersehene Casolasche Reisebeschreibung ihrer kultur-
geschichtlichen Bedeutung wegen auch einen deutschen Über-
setzer und Herausgeber finden würde.
Bödigheim. //. Hagenmeyer,
Zur Rechtsstellung der Gäste im mittelalterlichen städtischen
Prozeß. Vorzugsweise nach norddeutschen Quellen von
Hermann Rudorff. Breslau, M. u. H. Markus. 1907. 203 S.
(Untersuchungen z. deutschen Staats- u. Rechtsgeschichte,
herausgegeben von Otto Gierke. Heft 88.)
Der Vf. erörtert die Abweichungen von der normalen Ge-
staltung der Gerichtsverfassung und des Rechtsganges, die
sich im städtischen Recht allmählich für diejenigen Fälle
herausbildeten, in denen gegen einen Gast, d. h. Stadtfremden^
oder von einem Gast Recht gesucht wurde. Vor allem be-
mühte man sich, die Streitsachen der Gäste nach Möglichkeit
vor das eigene Stadtgericht zu bringen. Das schließliche
Hauptmittel dafür wurde das seit Ende des 12. Jahrhunderts
auftretende forum arresii. Wegen jeder auf Geld oder Fahrnis
gehenden Schuld konnte ein Gast ohne weiteres, wenn man
ihn in der Stadt antraf, mit Personalarrest oder, wenn er Gut,.
z. B. Handelsware, in die Stadt eingebracht hatte, mit Sach-
arrest belegt und dadurch vor das Stadtgericht gezwungen
werden. Und ebenso wurde gegen ihn wegen einer einem
Bürger zugefügten Missetat, selbst wegen einer auswärts ge-
schehenen, ein forum deprehensionis vor dem Stadtgericht
dann eröffnet, wenn er sich im Stadtbezirk blicken und fassen*
ließ. Als Gegenstück hatte er das Recht auf schnelles Gericht
(Gastgericht), das sofort als Notgericht mit einer geminderten
120 Literaturbericht.
Zahl von Urteilsfindern, eventl. au! der Gasse, zusammentrat.
Während der Jahrmarktzeiten wurden die Gäste durch eine
entsprechende Ausdehnung des Marktfriedens wenigstens gegen
solchen Arrest und solche Vermögens- und Strafklage, deren
Grund zurücklag, d. h. nicht in der Marktzeit selbst entstanden
war, gesichert. Verbündete Städte schalteten nicht selten durch
besondere Gegenseitigkeitsverträge jene den Gästen beschwer-
lichen Sätze für das Verhältnis ihrer Bürger zueinander aus.
Die auf sorgfältiger Quellenforschung beruhende, anschauliche
Darstellung aller dieser Rechtsbildungen, die im wesentlichen
wohl das allgemeine Bild des städtischen Gästerechtes wieder-
spiegeln, ist nicht bloß für die Prozeßrechtsgeschichte, sondern
auch für die Wirtschaftsgeschichte von großem Interesse.
Freiburg i. B. Alfr. SchuUze.
Karl von Miltitz, 1490—1529. Sein Leben und seine geschicht-
liche Bedeutung. Von Dr. Heinr. Aug. Creutzberg. (Stu-
dien u. Darstell, aus d. Gebiet d. Geschichte, herausg. von
Dr. Herrn. Grauert. 6. Bd., 1. Heft.) Freiburg L B., Herder.
1907. Vlll u. 123 S.
Manche Widersprüche und Unebenheiten dieser Bonner
Dissertation erklären sich aus dem Umstände, daß sie begonnen
wurde, ehe noch durch neuere Forschungen die kirchen-
politische Bedeutung der Machenschaften Miltitzens in recht
enge Grenzen eingeschlossen war. Bei dem Bestreben, seiner Ar-
beit doch noch eine selbständige Bedeutung zu sichern, indem
er Person und Auftrag des Nuntius wieder etwas respektabler
und wichtiger erscheinen ließ, hat sich der Vf. besonders im
ersten Teil in der Methode stark vergriffen. Nach bekanntem
Rezept schiebt er dem Gegner eine einseitige oder übertriebene
Behauptung unter, gegen die sich nun gut rappieren läßt.
Also: „in den letzten Jahren ist man mehr und mehr dazu
übergegangen, Miltitzens Person für eine durchaus unbedeutende
zu halten und ihren Träger selbst als einen Dummkopf und Be-
trüger hinzustellen '*; „man sei in der Verurteilung Miltitzens
und der Herabsetzung seines Lebenswerkes etwas gar weit
gegangen" (S. 30). Damit dürfte neben dem Ref. vor allem
K. Müller gemeint sein, der sein sachlich wohlbegründetes
Reformation. 121
Urteil in die Ausdrücke «Renommist, Schwindler, Schwätzer**
(Zeitschrift für Kirchengeschichte XXIV, 76 f.) zusammenge-
faßt hat; den wichtigsten Teü dieses „Lebenswerkes", das von
Miltitz eigenmächtig eingefädelte und hartnäckig betriebene
Trierer Schiedsgericht, bezeichnet Creutzberg selbst als einen
«ungeheuren Schwindel" (S.65), bei dem der junge Pfründenjäger
seinen materiellen Vorteil bei der Kirche wie bei der Gegenpartei
suchte; den von mir eingeführten mildernden Umstand, daß
die von Miltitz verschuldeten Ausflüchte und Weiterungen ihm
vom Kurfürsten suggeriert und rücksichtslos zu Luthers Gunsten
ausgebeutet wurden, läßt der Vf. zurücktreten, um nicht die Zweifel
an den «großen diplomatischen Fähigkeiten" Miltitzens (S. 35)
zu unterstützen. Gleichwohl ist die zusammenfassende Charak-
teristik im „Schlußwort* als wohlgelungen zu bezeichnen, wie
überhaupt die zweite Hälfte der Arbeit etwa von den Alten-
burger Verhandlungen an mehr befriedigt, da sich der Vf. hier
mit einer im wesentlichen korrekten Wiedergabe des vor ihm
Gewonnenen begnügt. Der Fehler, auch hier das Treiben Mil-
titzens möglichst wichtig erscheinen zu lassen, korrigiert sich bei
Berücksichtigung der größeren Zusammenhänge. Aufgebauscht
wird hier u. a. «die ungewöhnlich wichtige Gesandtschaft zu
Friedrich d. W." (Mai 1519), die ebenfalls beweisen soll, daß
die Kurie und Kajetan den Nuntius nicht «für einen einfältigen
Menschen gehalten" hätten. Mein nach Cr. «unhaltbares
Urteil, das ihn fast zu einer Art Briefträger herabdrücken
wolle" (S. 35), habe ich gelegentlich einer Untersuchung über
«die Fakultäten Aleanders" (in einer 1908 in Leipzig er-
schienenen Sammlung von «Studien zu ungedruckten Akten-
stücken aus Aleanders Nachlaß" unter dem Titel «Aleander
gegen Luther", S. 7ff.) durch den Nachweis gestützt, daß M.
in seiner Eigenschaft als Nuntius von der «seines Nachfolgers
Aleander" (Cr. S. 35) durch eine weite Kluft getrennt war:
die mit diplomatischen Aufgaben betrauten, für ihre Verhand-
lungen auch besonders instruierten Vertreter des Papstes
werden von jenen untergeordneten Sendlingen durch den Titel
^nuntius et orator' scharf geschieden. Indem er Miltitzens
Stellung an der Kurie herausstreicht, bringt Cr. eine Notiz
aus dem privaten Rechnungsbuch des Papstes, dem Miltitz
«so nahe trat, daß er oft zum Lottospiel von Leo herangezogen
122 Literaturbericht.
wurde*. Aber der eine Vermerk besagt nur, daß Leo X. sich
einmal beim Spiel 13 Dukaten von Miltitz entlieh, der sich auf
jenem Jagdausflug nach Toskana im päpstlichen Gefolge be-
fand, weil er von dort aus nach Deutschland abgefertigt werden
sollte; die 50 Dukaten vom 25. Oktober aber stellen sein
Reisegeld vor (S. 9 Anm. 2). Ein „Verhältnis Miltitzens zum
Vizekanzler" nimmt Cr. ohne weiteres an, obwohl er „nichts
darüber feststellen konnte*. Den Lobeserhebungen eines so
anpassungsfähigen Strebers wie Cochläus hier nicht zu miß-
trauen, haben wiederum wir „keinen Grund* (S. 6 und 28)^
zumal derartiges in Humanistenbriefen ohnehin sehr leicht
wiegt. Wie völlig nichtig Urteilsfähigen die dreisten Umtriebe
des Junkers erschienen, zeigt, daß Pirkheimer auf sein An-
gebot hin, ihm hinter dem Rücken des zuständigen Kommissars
Lösung vom Banne zu verschaffen, nicht einmal dankte ; wenn
ihn Cr. (S. 98 f.) dafür der „Fahrlässigkeit* beschuldigt,
so übersieht er, wie sorglich die Nürnberger damals schon
bemüht waren, ohne zu schlimme Demütigung vor Dr. Eck
aus dem Handel zu kommen. Statt derartiger Sophistereien,
von denen besonders die erste Hälfte wimmelt, hätte der Vf.^
dem nennenswertes neues Material nicht zu Gebote stand, die
Dresdener und Siebeneichener Akten einsehen sollen (S. 2f.),
um nach dem Muster Vircks vor den Planitz-Berichten über
Familien- und Vermögensverhältnisse, vielleicht auch über das
Geburtsjahr Abschließendes zu bieten. Verwunderlich ist die
zweimalige Verwendung (S. 43, 105) des Schreibens des von
mir enträtselten A. de Mironibus und so manches andere;
befremdlich die Art, wie er mich zitiert für Ansichten, von
denen ich das Gegenteil nachgewiesen habe (so S. 16, Anm. 6
und S. 114, betreffend das Verhältnis Friedrichs d. W. zu
„Ablaß und Reliquienverehrung*), oder mit Übergehung des
wichtigsten Ergebnisses wie S. 45, wo er sogar die veränderte
Datierung der Lichtenburger Verhandlungen von 1518 un-
beachtet läßt, noch befremdlicher in verschiedener Hinsicht,
wie er mich nicht zitiert. — An Fleiß und Gewandtheit hat
es der Vf. nicht fehlen lassen, aber er hat sie bei einer nicht
mehr lohnenden Aufgabe und leider auch in einer falschen
Richtung eingesetzt.
Breslau. P, Kalkoff.
16. Jahrhundert. 123
Aus Kurköln im 16. Jahrhundert. Von Gust. Wolf. (Historische
Studien, veröffentlicht von E. Ehering. Heft 51.) Berlin,
E. Ehering. 1905. VIII u. 342 S.
Das vorliegende Werk ist wertvoll nicht nur für die
Provinzial-, sondern auch für die Reichsgeschichte. Indem
der Vf. bei seinen Vorstudien für den 2. Band seiner Deutschen
Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation eine Rundschau
über den Zustand der bedeutendsten Territorien nach dem
Augsburger Religionsfrieden zu geben und hierbei als Muster-
beispiel für die geistlichen Fürstentümer das Kurfürstentum
Köln aus verschiedenen Gründen zu nehmen sich veranlaßt
sah, stieß er auf die empfindliche Lücke in unserer Kenntnis
von dessen Geschichte, die zwischen den trefflichen Darstel-
lungen Varrentrapps über Hermann von Wied und Lossens
über Gebhard Truchseß klafft. Durch eifriges Aktenstudium
in den Archiven zu Köln und Düsseldorf erwuchs ihm das
Material zu dem Buche über Kurköln im 16. Jahrhundert, das
jene Lücke, abgesehen von der Regierung Salentins von Isen-
burg, auszufüllen bestimmt ist. Eine erschöpfende Geschichte
des Kölner Kurstaates in diesem wichtigen Zeitraum von
20 Jahren (1546—67) darf man freilich nicht erwarten bei der
selbstgewollten, weil durch den Charakter des Hauptwerkes
bedingten Beschränkung auf die Ereignisse, welche ihrerseits
zu der gemeindeutschen politischen und Kirchengeschichte in
Beziehung stehen. Aber trotzdem fällt doch manches Streif-
licht auf die innere Entwicklung des Territoriums. Das Bild,
welches Wolf von den Verhältnissen Kurkölns in dem von ihm
behandelten Zeitraum entwirft, ist recht unerfreulich. Die
Interessen der maßgebenden Faktoren waren einander allzu-
sehr entgegengesetzt, so daß eine Gesundung der von einer
Generation zur anderen verschleppten traurigen Finanzlage
nicht eintreten konnte. Und diese Lage wirkte wie ein Hemm-
schuh, der die Erzbischöfe an einem entschiedenen Auftreten
sowohl im Reiche, wie im eigenen Territorium hinderte. Die
Wurzel des ganzen Übels deckt der Vf. in der ersten Hälfte
des 15. Jahrhunderts auf in der kurzsichtigen Finanzwirtschaft
des Erzbischofs Dietrich von Mors, der sich die Mittel zu
seiner hochstrebenden Politik auf wenig haushälterische Weise
verschaffte. Als er starb, schlössen die Stände des Erzstiftes
1 24 Literaturbericht.
die Erblandesvereinigung vom Jahre 1463, in der sie sich den
maßgebenden Einfluß au! die Regierung vorbehielten, um der
Verschuldung des Erzstiftes entgegenzuarbeiten. Aber die
Entschuldung wurde nicht erreicht; trostlos blieb die finan-
zielle Lage der Erzbischöfe durch das ganze 16. Jahrhundert;
sie gipfelte in erschütternder Tragik, als beim Tode Johann
Gebhards von Mansfeld seine bejahrte Mutter nicht einmal
ihre Herberge bezahlen konnte und das Domkapitel Sorge
tragen mußte, daß die Gläubiger nicht die Hand auf die Leiche
des Erzbischofs legten. Interessantes Licht fällt auch auf die
reformatorischen Bewegungen in der Stadt Köln, insbesondere
auf die Prozesse gegen die Professoren Justus Velsius und
Jakob Leichius. Die Benutzung des Buches wird leider da-
durch sehr erschwert, daß weder ein eingehendes Inhalts-
verzeichnis, noch ein Register den reichen Inhalt erschließt,
Köln. Herrn. Keussen.
Theodore de Neuhoff , Roi de Corse, par Andr6 It Glay. Paris^
A. Ricard et fils. 1907. XII u. 447 S.
Der westfälische Baron, dem die Korsen am 15. April 1736
eine ephemere Königskrone aus Lorbeerzweigen aufs Haupt
setzten, ist schon zu seinen Lebzeiten Gegenstand biographischer
Darstellungen geworden, und seine Schicksale haben bis in
die neuere Zeit teils wegen ihres romanhaften Charakters,
teils wegen des politischen Intrigenspiels, das sich an dieses
seltsame Königtum knüpfte, zu weiteren Nachforschungen gereizt.
Der Vf. der neuen Biographie hat das Archiv des auswärtigen
Ministeriums in Paris und die Staatsarchive von Turin und
Genua durchsucht und daraus noch eine Menge neuer Notizen
von größerem oder geringerem Belang geschöpft : man gewahrt
die lebhafte Bewegung, in die das Auftreten des Abenteurers
die Höfe versetzte, die ein Interesse an den Machtverhält-
nissen im Mittelmeer hatten; man sieht die aufgeregte Diplo-
matie der genuesischen Republik am Werk, die überall dem
gefürchteten Prätendenten auf den Fersen war, ihn von Ort zu
Ort verfolgte, seinen Umtrieben nachspürte und die Briefe
unterschlug, die er mit den korsischen Häuptlingen wechselte.
Aber es fehlt doch viel, daß es dem Vf. gelungen wäre, das
18. Jahrhundert. 125
vorhandene Material kritisch zu sichten und daraus eine über-
zeugende Biographie aufzubauen. Im einzelnen bleiben viele
Lücken, bleibt vieles rätselhaft, unsichere Vermutung, was
freilich damit zusammenhängt, daß der gekrönte Baron, der
nur ein halbes Jahr wirklich den Szepter trug, die meiste Zeit
ein flüchtiges Abenteurerleben führte, das die Öffentlichkeit
scheute, daß er seine Fäden nur im verborgenen spann, und
daß die Pläne der Mächte, die nach der Beute lüstern sich
gegenseitig beargwöhnten, gleichfalls nur im dunkeln gesponnen
wurden. Tatsächlich war Theodor von englischer und hollän-
discher Seite unterstützt; immerhin bleibt es zweifelhaft, ob
und inwieweit auch die Regierungen hinter den zu seinen
Gunsten ausgerüsteten Expeditionen standen. Außerdem sehen
wir Spanien, Sardinien, Toskana, Neapel als Mitbewerber für den
Fall, daß Genua die Insel, mit deren Unbotmäßigkeit es beständig
zu kämpfen hatte, nicht länger zu behaupten vermochte.
Zuletzt wandte sich die altersschwache Republik an Frankreich,
und Frankreich Heß sich nicht lange bitten, entschlossen, den
Besitz der Insel keiner anderen Macht zu gönnen. Einen Einblick
in die französische Politik gewährt die Instruktion, die dem
französischen Gesandten in Genua, Campredon, am 5. Mai 1737
erteilt wurde : ,Es wäre zu wünschen, daß die Republik, wie man
Sie versichert hat, zu einem Verkauf der Insel sich geneigt zeigte.
Der König würde seine Blicke niemals dahin richten, solange
sie in der Gewalt der Genuesen bleibt, und Seine Majestät
hat es bisher auch nicht für angezeigt gehalten, sich in diese Re-
volution einzumischen, über die man bloß sehr unsichere
Vermutungen anstellen könnte; aber sobald der Verkauf der
Insel in Frage käme, würde es den Interessen der Franzosen
nicht entsprechen, daß irgendeine andere Macht sie erwürbe.
Ich bitte Sie deshalb, genau darüber zu wachen, was in der
Sache vorgeht, und mir zu berichten, was Sie in Erfahrung
bringen." Von den Genuesen zu Hilfe gerufen, sind dann die
Franzosen im Februar 1738 erstmals auf der Insel gelandet;
sie gerieten aber sogleich mit den Genuesen in Streit, weil
diese wollten, daß mit Feuer und Schwert gegen die Empörer
vorgegangen werde, während die Franzosen, weiterschauend,
die Unterwerfung zuerst mit Güte versuchten. Theodor hatte
schon im November 1736 seinen wankenden Thron verlassen,
126 Literaturbericht.
angeblich, um die Mittel zu dessen Erhaltung persönlich zu
betreiben. Es gelang ihm auch, in Amsterdam eine Handels-
gesellschaft zusammenzubringen, die, durch Aussicht au! Ge-
winn angelockt, eine Expedition für ihn ausrüstete, und es
gelang ihm, nachdem dieses Unternehmen gescheitert war,
in London Gönner für eine Expedition zu finden, mit der er
sich selbst wieder nach seinem Königreich aufmachte. Allein
er befuhr mit diesem Geschwader wohl die KUstenplätze der
Insel, wagte aber nicht mehr, den Fuß auf korsischen Boden
zu setzen. Seine Rolle war jetzt ausgespielt. Während er
sich in Toskana verborgen hielt, unterstützten die Engländer
noch eine Zeitlang den unternehmungslustigen König Karl
Emanuel von Sardinien, zogen sich aber zuletzt ganz von dem
korsischen Abenteuer zurück. Auch bei den Kämpfen auf der
Insel hatte sich Theodor stets außer Schußweite gehalten;
jetzt aus Florenz ausgewiesen, geht er nach Westfalen zurück,
und sein ferneres Leben ist ein verzweifelter Kampf um das
tägliche Brot. Er wendet sich nach Holland und schließlich
nach England, wo er von der Mildtätigkeit seiner Gönner
lebt, die meiste Zeit aber im Schuldgefängnis sitzt und, aus
diesem freigelassen, nach wenigen Tagen im Elende stirbt«
Dezember 1756. Der Biograph hat die Gestalt dieser bettel-
haften Majestät wohl allzusehr ins Burleske gezogen, er hält
auch den von Mitleid diktierten Aufruf Walpoles zu Zeichnungen
für den Unglücklichen für eitel Hohn und Spott. Im ganzen
dient aber die Erzählung seiner Lebensgeschichte wirklich nicht
dazu, den Nimbus um Theodors Person zu erhöhen. Varn-
hagen und noch Gregorovius haben sich durch die Lands-
mannschaft und den romantischen Schimmer der korsischen
Königskrone bestechen lassen. Mag man auch anerkennen,
was Theodor während seiner kurzen Regierung zum Besten
des Landes zu tun versuchte, und mag man auch die Genialität
bewundern, die es so lange verstand, die Leichtgläubigkeit
anderer für seine Zwecke auszunützen, sein phantastisches
Königtum ist allzusehr mit dem Fluch der Lächerlichkeit be-
lastet, und seinem Ehrgeiz hat allzusehr der kecke Wagemut
gefehlt, als daß er ein tieferes Interesse einflößen könnte.
Nicht durch heroisches Einsetzen seiner Person, sondern nur
durch lügnerische Versprechungen hat er sich eine Zeitlang
18. Jahrhundert. 127
über Wasser halten können. Daß die Korsen einen so frag-
würdigen Fremdling zum König wählten, war aber ein Beweis
dafür, daß ihnen zur Abschüttlung des verhaßten genuesischen
Jochs ein jedes Mittel recht war, von da an trat der voraus-
sichtliche Verlust der Insel für Genua in die Berechnung der
Mächte ein, und so beruht die Bedeutung dieser historischen
Episode im Grunde nur darauf, daß an Theodors Unternehmen
die Festsetzung der Franzosen auf Korsika sich knüpft. Zwölf
Jahre nach Theodors Tod ist sie durch förmlichen Kaufvertrag
besiegelt worden. W. L.
Das Heilige Römische Reich teutscher Nation im Kampf mit
Friedrich dem Großen. Von Artur Brabant« 1. Bd. Joseph
Friedrich, Herzog zu Sachsen-Hildburghausen, des Heiligen
Römischen Reichs Generalissimus, 1757. Berlin, Gebr.
Paetel. 1904. 394 S.
In den Darstellungen des Siebenjährigen Krieges ist bis
jetzt die Geschichte des Kampfes zwischen Friedrich d. Gr.
und dem Heil. Rom. Reiche immer zu kurz gekommen. Haupt-
sächlich wohl darum, weil die deutschen Bearbeiter dieser Zeit
fast durchgängig vom preußischen Standpunkt aus urteilen
und weil gerade auf preußischer Seite die Quellen für diesen
Teil des Krieges nicht so reichlich sprudeln, wie für alle
andern Phasen des gewaltigen Ringens. Brodrück ^) wiederum,
dessen tüchtige Arbeit bis jetzt noch das meiste zur Auf-
hellung über Organisation, Führung und Leistung des Reichs-
heeres getan hat, rückt doch den Anteil des hessischen Kon-
tingents zu sehr in den Vordergrund. Die einschlägigen fran-
zösischen Arbeiten gehen aber fast alle darauf hinaus, die
Schuld an dem unglücklichen Ausgang des Feldzuges von
1757 von den eigenen Truppen möglichst abzuwälzen 2) und
der Reichsarmee und ihrer schlechten Führung in die Schuhe
zu schieben. Dem Bedürfnis, das somit nach einer unbe-
fangenen kritischen Untersuchung dieser verwickelten Ver-
*) Quellenstücke und Studien über den Feldzug der Reichs-
armee von 1757. Leipzig 1858.
«) Auch Waddington: La Guerre de Sept-Ans I, 621—637 ist
trotz allen Strebens nach Objektivität davon nicht freigeblieben.
128 Literaturbericht.
hältnisse immer noch bestand, hilft nun das oben bezeichnete
Buch von A. Brabant ab. Br. baut seine Arbeit au! Grund
der vorhandenen Druckliteratur und der Benutzung zahlreicher
alter und neuer Archivalien, hauptsächlich aus den bayerischen
Kreisarchiven auf. In einer trefflichen Einführung werden wir
mit den Grundlagen der bestehenden Reichsverfassung, den
ersten Ankündigungen des neuen Zwistes zwischen Osterreich
und Preußen und den parlamentarischen Vorverhandlungen
im Jahre 1756 vertraut gemacht. Dann lernen wir die Regens-
burger Beschlüsse selbst kennen, die nach vielem Hin und Her
am 19. Mai 1757 mit der kaiserlichen Ratifikation des Mobil-
machungsbeschlusses und der Ernennung Hildburghausens
zum Generalissimus endeten. Der EinfaU Mayrs ins Reich,
von dessen einschüchternder Wirkung sich Friedrich d. Gr.
so viel versprochen hatte, beschleunigte im Zusammenhange
mit der Niederlage von Kollin gerade die erst recht lässig betrie-
benen Rüstungen der Stände. Fürth wurde zum Sammelplatz
des Heeres bestimmt, aber es sollte der Anfang August
herankommen, ehe wenigstens der größere Teil der Aufgebote
beisammen war. Einzelne Kontingente, wie vor allem das
württembergische, blieben trotzdem noch aus. Und wie sah
es bei den gestellten Truppen aus! Wer die lebendige Schil-
derung Br.s von den Schwierigkeiten der Mobilmachung, des
Marsches und hauptsächlich der Verpflegung liest, der wird
von vornherein diesen Truppen keine großen kriegerischen
Leistungen zutrauen. Niemand sah darin klarer als der Oberst-
kommandierende selbst. Aus seinem Briefwechsel mit CoIIo-
redo, den Br. sehr ausgiebig heranzieht, blickt uns das ganze
Elend dieser Reichsarmee an. Es fehlte an allem und jedenu
Die Mannschaften waren großenteils gar nicht einexerziert, teils
zusammengelaufenes Gesindel, ohne Treu und Glauben (S. 157),
teils in den besseren Elementen überwiegend friderizianisch
gesinnt; der Kavallerie fehlten die Pferde; Artillerie war zu
wenig, Pontons waren gar nicht vorhanden. Kein Wunder,
wenn Hildburghausen in Wien eifrig um Zusendung einiger
kaiserlicher Regimenter bat, um dem Heere wenigstens etwas
Rückhalt zu geben, denn sonst glaubte er überhaupt nichts
unternehmen zu dürfen. Am 10. August schrieb er dem Vize-
kanzler nach Wien: «Wer die Beschaffenheit dieser Armee genau
18. Jahrhundert. 129
prüft, wird nur mit Zittern seine Ehre und seinen Ruf ihrem
Wohlverhalten anvertrauen" (S. 177). Wenn er trotz dieser
Oberzeugung und trotz seines sehr bald geäußerten Ent*
Schlusses, im nächsten Jahre das Kommando nicht wieder zu
übernehmen, den Oberbefehl nicht sofort niederlegte, so
dürfen wir die Erklärung dafür wohl in seinem Charakter
suchen. Er war eine jener in sich uneinigen Naturen, bei
denen Verstand und Phantasie in stetem Widerstreite liegen.
Trotz aller Einsicht in die Mängel seiner Armee hoffte er im
Innern doch wohl immer noch auf die Möglichkeit eines Er-
folges. Sein Eifer in der Organisierung des Heeres war un-
begrenzt, aber vielleicht fehlte er gerade dadurch am meisten,
daß er alles selbst tun wollte (s. S. 159). Immerhin wird man
nach Br.s Ausführungen nur noch mehr in der günstigeren
Auffassung seiner Persönlichkeit, wie sie schon das 0. St. W.^)
vertritt, bestärkt. Am 24. August begann der allgemeine Vor-
marsch nach Erfurt (S. 189) ; wohin schon einige der besten Regi-
menter vorausgeschickt waren; am 17. September erfolgte die
Vereinigung des ganzen Heeres mit der französischen Armee
unter Soubise bei Eisenach, weil Friedrich unterdessen Erfurt
bedrohte. Diese Vereinigung erhöhte aber nur die Schwierig-
keiten für Hildburghausen, da zu den Unzuträglichkeiten im
eigenen Lager nun auch noch leidige Rangfragen zwischen den
beiden Führern und ständige Reibereien zwischen den beider-
seitigen Mannschaften und Offizieren kamen. Ausführlich
werden wir dann von Br. über die Märsche und Gegen-
märsche der feindlichen Heere unterrichtet. Hierbei kam es
auch zu dem so oft in seiner Bedeutung übertriebenen Reiter-
stückchen von Seydlitz bei Gotha [(19. September), das Br.
ganz richtig nur als »Vorpostengefecht** charakterisiert. Das
Verhalten von Soubise, der mit glänzenden Umgangsformen
eine skrupellose Doppelzüngigkeit gegenüber Hildburghausen
verband, wird scharf beleuchtet, er selbst sehr hübsch als
«Rokokogeneral'' bezeichnet. Bei der Beurteilung der offiziellen
französischen Politik scheint uns allerdings Br. zu viel Finessen
herausklauben zu wollen. Eine „doppelpolige Politik'' in dem
Sinne, wie Br. will (S. 173), mit dem bewußten zweifachen
») Generalstabswerk 1903, Teil 111, Bd. 5, S. 30—34.
Hiitorische Zeitochrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 9
130 Literaturbericht.
Ziel der Niederwerfung Englands und der Aufrechterhaltung
des Gleichgewichts zwischen Österreich und Preußen wird
man bei unbefangener Prüfung der veröffentlichten Quellen
dem französischen Hofe nicht wohl nachsagen können. Eine
deutsche Politik dieser Richtung hatte man dort vor dem
Siebenjährigen Kriege verfolgt. Jetzt wollte man auch in
Versailles sicher ernstlich die Demütigung Preußens. Die
Kriegsführung 1757 war allerdings schwächlich, und sie mochte
darum schon den Zeitgenossen zweideutig erscheinen^), aber
sie findet eine hinreichende Erklärung in der von Anfang an
kundgegebenen Absicht, den Feldzug von 1757 nur als eine
Vorbereitung zu dem Hauptschlage, der Eroberung Magde-
burgs im folgenden Jahre, führen 2) und demgemäß die Truppen
jetzt keinen unnötigen Gefahren aussetzen zu wollen.^) Die
hochmütige Ablehnung der preußischen Friedensanträge durch
Ludwig XV. im Oktober*) bekundet aber dessen feindselige
Gesinnung gegen seinen ehemaligen Verbündeten. Und daß
man im rechten Augenblicke auch eine kriegerische Nieder-
werfung Preußens, die doch sein ferneres erfolgreiches Aus-
spielen gegen Österreich unmöglich gemacht hätte, nicht ver-
meiden wollte, geht schon aus dem lebhaften Wunsch hervor,
mit dem, nach Bernis doch gewiß einwandfreiem Zeugnis,
(bei Br. S. 195, 196) die Marquise de Pompadour kriegerische
Lorbeeren für ihren Schützling Soubise ersehnte. Ein weiterer
Beweis dafür sind die Angriffsgelüste, die in den letzten
Oktobertagen den französischen General selbst beseelten, nach-
dem er Verstärkungen von Richelieu empfangen hatte. ^)
Wenn vorübergehend die Mahnungen zur Vorsicht aus Ver-
sailles^) seinen Eifer wieder etwas dämpften, so schimmert
^) Stuhr, Forschungen und Erläuterungen über Hauptpunkte
der Geschichte des Siebenjähr. Krieges. Hamburg 1842. Bd. 1,
217/18.
«) Stuhr 1, 172-175. 179/80. 201. 215—216. R. Koser, König
Friedrich d. Gr. II, 128.
») Stuhr 1, 186. 357. Brief von Paulney an Soubise, Okt. 23.
*) R. Koser, König Friedrich d. Gr. 11, 125; vgl. auch ebenda
n, 39—44.
») Stuhr 1, 221.
•) Stuhr 1, 223.
18. Jahrhundert. 131
doch aus seinen weiteren Briefen deutlich genug die Neigung
zur Offensive durch, falls der König die Saale überschreite^),
und es will uns nicht scheinen, als ob er diese nur dazu lüge,
wie Br. meint. Seine Depesche kurz vor der Schlacht an
Ludwig XV.: «Bald sende ich Ihnen den König von Preußen''
(bei Br. S. 324) beweist erst recht, daß er, sobald der Moment
günstig schien, an eine Schonung des Königs nicht im ge-
ringsten dachte. — Die Schlacht selbst, ihre Entwicklung und
ihre Folgen schildert Br. recht anschaulich und mit Verwertung
reicherer Quellen als das G. St. W. Wir dürfen wohl dem
ehrlichen Hildburghausen glauben, daß Soubise vor allem zur
Last fällt, nur flüchtig rekognosziert zu haben und doch Hild-
burghausen in dem Wahn von dem Abzüge des Königs und
der Notwendigkeit einer Verfolgung bestärkt zu haben (Br.
S. 327, 328). Soubise war ihm nur im Lügen gar zu sehr über^
und seine Darstellung der Vorgänge hat leider allzulange das
Urteil über die Schlacht beeinflußt. — Sehr verdienstlich ist
auch die ausführliche, durch das ganze Buch gehende Dar-
stellung des Verhaltens von Plothos in Regensburg während
der beiden Jahre 1756 und 1757 und vor allem die eingehende
Schilderung der Reichsachtzustellung durch den Notar Dr. Aprill,
da hierdurch die Anzweiflung des Vorganges durch Thudichum ^)
endgültig entkräftet wird. — Alles in allem: das sehr an-
ziehend geschriebene Buch Br.s löst reiche Anregung aus
und verdient schon darum ernste Beachtung. Wir wollen
hoffen, daß uns der Vf. bald die Fortsetzung seiner Darstel-
lung schenken wird. Noch wäre zu wünschen, daß bei einer
2. Auflage verschiedene Druckfehler ausgemerzt werden und
daß der Vf. die Zeilen im Texte von 5 zu 5 abteilt, um die
Vergleichung seiner Zitate zu erleichtern.
Dresden. 0. A, Hecker.
>) Stuhr 1, 226 u. 230.
*) Der Achtsprozeß gegen Friedrich d. Gr. usw. 8. 160/61 in
der Tübinger Festgabe für Ihering. 1892. Vgl. auch Bitterauf,
Die kurbayerische Politik im Siebenjährigen Kriege (1901) S. 105
u. Anm. 122.
132 Literaturbericht.
Friedrichs des Großen Korrespondenz mit Ärzten, herausgegeben
von Mamlock. Stuttgart, Ferd. Enke. 1907. XII u. 168 S.
6 M.
Die vom VL mit Unterstüzung der Kgl. Akademie der
Wissenschaften zu Berlin veranstaltete Publikation bildet die Er-
gänzung zu seiner vor sechs Jahren erschienenen kleinen Schrift
„Friedrichs des Großen Beziehungen zur Medizin*". Behandelt
diese die Krankheiten des Königs, seine Kenntnis von medi-
zinischen Dingen, den Verkehr mit Ärzten, die Stellung zu
zeitgemäßen ärztlichen Fragen usw., so soll in der vorliegenden
Publikation ein Bild von Friedrichs Stellung zur Heilkunde in
seiner Eigenschaft als „Landesherr" gegeben werden. Außer
einer Reihe von Briefen, die in „Einleitung" und Anmerkungen
auszugsweise verwertet sind, werden 174 zum größten Teil
noch nicht veröffentlichte Schriftstücke aus den Staatsarchiven
in Berlin und Breslau, dem Hausarchiv in Charlottenburg
sowie der Generalregistratur der Kgl. Charit^ in Berlin mitgeteilt.
Sie sind verschiedener Art; teils betreffen sie Friedrichs
Person, seine Familie und seine Freunde, teils gehören sie
dem dienstlichen Verkehr mit den Verwaltungsbehörden und
den maßgebenden Persönlichkeiten an, teils handelt es sich
um Immediatgesuche und deren Beantwortung. In einer um-
fangreichen „Einleitung* gibt Mamlock einen erläuternden
Überblick über den wesentlichen Inhalt der Publikation. Da
kommt zunächst das Militärsanitätswesen in Frage; ferner
werden die Maßnahmen beleuchtet, welche die öffentliche
Hygiene erforderte, sowie die Fürsorge für das Charit6kranken-
haus. Endlich wird die Korrespondenz mit fremden Gelehrten,
im besonderen mit dem Abb6 Spallanzani, berührt; sie gibt
M. Anlaß, den damaligen Stand des biologischen Wissens und
in diesem Rahmen die persönlichen Ansichten des Königs
darzulegen. Friedrichs Interesse an den medizinischen Fragen
war zunächst durch praktische Rücksichten, wie die auf das
Heer, den Handel, die Landwirtschaft, bedingt; denn bei den
balneologischen Bestrebungen zur Hebung der schlesischen
Bäder kam vor allem der volkswirtschaftliche Gesichtspunkt
zur Geltung. So veranlaßten auch die Viehseuchen die Ent-
sendung von Ärzten zum Studium an die Tierarzneischule von
Lyon, da die Berliner erst 1790 gegründet wurde. Das Ein-
Napoleon. 133
greifen des Königs geschah auch keineswegs immer aus eigener
Initiative; vielmehr folgte er meist Anregungen, die von
anderer Seite an ihn herantraten, mochte es sich um die
Begründung der Hebammenschule am Charit^krankenhaus,
um das Studium von Mitteln gegen die Tollwut, um die
Impfung von Vieh gegen Seuchen handeln. Das gleiche war
auch, wie ich an anderer Stelle näher nachgewiesen habe (vgl.
Ärztliche Sachverständigen-Zeitung, Jahrg. 1908, Nr. 3), bei
Einführung der Pockenimpfung der Fall; denn M. irrt, wenn
er behauptet, daß der König zu diesem Zwecke englische
Ärzte berufen habe. Vielmehr hat Friedrich ihnen nur
erlaubt, Impfungen vorzunehmen, und darüber hinaus, wie
es aus den von M. selbst mitgeteilten Aktenstücken er-
hellt, im Jahre 1775 dem engüschen Arzt Dr. Baylies ein
«größeres Wirkungsfeld' dadurch eröffnet, daß er ihn beauf-
tragte, vor Ärzten aus der ganzen Monarchie einen Impfkursus
abzuhalten. Trotz dieser Einschränkung bleibt indessen die
rühmende Anerkennung zu Recht bestehen, die M. dem König
zollt, ,daß er, unabhängig von gewissen berechtigten Zweifeln
und Bedenken gegen die neue Methode, sofort erkannte, daß
sie für die Volkswohlfahrt von eminenter Bedeutung sei'*.
So will auch M. «im einzelnen dem damals Erstrebten und
Erreichten'' seine Anerkennung nicht versagen, obwohl das
meiste, was geleistet wurde, heute überholt sei. Ein aus-
führliches Personen- und Sachregister nebst einem Verzeichnis
der Briefe erleichtert wesentlich die Benutzung dieses Doku-
mentenbandes, der durch die von dem Vf. beigebrachte
erstaunliche Fülle von literarischen Nachweisen und bio-
graphischen Angaben über alle in den Urkunden erwähnten
Ärzte vornehmlich einen wertvollen Beitrag zur Geschichte
der Medizin im 18. Jahrhundert darstellt.
Charlottenburg. G, B, Volz.
The Cambridge Modern History, Planned by the Laie Lord Acton,
Edited by A. W. Ward, G. W. Protbero, Stanley
Leatbes. Vol. IX: Napoleon, Cambridge 1906. XXVIII
u. 946 S.
Der 9. Band der Cambridge Modern History zählt 16 Mit-
arbeiter, unter denen sich nur 1 1 Engländer befinden, während
134 Literaturbericht
die übrigen 5 sich auf Deutschland (Keim und PHugk-Hart-
tung), Frankreich (G. Pariset), Rußland (Stschepkin) und die
Schweiz (Guilland) verteilen. Ist die Freiheit von nationa-
listischen Gesichtspunkten, die sich schon in solcher Hinzu-
ziehung von Ausländern kundtut, stark anzuerkennen, so
muß zu Ehren der englischen Wissenschaft nach dem Urteil
des Ref. auch noch festgestellt werden, daß in diesem Bande
die Beiträge der Nichtengländer sich im allgemeinen keines-
wegs vor den übrigen auszeichnen. Eher das Gegenteil!
Und fast hätte man gewünscht, daß etwa einem Holland Rose,
wenn nicht der ganze Band, so doch weit größere Partien
anvertraut worden wären. Allein, das hätte freilich dem Grund-
gedanken des ganzen Unternehmens widersprochen, das sogar
auf Kosten der Einheitlichkeit der Auffassung und des Stils
für jeden kleinsten Abschnitt den speziellsten Fachmann sucht.
Die Arbeitsteilung geht in diesem Bande so weit, daß mehrere
Kapitel (II, XIV, XXllI), darunter eines von nur 21 Seiten,
auf je zwei Mitarbeiter verteilt worden sind, während freilich
auch einige Autoren mehrere Kapitel (Fisher sogar 3V2)
übernommen haben. Daß bei diesem System Widersprüche
fast unvermeidlich sind, wurde schon bei der Anzeige des
S.Bandes (Hist. Zeitschr. 96, 311 ff.) hervorgehoben. Aus
dem 9. nur zwei Beispiele! Während Stschepkin (S. 505) die
alte, nicht mehr haltbare Auffassung der Konvention von Tau-
roggen vorträgt, schließt sich Pflugk-Harttung wenige Seiten
später (S. 510/11) mit Recht Thimme an. S. 554 lesen wir,
daß der Zar und Friedrich Wilhelm III 1814 bei ihrem Ein-
zug vom Volke von Paris mit Rufen von ,vive le roi, vive
Louis XVIII 1^ empfangen worden seien; S. 555 (!) dagegen,
daß bei dieser Gelegenheit alles schwieg und nur an einer
Stelle 40 junge Edelleute ,viveni les Bourbons!' schrieen. In-
dessen ist anzuerkennen, daß in der Gesamtauffassung Napo-
leons eine weitgehende Übereinstimmung herrscht. Auch das
in jener Anzeige über die Bibliographien Gesagte gilt für den
vorliegenden Band: so dankenswert sie sind, enthalten sie
doch bedauerliche und zum Teil auffallende Lücken. Nur
wenige wichtigere Beispiele seien erlaubt : Kap. V. G. Pariset
vergißt die Arbeit seines Namensvetters E. Pariset, Histoire
de la Fabrique Lyonnaise, VII. Es fehlt für die Geschichte
Napoleon. 135
der Protestanten unter Napoleon der grundlegende Vortrag
von Lucius. IX, X. Es fehlt Bitterauf, Rheinbund I. XI. Es
fehlt Driault, La Politique Orientale de Napolion, XIV. Es
fehlt Madelin, La Rome de Napolion; Darmstädter, Großher-
zogtum Frankfurt. XVI. Es fehlen die Denkwürdigkeiten des
Markgrafen Wilhelm von Baden; zum Brande von Moskau
die nützliche Greif swalder Dissertation von Schmidt; zu Tau-
roggen die Arbeiten Thimmes (vgl. oben) usw.
Es mögen nun knappe Inhaltsangaben der einzelnen Kapitel
nebst gelegentlichen kritischen Bemerkungen, die sich aber
nicht auf Einzelheiten erstrecken sollen, folgen. I und V.
G. Parisets Darstellung der Einrichtungen des ersten Konsuls
und der inneren Geschichte des Kaiserreichs ist praktisch
und gut. Immerhin hätte schärfer zwischen den früheren und
späteren Zeiten geschieden und hervorgehoben werden können,
daß die Regierung des neuen Herrn in den ersten Jahren
eine weit fleißigere, durchdachtere und wohltätigere war als
später. Fast möchte man gelegentlich von einem gewissen
Idealismus des ersten Konsuls reden! Hatte er doch sogar
hier und da Stimmungen, in denen er an Dezentralisation und
Erweckung lokalen Lebes dachte! II. Walker und Wilson
schildern „die bewaffnete Neutralität 1780—1801*, also mit
zunächst überraschendem, aber wohlbegründetem Zurückgreifen
auf die Zeiten der zweiten Katharina. Ihre Darlegungen regen
wohl mehr, als ihnen selbst bewußt ist, zu Vergleichen mit
der modernen, von Rußland ausgehenden Friedensbewegung
an. Im III. Kapitel behandelt Guilland die Friedensschlüsse
von Lun6ville und Amiens, während er im folgenden (Frank-
reich und seine Vasallenstaaten) den Wiederausbruch des
welthistorischen Zweikampfes gut und geschickt erzählt. Mit
seiner Darstellung des Bruches des Friedens von Amiens
i. e. 8. scheint er uns den Nagel auf den Kopf zu treffen:
Napoleon will den Frieden, glaubt aber irrtümlicherweise ihn
durch seine brutalen Beleidigungen und Einschüchterungen
des englischen Volkes aufrecht erhalten zu können, während
gerade diese den Ausbruch des Krieges herbeiführen oder
zum mindesten beschleunigen. VI. Fishers Darstellung der
Codes Napoleons ist tüchtig und sehr anziehend geschrieben.
Treffend bemerkt er gegen Savigny, der bekanntlich meinte.
136 Literaturbericht.
der Moment der Herstellung des Code Civil sei ein ungün-
stiger gewesen, daß dieser Moment — wenn auch vielleicht
gesetzgebungstechnisch kein glücklicher — in Wirklichkeit
unvergleichlich günstig gewesen ist : wenige Jahre früher ver-
faßt hätte der Code den Stempel der revolutionären Extra-
vaganz, wenige Jahre später den des kaiserlichen Despotismus
getragen. Nicht so anschaulich und auch stilistisch weniger
erfreulich ist das VII. Kapitel, betitelt „Die Konkordate*, von
Wickham-Legg. Doch schöpft auch dieser Autor aus reichster
Kenntnis und seine Bemerkungen über die Fehler der Politik
Pius' VII. (S. 207) zeugen von treffendstem Urteil. Unbefrie-
digend ist die Darstellung der Verhältnisse der Protestanten
(vgl. oben über die Bibliographie). Frisch, wie in seinen Bei-
trägen zum 8. Bande, behandelt der schon erwähnte Wilson
im VIII. Kapitel die , Seeherrschaft 1803—1815«. Er wird der
Schwierigkeit, sehr komplizierte Vorgänge (s. z. B. die Er-
zählung der Schlacht von Trafalgar, in der, wie gebührlich,
ein leises Pathos durchbricht) zusammenzufassen, mühelos
— vielleicht allzu mühelos! — Herr. Seinen Schlußsatz: »Tra-
falgar war die wirklich entscheidende Schlacht der napoleoni-
schen Kriege* hat wohl fast jeder Historiker schon gedacht.
Indessen ist er noch tiefer zu begründen, als es hier geschieht.
Es mag noch erwähnt werden, daß Wilson mit Recht darauf
aufmerksam macht, daß selbst nach einer gelungenen Landung
in England ein französisches Korps in mehr oder weniger fataler
Lage gewesen wäre. Im IX. und X. Kapitel erzählt der Oberst
Lloyd mit zurückhaltendem Urteil den dritten Koalitionskrieg.
Das XI. Kapitel („Napoleons Kaisertum auf seiner Höhe 1807
bis 1809«) und das XUI. (,Das Kontinentalsystem 1809—1814«)
verdanken wir Holland Rose. Die Hand des Meisters zeigt
sich hier (XI) u. a. in der Darlegung des allmählichen Reifens
von Napoleons spanischen Plänen, in drei Schritten. Auf
einer scharfsinnigen Studie (Transaciions XX) beruhen die
Bemerkungen über die Entstehung des englischen Unter-
nehmens gegen Dänemark 1807. Weniger vollständig wird
die Befriedigung des deutschen Historikers wohl bei der
Schilderung der preußischen Reformen sein; Rose scheint
den Anteil Friedrich Wilhelms 111. stark zu überschätzen.
Dagegen leitet n. u. A. den Engländer sein gesundes politisches
Napoleon. 137
Urteil, wenn er empfindet, daß die Städteordnung „im schärf-
sten Gegensatz** zu den einschlägigen französischen Gesetzen
von 1789 und 1790 steht (trotz den Entlehnungen im einzelnen,
die Lehmann nachgewiesen hat). Geistreich und im besten
Sinne anregend ist (XIII) die paradoxe Bezeichnung Napoleons
als «obersten Ideologen^ des Zeitalters, wegen seines Glaubens
an die Wirksamkeit seines Kontinentalsystems. Nicht ohne
militärische Kritik Napoleons schildert Keim (XII) knapp und
brauchbar den Feldzug von 1809. Auch das XIV. Kapitel (Die
abhängigen Reiche und die Schweiz), in das Fisher und
Guilland sich teilen, ist zu loben. Doch fällt in ihm u. a.
das Urteil auf, daß das Königreich Westfalen einen ziemlichen
Grad von Konsistenz gehabt habe. Der Ausgang hat doch
das Gegenteil bewiesen. Der erste Beitrag Omans (XV. Der
spanische Krieg 1808—1814) ist im Rahmen des Ganzen zu
breit und enthält, bei reichster Sachkenntnis des Vf., eine zu
große Fülle von Einzelheiten. Wenig befriedigend ist der
Abschnitt, den Stschepkin beigesteuert hat (XVI. Rußland
unter Alexander I. und die Invasion von 1812). Pflugk-Hart-
tung hat die Freiheitskriege übernommen (XVII). Er schließt
sich denjenigen an, die eine Abnahme der Leistungen Napoleons
annehmen. Bei aller Anerkennung seiner Sachkenntnis wünschte
man manches anders. So erwähnt er nicht die Gefahr für
Preußen, daß ein russisches Obergewicht an die Stelle des
französischen trete; schwach ist auch die freilich schwierige
Darstellung der österreichischen Politik im Frühjahr 1813 und
der Verhandlungen während des Waffenstillstandes. Die erste
Restauration wird von Fisher (XVllI) mit gewohnter Leben-
digkeit und vernünftigem Urteil geschildert. Er hebt mit
Recht sehr stark die unermeßlichen Schwierigkeiten hervor
(S. 566 und 575), welche den Bourbonen entgegenstanden.
«Selbst eine Regierung von Engeln und Weisen hätte sich
Feinde gemacht und Hoffnungen enttäuscht." Den Wiener
Kongreß schildert der eine der Herausgeber, Ward, in zwei
Kapiteln (XIX und XXI), die durch ein solches über die
100 Tage (XX, von Oman, vorzüglich, doch gelegentlich
etwas einseitig englische Auffassung) unliebsam getrennt sind.
Wie zu erwarten, zeigt er sich durchaus auf der Höhe seiner
überaus schwierigen Aufgabe; nur verliert er sich vielleicht
138 Literaturbericht.
hier und da zu sehr in Einzelheiten. Der deutsche Leser
vermißt femer die Feststellung, daß das Ausland eine große
Abneigung gegen ein starkes Deutschland hegte. Fast ver-
wirrend durch zu viele Einzelheiten (über die Ref. übrigens
nicht immer in der Lage ist, zu urteilen) ist das XXH. Kapitel
von Gooch, betitelt ^^Großbritannien und Irland in den Jahren
1792 — ISlb". Das folgende muß dagegen wieder als ganz
hervorragend bezeichnet werden. Es handelt von dem briti-
schen Weltreich 1783—1815 und hat zu Verfassern Hutton
(für Indien und Ceylon) und Egerton (für die Kolonien), den
seit wenigen Jahren amtierenden Professor der Kolonial-
geschichte, durch dessen Ernennung die Universität Oxford
vorzügliches Urteil bewiesen hat. Bei der Schilderung der
englischen Verwaltung in Indien empfängt man einen bedeu-
tenden Eindruck von den Bemühungen um die Ausscheidung
jedes Restes von unreinlicher Regierungspraxis, wie überhaupt
von dem Läuterungsprozeß, den die englische Aristokratie
damals nach der Verderbtheit des 18. Jahrhunderts durch-
machte. Hier, also wohl in den Zeiten der französischen
Revolution, nicht aber in der Revolution mit ihren bestech-
lichen und plündernden Diplomaten und Offizieren, liegt
eine Hauptwurzel der Gesundung der öffentlichen Moral im
19. Jahrhundert. (Eine andere Wurzel ist in Preußen zu
suchen.) Aus dem Abschnitt über die Kolonien heben wir
den Nachweis hervor, daß die englischen Staatsmänner (aber
doch wohl mehr im Gegensatz zur öffentlichen Meinung, als
Egerton zugibt) in bezug auf den Besitz von Kolonien ver-
hältnismäßig gleichgültig waren. Er zitiert den überklugen
Satz Castlereaghs, daß es nicht im Interesse Englands sei,
Frankreich zu einer rein militärischen statt einer handel-
treibenden Nation zu machen. Den Schluß des Bandes
(Kap. XXIV, S. Helena) bilden sympathische Seiten Fishers,
dem auch das zusammenfassende Urteil über Napoleons histo-
rische Bedeutung überlassen wurde. Dieses ist, wie der vor-
liegende Band im ganzen, ausgezeichnet durch Sachkenntnis,
Vernünftigkeit, Klarheit und Gerechtigkeit.
Hamburg. Adalbert Wahl.
Napoleon. 139
Wanderungen auf dem Jenaer Schlachtfelde. Von Hauptmann
V. Taysen (Jena). Jena, G. Fischer. 1906. 87 S.
Alle älteren Darstellungen und Kritiken der Jenaer Schlacht
gehen von der Bedeutung des Landgrafenberges aus und be-
trachten die frühzeitige Aufgabe desselben als eine Haupt-
ursache der Niederlage. Erst Kolmar von der Goltz hat
1882 diese Ansicht erschüttert, indem er zeigte, daß der Land-
grafenberg dem preußischen Heere weder zum Angriff noch zur
Verteidigung eine günstige Stellung bot. Durch vielfache
Wanderungen auf dem Schlachtfelde, durch genaue Unter-
suchungen über die damalige Beschaffenheit der Wege, die
Bepflanzung und die Wasserverhältnisse des Bodens kommt
Taysen zu der gleichen Anschauung und meint, daß es hohe
Zeit sei, „mit der 100 Jahre alten Legende von der Bedeutung
des Landgrafen aufzuräumen^.
Indessen zeigen gerade seine Versuche mit Flaggen-Auf-
stellungen und seine Erkundung, daß der nordwestlich vom
Landgrafenberg gelegene Landrücken, die Schnecke, damals
auf seiner Hochfläche ganz kahl war, wie große Bedeutung
der Blick von der Höhe des Landgrafenberges für Napoleon
hatte. Er übersah von dort aus die Lage des preußischen
Heeres noch weiter und vollständiger, als man bisher an-
genommen hatte. Dieser Umstand fällt um so mehr ins Gewicht,
da man auf der preußischen Seite infolge mangelhafter Auf-
klärung von der Stärke und den Absichten des Gegners eine
durchaus unrichtige Vorstellung hatte.
Im übrigen gehen des Vf. und Goltzes Ansichten über den
Gang der Schlacht weit auseinander. Nach des letzteren
Darstellung haben „erst 8000, dann 5000, dann 20000, dann
12 — 15000 Mann je eine kleine abgeschlossene Schlacht für
sich geschlagen, ohne Zusammenhang, unter Ausführung ein-
zelner ruhmvoller, aber nutzloser Bravourstücke*. Lettow-
Vorbeck in seinem 1891 erschienenen Werke spricht sogar
von der „elenden Führung*, die dem Kaiser gestattete, „in
sechs verschiedenen Einzelkämpfen jedesmal einen Teil seines
Gegners mit erheblicher Übermacht zu schlagen*. T. dagegen
wUl nur Tauentziens Vorgehen als „Einzelkampf* gelten
lassen, wie ihn gegebenenfalls jede Avantgarde oder Arriere-
garde fechten muß; nutzlos sei derselbe keinenfalls gewesen.
140 Literaturbericht.
nur hätte er früher abgebrochen werden müssen. Die Kämpfe
des preußischen Zentrums, des rechten und des linken Flügels
bezeichnet er als „ein wohlkombiniertes Manöver^.
Trotz der Lebhaftigkeit und Frische, mit welcher er diese
Ansicht vorträgt, wirkt sie nicht überzeugend, der Eindruck
bleibt bestehen, daß es an einheitlicher Leitung fehlte und
daß die Bewegungen der einzelnen Heeresteile nicht ineinander
eingriffen.
Berlin. Paul Goldschmidt,
Der Polenaufstand 1806/07. Urkunden und Aktenstücke aus der
Zeit zwischen Jena und Tilsit. Von Dr. Kurt Schottmfiller.
(Sonderveröffentlichungen der Histor. Gesellschaft für die
Provinz Posen.) Posen 1907. 80 S. Text und 203 S. Ur-
kunden.
Der jetzt in der preußischen Polenpolitik herrschende
kräftige Zug lenkt den Blick rückwärts auf die Beziehungen,
die sich früher in der Zeit nach der preußischen Besitz-
ergreifung zwischen der Regierung und den Polen entwickelt
haben. Unter den verschiedenen von diesen Verhältnissen
handelnden Schriften können die von Schottmüller aus dem
Staatsarchiv in Posen und aus dem Geheimen Staatsarchiv in
Berlin herausgegebenen Verfügungen, Berichte, Briefe und
Denkschriften ein besonderes Interesse beanspruchen. Sie
werden eingeleitet zunächst durch eine übersichtliche Dar-
stellung der polnischen Umtriebe in dem Jahrzehnt vor 1806
und ihre Begünstigung durch die 1797 von Bonaparte in
Italien gebildete polnische Legion unter dem General Dom-
browski. Dieser wird im Herbst 1806 von Napoleon nach
Berlin berufen, er leitet den Aufstand zuerst in Posen, dann
auch in den Bezirken von Kaiisch und Warschau. An die
Darstellung des Aufstandes knüpft sich eine eingehende Be-
sprechung der am Hofe des preußischen Königs stattfindenden
Erörterungen über die Möglichkeit einer Gegeninsurrektion und
vor allem darüber, wie künftig nach der zu hoffenden Wieder-
eroberung das polnische Land regiert werden soll. Zwei
Richtungen stehen sich schroff gegenüber: die milde, auf
Versöhnung zielende Ansicht des Fürsten Radziwill und die
straffere Politik des aus Posen geflüchteten Kammerdirektors
Napoleon. 141
Grüner, der dem Deutschtum eine feste, ausschlaggebende
Stellung sichern will. Hardenberg, zum Gutachten über beide
Denkschriften aufgefordert, entscheidet sich für die Ansicht
Radziwills und führt sie noch weiter aus. Dieser Kampf der
Meinungen zeigt bereits deutlich den Gegensatz, der nachher
zu so großen Schwankungen in dem Verhalten der preußischen
Regierung geführt hat. Nach Radziwills Vorschlägen ist 1815
von Hardenberg das Großherzogtum Posen eingerichtet worden,
Gruners Geist aber durchweht Grolmanns Denkschrift von
1832; noch deutlicher tritt er hervor in Flottwells berühmter
Denkschrift von 1841, mit welcher er auf seine zehnjährige
Verwaltung der Provinz zurückblickt; ebenso läßt er sich in
Bismarcks Auftreten erkennen, als dieser 1872 die Zügel
wieder fester anzieht. Durch Sch.s dankenswerte Veröffent-
lichung wird es möglich, diese Anschauungen bis in die Zeit
ihres Entstehens zu verfolgen.
Berlin. Paul Goldschmidt,
1815. Die Hundert Tage, von Elba bis Helena. (Geschichte der
Freiheitskriege 1812—1815. Bd. 4.) Von Stabsarzt a. D.
Dr. W. Zelle, Kreisarzt. Leipzig, R. Sattler. 679 S.
Mit flammender Begeisterung für Napoleon, der „die
Schwärmerei des Knaben, das Ideal des Jünglings'* gewesen,
sucht der Vf. ihm den Dank „für die Erhellung mancher
dunklen Lebensstunde* abzustatten. Rückhaltlos bewundert er
seinen Helden, nicht nur als Feldherrn und Staatsmann,
sondern auch in seinen menschlichen Eigenschaften. Er will
„im Gegensatz zu den neuesten von Fachmilitärs heraus-
gegebenen Einzelwerken* nachweisen, „daß nicht Napoleon
der Geschichtsfälscher von Ligny und Waterloo ist*, wie
Charras behauptet hat, „sondern daß der Imperator allein die
Wahrheit gesagt hat und daß wirklich Grouchy, Ney und
Erlon die einzig Schuldigen bei der großen Katastrophe ge-
wesen sind*. Indessen über Charras ist die Geschichts-
forschung längst fortgeschritten, und gerade der neueste
wissenschaftliche Bearbeiter des Feldzuges von 1815, der kürz-
lich verstorbene General v. Lettow-Vorbeck, urteilt über die
von Ney, Erlon und namentlich von Grouchy begangenen
Fehler ebenso scharf wie der Vf. Trotzdem ist dieser auf
1 42 Literaturbericht.
Lettow-Vorbeck schlecht zu sprechen und schmäht ihn mehr-
mals ohne ersichtlichen Grund. So sagt er S. 367 bei Gelegen-
heit eines an Grouchy erteilten Befehls, den dieser später ab-
zuleugnen versucht hat: »Herrn v. Lettow und den meisten
Historikern ist alles dies nicht bekannt**, während auf S. 380
und 381 des Lettow-Vorbeckschen Werkes die Nichtbefolgung
und spätere Verleugnung dieses Befehls ausführlich besprochen
und ernstlich getadelt wird.
Sicherlich ist Napoleon in diesem Feldzuge von seinen
Unterbefehlshabern schlechter unterstützt worden als früher;
zu seinem Unglück hat er die besten von denen, die ihm
noch zur Verfügung standen, nicht mit einem größeren Kom-
mando betrauen wollen und sie deshalb an falscher Stelle
verwendet. Namentlich paßte Soult, der an Bureaugeschäfte
gar nicht gewöhnt war, durchaus nicht zum Chef des Stabes.
Die Ausfertigung der Befehle ist daher meistens unklar, oft
widersprechen sie einander. Neys Zögern, Erlons unnützes
Hin- und Hermarschieren ist zum großen Teil durch die Un-
bestimmtheit dieser sich kreuzenden Befehle verschuldet
Der Vf. ist allzu geneigt, die Wirkung solcher Fehler zu
überschätzen, sie als die alleinige Ursache von Napoleons
Niederlage zu betrachten. Er übersieht dabei, daß ähnliche
Fehler und Mißverständnisse auch auf der Gegenseite vor-
gekommen und seinem Helden von Nutzen gewesen sind.
Die Darstellung ist oft dramatisch zugespitzt; durch ihre
Wärme, durch dichterischen Schwung und Anschaulichkeit ist
sie wohl geeignet, Laien zu fesseln und anzuregen, doch wäre
besserer Druck und größere Sorgfalt im einzelnen zu wünschen.
Beispielsweise heißt der zur Zeit des Wiener Kongresses
regierende österreichische Kaiser nicht Franz Josef, unter den
verhaßten „droits räunis' sind die indirekten Steuern zu ver-
stehen, nicht aber, wie S. 99 gesagt wird: „vereinbarte Rechte*.
Berlin. Faul GoldschmidL
Saint-Simon und die ökonomische Geschichtstheorie. Ein Beitrag
zu einer Dogmengeschichte des historischen Materialismus.
Von Friedrich Muckle. Jena, G. Fischer. 1906. 45 S.
Die vorliegende Doktordissertation gibt sich als Vorläufer
eines größeren Werkes über , Saint-Simon, sein Leben und
19. Jahrhundert. 143
seine Lehre*, das, als im Manuskript vollendet, demnächst vor
das Publikum treten soll.^) Vorläufig will der Vf. einen Punkt
herausheben und einer besonderen Beleuchtung unterwerfen,
nämlich die Stellung, welche Saint-Simon zu der später von
Karl Marx zur Vollendung gebrachten sog. materialistischen
Geschichtsauffassung einnimmt. Dabei gibt Muckle zu, daß
der Franzose eigentlich einen dualistischen Standpunkt ver-
tritt. V Neben der ökonomischen Geschichtsauffassung, dem
Thema der vorliegenden Studie, findet sich in seinen zahl-
reichen Schriften noch eine ideologische Geschichtsbetrachtung
vor.* Näheres hierüber erfährt der Leser aber nicht, das soll
offenbar dem späteren ausführlicheren Schriftwerke vorbehalten
bleiben. Gleiches gilt von dem Verhältnis Saint-Simons zu
seinem ehemaligen Jünger und Sekretär Auguste Comte, über
welches der Vf. zu überraschenden Ergebnissen gelangt sein
will. Er behauptet (Anm. 3, S. 4): „Man kann ohne Über-
treibung sagen: alle leitenden soziologischen Ideen Comtes
. . . sind durchgängig von Saint-Simon übernommen, dem die
Nachwelt keineswegs das ihm gebührende Denkmal errichtet
hat.* Das ist richtig, aber nicht eigentlich neu. Immerhin
wird man auf den späteren Nachweis gespannt sein dürfen.
In der vorliegenden Studie will der Vf., der seinen Aus-
gangspunkt bei Marx, dem „großen Soziologen*, genommen
hat, es bloß mit der materialistischen Seite der Geschichts-
philosophie zu tun haben, die ideologische Seite soll außer
Betracht bleiben. Ob es glücklich war, eine derartige Trennung
vorzunehmen, wollen wir bis zum Erscheinen der Haupt-
schrift dahingestellt sein lassen. Schon jetzt sei übrigens
bemerkt, daß der Unterschied der Lehre des Klassenkampfes
bei Marx einerseits, bei Saint-Simon anderseits nicht scharf
genug hervortritt, um verstehen zu lassen, wie es kam, daß
der eine daraus die Idee des sozialen Königtums, der andere
diejenige der sozialen Revolution ableitete. Hätte übrigens in
letzterer Hinsicht nicht Babeuf der Betrachtung näher ge-
standen als der Urheber der ^Religion saint-simonienne' f
Bern. August Oncken.
") Mittlerweile erschienen.
144 Literaturbericht.
Die Einwohnerschaft der Stadt Durlach im 18. Jahrhundert, in
ihren wirtschaftlichen und kulturgeschichtlichen Verhält-
nissen dargestellt aus ihren Stammtafeln. Von Otto Konrad
Roller. Karlsruhe, Braun. 1907. XXII u. 424 S. Text nebst
272 S. Tabellen.
Die umfangreiche Arbeit wird durch ihre eigenartige
Methode, die Aufstellung von Stammtafeln aus den Kirchen-
büchern und durch ihre Ergebnisse vor allem den Bevölke-
rungsstatistiker interessieren. Für den Wirtschafts- und Sozial-
historiker kommen die Abschnitte über die Berufsarten und
die Stände in Betracht, die z. B. Beiträge zur Geschichte des
Handwerks und des Verfalls der Zunftverfassung im 18. Jahr-
hundert liefern. Von Bedeutung scheint mir die Beobachtung
des Verfassers zu sein, daß während oder vielleicht gerade
weil der Unterschied zwischen Adel und Bürgertum so überaus
scharf hervortrat, die soziale Differenzierung innerhalb des
Bürgertums im 18. Jahrhundert in der badischen Markgraf-
schaft noch wenig vorgeschritten war. So war es, wie der
Vf. zeigt, durchaus nicht ungewöhnlich, daß Söhne von
Pfarrern, Ärzten oder fürstlichen Räten Handwerker oder
Kammerdiener wurden und Töchter von akademisch gebildeten
Männern oder bürgerlichen Offizieren in adeligen Häusern als
Dienstboten eintraten und sich mit Handwerkern oder Be-
dienten verheirateten. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts
tritt dann eine schärfere Differenzierung ein zwischen den
akademisch Gebildeten, den höheren Beamten und Offizieren
einerseits und den Handwerkern anderseits. Von Interesse
sind auch die Ausführungen des Vf. über die Anfänge
des Fabrikarbeitertums und über die Durlacher Wohnungs-
verhältnisse. Es ist sehr merkwürdig, daß der Boden zwar
nicht so stark ausgenutzt war wie heute, daß aber auf den
bewohnbaren Raum 1766 und 1800 in Durlach mehr Personen
kamen, als heute in irgendeiner badischen Stadt. Auffallend
ist auch die außerordentlich große Beweglichkeit der Be-
völkerung im 18. Jahrhundert, trotz seiner mangelhaften Ver-
kehrsmittel. Allerdings ist es sehr zweifelhaft, inwieweit man
die durch das Quellenmaterial einer Stadt gewonnenen Ergeb-
nisse verallgemeinern darf, und gerade die Verhältnisse der
Durlacher Bevölkerung, die in ihrer sozialen und Wirtschaft-
Deutsche Landschaften. 145
liehen Struktur durch die 1715 erfolgte Gründung von Karls-
ruhe in allernächster Nachbarschaft außerordentlich stark
beeinflußt wurde, können kaum als typisch angesehen werden.
Es versteht sich von selbst, daß die Arbeit für den Lokal-
historiker die reichste Ausbeute liefert.
Göttingen. Paul Darmstaedter.
Die Entwickelung der direkten Besteuerung in der Reichsstadt
Frankfurt bis zur Revolution 1612— -1614. Von Dr. Friedrich
Bothe. (Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen,
herausgegeben von Schmoller und Sering. Band 36,
Heft 2.) Leipzig, Duncker « Humblot. 1906. XLllI, 304 u.
215 S.
Vorliegende Arbeit Bothes soll, wie schon bei Besprechung
seiner „Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der
Reichsstadt Frankfurt*^ erwähnt ist, mit dieser die Unterlage
für eine Schilderung des Frankfurter Fettmilchaufstandes
schaffen. Danach ist die harte Besteuerung der wichtigste
Anlaß zum Ausbruch des Aufstandes gewesen. Gewonnen
wird dies Resultat aus einer äußerst mühevollen und gewissen-
haften Durchforschung und Verarbeitung der seit 1320 vor-
liegenden Bedebücher und der für die rechte Beurteilung der
darin verzeichneten Steuerleistungen maßgebenden, seit 1354
zahlreich erhaltenen Bedeordnungen. Indem der Vf. im Zu-
sammenhange mit der daraus sich ergebenden Steuergeschichte
der Stadt unter Heranziehung weiteren Quellenmaterials die
Entwickelung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bis
zum Ausbruche des großen Krieges verfolgt, erhält sein Buch
eine über die Beantwortung der Frage weit hinausgehende Be-
deutung. Sie wird erhöht durch die fast die^Hälfte des Bucli-
umfanges ausfüllenden Quellenbeilagen, die uns nicht nur in
den Stand setzen, die Ausführungen des Vf. in manchen
Punkten nachzuprüfen, sondern auch ein reiches, vom Vf.
zum Teil selbst noch nicht verarbeitetes, für den Historiker
und Nationalökonomen wichtiges Material darbieten. Bei der
großen Fülle des Gebotenen wird sich begreiflicherweise zu
manchen Aufstellungen des Vf. ein Fragezeichen machen
lassen. In der Beurteilung der Steuerpolitik des Rates ist,
Hittorische Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 10
1 46 Literaturbericht.
glaube ich, der Vf. demselben nicht immer gerecht ge-
worden. Hat der Rat auch die Armut scharf angefaßt, weil
er sie möglichst von der Stadt ferngehalten zu sehen wünschte,
hat er auch in der späteren Zeit selbstsüchtige Interessen-
politik getrieben, lange Zeit hindurch läßt sich doch eine, wenn
auch nicht gleichmäßig geübte, gerade die Existenz des
kleinen Bürgers fördernde Politik nicht verkennen. Wenn
eine Reihe von Steuerordnungen für jeden vollständigen Haus-
halt ein Pferd und eine Kuh, den Jahresbedarf der Familie
an aufgestapeltem Getreide und vorhandenem Wein, den
Jahresbedarf an aufgestapeltem Brennholz, den Jahresbedarf an
vorrätigem Hafer, Heu und Stroh für das nicht zum Zwecke
des Verkaufs gehaltene Vieh etc. oder bald das eine bald das
andere davon für steuerfrei erklären, so spricht das für
eine weise Mittelstandspolitik des Rates. Vf. führt diese
Steuerbefreiungen auf „die Notwendigkeit der steten Kriegs-
bereitschaft*' zurück, wenn er es auch als „ursprüngliche Ab-
sicht^ gelten läßt, an jedem die „Notdurft* unversteuert zu
lassen. Daher rührt wohl auch seine Erklärung der Bestimmung
der Steuerordnung von 1495, daß steuerfrei bleiben soll „weisz
(Weizen), Kornn, so die Bürger by sich legenn, das der ge-
meinschafft zu der Nottorfft zügebruchen gehalten wird'': sie
waren der Besteuerung entzogen, „falls sie im Interesse der
Gesamtheit aufgeschüttet worden waren** (S. 70). Wie hätte
das wohl entschieden werden sollen? In Anbetracht der
analogen Bestimmungen anderer Steuerordnungen kann ich
hier nur an die Steuerbefreiung des Weizens und Kornes
denken, soweit sie zum Gebrauch der Hausgemeinschaft —
Familie und Gesinde — bestimmt waren. Vf. vermutet aber
eine Rücksichtnahme auf Kriegsbedürfnisse selbst da, wo es
sich wie in der JSteuerordnung von 1354 — und später öfters
— um die Freilassung zweier Trinkgefäße jedes Haushalts
von der Steuer handelt. Man habe dabei die Absicht ver-
folgt, „möglichst viel thesauriertes Silber trotz seiner Ertrag-
losigkeit in der Stadt vorrätig zu halten für den Notfall, wenn
ein Krieg große Kosten verursachte** (S. 37/38). Ob man
solchen Zweck wirklich hätte mit dieser Steuerbefreiung er-
reichen können und ob man wirklich von dem kleinen Bürger
in der Kriegsnot die zu seinem täglichen Gebrauch dienenden
Deutsche Landschaften. 147
Becher abgefordert hätte? Vf. muß selbst gestehen, daß man
in einem solchen Fall im Jahre 1547 „besonders das Tafel-
silber der Patrizier und die Geräte der Geistlichkeit* in An-
spruch nahm. Auch ein Charakteristikum «für eine trunkfrohe
und schönheitsdurstige Zeit* kann ich in diesem Seuerpassus
mit dem Vf. nicht erblicken. Wein bildete einmal in den
weinbautreibenden Gebieten das übliche Tischgetränk, das
auch dem Gesinde nicht vorenthalten wurde — die Bede-
ordnung von 1372 läßt auch den vorhandenen Wein steuerfrei,
den jemand bis zum Michaelstage „mit sime gesinde ge-
drincken mag* (Beilage S. 6); aus der Steuerbefreiung der
dazu nötigen Trinkgefäße auf eine trunkfrohe Zeit und aus
dem Material dieser Familienbecher — Silber — gleich auf
eine schönheitsdurstige Zeit zu schließen, geht doch etwas
zu weit. Auch hier handelt es sich lediglich um die Frei-
lassung der „Notdurft* des Bürgers von der Steuer. Auf
irriger Anschauung beruht es auch, wenn (S. 230) die Forde-
rung der Zimmerleute im Jahre 1425, zu jeder Mahlzeit, drei-
mal täglich, V2 Maß Wein zu erhalten, als Beweis für die
damals in Frankfurt herrschende Völlerei, „namentlich dem
Bacchus wurden Hekatomben geopfert*, angeführt wird. Es
handelt sich doch hierbei um keine Trinkgelage, sondern um
das zu den Mahlzeiten übliche Getränk, das als einfacher Land-
wein weder kostspielig — für Mittagessen und Vesper ein-
schließlich Wein wird in der Lohnforderung l Schilling in
Ansatz gebracht (Beilage S. 153, no. 3 f.) — noch berauschend
gewesen sein dürfte. Doch genug von Einzelheiten, die
den Wert des Ganzen nicht in Frage stellen. Erwähnung
möge noch der Exkurs (XXXIIl— XLIII) finden, in dem Vf.
Stellung zu der Frage nach dem Ursprünge der großen Ver-
mögen im Mittelalter nimmt. Gegenüber Strieders auf die
Untersuchung der Augsburger Verhältnisse basierenden Be-
hauptungen betont der Vf. mit Recht, daß — mindestens in
Frankfurt — neben dem Gewerbe und dem Kleinhandel der
Grundbesitz eine wichtige Quelle für den Kapitalismus und
den Großhandel gewesen ist.
Breslau. Kolmar Schaube.
10«
148 Literaturbericht.
Aus dem geistigen Leben und Schaffen in Westfalen. Festschrift
zur Eröffnung des Neubaues der Kgl. Universitätsbibliothek
in Münster (Westf.) am 3. November 1906. Herausgegeben
von den Beamten der Bibliothek. Münster (Westf.), Coppen-
rath. 1906. V u. 314 S. nebst 4 Abbildungen und 2 Plan-
zeichnungen.
Die Herren Bibliothekare haben also die Abneigung
gegen Sammelpublikationen, die aus bibliothekstechnischen
Erwägungen früher vielfach in deren Kreisen gehegt wurde»
fallen gelassen, wie uns die vorliegende Festschrift lehrt
Wir können uns darüber nur freuen; denn ohne den beson-
deren Anlaß, die Feier der Eröffnung des Neubaues der
Universitätsbibliothek, würde sicherlich der eine oder andere
Beitrag dieses Werkes nicht so bald ans Licht gekommen
sein. Den Reigen derselben eröffnet Molitor mit sehr knappen
sachlichen Erläuterungen zu den Abbildungen und Grundriß-
darstellungen des neuen Dienstgebäudes. Die Geschichte
der Bibliothek — früher Paulinische Bibliothek genannt —
behandelt Bahlmann. Küster verfolgt den Ursprung der juri-
stischen Abteilung des Instituts in frühere Jahrhunderte
zurück, während die ausführlichste Abhandlung des Bandes»
die von Degering, sich mit dem hervorragendsten Geschenk-
geber der ehemaligen Dombibliothek in Münster, die den
Grundstock der Paulina bildet, dem Domdechanten Gottfried
V. Raesfeld und dessen Familie befaßt. Ins rein fachwissen-
schaftliche Gebiet gehört wieder der von Molitor veröffent-
lichte Bibliothekskatalog des Mindener Kanonikus Johann von
Bersen aus dem Jahre 1353. Bömer dagegen schildert uns
in seinem sehr lehrreichen Beitrag das literarische Leben in
Münster während des Mittelalters und bis zu dem ersten Jahr-
zehnt des 16. Jahrhunderts. Etwas eigenartig nimmt sich in
dieser Sammlung der Aufsatz von Krüger über Anton Fahne
aus, dessen Inhalt ja für des letzteren Persönlichkeit äußerst
bezeichnend ist. Einen Ruhmeskranz hat Krüger diesem
literarischen Industrieritter nicht gerade gewunden; zudem
fällt das Thema doch eigentlich aus dem geistigen Leben und
Schaffen in Westfalen heraus.
Deutsche Landschaften. 149
Geschichte der katholischen Kirche in der freien Reichsstadt
Mühlhausen i. Thür. Nach archivalischen und anderen
Quellen bearbeitet von Philipp Knieb. Freiburg i. B., Herder.
1907. XIV u. 151 S. (Erläuterungen und Ergänzungen zu
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. V, 5.)
Man traut seinen Augen kaum, wenn man an der Spitze
des Vorworts dieser Schrift folgenden Unsinn liest: „Bis vor
einigen Jahrzehnten gehörte es bei den protestantischen Ge-
schichtschreibern des 16. Jahrhunderts gleichsam zum eisernen
Bestände ihrer Voraussetzungen, daß die neue Lehre vom Volke
mit offenen Armen, ja mit Jubel und Frohlocken aufgenommen
worden sei. Wie so manche ihrer Voraussetzungen von den
katholischen Geschichtsforschern als grundfalsch nachgewiesen
worden ist, so auch diese, und es bricht sich auch in den
wissenschaftlichen Kreisen der Protestanten immer mehr die
Überzeugung Bahn, daß sie fallen gelassen werden muß.*"
Zum Beweise dafür, daß im Gegenteil „das Volk durch die
Gewaltmaßregeln der Fürsten von der katholischen Kirche
losgerissen und dem Protestantismus zugeführt worden ist*,
will Knieb den Sieg des Protestantismus und das Unterliegen
des Katholizismus in Mühlhausen i. Th. darstellen. Nun er-
zeugt aber die Lektüre seiner Schrift gar nicht den Eindruck,
den sie hervorrufen soll. Kn. ist nämlich doch viel zu sehr
Historiker und zu gewissenhaft, als daß er es fertig brächte,
anders Geschichte zu schreiben, als es die Tatsachen und die
Quellen gestatten. Im wesentlichen hat er einfach die Tat-
sachen zusammengestellt ohne viel subjektive Zwischenbemer-
kungen und dabei die Quellen reichlich zu Wort kommen lassen.
Wer wird aber aus seiner Erzählung den Eindruck gewinnen,
daß die Masse des Volkes in Mühlhausen und den zu-
gehörigen Dörfern der Reformation abgeneigt gewesen wäre
und sie ihm aufoktroyiert werden mußte? Daß der Rat
längere Zeit widerstrebte, lag in seiner Zusammensetzung und
in der Politik, die er trieb, begründet. Daß der Kurfürst von
Sachsen und der Landgraf von Hessen zu Gewaltmitteln und
Oberrumpelungen gegriffen haben, um ihn zur Zulassung evan-
gelischer Prediger zu bewegen, ist ja richtig, aber die Politik
zwang sie dazu; auch durften sie sich wohl darauf berufen,
daß die katholischen Prediger „kein gutes Leben führten*
1 50 Literaturbericht.
(S. 21), und anderseits hat Herzog Georg gelegentlich dieselben
Mittel angewandt, um den Rat bei dem katholischen Bekennt-
nis festzuhalten (S. 23). Ganz ungehörig aber ist es, die
Reformationsgeschichte MUhlhausens als Beispiel dafür hin-
zustellen, daß überhaupt das deutsche Volk i, durch die Ge-
waltmaßregeln der Fürsten von der katholischen Kirche los-
gerissen und dem Protestantismus zugeführt worden'' sei.
Dazu war das Schicksal Mühlhausens viel zu eigentümlich.
Bei der Kapitulation im Jahre 1525 war festgesetzt worden,
daß die drei Schutzfürsten: Herzog Georg, Kurfürst Johann,
Landgraf Philipp, abwechselnd je ein Jahr die Stadt regieren
sollten, und die städtischen Gesandten, die im Jahre 1536 dem
Landgrafen ihre Not klagten, hatten nicht unrecht, wenn sie
meinten, es sei doch „mamelukisch* gehandelt, wenn sie in
den zwei Jahren, in denen der Kurfürst und der Landgraf das
Regiment hätten, lutherisch und im Jahre des Herzogs Georg
katholisch sein sollten (S. 30).
So soll also die Schrift eine katholische Tendenzschrift
sein, im Effekt ist sie es aber nicht. Der 2. Abschnitt (8. 96
bis 145), der „die Bemühungen der Katholiken, wieder in den
Besitz einer Kirche zu gelangen (1567 — 1629)*, schildert, hat
vornehmlich lokalhistorisches Interesse. Es ist aber doch
wertvoll, daß Kn. dieses etwas langweilige Nachspiel so aus-
führiich behandelt, da die 1904 und 1905 im 1. und 2. Jahr-
gang der „Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte in
der Provinz Sachsen* und 1905 auch separat bei E. Holter-
mann in Magdeburg erschienene „Reformationsgeschichte der
Stadt Mühlhausen i. Th.* von H. Nebelsieck, der im übrigen
der Vorzug zu geben ist, da abbricht, wo Kn.s 1. Abschnitt
endigt. Q f^i
Hansisches Urkundenbuch. 10. Bd : 1471—1485. Bearbeitet von
Walther Stein. Leipzig, Duncker & Humblot. 1907. XIV
u. 796 S.
Der neue Band des Hansischen Urkundenbuches, den
W. Stein in gewohnter sorgfältiger Bearbeitung der Forschung
vorlegt, ist an Umfang, wenn man Einleitung und Text zu-
sammenfaßt, dem neunten Bande annähernd gleich; er umfaßt
Deutsche Landschaften. 151
aber die doppelte Zahl der Jahre, ein Umstand, der dem Be-
nutzer nicht unwillkommen sein wird. Ein Übelstand freilich
besteht darin, daß dieselben Jahre sich auf drei Bände der
bei der Benutzung unentbehrlichen Hanse-Rezesse verteilen.
Wie mir scheint, ist der Inhalt noch mannigfacher wie früher.
Direkte Handelsbeziehungen Kölns nach Sizilien (Messina)
und nach Spanien (Coruöa) werden aufgedeckt. Daneben
kommt auch der Osten nicht zu kurz; namentlich fällt reiches
Licht auf Danzigs Großmachtstellung im östlichen Handel.
Eine größere Zahl von Stücken gehört dem Kontor zu Kowno
und dem von ihm vermittelten Handel an ; dieses Kontor tritt
hier zum erstenmal in die hansische Geschichte ein. Nicht
minder tritt der Einfluß der deutschen Kaufleute in den
nordischen Reichen in die Erscheinung; freilich gerade eines
der interessantesten Stücke des Bandes zeigt schon die
Minderung der deutschen Vormacht: die Aufhebung der Ver-
pflichtung aller schwedischen Kaufstädte, speziell Stockholma
zur Besetzung der Hälfte der Stadtratsstellen mit Deutschen;
ein Punkt, über den St. selbst in den Hansischen Geschichts-
blättern (1904/05) eingehend gehandelt hat.
Die Einleitung beschränkt sich im Gegensatz zum 9. Bande
auf eine kurze Zusammenfassung und Beleuchtung der Er-
gebnisse aus dem weitschichtigen Stoffe. Der Utrechter Friede
und die Bremer Konkordie sind die beiden Wendepunkte
der hansischen Geschichte dieser Jahre. Der erste legte in
einem der Hanse günstigen Sinne die englische Fehde bei;
wertvolle Aufschlüsse gewährt über ihn der Bericht der eng-
lischen Gesandten in Utrecht vom Jahre 1473, das umfang-
reichste Stück des vorliegenden Bandes. In der Bremer Kon-
kordie vom September 1476 wurde der Schoßstreit mit Köln
in der Hauptsache zu Kölns Ungunsten entschieden; aber
die Aussöhnung mit der Hanse war die Vorbedingung für die
Wieder-Zulassung der Kölner Kaufleute zum Stalhof in London
gewesen. In no. 784 druckt St. ein Verzeichnis der Kölner
Hansekaufleute ab, das er, unterstützt durch Angaben von
V. Loesch, in die Jahre c. 1470—80 setzt, aber nicht näher zu
deuten vermag. Nach neueren, noch nicht veröffentlichten
Untersuchungen von Bruno Kuske werden die Namen der
Liste, indem als Termini a quo die Bürgeraufnahmen, als
152 Literaturbericht.
Termini ad quem Sterbedaten verwandt wurden, durch das
Jahr 1476 und den Anfang des Jahres 1477 begrenzt. Somit
erscheint mir ein im einzelnen noch näher aufzuklärender
Zusammenhang mit der Bremer Konkordie als Lösung des
Rätsels anzusehen zu sein, das diese interessante Liste auf-
gibt. Für die Bestimmung der Buchdrucker hätte das neuere
Werk von Voulli6me bessere Anhaltspunkte ergeben. In den
englischen Dingen tritt die überragende Persönlichkeit Gerhards
von Wesel, auf den schon der vorige Band hinwies, kräftig
hervor. Von Interesse sind seine Briefe, darunter ein in eng-
lischer Sprache geschriebener. Von hervorragender Bedeutung
für den hansischen Handel dieser Zeit war auch der berühmte
Neußer Krieg; dessen Folgen sind für die Verkehrsbeziehungen
Kölns zum burgundischen Reiche noch lange fühlbar ge-
wesen. Das letzte im vorliegenden Bande auftretende wichtige
Ereignis ist der Erwerb neuer französischer Privilegien, das
Verdienst des Sekretärs des Brügger Kontors, Gerhard Bruns.
Den überaus mannigfachen Inhalt des Bandes, auf den hier
nicht näher eingegangen werden kann, läßt eine Durchsicht
der knappen Einleitung leicht ersehen; hinweisen möchte ich
nur auf den Aufenthalt des ersten englischen Buchdruckers
William Caxton in Köln 1471/72 (S. 46). Die Erläuterungen,
welche St. den Stücken angedeihen läßt, sind sehr reichhaltig
und zeugen von einer ausgedehnten Kenntnis namentlich auch
der ausländischen Literatur.
Das Orts- und Personenregister umfaßt, dem Umfange des
Bandes entsprechend, über 40 Seiten ; Tzellis, Tzernbolt usw.
wären unter Z zu setzen; ebenso würde man Wilh. von Swolle
unter Zwolle suchen. Etwas stiefmütterlich behandelt ist das
Sachregister, das zugleich als Glossar dient. Das Schema,
nach dem dasselbe angelegt ist, ist der Verbesserung bedürftig,
zudem nicht einmal folgerichtig durchgeführt. So sind als
Sammelnamen die Stichworte Fisch, Bücking, Häring, Stock-
fisch aufgeführt ; unter Fisch hätte auf die übrigen einschlägigen
Wörter verwiesen werden müssen; zweckmäßigerweise wären
die unter diese Sammelnamen fallenden Einzelwörter auch an
ihrem Platze im Alphabet aufzuführen gewesen; z. B. pam-
mucheln (übrigens = Kabliau), tijbucking usw. Unter Stock-
fisch fehlen die als solcher erklärte raekiingh und rekelvisch.
Osterreich. 153
Man würde auch gerne manche Erklärung im Sachregister
finden, die der Herausgeber kraft seiner Sachkenntnis vielleicht
mühelos hätte geben können. Mehrfach hätte der Aufsatz
von Kuske über den Kölner Fischhandel (Westdeutsche Zeit-
schrift, Band XXIV) mit Nutzen verwertet werden können,
z. B. tijbucking = Zuyderseeer oder im Y gefangener Fisch,
bollich = Schellfisch (nicht Kabliau), ventgut = leicht ver-
derbliche Ware usw. Nicht unanfechtbar erscheint das Ver-
fahren, das deutsche Wörter mit vereinzelten dänischen, schwe-
dischen, englischen Wörtern in einem Glossar vereinigt.
Köln. Herrn. Keussen,
Historischer Atlas der österreichischen Alpenländer. Heraus-
gegeben von der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften.
1. Abtlg.: Die Landgerichtskarte, bearbeitet unter Leitung
von weil. Eduard Richter. 1. Liefg.: Salzburg (von Eduard
Richter), Oberösterreich (von Julius Strnadt), Steiermark
(von Anton Meli und Hans Pirchegger). Wien, Adolf Holz-
hausen. 1906.
Erläuterungen zum historischen Atlas der österreichischen Alpen-
länder. 1. Abtlg., 1. Liefg. IV u. 49 S. Fol.
In der Pflege der historischen Geographie machte sich
bis in die neuere Zeit hinein das Übergewicht geltend, das
das klassische Altertum innerhalb der Wissenschaften im all-
gemeinen lange behauptet hat. Man beschäftigte sich durch-
weg mehr mit der Geographie der griechisch-römischen Welt
als mit der historischen Landeskunde der Heimat. Das ist
jetzt anders geworden. Es gehört heute zu den allerorten
anerkannten Aufgaben der nach Territorien organisierten Ge-
schichtsvereine in deutschen Landen, sich auch um die hi-
storische Geographie ihres Bezirkes zu kümmern. Von dem
Interesse für solche Fragen, wie es überall rege ist, bis zur
Veröffentlichung historischer Kartenwerke ist freüich noch ein
weiter Weg, und bis vor kurzem hatte, wenn man von den
beiden Wüstungskarten absieht, die die historische Kommis-
sion der Provinz Sachsen herausgebracht hat, nur der „Ge-
schichtliche Atlas der Rheinprovinz"" zu erscheinen begonnen.
Ihm hat sich jüngst ein zweites monumentales Werk zur Seite
gestellt, der historische Atlas der österreichischen Alpen-
1 54 Literaturbericht.
länder, dessen erste Lieferung vorliegt. Der Atlas nimmt sich
zum Vorwurf die Darstellung eines Gebiets, das an Umfang
(119000 qkm) weit ein Territorium oder eine Provinz von
durchschnittlicher Größe Übertrifft; er umfaßt eine ganze An-
zahl österreichischer Kronländer, mehr als ein Drittel von
ganz Cisleithanien, und dementsprechend ist es auch nicht
ein territorialer Geschichtsverein, der das gewaltige Werk
unternommen hat, sondern die Wiener Akademie der Wissen-
schaften. Natürlich aber ist, wie meist bei den großen Ver-
öffentlichungen unserer Akademien, so auch hier einer der
Spiritus rectory der die reichen Mittel der Korporation in den
Dienst der ihm am Herzen liegenden wissenschaftlichen Arbeit
gestellt hat: leider hat der Vater des Atlas, Eduard Richter,
den Augenblick nicht mehr erleben dürfen, an dem das Werk,
das ohne seine organisatorische Tätigkeit und eifrige Mit-
arbeit gewiß nicht zustande gekommen wäre, zu erscheinen
begann.
Sechzig Jahre bereits sind verflossen, seit zuerst J. Chmel
die neu errichtete Wiener Akademie zur Herstellung histori-
scher Karten der Heimat anregte. Sein Programm war weit
gespannt, die verschiedensten historischen Vorgänge wünschte
er kartographisch dargestellt. Aber wie es oft geht, seine
Pläne gingen so ins Weite und waren so wenig fest umrissen,
daß schließlich nichts zustande kam; zudem waren die rein
historischen Vorarbeiten, die ein österreichischer Geschichts-
atlas zur Voraussetzung hatte, damals noch nicht genügend ge-
fördert, und es fand sich niemand, der wirklich an die Arbeit ge-
gangen wäre: Chmel selbst hatte nichts weiter gewollt, als
dazu anregen. Ganz anders präsentiert sich Richters Werk;
hier ist von vornherein in weiser Selbstbeschränkung ein
enger umschriebenes Ziel gesetzt, und der, von dem die An-
regung ausging, hat gleichzeitig selbst als eifrigster Mitar-
beiter dafür gesorgt, daß die Unternehmung in Fluß kam ; nun
hat sie sich auch nach ihres Schöpfers Tode als lebensfähig
erwiesen. Richter war in seltenem Maße für eine historisch-
geographische Arbeit geeignet: als Historiker war er durch
Sickels straffe Schule gegangen, und als Geograph beherrschte
er völlig die technische Seite des Kartenzeichnens, die dem
Historiker meist so abschreckend schwer erscheint, da er mit
Osterreich. 155
diesen Dingen garnicht vertraut ist. Die beiden Aufsätze im
V. und VI. Ergänzungsband der Mitteilungen des Instituts für
österreichische Geschichtsforschung, in denen Richter von
seinen Plänen und Arbeiten für den Atlas Zeugnis abgelegt
hat^), sind Programmschriften geworden, die weit über den
Rahmen des Werkes, das sie einführen sollen, hinaus wichtig
sind für alle, die historische Karten anfertigen wollen.
Den von den Bearbeitern des geschichtlichen Atlas der
Rheinprovinz aufgestellten Grundsatz, historische Kartenwerke,
die in der Hauptsache das Mittelalter betreffen, seien rück-
läufig zu bearbeiten, hat Richter als zu Recht bestehend an-
erkannt. Und zwar haben sich ihm für sein Arbeitsfeld er-
geben als das, wovon auszugehen sei, die Grenzen der Land-
gerichte. Er hat deshalb die ganze Arbeit zunächst nach
dem einen Ziel orientiert, eine Karte der österreichischen
Alpenländer herzustellen, die die Landgerichte nach ihren
Grenzen von 1848 und von da ab rückwärts darstellt. Die
Quellen erlauben durchweg die sichere Feststellung, wie aus
den alten großen ursprünglichen Gerichtssprengeln des früheren
Hittelalters auf dem Wege der Zerschlagung — selten kommt
auch der entgegengesetzte Fall der Zusammenlegung vor —
sich die Landgerichte entwickelt haben, wie sie sich schließ-
lich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellen. Die
Karte zusammen mit den Erläuterungen, die die Filiation der
Landgerichte anschaulich in Stammbäumen vorführen, gibt
von dieser grundlegenden Entwicklung ein klares Bild; vor
«inigen Jahren erschien bekanntlich schon als programmatische
Probe des Atlas der Aufsatz von A. Meli, der aus den be-
treflenden Landgerichten des 19. Jahrhunderts den aUen stei-
rischen comitatus Liupoldi zu rekonstruieren unternimmt.
Eine grundsätzliche Neuerung der historischen Karte
Richters liegt darin, daß er entscheidenden Wert auf die Dar-
stellung des Geländes legt. Hier ist einer der Gründe —
freilich nicht der einzige — zu suchen, aus denen sich die
Österreicher schließlich so schroff gegen die Thudichumschen
^) Vgl. auch die sonstigen Vorarbeiten zum Atlas, deren
Titel in den „Erläuterungen* Seite II Anm. 1 zusammengestellt
sind.
156 Literaturbericht.
Grundkarten erklärt haben, die von der natürlichen Landschaft
lediglich das Wasser, nicht aber das Gebirge darstellen. Be-
greiflich ist es, warum gerade der Geograph der Alpen die
vollständige Geländedarstellung verlangen mußte. Die durch
den Verlauf der Gebirgszüge durchweg bedingten Grenzen
würden auf einer Karte ohne Gelände in der Tat oft unver-
ständlich erscheinen. Allerdings hält Richter die Wiedergabe
der physikalischen GestaUung der Erdoberfläche nicht für
eine der selbständigen Aufgaben der historischen Karte; er
hat vielmehr seinem Atlas ein modernes Kartenbild zugrunde
gelegt. Das ist erlaubt und richtig in den Alpen, wo die
natürlichen Veränderungen des Geländes in historischer Zeit
so minimal sind, daß sie auch bei relativ großem Maßstab
kaum kartographisch darstellbar wären. Für einen Geschichts-
atlas etwa der norddeutschen Tiefebene, zumal ihrer Meeres-
küste, wäre dies Verfahren natürlich ausgeschlossen.
Der Maßstab der Landgerichtskarte ist ungewöhnlich groß,
1:200000; auch diese Wahl ist mit vollstem Bewußtsein ge-
troffen, wie übrigens auch die Hauptkarte des rheinischen
Werkes einen sogar noch etwas größeren Maßstab aufweist.
Was nun die Landgerichtskarte darstellt und dank ihrem Maß-
stab auch darstellen kann, ist nicht — wie schon angedeutet —
eine historische Zustandskarte, die nur die Gerichtseinteilung
für ein bestimmtes Jahr veranschaulicht, sondern eine Ent-
wicklungskarte; man kann von ihr mit Hilfe der Erläuterungen
ablesen, wie zu jeder Zeit des Mittelalters und bis ins 19. Jahr-
hundert hinein die Gerichte verteilt waren. Die Landgerichts-
karte ist, soweit sie voriiegt — Lieferung 1 umfaßt mit Salz-
burg, Oberösterreich und Steiermark gut ein Viertel des ganzen
Gebiets — erstaunlich rasch zustande gekommen. Wird sie
erst beendigt sein, so ist mit ihr eine Grundlage geschaffen,
die es ermöglicht, von da aus an andere Probleme, die der
karthographischen Darstellung harren , heranzutreten. Da
werden vielfach Übersichtskarten in kleinerem Maßstabe ge-
wählt werden können: sind sie auf Grund der Landgerichts-
karte gearbeitet, so gewährleistet diese exakte Basis in jedem
Falle die denkbar größte Genauigkeit.
Ich weise schließlich darauf hin, daß neben den direkt im
Anschluß an die Karten erscheinenden „Erläuterungen* auch
Schweiz. 157
«Abhandlungen zum historischen Atlas der österreichischen
Alpenländer'' erscheinen, und zwar im „Archiv für öster-
reichische Geschichte''. Der 1. Band der „Abhandlungen*
(= Bd. 94 des „Archivs*. VI u. 660 S. Wien, Alfred Holder.
1907) liegt vor. Er wird in der Hauptsache gefüllt durch
zwei Arbeiten von Julius Strnadt ; zwei weitere Untersuchungen
steuerte H. v. Voltelini bei, und zwei kürzere Aufsätze sind
noch aus Ed. Richters Feder geflossen.
Die akademische Atlas-Kommission, deren Obmann jetzt
0. Redlich ist, leistet Gewähr für ein rüstiges Fortschreiten
des monumentalen Werks im Sinne seines Begründers.
Charlottenburg. Hermann Krabbo,
Kirchliches Asylrecht (Immunitas ecclesiarum localis) und Frei-
stätten in der Schweiz. Von R, G. Bindschedler. Stutt-
gart, P. Enke. 1906. Vll u. 406 S.
Als Heft 32/33 der von Professor Stutz herausgegebenen
«Kirchenrechtlichen Abhandlungen* ist die rechtshistorische
Untersuchung des Zürcher Juristen erschienen, die die Ent-
wicklung des kirchlichen Asylrechtes und daneben der welt-
lichen Freistätten in der Schweiz zum Gegenstand hat. Die
Tragweite dieser Fragen ist nicht allein von historischer Be-
deutung; denn über das Ende des 18. Jahrhunderts hinaus,
wo, zwar vielfach angefochten, die Rechtsgültigkeit dieser Ein-
richtung noch in Kraft stand, reichen Zeugnisse für die An-
rufung der Asylpraxis : abgesehen von Forderungen der römi-
schen Kurie, in den Jahren 1869 und 1880, hat 1861 im Kanton
Obwalden ein Rechtsstreit hierüber stattgefunden, indem die
Gemeinde Engelberg vom Kloster forderte, daß das Eigen-
tumsrecht an der im Klosterfreihof liegenden Allmend für die
Gemeinde anerkannt werde.
Aus der gedruckten Literatur und aus Archiven ist ein
reicher Stoff gesammelt und auf das beste ausgenutzt. Einige
interessante Dokumente sind hier zum erstenmal zum Abdruck
gebracht, so das Asylprivilegium Kaiser Rudolfs 11. von 1587
für die Stadt St. Gallen.
Denn neben dem kirchlichen Asylrecht findet sich das
weltliche eingehend behandelt. Für jenes erstgenannte bildet
s
158 Literaturbericht.
selbstverständlich die Reformation einen tief eingreifenden
Einschnitt, obschon auch in den reformierten Teilen der
Schweiz die Gültigkeit der Freistätten nicht völlig erlosch.
In den katholischen Gebieten erfuhr das Asylrecht durch die
Konstitution Gregors XIV. eine wesentliche Abwandlung. Das
weltliche Asylrecht dagegen, wie es zum Teil aus dem Haus-
frieden, teilweise aus dem Stadtfrieden erwachsen war, daneben
die Freihöfe, mit ihren besonderen Rechtsbedingungen, in
Aarau, Thun und noch an anderen Orten, sind im zweiten
Abschnitt behandelt; eben jenes kaiserliche Privileg hatte für
St. Gallen an der Seite der alten Klosterfreiung eine eigene
städtische Asylstätte geschaffen.
Für die politische und die Kulturgeschichte aufschlußreich
sind die zahlreichen Konflikte, die aus dem Asylrecht er-
wuchsen, denen der Vf. seine besondere Aufmerksamkeit
schenkt. Denn nicht nur da, wo in der Mitregierung gemein-
samer Untertanenländer reformierte Obrigkeiten neben katho-
lischen ihr Wort mitzureden das Recht hatten, sondern auch
zwischen katholischen Trägern der weltlichen Gewalt und
Vorfechtern des kirchlichen Asyls entstanden derartige oft
weithin wirkende Reibungen. So geriet das Kloster Einsiedeln,
mit einer sehr ausgeprägten Asylpraxis, die Mördern, Ketzern,
Verrätern, Kirchenräubern unbeschränkt zugute kam, mit der
Regierung zu Schwyz in Kampf. Das Kloster Engelberg kam
in schwere Verlegenheit, als 1679 ein unter gravierender An-
klage stehender angesehener Urner hier zuerst Schutz suchte,
dann das Asyl wieder flüchtig verließ. Auch Luzern erlebte
ähnliche Vorfälle, und so wurden 1725 in einer Konstitution
Benedikts Xlll., 1770 in einem Projekte des päpstlichen Nun-
tius Versuche gemacht, hier durch neue Vorschriften derartigen
Friktionen vorzubeugen. Als 1795 ein Teilnehmer an einer
Räuberbande im Kloster der Kapuziner zu Rapperswil ein Asyl
suchte, räumte der Nuntius selbst ein, daß, in formeller Wah-
rung der kirchlichen Vorschriften, der staatlichen Rechtspflege
Genüge geschah.
Ein interessantes Kapitel schweizerischer Rechtsgeschichte
ist hier zur Darstellung gebracht.
Zürich. M. v. K.
Schweiz. 159
Novara und Dijon. Höhepunkt und Verfall der schweizerischen
Großmacht im 16. Jahrhundert. Von Ernst Gagliardi.
Zürich, Druck und Verlag von Gebr. Leemann & Co. 1907.
346 S.
In dieser Schrift macht ein junger schweizerischer Ge-
lehrter den Versuch, ein Jahr aus den Kämpfen um Ober-
italien zu Beginn des 16. Jahrhunderts, soweit die Eidgenossen-
schaft als selbständige Macht eingriff, zum erstenmal auf Grund
der originalen Quellen eingehend darzustellen. Die Erzählung,
die sich der Zeit nach an Kohlers Werk „Les Suisses dans les
guerres d'/lalle' anschließt, beginnt mit der Schilderung der
Zustände im Mailändischen nach der Einsetzung des Herzogs
Massimiliano Sforza zu Ende 1512 und behandelt dann die
beiden noch ins Jahr 1513 fallenden FeldzUge der Eidgenossen,
die durch die Schlacht bei Novara und die Belagerung Dijons
bezeichnet sind. Der Stoff war zum letzten Male in Gisis
.Anteil der Eidgenossen an der europäischen Politik in den
Jahren 1512 bis 1516" selbständig behandelt worden. Aber
während der ältere Forscher sich ausschließlich an das damals
(1866) gedruckte Material hielt und daher gezwungen war,
die abgeleiteten Darstellungen wie die Chroniken und die
humanistischen Geschichtswerke in reichlichem Maße heran-
zuziehen, konnte Gagliardi ebensowohl seither publizierte
Fundgruben originaler Berichte, vor allem den Sanuto, wie
ein großes ungedrucktes Material benutzen, das er in schweize-
rischen und ausländischen Archiven gesammelt hatte. Man
wird ihm das Zeugnis nicht versagen dürfen, daß er diese
Quellen mit großem Fleiße durchgearbeitet und die wich-
tigeren Angaben in den sehr umfangreichen Anmerkungen
gewissenhaft zusammengestellt hat; man wird auch nicht be-
streiten dürfen, daß er die Ergebnisse seiner Quellenkritik zu
einer lesbaren, öfter rhetorisch geformten Darstellung geformt
hat und daß er es dabei mit Glück verstanden hat, Darstel-
lung und Exkurse auseinander zu halten. Trotzdem hat
sich das Werk von den Mängeln einer Erstlingsschrift nicht
ganz freihalten können. Die Darstellung läßt vielfach er-
kennen, daß dem Vf. nur die Zeit, die er behandelt, durch
eigenes Arbeiten in den Einzelheiten bekannt ist. Nicht nur ist
m Text und Anmerkungen viel Detail aufgenommen worden, das
160 Literaturbericht.
weder für die Politik noch für das Militärwesen der damaligen
Eidgenossenschaft charakteristisch ist; auch die Komposition
im ganzen und die allgemeinen Bemerkungen hätten wohl bei
größerer Vertrautheit mit der allgemeinen Geschichte die der
Eidgenossenschaft eigentümlichen entscheidenden politischen
und militärischen Momente schärfer hervortreten lassen. So sind
weder die Kämpfe bei Novara etwa in der Art Delbrücks oder
Eschers von allgemein militärgeschichtlichen Gesichtspunkten
aus erfaßt worden, noch ist bei der Besprechung des Dijoner
Zuges die ausschlaggebende Bedeutung des Söldnerwesens für
die Existenz der alten Eidgenossenschaft genügend erkannt
G. hat den unverständigen Urteilen zeitgenössischer und
späterer Historiker über den angeblich durchaus schädlichen
Einfluß des Reislaufens, dem allzuoft die Schuld an den Miß-
ständen des schweizerischen politischen Lebens, auch an den
früher vorhandenen und allgemein europäischen zugeschrieben
wurde, zu viel Glauben geschenkt; er hat daher, was unter
diesen Umständen allerdings nicht auffallend ist, die Revolte
der franzosenfeindlichen Bauern, denen die für den einzelnen
einträglicheren Frei züge natürlich besser paßten als die offiziell
organisierten Werbeunternehmungen, und den Widerstand der
Regierungen, die im politischen Interesse der ganzen Eid-
genossenschaft den Vertrieb der Söldner in ihren Händen
monopolisieren und die darin Hegende Macht je nach der
Lage für oder gegen Frankreich fruktifizieren wollten, nicht
verstanden und in dieser Erhebung, die zu dem verunglückten
Zuge gegen Dijon geführt hat, eine „Reaktion des gesunden
Instinktes^ gesehen. Die Bestechlichkeit der Staatsmänner
war übrigens bekanntlich damals so wie so keine schweize-
rische Eigentümlichkeit, wie man nach den Ausführungen des
Verfassers meinen müßte. Es läßt sich auch fragen, ob man
schon mit der Episode von Dijon den „Verfall* der schweize-
rischen Großmacht beginnen lassen kann; dies Unternehmen
ändert doch prinzipiell kaum etwas an der Stellung der
Schweiz in Europa. Der Verfasser ist zu seiner Ansicht aller-
dings durch die bei den Schweizer Historikern traditionelle
Anschauung geführt worden, daß dufch die Schlacht bei
Marignano die Großmachtstellung der Schweiz definitiv ver-
nichtet worden sei; er hat dabei so wenig wie die andern
Schweiz. 161
beachtet, daß die Ereignisse nach 1515 dieser Meinung
keineswegs Recht geben, daß vielmehr erst die im Gefolge
der Reformation auftretende konfessionelle Spaltung den Ein-
fluß der Schweiz in der internationalen Politik für immer be-
seitigt hat.
Es mag noch bemerkt werden, daß dem Werke ein zu-
verlässiges Register beigelegt ist und daß der zweite Teil
unter dem Titel »Der Feldzug von Novara 1513* bereits früher
selbständig als Zürcher Dissertation erschienen ist.
Zürich. Fueter.
Nuntiaturberichte aus der Schweiz seit dem Konzil von Trient
nebst ergänzenden Aktenstücken. 1. Abteilung: Die Nun-
tiatur von Giovanni Francesco Bonhomini 1579 — 1581. Doku-
mente, 1. Bd. Bearbeitet von Franz Steffens und Heinrich
Reinhardt. Solothurn, Druck und Kommissionsverlag der
Union. 1906. XXX u. 762 S.
Die „Nuntiaturberichte aus Deutschland* haben katho-
lischen Geschichtsfreunden in der Schweiz die Anregung zur
Publikation ähnlicher Berichte aus der Schweiz gegeben. Eine
feste Organisation gleich der Görresgesellschaft oder dem
preußischen Institut in Rom hat sich dafür allerdings noch
nicht bilden lassen und eine Garantie für vollständige Ver-
öffentlichung der Berichte liegt noch nicht vor; trotzdem
haben die Herausgeber „im Vertrauen darauf, daß dieser
Band nur den Beginn einer längeren Serie bilden werde*,
schon dem ersten Band den allgemeinen Obertitel gegeben.
Seite 1 — 322 enthalten „Dokumente zur Vorgeschichte der
Nuntiatur*; sie behandeln vor allem die ersten Bemühungen
Carlo Borromeos um die Sendung eines Nuntius oder Visi-
tators in die Schweiz in den Jahren 1570 — 1572 und die
Visitation des Tessin und des Veitlins durch den Bischof von
Vercelli und späteren ersten schweizerischen Nuntius Bon-
homini (die Herausgeber haben die von dem Nuntius selbst
gebrauchte, halb latinisierte Form des Namens der üblichen
auch in den deutschen Nuntiaturberichten durchgeführten
«Bonomi* vorgezogen.) Der Rest des Bandes führt das erste
der drei Jahre, die die schweizerische Nuntiatur Bonhominis
dauerte (1579 — 1582), zu Ende; die Dokumente umfassen die
Hittorifche ZeitschrUt (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 1 1
162 Literaturbericht.
Monate Mai bis Dezember 1579. Die ^Nunziatura dl Germania'
des vatikanischen Archivs hat natürlich auch für diese Publi-
kation die Hauptausbeute geliefert; neben ihr kam vor allem
die Ambrosiana und die dort aufbewahrte Korrespondenz
Carlo Borromeos in Betracht. Ein Vorbericht orientiert ein-
gehend über Herkunft und Fundort der Dokumente. Eine
eigentliche Einleitung ist dagegen dem Bande nicht vorgesetzt
worden. Eine solche soll später als besonderes Werk erscheinen ;
sie soll sich in ihrem Inhalt nicht auf die Persönlichkeit des
Nuntius und die Beziehungen der katholischen Orte zu Rom
beschränken, sondern deren religiöses Leben überhaupt dar-
stellen und dabei bis in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahr-
hunderts zurückgreifen. Leider ist Heinrich Reinhardt (wie
Franz Steffens Professor in Freiburg i. Ue.), der die Abfas-
sung der Einleitung übernommen hatte, Ende 1906 bald nach
dem Abschlüsse des Aktenbandes gestorben; doch ist seine
Einleitung so weit vollendet, daß sie zu einem großen Teil
wird gedruckt werden können.
So wie er vorliegt, ist der Band ein wichtiger Beitrag zur
Geschichte der Gegenreformation wie zu der der Vorrefor-
mation. Man kann allerdings nicht sagen, daß er für die all-
gemeine Kirchengeschichte der Zeit zu prinzipiell neuen Ge-
sichtspunkten führt. Aber er bestätigt zunächst aufs schönste
manche Ergebnisse, die aus dem spärlichen, zur Erforschung
der vorreformatorischen Zustände vorliegenden Material nur
mit Hilfe stets anfechtbarer Verallgemeinerungen gewonnen
werden konnten. Weder die apologisierende Betrachtung der
Kirche vor der Reformation, die die offenkundigsten Schäden
bestreitet (das Konkubinat der Priester verteidigen Geistliche
selbst als eine Notwendigkeit, die zudem noch Schlimmeres
verhüten solle, S. 504), noch die früher bei der nichtkatholi-
schen Geschichtschreibung beliebte Tendenz, alle Mißstände
in der spätmittelalterlichen Kirche auf Rechnung des Papstums
zu setzen und die antizentralistischen Bestrebungen der welt-
lichen Regierungen, die über die Geistlichkeit ihrer Gebiete
eine Art landeskirchlicher Hoheit ausüben wollten, als aus
moralischen, der Reinigung der Kirche günstigen Motiven
entsprungen hinzustellen, werden sich länger verteidigen lassen.
Die Publikation erlaubt ferner, die Stellung der katholischen
Schweiz. 163
Orte zur Gegenreformation schärfer zu präzisieren als bisher
möglich war. Die Haltung der schweizerischen Regierungen
ist mit Ausnahme von Freiburg mit einigen Modifikationen
überall dieselbe: sie stellen sich auf die Seite ihres Klerus,
der gegen die vom Tridentiner Konzil geforderten Reformen
Opposition macht und gegen die Visitationen des päpstlichen
Nuntius die Privilegien der Landesregierung anruft, und zeigen
höchstens so weit Neigung, der Kurie entgegenzukommen, als
es sich um die kirchliche Disziplin handelt, keineswegs aber
soweit das Recht des Staates zu Eingriffen in die Kirche in
Frage steht. Die den Protestantismus so sehr begünstigende,
an sich aber mit der neuen Lehre nicht verwandte Bewegung
zur Bildung von Nationalkirchen, die im späteren Mittelalter
der Entstehung von Nationalstaaten parallel geht, läßt sich
dabei deutlich beobachten, und zwar gerade da, wo die dog-
matische Korrektheit eine Berührung mit der neuen Dogmatik
ausschließt. Kantone wie das Wallis, wo einerseits die re-
gierenden Kreise der reformatorischen Bewegung völlig fern
standen und anderseits die Kirche dem Staate beinahe wie
eine Landeskirche untergeordnet war, haben die Visitations-
versuche des Nuntius am schroffsten abgelehnt. Und wie
üblich mußte dabei die Behauptung, hinter dem Vorwande der
Visitation verstecke sich die Habsucht der Kurie, den Deck-
mantel liefern, um verrottete Zustände der Kontrolle der Ober-
behörde zu entziehen (S. 445). Nur ein so energischer und
mutiger Mann wie der Nuntius Bonhomini, der übrigens in
den Augen der Kurie selbst öfter allzu rücksichtlos vorging,
hat hier wenigstens bis zu einem gewissen Grade Wandel
schaffen können.
Die Edition ist mit großer Gewissenhaftigkeit besorgt
worden; die umfangreichen Anmerkungen, die zugleich dazu
dienen, eine Anzahl unwichtigerer Stücke zu resümieren,
bringen zum Verständnis des Textes alles nötige. Die Heraus-
geber hätten dabei in der Verweisung offizieller, rein formeller
Schreiben in die Anmerkungen vielleicht noch weitergehen
können ; Begleitschreiben wie Nr. 323 und 324 hätten in einem
Satze in einer Anmerkung erledigt werden können. Im
übrigen ist der Text zum Unterschied von den deutschen
Nuntiaturberichten fast überall im Originalwortlaut wieder-
um
164 Literaturbericht
gegeben; nur die Stellen, die ausländische Verhältnisse be-
treffen, sind ausgelassen worden. Vielleicht können in den
folgenden Bänden noch einige nicht unentbehrliche, aber die
Benutzung wesentlich erleichternde Mittel der modernen
Editionstechnik angewandt werden, wie die Zählung der Zeilen
am Rande und Numerierung der Briefabschnitte im Regest mit
Wiederholung der Zahlen im Text; die auch in dem vor-
liegenden Bande gar nicht seltenen Schriftstücke, die ver-
schiedenartige Materien behandeln, gewinnen dadurch sehr
an Übersicht. Etwaige Titelvermerke in der Handschrift,
Notizen über Ausfertigungen und dgl. sollten konsequent unter
der Überschrift des Herausgebers registriert werden, nicht
bald als Anmerkung, bald im Text ; vgl. Nr. 283, S. 327 und
den Anfang des Schreibens Nr. 292. Auf der anderen Seite
muß anerkannt werden, daß eigentliche Versehen in den Re-
gesten, die öfter beinahe einen Kommentar bilden, recht selten
sind, und daß der Index sich bei Stichproben als zuverlässig
erwiesen hat.
Zürich. E. Fueter,
La fin du regime espagnol aux Pays-Bas, Par Frans van
Kalken. Braxelles, J. Lebkgue <g CU. 1907. 283 S.
Ein nach Inhalt und Form gelungenes Werk, das sich den
Arbeiten Lonchays und Huismans, als deren Ergänzung es
sich gibt, würdig an die Seite stellt. Der Vf. schildert mit
Zugrundelegung eines reichen handschriftlichen und eines
umfassenden gedruckten Materials die politische, ökonomische
und soziale Geschichte der spanischen Niederlande in den
Jahren 1692—1715. Im Mittelpunkte des bis 1700 reichenden
ersten der beiden Teile, in die der Vf. sein Werk gliedert,
steht die Persönlichkeit Maximilian Emanuels von Bayern,
dessen Tätigkeit in Belgien in neuerer Zeit wiederholt, zuletzt
von Preuß und Rosenlehner, Gegenstand eingehender, kritischer
Untersuchungen gewesen ist. Van Kalken, der diese Arbeiten
ihrem Werte entsprechend eifrig zu Rate gezogen hat, schließt
sich in seinem Urteile über Maximilian Emanuel seinen Vor-
gängern, zumal Preuß, an. Er anerkennt den redlichen Willen
und die Begabung dieses Fürsten, und mißt, wie Ref. glaubt
mit Recht, die Schuld an dem geringen Erfolge der von Maxi-
Niederlande. 165
milian Emanual im Interesse der Belgier aufgewandten Mühe
in erster Linie der Eifersucht der Großmächte und dem Parti-
kularismus der belgischen Stände bei. Jene Kapitel, in denen
V. K. den schädlichen Einfluß der am Hofe Maximilian Emanuels
und in den einzelnen Provinzen wirkenden Parteien schildert,
möchte Ref. als besonders wertvoll bezeichnen. Der scharfen
Kritik, die der Vf. in dem zweiten Teile seiner Arbeit an dem
Verhalten der Franzosen, Engländer und der Generalstaaten
in der Zeit des spanischen Sukzessionskrieges übt, wird gleich-
falls beizupflichten sein. Hier ist es weniger das von v. K. bei-
gebrachte neue Tatsachenmaterial, das unsere Anerkennung
verdient — denn dasselbe ist keineswegs von besonderer
Bedeutung — als die geschickte Gruppierung des Stoffes.
Indem der Vf. von dem Gesichtspunkte der belgischen Sonder-
interessen das Vorgehen der Großmächte betrachtet und den
Egoismus, der sie alle, zumal die Generalstaaten, bei ihrem
Verhalten bestimmte, deutlich hervortreten läßt, wird es ihm
möglich, die scheinbar befremdende Tatsache zu erklären, daß
die Mehrzahl der Bewohner Belgiens, die doch wahrlich keine
Ursache hatten der spanisch-habsburgischen Herrschaft eine
Träne nachzuweinen, den Übergang der Regierung an die
deutsche Linie dieses Hauses als die für sie unter den ge-
gebenenen Verhältnissen günstigste Lösung ansahen. Inter-
essante Einzelheiten bringt der Vf. über die Bemühungen
Maximilian Emanuels bei, den Handel und die Industrie
Belgiens in den Jahren 1697 — 1700 zu heben. Instruktiv ist
auch, was er über das Leben und Wirken Bergeicks und Quiros
mitteilt. Auch für die am Schlüsse des Werkes gegebene
Darstellung der sozialen Zustände und des geistigen Lebens
der spanischen Niederlande in den letzten Jahren der spani-
schen Herrschaft verdient v. K. den Dank seiner Leser.
Wien. A, Pribram,
Der gerichtliche Zweikampf im altfranzösischen Prozeß und sein
Übergang zum modernen Privatzweikampf. 1. Teil: Der
gerichtliche Zweikampf im altfranzösischen Prozeß. Von
A. Coulin. Mit einem Vorwort von Jos. Kohler. Berlin,
J. Guttentag. 1906. XIII u. 169 S.
In mehreren Arbeiten (vgl. über sie H. Z. 78, S. 544 und
81, S. 366) habe ich darzulegen versucht, daß das moderne
166 Literaturbericht.
Duell nicht in Deutschland, sondern in den romanischen
Ländern seinen Ursprung hat. In Übereinstimmung mit dieser
Anschauung übernimmt die vorliegende Schrift es, das Auf-
kommen des modernen Duells in Frankreich zu untersuchen.
Einstweilen bietet der Vf. nur eine Voruntersuchung, indem
er den gerichtlichen Zweikampf im mittelalterlichen Frankreich
schildert. Die Erörterung des eigentlichen Problems wird
erst folgen. Aber auch jene Voruntersuchung ist mit Dank
aufzunehmen ; sie hat einen selbständigen Wert. Coulin liefert
mit seiner auf einem höchst umfangreichen Quellenmaterial
ruhenden allseitigen Schilderung des gerichtlichen Zweikampfes
im mittelalterlichen Frankreich einen wertvollen Beitrag zur
Verfassungs-, Prozeß- und allgemeinen Kulturgeschichte. Bei
der Interpretation deutscher Rechtsquellen wird man die von
ihm erläuterten Nachrichten als Parallelstellen oft mit Vorteil
verwerten; vgl. z. B. S. 150 über die Strafe der Wüstung der
Häuser.
In der Definition, die C. auf S. 1 von dem privaten Zwei-
kampf gibt, sind die Motive und Ziele desselben nicht voll-
ständig aufgezählt. Die Begründungen, die er findet, gehen
bekanntlich kreuz und quer. In dem Vorwort, das Kohler
dem Buch vorausschickt, fällt es auf, daß der französische
Geist des Mittelalters so einfach als ein fränkischer gedeutet
wird. Von einem Rechtsvergleicher wie Kohler sollte man
das am allerwenigsten erwarten. M. E. ist das keltische Ele-
ment im französischen Rittertum mit Händen zu greifen.
Freiburg i. B. G. v. Below.
Essai sur les rapports de Pascal II avec Philippe /•«• (1099^1108),
Par Bernard Monod, Paris, Champion. 1907. XXVII u.
163 S. (Bibliothigue de l'icole des Hautes-dtudes, sciences
historiques ei philologiques, fasc. 164.)
Man kennt aus dem Nachruf der Revue historique 87
(1905), 310 ff. das tragische Schicksal des jungen Forschers,
der aus lebhaftester wissenschaftlicher Betätigung durch eine
tückische Krankheit abgerufen wurde. Dank der Bemühung
des Vaters, Gabriel Monod, und treuer Freunde konnten die
nachgelassenen Schriften veröffentlicht werden. Ich erwähne
noch: Le moine Guibert et son temps (1053 — II24), Paris
Frankreich. 167
1905. Die kleine Arbeit: Uiglise ei Vtitat au Xlb sUcle,
Vdlection ipiscopale de Beauvais de 1100 ä 1104, Paris 1904,
S.-A. aus den Mäm, de la Soc, acad, de VOise 19, ist in das
vorliegende Buch eingefügt worden. Dieses verdient die
Aufmerksamkeit aller derjenigen, die den Kampf zwischen
Staat und Kirche auch außerhalb Deutschlands verfolgen.
Im Vordergrund steht die Frage der Beurteilung des Papstes
Paschalis II. Wir würden jetzt ausgehen von der Würdigung
Mirbts in der Realenzyklopädie 14 (1904), 717, wobei aber
ausdrücklich hervorgehoben sei, daß der Vf. schon im März
1904 erkrankte. Monod sieht in Paschalis einen sehr geschickten
und erfolgreichen Politiker, der ganz im Gegensatz gegen die
Heftigkeit seines Vorgängers Urban II. sich mit König Philipp
verständigte, weil er klar erkannte, daß er einen Bundes-
genossen brauchte, um dem Kaiser zu widerstehen. So ergab
sich die Möglichkeit, die gallikanische Kirche der Reform
näher zu bringen, ohne zu Gewaltmaßregeln zu greifen. Die
welthistorische Leistung des Paschalis würde demnach sein^
die in späteren Jahrhunderten so bedeutsame Verbindung des
Papsttums mit Frankreich eingeleitet zu haben.
Wenn einmal ein französischer Historiker sich an die
Aufgabe macht, die Albert Hauck für Deutschland so glänzend
gelöst hat, dann wird die Anschauung M.s in größerem Zu-
sammenhange nachzuprüfen sein. Man darf sich dabei nicht
verhehlen, daß es sich um ein Werturteil handelt, das quellen-
mäßig kaum zu erweisen sein wird. Es sei den Fachgenossen
zur Beachtung empfohlen und gleichzeitig aufrichtigem Be-
dauern darüber Ausdruck gegeben, daß ein Geist, der sich
mit solcher Liebe in jene alten und doch so modernen Kämpfe
vertiefte, nicht zu voller Entfaltung kam. B. M., so sollte man
meinen, hätte an eine Kirchengeschichte Frankreichs denken
können.
Jena. A, Cartellieri.
Philipp 11. August, König von Frankreich. Bd. 2: Der Kreuzzug
(1187—1191). Von Alexander Cartellieri. Mit 4 Stamm-
tafeln. Leipzig, Dyk. 1906. XXXI u. 360 S.
Während der 1900 abgeschlossene 1. Band in drei Büchern
bis 1189 reicht, wird die Darstellung in den beiden Büchern
168 Literaturbericht
des vorliegenden Bandes nur um zwei weitere Jahre ge-
fördert, derart, daß Buch 4 die Vorgeschichte des Kreuz-
zuges (1146 — 1190), insbesondere auch die finanziellen Vor-
bereitungen behandelt, während Buch 5 der Kreuzfahrt selbst
bis zur Heimkehr des Königs (Juli 1190 bis Dezember 1191)
gewidmet ist. Dabei werden in beiden Büchern die englischen
Verhältnisse genau ebenso eingehend und quellenmäßig be-
handelt wie die französischen, der gewählten Aufgabe wohl
nicht ganz entsprechend, für die Wissenschaft aber ein ent-
schiedener Gewinn. Bezüglich des Gesamtcharakters des
Werkes kann ich auf Davidsohns Urteil in dieser Zeitschrift
87 (1901), 524 verweisen; auch dieser 2. Band, auf sorgfältig-
ster Erforschung der Quellen erster Hand beruhend, ist
durchaus solid und zuverlässig gearbeitet und empfiehlt sich
durch eine klare und nüchterne Darstellung; die vielfache
Wiedergabe von Verträgen und Verordnungen in wortgetreuer
Übersetzung wäre allerdings besser unterblieben.
Unter den Beilagen ist hervorzuheben das Verzeichnis
der Urkunden König Richards I. Löwenherz vom August 1189
bis Anfang 1192 (p. 288— 301); besonders verdienstlich aber
ist es, daß der Vf. in Beilage 4 (p. 302—325) die Frage der
Echtheit der Kreuzzugsurkunden der Sammlung Courtois von
neuem aufgerollt hat. Zwar enthält er sich vorsichtig eines
bestimmten, formell abschließenden Urteils ; auf eine Benutzung
dieser Urkunden für seine Arbeit aber hat er grundsätzlich
verzichtet. Mit vollem Recht ; ich habe keinerlei Zweifel mehr,
daß dieses ganze, angeblich über 2000 Stück umfassende
Material eine einzige große Fälschung ist. Wohl nie hat eine
derartige Fälschung einen solchen materiellen und — wissen-
schaftlichen Erfolg gehabt wie diese. Entscheidend dafür war
doch, daß Lacabane, der Präsident der £cole des chartes und
erster Beamter im cabinet des manuscrits der Kgl. Bibliothek,
dem über 190 dieser Urkunden zur Prüfung vorgelegen hatten,
sie für unzweifelhaft authentisch erklärt hatte; wem konnte
man ein richtigeres Urteil darüber zutrauen als einem solchen
Sachverständigen ?
Wenig später erklärte zwar de Reiffenberg in seinen
Notices sur les documents concernant la Belgique von mehreren
dieser Urkunden, die er in Brüssel geprüft hatte, mindestens
Frankreich. 169
zwei für unecht^); aber das einzige wirklich greifbare Argu-
ment, das er vorbrachte: »9«^ dire, par exemple de ces usu-
Hers italiens, qui , . , se servent de livres tournois, quand
on sait qu'lls comptaient alors en argent de Lucques*^, ließ
ihn wirklich nicht gerade als Sachkenner erscheinen. Und
was konnte es helfen, daß Lacabane später seine veränderte
Meinung handschriftlich niederlegte 2), wenn er den Mut nicht
fand, sie öffentlich zu bekennen und wissenschaftlich zu be-
gründen! So konnten die Veröffentlichungen von Papa
d'Amico und Röhricht aus der Sammlung Courtois geschehen,
ohne daß irgendwelche Anfechtung, auch von selten der
deutschen Kritik nicht, erfolgt wäre.
Kein Wunder, daß auch so bedeutende Forscher wie Heyd
und Goldschmidt diese Materialien ohne weiteres verwertet
haben. Auch ein mit der Zeit so vertrauter Forscher wie
Luchaire hat die Urkunden über die finanziellen Beziehungen
pisanischer Bankiers zu König Richard unbedenklich für echt
genommen (bei Lavisse, Hist, de France 111, 1, p. 107). Mir
selbst ist es mit ihnen wunderlich genug ergangen. In meiner
Abhandlung über die Wechselbriefe König Ludwigs des Heiligen
hatte ich Veranlassung, die bei Papa d'Amico stehenden Stücke
für die Jahre 1249 ff. heranzuziehen; sie entsprachen durch-
aus den unzweifelhaft echten Urkunden in den Layettes du
Trisor des Charies^); auch die Namen der Geldgeber, wie
Rossus Consilii u. a., fanden sich in diesen wieder, was an
sich doch gewiß nicht gegen ihre Echtheit sprechen konnte.
Allerdings werden diese Geldgeber hier als Januenses, in den
Layettes dagegen, und unzweifelhaft richtig, als Senenses be-
zeichnet. Natürlich machte mich das zunächst stutzig. Wie
aber sollte ein Fälscher dazu kommen, aus den Senenses
seiner Vorlage Januenses zu machen! Vielmehr nahm ich
0 Compte-rendu des s^ances de la Comm. R, d'hist, VI
(Brüssel 1843), 141 f.
') Von C. mit Recht als für die Beurteilung besonders wichtig
veröffentlicht p. 319 f.
») Conradsche Jahrbücher 70, p. 620 A. 1 ; 73, p. 734 A. 1.
Papa d'Amico: / titoli dl credito surrogati della moneta p. 203
A. 2, p. 365. Layettes du Tresor des Chartes 111, no. 3811, 3823,
3827, 3948.
170 Literaturbericht.
an : geradeso, wie man notorisch Florentiner, Lucchesen u. a.,
die mit den Pisanem nach Accon kamen, selbst als Pisaner
bezeichnete^), würden auch die mit den Genuesen hinüber-
gekommenen Binnenländer vielfach als Genuesen gegolten
haben. So erblickte ich gerade in diesem Zuge, in dieser
zunächst auffallenden Bezeichnung der Sienesen als Genuesen
einen inneren Beweis für die Echtheit jener Urkunden bei
Papa d'Amico. Eine genauere Untersuchung der für mich
subjektiv zunächst erledigten Frage schob ich auf, bis ich
einmal dazu käme, die finanzielle Seite der Kreuzzüge im
Zusammenhange zu behandeln. So hat mich erst das Buch
Cartellieris zu erneuter Prüfung der Frage veranlaßt — für
meine Handelsgeschichte leider zu spät. Möge man es als
wissenschaftliche Sühne ansehen, daß ich nun selbst den
positiven Beweis der verübten Fälschung an bestimmten Fällen
führe. Ich sagte mir, daß einem Fälscher so vieler Urkunden
bei der Datierung am ehesten ein nachweisbarer Fehler unter-
laufen konnte und habe daraufhin die im Drucke vorliegenden
Stücke der Sammlung aus der Zeit des dritten Kreuzzuges
durchgesehen. Nach einer dieser in durchaus üblicherweise
im Mai 1191 im Lager vor Accon ausgestellten Urkunden soll
König Richard Löwenherz mit seiner Garantie für vier seiner
Ritter eingetreten sein, die bei dem Pisaner Andriolo Conte
und Genossen ein binnen Jahresfrist im Betrage von 120 Mark
Silber rückzahlbares Darlehen aufgenommen hatten. 2) Im
Mai 1191 aber war König Richard gar nicht vor Accon, sondern
weilte noch auf Cypern.
In einer anderen mit besonderen Details ausgestatteten
Urkunde hat König Richard seinem Getreuen Jean d'Hosmond
angeblich versprochen, seinen Vater Hosmond d'Estouteville,
der ihn enterbt hatte, zur Bezahlung einer von ihm bei dem
Pisaner Jacobus de Jhota kontrahierten Schuld von 100 Pfund
Silber zu zwingen und dies Versprechen mit dem königlichen
Siegel beglaubigt. Die Urkunde ist datiert: Vor Accon 1191,
*) S. meine Handelsgeschichte der romanischen Völker etc.
p. 199 f.
*) Bei Papa d'Amico 1. c. 358 f. Actum in castris juxta Accon
a. D, 1191, mense maio.
England. 171
am Tage nach Pfingsten.^) Pfingsten war aber in diesem
Jahre am 2. Juni, und erst am 5. Juni ist König Richard
auf Cypem in See gegangen; erst am 8. Juni kam er vor
Accon an. 2)
Man sieht, so vorsichtig der Fälscher im allgemeinen
operiert, über den genaueren Termin der Ankunft König
Richards vor Accon war er doch nicht genügend unterrichtet.
Mit solchen positiven Nachweisen aber stürzt das ganze
kühne Gebäude des Fälschers in sich zusammen; ich glaube
auch gar nicht, daß irgendwelches echte Stück unter der
ganzen Sammlung ist. Ihre Beziehung auf italienische Kauf-
leute, die nach C. (p. 321) noch der Aufklärung bedarf, er-
klärt sich zur Genüge aus der Kenntnis, die der Fälscher von
zahlreichen analogen Originalen im Pariser Archiv hatte ; eine
Beziehung zur Banca di S. Giorgio in Genua aber liegt über-
haupt nicht vor, vielmehr nur der Versuch, die Herkunft der
Sammlung aus der Ausplünderung genuesischer Archive zur
napoleonischen Zeit zu erklären.
Hervorgehoben sei zum Schlüsse noch, daß C. diesem
Bande eine ganze Reihe von Nachträgen und Berichtigungen
zu Bd. 1 beigefügt hat (p. 341—348).
Brieg. Adolf Schaute.
The Great Revolt of 1381, By Charles Oman. Oxford, Clarendon
Press. 1906. 219 S.
Das von Andr6 R6ville gesammelte und von ihm nur teil-
weise verarbeitete Quellenmaterial des Record Office über die
gefährliche Volkserhebung unter Richard IL, das nach dessen
frühzeitigem Tode 1898 unter dem Titel ,Le SouUvement des
travailleurs d'Angleterre en 1381, Paris* mit einer Einleitung
von Gh. Petit-Dutaillis veröffentlicht wurde, hat Professor Oman
vom All Souls College in Oxford zu einer Monographie be-
nutzt, die als die erste vollständige aus amtlichen Quellen
*) Galeries historiques du palais de Versailles, partie 2 (Paris
1844), p. 181. Delley de Blancmesnil (comte de), Notices sur gueU
ques anciens ttlres etc. (Paris 1866), p. 446. In beiden Werken
nur in Übersetzung und Regest.
«) S. Cartellieri p. 196.
1 72 Literaturbericht.
schöpfende Darstellung jener denkwürdigen Begebenheit Be-
achtung verdient. Zu den von R^ville aufgefundenen Ge-
richtsprotokollen , Verzeichnissen der konfiszierten Besitz-
stücke Verurteilter, Petitionen und Erlassen kommen als Bei-
gaben des Verfassers statistische Nachweise über die Poll
Tax, ferner eine gegen die massenhaften^ bei deren Erhebung
vorgekommenen Steuerdefraudationen gerichtete königliche Ver-
fügungy sodann die Übersetzung einer R^ville noch unbe-
kannten Yorker Chronik und endlich ein amtlicher Bericht
über den höchst auffallenden, seitens einiger Londoner Bürger
geübten Verrat, durch den die Hauptstadt den Aufrührern
preisgegeben wurde. Die Arbeit umfaßt elf Kapitel, von denen
die beiden ersten die politischen und sozialen Mißstände jener
Zeit und die auf die Poll Tax bezüglichen Ereignisse schildern
und das letzte die Ergebnisse des Aufstandes bespricht,
während uns in den acht übrigen eine anschauliche, durch
eine Fülle von Einzelheiten belebte Erzählung des Verlaufs
dieses kaum einen Monat dauernden Aufstandes, seines
Ausbruchs in Kent und Essex, der Vorgänge in London sowie
des Aufruhrs in den übrigen Grafschaften bis zur Verspren-
gung der letzten Banden gegeben wird.
Das geschichtliche Interesse knüpft sich naturgemäß
weniger an den Verlauf als an die Ursachen, die Ziele und
Ergebnisse dieses Aufstandes. Prof. 0. verwirft — in Überein-
stimmung mit anderen neueren Historikern — die namentlich
von Th. Rogers aufgestellte Theorie seines einseitig agrari-
schen Ursprungs. Danach sollten vor allem die Versuche der
Gutsherrn, der Leutenot durch Widerruf der schon fast durch-
geführten Aufhebung der Frondienste abzuhelfen, die Bauern
zum Aufstand veranlaßt haben. Die in demselben beteiligten
Personen hatten sehr verschiedenartige Beschwerden. Neben
den seßhaften Gutsbauern, deren persönliche Dienste aller-
dings auf vielen Gütern schon in Pachtzins umgewandelt
worden waren, beteiligten sich an der Erhebung auch große
Massen landloser, also freier Arbeiter, zu denen sich als
drittes Hauptelement die städtischen Handwerker gesellten.
Für diese bildeten die sog. Arbeiterstatuten, durch welche die
Regierung der Steigerung der Löhne durch eine amtliche,
noch dazu sehr niedrig bemessene Preisfestsetzung zu be-
England. 173
gegnen suchte, die Hauptursache, da diese Verordnungen alle
Arbeitnehmer an der Ausnutzung der für sie günstigen Kon-
junktur gewaltsam verhinderte. Nicht nur wurden Übertreter
grausam bestraft, sondern auch, was besonders demütigend
erschien, unbeschäftigte Arbeiter zur Annahme von Dienst-
verhältnissen gezwungen. Dieser unmittelbar nach der großen
Pest des Jahres 1348 erfolgte Eingriff des Staats in die
Lohnbewegung zugunsten der Arbeitgeber hatte große Er-
bitterung hervorgerufen, die sich schon während der drei dem
Aufstand vorangehenden Jahrzehnte in Gewalttaten und Zu-
sammenrottungen Luft machte. Allgemeine politische Miß-
stände, die schlechten Erfolge im französischen Kriege und
drückende Steuern, besonders die Poll Tax, trugen um das
Jahr 1381 dazu bei, den Unmut auf den höchsten Punkt zu
steigern. Als die Bewegung weiter um sich griff, traten ihr
auch mancherlei andre unzufriedene Bevölkerungsgruppen
bei. Haß gegen die drückende Konkurrenz der Flamänder,
sowie Predigten der sogenannten „armen Priester* gegen den
Luxus der Reichen trugen das ihrige bei. Professor 0. legt
besonderen Nachdruck auf die Vielheit aller dieser Ursachen,
und warnt davor, eine derselben unzulässig zu verallgemeinern.
Aber um den symptomatischen Charakter des Aufstandes
recht zu würdigen, erscheint es doch nötig, in dieser an-
scheinenden Vielheit die wesentliche Einheit aufzusuchen.
Ende Mai brach in mehreren Grafschaften gleichzeitig
und unerwartet der Aufstand los. Diese überraschende
Gleichzeitigkeit will Professor 0. nicht auf eine gemeinsame
Verabredung zurückführen, sondern daraus erklären, daß um
diese Zeit der König eine Kommission mit der Untersuchung
der Ergebnisse der Poll Tax beauftragte; die Androhung von
Strafen gegen die sehr zahlreichen Steuerhinterzieher sei die
unmittelbare Provokation der schon bis zur Siedehitze ge-
reizten Arbeiter zu einer gemeinsamen Erhebung gewesen.
Ich muß gestehen, daß mir das Rätsel dieser plötzlichen
riesenhaften Zusammenrottung fast aller Arbeiter im ganzen
Südosten des Königreiches, ihrer von Norden und Süden
nach der Hauptstadt hin konvergierenden Fortbewegung und
ihres in wichtigen Zügen gleichartigen Verhaltens durch die
Verstimmung über eine schwere Steuerauflage und der Furcht
174 Literaturbericht.
vor Hinterzieliungsstrafen, auch selbst bei vorhergehenden
Beschwerden ungleicher Art, nicht gelöst erscheint. Mangels
vorhandener Zeugnisse möchte ich aus inneren Gründen an-
nehmen, daß durch die unkluge Lohnpolitik der Regierung
sich unter den in sozialem Aufstieg begriffenen Massen aller
Handarbeiter ein starkes Gefühl der Zusammengehörig-
keit entwickelt hatte und dieses, erstarkt an den im Laufe
der vorangehenden Jahrzehnte wiederholt ausgebrochenen ört-
lichen Arbeiterverschwörungen , allmählich ein allgemeines
Einverständnis über die Notwendigkeit einer Massenerhebung
hervorgerufen hatte, welche dann schnell nach einem ge-
wissen, wenigstens Essex und Kent umfassenden Plan ins
Werk gesetzt wurde. Auf die Poll Tax wird im weiteren Ver-
lauf der Bewegung fast niemals mehr Bezug genommen, da-
gegen enthält der Bericht über den Verrat der Londoner
Bürger an sich schon einen auf eine bestehende Verabredung
hindeutenden Zug, ebenso die wichtige Angabe, daß schon
14 Tage vor der Ankunft der Aufrührer in London Männer
aus der Hauptstadt die Losung: „Nach London!* ausgegeben
hätten. Wir dürfen vielleicht hiermit in Verbindung bringen,
daß Wat Tyler, der Führer der Kenter, wahrscheinlich aus
Essex stammte und ferner darauf hinweisen, daß in einer
Predigt John Balls die Aufrührer zur Eintracht und Disziplin
ermahnt wurden.
Es liegt in der Natur der Sache, daß über die Organi-
sation des Aufstandes, zumal nach Wat Tylers Tode, amt-
liche Zeugnisse nur spärlich vorhanden sind; doch liegen
Äußerungen genug vor, um das allgemeine Ziel desselben
erkennen zu lassen. Die Aufrührer aus Essex und Kent,
die unter dem Ruf Jhe King and his Commons' nach London
zogen, drohten, den König von seinen Ratgebern, die sie
Verräter nannten, zu befreien. In diesem Zuge tritt uns der
politische, auf den Staat gerichtete Charakter des Aufstandes
entgegen, der ihn wesentlich von den deutschen Bauern-
kriegen unterscheidet. Arbeiter, die im Gefühl der in ihrer
Solidarität liegenden Macht sich zu einer großen politi-
schen Aktion zusammenschlössen, um auf diesem Wege
s o z i a 1 e Forderungen durchzusetzen — in diesen drei Zügen
tritt uns hier im tiefsten Mittelalter eine überraschende Ana-
England. 175
logie mit ganz modernen Bestrebungen entgegen. So scheint
auch G. Steffen in seinen „Studien zur Geschichte der eng-
lischen Lohnarbeiter, Stuttgart 1901", und der von ihm zitierte
C. Edm. Maurice (Lives of English populär leaders in the
middle ages, London 1875) die Bewegung aufzufassen; der
letztere bezeichnet die ganze Zeit von 1347 bis 1377 als Vor-
bereitung auf den Klassenkampf.
Wie Professor 0. den politischen Charakter des Auf-
standes unseres Erachtens unterschätzt, scheint er auch den
sittlichen und intellektuellen Standpunkt der Teilnehmer zu
verkennen, die er wiederholt als ,mob' kennzeichnet. Nach
seiner eigenen Darstellung hielten sich die Aufrührer aus
Kent und Essex, wenigstens bis zu ihrer Ankunft in London,
in auffallendem Grade frei von rohen Mißhandlungen und
gemeinen Verbrechen; selbst in London, wo das hauptstädti-
sche Bier und vielleicht auch das Vorbild der hauptstädtischen
Kameraden ihre Haltung verschlechterte, zogen sie einen Ge-
nossen, der Diebstahl beging, unter Berufung auf die Heilig-
keit ihrer Sache zu strenger Rechenschaft. Ihr Haß rich-
tete sich gegen die Vertreter der Regierung und gegen
Beamte, an denen sie durch Enthauptung mit dem Beil Straf-
justiz übten ; sie zerstörten und durchstöberten die Wohnungen
der sogenannten Verräter und mißliebigen Gutsherren und
verbrannten alle Dokumente, deren sie habhaft werden konn-
ten. Daß sie plünderten, müssen wir natürlich finden, da
eine so große Menschenmenge auf dem Marsch ohne Plün-
derung nicht leben konnte. So stehen diese Aufrührer hoch
über den deutschen Bauern, die die Not und Verzweiflung
antrieb, an ihren unmittelbaren Herren bestialische Rache zu
nehmen, während ihnen der Staatsbegriff fast völlig fremd
war. Die Haltung der Massen gestattet einen Rückschluß auf
die Führer, denen die Bewahrung der Disziplin und Eintracht
zum Verdienst angerechnet werden muß. Es ist befremdlich,
daß Professor 0., ohne durch bestimmte geschichtliche Zeug-
nisse dazu befugt zu sein, ihn als eigensüchtigen, großmäu-
ligen Abenteurer mit etwas militärischer Erfahrung hinstellt.
Wenn die Geschichte das Weltgericht ist, so ziemt es dem
Historiker, ganz besonders gegen die unterlegenen Parteien
vergangener Zeiten seines Richteramtes unparteiisch zu
176 Literaturbericht.
walten. Wir werden daher weder den Männern, von denen
viele ihr Wagnis mit Gefängnis, Verstümmelung und Galgen,
alle aber mit schmerzlicher Enttäuschung büßen mußten, noch
ihrem freigewählten Führer, dessen Ermordung ihn verhin-
derte, seinen Plan durchzuführen, die verspätete Anerkennung
versagen dürfen, daß sie opfermütig für eine große Sache
kämpften und litten. Professor 0. macht Wat Tyler sein
freches Gebahren vor dem König in Smithfield zum Vorwurf.
Aber war nicht des Königs schnelle Nachgiebigkeit in Mile
End nur ein hinterlistiger Betrug, durch den er die königstreu
gesinnten Arbeitermassen um den Erfolg ihres Unternehmens
zu bringen gedachte? Wenn nun Wat Tyler das Spiel durch-
schaute und es darauf anlegte, einen Streit anzufangen, um
sich der Person des Königs zu bemächtigen? Dies letztere
war das Ziel, das, nach dem von Jack Straw vor seiner Hin-
richtung abgelegten Bekenntnis, die Führer in London verab-
redet hatten. Und hatte Wat Tyler zu einem solchen Vor-
gehen weniger Recht als später CromweU, der seinen König
hinrichten ließ?
Bezüglich des Ergebnisses des Aufstandes hatten Stubbs
und Rogers die Anschauung vertreten, daß zwar der Aufruhr
niedergeschlagen worden sei, aber dennoch durch ihn die
Hörigkeit in England den Todesstoß erhielt. Demgegenüber
weist Professor 0. darauf hin, daß nach neueren Detail-
forschungen Streitigkeiten zwischen Gutsherrn und ihren
Bauern auch noch im folgenden Jahrzehnt sehr häufig waren und
daß das Parlament in dieser Zeit reaktionäre Tendenzen zeigte.
Mag somit nun auch der Aufstand keinen unmittelbaren Erfolg
gehabt haben, so mußte er doch immer den herrschenden
Klassen als Warnung vor Augen stehen und zur Vorsicht
mahnen. Die Ratlosigkeit der Ordnungsparteien während des
Aufstandes, dem eigentlich außer dem jungen König nur der
Bürgermeister Walworth und der streitbare Bischof von Nor-
wich tatkräftig entgegentrat, zeigt uns, daß ein genügender
Schutz gegen eine allgemeine Volkserhebung damals nicht
bestand; umsomehr mußte man die Wiederkehr einer solchen
durch Vermeidung von Streitigkeiten verhindern. Tatsäch-
lich wandten sich, um Arbeitskräfte zu sparen, viele
Gutsherrn vom Ackerbau zur Viehzucht und Wollproduktion,
England. 177
auch nahm die Umwandlung der Frondienste in Pachtzins
ihren Fortgang, so daß am Schluß des 14. Jahrhunderts die
Hörigkeit in England fast ein toter Buchstabe war. Die eng-
lischen Bauern gewannen im Laufe des 15. Jahrhunderts mehr
und mehr Einfluß auf das nationale Leben, ihnen verdankt
England den Sieg bei Azincourt. In der nKlageschriff" Jack
Cades vom Jahre 1450 finden die Frondienste keine Er-
wähnung.
Gr.-Lichterfelde. Parow.
Oliver Cromwell. Von Samuel Rawson Gardiner. Übersetzung
von E. Kirchner. Mit einem Vorwort von A. Stern. Mün-
chen und Berlin, R. Oldenbourg. 1903. VI u. 228 S. (Histo-
rische Bibliothek. XVII.)
Die Gelehrtenwelt kennt zur Genüge die Bedeutung von
Rawson Gardiners Lebenswerk. Es war der Erforschung
der englischen Geschichte eines halben Jahrhunderts gewid-
met. Das gesamte, in britischen Landen erreichbare, ge-
druckte und handschriftliche Material, dazu in erheblicher
Menge die Schätze fremder Archive, sind von dem Autor
durchforscht, gesichtet und kritisch verarbeitet worden. Er
hat sein Vaterland durchreist und ist über die Schlachtfelder
des Bürgerkrieges gewandert. So hat er, mit einer wissen-
schaftlichen Rüstung angetan, wie keiner vor ihm, seine Auf-
gabe gelöst, langsam fortschreitend, in jedem seiner Bände
die Geschichte nur weniger Jahre behandelnd. In diesem
unvergleichlich soliden Aufbau liegt die Größe des Werkes,
welches sich nun über den gesamten Zeitraum vom Tode
Elisabeths bis zur Höhe des Protektorats erstreckt. Denn
ehe die Erzählung bis zur Restauration geführt worden war^
hat der Tod dem unermüdlichen Arbeiter die Feder aus der
Hand genommen.
Die Gardinerschen Werke werden ihren Ruhm behaupten
ebenso sehr als Denkmal eines ungeheuren Gelehrtenfleißes,
wie als das unentbehrliche Mittel der Belehrung über die
Periode, welcher sie gewidmet sind. In Deutschland haben
sie einen größeren Leserkreis wohl kaum gefunden, vielleicht
weil über der gewissenhaften Untersuchung und Erzählung
Hittoritcbe Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 12
1 78 [Literaturbericht.
der Einzelereignisse der Überblick über die Gesamtentwick-
lung nicht immer leicht festzuhalten ist, auch weil die ab-
schließenden Urteile über Personen und Dinge zu selten auf-
treten, überhaupt — bei aller Anerkennung sei es gesagt —
weil Gardiners Arbeiten, von der künstlerichen Seite betrachtet,
mit so manchem anderen englischen Geschichtswerke des
19. Jahrhunderts — man denke an Macaulay und Carlyle,
oder auch nur an Freeman und Froude — doch nicht ganz
wetteifern können. An wissenschaftlichem Wert aber werden
sie sicherlich von keinem der ebengenannten Autoren über-
troffen.
Nun hat aber Gardiner noch eine einbändige Biographie
Cromwells verfaßt, welche, mit prächtigen Portraits geschmückt,
zuerst 1899, 300 Jahre nach Cromwells Geburt, dann noch
einmal in einfacherer Ausstattung erschien. Man kann es
nur mit Genugtuung begrüßen, daß die Redaktion der H. Z.
der deutschen Übersetzung dieses Buches einen Platz in
ihrer „Historischen Bibliothek* gegönnt hat.
Was hier vorliegt, ist in biographischer Anordnung eine
knappe Zusammenfassung des ungeheuren, in Gardiners
Werken über die englische Revolutionsepoche enthaltenen
Stoffes.
Inbezug auf die mitgeteilten Tatsachen wird einem solchen
Autor gegenüber die Kritik wenig zu sagen haben. Sie darf
sich höchstens unterfangen, über die Gruppierung des Stoffes,
über Auffassung u. dgl. zu reden.
Gardiner stellt, ohne gerade die anderen Seiten seines
Themas zu vernachlässigen, die eigentlich konstitutionelle Frage
in Cromwells Leben scharf in den Vordergrund. Er findet
(S. 84, 85) das konstitutionelle Problem, wie es 1689 gelöst
ward, schon durch Cromwell einmal in aller Schärfe formu-
liert. Er sieht auf der einen Seite Cromwells Bestreben, streng
auf dem Wege des Gesetzes zu wandeln, auf der andern die
übermächtige Notwendigkeit, das Schicksal des Landes immer
wieder in die Hände des Heeres zu legen, d. h. der militäri-
schen Gewalt ihren Willen zu tun. Gardiner sieht in diesem
Gegensatze, in der Unmöglichkeit, die militärischen Politiker
auf die Dauer in Schach zu halten, „die Tragik, die erhabene
Tragik* von Cromwells späterer Laufbahn.
England. 179
Indem nun die von diesem Gesichtspunkte aus besonders
wichtigen Epochen und Entscheidungen in Cromweils Lauf-
bahn, sein Auftreten im langen Parlament, besonders die Ver-
handlungen des Armeerates im Jahre 1647, sowie Cromweils
Stellung zu seinen eigenen Parlamenten ausführlich gewür-
digt werden, tritt die Behandlung anderer Fragen naturgemäß
etwas in den Hintergrund. Dies gilt sogar von der Krieg-
führung Cromweils, wobei seine militärischen Eigenschaften
vielleicht noch vorsichtiger gewürdigt werden, als es in den
früheren Werken Gardiners geschehen war. Man ist ein wenig
überrascht, das Urteil zu vernehmen, daß Cromwell zuerst
im Jahre 1651, also just am Ende seiner militärischen Lauf-
bahn, strategisches Können bewiesen habe. Dementsprechend
wird z. B. der Feldzug von Dunbar auf die Formel gebracht,
daß der Kampf sich zu Cromweils Gunsten entschied, sobald
der Wettbewerb der Strategie sich in einen Wettbewerb der
Taktik verwandelt habe. Schon Firth {Engl.HisL Rev. XV, 175)
hat sich gegen die zu enge Deutung des Begriffes Strategie
bei Gardiner erklärt, wie auch auf die günstiger lautenden
Urteile der über Cromwell handelnden Militärschriftsteller hin-
gewiesen.
Etwas zu kurz kommt auch die Behandlung der eigent-
lichen Regierung Cromweils als Protektor, seiner inneren und
auswärtigen Politik. Was insbesondere die letztere betrifft,
so war Gardiner in späteren Jahren in seinem Bestreben, das
seit dem 17. Jahrhundert oft wiederholte Lob von Olivers aus-
wärtiger Politik nicht zu übertreiben, geradezu zu einem recht
ungünstigen Urteile über diese gelangt. Es läuft im Grunde
auf den alten Vorwurf hinaus, daß das von Cromwell selbst
häufig ausgesprochene Streben nach einem großen Prote-
stantenbunde, zum Schutze gegen die von den katholischen
Mächten drohende Gefahr, ein grober Anachronismus (S. 213)
gewesen sei, und ferner auf die Erwägung, daß die Finanzen
des Protektorats zu schwach waren, um eine so weitgreifende
Politik wie Oliver sie verfolgte, auf die Dauer unmöglich zu
machen. Ich habe in meiner Cromwell-Biographie bereits den
Nachweis versucht, daß Cromweils Politik am Ende doch
von politischen Gesichtspunkten bestimmt wurde, und daß
sich der religiöse Gedanke bei ihm, ohne daß man von
12*
180 Literaturbericht.
Heuchelei reden kann, zuletzt immer dem nationalen Bedürf-
nisse unterordnete. Sonst wäre auch der Eindruck dieser
Politik in Europa nicht ein so gewaltiger gewesen. (Vgl. auch
Firth, a. a. 0.)
Es läßt sich wohl denken, daß Gardiner seine herab-
stimmende Schätzung der auswärtigen Politik des Protektors
selbst noch modifiziert hätte, wenn es ihm vergönnt gewesen
wäre, seine Erzählung bis zur Restauration weiter zu führen
und den großen Unterschied in der europäischen Stellung
Englands, zu Lebzeiten und gleich nach dem Tode Olivers
aus den Quellen heraus zu entwickeln.
Freiburg i. B. W. Michael.
Geschichte des ukrainischen (ruthenischen) Volkes. 1. Bd.: Ur-
geschichte des Landes und Volkes. Anfänge des Kijever
Staates. Von M. HruSevskyj. Autorisierte Übersetzung
aus der zweiten ukrainischen Ausgabe. Leipzig, B. G.Teubner.
1906. XVIII u. 754 S.
Das vorliegende Werk kann in der westeuropäischen
wissenschaftlichen Literatur als das erste seit Engels Ge-
schichte der Ukraine (1793) gelten, das eine Gesamtdarstellung
des ukrainischen (kleinrussischen oder ruthenischen) Volkes
enthält. Lag dem Vf. schon wegen der Wichtigkeit, welche
die Kenntnis der Geschichte des ukrainischen Volkes an sich
besitzt, daran, auch die geschichtsfreundlichen Kreise im
Deutschen Reiche mit den Ergebnissen seiner Forschungen
vertraut zu machen, so bewog ihn hierzu noch der Umstand,
daß diese Geschichte, „wie überhaupt die ganze wissenschaft-
liche Literatur in ukrainischer Sprache in Rußland (bis 1904)
verboten war*, und er hoffen durfte, durch eine Ausgabe in
deutscher Sprache ihr den Eingang nach Rußland zu er-
zwingen, um sie jenen Kreisen, für die sie vor allem bestimmt
war, in die Hände zu bringen. Über den Plan und Inhalt
des gesamten Werkes geben die Ausführungen auf den ersten
Seiten Aufschluß: darnach enthält der größere Teil des vor-
liegenden ersten Bandes die Grundlagen, auf denen sich die
Geschichte des ukrainischen Volkes aufbaut: die Ansiedlung
auf seinem gegenwärtigen Territorium und die folgenden
Jahrhunderte, welche die Organisation des russischen Staates
Osteuropa. 181
vorbereiten, die Bemühungen der Kijever Dynastie, alle Teile
des ukrainischen Volkes zu einem einheitlichen politischen
Körper zu vereinigen usw. Diese Periode bildet noch den
Inhalt des zweiten und dritten Bandes. Im 14. Jahrhundert
gelangen die ukrainischen Länder teils an Polen teils an Lit-
tauen, und beginnt das Überwiegen des westlichen über den
byzantinischen Einfluß. Diese Teile werden im 4. und 5. Band
(bis zu letzterem, an das Ende des 16. Jahrhunderts reicht
die ukrainische Ausgabe) dargestellt, ein 6. und 7. Band
werden die Geschichte bis auf die neueste Zeit herabführen.
Der vorliegende 1. Band bringt Dinge, die man mit dem
Vf. selbst als Prolegomena bezeichnen darf: 1. Einleitende Be-
merkungen über das Territorium und die Bevölkerungszahl
des ukrainischen Volkes, seine Rassen- und Sprachzugehörig-
keit usw. 2. Das ukrainische Territorium vor der slavischen
Wanderung mit einem Anhang: die Bewegung der asiatischen
Stämme während der slavischen Ansiedlung. 3. Die slavi-
sche Kolonisation des ukrainischen Territoriums, gleichfalls
mit einem Anhang: die Kolonisationsverluste im 10. Jahrhun-
dert, und 4. Kultur und Lebensweise der ukrainischen Volks-
stämme seit den Zeiten der Ansiedlung. Die eigentliche
Geschichte beginnt mit Nr. 5, S. 374 die Anfänge des Kijever
Reiches; es folgt 6. Abschluß des Ausbaues dieses Reiches,
die Zeiten Wladimirs des Großen (bis 1015). Der Anhang
enthält 61. Beigaben: prähistorische und historische Erläute-
rungen, von denen Nr. 11 die slavische Urheimat, Nr. 16 die
rumänische Frage (das Buch von Jorga ist noch nicht ge-
nannt), Nr. 18 die gothische Migration, Nr. 19 die Spali u. a.
hervorzuheben sind; dann folgen zwei wichtige Exkurse: die
älteste Kijever Chronik und 2. die normannische Theorie.
Es ist bei dem uns knapp bemessenen Raum nicht möglich,
auf die einzelnen Partien dieses wichtigen Buches kritisch
einzugehen, wiewohl viele Punkte zu starkem Widerspruch
reizen dürften. Als die hauptsächlichsten Punkte sind die zu
bezeichnen, mit denen sich die Exkurse befassen. Die Nor-
mannentheorie wird verworfen: die Dynastie Ruriks ist eine
einheimische; allerdings erklärt auch der Vf.: „Ohne die
Theorie der Chronik über den warägischen Ursprung des
russischen Staates und der Fürstendynastie anzunehmen, muß
182 Literaturbericht.
man eine große, wenn auch untergeordnete Bedeutung der
warägischen Truppen im Aufbauprozeß dieses Reiches im
9. bis 10. Jahrhundert anerkennen usw.*" S. 408. Einzelne
Partien des Buches sind auch für die Geschichte der West-
slaven wichtig, z. B. S. 500 ff. Hier wie in den anderen
Partien des Buches ist die fremde Literatur sehr sorgsam
herangezogen worden. Sehr angenehm empfindet man die
Beigabe einer Karte „Osteuropa in der Zeit der Formierung
des Kijever Reiches^, welche die Siedlungsplätze der ost-
slavischen und benachbarten Stämme auf Grund* der ältesten
Chronik darstellt. In jedem Fall darf man es dankbar be-
grüßen, daß dieses wichtige Werk durch die (nicht immer
ganz korrekte) deutsche Übersetzung auch den deutschen
Gelehrtenkreisen zugänglich gemacht wurde. /. L,
Mohammed und die Seinen. Von H. Reckendorf, Professor an
der Universität Freiburg i. B. Leipzig, Quelle 6 Meyer.
1907. 134 S.
Das für weitere Kreise bestimmte Büchlein gibt eine meist
recht frisch und anschaulich geschriebene Darstellung von
1. Mohammeds Wirksamkeit (S. 1—22), 2. Mohammeds Krie-
gen (S. 23—53), 3. Mohammeds Gefährten (S. 54—85),
4. Staatsoberhaupt und Untertanen (S. 86— 115); dazu kommt
noch 5. ein Ausblick (S. 116—132) und 6. ein Anhang: Lit-
teratur (S. 133—134).
Der Vf. schreibt ohne irgendwelche dogmatische oder
religiöse Voreingenommenheit und sucht der Person des
eigenartigen Mannes, der durch sein Wirken als Prophet,
Religionsstifter und Staatsmann einen so tiefen Einschnitt in
die Geschichte der Menschheit gemacht hat, in jeder Hinsicht
gerecht zu werden; dies tritt besonders auch in der Charak-
teristik des Menschen Mohammed auf S. 93—94 hervor.
Ebenso charakterisiert er recht zutreffend an mehreren Stellen
das geringe Interesse, das die arabischen Beduinen, christ-
liche sowohl wie islamische, an religiösen Dingen, genommen
haben. Im 5. Abschnitte aber hätte von der Übernahme der
griechisch-orientalischen Zivilisation durch die Araber die
Rede sein sollen; was subjektiv für die Araber „dringende
Neuerungen* (S. 125) waren, waren objektiv doch zum
Orient. 183
großen Teile längst bestehende Einrichtungen. Für den
Nichtarabisten wäre vielleicht auch eine etwas schärfere Defi-
nition des Begriffes „Tradition" erwünscht gewesen. Jeden-
falls aber hätte eine Definition des Wortes „Islam" nicht
fehlen sollen. Über die rechtlichen Dinge, soweit sie in
diesem Buche berührt sind, zu urteilen, muß ich Spezial-
kennem überlassen.
Von Druckfehlern habe ich mir, um nicht aus der Übung
zu kommen, etwa ein Dutzend notiert; es handelt sich aber
meist nur um Verwechslung von n und u. S. 127, Z. 19
wird jeder leicht Kuba in Kaba verbessern. Auf S. 102, Z. 10
von unten muß in Wehrgeld das h fehlen; Wergeid hat be-
kanntlich nichts mit wehren zu tun.
Straßburg i. E. E. Littmann.
Notizen und Nachrichten.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, welche sie an dieser
Stelle berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion.
Allgemeines.
„Neue Weltanschauung^ nennt sich eine „Gesellschaft
für Kulturfortschritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage", die
unter gleichem Titel auch eine neue Monatschrift (redigiert von
W. Breitenbach) begründen will (Stuttgart, Fritz Lehmann). Sie
sei hier erwähnt, weil sie ihr Arbeitsgebiet auch auf Religions-
und Kulturgeschichte, Völkerkunde etc. erstrecken will.
Die Akademie zu Bologna hat jetzt eine „Classe di scienze
moraW erhalten, die in eine historisch - philogische und eine
juristische Sektion zerfällt und jährlich einen Band ^Memorie*
veröffentlichen wird. Aus den vorliegenden ersten beiden Heften
des ersten Bandes erwähnen wir eine Untersuchung Albinis
über den Liber Jsottaeus, eine humanistische Gedichtsammlung
des 15. Jahrhunderts, und von Gaudenzi: Lo svolgimento paral-
lelo del diritto langobardo e del diritto romano a Ravenna.
Eine neue Zeitschrift, die ausschließlich der franziskanischen
Geschichtsforschung dienen soll, hat der Minoritenorden ins Leben
gerufen. Dsls „Archivum Franc iscanum historicum' wird
von dem Collegium s, Bonaventurae in Brozzi-Quaracchi bei
Florenz herausgegeben und soll in Vierteljahresheften erscheinen
(Preis des Jahrgangs 14 Lire). Den Inhalt der Zeitschrift werden
Veröffentlichungen von Quellen und Abhandlungen zur Geschichte
des Franziskanerordens, Beschreibungen franziskanischer Hand-
schriften, Besprechungen der neuen einschlägigen Wissenschaft-
Allgemeines. 185
liehen Erscheinungen und eine fortlaufende franziskanische Biblio-
graphie und Ordenschronik bilden. Dem internationalen Cha-
rakter der Zeitschrift entsprechend, ist den Mitarbeitern, wenn
auch in erster Linie der Gebrauch der lateinischen Sprache ge-
wünscht wird, die Wahl zwischen der französischen, italienischen,
englischen, deutschen und spanischen Sprache bei Abfassung
ihrer Beiträge freigestellt. Das erste bisher erschienene Viertel-
jahresheft (208 S.) macht einen recht günstigen Eindruck und
berechtigt zu der Erwartung, daß die franziskanischen Studien
durch die neue Zeitschrift mannigfache Förderung finden werden.
Herman Haupt
Das Beiheft zum 28. Bande der Zeitschr. f. Kirchengeschichte
bringt die sorgfältige „Bibliographie der kirchenge-
schichtlichen Literatur'', Jahrgang 1906/07. Einen „histo-
risch-pädagogischen Literaturbericht** über das Jahr 1906
bietet das 15. Beiheft zu den Mitteilungen der Gesellschaft für
deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte.
Sehr verdienstlich ist das Unternehmen der „Bibliothek
wertvoller Memoiren*, das Dr. Ernst Schultze in Hamburg
(Gutenbergverlag) begonnen hat. Er wendet sich selbst aus-
drücklich mehr an den gebildeten Laien als an den Historiker
von Fach, der von den hier gebotenen Obersetzungen doch
immer zu den Originalen greifen müßte. Aber auch der Histo-
riker von Fach ist im Nebenfach gebildeter Laie, der es sich er-
lauben darf, Memoirenwerke aus ihm ferner liegenden Gebieten
einmal in einer leicht zugänglichen Obersetzung zu lesen. Er-
schienen sind bisher Bd. 1 : Reisen Marco Polos, bearbeitet von
H. Lemke (6M.), Bd. 2: Bartholomäus Sastrow und Hans v. Schwei-
nichen, bearbeitet von M. Goos (5 M.), Bd. 3: Aus der Dekabristen-
zeit, bearbeitet von A. Goldschmidt (5 M.), Bd. 4: Die Cortezschen
Berichte über die Eroberung von Mexiko, bearbeitet von E. Schultze
(6 M.), Bd. 5: Graf Ph. v. S^gur, bearbeitet von Kircheisen (6 M.),
Bd. 6: Erinnerungen aus dem indischen Aufstand 1857, bearbeitet
von El. Braunholtz (6 M.). In Vorbereitung sind: Memoiren aus
dem spanischen Freiheitskampfe 1808 — 1811 und die Erinnerungen
des Generals Gordon of Khartum.
Die auf dem Baseler Philologentage gehaltenen pädagogi-
schen Vorträge von Klein, Wendland, Brandl und Har-
nack sind unter dem Titel „Universität und Schule* jetzt ge-
sammelt erschienen (Leipzig, B. G. Teubner. 87 S. 1,50 M.).
Harnack behandelt darin die Beziehungen zwischen Universität
und Schule im Geschichtsunterricht. Sein Wunsch, daß auf
186 Notizen und Nachrichten.
allen Hochschulen ein Kolleg über Weltgeschichte in zwei oder
drei Semestern gelesen werde, generalisiert wohl zu stark. Gewiß
sollte überall allgemeine Geschichte im Harnackschen Sinne als
„Geschichte des Geistes* gelesen werden; eine solche verträgt
aber auch noch mancherlei andere Gewänder als die Uniform des
dreisemestrigen Weltgeschichtskollegs. Seinen übrigen Wünschen
(mehr Berücksichtigung der römischen Kaiserzeit und Einführung
in die Elemente der Quellenkritik im Geschichtsunterricht, Kolleg
über Bürgerkunde an den Universitäten) stimmen wir leichter zu.
Rudolf Euckens Aufsatz ,L'histoire et la vie" {Revue de
Synth, hist. XV, 3) bezweckt, den lebendigen Zusammenhang
echter Geschichtsphilosophie mit unserem Leben darzulegen,
worüber er in der „Kultur und Gegenwart* ausführlicher ge-
handelt hat.
Gustave Glotz, der Nachfolger Guirauds an der Sorbonne,
bringt in der Rev, Internat, de l'enseignement 54, 12 „Räflexions
sur le but de l'histoire^, (den Inhalt seiner Einleitungsvorlesung
über griechische Geschichte), worin er sich als einen geläuterten
Soziologen, d. h. als einen maßvollen Kritiker gegenüber dem
historischen Gesetz und der vergleichenden Methode zeigt. Wenn
er dabei warnt, bei Vergleichen von einem Volk wahllos zum
andern zu springen, so richtet sich diese verständige Mahnung
leider nicht nur an französische Forscher. W, G.
Das gesamte 2. Heft des 15. Bandes der Revue de Synth, hist,
gilt Deutschland. And 1er eröffnet es mit einem Aufsatz über
j^Nietzsche et Jacob Burckhardt" , der vielleicht nach dem Er-
scheinen von Bernoullis Buch über Overbeck mancherlei Ände-
rungen erfahren dürfte ; R ^ a u weist Woltmanns Germanentheorie
für Frankreich als eine anthropologische Paradoxie zurück;
Pineau schildert die deutsche Literatur am Ende des 19. Jahr-
hunderts: gDu naturalisme au n^o-romantisme" ; Lichten-
berg e r zeigt in einem selbständigen Aufsatz die Anschauungen
Lamprechts über die deutsche Entwicklung im 19. Jahrhundert
an und beschäftigt sich in einem zweiten Aufsatz mit der deut-
schen Musik im 19. Jahrhundert, insbesondere mit neuen Ver-
öffentlichungen über Richard Wagner. Pagfes kritisiert ausführ-
lich das Werk von Ernest Denis, La fondation de VEmpire Alle-
mand (1906), worin, bei allen Vorzügen, der subjektive Gharakter
der Auffassung und das absichtliche Zurückschieben einer rein
wissenschaftlichen Anschauung zum Prinzip erhoben ist, natur-
gemäß sofort mit dem Eindringen moralischer Urteile, bei denen
übrigens Deutschland gut wegkommt. — R^au zeigt Lichten-
Allgemeines. 187
bergers Buch über ^UAllemagne moderne, son Evolution' an, ein
Buch, das mit vollem Verständnis, ja mit Vorliebe für Deutsch-
land geschrieben ist. — Benrubi schildert auf Grund der „Kultur
der Gegenwarf* die „Tendances actuelles de la philosophie en
Allemagne" . — Auch alle kleineren Notizen des Heftes gelten
Deutschland. Die Freude über dieses starke Interesse der Fran-
zosen an unserem Lande wird hoffentlich nur die eine Wirkung
haben: auch deutsche Studien über Frankreich immer neu zu
beleben.
Ernst Troeltschs erster Aufsatz über „Die Soziallehren
der christlichen Kirchen*^ (Arch. f. Sozialwiss. u. Sozialpol. 26, 1)
prüft die im Wesen des Christentums liegende, aus dem Evan-
gelium zu gewinnende „soziologische Idee^, sowie deren Ausbau
und Organisation. Durch diesen Aufsatz unmittelbar angeregt
sind die Ausführungen Harnacks in den Preuß. Jahrbüchern, April.
F. Tönnies beschließt im selben Hefte des Arch. f. Sozial-
wissensch. den 1. Teil seiner Ausführung über „Ethik und Sozia-
lismus^.
Brandis Aufsatz über „Das Werden der Renaissance", zu-
erst in der Deutschen Rundschau 34, 6, dann erweitert als Göt-
tinger Kaisergeburtstagsrede erschienen, sollte besser, wie es im
Texte denn auch geschieht, das „Werden der Auffassung von
der Renaissance" heißen, denn das Werden der Vorstellungen
über dieses Zeitalter ist darin behandelt — eine willkommene
Ergänzung zu dem, was Goetz in seiner Tübinger Antrittsrede
über „Mittelalter und Renaissance" (H. Z. 98) gegeben hat.
Lacombe setzt in der Rev, de Synth, hist, XV, 3 seine
gNotes sur Taine' fort^ diesmal „Le probUme de la Terreur* be-
handelnd.
„Die Soziologie Albert Schäffles" behandelt P. Barth in
der Vierteljahrschr. f. Philos. u. Soziol. 31, 4, dabei als grundsätz-
lichen Irrtum Schäffles bezeichnend, daß er den Begriff der Gesell-
schaft als eines geistigen Organismus nicht klar genug erfaßt habe.
In seiner Akademierede auf den verstorbenen J.-A. Lair
(1836—1907), abgedruckt Bibliothique de l'äcole des chartes 68, 5/6
zeichnet Perrot das Bild eines weitblickenden, überaus tätigen
Geschäftmannes, der in ergebnisreichen und umfassenden Studien
zur mittelalterlichen und neueren Geschichte Erholung suchte
von arbeitsreichen Tagen.
Aus der Zeitschrift für historische Waffenkunde 4, 9 ist ein
Aufsatz W. Erbens, Zur Methode der waffengeschichtlichen
188 Literaturbericht.
Forschung, hervorzuheben. Der Verfasser verweist auf die Not-
wendigkeit vergleichender Heranziehung der Museumskataloge
als der einzigen, wenn auch noch so lückenhaften, Nachschlage-
werke auf dem Gebiete der Waffenkunde bei allen einschlägigen
Arbeiten.
Neue Bficher: Asturaro, La sociologia: i suoi metodi e le
8ue scoperte. Parte I, sezione L 2, ed, interamente rifatta ed
ampliata, (Genova, Libreria modema, 5 Lire,) — Gerber, Eng-
lische Geschichte. (Leipzig, Göschen. 0,80 M.) — A. Lang,
A history of Scotland from the roman occupation. VoL 4, (Lon-
don, Blackwood. 20 sh.) — G. de Pascal, Lettres sur l'histoire
de France. Priface de P. BourgeL T. L 2. (Paris, Nouv. Libr.
nationale.) — Pf ister, Histoire de Nancy. T.3. (Nancy, Berger-
Levrault S Cie.) — Manno, Bibliografia storica degli statt della
monarchia di Savoia. Vol. VIII. (Torino, Fratelli Boua.) —
Brown, Studies in the history of Venice. 2 vols. (London,
Murray. 18 sh.) — Serrano, Fuentes para la historia de Gas-
tilla, por los PP. Benedictinos de Silos. Tomo II. (Valladolid,
Impr. de Cuesta. 10 Pes.) — Budgä, The Egyptian Sudan, its
history and monuments. 2 vols. (London, Ryl. 42 sh.) — Parodi,
Storia dei cavalieri di s. Giovanni di Gerusalemme. (Bari, La-
terza e figli.)
Alte Geschichte.
Aus der Revue de V histoire des religions 1908, 1 notieren
wir A. M ort et: Du sacrifice en igypte.
Bei der zunehmenden Bedeutung der Papyri wie bei der
leider auch zunehmenden Zersplitterung der Veröffentlichungen
machen wir auf M. Z e c h s zusammenfassenden Bericht : La pa-
pyrologie grecque in Bulletin de VAcadimie r. d'archiologie de
Belgique 1907, 5 aufmerksam.
Lesenswert und anregend ist die Arbeit von A. Furt-
wängler: Zur Einführung in die griechische Kunst (Deutsche
Rundschau 1908, 5/6).
In den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum, Ge-
schichte und deutsche Literatur und für Pädagogik 1908, 3 ver-
öffentlicht J. G e f f c k e n eine sehr lesenswerte Arbeit über Kaiser
Julianus und die Streitschriften seiner Gegner, worin er der Per-
sönlichkeit des Kaisers im literarischen Kampfe mit seinen Gegnern,
anderseits dem Wesen der bedeutenderen Feinde Julians gerecht
Alte Geschichte. 189
zu werden mit Glijck versucht Dann weisen wir noch hin auf
Fr. Scbemmel: Die Hochschule von Konstantinopel im 4. Jahr-
hundert p. Ch. n.
In den Mitteilungen des Kais. Deutschen Archäologischen
Instituts, Athen. Abteilung 32, 4 (1907) berichtet F. Noack: Die
Mauern Athens über seine Ausgrabungen und Untersuchungen,
welche ungewöhnlich reich an Ertrag und Aufschlüssen aller
Art waren. Weiter folgt die Arbeit W. Dörpfelds: Die kreti-
schen Paläste, welche sich im wesentlichen gegen die Ausfüh-
rungen von D. Mackenzie wendet.
Im Hermes 43, 2 sucht R. Laqueur: Die literarische Stel-
lung des Anonymus Argentinensis, abweichend von U. Wilcken
zu beweisen, daß der Anonymus die Capitulatio eines Buches
Tte^i Jfifioad'ivovi enthält und nicht mehr als Epitome von Demo-
sthenes Schollen aufzufassen ist. Jedenfalls — und das ist für
den Historiker die Hauptsache — hat sich Wilckens Kombination
des Anonymus mit Demosthenes Rede gegen Androtion glänzend
bewährt. Weiter ist auf die wichtige Arbeit 0. Busolts hinzu-
weisen: Der neue Historiker und Xenophon und auf die kurze
Miszelle -von M. Holle au x: La rencontre d'Hannibal et d'An"
Hochos le Grand ä äphkse. Höchst instruktiv ist der Aufsatz von
K. Holl: Das Fortleben der Volkssprachen in Kleinasien in nach-
christlicher Zeit.
Aus dem Jahrbuch des Kais. Deutschen Instituts nebst
Archäologischen Anzeiger 1907, 4 notieren wir H. Thiersch:
Gjölbaschi und lykisches Mutterrecht und Ad. Schulten: Aus-
grabungen in Numantia.
In der Revue archiologique 1907, November-Dezember setzt
G. S e u r e seine trefflichen Forschungen über Nicopolis ad Istrum.
itude historique et dpigraphique fort, und zwar mit einer Zu-
sammenstellung der nikopolitanischen Inschriften. Dann versucht
L. S i r e t einen Essai sur la Chronologie protohistorique de l'Es-
pagne zu geben, und zum Schluß veröffentlichen R. Gagnat et
M. Besnier ihre vortreffliche Revue des publications äpigra-
phiques relatives ä l'antiquitä romaine für September bis De-
zember 1907.
In der Revue archiologique 1908, Januar-Februar sucht
S. Reinach; Tarpeia nachzuweisen, daß hier ein Mythus aus
einem Kultritus entstanden ist, womit er wohl das Richtige ge-
troffen hat. Weiter notieren wir eine aus dem Nachlaß von
Fustel de Goulanges herausgegebene Vorlesung: Les dibuts
de l'histoire de la Gaule und S. de Ricci: Une chronique Ale-
190 Notizen und Nachrichten.
xandrine sur papyrus. Mit vielem Vergnügen wird man O. Per-
rots Lettres de Grice lesen.
Unter dem Titel: ,Divina Philippica^ zeigt S. Reinach
sehr fein den Einfluß Ciceros auf Lucanus und führt darauf vor
allen Dingen Lucans Enthusiasmus für Pompeius zurück (Revue
de Philologie, de littirature et d'histoire anciennes 1908, 1).
Ebenda veröffentlicht E. Cavaignac eine Arbeit sur les
variations du cens des classes „Soloniennes* ,
In den Harvard Studies in classical philology 18 (1907) ver-
öffentlicht A. S e a r 1 e Notes on the battle of Pharsalus,
Sehr interessante und an Ergebnissen reiche Studien zur
Oberlieferungsgeschichte der Römischen Kaiserurkunde (von der
Zeit des Augustus bis auf Justinian) veröffentlicht B. Faß im
Archiv f. Urkundenforschung 1, 2 (1908).
M. Guidi veröffentlicht in den Rendiconti della r, Acca-
demia dei Lincei, Classe di scienze morali 1907, 6/8 einen ßioQ di
Costantino, die viel Neues enthält und unsere Kenntnisse mehrt.
In den Sitzungsberichten der philosophisch-philologischen
und der historischen Klasse der Kgl. Bayer. Akademie der Wissen-
schaften 1907, 3 findet sich eine Arbeit von J.Friedrich: Über
die kontroversen Fragen im Leben des gotischen Geschicht-
schreibers Jordanes.
J. Declareuil setzt seine schon angezeigten Quelques pro-
biimes d'histoire des institutions municipales au temps de Vem-
pire romaine fort in der Revue historique de droit franpais et
itranger 1908, 1.
In der Neuen kirchlichen Zeitschrift 19, 1 (1908) findet sich
die Fortsetzung der schon angezeigten Untersuchungen von Th.
Zahn: Zur Heimatkunde des Evangelisten Johannes. 3: Die
Stadt Ephraim 11, 54. Ebendort beginnt E. Nestle Forschungen
über: Die Eusebianische Evangeliensynopse zu veröffentlichen.
Im Expositor 1908, März berichtet J. R. Harris über The
present state of the controversy over the place and time of the
hirth of Christ.
Festschrift zur 49. Versammlung Deutscher Philologen und
Schulmänner in Basel im Jahre 1907. Basel, Buchdr. Em. Birk-
häuser, 1907 (aufgedruckt: Leipzig, Verlag Carl Beck). 15 M. —
Diese gut ausgestattete Festschrift enthält 22 Aufsätze, von denen
hier nur diejenigen, welche auf die alte Geschichte Bezug haben,
kurz erwähnt sein mögen. Zunächst bespricht Fr. Münz er die
Komposition des Velleius, der ja allerdings zu Basel in einer be-
Alte Geschichte. 191
sonderen Beziehung steht, weil er dort ans Licht gezogen und
zuerst gedruckt wurde. Schon damals wurde sein Wert für
Deutschlands älteste Geschichte voll gewürdigt, und das ist auch
heute nicht anders. Was aber Münzer anstrebt, in seine Arbeits-
weise uns einen Blick tun zu lassen und auf die Quellen auf-
merksam zu machen, welche er benutzte, ist ihm wohlgelungen;
sein Urteil: Velleius hat viel von der Art und Unart des mittel-
mäßigen Journalisten ist gut begründet. Was hier von der Auf-
lösung der Geschichtschreibung in einzelne Biographien, von
derartigen Biographiensammlungen und weiter von der Art und
Weise, wie Velleius sie ausschrieb, gesagt wird, gibt der Münzer-
schen Arbeit ihren Wert. Auch Fei. Stachel in knüpft an
Lokaltradition an, wenn er in seiner Arbeit : Giceros Briefwechsel
mit Plancus die Geschichte des Gründers der colonia Raurica
näher erforscht. Man wird ihm mit Vergnügen zugeben, daß
seine Interpretation des Briefwechsels scharfsinnig ist und zur
Aufhellung der Geschichte des Jahres 43 n. Chr. wesentlich bei-
trägt. Damit ist auch gesagt, daß er in einigen Punkten das
Bild vom Lebensgange dieses Mannes schärfer und sorgfältiger
gezeichnet hat als E. Jullien. Weiter sei hingewiesen auf K.Joe 1:
Zur Entstehung von Piatons „Staat** und A. Körte: Der Kothurn
im 5. Jahrhundert, Arbeiten, welche vielfache Anregung bieten.
Br.
Im Verlage von W. Rothschild, Berlin ist eine deutsche
Obersetzung von Fustel deCoulanges CiU antique erschienen
(„Der antike Staat, Studien über Kultus, Recht und Einrichtungen
Griechenlands und Roms. Autorisierte Obersetzung von Paul
Weiß. Mit einem Begleitwort von Heinr. Schenkl. 1907. XI
u. 476 S.). Diese Obersetzung kann als ein Wagnis erscheinen,
einmal weil sie, obgleich gewandt und lesbar, doch den literari-
schen Reiz des Originals nicht erreichen kann, und dann, weil
der Leser eine Naivität in der Benutzung der antiken Quellen oft
in Kauf nehmen muß, die man heute keinem Anfänger verzeiht.
Dennoch wünschen wir, daß die Obersetzung dem Buche neue
Freunde gewinne, denn es gehört zu denen, wo die geistige
Kraft und die historische Intuition des Autors durch alle Irrtümer
und Fehlmethoden hindurch zu fruchtbarer Erkenntnis gelangt.
Es ist bekanntlich das Verdienst des 1864 zuerst erschienenen
Buches, die tiefen Wirkungen der primitiven Religion der Antike,
des Ahnenkultus und der Religion des häuslichen Herdes durch
alle Gebiete des antiken Lebens zu verfolgen, mit jener unbeirr-
baren und starren Konsequenz freilich zugleich, wie sie der fran-
zösische esprit ä systime, wenn er ein neues Erkenntnismittel in
192 Notizen und Nachrichten.
die Hand bekommt, leicht entwickelt. Aber Werke dieser Art,
gemischt aus starken Irrtümern und starken Wahrheiten und doch
dabei aus einem Guß, üben einen unverwüstlichen Reiz aus.
Neue Bficher : Chronicles concerning early Babylonian kings,
including records of the early history of the Kassites and the
country of the sea, ed. by L, W. King. Vol. 1.2. (London, Luzac
S Co. 8,6 sh.) — Francotte, La polis grecque. Recherches sur
la formation et V Organisation des citäs, des ligues et des con-
fädärations dans la Grice ancienne. (Paderborn, Schöningh.
6,60 M.) — Hans Weber, Attisches Prozeßrecht in den attischen
Seebundsstaaten. (Paderborn, Schöningh. 2 M.) — Holmes,
Ancient Britain and the Invasion of Julius Caesar. (Oxford,
Clarendon Press. 20 sh.)
RSmisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250.
Eine ausführliche Beschreibung und Darstellung des großen
römischen Friedhofs in Regensburg nebst Besprechung seiner
Gefäße und Fibeln gibt H. Lamprecht in Verhandlungen des
Historischen Vereins von Oberpfalz und Regensburg 58 (1907).
Zwei Aufsätze von A. Riese in der Westdeutschen Zeit-
schrift 26,3 gelten einem Offizier Kaiser Domitians, L. Appius
Norbanus Maximus, und den sog. Juppiter- oder Gigantensäulen
Aus dem Korrespondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift 26,
9—12 (den letzten unter diesem Titel erscheinenden Heften)
notieren wir die Berichte von J. Grünenwald über den Fund
eines Torso togatus im pfälzischen Landstuhl, von G. Kro-
patschek über Ausgrabungen im Römerlager von Oberraden
(es ist augusteischen Ursprungs, war für längere Dauer befestigt
und kann sich an Festigkeit mit dem zu Haltern messen), von
F. Koepp über ein angebliches Römerlager beim westfälischen
Niederenne, das sich in Wahrheit als ein viel jüngeres Gräberfeld
herausstellte. W. Vollgraff handelt über Vechten und die
Fossa Drusiana, F. K o e p p über die Ausgrabungen bei Haltern
im Jahre 1907, H. Lehner über solche zu Xanten; Körb er
endlich teilt römische und frühmittelalterliche Inschriften aus
Mainz mit. In den Bonner Jahrbüchern 116 bespricht F. Gramer
alte Befestigungsanlagen zu Kinzweiler bei Eschweiier. Die
Deutsche Literaturzeitung 1908, Nr. 6 und 9 berichtet über die
Aufdeckung eines merowingischen Friedhofs bei Haine-St. Paul in
Belgien, des weiteren über einen reichen Fund von Trierer und
Metzer Münzen zu Büdlich bei Trier. In den Württembergischen
Frühes Mittelalter. 193
Vierteljahrsheften für Landesgeschichte N. F. 17, 1 stellt P. O ö ß I e r
die im Württembergischen während der Jahre 1905 bis 1907 ge-
machten Münzfunde zusammen. — Wir verzeichnen gleich hier
aus der Römischen Quartalschrift 21, 4 die Bemerkungen von G.
A. Weber über das angebliche Grab des hl. Emmeram in Regens-
burg (vgl. auch Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner-
und Zisterzienserorden 27, 1906), aus der Zeitschrift für christliche
Kunst 27, 11 und 12 einen Aufsatz von J. Bachem über den
Meister der Kreuzigungsgruppe im sächsischen Wechselburg.
Albrecht Haupt- Hannover behandelt in der neuen Zeitschr.
für Geschichte der Architektur (Heidelberg 1907) I, 1 und 2 »Die
äußere Gestalt des Grabmals Theoderichs zu Ravenna und die
germanische Kunst". Er macht einen neuen Rekonstruktions-
versuch und betont — sicherlich zu stark — die germanischen
Bestandteile des Werks sowohl in der Ornamentik wie im Deck-
stein. Der Streit wird nie ganz geschlichtet werden, sondern auf
eine subjektive Einschätzung der verschiedenen Momente hinaus-
kommen. Doch bringt Haupt sehr viele und lehrreiche Einzel-
heiten.
Ein erster Aufsatz von G. v. Bezold mit Beiträgen zur
Geschichte des Bildnisses bespricht Bildnisse römischer Kaiser,
aber auch germanischer Herrscher bis auf Ludwig den Frommen
auf Grund von Münzen im Besitz des Germanischen National-
museums (Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1907,
1/2, S. 31 ff.); vgl. auch H. Omont in Atx Bibliothkque de Vicole
des Charles 68 (1907), S. 673 f.
Seiner Arbeit über die verzierten Terra-Sigillatagefäße von
Kannstatt (vgl. 96, 533 und 100, 192. 427 f.) hat R. Knorr eine
solche über „Die verzierten Terra-Sigillatagefäße von Rottweil*
(Stuttgart, W. Kohlhammer 1907, IX, 70 S. mit 32 Taf.) folgen
lassen. Anlage und Ausführung der neuen Veröffentlichung sind
dieselben wie bei ihrer Vorläuferin. Ihre klare Durchsichtigkeit
ist nicht ihr geringster Vorzug, und die große Zahl der Tafeln
veranschaulicht das reiche Material an Sigillaten von mancherlei
Herkunft. Ihre Beschreibung ist ein neuer Beitrag zur Geschichte
der römischen Keramik.
Aus der Revue des questions historiques \2, 165 erwähnen
wir den Aufsatz von P. Allard über die Jugend des bekannten
Sidonius Apollinaris.
Erwähnt seien aus Tilles Deutschen Geschichtsblättern 9,5
die Bemerkungen von J. Kretzschmar über den Stadtplan als
Geschichtsquelle; zur Literatur mag nachgetragen werden der
Historische ZeiUclirilt (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 13
194 Notizen und Nachrichten.
Aufsatz von Borck in der Altpreußischen Monatsschrift, Bd. 31
und 32 (1894 und 1895).
G. Schnürer verteidigt im Historischen Jahrbuch 29, 1
5. 530 ff. seine und Ulivis Behandlung und Ausgabe des Frag-
mentum Fantuzzianum (vgl. 99, 664 f.) gegen die Vorwürfe, die
J. Hai 1er in der Theologischen Literaturzeitung 1908, 1 gegen
sie erhoben hatte.
In der Vierteijahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
6, 1 behandelt Kluge vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte
aus den Zusammenhang zwischen Sippensiedelungen und Sippen-
namen. Er kommt zu dem negativen Ergebnis, daß ein solcher
Zusammenhang nicht nachzuweisen ist, daß also z. B. Ortsnamen,
die auf yingen^ enden, noch nicht auf Sippensiedelungen schließen
lassen.
Wir verweisen in aller Kürze auf den an Etymologien nicht
armen Vortrag von L. Wilser über Namen als Geschichtsquelle,
dessen Abdruck zugleich einen Stammbaum der bayerischen
Agilolfinger enthält (Korrespondenzblatt des Gesamtvereins 56, 2 ;
vgl. diese Zeitschrift 96, 347). Erwähnt mag im Anschluß hieran
die Miszelle von J. Weiß sein, die sich mit Hadrianus Vaiesius,
dem Historiker aus der Zeit Ludwig XIV., und der Frage nach
der Herkunft der Bayern beschäftigt (Mitteilungen des Instituts
für österreichische Geschichtsforschung 29, 1).
Die Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven
und Bibliotheken 10, 2 enthalten mehrere hier zu verzeichnende
Arbeiten. A. Gaudenzi handelt über einen vielleicht in Bobbio
geschriebenen Codex des 11. oder 12. Jahrhunderts mit der irischen
Kanonessammlung und den pseudoisidorischen Dekretalen; zu-
gleich teilt er Briefe von und an Innozenz III. aus dem Jahre
1199 betr. das Kloster San Pietro in Olivete mit. F.Schneider
bespricht acht mittelgriechische Urkunden für die Abtei San
Filippo di Gerace aus den Jahren 1101 bis 1200, um damit die
Wiedergabe ihres Wortlauts zu verbinden. P. Kehr endlich be-
faßt sich mit verschollenen Papyrusbullen, veröffentlicht (S.224f.
nach einer Abschrift, S. 365 ff. nach dem Original) eine Supplik
des Abtes von San Lorenzo di Coltibuono an Kaiser Otto IV.
aus dem Jahre 1209 oder 1210, und macht (S. 369 ff.) eine bisher
unbekannte Urkunde Heinrichs VI. aus dem Jahre 1191 für das
Kloster S. Maria di Montepiano zugänglich.
Während M. J u s s e 1 i n über die Tironischen Noten der
Merowingerkönige berichtet (Bibliothkque de Vdcole des chartes 68,
5/6), knüpfen zwei Studien von W. Erben (Mitteil, des Instituts
Frühes Mittelalter. 195
für österreichische Geschichtsforschung 2% 1) und G. See liger
(Histor. Vierteljahrschrift 1908, 1) an die Ergebnisse der Unter-
suchungen von M. Tangl und H. Breßlau (vgl. 100, 430) an.
Erben schlägt verschiedene neue Lesungen vor; gleich ihm tritt
namentlich Seeliger für die Aufrechterhaltung der alten Ansicht
ein, daß erst in der Mitte des 9. Jahrhunderts der Erzkapellan
Chef der Kanzlei geworden sei. „Für die Geschichte des Erz-
amts kommen als Gründungsjahre 854 und 860, für die Geschichte
des Kanzleramts 868 in Betracht.**
Ein Aufsatz von B. A 1 b e r s in den Studien und Mitteilungen
aus dem Benediktiner- und Zisterzienserorden 28 (1907) gilt der
Oberlieferung von Ludwigs des Frommen Aachener Capitulare
aus dem Jahre 817.
Die dritte und letzte Lieferung von E. Mühlbachers Be-
arbeitung der Regesta imperii ist vor kurzem dank der un-
ermüdlichen Fürsorge von J. Lechner veröffentlicht und damit
ein Werk zum Abschluß gebracht worden, das unter den Bänden
der großen Sammlung stets einen Ehrenplatz behaupten wird.
Ihren Inhalt bilden einmal den Schluß der Regesten Konrads I.
für die Jahre 916 bis 918, das Verzeichnis der verlorenen Karo-
lingerurkunden, deren Anlage nach Empfängern sich als zweck-
mäßig erweist, die Obersicht der erhaltenen Urkunden nach Emp-
fängern, die der zitierten Bücher, zu allem Konkordanztabellen
und endlich Nachträge und Berichtigungen, die von der gleich-
bleibend intensiven Beschäftigung mit karolingischer Geschichte
Zeugnis ablegen. Lechner hat sich keine Mühe verdrießen lassen,
dem Benutzer zu Diensten zu sein und dem Werke Mühlbachers
den Charakter eines nie versagenden Arsenals aufzudrücken:
der Dank Vieler ist ihm sicher. Allem voraufgeschickt sind
außer den Vorreden die historischen, diplomatischen und quellen-
kritischen Einleitungen aus Mühlbachers Feder; auch sie hat
Lechner ergänzt. Möchte er als der dazu Berufene die Neu-
bearbeitung der Regesten der westfränkischen Karolinger über-
nehmen (J. F. Böhmer, Regesta imperii I. Die Regesten des
Kaiserreichs unter den Karolingern 715 — 918. Neubearbeitet von
E. Mühlbacher. 2. Aufl. 1. Band, 3. Abteilung besorgt von J. Lechner.
Innsbruck, Wagner 1908. CXXll, S. 833— 952; vgL diese Zeitschrift
84, 165 f. 93, 529 f.). A. W.
Die Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 29, S. 68 ff.
enthält einen sehr breit angelegten Aufsatz von G. Buch-
krem er über das Grab Karls des Großen im Aachener Münster
(vgl. 91, 155).
13*
1% Notizen und Nachrichten.
M. Jusselins Aufsatz über die monogrammatische Invo-
kation in einigen Urkunden Lothars I. und seines gleichnamigen
Sohnes (Le Moyen Age 1907, Nov.-Dez.) war uns unzugänglich.
Im Archiv für Stenographie 58, 11/12 veröffentlicht M. Tan gl
den Text einer Messe, die in tironischen Noten in einer ursprünglich
Reimser, jetzt vatikanischen Handschrift des 9. Jahrhunderts
überliefert ist.
Zur Geschichte des angelsächsischen Rechts seien zwei Auf-
sätze von F. R o e d e r angemerkt, der eine über die Schoß- oder
Kniesetzung als angelsächsische Verlobungszeremonie, der andere
über den Schatzwurf als Formalakt bei der Verlobung (Nachrichten
von der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, phil.-
hist. Klasse 1907, 3 mit Faksimile einer Handschrift aus dem
11. Jahrhundert). Mit dem Brautkauf nach altalamannischem Recht
befaßt sich der Beitrag von O. Opet zur Festgabe der Kieler
Juristenfakultät für A. Haenel (Kiel und Leipzig 1908), S. 215 ff.
St. Srkulj betrachtet im Archiv für slavische Philologie
29, 2/3 ^drei Fragen aus (!) der Taufe des hl. Vladimir** von
Rußland. Alleinherrscher seit 978 habe er sich Ende 987 taufen
lassen, um die Hand der byzantinischen Prinzessin Anna zu ge-
winnen, mit der er sich 989 vermählte, eine Ehe, die zur Taufe
des russischen Volkes 990, aber auch zur Bindung des russischen
Herrschers an die byzantinische Politik führte. Sie ermöglichte
die Bekämpfung der Bulgaren durch Byzanz, vereitelte die der
Pedenegen durch Rußland, dessen Organisation und Christiani-
sierung Vladimir fördern konnte (f 1015).
Die neue Schrift von A. Gottlob (Ablaßentwicklung und
Ablaßinhalt im 11. Jahrhundert. Stuttgart, F. Enke 1907. VI,
68 S.) setzt sich aus drei Abschnitten zusammen, die sein Werk
über Kreuzablaß und Almosenablaß (ebd. 1906) rechtfertigen, be-
richtigen und ergänzen wollen. Der erste polemisiert gegen An-
zeigen von N. Paulus und weist dessen Meinung zurück, daß
der Ablaß von den individuellen Bußermäßigungen herzuleiten
seL Der zweite gilt den Bußformeln und ihrer Textverwandt-
schaft, der dritte denselben Formeln und dem Ablaßobjekt. Das
wichtigste Resultat, daß der Kreuzablaß dem Almosenablaß sein
Dasein verdankt, läßt die Anfänge des Ablasses in einem anderen
Lichte erscheinen als das voraufgehende Buch, alteriert aber
nicht weiter seine Darlegungen über die Geschichte des Kreuz-
ablasses und die Gesamtentwicklung des Ablaßinstituts. Ein An-
hang bringt die Ablaßformeln des 11. Jahrhunderts, soweit bis
jetzt bekannt, zum Abdruck. Nicht zugänglich war uns der
Frühes Mittelalter. 197
Beitrag von A. M. Koeniger über den Ursprung des Ablasses
in den bei besonderen Gelegenheiten erteilten bischöflichen
Generalabsolutionen von öffentlicher Buße (Festgabe für A. Knöpfler,
herausgegeben von A. Bigelmair u. a., München 1907, S. 167 ff.).
E. Hirsch handelt im Archiv für katholisches Kirchenrecht
88, 1 über die Stellung des Kardinals Deusdedit zur Frage der
Laieninvestitur; der Verfasser selbst bezeichnet sie als minder
wichtig, denn die Beurteilung der Simonie und der von simini-
stischen oder schismatischen Priestern verwalteten Sakramente
durch jenen Kardinal (vgl. 96, 536. 97, 195 f. 99, 195).
Lokalgeschichtlichen Inhalts und Interesses ist der Aufsatz
von J.P.Kirch über den hl. Bernhard von Clairvaux und seine
Wirksamkeit in Lothringen (Histor. Jahrbuch 29, 1).
Eine Studie von A. Hofmeister sucht darzutun, daß Erz-
bischof Eberhard von Salzburg im Jahre 1147 die Regalien vor
der Weihe nachsuchte und empfing; die oft behandelte Stelle in
der Chronik Ottos von Freising (Vll c. 16) muß nicht erst nach
II47 geschrieben sein (Zeitschrift für Kirchengeschichte 29, 1).
Zwei umfangreiche Arbeiten zur Diplomatik sind zu ver-
zeichnen. H. Hirsch untersucht die Urkundenfälschungen des
Klosters Prüfening bei Regensburg, deren Entstehungszeit und
Tendenz durch seine behutsame und gleichzeitig überzeugende
Beweisführung aufgedeckt werden (mit 4 Lichtdrucktafeln; Mit-
teilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung
29, 1). Nicht minder willkommen ist die Studie von F. Salis
über Schweriner Fälschungen, die durch die Beigabe einer Karte
und eines Faksimiles erhöhten Wert erhält (Archiv für Urkunden-
forschung 1, 2).
F. Schillmanns fleißige „Beiträge zum Urkundenwesen der
älteren Bischöfe von Gammln (1158—1343)** untersuchen rund
500 Urkunden nach ihren Empfängern, äußeren wie inneren Merk-
malen, handeln über das Beurkundungsgeschäft, die Einflüsse
fremder Kanzleien und die Fälschungen, um mit einem Vergleiche
des Camminer Urkundenwesens mit dem anderer Bistümer zu
schließen. Von den Anhängen sei hier nur der mit den Regesten
der Bischöfe Arnold und Friedrich (1325—1343) erwähnt. Alles
in allem ein gelungener Beitrag zur Lehre von den mittelalter-
lichen Privaturkunden, der durch die Beigabe zweier Faksimile-
tafeln erhöhten Wert erhält (Marburger Diss.; Leipzig, J. Klink-
hardt 1907. 116 S.).
Die „Untersuchungen zur älteren holsteinischen Geschichte**
von W. Fricke (Jenaer Diss. 1907, 65 S.) befassen sich zu-
198 Notizen und Nachrichten.
nächst mit der Quellenkritik der Chronik der nordelbischen
Sachsen, in der u. a. eine verlorene Aufzeichnung über die vier
ersten- Schaumburger Grafen Holsteins benutzt sein soll. Sie
wollen sodann eine ebenfalls verlorene Lebensbeschreibung des
Missionars Vicelin erschließen und endlich das Jahr 1131 als
Todesjahr des Grafen Adolf I. von Holstein festlegen; vgl. aber
B. Schmeidler im Neuen Archiv 33, 561 f.
Als neues Heft der Scriptores rerum Germanicarum hat H.
Bloch eine sorgfältige Neuausgabe elsässischer Annalen ver-
öffentlicht. Den ersten Teil bilden die Marbacher Annalen, die
sich aber ergeben haben als zusammengesetzt aus einer Chronik
von Hohenburg (631—1212), einer Neuburger Fortsetzung (1213—
1238 bzw. 1262), Straßburger Fortsetzungen (1308—1375). An sie
schließen sich kürzere elsässische Annalen verschiedenen Ur-
sprungs und von verschiedenem Umfang, bis zur Mitte des 14.
Jahrhunderts reichend. Die Edition zeichnet sich aus durch pein-
liche Akribie und den reichhaltigen Apparat erläuternder An-
merkungen, des weiteren durch zwei von A. Hofmeister an-
gefertigte Register, die den Benutzer trefflich unterstützen. Plan
und Inhalt des Bandes legt die Einleitung dar, deren lateinische
Einkleidung die Forderung deutscher Fassung aufs neue wach-
werden läßt: bei so verwickelten quellenkritischen Fragen noch
mühsam lateinische Perioden analysieren und übersetzen zu
müssen, ist recht hart {Annales Marbacenses qui dicuntur [Cro-
nica Hohenburgensis cum continuatione et additamentis Neobur-
genslbusj. Accedunt Annales Alsatici breviores. Hannover und
Leipzig, Hahn 1907. XXIH, 167 S. mit Faksimiletafel). A. W.
Das Buch von J. W i m m e r (Deutsches Pflanzenleben nach
Albertus Magnus 1193—1280) will des Verfassers Werk über die
Geschichte des deutschen Bodens (1905) ergänzen. Aus der
Schrift de vegetabilibus des gelehrten Dominikaners sind dessen
Bemerkungen über Baum- und Strauchformen, Kräuter-, Acker-
und Wiesenpflanzen, Wein- und Obstgärten wiederholt, bald in
Übersetzung, bald in kürzenden Inhaltsangaben, die manchen
lehrreichen Einblick auch in die damalige Kultur gewähren (vgl.
z. B. S. 40 f. über die wirtschaftliche Ausnutzung der norddeutschen
Marschländereien mit ihrem Deichsystem). Ein begründetes Ur-
teil wird nur der Botaniker oder Landwirtschaftler fällen können;
hier sei in Kürze auf die Schrift deshalb verwiesen als lesens-
wert für den, dem noch etwas Sinn für die Natur gebüeben ist
in unserem nicht immer schönen deutschen Bücherwald (Halle a. S.,
Waisenhaus. 1908. 77 S.).
Frühes Mittelalter. 199
Sehr interessant sind die Ausführungen von W. Ebstein
über den Scheintod Ludwigs des Heiligen von Frankreich (1244);
sie ergänzen vom Standpunkt des Mediziners aus die Dar-
legungen von W. Meyer (vgl. 100, 664) zu dem von ihm heraus-
gegebenen Gedichte (Deutsche Medizinische Wochenschrift 1908, 1).
Hermann Fischers Schrift „Der hl. Franziskus von Assisi
während der Jahre 1219—1221« (Freiburg i. Schw. 1907. 144 S.)
schafft für diese wichtigen drei Jahre eine neue Chronologie
(Rückkehr aus dem Orient schon Anfang 1220), betont den
scharfen Gegensatz des Heiligen gegen wissenschaftliche Be-
tätigung im Minoritenorden, beleuchtet das Verhältnis zur Kurie
und läßt in alle die Gegensätze hineinsehen, die Franzens letzte
Lebensjahre verbitterten. Die mit kritischem Sinne gearbeitete
Schrift wird jedenfalls zu einer Revision der bisherigen Chronologie
dieser Jahre führen.
In einer kleinen Schrift von 16 Seiten beschäftigt sich der
französische Franziskusbiograph Abb^ Le Monnier mit den
Stigmen des hl. Franz {Les stigmates de Saint Franpois. Paris,
Dumoulin). Er weist darin nochmals Hases und Renans An-
nahme eines von Elias verübten Betrugs zurück, was vielleicht
bei dem jetzigen Stand der Meinungen nicht mehr nötig ge-
wesen wäre. Dann bekämpft er die von französischen Medizinern
vorgetragenen natürlichen Erklärungsversuche, die — ob sie im
einzelnen richtig sind oder nicht — uns doch jedenfalls den Weg
zur Aufklärung zeigen. Le Monnier beharrt darauf, daß es sich
um ein Wunder handle, und das kann man freilich leicht tun,
wenn man erstens die Quellenberichte nicht scharf untersucht,
sondern Elias, Celanos erste Biographie und Bonaventura gleich-
wertig nebeneinander stellt, und wenn man zweitens jenen wissen-
schaftlichen Drang nicht in sich spürt, die Rätsel der Welt zu
lösen. W. G.
A. Warburgs Aufsatz über „Francesco Sassettis letztwillige
Verfügung** (Kunstwiss. Beiträge, Schmarsow gewidmet, 1907) ist
von doppelter Bedeutung: er zeigt das Verhältnis eines Floren-
tiner Kaufmanns aus altem Geschlecht zu Christentum und An-
tike, und ferner die Notwendigkeit historischer Betrachtung der
Kunstwerke neben der ästhetischen — denn Sassettis Grabmal in
S. Trinitä in Florenz ist von Warburg nur auf historischem Wege
zur vollen Erklärung gebracht worden. Diesen historischen Weg
betont Warburg am Schluße seiner Ausführungen; der ganze
Aufsatz mit seiner feinen Erläuterung der von Warburg neu ge-
fundenen letztwilligen Verfügung Sassettis von 1488 spricht für
200 Notizen und Nachrichten.
die historische Anschauungsweise und für den seelischen Scharf-
biiclc des Hamburger Kunsthistorikers.
Nene Bficher: Brutails, Pixels d'arcMologie du moyen-
dge, (Paris, Picard et fils, 6 fr.) — Lot, Milan ges d'histoire
bretonne (VI^ — XI^ sUcle).( Paris, Champion,) — L. M. Hartmann,
Geschichte Italiens im Mittelalter. 3. Bd., 1. Hälfte. (Gotha,
Perthes. 8 M.) — Codex diplomaticus et epistolaris regni Bohe-
miae. Ed. Gast. Friedrich. Tom. I. Fase. II. (Prag, ßivnäe.
20 M.) — Heck, Die h-iesischen Standesverhältnisse in nach-
fränkischer Zeit. Mit sprachwissenschafU. Beiträgen von Siebs.
(Tübingen, Laupp. 6 M.) — Biron, Saint- Pierre Damien (1007
—1072). (Paris, Gabalda.) — Stevenson, The crusaders in the
Fast. A trief history of the wars of Islam with the Latins in
Syria during the twelfth and thirteenth centuries. (Cambridge,
University Press. 7,6 sh.) — Jörgensen, Der hl. Franz von
Assisi. Aus dem Dänischen von Henriette Gräfin Holstein-Ledre-
borg. (Kempten, Kösel. 5 M.) — Ott, Thomas von Aquin und
das Mendikantentum. (Freiburg i. B., Herder. 2,50 M.)
Spateres Mittelalter (1250—1500).
Unter dem Gesichtspunkt der völkerrechtsgeschichtlichen
Entwicklung behandelt F. Holldack die durch die kilikischen
Handelsprivilegien der Republiken Genua und Venedig geschaf-
fenen Verhältnisse (Zeitschr. f. Völkerrecht u. Bundesstaatsrecht
2, 3 u. 4).
O. Redlich und A. E. Schönbach haben in gemeinsamer
Arbeit eine neuentdeckte Translatio s, Delicianae des Gutolf von
Heiligenkreuz herausgegeben und genau untersucht. Dieselbe
findet sich in einem aus dem Besitz des bekannten Geschicht-
schreibers Thomas Ebendorfer von Haselbach herrührenden
Legendär, das jetzt in der Wilczekschen Sammlung auf Schloß
Kreuzenstein bewahrt wird ; sie enthält nicht nur bemerkenswerte
Nachrichten aus der Zeit des Kampfes zwischen Rudolf von
Habsburg und Ottokar von Böhmen, sondern gibt den Verfassern
auch zu der eingehend begründeten Vermutung Anlaß, daß Gutolf
als Verfasser der sachlich sehr wertvollen Historia annorum
1264— 1279 (Mon. Germ. SS. IX) zu betrachten sei (Sitzungs-
berichte der K. Akademie d. Wiss. in Wien, phil.-hist. Kl. 159. Bd.,
2. Abhandl. Wien, Holder. 1908. 38 S.).
Einen Brief Friedrichs des Freidigen vom Jahre 1270, der
als Antwort auf eine Zuschrift König Enzios aufzufassen is^ hat
Späteres Mittelalter. 201
J. Werner im Neuen Archiv d. Ges. f. ä. dtsch. Gesch. 33, 2 ver-
öffentlicht.
In der Vierteljahrschrift f. Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte
6, 1 beginnt A. Schaube mit dem Abdruck eines längeren Auf-
satzes über die Wollausfuhr Englands im Jahre 1273. Er wider-
legt hierin die Behauptung Sombarts, daß der Gesamtexport der
englischen Wolle für das Jahr 1277 sicher bezeugt sei, weist aber
darauf hin, daß die Möglichkeit der Berechnung für 1273 gegeben
ist, um sodann den Anteil der einzelnen Handelsvölker an dieser
Ausfuhr festzustellen. — Ebenda stellt Joh. Müller die Haupt-
straßen des den größten Teil von Europa umfassenden Handels-
gebiets der Stadt Nürnberg im späteren Mittelalter zusammen.
Das von P. Wentzcke in der Zeitschrift f. d. Gesch. des
Oberrheins N. F. 23, 1 veröffentlichte Ausgabenverzeichnis der
Straßburger Abtei St. Stephan aus den Jahren 1276—1297 kommt
natürlich in erster Linie für die oberrheinischen Verhältnisse in
Betracht, enthält aber auch einige ganz erwünschte Ergänzungen
unserer Kenntnis von der Reichsgeschichte in jener Zeit.
Interessante Mitteilungen über die Organisation des Post-
wesens zu Brügge macht für die Jahre 1280—1344 L. Gilliodts
vanSeveren in den Annales de la SocUti d'imulation de
Bruges 58, 1.
An Beiträgen zur Geschichte des päpstlichen Kanzleiwesens
erwähnen wir die Arbeiten von P. M. Baumgarten, der in
einem zweiten Abschnitt seiner kleinen diplomatischen Beiträge
(vgl. 100, 434) die Registrierungszeichen der päpstlichen Kammer
behandelt (Römische Quartalschrift 1907,4), und von E. Göller,
der mit seinen Mitteilungen über Konzepte der päpstlichen Sekre-
täre und Konzepte aus der Kanzlei des Kardinallegaten Guido
von Bologna die früheren Forschungen in Einzelheiten wesentlich zu
ergänzen vermag (Quellen u. Forschungen aus Italien. Archiven
u. Bibliotheken 1907, 2).
Den vielbesprochenen, aus der Zeit des Kampfes zwischen
Philipp dem Schönen und der Kurie stammenden Brief „Realis
est veritas' hat ein Schüler Finkes, M. M o s e r , in den Mitteilungen
des Instituts f. österr. Geschichte 29, 1 einer eingehenden Unter-
suchung unterzogen nnd als eine vertrauliche Bitte an den be-
kannten Publizisten Pierre Dubois um Ausarbeitung eines als
Gutachten und Verteidigung gedachten Schriftstücks für den
König bezeichnet. Moser läßt das Schreiben Ende April oder
Anfang Mai 1304 entstanden sein und von einem Freunde des
202 Notizen und Nachrichten.
Königs, vielleicht Richard Leneveu, später Bischof von B^ziers,
ausgehen. — Was die Textgestaltung anlangt, so ist an der be-
sonders wichtigen Stelle S. 66 Z. 4 mit Recht das höchst auffällige
^meque*^ beanstandet worden. Ich muß freilich gestehen, daß ich
mich mit dem von Moser vorgeschlagenen Ersatz „regem' nicht
befreunden kann, da mir diese Verbesserung zu gewaltsam er-
scheint, und möchte statt dessen vorschlagen, die einfachste
Lösung, die man sich denken kann, anzunehmen: ineque statt
meque zu lesen, was durchaus zu den folgenden Worten paßt.
//. Kaiser
H. Prutz' Artikel: Ein neuer Versuch zur Lösung des
Templerproblems ist eine Auseinandersetzung mit den neuerdings
erschienen Forschungen von Heinr. Finke (Papsttum und Unter-
gang der Templer), dessen Beweisführung ihn von der Unschuld
des Ordens nicht zu überzeugen vermocht hat (Beilage zur All-
gemeinen Zeitung 1908, Nr. 36/37). Finke antwortet an der gleichen
Stelle Nr. 48.
Zwei wertvolle Beiträge zur Reichsgeschichte des 14. Jahr-
hunderts sind aus dem Neuen Archiv d. Ges. f. ä. dtsch. Gesch.
23, 2 anzumerken. R. Lud icke zergliedert die großen, von
Kaiser Karl IV. den Trierer Erzbischöfen erteilten Sammelprivi-
legien nach ihren ursprünglichen Bestandteilen und stellt die im
Laufe der Zeit eingetretenen Veränderungen fest, während R. Sa-
lomon ein bisher nicht sonderlich beachtetes, von dem kur-
trierischen Sekretär Peter Maier von Regensburg (1481—1542)
überliefertes Rechnungs- und Reisetagebuch vom Hofe Erzbischof
Boemunds II. von Trier aus den Jahren 1354 — 1357, das nament-
lich durch seine Aufzeichnungen über die Beteiligung des Erz-
bischofs an den beiden großen Reichstagen zu Nürnberg und
Metz von Wert ist, aufs neue zum Abdruck bringt und erläutert.
Im Historischen Jahrbuch 29, 1 bringt L. Pfleger ein die
kirchlichen Zustände des 14. Jahrhunderts in düsteren Farben
schilderndes Kapitel aus der Vita Jesu Christi des Karthäusers
Ludolf von Sachsen zum Abdruck, während N. P a u 1 u s in einem
Aufsatz über die Rolle der Frau in der Geschichte des Hexen-
wahns gegen die bekannten Theorien von Riezler und Hansen
zu Felde zieht.
J. P. Kirsch veröffentlicht in der Römischen Quartalschrift
1907, 4 den Vertrag der päpstlichen Bevollmächtigten mit dem
von ihnen zur Unterdrückung des Aufstands im Kirchenstaat an-
geworbenen Söldnerführer Robert de Altavilla von Capua aus
dem Jahre 1376.
Späteres Mittelalter. 203
Aus dem Archivio stör, Lombardo ser. quarta, anno 34, fasc. 16
erwähnen wir die mancherlei ungedrucktes Material verwertende
Arbeit von G. Co 11 in o: La preparazione della guerra veneto-
viscontea contro i Carraresi nelle relazioni diplomatiche fiorentino-
bolognesi col conte dl Virtä (1388), die aus den Schriften des
Mailänder Malers Giov. Paolo Lomazzo geschöpften Ricordi della
vUa e delle opere di Leonardo da Vinci, zusammengestellt von
E. Solmi, und endlich die von G. Biscaro veröffentlichten Er-
gänzungen zum Lebensbild des Mailänder Chronisten Antonio
da Retenate (ca. 1240—1320).
Zahlreiche kleinere Arbeiten zur Geschichte des späteren
Mittelalters, von denen an dieser Stelle nur die wichtigsten nam-
haft gemacht werden können, bringt das von der Acadimle royale
de Belglque herausgegebene Bulletin de la commlsslon royale
d'hlstolre im 76. Bande (1907). So gibt U. Berlifere aus den
vatikanischen Registerbänden neues Material zur Lebensgeschichte
des Lütticher Chronisten Radulphus de Rivo bekannt, dessen
Aufzeichnungen ja auch für die Reichsgeschichte wertvoll sind,
während H. Nelis das Verhältnis der Fortsetzung der »Bra-
bantsche Yeesten" zu Edmund Dynter, dem bekannten burgun-
dischen Geschichtschreiber, untersucht und des letzteren Einfluß
auf diese anonyme Fortsetzung stark betont. L. Verriest ver-
öffentlicht einige in wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht interessante
Urkunden des 14. Jahrhunderts, und J. Cuvelier handelt über
die Bevölkerungsziffer von Brabant im Jahre 1374. Altere Sta-
tuten der Universität Löwen, die der Zeit vor 1459 angehören,
werden von R. van Hove zum Abdruck gebracht.
Die Mitteilungen des Vereines für Geschichte d. Deutschen
in Böhmen 1908, Februar bringen den Anfang einer vorläufig bis
zum Ende des Jahres 1427 reichenden Schilderung aus der Feder
VaL Schmidts: Südböhmen während der Hussitenkriege, die
ausführlich bei den Taten des Ulrich von Rosenberg verweilt.
Ein breit angelegter Aufsatz des verstorbenen Mor. Brosch
schildert die 41 Jahre währende Herrschaft der in den Albizzi
verkörperten florentinischen Oligarchie bis zu ihrem Zusammen-
bruch im Herbst 1434 und der Ablösung durch das Regiment der
Medici (Histor. Vierteljahrschrift 11,1). .
Otto Meltzing, Das Bankhaus der Medici und seine Vor-
läufer. Jena, Gustav Fischer. 1906. X u. 142 S. — Der Haupt-
teil dieses Buches (zugleich Heft 6 der N. F. der Volkswirtsch.
und wirtschaftsgeschichtl. Abhandlungen, herausgegeben von W.
Stieda) wird, dem Titel entgegen und ohne daß der Sachverhalt
204 Notizen und Nachrichten.
erwähnt wird, von des Verfassers Leipziger Dissertation : Floren-
tinische Bankhäuser der vormediceischen Zeit (94 S.) gebildet;
nur auf sie bezieht sich auch das Vorwort. Gewiß wird man
eine Dissertation nachsichtig beurteilen; aber verschwiegen darf
doch nicht werden, daß die Literatur- und Quellenkenntnis des
Verfassers höchst mangelhaft ist, daß er z. B. die für seinen
Gegenstand besonders wichtigen Abhandlungen von W. E. Rhodes
und von Whitwell über die italienischen Bankiers in England
nicht kennt, ja daß er von Werken wie P. Yver, Le commerce et
les marchands dans l'Italie m^ridionale und sogar von der ge-
waltigen Bändereihe der Calendars of the Patent Rolls und Close
Rolls, die für ihn Quellenwerke ersten Ranges hätten sein müssen,
keine Ahnung hat. Ebenso sind in dem letzten Drittel des Buches,
das über das Bankhaus der Medici handelt, u. a. die wichtigen
Mitteilungen, die Sieveking aus den Fragmenten des Hauptbuchs
von Averardo de' Medici e comp, gemacht hat (Anzeiger der
Wiener Akademie d. Wiss., philos.-hist. Kl. XXXIX (1902), Nr. 25,
S. 170 ff.), unbenutzt geblieben. Im übrigen bietet die Arbeit auch
in den Einzelheiten zu zahlreichen Ausstellungen Anlaß; auf der
einen Seite 93 verübt Verfasser den Grammatikalier „der er sich
mit Eifer bemächtigte'', läßt Lucca 1315 zerstört werden und
macht Florenz zur Seestadt.
Brieg. Adolf Schaube,
Unter dem Titel: Ein mittelalterlicher Prediger über Liebe
und Liebeswahn stellt H. Crohns eine Reihe höchst bemerkens-
werter Äußerungen über den „amor hereos^ zusammen, die sich
in dem ein Handbuch für den Seelsorger darstellenden Praecep-
torium divinae legis des westfälischen Predigers Gottschalk
Hollen finden (Öfversigt af Finska VetenskapsSocletetens För-
handlingar XLIX, 1906—1907, Nr. 14).
Gh. P e t i t - D u t a i 1 1 i s handelt in Fortführung seiner Bd. 100,
436 erwähnten Beiträge zur Gesittung der Niederländer zu Aus-
gang des Mittelalters in längeren Ausführungen, zu denen die
Belege folgen sollen, über Blutrache und Familienfehden {Annales
de l'Est et du Nord 1908, Januar).
Im Bulletin de la Sociiti de Vhistoire du protestantisme
ranpais 1908, Januar-Februar entwirft A. Renaudet ein sehr
ausführliches Lebensbild von Jean Standonk (geb. um die Mitte
des 15. Jahrhunderts, Leiter des Kollegiums Montaigu), den er
als „r^formateur catholique avant la r^ forme' feiert.
Die Bedeutung des mittelalterlichen Heiligenkultus für die
Kunst wird von E. Male erörtert in einem Aufsatze: L'art
Späteres Mittelalter. 205
franfais de la fin da mayen-dge (Revue des deux mondes 1908,
Februar 1).
In fein abgewogenem Urteil behandelt ein Vortrag von
J. Wille Eigenart und Bedeutung des Humanismus in der Pfalz
(Zeitschrift f. d. Gesch. d. Oberrheins N. F. 23, 1). - Wir fügen
einen Hinweis an auf den Vortrag von G. F i n s 1 e r : Homer in
der italienischen Renaissance (eigentlich eingebürgert erst im
15. Jahrhundert) in den Neuen Jahrbüchern f. d. klass. Altertum,
Gesch. u. deutsche Literatur u. f. Pädagogik 21, 3 und den Anfang
eines anonym erschienenen Aufsatzes über Nikolaus von Cusa
und die Reform von Staat und Kirche in den Historisch-politischen
Blättern 141, 5.
Chaumeix, La Renaissance italienne et la vie de socidU
(Le Correspondant 80, 4) bespricht das Leben der Renaissance
an der Hand von E. Gebharts Buch über Sandro Botticelli (1907),
Rodocanachis La femme italienne ä Vipoque de la Renaissance
(1907), Hauvettes Litt^rature italienne und der 2. Auflage von
Schmitts französischer Obersetzung von Burckhardts Kultur der
Renaissance.
L. F e b u r e bespricht in der Revue de Synth, hist. XV, 3 an
der Hand neu erschienener Werke den Zusammenhang Guillaume
Bud^s mit den Anfängen des französischen Humanismus {„GuilL
Budä et les origines de l' humanisme franpais*),
G. Mollat, itudes et documents sur l'histoire de Bretagne,
XIII^^XVI^ Südes. Paris, Champion. 1907. 254 S. — Mollat ver-
öffentlicht und erläutert eine Reihe von Briefen und Urkunden
aus dem Vatikan, die zumeist dem 14. Jahrhundert angehören und
vorwiegend lokalhistorisches Interesse haben. Von den 32 kleinen
Aufsätzen sei hier bloß auf Nr. 28 hingewiesen : Les ddsastres de
la Guerre de Cent-ans en Bretagne. O. C,
Neue Bficher: Däprez, Etudes de diplomatique anglaise,
de l'avinement d*idouard I^r ä celui de Henri VII (1272— 1485).
I. (Paris, Champion.) — Gardner , Saint Catherine of Siena.
A study in the religion, literature and history of the 14^^ Century
in Italy. (London^ Dent. 16 sh.) — Zeumer, Die goldene Bulle
Kaiser Karls IV. 1. u. 2. Tl. (Weimar, Böhlaus Nachf. 13 M.) —
France, Vie de Jeanne d'Arc. T. /«^ (Paris, Calmann-L^vy.
7,50 fr.) — Pontani, II diario romano, giä riferito al Notaio
del Nantiporto (30 gennaio I48I — 25 luglio 1492), a cura di
D. Toni. Fase. I. (Cittä di Castello, Lapi.) — Garosci, Mar-
gherita di Navarra (1492— 1549). (Torino, Lattes e C. 5 Lire.)
206 Notizen und Nachrichten.
Reformation und Gegenreformation (1500—1648).
Eine neue Hexenstudie von Nikolaus Paulus (vgl. H. Z. 100,
672 u. 675) bringt das Hist. Jahrbuch 2% 1 : Die Rolle der Frau in
der Gesch. des Hexenwahns. Der Aufsatz sucht hinsichtlich der
Zuspitzung des Aberglaubens auf das weibliche Geschlecht den
Hexenhammer zu entlasten.
In der Ztschr. f. d. Gesch. des Oberrheins N. F. 23, 1 setzt
G. Bossert seine Biographie von Theodor Reysmann fort (vgl.
H. Z. 100, 441), indem er die bewegten Jahre 1534 und 1535 be-
spricht.
Ein sehr günstiges Bild von dem großen Wohlstand des
städtischen Bürgertums entrollt das Testament eines Frankfurter
Großkaufmanns Jakob Heller v. J. 1519, das Friedrich Bothe im
Archiv f. Frankfurts Gesch. u. Kunst 3. F., 9 veröffentlicht und
bespricht, und dem allerhand kulturhistorisches Material zu ent-
nehmen ist.
Was sich über Leben und Werke von Leonardo da Vinci in
den Schriften des Giov. Paolo Lomazzo (1538 — 1600) findet, wird
von Edmondo Solmi im Archivio storico Lombardo 4, 16 er-
schöpfend zusammengestellt.
Nachdem ich den ersten Band des Bargeschen Werkes über
Karlstadt hier angezeigt hatte (H. Z. 96, 471 ff.), wurde mir bei
dem Studium des zweiten klar, daß für das, was ich weiter zu
sagen hätte, eine bloße Anzeige des Werkes nicht ausreichen
würde. Aus meiner Beschäftigung mit dem ganzen ist so ein
eigenes Buch erwachsen: „Luther und Karlstadt, Stücke aus ihrem
gegenseitigen Verhältniß untersucht. 1907''. Auf die Ausführungen,
die Bärge in dieser Zeitschrift 99, 256 ff. gegeben hat, konnte ich
noch im Vorwort eingehen. Ich möchte eben darum meine An-
zeige des zweiten Bands von Barges Karlstadt_^auf diesen kurzen
Hinweis beschränken.
Tübingen. Karl Müller.
Die Aufsätze von F. Spitta über Herzog Albrecht von
Preußen als geistlichen Liederdichter (vgl. H. Z. 100, 677) nehmen
in den Heften 2 und 3 der Monatschrift f. Gottesdienst und kirchl.
Kunst die eigentliche Untersuchung auf und weisen als älteste Dich-
tung des Herzogs ein Marienlied von 1520, als jüngste ein Psalmen-
*ed von 1564 nach, ferner ein erst neuerdings (1885) aus dem
eußischen Gesangbuch verschwundenes Glaubenslied, das wir
•genhändiger Niederschrift des Herzogs besäßen (wobei
»ine Vergleichung der Handschrift vermißt).
Reformation und Gegenreformation. 207
Die Einführung der Reformation in Troppau, von den ersten
evangelischen Regungen der 20 er Jahre bis 1569 (dem Todesjahre
des ersten, nach der Thronbesteigung Maximilians II. berufenen
protestantischen Predigers Martin Zenkfrei), behandelt Josef Zukal
im 2. Jahrg. der Zeitschr. f. Gesch. u. Kulturgesch. österreichisch-
Schlesiens 4.
Wie vor einigen Jahren Kalkoff die heimliche Beteiligung
des Erasmus bei verschiedenen Kölner Flugschriften dargetan
hat (vgl. H. Z. 92, 542 und dazu auch 93, 166), so sucht Karl
Zickendraht in der Zeitschr. f. Kirchengesch. 29, 1 nachzuweiseh,
daß auch die irenische, den Namen Pellikans tragende Vorrede zu
Kaspar Satzgers Scrutinium (1522) in Wahrheit von Erasmus
herrühre.
Eine kurze Darstellung des theologischen Standpunktes von
Sebastian Franck entwirft Heinrich Ziegler in der Zeitschr. f.
wissenschaftl. Theologie 50, 3 auf Grund der Paradoxa, von denen
Ziegler zusammen mit W. Köhler eine neuhochdeutsche Ausgabe
vorbereitet.
In der Revue des questions historiques Nr. 165 (]3hrg, 42)
handelt E. Rodocanachi über die Engelsburg im Krieg der
Liga von Cognac und während der Okkupation Roms 1526 bis
1527. — Die Untersuchung von Vito Vitale über die Versuche
Venedigs in Apulien 1528—1529 (vgl. H. Z. 100, 210) wird im
Nuovo archivio Veneto Nr. 67 u. 68 (N. S. 14, 1 u. 2) zu Ende ge-
führt (am Schluß mit reichem Aktenanhang).
Der Berner Reformator Berchtold Haller unternahm im
Jahre 1530 auch einen Reformationsversuch in Solothurn, den
R. S t e c k in den Blättern f. bernische Gesch., Kunst u. Altertumsk.
3, 4 auf Grund der Briefe Hallers und Nikiaus Manuels (über
letzteren vgl. H. Z. 100,441) darstellt. — Die spärlichen Nachrichten
über Hallers Frau Apollonia vom Graben, die sich nach dem Tod
ihres Mannes (1536) noch dreimal verheiratete und 1574 gestorben
ist, werden von H. Türler ebenda 3, 3 zusammengestellt.
Albrecht von Rosenberg, ein fränkischer Ritter und Reformator
(über den zuletzt Ernst, Brief w. Christophs v. Wirtemberg 1, 100
Anm. 2 u. 3, 297 n. 151 Anm. 1, Literatur zusammenstellte), wird
von (Karl) Hofmann im Neuen Archiv f. d. Gesch. der Stadt
Heidelberg u. d. rhein. Pfalz 7, 4 zum Gegenstand einer Biographie
gemacht, die vorerst von der Geburt (1519) bis 1561 reicht, in
welchem Jahr sein langer Erbschaftsstreit mit Kurpfalz um die
Herrschaft Boxberg durch Vertrag geschlichtet wurde.
206 Notizen und Nachrichten.
Aus dem jetzt abgeschlossenen 76. Band der Bulletins de la
Commission royale d'hisL de Belgique heben wir hier noch einige
Aufsätze hervor (vgl. H. Z. 100,444). Charles Bornate ver-
öffentlicht eine ausführliche Denkschrift Gattinaras über die Rechte
Karls V. auf das Herzogtum Burgund (nach 1530, Versuch näherer
Datierung wird vermißt). F. B a i x teilt einige wieder aufgefundene
Bruchstücke der verlorenen Chronik des Abtes Martin de Remou-
champs v. Florennes mit (betr. die Jahre 1554 u. 1555). Em. Dony
druckt ein interessantes Einwohnerverzeichnis des Fürstentums
Chimay (Hennegau) von 1616. Zu Anfang schließlich (S. Xlllff.)
handelt H. Lonchay in Fortsetzung der Arbeiten Gachards über
den Inhalt des Archivs von Simancas zur Geschichte der Nieder-
lande im 17. Jahrhundert.
,,Das Parlament und die Reform** betitelt F^lix Aubert einen
Aufsatz in der Revue des questions historiques Nr. 165 (Jahrg. 42),
in dem er die feindliche Haltung des Pariser Parlaments gegen
die Reformierten von 1522—1576 schildert und sie als ein „ewiges
Ehrenzeichen" (I) preist.
Auf die Tätigkeit der Welser in Venezuela fällt neues Licht
durch den Brief eines Lindauers, Titus Neukomm, aus Venezuela
vom Jahre 1535, den Franz Joetze in den Forschungen zur Gesch.
Bayerns 15, 4 aus der Chronik Ulrich Neukomms veröffentlicht.
Das Gutachten der Schmalkaldener über die Kirchengüter
von 1540, das bei Bindseil, Melanchthonis epistolae 142 nach einer
Abschrift gedruckt ist, wird von Georg Berbig in der Ztschr. f.
wissenschaftL Theologie 50, 3 nach dem wiederaufgefundenen
Original veröffentlicht.
Eine ausführliche, quellenmäßige Darstellung des Donau-
feldzugs von 1546 gibt Paul Schweizer in den Mitteilungen des
Instituts f. österr. Geschichtsf. 29, 1. In der Auffassung lehnt er
sich im wesentlichen an Lenz und Brandenburg an.
Im 8. Jahrgang der Histor. Monatsblätter f. d. Prov. Posen
finden wir zwei neue Aufsätze von Theodor Wotschke zur
polnischen Reformationsgeschichte. In Nr. 1 : Ein Sprachenstreit
in Posen im Jahre 1535 (über einen Versuch, die deutsche Sprache
von den Gerichten auszuschließen); in Nr. 10: Andreas Gorka auf
seinem Kranken- und Sterbebette (Graf Gorka, der eifrig für die
Reformation tätige Posener Generalstarost, f 3- Dezember 1551).
Die „neuen** Briefe, nach denen R. Dareste in der Revue
historique 97, 2 über Franz Hotmann in den Jahren 1561 — 1563
handelt, sind die 1891 (I) von L. Ehinger in den Beiträgen zur
vaterländischen Geschichte der hist. u. antiquar. Gesellsch. zu
Reformation und Gegenreformation. 209^
Basel 14, 1 aus dem Marburger Archiv veröffentlichten , deren
Wiederholung recht überflüssig war. /?. //.
Melanchthons lateinische Originalhandschrift der Confessio
Augustana ist seit ihrem Obergang aus dem Brüsseler Archiv an
Philipp 11. 1569 verschollen. Die Nachrichten über ihre Aus-
lieferung stellt Adolf Hasenclever in der Zeitschr. f. Kirchen-
gesch. 29, 1 zusammen und weist darauf hin, daß Maximilian II.
sich vorher (wahrscheinlich 1568) eine Abschrift vom Original hat
anfertigen lassen.
Albert Elkan kommt in der Zeitschr. f. Kirchengesch. 29, 1
nochmals auf die Vindiciae contra tyrannos zurück und verstärkt
seinen Indizienbeweis, daß Duplessis-Mornay ihr Verfasser ist (vgl.
H. Z. 98, 650 f. und dazu auch ebenda 217).
Karl Schellhass, Italienische Schlendertage Herzog Ernsts
von Bayern (Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven
u. Bibliotheken 10, 2)^ bringt zahlreiche neue Einzelheiten über
Ernsts heimliche Flucht aus Rom 1575 und seine Erlebnisse bis
zur Rückkehr (vgl. Lossen, Kölnischer Krieg 1, 348—351).
Hauptsächlich auf Grund der 1906 von F. Steffens und
H. Reinhardt herausgegebenen Berichte des 1579 zur Durch-
führung der Tridentiner Beschlüsse nach der Schweiz gesandten
Nuntius Bonhomini, aber daneben auch mit anderem, zum Teil
ungedrucktem Material untersucht A. Büchi im 1. Jahrgang der
Ztschr. f. Schweizer Kirchengeschichte den Gang der Reform in
den thurgauischen Klöstern. Einleitend wird die frühere Geschichte
von Reformation und Gegenreformation im Thurgau seit den
Kappelerkriegen abgehandelt.
Zur Lebensgeschichte des preußischen Kartographen und
Historikers Kaspar Hennenberger (1529 — 16(X)) vermag Karl Boysen
in der Altpreußischen Monatschrift 45, 1 einige neue archivalische
Nachrichten zu geben.
Ober die Versammlung der Generalstaaten am Nachmittag
des 10. Juli 1584 (nach der Ermordung Wilhelms von Oranien, vgl.
Blök, Gesch. der Niederlande 3, 390 f.) handelt J. Huizinga in
den Bijdragen voor vaderlandsche geschiedenis en oudheidkunde
4. Reihe 6, 4.
Das 21. Heft der Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte
enthält einige beachtenswerte Untersuchungen zur Geschichte der
Gegenreformation. Frank Ludwig, der erst kürzlich (1907) eine
Schrift über die Entstehung der kursächsischen Schulordnung von
1580 erscheinen ließ, behandelt die Entstehungsgeschichte der
Historische Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 14
210 Notizen und Nachrichten.
durch die Kirchenordnung von 1580 festgelegten Lokal Visitationen,
des Synodus und des Oberkonsistoriums in Kursachsen, insonder-
heit seit dem Bericht Andreas von 1576; bei weiterem Zurück-
greifen hätte wohl auch die Schrift von W. Schmidt über die
Visitation von 1555 mit Criolg herangezogen werden können Xvgl.
H. Z. 99, 211). Ernst Otto gibt eine ausführliche aktenmäßige
Darstellung von dem Streit der beiden kursächsischen Hofprediger
Mathias Hoe v. Hoenegg und Daniel Hänichen 1613 — 1618, wobei
dem letztgenannten der größere Teil der Schuld beigemessen
wird. O. Finder schließlich sucht eine Anekdote über den Ab-
zug Torstenssons vor Pegau (Dezember 1644) mit nicht ganz
durchschlagenden Gründen als historisch zu erweisen. R. H,
Joseph de la Serviere setzt in der Revue des questions
historiques Nr. 165 (Jahrg. 42) seinen Aufsatz über die politischen
Ideen Bellarmins fort (vgl. H. Z. 100, 446) und betrachtet insonder-
heit dessen Lehre vom Recht des Widerstands und von der sattsam
bekannten ,,indirekten Gewalt" der Kirche über den Staat, wobei
er dem Kardinal in der Hauptsache durchaus die Stange hält.
Die im Dienst der Hanse unternommene Reise des DanzigerRats-
herrn Arnold von Holten durch Spanien und Oberitalien 1606 bis
1608 wird von Paul Simson im Archiv f. Kulturgesch. 6, 1 nach
den (schon von Ernst Kestner, Ztschr. des westpreuß. Geschichts-
vereins 5, Uff. benutzten) Reisenotizen ausführlich besprochen.
— Ebenda druckt Eduard Otto einen Protest der Herrschaft
Breuberg (bei Neustadt im Odenwald) gegen die Verbrennung von
Hexen durch die Obrigkeit der Stadt Wörth am Main auf Breu-
berger Gebiet 1628.
Der Aufsatz von L. Batiffol über den „Staatsstreich" vom
24. April 1617 (vgl. H. Z. 100, 446) wird in der Revue historique
97, 1 u. 2 zu Ende geführt.
Über den Feldzug des Jahres 1622 am Oberrhein eröffnet
Kari V. R ei tzen stein in der Ztschr. f. d. Gesch. des Oberrheins
N. F. 23, 1 eine neue Reihe von Aufsätzen (vgl. zuletzt H. Z. 98,
219). Er beginnt mit Verhandlungen über die Neutralität Badens
nach der Schlacht von Wimpfen und mit Rückblicken auf den
Kampf um Oberbaden. — Ebenda handelt Kari Jacob über zwei
Fragmente der bei dem Brand der Straßburger Bibliothek zugrunde
gegangenen, von Dacheux in ganz unzulänglicher Weise rekon-
struierten Wenckerschen Chronik zur Geschichte des Dreißig-
jährigen Kriegs. Sie fanden sich in einer KoUektaneensammlung
von Wenckers Enkel im Straßburger Thomasarchiv und betreffen:
1. die Ereignisse von der Schlacht bei Nördün^en bis Ende 1635;
Reformation und Gegenreformation. 211
2. allgemeine Betrachtungen über Ursachen und Aussichten des
Kriegs, die Politik der Mächte u. dgl., die zu 1637 eingeschoben
waren. Der Druck der interessanten, fUr die Urteilsfähigkeit ihres
Verfassers sprechenden Stücke wird im nächsten Heft zu Ende
geführt werden.
Einige Briefe Richeiieus aus der Sammlung Gordon-Bennetts
werden von Robert Lavollde im Annuaire-bulletin de la socUU
de VhisL de France 1907, 4, S. 250 ff. veröffentlicht. Sie waren
Avenel entgangen und gehören den Jahren 1630 und 1641 an.
In den Forschungen zur Gesch. Bayerns 15, 3 publiziert
M. Doeberl aus dem Münchner Staatsarchiv eine Relation un-
bekannter Herkunft und ausschweifenden Inhalts über das Kaiser-
projekt und die letzten Absichten Gustav Adolfs, die am baye-
rischen Hof Glauben fand.
Zwei Quartierlisten über die Unterbringung Wallensteins und
des Freiherrn v. Holka mit ihren zahlreichen Gefolgschaften in
Eger 1632 werden von Karl Siegl in den Mitteilungen des Vereins
f. Gesch. der Deutschen in Böhmen 46, 3 veröffentlicht. Ebenda
2 und 3 beginnt S. Gorge eine Untersuchung über die Schick-
sale der Konfiskationen Wallensteins nach dessen Ermordung.
Auch ein Aufsatz desselben Veriassers im 2. Jahrgang der Zeit-
schrift f. Gesch. u. Kulturgesch. Osterreichisch-Schlesiens 3, Zur
Geschichte Schlesiens im Dreißigjährigen Kriege, beschäftigt sich
mit dem Konfiskationswesen nach der Egerer Katastrophe (vgl.
ferner H. Z. 100, 212).
Eine neue Schrift von Wilhelm Begemann gegen die, mehr
von Phantasie als von kritischer Gründlichkeit zeugenden For-
schungen Ludwig Kellers zur Geschichte der Freimaurer führt
den Titel: „Die Haager Loge von 1637 und der Kölner Brief von
1535« (Berlin, E. S. Mittler 6 Sohn. 1907. XVI u. 84 S. 2 M.). Sie
bringt den Nachweis, daß die von Keller kürzlich wieder als echt
behandelten Haager Protokolle von 1637—1638 über die Verhand-
lungen einer unter den Auspizien des Statthalters Friedrich Hein-
rich von Uranien im Haag neu gegründeten Loge »Fredericks
Vreedendall'^ ebenso gefälscht sind wie die mit ihnen zusammen-
hängende Kölner Urkunde von 1535 (über eine Zusammenkunft
von 19 Vertretern verschiedener Freimaurerbrüderschaften Europas,
darunter Erzbischof Hermann von Wied und Melanchthon). Seit
dem ersten Auftreten der beiden Stücke im Jahre 1818 hat zwar
schon eine ganze Reihe von Forschern (Delprat 1862 u. a.) ihre
Unechtheit erkannt, aber erst jetzt, nach Begemanns eingehender
Arbeit, dürften die Verteidiger verstummen. Die Unechtheit der
14»
212 Notizen und Nachrichten.
Urkunde beweist jedem Kundigen allein ein Blick auf das bei-
gegebene Faksimile ihres Schlusses mit den 19 Unterschriften.
R. H.
Im Archivio storico per le provincie Napoletane 32, 4, S. 841
wird ein Brief des Vizekönigs von Neapel, Herzogs von Arcos, an
den Herzog von Parma über den Tod Masaniellos (16. Juli 1647)
veröffentlicht.
Neue Bficher: Codex diplomatUus ord, E, S. Augustini Pa-
piae, cura R. Maiocchi et N. Casacca. Vol. /// (1501—1566).
(Papiae, Typ. Rossetti.) — Theal, History and ethnography of
Africa South of the Zambesi. Vol. 1. The Portuguese in South
Africa from 1505 to 1700. (London, Sonnenschein. 7,6 sh.) —
Catalogue des actes de Franpois /«". T. 9. (Paris, Impr. nationale.)
— Cristiani, Luther et le Luthäranisme. (Paris, Bloud & Cie.)
— Walther, Heinrich Vill. von England und Luther. (Leipzig,
Deichert Nachf. 1 M.) — Courteault, Blaise de Montluc histo-
rien. (Paris, Picard.) — Danmarfc-Norges Traktater, 1523—1750
med dertil harende Aktstykker, Udgivne af L. Laursen. I. Bind
1523— 1560. (Kebenhavn, Gad. 12 Kr.) — de Castries, Les
sources inädites de l'histoire du Maroc de 1530 ä 1845. /*■« särie:
Dynastie saadienne. T. 2. (Paris, Leroux. 25 fr.) — H e y c k ,
Wilhelm von Oranien und die Entstehung der freien Niederlande.
(Bielefeld, Velhagen 6 Klasing. 4M.)— Blennerhasset, Maria
Stuart, Königin von Schottland, 1542- 1587. (Kempten, Kösel. 4,20 M.)
— Die Berichte und Briefe des Rates und Gesandten Herzog
Albrechts von Preußen Asverus v. Brandt nebst den an ihn er-
gangenen Schreiben in dem Kgl. Staatsarchiv zu Königsberg.
Hrsg. von Bezzenberger. 2. Heft. 1545. 1546. 1547. (Königs-
berg, Gräfe & Unzer. 3 M.) — / Libri commemoriali della republica
di Venezia: regesti. Tomo VIL (Venezia, Visentini, 15 Lire.) —
Osgood, The American colonies in the W^ Century. Vol. 3.
(London, Macmillan. 12,6 sh.) — Briefe und Akten zur Geschichte
des Dreißigjährigen Krieges. Neue Folge. Die Politik Maximi-
lians 1. von Baiern und seiner Verbündeten, 1618—1651. 2. Tl.,
1. Bd. Bearbeitet von Goetz. (Leipzig, Teubner. 20 M.)
1648—1789.
K. Wenck veröffentlicht drei ungedruckte Briefe Muratoris
an den Danziger Orientalisten und Polyhistor G. Groddeck (1679—
1709) und erläutert sie durch Briefe von B. de Montfaucon, Rost-
goars und anderen Orientalisten und Philologen aus den Jahren
1697—1702. Aus diesen Korrespondenzen „tritt in hellen Farben:
1648—1789. 213
das Bild der damals erstandenen europäischen Gelehrtenrepublik
hervor* {Raccolta di Scritti Storici in onore del Prof, G, Romano.
Pavia, Fusi. 1907).
M. E. W. Dahigren, Direktor der Kgl. Bibliothek in Stock-
holm, handelt über die französischen Südseefahrer vor Bougaln-
villc (1695—1749). Auf Grund sorgfältigster archivalischer Studien
wird der Handel französischer Schmuggler besonders in Chile
und Peru geschildert, der im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts
florierte, von der französischen Regierung offiziell verpönt, in
Wirklichkeit begünstigt, 1720 durch die Lawsche indische Kom-
panie monopolisiert, 1724 eingestellt wurde {Nouvelles Archives
des Missions Scientifiques t. XIV).
F. Härtung schildert kurz und gut, vornehmlich auf Grund
der trefflichen Arbeiten K. Wilds, das Zeitalter des Absolutismus
im Fürstentum Bamberg von Lothar Franz v. Schönborn bis
Franz Ludwig v. Erthal (1693—1795) (Deutsche Geschichtsblätter
Bd. 9, Heft 5).
In einer akademischen Festrede handelt R. Koser über
eine ungedruckte Ode Friedrichs des Großen „Sur les jugements
que le public porte sur ceux qui sont chargis dans la socUti
civile du malheureux emploi de politiques* ^ — ein interessantes
Stück aus dem Nachlaß Voltaires, dessen Korrespondenz mit
König Friedrich seit kurzem zum größten Teil im preußischen
Geheimen Staatsarchiv geborgen ist und neu herausgegeben
werden soll. Die in geschmackvoller Obersetzung gegebene Ode
— ein Epilog zum Antimacchiavell, ein Vorläufer der zur „Histoire
de mon temps" — ist eine poetische Rechtfertigung des Breslauer
Friedens. Sie richtet ihre Spitze gegen den Kardinal Fleury, der
dem jungen König „als Typus des falschen Freundes und unzu-
verlässigen Verbündeten galt"". Sie klingt aus mit dem Hinwels
auf Phaeton, dessen Beispiel vor allzu hohem Flug der Entwürfe
warne: „Der junge, soeben dreißigjährige Fürst, der siegreiche
Führer der unbedingt besten Truppen in Europa besaß bei
starkem Selbstbewußtsein ebensoviel Beherrschung und übte
Selbstkritik. Er besaß die Fähigkeit, im gegebenen Augenblick
innezuhalten, die Mäßigung, die dem echten Staatsmann unent-
behrlich ist und die das Gegengewicht gegen den dem Wesen der
Macht innewohnenden Drang nach immer größerer Machtent-
faltung bilden muß. Er hatte das Augenmaß für das Erreichbare.
Wie denn Macchiaveil die wahre staatsmännische Größe darin
gesehen hat, daß man nur das will, was man kann.^ — König
Friedrich, den Voltaire durch die Veröffentlichung des Antimac-
214 Notizen und Nachrichten.
chiavell „auf die Staatstheorie und den Moralcodex der philan-
tropischen Aufklärung verpflichtet zu haben glaubte, hat die
Fessel, in die ein Voltaire ihn verstricken wollte, zerissen wie eine
flächserne Schnur^. Wie anders Friedrich Wilhelm IV., der nie
vermocht hat, den Gedankenballast der Hallerschen Theorie über
Bord zu werfen ! „Den sentimentalen Idealismus Voltaires ersetzte
Friedrich für sein Handeln durch einen Idealismus härterer Art,
.durch die unbedingte Unterweriung seiner Persönlichkeit unter
das Gebot des Staatswohls" (Sitzungsberichte der Kgl. Preuß.
Akad. d. W. 1908, IV).
W. Hermkes handelt sorgfältig über den Sieg des Herzogs
Ferdinand von Braunschweig bei Crefeld (23. Juni 1758) (Münster,
Dissertation 1906).
Mit einer anschaulichen Schilderung der türkischen Gesandt-
schaft am Hofe Friedrich des Großen im Winter 1763/64 verbindet
G. B. Vo Iz eine instruktive Obersicht über die preußische Orient-
politik bis 1779. „Kein anderes Prinzip als der unversöhnliche
Oegensatz gegen Osterreich beherrschte Friedrichs Orientpolitik.
Das einzige Interesse, das ihn mit der Türkei verband, war die
gemeinsame Gegnerschaft gegen den Wiener Hof. Daher suchte
er die Pforte, so lange er mit Österreich im offenen Kampfe lag,
zur Offensive zu bestimmen, und als er mit Maria Theresia seinen
[Frieden gemacht, ein Verteidigungsbündnis zu schließen, das den
:Wiener Hof von einem neuen Angriff auf Preußen zurückhalten
«ollte.^ Die Anknüpfungen Friedrichs mit der Pforte wurden
durch sein russisches Bündnis gestört. Während Katharina II.
die preußisch-türkische Allianz zu verhindern suchte, faßte König
Friedrich schon 1763 einen Dreibund zwischen Preußen, Rußland
und der Pforte ins Auge, ein Plan, der, später (1779) wieder auf-
genommen, Rußland und Osterreich zusammenführte (Hohen-
zollern- Jahrbuch 1907). — An weiteren Beiträgen zur frideri-
zianischen Geschichte von Volz notiere ich einen Aufsatz über
H. K. V. Winterfeldt (wesentlich nach L. Mollwo) (ebd.); ferner
die Veröffentlichung eines „Porträts** des preußischen Hofs aus
der Feder des österreichischen Gesandten in Berlin, v. Ried
(Sept. 1763) (ebd.); endlich eine Mitteilung über die Einführung
der Impfung in Berlin, wobei dem König irrtümlich die Initiative
zugeschrieben ist (Arztl. Sachverst. Ztg. 1908^ Nr. 3).
Als Nachtrag zum 29. Band der Pol. Korr. Friedrichs des
Großen gibt R. Kos er Stellen aus zwei Briefen des Königs an
den Prinzen Heinrich (25. Juni, 4. Juli 1770) und ordnet sie in den
Zusammenhang der polnischen Politik Friedrich II. ein. „Der
1648-1789. 215
Prinz drängt zu einem Versuch, den Staat durch polnisches Oe^
biet abzurunden. Der König retardiert** (Sitzungsberichte der
'Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. 1908, XIII).
M. P h i 1 i p p s o n handelt über die ersten Polen unter
preußischer Herrschaft (Nord und Süd 32, 1/2).
K. d * E s t e r gibt Auszüge aus einer umfangreicheren Arbeit
über das „Zeitungswesen in Westfalen**, die demnächst in den
„Forschungen zur neueren Literaturgeschichte**, her. v. Schwering,
erscheinen soll. Wir notieren den Abschnitt über die gelehrten
und schöngeistigen Zeitschriften bis zum Jahre 1813, wo Namen
wie J. Moser, W. Dohm, Kortum begegnen (Münster, Disser-
tation 1907).
Neue Bficher: Elisabeth Charlotte, Herzogin von Or-
leans. Eine Auswahl aus ihren Briefen, hrsg. und eingeleitet von
J.Wille. (Leipzig, Teubner. 2 M.) — Du Bled, La socUtd fran-
faise du XV h sUcle au XX^ siicie. 7* särie: XVI I!^ sUcle. (Paris,
Perrin & Cie,) — Watson, The Scot of the IS^f* Century. Hia
religion and his life, (London, Hodder <S «S. 7,6 sh.) — Marfil
Garciay Relaclones entre Espana y la Gran Bretana desde las
paces de Utrecht hasta nuestros dias, (Madrid, hijos de R, AI-
varez, 5 Pes.) — Journal inädit du duc de Cray (17 18— 1784).
Publik par de vicomte de Grouchy et Paul Göttin, T. 3. (Paris,
Flammarion,) — Acta borusslca, 4. Bd. Akten vom 8. Januar 1723
bis Ende Dezember 1729, bearb. von Schmoll er und Stolze.
9. Bd. Akten von Anfang August 1750 bis Ende 1753, bearb. von
Schmoll er und Hintze. (Berlin, Parey. 52 M.) — Die Kriege
Friedrichs des Großen 1740—1763. 1. Bd. Der 1. und 2. schlesische
Krieg. Bearb. von Ritter v. Hoen. (Berlin, Vossische Buchh.
10 M.) — de Lord at, Un page de Louis XV. Lettres de Marie
Joseph de Lordat ä son oncle Louis, comte de Lordat, Baron de
Bram, brigadier des arm^es du roi (1740—1747), recueillies et
publikes par le marquis de Lordat et le chanoine Charpentier.
(Paris, Plön, Nourrit S Cie, 7,50 fr,) — Wiegand, Das poli-
tische Testament Friedrichs des Großen vom Jahre 1752. (StraB-
burg, Heitz. 1,20 M.) — Waddington, La guerre de sept ans.
T. 4, (Paris, Firmin-Didot S Cie.) — Durand, Die Memoiren
des Marquis d*Argenson. (Berlin, Rothschild. 2,50 M.) — Karl
Engel, Der Fähnrich Zorn v. Bulach vom Regimente- Württem-
berg zu Pferd im Siebenjährigen Kriege 1757—1758 nach seinem
Tagebuche. (Straßburg, Schlesier & Schweikhardt. 1 M.) —
Härissay, Un girondin: Franpois Buzot, ddputd de VEure ä
l'AssembUe Constituante et ä la Convention (1760— 1794), (Paris,
216 Notizen und Nachrichten.
Petrin S Cie,) — Lettres et papiers du chancelier comte de Nessel-
rode (1760—1850), extraits de ses archives, T, 1—5. (Paris, La-
hure,) — Souvenirs du baron de Frinilly , pair de France
(1768-1826), PublUs par A, Chuquet, (Paris, Plan, Nourrit & Cie,
7,50 fr,) — Mariani, II viaggio di Giuseppe II a Roma e a
Napoli nel 1769, (Lanciano, Carabba,) — Politische Korrespon-
denz Friedrichs des Großen. 32. Bd. (Berlin, Duncker. 19 M.)
Neuere Geschichte seit 1789.
In dem Aufsatze Wahls „Die französische Revolution und
das 19. Jahrhundert"" (Zeitschr. f. Politik I, 2) findet man eine
Fülle von Gedanken und Gesichtspunkten, die zwar nicht alle
miteinander harmonisch ausgeglichen sind, aber jedenfalls höchst
anregend und fruchtbar wirken werden. Ein Hauptgedanke ist, daß
innerhalb der französischen Revolution selbst schon eine tiefe
Zäsur liegt zwischen dem Geiste von 1789 und dem von 1793, dem
staatsfremden, weichlichen Individualismus auf der einen, dem
Staatsdespotismus auf der anderen Seite. Und tiefer und nach-
haltiger auf das neue Jahrhundert habe doch letzterer gewirkt.
Wir meinen auch, daß man diesen Gegensatz aufs schärfste be-
tonen muß, aber daß man darüber nicht die geistigen Bindeglieder
vergessen darf, die die Männer von 1789 und die von 1793 trotz-
dem verknüpfen. Richtig wird ferner bemerkt, daß man bei den
geistigen Wirkungen der Revolution genauer darauf achten solle,
ob man nicht vielmehr Wirkungen der vorrevolutionären Jahr-
zehnte vor sich habe. So versucht Verfasser gleich nachzu-
weisen, daß Stein viel mehr von Turgot als von den Ideen und
Gesetzen der Revolution gelernt habe.
Im Januarheft 1908 der R^vol, Franpaise liefert Jean Drey-
f u s eine Arbeit, die Le manifeste royal du 21 juin 1791 betitelt
ist und einen Teil einer demnächst erscheinenden Studie über die
persönliche Politik Ludwigs XVI. während der Revolution dar-
stellt. Man wird dieser nicht ohne Bedenken entgegensehen,
wenn man hier liest, die Grundstimmung des genannten Mani-
festes könne in die Worte gefaßt werden l*dtat c'esi moi. Es ist
uns vollkommen unbegreiflich, daß der Verfasser meinen kann,
Ludwig XVI. hätte diese Worte, die er für Ludwig XIV. mit Recht
legendär nennt, gern gesprochen. H. Zivy veröffentlicht einige
Aktenstücke, aus denen die intransigente Haltung des bretoni-
schen Bischofs von Saint-Pol-de-L^on gegen die Zivilkonstitution
hervorgeht. Schließlich beginnt der unermüdliche Dilettant H. L a -
broue einen Aufsatz über la soMt^ populaire de la Garde-
Neuere Geschichte. 217
Freinet (Var), den er im Februarheft glücklich zu Ende führt.
Ebd. setzt Mathiez seine schon öfters erwähnte Artikelserie
über la France et Rome sous la Constituante fort. Er kommt
zur Zivilkonstitution und zeigt nun auch seinerseits, daß die in
der Nationalversammlung sitzenden Bischöfe zu weitgehendem
Entgegenkommen bereit waren. Dafür, daß diese sehr inter-
essante Tatsache von Mathiez nicht zum erstenmal entdeckt wurde,
8. Hist. Ztschr. 100, S. 450.
In der Rev. d'Histoire moderne etc, 9, 4 (Jan. 1908) beginnt
A. Carr6 eine Arbeit' u. d. T. VAssembläe Constituante et la
„mise en vacances^ des Parlements (Nov. 1789 — Janv. 1790), in der er
zeigt, einen wie gefährlichen Konkurrenten die Nationalversamm-
lung noch damals in den Parlamenten sah, die einen so außer-
ordentlichen Einfluß auf die Geschicke des alten Frankreich aus-
geübt hatten.
Zur Kriegsgeschichte sind folgende Beiträge beachtenswert:
A. Chuquet veröffentlicht eine Artikelserie über den Aidemajor
von Beifort Bellegarde (Rev, Bleue 8. Febr. 1908 ff.). Bedeutender
ist der Held, den Ch.de Lomdnie behandelt, und zwar in sehr
anziehender Weise : Marbot, garde du corps et g^n^ral de la R^-
publique (Rev, des Quest, histor, Jan. 1908). Ebd. findet sich eine
Arbeit des Vicomte deGrimouard mit dem schwerfälligen Titel
Les origines du domaine extraordinaire. Le receveur g^niral des
contributions de la Grande Armie (1805—1810), ses attributions
et ses comptes, die interessante Zahlen über die Aussaugung vor
allem der deutschen Länder enthält.
Aus dem Correspondant Nr. 1089 (10. Febr. 1908) notieren
wir P. Pisani, Une paroisse Parisien ne pendant la Rfyolution,
Saint-Gervais (1789—1804); aus dem Arch, Stör, per le provincie
Napoletane 32, 4: Maresca, La missione de Ruffo a Parigi
1797/98.
G. Sommerfeldt veröffentlicht einige weniger bedeutende
Briefe aus der Korrespondenz der Königin Luise aus den Jahren
1807—1809 (Zeitschrift der Altertumsgesellschaft Insterburg, H. 10,
1907); Klaje ein Schreiben des Hauptmanns v. Waidenfels, des
Vizekommandanten von Kolberg, vom 31. Mai 1807, als Ergänzung
seiner kürzlich erschienenen Schrift (s. H. Z. 100, S. 432) über diesen
tapferen Offizier (Monatsbl., herausg. von der Ges. f. Pommersche
Geschichte Nov. 1907).
In den Streit um die Konvention von Tauroggen greift nun
auch Max Lehmann, auf der Seite seines alten Kampfgenossen,
H. Delbrück, ein. Er bringt überzeugende Argumente gegen die
21 S Notizen und Nachrichten.
Glaubwürdiglceit der Angaben des Briefes Wrangeis vom Jahre
1838 bei, vermag aber n. u. A. die Mitteilungen des Tagebuchs
in keiner Weise zu entkräften. Gerade, daß Wrangel darin von
einem Befehl an Yorck berichtet, den dieser in seinen Einzel-
heiten keineswegs ausführte (Marsch auf Graudenz usw.)> scheint
uns endgültig seine Zuverlässigkeit zu beweisen. Ein wie raffi-
nierter Fälscher müßte sonst Wrangel gewesen sein! Auch mit
den berühmten Briefen Yorcks an den König, die ja in der Tat
von einem königlichen Befehl nichts wissen, sollte n. u. A. nicht
operiert werden: wußte denn Yorck, daß diese Briefe sicher in
die Hand des Königs gelangen würden? (Major v. Wrangel, der
angebliche Urheber der Konvention von Tauroggen, Preuß. Jahrb.
März 1908). «
W. Lang, der Verfasser der verdienstlichen Biographie des
Grafen Reinhard, veröffentlicht umfangreiche Analekten zu dieser
(Württemberg. Vierteljahrshefte f. Landesgeschichte N. F. XV 11,
S. 17—100). Einen sehr großen Raum darin nehmen die wesent-
lich literarisch interessierten Briefe des späteren Diplomaten aus
dem Tübinger Stift und aus der Vikariatszeit in Balingen ein.
Weitere Abschnitte behandeln Reinhard in der Fremde, die Briefe
seiner Gemahlin Christine geb. Reimarus, die Mission in die
Schweiz, wo Reinhard bekanntlich scheiterte, schließlich seinen
jüngeren Bruder Christian.
Die vielseitigen Beziehungen deutscher Kunst und Wissen-
schaft zu der Stadt Rom hat Fr. Noack in einem Gesamtbilde
darzustellen unternommen: Deutsches Leben in Rom 1700—1900.
Stuttgart, J. G. Cotta Nachf. VI u. 462 S. Einzelne Abschnitte,
wie die Zeiten Winkelmanns und Goethes, sind längst bearbeitet
worden; der Versuch eines Gesamtbildes ist neu, und erst aus
diesem erhellt der ganze Reichtum jener Beziehungen, die eine
so bedeutende Rückwirkung auf das deutsche Kulturleben gehabt
haben. Ist doch Rom geradezu ein wichtiger Mittelpunkt für die
deutsche Wissenschaft und Kunst geworden. Es sei nur, von
den älteren Zeiten abgesehen, an das Humboldtsche Haus er-
innert, an die Blütezeit des Klassizismus, an Cornelius und die
Nazarener, an Bunsen und an den König Ludwig von Bayern, an
den Deutschen Künstlerverein und seine Feste, an die Gründung
der Archäologischen und des Historischen Instituts, an Mendels-
sohn und Liszt, an Hase und Ranke, Mommssen und Gregorovius.
Mit philologischer Genauigkeit hat der Verfasser aus Akten und
Archiven alle erreichbaren persönlichen Notizen, sowie Zeit- und
Ortsangaben festzustellen gesucht, und verdienstlich ist auch dies,
Neuere Geschichte. 219
daß er mit unhistorischen Legenden schonungslos aufgeräumt
hat, wie mit den Legenden von Goethes römischer Liebschaft
und der sog. Goethekneipe. W, L,
Eine trotz einiger anfechtbarer Urteile recht anziehende
kleine Skizze über F. K. v. Savigny veröffentlicht Reichsgerichts-
rat Ed. Müller in der von JuL Ziehen herausgegebenen Samm-
lung ^Männer der Wissenschaft" (Leipzig, W. Weicker. 32 S. 1 M.).
Die von A. Stern in der Rivista cuitura espanola publi-
zierten Documentos de historia espanola moderna gehören teils
ins Jahr 1822 (zeigen, daß die österreichische Politik bemüht war,
alle Berührung mit revolutionären Elementen von ihrem italieni-
schen Machtbereich fernzuhalten) und 1835 (Bericht des preußi-
schen Gesandten am sardinischen Hofe betr. dessen Haltung zu
Don Carlos).
P. Walt her, Fregattenkapitän a. D., erzählt in der Deut-
schen Revue (Märzheft) von dem „ersten Jahre der preußischen
Marine'^, den preußischen Bemühungen 1848, in kurzer Frist eine
Flotte zur Verteidung gegen Dänemark zu schaffen, in den kleinen
Verhältnissen jener Tage. Auch auf diesem Gebiete zeigt sich
schon damals das Problem: Preußen und Deutschland (in dem
Versuch der Nationalversammlung, jedem Einzelstaate, auch
Preußen, die Bildung einer Flotte zu untersagen). Rühmend wird
der Tätigkeit des Prinzen Adalbert gedacht.
Ober „ein vergessenes Bismarckbild'' berichtet O. Tschirch
im Aprilheft von Westermanns Monatsheften: ein im Jahre 1850
von M. Berendt gemaltes Bild (Kniestück), das von der Familie
nicht angekauft und der Verlosung ausgesetzt, 1854 als Geschenk
märkischer Edelleute an die Stadt Brandenburg kam und hier
bisher unbeachtet im Oberbürgermeisterzimmer des Rathauses
gehangen hat.
Die reizvollen und inhaltvollen Briefe Malvida v. Meysen-
bugs — aus Alexander Herzens Hause — an ihre Mutter, die
H. Z. 100, S. 689 erwähnt sind, finden im März- und Aprilheft der
Deutschen Revue ihren Abschluß (aus den Jahren 1852 — 1860).
Die neueste, 5. Fortsetzung von G. Goyaus Studien Les
origines du culturkampf allemand (s. zuletzt H. Z. 100, S 689)
beschäftigt sich mit den „intellektuellen Krisen" innerhalb des
Katholizismus in den 20 Jahren, die dem Vatikanischen Konzil
vorangehen: den geistigen Bewegungen und Konflikten inner-
halb der katholischen Wissenschaft auf deutschem Boden (L der
„Güntherianismus", die Lehren des Wiener Theologen Anton
220 Notizen and Nachrichten.
Günther [gest 1863], II. die in Deutschland gegen das Dogma
von der unbefleckten Empfängnis enstandene Opposition, III. das
Vorgehen Roms erst gegen Günther, dessen Werke 1857 auf den
Index kamen, dann [1859] gegen seine Anhanger, IV. der Abfall
des Philosophen Froschhammer, V. die innere Gegnerschaft zwi-
schen Romanismus und deutscher Wissenscliaft, VL DöUingers
Entwicklung Anfang der 60 er Jahre und seine ersten Konflikte.
VII. die Vorkämpfer Roms in Deutschland (t>es. in Würzburg und
Mainz], Vlll. die Bewegung in Deutschland gegen die Unfehlbar-
keitserklärung und für die Freiheit der Wissenschaft, der Kongreß
kathol. Gelehrter in München im Herbst 1863, der von Rom höchst
ungern gesehen wurde; die Verschärfung der Gegensätze, auch
in der Presse, IX. die Fragen der Vorbildung des Klerus: Semi-
nar oder Universität und die darüber geführten Erörterungen
und Kämpfe, X. die Haltung der katholischen Fakultäten an den
Universitäten, im ganzen auf Seite der antirömischen Tendenzen,
das Auftauchen des Gedankens der Gründung einer ^freien* Uni-
versität). Das Ergebnis ist : die Zeit ist reif für die Entscheidung
durch ein Konzil.
Der Aufsatz von Ernst Salzer über „Fürst Chlodwig zu
Hohenlohe-Schillingsfürst und die deutsche Frage** (Hist Viertel-
jahrschr. 1908, 1) ist als einer der ersten Versuche zu kritischer
Ausnutzung der Denkwürdigkeiten Hohenlohes mit Freuden zu be-
grüßen. Er beschränkt sich wesentlich auf die Jahre 1867—1869,
die Zeit von Hohenlohes Ministerpräsidentschaft in Bayern und
sucht die Abwandlungen aufzuzeigen, die des Fürsten Pläne und
Politik für eine Herbeiführung der deutschen Einheit in dieser
Epoche genommen haben (kleindeutsche Wünsche, Triasideen und
besonders die wechselnden Modalitäten einer Verbindung der
Südstaaten mit dem Norddeutschen Bunde); im ganzen ist dabei
doch eine zunehmende Abschwächung zentralistischer Neigungen
erkennbar. Die Resultate erscheinen freilich nicht allzu ergebnis-
reich, zum guten Teil doch wohl deswegen, weil die Basis nicht breit
genug gewählt ist und die kritischen Schwierigkeiten mehr an-
gedeutet als durch eingehende Untersuchung der Lösung, soweit
eben möglich, entgegengeführt werden. Das gilt besonders für
den bei der von Salzer gewählten Fragestellung grundlegenden
Punkt: bez. des Verhältnisses von Hohenlohes eigentlichen Wün-
schen und den ihm durch die Verhältnisse und namentlich die
Rücksicht auf den König auferlegten Notwendigkeiten. Selbst-
verständlich enthält der Aufsatz manche gute und auch manche
bestreitbare Einzelbeobachtung. /C /.
Neuere Geschichte. 221
Unter der Oberschrift „Der Marsch ins Verderben*" veröffent-
licht der bekannte französische Militärschriftsteller General B o n -
nal, damals „ein junger Leutnant (26 Jahre)*, „persönliche Er-
innerungen aus den Kämpfen vom 23. bis 31. August 1870*, deren
Wert in den oft nur zwischen den Zeilen zu lesenden kritischen
Bemerkungen liegt.
März- und Aprilheft der Deutschen Revue enthalten zwei
weitere Fortsetzungen von H. Onckens Publikation aus den
Briefen Rudolf v. Bennigsens (XXXII. XXXIII) (s. zuletzt H.Z.
100, S. 224). Sie betreffen die „Sezession* von 1880 (Briefe zwischen
Rickert und Bennigsen, nebst solchen von Stephani und Benda
und 1881 [Briefe zwischen Lasker, auch v. Benda und Bennigsen],
vor und nach den Wahlen). Die schon früher gemachte Bemer-
kung, daß diese doch nur „ausgewählten* Briefe zu richtiger Wür-
digung eines ziemlich ausführlichen Kommentars bedürfen, drängt
sich hier in verstärktem Maße auf. Besondere Beachtung ver-
dienen einmal Laskers Bemühungen, den Liberalismus im Reichs-
tage als Einheit aktionsfähig zu machen, anderseits Bismarcks
Kundgebung an Bennigsen im September 1880, wenige Wochen
nach der Sezession: hoffentlich werde Bennigsen „den Sezessio-
nisten die Tür zumachen. Mit nur negierenden (!) Parteien kann
man nicht regieren*.
Der Schluß von H. v. Posch ingers Publikation „aus den
Denkwürdigkeiten von Heinrich v. Kusserow* (Deutsche Revue
März) enthält vornehmlich Mitteilungen und Aktenstücke aus den
Anfängen unserer Kolonialpolitik 1884 f., in der hei Poschinger
bekannten Form.
Wegen der freilich überwiegend wohl den Widerspruch der
Historiker — die doch sonst mit den meisten Nationalökonomen
sich darin in erireulicher Übereinstimmung befinden — herausfor-
dernden historischen Aussführungen über die deutsche Wirtschafts-
politik seit 1879 sei auf die, wohl aus einem Vortrag erwachsenen
Darlegungen des Breslauer Ordinarius A. v. Wenckstern ver-
wiesen („Das Wachstum der Bevölkerung in Deutschland, die
Wirtschaftspolitik und die Landarbeiten*, Deutsche Rundschau^
Märzheft). Glaubt Wenckstern wirklich : „wenn Bismarck 1879
nicht durchgegriffen hätte — wer weiß, ob sich die Dinge nicht
durchaus freihändlerisch entwickelt hätten*? Eigenartig berührt
auch die Zusammenstellung der in Deutschland Geborenen als
„Deutsche, Polen, Dänen, Franzosen und Israeliten*.
Auch an dieser Stelle darf auf den Aufsatz von M. Spahn
über die (preußische und deutsche) Polenpolitik hingewiesen
222 Notizen und Nachrichten.
werden (Hochland, Aprilheft): nicht um der Stellung willen, die
er zu den aktuellen Fragen politischer Maßnahmen einnimmt,
sondern soweit er historische Rückblicke und Perspektiven ent-
hält. Es verdient — im Hinblick auf die bisherige historisch-
publizistische Stellungnahme Spahns — hervorgehoben zu werden,
daß er anerkennt: „die Polengefahr besteht für den preußischen
Staat. Wer sie noch leugnet, hat entweder keinen Einblick in die
Verhältnisse der östlichen Provinzen oder es geht ihm die Fähig-
keit ab, die politische Lage und die Erfordernisse des Staates
zutreffend zu würdigen.*^ Ihm erscheint die polnische Aktion als
eine «nationale Bewegung ganz von der Art, wie sie zuerst durch
Frankreich, dann durch Deutschland und Polen . . . geflutet ist"".
Niemand darf sich daher leichtsinnig gegen das Eingeständnis
sperren, daß das heimliche Sehnen der von der Bewegung er-
griffenen polnischen Bevölkerung auf die Herstellung der politi-
schen Einheit und Selbständigkeit Polens gerichtet ist*". Damit
glaubt nun Spahn vom Boden „christlich-konservativer^ Politik
sich einverstanden erklären zu können — wofern nur für dies
Gebilde die zu Preußen gehörigen ehemals polnischen Gebiete,
deren der preußische Staat zu seiner äußeren Sicherung bedarf,
nicht dazu beansprucht werden: also ein auf die russischen und
habsburgischen Polenlande beschränkter Staat, der freiwillig auf
seine preußischen Stammesgenossen verzichten müßte. Hält der
Historiker Spahn eine derartige geschichtliche Entwicklung im
Ernst für möglich ? /C. /
G. W e i 1 1 s Literaturbericht über ^Le Catholkisme franpais
au XlXt sUcle" (Rev. de Synth, hist XV, 3) behandelt in der Ein-
leitung die Hauptfragen dieser Entwicklung und führt dann alle
wichtigeren Werke, auch handschriftliche, in sachlicher Gliede-
rung auf.
In „Natur und Geisteswelt" hat Daenell die Geschichte
der Vereinigten Staaten von Amerika kurz, aber unter Hervor-
hebung des wesentlichen und mit Berücksichtigung der neueren
Forschungen behandelt. /C.
Neue Bficher: Bonald, Consid^rations sur la Revolution
franpaise. (Parts, Nouvelle Libr, nationale,) — Lenotre, M^-
moires et Souvenirs sur la Revolution et l' Empire, (Paris, Perrin
& Cie,) — Chantavoine, Les principes de 1789 (la DMaration
des droits ; la DMaration des devoirs), (Paris, Sociale franpaise
d'impr, et de libr,) — Pastoors , Histoire de la ville de Cambrai
pendant la Revolution (1789—1802), T, /«•. (Cambrai^ Masson,) —
Bonne fons , La chute de la Republique de Venise (1789 — 1797),
Neuere Geschichte. 223
(Paris, Petrin & Cie.) — d'Almeras, Marie- Antoinette et les
Pamphlets royalistes et r^volutionnaires. (Paris, Libr, mondiale,)
— Guibal, Le mouvement fidiraliste en Provence en 1793. (Paris,
Plön, Nourrit & Cie, 7,50fr.) — Bourgeois, Le Giniral Bona-
parte et la presse de son ipoque. 2* sirie. (Paris, Champion.
2,50 fr.) — Honig, Die Kämpfe um Mantua von der 2. bis zur
3. Einschließung durch die Franzosen August bis September 17%.
(Wien, Stern. 4 M.) — Savini, La repubblica anconitana (1797
— 1798). (Firenze, Tip. G. Carnesecchi e figli.) — Pagani, The
life of Antonio Rosmini-Serbati. (London, Routled ge. 7,6 sh.) —
Westerburg, Preußen und Rom an der Wende des 18. Jahr-
hunderts. (Stuttgart, Enke. 7,20 M.) — Ernst v. Meier, Franzö-
sische Einflüsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung Preußens
im 19. Jahrhundert. 2. Bd. (Leipzig, Duncker & Humblot. 12 M.)
— Chavanon »et Saint- Yves, Le Pas-de-Calais de 1800 ä
1810. itude sur le systime administratif Institut par NapoUon l^.
(Paris, Picard et fils.) — Guerrini, La campagna napoleonica
del 1805. VoL /. (Torino, Olivero e C.) — Petre, Napoleon's
conquest of Prussia, 1806. (London, Lane. 12,6 sh.) — Johs.
Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger. Ein Beitrag
zur Geschichte der nationalen Erhebung vor 100 Jahren. (Gießen,
Töpelmann. 10 M.) — Geschichte der Kämpfe Österreichs. Krieg
1809. 2. Bd. Italien. Bearb. von Max. Ritter v. Hoen und Alois
Veltz^. (Wien, Seidel & Sohn. 16 M.) — Rosso, Atto Vannucci
(1810—1849). (Torino, Lattes e C. 5 Lire.) — Mdmoires de la com-
tesse de Boigne, n^e d'Osmond. Publiäs par Ch. Nicoullaud. II
(1815-1819). (Paris, Plön, Nourrit & Cie. 7,50 fr.) — Massa-
rani, Carlo Tenca e il pensiero civile del suo tempo. (Firenze,
Succ. Le Monnier. 4 Lire.) — Guardione, Il domin io dei Bor-
boni in Sicilia dal 1830 al 1861 in relazione alle vicende nazio-
nali. Vol. I. (Torino, Soc. tip. ed. Nazionale. 8 Lire.) — Hen-
ning, Die Erinnerungen des Grafen Chaptal an Napoleon 1.
(Berlin, Nauck. 2,40 M.) — Favaro, V insurrezione aquilana
del 1841, con documenti inediti. (Roma, Tip. Biccheri.) — Comte
de Chambo rd, comte de Paris et duc d'Or Idans , La Mon-
archie franpaise. Lettres et documents politiques (1844—1907).
(Paris, Nou v. libr. n ationale.) — Quentin-Bauchart, La-
martine et la politique dtrangkre de la Revolution de f^vrier
(24 fivrier ä 24 juin 1848). (Paris, Juven.) — Nava, L'Armata
sarda nella giomata del 24 giugno 1859. (Roma, Tip. Voghera,)
— Rob. Wagner, Delr kretische Aufstand 1866/67 bis zur Mission
Aali Paschas. (Bern, Grünau. 5M.) — Matschoß, Die Kriegs-
gefahr von 1867. Die Luxemburger Frage. (Bunzlau, Kreuschmer.
224 Notizen und Nachrichten.
3 M.) — Matter, Blsmarck et son temps. T. 3: 1870^1898.
(Paris, Alcan et Guillaumin, 10 fr,) — E g e 1 h a a f , Geschichte
der neuesten Zeit vom Frankfurter Frieden bis zur Gegenwart.
(Stuttgart, Krabbe. 6 M.) — Ernst C. Meyer, Wahlamt und Vor-
wahl in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ein Beitrag
zur Verfassungsgeschichte der Union, insbesondere zur Geschichte
der jüngsten Verfassungsreformen. (Leipzig, Voigtländer. 6 M.)
Deutsche Landschaften.
M. Reichlin veröffentlicht in den Mitteilungen des bist.
Vereins d. Kantons Schwyz 18 eine zehn Bogen starke Abhandlung
über die schweizerische Oberallmende bis zum Ausgang des
15. Jahrhunderts, bei deren Abfassung es jedoch ohne mancherlei
Flüchtigkeiten nicht abgegangen zu sein scheint.
Im Archiv des histor. Vereins des Kantons Bern 18, 3 ver-
QÜentlicht P. Hof er den 1250 Einträge, darunter auch einige be-
kannte Namen, enthaltenden Bruderschaftsrotulus der Kapelle von
Oberbüren aus dem Ende des 15. und dem Anfang des 16. Jahr-
hunderts. — Im Archiv f. schweizerische Gesch. 1908, 1 knüpft
W. 0 e c h s 1 i an den von G. Caro seinerzeit unternommenen Nach-
weis an, daß der von Tschudi überlieferte sogenannte Einkünfte-
rodel des Bistums Chur, der früher dem 11. oder 12. Jahrhundert
zugeteilt wurde, ein aus der Zeit Ludwigs des Frommen stammen-
des UHbar des Reichsguts in Churrätien sei (vgl. 99, 665), um
damit den diese Charakterisierung einigermaßen modifizierenden
Hinweis zu verbinden, daß der von ihm zwischen 825 und 831 an-
gesetzte Rodel zugleich aber ein Verzeichnis alles dessen enthalte,
was das Bistum Chur als sein ihm vom König vorenthaltenes
Eigentum in Anspruch nahm. Ebenda handelt R. Hoppeler
über eine alte Briger Chronik und deren Bericht von einem
Treffen zu Hospenthal (1321) und E. Wy mann über den Familien-
stand der venetianischen Gesandten in Zürich während des 17. Jahr-
hunderts (nach den Registern des in der Nähe gelegenen Klosters
Fahr, das die Venetianer zur Erfüllung ihrer religiösen Pflichten
aufsuchen mußten).
Eine Arbeit von Conr. Escher-Ziegler: Eine schweizerische
Garnison zur Beschützung der Neutralität der Reichsstadt Straß-
burg (103. Neujahrsblatt der Feuerwehr-Gesellschaft in Zürich f.
d. Jahr 1908) behandelt nach den Archivalien eine in die letzte
Zeit vor dem Übergang in die französiscfie Herrschaft fallende
Episode, die eine Folge des seit 1588 Straßburg mit Bern und
Zürich verknüpfenden Bündnisses bildet.
Deutsche Landschaften. 225
Als erstes Heft der von K. B e y e r 1 e herausgegebenen, dem
Ausbau der Privatrechtsgeschichte und der Erforschung stadt-
rechtlicher Fragen dienenden „Deutschrechtlichen Beiträge* ist
eine Arbeit von Herrn. Arnold erschienen, in der das eheliche
Güterrecht von Mülhausen im Elsaß am Ausgange des Mittel-
alters behandelt wird (Heidelberg, Winter 1906. 72 S.). Der Unter-
suchung liegen namentlich die alten Gerichtsbücher aus den
Jahren 1438—14% zugrunde, aus denen in einem Urkundenanhang
zahlreiche Proben mitgeteilt werden.
Zur elsässischen Geschichte verzeichnen wir ferner außer
der Fortführung der Arbeit von R. R e u ß über das Volksschul-
wesen im Elsaß zur Zeit der französischen Revolution, die sich
mit der durch das kirchliche Schisma geschaffenen Lage und
allerlei Reform versuchen beschäftigt (Annans de l'Est et du Nord
1908, Januar; vgl. 100, 460) einen in mancher Hinsicht freilich nicht
ganz auf der Höhe stehenden Aufsatz von A. Hanauer über
Hagenau und den Heiligen Forst bis zur Mitte des 14. lahrhunderts
(Revue d'Alsace 1908, Januar -Februar) und den Anfang einer
längeren Abhandlung von Ch. H o f f m a n n f über die Grafschaft
Rappoltstein im Jahre 1789 (ebenda, Januar-April). ^P. Wentzcke
hat im Straßburger Münster-Blatt, Jahrgang 1907 und 1908 Urkunden
und Regesten zur Baugeschichte des Straßburger Münsters von
778—1275 zusammengestellt.
In der Alemannia N, F. 8, 1 u. 2 erläutert P. Albert den
Inhalt der ältesten Urkunde der Stadt Freiburg, eines zwischen
Konrad I. von Freiburg und der Stadt sowie Gottfried Marschall
von Staufen abgeschlossenen, in Abbildung beigegebenen Münz-
vertrags vom 19. Januar 1259, um einige allgemeinere Bemer-
kungen über die schnelle Ausbreitung der deutschen Sprache in
den Freiburger Urkunden anzuschließen. — In den Freiburger
Münster-Blättern, Jahrg. 1907 hat der gleiche Verfasser Regesten
zur Geschichte des Münsters aus der Zeit von 1120 — 1248 ver-
öffentlicht und in der einleitenden Skizze der Entstehungs- und
Entwicklungsgeschichte nachdrücklich der höheren Bewertung des
urkundlichen Materials das Wort geredet.
Aus dem Neuen Archiv f. d. Gesch. der Stadt Heidelberg
und der rheinischen Pfalz 7, 4 ist der Schluß der Mitteilungen
Th. Wilckens über die kurpfälzische und bayerische Armee
unter Karl Theodor im Jahre 1785 zu erwähnen (vgl. 100, 461).
Eine bei Gelegenheit der Feier des 900 jährigen Bestehens
des Bistums Bamberg gehaltene Festrede von A. Dürrwaechter
behandelt in gemeinverständlicher Form: Wege und Ziele des
HittorUcbe ZeltschrUt (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 15
226 Notizen und Nachrichten.
Historischen Vereins Bamberg (1907. 33 S.). — Aus den Verhand-
lungen d. histor. Vereins von Oberpfalz und Regensburg erwähnen
wir noch die Arbeit von M. Siebengartner: Die innere Ein-
richtung des Reichsstifts Obermünster in Regensburg nach den
Statuten des Jahres 1608.
Beiträge zur Geschichte der Universität Gießen und ihrer
älteren Mainzer Schwesteranstalt bringt das Archiv f. hessische
Gesch. u. Altertumsk., N. F. Bd. 5, 1907. Der Band beginnt mit
G. Bauchs eingehender Darstellung des (in R. Stintzings Entw.
d. Rechtsstudiums nicht berücksichtigten) Mainzer Humanismus^
dessen Spezialgebiet Jus (civile) und Poätica waren, vom , Vater*
des Mainzer Humanismus Dietrich Gresemund an bis auf Ulrich
von Hütten (etwa 1475 bis 1520). Abweichend von Ulman hebt
Bauch die Verdienste hervor, die auch Erzbischof Berthold von
Mainz sich um Förderung des Humanismus erworben. — Eben-
daselbst folgen Abhandlungen über die Mainzer Bursen ^zum
Algesheimer'' und ,,zum Schenkenberg'' und ihre Statuten (Fritz
Herrmann), die Wiederbesetzung erledigter Professuren im
17. Jahrhundert (Heinrich Schrohe), die Ausbildung von Pro-
fessoren der Rameralwissenschaft an der Universität Mainz im
18. Jahrhundert (Wilh. Stieda), „zur Geschichte des Pennalismus
in Marburg und Gießen« (W. M. B e c k e r) , über „Alt-Gießen«, Grün-^
dungszeit der Stadt, Lage und Reste der Gießener Grafenburg
(G. Schenk zu Schweinsberg), ferner biographische Auf-
sätze über den ersten Rektor der Mainzer Hochschule Jakob
Weider, 1478-1483 (Franz Falk), den Marburger Historiker
Joh. Balth. Schupp, 1639—1646 (Wilh. Diehl), den Gießener Pro-
fessor und hessischen Staatsminister Chr. Samuel Gatzert, f 1807
(Jul. Reinh. Dieter ich), den Gießener Juristen Karl Ludw. Wiih.^
V. Grolman (K. Esselborn).
H. Bastgen, „Die Entstehungsgeschichte der Trierer Archi-
diakonate« (Trierisches Archiv, Heft 10, 1907) schildert Entstehung,
rechtliche Stellung und Amtsbefugnisse der Archidiakonate, ihr
Verhältnis zum Chorepiskopat, den Kampf der archidiakonalen
und bischöflichen Gewalt bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts.
Daß die „Verselbständigung« der nur mit Domherren besetzten
Archidiakonate mit der Umwandlung des Domkapitels aus einem
abhängigen beratenden Presbyterium zur konsensberechtigten
Korporation aufs engste zusammenhängt, kommt nicht gebührend
zum Ausdruck. — An dem schwierigen Problem „Entstehung der
bürgerlichen Selbstverwaltung in Trier im M. A.« versucht sich
Kentenich in Heft 11 (1907) derselben Zeitschrift. Nach seiner
Deutsche Landschaften. 227
Meinung haben besonders äußere Ereignisse, Kriegsnot und
Mauerbau, zur Bildung der neuen Bürgergemeinde geführt, die
1 142 durch coniuratio entstanden sei. — Am gleichen Ort schildert
Reimer den „Verfall der Deutschordensballei Koblenz im 15. Jahr-
hunderf*, der reichsten unter den 4 dem Hochmeister direkt unter-
stellten preußischen Kammerballeien, welche in den Niedergang
des preußischen Ordenslandes hineingezogen wurden.
Fr. Gramer vertritt in der Zeitschr. des Aachener Gesch.-
Ver., Bd. 29, 1907 die Ansicht, daß die Ortsnamen auf -weiler (Lehn-
wort vom lateinischen villare) lediglich in den einst zum Imperium
Romanum gehörenden Gebieten vorkommen. Nach seinen Aus-
führungen sind die Weiler-Ortschaften im Aachener Bezirk aus
(vielleicht römischen) Herrensiedlungen, nicht aus (germanischen)
Sippendörfern hervorgegangen.
Die eingehende Abhandlung von Hilar Schwarz „Zur Ge-
schichte der rheinischen Pfalzgrafschaft^ (in der Westdeutschen
Zeitschr. 1907, Jahrg. 26, Heft 3) handelt über die zwischen dem
Pfalzgrafen bei Rhein und Erzstift Köln strittigen Besitzrechte in
Zülpich und ihre Wandlungen seit dem 10. Jahrhundert. Durch
Feststellung der ursprünglichen Güter und Rechte des Pfalzgrafen
sucht Schwarz, abweichend von der herrschenden Ansicht, den
Beweis zu führen, „daß die Pfalzgrafschaft eine Reihe von eigent-
lichen Amtslehen besessen habe^. Solche erkennt er in der Vogtei
und dem als „Palenz" bezeichneten Teile der Stadt Zülpich. —
Nach umfangreichem Aktenmaterial schildert L. Schwering
ebendaselbst die Auswanderung protestantischer, wegen ihres
Glaubens 1714 aus Köln vertriebener Kaufleute nach Mühlheim a. R.,
^as gleich anderen Ortschaften dem Zuwachs protestantischer
Familien einen bedeutenden Aufschwung verdankte.
Die Beiträge zur Gesch. d. Niederrheins Bd. 21, 1907 ent-
halten ausführliche Abhandlungen von W. Holtschmidt über
die Kölner Stadtverfassung vom Sturze der Geschlechterherrschaft
(13%) bis 1513, ihre Organe, den neuen Rat und seine Macht-
befugnisse, das Bürgermeisteramt, die Aufstände 1481/82 und 1512/13,
von Hans Mosler über den „Düsseldorfer Rheinzoll bis zum
Ausgang des 16. Jahrhunderts*", seine Geschichte und Einrichtung
(mit urkundlichen Beilagen).
Wilh. M a r r ^ , Die Entwicklung der Landeshoheit in der Graf-
schaft Mark bis zum Ende des 13.Jahrh. Dortmund, F.W.Ruhfus. 1907.
Nach einleitenden Ausführungen über „Entstehung und Entwick-
lung der Grafschaft Mark^ bis 1243, d. i. bis zu dem Zeitpunkt,
in dem das Territorium im wesentlichen seine spätere Ausdehnung
15^
228 Notizen und Nachrichten.
gewonnen hat, erörtert Marr^ den Ursprung der Landesherrlich-
keit Er gibt zu, daß auch in der Mark der Besitz voller Gerichts-
barkeit, der Grafschaft und vogteilicher Gerechtsame die Grund-
lage für die Entwicklung gebildet habe. Aber er macht der
grundherrlichen Theorie doch eine Konzession : Daß es den Grafen
nur südlich, nicht nördlich der Lippe gelungen ist, die Landes-
herrlichkeit zu erwerben, erklärt er aus dem Mangel „ausgedehnter,
grundherrlicher Komplexe^ im Norden des Flusses. Nun mochte
es der landesherrlichen Gewalt freilich schwer fallen, sich zur
Geltung zu bringen, wenn sie „nicht durch finanzkräftigen Grund-
besitz unterstützt war*". Aber der „Hauptgrund'' (S. 31) für das
Mißlingen der gräflichen Versuche nördlich der Lippe ist gewiß
nicht im Mangel „ausgedehnten Grundbesitzes'', sondern in der
Tatsache zu sehen, daß es nicht den Grafen, sondern den Bischöfen
von Münster gelungen ist, dortselbst die Gogerichtsbarkeit zu er-
werben. — In einer Arbeit über Entstehung der Landeshoheit
(richtiger hieße es „Landesherrlichkeit"; vgl. O.Gierke, Genossen-
schaftsrecht 1, 535. 536) müßte der entscheidende Einfluß, den das
Lehenswesen in seiner eigentümlichen Entwicklung ausgeübt hat,
zum mindesten erwähnt werden. Wie es meist geschieht, so hat
sich auch M. darauf beschränkt, die Entstehung des Territoriums,
Erwerbung und Entwicklung jener gräflichen, vogteilichen und
sonstigen öffentlichen Gerechtsame zu schildern, welche Grund-
lage und notwendige Voraussetzung für die Bildung der landes-
herrlichen Gewalt gewesen sind. „Der wichtigste Hebel" aber
für die Ausbildung der Landesherrlichkeit ist die Umwandlung
der Amter in Lehen gewesen (Brunner, Grundriß S. 141). Erst
die Feudalisierung des Amtes und der Gerichtsgewalt hat den
gräflichen Beamten zum Inhaber eigenen Rechtes, zum Landes-
herrn gemacht. Indem Marr^ diese Entwicklung ignoriert, hat
er einen sehr wesentlichen Teil seiner Aufgabe unbeachtet
gelassen. Auf welchem Wege man sich eriolgreich der Lösung
des schwierigen Problems nähern kann, läßt H. Fehrs Monographie
über „die Entstehung der Landeshoheit im Breisgau" (Leipzig,
1904) erkennen, die bei Arbeiten dieser Art nicht übersehen
werden darf. Spangenberg.
In den Rahmen der bekannten, von AI. Schulte angeregten
Forschungen gehört G. Finks Untersuchung über die „Standes-
verhältnisse in Frauenklöstern und Stiftern der Diözese Münster
und Kloster Herford" (Westfäl. Zeitschr. für vateri. Gesch. 1907,
Bd. 65). In den reichsunmittelbaren Klöstern Herlord und Vreden
und sechs anderen reichsmittelbaren westfälischen Stiftern, deren
Zusammensetzung Fink prüft, sind die Äbtissinnen sämtlich oder
Deutsche Landschaften. 229
größtenteils adeliger Geburt, die Konventsmitglieder aber (be-
sonders seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts) teilweise oder
ausschließlich ministerialischer, zum geringen Teil hier und dort
auch bürgerlicher Herkunft gewesen. — AI. Meister beschließt
im gleichen Bande seine Abhandlung „Das Herzogtum Westfalen
in der letzten Zeit der kurkölnischen Herrschaft** (Gerichts-
wesen, innere Verwaltung, Gewerbe-, Heer-, Kirchenwesen usw.),
W. Richter die eingehende Schilderung vom „Obergang des
Hochstifts Paderborn an Preußen*' (bis zur zweiten Besitznahme
des Fürstentums durch Friedrich Wilhelm III. im November 1813),
vgl. H. Z. Bd. 99, S. 227. — Linneborn behandelt die katholische
Reform des Kölner Erzbischofs Adolf III. von Schaumburg (1547
bis 1556) in Westfalen, P. Druffel das münstersche Medizinal-
wesen von 1750 bis 1818.
Die dankenswerte Arbeit von Martin Stalman, „Beiträge
zur Geschichte der Gewerbe in Braunschweig bis zum Ende des
14. Jahrhunderts**, in der Zeitschr. des Harzvereins f. Gesch. 1907,
Jahrg. 40, Heft 2 beginnt mit einer Statistik der in Braunschweig
nachgewiesenen 95 Gewerbearten und Aufzählung der Innungs-
briefe; im zweiten Abschnitt behandelt sie die organisierten Ge-
werbe Braunschweigs (1. Verfassungsgesch. der Zünfte, 2. Die
Zünfte als Wirtschaftsgenossenschaften). — Es folgt eine historisch-
topographische Studie Otto Gerlands über die von nieder-
ländischen Ansiedlern bewohnte „Dammstadt von Hildesheim**. —
Aus der Publikation M. Lehmanns „Preußen und d. kath. Kirche'*
und den Archivbeständen des Klostergutes Hadmersleben schöpft
H. Eckerlin das Material zu seinem am gleichen Ort veröffent-
lichten Aufsatz „Die Halberstädter Klöster unter brandenburgischer
Herrschaft**, wo er das Verhältnis des großen Kuriürsten, König
Friedrichs I. und Friedrich Wilhelms I. zu den katholischen Stiftern
der Stadt darstellt.
Die Bedeutung der Stadt Schleswig „als Vermittlerin des
Handels zwischen Nord- und Ostsee vom 9. bis in das 13. Jahr-
hundert** erörtert A. Kiesselbach in der Zeitschr. d. Ges. f.
Schleswig-Holsteinische Gesch., Bd. 37, 1907.
In der Zeitschrift des Ver. f. Gesch. Schlesiens, Bd. 41, 1907
liefert G. Bauch Beiträge zur Lebensgeschichte des schlesischen
Reformators Johann Heß und weist in einem zweiten Aufsatz
„Schlesien und die Universität Krakau im 15. und 16. Jahrhundert*
den starken Besuch der Krakauer Universität durch schle^
sische Studenten aus Matrikeln, Promotionsbüchern u. dgl. nach*
G. Schönaichs Abhandlung „Die Entstehung der schlesischen
230 Notizen und Nachrichten.
Stadtbefesti^ungen' führt frühere Studien zur Stadtgeschichte fort;
vgl. H. Z. Bd. 97, S. 693.
In den Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechts-
geschichte Heft 80 (Breslau, Marcus) veröffentlicht Dr. Alois
Win^arz, Privatdozent an der Universität Lemberg, eine
Abhandlung über Erbleihe und Rentenkauf in Osterreich ob
und unter der Enns im Mittelalter. Die fleißig gearbeitete
Schrift stützt sich namentlich auf das ziemlich zahlreich in den
Urkundenbüchern der niederösterreichischen Stifter und den
Quellen zur Geschichte der Stadt Wien vorliegende gedruckte
Material. Sie schließt sich an die herrschenden Ansichten ins-
besonders an die Theorien von Arnold, Inama und Rietschel an.
Allerdings ist Niederösterreich, das für den Verfasser im wesent-
lichen in Betracht kommt, nicht das Land, in dem die Lösung
der so bestrittenen Frage nach Entstehung der freien Erbleihe
gefunden werden kann. Kolonialland, hat es die Leiheverhältnisse
nicht selbständig entwickelt, sondern von außen übernommen.
Zuerst herrscht die Vitalleihe vor, erst später hat sich die Erb-
leihe entwickelt. Doch gibt es auch viele schlechtere Leihen zu
Baumanns- oder Preisassenrecht. Die Erbleihe taucht auch hier
zuerst in den Städten auf, daher wird sie vorzugsweise als Burg-
recht bezeichnet. Nach Rietschels Vorgang sucht der Verfasser
auch nach Gründerleihen. Es hat deren jedenfalls mehr gegeben,
als aus den Urkunden ersichtlich ist. Denn alle österreichischen
Städte und Märkte sind Neugründungen. Privatrechtlich nehmen
sie keine Sonderstellung ein. Was Rechte und Pflichten der
Leiheherrn und Burggenossen betrifft, weisen die österreichischen
Leihen keinerlei Sonderheiten auf. Nur die Fristen für das An-
wachsen des versessenen Zinses der „zwispild'' sind auffallend
kurze. Aus den Erbleihen haben sich Renten und Rentenkauf
entwickelt, die in den österreichischen Städten eine große Rolle
gespielt haben. Sie, aber auch die Erbleihen, wurden durch die
Verordnungen Rudolfs IV. getroffen, deren Bedeutung der Ver-
fasser neuerdings vor Augen stellt. Zuletzt wird das Bergrecht
behandelt, eine Erbleihe an Weinbergen, die in Niederösterreich,
aber auch in den innerösterreichischen Ländern eine große Rolle
spielt. H. VoUelini.
Die Land- und peinliche Gerichtsordnung Erzherzog Karls II.
für Steiermark vom 24. Dezember 1574 hat in Dr. Fritz Byloff
einen Bearbeiter gefunden (Forschungen zur Verfassungs- und
Verwaltungsgeschichte der Steiermark, 6. Bd., 3. Heft. Graz, Styria.
1907), der sich bei Ausarbeitung seiner Schrift der Materialien
Deutsche Landschaften. 231
des verstorbenen Professors Dr. Karl Hiller bedient hat. Die
Landgerichtsordnung ist das hervorragendste Produkt der Gesetz-
gebung des 16. Jahrhunderts in Innerösterreich geblieben. Der
Verfasser verfolgt die Geschichte dieses Gesetzes und stellt seine
Quellen fest. Das Interessante bei dieser Kodifikation ist, daß
sie, wie so manche andere, nicht vom Landesfürsten, sondern von
den Ständen veranlaßt worden ist, um der Sonderstellung eines
der Landgerichte, des Wolkensteinschen im Ennstal, die bis zu
dessen Trennung vom Lande zu führen drohte, ein Ende zu
machen. Denn daß bereits Maximilian I. eine Landesordnung
erlassen hat, wie man wohl geglaubt hat, erweist sich nach den
Ausführungen des Verfassers als unrichtig. Der Landesfürst, der
an der bestrittenen Sonderstellung festhält, um seine Privilegien-
hoheit zu wahren, ist es, der das Zustandekommen des Gesetzes
verzögert. Erst Erzherzog Karl II. nimmt dies Unternehmen
energisch in die Hand und bringt die Kodifikation zum Abschluß.
Drei Entwürfe konnte der Verfasser feststellen, die sämtlich von
den Ständen ausgearbeit wurden; der erste bot örtliches Recht,
der zweite benutzte Landesordnungen der benachbarten öster-
reichischen Länder, der dritte den Codex Criminalis Carolinas,
Der Landesfürst ist es, der auf die Benutzung der außerprovin-
ziellen Rechtsquellen dringt und auch zuletzt der Annahme des
schriftlichen Prozesses mit seinen Formen, wie er in der Karolina
ausgeprägt war, das Wort spricht. Das Gesetz selber stellt sich
als Kompilation örtlichen Rechtes, einzelner Sätze der österreichi-
schen Landgerichtsordnungen, vor allem der niederösterreichi-
schen vom 21. August 1514, und namentlich der Karolina dar.
H. VoltelinL
Alfr. Nagl schreibt in der Numismat. Zeitschr., Wien 1907,
Bd. 38 über ,das Tiroler Geldwesen unter Erzherzog Siegmund
und die Entstehung des Silberguldens''. Erzherzog Siegmund
(1446—1490) hat das Verdienst, nicht nur zielbewußter als irgend
ein anderer Herrscher jener Zeit den rechten Weg zur Aufbesse-
rung des Geldwesens seines Landes eingeschlagen, sondern
auch hierdurch den Anstoß zu einer gründlichen Reform des
deutschen Geldwesens gegeben zu haben. Die silbernen Gulden-
groschen Siegmunds sind die ersten Münzen „auf deutschem
Boden, mit deren Darstellung Porträtähnlichkeit des Münzherrn
angestrebt wurde** (S. 94).
K. Fajkmajer, „Die Ministerialen des Hochstifts Brixen**,
in der Zeitschr. d. Ferdinandeums 3. Folge, Heft 52 erörtert den
Ursprung der Ministerialen, ihre Entwicklung vor und nach dem
232 Notizen und Nachrichten.
Ausscheiden aus der „familia* des Hochstifts, die Erwerbung
öffentlicher Rechte durch die Ministerialen (Gerichtsbarlceit, Vogtei),
ihren Einfluß auf die Verfassung des Hochstifts (Mitwirkung bei
der Bischofswahl, Konsensrecht), rechtliche Stellung, Ehe- und
GQterrecht. Auch im Hochstift Brixen hat es ^milites" von Mini-
sterialen, ritterliche Eigenleute gegeben (S. 37 ff.), deren Existenz
zuerst Zallinger für Osterreich und Steiermark nachwies. Das
sichtliche Streben Fajkmajers nach gründlicher Erforschung seines
Gegenstandes wäre bei genügender Verwertung der Literatur zweifel-
los noch erfolgreicher gewesen. Die Ausführungen z. B. über Ver-
schmelzung der Ministerialen und freien Ritter (S. 25 ff.) würde
Fajkmajer, wenn er Gierkes Genossenschaftsrecht (1, 198 ff.) und
V. Belows Landständische Verfassung in Jülich (1, 6 ff.) ver-
wertet hätte, gewiß wesentlich modifiziert und berichtigt haben.
Auch Ph. Hecks und W. Wittichs Arbeiten sind nicht berücksich-
tigt worden. Daß „speziell der Burggrafendiensf", der doch im
Hochstift nur von wenigen versehen werden konnte, „zur Aus-
bildung eines mächtigen Ministerialenstandes geführf* habe, ist
zum mindesten stark übertrieben. Sp.
Neue Bficber: Blaum, Das Geldwesen der Schweiz seit
1798. (Straßburg, Trübner. 4,50 M.) — Klinke, Das Volksschul-
wesen des Kantons Zürich zur Zeit der Helvetik (1798—1803).
(ZUrich-Selnau, Gebr. Leemann & Co. 4 M.) — Peter, Zur Ge-
schichte des zürcherischen Wehrwesens im 17. Jahrhundert. (Zürich,
Schultheß & Co. 4M.) — Escher, Die Staatsgefangenen auf
Aarburg im Winter 1802/03. Aus den Aufzeichnungen des Seckel-
meisters Joh. Caspar Hirzel. (Zürich, Fäsi & Beer. 3 M.) —
Lahusen, Zur Entstehung der Verfassung bairisch-österreichi-
scher Städte. (Berlin, Rothschild. 2 M.) — Lurz, Mittelschul-
geschichtliche Dokumente Altbayerns. 1. Bd. Geschichtlicher
Oberblick und Dokumente bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts.
(Berlin, Hof mann & Co. 9 M.) — Siegm. Keller, Patriziat und
Oeschlechterherrschaft in der Reichsstadt Lindau. (Heidelberg,
Winter. 3,20 M.) — Gerlach, Chronik von Lauchheim. Geschichte
der ehemaligen Deutschordenskommende Kapfenburg. (Ellwangen,
Bucher. 3 M.) — Ch. Hoffmann, La Haute- Alsace ä la veilie
de la r^volution. IV, V. Pub/, p. Ingoid. (Colmar, Hüffel. 6,40 M.)
— Regesten der Bischöfe von Straßburg. 1. Bd., 1. Tl. Herm.
Bloch, Die elsässischen Annalen der Stauferzeit. (Innsbruck,
Wagner. 14 M.) — Küchler, Chronik der Stadt Kaiserslautern
aus den Jahren 1566—1798. (Kaiserslautern, Rohr. 12,50 M.) —
Schotte, Studien zur Geschichte der westfälischen Mark und
Markgenossenschaft mit besonderer Berücksichtigung des Münster-
Vermischtes. 233
landes. (Münster i.W., Coppenrath. 3 M.) — Meister, Das Herzog-
tum Westfalen in der letzten Zeit der kurkölnischen Herrschaft.
(Münster i. W., Selbstverlag. 1,60 M.) — Rud. Schulze, Die
Landstände der Grafschaft Mark bis zum Jahre 1510. (Heidelberg,
Winter. 4,60 M.) — Thoms, Die Entstehung der Zünfte in Hil-
desheim. (Braunschweig, Wagner. 2,50 M.) — Z e c h ii n , Lüne-
burgs Hospitäler im Mittelalter. (Hannover, Hahn. 1,50 M.) —
Hans Gg. Schmidt, Die evangelische Kirche der Altmark, ihre
Geschichte, ihre Arbeit und ihr Einfluß. (Halle, Strien. 5 M.) —
Consentius, Alt-Berlin. Anno 1740. (Berlin, Schwetschke
A Sohn. 3 M.) — B erb ig, Bilder aus Coburgs Vergangenheit.
2. TL (Leipzig, Heinsius Nachf. 2,50 M.) — Weidner, Gotha
in der Bewegung von 1848. (Gotha, Perthes. 4,50 M.) — Berth.
Schmidtjund Carl Knab, Reußische Münzgeschichte. (Dresden,
Baensch. 16 M.) — v. Mansberg, Erbarmanschaft wettinischer
Lande. Urkundliche Beiträge zur obersächsischen Landes- und
Ortsgeschichte in Regesten vom 12. bis Mitte des 16. Jahrhunderts.
4. (Schluß-) Bd. (Dresden, Baensch. 75 M.) — Teutsch, Ge-
schichte der Siebenbürger Sachsen. Bd. 2. (Hermannstadt, Krafft.)
— Wopfner, Die Lage Tirols zu Ausgang des Mittelalters.
(Berlin, Rothschild. 6 M.) — G h o n , Oberkärnten unter franzö-
sischer Herrschaft. (Villach, Liegel. 1 M.)
Verinischtes.
Das Organisationskommitee des Interna tu onalen Kon-
gresses für historische Wissenschaften, der vom 6.
bis 12. August in Berlin stattfinden wird, versendet das Programm
der Tagung. Die Leser finden es diesem Hefte beigelegt.
Die letzten Nummern des Korrespondenzblatts des Gesamt-
vereins 56, 2 und 3 bringen außer einigen Jahresberichten
kleinerer Geschichtsvereine den ausführlichen Bericht über die
letzte Tagung des Gesamtvereins in Mannheim.
Die Satzungen der HistorischenKommission für das
Großherzogtum Hessen (vgl. H. Z. 100, 236) sind nunmehr
festgestellt und im Hessischen Regierungsblatt (1908, S. 32) mit-
geteilt. Die Kommission besteht demnach aus dem Minister des
Innern und fünfzehn vom Großherzog auf Vorschlag der Kommis-
sion ernannten Mitgliedern. Außerdem sollen die Vertreter von
Körperschaften und Vereinen , die einen Jahresbeitrag von
wenigstens 1000 M. leisten, Sitz und Stimme in der Kommission
haben. An staatlichen Mitteln sind für das laufende Jahr zu-
nächst 2000 M. für die Zwecke der Kommission zur Verfügung
234 Notizen und Nachrichten.
gestellt worden. Auch von den Provinzialverwaltungen und den
bedeutenderen Städten des Landes sind größere Zuschüsse zu
erwarten. Die Feststellung des Arbeitsprogramms ist noch nicht
erfolgt.
Der Historische Verein für Dortmund und die
Grafschaft Mark hat, wie wir dem 35. Jahresbericht ent-
nehmen, u. a. Heft 15 und 16 der Beiträge zur Geschichte Dort-
munds und der Grafschaft Mark an seine Mitglieder verteilen
können. In Vorbereitung ist ein Ergänzungsband zum Dort-
munder Urkundenbuch, bearbeitet von Rubel, sowie Urkunden
der Stadt Iserlohn, die ebenfalls von Rubel bearbeitet werden,
und das Klarenberger Urkundenbuch von Merx.
Preisaufgaben: Die Teylersche Theologische
Gesellschaft zu Haarlem hat zur Beantwortung bis zum
1. Januar 1910 folgende Preisaufgaben wiederholt:
1. 9 Die Gesellschaft verlangt eine Antwort auf die Frage:
Welche Rolle hat das Luthertum gespielt im Niederländischen
Protestantismus vor 1618, welchen Einfluß haben Luther und die
deutsche Reformation auf die Niederlande und auf Niederländer
geübt, und wie ist es zu erklären, daß diese Richtung gegenüber
anderen in den Hintergrund getreten ist?**
2. „Wie verhält sich der Calvinismus unserer Tage zu dem
des 16. Jahrhunderts hinsichtlich seiner Lehren?**
Der Preis besteht in einer goldenen Medaille von 400 fl. an
innerem Wert. — Die Arbeiten sind in der üblichen Form ein-
zureichen — deutsche nur mit lateinischer "Schrift I — an: ,,/%»//-
datiehuis van wjilen den Heer P. Teyler van der Hülst, te
Haarlem,*^
Preisaufgaben der Fürst 1. Jablonowskischen
Gesellschaft: Der Termin für die Einreichung von Bearbei-
tungen der für 1907 ausgeschriebenen Preisaufgabe über Deutsche
Kulturgeschichtsschreibung ist bis zum 30. November
1908 hinausgeschoben. Weiter stellt die Gesellschaft u. a.
folgende Aufgaben: Für den 30. November 1908: „Eine syste-
matisch vergleichende Darstellung der Wirtschafts-
gesetzgebung der größeren deutschen Territorien
in der Zeit vom 15. Jahrhund ert bis zum Beginn des
dreißigjährigen Krieges unter besonderer Hervorhebung
ihres gleichartigen wirtschaftspolitischen Ideengehalts''; für den
30. November 1909 wird die schon früher gestellte Aufgabe wieder-
holt: „Eine Darstellung des griechischen Finanz-
wesens, die auf die literarischen und besonders die Inschrift-
Vermischtes. 23^*
Ikhen Quellen zu gründen und wenigstens bis auf die Zeit der
römischen Herrschaft herabzuführen ist.*" Näheres durch den
Sekretär der Gesellschaft (für 1908, Professor Dr. Otto Wiener,
Leipzig, Llnn^straße 4), an den auch die Bewerbungsschriften,
wie üblich mit Kennwort versehen, zu senden sind. Preis je
1500 M.
Für den ersten Preis der v. Frege-Weltzienstiftung
stellte die Kgl. SächsischeKommission fürGeschichte
die Aufgabe: „Der Einfluß der Kontinentalsperre auf die Ent-
wicklung des Wh-tschaftsiebens im Königreich Sachsen soll mög-
lichst allseitig so untersucht werden, daß die Ergebnisse sichere
Bausteine zu einer vertieften Geschichte Sachsens in der Zeit
Friedrich Augusts des Gerechten bieten.'^ Bearbeitungen sind
unter Beigabe des Namens des Verfassers in einem verschlos-
senen Briefumschlage, der ein Kennwort und eine Adresse für
die Rücksendung des Manuskriptes tragen muß, bis zum 1. Sep-
tember 1910 an die Kgl. Sächsische Kommission für Geschichte,
Leipzig, Universität, Bornerianum einzusenden. Preis 1000 M.
Zur Bearbeitung der Geschichte der privaten wie der so-
zialen Versicherung in Deutschland schreibt der Deutsche
Verein für Versicherungswissenschaft zunächst fol-
gende Preisaufgaben aus: 1. Geschichte der Lebensver-
sicherung in Deutschland, 2. Geschichte der Feuerver-
sicherung in Deutschland. Preis je 2500 M. Näheres beim
General-Sekretariat des Vereins, Berlin W. 50, Pragerstraße 26.
Unsere Totenliste hat an erster Stelle den Namen eines
der Großen unserer Wissenschaft zu nennen. Am 21. April ist
Theodor v. Sickel (geb. 1826 zu Aken in der Provinz Sachsen)
in Meran gestorben. Sein Lebenswerk war längst abgeschlossen.
Den klar umgrenzten Platz, den er in der Geschichte der mittel-
alterlichen Geschichtsforschung einnimmt, hat er sich im wesent-
lichen schon durch seine ,,Beiträge zur Diplomatik*^ (1861 ff.) und
den ersten Band der „Acta regum et imperatorum Karolinorum"
(1867) bereitet. Man weiß, daß diese Schriften nicht weniger als
eine neue Grundlegung der Diplomatik in sich schließen. Ihre
Gedanken hat er im Dienste der Monumenta Germaniae als Leiter
der Diplomata und als Bearbeiter der Königsurkunden bis auf
Otto III. in fruchtbarer Tätigkeit verwertet und erweitert. Seine
organisatorischen Fähigkeiten sind insbesondere seinem zweiten
Vaterlande Österreich zugute gekommen. Das Istituto austriaca
zu Rom, vor allem aber das Wiener Institut für österreichische
Geschichtsforschung verdanken ihm die erste Blüte.
236 Notizen und Nachrichten.
Die Französische Akademie hat zwei Mitglieder verloren:
Arthur de Boislisle (geb. 1835), als Sekretär der SocUU de
l'histoire de France und durch seine Forschungen auf dem Ge-
biete der französischen Wirtschaftsgeschichte bekannt, und Emile
Gebhart (geb. 1839 in Nancy), dessen Andenken manche fein-
sinnige Arbeiten zur Geschichte und Kunst der Renaissance
wachhalten werden.
Adolf Wrede, der sich besonders durch seine Mitarbeit an
der jüngeren Reihe der deutschen Reichstagsakten verdient ge-
macht hat, ist am 5. April in Göttingen gestorben.
Historische Zeitsclirift
Begrfindet von HEINRICH v. SYBBL
Unter Mitwirkung von
Paul Bailleu, Otto Hintze, Otto Krauske,
Max Lenz, Sigm. Riezier, Moriz Ritter, Konrad Varrentrapp,
Karl Zeumer
herausgegeben von
FRIEDRICH MBINBCKB
Dritte Folge — 5. Band — 2. Heft
Der ganzen Reihe 101. Band
MÜNCHEN UND BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG
1908.
Zur gefl. Beachtung!
Die HISTORISCHE ZEITSCHRIFT (a. Folge) erscheint in Heften von k 15 Bogen
Umfing in zweimonatliclien ZwitclienrXunien. Je 3 Hefte bilden einen Band, dessen
Inlialtsverzeichnis sicti jeweils sm Schlüsse des dritten Heftes befindet
Der Preis eines Bandes (45 Bogen) betrigt M. 14.—.
Sendungen fUr die Redaktion der Historischen Zeitschrift sind an Prof. Dr.
MEINECKE, FREIBURG i. B., Längenhardstraße 3, zu richten.
Rezensionsexemplare
sind entweder direkt an die Redaktion oder an die Verlagsbuchhandlung
R. OLDENBOURG, MÜNCHEN, GiUckstraße 8, zu senden.
Die Versendung der zur Besprechung einlaufenden BUcher an die Rezensenten
erfolgt durch die REDAKTION.
INHALT.
Aufsätze.
Seite
Die Missionsplttne des Ignatius von Loyola und die Gründung des Jesuiten-
kollegs in Messina im Jahre 1548. Von Friedrich Meyer 237
Das römische Kircbenrecht und der Westfilische Friede. Von Moriz Ritter 253
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. Von Adalbert Wahl . . 283
Miszellen.
Zur Geschichte des Icarolingischen Kriegswesens. Von W. Erben 321
Die Denkschrift des Grafen von Finckenstein .Über die Freiheiten der Ritter-
schaft' (1811) Veröffentlicht von Friedrich Meusei 337
Literaturbericht.
Seite
Alte Geschichte.
G. de Sanctis, Storia dei Romani,
la conquista del primato in Italia 350
Smith, Die römische Tiraokratie . 353
B 1 a n c b e t , Les Enceintes Romaines
de la Gaule 354
Geschichte des Christentums.
Untere religiösen Erzieher. Heraus-
gegeben von C. Beß 356
Deutsche Geschichte.
Grundriß der Geschichtswissenschaft
zur Einfuhrung in das Studium
der deutschen Geschichte des
Mittelalters und der Neuzeit.
Herausgegeben von A. Meister.
I, 1 und 2 -361
Eccardus, Geschichte des niede-
ren Volkes in Deutschland. . . 368
Mittelalter.
Stevenson, The crusaders in the
East 369
Folz, Kaiser Friedrich II. und Papst
Innozenz IV 371
Schrader, Die RechnungsbUcher
der hamburgischen Gesandten in
Avignon 1338-1355 378
Jansen, Die Anfänge der Fugger
(bis 1494) 379
Reformationszeit.
Greving, Johann Ecks Pfarrbuch
für U. L. Frau in Ingolstadt . . 380
17. Jahrhundert.
Ward, Prothero, Stanley Lea-
thes, The Cambridge Modern
History. Vol. V. The age of
Louis XIV 382
Seite
z8. Jahrhundert.
Volz, Die Erinnerungen der Prin-
zessin Wilhelmine von Oranien
an den Hof Friedrichs d. Gr. (1751
bis 17b7) 384
Zlekursch, Sachsen und Preußen
um die Mitte des 18. Jahrhun-
derts 386
Becker, Der Dresdner Friede und
die Politik Brühls 38»
19. Jahrhundert.
Meusei, Friedrich August Ludwig
von der Marwitz 392
von der Marwitz, Vom Leben
am preußischen Hofe 1815-1852 396
v. Petetsdorf f, Kleist-Retzow. . 3%
Deutsche Landschaften.
C lausing, Der Streit um die Kar-
tause vor Straßburgs Toren 1587
bis 1602 398
G f r Ö r e r , Straßburger Kapitelstreit
und Bischöflicher Krieg im Spiegel
der elsassischen Flugtchriftenlite-
ratur 398
Ziegler, Die Politik der Stadt
Straßburg im Bischöflichen Kriege
1592-93 398
Lossen. Staat und Kirche in der
Pfalz im Ausgang des Mittelalters 400
Beschorner, Geschichte der säch-
sischen Kartographie im Grund-
riß 403
Mecklenburgisches Urkundenbuch,
22. Bd 404
Schweiz.
Egger, Geschichte der Cluniazen-
serklöster in der Westsehweiz
IV
Inhalt.
Seite
bis zum Auftreten der Cister-
zienser 405
Frankreich.
Courteaut, Blaise de Monluc Hi-
storien 407
del Vecchio, Su la Teoria del
Contratto Sociale 410
Meynier, Un Repräsentant de la
Bourgeoisie Angevine k TAssem-
bl^e Nationale Constituante et k
la Convention Nationale . . . 412
Seite
Italien.
Luchai re, Documenti per la storia
dei rivolgimenti politici del co-
mune di Siena dal 1354 al 1369 . 415
Capasso, II govemo di Don Fer-
rante Gonzaga in Sicilia dal 1535
al 1543 418
England.
Smith, Frederick William Maitland 419
Merriman, Life and letters of
Thomas C romwell 421
Verzeichnis der in den „Notizen und Nachrichten«
besprochenen selbständigen Schriften.
Seite
Schweizer, Die religiöse Auffas-
sung der Weltgeschichte . . . 424
P h i 1 i p p s o n , Das Mittelmeergebiet 426
Oliver, Roman Economic condi-
tions to the dose of the Republic 429
Stähelin, Geschichte der klein-
asiatischen Oalater 430
D o 1 1 i n , Manuel pour servir k l'^tude
de TAntiquit^ Celtique .... 430
E. Seyler, Der Römerforschung
Irrtümer in der Alisofrage ... 431
— , Die Osterstufe und die Bari-
gilden 431
L ö h n e r t , Personal- und Amtsdaten
der Trierer Erzbischöfe des 10. bis
15. Jahrhunderts 434
Schäfers, Personal- u Amtsdaten
der Magdeburger Erzbischöfe von
968 bis 1513 434
Soehn^e, Catalogue des Actes
d'Henri !•% roi de France (1031 k
1060) 435
V. Pflugk-Harttung, Die Papst-
wahlen und das Kaisertum ... 435
HUfner, Das Rechtsinstitut der
klösterlichen Exemtion .... 435
Friedrich, Studien zur Vorge-
schichte der Tage von Kanossa . 435
Sägmüller, Die Bischofswahl bei
Gratian 435
Hoppe, Erzbischof Wichmann von
Magdeburg 436
FUß lein, Anfänge des Herren-
meistertums in der Bailei Bran-
denburg 438
C 1 e m e n , Atexius Chrosner, Herzog
Georgs von Sachsen evangeli-
scher Hofprediger 444
Prentout, Une r^forme parlemen-
taire k Tuniversit^ de Caen . . 445
I Seite
I Prentout, La vie de l'^tudiant k
I Caen au XVI* si^le 445
j — , L'universitd de Caen k fa fin du
I XVI-siÄcle 445
— , Statuts et ordonnances des apo-
thlcaires de Caen 446
Loser th, Bericht über die Ergeb-
nisse einer Studienreise in die
Archive von Linz und Steyregg . 449
Fricke, Memoiren und Lebens-
schicksale des Grafen Tourville. 452
Wiegand, Das politische Testa-
ment Friedrichs d. Gr. vom Jahre
1752 452
Müller. Zur Beurteilung der Per-
sönlichkeiten im Feldzuge von 1815 457
V. Eberhardt, Aus Preußens
schwerer Zeit 458
Strich, Marschall Alexander Ber-
thier und sein Ende 458
Pöppelmann, Georg Beseler und
seine Tätigkeit für die Grund-
rechte des deutschen Volkes im
Jahre 1848 459
Brunner, Politische Bewegungen
in Nürnberg 1848/49 460
Mayer, Die Lösung der deutschen
Frage im Jahre 1866 und die
deutsche Arbeiterbewegung . . 461
Rapp, Die öffentliche Meinung in
Württemberg von 1866 bis zu den
Zollpartamentswahlen, März 1868 461
Roth, Die Rechtsverhältnisse der
landesherrlichen Beamten in der
Markgrafschaft Baden-Durlach im
18. Jahrhundert 465
Schulze, Die Landstände der Graf-
schaft Mark bis zum Jahre 1510. 467
Fressel, Das Ministerialenrecht
der Grafen von Tecklenburg . . 467
Für «ftfkffi Rttr4ihlffirfAr* ^^^ ersten 4 Seiten der einzelnen Hefte, Titel und In-
rur aen ouaioinaer. haltsverzeichnis, kommen beim Binden eines Bandes,
der sich aus 3 Heften zusammensetzt, in Fortfall. Titel und Inhaltsverzeichnis für
einen Band befinden sich jeweils am Schlüsse des 3. Heftes.
Die Missionspläne des Ignatiusvon Loyola
und die Gründung des JesuitenkoUegs in
Messina im Jahre 1548.
Von
Friedrich Meyer.
Es ist bekannt, daß anfänglich im Zentrum der Pläne
des Ignatius von Loyola, zu deren Verwirklichung er seinen
Orden gründete, nicht der Gedanke der Bekämpfung
des Protestantismus gestanden hat, sondern der Gedanke
der Weltmission. Die Überwindung der Ungläubigen war
die hohe Aufgabe, welche die im Kampf mit den Mauren
groß gewordene spanische Nation seit Jahrhunderten sich
stellte. Sie spiegelt sich bei Ignatius in der Idee der Welt-
mission. Während seines Aufenthaltes in Palästina im
Jahre 1523 nahm sie zum erstenmal greifbare Gestalt an.
Elf Jahre später legte er mit seinen Genossen auf dem
Montmartre das Gelübde ab, in Palästina zum Wohle
der Mitmenschen zu wirken. Doch hatte er schon damals
die Möglichkeit ins Auge gefaßt, daß seine Pläne an der
schwierigen Lage der Verhältnisse scheitern könnten. Als
ihm während seines zweiten Aufenthaltes in Venedig im
Jahre 1537 durch den Seekrieg zwischen der Republik und
den Türken wiederum die Aussicht genommen wurde,
sein Vorhaben zu verwirklichen, gab er seinen Gönnern
die gespendeten Reiseunterstützungen zurück: von jetzt
ab sollten seine Gefährten zu je zweien überallhin wandern,
Hittoritche Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 16
238 Friedrich Meyer,
WO sie nur immer für den Herrn wirken könnten. Sei
ihnen der Weg nach Palästina auch nach Jahresfrist noch
versperrt, so wollten sie in ihrer Liebestätigkeit fortfahren.
Ignatius sei damals wohl auch innerlich bereits über seine
ursprünglichen Missionspläne hinausgewachsen, sagt Go-
thein.^) Wie tief jedoch den Ordensstifter noch über ein
Jahrzehnt später, im Jahre 1548, der Gedanke der Welt-
mission beseelt haben muß, zeigt eine genauere Betrach-
tung der Umstände, unter denen das Kolleg von Messina
gegründet wurde.
Bereits im Jahre 1546 wirkte ein Jesuit auf der Insel
Sizilien, der Niederdeutsche Jakob Lhoost: er reformierte
Klöster und sammelte die Jugend zum Katechismusunter-
richt um sich.2)
Festen Fuß aber begann der Orden doch erst im
nächsten Jahre auf der Insel zu fassen, als Johann de
Vega zur Übernahme des Vizekönigtums dorthin ging.^)
Er wünschte, in Obereinstimmung mit seiner Gemahlin,
die Tätigkeit von Ordensgliedern auf der Insel, sowohl
zur Befriedigung der persönlichen religiösen Bedürfnisse,
wie zur Einrichtung und Leitung gottgefälliger Werke. ^)
Ignatius gab ihm den Pater Hieronymus Domenech
mit, einen früheren Magister und Kanoniker in Valencia.
Bereits im Mai 1547 landete dieser mit der königlichen
Familie in Palermo. Der Orden, der die höchste welt-
liche und geistliche Autorität auf der Insel für sich hatte,
nahm sofort die Gründung eines Kollegs in Aussicht und
zwar eines Kollegs mit öffentlichem Unterricht, wie er
ein solches bisher nur zu Gandfa in Spanien besaß.
Domenech hatte es zur Hebung des geistigen und sitt-
0 Eberhard Gothein, Ignatius von Loyoia und die Gegen-
reformation. Halle 1895.
•) Polanko, Chronicon Soc. Jesu, Madrid 1894—1898. I, 198
(aus den Monumenta historica Soc. Jesu), Jos. Hansen, Rheinische
Akten zur Geschichte des Jesuitenordens. Bonn 18%. S. 48.
') Seine Ernennung durch kaiserl. Erlaß vom 24. Dezember
1546, registriert in Palermo 31. Mai 1547. Reg. der kaiserl. Kanzlei
1546/47 bei Giov. E. Di-Blast, Storia chronologica dei Vicerk, Luogo-
tenenti e President i del Regno di Sicilia, Palermo 1842. S. 189.
*) Pol. I, 210.
Die Missionspläne des Ignatius von Loyola etc. 239
liehen Niveaus des Klerus vorgeschlagen, dessen Un-
wissenheit man gesehen haben müsse, um sie für möglich
zu halten.^)
Welche der großen Städte auf der Insel sollte man
nun „der Wohltat eines Jesuitenkollegs" teilhaftig machen?
Von jeher bestand unter ihnen eine erbitterte Rivalität,
die ihren Grund in der Willkür hatte, mit der die spani-
sche Regierung bei der Gewährung königlicher Privi-
legien verfuhr. Fast immer gab das Geld den Ausschlag,
dessen die Monarchie zur Durchführung und Aufrecht-
erhaltung ihrer Weltstellung so sehr bedurfte. Der Kampf
um den Vorrang war naturgemäß zwischen den beiden
größten Kommunen Palermo und Messina am erbittert-
sten. Die der spanischen Regierung in Madrid nahe
standen, kamen auf den Gedanken, daß sie diese Eifer-
sucht absichtlich begünstige, nur um vor einer gemein-
samen Rebellion sicher zu sein. „Zwei können sich die
Hauptstädte dieses Reiches nennen, Palermo und Mes-
sina," sagt der venetianische Gesandte Federico Badoero;
„denn weder der Kaiser noch der König haben jemals
den Vorrang zwischen ihnen entscheiden wollen, obschon
Palermo nach der allgemeinen Meinung als die erste gilt,
sondern sie in ihrer Rivalität lassen, weil es zur größeren
Sicherheit und zum größeren Nutzen des Königs diene." 2)
Durch seinen Reichtum, den es seinem durch die
Lage begünstigten Handel verdankte, hatte es besonders
Messina vermocht, sich eine Stellung zu verschaffen, die
der einer selbständigen Republik fast gleichkam. Die
Stadt wies stolz auf ihre kommunale Unabhängigkeit hin,
wenn sie sich in Urkunden „die als die einzige Tochter
ihres Hirten und Königs Geachtete" nannte.') So war
gerade ihr gegenüber die Stellung der Vizekönige eine
») „ Una grandissima ignorancia entre los clerigos, cosa para
no poder creer sino lo viese.' Literae quadrimestres, 4 Bde. Madrid
(Monum, histor, Soc. Jesu) I, 51. Franziscus MaurolycuSy SUani-
carum rerum compendium, 1716. S. 215. Pol. 1, 236.
*) Eugenio Alb^ri, Le Relazioni degli Ambasciatori Veneti
al Senato durante il sec, XVI. Ser. I, Vol. III. Firenze 1853.
') Epistulae Mixtae, ex variis Europae locis ab anno 1537
— 1556 scriptae, Madrid 1898. (Monum, histor, Soc. Jesu) I, 451.
16*
240 Friedrich Meyer,
besonders schwierige. Stets mußten sie gewärtig sein,
bei ihren königlichen Erlassen und Anordnungen auf
Widerspruch zu stoßen, der mit irgend einem Vorrecht
begründet wurde. Antworteten sie mit Gewalttätigkeiten,
80 war ein mit Geld unterstützter Protest bei der spani-
schen Regierung in Madrid die Folge, der selten erfolg-
Jos war. Kein Wunder, wenn wir bei den insularen Streitig-
keiten die Vizekönige meist auf Seiten Palermos und der
anderen Messina feindlich gesinnten Kommunen sehen.^)
Auch Vega machte davon keine Ausnahme. 2) Das aber
zeigte sich auch, als es galt, einen Platz auf der Insel
für das Jesuitenkolleg auszuwählen. Wir wissen aus den
betreffenden neuerdings von den spanischen Jesuiten
herausgegebenen Briefen, daß der Vizekönig die Städte
Catania, Calatagirone und Palermo vorschlug, die Königin
und der Beichtvater Domenech vor allem Palermo, „die
Hauptstadt des Reiches," wie er sagt.^) Von dem privi-
legienstolzen, stets auf seine Unabhängigkeit eifersüchtigen
Messina dagegen ist in diesen ersten Briefen nicht die
Rede.
Und nun zum Stifter des Jesuitenordens: Wie ver-
hielt er sich? Ignatius von Loyola kehrte sich nicht an
') Ich erinnere an die Streitigkeiten um den Vorrang gegen-
über Palermo mit dem Vizekönig Giov. Cardona di Prades: Giu-
seppe Buonfigüo, Prima parte dell' Historia SicUiana. VeneL 1604.
I, 379 ff. 387. Franc. Maurolyco, Compend, 307; ferner an den
Streit um die Residenzpflicht der Vizekönige : C. Domenico Gallo,
Gli annali della cittä di Messina. Messina 1877. Apparate agli
annali 70; um die Verlegung der Münze: ebd. 76. Annali II, 457.
Franc. Maurolyco, Della Storia di Sicilia Hb, VI. suppl. publ. dal
Baluzio. Palermo 1849. p. 325.
') Man denke 2. B. an das Strafgericht über die nobili aus
dem Jahre 1549. Epistulae P.Nadal. 2 Bde. Madrid 1899. (Monum^
hist. Soc. Jesu) I, 72 ff.
») Lit. quadr. I, 47 ff. u. 130. Dazu 51. Wenn Polanco in
seiner Chronik sagt: Prorex et ejus uxor ad hoc opus valde pro-
pensi erant, nee solum Messanae, sed Panormi, Catanae et Calata-
gironae institui Collegia posse Prorex judicabat; sed ab ipsa
civitate Messanensi rogari voluit, antequam ipse ad P. Ignatium
scriberet \, 242, so ist er hier infolge seiner zusammenfassendea
Kürze ungenau.
Die Missionspiäne des Ignatius von Loyola etc. 241
die persönlichen Sympathien oder Antipathien der könig-
lichen Familie und ihres Beichtvaters Domenech. Gerade
auf Messina fiel seine Wahl. Denn noch einmal ergriffen
ihn jetzt die von enthusiastischer Romantik durchtränkten
Lieblingspläne seiner ersten Bekehrungsjahre. Damals
zauberte ihm die Vision jene beiden Heerlager bei Jeru-
salem und bei Babylon, das eine Christi, das andere
Satans kampfgerüstet einander gegenüber vor: „Christus
der ewige König ist es, der, einer ganzen Welt sichtbar,
jeden einzelnen mit diesen Worten herbeiruft : Mein ist
dieser gerechteste Wille, die Herrischaft über die ganze
Welt mir zu verschaffen, alle meine Feinde zu be-
kämpfen.**^)
Als sich jetzt gegen das Ende seines Lebens die
Gelegenheit bot, eine Ordensniederlassung auf Sizilien
zu begründen, glaubte er die Zeit endlich gekommen^
seine langgehegten Missionspläne zu verwirklichen. Ein
Kolleg sollte erstehen, das alle früheren an Ausstattung
übertreffen, das seinen Ordensstreitern als Ausgangspunkt
für die Unterwerfung aller Nationen der Erde unter die
Herrschaft Christi dienen sollte. Welche Stadt Siziliens
hätte ihm dafür passender erscheinen sollen als Messina
mit seinem gesunden Klima, seinem ausgedehnten Handels-
verkehr, seinem schon im Altertum gerühmten Seehafen,
„so geeignet," wie ein Historiker der Insel sagt, „die
Grenzen des Imperiums in die Welt hinauszutragen ?** 2)
„Wenn wir Messinas Lage betrachten:" schrieb damals
ein römischer Jesuit nach Löwen, „Fast alle Völkerrassen
pflegen sich in dem berühmten Hafen der Messinesen zu
versammeln. Wenn wir aber Siziliens Lage dabei in Er-
wägung ziehen, es ist gewissermaßen ein Fahrzeug, um
leicht in aller Völker Nationen einzudringen, ist gleichsam
ein Schlüssel und ein Tempel ganz Italiens, ist für den
Erdkreis selber derselbe Mittelpunkt, wie einst Jerusalem
es war.3) Griechenland, Kalabrien, die Sarazenen wollte
*) Exercitia spiritualia S, P, Ignatii Loyolae, Antwerpen 1635.
p. 49, 50. Vgl. Ranke, Die römischen Päpste. 1874. I, 119.
') Rochus Pirrus, Sicilia sacra, Panormus 1733. 1^ 315.
«) Brief vom 19. März 1548. Rhein. Akten 119.
242 Friedrich Meyer,
man von hier aus zuerst dem Glauben wiedergewinnen:
Leicht gehe es von hier nach dem Orient und nach fast
allen Seiten der Welt.^) Noch einmal sehen wir hier die
Kreuzzugsidee des Mittelalters sich erneuern: Auf den
Spuren von Philipp August und Richard Löwenherz, im
Sinne der Pläne des großen Hohenstaufen Heinrichs VI.
sollten die geistig Gewappneten der Kompagnie Jesu von
Messina hinausziehen, den Unglauben zu bekämpfen.
Es geschah ohne Zweifel auf den ausdrücklichen
Wunsch des Ignatius, daß der Vizekönig bei der Stadt-
verwaltung von Messfna anfragen ließ, inwiefern sie zur
Einrichtung und Ausstattung eines Jesuitenkollegs in ihren
Mauern geneigt sei. Er ging dabei mit einer peinlichen,
fast ängstlichen Zurückhaltung zu Werke. Die offizielle
Vermittlerrolle übernahm Didacus von Corduba, der Sin-
dikator des Königreichs. Der Vizekönig empfahl ihm, die
Angelegenheit völlig als private und persönliche zu be-
trachten und durchaus nicht etwa die Stadt in der Freiheit
ihres Entschließens und Handelns zu beengen.^)
Der vertraute Leibarzt und Freund des Vizekönigs,
Dr. Ignatius Lopez, hatte in seinem unauffälligen Privat-
verkehr unvermerkt die Aufmerksamkeit der maßgebenden
Persönlichkeiten auf den Gegenstand zu richten und sie
vorzubereiten gewußt. So brachte Didacus eines Tages
die Angelegenheit im Rate der Stadt zur Sprache. Sie
war zu allem bereit: Wir hören von einem Ratsbeschluß,
der dem Orden eine dauernde bequeme Wohnung, eine
Kirche und 500 Dukaten fester jährlicher Dotation zum
Lebensunterhalt gewährleistete.')
Mit einer gewissen Hast schritt man hierauf zur
formellen Regelung der Angelegenheit. Am 17. Dezember
reichte die Stadt ihr Gesuch beim Vizekönig ein, in
welchem sie um seine Vermittlung bei der Einladung des
Ordens und um seine Bestätigung ersuchte. Bereits zwei
0 Rhein. Akten 139. Pol. II, 240. Emanuele Aguilera {S.J.),
Provinciae Siculae Soc. Jesu ortus et res gestae. Palermo 1737.
I, 1. 20. 21.
») Aguilera I, 5. PoL I, 242.
») Pol. I, 242. 243.
Die Missionspläne des Ignatius von Loyola etc. 243
Tage darauf war die gewünschte Antwort eingegangen.
Die Stadt vermochte ihr eigenes Einladungsschreiben
an den Ordensstifter zu richten. Sie bat um die be-
schleunigte Sendung von zehn Jesuiten für das Kolleg:
vier sollten scholastische Theologie, Kasuistik und Philo-
sophie lesen, ein Magister den sprachlich rhetorischen
Kursus. Die fünf andern sollten ihrer Meinung nach die
Werke der katholischen Frömmigkeit üben. Später schickte
sie auch noch 100 Dukaten Reisegeld. Gleichwohl ver-
gingen noch Monate, ehe die Jesuiten anlangten.^)
Wir haben gesehen, welche hohe Bedeutung Igna-
tius dieser Kolleggründung beimaß. So erwünscht ihm
daher das lebhafte Drängen und Verlangen der Stadt
auch sein mußte, so durfte er doch die Gründung auch
nicht überstürzen. Nie wieder hat er für ein Kolleg der-
artig eingehende und sorgsame Vorbereitungen getroffen,
wie er es für Messina getan hat. Eine weihevolle Be-
geisterung, welche die Berichte noch heute fühlbar machen,
verklärte damals seine Person. Die ihren Meister sahen,
haben den tiefen Eindruck nicht vergessen, den sie emp-
fingen. Man begriff nicht den Sinn seiner Worte, nicht
den Sinn der Maßnahmen, die er traf. Man verstand
die tiefe Bewegung seiner Seele nicht. Aber man sprach
doch auch später immer nur mit ehrfurchtsvoller Scheu
davon: Herrliche Hoffnungen setze er auf jene neue
Niederlassung, sagte er eines Tages; denn wenn auch
die Gesellschaft schon mehrere fertige Kollegien zähle,
so dünke ihm doch von jenen allen Messina mit Recht
das teuerste: schaute er doch schon damals im Geiste,
daß es die größten Erfolge bringen werde zum Dienst
der göttlichen Majestät. Dies prägte sich allen tief ein,
erzählt Codreto, einer der Zehn, der es hörte. Sie be-
hielten die Worte, konnten aber damals nicht verstehen,
weshalb er das Kolleg höher schätzte wie die in Koimbra
und Padua.2)
Seine ganze Sorgfalt verwandte er auf die Auswahl
der Zehn. Es sollte gleichsam eine Elitetruppe sein, wohl-
») EpisL mixtae I, 450—452. 456. Pol. I, 243. Aguil. I, 6. 12.
>) Aguilera I, 8. 20.
244 Friedrich Meyer,
diszipliniert, mit den schärfsten Waffen modernen Wissens
ausgerüstet, die hier noch einmal für den Herrn zum
Kreuzzug hinauszog. Eines Tages versammelte er die
36 Insassen des römischen Kollegs und legte ihnen feier-
lich vier Fragen vor, über die sie sich schriftlich äußern
sollten. Sie betrafen ihre Bereitwilligkeit zum Gehorsam
in allen Dingen, besonders aber hinsichtlich der Unter-
richts- und Weltmissionszwecke des neuen Kollegs, und
zwar nicht nur zum Gehorsam der Tat, sondern auch
der Gesinnung.^)
Mit Befriedigung mag Ignatius die Antwort des
Deutschen Kanisius gelesen haben, welche dieser am
5. Februar des Jahres 1548 abgab. Unbedenklich erklärte
sich der bereit, nach Sizilien, nach Indien zu gehen oder
in Rom zu bleiben, als Koch, Türhüter, Gärtner oder als
Hörer oder Lehrer zu wirken, wie der Gehorsam es vor-
schreibe. „Wahrlich ihm, dem General, unterwerfe ich
Seele und Leib, mein Verstehen selbst und mein Wollen
in allen Dingen ohne Ausnahme. Demütig bring ich's
zum Opfer und empfehle es treu in Jesu Christo unserm
Herrn." ''^)
Bis Ende des Monats hatte der Ordensstifter die Aus-
wahl der Zehn getroffen. Immer wieder ermahnt er zum
Gehorsam, der auch Willen und Verstehen umfasse und
keine Herzensgeheimnisse gegenüber dem Superior kenne.
Vollkommen sollten sie sein, nicht um ihrer selbst, son-
dern um seinetwillen. Noch kurz vor ihrer Abreise
sammelte er sie um sich, gab ihnen ein geistliches Thema
zu freier Aussprache und freute sich an ihren Äuße-
rungen.')
Es waren alles Männer von erlesener Gelehrsamkeit,
die er nach Messina sandte. Aber das hinderte ihn nicht,
sie zum Teil wieder zur Grammatik des Despauterius
zurückkehren und lateinische Sprachübungen machen zu
lassen. Denn diese Männer sollten mit dem herkömm-
») Rhein. Akten 112, 113. 117. Pol. I, 268. 269.
•) Otto Braunsberger {S, /.), B, Petri Canisii Soc, Jesu Epi-
stulae et Acta. Freiburg i. B. 1896. I, 263.
=) Aguilera I, 8—10.
Die Missionspiäne des Ignatius von Loyola etc. 245
liehen philosophisch-theologischen Wissen das modern
humanistische verbinden. Kanisius ermahnte damals die
Brüder in Köln, die Ordensglieder auch zu humanisti-
schen Sprachstudien anzuhalten. Auch Wischaven, Anton
Vinck u. a., die darin Lücken zeigten, hätten Befehl er-
halten, zum Despauterius zurückzukehren und Stilübungen
zu machen, besonders dabei die Briefe Ciceros zugrunde
zu legen. ^)
Unter den zehn Auserlesenen sehen wir in der Tat die
bedeutendsten Männer des Ordens, vor allem den Spanier
Nadal, den Franzosen Frusius, den Deutschen Kanisius.
Jeder von ihnen zeigte den Typus seiner Nation und ver-
körperte so das Ideal des Ordens in eigenartiger Weise.
Hieronymus Nadal, ein Gutsbesitzerssohn von der
Insel Mallorka, hatte sich auf den Universitäten Alkalä
und Paris seine reichen Kenntnisse erworben, die außer
Philosophie und Theologie alle damals im Zusammen-
hang mit diesen gelehrten Wissensgebiete umfaßten, wie
Mathematik, Astrologie, die drei Sprachen der Huma-
nisten : Latein, Griechisch, Hebräisch. Seine Briefe, vor
allem seine von ihm selbst nach 1565 geschriebene Be-
kehrungsgeschichte zeugen von einem reichen Innen-
leben, von einer feinen Beobachtungsgabe. Man darf in
ihr nicht eine Erzählung im Stile der wundersüchtigen,
farblos schablonenmäßigen Heiligenliteratur suchen. In
ihrer inneren Wahrhaftigkeit und Lebenswahrheit stellt sie
sich ebenbürtig neben die Acta antiquissima des Ordens-
stifters. Sie gibt uns einen Begriff davon, wie sich dieser
mit seiner überragenden Persönlichkeit seine Werkzeuge
schuf. 2)
Eine solche sensible und rezeptive Natur war es,
deren Ignatius bedurfte. Keiner hat ihm und seinem
Werke näher gestanden. „Er dürfte seinen (des Ignatius)
Geist verstanden haben und wie nur irgend einer, den
ich von der Gesellschaft kenne, in ihr Institut einge-
») Brief vom 28. Februar 1548. Rhein. Akten 114, vgl. auch
130, 131, 136 etc. Aguil. 1, 89.
») Chronicon Natalis jam inde a principiis vocationis suae
<1535 — 1546), vorn im ersten Bande seiner oben erwähnten Briefe.
246 Friedrich Meyer,
drungen sein,'' urteilt der Geheimsekretär des Ordens-
stifters, Polanko.^)
Dieser Nadal war es, den das Schicksal bestimmt
zu haben schien, die Gedanken Loyolas in die Praxis zu
übersetzen. Dieser selbst hat sein Organisationstalent
gerühmt. Vor allem das Ordensschulwesen verdankt ihm
seine Form, die er ihm eben hier in Messina gegeben
hat.^) Nadal ist der Melanchthon des Ignatius geworden.
Er konnte kein schöneres Zeichen des Vertrauens er-
halten, als daß er im Jahre 1555 von dem Ordensgeneral
zu seinem Generalvikar gemacht wurde mit derselben
Autorität, wie er selbst sie besaß. ^)
Würdig stehen Andreas Frusius und Peter Kanisius
neben ihm, jener der Philologe, der Humanist des Ordens,
der Herausgeber von Schulautoren, der Verfasser von
Grammatiken, Gedichten und Schülerdialogen, dieser der
Interpret der Ordensfrömmigkeit, der sanktionierten kirch-
lichen Glaubenslehre, wie sie besonders in seinen beiden
Katechismen zum Ausdruck gekommen ist.
Von den übrigen sieben wäre der Savoyarde Cou-
dreto noch zu nennen, der später als Rektor des Kollegs
von Messina eine leider verloren gegangene Geschichte
über die ersten zehn Jahre desselben verfaßt hat, die
Aguilera noch für seine Darstellung benutzte und häufig
wörtlich zitiert.
Kurz vor ihrer Abreise nach Messina wurden die
Zehn noch einmal vom Papst in Audienz empfangen,
um seinen Segen zu erhalten. Dann — es war am
18. März des Jahres 1548 — durchschritten sie die Tore
Roms. Bis Neapel benutzten sie Pferde, von da aus
Schiffe. Die Oberfahrt war äußerst stürmisch und ge-
fahrvoll. So kam es, daß sie erst am 8. April in Messina
') Zeugnis vom 7. Juni 1553 an Miron in Portugal, als Nadal
zur Visitation des Ordens dorthin reiste. Pol. III, 427 A. 3.
') Darüber handelt ausführlich meine Berliner Inaugural-
dissertation von 1904: „Der Ursprung des jesuitischen Schul-
wesens, ein Beitrag zur Lebensgeschichte des heiligen Ignatius.^
*) Empfehlungsschreiben an den König von Portugal vom
6. Juni 1553. Cartas de San Ignacio de Loyola. 6 Bde. Madrid.
111, 215. Die Wahl zum Generalvikar ebd. V, 28h
Die Missionspläne des Ignatius von Loyola etc. 247
an Land stiegen, von Lopez, dem Sindikator Diego und
den Behörden der Stadt begrüßt. Noch an demselben
Tage wurden sie auch der Familie des Vizekönigs vor-
gestellt. Da das Kolleg noch nicht fertig ausgebaut
war, so wurde ihnen zuerst im Palast Vegas, dann in
dem des Erzbischofs ein vorläufiges Unterkommen ge-
währt. ^)
Die Jesuiten waren von der Reise sehr mitgenommen.
Es machte einen vorzüglichen Eindruck, als sie bereits
am dritten Tage nach ihrer Ankunft bei der offiziellen
Empfangsfeierlichkeit in den geschmückten Räumen der
Kirche ihre von Gelehrsamkeit und humanistischer Form-
fertigkeit zeugenden Reden hielten. Am 24. April be-
gannen sie den öffentlichen Unterricht.
Es mochten etwa 14 Tage oder drei Wochen ver-
gangen sein, als die Stadt mit einem unerwarteten
Wunsche hervortrat. Sie forderte durch den Sindikator
den Orden auf, die Rechte einer öffentlichen Universität
auszuüben, die auch die Fakultäten Recht und Medizin
umfassen sollte. Nadal, der Rektor des Kollegs, sollte
auch als Rektor der Universität fungieren, ein Kanzler
aus demselben Kolleg die Promotion in Philosophie und
Theologie leiten. 2)
Nadal und Domenech, von diesem Anliegen der
Stadt völlig überrascht, benachrichtigten sofort den
Ordensstifter. ^) Konnte man etwas anderes erwarten,
als daß dieser aufs freudigste seine Zustimmung gab?
Wie mußte dieses Kolleg, das seinen tiefsten Plänen
einen weithin sichtbaren Ausdruck geben sollte, ge-
winnen, wenn es noch mit dem Glanz einer privilegierten
Universität umgeben wurde 1 In ganz anderem Maße
wie heute waren dies in damaliger Zeit internationale
Institute. Hörer aus aller Herren Länder sammelten sich
zu den Füßen großer Professoren und trugen deren
Ruhm zugleich mit demjenigen der Anstalt, an der sie
») Rhein. Akten 117—119, 121 ff. Lit. guadr. l 95. Aguil. I,
12 u. 13.
«) Pol. I, 283. Aguil. 1, 72.
•) Aguil. I, 70. 71.
248 Friedrich Meyer,
lehrten, in die Welt hinaus. Nichts konnte dem Ordens-
stifter mehr erwünscht sein als diese großartige Er-
weiterung seiner Pläne. Die ganze Energie, die ihm zu
Gebote stand, raffte er zusammen, um der Stadt Messina
ihren Wunsch zu erfüllen.^) Er konnte die Schwierig-
keiten nicht ahnen, die dem Orden gerade aus dem
Universitätsprojekt der Stadt erwachsen sollten: Fast
hätten sie die Existenz des Kollegs selbst in Frage
gestellt.
Die Stadt rechnete darauf, daß der Orden sofort den
Universitätsbetrieb eröffnen würde. Nach ihrer Meinung
war jetzt alles, was dazu erforderlich war, vorhanden.
Wiederholt hat sie später behauptet, von König Alfons
1434 und von König Johann 1459 das Privileg zur Grün-
dung eines Generalstudiums zu besitzen.^) Ignatius je-
doch hielt für gut, damals noch nicht die Last einer
Universität zu übernehmen, „aus gerechten Gründen"*,
sagt Polanko. Er unterläßt es aber, sie zu nennen.^)
Es ist einleuchtend, daß der Orden, der seine Ziele
völlig mit denen des Papsttums identifizierte, die Über-
nahme einer Universität verweigerte, die nach Angabe
der Stadt nur mit landesherrlicher Vollmacht gestiftet zu
sein schien. „Man gibt sich Mühe, damit die Univer-
sität Messina auf päpstlicher Vollmacht beruhe", schrieb
Kanisius im August nach Köln.^)
Den auszustellenden päpstlichen Stiftungsbrief wollte
Ignatius dann benutzen, sich die unabhängige Leitung
der Universität durch eine eingeschobene Klausel dauernd
zu sichern. Das sei mit ein Grund für die großen Hoff-
nungen, die er für die Zukunft des Kollegs hegte, er-
zählt Coudreto, der es von einem hörte. Die übrigen
Kollegien hätten mehr den Nutzen ihrer Stifter im Auge
») Aguil. I, 71.
•) Vgl. die Urkunde vom 6. Juni 1550 und von 1756. CCCL
Anniversario della Universitä di Messina, Messina 1900. S. 100,
286. Dazu die Bewerbungsdokumente S. 85 u. 96. Dazu Gallo,
AnnalL Apparato 82, 83.
») Pol. I, 283.
*) Rhein. Akten 139. Pol. I, 364.
Die Missionspläne des Ignatius von Loyola etc. 249
als den der Gesellschaft: die Gesellschaft könne sie nicht
nach Gutdünken leiten, sondern sei genötigt, in den
meisten Angelegenheiten nach deren Winken zu handeln. ^)
Doch der Ordensgeneral rechnete nicht mit dem
Unabhängigkeitssinn einer stets auf die Wahrung ihrer
Vorrechte bedachten Kommune. Sollte sie einem ihr in
mancherlei Hinsicht politisch verdächtigen Orden die
Oberhoheit über ein Institut einräumen, von dem sie
einmal eine großartige Förderung ihrer eigenen städti-
schen Interessen erwartete? An der Superioritätsfrage
ist in der Tat das Universitätsprojekt gescheitert. Nach
dreijährigen schwierigen Unterhandlungen einigte man
sich schließlich auf die Errichtung eines Schulkollegs
ohne Universitätsansprüche. Der Orden verpflichtete sich
dauernd zu fünf Lektionen : Grammatik, Humanität, Rhe-
torik, Griechisch, Hebräisch. Die Stadt gewährte ihm
die ausreichende Dotation von 750 Dukaten, wozu sie
noch 75 Dukaten als jährliche Miete für ein Probationshaus
hinzufügte. Alle früheren, die Selbständigkeit des Ordens
beschränkenden Bestimmungen kamen in Wegfall: „Es
war dafür gesorgt, daß die Gesellschaft durch die Ein-
künfte nicht der Willkür der städtischen Behörden unter-
worfen war", sagt Polanko. Am 4. Januar 1552 wurde
von beiden Teilen ein entsprechender Vertrag unter-
zeichnet, den am 13. des Monats der Vizekönig be-
stätigte. 2)
Man kann sich denken, daß die wenig erfolgreichen
Unterhandlungen des Ignatius mit der Stadt bezüglich
der Universität auch die Hoffnungen, die er für die Zu-
kunft des Kollegs überhaupt hegte, herabgestimmt haben.
Man schalt über die Banausen, denen das Geld mehr
am Herzen läge, wie die Studien.^) Seit August des
Jahres 1550 behandelte er die Angelegenheit mit merk-
lich kühlerem Interesse. So berief er am 6. September
») Aguil. I, 21.
«) Pol. 11, 241. 551. Nad., Ep. I, 127 ff. Anniversario 63, 64.
Aguil. I, 88. Genauere Angaben über den Gang der Verhand-
lungen gedenke ich an anderer Stelle zu veröffentlichen.
») Aguil. I, 74.
2oO Friedrich Meyer,
den bedeutendsten humanistischen Sprachlehrer des Kol-
legs, Frusius, aus Messina ab nach Rom. Er kehrte sich
nicht an die Bedenken und Drohungen, welche die Stadt
äußerte: Frusius' Weggang werde der Universität nicht
wenig Ungelegenheiten bereiten. Für das neue Schul-
jahr gewährte er der Stadt diesmal nur acht Lektoren:
ein neuer philosophischer Kursus wurde nicht mehr be-
gonnen. ^)
Dazu kam, daß der Anfang, der in diesem Jahre
mit der Verwirklichung seiner Missionspläne gemacht
wurde, nicht seinen großartigen Hoffnungen entsprechen
konnte. Im Juni 1550 unternahm Johann de Vega^ vom
Kaiser zum General über alle Expeditionen nach Afrika
ernannt, seinen Zug gegen den Seeräuber Rais Dragutte,
der, früher Hauptmann im Dienste des Seeräubers Bar-
barossa, die Festungen Monistero, Marhadfa u. a. in Tunis
erobert hatte und von hier aus die Küsten und die Schiff-
fahrt Siziliens bedrohte.^) Ignatius beschloß, die Gelegen-
heit wahrzunehmen, und erreichte es, daß der Vizekönig
einem Jesuiten die Teilnahme an der Expedition ge-
stattete. Keinen Geringeren als Lainez beauftragte er
damit, die Missionstätigkeit zu beginnen, den ersten Ein-
fall in das Land der Ungläubigen zu wagen. Ihn hatte
der Ordensgeneral zurechtweisen müssen, als er bald
nach dem Scheitern der Reisepläne von Venedig 1537
seiner „ungeduldigen Sehnsucht nach der Missionstätig-
keit und seiner schmerzlichen Resignation" Ausdruck
gab.^) Nach einigen glücklichen kriegerischen Erfolgen
— die Festen Monistero und Marhadfa wurden erobert
— kehrte er im Oktober mit dem Vizekönig nach Sizilien
zurück.*) Er brachte von dort einige eingeborene Knaben,
die ihr zehntes Lebensjahr noch nicht erreicht hatten,
mit nach Sizilien. Sie sollten, ähnlich wie die Moriskos
«) Pol. II, 32. 36.
«) Maurolyco, Compend, 213. Prudencio de Sandoval, La
Historia del Emperador Carlos V. Madrid 1675. 435 ff.
5) Gothein 284.
*) Carlas II, 529. Sandoval 437 u. 438. Maurolyco, Cam-
pend, 214.
D» IgnasüsS' von Lorola etc. ISl
iai KoiEe^ vnt GondaL Idct im KoDeg Ton Messiiu er-
zofBc vsmeüL mr spiKr önnud als cdirisdidie Missio-
nare inosr iüügii Lan^ediesi zn wiriLcn.'!
Dura %ü DnrissL der bd der ersten E3q>edition
oakfioiiDSüi var. wxrot SoJaman bestimme im April des
foigeaäex jmr» 15&] eine Torkenflotte g^^en Sizilien
m fofafaL Vff^ «nie £e insel in Verteidigungszustand,
umBtt aber aacx am den Schutz seiner Eroberungen in
Airfta Bedxäc iiriiiiiffn Er schickte Dona mit einer
2000 MaoB iSvtieD Brarrnng und mit reidilichem Pro-
Tiam im Jeie sack Tonis Unüber.^) Wie Lainez im
Vofjahre. so aafaoMs (fiesmal Nadal und Isidonis Bellini
ans Rom ao der Fipnfihon teiL Sie fanden bei dem
SdofflinidL den cfie Flotte durchzumachen hatte. Ge-
legenheiL Hat and Gotticrtfanen zu zeigen. Bellini
kam onu Nadal konnte sidi retten.^) Dieser scheint den
besdramten Anhn^ gehabt zu haben, geeignetenfalls ein
TocbterkoD^ nur zu Missionszwecken in Tunis zu
gründen. Er fand jedoch die Verhaltnisse noch zu wenig
günstig und schrieb an Ignatius, daß er ein Kolleg dort
vorläufig noch für nutzlos ansehe. Am 11. November
trat er die Heimreise an.^)
Auch jene afrikanischen Knaben, die Lainez mit-
brachte, hat er spater wieder aus dem Kolleg in Messina
entfernt Die Einricfafauig bewahrte sich nicht.
Das ist nach den vorhandenen Berichten das Ganze,
was der Ordensstiter jv Verwirklichung seiner welt-
umspannenden Kwmipeae erreicht hat, die ihn zur
Gninduf^ des KnOe^ ^ «^„^ begeisterten. Die
UnsKTherhea d« V^» ^ Einern Meer, das die
Turkenflotte bg«n^, 4h, mangelnde Verständnis,
das semro fc'^f^ J**» ^ir tawsuchtig auf ihre Un-
abhangigkat bedad«. ^fcfcj^ Behörden, aber auch
» Pol IL 2Ä
*» Aar*'!- 1 '^- Hl S^u ^_, .
pend. 214- "^^ *jpifc I, ||0. Maurolyco. Com-
Bne: TVÄ at i
NacL Ep. •*- :r:, IÄ. fSuS^S^ *"• Aphrodisium (Marhadfa).
^^ ** quadr. I, 474.
252 Friedrich Meyer, Die Missionspläne des Ignatius von Loyola etc.
seitens der höchsten landesherrlichen und der höchsten
geistlichen Gewalt entgegengebracht wurde, brachte sie
auch diesmal zum Scheitern. Papst Paul III. hatte dem
Ordensgeneral bereits im Jahre 1537, als der ihm seine
venezianischen Reisepläne darlegte, seine Zweifel ge-
äußert: sie würden nicht nach Palästina hinüberkommen. ^)
Derselbe Papst erwähnte bei der Abschiedsaudienz, die
er im März 1548 den zehn nach Messina bestimmten
Jesuiten gewährte, mit keinem Worte die Weltmissions-
pläne des Ignatius. Statt dessen wies er sie energisch
auf die Bekämpfung der lutherischen Ketzerei und im
Zusammenhang damit auf die Aufrechterhaltung seiner
apostolischen Autorität hin.'-^)
Ignatius von Loyola war der Mann, der aus den
Tatsachen die Konsequenzen zu ziehen verstand. Das
klägliche Fiasko, das er mit seiner Kolleggründung in
Messina erlebte, bewog ihn, endgültig die Kampfidee
seines Ordens zu modifizieren, die Hauptkraft desselben
nicht mehr gegen Heiden, Muhammedaner, orthodoxe
Christen, Juden und Moriskos zu richten, sondern gegen
die Ketzer, wie der Papst es wollte.
Im Jahre 1550 wurde Kanisius zum Provinzial von
ganz Deutschland ernannt. Im Juni des nächsten Jahres
1551 wurde das erste deutsche Kolleg in Wien gegründet.
Es geschah einen Monat später, daß der Unterrichtsplan
des Kollegs in Messina nach Rom gesandt wurde, um
als Vorbild für die Organisation des Unterrichts im Kol-
legium Romanum zu dienen. Man sieht, dieser Vorgang
hat eine tiefe symbolische Bedeutung: Er bezeichnet die
Tatsache, daß die weltbewegenden Pläne des Ordens
vom Kolleg in Messina auf das Collegium Romanum
übergingen. Im nächsten Jahre wurde das Collegium
Oermanicum für deutsche Jünglinge in Rom gegründet:
es hat die Hoffnungen des Ignatius besser gerechtfertigt,
als das Pensionat der afrikanischen Knaben in Messina. ''^)
») Gothein 281.
>) Rhein. Akten 117, 118.
») LiL quadr. I, 349 ff. Pol. II, 242 Anm. 1.
Das römische Kirchenrecht und der
Westfälische Friede.
Von
Moriz Ritter.
Die folgenden Erörterungen knüpfen an eine sehr
anerkennenswerte Münchner Doktorschrift an: „Ludwig
Steinberger, Die Jesuiten und die Friedensfrage in der
Zeit vom Prager Frieden bis zum Nürnberger Friedens-
exekutionshauptrezeß, 1635 — 1650."^) Es ist eine Arbeit,
deren Gegenstand allerdings kein einheitlich geschlossener
ist. Denn der Jesuitenorden als Gesamtheit hat auf die
Friedensverhandlungen, die in dem Münster-Osnabrücker
Kongreß ihren Höhepunkt erreichten, nicht eingewirkt,
und was einzelne Mitglieder desselben zur Förderung
oder Erschwerung des Friedenswerkes beigetragen haben,
zerrinnt in zahllosen Ratschlägen und Darlegungen, die
sie bald als Gewissensräte, bald als Mitglieder der von
den Fürsten zur Beratung kirchlich -politischer Fragen
niedergesetzten Kommissionen, bald endlich als Verfasser
theologisch-kanonistischer Tagesschriften vortrugen. Suchl
man also ein geschlossenes Bild ihrer Wirksamkeit, so
muß man die einzelnen Gebiete, auf denen ihre Tätigkeit
^) Studien und Darstellungen auf dem Gebiete der Geschichte,
herausgegeben von H. Grauert, V, 2, 3. Freiburg 1906. XXIII u.
215 S.
Hittoritche Zeitochrift (101. Bd.) a. Folge 5. Bd. 17
254 Moriz Ritter,
sich bewegte, für sich ins Auge fassen, und dazu empfiehlt
sich vor allem die kirchenpolitische Literatur. Hier je-
doch erweitert sich die Betrachtung von selber. Denn an
dieser Literatur, wie sie vornehmlich die westfälischen
Friedensverhandlungen begleitete, haben nicht nur Jesuiten,
sondern auch andere katholische Theologen mitgearbeitet,
und nur in der Gesamtheit ihrer Erscheinungen kann
sie sachgemäß behandelt werden. Das ist denn auch
von Steinberger geschehen, und ich möchte den Teil
seines Buches, welcher dieser Streitschriftenliteratur ge-
widmet ist, als den wertvollsten bezeichnen.
Mit einer sehr umfassenden Durchforschung ge-
druckter und ungedruckter Quellen, besonders auch der
Nunziaturberichte aus Münster und Rom, mit einer sorg-
fältigen, manchmal ans Peinliche streifenden Prüfung der
Beweisstellen sucht er die Verfasser und die Zeit der
Abfassung, den Anlaß und die Wirkung der einzelnen
Streitschrift, die Zahl, das Datum und den Ort der Aus-
gaben festzustellen. Es ist eine bibliographische Arbeit
im besten Sinne. Nur gestreift ist dabei ein anderer
Gegenstand: der Inhalt der Schriften, besonders also die
zugrunde gelegten Prinzipien, die daraus gezogenen
Schlüsse und die Anwendung derselben auf die vor-
liegenden praktischen Fragen. Diesem Gegenstand sollen
meine jetzt folgenden Erörterungen gewidmet sein. Oberall
wo ich nicht meinen Widerspruch besonders geltend
mache, lege ich dabei die bibliographischen Ermittlungen
Steinbergers zugrunde.
Eine Bemerkung allgemeinster Art wird durch un-
sern Gegenstand dem Betrachtenden überall aufgedrängt,
die Beobachtung nämlich, daß jede geschichtliche Be-
wegung, welche dem menschlichen Gemeinleben neuen
Inhalt zuzuführen strebt, in ihrem Fortwirken auf das
Gebiet des Rechts übergreift: gegen die überkommenen
Formen des Rechts, in denen die alten Lebensinhalte
Schutz und Förderung gefunden haben, erhebt sich die
Forderung neuen Rechts zu Schutz und Förderung der
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 255
neuen Lebensziele. Es entsteht so der Kampf ums Recht,
der im Verlauf der Geschichte den unmittelbarsten Gegen-
stand der Betrachtung bildet. Unübersehbar ist die Fülle
und Mannigfaltigkeit dieser Kämpfe, aber naturgemäß ist
die Hartnäckigkeit, mit der sie geführt werden, dann am
größten, und die Dauerhaftigkeit der Ausgleiche, in die
sie auslaufen, ist dann am zweifelhaftesten, wenn als
kämpfende Partei eine Macht auftritt, die an innerer
Geschlossenheit alle anderen nichtstaatlichen Gemein-
schaften überragt und dem Staat selber die Befugnis, als
höchste rechtsetzende Autorität den Streit zu schlichten,
abspricht.
Beide Voraussetzungen und demgemäß auch beide
Folgen sehen wir in den Jahrhunderten der mittleren
und neueren Geschichte für keine Gemeinschaft in so
vollem Maße zutreffen, wie für die römisch-katholische
Kirche. Die Kämpfe, welche sie um das, was sie als ihr
Recht ansah, geführt hat, bilden darum einen hervorragen-
den Teil der Geschichte Westeuropas in den bezeichneten
Epochen. Zwei Abschnitte treten in dem Verlauf dieser
Kämpfe auseinander: der erste ist die Epoche des Auf-
steigens, in welcher die Kirche, als die auf dem Gebiet
der Religion waltende Erzieherin der Völker, Zwangs-
herrschaft und Alleinherrschaft erringt, zugleich als ma-
terielle Unterlage ihrer Macht das ungeheure Kirchengut
gewinnt und in selbständiger Gesetzgebung Grenzen und
und Inhalt ihrer Rechte, mit dem Anspruch auf unbe-
dingte Verbindlichkeit dieser Gesetze, zu bestimmen unter-
nimmt. Der zweite tritt ein, sobald die Tendenz kirch-
licher Spaltung zum Durchbruch kommt : dem Verlangen
der katholischen Kirche nach Alleinherrschaft tritt der
Anspruch der protestantischen Kirche auf gesicherte Gel-
tung entgegen, das ausschließliche Recht der katholischen
Kirche auf das Kirchengut wird durch die Zugriffe der
Protestanten gebrochen, über beiden streitenden Kirchen
endlich erhebt sich als höhere rechtsetzende Macht der
Staat, um in dem Streit über Religionsfreiheit und Kirchen-
gut jeder ihr Recht zuzumessen. Da alle diese Neue-
rungen dem widersprechen, was die Kirche als ihr Recht
17»
256 Moriz Ritter,
verficht, so entsteht ein durch Jahrhunderte hindurch-
gehender Kampf, in welchem die Kirche, langsam zu-
rückweichend, sich den Forderungen des Gegners und
den Anordnungen des Staates widerwillig fügen muß. —
Einen kleinen Ausschnitt aus diesem Kampfe will ich in
den folgenden Erörterungen ins Auge fassen: die Frage
nämlich, wie aus Anlaß der Unterhandlung des West-
fälischen Friedens die literarischen Verfechter der katho-
lischen Kirche zwischen den den Rechtsansprüchen ihrer
Kirche zugrunde liegenden Prinzipien und den von den
Protestanten gestellten und schließlich durchgesetzten
Forderungen die Grenzen des statthaften Ausgleichs zu
finden suchten.
Was zu derartigen Untersuchungen in besonderem
Maße auffordert, ist der Umstand, daß damals die prin-
zipiellen Grundlagen der kirchlichen Abmachungen mit
einer fast ängstlichen Sorge berücksichtigt wurden. Die
katholischen Fürsten wagten kein wesentliches Zugeständ-
nis zu bewilligen, ohne auserlesene Theologen darüber
zu Rate zu ziehen, wie weit sie ohne Beschwerung ihres
Gewissens gehen dürften; hatten sie dann einen grund-
sätzlichen Standpunkt gewonnen, so suchten sie die An-
dern hinüberzuziehen, indem sie schriftstellerisch geübte
Theologen veranlaßten, das, was in geheimen Gutachten
ausgesprochen war, der Welt in öffentlichen Tagesschriften
vorzutragen. So sehen wir in dem Kreise der kaiser-
lichen Regierung — und ähnlich bei den andern katho-
lischen Fürsten — von dem Tage, da nach Gustav Adolfs
Siegen die Notwendigkeit eines Ausgleichs mit den deut-
schen Protestanten herantritt, jeden wichtigeren Abschnitt
in den Ausgleichsverhandlungen von theologischen Gut-
achten begleitet^); und wie dann der westfälische Friedens-
*) Die Reihe der Gutachten beginnt mit dem von Kheven-
hüller (XI, 1483) in kurzem Auszug mitgeteilten Bedenken von
Ende 1631 (über den Zusammenhang vgl. meine Deutsche Ge-
schichte in, S. 529). Über neue Befragungen der Theologen hören
wir nach Eröffnungen der Pirnaer Friedensverhandlungen. Der
Nuntius Rocci berichtet 1634 Sept. 30 über einen schriftlich erteilten
Rat Pazmanys für und mündliche Vorstellungen Lamormains gegen
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 257
kongreß eröffnet war, und hier, neben der Befriedigung
der siegreichen auswärtigen Mächte, der Ausgleich über
die zwischen katholischen und protestantischen Reichs-
ständen streitigen Rechts- und Besitzansprüche kirch-
licher Art endlich zum Abschluß kommen mußte, da
gesellten sich bald zu den geheimen Gutachten auch
die veröffentlichten Streitschriften. Diese Schriften, von
denen ich jedoch einige unbedeutende Machwerke aus-
die Zugeständnisse (nach Gindelys Auszügen im böhmischen
Landesarchiv). Nach dem Pirnaer Präliminarfrieden und vor Er-
öffnung der Prager Schlußverhandlung ging ein neues Gutachten
aus einer „Consultation^ von „patres (Jesuiten) et alii theologi"
(nach Caramuel, Prodromiis S. 39, waren es achtzehn oder
zwanzig) hervor. Da einige Theologen schwere Bedenken ein-
gewandt hatten, so legte der Kaiser die Sache neuerdings acht
Theologen ex utroque statu vor (Richel an Kurfürst Maximilian,
1635 März 16. Münchener Staatsarchiv 41/17. Vgl. Caramuel,
a. a. O. S. 39—41). — Hierauf war es der Regensburger Reichstag
1640/41 und die dort erörterte Amnestie und Rückgabe geistlicher
Güter, weiter der ungarische Reichstag von 1646/47 und die dort
den Protestanten zu bewilligenden Artikel, welche neue Gutachten
veranlaßten. Über die auf erstere Fragen bezüglichen Gutachten
vgl. Steinberger S. 36, über die ungarischen Angelegenheiten ließ
der Kaiser zuerst im Jahre 1645 in Linz beraten (Caramuel, Pro-
dromus S. 42. Über den Zusammenhang s. Huber, Osterreichische
Geschichte V, S. 575 f.), dann nachdem er am 11. Sept. 1646 (Huber
S. 612) in Preßburg erschienen war, durch eine nach demselben
Ort berufene Theologenkommission (Caramuel a. a. O. S. 42, wo
fälschlich das Jahr 1645 angegeben ist). — Infolge der westfäli-
schen Friedensverhandlungen gingen dem Kaiser folgende Gut-
achten zu: 1. von Pater Gans 1645 vor Okt. 10, dem Datum des
neuen Amnestieediktes (Steinberger S. 39); 2. von einer Theo*
logenkommission Linz 1646 Febr. 16 (a. a. O. S. 59 Anm. 1); 3. neues
Gutachten, daselbst 1646 April (a.a.O. S. 61); 4. Gutachten einer
Theologenkommission zu Prag 1647 Okt. (Caramuel, Prodromus
S. 43 f., Syndromus S. 42). — Zu unterscheiden ist von 1. und 2.
wohl eine resolutio Viennensium, in der des Kaisers Kompetenz
zu den Abmachungen mit den Protestanten verfochten wurde.
Von ihr sagt Caramuel einmal : sie sei transmissa ad me ab , . ,
electore Anselmo Casimiro (Prodromus S. 43), dann resolutionem,
tametsi petierim, non habeo (Pax n. 35). Beides ist wohl inso-
fern richtig, als das Gutachten ihm nur verkürzt (u. a. ohne Nen-
nung der Autoren. Prodromus a. a. O.) und aufgenommen in eine
Widerlegung der Mainzer Theologen (Pax n. 35 und Prodromus
a. a. 0.) mitgeteilt war.
256 Moriz Ritter,
scheide^), bilden die Grundlage der folgenden Betrach-
tungen.
Ihre Veriasser sind, wie es der damalige Stand der
Theologie in Deutschland mit sich brachte, durchweg
Ordensmänner: zwei Jesuiten, der Dillinger Universitäts-
lehrer Heinrich Wangnereck und der Beichtvater des
bairischen Kurfürsten, Johann Vervaux, ein Zisterzienser,
der Prager Abt und Mainzer Weihbischof Johann Cara-
muel y Lobkowitz und ein Benediktiner, der Prior von
Murrhard, Adam Adami. In ihren Darlegungen scheiden
sie sich'scharf nach den Gegensätzen von nachgiebig 'und
unnachgiebig, aber doch mit der Einschränkung, daß sie
in den grundlegenden Prinzipien übereinstimmten und
erst auseinandergingen, wo es sich um die Anwendung
derselben auf bestimmte Rechtsverhältnisse handelte. Hier-
nach werden zunächst die übereinstimmenden Lehren
klar zu legen sein.
Wie die im Religionsfrieden erzielten Errungenschaften
der Protestanten, so wurden auch die in den Münster-
Osnabrücker Verhandlungen neuerdings von ihnen er-
hobenen, auf Befestigung und Erweiterung der vorherigen
Errungenschaften ausgehenden Forderungen unter zwei
Gesichtspunkte gestellt: 1. Freiheit des Bekenntnisses
und der Lehre, des Gottesdienstes und der Kirchen-
verfassung der Protestanten; 2. Anteil derselben an dem
Gut der alten Kirche von der Ausstattung der kleinsten
Anstalten und Stiftungen bis hinauf zu den mit Bistümern
und Klöstern verbundenen Fürstentümern. Hinsichtlich
des ersten Punktes nun wurde einhellig und unerbittlich
die Pflicht der Ketzerausrottung und die Verwirklichung
derselben mittels stetigen Zusammenwirkens kirchlicher
und staatlicher Gesetzgebung und Exekutive gelehrt, nur
etwa mit dem Unterschied, daß die Eiferer noch mit be-
sonderem Nachdruck das Unterthanenverhältnis des Staates
zur Kirche hervorhoben: nicht auf Gleichberechtigung
beider Gewalten beruhe jenes Zusammenwirken, son-
0 Das Vehiculuni iudicii theologici (Steinberger S. 85), die
Crisis anticriseos des Cornäus (S. 109).
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 259
dem auf der Pflicht der staatlichen Regenten, ihre Ge^
setzgebung und Exekutive nach den Weisungen der
kirchlichen Gewalt bei Vermeidung von Bann und Ab-
setzung einzurichten.^) Um diese Lehre zu begründen,
berief man sich in erster Linie auf das mittelalterliche
Ketzerrecht^) ; dann aber ging man vom positiven Gesetz
auf das ewige Sittengesetz, welches die Beihilfe zur
Sünde verbietet, zurück: die Ketzerei, hieß es, gehört
unter allen Freveln gegen Gott zu den schwersten; die
Mitschuld dieses Frevels würde aber der Staat oder auch
die Kirche auf sich laden, wenn sie den Ketzern Freiheit
des Bekenntnisses oder der Lehre gewährte. Hiernach
schloß also das Gesetz der Ketzerausrottung eine unab-
änderliche und furchtbar ernste Gewissenspflicht für die
Regenten in sich.
Konnte man nicht noch weiter gehen und das Gebot
der gewaltsamen Ausrottung der Ketzerei und die füh-
rende Rolle, welche dabei der Kirche zufiel, auf Bibel
und Tradition zurückführen? Caramuel, als Sprecher
der Gemäßigten, hatte diese Untersuchung mit dem kurzen
Worte abgeschnitten : kein (positiv) göttliches Gebot gibt
es, kraft dessen die Fürsten ihren Untertanen den wahren
Glauben vorzuschreiben haben. '*) Aber Wangnereck, als
Sprecher der Unversöhnlichen, wußte es besser. Er be-
wies aus Johannes XXI, 15, daß der Papst mit dem Recht
des Weidens der Schafe auch das Recht der Abwehr der
Wölfe, d. h. der Ketzer, erhalten habe^); aus der Parabel
vom Unkraut und Weizen (Matth. XIII, 24 f.) zeigt er
sonnenklar, daß der Hausvater der Papst sei und die
Knechte die weltlichen Fürsten, daß folglich der Papst,
und zwar er allein, zu entscheiden habe, ob in Ausnahme-
fällen, wenn nämlich sonst den Rechtgläubigen größerer
>) Man beruft sich (z. B. Anticaramuel S. 41) auf c. 9 (statui-
musj, c. 10 (in terris vero\ c. 13 (moneantur) X de Haereticis (5, 7).
') In bezug auf das Deutsche Reich wird noch besonders der
Eid des Kaisers angerufen, wobei aber die Theologen nur von
dem veralteten Eidesformular in Clement. II, 9 Kenntnis zeigen«
(Judicium theoL IV, 5. Caramuel, Fax licita n. 43).
•) Caramuel, Fax n. 294.
*) Judicium IV, 4. Responsum S. 112.
260 Moriz Ritter,
Schaden drohe, den Ketzern Duldung zu gestatten sei^);
ja, die von Innozenz III. über die Ketzer verhängte In-
famie und in verdeckter Wendung selbst die Todesstrafe,
hatte er in der Bibel gefunden: erstere in der Stelle
Matth. XVIII, 17: wenn er die Kirche nicht hört, so sei
er dir wie ein Heide und Zöllner^), letztere im Römer-
brief 1, 32 : die solches (nämlich die vorbenannten Sünden,
unter denen der Exeget auch die Ketzerei einbegriffen
findet) begehen, sind des Todes wert.') Indem dann
sein Gesinnungsgenosse Adam noch die unvermeidliche
Autorität Augustins hinzufügt*), ist der Beweis für die
Pflicht der Zwangsstrafe gegen die Ketzer und die dienende
Stellung der Staatsgewalt gegenüber dem Oberbefehl des
Papstes aus Bibel und Tradition erbracht.
Nicht weniger abweisend lautete die Lehre, welche
der zweiten Forderung der Protestanten entgegengesetzt
wurde. „Die Verfügung über das Kirchengut ist von
Gott der Geistlichkeit allein übertragen ; die Laien sollen
sich nicht herausnehmen, irgend etwas darin zu be-
schließen." Diesen Satz entnahm man den Beschlüssen
des römischen Konzils von 502, bekräftigte ihn durch
die weiteren Entscheidungen der kirchlichen Gesetzgebung
bis auf Innozenz III. und meinte ihn vollends sicher zu
stellen durch das Wort des hl. Ambrosius: auf das, was
Gott gehört, hat der Kaiser kein Recht; die Paläste ge-
hören dem Kaiser, die Kirchen' dem Bischof. — An dem
Grundsatz, daß das Kirchengut für die staatliche Gewalt
*) Judicium V ad 3. Responsum S. 99/100.
«) Judicum IV, 2. Responsum S. 40, 41.
») Judicium IV, 2. Unmittelbar zitiert er die Stelle als Beweis
der Sündhaftigkeit der cooperatio, aber vollständig, wie sie mit-
geteilt war, mußte sie zugleich als Beweis für die Todesstrafe ge-
faßt werden. Der Jesuit Comäus (Crisis anticriseos S. 133) läßt
den Wagnereck nicht gerade die Todesstrafe verlangen. Aber in
der Ponderalio (Meiern IV, S. 598) sagt W.; die Ketzerei solle
gestraft werden perinde ut alia crimina, immo magis, — Zu be-
achten ist übrigens, daß das Alte Testament nicht unmittelbar
herangezogen wird, wie es z. B. von Becanus (Summa theologiae
schol, pars III, tract. I, cap. 13, qu. 6) geschieht, dessen Autorität
diesen Schriftstellern sonst am nächsten lag.
*) Anticaramuel S. 45.
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 261
unantastbar sei, wagten hiernach auch die vermittelnden
Theologen keineswegs zu rütteln.
Aber ein anderes ist es, die Grundsätze in ihrer
Schärfe aufstellen, und ein anderes, sie dem Zwang tat-
sächlicher Machtverhältnisse anpassen. Das hatten die
Katholiken bei Abschluß des Religionsfriedens, dann des
Prager Friedens erfahren, und neuerdings mußten sie es
erproben, als in den westfälischen Friedensverhandlungen
der Austrag der zwischen katholischen und protestan-
tischen Ständen schwebenden Streitigkeiten über den
Religionsfrieden und dessen Erweiterung oder Verengung,
wie sie in den beiderseitigen Beschwerdeschriften zu-
sammengestellt waren, in Angriff genommen wurde. Da
machten sich angesichts der praktischen Fragen sofort
die Gegensätze der Vermittelnden und der Unnach-
giebigen innerhalb der katholischen Partei geltend. Na-
türlich trafen diese Gegensätze nicht nur in den Streit-
schriften, sondern vor allem auch in den Münster-Osna-
brücker Verhandlungen aufeinander, und eben das gibt
der literarischen Behandlung derselben ein besonderes
Interesse, daß die wichtigeren der in Betracht kommenden
Schriften auf die unmittelbare Anregung der streitenden
Reichsstände zurückzuführen sind: ein Zusammenhang,
der ebenfalls genauer ins Auge gefaßt werden muß.
Den Vortritt in dem literarischen Kampfe nahm ein
Mann, der bereits im Jahre 1640, bei Gelegenheit der da-
maligen Reichstagsverhandlungen, auf Anregung eines
der heftigsten Gegner der Protestanten, des Bischofs
Heinrich von Augsburg, eine ungedruckte Schrift über
die Grenzen der zulässigen Konzessionen an die Prote-
stanten verfaßt hatte. Es war der Jesuit und Dillinger
Universitätsprofessor Heinrich Wangnereck, während des
Münsterer Kongresses, als Haupt der zeitweilig in Lindau
wirkenden Jesuitenmission, dem Ort der Friedensverhand-
lungen weit entrückt. In den letzten Tagen des Jahres
1646 erschien unter dem Titel eines theologischen Gut-
achtens (Judicium theologicum) jene ältere Schrift in einer
der damaligen Zeit angepaßten Überarbeitung, unter fin-
giertem Namen und fingiertem Druckort. Die Ober-
262 Moriz Ritter,
arbeitung war in ihrem Verhältnis zur Vorlage höchst
oberflächlich und ohne nähere Kenntnis der Einzel-
heiten der Münsterer Verhandlungen gefertigt, Mängel,
die indeß gerade geeignet waren, den Anlaß der Publi-
kation zu verraten : sie war auf rasche Lieferung bestellt,
und die Besteller, indem sie den Druck der Arbeit selber
besorgten, enthoben zugleich den Verfasser der Verant-
wortung für die von seinen Ordensobern durchaus nicht
gewünschte Veröffentlichung derartiger Schriften.^) Eine
Vorfrage, die nicht umgangen werden kann, lautet daher:
wer waren die Besteller? Man kann darauf nicht ant-
worten, ohne einige Andeutungen über den Gang der
westfälischen Friedenskonferenzen vorauszuschicken.
Die Verhandlungen über den Austrag der entgegen-
gesetzten Ansprüche der katholischen und protestan-
*) Zur Kennzeichnung der Überarbeitung mögen zwei Bei-
spiele dienen. 1. Der Verfasser, obgleich zu einer Zeit schrei-
bend (nach dem Tode des Bischofs Heinrich von Augsburg,
25. Juni 1646), da die Forderungen der Protestanten längst for-
muliert und in Verhandlung gezogen waren, nimmt (I, 1) einen
Abschnitt aus seiner Urschrift (vgl. die Zusammenstellung bei
Steinberger S. 68) enthaltend fünf Punkte, welche die Protestanten
fordern werden, unverändert herüber und fügt dann ein bloßes
N. B. hinzu: in Münster-Osnabrück haben sie dieses und vieles
anderes bereits gefordert, 2. In der Urschrift (von Walter Goetz
für mich eingesehen) findet sich der Satz eadem praecessoris sui
ho die vestigia tenet , . . Heinricus ep. Augustanus. Diesen Satz
rückt der Verfasser, nur mit Umsetzung zweier Worte in gleich-
wertige Synonyma, aber] unter Beibehaltung des hodie, in seine
Überarbeitung ein und fügt dann dem ersten Teil des Satzes einen
Nachsatz hinzu (statt des Punktes zwischen Augustanus und dum,
welchen auch Steinberger in seinem Zitat S. 68 Anm. hinüber-
genommen hat, muß ein Komma gesetzt werden), in dem er von
dem Bischof als einem Verstorbenen spricht. (Steinbergers Er-
klärung, daß der Verfasser auch die Überarbeitung selbst in aus-
einanderliegenden Zeiten geschrieben habe, und daß er dem-
gemäß jene ersten Worte vor des Bischofs Tod aufgezeichnet, zu
den weitern erst nach dem Tod die Feder angesetzt habe, erscheint
vollends unannehmbar, wenn man beachtet, daß bei richtiger Inter-
punktion die widersprechenden Worte sich nicht auf zwei Sätze
verteilen, sondern in einem Satzgefüge sich finden.) Gedanken-
losigkeit, nicht verschiedene Zeiten der Überarbeitung, liegt
zugrunde.
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 26S
tischen Reichsstände hatten von den Tagen, da diese
Ansprüche von den Protestanten in ihren am 25. De-
zember 1645*) der Mainzer Kanzlei und den kaiserlichen
Gesandten übergebenen Beschwerden, von den Katholiken
in ihren am 8. Februar 1646 den Protestanten zugestellten
Gegenbeschwerden eröffnet waren, bis zu ihrem endlichen
Ausgleich sehr verschiedene Stadien zu durchlaufen : erst
Aussprache zwischen den beiden Parteien in ihrer Ge-
samtheit, die ihren Höhepunkt in Ausgleichskonferenzen
zwischen Deputierten beider Teile, geführt zu Osnabrück
vom 12. April bis 5. Mai 1646, erreichten. Hierauf ein
zweiter Abschnitt, in welchem die kaiserlichen Gesandten,
vornehmlich Trautmannsdorf, die Unterhandlung mit den
protestantischen Deputierten dem Ausschuß der Katholiken
aus der Hand nehmen und dabei so verfahren, daß sie
ihre ersten Ausgleichsentwürfe vom 11. Juni und 12. Juli
1646 noch im Namen der Katholischen überhaupt, einen
weiteren dagegen vom 30. November nur noch im Ein-
vernehmen „mit etlichen vornehmen katholischen Stän-
den*'^j überreichen können. Ein dritter Abschnitt wird
damit eröffnet, daß nicht nur die Katholiken vor den
Kaiserlichen, sondern auch die Protestanten vor den
schwedischen Gesandten zurücktreten: diese führen nun
in Osnabrück vom 7. Februar 1647 ab*^) die Verhand-
lungen, die Schweden unter steter Verständigung mit
einem Ausschuß der Protestanten, die Kaiserlichen nur
zeitweilig von einigen eifrigen katholischen Gesandten^
die zu dem Zweck von Münster herbeigekommen sind,
bald aber mißvergnügt abziehen^), überwacht. Nach un-
endlich mühsamen Auseinandersetzungen enden diese
^) Bericht der kaiserlichen Gesandten, 1645 Dez. 25. (Gärt-
ner VII, S. 227.) Adam VIII, 1, S. 134. Ich zitiere nach der Aus-
gabe Meierns, 1737.
») Volmars Vortrag, Meiern III, S. 435, Z. 7. — Nebenher
ging eine Konferenz der Deputierten der beiderseitigen Stände^
Münster 1646 November 20—30. (Meiern III, S. 412.) Ergebnis
derselben war eine von den Protestanten verfaßte Zusammenstel-
lung der Differenzen, 53 an der Zahl. (Meiern III, S. 419.)
») Meiern IV, S. 34, § 8.
0 Adam XXIII, 5, 13, S. 426, 443.
264 Moriz Ritter,
Konferenzen mit einem von den Kaiserlichen verfaßten
und am 3. Juni 1647 in der Mainzer Kanzlei diktierten
Entwurf^), welcher der schließlichen Fassung der Friedens-
akte schon sehr nahe kommt. Dann aber, indem nun
am 12. Juni^) die katholischen Stände diesen Entwurf
ihrer Prüfung unterziehen^ erhebt sich ein letztes Gewirre
von Streitigkeiten: zwischen den Katholiken und den
Kaiserlichen, zwischen den nachgiebigen und unnach-
giebigen Katholiken, zwischen Reformierten und Luthe-
ranern, zwischen den Protestanten und Katholiken ins-
gesamt und ihren Vertretern und Protektoren insbeson-
dere, bis am 24. März 1648 der Abschnitt über die kirch-
lichen Fragen im wesentlichen diejenige Fassung erhält,
in welcher er in der Friedensakte erscheint.
Als Vorkämpfer der unnachgiebigen Katholiken konnte
bei diesen Verhandlungen der Bischof Franz Wilhelm,
Graf von Wartenberg, angesehen werden. Von seinen
drei Bistümern Osnabrück, Minden und Verden waren
das erstere großenteils, die beiden andern ganz in der
Gewalt der Schweden, während das Recht auf dieselben
ihm durch den Prager Frieden, wenigstens nach der
kaiserlichen und katholischen Auffassung, gesichert war.')
Dieses Recht ihm zu entreißen, waren schon im Jahre
1646 die Schweden und protestantische Fürsten bemüht;
Franz Wilhelm, indem er es hartnäckig verteidigte, mochte
dabei in die Stimmung eines Mannes geraten, der wohl
zu gewinnen, aber nichts mehr zu verlieren hat. Erhöht
wurde übrigens sein Ansehen in Münster noch dadurch,
daß sein Vetter, der Erzbischof Ferdinand von Köln, ihn
zugleich zum Haupt seiner Gesandtschaft gemacht hatte.
Neben ihm trat Adam, Prior von Murrhard, hervor. Auch
») Meiern IV, S. 557.
•) Meiern IV, S. 608, § 5; S. 699, § 5.
3) Vgl. meine Deutsche Geschichte 111, S. 592. Meine dort
gegebene Darstellung des Prager Friedens stützt sich neben der
gedruckten Literatur auf Akten des Münchener Archivs (Kaiser-
liche, Mainzer und Kölner Korrespondenz); darunter ein ein-
gehender Bericht der Hessen-Darmstädter Gesandten an Kur-
mainz und Köln, 1634 Dez. 27 bis 1635 Jan. 2 (Staatsarchiv 34/11).
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 265
der hatte, als Vertreter der in den Zeiten des Restitutions-
ediktes wieder katholisch gemachten württembergischen
Klöster^), den verzweifelten Kampf um die Erhaltung
dieser Restitution zu führen. Er hatte vor dem viel vor-
nehmeren Osnabrücker Bischof den Vorzug voraus, daß
er als Theologe, Kanonist und gewandter Schriftsteller
auch zur literarischen Verfechtung seiner Sache keiner
fremden Feder bedurfte. — Diesen beiden, dem Bischof
und dem Prior, standen als Vertreter der vermittelnden
Richtung vor allem die kaiserlichen Gesandten gegenüber,
mit denen, wie es scheint, die des Mainzer Kurfürsten 2)
in ihren Absichten zusammentrafen.
Als nun am Ende des Jahres 1646 die Schrift Wang-
nerecks erschien, stand man in dem zweiten Abschnitt
der Ausgleichsverhandlungen, und die Katholiken ins-
besondere waren in einer teils durch die Entwürfe vom
11. Juni und 12. Juli, teils durch die von Trautmannsdorf
den Schweden bereits in Aussicht gestellte Abtretung
der Reichsstifter Bremen und Verden') schon recht er-
hitzten Stimmung. Da seien es denn, so meldet der
Nuntius Chigi, die Eiferer der katholischen Partei gewesen,
welche die Schrift veranlaßt hätten. Vermutlich hätte Chigi
auch die Namen dieser Eiferer nennen können. Leider
unterließ er es, und nur der spanische Gesandte, der
weniger tief in das Geheimnis sah, berichtet: man nehme
an (jusgase)j daß die Schrift unter „Teilnahme und Pro-
tektion "^ des Bischofs von Osnabrück verfaßt sei. Auch
^) Da deren beanspruchte Reichsunmittelbarkeit und Session
bestritten wurde, so gewann er einen sicheren Platz als Bevoll-
mächtigter des Bischofs von Corvey.
') Auf vermittelnde Tendenzen der Mainzer deutet die Äuße-
rung Trautmannsdorfs 1645 Nov. 13 bei Egloff stein, Baierns Frie-
denspolitik S. 63 Anm. 1; ferner der Umstand , daß sich Mainz
unter den Bischöfen findet, an welche Kurfürst Maximilian im
Januar 1646 seine „eindringlichen Mahnungen** zu festerer Haltung
in der Frage der Kirchengüter richtet (a. a. 0. S. 66). Übrigens
tritt der Erzbischof in den zur Zeit bekannten Akten wenig hervor.
*) Über des B. Osnabrück Gegenvorstellungen an Traut-
mannsdorf, zwischen 1645 Dez. und 1646 Febr., vgl. Adam XI, 1,2^
S. 205/06.
266 Moriz Ritter,
wir müssen uns mit dieser Annahme als der wahrschein-
lichsten begnügen.')
Wie schon bemerkt, ging Wangnerecks Arbeit auf
die einzelnen zur Verhandlung gestellten Fragen nicht
ein ; seine Absicht war, die Grundsätze, welche bei allen
Beschlüssen nicht überschritten werden dürften, fest-
zustellen und durch ihre unerbittliche Feststellung den
katholischen Machthabern das Gewissen zu schärfen.
Zwei Sätze sind es nun, aus denen sich alle seine Ur-
teile ableiten lassen. Der erste lautet: jene doppelle
Gewährung von Religionsfreiheit und Kirchengui, welche
die Protestanten erheischen, kann die staatliche Gewalt
weder im großen noch im kleinen bewilligen ohne aus-
drücklich eingeholte Ermächtigung des Papstes. Die dem
Papste in dieser Beziehung zukommende Autorität erhebt
unser Autor dann auf die höchste Höhe, indem er es als
seine persönliche Ansicht ausspricht, daß die Entschei-
dungen, welche der Papst aus den Anschauungen der
Kirche heraus (ex sensu ecclesiae) über Statthaftigkeit
oder UnStatthaftigkeit solcher Einräumungen treffe, eben-
sowohl unfehlbar seien, wie die Entscheidungen in Glau-
benssachen: das Mindeste, worüber unter allen Katho-
liken kein Streit bestehe, sei, daß derartige Entscheidungen
gehorsam entgegengenommen werden müßten.^)
Daß eine derartige päpstliche Genehmigung weder
vorlag, noch zu erwarten war, wußte alle Welt. Wangner-
») Steinberger (S. 69 Anm. 4, S. 80) fußt auf einer Aussage
Wangnerecks, daß seine Schrift auf Verlangen des Nuntius Chigi
und des Mainzer Erzbischofs herausgegeben sei. Daß der erste
Teil dieser Aussage falsch ist, beweist er selber. Damit aber
verliert auch der zweite Teil seine Glaubwürdigkeit, und Stein-
bergers Versuch, diese Glaubwürdigkeit dadurch zu stützen, daß
er dem Mainzer einen Platz unter den Extremen anweist (S. 80
Anm. 3, 4; dagegen meine vorhergehende Anm.) bedürfte doch
ganz anderer Beweise, als er beibringt. Die Schrift Wangnerecks
war eine wahre Brandschrift, und nur die Schärfsten unter den
Intransigenten konnten ihre Veröffentlichung befürworten. Daß
die Verfasser intransigenter Schriften den Erzbischof nach seinem
Tode für ihre Partei in Anspruch nehmen (z. B. Anticaramuel S. 6,
Steinberger S. 104 Anm. 4), kann auch keinen Ausschlag geben.
«) Responsum theoL S. 114/15.
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 267
eck ließ sich nun aber noch besonders angelegen sein>
aus dem von seinem Bischof ihm geöffneten Archiv den
urkundlichen Beweis zu führen, daß gegen die Bestä-
tigung des Religionsfriedens der päpstliche Legat Com-
mendone eine geheime Protestation ausgestellt, und daß
gegen die Einräumungen des Prager Friedens Urban VIII.,
noch vor Abschluß desselben, auf eine Anfrage des Erz-
bischofs von Mainz seinen Widerspruch erhoben habe,
ebenso wie er ein Jahr später darauf hinweisen konnte,
daß während der westfälischen Friedensverhandlungen
der Nuntius die einzelnen kirchlichen Abmachungen mit
seinen Protesten begleitet habe, und beim eventuellen
Abschluß des Friedens sein zusammenfassender Protest
nicht fehlen werde.^) Damit war denn von vornherein
über den Religionsfrieden, über den auf ihn gebauten
Prager Frieden und den auf beide gegründeten West-
fälischen Frieden das Verwerfungsurteil gesprochen, und
im Sinne Wangnerecks war das Urteil um so verdienter,
da die Stifter des Religionsfriedens sich nicht mit der
Übergehung des Papstes begnügt, sondern auch mit
frevelnder Hand in seine Rechte unmittelbar eingegriffen
hatten: durch die Bestimmung nämlich, nach welcher die
bischöfliche Jurisdiktion, die doch ein Ausfluß der päpst-
lichen Gewalt sei 2), den Protestanten gegenüber sus-
pendiert wurde.
Der zweite Leitsatz Wangnerecks lautete: Protestan-
tische Religionsfreiheit und protestantischer Besitz von
Kirchengut kann unter der durch den ersten Satz gege-
benen Vorbedingung, alsdann aber auch durch bindenden
Vertrag. gestattet werden, und zwar kraft der Regel, daß
man Übel und Sünde — hier den Greuel der Ketzerei
und des Kirchenraubs — zulassen darf, wenn infolge der
Ungunst der äußeren Machtverhältnisse nur hierdurch
größeres Übel — hier noch größerer Verlust der katho-
lischen Kirche — zu verhindern ist. Allein eben diese
Regel schließt gleich zwei Beschränkungen in sich: 1. da
») Judicium IV, 8, § 2. Responsum S. 117/18.
») Judicium IV, 4 n. 2.
268 Moriz Ritter,
die Ungunst der Verhältnisse dem Wandel der Zeiten
unterworfen ist, so kann niemals eine ewige Gewährung
an die Ketzer statthaft sein. 2. Die Duldung, welche die
Obrigkeit den Ketzern einräumt, darf niemals den Cha-
rakter eigentlicher Mitwirkung an fremder Sünde an-
nehmen. Die erste Schranke, so schloß nun wieder
Wangnereck, hat der Reügionsfriede frevelhaft nieder-
gerissen, indem er seine Gewährungen bis zu der frei-
willigen Wiedervereinigung der Protestanten mit den Ka-
tholiken erstreckt; denn eine solche freiwillige Rückkehr
ist gegen die boshafte Natur der Ketzerei, die Konzes-
sionen sind also als ewige erteilt. Abermals fällt also
hiermit ein vernichtendes Urteil auf den Religionsfrieden,
nicht minder auf den Prager Frieden, der auf den Reli-
gionsfrieden gegründet ist, und im voraus auch auf den
Westfälischen Frieden, weil er die Ewigkeit der Zugeständ-
nisse wiederholt.
Und nun die Frage der sündhaften Mitwirkung! Hier
war ein Tummelplatz für kasuistische Definitionen und
Distinktionen eröffnet, den wir aber nur soweit betreten
werden, als erforderlich ist, um die Einwürfe gegen be-
stimmte Friedenssatzungen zu verstehen. Eine beson-
ders verwerfliche Art tätiger Beihilfe findet Wangnereck
in den Bestimmungen des Religionsfriedens, welche die
Gleichheit von Ehren und Rechten für Katholiken und
Protestanten anordnen. Daß aus dieser Gleichheit heraus
das Recht der katholischen Obrigkeit zum Verbot anderer
Religionen nun auch den protestantischen Reichsständen
in der Form zugesprochen wird, daß sie ihren katho-
lischen Untertanen die Wahl zwischen Auswanderung
oder Übertritt zur protestantischen Religion stellen dürfen,
vergleicht er mit dem Verfahren des Pilatus, der Christus
den Juden zum Kreuzigen übergab. Daß aus derselben
Gleichheit heraus die Reichsgewalt den Protestanten
einen über das bloße Geschehenlassen hinausgehenden,
tätig eingreifenden Schutz zur Behauptung oder Erlan-
gung der ihnen überlassenen kirchlichen Freiheiten und
Besitztümer leisten soll, erscheint ihm grundsätzlich eben-
falls verwerflich, nur daß er hier als Folge der Konzes-
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 269
sionen doch Ausnahmen zugibt, über deren Umfang er
sich aber wenig bestimmt ausspricht. Es scheint, daß er
fUr solche Zugeständnisse, welche den Protestanten auf
zulässigem Wege, also mit päpstlicher Genehmigung und
mit Ausschluß der ewigen Dauer zukommen möchten,
den aktiven Schutz der Gerichte zugeben will. Aber mit
besonderm Zorn wendet er sich gegen einen derartigen
Schutz, wenn er zum Zweck der Wiederauslieferung der
kraft des Restitutionsediktes von den Katholiken wieder-
gewonnenen geistlichen Güter an ihre früheren protestan-
tischen Besitzer geleistet werden soll.^)
Natürlich war hiermit nochmals das Verdammungs-
urteil über den Religionsfrieden und jede au! ihm be-
ruhende Friedensstiftung in Deutschland gefällt. Und alle
diese Urteile wurden in einer zum Erschrecken rückhalts-
losen Form vorgetragen. Die Vorsicht, mit welcher vor
dem Krieg die katholischen Polemiker in Deutschland
ihre Zweifel an der Gültigkeit des Religionsfriedens
äußerten 2), war jetzt in ihr Gegenteil verkehrt, selbst die
im Jahre 1629 von Wangnerecks Dillinger Ordensgenossen
herausgegebene Compositio pacis, in der die Protestanten
das eigentliche katholische Kriegsmanifest gegen die kraft
des Religionsfriedens ihnen zukommenden Rechte er-
blickten, wurde verworfen, weil sie nur die protestanti-
sche Deutung, nicht aber die Gültigkeit des Religions-
friedens an sich bestritt.^) Die Schrift zeigte auf jeder
Seite, daß die Feindschaft der intransigenten Katholiken
gegen die Protestanten unter den bitteren Erfahrungen
des Krieges keineswegs abgeschwächt, sondern nur noch
gewachsen war. Konnte man aber von den vermittelnden
Wortführern der Katholiken sagen, daß ihre Gesinnung
im Grunde genommen viel freundlicher war?
Der erste, der unter diesen hervortrat, war Johann
Caramuel-Lobkowitz, Abt des Zisterzienserklosters Emaus
») Die Stellen finden sich Judicium I, 1, § 2, 3; V, 9, § 3;
VI n. 9—13.
«) Vgl. meine Deutsche Geschichte II, S. 75 f. Geschichte
der Union II, S. 122 f.
») Judicium V, 10. Vgl. Responsum S. 10.
Historische ZeiUcbrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 18
270 Moriz Ritter,
ZU Prag und Weihbischof in Mainz, vor allen katholischen
Theologen im damaligen Deutschland hervorragend durch
die staunenswerte Vielseitigkeit seines Wissens und die
noch erstaunlichere Massenhaftigkeit seiner literarischen
Produktion. Was ihn zum Schreiben antrieb, war ein
ganz bestimmter Vorgang. Im zweiten Abschnitt der
Verhandlungen über die den Protestanten einzuräumenden
reichsunmittelbaren und mittelbaren Kirchengüter war die
Frage, ob die Einräumung eine zeitweilige oder immer-
währende sein solle, besonders heiß umstritten. Von
kaiserlicher Seite war in den am 11. Juni und 12. Juli
1646 übergebenen Entwürfen nur ein Zeitraum von hundert
Jahren, endlich aber in der Schrift vom 30. November
die Formel „bis zu christlicher und gütlicher Vergleichung
der Religionsstreitigkeiten" zugegeben.^) Kurz vor dieser
letzten Konzession nun, am 29. November, hatte eine
Versammlung von Gesandten „so vieler** Erzbischöfe,
katholischer Kurfürsten und Fürsten, d. h. der vermittelnd
gesinnten, oder, wie Adam sie bezeichnet, der an Zahl
zurückstehenden, aber der Macht nach vorgehenden,
besonders solcher, die neben dem Kaiser noch die Waffen
führten (also Baiern und Köln), in gewundenen Worten,
indem sie die Verantwortung dem Kaiser und seinen
Theologen zuschoben, ihre Zustimmung erklärt.^) Über
diese Erklärung forderte der Mainzer Erzbischof das Gut-
achten seiner Theologen ein, und deren Arbeit wieder'),
da sie ihm auch nicht genügte, schickte er nebst einem
anderweitigen Gutachten derselben Verfasser zur erneuten
Prüfung an Caramuel.
0 Meiern III, S. 152 n. 4; S. 193 n. 3; S. 1% n.9; S. 436 iul;
S. 438, Z. 10 f.
') Über diese Versammlung Caramuel, Pax n. 22. Ober die
Gegensätze innerhalb der Katholiken im Sommer und Herbst 1646
vgl. Adam XIV, 1, 19, 20, S. 268, 293 f.
') Caramuel n. 19, 25, 26. Caramuel hält es für das Gut-
achten eines einzelnen. Aber der Plural, in dem die Verfasser
desselben sprechen, ist gewiß nicht pluralis maiestatis. Der Ver-
fasser des Anticaramuel (n. 26) wirft diese Konferenz, die im
November stattfand, mit Verhandlungen zusammen, die in den
Mai gehören, über die nachzusehen ist Adam XIII, 1 1 — 14. Gärtner
IX, S. 597, 671, 798, 806, 870, 874, 942. Meiern III, S. 150.
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 271
Dem angesehenen Theologen waren derartige Fragen
nicht fremd. Vom kaiserlichen Hof waren seit den Vor-
bereitungen des Prager Friedens in rascher Folge Wiener
und Prager Theologen zu Beratungen über die den Pro-
testanten in Deutschland und in Ungarn zu machenden
Konzessionen gehalten, und so sehr waltete dabei der
Geist der Nachgiebigkeit vor, daß das, was Trautmanns-
dorf offen erst am 30. November 1646 zu bieten wagte,
nämlich die zeitlich unbeschränkte Hingabe der Kirchen-
güter, hier im stillen bereits im April gutgeheißen und
dann dem Grafen Trautmannsdorf anheimgestellt wurde. ^)
Der Mann, welcher solche Nachgiebigkeit vor allem be-
fürwortete, war der spanische Kapuziner und Beichtvater
der Kaiserin, Diego Quiroga, mit diesem aber stand
Caramuel in vertrautem Verkehr. Er war daher, als die
Anfrage des Mainzer Erzbischofs am 4. Februar 1647 bei
ihm eintraf, über die betreffenden Fragen schon ein-
gehend unterrichtet, und sofort kam denn auch seine
geläufige Feder ins Schreiben. Am 11. Februar^) hatte
er über die gestellte Frage, ob die Kirchengüter bis zur
Wiedervereinigung der Bekenntnisse, also dauernd, den
Protestanten überlassen werden dürften, eine kleine,
höchst subtile Abhandlung fertiggestellt; wie aber hier-
bei der von den Intransigenten mit Vorliebe heraus-
gestrichene Protest des Bischofs Otto von Augsburg gegen
^) Steinberger S. 61. Auf eine gleichartige Weisung bezieht
sich der Kaiser schon am 24. März (Gärtner VIII, S. 624/25).
') Auf dieses in der dritten Ausgabe beigesetzte Datum hat
Steinberger aufmerksam gemacht (S. 79 Anm.). Im Gegensatz
dagegen ist das Mainzer Schreiben, in dem das Gutachten er-
beten wird, um mehr als ein Jahr früher datiert, auf den 29. Jan.
1646 (der von Caramuel in seiner undatierten Antwort angegebene
Empfangstag, 4. Februar, wird ohne Jahreszahl angeführt). Stein-
berger korrigiert daher das Datum des Abschlusses in ,11. Februar
1646''. Aber er mußte umgekehrt das Mainzer Schreiben in
„29. Januar 1647'' korrigieren. Denn die in diesem Schreiben er-
wähnten Vorgänge fielen ja in den November 1646 (s. oben S. 263
Anm. 2), und die in Caramuels undatierter Antwort erwähnte Preß-
burger Theologenkonferenz konnte erst nach des Kaisers Ankunft
daselbst, also nach 1646 Sept. 11 (s. oben S. 256 Anm. 1) ausge-
schrieben werden.
IS»
272 Moriz Ritter,
den Religionsfrieden seine Aufmerksamkeit erregte, so
fügte er in der folgenden Woche gleich eine zweite Ab-
handlung über den wahren Inhalt und die Tragweite
dieses Protestes hinzu, und kaum war er hiermit fertig,
als ihm die Schrift Wangnerecks und mit ihr eine dritte
Aufforderung zukam. Es war Quiroga, der „riet", und
es waren „andere", d. h. wohl Mitglieder der kaiserlichen
Regierung, die ihm ^befahlen", diese Schrift zu wider-
legen. Dadurch entstand nun eine dritte Abhandlung,
die bei ihrem ungleich größeren Umfang den schreib-
fertigen Mann doch immerhin einen Monat lang, bis zum
20. März, in Anspruch nahm. Den drei Abhandlungen
zusammen gab er nun den Titel sacri Romani imperii
pax licita demonstrata und wünschte sie zu veröffent-
lichen. Zu dem Zweck erhielt er von Quiroga eine
billigende Zensur des Werkes, hierauf, am 1. Juni 1647,^
von seinem Ordensobern die Druckerlaubnis.^) Gleich-
zeitig legte er seine Arbeit dem Nuntius in Münster und
natürlich auch dem Erzbischof von Mainz vor, die indes
beide von der Veröffentlichung nichts wissen wollten.
Hierdurch wahrscheinlich verzögert, erfolgte die Heraus-
gabe erst um die Mitte des Monats März 1648, und bald
darauf noch die Veröffentlichung von zwei Ergänzungen
unter dem Titel Prodromus und Syndromus.
Zwischen Caramuel und Wangnereck ist kein Unter-
schied in den Prinzipien. Auch der Prager Theologe
sieht in der Freigabe der Religion und der Hingabe von
Kirchengut an die Protestanten ein Übel, das nur gerecht-
fertigt werden kann durch ein ohne solche Einräumung
zu gewärtigendes größeres Übel; auch er will die Ge-
währung nur als ein Geschehenlassen, nicht als positive
Mitwirkung gestatten, und auch bei ihm konnten die Pro-
testanten den widerlichen Vergleich der ihnen gewährten
Rechte mit der Konzessionierung von Bordellen lesen. 2)
Aber in ihren Schlußfolgerungen gehen sie weit aus-
einander. Caramuel versteht zu beweisen, daß alle Zu-
>) Prodromus S. 8.
«) Pax n. 90, 233.
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 273
geständnisse, welche die Protestanten im Religionsfrieden
errungen hatten, mitsamt denjenigen, welche sie in den
damaligen Friedensverhandlungen im Begriffe waren, sich
weiter zu erkämpfen, durch einen entsprechenden Not-
stand gerechtfertigt und als bloßes Geschehenlassen auf-
gefaßt werden können. Sollte es der Mühe wert sein,
die dialektischen Kunststücke, die er hierbei aufführt, aus-
einanderzusetzen ? Ich glaube, es wird genügen, neben
der Bezeichnung des Ergebnisses nur noch solche Punkte
hervorzuheben, in denen doch wieder eine wesentliche
Einschränkung der gemachten Zugeständnisse heraustritt.
Zunächst die Deckung des Theologen gegen gefähr-
liche Verantwortung. Caramuel will nur die Regeln auf-
weisen, welche unter bestimmten tatsächlichen Voraus-
setzungen anzuwenden sind; ob aber diese Voraus-
setzungen, d. h. eine solche Not der katholischen Kirche
in Deutschland, welche alle jene Zugeständnisse recht-
fertigen würde, wirklich vorliege, darüber haben nicht
die Theologen, sondern die Staatsmänner zu entscheiden.
Allerdings die durch eigene Erlebnisse ihm eingegebenen
Klagen über das Wüten der Feinde seines Kaiserhauses
und seiner Kirche zeigen deutlich genug, daß er für
seinen Teil diese Frage bejahen möchte. — Dann eine
nähere Bestimmung, was unter immerwährendem Frieden
zu verstehen ist. Je nach der Höhe des Notstandes will
er die immerwährende Dauer zugestanden wissen; aber,
so fragt er sofort, was kann bei der Wandelbarkeit mensch-
licher Zustände unter dem Wort „immerwährend* ver-
standen werden? Nichts ist gewöhnlicher, so antwortet
er, als daß Friedensverträge auf ewige Zeiten geschlossen
werden; ihre wirkliche Dauer pflegt aber nach Ausweis
der Erfahrung nicht über 40 bis 60 Jahre hinauszugehen
und kaum das Maß eines Jahrhunderts zu erreichen. So
ist auch ein Religionsfriede mit den Protestanten zu ver-
stehen, der außerdem hinfällig wird, wenn ihre Häresie
erlischt oder sie selber den Vertrag verletzen.*) — Daß
zu der Dauerhaftigkeit des Friedens, wenn sie so definiert
») Pax n. 132, 195, 246. Syndromus S. 38, Art. 11.
274 Moriz Ritter,
wurde, die Protestanten kein sonderliches Vertrauen fassen
konnten, ist leicht zu begreifen.
An dritter Stelle kommt die Untersuchung auf die
Frage der päpstlichen Zustimmung, welche Caramuel
vornehmlich in bezug auf die Hingabe des Kirchengutes
erörtert. Nachdem er einzelne Theorien angedeutet hat,
die zu weitergehender Verfügung der Staatsgewalt führen
würden^), rückt er mit einer Distinktion hervor, welche
den Papst, den Kaiser und die Protestanten zugleich
befriedigen soll. Der Papst, sagt er, ist nicht Eigentümer
des Kirchenguts, aber er hat vermöge seines altum im-
perium das Recht an demselben zu schützen, den Ge-
brauch desselben zu regeln und zu beaufsichtigen. Ein
wirkliches Recht auf die Kirchengüter könnten folglich
die Protestanten nur gewinnen, wenn der Papst und dazu
die Bischöfe es ihnen übertrügen; das aber sollen sie
nicht tun, im Gegenteil, bei den Münsterer Abmachungen
sollen sie oder doch der Papst und sein Nuntius in aller
Form gegen die Hingabe des Kirchengutes protestieren,
es soll so „wenigstens das Recht auf die Sachen be-
hauptet werden, wenn wir die Sachen selbst verlieren**.
Denn — und* damit lenkt er auf die Befriedigung der
Protestanten ein — verlieren sollen die Geistlichen aller-
dings den Besitz der Kirchengüter, nur daß der Verlust
nicht unbedingter sei, als es zur Erlangung eines der
Kirche heilsamen Friedens nötig ist, und daß deshalb
eine Form gewahrt werde, nach welcher der Kaiser den
Protestanten solche Güter nicht gibt, sondern über-
läßt und sie dann bei dieser Überlassung schützt. 2) —
Wiederum mußten sich hier die Protestanten fragen, ob
^) Vor allem der Satz, daß die Kirchengüter zum großen Teil
aus Schenkungen der Staatsgewalt entstanden seien, diese Schen-
kungen aber nur gültig seien unter der sei es ausgesprochenen,
sei es stillschweigenden Bedingung ad resumendum illa, si (res
publica) extremam indigentiam incurrat, et Uli (ecclesiastici) non
egeant (Fax n. 8). An anderer Stelle (n. 118) weist er, wohl aus
seiner Kenntnis spanischer Verhältnisse heraus, darauf hin, daß
die Kirchengüter erst unter Voraussetzung der amortizatio für
den Staat unangreifbar werden.
») Fax n.7, 11, 18, 37, 39—42, 90—92, 141, 221.
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 275
sie einem Gegner, der solche Vorbehalte machte, ver-
trauen dürften.
So stellte sich bei Wangnereck und Caramuel neben
der Gleichheit der Prinzipien doch auch in den daraus
gezogenen Folgerungen bei allen Widersprüchen eine
nicht zu unterschätzende Verwandtschaft heraus. Diese
Erscheinung wiederholte sich, als ein neuer Abschnitt in
den Ausgieichsverhandlungen eine neue Welle katholischer
Polemik hervorrief.
Am S.Juni 1647 ließen die Kaiserlichen in der Mainzer
Kanzlei den schon erwähnten Friedensentwurf diktieren,
der, weit über die Vorlage vom 30. November 1646 hin-
ausgehend, das entscheidende Entgegenkommen gegen
die Forderungen der Protestanten bedeutete. Hatten sie
in der Schrift vom* November als Maßstab für die Rege-
lung der Rechte am Kirchengut das Jahr 1624 angenommen,
dabei aber unter den demgemäß den Protestanten wieder
einzuräumenden Bistümern wenigstens das Bistum Minden,
unter den den protestantischen Landesfürsten zurück-
zugebenden Klöstern wenigstens acht württembergische
Klöster für die Katholiken zu retten gesucht, so gaben
sie diese Versuche jetzt auf und rückten auch den Termin
des Normaljahres auf den ersten Tag desselben zurück.
Hatten sie im Novemberentwurf an dem Recht der katho-
lischen Obrigkeit, ihre protestantischen Untertanen aus
dem Lande zu weisen, festgehalten, so machten sie jetzt
in dieser Beziehung drei große Konzessionen, von denen
allerdings die kaiserlichen Erblande ausgenommen wurden:
1. soweit solche Untertanen zu irgend einer Zeit des
Jahres 1624 Religionsübung besaßen, sollte sie ihnen
gewahrt bleiben ; 2. soweit sie bis zum Jahre des Friedens
ohne Religionsübung unter katholischen Landesherren an-
sässig waren, sollten sie sich weiterhin der Gewissens-
freiheit ohne öffentliche Religionsübung erfreuen; 3. so-
weit sie erst nach dem Jahre des Friedens das protestan-
tische Bekenntnis annahmen oder als Protestanten ins
Land zogen, trat allerdings das Recht der Ausweisung
ein, aber nur unter Ansetzung eines zehnjährigen Ter-
mins, der bei besonderen Schwierigkeiten des Güterver-
276 Moriz Ritter,
kaufs oder Domizilwechsels um fünf weitere Jahre ver-
längert wurde. — Ein besonderes Ärgernis für die Un-
versöhnlichen war es endlich, daß gelegentlich auch für
die gemachten Zugeständnisse neben der Bestimmung
„bis zur Vereinigung der Religion" auch das Wort „auf
immer" gebraucht wurde. ^)
Dieser Entwurf — das ist zum Verständnis des Fol-
genden festzuhalten — ging nicht aus einer Vereinbarung
der katholischen Stände, sondern aus dem selbstherrlichen
Vorgehen der Kaiserlichen hervor; um seine Annahme
mußte also nicht nur mit den Protestanten, sondern auch
mit den Katholiken gestritten werden. Und der im letzten
Kreise geführte Streit war es, der wieder zwei Schrift-
steller auf den Kampfplatz rief: der ^eine war abermals
Wangnereck, der andere sein Ordensbruder Johann Ver-
vaux. Von ersterem erschien unter verstelltem Namen
in der zweiten Hälfte des Monats August eine Prüfung
(ponderatio) des kaiserlichen Entwurfs, von Vervaux
wurden um dieselbe Zeit Bemerkungen (notae) zu der
ersten Schrift Wangnerecks, dem Judicium theologicum^
verfaßt, die anonym und handschriftlich unter den Katho-
liken in Münster verbreitet wurden.
Für den, der Wangnerecks erste Schrift kennt, hat
die zweite Arbeit, was ihren Inhalt angeht, geringes
Interesse. Als echter Radikaler vergleicht er einfach die
Artikel des kaiserlichen Entwurfs mit seinen unverrück-
baren Prinzipien, um über jeden die Verdammung aus-
zusprechen und mit dem schneidenden Satze zu enden:
diesen Ausgleich unterschreibe, wer sich einredet, daß
göttliches und natürliches Recht ohne Gefahr der ewigen
Verdammnis verletzt werden kann. 2) Positiv gewandt,
lautete Wangnerecks Urteil: alle im Jahre 1555 für den
Religionsfrieden und alle jetzt für den neuen Frieden
zwischen Protestanten und Katholiken aufgewandten Be-
mühungen sind nichtig; ein gültiger Friede müßte auf
') Meiern VI, S. 566 n. 3, S. 568 n. 9; hier: in perpetuum, donec
controversiae religionis amicabili partium compositione universali
definiantur.
«) Meiern IV, S. 606, Abs. 2 v. u.
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 277
ganz andere, nämlich den im Judicium theologicum dar-
gelegten Grundlagen aufgerichtet werden, und da von-
seiten der Protestanten ein Eingehen auf diese Grund-
lagen noch nicht zu erwarten ist, so muß einstweilen
der Religionskrieg mit all seinen Opfern, Gefahren und
Greueln fortgehen.
Waren das Ergüsse eines einzelnen Fanatikers oder
stand auch hier wieder eine Masse katholischer Stände,
mit der gerechnet werden mußte, hinter dem Autor?
Die Antwort darauf gibt abermals der Nuntius Chigi, in-
dem er auf Wangnereck zwar als den Schreiber, auf die
„eifrig Katholischen'' aber, d. h. die Partei der Intransi-
genten unter den katholischen Ständen, als die eigent-
lichen Urheber hinweist. Bestätigt und erweitert wird
auch diese Angabe, wenn man der Frage, wer dem
Jesuiten das Aktenmaterial lieferte, näher tritt. Zu be-
achten ist da eine an die kaiserlichen Gesandten gerichtete
Denkschrift, welche der oben als Wortführer der Unver-
söhnlichen genannte Prior Adam verfaßte und den katho-
lischen Ständen zu Münster am 11. Juni zur Kenntnis
gab.^) Hier tritt der Verfasser, und zwar im Gegensatz
zu dem Entwurf vom 3. Juni, u. a. für die württem-
bergischen Klöster ein, weiter für gewisse rheinpfälzische
Klöster und für die Abtei Schöntal in ihrem Prozeß
gegen Schwäbisch Hall. Alle diese Streitpunkte nun
werden in Wangnerecks Schrift als Beispiele verwertet.^)
Hieraus muß man doch schließen, daß Adam in den
Beziehungen zwischen Wangnereck und seinen Auftrag-
gebern die Rolle des Vermittlers und zugleich des sach-
kundigen Beistandes übernahm.
Noch eine andere Anspielung ist nicht zu übersehen.
In tadelndem Gegensatz gegen die Sorglosigkeit, mit der
die württembergischen Klöster preisgegeben seien, hebt
") Meiern V, S. 308— 319. Bezug auf den Juni-Entwurf: S. 310
Z. 2 V. u.
«) Meiern IV, S. 592, Abs. 2, 4, S. 593, Abs. 3. Eine kleine
Differenz bezüglich der drei rheinpfälzischen Klöster (als drittes
bei Adam Hornburg, d. h. wohl Hornbach, vgl. IV, S. 397, bei
Wangnereck Heilsbruck [?]) fällt wohl nicht ins Gewicht.
278 Moriz Ritter,
Wangnereck die Sorgfalt hervor, mit welcher der Ent-
wurf dem Kurfürsten von Baiern die aus dem Württem-
bergischen für ihn herausgeschnittene Herrschaft Heiden-
heim zu erhalten suche. ^) Das weist auf eine wenig
freundliche Stimmung des Jesuiten gegen den Kurfürsten
Maximilian, und dies wieder leitet uns hinüber zu des
letzteren Stellung in dem damaligen Streit.
Bis zum Sommer des Jahres 1646 scheint die Masse
der Katholiken, darunter auch Baiern ^), in der Ablehnung
aller tiefergehenden Zugeständnisse an die Protestanten
mit den Unversöhnlichen zusammengegangen zu sein;
dann aber, und zwar, wie oben (S. 271) angedeutet ist,
vor der kaiserlichen Schrift vom 30. November, begann
das Auseinandergehen derjenigen, welche das Durchführ-
bare von dem Undurchführbaren unterschieden, und der-
jenigen, welche in starrer Verneinung der Zugeständ-
nisse über solche Unterscheidungen hinwegstürmten. Der,
welcher unter den ersteren seit dem Sommer 1647 am
entschiedensten die Friedensbestrebungen der Kaiserlichen
unterstützte, war der Kurfürst Maximilian von Baiern.
Im Oktober ging er dem Kaiser gegenüber bis zu dem
Vorschlag, er möge bei weiterem Widerstand der Ex-
tremen den Frieden mit den Protestanten, „so gut der-
selbe zu erhalten"", schließen und dann jedem Stand frei-
stellen, beizutreten oder auf eigene Gefahr den Krieg fort-
zuführen.') Einige Wochen vorher machte er den Unver-
söhnlichen gegenüber den Versuch, ihr Beharren auf
*) Meiern IV, S. 592. Die Stelle über Heidenheim im Juni-
Entwurf IV, S. 561.
') Vgl. Maximilians Schreiben vom 4., 11., 18. Juli 1646 bei
Egioffstein S. 109, 116.
') Maximilian an tlen Kaiser, 1647 Okt. 21, 27 (Meiern V,
S. 106, 110). — Eine Ausnahme machte dabei des Kurfürsten
Widerstand gegen die Einschränkungen des Reformationsrechts
der katholischen Landesherren. Über seine Bemühungen gegen
die „autonomia'^ im allgemeinen, für den Schutz seiner oberpfälzi-
schen Reformation gegen Anwendung des Normaljahrs 1624 im
besonderen: brandenburgische Relationen 1647 Aug. 3, Okt. 24, 25,
Dez. 26. (Urkunden und Aktenstücke z. Gesch. des Großen Kur-
fürsten IV, S. 571/72, 611/12, 616 f., 645). Über die zur Wahrung
seiner oberpfälzischen Reformation erzielten mündlichen Zusiche-
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 279
undurchführbaren Prinzipien durch eine nochmalige Prü-
fung derselben zu erschüttern.
Zu diesem Zweck mußte Vervaux die erwähnte Schrift
verfassen. Sie war, ähnlich wie die dritte Abhandlung
Caramuels, gegen das Judicium theologicum gerichtet.
Gleich jenem stellt sie sich mit dem Gegner, den sie
bekämpft, auf den Boden gleicher Prinzipien, um dann
mit ähnlichen Gründen, wie Caramuel, abweichende Fol-
gerungen zu entwickeln, schließlich aber in besonders
brennenden Fragen sich doch dem Widersacher bis zur
Hälfte des Weges wieder zu nähern. Nur auf den letzten
Punkt verlohnt sich ein näheres Eingehen. Die beiden
Hauptpunkte, in denen Caramuel sowohl wie Vervaux
die Sätze ihrer Gegner nicht annehmen konnten und offen
abzulehnen nicht wagten, betrafen die UnstatthaftIgkeit
immerwährender Einräumungen und die Notwendigkeit
päpstlicher Autorisation. Wie Caramuel, so ergriff nun
auch Vervaux einen Ausweg, der Protestanten und päpst-
lich Gesinnte zugleich befriedigen sollte, jedenfalls aber
nicht geeignet war, den Protestanten Vertrauen einzu-
flößen. Der ewigen Dauer, wie sie im Juni-Entwurf be-
stimmt war, wußte er mit Erläuterungen derart zu Leibe
zu gehen, daß eigentlich von der Ewigkeit nichts übrig
blieb. Die Bestimmung ^bis zur Religionsvergleichung^,
so lautete eines seiner Argumente, ist doch nicht, wie
die Unversöhnlichen behaupten, gleichbedeutend mit dem
Wort „auf alle Zeit", sie enthält die Verpflichtung beider
Teile, sich ernstlich um die Wiedervereinigung zu be-
mühen, und wenn die Protestanten dieser Pflicht nicht
nachkommen, so gilt der Termin der Einräumung für
abgelaufen. Noch bedenklicher lautet eine andere Ein-
schränkung: jede Verpflichtung gilt nur so lange, als die
Erfüllung ohne Sünde möglich ist; zur Sünde wird aber
die Duldung der Ketzerei, wenn unter veränderten Zeit-
umständen die Notwendigkeit ihrer Duldung aufhört. —
Bei so unerschrockener Interpretation konnte es dem
rungen vom Juli 1647 und März 1648: Meiern, Acta execuiionis
I, S. 268, 485, 871—880, 642 f.
280 Moriz Ritter,
Jesuiten auch nicht schwer fallen, über die Frage der
päpstlichen Zustimmung hinwegzukommen. Er unter-
scheidet eine ausdrücklich erteilte und eine stillschweigend
vorausgesetzte Genehmigung und weiß nun zu beweisen,
daß, da die erstere zu erbitten und zu geben zurzeit
nicht opportun erscheint, die letztere vorliegt.^)
Während auf solche Weise die Theologen wieder auf
die Prinzipien des Ausgleichs zurückgingen, nahmen aber
die praktischen Ausgleichsverhandlungen unter dem Drang
der wirklichen Machtverhältnisse ihren gedeihlichen Fort-
gang, und zwar vornehmlich dadurch, daß unter den
Katholiken die besonders die mächtigeren Fürsten um-
fassende Gruppe der Vermittelnden den Widerstand der
Intransigenten durch Majoritätsbeschlüsse überwand. Am
24. März 1648 kam endlich der Ausgleich über die kirch-
lichen Angelegenheiten, wie er dann in die Friedensakte
übergegangen ist, zustande. 2)
Auch dieser letzte Abschnitt der Friedensverhand-
lungen ist noch durch ein literarisches Rückzugsgefecht
bezeichnet. Zu Anfang des Jahres 1648, noch vor dem
Ausgleich vom 24. März, ließ Wangnereck seine dritte
Schrift, eine Widerlegung von Vervaux' Bemerkungen,
unter dem Titel Responsum theologicum ausgehen, und
um die Mitte desselben Jahres veröffentlichte Adam eine
*) Nota 10 und Nota partic. 2 im Responsum theoL S.18, 33.
*) Die für die Haltung der Katholiken wichtigsten Schrift-
stücke sind folgende: 1. Katholisches, unter dem Einfluß der In-
transigenten abgestattetes Gutachten, 1647 Okt. 11 (Meiern IV,
S. 767. Adam XXV, 10, S. 486 f. Das Datum bei Odhner S. 236).
2. Katholische, nach Beschluß der Kaiserlichen und der Majorität
ermäßigte Eingabe, Dez. 17, 22 (Meiern IV, S. 800, 818, 826, 827.
Vgl. Odhner S. 240). 3. Katholische Erklärung, wiederum nach
Beschluß der friedlich gesinnten Majorität, 1648 Febr. 3 (Meiern
IV, S.922, 931a, 936a). 4. Konferenz beiderseitiger Deputationen,
aus vermittelnden Ständen bestehend, Febr. 9 — 17 (Brandenburger
Relation, Febr. 10. Urkunden IV, S. 655. Meiern IV, S. 940, 943,
947, 966—968, 989—992). 5. Konferenzen zwischen Kaiserlichen
und Schweden mit den beiderseitigen Religionsparteien in den
Nebenzimmern, ohne die in Münster bleibenden katholischen In-
transigenten, Febr. 28 f. (Meiern IV, S. 998, 1004, 1008; V, S.470f.,
483—508, 538—562).
Das römische Kirchenrecht und der Westfälische Friede. 281
Gegenschrift gegen die beiden ersten Abhandlungen von
Caramuels Fax licita. Trotz der unbarmherzigen Weit-
schweifigkeit, mit welcher beide den angegriffenen Schriften
Absatz für Absatz folgen, gehen sie nicht über den vor-
her schon umschriebenen Kreis von Thesen und Beweisen
hinaus. Zur Kennzeichnung ihrer Arbeiten wird es daher
genügen, nur zwei Punkte hervorzuheben.
Einmal die Verwerfung des Religionsfriedens! So-
weit hat auf Adam doch seine Beschäftigung mit prak-
tischer Politik gewirkt, daß er sie nicht unbedingt aus-
sprechen möchte. Wenn daher Wangnereck einen der
Nichtigkeitsgründe aus der Ewigkeit der Zugeständnisse
entnahm und dabei die Formel „bis zum Religionsver-
gleich" mit dem Worte „auf immer" als gleichbedeutend
faßte, so war Adam mit einer neuen Distinktion bei der
Hand. Als man, sagte er, den Religionsfrieden verein-
barte, durfte man mit Grund noch auf einen baldigen
derartigen Vergleich und somit auf baldiges Erlöschen
des schlimmen Paktes rechnen; jetzt erst, da man diese
Hoffnung als Täuschung erkannt hat, ist die Wiederholung
einer solchen Zeitbestimmung unerlaubt.^) Aber freilich,
kaum hat er dieses Zugeständnis zugunsten des Religions-
friedens gemacht, so zieht er es doch wieder in Zweifel,
indem er die Frage stellt: als jene Hoffnung sich als
eine Täuschung erwies, verlor da nicht auch der Reli-
gionsfriede seine Kraft? Diese Frage will er nicht ent-
scheiden, allein ihre Bejahung liegt nach seinen Worten
näher als die Verneinung. 2)
Ein zweites Merkmal liegt in der gesteigerten Leiden-
schaft der Polemik. In dem Augenblick, da man in
Osnabrück vor dem Abschluß des Friedenswerkes steht,
schreit Wangnereck das Urteil in die Welt: ich muß, auch
gegen meinen Willen, diesen Frieden sakrilegisch nennen
wegen der Beleidigungen, die er dem Schöpfer, der
wahren Religion und dem Rechte des Papstes zufügt.
Und wie gegen den Frieden, so wendet sich der Zorn
') Anticaramuel S. 22, unterster Absatz.
*) A. a. O. S. 23, die beiden untersten Absätze.
282 Moriz Ritter, Das römische Kirchenrecht etc.
auch gegen seine Urheber. Adam droht ihnen mit päpst-
licher Exkommunikation, Wangnereck aber hat damit
noch nicht genug. Er kannte Vervaux als Verfasser der
von ihm bekämpften Bemerkungen, und vermutlich kannte
auch der Beichtvater des bairischen Kurfürsten schon bei
Abfassung seiner Schrift den Wangnereck als Verfasser
des Judicium.^) Wenn nun Vervaux mit dem Wunsche
schloß, sich mit seinem Gegner am Orte der ewigen Selig-
keit wieder zu finden, so donnerte dieser seinen Ordens-
genossen mit der Ankündigung der ewigen Verdammnis
an, wenn er nicht die von ihm Verführten, nämlich den
Kaiser und die katholischen Stände, eines Besseren be-
lehre. 2) Daß gegen einen solchen Widersacher Vervaux
schließlich die Rache seines Kurfürsten aufrief, war dann
eine sehr erklärliche, wenn auch nicht der Ironie ent-
behrende Veränderung seines frommen Wunsches. Nicht
minder erklärlich war es freilich auch, daß Chigi und die
römische Kurie dem Wangnereck ihre vollste Gunst be-
wahrten.
») Steinberger S. 104 Anm.6, S. 112.
•) Anticaramuel S.62, Responsum S. 155, 161 f., 159.
über die Ursachen der Französischen
Revolution.
Von
Adalbert Wahl.
Die folgenden Ausführungen^) wollen dazu beitragen,
eines der schwierigsten Probleme der Weltgeschichte
seiner Lösung näher zu bringen. Dabei beschränken sie
sich nicht auf den Versuch, darzulegen, warum es zur
Berufung der Generalstände von 1789 gekommen ist,
sondern sie streben danach, soweit es möglich ist, das
Charakteristische auch des weiteren Verlaufes der Revo-
lution auf seine vorrevolutionären Ursachen zurückzu-
führen. Der Autor ist sich dessen wohl bewußt, wie
') Sie geben ziemlich unverändert einen Vortrag wieder, der
im Februar 190S in der iLulturwissenschaftlichen Gesellschafft in
Freiburg i. B. gehalten wurde. In fast allen Fällen finden sich
die Belege für das hier Ausgeführte in meiner Vorgeschichte der
Französischen Revolution (Tübingen I, 1905 ; II, 1907), auf die
auch zur Ergänzung des Gesagten verwiesen sei. — Die soeben
(Juni 1908) erschienene, teilweise recht verdienstliche Schrift
Glagaus, „Reform versuche und Sturz des Absolutismus in Frank-
reich (1774—1788)", die sich stofflich mit einem kleinen Teile des
im folgenden Ausgeführten berührt und auf einem kleinen Teile
der von mir benutzten Quellen beruht, kann mich da, wo sie von
meinen Auffassungen abweicht, in keiner Weise zu einer Ände-
rung dieser veranlassen. In einer ganzen Reihe wichtiger
Punkte finde ich eine sehr erfreuliche Obereinstimmung seiner
Ansichten mit denen meiner Vorgeschichte.
284 Adalbert Wahl,
mangelhaft ein derartiger Versuch trotz allen Vorarbeiten
ausfallen mußte, hat es aber dennoch aus mehreren
Gründen gewagt, ihn vorzulegen. Im folgenden wird
dem Hauptteil der Arbeit (II) ein kürzerer, kritischer Ab-
schnitt (I) vorausgehen.
I.
Wenn soeben von einem sehr schwierigen Problem
gesprochen wurde, so machen sich dagegen die wohl
noch immer herrschenden Auffassungen von den Ursachen
der Französischen Revolution die Sache recht leicht. Es
fanden sich so entsetzliche Mißstände, so etwa lauten
sie im ganzen, daß der gewaltsame Ausbruch erfolgen
mußte. Da war, wird dann weiterhin im einzelnen aus-
geführt, zunächst die absolutistische Regierungsweise
selbst, welche alle Franzosen, und voran die bürgerlichen
Elemente, fast zu Unfreien herabdrückte. Die Zensur
und die Kontrolle alles Gedruckten machten den freien
Ausdruck der Meinungen unmöglich. Die administrativen
Bestrafungen bedrohten jeden Bürger in seiner Freiheit.
Von einer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit war keine
Rede. Die Steuern waren überaus drückend und unge-
recht verteilt, indem dem dritten Stande, d. h. dem Bürger-
und Bauernstande, weitaus die meisten Lasten aufgebürdet
wurden. Überhaupt waren in allen Punkten die zwei
ersten Stände, Adel und Klerus, in unerhörter Weise be-
günstigt. Und dem entsprechend wären denn auch die
wirtschaftlichen Güter verteilt gewesen : auf der Seite der
Privilegierten aller Glanz und Reichtum, auf der Seite
des dritten Standes bescheidenes Auskommen in manchen
Fällen, in den meisten — vor allem auf dem Lande —
ein Jammer und Elend ohnegleichen. Vor allem Taine
hat die ganze Wucht seiner Feder und die ganze Kunst
seiner Darstellung darauf verwandt, uns das Loos des
Bauern als ein über die Maßen klägliches und hoffnungs-
loses zu schildern. Er zeigt ihn uns, wie er, mit einem
kaum mehr menschlichen Antlitz versehen, sich vom
Grase des Feldes nährt, und berechnet, daß er von seinem
bescheidenen Einkommen 8P/o an den Staat, den Grund-
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 285
herrn, die Kirche abgeben mußte. Lebhaft werden uns
weiterhin die Schäden der Agrarverfassung dargestellt.
Und die Monarchie erwies sich als unfähig, diesem Jammer
zu steuern. Sie hatte zeitweiligen guten Willen (wenigstens
unter Ludwig XVL), aber sie begann damit zu spät, es
fehlte ihr ferner die Konsequenz, an diesen Reformen
fortzuarbeiten, fehlte ihr vor allem der Wille, sie durch-
zusetzen gegen den Widerstand der zwei ersten Stände,
einer reaktionären Masse, welche starr am Oberlieferten
festzuhalten gewillt und weder ihre rechtlichen noch
ihre wirtschaftlichen Privilegien preiszugeben bereit war.
Quos perdere vult Jupiter dementat prius, ruft einer der
besonnensten Historiker des alten Frankreich in diesem
Zusammenhang aus. Bei dieser Lage mußte schließlich
eine gewaltsame Revolution stattfinden ; der vergewaltigte,
enterbte und hungernde dritte Stand mußte, da man
ihm nicht auf normalem Wege sein Recht verschaffte,
alles zerstören, um dazu zu gelangen, wie der Dampf-
kessel, dessen Ventil man vergessen hat zu öffnen, unter
allgemeiner Zerstörung platzt. So also etwa die übliche
Auffassung. Ich habe dem noch hinzuzufügen, daß neben
diesen Ursachen der Revolution Taine, dessen Anschau-
ungen im obigen im ganzen wiedergegeben sind, noch
eine weitere aufs stärkste betont hat, nämlich den „klassi-
schen Geist'', die verhängnisvolle Geistesrichtung und
Denkweise, die Frankreich vom 17. bis ins 19. Jahr-
hundert hinein beherrscht und verheert hat. Er versteht
darunter — kurz gesagt — die unhistorische Denkweise,
die es nicht vermag, das Individuelle, das Eigenartige
zu erfassen; die, auf das politische Leben angewandt,
den Staat meistern will mit ein paar Formeln, unter der
Voraussetzung, daß alle Menschen gut und gleich sind
und ohne jede Rücksicht auf das historisch Gewordene.
Dabei steht Taine zu den beiden großen Ursachen etwa
folgendermaßen: Die eine, die ich zuerst nannte, die
man etwa zusammenfassen könnte als die hoffnungslos
schlechten rechtlichen und wirtschaftlichen Zustände des
dritten Standes, hat den Zusammenbruch des Staates an
sich überhaupt herbeigeführt — ein Vorgang, bei dem
Hittoritchc Zeitschrift (101. Bd.) Z, Folge 5. Bd. 19
286 Adalbert Wahl,
Taine offenbar eine gewisse Genugtuung fülilt, wie sie
der Anblick der Strafe eines Scliuldigen nun einmal bei
den meisten Menschen liervorruft. Die zweite Ursactie,
der klassisclie Geist, hat das Wie des Umsturzes ver-
schuldet; denn der klassische Geist — und hier wird
nun Taine zum strengen Richter der Revolution — hat
es herbeigeführt, daß die Revolution nichts stehen ließ,
daß sie mit dem Schlechten zugleich das Gute vernichtete,
mit dem Morschen zugleich das Lebensvolle zerbrach.
Der klassische Geist vor allem hat es verschuldet, daß
die Männer der Konstituante so jämmerlich versagten,
als es galt, einen neuen Staat zu schaffen. So etwa
Taines unter der Mehrzahl der Gebildeten wohl noch
immer herrschende Auffassung, und ähnlich die zahl-
reicher ihm verwandter Autoren, der man eine gewisse
Großartigkeit, der man Einfachheit und Geschlossenheit
gewiß nicht absprechen wird.
Wenn es nun unsere Aufgabe sein soll, zu dieser
Auffassung Stellung zu nehmen, so sei die These vom
klassischen Geiste hier zunächst ausgeschieden: sie wird
in dem positiven Teil unserer Ausführungen, bei der
Betrachtung der Geistesverfassung, noch einmal anklingen.
Wir wenden uns jetzt gegen die erste der darge-
stellten Ursachen. Auch sie allein betrachtet hat viel
Bestechendes. Jedoch ich glaube, daß, wer an historische
Untersuchung gewöhnt ist, von vornherein mißtrauisch
gegen sie sein wird: sie enthält eine viel zu einfache
Formel, und das historische Leben ist unendlich kompli-
ziert. So einfach liegen die Dinge meistens leider nicht.
Sehr viel wichtiger ist dann, daß sie im einzelnen nicht
der Kritik Stich hält: ihre Voraussetzungen sind nur zu
einem Teile richtig, zum anderen sind sie schief, zum
größten überhaupt falsch — wie hier natürlich nicht aus-
führlich bewiesen, sondern nur in Kürze angedeutet
werden kann.
Da sind es zunächst die Auffassungen von der des*
potischen Regierungsweise an sich, die fast ganz in
nichts zerfließen, wenn man, wie gebührlich, die letzten
Zeiten Ludwigs XV. und vor allem die ganze 15jährige
über die Ursachen der Französischen Revolution. 287
Regierungszeit Ludwigs XVI. vor der Revolution ins Auge
faßt. Als wichtigstes Beispiel für diese Regierungsweise
pflegen ja immer wieder die berüchtigten lettres de cachet
angeführt zu werden. Es waren das die schriftlichen
Befehle des Königs, durch die — ohne Urteil eines Rich-
ters — Bestrafungen, Verbannungen, Gefangensetzungen
herbeigeführt wurden. Gewiß ein liäßlicher Mißbrauch!
Aber er wurde unter Ludwig XVL fast gar nicht mehr
angewandt und zwar nur noch in zwei Fällen. Auf Wunsch
der Eltern wurden noch gelegentlich hoffnungslose junge
Taugenichtse, meist aus vornehmen Familien, in leichter
Haft gehalten. Andererseits wurden die eigenen Beamten
öfters durch lettres de cachet bestraft, meist verbannt.
Das hing aber nicht mit despotischen Methoden, sondern
umgekehrt mit der Weichheit und Schlaffheit zusammen,
die diesen Staat charakterisierten, worüber unten mehr
zu sagen sein wird. Er zeigte nämlich eine Milde und
Schwäche gegenüber rebellischen und aufsässigen Be-
amten, von denen wir uns kaum einen Begriff machen
können. Was würden wir z. B. sagen, wenn die höchsten
Richter unseres Landes in öffentlichen, amtüchen Kund-
gebungen einen deutschen Fürsten als Despoten, als
Tyrannen, als Verletzer der Gesetze bezeichneten, wenn
sie verböten, daß Gesetze befolgt, ja nur veröffentlicht
würden, wenn sie in amtlichen Kundgebungen die Steuer-
zahler aufforderten, ihre Steuern nicht zu bezahlen, wenn
sie königliche Steuerbeamte, die ihre Pflicht täten, er-
griffen, gefangen setzten und bestraften? Denn so un-
glaublich waren die Zustände des damaligen Frankreich!
Statt nun harten, wirklichen Strafen anheimzufallen, er-
hielten diese Herren eben, wenn sie es allzu toll getrieben,
eine lettre de cachet, die sie, sofern sie in Paris wohnten,
etwa nach Troyes, Blois oder Orleans verbannte, von wo
sie nach einigen Monaten vergnügt, mit dem Verdienst
des Märtyrers geschmückt, nach Paris zurückkehrten. —
Entsprechend dieser gelinden Handhabung der admini-
strativen Strafe war ja dann auch bekanntlich das Resultat
des Sturmes der Bastille, des vornehmsten der Staats-
gefängnisse, in deren weiten Räumlichkeiten man Hunderte
19*
288 Adalbert Wahl,
von Opfern des Despotismus zu finden hoffte, in Wirk*
lichkeit aber nur ein paar Taugenichtse und ein paar
Fälscher entdecken konnte.
Ebensowenig wie in diesem Punkte, kann in einem
anderen — um noch ein zweites Beispiel zu nennen —
von einer despotischen Regierungsweise die Rede sein:
in dem der Preßfreiheit. ^) Wohl bestanden auch noch
unter Ludwig XVI. Gesetze, welche sie knebeln konnten,
aber sie wurden unter diesem König noch weniger wirk-
sam angewandt als unter Ludwig XV. Die Maßnahmen
der Zensur blieben durchaus illusorisch. Höchstens daß
in seltenen Ausnahmefällen das Parlament von Paris sich
dazu aufschwang, ein schon erschienenes Werk zum Ver-
brennen zu verurteilen, was regelmäßig seiner Verbreitung
nicht hinderlich, sondern im höchsten Grade förderlich
war! Und so findet man denn auch, daß selbst ruhig
denkende Franzosen, welche jene Zeiten miterlebt hatten
und dann zurückblickend über sie urteilten, nach ihren
späteren Erfahrungen erstaunt sind über die unglaubliche
Preßfreiheit, Redefreiheit, Gedankenfreiheit, die damals
geherrscht. Ein bedeutender Engländer, der Frankreich
genau kannte, sagt von den Jahren 1787—1889, daß die
Presse Frankreichs freier sei als die englische, also freier
als die des Musterlandes der Freiheit. Und der Historiker
wird, zurückblickend und selbst prüfend, diese Urteile nur
bestätigen können. Mit Erstaunen, ja Schaudern wird er
lesen, was damals massenweise an wilden Schmähungen
und Verleumdungen z. B. gegen die Königin straflos
veröffentlicht, ja durch Maueranschläge, die zum Teil an
den Mauern königlicher Schlösser angebracht wurden,
so recht herausfordernd zur Kenntnis gebracht wurde,
was ferner an sinnloser Verlästerung gegen die Regierung
als solche straflos hinging. Er wird sein Urteil dahin
zusammenfassen, daß eine derartige Freiheit, die dann
noch bis 1792/93 andauerte, um in diesen Jahren durch
eine neue Regierung und neue Menschen ihr jähes Ende
') Damit sind die zwei Beispiele genannt, die in jenen Zeiten
selbst weitaus die größte Rolle als Beweise des Despotismus
spielten.
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 289
ZU finden, von keinem größeren Staatswesen nach 1793
wieder geduldet worden ist und geduldet werden könnte
— am allerwenigsten in Frankreich. So sicher es nun
ist, daß die alten Gesetze in diesen Punkten geändert
werden mußten (was die Regierung ja auch zusagte), so
sicher ist doch auch, daß von einer despotischen Regie-
rungsweise keine Rede sein kann. Hier mögen diese
beiden Beispiele genügen ; auch dieser Gegenstand wird
in dem positiven Teil unserer Ausführungen wieder an-
klingen.
Dann werden weiterhin die Beschränkungen der
wirtschaftlichen Freiheit hervorgehoben. Daran ist man-
cherlei richtig. Noch immer bestanden zahlreiche
Binnenzölle. Die Aufhebung der zUnftlerischen Ver-
fassung durch Turgot (1776) konnte nicht aufrecht er-
halten werden. Der Getreidehandel im Innern des Lan-
des wurde zwar öfters freigegeben, dann aber wieder
beschränkt. Aber dennoch verbietet es sich aus mehreren
Gründen, in dieser Beschränkung der wirtschaftlichen
Freiheit eine Ursache der Revolution zu sehen. Da ist
eine Erwägung die folgende: es fand auch auf dem
wirtschaftlichen Gebiete unter Ludwig XVI. eine mäch-
tige Bewegung in der Richtung zur Freiheit statt. Die
Binnenzölle verschwanden allmählich, wenn auch noch,
wie gesagt, viele übrig blieben. Als die Zünfte 1776
wieder eingeführt wurden, traf man dabei so viele Än-
derungen im Sinne der Freiheit, daß von einem eigent-
lich ZUnftlerischen Regime kaum mehr die Rede sein
konnte. Vor allem aber gilt es nun, zweierlei zu be-
tonen. Erstens ist es leicht nachzuweisen, daß unter
dem ersten Ministerium Necker (1776—1781) die ganze
Reglementiererei der Industrie de facto aufgehoben
wurde. Die Handhabung der Gesetzgebung sollte sein
und war eine solche, daß von Beschränkung keine
Rede sein konnte. Weiter aber ging Necker der
wichtigsten Industrie gegenüber, der Verfertigung von
Tuchen und Stoffen aller Art. Hier wurde die voll-
kommene Freiheit eingeführt (1779). Dabei ließ er nun
freilich, vorsichtig, wie er war, die alten Reglements
290 Adalbert Wahl,
bestehen, ja er baute sie aus — eben deswegen hat
man seine Maßregeln mißverstanden — , aber es wurde
bestimmt, daß kein Fabrikant sich fürderhin nach diesen
Reglements zu richten brauche. Das zweite war, daß
seit 1785 eine Reihe von Handelsverträgen abgeschlossen
wurde, von denen der mit England (1786) der vor-
nehmste war, welche außerordentlich niedrige Zollsätze
einführten und einen mächtigen Schritt zum Freihandel
bedeuteten. Also überall bedeutende Entwicklung zur
wirtschaftlichen Freiheit, kein Beharren in der alten
Gebundenheit. Daß die wirtschaftlichen Beschränkungen
nicht an sich zur Revolution geführt, kann man aber
noch aus einer anderen Erwägung erkennen: Die Revo-
lution zeigte sich von Anfang an mehr schutzzöllnerisch
gesinnt, als das alte Frankreich, nicht weniger, wenn
auch die Zünfte auf einige Jahre ganz verschwanden.
Weiter, wenn über die Härten und Ungleichheiten
des Steuersystems des alten Frankreich geklagt wurde,
so waren diese Klagen im großen und ganzen berech-
tigt. Freilich wird auch hierbei bedeutend übertrieben.
Von einer Steuerfreiheit des Adels und des Klerus
kann keine Rede sein, sondern nur von einer Bevor-
zugung. Ferner sind Berechnungen wie die Taines,
wonach der Bauer 54% seines Einkommens allein an
direkten Steuern habe abgeben müssen, ohne jeden
wissenschaftlichen Wert. Allein, vieles bleibt doch be-
stehen, so z. B., daß die wichtigste indirekte Steuer,
die Salzsteuer, Gabelle, von einer empörenden Härte
und Ungleichheit war. In einer Provinz zahlte man 20-
mal mehr als in einer anderen. Die Folge war ein un-
ausrottbarer Schmuggel, der jährlich zu zahllosen Be-
strafungen führte. Ungleich war diese Steuer auch in-
sofern, als sie im allgemeinen den Armen mehr belastete
als den Reichen. Ungleich waren weiterhin die direkten
Steuern, die weitaus am schwersten den Bauern belaste-
ten, das Stiefkind des merkantilistischen Staates. Aber
nun gilt auch von den Steuern etwas ähnliches, wie von
der wirtschaftlichen Gebundenheit. Die Steuergleichheit
der zwei ersten Stände war von diesen vor der Re-
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 291
volution unmißverständlich und wiederholt zugestanden.
Die Salzsteuer ward 1787 von der Regierung selbst so
heftig verurteilt — der Graf von der Provence, später
Ludwig XVIII., nannte sie eine Höllenmaschine! — , daß
ihre Abschaffung eine Frage der nahen Zukunft sein
mußte. An der Verbesserung der Erhebung und Ver-
teilung der Steuern wurde unablässig und unermüdlich
gearbeitet. Nun aber ein zweiter Gedanke, welcher uns
davor warnen muß, einen engen, ursächlichen Zusammen-
hang zwischen Steuerveriassung und Revolution zu
konstruieren. Es ist bekannt, daß der eigentliche Trä-
ger der Revolution der Bürgerstand gewesen ist. Die
Bauern wurden durch städtische Agitation in letzter
Stunde zeitweilig in sie hineingezogen; sie spielten
aber doch nur eine mehr sekundäre, überdies in den
größten Teilen des Landes eine wechselnde Rolle. Sie
sind die Geführten; die Führerin ist die städtische
Bourgeoisie. Wie aber stand es mit ihrer Besteuerung?
Die Wahrheit ist, daß, wie es leicht ist zu beweisen, sie
im alten Frankreich auf das außerordentlichste begün-
stigt wurde und zwar sowohl in bezug auf dasjenige
Vermögen, welches in industriellen Unternehmungen an-
gelegt war, wie auf das bewegliche, also ebenso das
Vermögen des Fabrikanten, wie das des Großkaufmannes
und des Rentiers. Diese Gruppen von Vermögenswerten
zahlten viel zu wenig im Verhältnis zu dem, was die
Landwirtschaft aufbrachte. Die Summen, für die sich
die Städte von der direkten Besteuerung loskauften, sind
meist überaus gering. Blühende und reiche Städte mit
Handel und Industrie zahlten da wohl nicht mehr
direkte Steuern, als 10 bis 15 Dörfer. Diese Privilegie-
rung nun nimmt vor der Revolution noch zu, während
die von Adel und Klerus abnimmt. Der Rentier ist der
privilegierteste Steuerzahler des alten Frankreich. Nur
die Parteilichkeit der Geschichtschreiber konnte an
diesen Tatsachen vorbeisehen. Es mag hier als an ein
Kuriosum daran erinnert werden, daß das französische
reiche Bürgertum es bis zum heutigen Tage ja verstan-
den hat, von der direkten Steuer mit wachsender Rate
292 Adalbert Wahl,
frei zu bleiben. Jedenfalls hat ein privilegierter Steuer-
zahler in die Revolution geführt, nicht ein unterdrückter.
Und etwas ganz Ahnliches gilt von der wirtschaft-
lichen Lage. Auch hier muß unter den einzelnen
Elementen des dritten Standes streng unterschieden
werden. Es ist zweifellos, daß unter Ludwig XVL in
der ländlichen Bevölkerung mancherorts noch viel Elend
herrschte, vor allem wohl unter den Tagelöhnern, aber
vielleicht auch noch unter Bauern und Pächtern. Nament-
lich gilt dies vom Westen. Ebenso sicher sind aber
zwei weitere Tatsachen: erstens hat Taine in diesem
Punkte geradezu maßlos übertrieben, vor allem, indem
er Berichte aus allen Zeiten des 18. Jahrhunderts zu-
sammentrug und verwandte, als ob sie für 1780 Geltung
hätten ; indem er weiter sogar Nachrichten über Zustände
nach Krisen — Hagel, Überschwemmungen usw. — an-
führte, als ob sie sich auf normale Zeiten bezögen.
Auch ist von ihm und zahlreichen anderen die Härte
der Agrarverfassung außerordentlich stark übertrieben
worden. Sieht man näher zu, so findet man eine Fülle
von Nachrichten, welche in anderem Sinne sprechen.
Eine kürzlich erschienene Arbeit von Sakmann zeigt
ferner, daß der vorzüglich informierte Voltaire dCn Klagen
über das Los der Bauern gegenüber sehr skeptisch war.
Vor allem aber ist zweitens eines sicher: seit etwa der
Mitte des 18. Jahrhunderts, seit sich das Interesse aller
Kreise wieder der Landwirtschaft zuwandte, tritt un-
zweifelhaft eine ganz bedeutende Hebung der Zustände
auf dem Lande ein; besonders geht es rapide aufwärts
unter Ludwig XVI. Die Preise der landwirtschaftlichen
Produkte steigen mächtig und dementsprechend die
Güterpreise und die Pachten, die sich vielfach in zehn
Jahren mehr als verdoppeln. Wir hören ferner 1787
aus einer höchst glaubwürdigen Denkschrift, die Ein-
nahmen aus der Landwirtschaft im ganzen hätten sich
in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt. Dazu dann
Schilderungen, welche zeigen, daß sich in der Tat die
Lebenshaltung des Bauern gegen früher außerordentlich
gehoben hat, daß er besser wohnt, sich besser kleidet
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 293
und nährt, als früher. Wir haben Berichte von eng-
lischen Reisenden, weiche erstaunt sind, so viel Wohl-
stand und Fröhlichkeit unter den französischen Bauern
zu finden, die man ihnen als elend und arm geschildert
hatte. Auf der anderen Seite, wir wiederholen es, blieb
gewiß an vielen Orten genug des Elends und der Armut
übrig. Aber auch in diesem Punkte, und gerade in diesem,
darf man nun keineswegs die Lage des Bauern
mit der Lage des dritten Standes überhaupt
verwechseln. Müssen wir mit unserm Urteil über
die wirtschaftliche Lage des Bauern immerhin vorsichtig
sein, so kann auf der anderen Seite nichts mit größerer
Sicherheit ausgesprochen werden, als daß der Bürger-
stand damals in einem unerhörten Emporblühen sich
befindet. Er ist längst auf das Land gedrungen und
Großpächter geworden; niemals aber erwirbt er so viel
Land wie in den Jahren vor der Revolution. Am deut-
lichsten sieht man seinen Aufschwung in den großen
Städten. Die Reisenden, und zwar selbst die verwöhnten
Engländer, empfangen die stärksten Eindrücke von der
Pracht der großen Städte, von ihren neuen Straßenzügen
und von den Palästen ihrer Kaufherren. Das gilt u. a,
von Nantes, Havre, Marseille, Lyon und vor allem von
Bordeaux; weit mehr noch jedoch von der großen
Führerin der Revolution, von Paris. Hier hat man
zweierlei beobachtet: gerade in dem Jahrzehnt vor der
Revolution, von etwa 1780 an, beginnt in größerem Maß-
stabe das alte, mittelalterliche Paris zu verschwinden.
Ganze Straßen werden niedergerissen; neue Straßenzüge
entstehen, gesunder, breiter, prächtiger als die alten.
Es ist eine rein bürgerliche Bautätigkeit. Und ebenso
hat man für jene Jahre eine Fülle von Verkäufen von
Adelspalästen beobachtet, die in die Hände der Bour-*
geoisie übergingen. Der Autor, der diese Beobach-
tungen über Paris gemacht hat, ist der bekannte Sozia-
listenführer Jean Jaurfes, der sonst als Historiker wenig
selbständig ist. Er zieht aus diesen Tatsachen trotz
seiner materialistischen Grundrichtung den Schluß: ce
n'est pas du fond de la misire qu'est monUe la rdvolu-
294 Adalbert Wahl,
tion — ein Satz, dem man nur unbedingt zustimmen
kann. Von ihm ist es dann nicht mehr weit zu dem Wort
des geistvollen Rivarol, wonach das vorrevolutionäre
Frankreich an der maladie du bonheur gelitten; doch
möchten wir diesen kurzen Weg nicht gehen! So
scheidet also wirtschaftliches Elend oder selbst eine
wirtschaftlich gedrückte Lage als Ursache der Revolution
aus. Man müßte denn annehmen, der Bürgerstand
habe — selbst reich und blühend — die Sache der
Bauern führen wollen. Diese Annahme aber ist aus
einer Reihe von Gründen ohne weiteres zu beseitigen,
von denen es nur einer ist, daß die Bürger bei der ge-
meinsamen Abfassung der cahiers des dritten Standes
ganz systematisch die Wünsche der Bauern beiseite
geschoben haben. Auch sprechen ja die erst neuerdings
bekannt werdenden heftigen Gegensätze zwischen Stadt
und Land dagegen.
Ebenso unhaltbar sind schließlich die zwei letzten
Elemente der hier von uns bekämpften Lehre von der
Entstehung der Revolution: daß nämlich die Reform-
tätigkeit der Regierung, bei zuzugebendem gutem Willen,
doch ungenügend gewesen sei. Wir werden vielmehr
von der Regierungszeit Ludwigs XVI., über die allein
hier ein paar Worte gesagt werden können, urteilen
müssen, daß zwar gewiß eine stärkere und härtere Re-
gierung noch mehr hätte leisten können, daß aber doch
das, was erreicht worden ist, vor allem, wenn man be-
denkt, daß es sich doch nur um kurze 15 Jahre handelt,
von denen noch dazu ein Teil Kriegsjahre waren, als
an sich sehr viel bezeichnet werden muß. Manches ist
ja schon erwähnt worden. Da war ferner zunächst eine
Fülle von kleinen Verbesserungen und von Anregungen, die
teils durch die Gesetzgebung, teils in der Stille der Ver-
waltung gegeben wurden. Wenn vorhin von einem so
bedeutenden Aufschwung in der Landwirtschaft gesprochen
werden konnte, so war dieser keineswegs ohne Zutun
der Regierung erzielt worden, sondern sie ist umgekehrt
dabei energisch beteiligt. Vor allem wirkt sie systema-
tisch in mannigfacher Weise auf die Verbesserung der
über die Ursachen der Französischen Revolution. 295
Technilc der Landwirtschaft ein — eine der zukunfts-
reichsten Bestrebungen der damaligen Zeit — , ferner
erreicht sie es durch Ermutigungen und Vergünstigungen,
daß bisher unbebautes Land in ganz außerordentlichem
Umfange urbar gemacht wurde. Da wurde ferner, um
ein zweites Beispiel zu nennen — nur um Beispiele kann
es sich hier handeln — , durch tüchtige Intendanten in
zahlreichen Provinzen Frankreichs die Steuererhebung
außerordentlich vereinfacht und verbessert, wodurch es
z. B. in der Generalität von Paris, der Isle de France,
ermöglicht wurde, die direkte Steuerzahlung der länd-
lichen Bevölkerung um ein volles Viertel herabzusetzen.
Daß eine freiheitliche Handhabung der Fabrikgesetz-
gebung, daß neue Gesetze unter dieser Regierung die
Grundlage bildeten für eine unerhörte Blüte der Industrie,
die nach Urteilen von Kennern erst nach 1850 die Höhe
wieder erreichte, die sie vor 1780 inne hatte, ist schon
gesagt worden. Hierbei ist freilich auf eines hinzuweisen.
Gerade ein bedeutender Fortschritt in der Richtung der
Freiheit brachte in den letzten Jahren vor der Revolution
eine Krise über einen Teil der französischen Industrie, vor-
nehmlich in der Normandie. Es handelt sich dabei um
jenen freiheitlichen Handelsvertrag mit England vom Jahre
1786, den sog. Edenvertrag, der ansehnliche Teile der
französischen Industrie der englischen Konkurrenz aus-
setzte, der sie nicht gewachsen war — ein wichtiger
Hinweis, daß die von der Theorie von allen Seiten ge-
forderten Reformen gerade es sein konnten, welche Un-
heil anrichteten. Im Strafprozeß wurde eine ganze Reihe
von Milderungen eingeführt, von denen die bekannteste
die Abschaffung der Tortur ist; Todesstrafen durften in
Zukunft in letzter Instanz nur mit drei Stimmen Majo-
rität verhängt werden. Einen außerordentlichen Fort-
schritt im Sinne der Toleranz bedeutete ein Gesetz vom
November 1787. Dadurch wurde den Nichtkatholiken
die Fähigkeit wiedergegeben, die Ludwig XIV. ihnen
1685 geraubt, rechtlich gültige Ehen zu schließen und
ihr Vermögen ihren Kindern zu vererben. Freilich hatte
schon seit etwa 1750 die Regierung Ludwigs XV. die
2% Adalbert Wahl,
abscheulichen Bestimmungen von 1685 nicht mehr ge-
handhabt. Die rechtliche Stellung der Juden zu ver-
bessern, auch damit hat sich die Regierung beschäftigt;
der bekannte Malesherbes wurde 1787 mit einer Denk-
schrift darüber betraut. Daran möge eine weitere Be-
trachtung geknüpft werden: neben den durchgesetzten
Reformen plante man eine FUlle von weiteren, die
zum Teil schon zur Veröffentlichung bereit waren, als
die Revolution ausbrach; hierher gehört z. B. die Be-
seitigung sämtlicher innerer Zollschranken und die Um-
gebung von ganz Frankreich mit einer einzigen Zoll-
linie mit sehr niedrigen Sätzen, also ein Fortschritt im
Sinne der Einheit und der Freiheit von unabsehbarer
Bedeutung. Hierher gehört, daß, wie ja schon angedeutet
wurde, die Abschaffung der lettres de cachet, die Ein-
führung der Preßfreiheit und weitere Reformen in der
Justiz den Generalständen auf das bestimmteste zugesagt
wurden. Aber zurück zu dem, was wirklich erreicht
wurde I Allgemein galt als ein sehr schwerer Schaden
die Tatsache, daß beim Bau der herrlichen öffentlichen
Straßen die Landbevölkerung 6—8 Tage im Jahre Frohn-
dienste leisten mußte. So beseitigte denn die Regierung
im Jahre 1787 auch diese Einrichtung. Freilich zeigte es
sich hierbei wiederum, daß die Theorie den Wünschen und
Bedürfnissen der Bevölkerung vorausgeeilt war. Die länd-
lichen Bewohner zogen die Leistung der paar Tage Ar-
beit, die man in die tote Jahreszeit verlegte, der Geld-
zahlung, die an ihre Stelle trat, vielfach vor, so z. B. im
Elsaß ; und als man es nach der Revolution den Bauern
freistellte, entweder die Wegefrohn abzuleisten oder aber
Geld zu zahlen, entschied sich noch unter Napoleon III.
die überwiegende Mehrzahl der Bauern für die Frohn.
Da war eine weitere Reform die Aufhebung der Reste
von Hörigkeit unter den Domänenbauern, wodurch ein
Beispiel gegeben war, dem eine Reihe von weltlichen
und geistlichen Grundherren folgte.
Noch über manche Verbesserung im kleinen und
und großen wäre zu berichten. Allein nur noch eine
sei erwähnt — es ist die wichtigste von allen — : die
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 297
große Verwaltungsreform des Jahres 1787, die an die
Stelle der Zentralisation die Selbstverwaltung setzte. Es
war das eine der großzügigsten Reformen, die je in einem
Staatswesen unternommen wurden. Sie beruhte auf einem
schönen Optimismus und einem starken Vertrauen zum
Volke Frankreichs. Auch läßt sich nicht verkennen, daß
darin eine sehr heilsame, prinzipielle Abweichung von
den Methoden des aufgeklärten Absolutismus vollzogen
wurde, dessen Devise „alles fürs Volk, aber nichts
durchs Volk"" in ihrem zweiten Teile hier aufgegeben
wurde. Daß diese Verwaltungsreform, einmal eingeführt,
sich aufs kräftigste entwickelte, daß ihr Wert in allen
drei Ständen des alten Frankreich vollauf verstanden
wurde und daß sie die Keime zahlloser weiterer Ver-
besserungen in ihrem Schöße barg, wurde an anderer
Stelle des breiteren ausgeführt. — Schon nach diesen
kurzen Andeutungen wird man die Reformtätigkeit Lud-
wigs XVI. kaum anders, denn als eine recht bedeutende
ansehen können.
Und nun noch ein paar Worte der Kritik gegen das
letzte Element jener geschlossenen und imposanten Theorie
von den Ursachen der Revolution, die ich hier zu wider-
legen trachte: daß nämlich die zwei ersten Stände, also
Adel und Klerus, nicht geneigt gewesen wären, dem
dritten Stande entgegenzukommen und den notwendigen
Verzicht auf ihre Vorrechte zu leisten. Auch diese Auf-
fassung ist im wesentlichen falsch. Zwar hielten diese
beiden Stände an ihrer Qualität als besondere Stände
fest — das ist keineswegs zu verkennen — aber sie er-
klärten sich dabei bereit, auf alle diejenigen Vorrechte
zu verzichten, welche ihre Mitbürger materiell belasteten:
d. h. vor allem auf ihre Privilegien bei der Besteuerung,
die sie in einer Reihe von eindrucksvollen Kundgebungen
preisgaben. Ferner, eben bei der Einführung der Selbst-
verwaltung, waren sie damit einverstanden,' dem dritten
Stande in den Kreisen und Provinzen einen gleichen, in
den ländlichen und städtischen Gemeinden einen größeren
Einfluß einzuräumen, als sie ihn selbst besitzen wollten.
Gewiß eine weitgehende Konzession, wenn man an die
298 Adalbert Wahl,
Vergangenheit Frankreichs denkt oder an die Verhältnisse
der damaligen Lokalverwaltung Englands mit ihrem Vor-
wiegen des Adels und Squire-Standes.
II.
So wäre wohl jene Auffassung von den Ursachen
der Revolution in allen ihren wesentlichen Teilen, soweit
es der Raum erlaubt, widerlegt. Es bleibt jetzt die
zweite, schwierigere Aufgabe, etwas anderes an ihre
Stelle zu setzen. Dabei wird man sich bewußt sein
müssen, daß es gewiß niemals möglich sein wird, eine
Erscheinung wie die französische Revolution restlos zu
erklären, und es soll sich im folgenden nur um die Haupt-
ursachen handeln, d. h. solche eigenartigen Erschei-
nungen, welche das vorrevolutionäre Frankreich qualitativ
oder quantitativ von anderen Zeitaltern oder von anderen
Völkern unterscheiden und nachweislich in erster Linie
zu dem höchst eigenartigen Ereignis der französischen
Revolution beigetragen haben. Von derartigen Haupt-
ursachen möchten wir drei annehmen, von denen die
erste die beiden anderen in einer Hinsicht sicher an Be-
deutung überragt, als sie wieder mit deren Ursache ge-
wesen ist.
Diese in dem angedeuteten Sinne bedeutendste Ur-
sache möchten wir sehen in dem Gemütszustand, den
Stimmungen und den Ideen der Franzosen jener Zeiten,
wie sie vor allem in der Literatur ihre Wurzel haben
und in ihr auch vornehmlich erkennbar sind. Es ist
auch von guten Kennern jener Zeiten die umgekehrte
Auffassung vertreten worden, man müsse den Geistes-
zustand als Ursache der Revolution ausschalten. Diese
Forscher meinen, die Zustände hätten direkt die Revolution
herbeigeführt, ohne literarische Beeinflussung. Uns scheint
eine oberflächlichere Geschichtsauffassung kaum denkbar.
Zunächst können wir dagegen ja mit Waffen vorgehen,
die aus der Rüstkammer unseres ersten, des kritischen
Teiles stammen. Wenn die Zustände an sich die Revolution
herbeigeführt, warum nicht die so außerordentlich viel
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 299
schlechteren Zustände in der ersten Hälfte des Jahrhunderts
oder etwa noch zur Zeit des Siebenjährigen Krieges?
Viel wichtiger ist aber gegenüber dieser Theorie ein
zweites Argument, das allgemeinere Gültigkeit hat. Zu-
stände wirken doch nicht wie Maschinen, welche lebloses
Material befördern, sondern doch nur, indem sie im
Menschen gewisse Meinungen erzeugen helfen, Meinungen,
welche aber noch von zahlreichen anderen Faktoren ab-
hängig sind, z. B. die Meinung, daß sie unerträglich
seien. Wie verschieden gleich schlechte Zustände wirken
können, ist ja leicht klar zu machen. Der jenseitig ge-
richtete Mensch, der in der Erde nur ein Jammertal sieht
und sehen will, wird nie oder selten zu der Oberzeugung
gelangen, daß seine materielle Lage eine unerträgliche
sei. Umgekehrt können z. B. Vorgänge des Nervenlebens,
Decadence oder wie man sagen will, massenweise die
Vorstellung erwecken. Zustände seien unerträglich, von
denen der Historiker den Mut haben muß zu sagen, sie
seien vorzügliche gewesen. Diese Meinungen über die
Zustände können aber in einem Kulturvolk doch gar
nicht anders zustande kommen als u. a. auch durch
literarische Einflüsse. Und von der damaligen Zeit, von
dem damaligen Frankreich ist es ja bekannt, welch be-
sonders großen Einfluß gerade die Literatur, z. B. im
Vergleich mit der Religion oder mit der Beobachtung
des praktischen Lebens gehabt hat.
Bei der Betrachtung der Literatur hat Taine, wie
gesagt, ihre Methode in den Vordergrund gestellt: den
klassischen Geist, der fast identisch ist mit dem klassi-
schen Stil. Von seinen Beobachtungen, die ihn zu dieser
These führen, ist eine ganze Fülle tief und richtig, vor
allem auf dem Gebiete der schönen Literatur. Auf der.
anderen Seite muß er, was die für unsere Zwecke viel
wichtigere politische Literatur angeht, selbst schon recht
viele Ausnahmen anerkennen, Ausnahmen, die indessen
noch sehr stark vermehrt werden müssen, z. B. durch
den Namen eines der einflußreichsten Männer der Zeit,
den Montesquieus, so daß viel von der großen These
Taines doch hinfällig wird. Es möchte das Entscheidende
300 Adalbert Wahl,
in der damaligen Literatur doch nicht in ihrer Methode,
sondern — viel einfacher — in ihrem Inhalte zu finden sein,
auch wo dieser von der Methode unabhängig ist. Dabei
muß hier von den Einzelheiten des Inhalts — Freiheit
und Gleichheit 1 — abgesehen und sollen nur die Grund-
richtungen ins Auge gefaßt werden. Und zwar kommen
da hauptsächlich drei Richtungen in Frage. Von der
ersten nur wenige Worte: es ist die Diesseitigkeit der
Literatur. Es wird in ihr der energische Versuch ge-
macht, jenseitige Erwägungen aller Art konsequent zu
vermeiden, sowohl was den Ursprung des staatlichen
Lebens angeht, als auch im Hinblick auf seine Zwecke
und seine Gestaltung im einzelnen. Das Jenseits wird
ferner als Faktor der Ausgleichung ausgeschaltet und
deswegen das irdische Wohlergehen in ganz anderer
Weise in den Vordergrund gestellt, als früher.
Eine zweite Richtung ist ein stark einseitiger Indi-
vidualismus, der, auf das Grundproblem des Verhältnisses
von Staat und Mensch angewendet, ein ausschließliches
Betonen der Interessen des letzteren, des Menschen, und
ein vollständiges Verkennen der Zwecke, Ziele und des
eigenen Lebens des Staates bedeutet. Dieser Individua-
lismus hängt unzweifelhaft mit dem der Renaissancezeit
zusammen, unterscheidet sich doch aber sehr stark von
ihm : ist jener sehr aristokratisch, so dieser demokratisch.
Der Individualismus findet sich 1780 bei unzähligen
Menschen mehr als etwa 1500. Dadurch ist er aber nicht
nur ausgedehnt, sondern doch auch in seinem Wesen
bedeutend verändert worden : er wurde, ohne es zu wissen
und zu wollen unter christlichem Einfluß, altruistisch, wo
jener im wesentlichen heidnisch-egoistisch war. Diese Tat-
sache wirkt auf das stärkste bis auf den heutigen Tag
weiter. Eine andere Wirkung jener Veränderung aber
kommt für uns hier unmittelbar in Betracht. Indem der
Individualismus sich nunmehr der Massen bemächtigt,
wird er staatsfeindlich, was der der Renaissance in keiner
Weise war. Damals waren seine Vertreter in erster Linie
Könige, Fürsten, Staatsmänner und große Gelehrte, die
oft in der Nähe jener lebten; also Menschen, die durch
über die Ursachen der Französischen Revolution. 301
ihre Geburt, ihren Beruf, ihre Tätigkeit, ihre Denkarbeit
täglich auf den Staat hingewiesen waren oder ihn gar zu
verkörpern glaubten. Das wird nun anders: die Mehrzahl
dieser verdünnten Individualisten des 18. Jahrhunderts
kennt den Staat nur von Ferne, ist ihm abgeneigt, da er
ihnen Geld abnimmt und Schranken errichtet, die es nicht
immer bequem ist zu achten, und hat Sinn höchstens
für die Tätigkeit des Staates als Sicherheitswächter, da-
mit, wie etwa Wieland sich mit unendlicher Spießbürger-
lichkeit, freilich wohl auch mit leiser Ironie ausdrückt,
Jedermann unter seinem Feigen- oder Holzbirnbaume
ein stilles geruhiges Leben in aller Gottseligkeit und
Ehrbarkeit führen könne"". So philisterhaft drücken sich
die Franzosen der Zeit nicht aus. Allein eine höhere
Auffassung haben auch sie im allgemeinen nicht. Die
Männer, die 1789 die Menschenrechte formulierten, stellten
ganz schroff als Zweck des Staates nichts weiter hin als
die Aufrechterhaltung von vier (vier ganzen 1) Rechten
der einzelnen Bürger. Eigene Zwecke, z. B. den Schutz
seiner Macht und seiner Ehre oder die Ausdehnung seiner
Macht, hat der Staat nicht. Der Staat ist ihnen nichts
als die Summe der einzelnen. Weiter, er ist durchaus
nur Diener des einzelnen, dessen Glück er fördern soll.
Dieses Glück wird, wieder mit starker Einseitigkeit, im
Genuß gesucht, statt in der Tat, und zwar in weitgehender
Weise doch im materiellen Genuß. Aus dieser Quelle
strömt dann eine Fülle von Einzelauffassungen, die uns
zum Teil anmuten, als seien sie aus einer fremden Welt,
während wir uns mit einem Teile von ihnen noch heut-
zutage auseinanderzusetzen haben. Bei der Pflicht,
Steuern zu zahlen, fühlte sich jeder damalige Franzose
doch noch in ganz anderer Weise vergewaltigt als der
Staatsbürger zu anderen Zeiten. Im Kriege, vor allem
dem Angriffskriege, war die Mehrzahl doch nur geneigt,
einen sinnlosen Greuel zu sehen, da, wie gesagt, für
staatliche Macht- und Ehrpolitik in der Theorie gar kein Sinn
vorhanden war. Damit hing zusammen, daß die richtige
Schätzung der Dinge der bewaffneten Macht überhaupt
fehlte. Nicht nur die Betroffenen, sondern auch gerade
Historische Zeitschrift (101. Bd.) a. Folge 6. Bd. 20
302 Adalbert Wahl,
die Reformfreunde, hoch- und höchstgestellte Männer,
die es besser hätten wissen müssen, ergehen sich in er-
bärmlichen und weibischen Klagen bei dem Gedanken,
daß die Fischer der Bretagne im Kriege Dienste in der
Marine tun mußten oder, was uns fast komisch anmutet^
über das bischen Milizdienst, ein paar Tage im Jahre,
das einem kleinen Bruchteile der Bevölkerung zugemutet
wurde. — Ein weiteres Beispiel, aus einer beliebigen
Fülle herausgegriffen ! Voltaire war gewiß ein gemäßigt
denkender Mann ; er stand den Führern der Staaten sehr
viel näher als die Mehrzahl der damaligen Autoren,
auch hatte er relativen historischen Sinn; die Ge-
schichte interessierte ihn wenigstens. Und doch finden
wir auch bei ihm folgenden Satz: „nicht der Minister,
sondern der Kaufmann, der sein Land reicher macht, . . .
trägt zum Glück der Menschheit bei.'' Keine Ahnung,
daß der Kaufmann den Minister braucht, um sein Land
reicher zu machen, wie ihn der Minister braucht, und
daß in der Tätigkeit des Kaufmanns die des Ministers
steckt. Kein Anflug von Verständnis für die Bedeutung
des Staates und nur Abneigung gegen die staatliche
Tätigkeit. Voltaire macht sich lustig über die, welche so
frivol sind, darüber zu streiten, ob Alexander, Cäsar oder
Cromwell der größte Mann gewesen. Newton ist ihm
vielmehr der größte Mann. Derartige Äußerungen finden
sich unzählige — noch 1791 sagt Napoleon Bonaparte
ungefähr dasselbe, wie Voltaire in dem zuletzt zitierten
Satze — und sind Gemeingut fast aller Gebildeten, denen
die Geschlossenheit dieser Ansichten ihren ausgespro-
chenen Stil verleiht. Der Russe, Graf Speranski, um ein
weiteres Beispiel zu geben, schreibt einmal mit Recht,
die französischen Würdenträger vor der Revolution hätten
sich ganz allgemein über ihre Ehren, Würden, Stellungen
und Titel lustig gemacht. Wenn sie selbst es taten, so
noch vielmehr die Massen der Gebildeten. Nun kann
man gewiß der Ansicht sein, daß heutzutage auch bei
uns, vor allem aber bei den romanischen Völkern, auf
die Etikette, die der Staat dem Bürger aufklebt, ein viel
zu großes Gewicht gelegt wird, und doch erkennen, daß
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 303
in derartiger Mißachtung der staatlichen Ehren, wie sie
vor 1789 in Frankreich zu beobachten ist, ein Keim des
Verderbens liegt. Dem geschilderten Geiste entsprechend,
herrschte damals ein Gefühl, als ob jeder Befehl ein Un-
recht, jeder Gehorsam eine ehrenrührige Zumutung sei.
Aus solchen Ideen und Stimmungen heraus, denn Stim- .
mungen waren es zum Teil nur, wie auf das schärfste
betont sei, erwuchs die Forderung der Freiheit,
die eine große Forderung der Zeit, die ebenso mächtig
und allgemein war, wie sie unklar gestellt wurde. Wohl
unterscheidet man persönliche, wirtschaftliche, politische
Freiheit (also Beschränkung der Monarchie), zu weiterer
Klarheit dringt man bei aller Stärke des Gefühls nicht
vor. Nur das eine ist sicher: beim Worte Freiheit meint
jeder Freiheit vom Staate, nicht Freiheit im Staate 1 Es
ist kein Wunder, dünkt uns, daß bei derartiger Geistes-
verfassung vom Staate schließlich nichts stehen blieb,
daß das Gute zugleich mit dem Schlechten an ihm zer-
stört und daß er so schwach und wehrlos gemacht wurde,
daß er bald die Beute jedes ehr- und skrupellosen
Demagogen wurde. Ähnliches gilt dann weiterhin von
der zweiten großen Forderung des demokratischen Indi-
vidualismus: der Gleichheit.
Dazu kommt dann die dritte Hauptrichtung in
der Literatur, wie wir sie zur Revolution führend wirkr
sam sehen: das unhistorische Denken, über das Taine
so vieles Tiefe gesagt hat.
Auch hier könnte man wieder eine ganze Reihe
von Richtungen oder vielleicht besser von Seiten der
Betrachtung unterscheiden. Da ist die eine eine völ-
lige Verkennung der Tatsache, daß der Mensch selbst
ein historisches Produkt ist. Man stellte sich die Lage
so vor, daß jeder Mensch unmittelbar aus der Hand der
Natur komme oder daß, sofern das nicht wörtlich der
Fall sei, man ihn doch so behandeln könne, da es für
die Masse des Volkes doch sicherlich zutreffe, daß also
im Grunde alle Menschen gleich seien. Keine Ahnung
von der enormen Verschiedenheit, die die Rasse, die
Geschichte, die Beschäftigung und andere Momente
20»
304 Adalbert Wahl,
unter den Menschen hervorrufen. Zwar ist dieser Irr-
tum nicht so allgemein, wie angenommen zu werden
pflegt. Vor allem einer der größten Denker der vor-
revolutionären Epoche bedeutet eine bewußte Reaktion
gegen diese Auffassung, Montesquieu. Er betont in
seinem Geist der Gesetze gerade die uneinschätzbaren
Unterschiede zwischen den Menschen der verschiedenen
Zeiten, Zonen, Länder. Allein an dieser seiner Erkennt-
nis ging man vorüber, und man kann sagen, daß der
Geist des Geistes der Gesetze vollständig unverstanden
blieb. Im großen und ganzen aber gehen die Autoren
sowohl wie die Gesetzgeber von der Voraussetzung aus:
die Menschen sind gleich oder wenigstens, sie können
von der Gesetzgebung als gleich ^ behandelt werden.
Condorcet z. B., gewiß ein vielseitig gebildeter Mann,
versteigt sich im Leben Turgots einmal zu folgender Be-
trachtung: Turgot kannte den Menschen an sich, den
einzelnen Menschen kannte er nicht. Und wozu, fragt
Condorcet, hätte ihm diese Kenntnis auch genützt?
Turgot, dem Minister 1 Grotesker können wohl die Be-
dingungen staatlicher Tätigkeit gar nicht verkannt wer-
den. Daher denn die entscheidende Erscheinung, daß
den Männern der Revolution der Gedanke gar nicht
gekommen ist, daß es untunlich sei, diesen historisch
gewordenen französischen Menschen mit einem Schlage
den Staat auszuliefern; diesen Menschen, die bisher in ihrer
großen Mehrzahl dem Staate ferngeblieben waren, mit
ihrem unverkennbaren Leichtsinn, ihrer fast krankhaften
Erregbarkeit, ihrer Kritiklosigkeit und gallischen Leicht-
gläubigkeit. Ebenso wenig dachte der Mann der Revo-
lution daran, daß auch jeder Staat historisch bedingt
ist, daß hier Zusammenhänge bestehen, die zu zerreißen
Verderben bringt, daß es große und fruchtbare historische
Kräfte gibt, die, wie viele Pflanzen, auf ihrem heimischen
Boden wachsen und gedeihen, die aber, herausgerissen
und verpflanzt — und wäre es in das schönste Treib-
haus der Welt — verdorren. Eines der besten Beispiele
ist die gallikanische , d. h. landeskirchlich-staatliche
Gesinnung des französischen Klerus. Die Konsti-
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 305
tuante machte die schönsten kirchenpolitischen Gesetze,
welche — die Kirche Frankreichs von Rom nunmehr
ganz loslösend und die Priester staatlich besoldend —
für den rationalistischen Betrachter die Krönung des
Gallikanismus bringen mußten. Wie anders war aber
der Erfolg I Man erntete statt eines verstärkten Galli-
kanismus den Ultramontanismus — eben weil man die
historischen Bedingungen des Gallikanismus so voll-
ständig verkannt hatte, weil man nicht sehen wollte,
daß er auf dem tausendjährigen Bund des Hauses Capet
mit der Kirche Frankreichs beruhte und daß er wohl
auch in dem Boden Frankreichs und in dem aristokra-
tischen Charakter seiner Kirche wurzelte. Derartige
Erwägungen blieben vollständig aus, und man vertraute
auch hier der automatisch und plötzlich wirkenden Kraft
klug ausgedachter Gesetze. Hiermit ist eine weitere
Erscheinung von Bedeutung berührt: die Oberschätzung
der Wirkung der Gesetze gegenüber den historisch wir-
kenden Kräften. Condorcet sagt einmal, das Wort des
Römers quid vanae sine moribus leges sei grundfalsch;
es müsse heißen quid vani sine legibus mores. Jedes
Wort des Abscheus gegenüber dieser Auffassung ist
natürlich überflüssig. Zunächst sind diese Worte über-
haupt unverständlich.^) Sinn können sie nur haben,
wenn man annimmt, daß Condorcet gemeint habe, die
mores beruhten auf zu unsicherer Grundlage, seien also
vergänglich, während die leges nicht nur die erwünschten
mores sofort hervorbrächten, sondern auch für ihre Dauer
eine sichere Garantie böten. Liest man derartige Äuße-
rungen späterer Führer der Revolution, so möchte man
manchmal geneigt sein, das Buch zuzumachen und sich
zu sagen, man brauche gar keine weiteren Erklärungen
des ganzen Verlaufes der Französischen Revolution, und
vor allem auch nicht der Tatsache, daß diese Führer
selbst nach so wenigen Jahren untergegangen sind.
') Verständlicher werden sie durch den Vergleich mit einer
Stelle in der Nouvelle HiloXse I. Teil, Brief 30: ,y> hßis les maU"
vaises maximes encore plus que les mauvaises acllons' . un4
Rousseaus Anmerkung zu diesem Satze.
306 Adalbert Wahl,
Als eine besondere Richtung der unhistorischen
Denkweise muß dann noch eine hier hervorgehoben
werden: die gänzliche Mißachtung des positiven Rechts.
Nun ist es ja selbstverständlich, daß die meisten Ände-
rungen im Staatsleben nur unter Abschaffung, Modifi-
zierung, Einschränkung von positivem Recht vor sich
gehen können. Allein dabei sind doch sehr bedeutende
Gradunterschiede möglich! Im allgemeinen wird der
politisch denkende Mensch, wie es z. B. das englische
Volk außer in der ersten Revolution noch fast immer
getan hat, doch dem positiven Recht gegenüber sehr
vorsichtig sein. Er wird ungern und zögernd ohne Zu-
stimmung des Betroffenen positives Recht ändern und
sich bewußt bleiben, daß er, sobald er es tut, mit dem
Feuer spielt. Mit welcher Frivolität aber wurde in der
Zeit, die wir betrachten, mit dem positiven Recht um-
gesprungen I Während man den Rechtsgedanken an
sich so stark in den Vordergrund stellte, daß man es als
alleinigen Zweck des Staates hinstellen konnte, die vier
Naturrechte des Menschen zu schützen (vgl. oben), galt
das positive Recht nichts. Sehr schön läßt sich das an
der Behandlung des Eigentumsrechts, des allerheiligsten
der Bourgeoisie, zeigen. Während man das Eigentumsrecht
des Menschen schon vor der Revolution als wichtigstes
Menschen recht bezeichnete, sofern und weil es vorstaat-
lich war, leugnete man das Eigentumsrecht der Korpo-
rationen seit dem Enzyklopädie-Artikel Turgots über
„Stiffungen" mehr oder weniger konsequent. Weder die
Kirche noch die Gemeinden Frankreichs sind Eigentümer
ihrer Ländereien, da sie sie nicht von der Natur haben;
Man erkennt bei diesen widerwärtigen Sophistereien
leicht, daß sie nur möglich sind bei gänzlicher Miß-
achtung des positiven Rechtes.
Wie weit die Verachtung des Historischen selbst
bei den besonnensten Männern der Zeit geht, möge zum
Schlüsse noch ein Wort Turgots illustrieren oder genauer
genommen ein von ihm inspiriertes Wort eines seiner
Mitarbeiter. Turgot, erst Parlamentsmitglied, dann In-
tendant, dann Minister, war also ein im Staatsdienst
über die Ursachen der Französischen Revolution. 307
herangereifter, auch sonst gemäßigter und vielseitig ge-
bildeter Mann. Und doch haben wir von ihm folgende
Sätze: ;,man hat in wichtigen Dingen viel zu sehr die
Methode befolgt, das, was man einführen will, danach
zu beurteilen, was unsere Väter in Zeiten eingeführt
haben, die wir selbst als solche der Unwissenheit und
Barbarei bezeichnen ... In Wirklichkeit braucht man
indessen nur die Rechte und Interessen der Menschen
zu kennen. Diese Wissenschaft führt zu sehr großer
Sicherheit und ist leicht zu erlernen.'' Derselbe Mann
tadelt in der Einleitung seiner Gesetze, also in aller
Öffentlichkeit, ausdrücklich und hart zahlreiche frühere
Maßnahmen der Regierung. Wir sehen, er blickt mit
unendlicher Verachtung herab auf jene Zeiten der Un-
wissenheit und Barbarei seiner Väter. Mit einem bis-
chen Studium einer leicht zu erlernenden Wissenschaft
kommt man viel weiter, als die größten Geister und ge-
waltigsten Staatsmänner jener barbarischen Zeitalter mit
der ganzen ererbten Summe ihrer Weisheit. Mit anderen
Worten: diese Generation war ihrer Sache außerordent-
lich sicher; sie zweifelte nicht an ihrer eigenen, unbe-
grenzten Befähigung; sie besaß einen unermeßlichen
geistigen Hochmut; sie litt an Größenwahn. Gewiß hat
sie, gerade von dieser Seite betrachtet, viel Bewunderns-
wertes und Imposantes. Eben das Sichere, Einheitliche,
Stilvolle, Ungebrochene dieses Geschlechts muß jedem
auffallen, der ihm näher tritt. Aber diese Sicherheit,
von der ich eben sprach, war eben doch nur die des
Unerprobten, die Sicherheit des Ignoranten, wenn man
will. Und doch glaubte man Anlaß genug zu diesem
Selbstvertrauen zu haben. Zwar war auf dem Gebiet
der schönen Literatur in den letzten Jahrzehnten vor
der Revolution ein starker Verfall eingetreten. Wie
anders aber in den technischen und Naturwissenschaften I
In den letzten Jahren vor der Revolution stieg von Paris
der erste Luftballon empor und wurde der erste Tele-
graph hergestellt. Der Mensch, der Franzose, hatte also
gelernt, in die Lüfte zu fliegen und zum Zwecke der
Mitteilung des Gedankens Raum und Zeit zu über-
306 Adalbert Wahl,
winden — und derselbe sollte nicht die leichte Wissen-
schaft vom Staate sich aneignen und mit Vollendung
anwenden können?
Tocqueville — auch daran sei jetzt erinnert — hat
mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Bildung
aller Stände im damaligen Frankreich eine gleichartige
gewesen, wobei man nur den Bauernstand wird aus-
nehmen müssen. Sonst aber lebten der Bürger, der
arme Landedelmann, der Grandseigneur und der Bischof
in den gleichen Ideenkreisen. Wie anders etwa bei uns
heutzutage! Welche Wucht verlieh dieser Umstand den
Forderungen und Zielen der Nation, sobald sie sich,
wie es ja 1787 und 1788 geschah, einmütig gegen die
Regierung wandte.
Und schließlich sei noch eine letzte Bemerkung über
die Geistesverfassung erlaubt und an eine Erscheinung
erinnert, auf die der stärkste Nachdruck zu legen ist.
Die wunderbaren Leistungen und die furchtbaren Ver-
fehlungen der ersten Jahre der Revolution wurden her-
beigeführt in einem Zustande wildester Erregung. Wer
dieses Moment ausscheidet, wird sie nie verstehen. Spuren
jener Erregbarkeit der öffentlichen Meinung — eine Er-
scheinung für sich, die man sich selten oder nie unter-
fangen wird, restlos erklären zu wollen, vielfach das
Primäre, das sich dann an irgend ein Ereignis heftet —
finden sich in den 80 er Jahren und früher mehrfach.
Dahin gehören z. B. die zahlreichen Selbstmorde an der
Stätte verübt, wo Rousseau mit Frau von Warens ge-
wandelt, mit der ihn ein eigentlich abstoßendes Liebes-
verhältnis verband. Dahin die beispiellosen Erfolge
Mesmers und Cagliostros, die in allen Kreisen der Be-
völkerung eine Art von Massenhysterie hervorriefen. Po-
litisch wurde diese Erregung, fast plötzlich, im Jahre 1787
und nicht vor diesem Jahre, als die Regierung eine
Notabeinversammlung berufen hatte und in dieser einen
unerwarteten Widerstand fand. Von da an steigerte sich
die Erregung stetig bis tief in die Zeiten der Revolution
hinein. Aber schon vor dem Zusammentritt der General-
stände hatte sie eine kaum glaubliche Siedehitze erreicht.
über die Ursachen der Französischen Revolution. 309
Genährt wurde sie durch das Beispiel der revolutionären
Bewegungen in österreichischen Landen, die sich gegen
Kaiser Josephs zentralistische Reformen erhoben, durch
die Gefahr eines Krieges mit England, der dann durch
eine schimpfliche diplomatische Transaktion verhindert
wurde, durch aufregende Reformen der Regierung. Nur
wenige Belege können hier für diese sich vielfach bis
zur Verrücktheit steigernde Aufregung gegeben werden.
Den stärksten Ausdruck fand sie in den vielen tausenden
von Broschüren der Zeit. Aber diese hysterischen Äuße-
rungen meist obskurer und anonymer Skribenten, mögen
hier zugunsten von anderen Beispielen beiseite gelassen
werden. Als die Regierung im Jahre 1787 die Heran-
ziehung des Klerus und Adels zur Territorialsteuer be-
schlossen hatte, widersetzten sich die zwei betreffenden
Stände zwar nicht, wohl aber das Parlament von Paris,
der oberste Gerichtshof des Landes. Dabei gelang es
ihm mühelos, die Bevölkerung von Paris und zwar so-
wohl Bürger, studierte und unstudierte, wie die anderen
Schichten des Volkes, zu wüsten Straßäntumulten gegen
die Regierung hinzureißen, also gegen die Besteuerung
der Privilegierten, gegen die Wohltat, die dem dritten
Stande erwiesen werden sollte. Der Vorgang gibt nach
mancherlei Richtung zu denken, ist aber ganz unerklär-
lich, wenn man nicht schon damals eine blinde Erregung
annimmt, welche jede gesunde Überlegung unmöglich
machte. — In demselben Jahre verstieg sich ein Parla-
ment, also eine Vereinigung von hohen Richtern, von
Männern, die ihr Leben damit zubrachten. Aussagen zu
prüfen und Urteile zu fällen, zu folgender, dem Wahn-
witz naher Behauptung: „Wenn man alle Vergeudungen,
von denen unsere Annalen berichten, aus den vierzehn
Jahrhunderten der Monarchie zusammentäte, so würde
man Mühe haben, eine solche Summe zusammenzubringen,
wie wir sie in weniger als vier Jahren (d. h. unter Ca-
lonne) haben verschwinden sehen." — Und noch ein
drittes Beispiel I Als im Mai 1788 im Parlament von Paris
zwei Räte verhaftet werden sollten, die sich einem be-
deutenden und heilsamen Reformprojekte der Regierung
310 Adalbert Wahl,
in maßlos unverschämter Weise widersetzt hatten, ent-
stand in dieser würdigen und meist so würdevollen Ge-
sellschaft, in der sich damals auch die Herzöge und
Pairs Frankreichs befanden, eine höchst erstaunliche Be-
wegung. Von allen Bänken erscholl Schluchzen und
allenthalben flössen Tränen. Der Marschall von Noailles
schluchzte laut. Man muß diese erstaunliche Szene fest-
halten. Wenn , so muß man sagen , hier alte Geheim-
räte, gepuderte Höflinge, im Dienste ergraute Soldaten,
Leute also, die erzogen waren, sich im Zaume zu halten
und ihre Gefühle zu unterdrücken, sich bei geringfügigem
Anlaß benahmen wie bartlose Knaben, wie tief muß da
die Erregung gewesen sein, die das französische Volk
erschütterte — eine Erregung, die ja dann im nächsten
Jahre noch mächtig anschwoll.
Also : eine für den Staat höchst gefährliche Gedanken-
richtung erstens, zweitens Einmütigkeit aller Franzosen
in dieser Gedankenrichtung, drittens eine unermeßliche,
wilde Erregung. So die Gemütsverfassung der Zeit.
Die Frage war — und damit kommen wir zu dem
zweiten, kürzeren Abschnitt unseres positiven Teiles —
wie war der Staat gerüstet, dieser Gefahr zu begegnen?
Ich schicke die Antwort gleich voraus, daß seine Rüstung
eine überaus schwache war. Es ist noch immer eine
verbreitete Ansicht, daß der Absolutismus in Frankreich
unter Ludwig XV. und Ludwig XVI. eine starke Re-
gierungsform gewesen sei. Diese Auffassung ist indessen
eine im höchsten Grade irrige. Zunächst ist es unbe-
streitbar, daß die Könige von Frankreich, sogar Lud-
wig XIV., sich selbst in der Theorie nicht eine wirklich
absolute Regierungsgewalt zuschrieben, vor allem nicht
eine unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt. Doch diesen
Gesichtspunkt übergehe ich hier, zugunsten eines wich-
tigeren: Es ist schwer, sich einen Begriff davon zu ma-
chen, wie schwach in der Praxis diese Monarchie unter
Ludwig XV. und Ludwig XVI. geworden war. Als letzten
Grund für diese Erscheinung möchten wir eine Änderung
der Charaktere und der Stimmung der Regierenden an-
nehmen. Ein geistvoller Minister in der Zeit Ludwigs XIV.
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 311
bemerkt von dem Nachfolger Colberts, daß er im Ge-
gensatz zu ihm n'avait pas le coeur assez dur. Unter
den Nachfolgern Ludwigs XIV. nahm diese Weichheit
der Herzen noch sehr bedeutend zu. Vor allem bei den
Königen selbst. Da finden wir keine Spur mehr von der
heiligen Oberzeugung, die Ludwig XIV. noch erfüllte,
daß der königliche Beruf notwendig sei. Mehr apologe-
tisch wird er ausgeübt, als ob das Regieren an sich Un-
recht, Tyrannei, sei : genau wie es ja (vgl. oben) von der
Stimmung der Regierten empfunden wurden. Unter Tur-
gots Verwaltung wurde ein Spottvers verbreitet über
notre mattre, qui se croyant un abus ne voudra plus
Vitre — ein Verschen, das die Stimmung dieses Ministers
zwar schlecht, gut aber die der zwei letzten Monarchen
ausdrückt. Es ist interessant zu sehen, daß Goethe, mit
seinem Blick für das Reale, diese Stimmung wohl erkannt
hat. In einer kulturhistorisch-politischen Skizze für die
Fortsetzung von Wahrheit und Dichtung, die kürzlich zu
Tage getreten ist, wollte er, vielleicht jenen Vers über-
setzend, ausführen u. a. „daß der König von Frankreich
sich schließlich selbst für einen Mißbrauch hält''. Dieselbe
Stimmung findet sich bei zahlreichen hohen und höchsten
Dienern der Krone, die ihr Amt ausüben, als ob sie da-
mit ein Unrecht begingen. Entsprechend dieser Stim-
mung dann die Handlungen. Ludwig XVI. war ziemlich
gleichgültig, wenn ihm nicht gehorcht wurde. Als am
23. Juni 1789 der dritte Stand dem ausdrücklichen Be-
fehle des Königs, auseinanderzugehen, nicht nachkam,
sagte er - in dieser entscheidenden Stunde - „dann mögen
sie eben zusammenbleiben!'' So war er vorher gewesen,
so blieb er bis zum Ende seiner Herrschaft. Nie hat er
es mit Leidenschaft empfunden, wenn er ohne Achtung
behandelt, ja wenn er mißhandelt wurde. Und genau so
die obersten Organe seiner Regierung. Im Jahre 1788
zeichnete sich das Parlament der Bretagne durch beson-
dere Aufsässigkeit aus. Schließlich wurden die zwei
obersten Beamten der Provinz, der Gouverneur und der
Intendant, beauftragt, die heilsamen Reformgesetze, um
die man stritt, gegen den Willen des Parlaments ein-
312 Adalbert Wahl,
zuregistrieren. Die beiden Beamten wurden zunächst
nicht eingelassen. Dreiviertel Stunden mußten sie vor
der Tür warten. Nachdem sie dann mit Hilfe von Sol-
daten eingedrungen waren, fragten sie, wo sie sich setzen
könnten. Keine Antwort. Dagegen wurde ihnen ein
Beschluss des Parlaments vorgelesen, der ihnen befahl,
den Saal sofort wieder zu verlassen! In jeder anderen
Zeit und jedem anderen Lande hätten gewiß große
Würdenträger, im Besitze der Macht befindlich und über-
dies in durchaus rechtmäßiger Ausübung ihres Berufs
begriffen, endlich die Geduld verloren. Ganz anders hier;
indem sie nun zu ihrer eigentlichen Aufgabe, der Ein-
registrierung der Gesetze schritten, begannen sie diese
damit, daß sie apologetische Erklärungen verlasen! Der
Gouverneur drückte sein Bedauern, der Intendant sein
lebhaftes Bedauern darüber aus, daß mehrfache königliche
Befehle sie gezwungen hätten, diese Aufgabe auszuführen.
Zum Dank für solche Schlaffheit wurden sie nach der
Sitzung von dem draußen harrenden Volk der Bretagne
verwundet und beinahe umgebracht. So sah der Des-
potismus im alten Frankreich ausi Ein ähnliches Bei-
spiel aus dem Süden des Reiches, aus BdarnI Aus
demselben Anlaß war auch hier Mai/Juni 1788 eine Em-
pörung ausgebrochen. Das Parlament brachte hier einen
offenen Aufruhr zustande: der Landadel, die Bauern und
die Stadtverwaltung der Hauptstadt Pau — also ein
höchst charakteristisches Bündnis — taten sich zusam-
men, bemächtigten sich der Stadt und der in ihr be-
findlichen Artillerie und verübten, der Monarchie trotzend,
weitere Gewalttaten. In dieser Lage beschloß die Re-
gierung versöhnlich vorzugehen! Sie schickte zur Her-
stellung der Ruhe einen B^arner, den Herzog von Guiches,
in sein Heimatland. Dieser fiel, in Bdarn angelangt, voll-
ständig um, wie man zu sagen pflegt. Er sollte von
der Provinz weiter nichts verlangen, als eine formelle
Genugtuung, aber selbst diese forderte er nicht, sondern
er versicherte fortwährend, er fühle sich als B^arner
und werde keine strenge königliche Order gegen seine
Heimat ausführen, so daß die ganze Aktion auch
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 313
äußerlich mit einem vollkommenen Siege der Revolution
endigte.
Dieselbe Weichheit der Charaktere der Regierenden
verursachte es, daß, im Gegensatz zu den Zeiten Lud-
wigs XIV., die Parlamente, die obersten Gerichtshöfe des
Landes, statt die feste Stütze der Monarchie zu sein, seit
der Mitte des Jahrhunderts etwa systematisch und fana-
tisch am Werke waren, ihre Macht zu untergraben. Das
versuchten sie in mehrerlei Richtungen 1 Die eine war die
Mitwirkung an der Gesetzgebung, durch die sie es in der
Tat durchsetzten, daß seit 1750 die wichtigsten und oft
auch heilsamsten Gesetze wieder rückgängig gemacht
wurden: so solche auf kirchenpolitischem Gebiete, so
mehrfach Gesetze, welche die Freiheit des Getreide-
handels einführten, so die bedeutenden wirtschaftlichen
Reformen Turgots. Am heftigsten wurden sie, wenn
neue Steuern durchgehen sollten, wodurch die Monarchie
gestärkt worden wäre, und sie in erster Linie haben es
durchgesetzt, daß die Finanznot zum Anlaß der Revo-
lution werden konnte. In einer zweiten Richtung wirkten
sie schwächend auf die Regierung ein, indem sie, wenig-
stens unter Ludwig XVI., einen sehr bedeutenden Ein-
fluß auf die Auswahl der Ratgeber des Königs ausübten,
zwar nicht im positiven Sinne, wohl aber im negativen
durch Beseitigung von ihnen mißliebigen Ministern. Es
kann n. u. A. kein Zweifel sein, daß Turgot, daß Necker in
seinem ersten Ministerium, daß Brienne der Feindschaft
der Parlamente in letzter Linie zum Opfer gefallen sind.
Schließlich eine dritte Richtung: sie übten in zahllosen,
öffentlichen Kundgebungen eine Kritik an der Regierung,
die deren Ansehen auf das Tiefste erschüttern mußte ; in
diesen, oft in Hunderttausenden von Exemplaren ver-
breiteten Beschwerden der Parlamente, drängen sich förm-
lich die Vorwürfe der Tyrannei, des Despotismus, des Treu-
bruchs, des Rechtsbruchs und der Verfassungsverletzung
gegen die Regierung. Wie oft wird man dabei an ein
erst jüngst bekannt gewordenes Wort B. Constants, eines
gewiß unverdächtigen Zeugen, erinnert, der in höherem
Alter mit Bezug auf einen Vorgang des Jahres 1787
314 Adalbert Wahl,
schreibt: „Wenn man heutzutage nur ein Viertel einer der-
artigen Rede gegen die Regierung hielte, wäre man nicht
eine Stunde in Sicherheit."" Hieran läßt sich bequem
eine weitere Betrachtung knüpfen. Es pflegt behauptet
zu werden, daß es der Regierung des alten Frankreich
im Gegensatz zu konstitutionell regierten Staaten an
Kritik gefehlt habel Davon kann gar keine Rede sein!
Abgesehen von der Presse, genoß sie vielmehr eine immer
wache, herbe, sachkundige, organisierte, öffentliche Kritik
von selten ihrer höchsten Beamtenschaft. Es ist also
die charakteristische Eigenschaft dieser Regierung die
Schwäche. Nun aber nicht nur an ihrer höchsten Spitze,
sondern auf allen Stufen. Am erschreckendsten vielleicht
zeigt sich diese Erscheinung auf dem wichtigsten Gebiete
staatlicher Tätigkeit: auf dem der Armee. Es ist schwer,
sich einen Begriff von der inneren Zerrüttung der fran-
zösischen Armee von 1789 zu machen, von der Fülle
von mißverstandenen humanen Gedanken, von der Un-
sicherheit und Weichheit den Untergebenen gegenüber,
von der staatsfeindlichen und antimonarchischen Stim-
mung im Offizierskorps — Erscheinungen, die in den vor-
nehmsten Truppenteilen noch stärker gewesen zu sein
scheinen, als bei den Linienregimentern. Daß Komman-
deure von Gardekavallerieregimentern sich in der Konsti-
tuante durch besonderen Eifer gegen die Monarchie aus-
zeichneten, ist bekannt. Wie weit die Disziplin und rich-
tiges Gefühl im Militär geschwunden waren, mögen folgende
wenige Beispiele zeigen: Im Jahre 1788 wurden in Frank-
reich Manöver nach preußischem Vorbild eingeführt, dazu
neue Exerzierreglements; allein es gelang nicht, damit
durchzudringen. Ganze Kompagnien weigerten sich, die
neuen Griffe einzuüben. Aus einem Manöver heraus deser-
tierten 37 Grenadiere des Regiments Cond^ mit allen
Waffen von S. Omer nach der niederländischen Grenze
zu. Der Oberst holte sie ein und brachte sie zurück.
Darauf hielt ihnen — es ist überaus charakteristisch — der
Prinz von Cond^ eine so rührende Ansprache, daß sie
in Tränen ausbrachen. Das genügte! Sie gingen völlig
straffrei aus. — In dem Kampfe der Regierung gegen die
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 315
Parlamente, den wir schon öfters zu erwähnen Gelegen-
heit hatten, ergriff die Armee fast ausnahmslos gegen die
Monarchie Partei. Bei dem Gedanken, gegen das Par-
lament einschreiten zu müssen, versagte sie. Der Herzog
von Sully erklärte öffentlich, er sei zwar bereit, all sein
eigenes Blut für den König zu vergießen, niemals aber
das seiner Mitbürger. Ein Offizier wurde von seinen
Kameraden ausgestoßen, weil er auf Befehl gegen ein
rebellisches Mitglied des Parlaments von Toulouse ein-
geschritten war. Als bei jener obenerwähnten Szene,
bei der in Rennes der Gouverneur und der Intendant der
Bretagne vom Pöbel beinahe ermordet worden wären,
schließlich die Wache gerufen worden war, überließ der
Führer der Wache, ein Leutnant, die zwei wehrlosen
Männer ihrem Schicksal, indem er mit theatralischer Geste
seine Waffen wegwarf und dem Mob zurief: „Ich bin
Bürger wie ihr.**
Ich glaube, selbst die wenigen obigen Bemerkungen
werden genügt haben, um zu zeigen, daß wir es hier
mit einer überaus gutmütigen, weichen und schwachen
Regierung zu tun haben. Absolutismus kaum noch der
Form nach. Von einer despotischen Regierungs weise
entfernt keine Rede! Ich möchte diesen Abschnitt be-
schließen mit einem Zitat aus Condorcet, das auf das
stärkste gebilligt zu werden verdient, ja das jeder Hi-
storiker des alten Frankreich sich recht tief einprägen
sollte; er schreibt: „Man litt unter den Nachteilen der
Anarchie, glaubte aber, die des Despotismus zu emp-
finden."
Und nun noch wenige Worte über eine dritte Haupt-
ursache der Revolution: die Handlungen der leitenden
Persönlichkeiten. Und zwar deswegen nur wenige Worte,
weil sie erschöpfend doch nicht behandelt werden kann,
ohne eine hier untunliche, ausführliche Erzählung, nicht
aber deshalb, weil wir sie von geringer Bedeutung er-
achteten. Im Gegenteil : nach zahlreichen Beobachtungen
aus anderen Zeiten dürfte man der Ansicht zuneigen, daß,
trotzdem die Lage nach dem, was oben ausgeführt wurde,
schon seit im November 1787 die Generalstände ver-
316 Adalbert Wahl,
sprochen waren, als überaus ernst erscheinen mußte^
doch ein Mann von Geist und Erfahrung, von leiden-
schaftlichem Wollen und genügender Rücksichtslosigkeit
— angenommen, er wäre damals im Gegensatz zu
seinen Zeitgenossen erstanden — den Staat zu retten
imstande gewesen wäre.
Die Handlungen der entscheidenden Menschen hängen
auf das engste zusammen mit den oben kurz geschil-
derten zwei Ursachen: der Geistesverfassung einerseits,
der Schwäche des Staates andererseits. Nicht unbegabt
und auch nicht ohne Verständnis für manche Seiten seiner
Aufgabe, ließ der König sich doch von der öffentlichen
Meinung und von seinen Ministern zu immer weiter-
gehenden Konzessionen hinreißen — mehrfach gegen
seine bessere Überzeugung. Ganz Ahnliches gilt von der
Königin Marie Antoinette. Es ist nicht richtig, daß sie
damals, im Gegensatz zum König, eine Politik der Stärke
und des Widerstandes gegen die öffentliche Meinung ge-
trieben habe. Im Gegenteil! Gerade sie ist bei ihren
entscheidenden Eingriffen in die Geschicke des Landes
— es sind ihre einzigen wichtigen Eingriffe vor der Re-
volution — auf Seiten der öffentlichen Meinung. Es han-
delt sich dabei um Personenfragen, freilich solche aller-
größter Bedeutung. Marie Antoinette ist es in erster
Linie gewesen, welche im Mai 1787 dem Erzbischof von
Toulouse, Lomdnie de Brienne, dem Freunde Turgots,
dem Freigeist, dem bisherigen Führer der Opposition,
die Leitung des Staates verschaffte, wie es die öffentliche
Meinung stürmisch forderte. Es hielt bei dem frommen
Ludwig XVI., der meinte, jener glaube nicht einmal an
Gott, schwer. Noch weit folgenreicher war die Be-
förderung eines zweiten Kandidaten der vox populi an
die leitende Stelle: Neckers, der damit, August 1788, sein
zweites Ministerium antrat. Viel wichtiger als die Hand-
lungsweise und die Handlungen des Königspaares sind
nun die dieser zwei leitenden Minister, von denen der
erstere, Brienne, vom Mal 1787 an über ein Jahr lang,
der zweite, Necker, vom August 1788 an bis zum Zu-
samm'^ntritt der Stände, Mai 1789, nahezu unbeschränkt
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 317
gebot. Mit ein paar Beispielen für die Fehler dieser zwei
Männer möchte ich schließen. Brienne war ohne Zweifel
ein sehr kluger Mann, der eine Reihe der heilsamsten
und tiefgreifendsten Reformen durchgeführt hat. Aber
das eigentliche Regieren verstand er nicht. Er verstand
es nicht, zu zeigen, welch unerhörten Fortschritt seine
Reformen bedeuteten. So fand er bald das ganze Volk
aller Schichten gegen sich. Bei der wilden Revolution
von Mai bis August 1788 hat er nun zwar, was ihm un-
vergessen sei, eine Zeitlang Widerstand geleistet, dann
aber gab auch er nach. Am deutlichsten läßt sich aber
an folgendem wichtigstem Beispiel zeigen, wie er zwar
gute politische Gedanken zu ergreifen imstande war, nicht
aber, sie stark und konsequent durchzuführen. Im No-
vember 1787 hat Brienne bekanntlich die Generalstände
zusammenzurufen versprochen. Man wird urteilen, daß
das gut und notwendig war. Mit dem vorhandenen
Regierungsapparat ging es bei der allgemeinen Schwäche
der Charaktere doch nicht weiter. Ebenso stark zu bil-
ligen war dann ein zweiter Gedanke, der sich mit dem
ersten verband: Die Generalstände sollen erst in fünf
Jahren zusammentreten, wenn in die zerrütteten Finanzen
Ordnung gebracht sein, wenn vor allem die wilde Er-
regung der Gemüter, die damals (1787) schon so bedroh-
lich erschien, sich gelegt haben würde. Also gewiß vor-
zügliche Gedanken I Wie schwach aber die Ausführung I
Der Eindruck des epochemachenden Versprechens auf
die öffentliche Meinung war, im Gegensatz zu dem, was
man erhofft hatte, ein überaus geringer. Was kümmerte
sich dieses Volk von ungeduldigen und verzogenen Kin-
dern darum, was in fünf Jahren eintreten sollte! So
rückte denn die Regierung den Zusammentritt der Gene-
ralstände immer näher. Schon wenige Tage nach dem
ersten Versprechen, noch im November 1787, interpre-
tierte es der König dahin, daß er die Stände vor 1792,
also 1791, also nicht in fünf, sondern in vier Jahren be-
rufen wolle. Am 5. Juli 1788 wurden schon Studien über
die Zusammensetzung der ^tats Giniraax befohlen und
damit ihr Zusammentritt noch mehr in die Nähe ge-
Historitche ZeiUchrift (101. Bd.) i. Folge 5 Bd. 21
318 Adalbert Wahl,
rückt; am 8. August 1788 wurden sie auf den 1. Mai
1789 berufen. Aus den fünf Jahren waren ein Jahr und
fünf Monate geworden! Möge für Brienne dieses eine
Beispiel genügen!
Noch viel stärkere Schuld trifft nach unserer Auf-
fassung Necker, der nicht einmal die Lichtblicke eines
Brienne hatte. Die Regierungskunst schien ihm im Nach-
geben so recht aufzugehen ! Seine Tochter, Frau von Stael,
berichtet, daß er die öffentliche Meinung als die Magnet-
nadel betrachtete, nach der er das Staatschiff steuerte.
Wie sollte er es da anders, als dem Verderben zulenken ?
Ranke hat in seinen Vorträgen an den König von Bayern
es als Neckers Pflicht hingestellt, von einem monarchi-
schen Gesichtspunkte aus zu handeln — eine Ansicht,
der man nur auf das energischste zustimmen kann.
Necker selbst hat sich über diesen Punkt in späteren
Zeiten verschieden ausgesprochen. Einmal sagt er, es
sei keineswegs seine Aufgabe gewesen, die Monarchie
zu stärken. Anhänger einer konstitutionellen Regierungs-
weise, verwechselte er die Einführung einer solchen mit
vorhergehender Schwächung der Monarchie. Ein anderes
Mal hat er doch behauptet, sich der radikalen Entwicklung
entgegengeworfen zu haben, und zwar braucht er dabei
ein so schönes Bild, daß es wörtlich mitgeteilt zu werden
verdient. Er schreibt: „Immer um einen vom Berg herab-
rollenden Karren umherlaufend, habe ich nicht, wie die
Zuschauer meinten, ihn hinabgeschoben oder seine Be-
wegung beschleunigt, sondern ich hieU, im Gegenteil,
mit allen meinen Kräften die Räder an und schrie fort-
während um Hilfe.** Leider war der Staatsmann nicht
besser als der Schriftsteller. Statt mit allen seinen Fähig-
keiten danach zu streben, z. B. daß die Regierung durch
kräftige Maßregeln die Initiative in die Hand bekäme,
hat er umgekehrt, von dem Beginn seines zweiten Mini-
steriums an, den Gedanken ergriffen, nichts Größeres
mehr zu unternehmen, sondern alles, sogar auf dem Ge-
biete der Finanzen, den Generalständen anzuvertrauen:
als ob er ihre in den Augen jedes denkenden Politikers
schon so bedrohliche Macht geflissentlich noch habe
Ober die Ursachen der Französischen Revolution. 319
stärken wollen. Auf keine feste Partei hat er sich zu
stützen versucht. Daß er den bewaffneten Widerstand
nicht vorbereitet, ist bei einem Mann wie er selbstver-
ständlich. Die schlimmste Unterlassung war die, daß er
ohne genügend festumrissenes Verfassungsprogramm vor
die Stände trat. Wenn er ein solches gleich im September
1788 vorgelegt hätte, so wären die Aussichten der Mon-
archie wohl gar keine so schlechten gewesen. Necker
hätte dabei nur den Mut zu haben brauchen, seinen
eigenen Ideen zu folgen. Er war Anhänger der englischen
Verfassung, wie man sie seit Montesquieu sah — mit
unbedingtem Veto des Oberhauses und der Krone. Dabei
hätte er viele der Besten des Landes aus allen drei Ständen
um sich vereinigt, die sogenannten „Anglikaner", die ja
noch lange während der Revolution dieses Ziel erstrebten.
Er hatte eine bedeutende Partei für sich gehabt. Aber
dazu war er zu feige. Er fürchtete den Widerstand des
Königs, der doch immer so leicht zu überwinden war.
Er fürchtete vor allem die radikalen Wünsche vieler
Skribenten des dritten Standes. Ein letztes Beispiel: Im
September 1788 brach endlich in Paris der Zwist der
Stände untereinander aus, die bis dahin einmütig gegen
die Krone zusammengehalten hatten, und nahm bald
eine große Wildheit an. Necker hatte diesen Zwist im
geheimen geschürt, dem gefährlichen Gedanken divide
et impera folgend, ohne fürs erste noch offen Partei zu
ergreifen. Dann endlich, nach mehr als drei Monaten,
Ende Dezember 1788, hat er, was er jedenfalls von vorn-
herein gewollt, nach peinlichem Zögern sich für die
große Forderung des dritten Standes entschieden. Das
war zweifellos an sich ein politischer Gedanke; hatten
doch die zwei ersten Stände bisher, seit Anfang 1787, die
Führung in der revolutionären Bewegung gehabt! Aber
wie jämmerlich war die Ausführung! Erstens hat er sich
nun auch unter dem dritten Stande keine Partei gebildet
und keine führenden Männer um sich gesammelt, mit
denen er verhandeln konnte, die ihm für seine Zugeständ-
nisse nun auch Unterstützung von selten des dritten
Standes verbürgen konnten. Nein, er unterwarf einfach
21»
320 Adalbert Wahl, Ober die Ursachen der Franz. Revolution.
sich und den König in phrasenreichen Kundgebungen
den Wünschen des Bürgerstandes im allgemeinen und
reizte so nur dessen Begehrlichkeit. Zweitens aber hat
er den Gedanken dieses Bundes nicht konsequent fest-
gehalten. Als in den ersten Monaten des Jahres 1789
die Forderungen und Äußerungen des dritten Standes
immer wilder wurden — zahllose lesen sich in der Tat,
als ob sie aus dem Irrenhause oder aus dem Zuchthause
stammten — , bekam er Angst vor diesem Bundesgenossen
und suchte dann seit dem Zusammentritt der Stände
wieder unparteiisch zu sein. So hatte er denn — er-
staunliche Tatsache! — trotz aller unbegrenzten und all-
gemeinen persönlichen Beliebtheit, niemanden, keinen
Stand, keine Partei, keine Gruppe, ja keine einzige
Person in den Generalständen, auf die er sich verlassen
konnte. *
Unzweifelhaft hat also staatsmännische Unfähigkeit
der zwei Dilettanten, des Bischofs und des Bankiers,
Mitschuld an dem gänzlichen, unermeßlichen Zusammen-
bruch. Der Anblick dieses Zusammenbruchs aber, wie
er wirklich erfolgt ist, gewährt nicht, wie es meist emp-
funden wurde, die etwas philisterhafte moralische Be-
friedigung darüber, daß hier eine Monarchie und zwei
herrschende Stände untergegangen sind, weil sie in harter
Selbstsucht nichts oder nicht genug von dem Ihrigen
hergeben wollten. Der Vorgang ist vielmehr ein anderer^
und er löst auch andere Gefühle des Betrachters aus,
die männlichem Empfinden aber auch ihrerseits nicht
allzu schmerzlich sind, da es sieht, wie ein weichliches
Geschlecht unterging, weil es sich nicht zu wehren ver-
stand.
Miszellen.
Zur Geschichte des karolingischen Kriegs-
wesens.
Von
W. Erben.
Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte.
Von Hans Delbrück. 3. Teil. Das Mittelalter. Berlin,
G. Stilke. 1907. 700 S.
In den Jahren 1886 bis 1890 hatte 0. Köhler sein umfang-
reiches Werk über die «Entwicklung des Kriegswesens und
der Kriegführung in der Ritterzeit* erscheinen lassen, eine
wohlgegliederte und auf weitreichenden Quellenstudien auf-
gebaute Darstellung, die aber in der wissenschaftlichen Welt
sehr geringen Anklang fand ; zwanzig Jahre nach ihm ist nun
H. Delbrück mit seiner Geschichte der Kriegskunst soweit
gelangt, um ein Seitenstück und gewissermaßen einen Ersatz
für jenes ältere Werk zu schaffen. Sein dritter Band reicht
von Karl d. Gr. bis zu dem endgültigen Sieg der Schweizer
über Karl d. Kühnen; ergreift also zeitlich über Köhlers Werk
hinaus, welches mit der Mitte des 11. Jahrhunderts beginnt
und mit den Hussitenkriegen schließt. Inhaltlich bleibt Del-
brück hinter seinem Vorgänger insofern zurück, als er die
von Köhler in einem besonderen Bande behandelte Geschichte
der Waffen und des Befestigungswesens nicht zusammen-
hängend vorführt; er streift wohl auch diesen Gegenstand
gelegentlich, nimmt aber an, daß solche technische Erörte-
322 W. Erben,
rungen (abgesehen von der Geschichte der Feuerwaffen, die
in einem späteren Bande nachgetragen werden soll) »in dem
Zusammenhang dieses Werkes überhaupt entbehrt werden''
können (S. 669). Die Vernachlässigung dieser wichtigen Seite
des Kriegswesens ist eine der Schwächen des Werkes, nicht
bloß eine Lücke ; sie beeinträchtigt auch die Sicherheit der von
Delbrück über Kampfweise und Kriegsverfassung vorgetragenen
Ansichten. Immerhin wird man in vieler Hinsicht Delbrück
den Vorzug vor den breiteren Ausführungen Köhlers geben
müssen. Ihm ist nicht nur die rege Fühlung mit der Wissen-
schaft zugute gekommen, die dem geschichtsforschenden Ge-
neral fehlte, auch die gewandte Feder und der sichere Ober-
blick über antike und moderne Kriegsgeschichte; Vergleiche
mit Vorgängen der griechischen Freiheitskämpfe strömen dem
Verfasser ebenso leicht und reichlich zu, wie solche mit den
Feldzügen und militärischen Einrichtungen der neuesten Zeit.
So entstand eine anziehende Darstellung, welche dem Bande
viele dankbare Leser sichern dürfte. Eine befruchtende Wir-
kung auf Erforschung mittelalterlicher Kriegsgeschichte wird
nicht ausbleiben, wenn man auch den Meinungen des Ver-
fassers nicht überall zustimmen kann.
Wie sich Delbrück das Karolingische Heerwesen denkt,
war schon am Schluß seines zweiten Bandes angedeutet; er
ist der Ansicht, daß im fränkischen Reich ein Berufskrieger-
stand nicht erst seit Karl Martell, sondern wohl schon von den
Zeiten der Völkerwanderung her bestanden habe, und er spricht
dem bäuerlichen Aufgebot, dessen Verschwinden man sonst
ins 9. Jahrhundert zu setzen pflegt auch schon für die mero-
wingische und frühkarolingische Zeit die Bedeutung ab. Eine
Auseinandersetzung mit jenen Kapitularien Karls d. Gr., welche,
dieser Auffassung widersprechen, hatte im zweiten Bande noch
gefehlt, der Anfang des dritten sucht sie nachzuholen, nicht
eigentlich in geschlossener Beweisführung, wie sie die Wich-
tigkeit des Gegenstands erfordern würde, sondern in leicht-
geschürzter, von kleinen Widersprüchen nicht ganz freier Dar-
stellungsform. Sucht man aus dieser die Gründe heraus, welche
Delbrück anführt, um dem bäuerlichen Aufgebot eine Mitwirkung
an den Feldzügen Karls abzusprechen, so kommen mehrere
Punkte in Betracht, die hier einzeln gewürdigt werden müssen.
Zur Geschichte des karolingischen Kriegswesens. 323
Nach Delbrück (S. 4) wäre der karolingische Krieger mit
Helm und Brünne, Schwert mit Scheide, Beinschienen, Lanze
und Schild bewehrt gewesen, so daß, wenn man das Pferd
hinzurechnet und die Wertsätze des ripuarischen Rechtes zu-
grunde legt, die Ausrüstung eines einzigen Kriegers 45 Kühen
oder 15 Stuten »dem Großvieh eines ganzen Dorfes* gleich-
gekommen wäre.^) Vom Helm ist in den Kapitularien aber
nur einmal die Rede (Mon. Germ. Gap. 1, 171), und zwar in
solche/ Art, daß wir dieses Stück nur als Erfordernis der
besser Gerüsteten ansehen können, und auch diesen besser
Gerüsteten wird nicht eine eiserne Kopfbedeckung, eine cassls
oder, wie es in jenem Einschiebsel der lex Ribuaria heißt, ein
helmus cum diredo^) vorgeschrieben, sondern die galea, die, von
Leder hergestellt, einen weit geringeren Wert haben konnte.^)
Als allgemeine Bewaffnung, welche der Graf von jedem Auf-
gebotenen zu fordern hatte, nennt dasselbe Kapitulare nur
Schild und Lanze, Bogen und Pfeile, wobei nicht einmal an
gleichzeitige Führung dieser viererlei Waffenarten zu denken
ist, sondern die Wahl zwischen Lanze und Schild auf der einen,
Bogen und Pfeilen auf der anderen Seite gelassen sein wird.^)
0 Etwas vorsichtiger äußert sich Delbrück über diesen Gegen-
stand S. 24 f., er bemerkt Widersprüche in den QueUen, kommt
aber schließlich S. 26 „wie auch die einzelnen Quellenstellen zu
erklären seien* für die Mehrzahl der Krieger Karls doch so ziem-
lich zu denselben Anschauungen, die er S. 4 aufgestellt hat.
') Vgl. Lindenschmit, Handbuch der deutschen Altertums-
kunde 1, 254 f.
') Das stimmt gut zu den gleichzeitigen Zeichnungen, siehe
Rahn, Das Psalterium aureum von S. Gallen Taf. 9, 10, 15 (vgL
Text S. 42 f.), wo der Helm, wenn überhaupt vorhanden, eine
Form aufweist, die sich bei metallener Herstellung nicht verstehen
ließe. Vgl. V. Ubisch im Jahrbuch d. preuß. Kunstsammlungen 24, 21 1.
*) Boretius hat die in drei Handschriften vertretene Lesart
lanceam scutum et arcum cum duas cordas sagittas duodecim in
den Text, das ebensogut verbürgte aut in die Noten gestellt.;
ich möchte dieser zweiten Lesart den Vorzug geben und auch
in dem Aufgebotschreiben Karls an Abt Fulrad (Gap. 1, 168) bei
Aufzählung der Waffen ein aut oder vel einschalten, da sich
Schild und Bogen schwer vereinen (vgl. Delbrück S. 25). Die von
Boretius zugunsten seiner Lesart angeführte Stelle des cap. de viUis
324 W. Erben,
Auch die Brünne wird nur von den Reicheren gefordert, an
der schon erwähnten Stelle von den Bischöfen, Grafen und
Äbten und deren Leuten, an einer anderen (Cap. 1, 123) von
jenen, welche zwölf Hufen besitzen. Daß der Krieger mit
Beinschienen versehen sein solle, steht in den Kapitularien
nirgends, sie müssen also auch jedenfalls aus der Rechnung
gestrichen werden. Für sehr unsicher halte ich ferner auch
Delbrücks Annahme, daß die karolingischen Krieger «ganz
vorwiegend beritten* waren; gestattet der Aufgebotsbefehl an
Fulrad die Annahme, daß dieser reiche Abt nur berittene
Mannschaft herbeizuführen hatte, so darf diese Vorstellung
doch nicht ohne weiteres verallgemeinert werden. In einer
Aufgebotsordnung für die Friesen (Cap. 1, 136) sind die ca-
ballarü mit den Grafen und belehnten königlichen Vasallen
zusammengefaßt, die reliqui vero pauperiores, von denen jeder
siebente gleichfalls ausrücken mußte, ihnen deutlich gegen-
übergestellt. Es steht nach dem Wortlaut dieser Stelle und
anderer Kapitularien nichts im Wege, die letztgenannten, also
die überwiegende Menge des Heeres, als unberitten anzusehen.
So schwindet die schwere Ausrüstung, die Delbrück dem karo-
lingischen Krieger zumutet und für die er einen so erschreckend
hohen Wert berechnet, gar sehr zusammen, wenn man sich
an die Quellen hält. Was als allgemeines Erfordernis übrig
bleibt, Schild und Lanze, Bogen und Pfeile, das konnte auch
der ärmere Bauer leisten, und auch die Rüstung der Reichsten
dürfte nur sehr selten den von Delbrück angenommenen Preis
erreicht haben, zumal wenn die Wertsätze des ripuarischen
Volksrechts als Maximalzahlen und nicht als Durchschnitts-
ziffern aufzufassen sind.^)
Mit der Frage nach der Bewaffnung hängt aufs engste das
Urteil über die kriegerische Brauchbarkeit des bäuerlichen
Aufgebots zusammen. Delbrück schätzt sie so niedrig als
läßt sich, da sie nicht von der Rüstung eines Mannes, sondern
von Ausrüstung der Wägen handelt, nicht verwenden; dagegen
spricht eines der langobardischen Gesetze, auf welche schon
Boretius selbst, Beiträge zur Kapitularienkritik 124 Anm. 1 hin-
wies, sehr deutlich von der Alternative: entweder Schild und
Lanze oder Bogen, Pfeüe und Köcher.
*) Vgl. darüber Brunner, Deutsche Rechtsgesch., 2. Aufl., 1,322.
Zur Geschichte des karolingischen Kriegswesens. 325
möglich, und meint auf diese Weise die Glaubwürdigkeit der
vom allgemeinen Aufgebot handelnden Kapitularien beseitigen
zu können; er vergleicht (S. 13) das Ergebnis, welches solche
Bestimmungen haben konnten, mit brandenburgischen Defen-
sionsbestrebungen im Dreißigjährigen Krieg und sucht die
schlechten Erfahrungen, die man hier machte, als Beweis gegen
die militärische Verwendbarkeit der Bauern zur Zeit Karls d. Gr.
zu verwerten. Es ist kaum notwendig, dieses Argument ernst-
lich zu widerlegen; die Bedingungen für die Wehrhaftigkeit
des deutschen Bauernstandes hatten sich ja in acht Jahrhun-
derten in vieler Hinsicht geändert; am meisten allerdings in-
sofern, als die Kriegskunst und die Bewaffnung sich geändert
hatte, an den einzelnen Krieger also andere Anforderungen
herantraten. Wollte man nun die von Delbrück an die Spitze
seines Buches gestellte Ansicht von der schweren Ausrüstung
des karolingischen Heeres gelten lassen, so müßte zugegeben
werden, daß in einem solchen Berufsheer der Bauer keine
große Rolle spielen konnte. Da aber jene Voraussetzung sich
durchaus nicht bewährt hat, die Quellen vielmehr auf eine viel
leichtere Bewaffnung der Mehrzahl schließen lassen, so liegt
kein Grund vor, den Bauern die Eignung zum Heerdienst
unter Karl d. Gr. abzusprechen. Es muß hier freilich noch
eine weitere Prämisse Delbrücks erwogen werden, die sein
ungünstiges Urteil über die Leistungsfähigkeit der Bauern stark
beeinflusst. Er spricht wiederholt (S. 12, 14, 31, vgl. auch
S. 532) von einem Aufgebot im Turnus und nimmt also an,
daß bei der Auswahl eines einzelnen Kriegers aus einer Gruppe
von drei, vier oder noch mehr kleineren Grundbesitzern jedes-
mal ein anderer hätte ausziehen müssen, wodurch allerdings
die Auswahl der Tüchtigsten verhindert und der Vorteil, etwas
kriegserfahrene Leute zusammenzubringen, aufgegeben worden
wäre. Aber diese Voraussetzung findet in den Quellen keinen
Halt. Das Kapitulare von 807 (Gap. 1, 134) betont vielmehr
dreimal ausdrücklich, daß von jeder Gruppe immer der Best-
geeignete (qui melius ex ipsis potuerit) auszurücken habe, und
auch dort, wo das nicht ausdrücklich bemerkt ist, darf man
annehmen, daß tatsächlich so vorgegangen wurde. Aus einem
der folgenden Jahre ist uns auch die Klage überliefert, daß
die Beamten immer wieder dieselben Leute ins Feld schickten
326 W. Erben,
(Cap. 1, 165); die dem Ruin ausgesetzten Kläger führen das
auf die böse Absicht der weltlichen und geistlichen Großen
zurück ; diese hätten auf solchem Wege die Kommendation des
Betroffenen erzwingen wollen. Sollte diese Absicht in einzelnen
Fällen wirklich mitgewirkt haben, so mußten doch ebensogut
auch die Bestimmungen von 807 dazu Anlaß geben, denselben
Mann wiederholt auszuheben; auch im Interesse des Kaisers
lag es, wenn möglich immer wieder die tüchtigsten, die kriegs-
geübten Bauern aufzubieten und nicht andere, denen jede
Übung fehlte. Von einem Turnus ist in den Gesetzen keine
Rede, Delbrück kämpft also gegen Windmühlen, wenn er diesen
angeblichen steten Wechsel der Wehrmannschaft als unprak-
tisch geißelt, um ihn als Zeugnis für die Wertlosigkeit der
Aufgebotsordnungen Karls hinzustellen.
Eine andere unbewiesene und sehr unwahrscheinliche Vor-
aussetzung der Delbrückschen Auffassung ist die Annahme, daß
auch schon zu Karls Zeit in den reingermanischen Gebieten
eine ähnliche soziale Schichtung geherrscht hätte wie in den
romanischen Gebieten (S. 6). Delbrück gelangt zu dieser An-
sicht, die freilich bald darauf (S. 1 1 f.) wieder starke Einschrän-
kungen erfährt, nicht etwa in offenem Anschluß an Wittichs
Theorie von einer bis in altgermanische Zeit zurückreichenden
grundherrlichen Verfassung i), sondern indem er die moderne
Vorstellung einer ausgleichenden staatlichen Gerechtigkeit auf
die Kapitularien anwendet; aber von der Unsicherheit dieses
Maßstabes abgesehen, liegt uns die Gesetzgebung Karls doch
viel zu unvollständig vor und bestehen über den Geltungs-
') Im 2. Bande S. 462 sind ,die einschlagenden Ansichten
von Wittich* vielmehr ohne jede nähere Bezeichnung und Be-
gründung als verfehlt zurückgewiesen; aber Delbrücks Argur
mentation im 3. Bande S. 6 erinnert doch stark an die Ausfüh-
rungen Wittichs in der Zeitschr. f. Rechtsgesch., Germ. Abt. 22,
329 f., und was Delbrück von dem angeblichen Stand der Minder-
freien bei den Sachsen und vom Stellingaaufstand sagt, deckt
sich mit den von Wittich übernommenen Ansichten von Heck.
Dennoch werden weder Heck und Wittich von Delbrück genannt,
noch auch die Aufsätze von Brunner und Schröder in der Zeit-
schrift f. Rechtsgesch., Germ. Abt. 23, 193 ff. und 24, 347 ff. (bes. 377)
berücksichtigt, welche diesen Theorien mit Recht entgegentreten.
Zur Geschichte des karolingischen Kriegswesens. 327
beziric der zufällig auf uns gekommenen Verordnungen doch
zu viele Zweifel, als daß wir daraus auf ungefähr gleichmäßige
Verteilung der Freien im ganzen Frankenreich Schlüsse ziehen
dürften. Unrichtig ist es jedenfalls, wenn Delbrück (S. 30 f.)
aus den Kapitularien von 808 und 811 folgern will, daß es
schon damals keine freien Krieger gegeben habe, die nicht
ihren Senior hatten, nicht in das Vasallitätsverhältnis getreten
wären; beide Stellen nennen neben dem senior auch den comes
und wenn es das einemal (Cap. 1, 167) heißt: Quicumque Über
homo inventtts fuerit anno praesente cum seniore suo in hoste
non fuisse, plenum heribannum persolvere cogatur, so ist hier
eben nicht von der Gesamtheit der Freien, sondern nur von
jenen, welche Senioren haben, die Rede; die übrigen, welche
noch nicht in Abhängigkeitsverhältnis getreten sind, konnten
hier unberücksichtigt bleiben, weil über ihre Bestrafung schon
im ersten Absatz desselben Gesetzes gehandelt war. Erst
ein Gesetz Ludwigs d. Fr. vom Jahre 819 (Cap. 1, 291) spricht
bloß von Bestrafung der vom Feldzug ausgebliebenen Vasallen,
aber nicht mehr von jener der übrigen Freien, so daß zu ver-
muten ist, daß man im Jahre 819 von dem allgemeinen Auf-
gebot keinen Gebrauch mehr gemacht habe, weil man sonst
wohl auch von nicht im Vasallitätsverhältnis stehenden Leuten
Bußen einzutreiben gehabt hätte. Aber auch hier wird, wie
schon Boretius (Beiträge S. 125) hervorhob, mit der Möglich-
keit zu rechnen sein, daß man eine ergänzende Bestimmung zu
dem Gesetz, die sich auf die Heerbannbußen der anderen Freien
bezog, etwa nur mündlich den Missi eingeschärft haben könnte.
Daß die Heerbannbuße von 60 Schilling für den Besitzer
einer Einzelhufe sehr drückend und vielleicht sogar unmöglich
gewesen wäre, wie S. 36 hervorgehoben wird, darf zugegeben
werden. Aber so kleine Besitzer wurden ja, soviel wir wissen,
zumeist gar nicht allein vom Aufgebot getroffen; sie erfreuten
sich im Falle des Ausrückens der Mithilfe von zwei oder drei
Genossen, und es ist wohl selbstverständlich, daß ihnen auch,
wenn sie den Auszug unterließen und deshalb straffällig wurden,
das Adjutorium irgendwie zugute kommen mußte; hatten sie
es in vollem Maße wirklich empfangen und waren doch daheim
geblieben^ so traf sie die Strafe nicht unberechtigt schwer;
waren die zu seiner Zahlung Verpflichteten schuldig geblieben.
328 W. Erben,
so mußten nun sie einen entsprechenden Teil der Buße zahlen.^)
Dadurch vermindern sich die Schwierigkeiten sehr bedeutend.
Daß tatsächlich die Strafe doch viele Freie hart getroffen und
wirtschaftlich zugrunde gerichtet hat, ist uns genügend bezeugt;
wir dürfen also nicht an der ernsten Absicht des Gesetzgebers
und der wirklichen Durchführung seiner Bestimmungen zweifeln.
An anderer Stelle (S. 10 ff.) werden von Delbrück die
erhaltenen Detailbestimmungen über partielles Aufgebot je
nach der Größe des Besitzes als für die Behörden selbst
wertlos hingestellt, weil es ,,für die Zentralregierung schlechter-
dings unmöglich*' gewesen wäre „eine zuverlässige Vorstellung
davon zu gewinnen, wie viel Männer und mit wie viel Besitz
in jedem Gau vorhanden seien*'. Das könnte aber doch nur für
die erstmalige Anwendung solcher Bestimmungen gelten; waren
sie schon wiederholt angewendet, vielleicht seit alters gebräuch-
lich, so war man am Hofe sehr wohl in der Lage, sich Ober-
schlag davon zu machen, wie stark das Aufgebot ausfallen
müsse, je nachdem man vier Hufen (wie es 808 geschah) oder
fünf Hufen (wie es für 807 bezeugt ist) oder irgendein anderes
Maß von Grundbesitz als Grundlage für die Stellung eines
Mannes festsetzte.
So bleibt von allem, was Delbrück gegen die wirkliche
Ausführung der Bauernaufgebote Karls anführt, nur dasjenige
bestehen, was er schon im 2. Bande seines Werkes vorbrachte:
die ungeheure Größe der Heere, welche nach seiner Meinung
auf diese Art zustande gekommen wären, die gewaltigen
Schwierigkeiten der Verpflegung, die sie verursacht hätten.
Allein die zu diesem Zwecke von Delbrück angestellten Be-
rechnungen sind zweifellos viel zu hoch gegriffen; während
er (2, 410) auf eine Quadratmeile 90 Höfe rechnet, die (nach
dem Maßstab von 807 gemessen) höchstens 30 — nach jenem
von 808 höchstens 22 — Krieger zu stellen gehabt hätten,
würden sich aus den Berechnungen, die Caro für die nord-
*) Ein Kapitulare von 805 (a. a. O. 125) zeigt, wie eine solche
Bußenverteilung auf Ärmere sich gestaltete; ich glaube, daß das
nicht Ausnahmsvergünstigungen waren, wie Boretius, Beiträge
S. 112 annahm, sondern daß analoge Aufteilung der Bußen auch
dort stattfand, wo das Gesetz kurzweg den Daheimgebliebenen
die Zahlung der ganzen 60 Schilling auferlegt.
Zur Geschichte des karolingischen Kriegswesens. 329
östliche Schweiz angestellt hat, etwa 5 bis 10 freie Grund-
besitzer für dasselbe Flächenmaß ergeben.^) Und auch die
so gewonnenen Zahlen wird man nicht ohne weiteres mit dem
Umfang des Reiches oder mit dem Flächeninhalt der Gebiete^
die uns als aufgeboten überliefert sind, zu multiplizieren
haben; zahllose Schwierigkeiten werden mit und ohne Willen
des Herrschers auch in den Zeiten bestgeordneter Verwaltung
dem vollen Erfolg des Aufgebots in den Weg getreten sein.
Schmilzt so die Zahl der Heere gegenüber den Größen, mit
welchen Delbrück das allgemeine Aufgebot ad absurdum zu
führen meinte, wesentlich zusammen, so wird bei der Mit-
nahme von Verpflegung doch auch der Handel, der dem Heere
Nahrung zugeführt haben kann, zu berücksichtigen sein. Nicht
bloß der Rhein, wo Delbrück selbst (2, 456) die Möglichkeit
des Bestehens von Magazinen zugibt und nur tatsächliche
Zeugnisse hierfür vermißt, auch die Donau, an der es noch
hundert Jahre nach Karl einen lebhaften Handel gab, kommt
hierfür in Betracht, und noch weniger kann es in alten Kern-
ländern des Römerreichs, wie in Italien oder Aquitanien, an
größeren, dem Heere zunutzen kommenden Stapelplätzen
gefehlt haben. Gerade von Karl d. Gr. sind uns so viele An-
*) Für den Argengau und den Nlbelgau, die zusammen eine
Fläche von etwa 24 Quadratmeilen umfassen dürften, berechnete
Caro, Beiträge zur älteren deutschen Wirtschafts- und Verfassungs-
geschichte S. 42 f. (D. Geschichtsbl. 5, 199 f.) nach dem Vor-
kommen der Zeugennamen für das Menschenalter nicht viel mehr
als 120 Freie, für den großen Thurgau (100 bis 120 Quadratmeilen)
mit Hilfe der freilich unsicheren Annahme einer fränkischen Ein-
führung der Hundertschaften ungefähr 1000 bis 1200 Freie. Caro
hat seine Ergebnisse von vornherein nicht als unanfechtbar hin-
gestellt und selbst auf gewisse Fehlerquellen hingewiesen; ich
kann daher den Vorwürfen, welche Rietschel in der Vierteljahr-
schrift f. Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 5, 351 erhebt, nicht zu-
stimmen. Solange der von Rietschel angeregte Versuch, von
den Reihengräbern zu einer Bevölkerungsstatistik zu gelangen,
nicht ausgeführt ist, wird Caros Untersuchung ihren Wert be-
halten, und gerade für die Frage nach der Zahl der freien Männer
bietet seine Methode besondere Vorteile. Die Beschaffenheit und
Oberlieferungsart der betreffenden Urkundengruppe wird dabei
allerdings sorgfältig abgewogen werden müssen.
330 W. Erben,
zeichen einer Förderung des Verkehrs bezeugt, daß es zu
seiner Zeit sicher öffentliche Einrichtungen und auch pri-
vate, von den großen Grundherren oder von eigentlichen
Händlern geleitete Unternehmungen gegeben haben wird,
welche im Bedarfsfall den Heeren Proviant auch an den
Grenzen des Reichs aufzunehmen gestatteten. Endlich er-
leichtern sich die von Delbrück so stark betonten Verpflegungs-
schwierigkeiten am allermeisten dadurch, daß wir uns die
Heere nicht wie Delbrück (vgl. 3, 15) aus anspruchsvollen
Gliedern eines bevorrechteten Standes, sondern zumeist aus
deutschen Bauern zusammengesetzt denken, die an einfache
Lebensführung gewöhnt waren.
Alle diese Erwägungen mögen in den Augen eines mili-
tärischen Fachmanns vielleicht nicht ausreichend sein, um die
Bedenken, die Delbrück gegen die Bauernheere Karls vor-
bringt, ganz zu beseitigen. Es ist für einen an den ver-
wickelten Mechanismus des Berufsheeres gewöhnten Beobachter
gewiß schwierig, ja vielleicht unmöglich, ein anschauliches
Bild davon zu gewinnen, wie mit dem einfachen Mittel des
Volksaufgebotes die enormen militärischen Leistungen, welche
die Reichsgründung Karls erforderte, geleistet worden sein
können ; ja selbst von einer dauernden Mitwirkung der bäuer-
lichen Kräfte neben anderen besser geeigneten läßt sich kaum
eine greifbare Vorstellung gewinnen. Es wird Delbrücks Ver-
dienst bleiben, diesen Widerspruch der Oberlieferung mit den
modernen Vorstellungen recht scharf beleuchtet zu haben:
aber es geht nicht an, um dieses Widerspruchs willen den
klaren Wortlaut der Quellen beiseite zu schieben, die an so
vielen Stellen, in mannigfaltiger Abstufung des Ausmaßes, das
Aufgebot aller Freien behandeln, die Strafen für Außeracht-
lassung des Gebotes normieren, von Mißbräuchen aller Art
sprechen, die sich hierbei ergaben.
Trotz jener Schwierigkeiten wäre es falsche Sachkritik,
wenn wir uns über den Wortlaut der Kapitularien hinweg-
setzen wollten. Von Delbrück sind, soviel ich sehe, zwei
Auswege angedeutet worden, auf denen man sich diesem Vor-
wurf entziehen könnte. Er meint (S. 12), ein bäuerliches Auf-
gebot, wie es die Gesetze Karls d. Gr. schildern, war „viel-
leicht noch möglich unter den ersten Merowingern, wo die
Zur Geschichte des karoÜngischen Kriegswesens. 331
Masse der Franken eben erst den Obergang aus dem kriege-
rischen Urzustand in das bäuerliche Leben und den Bauern-
charakter vollzog. Damals/ so sagt er, „mögen zuerst solche
Vorschriften über den Auszug erlassen worden sein und sich
mit dem wirklichen Leben auch gedeckt haben". Für die Zeit
Karls seien sie unmöglich: „ Alle die Wendungen,' so heißt es
S. 14, ,,die so bestimmt zu verlangen scheinen, daß einer der
Pflichtigen selbst ins Feld ziehe, sind als bloße Kanzleifloskeln
anzusehen, die sich durch die Generationen, vielleicht schon
durch die Jahrhunderte so hinschleppten. ' An anderen Stellen
(S. 27, 31) glaubt er eine „Kanzleiformel ohne jeden realen
Inhalt*', „ein bloßes Wortemachen'', „alte Kanzleischemata'
oder „nichts als eine versteinerte Kanzleifloskel' vor sich zu
haben. Es ist richtig, die Kanzleien des Mittelalters neigen
zur Wiederholung alter Formeln so sehr, daß in Urkunden
häufig veraltete, zur Zeit nicht mehr passende Rechtsausdrücke
und Bestimmungen sich forterben. Aber die Kapitularien sind
keine Urkunden, so oft auch Delbrück für sie unwissen-
schaftlicherweise diesen Ausdruck anwendet, und sie sind
wenigstens für die Zeit Karls, wie die gänzliche Abweichung
von den Formen der Diplome dartut, überhaupt nicht in der
Kanzlei verfaßt ; erst in späterer Zeit, namentlich bei den west-
fränkischen Karolingern, vollzieht sich zwischen Königsurkunden
und Kapitularien eine gewisse Annäherung in den Formen,
die uns berechtigt, der Kanzlei eine Mitwirkung an der Fassung
dieser Gesetze zuzumuten.^) Dadurch entfällt einerseits die
Möglichkeit, das in der Kanzlei übliche Nachschreiben alter
Formeln zur Erklärung der 'unter Karl erlassenen Aufgebots-
ordnungen heranzuziehen, anderseits verlieren aber auch die
Analogiefälle aus spätkarolingischen Kapitularien, auf die sich
Delbrück (S. 31) stützt, alle Beweiskraft für die ältere Zeit.
Mag es unter Karl d. Kahlen vorgekommen sein, daß Kanzlei-
beamte, welche an mechanische Behandlung der Vorlage von
den Urkunden her gewöhnt waren, wenn sie zur Abfassung
und Niederschrift der Kapitularien herangezogen wurden, über-
^) Vgl. Seeliger, Die Kapitularen der Karolinger S. 16 ff.; in
meiner einschlägigen Bemerkung, Urkundenlehre 1, 48 Anm. 1,
habe ich den von Seeliger festgestellten Unterschied zwischen den
früheren und den späteren Kapitularien leider außer acht gelassen.
332 W. Erben,
lebte Dinge mit in den Text der Gesetze aufnahmen, so liegt
doch für die Zeit Karls d. Gr., unter dem die Kapitularien in
anderer Weise entstanden, keine Berechtigung zu dergleichen
Annahmen vor. Die Mannigfaltigkeit der Bestimmungen und die
wiederholte Bezugnahme auf Ereignisse des betreffenden oder
des vorhergehenden Jahres bieten vielmehr deutliche Anzeichen
dafür, daß die Aufgebotsbestimmungen Karls d. Gr. zu seiner
eigenen Zeit ohne wörtliche Anlehnung an Vorlagen verfaßt sind.
Indes hat sich Delbrück noch einen anderen Ausweg offen
gehalten, der mit seiner Ansicht von dem Fortleben alter
Formeln in den Kapitularien gut zusammenzustimmen scheint.
Er meint (S. 8 f.), es sei nicht bloß »Zähigkeit der überlieferten
Rechtsformen '^ gewesen, welche die Wiederholung an sich
wertloser Bestimmungen über bäuerliches Aufgebot bewirkte,
«sondern auch ein positives, sehr starkes Motiv^, die Absicht,
den freien Germanen zur Steuerleistung heranzuziehen. ,,Die
Vorschriften der karolingischen Könige über die Gruppen-
bildung der freien Männer, .die immer einen von sich in den
Krieg schicken sollen, ist(!) daher wesentlich als eine maskierte
Steuerumlegung aufzufassen. '^ In der Mehrzahl der Fälle, so
denkt Delbrück, hätten es die drei Hufner, die etwa verpflichtet
waren^ einen aus ihrer Mitte auszurüsten und auszusenden,
vorgezogen, die Ausrüstung dem Grafen zu liefern, der sie
«dann einem seiner Vasallen zuwandte""; Delbrück läßt Aus-
nahmen zu für den Fall, daß etwa «zufällig einer unter ihnen
war, der Neigung hatte, in den Krieg zu ziehen"" (S. 14). «In
Wirklichkeit,"" so sagt er hier, «haben wir es in den Auf-
gebotskapitularien mit der Ausschreibung von Kriegssteuern
zu tun.* Der Unterschied seiner Auffassung von der bisher
geltenden, die ja auch eine schließliche Auflösung des Kriegs-
dienstes in Geldleistung annimmt, liegt, wie Delbrück S. 32
sagt, «in der früheren Datierung und in der Motivierung"".
Was die Motive der Umwandlung betrifft, so muß man Del-
brück Recht geben; sie lagen gewiß «nicht bloß in dem wirt-
schaftlichen Nichtleistenkönnen, sondern ebensosehr in der
kriegerischen Qualität*", in dem Streben, zu einem besser be-
waffneten und besser verpflegbaren Heere zu gelangen. ^) In
*) Die Vorteile, die sich bei der Verpflegung eines durch die
Grundherrschaften und nicht von den einzelnen Freien gebildeten
Zur Geschichte des karolingischen Kriegswesens. 333
bezug auf die frühere Datierung aber ist größere Vorsicht
geboten, als sie Delbrück anwendet; er meint, die Umwand-
lung wäre schon unter Karl d. Gr. «so gut wie vollendet" ge-
wesen, «nur eine alte Form fristete noch mühsam das Leben*.
Man muß zugeben, daß weder die Zahl der freien Bauern,
welche tatsächlich an den Feldzügen Karls teilnahmen, noch die
Rolle, die sie tatsächlich neben und unter den gleichzeitig
ausrückenden Vasallen spielten, genau zu erkennen ist; der
wirkliche Effekt des aMgemeinen Aufgebots mag schon unter
Karl stark hinter dem Wortlaut seiner Gesetze zurückgeblieben
sein. Aber von diesem Effekt gänzlich abzusehen oder anzu-
nehmen, daß der Gesetzgeber gar nicht das Ausrücken der
Bauern, sondern ihre Steuerleistung bezweckte, sind wir durch-
aus nicht berechtigt. Die Kapitularien sprechen ja nicht in
theoretischem Ton von der Heerpflicht, wie man erwarten
dürfte, wenn es sich eigentlich um Ausschreibung von Kriegs-
steuem handeln würde, sondern sie verlangen ausdrücklich,
daß der so und sovielte Mann sich ausrüste und in den Krieg
ziehe, ipse se praeparet et per se in hostem pergat\ sie ver-
langen, daß der Geeignetste von jeder Gruppe qui melius ex
ipsis potuerit ausrücke ; sie reden von der Bestrafung jener,
die gegen den vorjährigen Befehl super iUam ordinationem
quam de liberis et pauperioribus hominibus fieri iussimus zu
Hause geblieben und weder selbst ausgerückt seien noch
einen Standesgenossen unterstützt hätten. Dadurch ist die
Gewißheit, daß tatsächliches Ausrücken der Freien am Hofe
beabsichtigt war, gegeben. Vermißt man in den Kapitularien
noch manche Detailbestimmungen über die Art der Aus-
führung, über den Ort und Zeitpunkt der Heeresversammlung,
so wird sich das teils aus der Oberlieferungsart jener Quellen,
teils aber daraus erklären, daß hier die mündüchen Weisungen
der Königsboten sowie das Herkommen ergänzend eintraten.
Wir müssen es demnach, so schwer es sich mit modernen
Vorstellungen auch vereinbaren läßt, doch als sicher hin-
nehmen, daß Kari d. Gr. seine freien Bauern noch in den
späteren Jahren seiner Regierung wirklich aufbot, und wir
dürfen ihm nicht zumuten, daß er damit etwas praktisch Un-
Heeres ergaben, hat Kötzschke in der Hist. Vierteljahrschrift 2
(1899), 243 richtig betont.
Hiitoriicbe ZeiUcbrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 22
334 W. Erben,
durchführbares und Wertloses angestrebt habe. Das in Kriegs-
und Verwaltungssachen so erfahrene Urteil des Herrschers
und seines Hofes, das den Kapitularien zügrunde lag, wi^
alle Bedenken moderner Sachkritik reichlich auf.
Vermag ich demnach den Ansichten Delbrücks über das
karolingische Heerwesen, welche das erste Buch dieses Bandes
einnehmen, nicht beizupflichten, so will ich nicht verschweigen,
daß die weiteren Partien zu so starken Bedenken keinen An-
laß geben. Gewisse Seiten des mittelalterlichen Kriegswesens,
denen Delbrück von vorneherein mit geringer Teilnahme ent-
gegenkommt, so die militärischen Einrichtungen der Städte
und die Lehrschriften über den Krieg, sind wohl allzu dQrftig
behandelt^); aber diese Mängel werden durch Vorteile in
anderer Richtung ausgeglichen. Manche Kapitel, besonders
jene über Rittertum und Söldner im 3. Buche, wo ein schwer
zu disponierender Stoff vortrefflich behandelt ist, betrachte
ich als sehr wertvolle Bereicherungen unserer Literatur. Natür-
lich ist hier nicht alles neu, aber neben der Verwertung
fremden Wissensgutes hat Delbrück doch auch sehr viel
Eigenes beigesteuert. Die Grundgedanken über mittelalterliche
Kriegskunst stammen aus seinem eigenen, schon 1887 er-
schienenen Werk über die Perserkriege und Burgunderkriege.
Sehr viele Einzelheiten entnimmt er den Arbeiten seiner Ber-
liner Schüler, welche er seit bald zwei Jahrzehnten mit Fragen
mittelalterlicher Kriegsgeschichte beschäftigt und die besonders
in den Jahren 1905 bis 1907 eine ganze Reihe einschlägiger
Schriften zum Druck gebracht haben. 2) Delbrück tut diesen
*) Zu der S. 670 ff. nachgeholten „theoretischen'^ Literatur
sei bemerkt, daß die von Delbrück nicht erwähnte, durch die
Sempacher Schlacht angeregte ,,Lehr von den Streiten* des
Wiener Hochschullehrers Seffner, jetzt in Seemüllers Ausgabe,
Mon. Germ., Deutsche Chroniken 6, 224 ff. vorliegt ; im übrigen
sind alle diese Dinge zumeist besser als bei Delbrück in der
Geschichte der Kriegswissenschaften von Jahns zu finden.
•) Zu den in dieser Zeitschr. 95, 154 f. u. 531 ; 96, 356 u. 536 f.;
99, 197 u. 203 f.; 100, 669 besprochenen Dissertationen wären noch
Wodsak, Die Schlacht bei Kortryk 11. Juli 1302 (Berliner Dissert.
1905) und BaUhausen, Die Schlacht bei Bouvines 27. Juli 1214
(Jena 1907, nicht als Dissertation bezeichnet, aber wohl in diesen
Zur Geschichte des kafolingischen Kriegswesens. 335
Anf&ngerieistungen im allgemeinen wohl zu viel Ehre an, in-
dem er sie mit vieler Anerkennung zitiert und größtenteils als
«maßgebend* hinstellt; sie zeigen den Einfluß des Lehrers
ziemlich deutlich und haben ihre Themata wohl etwas ge-
fördert, aber zumeist nicht gelöst. Kann man das den ein-
zelnen Verfassern gewiß nicht zum Vorwurf machen, so er-
wächst für eine Geschichte der Kriegskunst, die sich auf solcher
Grundlage aufbaut, doch ein gewisser Nachteil. Aber in der
Hauptsache ist der regere Betrieb, den Delbrück auf diesem
Gebiet entfacht, eine erfreuliche Erscheinung. Für den Fort-
gang möchte ich mir erlauben, den Wunsch auszusprechen,
daß die Quellenuntersuchungen selbst energischer geführt
und daß das Terrain in jedem Falle genauer untersucht tf'ürde.
Es genügt bei Darstellung eines kriegerischen Unternehmens
nicht, die Quellen zu sammeln und das Urteil zu buchen,
welches über Entstehung und Wert jedes einzelnen Berichtes
in der Literatur schon zu finden ist, sondern die Eigentüm-
lichkeit der Fragestellung erfordert eine neue, selbständige
Bewertung; diese ist bei den genannten Dissertationen manch-
mal zu vermissen. Daß Delbrück das Studium des Terrains
vernachlässigt, ist eine alte Klage. Die Beschaffenheit der
dem dritten Bande beigegebenen Karten bestätigt sie leider
von neuem ; es sind nur neun rohe Skizzen, davon drei ohne
Angabe des Maßstabs, die Mehrzahl ohne jede Bezeichnung
der orographischen Verhältnisse, keine in einem solchen Maß
gezeichnet, daß man genauere Anschauung gewinnen würde. ^)
Delbrück ist allerdings der Meinung, daß die taktische Ver-
Kreis gehörig) nachzutragen. Ober einen Teil dieser Schüler-
arbeiten berichtet Baltzer in den Mitt. d. Instituts 28, 694; über
einige s. Haene, Perlbach und Holtzmann in der Deutschen Lite«
raturzeitung 1906, Nr. 17; 1907, Nr. 1; 1908, Nr. 15.
>) Zur Schlacht am Lechfeld ist S. 115 eine Karte beige-
druckt, die den Maßstab 1 : 500 000 trägt, in WirkKchkeit aber wohl
1 : 1350000 gezeichnet und wohl aus Hartlebens Volksatlas od. dgl.
abgeleitet ist; Karten in so kleinem Maße (ähnüche S. 455, 593,
633) hätten wohl ganz wegbleiben können; irgendeinen Altlas
wird doch jeder Leser zur Hand haben. Es käme auf Karten-
skizzen an, die wenigstens unseren Generalstabskarten entsprechen ;
dieser Erwartung ist aber nirgends wirklich entsprochen.
22»
336 W. Erben, Zur Geschichte des karolingischen Kriegswesens.
Wendung des Terrains für die Ritterheere in den Hintergrund
trete (S. 309), und er glaubt wohl deshalb, der örtlichen Be-^
schaflenheit des Schlachtfeldes im Mittelalter nicht dieselbe
Beachtung schenken zu müssen wie auf anderen Gebieten.^)
Es mag sein, daß er darin Recht hat, soweit es sich um seinen
besonderen Zweck, die Feststellung der Kampfweise, handelt;
aber der ganze Kreis dieser Studien verliert, wenn es ver-
säumt wird, die kriegerischen Vorgänge auf den Raum so
genau, als es angeht, zu projizieren. Mit der Möglichkeit»
aus den räumlichen Verhältnissen heraus zu genauerem Ver-^
ständnis der Quellen zu gelangen, werden auch jene Vorteile
preisgegeben, die aus der archäologischen Untersuchnng und
aus der historisch-geographischen Betrachtung der Ortlichkeit
gewonnen werden könnten. Es ist für das Mittelalter in dieser
Hinsicht bisher nur wenig geleistet worden, weit weniger ats
für die antike Zeit. Und doch ist nicht zu bezweifeln, dafi
eine Kombination archäologischer, historisch-geographischer
und kriegsgeschichtlicher Forschung auch hier lohnende
Früchte bringen wird, nicht bloß für die Kenntnis der Kriegs-
kunst, sondern auch für andere Wissenszweige. Der Krieg ist
keine isolierte Erscheinung des geschichtlichen Lebens, im
Mittelalter noch weniger als jemals; auch seine Erforschung
kann daher nicht von anderen Aufgaben und Fragen getrennt,
nicht von dem Boden losgelöst werden, auf dem er spielt;
sie wird sich um so fruchtbarer gestalten, je mehr der Forscher
geneigt ist, ernstlich auch an der Aufhellung anderer Arbeits-
gebiete mitzuwirken. Nicht bloß im ,, Rahmen der politischen
Geschichte", wie Delbrücks Titel ankündigt, sondern in engster
Verbindung mit den erfaßbaren Zweigen der staatlichen und
kulturellen Entwicklung sollte die Geschichte der Kriegskunst
betrieben und geschrieben werden.
') S. 359 lies statt Wasserburg (am Inn?) Wassenberg (a. d.
Roer); der falsche Name ist auch in das chronologische Ver-
zeichnis der Gefechte (S. 687 f.) und in das recht nachlässig ge-
arbeitete Sachregister übergegangen. — An Flüchtigkeiten fehlt
es freilich auch sonst nicht: S. 130 der Markraf Ernst „von Bayern*
soll doch heißen „von Österreich", S. 291 Herzog Johann »von
Neumark* richtig „von Neumarkt*, S. 384 wird Rudolf von Habs-
burg der spätere Kaiser* (I) genannt.
Eine Denkschrift des Grafen von FincUnstein etc. ^7
Eine Denkschrift des Grafen von Pinckenstein
„Über die Freiheiten der Ritterschaft'' (1811).
Veröffentlicht
von
Friedrich Meusel.
Erst seit kurzem hat die geschichtliche Forschung die
Bedeutung der Hardenbergschen Edikte von 1810/11 für die
Überwindung der ständischen Kastengliederung in der Mon-
archie Friedrichs d. Gr. voll erkannt. Sie haben auf dem Ge-
biete der Besteuerung das Werk fortgesetzt, welches durch
Steins Reformen von 1807/08 und Scharnhorsts Heeresreform
begonnen war. Die alte landständische Verfassung der Kur-
mark, Pommerns und Preußens, nach welcher nur durch
Vertrag der Regierung mit den Ständen den Provinzen
Lasten auferlegt werden durften, war durch den Großen Kur-
fürsten und Friedrich Wilhelm 1. zwar faktisch beschiHnkt,
aber rechtlich nie aufgehoben worden: indem nun durch
Hardenbergs Finanzedikt vom 27. Oktober 1810 die bisherige
Steuerfreiheit der meist adligen Rittergutsbesitzer (die bis
dahin nur ihre Lehnsverpflichtungen zu erfüllen hatten) be-
seitigt wurde, erlitt die privilegierte Stellung des ersten Standes
einen Schlag, wie ihn dieser seit den Zeiten des Großen
Kurfürsten nicht mehr erlitten hatte. Es ist kein Zufall, daß
Hardenberg die adligen Rittergutsbesitzer, die sich in ihren
Eingaben stets als , Stände* und , Ritterschaf f" bezeichneten,
nach der Berechtigung dieser Benennung fragte und selbst
nur «adlige Gutsbesitzer* nannte.
War es ein Wunder, daß sich der märkische, pommersche,
preußische und schlesische Adel — die Kurmärker voran —
gegen die Aufhebung seiner Privilegien wehrte? Wäre es nicht
ein Schwachheitssymptom gewesen, wenn diese alte Herrscher-
schicht die Reformen ohne Widerstand und Haß über sich
hätte ergehen lassen? Merkwürdige Wandlung 1 Einst, zu
Zeiten des Großen Kurfürsten, hatten die Märker geduldiger
als der Adel einer anderen Provinz das Joch des modernen
absoluten Staates auf ihren Nacken genommen; eben deshalb
waren die Rechte der märkischen Stände auf Selbstverwal-
338 • Friedrich Meusel,
tung im engeren Kreise verhältnismäßig am wenigsten ein-
geschränkt worden.^) Ja, unter Friedrich d. Gr. noch hatte
das kreisständische Leben, von ihm befördert, sich namentlich
in der Kurmark kräftig entfaltet. So ist es verständlich, daß
sich gerade hier der stärkste Widerstand gegen Hardenbergs
die letzten Reste ständischer Freiheit vernichtendes Vorgehen
erhob.
An der Spitze der altständischen Opposition, über die
wir kürzh'ch durch einen Schüler Max Lehmanns im einzelnen
sorgfältig, im Urteil wohl nicht allenthalben zutreffend unter-
richtet sind^), stand bekanntlich der damalige Major, spätere
General Ludwig von der Marwitz, der konsequenteste Ver-
fechter der ständisch-feudalen Doktrin. Neben ihm ist als ein
Vorkämpfer der alten märkischen Stände der Reichsgraf Karl
V, Finckenstein zu nennen, der Sohn des bekannten Staats-
ministers Friedrichs d. Gr., derselbe, der einst an der Spitze
des KUstriner Gerichts gestanden hatte, welches dem Müller
Arnold durchaus Recht geben sollte, und der, da er nach
seiner Rechtsüberzeugung entschied, zusammen mit dem Groß-
kanzler Fürst aus dem Staatsdienst entlassen worden war (1 779).')
Zwar hatte der Nachfolger des großen Königs schon bald
nach seinem Regierungsantritt eine Revision des Prozesses
vornehmen lassen; die seinerzeit mit Festungshaft bestraften
Richter wurden freigesprochen, ihr Urteil bestätigt; aber der
einstige Regierungspräsident Graf Finckenstein kehrte nicht
^) Vgl. über die Kurmärkischen Stände um das Jahr 1740
Otto Hintze, Behördenorganisation und Allgemeine Verwaltung
in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs IL, Acta Boruasica
VI, 1, S. 347—361. In Pommern ebenda S. 390 ff., in Ostpreußen
8. 316 f.
*) Wilhelm Steffens, Hardenberg und die ständische Oppo-
sition 1810/11 (Veröffentlichungen des Vereins für Gesch. d. Mark
Brandenburg), Leipzig, Duncker ^ Humblot. 1907. Vgl. auch
meine Einleitung zu Marwitz' Memoiren (Fr. Aug. L. v. d. M., ein
märkischer Edelmann im Zeltalter der Befreiungskriege Bd. 1,
1908) S. XXXV ff.
') Vgl. über Finckenstein : Schwarze in der Allg. Dtsch. Blogr«
VII, 21 f. und meine Mitteilung in den Forsch, z. Brand.-Preufl.
Gesch. XIX, 2, S. 204 ff. Ober den Müller Arnoldschen Prozeß.:
Koser, Friedrich d. Gr. IP, S. 542 ff., 687 f.
Eine Denkschrift des Grafen von Finclcenstein etc. 339
wieder in den Staatsdienst zurück, sondern lebte landwirt-
schaftlicher Beschäftigung und literarischen Neigungen auf
seinen Gütern.
Erst in der Reformzeitf im Kampfe für das alte Recht,
scheint er mit voller Leidenschaft an der inneren Politik wieder
Anteil genommen zu haben. Jetzt war die Feder des ge-
schulten Juristen, der einst in Halle studiert und sich an den
Schriften von PUtter weitergebildet hatte, seinen Mitständen
von Wert; einige der prägnantesten und durchdachtesten
Denkschriften im Kampfe gegen Hardenberg stammen von
ihm. Zwar gehörte Graf Finckenstein weder den von Harden-
berg zusammenberufenen yConvocirten*', jenen Notablen an,
die in Berlin zur Beratung der neuen Edikte tagten, noch
war er Mitglied der «Versammlung der Deputierten der kur-
märkischen Stände*, jener Vertretung der alten Provinziaf-
stände, die daneben zusammengetreten war, um gegen die
Reformen des Staatskanzlers Protest einzulegen^); er hat aber
trotzdem durch seine Eingaben und seine bei den kreisstän-
dischen Beratungen erworbene Erfahrung in diesen Kämpfen
— zumal bei der berühmten Immedialeingabe der Kreisstände
von Lebus und Beeskow-Storkow an den König — eine Rolle
gespielt.
Auch der folgende, von Finckenstein verfaßte Aufsatz:
Ȇber die Freiheiten der Ritterschaff", dem Marwitz
einige Bemerkungen und Erläuterungen hinzugefügt hat, ist
an die Deputierten der kurmärkischen Stände gerichtet 2) und
kurz vor ihrem Zusammentritt (am 18. Januar 1811) nieder-
geschrieben. Zwar trägt die Abhandlung einige Spuren rascher
Abfassung an sich, zeigt aber die Anschauungen des fron-
dierenden Adels in dem letzten Kampfe gegen die Staats-
einh^it und Rechtsgleichheit der Monarchie wie in einem
Brennpunkt zusammengefaßt, so daß ihr Abdruck im Wortlaut
mit einigen Erläuterungen gerechtfertigt erscheint.
>) Vgl. über sie Steffens a. a. O. S. 41 ff., 76 ff.
*) Eine Abschrift liegt im Stand. Archiv der Mark Bjanden-
burg (ßerUn; B. 1, Nr. 104). Sie wurde der Versammlung durch
Marwitz eingereicht. Das mir vorliegende, von Finckenstein
unterzeichnete Original im Marwitzscben Famüienarchiv, Landes-
angelegenheiten VI, Nr. 6, vol. 111.
340
Friedrich Meusel,
Gesetz
yDie Freiheiten der Ritterschaft sind
nichts anderes, als der Inbegriff aller ihrer
Gerechtsame und Vorzüge, so benannt, weil
sie aus ihrer uralten Eigenschaft eines freien
Deutschen herrühren. Diese uneinge-
schränkte Freiheit hat in der Folge in den
einzelnen Deutschen Ländern mannigfaltige
Einschiünkungen und auch allgemeine Be-
stätigungen durch Vertrags-Gesetze mit den
Majori "v^n^deT Landesfürsten erhalten, gründet sich aber
Marwitz: nicht auf ein geschriebenes Gesetz, sondern,
X iit, aU irgend da sic älter X als ein jedes solches ist, auf
_ **"*• ^^" ^^^•*" das ehrwürdige, jetzt von einigen Schwindel-
köpfen verschrieene, ungeschriebene [7 das
Herkommen.
Es ist daher unmöglich, die Freiheiten
des Deutschen Adels überhaupt vollständig
zu spezifizieren und leichter (Ihnen) die
Einschränkungen 0 in Rücksicht auf den
Brandenburgischen Adel als die Freihei-
ten <|) mit Gesetzes-Stellen zu belegen. Was in
diesem letzten Stück fehlet, läßt sich nur aus
dem allgemeinen Begriff deduciren. [Wenn
Sie einen Blick auf den Titl. 9 des 2««" Thls.
des Allg. Landrechts^) werfen und gegen
die Ständischen Monita halten, so wer-
den Sie sehen, wie mangelhaft die Materie
vom Adel dort bearbeitet ist. Der Herr
Land-Syndikus in Berlin 2) wird Ihnen diese
Monita mittheilen und überhaupt am besten
das ergänzen können, was in der folgenden
Ausführung aus Mangel an Hülfsbüchem und
an Zeit fehlen wird.]
O der Freiheit
^ seibat
^) «Von den Pflichten und Rechten des Adelstandes.* AUg.
Landrecht für die Preußischen Staaten, Neue Ausg. (1804) Bd. 4,
8. a— 14.
•) Fritze. Er führte das Protokoll bei der Deputierten-Ver-
sammlung von 1811.
Eine Denkschrift des Grafen von Finckenstein etc. 341
I.
a. Die Freiheit des Märkischen Adels von
Persönlichen Steuern nnd Lasten gilt also
vermöge des Herkommens mit einziger
Ausnahme der gesetzlichen Einschränkungen
durch Landes-Verträge, nicht Edicte^),
da dergleichen laut
Landtags-Rezesses von 1653 in fine')
denenselben zuwiderlaufend nicht publiciret
werden sollen.
b. Die Freiheit der Rittergüter von Real-
steuern und Lasten beruhet auf die alte
Lehnsverfassung mit einziger Ausnahme
der in den Lehnbriefen aufgelegten oder
nach der Provinzial-Observanz herge-
brachten Lehn-Dienste. Durch Vertrag sind
aber diese Lehndienste in einen jährlichen
Canon von 40 Reichsthalern pro Lehn-Pferd
verwandelt.
Lehns- Assecuration von 1717.')
c. Das Persönliche Recht des Adels zum
Eintritt in die Hoch-Stifter und den Jo-
hanniter-Orden beruht auf das alte Her-
kommen und ist sogar in
Titl. 9. 2*cn Theils des AUg. Landrechts § 22
anerkannt.
d. Das vorzügliche Recht endlich der Land -
Standschaft ist eine Folge der ursprüng-
lichen Verfassung aller deutschen Völker-
*) Wie sie Hardenberg erließ.
*) Der Rezeß vom 26. Juli 1653 ist abgedruckt bei Mylius,
Corpus Constitutionum Marchicarum VI, 1 — 3, S. 425 ff.
*) Vgl. über den Abschluß der Lehnsassekuration Ranke,
Zwölf Bücher Preuß. Gesch. III, 153—159. Die Assekurationsakte
vom 30. Juni 1717 ist gedruckt bei Mylius, Corpus Constitutionum
Marchicarum 11, 5, Sp. 89 ff. (Nr. LXII). Vgl. Acta Borussica, Be-
hördenorganisation 11, S. 466—4%. V. Löwe, Die AUodifikation
der Lehen unter Friedrich Wilhelm 1., Forsch, z. Brand.-Preuß.
Gesch. XI, 2, S. 41—74.
342
Friedrich Meusel,
f^ Auch in den Hul-
dlgongtassecimtioiien
von 1786 und 1798
verbis: Versprechen
bei Unserm Ktfnig-
lichen Worte, daß Wir
auf die von
ihnen (den Stünden)
bei Uns anzubringen-
den Landetbeschwer-
den und Desideria
allergnldigst Rück-
sicht nehmen und
Uns darüber derge-
stalt erkllren wol-
len, dafl männigUch
Unsere Landesväter-
liche, für UnsereChur-
lande hegende Gnade
zu erkennen, und in
der That zu verspüh-
ren haben soU^ etc^)
T NB. Dieser heißt,
daß die Regierung
die schrecklicfaie Ver-
fügung, daß wegen
Gerechtsame etc.
gegen die Edlcte kein
Gehör bei den Ge-
richtshöfen verstattet
werden soll, zurück-
nehmen muß, weil im
Gegentheil gegen den
Inhalt der Landtags*
Recesse keine Edicte
publicirt werden sol-
len.
Schäften und jener ursprünglichen Freiheit
Vermöge derselben konnte kein Anderer den
freien Deutschen, sondern nur Er sich selbst
und in Seiner Person seine Knechte, nach-
mals Unterthanen, besteuern. Ebenso wurden
die Fragen von Bündnissen, von Krieg und
Frieden, von Gesetzen, nur mit seiner Zu-
ziehung entschieden. Das Herkommen in
einer steten Folge von Landtags - Recessen
hat dieses Recht bestätigt, ja es ist sogar
in dem Landtags-Receß von 1653 Artikel 14
ausdrücklich versprochen, daß
der Landesherr in wichtigen Sachen, daran
des Landes Gedeihen oder Verderb gelegen,
ohne der Stände Vorwissen und Rath nichts
vornehmen, sich auch in keine Verbündnisse
etc. einlassen wolle, p
und regelmäßig ist in Rücksicht auf die Ge-
setzgebung in eben diesem Rezeß
Articulo 24 und 46
bestimmt anerkannt, daß die Stände Gesetzes-
Vorschläge zu thun berechtigt sind.
Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht
umhin, Ihnen die Nachlesung und Erwägung
dieser Articul mit Rücksicht auf den No. 6
unserer Punkte^)^ zu empfehlen, damit
unter Ihren Vorschlägen auch der sich finde :
daß eine schleunigere und unpartheiischere
Administration der Justiz eingeschärfet, und
nicht durch eine in den Gesetzen nicht
gegründete Billigkeit das Recht gebeuget,
am wenigsten aber ein Stand gegen dem
anderen begünstigt oder zurUckgesc^tzet
werde, wie es jetzt sichtlich mit Bauern
und Edelmann geschiehet.
') Die Assekurationsakte von 1798 ist abgedruckt in meiner
Neuausgabe von der Marwitz' Memoiren Bd. 1, S. 131 f.
') Bezieht sich auf die „Punkte worüber man einig ist'', einen
Aufsatz des Grafen Finckenstein vom Dezember 1810.
Eine Denkschrift des Grafen von Finckenstein etc. 343
IL
Gegen diese Vorrechte des Adels kommt
nun seine Ausschließung von gewissen
Rechten in Betrachtung.
a. Diese Rechte sind nun erstlich das Recht,
eigentlich sogenannte bürgerliche Gewerbe,
Kaufmannschaft etc. zu treiben. Dieses hielt
der Deutsche Edelmann unter seiner Würde,
erst das
Allgemeine Landrecht Theil 2 Titel 9
§ 76 und l
hat den Adel unter gewissen Einschränkungen
dazu berechtigt.^)
b. Zweitens: noch weniger konnte der
Edelmann unterthäniger Bauer werden wollen,
und er ist auch daher nach dem
Allgemeinen Landrecht loco citato § 73
in der Regel nicht Bäuerliche Nahrungen
zu erwerben befugt. 2)
Drittens hat König. Friedrich Wilhelm I.
als die Zeitpachtungen der Domainen
von ihm eingeführt wurden, den Edelmann
ganz davon ausgeschlossen, welches dem
Landesherrn als Verpächter betrachtet wohl
freistehn mußte.
Diese Ausschließungen , besonders die
letzte, haben den Märkischen Adel freilich
gegen den Bürgerstand in Rücksicht auf
Reichtum zurückgesetzt; sie sind aber doch
0 § 76, 77 und 79 lauten: «Adliche sollen in der Regel keine
bürgerliche Nahrung und Gewerbe treiben.'' «Wo die Handlung
im Großen an keine Gilde gebunden ist, kann auch ein Adlicher
dergleichen Gewerbe unternehmen.'' „In geschlossene Kaufmanns-
innungen soll, der Regel nach, kein Adücher ohne besondere
Landesherrliche Erlaubniß aufgenommen werden."
*) A. L. R. II, 9, § 73 lautet: „Nur unter ausdrücklicher Ge-
nehmigung der Landes-Polizeibehörde , können Personen , vom
Adel Rustikalgründe als eigne für sich bestehende Güter erwerben."
Vgl auch § 74—75 und A. L. R. II, 7, § 14—16.
344 Friedrich Meusel,
für seine Existenz von den glücklichsten
Folgen gewesen. Denn sie haben dazu ge-
dient, ihn von den anderen Ständen abge-
sondert zu halten, und er hat, wie der gegen-
wärtige Augenblick beweiset, mit dem alten
Geiste noch eine gewisse Unabhängigkeit
behauptet, die, wenn viele seiner Glieder
Domänen-Pächter wären, nicht Statt finden
würde.
III.
Nunmehr sind die Einschränkungen
der Freiheiten des Adels aufzuzählen, sie
sind, so viel mir bewußt, nur folgende:
1. in Rücksicht auf Persönliche Steuer-
freiheit, die Zollpflichtigkeit in Ab-
sicht des Kornes bei der Ausfuhr in
fremde Lande, wie sie
Landtags-Receß 1653 articel 52
bestimmt ist; die Erlegung der Bier- und
Branntwein-Ziese an die Landschaft,
wo zum Krug-Verlag und Verkauf diese
Gewerbe getrieben werden.
2. in Rücksicht auf Real-Steuerfreiheit der
einzige Lehns-Canon, und der Giebel-
schoß an die Landschaft; denn die Real-
Lasten wüster Hufen, die der Edelmann
unterm Fuß hat, können hierher nicht ge-
rechnet werden, und eben so wenig kann
die Verpflichtung, den Impost und die
Accise von fremden Waren zu erlegen,
zugegeben werden, da diese dem Adel
nur abgezwungen werden, und er stets
dagegen reclamiret hat, und namentlich im
Jahr 1798 oder 99 1) von ihm bei der Land-
schaft dagegen förmlich protestiret wor-
den ist.
*) Die Akzisefreiheit des Adels in den Städten war 1799 auf-
gehoben worden. Vgl. Hintze, Histor. Zeitschr. 76, 426 ff. (über
Finckensteins AnteU an der Opposition S. 427 Anm. 5, 428 Anm. 4).
Eine Denkschrift des Grafen von Finckenstein etc. 345
IV.
In allen übrigen Stücken, sofern nicht
hier Einiges mir in der Eile entwischet ist,
bestehen die Freiheiten des Adels als Recht
noch in ihrem ganzen Umfange und haben
die ausdrücklichen Bestätigungen der
Landesherm für sich. Der letzten des jetzi-
gen Königs vom Jahre 1798^) nicht zu ge-
denken, finden sie sich in allen Landtags-
Recessen und Reversen, namentlich in
dem Landtags-Recesse von 1653 introitu
in fine
mit den Worten:
„gereden demnach und geloben — Unseren
getreuen Landständen — bei Ihren Privi-
legien, Freiheiten, wohlhergebrachten Ge-
rechtigkeiten, Besitz, Gewerbe und
Possession ungehindert — zulassen, sie
auch insonderheit bei den alten Kurfürst-
lichen Reversen — zu schützen etc.*
ferner in fine
„Es sollen auch die vorigen Landes-Re-
verse etc. in ihrem vigore verbleiben etc.*
endlich articel 19
soll über die Landes-Reverse in judicando
und sententionando festiglich gehalten —
und darnach allerdings gesprochen und
erkannt werden etc.
A. Die Real-Steuerfreiheit der Ritter-
güter findet ihre Bestätigung besonders in
der Lehns- Assecuration vom 30*«" Juny 1717
§ 3. 4. 6 und 7,
und meine Mitteilung: „Über die Aufhebung der Akzisefreiheit
des Adels in den Städten**, die in einem der nächsten Hefte der
Forsch, z. Brand.-Preuß. Gesch. veröffentlicht werden soll.
*) Die bei der Huldigung gegebene Akte, vgl. oben S. 342
Anm. 1.
346 Friedrich Meusel,
worin besonders merkwürdig ist, daß der
Lehns-Canon
a. als ein purum surrogatum der Ritter-
pferde und geleisteten Lehns-onerum
consideriret werden sollen;
b. derselbe niemal und zu ewigen Zeiten
nicht erhöht werden soll;
c. durch Aufhebung des Nexus feudalis inter
Dominum et Vasallum] die Qualität der
Ritterfreien Güter nicht alteriret und selbige
von allen oneribus und Auflagen, sie mögen
Namen haben wie sie wollen, erdacht
sein oder annoch erfunden werden,
künftig überall befreiet bleiben sollen;
d. allen Freiheiten etc., so der Ritterschaft in
den Landtags-Recessen, vornehmlich aber
dem von 1653, soweit er nicht der Lehns-
Vererbung entgegen ist, nicht das geringste
präjudiciret werden soll.
B. Die Persönlichen Freiheiten werden
schon hierdurch, noch viel bestimmter aber
durch
die Resolution vom 24*«" Februar 1717 § 7
bestätigt mit den Worten;
«Also versichern auch Seine Königliche
Majestät dero Ritterschaft etc. — daß sie so-
wohl wegen Ihrer Güter als Personen bei
Ihren Vorrechten, Prärogativen und Immuni-
täten, wie Sie dieselben von Seiner König-
lichen Majestät und dero Vorfahren er-
langt, auch hergebracht und genos-
sen, ungekränket gelassen, geschützet und
mainteniret werden sollen.*
Jedes Vorrecht und jede Immunität, welche
die Ritterschaft also im Jahr 1717 noch be-
sessen und genossen (§ 7 allegatus, und
Landtags-Rezeß von 1653 introitu in fine
verbo Besitz, Possession:) jedes Ge-
Eine Denkschrift des Grafen von Finckenstein etc. 347
werbe (ibid. i. c.) welches Sie damals frei
ausgeübt, ist also auch jetzt noch Ihr un-
verletzbares Recht.
Hiernach wird es nicht schwer sein, die
Rechtmäßigkeit der neuen Edicte und Auf-
lagen zu beurtheilen.
Formaliter werden sie alle solange un-
rechtmäßig bleiben, bis die Stände, gemäß
dem
Artikel 14 des Landtags-Recesses von 1653
und in fine
dabei zugezogen werden;
Materialiter aber sind unrechtmäßig:
1. in Rücksicht auf die Real-Steuerfrei-
heit, die Grundsteuer, die Einquartie-
rungs-Pflichtigkeit, nach § 3 der Lehns-
Assekuration ;
2. in Rücksicht auf die Personal-Steuer-
freiheit,
a. die Lux US- St euer auf den Rittersitzen;
b. die Consumtions-Steuer für den Be-
sitzer Ritterfreier Güter, und seinen ganzen
Haushalt und Dienerschaft;
c. die Gewerbe-Steuer, insofern das Ge-
werbe nicht ein solches ist, welches nach
dem obigen dem Adel verwehrt war;
d. die Vorspannpflichtigkeit, und auch
in Rücksicht auf die wüsten Hufen;
denn alle diese Freiheiten hat die Ritter-
schaft vor anno 1717 genossen und von da
an bis jetzt, bis auf einige Eingriffe, welche
keine Rechtsgültigkeit haben erlangen kön-
nen, behauptet. In Ansehung jedes Punktes
ist folgendes besonders zu bemerken :
ad a. Der Haushalt des Rittergutsbesitzers
wird gegen den vorigen Zustand belästigt,
wenn seine Dienerschaft, oder Er für sie,
eine Steuer bezahlen solL
348 Friedrich Meusd,
ad b. Gilt das gleiche, wenn herrschaftliche
Deputanten^) z. B. ihr Mahlgut versteuern
sollen. Ebenso
ad c. wenn ein herrschaftlicher Wirtschaf-
ter, oder Förster eine Gewerbesteuer ent-
richten soll.
Hauptsächlich aber ist wegen der länd-
lichen Gewerbe als z. B. Brauerei, Wein-
pressen, Ziegelbrennen, Theerschwälen und
wie alle diejenigen heißen mögen, mittelst
welcher irgend ein ländliches Product des
Bodens veredelt wird oder werden kann, zu
bemerken, daß dergleichen von jeher auf den
Rittergütern frei getrieben worden sind, und
also unter dem Ausdruck Gewerbe in dem
Landtags-Receß von 1653 introitu in fine be-
griffen zu sein geachtet werden müssen. Es
findet sich in den Monitis zum Allge-
meinen Landrecht, wo Ich nicht irre, ad
Titel 8 des Theil 2, ein umständliches Gut-
achten über die der Märkischen Ritterschaft
zukommende ländliche Fabrication, welche
der Herr Landschafts-Syndicus nachweisen
kann.
ad d. Muß behauptet werden, daß der
X wire der Vorspann Vorspann nicht eine Real-, X sondern eine
eine Real-Loist, »o „ , , ^ . i l j «x ot
maßten Schatten- Personal-Last sei, welche dem mit Pfer-
""aWe^^Mk^^^ilid"" ^^" bespannten Unterthan aufgelegt wor-
Schmiede, femer Och- den, und davon die Herrschaft, da sie auf
lÄ'SÄ den wüsten Hufen ein besonderes Gespann
Büdner, die aus zer- hält, auch bis auf diesen Tag frei geblieben,
8Undcn"*8ind,^°am:h ""^ namentlich auch in anno 1717 frei ge-
zum Vorspann heran- weSCn ist.
gezogen worden sein, .x ««• c
welches doch nicht 3. Unrecht mäDig ferner
ist. (▼. M.) jg^ jjjg Einziehung der geistlichen Stif-
*) d. h. solche, die ein Deputat (in Getreide, Kartoffeln etc.)
von der Herrschaft bekommen.
*) Ober die Bezeichnung „Schattenhüfner" vgl. Isaacsohn,
Geschichte des preußischen Beamtentums 11, 187 Anm. 2.
Eine Denkschrift des Grafen von Finckenstein etc. 349
tungen^) und ebenso was irgend die Frei-
heit des Rittergutsbesitzers in Rücksicht auf
Aufhebung der Dienste und des Laß-
Besitztumes der Höfe einschränken würde,
weil dieses alles wohlhergebrachte Gerechtsame
des Adels sind, und das Recht zum Eintritt
I nicht weniger in die Stifter und den Johanniter-Orden ^
jedes stiftsmäßigen Edelmannes Eigentum
zu sein geachtet werden muß, als das Ober-
L als ein Eigenthum eigentum des Laßhofes und der Hofedienst \2
des Rittergutsbesitzers, folglich jenes Recht
so wenig dem ersten vereitelt, aJs die Frei-
heit über dieses zu schalten, dem letzteren
beschränket werden kann.
4. Endlich ist die Aufhebung einer be-
sonderen Kur- und Neumärkischen Ständi-
schen Verfassung, so wie sie an und für
sich schon ein höchst bedenkliches und ge-
fährliches Unternehmen sein würde, so als
offenbare Verletzung der Rechte der Ritter-
schaft, ohne Ihre und Ihrer Mitstände freie
Einwilligung nach dem obigen sichtlich un-
rechtmäßig.
Madlitz, den 14^en Januar 1811.
C. Reichsgraf v. Finkenstein.''
*) Durch das « Edikt iiber die Einziehung sämmtlicher geist-
licher Güter in der Monarchie* vom 30. Oktober 1810, Preuß»
Gesetzsammlung 1810, S. 32.
Historische Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 23
Literaturbericht
G» de Smnctis, Storia dei Romani, la conquista del primato in
Italia. 2 Bde. (Biblioteca di scienze moderne Nr. 32, 33.)
Turin, Fratelli Bocca. 1907. 458 u. 575 S. 24 Lire.
Die beherrschende Stellung, die Mommsens römische
Geschichte immer noch einnimmt, bewirkte es, daß in den
letzten Dezennien zwar mehrere darstellende Werke über
griechische Geschichte erschienen sind, dagegen in der
deutschen Literatur z. B., von B. Nieses kurzem Abriß ab-
gesehen, kein Versuch mehr unternommen wurde, die Re-
sultate der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet
der Geschichte Roms zusammenfassend vorzulegen.
Das Buch von G. de Sanctis, einem Schüler J. Belochs,
der sich schon durch eine Anzahl tüchtiger Monographien
bekannt gemacht hat, füllt daher eine Lücke, die auch in
der deutschen wissenschaftlichen Literatur sich bemerklich
macht, — wie gleich gesagt werden soll — in vortrefflicher
Weise. Den Anstoß zu seiner Arbeit gab dem Vf. der Zu-
stand der Studien über die Vergangenheit Roms im heutigen
Italien; er will ebensowohl gegen den blinden Traditionalis-
mus, wie gegen die verblendete Neigung, welche die ganze
Überlieferung negiert, Front machen und zeigen, daß eine
gesunde wissenschaftliche Kritik auch aus der arg entstellten
Tradition über die Geschichte Roms vor den punischen
Kriegen positive Erkenntnisse zu gewinnen vermag, er will
ferner für die geschichtliche Erkenntnis nutzbar machen, was
die prähistorische, archäologische, numismatische und sprach-
geschichtliche Forschung der letzten Jahrzehnte an neuen
Alte Geschichte. 351
Materialien erschlossen hat. So gibt sich sein Werk nicht
nur durch die Widmung an J. Beloch als ein Denkmal der
scuola di Roma,
Damit ist noch eine weitere rühmenswerte Eigenschaft
gekennzeichnet: Das Buch ruht auf einer vollkommenen
Kenntnis und vollem Verständnis für alles, was die deutsche
Wissenschaft auf dem Gebiet römischer Geschichte geleistet
hat. Damit verbindet der Vf. eine ebenso eingehende, in
deutschen Publikationen öfter mangelnde Verwertung der
weitschichtigen italienischen Spezialliteratur, die den Ab-
schnitten über die Vorgeschichte Italiens (I, c. 2 ff.) und der
Erörterung verschiedener topographischer Fragen in den
späteren Abschnitten zugute gekommen ist.
In Italien ist heute die Prähistorie Trumpf, und staunens-
wert groß ist die Zahl der Funde aus dieser Zeit, die überall
zur Erweiterung der Museen drängt; bei de S. liegt nun zum
erstenmal ein Versuch vor, die Nachrichten über die ältesten
Völker und Völkerverschiebungen Italiens mit den piühistori-
schen Funden zu einem Gesamtbilde zusammenzufassen, für
das ihm die Fundtatsachen die Umrisse und Grundlage
liefern. Das prähistorische Schema bildet den Ausgangspunkt,
und in dieses werden die Nachrichten über die Ethnographie
des alten Italiens hineingearbeitet; späterhin werden die ar-
chäologischen Funde auch zur Datierung der griechischen
Niederlassungen auf Sizilien herangezogen. Die Bewohner
der Terremare ebenso wie die Etrusker betrachtet der Vf.
als eine nichtarische Bevölkerung; die übrigen Völker, die
in historischer Zeit Italien bewohnen, treten mit der Bronze
gleichzeitig auf, die Bronzekultur wiederum ist teils auf dem
Seeweg aus dem Ostbecken des Mittelmeeres, teils auf dem
Landweg über die Lombardei in Italien bekannt geworden.
Phönizier haben auf Sizilien vor den Griechen, wie die Ar-^
chäologie lehrt, überhaupt nicht gesessen, Thukydides ist dar-
über falsch unterrichtet; die Phönizier beschränken sich viel-
mehr deshalb auf Westsizilien, weil die übrigen Küsten schon
in den Händen der Griechen waren.
In der Einschätzung der literarischen Tradition, deren
zusammenfassender Behandlung das erste Kapitel gewidmet
ist, nimmt de S. insofern einen besonderen Standpunkt ein,
23*
352 LHenturbericht
als er der epischen Überlieferung der Römer einen stärkeren
Einfluß zuerkennt Dieser Standpunkt kommt naturgemäfi
auch in der Kritik der Tradition zum Ausdruck: unter den
verschiedenen Versionen gilt dem VL, sei es als die ursprung-
liche, ja häufig sogar geradezu, in ihrer Grundlage wenigstens,
als die historische diejenige, welche Zöge volkstümlicher
Epik aufweist Dabei ist de S. meines Erachtens nicht immer
vor dem Fehlgriff bewahrt geblieben, was in sich geschlossen
und poetisch wirksam ist, deshalb auch schon für alt zu hal-
ten (vgL z. B. 11, p. 173).
Ich hebe nun, der Anordnung der Kapitel folgend, kurz
hervor, zu welchen Ergebnissen de S. in einer Anzahl be-
sonders häufig erörterter Streitfragen gekommen ist Die
als Septimontium vereinigten Gemeinden sind ebenso eine
Bildung für sich, wie die palatinische Stadt, die nach etrus-
kischem Vorbild zur Stadt gestaltet ist und ihren Namen
von dem Flusse erhielt, wie die Bezeichnung porta Romana
lehrt Den Ursprung der Plebs sieht der Vf., wie E. Meyer,
vornehmlich in wirtschaftlichen Verhältnissen, und wie dieser
betont er, daß der Staat in Rom älter ist als die Kurien und
diese wieder älter sind als die Gentes. Nicht durch eine
Revolution, sondern durch allmählichen Verfall ist in Rom
das Königtum beseitigt worden. Ursprünglich gab es drei
Prätoren, von denen zwei — sie heißen später Konsuln —
die beiden Legionen befehligen, während dem Dritten die
Rechtspflege zufällt, er tritt dadurch im Ansehen hinter den
Konsuln zurück; es ist daher ganz unglaubhaft, daß 366 die
Prätur als neues Amt geschaffen wurde; diese Dreizahl der
Prätoren hängt mit der der Tribus zusammen. Die Diktatur
ist eine Nachahmung der gleichnamigen Institution im latini-
schen Bund. Den etruskischen Einfluß auf Rom schätzt de S.
geringer ein, als jetzt zumeist geschieht, und er verhält sich
daher auch gegen W. Schulzes auf die Namen gestützte
Nachweise ziemlich skeptisch. Die Tribusversammlung ist
älter als die Einrichtung des Tribunats, das auch nicht im
Wege eines Vertrages zwischen Patriziern und Plebejern ge-
schaffen wurde. Die Schlacht an der Allia setzt der Vf. mit
den älteren Forschern am linken Tiberufer an, die servianische
Klasseneinteilung nebst der damit zusammenhängenden Heeres-
Alte Geschichte. 353
reform verlegt er in die Zeit nach der gallischen Katastrophe.
In den neuen comitia centuriata gaben aber die kleinen
Grundbesitzer und nicht die Patrizier durch ihre Zahl den
Ausschlag; die Reform nach dem Gallierkrieg bestand also
darin, daß nach den Zenturien nicht mehr bloß die Wehr-
pflichtigen, sondern das ganze Volk zur Versammlung zu-
sammentrat. Den ersten Vertrag zwischen Rom und Karthago
setzt de S. ins Jahr 348 v. Chr., den ersten Samniterkrieg in
Kampanien hält er trotz vieler Ausschmückungen der Tradi-
tion für historisch, desgleichen die Nachricht von der Ge-
sandtschaft der Römer an Alexander d. Gr. nach Babylon,
dagegen vermag er in Pyrrhos nicht, wie meist geschieht,
einen Abenteurer zu sehen und die chronologischen Unter-
suchungen Vareses und Bei ochs über den Kalender zur Zeit
des ersten punischen Krieges lehnt er samt allen Folge-
rungen ab, wie dies auch von anderer Seite schon ge-
schehen ist.
In der Wiedergabe der Tradition befolgt der Vf. das Ver-
fahren, nur soviel mitzuteilen, daß der Leser, ohne die
Quellen nachzusehen, die folgenden kritischen Betrachtungen
verstehen kann; in der Anführung von Belegstellen und Ar-
beiten aus der neueren Literatur hält er in gleicher Weise
Maß, wie z. B. Beloch in seiner griechischen Geschichte.
Gleichwohl vermißt man nichts von Belang unter diesen Be-
helfen.
Mit einer Schilderung der staatlichen Einrichtungen und
des Kulturzustandes nach dem Ende des Krieges gegen
Pyrrhos schließt das vorzügliche Werk, das aus den früher
angeführten Gründen auch außerhalb Italiens als belehrende
Darstellung und wichtiger Studienbehelf willkommen sein wird.
Graz. Adolf Bauen
Die römische Timokratie. Von Dr. Francis Smith. Berlin, Georg
Nauck (Fritz Rühe). 1906. 161 S.
Daß die sog. servianische Klassenordnung mit Servius
Tullius nichts zu tun hat, überhaupt nicht in die Königszeit
gehört, sondern in eine sehr viel spätere Periode, ist längst
zum Gemeinplatz geworden. Um so weiter gehen die An-
sichten auseinander über die Bedeutung der Organisation und
S54 Literaturbericht
über die Zeit ihrer Einführung. Vf. bestreitet mit vollem Recht,
daß die ,servianischen' nach Vermögensklassen gegliederten
Centurien jemals taktische Körper gewesen sein können,, so-
weit das Linienfußvolk in Betracht kommt. Es waren also
Stimmkörper. Anderseits aber müssen die Centurien, wie der
Vf. weiter ausführt, ursprünglich Unterabteilungen der Tribus
gewesen sein. Nun lassen sich aber die bei Livius und
Dionysios überiieferten Centurienzahlen für die einzelnen
Klassen der servianischen Ordnung weder auf die 4 sog. ser-
vianischen Tribus, noch auf die 20 bzw. 21 Tribus, die in
frührepublikanischer Zeit bestanden haben sollen, in der Weise
verteilen, daß auf jede Tribus die gleiche Zahl von Centurien
der iuniores und seniores kommt. Vf. schließt daraus, daß
die Klassen der , servianischen* Ordnung überhaupt fremd
waren und erst in viel späterer Zeit eingerichtet sind. Er
nimmt an, daß das durch die Censoren des Jahres 179 v.Chr.
geschehen ist, und zwar auf Grund der Angabe bei Liv. XL, 51 :
mutarunt [censoresj suffragia, regionatimque generibus homi-
num causisque et quaestibus tribus discripserunt. DieReform
hätte übrigens politisch nicht viel zu bedeuten gehabt; ,die
Timokratie dürfte eine Totgeburt gewesen sein*" (S. 157).
Ich glaube nicht, daß der Vf. für diesen positiven Teil
seiner Aufstellung viel Zustimmung finden wird. Die Reform,
von der Liv. XL, 51 spricht, war sehr harmloser Art: es
handelte sich im wesentlichen nur darum, die 10 Jahre früher
erfolgte Gleichstellung der Söhne der Freigelassenen mit den
übrigen Bürgern (Plut. Flam. 18) wieder rückgängig zu machen.
Was der Vf. sonst aus der Stelle herauslesen möchte, sind Ver-
mutungen für die jeder Beweis fehlt. Und überhaupt: die
römische Geschichte wird völlig unverständlich, wenn wir das
timokratische Element eliminieren. Ich hoffe an anderer Stelle
auf diese Fragen zurückzukommen.
Rom. Beloch.
Adrien Blancbet: Les Enceintes Romaines de la Gaule, itude
sur l'origine d'un grand nombre de villes franpaises,
Paris, Leroux. 1907. III u. 356 S.
Das Buch bietet viel mehr, als der Titel erwarten läßt.
Vf. gibt für Gallien das, was Nissen in seinem Buche über
Alte Geschichte. 555
Alt-Italien hätte geben sollen, und nicht gegeben hat: Pläne
aller wichtigeren Städte, die uns, wenn auch nur in rohem
Holzschnitte, doch eine klare Anschauung des Stadtbildes
vermitteln. Das ist um so dankenswerter, als der Vf. sein
Material zum größten Teil aus Lokalpublikationen entnehmen
mußte, die außerhalb Frankreichs sehr schwer oder gar nicht
zugänglich sind.
Der zweite Abschnitt (Le sysUme de construction des en-
ceintes) handelt von den technischen Fragen. Für die Ge-
schichte des römischen Festungsbaues in der Kaiserzeit sind
diese Untersuchungen nicht weniger wichtig, als die des ersten
Abschnittes für die Entwicklung des Städtewesens in Gallien.
Zwanzig Tafeln die dem Buche beigegeben sind, setzen den
Leser in den Stand, sich von verschiedenen Konstruktions-
arten ein klares Bild zu machen.
Der dritte Abschnitt (Epoque de la construction des en-
ceintes en Gaule) ist der Chronologie gewidmet. Eine An-
zahl der größeren Städte Galliens, namentlich im Süden und
an der Rheingrenze sind schon unter Augustus und seinen
ersten Nachfolgern befestigt worden. Die große Mehrzahl
der erhaltenen Stadtmauern aber sind erst im 3. Jahrhundert
erbaut worden, infolge der damals beginnenden Einfälle der
Germanen. Dabei ist es vorgekommen, wie z. B. in Autun
und Ntmes, daß die ausgedehnten Befestigungen der augustei-
schen Zeit durch engere Mauerringe ersetzt wurden. Aber ich
glaube nicht, daß man das generalisieren darf, wie der Vf. zu
tun geneigt ist. Im allgemeinen waren die gallischen Städte
im 3. Jahrhundert ohne Zweifel größer als im Anfang der
Kaiserzeit; bei Neubefestigungen hat man sich natürlich be-
müht, möglichst den ganzen mit Häusern bedeckten Raum
zu schützen, wobei die Amphitheater, die ja in der Regel an
der Peripherie lagen, oft als Castrum zu dienen hatten; in
anderen Fällen, z. B. in Bordeaux, hat man sich damit be-
gnügt, die alten Befestigungen wieder herzustellen, wobei
dann die Vorstädte unverteidigt blieben. Wenigstens findet
sich von einer älteren weiter ausgedehnten Befestigungslinie
hier nicht die geringste Spur. Vf. gibt (S. 283) eine sehr
nützliche Zusammenstellung des Mauerumfangs von 43 galli-
schen Städten ; es wäre gut gewesen, wenn er daneben den von
336 Literaturfoericht
der Mauer umschlossenen Flächenraum gegeben hätte, denn
nur danach können wir uns ein Bild von der relativen Be-
deutung der Städte machen. Doch lassen diese Zahlen sich
auf Grund der in dem Buche gegebenen Stadtpläne leicht
berechnen; für eine leider nur kleine Zahl von Städten ist das
bereits durch den Vf. geschehen.
Das Werk ist ein unentbehrliches Hilfsmittel für jeden,
der sich mit der Geographie, der Geschichte oder den wirt-
schaftlichen Verhältnissen des alten Galliens beschäftigt; nicht
minder für jede Untersuchung über die Entwicklung des Städte-
wesens in Frankreich und den Rheinlanden während des
Mittelalters. Möchte das von dem Vf. gegebene Beispiel recht
bald in anderen Teilen des alten Römerreiches Nachfolge
finden. Aber dazu scheint leider für jetzt wenig Aussicht
zu sein.
Rom. Belach.
Unsere religiösen Erzieher. Eine Geschichte des Christentums
in Lebensbildern unter Mitwirkung von O. Baumgarten,
A. Baur, B. Beß, R. Buddensieg, C. Giemen, O. Giemen,
S. M. Deutsch, A. Dorner, P. Grünberg, W. Herrmann, O. Kim,
Th. Kolde, I. Meinhold, A. Meyer, E. Preuschen, K. Seil und
K. Wenck herausgegeben von C. Befi. Von Moses bis Huß.
VIII u. 279 S. Von Luther bis Bismarck. III u. 265 S.
Leipzig, Quelle 6 Meyer. 1908. Jeder Band 3,80 M., geb.
4,40 M.
Im Vorwort sagt der Herausgeber: „Wir wollen eine
Sammlung sich aneinanderreihender Biographien der hervor-
ragendsten Typen christlicher Frömmigkeit darbieten — eine
Sammlung, die in ihrer Zusammenfassung ein Bild der Ent-
wicklung des Christentums gibt, in ihren einzelnen Teilen
aber den Blick schärfen soll für das in allen Wandlungen
konstante Wesen jener Frömmigkeit.'' Der Gedanke ist frag-
los zeitgemäß. Macht er sich doch bei freilich engerer Be-
grenzung des Themas und dagegen um so reichlicherer Aus-
führung im Detail auch in dem ganz gleichzeitig erschienenen
Buche Pfannmüllers „Jesus im Urteil der Jahrhunderte* gel-
tend. In unserem Falle spricht aber nicht ein einziger Ver-
fasser über Christen, die sich auf 19 Jahrhunderte verteilen,
sondern 16 Lebensbilder erscheinen, jedes gezeichnet von
Geschichte des Christentums. 357
einem anderen Verfasser, mit Zugabe eines abschließenden
Artikels von W. Herrmann über „die Religion der Erzieher**,
d. h. derjenigen Menschen, »die es anderen vernehmlich
machen konnten, wie sie in dem Halten an dem Unsicht-
baren ihr Schicksal bezwangen*. «Bei ihnen allen ist der
Glaube an Gott nicht ein Ausdruck des natürlichen Lebens
in seinem phantastischen Streben nach Sicherung und Vollen-
dung, sondern die Beugung unter eine gewaltige Erfahrung,
die den Menschen aus der Bahn seiner Triebe herauszwingt. **
„Bei keinem dieser Männer verleugnet es sich, daß ihr
Glaube an Gott in seinem Ursprung und seinem Ziel mit den
sittlichen Gedanken verwoben ist, die dem Individuum als
die Forderung einer höheren Macht gegenübertreten/ „Bei
allen hier geschilderten Menschen ist die Quelle ihrer Reli-
gion die Erfahrung einer Macht, die sie aus der Zerstreuung
der Welt errettet, indem sie ihnen die Einheit wahrhaften
Lebens gab.'
Die aus jeder einzelnen Biographie hervorleuchtende
Bestätigung einer solchen, der fortgeschrittenen Theologie
des heutigen neuzeitlichen Protestantismus geläufigen, Auf-
fassung vom Wesen der Religion macht die Stärke des vor-
liegenden Werkes aus, sofern man es etwa unter dem Ge-
sichtspunkt eines gediegenen modernen Andachtsbuches
betrachten könnte. Sein historischer Wert, auf den es an
diesem Orte ankommt, leidet darunter in keiner Weise. Dafür
bürgen schon die Namen der Verfasser, deren nicht wenige
sich geradezu als Spezialisten und Autoritäten auf den ihnen
hier zur Bearbeitung zugefallenen Gebieten bewährt haben.
So spricht Meinhold von „Moses und den Propheten** —
wichtig, weil in Folge der neueren Pentateuchkritik im Bilde
des Moses der Gesetzgeber hinter dem Propheten zurück-
treten muß, dessen religionsgeschichtliche Bedeutung freilich
nur auf dem Wege eines Rückschlusses von der später er-
reichten Höhe der prophetischen Entwicklung festgestellt
werden kann. Das von Arnold Meyer gezeichnete Lebensbild
Jesu ist Produkt einer glücklichen Verbindung von wissen-
schaftlich gut geschulter Methode und gesunder Intuition.
Letztgenannte Quelle wird gerade, wo ein solches Problem
zur Debatte steht, immer mehr oder weniger reichlich fließen ;
358 Literaturbericht.
hier ist es in einwandfreier, weil takt- und maßvoller Weise
der Fall. Dagegen gestehe ich, daß mir die Resultate der
Quellenkritik hinreichende Berechtigung zu einer etwas be-
stimmteren Zeichnung der äußeren Umrisse des Lebens Jesu
zu bieten scheinen. Ich mache diese, vorzugsweise auf die
übertriebene Skeptis S. 86 L bezügliche Bemerkung nur unter
Voranstellung des durchschlagenden Eindruckes, daß der
Zweck dieser Biographien überhaupt nicht so sehr im Aufriß
des äußeren Lebens der betreffenden Persönlichkeiten, als
vielmehr in der Veranschaulichung ihres inneren Werdegangs,
im allerdings durchweg geschichtlich bedingten, stufenweise
sich gestaltenden Aufbau ihrer religiösen Gedankenwelt,
speziell in der Darstellung ihrer Erfassung und Fortbildung
des christlichen Prinzips gefunden werden wilL Denn hier
allein liegt die erzieherische Macht, welche von solchen
Typen der christlichen Frömmigkeit ausgehen kann. So
hat Karl Giemen den Missionar Paulus nicht bloß als einen,
sondern als den Erzieher par excellence behandelt. Es folgen
als Vertreter der spezifisch griechischen und der spezifisch
abendländischen Theologie Origenes und Augustinus, dar-
gestellt von Erwin Preuschen und von August Dorner: dort
die in sich einheitliche Durchbildung einer großartigen spe-
kulativen Gottes- und Weltanschauung, hier eine wunderbar
vielgestaltige, aber auch entschieden weniger geradlinige
Entwicklungslinie des Theoretikers zum Praktiker. „Er ahnt
die Bedeutung der einheitlich auf Gott gerichteten Persön-
lichkeit und unterstellt sie doch wieder der Autorität der
Kirche." Eine Über- und Unterströmung in der von ihm
inaugurierten Periode der mittelalterlichen Kirchlichkeit macht
sich teilweise wenigstens schon bemerklich in dem Mönch
und Kirchenmann Bernhard von Glairvaux, mehr noch in
Franz von Assisi, am entschiedensten in der eigentlichen
Mystik geltend, hier vertreten durch Heinrich Seuse. Dem
Franzosen Bernhard, dem Italiener Franz und dem Deutschen
Seuse, deren religiöse Eigenart uns S. M. Deutsch, K. Wenck
und Otto Giemen nahe bringen, treten der Engländer Wiclif
und der Böhme Hus zur Seite, beide zugleich als Propheten
der Reformation von Rudolf Buddensieg gezeichnet zum Er-
weis der unzweifelhaften Wahrheit, daß „Männer, nicht Bücher
Geschichte des Christentums. 359
erziehen^. Dies der leitende Gedanke wie des ersten, so
auch des zweiten Bandes, den die drei von Koide, August
Baur und Beß meisterhaft entworfenen Charakterbilder Luthers,
Zwingiis und Kalvins eröffnen, und zwar in einer Weise, die
der erzieherischen Tendenz des Ganzen schon insofern in
ausgezeichneter Weise entspricht, als wir an längst Be-
kanntes aus ihrem Leben doch nur darum und soweit erinnert
werden, als der Zweck einer charakteristischen Umrißzeich-
nung der Persönlichkeiten es unumgänglich erscheinen ließ.
So dient gleich der Luther gewidmete Artikel ganz nur dem
Zweck, das von innen heraus erfolgende Wachstum einer
mit elementarer Macht wirksamen religiösen Persönlichkeit
verständlich zu machen; daher vornehmlich der Luther bis
1520 zum Wort kommt. Zur Beurteilung des Luther von
1529 findet sich eine ganz gelegentlich und tendenzlos kom-
mende, die Kontraste betonende Korrektur in dem zwar
knapp gehaltenen, aber alles zur richtigen Einschätzung der
Bedeutung des Mannes darbietenden Artikel über Zwingli und
seine durch Humanismus und Patriotismus eigentümlich ge-
kennzeichnete Religiosität. Vielleicht am meisten Neues
bringt das Charakterbild Kalvins, als des Vertreters der fran-
zösisch gedachten und empfundenen Reformation. Noch
mehr fast erscheint er im Gegensatze zu Luther durch den
inneren Zwang, den ihn seine ganz nur vom Gedanken der
Ehre Gottes bestimmte, wesentlich als Unterwerfung und
Gehorsam empfundene Religiosität kostet, und durch den
unausgleichbaren Widerspruch, in welchem sein Ideal von
der Kirche, soweit es sich mit der Lehre Luthers berührt, zu
jener praktischen Ausführung tritt, die er ihm in Genf geben
mußte. Ein merkwürdiges Seitenstück zu Kalvin bildet
Spener, den als sachkundigster Kenner Grünberg behandelt,
insofern, als auch er in seine öffentliche Rolle nur wider-
strebend, ganz gegen Anlage und Neigung hereingezogen
wurde, in allem andern freilich eher ein kraftvoll überlegenes
Gegenstück zu jenem darstellt.
Aus der Atmosphäre der alten Kirchlichkeit treten wir
heraus, wenn wir uns mit den drei letzten Lebensbildern
befassen. Ihren gemeinsamen Hintergrund bildet die moderne
Welt. Zunächst in Schiller und Goethe der deutsche Idealis-
560 Literaturbericht.
mus mit seinem, der Religion verwandten, Ideal der sitt-
lichen Selbstvollendung der einzelnen Persönlichkeit. Es ist
der Verfasser des rühmlich bekannten Werkes «Die Religion
unserer Klassiker Lessing, Herder, Schiller, Goethe* (1904),
K. Seil, der hier das gleiche Thema in zweckgemäB ver-
kürztem Rahmen behandelt und uns vornehmlich in den
beiden Dichterfürsten Menschen vor Augen stellt, die sich
zu Erziehern eignen, weil sie sich selbst erzogen haben.
Ohne gerade auf dem Gebiet der Religion eine schöpferische
Wirkung geoffenbart zu haben, wirken sie durch stetig fest-
gehaltene Richtung auf ein ideales Menschentum indirekt
religiös. Was dagegen direkte Wirkung heißen kann, zeigt
Kirn in seinem recht verständnisvoll entworfenen Bilde des
umfassenden Lebenswerkes des Bahnbrechers Schleiermacher.
„Klares politisches Denken, lauterer sittlicher Ernst ver-
binden sich mit einer am Ewigen genährten Zuversicht zu
einer neuen Gestalt evangelischer Frömmigkeit, die das
18. Jahrhundert nicht gekannt hat, und deren Vorbild man
nur in den ersten reformatorischen Schriften Luthers wieder-
findet.'' Der Gedanke, daß nicht bloß Religion und Bildung,
sondern auch Religion und Vaterlandsliebe innig verbundene
Mächte sind, leitet über zu dem letzten Lebensbild, das
freilich nur in einem spezifisch deutschen Buch den Ab-
schluß einer mit Moses beginnenden Reihe religiöser Er-
zieher bilden konnte. Otto Baumgarten beschränkt sich in
dem, was er hier über Bismarcks Religiosität berichtet, im
Anschlüsse an Meineckes Darstellung von „Bismarcks Ein-
tritt in den christlich-germanischen Kreis'' (im Jahrgang 1903
dieser Zeitschrift), auf die mit der Verlobung verbundene
Krisis, als auf die Zeit, „da er sich selbst erzog oder er-
ziehen ließ zu seinem persönlichen, lebendigen, ins Leben
greifenden Christentum.* Diese Zeit liegt freilich jetzt mehr
als zwei Menschenalter zurück, und die absonderliche Art
von Frömmigkeit, an die wir erinnert werden, ist uns mittler-
weile unverständlich, vielfach sogar verdächtig geworden.
Für Bismarck hat sie doch nur ein Durchgangsstadium ge-
bildet, und gern vernimmt man am Schlüsse einen Hinweis
auf uns näher liegende Tage, da „der der Wirklichkeit und
Erfahrung gehorsame, aller selbstgenügsamen Enge abholde
Deutsche Geschichte. 361
Christ'' über jene mittelalterlich-romantischen Begriffe vom
christlichen Staat mit ihrer legitimistischen Verquickung von
Thron und Altar hinausgewachsen war. — Die Ausstattung
des Werkes, Buchschmuck u. dgl. verdient alles Lob.
Baden. //. Holtzmann.
Grundriß der Geschichtswissenschaft zur Einführung in das
Studium der Deutschen Geschichte des Mittelalters und
der Neuzeit. In Verbindung mit K. Bretholz u. a. heraus-
gegeben von Aloys Meister. 1. Bd. 1. u. 2. Liefg. Leipzig,
B. G. Teubner. 1906.
Wenn man den gegenwärtigen Stand wissenschaftlicher
Tätigkeit auf geschichtlichem Gebiete überblickt, kann man
eine Abwendung von der in früherer Zeit mit größtem Eifer
betriebenen kritischen Arbeit auf der einen, das Streben nach
Zusammenfassung und Sichtung der durch sie gewonnenen
Ergebnisse auf der andern Seite wahrnehmen. Gegen einen
derartigen Wechsel der Arbeitsrichtung könnte man umso-
weniger etwas einwenden, als jene kritische Richtung vielfach
übertrieben wurde und darunter ohne Frage die Sicherheit der
Methode gelitten hat. Freilich darf es sich nur um eine kurze
Unterbrechung, ein Atemholen, ein auf sich selbst Besinnen
handeln, da die Aufgaben der Kritik keineswegs in ihrer Gänze
erfüllt sind, der Stillstand wissenschaftlicher Forschung ver-
mieden und der Gefahr begegnet werden muß, daß an Stelle
dieser die mit allerlei Schlagworten verhüllte statistische oder
enzyklopädische Verarbeitung trete. Das wäre schon mit Rück-
sicht auf gewisse der Kritik abholde Strömungen, dann aber
auch in Hinblick auf den Umstand bedenklich, daß bisher die
Versuche einzelner, die wissenschaftlichen Errungenschaften der
neueren Zeit in einem Gesamtbilde zu vereinigen, nicht zum
besten geglückt sind, man infolgessen immer wieder zu dem
Auskunftsmittel gegriffen hat, die von der Gegenwart vergeb-
lich erhoffte Einzelleistung durch vereinte Arbeit mehrerer zu
ersetzen. Daß das an sich nicht mögüch ist, hat nicht ver-
hindert, daß sich dieses Auskunftsmittel namentlich bei den
Deutschen großer Beliebtheit erfreute, ihnen Franzosen und
Engländer gefolgt sind, wobei man eine Wirkung des Volks-
charakters und der gleichmäßigen Schulung darin erblicken
362 Literaturbericht
darf, daß eigentlich nur die Franzosen auf diesem Wege zu
befriedigenderen Leistungen gelangten, während die Deutschen
fast regelmäßig scheiterten. Ein Ausfluß dieser Richtung ist
auch der vorliegende , Grundriß der Geschichtswissenschaft*.
Der allgemein gehaltene Haupttitel erfährt eine merkwürdige
Einschränkung auf die deutsche Geschichte des Mittelalters
und der Neuzeit, die dem einen und anderen Mitarbeiter einige
Verlegenheit bereiten mußte, und einem Prospekte der Ver-
lagshandlung können wir entnehmen, daß es sich um eine
Ergänzung zu Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte
handelt, vornehmlich die in diesem übergangenen Hilfswissen-
schaften in kurzen Übersichten zur Darstellung gebracht wer-
den sollen. Nach dem heute üblichen, Verwirrung stiftenden
Verfahren, in dem eigenen Fache den Mittelpunkt des ge-
samten wissenschaftlichen Betriebes zu sehen, wurde der Kreis
der Hilfswissenschaften wesentlich über jene Fächer, die man
gemeinhin als historische Hilfswissenschaften bezeichnet,
hinaus erweitert, es wurden namentlich Rechtsgeschichte und
Wirtschaftsgeschichte einbezogen, denen der zweite Band ge-
widmet ist. Für Anlage und Ausführung sollte vor allem die
Rücksicht auf den „Neuling'' maßgebend sein; ist der „Grund-
riß*' vorzugsweise für Studierende bestimmt, so soll das nach
Ansicht des Herausgebers nicht ausschließen, daß „nicht die
abgeklärten sicheren Ergebnisse allein, auch die neuaufge-
worfenen, die ungelösten und zur Diskussion stehenden Fragen
erörtert* werden.
Dem zweifachen Zwecke entsprechend müssen also die
einzelnen Beiträge auf ihren wissenschaftlichen und pädago-
gischen Wert hin geprüft werden. Was den erstem betrifft, so
ist anzuerkennen, daß der Herausgeber bei der Auswahl der
Mitarbeiter gutes Geschick bewiesen hat, und es ist vor allem
zu begrüßen, daß wichtige Abschnitte von jüngeren Gelehrten
behandelt worden sind. Wenn man des Herausgebers eigenen
Beitrag über „Begriff und Aufgabe der Geschichtswissenschaft*,
Thommens „Lehre von den Königs- und Kaiserurkunden* und
Max Jansens „Historiographie und Quellen des Deutschen
Geschichte bis 1500* ausnimmt, werden die in den beiden
ersten Lieferungen enthaltenen Beiträge (Bretholz, Paläo-
graphie; Grotefend, Chronologie; Schmitz-Kallenberg, Papst-
Deutsche Geschichte. ^65
Urkunden; Steinacker, Privaturkunden ; Ilgen, Sphragistik;
Gritzner, Heraldik; Kötzschke, Historische Geographie) volles
Lob beanspruchen dürfen, einzelne Abschnitte, wie die Schmitz-
Kallenbergs, Ilgens und Gritzners werden nicht nur dem Neu-
ling, sondern viel mehr noch dem schon bewanderten Forscher
von Nutzen sein.
Was die pädagogische Seite betrifft, so möchte ich mir
vor allem meine Bedenken gegen das ganze Unternehmen vom
Herzen schreiben. Muß wirklich jemand, der in das Studium
der Deutschen Geschichte eingeführt werden soll, all das
wissen, was in diesem Grundriß zusammengepreßt sein wird?
Wird es dem, der tiefer eindringen, die eine oder andere
Einzelfrage behandeln will, nicht eine Enttäuschung bereiten,
ihn entmutigen, wenn er erfährt, daß er mit dem hier Ge-
botenen doch nicht ausreicht, für ihn manche andere Dinge
wichtiger sind, als die in den Grundriß aufgenommenen? Sind
nicht zum Teile Gegenstände behandelt, zu deren sicherer
Erfassung unmittelbare Unterweisung durch den Lehrer un-
bedingt erforderlich ist, wie Paläographie und Urkundenlehre,
andere, für die den Studierenden bessere Hilfsmittel zu Gebote
stehen ? Welchen Zweck hat Thommens Lehre von den Königs-
und Kaiserurkunden neben Erbens Urkundenlehre, Grotefends
Chronologie neben der zweiten Auflage des Taschenbuches und
neben Rühls Chronologie des Mittelalters und der Neuzeit,
Jansens Abschnitt neben den Büchern von Vildhaut und Jacob?
Ich wage zu bezweifeln, daß der „Grundriß' „zu einer mög-
lichst vielseitigen Ausbildung der studierenden Historiker''
beitragen, „ergänzend und vertiefend den geschichtlichen Uni-
versitätsvorlesungen zur Seite treten '^ wird, glaube vielmehr,
daß in den kurzen Obersichten und Darstellungen, wie sie zu
häuf erscheinen, eine große Gefahr liegt. Denn man wird es
als einen ernstlichen Schaden betrachten dürfen, daß das Lesen
im Sinne Friedrichs d. Gr. immer mehr in Abnahme kommt, die
Studierenden die Anlage von Auszügen aus den ursprüng-
lichen, grundlegenden Werken, die unmittelbare Verbindung
mit diesen mehr und mehr vernachlässigen; und wenn mit
Recht darüber geklagt wird, daß die Studierenden zu wenig
Gewicht auf den eigentlich wissenschaftlichen Betrieb, die Art,
wie Wissen geschaffen und erworben wird, legen, dadurch
364 Literaturbericht.
daß sie dem die Aufnahme möglichst bequem bereit gestellter,
dogmatischer Kenntnisse vorziehen, mit dieser Forderung auch
an die Vorlesungen herantreten, ein wesentliches Moment des
Rückschrittes bilden, so wird zwischen diesen Neigungen und
der Art, wie ihnen der Buchhandel entgegenkommt, eine recht
bedauerliche Wechselwirkung anzunehmen sein.
Selbst wer diese Bedenken nicht zu teilen vermag, wird
kaum sagen dürfen, daß die in diesen beiden Lieferungen ent-
haltenen Beiträge ihrem Zwecke, der Einführung des Neulings,
gleichmäßig entsprechen. Schon vorher habe ich angedeutet,
daß in ihnen Gegenstände behandelt werden, bei denen sach-
gemäße Unterweisung durch den Lehrer unerläßlich ist; hat
diese stattgefunden, dann bietet sie mehr, als der Lernende
aus dem «Grundriß^ erfahren kann. Daß so viele Einzelheiten
als nur möglich untergebracht worden sind, erklärt sich aus
dem weit gesteckten Ziele, bedauern kann man, daß für diesen
Zweck der jede Obersicht verhindernde, das Lesen erschwe-
rende Petitdruck in überreichem Maße verwendet werden
mußte.
Von Einzelheiten glaube ich an dieser Stelle absehen zu
dürfen, nur an Steinackers Beitrag möchte ich etliche Bemer-
kungen knüpfen. Die Diplomatik ist in drei Abschnitte zer-
legt, die Lehre von den Königs- und Kaiserurkunden, die
Lehre von den Papsturkunden und „die Lehre von den nicht-
königlichen (Privat-)Urkunden vornehmlich des deutschen
Mittelalters''. An und für sich ist die Bezeichnung des dritten
Abschnittes nicht ganz genau, da sie entsprechend den §§ 1
und 2 lauten sollte „von den nichtköniglichen und nichtpäpst-
lichen Urkunden''. Doch nicht darum, sondern um die Zu-
sammenfassung dieser unter der Bezeichnung „ Privaturkunden "
handelt es sich. Das geht, wie bekannt, auf die Unterschei-
dung zwischen cartae regales und cartae pagenses in Markulfs
Formelbuch zurück, die von Mabillon und seinen Nachfolgern
übernommen, von späteren Forschern beibehalten, ja auf das
ganze Mittelalter ausgedehnt worden ist. Zwar konnte man
sich der Wahrnehmung nicht verschließen, daß die Bezeich-
nung in dieser Ausdehnung ganz willkürlich und unpassend ist,
vor allem Breßlau hat folgerichtig auf die Notwendigkeit einer
zeitlichen Unterscheidung hingewiesen, aber er hat damit nicht
Deutsche Geschichte. 365
viel Anklang gefunden, und erst jüngst hat Redlich sich dahin
ausgesprochen, daß „die Bezeichnung Privaturkunden einer
jener streng genommen unzutreffenden, aber bequemen ter*
mini technici sei, weiche die Wissenschaft nur schwer ent-
behren kann"", daß wir das Wort gebrauchen müssen, wenn
auch mit dem Vorbehalte, daß es nur ein Notbehelf und sach-
lich unzutreffend sei, und mit dem andern Vorbehalte, daß
„die Behandlung der Lehre von den Privaturkunden andere
Wege gehen muß als bei den anderen einheitlichen Gruppen*.
(Erben, Urkundenlehre 1, 20.) Steinacker legt auf die Be-
quemlichkeit kein so großes Gewicht^ ihm paßt es durchaus
nicht, daß in seinem Abschnitte ganz verschiedenartige, des
inneren Zusammenhanges entbehrende Dinge zusammenge-
worfen sind, er tadelt die Bezeichnungen „ Privaturkunden '^
und „Privaturkundenlehre* als ungenau, er wendet die Frage
mit gewohntem Scharfsinne nach allen Seiten, aber zum
Schlüsse der für einen Neuling gewiß nicht leicht verständ-
lichen und auch überflüssigen Ausführungen kommt auch er
auf die rein praktische Rücksicht, behält die Bezeichnung
Privaturkunde für die ganze so wenig einheitUche Masse bei,
unterscheidet höchstens, was die Verwirrung nur noch steigert,
davon Privaturkunden im engeren Sinne (S. 251). Nach wie
vor steht man vor der gewiß weder bequemen, noch prakti-
schen Tatsache, daß unter der Bezeichnung Privaturkunden
der Mehrzahl nach öffentliche Urkunden verstanden werden.
Um aus dem Wirrsal herauszukommen, müßte man sich
vor allem darüber klar werden, was öffentliche und was
Privaturkunden sind. Am besten hält man sich dafür an die
heute gang und gäbe juristische Auffassung. Darnach sind
öffentliche Urkunden jene, welche von einer öffentlichen Be-
hörde oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen
Person innerhalb der Grenzen der Amtsbefugnisse der Be-
hörde oder innerhalb des einer solchen Person zugewiesenen
Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form errichtet sind
(Lothar Seuffert, Zivilprozeßordnung für das Deutsche Reich,
zu § 380), wobei der öffentliche oder private Zweck der Ur-
kunde gleichgültig ist (Rietsch, Handbuch der Urkunden-
wissenschaft ' S. 40 ff.). Da die Grenzen zwischen öffentlich
und privat im Lauf der Zeiten schwanken, die Entscheidung
Historische ZeitscbrUt (101. Bd.) a. Folge 5. Bd. 24
366 Literaturbericht
Über den öffentlichen Charakter einer Behörde oder einer
Person sowie über Amtsbefugnisse und Geschäftskreis durch
die geschichtliche Entwicklung oder durch Gesetz und Ver-
ordnung vollzogen wird, die öffentliche Geltung von Urkunden
bald über die obige Bestimmung erweitert, bald wieder ein-
geschränkt wurde, die öffentliche Urkunde an sich als ein
Ausfluß staatlicher Hoheitsrechte sich im Anschluß an die
verfassungsrechtliche Entwicklung ausgebildet hat, ergibt sich,
daß die über den großen Zeitraum, in dem sich die in Be-
tracht kommenden verfassungsgeschichtlichen Vorgänge ab-
spielen, ausgedehnte, für den Anfang passende Unterschei-
dung ihre Gültigkeit allmählich einbüßen muß, daß die Ein-
teilung der Urkunden, soll der vorhin gerügte Obelstand ver-
mieden werden, sich der verfassungsgeschichtlichen Entwick-
lung anzupassen hat.
Wie verhält es sich mit der Scheidung nach methodischen
Gesichtspunkten, vor allem nach organisierter oder nicht or-
ganisierter Herstellung (bekannter oder unbekannter Hand),
die nach Redlich den Hauptgrund für die Absonderung der
nichtköniglichen und nichtpäpstlichen Urkunden abgibt und
ihre Vereinigung in eine Gruppe rechtfertigen soll? Sofern
man den Begriff der organisierten Herstellung nicht zu enge
faßt und zur größeren Vereinfachung die Trennung nach
Empfänger und Aussteller bei Seite läßt, entspricht diese
Unterscheidung durchaus einer in dem Wesen der Urkunden-
lehre begründeten Forderung. Nur muß man sich gegenwärtig
halten, daß sie nicht mit der zwischen königlichen und nicht-
königlichen Urkunden zusammenfällt, da auch königliche Ur-
kunden, wie z. B. die älteren englischen, ohne ständige Kanzlei
entstanden sind und daß umgekehrt im Laufe der Zeiten die
wichtigsten nichtköniglichen Urkunden den Übergang zu
kanzleimäßiger Herstellung durchmachen (s. auch Steinacker
S. 266). Werden wir also auch da auf den zeitlichen Unter-
schied gewiesen, so sind wir nach allen Richtungen hin ge-
nötigt, der geschichtlichen Entwicklung und der Tatsache
Rechnung zu tragen, daß etwa vom 13. Jahrhundert an eine
Einteilung der Urkunden weder nach dem Gesichtspunkte des
öffentlichen oder privaten Charakters, noch nach dem der
organisierten oder nicht organisierten Herstellung möglich ist.
Deutsche Geschichte. 367
sondern daß für diesen Zweck zuerst die Stellung der ur-
kundenden Person, K(irperschaft oder Behörde, dann der
Gegenstand und die Art der Urkunde in Betracht zu ziehen
wäre. Die Scheidung nach diesen Gesichtspunkten dürfte am
ehesten eine entsprechende Ordnung der Urkundenmasse
gestatten ; erst dann wird es möglich sein, die engen und viel-
fältigen Beziehungen, die zwischen den zu bildenden Gruppen
bestehen, aufzudecken. Denn man wird für diese späteren
Jahrhunderte mit der an den Königsurkunden schon festge-
gestellten Tatsache zu rechnen haben, daß hinsichtlich des
Gesamtbildes, der Schrift, des Formulars eine über ganz
Westeuropa sich verbreitende Gleichmäßigkeit herrscht, inner-
halb der durch diese gezogenen Grenzen sich einzelne Ab-
weichungen in den verschiedenen Territorien, innerhalb dieser
nach den Ausstellern ergeben.
Steinacker hat diese Verhältnisse zwar angedeutet (S. 233,
237, 251), sie aber nicht in rechtem Sinne verwertet. Daher
ist allerdings die erste Hälfte seines Beitrages, in der jene
Fragen nicht so sehr in Betracht kommen und er die Ergeb-
nisse der bisherigen Forschung verwerten konnte, wohl ge-
lungen, wogegen die zweite nicht so recht zu befriedigen ver-
mag. Bedenklich erscheint mir die Zerlegung in geistliche
und weltliche Urkunden, da diese durchaus nicht immer zwei
verschiedenen Rechtskreisen entsprechen, die geistlichen Aus-
steller, wie in vielen anderen Beziehungen, auch darin eine
Doppelstellung einnehmen, wie denn St selbst die Gleich-
artigkeit der Entwicklung in beiden Kreisen eingeräumt hat
(S. 260). — Als eine Lücke wird man es gerade mit Rück-
sicht auf die studierenden Historiker betrachten müssen, daß
die Notariatsurkunden, die seit dem 14. Jahrhundert doch auch
in Deutschland nicht selten sind, und oft recht wichtige ge-
schichtliche Angaben enthalten, nur nebenher berührt sind
(S. 260, 265). — Die gegen den zuerst von Posse angenom-
menen ^fKlosterductus*" gerichteten Bemerkungen (S. 256)
können in ihrer etwas zu bestimmt ablehnenden Form leicht
irreführen und von weiterer Forschung abhalten. Jetzt hat
Schillmann (Beiträge zum Urkundenwesen der älteren Bischöfe
von Cammin S. 14 ff., S. 90) mindestens für die Zisterzienserstifte
Dargun und Kolbatz Schreibschulen festgestellt, und ich habe
24^
368 Literaturbericht.
allen Grund, sie auch für wichtige nieder- und oberösterrei-
chische Klöster anzunehmen.
Graz. Karl Uhlirz.
Geschichte des niederen Volkes in Deutschland. Von Eccardus.
2 Bde. Berlin und Stuttgart, W. Spemann. 1907. VII u.
862 S.
Es dürfte zu den selteneren Erscheinungen der geschichts-
wissenschaftlichen Literatur gehören, daß ein mehrbändiges
Werk, welches die Geschicke des deutschen Volkes von einem
neuen Gesichtspunkte aus, nämlich von unten herauf, «aus
der Froschperspektive^, darstellen will, unter einem Pseudo-
nym in die Öffentlichkeit tritt. Da der Vf. dies für nötig
gehalten hat, um dem Buche eine unbefangene Prüfung zu
sichern, liegt es nahe, anzunehmen, daß seine Person den
politischen Kämpfen der Gegenwart nicht fernsteht. Die
Grundgedanken des Werkes sowie gewisse stilistische Eigen-
tümlichkeiten deuten darauf hin, daß er wohl unter den jour-
nalistischen, vielleicht auch parlamentarischen Vertretern des
neuzeitlichen Nationalsozialismus oder Sozialliberalismus zu
suchen sein wird.
Dem Andenken des preußischen Befreiungsediktes vom
9. Oktober 1807 gewidmet, schildert das Werk in seinem ersten
Bande die Gemeinfreiheit und ihren Verfall, im zweiten das
Emporkommen von Bürger, Bauer und Arbeiter seit der Re-
formation, indem es von den dunklen Zeiten des „Mutter-
rechtes^ ausgeht und unter dem Gesichtspunkte, daß die
Sehnsucht und das Streben nach Wiederherstellung jener
idealen Gemeinfreiheit der Vorzeit, „da jeder mannbare Ger-
mane gleichberechtigt war in Ding, Heer und Hufe^, durch
alle Zeiten bis in die moderne Sozialdemokratie hinein sich
wirksam erwiesen habe und erweise, alles das zusammenstellt,
dessen die respektable Belesenheit des Vf. in Beziehung auf
die verfassungs- , rechts- und wirtschaftsgeschichtliche Ent-
wicklung unseres Volkes hat habhaft werden können. Daß
dabei Vermutungen, Verallgemeinerungen und sonstige Kon-
struktionen nicht selten dazu dienen müssen, die Lücken aus-
zufüllen und die Abgründe zu überbrücken, die sich aus der
Quantität und Qualität des Quellenmaterials für das tatsäch-
Mittelalter. 369
liehe Wissen ergeben, ist ein Mangel, der mehr oder weniger
allen Versuchen anhaftet, von so komplizierten Verhältnissen
eine, auch weiteren Kreisen verständliche und ihrem Grund-
gedanken nach einheitliche Darstellung zu geben. Die politi-
schen Ereignisse sind nur nebenbei und oft im trockensten
Chronikenstil behandelt, während der Vf. an und für sich über
eine gewandte, temperamentvolle Schreibart verfügt, die auch
burschikosen und burlesken Wendungen nicht aus dem Wege
geht und in geistreichem Wortgefunkel über manche Schwäche
der Beweisführung hinwegtäuscht.
Alles in allem ein für den Dilettanten nicht ungefährliches,
für den Fachmann, soweit er kein Pedant ist, nicht uninter-
essantes Buch, dessen wissenschaftliche Bedeutung freilich
nicht auf der Darstellung beruht, die es von vergangenen
Zeiten gibt. Wohl aber möchte es als ein Dokument zur Ge-
schichte der Gegenwart Beachtung verdienen, indem es die
historischen Grundlagen und Voraussetzungen gewisser Theo-
rien und Systeme, die im Parteikampfe unserer Tage eine
nicht geringe Rolle spielen, erkennen hilft und zeigt, wie sich
im Kopfe manches Zeitgenossen die Vergangenheit malt.
Gr.-Lichterfelde. /. Härtung.
W. A. Stevenson: The crusaders in the East, a brief history
of the wars of Islam with the Latins in Syria during the
twelfth and thirteenth centuries. Cambridge, Univ. Press.
1907. Xn u. 387 S.
Dies Buch ist eine auf dem Gebiete der Kreuzzugsliteratur
eigenartige und sehr hervorragende Leistung. Der Vf. be-
handelt die Geschichte der Kämpfe zwischen den Muhani-
medanern und Franken zumeist vom Standpunkt der muham-
medanischen Staatenverhältnisse aus , dementsprechend er
seine Darstellung in folgende sechs Kapitel eingeteilt hat:
/. The first Crusade; establishment of the Latins in Jerusalem
and Tripolis, a. D, 1099—1119. — 2. Early history of Antioch
and Edessa; Moslem reaction down to a. D. 1127. — 3. Imad ed-
Din Zanki. — 4. Nur ed-Din Mahmud. — 5. Salah ed-Din
Yusuf. — 6. The thirteenth Century, an epilogue. Eigentlich
sind es drei Perioden, innerhalb welcher die Geschichte dieser
Kämpfe verläuft: Die Eroberung Syriens durch die Lateiner
370 Literaturbericht
und die Zunahme ihrer Machtverhältnisse bis zum Jahre 1127^
in welchem Imad ed-Din Zanki Herrscher von Mosul ge-
worden ist: darüber handeln die zwei ersten Kapitel, worin
allerdings mehr die Lage der Lateiner geschildert wird. Dann
die Periode der Moslemischen Reaktion und die Siege der
Muhammedaner unter Zanki, Nur ed-Din und Salah ed-Din,
welche ihren Kulminationspunkt haben in der Wiedereroberung
Jerusalems und der Abweisung des ,3. Kreuzzuges*, in
Kap. 3, 4, 5. Endlich eine lange Periode von Streitigkeiten
zwischen den Lateinern und von weniger bedeutenden Kämpfen
derselben mit den Muhammedanem bis zum Falle Akkos,
welche mit dem 13. Jahrhundert zusammenfällt und in Kap. 6
mehr im Oberblick dargestellt wird. Der VL bemüht sich, den
Verlauf der Ereignisse von Jahr zu Jahr genau zu verfolgen
und in präziser Fassung zu beschreiben, soweit ihm dazu
durch die Quellen die Möglichkeit geboten wird. Mit diesen
und mit der neueren Literatur der Kreuzzugsgeschichte wohl-
vertraut, ist es ihm ganz besonders daran gelegen, jeweils
das richtige Datum für das betreffende Ereignis angeben zu
können — und in dieser Beziehung nimmt sein Buch in der
Reihe der bisherigen Darstellungen den ersten Platz ein, denn
in keiner derselben ist auf diesen sehr wesentlichen Punkt
solch eine Sorgfalt verwendet wie in dem Buche Stevensons,
wenn man auch der fast durchgängigen Bevorzugung der
arabischen Datumsangaben vor denen der abendländischen
Quellen in einzelnen Fällen etwas skeptisch gegenübersteht.
Interessant ist im Appendix seine Darlegung über die Chrono-
logie der arabischen Schriftsteller und des Wilhelm von Tyrus,
worin er u. a. zeigt, wie z. B. Ibn el Athir, Sibt ibn el-Jauzi,
Kemal ed-Din und Makrizi, indem sie für die ihrer Zeit voran-
gehenden Jahre aus anderweitigen Quellen ihre Nachrichten
gesammelt haben und für jedes einzelne Jahr die Gescheh-
nisse unter der Überschrift des Jahres mitteilen, zuweilen den
Irrtum begehen, daß von ihnen Tatsachen doppelt angeführt
werden, was insbesondere dann der Fall ist, wenn in den ver-
schiedenen Quellen, die sie kopierten, die Erzählungen über
ein und denselben Vorgang bedenklich voneinander abweichen,
so daß dadurch Doppelberichte gegeben werden, die bis in
die neueste Zeit auch irrigerweise in den Darstellungen ver-
Mittelalter. 371
wertet wurden, und Ereignisse beschrieben werden, die nie-
mals stattgefunden haben. Auch weist St. auf die mancherlei
Schwierigkeiten hin, die dem Geschichtsforscher bei Eruierung
der Zeitbestimmungen in den arabischen Quellen begegnen,
und gibt schätzenswerte Winke, wie man jeweils das richtige
Datum ausfindig machen kann. Am Schlüsse des Buches ist
vor dem Personen- und Ortsnamen-Index ein Verzeichnis der
hauptsächlichsten von St. in den Fußnoten benutzten Bücher
und Quellenwerke beigegeben. Daß er aber über den Wert
der letzteren und vornehmlich über den seiner arabischen
Quellen und deren gegenseitigem Verhältnis sich nicht be-
sonders ausspricht, und nicht deutlich erkennen läßt, warum
und inwieweit er ihnen volle Glaubwürdigkeit zugestehen darf,
bzw. welche derselben er als Hauptquellen und welche als
sekundäre Quellen betrachtet wissen will, überhaupt eine be-
sondere zusammenhängende Darlegung darüber nicht gibt, —
dies ist eine Unterlassung, welche um so weniger zu billigen
ist, als die kritische Untersuchung der arabischen Quellen zur
Geschichte der Kreuzzüge noch sehr im argen liegt und der
Vf. bei seinem eingehenden arabischen Quellenstudium sicher
in dieser Beziehung viel Neues und Zweckdienliches dem
Leser zu bieten vermocht hätte.
Bödigheim. //. Hagenmeyer.
Kaiser Friedrich II. und Papst Innozenz IV. Ihr Kampf in den
Jahren 1244 und 1245. Von Aug. Folz. Straßburg i. E.,
Schlesier & Schweikhardt. 1905. 158 S.
Eine fleißige und durchaus tüchtige Arbeit aus der Schule
von H. Breßlau führt uns auf den Höhepunkt des großen
Kampfes zwischen Friedrich 11. und Innozenz IV., in die Er-
eignisse, in deren Mitte das erste Konzil von Lyon steht. Wir
erhalten darüber nicht nur eine gute Gesamtdarstellung, an
der es seit geraumer Zeit fehlte, sondern auch in manchen
wesentlichen Einzelpunkten dankenswerte Aufklärungen, die
ich als förderlich vielfach auch da bezeichnen möchte, wo
ich mit den Ergebnissen des Vf. nicht übereinstimme.
Ein erster Teil behandelt die Zeit von der Flucht des
Papstes bis zum Beginn des KonzUs. Im Mittelpunkte stehen
da die Friedensverhandlungen, die auf die böse Kunde aus
372 Litermturfoericht
dem Orient hin seit Ende des Jahres 1244 durch die Be-
mühungen des Patriarchen von Antiochia noch einmal in
Gang kamen. Indem ich dieser meist an Fickers Ausführungen
angelehnten Darstellung fast durchgehends beipflichte, möchte
ich nur an den Friedensstörungen, die der Vf. S. 39 aus dem
leidenschaftlichen Temperament Friedrichs hervorgehen läßt,
und die nach ihm zum Scheitern der Verhandlungen wesent-
lich beitrugen, einige Abstriche machen; denn sie sind uns
großenteils nur aus einem von gehässigster Feindseligkeit ent-
stellten Bericht bekannt, dessen Verfasser, wie ich an anderer
Stelle darzutun gedenke, im Auftrage des Kardinals Rainer von
Viterbo mit der bestimmten Absicht schrieb, den Frieden
zu hintertreiben. Die Vorgänge in Acquapendente z. B. (S. 38)
werden sich in Wirklichkeit wohl wesentlich anders abgespielt
haben, als ein leidenschaftlicher Gegner sie mit einem ,ui
pro firmo asseritur" schildert.
Bei der Besprechung der Quellen zum Konzil erhebt Folz
berechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit des Matthäus Paris,
der nicht selbst in Lyon zugegen war, und dem entspricht
die sehr vorsichtige Benutzung bei der folgenden Darstellung,
so daß man gelegentlich fast versucht ist, ein Wort zu seinen
oder seines Gewährsmannes Gunsten einzulegen. Wie schwierig
ist es doch, den Gang einer längeren Rede oder gar einer
Debatte ohne gleichzeitige protokollarische Aufzeichnung im
Gedächtnis zu bewahren und nachher wiederzugeben! Da
können die festgehaltenen Bruchstücke, aus dem Zusammen-
hang gerissen und mannigfach verschoben, den wirklichen
Eindruck der Reden nur noch ganz schwach widerspiegeln,
ohne darum auf Erdichtung zu beruhen (vgl. S. 77 ^eine selbst-
verfaßte Rede**). Wer die doch meist auf gleichzeitige steno-
graphische Aufzeichnungen zurückgehenden Referate unserer
Zeitungen über öffentliche Versammlungen zum Vergleich
heranzieht, wird über den Konzilsbericht bei Matthäus Paris,
wie ich denke, gerechter urteilen. Daß Matthäus übrigens,
wie Tangl annahm, die „Brevis nota*" über das Konzil benutzt
habe, bestreitet F. In der Beurteilung der satirischen Schrift
,Pavo* schließt er sich im allgemeinen den Ausführungen von
Wilhelm an, die sie als ein Werk des Jordan von Osnabrück
in die Mitte der 80 er Jahre des 13. Jahrhunderts verlegen.
Mittelalter. 373
Verdienstlich ist das Eingehen auf die wichtigen Flug-
schriften in Winkelmanns Acta imperii inedita II, 717 (^ A),
I, 568 (= B) und II, 709 (= C). Daß A den größten Einfluß
auf die Gestaltung der Absetzungssentenz geübt hat, und daß
C nur eine Beilage von B ist, wird überzeugend dargetan.
Im übrigen aber besteht das Verdienst doch mehr in der ge-
gebenen Anregung als in der Ausführung, denn schon ein
flüchtiger Einblick zeigt, wie ich glaube, daß sich da noch
erheblich weiterkommen läßt. Ich kann das hier nicht näher
begründen, ohne den Rahmen einer kritischen Besprechung
zu zersprengen; jedoch hoffe ich, daß etwa gleichzeitig mit
dieser Anzeige eine Abhandlung von mir über jene Flug-
schriften in der Historischen Vierteljahrschrift erscheinen wird.
Die Meinung des Vf., daß das Konzil trotz nicht allzu zahl-
reichen Besuches grundsätzlich als ein allgemeines zu be-
trachten sei, stimmt mit der herrschenden Ansicht überein.
Der verständigen Erzählung der Verhandlungen am ersten
und zweiten Sitzungstage wird man sich im allgemeinen an-
schließen können. Daß Thaddäus von Suessa den Bischof
von Carinola einfach als befangenen Zeugen ablehnte (vgl.
auch Folz S. 135), und das Konzil sich ihm offenbar an-
schloß, so daß jener Bischof nicht weiter das Wort er-
greifen konnte, wäre wohl klarer hervorzuheben gewesen. Es
ist dies eine Stelle, aus der man ersieht, daß der Gewährs-
mann des Matthäus Paris Einzelheiten der äußerlichen Vor-
gänge recht gut wiedergeben konnte, ohne sie juristisch zu
begreifen.
Weniger befriedigt haben mich dagegen die Ausführungen
von F. über den Zug des Kaisers von Verona nach Westen,
über die verschiedenen Botensendungen zwischen ihm und
Thaddäus von Suessa, namentlich die des Walter von Ocra,
und die damit im engen Zusammenhang stehende Frage der
Vertagung und Wiederaufnahme der Konzilsverhandlungen.
Ein förderndes Bemühen um die gewiß nicht leicht zu er-
mittelnde Wahrheit dieser Dinge möchte ich auch hier keinen
Augenblick verkennen, aber die Ergebnisse, zum Teil auf un-
sicherem Grunde aufgebaut, sind recht anfechtbar. Die Ver-
hältnisse sind freilich so verwickelt, daß ich sie hier auf be-
schränktem Räume nicht klarzulegen vermag. Statt dessen
374 Literaturbericht
möchte ich nur ein paar Ecksteine herausheben, von denen
freilich der Halt des Gebäudes wesentlich abhängt.
Nach der ,Brevis nota' bat Thaddäus am zweiten Ver-
handlungstage inständig, die dritte Sitzung in Rücksicht auf
die zu erwartende Herankunft des Kaisers zu vertagen; ^pro
eo"", so heißt es in allen Handschriften, j,quod Imperator, prout
ipse per cerios habebat nuntios, ac ipse ad eum plures alics,
qui in civitate Taurinensi fuerant, nUserat, qaod Her arri-
puerat ad concilium venlendL' Ich gebe F. (S. 83 Anm. 1)
darin vollkommen recht, daß die in der Monumentenausgabe
an dieser ungeschickt stilisierten Stelle vorgenommene Emen-
dation vom Übel ist. Wenn er aber selbst emendiert: ^prout
ipse per cerios habebat nuntios, ac ipse ad eum, qui in civi-
tate Taurinensi fuerat, plures alios miserat' etc., so ist es
an sich schon nicht ganz unbedenklich, an dieser Überliefe-
rung aller Handschriften gleich zwei verschiedene Emenda-
tionen : eine Umstellung und eine Wortänderung vorzunehmen;
dann aber gibt F. doch auch keine ganz genügende Erklärung
dafür, wie denn Thaddäus zu dem zuversichtlichen, aber völlig
falschen Glauben kommen konnte, der Kaiser sei bereits
gerade in Turin. Dürfte es da nicht besser sein, jene Text-
stelle so lange unverändert zu lassen, als sie noch die Mög-
lichkeit einer Erklärung bietet ? Mir scheint bei der ja auch
von F. geteilten Annahme, daß das letzte ,quod' das erste
^eo quod*" etwas ungeschickt wieder aufnimmt, alles in Ord-
nung zu sein. Thaddäus hat vom Kaiser Nachrichten erhalten,
nach denen er annehmen muß, daß Friedrich sich am 5. Juli
bereits von Verona nach dem Westen bewegt, da er das als
seine Absicht ausgesprochen hat. Um ihn aber noch mehr
anzutreiben, hat Thaddäus selbst ihm Boten mit dringender
Aufforderung dazu geschickt. Diese Boten müssen, wie er
angibt, am 5. Juli Turin bereits hinter sich haben ; er will
damit andeuten, daß ihre Vereinigung mit dem Kaiser un-
mittelbar bevorsteht, dessen beschleunigte Herkunft also um
so eher zu erwarten ist. — Auf der zum mindesten unsicheren
Interpretation dieser Worte beruhen aber großenteils die Fol-
gerungen von F. Noch eine weitere wichtige Quellenstelle
scheint mir eine andere Auslegung zuzulassen oder gar zu
fordern, als ihr bisher von allen Forschern, selbst Ficker, und
Mittelalter. 375
jetzt auch von F. zuteil geworden ist. Es ist die S. 156 be-
handelte Stelle des in drei verschiedenen Ausfertigungen vor-
liegenden großen Rundschreibens des Kaisers (M. G. Const.
11, 360). Nachdem dem Papste der Vorwurf gemacht ist, daß
er nicht einmal die nur drei Tagereisen von Lyon entfernte
Fürstengesandtschaft des Kaisers abgewartet habe, fahren zwei
Ausfertigungen A und C fort: „Non expectato etiam magistro
Gaalterio de Ocra, — qui de conveniencia sammi pontificis
et quorandam ex fratribus ad nos missus per daodecim (vi"
ginti A) dies expectari debuii, nee fuit solummodo per biduum,
quo tempore predicti processus iniqui Lugduno distabat, ad
multam nobilium et quam plurium prelatorum instanciam ex-
pectatus," F. meint dazu: „Wörtlich bedeutet diese Stelle, der
Papst wartete auf Walter von Ocra, trotzdem er ihn zwölf
(zwanzig) Tage erwarten mußte, wie er selbst und einige
Kardinäle zugestanden hatten, nicht einmal zwei Tage. Daß
Innozenz versprochen, den Walter zwölf Tage zurückzuer-
warten, dieses Versprechen jedoch schon am zweiten Tage
nach der Abreise des Boten gebrochen hätte, ist direkt un-
glaublich.' Diese Auslegung ist nun freilich nur möglich,
wenn man wie F. den erklärenden Relativsatz zu ^biduum':
„(zwei Tagemärsche), welche er zur Zeit jenes unbilligen Pro-
zesses (am 17. Juli) von Lyon entfernt war**, einfach ausläßt.
Aber hat der Papst sich überhaupt auf eine bestimmte
Wartezeit von zwölf oder zwanzig Tagen verpflichtet? Das
ist mir auf Grund dieser Stelle allein doch recht zweifelhaft
Ich übersetze: „indem nicht einmal der Magister Walter von
Ocra zurückerwartet wurde, der, nachdem er mit Billigung
des Papstes und einiger Kardinäle zu uns abgeschickt
war, doch zwölf (zwanzig) Tage hätte erwartet werden
müssen**^), d. h. es wäre nicht mehr wie anständig gewesen,
so lange zu warten, nachdem man einmal die Entsendung
des Boten gutgeheißen, weil die Hin- und Herreise zwischen
Lyon und dem Sitz des Kaisers mindestens so viel Zeit er-
forderte. Da ich nun nach meiner obigen Interpretation nicht
glaube, daß Thaddäus wirklich irrtümlicherweise Turin für den
*) Eine derartige Übersetzung des Indikativs ist ja bei „debere^
nicht nur zulässig, sondern geradezu geboten.
376 Literaturbericht.
Aufenthaltsort des Kaisers hielt, sondern mit Verona oder,
falls jener schon von da aufgebrochen war, mit einem Orte
zwischen Verona und Turin rechnen mußte, so ziehe ich die
Lesart „zwanzig^, die sich auch als die der ursprünglichen,
frühesten Ausfertigung empfiehlt, vor.
Von einem offenen Wortbruch des Papstes, der in der Tat
sehr unwahrscheinlich wäre, kann also keine Rede sein; bei
Fickers Annahme aber, nach der Innozenz die versprochene
Frist von zwanzig Tagen zwar wirklich gewartet, nur darüber
hinaus keine weiteren Tage hätte zugeben wollen, ist es auch
nicht eben sehr wahrscheinlich, daß der Kaiser im Tone des
Vorwurfs den Papst an die Wartepflicht erinnert haben sollte,
die jener dann ja loyal innegehalten hätte. Bei meiner Inter-
pretation fällt eine solche Schwierigkeit fort.
Wenn diese beiden von F. abweichenden Auslegungen
wichtiger Stellen richtig sind, so wird dadurch ein großer Teil
seiner weiteren Annahmen umgestoßen. Ich will mich da nicht
zu sehr verlieren und übersehe vielleicht auch die einzelnen
Maschen dieses diplomatischen Verkehrsnetzes noch nicht
genügend, um selbst das Gewirr zu lösen. Aber ich möchte
doch fragen, ob die Dinge vielleicht nicht noch einfacher ver-
laufen sind, als F. sie sich vorstellt. Der Kaiser in Verona
war nach den letzten Eröffnungen des Papstes aus dem Mai
offenbar noch im Anfang Juli voll Friedenszuversicht ^); nur
das erklärt seine unbesorgte Haltung. Er war von der Kurie
wohl absichtlich in dieser Täuschung möglichst lange festge-
halten, auch nachdem die Kriegspartei in Lyon wieder Ober-
wasser bekommen hatte. Ein Abbruch der so aussichtsreichen
letzten Verhandlungen war nicht erfolgt. Erst zu Beginn des
Konzils erkannte Thaddäus von Suessa den Umschwung zum
Schlimmen, seine Vollmachten reichten dafür nicht aus. Er
wünschte den Kaiser unter solchen Umständen mehr in die Nähe
oder gar ganz nach Lyon. Daher die Botensendung des Walter
von Ocra, wohl unmittelbar nach der ersten Konzilssitzung.^)
^) Noch in der am 8. Juli ausgestellten, wenn auch wohl ein
wenig früher konzipierten Urkunde Reg. Imp, V, 3490 tritt das
deutlich hervor.
*) Daß er schon am 27. Juni aufbrach, wie Ficker meint, ist
wohl kaum nötig. Ich möchte an den 29. Juni denken; dann
Mittelalter. 377
Papst und Kardinäle machten keine Einwendungen dagegen.
Walter traf nicht lange vor dem 8. Juli in Verona ein. Der
Kaiser ward durch die Nachrichten zum Aufbruch veranlaßt.
Er sandte Walter als Eilboten voraus, um die Fürstengesandt-
schaft anzukündigen, die, aus dem Bischof von Freising, dem
Deutschordensmeister und Peter von Vinea bestehend, neue
umfassendere Vollmachten bringen sollte, denn persönlich vor
dem Konzil zu erscheinen, lehnte Friedrich doch ab. Aber er zog
jetzt eilig — möglicherweise noch ein Stück Weges zusammen
mit jener Fürstengesandtschaft — bis Turin, um für etwaige
Verhandlungen dem Konzilsorte näher zu sein — wohl kaum,
wie F. S. 87 meint, um unmittelbar nach Abschluß des Friedens
mit dem Papste persönlich zusammenzutreffen, denn so sicher
konnte ihm der Frieden gerade nach den letzten Nachrichten
kaum mehr erscheinen.
Der Eilbote Walter von Ocra war der Fürstengesandt-
schaft eine Tagereise vorauf, aber beide kamen zu spät. Thad-
däus hatte zwar die Vertagung der dritten Sitzung auf d^n
17. Juli mit Hinweis auf die wahrscheinliche Herkunft Fried-
richs selbst durchgesetzt, aber bei der Kurie stand jetzt der
Entschluß zur Vernichtung des Gegners fest, wohl mindestens
schon seit Beginn des Konzils. Wenn F. die eigentliche Ent-
scheidung S. 97 in die Tage zwischen dem 5. und 17. Juli
verlegt, so kann es sich da wohl nur um den^ Entschluß zur
Überrumpelung des Konzüs handeln, nicht mehr um die Rich-
tung der kurialen Politik. Und auch auf eine bestimmte, da-
mals abgehaltene geheime Sitzung, in der man in einem Schein-
verfahren Für und Wider von Friedrichs Sache erörtert hätte,
möchte ich aus den Worten eines Papstbriefes ^) nicht mit F.
schließen. Denn mit dem Ausdruck „//i secretis*^ meint Inno-
zenz doch wohl allgemein die geheimen Konsistorialsitzungen,
die natürlich diese ganze Zeit über mehrfach stattfanden ; und
wären es bis zum 18. Juli abends, wo er wieder hätte in Lyon
sein können, der brieflichen Äußerung Friedrichs entsprechend
gerade 20 Tage, und zwar bis zum 8. Juli genau 10 Tage für die
Hinreise und von da 10 Tage für die Rückreise. Unmöglich ist
natürlich auch nicht, daß Friedrich dem Boten auf Eilnachricht
bis Cremona entgegenreiste (vgl. Heg. Imp. V, 3490 a).
>) Huillard-Br^holles VI, 347.
378 Literaturbericht.
es fragt sich auch noch, ob gewisse Kardinäle da wirklich nur
zum Schein oder vielmehr aus Überzeugung die Sache Fried-
richs verteidigten. Genug, als am 17. Juli noch keine neue
Vollmacht vom Kaiser eingetroffen war^), war alles Bemühen
des Thaddäus, den entscheidenden Schlag gegen seinen kaiser-
lichen Herrn abzuwenden, vergeblich.
Die Absetzungssentenz ist von F. mit dankenswerter Schärfe
analysiert; auch die juristische und politische Verteidigung
Friedrichs und die Antwort des Papstes — in ihren kirchen-
politischen Darlegungen ein Vorläufer der Bulle „unam sanc-
tam^ — sind gründlich und fördernd besprochen.
So scheidet man von dem Buche nicht ohne Dank für
vielfache Belehrung und Anregung, die es neben manchem
Verfehlten bietet, aber freilich auch mit dem Bewußtsein, daß
der Forschung auf diesem Gebiete noch Ernte übrig bleibt.
Heidelberg. K. Hampe.
Die Rechnungsbücher der hamburgischen Gesandten in Avignon
1338—1355. Bearbeitet von Dr. Th. Schrader. Hamburg
und Leipzig, Voß. 1907. 111 und 156 S., 3 Tafeln.
Heftige Streitigkeiten zwischen der Stadt Hamburg und
dem mächtigen Hamburger Domkapitel führten zu einem lang-
wierigen Prozeß, der 1337 vor die päpstliche Kurie kam, 1348
durch die Pest unterbrochen, erst 1353 wieder aufgenommen
und 1355 durch einen Vergleich beendet wurde, der dem
Domkapitel 1356 die Rückkehr in die Stadt ermöglichte. Der
VL legt uns nun die Rechnungsbücher und sonstige mit dem
Rechnungswesen zusammenhängende Aktenstücke der Ge-
schäftsträger vor, die die Stadt Hamburg in dieser Zeit an
*) Folz meint S. 98 Anm. 3 mit Ficker, der Papst sei von der
bevorstehenden Ankunft verständigt gewesen. Sicheres konnte
man in Lyon darüber schwerlich wissen, da Walter von Ocra
wohl so rasch wie möglich reiste, und kaum Eilboten voraus-
senden konnte, die ihn um mehr als zwei Tage überholt hätten.
Ich halte diese Annahme auch für durchaus unnötig. Thaddäus
erwartete täglich die Antwort des Kaisers und bat um Aufschub
bis dahin. Manche unterstützten das Gesuch, aber der Papst
wollte diese Rücksicht nicht mehr nehmen.
Mittelalter. 379
der Kurie unterhalten hat (als Gesandte möchte ich sie lieber
nicht bezeichnen, da das repräsentative Element völlig fehlt).
Eine ausführliche Einleitung behandelt den Prozeß selbst, die
Akten, Münzwesen und Geldverkehr und stellt übersichtlich
zusammen, was sich für die Kulturgeschichte nicht nur aus
dem veröffentlichten Material, sondern auch aus der umfang-
reichen Korrespondenz der hamburgischen Bevollmächtigten
entnehmen ließ, die im Jahre 1359 von Avignon nach Ham-
burg überführt wurde. Für die Preisgeschichte ist der Ertrag
geringer als sich erwarten ließ, da bei Einkäufen die Quantität
meistens nicht angegeben ist. Ausgabe und Einleitung sind
durchaus sorgfältig bearbeitet und verdienen um so mehr
Anerkennung, als der Vf. nicht Historiker, sondern als Land-
gerichtsdirektor in Hamburg tätig ist. In bezug auf Einzel-
heiten verweise ich auf die Besprechung von K. H. Schaefer
in der Römischen Quartalschrift 21 (1907), 151 ff. und füge
folgendes hinzu: Die juliati sind = gigliati, angiovinische
Silbermünzen, von denen 60 einer Goldunze des Königreichs
Neapel gleichgerechnet wurden; da man diese Goldunze mit
5 Goldfloren umzurechnen pflegte, so ergibt sich daraus ein
ungefährer Metallwert von 1 Eres, für den juliatus. Er ist
also ein grossus; ebenso sind die obuli albi (Robertini) nicht
halbe denarii parvi, wie der Vf. annimmt, sondern halbe grossi
(S. 22*). Der curreteriusy der als Fuhrmann erklärt wird
(S. 94 u. 151), ist in Wahrheit ein Sensal (coartier). Unter
den Lombarden de Bonocurs (S. 20* und 25*) ist die floren-
tinische Gesellschaft der Bonaccursi zu verstehen, die in
Avignon ihre Filiale hatte und z. B. im Jahre 1328 für die
Kurie 5000 Goldgulden an den Vizerektor der Mark Ancona
übermittelte (Davidsohn, Forsch, z. Gesch. von Florenz HI,
Nr. 924).
Brieg. Adolf Schaabe,
Die Anfänge der Fugger (bis 1494). Von Max Jansen. (Studien
zur Fugger-Geschichte. 1. Heft.) Leipzig, Duncker ^ Hum-
blot. 1907. X u. 200 S.
Der verstorbene Fürst Fugger nahm außerordentlich leb-
haften Anteil an allem, was die Geschichte seiner Familie be-
380 Literaturbericht.
traf, und es war einer seiner Lieblingspläne, diese in einem
monumentalen Werke behandelt zu sehen. Es ist hier nicht
der Ort, auseinanderzusetzen, weshalb der Wunsch unerfüllt
geblieben ist. Mit Freuden dürfen wir es aber begrüßen, daß
wenigstens in bescheideneren Formen auf Grund jener An-
regungen familiengeschichtliche Studien über die Fugger zu-
stande gekommen sind. Auch um die Anfänge der Fugger
hat die Tradition ihre Schleier gewoben und dadurch der
wissenschaftlichen Forschung mehr die Arbeit erschwert als
die Bahnen gewiesen. Aber der Vf. hat es mit großem Ge-
schick verstanden, die Pietät gegen die Überlieferung nicht
zu verletzen und trotzdem scharf zu unterscheiden zwischen
dem, was urkundlich feststeht, und dem, was nur der Legende
angehört. Es ist begreiflich, daß er auf einem so vielfach
durchforschten Gebiete keine überraschenden Entdeckungen
gemacht hat. Im einzelnen ist die Zahl der unbekannten oder
berichtigenden Notizen dennoch durchaus nicht unbeträcht-
lich. Nach der sorgfältigen Durchforschung der Archive, die
der Vf. vorgenommen hat, darf man nun aber wohl die Unter-
suchung auf diesem Gebiete als abgeschlossen ansehen. Der
Vf. hat sich ein besonderes Verdienst dadurch erworben, daß
er seiner Darstellung einen Anhang beigegeben hat, der neben
einigen Exkursen eine Reihe der wichtigeren Quellen auszugs-
weise oder in vollem Umfange wiedergibt.
Friedenau. Haebler.
Johann Ecks Pfarrbuch für U. L. Frau in Ingolstadt. Ein Beitrag
zur Kenntnis der pfarrkirchlichen Verhältnisse im 16. Jahr-
hundert von Joseph Greving. (Reformationsgeschichtliche
Studien und Texte, herausgegeben von Joseph Greving.
Heft 4 u. 5.) Münster i. W., Aschendorff. 1908. XIV u.
253 S.
Im Jahre 1904 veröffentlichte F. Falk : „Die pfarramtlichen
Aufzeichnungen des Florentius Diel zu St. Christoph in
Mainz (1492—1518)« (vgL H. Z. 94, 541). Dieser Schrift
schließt sich die vorliegende an. Nur daß Ecks Pfarrbuch
viel umfang- und inhaltreicher und durch die Person seines Ver-
fassers bedeutungsvoller ist. Eck hat es im Dezember 1525,
sehr bald nach seinem Amtsantritt an der Ingolstädter Frauen-
Reformationszeit. 381
kirche, begonnen, um seinen Nachfolgern zuverlässige Nach-
richten über alles das, was sie interessieren konnte, zu hinter-
lassen: wie der Kultus in der Kirche gehalten werden sollte,
welche Beziehungen sie mit der älteren Stadtpfarrei St. Moritz,
mit der Universität und dem Herzog verband, welches die
Rechte und Pflichten des Pfarrers, der Benefiziaten, Koopora-
toren waren, welche Bruderschaften sich zu der Kirche
hielten usw. Die den Kultus betreffenden Aufzeichnungen
hat er wahrscheinlich im Laufe des ersten Kirchenjahres, das
er in seiner neuen Stellung verlebte, zusammengetragen, die
große Masse der Nachrichten gehört überhaupt den ersten
Jahren seiner Tätigkeit an, doch hat er bis zum Februar 1532,
wo er resignierte, und dann wieder von 1538 — 1540, wo er
die Pfarrstelle noch einmal provisorisch verwaltete, zahlreiche
Nachträge gemacht, ebenso seine Nachfolger bis c. 1600.
Mit Verständnis und Geschick hat Greving die wichtigen und
interessanten Abschnitte ausgewählt. Im Anhang hat er zwei
nicht von Eck geschriebene Stücke gesondert mitgeteilt: den
ersten Teil der zwischen 1524 und 1545 aufgesetzten und
vielleicht unter Eck und auf seine Veranlassung hin einge-
tragenen „Ordnung des Gottesdienstes^ und einen von
einem Nachfolger Ecks um 1575 eingeschriebenen Abschnitt
9 De celebratione primitiarum*^ ,
Gr.s Publikation ist aber nicht nur ein wichtiger Beitrag
zur Kultus- und Kirchenrechtsgeschichte, sondern auch eine
sehr beachtenswerte Ergänzung des Lebens- und Charakter-
bildes Ecks. Sie lehrt uns den großen Polemiker «von einer
ganz neuen Seite, in der stillen Ausübung der alltäglichen
seelsorgerlichen Berufspflichten** kennen. Es sind durchaus
anziehende Eigenschaften, die hier an seinem Charakter zum
Vorschein kommen. Schon das muß uns für ihn einnehmen,
daß er 1525 mit Georg Hauer tauschte und statt der Moritz-
pfarre, die er seit Mai 1519 inne gehabt hatte, die Frauen-
pfarre, die bei größerer Seelenzahl geringeres Einkommen
hatte, übernahm und zwar weil er im Hinblick auf seine aka-
demische und literarische Tätigkeit die Last und Unruhe
eines bei dem St. Moritz-Pfarrhause nötig werdenden Neu-
baues scheute. Die Rücksicht auf seine akademische, litera-
rische und kirchenpolitische Tätigkeit war es auch, die ihn
Historische ZeittcbriH (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 25
382 Literaturbericht
1532 auf das Pfarramt mit seiner wachsenden Arbeitslast re-
signieren ließ. Die Verdächtigungen, die seine Gegner bei
dieser Gelegenheit aussprengten (Corpus reformatorum 11, 599,
Enders, Luthers Briefwechsel IX, 198 f.) sind grundlos, er
schied in allen Ehren und in vollem Frieden mit seiner Ge-
meinde. Es ergibt sich ferner, daß er ein sehr fleißiger und
{gewissenhafter Prediger war — in 6Vs Jahren hielt er trotz
wiederholter längerer Abwesenheit nicht weniger als 456 Pre-
digten (S. 92, 73 ff.) — und daß er sich bemühte, seinen
Mitarbeitern ein milder und uneigennütziger Vorgesetzter zu
sein. Es ist recht gut, daß die Charakteristik Ecks eine
solche Ergänzung und Berichtigung erTährt; die satirischen
Bemerkungen Mosellans, Pirkheimers u. a. haben, obgleich
man nicht verkannt hat, daß sie von Parteileidenschaft in-
spiriert sind, doch das allgemeine Urteil viel zu sehr be-
stimmt.
Die ganze Arbeit weist in gesteigertem Maße die Vor-
züge der das Unternehmen eröffnenden Studie desselben
Verfassers über Johann Ecks Chrysopassus auf (vgl. H. Z. 99,
574 ff.). Der Stoff ist nach jeder Richtung hin mit größter
Sorgfalt und mit ebenso gründlicher wie ausgebreiteter Ge-
lehrsamkeit durchgearbeitet.
Zwickau i. S. O. Giemen.
The Cambridge Modern History. Edited by A. W. Ward, G. W.
Protbero, Stanley Leatbes. Vol. V. The ageof Louis XIV.
Cambridge, University Press. 1908. XXXII u. 971 S.
Über Anlage, Vorzüge und Schwächen dieser allgemeinen
Geschichte der neueren Zeit, die von Engländern und wohl
in erster Linie für Engländer herausgegeben wird, ist in
dieser Zeitschrift wiederholt von maßgebender Seite berichtet
worden. Ref. darf sich daher wohl auf einige Bemerkungen
beschränken, zu denen der vorliegende das Zeitalter Lud-
wigs XIV. umfassende Band des Werkes Anlaß gibt. Im
Vordergrunde steht auch diesmal die politische Geschichte.
Sie wird von den zahlreichen Verfassern der einzelnen Ab-
schnitte in knapper, gemeinverständlicher, die Resultate der
neuen Forschung gewissenhaft und geschickt zusammen-
17. Jahrhundert. 383
fassender Weise vorgetragen. Ref. bedauert nur, daß Gründe,
die er nicht kennt, ein so weitgehendes Teilungsprinzip not-
wendig gemacht haben. Weniger wäre in diesem Falle besser
gewesen. Denn es hätten sich in diesem Falle die Wieder-
holungen desselben Gegenstandes und die verschiedenartige
Wertung der Ereignisse wie der Persönlichkeiten vermeiden
lassen, die für den weniger orientierten Leser nicht ersprieß-
lich wirken können. Über die Konflikte Ludwigs XIV mit
den europäischen Groß- und Mittelstaaten berichten vier
Autoren in vier verschiedenen Abschnitten und ebenso oft
werden die Kriegsereignisse geschildert, die diesen Kon-
flikten folgten. Man wird auch bezweifeln dürfen, daß es
zweckmäßig war, die englische Geschichte der Jahre 1660 bis
1702 von zehn Gelehrten schreiben zu lassen, zumal einige
vort denen, die zu der Arbeit herangezogen wurden — es
möge nur C. H. Firth genannt werden — unbedingt befähigt
gewesen wären, die ganze Periode in einer den höchsten
Anforderungen genügenden Weise zu bearbeiten. Daß die
einzelnen Abschnitte inhaltlich und formell nicht gleichwertig
sind, braucht wohl erst nicht hervorgehoben zu werden; da-
gegen erfordert es die Rücksicht auf die stille aber mühe-
volle Arbeit der Herausgeber zu betonen, daß keiner der
24 Abschnitte, in die der vorliegende Band zerfällt, ohne
Verdienst ist. Dem englischen Leser dürften die zu-
sammenfassenden Darsteüungen der russischen und der
preußischen Geschichte, die von den Herausgebern im Hin-
blicke auf das im Zeitalter Ludwigs XIV. stattfindende Ein-
treten dieser beiden Mächte in die Weltpolitik für den vor-
liegenden Band bestimmt wurden, besonders erwünscht sein,
während der deutsche Leser den einzelnen Autoren, welche
die englische Geschichte jener Zeit so eingehend erörtert
haben, zu besonderem Danke verpflichtet sein dürfte. Mit
größter Freude aber werden die Vertreter aller Nationen jene
Abschnitte des Werkes begrüßen, in denen hervorragende
Schriftsteller die englische und französische Dichtung des
17. Jahrhunderts, die bedeutungsvollen religiösen Strömungen
jener Tage, sowie die Fortschritte der Natur- und Geistes-
wissenschaften in Europa schildern. Wenn Ref. auch in dieser
Hinsicht einen Wunsch äußern dürfte, wäre es der, daß es
25*
384 Literaturbericht.
den Herausgebern gelänge, die einzelnen Mitarbeiter dafür zu
gewinnen, ihrerseits die Beziehungen zwischen der sozialen
und der politischen Geschichte in jedem einzelnen Falle kurz
zu charakterisieren.
Eine außerordentlich reichhaltige Bibliographie, — die eine
wesentliche Kürzung erfahren würde, wenn ein und dasselbe
Buch nur einmal angeführt würde — und ein vortrefflicher
Index beschließen den vorliegenden Band des großen Werkes,
dessen Beendigung wohl in Bälde zu erwarten steht.
Wien. A. F. Pribram.
Die Erinnerungen der Prinzessin Wilhelmine von Oranien an den
Hof Friedrichs d. Gr. (1751—1767). Von Dr. Gustav Berthold
Volz. Berlin, Alexander Duncker. 1903. 93 S. (Quellen
und Untersuchungen zur Geschichte des Hauses Hohen-
zollern. Bd. 7. 3. Reihe: Einzelschriften V.)
Prinzessin Wilhelmine von Oranien hat die hier publi-
zierten Memoiren im Exü in Berlin 1812 niedergeschrieben.
In zwei verschiedenen Redaktionen bewahrt sie das königliche
Hausarchiv im Haag: die erste mit dem Titel: ^Mes Sou-
venirs^ schließt bereits 1758, die zweite: „Afal^riaux pour
l'histoire de ma vie" geht bis zur Vermählung der Prinzessin
mit dem Erbstatthalter im Jahre 1767. Die Aufzeichnungen
sind vor allem wertvoll wegen der Erinnerungen der Prin-
zessin an die während des Siebenjährigen Krieges in Magde-
burg und später in Berlin verlebten Jahre. In den wesent-
lichsten Zügen ist ihr Bericht durchaus wahrheitsgetreu;
Gedächtnisfehler und sonstige Versehen hat der Herausgebe
berichtigt. Die knapp gehaltene Einleitung gibt einen guten
Überblick über den Lebenslauf der Prinzessin, die sich als
junges Mädchen der besonderen Zuneigung ihres großen
Onkels zu erfreuen hatte; mehrere dem Haager Hausarchive
entnommene Briefstellen (S. 23) zeigen das Interesse und die
Liebe des Königs für die einzige Tochter seines ältesten im
besten Mannesalter verstorbenen Bruders.
Göttingen. Ferd, Wagner.
18. Jahrhundert. 385
Sachsen und Preußen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein
Beitrag zur Geschichte des österreichischen Erbfolgekrieges
von Johannes Ziekursch. Breslau, M. u. H. Marcus. 1904.
VII u. 228 S.
Der Dresdener Friede und die Politik Brühls. Von Reinhold
Becker. Leipzig, S Hirzel. 1902. XIV u. 113 S. (Biblio-
thek der sächsischen Geschichte und Landeskunde, heraus-
gegeben von Dr. Gustav Buchholz, a. o. Professor an der
Universität Leipzig. 1. Bd., 1. Heft.)
Die heutigen Anschauungen über den Kurstaat Sachsen
um die Mitte des 18. Jahrhunderts beruhen auf den Darstel-
lungen in der „Histoire de mon temps*" und auf den in der
politischen Korrespondenz Friedrichs des Großen veröffent-
lichten preußischen Gesandtschaftsberichten. Der Ministerresi-
dent von Ammon, auf den zum guten Teile die pikanten Anek-
doten in der j,Histoire^ über Hof und Staat in Sachsen zurück-
gehen, war sehr eingenommen gegen den Minister Grafen
V. Brühl und ohne jede Kritik in dem, was er von ihm nach
Berlin berichtete (S. 21). Wie sich nun tatsächlich die Politik
Sachsens in den ersten Jahren des Erbfolgekrieges gestaltet
hat, von welchen Motiven sich der damalige Premierminister
leiten ließ und welche Gründe das Unterliegen Sachsens be-
wirkten, diese Frage beantwortet Joh. Ziekursch in seinem
vortrefflichen Buche: , Sachsen und Preußen um die Mitte
des 18. Jahrhunderts.*
Die bisher nur wenig eingesehenen Aktenbestände des
Dresdener Hauptstaatsarchives sind benutzt worden, und mit
Geschick hat Vf. die sehr umfangreiche Literatur älteren und
neueren Datums in seinem Werke verwertet. Das Ergebnis
seiner Forschung ist folgendes: Der Erwerb Niederschlesiens
war politisch und wirtschaftlich für den Kurstaat Sachsen im
18. Jahrhundert eine unabweisbare Notwendigkeit, die der
Minister Brühl auch richtig empfindet und im Auge behält.
Damit kam er in Todfeindschaft mit König Friedrich dem Großen,
nachdem dieser ihm mit überraschender Schnelligkeit in der
Besetzung Schlesiens zuvorgekommen war.
War nun von vornherein für Sachsen der Kampf verloren?
Direkt beantwortet der Vf. diese Frage nicht, er weist nur
darauf hin, daß der großen Heeresschöpfung Friedrich Wil-
386 Literaturbericht.
heims 1. der König-KurfUrst 1740 nur 24000 Soldaten, alles
Landeskinder, entgegenzustellen hatte (S. 24). Allerdings war
Sachsen damals imstande, eine größere Armee aufzubringen,
denn im Herbst 1742 stieg die Zahl der Truppen auf 46000 Mann
(S. 222). Nur zum Teil mißt Z. die Schuld an der Zer-
rüttung der sächsischen Finanzen, die zu einer Reduktion
der Truppen im Mai 1756 auf 19000 Mann zwangen (S. 205),
der Verschwendungssucht des Königs und des Ministers zu
(S. 27). Die Gründe lagen zum großen Teile in der geo-
graphischen Position des Landes.
Die Wirtschaftspolitik Friedrich Wilhelms I. und außerdem
die an der schlesischen Grenze von Kaiser Karl VL schon
zu Lebzeiten Augusts des Starken eingesetzten hohen Zölle
haben die Ausfuhr der sächsischen Industrieprodukte geschädigt.
Unbedingt nötig für den Bestand der Leipziger Messen war
die Erhaltung des so überaus wichtigen Marktes in Polen.
Aber auch der ungehinderte Verkehr mit Schlesien war für
die sächsische Wollen- und Leinwandindustrie nicht zu ent-
behren, denn von dort wurden große Quantitäten von Garn
und Flachs nach Kursachsen eingeführt (S. 3, 5). Neben dem
durchaus berechtigten Wunsche der Kurfürsten nach einer an-
sehnlichen Territorialvergrößerung war der Erwerb mindestens
von Niederschlesien direkt eine Lebensfrage für die Fort-
entwicklung der sächsischen Industrie und des ganzen Landes.
Die sächsischen Staatsmänner durften die sich beim Aussterben
des habsburgischen Mannesstammes eröffnenden Aussichten
nicht außer acht lassen. Es galt, die alte Machtstellung der Alber-
tiner neben Preußen und Bayern zu behaupten. Wie wenig
sich Brühl damals als umsichtiger Diplomat bewährte, legt das
2. Kapitel, „der Frankfurter Partagevertrag*, dar. Der am 19. Sep-
tember 1741 abgeschlossene Vertrag war nach dem Vf. eine
schwere Niederlage Sachsens, dem darin ein Gebietszuwachs
angewiesen wurde, der sich gar nicht behaupten ließ (S. 72).
Brühl hätte im Frühjahr 1741 in Versailles bessere Bedingungen
erlangt, damals wäre er hochwillkommen gewesen, man konnte
ihn dort sehr gut neben Bayern und Preußen gebrauchen. Die
bisher geltende Meinung, die sich namentlich auf Ranke stützt,
daß Brühl außer mit England und der Königin von Ungarn
auch mit Frankreich die ganze Zeit über verhandelt habe,
18. Jahrhundert. 387
wird von Z. widerlegt. Mit Preußen war ja ein Zusammen-
gehen nicht möglich, dies erkannte Brühl nach einigem Son-
dieren. Der Tag von Mollwitz hat zwar im ersten Momente
konsternierend in Dresden gewirkt, dieser Eindruck verlor sich
aber bald, als Neipperg Schlesien nicht räumte. So hat der
Marschall Belle-Isle bei dem zweimaligen Besuche in Dresden
nichts erreicht, besonders seine loyale Erklärung, daß Nieder-
schlesien im ganzen Umfange Friedrich zugesichert wäre, nahm
Brühl alle Lust zu ernstlichen Verhandlungen. Aus der Poli-
tischen Korrespondenz ersehen wir dann, mit welchem Miß-
behagen Friedrich der Große die endlich doch erfolgte Annähe-
rung Sachsens an die französische Allianz wahrnahm, er vergaß
sich sogar gegenüber Belle-Isle soweit, die Sachsen als ^ees
mdchants voisins et faux amis^ zu betitein (S. 66). Mit Recht
sagt der Vf., daß der geglückte Versuch Frankreichs Sachsen
zu den Gegnern Maria Theresias hinüberzuziehen bei Friedrich
sehr stark mit eingewirkt habe, auf das Abkommen von Klein-
Schnellendorf einzugehen. Brühl ist bei seinen guten Verbin-
dungen im Lager Neippergs schon nach 14 Tagen von der
erfolgreichen Mission des englischen Ministers unterrichtet
gewesen (S. 75), gab auch getreulich sein Wissen an Belle-
Isle weiter (S. 81) und suchte es zum eigenen Vorteil auszu-
nutzen.
Das 3. und 4. Kapitel behandeln die kriegerischen Ereig-
nisse an der Donau während des Sommers 1741 und die in
Böhmen und Mähren in dem darauffolgenden Winter. Der VL
hat viel Mühe darauf verwandt, die Entwicklung der Opera-
tionspläne des Marschalls Belle-Isle zu erklären; durch die
ihm fortwährend zugehenden Nachrichten und Wünsche der
verschiedenen Kabinette waren sie einem beständigen Wechsel
unterworfen. Der Marschall hat sich damals durchaus korrekt
benommen, der ihm im preußischen Generalstabswerke ge-
machte Vorwurf der Doppelzüngigkeit läßt sich nicht aufrecht-
erhalten. Gestehen wir es ein, das der eigentliche Hemmschuh
Preußen war, und daß an zweiter Stelle Sachsen kam, das
seine besten Karten damit aus der Hand gab, daß es nicht
bereits im September 1741, wie Moritz von Sachsen vorschlug,
seine Armee in Böhmen einmarschieren ließ und sich in den
Besitz der Landstriche setzte, die ihm am besten gelegen
388 Literaturbericht.
waren. Das ängstliche Abwarten Brühls und Hinhorchen
nach den fremden Kabinetten hat sich bitter gerächt.
Eingehend weilt Vf. bei der ehrenvollen Teilnahme des
sächsischen Korps an der Eskalade Prags, doch soll man
nicht tibersehen, daß die österreichische Besatzung nach der
Übergabe nur noch 1894 Köpfe zählte. In sehr gutem Lichte
zeigt er den Grafen Moritz von Sachsen, der das aggressive
Element war, erst an der Donau und später vor Prag, dessen
Rat aber von Brtihl nicht geschätzt, vielmehr mit Mißtrauen
entgegengenommen wurde.
In der Beurteilung der Motive Friedrichs des Großen bei
der Eröffnung des Mährischen Feldzugs schließt jsich Z. der
Darstellung Rankes an, hebt aber ein bisher nicht beachtetes
Moment hervor, das hauptsächlich Friedrich den Großen nötigte,
aus der monatelangen Passivität hervorzutreten. Der König
erfuhr Anfang Januar 1742, daß Brtihl nahe daran war, den
Königgrätzer Kreis als Bindeglied zwischen Sachsen und Mähren
von Frankreich zugesichert zu erhalten (S. 136). Auf diesen
Kreis hatte er selber auch sein Augenmerk gerichtet, es galt,
Sachsen an diesem ftir Preußen nicht erwünschten Machtzu-
wachs zu hindern und es sich nicht tiber den Kopf wachsen
zu lassen.
Brühls Weigerung, die sächsische Armee durch ein schrift-
liches Abkommen Friedrich zu unterstellen, ist durchaus be-
rechtigt (S. 143), und ist die „Hlsioire'' in ihrer Beschreibung
der Dresdener Tage im Januar 1742 parteiisch und einseitig.
Später, nach der Besetzung Iglaus, ließ Brtihl, trotz des Wider-
spruchs der Generalität, das sächsische Korps unter Fried-
richs Oberbefehl in der nicht unrichtigen Erkenntnis, daß
der König bei einem erneuten Abfall, auf den die wieder auf-
genommenen Verhandlungen mit Maria Theresia hinwiesen,
Sachsen berticksichtigen mtißte (S. 151).
Die ganzen Leiden, die der Winterfeldzug in Mähren dem
sächsischen Korps auferlegte, erfahren wir aus den vom Vf.
benutzten Akten des Dresdener Archives. Eine detailliertere
Geschichte des Mährischen Feldzuges hat nicht in seinem
Plane gelegen; so vernehmen wir leider nichts über das in
militärischer Hinsicht merkwürdige Verhalten Friedrichs in den
ersten Tagen des Februar 1742 vor Brunn. Ohne große Schwie-
18. Jahrhundert. 389
rigkeit hätte der König damals die, wie die österreichischen
Quellen zugeben, fast unbewehrte Hauptstadt Mährens ein-
nehmen können. Sein Verhalten ist vom militärischen Stand-
punkte nicht zu verstehen und findet allein dadurch seine Er-
klärung, daß Friedrich die Hauptstadt von Mähren dem säch-
sischen Kurfürsten nicht einräumen wollte.
Deutlicher konnte sich dann die Unversöhnlichkeit der
preußischen Bestrebungen gegen die sächsichen nicht zeigen,
als in dem Versuche Friedrichs, Anfang April 1742 unter Fallen-
lassen seiner Alliierten, Bayern und Sachsen, den Königgrätzer
und Pardubitzer Kreis direkt von der Königin von Ungarn für
sich selbst zu gewinnen.
Mit großer Erbitterung gegen Preußen sind bekanntlich
die Trümmer des sächsischen Korps nach Böhmen zurückge-
kehrt. Brühl selbst hatte um so mehr Grund erzürnt zu sein,
als er gerade dem Könige die Truppen zur Verfügung gestellt
und sich in jener Zeit gegen Preußen durchaus korrekt ver-
halten hatte. Der einseitige Friedensschluß Friedrichs mit Maria
Theresia, ohne daß von Seiten des ersteren der Dresdener
Hof in Kenntnis gesetzt war, erregte dort die größte Bestürzung.
Im 5. und letzten Kapitel setzt Vf. auseinander, wie
sich Brühl in dieser schwierigen Situation als Minister zu
halten wußte, in Frieden sich von den Franzosen trennte
(S. 170) und mit der Königin von Ungarn wieder in Verbin-
dung trat. König und Minister wußten nun den Wert einer
starken Armee zu würdigen ; eifrig wurde in Sachsen gerüstet,
und als sich am Ende des Jahres die Zahl der Truppen auf
46000 Mann (s. Anhang VI, S. 222) belief, war Sachsen wieder
ein Faktor, mit dem man in Deutschland zu rechnen hatte.
So kam mit Maria Theresia das Wiener Bündnis vom 20. De-
zember 1743 zustande. Unwillkürlich muß sich der Leserfragen,
weshalb von Brühl die Vermehrung der Armee, die seiner
Diplomatie ein ganz anderes Gewicht gegeben hätte, nicht ein-
einhalb Jahr früher ins Werk gesetzt worden ist. Mit mög-
lichst geringem Einsatz hoffte er eben das zu erreichen, was
dem Lande not tat; während er verhandelte, sagt Z. an einer
Stelle, handelte Friedrich und gewann Schlesien. Z. schließt
seine Darstellung mit dem Augenblicke, als Sachsen offen an
Österreichs Seite am zweiten Schlesischen Kriege teilnahm.
390 Literaturbericht
Mit demselben Jahre nimmt Reinhold Becker den Faden
auf mit seinem an zweiter Stelle genannten Buche «Der Dres-
dener Friede und die Politik Brühls''. Auch B. geht in seiner
exakten Arbeit von der Erwägung aus, daß der Minister im
Interesse des Staates den Gewinn eines ansehnlichen Zu-
wachses an Land und Leuten zur Richtschnur seiner Politik
machen mußte. Nach dem Obergang Schlesiens in preußi-
schen Besitz konnte sich der König-Kurfürst, wenn er nicht
kampflos auf seine polnische, d. h. europäische Stellung ver-
zichten wollte, der Teilnahme an der gegen Preußen gerich-
teten Koalition nicht entziehen (S. 6). Beim unglücklichen
Ausgange des Feldzuges rächte sich das Versäumnis Brühls,
sich nicht in den Verträgen mit Österreich gegen die Mög-
lichkeit eines Mißerfolges gedeckt zu haben (S. 31). Somit
war der Wiener Hof im Rechte, als er die von Brühl im De-
zember erhobenen Entschädigungsansprüche an Land oder Geld
zurückwies. In seinem Ärger über diesen Echec suchte Brühl
bei Friedrich dem Großen Hilfe, der auch im ersten Separat-
artikel des Friedensvertrages das Versprechen gab, beim Wiener
Hofe vollständige Entschädigung und Genugtuung auszu-
wirken (S. 33). Ungewiß läßt es Vf., ob der zweite Separat-
artikel, der den Obergang Erfurts an Sachsen ins Auge faßt,
von Brühl herrührt oder von Friedrich aufgesetzt worden ist
(S. 34).
Ohne Zögern zog Brühl die sich für Sachsen ergebenden
Konsequenzen aus dem Dresdener Frieden. Die Denkschrift
vom Januar 1746 — im Anhange IV abgedruckt — verzichtet
auf jede fernere aggressive Politik in Hinsicht auf die Not-
lage des Landes. Die Furcht vor seinen Widersachern am
Hofe, wo die preußische Partei sehr rührig war, mag ihn be-
wogen haben, sich gegen alle Anerbietungen des Wiener Hofes
ablehnend zu verhalten (S. 48). Als drückende Fessel empfand
man jetzt in Dresden den vor Jahresfrist mit den Seemächten
abgeschlossenen Subsidienvertrag, denn nach dem Frieden
mit Friedrich trat nun der sechste Paragraph des Vertrages
in Kraft, der Sachsen gegen Fortzahlung der Subsidien die
Stellung eines Korps von 10000 Mann auf dem Niederländi-
schen Kriegstheater auferlegte (S. 65). Aus dem Fortgange
des Krieges in den Niederlanden und Italien zog Sachsen
18. Jahrhundert 391
keinen Vorteil. Da es auch im Frieden fremder Subsidien
bedurfte, so wurde der Versuch, mit Frankreich und Spanien
anzuknüpfen, zur absoluten Notwendigkeit (S. 70). Die ersten
Eröffnungen gingen Ende Januar 1746 von Brühl aus, nicht
von Frankreich, wie bisher angenommen wurde. Außer dem
Monarchen wurde von Brühl niemand, selbst nicht der säch-
siche Gesandte in Paris, ins Geheimnis gezogen. Dem An-
schein nach durfte Sachsen auf großes Entgegenkommen
rechnen, nachdem im vergangenen Jahre der französische Hof
dreimal mit dem Kurfürsten Fühlung gesucht hatte. So bereit-
willig aber, wie es sich Brühl dachte, ging der französische
Minister d'Argenson nicht auf seine Wünsche ein ; ihm waren
zwar die sächsischen Eröffnungen höchst willkommen, die
Akten widerlegen die gegenteilige Ansicht Vitzthums (S. 95
Anm. 1), aber die von Brühl erhobenen Forderungen schienen
viel zu hoch. Trotzdem hat Brühl in Paris alle seine Wünsche
erreicht; er war dabei so vorsichtig, die Fäden, die nach
England und Holland führten, nicht vorzeitig zu durchschneiden
(S. 86); die Mißerfolge Frankreichs in Oberitalien kamen ihm
zugute, und schließlich gab die Hofpartei in VersaUles, geleitet
durch den Marschall von Sachsen, den Ausschlag zugunsten
des sächsischen Ministers.
Der Vf. legt viel Wert auf den Nachweis, daß Brühl einen
Bruch mit Österreich oder gar mit Rußland nie geplant habe.
Unbedenklich konnte Brühl später den Wortlaut des neuen
Bündnisses in Wien und Petersburg mitteilen, da er alles fem
gehalten hatte, was die beiden Mächte verstimmen konnte
(S. 113). Auch gegen Friedrich den Großen übte der säch-
sische Minister die gleiche Vorsicht. Die Behauptung A.Schae-
fers (Hist. Zeitschr. 15, 131), daß Brühl gleich nach dem
Frieden das alte Spiel wieder begonnen und bei den fremden
Höfen gegen Preußen intrigiert habe, weist B. auf Grund der
Akten als unrichtig nach. Schon die Rücksicht auf seine
Gegner im Lande, die eine engere Verbindung mit Preußen
wünschten, nötigte ihn zu großer Zurückhaltung. Die Hoff-
nung auf eine spätere Abrechnung wird bei ihm wach ge-
blieben sein; schon im Frühjahr 1746 rechnete er mit der
Möglichkeit einer Allianz der Höfe von Wien und Versailles
(S. 131).
392 Literaturbericht.
Zu günstig beurteilt scheint mir die militärische und
politische Stellung Friedrichs des Großen nach dem Friedens-
schlüsse, wenn der Vf. einen Unterschied konstatiert, ob der
Sieger Friedrich sich Enthaltung auferlege oder der Besiegte
(S. 130). Die großen Opfer, die der unglückliche Feldzug von
1744 gefordert hatte, und der leere Schatz erlegten dem Könige
eine vorsichtige, zurückhaltende Politik auf und lassen an der
Aufrichtigkeit seines im September 1746 an Sachsen gerich-
teten Allianzvertrages nicht zweifeln (S. 128). Aber die poli-
tischen Konstellationen, die Friedrich dem Großen ein freund-
schaftliches Einvernehmen mit dem sächsischen Hofe nahe-
legten (S. 123), konnten über Nacht eine Änderung erfahren,
und wie wenig dann auf seine Bundestreue zu bauen war,
hatten die Ereignisse der letzten fünf Jahre allen offenbart
In dieser Zeitschrift (Bd. 90 S. 342) ist bereits darauf hin-
gewiesen, daß Professor Gustav Buchholz als Herausgeber
der „Bibliothek der sächsischen Geschichte und Landeskunde''
in der Einführung die Ziele der neuen Publikation begründet,
welche sich die Aufgabe gestellt hat, die bisher recht ver-
nachlässigte neuere sächsische Geschichte wissenschaftlich
zu bearbeiten.
Göttingen. F. Wagner.
Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Ein märkischer Edel-
mann im Zeitalter der Befreiungskriege, herausgegeben (so I)
von Friedrich Meusel. 1. Bd. Lebensbeschreibung. Berlin,
E. S. Mittler & Sohn. 1908. XV u. 736 S.
In dem Nachlaß des 1837 verstorbenen märkischen Patrioten
sind neben politischen und militärischen Ausarbeitungen und
Briefen vorhanden militärische Tagebücher aus den Jahren 1805,
1807, 1813 — 1815, dann zusammenfassende Aufzeichnungen
im Hauptrechenbuch für die Jahre 1804 — 1828, die meist wenige
Jahre nach den Ereignissen und zwar anscheinend in einem
Zug geschrieben sind (das sog. „Hausbuch^) und endlich
wirkliche Memoiren, die er unter dem Namen „Nachrichten
aus meinem Leben*" nach 1832 großenteils aus der Erinnerung
(S. 210) ausführlich in nicht weniger als 5 Foliobänden bis
1808 fertiggebracht hat. Es ist als besonderer Glücksfall zu
betrachten, daß von diesem lebensklugen und wahrheitsmutigen
19. Jahrhundert. 393
Kämpfer, der freilich ein sehr eigenrichtiges Selbstgefühl in
der tapferen Brust barg und ein unnachsichtiger Hasser sein
konnte, so zahlreiche Blätter auf die Nachwelt gekommen
sind. Auszüge aus allen den genannten Aufzeichnungen, aus-
schließlich der Briefe, waren in zwei Bänden 1852 unter dem
Titel „Aus dem Nachlaß F. A. L. von der Marwitz"" veröffent-
licht und von der Wissenschaft gern benutzt worden. Daß der
Kabinetsrat Friedrich Wilhelms IV., Markus Niebuhr, der Be-
arbeiter, war bekannt. Eine Überraschung ist es, nunmehr aus
dem Vorwort der Meuselschen Neuausgabe zu ersehen, daß
Ranke der Ratgeber der Familie bei Bestimmung des zu ver-
öffentlichenden Stoffs gewesen ist und daß politische Rück-
sicht für Schonung des Andenkens Friedrich Wilhelms III.
sein Urteil hierbei gelenkt hat. Man begreift das, wenn man
weiß, daß die Publikation im Sinne der damals siegreichen
Partei politisch zu wirken bestimmt war. Aber man er-
staunt doch, wenn man hört, nicht nur wie stark die Auslassun-
gen, sondern auch absichtlichen Entstellungen gewesen sind.
Der Herausgeber hat nun auch jetzt geglaubt, auf Abdruck
des Ganzen verzichten zu müssen: er schlägt das Mitzuteilende
auf V6 der autobiographischen Aufzeichnungen an. Nicht über
das „Ob*, sondern nur über das „Wie** möchte ich, ohne das
Verdienst dieser sehr erwünschten Ausgabe, der noch zwei Bände
mit Briefen, militärischen Tagebüchern und Denkschriften folgen
sollen, zu verkennen, einige Bemerkungen mir erlauben. Aller-
dings wird man es schwerlich ohne weiteres gutheißen, daß
nicht wenige Partien, die in der Ausgabe weggelassen sind,
bereits in der Sonntagsbeilage der Vossischen Zeitung und
auch in den Forschungen zur Brandenburgischen und Preußi-
schen Geschichte abgedruckt worden sind. Warum das? Wenn
es galt, Platz zu sparen, so hätte man z. B. lieber die Feld-
züge von 1792 — 1794, an denen Marwitz nicht teilnahm und die
er nur nach fremden Berichten darstellt, vermißt als so manches
andere, z. B. den in den Nachtragsband verwiesenen Feldzug
von 1806, S. 302, s. 320. Aber mehr Gewicht lege ich auf
Auslassung einzelner Stellen und angeblich zu harter Urteile.
Einseitig harter Urteile ist das Buch voll: es geht nicht an
und beruht auf einer Verkennung der Aufgaben wissen-
schaftlicher Veröffentlichungen, wenn hier aus dynastischen
394 Literaturbericht.
oder sonstigen Rücksichten Ausnahmen gemacht werden. Was
hätte es bei der zwar treffenden, wenngleich vielleicht ein
wenig zu herben Beurteilung, die Friedrich Wilhelm IIL an
verschiedenen Stellen erfahren hat, verschlagen, wenn der
S. 171 weggelassene Tadel stehen geblieben wäre! Ohnedies
läßt sich aus dem, was ebenda und sonst der Königin als aus-
zeichnend vor ihrem Gemahl nachgerühmt wird, und dem,
was S. 264 über den König abgedruckt ist, unschwer erschließen,
was dagestanden haben wird. Ahnliches kommt öfters vor,
z. B. 416. Aber meinen Augen hätte ich beinahe nicht getraut,
wenn ich S. 703 ein Urteil über die militärischen Fähigkeiten
des Prinzen von Preußen aus dem Jahre 1826 als zu scharf
gestrichen fand. Wie ich höre, darf die Rüge wegen dieser
unzulässigen Prüderie nur teilweise den Herausgeber treffen,
der im Interesse des Zustandekommens der Ausgabe unbe-
rufener Beeinflussung, und zwar nicht von Seite der Familie
seines Helden, zu willig sich gebeugt hat.
Abgesehen davon kann man sich der Bereicherung unserer
Auffassung durch dieses Werk, hinaus über das, was die erste
Bearbeitung ans Licht gebracht, mit Recht freuen. Es steckt
doch noch weit mehr in diesem Eisenkopf, als man ohnedies
schon wußte. Manche Partien seines Jugend- und Liebeslebens
sind von einer bezaubernden Zartheit und Innigkeit, die man
dem manchmal wachtstubenmäßig scheltenden Autor schwer
zugetraut hätte. Auch kulturgeschichtlich und politisch ist das
Gegebene wertvoll. Es kann kaum schärferes Licht auf die
in Preußen 1809 gegeneinander ringenden Kräfte geworfen
werden als durch den S. 527 wiedergegebenen Dialog zwischen
Marwitz und einem Mitglied der Bewegungspartei.
Die erklärenden Anmerkungen des Herausgebers genügen
dem Bedürfnis, dagegen wären Hinweise auf speziellere
Werke da erwünscht, wo es sich um kritische Beanstandung
der Angaben im Text handelt. Doch sind auch bei den Er-
klärungen leicht vermeidbare Ungenauigkeiten untergelaufen.
So wenn S. 220 Kutusow als Sieger von Smolensk bezeichnet
oder wenn S. 548 Fürst Schwarzenberg als Nachfolger Wittgen-
steins genannt ist.
Greif swald. //. Ulmann,
19. Jahrhundert 395
Vom Leben am preußischen Hofe 1815—1852. Aufzeichnungen
von Karoline v. Rochow geb. von der Marwitz und Marie
de la Motte-Fouqu^. Bearbeitet von Luise von der Marwitz.
Berlin, E. S. Mittler & Sohn. 1908. Mit 2 Bildnissen. XVI
u. 4% S.
Die bis ins letzte Jahrzehnt der Regierung Friedrich Wil-
helms III. sich erstreckenden und nur gelegentlich einmal
weiter ausgreifenden Aufzeichnungen der Frau des Ministers
von Rochow, einer Schwester Ludwigs von der Marwitz, sind
erst 1854 niedergeschrieben. Das könnte anscheinend darüber
trösten, daß die Herausgeberin sich für verpflichtet erachtet
hat, w Erzählungen und Urteile diskreter Natur auszuschalten '^
(S. VI), denn am Lebensabend pflegen die Dinge leicht anders
angesehen zu werden als im Strom der Ereignisse. Aber so
manches, was stehen geblieben ist, beweist eine überaus sym-
pathische Natur, einen so offenen Geist, ein so im besten
Sinne echt weibliches Empfinden, daß man ungern weiteres,
nach dem leider öfters angewendeten Muster höfischer Be-
richte sich entzogen sieht. Wie interessant spricht sie über
die moralischen Folgen der religiösen Erziehung im Zeitalter
des Rationalismus und dem der Orthodoxie (S.21). Wie typisch
für ein weibliches Gemüt ist die von Napoleons Erscheinung
abstrahierte Unterscheidung „einer Größe, der man sich mit
Schauer beugf", von , einer Gewalt, vor der man mit Wider-
willen zurückschreckt*" (28). Den Historiker wird vor allem
die lebensvolle Schilderung der Persönlichkeiten des Hofes,
der Gesellschaft, der eigenen Familie interessieren. Die
ministerielle Tätigkeit ihres Gatten (1834^1842) ist nicht in
den Bereich der Darstellung gezogen.
Dafür bieten die auszüglich angefügten Tagebücher und
Briefe ihrer Schwägerin, der Stiefschwester Rochows, einen
Ersatz. Sie sind in mehrfacher Beziehung lehrreich, aber an
allgemeinem Interesse mit denen Karolines v. R. nicht zu ver-
gleichen. Erwähnt sei, daß Rochow bei Friedrich Wilhelm IV.
gegen die Berufung der Gebrüder Grimm intervenierte (373),
was der Herausgeberin bei der Formulierung ihres Urteils
über den Minister entfallen zu sein scheint. S. 99 in den
Erinnerungen der Frau von Rochow sind wohl die königlichen
3% Literaturbericht.
Verfassungsversprechen vom Mai 1815 gemeint und nicht
Artikel 13 der Bundesakte.
Greifswald. //. Ulmann,
Kleist-Retzow. Ein Lebensbild von Dr. Herman v. Petersdorff.
Stuttgart und Berlin, J. G. Cotta Nachf. 1907. XII u. 556 S.
Hans V. Kleist-Retzow, geboren 1814, gestorben 1892, ist
unserer Zeit noch in lebendiger Erinnerung, denn er war in
seinen letzten Lebensjahren die charaktervollste und respek-
tabelste Erscheinung in den Reihen der konservativen Partei.
Wenn der kleine straffe Mann im Reichstage, im Herrenhause
oder in der Synode einmal das Wort ergriff, immer als Kämpfer
und Bekenner zugleich, so verkörperte er dabei in höchst
fesselnder Weise fünf inhaltsreiche Jahrzehnte von preußischem
Konservatismus. Man sah dessen Wurzelwerk dann gleichsam
leibhaftig vor sich und verglich damit den leichteren Nach-
wuchs um ihn herum, verglich ihn aber auch mit der noch
ungleich mächtigeren Erscheinung, die unmittelbar neben ihm
aus demselben Boden hervorgegangen war. Man kennt ja aus
Bismarcks Briefen an seine Gattin den „Onkel Hans^, mit dem
Bismarck 1849 in einer Wohnung zusammenhauste, den tyran-
nischen Frühaufsteher und Beter, der dann in den fünfziger
Jahren als Oberpräsident in Koblenz noch ein so gottseliges
Leben mit Morgen- und Abendandacht führte, daß es der über
ihm wohnenden Prinzessin von Preußen auf die Nerven fieh
Wenn man sich einen Augenblick Bismarck in der Rolle von
Goethes Sturmlied-Wanderer vorstellen darf, so ist sein tapferer
Onkel neben ihm der „kleine, schwarze, feurige Bauer**, der
immer zu dem wärmenden Feuer seiner ursprünglichen Über-
zeugungen zurückkehren darf, während der Wanderer höheren
Gluten zustrebt. Man hatte früh ein Gefühl davon, daß von
den beiden, die als politische Kameraden auftraten, Hans der
Taktfestere für die Partei sei, denn als Ludwig von Gerlach
am 3. Oktober 1848 Moritz v. Blankenburg fragte, wem er mehr
traue als Minister, Hans Kleist oder Bismarck, antwortete jener
sofort: „Hans Kleist.* Und ein Hauptreiz seines politischen
Lebensganges besteht dann eben darin, wie er sich bald mit
demjenigen Bismarcks berührt, bald sich wieder von ihm ent-
fernt; wie die beiden sich in oft dramatischen Konflikten die
19. Jahrhundert. 397
Zähne zeigen und dann wohl zu gemeinsamen Zwecken, aber
nie wieder zu völliger innerer Gemeinschaft zusammenfinden
können. Man lernt nicht aus an solchem Schauspiel, denn
man sieht alle historischen Kräfte des alten Preußens und
des preußischen Junkertums insbesondere hier in freundlich-
feindlicher Bewegung ineinander. Kleist war z. B. schon als
rheinischer Oberpräsident und dann in den Tagen der Sozial-
reform ein eifriger Vorkämpfer der Sonntagsruhe, von der
wiederum Bismarck nicht viel wissen wollte. Beide zeigten
darin ein Stück ihrer Junkernatur, der eine mit christlich-
patriarchalischem, der andere mit mehr agrarischem Einschlag.
Wiederum lebt auch in denjenigen sozialreformerischen Ge-
danken, die sie gemeinsam vertraten, ein Stück von jener
altpreußischen Staatsweisheit und Staatsklugheit zugleich, die
wohl soziale Pflichten des Staates und der Gesellschaft nach-
drücklich anerkennt, aber durch ihre Organisierung auch
gleichzeitig neue Machtmittel für den Staat und die im Staate
herrschenden sozialen Schichten zu schaffen beflissen ist.
Ähnlich lassen sich Verwandtschaft und Gegensatz zwischen
Kleist und Bismarck auch an ihren Anschauungen über das
Verhältnis von Staat und Kirche demonstrieren. Bismarck
hatte, wie man weiß, von Hause aus als Mensch der Kirche
gegenüber gewisse independentistische Neigungen, ist durch
sie gerade auch mit in den christlich-germanischen Kreis ge-
zogen worden, aber hat als Staatsmann nicht entfernt daran
gedacht, die Konsequenzen des Independentismus zu ziehen
und die Landeskirche aus den Banden des Staates zu ent-
lassen. Die bekannten kirchenpolitischen Anträge, die Kleist
und Hammerstein 1886 stellten, schienen dann gerade dies zu
beabsichtigen, aber Petersdorff weist mit Recht darauf hin,
daß sie nur den Einfluß der staatlichen Bureaukratie auf die
Kirche, aber nicht den des Monarchen als summus episcopus
beseitigen wollten. Das heißt, das independentistische Moment,
das in der christlich-germanischen Bewegung in Preußen von
vornherein mit lebendig war und ein sehr kräftiges Salz in
ihr gewesen ist, ist niemals ganz zum Durchbruch gekommen,
ist immer wieder erstickt worden durch den Autoritäts- und
Herrschaftsgedanken der preußischen Junker. Und die Diffe-
renz zwischen Bismarck und Kleist liegt dann nur darin, daß
Hittoritche Zeitschrift (101. Bd.) a. Folge &. Bd. 26
398 Literaturbericht.
Bismarck die politische Herrschaft über die Landeskirche un-
mittelbar dem Staate, Kleist dem christlich-patriarchalischen
Monarchen geben woUte.
Diese interessanteren und verwickeiteren Probleme hat der
Vf. ja nicht ganz erschöpft, und seine Biographie leidet dar-
unter, daß sie die sachlichen Zusammenhänge aller Dinge,
in denen Kleist gearbeitet hat, zu kurz und obenhin behandelt,
aber man muß ihm zugute halten, daß die Fülle dieser Dinge
einerseits zu groß und der Rahmen einer Kleist-Retzow-Bio-
graphie anderseits von Natur aus zu eng ist, um solche weiteren
Durchblicke überall eröffnen zu können. Das Vielerlei modemer
parlamentarischer und politischer Tätigkeit macht es zu einer
der schwierigsten und künstlerisch undankbarsten Aufgaben,
das Lebensbild einer solchen Persönlichkeit durchzuführen.
Der Vf. hat es sich nicht verdrießen lassen, all den mannig-
faltigen Betätigungen seines Helden nachzugehen, hat auch
das Glück gehabt, einen reichhaltigen Nachlaß, ergiebige Kor-
respondenzen der Freunde und archivalische Materialien be-
nutzen zu können, so daß wir auf Schritt und Tritt auch zeit-
geschichtlich belehrt werden und bei allen Studien zur preußi-
schen Geschichte seit 1848 sein Buch fortan zu Rate ziehen
müssen. Es ist ein überaus stoffreiches Buch und die ge-
diegenste Leistung, die der Vf. uns bisher geschenkt hat.
Freiburg i. B. Fr. Meinecke,
Straßburger Beiträge zur neueren Geschichte, herausgegeben von
Professor Dr. Martin Spahn in Straßburg. 1. Bd., Heft 1—3.
Straßburg i. E., B. Herder. 1906.
1. Heft: Der Streit um die Kartause vor Straßburgs Toren 1587
bis ie>02. Von Dr. Joseph Clausing. 71 S.
2. Heft: Straßburger Kapitelstreit und Bischöflicher Krieg im
Spiegel der elsässischen Flugschriftenliteratur. Von Dr.
Eduard Gfrörer. 121 S.
3. Heft: Die Politik der Stadt Straßburg im Bischöflichen Kriege
1592—93. Von Dr. Oskar Ziegler. 113 S.
Es handelt sich hier um drei, fast gleichzeitig erschienene
Dissertationen, die stofflich eng zusammenhängen. Die Kar-
tause, deren Untergang Joseph Clausing schildert, gehörte
Deutsche Landschaften. 399
zu den wenigen Straßburger Klöstern, auf die sich die
Reformation nicht erstreckt hatte. Natürlich war dem evan-
gelischen Magistrat dieser Rest katholischer ReligionsUbung
innerhalb seines Gebiets sehr zuwider, um so mehr als
die Kartäuser über reiche Einnahmen verfügten. Trotzdem
darf man sagen, daß es ganz überwiegend die Sorge für die
Sicherheit der Stadt war, die Straßburg 1591 bewog, die
Klostergebäude niederzureißen; denn es ist kein Zweifel und
wird auch von Clausing zugegeben, daß die Kartause wegen
ihrer beherrschenden Lage unmittelbar vor der Stadt mit Recht
als trefflicher Stützpunkt für kriegerische Unternehmungen
gegen die Bürgerschaft galt, und daß der katholische Graf
von Schomberg nahe daran war, sie durch Kauf in seinen
Besitz zu bringen. Solchen Gefahren sollte die Zerstörung
des Klosters vorbeugen. Dies hätte Clausing bei der Würdi-
gung des Straßburger Gewaltstreichs noch stärker betonen
dürfen. Um sich den Rücken zu decken, hatte die Stadt von
dem französischen Könige Heinrich IV. durch ansehnüche Sub-
sidienzahlungen das Versprechen erlangt, daß er die Ober-
leitung des Kartäuserordens, dessen Schutzherr er war, für
den Verlust der Straßburger Niederlassung in geeigneter Weise
entschädigen würde. Das Generalkapitel der Kartäuser war
auch nach längerem Widerstreben zu einer Verständigung
bereit, aber die vertriebenen Straßburger Mönche protestierten
und fanden dabei an dem Kaiser und den katholischen Reichs-
ständen einen mächtigen Rückhalt. Dieser Einmischung Frank-
reichs und des Kaisers verdankt der Streit seine weit über
die engeren Grenzen hinausgreifende Bedeutung. Erst 1601
wurde er durch das Übergewicht des französischen Einflusses
zugunsten der Stadt entschieden, nachdem diese noch
schwere Opfer hatte bringen müssen. Clausing hat sich red-
lich bemüht, die verwickelten Fäden der zahllosen Praktiken
und Verhandlungen in dieser Angelegenheit einigermaßen zu
entwirren und klarzulegen: im ganzen mit gutem Geschick,
wenn auch, in größerem Zusammenhange betrachtet, manches
vielleicht noch in anderer Beleuchtung erscheinen wird.
Im zweiten Hefte der „Beiträge** gibt Eduard Gfrörer ein
recht anschauliches Bild davon, wie sich Straßburger Kapitel-
streit und bischöflicher Krieg im Spiegel der elsässischen
26*
400 Literaturbericht
Flugschriftenliteratur darstellen. Er geht dabei noch auf die
Zeit vor dem Kapitelstreit bis auf die Wahl des Bischofs
Johann von Manderscheid (1569) zurück und führt uns auf
der anderen Seite noch über den Hagenauer Friedensschluß
hinaus bis zum Jahre 1610. Literargeschichtlich bemerkens-
wert ist der Nachweis des Vf., daß einige der anonym oder
Pseudonym erschienenen Flugschriften von dem berühmten
Satiriker Fi sc hart herrühren. Eine ganze Reihe weiterer,
temperamentvoller Streitschriften wird mit Sicherheit dem bis-
her wenig beachteten Anwalt der evangelischen Domherren,
Dr. Weiß, zugeschrieben, den man hiernach geradezu als die
Seele der protestantischen Kriegspartei bezeichnen muß. Ein
objektiv vollständiges und verläßliches Zeitbild kann man
natürlich aus der Flugschriftenliteratur allein nicht gewinnen,
so lebendig auch der Einblick ist, den man durch sie in die
Stimmungen, Leidenschaften und Tendenzen der verschiedenen
Bevölkerungskreise erhält. Insofern würde die von Oskar
Ziegler im dritten Heft der „Beiträge" versuchte Darstellung der
„Politik der Stadt Straßburg im bischöflichen Kriege 1592—93*
eine willkommene Ergänzung zu Gfrörers Arbeit sein, wenn
sie nicht gar zu sehr an der Oberfläche der Ereignisse haften
bliebe. Der Vf. hat aus den Archiven von Straßburg,
Bern, Zürich, Magdeburg und Berlin allerlei beachtenswerte
Aktenstücke zusammengetragen ; aber er beherrscht und durch-
dringt das weitschichtige Material nicht genügend, weiß das
Wichtige vom Nebensächlichen nicht recht zu trennen und
läßt eine ausgiebige Benutzung der älteren Quellen vermissen.
Straßburg i. E. 0. Winckelmann,
Staat und Kirche in der Pfalz im Ausgang des Mittelalters. Von
R* Lossen. (Vorreformationsgeschichtliche Forschungen.
Herausgegeben von H. Finke. III.) Münster i. W., Aschen-
dorf. 1907. XII u. 268 S.
Über das Verhältnis, das sich zwischen der weltlichen
Gewalt und den Kirchen und kirchlichen Instituten innerhalb
der deutschen Territorien am Ende des Mittelalters entwickelt
hat, sind in den letzten Jahren eine ganze Anzahl wertvoller
Arbeiten erschienen. Die Schrift von Lossen sucht es nun
Deutsche Landschaften. 401
auch für die Pfalz festzustellen. Sie ist zum Teil etwas weit-
schweifig und breit, aber immer gründlich und auf reiches,
vielfach ungedrucktes Material aufgebaut. Es sind natürlich
dieselben Fragen, wie sie auch sonst in den Territorien in
Betracht kommen: das Verhältnis zum Papsttum und zu den
Bistümern, deren geistliche Gewalt in das Gebiet hineinreicht,
Patronat und Vogtei des Fürsten und der Anteil an den Re-
formen von Klöstern, Stiftern, teilweise auch des Weltklerus.
Das Verhältnis zum Papsttum ist wie damals meist. Die
Pfalzgrafen benutzen jeden Anlaß auch auf diesem Gebiet, um
in ihrer Macht vorwärts zu kommen. Händel gibt es dabei
gar nicht notwendig. Nur versteht man es das einemal, seine
Rechte in möglichst weitem Umfang anzuerkennen, um durch
Berufung darauf den Ansprüchen des Reiches zu entgehen
oder den kirchlichen Instanzen und Personen des Landes
gegenüber etwas durchzusetzen (Zehnten, Reformen u. a ), das
anderemal aber, wenn das Papsttum selbst unbequeme An-
sprüche erhebt, alle jene Rechte völlig verschwinden und die
Landesgewalt durchaus auf eigenen Füßen stehen zu lassen.
Die Pfalzgrafen haben es vor allem mit den Bischöfen von
Speyer und Worms zu tun. Hier entwickelt sich nun das-
selbe Verhältnis, wie es namentlich in den norddeutschen Terri-
torien zu den Bistümern in ihrem Bereich geht. Der pfälzische
Adel besetzt die Domherrnstellen, der Landesherr erwirbt
— durch private Verträge — die Schirmvogtei mit all ihren
tiefgreifenden Wirkungen (in Worms seit 1349, in Speyer seit
1392 und ausschließlich seit 1462). Das Ergebnis ist am Ende
des Mittelalters, daß die Reichsunmittelbarkeit der Bistümer
ganz untergraben ist und die Pfalz z. B. überall in den Städten
und Schlössern von Worms den Mitbesitz hat. Hier hat dann
aber gerade die Reformation die letzten Konsequenzen ab-
gewehrt und die Bistümer schließlich doch wieder selbständig
werden lassen.
Für die Entwicklung der geistlichen und weltlichen Ge-
richtsbarkeit stellt L. fest, daß die Bedeutung der weltlichen
und das Vertrauen zu ihr selbst bei Klerikern und Mönchen
in steter Ausdehnung begriffen ist, ohne daß es zu eigentlich
gewaltsamen Vordringen gekommen wäre. Doch ist es mir
dabei nicht klar geworden, ob und wieweit die geistliche
402 Literaturbericht.
Gerichtsbarkeit noch im Vorsprung geblieben ist. Man hört
wohl von dem Wachstum der weltlichen, nicht genug aber
über das tatsächliche Maß dessen, was die geistliche für sich
gerettet hatte. Ob aber dafür die Quellen überhaupt aus-
reichen ?
Für die Patronatsrechte des Pfalzgrafen ist es zu-
nächst bezeichnend, daß die Kirchen, die ihnen unterstehen,
wenig zahlreich sind, viel weniger als in anderen süddeutschen
Territorien. Es scheint auch nicht zur pfalzgräflichen Politik
gehört zu haben, möglichst viel Patronate zu erwerben. Da-
gegen ist der Einfluß auf die vorhandenen und die Methode
ihrer Ausnutzung recht intensiv. L. gibt hier eine eingehende
dankenswerte Darstellung, die auch für andere Gebiete frucht-
bar sein wird.
Auch unter den pfälzischen Klöstern sind nicht viele
landesherrliche Stiftungen: die Pfalzgrafschaft ist zu jungen
Datums. Aber die Schirm- und Kastenvogtei der Fürsten
dehnt sich über fast alle Klöster und Stifter aus und dringt
sehr tief in alle Verhältnisse dieser Institute ein. So ent-
wickelt sich auch hier dasselbe Bild, das uns fast in allen
Territorien entgegentritt. Den Schluß bilden die Reformen
der Klöster und Stifter im 15. Jahrhundert und den Anteil, den
die Pfalzgrafen daran gehabt haben: ein Beitrag zu diesem
wichtigen Kapitel der inneren Kirchengeschichte des 15. Jahr-
hunderts.i) Auch hier tritt freilich deutlich hervor, wie unvoll-
kommen und ungleichmäßig die Ergebnisse dieser Reform
waren.
Im Anhang sind eine Anzahl Urkunden und Akten abge-
druckt. Auf viel archivalisches Material ist schon in den An-
merkungen hingewiesen. Ein reichhaltiges Verzeichnis der
Quellen und der Literatur und ein sorgfältiges Register schließen
das Buch.
Tübingen. Karl Müller,
*) Für die Einführung der Observanz im Heidelberger Mino-
ritenkonvent wären die Bullen im Bullarium Franciscanum Bd. 7,
Nr. 1679, 1727 und 1783 zu vergleichen gewesen.
Deutsche Landschaften. 403
Geschichte der sächsischen Kartographie im Grundriß. Von
Haos Beschonier. Leipzig, B. G. Teubner. 1907. 27 S.
1,20 M.
Viele Besucher des Dresdener Historikertages im vorigen
Herbste werden sich noch gern der damaligen Ausstellung
älterer Karten und Risse erinnern. Sie war von dem VL der
vorliegenden kleinen Schrift zusammengestellt und der er-
läuternde Vortrag, den er uns damals hielt, bildet offenbar
die Grundlage für die jetzt herausgegeben^ monographische
Darstellung. Sicherlich verdient die sächsische Kartographie
eine solche besondere Behandlung, denn sie blickt auf eine
ruhmvolle Geschichte zurück, von Mathias Oders für seine
Zeit (Wende des 16. und 17. Jahrhunderts) unerreichtem
Meisterwerke bis auf den Oberreitschen Atlas. Trotzdem möchte
ich weniger auf eine vortreffliche Spezialarbeit hinweisen als,
darauf, daß hier der Versuch gemacht wird, eine bisher voir
der Geschichtsforschung ganz ungebührlich vernachlässigte
Quellengruppe etwas leichter zugänglich zu machen. Aut
einem Gebiete, das bisher den Geographen vorbehalten war>
spricht dieses Mal ein Historiker zu seinen Fachgenossen.
Der Vf. sagt ausdrücklich (S. 6)^ .daß er hauptsächlich solche
Karten und Risse berücksichtigt habe, die heute noch bei
historisch -geographischen und topographischen Studien mit
Nutzen herangezogen werden können *". Er hätte sich auch
dahin ausdrücken können, daß er vornehmlich von den hand-
schriftlichen Karten handeln wolle, im Gegensatze zu den ge-
druckten, denn es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen
den Produkten, mit denen die kartographischen Firmen des
17. und 18. Jahrhunders den Markt beschickten und den Meister-
werken der Zeichenkunst, über die die Fürsten dieser Zeit
bereits verfügten. Aber diese Karten waren zumeist nur für
den persönlichen Gebrauch der Landesherren bestimmt und
wurden eifersüchtig, geradezu als Staatsgeheimnisse, gehütet.
Erst jetzt beginnt dies Material wieder der Vergessenheit ent-
rissen zu werden^ und es zeigt sich, welche feste Grundlage
die historische Geographie an diesen Karten gewinnen kann^
die noch aus der Zeit vor der gewaltsamen Veränderung aller
langsam gewordenen und gewachsenen Verhältnisse durch die
moderne Bureaukratie stammen.
404 Lilentnrfoericht
Wenn dem vorliegenden Abrisse in hoffentlich nicht allzu
langer Zeit die angekündigte (vgl. S. 6) größere Geschichte
der sächsischen Kartographie folgen wird, so wäre sehr zu
wünschen, daß nicht nur ausgiebige Illustrationsproben den
Charakter der verschiedenen Karten vor Augen führen, sondern
daß auch zugleich ein Handbuch zur Benutzung der älteren
Karten geschaffen wird, das möglichst ausführlich über den
Umfang der einzelnen Aufnahmen und den Inhalt der Karten
Auskunft gibt
Greifswald. F. Carschmann.
Mecklenburgisches Urkundenbuch. Herausgegeben von dem Verein
für mecklenburgische Geschichte und Altertumskande. 22. Bd.
1391—1395. Schwerin, Druck und Vertrieb der Bärensprung-
schen Hofbuchdruckerei. 1907. 660 u. 172 S.
Nicht mehr unter der Redaktion des Geh. Archivrats
Dr. Grotefend, der jahrzehntelang die Herausgabe des großen
Urkundenwerkes geleitet hat, sondern unter der des Archivars
Dr. Stuhr ist der vorliegende Band erschienen. Die altbe-
währten Grundsätze, die Sorgfalt und Zuverlässigkeit sind aber
unverändert geblieben, namentlich auch wieder sehr ein-
gehende praktische Register beigegeben, die ja bekanntlich
eine Zierde dieses Werkes sind. Für den Zeitraum von
1391 bis 1395, der besonders durch die Gefangenschaft des
Schwedenkönigs Albrecht von Mecklenburg gekennzeichnet
ist, werden 629 Urkunden und Regesten gegeben, von denen
415 zum erstenmal gedruckt worden sind. Die Verhand-
lungen über die Freilassung des Königs nehmen einen großen
Raum ein; für manche Einzelheiten wird neues Material ge-
boten. Vielleicht wäre es möglich gewesen, etwas Raum zu
sparen, wenn die in den Hanserezessen bereits gedruckten
Stücke hier nicht vollständig mitgeteilt worden wären; es ist
doch anzunehmen, daß den Benutzern des mecklenburgischen
Urkundenbuches auch die Ausgabe der Hanserezesse zur Ver-
fügung steht. Für die Abteilung des Werkes, in der die Ur-
kunden nach 1400 gesammelt werden, wird man wohl notge-
drungen zu solchen Kürzungen greifen. Die Registerbände
des päpstlichen Archivs im Vatikan sind nicht vollständig aus-
genutzt; aus den sog. Lateranischen Registern vermag ich für
Schweiz. 405
diesen Band noch 11 Urkunden nachzuweisen, in denen
mecklenburgische Personen oder Verhältnisse berührt werden.
Von kleinen Versehen sei bemerkt, daß die Nummer 12410
zweimal vorkommt, daß im Ortsregister weder der Name
Acqui (Nr. 12771), noch der in 12758 dafür gesetzte Da« zu
finden sind und daß das Archidiakonat Stolp nicht, wie eben-
dort angegeben ist, zur Stadt in Hinterpommern, sondern zu
dem Kloster an der Peene gehört. Der nächste Band wird
diese in ihrem ununterbrochenen Fortschreiten fast einzig-
artig dastehende Urkundensammlung zu einem gewissen Ab-
schlüsse bringen. Es ist zu erwarten, daß er bald nachfolgen
wird.
Stettin. M. Wehrmann.
Geschichte der Ciuniazenserklöster in der Westschweiz bis zum
Auftreten der Cisterzienser. Von P. Bcoaventura Egger,
O. S. B., Dr. theol. (Freiburger Historische Studien. Fasz. 111.)
Freiburg, Universitätsbuchhandlung. 1907. XIV u. 252 S.
Wie die einführenden Worte Professor Kirschs aussagen,
ist die vorliegende Schrift aus der Lösung einer von der Uni-
versität Freiburg gestellten Preisfrage erwachsen. Sie will die
Verbindung der westschweizerischen Priorate mit Cluny, als
der moralischen Einheit, die von den gleichen Satzungen und
Ideen beherrscht erscheint, in das Licht setzen, und es ist
von vorneherein naheliegend, daß bei der örtlichen Nähe der
Sprengel von Lausanne und Genf an Burgund, nur durch den
Jura getrennt vom Ursprungsgebiet des Cluniazenser- Ordens,
die Einwirkung des Mutterklosters eine ganz intensive sein
mußte.
An eine äußerst klare, kurze Auseinandersetzung, die die
„Einleitung"" über die Ursachen der notwendigen Erscheinung
darbietet, daß aus dem in Verfall geratenen Mönchtum der
Benediktusregei die Verjüngung in Cluny sich ergab, schließt
sich die Übersicht der in Betracht kommenden cluniazensi-
sehen Niederlassungen in der Westschweiz. Deren erste, das
weit ältere Romainmotier, dessen Geschichte seit dem 7. Jahr-
hundert gedrängt vorausgeschickt wird, wurde schon gleich
929 dem Verband des Abtes Odo angegliedert; die folgende,
Peterlingen, die Stiftung der Königin Bertha von Burgund,
406 Literaturbericht.
wurde alsbald mit der Gründung 962 dem Abte Majolus über-
geben.
In den folgenden Kapiteln werden die Beziehungen zu
Cluny, diejenigen zu Rom und den Sprengelbischöfen und
zum Weltklerus überhaupt^ die Stellung zum Landesherrn und
Adel gewürdigt. Eine Fülle von einzelnen zur Landesgeschichte
Aufschluß bringenden Verhältnissen gewinnt dadurch inter-
essante Beleuchtung. Beispielsweise sei (S. 134 ff.) auf die
Reibungen oder Förderungen hingewiesen, die sich für Ro-
mainmotier aus der Nachbarschaft mit der mächtigen Dynastie
von Grandson oder den Herren von Joux ergaben, woneben
zahlreiche Begünstigungen der Cluniazenser durch den Adel,
enge gegenseitige geistige Verbindungen stehen. Kulturge-
schichtlich wichtige Aufschlüsse bietet der Abschnitt über
die wirtschaftlichen Verhältnisse, sowie* die Ausfühmng über
die innere Organisation der einzelnen Priorate, wobei einige
Persönlichkeiten, wie die Priore Stephan von Romainmotier
und Guigo von Peterlingen, individuell greifbar hervortreten.
Kapitel Vll, „Baugeschichtliches^, knüpft an die früheren ein-
dringlichen Forschungen Rahns über die Cluniazenserbauten
der Westschweiz, sowie an die Zürcher Dissertation von
E. Reinhart von 1904 an, wozu für Romainmotier die neuesten
Ergebnisse Näfs : Les phases constructives de l*^glise de Ro-
mainmotier kommen.
Der „Anhangt bringt Priorenlisten der einzelnen Klöster,
sowie einen Exkurs über Peterünger Urkunden. Für die
nebeneinander stehenden zwei Exemplare der Gründungsur-
kunde von 962 wird die Ableitung aus der gemeinsamen
Quelle, einem Urkundentexte, wobei eigentümliche Einschübe
in die zwei Scheinoriginale stattfanden, festgestellt; Ottos IL
Diplom von 983 ist gegenüber früherer Anzweifelung als echt
bezeichnet, und ebenso gilt das gegenüber Hidbers Unecht-
erkärung für die bei Stumpf, Reichskanzler, als Nr. 2996 ver-
zeichnete Urkunde Heinrichs IV.
In dieser Untersuchung über einen Abschnitt der Ge-
schichte der großen Wirksamkeit von Cluny liegt eine höchst
beachtenswerte, auf vollständig beherrschtem Materiale auf-
gebaute Arbeit vor.
M. V. K.
Frankreich. 407
Biaise de Monluc Historien. Etüde critique sur le texte et la
valeur historique des ^Commentaires''. Avec un portrait et
quatre cartes. Par Paul Courteaut. Paris, Alph. Picard
et fils. 1908. XLVm u. 685 S.
Obwohl die , Commeniaires* BlaisedeMonlucs seit ihrem
ersten Erscheinen im Jahre 1592 bis zur Gegenwart häufig
und meist sehr unbedenklich als Quelle benutzt worden sind,
so hatte es doch wie bei allzuvielen Geschichtschreibern des
1 6. Jahrhunderts immer noch an einem Werke gefehlt, das sie
systematisch auf ihre Glaubwürdigkeit hin untersucht hätte.
Wir besitzen freilich auch noch keine wirklich kritische Edition ;
denn in der seinerzeit sehr verdienstlichen Ausgabe, die de
Ruble 1864—1872 für die Sociiii de VHisioire de France be-
sorgte, kann weder der Text noch der Kommentai modernen
Ansprüchen genügen. Ein jüngerer französischer Gelehrter,
von Studien zur Biographie Monlucs zu einer kritischen Unter-
suchung der jfCommentaires' angeregt, hat es unternommen,
diese Lücke auszufüllen, zugleich die Vorarbeiten zu einer
neuen Ausgabe auszuführen und die Notwendigkeit einer
solchen nachzuweisen. Der stattliche Band, der dabei ent-
standen ist, wird wohl auf lange hinaus als abschließende
Arbeit über Monluc zu gelten haben. Courteaut hat seiner Ab-
handlung umfassende archivalische Studien vorangehen lassen;
dazu kommt eine genaue Kenntnis der Literatur und ein im
langen Umgange mit dem Stoffe erworbenes sicheres Urteil,
das Lob wie Tadel in ruhiger Weise abwägt.
Das klar und trefflich disponierte Werk behandelt nach
einer Einleitung, in der die Ausgaben der ^Commentaires'
und ihre Einwirkung auf die ältere Geschichtschreibung be-
sprochen werden, zuerst den Ursprung und die Entstehungs-
weise der Memoiren ; es ist dabei C. gelungen, über das Ver-
hältnis der früheren Redaktionen zu dem endgültigen Texte,
das Ruble sehr ungenügend untersucht hatte, zum erstenmal
Klarheit zu schaffen. Den Anstoß zur Abfassung der «Cd/n-
mentaires*' hat Monluc aus persönlichen Verhältnissen emp-
fangen. Der Keim zu seinem Werke liegt in einem Schreiben,
das er an König Karl IX. richtete, nachdem er 1570 als Gou-
verneur der Guienne abgesetzt worden war. Er berief sich
damals zu seiner Rechtfertigung kurz auf die Verdienste, die
408 Literaturbericht.
er sich auf seinen Kriegszügen in Italien und Frankreich um
die Krone Frankreich erworben hatte. Nachträglich führte er
dann das, was er dort mehr angedeutet als berichtet hatte,
zu einer eigentlichen Erzählung aus. Es ist dies die erste,
noch erhaltene Redaktion der Memoiren; Monluc hat sie im
Winter 1570/71 in der Zeit von sieben Monaten diktiert. Sie
zeigt noch unverkennbare Spuren des praktischen Zweckes,
für den sie bestimmt war. Diese erste Fassung blieb aber
Manuskript; sie wurde später formell und inhaltlich sorgfältig
umgearbeitet, bis sie die Gestalt annahm, in der sie (mit
einigen Auslassungen) nach Monlucs Tode publiziert wurde*
Das erste Original war in einem Zuge niedergeschrieben worden
und in der eigentlichen Memoirenform gehalten; es enthielt,
lose aneinandergereiht, eine Anzahl bemerkenswerter Ereig-
nisse aus dem Leben des Autors. Monluc hat die Jahre, die
ihm bis zu seinem Tode (1577) blieben, dazu benutzt, aus
diesem rtdiscours de sa v/V*, so gut es ging, ein Geschichts-
werk zu machen. Die Vergleichung der beiden Redaktionen
zeigt die Prinzipien, von denen er sich dabei leiten ließ. Er
fügte Nutzanwendungen und moralische Betrachtungen hinzu
und legte Reden ein, wie es die literarischen Vorschriften
damals vom Historiker verlangten (zu beidem finden sich in
der ersten Fassung nur dürftige Ansätze), und, was noch
wichtiger war, er sah einige Historiker (du Bellay, Jovius,
Paradin, Rabutin) durch und entnahm ihnen eine Anzahl
Notizen, die nicht nur seine Darstellung um vergessene oder
unbekannt gebliebene Dinge bereicherten, sondern ihm zum
Teil überhaupt erst die Möglichkeit gaben, seine Erinnerungen
in die allgemeine Geschichte einzureihen. Es handelt sich
dabei übrigens nur um Ergänzungen; denn in den Fällen,
da sich Differenzen zwischen seiner Erzählung und der eines
Historikers ergaben, hieh Monluc (mit einer Ausnahme) an
seiner ersten Darstellung fest. Es wirkte dabei mit, daß er
wie die meisten Soldaten, die Memoiren geschrieben haben,
der Überzeugung war, die offizielle Geschichtschreibung
spreche allzuviel nur von den „Fürsten und Großen"*; aber
dies allein hätte ihn, den seine Vorgänger kaum genannt
hatten, davon abgehalten, seine Erinnerungen an Hand der
Historiker zu korrigieren.
Frankreich. 409
Nachdem er auf diese Weise die Entstehungsgeschichte
der „Commentaires'' klar gelegt, geht C. zur Kritik des Werkes
selbst über. In einer äußerst sorgfältigen Untersuchung,
einem eigentlichen fortlaufenden Kommentare zu den Memoiren,
wird Abschnitt nach Abschnitt auf seine Glaubwürdigkeit ge-
prüft. Literarische Kritiker haben etwa über das staunenswerte
Erinnerungsvermögen Monlucs ihr Erstaunen ausgesprochen und
die bewundernswürdige naive Ehrlichkeit des Autors rühmend
hervorgehoben. C. führt in seinem Urteile am Schlüsse das
treue Gedächtnis und die Aufrichtigkeit des Autors Monluc
auf das normale Maß zurück. Wenn Ruble noch meinte, die
Biographie Monlucs liege in seinen Memoiren, so weist C.
nach, daß die Akten vielfach einen Monluc zeigen, der in
seinem Charakter mit dem Helden der „Commentaires*' keines-
wegs übereinstimmt. Monluc erscheint dort durchaus nicht
als der alte ehrliche Soldat und Biedermann, als den ihn die
bloß nach dem literarischen Eindruck urteilende Kritik allzu-
gern hingestellt hat. Mit der Wahrhaftigkeit hat er es nur in
den spätem Partien seiner Memoiren genauer genommen, wo
er die Kontrolle von Augenzeugen zu fürchten hatte. Er hat
sorgfältig alles unterdrückt, was seine Geldgier und sein poli-
tisches Strebertum an den Tag gebracht hätte. Und wo keine
persönlichen Interessen seine Darstellung färbten, da steht es
mit seiner Glaubwürdigkeit so, wie unter den Umständen zu
erwarten war. Aus der früheren Zeit (der Regierung Franz I.)
erinnert sich Monluc nur an einzelne Ereignisse, deren Zu-
sammenhang ihm bereits entschwunden ist. Von der Zeit
Heinrichs 11. an wird seine Erinnerung besser; die Erzählung ist
weniger lückenhaft, obwohl sie immer noch aus fragmentarischen
Episoden zusammengesetzt ist. Erst von 1559 an gibt Monluc
eine fortlaufende Darstellung, zum Teil mit Benutzung von Doku-
menten, und die Auslassungen, die sich hier noch finden, sind
mit bewußter Absicht vorgenommen worden. Während Monluc
sich besonders in den ersten Büchern öfters grobe chronolo-
gische Verstöße zu schulden kommen läßt, verrät sich der ge-
borne Soldat in dem unfehlbaren topographischen Gedächtnis.
Seine Terrainschilderungen erinnern in ihrer Präzision an Cäsar;
er ist in der Kenntnis fremder Lokalitäten selbst Eingeborenen
überlegen, wenn diese nur als Zivilisten schreiben (p. 268).
410 Literaturbericht.
Mit Recht wendet sich schließlich C. wie bereits Ruble
dagegen, daß man gegen Monluc den Vorwurf besonders
großer Grausamkeit erhoben hat Monluc hat sich nur des-
halb den Namen eines mehr als andere erbarmungslosen
Heerführers erworben, weil gerade von ihm durch die ^Com-
meniaires* einzelne Züge von Grausamkeit bekannt sind; an
sich berechtigt nichts zu der Annahme, Monluc habe in dieser
Beziehung schlimmere Dinge auf dem Gewissen, als andere
KriegsfUhrer seiner Zeit.
Zürich. E. Fueter,
Giorgio dei Veccbio, Su la Teoria del Contratto Sociale,
Bologna, Nicola ZanichellL 1906. 118 S.
In einer früheren Arbeit (s. Hist. Zeitschr. 99, 167) hatte
del Vecchio eine Schrift in Aussicht gestellt, in der er den
Nachweis erbringen wollte, daß die Erklärungen der Menschen-
rechte der Revolutionszeit hauptsächlich auf den Contrai Social
zurückzufuhren seien, wie das ja früher allgemein angenommen
wurde. Schon damals erlaubte sich der Ref., Bedenken zu
äußern. Die versprochene Schrift ist nun erschienen, und
jene Bedenken haben sich als nur allzu gerechtfertigt erwiesen!
d. V. wendet sich hauptsächlich gegen Jellinek , der, freilich
nicht als einziger, den Gegensatz zwischen den Prinzipien des
C. 5. und „einer jeden Erklärung der Rechte* ganz zu-
treffend sehr scharf betont hatte. Die Polemik des Vf. gegen
diese Auffassung scheint uns nun durchaus mißlungen zu sein.
Er beginnt mit einem Oberblick über die Vertragstheorien seit
dem Altertum. Wie wenig er aber in ihr Wesen eingedrungen
ist, geht daraus hervor, daß er den fundamentalen Unterschied
zwischen Gesellschaftsvertrag und Herrschaftsvertrag nur ein-
mal in einer Anmerkung streift! In jeder Hinsicht überflüssig
ist die breite Zurückweisung der Ansichten des Grotius
(Kap. 3). Wenn er dann weiterhin, dem Kern der Frage sich
wieder nähernd, zeigt, daß die Vertragstheorie (soll heißen:
die Idee des Herrschafts Vertrages) bei Locke — übrigens
schon bei zahlreichen sehr viel früheren Autoren — gerade der
Sicherung der Untertanen gegen den Herrscher dienen sollte,
so hat er damit natürlich recht. Was aber beweist das für
Rousseau, der ja den Herrschaftsvertrag leugnet? Was dann
Frankreich. 41 1
den C. «S. angeht, so ist es ja selbstverständlich und allgemein
bekannt, daß manche seiner Aussprüche zugunsten der Auf-
rechterhaltung vorstaatlicher Menschenrechte verwendet werden
konnten. So vor allem derjenige (1 Kap. 6), welcher als Zweck
des C. 5. die HersteMung einer Vereinigung nennt, in der
jeder . . . ^so frei bleibe wie bisher*". Allein, das ist doch
nur die eine Seite von Rousseaus damaliger Auffassung.
Man kann nicht zum Verständnis der Sachlage durchdringen,
ohne die tiefgreifendsten und nicht zu beseitigenden Wider-
sprüche in den Gedanken dieses Großen des Gefühls anzu-
nehmen: wir finden zahlreiche Ausführungen im entgegen-
gesetzten Sinne, und diese sind unzweifelhaft die eindrucks-
volleren und mit mehr Anteil dargelegten, sind die Kern-
gedanke n d e s C «S. Sie sind in der Tat mit der Idee der
Aufrechterhaltung vorstaatlicher Menschenrechte, die der Staat
zu achten habe, schlechterdings unvereinbar. Wird doch
geradezu als Inhalt des C. «S. der angegeben, daß jeder sich
ganz und mit allen seinen Rechten dem Staate ausliefere! Es
ist nur ein leeres Wort, wenn d.V. von einem scheinbaren
Verzicht aller einzelnen auf ihre Rechte redet. Daß Rousseau
an einen sehr realen Verzicht denkt, zeigen auch noch andere
seiner Behauptungen, wie z. B. die, daß der Souverän keine
Garantien zu berücksichtigen habe (I Kap. 7). Auch der
folgende Passus, den d. V. für seine Auffassung zitiert, spricht
in Wahrheit gegen ihn. Rousseau sagt, wenn der C «S. ge-
brochen werde, „trete jeder wieder in seine ursprünglichen
Rechte ein und nehme seine natürliche Freiheit zurück, indem
er die konventionelle Freiheit verliere**. Deutlicher kann man
es doch wohl nicht ausdrücken, daß die vorstaatlichen Rechte
durch den C 5. verloren gehen! Daran ändert natürlich
auch die — übrigens sinnlose — Behauptung Rousseaus
nichts, daß der Souverän seinem Wesen nach kein, dem der
Bürger entgegengesetztes Interesse haben könne, da diese
doch wieder nur beweisen soll, daß Garantien unnötig, nicht
daß sie vorhanden seien. Es ist nicht anders: Rousseau
opfert in seiner Konstruktion des C. 5. die Freiheit um der
Gleichheit willen, der zuliebe er ja in Wirklichkeit seinen
luftigen Gedankenbau errichtet. Sucht man diese Tatsache
aus ihm hinwegzuinterpretieren, so leugnet man einen be-
412 Literaturbericht.
sonders bedeutenden Teil seiner historischen Wirkung, die
Wirkung nämlich auf die späteren Jahre der Revolution
(nach 1792), als, genau wie in Rousseaus Idealbild, ein auf
der Grundlage der Volkssouveränität beruhender, allmächtiger
Staat die Rechte und Freiheiten der Bürger mit Füßen treten
konnte.
Lassen sich also bei Rousseau zwar manche Stellen finden,
welche für die Aufrechterhaltung der Rechte des Menschen
verwertet werden konnten, so widerspricht unzweifelhaft der
Kerngedanke des C. «S. der Idee des Menschenrechts auf das
schroffste. In dieser Überzeugung kann auch das vorliegende
Werkchen d. V.s nicht wankend machen. Ob freilich bei der
damaligen, fast aligemeinen Unklarheit des politischen Denkens
nicht mancher der Männer von 1789 ehrlich überzeugt war,
es seien gerade die Kerngedanken des C. S., für die er ein-
zutreten im Begriff sei, das mag dahingestellt bleiben.
Hamburg. Adalbert Wahl.
Albert Meynier, Un Repräsentant de la Bourgeoisie Angevine ä
V Assembläe Nationale Constituante et ä la Convention
Nationale. L,-M. La ReveiUire — Upeaux (1753—1795),
Paris, A. Picard et fils. 1905. 539 S.
Ein Teil des langen Lebens des späteren Direktors bildet
den Gegenstand der vorliegenden Arbeit, die im ganzen mit
Dank aufzunehmen ist. Freilich, um das vorauszuschicken, nicht
ohne Kritik! Die Darstellung ist viel zu breit. Man ermüdet häufig
bei dieser ausführlichen Schilderung eines Lebensabschnitts eines
nicht bedeutenden und nicht erfreulichen Menschen. Schlimmer
ist, daß das Werk nicht ausreichend durchgearbeitet, und zwar
weder wirklich durchdacht noch stilistisch ausgereift ist. Der
Schatz von Gedanken und Worten z. B., den L. R. zur Kon-
stituante mitbrachte, ist ebensowenig eindringend untersucht
wie die Entwicklung, die er durchmachte, wenn auch wert-
volle einzelne hierher gehörende Mitteilungen über das ganze
Werk zerstreut sind. Ferner fehlen auffallende Widersprüche
nicht: S. 121 lesen wir, daß die Cahiers der zwei ersten Stände
von Anjou auf dem des Tiers beruhen; S. 155 dagegen, daß
das des Adels ,ydas originellste .... der drei Cahiers' sei.
Nach S. 409 war es unvermeidlich, daß in den späteren Jahren
Frankreich. 413
der Revolution die Masse sich von der herrschenden Bour-
geoisie abwandte; nach S. 411 dagegen war dieselbe Masse
nur durch den Schrecken auf die Seite der fortgeschritteneren
Partei zu bringen. Wenige Leser werden sich wohl mit den
widerspruchsvollen Darlegungen des Vf. über den Ursprung
des Vend^e- Aufstandes befreunden! Von stilistischen Ver-
irrungen sei nur die folgende erwähnt (S. 241): , Die äußerste
Kühnheit, welche . . . nicht zögerte, einen Krieg von Riesen
herbeizuführen, indem sie Europa als Herausforderung das
Haupt des unglücklichen Ludwig XVI. zuwarf.^ Auch von
einer außerordentlichen Einseitigkeit wird man Meynier nicht
freisprechen können. Doch genug der Einwände.
Wertvoll ist das Werk, vor allem durch das in ihm mit-
geteilte Material, in mancherlei Richtung. Zunächst, wie sich
denken läßt, für die Kenntnis seines Helden. Daß dieser
dabei sonderlich gewonnen hätte, wird man, trotzdem M.
anderer Ansicht ist, nicht sagen können. Es bleibt bestehen,
daß L. R., ein fanatischer Verfolger der Aristokraten, sich,
wie Robespierre, noch in den Zeiten der Revolution unrecht-
mäßigerweise die »adlige Partikel* (sogar de la R. de L.)
beilegte. Das mag man aus den Sitten der damaligen Bour-
geoisie heraus verstehen, unsympathisch bleibt die Erschei-
nung auf alle Fälle. Auch daß er zahlreiche Ansichten aus-
gesprochen, die eine vollkommene Unfähigkeit zu politischem
Denken erkennen lassen, geht gerade wieder aus dem vor-
liegenden Werke hervor; hierher gehört der Satz: «Je weniger
ein Mensch besitzt, desto konservativer wird er sein.* Tak-
tisch freilich war er von solcher Vorsicht, daß man den Vor-
wurf der Feigheit, der ihm öfter gemacht wird, wohl versteht.
Auch dieser Jakobiner machte in vieler Hinsicht jene überaus
rapide Entwicklung durch, welche ihm, wie seinesgleichen,
den Tadel rein theoretisch beeinflußten Handelns wahrlich er-
sparen sollte ! Gegen Ende 1792 donnert er z.B. (ganz im Sinne
Rousseaus, was M. entgeht) gegen das Parteiwesen, das an
Stelle der Staaten eine «Ansammlung von Menschen ohne
Zügel und Regel* setze. Weniger als ein halbes Jahr später
ist er der Anhänger der ersten eigentlichen Partei der Revo-
lutionszeit, der Gironde. So spielte die Macht der Tatsachen
mit Worten, Prinzipien und Schulmeinungen, übrigens auch
Historische Zeitschrift (101. Bd.) a. Folge S. Bd. 27
414 Literaturbericht.
bei bedeutenderen und stärkeren Männern, als L. R. einer
war. — Interessant sind ferner die Abschnitte des Werkes
über die Vorgänge in Anjou unmittelbar vor dem Zusammen-
tritt der Oeneralstände. Sie sind zwar mit vollendeter Partei-
lichkeit abgefaßt, allein M. teilt so viele Tatsachen und so
viel Material mit, daß man sich dennoch ein richtiges Bild
machen kann: Im Gegensatz zu den meisten anderen Teilen
Frankreichs wurde hier das Landvolk nicht nur von den
Städten, sondern auch vom Adel agitatorisch bearbeitet —
ein Wettbewerb um die Bauern, bei dem bekanntlich zunächst
die Bourgeoisie auf einige Zeit siegte, um dann nach wenigen
Jahren gründlich aus dem Felde geschlagen zu werden. Führer
des Adels bei dieser Agitation war anfangs, bezeichnender-
weise, ein Grundherr fremder (irischer) Abstammung, namens
Walsh de Serrant, den seine Standesgenossen aber bald,
ebenfalls bezeichnenderweise, als zu wenig opferwillig den
Bauern gegenüber, fallen ließen. — Die Korrespondenz L. R.s
mit seinen Wählern liefert eine neue, nüchterne, nicht unglaub-
hafte Version der berühmten Worte Mirabeaus an Brez6 am
23. Juni 1789: Uassemblde a dilihM de ne point disemparer,
ä moins qu'on ne Vy contraigne par la force. — Das Wert-
vollste an dem Werke aber scheinen dem Ref. die Abschnitte
über den sog. Föderalismus und seine Unterdrückung zu sein
(u. a. S. 213, 215, 422 ff.). M. interessiert sich mit Recht be-
sonders für diese Frage und kommt in ihr über Aulard hin-
aus. Nicht freilich, als ob er deswegen weiterer Untersuchung
nicht noch Raum gelassen oder überall die glücklichsten For-
mulierungen gefunden hätte ! Die Entwicklung der Bedeutung
der föderalistischen Idee wird sich vielleicht am besten in
folgende Sätze zusammenfassen lassen: Die vom Ende des
Jahres 1789 an stattfindenden Föderationen zweier oder mehrerer
(Provinzen oder) Departements, wie das große Fest des Juli
1790, bedeuten Ansätze eines staatlichen Zentralismus. Die
Departements wollen dabei auf einen Teil ihrer Rechte und
ihrer Selbständigkeit zugunsten der patrie verzichten. 1793
aber sind diese Ansätze durch die fast plötzliche Herstellung
einer überaus mächtigen Zentralgewalt gänzlich überholt, und
nun wird der Föderalist, indem man die andere Seite des
Begriffes hervorhebt — man müßte sagen der „Nur-Födera-
Italien. 415
list* — , der todeswürdige Vertreter der Selbständigkeit der
Departements gegen die Zentralgewalt. Bald wird dann
»Föderalist** ein vages, freilich für den Betroffenen lebens-
gefährliches Schimpfwort, wie „Royalist* und »Aristokrat*, mit
dem derjenige belegt wird, der zugrunde gerichtet werden soll.
Hamburg. Adalbert WahL
Documenti per la storia dei rivolgimenti politici del comune di
Siena dal 1354 al 1369, pubblicati con introduzione ed
indici da G. Luchaire. (Annales de VuniversiU de Lyon,
Nouvelle s^rie, II, Droit, Lettres, fasc. 17.) Lyon-Paris 1906,
LXXXVII u. 272 S. 7,50 Fr.
Für den Wert einer Publikation aus ungemein reichhaltigen,
aber noch verhältnismäßig wenig erschlossenen Archivbe-
ständen, wie es die von Siena sind, kommt es am meisten auf
den Gesichtspunkt an, nach dem die Auswahl des mitgeteilten
Materials getroffen wurde. Es wäre wohl erwünscht gewesen,
daß der Herausgeber irgendwelche Hinweise auf Beschaffen?
heit und Inhalt der von ihm benutzten Statutenkodices, Kon-
siisbücher und andern Archivalien gegeben hätte, statt sich
mit bloßer Anführung der Archivbezeichnung zu begnügen,
über deren Bedeutung der vom Staatsarchiv Siena veröffentlichte
Indice sommario delle serie dei documenti (Siena 1900) be-
greiflicherweise nur kurze Andeutungen geben kann. Über-
reste einer Verwaltung mit so ausgedehnter Schriftlichkeit des
Verfahrens, wie es die der italienischen Städte war, sind an
sich schon beachtenswert, und nicht allerwärts haben sie sich
so gut erhalten wie in Siena. Die Texte sind übrigens lesbar
und wohl auch korrekt wiedergegeben. Auf S. 2 Zeile 24 ist
vor „et singuli' augenscheinlich „omnes* zu ergänzen; eine
Bemerkung über die bei der Edition befolgten Grundsätze
hätte nicht fehlen dürfen.
Der Gesichtspunkt, von dem Luchaire ausgeht, ist nun
gewissermaßen ein rein formaler: er will Material zur Erläute-
rung der Staatsumwälzungen beibringen, die während eines
bestimmten Zeitabschnitts in Siena stattfanden. 1355 wurde
das Regierungskolleg der Neun gestürzt; an ihre Stelle traten
die Zwölf, die 1368 den 15 Defensoren das Feld räumen
mußten. In den Verfassungsänderungen lag, ähnlich wie in
27*
416 Literaturbericht.
den etwa gleichzeitigen zu Florenz, ein Übergang der Herr-
schaft vom popolo grasso auf den media und minuto inbe-
griffen, der sich nicht ohne Gewaltsamkeit vollzog und —
zufällig — jedesmal mit einem Aufenthalt Kaiser Karls IV. in
Siena zusammentraf, wie das in der recht ausführlich gehaltenen
Einleitung des näheren dargelegt wird. Den verwaltungs-
technischen Mechanismus, den jeweils die obsiegende Partei
zur Sicherung ihrer Errungenschaften schuf, lassen die Statuten
und Ratsbeschlüsse vortrefflich erkennen; so bieten sie eine
wertvolle Ergänzung zu den Berichten der Cronica Sanese
(Afuralorl SS. 15) über den äußeren Verlauf der Ereignisse;
aber um das Wesen der für die Parteibildung maßgebenden
Gegensätze klar zu legen, reichen sie nicht aus. Gesteht doch
L. in der „Einleitung*" (S. 63) selbst zu, daß er über die
Spaltung der Zwölf in zwei Fraktionen, die kurz vor ihrem
Sturz eintrat, nichts näheres habe finden können. Jede der
beiden Fraktionen stand nach Angabe des Chronisten mit
einem der ansehnlichsten Adelsgeschlechter in Verbindung.
Wenn L. (S. 62) in einer fortschreitenden Demokratisierung
der Verfassung den Grundzug der Entwicklung erblickt, der
ihr höheres Interesse verleihe, als es den bloßen Intriguen,
Familienzwistigkeiten und Ausbrüchen der Volkswut zukomme,
aus denen die Ereignisse hervorzugehen scheinen, so kann
diese Auffassungsweise nur mit erheblichen Einschränkungen
gelten. Richtig ist, daß eine fortschreitende Erweiterung der
Teilnahme am Regiment sich erkennen läßt; aber es genossen
immer nur Stadtbürger den Vorzug. Die Einwohner des Ge-
biets, der abhängigen kleineren Städte und der Landorte, blieben
die Beherrschten. Selbst zu Gemeinden konstituiert, wurden
sie von der Stadtobrigkeit, wie diese auch immer sich be-
nennen mochte, nach Maßgabe der ihr zustehenden Hoheits-
rechte und besonderen Verträgen regiert. L. hat (S. 58) von
den vielen auf das Gebiet bezüglichen Statutarbestimmungen
aus dem triftigen Grunde abgesehen, weil der ungeheuren
Stoffmasse gegenüber eine Beschränkung geboten war. Immer-
hin läßt sich das Gebiet nicht von der Stadt trennen, wie es
denn auch in der Chronik die gebührende Berücksichtigung
findet. In dem Stadtstaat, der aus der herrschenden großen
und den untertänigen kleineren Kommunen zusammengesetzt^
Italien. 417
eine freilich nicht sehr fest gefügte Einheit bildete, konnte die
Regierungsform nur oligarchisch sein, außer im Falle, daß sie
in die Tyrannis (Signorie) umschlug. Saßen doch z. B. in dem
Konsil der Reformatoren (S. 133 ff.) zwar Gevatter Schneider
und Handschuhmacher aus der Stadt, aber das Gebiet war, soviel
ersichtlich, überhaupt nicht vertreten. Nun haben sich aus dem
weiteren Kreise der Bürgerschaft Gruppen abgesondert, die
nach möglichst ausschließlichem Besitz der Macht und der
daraus fließenden Ehren und Vorteile strebten. Bei dieser
Gruppenbildung wirkten zweifellos soziale Unterschiede mit.
Die Nobili waren Besitzer von Landgütern und Herrschafts-
rechten im Gebiet; zum popolo grosso gehörten jene Ban-
kiers und Kaufleute, die am päpstlichen Hofe und auf den
Messen der Champagne eine Rolle gespielt hatten, während
als Hauptbestandteil des popolo minuto sich die Handwerks-
meister betrachten lassen. Eine nähere Erläuterung dieser
Unterschiede durch Herbeischaffung geeigneten Materials (die
Steuerbücher von Siena beginnen 1219, s. Indice S. 41) wäre
umso wünschenswerter gewesen, als für die Gruppenbildung
doch auch noch andere als rein wirtschaftliche Momente in
Betracht kommen. Die Nobili erscheinen geradezu als eine
geschlossene Kaste, die aus einer fest begrenzten Anzahl von
Geschlechtern bestand ; aber auch der popolo grosso hat einen
familienartigen Abschluß erlangt. Nach dem Sturze der Neun
wurden nicht nur alle die, welche das Amt bekleidet hatten,
von der Wählbarkeit zu den Zwölf ausgeschlossen, sondern
ihr ganzer ordo, Söhne, Brüder und Anverwandte in männ-
licher Linie (S. 2). Die zugleich aus der Wahlurne entfernten
Zettel mit den Namen der regimentsfähigen Bürger wurden
jedoch sofort durch neue ersetzt, auf denen nur Platz fand,
wer mit Zweidrittel-Majorität durch die 20 Reformatoren aus-
erkoren war, die selbst wieder ihr Amt nicht einer Wahl ver-
dankten, sondern der Ernennung durch den zur Zeit an-
wesenden König. Es handelte sich schließlich um nicht viel
mehr als um Ersetzung einer Klique durch eine andere. Ebenso-
wenig kann die Herrschaft des popolo minuto^ der 1355 nicht
unter die Regierenden aufgenommenen Handwerker, als reine
Demokratie angesehen werden. Außerhalb der Regiments-
fähigkeit blieben die Arbeiter des Wollgewerbes, über deren
418 Literaturbericht
Erhebung 1371 L. (S. 87) eine weitere Publikation in Aussicht
stellt. Die vorliegende ist ein Bruchstück, welches die
Forschung fördert, aber nirgends zum Abschluß bringt So
bleibt auch trotz der Erörterungen (S. 31 ff.) unklar, ob die
Signorie, die Karl IV. 1355 in Siena übernahm, nur «bis zur
vollendeten Neuordnung des Stadtregiments* dauern sollte
(Werunsky, Gesch. Karls IV. 2, S. 569). Es würde sich daraus
erklären, daß sein Vikar abdankte (S. 35), und doch das Ver-
hältnis des Kaisers zu Siena später (s. Cron. San. 168 zu
1361) als ein durchaus freundschaftliches erscheint.
Zürich. G. Caro.
Prof, Gaetano Capasso, II governo di Don Ferrante Gonzaga
in Sicilia dal 1535 al 1543. (Estratio dall' Arch, Stör. Sic.
N. S. Anno XXX— XXXI.) Palermo, Scuola tip. „Boccone
del povero". 1906. 303 S.
Der Vf. will keine Biographie Gonzagas geben ; er schildert
nur in der Einleitung kurz seine Jugend und schließt mit
einem Ausblick auf den Schluß seines Lebens. Befremdlich
wirkt es aber doch, wenn er dabei den Vorwurf des Nepotis-
mus als berechtigt zugesteht, während man davon im ganzen
Buche kein Wort findet Im Mittelpunkte der Darstellung soll
aber nicht der Herzog, sondern Sizilien stehen. Es werden
daher über die rechtlichen, fiskalischen, kommerziellen und
personalen Verhältnisse der Insel aus den Urkunden eine
Fülle von Einzelheiten zusammengebracht, die nach manchen
Richtungen hin recht wertvoll sind. Die Bestrebungen zur
Hebung der Rechtspflege z. B. bilden einen wertvollen kleinen
Ausschnitt aus dem Leben der Zeit Nicht minder interessant
sind die Nachrichten über den Getreidehandel und die in Ver-
bindung damit befolgte Zollpolitik. Die Darstellung zeigt, daß
Sizilien zu jener Zeit eine sehr reiche Provinz war, daß seine
Hilfsquellen aber von der kaiserlichen Politik auch besonders
stark in Anspruch genommen wurden. Das Hauptinteresse
der Studie aber liegt darin, daß es uns einen tiefen Einblick
in die Türkenpolitik Karls V. gibt Diese steht in dem ganzen
Werke entschieden im Vordergrunde des Interesses. Das
Buch erweist deutlich, daß es von seiten des Kaisers keine
leeren Worte waren, wenn er fortgesetzt betonte, daß er den
England. 419
Kampf gegen die Ungläubigen als seine hauptsächlichste Auf-
gabe ansähe. In Spanien hinderte ihn das Steuerbewilligungs-
recht der Stände daran, das Land zu einem Kampfe in großem
Stile gegen den Halbmond fortzureißen. In Sizilien waren
der kaiserlichen Macht die Schranken weniger eng gezogen,
die Insel hatte ein noch unmittelbareres Interesse an der Ab-
wehr der Türkengefahr, und so bildet sie denn in dem Jahr-
zehnt, das die Darstellung umfaßt, recht eigentlich den Mittel-
punkt, um den sich alle Angriff- und Abwehrmaßregeln gegen
den Halbmond kristallisieren. In dem, was in bezug auf die
Bekämpfung der Türken geschildert wird, besitzt die Darstel-
lung ein weit über die Grenzen Siziliens hinausreichendes
allgemeines Interesse für die Geschichte Karls V. und ergänzt
nicht unerheblich unsere Kenntnis dieser Vorgänge, obwohl
der Vf. sich sehr gewissenhaft darauf beschränkt hat, alle da-
bei berührten Fragen nur so weit in den Kreis der Betrachtung
zu ziehen, als sie sich mit Sizilien oder mit der Person des
Vizekönigs berühren. Ein Urkundenanhang dient zur Be-
legung verschiedener im Texte erwähnter Begebenheiten
mannigfahigen Charakters.
Friedenau. /f. Haebler.
Frederick William Maitland ; two lectures and a bibliography, By
A. L. Smitb, Balllol College, Oxford. Oxford, Clarendon.
Press. 1908. 71 S.
Diese Oxforder Vorlesungen schildern Englands größten
Rechtshistoriker als fertigen Künstler in trefflich gelungenen
Zügen. Biographische Einzelheiten aber oder eine fortlaufende
Entwicklung des Mannes, die ihm vorangehende Lehre oder
den von ihm hinterlassenen Neuerwerb der Wissenschaft, seine
Hilfsmittel oder Arbeitsmethode offenbaren sie nicht. Einige
Geheimnisse seiner plastischen Darstellung und seines be*
bezaubernden Stils enthüllen sich dieser fein ästhetischen
Analyse: z. B. die Variation eines Leitmotivs, die Wahl ein*
drucksvoller Schlagworte, der Vergleich des Vergangenen mit
lebendiger Gegenwart. Wer Maitlands Werke nicht gelesen
hat, wird zu ihnen hingezogen, wer sie kennt, schmerzlich
an den Verlust des Mannes erinnert werden durch diese ge-
schickte Auswahl seiner überraschendsten Gedanken und
420 Literaturbericht.
glänzendsten Aussprüche. Den Genius schät2:t Smith in der
Hauptsache mit richtigem Urteil ein. Maitland sah das höchste
Ziel der Geschichte in der Entwicklung der Ideen, nicht als
abstrakter Hypostasen, sondern als mächtiger Triebklüfte in
lebenswarmen Menschen, deren religiöse Strebungen dieser
weiten Sympathie nicht zu hoch, deren bierdurstige Kehlen
ihr nicht zu tief lagen. Er verband schärfste Analyse mit der
Gabe zu weltumspannender Kombination. Er arbeitete schnell
und leicht, laut der Riesenfülle der Erzeugnisse fast nur zweier
Jahrzehnte; er vollendete jedes Werk bis zu durchsichtiger
Klarheit und reizender, heiterer Form. Aus der philosophi-
schen Schule seiner Jugend, aus seinem juristischen Fache
strebte er stets zur Auffindung des Typischen, der Gesetze
der Entwicklung, an deren Aufsteigen im großen Ganzen er
glaubte. Um so höher muß man es ihm mit Sm. anrechnen,
daß er die Macht des Unerklärbaren, des Zufälligen, des rein
Persönlichen nie verkannt hat. Mir scheint daneben bewun-
dernswert, wie er in eigenen schwer errungenen Ergebnissen
das noch Problematische selbst aufwies, gleichsam prophetisch
zukünftiger Forschung neues Feld zuteüend. Daß in Oxford
das Dasein der Geschichtswissenschaft noch verteidigt werden
muß, weil sie für Gegenwart und Zukunft praktische Philo-
sophie lehre, den Juristen zur Gesetzgebung schule, hört man
staunend; in Maitlands Sinne lag solch Zugeständnis nicht.
Dort erschien es auch nötig, die Freiheit dieser hohen Seele
von Schranken kirchlicher Konfession zu entschuldigen mit
der Versicherung, als Wahrheitsucher sei Maitland echt reli-
giös gewesen. Nur er? „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
der hat Religion." — Die gewöhnlicheren Tugenden weiter
Gelehrsamkeit, geduldiger Emsigkeit, hoher Unparteilichkeit
und Befreiung vom Maßstabe moderner Moral zeigt Sm. an
Maitland in klarem Lichte; er hebt richtig hervor, wie der
Historiker Anglonormannischen Rechts doch auch in Kano-
nistik und auf dem Gebiete des Zeitalters Elisabeths Bedeu-
tendes leistete, wie der Entfalter von Ideen und Institutionen
auch lebendig zu erzählen verstand von Einzelmenschen.
Zum idealen Schwünge über beschränkte Insularität hinauf zu
universellem Europäertum hätte wohl Erwähnung verdient das
reale Sprungbrett eingehenden Studiums festländischer Lite-
England. 421
ratur, besonders Deutscher Rechtsgeschichte. Auch über
die erfolgreich anregende Tätigkeit wird der künftige Biograph
vieles ergänzen können; da Miss Batesons Mund allzu früh
verstummte, müssen einige andere Forscher zeugen, die durch
Maitland lernten, aus Archivalien Rechtsleben erstehen zu
lassen. — Eine fachmäßige Kritik war für unterhaltende Vor-
lesungen nicht am Platze. Es genügt, daß sie recht oft im
Lobe den Nagel auf den Kopf treffen. Maitland als Jurist
triumphiert in der Entwicklung der Lehre von der Körper-
schaft ; er macht uns die Gedanken der Vergangenheit wieder
denkbar. Häufig findet Sm. glückliche Ausdrücke: jener
Midashand wird Aktenstaub zu glänzendem Golde. Eine
Eigenheit englischen Universitätsstils, die er an Maitland rügt,
vermeidet er selbst nicht ganz, nämlich die Anspielung auf
Esoterisches, bei der der Deutsche sich bedauernd als Fremden
empfindet. Die Disposition der Vorlesungen ist in Kategorien
und Distinktionen mit Zahlen und Buchstaben so stark her-
vorgehoben, daß ich dahinter das Dasein des Planes zu einer
Biographie erhoffe, die jenen Rahmen erst recht mit blühen-
dem Leben erfüllen wird. Gewiß ist Sm., Maitlands Mitarbeiter
an Social England, zuletzt sein persönlicher Gefährte, dazu
berufen. Die Bibliographie müßte dann vervollständigt werden :
ihr fehlen jetzt zahlreiche größere Aufsätze Maitlands für
Amerikas Harvard Law Review; auch der köstliche Artikel in
Quarlerly Review, July 1904, Laws of Ihe Anglo-Saxons ist
von ihm. Unter den Kritiken über Maitland vermißt man alle
französischen und deutschen, auch die Brunners, auf die Mait-
land großen Wert legte. — Das Schicksal mißgönnte Mait-
land Gesundheit und langes Leben; seinem Nachruhme hat
es warme Verehrer und in Sm. einen würdigen Verkünder be-
schert.
Berlin. F. Liebermann.
Life and letters of Thomas Cromwell by Roger Bigelow Merri'
man. Vol. l Life, Letters to 1535. Oxford, Clarendon Press.
1902. Vm u. 442 S. Vol. II Letters from 1536, Notes, Index.
Oxford, Clarendon Press. 1902. IV u. 356 S.
Die wissenschaftliche Bedeutung des vorliegenden Werkes
liegt vor allem darin, daß hier zum erstenmal ein vollständiger
422 Literaturbericht.
Abdruck der sämtlichen Briefe Thomas Cromwells geboten
wird. Die größte Zahl derselben war freilich inhaltlich aus
den Calendars of State Papers bekannt; hier aber sind sie
in vollem Wortlaut abgedruckt. Die Sammlung ist demnach
wohl geeignet, rein biographisch das Wesen des Mannes aus
seinen Briefen erkennen zu lassen, während diese für die
Geschichte der Zeit natürlich nicht anders als gemeinsam mit
den in den Calendars wiedergegebenen Antworten studiert
werden können. Etwas Willkürliches liegt also immerhin in
dieser Art der Publikation, wenn auch die am Schlüsse des
zweiten Bandes gegebenen Anmerkungen meistens die nötigen
Hinweise auf das zur sachlichen Ergänzung gehörige Material
enthalten.
Die eigentliche Biographie bildet nur den größeren Teil
des ersten Bandes. Sie beruht auf gründlichem Studium der
gedruckten und handschriftlichen Quellen. Von den letzteren
mögen die in Marburg benutzten Archivalien, auf die Heirat
Heinrichs VIII. mit Anna von Cleve bezüglich, noch be-
sonders erwähnt sein. Ein paar interessante Stücke sind als
Appendix zu Kapitel 13 abgedruckt. Einiges Neue bietet
Kapitel 1 für die Herkunft und die jüngeren Jahre Crom-
wells. Aus den Court Rolls der Grundherrschaft Wimbledon,
welche von 1461 an vorliegen, ergeben sich einige Tatsachen,
welche auf das Leben und die bürgerlichen Berufe der aus
Nottinghamshire zugewanderten Familie einiges Licht werfen.
Daß Thomas Cromwell in jungen Jahren nach Italien gereist
sei, scheint jetzt sicher, daß er an der Schlacht am Garigliano
teilgenommen, wahrscheinlich. Dann tritt er wieder in England
auf, als Woll- und Tuchhändler und zugleich als Anwalt be-
schäftigt. Seine Beziehungen zu Wolsey, welche die Quelle
seiner Größe wurden, lassen sich mit Sicherheit nicht weiter
als 1520 zurückdatieren. In bezug auf die Familiengeschichte
Cromwells wird auch (I, 54) die noch unbekannte Tatsache
festgestellt, daß er außer einem Sohne, der bekanntlich das
Geschlecht fortsetzte, noch zwei Töchter besaß, die wahr-
scheinlich beide vor dem Vater starben. Lehrreich ist auch
der Hinweis, daß Cromwell als Erster unter den großen Rat-
gebern der englischen Krone, weltlichen Standes und von
England. 423
niederer Herkunft war. Auch die Bedeutung dieses Umstandes
für den Aufstand von 1536 wird jetzt erst verständlich.
Die von Merriman gegebene Charakteristik Cromwells ist
vollkommen einleuchtend. Der Mann, welcher durch Wolsey
emporgekommen, den Sturz seines Gönners geschickt zu seinem
Vorteil ausnutzt, welcher des Königs Ehe mit Anna Boleyn
möglich macht, und doch einige Jahre später den Untergang
derselben Anna Boleyn herbeiführt und ihrer Hinrichtung per-
sönlich beiwohnt, ist sicher als Staatsmann wie als Mensch
ein kalter Rechner gewesen, ohne alle Ideale, ohne Rücksicht
auf Recht und Moral, auch religiös indifferent und sicher nicht
ein überzeugter Protestant. „Der Nutzen einer jeden Handlung
war ihm entscheidend für ihren sittlichen Charakter und ihre
Rechtmäßigkeit.^ Er verachtet die hergebrachte Staatsweis-
heit, nach der die Ratgeber der Krone für die Ehre ihres Herrn
zu arbeiten hätten. Seine Lieblingslektüre, den Fürsten des
Macchiavell, empfiehlt er auch anderen, um daraus einen prak-
tischen Maßstab für ihr politisches Handein zu gewinnen. Ja,
er erweitert gewissermaßen die Lehren Macchiavells, welcher
nur vom Standpunkte des Fürsten aus schreibt, indem er
(Cromwell) zeigen will, wie ein kluger Minister es nun anzu-
fangen habe, um seinerseits auch einen stolzen Fürsten zu
leiten und zu beherrschen. Freilich hat er eben hierin seiner
Kraft zu viel vertraut und ist zuletzt, gleich anderen, durch
seinen Herrn wie ein verbrauchtes Werkzeug weggeworfen
worden.
Dabei kann ich dem Vf. wohl zustimmen, wenn er der
Meinung ist, daß mit all diesem mächtigen Egoismus Thomas
Cromwell doch ein großer Staatsmann und Patriot gewesen
sei. (Nicht übel ist der Vergleich mit Moritz von Sachsen.
Preface S. 3.) An der Ausbildung des Absolutismus der
Krone zu arbeiten, war in Cromwells Augen sicher ein patrio-
tisches Beginnen und lag zugleich im Geiste der Zeit.
Freiburg i. B. W. Michael.
Notizen und Nachrichten.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, welche sie an dieser
Stelle berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion.
Allgemeines.
O. Baensch^s Aufsatz „Ober historische Kausalität' (Kant-
studien XIII, 1/2) will nicht von philosophischen Forderungen,
sondern vom Wesen und von den Aufgaben der Geschichte aus-
gehen. Er kann deshalb mit einer Kausalität, die in der not-
wendigen Zeitfolge definiert, keine Naturgesetze für die Geschichte
gewinnen, sondern nur ;, Idealtypen von Wirkungsreihen" ohne
die Sicherheit des Gesetzes. Dabei sieht er in der schließlichen
Verbindung der notwendigen Einzelgebiete (Politische Geschichte,
Kirchengeschichte, Wirtschaftsgeschichte usw.) zu einer Kultur-
geschichte das anzustrebende Ziel der Geschichtswissenschaft
P. Schweizer, Die religiöse Auffassung der Weltgeschichte
(Schweizer theol. Zeitschr. 25, 2) (Sonderausgabe Zürich, Frick.
2 M.) will den geschichtsphilosophischen Anschauungen seines
Vaters Alexander Schweizer ein Denkmal setzen, indem er die
christlich-religiöse Geschichtsauffassung vom Alten Testament
und von Christi Zeiten an bis zur Gegenwart schildert und dabei
zum Schlüsse ausführlicher auf die zugehörige Anschauung Alex.
Schweizers eingeht.
R. A. Fritzsches kurzer Aufsatz über „Justus Moser und
W. H. Riehl« (Hess. Blätter f. Volkskunde VII, 1) stellt die Be-
rührungspunkte beider Männer zusammen. Aus den gleichen An-
Allgemeines. 425
schauungen vom historisch gewordenen Volkstum lag der eine
mit der Aufklärung, der andere mit dem Vulgärliberalismus seiner
Zeit im Widerspruch.
Ed. Sprangers Aufsatz ,W. v. Humboldt und Kant** (Kant-
studien XIII, 1/2) zeigt, wie Humboldts Entwicklung entscheidend
von Kant beeinflußt wurde, wie er dann aber auch seine selb-
ständigen Wege ging, indem er den Dualismus Kants durch eine
Anschauung von der harmonischen Totalität der menschlichen
Seele, durch den Humanitätsgedanken zu überwinden strebte.
Darin wie in Humboldts Ideenlehre liegen Gegensätze zu Kant —
Humboldts Weltanschauung ist ästhetischen Charakters.
Fichtes Geschichtsphilosophie, ihre Wendung vom Ratio-«
nalismus zum Irrationalismus und ihre, im Kerne wenigstens, sehr
nahe Verwandtschaft mit den heutigen geschichtsphilosophischen
Auffassungen wird von Windelband in der Internationalen
Wochenschrift vom 18. April gedrungen und gedankenreich ent^
wickelt.
Die Literatur über Taine ist noch immer im Steigen: in der
Revue des deux mondes 43, 3 behandelt Giraud: ,La personne
et l'auvre de Taine^ (auf Grund der kürzlich veröffentlichten
Briefe); im Aprilheft der Deutschen Rundschau, A. Bossert:
„Hipp. Taine in seinen Brief en*"; in der Rev, de Paris X, 9 Andr6
Chevrillon: ,Taine, Notes et Souvenirs'.
In der Besprechung des 2. Bandes von Schmollers Grundriß
der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre sucht v. Below abermals
den Nachweis zu führen, daß Schmollers Leistungen überschätzt
werden (Vierteljahrsch. f. Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 5, 4).
Below stützt sich dafür nicht nur auf die Besprechungen anderer,
sondern untersucht auch im einzelnen finanzgeschichtliche Teile
des Buches sowie die Ausführungen Schmollers über den wirt-
schaftlichen Fortschritt.
Eine Sammlung wissenschaftlicher Arbeiten über das Böh-
mische Wirtschaftsleben in Geschichte und Gegenwart
beabsichtigt die Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissen-
schaft, Kunst und Literatur in Böhmen unter der Leitung der
Professoren Ulbrich, Bachmann, Jung, Weber und Zuckerkandl
herauszugeben. Die Sammlung soll auch einschlägige Arbeiten
älterer deutsch-böhmischer Forscher zugänglich machen und zu-
gleich die jetzt eingehenden „Beiträge zur Geschichte der deut-
schen Industrie in Böhmen^ (herausgegeben vom Ver. f. Gesch.
der Deutschen in Böhmen) ersetzen.
426 Notizen und Nachrichten.
Die wertvolle, aber tendenziöse „Ungarische Verfassungs-
und Rechtsgeschichte^ des Äkos von Timon wird durch A. Luschin
von Ebengreuth im Jahrb. f. Gesetzgeb. 1908, Jahrg. 32, Heft 1
ausführlich besprochen. Die Behauptung Timons, das ungarische
Volk habe seine besondere, von der Rechtsgeschichte anderer
Völker abweichende Entwicklungsgeschichte gehabt, widerlegt
Luschin an vielen Beispielen, indem er im Anschluß an die von
Timon gewählte Gliederung des Stoffes in vier Perioden den
starken Einfluß westeuropäischer Rechts- und Staatsideen auf die
ungarische Veriassung und Rechtsentwicklung überzeugend nach-
weist. Vgl. auch Harold Steinacker, ,Ober Stand und Auf-
gaben der ungarischen Verfassungsgeschichte", in den Mitt. des
Inst. f. österr. Gesch. 1907, Bd. 28, S. 276 ff.
Das Mittelmeergebiet, seine geographische und kulturelle
Eigenart. Von Alfred P h i 1 i p p s o n. 2. Aufl. Leipzig, Teubner.
1907. X u. 261 S. — Das Buch ist, laut der Vorrede, ein in der
Hauptsache unveränderter Abdruck der 1. Auflage. Daß diese
schon nach drei Jahren vergriffen war, zeigt, wie trefflich der
Veriasser die Aufgabe zu lösen verstanden hat, auf knappstem
Raum ein Bild der geographischen Verhältnisse der Mittelmeer-
länder zu geben. Gerade wir Historiker haben besonderen Grund,
ihm dafür dankbar zu sein. Wir werden es ihm auch gern ver-
zeihen, daß der letzte Abschnitt („Der Mensch'') etwas summa-
risch ausgefallen ist. Auch die Literaturangaben hätten etwas
reichlicher sein können. Die Karten lassen in der Ausstattung
viel zu wünschen: ohne Farbe geht es nun einmal nicht, und die
Sprachenkarte z. B. hätte lieber unterdrückt werden sollen. Da-
gegen bilden die 13 Landschaftsbilder, meist aus Griechenland,
zum Teil nach eigenen Aufnahmen des Verfassers, einen schönen
Schmuck des Buches und unterstützen das Verständnis des
Textes in wirksamer Weise; schade, daß es nicht mehr sind.
Beloch.
Ein anregender Aufsatz von Wilh. Bauer, der in Tilles
Deutschen Geschichtsblättern 9, 6 u. 7 erschienen ist, handelt
über das Verhältnis, das zwischen den historischen Hilfswissen-
schaften und der Geschichte der Neuzeit besteht. Mit dem Vf.
wird ein jeder, der einmal in der Lage gewesen ist, in Übungen
auf die Schriftentwicklung der Neuzeit einzugehen, ^eine leicht
erreichbare, nicht allzu kostspielige Zusammenstellung neuzeit-
licher Schriftproben, die nicht bloß die palaögraphische Ent-
wicklung in Deutschland veranschaulichen dürfte, sondern auch
Italien, Frankreich, allenfalls auch Spanien und England in ihren
Allgemeines. 427
Bereich ziehen müßte^, für ein dringendes Bedürfnis halten.
Auch die Bedeutung der Archiv- und Aktenkunde wird mit Recht
stark betont.
Im Bibliographe moderne 11, 4 u. 5 handelt P. de Vaissifere
über Bedeutung und Schicksale des Pariser Johanniterarchivs
(Fonds du Grand Prieuri de France, jetzt im Nationalarchiv be-
wahrt). H. Stein verzeichnet ebenda zahlreiche Handschriften
der städtischen Bibliothek zu Ferrara, die zumeist dem 15. bis
18. Jahrhundert angehören, und gibt ferner eine nach den ein-
zelnen Departements geordnete „Bibliographie de susages locaux'.
Neue Bficher: Cavagnari, Principt critici di scienza po-
litica dello stato. Vol. III. (Padova, Societä cooperativa tipogra-
fica. 10 Lire,) — Grabowsky, Recht und Staat. Ein Versuch
zur allgemeinen Rechts- und Staatslehre. (Berlin, Rothschild.
2 M.) — de Tourville , The growth of modern nations. A history
of the particularisl form of society. (London, Arnold. 12,6 sh,)
— Eleutheropulos, Soziologie. 2. erweit. u. umgearb. Aufl.
(Jena, Fischer. 4 M.) — Small, Adam Smith and modern socio-
logy. (London, Unwin. 5,6 sh.) — Ruhland, System der poli-
tischen Ökonomie. 3. Bd. (Berlin, Puttkammer 6 Mühlbrecht.
10 M.) — Tugan-Baranowsky, Der moderne Sozialismus in
seiner geschichtlichen Entwicklung. (Dresden, Böhmert 4 M.)
— Rethwisch, Leopold v. Ranke als Oberlehrer in Frank-
furt a. O. (Berlin, Weidmann. 1 M.) — Mommsen, Gesammelte
Schriften. V. Bd. Historische Schriften. 2. Bd. (Beriin, Weid-
mann. 15 M.) — Lord Acton, Historical essays and studies.
Ed. by J. N. Figgis and /?. V. Laurence. (London, Macmillan.
10 sh.) — Dow , Atlas of European history. (London, Bell, 6 sh.)
— Day, A history of commerce. (London, Longmans. 7,6 sh.)
— He man, Geschichte des jüdischen Volkes seit der Zerstörung
Jerusalems. (Calw und Stuttgart, Vereinsbuchh. 8 M.) — Brown,
Studies in the history of Venice. 2 vols, (London, Murray. 18 sh.)
— Acht, Die Entstehung des Jahresanfangs mit Ostern. Eine
historisch-chronologische Untersuchung über Entstehung des Oster-
anfangs und seine Verbreitung vor dem 13. Jahrhundert. (Berlin,
Trenkel. 2M.) — Gu^nin, Histoire de la Stenographie dans
rantiguite et au moyen-äge. Les notes tironiennes. (Paris,
Hachette S Cie.)
Alte Geschichte.
In der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 42, I
(1908) findet sich ein lehrreicher Aufsatz von Ed. Meyer: Die
428 Notizen und Nachrichten.
ältesten datierten Zeugnisse der iranischen Sprache und der
zoroastrischen Religion.
Einen guten Oberblick über die außerfranzösischen Erschei-
nungen auf dem Gebiet der Antiquit^s latines gibt Ch. L^cri-
vain in der Revue historique 1908, Mai-Juni.
Einen trefflichen Oberblick über La papyrologie grecque et
ses progrks gibt M. Zech in Bulletin de l'AcatUmie r. d'arcMo-^
logie de Belgique 1907, 5.
W. A. G o 1 i g h e r bespricht in der English historical Review
1908, April das New Historical Fragment und fügt hinzu: Attri-
buted to Theopompus or Cratippus. Nach dem Verfasser kommt
Theopomp als Autor nicht in Betracht
In den Wiener Studien 29, 2 (1907) finden wir zwei Aufsätze,
welche fördernd sind, von A. Ledl: Das attische Bürgerrecht
und die Frauen, und von St. Braßloff: Die prätorischen Pro-
vinzialstatthalter in der Kaiserzeit.
Sehr lehrreich und fördernd ist das letzte Heft des Archivs
für Papyrusforschung (4, 3/4). M. Rostowzew, Zur Geschichte
des Ost- und Südhandels im ptolemäisch-römischen Ägypten;
G.Lumbroso: Letter e al signor professore Wilcken ; U. W i 1 c k e n :
Der ägyptische Konvent, worin vieles aufgeklärt und mit Glück
eine neue Auffassung des wichtigen Institutes gegeben wird;
J. L e s q u i e r : Sur deux dates d*EvergHe et de Philopator, Wichtig
ist auch U. Wilckens Bericht über Papyrusurkunden, der viel
Neues bringt.
In den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum 1908,
4/5 finden sich wichtige Aufsätze von E. Kornemann: Stadt-
staat und Flächenstaat des Altertums, und von E. Bruhn:
Q. Ciceros Handbüchlein für Wahlbewerber; von C. Schuch-
hardt: Hof, Burg und Stadt bei Germanen und Griechen.
Aus dem Rheinischen Museum für Philologie 63, 2 (1908)
notieren wir C. C i c h o r i u s : Panaitios und die attische Stoiker-
inschrift; W. Vo 11g raff: Das Alter der neolithischen Kultur in
Kreta und O. Seeck: Das Leben des Dichters Porphyrius.
Die Comptes-rendus de rAcadämie des Inscriptions et Beiles-
lettres 1908, Januar-Februar bringen folgende Aufsätze G. de J e r-
phanion: Les ^glises souterraines de Gueurime et SoghanU
(Cappadoce), ein Bericht der auf eigenen Reisen und Beobach-
tungen beruht und unser Wissen bereichert, wie dies auch die
von demselben Verfasser entdeckten und besprochenen Two new
Hittite monuments in the Cappadocian Taurus tun {Proceeding of
Alte Geschichte. 429
the Society of biblical archeology 30, 2) ; D e 1 a 1 1 r e : Z.a Basilica
Maiorum (puits rempHs de squelettes); A. Blanchet: Le mon-
nayage de l^empire Romain aprks la mort de Thiodore /«•; F. de
M ^ 1 y : Le Christ ä tSte d'äne du Palatin.
In The classical Journal 3, 4 erörtert G. Terrell: The ex-
cavations in Crete and what they mean for the Student.
Aus dem Bullettino della Commissione archeologica comu"
nate di Roma 35, 4 (1907) notieren wir G. Pansa: / ludi venu-
torii dei Peligni rappresentati in alcuni bassiriiievi di Sulmona;
O. Marucchi: // tempio della Fortuna Prenestina secondo ii
risultato di nuove indagini e di recentissime scoperte; G. Gatti:
Notizie di recenti trovamenti di antichitä in Roma e nel suburbio ;
L. Cantarelli: Scoperte archeologiche in Italia e nelle antiche
provincie Romane,
Aus den Rendiconti del R. Istituto Lombardo di seiende e
lettere 40 (1907), 19 notieren wir De Marchi: Nuove iscrizioni e
resti romani trovati recentemente in Afilano.
In den Rendiconti della r. Accademia dei Lincei, Glosse di
scienze morali, storiche e filologiche 1907, 9/12 findet sich zu-
nächst die Fortsetzung des schon angezeigten j^bios" di Co^
stantinOy herausgegeben von M. Guidi; dann Aufsätze von
G. Corradi: Le potestä tribunizie dell* imperatore Traiano Decio;
von A. della Seta: Appunti di topografia Omerica; L. P igo-
rin i: Scavi del Palatino,
Aus The numismatic Chronicle 1907, 4 notieren wir F. A.
Walters: A find of early roman bronze coins in England; P. H.
W e b b : The coinage of Carausius, und F. W. H a s 1 u c k : Coin
collecting in Mysia.
Aus der Revue numismatique 1908, 1 notieren wir J. de
Foville: Ricentes acguisitions du Cabinet des mädailles, Mon-
naies grecques d'ltalie et de Sicile, und Froehner: Un nouveau
ligat de Sicile.
Roman Economic conditions to the dose of the Republic, by
Edmund Henry Oliver, University of Toronto Library. 1907.
XV u. 200 S. — Verfasser will einen Abriß der wirtschaftlichen
Entwicklung des römischen Staates bis zum Beginn der Kaiser-
zeit geben. Dazu reichen nun freilich seine historischen Kennt-
nisse in keiner Weise aus. Eine kritische Verarbeitung des Ma-
terials sucht man vergebens, dafür verliert sich die Darstellung
in unwesentlichen Einzelheiten. Weite Gebiete: Bevölkerung,
Preisgeschichte, Finanzen usw. werden kaum gestreift. Etwas
Historische Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 28
430 Notizen und Nachrichten.
eingehender wird die Landwirtschaft behandelt; aber auch hier
erhalten wir nichts anderes als Auszüge aus den Scriptores rerum
rusticarum. Beloch.
Geschichte der kleinasiatischen Galater. Von Felix Stä-
helin. Leipzig, Teubner. 1907. 122 S. 4,80 M. — Der Verfasser
hat in dieser Schrift seine gleichbetitelte Baseler Doktordisser-
tation von 1897 in erweiterter und vielfach verbesserter Gestalt
neu herausgegeben. Während die Dissertation nur bis zur Er-
richtung der römischen Provinz Asien ging, ist jetzt die Geschichte
bis in die Zeit herabgeführt, wo Galatien in die römische Ver-
waltung überging, also bis in den Anfang der Kaiserzeit. In
einem Anhange ist ein alphabetisches Verzeichnis der erwähnten
galatischen Personennamen beigegeben. Ein vollständiges Register
fehlt leider. Niese,
Manuel pour servir ä r^tude de l'Antiquitä Celtique, par
Georges Dottin. Paris 1906. 407 S. — Der Verfasser stellt alles
dasjenige zusammen, was wir über die Sprache, Sitten, Religion
und äußere Ausdehnung der Kelten im Altertum wissen oder
wissen können. Er bringt zugleich die wichtigste neuere Lite-
ratur mit ihren zahlreichen Hypothesen, denen er mit besonnener
Kritik gegenübersteht. Das Buch ist wohlgeeignet, in die Wissen-
schaft der Keltologie einzuführen. Zwei Indices erleichtern die
Benutzung. B, Niese,
A. Harnack: Die angebliche Synode von Antiochia im
Jahre 324/25 wendet sich gegen Ed. Schwartz (Zur Geschichte
des Athanasius), der auf Grund eines bisher unveröffentlichten
Synodalschreibens eine Synode in Antiochia im Dezember 324
ansetzte, um diesen Ansatz erfolgreich zu entkräften (Sitzungs-
berichte der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften 1908,
24/26).
In der Neuen kirchlichen Zeitschrift 19,3 setzt Th. v. Zahn
seine schon mehrfach angezeigten Untersuchungen Zur Heimat-
kunde des Evangelisten Johannes. IV. Sychar 4, 4—42 fort, weiter
bespricht j. Köberle die neuerdings gefundenen Papyri von
Assuan und das Alte Testament.
Aus der Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft und
die' Kunde des Urchristentums 8, 4 (1907) notieren wir M. W.
Müller: Die apokalyptischen Reiter; H. Vollmer: Nochmals
das Sacaeenopfer, und P. G I a u e : Zur Echtheit von Cyprians
3. Buch der Testimonia.
Neue Bücher: Cook, Critical notes on Old Testament
history : the traditions of Saut and David, (London, Macmillan.
Frühes Mittelalter. 431
2,6 sh,) — Eduard Meyer, Ägypten zur Zeit der Pyramiden-
erbauer. (Leipzig, Hinrichs. 1,50 M.) — Naville, La religion
des anciens l^gypHens, (Paris, Leroux,) - Toffteen, Ancient
chronology. (London, Luzac, 10,6 sh.) — Guerber, The myths
of Greece and Rome, their stories, signification, and origin.
(London, Harrap. 7,6 sh,) — Do bös, Philosophy and populär
morals in ancient Greece, (London, Simpkin. 5 sh.) — B o e s c h ,
SBüiQOi. Untersuchung zur Epangelie griechischer Feste. (Berlin,
Mayer & Müller. 3,60 M.) — Drerup, [U^iaBov] neoi noktTfiai,
Ein politisches Pamphlet aus Athen 404 v. Chr. (Paderborn,
Schöningh. 3,20 M.) — Schjett, König Alexander und die Mace-
donier. (Christiania, Dybwad. 1 M.) — Dubois, Pouzzoles an-
tique (histoire et topographie), ( Paris ^ Fontemoing,) — Funk,
Die Juden in Babylonien, 200—500 2. (Schluß-) Tl. (Berlin, Pop-
pelauer. 4 M.) — Federici, Esempt di corsiva antica dal se-
colo I deir^ra moderna al IV, (Roma, Anderson.)
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250.
K. Gutmann verzeichnet in der Westdeutschen Zeitschrift
26, 4 die Ergebnisse von Ausgrabungen im Kastell Larga, d. h.
bei dem Dorfe Friesen im Kreis Altkirch, die Reste einer römischen
Villa aus der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. zutage förderten.
Ebendort veröffentlicht E. Krüger den zusammenfassenden Be-
richt über die Neuerwerbungen der Museen und Sammlungen in
Westdeutschland und in der Schweiz während des Jahres 1906 auf
1907. Elf Tafeln mit Abbildungen sind der wie stets willkommenen
Museographie beigegeben. Gleichzeitig damit ist im Korre-
spondenzblatt des Gesamtvereins 1908, 4 aus der Feder von
K. Schumacher und L. Lindenschmit der Jahresbericht
des Römisch-Germanischen Zentralmuseums zu Mainz für das
Rechnungsjahr 1907 auf 1908 erschienen.
Zwei neue Schriften von E. Seyler sollen hier erwähnt
werden, um den Verfasser darüber nicht im Zweifel zu lassen,
daß sie besser ungeschrieben geblieben wären. Die erste ver-
breitet sich über „Der Römerforschung Irrtümer in der Alisofrage*'
(Nürnberg, Selbstverlag 1907. 18 S.); ihr Zweck ist ebensowenig
klar zu erkennen wie ihre Ergebnisse. Die zweite behandelt „Die
Osterstufe und die Barigilden'' (ebd. 1907. 17 S.). Es genügen
folgende Sätze: „Parochus (es handelt sich um die Interpretation
der Urkunde Friedrichs I. für das Bistum Würzburg aus dem
Jahre 1168) bedeutet den die Staatspersonen auf den Mansionen
28*
432 NoCizea
bewirtenden Beamten, in der griecldschen Sprache also nrsprnng-
lieh denjenigen, der mit ani dem Wagen fitzt oder einem Reisenden,
besonders einem Soldaten, die nötige Vahnmg gibt Bargilden
halte ich entstanden aus parangeltikos. der Befehlende, wonach
also diese Kamen auf jene Verrichtongen hinweisen, welche kein
Graf oder öffentlicher Richter den im Bistnm Wörzburg An-
sässigen auferlegen durfte, namfich das fmäa exigemdmm^ man-
Mienen vel paralas fadeadmm. Den Bargilden kam es zu, bdun
Straßenverkehr die nötigen Anordnungen zu treffen und deren
Ausführung zu überwachen, die den Sachsen und Slaven über-
tragen war. So sehen wir also noch tief im Mittelalter jene Staats-
einrichtungen erhalten, welche die Franken too den Römern im
f'ostkurs übernommen haben* (S. 14 \x Nach neueren Ari>eiten
sind die fränkischen Duces Landvermessungsbeamte gewesen;
da darf man sich nicht wundem, daß die zu Königszins ver-
pflichteten Grundbesitzer zu Straßenwärtem befördert werden!
Ne nutor nupra crepldam.
In der Revue des questions hisioriques 42 n. 166 handelt
P. Allard aufs neue (vgL 101, 193) über Sidonius Apollinaris,
anknüpfend an dessen Panegyriken auf die römischen Kaiser
Avitus (456) und Maiorianus (458).
In eindringender Untersuchung setzt «ch eine Studie von
j. Friedrich in den Sitzungsberichten der philosophisch-philo-
logischen und der historischen Klasse der K. B. Akademie der
Wissenschaften zu München 1907, a, S. 379 ff. mit den Ansichten
von Mommsen, Simson und Wattenbach über die Heimat, Lebens-
geschichte und Werke des Geschichtschreibers der Ostgothen,
jordanes, auseinander. Ihre Ergebnisse, vielfältig von denen der
aufgezählten Forscher abweichend, erscheinen sorgfältiger Be-
achtung wert
Aus dem Katholik 88, 5 notieren wir die Inhaltsangabe des
bedeutsamen Werkes von H. Quentin (Les martyrologes historiques
du moyenäge. Paris 1908) durch R. Helmling (vgl. auch die
anerkennende Anzeige von B. Krusch im Neuen Archiv 33,
S. 553 ff.), aus demselben Jahrgang Heft 3 und 4 die gegen
Kirsch (vgL 97, 429) gerichteten Bemerkungen von H. Lemmers
über die ältesten Zeugnisse für den sog. Portiunculaablaß.
Mehrere zerstreute Arbeiten seien in einer einzigen Notiz
zusammengefaßt L. Gougaud handelt über die Tätigkeit der
iroschottischen Mönche auf dem europäischen Festlande (Revue
d'histoire ecMsiastique 1908, April); M. jusselin veröffentlicht
ein unbekanntes Diplom Karis des Kahlen vom a November 846
Frühes Mittelalter. 433
{Le Moyen dge 1908, 1), während R. Latouche sich mit der
Fortsetzung der Actus pontificum Cenomannis in urbe degentium
857-1255 befaßt (ebd. 1907,5). J.P.Kirch beschließt im Histo-
rischen Jahrbuch 29, 2 seine mit übertriebener Breite angelegte
Studie über den hl. Bernhard von Clairvaux in Lothringen (vgl.
101, 197). J. P. Kirsch verbreitet sich über den päpstlichen
Steuerdruck in den Diözesen Genf, Lausanne und Sitten während
des 13. und 14. Jahrhunderts (Zeitschrift für schweizerische Kirchen-
geschichte 2, 1, 1908).
M. Kemmerich verzeichnet im Neuen Archiv 33, 2,
S. 463 ff. die Porträts deutscher Kaiser und Könige bis einschließ-
lich Rudolf von Habsburg, ihre Fundstätten und Reproduktionen;
seine Zusammenstellung will eine Vorarbeit sein für die von dem
neubegründeten deutschen Verein für Kunstwissenschaft geplante
Kaiserikonographie. Zu den verzeichneten Bildnissen Karls des
Großen sei nachgetragen das auf einem Wandgemälde im Lateran
bei A. de Waal, Roma sacra (München o. J.), S. 165, zu denen
Ottos 111. die Abbildung des von Kemmerich S. 487 erwähnten
Marmorreliefs in San Bartolomeo zu Rom bei de Waal a. a. O.
S. 330; zur Sandsteinplatte in Hagenau mit dem Bildnis Fried-
richs I. (K. S. 502) vgl. jetzt die Auseinandersetzungen von Bach
und Lempfrid im Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Lite-
ratur« Elsaß-Lothringens 23 (1907), S. 241 ff., 246 ff. Seither hat
derselbe Autor im Repertorium für Kunstwissenschaft 31, 2, S. 120 ff.
Nachträge und Berichtigungen zu seinem früheren Verzeichnis
der malerischen Porträts aus dem 8. bis 13. Jahrhundert veröffent-
licht (vgl. 99, 666).
A. Luschin von Ebengreuth handelt im ersten seiner
Beiträge zur Münzgeschichte im Frankenreich über einen bedeut-
samen Münzfund beim graubündischen Harz, dessen Bestandteile
— Stücke aus dem 8. und beginnenden 9. Jahrhundert — ihm zu
wertvollen Berechnungen und Schlußfolgerungen Anlaß geben
(Neues Archiv 33, 2).
Hervorhebung verdienen die scharfsinnigen Bemerkungen
von W. L e V i s o n über Bischof Theutbert von Wijk bij Ouurstede
(im ersten Drittel des 8. Jahrhunderts) und über die Zeit und die
Gründe von Wynfreths ümnennung in Bonifatius, dessen neuer
Name, anknüpfend an den eines römischen Heiligen, ihm durch
Papst Gregor II. verliehen wurde (Neues Archiv 33, 2).
In den Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner- und
Cisterzienserorden 28 handelt B. Albers über die Aachener
Reformsynode von 817 und das von ihr erlsLSStnt Capituiare man-
434
aUicmm. toci dessen zwei RedaktiaiKa cfie kiifxcfc als die ur-
ftpröngficbe dargetan vird. Abs dem Centralblatt fnr BibDotheks-
vesen fö. 4 mag in alier Kerze die Stncfie too P. Lehmann
über Erzbiftchol HOdeboU «t Si9» and die Dombibliotiiek von
Köln erwähnt sein.
Im BmlUtiHo d^ll'Uiitmto siarico fiaiiamol» «Rom 1906) teilt
C. C i p o 1 1 a aus einer Handschrift des 13L Jahrhundert AmnaUs
Veromenset aMti4fmi bis zum Jahre 1251 mit, P. Egidi Urkunden
aus dem CathedralarchiT Ton \ltcrbo too rund 1060 bis zum Aus-
gang des lA. Jahrhunderts, eine Ergänzung seiner von K. Hampe
in dieser Zeitschrih 100. 198 L angezeigten Veröffentlichung.
Am wichtigsten aber ist der 3. Teil der Diplomatik itafienischer
Königsurkunden von L. SchiaparellL Ihr Gegenstand »nd die
Urkunden Ludwigs HL (t 92Sk von dem 21 echte und 6 gefälschte
Urkunden aus den Jahren 900 bis 905 untersucht werden. Die
italienische Kanzlei dieses Herrschers, die Formeln und der Text
seiner Urkunden fähren zu kritischen Bemerkungen aber die Ge-
schichte seines italienischen Königtums, um mit einer I^rüfung
der unter Ludwigs Namen gehenden Fälschungen zu schließen,
alles in der gefälligen und sorgfältigen Art die man an den
Arbeiten des Gelehrten gewohnt ist
.Personal- und Amtsdaten der Trierer Erzbischöfe des 10.
bis 15. Jahrhunderts* und der Magdeburger Erzbischöfe von 968
bis 1513 (nicht 1503, nie auf dem Titel steht) stellen zwei Greifs-
walder Dissertationen ( 1906) von K. Löhnert und J. Schäfers,
die A. Werminghoff veranlaßt hat in nützlicher Weise zusammen.
Hinsichtlich der Beziehungen jener Erzbischöfe zur Reichskanzlei
hätten beide Verfasser mancherlei Ergänzungen den Ergebnissen
der neueren Urkundenforschung entnehmen können. So war, um
zu Schäfers einen solchen Nachtrag zu liefern, der nachmalige
Erzbischof Adalbert von Magdeburg seit 953 jahrelang Notar
Ottos des Großen: auch hätte erwähnt werden können, daß die
Fortsetzung der Chronik des Regino, wohl die wichtigste Quelle für
Adalberts Biographie, von ihm selber herrührt In Löhnerts
Arbeit hätte sich bei Erwähnung der Kanzleitätigkeit Egberts ein
Hinweis auf Sickels Forschungen empfohlen ; Erzbischof Meingaud
ist nach einer Vermutung Breßlaus vielleicht mit einem Mainzer
Kleriker identisch, der unter Otto III. und Heinrich II. gelegentlich
in der Kanzlei tätig war (Hildibald H. der Oiplomata-Ausgabe).
Besonders ist den beiden Schriften ihre durch strenge Beschrän-
kung auf den engsten Kreis der Persönlichkeiten und ihre kirch-
liche Laufbahn erzielte Knappheit nachzurühmen. Solche be-
Frühes Mittelalter. 435
quemen Orientierungsmittel sollten der kirchlichen Verfassungs-
geschichte aus möglichst vielen Diözesen dargeboten werden.
E. St.
Der Catalogue des Actes d'Henri hr^ roi de France (\OS\—\ObO)
(Paris 1907) von Fr^d^ric Soehn^e bietet 125 Nummern und
4 Fälschungen. Auf eine Inhaltsangabe der Urkunde folgen Nach-
weise über die Urschrift, die Abschriften, die Drucke usw. Ein
alphabetisches Namenverzeichnis macht den Beschluß. Diploma-
tische Einleitung und Bibliographie fehlen, was sich daraus er-
klären mag, daß der Verfasser verhindert war, selbst die letzte
Hand an sein Werk zu legen. Für die allgemeine Geschichte
bieten die Urkunden kaum etwas, für andere Zwecke würden sie
erst durch ein Sachverzeichnis benutzbar werden. A, C.
j. V. Pflugk-Harttungs Aufsatzreihe über „Die Papst-
wahlen und das Kaisertum'' (vgl. 99, 440, 668; 100, 195) ist nun
unter gleichem Titel als besonderes Buch veröffentlicht worden
(Gotha, Perthes 1908), ebenso die Studien von A. Hüfner (vgl.
99, 440. 666; 100, 432) über „Das Rechtsinstitut der klösterlichen
Exemtion in der abendländischen Kirche in seiner Entwicklung
bei den männlichen Orden bis zum Ausgang des Mittelalters'^
(Mainz, Kirchheim 1908. XIII, 124 S.).
Gleichzeitig mit den kritischen Bemerkungen von H. Breßlau
zu einem Führer durch Kanossa (N. Campanini, Kanossa. Guida
storica illustrata, Reggio 1894) im Neuen Archiv 33, 2 ist der 2. Teil
von „Studien zur Vorgeschichte der Tage von Kanossa^, ver-
faßt von R. Friedrich, als wissenschaftliche Beilage zum 4. Jahres-
bericht der Realschule in Eppendorf zu Hamburg erschienen
(Hamburg, Lütcke & Wulff 1908. 66 S.). Ihren Gegenstand
bilden die Wirkungen der Wormser Synode vom Januar 1076 in
der Beleuchtung der Urkunden; es will scheinen, als hätten die
breiten Darlegungen durch schärfere Heraushebung der entschei-
denden Gegensätze an Oberzeugungskraft gewonnen.
Als erstes Heft einer neuen, von der Görres-Gesellschaft ins
Leben gerufenen Reihe von Veröffentlichungen aus dem Gebiete
der Rechts- und Sozialwissenschaften ist das aus der Feder von
J. B. Sägmüller über „Die Bischofs wähl bei Gratian^ (Köln,
Bachem 1908. 23 S.) erschienen. Die ansprechende Studie,
dankenswert durch ihre fast völlige Zusammentragung der neueren
Literatur über das Wormser Konkordat und die Bischofswahlen
im 11. und 12. Jahrhundert, enthält weniger neue Resultate, als
man zunächst annehmen möchte; lehrreich ist sie immerhin als
Spezimen kirchenrechtlicher Übungen, aus denen sie hervorging
43ift
ufid für ifie «e besömnit isL vie sc aber är
Theologen und z. B. aacfa fnr i£e Jnristess giwiifh feUcB. S. 19
4v^ mit S. 17» ialh anl da£ der ober Gregor VIL Lumigchciide
Standpunkt Gratians — er «cUo6 die Laien ans. «aincad der
Pap»! noch an eine, venn aad nnnder rnrwhridcadc Teftnahme
der Laien gedachx hatte — mcixt scharfer nsd nacfadrnckürhrr
hervorgehoben Ut.
Zur Geschichte Friedrichs L ist zu Terveiseo einmal anf das
3. Verzeichnis too Urkunden dieses Herrsciicrs. cfie H. Simons! eld
in Italienischen Archiven und Bibfiodbeken dmchaibeiten und
denen er eine Urkunde des Bischofs Ebeihaid too Bamberg als
kaiserlichen Hoirichters ans dem Jahre 1162 beigeben konnte
(Sitzungsberichte der philos.-phüoL und der hist. Klasse der
K, B. Akademie der Wissenschaften zu München 1907. 3|l sodann
auf den Teildruck einer Berliner IMssenatios von W. Hoppe ober
Erzbischof ^^Ichmann von Magdeburg «Magdeburg. E. Baenscfa jun.
t90ß. 33 S.K Er enthält das 3l Kapitel der ganzen Arbeit, cfie in
den Geschichtsblattem für Sudt und Land Magdeburg erscheinen
soll, und behandelt Wichmanns SteDung znm Schisma nach dem
Tode Hadrians IV. tf 1159| bis zum Jahre 1166: man wird dem
unverkürzten Abdruck der Erstlingsschnn nicht ohne Ervartung
entgegensehen dürfen.
F. Güterbock untersucht in den Quellen und Forschungen
aus italienischen Archiven und BibBotheken 11.1 (fie Lukmanier-
Straße und die Paßpolitik der SUufer, sodann Friedrichs L Marsch
nach Legnano ivgL 9S, 670|. Dem 1. Teil der ergebnisreichen
Studie ist der Abdruck einer Zeugenaussage über Rechtsansprüche
auf die Grafschaft Blagni in einem Rechtsstreit der Mailander
Kirche beigefügt, soweit ihre schlechte Cberfieferung eüie \Meder-
gabe des Textes gesuttete.
Sicht zugänglich war uns ein Aufsatz von E. Berg er über
Kaiser Otto IV^ der sich auf die Arbeiten von A. Luchaire zur
Zeitgeschichte jenes Kaisers und des Papstes Innozenz 111. stützen
soll (Journal des savants 1907, Oktober). Immerhin mag seine
Anführung Gelegenheit geben auf zwei neue Artikel aus Luchaires
unermüdlicher Feder über Innozenz IIL und das dritte Lateran-
konzil vom Jahre 1215 hinzuweisen. Allzutiefes Eindringen in die
Materie wird man nicht bemerkeru wohl aber ein gewisses Ge-
schick der Zusammenfassung (Reriu kistorique 97, 2 S. 225 ff.
98, 1 S. 1 ff.; vgl. auch diese Zeitschrift 100. oöoK
A. Schaubes Aufsatz in der Zeitschrift für das gesamte
Handels- und Konkursrecht 61, 3 4 gilt den Rechtsgeschäften und
Späteres Mittelalter. 437
der Rechtsstellung der Lombarden in der ersten Zeit ihres Auf-
tretens in Frankreich. Sie behandelt zunächst den Wechselverkehr
jener Kaufleute nach den Messen der Champagne am Ende des
12. Jahrhunderts (vgl. des Verfassers Handelsgeschichte der roma-
nischen Völker § 309) , dann die Kommendaverträge, schließlich
das älteste Lombardenprivileg der französischen Krone, die sog.
carta civium Astensium von König Ludwig VIII. aus dem Jahre 1225.
B. Schmeidlers eindringende Studien zu Tholomeus von
Lucca, die soeben im Neuen Archiv 33, 2 erschienen sind, befassen
sich zunächst mit den Annalen oder Gesta Tuscorum des ge-
nannten Autors, um darauf ihre Beziehungen zu den Gesta Lu-
canorum und den Gesta Florentinorum aufzudecken. Die ruhig-
sichere Art der Beweisführung weckt Vertrauen in ihre Ergebnisse.
Neue BQcher: Kiekebusch, Der Einfluß der römischen
Kultur auf die germanische im Spiegel der Hügelgräber des
Niederrheins. (Stuttgart, Strecker & Schröder. 3,60 M.) — Bau-
et rill art, Saint Säverifiy apötre du Norique (453-^ 482), (Paris,
Gabalda S Cie.) — Langlois, La vie en France au moyen dge.
(Paris, Hachette S Cie. 3,50 fr.) — Latouche, Essai de critique
sur la continuation des Actus pontificum Cenomannis in urbe de-
gentium (857—1255). (Paris, Champion.) — Schubert, Eine
Lütticher Schriftprovinz, nachgewiesen an Urkunden des 11. und
12. Jahrhunderts. (Marburg, Elwert. 3 M.) — Macfcie, Pope
Adrian IV. (London, BlacfcwelL 2,6 sh.) — Gerlich, Das Testa-
ment Heinrichs VI. Versuch einer Widerlegung. (Berlin, Ehe-
ring. 3,20 M.) — Gordon, Innocent the Great. An essay on his
life and times. (London, Longmans. 9 sh.) — Huyskens, Quel-
lenstudien zur Geschichte der hl. Elisabeth, Landgräfin von Thü-
ringen. (Marburg, Elwert. 5 M.) — Davidsohn, Geschichte
von Florenz 2. Bd.: Guelfen .und Ghibellinen. 2. Tl. (Schluß).
(Berlin, Mittler & Sohn. 13 M) — Sassen, Hugo von St. Cher.
Seine Tätigkeit als Kardinal 1244—1263. (Bonn, Hanstein. 2,50 M.)
— Krammer, Der Reichsgedanke des staufischen Kaiserhauses.
Ein Beitrag zur Staats- und Geistesgeschichte des Mittelalters.
(Breslau, Marcus. 2,60 M.)
Späteres Mittelalter (1250—1500).
Die schon einmal an entlegener Stelle gedruckte, aber trotz
ihrer Bedeutung für die Verfassungsgeschichte nicht genügend
beachtete Klageschrift, die Isabella de la Marche an Alfons von
Poitou gegen den Seneschall Thibaud de Neuvi gerichtet hat (um
1257), hat nunmehr in besserem, das Original zugrunde legenden
438 Notizen und Nachrichten.
Text A. Thomas mit zahlreichen Erläuterungen in der Bibliothique
de l'äcole des chartes 1907, September-Dezember nochmals ver-
öffentlicht.
Unter Veröffentlichung unbenutzter Archivalien handelt
H. Stein im Moyen dge 1908, Januar-Februar über Eustache de
Beaumarchais, einen der hervorragendsten Verwaltungsbeamten
Ludwigs des Heiligen und seiner beiden Nachfolger, und die
Frage nach seiner Heimat, die er im nördlichsten Teile des heutigen
Departements Seine-et-Marne sucht.
E. Werunskys Aufsatz: Die landrechtlichen Reformen König
Ottokars II. in Böhmen und Österreich tritt den Nachweis an, daß
von einer planmäßigen Reform des österreichischen Landrechts
nach dem Vorbild tschechoslavischer Rechtsanschauungen, wie
M. Stieber angenommen hatte, nicht die Rede sein kann (Mittei-
lungen d. Instituts f. österr. Gesch. 29, 2).
Ungedruckte Materialien zur Geschichte des Bischofs Bruno
von Schauenburg hat M. Eisler im Anschluß an seine mehrfach
erwähnte Arbeit (vgl. 94, 537; %, 538; 100,670) in der Zeitschrift
d. Deutsch. Vereines f. d. Gesch. Mährens und Schlesiens 12, 1 — 2
mitgeteilt.
A. M. Koeniger bespricht im Katholik 88,4 einen in einem
Sammelbande der Münchener Staatsbibliothek befindlichen
deutschen Beichtspiegel, den er um die Wende vom 13. zum
14. Jahrhundert ansetzt und aus sprachlichen Gründen dem Elsaß
zuweist.
Eine die Untersuchungen Pflugk-Harttungs in wesentlichen
Punkten angreifende Arbeit von W. Füßlein über die Anfänge
des Herrenmeistertums in der Bailei Brandenburg bringt in weit
ausholender Darlegung die Ausbildung des Amtes mit der im
Juli des Jahres 1317 erfolgten Einführung einer neuen Provinzial-
verfassung in Zusammenhang, durch die der Großprior des
Johanniterordens deutscher Zunge ^ Paulus de Mutina, auf den
nordöstlichen Zweig beschränkt worden ist (Beilage zum Jahres-
bericht der Realschule in St. Georg zu Hamburg, Ostern 1908.
Hamburg und Leipzig, Verlag von Voß. 48 S.).
In der Bibliothägue de Väcole des chartes 1907, September-
Dezember entwirft H. Moranvill^ ein etwas breit angelegtes
Lebensbild Karls von Artois, des Sohnes des Grafen Robert, der
1337 als Feind des Königs und des Königreichs erklärt w^de.
Unter dem Titel : J^paves d'archi ^äl^^üficales du A"/!^' ^^^
beginnt U. Berühre in der Revue 24, 4 d
Späteres Mittelalter. 439
eines in die Bibliothek von Reims verschlagenen Handschriften-
bandes auszubeuten, der u. a. zahlreiche Originalsuppliken aus der
zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts enthält.
Aus den Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner-
und dem Cisterzienserorden 28 sind wiederum Arbeiten von
Fr. Bliemetzrieder zur Geschichte der großen Kirchenspaltung
zu erwähnen. Heft 1 enthält die Veröffentlichung einer aus dem
letzten Drittel des Oktober 1378 stammenden Instruktion der avigno-
nesischen Kardinäle für ihren Abgesandten Aegidius de Bellemere,
während Heft 3/4 einen der Vertiefung noch fähigen Vortrag über
die geschichtliche Bedeutung Konrads von Gelnhausen bringt, der
in dem Widerstreit der Meinungen eine vermittelnde Haltung
einnimmt. Der Ton, in dem — ebenfalls in dem letztgenannten
Doppelheft — eine durch den überflüssigen Wiederabdruck der
Ansprache des Ulrich von Albeck (vgl. 97, 203 u. 99, 205) veran-
laßte Auseinandersetzung mit G. Sommerfeldt gehalten ist, zeigt
aufs neue, daß Bliemetzrieder über die Gebote des literarischen
Anstands seine eigenen Ansichten hat. H, /C
G. Sommerfeldts Mitteilungen : Aus der Zeit der Begrün-
dung der Universität Wien (Mitteilungen d. Instituts f. österr. Gesch.
29, 2) handeln von der wissenschaftlichen Tätigkeit der bekannten
Magister Heinrich von Oyta und Heinrich von Langenstein und
von den Beziehungen des letzteren zu der Pariser Universität,
wie sie aus Anlaß der kirchlichen Lage in den neunziger Jahren
des 14. Jahrhunderts bestanden haben.
Einen kleinen Beitrag zur Entwicklung des französischen
Archivwesens bildet das der Nationalbibliothek entstammende
Memoire touchani la Garde des Chartres pour les Greffiers de la
Chambre des Comptes (1390), das von A. Vidier im Moyen dge
1908, März-April zum Abdruck gebracht und erläutert wird.
Ein Aufsatz von H.Werner: Landesherrliche Kirchenpolitik
bis zur Reformation bemüht sich, die Entwicklung klarzulegen,
die dazu geführt hat, daß schon im ausgehenden Mittelalter in
vielen Territorien trotz der natürlich festgehaltenen Verbindung
mit der Universalkirche die Rechte eines landesherrlichen Kirchen-
regiments von den Fürsten gehandhabt wurden (Deutsche Ge-
schichtsblätter 9, 6 und 7).
In den Historisch-politischen Blättern 141, 6 ist der Schluß
des anonym erschienenen Aufsatzes über Nikolaus von Cusa und
die Reform von Staat und Kirche zu lesen (vgl. oben S. 205) ; in
Nr. 11 desselben Bandes findet sich eine Zusammenstellung von
N. Paulus: Mittelalterliche Stimmen über den Eheorden, durch
440 Notizen und Nachrichten.
die er beweisen will, daß man schon vor Luther die Ehe ge-
würdigt hat.
Die Fortsetzung der mehrfach erwähnten Arbeit von Ch. Petit-
Dutaillis: Documents nouveaux sur l'histoire sociale des Pays-
Bas au XV^ sikcle (vgl 100, 436; 101, 204) handelt von dem all-
mählich einsetzenden Einschreiten der öffentlichen Gewalt, durch
das die Selbsthilfe eingeschränkt und je länger je mehr zurück-
gedrängt wird {Annales de l'Est et du Nord 1908, April).
Durch den Abdruck zweier Quittungen des Illuminators Jean
Moreau, der im Jahre 1456 vom Herzog von Orleans für die Aus-
malung zweier Bücher, darunter einer Petrarkahandschrift, ent-
lohnt wurde, bringt A. V i d i e r für die von den Valois gerade in
dieser Richtung ausgeübte Kunstpflege ein neues Zeugnis bei
(Le Moyen dge 1907, November-Dezember).
Über die letzten Jahre eines vielbewegten Lebens berichtet
A.Thomas in der Revue historique 1908, Mai-Juni. Es handelt
sich um Flucht und Tod des bekannten Leiters der französischen
Finanzverwaltung unter König Karl VII., Jacques Coeur; die Unter-
lage bilden einige neuentdeckte Schriftstücke des Pariser National-
archivs.
J. H a n s e n kommt in einem in der Westdeutschen Zeitschrift
26, 4 erschienenen Aufsatz: „Der Hexenhammer, seine Bedeutung
und die gefälschte Kölner Approbation vom Jahre 1487'' auf die
Angriffe zurück, die N. Paulus in den Artikeln über die Approba-
tion (vgl. 100, 672) und ganz neuerdings über die Rolle der Frau
in der Geschichte des Hexenwahns (vgl. oben S. 202) gegen seine
früheren Untersuchungen gerichtet hat. Hansens sachliche Dar-
legungen lassen die Arbeitsweise seines vielschreibenden Gegners
in wenig günstigem Licht erscheinen: hat Paulus es nicht für
erforderlich gehalten, sich die entscheidende Umwandlung des
Hexenbegriffs im 15. Jahrhundert klar zu machen, wie ihn Hansen
in mühsamer Untersuchung herausgearbeitet hatte, so ist auch
der Versuch, den die Fälschung der Approbation ergebenden
Nachweis zu entkräften, durchaus als gescheitert zu betrachten.
Aus dem Archivio stör. Lombardo, serie quarta, anno 35,
fasc. 17 erwähnen wir die ungedruckte Materialion des aus-
gehenden 15. Jahrhunderts mitteilende Arbeit von A. Luzio:
Isabella d'Este e Francesco Gonzaga, promessi sposi und die neuen
Beiträge zur Geschichte der unglücklichen Beatrice di Tenda,
Gemahlin des Filippo Maria Visconti, von G. Rossi.
M. Hoßfelds inhaltreiche Studie über den vielgewanderten,
mannigfach in das geistige und kirchliche Leben eingreifenden
Späteres Mittelalter. 441
Humanisten Johann Heynlin aus Stein (vgl. 99, 447; 100, 437) findet
in der Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 7, 2
ihren Abschluß. Zu schildern blieb noch die durch eine kurze
Bemer Episode unterbrochene Wirksamkeft Heynlins in Baden-
Baden (1479—1484) und in Basel, wo er 1496 gestorben ist, nach-
dem er neun Jahre vorher der Welt entsagt und sich zu den
dortigen Karthäusern zurückgezogen hatte. Besondere Hervor-
hebung verdienen die Mitteilungen über seine schriftstellerische
Tätigkeit, die in diesem letzten Zeitraum überwiegend theolo-
gischer Art ist und in der Menge der hinterlassenen Predigtmanu-
skripte uns sichtbar entgegentritt. Die auffallende Tatsache, daß
ein so einflußreicher und tätiger Mann so wenig Erfolg und Be-
friedigung in seiner Arbeit gefunden hat, wird darauf zurück-
zuführen sein, daß Heynlin, wie so mancher Zeitgenosse, bei
klarer Erkenntnis der herrschenden Schäden doch nicht willens
war, auch nur das geringste von den kirchlichen Einrichtungen
preiszugeben: „ein Reformator ohne Reformation."
Als Ergänzung zu dem von P. P^licier veröffentlichten 5. Bande
der Lettres de Charles VIII gibt B. de Mandrot im Annuaire--
bulletin de la Sociätä de l'histoire de France 1907, 4 eine stattliche
Anzahl von Schriftstücken aus den Jahren 1484 bis 1498 bekannt,
die fast durchweg an das Pariser Parlament gerichtet sind und
aus der jetzt in der Nationalbibliothek aufbewahrten Collection
Lamoignon stammen.
Das Erscheinen einer von dem frühverstorbenen R. Stauber
hinterlassenen Arbeit über die Schedeische Bibliothek gibt
H. Grauert Veranlassung zu längeren Ausführungen über den
von der Möglichkeit eines Seeweges zum Lande Kathay handelnden
Brief des Nürnberger Arztes Hieronymus Münzer an König
Johann IL von Portugal (14. Juli 1493) und seine Stellung in der
Geschichte der großen Entdeckungsfahrten (HisL Jahrbuch 29, 2).
Neue Bücher: PappadopouloSy Theodore IL Lascaris,
empereur de Nicäe. (Paris, Ricard et fils,) — Bruce, The age
of schism, Being an outline of the history of the church from
A. D. 1304 to A. D. 1503, (London, Rivingtons. 3,6 sh.) — Sa-
mar an, La Maison d'Armagnac au XV^ siicle et les dernikres
lüttes de la fäodalitä dans le Midi de la France. (Paris, Ricard
et fils, 15 fr,) — France, Vie de Jeanne d'Arc, T, 2, (Raris,
Calmann-Lävy, 7,50 fr,) — Figgis, Studies of political thought
from Gerson to Grotius, 1414—1625, (Cambridge, University Press.
3,6 sh.) — Hare, The life of Louis XI, the rebel dauphin and
the statesman king, from his original letters and other documents.
442 Notizen und Nachrichten.
(London, Harper, 10,6 sh,) — Ady, A history of Milan ander the
Sforza. Ed. hy E, Armstrong. (London, Methuen. 10,6 sh.) —
Brinton, The Renaissance : its art and life. Florence 1450 — 1550.
(London, Goupil. 210*sh.)
Reformation und Gegenreformation (1500 — 1648).
Einen kurzen, mehr für Ausländer zur ersten Information
berechneten Oberblick über die deutsche Literatur im 16. Jahr-
hundert (auch über die Geschichtschreibung) gibt Arthur Chu-
quet in der Nouvelle revue, 3. Serie, 3, 1.
Zwei hübsche Aufsätze über Reformation und Humanismus
im Urteil der deutschen Aufklärung veröffentlicht Leopold Zschar-
nack in den Protestantischen Monatsheften 12, 3 u. 4. Zugrunde
liegt dem Urteil der Aufklärung die Oberzeugung von der inneren
Zusammengehörigkeit ihrer eigenen Ideen mit den zu vollenden-
den großen Bewegungen der Reformation und des Humanismus,
die deshalb in eins geschaut werden: Luthers Werk als Folge
der humanistischen Aufklärung.
Aus der ungedruckten Mainzer Chronik, die der Kanonikus
Hebelin v. Heimbach im Jahre 1500 verfaßte, veröffentlicht Fritz
Herr mann in den Beiträgen zur Hessischen Kirchengeschichte
3, 3 einige charakteristische Stücke über die Geldgier der Kurie
und über die Stifts- und Pfarrgeistiichkeit, die gleichfalls viel zu
klagen gab.
August Wolkenhauer berichtet in den Hansischen Ge-
schichtsblättern 1908, 1 über ein interessantes oberdeutsches Kauf-
mannsitinerar aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts, das in Rollen-
form erhalten ist und genaue Angaben über zahlreiche Routen
im Umkreis von Antwerpen bis Neapel und von Paris bis Villach
enthält.
In diesem Jahre ist ein Vierteljahrhundert verilossen, seit
die Lutherfeier von 1883 eine gesteigerte wissenschaftliche Arbeit
über den Begründer der Reformation eingeleitet hat. Aus diesem
Anlaß gibt G. Kawerau in den Theologischen Studien und
Kritiken 1908, Heft 3 und 4, einen Oberblick über das seitdem
von der Lutherforschung Geleistete und Erreichte.
Die Bedeutung Luthers und des Luthertums für die Ge-
schichte der Schule und Erziehung führt Friedrich Michael
Schiele in den Preußischen Jahrbüchern vom Juni 1908 auf das
richtige, bei dem sog. Luthertum sehr bescheidene Maß zurück;
Reformation und Gegenreformation. 443
stark hervorgehoben wird das Verdienst Melanchthons und das
Verhängnis, das sich an den Sturz des Philippismus in Sachsen
anschloß.
Wir verzeichnen zwei Untersuchungen über die Flugschriften-
literatur der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts: Wilhelm Lücke,
Deutsche Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation
(bis 1525), in den Deutschen Geschichtsblättern 9, 8; Karl
Schottenloher, Die Druckschriften der Packschen Händel,
Zentralblatt f. Bibliothekswesen 25, 5 (mit Nachträgen 25, 6).
Nicht sehr glücklich erscheint eine Abhandlung von Otto
Giemen über die Verbrennung der Bannbulle durch Luther
(Theologische Studien und Kritiken 1908, 3). Der Verfasser will
hier wahrscheinlich machen, daß der Magister, der den Scheiter-
haufen errichtet und angezündet hat, Melanchthon gewesen sei (?),
und versucht die Worte Luthers nach der kürzlich (vgl. H. Z. 99,
208 f.) von Perlbach und J. Luther veröffentlichten Aufzeichnung
Agricolas aber mit Cmendation des conturbare in condemnare
wiederherzustellen (während doch gerade das Wort conturbasti
auch anderweit bezeugt ist). Zum Schluß folgt ein Neudruck der
seltenen Schrift „Epigrammata in iuris canonici incendium" ,
R. H.
Eine sehr sorgfältige und ausführliche Untersuchung über
Thomas Münzer in Zwickau (1520 — 21) und die Wirksamkeit der
Zwickauer Propheten, insonderheit des Nikolaus Storch, bis 1525,
ihre Versuche in Wittenberg und ihre Verbindung mit Karlstadt,
hat Paul Wappler dem Jahresbericht des Realgymnasiums zu
Zwickau 1908 beigegeben.
Seit dem Erscheinen der Karlstadt-Biographie von Hermann
Bärge hat sich eine lebhafte Polemik über die hier vorgetragene
neue Wertung Karlstadts und seines Kreises (des „laienchristlichen
Puritanismus**) erhoben; vgl. die Anzeige Karl Müllers in dieser
Zeitschrift %, 471 ff. und H. Hermelinks in der Histor. Viertel-
jahrschrift 10, 442 ff. mit den Erwiderungen Barges H. Z. 99, 256 ff.
und H. V. 11, 120 ff. (mit Replik Hermelinks) sowie die eigene
Schrift Müllers „Luther und Karlstadf* (1907). Im ganzen wird
wohl das Urteil des Unparteiischen dahin gehen, daß das Ver-
dienst Barges um eine unbefangene Würdigung Karlstadts sehr
erheblich ist, wie wir auch sonst an einer gerechten Beurteilung
der Schwärmer und Wiedertäufer in den letzten Jahren entschieden
gewonnen haben, daß aber Bärge im einzelnen nicht selten zu
weit geht und insonderheit die Abhängigkeit Karlstadts von den
Ideen Luthers unterschätzt. Auch dem neuesten Aufsatz Barges
444 Notizen und Nachrichten.
gegen Müller (Die älteste evangelische Armenordnung, Histor.
Vierteljahrschrift 11, 2, S. 193 ff.) glaube ich in der Hauptsache
nicht zustimmen zu dürfen, sofern die interessante, von Bärge
ans Licht gezogene Wittenberger Beutelordnung nicht ein origi-
nales Werk Karlstadts und jünger als die Stadtordnung vom
24. Januar 1522 sein kann, da sich diese Ansicht mit dem S. 205 ff.
vergeblich umgedeuteten Zeugnis des ülscenius nicht verträgt;
auch die Worte Beyers (S. 209) und Karlstadts (S. 211) scheinen
mir eher für als gegen ein Bestehen der Beutelordnung vor dem
24. Januar 1522 zu sprechen, und entscheidend fällt das große
Interesse Luthers ins Gewicht (Hermelink a. a. O. 11, 127), das
wohl einer eigenen Schöpfung, gewiß aber nicht einer solchen
Karlstadts zu teil werden konnte. R. //.
Es ist wenig bekannt, daß Herzog Georg von Sachsen im
Jahre 1524 in der Person des Magisters Alexius Chrosner aus
Colditz einen Hofprediger anstellte, der starke Neigungen zum
Luthertum hatte und darob mannigfache Kämpfe auszustehen
hatte, bis er 1527 wieder entlassen wurde und sich nach Altenburg
zurückzog, wo er 1535 starb. Eine sorgfältige Biographie dieses
Mannes veröffentlicht soeben Otto Giemen (Alexius Ghrosner,
Herzog Georgs von Sachsen evangelischer Hofprediger. Leipzig,
M. Heinsius Nachf. 1908. 111 u. 70 S.). Das Gharakterbild Ghrosners
erleidet manchen Makel durch das Lavieren und die Halbheit,
auf die er angewiesen war; ja selbst vor offenen Fälschungen
scheute er gelegentlich nicht zurück, wie die von Giemen ge-
druckte Originalhandschrift einer Predigt über die christliche
Kirche bei einem Vergleiche mit der Gestalt, in der sie Ghrosner
selbst später veröffentlicht hat, beweist. /?. //.
Einen Beitrag zur Geschichte des Bauernkrieges gibt Paul
Haustein, der im Trierischen Archiv 12 die wirtschaftliche Lage
und die sozialen Bewegungen im Kurfürstentum Trier während
des Jahres 1525 zu behandeln beginnt. Die Lage der Bauern und
der Handwerker war recht ungünstig, die bäuerliche Bewegung
führte aber nur zu einigen lokalen Unruhen, die leicht gedämpft
waren. — Im Archiv des historischen Vereins von Unterfranken 49
veröffentlicht O. Merx einige Aktenstücke zur Geschichte der
religiösen und sozialen Bewegung in den Stiftern Mainz, Würz-
burg und Bamberg 1524—1526.
Die „Kritischen Beiträge zu den Anfängen Ferdinands I.*,
welche G. Turba in der Zeitschr. für die österreichischen Gym-
nasien 59, 3 veröffentlicht, richten sich namentlich gegen einige
der Aufstellungen von Bauer (vgl. H. Z. 99, 674), demgegenüber
Reformation und Gegenreformation. 445
Turba in den Fragen der Landausstattung und der Erbverträge
die in seinem Buche über das habsburgische Thronfolgerecht
(vgl. die Anzeige von ühlirz H. Z. 99, 617 ff.) niedergelegten An-
schauungen aufrecht hält, und dem auch mangelhafte Sorgfalt bei
der Wiedergabe und Interpretation von Texten vorgeworfen wird.
Gegen Uhlirz behauptet Turba (mit Bauer) von neuem, daß der
Brüsseler Vertrag vom 30. Januar 1522 ein Scheinakt gewesen sei.
Die Erzählungen, die uns Melanchthon dreimal, namentlich
1559 in der Oratio de congressu Bononiensiy von der Zusammen-
kunft Karls V. mit Clemens VII. 1529—30 gibt, sind schon von
Ehses als objektiv durchaus unrichtig gekennzeichnet worden.
Jetzt geht Adolf Hasenclever in der Zeitschrift für Kirchenge-
schichte 29, 2 der Frage nach, wie Melanchthon zu dem hohen
Lob des Kaisers komme, und weist auf die Ähnlichkeit der Si-
tuation im Jahre 1530 und 1559 hin. — Ebenda gibt derselbe noch
einige Nachträge zu einem Aufsatz über das Original der Con-
fessio Augustana (vgl. oben S. 209).
Ein kurzes Lebensbild von Wilhelm Farel versucht R. Mulot
im laufenden Jahrgang (1908) der Theologischen Studien und
Kritiken zu entwerfen. Die im 3. Heft vorliegende erste Hälfte
führt die Geschichte bis 1532, also bis unmittelbar vor das Auf-
treten des Reformators in Genf.
Zur Geschichte der Universität Caen (Normandie) hat Henri
Prentout, der sich schon in seiner lateinischen These von 1901
(Renovatio ac reformatio in universitate Cadomensi) mit ihr be-
schäftigt hat, eine Reihe neuer anziehender Studien veröffentlicht,
die in Zeitschriften, aber auch separat erschienen sind. Im Bulletin
de la sociätä des antiquaires de Normandie 22 bespricht er die
Reform, der die Universität 1521 durch das Parlament von Ronen
unterworfen wurde, und die den Zweck hatte, nicht nur den Stu-
denten sondern auch den Professoren, die ihr Lehramt vielfach
in erster Linie als willkommene Pfründe betrachteten, das Gewissen
zu schärfen (Une rä forme parlementaire ä l'universit^ de Caen,
Caen, Henri Delesques. 1903. 16 S.). Umfangreicher sind zwei
Arbeiten, die zuerst in den Mtfmoires de Vacadämie nationale des
sciences, arts et belles-lettres de Caen 1905 und 1907 erschienen
sind: La vie de r^tudiant ä Caen au XVh siMe (ebenda 1905,
57 S.) und L'universitif de Caen ä la fin du XVI* sUcle, la contre-
r^ forme catholique et les räformes parlementaires (ebenda 1908,
88 S.). Sie entwerfen ein hübsches Bild von dem gesamten Leben
und Treiben auf der Universität, die zwar durchaus den Charakter
einer Provinzialanstalt trug, aber im 16. Jahrhundert einen be-
Historische Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge &. Bd. 29
446 Notizen und Nachrichten.
merkenswerten Hochstand erreichte. Wir hören von dem Ein-
dringen des Kalvinismus, dem um die Mitte des Jahrhunderts die
Mehrzahl der Studierenden angehörte, dann von der auch hier
schließlich siegreichen Gegenreformation, die seit 1564 erst sachte,
allmählich immer entschiedener einsetzte, die vornehmlich durch
eine neue große Reform des Parlaments von 1586 gestützt wurde
und am Schluß des Jahrhunderts ihr Ziel, zugleich aber auch
einen augenscheinlichen Niedergang der Universität erreicht hatte.
— Derselbe Verfasser gab kürzlich auch die Satzungen der Zunft
der Apotheker zu Caen von 1547 heraus (Statuts et ordonnances
des apothicaires de Caen. Paris, Imprimerie nationale. 1907. 16 S.
aus dem Bulletin historique et philologique 1906); sie zeichnen
sich ähnlichen Werken dieser Art gegenüber durch manche recht
verständnisvolle Bestimmung aus, zeigen aber gleichfalls bereits
die Tendenz nach Abschluß der Korporation. R. H,
Die Untersuchung von L. deLaigue über den seltsamen
Abenteuerer und Diplomaten ßtienne de Laigue (vgl. H. Z. 100, 442)
wird in der Revue d'hist, diplomatique 22, 1 u. 2 zu Ende geführt.
Laigue ist nach Schluß seiner erfolglosen Venetianer Gesandt-
schaft noch bis 1537 in der Schweiz und in Schottland nachweis-
bar, aber vielleicht erst 1560 gestorben. Er hat u. a. auch die
Kommentare Cäsars übersetzt.
Zur französischen Verwaltungsgeschichte notieren wir zwei
interessante Mitteilungen von E. Jarry über den Orlöanais. In
den M^moires de la soc. arch^oL et hist. d'OrUanais 31 spricht er
über die Erhebung der Taille in der Election von Orleans 1536
und veröffentlicht eine Liste aller Pfarreien dieses Bezirkes und
der Summen, die sie zu zahlen hatten. Im Bulletin derselben
Gesellschaft 14, Nr. 186 stellt er eine vollständige Liste der Prdvöts
von Orleans von 1392 — 1568 zusammen.
Die Fortsetzung der Biographie Th. Reysmanns von G. Bos-
se rt (Zeitschr. f. d. Gesch. des Oberrheins N. F. 23, 2; vgl. oben
S. 206) behandelt Reysmanns Tätigkeit als Pfarrer von Cleebronn
(Württemberg, Mitte der 30 er Jahre bis 1541) und den Ausgang
seines Lebens im Herzogtum Zweibrücken. Der Humanist und
Dichter kam durch seine Trunksucht stark herunter und ist Ende
1543 oder Anfang 1544 gestorben.
In einem ersten Aufsatz über Luther und die Nebenehe des
Landgrafen Philipp (Zeitschr. f. Kirchengesch. 29, 2) wendet sich
Th. Brieger gegen die Ansicht Rockwells, daß der von diesem ge-
fundene Entwurf des Wittenberger Ratschlags von 1539 in Kassel
entstanden sei, und untersucht seine älteste Gestalt, die vielmehr
Reformation und Gegenreformation. 447
von Melanchthon herrühre; eine Übersicht über die Textüber-
lieferung des Beichtrates gibt als Anhang Theodor Nitzsche.
Zwei kleine Beiträge zur Sleidanforschung veröffentlicht
Richard Wolff in der Zeitschrift für die Geschichte des Ober-
rheins N. F. 23, 2. In dem ersten verbessert er die Angaben
Böhmers über die Reihenfolge der Drucke, die wir von Sleidans
Rede an die Stände haben, weist eine bisher unbekannte, vielleicht
von Calvin verfertigte (?) französische Obersetzung derselben
Rede nach und zeigt, daß es auch noch eine ältere italienische
Obersetzung als die uns erhaltene gegeben hat Der zweite be-
seitigt den alten Irrtum, daß Sleidan eine besondere Schrift De
capta Buda a Solimanno anno 1542 geschrieben habe. Aus dem
von Wolff eingesehenen Am Ende'schen Nachlaß dürfen wir noch
weitere Mitteilungen über Sleidan erwarten.
Eine erwünschte Ergänzung zu den Briefen Johann Laskis
sind acht Schreiben, die Herzog Albrecht von Preußen 1542 — 1549
an den polnischen Reformator richtete und die von Theodor
Wotschke in der Altpreußischen Monatschrift 45, 2 mitgeteilt
werden. Sie werfen neues Licht auf die Beziehungen zwischen
Preußen und Polen.
Der Schluß der Aufsätze von F. Spitta über Herzog
Albrecht von Preußen als geistlichen Liederdichter (Monatschrift
für Gottesdienst und kirchliche Kunst 13, 4 — 6; vgl. oben S. 206)
weist dem Herzog das vielfach (auch von Ranke) dem Mark-
grafen Albrecht Alcibiades zugeschriebene Gedicht „Was mein
Gott will, das g'scheh allzeif* zu, ferner die beiden Königsberger
Liedersammlungen, als deren Verfasser man früher auf Paul
Speratus oder auf Kaspar Löner geraten hatte, die sogenannten
Markgrafeuüeder (1524 und 1527, mit dem Anagramm der beiden
älteren Brüder des Herzogs), ein Türkenlied von 1539 sowie ein
Lied zur zweiten Vermählung des Herzogs (1550); allerhand
Schlaglichter fallen dabei auf Albrechts Leben und Denken.
In den Beiträgen zur Hessischen Kirchengeschichte 3, 3
handelt Wilhelm Hotz über das Jahrzehnt, welches der Theologe,
Geschichtschreiber und Dichter Cyriacus Spangenberg als
Pfarrer in Schlitz verbrachte (1580—1590).
Von Endres (Andreas) Imhof dem Alteren, einem Nürnberger
Kaufmann und Bankier, der von 1491 — 1579 lebte und auch im
Rat seiner Vaterstadt eine hervorragende Rolle spielte, entwirit
Johannes Müller im Unterhaltungsblatt des Fränkischen Kurier,
55. Jahrg. (1908) Nr. 2, 4 u. 6, ein sehr ansprechendes Bild auf
Grund archivalischer Quellen und unter besonderer Berücksichti-
29»
448 Notizen und Nachrichten.
gung seiner erfolgreichen kaufmännischen Tätigkeit, deren Ge-
heimnis (in einer Zeit, wo es mit den Fuggern, Weisem u. a.
zurückging) im letzten Ende darin ruhte, daß er um die Mitte des
16. Jahrhunderts von dem immer weniger einträglichen Warenhandel
zu den riskanteren, aber mehr Gewinn bringenden Geld- und
Wechselgeschäften überging, dabei aber die gebotene Vorsicht
nicht außer acht ließ.
Den Gerüchten, die nach dem frühen Tod Eduards VI. von
England auftauchten und besagten, daß der König in Wahrheit
gar nicht gestorben sei, geht Margrete E. Gornford in der
English hist, review 23 (Nr. 90) nach. Das Gerede läßt sich bis
zum Jahr 1599 verfolgen.
Das englische Münzwesen im 16. Jahrhundert wird von Fried-
rich V. Schrötter im Jahrbuch der Gesetzgebung, Verwaltung
und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 32 zum Gegenstand einer
eingehenden Untersuchung gemacht. Die (im Heft 2) vorliegende
1. Hälfte reicht bis zum Tod Marias der Katholischen. Wir notieren,
daß von einer Münzverbesserung unter Eduard VI. nicht wohl
geredet werden kann und daß beim Tod Marias das ganze eng-
lische Geldwesen zerrüttet war.
Die derzeitigen Hauptkämpen in dem Streit über Verfälschung
oder Echtheit der Kassettenbriefe Maria Stuarts, Andrew Lang
und T. F. Henderson, setzen sich in der Scottish hist, review 5
Nr. 17 u. 18 aufs neue auseinander; zweifellos hat Henderson, der
für Echtheit und Schuld plädiert, dabei die besseren Gründe.
Ebenda Nr. 18 wendet sich Thomas Duncan in einer Unter-
suchung über die Beziehungen Marias zu William Maitland von
Lethington gegen den Versuch Längs, Lethington mit der Ver-
fälschung der Kassettenbriefe zu belasten. — Aus der österreichi-
schen Rundschau 15, 1 verzeichnen wir eine Studie von August
Fournier über Maria Stuart und die Habsburger.
Den Sturz und den Prozeß der Caraffa, die Paul IV. 1559
fallen ließ und die unter seinem Nachfolger hingerichtet wurden,
macht Renö Ancel in der Rev. B^n^dicHne 24 und 25 zum Gegen-
stand einer (noch nicht abgeschlossenen) Untersuchung nach un-
veröffentlichten Akten aus den Jahren 1559—1567.
Während wir sonst über die Gründung der einzelnen evangeli-
schen Gemeinden in Frankreich zumeist nicht gut unterrichtet
sind, vermag N. W(eiß) im Bulletin de la soc, de l'hist, du pro-
testantisme Franpais 1908 (Heft März-April) einige genauere Nach-
richten über die Anfänge der reformierten Kirche zu Saint-Maixent
(Poitou) 1559—1560 mitzuteilen. — In der English hist. review 23
Reformation und Gegenreformation. 449
(Nr. 90) gibt Maurice Wilkinson an der Hand neuer Akten
einige Ergänzungen zu seinem Aufsatz über die Religionskriege
im Pdrigord (vgl. H. Z. 98, 447).
Die Aufsätze von W. Beemelmans über die Organisation
der vorderösterreichischen Behörden in Ensisheim im 16. Jahr-
hundert (vgl. zuletzt H. Z. 100, 445) finden in der Zeitschr. f. d.
Gesch. des Oberrheins N. F. 23, 2 ihren Abschluß mit einer Unter-
suchung der schwierigen Frage, die sich seit der Errichtung der
vorländischen Kammer über deren Verhältnis zur Regierung erhob.
Zu dem Traktat über den Reichstag im 16. Jahrhundert, den
neulich K. Rauch nach sechs alten Drucken herausgegeben hat
(vgl. H. Z. 98, 387), vermag Fritz Härtung in den Mitteilungen
des Instituts f. österr. Geschichtsf. 29, 2 Verbesserungen und Er-
gänzungen nach drei Handschriften, die im Wiener Staatsarchiv
beruhen, zu geben.
Aus der Beschäftigung mit einer ungedruckten Isagoge des
böhmischen Humanisten und Rechtsgelehrten Johannes Cocinus
a Cocineto zu Ciceros Schrift „De oratore" nimmt Richard Schmer-
tosch v. Riesenthal in den Neuen Jahrbüchern f. d. Klass.
Altertum 22, 2 Anlaß, das Leben des Cocinus von seiner Geburt
(1543) bis 1578, in welchem Jahre die Isagoge verfaßt wurde, zu
verfolgen.
G. Baguenault de Puchesse veröffentlicht im Bulletin 14
der SocUU archäol, et hist, de rOrUanais (Nr. 187) einen an den
Humanisten Pierre Daniel gerichteten Brief vom Jahre 1579, der
auf dessen Arbeiten und gelehrte Beziehungen (zu Pithou) einiges
Licht wirft.
Einige Bemerkungen, die Roger Bigelow Merriman in der
American hist. review 13, 3 über die Behandlung der englischen
Katholiken zur Zeit Elisabeths macht, beziehen sich namentlich
auf die 80 er Jahre und den Gedanken Walsinghams, die Katho-
liken nach Amerika abzuschieben.
An der Hand der neueren Literatur zur Geschichte Heinrichs IV.
von Frankreich bespricht J. Nouaillac in der Revue d'hist.
moderne 9 den Stand der Forschung über äußere und innere
Politik, Wirtschafts- und Geistesgeschichte in Frankreich zur Zeit
dieses Königs und formuliert einige noch zu lösende Aufgaben.
Eine ausführliche Darstellung der Staatslehre des Mariana
bringt das Archiv f. Gesch. der Philosophie 21 (N. F. 14) aus der
Feder von Basilius Antoniades.
Als Nr. 24 der Veröffentlichungen der Histor. Landeskom-
mission f. Steiermark ist erschienen: J. Loserth, Bericht über
450 Notizen und Nachrichten.
die Ergebnisse einer Studienreise in die Archive von Linz und Stey-
regg in Oberösterreich mit einem Anhang von Urkundenausztigen
(Graz 1907, Selbst veriag der Histor. L.-Komm., 54 S.). Der Bericht
enthält namentlich eingehende Angaben über die Bestände, welche
seit dem Bericht von Krones (18%) in die Linzer Archive neu
hinzugekommen sind, sowie über das gräflich Weissenwolfische
Archiv zu Steyregg, in dem sich aber von den Ungnadschen Sachen
des 16. Jahrhunderts leider nur wenig mehr erhalten hat Die
beigegebenen Urkundenauszüge gehören zumeist dem 16. und
dem Anfang des 17. Jahrhunderts an; wir erwähnen drei Schreiben
Rudolfs II. und des Erzherzogs Matthias von 1599 an David
Ungnad über seine Gesandtschaft nach der Türkei.
Die Akten zur Geschichte des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm
von Neuburg und seiner Brüder August von Sulzbach und Johann
Friedrich von Hilpoltstein, die G. L i n d e r m a y r im 69. Jahrg. des
Neuburger Kollektaneenblatts veröffentlicht, und die zugleich
einen Beitrag zur Geschichte der Primogenitur im Hause Wittels-
bach darstellen sollen, enthalten: 1. den Jülichschen Erbvertrag
vom 26. Oktober 1613 zwischen dem alten Pfalzgrafen Philipp
Ludwig und seiner Gemahlin einerseits und ihren drei Söhnen
anderseits; 2. eine Vollmacht Wolfgang Wilhelms für den Grafen
Friedrich von Solms, 4. September 1614, die Beamten nach seines
Vaters Tod in Pflicht zu nehmen; 3. ein Beileidschreiben des
Kaisers Matthias von 20. September 1614 mit der Bemerkung, daß
Wolfgang Wilhelm in Sachen der Religion nur an die Reichs-
konstitutionen und den Religionsfrieden gebunden sei, nicht an
etwaige andere Anordnungen Phüipp Ludwigs.
Über unveröffentlichte Memoiren eines Herrn Favreau de
Chizay handelt Robert La voll de in der Rev. des Stades histo-
riques 77 (Nr. IinV, 1908). Sie betreffen die Jahre 1614—1671,
Lavollde beschäftigt sich aber nur mit dem Teil zur Geschichte
Ludwigs XIll. und findet ihn recht zuverlässig.
Die Ermordung des Obersten Hans Sprecher, eines der
Häupter der Drei Bünde, zu Marienfeld am 12. November 1631 war
nach Paul Sprecher, der sich mit ihr im Jahresbericht der
Hist.-antiquar. Gesellsch. v. Graubünden Jahrg. 1907 (Chur 1908)
beschäftigt, vielleicht eine politische, auf Befehl RicheÜeus voll-
zogene Tat, was aber nicht sicher nachweisbar ist.
Im 2. Heft der Zeitschr. f. d. Gesch. des Oberrheins N. F. 23
beendet K. Jacob den Druck der von ihm gefundenen Fragmente
aus der Wenckerschen Chronik zur Geschichte des Dreißigjährigen
Kriegs (vgl. oben S. 210 f.).
1648-1789. 451
Die Bezeichnungen exercitium religionis publicum bzw.
privatum und devotio domestica im Westfälischen Frieden haben
nach J. B. S ä g m ü 1 1 e r in der Theolog. Quartalschrift 90, 2 noch
nichts mit den Theorien von den öffentlich-rechtlichen und privaten
Korporationen zu tun, sondern bezeichnen nur die verschiedenen
Grade der Erkennbarkeit des Gottesdienstes.
Neue Bficher: Max Müller, Johann Albrecht v. Widman-
stetter 1506—1557. Sein Leben und Wirken. (Bamberg, Handels-
druckerei und Verlagsh. 2,40 M.) — Lindsay, A history of the
Reformation. Vol. 2, (London, Clark. 10,6 sh.) — Gengenbach,
Pamphilus: Ein klägliches Gespräch von einem Abt, Curtisanen
und dem Teufel wider den frommen Papst Hadrian. Hrsg. von
Arth. Richel. (Leipzig, Haupt. 0,75 M.) — Kalkoff, Aleander
gegen Luther. Studien zu ungedruckten Aktenstücken aus Ale-
anders Nachlaß. (Leipzig, Haupt. 5 M.) — Spalatiniana. Hrsg.
von B e r b i g. (Leipzig, Heinsius Nachf. 4 M.) — Bossert, Johann
Calvin. Deutsche Ausg., besorgt von Herm. Krollick. (Gießen,,
Töpelmann. 3,60 M.) — Wotschke, Der Briefwechsel der
Schweizer mit den Polen. (Leipzig, Heinsius Nachf. 15,75 M.) —
Richardson, The lover of queen Elizabeth. Being the life and
character of Robert Dudley, Earl of Leicester, 1533-^1588, (Lon--
don, Laurie. 12,6 sh.) — Markham, King Edward VI: an ap-
preciation. (London, Smith. 7,6 sh.) — Montague, The history
of England from the accessio n of James I to the Restauration
(1603-1660). (London, Longmans. 7,6 sh.) — Magne, Femmes
galantes du XV 11^ sikcle. Madame de la Suze (Henriette de
Coligny) et la sociM präcieuse. (Paris, Sociüi du Mercure de
France. 3,50 fr.) — de Souvigny , Mämoires, publiäs par Ludo^
vic de Contenson. T. 2 (1639—1659). (Paris, Laurens. 9 fr.)
1648—1789.
P. Piccolomini veröffentlicht das erste, bis 1651 reichende
Drittel von Korrespondenzen der römischen Kurie mit dem Inqui-
sitor von Malta, welcher dort die Geschäfte eines päpstlichen
Nuntius versah, aus der Zeit des Kandiotischen Krieges (1645 bis
1669) (Archivio Storico Italiano, Serie V, tom. XLl).
J. B. W i 1 1 i a m s handelt über die Lage der Presse und über
geschriebene Zeitungen in England um 1660 (English fiistorical
Review Vol. XXIII, Nr. 90).
H. Jacoby handelt über „Paul Gerhardt und der Große
Kurfürst^ Wer die Art und Weise mißbilligt, wie der Fürst
452 Notizen und Nachrichten.
seinen Unionsbestrebungen Wirklichkeit zu geben suchte, schenkt
doch jenen vielleicht vollen Beifall, und wer am strengen reli-
giösen Standpunkt Anstoß nimmt, den der Dichter vertritt, ver-
mag doch seine zarte Gewissenhaftigkeit zu wUrdigen (Grenz-
boten, Jahrg. 67, Heft 17 u. 19).
F. Petri handelt über die Spanheimgesellschaft in Berlin
1689—1697. Die regelmäßigen wissenschaftlichen Zusammenkünfte,
welche im Hause des brandenburgischen Staatsmannes und Ge-
lehrten Ezechiel von Spanheims stattfanden, können als eine Vor-
stufe der späteren Berliner Sozietät der Wissenschaften gelten.
Sie stellten eine Vermittlung her zwischen den auf branden-
hurgischen Boden verschlagenen Franzosen und der einheimi-
schen Gelehrtenwelt, die dadurch aus ihrem Sonderleben in den
Zusammenhang der allgemeinen europäischen Literatur gehoben
wurde (Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Wilhelmgym-
nasiums in Berlin).
d'Haussonville setzt seine Studien über die Herzogin
von Burgund und die französisch-savoyische Allianz fort {Revue
des deux mondes, 1 avril 1908).
G. Fricke, Memoiren und Lebensschicksale des Grafen
Tourville, weiland Admirals und Marschalls von Frankreich.
Berlin, A. W. Hayns Erben. 1908. — Es ergibt sich, daß die
Memoiren ein jämmerliches Machwerk sind, unzuverlässig und
parteiisch, in den auf Tourville selbst bezüglichen Angaben un-
vollständig. Doch enthalten sie manche sonst nicht aufbehaltene
Einzelheiten.
LeBfegue deGermigny gibt eine Darstellung englischer
Seeräubereien aus der Zeit Ludwigs XV., zunächst bis zum Jahre
1744 {Revue des questions historiques, avril 1908).
Das Privilegium generale de non appellando illimitatum,
welches dem preußischen Staate gänzliche Befreiung vom Rechts-
mittelzug an das Reich verlieh, ist nach den Untersuchungen
von K. Pereis in den Sitzungsber. d. Berliner Akad. d. Wiss.
XLVlll, 1907 (28. Nov.) erst im Jahre 1750 erteilt, aber bei der
Erteilung um vier Jahre auf den 31. Mai 1746, d. i. auf den Tag
zurückdatiert worden, an dem Kaiser Franz 1. die Gewährung
des Privilegs zugesagt hatte.
W. Wiegan d, Das politische Testament Friedrichs d. Gr.
vom Jahre 1752. Rede zur Feier des Geburtstages Sr. Maj. des
Kaisers, gehalten an der Straßburger Universität, 27. Januar 1908.
Straßburg, J. H. Ed. Heiz. 1908. — Das Testament von 1752 wird
im 9. Bande der Acta Borussica von Schmoller und Hintze un-
1648—1789. 453
vollständig herausgegeben : „Warum man dies getan, warum man
Rankes wohlbegründete Ansicht nicht beachtet hat, daß, wenn es
einmal für ratsam erachtet würde, das Testament zu publizieren,
dies vollständig, ohne Auslassung geschehen müsse, ist nicht
bekannt. Religiöse wie politische Bedenklichkeiten scheinen den
Ausschlag gegeben zu haben.'' Wiegand betont eingangs, daß
der Neubau der Reformer sich nur auf den Fundamenten des
friderizianischen Preußens zu erheben vermochte; daß in diesen
„das eigentlich lebendige Prinzip preußischen Wesens nahezu
unversehrt erhalten blieb''. Er verfolgt dann den Gedanken-
gang des Politischen Testaments: Justiz, Finanzen, Handelspolitik,
Agrarpolitik, Gewerbepolitik, Beamtentum, Adel, Bauern, Kabi-
nettsregierung, Heerwesen, Prinzenerziehung. Interessant die
Bemerkung, daß die Frage, ob man sich Friedrich um 1752 als
saturierten Friedensfürsten oder als leidenschaftlichen Eroberer
zu denken habe, selbst aus dem uns vorenthaltenen Teile des
Testaments nicht beantwortet werden kann, „wenn sie überhaupt
so formuliert werden darf. Wiegand erläutert manche Sätze des
Testaments durch gleichzeitige Marginalien des Königs und schließt
seine lehrreiche Abhandlung mit einem vergleichenden Hinweise
auf die Memoiren Ludwigs XIV.
Neue Bucher: Grant, Quaker and Courtier: the life and
worfc of William Penn, (London, Murray, 10,6 sh,) — Welt-
geschichte. Hrsg. von J. v. Pflugk-Harttung. 5. Geschichte
der Neuzeit. Das politische Zeitalter 1650—1815. (Berlin, Ullstein
& Co. 16 M.) — Mimoriaux du conseil de 1661, publiäs par J, de
Boislisle, T, 3. (Paris, Laurens. 9 fr.) — Clergue, The
Salon. A study of French society and personalities in the 18^ Cen-
tury. (London, Putnam. 12,6 sh.) — Capon et Yve-Plessis,
Paris galant au XVI 11^ sikcle: Vie priv^e du prince de Conty
LouiS'Franfois de Bourbon (1717—1776). (Paris, Schemit, 15 fr.)
— Furgeot, Le Marquis de Saint- Huruge, „gän^ralissime des
sans'culottes" (1738—1801). (Paris, Perrin S Cie.) — Elcho,
A Short account of the affairs of Scotland in the years 1744, 1745,
1746. Printed from the original ms. at Gosford. (London, Dou-
glas. 15 sh.) — Creuzinger, Die Probleme des Krieges. 2. Tl.
2. Bd. Friedrichs Strategie im Siebenjährigen Kriege. (Leipzig,
Engelmann. 3,60 M.) — Corbett, England in the seven years'
war. 2 vols. (London, Longmans. 21 sh.) — de Bonald, Franpois
Chabot, membre de la Convention (1756—1794). (Paris, ^mile-
Paul. 5 fr.) — Marks, England and America, 1763 to 1783.
2 vols, (London, Brown, Langham. 30 sh.) — Bearne, A sister
of Marie An toi nette : the life story of Maria Carolina, queen of
454 Notizen und Nachrichten.
Naples. (London, Unwin, 10,6 sh.) — DyotVs Diary, 1781—1845.
A selection front the Journal of W. Dyott, sometime general in the
British army, and Aide-de-camp to //. M, King George III, Ed.
by Jeffery. 2 vols. (London, Constable, 31,6 sh,) — Taylor,
Queen Hortense and her friends, 1783—1837. 2 vols, (London,
Hutchinson, 24 sh,)
Neuere Geschichte seit 1789.
Sehr lesenswert ist der Artikel, den H. Baier in der Zeitschr.
f. Gesch. d. Oberrh. N. F. 23, 2 über „Die revolutionäre Bewegung
in der Landvogtei Ortenau im Jahre 1789** veröffentlicht Indem
er darin mit maßvollem Urteil die Beschwerden der Bauerschaften
bespricht, zeigt er zunächst, daß Spuren von Modellbenutzung,
wie sie bei den französischen Cahiers des Jahres stattfand, sich
nicht nachweisen lassen, und geht dann zahlreiche einzelne
Klagen durch, die eine weitverbreitete Unzufriedenheit mit der
österreichischen Reformregierung beweisen, und zwar fühlten
sich die Bauern hier (wie anderwärts) auch durch vernünftige
und gutgemeinte Maßregeln, wie die Abschaffung der Naturalfron,
beschwert.
Im Märzheft 1908 der Revolution Franpaise berichtet
Gl. Perroud über die 1790 von Lanthenas, dem Freund der
Rolands, der selbst ein jüngerer Sohn war, gegründete Soci^tä
des amis de l'union et de Vegalitd dans les familles, die sich nach
Erreichung ihres Zweckes wieder auflöste. A. Tuetey beginnt
die Veröffentlichung von Auszügen aus den Protokollen des
comite des inspecteurs de la salle de la Convention (einstweilen
bis 29. Dezember 1792), aus denen u. a. hervorgeht, daß dieser
Ausschuß frei über die bewaffnete Macht verfügte und Generälen
Befehle erteilte! Im Aprilheft setzt Mathiez seine Artikelserie
über La France et Rome sous la Constituante fort. Der vorliegende
Abschnitt behandelt die Revolution in Avignon.
Im Februarheft 1908 der Rev, d'Hist, Moderne etc. beendigt
Carrd seine von uns im letzten Hefte erwähnte Arbeit über
l'Assemblde Constituante et la „mise en vacances' des Parlements,
nov, 1789 ä janv. 1790. Im Märzheft behandelt G a 1 a b e r t u. d. T.
Le club de Montauban pendant la Constituante hauptsächlich die
Organisation dieses Klubs (Fortsetzung von etwas interessanteren
Studien über seine politische Bedeutung aus dem Jahrgang
1899 1900 ders. Zeitschrift).
A. Chuquet stellt in der Rev. Bleue vom 16. Mai 1908 unter
dem Titel Mirabeau jugi par Camille Desmoulins eine Reihe ent-
Neuere Geschichte. 455
gegengesetzter Urteile Desmoulins' über Mirabeau zusammen, die
maßlos bald in der Bewunderung, bald im Hasse sind. Wer weiß,
wie außerordentlich selbst die bedeutenden Männer des
Zeitalters in ihrer Beurteilung von Personen (und Dingen) von
Stimmungen und Situationen abhängig sind, wird sich über diese
Erscheinung bei einem Menschen wie Desmoulins nicht wundern.
Unter einem Titel, der mehr verspricht als die Arbeit hält,
Les origines r^publicaines de Bonaparte, behandelt Ddprez
die bekannte Denkschrift Napoleons aus dem Jahre 1793 über
Korsika sowie ihre Schicksale und Drucke, deren bester sich bei
Chuquet findet (Rev, Histor., Mars-Avr. 1908).
Unter Benutzung von ungedrucktem Material behandelt Ta-
bournet in der Rev, des Stades Histor,, Jan.-Fdvr. 1908 Le prince
Henri de Prasse et le Directoire 1795—1802 (sie). Vor allem veröffent-
licht und bespricht er eine Denkschrift des Prinzen vom Juni
1796 über den Frieden, den Frankreich Europa diktieren müsse,
die, reich an alten und neuen Gedanken, nicht uninteressant, aber
stellenweise peinlich zu lesen ist Daß hier ein enges Bündnis
zwischen Frankreich und Preußen vorgeschlagen wird, daß Ver-
größerungen letzterer Macht (ein Gedanke ist dabei die Ab-
tretung Mecklenburgs an Preußen, Hannovers an das Haus
Mecklenburg) gewünscht werden, ist selbstverständlich. Säkulari-
sationen werden auch aus „philosophischen Gründen"" befürwortet.
Frankreich soll, wenn Österreich das Kaisertum verüert, die freie
Entscheidung haben, wer König von Deutschland wird. Eine
besondere Belohnung des aufgeklärten Dalberg wird verlangt.
Indessen wurden diese und spätere Eröffnungen des ja gänzlich
einflußlosen Prinzen in Paris mit Verachtung gestraft.
Im Aprilheft 1908 der Rev, des Questions Histor, behandelt
P. d e V a i s s i ^ r e die schweren Schicksale Grimms während der
Revolution, der, trotzdem er Gesandter von Sachsen-Gotha war,
wie andere auswärtige Vertreter auf die Emigrantenliste gesetzt
wurde, worauf sein Geld, seine Bücher, Manuskripte etc. einge-
zogen wurden. Sdrignan beginnt eine Arbeit über La vie aux
armies sous la Revolution et le premier Empire, in der er, haupt-
sächlich nach Memoiren arbeitend, „nicht die Vorschriften, sondern
die Sitten*" zu schildern übernimmt. Letztere waren nach ihm meist
schlecht. Doch kehrten auch nach seiner Ansicht im Jahre 1794
die eigentlich militärisch-moralischen Kräfte in die zerrüttete Armee
zurück. Der bekannte Historiker G. Grandmaison erzählt Les
däbuts de Joseph Bonaparte ä Madrid Janvier— Avril 1809 nach
den Berichten von dessen Mentor, dem französischen Gesandten
456 Notizen und Nachrichten.
La Forest (die Grandmaison herausgibt). Nach günstigen ersten
Eindrücken sah dieser schon im Februar die bösen Vorzeichen
sich mehren und die Schwierigkeiten und Gefahren anwachsen.
Augustin-Thierry setzt in glänzender Sprache und äußerst
unterhaltender Weise Studien aus dem Jahre 1902 fort, indem er
eine Artikelserle über Conspirateurs et gens de police, l'aventure
du colonel Fournier et la mystärieuse af faire Donnadieu (1802) be-
ginnt, die zweifellos, wie die frühere, auch in Buchform erscheinen
wird, deren Besprechung sich also hier erübrigt (Rev. des deux
mondes, 1. April und 1. Mai 1908).
Der vertriebene Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig
sandte im Jahre 1807 den Obersthofmeister seiner Schwieger-
mutter, der Markgräfin Amalie von Baden, den Frhrn. Chr. von
Berckheim (den späteren badischen Minister) nach Paris, behufs
Wiedererlangung seines Landes. Von dieser natürlich vergeblichen
Sendung handelt Obser, indem er zugleich den interessanten
Bericht Berckheims wortgetreuer veröffentlicht, als dies seinerzeit
P. Zimmermann getan hatte. (Die Sendung des Obersthofmeisters
Frhrn. Chr. v. Berckheim nach Paris im Jahre 1807 und seine Unter-
redung mit Napoleon. Ztschr. f. Gesch. d. Oberrh. N. F. 23, 2.)
In der Internationalen Wochenschrift II, 14/15, 4./11. April 1908
behandelt E. v. Halle in übersichtlicher Weise auf Grund der in
der letzten Zeit erschienenen Literatur „Die Company of Merchant
Adventurers und den Ausgang ihrer Niederlassung in Hamburg
1808''. Die Niederlassung wurde am 20. April 1808 (nicht 1807,
wie es in der Überschrift in Nr. 15 heißt!) auf Wunsch Napoleons
vom Hamburger Senat aufgelöst. Die Arbeit stellt einen Auf-
lösungs-Zentenarfestartikel dar.
Max Lehmann wendet sich im Maiheft 1908 der Preuß. Jahr-
bücher in, wie uns dünkt, nicht sehr glücklicher, mehr persön-
licher als sachlicher Weise gegen die Angriffe, die E. v Meier im
zweiten Bande seines Werkes „Französische Einflüsse auf die
Staats- und Rechtsentwicklung Preußens im 19. Jahrhundert** gegen
ihn gerichtet hatte (Die preußische Reform von 1808 und die fran-
zösische Revolution). W,
Aus der Nuova Antologia, 16. April, notieren wir: Roberti,
La lotta fra Stato e Chiesa durante lUmpero napoleonico ; aus der
Rev, d'Hist. Eccl^siastigue, ISAvril: Rambaud, L'äglise de Naples
so US la domination napoldonienne.
Unter Benutzung von sehr reichem neuem Material aus dem
Wiesbadener Staatsarchiv behandelt A.Merk er in äußerst nütz-
licher Weise „Die Steuerreform im Herzogtum Nassau von 1806
Neuere Geschichte. 457
bis ISU*" (S.-A. a. d. Annalen d. Ver. f. Nassauische Altertumskunde
etc. Bd. 37, S. 72 bis 142). Er schildert zuerst die Behörden-
organisation und die entscheidenden Persönlichkeiten, unter denen
E. F. L. V. Marschall und Karl Ibell die bedeutendsten waren. Be-
sonders letzterer tritt stark hervor. Er war ein eifriger, freiheit-
lich gesinnter Mann (der allerdings ein schreckliches Deutsch
s^nreibt), und er hat viel dazu beigetragen, daß Nassau die Ty-
rannei Napoleons verhältnismäßig gut überstanden hat. Dann
schildert Merker die Einnahmequellen Nassaus, und zwar am aus-
führlichsten die auf französischen Befehl eingeführte Tabak- und
Salzregie (nur französisches Salz durfte gebraucht werden !) und
die Grund- und Gewerbesteuer, eine segens- und zukunftsreiche
Neuerung, die, wie Merker nachweist, auf dem badischen Vorbild
beruhte. Befriedigt die Arbeit als Darstellung der Neuerungen
an sich im höchsten Grade, so möchte man doch öfter mehr
über ihre Herkunft wissen. Bei dieser Frage versagt der Ver-
fasser mehrfach ganz, während er gelegentlich Behauptungen auf-
stellt, ohne sie zu beweisen, so wenn er meint (S. 124), daß der
badische Grund- und Gewerbesteuerentwurf von 1808 die ber-
gische Instruktion vom 16. April 1807, die westfälische vom
7. Januar 1808 und das bayerische Steuerprovisorium vom 13. Mai
1808 schon verarbeitet habe. Es ist zu bedauern, daß also der
Verfasser seine treffliche Arbeit nicht in einen größeren Zu-
sammenhang gestellt hat. Wahl.
Viel umstrittene Probleme zu lösen hat sich die Berliner Dis-
sertation von Paul Müller, Zur Beurteilung der Persönlichkeiten
im Feldzuge von 1815 (1907, 66 S.), zur Aufgabe gemacht. Ver-
fasser behandelt zuerst Napoleon, bei dem er von einer Abnahme
der Leistungen wohl mit Recht nichts wissen will, ohne freilich
viel zu beweisen, dann Wellington, Müffling, Bülow und Gneisenau.
In dem Abschnitt über WeUington wendet er sich hauptsächlich
gegen Pflugk-Harttung und nimmt für den Tag von Ligny eine
zwiefache Schuld des britischen Feldherrn an, eine militärische
und eine moralische. Was Gneisenau anlangt, so meint er gegen
Lettow-Vorbeck, daß der von ihm erteilte Befehl zum Rückzug
nur bis Tilly „eigentlich noch höher anzuschlagen sei, als der
bisher überlieferte zum Rückzuge nach Wavre** . . . „da auch
durch ihn die natürliche Basis aufgegeben wurde* usw. Die
Arbeit ist durch die in ihr enthaltenen Gesichtspunkte entschieden
fördernd. Doch wohnt den Resultaten des Verfassers keine so
große Sicherheit bei, wie er selbst annimmt, vor allem weil er
mehrfach, mit allzu großer Härte des Denkens vorgehend, aus den
im Drange der Ereignisse entstandenen Äußerungen und Maß-
458 Notizen und Nachrichten.
regeln der Feldherrn allzu weitgehende Schlüsse zieht. Die Bi-
bliographie wird durch zahlreiche Druckfehler entstellt. Wahl,
Schuermans führt sein von uns öfters erwähntes, sehr
nützliches Itinerar Napoleons in der Revue des Stades ffisior,,
Januar-Februar und März-April 1908, zu Ende.
Unter dem Titel »Aus Preußens schwerer Zeit* (Berlin, Eisen-
schmidt. 1907. 168 S.) zeichnet Oberst v. Eberhardt in an-
sprechender Weise nach Briefen und anderen Aufzeichnungen
das Leben seines Urgroßvaters, der 1806 als Major und Regiments-
kommandeur bei Jena gefallen ist, und seines Großvaters. Der
letztere ist 1803 im Alter von 12 Jahren als Gefreiter-Korporal
in das preußische Heer eingetreten, drei Jahre darauf hat er sich
bei Jena als Ordonnanzoffizier des Fürsten Hohenlohe aus-
gezeichnet, indem er die Fahne eines weichenden Bataillons an
sich riß und dadurch das ganze Regiment zu neuem Vorgehen
ermutigte. Auf den Vorschlag der Untersuchungskommission ist
er dafür 1809 nachträglich mit dem Orden pour le m^rite belohnt
worden. Später vor Leipzig zum Krüppel geschossen, wurde er
ins Potsdamer Kadettenhaus versetzt und ist dann lange Zeit
dessen Kommandeur gewesen. Von den mitgeteilten Briefen sind
die ersten während der Mobilmachung von 1790, die letzten 1813
und 1814 geschrieben. Sie enthalten manche interessante Züge
aus dem militärischen Leben dieser wechselvollen Zeit. G.
Über den vielbesprochenen Tod Berthiers im Juni 1815 gibt
jetzt Dr. Michael Strich (Marschall Alexander Berthier und sein
Ende. München 1908.) durch sorgfältige Untersuchungen in baye-
rischen, österreichischen und preußischen Archiven völlige Auf-
klärung. Er zeigt, daß Berthier zunächst seine Pflicht als Befehls-
haber der Leibgarde erfüllte, indem er den flüchtigen König
Ludwig XVlIl. nach Ostende geleitete. Dann nahm er Urlaub und
ging zu seiner in Bamberg bei seinem Schwiegervater, Herzog
Wilhelm von Bayern, weilenden Familie. Von hier schickte er
dem Könige sein Abschiedsgesuch, er wollte nach Frankreich
zurückkehren, um Napoleon seine Dienste anzubieten. Auf Ver-
langen der österreichischen und der preußischen Regierung wurde
er aber an der Abreise gehindert und sorgfältig überwacht. Da-
durch verfiel er in Schwermut. Seine Umgebung erkannte, daß
er sich mit Selbstmordgedanken trug, und beobachtete jede seiner
Bewegungen, so daß er schließlich seine Absicht nur durch den
Sprung aus einem hochgelegenen Fenster ausführen konnte. Der
herzogliche Hof hat versucht, die Sache zu vertuschen und den
Tod als Folge eines unglücklichen Zufalls hinzustellen. Indessen
Neuere Geschichte. 459
die sofort von dem Bamberger Gerichtshöfe angestellten Ermitt-
lungen, ebenso die vertraulichen Berichte, welche Metternich und
Hardenberg von ihren diplomatischen Agenten erhielten, beseitigen
jeden Zweifel. G.
Aus der Revue d'histoire diplomatique 22, 2 (Aprilheft) sind
zwei Aufsätze zu erwähnen: Rain, La France et VEurope au
lendemain du congres de Vienne^ und Martens, La Russie et la
France pendant la Restauration,
In der Revue de synthese historique (Februarheft) gibt Paul
Matter, der sich durch seine dreibändige Bismarckbiographie
auch in Deutschland vorteilhaft bekannt gemacht hat, auf Grund
einer knappen Skizze der Hauptphasen der deutschen Entwicklung
von 1815—1890 eine summarische und nicht gleichmäßige Über-
sicht über die wichtigsten literarischen Erscheinungen, nament-
lich auch französischer, für die Kenntnis dieser Epoche (wobei er
über das selbstgesetzte letzte Jahrzehnt zum Teil weit htnaus-
greift). Matter fügt zugleich Hinweise auf solche Punkte hinzu, an
denen seines Erachtens — zum Teil durchaus richtig, aber nicht
überall trifft das zu — die Forschung bisher reizvolle und ergiebige
Probleme nicht genügend behandelt und beachtet habe. Auch
wird man der Charakterisierung und Würdigung der Autoren
nicht überall zustimmen können, z. B. daß Treitschke plus peintre
et poäte qu'historien sei ; statt Heinecke ist zweimal Meinecke zu
lesen. Im ganzen aber ist die Unbefangenheit und politische
Orientierung der Beurteilung zu rühmen, die freilich weder er-
schöpfend noch allseitig ist und manche Ungenauigkeiten zeigt. J.
Lady Blennerhassett bespricht mit mancherlei kritischen
Bemerkungen und selbständigen Zusätzen die Rdcits d'une tante.
Mämoires de la comtesse de Boigne nie d'Osmond p, p, C. Nicoul-
laud (Paris 1801/8, 4 vols.), von denen einzelne Abschnitte, die in
der Revue des deux mondes erschienen sind, auch in der H. Z.
(100, S. 454) erwähnt waren (Deutsche Rundschau, Juniheft).
In der Osterreichischen Rundschau 14, 5 finden sich Auf-
zeichnungen des Grafen Radetzky über die Märztage des
Jahres 1848 (vgl. H. Z. 100, S. 454).
Eine Greifswalder Dissertation von O. Pöppelmann be-
handelt „Georg Beseler und seine Tätigkeit für die Grundrechte
des deutschen Volkes im Jahre 1848"* (1907, 133 S.). Sie ist trotz
ihrer Weitschweifigkeit und ihrer jugendlichen Stilblüten ein
tüchtiger Beitrag zur Geschichte des Frankfurter Parlaments. Sie
sucht zunächst die Vorwürfe zu entkräften, die der Frankfurter
460 Notizen und Nachrichten.
Versammlung wegen der Voranstellung der Grundrechte vor den
Verfassungsfragen gemacht werden, betont auch mit Recht, dafi
man die moralische Wirkung der Grundrechte auf die kommende
Landes- und Reichsgesetzgebung nicht unterschätzen dürfe, und
weist dann erfolgreich nach, daß G. Beseler die eigentliche Seele
der Grundrechtsverhandlungen war und zwischen den Forderungen
der Rechten und Linken hindurch die Freiheitswünsche mit der
Achtung vor den geschichtlichen Realitäten zu verbinden be-
strebt war.
Unter dem Titel .Politische Bewegungen in Nürnberg 1848/49"
(Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte.
Heft 17. Heidelberg. Winter. 1907. 190 S.) gibt Ludwig Brunner
zunächst ein Bild der wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Ver-
hältnisse Nürnbergs in den 40er Jahren, um dann nach den Auf-
zeichnungen einer handschriftlichen Stadtchronik, nach den Be-
trachtungen, Mitteilungen, Aufrufen, Anzeigen der Zeitungen und
Flugschriften die Einwirkung der Revolution und der nationalen
Bewegung zu zeigen. Wir sehen, wie anfangs die gemäßigten
Elemente das Heft in der Hand haben, dann aber im Kleinbürger-
tum, bei den Gesellen und Arbeitern demokratische Tendenzen
die Oberhand gewinnen, so daß die Leidenschaften sich steigern
und heftige Konflikte bevorzustehen scheinen. Aber die vor-
sichtige und besonnene Haltung der mittelfränkischen Regierung
in Ansbach weiß ihnen vorzubeugen. Allmählich legt sich die
Aufregung und weicht einer dumpfen, resignierenden Stimmung,
schon ehe die eigentliche Reaktion eintritt. G.
„Briefe von Karl Mathy aus dem Frühjahr 1849* werden
im Mai- und Juniheft der Deutschen Revue „mit Erläuterungen
herausgegeben von Ludwig Mathy" (seinem Neffen, Oberschulrat
in Karlsruhe), eine Fortsetzung zu dessen die Jahre 1846—1848
umfassender Publikation. Es sind Familienbriefe und solche, die
mit politischen Freunden gewechselt sind; sie beginnen mit der
Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. (Anfang
April) und sollen bis zur Gothaer Versammlung (Ende Juni 1849)
führen; was bis jetzt vorliegt, betrifft, soweit es von Belang ist,
namentlich Mathys Mission nach München zur Gewinnung der
bayerischen Regierung für die Reichsverfassung.
Das Mai- und das Juniheft der Deutschen Revue bringen Auf-
zeichnungen des Prinzen Friedrich Karl von Preußen
aus den Jahren 1848 und 1849 (besonders über das Gefecht von
Wiesenthal vom 20. Juni 1849, in dem der Prinz, der als Major
im Stabe seines Oheims, des Prinzen von Preußen, am Feldzuge
Neuere Geschichte. 461
gegen die Aufständischen in der Pfalz und Baden teilnahm, ver-
wundet wurde).
Das 60 jährige Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Josef
und die dem Historiker wohl besonders eindrucksvolle l-iuldigung
deutscher Reichsfürsten und des Deutschen Kaisers haben Erich
Marcks Anlaß gegeben, die Bedeutung dieser langen Regierung
und die Abwandlung der deutschen und österreichischen Be-
ziehungen zu vergegenwärtigen (Die Woche, Nr. 18 vom 2. Mai 1908).
Der Säkularerinnerung an August Reichensperger sind
im Märzheft des Hochland die Ausführungen von Cardauns
gewidmet.
Für die Internationale Wochenschrift (Nr. 11 vom 14. März)
hat R. T. Stevenson, Professor der Geschichte an der Ohio
Wesleyan Universität Delaware, eine kurze Charakteristik des
Präsidenten Abraham Lincoln (1809—1865) geschrieben.
Ein aufschlußreicher Beitrag zur deutschen Parteigeschichte
ist Gustav Mayers Abhandlung „Die Lösung der deutschen
Frage im Jahre 1866 und die deutsche Arbeiterbewegung* in den
„Festgaben für Wilhelm Lexis" (Jena, Fischer 1907). Es fallen die
mannigfachsten Streiflichter auf die verschiedenen alten und neuen
Tendenzen in der deutschen Demokratie und der beginnenden
Sozialdemokratie. Es wird gezeigt, wie Schweitzer im Lassalle-
schen Geiste wohl fähig war, die Machtpolitik Bismarcks 1866 zu
verstehen, wie die deutsche Volkspartei dagegen ohnmächtige
Tiraden im Geiste der 1848 er predigte und wie schließlich in der
Arbeiterbewegung der internationale Sozialismus emporkam. Daß
dies gerade in der 1866 geschaffenen Lage geschah, hätte vielleicht
noch tiefer begründet werden können.
Ahnliche Beobachtungen zur deutschen Parteigeschichte um
1866 kann man auch der fleißigen Tübinger Dissertation von
Rapp: Die öffentliche Meinung in Württemberg von 1866 bis zu
den Zollparlamentswahien, März 1868 (84 S. 1907) entnehmen. Der
Titel ist irreführend, da die Dissertation nur bis zum Ende des
Jahres 1866 reicht, doch soll sie später erweitert als Buch die Zeit
von 1866 — 1871 umfassen.
In den beiden Mainummern (1. und 15.) der Revue des deux
mondes finden sich Fortsetzungen aus dem 0 1 1 i v i e r sehen Werke
l' Empire liberal^ das sich dem Abschlüsse nähert. Diesmal sind
die Beziehungen zu Preußen und die Entwicklung der Kandidatur
Hohenzollern (la Prusse et la France au commencement de 1870)
und la pl^biscUe behandelt. Die Kritik muß dem Erscheinen des
Historische Zeltschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 30
462 Notizen und Nachrichten.
Werlces vorbehalten bleiben. Daß Ottokar Lorenz admiraieur tris
passionn^ de Bismarc fc sei, ist neu (vgl. zuletzt H. Z. 99, S. 463).
In den Grenzboten Nr. 20 (vom 14. Mai) kommt ein un-
genannter, den Personen und der Sache augenscheinlich nahe-
stehender Offizier nochmals auf die vielumstrittene Frage der
Beschießung von Paris 1870 zurück und sucht den Nachweis zu
erbringen, daß Blumenthal bis zuletzt ein Gegner jeder Beschießung
geblieben sei (Das Tagebuch des Grafen Blumenthal von 187071).
Einige kurze Aufzeichnungen des unlängst (21. Juli 1907)
verstorbenen Parlamentariers W. v. Kardorff veröffentlicht
H. V. Poschinger in der Deutschen Revue (Juniheft): I. Jugend-
bekanntschaft mit Bismarck (1845 als Freund von Reinhold
v. Thadden bei einem Besuche auf Triglaff am Tage nach Hoch-
zeitsfest und Brand). II. Der hannoversche Provinzialfonds (1868).
III. Unsere Polenpolitik : Kardorffs Bedenken gegen die bäuerliche
Ansiedlung, die er Bismarck nicht verhehlt habe und die die Er-
fahrung als berechtigt erwiesen hätten; Bismarck habe die Maß-
regel damit verteidigt, daß ohne sie die notwendige Zustimmung
der Nationalliberalen nicht zu gewinnen sei.
Die Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft bringt in
Bd. 64, Heft 2 eine sehr anregende Untersuchung von Jacobs-
sohn: Zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen der deutschen
Volkswirtschaft und dem Weltmarkt in den letzten Jahrzehnten.
Das Ergebnis ist, daß 1. der Außenhandel in den letzten 25 Jahren
für die deutsche Volkswirtschaft zugenommen hat, daß aber
II. Deutschland sich nicht zu einem Exportindustriestaate hin-,
sondern von ihm fortbewege, was schon Sombart vor 9 Jahren
behauptet hatte.
Besondere Beachtung verdient ein Aufsatz im 10. Heft der
Sozialistischen Monatshefte von K. Leuthner über „Das Ende
der polnischen Reichsidee'' (vgl. auch H. Z. 101, S. 221 f.). Die
polnische Frage sei ein europäisches Problem, das werde von den
meisten deutschen Politikern vergessen. Die Polen kämpfen auch
heute zum Teil noch für den Traum des alten polnischen Reichs,
das aufgebaut war auf der ungeheuerlichsten politischen, wirt-
schaftlichen und nationalen Unterdrückung von zwei Dritteln
der Bewohner (Kleinrussen, Weißrussen, Litauer und Deutsche)
durch das herrschende Drittel, die Polen. Durch die polnischen
Teilungen seien fast ebensoviel Deutsche vom polnischen Joche
befreit wie Polen unter deutsches Joch gebracht. Im eigenen
Herrschaftsgebiet (Galizien) halten die Polen einer zweiten Nation
(den Ruthenen) die Faust an der Gurgel. Der letzte Polenauf-
Neuere Geschichte. 463
stand (1863) habe durch die Tat die polnische Reichsidee zu
nichte gemacht, ohne sie jedoch aus den Köpfen der Polen selbst
zu verbannen. Sie sei aber am Verschwinden durch die Entwick-
lung der Sozialdemokratie in Russisch-Polen und Galizien. Die
polnische Unabhängigkeitsidee ist für die deutsche Sozialdemo-
kratie sowohl vom deutschen wie vom sozialistischen Standpunkte
erst dann diskutierbar, wenn sie nur die Freiheit der Polen, nicht
aber auch, wie bisher, die Unterdrückung anderer Völkerschaften
in sich schließt, wenn die polnischen Ansprüche an der polnischen
Sprachgrenze aufhören, wenn der Pole seinen Ostseetraum ebenso
wie seinen Schwarzenmeertraum aufgibt. „Diskutierbar, das heißt
noch lange nicht ein Gegenstand des Handelns und der Be-
strebungen." „Die polnische Frage ist eine europäische Frage,
eng eingeschlossen in das Problem, das die polnisch-litauisch-
kleinrussisch-westrussisch-jüdisch-rumänischen Volksmassen des
westlichen Rußlands in ihrem gärenden Sichgestalten und Um-
gestalten darstellt. *"
Neue Bficher: Bourloton, Le Clergä de la Vendäe pendant
la Revolution (1789—1802), T, Icr, (Vannes, Impr. Lafolye frkres,)
— Fk D'Ostiani, Brescia nel 1796, ultimo della veneta signoria.
(Brescia, Tip. fratelli Geroldi.) — Fei. Burckhardt, Die schwei-
zerische Emigration 1798 — 1801. (Basel, Helbing 6 Lichtenhahn.
10 M.) — Rouir^, La rivalitä anglo-russe au XIX^ siMe em
Asie. (Paris, Colin. 3,50fr.) — Geoffroy de Grandmaison^
VEspagne et Napolion (1804—1809). (Paris, Plan, Nourrit ^ Cie.
1,50 fr.) — Slovak, La bataille d'Austerlitz (2 dicemhre 1805).
Traduction de L. Leroy. (Paris, Daragon. 3,50 fr.) — Hänel,
Das zweite Ministerium des Freiherrn vom Stein. (Kiel, Lipsius
6 Tischer. 0,60 M.) — Robinson, Wellington's campaigns,
Peninsula — Waterloo, 1808—15, also Moore's campaign of Corunna.
(London, Rees. 8,6 sh.) — Binns, Abraham Lincoln. (London, Dent.
4,6 sh.) — V. Unger, Blücher. 2. (Schluß-) Bd. (Berlin, Mittler
6 Sohn. 9 M.) — M^moires du ginäral Bennigsen. T. 3: Garn-
pagnes de 1812 et de 1813. (Paris, Gharles-Lavauzelle. 12,50 fr.)
de Latorre, A la Liberty. L'Italie de 1814 ä 1848. (Paris, Cor-
n^ly S Gie. 10 fr.) — Hooper, Waterloo: the down fall of the
first Napoleon. A history of the campaign of 1815, (London,
Bell. 2 sh.) — Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser
Nikolaus I. 2. Bd. (Berlin, Reimer. 12 M.) — Low and Sandars,
The history of England during the reign of Victoria, 1837—1901.
(London, Longmans. 7,6 sh.) — Tixerant, Le fiminisme ä Vipoque
de 1848 dans Vordre politique et dans l*ordre äconomique. (Paris,
Giard et Briere.) — Wylly, The campaign of Magenta and Soi-
30*
464 Notizen und Nachrichten.
ferino, 1859, (London, Sonnenschein, 5 sh.) — Baldi, Breve
studio sulla letteratura storico-politica del risorgimento italiano
negli anni 1860 e 1861 , (Prato, Tip, succ. Vestri,) — Promnitz,
Bismarcks Eintritt in das Ministerium (Beriin, Ebenng. 6 M.) —
Koht, Die Stellung Norwegens und Schwedens im deutsch-däni-
schen Konflikt, zumal während der Jahre 1863 und 1864. (Kristiania,
Dybwad. 12 M.) — Regensberg, Der Mainfeldzug (1866).
(Stuttgart, Franckh. 2 M.) — Gl u nicke, The Campaign in Bohe-
mia, 1866. (London, Sonnenschein, 5 sh,) — Bonnal, Sadowa.
A study, (London, Rees, 7,6 sh,) — Lehautcourt, Histoire de
la guerre de 1870—1871, T, 6: Sedan. (Paris, Berger-Levrault
S Cie, 10 fr,) — Maistre, Spicheren (6 aoüt 1870), (Paris,
Berger-Levrault & Cie, 12 fr,) — Hans Blum, Lebenserinnerungen.
2. (Schluß-) Bd.: 1870 bis 1907. (Beriin, Vossische Buchh. 6 M.)
— Lolide, La vie d'une imp^ratrice : Eugenie de Montijo, (Paris,
Juven,) — Maurice, History of the war in South Africa, 1899
to 1902, Vol, 2, (London, Hurst, 21 sh,) —■ Schiemann,
Deutschland und die große Politik anno 1907. (7. Bd.) (Berlin,
Reimer. 6 M.)
Deutsche Landschaften.
In den deutschen Geschichtsblättern 9^ 8 finden sich kritische
und programmatische Bemerkungen des Herausgebers A. Tille
über Herstellung von Ortsgeschichten, die der Beachtung der be-
teiligten Kreise zu empfehlen sind.
Aus dem 37. Jahresbericht der historisch -antiquarischen
Gesellschaft von Graubünden verzeichnen wir die Beiträge zur
Rechtsgeschichte der Talschaft Savien im Mittelalter (nach der
wohl zu Anfang des 14. Jahrhunderts erfolgten Festsetzung
deutscher Kolonisten) von R. Hoppeler und die mit nützlichen
Erläuterungen versehene Veröffentlichung des ältesten Churer
Steuerbuchs aus dem Jahre 1481 durch F. Jecklin.
In der Zeitschrift f. d. Gesch. d. Oberrheins N. F. 23, 2 nimmt
F. Eulenburg, „Die Bevölkerung einer badischen Stadt (Durlach)
im 18. Jahrhundert" zu dem letzthin von O. K. Roller unternommenen
Versuch, das Arbeitsgebiet der Statistik durch systematische Ver-
Avertung des in den Kirchenbüchern aufgespeicherten Quellenstoffs
zu erweitern, in längeren Ausführungen Stellung und modifiziert
die hinsichtlich des Bevölkerungsstandes und der Bevölkerungs-
bewegung erzielten Ergebnisse (vgl. auch oben S. 144). Wir
verzeichnen ferner noch die Miszelle von R. Krebs: Zur
Frage der Zuständigkeit der geistlichen Gerichte (Auszug aus
Deutsche Landschaften. 465
einer Ordnung des Grafen Emich von Leiningen für Bechtheim
aus dem Jahre 1432, die auch hier die Übergriffe der geistlichen
Gerichtsbarkeit in rein weltliche Dinge erkennen läßt).
Zur elsässischen Geschichte verzeichnen wir kurz noch die
Fortsetzungen der Arbeiten von R. Reuß über das elsässische
Volksschulwesen zur Zeit der französischen Revolution (Folgen
der Gesetzgebung von 1792—1794; vgL 100, 460 u. 101, 225) in den
Annales de l'Est et du Nord 1908, April und von Ch. H o f f m a n n t
über die Grafschaft Rappoltstein im Jahre 1789 (Fortschaffung der
Archivalien; vgl. oben 225) in der Revue d'Alsace 1908, Mai-Juni
sowie den an der letztgenannten Stelle befindlichen geschichtlichen
Überblick von A. Hanauer über Archiv und Bibliotheken in.
Hagenau.
Ein wertvoller Beitrag zur Geschichte des modernen Beamten-
tums in den deutschen Einzelstaaten ist die Schrift von August
Roth: „Die Rechtsverhältnisse der landesherrlichen Beamten in
der Markgrafschaft Baden-Durlach im 18. Jahrhundert.* Karls-
ruhe, Macklotsche Druckerei 1906. 99 S. Sie hätte zwar noch
gewonnen, wenn sie die Ergebnisse der Forschungen über das
preußische Beamtentum im 18. Jahrhundert ausgiebiger benutzt
und zur Vergleichung und schärferen Fragestellung herangezogen
hätte; aber auch so ist das beigebrachte und gut geordnete
Material sehr lehrreich. Es ist das Zeitalter des Übergangs vom
privatrechtlichen Dienstvertrage zwischen dem Landesherrn und
den Beamten zur öffentlich-rechtlichen Stellung des Beamten. Zu
dem fiskalischen Interesse, das im Beginn des 18. Jahrhunderts
überwog, tritt in seinem Verlaufe die Auffassung, daß der Beamte
auch für das Wohl der Bevölkerung da seL Ahnlich wie in
Preußen sieht man gleichzeitig auch in Baden die Bemühungen
am Werke, den Beamtenstand moralisch zu heben, straffer zu
disziplinieren, rationeller zu besolden. Aber die badischen Maß-
regeln atmen dabei mehr patriarchalischen Geist gegenüber dem
militaristischen Geiste Preußens. m.
Von den im Neuen Archiv f. d. Gesch. d. Stadt I-Ieidelberg
8, 1 veröffentlichten Arbeiten nennen wir an dieser Stelle den
Hinweis auf Beziehungen der Kurpfalz zu Mühlhausen i. Th. im
1 5. und 16. Jahrhundert von V. Loewenberg, die von R. S i 1 1 i b
gemachten Mitteilungen über das Schicksal der alten Kurfürsten-
bildnisse im Heidelberger Schloß, (die noch im 18. Jahrhundert,
wie nun aus archivalischen Funden untrüglich hervorgeht, be-
standen haben), sowie die Veröffentlichung eines von dem Franzosen
Balthasar von Monconys herrührenden Reiseberichts über Heidel-
30 ♦♦
^^ Notizen und Nachrichten.
berg zu Anfang des Jahres 1664 durch M. Huffschmid (noch
nicht abgeschlossen).
Ad. Lewin beginnt in der Monatschrift f. Gesch. u. Wiss. d.
Judentums 1908, Januar-Februar mit einer Abhandlung über die
Vorarbeiten für die badische Judengesetzgebung in den Edikten
J807-1809.
Die Württembergischen Vierteljahrshefte f. Landesgesch. N. F.
1 7, 2 bringen den Anfang einer dem ersten Jahrhundert der gefürsteten
Propste! Ellwangen (1460—1560) gewidmeten Abhandlung von
Josef Z e 1 1 e r (Lebensbild des Fürstpropstes Albert von Rechberg)
und eine Untersuchung von F. B a u s e r über die staatsrechtliche
Stellung der Herrschaft Wain (O.-A. Laupheim), die zu dem Er-
gebnis kommt, daß von 1774 bis zur Mediatisierung im Jahre 1806
eine freie allodiale Reichsherrschaft mit voller Landeshoheit be-
standen hat. — Wir schließen noch einen Hinweis an auf eine
in der Numismat. Zeitschrift N. F. 1 veröffentlichte Arbeit von
G. Schöttle, die einen Einblick in die um die Wende des 17. Jahr-
hunderts in Oberschwaben herrschenden Münzwirren gewährt.
Johann Müller veröffentlicht in den Verhandlungen des
16. deutschen Geographentages zu Nürnberg 1907 einen bei dieser
Gelegenheit gehaltenen Vortrag über Bodenbeschaffenheit und
Bewirtschaftung des Nürnberger Reichswalds vom 13. bis 16. Jahr-
hundert, indem er die aus dem Umfang und den Erträgnissen
sich ergebende Bedeutung des Waldes darlegt und auf die Ver-
hältnisse unter der unmittelbaren Herrschaft der Reichsgewalt
(13. u. 14. Jahrhundert) und unter der reichsstädtischen Verwaltung
(Ende des 14. bis Anfang des 16. Jahrhunderts) näher eingeht. —
In der Cisterzienser-Chronik 1908, März veranschaulicht M.Wiel and
in Regestenform die Beziehungen der Pfalzgrafen Ottheinrich und
Philipp zu Kloster Kaisheim (Bez.-Amt Donauwörth) in den Jahren
1513—1533.
Zur Aachener Geschichtschreibung des 17. Jahrhunderts
notieren wir hier die Mitteilungen von Emil Pauls im 20. Jahrgang
der Zeitschr. Aus Aachens Vorzeit über das Leben Peter a Beecks
(t 1624) und aus dem Briefwechsel des Johann Noppius (1629—1630).
In der Fortsetzung seines Aufsatzes „Zur Geschichte der
rheinischen Pfalzgrafschaft" in der Westdeutschen Zeitschrift für
Geschichte und Kunst, Jahrg. 26, Heft 4, 1907 (vgl. H. Z. 100, S. 227)
schildert Hilar Schwarz (in Kap. 4 und 5) sorgsam, aber allzu
weitschweifig die zwischen Kurköln und Jülich um Zülpicher Be-
sitzungen und Rechte von 1299 bis 1409 geführten Streitigkeiten.
Deutsche Landschaften. 467
Die Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft
Mark, Bd. 16, 1908 bringen neue Arbeiten zur Entstehung und
Geschichte des Königsgutes und der Herrensitze des südlichen
Westfalens, Arbeiten von A. Meininghaus über „die Herren-
und Rittersitze der Grafschaft Dortmund im 13. und H.Jahrhundert*,
sowie über „karolingisches Königsgut in und um Soest*. Karo-
lingisches Königsgut war auch der Hof zu Stockum, seit 858 in-
folge königlicher Schenkung Eigentum des Stiftes Herford, eine
besonders ausgedehnte, schon im 13. Jahrhundert mehr als
70 Bauernhöfe umfassende westfälische Grundherrschaft, deren
Entwicklung, Verfassung und Verwaltung Rothert bis zu ihrer
Auflösung (1809) eingehend darstellt (Beil. A: Ausführliches Ab-
gabenverzeichnis der Stockumer Grundherrschaft; etwa 1240 — 1250).
Rud. Schulze, Die Landstände der Grafschaft Mark bis
zum Jahre 1510 (K. Beyerles Deutschrechtl. Beitr. Bd. I Heft 4),
Heidelberg 1907. Die fleißige Arbeit behandelt die Entstehung
der Stände, ihre Teilnahme und Haltung bei den äußeren und
inneren Kämpfen der Grafschaft (bis 1510), im zweiten Teile Zu-
sammensetzung, Organisation und Befugnis der Stände. Auch in
der Mark, wie in Jülich-Berg bildete Burgenbesitz die rechtliche
Grundlage für die Landstandschaft der Ritter (vgl. S. 72 ff.). Erst
sehr spät (1486) läßt sich die erste von Ritterschaft und Städten
der Mark bewilligte allgemeine Steuer des ganzen Landes nach-
weisen. — Richtiger als v. Haeften setzt Schulze die Anfänge
der landständischen Entwicklung an. Ob aber die urkundlichen
Quellen wirklich „genügen* (S. 8), die ersten Spuren einer stän-
dischen Vertretung nachzuweisen, erscheint doch sehr zweifelhaft,
wenn 1347 zuerst ständische Mitberatung, erst 1389 eine Union der
Ritterschaft und gar erst 1419 eine Einung zwischen Ritterschaft
und Städten überliefert ist. Eine umfassendere Verwertung der
Literatur (die Arbeiten von Maurer, Gierke, Luschin u. a. sind
nicht benutzt) und geeigneten Vergleichmaterials würde auch als
Korrektiv für manche Zufälligkeit der Überlieferung haben dienen
können. Sp.
Richard Pres sei. Das Ministerialenrecht der Grafen von
Tecklenburg. Münster i.W.,Coppenrath. 1907.— Im ersten Abschnitt
behandelt Fressel das Ministerialenrecht als Ganzes, Entstehungs-
zeit, Überlieferung, Charakter; im zweiten, speziellen Teil das Ver-
hältnis des Grafen zu den Dienstmannen, ihre Rechte, Pflichten,
Privilegien, am eingehendsten den Stand der Ministerialen (in
Kap. 4). Hier findet er Gelegenheit zu neueren Theorien von der
Entstehung der Ministerialität aus den vier Hofämtern (Wittich),
468 Notizen und Nachrichten.
aus Minderfreien oder liberti (Heck) Stellung zu nehmen. Beide
Theorien lehnt Fresset ab ; dagegen berührt er sich mit Heck hin-
sichtlich der Schöffenbaren. Nicht ganz richtig setzt Fressel die
Entstehung des Ministerialenrechtes in die Zeit zwischen 1186 und
1236. Da das Recht von einem Grafen Otto verliehen worden und
Grafen dieses Namens erst seit 1203 in Tecklenburg regiert haben,
müßte er den terminus a quo bis 1203 hinaufrücken. Hiemach
würde Philippi mit seiner zeitlichen Ansetzung (um 1220) Recht
behalten. Anlage 1 handelt von den camerlingi, die offenbar eine
Art Mittelstellung zwischen den niederen Unfreien und den
Ministerialen eingenommen haben. Sp.
In den Abhandlungen und Vorträgen zur Geschichte Ost-
frieslands, Heft 8 und 9, 1908 erscheint als dankenswerter Beitrag
zur Verkehrs- und Kulturgeschichte eine Arbeit des Postdirektors
C. Eßlinger, die „das Postwesen in Ostfriesland'', seine Ent-
wicklung und Verwaltung von der preußischen Besitznahme des
Landes (1744) bis zum Jahre 1806 darstellt. Durch Einrichtung,
einer staatlichen Post an Stelle des alten, höchst unvollkommenen
Privatbetriebes lernte auch das ostfriesische Volk Segen und Vor-
teile einer staatlichen Verkehrsanstalt kennen. Verhältnismäßig
ansehnlich, zugleich ein Zeichen der ersprießlichen Entwicklung,
war der steigende Gewinn für die Staatskasse, der 1758 nur 1600,
1805 dagegen 20000 Taler betrug.
Kühnel stellt in d. Forsch, z. Gesch. Niedersachsens, 1907,
Bd. 1, Heft 5 („Finden sich noch Spuren der Slaven im mittleren
und westlichen Hannover?*") aus Urkunden, Flurkarten etc. die
sicher bzw. wahrscheinlich slavischen Orts- und Flurnamen zu-
sammen und gelangt zu dem Ergebnis, daß einzelne slavische
Orts- und Flurnamen und verhältnismäßig zahlreiche nach Wenden-
art gebaute „Rundlinge" im Süden Hannovers bis nach Goslar, im
Westen bis an die Weser und Hunte vorkommen. — Von Ursprung
und Entwicklung, Verwaltung, Lebensweise, Vermögen der Lüne-
burger Hospitäler, deren nicht weniger als fünf in der nur mäßig
bevölkerten Stadt existierten, erhalten wir in Heft 6 derselben
Sammlung ein umfassendes Bild aus Zech lins Arbeit „Lüne-
burgs Hospitäler im Mittelalter"; sie bietet einen wertvollen Bei-
trag zur Geschichte der städtischen Wohlfahrtspflege.
In den neuen Mitteil, des thüringisch-sächs. Vereins aus dem
Gebiet hist.-antiquar. Forsch., Bd. 23, Heft 2, 1908 veröffentlicht
Kost er aus dem städtischen Archiv Aufzeichnungen des Ober-
kämmerers Weinich über „die Stadt Naumburg a. Saale im sieben-
jährigen Krieg**.
Deutsche Landschaften. 469
Einen Beitrag zur kirchlichen Geographie Sachsens liefert
im neuen Archiv für sächs. Gesch. u. Altertumsk. Bd. 29, Heft 1 u. 2,
1908 Leo Bönhoffs Aufsatz über ^den Pleißensprengel'') einen
der vier (bzw. fünf) Archidiakonate der Naumburger Diözese; er
sucht Grenzen und Bestand (99 Kirchspiele) des Sprengeis zu
ermitteln. Karl Gör 1er veröffentlicht ebendaselbst Studien »zur
Bedeutung des siebenjährigen Krieges für Sachsen'.
Über Hafenrecht und Marktzwang in Mecklenburg handelt
eingehend Fr. Tech en in den hansischen Geschichtsbl., Jahr-
gang 1908, Heft 1.
Einen gut orientierenden Oberblick über Eigenart und Ent-
wicklung der Kunst in Ostpreußen gibt Br. Schumacher in
der Ostdeutschen Bauzeitung, Breslau 1908, Nr. 40 und 42.
P. Girgensohn, „Die Inkorporationspolitik des deutschen
Ordens in Livland 1378—1397" in d. Mitt. aus d. livländ. Gesch.,
Bd. 20, Heft 1, 1907 schildert die Bemühungen des Ordens, im
Interesse der inneren Konsolidierung des Landes die Selbständig-
keit der Bischöfe zu brechen, vor allem die beiden größten geist-
lichen Gebiete, das Erzstift Riga und Dorpat, dem Orden zu in-
korporieren. — Der erste zwischen dem Deutschorden und Ruß-
land geführte Kampf, der trotz großer Niederlagen des Ordens
endlich doch die Schicksale Estlands zugunsten der Deutschen
entschied (1242), wird am gleichen Ort von P. v. d. Osten-
Sacken dargestellt.
Val. Schmidt, „Südböhmen während der Hussitenkriege*
in d. Mitt. d. Ver. f. Gesch. der Deutschen in Böhmen, Jahrgang 46,
Nr. 3, Febr. 1908 schildert die Verbreitung des Hussitismus, iiikeLS
beide Züge gegen Südböhmen (1420, 1421) und die weiteren
Kämpfe der Parteien bis zum Jahre 1427.
Neue Bficher: Heinr. Brennwalds Schweizerchronik. Bd. 1.
Hrsg. von Luginbühl. (Basel, Basler Buch- u. Antiquariatshandl.
10,40 M.) — Gillardon, Nikolaischule und Nikolaikloster in
Chur im 17. Jahrhundert. Bündnerische Schulbestrebungen in
dieser Zeit. (Chur, Schuler. 3 M.)— Windelband, Der Anfall
des Breisgaus an Baden. (Tübingen, Mohr. 3 M.) — Tumbu It,
Das Fürstentum Fürstenberg von seinen Anfängen bis zur Media-
tisierung im Jahre 1806. (Freiburg i. B., Bielefeld. 5 M.) — Elf 1er,
Das ärarialische Weingut in Unterfranken 1805 — 1905. (Leipzig,
Deichert Nachf. 4M.) ~ Wilh. Herzberg, Das Hambacher Fest.
Geschichte der revolutionären Bestrebungen in Rheinbayern um
das Jahr 1832. (Ludwigshafen, Gerisch & Co 5 M.) — Valen-
tin, Frankfurt am Main und die Revolution von 1848/49. (Stutt-
470 Notizen und Nachrichten.
gart, Cotta Nachf. 10 M.) — - Muth, Die Kongregation Unserer
lieben Frau von Trier. Welschnonnenkloster. (Strafiburg, Heitz.
6 M.) — Der Liber Ordinarius der Essener Stiftskirche. Hrsg. von
Arens. (Paderborn, Junfermann. 6,50 M.) — Schönnes-
höfer, Geschichte der Bergischen Landes. 2., verm. u. neu-
bearb. Aufl. (Elberfeld, Martini & Grüttefien. 5 M.) — Höynck,
Geschichte der Pfarreien des Dekanats Arnsberg. (lausten,
Severin. 5M.) — Jürgens, Wirtschafts- und Verwaltungs-
geschichte der Stadt Varel. (Oldenburg, Stalling. 5 M.) — Hohn-
stein, Geschichte des Herzogtums Braunschweig. (Braunschweig,
Bartels Nachf. 3,75 M.) — Otto Bock, Die Reform der Erfurter
Universität während des Dreißigjährigen Krieges. (Halle, Nie;
meyer. 2,80 M.) — Costabell, Die Entwicklung der Finanzen
im Herzogtum Sachsen-Meiningen von 1831 bis zur Gegenwart
(Jena, Fischer. 3 M.) — Wappler, Inquisition und Ketzerpro-
zesse in Zwickau zur Reformationszeit. (Leipzig, Heinsius Nachf.
5,60 M.) — Seraphim, Baltische Geschichte im Grundriß.
(Reval, Kluge. 3,50 M.) — Haller, Die Verschwörung von Sege-
wold (1316). (Riga, Kymmel. 1,20 M.) — Rant, Die Franzis-
kaner der österreichischen Provinz, ihr Wirken in Niederöster-
reich, Steiermark und Krain bis zum Verfalle der Kustodie Krain
und ihrer Klöster (1596). (Laibach, Kathol. Buchh. 2,80 M.) —
Bretholz, Das mährische Landesarchiv. Seine Geschichte,
seine Bestände. (Brunn, Winiker. 10 M.)
Vermischtes.
Ein internationaler historischer Kongreß, der zur
Erinnerung an die spanischen Befreiungskämpfe gegen
Napoleon (1807—1815) vom 14. bis zum 20. Oktober in Zaragoza
abgehalten werden soll, setzt sich die Aufgabe, durch Vorträge
und Mitteilungen in einzelnen Sektionen (für polit. Geschichte,
innere Geschichte, ungedruckte Quellen u. a.) unsere Kenntnis
jener Jahre zu fördern. Beitrag 15 Pesetas. Vorsitzender des
Ausschusses: Universitätsprofessor Dr. E. Ibarra y Rodriguez in
Zaragoza.
Paul Kehrs Jahresbericht des Preußischen Histori-
schen Instituts zu Rom für 1907/08 bezeugt von neuem neben
dem Wachstum des Bestandes ein erfreuliches Gedeihen der
wissenschaftlichen Arbeiten. Eine dritte Assistentenstelle ist ge-
schaffen worden; ihr Inhaber, Liz. Freiherr Hans von Soden,
wird die ital. Bibliotheken nach voreusebianischer altchristlicher
Literatur durchforschen. Von den Nuntiaturberichten wird der
Vermischtes. 471
durch Cardauns bearbeitete Band 5 der 1. Serie (Morone, Farnese,
Cervini), dessen erste Hälfte im Druck fast vollendet ist, nach
Vollendung des 2. Teiles als Ganzes erscheinen. Band 10 der-
selben Serie (Mai 1547 bis Juli 1548), bearbeitet von Friedensburg,
ist erschienen. III, 5 (Portia), bearbeitet von Schellhaß, wird in Kürze
vorliegen. A. O. Meyer, der durch reiche Funde im Borghese-
archiv aufgehalten worden ist, steht vor dem Drucke der Prager
Nuntiaturberichte von 1603 — 1606. Das Repertorium Germani-
cum wird zunächst einen, dem Gegenpapst Klemens VII. gewid-
meten Band bringen, der, von Göller bearbeitet, Anfang 1909 in
die Presse kommen soll. Von Göllers Geschichte der päpst-
lichen Pönitentiarie ist der 1. Band (bis zu Eugen IV.) in 2 Teilen
erschienen. A. O. Meyers Darstellung über „England und die
katholische Kirche unter Elisabeth** ist im Drucke, ebenso der von
Hiltebrandt bearbeitete 1. Band der römisch-preußischen Akten
(besonders des 18. Jahrhunderts). Cardauns hat die Akten-
sammlung für ein Werk über Febronius (Hontheim) abgeschlossen.
Andere Arbeiten sind im Entstehen. Das Regestum Volaterranum
(778—1303) von Fedor Schneider liegt bereits seit April 1907 vor.
Die GesellschaftfürrheinischeGeschichtskunde
hat, wie wir ihrem Jahresbericht für 1907 entnehmen, folgende
Publikationen ausgegeben : XI, 2, Landtagsakten von Jülich-Berg,
1400—1610, herausg. von G. v. Below, Band 2 (1563—1589). —
XII, 1 und 2, Die Kölner Zunfturkunden nebst anderen Kölner
Gewerbeurkunden bis zum Jahre 1500, bearbeitet und herausg. von
H. V. Loesch (2 Bde.). — XXIII, 4, Urkunden und Regesten zur
Geschichte der Rheinlande aus dem Vatikanischen Archiv, Band 4
(1353—1362), bearbeitet von Sauerland. Der von Knipping
bearbeitete 3. Band der Regesten derKölnerErzbischöfe
(1204 — 1304), dessen Erscheinen schon öfters in nahe Aussicht
gestellt worden ist, steht im Drucke erst beim Jahre 1247; dieses
langsame Fortschreiten legt den Wunsch nahe, daß sich die Ge-
sellschaft entschließen möchte, die Regesten lieferungsweise zu-
gänglich zu machen. Im Drucke sind ferner: Jülich-Bergische
Landtagsakten IL Reihe, Band 1, bearbeitet von Küch; vom
Geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz die Karte der
kirchlichen Einteilung der Rheinlande um 1300 (Fabricius) und
die erste, die kölnische Kirchenprovinz umfassende Hälfte des
zugehörigen Textbandes (gleichfalls von Fabricius); der 5. Band
von Sauerlands Urkunden und Regesten aus dem Vatikan.
Archiv, der die Zeit Urbans V. und Gregors IX. umfassen wird;
Inventare des Neuwieder Archivs, bearbeitet von S c h u 1 1 z e. Von
den zahlreichen anderen Unternehmungen seien hier die Arbeiten
472 Notizen und Nachrichten.
genannt, die nahe vor dem Drucke stehen : Die Matrikel der Uni-
versität Köln, Band 2, bearbeitet von Keussen; die Trierer
Münzen von 1556—1794, bearbeitet vom Freiherrn v. Schrötter;
der 2. Band von Redlichs Werk über die Jülich - Bergische
Kirchenpolitik.
Die Oberlausitzische Gesellschaft der Wissen-
schaften wünscht eine auf die archivalischen Quellen gegründete
Darstellung der Geschichte des Siebenjährigen Krieges
in der Oberlausitz. Zeitliche oder räumliche Beschränkung
(z. B. auf eine Sechsstadt) ist gestattet. Preis 500 M. dazu 32 M.
Bogengeid. Bearbeitungen (mit Kennwort) sind bis zum 1. Januar
1911 an Professor Dr. Jecht iu Görlitz zu senden.
Der auch um unsere Wissenschaft verdiente Assyriologe
Konrad Eberhard Schrader (geb. 1836 zu Braunschweig) ist
am 3. Juli in Berlin gestorben.
Einen Nachruf auf Ludwig Traube veröffentlicht l-I. Breßlau
im Neuen Archiv 33, 2. Auch G. Morins Artikel : Le dernier livre
du mattre (Revue Bdn^dictine 25, 2; April 1908) gilt der Erinnerung
an Traube. H. Brunn teilt in den Süddeutschen Monatsheften
(März) einen Brief Traubes über die Bamberger Bibliothekarver-
sammlung mit. — Das 1. Heft des 98. Bandes der Revue Historique
(Mai-Juni) bringt einen Nekrolog auf Arthur de Boislisle aus
der Feder G. Monods. Die Revue d'Histoire moderne enthält
gleichfalls (10, 2; April 1908) einen Nachruf auf Boislisle.
Histomche Zeitschrift
Begründet von HEINRICH v. SYBEL
Unter Mitwirkung von
Paul Bailleu, Otto Hintze, Otto Krauske,
Max Lenz, Sigm. Riezler, Moriz Ritter, Konrad Varrentrapp,
Karl Zeumer
herausgegeben von
FRIEDRICH MBINBCKB
Dritte Folge — 5. Band — 3. Heft
Der ganzen Reihe 101. Band
MÜNCHEN UND BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG
1908.
Zur gefl. Beachtung!
Die HISTORISCHE ZEITSCHRIFT (a. Folge) erscheint in Heften von k 15 Bogen
Vndang in zweimonatlichen Zwiichenriumen. Je 3 Hehe bilden einen Band, dessen
Inhaltsverzeichnis sich jeweils am Schlüsse des dritten Heftes befindeL
Der Preis eines Bandes (45 Bogen) betrigt M. 14.-.
Sendungen für die Redaktion der Historischen Zeitschrift sind an Prot Dr.
MEINECKE, n^BURG L B^ Lingenhardstrafie 3, zu richten.
Rezeaslonsexemplare
sind entweder direkt an die Redaktion oder an die Verlagsbuchhandlung
R. OLDENBOURG. MÜNCHEN, GIQckstrafie 8, zu senden.
Die Versendung der zur Besprechung einlaufenden Bflcher an die Rezensenten
erfolgt durch die REDAKTION.
INHALT.
Aufsätze. Seite
Ober Gätterecbt und Gastgerichte in den deutsclien Städten des Mittelalters.
Von Alfred Scbultie 473
Die Gcschichtschreibung des Vatikanischen Konxils. Von Carl Mirbt. . . 529
Miszelle.
Zur Geschichte Belgiens im Mittelalter. Von F. Keutgen 601
Literaturbericht.
Allgemeines.
Fi not, Das Rassenvorurteil .
Seite
. 612
Alte Geschichte.
H off mann, Die Makedonen . . . 615
Mittelalter.
P r e d e e k , Gregor VII., Heinrieb IV.
und die deutseben Fürsten im In-
vestiturstreit 618
Held mann, Die Rolandsbilder
Deutschlands 621
— , Rolandsspieifiguren, Ricbterbil-
der oder Königsbilder? .... 621
Mulder, Dietrich von Niebeim . 623
Seite
i6. Jahrhundert
Barkbausen, Ouicciardinis poli-
tische Theorien in seinen Opere
inedite 624
27. bis zg. Jahrhundert
Erzieher des Preußischen Heeres.
Herausgegeben von v. Pelet-
Narbonne 627
19. Jahrhundert
Fried jung, Österreich von 1848
bis 1860. Bd. 1 629
Deutsche Landschaften.
B o t b e , Frankfurter Patrizierver-
vermögen im 16. Jahrhundert . 632
Verzeichnis der in den „Notizen und Nachrichten**
besprochenen selbständigen Schriften.
Seite
Illustrierte Weltgeschichte. Herausg.
von Widmann u. a. Bd. 3 u. 4 634
Schuck ing, Organisation der Welt 636
Orabowsky, Recht und Staat . . 637
Shepherd, Guide to the materials
for the bistory of the United
States in Spanish archives . . 637
Binz, Die deutschen Handschriften
der öffentlichen Bibliothek der
Universität Basel. I 637
E. Meyer, Ägypten zur Zeit der
Pyramidenerbauer 639
Klette, Die Christenkatastrophe
unter Nero 643
Seite
Halpben, Le comi6 d*Anjou au
Xhsi&cie 648
Barth, Hildebert von Lavardin
und das kirchliche Stellenbeset-
zungsrecht 648
V. Wretscbko, Zur Frage der Be-
setzung des erzbischöflichen
Stuhles in Salzburg im Mittelalter 649
Baumgartner, Geschichte und
Recht des Archidiakonates der
oberrheinischen Bistttmer mit
Einschluß von Mainz und Wflrz-
burg 649
IV
i Ggimiiiar, CoMtfilalio-
MS III oBd IV cd. ScbwalH .
Dormaon. Die StcUanc des Bi»>
Freisüif im Kample svi-
vif dem Bajera md
der r^misclica Karie
La Mantia, CapitoU Aacioini sal
diritto da sifillo della caaceHena
regia per la Sicilia posteriori al
1272
Lampe, Die Schlacht bei Maapcr-
tiais
Nirrnheim, tiinrich Mormester .
H'ollweg:, Dr. Gcorc HeAler . .
Siebert, Beitrige zur Torreforma-
toriscben Heilifeii- nad Reliquieo-
▼erebrniif
Qoelleo zur Schweizer Geschiebte,
N. F. I, 1, Schveizerchronik
Heinrich Brennwalds, bearb. von
Lofinbabl
▼. Möller, Ajmar da Rivail, der
erste RechUbistoriker ...
Schiele, Die Reformation des Klo-
sters Schlächtern
de Magistris, Primordi della Con-
tesa fra la repnblica Veneta e
Paolo V
Hanck, Rupprecht der Kavalier,
Philzgraf bei Rhein
Nazelle, Le protestantisme en
Saintonge sous le regime de la
r^ocation 1685—1789
Glaser, Montesquieus Theorie vom
Ursprung des Rechts
Durand, Die Memoiren des Mar-
quis d*Argenson
H a u s e r , Les compagnonnages d'arts
et m^tiers Ä Dijon aux 17« et
18* si^cle
«Sl
«&3
663
LeienTre, Les ooan
ta«K i b fin de n
<l*47— 17II) .
Fieger. P. Doa F(
ScHc
Bre-
671
Stcr-
656
656
657
657
659
662
666
668
669
670
670
671
Friis.
Gnillaame, Proete-verbauE da
Comit< diBgifuctioa pabliqaede
la Couienüoa nationale. VI .
Moräne. Paal I'« de Rassie avaat
ravteeaMst 17S4->17K ....
Golowkiae, La coar et la rigne
de Paal K*
Bitteraaf, Kapoleoa L . . . .
Liermaaa. Das Lyceoai CaroU-
672
673
67i
676
676
678
679
Malier. Kart Friedrich ▼. Cardeil
Veil, Das Schallest des Straflbor-
ger Gymnasiums im 18. Jahr-
hundert
Flamm, Der wirtschaftliche Nie-
dergang Freiburgs L Br. nad die
Lage des stldtischea Gnmdcigen •
tun» im U. nad 15. Jahrhnadert
Fiaeisea, Die Akzise ia der Kur-
pfalz
R i b e 1 , Das ehemalige Bencdiktiner-
Adelsstift Weißenohe
Denkschrift zur Hundertjahrfeier
der Stadt Mflblbeim a. d. Ruhr .
Hagedorn, Ostfrieslands fiaadel
und Schiffahrt im 16. Jahrhnadert
Bretholz, Das mihrische Laades-
archiv, seine Geschichte, seine
Bestände
Vancsa, Geschichte Nieder- nad
Oberösterreichs. I . . . .
A r b u 8 o w , Grundriß der Geschichte
von Liv-, Est- und Kurland
Baltische Bargerkunde 692
Fahrer durch Berlin und seine wis-
senschaftlichen Institute. ... 695
684
685
688
690
691
691
Berichtigung «... 700
PIIp H*n Riir4«filnHAr* ^^^ ersten 4 Seiten der einzelnen Hefte, Titel und In-
rur aen DUaiOinoer. haltsverzcichnis, kommen beim Binden eines Bandes,
der sich aus 3 Heften zusammensetzt, in Fortfall. Titel und Inhaltsverzeichnis fCr
einen Band befinden sich jeweils am Schlüsse des 3. Heftes.
über Gästerecht und Gastgerichte in den
deutschen Städten des Mittelalters.
Von
Alfred Schultze.
Richard Schröder zum 19. Juni 1908 gewidmet.
In den deutschen Stadtrechten des Mittelalters nehmen
die Sätze, die den Gast, den Fremden, anders behandeln
als den in der Stadt Heimischen, einen breiten Raum ein.
Wir pflegen sie als städtisches «Gästerecht'' zusammen-
zufassen mit einem Ausdruck, den auch die Quellen nicht
selten (vgl. z. B. Magdeburger Fragen II, 5, dist. 3, ed.
Behrend, oder Bamberger Stadtrecht, § 433, ed. Zöpfl)
in diesem Sinne gebrauchen, während sie freilich oft mit
gastrecht, gastesrecht nur eine einzelne der hierher ge-
hörigen Einrichtungen, das Recht auf Gastgericht oder
das Gastgericht selbst, bezeichnen. Schon die Fülle der
gästerechtlichen Normen weist auf ihre große Bedeutung
für das Rechts- und Wirtschaftsleben der mittelalterlichen
Stadt Diesre Bedeutung näher zu bestimmen und ins-
besondere den unmittelbar auf Handel und Handwerk
sich beziehenden Sätzen des Gästerechts die richtige
Stellung im Rahmen der mittelalterlichen Stadtwirtschaft
anzuweisen, ist die Wirtschaftsgeschichte an der Arbeit.
Die folgenden Ausführungen wollen einige andere, vor-
nehmlich privat- und prozeßrechtliche Seiten des Gäste-
rechts herausheben, aber immerhin solche, aus denen
HittoriMlM Zeitechrift (101. Bd.) S. Folge 5. Bd. 31
474 Alfred Schultze,
auf Wesen, Grundlage, Richtung des Gästerechts im all-
gemeinen Schlüsse sich ziehen lassen, und durch diese
mehr dem Juristischen zugewandte Betrachtungsweise
gerade auch der Wirtschaftsgeschichte zu dienen suchen.^)
1.
Ist das städtische Gästerecht ein Ausläufer des alten
germanischen Fremdlingsrechts? Ist die Entwicklung so
aufzufassen, daß in den Beschränkungen der Gäste im
städtischen Rechtsverkehr der alte Zustand der Recht-
losigkeit der Fremden in mannigfachen abgeschwächten
Varianten, in Gestalt einer gemilderten Rechtsunfähigkeit
oder einer beschränkten Rechtsfähigkeit, weiterlebt? Es
ist dies die Auffassung, auf die z. B. Goldschmidt seine
kurze Skizze in der Universalgeschichte des Handels-
rechts (1, S. 120 ff.) gestimmt hat, wie sie ferner bei
Otto Gierke (Deutsches Privatrecht I, S. 444 f.) und wohl
auch, obschon mit etwas anderem Ausgangspunkt, bei
Stobbe (Handb. des deutschen Privatrechts I, § 42) und
weiter bei Heusler (Instit. des deutschen Privatrechts I,
§ 34) vorherrscht. 2)
>) Sie sind durch das vortreffliche Buch von Hermann
Rudorff ^Zur Rechtsstellung der Gäste im mittelalterlichen städti-
schen Prozeß vorzugsweise nach norddeutschen Quellen*, 1907
(O. Gierkes Untersuchungen Heft 88) angeregt. Vgl. dazu meine
Rezension in Zeitschr. der Savigny-Stiftung Bd. 28, Germanist.
Abt. S. 502 ff. und Hist. Zeitschr. 101, S. 119f. Die oben unter
I und II behandelten Fragen hat Rudorff kaum gestreift. Da-
gegen kann ich mich im Abschnitt 111 zum großen Teil auf das
von ihm sorgfältig zusammengetragene Quellenmaterial und auch
auf seine Darstellung stützen, in der aber gerade die Beziehung
zur Gesamterscheinung des Gästerechts und zum handeis- und
gewerberechtlichen Teil desselben stark zurücktritt oder nur bei-
läufig und mit anderer als der oben gewonnenen Deutung be-
rührt wird.
*) Vgl. auch Beyerle, Grundeigentumsverhältnisse und Bürger-
recht im mittelalterlichen Konstanz I, 1, S. 27: ,,Die ursprüng-
liche Rechtlosigkeit der Auswärtigen hatte sich zwar beschränkt,
aber sie erschwerte immer noch nicht aüein den Grundeigentums-
«rwerb, sondern auch den Betrieb von Handel und Gewerbe** ;
auch S. van Brakel in Vierteljahrschr. f. Sozial- u. Wirtschafts-
geschichte 5. S. 401.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 475
Allein zunächst sind Gäste im Sinne des städtischen
Gästerechts, was v. Below (in dieser Zeitschrift Bd. 86,
S. 69) mit Schärfe betont hat, nicht bloß Volksiremde, Reichs-
fremde, Reichsausländer, sondern in ihrer überwiegen-
den Mehrheit deutsche Reichsangehörige, darunter auch
Angehörige derselben Landesherrschaft, also etwa Bürger
einer benachbarten Stadt, die unter demselben Stadtherrn
steht, Landleute der Umgebung, deren Grund- oder Ge-
richtsherr gerade der Stadtherr der betreffenden Stadt
ist. Denn alle, die „in der stat nicht gesezzen sint noch
in der stat gerichte" — Grimm, Wörterbuch IV, I, Sp. 1456 —
sind, wenn sie jetzt ohne die Absicht dauernden Auf-
enthaltes in der Stadt weilen, für diese Stadt und dieses
Stadtrecht Gäste, Fremde, utwendige Leute, hospites, ad-
venae, extraneL Den Gegensatz zu ihnen bilden in erster
Linie die Bürger der betreffenden einzelnen Stadt, dann
aber auch die Mitwohner, Beisassen, die gleichfalls in
der Stadt wohnen, die städtischen Lasten mittragen und
ihren allgemeinen Gerichtstand vor dem Stadtgericht
haben, ohne doch das auf Grundbesitz oder später auch
auf Aufnahme gegründete Bürgerrecht zu besitzen, also
die zur Miete Wohnenden, die Gesellen, das Gesinde,
endlich, obwohl sie mit den Bürgern weder die städti-
schen Lasten noch den allgemeinen Gerichtstand vor dem
Stadtgericht teilen, die in der Stadt eingesessenen Geist-
lichen, Ritter (Ministerialen) und Grundhörigen.^) Nur
ausnahmsweise wird in manchen Stadtrechten für be-
stimmte prozessualische Einrichtungen des Gästerechts
aus Gründen, die nur in diesen liegen, — besonders für
die Gastgerichte (vgl. unten S. 524) — die Grenze etwas
weiter hinausgeschoben und als Gast erst behandelt,
wer weiter als vier Meilen von der Stadt wohnt (so in
Freiberg i. S., cap. 111, § 4, ed. Ermisch) oder von seiner
Wohnung aus das Stadtgericht nicht in einem Tage ein-
schließlich der Heimreise besuchen kann (so im Magde-
*) Eingehende Nachweise bei Rudorff S. 2—24, wo auch über
einige Schwankungen in der Terminologie der Quellen berichtet
ist, die mitunter auch in der Stadt wohnhafte Nichtbürger als
Oäste bezeichnen.
31*
476 Alfred Schultze,
burger Rechtskreis, vgl. Magdeb. Fragen II, 5, dist. 1^
ed. Behrend).^) Wo aber dann später der gegen die
Gäste abgegrenzte Kreis der Einheimischen sich weitet
zum ganzen landesherrlichen Territorium, dem die Stadt
angehört, da ist dieses territoriale Gästerecht das Er-
zeugnis einer das Interesse des gesamten Territoriums
wahrnehmenden landesherrlichen Politik, eine im Mittel-
alter nur vereinzelt bleibende Erscheinung und jedenfalls
erst eine Nachahmung des urspriinglichen lokalen Gäste-
rechts, das es nur selten verdrängt, so daß hier gewöhn-
lich das alte lokale und das neue territoriale Gästerecht
nebeneinander hergehen.^) Das Ursprüngliche und
Regelmäßige und damit das für die Untersuchung der
geschichtlichen Grundlagen des städtischen Gästerechts
Maßgebende ist, wie erwähnt, die Unterscheidung zwischen
den innerhalb und den außerhalb der Stadt Eingesessenen:
Alle letzteren sind für diese Stadt Gäste.
Immerhin ist damit die Frage nach der Abkunft aus
dem alten Fremdlingsrecht noch nicht im verneinenden
Sinne entschieden. Auch das alte schutzherrliche Recht
über die Fremden, das ihnen den fehlenden Rechtschutz
ersetzte, dafür aber ihre Person und ihr Vermögen Be-
schränkungen und Leistungen zugunsten ihres Herrn
unterwari, ist, nachdem es in der fränkischen Zeit sub-
sidiär, später ausschließlich als Fremdenregal dem König
zugestanden hatte, in der Folgezeit örtlich zersplittert.
Es ist vielfach in die Hände der Grafen, Gerichtsherren,
seigneurs übergegangen und hat sich als französisches
ius albanagii oder droit d'aubaine, als deutsches Wild-
fangsrecht mit dem Inhalt, daß der berechtigte Herr die
nicht binnen Jahr und Tag von einem nachfolgenden
») Rudorff S. 20, 30, 169 ff.
*) Vgl. hierzu besonders v. Below in Jahrb. f. Nationalökon.
Bd. 76, S. 457 ff. und über die interessante Entwicklung in Prag,
wo schon 1304 die ersten Ansätze einer Territorialisierung des
Gästerechts auftauchen, Franz Pick in Mitteil, des Vereins für
Geschichte der Deutschen in Böhmen, Jahrg. 44 (1906), S. 421 ff.
Vgl. ferner Th. Stolze, Die Entstehung des Gästerechts in den
deutschen Städten des Mittelalters (Diss. Marburg 1901) S. 84 ff.,
auch Holtze , Das Berliner Handelsrecht im 13. und 14. Jahr-
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 477
Herrn vindizierten Fremden als seine Leibeigenen be-
handeln konnte, lange über das Mittelalter hinaus erhalten.
Dabei ist auch der Begriff „Fremder'* gewandelt, indem
das Recht nicht bloß gegenüber den zugewanderten
Reichsfremden, sondern auch gegenüber den Reichsunter-
tanen, die aus anderen Teilen des Reichs in den Macht-
bereich des berechtigten Herrn gelangten, ausgeübt wurde.^)
So wäre es allerdings denkbar, daß das Fremdlingsrecht
und sein Grundgedanke sich nun auch in die mehr und
mehr verselbständigten Stadtgerichtsbezirke hineinver-
pflanzt und sich dort zugunsten des Trägers der Stadt-
gerichtsbarkeit, des Stadtherrn, Vogtes oder später des
Stadtrats, gegen die von auswärts in den Stadtbereich
gelangten Gäste, mochten sie Reichsfremde oder Reichs-
untertanen, selbst Angehörige des gleichen Territoriums
sein, Geltung verschafft hätte. Deshalb wird man vor einer
abschließenden Stellungnahme noch den kennzeichnenden
Spuren des Fremdlingsrechts in den Stadtrechten nach-
zugehen haben.
Die hauptsächlichen Kennzeichen sind Jahresleibzins
und Nachlaßbehandlung. Das erste entfällt bei den ja
nur zu vorübergehendem Aufenthalt in den Städten weilen-
den Gästen selbstverständlich. Selbst bei den dauernd
sich in der Stadt niederlassenden Fremden ist, in Deutsch-
land wenigstens, davon gar keine Rede. Wenn ein solcher
als Unfreier zugewandert war und nunmehr von seinem
Herrn nicht reklamiert wurde oder sich nicht zu seinem
hundert (Schriften des Vereins für die Geschichte der Stadt
Berlin, Heft 16) S. 8: Unterschied zwischen zollbaren und zoll-
freien Gästen. Ahnliche Tendenzen innerhalb der deutschen
Hanse in der Richtung teilweiser Gleichstellung der Bürger der
Hansestädte im Gegensatz zu den Nichthansen: W. Stein, Bei-
träge zur Geschichte der deutschen Hanse S. 112 ff., 126 ff.
>) Brunner, Rechtsgeschichte Bd. 1 (2. Aufl.) § 36 und Grund-
züge der deutschen Rechtsgeschichte (3. Aufl.) § 45 Ziff. 2,
Schröder, Rechtsgeschichte (5. Aufl.) S.242, 541", 827,863*, Ernst
Mayer, Deutsche und französische Verfassungsgeschichte vom
9. bis zum 14. Jahrhundert Bd. 1, S. 105 ff., Karl Brunner, Der
pfälzische Wildfangstreit (Diss. Heidelberg 1896) S. 1 ff., 6 ff. und
in Zeitschrift für vergleichende Rechts- und Staatswissenschaft
Jahrg. 2 (1897), S. 65 ff., 72», 82 f., 106.
478 Alfred Schultze,
Herrn bekannte, streifte er vielmehr — das wurde be-
kanntlich die Regel — sogar diese alte Unfreiheit ab und
kam in den Genuß bürgerlicher Freiheit; keine Spur da-
von, daß ihn nach Jahr und Tag eine neue Unfreiheit —
kraft des Fremdüngsrechts gegenüber dem Stadtherrn —
ergriffen hätte.
Bei den nur auf kurze Zeit in die Stadt kommenden
Gästen könnte höchstens das zweite Kennzeichen in
Frage kommen: das Recht des Schutzherrn, den beweg-
lichen Nachlaß des in seinem Schutzbereich verstorbenen
Fremden sich anzueignen — das droit d'aubaine im
engeren Sinne — oder den Nachlaß nur gegen Abzug
eines Teiles - der gabella hereditaria — herauszugeben
oder wenigstens, wie bei Grundhörigen und Leibeigenen,
von dem Nachlaß das Besthaupt oder den Gewandfall
zu nehmen. In der Tat ist nun die Behandlung der
Fremdennachlässe in den deutschen Stadtrechtsaufzeich-
nungen des Mittelalters ein sehr beliebtes Thema. Manche
Schriftsteller^) haben auch wirklich in den einschlägigen
Bestimmungen oder doch in einigen von ihnen das droit
d'aubaine wiedererkannt. Ich meine: zum mindesten für
Deutschland mit Unrecht.
Die fraglichen Rechtsätze treffen zunächst Anord-
nung über die Verwahrung des Nachlasses, ob und unter
welchen Garantien er beim Wirt, in dessen Behausung
der Fremde gestorben ist, belassen werden oder ob er
der Kommune, den burgenses, consuies, scabiniy oder dem
Beamten des Stadtherrn, dem Vogt, in Verwahrung ge-
geben werden soll. Dann setzen sie regelmäßig eine
Frist von Jahr und Tag fest, innerhalb deren der Emp-
fangsberechtigte, vor allem der Erbe, und zwar ohne
Unterscheidung zwischen einem inländischen und aus-
ländischen Erben, eventuell aber auch der dominus des
unfreien Fremden, der Sozius oder der Gläubiger des
0 Stobbe a. a. O. § 42 N. 24 und 26; Ernst Mayer a. a. O.
Bd. 1, S. 106 N. 100, S. 108 N. 104, S. 109 N. 107; Goldschmidt, Uni-
versalgeschichte S. 121 Text zu N. 90. Auch das Zitat in Krauts
Grundriß zu^Vorlesungen über das deutsche Privatrecht (6. Aufl. von
Frensdorff bearb.) § 48, Nr. 5 ist offenbar in diesem Sinne gemeint.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 479
Verstorbenen, sich meiden, sein Recht nachweisen und
die Nachlaßgegenstände — nirgends ist von einem Abzug
die Rede — sich aushändigen lassen soll. Erst für den
Fall des Ablaufs der Frist, wenn kein Empfangsberech-
tigter sich gemeldet hat und etwaige Ansprüche ver-
schwiegen sind, wird der Nachlaß der Obrigkeit zuge-
wiesen und nun vornehmlich darüber Bestimmung ge-
geben, ob er an die regia potestas, den Stadtherrn, den
Vogt, die Stadt oder ob er an Stadtherrn und Stadt,
eventuell auch die Stadtpfarrkirche gemeinsam und zu
welchen Anteilen fallen soll. Häufig wird noch ausdrücklich
die Gültigkeit der letztwilligen Vergabungen des Fremden
ausgesprochen, nicht selten auch in deren Ermangelung
der Obrigkeit, an die der Nachlaß gefallen, zur Pflicht
gemacht oder ihrem guten Willen empfohlen, davon etwas
für das Seelenheil des Verstorbenen zu spenden.
Unter vielen Beispielen seien für diese Art der Re-
gelung etwa die Urkunde Heinrichs des Löwen von 1163
für die Gothländer (Urkundenbuch der Staclt Lübeck I,
Nr. 3), die Stadtrechtsaufzeichnungen von Braunschweig-
Hagen aus dem 12. Jahrhundert § IP), Hamm 1213,
§ 10, Münster-Bielefeld um 1221, § 17 (Keutgen, Urkun-
den zur städtischen Verfassungsgeschichte S. 178, 150,
152), Hildesheim um 1300 §25 (Döbner, Urkundenbuch
der Stadt Hildesheim I, S. 282), Bodenwerder 1287, § 24,
Holzminden 1245, § 13, Pritzwalk i. Brandenburg 1256,
§ 15 (Gengier, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters S. 29,
207, 364), Lübeck Cod. I von 1243, § 19 (Hach, Das alte
Lübische Recht S. 190), Emmerich 1233 (Lacomblet, Ur-
kundenbuch für die Geschichte des Niederrheins Bd. 2,
S. 100 f.), Enns 1212 (v. Schwind und Dopsch, Ausgewählte
Urkunden zur Verfassungsgesch. d. österr. Erblande S. 45
Z. 3 ff.), Wien 1221, § 20 (Keutgen S. 209), Prag, Rechts-
buch Art. 109 (Rößler, Deutsche Rechtsdenkmäler aus
Böhmen und Mähren Bd. 1, S. 132) namhaft gemacht.
Hiernach ist der Nachlaß des Gastes dem Ein-
ziehungsrecht des Gerichtsherrn erst dann ausgesetzt,
*) Dazu Frensdorff in den Göttinger Nachrichten, Phil.-hist.
Kl. 1906. S. 296 ff.
480 Alfred Schultze,
wenn er nach Jahr und Tag als erblos erwiesen ist, da-
mit aber durchaus in eine Linie gerückt mit dem Nach-
laß des einheimischen Stadtbürgers, der, wenn er nach
Jahr und Tag erbelos bleibt, der gleichen Einziehung
unterliegt. Also liegt hier nichts anderes vor^) als das
(unserem heutigen Erbrecht des Fiskus ähnliche) allge-
meine Heimfallsrecht an dem im gerichtsherrlichen Ge-
biet erblos gewordenen Gut, wie es Sachsenspiegel (1, 28)
und Schwabenspiegel (ed. Laßberg, Art. 30) schildern,
das, früher ein Bestandteil der königlichen Gewalt, gleich-
falls im Mittelalter allmählich in die Hände der Territorial-
gewalten gelangt ist. 2) So wird es denn auch in vielen
Stadtrechten in einer einzigen Vorschrift zugleich für
Nachlässe von Einheimischen und Fremden geregelt, wie
in Freiburg i. Br. § 2, Satz 2 und 3, Bern § 51, Hagenau
1164, § 3, Lübeck 1188, § 8 (Keutgen S. 117 f., 133, 134,
184), im Magdeburg- Breslauer Recht von 1261, § 41
(Laband, Magdeburger Rechtsquellen S. 19), in den Gos-
larer Statuten des 14. Jahrhunderts (ed. Göschen, S. 9
Z. 1—5), in Freiberg i. S. V, § 34 (ed. Ermisch).
Daß aber in den Stadtrechtsaufzeichnungen, wie wir
oben sahen, so oft die Behandlung des Fremdennach-
lasses gerade besonders herausgehoben wurde, ist leicht
erklärlich.^) Hier waren, wie die Quellen selbst, z. B. das
Stadtrecht von Hamm (a. a. 0.), manchmal ausdrücklich
betonen, wegen des Fernseins der Familienangehörigen
oder Erben des in der fremden Stadt gestorbenen Gastes
") Daß der erst nach Jahr und Tag bei Erbenlosigkeit er-
öffnete Zugriff kein Albanagium bedeuten kann, erkennt auch
Stobbe a. a. O. § 42, N. 28, Abs. 2 an, ebenso ausdrücklich Heyde-
mann, Elemente der Joachimischen Konstitution S. 248, 250. Da-
gegen sieht Ernst Mayer a. a. O. S. lOSf. und N. 107 (vgl. auch
Brunner, Grundzüge^ 3. Aufl., S. 180) darin ein ius albanagii, das
nur im Gegensatz zu dem früher sofort wirksamen durch das
Vorschieben der Jahr-und-Tagfrist zum befristeten und bedingten
Okkupationsrecht geworden sei.
») Vgl. Schröder, Rechtsgeschichte S. 541 f. und die dort § 48**
Zitierten, besonders Tomaschek, Das Heimfallsrecht, wo auf
S. 14ff. ein Überblick über das Heimfallsrecht im Stadtrecht
gegeben ist.
') S. auch Frensdorff a. a. O. S. 2%.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 481
Bestimmungen über Verwahrung und Sicherung des
Nachlasses dringend geboten. Hier war ferner der Fall,
daß die hinterlassene Fahrhabe, weil sich für die fernen
Verwandten Mühe und Aufwand der langen Reise nicht
lohnten, oder wegen sonstiger Hindernisse binnen Jahres-
frist unabgeholt und also erbelos blieb, ungleich häufiger,
folglich das finanzielle Interesse sowohl auf stadtherrlicher
Seite an der Festhaltung als auf kommunaler Seite an
der Abgewinnung des Heimfallsrechtes und deshalb die
Notwendigkeit einer Entscheidung darüber zwischen den
beiden Teilen i) ungleich stärker, als bei den Erbschaften
der Stadteinwohner. Hier lag endlich zur Festlegung
der Heimfallsansprüche des Sterbeorts auch noch ein
besonderer Anlaß in dem Gegensatz zu den immerhin als
möglich in Frage kommenden Heimfallsansprüchen des
Heimats- und Wohnorts des Gastes. Dagegen er-
hellt aus jenen Rechtsätzen in keiner Weise, daß sie die
ordentliche Beerbung gegen etwa früher auf Grund des
„Fremdlingsrechts" geübte Beschränkungen, also gegen
ius albanagiiy Abzug oder Besthaupt, sicherstellen sollten.
Während bekanntlich ältere Stadtprivilegien und Hand-
festen nicht selten den Nachlässen der Bürger und in
die Stadt Zugewanderten die Freiheit von buteil, Haupt-
0 Sie lautet je nach dem jeweiligen Zustand der Stadtver-
fassung recht verschieden, in Lübeck z. B. begegnen zeitlich
hintereinander als Heimfailsberechtigte : die königliche Gewalt
allein — diese und der Stadtrat je zur Hälfte — der Stadtrat
allein; vgl. darüber K. Fr. Eichhorn in Zeitschr. f. geschichtliche
Rechtswissensch. Bd. 13, S. 339 ff., Frendsdorff, Stadt- und Gerichts-
verfassung Lübecks S. 36 f., 86 f. und Karl Kahler, Das Heimfalls-
recht des Fiskus und anderer juristischer Personen nach Lübi-
schem Rechte und BGB. (Diss. Rostock 1902) S. 29 ff. Ja es gibt
dort ein Stadium, in dem gerade die erblosen Fremdennachlässe
im Gegensatz zu den anderen erblosen Nachlässen der regia
potestas vorbehalten sind. Daß es sich dabei um mehr als um
eine Verteilung zwischen den finanziell Interessierten, nämlich,
wie Kahler S. 48 andeutet, um einen Nachklang des königlichen
Fremdlingsrechtes gehandelt habe, leuchtet schon deswegen nicht
ein, weil das königliche Heimfallsrecht an allen erblosen Nach-
lässen doch mindestens ebenso gut fundiert war. Eine ähnliche
Verteilung begegnet ja noch für Berlin im Jahre 1508, vgl. unten
S. 484 dieses Aufsatzes.
482 Alfred Schultze,
recht und sonstigem Herrenrecht im Verhältnis zum
eigenen Stadtherrn wie zu fremden Grund-, Leib- und
Gerichtsherren zusichern^), ist in jenen Vorschriften über
die Beerbung der städtischen Gäste von ähnlichen, auf
„ Fremdlingsrecht" beruhenden Beschränkungen , soviel
ich sehe, nirgends die Rede.
Man kann auch nicht sagen, daß die von Stobbe,
Ernst Mayer, Kraut - Frensdorff (oben S. 478 N. 1) be-
sonders angezogenen stadtrechtlichen Quellenstellen dem
entgegenstehen. Sicher nicht der § 34 des Privilegs des
Kaisers Friedrich II. für Goslar von 1219 (Keutgen S. 181 f.).
Nach Stobbe habe sogar der Kaiser hierbei gerade, was
er das Jahr darauf mit seiner berühmten, dem Codex
Justinianeus als Authentica ad c. 10 C. 6,59 einverleibten
Konstitution ^Omnes peregrini"* {M. G. Legum Sectio IV,
Const.y II, no. 85, c. 9) allgemein aufs strengste verurteilte
und mit schwerer Strafe bedrohte, eben die Ausübung
des las albanagii bezüglich der Fremdennachlässe, selbst
noch seinem Reichsvogt in Goslar ausdrücklich zuge-
standen. Ganz abgesehen davon, ob diese in Rom er-
lassene Konstitution für Deutschland praktische Geltung
erlangte 2): der Widerspruch besteht für Goslar gar nicht.
Denn heißt es in jenem Privileg auch, daß der Vogt „nul-
lius hereditatem debet accipere preterquam hystrionum,
ioculatorum et advenarum"^, so schließt sich doch bezüg-
lich der advenae sofort die Einschränkung an, daß er die
>) Z. B. Speyer Uli und 1182, Worms 1114 und 1184, Goslar
1219, § 1 und 2, Dieburg § 3, Annweiler 1219, §2, auch noch
Frankfurt a. M. 1297, § 3 (Keutgen S. 14, 16, 17, 18, 179, 137, 138, 188).
Auch im Privileg für Hagenau 1164, §3 (ebenda S. 134), das
„nullt hominum . . . ius obitus aliquod communicandi" (Sterbefalls-
recht) konzediert und Ausantwortung an den Erben „absgue omni
refragracione" vorschreibt, dürfte Kaiser Friedrich I. nichts anderes
als in seinen Privilegien für Speyer und Worms im Auge gehabt
haben ; jedenfalls erhellt auch hier nicht, daß er sich gerade auch
gegen fremdlingsrechtliche Abgaben wenden wollte.
«) Dafür Stobbe a. a. O. S. 354 und Schröder, Rechtsgeschichte
5. Aufl., § 48". Dagegen Brunner, Grundzüge 3. Aufl., S. 180«,
Ernst Mayer a. a. O. S. 109»«», Karl Brunner in Zeitschr. f. vergl.
Rechts- u. Staatswissensch. Bd. 2, S. 107 f.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 483
Erbschaft dann erst für sich behalten solle, wenn „per
unius anni circulum . . . nemo venerit qui eam pelaV".
Also nichts als das gewöhnliche Heimfallsrecht an erb-
losem GutI
Freilich, ein gleicher Zusatz fehlt in § 13 des ältesten
Stadtrechts von Soest aus dem 12. Jahrhundert: „Prae-
terea iuris advocati est hereditaiem accipere Frisonum
et Gallorum'' (Keutgen S. 140), wobei es übrigens noch
sehr zweifelhaft ist, ob darunter nicht vielmehr in Soest
„angesiedelte** Friesen und Walen i) statt friesischer und
welscher „Gäste** zu verstehen sind. Und ebenso fehlt
ein solcher Zusatz in der hier ins Feld geführten Stelle
aus dem Kölner Schiedsspruch zwischen der Stadt und
dem Erzbischof vom Jahre 1258. Die letzte der Be-
schwerden nämlich, die der Erzbischof dem Schieds-
spruch unterbreitet, stützt sich darauf, daß sein camera-
rius „bona adventitiorum hominum qui decedunt potesi
et debet recipere*", wovon er den Pfeffer für die erz-
bischöfliche Küche liefere, und rügt, daß nun „ipsi cives
istos homines camerario contradicunf*, wodurch den
Rechten des Erzbischofs und des Kämmerers Eintrag
geschehe. Die Schiedsrichter entscheiden offenbar im
Sinne des Erzbischofs, indem sie sagen, daß es so ge-
halten werden solle, wie es von Rechts und alter Ge-
wohnheit wegen bisher beobachtet worden sei (Keutgen
S. 163, Nr. 53 und S. 170 ad 53). Zwingt uns hier nicht
das gesamte übrige Quellenmaterial aus den gleichen
Zeiten, die Beschränkung auf solche Nachlässe, die binnen
Jahr und Tag ohne reklamierenden Erben geblieben sind,
als selbstverständlich zu unterstellen? Wie sollten Soest
und Köln zu so schwerwiegenden Abweichungen kommen?
Entschieden sollte eben hier nur werden, wem das Heim-
0 So Ilgen in Deutsche Städtechroniken Bd. 24, S. XX. Vgl.
A. Schulte, Geschichte des mittelalterlichen Handels Bd. 1, S. 78.
Dafür spricht auch die Wiederkehr der Bestimmung in der Alten
Soester Schrae aus der Mitte des U.Jahrhunderts §38: „Der
vreysen unde der walen erve binnen der stat dat is des ghe-
richtes unses heren van Colne" (Seibertz, Landes- und Rechts-
geschichte Westfalens Bd. 3, S. 392).
484 Alfred Schultze,
fallsrecht in den fraglichen Fällen gebührte. Das lehrt
uns ja die ausführlichere Kölner Stelle aufs deutlichste.
Der Erzbischof beklagte sich, daß die Bürger ihm oder
seinem Kämmerer das Recht streitig machten. Sie
wollten dasselbe durchsetzen, was, wie oben erwähnt,
die Bürger mancher anderen Stadt ihrem Stadtherm
gegenüber damals erreichten. Nur um die Formulierung
dieses Streitpunktes handelte es sich. Inhalt und Voraus-
setzungen des Rechts blieben außer Frage. Daß die
Bürger es waren, welche das Recht für sich in Anspruch
nahmen, ist mir auch geradezu ein Beweis gegen die
Annahme eines albanagium. Solche den leibherrlichen
ähnliche Rechte über die Bürger anderer Städte (als
Gäste) gewinnen zu wollen, scheint mir im Widerspruch
mit den allgemeinen Tendenzen der bürgerlichen Kreise.
In solchem Sinne wird also das j^cives istos homines
camerario contradicunf* nicht zu nehmen sein. Daß
man, wo es auf die Kompetenzregulierung ankam, das
Heimfallsrecht nicht immer inhaltlich lückenlos um-
schrieb, begegnet auch anderswo. Ich verweise auf das
Stadtrecht von Euskirchen 1302, § II (Keutgen S. 157),
wo es nur heißt „sine prole vel herede'' ohne Hinweis
auf die zur Feststellung der Erbenlosigkeit gewährte
Jahr- und Tagfrist, obschon in bezug auf Nachlässe der
heimischen Stadtbürger, so daß nur das übliche Heim-
fallsrecht nach Jahr und Tag gemeint sein kann.^) Ich
verweise ferner auf die Urkunde des Kurfürsten Joachim I.
von Brandenburg von 1508 (von Raumer, Codex dipL
Brandenburgensis II, S. 241 f.), in der er den Schwester-
städten Berlin-Cölln obere und niedere Gerichtsbarkeit
mit allen Gefällen und Nutzungen überläßt, aber sich
neben anderem „alle erbfelle von unechten (d. h. unehe-
lichen) oder frombden (fremden) lewten, die one erben
vorsterben", vorbehält. Schon Heydemann („Elemente
der Joachimischen Konstitution" S. 256 mit 251) hat hier
') Das Prager Rechtsbuch erwähnt in Art. 109 bei den erb-
losen Nachlässen der Gäste die Jahresfrist^ in Art. 107 dagegen
bei den erblosen Nachlässen der Einheimischen nicht (Rößler,
Rechtsdenkmäler Bd. 1, S. 132).
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 485
nach dem Vorbild ähnlicher Urkunden die Wartefrist von
Jahr und Tag ergänzt und das ius albanagii ausdrück-
lich abgelehnt. Die hier beliebte Zusammenstellung der
Fremdennachlässe mit den Bastardnachlässen erinnert an
ihre Zusammenstellung mit den Nachlässen der Schau-
spieler und Gaukler in Goslar (s. oben). In beiden Fällen
ist sie aber nur eine rein äußerliche, genugsam erklärt
durch den Anlaß, nämlich die Verteilung des Heimfalls-
rechts unter die verschiedenen öffentlichen Gewalten:
nach Personenklassen ^), nicht nach Bruchteilen des ein-
zelnen heimgefallenen Nachlasses. Sie rechtfertigt nicht
etwa einen besonderen Schluß auf eine allgemeine per-
sönliche Gleichbewertung der advenae oder Fremden mit
jenen „rechtlosen"" Leuten. Dies ergibt sich schon da-
raus, daß derselbe KurfUrst Joachim in ähnlichen Urkun-
den, die er 1509, 1513 und 1522 für Frankfurt a. 0.,
Brandenburg, Perleberg ausstellt, mit den Bastard-
nachlässen ganz allgemein die Nachlässe von anderen
Leuten, die ohne Erben versterben, unmittelbar zusammen
nennt und einheitlicher Regelung unterwirft, also die
Nachlässe der Einheimischen ebensogut wie die der
Fremden. 2)
So viel steht also mindestens fest: Der Inhalt der
besagten Quellenstellen zwingt in keiner Weise zu einer
Deutung im Sinne des ius albanagii. Die deutschen
0 Dies erklärt auch den § 13 des Soester ^tadtrechts.
') Nach den Zitaten bei Heydemann a. a. O. S. 254, 255. Ganz
die gleiche Zusammenstellung begegnet in dem von Tomaschek,
Heimfallsrecht S. 21 wiedergegebenen Privileg des Kaisers Maxi-
milian 1. für Überlingen vom Jahre 1518. Der Vergleichungspunkt
ist die Erbenlosigkeit, die aber, während sie bei den anderen
(Fremden wie Einheimischen) ein Vorkommnis des einzelnen Falles
ist, bei den Bastards ein immer anhaftendes Attribut, eine Folge
ihres unechten Standes darstellt (Heydemann S. 363 ff.). — Wo die
Fremden als aubains, Wildfänge wirkliche Leibeigene des Terri-
torialherrn sind, da gehören sie in der Tat auch in anderen Be-
ziehungen, ja in ihrer allgemeinen Bewertung neben die Bastards
und werden öfter mit ihnen zusammen genannt. Vgl. Karl Brunner
in Zeitschr. f. vergl. Rechts- und Staatswissensch. 2, S. 77^ 78^ "-S
88, 90».
486 Alfred SchtütEC,
Stadtrechte des Mittelalters wenden in aller Regel auf
die „Gäste', wie sich aus der Nachlaßbehandlung ergibt,
das alte Fremdlingsrecht nicht an. Nicht einmal aus-
nahmsweise finden sich sichere Spuren des Gegenteils.
Es ist also gewiß für die Gäste in deutschen Städten
nicht richtig, daß unter ihnen die Reichsangehörigen
während ihres Aufenthaltes in der Stadt auf das Niveau
der Reichsfremden herabgedrückt wurden. Sie büßten
so lange an ihrer allgemeinen Rechtsfähigkeit, an ihrem
Personenstand nichts ein. Den Bemerkungen von Be-
lows in dieser Zeitschrift (Bd. 86, S. 69) ist durchaus
zuzustimmen. Umgekehrt scheinen eher unter den
Gästen die Reichsfremden während ihres Aufenthaltes
in der Stadt auf das Niveau der Reichsangehörigen em-
porgehoben zu sein, ganz abgesehen davon, wie weit
sich ihre Rechtsstellung schon ohnedies ganz allgemein
im Reiche gegen früher gebessert hatte. Denn ein
Unterschied zwischen diesen beiden Klassen von Gästen
ist aus den Stadtrechtsaufzeichnungen weder hinsichtlich
der Nachlaßbehandlung noch in anderer Beziehung er-
kennbar. Insofern wirkte also die oben geschilderte,
stadtrechtliche Normierung des Gästebegriffs — Gäste
— alle außerhalb der Stadt Gesessenen — dem alten
Fremdlingsrecht geradezu entgegen. In diesem Sinne,
in bezug auf die Ausländer, werden wir für die Städte
von „einer rückläufigen Bewegung im Mittelalter** (Heus-
ler, Instit. I, S. 146) kaum reden dürfen. Vor allem
haben beide Klassen von Gästen auch gleichmäßig und
gleich den Bürgern der Stadt einen selbständigen, d. h.
nicht erst durch einen Schutzherrn vermittelten An-
spruch auf Rechtschutz vor dem Stadtgericht.^) Sie
können ihr Recht in Person vor dem Stadtgericht ver-
treten. Wenn von Amira (Grundriß des germanischen
Rechts, 2. Aufl., S. 92) sagt: „Im Mittelalter wird der
unmittelbare Rechtschutz prinzipiell auf alle Ausländer
erstreckt", so trifft dies für die deutschen Stadtrechte
') Vgl. besonders Rudorif S. 21 f., Planck, Gerichtsverfahren
im Mittelalter Bd. 1, S. 184.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 487
sicher zu. Der Richter hat nach der Eidesformel, wie
sie das Rechtsbuch nach Distinktionen (III, 1, dist. 1, ed.
Ortloff, Sammlung deutscher Rechtsquellen Bd. 1, S. 134)
gibt, zu schwören: „daz ich . . . wel . . . glich gewer unde
recht sin deme armen also deme riehen . . . unde richten
deme gaste also deme ingesessen." Und wenn er dem
Gast, sei er Ausländer oder Reichsangehöriger, sein
Recht nicht gibt, so ist das Justizverweigerung. —
Hiernach verneinen wir die Abkunft des deutschen
städtischen Gästerechts aus dem alten Fremdlingsrecht.
Nicht aus Nachwirkungen der Idee von der Rechtlosig-
keit der Fremden lassen sich die Unterscheidungen in der
Behandlung der Gäste und der Einheimischen erklären.
Das Gästerecht bildet nicht ein Glied in einer stetigen
Entwicklung, die von der Rechtlosigkeit über die be-
schränkte zur unbeschränkten Rechtsfähigkeit der Frem-
den hinüberfuhrt. Es ist aus anderem Geiste geschaffen.
II.
Als einer der wichtigsten gästerechtlichen Sätze
wird gewöhnlich der Satz angesprochen:
Gäste dürfen Grundstücke, die dem Stadtrecht
und Stadtgericht unterliegen, nicht erwerben.
Dieser Satz galt in weiter Verbreitung, bis lange
über das Mittelalter hinaus. Zuweilen war nicht bloß
der Erwerb des Grundstücks, der Erwerb einer Weich-
bildrente, also der Rentenkauf, sondern auch, wie in
Lübeck^), der Erwerb eines Pfandrechts an dem Grund-
stück, weil die Pfandverstrickung unter Umständen zum
Pfandverfall hätte führen können, verboten. Der Erwerb
war nichtig; den zuwiderhandelnden Verkäufer traf
öffentliche Strafe (z. B. München Art. 223, ed. Auer,
Lübeck Cod. II, § 226, ed. Mach S. 364). Erbte ein Gast
von einem Bürger eine städtische Liegenschaft, so war.
*) Darüber jetzt eingehend Otto Löning, Grunderwerb und
Treuhand in Lübeck (Gierkes Untersuchungen, Heft 93) S. 31 ff.
488 Alfred Schultze,
wenn er nicht in die Stadt ziehen und Bürger werden
wollte, das mindeste, daß er sie einem Bürger verkaufen
und sich mit dem Erlös begnügen mußte (z. B. Dort-
munder Statut von 1354, ed. Frensdorff, Dortmunder Sta-
tuten und Urteile S. 205). Einzelne Ausnahmen von dem
Verbot konnte der Rat der Stadt bewilligen.
Der Grund des Verbots ist offensichtlich.*) Die
alte deutsche Stadtgemeinde war nach ihrem Zweck
Marktgemeinde, nach ihrer Zusammensetzung aber
Grundbesitzergemeinde. Der Zweck der Stadtansied-
lung lag in der Bildung des Markts, im Betrieb von
Handel und Gewerbe, die Siedlung selbst aber beruhte
in dem Besitze der städtischen Grundstücke zu freiem
Eigentum oder zu freiem Leiherecht, Weichbildrecht,
Burgrecht. Die Stadtgemeinde hat in ihrer Eigenschaft
als Grundbesitzergemeinde manches Stück der Ver-
fassung von der älteren Landgemeinde herübergenommen,
vor allem aber die Verknüpfung der Gemeindemitglied-
schaft und der aus ihr entspringenden Rechte und
Pflichten mit dem Grundbesitz. 2) Freilich, die Art der
Verknüpfung ist nicht überall dieselbe gewesen und hat
auch in derselben Stadt im Laufe der Zeit manchen
Wandel erfahren.
Einige Städte hielten den alten Landgemeindetypus
noch lange schärfer fest, indem sie den Erwerb städti-
schen Grundes den Altbürgern, den alteingesessenen
Geschlechtern vorbehielten, so daß weder Mitwohner
(oben S. 475) noch zu dauerndem Wohnsitz von aus-
wärts Zuziehende „städtischen'' Grundbesitz und damit
») Stobbe a. a. O. § 42, Ziff. 1, Beyerle a. a. O. S. 28, Frens*
dorff, Stadt- und Gerichtsverfassung Lübecks S. 133 ff., v. Maurer,
Geschichte der Städte Verfassung H, S. 767 ff., O. Löning S. 32 f. mit
S. U ff.
*) Vgl. V. Below, Entstehung der deutschen Stadtgemeinde
S. 52, Ursprung der deutschen Stadt Verfassung S. 431!., nament«
lieh 55, und im Handwörterbuch der Staatswissenschaften Artikel
„Bürgerrecht« (2. Aufl., Bd. 2, S. 1205), Schröder, Rcchtsgesch.
5. Aufl., § 51»«, Planck, Deutsches Gerichtsverfahren im Mittel-
alter Bd. 1, S. 78.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 489
das Bürgerrecht erlangen konnten — eine Ausgestaltung^)
des schon in der lex Salica (Tit. 45) enthaltenen Satzes,
daß der Widerspruch eines Märkers die Einwanderung
eines Ausmärkers auf eine zur Mark gehörige Hofstätte
zu hindern vermöge. Ein Beispiel bietet Konstanz, wo
nach den Untersuchungen Beyerles erst das Salmannen-
recht, d. h. die Mitwirkung von Bürgern als Treu-
händern beim Erwerb für Nichtbürger, allmählich den
engen Kreis sprengen konnte. 2) Andere Städte eröff-
neten den Zugang zum Grunderwerb und damit zum
Bürgerrecht auch Mitwohnern und Zuziehenden, zu-
weilen mit der Einschränkung, daß im Falle der Be-
lastung mit Renten oder Pfandrechten der darüber
hinausgehende, also unbelastete, „ledige" Anteil am
Grundstückswert ein gewisses Mindestmaß erreichen
müsse, um als Unterlage des Bürgerrechtes zu genügen,
wie Freiburg i. Br. in dem bekannten Satze seines
Stadtrechts (§ 40, Keutgen S. 122): „Qui proprium non
obligatum sed liberum Valens marcham unam in civitate
habuerit burgensis esL""^) Wieder andere Städte gingen
schon früh noch weiter und gewährten auch Mitwohnern
ohne eigenen Grundbesitz, ebenso wie sie diese zu den
Pflichten der Bürger heranzogen, mehr oder weniger
die Rechte der Bürger oder überhaupt auf ihren Antrag
*) V. Below in dieser Zeitschr. S. 69', 74», Heusler, Institu-
tionen I, S. 147.
*) Parallelerscheinungen in Zürich : Arnold Escher im Jahr-
buch für Schweizerische Geschichte Bd. 32, S. 89 ff., bes. 105 ff.,
dazu Stutz in Zeitschr. d. Savigny-Stiftung Bd. 28, German. Abt.
S. 574 f.
') So wird der Satz richtig von Flamm, Der wirtschaftl. Nieder-
gang Freiburgs i. Br. und die Lage des städtischen Grundeigen-
tums im 14. und 15. Jahrhundert S. %ff. gedeutet. Die Deutung
wird bestätigt durch den Vergleich mit dem Prager Rechtsbuch
Art. 138 (Rößler I, S. 140): „der ein erb hab in der stat, doz zins-
haftig ist . ., is das is pesser ist den fünfzig schock über den zins,
so ist er gesessen . . . nach der stat recht.*' Das Grundstück braucht
also nicht etwa ganz unbelastet zu sein, wie v. Below, Urspr.
S. 52 Anm. 3 annimmt. Der Satz erinnert an Sachsenspiegel I,
Art. 34 § 1.
HistorUche Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge &. Bd. 32
490 Alfred Schultze,
durch einen Aufnahmeakt die ,, Bürgerschaft'', doch nicht
ohne einen wesentlichen Unterschied von den „burgenses
qui proprias habent domos'' (Goslar 1219, § 39, vgl. § 9,
Keutgen S. 179 ff.), den erbgesessenen Bürgern, die
allein den Vollbesitz aller bürgerlichen Rechte, das Voll-
bürgerrecht, hatten.^)
Trotz aller Verschiedenheiten konnte also in der
älteren Zeit das Stadtbürgerrecht oder wenigstens das
Vollbürgerrecht überall nur vermittelst städtischen Grund-
besitzes erlangt und behalten werden. Bezeichnend
genug wirft § 24 des Berner Stadtrechts (Keutgen S. 129)
sogar die Frage auf, ob nicht der Bürger, dessen Haus
abgebrannt ist und der sich deshalb „in provincia" auf-
halten muß, des Bürgerrechts verlustig gehe, wenn
dies auch für den Fall, daß er tributum et collectam
am Grundstück weiterzahlt, verneint wird. Hätte
man nun den Obergang städtischen Grundbesitzes an
Fremde, die nicht in die Stadt ziehen und nicht Bür-
ger werden wollten, also an „Gäste" in unserem
Sinne, geduldet, so wäre dies in den Städten der erst-
genannten Art mit dem Grundsatze der exklusiven
Grundbesitzfähigkeit der Altbürger natürlich ganz un-
verträglich gewesen. Aber auch abgesehen davon, hätte
es überall die Gefahr einer Verminderung der ihre
Pflichten gegen die Stadt — Wach- und Verteidigungs-
dienst, Gerichtsdienst — versehenden Bürger herauf-
beschworen und damit das allgemeine Interesse der
Stadt, ja den Grundbau der Stadtverfassung selbst ge-
fährdet. Auch die Steuerkraft der Stadt. Denn es wäre
fraglich geblieben, ob man den bereits in seiner
Heimatstadt steuernden Gast nun auch noch wegen des
von ihm erworbenen Grundbesitzes zu den eigenen
städtischen Steuern hätte heranziehen und, wenn man
es tat, die Beitreibung hätte regelmäßig und ohne
Schwierigkeiten durchführen können. Allein auf die
eigenen Machtmittel innerhalb der Stadt angewiesen,
0 So besonders auch Lübeck, dazu O. Löning S. 6 ff. Vgl.
ferner v. Below, Urspr. S. 52*.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 491
wäre man gegen den auswärts wohnenden Gast dazu
kaum imstande gewesen. Diese Umstände recht-
fertigten es, den Grunderwerb der Gäste ausnahmslos
zu verbieten oder höchstens dem Stadtrat die Bewilligung
des Erwerbs nur in Einzelfällen zu gestatten, in denen
ihm der Gast die Erfüllung jener Pflichten oder einen
ausreichenden Ersatz dafür besonders sicherstellte.
Ein generelles Mittel in dieser Richtung bot hier die
Treuhänderschaft, indem der Gast die wirtschaftliche
Nutzung des Grundstücks, aber ein Bürger an seiner
Statt rechtlich das Eigentum und damit die Erfüllung
der daran hängenden Verpflichtungen gegen die Stadt
übernahm. In Lübeck z. B. stand dieses Mittel lange
zur Verfügung, bis man im Jahre 1543 in einer später
in die revidierten Statuten von 1586 (1, 2, § 5) über-
gegangenen Ratswillkür auch dagegen einschritt.^)
Das Verbot war also tief begründet in der Struktur
der alten Stadtgemeinde als einer Grundbesitzergemeinde.
Es war das selbstverständliche Produkt dieser Ver-
fassungsgestalt.
Die gleiche Maßregel galt aber auch gegenüber
Anderen, so in den Städten mit besonders exklusivem
Bürgerrecht (Konstanz) gegenüber den Mitwohnern und
Zuziehenden, überall aber gegen Ritter und Hofleute,
selbst wenn sie bereits in der Stadt wohnten, und
gegen Geistliche, Kirchen und Klöster, auch gegen die-
jenigen unter ihnen, die ihren Sitz in der Stadt hatten.
Bei ihnen allen trafen ganz ähnliche Gründe zu wie bei
den Gästen. Man soll nicht, sagt Art. 129 des Prager
Statutarrechts (Rößler Bd. 1, S. 87), alle zusammfassend,
„gesten, herrn, munchen, nunnen, pfaffen oder Juden
erb oder aygen, zins oder selgrct (letztwillige Zuwendung
im Interesse des Seelenheils) in der stat inwendig der
mower (Mauer)" verkaufen oder schaffen oder geben,
^darumb daz der stat ir rechte davon nicht abgee**. Ja
») O. Löning a. a. O., bes. S. 59 f., 39. Vgl. auch A. Kober,
Das Salmannenrecht und die Juden (Beyerles Deutschrechtliche
Beiträge 1, 3) 1907.
32»
492 Alfred Schultze.
bei Geistlichen und geistlichen Anstalten waren diese
Gründe noch um vieles verstärkt Sie beanspruchten
nach kirchlichem und kaiserlichem Recht die allgemeine
Freiheit von Steuern und öffentlichen Leistungen; die
manchmal zu heftigem Kampfe führende Gegenwehr der
Städte hatte nur wechselnden und örtlich verschiedenen
Erfolg.^) Dazu kam die Unveräußerlichkeit der einmal
in die tote Hand gelangten Güter. Auf der anderen
Seite war mit dem besonderen Antrieb zu Seelgiften
an Kirche und Klerus zu rechnen. So handelte es sich
hier um eine ganz besonders schwere Gefährdung der
Grundlagen der Stadtverfassung.
Diese Seite des Verbots war daher auch praktisch
die weitaus bedeutsamste. Sie tritt in den Stadtrechts-
quellen häufig in den Vordergrund, wie etwa in Art. 223
des Münchener Stadtrechts (ed. Auer), wonach man
^chainem chloster oder jemant anders, der mit den pur-
gern nicht steuert"" verkaufen soll. Manche Stadtrechte
bringen sie nur allein zum Ausdruck, z. B. Goslar 1219, § 46
(Keutgen S. 182) in der Wendung, daß es keinem ver-
stattet sei, sein Haus der Kirche zu schenken, außer in
der Weise, daß das Haus verkauft und nur der Erlös
der Kirche zugeteilt werde, ^ut etiam regi (dem Stadt-
herrn) ius suum non detrahatur*" , und ähnlich die
ältesten lateinischen Statuten Lübecks (Cod. I, § 26, ed.
Hach S. 192), die dem Zuwiderhandelnden die hohe
Strafe von 10 Mark Silber androhen, auch Hannover
1307, § 25 (Keutgen S. 295), auch Erfurt 1281 (Keutgen
S. 472 f.), wo das trotzdem der Kirche geschenkte
Grundstück zugunsten der Stadt verwirkt sein soll.
In so starkem Maße wie von Kirchen und Klöstern,
war von auswärts wohnhaften Gästen der Erwerb städti-
schen Grundbesitzes kaum zu erwarten. Wenigstens
stellen sowohl Beyerle (S. 75 Anm. 21) für Konstanz
*) O. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht Bd. 1, S.331,
Hinschius, Kirchenrecht Bd. 1, S. 123 ff., v. Below, Handwörterbuch
der Staatswissenschaften, Art. „Bürger** (2. Aufl., Bd. 2, S. 1183),
O. Löning a. a. O. S. 15. Belege im einzelnen besonders bei Niese,
Verwaltung des Reichsguts im 13. Jahrhundert S. 98 ff.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 493
als Otto Löning (S. 39 Anm. 3) für Lübeck fest, daß
Gäste im Vergleich mit der Geistlichkeit sich der Treu-
händerschaft auffallend selten bedienten; freilich gelang
es, worauf ich hinweisen möchte, den Geistlichen wohl
auch eher als den Gästen, Bürger für die Rolle der
Treuhänder zu gewinnen.
Hiernach war die den Grunderwerb der Gäste be-
treffende Vorschrift nur eine, und zwar nicht einmal die
praktisch wichtigste, aus einer Reihe gleichartiger Vor-
schriften, die sich aus dem Wesen der älteren Stadt-
gemeinde von selbst ergaben. Dieser Teil des Gäste-
rechts war also bloße Ausstrahlung der auf dem Grund-
besitz aufgebauten Stadtverfassung. Es waren nicht speziell
gerade gegen die Gäste gerichtete Motive, die ihn hervor-
getrieben haben. Er entstand unabhängig von dem Ver-
halten der Stadt gegenüber den Gästen in Handel und
Gewerbe, vereinbar sowohl mit einer dem Verkehr der
Gäste in der Stadt freundlichen als mit einer ihm feind-
lichen Politik. Erst unter veränderten Verfassungszu-
ständen, wo der Grundbesitz nicht mehr die frühere aus-
schlaggebende Bedeutung für das Bürgerrecht oder Voll-
bürgerrecht und für das städtische Finanzwesen hatte,
jene Vorschrift also nicht mehr durch solche Rücksichten
gerechtfertigt war, konnte für ihre Fortexistenz oder gar
Verschärfung eine allgemeine gegen die Gäste gerichtete
Wirtschaftspolitik bestimmend sein. Etwas anderes ist
es, ob nicht die Ausschließung vom Grunderwerb für sich
allein in ihren Folgen auch Handel und Gewerbe der
Gäste in der Stadt ungünstig beeinflussen konnte. Das
ist bis zu einem gewissen Grade natürlich nicht zu be-
streiten. Doch geht Fr. Holtze^) sicher viel zu weit, wenn
er schon darin die Ursache sieht für den Ausschluß der
Nichtbürger von dem regelmäßigen Gewandschnitt und
damit von der ;, Hauptbetätigung mittelalterlicher Kauf-
mannschaft'', der „rechtlichen Basis zum Handelsbetrieb",
da die Befugnis hierzu von dem Volleigentum oder Unter-
») A. a. O. (oben S. 476 N. 2) S. 16 ff., 20 f., 24 f., 28 f. Vgl.
V. Below in Jahrb. f. Nationalökonomie Bd. 75, S. 4 ff.
494 Alfred Schultze,
eigentum an einer Kaufkammer, d. h. an einem Räume
im städtischen Kaufhaus, abhängig und, weil die Kauf-
kammer zu den Immobilien gehört habe, eben wegen des
Immobiliarverbotes für Nichtbürger unerreichbar gewesen
sei. Denn, wie Holtze selbst richtig darlegt, durften die
Gäste während der Jahrmarktzeit ja gerade in einem
besonderen Teil des Kaufhauses — und nur in diesem —
den Gewandschnitt, also den Tuchverkauf im Detail, aus-
üben. Warum wäre dies nicht auch außerhalb der Jahr-
marktzeit schließlich möglich gewesen? Wenn es ihnen
außerhalb dieser Zeit verschlossen war, so konnte das
also nicht eine bloße Folge ihrer Unfähigkeit zu liegen-
schaftlichem Erwerb sein, sondern es war bereits eine
nach Grund und Ziel ganz speziell auf den Handels-
verkehr der Gäste zugeschnittene Maßregel, eine Aktion
der Stadt als Marktgemeinde. Daß schon das Immo-
biliarverbot dem Gästerecht im allgemeinen^), auch dem
handeis- und gewerberechtlichen Teil, seine Richtung ge-
geben habe, ist also nicht anzunehmen.
Dagegen hängen allerdings damit zusammen die Be-
schränkungen der Zeugnisfähigkeit der Gäste.
Die Grundbesitzergemeinde ist zugleich die Gerichts-
gemeinde, die Gemeinde der dingberechtigten und ding-
pflichtigen Dinggenossen. Wo, wie in Lübeck 2), das
Bürgerrecht über die Grundbesitzer hinaus erstreckt ist,
haben doch nur diese als Vollbürger das Recht auf aktive
Teilnahme am Ding. Nur erbgesessene Bürger sind also
fähig, als Urteilfinder zu wirken. Dem Urteilfinden ist
nach seiner Ausgestaltung im deutschen mittelalterlichen
Recht das Zeugnis vor Gericht nahe verwandt. Der Zeuge
gibt nicht, vom Richter ausgefragt, sein Wissen über die
streitige Frage durch Geschichtserzählung im einzelnen
kund, so daß es dann dem Gericht überlassen wäre, nach
eigenem Ermessen den Inhalt der Aussage für die Bildung
') „Zur Erklärung des Gastrechts**, was v. Below in dieser
Zeitschrift Bd. 86, S. 69 Anm. 2 als „vielleicht" möglich erwägt,
möchte ich es also nicht heranziehen.
*) Mach, Cod. I, § 2, dazu O. Löning a. a. O. S. 7» und die
dort Zitierten.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 495
seines Urteils zu verwerten, sondern er bekräftigt mit
seinem Eide die Behauptung der Partei. Wie diese selbst
darin bereits den Tatbestand, so wie sie ihn unterstellt,
mittels rechtlicher Schlußfolgerung, z. B. zur Behauptung
des soundso viel Schuldig- oder Nichtschuldigseins,
verarbeitet hat, so verarbeitet nunmehr der Zeuge in
gleicher Weise den von ihm aus welchem Grunde nur
immer für wahr gehaltenen Tatbestand mittels Anwendung
der ihm bekannten Rechtssätze zur zeugeneidlichen Be-
kräftigung jener Behauptung. Er gibt ein Urteil über die
streitige Rechtsbehauptung ab. Daher behandelt der
Sachsenspiegel (Hl, 70) die Fähigkeit zum Urteilfinden
und die zum Zeugnis zusammen und einheitlich. Des-
halb heißt es dort und ebenso ganz regelmäßig in unseren
Stadtrechten: Zeuge sein „auf" oder „über, super*^ den
Gegner — „Wendungen, die den Gegner als der Macht
des Zeugen unterworfen darstellen."') Wer nicht Urteil-
finder sein kann, kann also auch nicht Zeuge sein. Und
es ergibt sich daraus für die Gäste in der Stadt die
Folgerung: Weil sie nicht Dinggenossen im Stadtgericht
sind, können sie auch nicht Zeugen sein. Das ist nicht
ein durch eine besondere Gästepolitik eingegebener, neu
geschaffener Rechtssatz, nicht „eine entschiedene Zurück-
setzung des Fremden hinter den Bürger" % sondern eine
Folgerung aus dem Wesen des Zeugnisses. Auf diesem
Standpunkt steht eine große Zahl von Stadtrechten.
j,NuUus extraneus*", heißt es im Freiburger Stadtrecht § 14
(Keutgen S. 119),^) Jestis erit super burgensem sed tan-
tummodo burgensis super burgensem,** und in § 16 (v^l.
§ 13) wird der Satz*), daß kein Ministeriale oder Grund-
>) Ich stütze mich hierbei auf die lichtvollen Ausführungen
Plancks a. a. O. Bd. 2, S.46 f., 63, 65 verbunden mit Bd. 1, S. 224 ff.
') Wie Stolze, Die Entstehung des Gästerechts S. 76 meint.
*) Ahnlich aus der Freiburger Stadtrechtsfamilie z. B. Bern
§ 15 (Keutgen S. 128), BurgdoH § 194, 195 (Gaupp Bd.2, S.141),
Dießenhofen § 1 1 (Gengier, Stadtrechte S. 80).
^) Vgl. hierzu v. Below in dieser Zeitschrift Bd. 59, S. 227
Anm. 1, Flamm in Mitteil, des Inst. f. österr. Geschichtsforschung
Bd. 28, S. 6 f., Rietschel, Vierteljahrschrift f. Sozial- u. Wirtschafts-
4% Alfred Schultze,
höriger des Stadtherrn ohne Konsens der Bürger „in
civitate habitabit vel^) ius civile habebit*'^ mit den Worten
begründet y,ne quis burgensis illorum testimonio possit
offendi''. Nicht überhaupt Unfreie — dasselbe Stadtrecht,
§ 31, kennt noch einen „burgensis Habens proprium domi-
num"* — , sondern Unfreie, Mannen ihres eigenen Stadt-
herrn unter sich zu haben, erscheint den Bürgern als
eine Gefahr, und diese Gefahr nimmt in ihren Augen
besonders drohende Form an in der Möglichkeit, vor
Gericht dem Zeugnis dieser dem Stadtherrn zur Treue
verpflichteten, in seinem Interessenkreis lebenden Leute
ausgeliefert zu sein. Das Berner Stadtrecht *•*), § 25, (Keut-
gen S. 129) will dem in der Stadt seßhaften und alle
städtischen Lasten mittragenden hospes^) (= Nichtbürger)
alle Rechte der Bürger zugestehen, „excepto quod nullum
burgensem potest convincere de hoc quod negat*", d. h.
nur darf er nicht durch sein Zeugnis dazu helfen, einem
um Schuld oder Straftat verklagten Bürger den Reinigungs-
eid zu verlegen. Um wie viel weniger wollte man sich
dessen von stadtfremden, des heimischen Rechts un-
kundigen Gästen versehen ! In dem Privileg des Kaisers
Friedrich 11. für Goslar von 1219 (§ 11, Keutgen S. 180)
ist die Fassung des Satzes emphatisch bis zu den Worten
gesteigert: „Keiner der Könige oder der Fürsten des
Reichs oder der stadtfremden Leute soll über einen Gos-
larer Bürger ein extraneum testimonium heraufführen,
sondern man soll durch Bürger der Stadt seine Be-
hauptung beweisen." Der Bürger braucht sich nur von
seinen Mitbürgern überführen zu lassen: lautet die Vor-
geschichte Bd. 3, S. 435 ^ und Neue Studien über die älteren Stadt-
rechte von Freiburj? i. Br. (Sonderabdr. aus der Tübinger Fest-
gabe für Thudichum) S. 7^
») Stadtrodel § 36 (Gaupp, Stadtrechte Bd. 2, S. 33) sagt ^nec\
Die Verfassungen von 1275 und 1293 (Schreiber, Urkundenbuch
der Stadt Freiburg Bd. 1, S. 79 u. 129) sprechen nicht vom Wohnen
in der Stadt, sondern uur vom „Bürger werden".
•) Obwohl eine Fälschung aus dem Ende des 13. Jahrhiftiderts,
kann es natürlich doch zur Kennzeichnung der damaligen Rechts-
anschauung herangezogen werden.
») Oben S. 475 Anm. 1.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 497
Schrift in Münster 1221, § 35 (Keutgen S. 152) und in
St. Polten 1159 (Tomaschek, Deutsches Recht in Öster-
reich S. 21 1). Wer die Wahrheit bezeugen soll, muß nach
dem Recht von Lübeck die Umfriedung seines Wohn-
sitzes innerhalb der Stadtmauer, muß „torfach eghen**,
d. h. freies städtisches Grundeigen, haben (Hach, Cod. I,
§ 67, II, § 109).^) Ja, es muß dieser Grundbesitz gemäß
Prager Statutarrecht Art. 66 (Rößler 1, S. 47) nach Ab-
zug der darauf liegenden Zinslasten noch einen Wert
von mindestens 20 Schock großer Prager Pfennige dar-
stellen.2)
Freilich weisen manche Stadtrechte, namentlich der
späteren Zeit, auch Abweichungen auf, und zwar In den
verschiedensten Abstufungen. So ist in Freiburg i. Ochtl.
1249 (ed. Zehntbauer: Art. 71, ed. Gaupp, Stadtrechte II,
S. 95, Art. 67) für Bagatellsachen bis zum Streitwert von
3 Schillingen gegen einen Bürger auch das Zeugnis eines
Nichtbürgers zugelassen. In Iglau, 13. Jahrhundert, Art. 8
(Tomaschek a. a. 0.), Brunn, 14. Jahrhundert, Art. 81
(Rößler II, S. 362) und ähnlich in Hildesheim, ca. 1249,
§ 15, 16 (Döbner, Urkundenbuch der Stadt Hildesheim
I, S. 103) ist das Zeugnis eines Fremden gegen einen
Bürger dann gültig, wenn es durch das hinzutretende
Zeugnis mindestens eines Bürgers bekräftigt wird. Und
Goslar begnügt sich 100 Jahre nach jenem eben erwähnten
kaiserlichen Privileg in allen Rechtstreitigkeiten, außer um
Liegenschaften, ganz allgemein mit dem Zeugnis recht-
schaffener Leute (Göschen S. 94 Z. 36 ff., 96 Z. 25 ff.).'*)
Ebensowenig zählt das Münchener Stadtrecht 1347 Art. 85
(ed. Auer) unter den zum Zeugnis Untauglichen noch die
Gäste auf. Aber auch diese mildernden Abweichungen
hängen mit dem Wesen des Zeugnisses zusammen, näm-
0 Dazu O. Löning a. a. O. S. 7, 33, 59 f.
*) Vgl. ferner Wipperfürth 1283, § 10 (Keutgen S. 155),
Eisenach 1283, § 35 (Gengier, Stadtrechte S. 106) unter vielen
anderen.
*) Ober andere Varianten vgl. Planck a. a. O. I, S. 184, 11,
S. 56 ff. Vgl. auch Augsburg 1276 (ed. Meyer), Art. 87, § 1 im
Gegensatz zu § 2 und 3.
498 Alfred Schultze,
lieh mit Verschiebungen in der Auffassung dessen, was
einem Zeugnis seinen Wert verleiht. Durch eine überreiche
Kasuistik schimmert die Gesamttendenz hindurch, mehr
und mehr neben den allgemeinen Rücksichten auf die
Persönlichkeit des Zeugen die besondere Rücksicht au!
die sein Wissen von dem streitigen Sachverhalt sicher-
stellenden Momente zu betonen, und so gelangt man zu-
weilen dazu mit einer Verstärkung in letzterer ein Nach-
lassen in ersterer Richtung zu verbinden.^) Darauf ist
es denn auch zurückzuführen, daß in gewissen Streitsachen
von dem Erfordernis, daß der Zeuge Gerichtsgenosse sei,
Abstand genommen wird und zur Seltenheit sogar Gäste,
mit oder ohne Gerichtsgenossen zur Seite, als Zeugen
geduldet werden. Hierbei kann die Ausgestaltung der
Details im einzelnen Stadtrecht durch die Gesamtstimmung
gegenüber den Gästen schließlich mit beeinflußt worden
sein.2) Allein, was es hier galt zu zeigen, die Grundlage
und Grundrichtung auch der auf das Zeugnis der Gäste
sich beziehenden Sätze liegen in allgemeinen Einrichtungen
der mittelalterlichen Stadtverfassung , Stadtgerichtsver-
fassung und Gerichtsprozedur, nicht in besonders auf die
Gäste abgestellten Motiven.
III.
Das Schwergewicht des Gästerechts liegt in den
Vorschriften über den Handel, den Gewerbebetrieb, den
Aufenthalt und Verkehr der Gäste in der Stadt, auch
den gerichtlichen Verkehr, d. h. die Gestaltung des Pro-
zesses und der Gerichtsverfassung, wenn der Gast
Partei ist, wenn von ihm oder gegen ihn Recht ge-
sucht wird. Hier stammen die bestimmenden Ideen
nicht aus der anfänglichen Struktur der Stadtverfassung,
>) Auch hierzu besonders Planck a. a. O. II, S. 45 ff., 73 fi.
Nähere Untersuchungen fehlen bisher.
*) Vgl. z. B. bezüglich Lübecks und Hamburgs Planck S. 56:
dort schärfere Entwicklung der Beschränkungen der Zeugnis-
fähigkeit „wohl in Folge der allmählich erlangten größeren staat-
lichen Selbständigkeit und Abgeschlossenheit*'.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 499
etwa gar aus dem Recht der Landgemeinden, sie sind
vielmehr erst Produkte des entwickelten städtischen
Geistes. Hier wirkt die Stadt nicht als Grundbesitzer-
gemeinde, sondern als Marktgemeinde.
Nur andeutungsweise sollen die Bestimmungen über
Handel, Handwerk, Aufenthalt der Gäste in der Stadt an
der Hand der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur^) im
folgenden skizziert werden.
Dem Gast ist vor allem der Detailhandel, darunter
der Gewandschnitt, untersagt; er darf die Waren, die er
in die Stadt bringt, oder doch gewisse Warengattungen
nur im großen absetzen ; Ausnahmen, zuweilen aber auch
noch unter Beschränkungen, gelten für die Marktzeiten,
besonders die Jahrmarktzeiten.
Verbreitet ist das Verbot des Handels zwischen
Gast und Gast, damit nicht der vom Gast kaufende Gast
den Einkauf der Stadtbürger erschwere und verteuere
und der an den Gast verkaufende Gast den Gleiches
feil haltenden Bürgern Konkurrenz mache. Wo das
Verbot nicht voll durchgeführt ist, sind die Gäste wenig-
stens verpflichtet, ihre Waren zuvörderst den Bürgern
anzubieten. Derartige Vorkaufsrechte der Bürger gibt es
in zahlreichen Abstufungen. Dem Gast ist der Vorkauf
in jeglicher Gestalt aufs strengste untersagt.
^) Vgl. besonders im Handwörterbuch der Staatswissen-
schaften (2. Aufl.) die Artikel «Bürger^ (v. Below), ,,Fremden-
recht* (R. Ehrenberg) und „Stapelrecht* (Stieda) und im Wörter-
buch der Volkswirtschaft (2. Aufl.) die Artikel „Fremdenrecht''
(v. Below) und „Stapelrecht'' (Rathgen), femer Stieda in den
Jahrb. f. Nationalök. Bd. 27, S. 67 ff., v. Below in dieser Zeitschrift
Bd. 86, S. 63 ff., 68 ff. und in den Jahrb. f. Nationalök. Bd. 75,
S. 4 f., 7 f. und Bd. 76, S. 457 ff., 460 f., Techen in den Hansischen
Geschichtsblättern, Jahrg. 1897, S.60ff., Goldschmidt, Universal-
geschichte des Handelsrechts I, S. 120 ff., Gengier, Deutsche
Stadtrechtsaltertümer S. 162 ff., Franz Pick in der oben S. 476
Anm. 2 zitierten Abhandlung (wo das höchst entwickelte Prager
Gästerecht behandelt wird), Th. Stolze, Die Entstehung des
Gästerechts in den deutschen Städten des Mittelalters (Diss.
1901), M. Scheller, Zoll und Markt im 12. und 13. Jahrhundert
(Diss. 1903).
500 Alfred Schultze,
Ein Bürger darf nicht mit einem Gast in eine Han-
delsgesellschaft treten oder für einen Gast Handlungs-
bevollmächtigter sein.
Das „Stapelrecht** mit Umschlags-, Niederlags-, Stra-
ßenzwang soll den auswärtigen Handel nach Möglichkeit
in der heimischen Stadt konzentrieren und bei ihr fest-
halten. Es verbietet den Gästen, ihre Handelsgüter oder
solche gewisser Gattungen durch die Stadt hindurch oder
an ihr vorbei zu transportieren, und gebietet ihnen ent-
weder, sie eine bestimmte Anzahl von Tagen in der
Stadt liegen zu lassen und den Bürgern zum Kauf aus-
zubieten und erst das dann noch Unverkaufte weiter-
zuführen, oder gar überhaupt, ihre Waren nicht über die
Stadt hinauszubringen, also alles bis zum letzten an
die Bürger loszuschlagen, wenn man nicht wieder zum
Rücktransport gezwungen sein will.
Die Gäste müssen die von ihnen zum Verkauf ein-
gebrachten Waren nach besonderen, von der Stadt auf-
gestellten Tarifen verzollen.
Ihr Handelsverkehr unterliegt einer mannigfaltigen
Beaufsichtigung. Sie dient der Einhaltung der erwähnten
Bestimmungen, aber auch der Kontrolle ihrer Waren auf
ihre Güte, zu welchem Zweck ihnen bestimmte Verkaufs-
plätze angewiesen sind. Zur Geschäftsvermittlung müssen
die Gäste sich einheimischer, von der Stadt angestellter
Personen (Makler, Unterkäufer), zum Abwägen ihrer
Waren müssen sie sich einheimischer Wäger bedienen
unter Benutzung der öffentlichen Wage, für die sie z. B.
in Freiburg i. Br. (§ 36 Keutgen S. 122) eine Gebühr zu
zahlen haben, während sie für die Bürger gebühren-
frei ist.
Der Aufenthalt der Gäste in der Stadt ist zeitlichen
Beschränkungen unterworfen. Die Wirte — meist nicht
berufsmäßige Gastwirte, sondern Bürger, die neben dem
Betrieb eines andern Gewerbes Fremde bei sich auf-
nehmen, — sind für die Belehrung ihrer Gäste über das
Gästerecht der Stadt und für ihr vorschriftsmäßiges Ge-
baren haftbar, sollen sich insbesondere auch jeder be-
günstigenden Einmischung in den Handel ihrer Gäste
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 501
enthalten. Manchenorts dürfen sie selbst nicht mit ihnen
Kaufgeschäfte abschließen.
Schließlich liegt ja auch in dem Zunftrecht ein wich-
tiger gästerechtlicher Inhalt, gerichtet darauf, die Kon-
kurrenz auch der Gäste in den zunftmäßig geschützten
Handwerken fernzuhalten.
Diese Rechtssätze haben sich im Laufe des Mittel-
alters mit mannigfachen Schwankungen in den einzelnen
Stadtrechten und mit starken Unterschieden zwi-
schen den verschiedenen Städten, doch im allge-
meinen in steigender Tendenz entwickelt; sie haben sich
noch lange über das Mittelalter hinaus erhalten.^) Was
sie bezwecken, ist unverkennbar. Der Gast soll hinter
dem Einheimischen zurückgesetzt, er soll im Interesse
einer „geschlossenen Stadtwirtschaft'' für den städtischen
Handel minder konkurrenzfähig gemacht, seine Bewegungs-
freiheit soll gehemmt werden. Gewiß ist nicht alles dar-
auf zurückzuführen. So rechtfertigt sich z. B. die dem
Gast obliegende Verzollung der zum Verkauf gebrachten
Waren, wie dies auch die Quellen gelegentlich zum Aus-
druck bringen 2), schon als Ausgleich dafür, daß er die
Bürgerlasten, vornehmlich die Schoßpflicht und die Wach-
pflicht, seinerseits nicht trägt, während er doch die Vor-
teile aus den städtischen Einrichtungen mitgenießt. Aber
alles in allem genommen, zeigen die Vorschriften einen
den Gästen und ihrem Handel unfreundlichen Geist. Sie
sind nicht bloße Äußerungen der Notwehr gegen Betrüge-
reien zweifelhafter Elemente oder gegen sonstige Aus-
wüchse des Gästehandels, obwohl dies natürlich auch
mitgespielt hat. Sie sind auch nicht bloß dazu da, „Ord-
nung in den bisherigen Wirrwarr zu bringen", und erst
recht nicht dazu bestimmt, auf solche Weise „den Ver-
kehr zu heben" (Sticda a. a. 0. Art. „Stapelrecht"). Sie
sind vielmehr in der Tat vor allem — man denke z. B.
nur an das Verbot des Handels zwischen Gast und Gast —
>) v. Below in Jahrb. f. Nationalök. 76, S. 459 Anm. 34.
*) Vgl. Rudorff a. a. O. S. 9 und die dort angeführten Stellen,
Scheller a. a. O. S. 56 f.
502 Alfred Schultze,
von dem Wunsche der Bürgerschaft eingegeben, zu ihren
Gunsten den Handel der Gäste nach allen möglichen
Richtungen einzuschnüren und damit die Konkurrenz
niederzuhalten, welche ein freier Verkauf der Gastware
bringen könnte. Einen kaum noch nötigen Beleg dafür
bietet eine Handfeste des Königs Wenzel vom 23. Mai 1304
für die Prager Altstadt und Neustadt^ die eine Reihe von
gästerechtlichen Normen mit der Motivierung einleitet:
y,quod ipsae civitates multa detrimenta et dampna red-
plant et receperint a temporibus retroactis propter hospites
de quibuscunque terris, sua mercimonia legata (= ligata)
et non ligata In dlctas civitates adducentes.*"^) Schon in
der Einführung der Waren selbst wird also hier die mög-
licherweise die Bürgerschaft schädigende Handlung ge-
sehen.
Nun treten diese Bestimmungen des Gästerechts, von
fjanz schwachen und vereinzelten Vorläufern abgesehen, in
den Quellen erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts
auf und in weiterer Verbreitung und detaillierterer Aus-
prägung mit, wie gesagt, steigender Tendenz erst vom
13. Jahrhundert an. Es legt dies, obschon wir mit dem
spärlicheren Bestand der früheren Stadtrechtsquellen zu
rechnen haben, den Schluß nahe, für den auch die innere
Wahrscheinlichkeit spricht, daß es in den Anfangszeiten des
städtischen Wesens sich anders verhalten hat, daß es ein
Gästerecht in diesem Sinne, also im Sinne einer Zurück-
setzung und Einengung des Gästehandels nicht gegeben
hat, daß vielmehr der geschichtliche Hergang mit von
Below^), der dies besonders klar hervorgehoben hat, und
anderen dahin zu kennzeichnen ist: Nach einer verkehrs-
freundlichen Zeit, in der die neugegründeten Städte durch
») Aus dem Abdruck bei Rößier, Rechtsdenkmäler aus Böhmen
und Mähren Bd. 1, Einl. S 87, dazu Pick a. a. O. S. 422, vgl. auch
S. 425. Das Aufbinden (disUgare) der Ware in der Stadt be-
deutet, daß sie nun zum Verkauf gestellt werde.
•) In dieser Zeitschrift Bd. 86, S. 63 ff., Th. Stolze a. a. O.,
R. Ehrenberg a. a. O. Art. „Fremdenrecht*, Sieveking in Viertel-
jahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Bd. 2, S. 194, 196,
208 f., Flamm (Zitat oben S. 489 Anm. 3) S. 39 f., Pick a. a. O.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 503
das Heranziehen von Fremden und durch den freien
Handel mit ihnen erstarkt sind, folgt mit dem ausgehen-
den 12. Jahrhundert ein Richtungswechsel in der städti-
schen Wirtschaftspolitik, die nunmehr durch bewußte Ab-
schließung und durch Zurückdrängung und Reglemen-
tierung der Fremden den heimischen Handel und das
heimische Handwerk zu fördern strebt.^)
Da scheint Eines dieser Auffassung in den Weg zu
treten: die Gastgerichte.
Sie setzen gerade erst um dieselbe Zeit ein — Ha-
genau (1164) (Keutgen S. 136) ist das älteste bisher be-
kannte Beispiel in Deutschland^) — und verbreiten sich
vom 13. Jahrhundert an weit über ganz Deutschland. Ihr
Kernstück, an das anderes sich angesetzt hat (unten S. 523 f.),
liegt darin, daß hier der Gast in der Stadt das Recht be-
kommt auf eine ganz außerordentliche, schleunige Rechts-
hilfe in Prozessen mit Bürgern und anderen Gästen
^propter transeuntis impedimenta'' , wie das Hagenauer
Stadtrecht sagt, oder „daz er an dem naechsten tag
seiner tagwaid (= Tagreise) nicht versaumpt sey", wie
Art. 260 des Münchener Stadtrechts von 1347 (ed. Auer)
sich ausdrückt. Und dies in Prozessen um Geldschulden
und fahrende Habe, also gerade in solchen, die aus
dem Handelsverkehr entspringen, und in leichteren Straf-
sachen.') Er kann verlangen, daß seinetwegen auf seinen
Antrag ein außerordentliches Notgericht außerhalb des
„rechten ausgelegten Dings", wenn es not tut: mit ver-
einfachter Besetzung, zusammentrete und daß die Sache
sofort (Jo /tant"*) noch an dem Tage der Antragstel-
lung selbst oder nach manchen Stadtrechten (besonders
wenn Beweismittel, Eideshelfer, Zeugen, Urkunden zu
beschaffen sind) spätestens „ubir twere nacht'' ^ d. h. nach
einer dazwischen (quer 1) liegenden Nacht, also am näch-
0 V. Below, Jahrb. f. Nationalök. 75, S. 7: «Das Gästerecht
trägt erheblich zur Bildung eines kräftigen bürgerlichen Klein-
händlerstandes bei.^
«) Rudorff S. 152«.
») Nicht in Prozessen um Ungericht (schwere Missetat) und
Liegenschaften: Rudorff S. 164 ff.
504 Alfred Schultze,
sten Tage, entschieden werde , auch die Vollstreckung
des Urteils sich alsbald anschließe. Dabei soll das Gast-
gericht ohne Aufschub zu jeder Tageszeit, nach einigen
Rechten selbst zur Nachtzeit, unbekümmert um Feiertag
oder gebundene Tage und nicht bloß an der ordentlichen
Gerichtsstätte, sondern überall „praeterquam in ecclesia,
balneo et taberna'' (Eger 1279, § 18 mit § 17 bei Gengier,
Stadtrechte S. 99), auch auf der Gasse, abgehalten werden
können.^) Eine Justizbeschleunigung, wie man sie sich
schöner gar nicht wünschen kanni
Das erscheint als eine Bevorzugung der Gäste, ge-
radezu als eine Besserstellung gegenüber den Einhei-
mischen und will schlecht passen zur Annahme einer
allgemeinen die Gäste beschränkenden Wirtschaftspolitik,
ist denn auch gegen eine solche ins Feld geführt wor-
den. So nennt Stieda^) die Gastgerichte „ein lebhaftes
Zeichen der zunehmenden Beweglichkeit des Mittel-
alters", „nur in dem Wunsche entstanden, dem Handeis-
manne eine Begünstigung zuteil werden zu lassen''.
Auch in Otto Gierkes Deutschem Privatrecht (I, § 56)
finden wir den Satz: „Als dann der aufblühende Welt-
verkehr eine rücksichtsvolle Behandlung der Fremden
forderte, wurde ihre Rechtstellung immer mehr ver-
bessert und namentlich durch die Einrichtung der städ-
tischen Gastgerichte befestigt." Brunner (Grundzüge
der deutschen Rechtsgeschichte, 3. Aufl., 1908) S. 166
zählt die Gastgerichte zu den „prozessualischen Er-
leichterungen", die man „zur Begünstigung des Verkehrs
den Stadtfremden einräumte". Stobbe (Deutsches Privat-
recht I, § 42, Ziff. 5) sieht in dem Anspruch auf das
Gastgericht eine „Privilegierung" der Fremden, und
Goldschmidt (Universalgeschichte 1, S. 120) erblickt
einen „Fortschritt" gegen früher darin, daß dem Fremden
„gar im Gastgericht unverzögertes, vielleicht beschleu-
>) Rudorff S. 188 ff., 149.
•) Jahrb. f. Nationalök. 27, S. 67, im Anschluß an Osenbrüggen
(unten S. 505 N. 2) S. 19, aufrechterhalten im Art. »Stapelrecht**
a. a. O. Bd. 6, S. 994.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 505
nigtes Recht gesprochen wird". RosenthaP) sagt: „Dem
Fremden wurde beschleunigte Rechtshilfe, namentlich
in Abkürzung der Termine bestehend, gewährt im In-
teresse eines ungehinderten Fremdenverkehrs." Osen-
brüggen^), der ältere Schriftsteller der Gastgerichte, leitet
ihre nähere Darstellung mit den Worten ein: „Wenn
nun ein Kaufmann . . . nach vielen Fährlichkeiten und
Ausgaben einen Ort erreicht hatte, so war er gern ge-
sehen mit seiner Kaufmannschaft und da genoß er
denn auch ein wirkliches . . . Recht in dem allgemein
verbreiteten Institut der Gastgerichte." Ebenso betont
der jüngste Bearbeiter dieses Themas, Hermann Rudorff
(a. a. 0. S. 153), die in den Gastgerichten liegende „Be-
vorzugung der Gäste "" mit Nachdruck, wenn auch die
Gründe, wie er sagt, „zuletzt egoistische'' sein moch-
ten, „sei es, daß man den Verkehr der eigenen Stadt
fördern, sei es daß man auswärtigen Repressalienarrest
(vgl. unten S. 511) gegen einheimische Bürger verhin-
dern wollte''. Dagegen hat v. Below (in dieser Zeitschrift
86, S. 69) Bedenken gegen diese Einschätzung der
Gastgerichte angedeutet, und sein Schüler Stolze (S. 78 ff.)
hat dieselbe ausführlicher zu bekämpfen gesucht, docti
ohne wirklich durchschlagende Gründe zu finden und ohne
dem juristischen Inhalt der Institution gerecht zu wer-
den. Nach V. Amira hatte, wenn ich seine kurze Be-
merkung (Grundriß, 2. Aufl., S. 92) recht verstehe, die
Institution ein Doppelgesicht, indem sie zum einen Teil
eine Bevorzugung der Einheimischen, zum anderen Teil
eine Bevorzugung der Gäste bedeutete.
Die interessante Frage will im Zusammenhang mit
anderen wichtigen prozeßrechtlichen Teilen des Gäste-
rechts betrachtet sein, vor allem mit den Gericht-
stands-, den Kompetenzverhältnissen des Stadtgerichts.
Zielbewußt, Schritt für Schritt, in Abwandlung der
entgegenstehenden Sätze des Landrechts, dehnte das
*) Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorga-
nisation Bayerns Bd. 1, S. 161.
') Studien zur deutschen und schweizerischen Rechts-
geschichte S. 19 ff., 33.
HIttoriMlic Zeitschrift (101. Bd.) X Folge b. Bd. 33
506 Alfred Schultze,
Stadtgericht seine Kompetenz auf die Prozesse der
Gäste aus, sowohl auf die bürgerlichen als auf die pein-
lichen Prozesse. Man wird dies nicht lediglich erklären
dürfen aus der Schwäche des Reichs und der terri-
torialen Zersplitterung und aus der daraus entspringen-
den Sorge, auswärts, z. B. in dem Gericht des Wohnorts
des Gastes, kein Recht zu erlangen.^) Denn auch auf
Gäste aus dem Territorium, dem die Stadt selbst an-
gehörte, auf „homines'' des eigenen Stadtherrn, auf
seinen landsässigen Adel erstreckte sich die Ausdeh-
nungstendenz der städtischen Gerichtsbarkeit.^) Viel-
mehr offenbart sich darin vor allem die Absicht, was
nur irgendwie in dem Machtbereich der Stadt war, der
städtischen Gerichtsherrschaft zu unterwerfen und gegen
die Konkurrenz jeder anderen Gerichtsbarkeit abzu-
schließen, und damit — was ein Hauptpunkt war — das
Streben, die städtischen Gerichtseinkünfte, an denen zu-
erst allerdings noch, aber in sinkendem Maße, der Stadt-
herr teilnahm, nach Möglichkeit zu vermehren. Was
ähnlich auch in den anderen Gerichtsherrschaften all-
mählich versucht wurde, in den Städten wurde es be-
sonders früh, zum Teil erst ein Vorbild für die anderen,
mit besonderer Kraft, Konzentration, Einseitigkeit und
mit besonderem Erfolge durchgeführt.') Den monopo-
listischen Maßregeln im Handel und Gewerbe reihte
sich die monopolartige Entwicklung der stadtgericht-
lichen Kompetenz gleichmäßig an. Das tritt schon im
Verhalten zu den eigenen Bürgern hervor. Handelte
0 Vgl. Stobbe im Jahrbuch des gemeinen deutschen Rechts
Bd. 1, S. 443, auch Rudorff S. 38.
*) Kölner Schiedsspruch von 1258 (Keutgen S. 162, Nr 46),
Braunschweig-Hagen (12. Jahrhundert) § 14 verglichen mit § 13
und dazu Frensdorff in den Göttinger Nachrichten, phil.-hist. Kl.
1906, S. 298 ff., Stadtrecht von Iglau (13. Jahrhundert) III bei Toma-
schek, Deutsches Recht in Osterreich im 13. Jahrhundert S. 199
und die dort angeführten Quellensteüen aus Schlesien und der
Lausitz. Vgl. auch Planck, Deutsches Gerichtsverfahren im
Mittelalter Bd. 2, S. 372 Anm. 2. Ober hiergegen einsetzende Ab-
wehrbestrebungen Rudorff S. 47.
») Planck a. a. O. Bd. 1, S. 86.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 507
es sich um einen Rechtstreit zwischen ihnen, so daß
Kläger und Beklagter Bürger derselben Stadt waren, so
sollte er nach einer überall in den Stadtrechten wieder-
kehrenden Vorschrift auch dann nicht vor ein auswär-
tiges Forum gebracht werden, wenn beide Teile sich
gleichzeitig im dortigen Gerichtsbezirk aufhielten und
dort ein Gerichtstand nach den dortigen Rechtsregeln
(dort begangene Straftat, dort kontrahierte Schuld) be-
gründet war. Nur unter dem Titel daheim erlittener
Justizverweigerung (Regensburg 1230, § 5, bei Keutgen
S. 197) oder mit erlangtem Erlaubnisurteil des heimischen
Stadtgerichts (Lippstadt nach 1198, §3, vgl. Goslar 1219,
§ 30, ebenda S. 148, 181) sollte in solchen Fällen der
Bürger seinen Mitbürger zwingen dürfen, vor dem aus-
wärtigen Gericht Recht zu geben. Der zuwiderhandelnde
Kläger war nicht bloß dem Beklagten Schadenersatz
und Buße schuldig (vgl. das erste Straßburger Stadt-
recht, 12. Jahrhundert, § 30, 31, bei Keutgen S.95), sondern
— das war die Auffassung — er hatte sich damit auch
an seiner Heimatstadt selbst versündigt, ein Delikt be-
gangen, das ihm öffentliche Strafe, manchmal eine nicht
gering bemessene, so nach dem alten Soester Recht
§ 29 (Keutgen S. 141) eine solche von 10 Mark und einer
„carrata vini*" oder nach den Statuten von Hannover
(Anfang des 14. Jahrhunderts) c. 26 (Keutgen S'. 295)
gar den Verlust des Bürgerrechts, eintrug.^) Ein Beleg,
wie stark in diesen zunächst dem Interesse der mit
Klage bedrohten Bürger dienenden Vorschriften doch
auch die Eifersucht auf Kompetenz und Sportein lebendig
warl Und nun das Verhalten gegenüber den Gästen.
In beiden Richtungen suchte man nach Kräften die
Kompetenz über sie zu gewinnen: sowohl nämlich für
ihre Klagen gegen die Bürger als für die Klagen gegen
sie. 2)
>) Vgl. die weiteren Belege bei Planck a. a. O. Bd. 1, S. 46 f.,
Simon, Juris saxonici medii aevi de foro competenti praeceptä
(Di88. 1867) S. 6 ff. und RudoHf S. 44 H.
*) Vgl. zum Folgenden die Darstellung und Quellenbelege
von Rudorff S. 37 H., 86 ff.
33*
508 Alfred Schultze,
Nehmen wir zunächst die Bestrebungen in letzterer
Richtung, also in den Fällen, in denen der Gast bddagt
werden sollte. Hier galt es den allbekannten Fundamental-
satz des mittelalterlichen wie des heutigen Gerichtsrechts:
„actor sequitur forum rei*"^ der den Kläger in diesen
Fällen nach auswärts in das Gericht des Wohnsitzes des
zu verklagenden Gastes wies, zugunsten der eigenen
stadtgerichtlichen Kompetenz möglichst außer Kraft zu
setzen. Mittel hierfür bot schon das Landrecht (Sachsen-
spiegel 111, 25, § 2 und 3), wonach für alle Schuldver-
pflichtungen, die der Gast in der Stadt kontrahiert hatte,
das forum contractus und für alle in der Stadt von ihm
verübten Frevel (leichtere Vergehen) und Ungerichte
(schwerere Verbrechen) das forum delicti commissi in
Anspruch genommen werden konnte. Aber man ging sehr
viel weiter. Man schuf Gästerecht im schärfsten Sinne 1
Es ward ein Mittel^) gefunden, alle möglichen bür-
gerlichen Prozesse gegen Gäste um Schuld oder Fahr-
habe — Liegenschaftsprozesse kamen ja auch nach dem
oben zu II Gesagten so gut wie garnicht in Betracht —
im Stadtgericht anzustrengen, ganz ohne Rücksicht dar-
auf, ob die betreffende Verpflichtung in der Stadt oder
auswärts, ob sie in vergangener, vielleicht längst zurück-
liegender Zeit oder neuerlich kontrahiert war : das forum
arresti. Jeder Gast — so legte man sich die Sache zu-
recht — ist als solcher ein unsicherer Mann, er gleicht
dem Bürger „uppe der vluchtsalen'*, der sich anschickt,
seinen Gläubigern durch die Flucht zu entgehen.^) Da-
her kann man ihn, wenn man seiner in der Stadt hab-
haft wird, und wenn er nun nicht auf Ansprache gut-
willig zahlt, unter Zuziehung des Richters oder des Büt-
0 Hierzu außer Rudorff: v. Meibom, Deutsches Pfandrecht
S. 147 ff., 158 ff., Planck a. a. O. Bd. 2, S. 367 ff., Auer in der Ein-
leitung der Ausgabe des Münchener Stadtrechts S. 89 ff., v. Amira,
Nordgermanisches Obligationenrecht Bd. 1, S. 164 ff., Frensdorff
a. a. O. S. 298 ff. Für Italien: Wach, Italienischer Arrestprozeß
S. 38 ff.
■) Goslarer Statuten (U.Jahrhundert) bei Göschen S. 110Z.14,
Münchener Stadtrecht Art. 14, 15.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 509
telSy oder falls diese nicht zu erlangen sind, unter Zu-
ziehung von Bürgern der Stadt arrestieren, „besetzen**,
„aufhalten", „verbieten", „hindern", „bekümmern." Man
kann dies überall im städtischen Gerichtsbezirk, nicht
bloß innerhalb der Stadtmauern, sondern auch „uz der
stad, vor deme tore, in der borger holze" (d. h. im
Stadtwald), auf der Straße, in der Herberge, in der Ta-
verne, im Kaufhaus, aber auch im Privathaus, zu aller
Zeit, es sei Tag oder Nacht, „vor der Frühmette und nach
der Wächterglocke ".^) Dadurch wird der Gast verpflichtet,
dem Kläger vor dem Stadtgericht zu Recht zu stehen —
darin eben liegt das Kompetenzbegründende dieses Ar-
restes — und wandert, wenn er, was bei ihm als Fremdem
gewiß häufig der Fall, keine Bürgen für sein Erscheinen
zu setzen imstande ist, auch nicht das Einstehen seines
Wirtes, bei dem er in Herberge ist, zu erreichen vermag,
bis zur entscheidenden Gerichtstagung in gerichtlichen
Gewahrsam, in das öffentliche Gefängnis, in den „Stock"
in der „Stadt Eisen ".^) Man soll ihn dann „hintz dem
nachrichter auf das recht" legen, wie das Wiener Stadt-
rechtsbuch (Art. 22 mit Art. 9, ed. Heinrich M. Schuster)
sich ausdrückt. Mit diesem, in Deutschland weitaus in
erster Linie stehenden Personalarrest konnte der Sach-
arrest verbunden, d. h. es konnten auch Sachen des
Gastes, so sein Pferd, dessen die Quellen mit Vorliebe
gedenken, und seine in die Stadt gebrachte Handels-
ware, arrestiert, „besetzt", „versprochen" werden. Eine
selbständige, ganz besondere Bedeutung für die Erwei-
terung der stadtgerichtlichen Kompetenz gewann aber
dieser Sacharrest dann, wenn er in Abwesenheit des
Gastes an seiner Habe angelegt wurde, da so selbst ein
außerhalb der Stadt weilender Gast dem forum arresti
unterworfen und vor das Stadtgericht gezogen werden
konnte. „Sicut actor — urteilen die Schöffen von Brunn —
potest reum in omni iudicio, in quo ipsum personaliter
reperuerit pro debitis arrestare: sie etiam potest res eius
*) Gosiarer Statuten, ed. Göschen S. 63 Z. 5.
») V. Amira a. a. O. S. 166.
510 Alfred Schultze,
occupare, et ad illud iudicium debet reus venire, et res
rf/sAr/^a/M/{? (unter Befreiung der Sachen vom Arrestschlag),
actoris querimoniis respondere.**^)
Alles das drohte dem Gast nicht bloß von einem
Bürger, sondern auch nach vielen Rechten von einem
klagenden anderen Gast. Die „Besetzung'' der Person
des anwesenden, der Habe des abwesenden Gastes wurde
so geradezu die regelmäßige Art, den Prozeß gegen
Gäste einzuleiten.
Ahnlich konnte in peinlichen Sachen wegen einer
Missetat, die ein Gast an einem Bürger oder nach
manchen Stadtrechten auch an einem anderen Gast
früher auswärts verübt hatte, derentwegen also in der
Stadt das forum delicti commissi nicht begründet war,
doch die Klage vor dem Stadtgericht erhoben werden,
wenn der Gast sich später in der Stadt blicken ließ und
vom Kläger festgenommen wurde: forum deprehen-
sionis.'^)
Diese Bestimmungen mußten den Verkehr der Gäste
in der Stadt unbehaglich machen. Man denke, daß doch
nicht bloß gerechte Arrestierungen und Festnahmen,
sondern auch ungerechte zu befürchten waren. Man
denke an die Furcht vor der Aburteilung durch das
fremde Gericht, an die Sorge, nicht die genügende
Zahl Eideshelfer aufzutreiben') oder keine mit den nötigen
») Rößler II, S. 58, Nr. 110; ähnlich Magdeburger Weistum
für Kulm 1338, § 8 (Laband, Magdeburger Rechtsquellen S. 141),
Rechtsb. nach Distinktionen 111, 4, dist. 4, Augsburger Stadtrecht
1276, Art. 141 (ed. Meyer).
») Vgl. z. B. schon das Alte Soester Recht § 21 (Keutgen
S. 141). Das Recht von Freiburg i. Br. § 26 und manche seiner
Tochterrechte gestatten in solchem Falle dem vom Gast verwun-
deten Bürger, wenn dieser die Tat bei seinem Stadtrichter ge-
meldet hatte und nun den Täter in der Stadt betrifft, sogar noch
die Selbsthilfe — ein exorbitant gästefeindlicher Satz! (Rudorff
S. 43 f.)
») In welchem Falle freilich die merkwürdige Institution des
„Elendeneides* — Beweisführer leistet die ihm fehlenden Hilfs-
eide selbst ab — Schutz bieten sollte; doch wurde sie meist nur
in^ peinlichen und nur vereinzelt in bürgerlichen Sachen zuge-
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 51 1
Qualitäten ausgestatteten Zeugen, also vor allem Bürger
der fremden Stadt, in der man sich aufhielt, (oben II)
für sich zu haben. Wie sehr das Unbehagliche dieser
Rechtslage empfunden wurde, lassen die Quellen er-
sehen. In dem bereits erwähnten Kölner Schiedsver-
fahren vom Jahre 1258 beschwert sich der Erzbischof
über die Bürger auch deswegen (Nr. 46, Keutgen S. 162 f.),
weil sie seine eigenen „homines'' ebenso wie Gäste, die
mit Verkaufsware oder anderer Fahrhabe in die Stadt
kämen, unter der Behauptung, daß sie Geld oder anderes
ihnen schuldig wären, mit Person und Habe arrestierten
und vor ihr Gericht schleppten. Er sucht dann weiter
gerade durch die Ausführung zu wirken: die Kölner
ständen sich mit solchem Verhalten selbst im Lichte, da
sie doch nun für ihre eigenen Personen und Sachen
draußen an den verschiedensten Orten von den ver-
schiedensten Personen gleichfalls Arrestschlag und Ver-
handlung des Rechtsstreites „coram iudice actoris** be-
fürchten müßten, „cum tarnen iuris sit in utroque casu,
ui actor forum rei sequatur'^. Aber der Schiedsspruch
lautet kurz ablehnend (Keutgen S. 170), „quod quidam
de hominibus possunt arrestari et similiter de extraneis"".
Die Schwüle wurde noch gesteigert durch den wegen
seiner Unvoraussehbarkeit besonders drückenden Re-
pressalienarrest, eine mittelalterliche Anwendung der
Selbsthilfe und der genossenschaftlichen Gesamthaftung
von allgemeiner Verbreitung, für den Gästeverkehr in
den Städten aber, wie die zahlreichen einschlägigen
Normen der Stadtrechte beweisen, von besonderer Be-
deutung. ^ Hatte nämlich ein Kölner eine Schuldfor-
lassen. Rudorff S. 29 ff., meine Bemerkungen in Zeitschr. d. Sav.-
Stiftung Bd. 28, German. Abt. S. 505 f.
*) Vgl. die Formulierung in der Stadtrechtsmitteilung von
Frankfurt a. M. nach Weilburg von 1297, § 25 (Keutgen S. 189).
Rudorff passim, besonders S. 135 f. Anm., femer O. Gierkc, Ge-
nossenschaftsrecht Bd. 2, S. 386 ff., Stobbe, Zur Geschichte des
deutschen Vertragsrechts S. 150 ff., Planck a. a. O. Bd. 2, S. 388f.,
v. Voltelini, Südtiroler Notariatsimbreviaturen, Einleitung S. 129 ff.
Für Italien: Wach a. a. O. S. 47 ff.
512
Alfred Schultze,
derung gegen einen Frankfurter und hatte er für dies
in Frankfurt vor dem dortigen Stadtgericht nicht in g<
höriger Weise Recht bekommen, so konnte er sich i
Köln oder anderswo an jeden beliebigen Mttbürgc
seines Schuldners, also jeden Frankfurter, der als Ga^
dort weilte, halten und ihn statt des Schuldners für sein
Forderung mit Personal- oder Sacharrest belegen un
beklagen. Wer konnte nun, wenn er als Gast eine Stac
betrat, mit Sicherheit wissen, ob dort nicht solche Rc
pressalienarreste gegen seine Heimatstadt auf ihn lauerten
Gewiß, eine gästeabschreckende Maßregel ersten Range;
die freilich insofern doch auch zugunsten der Gast
zu wirken vermochte, als sie ein Antrieb war, de
Gästen den stadtgerichtlichen Rechtschutz (oben I a. E
in gehöriger Weise zu gewähren, um nicht gegen di
eigenen Bürger, während sie auswärts weilten, die Rc
pressalien heraufzubeschwören.
Das Drückende dieser Regeln bestätigen auch di
Ausnahmen, die man von ihnen machte. Erstens ein
Ausnahme für einen Einzelfall zugunsten eines eir
zelnen bestimmten Gastes: das sog. Prozeßgeleit.'
Wollte er aus besonderem Anlaß, z. B. zum Zweck
diplomatischer Verhandlungen oder einer persönliche
Prozeßführung vor dem Stadtgericht oder zum Zweck
der Erfüllung einer ihn im Wege der Zwangsvollstreckun
für eine Schuld treffenden Einlagerpflicht das Stadtgebic
betreten, so mochte ihm wohl auf seine Bitte die Bc
hörde, sei es der Stadtherr, der Stadtrichter oder späte
namentlich der Rat der Stadt, durch jene Art des Gc
leites das Freibleiben von Klagen oder Arresten zi
sichern, mit denen er sonst etwa während seines Aufem
haltes in der Stadt hätte begrüßt werden können. Nac
manchen Stadtrechten mußten freilich vorher seine Gläi
biger in der Stadt, von denen ihm dergleichen droh!
und die er deshalb anzugeben hatte, ihre Einwilligun
dazu erteilt haben, während, wo der Stadtrat entschie<
gewöhnlich die Bewilligung des Geleites davon Unat
') Rudorff S. 133 ff.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 513
hängig war. Als Beispiel diene auch hier der Kölner
Schied von 1258 und zwar ad 3 der gravamina der Kölner
Bürger (Keutgen S. 164 und 170). Sie beschweren sich
über den Erzbischof: er dulde, daß sie in Prozessen
wegen in Köln geschlossener Geschäfte vor ein auswär-
tiges Gericht geladen und dort womöglich „pro causis fri-
volis'' zum Zweikampf gefordert würden. Die Schieds-
richter erklären die Beschwerde für gerechtfertigt und
fügen hinzu, daß wenn ein Gast „metum allegety quod
in Colonia agere non audeat*", der Erzbischof ihm Prozeß-
geleit geben müsse.
Eine zweite Ausnahme, wie von einzelnen anderen
gästerechtlichen Vorschriften, so auch von den Arrest-
regeln, schufen die Reziprozitätsverträge zwischen be-
freundeten Städten. Im Verhältnis zwischen den beider-
seitigen Bürgern wurde der Repressalienarrest an die
formale Feststellung geknüpft, daß dem Bürger in der
anderen Stadt sein Recht nicht geworden sei, oder ganz
ausgeschlossen oder sogar auch — es sind dies die
selteneren Fälle — das forum arresti gegen den Haupt-
schuldner beseitigt. Oder es verlieh einmal ein Terri-
torialherr den Bürgern einer seiner Städte, wie der Graf
von Cleve im Jahre 1242 denen der Stadt Cleve oder
die Markgrafen von Brandenburg im Jahre 1256 den
Bürgern der Stadt Pritzwalk, das Privileg der Arrest-
freiheit in den anderen Städten des Territoriums.^)
Die dritte, wichtigste Ausnahme galt allgemein.
Sie galt für die Zeit des Jahrmarkts^), also für die Zeit,
in der auch manche der handeis- und gewerberechtlichen
Sätze des Gästerechts, z. B. das Verbot des Kleinhandels
(oben S. 499), pausierten oder sich abschwächten. Hier
brauchte man die Gäste. An einer regen Beschickung
») Rudorff S. 64 f., 136 Anm. Kleve : Gengier, Cod. jur. municip.
S. 495, Pritzwalk §11: Gengier, Stadtrechte S. 363. Inwieweit das
Gleiche unter den Mitgliedern der Hanse im Einklang mit anderen
Milderungen des Gästerechts (oben S. 476 N. 2) durchgeführt wurde,
wäre noch zu untersuchen.
■) Manchmal auch für häufiger abgehaltene Märkte (Wochen-
markttage).
514 Alfred Schultze,
des Jahrmarkts war man in der Stadt um des eigenen
Ein- und Verkaufs willen nach wie vor lebhaft interessiert.
Hier bedeutete anderseits die unbegrenzte Möglichkeit,
mit seiner Person und seinen Waren „besetzt** und vor
Gericht gezogen zu werden, für den Gast, der mit seinen
Geschäften auf die knappe Marktdauer angewiesen war,
den schwersten Druck. Deshalb mußte sie während
dieser Zeit sistiert werden. Den Typus gibt das Jahr-
marktsprivileg des Kaisers Friedrich l. für Aachen von
1166 c. 2 (Keutgen S. 38), wonach der Marktfahrer „in
his nundinis** frei ist von jeder prozessualischen Ansprache
„pro debito solvendo vel alio quolibet negocio quod ante
nundinas perpetratum fuerU"*, wogegen, was während
der Marktzeit selbst vorgefallen, uneingeschränkt, dafür
aber auch sofort „//i nundinis"", gegen ihn im Rechts-
wege verfolgbar sein soll. Noch schärfer gerade auf
den Arrest zugeschnitten ist z. B. der Satz im Privileg
für Lechenich im Kölnischen von 1279 § 25 (Gengier,
Stadtrechte S. 244): „guod ita libere sint nundine pre-
dicte, quod nullus ibidem veniens Ulis tribus diebus possit
occupari, arrestari vel aliquo modo molestari, nisi excedat
in foro diebus predictis"* ^) Also ein Stück Jahrmarkts-
freiheit I Sohm (S. soff.) will es aus dem Asylrecht der
Stadt als einem Teil des der Stadt zukommenden Burg-
friedens ableiten. Besser erscheint es mir, es mit Rietschel
(Markt und Stadt S. 204) und Rudorff in den allen
Marktteilnehmern und Marktfahrern als solchen zukom-
menden Marktfrieden einzugliedern. Das Wiener Stadt-
recht 1296 §36 (Keutgen S. 219) nennt den Übertreter
des Satzes „einen Zerbrecher des Friedens". Kaum aber
ruht der Satz in den Grundlagen und Anfangszeiten des
Markt- und Stadtwesens, sondern er ist, wie Rudorff
(S. 133) sehr wahrscheinlich macht, überhaupt erst durch
die zuungunsten der Gäste eingetretene Verschiebung
der Gerichtsstandsverhältnisse und Ausgestaltung des
*) Zahlreiche andere Belegstellen bei Rudorff S. 130 Anm. 1,
2, 3, auch bei Sohm, Entstehung des deutschen Städtewesens
S. 51 f.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 515
Arrestes hervorgetrieben worden zum Schutze des da-
durch gefährdeten Marktverkehrs.
Außerhalb dieser drei Ausnahmen war der Gast in
der Stadt den Konsequenzen der ins Ungemessene aus-
gedehnten stadtgerichtlichen Kompetenz preisgegeben.
Und nun denke man sich, daß er, nachdem ihn während
seines Aufenthaltes Arrest und Klage getroffen hatte, die
ordentliche Dingfrist (meist 14, in manchen Städten
8 Tage) hätte abwarten und, was das ordentliche Ver-
fahren häufig mit sich brachte, infolge der Notwendig-
keit weiterer Termine auf eine Wiederholung der Warte-
frist hätte gefaßt sein müssen. Und so lange hätte er
dann im gerichtlichen Gewahrsam, im „Stock", sitzen,
so lange hätte seine Habe, sein Pferd, seine Ware im
Beschlag liegen müssen. Wohl hätte er einen in der
Stadt eingesessenen Bürger, etwa den Wirt, der ihn be-
herbergte, für sein Erscheinen im nächsten Gericht als
Bürgen stellen und dadurch seine Person und vielleicht
auch seine Habe vom Arrest befreien dürfen. Aber
schwer genug mochte ihm das als einem Fremden werden,
und gelang es ihm, so wäre ihm das Ausharren in der
Stadt bis zum vollen Austrag der Sache doch nicht er-
spart geblieben; sein Fernbleiben hätte den Verlust des
Prozesses und für den Bürgen Prozeßstrafe (Wette) und
volle Haftung für den Inhalt des Urteils zur Folge gehabt.
Die Möglichkeit, sich vor Gericht vertreten zu lassen,
war in der Zeit, wo jene Regeln entstanden, noch nicht
gegeben; sie wäre aber auch später, als sie sich all-
mählich in manchen Stadtrechten eingebürgert hatte, für
den „besetzten" Gast nicht in Frage gekommen, da das
Besetzen dem Kläger nicht bloß das Antworten vor Ge-
richt, sondern auch die Vollstreckung des zu erstreiten-
den Urteils gegen die Person des Gastes, die Personal-
exekution, sichern sollte.^) Die geplante Heimkehr, weitere
») Vgl. Schröder, Rechtsgeschichte § 63*, Planck a. a. O. Bd. 1,
S. 190 ff., Bd. 2, S. 378 f., 386, 389 ff., Rudorff S. 34 ff., 95 ff., v. Amira,
Nordgermanisches Obligationenrecht Bd. 1, S. 166 f. Ein gutes
Beispiel für die Folgen der Besetzung des Gastes ohne Gast-
gericht bietet das Wiener Stadtrechtsbuch Art. 22 verbunden mit
516 Alfred Schultze,
Reisen, Verkaufsgelegenheiten aller Art hätten also wegen
jedes beliebigen begründeten oder unbegründeten An-
spruchs eines Bürgers oder eines anderen Gastes ver-
säumt werden müssen. Das war bei Klagen um schwere
Missetat, die an Leib oder Leben gingen, natürlich nicht
zu beanstanden. Bei Klagen um Geldschuld, Fahrhabe,
leichtere Frevel wäre es eine unerträgliche Härte gewesen.
Hier war ein schleuniges Gericht, das bald den Prozeß
erledigte und bald vom Arrest löste, ein dringendes
Gebot der Billigkeit. Es war auch ein Gebot der städti-
schen Gefängnisökonomie; an einer Oberfüllung des öffent-
lichen Gefängnisses mit besetzten Gästen konnte der Stadt
nichts gelegen sein. Dieses schleunige Gericht war eben
das Gastgericht, das auf Antrag des beklagten Gastes
abgehalten wurde. Er mußte den Antrag sofort nach
der Besetzung, „von Stund' an", stellen, worauf der
Kläger auch sofort, längstens „über eine Nacht **, bereit
sein mußte, „von ihm das Recht vor dem Gastgericht zu
nehmen", widrigenfalls die Besetzung ihre Kraft verlor.
Ein Aufschub des Antrages war dem Beklagten nicht
gestattet. Wollte er nicht alsbald vor einem Gastgericht
Antwort stehen, so mußte er das nächste ordentliche
Gericht abwarten und die oben geschilderten Kon-
sequenzen auf sich nehmen. Denn er sollte auch nicht
seinerseits den Kläger beschweren, indem er ihn tage-
lang zur Gerichtsbereitschaft zwang.
Der enge Zusammenhang des Gastgerichts, das auf
Antrag des beklagten Gastes tagte, mit dem Fremden-
arrest tritt in den Stadtrechtsquellen auf das deutlichste
hervor.^) Wo sie sich eingehender über diese Seite des
Art. 9 (ed. Schuster), auch Hamburg 1270, IX, 8 (ed. Lappenberg
S. 52) = Mach, Cod. III, 359 verglichen mit Visby II, 10, § 1 und 2
(ed. Schlyter, Corpus juris Sveo-Gotorum Bd. 8, S. 83 f.). — v. Amira,
a. a. O. S. 168 — , wo freilich dem Kläger wenigstens bei Strafe
aufgelegt ist, den Beklagten nur bis zum nächsten ordentlichen
Gerichtstag im Arrest sitzen zu lassen.
0 Schon Planck a. a. O. Bd. 2, S. 372 Anm. 3 hat auf diesen
Zusammenhang hingewiesen. Auch Rudorff S. 156, 157 verkennt
ihn nicht, sieht aber darin doch nur einen Hauptfall des vom be-
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städtendes Mittelalters. 517
Gastgerichts äußern, knüpfen sie regelmäßig einzig und
allein an den Fall an, daß der Gast an seiner Person
oder Habe mit Arrest bekümmert worden ist. So das
Rechtsbuch nach Distinktionen (III, 4, d. 9), das Stadt-
recht von Freiberg i. S. (c. III, § 3), die Goslarer Sta-
tuten (bei Göschen S. 66 Z. 35 ff., S. 110 Z. 13 ff.), die
Stadtrechte von Münster (um 1221, § 56) und Lüneburg
(c. 50), das Privileg für Lechenich im Kölnischen von 1279
(§ 15).^) Aber auch das Prager Stadtrecht des U.Jahr-
hunderts (c. 117, Rößler I, S. 71), das sogar dem Prager
Bürger, ^der sich eines Gastes Gut unterwindet in fremden
Landen oder hier in der Stadt und nicht damit tut Gastes
Recht** eine Buße von 10 Schock Groschen androht, offen-
bar, wie Rudorff richtig vermutet 2), für die dadurch auf
die Stadt heraufbeschworene Gefahr des Repressalienar-
restes. Ferner eine Schöffensatzung aus Brunn (no. 210
bei Rößler II, S. 397) des Inhalts : „Ein elender (fremder)
Mann, der nicht Bürgen zu haben vermag, der schwört
alle Tage einen Eid — d. i. einen die Schuld an den
Kläger verneinenden Reinigungseid — , wäre es selbst an
dem Karireitag, um kleine Schuld (nicht schwere Misse-
tat), daß er sich des Stockes überhebe und der Gefangen-
schaft."" Eine Kennzeichnung des Zweckes des Gast-
gerichts von prägnanter Kürzel Ahnlich Magdeburger
Fragen I, 16, dist. 5, wonach Gäste ohne Aufschub auch
an gebundenen Tagen zum Schwören vorzulassen sind,
während sie ja sonst beim Mangel von Bürgen bis zu
offenen Tagen und zu gehegtem Ding durch die „Frone-
gewalt behalten'' werden müßten. Vor allem gehören hier-
her auch die wörtlich oder inhaltlich übereinstimmenden
bayerischen Satzungen: Art. 15 (vgl. 60) des Münchener
Stadtrechts (ed. Auer), Kaiser Ludwigs Rechtsbuch (1346)
§ 297 (v. Freyberg, Sammlung historischer Schriften und
Urkunden Bd. 4, S. 485), das Stadtbuch von Landshut
(Rosenthal, Beiträge zur deutschen Stadtrechtsgeschichte
klagten Gast beantragten Gastgerichts, nicht den Entstehungs-
und Rechtfertigungsgrund für dieses überhaupt.
0 Nähere ZiUte für diese Stellen bei RudoHf S. 157 Anm. 4.
P) S. 136 Anm.
518 Alfred Schultze,
S. 188 unter VII). i) Allerdings reden andere Stadtrechte,
wo sie dem beklagten Gast den Antrag auf Gastgericht,
das alsbaldige Abschwören der vom Kläger behaupteten
Schuld gewähren, nicht gerade vom „Besetzen'' des
Gastes, sondern nur vom „in causam ducere'*^ vom „Ver-
folgen des Gastes mit Klage", von der „Klage auf ihn"*.*)
Allein man darf auch hier als die Form, in der sich die
Erhebung der Klage vollzog, das Besetzen unterstellen,
da es eben gegenüber Gästen die regelmäßige Form der
Prozeßeinleitung war und in vielen Fällen ja erst den
Gerichtsstand vor dem Stadtgericht begründete. Auch
trat, wenn der Gast auf die Ansprache des vom Fron-
boten begleiteten Klägers sofort freiwillig mit beiden
zum Richter ging und dort im Gastgericht Rede und
Antwort stand, das im Besetzen liegende Moment körper-
lichen Zwanges für die äußerliche Betrachtung sehr zurück.
Schon die Möglichkeit der wirklichen Betätigung eines
solchen Zwanges mußte es rechtfertigen, dem damit be-
drohten Beklagten den Antrag auf Gastgericht zu ge-
währen.
Das Besetzen des Gastes wegen Schuld tritt bereits
in ausgeprägter Gestalt im Recht des Hagen (Stadtteil
von Braunschweig) § 13 auf, welches Frensdorff*) neuer-
dings als eine der ältesten für niedersächsische Städte
unternommenen Rechtsaufzeichnungen anspricht und in
die Zeit um 1165 versetzt. Die älteste uns bekannte
Satzung über gastgerichtliches Verfahren, auch über
solches, das auf Antrag des beklagten Gastes erfolgt,
gibt, wie oben erwähnt, das Hagenauer Stadtrecht von
1164 in § 18 (Keutgen S. 136). Selbstverständlich kann
man daraus keine sicheren Schlüsse ziehen auf die wirk-
lichen Entstehungszeiten der beiden Rechtseinrichtungen.
0 Das hier im Anfange stehende Wort „verpüt" oder „ver-
peut** oder „verbuitet" geht auf Verbieten = Arrestieren, nicht,
wie Rosenthal a. a. O. S. 88 und Rudorff S. 63 übersetzen , auf
Fürbieten = Vorladen. Richtig Osenbrüggen a. a. O. S. 50.
') Vgl. die Stellen bei Rudorff S. 157 Anm. 2 und 3 mit Aus-
nahme der schon vorher von mir oben im Text angeführten.
») Göttinger Nachrichten 1906, S. 278 ff., 311.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 519
Aber immerhin schafft das ungefähre zeitliche Zusammen-
fallen, zu dem dann auch das gleichzeitige Aufkommen
der Arrestfreiheit während der Jahrmärkte (Aachener
Privileg von 1166) und die gleichzeitigen Anfänge der
handeis- und gewerberechtlichen Vorschriften des Gäste-
rechts stimmen, ein gewisses Maß von Wahrscheinlich-
keit dafür, daß alle diese Dinge in der Tat zusammen-
gehören.
Das waren die folgenschweren Einwirkungen der er-
weiterten stadtgerichtlichen Kompetenz gegenüber Gästen
in der Rolle des Beklagten. Auch für den umgekehrten
Fall, wo also der Gast der klagende Teil war, waren
ähnliche Bestrebungen an der Arbeit.^) Vor allem handelte
es sich hier um die Klagen der Gäste gegen die Bürger
der Stadt. Galt es dort, wie wir sahen, den Fundamen-
talsatz „actor sequitur forum reV\ weil er nach auswärts
wies, möglichst außer Kraft zu setzen, so galt es hier,
den Satz, weil er den gegen den Bürger klagenden Gast
gerade an das Stadtgericht wies, auf Kosten sonst etwa
begründeter auswärtiger Gerichtsstände zur möglichst
vollständigen Anwendung zu bringen. Solche Gerichts-
stände waren nach Landrecht bei auswärtigem Vertrags-
schluß für eine Klage aus diesem Vertrage das forum
contractus, für eine Klage aus Missetat, die der Bürger
auswärts gegen den Gast verübt hatte, das forum delicti
commissi. Man fürchtete für die Bürger die Ladung,
Abrufung, Evokation in das auswärtige Gericht um der
Fährlichkeiten und Beschwerden der Reise, um der Ver-
säumung im Handwerk und Handel willen, wegen der
Sorge vor der Aburteilung durch die fremden Urteiler
nach fremdem Recht, vor dem dortigen Alleinstehen ohne
Eidesheifer und taugliche Zeugen, wegen der Gefahr des
dort den Bürger nicht bloß in jenem Prozesse selbst,
sondern auch in allen möglichen anderen Klagsachen
beim Mangel geeigneter Bürgen bedrohenden Fremden-
arrestes. Die Städte suchten daher die daheim weilenden
Bürger — für die draußen in anderen Städten auf der
») Rudorif S. 38 ff.
520 Alfred Schultze,
Reise weilenden galt das nicht: diese mußten sich dort
nach den oben dargestellten Regeln als Gäste behandeln
und verklagen lassen^) — von dem Zwange der Evokation
in 'auswärtige Gerichte zu befreien, solche Evokationen
auszuschließen. Am liebsten mit Hilfe kaiserlicher Privi-
legien, deren uns eine ganze Reihe, mit dem 12. Jahr-
hundert beginnend, überliefert sind, so z. B. eins von
Friedrich II. für Regensburg vom Jahre 1230 (§ 18, Keutgen
S. 199) in der Fassung: „cives Ratisbonenses non cogantur
venire ad aliquod iudicium extra civitatem, cum hoc sit
de antiquo iure ipsorum," Oder wenigstens durch Privi-
legien von Fürsten für den Bereich ihrer Territorien.
Oder schließlich in Ermangelung eines Besseren auch
durch eigene autonome Satzungen.^) So waren mithin die
Gäste gezwungen, alle ihre Klagen, auch die nach Land-
recht anderswo verfolgbaren, gegen die Bürger der Stadt,
so lange diese zu Haus sich befanden, im dortigen Ge-
richt anzubringen und zu diesem Zweck die Stadt auf-
zusuchen oder dazu ihren dort aus anderem Grunde
genommenen Aufenthalt zu verwenden und ihrerseits die
Beschwerden einer in der Fremde unternommenen Rechts-
verfolgung auf sich zu nehmen. Auch hier mußte das
Abwarten der ordentlichen Dingfristen und Termine und
der damit verbundene Aufschub der Abreise besonders
fühlbar sein. Dies drängte nach Kompensationen. Die
Möglichkeit, sich durch einen Bürger als Prozeßbevoll-
mächtigten vertreten zu lassen, war, wie wir sahen, in
der Zeit, wo die hier einschlagenden Rechtsregeln sich
herausbildeten, noch nicht vorhanden. Fälle, wie die
unsrigen, sind nachher auf die Zulassung der Prozeß-
vertretung wohl nicht ohne Einfluß gewesen, obwohl —
ein bezeichnendes Stück gästefeindlicher Rechtsbildung —
manche späteren Stadtrechte, die sie eingeführt hatten,
auch dann noch gerade ihrer Anwendung auf die klagenden
') Nur nicht von ihren eigenen, mit ihnen zusammen draußen
weilenden Mitbürgern; oben S. 507.
•) Belege für das Obige bei Simon (Diss. 1867), jaris saxo-
nici medii aevi de foro competenti praecepta S. 10 ff. und bei Ru-
dorif S. 401.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 521
Gäste in den Weg traten.^) Eine ausnahmsweise vor-
kommende Kompensation war die in scharfer Progression
von Ding zu Ding sich steigernde Bestrafung des beklagten
Bürgers wegen Prozeßverschleppungen (Freiberg i. S. III,
§ 1, ed. Ermisch) oder die Verpflichtung des nachher im
ordentlichen Gericht verurteilten, also unrechter Zahlungs-
verweigerung überführten Bürgers zum Ersatz des
Schadens, insbesondere der Verpflegungskosten, die dem
Kläger durch das Liegen in der Stadt erwachsen waren.^)
Die regelmäßige, in den nieder- wie oberdeutschen Stadt-
rechten gewährte Kompensation war aber auch hier das
Gastgericht auf Antrag des Gastes mit beschleunigter Ver-
handlung und Vollstreckung. Die dem klagenden Gast
aufgezwungene Stadtgerichtsbarkeit sollte ihm wenigstens
schleuniges Gericht darbieten. Bot man ihm dieses nicht,
so mußte man ja auch damit rechnen, daß er seine Klage
bis auf die Zeit aufsparte, wo der Bürger aus der Stadt
gefahren war, um ihn dann am fremden Ort als einen
Gast mit Arrestschlag auf Person und Habe zu überfallen.
Insofern wirkte also die Einrichtung des Fremdenarrestes
mittelbar auch auf die Zulassung des klagenden Gastes
zum Gastgericht — ein Zusammenhang, der uns besonders
dort deutlich wird, wo befreundete Städte, die für die
Prozesse zwischen ihren beiderseitigen Bürgern zugunsten
des Beklagten das forum arresil ausschließen (oben S.513)
und sein Heimatsgericht allein zuständig erklären, diesem
Gericht zugunsten des Klägers dann wenigstens „lustlclam
expeditant", d.h. beschleunigtes, gastgerichtlichesVerfahren,
zur Pflicht machen.') Jenes Abdrängen des klagenden
Gastes vom heimischen Gericht des beklagten Bürgers
zum auswärtigen forum arresti hätte ja ferner auch nicht
0 Rudorff S. 36*, dazu Münchener Stadtrecht, Art. 32S (ed.
Auer).
') Stadtrecht von Hannover aus dem 14. Jahrhundert nach
dem Zitat bei Rudorff S. 159 Anm. 1. München, Art. 260, 294 (vgl.
auch 395) hält dies in Reserve für den Fall, daß der Bürger dem
Gast nicht im Gastgericht antwortet.
») Wie im Vertrag Münster-Osnabrück-Soest-Dortmund von
1277 § 8 (Osnabrücker Urkundenbuch Bd. 3, S. 418).
HittorUche Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 34
522 Alfred Schultze,
bloß eine Schädigung des Bürgers, sondern ebenso eine
Schädigung des Stadtgerichts selbst bedeutet, dem auf
diese Weise der Prozeß mit seinen Gerichtsgefällen ent-
gangen wäre. Die Rücksicht auf das letztere konnte
dann auch ein Grund sein, wie dem Gast, der gegen
einen Bürger, so auch dem, der gegen einen anderen
Gast klagen wollte^), den Antrag auf gastgerichtliches
Verfahren zuzubilligen und damit einen Anreiz zu geben,
daß er seinen Rechtsstreit dem Stadtgericht zuführte.
Wir sehen also: Auch in dieser Richtung, in der
man meist die entschiedenste Begünstigung des Gastes
zu finden meint^), für die Klagen der Gäste, ist ebenso,
wie in der anderen Richtung, für die Klagen gegen die
Gäste, der Urgrund für die Einführung des Gastgerichts
in den Bestrebungen auf Erweiterung der städtischen
Gerichtsherrschaft und auf Ausschließung der Konkurrenz
auswärtiger Gerichtsbarkeit, auf Gewinnung eines Ge-
richtsmonopols zu erblicken. Das Gastgericht war in
beiden Richtungen nur ein unvollkommener Ausgleich,
notwendig, um die dadurch für die Gäste geschaffene
Zwangslage einigermaßen erträglich zu machen oder sie
mit ihren Prozessen beim Stadtgericht festzuhalten. Der
Augsburger Bürger, der, wie uns berichtet wird*), am
11. September 1557 in München als Gast wegen einer
angeblichen Forderung eines Bürgers von Wasserburg
mit Arrest belegt wurde, wovon er sich durch Bürgen-
stellung löste, und nunmehr als Beklagter sich vor dem
Gastgericht in München verantworten sollte, tröstete sich
nicht darüber mit der Aussicht auf gastgerichtliches
Verfahren hinweg. Er setzte vielmehr den Rat seiner
Heimatstadt Augsburg in Bewegung, der unter Berufung
auf ein dieser Stadt 1433 vom Kaiser Sigismund erteiltes
Privilegium de non evocando die Verweisung des Klägers
an des Beklagten ordentliches Gericht nach Augsburg
0 Hier hatte dann Kläger wie Beklagter das Recht auf Gast-
gericht.
•) Vgl. Rudorff S. 157 sub b.
*) In L. V. Stoixner, Das Gastrecht der hfaupt- und Residenz-
stadt München (München 1784) S. 51 ff.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 523
verlangte. So wenig erschien dem Gast die Bewilligung
des gastgerichtüchen Verfahrens als ein voller Ausgleich
für das forum arrestil In Wahrheit war eben auch in
diesem Punkte die Rechtslage des Gastes keineswegs eine
bessere als die des Bürgers.^) Denn letzterer hatte als
gegen den Gast klagender Teil in dem Arrestschlag ein
genügendes Sicherungsmittel, um sich vor dem Ent-
weichen des Beklagten zu schützen, und als vom Gast
beklagter Teil konnte er daheim, ohne Bürgen stellen
oder in den Stock wandern zu müssen, den ordentlichen
Verlauf des Gerichtsverfahrens ruhig abwarten. Von
einer Bevorzugung oder Privilegierung der Gäste vor
den Bürgern kann keine Rede sein. Die Gastgerichte
waren keine Einrichtung, die belebend auf den Gäste-
verkehr in der Stadt wirken oder die Rechtsstellung der
Gäste in der Stadt befestigen konnte oder sollte. Sie
waren keine zur Begünstigung des Verkehrs ausgedachte
Erleichterung. Tiefer nach ihren Motiven und ihren
Funktionen betrachtet, fügt sich die Einrichtung durch-
aus in den Rahmen der gästerechtlichen Sätze, die, von
der Stadt als Marktgemeinde ausgehend, den Handels-
verkehr und gerichtlichen Verkehr der Gäste monopoli-
stischen Tendenzen der Stadt unterordneten.
Nachgetragen seien noch zwei Punkte.
Die Institution der Gastgerichte hat in einigen, dar-
unter bedeutenden, Stadtrechten (z. B. Hamburg, Magde-
burg, Freiburg i. 0.)^) auch noch direkt stark zugunsten
der Bürger übergegriffen, so daß dort noch viel weniger,
auch rein äußerlich betrachtet, eine Besserstellung der
Gäste gegenüber den Bürgern gefunden werden kann.
Es ist dort auch dem gegen den Gast klagenden
*) Die Bemerkung des Ruprecht von»Freising In seinem Stadt-
rechtsbuch (1328) c. 69 (ed. G. L. v. Maurer S. 309!.), daß ein zur
Stadt kommender Gast ebenso gutes Recht habe als ein in der
Stadt gesessener Bürger „un so vil pesser das man ihm zue aller
zeit richtnn sol*", beruht daher nur auf rein äußerlicher und iso-
lierter Betrachtung. Man kann sie nicht mit Rudorff (S. 153 f.)
für die Würdigung des Gastgerichts im Zusammenhang der ge-
schichtlichen Entwicklung verwenden.
*) Zitate bei RudoHf S. 161 ff.
34*
524 Alfred Schultze,
Bürger das Recht auf Gastgericht, neben dem Recht auf
Arrestschlag oder (Horde 1340, §21, Gengler, Stadtrechte
S. 200) anstatt dieses Rechtes, unbedingt oder nur im Falle
seiner Wegefertigkeit, eröffnet. Das Magdeburgische Recht
und das Recht in Freiberg i. S. billigen es sogar unter
dieser Bedingung der Wegefertigkeit dem beklagten
Bürger ganz allgemein zu, mag ihn ein Gast oder selbst
ein Bürger beklagt haben. Nach ihnen verdiente der
Bürger, der sich bereitet hatte „umme koufmanschaft
adir betevart (Wallfahrt) czu varnde busin landis, daz
her des dingis nicht gewartin möge" (Magdeburg-Bres-
lauer syst. Schöffenrecht II, 2, d. 35, ed. Laband) die
schnelle Justiz^) ebenso wie der Gast, obschon bei ihm
nicht der Reiseaufschub mit dem arrestatorischen Zwang,
Bürgen zu stellen oder Personalhaft zu leiden, verbunden
war. Umgekehrt wurde in diesen Stadtrechten sogar der
im nächsten Umkreis wohnhafte Gast, der von Hause
für den Besuch des Stadtgerichts einschließlich der Heim-
kehr nicht mehr als einen Tag brauchte (oben S. 475)
und leichter Bürgen für sein Erscheinen aufzutreiben
vermochte (Magdeb. Fragen I, 16, d. 5, ed. Behrend), vom
Antrag auf Gastgericht ausgeschlossen. Der Gast, der
Gastgericht haben wollte, mußte vielmehr nach Magdebur-
gischem Recht (Magdeb. Schöffenrecht V, § 3, ed. Laband
S. 116) schwören, „das her ein wilde 2) gast si und also
*) Schon das erste Straßburger Stadtrecht (12. Jahrhundert)
§ 30 (Keutgen S. 95) berücksichtigte, worauf mich Kollege v. Below
aufmerksam macht, die Wegefertigkeit, aber nur in der Weise, daß
es den klagenden Bürger zum Aufschub der Klage bis nach der
Heimkehr des zu beklagenden Mitbürgers zwang.
•) Was heißt hier „wild" ? Die Frage ist streitig. Die Quellen
selbst stimmen nicht überein. Sie nennen so den ständig auf der
Reise Befindlichen, nirgends Jahr und Tag Wohnhaften, aber auch
einfach den nicht in der Stadt gesessenen Gast. Rudorff S. 172 ff.
übersetzt „wegefertiger Gast" und meint, daß nur dieser, nicht
der Gast schlechthin, nach Magdeburgischem Recht den Anspruch
auf Gastgericht habe. Das läßt sich sprachlich kaum rechtfertigen.
„Wild" heißt vielmehr auch hier „fremd". Eine Parallelstelle be-
stätigt dies: das Prager Rechtsbuch Art. 21 (Rößler I S. 108) gibt
dieselbe Eidesformel dahin wieder: „das er ein fremder gast sey
und alzo werre gesessen sie das er zu rechten tage zeit nicht
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 525
verre gesessen, das her des dinges eines tages nicht
gesuchen muge".
Ein Zweites, worauf ich noch kurz hinweisen möchte,
betrifft die Qualität des Gastgerichts. Es war, wie schon
erwähnt, ein Notgericht, d. h. nichts anderes als das
Stadtgericht selbst, nur in außerordentlicher Tagung, die
im Einzelfalle auf Antrag ad hoc mit vereinfachter Be-
setzung stattfand. Es war also nicht ein selbständig
neben dem Stadtgericht bestehendes oder von ihm ab-
gezweigtes Gericht, ebensowenig wie das zur Marktzeit
abgehaltene Gericht, das in Deutschland auch nicht, wie
z. B. in Frankreich, ein besonderes, vom Stadtgericht
getrenntes Marktgericht war.^) Nur in einigen deutschen
Städten sind im späteren Mittelalter ständige, vom Stadt-
gericht abgezweigte Gastgerichte entstanden, so vornehm-
lich in Köln in Gestalt zweier, vom engeren Rat aus
seiner Mitte deputierter Einzelrichter, „richter van den
gestin "", die am Dienstag, Donnerstag, Samstag und wäh-
rend des Jahrmarktes alle Tage eine schleunige Gerichts-
barkeit mit besonders für die Gäste verkürzten Fristen
ausübten.^) Manchenorts, wie in Lübeck und München,
hat es solche oder ähnliche ständige, regelmäßige „Gast-
gerichte" noch bis in das 18. und 19. Jahrhundert hinein
gegeben.')
komen muge.^ Ich möchte daher mit Planck (Bd. 2, S. 412) in
dem wilden Gast den stadtfremden Gast im Gegensatz zu dem in
der Stadt wohnhaften Nichtbürger, der auch gelegentlich Gast
genannt wird (oben S. 475 Anm. 1), sehen.
<) V. Below, Ursprung S. 69, 86 ff., Rietschel, Markt und Stadt
S. 206 ff., Schröder, Rechtsgesch. (5. Aufl.) S. 643»».
*) Das Nähere bei Rudorff S. 185 ff. Über ähnliche ständige
Gastgerichte in England, die im 13. Jahrhundert dort schon stark
verbreitet waren und den bezeichnenden Namen ^court of pie-
powder* (von „piepoudres, pede pulverosi"), Gerichtshof der fuß-
bestaubten Leute, trugen, vgl. Charles Gross in Quarterly Journal
of Economics (Harvard) Bd. 20, S. 231 ff.
*) Lübeck : Funk in Zeitschr. der Savigny-Stiftung Bd. 26,
Germ. Abt. S. 69. München: L. v. Stoixner (selbst Gastrichter),
Das Gastrecht der Haupt- und Residenzstadt München (München
1784).
526 Alfred Scholtze,
IV.
Ich wiederhole die Ergebnisse der vorstehenden
Untersuchungen, soweit sie dazu dienen, das städtische
Gästerecht des Mittelalters im allgemeinen, bei aller An-
erkennung der auch auf diesem Gebiete herrschenden
örtlichen Verschiedenheiten und zeitlichen Schwankungen,
zu charakterisieren.
Es war nicht eine Anwendung oder Nachwirkung
des alten germanischen Fremdenrechtes, wie es etwa
das mittelalterliche Judenrecht war. Die Gäste erlitten
in den Städten nicht darum, weil sie Gäste waren, und
so lange als sie es waren, Einbuße an ihrer Rechtsfähigkeit
und an ihrem Rechtschutzanspruch. Sie waren dadurch
nicht in ihrem Personenstande betroffen, nicht darum
persönlich minder bewertet. Die Sonderbehandlung der
Gäste im Vergleich mit den Stadteingesessenen oder
wenigstens den Stadtbürgem war vielmehr zum kleineren
Teil nichts weiter als eine Folge der auf dem Grund-
besitz aufgebauten städtischen Kommunal- und Gerichts-
verfassung, der Struktur der älteren Stadtgemeinde als
Grundbesitzergemeinde. Insofern wirkten Gedanken des
früheren Landgemeinderechtes in das Stadtrecht hinüber.
In der Hauptsache aber war die Sonderbehandlung eine
allmähliche, zielbewußte Schöpfung der Stadtgemeinde
als Marktgemeinde, verwirklicht in einer großen Zahl
von Einzelbestimmungen, worunter manche, wie die
wichtigen Vorschriften über die Abzüge, denen man die
im Wege Erbgangs aus der Stadt an Gäste ausgeführten
beweglichen Güter Einheimischer unterwarft), oben noch
nicht einmal Erwähnung gefunden haben. Das Ziel war,
das werbende Gut in der Stadt zu bewahren, die Herr-
schaft im Handel, Gewerbe und Gericht und die Ein-
künfte daraus nach Möglichkeit für die Stadt und ihre
Bürger zu monopolisieren, auswärtige Konkurrenz, soweit
es anging, fernzuhalten und den Handel- und Gerichts-
0 Vgl. Stobbe a. a. O. § 42, Ziff. 2., O. Gierke, Deutsches
Privatrecht I, S. 450, O. Löning, Grunderwerb und Treuhand in
Lübeck S. 35 Anm. 6.
Gästerecht u. Gastgerichte in deutsch. Städten des Mittelalters. 527
verkehr der Gäste in Fesseln zu schlagen. Die Gast-
gerichte waren der Preis, um den allein die Städte die
volle Gerichtsherrschaft über die Gäste zu gewinnen
vermochten.
Gewiß dienten manche unter den gästerechtlichen
Maßregeln auf dem Gebiete des Gerichtsstandes und des
Arrestes auch dem berechtigten Bestreben, die Bürger
gegen Benachteiligungen zu schützen, die ihnen aus dem
Verkehr mit unbekannten, keine persönlichen Garantien
bietenden Leuten sonst hätten entstehen können. Auch
nach heute geltendem deutschen Reichsrecht lassen sich
Klagen wegen vermögensrechtlicher Ansprüche gegen
einen im Ausland Eingesessenen überall da anbringen,
wo sich nur immer Vermögen von ihm oder der mit
der Klage in Anspruch genommene Gegenstand befindet,
und als ein zureichender Arrestgrund gilt es ein für alle
Male, ohne Notwendigkeit, noch im Einzelfalle eine Ge-
fährdung darzutun, wenn das Urteil im Auslande voll-
streckt werden müßte. (§ 23, 917 der deutschen Zivil-
prozeßordnung.) Aber die Stadtrechtssätze des Mittel-
alters gingen doch, wie wir sahen, über die Bedürfnisse
einer solchen Notwehr sehr erheblich hinaus. Vor allem:
das Ausland fing hier schon vor d^n Toren der Stadt
an. Und dies zu einer Zeit (12. Jahrhundert), wo die
territoriale Zersplitterung in Deutschland noch keines-
wegs so weit gediehen war, um allein dies rechtfertigen
zu können. Worauf es in diesen Normen über Gericht
und Arrest hauptsächlich abgesehen war, das lehren uns
am besten die Fälle, in denen sie ausnahmsweise nicht
gelten sollten, besonders ihre Suspension während der
Jahrmarktzeiten. Nur im Zusammenhalt mit den wirt-
schaftsgeschichtlichen Vorgängen wird der wahre Geist
der Abschließung und Konkurrenzbefehdung, der auch
in dem gerichts- und prozeßrechtlichen Teil des Gäste-
rechts lebte, voll erkennbar. Mitunter tritt er aus eigen-
artigen Übertreibungen grell hervor. Zu den Beispielen
dafür, die unter die obigen Erörterungen eingestreut
werden konnten, möchte ich noch ein besonders be-
zeichnendes hinzufügen, das dem Recht der Personal-
528 Alfred Schuitze, Gästerecht und Gastgerichte etc.
exekution und zwar der durch Einlager des Bürgen zu
bewirkenden angehört. Dieses Einlager, das durch Ver-
zehr in der Herberge zu leisten war, wobei der dadurch
von Tag zu Tag anwachsende Aufwand an Zehrkosten
den Schuldner, dem er zur Last fiel, indirekt zur Zahlung
seiner Schuld anzutreiben bestimmt war, sollte nach
Bamberger Recht (ed. Zöpfl, § 217, 433) wie nach § 4
des Stadtrechts von Amhem in Holland ^) auf selten des
Gastes mit einem Druck von zwei Mahlzeiten für jeden
Tag, auf Seiten des heimischen Stadtbürgers mit einem
solchen von bloß einer Mahlzeit wirken ! Ahnliche, mehr
oder minder willkürliche Verschärfungen der Rechts-
position des Gastes finden sich auch in anderen Dingen,
so z. B. in Münster (um 1221) eine höhere Prozeßstrafe
<Gewette) für unrichtiges Prozessieren gegen einen mit
der Klage abgewiesenen Gast, als gegen einen damit
abgewiesenen Einheimischen und ebendort für einen sein
gestohlenes Gut einklagenden Gast die Auflage, ein
Dritte! des Wertes dem Stadtrichter zu geben, während
ein gleicherweise klagender Bürger von solcher Auflage
frei war (§ 32, 33, 38, 39, Keutgen S. 152 f.). 2) Eine die
Gäste zuweilen bis ins kleinliche verfolgende Rechts- und
Wirtschaftspolitik! Immerhin derselbe Geist, der mit sel-
tener Energie und Konsequenz durch die Abschließung
nach außen die Konzentration aller Kräfte im Innern auf
dem Grunde gesteigerten Vertrauens zu den eigenen
heimischen Einrichtungen herbeizuführen und damit doch
auch zur Blüte mittelalterlichen städtischen Wesens bei-
zutragen wußte.
^) Zitat bei Rintelen, Schuldhaft und Einlager im Vollstreckungs-
verfahren (1908) S. 143.
') Vgl. u. a. auch die Aufzählung aus dem Bamberger Recht
bei Zöpfl, Das alte Bamberger Recht (1839) S. 70 f.
Die Geschichtschreibung des
Vatikanischen Konzils.
Von
Carl Mirbt
Pius IX. ist der erste römische Papst gewesen, der
^die Jahre des Petrus** nicht respektiert, sondern mit
seiner Regierungszeit von einunddreißig Jahren, sieben
Monaten, zweiundzwanzig Tagen sogar erheblich über-
schritten hat. Auch Leo XIII. ist es dann beschieden
gewesen, länger als fünfundzwanzig Jahre die römisch-
katholische Kirche zu leiten, aber er blieb doch hinter
seinem Amtsvorgänger zurück, da nach weiteren fünf
Monaten der Tod seinem glanzvollen und erfolgreichen
Pontifikat ein Ziel setzte. Pius IX. nimmt daher schon
durch die Dauer seiner Regierung in der Liste der an-
nähernd zweihundertundsechzig Päpste, die in der römisch-
katholischen Kirche gezählt zu werden pflegen, einen
besonderen Platz ein. Er gehört auch in die Reihe der
wichtigsten; freilich nicht zu den bedeutendsten. Denn
er war weder als Theolog, noch als Kanonist, noch als
Diplomat hervorragend, und nur in den beiden ersten
Jahren seiner Regierung konnte es scheinen, daß er die
Kraft besaß, eine führende Persönlichkeit zu werden.
Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung wird er nicht
mehr leicht so beurteilt worden sein; denn in Gaeta war
er alt geworden, d. h. er hatte die Fähigkeit verloren, neue
Eindrücke aufzunehmen und stand seitdem dem Fort-
523 Alired SchulUe, Gästerecht und Gastgerichte etc.
exekution und zwar der durch Einlager des Bürgen zu
bewirkenden angehört. Dieses Einlager, das durch Ver-
zehr in der Herberge zu leisten war, wobei der dadurch
von Tag zu Tag anwachsende Auhvand an Zehrkosten
den Schuldner, dem er zur Last fiel, indirekt zur Zahlung
seiner Schuld anzutreiben bestimmt war, sollte nach
Bamberger Recht (ed. Zöpfl, § 217, 433) wie nach § 4
des Stadtrechts von Amhem in Holland^) auf selten des
Gastes mit einem Druck von zwei Mahlzeiten für jeden
Tag, auf selten des heimischen Stadtburgers mit einem
solchen von bloß einer Mahlzeit wirken ! Ahnliche, mehr
oder minder willkürliche Verschärfungen der Rechts-
position des Gastes finden sich auch in anderen Dingen,
so z. B. in Münster (um 1221) eine höhere Prozeßstrafe
(Gewette) für unrichtiges Prozessieren gegen einen mit
der Klage abgewiesenen Gast, als gegen einen damit
abgewiesenen Einheimischen und ebendort für einen sein
gestohlenes Gut einklagenden Gast die Auflage, ein
Drittel des Wertes dem Stadtrichter zu geben, während
ein gleicherweise klagender Bürger von solcher Auflage
frei war (§ 32, 33, 38, 39, Keutgen S. 152 f.). 2) Eine die
Gäste zuweilen bis ins kleinliche verfolgende Rechts- und
Wirtschaftspolitik! Immerhin derselbe Geist, der mit sel-
tener Energie und Konsequenz durch die Abschließung
nach außen die Konzentration aller Kräfte im Innern auf
dem Grunde gesteigerten Vertrauens zu den eigenen
heimischen Einrichtungen herbeizuführen und damit doch
auch zur Blüte mittelalterlichen städtischen Wesens bei-
zutragen wußte.
*) Zitat bei Rintelen, Schuldhaft und Einlager im Vollstreckungs-
verfahren (1908) S. 143.
*) Vgl. u. a. auch die Aufzählung aus dem Bamberger Recht
bei Zöpfl, Das alte Bamberger Recht (1839) S. 70 f.
Die Geschichtschreibung des
Vatikanischen Konzils.
Von
Carl Mirbt.
Pius IX. ist der erste römische Papst gewesen, der
„die Jahre des Petrus" nicht respektiert, sondern mit
seiner Regierungszeit von einunddreißig Jahren, sieben
Monaten, zweiundzwanzig Tagen sogar erheblich über-
schritten hat. Auch Leo XIII. ist es dann beschieden
gewesen, länger als fünfundzwanzig Jahre die römisch-
katholische Kirche zu leiten, aber er blieb doch hinter
seinem Amtsvorgänger zurück, da nach weiteren fünf
Monaten der Tod seinem glanzvollen und erfolgreichen
Pontifikat ein Ziel setzte. Pius IX. nimmt daher schon
durch die Dauer seiner Regierung in der Liste der an-
nähernd zweihundertundsechzig Päpste, die in der römisch-
katholischen Kirche gezählt zu werden pflegen, einen
besonderen Platz ein. Er gehört auch in die Reihe der
wichtigsten; freilich nicht zu den bedeutendsten. Denn
er war weder als Theolog, noch als Kanonist, noch als
Diplomat hervorragend, und nur in den beiden ersten
Jahren seiner Regierung konnte es scheinen, daß er die
Kraft besaß, eine führende Persönlichkeit zu werden.
Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung wird er nicht
mehr leicht so beurteilt worden sein; denn in Gaeta war
er alt geworden, d. h. er hatte die Fähigkeit verloren, neue
Eindrücke aufzunehmen und stand seitdem dem Fort-
530 Carl Mirbt,
schritt der Zeit nur noch grollend und schmollend gegen-
über. In dem lebhaft pulsierenden Leben der modernen
Kultur sah er fortan nur die Triebe zur Emanzipation
von Kirche und Christentum ; ein positives Verhältnis zu
dieser Kultur zu gewinnen, war ihm versagt.
Aber in seine Regierung fallen Ereignisse von großer
und bleibender Bedeutung. Schon die Dogmatisierung
der Lehre von der Immaculata conceptio der Maria im
Jahre 1854 und die Publikation des Syllabus vom Jahre
1864 verdienen es, so eingeschätzt zu werden. Denn die
Aufstellung des Mariendogmas war nicht nur die Er-
hebung einer einzelnen, bis dahin stark umstrittenen und
von den angesehensten Kirchenlehrern des Mittelalters
bekämpften Schulmeinung zum Glaubenssatz, sondern
bedeutete zugleich die Anerkennung einer bestimmten
Richtung der katholischen Frömmigkeit; durch den Sylla-
bus aber wurde die römische Kirche auf Anschauungen
über das Verhältnis von Kirche und Staat festgelegt, die
bis dahin als die Spezialität ultramontaner Kreise gegolten
hatten. Seine Signatur hat jedoch der Pontifikat Pius IX.
in erster Linie von zwei Ereignissen empfangen, die für
den römischen Stuhl epochemachend geworden sind:
von dem Vatikanischen Konzil und von dem zeitlich
sich unmittelbar anschließenden Zusammenbruch des
Kirchenstaats.
Die Beseitigung des Kirchenstaats war die Lösung
eines längst und vielfach behandelten Problems, das zwar
in erster Linie die Interessen des italienischen Volkes
berührte, aber zugleich internationaler Natur war. Da
die Kurie nicht imstande war, die Verhältnisse abzuändern,
die auf eine Aufhebung des Kirchenstaats hindrängten,
blieb ihren Versuchen, die drohende Katastrophe durch
Proteste aufzuhalten, der Erfolg versagt. Als die Tat-
sache der Annexion vorlag, haben ihre Verwahrungen sich
dann sogar noch gesteigert und zum Teil Formen ange-
nommen, die keinen anderen Schluß zuzulassen scheinen,
als daß der Besitz dieses Staatswesens dem Papsttum
unentbehrlich sei. Dabei wurde jedoch außer acht ge-
lassen, daß der Kirchenstaat erst in der Mitte des 8. Jahr-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 531
Hunderts begründet worden ist und nicht beachtet, daß
die Festhaltung dieses Besitzes mit großen und schweren
Opfern erkauft worden war. Denn die italienische Terri-
torialpolitik hat viel Kraft der Päpste absorbiert und
wurde zeitweise so sehr der Mittelpunkt der gesamten
Kurialpoiitiky daß darunter die Interessen der katholischen
Christenheit nachweislich gelitten haben. Als nach dem
Zusammenbruch der Napoleonischen Macht auf dem
Wiener Kongreß der Kirchenstaat wiederhergestellt wurde,
hat Pius VII. darin allerdings einen Erfolg gesehen, und
dieses Urteil wird sehr begreiflich, wenn man in Rech-
nung zieht, unter welchen Umständen er verloren ge-
gangen war. Aber sehr bald hat sich dann herausgestellt,
daß mit der Restitution dieses Kirchenstaats dem Papsttum
eine Aufgabe zufiel, der es jetzt noch weniger gewachsen
war als jemals zuvor; schon nach wenigen Jahren
herrschten geradezu unhaltbare Zustände. Da ängstlich
vermieden wurde, die Staatsverwaltung nach den in dem
übrigen Europa herrschenden Grundsätzen modernen
Staatslebens umzugestalten und die wachsende Unzu-
friedenheit der Bevölkerung nicht au! die Dauer durch
das Militär auswärtiger Mächte in Schranken gehalten
werden konnte, war der Kirchenstaat, längst bevor er
tatsächlich von der italienischen Einheitsbewegung weg-
gespült wurde, dem Untergang verfallen. Die Entschei-
dung über den Termin des Eintritts dieser Katastrophe
lag in Paris. Die italienische Okkupation Roms hat daher
das Papsttum aus einer Komplikation befreit, die seinem
Ansehen wenig förderlich war, aus der es sich aber
schwer selbst befreien konnte. Papst Pius IX., der von
dem Wechsel der Dinge zunächst Betroffene, hat freilich
den Verlust des Kirchenstaats lediglich als eine ihm
widerfahrene Vergewaltigung beurteilt und dieser Emp-
findung dann nicht selten den temperamentvollen Aus-
druck gegeben, der für seine Kundgebungen charakteri-
stisch ist. Auch seine beiden Nachfolger haben zu der
vollzogenen Säkularisation keine andere Stellung ge-
wonnen, und es ist auch nicht zu erwarten, daß der
Protest dagegen jemals fallen gelassen werden wird, da
532 Carl Mirbt,
der Kirchenstaat als Kirchengut gilt und die im Syllabus
vom Jahre 1864 niedergelegten Urteile eine starke Bin-
dung enthalten. Trotzdem wird niemand behaupten
wollen, daß der Papst durch seine Entthronung als welt-
licher Fürst im Leben der Völker an Bedeutung verloren
hat, mag man die Frage, ob er noch als Souverain an-
zusehen ist, bejahen oder verneinen. Vielmehr war die
Auflösung des Kirchenstaats für ihn in Wahrheit eine
Stärkung, denn sie hat dem Papsttum wieder zu der
internationalen Position verhelfen, die es früher besessen
hatte, und sie hat der dauernden Beeinträchtigung seines
Ansehens durch die berechtigten Klagen über die Miß-
wirtschaft seiner Staatsverwaltung ein Ende gemacht.
In der gleichen Richtung hat das Vatikanische Konzil
gewirkt. Von den zahlreichen ihm zugedachten Aufgaben
hat es nur zwei gelöst, aber die beiden wichtigsten,
indem es die Lehre von dem Universalepiskopat des
römischen Bischofs und die Lehre von dessen Unfehl-
barkeit in Sachen des Glaubens und der Sitte zum
Dogma erhob. Wir werfen hier nicht die Frage auf,
welche Wirkung diese Beschlüsse auf die römisch-
katholische Kirche in religiöser, in sittlicher, in intellek-
tueller Beziehung ausgeübt haben, sondern halten uns an
die Tatsache, daß durch sie die Zentralgewalt der Kirche
und eben damit die Aktionskraft dieser Kirche in der
Sphäre des politischen Lebens erheblich gesteigert wor-
den ist. Bei ihrer politischen Betätigung kommen aller-
dings noch andere Umstände und Faktoren stark in Be-
tracht. Wir denken an die geringe Widerstandskraft
mancher Völker gegenüber dem Klerikalismus, an die
Macht von Zeitströmungen, wie sie beispielsweise die
Romantik am Anfang des 19. Jahrhunderts ausgeübt hat,
an die weit verbreitete Unkenntnis über das Wesen und
die Ziele des römischen Katholizismus. Aber der tat-
sächlich von der römischen Kirche ausgehende Einfluß
wird doch nur vorübergehend oder sekundär durch solche
der Veränderung unterliegende günstige Verhältnisse be-
stimmt sein, im letzten Grunde verdankt sie ihn ihren
eigenen Qualitäten. Sie besitzt ein stark entwickeltes
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 533
Solidaritätsgefühl ihrer Mitglieder, mit dem sie gerade
in schwierigen Lagen sicher rechnen kann, sie stellt sich
dem Außenstehenden als eine einheitliche Größe dar,
sie repräsentiert durch ihre reichen Mittel eine sehr ge-
wichtige wirtschaftliche Potenz, sie verfügt über eine
große Erbweisheit, an die vielleicht nicht jeder Nuntius
oder Bischof immer den erwünschten Anschluß gewinnt,
die aber doch im allgemeinen regulierend eingreift, sie
ist auch nicht, wie die Regierungen weltlicher Staaten,
durch wechselnde Majoritäten der Volksvertretung be-
engt. Kurz sie wird durch Disziplin, durch Organisation,
durch materielle Interessen, durch ideale Güter so fest
zusammengeschlossen, daß sich das Gewicht dieser
größten internationalen Korporation im gesellschaftlichen
und politischen Leben jedes Volkes, in dem sie Wurzel
schlägt, ohne weiteres geltend macht.
Bei dieser Sachlage kann ein Werk, das sich die
Aufgabe stellt, die Geschichte dieser Kirchenversammlung
auf breitester Grundlage und mit neuem Material zur
Darstellung zu bringen, von vornherein auf ernste Be-
achtung rechnen. Neuerdings haben wir eine derartige
Monographie in der „Geschichte des Vatikanischen Konzils
von seiner ersten Ankündigung bis zu seiner Vertagung"
von Theodor Granderath S. J. erhalten, die nach dem
Tode des Verfassers von Konrad Kirch S. J. herausgegeben
worden ist.^) Da der Verfasser schon an der Herausgabe
des von dem Vatikanischen Konzil handelnden Bandes der
Maria Laacher-Sammlung neuerer Konzilsakten hervor-
ragenden Anteil gehabt hat und, von 1893 an in Rom
lebend, seine ganze Kraft auf die Erforschung dieser
Kirchenversammlung konzentrierte, so war er mit diesem
Gegenstand in hervorragendem Maße vertraut. Als er
1902 starb, war das Manuskript bis auf einzelne Ab-
schnitte des dritten Bandes fertig.
*) Herder, Freiburg i. B. Der erste Band, der die Vor-
geschichte behandelt (XXIV u. 533 S.), und der zweite, der bis zur
dritten öffentlichen Sitzung reicht (XX u. 75S S.), sind 1903 er-
schienen, der dritte Band, der die Darstellung zum Abschluß
bringt (XXll u. 748 S.), wurde 1906 veröffentlicht.
534 Carl Mirbt,
I.
Eine vollständige Bibliographie zur Geschichte des
Vatikanischen Konzils existiert noch nicht. Die von
E. Friedberg in seiner „Sammlung der Aktenstücke zum
ersten Vatikanischen Konzil" dargebotene Zusammen-
stellung ist zwar eine sehr dankenswerte Grundlage und
gibt schon dadurch, daß sie die Titel von mehr als elf-
hundert Schriften aufführt, eine Vorstellung davon, mit
welchem Interesse das Konzil von den Zeitgenossen be-
gleitet worden ist. Aber das Verzeichnis stammt aus
dem Jahre 1872 und ist leider später weder revidiert
noch fortgeführt worden.
Sehr früh ist mit der Sammlung von Quellen zur
Geschichte des Konzils begonnen worden. J. Friedrich
hat seine wichtigen y^Documenta ad illustrandum conci-
lium Vaticanum anni 1870^ schon 1871 ausgehen lassen;
das eben genannte Quellenwerk Friedbergs folgte im
nächsten Jahr; Bischof Martin von Paderborn ließ seine
„CoUectio omnium documentorum concilii Vatlcani*' 1873
erscheinen; in dem Archiv für katholisches Kirchenrecht
von Vering ist in den Bänden XXII bis XXXIII u. a.
ein reiches Material aufgespeichert, das durch das General-
register leicht zugänglich gemacht ist; der Sammler
A. V. Roskoväny hat von seinem ^Romanos pontifex*^ die
Bände VII bis XVI und die Supplementbände VII bis X
in den Jahren 1871 — 1879 veröffentlicht; auch die „Akten-
stücke zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und
Staat", die H. v. Kremer- Auenrode 1876 herausgab (Staats-
archiv XXIV) enthalten mancherlei; von den zahlreichen
Ausgaben und Abdrücken der Beschlüsse des Konzils
dürfen wir hier absehen. Die weitaus vollständigste
Sammlung von Konzilsakten, die wir zurzeit besitzen,
bietet der siebente Band der y,Acta et decreta sacrorum
conciliorum recentiorum** in der Collectio Lacensis, der auf
Grund der Vorarbeiten von G. Schneemann, wie oben
bemerkt, durch Granderath 1890 herausgegeben worden
ist und dadurch besonderen Wert erlangt hat, daß auch
zahlreiche Aktenstücke über die durch das Konzil in
den verschiedenen Ländern Europas hervorgerufenen
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 535
Bewegungen Aufnahme gefunden haben.^) Nach dieser
Richtung hin gewährt auch die Spezialliteratur Über den
Altkatholizismus mancherlei Ausbeute, vor allem Joh.
Friedr. v. Schulte, Geschichte des Altkatholizismus in
Deutschland (1887).
Ober die Vorgänge auf dem Konzil sollte, nach dem
Befehl des Papstes, strengstes Stillschweigen beobachtet
werden, aber es hat nicht erzwungen werden können. Zu
besonderer Berühmtheit sind die Berichte gelangt, die
die Augsburger Allgemeine Zeitung fortlaufend zu bringen
in der Lage war; sie erschienen dann unter dem Titel:
Quirinus „Römische Briefe" (1870) in Buchform. Daß der
Schreiber über eine intime Kenntnis auch der hinter den
Kulissen sich abspielenden Kämpfe verfügte, war auf
den ersten Blick ersichtlich. Da es für die Kurie und
die Konzilsmajorität recht unbequem und peinlich war,
ihre Machinationen der großen Öffentlichkeit unterbreitet
zu sehen, ist keine Mühe gescheut worden, den Autor
zu entdecken, und es ist mit großem Nachdruck versichert
worden, daß diese Briefe von Irrtümern strotzten und
von Sensationslust und Klatschsucht diktiert seien. Wenn
dieses abfällige Urteil in jenen aufgeregten Zeiten von
ultramontaner Seite eifrigst kolportiert wurde, so ist dies
aus parteitaktischen Gesichtspunkten zu begreifen und
daher nicht allzuschwer zu nehmen. Aber es wird auch
heute noch festgehalten. Tatsächlich ist der Beweis der
UnZuverlässigkeit dieser Berichte von ihren Anklägern
jedoch noch immer nicht erbracht wurden — daß in
Einzelheiten auch einmal ein Fehlgriff vorkam, ist bei
der Art ihrer Entstehung nicht auffällig — , Bischof
Stroßmayer hat sie sogar als die beste und getreueste
Geschichte des Konzils bezeichnet und Bischof Dinkel
von Augsburg die Wahrheit der Berichte zugestehen
müssen. Wie schwer die durch die „Briefe" der Ver-
borgenheit entrissenen Tatsachen noch heute empfunden
werden, zeigen die starken Worte, die Granderath in
die Feder fließen, wenn er auf sie zu sprechen kommt.
») Herder, Freiburg i. B. (XX S. u. 1944 Kol.).
536 Carl Mirbt,
Er vertritt die Auffassung , daß sie ^ nicht den Zweck
verfolgen, Über das Konzil aufzuklären, sondern dasselbe
in den Augen der Leser verächtlich und lächerlich zu
machen" und bemüht sich, in einer längeren Erörterung
(Bd. II, S. 578 ff.) seine Leser davon zu überzeugen, daß
sie lügenhafte und tendenziös entstellte Mitteilungen und
mißdeutete Tatsachen enthalten. Die Frage nach der
Herkunft dieser berühmten Briefe ist oft gestellt, aber
nicht zutreffend beantwortet worden, auch die römische
Polizei hat sich seinerzeit vergeblich um ihre Lösung
bemüht. Granderath schlägt den eigenartigen Weg ein
(Bd. 11, S. 578), aus der Ankündigung des Buches als
eines Werkes von Friedrich in dem Antiquariatskatalog
einer Nördlinger Buchhandlung den Schluß zu ziehen:
„Friedrich also hat die Sammlung herausgegeben.'' Das
ist ein Irrtum, denn nach den Mitteilungen Friedrichs
in der Revue internationale de ThSologie von 1903 hat
er zwar selbst, neben Lord Acton, dem Grafen Arco
und anderen, zu den Berichten beigesteuert, aber sie
wurden von Döllinger redigiert. — Von nicht geringem
Werte ist weiter das von J. Friedrich vom Dezember
1869 bis zum 21. Juli 1870 geführte Tagebuch. Der Ver-
fasser stand als theologischer Berater des Kardinals
Hohenlohe den Ereignissen sehr nahe, und seine Auf-
zeichnungen geben ein interessantes Spiegelbild der
Stimmungen und Auffassungen, die in den verschiedenen
Phasen des Konzils unter den Minoritätsbischöfen ver-
breitet waren. — Es muß dahin gestellt bleiben, ob nicht
noch andere dem Konzil nahestehende oder ihm ange-
hörende Persönlichkeiten ihre Eindrücke schriftlich fest-
gehalten haben. Wenigstens von einem solchen Tage-
buch berichtet Granderath, es ist das von ihm mehrfach
benutzte und hoch eingeschätzte „Diarium eines Konzils-
mitgliedes". Nachdem bekannt geworden ist, daß es von
Bischof Senestr^y von Regensburg herstammt (Beiles-
heim, Hist.-polit. Blätter 138, 718), haben die Mitteilungen
daraus erheblich an Gewicht gewonnen. Es würde mit
großer Freude zu begrüßen sein, wenn es vollständig
veröffentlicht würde, da die nicht große Zahl der Be-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 537
richte über das Konzil von Männern, die gut orientiert
waren, dadurch eine wichtige Ergänzung erfahren und
als Gegenstück zu Friedrich und Quirinus sehr will-
kommen sein würde. — Daß gleichzeitige Aufzeich-
nungen über das Konzil oder persönliche Erinnerungen
einzelner Synodalen in verhältnismäßig so geringer Zahl
den Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben, ist zu-
nächst auffallend. Jenes päpstliche Schweigegebot kann
diese Wirkung nicht ausgeübt haben, da es mit der
Vertagung des Konzils außer Kraft trat. Der Grund
der großen Zurückhaltung der weitaus meisten Konzils-
mitglieder in Mitteilungen über die innere Geschichte
des Konzils ist vielmehr darin zu sehen, daß das Gros
der mit allem, was von der Konzilsleitung geschah oder
nicht geschah, von vornherein einverstandenen Konzils-
majorität in das innere Getriebe der Konzilsdiplomatie
wohl überhaupt keinen Einblick gehabt haben wird.
Die Bischöfe der Minorität haben, infolge ihrer Opposition
und ihrer größeren geistigen Regsamkeit, wohl mehr er-
lebt und daher auch mehr Anlässe gehabt, das Stück
Zeitgeschichte, in dem sie selbst eine hervorragende
Rolle spielten, als Augen- und Ohrenzeugen in unver-
fälschten Berichten der Nachwelt zu überliefern. Aber
dieses Interesse erlosch in dem Augenblick, wo sie sich
den Konzilsbeschlüssen unterwarfen, und tatsächlich
haben schließlich, früher oder später, sämtliche Minoritäts-
bischöfe diesen Schritt getan. Da sie damit ihr eigenes
Verhalten auf dem Konzil verleugneten, so wird es ver-
ständlich, wie es hat geschehen können, daß gerade die
Männer, die in erster Linie in der Lage gewesen wären,
die offizielle und offiziöse Berichterstattung zu ergänzen,
darauf verzichteten, das Wort zu ergreifen. Auch der
Gedanke an die große historisch-wissenschaftliche Ver-
antwortung, die auf ihnen lastete, hat, wenn er ihnen
überhaupt kam — und einem Manne wie Hefele konnte
er kaum fernbleiben — neben dem Wunsch, eine nun-
mehr als peinlich empfundene Episode vergessen zu
machen, sich nicht behaupten können. Nach denselben
Grundsätzen handelten dann auch ihre Biographen, die
Historische Zeitschrift (101. Bd.) a. Folge 6. Bd. 35
538 Carl Mirfot,
schonend und nachsichtig über diese Sturm- und Drang-
periode ihrer Helden mit sanften Worten hinwegführen.
So erklärt es sich, daß die Lebensbeschreibungen man-
cher berühmter Synodalen der Minorität für die Konzils-
geschichte eine verhältnismäßig sehr dürftige Ausbeute
gewähren, z. B. M. Lagrange : „ Vie de Mgr. Dupanloup,
ävique (VOrlians^, 3. Band 1884; M. J. Guillermin: ,,VU
de Darboy'' y 1889; C. Wolfsgruber, „Kardinal Rauscher**,
1888; A. Baumgartner, „Erinnerungen an Dr. K. J. Greith"*,
1884; 0. Pfülf, „Bischof von Ketteier«, 3. Band, 1899.
Bei den Bischöfen der Majorität war allerdings nichts
zu verbergen, aber bei den meisten über die Feststellung
ihrer Korrektheit hinaus auch wenig bedeutungsvolles zu
berichten. Die Kenntnis der Konzilsgeschichte ist daher
nur sehr gering gefördert worden durch : Zobl, „Vinzenz
Gasser, Fürstbischof von Brixen", 1883, wenn er auch,
nach einem Ausspruch Pius IX., zu den Säulen des Kon-
zils gehört hat; auch nicht durch K. Meindl, „Bischof
Rudigier von Linz", 1892, und ebensowenig durch Fr.
V. Ger, „Fürstbischof Zwerger von Seckau", 1897, dem
Aufzeichnungen von dessen Hand zur Seite standen.
Eine weit reichere Ausbeute gewährt Purcell, j^Life of
Cardinal Manning*'y 2. Band, 1896. Aus der neuesten
Memoirenliteratur nennen wir die „Denkwürdigkeiten des
Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe- Schillingfürst", 1906,
die über einige wichtige Punkte Aufklärung gebracht
haben und sehr bedeutungsvolle Urteile des Kardinals
Hohenlohe mitteilen.
Es bereitet einige Schwierigkeiten, aus der Flut der
publizistischen Literatur, die alle Phasen des Konzils be-
gleitet hat, das wichtigste herauszugreifen. Denn die Wir-
kung der einzelnen Schriften auf die Zeitgenossen war
naturgemäß nicht nur von der Gediegenheit ihres Inhalts,
von der logischen Schärfe ihrer Beweisführung und von
der Art ihrer Darstellungsweise abhängig, sondern zum
nicht geringen Teil von der Konstellation der Verhältnisse
zur Zeit ihres Erscheinens und vor allem von der Partei-
stellung des Verfassers. Den durchschlagendsten Erfolg
erzielte die in der Augsburger Allgemeinen Zeitung ver-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 539
öffentlichte Serie von Artikeln „Das Konzil und die
Civiitä", die dann neubearbeitet unter dem Titel: Janus,
„Der Papst und das Konzil'' als Buch erschienen (1869).
Erst durch die von Friedrich im Jahre 1892 veranstaltete
neue Ausgabe ist vor der Öffentlichkeit die Autorenfrage
klargestellt worden ; der Titel lautet hier : J. v. Döilinger,
„Das Papsttum". In diesen Artikeln wurde den Gegnern
des Infallibilitätsdogmas aus der Geschichte ein pole-
misches Material zur Verfügung gestellt, wie es bis dahin
nirgends in ähnlicher Vollständigkeit und Zuverlässigkeit
gesammelt vorlag. Was sich vom Standpunkt der Gegen-
partei aus dagegen sagen ließ und was vor der Öffent-
lichkeit dagegen gesagt werden mußte, hat der damalige
Professor der Kirchengeschichte in Würzburg und spätere
Kardinal J. Hergenröther in seinem „Anti-Janus" (1870)
vorgebracht; aber es glückte ihm nicht, den durch
Janus hervorgerufenen Totaleindruck zu verwischen, daß
es eine Unmöglichkeit war, das kommende Dogma mit
dem kirchlichen Altertum in Einklang zu bringen. Auch
Joh. Friedrich v. Schulte hat durch seine inhaltreichen
Schriften „Die Macht der römischen Päpste über Fürsten,
Länder, Völker, Individuen" und „Die Stellung der Kon-
zilien, Päpste und Bischöfe und die päpstliche Konsti-
tution vom 18. Juli 1870" (1871) in die öffentliche Er-
örterung eingegriffen. Den gleichen Standpunkt vertraten
die „Stimmen aus der katholischen Kirche über Kirchen-
fragen der Gegenwart" (zwei Bände 1870), die aus der
Feder von Huber, Döjlinger, Reinkens Abhandlungen
brachten. Das jesuitische Gegenstück bilden die von
Fl. Rieß und K. v. Weber in den Stimmen aus Maria
Laach unter dem Titel „Das ökumenische Konzil" ge-
sammelten Schriften (1869—1871), denen auch Rund-
schauen zur kirchlichen Lage und Referate über die
Konzilsliteratur beigefügt sind. Auf demselben Stand-
punkt steht das dreibändige, von Jos. Scheeben heraus-
gegebene Werk: „Das ökumenische Konzil vom Jahre
1869" (Periodische Blätter zur Mitteilung und Besprechung
der Gegenstände, welche sich auf die neueste allgemeine
Kirchenversammlung beziehen). — In den außerhalb
35*
540 Carl Mirbt,
Deutschlands über das Konzil sich abspielenden Kämpfen
ist die energische Beteiligung des französischen Klerus
von besonderem Interesse. Vor allem war es Dupanloup^
Bischof von Orleans, der eine ausgedehnte literarische
Tätigkeit entfaltete. Großes Aufsehen erregten auch die
Schriften des früheren Oratorianers P. Gratry. Dann hat
die auch ins Deutsche übersetzte anonyme Schrift y,Ce qui
se passe au concile*", die im Mai 1870 in Paris erschien
und durch die rückhaltlose Darlegung der Vorgänge auf
dem Konzil in dessen Mitte die größte Bestürzung hervor-
rief, geradezu sensationeil gewirkt. Die Sache der Anti-
infallibilisten war tatsächlich bereits verloren, als der Ver-
fasser von „La derniire heure du concUe*' angesichts der
bevorstehenden Schlußabstimmungen noch einen letzten
Versuch machte, in den gelockerten Reihen den Geist
der Tapferkeit zu wecken. Die publizistische Vertretung
der Gegenpartei lag vor allem in der Hand des Erz-
bischofs Dechamps von Mecheln und des Vertrauens-
mannes der Kurie, Louis Veuillot, des Herausgebers des
Vnivers,
Begreiflicherweise ist die Geschichte der Vatikani-
schen Kirchenversammlung der Gegenstand zahlreicher
Darstellungen geworden, aber nur wenige besitzen selb-
ständigen Wert. Die Schrift von Lord Acton: „Zur Ge-
schichte des Vatikanischen Konzils" (1871) hat einen
geringen Umfang, aber einen reichen Inhalt. Der Ver-
fasser lebte während des Konzils in Rom und stand zu
der Minorität in den engsten Beziehungen. Die folgen-
den Werke stellen vom entgegengesetzten Standpunkt
aus den Verlauf dar. Als Sekretär des Konzils hatte
Bischof Feßler von St. Polten Gelegenheit, Beobachtungen
zu machen und Dinge kennen zu lernen, die anderen
nicht zugänglich waren; er berichtet darüber in der
Schrift „Das Vatikanische Konzilium, dessen äußere Be-
deutung und innerer Verlauf" (1871). Auch Bischof
Martin von Paderborn verdient als einer der Vorkämpfer
des Dogmas für sein Buch „Die Arbeiten des Vatikani-
schen Konzils" (1870) Beachtung. Noch weniger darf
man an ^yThe true story of the Vatican Council*" des Kar-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 541
dinals Manning von Westminster vorübergehen, die 1877
in London veröffentlicht wurde und in demselben Jahr
auch in deutscher Sprache erschien. Denn der Verfasser
war in noch weit höherem Grade ein Führer der Majorität
und neben Senestr^y von Regensburg vielleicht der
energischste Vertreter der Proklamation der Unfehlbarkeit
des Papstes unter den Synodalen, jedenfalls einer der
geschicktesten. Da die Entscheidung darüber, ob das
Konzil zusammentreten und nach seinem eigenen Er-
messen arbeiten konnte, in der Hand Frankreichs lag,
ist der Versuch des damaligen französischen Minister-
präsidenten fimile Ollivier, die von ihm befolgte Politik
der Zurückhaltung zu rechtfertigen, von erheblichem
Interesse, und sein zweibändiges Werk „Uiglise et Vüat
au concile du Vatican"* (1879) liefert uns manches wich-
tige Detail. Aber der apologetische Zweck des Autors
darf nie aus den Augen gelassen werden, und für die
Haltung Napoleons werden der Geschichtschreibung
in Zukunft wohl noch weitere Quellen sich erschließen.
Auf breitester Grundlage begann Eugen Cecconi seine
„Geschichte der allgemeinen Kirchenversammlung im
Vatikan", von der vier Bände 1873 und 1879 in Rom
erschienen sind, der erste auch in deutscher Übersetzung
1873. Da er zahlreiche Originalakten veröffentlichen
konnte, eröffnete das Werk große Aussichten, aber es
ist nicht über die zweite Sessio vorgeschritten und ist
dann auch nach Seiten des urkundlichen Materials
durch die Collectio Lacensis überholt worden. Den
ersten Versuch, den gesamten Verlauf des Konzils
quellenmäßig und in größerem Stil zu behandeln, hat
J. Friedrich in seiner „Geschichte des Vatikanischen Kon-
zils" (drei Bände, 1877, 1883, 1887) unternommen. Da
er die Ereignisse in bevorzugter Position aus nächster
Nähe hatte beobachten können und das Konzil in die
größeren historischen Zusammenhänge einrückte, von
denen aus es allein verstanden werden kann, hat dieses
Werk einen starken Einfluß ausgeübt. Granderath will
es ersetzen und nennt es „antikirchlich tendenziös"
(I, 7). Daß wir diesem Granderathschen Gegenwerk
542 Carl Mirbt,
eine eingehendere Würdigung zuteil werden lassen, ver-
dankt es seinem Gegenstand, ferner den dem Verfasser
zur Verfügung gestellten Materialien, aber auch der in
ihm zur Anwendung gelangten Methode. Wer die
Schreibweise und Technik der Schriftsteller des Jesuiten-
ordens etwas kennt, wird die ernste Verpflichtung emp-
finden, auch ihren historischen Arbeiten mit großer
Vorsicht gegenüber zu treten; das vorliegende Werk ist
dazu geeignet, das Verständnis für diese Verpflichtung
zu fördern. Der äußere Hergang des Konzils, der auf
den folgenden Blättern als bekannt vorausgesetzt werden
muß, ist zuletzt in meinem Artikel „Vatikanisches Konzil**
Realenzyklopädie für protestantische Theologie, Band 20,
S. 445—474 (1908) geschildert worden.
II.
Einen großen Vorsprung vor allen bisherigen Ge-
schichtschreibern des Vatikanischen Konzils gewann
Granderath dadurch, daß Papst Leo XIII. ihm die Be-
nutzung aller vorhandenen Akten gestattet hat. „Alle
Aktenstücke stehen Ihnen zu Gebote. Nicht ein einziges
ist Ihnen vorenthalten. Nun legen Sie den Verlauf des
Konzils gerade so dar, wie er objektiv gewesen ist**, so
lauteten seine Worte (I, 9). Diese Zusage bedeutete sehr
viel, denn große Massen neuen Materials wurden ihm
dadurch zugänglich. Wir erfahren, daß von dem ersten
Auftauchen des Konzilsprojekts an der späteren Geschicht-
schreibung über das Konzil durch die Sammlung aller
Quellen in dem Vatikanischen Archiv planmäßig vor-
gearbeitet worden ist. Da findet man die Protokolle der
öffentlichen wie der geheimen Sitzungen des Konzils
und aller Kommissionen, die in seinem Dienst gearbeitet
haben, alle auf das Konzil sich beziehenden Korrespon-
denzen, Entwürfe, Konzepte; sogar Papierschnitzel mit
kurzen Notizen, lose Blätter, Wahlzettel sind aufbewahrt
worden. Für die Vorgeschichte des Konzils sind die
wichtigsten Quellen die Protokolle der dirigierenden
Vorbereitungskommission (Zentralkommission), die vom
9. März 1865 bis zum Dezember 1869 an 60 Sitzungen
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 543
abhielt, die Gutachten der in Rom anwesenden Kardinäle
über die Zweckmäßigkeit der Berufung eines Konzils,
die Gutachten von etwa 40 Bischöfen über die auf dem
Konzil zu verhandelnden Gegenstände (1865) und die
Antworten der 1867 zur Zentenarfeier der Apostel Paulus
und Petrus versammelten Bischöfe. Da die Arbeit des
Konzils selbst zum großen Teil in den Generalkongre-
gationen sich abgespielt hat, so sind von der Eröffnung
der Synode an die Akten über die hier geführten Ver-
handlungen von hervorragendem Wert. In 24 Folio-
bänden sind die Protokolle dieser Generalkongregationen,
alle auf ihre Beratungen sich beziehenden Aktenstücke,
alle Schemata über die verhandelt worden ist, und alle
Stenogramme über die gehaltenen Reden gesammelt. Wir
erfahren hier zugleich die interessante Tatsache, daß die
Reden selbst auch gedruckt vorliegen und fünf Foliobände
füllen, die in den Jahren 1875 — 1884 durch die Vatika-
nische Druckerei hergestellt worden sind, freilich nur „in
etwa zehn Exemplaren"", so daß die Zugänglichmachung
dieses Quellenmaterials für die wissenschaftliche For-
schung nicht beabsichtigt zu sein scheint. Die von den
Vätern in bezug auf die ConstUutio de fide und die
Constitutio de ecclesia eingereichten schriftlichen Be-
merkungen bilden zwei Bände. Besondere Bedeutung
kommt ferner den Protokollen der Glaubenskommission
zu und den Aufzeichnungen der Kommission, der die
Prüfung der Vorschläge zufiel, die von den Synodalen
ausgingen. Auch über die Beratungen der Präsidenten
des Konzils liegen Aufzeichnungen vor. Dem Archiv
sind weiter die von einzelnen Mitgliedern und Beamten
des Konzils gesammelten Schriftstücke oder Nieder-
schriften einverleibt worden, z. B. der Nachlaß des Kar-
dinals Schwarzenberg. Granderath hat auch zahlreiche
im Privatbesitz befindlichen Dokumente einsehen können.
Er erwähnt besonders die drei Diarien „eines hervor-
ragenden Mitgliedes des Konzils und der Glaubens-
deputation"" (Bischof Seneströy) und das Tagebuch eines
wohl orientierten, in Rom lebenden Diplomaten. Endlich
standen dem Verfasser auch für die Schilderung der Auf-
544 Carl Mirbt,
nähme der Konzilsbeschlüsse die denkbar besten Quellen
offen, denn er konnte Einsicht nehmen in den Brief-
wechsel zwischen der Kurie und den Nuntien und in
die zwischen dem Staatssekretär und den einzelnen
Bischöfen gewechselten Briefe.
Auf Grund dieses Materials ist Granderath in der
Lage, manches Neue mitzuteilen und manche Berichti-
gung der bisherigen Darstellung vorzunehmen. In
welchem Umfang dies aber geschehen ist, ist schwer
festzustellen. Denn der Verfasser hat sich nicht die
Mühe genommen, dem Leser mitzuteilen, was er der von
ihm gründlich studierten Literatur verdankt und in
welchen Punkten er über sie hinausgreift. Nur der Ver-
mutung möchte ich mit allem Nachdruck entgegentreten,
als ob der Verfasser überall dort, wo er keinerlei Lite-
ratur nennt, unbebautes Land angetroffen hätte. Von
diesem Irrtum wird jeder gründlich geheilt, der mit einem
frischen Eindruck der oben genannten Werke an die
Granderathsche Darstellung herantritt.
Diese Feststellung soll die Tatsache aber nicht ver-
dunkeln, daß wir ihm manche wertvolle Mitteilung ver-
danken. Einige Beispiele mögen dies zeigen. Als Pius IX.
zwei Tage vor der Veröffentlichung des Syllabus in der
Rituskongregation am 6. Dezember 1864 zum erstenmal,
«oweit sich nachweisen läßt, den Gedanken der Be-
rufung einer allgemeinen Kirchenversammlung aussprach,
forderte er die Kardinäle dieser Kongregation und dann
alle in Rom residierenden Kardinäle auf, sich zu diesem
Plan gutachtlich zu äußern. Diese Gutachten (1, 20—45)
waren von sehr verschiedenem Umfang, das umfäng-
lichste und inhaltlich bedeutendste stammte aus der
Feder des Kardinals Reisach. Nur von Kardinal Pentini
wurde die Frage der Notwendigkeit des Konzils glatt
verneint, er bestritt das Vorhandensein eines ausreichen-
den Anlasses. Die übrigen Kardinäle bejahten sie zwar,
aber die Mehrheit gestand doch nur die relative Not-
wendigkeit der Einberufung zu, und aus innerkirchlichen
wie aus politischen Gründen wurde deren Zweckmäßig-
keit mehrfach beanstandet. Für den Fall des Zustande-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 545
kommens des Konzils wurden auch bereits zahlreiche
Gegenstände zur Beratung empfohlen. Dabei ist von
Interesse, daß die Meinungen darüber, ob die Notwendig-
keit der zeitlichen Herrschaft des Papstes zum Glaubens-
satz erhoben werden sollte, stark auseinandergingen.
Die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit wurde nur
von zwei Kardinälen in Vorschlag gebracht. — Wir er-
halten ferner genauere Mitteilungen über die Gutachten
der 36 Bischöfe, die von Pius IX., nachdem er sich
für die Berufung des Konzils entschlossen hatte, selbst
ausgewählt worden waren, um ihr Urteil über die auf
ihm zu behandelnden Gegenstände abzugeben. Grande-
rath stützt sich hier auf den offiziellen Bericht über
ihre Antworten, den Monsignore Jakobini verfaßt hat.
Beachtenswert ist, daß aus Deutschland nur zwei
Bischöfe befragt worden waren: Bischof Weiß von
Speyer und Bischof Senestr^y von Regensburg. Der
letztere benutzte die Gelegenheit zu einer Denunziation
der Theologen in München, die darauf ausgingen, „den
apostolischen Stuhl, seine Autorität und Regierungsweise
durch geschichtliche Erörterungen herabzusetzen und
der Verachtung Preis zu geben und besonders die Un-
fehlbarkeit Petri bei Kathedralentscheidungen in Abrede
zu stellen". Unter den befragten Bischöfen hat „eine
ganze Reihe" auch die Definition eben dieser Lehre ver-
langt; wer alles dazu gehörte und wie viele es waren,
wird nicht mitgeteilt. — Zur Vorbereitung des Konzils
wurden sieben durch je einen Kardinal geleitete Kom-
missionen gebildet, jener „dirigierenden Kommission"
aber fiel die wichtigste Arbeit zu. Sie hatte u. a. die
Aufgabe, durch Vermittlung der Nuntien geeignete Sach-
verständige ausfindig zu machen. Es war nun längst
bekannt, daß Kardinal Schwarzenberg sich über die Ein-
seitigkeit in der Auswahl dieser sog. Konsultoren in
Rom beschwert hat (im Mai 1868), da er es auffällig
fand, daß die Universitäten München, Bonn, Tübingen,
Freiburg, Breslau vollständig übergangen waren, während
man aus Würzburg zwei, und zwar Zöglinge des Col-
legium Germanicum, berufen hatte (Hergenröther und
546 Carl Mirbt,
Hettinger). Er hatte dann Hefele in Tübingen und Döl-
linger in München besonders namhaft gemacht. Von
Antonelli war ihm darauf geantwortet worden, der Ruf
würde an Döllinger ergangen sein, wenn dem Papst
nicht versichert worden wäre, daß Döllinger eine Ein-
ladung nicht annehmen würde. Wir erfahren nun aber
aus einem Briefe Döllingers die interessante Tatsache,
daß eine Anfrage dieser Art an ihn niemals ergangen
war (I, 70). — Sehr eingehende Mitteilungen macht
Granderath über die zum Teil sehr komplizierten kirchen-
rechtlichen Untersuchungen, die durch die Frage, wer
zum Konzil zu berufen sei, angeregt wurden. Bezüg-
lich der Kardinäle und Diözesanbischöfe bestand kein
Zweifel, dagegen große Unsicherheit in betreff der Titular-
bischöfe, der Äbte und Generaloberen der religiösen
Orden, der Prokuratoren, der Kapitelsvikare. Die beiden
letzten Gruppen wurden ausgeschlossen, die anderen
zugelassen.
In zahlreichen Fällen beruft sich Granderath auf die
stenographischen Protokolle über die in den General-
kongregationen gehaltenen Reden, um den apokryphen
Charakter mancher daraus verbreiteter Wendungen zu
erweisen. Dies führt uns zu der viel verhandelten
Frage nach dem Wert der von den Konzilsstenographen
vollzogenen Niederschriften. Aus den von Granderath
(II, 8 ff.) gemachten Mitteilungen ergibt sich zunächst
die wichtige Tatsache, daß von der Kurie offenbar mit
großer Sorgfalt die Ausbildung eines tüchtigen Steno-
graphenpersonals vorbereitet worden ist. Auf Grund
der Stenogramme hat daher der Verfasser den authen-
tischen Text der berühmten Rede des Bischofs Stroß-
mayer (II, 395 ff.) feststellen können und den Nachweis
zu führen vermocht (II, 349 ff.), daß der Vorwurf einer
Fälschung der Rede des Erzbischofs Casangian gegen
den stenographischen Bericht nicht erhoben werden darf.
Auch ein Irrtum, der in bezug auf eine Rede des Bischofs
Greith von St. Gallen (II, 107 f.) sich verbreitet hat,
wird berichtigt. Trotzdem ist aber von Konzilsvätern
über mangelnde Zuverlässigkeit der Stenographen geklagt
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 547
worden, z. B. von Kardinal Rauscher. Als die Bitte aus-
gesprochen wurde, daß die stenographischen Aufzeich-
nungen gedruckt würden (11, 53 ff.), ist sie von dem Papst
abgeschlagen worden. Nach Granderath hatten die Syno-
dalen das Recht, die Stenogramme ihrer Reden durch-
zulesen und durchzukorrigieren, aber sie haben nur am
Anfang des Konzils davon häufiger Gebrauch gemacht
(II, 11). Dieser einfache Tatbestand erfährt nun aber eine
eigenartige Beleuchtung durch die Bemerkung Grande-
raths: ^Vielleicht wußten auch einige nicht, daß sie ihre
Reden noch einmal lesen konnten." Wenn diese „einige"
jener großen Masse angehörten, die nur bei Abstim-
mungen in Tätigkeit traten, so ist ihr „Nichtwissen" um
ein ihnen zustehendes Recht wohl möglich, da es für
sie keinen Wert hatte. Aber Granderath berichtet weiter,
daß er in dem Archiv den Text einer Rede des Kardi-
nals Rauscher gefunden habe, den er nebst einem Be-
gleitschreiben an den Sekretär gesandt hatte, indem er
bat, die Rede unter die Akten des Konzils aufzunehmen,
da er aus seinen Erfahrungen in den Kammern wisse,
daß man sich auf die Referate der Stenographen nicht
verlassen könne und fügt hinzu: „Man möchte hieraus
schließen, daß der Kardinal von der Möglichkeit, er könne
seine stenographische Rede noch einmal durchlesen und
nötigenfalls korrigieren, nicht gewußt habe." Ein noch
weiter gehender Schluß aber drängt sich auf. Wenn
eine führende und im politischen Handeln so geschulte
Persönlichkeit wie Rauscher so vorgehen muß, wie es
hier beschrieben ist, dann ist den Synodalen ihr Recht
zur Durchsicht ihrer Reden eben nicht bekannt gegeben
worden und diese Unterlassung war dann wohlüberlegt,
oder aber sie besaßen überhaupt nicht ein „Recht" zur
Durchsicht, sondern es ist nur einzelnen auf besonderen
Wunsch die Einsicht in die Aufzeichnungen gewährt
worden. Hätten die Synodalen das zugestandene Recht
zu dieser Durchsicht besessen, dann würden die Bischöfe
der Opposition schwerlich auf dieses Mittel der Nach-
prüfung verzichtet haben. Übrigens spricht auch Grande-
rath streng genommen gar nicht von einem „Recht",
548 Carl Mirbt,
sondern nur von einem „Können*", von einer „Möglich-
keit''. Es ist für Granderath höchst bezeichnend, daß er
sich in dieser unbestimmten Weise äußert. Der Leser
soll offenbar den Eindruck erhalten, daß die Synodalen
aus Interesselosigkeit es selbst verschuldet haben, falls
etwa ein Fehler sich eingeschlichen und nicht heraus-
korrigiert worden ist. Da die Akustik der Konzilsaula
anfangs eine wirkliche Verhandlung unmöglich machte
und auch nach deren Umbau von Ende Februar bis Mitte
März 1870 noch Anlaß zu Klagen bot, z. B. von Seiten
Hefeies, darf auch die Möglichkeit von Hörfehlern bei den
Stenographen nicht in Abrede gestellt werden. Nach
den jetzt bekannt gewordenen Verhältnissen wird aber
den von der Konzilsleitung veranstalteten Stenogrammen
das Vertrauen entgegenzubringen sein, daß sie als zu-
verlässige Zeugen angesehen werden dürfen für die von
Stenographen gehörten Worte. Wenn aber Granderath
sie auch als Autorität für das Stattfinden oder Nichtstatt-
finden von Beifallsäußerungen heranzieht (II, 22 Anm. 4),
geht er zu weit und hat übersehen, daß hier der Subjek-
tivismus des Hörers eine große Rolle spielt. Ich möchte
doch nicht die Möglichkeit ganz von der Hand weisen,
daß das Ohr eines strebsamen angehenden Klerikers
das einem oppositionellen Bischof gespendete „beifällige
Murmeln" gelegentlich einmal überhört hat. — Da die
Autorschaft der unter dem Namen des Pomponio Leto
publizierten berühmten Schrift vielfach dem Kardinal
Vitelleschi zugewiesen worden ist und diese Frage seiner-
zeit sehr viel Staub aufgewirbelt hat, so sei darauf hin-
gewiesen, daß offenbar nicht der Kardinal selbst, sondern
sein Bruder Francesco als der Verfasser anzusehen ist.
Über die Persönlichkeit dieses „entarteten Bruders" und
die Quellen, die ihm zur Verfügung standen, teilt Grande-
rath, der auf die Entlastung des Kardinals großes Gewicht
legt (II, 517 Anm. 1), jedoch nichts Näheres mit. — Das
sind nur einige Proben der zahlreichen Berichtigungen,
die von Granderath gegeben werden. Die wichtigste
Förderung unserer Kenntnis der Konzilsgeschichte aber
liegt in seinen fortlaufenden Berichten aus den Protokollen
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 549
über die Generalkongregationen. Aber ich muß die
starke Einschränkung hinzufügen, daß sie überaus sum-
marisch gehalten sind und uns jedes Mittel fehlt, zu
kontrollieren, ob Granderath die Redner richtig ver-
standen hat und ob in seinen Referaten das wiederge-
geben ist, was sie selbst für das wesentliche hielten und
ob es so wiedergegeben ist, daß Stimmung und Gesamt-
eindruck zu ihrem Recht kommen. Unter diesen Um-
ständen wird die Freude über die Erschließung dieser
neuen Quellen doch sehr stark gedämpft, und leider be-
raubt uns die schriftstellerische Eigenart Granderaths
auch der Möglichkeit, durch einen großen Vertrauensakt
uns über alle diese Schwierigkeiten hinwegzusetzen.
An der Spitze des Buches steht die doppelte Er-
klärung (I, 8 f.), daß der Standpunkt des Verfassers „vor
allem der Standpunkt eines Geschichtschreibers ist,
welcher nach den ihm vorliegenden Quellen ein klares
und wahres Bild seines Gegenstandes entwerfen will"
und daß dieses Werk „vom katholischen Standpunkt aus,
der für die Beurteilung eines Konzils als der einzig
richtige, ja unumgängliche erscheint", geschrieben worden
ist. In dieser Position brauchte nicht notwendig eine
Bindung zu liegen, die eine wirklich historische Auf-
fassung ausschließt, für den Verfasser aber ist sie zu
einer Gefahr geworden, der er nicht gewachsen war.
„Vor allem" wollte Granderath als Historiker schreiben,
d. h. offenbar nicht nur als solcher. Diese Worte sind
in der Tat sehr zutreffend und enthalten eine richtige,
allerdings nicht beabsichtigte , Selbstcharakteristik des
Autors. Denn in dieser Geschichte des Vatikanischen
Konzils kommt nicht nur der Historiker zu Wort, sondern
auch der Anwalt und zwar ein solcher, wie wir ihn vor
den Schranken des Gerichts ungern sehen, der auch die
kleinen Mittel nicht verschmäht und durch die Diskre-
ditierung der gegnerischen Partei die eigene Sache zu
heben meint. An der zitierten Stelle ist freilich die ver-
trauenweckende Versicherung zu lesen: „Ich werde nichts
verschweigen und nichts bemänteln", aber sie ist ersicht-
lich sehr rasch wieder vergessen worden. Denn es ist
550 Carl Mirbt,
gerade eine der Haupteigentümlichkeiten Granderaths,
daß er gegenüber Vorgängen, die ihm aus was für
Gründen immer peinlich oder unangenehm sind, eine
befremdende Zurückhaltung übt oder sich in merkwür-
dig gewundenen Redensarten ergeht. Sonst ist er nicht
selten breit und wiederholt sich auch, aber in solchen
Fällen befleißigt er sich einer lapidarischen Kürze oder
bewegt sich in schillernden Wendungen oder erörtert
eine wichtige Materie ganz nebenbei.
Proben solcher Zurückhaltung liegen zahlreich vor.
Eine viel besprochene Episode in der Geschichte des
Konzils ist die Verhandlung über das Schema De fide
catholica am 22. März 1870, in der Bischof Stroßmayer
von Sirmium unter anderm die Schlußworte der Einleitung
scharf kritisierte, in denen aus den Häresien, die von
den tridentinischen Vätern verurteilt seien, alle mög-
lichen monstra abgeleitet wurden und der Protestantismus
als eine Pest bezeichnet wurde, von der auch die Katho-
liken angesteckt seien. Bei der nächsten Verhandlung
über diesen Gegenstand, einige Tage später, wurde dieser
Text in einer wesentlich gemilderten Form vorgelegt. Der
Umschwung war, nach dem Bericht Friedrichs (Geschichte
111,789), dadurch herbeigeführt worden, daß der nord-
deutsche Bundesgesandte Arnim, auf Weisung aus Berlin,
die Erklärung abgegeben hatte, daß, wenn das Bekenntnis
des Königs von Preußen und dadurch er selbst amtlich
beleidigt würden, der Gesandte abberufen würde und die
deutschen Bischöfe aufgefordert werden würden, in ihre
Diözesen zurückzukehren. Granderath beschränkt sich,
soviel ich sehe, darauf (II, 393 Anm. 1) zu bemerken:
^Friedrich weiß zu erzählen . . ., daß sich deshalb die
preußische Regierung bei der Kurie beschwert habe."
Ob dieses Eingreifen wirklich stattgefunden hat und in
welcher Form es sich vollzog, bleibt also ganz unauf-
geklärt, d. h. der Historiker, dem das ganze Vatikanische
Archiv offen stand, unterläßt es, einen strittigen Vorgang
aufzuklären, und es ist ein merkwürdiger Zufall, daß in
dem Register weder unter Arnim, noch unter Bismarck,
noch unter Preußen auf unsere Stelle hingewiesen ist.
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 551
Nach Lage der Dinge wird aus dem Schweigen Grande-
raths zu folgern sein, daß in der von Friedrich berichtteten
Weise oder ähnlich Preußen seinen Einfluß geltend gemacht
haben wird, d. h. also die Kurie einen Rückzug antreten
mußte. — Eine andere berühmte Szene ist die Audienz
von sechs Prälaten der unterliegenden Partei bei dem
Papst am Abend des 15. Juli, in der sie in bezug auf
die Fassung des Unfehlbarkeitsdekretes zwei Bitten vor-
trugen und Bischof Ketteier vor dem Papst sich nieder-
warf und ihn anflehte, der Kirche den Frieden zu erhalten.
Wir sind begierig, nun endlich eine authentische Darle-
gung dieses vielumstrittenen Vorgangs zu erhalten.
Granderath aber schreibt (HI, 480): „Sie trugen dem
Papste ihre Bitte vor, und Ketteier soll vor ihm auf die
Knie gefallen sein und ihn angefleht haben, durch Nach-
geben in den beiden Punkten die Einmütigkeit in der
Abstimmung herbeizuführen. Was der Papst geantwortet
hat, ist nicht mit Gewißheit zu ermitteln. Er scheint
einer definitiven Antwort aus dem Wege gegangen zu
sein'', d. h. Granderath will den Niederfall Kettelers als
zweifelhaft bezeichnen und will nichts sagen über die
Antwort des Papstes. Warum beruft er sich zu diesem
Zweck auf das Buch des Jesuiten Pfülf, „Bischof v. Ketteler**
(III, 111) und sagt uns nicht, wie dieser denkwürdige Vor-
gang nach den Aufzeichnungen des Vatikanischen Archivs
sich in Wirklichkeit abgespielt hat? Wer nun aber zu
Pfülf seine Zuflucht nimmt, erfährt eine neue Enttäuschung,
denn auch dieser Biograph eilt über diese Audienz sehr
rasch hinweg und erklärt zwar, daß jeder Anhaltspunkt
fehle, um die hergebrachte Darstellung zu bestreiten,
aber schwächt diese Erklärung sofort wieder dadurch
ab, daß er hinzufügt: „Immerhin kann man nicht sagen,
daß die Tatsache vollkommen feststehe." — Für die Kon-
zilsleitung war es eine sehr schmerzliche Erfahrung, als
in Erzbischof Guidi von Bologna ein Kardinal der römi-
schen Kirche schwere Bedenken gegen das Infallibilität-
schema aussprach. Dazu gehörte einiger Mut, denn die
andersdenkende Mehrheit suchte ihn niederzuschreien
und war nicht wählerisch in dem Ausdruck ihres Urteils;
552 Carl Mirbt,
freilich fehlte ihm auch nicht der ermunternde Zuruf seiner
Gesinnungsgenossen. Da Granderath sich damit be-
gnügt, zu erklären (III, 396), daß diese Darstellung
^von Zeitungsschreibern und von meistens konzilsfeind-
lichen Neuigkeitssammlern" herstammt, wird sie wohl
zutreffend sein, denn selbst die offiziöse Schilderung
dieser peinlichen Vorgänge, d. h., wie Granderath sagt,
„der authentische Bericht", läßt deutlich erkennen, daß
es in der Generalkongregation vom 18. Juni recht stür-
misch herging, oder, genauer gesagt, eben das Referat
Granderaths über diesen Bericht läßt dies erkennen. Wir
erwähnen diese Vorgänge wegen des Nachspiels, das sie
selbst an Bedeutung noch weit überragt. Der Kardinal
wurde sofort nach der Sitzung vor den Papst zitiert
und hatte hier die ersten temperamentvollen Äußerungen
der gewaltigen Erregung Pius' IX. über sich ergehen zu
lassen. Als er seine in der Generalkongregation vor-
getragenen Ansichten aus der Heiligen Schrift und der
Tradition begründen wollte, unterbrach ihn der Papst und
sagte zu ihm: „Die Tradition bin ich." Über diesen Auf-
tritt äußert sich unser Historiker wiederum in einer für ihn
sehr bezeichnenden Weise, Granderath gibt nämlich nicht
eine positive Darstellung der Hergangs, sondern erteilt
Friedrich das Wort, um ihn dann zu glossieren. Wir
lesen: „Friedrich erzählt . . ., daß Kardinal Guidi gleich
nach der Sitzung zum Papst beschieden und wegen seiner
Rede scharf angelassen worden sei. Er weiß genau,
welche Unterhaltung zwischen dem Papste und dem Kar-
dinale stattfand. Als Guidi sich für seine Lehre auf die
Tradition berief, habe Pius IX. ihn lebhaft unterbrochen
und erklärt: „Die Tradition bin ich." Daß der Papst
den Kardinal zu sich beschieden hat, wird richtig sein,
aber welche Unterredung zwischen beiden stattfand, ist
so wenig festzustellen, daß es sich nicht lohnt, die dar-
über in Umlauf gesetzten Gerüchte weiter zu beachten."
Sollte es dem von der Kurie begünstigten Historiographen
wirklich nicht möglich gewesen sein, mehr zu ermitteln ?
Besteht denn über die Zitation Guidis auch nur irgend
ein Zweifel? Und ist dem Verfasser nicht bekannt, daß
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 553
das Wort: „Die Tradition bin ich", sofort die größte
Sensation erregt hat und bald zum geflügelten Wort
wurde? Da meines Wissens ein offizielles Dementi dieses
Wortes 1870 nicht erfolgt ist und auch Granderath es
nicht bestreitet, so haben wir es als authentisch an-
zusehen. Es paßt zu der Situation und zu dem Mann,
der es gesprochen haben soll. — Wir sind auf diese
beliebig ausgewählten Fälle etwas näher eingegangen,
weil die von Granderath eingeschlagene Taktik des Um-
gehens von Schwierigkeiten nur auf diesem Wege er-
kennbar wird.
Es seien wenigstens noch einige Beispiele für die
von ihm geübte Zurückhaltung kurz notiert. Der Leser
erfährt nicht, wer die vierzehn Unterzeichner der be-
rühmten Petition vom 10. April 1870 (Collectio Lacensis
p. 975 ff.) gewesen sind, welche noch vor der Infallibili-
tätsdebatte über die weltliche Gewalt der Kirche und die
Geltung der Bulle unam sanctam von Bonifazius VIIL
verhandelt sehen wollten, obwohl oder weil es darüber
später zu Kontroversen gekommen ist (Granderath III, 9,
vgl. Friedrich III, 857). — Obergangen wird der Vorwurf,
daß die in letzter Stunde vorgenommene Verschärfung
des Entwurfs der Infallibilitätsformel (Zusatz: „non autem
ex consensu ecclesiae*") zur Abstimmung gebracht worden
ist, ohne durchberaten worden zu sein (Friedrich III, 1185,
vgl. Granderath III, 485). — In dem Schema De vita et
honestate clericorum wurde cap. II die Zustimmung des
Bischofs zu der Erteilung des Religionsunterrichts für not-
wendig erklärt. Daß es sich dabei um die Festlegung
der strittigen missio canonica handelte, wird mit keinem
Wort angedeutet (II, 188, vgl. Friedrich III, 528 f.). — Bei
Gelegenheit der Diskussion des Schemas De episcopis,
de synodis et de vicariis generalibus wurde an der Kurie
Kritik geübt, über die reichlichere Mitteilungen am Platze
gewesen sein würden. Es empfiehlt sich daher, neben
dem Referat Granderaths (H, 166 ff.) auch den Bericht
Friedrichs zu konsultieren, denn eine Rede wie die des
Bischofs Charbonnel (II, 452) über die Stellenjägerei regt
zum Nachdenken an. — Im Mai 1870 ist von Arnim ein
Historiiche Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 36
554 Carl Mirbt,
Promemoria über die päpstliche Unfehlbarkeit für die
deutschen Bischöfe verfaßt worden, in dem er sie zum
Widerstand gegen ihre Definition aufforderte (II, 720 ff.).
Granderath handelt ausführlich darüber, um schließlich
dann zu erklären (II, 724): „Ob Arnim das Promemoria
den Bischöfen wirklich zugesandt hat, weiß ich nicht"
War dieses Nichtwissen unüberwindlich?
Granderath übt nun aber diese Politik der Zurück-
haltung nicht etwa nur in der Behandlung mehr oder
minder wichtiger einzelner Punkte, sondern auch in der
Abgrenzung der von ihm behandelten Stoffe, und zwar im
großen Stile. Die ganze weitere Vorgeschichte des Dog-
mas im 19. Jahrhundert hat er vollständig ausgeschieden
und weiß von den darauf hinzielenden Agitationen des
Jesuitenordens nichts zu sagen; das mag schon hier er-
wähnt werden, wenn sein Verfahren auch, wie wir sehen
werden, noch andere Gründe gehabt hat. Über die Auf-
nahme der Konzilsbeschlüsse von seiten der Katholiken
wird am Schluß des Werkes in mehreren Kapiteln ge-
handelt, aber wir hoffen umsonst auf eine Einführung
in die Stimmung der katholischen Kreise, die zögernd
und schweren Herzens in den Prozeß des Umdenkens
und Umglaubens eintraten, und wundern uns daher
kaum noch, daß der Verfasser für die religiösen Kon-
flikte, wie sie Amalie von Laseaulx zu durchkämpfen hatte,
ebensowenig ein Wort findet, wie für die Vergewalti-
gungen, die diesen vornehmen Charakter aus der Kirche
hinausgedrängt haben, der sie bis dahin ihre Kraft ge-
widmet hatte und wahrlich keine geringe.
Eine Eigentümlichkeit der Granderathschen Ge-
schichtschreibung ist ferner die Unfähigkeit des Ver-
fassers, sich in die Gedankengänge der Gegner des
Dogmas auf dem Konzil zu versetzen und sich dadurch
die Möglichkeit zu eröffnen, ihnen gerecht zu werden.
Da die komplizierten Stimmungen, die religiösen Kon-
flikte, der Widerstreit zwischen Pietät und Wissen bei
den Bischöfen der Minorität von ihm nicht nachempfunden
und von ihm gar nicht verstanden werden, erfährt diese
Minorität eine Beurteilung, die für seine ganze Darstellung
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 555
des Konzils verhängnisvoll wird. Wer der Infallibilitäts-
erklärung des Papstes in den Weg tritt und sich daran
beteiligt, die Definition des Dogmas zu verzögern, gehört
zu den Gegnern der Wahrheit und wird als solcher be-
handelt. Nicht den geringsten Zweifel läßt Granderath
darüber aufkommen, wohin seine Sympathien sich neigen;
sie treten in jedem Bericht über eine diesem Gegenstand
gewidmete Verhandlung hervor. Die Freunde der Vorlage
erhalten gute, die Gegner schlechte Zensuren. Ebenso
ist alles, was von selten des Papstes geschieht, ohne
weiteres das Richtige und jede Kritik an seinen Maß-
nahmen ein Beweis von Überhebung oder Auflehnung.
Ruhiger wird die Beurteilung im dritten Band, als die
Schlacht ihr Ende erreicht hat und die Unterwerfung
der Bischöfe unter das promulgierte Dogma ihren
Anfang nahm.
III.
Am Schluß seines ganzen Werkes hebt Granderath
hervor, daß aus der großen Zahl von Vorlagen, die für
das Konzil ausgearbeitet worden waren, überhaupt nur
sechs zur Verhandlung gekommen sind und am Ende
nur von zweien verhältnismäßig recht kleine Teile zu
wirklichen Konzilsdekreten erhoben worden sind. „Was
dagegen den allgemeinen Kirchenrat vom ersten Augen-
blick seines Zusammentrittes bis zu seiner Auflösung
tatsächlich fast allein in Anspruch genommen hat, das
hatte in keinem der vielen Entwürfe gestanden, das
hatte man in Rom gar nicht der Beratung der Kon-
zilsväter unterbreiten wollen. — Eines steht heute
zweifellos fest: daß nämlich die Unfehlbarkeitsfrage von
außen her in die Konzilsverhandlungen hineingetragen
worden ist. Aber von dem Augenblicke an, da Mitte
1868 der Plan des Dekans der Pariser theologischen
Fakultät, Msg. Maret, bekannt wurde, mit Rücksicht auf
das bevorstehende Konzil ein Werk über das Verhältnis
des Papstes zum Episkopat und über die päpstliche
Unfehlbarkeit zu veröffentlichen, erfaßte die sog. gebil-
deten Kreise allenthalben, besonders aber in Frankreich
36*
556 Carl Mirbt,
und Deutschland, eine derartige geistige Erregung,
machten in Frankreich die letzten Freunde des Galli-
kanismus und in Deutschland die zielbewußten Vertreter
und mehr noch die, vielleicht unbewußten, Anhänger des
Rationalismus solche Anstrengungen, jene Lehre, die
schon seit langem in dem Glaubensbewußtsein der
großen Mehrheit der Katholiken eingewurzelt war, herab-
zusetzen und als unbegründet, unsinnig und gefährlich
hinzustellen, daß den berufenen Wächtern der geoffen-
barten Wahrheit die dringende Pflicht erstand, nun auch
ihrerseits ungesäumt dieser Frage näher zu treten und
der hochgradigen Verwirrung der Geister und der daraus
für die Gläubigen erwachsenden Gefahr durch ihren
höchsten Urteilspruch ein für allemal ein Ende zu be-
reiten" (III, 724 f.). „Als daher die Bischöfe in Rom ein-
trafen, war es allen klar, daß die große Frage, ob schon
sie in dem vom Papste vorgezeichneten Programm fehlte,
nicht mehr weiter umgangen werden konnte" (ebd. 725)-
Die im Wege stehenden Hauptschwierigkeiten gingen
von den Minoritätsbischöfen aus. Nur nebenbei sei be-
merkt, daß Granderath in der Schlußcharakteristik dieser
Gruppe, mit der er sie verabschiedet, es fertig bringt,
ihnen die „Obergehung der Majoritätsmitglieder bei den
Wahlen" zum Vorwurf zu machen. Die Aussicht der
Definitionsgegner mit ihrem Widerspruch durchzudringen,
war trotz ihrer geringen Zahl nach Granderaths Urteil
„eine geraume Weile" nicht gering, und die Furcht vor
den schlimmen Folgen der Annahme der Lehre von der
päpstlichen Unfehlbarkeit hat zeitweise sogar die Konzils-
leitung erfaßt. Als dann aber schließlich, nach Ostern
1870, durch den Papst die sofortige Verhandlung über
diese Materie angeordnet wurde, war „die Sache so gut
wie abgetan".
Nach dieser Darstellung Granderaths, die nicht ihm
eigentümlich ist, sondern heutzutage auf römisch-katholi-
scher Seite offiziöse Geltung besitzt, hat demnach — das
ist der entscheidende Punkt — Pius IX. die Definition
des Dogmas nicht gewollt, wenn er ihm auch freundlich
gegenüberstand, sondern ist dazu gezwungen oder wenig-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 557
stens dazu gedrängt worden. Es liegt auf der Hand,
daß, wenn das Dogma unter diesen Umständen ent-
standen ist, dann ein erheblicher Teil der Kritik, soweit
sie nicht prinzipieller Natur ist, bisher auf falschen Vor-
aussetzungen sich aufgebaut hat und die Stellung Pius' IX.
in dieser ganzen Aktion wesentlich verbessert wird, wenn
er als der den stürmischen Wünschen der Kirche nach-
gebende Teil erscheint. Die Versuche, für diese Beurtei-
lung der Entstehung des Dogmas Propaganda zu machen,
gehen in die Konzilszeit selbst zurück, aber das Ver-
hältnis der Fragestellung Granderaths zu denen seiner
Vorgänger lassen wir unberücksichtigt. Uns kommt es
hier nur darauf an, festzustellen, wie über diese These,
daß die Definition des Unfehlbarkeitsdogmas nicht die
Absicht des Papstes war, zu urteilen ist.
Friedrich widmet den ersten Band seiner „Geschichte
des Vatikanischen Konzils'' dessen Vorgeschichte und
liefert darin den Nachweis, daß durch die innerhalb der
römisch-katholischen Kirche zur Herrschaft gelangende
ultramontane Richtung planmäßig für die Verbreitung
und Einwurzelung des Infallibilitätsgedankens in der
abendländischen katholischen Christenheit agitiert worden
ist. Schon die Begründer des modernen Ultramonta-
nismus in Frankreich haben ihn vertreten, de Maistre,
Lamennais, Lacordaire und dann vor allem der Schöpfer
der ultramontanen Presse, Louis Veuillot. Dadurch, daß
die Definition der Lehre von der Immaculata conceptio
der Maria ohne vorangegangene Abstimmung des Epis-
kopates von Pius IX. 1854 vorgenommen wurde, wurde
von ihm die Befugnis bereits tatsächlich ausgeübt, die
ihm erst achtzehn Jahre später zuerkannt worden ist.
Planmäßig haben dann die Deharbeschen Katechismen
für die Popularisierung der neuen Lehre in dem Volks-
unterricht gewirkt, ebenso die Beschlüsse zahlreicher Pro-
vinzialkonzile seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, auch der
Syilabus von 1864, der in seiner dreiundzwanzigsten These
erklärte, daß die Päpste in der Festsetzung von Glaubens-
und Sittenlehren nicht geirrt haben. Man kann geradezu
sagen, daß diese Lehre das Charakteristikum der ultramon-
558 Carl Mirbt,
tanen Partei auf dem Gebiet des Dogmas wurde, daß sie von
jesuitischer Seite vornehmlich gepflegt und von Rom aus
ganz unmißverständlich gefördert worden ist Es scheint
fast, als ob eine internationale geheime Liga bestanden
hat, um der Infallibilitätslehre zum Siege zu verhelfen.
Denn Kardinal Manning und Bischof Senestr^y, die beiden
Hauptinfallibilisten auf dem Konzil, haben, wie der erstere
selbst erzählt hat, als sie 1868 am Vorabend des Festes
des Petrus am Throne des Papstes assistierten, das von
einem italienischen Jesuiten Liberatore in seinem Wortlaut
entworfene Gelübde abgelegt, alles zu tun, was in ihrer
Macht stände, um die Definition dieser Lehre herbei-
zuführen (Granderath 11, 292, vgl. dazu Friedrich I, 680 f.).
Daß bei Beginn des Konzils schon weite Kreise sich an
diese Vorstellung gewöhnt hatten, ist eine Tatsache, die
Granderath zugunsten ihrer Proklamation zum Dogma
verwertet. Aber er äußert sich darüber nicht, wie dieser
Zustand herbeigeführt worden ist und der Leser erfährt
davon nichts, daß die rastlose Arbeit von Dezennien vor-
anging und daß die römische Kurie und der Jesuitenorden
die Seele dieser zielbewußten und konsequenten Beein-
flussung der katholischen Christenheit waren. Es wäre
von höchstem Interesse gewesen, wenn Granderath auch
nur versucht hätte, sich mit diesen Tatsachen auseinander-
zusetzen und der von seinem Standpunkt aus als falsch
beurteilten Deutung die richtige entgegenzusetzen. Dieser
Pflicht durfte er sich um so weniger entziehen als das
Verhalten der beiden Konzilsparteien und der gesamte
Verlauf des Konzils unverständlich bleiben, wenn sie
nicht mit der vorangegangenen Geschichte in Verbin-
dung gebracht werden. Jedenfalls aber war es das Be-
quemste, an diese Aufgabe nicht erst heranzutreten, und
vielleicht auch das Klügste, das wollen wir gern zu-
gestehen.
Gegen die Granderathsche These spricht weiter, daß
Pius IX. demonstrativ und energisch für die Definition
der Lehre gewirkt hat. Zum Beweis hierfür sei auf die
Veröffentlichung des Breves vom 11. Februar 1869 an
den Kapitelsvikar und den Klerus von Adria (Rovigo)
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 559
hingewiesen, von denen die Liste der Leute eingesandt
worden war, die das Unfehlbarkeitsgelübde geleistet hatten
und die nun dafür mit Lobsprüchen überschüttet wurden.
Noch vor dem Zusammentritt des Konzils erging das
dann im Univers veröffentlichte Breve vom 27. November
1869, in dem der Papst einem französischen Bischof seine
Freude über sein Bekenntnis zur Infallibilität aus sprach
(Friedrich III, 99). Daß der „Janus" durch die Index-
kongregation verdammt wurde und der Papst dieses Urteil
am 30. November, also vor Beginn des Konzils, bestätigte,
war nach Lage der Dinge ebenfalls eine sehr deutliche
Stellungnahme. Da Granderath jedem Redner, der auf
selten der Infallibilität stand, ein freundliches Wort zu.
sagen weiß, fällt die überaus kühle Art seiner Bericht-
erstattung über die Eröffnungspredigt des Erzbischofs«
Puecher-Passavalli auf. Pius IX. soll ihm den Wunsch
haben ausdrücken lassen, daß er darin auf die Zweck-
mäßigkeit einer Definition dieser Lehre durch das Konzil
hinwiese, aber die Rede enthielt davon nichts, und er fiel
in Ungnade. Sehr lehrreich ist, was Granderath über
die Stellung des Papstes zu den streitenden Konzils-
parteien im Anschluß an eine Erörterung über diese
beiden Gruppen zu sagen für gut befindet (II, 294 ff.).
Daß Pius IX. mit ganzer Seele von der Richtigkeit der
Unfehlbarkeitslehre überzeugt war, wie von der Notwen-
digkeit, sie zu dogmatisieren, wird von dem Verfasser
natürlich nicht bestritten und steht in der Tat außerhalb
jeder Diskussion. Dagegen ist kontrovers, ob er auf die
Synodalen einen Einfluß zugunsten seiner eigenen Auf-
fassung ausgeübt hat. In den „Römischen Briefen'' und
bei Friedrich findet sich gerade für diese Frage ein sehr
reiches Material, aus dem wir aber auch nicht einmal
eine Auswahl hier vornehmen können. Unser Geschicht-
schreiber erklärt nun auf der einen Seite wörtlich: „Pius IX.
mischte sich in den Streit der Väter nicht ein und ließ
dem Konzile volle Freiheit, die Lehre zu definieren oder
nicht**, und ist so tapfer, auch den Satz zu wagen: „Der
Antrag, die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit dem
Konzil vorzulegen, ging ganz frei aus dem Kreise der
560 Carl Mirbt,
Bischöfe hervor, ohne daß von päpstlicher Seite irgend
eine Veranlassung hierzu gegeben war." Andererseits muß
er jedoch zugestehen: „Es ist richtig, daß Pius IX. den
Schriftstellern, die ihm ihre zur Verteidigung der Unfehlbar-
keitslehre verfaßten Werke einsandten und denen, welche
Adressen zugunsten der Definition einreichten, seinen
belobenden Dank hat sagen lassen.*" Da dies nicht selten
geschehen ist und in jenen Monaten eben diese eine
Frage im Mittelpunkt der Synode stand, so hatten schon
diese Belobigungen den Charakter einer demonstrativen
Parteinahme. Nach Granderath aber war dies „nichts
anderes als die Erfüllung einer Hirtenpflicht", nämlich
„die Verteidigung der Glaubenswahrheiten zu fördern*.
Gegenüber den zahlreichen Erzählungen von abfälligen
Äußerungen des Papstes über Bischöfe der Minderheit
befindet sich der Verfasser offenbar in großer Verlegen-
heit. Er antwortet darauf durch folgendes Musterstück
verklausulierter Redewendungen : „In gewöhnlichen Unter-
redungen und Ansprachen, so sagt man, habe Pius IX.
zuweilen sich über die Bischöfe der Minorität ungünstig
ausgesprochen. Was den Inhalt gewöhnlicher Unter-
redungen angeht, so ist derselbe schwer festzustellen;
indessen scheint uns, daß einige Minoritätsbischöfe einer-
seits Anlaß zu gerechtem Tadel gaben, daß anderseits
Pius IX. offen genug war, um seine Unzufriedenheit
hierüber klar und unverblümt auszusprechen. Wenn
uns also eine ungünstige Bemerkung Pius' IX. über
Bischöfe der Minorität mitgeteilt und wohlverbürgt
würde, so könnten innere Gründe uns nicht veranlassen,
die Wahrheit der Mitteilung zu bezweifeln*' (III, 297).
Schon diese Tatsachen genügen, um die Erklärung
Granderaths, daß der Papst auf das Konzil „keinen
Druck ausübte und es ganz der Leitung des Heiligen
Ceistes überließ", richtig abzuwerten. Pius IX. hat doch
^ohl etwas nachzuhelfen versucht. In einem späteren
Abschnitt werden wir sehen, daß er sich dabei auch noch
;anderer Mittel bedient hat, um diese seine „Lieblings-
idee" zu verwirklichen, die, nach dem Urteil des Bischofs
Greith von St. Gallen, dem Papst ein unersetzliches Kapital
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 561
von treuer Liebe und Anhänglichkeit gekostet hat (III,
587). Mir scheint, daß man eine besondere geistige
Schulung durchgemacht haben muß, um von dieser Sach-
lage aus den Weg zu der These zu finden, daß die Ver-
kündigung des Dogmas nicht die Absicht des Papstes
gewesen ist. Von dieser Fiktion aus werden übrigens
manche wunderlichen Einzelurteile verständlicher. Zu
dem Vorgehen der deutschen Bischöfe, die im September
1869 zur Beschwichtigung der Aufregung ihrer Diözesanen
ein beruhigendes Hirtenschreiben erließen, aber zugleich
an den Papst ein Schreiben richteten, in dem sie ernst-
liche Vorstellungen gegen die Definierung der Unfehl-
barkeit erhoben, bemerkt nämlich Granderath: „Der Papst
war mit dem Brief unzufrieden. Warum, haben wir nicht
in Erfahrung bringen können. Man sagte uns, Pius IX.
habe es übel genommen, daß die Bischöfe von der De-
finierung einer Lehre abrieten, die zu definieren gar nicht
beabsichtigt war*' (I, 241).
Von besonderem Interesse ist natürlich die Frage,
ob zu den das Konzil vorbereitenden Maßnahmen der
Kurie auch die Ausarbeitung einer auf die Unfehlbarkeit
sich beziehenden Vorlage gehört hat. Zu den für das
bevorstehende Konzil eingesetzten fünf Kommissionen
gehörte auch eine dogmatische, über deren Tätigkeit
Cecconi in seiner Geschichte des Vatikanischen Konzils
(deutsche Obersetzung von Molitor I, 291) folgendes be-
richtet:
„In den Sitzungen vom 14. und 21. Januar 1869 diskutierte
die Kommission die Materie des Primates und bestimmte die
Hauptgedanken, weiche die ständige Deputation in dem Schema
des Dekretes zusammenstellen sollte, wonach dieses, der be-
stehenden Ordnung gemäß, von der Kommission selber zu priifen
war. Am 11., 18. und 25. Februar handelte man von der päpst-
lichen Infaiiibilität. Unter den Fragen, weiche am 11. Februar
zur Beratung kamen, waren folgende: 1. Utrum illa (die Infaiii-
bilität des Papstes) tamquam fidei articulus definiri possit;
2. utrum illa tamquam articulus fidei sit definienda. Die erste
Frage wurde in der Kommission einstimmig bejaht, bezüglich der
zweiten stimmten alle Konsultoren, mit Ausnahme eines einzigen,
dahin, daß dieser Gegenstand auf dem Konzil nicht zu propo-
niren sei, wenn die Bischöfe nicht den Antrag stellten. Sententia
562 Carl Mirbt,
commissionis est (sind die Worte des Protokolls) nonnisi ad
postulationem episcoporum rei huius propositionem ab apostoUca
sede faciendam esse. Der Konsultor, weicher anderer Meinung
war, erachtete die Definition gänzlich inopportun. Zufolge dieses
Beschlusses nahm die ständige Deputation, als sie am 22. April
das Schema de Romano pontifice vorbereitete, völlig Umgang
von dem Kapitel der Infallibilität ob pmdentem illam oeconomiam
(heißt es im Protokoll) de qua alibi. Nichtsdestoweniger unter-
ließ man es nicht, diese Frage zu prüfen, was nicht allein in den
drei genannten Sitzungen geschah sondern auch in jener vom
darauffolgenden 18. Juni, wo man das Schema eines Dekretes
diskutierte, welches für den oben erwähnten Fall in Bereitschaft
zu halten sei. Die Kommission beriet über eine Menge von Modi-
fikationen zu diesem Entwurf; aber die übergroße Anzahl anderer
dringenderer Fragen verursachte, daß man nicht mehr auf die
päpstliche Unfehlbarkeit zurückkam. So blieb die Arbeit eine
unvollendete."
Aus diesen Mitteilungen ergibt sich, daß längst vor
der Eröffnung des Konzils die Infallibilitätsfrage der
Gegenstand eingehender Untersuchungen in Rom gewesen
und daß bereits ein Schema darüber ausgearbeitet worden
ist. Mit diesem Bericht sich auseinanderzusetzen, der
für die Beurteilung der Stellung der Kurie zu dem In-
fallibilitätsproblem von entscheidender Bedeutung ist,
war für den Geschichtschreiber des Konzils eine unab-
weisbare Pflicht. Da ferner gerade über diese noch
nicht ausreichend aufgeklärte Vorgeschichte die Akten
des Vatikanischen Archivs das authentische Material ent-
halten, das Granderath vollkommen zugänglich war, so
durften wir gerade von ihm jetzt volle Aufklärung er-
warten. Ich bin in der peinlichen Lage, erklären zu
müssen, daß ich sie vergeblich gesucht habe.
Endlich soll die Definition der Infallibilität des Papstes
dadurch zur Notwendigkeit geworden sein, daß diese
Lehre innerhalb und außerhalb des Konzils scharfe An-
griffe zu erfahren hatte; unter dem Druck dieses An-
sturms die Entscheidung auszusetzen, würde als eine in-
direkte Anerkennung der materiellen Berechtigung dieser
Einwürfe mißdeutet worden sein. Wir wollen dahin-
gestellt sein lassen, ob durch diese Beweisführung, die
uns schon in den Konzilsverhandlungen begegnet und
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 563
auch von Granderath vertreten wird, das tatsächlich dann
eingeschlagene Verfahren gerechtfertigt werden könnte.
Für uns ist hier nur das von Wichtigkeit, daß sie nach
der rein historischen Seite von der irrigen Voraussetzung
ausgeht, daß zuerst der Kampf gegen die Infallibilität aus-
gebrochen sein soll und dann erst die Verteidigung dieser
Lehre eingesetzt habe. Schon im Februar 1869 erschien
aber jener berühmte Artikel in der von Jesuiten geleiteten
Civiltä Cattolica, der in der Form einer Korrespondenz
aus Frankreich u. a. den Gedanken aussprach, daß das
Konzil nur von kurzer Dauer sein werde und die Mehr-
heit der Katholiken mit Freuden die Verkündigung der
Unfehlbarkeit des Papstes annehmen werde. Dieser
Artikel, über dessen Entstehung Granderath (I, 183 ff.)
einige neue interessante Mitteilungen macht, hat bekannter-
maßen eine gewaltige Wirkung in ganz Europa hervor-
gerufen und die großen publizistischen Kämpfe eingeleitet,
auf die wir schon hinzuweisen hatten. Für die Beurtei-
lung der ganzen jetzt folgenden Aktion und des Streites
um die Infallibilität ist es nun von sehr großer Wichtig-
keit, ob die Jesuitenpartei dadurch, das sie diesen litera-
rischen Fühle? ausstreckte, den großen Kampf entzündet
hat oder ob dieser Kampf bereits im vollen Gang war,
wie Granderath sagt (III, 725), als dieser berühmte Artikel
erschien. Hier urteilen die beiden Geschichtschreiber des
Konzils direkt entgegengesetzt; Friedrich ist aber auch
hier nicht widerlegt worden. Allerdings war schon vorher
über die Infallibilität geschrieben worden, dazu nötigte
schon das wachsende Umsichgreifen der ultramontanen
Richtung, aber zur großen Tagesfrage, an der sich die
Geister schieden, ist sie doch erst geworden, als eben
durch jenen von Döllinger und anderen sofort in seiner
Bedeutung durchschauten Artikel die bestimmte Absicht
der unter jesuitischen Einflüssen stehenden Kurie offen-
bar wurde, das bevorstehende Konzil zur Definition dieser
Lehre zu benutzen. Granderath ist uns den Beweis
schuldig geblieben, daß „die Konzilswirren" schon vor
dem Februar 1869 ausgebrochen waren (I, 183 f.), und
die Kardinäle Rauscher und Schwarzenberg waren bessere
564 Carl Mirbt,
Historiker, als sie erklärten, daß katholische Zeitschriften
(die Civiltä und der Univers) ,,den ganzen Streit ange-
stiftet hätten. Dann erst seien von gegnerischer Seite
die Angriffe auf den Primat erfolgt« (III, 173).
Unter diesen Umständen müssen wir den Grande-
rathschen Versuch, die Proklamation der Infallibilität aus
der Reihe der von der Kurie bei der Berufung des Kon-
zils ins Auge gefaßten Ziele auszuscheiden, als verfehlt
ablehnen. Der Gang des Konzils hat sogar den Beweis
geliefert, daß sie ganz offenbar der Hauptzweck gewesen
ist, denn die Unfehlbarkeitsfrage hat die Synode von
Anfang an beherrscht. Daß die Definition dieses Dogmas
nicht in der Berufungsbulle genannt worden war, wird
niemand als einen Beweis für das Nichtvorhandensein
dieser Absicht anerkennen, der dieses in Allgemeinheiten
sich bewegende Aktenstück gelesen hat und mit dem
tatsächlichen Verlauf der Angelegenheit auf dem Konzil
selbst etwas vertraut ist.
Die Erklärung des Verhaltens der Kurie erblicke ich
darin, daß sie anfänglich in der Tat nicht beabsichtigt hat,
über die Unfehlbarkeit eine Vorlage zu machen, sondern
ihr Ziel zu erreichen hoffte — auf dem Weg^der Akklama-
tion. Es läßt sich sehr wohl begreifen, wie in den Kreisen
der Infallibilisten der Gedanke entstehen konnte, daß das
Konzil unter Verzicht auf eine Durchberatung die Lehre
von der Unfehlbarkeit des Papstes annehmen werde.
Jener Staatsstreich auf dem Gebiet des Dogmas im Jahre
1854 hatte begeisterten Widerhall gefunden, und bei der
großen Zentenarfeier des Martyriums der Apostel Petrus
und Paulus 1867 hatten an fünfhundert Bischöfe in einer
an den Papst gerichteten Adresse ihre Unterwerfung in
Ausdrücken bezeugt, die wohl dahin gedeutet werden
konnten, daß sie noch zu weiteren Selbstverleugnungen
bereit sein würden. Schon damals soll, wie in Frank-
reich erzählt wurde, die Proklamation der Unfehlbarkeit
in Frage gekommen sein. Jener Februarartikel der C/-
viltä Cattolica 1869 hat nun auch die Diskussion über
die Zulässigkeit einer Annahme des Dogmas auf dem
Wege der Akklamation in Fluß gebracht. Denn hier
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 565
wurde die Hoffnung ausgesproclien, „daß die einmütige
Kundgebung des Heiligen Geistes durcli den Mund der
Väter des Konzils die Lelire durcti Akklamation definieren
werde", und auch noch später wurde für diesen Ge-
danken in diesem Organ Propaganda gemacht. Daß
ihm auch andere zustimmten, bewies beispielsweise seine
Verteidigung durch Bischof Plantier von Nimes und Louis
Veuillot im Univers. Aber er wurde andererseits scharf
von dem Avenir bekämpft, auch von dem Correspondantj
und Kardinal Bonnechose wie Bischof Dupanloup erklärten
sich dagegen. Daß zunächst die Ausführung des Planes,
schon in der ersten Sitzung des Konzils das Dogma
unter Dach und Fach zu bringen — Kardinal Manning
galt als der Vertrauensmann, dem die Mission zugewiesen
war, den Papst um die Bestätigung seiner Unfehlbarkeit
zu bitten, worauf die Konzilsväter mit Akklamation hätten
antworten sollen — unterblieben ist, wurde durch diese
publizistischen Erörterungen vorbereitet und stellte sich
schon vor der Eröffnung des Konzils als Notwendigkeit
heraus, indem unter den in Rom eingetroffenen Vätern
die für eine solche Aktion erforderliche Einmütigkeit
fehlte.
Der Plan selbst war aber damit noch nicht aufge-
geben. In den Weihnachtstagen traten in Rom die Ge-
rüchte von einer bei der Wiederaufnahme der Verhand-
lungen am 28. Dezember stattfindenden Akklamation mit
solcher Bestimmtheit auf, daß Erzbischof Darboy von
Paris bei dem damaligen Vorsitzenden Kardinal de Luca
vorstellig wurde. Als ihm nur zugesagt wurde, daß sie
an diesem Tage nicht erfolgen werde, erklärte er, daß
einhundert Bischöfe gegen eine solche Überrumpelung
protestieren und Rom sofort verlassen würden. Darauf-
hin unterblieb die Aktion. Noch im März 1870 haben
aber vier amerikanische Bischöfe es für ihre Pflicht ge-
halten, in einem Schreiben an die Präsidenten der
Generalkongregation gegen eine Definition durch Zuruf
ernstliche Verwahrung einzulegen und für den Eintritt
dieses Falles ihre Abreise und Bekanntmachung der
Gründe ihres Vorgehens anzudrohen. Wir haben also
566 Carl Mirbt,
die Tatsache zu konstatieren, daß sowohl in den Kreisen
der Freunde als in denen der Gegner der Infallibilität
die Ansicht sehr verbreitet gewesen ist, daß vielleicht
auf diesem Wege das von vielen heiß ersehnte Dogma
zustande kommen werde. Dabei ist es von besonderem
Interesse, daß die Jesuiten es waren, welche die öffent-
liche Meinung darauf vorzubereiten und dafür Stimmung
zu machen suchten. Trotzdem aber ist von ultramontaner
Seite während des Konzils und nach seiner Vertagung
mit großer Entschiedenheit das Vorhandensein solcher
Bestrebungen geleugnet worden, nachdem sich heraus-
gestellt hatte, daß das Pflichtbewußtsein der Synode
unterschätzt worden war. Granderath ist sehr wortkarg,
wo er (II, 290 Anm. 5) auf diese Materie zu sprechen
kommt. Nach der uns bereits bekannten Methode schreibt
er: „Friedrich kommt in seiner Geschichte des Vatika-
nischen Konzils unzähligemal darauf zurück, daß die
Leitung des Konzils beabsichtige, durch Akklamation
die alles in Bewegung setzende Frage zu entscheiden.
Er scheint zu glauben, die Präsidenten hätten durch
künstliche Machinationen eine Akklamation hervorrufen
und das Konzil dadurch überrumpeln wollen. Daß ein
derartiger Versuch der Präsidenten eine horrende Sünde
gewesen wäre, scheint ihn in seiner Behauptung nicht
zu beirren. Ebensowenig stört ihn der Gedanke an die
Torheit dieses Unterfangens und an die Gefahren, die
es in sich schließt. Daß übrigens selbst Bischöfe an die
Möglichkeit eines solchen Vorgehens der Präsidenten
gedacht haben, zeigt nur, wie groß die Aufregung der
Geister war." Granderath bestreitet also hier nur, daß
die Präsidenten des Konzils auf eine Akklamation hin-
gewirkt haben, und gewiß mit Recht. Aber darum handelt
es sich gar nicht. Wenn aus der Mitte der infallibilistisch
gesinnten Majorität heraus die Akklamation inszeniert
worden wäre, dann hätte bei dieser Aktion, die doch
den Charakter einer spontanen Eingebung tragen mußte,
auf die Mitwirkung des Präsidiums leicht verzichtet
werden können; jedenfalls wäre ihm nicht die Rolle
überwiesen worden, die Initiative zu ergreifen. Wir dürfen
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 567
es ununtersucht lassen, ob auch in dem Fall, der
hier von Granderath in einer die tatsächlichen Verhält-
nisse verwirrenden Weise berücksichtigt wird, von einer
„horrenden Sünde" der Präsidenten zu reden sein würde.
In der Geschichte des Konzils fehlt es wahrlich nicht an
Oberrumpelungen der Synodalen, aber Granderath hat
die Mitwirkung daran sonst offenl)ar anders eingeschätzt.
Auch würde wohl Pius IX. ein milderer Richter gewesen
sein, wenn die Präsidenten imstande gewesen wären, die
Definition auf diesem schnellen Weg durchzusetzen. Mit
dem Hinweis auf die Gefahren eines solchen Vorgehens
stellt sich Granderath aber wieder auf den Boden der
tatsächlichen Verhältnisse, und diese Gefahren waren
sicher sehr bedeutend. Aus ihrer Erkenntnis ergab sich
für die Kurie und die infallibilistische Majorität die Un-
gangbarkeit des Weges, der allen denen, welche ein-
gehender Erörterungen des Dogmas nicht zu bedürfen
glaubten, als der kürzeste besonders verlockend er-
schienen war.
Das Verhalten des Konzils hat dem Papst anfangs
schwere Enttäuschungen bereitet. Aus der ersten Ge-
schäftsordnung, aus der Wahl des Sitzungslokales, aus
der Ansetzung des Termins der zweiten Sitzung, aus
der gesamten Behandlung der Synode ergibt sich klar,
daß die Kurie ihren Verlauf sich ganz anders gedacht
hatte, als er dann in Wirklichkeit sich abgespielt hat.
Die gesamte Vorbereitung und Direktion der Kirchenver-
fassung weist darauf hin, daß eine rasche Annahme der
gemachten Vorlagen erwartet wurde. Statt dessen er-
wachte unter eben den Bischöfen, die durch ihr Ver-
halten in den letzten Jahren zu dieser Einschätzung reich-
lichen Anlaß gegeben hatten, in dem Augenblick, als sie
sich als Mitglieder eines ökumenischen Konzils zu fühlen
begannen, das Bewußtsein einer besonderen Verantwor-
tung, auch das Verlangen nach selbständiger Mitarbeit
und der Mut zu offener Aussprache. Das Gros verharrte
freilich in dem Zustand der Gebundenheit und Unfreiheit,
den klerikale Erziehung, die Macht der Gewohnheit und
äußere Abhängigkeit hervorzurufen pflegt, aber es weht
568 Carl MIrbt,
doch, wenigstens durch einen Teil der Versammlung, ein
Zug von konziliarer Arbeitsfreudigkeit und Streben nach
Selbständigkeit Schon die ersten Generalkongregationen
zerstörten die Hoffnung auf eine nur ausnahmsweise Be-
anstandung der kurialen Vorlagen und das Konzil ließ
sich das Recht einer mehr oder weniger gründlichen
Durchberatung nicht nehmen. In bezug auf die Unfehl-
barkeitsfrage konnte freilich diese Erfahrung erst in der
zweiten Hälfte des Konzils gemacht werden; trotzdem
bereitete sie von Anfang an die weitaus größten Schwie-
rigkeiten. Als sich nämlich die Unmöglichkeit ihrer Er-
ledigung durch das summarische Verfahren der Akkla-
mation herausgestellt hatte, d. h. von dem Eingreifen
Darboys am Ende des Jahres 1869 an, stand die Kurie
vor der Alternative, entweder die Definition zu vertagen
oder aber sie zum Gegenstand konziliarer Verhandlung
zu machen. Für die Zurückstellung konnte geltend ge-
macht werden, daß nach den vorangegangenen publi-
zistischen Erörterungen stürmische Verhandlungen zu
erwarten waren und mit der Möglichkeit zu rechnen
war, daß ein stattlicher Bruchteil der Synodalen mit
„Nein** votierte. Auch konnte die Deklaration der Un-
fehlbarkeit einer späteren Bischofsversammlung, ähnlich
der von 1867, überwiesen werden, die dann keine Ge-
legenheit zu Debatten bot. Nach den Erfahrungen von
1854 war auf einen ernsten und nachhaltigen Widerstand
gegen die vollendete Tatsache der Promulgation nicht zu
rechnen, zumal dann nicht, wenn man sich zunächst mit
einer wie durch Inspiration zustande gekommenen Kund-
gebung für das Dogma begnügt hätte und die Fixierung
der kirchenrechtlichen Folgerungen, speziell für das Ver-
hältnis von Papsttum und Episkopat, nicht unmittelbar
angeschlossen worden wäre. Der Hinausschiebung der
Definition standen jedoch die persönlichen Neigungen
Pius' IX. und das Drängen der mehr und mehr fanati-
sierten Majorität im] Wege. Es ist durchaus wahrschein-
lich, daß den Worten Granderaths (III, 8): „Hätten die
Mitglieder der Majorität nicht mit unermüdlicher Aus-
dauer auf die Erfüllung ihrer Petition gedrungen, die
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 569
päpstliche Unfehlbarkeit wäre gewiß nicht zur Verhand-
lung gekommen** etwas Wahres zugrunde liegt, wenn
auch ihre Fassung zunächst zum Widerspruch reizt.
Auch die bereits obenerwähnte Erwägung, daß ein Auf-
schub als Rückzug angesehen werden konnte, war viel-
leicht von Einfluß; und in der Tat war die Kurie, wesent-
lich durch das Verhalten des Papstes vor der Öffentlich-
keit, längst zugunsten der Infallibilität engagiert. Ob aber
die zahlreichen Petitionen um Einbringung einer Vor-
lage Erfolg haben würden oder die Gegenvorstellungen
der Minorität durchdrangen, war bis zum 6. März 1870
nicht mit Sicherheit vorauszusagen. An diesem Tage
wurde den Synodalen ein Zusatzartikel zu Kapitel 1 1 des
Schemas De ecclesia zugestellt, in dem die Irrtumslosig-
keit des Papstes in der Festsetzung von Sachen des
Glaubens und der Sitten ausgesprochen war; die Kurie
hatte ihre Entscheidung getroffen. Aber noch war ein
weiter Weg zurückzulegen, denn die heiß umstrittene
Lehre kam nach dem Entwurf des Schemas erst nach
Erledigung der ganzen Lehre von der Kirche zur Ver-
handlung. Die Freunde der Infallibilität aber waren nicht
gewillt, zu warten und bestürmten daher den Papst, die
Konzilspräsidenten und die Kongregation der Postulate
mit Gesuchen, sie unverzüglich zur Debatte zu stellen
(in, 4). Die Minoritätsbischöfe verlangten dagegen die
ordnungsmäßige Behandlung des Schemas, d. h. seine
Erörterung in der Reihenfolge seiner Artikel. Wie be-
rechtigt diese Forderung war, hat sich dann bei der
späteren Debatte gezeigt, als man mit dem Ende anfing
und über die Stellung des Papstes disputierte, ohne daß
vorher über das Wesen der Kirche eine Verständigung erzielt
worden war. Die Konzilspräsidenten und der Vorsitzende
der Glaubensdeputation, Kardinal Bilio, verschlossen sich
der Berechtigung der Wünsche der Minorität nicht und
waren geneigt, ihnen Folge zu geben. Granderath, der in
ihnen nur „Machenschaften" erblickt, wirft den Präsidenten
deshalb Schwäche, Ängstlichkeit, Unentschlossenheit vor
(III, 11) und redet sogar von einer Erschütterung der
Zuversicht der Konzilsleitung (111,727). Über diese offen-
Hiitoriiche Zeitichrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 37
570 Carl Mirbt,
bar kritische Episode sind wir durch die Mitteilungen
(in, 9 ff.) aus dem Tagebuch (Seneströys) jetzt genauer
orientiert. Sie spielte sich in der Karwoche ab und fand
dadurch ihr Ende, daß auf Betreiben von Manning und
Senestr^y eine von mehr als hundertundfünfzig Bischöfen
unterzeichnete Petition an den Papst gerichtet wurde:
„damit die Seelen der Christen nicht länger von jedem
Winde der Lehrmeinungen umhergetrieben werden, da-
mit das allgemeine Konzil und die katholische Kirche
nicht länger mehr den Beschimpfungen der Häretiker
und Ungläubigen ausgesetzt bleiben und das Obel, das
schon allzu groß geworden, nicht ganz unheilbar werde
. . . das einzige wirksame Heilmittel in Anwendung zu
bringen und zu befehlen, daß das Schema über die Un-
fehlbarkeit des Papstes unverzüglich der Beratung des
Konzils unterbreitet werde.** Am 27. April erging dieser
Befehl. —
Aber so bedeutend auch der Einfluß einzelner Bischöfe
der Majoritätspartei auf den Gang des Konzils gewesen
ist, die eigentlich treibende Kraft ging von dem Jesuiten-
orden aus. Wie diese Gesellschaft von langer Hand her
mit der von ihr betriebenen Ultramontanisierung der Kirche
dem neuen Dogma die Wege geebnet hat, wie sie in den
Vorstadien des Konzils und während dessen Tagung in
Rom und außerhalb Roms tätig gewesen ist, hat Friedrich
in dem Umfang nachgewiesen, als sich das Treiben einer
vorwiegend im Verborgenen arbeitenden Organisation
überhaupt nachweisen läßt und findet in der übrigen
antiinfallibilistischen Literatur seine Ergänzung und Be-
stätigung. Es ist nun eine für den Historiker Grande-
rath sehr bezeichnende Tatsache, daß er zwar nicht an-
erkennt, daß sein Orden diese Rolle gespielt hat, aber auch
gar nicht erst den Versuch wagt, die dieser Auffassung
zugrunde liegenden Tatsachen zu widerlegen. Er ver-
fährt nach anderer Methode. Der Jesuitenorden wird
durch ihn aus der Geschichte des Konzils so gut wie
ausgeschieden, und er läßt bei dem Leser gar nicht erst
den Gedanken aufkommen, als ob er dafür von irgend
welcher Bedeutung gewesen ist. Die alphabetischen Re-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 571
gister aller drei Bände haben nicht einmal das Stichwort
„Jesuiten". Diese Register sind freilich recht unzuver-
lässig, aber es wäre jedenfalls ein der Tendenz des Autors
stark zu Hilfe kommendes Mißgeschick, wenn der Zufall
das Fehlen gerade dieser Rubrik verschuldete. Zurzeit
mögen für den Jesuitenorden noch starke Anlässe vor-
liegen, diese Politik der Zurückhaltung und Bescheiden-
heit zu üben, aber wenn einmal Verhältnisse eintreten
sollten, die es zweckmäßig und ratsam erscheinen lassen
würden, seine Verdienste um das Zustandekommen des
Papstdogmas der Öffentlichkeit zu unterbreiten, dann
wird ein anderer Geschichtschreiber S. J. auftreten und
Granderath — ergänzen. Wir dürfen hinzufügen, daß
diese Aufgabe nicht besonders schwer sein wird.
Auf die „Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig
zu Hohenlohe-Schillingsfürst" ist bereits oben hinge-
wiesen worden ; sie bringen u. a. auch über die Jesuiten
einige sehr beachtenswerte Notizen und Urteile. Von
besonderer Bedeutung ist das Schreiben des Kardinals
Hohenlohe an seinen Bruder, vom 15. September 1869,
das bisher noch keine Beachtung gefunden zu haben
scheint. Hier heißt es (1,393 ff.): „Von den Jesuiten
wird jetzt wieder die große Komödie aufgeführt, wonach
sie vor dem Publikum in zwei Parteien geteilt sind, aber
au fond sind sie eins und werden von einem Zentrum
regiert. Es existieren also vor dem Publikum zwei Par-
teien unter den Jesuiten. Die einen schreien und jubi-
lieren für die Unfehlbarkeit des Papstes (wie z. B. die
„Civiltä'*), um Pius IX. für sich zu haben, provozieren
alle guten Katholiken, die nicht jesuitisch sind, gegen
die Unfehlbarkeit zu sprechen, entfernen sie dadurch
vom Papst, so daß der Papst die Herren der „CivUtä''
für seine Leibhusaren auserlesen muß. Die andere Partei,
worunter, wie es scheint, auch der Pater Bekx, der
General (früher glaubte ich, Döllinger gehöre au fond
auch dazu) schütteln bedächtig den Kopf wie alte er-
fahrene Leute, die Pius IX. als einen leichtfertigen Jungen
ansehen, aber nur im tiefen Vertrauen. Diese halten
sich die Türe offen, sei es für ein nächstes Pontifikat,
37 ♦
572 Carl Mirbt,
sei es namentlich für den Episkopat, z. B. den franzö-
sischen, und sobald sich der Wind einmal gedreht haben
würde, werden die Jesuiten die ersten sein, die die
„Civiltä*' (dies Spielzeug, erfunden für Pius IX.) per-
horreszieren, sich über Pius IX. lustig machen und die
„Civiltä" 'Wäier womöglich nach Australien schicken,
woher man sie dann später einmal als reumütige Sünder
wieder zurückkommen lassen kann. Ein Beispiel haben
wir im vorigen Jahrhundert, wo in Rom die Jesuiten die
Gallicam propositionen verabscheuten, während gleich-
zeitig in Frankreich der Jesuitengeneral mit seinen bons
pferes die Gallicam propositionen unterschrieb und ver-
teidigte, und dies, weil sie dadurch hofften, die Bourbonen
und das Parlament usw. von der Idee der Aufhebung
des Ordens abzubringen. — Ich glaube, daß die Frage
der Unfehlbarkeit des Papstes von der der Jesuiten voll-
ständig zu trennen ist. Wie die Unfehlbarkeit auch ent-
schieden wird, den Jesuiten ist dies im Grunde einerlei.
Sie werden nach wie vor ihre falsche Moral, ihre Intrigen
und ihr gottloses Treiben mit Gemütlichkeit fortsetzen.
Sie haben die Frage der Unfehlbarkeit nur als eine
Standarte aufgebracht und diese Standarte der „Civiltä*"
in die Hand gegeben, damit sie dem Papst damit Wind
vormacht. Der Papst, entzückt davon, ohne zu ahnen,
was die alte Jesuitenpartei sagt und tut, wirft sich der
„C/V///^" gerührt in die Arme, umfaßt gar in seiner Ver-
blendung den ganzen Orden als den Retter seiner Ehre
in der (ganz unnötig aufgebrachten) Unfehlbarkeitsfrage,
flieht alle andern, macht den Jesuiten alle möglichen
Konzessionen, und les bons pires lachen sich ins Fäust-
chen. Wie erklärt sichs, daß Dupanloup überall herum-
fährt und gegen die Unfehlbarkeit des Papstes agitiert?
Er ist doch auch Jesuit (wenn er gleich jetzt so tut, als
habe er sich von ihnen getrennt), nur um une masse de
monde zu kompromitieren und womöglich im entscheiden-
den Augenblick in einen Chausseegraben zu werfen.
Die Unfehlbarkeitsentscheidung, günstig oder ungünstig,
bringt uns in der Jesuitenfrage nicht vor noch zurück.
Wohl aber hat die Unfehlbarkeitsfrage Pius IX. den
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 573
Jesuiten so in die Arme gebracht, daß von allen den
Plänen und Ideen Pius' IX. gegen die Jesuiten keine
Spur mehr übrig ist. Die Patres wissen, daß sie Pius IX.
nur dadurch festhalten können, daß er in die Enge ge-
trieben wird und sich zu ihnen flüchten muß. Pius IX.
muß vollständig isoliert bleiben, deshalb hetzen sie ihn
auch gegen alle Regierungen, damit er, mit allen Regie-
rungen verfeindet, nie mehr auf einen grünen Zweig
komme."
Über das Verhältnis der Jesuiten zu Pius IX. ist
auch sonst schon ähnliches gesagt worden, aber die vor-
stehenden Ausführungen sind trotzdem von großem Wert,
da sie das Urteil eines Mannes sind, der an der Kurie
lebte und in seiner hohen Stellung Gelegenheit hatte, in
die intimere Geschichte des römischen Hofes Einblick zu
gewinnen. Sehr instruktiv sind auch seine Beobach-
tungen über die Doppelpolitik des Ordens, der diese
Methode auch gegenüber dem berüchtigten Leo Taxil-
Schwindel in den neunziger Jahren des vergangenen
Jahrhunderts zur Anwendung gebracht hat. Bischof
Dupanloup ist schon sehr früh als die Persönlichkeit
bezeichnet worden, die bei dem Papst die Berufung
eines ökumenischen Konzils angeregt hat. Granderath
vermeidet auch hier eine bestimmte Erklärung darüber,
ob das Vatikanische Archiv zur Beantwortung dieser
wichtigen Frage Material enthält oder nicht, und schreibt
in seiner gewundenen Weise : „Man weiß hierüber nichts
Zuverlässiges, und diejenigen, welche geneigt sind, es
anzunehmen, gestehen, über die Zeit, wann der Bischof
dem Papst den Rat erteilt habe, ob es vor oder nach
dem 6. Dezember 1864 gewesen sei, keine Auskunft
geben zu können"" (1,21). Da Bischof Dupanloup zu
den rührigsten und einflußreichsten Gegnern der Infalli-
bilität gehört hat, bedeutet die von Hohenlohe ihm zu-
gewiesene Rolle den Vorwurf schwerster religiöser und
sittlicher Verirrung. Wir sind nicht in der Lage nach-
zuprüfen, welche Unterlagen der römische Kardinal ge-
habt hat, als er seinem Bruder diese Mitteilungen machte.
574 Carl Mirbt»
IV.
Ein großer Teil der gegen das Vatikanische Konzil er-
hobenen Vorwürfe läßt sich au! das Urteil zurückführen,
daß es nicht die Freiheit besessen hat, deren uneinge-
schränkter Besitz die Voraussetzung des Wertes seiner
Beschlüsse ist. Da keine weltliche Macht auch nur den
Versuch gemacht hat, diese Freiheit zu verkürzen, ent-
hält dieses Urteil eine Anklage gegen die Leitung des
Konzils, d. h. gegen den Papst, auf dessen Anordnung
alles, was geschehen, erfolgt ist. Nachdem die Beschlüsse
des Konzils zu tatsächlicher Anerkennung gelangt und
geltendes Recht geworden sind, hat die Einrede, daß sie
durch die Anwendung von Mitteln zustande gekommen
sind, durch die die Rechtsgültigkeit und Verbindlichkeit
dieser Beschlüsse in Frage gestellt wird, praktisch aller-
dings keine Bedeutung mehr. Dieser aktuelle Gesichts-
punkt konnte wohl für die bis Mitte der siebziger Jahre
angestellten Erörterungen von Wichtigkeit sein, aber die
Einfügung der Vatikanischen Dekrete in das Kirchen-
recht und deren Anerkennung bzw. Nichtbestreitung von
Seiten der weltlichen Regierungen hat den Gedanken,
daß auf diesem Wege die tatsächliche Bedeutung des
Konzils irgendwie abgeändert werden könnte, ausgeschie-
den. Trotzdem aber behält die ganze Frage noch große
Wichtigkeit, schon im Blick auf ein etwa in der Zukunft
stattfindendes ökumenisches Konzil. Die römisch-katho-
lische Kirche findet allerdings gegebenenfalls sehr wohl
den Mut, sich von ihrer eigenen Vergangenheit loszu-
lösen und die Fesseln lästig gewordener Traditionen ab-
zustreifen. Diese Sicherheit betätigte sie auch in der
ganzen Behandlung des Vatikanischen Konzils, das man
nur mit dem tridentinischen und dem von Konstanz zu
vergleichen braucht, um von den praktischen Wirkungen
der in der Zwischenzeit fortgeschrittenen Romanisierung
der Kirche einen starken Eindruck zu erhalten. Aber
es wird später für sie eine wesentliche Erleichterung sein,
wenn sie ihre Maßnahmen auf der Basis der in Rom 1869
und 1870 geübten Praxis zu treffen in der Lage sein
wird. Aufregende Erörterungen über die Angemessen-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 575
heit dieses Ausgangspunktes würden ihr dann schwer-
lich willkommen sein. Derartigen Eventualitäten wird
aber vorgebeugt — und die römische Kirche vergißt nie
über der Gegenwart die Zukunft — , wenn den alten
Klagen über die Unfreiheit des Konzils der Boden völlig
entzogen wird. Da das uns hier beschäftigende Werk
unter den Auspizien der Kurie geschrieben ist, dürfen
solche Erwägungen nicht von der Hand gewiesen werden.
Mir ist es sogar in hohem Grade wahrscheinlich, daß es
zu manchen möglichen, aber noch nicht aufgeworfenen
Fragen Stellung nimmt, über die der Leser zunächst
hinwegsieht. Aber es bestand auch, abgesehen von
solchen Zukunftsmöglichkeiten, für den Vertrauensmann
Leos XIII. die Pflicht, von dem Andenken Pius' IX. den
dunklen Schatten zu entfernen, den jene Beschuldigung
ihm anheftete. Mit großem und nie ermüdendem Eifer
hat Granderath sich dieser Aufgabe gewidmet, und das
ganze Werk ist von dieser wohlgemeinten Apologetik
durchzogen. Daß sein Plaidoyer auf eine Freisprechung
des Angeklagten durch den Leser abzielt, ist gewiß nicht
auffällig, denn der Verfasser hält sich damit ganz inner-
halb des Zwecks, dem die Veröffentlichung des Buches
dienen soll; aber es wäre vielleicht wirkungsvoller ge-
worden, wenn er davon Abstand genommen hätte, alles
und jedes zu beschönigen.
Im „Moniteur universell erschien am 14. Februar ein
damals viel beachteter Artikel (Granderath II, 546 ff.), der
die Frage untersuchte, warum das Konzil noch keinen
Beschluß zustande gebracht habe, obwohl es bereits fast
zwei Monate zusammen war, und nannte als einen der
Gründe, daß man das Konzil vor dem Konzil hatte halten
wollen. Nach einseitigen Gesichtspunkten ausgewählte
Theologen und Kanonisten hätten Vorlagen ausgearbeitet,
denen die Bischöfe nun ohne weiteres rasch zustimmen
sollten, was sie aber nicht vermöchten, da ihnen die Ar-
beiten der Kommissionoi nicht vor dem Konzil zuge-
schickt worden waren, damit sie die zur Verhandlung
kommenden Fragen vorher gründlich studierten. Die
Formel: „ Konzil vor dem Konzil" war gut gewählt, denn
576 Carl Mirbt,
eben darin wurzelten die Hauptbeschwerden der Mino-
ritätsbischöfe, daß die Kurie bereits vor dem Zusammen-
tritt des Konzils alle wichtigeren Entscheidungen ge-
troffen hatte. Über die Notwendigkeit von umfassenden
Vorbereitungen für eine solche Versammlung braucht kein
Wort verloren zu werden, aber sie nahmen hier einen
Umfang an, daß viele Synodalen sich in ihren Rechten
beeinträchtigt fühlten und die Empfindung hatten, daß
das Konzil von dem Papste wesentlich nur als eine be-
ratende Körperschaft aufgefaßt wurde. Durch die Be-
schlüsse der Vatikanischen Synode ist das ökumenische
Konzil allerdings dann auf dieses Niveau herabgedrückt
worden, aber als es zusammentrat, konnte es mit Fug
und Recht beanspruchen, nicht so behandelt zu werden,
wie Papst Pius IX. es für angemessen erachtet hat. Durch
die Bildung der vorbereitenden Kommissionen, durch
die Auswahl der Konsultoren, dadurch daß die in diesen
Ausschüssen ausgearbeiteten Vorlagen die Arbeit des
Konzils bestimmten, durch die Ernennung der Leiter des
Konzils und aller Beamten usw. war aber der Tätigkeit
des Konzils so stark präjudiziert, daß allein schon diese
Vorgeschichte dazu genügt, um gegen die Kurie den
Vorwurf zu erheben, die Beschränkung der freien Ent-
schließung des Konzils planmäßig vorbereitet zu haben.
Das Vatikanische Konzil sollte die gesamte Christen-
heit umfassen, deshalb ergingen auch an die Schisma-
tiker Einladungen. Einen Erfolg haben sie nicht gehabt,
und die Art der Abweisung ist zum Teil vielleicht schärfer
ausgefallen, als sie erwartet worden war. Die Fiktion,
daß die römische Kirche alle Getauften umfaßt und daher
auch die von ihr getrennt lebenden nicht vergessen darf,
war aber gewahrt und der Zweck der Einladungen also
erreicht. Ein die ganze Christenheit repräsentierendes
Konzil ist es unter diesen Umständen jedoch nicht ge-
wesen, sondern es war nur die Synode einer einzelnen,
allerdings der größten, christlichen Partikularkirche. Es
ist nun aber von erheblicher Wfehtigkeit, daß auf dieser
Generalsynode der römischen Kirche auch nicht einmal
alle Länder, die sich zu ihr halten, gleichmäßig, d. h. der
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 577
Zahl der Kirchenangehörigen entsprechend, vertreten ge-
wesen sind. Darüber ist schon auf der Synode viel ge-
klagt worden, und der zugrunde liegende Obelstand ist
noch heute vorhanden. Es war in der Tat ein abnormer
Zustand, daß einzelne Länder, vor allem Italien, durch
die Zahl ihrer Bischöfe einen sehr starken Einfluß aus-
übten, während andere ebenso große oder noch größere
Gebiete infolge der geringen Zahl ihrer Bistümer zurück-
standen. Wenn etwa je eine Million Katholiken durch
einen Bischof vertreten gewesen wäre, wie damals vor-
geschlagen worden ist,, dann wären auf Italien 24, auf
Deutschland samt den deutschen Gebieten Österreichs 24,
auf Spanien und Portugal 20, auf Frankreich 35 ent-
fallen (Granderath I, 164). Tatsächlich aber waren z. B.
in der dritten Sitzung 122 Bischöfe Italiens anwesend,
während alle übrigen Länder Europas zusammen nur 175
stellten. Sehr lehrreich ist auch, daß unter den außer-
italienischen Ländern Irland, das nicht ganz 4 Millionen
Katholiken zählte, 16 Bischöfe nach dem Konzil ent-
sandte, Österreich-Ungarn aber trotz seiner 32 Millionen
nur 18 und Deutschland trotz seiner 17 Millionen nur
15 Bischöfe (Granderath II, 36 f.). Diese Mißverhältnisse
sind übrigens keine Eigentümlichkeit des Vatikanischen
Konzils. Das Übergewicht der Italiener macht sich auch
in der Zusammensetzung des Kardinalkollegiums und
der Kurie in hohem Maße geltend und drückt der römisch-
katholischen Kirche mehr und mehr den Charakter einer
italienischen Institution auf, in deren Rahmen die anderen
Völker nur in recht bescheidenem Umfang zur Mit-
wirkung an den Zentralinstanzen zugelassen werden.
Daß in dieser Bevorzugung des italienischen Elements ein
Obelstand vorliegt, wird übrigens von Granderath direkt
ausgesprochen, aber er scheint ihn mit Rücksicht auf
die geschichtliche Entwicklung für unabänderlich zu
halten, als ob keine neuen Zirkumskriptionen möglich
wären. Wir möchten bezweifeln, daß die Kurie in abseh-
barer Zeit sich für die Zusammenlegung der kleinen
italienischen Bistümer interessieren wird. Auf dem Vati-
kanischen Konzil besaß sie gerade in den Inhabern
578 Carl Mirbt,
dieser kleinen Episkopate, die in Rom von dem Papste
unterhalten wurden, wie in den Tituiarbischöfen einen
sicheren Rückhalt. Durch die Art der Zusammensetzung
des Konzils war ihr eine unbedingt zuverlässige Majorität
von vornherein gesichert. Daß die dieser Majorität an-
gehörenden Synodalen sich sofort als Partei konstituierten
und die Macht der größeren Zahl voll auszunutzen keine
Bedenken trugen, stellte sie gleich anfangs bei der Auf-
stellung von Kandidatenlisten fUr die Wahlen zu den
Kommissionen heraus und hat die Aktionsfreiheit der-
jenigen Mitglieder, die zur selbständigen Prüfung der zur
Verhandlung gelangenden Gegenstände sich verpflichtet
fühlten und daher ihre eigenen Wege einschlugen, stark
beschränkt. Es war ebensowenig ein Zufall, daß diese
Gruppe wesentlich aus Deutschen, Österreichern, Fran-
zosen und Amerikanern gebildet wurde. Die ständige
Privilegierung des italienischen Volkes von seiten der
Kurie hat demnach auf dem Konzil wesentlich mit dazu
beigetragen, die Bedeutung der Bischöfe anderer Länder
herabzudrücken.
Das Hauptmaterial für den Vorwurf der Unfreiheit
des Konzils hat aber seine Geschäftsordnung und deren
Handhabung geliefert. Durch die Konstitution Multiplices
inter vom 27. November 1869 war sie von Pius IX. ohne
jede Mitwirkung des Konzils erlassen worden und den
zu dem Konzil nach Rom gekommenen Prälaten am
2. Dezember zugegangen. Das fait accompli hat offen-
bar eine geradezu verblüffende Wirkung ausgeübt, sonst
wäre es kaum denkbar, daß einzelne der darin enthaltenen
Bestimmungen ohne sofortigen Protest hingenommen
wurden. So wurde das Recht der Synodalen, Anträge
zu stellen, mit so vielen Klauseln umgeben, daß es im
Belieben des Papstes lag, in jedem einzelnen Fall einen
Antrag von der Verhandlung auszuschließen; die Befugnis,
die Arbeiten der Synode zu bestimmen, sollte das Pri-
vileg des römischen Bischofs sein. Allen Mitgliedern und
Beamten des Konzils wurde ferner die Verpflichtung auf-
erlegt, über alle Vorgänge auf dem Konzil, über seine
Beschlüsse und alle zur Prüfung vorgelegten Entwürfe
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 579
Stillschweigen zu beobachten und nichts zu veröffent-
lichen. Die eigentliche Arbeit des Konzils sollte in den
Generalkongregationen getan werden, während die öffent-
lichen Sitzungen dazu bestimmt waren, die Resultate der
vorangegangenen Verhandlungen auf dem Wege der
definitiven Abstimmung und der sich unmittelbar an-
schließenden Proklamation durch den Papst zu fixieren.
Die Gegenstände für die Verhandlungen in den General-
kongregationen zu bestimmen, war sein Privileg, die
Vorlagen selbst sollten einige Tage zuvor den Vätern
zugestellt werden, und wer dazu das Wort zu ergreifen
wünschte, hatte dies spätestens am Tag vor der Ver-
handlung dem Präsidenten anzuzeigen. Wenn der vor-
gelegte Entwurf nicht die Zustimmung der General-
kongregation fand, wanderte er zur weiteren Beratung
an eine der vier ständigen Kommissionen, die von dem
Konzil zu wählen waren, aber, ebenso wie die General-
kongregationen, der Leitung vom Papst ernannter Vor-
sitzender unterstanden. Unter ihnen wurde die weitaus
wichtigste die Glaubenskommission, sie gewann einen
geradezu dominierenden Einfluß (Granderath II, 459).
Der Verlauf des Konzils hat gezeigt, daß diese Geschäfts-
ordnung, unter der Voraussetzung entworfen, daß die
Synodalen nur ausnahmsweise in eine Kritik der Vor-
lagen eintreten würden, mancherlei Lücken aufwies, und,
um zum Ziele zu führen, einer weiteren Ausgestaltung
bedurfte. Schon in ihrer ursprünglichen Gestalt aber hat
sie zum Widerspruch herausgefordert. Dazu gehörte vor
allem die darin ausgesprochene Schweigepflicht. Daß
sie in der hier auftretenden allgemeinen Form ein voll-
ständiges Novum in der Konzilsgeschichte war, konnte
Pius IX. nicht verborgen bleiben, aber er hat sich darüber
hinweggesetzt, da diese Isolierung der Synode für seine
Zwecke die günstigsten Aussichten erweckte und zu-
gleich die Handhabe bot, alle über das Konzil ver-
breiteten unbequemen Nachrichten als Entstellungen, als
Lügen usw. zu dementieren (Friedrich III, 54 ff.). Die
Konzilsleitung überließ es ferner nicht etwa den ein-
zelnen Vätern, diese Verpflichtung in das praktische
580 Cari Mirbt,
Leben nach bester Oberzeugung umzusetzen, sondern
zog daraus bestimmte Folgerungen. Der Verkehr der
von einzelnen Bischöfen mitgebrachten Theologen wurde
beschränkt, der gesamte Postverkehr wurde ständig kon-
trolliert, Schriften oder Schriftstücke über das Konzil in
Rom drucken zu lassen, war auch dann untersagt, wenn
sie nur zur Verteilung unter die Mitglieder bestimmt
waren (Granderath 11, 301, 390). Doch war es „nicht ganz
unmöglich gemacht, denn man konnte auswärts Schriften
drucken lassen und sie dann in Rom einführen''. Das
ist auch vielfach geschehen. Beispielsweise von Bischof
Ketteier, der aber das Mißgeschick erlebte, daß das
Paket mit den zur Verteilung bestimmten Broschüren
konfisziert und erst auf seine sehr energischen Reklama-
tionen hin freigegeben wurde (III, 38 ff.). Zu den Klagen
über diese Zensur macht Granderath die weise Bemerkung
(II, 590 Anm. 3): „Die Bischöfe mögen also schreiben,
was die Zensur passieren kann ; dann ist das Gesetz der
Zensur keine Beschränkung für sie." Daß die Verhand-
lungen nicht vorwärts kamen und einen überaus schlep-
penden Eindruck machten, war in erster Linie die Folge der
Geschäftsordnung, die nur die Form der Plenarsitzungen
und nicht die Bildung von Kommissionen zur gründlichen
Durchberatung der den Vätern unterbreiteten Materien
kannte; jene päpstlichen Kommissionen und die perma-
nenten des Konzils hatten andere Aufgaben. Umsonst
machte Kardinal Schwarzenberg den Vorschlag, kleine
Ausschüsse zu wählen, um durch eingehende Diskus-
sionen über die vorhandenen Gegensätze die sachliche
Auseinandersetzung zu fördern. Aber obwohl diese An-
regung auch von anderen Bischöfen aufgenommen wurde
(Granderath 111, 197, 273, 404), ist ihr keine Folge ge-
geben worden. Mehrfach ist von Konzilsvätern auch
darüber Klage geführt worden, daß ihnen nicht alle
Gegenstände, die zur Verhandlung kommen sollten, von
Anfang an vorgelegt wurden. Diese Forderung war
wohlbegründet, wurde aber nicht erfüllt. Denn nach
Granderath (II, 184) war zu befürchten, daß sie rasch
den Weg in die Öffentlichkeit fänden und dann würden
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 581
„die Journalisten schon vor dem Vatikanischen Konzil
alle Gegenstände desselben entschieden und im christ-
lichen Volk die heilloseste Verwirrung angerichtet haben."
Aber nicht um die Zugänglichmachung der Schemata
vor dem Konzil handelte es sich hier, sondern um deren
iMitteilung an die in Rom zur Synode versammelten Väter,
und auf welches Niveau drückt Granderath das vom
Heiligen Geist inspirierte Konzil herab, wenn er es von
„Journalisten" abhängig sein läßtl
Durch ein päpstliches Dekret vom 20. Februar 1870
erfuhr die in jener Konstitution MultipUces erlassene
Geschäftsordnung eine nicht unbeträchtliche Umgestal-
tung, und zwar in der Richtung, daß die Freiheit des
einzelnen Synodalen noch weiter eingeschränkt wurde.
Diese Absicht tritt hervor: in den Vorschriften über
die kritischen Ausstellungen (animadversiones) an einem
Schema, ferner in der Bestimmung, daß fortan Anträge
auf Schluß der Debatte zulässig sein sollten und der
Majorität die Entscheidung darüber zugewiesen wurde,
endlich in der den Präsidenten erteilten Befugnis, Redner
zur Sache zu rufen. Außerdem wurde der Abstimmungs-
modus dahin abgeändert, daß für die Annahme einer
Vorlage Stimmenmehrheit genügen und neben der Ab-
stimmung mit Ja oder Nein auch die Abgabe eines
bedingten Ja zulässig sein sollte. Jede dieser Abände-
rungen ist Gegenstand von Beschwerden geworden.
Wir greifen nur die Wirkungen der neuen Rechte des
Präsidiums auf die Redefreiheit der Synodalen heraus.
Schon unter der Herrschaft der ersten Geschäftsordnung
war es zu Konflikten zwischen den Vorsitzenden und
einzelnen Rednern gekommen. Als Bischof Stroßmayer
von Diakovär in der fünften Generalkongregation zum
ersten Male das Wort ergriff, um die Aufschrift der
Konstitution De fide catholica: „Pius, Bischof, Knecht
der Knechte Gottes, mit Zustimmung des ganzen Kon-
zils" zu kritisieren, wurde er unterbrochen, und Kardinal
Capalti erklärte ihm, daß der beanstandete Titel, weil
durch den Papst festgestellt, nicht in die Diskussion ge-
zogen werden dürfe. „Er ist," sagte er, „heilig (sacerj.
582 Carl Mirbt,
weil er schon vom Papste angeordnet ist'' (Granderath
II, 92 ff.). In der Spezialdebatte über dasselbe Schema
ist dann zwischen eben diesem Redner und dem Präsi-
denten der berühmte Zusammenstoß erfolgt, dessen dra-
matische Einzelheiten in dem jetzt veröffentlichten steno-
graphischen Bericht (Granderath II, 395 ff.) scharf hervor-
treten. In dieser Versammlung der Verunglimpfung der
Protestanten entgegenzutreten, war freilich eine Ver-
wegenheit, aber Stroßmayer war der Situation gewachsen.
Wie die Vorsitzenden ihn unterbrachen und zurecht-
wiesen, wie ein Sturm der Entrüstung losbrach und die
Väter ihn von der Tribüne herunterschrien, diesen ^Luzi-
fer", diesen „zweiten Luther", das muß man nachlesen.
Die Szene ist lehrreich in vielen Beziehungen. Erz-
bischof Haynald mußte nach seiner energischen Forde-
rung einer Verbesserung des Breviers von dem Präsi-
denten Capalti sich abkanzeln lassen: „Mehr Worte sind
ganz überflüssig und dem Konzil sehr lästig. Machen
Sie Ihrer schon ausreichend langen Rede ein Ende und
überlassen Sie den Platz einem anderen Redner. Weitere
Worte dienen zu nichts als zur Erregung von Überdruß.
Also, es sei genug" (II, 222). Einem andern Bischof, der
in derselben Verhandlung auf „weniger geeignete Aus-
führungen der Kirchenväter, die sich im Brevier fän-
den", hinwies, wurde die Zurechtweisung zuteil, daß er
„ehrfurchtsvoller über die Kirchenväter zu sprechen" habe
(II, 193). Die Zensuren mehrten sich in den Debatten
über die Infallibilität. Bischof V^rot von St. Augustine,
der erklärte, er würde ein Sakrileg begehen, wenn er
dieser Lehre zustimme, mußte sich von Capalti sagen
lassen, daß es für ihn keinen Zweck habe, noch weiter
auf der Rednertribüne zu bleiben, wenn er nichts weiter
beizufügen habe, „als solche unpassenden Redensarten*"
(III, 187). Als derselbe Bischof in der Spezialdebatte über
die Einleitung der Infallibilitätsvorlage die zutreffende Be-
merkung machte, daß die Vorrechte des Papstes in dem
Schema nicht nach dem alten Glauben der Kirche, sondern
nach der Auffassung der „Ultramontanen" auseinander-
gesetzt seien, durfte er nicht weiter reden, weil dies nicht
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 583
hierher gehöre (III, 296). Als Vdrot in der Spezialdebatte
über das dritte Kapitel diese Anschauungen aufs neue vor-
trug, war es schlechterdings nicht möglich, ihm aus dem-
selben Grunde das Wort zu entziehen, jetzt war es der
Inhalt seiner Rede, der die Handhabe lieferte. Er ging
davon aus, daß es in der katholischen Kirche eine doppelte
Schule, eine ultramontane und eine gallikanische, oder
eine Schule Bellarmins und Bossuets gebe, die erstere
rede von einer grenzenlosen Gewalt des Papstes, die
zweite erkenne an, daß ihr gewisse Grenzen gezogen
seien. Darauf polemisierte er gegen den extremen Ku-
rialismus der ersteren Richtung und formulierte schließ-
lich seine eigene Auffassung in der scharf pointierten
These : Si quis dixerit, tarn plenam esse romani pontificis
auctoritatem in ecclesia, ut omnia pro natu suo disponere
valeat, anathema siL Da rief ihm Capalti zu: „Wir sind
nicht in einem Theater, um Possen anzuhören, sondern
in der Kirche des lebendigen Gottes, um über wichtige
kirchliche Angelegenheiten zu verhandeln; bei diesen
Verhandlungen darf nichts gesagt werden, was unziem-
lich oder abgeschmackt oder irrig (I) ist" (III, 31 5 f.). Das
waren etwas starke Worte. Aber auch aus ihnen ist
etwas zu lernen, die Wahrheit nämlich, daß die Lehre
von dem schrankenlosen Papalismus eine Posse ist.
Granderath findet diese und ähnliche Eingriffe des Präsi-
denten stets in der Ordnung und scheint sich die Frage
gar nicht vorgelegt zu haben, ob diese Unterbrechungen
des Redners von dessen Parteistellung ganz unabhängig
waren. Als der Patriarch Valerga eine sehr eingehende
Vergleichung des Gallikanismus mit der alten Ketzerei
des Monotheletismus vortrug (III, 278), die begreiflicher-
weise unter den französischen Bischöfen großen Un-
willen hervorrief und weitere Auseinandersetzungen zur
Folge hatte (377 ff.), trat die Klingel des Präsidenten nicht
in Tätigkeit. Nach Granderath hatte Valerga allerdings
seinen Gegenstand „in äußerst zarter Weise" behandelt
und „geistreich" gesprochen. Die gesamte Bericht-
erstattung über die Konzilsverhandlungen ist von den
Sympathien und Antipathien des Autors durchleuchtet,
;»t Cafi
cer =: j*ryygr GmiKle jede cmdriiigende und ernsthafte
K'rrfk 2n i«:: dern Koczzl gemachten Vorlagen für etwas
UnKznhzfres azssah. Wir lesen bd ihm folgende Sätze:
«H2r:d«h es si<ii am ein Schema, das eine so überaus
groie Meri^ toc Gegenständen umfaifit wie das vorge-
legte ^d£ docaimA catkdicaj und würden die Väter er-
Uiren. es als ganz unbrauchbar begraben zu müssen
und gar nichts Gutes darin zu finden , was der An-
r^ahme würdig wäre, so könnte (fieses ihr Vorgehen
kauni in der Mangelhaftigkeit des Schemas seine volle
Erklärung finden: es würde vielmehr auf ein nicht nor-
males Verfaähnis des Konzils zum Papste hindeuten'
I II. 12 h- Bald darauf, bei Begründung der Notwendigheit
der zweiten Geschäftsordnung, wird er noch deutlicher:
.Zwei und einen halben Monat hatte das Konzil schon
getagt, und noch lag kein Ergebnis vor ... So etwas
hatte man nicht erwartet Die Schemata waren von den
bedeutendsten Krähen, über die man in Rom und in der
ganzen Kirche verfügte, zum voraus mit großem Fleiße
ausgearbeitet worden. Freilich sollten sie der freiesten
Prüfung unterworfen werden. Aber man erwartete doch,
daß dieselben allgemein von den Vätern zunächst mit
Wohlwollen und dann auch in den wesentlichen Punkten
mit Beifall aufgenommen würden."" Den Synodalen aber
fehlte es an dem ^wahren Wohlwollen** gegenüber den
Entwürfen, sie waren auch nicht „von dem Verlangen
beseelt, die Beratungen nach Möglichkeit zu fördern,
sondern zum Teil mißgestimmt und zu Obstruktion ge-
neigt" (II, 224 f.). In der Annahme einer Mißstimmung
bei zahlreichen Vätern hat Granderath sicher Recht, nur
unterläßt er es, deren Ursachen zu erforschen. Wenn
er aber von den Konzipienten der Entwürfe als von den
„bedeutendsten Kräften" der Kirche redet, so übt er an
dem unrechten Ort Bescheidenheit. Es wäre nicht zu
verantworten, wenn wir ihm folgen und die Höhenlage
der römischen Theologie und der geistigen Fähigkeit
der römischen Kirche zur Zeit des Konzils nach den
hier vorgelegten Entwürfen bemessen wollten; vor diesem
Irrtum bewahrt uns schon die auf eben diesem Konzil ent-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 585
faltete wissenschaftliche Kraft. Allerdings war sie vor-
wiegend auf der Seite der Kritiker zu finden. Die Auf-
deckung der Unvollkommenheiten der Schemata war keine
Rabulistik und keine Streitsucht, sondern die Betätigung
der den Mitgliedern des Konzils obliegenden Pflicht, nur
Dekrete ausgehen zu lassen, für die sie die Verantwortung
tragen konnten. — Noch auf ein weiteres Wort Grande-
raths sei hingewiesen. Daß Pius IX. Ende April verfügte,
die Verhandlung Über die Infallibilität unter Zurückstel-
lung aller anderen Materien sofort zu beginnen, war ein
so starker Eingriff in die Arbeit des Konzils, daß die
Redner, welche die Zweckmäßigkeit dieser Maßregel
bezweifelten, dies begreiflicherweise auch aussprachen.
Dazu macht unser Geschichtschreiber die seltsame Be-
merkung: „Man konnte daran zweifeln, ob es überhaupt
noch erlaubt war (I), über die Ordnung der Gegenstände
zu debattieren, nachdem dieselbe einmal durch das Haupt
des Konzils festgestellt worden war^ (III, 148 f.). In
solchen Redewendungen bekundet sich eine Auffassung
des Verhältnisses von Konzil und Papst, bei der dem
Konzil eine so untergeordnete Stellung zufiel, daß es
kaum noch die Bezeichnung einer selbständigen Körper-
schaft verdiente. Das hat freilich den gewandten Jesuiten
nicht gehindert, andererseits über die oben erwähnte
Audienz von Führern der Minderheitspartei bei Pius IX.
das Urteil zu fällen: „Es war in der Tat sonderbar ge-
nug, daß die Minorität überhaupt auch nur eine Inter-
vention des Papstes zu beanspruchen sich erlaubte"
(III, 481). Worin bestand denn ihr Übergriff in die Rechte
des Konzils? Hat etwa der Papst sonst nicht in die
Verhandlungen eingegriffen? Und wenn sich die Mino-
rität durch ihre Bitte von ihren bisherigen Grundsätzen
losgesagt hätte, was zu bestreiten ist, so würde dies von
seinem Standpunkt aus ja nur zu billigen gewesen sein.
Die Konzilsgeschichte zeigt viel größere Schwierigkeiten,
die der Aufklärung bedurften, als der hier konstruierte
Widerspruch. Wann haben denn z. B. die Väter die De-
finition der Beschlüsse des Konzils durch ihre Unter-
zeichnung vollzogen, die namens der Glaubensdeputation
HUtoriscbe Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge S. Bd. 38
586 Carl Mirbt,
Erzbischof Simon von Gran am 26. März durch die Er-
klärung: „i/// qui ad finem concilii supervicturi ex nobis
sunt, subscribent actis concilii: Ego deflnlens subscrlpsi^'
(Coli. Lac. VII, 94 d) angekündigt hatte? Die Definition
ist vielmehr erfolgt nicht durch die Väter, sondern nur
durch den Papst (Granderath 11, 406 vgl. 471). — Als
eine besonders schwere Vergewaltigung ist es empfunden
worden, daß durch Mehrheitsbeschluß am 3. Juni die
Generaldebatte über die Infallibilität geschlossen wurde.
Dagegen reichten 81 Väter der Minorität einen schrift-
lichen Protest ein, weil dadurch das Recht jedes Syno-
dalen, die Gründe seiner Abstimmung anzugeben, ver-
letzt worden war. Gegen diese Motivierung war schwer
etwas einzuwenden, da die naheliegende Analogie der
Praxis moderner Parlamente hier nicht anwendbar ist.
Aber die Zurückweisung des Protestes erfolgte trotzdem
und konnte erfolgen, da die Präsidenten nur die ihnen
in der zweiten Geschäftsordnung vom 20. Februar erteilte
Vollmacht ausgeübt hatten. Allerdings waren gegen
eben diese Geschäftsordnung sofort nach ihrer Publi-
kation verschiedene Proteste eingereicht worden, aber
sie war in Kraft getreten und auch tatsächlich von allen
Synodalen anerkannt worden.
Die das Konzil beherrschende ultramontane Partei
hat auf die ihr widerstrebenden Elemente noch durch
andere Mittel einzuwirken gesucht. Erzbischof Darboy
von Paris beklagte sich bitter über diese Treibereien in
seiner Rede vom 20. Mai. „Die Agitation (zugunsten
der Unfehlbarkeit) wurde durch demagogische Künste
so weit betrieben, daß viele Väter des Konzils im Ge-
wissen beängstigt und mit der Furcht erfüllt wurden,
sie könnten in ihre Diözesen nicht zurückkehren und
dieselben nicht ohne die größten Schwierigkeiten leiten,
wenn sie Widerstand gegen die Definition leisteten. So
ist es geschehen, daß diese Väter, obgleich gewissenhaft
ihrer Pflicht folgend, dem heftigen Drängen von außen
her und der künstlich gemachten Meinung zu weit nach-
gaben und die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit dem
Konzil vorzulegen beantragten. Durch den sozusagen
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 587
vor den Toren des Konzils erhobenen Lärm ist unsere
Freiheit und unsere Würde einigermaßen beeinträchtigt
worden, was sehr beklagt werden muß" (Bericht Grande-
raths III, 234). In Frankreich hatte die Verhetzung und
Aufwiegelung der Diözesanen gegen ihre nichtinfalli-
bilistischen Bischöfe zum Teil recht bedenkliche Formen
angenommen, vor allem in den Diözesen Marseille und
St. Brieuc (III, 281). Auch Kardinal Schwarzenberg
führte Klage über diese Bedrohung der Freiheit der
Rede. „In öffentlichen Blättern und Zeitungen haben
Männer, die gar nicht zur bischöflichen Hierarchie ge-
hören, im Gegenteil hauptsächlich Laien sind, nicht
wenige ehrwürdige Bischöfe dieses Konzils, deren An-
sicht von der ihrigen abweicht, des Liberalismus anzu-^
klagen und den Feinden der Kirche beizuzählen gewagt;
ja sie sind in ihrer Anmaßung so weit gegangen, die-
selben mit den Häretikern und den Anhängern des
Staatsdespotismus und den Bekrittlern des Heiligen Stuhles
in Vergleich zu stellen'' (III, 279). Nun ist freilich nicht zu
bestreiten, daß auch von der Gegenseite mit großer
Schärfe gekämpft worden ist, und es wird schwer zu
entscheiden sein, ob überhaupt zwischen beiden Parteien
in der Art ihres Kampfes eine Abstufung vorliegt. Aber
die Wirkungen dieser publizistischen Kämpfe über die
Infallibilität waren für die Gegner der Definition andere
als für deren Freunde. Denn die letzteren waren in
der Majorität, und der Papst wie die Leiter des Konzils
standen auf ihrer Seite, für sie bestand mithin nicht die
Gefahr einer Einschüchterung. Die Definitionsgegner
dagegen, die nur in der Verneinung der Opportunität
des Dogmas unter sich einig waren, deren Rechtgläubig-
keit planmäßig verdächtigt wurde, die infolge der Un-
klarheit und Schwäche ihrer Positionen zu keiner großen
Aktion sich aufraffen konnten, wurden durch diese Ein-
wirkungen von außen in der Tat sehr stark beeinflußt.
Die ultramantane Presse war damals längst eine Groß-
macht und gegen den von ihr ausgeübten Terrorismus
hatten sich schon 20 Jahre zuvor die französischen Bischöfe
vergeblich zu wehren versucht.
38*
588 Carl Mirbt,
Eine interessante und viel diskutierte Episode in der
Geschichte des Konzils bilden die Kämpfe zwischen der
Kurie und den unierten orientalischen Kirchen, die durch
die handelnden Personen in eigentümlicher Weise mit
den Streitigkeiten um die Unfehlbarkeit sich verquickten.
Da die hier in Frage kommenden Vorgänge als Beweis
dafür verwertet worden sind, daß Pius IX. selbst vor der
Anwendung von Gewaltmaßregeln nicht zurückschreckte^
um die Definitionsgegner einzuschüchtern, hat Grande-
rath ihnen eine längere Erörterung gewidmet (III, 325 bis
360), durch die der Papst entlastet werden soll. Die
Beachtung dieses Kapitels empfehlen wir dringend, da
schon die Art, wie damals gegen die widerspenstigen
Orientalen vorgegangen wurde, einen wertvollen Einblick
in die römische Unionspolitik gewährt, auch in die Mittel^
die sie zur Aufrechterhaltung der Disziplin für zulässig
erachtet. Wir greifen nur einen Punkt hier heraus. Für
die Konzilsgeschichte ist es von besonderer Bedeutung^
ob das Vorgehen des Papstes gegen den chaldäischen
Patriarchen Audu mit dessen Auftreten in dem Konzil
in Zusammenhang gestanden hat. Granderath bestreitet
es, aber in einer wenig befriedigenden Weise. Mit anderen
orientalischen Bischöfen hatte Audu am 18. Januar eine
Adresse gegen die Unfehlbarkeit unterzeichnet — am
13. Juli gehörte er zu den mit Non placet Stimmenden
— und am 25. Januar in der Generalkongregation eine
Rede gehalten, um deren willen Pius IX. ihn zitierte und
überaus scharf angelassen haben soll. Was zunächst
die inkriminierte Rede betrifft, so teilt Granderath sie
nicht wörtlich mit, sondern nur „ihren Inhalt nach den
Akten", und er verlangt etwas viel, wenn er hinzufügt:
„dies wird der beste Beweis sein, daß der Papst nicht
ihretwegen den Patriarchen getadelt hat". Denn wenn
nach eben diesem Bericht Audu gesagt hat: „Es sei die
Bitte an den Papst und das Konzil (1) zu richten, daß
den chaldäischen Bischöfen Zeit und Ort bestimmt werde,
um aus den Disziplinarvorschriften des Konzils die für
sie passenden auszuwählen und so aus diesen und ihren
alten Gesetzen ein neues kanonisches Recht zusammen-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 589
zustellen, das sie der Prüfung der Väter (1) unterwerfen
müßten, um deren Billigung zu erhalten'' (III, 334), so
ist die Notiz Friedrichs (Geschichte d. Vat. Konzils III,
508), daß er in seiner Rede im Grunde von Pius IX. an
das Konzil appelliert habe, durchaus bestätigt. Es bedarf
keines Wortes, daß eine solche Rede zumal bei dem
aus anderen Ursachen bereits gespannten Verhältnis zum
Papst, und bei dessen eigenartiger Auffassung vom Wesen
eines Konzils, Pius IX. wie eine Auflehnung erscheinen
konnte. Daß es zwischen beiden Männern zu einer er-
regten Aussprache gekommen ist, wird nicht nur durch
Friedrich, sondern auch durch Ollivier berichtet, die Aus-
sprache selbst darf also als gesichert gelten. Granderath
will nun aber nicht zugeben, daß bei dieser Gelegenheit
von der Konzilsrede Audus die Rede gewesen ist und weist
darauf hin, daß auch andere Differenzpunkte bestanden.
Daß dies keine Widerlegung ist, braucht nicht erst aus-
geführt zu werden. Denn offenbar lagen gerade in der
Komplikation dieser aus der römischen Unionspolitik
hervorgegangenen Schwierigkeiten mit dem Eindruck
seiner Rede die Ursachen für die erregten Äußerungen,
zu denen sich Pius IX. fortreißen ließ. Auch Granderath
scheint von dieser Erregung angesteckt zu sein, denn er
spricht von einem „Lügengewebe** des Berichterstatters
Döllingers, das dann Friedrich mit Freuden aufgegriffen
habe. Als Historiker, dessen Aufgabe es ist. Sicheres,
Wahrscheinliches und Mögliches zu unterscheiden, durfte
er nur sagen, daß ihm die gegnerische Darstellung un-
wahrscheinlich sei; aber er schreibt: „Von Andus Rede
ist in der Audienz gar kein Wort gefallen '^ und begründet
dies durch den folgenden Satz: „Das „Regensburger
Morgenblatt", das in der Regel gut bedient war, schrieb
sofort, daß die Audienz Andus gar keine Beziehung zu
seiner Rede gehabt habe." Dem „Regensburger Morgen-
blatt" wollen wir gewiß nicht zu nahe treten und ihm
alle Hochachtung entgegenbringen , die unbekannten
Größen zusteht, aber es ist doch eine etwas starke Zu-
mutung, wenn der Rekurs auf eine solche Instanz in
einer wissenschaftlichen Erörterung den zu führenden
590 Carl Mirbt,
Beweis ersetzen soll. Auch wenn der betreffende Artikel,
der übrigens nicht mitgeteilt wird — auch eine Angabe
über die Nummer oder den Tag seines Erscheinens fehlt
— von Bischof Seneströy herrühren sollte, würde er
doch noch nicht ohne weiteres als ein authentisches
Zeugnis über den wirklichen Hergang der Audienz an-
zusehen sein, denn Senestr^y war ein ausgesprochener
Parteimann.
Ein Anonymus flüchtete sich mit seinen Beschwerden
über den Mangel an Freiheit auf dem Konzil in die
Öffentlichkeit und schrieb in seinem, im Mai in der
„Times*' und im „Journal des Dibats*" veröffentlichten
Brief (Granderath II, 283 f.): „Bei unserer Ankunft war
alles ohne uns gemacht. Alle Maschen des Netzes waren
geknüpft, und die Jesuiten . . . zweifelten keinen Augen-
blick, daß wir darin gefangen würden. . . Wir haben also
ein fertiges Reglement, d. h. Handschellen gefunden. . . .
Wir haben eine vollständig fertige Majorität gefunden,
ganz kompakt an Zahl mehr als genügend, vollkommen
diszipliniert, und die nach Bedürfnis Unterweisungen, Be-
fehle, Drohungen, Gefängnis und Geld erhalten hat. Das
System der offiziellen Kandidaturen ist um 100 Kilometer
überholt. Eine Kommission ... ist geschaffen worden, bei
welcher man sich beschweren kann... Aber man muß
zu ihrem Lobe sagen, daß sie nicht funktioniert, weil
sie nie antwortet oder nur den Mitgliedern der Majorität
antwortet. In der Wahl der anderen Kommissionen waren
wir frei, d. h. die fingierte Majorität durfte sie wählen nach
festgestellten und lithographierten Listen. Es blieb noch
das Wort. Aber unter welchen Bedingungen ? Verboten
war, ein Wort zu erwidern, zu diskutieren, aufzuklären.
Wollte man reden, so mußte man sich einschreiben
lassen, und am folgenden Tage oder zwei Tage nach-
her, wenn alles abgekühlt war, konnte man auftreten,
um die Versammlung durch einen Vortrag zu langweilen.
Dann war es verboten, das Thema, welches den Schülern
gegeben war, zu verlassen (ausgenommen den Herren
von der Majorität), und wenn man versuchte, über Frei-
heit, Dezentralisation, Desitalianisation zu sprechen, er-
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 591
lebte man Tumultszenen. . . Die arme kleine Minorität ist
den Beleidigungen und Verleumdungen ausgesetzt und
gehetzt von der „Civltlä", dem „L/niverSy** dem „Monde'' ,
der „Union'' ^ dem „Osservatore'' und der „Correspondance
de Rome''. Diese Journale sind autorisiert und ermutigt.
Sie wiegeln gegen uns den Klerus unserer Diözesen
auf, und diesem Klerus wird Beifall gezollt. — Was aber
die Unterdrückung unserer Freiheit vollendet, ist dies:
sie wird zermalmt durch das ganze Gewicht der Achtung,
die wir gegen unser Oberhaupt hegen (es folgt die
Schilderung von Kundgebungen des Papstes gegen die
Minoritätsbischöfe).'' Es ist eine sehr verbitterte und
pessimistische Stimmung, die sich hier Ausdruck schafft,,
aber es war nicht die eines einzelnen Sonderlings. Sie
ist in ihrem Grundton typisch für die Minorität, und
die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, daß der
Briefschreiber in der Lage gewesen wäre, für die meisten
seiner Behauptungen einen direkten Beweis anzutreten«
V.
„Von einer Seite drohte dem Vatikanischen Konzil
während der ganzen Zeit von seiner Berufung bis zu
seiner Vertagung eine beständige Gefahr: von Seiten der
Staatsgewalt. Während die Regierungen sein Hort und
Schutz und die Hilfe bei Ausführung seiner Beschlüsse
hätten sein sollen, zeigten sich ihre Staatsmänner und
Diplomaten durchgehends als gelehrige Schüler und
Gönner der ausgesprochenen Feinde des Konzils, die
alles in Bewegung setzten, dasselbe zu vereiteln oder
wenigstens seines Ansehens zu berauben. Dazu war die
Stadt, in der es tagte, umlagert von ihren Todfeinden,
welche nur auf den geeigneten Augenblick lauerten, um
über sie herzufallen, den Papst zu entthronen und die ehr-
würdige Versammlung auseinanderzusprengen"^ (II, 675).
Wir haben es hier mit einer Idee Granderaths zu tun,
die ihn geradezu beherrscht. Tatsachen, durch die eine
Gefährdung der Freiheit des Konzils von Seiten der
Staatsgewalt eingetreten ist oder auch nur beabsichtigt
war, vermag er freilich nicht mitzuteilen; er kennt also
592 Carl Mirbt,
offenbar keine. Aber sein Glaube an diese Bedrohung
verliert dadurch nichts an Zuversicht, es lebt in ihm
gewissermaßen die Stimmung des Konzils fort, das sich
auch von allen denkbaren und undenkbaren Seiten her
bedroht gefühlt hat. Für den Gang des Konzils war
diese Vorstellung von nicht geringer Bedeutung, denn
sie mußte dazu dienen, die Synodalen auf das große
Heilmittel gegen alle Nöte der Zeit hinzuführen, und da
die infallibilistischen Kreise auf Entscheidungen hindräng-
ten, die in die Interessensphäre der weltlichen Staaten
hinübergriffen, so war die Befürchtung irgendwelcher
Gegenwirkungen psychologisch auch wohl begreiflich.
Ein Menschenalter später wäre freilich eine ruhigere Be-
trachtungsweise am Platz gewesen, und die Anerkennung
der Tatsache, daß nicht eine einzige Regierung den
Versuch unternommen hat, den Zusammentritt und die
Verhandlungen des Konzils zu stören, auch nicht die
italienische nach der Okkupation Roms, durfte wohl von
dem Geschichtschreiber des Konzils erwartet werden.
Auch der von Granderath vermißte Schutz ist dem Konzil
tatsächlich dadurch gewährt worden, daß alle katholischen
Bischöfe, abgesehen von denen Rußlands, mit Zustimmung
ihrer Regierungen ungehindert an ihm teilnehmen durften
und dadurch, daß Frankreich seine schirmende Hand über
dem Kirchenstaat ausgebreitet hielt, bis die bekannten
Ereignisse zur Abberufung des französischen Militärs
führten. Denn niemand wird behaupten wollen, daß gegen
den Willen der weltlichen Mächte und speziell Frankreichs
die Kirchenversammlung in ihrer tatsächlichen Dauer
und Ausdehnung hätte tagen können. Ihr Gewährenlassen
war nach Lage der Dinge ein Schutz ; das wäre billiger-
weise zuzugestehen gewesen.
In den das Konzil vorbereitenden Verhandlungen
der Zentralkommission in Rom ist auch die Frage er-
wogen worden, ob die Fürsten einzuladen seien. Der
Beschluß ging dahin, von einer direkten Einladung
Abstand zu nehmen, dagegen in der Berufungsbulle die
auf sie sich beziehenden Worte so zu wählen, daß ihnen
die Teilnahme ermöglicht wäre, wenn sie den Wunsch
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 593
äußerten. Antonelli hatte den Auftrag, dies den Höfen
mitzuteilen (I, 131 f.). Es ist aber wohl kaum zu bezwei-
feln, daß die dauernde Anwesenheit von Gesandten auf
dem Konzil von der Kurie, trotz gegenteiliger Versiche-
rungen des Kardinalstaatssekretärs , nicht gewünscht
werden konnte. Denn offizielle Vertreter der auswärtigen
Mächte wären verpflichtet gewesen, wenn das Grenz-
gebiet von Staat und Kirche in den Kreis der Verhand-
lungen einbezogen wurde, dazu Stellung zu nehmen.
Daß sich aber die Arbeit des Konzils auf solche Mate-
rien erstrecken würde, war der Kurie, die die Beratungs-
gegenstände bestimmte, wohl bekannt. Auch wäre bei
der Zulassung weltlicher Gesandten für die Verhand-
lungen der Ausschluß der Öffentlichkeit nicht aufrecht-
zuerhalten gewesen. Als die französische Regierung im
September 1869 sich entschied, keinen Vertreter zum
Konzil zu schicken, war man in Rom darüber sehr be-
friedigt (1, 377). Späteren Wünschen um Zulassung eines
französischen Gesandten gegenüber hat sich denn auch
Antonelli glatt ablehnend verhalten (II, 701).
Die römisch-katholische Kirche war aber eine für das
öffentliche Leben viel zu bedeutsame Korporation, als daß
die Einberufung eines ökumenischen Konzils nach einer
Pause von dreihundert Jahren von den Staatsregierungen
hätte ignoriert werden dürfen. Sie mußten sich um so
mehr zur Wachsamkeit verpflichtet fühlen, als wenige Jahre
zuvor der Syllabus den erneuten Beweis erbracht hatte,
daß die wichtigsten Umgestaltungen und Fortschritte des
modernen Staatslebens in dem Papsttum einen grund-
sätzlichen Gegner besaßen und ein aggressiver Geist
von Rom aus genährt und gepflegt wurde. Bei dieser
Sachlage war von vornherein mit der Möglichkeit zu
rechnen, daß die bevorstehende Kirchenversammlung nicht
nur mit Angelegenheiten beschäftigt werden würde, die
als rein interne gelten konnten, sondern daß auch die
an der Kurie herrschende Neigung sich betätigen würde,
ihre Auffassung von dem Verhältnis der Kirche zum
Staat zum Gegenstand von Beschlüssen zu machen.
Aus der politischen Entwicklung wie aus der konfessio-
594 Carl Mirbt,
nellen Zusammensetzung der einzelnen Völker ergab
sich ferner, daß das Interesse für diese Eventualitäten
in den verscliiedenen Ländern nicht gleichmäßig war^
sondern starke Abstufungen aufwies ; bei einzelnen fehlte
es fast vollständig. Das größte Verständnis für die
Tragweite etwaiger, das politische Gebiet berührender
dogmatischer Festsetzungen zeigte sich in Frankreich,
Österreich, Preußen, Bayern und Großbritannien. Da
jede dieser Regierungen ihr Verhalten zu dem Konzil
nach ausschließlich politischen Gesichtspunkten zu be-
stimmen hatte, hat darauf die gesamte innere und äußere
Politik des betreffenden Landes einen maßgebenden Ein-
fluß ausgeübt. Wohl am klarsten sind diese Einwirkun-
gen in der französischen Kirchenpolitik erkennbar, die
unter dem Druck der als notwendig erachteten Rücksicht-
nahme auf den ultramontanisierten Klerus und im Blick
auf den bevorstehenden Krieg sich zu einer Zurückhal-
tung entschloß, die mit den Traditionen des Gallikanis-
mus in offenbarem Widerspruch stand. Ober diese ganze
politische Seite der Geschichte des Vatikanischen Konzils
handelt Granderath in verschiedenen Kapiteln, ganz über-
wiegend übrigens unter Benutzung gedruckten Materials.
Wir erhalten auch manche dankenswerte Mitteilungen aus
Nuntiaturberichten, trotzdem aber dürften über manche
Vorgänge auf dem Konzil selbst wie über die außerhalb
Roms sich abspielende Konzilsgeschichte in den Be-
richten der in Rom stationierten Gesandten doch wohl
noch weitere Aufklärungen enthalten sein, als die bisher
veröffentlichten und in der Collectio Lacensis zugäng-
lichen Aktenstücke sie uns vermitteln. Auch hatten ein-
zelne Regierungen neben ihren offiziellen Gesandten noch
Vertrauensmänner in Rom, die sie über die dortigen
Vorgänge unterrichteten. So hatte Preußen den Staatsrat
Geizer entsandt, der von Granderath, wenn ich nicht
irre, überhaupt nicht erwähnt wird.
Eine größere Aktion in Sachen des Konzils ist von
dem bayerischen Ministerpräsidenten Fürst Chlodwig zu
Hohenlohe durch seine berühmte Zirkulardepesche an
die diplomatischen Vertreter Bayerns vom 9. April 1869
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 595
versucht worden; seinen „Denkwürdigkeiten" verdanken
wir die Nachricht, daß sie aus Döllingers Feder stammte.
Hohenlohe schlug die Veranstaltung von Konferenzen
vor, um über die von selten der weltlichen Staaten
gegenüber dem Konzil zu beobachtende Haltung ge-
meinsam zu beraten. Das direkte Ergebnis der Um-
frage war ein Mißerfolg Hohenlohes; aber er darf viel-
leicht für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, die
Aufmerksamkeit der Regierungen angeregt zu haben.
Wenn unter den europäischen Mächten Geneigtheit be-
standen hätte, auf das Konzil einen Druck auszuüben,
bot sich ihnen die beste Gelegenheit, als, zum Schrecken
der Kurie, am 10. Februar 1870 in der „Süddeutschen
Presse" das geheim gehaltene Schema de ecclesia Christi
veröffentlicht wurde, das drei Wochen zuvor unter die
Konzilsväter verteilt worden war. Denn, da diese Vorlage
die Lehren und Grundsätze des Syllabus enthielt, wären
die Regierungen gegen den Vorwurf eines Übergriffs in
innerkirchliche Angelegenheiten gesichert gewesen, wenn
sie mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln der
Dogmatisierung solcher den Frieden der Völker gefähr-
dender Vorstellungen entgegengewirkt hätten. Der franzö-
sische Minister des Auswärtigen, Daru, betrat in der Tat
diesen Weg, aber Ollivier durchkreuzte seine Bestrebungen,
und der Sturz Darus besiegelte den Verzicht Frankreichs,
die in seiner Hand liegende Macht zu einer Einschränkung
des konziliaren Ultramontanismus zu benutzen. Daß
Napoleon unter dem Einfluß seiner auswärtigen Politik
die Linie diplomatischer Vorstellungen nicht überschreiten
würde, erwies sich als eine zutreffende Berechnung der
wohlunterrichteten Kurie. Sie konnte daher wagen, eben
der Macht, die in der Lage war, der Vatikanischen Kirchen-
versammlung ein jähes Ende zu bereiten, mit großem
Selbstbewußtsein entgegenzutreten. — Österreich erfuhr
eine noch schroffere Behandlung, als Graf Beust dem
Kardinalstaatssekretär hatte erklären lassen, daß die Ver-
öffentlichung von Beschlüssen, die die Achtung vor dem
Gesetz verletzten, in Österreich untersagt und im Ober-
tretungsfall gerichtlich bestraft werden würde, und er
596 Carl Mirbt,
Darus Vorgehen unterstützte. — Die Meldung des Pariser
Nuntius an Antonelli, am 21. März, „daß der preußische
Gesandte Baron v. Werther dem Grafen Daru den Vor-
schlag zu einer Vereinigung aller Regierungen und zur
Entwerfung eines gemeinsamen Planes hinsichtlich ihres
Benehmens dem Konzil gegenüber gemacht habe", wird
von Granderath (II, 711 Anm. 2) mit Recht als Irrtum
zurückgewiesen. Bismarck hat, von der obenerwähnten
Episode abgesehen, die Politik der Reserve strikt inne-
gehalten und auch durch die entgegenlaufenden Wünsche
Arnims sich davon nicht abdrängen lassen. — Die ver-
schiedenen Strömungen innerhalb des englischen Kabinetts
sind wesentlich für die innere Konzilsgeschichte von
Interesse. Manning wurde von dem Schweigegebot dis-
pensiert, damit er auf seinen Sonnabendspaziergängen
mit dem englischen Geschäftsträger Russell diesen in-
spirieren und dadurch auf den Minister des Auswärtigen,
Lord Clarendon, einwirken konnte. Auf diesem Wege
wurde der Einfluß Lord Actons, der das Ohr Gladstones
besaß, lahmgelegt. Eine Koalition der Mächte zu einem
gemeinsamen Verhalten gegenüber dem Konzil hat niemals
bestanden, ist von den maßgebenden Stellen nicht einmal
geplant worden. —
Daß die Berichterstattung Granderaths unter dem
Einfluß von Zwecken steht, die von den Interessen einer
nur der Ermittelung der Wahrheit dienenden Geschicht-
schreibung fernabliegen, bedarf nach den vorgelegten
Proben wohl keiner weiteren Begründung. Die Erkennt-
nis dieses tendenziösen Gesamtcharakters des Werkes
entzieht ihm das Vertrauen, das wir sonst einem Forscher
entgegenzubringen gewohnt sind, der die Früchte lang-
jähriger Studien der Öffentlichkeit unterbreitet, und wir
studieren es mit den peinlichen Empfindungen, von einem
unzuverlässigen Führer geleitet zu werden. Wir ver-
schließen uns dabei nicht der Erwägung, daß das unter
diesen Umständen gebotene Mißtrauen sich auch auf
Punkte richten kann, die eine Anzweiflung nicht ver-
dienen, aber es ergibt sich eben aus der Art seiner Dar-
stellung, daß eine Abgrenzung des Zweifeihaften nicht
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 597
im Bereich der Möglichkeit liegt. Der Grundfehler besteht
nicht in der Zugehörigkeit des Verfassers zur römisch*
katholischen Kirche, sondern darin, daß er Apologet und
Historiker zugleich sein wollte, das sei nachdrücklichst
betont. Denn wir würden einer überaus ernsten Situation
gegenüberstehen, wenn von dem dogmatischen Standort
des Autors aus keine andere Geschichtschreibung mög-
lich wäre, als die in dieser Geschichte des Vatikanischen
Konzils dargebotene.
Als Theolog schließt Granderath nicht besser ab.
Wir dürfen es ihm freilich nicht als Fehler anrechnen,
daß aus seinem Buch nicht entnommen werden kann,
wie das definierte Infallibilitätsdogma zu verstehen ist,
denn das Recht, die Feststellung seiner dogmatischen
und kirchenrechtlichen Bedeutung^) aus dem Kreis seiner
Aufgaben auszuscheiden, kann ihm nicht bestritten wer-
den. Aber gelegentliche Bemerkungen und Urteile über
dieses Dogma im Laufe der Darstellung zeigen ihn auf
einem theologischen Niveau, das geradezu überrascht.
Als Darboy die Schwierigkeit hervorgehoben hatte, einen
päpstlichen Ausspruch ex cathedra als einen solchen zu
kennzeichnen, schreibt Granderath: „Kann der Papst
denn nicht bei einem Erlaß sagen, er beabsichtige, die
ganze Kirche zu verpflichten? Und wenn dies einmal
nicht deutlich genug gesagt ist, nun so entsteht eine jener
Schwierigkeiten, die sich auch bei manchen Konzilsaus-
sprüchen finden" (III, 241). Aber wenn er dieses „Können**
nicht ausnutzt? Wenn er sogar dauernd darauf verzichtet,
eine Entscheidung als kathedratische kenntlich zu machen ?
Wir besitzen bis auf den heutigen Tag keine offizielle
Sammlung von infalliblen Entscheidungen der Päpste
und werden wohl nie eine erhalten. Ebensowenig haben
Pius IX. und Leo XIII. die Praxis geübt, einzelne Ent-
scheidungen als kathedratische zu charakterisieren, denn
gerade in der Nichtkenntlichmachung dieser Qualität liegt
die durch dieses Dogma dem heiligen Stuhl überwiesene
') Vgl. meinen Artikel Vatikanisches Konzil: Realenzyklo-
pädie für protestantische Theologie und Kirche, 20. Bd., Leipzig
1908, S. 468 ff.
598 Carl Mirbt,
Macht. Es gelten infolgedessen nicht einzelne seiner
Entscheidungen als infallibel, sondern alle. Die Antwort
Granderaths ist also recht oberflächlich. Daß er gar
keine theologischen Probleme und Schwierigkeiten kennt,
erklärt vielleicht manches seiner wunderlichen Urteile,
und in jesuitischem Obereifer schießt er gelegentlich
recht weit über das Ziel hinaus. So bringt er es nicht
nur fertig, zu erklären, daß die Lehren des dritten Kapitels
des Schemas De ecclesia Christi „keine ernsten theolo-
gischen Schwierigkeiten** boten (III, 355), sondern leistet
sich sogar den Satz: „Die Frage über die Unfehlbarkeit
des Papstes gehört keineswegs zu den schwierigen Fragen
der Theologie" (III, 7) und: „Diese Frage war in der
Tat keineswegs eine besonders schwierige, sondern eine
sehr leichte theologische Frage" (II, 235), Auch der
Kontext dieser beiden Stellen ist interessant, denn es
wird hier der Wunsch weiterer Verhandlungen über die
Lehre durch den seltsamen Vorwurf zurückgewiesen,
daß die Bischöfe vor Beginn des Konzils sich damit
hätten beschäftigen sollen, da „viele Zeichen darauf hin-
wiesen, daß (diese Kontroverse) die Väter des Konzils
beschäftigen werde" (II, 235) und „jeder Bischof wußte,
wie notwendig gerade für ihn ein gründliches Studium
derselben sei, weil sie vielfach als der Hauptgegenstand
der Verhandlungen des bevorstehenden Konzils bezeich-
net wurde". — Den dogmatischen Urteilen sind manche
historische ebenbürtig. Wir lesen z. B. (II, 254): „Die
Leugnung der päpstlichen Unfehlbarkeit (!) nahm ihren
Anfang zur Zeit des abendländischen Schismas" (am
Anfang des 15. Jahrhunderts). Bei der Lektüre solcher
Erklärungen^), die jede Kommentierung überflüssig
') Nachdem die Definition der Lehre von der päpstlichen
Unfehlbarkeit erfolgt ist, gilt damit zugleich als festgestellt, daß
sie immer zu dem depositum fidei der Kirche gehört hat. Den
historischen Nachweis für dieses dogmatische Urteil zu liefern,
ist Aufgabe der Theologen. Die Glaubenskommission hat In
einem Bericht an das Konzil sich darUber ganz klar ausge-
sprochen: „Nachdem einmal die Unfehlbarkeit des Papstes aus
ganz und gar einwandfreien Quellen als eine göttlich geoffen-
barte Wahrheit erwiesen ist, kann sie unmöglich irgend jemals
Die Geschichtschreibung des Vatikanischen Konzils. 599
machen, erinnert man sich, daß der Verfasser dieses Werk
„für weitere Kreise bestimmt" sein läßt (11,411). Dieses
Geständnis wirkt freilich sehr überraschend, denn in Ge-
samthaltung wie Einzelausführung wendet es sich tat-
sächlich an gelehrte Kreise, aber es kommt darin doch
ein richtiges Empfinden zum Ausdruck. Denn nur in
„weiteren Kreisen" kann Granderath hoffen, das Publikum
zu finden, das an solchen Vergewaltigungen der Ge-
schichte keinen Anstoß nimmt und ohne zu lächeln sich
erzählen läßt, daß „Rom im 16. Jahrhundert lieber den
Abfall von ganz England zuließ, als daß es eine recht-
mäßige Ehe geschieden hätte". —
Die „Geschichte des Vatikanischen Konzils", mit der
wir uns vorzugsweise in dieser kritischen Obersicht über
die dieser Kirchenversammlung geltenden Literatur be-
schäftigt haben, provoziert durch die Art, wie Granderath
sich allen früheren Arbeiten gegenüberstellt und durch
das ihm gewährte Privileg, die gesamten archivalischen
Schätze der Kurie für sein Unternehmen fruchtbar zu
machen, große Ansprüche. Es eröffnete sich ihm die
Möglichkeit, unter den denkbar günstigsten Arbeits-
bedingungen ein Werk von fundamentaler Bedeutung zu
schaffen. Wir haben es nicht erhalten. Es fehlt dieser
Geschichte jeder große Zug; sie ist breit, aber nicht
groß angelegt, der Verfasser ist mehr Referent, als Ge-
schichtschreiber, und versagt gerade in den Fällen, wo
Unbefangenheit und Gerechtigkeit des Urteils am not-
wendigsten waren. Auch in der Beschränkung seiner
auf Grund geschichtlicher Tatsachen als falsch befunden werden.
Wenn also derartige Tatsachen beigebracht werden, so ist es
sicher, daß dieselben, insoweit sie jener Wahrheit entgegenstehen,
unrichtig sind^ (III, 133). Eine der Konsequenzen, die sich dar-
aus für die Geschichtsforschung und Geschichtsbetrachtung er-
geben, ist die, daß der Stand der theologischen Studien in einem
Lande danach bewertet wird, welche Stellung seine theologische
Wissenschaft zu der Unfehlbarkeitslehre einnimmt. Man muß
sich die Anwendung dieses Maßstabes gegenwärtig halten, um
die wundersamen Urteile über den Tiefstand der katholischen
Theologie in Deutschland zur Zeit des Konzils (1, 155, vgl. III,
261. 654) richtig einzuschätzen.
600 Carl Mirbt, Die Geschichtschreibung des Vatikan. Konzils.
Aufgabe auf die Darstellung des äußeren Verlaufs der
Kirchenversammlung hätte er aber der historischen For-
schung große Dienste leisten können, wenn er das Neue,
das er bringt, als solches überall kenntlich gemacht hätte
und wenn es ihm möglich gewesen wäre, auf seine
Nebenzwecke zu verzichten. Gerade durch Granderaths
Werk gelangen die beiden wichtigsten historischen Schrif-
ten der Antiinfallibilisten, die Friedrichsche Geschichte und
die „Römischen Briefe", zu neuem Ansehen; denn der
Nachweis wird nicht erbracht, daß sie aufhören müssen,
als historische Quellen zu gelten. Die „objektive" Ge-
schichte des Konzils soll also noch geschrieben werden.
Miszelle.
Zur Geschichte Belgiens im Mittelalter.
Von
F. Keutgen.
Henri Pirenne, Geschichte Belgiens. Obersetzung des fran-
zösischen Manuskripts von Fritz Arnheim. Bd. 1 bis
zum Anfang des 14. Jahrhunderts; Bd. 2 bis zum Tode
Karls des Kühnen (1477) (mit einer Karte); Bd. 3 bis zur
Ankunft des Herzogs von Alba (1576). (Allgemeine Staaten-
geschichte, herausgegeben von K» Lamprecht. 1. Ab-
teilung. Geschichte der europäischen Staaten. 30. Werk*)
Gotha, F. A. Perthes. 1899, 1902, 1907. XXIV u. 496; XXVIII
u. 594; XXI u. 606 S.
Le soulivement de la Flandre Maritime de 1323-^1328. Documenta
inäditSj publica avec une introduction par Henri P trenne,
Bruxelles, Kiessting, 1900. LXX u. 243 S.
Das Erscheinen des dritten Bandes von Pirennes Geschichte
Belgiens mahnt mich, endlich zur Besprechung des Ganzen
zu schreiten. Meine Schuld an der Verzögerung ist indessen
nicht ganz so groß, wie sie scheint, da mir Band 1 erst zu-
sammen mit Band 2 zugegangen ist. Da schrak ich etwas
davor zurück, sogleich zwei Bände eines französischen Buches
in Übersetzung lesen zu sollen. Möge diese grundsätzliche
Frage zuerst besprochen sein. Wenn sich einmal kein
deutscher Gelehrter fand, oder wenn es an sich wünschens-
wert schien, die Geschichte Belgiens für das Heeren und
Ukert'sche Unternehmen einem Belgier zu übertragen, wäre es
Historische Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 39
602 F. Keutgen,
da nicht richtiger gewesen, das Werk auch in französischer
Sprache der Sammlung einzuverleiben ? Gibt es wohl jemand,
der des Französischen nicht mächtig wäre und der gleichwohl
eine so ausführliche Geschichte von Belgien lesen würde, die
mit ihrem dritten Bande erst bis zum Jahre 1576 reicht?*)
Ein französischer Forscher stellt nun einmal anders dar als
ein deutscher, und aus einem übersetzten französischen Buche
wird niemals ein deutsches werden, mag die Übersetzung
noch so wohlgelungen sein, — was bei der vorliegenden,
abgesehen von einigen stilistischen Absonderlichkeiten, zu-
trifft.^) In wissenschaftlichen Werken befremdet uns eine
Eleganz, von der wir fürchten, daß sie kaum anders als durch
Abschleifung der harten Ecken der Tatsachen erkauft werden
kann. So steht es mit den beliebten Antithesen, sowie mit
der Neigung zu verallgemeinern und Verbindungslinien zu
ziehen, deren Berechtigung uns nicht sicher genug ist. Die-
selbe Weichheit zeigt sich oft in einem Mangel an Ent-
scheidungsmut gegenüber grundsätzlichen Fragen. Femer:
wo wir einen Gedankenkomplex in einen einzigen, vielleicht
ungefügen Satz bannen, erreicht der Franzose Flüssigkeit,
Grazie und scheinbare Knappheit des Ausdrucks durch den
Kunstgriff, daß er, was uns ein Ganzes ist, in seine Teile
auseinanderlegt, den Körper nicht perspektivisch darstellt,
sondern die Flächen, die ihn begrenzen, nebeneinander. Uns
scheint auch dies Verfahren nicht gut. Indes wir nehmen es
wie das übrige gerne hin, da es bei einem französischen
Werke im eigentlichsten Sinne zum Stil gehört, und wir jede
Eigenart schätzen. Doch in der Übersetzung stört es ; ja es
kommt manchmal etwas fast wie Weitschweifigkeit dabei heraus,
wo uns ein Mehr an Tatsachen lieber gewesen wäre.
') Vgl. auch K. Völlers über die deutsche Obersetzung von
Cromers Modern EgypL L, Z, B. 1908, Nr. 19, Sp. 617.
*) Am meisten stört das fortwährende „allzu*', anstatt ,zu*;
ferner mehrfach das „einverleiben mif, wo der einfache Dativ
richtig ist; „Revindikationen^ (I, S. 214. 215) soll wohl heißen
„Ansprüche**; „Enguerrand** (I, S. 53) ist nur französische Um-
bildung von Ingelram; statt „Viscount*' muß es heißen „Sheriff
von Lancaster (H, S. 150), denn viscount ist nur ein modemer
Titel.
Zur Geschichte Belgiens im Mittelalter. 603
Trotz alledem würde ich das Buch sofort gelesen haben,
wenn ich hätte ahnen können, wie außerordentlich interessant
es ist. Dem Verfasser gegenüber aber darf mich wegen der
Versäumnis der Umstand trösten, daß sein Werk bereits an
vielen Stellen so günstig rezensiert worden ist, daß mein
Urteil wenig mehr ins Gewicht fallen kann.
Es hat einen eigenen Reiz, und zugleich sein besonderes
historiographisches Verdienst, auch einmal die Geschichte eines
kleineren Landes im Zusammenhange ausführlich zu erzählen
und in den Mittelpunkt der weltgeschichtlichen Betrachtung
zu rücken, zumal eines Landes, das, wie Belgien inmitten
großer Reiche gelegen, durch ihre freundlichen oder feindlichen
Beziehungen untereinander fortwährend in Mitleidenschaft ge-
zogen wird, auf sie zurückwirkt, und dabei seine entschiedene
Eigenart und Kontinuität der Entwicklung wahrt. Wie vieles
gewinnt dadurch eine neue Beleuchtung! Wie sehr muß man
nicht bedauern, daß Freemans große Geschichte Siziliens nicht
weiter hat fortgeführt werden können! Bei Belgien kommt
noch hinzu — was freilich auch die Schwierigkeit erhöht — ,
daß es aus einer ganzen Reihe, die längste Zeit getrennter
Landschaften von großer Eigenart erst später zusammen-
gewachsen ist ; daß das vielleicht wichtigste seiner Territorien
der Krone Frankreich unterstand, während die übrigen zum
Deutschen Reiche gehörten; daß endlich, doch ohne Rück-
sicht auf die politische Zugehörigkeit, auch die Bevölkerung
teils deutscher, teils romanischer Nationalität war.
Band 1 und 2 führen die Darstellung bis zur Vereinigung
der Niederlande unter dem Szepter des Hauses Burgund.
Sie greift anderseits zurück bis auf die frühesten Zeiten.
Der Hauptinhalt ist die Schilderung der großen Mannigfaltig-
keit, der Eigentümlichkeiten der politischen und wirtschaft-
lichen Verhältnisse eines jeden dieser doch wieder eng ver-
wandten Gruppe von Territorien. Die politischen Gründe,
die zu diesen Sonderbildungen im ganzen und im einzelnen
Anlaß gegeben, sowie die wirtschaftlichen Ursachen, die im
Laufe der Zeiten weiter dabei mitgewirkt haben, werden ein-
gehend dargelegt: alles in einer durchaus einleuchtenden,
klaren und übersichtlichen Weise. Eins habe ich aber den-
noch vermißt, etwas, dessen Mangel dem Verfasser vielleicht
39*
604 F. Keutgen,
gerade als Inländer, dem diese Verhältnisse völlig vertraut
sind, nicht zum Bewußtsein gekommen ist, das er aber um
so besser zu leisten imstande gewesen wäre: nämlich eine
zusammenhängende Würdigung der geographischen Vor-
bedingungen. Ich denke dabei an etwas in der Art, wie es
Vidal de la Blache für Lavisse Histoire de France geliefert hat
Hier wird ja auch Belgien geschildert; aber von den Lesern
einer deutsch geschriebenen Geschichte Belgiens kann man
nicht verlangen, daß sie zur notwendigen Ergänzung, noch
nach einem besonderen Werke über die Geographie Frank-
reichs sich umsehen sollen. Vielleicht liegt die Schuld nicht
beim Verfasser; allein bei einem Unternehmen, das jetzt der
Leitung eines Lamprecht untersteht, wäre die grundsätzliche
Berücksichtigung gerade dieser Forderung wohl zu erwarten
gewesen. Freilich ist es bei kaum einem andern Lande so
nötig wie bei Belgien wegen der scharf ausgeprägten Eigen-
tümlichkeit jeder dieser politisch so lange selbständigen Ge-
biete. Auch Kärtchen in Holzschnitt könnten, wie bei Vidal, in
Zukunft wohl beigegeben werden. Daß Pirenne uns eine
große Übersichtskarte der Niederlande schenkt, ist freilich
eine sehr willkommene Neuerung (um so mehr als es im
Spruner-Menke hier an jeder entfernt genügenden Karte fehlt):
allein diese dient nur der politischen Geschichte.
Von allgemein geschichtlichem Interesse istzunächst die Klar-
stellung der historischen Gründe für den Lauf der französisch-
lothringischen, später französisch-deutschen Grenze, nach dem
Vertrag von Verdun, womit die weitverbreitete Ansicht wider-
legt wird, als hätten bei ihrer Ziehung Willkür und Zufall ob-
gewaltet; insbesondere ist die Erklärung lehrreich, wie es ge-
kommen ist, daß Gebiete mit deutscher Bevölkerung Frank-
reich, weiter nach Westen sich erstreckende mit romanischer
Bevölkerung Deutschland blieben. Ferner die ganz besondere
Bedeutung der Bischöfe als Vertreter des Königtums in den
lothringischen Grenzgebieten von erzwungener Zugehörigkeit
zum Reich. Damit mag es zusammenhängen, daß auch während
des Investiturstreites wir gerade in diesen Gegenden unter
ihnen ausgezeichnet treue Anhänger Heinrichs IV. antreffen,
während umgekehrt der einheimische Adel die Männer der
Reform begünstigte. Mit der Verfügung über die Bistümer
Zur Geschichte Belgiens im Mittelalter. 605
nahm denn auch der Einfluß des Reichs hier sein Ende. Es
sind auf dem Boden Belgiens früher als anderswo im deutschen
Reiche Landesfürstentümer entstanden, bei deren Inhabern das
Unabhängigkeitsgefühl in hohem Grade ausgebildet war.
Sehr bemerkenswert sind Pirennes Darlegungen über den
Ursprung der Landesherrlichkeit (Bd. I, S. 120 ff.).
Ausgangspunkt ist ihm der Großgrundbesitz des künftigen
Landesherm, der während der anarchischen Zeiten der letzten
Karolinger und der Normanneneinfälle auf Kosten der Kleinen,
vor allem aber der Kirche gewaltig anwuchs. Wenn die —
gleichwohl, wie wir sahen, willkommen geheißene — Kloster-
reform den Säkularisationen Einhalt gebot, so entschädigte
dafür die mit Nachdruck gehandhabte Vogtei. Nicht minder
nahm der Grundbesitz der Grafen und der Herzöge, kraft
Ausübung ihres Anrechtes auf die Ödländereien, mit der fort-
schreitenden Urbarmachung des Landes zu (I, S. 122. 330 f.).
Daß damit die materielle, die wirtschaftliche Grundlage der
Landesherrlichkeit gekennzeichnet ist, wird niemand leugnen;
fraglich bleibt es aber bei der ideellen, der rechtlichen Be-
gründung. Die Rückführung auf das Grafenamt scheint der
Verfasser nicht anzuerkennen; dieser Faden wird vielmehr
ausdrücklich für abgerissen erklärt, da die werdenden Landes-
herren ihr Verhältnis zum deutschen oder französischen König
nur noch als (sehr loses) vassallitisches empfanden, die alten
Grafschaften aber als Privateigentum behandelt, wohl geradezu
verkauft wurden und großenteils verschwanden (alles schließ-
lich doch kein Grund !). Dagegen sei der Übergang von einem
bloßen ^potens^ zum ^princeps'', vom Inhaber der bloß
faktischen zu dem , Organ ^ der gesetzmäßigen Gewalt in
Flandern und in Niederlothringen bewirkt durch die Stellung
als Beschützer des Gottesfriedens (S. 124)! Es ist das
dahin zu verstehen, daß das Volk den Mächtigen, der den
Frieden schützt, bereit war, nicht mehr bloß als Gewalt-
haber, sondern als Fürsten, als Hort des Rechts anzuerkennen,
— also praktische Ausübung der Volkssouveränität im Bund
mit der (französischen) Kirche hier in diesen Gegenden, wo
die königliche Gewalt so gut wie ausgeschaltet war. Vertreter
des deutschen Königs, wie Bischof Gerhard von Cambrai,
woUten deshalb vom Gottesfrieden nichts wissen, da es dem
ö06 F. Keutgen,
Herrscher allein zukomme die Erhaltung des Friedens zu
Überwachen (S. 68). In Flandern ist Anfang des 12. Jahrhunderts
der Gottesfriede zum , Grafenfrieden'' geworden (S. 126), und
auch die Erhebung einer Grafensteuer schon 1038 (S. 127 2)
scheint Pirenne in nicht näher erklärter Weise auf diese Be-
wegung zurückzuführen. Ich muß gestehen, daß ich nicht
einsehe, warum dies und was der Verfasser sonst über die
Handhabung der landesherrlichen Gewalt mitteilt, nicht recht-
lich auf Erbschaft des alten Grafenamtes zurückzuführen sein
soll, mag auch die Gottesfriedensbewegung dessen Ausübung
mächtigen Rückhalt und in dem Volkswillen einen (juristisch
doch sehr fragwürdigen) doppelten Boden gewährt haben.
(Vgl. aber auch noch S. 131 Z. 1 bis 3, sowie S. 135 ff. und
S. 140.) Die ungeteilte Erbfolge in Flandern und den
lothringischen Territorien scheint Pirenne nicht mit Ficker
(Reichsfürstenstand § 189; vgl. Pirenne I, S. 127«) auf franzö-
sischen Brauch zurückführen zu woüen, sondern irgendwie auf
das Souverän-werden (S. 127 f.).
Allen Nachbargebieten noch voran war Flandern femer
in der Ausbildung der landesherrlichen Verwaltung
und zwar schon seit dem 10. Jahrhundert (S. 128 ff.), wenn
auch erst 1089 durch Robert den Friesen abgeschlossen:
Pirenne leitet sie sogar von dem Capiiulare de Villis her,
insofern Ausgangspunkt die gräfliche Domänenverwaltung ge-
bildet habe. Mittelpunkt jedes Bezirkes war die Burg, in der
als Rechnungsbeamter der Notar oder ^ratiocinator" haust, der
^brevia redituum' nach Brügge an den Kanzler abgibt; seit dem
13. Jahrhundert geht aus diesen Beamten die ,Chambre des
Renenghes' hervor. Die militärischen und gerichtlichen Befug-
nisse versehen die Kastellane oder Vicecomites. Im 11. Jahr-
hundert aber schon wird ganz Flandern verwaltungsgemäß in
^ministeria' oder , off icia' , militärisch und gerichtlich inKastel-
lanien geteilt, über deren privaten oder öffentlichen Ursprung
Pirenne sich nicht zu entscheiden wagt (S. 130 f.). Im Anschluß
an die Burgen aber entstehen überall die Städte und auf
finanzieller Abhängigkeit der Grafen von ihnen baut sich die
politische Macht der großen Städte auf, die maßgebend wird
schon bei dem Dynastiewechsel nach der Ermordung Karls des
Guten 1127 (S. 216 ff.). Bezeichnend für das industrielle und
Zur Geschichte Belgiens im Mittelalter. 607
kommerzielle Flandern ist nun das Handinhandgehen der
Grafen aus dem Hause Elsaß mit den Bürgerschaften. Als
sich dann die Zünfte gegen die Patrizier erhoben, fanden sie
ihrerseits einen bereitwilligen Bundesgenossen an Guido von
Dampierre, der den Hochmut der Geldleute längst drückend
empfunden hatte (S. 423 ff.). Den Kampf der Häuser Avesne
und Dampierre stellt Pirenne dar als ein Ringen Deutschlands
und Frankreichs um die Vormacht in den Niederlanden (S. 280 ff.).
Die Rolle Flanderns und der verschiedenen Schichten seiner
Bevölkerung in den englisch-französischen Kriegen ist be-
kannt. Das Übergewicht der drei großen Städte, die übrigens
untereinander keineswegs eins waren, die wachsende Aus-
dehnung ihrer Herrschaft über das platte Land vermittelst
ihrer Pfalbürger, führte endlich zum Bruch auch der Zünften
mit dem Grafen (Bd. 11, S. 86 ff.). In diese Streitigkeiten spielt:
hinein die Erhebung Seeflanderns (seit 1323; Bd. II, S. 99ff.)^.
der freien, vielfach wohlhabenden Bauern hauptsächlich auf dea.
dem Meere abgewonnenen ^polders' gegen die adligen ^keut-
iieeren'. Zu vergleichen wäre dieser Aufstand mit den Schweizer
Freiheitskämpfen, an die Pirenne merkwürdigerweise nicht
erinnert, während er den Unterschied gegenüber der Jacquerie
und den Unruhen unter Wat Tyler als denen eines ländlichen
Proletariats hervorhebt. Ein furchtbar blutiger und erbitterter
Bürgerkrieg zog sich sechs Jahre lang hin, der mit der Nieder-
lage der ^Kerels' und der mit ihnen verbündeten Städte
endete, aus dem indes auch der Adel so geschwächt hervor-
ging, daß er dennoch den Versuch aufgeben mußte, das Land
seinem Machtgebot zu unterwerfen (S. 113). Die Einmischung
Frankreichs dagegen hat zum guten Teil die feindliche
Haltung der niederen Schichten während des Hundertjährigen
Krieges bestimmt. Diesen Dingen hat Pirenne eine eigene
Untersuchung gewidmet, die ihr besonderes Interesse durch
die statistischen Beilagen erhält (das zweite oben genannte
Werk) : lange Namenlisten der in der Schlacht bei Cassel ge-
fallenen Bauern aus den einzelnen Parochien mit ihrem Grund-
besitz (S. 1 — 148) sowie derer, die aus der Schlacht entkommen
sind (S. 149—162). Es sind Inventare, von Flamländern im
Auftrage des französischen Königs zu Konfiskationszwecken
aufgenommen: ein höchst wertvolles aber traurig stimmendes
608 F. Keutgen,
Material. Angeschlossen hat der Herausgeber achtzehn weitere
Urkunden und Akten, die die Ordnung der Dinge nach dem
Aufstand beleuchten. (Willkommen wäre ein erneuter Abdruck
des „KerelsUedes'' gewesen.)
Der Ausbau der niederlothringischen weltlichen
Territorien ist nach den von Flandern vorgezeichneten
GrundzUgen erfolgt, wenn auch mit Abweichungen, wie sie
die historischen und geographisch-wirtschaftlichen Umstände
bedingten. Überall spielen die neben den landesherrlichen
Burgen aufkommenden Städte eine Rolle, wenn auch nirgends
die gleiche wie in jener Grafschaft. Die geringste in Luxem-
burg, das wegen seiner natürlichen Armut überhaupt in der
Entwicklung am meisten zurückbleibt und wo der zahlreiche
Ritteradel den Ton angibt. Auch Hennegau bleibt lange
Agrikulturland. Für das wichtigste dieser Länder dagegen,
Brabant, wird von Bedeutung, daß ihm, im Gegensatz zu
Flandern, die heimische Dynastie in gerader männlicher Linie
bis über die Mitte des 14. Jahrhunderts erhalten blieb (I, S. 263 ff.
358 ff.; 11, S. 178—186). Die Stände, Geistlichkeit, Adel und
Städte, hielten einander das Gleichgewicht und suchten An-
schluß beim Landesherrn, dem auch die Schwäche seines
deutschen Lehnsherrn zustatten kam, der nicht, wie der fran-
zösische König in Flandern, in der Lage war, sich in die inne-
ren Verhältnisse einzumischen. Seit Anfang des 14. Jahrhun»
derts freilich zwangen auch hier finanzielle Bedürfnisse den
Herzögen eine Reihe von politischen Zugeständnissen zugunsten
der Stände ab: voran der Städte, neben ihnen des Adels,
während die Abteien sich an wirtschaftlichen Erleichterungen
genügen ließen (II, S. 178—186). Als dann mit Wenzel von
Luxemburg auch in Brüssel eine neue Dynastie einzog, fand
diese Entwicklung in der „blijde incomste'* (,Joyetise entriß*)
von 1356 ihren Abschluß. Durch das Zusammenhalten der
oberen Stände war es ferner stets gelungen, Erhebungen der
Handwerker niederzuschlagen: zuerst 1248 (I, 418), dann die
ansteckungsweise durch die Brügger Mette veranlaßte, der ja
neben der franzosenfeindlichen auch eine Richtung der «Kleinen''
gegen die ^Großen** innewohnte. Wenn das Patriziat der
Brabanter Städte länger seinen Einfluß behielt als das der
flandrischen (bis gegen Ende des 14. Jahrhunderts), so be-
Zur Geschichte Belgiens im Mittelalter. 609
ruhte das auch darauf, daß es verstanden zu haben scheint,
seine Lakengilden aufstrebenden Elementen offen zu halten
(II, S. 56—63).
Ganz anders gestaltete sich der Verlauf in den geist-
lichen Fürstentümern, insbesondere in Lüttich. Die
Bischöfe, Männer von auswärts und in der ersten Zeit außer-
dem Vertreter des Kaisers, hatten keinen Halt im Lande:
eher schon die Domkapitel, die sich gewissermaßen mit jenen
in die Rolle des Landesherrn teilten, anderseits aber doch
nicht in der Lage waren, die Regierung fest zu handhaben
(I, 360 ff.). Hinzu kommt, daß, wie Pirenne meint (I, S207;
vgl. auch meine „Untersuchungen über den Ursprung der
deutschen Stadtverfassung* S. 154, und Pirenne, Revue Histo-
rlque LXIl , 305) der freiheitlichen Bewegung der Bürger-
schaften gegenüber die Haltung der geistlichen Herren von
vornherein eine andere als die der weltlichen, eine doktrinär-
feindliche war. So bietet die Geschichte Lüttichs (vgL auch
Reinecke, Geschichte der Stadt Cambrai bis 1227) das
Schauspiel einer fast ununterbrochenen Folge von Empörungen
und Umwälzungen (1, S. 207 ff. 264 ff. 314 ff. 360 ff.; II, S. 35 ff.
166 ff. 310 ff.), die ihr Ende jeweils durch „Vergleiche*" und
„Friedensverträge* fanden. Industrie besaß die Stadt Lüttich
bis zum 15. Jahrhundert nicht (S. 36). Die „Geschlechter*
— Tuchhändler und Geldwechsler — wurden durch enge Be-
ziehungen zum Landadel seit Ende des 13. Jahrhunderts dem
Stadtleben entfremdet i) , und die Folge war hier nach der
Brügger Mette der Sieg der mit dem Klerus, ihrem Brotgeber,
verbündeten Zünfte (II, S. 39 ff.). Und trotz eines blutigen
Sieges, den Bischof Adolf von der Marck mit seinen deutschen
Verwandten, der Lütticher und Brabanter Adel und nun auch
das Domkapitel nur einen Monat nach der Schlacht bei
Cassel über die Städte erfochten, ist es bis zur Einmischung
Karls des Kühnen dabei geblieben.
') Pirenne läßt die Wandlungen im Patriziat zunächst Beginn
des 14. Jahrhunderts eintreten, einen Teil der Folgen davon jedoch
bereits Ende des 13. (11, S. 39 f.). Es ist das natürlich nur eine
kleine Unachtsamkeit im Ausdruck ; denn es handelt sich um eine
Entwicklung, bei der Ursache und Folgeerscheinungen chrono-
logisch vielfach ineinander übergreifen.
610 F. Keutgen,
Es ist hier nur möglich gewesen, einige Hauptzüge der
Entwicklung zu wiederholen. Zuletzt wurde aller Selbst-
herrlichkeit und reichen Mannigfaltigkeit ein Ende bereitet:
es kamen das Haus Burgund und das Haus Habsburg, beide
Fremdherrschaften (II, S. 474), und .hobelten alle gleich*. In-
des spricht sich Pirenne nachdrücklich gegen die Anschau-
ung der „meisten Historiker* aus, als hätte die burgundische
Verfassungsumwälzung im monarchischen Sinne «einen rohen
Sieg der Macht über das Recht' bedeutet (II, S. 400; vgl. S. 412).
Auch wird niemand leugnen wollen, daß die Zusammenfassung
all dieser eng verwandten Territorien unter eine gemeinsame
Oberverwaltung und der Ausgleich der so vielfachen wider-
streitenden Interessen der einzelnen Gruppen, der sich da-
durch ermöglichte, einen Fortschritt bedeutete. Es kam darauf
an, ob das Volk und seine Vertreter den Wink verstehen und
sich zur Verteidigung der gemeinsamen Interessen des Ganzen
zusammenschließen würden. Eine Zeitlang konnte es so
scheinen. Indes wird es sich empfehlen, von den späteren
Wandlungen erst nach Ausgabe des vierten Bandes zu reden,
da der dritte mit Albas Ankunft im spannendsten Augenblicke
abbricht. Einstweilen wird man geneigt sein, aus dem Ver-
lauf der älteren belgischen Geschichte die Lehre zu ziehen,
daß wenn dem belgischen Volke trotz günstigster Umstände
und bewundernswerter Leistungen kein erfreuücheres Ge-
schick zuteil geworden ist, die Schuld an einer übermäßigen
Neigung zu Gewalttätigkeiten und zur extremen Ausbeutung
errungener Vorteile gelegen hat. Ob diese Neigung nur die
unvermeidliche Kehrseite eines ungewöhnlichen Maßes ge-
sunder Kraft darstellt, mag andern zu untersuchen überlassen
bleiben.
Überhaupt hätte man auf manche Fragen von dem Autor
gern eingehendere Antwort vernommen: eine Wirkung der
vielfachen Anregung, die seine Darstellung gibt. Einzelheiten
würden jedoch jetzt zu weit führen. Dankenswert sind die
genealogischen Übersichten am Schluß des zweiten Bandes,
wenn auch einfache Stammtafeln vielleicht noch zweckmäßiger
gewesen wären. Ein paar Wünsche richten sich an den Ver-
lag oder an die Leitung. Nämlich nach Registern auch der
Orte und wichtigsten Sachen ; ferner nach Kolumnentiteln, die
Zur Geschichte Belgiens im Mittelalter. 611
den Inhalt der Seiten geben (was hilft es dem Leser, wenn
er rechts vierzigmal liest » Veränderungen im politischen und
sozialen Leben'' oder dreißigmal „die Politik der Fürsten*).
Es ist einfache Pflicht der Buchverfertiger, die Benutzung der
Bücher auf jede erdenkliche Weise zu erleichtern. In anderen
Werken der Sammlung, wie Hartmanns Geschichte Italiens
und Kretschmayrs Geschichte von Venedig, die auch einen
erfreulicheren Druck haben, ist das übrigens alles besser. Je
wertvoller aber das Buch, desto wichtiger sind auch diese
Dinge.
Literaturbericht.
Das Rassenvorurteil. Von Jean PInot. Autorisierte Übersetzung
aus dem Französischen von E. Müller-Röder. Berlin, Hü-
peden £ Merzyn. 1906. VIII u. 428 S.
Die Rassenfrage spielt in der wissenschaftlichen Dis-
kussion der letzten Jahre keine unerhebliche Rolle. Seit der
Schrift des Grafen Gobineau hat man von verschiedenen Ge-
sichtspunkten aus die Bedeutung der Rasse für die Geschichte
und Kultur der Völker festzustellen unternommen. Man geht
dabei im allgemeinen von der Annahme aus, daß es be-
stimmte anthropologische Dauertypen gibt, die ihre charakte-
ristischen Merkmale durch die ganze Generationsfolge festge-
halten haben und denen auch ganz bestimmte seelische Eigen-
schaften zukommen. Die äußeren somatischen Kennzeichen
lassen zugleich auf psychologische Wesensverschiedenheiten
schließen, die für die Geschichte der Völker von ausschlag-
gebendem Einfluß gewesen sind und es noch sind. Der
Hauptgedanke, der im Grunde immer wieder zum Vorschein
kommt, ist dabei, daß es bevorzugte, herrschende, „geniale*"
Rassen auf der einen, niedrigere, dienende, geistig-minder-
werte Rassen auf der anderen Seite gibt und immer gegeben
hat. Diese Theorie, die sich durch ihre bestrickende Einfach-
heit auszeichnet, hat dann mannigfache Anwendungen auf
geschichtliche, soziale und kulturelle Probleme gefunden, und
sie empfiehlt sich vor allem dem Laien wegen der großen
Bequemlichkeit, mit der sie schwierige Probleme scheinbar
in plausibelster Weise zu lösen versteht. Der wissenschaft-
liche Dilettantismus hat sich denn auch ihrer bemächtigt und
sowohl in Frankreich wie in Deutschland, weniger bei anderen
Allgemeines. 613
Nationen, seine behenden Folgerungen — so z. B. besonders
die Eingeborenenfrage in den Kolonien — daraus gezogen.
Demgegenüber unternimmt es nun Finot, dessen Werk in
einer gut lesbaren und zuverlässigen Übersetzung hier vor-
liegt, die Grundlagen der Rassentheorie einer kritischen Unter-
suchung zu unterziehen. Er behandelt demgemäß zuerst die
anthropologischen und physiologischen Unterscheidungsmerk-
male der Rassen, dann die Bedeutung der Umgebung und die
Rassenkreuzung, sowie den angeblich psychologischen Habitus
der Rasseneinheit der lateinischen und germanischen Völker
und endlich im besonderen die Negerfrage. F. kommt über-
all zu einem durchaus ablehnenden Votum: weder somatisch
noch psychologisch lasse sich eine Ungleichheit des Menschen-
geschlechtes beweisen. Somatisch nicht, weil gleiche oder
ähnliche Merkmale bei ganz verschiedenartigen Rassen sich
finden, die durchaus keine innere Verwandtschaft zueinander
haben — Dolichokephalen sind neben den Germanen auch
die Bantus! — und umgekehrt die heterogensten Individuen
bei demselben Volke vorkommen. Psychologisch nicht,
weil die Geistigkeit von dem Stande der kulturellen Entwick-
lung und einer großen Menge direkt aufzeigbarer Ursachen
abhängt. Es gibt demnach auch keine Völker, die dazu ver-
urteilt sind, ewig den anderen untergeordnet zu sein — auch
die Neger nicht. »Es gibt keine höheren und niederen Rassen
— es gibt nur Rassen und Völker, die innerhalb oder außer-
halb des kulturellen Einflusses leben *" (S.405). Und dieses ist
im ganzen das Ergebnis: «Die unter dem Einfluß der Um-
gebung entstandenen Urrassen haben nie aufgehört, sich ge-
legentlich ihrer namentlich durch die Völkerwanderungen ver-
anlaßten Annäherung miteinander zu mischen. Die folgenden,
unter dem Einfluß der Umgebung stattfindenden Kreuzungen,
die allenthalben und ohne Unterlaß wirken, haben diese Reihe
von Zwischentypen ins Leben gerufen, die die Menschheit
miteinander verknüpfen. Die Kreuzung endlich hat den durch
die Umgebung geschaffenen Typen ihr nivellierendes Gepräge
aufgedrückt* (S. 210). Demnach scheint für F. „die allge-
meine Mischung aller mit allen das oberste Gesetz der histo-
rischen Fortentwicklung zu sein*^ : es ist der strikte Gegenpol
der einseitigen Rassentheoretiker.
614 Literaturbericht.
Was in dem Buche vor allem mangelhaft erscheint, das
ist das Fehlen eines bestimmten Rassenbegriffes, den F.
zugrunde legen mußte. Es ist allerdings richtig, daß die An-
hänger der Rassenlehre durchaus im unklaren über die Trag-
weite des Begriffes sind, daß das Wort einen vielfach schil-
lernden und schwankenden Sinn angenommen hat, der eine
mehrfache — linguistisch -psychologische, anthropologische,
biologische und soziologische — Bedeutung angenommen
hat. Das entbindet aber doch den Kritiker nicht von der
Notwendigkeit, seinerseits mit einem festen Begriffe oder
mindestens mit einem eindeutigen Sprachgebrauch zu arbeiten
und auf die verschiedenen Anwendungen hinzuweisen. Denn
sonst kann es geschehen, wie es tatsächlich bei F. der Fall
ist, daß er an verschiedenen Stellen und bei verschiedenen
Autoren Verschiedenes darunter versteht. F. macht selbst
eine durchaus zutreffende und entscheidende Bemerkung
darüber: daß nämlich der ganze Rassebegriff ein logisches
Gepräge an sich trägt, daß man gewisse äußere Merkmale
unter einem Sammelnamen zusammenfaßt, um dadurch eine
bequeme, abkürzende Bezeichnung zu haben: diesem kon-
ventionellen Ausdruck vindiziert man dann reale Wesenheit und
betrachtet die Varietäten und Abweichungen von dem Begriffs-
schema als reale Wesensverschiedenheiten wirklich vorhandener
Urrassen, während man es eben nur mit einem Einteilungs-
prinzip zu tun hat. „Im Auge des Laien aber erlangt dieses an
sich völlig logische Verfahren den Anschein einer realen selb-
ständigen Materie, während Rasse nur eine abstrakte Vorstel-
lung ist, die über unser Begriffsvermögen hinaus keine Wesen-
heit besitzt* (S.73). Aber dieser durchaus richtige Grundgedanke
wird im Laufe der Arbeit nun nicht festgehalten, weil eben von
vornherein die verschiedenen Begriffe desselben Wortes nicht
auseinander gehalten werden. Dadurch hat sich aber F. die
Beweisführung erheblich zu leicht gemacht. So wird von den
fortgeschritteneren und ernsteren Anthroposoniologen (z. B.
Woltmann) ja behauptet, daß Italiener, Deutsche und Franzosen
verschiedene Rassenbestandteüe in sich beherbergen und daß
trotz aller Kreuzung doch ein bestimmter Typus sich durch-
setzt. Wenn aber nun F. diese Völker von vornherein als
Einheiten annimmt und dann nachweist, daß sie ganz hete-
Alte Geschichte. 615
rogene Geistesrichtungen enthielten, so hat er jene These
verschoben, aber noch nicht bündig widerlegt. Denn es
könnte innerhalb eines Volkes sehr wohl dichterische und
künstlerische Begabung an bestimmte biologische Merkmale
geknüpft sein, die eine bestimmte Ahnenreihe (»Rasse**) reprä-
sentieren — wenn das nämlich nachgewiesen werden könnte.
Dieser Nachweis scheint mir bisher in keiner Weise erbracht;
aber offenbar kann die Widerlegung dann nicht in der Weise
erfolgen, wie F. es getan hat. Entschuldigend muß man aller-
dings sagen, daß die verschiedenen Rassentheoretiker so wider-
spruchsvoll sind, auch so verschiedenes beweisen wollen, daß
sie in ihrer Gesamtheit gar nicht durch einzelne Urteile zu
fassen sind. F.s Verdienst ist es, einen Teil der Ungereimtheiten,
zu denen die Rassenfanatiker kommen, aufgezeigt und das
Unhaltbare vieler ihrer anthropologischen Beweise von neuem
vorgeführt zu haben; auch hat er mit Recht die Einwirkung
äußerer Faktoren auf die kulturelle Entwicklung wieder in den
Vordergrund gestellt und manche Vorurteile beseitigt. Eine
Entscheidung über die Bedeutung der anthropologischen und
biologischen Momente für Kultur und Geschichte kann aber
damit noch nicht gegeben sein: die bleibt nach wie vor ein
ernsthaftes Problem auch für die Geschichtswissenschaft —
ganz unabhängig von den Modeströmungen des Tages und
von den einseitigen Übertreibungen der Rasseanhänger und
Rassepolitiker.
Leipzig. F, Eulenburg,
Die Makedonen, ihre Sprache und ihr Volkstum. Von Dr. Otto
Hoffmann, ao. Professor an der Universität Breslau. Göt-
tingen, Vandenhoeck £ Ruprecht. 1906. VI u. 284 S.
Die Geschichte der Frage, welchen Stammes die Make-
donen gewesen sind, bietet ein charkteristisches Beispiel für
die Abhängigkeit der philologischen Kritik von dem Wortlaut
der Quellen. Weil die Makedonen in der Kultur hinter den
übrigen Griechen zurückgeblieben waren und einen rauhen
Dialekt sprachen, werden sie von den Schriftstellern des
4. Jahrhunderts als , Barbaren** bezeichnet; und das war für
die große Mehrzahl der Philologen bis in unsere Zeit hinein
Grund genug, die Makedonen als ein ungriechisches Volk zu
6 1 6 Literaturbericht
betrachten. Ein Nachhall dieser Auffassung findet sich selbst
in dem sonst so verständigen Buche von Kretschmer. Und
doch hatten schon lange vorher Droysen vom historischen, Fick
vom sprachwissenschaftlichen Standpunkte aus das Griechen-
tum der Makedonen erwiesen. Es gibt auf dem ganzen Ge-
biete der Altertumswissenschaft kaum eine zweite Frage von
gleich weittragender Bedeutung; hängt doch nichts Geringeres
davon ab, als unsere ganze Auffassung der griechischen Ge-
schichte seit Philipp und Alexander. Um so dankenswerter
ist es, daß Hoffmann die Frage einer neuen Prüfung unter-
worfen hat — auf Grund eines Materials, wie es in solcher
Vollständigkeit noch niemand zusammengebracht hatte.
Vf. beginnt mit einer Untersuchung über die , Quellen
der altmakedonischen Sprache*. Hier ist der Nachweis wichtig,
daß der aus Makedonien gebürtige Grammatiker Amerias
„weder ausschließlich makedonische Worte gesammelt hat,
noch von den späteren Glossographen lediglich um des make-
donischen Wortschatzes und Dialektes willen benutzt und aus-
geschrieben worden ist*. Es dürfen also Glossen, die unter
Amerias' Namen überliefert sind, nicht ohne weiteres als
makedonisch in Anspruch genommen werden, wie man das
bisher stets getan hat. Ob dagegen die Hoffnung, aus dem
heutigen makedonischen Dialekt etwas für unsere Kenntnis
des Altmakedonischen zu gewinnen (S. 33), sich erfüllen wird,
will mir sehr zweifelhaft scheinen.
Es folgt dann, im zweiten Abschnitt, eine ausführliche
Behandlung des altmakedonischen Wortschatzes, soweit er
uns überliefert ist. Es ergibt sich, daß der Gesamtcharakter
des makedonischen Dialektes durchaus griechisch ist; die
nichtgriechischen Elemente, die ja in einem solchen Grenz-
lande mit zum Teil gemischter Bevölkerung nicht fehlen können,
treten demgegenüber durchaus zurück und «beschränken sich
auf einen ziemlich engen Kreis von Gegenständen und Be-
griffen* (S. 112). Der Dialekt zeigt nahe Verwandtschaft mit
dem Thessalischen ; es kann also von einer Hellenisierung
Makedoniens von den chalkidischen Kolonien aus nicht die
Rede sein. Dies findet dann seine vollständige Bestätigung
durch die Analyse sämtlicher uns erhaltenen makedonischen
Personennamen, der der dritte Abschnitt gewidmet ist Sie
Alte Geschichte. 617
sind alle ihrer Bildung und ihren Lauten nach „rein griechisch^,
in »ihrer dialektischen Färbung den thessalischen Namen am
nächsten verwandt*. Da diese Namen zum Teil in das 6.
und 5. Jahrhundert zurückgehen, ist eine Entlehnung aus-
geschlossen und damit das griechische Volkstum der Make-
donen sichergestellt. Auf die Ortsnamen, die ja zum großen
Teil ebenfalls rein griechisch sind, geht der Vf. nur gelegent-
lich ein.
Der vierte Abschnitt behandelt den makedonischen Dia-
lekt. Die am meisten hervortretende Eigentümlichkeit des
Makedonischen besteht bekanntlich darin, daß hier die Mediae
die Stelle der gemeingriechischen Aspiratae vertreten ; z. B.
Begeyixa für OiQivixtj. Kretschmer hat deswegen — und zwar
nur wegen dieses einzigen Grundes — das Makedonische für
eine vom Griechischen verschiedene Sprache erklärt. Dem
gegenüber hat schon Hatzidakis betont, daß es ein metho-
discher Fehler ist, eine einzelne lautliche Erscheinung heraus-
zugreifen und darauf hin über den Charakter einer Sprache
zu urteilen. „Und würde denn wirklich,* setzt der Vf. hinzu,
,der Übergang einer Tenuis aspirata in die Media in einem
griechischen Dialekte unmöglich sein, widerspricht er etwa
einem bestimmten Grundgesetze des Griechischen ? Ich wüßte
nicht.* Vf. glaubt aber eine noch einfachere Erklärung geben
zu können. Er nimmt an, daß die griechischen Aspiratae in
ältester Zeit nicht Tenues aspiratae, sondern stimmlose Mediae
aspiratae, also nicht stimmlose harte, sondern stimmlose
weiche Explosivlaute mit nachklingendem Hauchlaute waren.
Im Makedonischen sind dann aus dem stimmlosen Mediae
aspiratae stimmhafte Mediae aspiratae geworden. „Das ist
ein Lautwandel, der für das Griechische als ein einzeldialek-
tischer Vorgang um so weniger Befremden erregt, als er unter
bestimmten Bedingungen im ganzen griechischen Sprachgebiet
eingetreten ist.* Die Begründung möge man bei dem Vf.
selbst nachlesen, der sich hier in Gegensatz zu der Auf-
fassung Brugmanns stellt.
Der letzte Abschnitt handelt von der „Gründung des
makedonischen Reiches*. Vf. betritt hier ein Gebiet, auf dem
er nicht Fachmann, ist, und hat sich deswegen damit begnügt,
seinen Standpunkt auf wenigen Seiten in knappster Form dar-
Historteche ZeitechrUt (101. Bd.) a. Folge 6. Bd. 40
618 Literaturbericht
zulegen. Ich hätte im einzelnen manches einzuwenden, sehe
aber um so lieber davon ab, als ich in der Hauptsache ein-
verstanden bin. Von den drei Exkursen, die das Buch
schließen, mag der über Kassandros' Bruder Alexarchos her-
vorgehoben werden ; dagegen halte ich das, was der Vf. über
Arrabaeos sagt, nicht für richtig; Polyaenos VII, 30 bezieht
sich keineswegs auf die Belagerung von Kyzikos im Jahre 319.
Ob nun, nach den erschöpfenden Darlegungen des Vf.,
die Frage nach der Nationalität der Makedonen endlich zur
Ruhe kommt? Ich glaube kaum, denn es wird immer Leute
geben, die durch Gründe nicht zu überzeugen sind. Jeden-
falls aber darf niemand, der sich mit griechischer und über-
haupt mit alter Geschichte beschäftigt, das Buch ungelesen
lassen.
Rom. Beloch.
Papst Gregor VII., König Heinrich IV. und die deutschen Fürsten
im Investiturstreit. Dissertation von Albert Predeek.
Münster 1907. XI u. 104 S.
Fleißige, sorgfältige Arbeit, scharfe Musterung der QueUen,
wodurch manche Unstimmigkeit herausgestellt wird, manche
aufklärende Darlegungen kann man der vorliegenden Disser-
tation zuerkennen. Daß Papst Gregor andere, weitere Ab-
sichten und Ziele verfolgte, als die rebellischen Fürsten, — auch
speziell hinsichtlich der Besetzung des deutschen Thrones — ,
daß König Heinrich die Erfolge seiner Politik der geschickten
Trennung der beiderseitigen Interessen verdankte, ist jetzt
ziemlich aUgemein anerkannt. Zur klaren Erkenntnis dieser
Differenzen trägt die Dissertation Predeeks Gutes bei. Aber
der Gesichtspunkt, „daß die fürstliche Politik ganz andere
Ziele verfolgte, als den Papst zu unterstützen '^ (Seite X),
wird mit einer Einseitigkeit eingenommen und durchgehalten,
die sich bis in die Quellenkritik und -Interpretation einschnei-
dend geltend macht und den Tatsachen, den Anschauungen
der Zeit nicht gerecht wird.
Am deutlichsten und einschneidendsten zeigt sich das
Seite 71 ff. bei dem Versuche, nachzuweisen, daß die in Tribur
versammelten Fürsten den Papst nicht zu einem Entscheidungs-
tage nach Deutschland eingeladen haben, sondern daß er
Mittelalter. 619
„sich selbst einlud'' und jene vielmehr sein Kommen ver-
eitelten, weil sein Eingreifen in Deutschland ihre Pläne gestört
haben würde.
Gegen diese Behauptung sprechen zunächst die positiven
Angaben von Lampert, Berthold, Bernold, Bruno, Bonitho,
sowie — um von dem femerstehenden Paul v. Bernried
abzusehen — der Vita Anselmi, welche eine Einladung des
Papstes seitens der Fürsten berichten, also übereinstimmende
Angaben zeitgenössischer, z. T. wohlunterrichteter Autoren,
die, voneinander unabhängig, in den verschiedensten Gegenden
lebten und schrieben. Vf. meint, diese Zeugnisse entwerten
zu können, indem er Seite 72 Note geltend macht: erstens,
sie hätten alle die Tendenz gehabt und wären darauf aus-
gegangen, „Zusammenhang zwischen Papst und Fürsten her-
zustellen**; zweitens, es hätte, weil die Fürstengesandtschaft,
die nach Rom ging, die Selbsteinladung Gregors mit zurück-
brachte, an und für sich leicht die Meinung entstehen können,
sie sei von vorneherein mit einer Einladung beauftragt gewesen
— also einen ganz allgemeinen Irrtum der Schriftsteller, auch
der Gregor nahestehenden in Italien, müßte man annehmen,
und eine entsprechende wie auf Verabredung hüben und
drüben auftretende politische Tendenz, um Pr.s Ansicht
glaubhaft erscheinen zu lassen. Pr. sucht die offenbare
Schwäche dieser Argumente zu stützen durch ein noch
schwächeres Argumentum ex silentio: er beruft sich darauf,
daß Gregor in seinen Briefen (Ep. coli. 17 und 18) sich nicht
ausdrücklich auf eine an ihn ergangene Einladung bezieht,
sondern nur sein Kommen wie von sich aus im allgemeinen
ankündigt.
In Konsequenz seiner Auffassung sieht Pr. sich weiterhin
<S. 79 f.) veranlaßt, die Verhinderung von Gregors Reise nach
Deutschland den Fürsten zuzuschreiben, die ihr Interesse, die
Entfernung Heinrichs vom Throne und eine Neuwahl, durch
die päpstliche Einmischung bedroht gesehen und ihm deshalb
nicht das erforderliche Geleit gestellt hätten. Hier setzt sich
Pr. in direkten Widerspruch mit der Angabe des schwäbischen
Annalisten, die er stillschweigend übergeht, die Fürsten haben
aus Furcht vor den Ränken Heinrichs „quamvis inviti et no'
lentes^ unterlassen, das Geleit zu stellen, setzt sich in Wider-
40*
620 Literaturbericht
Spruch mit den Angaben anderer Autoren, die, als Grund für
die Verhinderung der Reise, Heinrichs Erscheinen in Italien
berichten, wie mit der Äußerung des Papstes selbst (Reg. IV, 23):
y^sed quia defuerunt, qui nos secundum quod disposUum erat
conducerent impediii adventu regis in Italiam in Langobardia
remansimus'' j eine Äußerung, durch die jedenfalls die Ankunft
des Königs in Italien als Hinderungsgrund der Reise bezeichnet
wird, auch wenn man impediti usw. nicht zum Vordersatz,
sondern zum Nachsatz zieht. Gegen diese Zeugnisse kann
es m. E. nicht aufkommen, wenn man mit Pr. die Antworten
Gregors (IV, 12 und Ep. coli. 20) auf die Entschuldigung der
Fürsten, sie könnten in diesen Zeitläufen wegen vieler
Schwierigkeiten kein Geleit senden, in ironischem oder
sarkastischem Sinne interpretiert, als wolle der Papst andeuten,
daß er den eigentlichen Grund der Geleitsverweigerung, den
bösen Willen der Fürsten, wohl durchschaue, wenn er das
auch nicht geradeheraus sage, um sich mit ihnen nicht ganz
zu überwerfen.
Mir scheint, durch diese Beweisführungen wird kein halt-
barer Boden für Pr.s Auffassung geschaffen, und damit entfällt
ein wesentlicher Grundstein derselben.
Aber ich meine, daß diese Auffassung auch im ganzen
den Anschauungen und Motiven jener Zeit nicht gerecht wird.
P. sieht die Fürsten wesentlich wie moderne, , aufgeklärte''
Politiker an ; von religiösen, kirchlichen Anschauungen ist bei
ihnen gar nicht die Rede; sagt Vf. doch Seite 98 zusammen-
fassend von den Laiengroßen: „Die Aussicht auf Unterstützung
(durch den Papst und dessen Anhänger) in dem Kampfe gegen
den König trieb sie dazu, kirchliches Interesse zu heucheln.'
Er leugnet also das Hervortreten solchen Interesses auf ihrer
Seite nicht, will aber an dessen Wahrheit nicht glauben. Das
ist mutatis mutandis so, wie es von gewissen Geschichts-
anschauungen aus geschieht, als ob man die Teilnahme eines
Friedrich des Weisen und anderer Fürsten für Luthers Refor-
mation lediglich aus weltlich-politischen Motiven (landesherr-
licher Autonomie, Opposition gegen die römische Finanz-
ausbeutung u. dgl.) herleitet und Glaubensmotive nicht aner-
kennt. Man kann dergleichen nur für einen großen Ana-
chronismus halten und wird sich schwerlich überzeugen, daß
Mittelalter. 621
die Menschen in der Zeit des Investiturstreites über dem
Glauben an die Autorität des rechtmäßigen Stellvertreters
Christi standen, daß sie nur eine politische, nicht auch eine
moralische Stütze bei ihm suchten, daß ihnen das Zusammen-
gehen mit ihm nicht auch als eine Gewissenssache erschien.
Die Briefe der Sachsenfürsten an Gregor während des Thron-
kampfes in Deutschland sprechen in dieser Hinsicht eine
beredte Sprache gerade da, wo sie die Grenze der Ehrer-
bietung gegen den apostolischen Stuhl zu streifen gedrungen
sind.
Soweit diese einseitige Grundauffassung des Vf. sich
geltend macht, wird man seinen Ausführungen m. E. nicht
zustimmen können. E. B,
Die Rolandsbilder Deutschlands in dreihundertjähriger Forschung
und nach den Quellen. Von K. Heldmann. Halle a. S.,
M. Niemeyer. 1904. VHI u. 172 S.
Derselbe, Rolandsspielfiguren, Richterbilder oder Königsbilder?
Ebenda 1905. 210 S.
Die Deutung der Rolandssäulen hat eine interessante Ge-
schichte. Vor etwa 20 Jahren — um nur über die letzten
zwei Jahrzehnte zu berichten — sah man sie als Marktzeichen
an, und da um jene Zeit auch die Theorie, welche das Stadt-
recht aus dem Marktrecht herleitete, in den Vordergrund zu
treten begann, so zeigten Juristen und Historiker den Rolands-
säulen lebhafteste Aufmerksamkeit. Diese wurde in den
Kreisen der speziellen Stadtrechtsforscher etwas geringer, als
die Blütezeit der erwähnten Theorie ihr Ende erreichte. Aber
jene Kreise beschäftigten sich immerhin auch jetzt eifrig mit
den Rolandssäulen. Die größte Verbreitung fand in dieser
Zeit deren Deutung als Gerichtsbilder, die am eingehendsten
Rietschel vertrat. Ein neuer Abschnitt wurde dann eingeleitet
durch das erste der oben genannten Bücher Heldmanns,
welches die Rolandssäulen gewissermaßen von der Verfassungs-
geschichte loslöst: es will sie als bloße Spielfiguren erklären
und gibt sich demgemäß als einen Beitrag zur Geschichte der
mittelalterlichen Spiele. Nun treten die Philologen, die be-
rufenen Forscher auf dem Gebiete der Privataltertümer des
622 Literatlirbericht
Mittelalters, auf den Plan. Zwar nehmen noch Juristen und
Historiker an der Forschung Teil, und H. selbst schreibt zur
Verteidigung seiner Theorie ein neues Buch. Aber er erklärt
eben hier (S. 205), sich nunmehr von der Rolandforschung
zurückziehen zu wollen. Man hat (Jostes, Roland in Schimpf
und Ernst, Dortmund 1906, S. 6) ihm daraus einen Vorwurf
gemacht; jedoch nicht mit Recht, da der Historiker andere
Aufgaben zu lösen hat als die Erforschung der Privatalter-
tUmer. H.s Kontroverse mit Jostes ist ein Streit vor dem
Forum der Philologie.
Es ist freilich die Frage, ob H. Recht hat und ob dem-
gemäß die Veriassungshistoriker das Rolandproblem fallen
lassen können. Obwohl ihm vielerlei Zustimmung zu teil ge-
worden ist (vgl. z. B. Fr. Kauffmann in d. Ztschr. f. deutsche
Philologie 1906, S. 278 ff.), wird man seine These doch ab-
lehnen müssen. Dem Urteil Rietschels in der Histor. Viertel-
jahrschrift 1906, S. 535 ff. (vgl. ferner R. Schröder in der
Savigny-Ztschr., Germ. Abt. Bd. 27, S. 457 ff. und Kampers,
Deutsche Literaturztg. 1906, Sp. 3234 f.) trete ich durchaus
bei. Einen vernichtenden Schlag gegen H. hat auch W. Stein
(Hansische Geschichtsblätter 1906, S. 139 ff.; vgl. Gott. Gel.
Anzeigen 1907, S. 352) geführt (in einer Quellenfrage). Ich
sehe nach wie vor in den Rolanden Richterbilder. Wenn wir
somit in der Hauptsache H.s Ausführungen verwerfen, so er-
kennen wir gerne an, daß seine beiden Bücher viel Gelehr-
samkeit, namentlich auf dem Gebiet der Trachtengeschichte,
enthalten. Er ist berechtigt, im Nebentitel sie als Beitrag zur
Kulturgeschichte zu bezeichnen. Es mag femer seine sehr
gründliche Kenntnis nicht bloß der neuesten, sondern auch
der ältesten Rolandliteratur noch besonders hervorgehoben
werden. Allerdings hat das, was er, in Nebenuntersuchungen,
zur Quellenkritik beisteuert, teilweise nicht die Probe bestanden
(s. W. Stein a. a. 0.).i)
Freiburg i. B. G. v. Below.
*) Zur Literatur über das Rolandsproblem vergleiche noch:
Heck, Die Rolandsstelle des Bremer Henricianums, Histor. Viertel-
jahrschrift 1906, S. 305«.; Liter. Zentralblatt 1906, Nr. 10, Sp. 349
und Nr. 38, Sp. 1294; Puntschart, Mitteilungen des Instituts 1903,
S. 499; H. Z. 98, S. 207 und 100, S. 665 (über Huizingas Beitrag).
Mittelalter. 623
Dietrich von Nieheim. Zijne opvatting van het concilie en zijne
kroniek door Dr, W. J* M. Malder, S. J. Amsterdam und
Löwen, van der Vecht. 1907. XXV, 215 und XXIX, 88 S.
Das ziemlich nachlässig gedruckte Buch hat seinen Ausgang
von der Untersuchung einer der Universitätsbibliothek zu
Leiden angehörenden Handschrift des 16. Jahrhunderts ge-
nommen, die Professor Blök auf die Bitte des Bibliothekars
P. C. Molhuysen vornehmen ließ. In dieser Handschrift fanden
sich Bruchstücke der Chronik Dietrichs, die zum teil mit den
von Sauerland in den Mitteilungen des Insttiuts für öster-
reichische Geschichtsforschung VI, S. 583—614 veröffentlichten
Fragmenten identisch sind, überdies aber noch viar bisher
unbekannte Stücke aufweisen. Da Mulder während der Unter-
suchung das Bedürfnis empfand, sich eingehender über den
Lebensgang und die Anschauungen des merkwürdigen Mannes
zu unterrichten, dem diese Chronik verdankt wird, sind noch
Forschungen über Dietrichs Stellung zur Konzilienfrage hin-
zugekommen, so daß der vorliegende Band zwei verschiedene,
nur lose miteinander zusammenhängende Arbeiten enthält.
Von vornherein darf gesagt werden, daß beide Teile ihr Ver-
dienst haben. Das schließt indessen nicht aus, daß die Lektüre
der aus Darstellung und Forschung bestehenden größeren
Hälfte (I: Das große Schisma, 11: D. v. N., III: Die Reform-
traktate, IV : D. und das Konzil) dennoch keine rechte Freude
aufkommen läßt. Schuld daran ist in erster Linie außer den
in der Gliederung zutage tretenden Mängeln die mehr als
behagliche Umständlichkeit der Ausführungen, die freilich
deutschen Lesern infolge der Eigentümlichkeiten der hollän-
dischen Sprache ganz besonders zu Bewußtsein kommen mag.
Um den historischen Hintergrund zu zeichnen, braucht der
Vf. mehr als ein Drittel des ganzen Teiles und zwar ohne
irgend etwas eigenes zu bieten, man müßte denn seinen gut
klerikalen Standpunkt dahin rechnen, der ihn gelegentlich
(wie die Äußerung über die gallikanischen Freiheiten S. 39
Ober die Schrift von K. Höde, Die sächsischen Rolande, Beiträge
aus Zerbster Quellen zur Erkenntnis der Gerichtswahrzeichen
(Zerbst 1906), s. Kampers a. a. O. und Deutsche Literaturzeitung
1906, Nr. 45, Sp. 2844.
624 Literaturbericht.
zeigt) zu wenig geschmackvollen Vergleichen verleitet. Zu
den verdienstlichsten und ertragreichsten Partien gehört ohne
Zweifel die Erörterung der Streitfrage, ob Dietrich als Ver-
fasser der vielbehandelten Reformtraktate anzusehen sei. M.
sichert Dietrichs Anspruch auf die Schrift ^De necessUaie^y
indem er die Kette der Beweise um ein neues Glied noch
verstärkt, stellt aber anderseits seine Autorschaft für die beiden
zusammengehörigen Traktate „De modis*" und „De di/flculiate"
entschieden in Abrede, wobei hauptsächlich innere Gründe
ins Feld geführt werden. Wenn nun auch hier, trotz der
zuversichtlichen Äußerungen M.s, das letzte Wort wohl noch
nicht gesprochen ist, wenn insbesondere seine Behauptung,
daß Dietrich auf dem Konstanzer Konzil keine irgendwie er-
hebliche Rolle gespielt habe, begründetem Zweifel begegnen
dürfte (vgl. letzthin noch Göller in der Römischen Quartal-
^schrift Bd. 20, Heft 4) : eine dankenswerte Förderung bedeuten
gleichwohl gerade diese Untersuchungen auf jeden Fall.
Der im zweiten Teil folgende Abdruck der Fragmente
beschränkt sich nicht auf das neu hinzutretende, durchweg
das Zeitalter Karis des Großen behandelnde Material, sondern
^ibt auch die schon von Sauerland veröffentlichten Stücke
nochmals mit mannigfachen Verbesserungen wieder, da die
^wei Menschenalter früher liegende Leidener Handschrift sich
als viel zuverlässiger erweist als der von jenem seinerzeit
benutzte Wiener Codex. Um die Herstellung eines einwand-
freien, durch zahlreiche Anmerkungen erläuterten Textes und
den Nachweis der Quellen, die der Chronik zugrunde liegen,
hat M. mit anerkennenswertem Fleiß sich bemüht.
Straßburg i. E. Hans Kaiser.
Francesco Guicciardinis politische Theorien in seinen Opere in-
edite. Von Max Barkhausen. (Heidelberger Abhandlungen
zur mittleren und neueren Geschichte, herausgegeben von
Kari Hampe, Erich Marcks und Dietrich Schäfer. 22. Heft.)
Heidelberg, Carl Winters Universitätsbuchhandlung. 1908.
117 S.
Erst seitdem Guicciardinis „Opere inediie*' publiziert
worden sind, wissen wir, daß es neben dem Historiker auch
einen bedeutenden politischen Denker und Theoretiker Guic-
16. Jahrhundert. 625
ciardini gegeben hat, dessen Ansichten an sich nicht minder
interessant sind, als dadurch, daß sie sich, trotz mancher
Ähnlichkeit in der Grundanschauung, vielfach zu den Theorien
Machiavellis in einen bewußten Gegensatz stellen. Die Be-
deutung der neu entdeckten Schriften wurde von Anfang an
allgemein erkannt. Trotzdem sind sie noch nie in einer
besondem Abhandlung in genügender Weise behandelt worden:
auch Villari, der sie am besten charakterisiert hat, betont, der
Natur seines Werkes entsprechend, vor allem die ZWge, die
Guicciardini von Machiavelli unterscheiden, und gibt deshalb
von dessen politischer Denkweise kein ganz richtiges Bild.
Eine tüchtige Heidelberger Dissertation hat nun diese Lücke
ausgefüllt. Der Vf., Max Barkhausen, hat sein Thema in sehr
nützlicher Weise begrenzt. Er schloß die nSioria d'Italia''
und Guicciardinis Ansichten über die auswärtige Politik von
seiner Darstellung aus und untersuchte bloß Guicciardinis
Stellung zu den florentinischen Verfassungskämpfen. Im
Mittelpunkt der Abhandlung steht daher der ausführlich ana-
lysierte Dialog über die Verfassung von Florenz; neben diesem
werden hauptsächlich das ^Discorso di Logrogno^ genannte
Verfassungsprojekt des Jahres 1512, die „Ricordi^ und die
Betrachtungen über Machiavellis „Discorsi'' besprochen. Das
Buch ist das Ergebnis einer fleißigen Arbeit. Der Vf. hat die
Quellen gründlich studiert und sein Urteil langsam reifen
lassen ; die besprochenen Schriften werden klar resümiert und
die wesentlichen Punkte meist richtig hervorgehoben; auch
über die gar nicht leicht zu charakterisierende „Siorla fioren-
tina'' enthält die Schrift recht brauchbare Bemerkungen. Mit
Recht betont B., daß Guicciardinis starke aristokratische
Grundanschauung von Anfang an auf seine politischen Theorien
von entscheidendem Einfluß gewesen ist, und kommt auf
diesen Punkt, den er vor allem mit der Abstammung Guic-
ciardinis in Verbindung bringt, immer wieder zurück. Ein-
zelnes ist wohl anders zu fassen. Wenn B. einmal meint, für
Guicciardini sei im Grunde doch immer die Frage entscheidend :
«Wie komme ich als Individuum im Staate zu meinem Recht?'',
während bei Machiavelli die Stellung des Individuums im
Staate eine sehr geringe Rolle spiele, so übersieht er dabei,
daß das Problem bei beiden Denkern nicht dasselbe ist.
626 Literaturbericht.
Machiavelli untersucht, wie man am besten einen Staat,
speziell den italienischen Einheitsstaat, der den auswärtigen
Großmächten die Stange halten würde, gründen und behaupten
könne; Guicciardini fragt, welche Verfassung für einen bereits
bestehenden Staat (Florenz) die beste sei. Daher hat sich
Machiavelli zunächst nicht um die Rechte des Individuums
zu kümmern, und seine Bedeutung beruht zu einem großen
Teile gerade darauf, daß er den Zusammenhang der italie-
nischen, speziell der florentinischen kommunalen Verfassungs-
probleme mit der internationalen Inferiorität Italiens erkannte
und deshalb vor allem eine Stärkung gegenüber dem Auslande,
u. a. eine Reform der Heeresverfassungen, empfahl. Daß
Guicciardini diese eigentliche Ursache der neuen mediceischen
fierrschaft in Florenz, nämlich die Abhängigkeit der Stadt von
den auswärtigen Großmächten, nicht entdeckte und die Neu-
ordnung des florentinischen Staates immer noch als eine ganz
interne Sache behandelte, während doch das Ausland hier bereits
das entscheidende Wort zu sprechen hatte, daß er überhaupt,
wie B. selbst an einer andern Stelle bemerkt, ,den tief inner-
lichen Zusammenhang zwischen Heeresverfassung und Staats-
verfassung nicht empfand*", ist die eigentliche Differenz von
Machiavelli, die mehr ins Gewicht fällt als sein allerdings
starker Egoismus. Wie es auf der andern Seite für seine allen
phantastischen Plänen abholde Natur bezeichnend ist, daß er
Machiavellis utopische Hoffnungen, die Italiener könnten in
wenigen Jahren die Entwicklung zum Einheitsstaat nachholen,
zu der Spanien und Frankreich Jahrhunderte gebraucht hatten,
nie ernsthaft erörtert hat. Einer jetzt weitverbreiteten Ge-
wohnheit nachgebend, hat dann B. wohl auch allzuvieles auf
die Renaissance zurückgeführt, was in persönlichen Verhält-
nissen oder Anlagen seinen Grund hatte.
Die Literatur, die dem Verfasser für seine Zwecke allerdings
nicht viel bot, ist vollständig herangezogen und richtig chatrak-
terisiert. Nur Pittis r,Apologia dei Cappucci*" wird man un-
benutzt finden. Diese Schrift bringt uns allerdings zur Dar-
stellung der politischen Theorien Guicciardinis eigentlich nichts
Neues. Aber nirgends hat die Stimmung der Popolarehpartei
und ihr fanatischer, vielfach bornierter Haß gegen die Opti-
maten so lebendigen Ausdruck gefunden wie dort; erst sie
17. bis 19. Jahrhundert. 627
gibt für die Äußerungen Guicciardinis über das Volk und seine
Abneigung gegen das Popolarenregiment des richtige Ver-
ständnis.
Zürich. E, Fueter,
Erzieher des Preußischen Heeres. Herausgegeben von General-
leutnant z. D. Y. Pelet-Narbonne. Berlin, Behrs Verlag.
1905—1907.— I. Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst, von
G. V. Pelet-Narbonne. 2. König Friedrich Wilhelm I. und
Fürst Leopold zu Anhalt-Dessau von K. Linnebach, Leut-
nant. 3. Friedrich d. Gr. von W. v. Bremen, Oberstleutnant
z. D. 4. Yorck von W. v. Voß, General d. Infanterie z. D.
5. Schamhorst von Vr. v. Liegnitz, General d. Inf. z. D.
6. Gneisenau von R. Friederich, Oberstleutnant. 7. Glause-
witz von R. V. Caemmerer, Generalleutnant z. D. 8. Boyen
von F. V. d. Boeck, Generalleutnant z. D. 9. Prinz Fried-
rich Kari von W. Balck, Major. 10. II. Wilhelm I. und
Roon von W. v. Blume, General d. Inf. z. D. 12. Moltke
von demselben. Seiden: 1: 110, 2: 120, 3: 102, 4:97, 5: 100^
6: 132, 7: 123, 8: 112, 9: 100, 10/11: 295, 12: 127.
Der Herausgeber dieser Sammlung hat sich durch Ge-
winnung vieler auf militär- wissenschaftlichem Gebiete be-
währter Schriftsteller ein großes Verdienst erworben. Nur der
Verfasser des Bandes über Friedrich Wilhelm 1. war bisher
nicht bekannt, doch ist dessen Arbeit durchaus keine minder-
wertige. Ohne Ausnahme sind die Bücher zuverlässig und
unter Benutzung der besten Vorarbeiten geschrieben worden,
keins verfällt in den Fehler, ein Lobeshymnus zu sein. War
die Aufgabe gestellt, auf wissenschaftlicher Grundlage Volks-
tümlichkeit anzustreben, so ist auch dieses Ziel mehr oder
weniger erreicht, wenn man sich unter »Volk** gebildete Laien
denkt, die Spezialwerke zu lesen entweder keine Zeit oder
keine Gelegenheit haben.
Ich möchte den trefflichen Arbeiten gegenüber nicht in
einen schulmeisternden Ton fallen, sondern nur kurz deren
Art charakterisieren. An den beiden ersten Bändchen wird
unsere Wissenschaft nicht vorübergehen können, denn die
Biographie des Großen Kurfürsten von Pelet ist ein erster
gelungener Versuch, die militärischen Verdienste Friedrich
Wilhelms sowohl in Organisation wie auch in Kriegführung in
628 Literaturbericht.
knapper Form zusammenzufassen ; und die Arbeit Linnebachs
bringt von allen Bändchen am meisten der Allgemeinheit
bisher Unbekanntes über die beiden Organisatoren Friedrich
Wilhelm 1. und Leopold, das jedem von beiden zukommende
Verdienst gerecht abwägend. Dagegen standen Bremen vor-
zügliche Vorarbeiten über Friedrich d. Gr. zu geböte, die
er geschickt benutzt hat: er zeigt, wie der König dem
Heere die noch fehlende Kriegsschulung beibrachte und die
Offiziere anhielt, „aktiv und infatigable zu sein, sich loszu-
machen von aller Faulheit des Leibes und des Geistes*.
Auch die Lebensbeschreibungen der Helden der Freiheits-
kriege konnten sich meist auf berühmte Monographien stützen,
so daß nun der Vergleich interessant ist, was der einzelne
daraus gemacht hat. Vielleicht ließe sich fragen, ob Biographien
wie die Boyens in diese Sammlung gehören, jedenfalls scheint
mir, daß es den Autoren des Schamhorst und Boyen, was
„die zu erstrebende Volkstümlichkeit anbetrifft*, mit am schwer-
sten geworden ist. Das am flüssigsten und gewandtesten ge-
schriebene Bändchen der ganzen Serie ist unstreitig Fried-
richs Gneisenau. Ein sehr zutreffendes Lebensbild bietet
Caemmerer in seinem anregend geschriebenen Clausewitz.
Gewissermaßen zusammengehörig sind Yorck und Prinz Fried-
rich Karl als ausgezeichnete taktische Lehrmeister; mit Recht
widmen Voß und Balck den Instruktionen beider Generale einen
großen Raum. In dem Streit um die Konvention von Tau-
roggen steht Voß nicht auf Thiemes Seite.
Die Krone der Sammlung bilden die drei Schlußbände.
Deren Verfasser, General v. Blume, ein bekannter strategischer
Schriftsteller, hebt in seinem Leben des Kaiser geschickt die
springenden Punkte heraus; der Schwerpunkt liegt natur-
gemäßer Weise in den Kapiteln, die Wilhelms Einfluß auf die
Truppenausbildung, Erziehung des Offizierkorps, Armeeorgani-
sation behandeln, wobei denn auch Roons Leben und Haupt-
verdienst kurz und treffend geschildert wird. Nicht unerwähnt
möge bleiben, wie B. neben aller Anerkennung der unver-
gleichlichen Verdienste Wilhelms die aus dessen zu großem
Konservatismus in den taktischen Formen sich ergebenden nach-
teiligen Folgen im Kriege beurteilt und zeigt, wie diese Furcht
vor dem „Debandieren* der ganzen Schlachtlinie durch die
19. Jahrhundert. 629
Kriegserfahrungen im Kaiser noch verstärkt und dadurch
die Modernisierung des Infanterie-Exerzierreglements bis zu
seinem Tode aufgehalten wurde. — Wohl niemand war end-
lich besser zum Biographen Moltkes geeignet als dessen Bureau-
chef von 1870/1871. Mit großer Liebe und Sachkenntnis
scheint mir in diesem Schlußbändchen eine Musterleistung
geboten zu sein. Daraus möchte ich nur noch bemerken, daß
B. auch auf den bekannten Vergleich der Strategie Moltkes
mit der Napoleons eingeht; er sagt dabei, Moltkes vollendete
Objektivität hätte ihn nie einen Cromwell oder Napoleon
werden lassen.
Die Ausstattung der Bändchen mit den beigegebenen
Porträts und Faksimiles ist vorzüglich.
F, Frhr, v. Schrötter.
Osterreich von 1848 bis 1860. 2 Bde. 1. Bd.: Die Jahre der Revo-
lution und der Reform 1848—1851. Von Heinrich Fried-
Jung. 2. Aufl. Stuttgart und Beriin, Cotta. 1908. 512 S.
In diesem neuen Werke, von dem sofort eine zweite Auf-
lage nötig wurde, hat H. Friedjung unsere Kenntnis von der
Entwicklung Österreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert
nicht unerheblich bereichert. Durch neues Material, durch
glückliche Erläuterung und durch geschickte Bilder der maß-
gebenden Persönlichkeiten. Neues Material boten ihm in
reicher Fülle die Briefe und sonstigen hinteriassenen Papiere
des jugendlichen Demagogen Bach, der sich unter dem Ge-
wicht der Schicksale seines österreichischen Vaterlandes in
den Jahren 1848 und 1849 zu einem Mitgliede des Ministeriums
Schwarzenberg entwickeln konnte, das die Revolution nieder-
trat und die Reaktion heraufführte, der aber in dieser Stellung
wesentliche Forderungen der Zeit zu befriedigen wußte und
namentlich das mit dem Bauernbefreiungsgesetz vom 7. Sep-
tember 1848 begonnene Werk durch die Neugestaltung der
Gerichtsbehörden und der Verwaltung vollendete und sicherte»
Bach, Schwarzenberg, Stadion, die Kaiserin-Mutter Sophie
und zahlreiche andere einflußreiche Persönlichkeiten treten
uns scharf und teilweise in neuer Auffassung entgegen. Wir
glauben zu verstehen, wie groß ihr Anteil an den Ereignissen
war und welche Motive sie bewegten. Das kann ja immer
630 Literaturbericht
nur teilweise richtig sein; aber wir lassen uns durch die ge-
wandte, in glücklicher Knappheit vorschreitende Darstellung
Fr.s gern in die Vorstellung einwiegen, als sei es so gewesen.
Bei Bach möchte ich ihm ganz beitreten, bei Schwarzenberg
habe ich manches Bedenken. Überzeugend sind die Aus-
führungen über Ungarn und die Oktoberrevolution. Kossuths
Eitelkeit und seine demagogische Kraft, die zugleich seine
Schwäche war, trugen offenbar die Schuld, daß die Reform
in Revolution umschlug, die dann mit der blutigen Reaktion
endete, in der die Saat der heutigen Zersetzung Österreich-
Ungarns gesät wurde.
Besonders eingehend behandelt Fr. die agrarische Reform
und die anschließende Reform der Verwaltung, und mit
Recht. Denn hier liegt der wichtigste Fortschritt, ein un-
zweifelhaft segensreicher Ertrag der furchtbaren und dem
oberflächlichen Betrachter fruchtlos verlaufen scheinenden
Bewegung. Fr. vergleicht diese Agrarreform Österreichs mit
der preußischen und bemerkt richtig, daß die Agrarfrage in
der preußischen Nationalversammlung damals keine gleich
große Rolle spielte. Er sagt, sie habe keine „entscheidende*
Rolle gespielt (S. 364). Man darf dies Wort nur nicht so
verstehen, als sei die Beseitigung der durch die Stein-Harden-
bergische Gesetzgebung noch nicht beseitigten Rechte der
alten Unfreiheit und Gebundenheit der Bauern 1848 — 1850 in
Preußen nicht als eine wichtige Aufgabe angesehen. Gleich
im Beginn der Bewegung kam es dem Adel zum Bewußtsein,
daß er eilen müsse, sich der Privilegien zu entäußern,
deren Ungerechtigkeit allgemein anerkannt wurde. Einer der
vornehmsten Magnaten Schlesiens schrieb gleich in den Früh-
lingstagen des Jahres 1848 eine Flugschrift, welche die Ab-
schaffung der aus der alten Untertänigkeit herrührenden Lasten
forderte. Er legte zugleich in dieser Schrift den Adel ab,
indem er sich nannte: Hermann Hatzfeld, Besitzer des Fürsten-
tums Trachenberg. Das Gesetz betreffend die Ablösung der
Reallasten und die Regulierung der gutsherrlichbäuerlichen
Verhältnisse vom 2. März 1850 ist doch ein Produkt der Be-
wegung von 1848, und der Artikel 42 der Verfassung vom
31. Januar 1850, welcher die Gerichtsherrlichkeit, die guts-
herrliche Polizei und obrigkeitliche Gewalt sowie die gewissen
19. Jahrhundert. 631
Grundstücken zustehenden Hoheitsrechte und Privilegien ohne
Entschädigung aufhob, bildete mit den ausführenden Gesetzen
eine wesentliche Ergänzung der unvollendet gebliebenen Agrar-
reform von 1807 bis 1816.
Diese Erwägungen sollen nur ein Mißverständnis aus-
schließen, das sich an den vergleichenden Ausdruck Fr.s knüpfen
könnte. Es lag in der Tatsache, daß in Osterreich diese Re-
form seit Joseph 11. nicht weiter gefördert war, begründet, daß
sie sich nun mit ganz überwältigender Gewalt in den Vorder-
grund drängte. „In Osterreich nun,"" sagt Fr. S. 364, , dauerten
die früheren Verhältnisse bis 1848: Fronden und Dienste be-
standen so wie in den Tagen Josephs IL, ebenso aber auch
der Bauernschutz gegen Übergriffe der Herrschaft. Durch die
Revolution änderte sich das mit einem Schlage, die preußische
Gesetzgebung wurde um Kopfeslänge überholt, sowohl dadurch,
daß die Bedingungen der Ablösung für den Bauer günstiger
waren, und durch die zu diesem Zwecke gewährte namhafte
Staatshitfe.* Unter Berufung namentlich auf Knapps bekannte
Arbeiten schließt er dann S. 365: „So kommt es, daß die Ver-
teilung des Bodens zwischen dem großen, mittleren und
kleineren Grundbesitz in Osterreich gesünder ist als in den
preußischen Provinzen östlich der Elbe." Ich füge hinzu, daß
die Begünstigung der Fideikommisse und andere Verhältnisse
diese Zustände Jahr um Jahr verschlimmern und der Sozial-
demokratie auf dem Lande den Boden bereiten. Ganz be-
sonders verhängnisvoll wirken daneben noch in gleicher
Richtung die Pilz- und Beerengesetze und die anderen Forst-
gesetze aus dem Anfange der 80 er Jahre, die den am Acker
ausgebildeten Eigentumsbegriff auf den Waldbesitz übertragen
und die waldlosen Leute des Rechtes beraubt haben, sich im
Walde selbst zu ergehen und die Beere zu pflücken, die dort
wächst. Die Bewohner der Walddörfer wissen wohl, warum
sie nicht mehr auf der Scholle bleiben. Die großen Herren
haben sich um kleinen Gewinn einen großen Schaden erkauft,
und die Nation ist unberechenbar geschädigt. Unvergeßlich
ist mir ein Erlebnis aus einer Wirtsstube auf einem viel-
begangenen Passe des Riesengebirges. Wie eine Furie erhob
sich die Wirtin und erfüllte das Haus mit lauten Klagen über
die Rechtslosigkeit, in die das Volk durch diese Gesetzgebung
632 Literaturbericht.
hinabgestoßen sei. Es kostete Mühe, ihr begreiflich zu machen,
daß der Förster gezwungen sei, die neuen Gesetze auszuführen,
und ich hatte den Eindruck, daß diese Vorschriften, die auf
dem Papier leidlich unschuldig aussehen, tatsächlich aber große
Kreise des Volkes einer leicht auszudehnenden Willkür aus-
liefern, die bäuerlichen Verhältnisse, vor allem die ^Leutenot",
empfindlich verschärft haben.
Breslau. G. Kaufmann.
Frankfurter Patriziervermögen im 16. Jahrhundert. Von F. Bothe.
(2. Erg.-Heft des Arch. f. Kulturgesch.) Berlin, Duncker. 1908.
Der Vf., schon durch eine Reihe von Arbeiten über die
Frankfurter Wirtschaftsgeschichte bekannt, bietet uns hier
das Inventar Claus Stalburgs (f 1524), dessen Stellung im
Frankfurter Wirtschaftsleben er im ersten Abschnitt erläutert
Der Venediger Handel führte neben der Landwirtschaft (Holz-
hausen) und dem Handwerk (Jacob Heller) zur Bildung großer
Vermögen. Stalburgs Vermögen erweiterte sich zudem durch
Zusammenschmelzen von Familien. Nach der Berechnung
von 1484 versteuerte er 20364 fl., Daniel Bromm 21 379 fl.,
Wolf Blume 1488 21600fl. Für 1524 glaubt der Vf. Stal-
burgs Vermögen auf 50 — 60000 fl. schätzen zu können, inter-
essant ist dabei der starke Besitz an Edelmetall und Pretiosen.
Auch in Venedig finden wir diese Form der Schatzbildung,
die in Zeiten der Not, z. B. in dem Kriege von Chioggia, von
Bedeutung wurde. Ferner fällt auf die stattliche Anzahl von
kostbarem und künstlerischem Hausgerät. Das Bildnis Stal-
burgs und seiner Frau und der Abdruck einer Kuchenform
sind beigegeben.
Im zweiten Abschnitt wird uns über Hans Bromms V^er-
mögen berichtet, der durch den Mansfelder Kupferhandel seit
1554 sich und seine Vaterstadt in schwere Schulden stürzte.
Zum Vergleich wird uns dann noch das Vermögen des Diel-
händlers Hans Schilling erläutert, der 1567 auf 1200 fl. ein-
geschätzt wurde. Zum Schluß gibt der Vf. eine Tabelle der
Frankfurter Steuerzahler von 1567, die den scharfen sozialen
Gegensatz zwischen den 88 Zensiten mit einem Besitz von
über 6000 fl. und der übrigen Bevölkerung hervortreten läßt
Zürich. Heinr. Sieveking.
Notizen und Nachrichten.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, welche sie an dieser
Stelle berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion.
Allgemeines.
Das 1. Heft des 1. Jahrgangs der Mitteilungen des
Gesamtvereins der deutschen Juden, herausgegeben
von Dr. E. Täubler (Leipzig, Fock), unterrichtet über die Auf-
gaben der Mitteilungen und die des Gesamtarchivs selbst. Dieses
Archiv soll die für die laufende Geschäftsführung nicht benötigten
Urkunden und Akten aller jüdischen Gemeinden, Vereine und
Stiftungen im Deutschen Reiche in sich schließen und sie wissen-
schaftlicher und administrativer Benutzung zugänglich machen.
Gegen 200 Gemeinden haben ihre Akten bereits in dem Archiv
(Berlin W., Lützowstraße 15) deponiert. Aus der Zeit vor dem
17. Jahrhundert sind in den Gemeindearchiven nur wenige Stücke
erhalten. Die systematische Durchforschung der staatHchen,
städtischen und anderer Archive soll die notwendige Ergänzung
bieten ; ein Regestenkatalog aller Urkunden, die jüdische Verhält-
nisse berühren, ist begonnen worden, ein Handschriftenkatalog
soll folgen. Die „Mitteilungen'^ (sie erscheinen Ende Mai und
Ende Dezember) sollen u. a. Inventare über die Bestände der
Archive und eine Bibliographie zur Geschichte der Juden in
Deutschland bringen. Das vorHegende 1. Heft bietet das Akten-
inventar der Synagogengemeinde Landsberg a. W.
Das 3. Heft der Mitteilungen der Zentralstelle für
deutsche Personen- undFamiliengeschichte (Leipzig,
Breitkopf « Härtel. 1908. 90 S. 2 M.) enthält neben Berichten
Historische Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge 5. Bd. 41
634 Notizen und Nachrichten.
über Versammlungen (u. a. A. T i 11 e s Bericht über die genea-
logischen Verhandlungen auf der Tagung des Gesamtvereins in
Mannheim, September 1907) und kleineren Mitteilungen den Ab-
druck von drei Vorträgen. A. van den Velden (Weimar)
handelt kurz Über „Ahnentafeln einst und jetzt" und dringt nach-
drücklich auf die Förderung der Pflege und des Verständnisses
der Ahnentafeln. Eine Ahnentafel des väterlichen Großvaters
Moltkes, die v. d. Velden unter Benutzung des von Grotefend
gesammelten Materials als Wandteppich gemalt hat, ist in far-
biger Abbildung beigegeben. — Stephan Kekule von Stra-
donitz unternimmt Streifzüge „durch die neuere medizinisch-
genealogische Literatur''. Er berücksichtigt besonders die deutsche
Literatur und fügt einige kritische Bemerkungen hinzu. Dem
Eifer, den er auf „die alte Forderung nach Lehrstühlen für Genea-
logie an den Hochschulen" verwendet, entspricht seine Erregung
über die „Zunfthistoriker", die diese Forderung ablehnen und so
nach der Meinung des Veriassers zeigen, daß sie von den Auf-
gaben, die jetzt an die „Genealogie als Wissenschaft" heran-
getreten sind, „keine Ahnung" haben. — Ed. Heydenreichs
Vortrag „Das Recht der Wappenführung" will darauf hinwirken,
daß auch die Bürgerlichen sich ihres Wappenrechtes eifriger be-
dienen.
Von der im Verlage der Münchener Allgemeinen Verlags-
gesellschaft erscheinenden und auf vier Bände berechneten Illu-
strierten Weltgeschichte liegen, von S. Widmann be-
arbeitet, die beiden letzten Bände vor, die die Zeit von der
Reformation bis an den Vorabend der französischen Revolution
und von da bis herab auf die jüngste Gegenwart behandeln.
Obwohl der Veriasser nirgends seinen katholischen Standpunkt
verleugnet, ist er doch sichtlich bemüht, auch den Gegnern ge-
recht zu werden. Insofern mag das Werk, als für größere Kreise
katholischer Leser bestimmt, seinen Platz ausfüllen. Eine wissen-
schaftliche Bedeutung kommt ihm dagegen nicht zu. Es dringt
nirgends in die Tiefe, sondern beschränkt sich im wesentlichen
darauf, den äußeren Verlauf der Geschehnisse zu geben, ohne
ihre innere Verknüpfung zur Klarheit zu bringen. Rühmend her-
vorzuheben ist die äußere Ausstattung mit Reproduktionen zeit-
genössischer Bilder, Faksimiles u. dgl., die den Vergleich mit
dem, was in ähnlichen Werken geboten wird, voll aushält.
W. Struck,
Franz Oppenheimers Aufsatz „Moderne Geschichts-
philosophie" (Vierteljahrschr. f. wiss. Philos. 32, 2) betrachtet die
Allgemeines. 635
neuen Versuche einer universalen Geschichtsanschauung und be-
spricht eingehender H. Schneiders Entwicklungsgeschichte der
Menschheit Bd. 1 (Kultur und Denken der alten Ägypter) sowie
K. Breysigs Geschichte der Menschheit Bd. 1 (Die Amerikaner
des Nordwestens und des Nordens). Oppenheimer kritisiert
Schneiders, von Lamprecht übernommenes „ordnendes Prinzip*
der gesetzmäßigen Entwicklungsstufen mit denselben Argumenten,
die er früher bereits gegen Lamprecht vorgebracht hat; er weist
auf die methodische Gefahr hin, die in der Übertragung eines
bereits für die Geschichte eines Volkes unrichtigen Satzes auf
die Geschichte der Menschheit liegt : es ist der Sieg des Schemas
über tieferes Verstehen. Ebenso richtet Oppenheim seine Kritik
gegen Breysigs «morphologische'^ Methode. Grundsätzlich betont
Oppenheim jedoch, daß er das allgemeine Ziel Lamprechts wie
Breysigs, das Streben nach einer neuen universalen Auffassung,
für richtig halte. Der Schluß des Aufsatzes ist eine Besprechung
des Buches von Brooks-Adams, Das Gesetz der Zivilisation und
des Verfalls.
Milliouds „Essai sur l'histoire des idäes' (Rev, philos.
1908, Nr. 2) sucht festzustellen, wie sich Ideen im Geiste des ein-
zelnen festsetzen und wie sie von einem Menschen zum anderen
weiterwandern. Millioud gewinnt eine Reihe von Kategorien der
Ideen, aber nicht aus ihrem eigenen abstrakten Dasein, sondern
aus dem geistigen Zustande der sie aufnehmenden Menschen
(formes de riductiorty d*acHon d'^vanescence, forme personelle ^
forme fictive) als Beispiel sei erwähnt, daß unter der forme de
r^ducHon verstanden ist: die Reduktion des ursprünglichen Ge-
haltes der Idee infolge ihrer Aufnahme durch viele. Millioud
will nichts Abschließendes bieten ; sein Weg erscheint methodisch
richtig.
„Ober den Begriff des Naturgesetzes'^ handelt P. Rohland
in der Deutschen Revue (1908, Mai) mit jener Zurückhaltung, die
jetzt bei Naturforschern keine seltene Erscheinung mehr ist.
Indem er im Naturgesetz nichts anders als konstante oder regel-
mäßige Naturerscheinungen sieht, fordert er für die ursprüng-
lichen Energien, die bei physiologischen Vorgängen auftreten,
philosophische Erklärung.
Über die Möglichkeiten der Hebung der Rasse berichtet
Jankelevitch in der Rev, de Synth, hist, 16, 1 {,Assistance sociale
ou s^lection naturelle t*).
Rieh. Lasch, Das Fortleben geschichtlicher Ereignisse in
der Tradition der Naturvölker (Globus 93, 18) sucht zu beweisen,
41*
636 Notizen und Nachrichten.
daß nicht nur im Mythus der Naturvölker geschichtliche Tat-
sachen weiterleben, sondern daß auch direkte Erinnerungen an
geschichtliche Ereignisse vergangener Jahrhunderte vorhanden
sind, die in mündlicher Oberlieferung weitergegeben werden.
Im Globus 93, 17 findet sich unter dem Titel „Die ältesten
Spuren des Menschen in Nordamerika'' eine Anzeige der Arbeit
des amerikanischen Anthropologen Hrdlil^ka, dessen Ergebnisse
lauten; Amerika ist erst durch Einwanderung von den anderen
Weltteilen aus besiedelt worden, denn die bisher gefundenen
ältesten Menschenspuren in Amerika führen in eine Zeit lange
nach der Entstehung des Menschengeschlechts; die 14 ältesten
Funde zeigen „durchweg die größte Ähnlichkeit, wenn nicht Iden-
tität mit jenen der heutigen Indianer**.
Ad. Harnacks Aufsatz über „Das Urchristentum und die
sozialen Fragen'' (Preuß. Jahrb. 131) ist eine zustimmende Be-
sprechung von Ernst Troeltschs Aufsatz „Die Soziallehren der
christüchen Kirchen" I, im Arch. f. Sozialwissenschaft.
Von Troeltschs wichtigem Aufsatz „Die Soziallehren der
christüchen Kirchen" bringt das 2. Heft des 26. Bandes des
Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik die Fortsetzung,
die sich mit Paulus beschäftigt, das 3. Heft den Abschnitt über
die Zeit des Frühkatholizismus.
Bornhaks Aufsatz „Die weltgeschichtliche Entwicklung
des Konstitutionalismus" (Internat. Wochenschr. II, 14) verfolgt die
Abwandlung des germanischen Staatsideals von Imperium et
Ubertas, des monarchischen Absolutismus und der Volkssouve-
ränität sowie ihrer Verbindung im modernen Veriassungsleben.
In den „Staatsrechtüchen Abhandlungen, Festgabe für Paul
Laband" hat Walther Schücking eine historisch-politische
Studie über die „Organisation der Welt" veröffentlicht, die auch als
Sonderschrift (Tübingen, Mohr. S. 535 — 614. 2,80 M.) erschienen
ist. Er hält die modernen Weltfriedensbestrebungen für eine
große, ernste, zukunftsreiche Sache und mustert von diesem Ge-
sichtspunkte aus alle früheren Pläne und Ideen einer internatio-
nalen Staatenorganisation. Beinahe wird seine Skizze zu einem
Abrisse der Weltgeschichte, in dem nun diejenigen Perioden,^
die den Sondertrieb der einzelnen Nationen und Staaten aufs
kräftigste entwickelt haben, in tiefen Schatten getaucht erscheinen
als „Zeitalter der Desorganisation". Es ist ja immer interessant,
einmal auch mit solchen Wertmaßstäben die Geschichte gemessen
zu sehen. Geschähe es mit mehr Geist und weniger Monotonie
als hier, so würde es noch interessanter sein.
Allgemeines. 637
Grabowsky, Recht und Staat. Ein Versuch zur Allge-
meinen Rechts- und Staatslehre (Berlin und Leipzig, Walter
Rothschild. 1908. 92 S.) behandelt, ohne Neues zu bringen die
zwei Fragen: 1. Gibt es positives Recht außerhalb des Staates?
(verneint). 2. In welchem Verhältnis steht das Recht zur Ge-
rechtigkeit? Antwort: Es gibt keine absolute Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit ist Beförderung der Sicherheit. Rehm,
L. Rdau, L'origine et la signification des noms giogra-
phiquea (Rev. de Synth, hist. 16, 2) erörtert mit Verwendung be-
kannten Materials die Bedeutung europäischer Städtenamen.
Die Bedeutung des Studiums der Handzeichnungen für
Kunstgeschichte und allgemeine Geschichte erörtert P. Marcel
in der Rev. de Synth, hist. 16, I („U^tude des dessins dans l'hi-
stoire de l'art franpais'').
In der Wochenschrift ,// Marzocco" anno XIII, n. 15 (1908,
April 12) wird ein Vortrag von R. Davidsohn zum Abdruck
gebracht, der sich über die Bedeutung der geistlichen, städtischen
und Familienarchive Toskanas verbreitet, für leichtere Zugäng-
lichkeit bzw. bessere Bewahrung eintritt und vor allem die Auf-
merksamkeit auf das Archiv der florentinischen Inquisition lenkt»
über dessen Schicksal ein geheimnisvolles Dunkel zu lagern
scheint. — Wir machen im Anschluß daran noch auf den kleinen
Aufsatz von L. Zdekauer: Süll* ordimento degli archivi mit
seiner summarischen Obersicht über den Inhalt einzelner kleinerer
Archive aufmerksam (Atti e memorie delle r, deputazione di storia
patria per le provincie delle Mar che N. S. 4, 4).
Guide to the materials for the history of the United States
in Spanish archives (Simancas, the Archivo Historico National,
and Seville) hy William R. Shepherd. Washington, Carnegie
instUution. 1907. 107 S. — Die Arbeit ist als praktisches Hand-
buch gedacht, und so darf man auch an ihre geschichtlichen
Teile nicht allzu hohe Maßstäbe anlegen. Wer in spanischen
Archiven gearbeitet hat und die Schwierigkeiten kennt, mit denen
eine gründliche Nachforschung in denselben verknüpft ist, der
wird die Urteile des Verfassers eher zu milde als zu streng finden.
Auffallend ist, daß der Verfasser das Archiv der R. Academia de
la Historia mit Stillschweigen übergeht, obwohl dasselbe gerade
für die amerikanistische Forschung ziemlich viel kostbares Mate-
rial — ich verweise nur auf die Colleccion MuTioz — enthält.
Haebler.
Die Handschriften der öffentlichen Bibliothek der Univer-
sität Basel. Erste Abteilung. A. u. d. T.: Die deutschen
638 Notizen und Nachrichten.
Handschriften der öffentlichten Bibliothek der Universität Basel.
Beschrieben von Dr. Gust. B i n z , Bibliothekar und ao. Professor.
1. Bd.: Die Handschriften der Abteilung A. Basel 1907. (Verlag
von C. Beck, Leipzig.) XI u. 437 S. — Die in diesem ersten Bande
des Baseler Handschriftenverzeichnisses beschriebenen Hand-
schriften enthalten keineswegs ausschließlich oder auch nur vor-
wiegend Stücke in deutscher Sprache. Die Baseler Universitäts-
bibliothek eröffnet vielmehr mit dem vorliegenden Bande die
Beschreibung derjenigen Bestände ihrer Handschriftensammlung,
die für das von der Berliner Akademie geplante Generalinventar
der deutschen Handschriften in Betracht kommen. Nach dem
Plane der Akademie sollen aber für jenes Inventar außer den
Handschriften in deutscher Sprache auch alle mittel- und neu-
lateinischen Handschriften berücksichtigt werden, sofern sie lite-
rarische Erzeugnisse von ästhetischer Aussprache enthalten. Der
vorliegende erste Band behandelt die ,,deutschen'' Handschriften
der Abteilung A, welche die Baseler Papierhandschriften theolo-
gischen Inhalts umfaßt. Es verstand sich von selbst, daß bei
den zahlreichen Sammelbänden eine Unterscheidung zwischen
„deutschen* und „nichtdeutschen'' Stücken hinsichtlich der Aus-
führlichkeit der Beschreibung nicht gemacht wurde. Der Be-
arbeiter des ersten Bandes, Gustav Binz, hat sich seiner Auf-
gabe mit großer Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit gewidmet
und mit der Bestimmung der zahlreichen ohne Nennung des Ver-
fassers überlieferten Stücke ein sehr vielseitiges Wissen bekundet.
Auch das Register ist mit großer Sorgfalt aufgestellt Möchten
wir bald über das Erscheinen eines neuen Bandes des Baseler
Handschriftenkatalogs zu berichten haben! H, H,
Neue Bficher: Fournier, Historische Studien und Skizzen.
2. Reihe. (Wien, Braumüller. 6M.)— Breysig, Wolters,
Vallentin, Andreae, Grundrisse und Bausteine zur Staats-
und Geschichtslehre. (Berlin, Bondi. 4,50 M.) — BougU,
Qu'est'Ce que la sociologief (PariSy Alcan, 2,50 fr,) — Bimmel,
Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesell-
schaftung. (Leipzig, Duncker 6 Humblot. 12 M.) — Tarde, Die
sozialen Gesetze. Skizze zu einer Soziologie. Deutsch von Hans
Hammer. (Leipzig, Klinkhardt. 3 M.) — Vierkandt, Die Stetig-
keit im Kulturwandel. Eine soziologische Studie. (Leipzig,
Duncker Ä Humblot. 5M.) — Haensell, Die fließenden Wasser
des Höhenlandes und ihre urgeschichtlichen Anwohner in Sage
und Mythos. Ein Beitrag zur Lehre von der Entstehung und
Verwandtschaft der Völker. (Beriin, Reimer. 3M.) — Leßmann
Aufgaben und Ziele der vergleichenden Mythenforschung. (Leip-
Alte Geschichte. 639
zig, Hinrichs. 2 M.) — Dewe, Medieval and modern history:
its formative causes and hroad movements, (London, Owen. 10 sh.)
— Manfroni, Storia deU'Olanda. (Milano, Hoepli. 7^50 Lire.)
— Cowan, The royal house of Stuart, from its origin to the
accession of the house of Manöver. 2 vols. (London, Greening.
42 sh.) — Barroux , Essai de bibliographie critique des gini-
ralitis de Vhistoire de Paris. (Paris, Champion.) — Molmenti,
La storia di Venezia nella vita privata dalle origini alla caduta
della repubblica. Quarta edizione interamente rifatta. Parte III
(II decadimento). (Bergamo, Istituto italiano d'arti grafiche.
25 Lire.) — Mezzacapo, Storia dei Porto ghesi. Vol.I. (Napoli,
Pierro e figlio. 6 Lire.) — Elliot, Chile, itc history and deve-
lopment. (London, Unwin. 10,6 sh.) — Steffens, Lateinische
Paläographie. 2., verm. Aufl. 2. Abtlg. (Trier, Schaar ^ Dathe.
20 M.) — Padiglione, Motti degli ordini cavallereschi, delle
medaglie e croci decorative di tutto il mondo e di tutti i tempi.
(Napoli, Tip. Giannini.)
Alte Geschichte.
Eduard Meyer, Ägypten zur Zeit der Pyramidenerbauer.
(Sendschriften der Deutschen Orient-Gesellschaft, Nr. 5.) Leipzig,
1908. 1,50 M. — Die kleine, reich illustrierte Schrift enthält den
Vortrag, den Ed. Meyer am 12. Januar d. J. in der Deutschen Orient-
Gesellschaft gehalten hat. Das Thema war für diesen Kreis be-
sonders glücklich gewählt, denn die Kenntnis der Kultur des
Pharaonenreiches zur Zeit der Pyramidenerbauer ist gerade durch
die Ausgrabungen wesentlich vertieft und erweitert worden, welche
jene Gesellschaft in den letzten Jahren unter der Leitung Ludwig
Borchardts auf dem Pyramidenfelde von Abusir (südlich von
Kairo) ermöglicht hat. So ist diese „Sendschrift", in welcher
neben dem ältesten Ägypten der ersten Dynastien das sog. „alte
Reich" (um 2900—2500 v.Chr.) geschildert wird, besonders ge-
eignety auch weitere Kreise mit den wichtigen Ergebnissen der
deutschen Ausgrabungen in Ägypten bekannt zu machen. Be-
sonders glücklich ist offenbar die letzte Kampagne gewesen. Sie
hat das Material zu der Vermutung geliefert, „daß die Ägypter
aus einem libyschen Stamm hervorgegangen sind, der in das
Niltal eindrang und sich hier aus Jägern und viehzüchtenden
Nomaden in ein Volk seßhafter Bauern umgewandelt hat". Die
Darstellung einer Expedition in das Libanongebiet in dieser frühen
Epoche, die wir uns bis vor kurzem noch ganz außerhalb des
Weltverkehrs dachten, ist selbst für den durch die Funde des
640 Notizen und Nachrichten.
letzten Jahrzehnts verwöhnten Agyptologen ein wissenschaftliches
Ereignis. W, Spiegelberg.
In einem längeren Aufsatz sucht E. Aßmann: Zur Vor-
geschichte von Kreta den Satz zu beweisen, daß Alt-Kreta ohne
Semiten genau so undenkbar und unverständlich sei wie das
Rheinland ohne Römer, der gewiß bald Widerspruch finden wird
(Philologus 67, 2).
In der Mnemosyne 36, 3 handelt eingehend j. M.j. V aleton
de inscriptione LygdamensL
Im Hermes 43, 3 sucht U. Wilcken dem Theompomp als
Verfasser die von Grenfell-Hunt herausgegebenen Hellenika-
Bruchstücke zuzuschreiben. H. Jacobsohn: Antium weist diese
Stadt als zur Tribus Camilia gehörig nach und P. Graffunder
bespricht eingehend und sachkundig die Steingewichte von Mar-
zabotto.
Die Hellenika von Oxyrhynchos, das neugefundene Historiker-
fragment aus den Jahren 3% und 395 v.Chr., wird von A. v. Meß
auf einen Athener, und zwar einen Aristokraten und Konserva-
tiven Athens, zurückgeführt und dann vermutungsweise dem Kra-
tippos, der diesem Kreise angehörte, zugeschrieben. So richtig
gewiß der 1. Teil der Abhandlung ist, so zweifelhaft bleibt doch
der 2., da Kratipp eben nicht viel mehr als ein bloßer Name für
uns ist (Rheinisches Museum 63, 3). Ebendort behandelt W. Ban-
nier: Die Beziehungen der ältesten attischen Obergabe- und Rech-
nungsurkunden zueinander und O. Seeck: Die Quinquennal-
feiern des Licinius.
Aus den Mitteilungen des Kaiserlich Deutschen Archäologi-
schen Instituts, Athenische Abteilung 1906, 1'2 notieren wir
C. Fredrich: Aus Philipp! und Umgebung; H. Lattermann:
Noch einmal zur Bauinschrift aus Athen (A. M. XXXI, 135);
C. Fredrich: Imbros; P. Groebe: Römi^he Ehreninschriften;
U. V. Wilamowitz-Moellendorff: Eleutherai; Th.Wiegand:
Inschriften aus der Levante; W. Dörpfeld: Olympia in prä-
historischer Zeit.
Fast das ganze Heft 8/10 des Bulletin de correspondance
helUnique füllt die Herausgabe und Besprechung der in Delos
gefundenen (1904) Inschriften durch L. Bizard und P. Roussel,
worunter viel Wertvolles ist.
In den Mämoires de l'Acad^mie des Inscriptions et Beiles-
lettres 38, 1 (1908) veröffentlicht R. Cagnat eine Arbeit, Les
deux camps de la l^gion llh Auguste ä Latnbkse d'aprks les
Alte Geschichte. 641
fouillea r^centea, welche reiche Aufschlüsse gibt und unentbehr-
lich ist fUr jeden, welcher mit römischem Militärwesen sich be-
schäftigt.
Wertvoll und reich an neuem Material ist der von P. Gauck-
] e r verfaßte Rapport sur des inscriptions latines difcouvertes en
Tunisie de 1900 ä 1905 (Archives, Nouvelles, des missions scienti-
fiques et littäraires 15,4). Ebendort (14,2) gibt A. Merlin einen
Rapport sur les inscriptions latines de la Tunisie ddcouvertes
depuis la publication du[suppUment du Corpus inscriptionum lati-
narum.
Aus den Comptes rendus de l'Acad^mie des Inscriptions et
BelleS'lettres 1908, März- April notieren wir: A. Merlin: Une in-
scription latine d/couverte ä Korbous (Tunisie); M. Holleaux:
Rapport sur les travaux ex/cut/s dans l'tle de D/los par l'icole
franpaise d' Äthanes pendant Vannie 1907 ; J. Maurice: La vira-
citi historique de Lactance; Gh. Diehl: Note sur deux inscrip-
tions Byzantines d'^phkse; J. B. Mispoulet: Diocises et ateliers
monätaires de rempire Romain sous le rigne de DiocUtien.
In den Mälanges d'arcMologie et d'histoire 28, 1/2 veröffent-
licht F. G. De Pacht er e eine Arbeit: Salluste et la dicouverte
du Danube, ohne das interessante Problem aber wesentlich zu
fördern.
Eine treffliche Obersicht bietet Gh. Ldcrivain: Antiquit^s
latines, Publications itrangkres 1902—1907 in der Revue histo-
rique 1908.
Im Journal of hellenic studies 28, 1 finden sich einige gute
Arbeiten, welche hierher gehören G. H. Dodd: The Samians at
Zancle-Messana ; G. B. Grundy: The population and policy of
Sparta in the fifth Century; R. M. Burrows: Pylos and Sphac-
teria.
Aus The American Journal of Philology 29, 2 notieren wir
G. Showerman: The ancient religions in universal history und
E. B. van De man: Notes on a few Vestal inscriptions.
Im American Journal of Archaeology 12 (1908), 1/2 behandelt
ausführlich W. B. Dinsmoor das Mausoleum von Halikarnaß,
und G. N. Oleott veröffentlicht Unpublished latin insriptions.
Die Atti della r, Accademia delle scienze di Torino Vol. 43,
2—7 (1907/08) bringen Arbeiten von U. Mago: La regina An-
tiochide di Cappadocia e la cronaca degli Ariaratidi, der geneigt
ist, die cronaca regia, wie er den bei Diodor 31, 19 erhaltenen
Abriß der kappadokischen Königsgeschichte nennt, für ein von
642 Notizen und Nachrichten.
Ariarates V. beeinflußtes Produkt zu halten, was möglich scheint;
von G. de Sanctis: L'Attide di Androzione e an papiro di Oxy-
rhynchos, der den Verfasser des neugefundenen griechischen
Historikerfragments, mit dem Attidographen Androtion identifiziert,
was sehr wenig wahrscheinlich ist, da der Verfasser offenbar
einem anderen Kreise angehört, worin v. Meß (s. oben) sicher
recht hat; femer von Fr. Rossi: Delle dottrine religiöse dell*an-
tico Egitto und von L. Pareti: Ricerche sui Tolomei Eupatore
e Neo Filopatore,
Aus den Notizie degli scavi di antichitä 1907, 11'12— 1908, 1/2
notieren wir A. L. Milan i: Due depoaiti dell'etä di bronzo di
Campiglia d'Orcia frazione del Comune di Castiglione d'Orcia e
della funzione monetale deU'aes rüde nei necropoli deW Etruria ;
R. Paribeni: Leprignano. Iscrizioni latine; D. Vaglieri:
Morlupo, Scoperta di una tomba romana ; D. Vaglieri: Roma.
Nuove scoperte nella cittä e nel suburbio; D. Vaglieri: Pale-
strina, Scoperte varie di antichitä; V. Spinazzola: Reggio
Calabria. Di alcuni scavi e trovamenti nelle necropoli Reggine;
G. P a t r o n i : Brescia. Epigrafi latine ; J. Carcopino: Porto, II
Porto Claudio Ostiense secondo recenti tasti; P. Orsi: Relazione
preliminare solle scoperte archeologiche avvenute nel sud-est della
Sicilia nel biennio 1/2, 1905—1/2,1907; G. Patroni: Lovere.
Tombe romane con oggetti preziosi e suppellettile sepolcrale di
etä preromana e romana ; A. S o g 1 i a n o : Pompei. Relazione degli
scavi fatti dal decembre 1902 a tutto marzo 1905; G. E. Rizzo:
Torre del Padigliano, Rilievo Marmoreo di Antonianos di Afro-
disia rappresentante Antinoo-Silvano,
Aus der Numismatischen Zeitschrift N. F. Bd. 1 notieren wir
A. Maier: Die Silberprägung von Apollonia und Dyrrhachium;
W. Kubitschek: Der Denarfund aus der Gegend von Usküb
(Albanien) und: Die Zeitrechnung der Stadt Sinope; O. Vetter:
Valerianus junior und Saloninus; W. Kubitschek: Valerianus
der Jüngere und Saloninus und: Das Todesdatum des Kaisers
Decius; K. Regling: Nochmals die Söhne des Gallienus.
Auf A. V. Domaszewskis Aufsatz: Die politische Be-
deutung der Religion von Emesa sei nachdrücklich hingewiesen
(Archiv für Religionswissenschaft 11, 2/3).
Wegen ihrer Wichtigkeit und ihrer hervorragenden Resul-
tate sei hier auf die englischen Ausgrabungen in Palästina hin-
gewiesen, worüber P. Thomsen in den Mitteilungen und Nach-
richten des Deutschen Palästina -Vereins 1908, 4'5 Bericht er-
stattet. In diesen Zusammenhang gehört auch H. Thiersch:
Alte Geschichte. 643
Die neueren Ausgrabungen in Palästina im Archäologischen An-
zeiger 1908, 1.
Aus Revue des quesHons historlques 167 (I.Juli 1908) notieren
wir C. L. Fillion: Uexistence historique de Jäsus et le rationa-
lisme contemporain.
In The Expositor 1908, August behandelt B. D. Eerdmans
die Frage: Have the Hebrews beert Nomades f
Der neue (5.) Band der Oxyrhynchus-Papyri hat wie das oft
schon angeführte griechische Historikerfragment aus dem 4. Jahr-
hundert so auch ein neues Evangelienbruchstück uns gebracht,
das E. Preuschen übersetzt und gut erläutert hat (Zeitschrift
für neutestamentl. Wissenschaft und die Kunde des Urchristen-
tums 9, 1). Ebendort beginnt J. Chapman eine Reihe von Unter-
suchungen über the date of the Clementines.
Die Christenkatastrophe unter Nero ist nach ihren Quellen,
insbesondere nach Tacitus ann. XV, 44 von neuem untersucht
durch E. Theodor Klette, Lic. theol. Dr. phil. Pfarrer (Tübingen,
Mohr. 1907. VI u. 148 S.) — In dem Widerstreit der Meinungen
über Charakter und Motive der ersten Christenverfolgung, die
neuerdings besonders in Italien, eine ganze, zum Teil unheimlich
dickleibige Literatur hervorgerufen hat, sucht Klette einen festen
Boden zu gewinnen, indem er statt von dem in seinem präg-
nanten Stil so vieldeutigen Tacitusbericht auszugehen, erst auf
das genaueste alle anderen Quellen abhört mit dem Resultat,
daß Nero auf jüdische Umtriebe hin die Christen nicht als der
Brandstiftung schuldig, sondern eben als Christen und aller Greuel
verdächtig in grausamer Weise vor dem Volke hinopferte, das
darin eine Sühne des im Brande der Stadt sich offenbarenden
Götterzorns erblicken sollte. Erst Tacitus, der Nero als der Brand-
stiftung schuldig erscheinen lassen wollte, hat den Schein her-
vorgerufen, daß man abolendo rumori die Christen verhaftet habe.
Aber ihr Geständnis kann sich, so gewiß Tacitus das meinte doch
nicht auf Brandstiftung, sondern nur auf ihr Christsein bezogen
haben, zumal Tacitus selbst angibt, sie seien nicht der Brand-
stiftung, sondern nur eines odium generis humani überführt
worden. So schuf Nero (nicht erst Trajan) jenes besondere
„Christenrecht", über das sich die Apologeten beschweren, weil
es das Christsein als solches zum Delikt machte und jederzeit
die Handhabe zu Christenverfolgungen bot. Die sehr sorgfältige
Arbeit rückt durch genaue Anwendung der von Mommsen klar-
gelegten Strafprozeßordnung eine ganze Reihe von Überlieferungs-
tatsachen in neue Beleuchtung.
644 Notizen und Nachrichten.
Der 12. Band der „Mitteilungen des Russischen Archäologi-
schen Instituts zu Konstantinopel'' (in Kommission bei O. Har-
rassowitz, 48 M.) bringt aus der Hand des Direktors der Anstalt,
Th. Uspenskijs, die Publikation des illustrierten Oktateuch-
kodex in der Bibliothek des alten Serai zu Konstan-
tinopel. Die Leser dieses Blattes dürfte es besonders inter-
essieren, daß der Verfasser die Herkunft des Kodex aus dem von
Isaak Komnenos Porphyrogennetos , einem Bruder der Anna
Komnena, gegründeten Kloster zu Bera (jetzt Feredfik an der
Bahnlinie Adrianopel — Dedeagac) wahrscheinlich macht Dem-
nach würde die alte Vermutung vielleicht zu Recht bestehen, daß
Teile der Bibliothek der byzantinischen Kaiser in die Seraibiblio-
thek übergegangen seien. Der Inhalt des Bandes interessiert in
erster Linie die Kunsthistoriker, insofern in dem beigegebenen
Atlas die Miniaturen der Seraihandschrift nebst einer Auswahl von
Miniaturen aus den Oktateuchhandschriften von Vatopedi, Smyma
und Vatic. 747 in vorzüglichen Reproduktionen geboten werden.
Damit ist eine Grundlage für die von Strzygowski (Byz. Archiv
11, S. 114) geforderte vergleichende Behandlung der Bildtypen der
illustrierten Oktateuche geschaffen. Daneben hat der Band be-
sonderes Interesse für die Theologen, insofern in dem in russi-
scher Sprache geschriebenen Textbande die Bedeutung des Textes
der Handschrift für die Oberlieferung des Aristeasbriefes, des
Septuagintatextes, der Katenen und der Hexapla erörtert wird.
Das Schlußkapitel gibt eine erschöpfende Geschichte der Serai-
bibliothek und ein Verzeichnis der darin befindlichen griechi-
schen Handschriften. Ein Exkurs zum ersten Kapitel behandelt
die Geschichte und Topographie des oben genannten Klosters
der Theotokos Kosmosoteira zu Bera sowie die literarische Phy-
siognomie des Isaak Komnenos Porphyrogennetos, den man bis-
her mit dem Kaiser Isaak 1. Komnenos (vgl. Krumbacher, Byz.
Literaturgeschichte », S. 525—526) fälschlich zu identifizieren ver-
sucht hatte. £. Gerland.
Neue Bficher: Massey, Ancient Egypt, the light of the
World, 2 vols. (London, Unwin, 42 sh.) — Am^lineau, Pro-
Ugomknes ä Vitude de la religion e'gyptienne, Essai sur la mylho-
logie de V^gypte, (Paris, Leroux,) — Olmstead, Wesiern Asia
in the days of Sargon of Assyria 722—705 B. C. (New York, Holt
d Co, 1,25 Doli,) — Svoronos, Die Münzen der Ptolemäer.
4. Bd. Deutsche Obersetzung des 1. Bds., Beiträge von F. Huitsch,
K. Regling etc. Ergänzungen. Indices. (Athen, Beck 6 Barth.
28 M.) — Konr. Schmidt, Die Semiten als Träger der ältesten
Kultur Europas. (Gleiwitz, Neumanns Stadtbuchdr. 3,50 M.) —
Frühes Mittelalter. 645
Rothstein, Juden und Samaritaner. Eine kritische Studie zum
Buche Haggai und zur jüdischen Geschichte im ersten nachexi-
lischen Jahrhundert. (Leipzig, Hinrichs. 2 M.) — Inscriptiones
Graecfu, VoL IX. Inscriptiones Graeciae septentrionalis volumi-
nibus VII et VIII non comprehensae. Pars IL Inscriptiones Thes-
saliae. Ed. Otto Kern. (Berlin, Reimer. 49 M.) — Prinz,
Funde aus Naukratis. Beiträge zur Archäologie und Wirtschafts-
geschichte des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. Geb. (Leipzig, Die-
terich. 8,40 M.) — Pol lack. Der Majestätsgedanke im römi-
schen Recht. Eine Studie auf dem Gebiet des römischen Staats-
rechts. (Leipzig, Veit 6 Co. 6 M.) — v. Premerstein, Das
Attentat der Konsulare auf Hadrian im Jahre 118 n.Chr. (Leipzig,
Dieterich. 5,60 M.) — Tee igen, The life and times of the empress
Pulckeria, A. D. 399 to A. D. 452. (London, Sonnenschein. 10,6 sh.)
— Jullian, Histoire de la Gaule. L Les invasions gauloises et
la colonisation grecque. (Paris, Hachette A Cie. 10 fr.) — Ma-
rucchi, Manuale di archeologia cristiana. (Roma, DescUe e C.)
Römisch-germanische Zeit und frfihes Mittelalter bis 1250.
Ein orientierender Aufsatz von F. Rachfahl über Nomaden-
tum und Ackerbau, der für die Erkenntnis der wirtschaftlichen
Zustände bei den alten Germanen Beachtung verdient, ist er-
wachsen aus der Anzeige der zweiten Auflage von R. Hildebrands
heftig umkämpften Werk über Recht und Sitte auf den primitiven
wirtschaftlichen Kulturstufen (Jena 1907); Schmollers Jahrbuch
für Gesetzgebung usw. 33, 2. Notiert seien auch die Bemerkungen
von G. Necke 1 zu den aus Cäsar und Tacitus {BeU. GalL IV
c. I, Germ. c. 39) bekannten centum pagi der Sueben (Beiträge zur
Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 33, S. 473 ff.).
Den Anschauungen A. Haupts über das Grabmal Theodorichs
in Ravenna (vgl. diese Ztschr. 101 S. 193) tritt mit Schroffheit ent-
gegen J. Durm in der Ztschr. f. bild. Kunst 1908, 8 („Nochmals
das Grabmal des Theodorich zu Ravenna**): er lehnt ebenso die
Behauptung des germanischen Charakters ab wie den Haupt-
sehen Rekonstruktionsversuch.
W. Levison behandelt im Neuen Archiv 33, 3 zwei Mero-
wingerurkunden für das Kloster Montierender; die erste von
Theuderich HI. (682) ist trotz einiger Mängel für echt zu halten,
die zweite von Childerich 11. (664/665) aber für eine späte Fäl-
schung. Erwähnt seien hier gleich zwei Arbeiten von W. Meyer
über einen Merowinger Rhythmus und altdeutsche Rhythmik in
646 Notizen und Nachrichten.
lateinischen Versen sowie über Handschriften der Gedichte des
Venantius Fortunatus, beide in den Nachrichten der Kgl. Gesell-
schaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philol.-Histor. Klasse
1908, 1 veröffentlicht.
Der zweite Teil der kritischen Studien zur Lex Baiuvariorum,
den E. v. Schwind soeben im Neuen Archiv 33, 3 erscheinen
ließ (vgl. 97, 1% f.), gilt der Entstehung dieses Volksrechts. Es
hieße den Umfang einer Notiz überschreiten, sollte versucht
werden, die Ergebnisse in kurzen Sätzen zu umschreiben. Immer-
hin mag angemerkt sein, «daß das Gesetz, mehr als bisher an-
genommen wurde, sich als ein Konglomerat aus verschiedenen
alten Gesetzen darstellt und insbesondere neben dem „Königs-
gesetze'' und dem alamannischen und westgotischen Gesetze auch
aus der Lex Salica und langobardischen Edikten geschöpft hat
und mancherlei kirchlichen Einfluß verrät*. Vor der Ascheimer
Synode (um 756) hat das Gesetz bestanden, unter welchem König
aber oder Herzog es entstand, läßt sich nicht mehr ermitteln.
Mit der Chronologie der bayerischen Synoden zu Dingoifing und
Neuching befaßt sich eine Miszelle von B. Sepp in der Alt-
bayerischen Monatschrift 1908, 1/2.
Im Archiv für Urkundenforschung 1,3 unterzieht H. Breß-
1 a u die Lehre von den Siegeln der Karolinger und Ottonen einer
erneuten, sorgsam abwägenden Prüfung. Hervorgehoben sei das
Ergebnis, daß schon die älteren Karolinger sich der Metallsiegel
bedient haben, was gegen Sickel und Breßlau selbst zuerst von
Giry für Karl den Großen behauptet worden war. Angeschlossen
sei ein Hinweis auf die Studie von M. Fazy über die chronolo-
gischen Angaben in den Urkunden des Bischofs Stephan von
Tournai (1192-1202); Bibliothkque de Vicole des chartea 69, 1/2.
Zwei Quellenuntersuchungen sind in Kürze zu notieren.
S. He II mann prüft die Entstehung und Überlieferung der An-
nales Fuldenses, um den bisherigen, namentlich von F. Kurze
festgelegten Anschauungen den Boden zu entziehen, so daß man
den Ausbruch eines neuen bellum annalistUum befürchten muß
(Neues Archiv 33, 3). In der Revue historique 98, 2 dagegen setzt
sich L. H a 1 p h e n mit J. Lair und J. Chavanon über die Chronik
Ademars von Chabannes auseinander.
Wir verzeichnen eine Reihe neuer Studien von Ferdinand
Lot zur französischen Geschichte des 9. Jahrhunderts. Im Moyen
Age 2. Serie 10 wendet er sich gegen einige Ansichten, die A.
Pdtel in den Mämoires de la soc. acad, de l'Aube 68 über die
beiden Grafen Aleran entwickelt hatte, und zeigt, daß Aleran I.
Frühes Mittelalter. 647
auch 844—852, als Markgraf von Gothien, die Grafschaft Troyes
behalten hat, und daß auch Aleran II. nach Januar 866 kurze Zeit
Graf von Troyes war (vgl. auch Replik und Duplik in Bd. 11).
Ebenda 1 1 sucht er den Ursprung des Grafen Thibaud le Tricheur,
des Gründers des Hauses Blois-Chartres, festzustellen (seine
Mutter sei die Kaiserin Richilde, Witwe Karls des Kahlen, die
ihn einem Vasallen Roberts v. Franzien Gerlo geboren habe);
doch gestehe ich, daß mir hier die Beweisführung nicht ganz ge-
schlossen und überzeugend erscheint. Jn der Rev, de philologie
Franpaise 21 vergleicht er die bretonische Geschichte des schönen,
von den Feen entführten Guengualch (aus der dritten Vita S.
Tutguali episc.) mit der irischen Histoire de CondU le Beau
und zeigt, wie dieser Sagenstoff erst im 12. Jahrhundert auf den
Sagenreichen bretonischen König Grallo übertragen wurde. Recht
ergebnisreich schließlich ist die ausführliche Untersuchung über
die große normannische Invasion in Frankreich von 856—862 (ihr
Beginn wurde bisher gewöhnlich irrig auf 855 datiert) in der Bi-
bliothique de l'^cole des chartes 69; hier wird insonderheit die
Geschichte der Seinenormannen unter Sidrac und Berno sowie
der Sommenormannen unter Weland betrachtet und eine wert-
volle Ergänzung zu dem Buch von Walter Vogel über die Nor-
mannen und das Fränkische Reich geboten. R. //.
Ein Aufsatz von G. Hergesell in Tilles Deutschen Ge-
schichtsblättern 9, 9 schildert die Panzerung der deutschen Ritter
im Mittelalter. Man sollte es nicht für möglich halten, daß der
Verfasser noch immer der Meinung ist, Turniere seien bereits im
10. Jahrhundert unter Heinrich 1. in Sachsen landesüblich gewesen
(vgl. dazu K. Heldmann, Mittelalterliche Volksspiele in den thü-
ringisch-sächsischen Landen, Halle 1908, S. 45 Anm. 6).
In der Altpreußischen Monatsschrift 45, 2 behandelt H. G.
Voigt Brun von Querfurt (f 1009) und die Bedeutung seines
Missionswerks, über die im vorigen Jahre das umfangreiche
Buch desselben Verfassers (Stuttgart 1907) erschienen ist.
Unter dem Titel „Toskanische Studien 1" vereinigt F.
Schneider eine Reihe kleinerer Untersuchungen, die an archi-
valische Funde zur Geschichte des 11. und 12. Jahrhunderts an-
knüpfen. Erwähnt seien vor allem neben einer Reihe von Ge-
richtsurkunden die Liste der Gefälle eines Hofs, den Gräfin
Mathilde dem Pisaner Domkapitel geschenkt hatte, und ein bisher
unbekanntes, leider der Datierung entbehrendes Mandat Kaiser
Friedrichs 1. an die Konsuln von Siena (Quellen und Forschungen
aus italienischen Archiven und Bibliotheken 11, 1).
648 Notizen und Nachrichten.
Louis Halphen, Le comU d'Anjou au XU sikcle, Paris^
Picard 1906. XXIV, 426 S. H., der Herausgeber der ^ Annales
Angevines et Venddmotses" (Paris 1903), ist gegenwärtig der
beste Kenner der Geschichte von Anjou im Mittelalter. Die
voriiegende Arbeit enthält eine gute und kritische Geschichte der
Grafschaft von Fulco Nerra bis zu Fulco Rechin (987—1109).
Aber das ist nicht alles. Neben der äußeren Geschichte wird
auch die innere, die Bildung eines Territorialstaates, die staats-
rechtliche Stellung des Grafen, die Verwaltungsorganisation, die
Stellung der Barone, die Arbeit der Staatsgewalt zur Hebung des
Wohlstandes, freilich nach der Art unseres Materials besonders
gegenüber Kirchen und ihrem Gut nachweisbar, mindestens
ebenso eingehend untersucht, wenn die Form vielleicht auch etwas
systematischer hätte sein können. Daß die Beherrschung des
Materials lückenlos ist, braucht nicht gesagt zu werden. Auf den
darstellenden Teil, dem eine Übersicht über Literatur und Quellen
vorausgeht (S. H—XXIV) und der 236 Seiten umfaßt, folgt ein
y,Catalogue des actes*^ der behandelten vier Grafen, der die Re-
gesten von 323 echten und 11 gefälschten Urkunden umfaßt,
denen überall die notwendigen Angaben über Oberlieferung und
Literatur beigegeben sind (S. 237—343). Fünf Inedita und eine
chronikalische Aufzeichnung sind beigegeben. Ein ausführliches,
65 Seiten starkes Register ist besonders hervorzuheben.
Fedor Schneider,
Der französische Geistliche Hildebert, geboren zu Lavardin
um 1056, seit 1096 Bischof von Le Mans, von 1125 bis zu seinem
Tode 1133 Erzbischof von Tours, steht zwar unmittelbar der
deutschen Geschichte fern, wenn man absieht von dem maßvollen
Schreiben, in dem er bald nach den aufregenden Ereignissen des
Jahres IUI sein Urteil über Heinrich V. und Pascha! II. abgab
(MG, libelli de Ute \\f 669 iL). In der allgemeinen Kirchengeschichte
nimmt er jedoch einen so beachtenswerten Platz ein, daß die
sorgfältige, allerdings sehr breit angelegte Arbeit von Franz X.
Barth, Hildebert von Lavardin (1056—1133) und das kirchliche
Stellenbesetzungsrecht, XX und 490 S., Stuttgart, Ferdinand
Enke, 1906 (= Kirchenrechtliche Abhandlungen, herausgegeben
von Ulrich Stutz, Heft 34—36) vollstes Interesse in Frankreich
wie bei uns verdient Steht doch im Mittelpunkt der Erörterungen
die Rechtsfrage nach der Besetzung der kirchlichen Amter, über
die der französische Zeitgenosse des Investiturstreites insofern be-
sonders berufen war zu schreiben, als er selbst seine hohen kirch-
lichen Würden keineswegs ohne Anfechtungen antrat und behaup-
tete. Den Arm des englischen wie den des französischen Königs
Frühes Mittelalter. 649
hat er verspüren müssen. Hildebert gehört nicht zu den bahn-
brechenden Geistern in der Schar der Kanonisten des Investitur-
streits; er verdient aber gewiß neben seinem großen Landsmann
Ivo V. Chartres einen ehrenvollen Platz. Barth stellt eine weitere
Studie über Hildeberts Bedeutung als Schriftsteller, verbunden
mit Regesten, in Aussicht. //. Krabbo.
A. V. Wretschko, der im Jahre 1901 in der ^Deutschen
Zeitschrift für Kirchenrecht' eine Abhandlung über die electio
communis hatte erscheinen lassen, liefert jetzt abermals einen
Beitrag zu dem neuerdings wieder viel erörterten Thema der
Bischofswahlen: ,,Zur Frage der Besetzung des erzbischöflichen
Stuhles in Salzburg im Mittelalter. |IV und 111 S. Stuttgart,
Ferdinand Enke. 1907." Die Untersuchung setzt mit dem Wormser
Konkordat, ausführlicher mit dem Jahre 1247 ein und reicht bis
1500. Sie gliedert sich in einen darstellenden Teil, dem sich an-
schließen einzelne Urkunden, und dann genaue Regesten der
einzelnen Besetzungen seit 1247. Besonders interessant ist der
Zeitabschnitt 1343—1429. Vor jeder der sechs innerhalb dieser
Zeit eintretenden Sedisvakanzen hatte sich der Papst die Ver-
fügung über den frei werdenden erzbischöflichen Stuhl vorbehalten.
Trotzdem schritt jedesmal das Kapitel zur Wahl mit dem Erfolg,
daß der Papst die Wahl zwar kassierte, dann aber — einmal frei-
lich erst nach vergeblichen Gegenmaßregeln — dem Kandidaten
des iKapitels das Erzbistum kraft seiner Machtvollkommenheit
verlieh. So wahrte wohl grundsätzlich die Kurie ihren Stand-
punkt, tatsächlich aber setzten ihr zum Trotz die Domherren
stets ihren Willen durch. H, Krabbo,
Ein lebhaftes Interesse hat sich in den letzten Jahren der
durch das Tridentinum fast überall beseitigten Gewalt der Archi-
diakone zugewendet, deren Höhepunkt um 1200 lag. Leder be-
schäftigte sich mit den Vorläufern, Hilling mit der Ausbildung
dieses Institutes im Bereiche Sachsens, andere mit einzelnen
Sprengein. Eugen Baumgartner: Geschichte und Recht des
Archldiakonates der oberrheinischen Bistümer mit Einschluß von
Mainz und Würzburg (Kirchenrechtliche Abhandlungen herausg.
V. Stutz. Heft 39. Stuttgart 1907) behandelt, wiederum von Stutz
angeregt, ein räumlich weiter ausgedehntes Gebiet mit mannig-
fachen Unterschieden. Die Arbeit beruht auf sehr sorgfältigen
Studien in der Literatur, Archivalien sind nicht herangezogen,
im wesentlichen war aber auch so zur Klarheit zu gelangen mög-
lich. Der zweite Teil gibt die Geschichte nach Sprengein, der
dritte eine rechtliche Darstellung nach den verschiedenen Kom-
HistorUcht ZeittchrUt (101. Bd.) 1. Folge ft. Bd. 42
650 Notizen und Nachrichten.
petenzen. Der § 20 über die freiwillige Gerichtsbarkeit interessiert
auch den Diplomatikery da hier die Beurkundung der Archidia-
konatsgerichte behandelt ist, doch sind nur Zeugnisse aus den
Bistümern Basel und Straßburg herangezogen worden, was irre
führen könnte. Auch der Abschnitt über die Einkünfte ist etwas
mager, hier bleibt noch manches dunkel. Die Arbeit hat ihren
Zweck völlig erreicht, das Charakteristische der Geschichte dieses
Institutes in den einzelnen Sprengein herauszuarbeiten. Die
früheren Historiker wußten mit diesem Institute nichts anzufangen,
jetzt sehen wir, wie die Macht der Bischöfe durch die Archidia-
kone zeitweise sehr erheblich eingeschränkt war. Für die Zeit
von 1100 bis 1400 muß auch die ins Große arbeitende Geschicht-
schreibung fürder dieses Institut beachten. Baumgartner hat in
seiner verdienstreichen Schrift dieses Amt auch bis zu seinem
Untergange verfolgt, es hat sehr früh versagt und sich in eine
rein bureaukratische Organisation umgewandelt, die fast nur noch
auf die Einkünfte sah; die vom Bischöfe im 13. Jahrhundert ge-
schaffenen zentralen Behörden drängten dieses Zwischenglied
zwischen Bischof und Landkapitel zurück. AL Sch^
A. Wal In er untersucht die Anordnung der Heidelberger
Liederhandschrift, ihre Wappen und Bilder sowie die Titel der in
ihr vorkommenden Minnesänger. Seine Ergebnisse weichen
mannigfach von denen A. Schultes (Zeitschrift für deutsches
Altertum 39) ab, ohne darum durchweg plausibel zu sein (Bei-
träge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 33,
S. 483 ff.).
Unter dem Titel: Sachsenspiegel und Sachsenrecht ver-
öffentlicht F. Philipp! eine Anzeige des Buches von Ph. Heck
über den Sachsenspiegel und die Stände der Freien (Halle 1905).
Ihr Ziel ist die Revision der herrschenden Anschauung über die
sächsische Gerichtsveriassung zur Zeit Eikes. Den Grundgedanken
der Abhandlung lehrt folgender Satz erkennen: „Zur Zeit Eikes
haben in Sachsen zwei Arten von Gerichten unabhängig neben-
einander bestanden und sind von ihm zur Darstellung gebracht
worden ; die dieser Auffassung scheinbar widersprechenden Stellen
sind dadurch zu erklären, daß sie auch sonst nachweisbare Stadien
einer Weiterbildung, richtiger Verbildung der ursprünglichen Zu-
stände zugunsten der Entwicklung der fürstlichen Landeshoheit
im Auge haben.* Anhangsweise bekämpft Philippi die Gleich-
setzung des Wortes pfleghaft mit Bürger in der Walkenrieder
Urkunde vom Jahre 1214 (Mitteilungen des Instituts für öster-
reichische Geschichtsforschung 29, 2).
Späteres Mittelalter. 651
Mit dem Minoritenpater Bertold von Regensburg und den
Urkundenfälschungen der beiden Reichsstifter Ober- und Nieder^
miinster befaßt sich ein für die deutsche Geschichte um die Mitte
des 13. Jahrhunderts lehrreicher Aufsatz von F. Wilhelm in
den Beiträgen zur Geschichte der deutschen Sprache und Litera-
tur 34, 1.
Neue Bficher: Maurer, Vorlesungen über altnordische
Rechtsgeschichte. 3.Bd. (Leipzig, DeichertNachf. 19 M.)—Zoepf,
Das Heiligenleben im 10. Jahrhundert. (Leipzig, Teubner. 8 M.)
— Recueil des Actes de Lothaire et de Louis V, rois de France
(954^987), publU par L.Halphen et F. Lot. (Paris, Klincksieck,)
— Drehmann, Papst Leo IX. und die Simonie. Ein Beitrag
zur Untersuchung der Vorgeschichte des Investiturstreites. (Leip-
zig, Teubner. 3 M.) — Ramsay, The dawn of the Constitution;
or the reigns of Henry III and Edward I, A, D, 1216—1307. (Lon-
don, Sonnenschein. 12 sh.) — D o e r i n g , Studien zur Verfassungs-
geschichte von Leicester. Ein Beitrag zur Geschichte englischer
Stadtverfassung bis in die Zeit König Edwards I. (Hanau, Clauß
^ Feddersen. 2 M.) — Hofmeister, Die heilige Lanze, ein
Abzeichen des alten Reichs, (Breslau, Marcus. 2,80 M.) — Pöschl,
Bischofsgut und Mensa episcopalis» Ein Beitrag zur Geschichte
•des kirchlichen Vermögensrechtes. 1. Tl. (Bonn, Hanstein. 6 M.)
Späteres Mittelalter (1250—1500).
In die Ausgabe der Monumenta Germaniae Constitutiones,
die nach der Vollendung der beiden ersten Bände ins Stocken
geraten war, ist in den letzten Jahren neues Leben gekommen.
Nachdem schon im Jahre 1904 die erste Hälfte des 3. Bandes er-
schienen war, folgten im Jahre 1906 die zweite Hälfte dieses
Bandes sowie die beiden Hefte, die die erste Hälfte des 4. Bandes
umfassen. Die Vollendung des 4. Bandes steht bald zu erhoffen.
Damit wäre dann das Jahr 1313 erreicht, der Zeitpunkt, an dem
die alte Folioausgabe der Monumenta ihren Abschluß fand. Der
alten Ausgabe gegenüber bedeuteten diese neuen von Jakob
Schwalm besorgten Bände in noch weit höherem Grade ein
völliges Novum, als das bei den ersten von L. Weiland besorgten
Bänden der Fall war. Nur ein verschwindend geringer Teil des
Quellenmaterials findet sich schon in der alten Folioausgabe;
weitaus das meiste, was Schwalm bietet, ist in den Monumenten
noch nicht gedruckt, zum Teil ist es überhaupt noch nicht vorher
veröffentlicht worden. Oberhaupt ist charakteristisch, in welchem
42»
652 Notizen und Nachrichten.
Maße das Material anschwillt. Der dritte Band mit seinen sieben-
halbhiindert Seiten Text konnte noch die Zeit Rudolfs I. und
Adolfs, also ein reichlich gemessenes Vierteljahrhundert (1273 bis
1298) umspannen; die mehr als 700 Seiten Text, die vom 4. Bande
erschienen sind, reichen bis zum Ende des Jahres 1311, umfassen
also nur die Hälfte dieses Zeitraums, und dabei ist noch eine
Menge Material für den Schluß des Bandes zurückgestellt. Hält
diese Steigerung an, dann wird schon beim 5. Bande die Frage
auftauchen, ob man nicht für manche Stücke, die mehr von typi-
scher als individueller Bedeutung sind (Lehnsbriefe, Homagien etc.),
nur einzelne charakteristische Beispiele gibt und im übrigen
sich mit Regesten oder besser mit Auszügen begnügt. Für die
vorliegenden Bände war jedenfalls die vollständige Wiedergabe
des Materials noch durchaus angebracht. Ober die Publikation
selbst ist nur Rühmliches zu sagen; das Register des 3. Bandes
(das des 4. steht noch aus) ist mit der Gründlichkeit gearbeitet^
die wir von den neuen Monumenten-Ausgaben gewohnt sind.
Tübingen. Siegfried RietscheL
In der Vierteljahrschrift f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
6, 2 beschließt A. Schaube seine lehrreichen Ausführungen über
die englische Wollausfuhr des Jahres 1273, indem er namentlich
an der Höhe der für diese Ausfuhr zu berechnenden Kapitalien
die Unrichtigkeit des Sombartschen Satzes aufs neue nachweist,
daß der gewerbsmäßige Handel des Mittelalters* bis tief ins
14. Jahrhundert hinein das unverkennbare Gepräge der Hand-
werkshaftigkeit getragen habe (vgl. oben 201).
Die Schicksale der Engelsburg schildert in ihrer Verknüpfung
mit der Geschichte des Papsttums für die Zeit von Nikolaus 111.
bis zur Rückkehr Martins V. nach Rom ein auf die neuere Lite-
ratur wenig Rücksicht nehmender Aufsatz von E. Rodocanachi
(Revue historique 1908, Juli- August).
Mit Dantes juristischer Bildung beschäftigt sich die Arbeit
von L. Chiapelli: Dante in rapporto alle fonti del diritto ed
alla letteratura giuridica del suo tempo (Archivio stör. Italiano
1908, 1).
Den Obergang zur Signorie in Orvieto behandelt eingehend
eine in den Anfang des 14. Jahrhunderts führende Arbeit von G.
P a r d i , die im Bolletino della r, deputazione di storia patria per
rUmbria, anno 13, fasc. 2/3 erschienen ist. — In der Historischen
Vierteljahrschrift 11, 2 setzt sich G. Caro (Zur Signorie Hein-
richs VII. in Genua) mit einzelnen Aufstellungen V. Samanek&
(vgl. 97, 674; 98, 668) auseinander.
Späteres Mittelalter. 653
Wie sich der Kampf zwischen Ludwig dem Baiern und der
Kurie in einem im unmittelbaren Machtbereich des Kaisers
liegenden Bistum (Freising) widerspiegelt, schildert eine Heidel-
berger Dissertation von H. Dormann, die freilich weder von
Flüchtigkeiten sich freihält noch die erreichbare Literatur voll-
ständig ausgenutzt hat. Wie in diesem Falle natürlich, haben die
von der Kurie ernannten Bischöfe keine großen Erfolge erzielen
können, zumal das Domkapitel seinen Standpunkt mit Nachdruck
vertreten hat. Unter den Beilagen ist Nr. XIII (ein Depositen-
schein über das von Bischof Konrad zu Salmannsweiler nieder-
gelegte Vermögen und mancherlei Kleinodien vom 31. Dezember
1339) in kunst- und kulturgeschichtlicher Hinsicht bemerkenswert
(Die Stellung des Bistums Freising im Kampfe zwischen Ludwig
dem Bayern und der römischen Kurie. Wiesbaden, Druck von
P. J. Marschall. 1907. 54 u. XXXIX S.). H. Kaiser.
Aus den Forschungen z. brandenburgischen u. preußischen
Geschichte 21, 1 sind die Arbeiten von W. Füßlein über die
Vormünder des Markgrafen Ludwig d. A. 1323—1333 (von 1323
bis 1327: Berthold von Henneberg, seitdem neben diesem Mark-
graf Friedrich von Meißen) und von M. G i 1 o w über die Dalminer
Fehde von 1444 und die geistliche Gerichtsbarkeit in der Mark
während des 15. Jahrhunderts zu erwähnen (Ergänzung zu B.
Hennigs Abhandlung über die Kirchenpolitik der älteren Hohen-
2ollern und die päpstlichen Privilegien des Jahres 1447).
In den Quellen u. Forschungen aus italienischen Archiven
u. Bibliotheken 11, 1 veröffentlicht L. Schütte mit eingehenden
Erläuterungen einen für die Kurie bestimmten, dem Propst Heyden-
reich von St. Severin zu Köln zugeschriebenen Bericht aus dem
Jahre 1327, der die Stellung der rheinischen Fürsten und Städte
zu Ludwig dem Bayern kennzeichnet.
An der Hand eines im Vatikanischen Archiv erhaltenen
Aktenstücks bespricht G. M o 1 1 a t (Procks d'un collecteur ponti-
fical sous Jean XXII et Benott XII) in der Viertel jahrschrift für
Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte 6, 2 den 1334 gegen Jean Bernier,
Kanonikus von Chalon-sur-Sa6ne, wegen Unterschlagung und
anderer Vergehen begonnenen Prozeß.
G. La Mantia druckt und erläutert in einer auch als Son-
derdruck (Palermo, Scuola tip. Boccone del Povero 1907. 36 S.)
erschienenen Arbeit: Capitoli Angioini sul diritto di sigillo della
cancelleria regia per la Sicilia posteriori al 1272 die unter dem
Datum des Jahres 1340 gehenden Verordnungen, die einen sehr
lehrreichen Einblick in die sizilianischen Kanzleiverhältnisse er-
654 Notizen upd Nachrichten.
öffnen und vermöge des angehängten Sachregisters nun besonders
bequem benutzt werden können (Archivio stör. Siciliano N. S.
anno 32, fasc. 3/4).
Der Oberlieferung der ältesten Urbarien des Bistums Straß-
burg widmet H, Kaiser in der Zeitschrift f. d, Gesch. d. Ober-
rheins N. F. 23y 3 eine eingehende Untersuchung, als deren Er-
gebnis u. a. anzumerken ist, daß die Niederschrift des vielbe-
nutzten, von Bischof Berthold II. um die Mitte des 14. Jahrhunderts
angelegten Urbars, das bisher allgemein als gleichzeitige Abschrift
betrachtet ward, erst im ersten oder zweiten Jahrzehnt des 15. Jahr-
hunderts ~ und zwar unter sehr eigenartigen Umständen — er-
folgt ist.
Eine im Gegensatz zu anderen neueren Bearbeitern den
Quellenwert Bakers stark herabdrückende Schilderung der Schiacht
bei Maupertuis (19. September 1356) entwirft die auf H. Delbrücks
Anregung zurückgehende Berliner Dissertation von K. Lampe.
Ober eine gemeinsame Vorlage der Chronik des Jean le Bei und
der Chronographia regum Francorum (S. 1 u. 5 ff.) Ist H. Moran-
vill6 in der Bibliothique de Vicole des chartes 1904, S. 583 ff. zu
vergleichen (1908, 72 S.).
Auf Grund eines von dem Notar Massimo Porcelilni ange-
legten Verzeichnisses macht A. Zoll Angaben über die raven-
natischen Steuerverhältnisse im Jahre 1372 (Aiti e memorie dettß
r. deputazione di storia patria per le provincie di RomagnUf terza
Serie, vol. 26, fasc. 1 — 3).
Die AtH e memorie della r, deputazione di storia patria per
le provincie delle Marche N. S. 4, 4 enthalten eine umfangreiche
Arbeit von B. Feliciangeli über den Feldzug Ludwigs von
Anjou und Amadeus' von Savoyen gegen Karl von Durazzo (1382).
Unter den Beilagen ist die erste, die das genaue Itinerar des
Herzogs Amadeus für den Durchzug durch die Marken und Um-
brien für jeden einzelnen Tag feststellt, von besonderem Wert.
Neue Miscellanea Cameralia veröffentlicht P. M. Baum-
garten in der Römischen Quartalschrift 22, 1, indem er die
überlieferten Nachrichten über Wahlgeschenke der Päpste an
das hl. Kollegium für die Zeit von Benedikt XII. bis Benedikt XIII.
zusammenstellt (rund 620000 Goldgulden = 25 Millionen Mark)
und ferner eine Liste von 30 Bischöfen und 65 Abten zum Ab-
druck bringt und eriäutert, die im Jahre 1390 wegen Nichtzahlung
der Servitien der Exkommunikation veHielen. — An der gleichen
Stelle finden sich Beiträge zur Lebensgeschichte des 1480 ver-
storbenen Nikolaus von Wachenheim, 50 Jahre Hochschullehrer
Späteres Mittelalter. 655
In Heidelberg, mit Angaben über einen von ihm herrührenden
Tractatus seu opusculum contra errores quorundam iuvenum maS"
culorum, die Fr. Falk zum Verfasser haben.
Ein Ungenannter gibt in den Historisch-politischen Blättern
142, 2 einen Oberblick über die Missionierung Nordafrikas im
14. Jahrhundert.
Mit einer vornehmlich der Geschichte italienischer Kom-
munen dienenden Brief Sammlung, die aus zwei verschiedenen
Zeiten (zweite Hälfte des 13., Ende des 14. und Anfang des
15. Jahrhunderts) angehörenden Bestandteilen zusammengesetzt ist,
macht uns H. Otto in den Quellen und Forschungen aus italieni-
schen Archiven und Bibliotheken 11, 1 bekannt. Der Zeitpunkt
des Entstehens ist offenbar zwischen 1421 und 1429 anzusetzen,
als Verfasser vermutlich Antonio Morici aus Foligno, Zollbeamter
zu Lucca, zu betrachten.
Aus den Mitteilungen des Vereines für Geschichte der
Deutschen in Böhmen 1908, Mai ist der Schluß des oben S. 203
erwähnten Aufsatzes von Val. Schmidt: Südböhmen während
der Hussitenkriege zu verzeichnen.
Den Anteil Deutschlands an der Jeanne d' Are-Forschung
und an der Gestaltung des Bildes überhaupt sucht G. Goyau in
den M^moires de la SocUU archäologique et historique de VOrläa-
nais 31 zu veranschaulichen.
Was neuere Arbeiten über das Verhältnis von Staat und
Kirche in Deutschland während des späteren Mittelalters gebracht
haben, wie die Beeinflussung des kirchlichen Organismus durch
die landesherrliche Gewalt in ihren Ursachen und in ihrer Ent-
wicklung zu verstehen ist, führt in der Histor. Vierteljahrschrift
11, 2 A. Werminghoff in geschickter Zusammenfassung vor.
Eine Sonderausführung erläutert nach den Urkunden des 15. Jahr-
hunderts Bedeutung und Geschichte des Begriffs „Deutsche
Nation **, der mit dem Wiener Konkordat (1448) völlig ausgestaltet
erscheint als die Vereinigung weltlicher Gebiete und kirchlicher
Verwaltungsbezirke auf deutschem Boden.
Auf Grund einiger Einträge eines im Frankfurter Stadtarchiv
erhaltenen Rechnungsbuchs weist AI. Riese im Römisch-germa-
nischen Korrespondenzblatt 1908, Juli- August auf das Zerstörungs-
werk hin, dessen sich das ausgehende Mittelalter der alten Römer-
stadt Heddernburg-Nida gegenüber schuldig gemacht hat, indem
deren Steine in großen Mengen hinweggeführt wurden, um beim
Bau der Kirche von Bonames (Bona mansio?) verwandt zu
werden (1477/78).
656 Notizen und Nachrichten.
Dem vielfach recht spröden Quellenmaterial zum Trotz hat H.
N i r r n h e i m : Hinrich Murmester (Pfingstblätter des Hansischen
Geschichtsvereins Bl. IV. Leipzig, Duncker £ Humblot 1908. 76 S.)
ein lebensvolles Bild des vielgenannten, 1481 verstorbenen ham-
burgischen Bürgermeisters herausgearbeitet, aus dem namentlich
die erfolgreiche Beteiligung an der Lösung bedeutender, seiner
Vaterstadt 'und der Hanse durch die Berührung mit mächtigen
europäischen Staaten erwachsenden Aufgaben zu erwähnen ist.
Ein Aufsatz des Grafen de Baglion: ipisodes des lüttes
en Ombrie au XV* sUcle hat hauptsächlich die Kämpfe in Perugia
und die bemerkenswerte Rolle, die in ihnen das Geschlecht der
Baglioni spielte, zum Gegenstand (Revue des Studes historiques
1908, Mai-Juni).
Wir besitzen noch wenig genaue Biographien von Mitgliedern
des gelehrten Beamtentums aus dem endenden Mittelalter und
begrüßen es daher mit Freude, daß uns Walter Hol 1 weg in
einer eindringenden und inhaltreichen Abhandlung das Leben
eines der wichtigsten, des zum Kardinal emporgestiegenen kaiser-
lichen Rates Dr. Georg Heßler (f 1482) schildert. (Leipzig, J. C.
Hinrichs. 1907.) Heßler ist ein guter Vertreter seines Standes,
wenn es auch zu viel gesagt ist, wenn Verfasser ihn mit regie-
renden Kardinälen wie Ximenes, Wolsey, Richelieu und Mazarin
vergleicht. Heßler trat als Domherr in Köln während des dortigen
Stiftsstreits, in den Karl der Kühne eingreift, Kaiser Friedrich HI.
nahe und leistete ihm namentlich bei den Verhandlungen mit
Karl über die Eheangelegenheit Maximilians und dann bei der
Übernahme des Landes nach Karls Tode sehr gute Dienste.
Allerdings ist wohl die Erreichung des Ziels weniger das Ergebnis
seiner klugen Vorarbeit, als eine Folge der nach Karls Tode jäh
veränderten Verhältnisse. — Seinem kaiserlichen Herrn kamen
übrigens Heßlers Dienste ziemlich teuer zu stehen. Bezahlt
wurden solche hohen Beamten — wenn man von den Geschenken
absieht, die ihnen ihre einflußreiche Stellung von Bittstellern ein-
trug — ausnahmslos mit großen kirchlichen Pfründen. Der Kaiser
mußte ihm diese zu verschaffen suchen und mußte sich bei dem
Widerstände, den Heßlers Gier nach kirchlichen Einkünften her-
vorrief, schließlich so stark für ihn einsetzen, daß die Frage der
Versorgung Heßlers für ihn eine Quelle großer Verlegenheiten
wurde und er in zahlreiche, ihm eigentlich fernliegende Händel
verwickelt wurde. Den Kardinalshut hat Heßler durch Friedrichs
Fürsprache erreicht, aber da er bei seinen ernstlichen Bemühungen
um ein deutsches Bistum, zur materiellen Fundierung seiner Stel-
Späteres Mittelalter. 657
lung, trotz energischer Bewerbung um Köln^ Straßburg, Speier,
Salzburg, Lüttich, Passau, nirgends zu vollem Erfolge gelangte,
bedeuteten diese Fehlschläge ebensoviele Niederlagen der kaiser-
lichen Politik. Felix Priebatsck,
Hermann Siebert, Beiträge zur vorreformatorischen
Heiligen- und Reliquienverehrung. Freiburg i. B., Herder. 19Ö7.
XI und 64 S. (Erläuterungen und Ergänzungen zu Janssens Ge-
schichte des deutschen Volkes. VI, 1.) Jede Arbeit, die in das
religiöse Leben des deutschen Volkes im Mittelalter hineinführt,
ist mit Freuden zu begrüßen, so auch die vorliegende, die „znx
besseren Erkenntnis kirchlicher Denk- und Betweise auf dem viel-
geschmähten Gebiete der Heiligen- und Reliquienverehrung bei-
tragen** will. Auch das ist zu billigen, daß der Verfasser die ge-
lehrten Werke bei Seite gelassen und nur die praktisch-volks-
tümlichen Schriften, und zwar wegen ihrer größeren Bedeutung
nur die im Druck erschienenen herangezogen und aus dem über-
reichen Material nur so viel ausgewählt hat, „9\s zur Gewinnung
eines zutreffenden Bildes unerläßlich schien**. Aber im übrigen
befriedigt die Schrift doch nicht recht. Der Verfasser ist meist
in seinen Exzerptensammlungen stecken geblieben und nur selten
in die Tiefe und Weite vorgedrungen. Als apologetische Leistung
angesehen, mag seine Arbeit ja als ganz tüchtig erscheinen, ob-
gleich er bei Sammlung seines Materials ziemlich eklektisch ver-
fahren ist und manchmal den Schatten mehr hätte hervortreten
lassen müssen, — aber ein rechtes Urteil läßt sich über diese
Seite der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit nur vom völlig un-
parteiischen, religions- und kulturgeschichtlichen Standpunkt ab-
geben. Zu dieser Beurteilung macht der Verfasser in der Ein-
leitung einen verheißungsvollen Ansatz, aber über den guten
Willen ist er nicht hinausgekommen. 0. CL
In den „Quellen zur Schweizer Geschichte. Neue Folge** (erste
Abteilung: Chroniken, Bd. 1. Basel 1908. Verlag der Basler Buch-
und Antiquariatshandlung vormals Adolf Geering. 503 S.) hat
Rudolf Lugin buhl mit der Edition der Schweizerchronik Hein-
rich Brennwalds (1478—1551), des letzten Propstes zu Embrach
im Kanton Zürich, begonnen. Die Ausgabe, die erste vollstän-
dige überhaupt, wird zwei Bände umfassen ; der erste vorliegende
bringt die Einleitung über die Geschichte der Helvetier, den
ersten Teil, der die Geschichte jedes einzelnen eidgenössischen
Ortes gesondert behandelt, und von dem zweiten Teile, der eine
allgemein eidgenössische Geschichte von 1332, der Verbindung
Luzerns mit den Waldstätten an, bis 1509 enthält, den Anfang
658 Notizen und Nachrichten.
bis 1436. Die Bedeutung der Chronik, die übrigens vom 16. Jahr-
hundert an von vielen schweizerischen Historikern, vor allem
Johannes Stumpf!, dem Schwiegersohne Brennwalds, und Bullinger
reichlich benutzt wurde, liegt nicht in einer Vermehrung unseres
tatsächlichen Wissens über die Geschichte der alten Eidgenossen-
schaft — denn Brennwald hat keine andern Quellen als die uns
bekannten herangezogen — sondern in den zahlreichen sagen-
haften Zügen, mit denen der Chronist die Erzählungen seiner
Vorgänger ausgeschmückt hat. Allerdings sind auch diese vor
allem durch die Vermittlung Stumpffs schon längst in die schwei-
zerische traditionelle Legendengeschichte übergegangen; aber
erst die vollständige Publikation der Chronik Brennwalds, der
viel mehr als seine Nachfolger noch aus der lebendigen Tradition
schöpfte, erlaubt uns, das Datum der ersten schriftlichen Fixierung
und die Originalgestalt vieler Sagenzüge aus der Schweizer Ge-
schichte des 14. und 15. Jahrhunderts festzustellen.
Die Ausgabe ist trotz einiger Verlesungen (auch S. 186 mufi
das dem Herausgeber unverständlich gebliebene Wort „minen*
wohl als „nienen'^ gelesen werden) mit großer Sorgfalt besorgt
worden. Auf die umfangreichen Anmerkungen hat Luginbühl
wohl sogar allzuviel Fleiß verwendet; kritische Auseinander-
setzungen über alle von der Chronik erwähnten Ereignisse der
älteren schweizerischen Geschichte mit Heranziehung der neuesten
wissenschaftlichen Literatur sind bei einem so durch und durch
unkritischen Historiker wie Brennwald wohl kaum recht am Platze.
Und es war doch wohl auch kaum nötig, bei den naiven Aus-
führungen des Chronisten über die Bedeutung des Volksnamens
der jfGalii'* auf Pauly-Wissowa zu verweisen (S. 3). Dagegen
verdient der Fleiß, mit dem der Herausgeber die Arbeitsmethode
Brennwalds und seine Benutzung früherer Chroniken klargelegt
hat, uneingeschränkte Anerkennung. Der sogenannte j,Anonymus
Friburgensis'^ sollte freilich nicht mehr als echte Quelle angeführt
werden (S. 445). Eine eingehende Besprechung der Edition muß
bis zum Erscheinen des zweiten Bandes verschoben werden, der
erst die Einleitung des Herausgebers bringen wird, umsomehr,
als Handschriftenfunde, die seit der Publikation des ersten Bandes
gemacht wurden, noch eine neue Quelle Brennwalds, wie es
scheint, zum Vorschein gebracht haben.
Zürich. Fueter,
Zur Bevölkerungsstatistik sind von erheblichem Belang die
eingehenden und wohlbegründeten Untersuchungen von Julius
Belo ' "ber die Bevölkerung von Stadt und Land Modena in
iliana di sociologia Jahrg. 12 (1906) Heft 1. Die
Reformation und Gegenreformation. 659
Einwohnerzahl der Stadt Modena läßt sich seit dem Jahre 1306
verfolgen, wo sie etwa 22000 betrug — eine Zahl, die erst in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder erreicht wurde. Über
die Stadt Reggio erhalten wir genauere Nachrichten seit 1473
(etwa 10000 Einwohner); sie hat sich ohne sehr erhebliche Schwan-
kungen (abgesehen von einer Pest 1630) allmählich vergrößert
(18000 Köpfe im Jahre 1788). Am lückenhaftesten sind natürlich
die Nachrichten über die Bevölkerung auf dem Lande ; doch läßt
sich seit dem 17. Jahrhundert auch hier ein anschauliches Bild
gewinnen.
Neue Bficher : Grandrille, L 'Organisation de IHnquisition
en France, de 1233 ä la fin du XV^ sikcle, (Orleans, Impr. Gout.)
— Monumenta Germaniae historica. (Neue Quartausgabe.) Scrip-
forum tomi XXXII, pars IL (Hannover, Hahn. 13 M.) — Maugis,
Documents in^dits concernant la ville et le sikge du bailliage
d'Amiens, extraits des registres du Parlement de Paris et du Träsor
des Charles, T. I*r: XIV* sikcU (1296—1412). (Paris, Picard et fils,)
— Callkrop, Petrarch, his life and times, (London^ Methuen.
12,6 sh.) — Perier, Un prävot de Paris sous Charles V: Hugues
Aubriot. (Dijon, Impr. Jacquot & Floret,) — Ferreto De' Ferreti,
Opere, a cura di C. Cipolla. Vol. I. (Roma, Tip. Forzani e C
12 Lire.) — Dun and, l^tudes critiques d'apr^ les textes sur
Vhistoire de Jeanne d'Arc. 3e s^rie I. IL (Paris, Poussielgue. 8 fr.)
— Navarre, Louis XI en pHerinage. (Paris, Bloud & Cie.) —
Deutsche Reichstagsakten. 13. Bd., 1. Hälfte. König Albrecht 11.
1. Abteilung, 1. Hälfte. 1438. Hrsg. von Beckmann. (Gotha,
Perthes. 26 M.) — Ricordi di Firenze delVanno 1459, di autore
anonimo, a cura di G. Volpi. (Cittä di Castello, Lapi. 10 Lire.)
— Arnaud d'Agnel, Les comptes du roi Rena, publ. d'aprhs les
originaux inädits conserv^s aux archives des Bouches-du- Rhone.
T. ler, (Paris, Picard et fils.)
Reformation und Gegenreformation (1500—1648).
E. V. Möller, Aymar du Rivail, der erste Rechtshistoriker.
Berlin, E. Ehering 1907. Aymar du Rivail ist der Verfasser von
„Libri de historia iuris civilis et pontificii^, deren erste Ausgabe
sehr wahrscheinlich (wie das Buchhändlerprivileg) von 1515 da-
tiert); es ist die älteste Rechtsgeschichte, die wir besitzen. Er
ist bei uns in Deutschland bisher recht stiefmütterlich behandelt
worden. Über seine Leistung fällte Dirksen in seinem Buch über
die zwölf Tafeln ein ungerechtes absprechendes Urteil, das selbst
für Savigny und Stintzing maßgebend blieb; die französischen
660 Notizen und Nachrichten.
Publikationen wurden nicht oder nicht gehörig beachtet; sein
Geburtsjahr (in Wirklichkeit um 1490) wird von Savigny um ein
Menschenalter zurückgerückt, und das für seine Biographie vor-
handene Material blieb größtenteils unbenutzt. Diese Unterlas-
sungssünden wurden durch die vorliegende kleine Schrift in
dankenswerter Weise gut gemacht. Neben einer Schilderung von
Rivails Leben und Persönlichkeit findet man darin eine eingehende
Würdigung der Historia iuris mit scharfer kritischer Spitze gegen
Dirksen, einer Kritik, deren Eindruck noch stärker wäre, wenn
Verfasser in ihrer Form mehr Maß gehalten hätte. O. Lenel.
Erhebliche Ergänzungen zu den Untersuchungen Kreitens
über den Briefwechsel Maximilians 1. mit seiner Tochter Margareta
<vgl. H. Z. 100, 438) bietet Andreas Walt her in einer ausführ-
lichen Anzeige der Göttingischen gelehrten Anzeigen 1908, Nr. 4.
Insonderheit wird die chronologische Einreihung zahlreicher Briefe
hier präzisiert und verbessert.
Ein Aufsatz von Imbart de la Tour über die reformato-
rische Bewegung im Katholizismus vor Luther {Le Correspondant
80. Jahrg., Nr. 1099) soll wohl eine Vorstudie oder ein Kapitel
der Fortsetzung seines Werkes Les origines de la r^forme
darstellen. Er beschäftigt sich nur mit Frankreich, beginnt
mit der kirchlichen Seite der ständischen Bewegung von 1484
und der Notabeinversammlung von 1493, betrachtet die Kloster-
reform des ausgehenden 15. Jahrhunderts, die Legationen des
Kardinals von Amboise (1501—1510) und anderer, die dem gleichen
Zweck dienen sollten, und schließt mit den einschlägigen Ver-
handlungen des Laterankonzils 1512 — 1517. Ganz hat es diesen
Bemühungen nicht an Erfolg gefehlt, aber er war doch recht
gering.
In Nr. 18 des Archivs f. Reformationsgesch. (5. Jahrg., Heft 2)
gibt zunächst Alfred U c k e 1 e y die (bisher für verschollen gehal-
tene) Gottesdienstordnung Bugenhagens für die Klöster und Stifte
in Pommern von 1535 in der ursprünglichen lateinischen Gestalt
neu heraus, mit historischer Einleitung und mit der ältesten
niederdeutschen Obersetzung in der Schleswig-Holsteinschen
Kirchenordnung von 1542. Sodann teilt Franz Koch eine Kon-
fession Albrechts von Preußen von 1554 mit, die wohl auf die
Königsberger Hoftheologen zurückgeht und den Zweck hatte,
mit Rücksicht auf den Osiandrischen Streit die Rechtgläubigkeit
des Herzogs darzutun. Weiter druckt Wilhelm Stolze die, noch
von Schäffler und Henner vermißten, von ihm wieder aufgefun-
denen ^Supplemente'' (ergänzenden Nachträge) zu der Geschichte
Reformation und Gegenreformation. 661
des Bauernkriegs in Ostfranken von Lorenz Fries; sie erweisen
sich freilich als nicht allzu wichtig. Unter den „Mitteilungen^
veröffentlicht Fr(iedensburg) ein Gutachten über die Bestrafung
des gefangenen Johann Friedrich von Sachsen 1547, das wahr-
scheinlich von dem jüngeren Granvella herrührt und den Stand-
punkt vertritt, daß der Herzog zwar den Tod verdient habe, daß
es aber nicht opportun sei, diese. Strafe vollziehen zu lassen. —
In Nr. 19 desselben Archivs (5, 3) gibt Karl Pallas Briefe und
Akten zur Visitationsreise des Bischofs Johann VII. von Meißen
im Kuriürstentum Sachsen 1522 heraus, als urkundliche Grundlage
für seine demnächst zu veröffentlichende Monographie über diese
Visitationsreise. Aus den „Mitteilungen** erwähnen wir den Nach-
weis von P. Kalk off, wonach das bei Enthoven, Briefe an Eras-
mus Nr. 11 gedruckte Schreiben Heezes nicht von 1522, sondern
von 1523 ist, und die Veröffentlichung eines Schreibens Johann
Fabris (1523, über den Eintritt in den Dienst Ferdinands von
Osterreich) durch Fr(iedensburg).
Die Fortsetzung der von J. Paquier herausgegebenen
Familienbriefe Aleanders in der Revue des Studes historiques,,
Mai-Juni und Juli- August 1908 (vgl. H. Z. 99, 450) bringt 24 Stücke
aus den Jahren 1522—1532 (u. a. Mitteilungen über Hadrian VI.,
über Aleanders Gesandtschaft bei Franz I., die Schlacht bei
Pavia und die Beziehungen Clemens' VII. zu Karl V.); in einem
Brief wendet er sich heftig gegen die Behauptung, er sei jüdischer
Abstammung.
Zur Geschichte der Packschen Händel verzeichnen wir einen
neuen Beitrag von Karl Schottenloher (vgl. oben S. 443). Im
65. Bericht des Hist. Vereins zu Bamberg handelt er auf Grund
von Bamberger Archivalien über Haltung und Tätigkeit des Fürst-
bischofs von Bamberg gegenüber der bedrohlichen Lage, inson-
derheit über die Beziehungen zu Würzburg und die Zahlung der
Entschädigungssumme.
Als erste Veröffentlichung des Georg Sabinus weist Otto
Giemen in den Forschungen zur brandenburgischen u. preußi-
schen Gesch. 21, 1 einen Druck der Elegie auf Magnus von Meck-
lenburg 1530 nach; auch veröffentlicht er einen Brief des Sabinus
aus Frankfurt a. O. vom 16. November 1540 (mit ausschweifenden
Nachrichten über ein Judenkomplott zur Rückeroberung Palästinas).
Das 4. Heft der Theologischen Studien und Kritiken (Jahrg.
1908) bringt den Schluß des Aufsatzes von R. Mulot über
Wilhelm Farel (Wirksamkeit in Genf und Neuenburg 1532—1565);
vgl. oben S. 445. Ebenda beginnt Otto AI brecht eine Reihe
662 Notizen und Nachrichten.
von neuen Katechismusstudien (über den Begriff Katechismus bei
Luther und über handschriftliches Material zu Luthers Grofiem
Katechismus).
Im L Heft der Quellen und Forschungen aus itaL Archiven
u. Bibliotheken 11 untersucht Ludwig Cardauns ausführlich
die Beziehungen zwischen Paul III., Karl V. und Franz I. in den
Jahren 1535 und 1536 (mit neuen römischen Archivalien). Beson-
ders tritt die vorsichtige Haltung des Papstes gegenüber den
Bündnisplänen des Kaisers hervor. «Die Sorge vor der Über-
macht des Habsburgers hat das Papsttum der damaligen Zeit
davon abgehalten, den Bund einzugehen, den es drei Dezennien
später — nach dem Untergang der italienischen Freiheit und
unter der Herrschaft kirchlicher Gesichtspunkte — vollzogen hat'
Fügen wir hinzu, dafi es mit der italienischen Freiheit schon 1535
aus war, und daß der Bund des Papsttums mit den Habsburgem
auch später sich als recht wenig dauerhaft erwies (Clemens VlIU
Urban VIII. usw.). ^. //.
Der Dominikaner Ambrosius Catharinus Politus war (nament-
lich wegen seiner Stellung zur Unbefleckten Empfängnis) mit
seinem Orden zeriallen und ist 1546 von seinem Ordensgenossen
Bartholomäus Spina bekämpft worden; jetzt weist Josef Schweizer
in der Römischen Quartalschrift 22, 1 eine Schrift nach, in der
Spina bereits 1542 gegen die kirchliche Rechtgläubigkeit des
Catharinus Stellung nahm.
Eine reizende Arbeit hat Friedrich Michael Schiele in
seinem Buche: «Die Reformation des Klosters Schlüchtern* (Tü-
bingen, J. C. B. Mohr. 1907. 144 S. 4,50 M.) geliefert. Formell ein
Meisterstück ; der gewandte und, wenn es sein mußte, schneidige
Chronist der ,, Christlichen Welt* versteht es in glänzender Weise,
streng wissenschaftliche Darstellung, auf den vielfach in den Text
verwobenen Quellen aufgebaut, mit eleganter Form, die den Leser
immer wieder fesselt, zu verbinden ; die Einleitung liest sich z. B.
wie ein Kapitel aus Gustav Freytag. Inhaltlich behandelt das
Buch einen jener Reformversuche auf kleinem Gebiete, deren
Fortschritt oder Rückschritt abhängig ist von der jeweiligen Po-
sition zweier in entgegengesetzter Richtung arbeitender größerer
Mächte; die Reibung dieser beiden aneinander schiebt das Rei-
bungsobjekt bald vorwärts, bald zurück. Schlüchtern steht zwischen
Hanau und Würzburg, das Auf und Ab reguliert sich wesentlich
am großen Gange der Reichspolitik. Im Kloster übernimmt die
schwierige Rolle des lavierenden Steuermannes der Abt Petrus
l^otichius. Gut reformatorisch wandelt er das Kloster in eine
Reformation und Gegenreformation. 663
klösterliche Erziehungsanstalt, in ihrer Einrichtung aber schwankt
er nach rechts und links, je nachdem der Wind von Würzburg
oder Hanau weht. 1543/44 wird er von Würzburg exkommuniziert,
löst sich aber relativ leicht vom Banne. Die Klosterschule wandelt
sich allmählich in eine Landesschule nach Art der sächsischen um,
die Abhängigkeit von Hanau wird schließlich eine absolute. Das
etwa sind die Grundzüge der Entwicklung, die Schiele durch eine
Fülle von Einzelzügen belebt hat, namentlich die Pädagogik wird
aus den mitgeteilten Schulordnungen Nutzen ziehen, aber auch
solch kleine ZügCy wie daß Melanchthon zweimal in Schlüchtern
nächtigt, sind wertvoll. Die Hauptaufgabe, aber auch Haupt-
schwierigkeit der territorialkirchengeschichtiichen Monographien,
den Zusammenhang mit der Allgemeingeschichte nicht zu ver-
lieren, hat Schiele stets im Auge behalten und glücklich gelöst.
Nicht ganz richtig scheint mir die Position des Abtes gezeichnet.
Die „Liebe zum Helden'' hat blind gemacht. Seine Reinigung
von der Exkommunikation bleibt ein böser Flecken, der Abt ist
kein Charakter, sondern eine jener Naturen, die durch Verbeu-
gungen nach rechts und links in schwieriger Lage sich halten.
W. K.
Aus Anlaß der Universitätsfeier zu Jena veröffentlicht Georg
Berbig ^(Zeitschrift f. wissenschaftl. Theologie 50, 4) 25 Briefe
Johann Friedrichs des Großmütigen an seinen Bruder Johann Ernst
aus den Jahren 1545—1547 nebst einigen dazu gehörigen Akten-
stücken, die allerhand Schlaglichter auf die vom Hauptquartier
des Kurfürsten aus in Thüringen und Franken geleiteten Aktionen
werfen.
Der Kölner Erzbischof Adolf von Schaumburg (1547 — 1556)
wirkte eifrig für eine katholische Reform und eine Bekämpfung
des durch seinen Vorgänger so erheblich geförderten Protestan-
tismus. Einige Beiträge über seine Tätigkeit in Westfalen teilt
Linneborn in der Zeitschr. f. vaterländ. Gesch. u. Altertumsk.
(Westfalens) 65, 2 mit: einen Bericht über die Visitation des Klosters
Olinghausen (Dezember 1548), Dekanatsberichte aus Lüdenscheid
und Wormbach (1549) sowie Aufzeichnungen über eine Steuer
von 1550. — Ebenda handelt derselbe auch über die wechselnden
Schicksale des Klosters Brenkhausen (Kreis Höxter) im 16. Jahr-
hundert.
Der Schluß der von Th. Wotschke herausgegebenen Briefe
Albrechts von Preußen an Johann Laski (vgl. oben S. 447) bringt
zahlreiche Stücke aus den Jahren 1549—1558 mit allerhand Bei-
lagen und Nachträgen (Altpreußische Monatsschrift 45, 3).
664 Notizen und Nachrichten.
Eine ausführliche Schilderung von dem Krieg des Markgrafen
Albrecht Alcibiades in Franken 1552—1555 entwirft Ernst Büttner
im Archiv f. Gesch. u. Altertumsk. von Oberfranken 23, 3 an der
Hand der gedruckten Literatur. Auf einige unbenutzte Wiener
Archivalien habe ich (Kaiser Maximilian II. S. 181 Anm. 4) hin-
gewiesen. Das Bild des unruhigen Markgrafen, der schließlich
nicht durch die verfassungsmäßigen Organe des Reichs, sondern
durch politische Bündnisse gestürzt wurde, erscheint auch bei
Büttner wenig sympathisch. ^. //.
Die Analectes Dinantais, die D. D. Brouwers in den An-
nales de la soc, arcMoL de Namur 27, 1, veröffentlicht, beschäl"
tigen sich mit der Stadt- und Handelsgeschichte von Dinant
(Prov. Namur) im 16. Jahrhundert. Wir heben daraus hervor
einige Schreiben über die Schlacht bei Gravelingen 1558 und das
Kapitel über die Beziehungen, die Don Juan d'Austria 1577—1578
im Zusammenhang mit den niederländischen Kämpfen zur Stadt
anknüpfte.
Die Frage, ob das erste Parlament der Königin Elisabeth
von England (vom Jahre 1559) im Unterhaus wirklich den Willen
der Bevölkerung und nicht nur eine durch Wahlmache zustande
gekommene Gefolgschaft der Regierung repräsentiert habe, wird
von C. G. Bayne in der English historUal review zum Gegen-
stand einer Untersuchung gemacht Ein erster Artikel (Bd. 23,
Nr. 91) beginnt damit, einige direkte Zeugnisse für die Regierungs-
mache einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, und beleuchtet
den Hergang bei den Wahlen und die Zusammensetzung des
Parlaments. — Ebenda handelt James Gairdner über die Eng-
lischen Litaneien Heinrichs VIII.
Der Aufsatz Friedrichs v. Schrötter über das englische
Münzwesen im 16. Jahrhundert (vgl. oben S. 448) wird im Jahrbuch
f. Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen
Reich 32, 3 mit einer Betrachtung der Regierung Elisabeths zu
Ende geführt. Insonderheit interessiert die große Reorganisation
von 1560 und 1561, die eine Verbesserung der Münzen, aber wider
Erwarten dennoch kein Fallen der Preise brachte.
Die etwas langwierigen Verhandlungen des Herzogs Wilhelm
von Jülich-Kleve mit Pius IV. wegen Errichtung einer Universität
in Duisburg werden neu beleuchtet durch ein Schreiben des her-
zoglichen Rates Andreas Masius an den Kardinal Morone 1561,
das Stephan Ehses (der erst kürzlich einen andern Brief des
Masius mitteilen konnte, vgl. H. Z. 99, 452) in der Römischen
Quartalschrift 22, 1 veröffentlicht. Ober Wilhelms Pläne vgl. auch
Reformation und Gegenreformation. 665
C. Varrentrapp, Der GroBe Kurfürst und die Universitäten (1894),
S. 14 f. mit 34 f. Anm. 20. R. H.
Nachdem die älteren Franziskanermissionen in China durch
den Sturz der Mongolenherrschaft und die Erhebung der Ming-
Dynastie (1368) ihren Untergang gefunden hatten, dauerte es ge-
raume Zeit, bis sie Nachfolger zu finden vermochten. Einen Über-
blick über die neueren Franziskanermissionen Chinas vom 16. bis
20. Jahrhundert gibt Autbert Groeteken im Pastor bonos 20, 10.
Ein kurzer Aufenthalt von vier Missionaren in Kanton 1579 blieb
erfolglos. Die eigentliche Neugründung der Mission ist das Werk
des Spaniers Antonio a Santa Maria, der 1651 eine neue Nieder-
lassung in Tsinan (Schantung) errichtete.
Im 11. Jahrgang der Neuen Jahrbücher f. d. klass. Altertum
22, 5 u. 6 beendet Ernst Schwabe seine für die Geschichte der
Pädagogik belangreichen Studien zur Entstehungsgeschichte der
kursächsischen Kirchen- und Schulordnung von 1580 (vgl. H. Z.
95, 362). Er untersucht die Methodik des lateinischen Elementar-
unterrichts in Kursachsen an der Hand der dabei benutzten Schul-
bücher und hebt insonderheit die Verdienste Melanchthons und
der Sturmschen Schüler um die sächsische Schulordnung hervor.
— Ebenda 6 bespricht Wilhelm Süß den Turbo des Joh. Val.
Andreae (1616) nach seinen Ergebnissen für die Geschichte der
Pädagogik.
Der Vortrag, den Georg Wolfram im vorigen Jahr auf der
Hauptversammlung der deutschen Geschichts- und Altertums-
vereine zu Mannheim über den Pfalzgrafen Georg Hans (geb. 1543,
t 1592, Gründer der Stadt Pfalzburg) gehalten hat, wird im Kor-
respondenzblatt des Gesamtvercins 56, Nr. 5— 6, Sp. 217 f. auszugs-
weise veröffentlicht. Mit Interesse nimmt man Kenntnis von den
Bemühungen des Pfalzgrafen um einen Kanal vom Rhein nach
Scheide und Nordsee und um die Gründung einer deutschen
Flotte.
Der Kondominat, den Pfalz und Baden in der vorderen Graf-
schaft Sponheim hatten, brachte der Stadt Kreuznach im 16. Jahr-
hundert einen häufigen konfessionellen Wechsel und Streit. Der
Bericht über die gewaltsame Entfernung des von Philipp von
Baden' eingesetzten lutherischen Geistlichen Lorenz Scheuerlin
durch den Pfalzgrafen Johann Casimir 1587, den schon Friedrich
Beck, Die evang. Kirche im Land zwischen Rhein, Mosel, Nahe
und Glan 2,471 f. benutzte, wird jetzt von Karl Harraeus in
den Monatsheften f. Rheinische Kirchengesch. 1, 5 veröffentlicht.
Hittorisekt Zdttchrilt (lOI. Bd.) a. Folf t 5. Bd. 43
666 Notizen und Nachrichten.
Die Originalausfertigungen des Ediktes von Nantes hält P.
E. Vignaux im Bulletin de la sociM de l'hist du prolestantisme
Franpais, Heft Mai-Juni 1908, S. 285 f. für verloren. — Ebenda
S. 250f. druckt John Vi6not eine mit denunziatorischer Tendenz
verfaßte Denkschrift des Metzer Koadjutors Martin Meurisse über
die Metzer Reformierten vom Jahre 1644.
Eine Dokumentensammlung über den bekannten Streit
zwischen Papst Paul V. und der Republik Venedig, der das letzte,
für die Kurie erfolglos verlaufene Beispiel der Verhängung des
päpstlichen Interdikts über ein Gemeinwesen darstellt, veröffent-
licht Carlo Pio de Magistris unter dem Titel Primordi della
Contesa fra la repubblica Veneta e Paolo V. Mediazione dl Ger-
mania. Es sind 53, mit Erläuterungen versehene Dokumente,
meist aus den päpstlichen und venetianischen Archiven. Sie
reichen vom Dezember 1605 bis zum November 1606 und betreffen
die Anfänge des Konflikts sowie besonders die allseitigen Be-
mühungen, den Kaiser zu einem vermittelnden Eingreifen zu
veranlassen. Torino 1907, 112 S. (bez. als Estratto dal volume:
Documenti per la storla della contesa fra la repubbL Veneta e
Paolo V). F.
Die neuerlichen Studien Karls v. Reitzenstein über den
Feldzug des Jahres 1622 am Oberrhein (vgl. oben S. 210) werden
in der Ztschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins N. F. 23, 3 zu Ende geführt.
Verfasser untersucht die Entstehungsgeschichte und die Tätigkeit
der Kommission, mit welcher am 12. Februar 1622 Erzherzog Leo-
pold und Maximilian von Bayern durch den Kaiser zur Wahrung
der Rechte des Prätendenten Wilhelm von Baden gegen den
Markgrafen Georg Friedrich betraut wurden; trotz des Drängens
Maximilians ist wenig Greifbares aus ihr geworden.
Adolf K e 1 1 n e r handelt in der Ztschr. d. deutschen Vereins
f. d. Gesch. Mährens u. Schlesiens 12,3 über die Wahl des Prinzen
Karl Ferdinand von Polen zum Bischof von Breslau (1625), seine
Regierungstätigkeit und den österreichischen Anteil des Fürsten-
tums Neisse. Karl Ferdinand, der 1640 auch das Bistum Plozk
erhielt, starb 1655 ohne eine Priesterweihe oder gar eine bischöf-
liche Konsekration erhalten zu haben. — Ebenda druckt Ferd.
Schenner weitere Dokumente zur Geschichte der Reformation
in Znaim von 1580 bis 1610 (vgl. H. Z. 97, 445). Die Beiträge zur
Geschichte der Konfiskationen nach Wallenstein und seiner An-
hänger von S. Gorge (vgl. oben S. 211) werden im 4. Heft der
Mitteilungen des Vereins f. Gesch. der Deutschen in Böhmen 46
abgeschlossen.
Reformation und Gegenreformation. 667
Wie die reformierten Gemeinden im Herzogtum Jülich im
Niederdeutschen Krieg trotz mehrfacher Toleranzversprechungen
durch Pfalz-Neuburg, Tiily und die Spanier bedrängt wurden,
geht aus einer beweglichen Klageschrift von 1629 hervor, die W.
Rotscheidt in den Monatsheften f. Rheinische Kirchengesch.
1, 5 druckt.
Jacques Marchant, der von 1622—1648 Pfarrer von Couvin
(Provinz Namur) war und sich als solcher durch seine Tätigkeit
für alle geistlichen Interessen der Gegend und durch zahlreiche
theologische Werke (Hortus pastorum u. a.) hervortat, auch Freund
und Berater des Nuntius Peter Ludwig Caraffa bei seiner Reise
nach Fulda 1627 wurde, hat eine Biographie aus der Feder von
Thierry Rdjalot in den Annales de la soc, arcMoL de Namur
27, 1 gefunden.
Schwedische Archivalien zur niederländischen Geschichte
während des Dreißigjährigen Krieges, die insonderheit auch auf
die Beziehungen Hollands zu Schweden neues Licht werfen,
werden im 29. Band der Bijdragen en mededeelingen van het hi-
storisch genootschap (gevestigd te Utrecht) durch G. W. K e r n -
kamp herausgegeben. Es handelt sich einmal um Briefe, die
der holländische Kaufmann Samuel Blommaert 1635—1641 in
schwedischen Diensten aus Amsterdam an Axel Oxenstierna
richtete (im Interesse der schwedischen Handelspolitik), ferner
um Schreiben des bekannten Großindustriellen Louis de Geer
1618—1652, zumeist an Axel Oxenstierna, Johann Kasimir und
Karl Gustav von Pfalz-Zweibrücken sowie an die schwedischen
Gesandten bei den Westfälischen Friedensverhandlungen (mit
interessanten Nachrichten über De Geers politische Tätigkeit,
vgl. auch Geijer, Gesch. Schwedens 111, 345 — 347 mit Anm. 2), und
dazu schließlich noch um neue verschiedene andere Nachrichten
zur Lebensgeschichte De Geers. /?. H.
Der Maler Philippe de Champagne stand in hoher Achtung
bei Richelieu, der ihm verschiedene Aufträge zukommen ließ;
vgl. über die Beziehungen der beiden Gh. Gailly de Taurines
in der Rev, de Beigigue vom Juni 1908.
Neue Bficher: Deane, The Reformation. (London, Nisbet.
2 sh,) — Greving, Johann Ecks Pfarrbuch für U. L. Frau in
Ingolstadt. Ein Beitrag zur Kenntnis der pfarrkirchlichen Ver-
hältnisse im 16. Jahrhundert. (Münster, Aschendorff. 6,80 M.) —
Barkhausen, Francesco Guicciardinis politische Theorien in
seinen Opere inedite. (Heidelberg, Winter. 3,20 M.) — Andreas,
Die venezianischen Relazionen und ihr Verhältnis zur Kultur der
43*
668 Notizen und Nachrichten.
Renaissance. (Leipzig, Quelle A Meyer. 3,50 M.) — Bugenhagiana.
Quellen zur Lebensgeschichte des D. Joh. Bugenhagen. Gesam-
melt und herausg. von Geisenhof. 1. Bd. Bibliotheca Bugen*
hagiana. Bibliographie der Druckschriften des D. Joh. Bugen-
hagen. (Leipzig, Heinsius Nach!. 15 M.)J — Träsal, Les ori-
gines du schisme anglican (1509—1571), (Paris, Gabalda A Cie,
3,50 fr.) — Koelliker, Die erste Umsegelung der Erde durch
Fernando de Magallanes und Juan Sebastian del Cano. 1519 bis
1522. (München, Piper A Co. 5 M.) — Pfleger, Martin Eisen-
grein (1535 — 1578). Ein Lebensbild aus der Zeit der katholischen
Restauration in Bayern. (Freiburg i. B., Herder. 3,60 M.) —
French, The correspondence of Caspar Schwenckfeld of Ossig
and the Landgrave Philip of Messe (1535— 1561), (Leipzig, Breitkopf
£ Härtel. 4 M.) — Willy Burger, Die Ligapolitik des Mainzer
Churfürsten Johann Schweikhard von Cronberg in den Jahren
1604—1613. (Leipzig, Quelle £ Meyer. 3,40 M.) — Obregön,
D, Guiilän de Lampart, la inquisiciön y la independencia en et
sigto XVII, (Paris, Bouret,)
1648—1789.
In den Neujahrsblättern der Badischen Historischen Kom-
mission N. F. 9, 1906 behandelt Karl Hauck das Leben des
Prinzen Rupprecht (Rupprecht der Kavalier, Pfalzgraf bei Rhein
1619—1682). Derselbe Verfasser hatte früher das Leben des Kur-
fürsten Karl Ludwig, sodann auch das der Mutter, der Königin
Elisabeth von Böhmen, geschriieben. Und auch in diesem Buche
steht das Interesse an der Familiengeschichte des pfälzischen
Hauses durchaus im Vordergrunde. Ihr ist auch vornehmlich
die vielseitige Benutzung archivalischer Materialien zugute ge-
kommen, wobei das Münchener Hausarchiv mit seinen pfälzischen
Akten obenan steht. Was der Leser hier vor sich hat, ist ein
gut geschriebenes Buch zur pfälzischen Geschichte. Der Histo-
riker ist damit freilich, wenn es sich um den Prinzen Rupprecht
handelt, noch nicht zufrieden. Weit mehr als die Verstimmungen
zwischen den pfälzischen Geschwistern, als der Streit um den
Nachlaß der Mutter, interessieren ihn die Taten Rupprechts im
englischen Bürgerkriege. Hier aber genügt die Darstellung nicht
ganz. Für die Gegner, mit denen Rupprecht es zu tun hatte,
zeigt der Veriasser wenig Verständnis, und die Tatsachen sind
nicht immer genau wiedergegeben. Daß Cromwell schon nach
Hampdens Tode die Führung auf parlamentarischer Seite über-
nommen habe, ist unrichtig; noch bei Naseby führte er nicht den
Oberbefehl. Die erbeuteten Briefe Karls sind daher auch nicht
1648—1789. 669
in Cromwells Hände gefallen und von ihm veröffentlicht worden,
sondern Fairfax schickte sie dem Parlamente, das ihre Veröffent-
lichung beschloß. Der Name ironsides (nicht ironsiders, wie
Hauck S. 45 und 114 schreibt) ist nach der Schlacht von Marston
Moor nicht den Kürassieren Cromwells verliehen worden, sondern
damals wurde nur Cromwell selbst von Rupprecht ironside ge-
nannt. Die (von Brosch herrührende) Obersetzung „Eisenrippen"
statt ,, Eisenseiten'' ist falsch. In einem 1831 geschriebenen Essay
gebraucht Macaulay neben Worten höchster Anerkennung für die
großen Eigenschaften Cromwells den Ausdruck „halb Fanatiker
halb Possenreißer''. Aber diese aus dem Zusammenhang heraus-
gerissenen Worte sollten heute nicht mehr als Charakteristik
Cromwells gegeben werden. W. Michael.
Huffschmidt druckt einen Reisebericht des B. de Mon-
conys (t 1665) über Heidelberg wieder ab, 1664, mit interessanten
Nachrichten über den Kurfürsten Karl Ludwig als Gelehrten und
Sammler (Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg
Bd. 8, Heft 1).
E. Hörn handelt über den letzten großen Hexenbrand in
Deutschand, 1676 (Quellen und Forschungen zur Deutschen, bes.
Hohenzollernschen Geschichte, 5. Jahrg., 1. Halbbd.).
H. F. H e 1 m o 1 1 veröffentlicht Briefe der Herzogin Elisabeth
Charlotte 1. nach Modena, Turin, Stockholm, aus den Jahren 1672
bis 1722 (Histor. Vierteljahrschrift, 11. Jahrg., 3. Heft), 2. an die
Königin Sophie Dorothea von Preußen, 1716-1722 (Histor. Jahr-
buch der Görres-Ges. 29. Bd., 2./3. Heft).
Leicht und angenehm liest sich Nazelles Geschichte des
Protestantismus in Saintonge und Aunis von der Aufhebung des
Edikt von Nantes bis zur Revolution (L. N a z e 1 1 e , Le protestan-
tisme en Saintonge sous le regime de la r^vocation 1685—1789.
Paris, Fischbacher. 1907. 329 S.). Ohne sehr in die Tiefe zu
dringen, setzt Verfasser die Provinzialgeschichte in Verbindung
mit den allgemeinen Schicksalen des französischen Protestantis-
mus in jener Zeit und mit den herrschenden Ideen. An die
Großartigkeit des Camisardenkampfes reicht der Widerstand in
den Küstengegenden nicht entfernt heran, zeitigt aber doch durch
die Auswanderung und besonders durch die Einrichtung der
„maisons d'Oraison^ (Scheunen, die nur im Innern zu Predigt-
häusern umgewandelt sind) eigenartige Formen. Nazelles Dar-
stellung darf Objektivität im allgemeinen nachgerühmt werden,
wenn sich auch der protestantische Gesichtspunkt nirgends ver-
leugnet: nur Fdn^lon ist er nicht gerecht geworden. A. E.
670 Notizen und Nachrichten.
F. de Bojani handelt im papalen Sinne über die Be-
ziehungen Ludwigs XIV. zum römischen Stuhl gegen Ende des
17. Jahrhunderts {Revue d'histoire diplomatique, ann6e 22, no. 3).
R. Fage publiziert sechs Briefe von Baluze an F^ndlon,
1703—1705 {Revue historique t. 98, II).
R. Engelmann teilt Briefe von Philipp Stosch mit (1715
bis 1732), der den Grundstein der Großen Berliner Gemmensamm-
lung legte und über ein Menschenalter in der italienischen Ge-
lehrtenrepublik eine Stellung einnahm wie kaum wieder ein Deut-
scher nach ihm (C. Justi) (Archiv für Kulturgeschichte 6. Bd.,
3. Heft).
Ebenda veröffentlicht Th. Renaud eine Reisebeschreibung
des Chr. A. v. Anacker von Lissabon nach Wien (1733): „13.(Aug.)
sahen wir eine Insul, mit Nahmen zwar heilig Land (Helgoland),
in der That aber Deuffelsland, denn lauter Hexenleuth allda
wohnen. Sie seind Pilots, so die Schiffe in die Elbe führen, und
so man ihnen nicht giebt was sie begehren, so offt in mehr denn
100 fl. bestehet, so machen sie gleich Donnerwetter oder machen
sonst einen Schaden im Schiff.*"
H. S^e handelt über die politischen Ideen Voltaires, der
nach ihm viel weniger abstrakter Theoretiker als praktischer
Reformer gewesen ist. Auch Voltaires Dramen sind zum Teil
Mittel politischer Propaganda, so Mahomet, Olympie, Gu^bres,
Don P^dre {Revue d'historique tome 98, II).
In einer kleinen, etwas schweriällig geschriebenen, aber
gründlichen Untersuchung behandelt Kurt Glaser ^Montesquieus
Theorie vom Ursprung des Rechts" (Wiss. Beilage der Oberreal-
schule Marburg a. L. 1907). Bei vielfacher Anlehnung an Hobbes'
Gedankengänge kommt Montesquieu doch zu dem von Hobbes
ganz abweichendem Ergebnis, daß nicht der Zustand des allge-
meinen Krieges, sondern das Schwächegefühl und Anlehnungs-
bedürfnis die Menschen zur Gründung rechtlicher Ordnungen
veranlaßt hat. Die Untersuchung wirft auch in manche Falten
der Hobbesschen Theorie Licht
Die Richtung der Geschichtschreibung, die zeigen will, daß
die französische Revolution das notwendige Ergebnis aus den Zu-
ständen Frankreichs vor 1789 war, hat sich vielfach auf das
Journal des Marquis d'Argenson berufen, so namentlich ihr Haupt-
vertreter Taine. d'Argenson schildert die Zustände Frankreichs
unter Ludwig XV. als trostlos und spricht schon um 1750 von
dem Kommen einer Revolution. Begreiflicherweise zieht die
uere Richtung, die die Komplexität des historischen Verlaufs,
1648-1789. 671
der zu Revolution führt, betont und eine günstigere Auffassung vom
ancUn regime fiat, die Glaubwürdigkeit d'Argensons in Zweifel.
So hat schon Roustan, Les philosophes et la socUt^ franpaise au
XVIIß sUcle 1906 die Unzuverlässiglieit d'Argensons hervor-
gehoben, ebenso Willert in der Cambridge history und Wahl.
Ein Schüler des letzteren, Durand, führt nun in den „Abhand-
lungen zur mittleren und neueren Geschichte^ Heft 6 (Berlin und
Leipzig 1908) im einzelnen den Nachweis, daß die Memoiren
des Marquis d'Argenson als das Werk eines enttäuschten
Ehrgeizigen und schlecht unterrichteten Zeitgenossen nur mit
großer Vorsicht zu benutzen sind. G. /C.
H. H a u s e r hat in einer Schrift : Les compagnonnages d'arts
et m^tiers ä Dijon aux I7t et 18* sUcle (Paris 1907, 220 S.) das in
den Archiven von Dijon befindliche sehr reiche Material über
die Gesellenverbände ( compagnonnages ), das seine Schüler unter
seiner Anleitung gesammelt und bearbeitet haben, mit einer Ein-
leitung versehen, die in vortrefflicher Weise über die Organi-
sation und Geschichte der Dijoner Gesellenverbände orientiert.
Entgegen anderen Meinungen setzt Hauser ihren Ursprung ziem-
lich spät an; die ersten Zeugnise aus Dijon reichen nur bis an
die Wende des 15. und 17. Jahrhunderts zurück, und Verfasser
nimmt an, daß die Verbände nicht viel früher entstanden sind.
Ihre Organisation entspricht im allgemeinen dem von anderwärts
her Bekannten. Hauser betont den interlokalen Charakter der
Verbände und zeigt, wie die Beherrschung der Arbeitsvermittlung
ihr wichtigstes Ziel bildete. Ihr wirksamstes Kampfmittel war
die Sperre, die über einzelne Meister und selbst über eine ganze
Stadt verhängt werden konnte und mit großer Energie und be-
deutendem Erfolge durchgeführt wurde. Verfasser erzählt dann
weiter die Versuche, welche die Meister und die Staatsgewalt
unternommen haben, um die Macht der Gesellenverbände zu
brechen und ihnen die Arbeitsvermittlung zu entziehen. Versuche,
die infolge der Schwäche der Behörden und der Verschiedenheit
der Interessen, die unter den Meistern selbst bestand, gescheitert
sind. Bis zum Ende des Ancien Regime ist es den Gesellen-
verbänden in Dijon geglückt, ihre Organisation und ihre Herr-
schaft über den Arbeitsmarkt allen Anfechtungen zum Trotz auf-
rechtzuerhalten.
Göttingen. Paul Darmstaedter.
Pierre Lef eu vre behandelt in einer tüchtigen und auf sorg-
fältigen archivalischen Studien beruhenden Arbeit Les communs
en Bretagne ä la fin de fanden regime (1667—1789) (Rennes
672 Notizen und Nachrichten.
1907, XL u. 180 S.) die Geschichte der Allmenden (Communs)
der Bretagne im letzten Jahrhundert des Ancien Regime. Die
Allmenden umfaßten in der Bretagne beinahe die Hälfte der ganzen
Bodenfläche, und die Frage, wem das Eigentum und die Nutzungs-
rechte an ihnen zustanden, war gerade in dieser Provinz von
besonderer Bedeutung. Infolge der außerordentlich schwierigen
Rechtslage, die der Verfasser scharfsinnig auseinandersetzt, ent-
standen zahllose Prozesse zwischen den Seigneurs und den
Bauern, die hier wie in anderen Provinzen zweifellos viel zur
Verbitterung der Landbevölkerung beigetragen haben. Bei der
Frage der Verwertung der Allmenden tritt indes nicht nur ein
Gegensatz der Interessen zwischen Grundherr und Bauer, sondern
auch ein Widerstreit zwischen den verschiedenen Schichten der
Bauernschaft deutlich hervor. Die Arbeit Lefeuvres, die in erster
Linie eine rechtsgeschichtliche ist, kann auch als ein wertvoller
Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des vorrevolutionären Frank-
reichs bezeichnet werden.
Göttingen. PatU DarmstaedUr.
de Germiny setzt seine Studien über englische Seeräube-
reien unter Ludwig XV. bis 1755 fort (Revue des questions histo^
riques, 1. Juillet 1908).
Einen liebevollen Biographen hat der Theatiner Sterzinger,
der wackere Bekämpfer des Hexenwahns in Bayern, in Hans
Fieger gefunden (Dr. Hans Fieger, P. Don Ferdinand Ster-
zinger, Lektor der Theatiner in München, Direktor der historischen
Klasse der kurbayer. Akademie d. Wiss., Bekämpfer des Aber-
glaubens und Hexenwahns und der Pfarrer Geßnerschen Wunder-
kuren. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in Bayern
\inter Kurfürst Maximilian III. Joseph. München und Berlin,
R. Oldenbourg. 1907. 275 S. mit 2 Stammtafeln). Die Rede, die Ster-
zinger am 13. Oktober 1766 in der Münchener Akademie der
Wissenschaften gegen den Hexenwahn hielt, entlehnte ihre Argu-
mente im wesentlichen italienischen Vorgängern und entbehrte
der Originalität. Als einen hervorragenden Kopf hat sich Ster-
zinger weder dadurch noch durch seine historischen Arbeiten,
die sich auf dem Gebiete der ältesten bayerischen Geschichte
bewegen, erwiesen. Aber die Rede war eine kühne, mannhafte
Tat, sie hat bedeutende und hochverdienstliche Wirkungen her-
vorgebracht und den Namen des Redners unsterblich gemacht.
Nochmal ist Sterzinger dem Aberglauben in wirksamster Weise
entgegengetreten, als er die exorzistischen Wunderkuren des
Pfarrers Geßner bekämpfte, deren Realität von vier Professoren
1648—1789. 673
aus verschiedenen Fakultäten der Universität Ingolstadt anerkannt
wurde. Hier leitete Sterzinger die gesunde Einsicht, daß es sich
bei diesen Heilungen um geheime Naturkräfte handle. Das Neue
der Fiegerschen Schrift liegt zumeist in diesem Kapitel, ferner
in den genealogischen Aufschlüssen über Sterzingers Ahnen, die
lange Zeit Erbsalzfaktoren in Nassereit am Fuße des Fernstein-
passes waren, in der Schilderung der Lehr- und Wanderjahre
und hinwiederum der letzten Lebensjahre seines Helden. R.
A. Rosenlehner beschließt seine Arbeit über die Grund-
lagen des Wirtschaftslebens in Bayern unter dem aufgeklärten,
von Ickstatt beratenen Maximilian 111. Joseph, Vorgänger Karl
Theodors (Forschungen zur Geschichte Bayerns 16. Band,
3. Heft).
P. Clement-Simon gibt einen Überblick über Preußens
Orientpolitik, 1736 — 1871 (Revue d'hisioire diplomatiquej ann^e 22,
no. 3).
A a g e F r i i s , Bernstorffsche Papiere Bd. 2. Kopenhagen
und Christiania 1907. — In dem 1. Bande war im Verhältnis zu
Umfang des Buches gar zu wenig wichtiges historisches Material
geboten, was ich in meiner Besprechung (H. Z. 98, 401 f.) nicht
verschweigen durfte. Meine damalige Angabe, die folgenden Bände
würden die drei jüngeren Bernstorffs behandeln, hat sich als ein
Mißverständnis erwiesen. Der vorliegende bringt Korrespon-
denzen J. H. E. Bernstorffs mit zahlreichen Personen, unter denen
manche Berühmtheit, wie Geliert, Klopstock, Christian VII., Vol-
taire, die Pompadour. Er ist wesentlich reichhaltiger an wichtigem
Material für die politische und kulturelle Geschichte sowohl Däne-
marks als anderer Länder. Die Affäre Struensee — die übrigens
auch im ersten Bande in einigen Briefen Johann Hartwig Ernsts
vorkommt — ist diesmal vielfach berührt und dürfte dadurch
manche Aufklärung erfahren. Aus der Zeit Friedrichs des Großen
ist manches Interessante gegeben, namentlich Aufzeichnungen
des Völkerrechtslehrers Hübner über Verhandlungen mit Choi-
seul, 1759. Auch in diesem Bande hätte wohl viel Unwichtiges
ausgemerzt werden können. Er weist auf 812 Seiten 639 Num-
mern auf. A, V, Ruville,
Die Mitt. d. Ver. f. Gesch. u. Landesk. von Osnabrück 32
(1907) bringen einen Aufsatz von R. Hofmann: ,,Justus Moser,
der Vater der deutschen Volkskunde."
P. Cultru handelt in der Rev, de, Synth, hist, 16,2 von
Quellen und Literatur zur Geschichte der französischen Kolonien
vor 1789 (j,Les colonies franpalses sous l'ancien regime').
674 Notizen und Nachrichten.
Neue Bficher: d* Echirac, La jeunesse du marächal de
BelU'Isle (1684—1726). (Paris, Champion.) — Einaudi, La
finanza sabauda aii'aprirsi del secolo XVIII e durante la guerra
di successione spagnuola. (Torino, Soc. tip. ed. Nazionale. 20 Lire.)
— Hassall, The expansion of Great B ritain, 1715- 1789. (Lon-
don, Rivingtons. 3 sh.) — Friedrichs des Großen Brief-
wechsel mit Voltaire. Herausg. von Koser und Droysen. 1. Tl.
(Leipzig, Hirzel. 12 M.) — Robb ins, George, Earl of Macartney,
first British ambassador to China. (New York, Dutton. 5 Doli.)
— Acta borussica. Münzgeschichtlicher Teil. 2. Bd, Die Be-
gründung des preußischen Münzsystems durch Friedrich d. Gr.
und Grauman, 1740—1755. Darstellung von Frdr. v. Schrötter,
Akten bearb. von G. Schmoller und Frdr. v. Schrotte r. (Berlin,
Parey. 14 M.) — Joh. Jos. Khevenhüller- Metsch, Aus der
Zeit Maria Theresias. Tagebuch 1742—1776. Hrsg. von Rud.
Graf Khevenhüller-Metsch und H. Schütter, 1745—1749. (Wien,
Holzhausen. 14 M.) — Dorschel, Maria Theresias Staats- und
Lebensanschauung. (Gotha, Perthes. 4M.) — Muratori, Episto-
lario, edito e curato da Matteo Cämpori. XI (1745—1748). (Modena^
Soc. tip. modenese. 12 Lire.) — Rappoport, The curse of the
Romanovs. A study of the lives and the reigns of two tzars,
Paul I. and Alexander I. of Russia, 1754—1825. (London, Chatto.
16 sh.) — Willson, George III. as man, monarch, and states-
man. (London, Jack. 12,6 sh.) — Marquis de Bouill^, Sou-
venirs et fragments pour servir aux Mimoires de ma vie et de
mon temps, 1769— I8I2, publ. par P.-L. de Kermaingant. T. IL
(Paris, Picard et fils. 8 fr.) — Marie Antoinette : Ihre Briefe als
Dauphine und Königin. Übertr. von M. Sudnarb. (Berlin, Bran-
dus. 3,50 M.) — Glagau, Reformversuche und Sturz des Abso-
lutismus in Frankreich (1774—1788). (München, Oldenbourg.
7,50 M.) — Ziekursch, Das Ergebnis der friderizianischen
Städteverwaltung und die Städteordnung Steins. (Jena, Coste-
noble. 6 M.) — Lux, Johann Kaspar Friedrich Manso, der schle-
sische Schulmann, Dichter und Historiker. (Leipzig, Quelle
£ Meyer. 8 M.)
Neuere Geschichte seit 1789.
Paul Lacombe widmet dem Sozialisten Jean Jaur^s, dem
Geschichtschreiber der konstituierenden Nationalversammlung,
Ausführungen voll lebhafter Anerkennung, doch mit Ablehnung
des politischen Grundgedankens („Les historiens de la Revolution :
Jean Jaur^s" ; Rev. de Synth, hist. 16, 2).
Neuere Geschichte. 675
Im Maiheft 1908 der Revolution Franpaise behandelt Mau-
berger den chef de brigade le Firon (1765—1799). G. Deville
geht dem Ursprung der Worte socialisme und socialiste nach und
findet sie etwas früher belegt, als bisher angenommen wurde,
nämlich socialisme 1831 und socialiste 1833. Wie zu erwarten war^
treten diese Worte ursprünglich immer in scharfem Gegensatz zu
individualisme, individualiste auf.
M. I. Guillaume: Procis-verhaux du Comiti d* Instruction
publique de la Convention nationale, Tome VI. Paris , Imprimerie
nationale, 1907. XLVIII u. 960 S. — Dieser Band, der die wert-
volle Publikation (vgl. H. Z. 92, 177 und 98, 222) der Protokolle
der Unterrichtskommission des Konvents zum Abschluß bringt,
enthält die Protokolle der 117 Sitzungen, welche dieser Ausschuß
vom 26. März bis 26. Oktober 1795 abhielt. Wie den früheren
so ist auch diesem Bande eine treffliche Einleitung vorausge-
schickt, welche die Unterrichtsgesetzgebung des in den Proto-
kollen behandelten Zeitraums im Zusammenhang mit der allge-
meinen politischen Entwicklung beleuchtet. Mehr und mehr
kommt im Jahre 1795 der gegenrevolutionäre Geist zum Durch-
bruch und äußert natürlich auch seine Einwirkung auf die Schul-
gesetzgebung: Ein Konventsmitglied konnte jetzt die Hoffnung
als chimärisch bezeichnen, daß je alle Franzosen lesen und
schreiben lernen würden; so wurde denn im Gesetz vom 3. Bru-
maire III das Prinzip der allgemeinen obligatorischen und freien
Volksschule geopfert, und zugleich die Lehrer für ihren Unter-
halt wieder auf das Schulgeld ihrer Zöglinge angewiesen. Ein
7. Band soll das alphabetische Register zur ganzen Sammlung
enthalten; außerdem kündigt der Herausgeber als Fortsetzung
die Veröffentlichung der Unterrichtsakten aus der Zeit des Direk-
toriums an.
Göttingen. Paul Darmstaedter.
Die Rev. des Questions Histor, 1. Juli 1907, enthält folgende
Beiträge: Welvert zerstört la Ugende de Lakanal unter Be-
nutzung der kürzlich veröffentlichten Akten des comiti de rin-
struction publique des Konvents. Man wird in Zukunft den Ein-
fluß Lakanals sehr viel niedriger einschätzen müssen, auch gerade
auf die Neugestaltung des Schulwesens. Die Oberschätzung des
Mannes beruht darauf, daß er häufig Berichterstatter seines
Comit^s war. Sehr interessant ist eine Arbeit, die L. Soutif
u. d. T. une soci^t^ de culte catholique ä Paris pendant la pre-
mUre Separation; la paroisse Saint-Eustache (\79b— 1902) beginnt.
Er zeigt an der Hand der Akten u. a., daß in der Regierung
676 Notizen und Nachrichten.
dieser mit reichen Mitteln ausgestatteten Gesellschaft das Laien-
element stark vorwog. Sie übte, gegen den Buchstaben des Ge-
setzes, die Rechte einer juristischen Person aus. S^rignan
setzt seinen von uns im letzten Hefte erwähnten Aufsatz über
das Leben in den revolutionären und kaiserlichen Armeen fort,
während A. Durand einen Teil einer demnächst erscheinenden
Biographie des Kapuziners de Barjac veröffentlicht u. d. T. un
pritre proscrit pendant la Revolution.
In der 1. Juni-Nummer der Rev. des Deux Mondes findet sich
die Fortsetzung der von uns im letzten Hefte erwähnten Arbeit
Augustin -Thierrys über den Obersten Foumier etc. de La-
combe veröffentlicht (1. Juli) den ersten Teil einer Artikelserie
über Talleyrand imigr^, der den Aufenthalt in England 1792—1794
behandelt und mit der Abreise in die Neue Welt endigt. Die
zweite Anwesenheit Talleyrands in London im Jahre 1792 beruhte
auf keiner Mission, sondern auf Emigration. Wir sehen Talley-
rand den Sturz der Monarchie auf das heftigste verurteilen.
Trotzdem bleibt er in Verbindung mit seiner Regierung, der er
treffliche Ratschläge erteilt, de Wyzewa bespricht (15. Juli)
Vautobiographie d'un sans-culotte allemand (F. Gh. Laukhards
Leben und Schicksale von ihm selbst beschrieben, neu herausg.
von Petersen, 1908).
Die letzten Tage der acadämie de France in Rom im Jahre
1793, die vor den Drohungen des römischen Pöbels auseinander-
ging, erzählt, ohne neues Material zu benutzen, Guiffrey im
Journal des Savants vom Mai 1908.
P. Moräne, Paul /«• de Russie avant l'avinement 1754 ä
1796, Paris, Libr. Plön, 1907. 452 S. — Eine sehr breite, nirgends
in die Tiefe gehende Biographie Pauls bis zu seiner Thronbestei-
gung, die mit Behagen vielerlei für den Historiker ganz gleich-
gültiges Detail erzählt und gelegentlich auch Erörterungen (wie
S. 277 ff. über Alexis Bobrinski , den Sohn Katharinas II. und
Gregor Orlows) bringt, die gar nicht herein gehören. Das Buch
ist ganz so gemacht wie die bekannten Arbeiten Waliszewskis
über Katharina IL, nur ein ganz Teil weniger interessant als diese,
und wie diese für die Erkenntnis der russischen Geschichte zu
bewerten. O. H,
Comte Fddor Golowkine, La cour et la regne de Paul /«*,
Portraits, Souvenirs et Anecdotes. Avec introduction et notes par
S. Bonnet, Paris, Libr. Plön. 1905. — Das 448 S. starke Buch
enthält eine historische Einleitung von 96 S. über die Golowkins
im allgemeinen und dann Erinnerungen des Grafen Feodor Go-
Neuere Geschichte. 677
lowkin (1766 — 1823) über den Hof und die Regierung Pauls, die
aus dem Archiv des Schlosses Monnaz in der Nähe von Lau-
sanne veröffentlicht werden. Sie sind in der Chronologie nicht
überall zuverlässig und geben einen sehr geringen Ertrag zur
Geschichte Pauls. Noch weniger bedeutungsvoll sind die an-»
gehängten, beinahe den Hauptteil des Buches ausmachenden
jiPorträts, Erinnerungen und Anekdoten'', die derselbe Verfasser
aufgezeichnet hat Diese betreffen eine ganze Reihe russischer
und nichtrussischer Persönlichkeiten und sind zumeist oberfläch-
lich und nicht sonderlich interessant. Das Buch ist keine wesent-
liche Bereicherung der russischen Geschichtsliteratur. Hübsch
sind die beigegebenen fünf Porträts. 0. H.
Aus den reichen Schätzen des Marwitzschen Familienarchivs
in Friedersdorf veröffentlicht Meusel in den Mitteilungen der
Lit Gesellschaft Masovia H. 13 drei Beiträge: 1. ,,Ein Stimmungs-
bild nach der Schlacht von PreuBisch-Eylau." Es handelt sich
um einen anonymen Bericht, als dessen Verfasser der Königs-
berger Kaufmann Krause ermittelt wurde und der in interessanter
Weise zeigt, wie große Hoffnungen in Patriotenkreisen die un-
entschiedene Schlacht geweckt hatte. 2. „Die englische Gesandt-
schaft nach Preußen 1806/07" und 3. »Die Schlacht von Friedland
(14. Juni 1807)", beide aus Marwitz' Memoiren, sind willkommene
Ergänzungen der Meuselschen Marwitz-Publikation.
Eine Reihe sehr interessanter Briefe der Königin Luise, des
Kronprinzen Friedrich Wilhelm (IV.), des Generals von der Mar-
witz und des späteren Kaisers Wilhelm, alle dem Marwitzschen
Familienarchiv entstammend, veröffentlicht Meusel ferner in der
BeiL z. Voss. Zeitung vom 31. Mai und 7. Juni 1908. Bemerkens-
wert ist dabei u. a. Marwitz' Versuch, 1816 den Kronprinzen gegen
die Boyensche Landwehrordnung einzunehmen und des Kron-
prinzen Antwort darauf. Wir fügen aber den dringenden Wunsch
hinzu, daß der verdiente Herausgeber seine Publikationen, die er
jetzt überall verstreut erscheinen läßt, mehr konzentriere (vgl.H.Z.
101, 393). Es ist schon jetzt nicht leicht, alle bisher erschienenen
Meuseliana zu überblicken. — Über die beiden großen Veröffent-
lichungen Meusels und der Luise v. d. Marwitz handelt ein Essay
von H. V. Petersdorff in der Deutschen Rundschau, August
1908.
Aus der Nouvelle Revue vom 15. Mai 1908 notieren wir:
Raffalowich, Le sUge de Graudenz en 1807; aus der Nuova
Antologia, 1. Juli 1908: Cappello, Napoleone I in Italia nel
1807 e l'esercito italico de' quei tempL
678 Notizen und Nachrichten.
Zur Tauroggenfrage sind drei weitere Arbeiten von Thimme
2u erwähnen: 1. Hat General v. Yorck die Konvention von Tau-
roggen auf Grund einer geheimen Instruktion vollzogen oder
nicht? (Jahrb. f. d. deutsche Armee und Marine, März 1908).
2. Das Seydlitzsche ,,Tagebuch'' des Yorckschen Korps im Feld-
zuge von 1812 (Forsch, z. brandenburgischen etc. Gesch. XX, 2).
3. Die geheime Mission des Flügeladjutanten v. Wrangel (1812)
<ebd. XXIy 2). Vor allem die zweite und dritte sind für die Frage
von erheblicher Bedeutung und düriten viele Zweifler für die An-
schauungen des Verfassers gewinnen. Die zweite weist an der
Hand von Seydlitzschen Familienpapieren nach, wie geringfügig
die Änderungen waren, die von dem früheren Adjutanten Yorcks^
dem Generalmajor von Seydlitz, verlangt wurden, als er 1823 das
„Tagebuch** veröffentlichte. Von dem ganzen Abschnitt über
die Konvention von Tauroggen ist nichts beanstandet oder gar
gestrichen worden. Die Annahme, dafi Seydlitz ursprünglich die
Initiative Yorcks schärfer hervorheben wollte, ist also hinfällig.
Der dritte Beitrag wendet sich zunächst gegen Thimmes Kri-
tiker. Dann aber bringt er aus Wrangeischen Papieren u. a. den
Nachweis, daß der Flügeladjutant v. Wrangel schon 1810 und 1818
gelegentlich in der kritzeligen und unleserlichen Weise ge-
schrieben hat, wie bei jenem viel erörterten Eintrag in sein
Tagebuch. Dieser braucht also keineswegs erst in hohem Alter
eingefügt zu sein. Damit ist wohl der letzte Einwand gegen
ihn beseitigt. Ferner veröffentlicht Thimme Teile einer Denk-
schrift Wrangeis an Nesselrode, die schon 1818 folgenden Satz
hat: la conduite future du G. Yorck (unzweifelhaft ist die Kon-
vention gemeint I) ^tait une suite des ordres secrets que je lui
avais partes du Roi; ferner Teile eines nach dem Tode Fried-
rich Wilhelms III. seinem Nachfolger von Wrangel eingereichten
Lebensabrisses, der, ähnlichen Inhalts wie Tagebuch und Brief
von 1838, ebenfalls wichtig ist.
In der Revue Bleue vom 18. Juli 1908 veröffentlicht Lair das
Urteil des bekannten P. F. Dubois über den Marschall Marmont
(„certaine aatisfaction de lui-mime un peu vulgaire; ... // ^crit
m^diocrement et d'une fapon commune").
Th. Bitterauf, Napoleon I. (Aus Natur und Geisteswelt
195.) Leipzig, B. G. Teubner. 1908. VIII u. 109 S. — Ein flottes
Werkchen, das auf acht im Wintersemester 1905/06 im Münchener
Volkshochschulverein gehaltenen Vorträgen beruht. Es steckt
eine Menge Wissen und fleißiger Arbeit darin, aber auch eigene
Gedanken und vor allem frische, öfters fördernde Urteile. Auf
Neuere Geschichte. 679
der anderen Seite wird es durch eine Reihe von sachlichen (und
stilistischen) Verstößen entstellt, von denen folgende angemerkt
seien: S. 14. Im Vend^miaire 1795 tobte der Kampf hartnäckiger
nicht ,,gegen die Rue St. Honor^ und die Rochuskirche hin*',
sondern in der Rue St. Honor^. Zu S. 31. Der Rastatter Kon-
greß ging nicht erst nach dem Gesandtenmord auseinander.
S. 54 lesen wir: „kein Deutscher Bundesgenoß stand . . . Preußen
zur Seite" (im Kriege von 18061). S. 57 (1807): „ein ähnliches
Schicksal wie Kopenhagen drohte durch die englische Flotte
Lissabon"! S. 59. Voilä un komme heißt: Siehe da ein Mann,
nicht „ein Mensch" ! Zu S. 75. Es ist ungenau zu sagen, der C. N.
habe „den Erbadel beseitigt" und „die Ehescheidung ermöglicht".
Er hat vielmehr in ersterem Punkte die revolutionäre Gesetz-
gebung nur aufrechterhalten, in letzterem dagegen sehr erheblich
eingeschränkt. S. 77. Es ist eine verwerfliche KUrze, mit der
Bitterauf von Chateaubriand schreibt: „aber nach dem Tode des
Herzogs von Enghien fiel er in Ungnade." Kein nicht Einge-
weihter kann daraus den Sachverhalt entnehmen! Durch seine
fast schrankenlose Bewunderung Napoleons verleitet, liefert Bitter-
auf S. 82 folgenden Widerspruch: Er betont die staunenswerte
Riesenleistung, wie die ungeheuren Menschenmassen (1812) „mit
allem Nötigen versehen wurden". Das ist gerade, was sie nicht
wurden, und drei Zeilen weiter wird das auch von Bitterauf rück-
haltlos zugegeben: „Am ärgsten litten die Truppen, noch ehe sie
vor den Feind kamen, unter der mangelhaften Verpflegung." —
Möchte doch dieser so gut veranlagte Forscher sich endlich dazu
entschließen, seine immer interessanten Schriften erst dann zu
veröffentlichen, wenn sie wirklich in jeder Hinsicht völlig aus-
gereift sind! WahL
Otto Liermann, Das Lyceum Carolinum, ein Beitrag zur
Geschichte des Bildungswesens im Großherzogtum Frankfurt.
(Beil. z. Progr. des Wöhler-Realgymnasiums in Frankfurt a. M.
Ostern 1908.) Frankfurt a. M. 70 S. — Das Büchlein behandelt
in fleißiger und anschaulicher Weise eine ephemere Schöpfung
Dalbergs (1812— 1814), die, auf französischen Vorbildern beruhend,
die Zwischenstufe zwischen dem herabgedrückten Gymnasium
und der „Universität", d. h. der Summe von auch örtlich ge-
trennten Fachschulen, bilden sollte. Nach einem einleitenden
Abschnitt über Dalberg schildert Liermann zuerst den Lehrkörper
(sechs Professoren), den Leiter und den Kurator der Anstalt, dann
den Studienplan (vier Semester!) und das äußere und innere
Leben des Lyzeums. Von akademischer Freiheit war natürlich
tSO Notizen und Nachrichten.
in keinem Sinne die Rede. Der bedeutendste unter den Pro-
fessoren war der nachmalige Heidelberger Historiker Schlosser,
der später hervorragendste Student J. F. Böhmer. Wahl.
Professor Dr. Franz Müller, Karl Friedrich v. Cardeil, ein
Demminer als Königl. Schwedischer Generalfeldzeugmeister etc.
Demmin 1908. 77 S. — Die kleine Schrift ist in äußerst wunder-
licher Weise abgefaßt und handelt außer von ihrem Gegenstand
auch noch von sehr vielen anderen Dingen, aber sie zeugt von
starker Begeisterung für ihren Helden, den Reorganisator der
schwedischen Artillerie (1764 — 1B21), und vor allem für seine und
des Veriassers Vaterstadt Demmin. WaM.
Im Anschluß an die Memoiren der Comtesse de Boigne
(H. Z. 101, S. 459) und andere neue Veröffentlichungen handelt
Marquis Costa de Beauregard über le manage secret de
madame la duchesse de Berry mit dem Marchese Luchesi-Palli
(Revue des Deux Mondes, 15. Juni).
E. Cartier veröffentlicht in der Revue des Deux Mondes
vom 1. Juli Briefe aus der Correspondance de Guizot avec
L^once de Lavergne (aus den Jahren 1838 — 1874) seinem politi-
schen Gesinnungsgenossen und Freunde.
Im Augustheft der „Süddeutschen Monatshefte* publiziert
Alfr. Stern „Aktenstücke zur Geschichte der Ausweisung Hcr-
weghs aus Zürich 1843*.
Die Fortsetzung der S. 460 erwähnten Veröffentlichung aus
den Briefen von und an Karl Mathy aus dem Frühling 1849
(Deutsche Revue, Juliheft) enthält Korrespondenzen von Becke-
rath, Gagern, Völderndori und Mohl mit Mathy und zwei Briefe
von Charlotte Duncker an Mathys Frau.
An das neue wichtige Buch Friedjungs über die Geschichte
Österreichs 1841 — 1861 knüpfen ausführliche Besprechungen an
von O. Weber in den Mitteilungen des Vereins für die Ge-
schichte der Deutschen in Böhmen 1908 und von E. Daniels
in den Preußischen Jahrbüchern, Juni- und Juliheft (Osterreich
als deutscher Einheitsstaat unter der Reaktion).
Ober „Bismarck als preußischen Landtagsabgeordneten'
handelt in Nr. 30 und 31 der Grenzboten Otto Tschirch: die
Wahlen in Brandenburg-Zauche-Belzig 1849 im Februar und Juli,
mit manchen Einzelheiten aus den Zeiten der Wahlbewegung und
Bismarcks Beziehungen zum Kreise bis zum Ende seines Man-
dats 1852. Über „Bismarcks Freundschaften* stellt H. v. Peter s-
dorff im Augustheft des Türmers eine bunte Menge von Nach-
Neuere Geschichte. 681
richten zusammen, ohne tiefer auf das vielversprechende Thema
einzugehen.
Unter der Oberschrift „Bismarck in Frankfurt a. M." ver-
öffentlicht H. v. Poschinger Auszüge aus Privatbriefen Bis-
marcks an den Ministerpräsidenten Otto v. Manteuffel aus den
Jahren 1851-1858 (Deutsche Revue, Juliheft). Der gleichen Quelle
— dem Nachlaß Manteuffels — entstammen wohl die im August-
heft derselben Revue publizierten Bruchstücke „aus der unver-
öffentlichten Korrespondenz Kaiser Wilhelms I.^ (mit Manteuffel,
aus dem Jahre 1853).
Zu den neuerdings viel erörterten Anfängen des Bismarck-
schen Ministeriums ist auf einen Artikel von M. Philippson
»Wie wurde Bismarck Minister?" im Feuilleton der Frankfurter
Zeitung Nr. 170, 1. u. 4. Blatt vom 20. Juni, zu verweisen.
In den Mitteilungen des K. u. K. Heeresmuseums 1907, Heft 3
hat O. Weber mit einer orientierenden Einleitung „Erinne-
rungen eines österreichischen Offiziers aus dem
mexikanischen Feldzuge 1864 — 1867" veröffentlicht: die Aufzeich-
nungen des damaligen Leutnants Adolf Stöhr, der als Frei-
williger Ende 1864 nach Mexiko kam, 1867 in österreichische
Dienste zurücktrat. Die Niederschrift der „Erlebnisse" ist jeden-
falls viel späteren Datums; über den Zeitpunkt ist nichts ver-
merkt.
Mit Interesse, aber nicht ohne Kritik wird man den Aufsatz
von Germain Bapst über „Die Monarchen in Paris im Jahre
1867 und das Attentat Berezowskis" aufnehmen. Bapst berichtet
„nach den Papieren und Gesprächen des Marschalls Canrobert''
(Deutsche Revue, Juli- und Augustheft).
Die 1. Juni-Nummer der Revue des Deux Mondes setzt die
Veröffentlichungen aus E. Olliviers VEmpire liberal, deren
zuletzt S. 461 gedacht ist, fort: la polUique exUrieure aprks le
pUhiscite; der Artikel umfaßt die Zeit bis zu den letzten Juni-
tagen.
Weitere Mitteilungen aus den „Tagebuchaufzeichnungen'
von Baron Gramm bringen Schilderungen über das Leben im
Bunsenschen Hause in Heidelberg 1855—1866, über einen Besuch
bei Garibaldi 1876, eine Audienz Pius' IX. 1877 und eine Unter-
redung mit Canovas del Castillo und Alfons XII. in Madrid 1878
(Deutsche Revue, Augustheft).
Aus ^La Revue'' notieren wir einen Aufsatz von P. de Fres-
sens^: L'Angleterre pendant la guerre de 1870 und von dem
Historiiche Zeitschrift (tOl. Bd.) a. Folge 5. Bd. 44
6B2 Notizen und Nachrichten.
bekannten Politiker v. Koscielski einen Artikel: la question
polonaise en Prusse, der zugleich in der Contemporary Review
vom Juli erschienen ist (Ihe poliah question in Prussia), für den
Historiker von Wichtigkeit nicht als wissenschaftliches, sondern
politisches Dokument, vgL dazu Ostmark, Augustheft und im
allgemeinen H. Z. 101, S. 462.
In der Nouvelle Revue vom 1. Juni finden wir einen Artikel
von Bern US, Les relations anglo-aUemandes ä la fin du
X!X^ sUcU und in der Revue de Paris vom 1. Juli von B6rard,
L'ctuvre d'tdouard V!L
Martin Spahn hat sich, wie es scheint, ganz auf die Be-
schäftigung mit der Geschichte der politischen Parteien Deutsch-
lands in den letzten Jahrzehnten verlegt (vgl. H. Z. 101, S. 225;
99, S. 687). Aus solchen Studien ist vermutlich der Aufsatz im
Augustheft des Hochland über .Die christlich-soziale Partei der
Deutschen Österreichs* erwachsen. Nach Spahn ist diese Partei
„in trefflicher Verwirklichung das, was das deutsche Zentrum
sein möchte, eine große christlich-deutsche Reichspartei', Lueger
„der berühmteste und bedeutendste Mann unter allen Oster-
reichem'. Der ganze Artikel ist stark panegyrisch gehalten.
Paul Matter bespricht in der Rev. de Synth, hist. 16, 1 unter
dem Titel ,L'Allemagne de 1815 ä 1890' alle wichtigeren, diesem
Zeitraum geltenden Werke der letzten zehn Jahre.
Neue Bficher: Pirez de Guzmdn y Gallo, Estudios dela
vida, reinado, proscripMn y muerte de Carlos IV y Maria Luisa
de Borbön, reyes de Espana. (Madrid, Impr. de Rat^s Martin.
4 Pes.) — Gontier, Les assembl^s parlementaires Institutes par
Necker et le mouvement r^formateur. (Paris, Larose et Tenin.) —
Braesch, Rapport adressi ä M. le Ministre de V Instruction pu-
blique sur les documents relatifs ä la Revolution franpaise ä Paris,
conserv^s au British Museum ä Londres. (Paris, Impr. nationale.)
— Departement du Card. Cahiers de doUances de la sinächaussie
de Ntmes pour les itats giniraux de 1789, publiäs par E. Bligny-
Bondurand. T. 1^. (Ntmes, Impr. Chastanier.) — Actes de la
Commune de Paris pendant la Revolution, publiäs et annotäs
par Sigism. Lacroix. 2t sirie (du 9 octobre 1790 au 10 aoAt 1792).
T. 1—5. (Paris, Noblet.) — La Correspondance de Marat, re-
cueillie et annoUe par Ch. Vellay. (Paris, Fasquelle. 3J50 fr.) —
Les Neuf et Dix Thermidor, an II de la Ripublique (27 et 28juillet
1794). Pikees commSmoratives et documents däcrits par A. Marty.
^ Paris, Marty.) — Gachot, Histoire militaire de Mass/na. Le
Neuere Geschichte. 683
SUge de Gines (1800); la Guerre dans l' Apennin; Journal du
blocus; les Operations de Sachet. (Paris, Plön, Nourrit ^ Cie.
7,50 fr.) — Wygodzinskiy Wandlungen der deutschen Volks-
wirtschaft im 19. Jahrhundert. (Köln, M. Du Mont-Schauberg. 3 M.)
— Lampson, A consideration of the State of Ireland in the
nineteenth Century, (London, Constable. 18 sh.) — Leplus, La
campagne de 1900 ä l'arm/e des Grisons, (Paris, Chapelot,) —
Before and after Waterloo: Letters front Edward Stanley, some-
time bishop of Norwich, 1802, 1814, 1816. (London, Unwin. 14 sh.)
. — Masson, Le Sacre et le Couronnement de Napoleon. (Paris,
Ollendorf f. 7,50 fr.) — Guerrini, La campagna napoleonica
del 1805. Vol. II: la manovra d'Ulm. (Torino, Tip. Olivero e C.)
— Chlapowski, M^moires sur les guerres de NapoUon (1806
ä 1813); traduits par J. V. Chelminski et A. Malibran. (Paris,
Plön, Nourrit A Cie.) — Sauzey, Les Allemands sous les aigles
franfaises, essai sur les troupes de la Confiddration du Rhin
(1806—1813). IV. (Paris, Chapelot.) — Gigais ki, Die wichtigsten
Schlachten des Krieges zwischen Preußen und Frankreich im
Kriege 1806/07 im Zusammenhang mit den vorhergehenden und
den nachfolgenden Ereignissen. (Braunsberg, Grimme. 1 M.) —
Correspondance du comte de La Forest, ambassadeur de France
en Espagne (1808—1813), publice par G. de Grandmaison. T. II.
(Paris, Picard et fils. 8 fr.) — Pratt, The Waterloo campaign.
(London, Sonnenschein. 5 sh.) — Comte de Las Cases, Mi-
moires de NapoUon /«♦' (le ^Mimorial de Sainte-HiUne" ). T. II.
(Paris, Cocuaud A Cie.) — v. H eifert, Zur Geschichte des
Lombardo-venezianischen Königreichs. (Wien, Holder. 8,80 M.) —
Festy, Le mouvement ouvrier au ddbut de la monarchie de Juillet
(1830—1834). (Paris, Corndly.) — Mdmoires de^ la comtesse de
Boigne, nie d'Osmond , publUs par Charles Nicoullaud. IV.
1831—1866. (Paris, Plön, Nourrit A Cie.) — Whi taker, Sicily
and England: Political and social reminiscences , 1848—1870.
(London, Constable. 10,6 sh.) — Parent, La crise politique et
budgitaire prussienne de 1862 ä 1866. (Paris, A. Rousseau.) —
Nirrnheim, Das erste Jahr des Ministeriums Bismarck und die
öffentliche Meinung. (Heidelberg, Winter. 16 M.)— de Marcire,
Histoire de la Ripublique de 1876 ä 1879. Premiire partie. (Paris,
Plön, Nourrit ^ Cie.) — N^djmidin, Völkerrechtliche Entwick-
lung Bulgariens seit dem Berliner Vertrage von 1878 bis zur
Gegenwart. (Bonn, Georgi. 3 M.) — Stil lieh. Die politischen
Parteien in Deutschland. 1. Bd. Die Konservativen. (Leipzig,
Klinkhardt. 5 M.) — Sergeant, The last empress of the French.
Being the life of the empress Eugenie, wife of Napoleon lll. (Lon-
44»
684 Notizen und Nachrichten.
don, Laurie, 12,6 sh,) — Marcuse, Serbien und die Revolutions-
bewegung in Makedonien. (Berlin, Kraus. 3 M.) — Coolidge»
Die Vereinigten Staaten als Weltmacht Obers, von Walt Lich-
tenstein. (Berlin, Mittler t Sohn. 6 M.)
Deutsche Landschaften.
Aus der Zeitschrift t d. Gesch. d. Oberrheins N. F. 23, 3
erwähnen wir an dieser Stelle den Beitrag von P. Wentzcke:
Zur älteren Geschichte des Augustinerstifts Ittenweiler, der die
Gründung höher hinaufrückt und ältere Papstprivilegien mitteilt,
und die Zusammenstellung der badischen Geschichtsliteratur für
das Jahr 1907 durch H. Bai er.
In der Revue d'Alsace 1908, Juli-August macht A. Gasser
den vergeblichen Versuch, den von H. Bloch im ersten Halbband
der Regesten der Bischöfe von Straßburg erbrachten Nachweis,
dafi Grandidier als der Fälscher der Annales breves Argentinenses
zu betrachten sei, mit Berufung auf den moralischen Charakter
Grandidiers zu erschüttern. — Wir erwähnen weiterhin noch zwei
Aufsätze von J. Bourgeois und Ed. Gasser: jener schildert
die Reise, die Ludwig XIV. im Jahre 1673 von Markirch aus ins
Elsaß unternahm ; dieser trägt Quellenstoff zur Geschichte des in
der Revolutionszeit untergegangenen Klosters Masmünster zu-
sammen, ohne davon Kenntnis zu haben, dafi die von ihm abge-
druckte Urkunde von 823 eine Fälschung ist.
Einen hübschen Beitrag zur Schulgeschichte gibt Heinrich
Veil, Das Schulfest des Straßburger Gymnasiums im 18. Jahr-
hundert (Straßburg i. E. 1906. Besondere Beilage zum Jahres-
bericht des Protest Gymnasiums zu Straßburg. 71 S.). Einen
Hauptbestandteil der Schulfeste bildeten die Schülerdialoge, von
denen VeHasser eine reichhaltige handschriftliche Sammlung be-
nutzen konnte. Auch auf die Beziehungen des Gymnasiums zur
Universität fällt dabei manches neue Licht. Das enge Band
zwischen Schule und Stadt wurde durch die Revolution zerstört;
doch hat der protestantisch- kirchliche Charakter des Gymnasiums^
den die französischen Regierungen anerkannten, ihm seine innere
Selbständigkeit und sein deutsches Wesen gewahrt: «dies in Er-
innerung zu bringen, dürfte heutzutage nicht unangezeigt sein,,
wo der Bestand der alten Stiftung von St. Thomas und die Selb-
ständigkeit des Gymnasiums neu bedroht erscheinen" (nämlich
durch die reichsländische Regierung).
Hermann Flamms Buch „Der wirtschaftliche Niedergang
Freiburgs i. Br. und die Lage des städtischen Grundeigentums im
Deutsche Landschaften. 685
14. und 15. Jahrhundert* ( Volks wirtsch. Abhandlgen. d. bad. Hoch-
schulen, Bd. 8, Erg.-Bd. 3. Karlsruhe, Braun 1905) bietet einen
wichtigen Beitrag nicht nur zur Wirtschaftsgeschichte Freiburgs,
sondern auch zur deutschen Stadtgeschichte Überhaupt und wird
dadurch besonders interessant, daß sich der Verfasser von den
Freiburger Verhältnissen aus mit wichtigen neueren Theorien zur
städtischen Wirtschaftsentwicklung auseinandersetzt. Freiburg
hatte im Jahre 1385 9000—9500 Einwohner, — um 1500 dagegen
5600 — 5800. Dieser Niedergang war von inneren wirtschaftlichen
Wandlungen begleitet: Die ehemalige Kaufmannsstadt wurde ini
15. Jahrhundert vorwiegend Handwerkerstadt. Damit änderte sich
auch ihr wirtschaftspolitisches System, das sich aus dem einer
freien Verkehrswirtschaft in das der geschlossenen Stadtwirtschaft
umsetzte. Diese gilt dem Verfasser zugleich als Niedergangs-
erscheinung. Daneben liegen ihm die Ursachen des Verfalls auch
außerhalb der Stadt und sind in erster Linie in dem Erstarken
der Landeshoheit zu suchen, die zu Ungunsten der alten, bisher
dominierenden städtischen Gemeinwesen neue bevorzugte und
förderte, die jene überholten und ihnen Stagnation und Rückgang
bereiteten. Gegen Sombart stellt der Verfasser schließlich fest,
daß das Vermögen der Freiburger Kaufleute seit dem 14. Jahr-
hundert nicht aus der Steigerung der Grundrente, die ja infolge
des Bevölkerungsrückganges sank, entstanden ist, sondern sich
auf dem Handelsgewinn aufbaute. /C.
Zu den leider noch seltenen Untersuchungen über die Finanz-
geschichte der deutschen Staaten in der neueren Zeit wird durch
A. J. Fin eisen „Die Akzise in der Kurpfalz" (VolkswirtschaftL
Abh. d. bad. Hochschulen, Bd. 9, Heft 1. Karlsruhe, Braun 1906)
eine sehr willkommene Ergänzung gefügt. Die Akzise wurde in-
folge der verheerenden Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges
im Jahre 1664 durch Karl Ludwig eingeführt und zwar als -Ergän-
zungssteuer zu der schon früher bestehenden Vermögenssteuer
(Schätzung), zu dem ihr wesensverwandten Wein- und Bier-
ungeld und zu indirekten Kriegssteuern. Sie war zunächst Ab-
gabe von ausländischen Weinen, Getreide, Fleisch, Papier und
Pergament, wurde im Jahre 1668 auf Wein, der den Charakter
der Ware hatte, ausgedehnt und im Jahre 1680 verdoppelt. Johann
Wilhelm erweiterte sie 1699 durch größere Differenzierung und
Vermehrung der Steuerobjekte zu einer „Universalakzise" und
fügte ihr eine drückende Lizent hinzu, die Karl Philipp jedoch
im Jahre 1717 wieder aufhob. Die Akzisen, unter denen die auf
Papier eine Sonderstellung erhielt, blieben bis 1803 bestehen. Die
Untersuchung enthält neben den rein steuergeschichtlichen Tat-
686 Notizen und Nachrichten.
Sachen auch solche zur Verwaltungsgeschichte und zur Geschichte
der wirtschaftlichen Theorien und beseitigt manche Irrtümer, die
bisher über die pfälzische Finanzgeschichte bestanden.
Köln. Bruno Kuske.
Aus dem Archiv d. histor. Vereins f. Unteriranken u. Aschaffen-
burg 49 verzeichnen wir die Beiträge zur Geschichte des fränki-
schen Geschlechts von Steinau genannt Steinrück, die besonders
die Zugehörigkeit der Familie zum Hochstift Würzburg und ihren
dort gelegenen Güterbesitz berücksichtigen (R. v. Steinau-
S t e i n r ü c k), die Ausführungen über eine humanistische Lobrede
(Peter Luders?) auf den späteren Würzburger Dompropst Kiüan
von Bibra (f 1494) aus dem Anfang der 50er Jahre (M. Buchner)
und die Bestandsübersicht der Rulandschen Handschriftensamm-
lungy mit der vor einem Menschenalter mancherlei fränkische
Archivalien widerrechtlich in den Besitz der vatikanischen Biblio-
thek gelangt sind (Th. J. Scherg).
A. Schröder veranschaulicht im Jahrbuch d. histor. Vereins
Dillingen 20 die Wirtschafts- und Veriassungsgeschichte des Hoch-
stifts Augsburg an einer im Münchener Reichsarchiv bewahrten
Statistik des Amtes Oberdori, die von dem in den Jahren 1540
bis 1571 dort als Vogt schaltenden Peter Galsberg hergestellt ist.
Das ehemalige Benediktiner-Adelsstift Weifienohe in der
Zeit vom Landshuter Erbfolgekrieg bis zur Wiedererrichtung
(1504—1669) nebst einem Anhang über die Vorgeschichte des
Klosters. Nach archivalischen Quellen bearbeitet von Dr. Hans
R ä b e 1. Druck von J. M. Reindl (Bamberger Tagblctt-Veriag).
Mit Abbildungen und urkundlichen Beilagen. 588 S. Die Geschichte
der oberpfälzischen Klöster hat mit Ausnahme des hervorragend-
sten, der Reichsabtei Waldsassen, in der Literatur bisher nur
spärliche Beachtung gefunden. Um so mehr wird man die mit
gewissenhafter Sorgfalt unter ausgiebiger Benutzung der Archive
von Amberg, Bamberg, Nürnberg, Eichstätt, München gearbeitete
Schrift Räbels begrüßen, die .nur hier und da allzusehr in die
Breite geht. Räbel erbringt den Beweis für Scholliners Ver-
mutung, daß das an der alten Handelsstraße von Forchheim nach
Regensburg gelegene Kloster eine Gründung des bayerischen
Pfalzgrafen Aribo 11. (f 1002) war, und macht zugleich wahr-
scheinlich, wie die falsche Klostertradition entstehen konnte,
welche die Grafen von Hirschberg als Gründer nennt. Nach
seiner Annahme war Weißenohe in der ältesten Zeit reichs-
unmittelbar. Aber das Recht der freien Vogtwahl (S. 43) kann
das nicht beweisen. Sonst müßte man auch Klöster wie Tegern-
Deutsche Landschaften. 687
see, Wessobrunn (vgl. Mon. Boic, VI, 178; VII, 384) als reichs-
unmittelbar betrachten. Dann unter der weltlichen Hoheit der
Kurfürsten von der Pfalz stehend, kam das Kloster, das nur
Adelige in seinen Konvent aufnahm, infolge des Landshuter Erb-
folgekrieges 1504 an die Reichsstadt Nürnberg. Ein Versuch des
Abtes Eucharius, die weltliche Oberhoheit dem Bistum Bamberg
zu verschaffen, gab Anlafi zu einem durch Jahrhunderte sich fort-
ziehenden Jurisdiktionsstreite zwischen Bamberg und Nürnbergs
Rechtsnachfolgern. 1521 fiel Weißenohe durch einen Vertrag mit
Nürnberg an die Kurpfalz zurück und unter dem Pfalzgrafen Ott-
heinrich teilte es das Schicksal aller oberpfälzischen Klöster, in
ein weltliches Klosteramt umgewandelt zu werden. Seit 1621
wieder unter katholischer, bayerischer Herrschaft, wurde es jedoch
erst 1669 dem Benediktinerorden zurückgestellt. Besonders wert-
voll sind die neuen Aufschlüsse über diese Restitution des
Klosters im Zusammenhang mit der Wiedererrichtung der übrigen
oberpfälzischen Klöster (6. Kapitel). Das Schlußkapitel behandelt
den (immer sehr niedrigen) Personalstand und die Erträgnisse
des Klosters, seine Amts- und Dienstverhältnisse, seine Unter-
tanen und Besitzungen, Lehen-, Steuer-, Scharwerksverhältnisse,
Armenwesen, Gerichtsbarkeit, Rechnungswesen, Bibliothek u. a.
R.
Eine Reihe beachtenswerter Abhandlungen bietet das trierische
Archiv, Heft 12, 1908: Bruno Markgraf erörtert nach den Weis-
tümem der Moselgegend das Güte- (Sühne- und Schiedsgericht-)
Veriahren. — Die zahlreichen Einzeluntersuchungen über die
deutsche Bauernbewegung von 1525 ergänzt P. Hausteins Ab-
handlung ^Wirtschaftliche Lage und soziale Bewegungen im Kur-
fürstentum Trier während des Jahres 1525"; sie schildert 1. die
Lage der Bauernschaft, 2. des niederen Bürgerstandes, 3. die Un-
ruhen des Jahres 1525, die in Trier nur mäßige Ausdehnung
hatten und schon im Keime vom Kurfürsten mühelos unterdrückt
werden konnten. — Eine bisher nicht verwertete Urkunde des
Jahres 1351 zur Geschichte der Trierer Hausgenossen veröffent-
licht G. Kentenich. Nach seiner Ansicht sind die Haus-
genossen, ursprünglich Ministerialen des Erzbischofs, bereits
während des 12. Jahrhunderts aus Beamten freie Gewerbetrei-
bende geworden.
Von H. Pesch, Bürger und Bürgerrecht in Köln, Diss^
Marburg 1908, wird die Entwicklung des Bürgerrechtes als Grund-
lage der neuen VeHassung vom »Verbundbrief* des Jahres 1396
(U.September) bis etwa 1797 dargestellt.
688 Notizen und Nachrichten.
Unter dem Titel „Anfänge des landesherrlichen Kirchen-
regiments am Niederrhein'' referiert J. Hashagen in den Monats-
heften f. rheinische Kirchengesch. (herausgeg. v. W. Rotscheidt-
Lehe) Jahrg. 2, 1908 über die Ergebnisse der Redlichschen
Publikation „Jüüch-Bergische Kirchenpolitik am Ausgange des
Mittelalters*. Vgl. die ausführlichere Besprechung in der West-
deutschen Zeitschr. 1907.
Derselbe Verfasser ,,Zur Geschichte der Presse in der Reichs-
stadt Köln", in d. Ann. d. Hist. Ver. f. d. Niederrhein, Heft 85,
liefert einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der öffentlichen
Meinung am Rhein, indem er den Einfluß der allgemeinen Auf-
klärungsbewegung auf die Kölner Presse in den letzten Jahr-
zehnten des alten Reichs an ausgewählten Journalen festzustellen
sucht.
J. Hashagen, „Zeiten der Fremdherrschaft in Mühlheim
a. d. Ruhr' in der Denkschrift zur Hundertjahrfeier der Stadt
Mühlheim a. d. Ruhr (Druck von Jul. Bagel, Mühlheim 1908) ver-
sucht ferner darzulegen, inwieweit die französische Verwaltung
(1806—1813) fördernd oder schädigend die Entwicklung der Stadt
Mühlheim und des Großherzogtums Berg bestimmt habe.
Von einer umfassenden für die „Abhandlungen zur Verkehrs-
und Seegeschichte' bestimmten Arbeit Beruh. Hagedorns „Ost-
frieslands Handel und Schiffahrt im 16. Jahrhundert* erscheint
der erste Teil, der Handel und Schiffahrt Ostfrieslands zu Beginn
des Jahrhunderts darstellt, soeben (Juni 1908) als Berliner Disser-
tation.
In der Zeitschr. d. Ver. f. hessische Gesch. u. Landeskunde,
Bd. 41, 1908 handelt Ad. Henkel über die Saline Sooden a. d.
Werra unter den Landgrafen Philipp dem Großmütigen und Wil-
helm IV. (1538—1586), L. Armbrust über Göttingens Beziehungen
zu den hessischen Landgrafen von 1328 — 1400, die Beteiligung
der Stadt an den mainzischen Kriegen 1400—1405 (mit 87 urkl.
Beilagen von 1339—1404), v. Dalwigk über den Anteil der
Hessen an der Schlacht von Hastenbeck am 26. Juli 1757, F.
Küch über Siegel und Wappen der Stadt Kassel.
Das im Juni 1907 gefeierte Jubiläum des 900jährigen Be-
stehens der Stadt Zerbst — zum Jahr 1007 wird Zerbst zum
erstenmal vom Chronisten Tietmar als oppidum bezeichnet — hat
H. Wäschke Anlaß gegeben, die Zerbster Ratschronik in zwie-
facher Gestalt, im Original und in hochdeutscher Obersetzong
(Dessau, C. Dünnhaupt, 1907) von neuem herauszugeben» Heinr.
Deutsche Landschaften. 689
Becker verfaßte als Festschrift eine „Geschichte der Stadt
Zerbst* (Kommissionsverlag von Friedr. Gast, Zerbst 1907).
P. Wappler schildert in den Mitteil. d. Altertumsvereins f.
Zwickau u. Umgegend, Heft 9, 1908 auf Grund eingehender archi-
valischer Studien im Zwickauer Ratsarchiv und im Gesamtarchiv
Weimars die gegen Wiedertäufer und andere Sektierer in Zwickau
geführten Inquisitions- und Ketzerprozesse (1528 bis etwa 1548),
„im Zusammenhange mit der Entwicklung der Ansichten Luthers
und Melanchthons über Glaubens- und Gewissensfreiheit'.
Bd. 21 der Forsch, z. brand. u. preuß. Gesch., erste Hälfte
1908 wird eröffnet durch eine Untersuchung W. Füßleins über
die Vormundschaft für Markgraf Ludwig d. Alteren (1323—1333);
das Ergebnis hat F. am Schluß (S. 38) zusammengefaßt. — Eine
Ergänzung zu Br. Hennigs Kirchenpolitik der älteren Hohenzollern
bietet M. Gilows Abhandlung über die Dalminer Fehde von
1444, die für die Geschichte der geistlichen Gerichtsbarkeit be-
deutungsvoll, möglicherweise der unmittelbare Anlaß zur ge-
setzlichen Regelung der Streitigkeiten auf dem mittelmärkischen
Landtage von 1445 gewesen ist. — Aus P. Czygans Feder
stammt der Aufsatz über die französische Zensur während der
Okkupation von Berlin und ihren Leiter, den Prediger Hauchecorne,
in den Jahren 1806—1808. — Zum Teil auf eben veröffentlichtem
Material der Acta Borussica baut sich die ansprechende Abhand-
lung A. Skalweits auf über „König Friedrich den Großen und
die Verwaltung Masurens^, die Pläne des großen Königs und
seines Vaters zur Errichtung einer eigenen Verwaltung, eines
„besonderen Deputationskollegiums'' für Masuren. Ist hiermit
eine Art Vorgeschichte der neuen Aliensteiner Regierung gegeben,
80 läßt sich auch das Projekt zum Bau des nunmehr durch Land-
tagsbeschluß vom 6. April 1908 gesicherten masurischen Kanals
bis in die Zeiten Friedrichs des Großen und seines Ministers
Domhardt zurückverfolgen. — Fei. Stiller schildert die Ent-
wicklung des Berliner Armenwesens bis zum Jahre 1820.
Die wichtigsten Akten des bekannten Prozesses der Stadt
Kiel gegen den preußischen Fiskus, vor allem drei eingehende
Gutachten O. Gierkes, R. Schröders, C. A. Volquardsens, die beiden
Urteile erster und zweiter Instanz sind in den Mitteilungen der
Ges. f. Kieler Stadtgeschichte, Heft 23, 1908 („Akten zum Hafen-
prozeß der Stadt Kiel, 1899-1904«) von C. Rodenberg ver-
öffentlicht worden. Der Anhang enthält zwei Untersuchungen
über die Echtheit des Kieler Stadtprivilegs vom Jahre 1242
(Rodenberg und G und lach).
690 Notizen und Nachrichten.
Ew. Hörn, „Die katholisch-polnische Universitätspolitik
Preußens vor hundert Jahren", in der Zeitschr. d. Hist Ges. f. d.
Prov. Posen, Jahrg. 23, erster Halbbd. 1908 sucht neues Interesse
zu erwecken fUr einstmals (zwischen 1793 und 1807) lebhaft ge-
führte Verhandlungen über Gründung neuer Universitäten in den
1793 bzw. 1795 erworbenen polnischen Provinzen Südpreußen und
Neuostpreußen zu Thorn bzw. Culm, Errichtung katholisch-theo-
logischer Lehrstühle in Frankfurt und Königsberg, Pläne, die den
Zweck hatten, die südpreußischen und neuostpreußischen Polen
mit Hilfe eines staatsfreundlich erzogenen Klerus zu entnationa-
lisieren, die aber seit Abtretung der Provinzen im Tilsiter Frieden
von selbst wegfielen. Als letzter „Ausläufer' jener Bestrebungen
erscheint die Gründung der katholisch-theologischen Lehranstalt
zu Braunsberg (1818).
Th. Wotschke veröffentlicht in der Altpreuß. Monatsschrift,
Bd. 45, Heft 3, 1908 Briefe Herzog Albrechts von Preußen an den
polnischen Reformator Johann Laski.
B. Bretholz hat die 1907 eHolgte Übersiedelung des seiner
Leitung anvertrauten Archivs In neue, vortrefflich eingerichtete
Räume zum Anlaß genommen, um in einer schön ausgestatteten
Festschrift das mährische Landesarchiv, seine Ge-
schichte, seine Bestände zu schildern (Brunn 1906, Verlag
des Landesausschusses, 161 u. IX S. 4^ 15 Tafeln). Der Wert
des Buches übertrifft bei weitem die Erwartungen, die man an
eine Gelegenheitsschrift zu knüpfen pflegt. Die beigefügten Ur-
kundenfaksimile und die farbig wiedergegebenen Miniaturen ein-
zelner Handschriften dienen nicht bloß dem äußeren Schmuck,
sondern sie sind dankenswerte Hilfsmittel für diplomatische, paläo-
graphische und sphragistische Studien. Die Obersicht der Archiv-
bestände ist ein willkommener Führer für Arbeiten auf dem Ge-
biet der mährischen Landesgeschichte und der österreichischen
Geschichte überhaupt; an mehreren Punkten, besonders in der
erst 1907 aus Schloß Pimitz ins Landesarchiv übertragenen fürst-
lich Collaltoschen Sammlung ragt der Inhalt des Archivs weit
hinaus über das provinziale Interesse. Ein lehrreiches und trotz
einzelner Schatten im ganzen sehr erfreuliches Bild bietet auch
die vorangestellte Geschichte des Archivs. Seitdem 1839 ein
eigener ständischer Archivar bestellt wurde, der zugleich die
Würde eines Landeshistoriographen innehatte, sind hier archiva-
lische und historiographische Pflichten in eigentümlicher Weise
verknüpft gewesen. Die Fülle der Aufgaben, welche infolgedessen
auf dem jeweiligen Archivar lasteten, hat die Einhaltung fester
Deutsche Landschaften. 691
Tradition vielleicht etwas erschwert, aber sie hat auch vor Ein-
seitigkeit bewahrt und der Wissenschaft große Dienste geleistet.
Möchte der mährische Landesausschuß, dem die Kreise der
Historiker für Herausgabe dieses Werkes und für so viele der
Anstalt gebrachte Opfer zu wärmstem Dank verpflichtet sind,
glücklich auf dieser Bahn fortfahren und auch durch Bereitstel-
lung etwas zahlreicherer geschulter Arbeitskräfte die gleichmäßige
Pflege der verschiedenen bisher so rühmlich eingeschlagenen
Richtungen dauernd sicherstellen. E,
Durch die erstmalige wissenschaftliche Verarbeitung eines
schwer zu sichtenden, ungefügen Stoffes hat Max Vancsa sich
ein dankbar anzuerkennendes Verdienst erworben. Der erste
Band seiner ^^GeschichteNieder-undOberösterreichs*
(Allgemeine Staatengeschichte. Dritte Abteilung: Deutsche Landes-
geschichten. Sechstes Werk. Gotha 1905. F. A. Perthes. 12 M.)
bietet nach dem seinerzeit von Riezler in der Geschichte Bayerns
aufgestellten Muster eine gut lesbare Darstellung der Entwicklung
der beiden Kronländer bis zur Begründung der Habsburgischen
Herrschaft. Zum Teile in der Eigenart des Stoffes und der bisher
geleisteten Vorarbeit ist es begründet, daß Vancsas Vorhaben
trotz des aufgewandten Fleißes nicht vollkommen gelungen ist,
gegen die Anlage im allgemeinen, die Behandlung im einzelnen
Widerspruch und Bedenken erhoben werden können, die ich in
einer ausführlichen Besprechung (Gott. Gel. Anz. 1908, 287—310)
zu begründen versucht habe.
Graz. Karl Uhlirz.
In den Forsch, u. Mitt. z. Gesch. Tirols und Vorarlbergs,
Jahrg. 5, Heft 2, 1908 stellt Fl. Heinr. Haug das Itinerar Lud-
wigs V. des Brandenburgers zusammen (1323—1361). Herm. J.
Schwarzweber beginnt ebendaselbst eine Untersuchung über
„Die Landstände Vorderösterreichs im 15. Jahrhundert'' (Entstehung
des Territoriums und Bedeutung des Namens ^Vorderösterreich").
L. Arbusow, Grundriß der Geschichte von Liv-, Est- und
Kurland. 3. umgearb. Aufl. Riga, Jonck Ä Poliewsky. 1908. 291 S.) —
Der seit einiger Zeit vergriffen gewesene vortreffliche Grundriß
liegt jetzt etwas erweitert in 3. Auflage vor. Er gibt eine objek-
tive, etwas trockene Erzählung der Tatsachen, ohne zuviel Detail,
zuverlässig, klar und ausreichend orientierend. Die ausführliche
Schilderung geht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, ein knappes
Schlußkapitel führt dann bis zum Beginn der Russifikationszeit,
ohne diese selbst und die Revolution der letzten Jahre zu er-
zählen. Sehr wertvoll und angenehm sind die Kapitel 14, 28 und
692 Notizen und Nachrichten.
37, die zusammen eine brauchbare Quellenkunde geben, und die
Beilagen am Schluß: eine Karte, die synchronistische Regenten->
Übersicht und die Verzeichnisse der Hochmeister, livländischen
Ordensmeister und Bischöfe. Eine ganz kurze Obersicht der bal-
tischen Geschichte hat derselbe Verfasser soeben gegeben in der
sehr empfehlenswerten und wohlgelungenen Baltischen Bür-
gerkunde. Versuch einer gemeinverständlichen Darstellung
der Grundlagen des politischen und sozialen Lebens in den Ost-
seeprovinzen Rußlands (I.Teil. Riga, G.Löffler 1908). S. 127— 156.
O. //.
Neue Bücher: Heilmann, Die Klostervogtei im rechts-
rheinischen Teil der Diözese Konstanz bis zur Mitte des 13. Jahr-
hunderts. (Köln, Bachern. 3,20 M.) — Sifferlen, Das Sankt-
Amarintal. Geschichtliche Notizen. Deutsch von Fr.-A. Schaller.
1. Buch. (Straßburg, Le Roux t Co. 1,20 M.) — Des Grafen
Max. Jos. V. Montgelas Denkwürdigkeiten über die innere
Staatsverwaltung Bayerns (1799 — 1817). Hrsg. von Laubmann
und DoeberL (München, Beck. 7 M.) — Lurz, Mittelschul-
geschichtliche Dokumente Altbayerns. 2. Bd. (Berlin, Hofmann
^ Co. 16 M.) — Hibler, Geschichte des oberen Loisachtales
und der Grafschaft Werdenfels. (Regensburg, Verlagsanstalt.
3,60 M.) — Scheglmann, Geschichte der Säkularisation im
rechtsrheinischen Bayern. 3. Bd. Die Säkularisation in den 1803
definitiv bayerisch gewesenen oder gewordenen Gebieten. 2. Tl.
(Regensburg, Habbel. 8M.) — Goepfert, Amt Wallburg und Stadt
Eltmann. (Würzburg, Bauch. 3 M.) — Ahrens, Die Ministeria-
lität in Köln und am Niederrhein. (Leipzig, Quelle ^ Meyer.
3,50 M.) — Inventare der nichtstaatlichen Archive der Provinz
Westfalen. 1. Bd. Reg.-Bez. Münster. Heft 4 a. Kreis Coesfeld
(Nachträge). Bearb. von Schmitz-Kallenberg. (Münster,
Aschendorff. 2 M.) — Weddigen, Neues und Altes von der
,,roten Erde". Forschungen zur Geschichte und Kulturgeschichte
Westfalens und der lippeschen Lande. (Duisburg, Ewich. 2,50 M.)
— Nehlsen, Geschichte von Dithmarschen. (Tübingen, Laupp.
2,80 M.) — Ribes, La cour impMale de Hambourg (1811—1814),
(Paris, Giard & Brikre,) — Grote-Ebstorf, Beiträge zur Ge-
schichte der Elbinseln vor Hamburg. (Wilhelmsburg bei Ham-
burg, Veith. 1,50 M.) — Loewe, Bibliographie der hannover-
schen und braunschweigischen Geschichte. (Posen, Jolowicz.
15 M.) — Berth. Schmidt und Böhme, Geschichte der Stadt
Schieiz. 1. Bd. (Schleiz, Lämmel. 4 M.) — Treblin, Beiträge
zur Siedlungskunde im ehemaligen Fürstentum Schweidnitz.
(Breslau, Wohlfarth. 4M.) — Krische, Die Provinz Posen.
Vermischtes. 693
Ihre Geschichte und Kultur unter besonderer Berücksichtigung
ihrer Landwirtschaft. (Staßlurt, Weicke. 3,50 M.) — Urkunden-
buch der Stadt Krummau in Böhmen. Bearb. von Valent. Schmidt
und AI. P i c h a. 1 . Bd. (Prag, Cal ve. lOM.) — Pöpperl, Geschichte
des Niederlagsrechtes von Freistadt in Oberösterreich während
des Mittelalters. (Außig, Grohmann. 1,50 M.) — Acta Tirolensia.
3. Bd. Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges in Deutsch-
tirol 1525. 1. Tl. Beschwerdeartikel aus den Jahren 1519—1525.
Hrsg. von Wopfner. (Innsbruck, Wagner. 10 M.)
Vermischtes.
Vom 6.-12. August hat in Berlin der Internationale
Kongreß für historische Wissenschaften getagt. Die
Veranstaltung war durch ein Komitee unter dem Vorsitze der
Herren Koser, Ed. Meyer und v. Wilamowitz-Möllendorff vortreff-
lich vorbereitet; die Bureaus, die Auskunftserteilung und die Be-
richterstattung funktionierten in ausgezeichneter Weise. Und doch
brachte der Verlauf nicht wenige 0 berraschungen. Das Komitee
hatte auf eine Beteiligung von 3000 Mitgliedern gerechnet; die
Gesamtzahl stieg nur auf 1200. Auch solche, die Vorträge an-
gemeldet hatten, blieben aus, fortwährend mußte am Programm
geändert werden, für die Leitung eine harte Geduldsprobe. Vom
Auslande waren besonders England, Skandinavien, die Nieder-
lande und Rußland, auch die Vereinigten Staaten, Italien und
Griechenland gut vertreten. Die Mitglieder der europäischen
Missionen in Ägypten waren fast vollzählig erschienen. Dagegen
von den wenigen Franzosen aus Frankreich selbst, die sich an-
gemeldet hatten, blieb die Hälfte aus, und aus dem Deutschen
Reiche, aus Osterreich und der Schweiz waren bei weitem nicht
so viele Teilnehmer erschienen, als man nach dem Besuche
unserer Historikertage und der Versammlungen des Gesamtvereins
zu erwarten berechtigt war. Den Ausländern gegenüber, die auf
das Zusammentreffen mit deutschen Fachgenossen gerechnet
hatten, war man zuweilen in peinlicher Verlegenheit.
Unter den mannigfachen Abhaltungsgründen hat vermutlich
auch die Annahme, daß auf dem internationalen Kongreß in
wissenschaftlicher Hinsicht nicht viel zu gewinnen sei, eine Rolle
gespielt. Nach dem tatsächlichen Ergebnis kann man das nur
doppelt bedauern: es ist wohl mancher, der nur aus Pflichtgefühl
erschienen war, in Berlin, wie Heigel es bei der Schlußfeier in
Hamburg bekannte, aus einem Saulus ein Paulus geworden. Der
unleugbare Erfolg des Kongresses hing allerdings zum Teil wohl
694 Notizen und Nachrichten.
damit zusammen, daß der Maßstab für das Ganze zu groß ge-
wählt worden war und der Verlauf sich deshalb anders gestaltete,
als beabsichtigt gewesen sein mag.
Indem nämlich die Verhandlungen auf die nach Berliner Be-
griffen zwar nahe beieinander gelegenen, aber doch allzuweit ge-
trennten Räumen des Herrenhauses, des Hauses der Abgeord-
neten, des Kunstgewerbemuseums, des Museums für Völkerkunde,
der Philharmonie und des Architektenhauses verteilt waren, löste
sich der allgemeine Kongreß von selbst In eine Reihe wissen-
schaftlicher Fachversammlungen auf. Die verschiedenen Sektionen
kamen deshalb miteinander nicht recht in Berührung. Dafür ge-
staltete sich aber die wissenschaftliche Tätigkeit In den einzelnen
Sektionen um so intensiver: man sah, man hörte, man sprach
sich viel ausgiebiger und gründlicher, als es sonst wohl möglich
gewesen wäre.
Alte Bekannte, die Jahrzehnte lang einander nicht gesehen
hatten, schüttelten sich erfreut die Hand; auf denselben Gebieten
arbeitende Fachgenossen, die längst in wissenschaftlichem Aus-
tausch oder in brieflichem Verkehr gestanden, traten sich zum
ersten Male Auge In Auge gegenüber; an das erste flüchtige
Kennenlernen reihten sich eingehende Aussprachen; Verbindungen
wurden geknüpft, die sicherlich von Dauer sein werden. Unter
denen, die bis zuletzt aushielten, herrschte darüber nur eine
Stimme hoher Befriedigung.
Aber auch die Verhandlungen selbst müssen in allen Sek-
tionen fruchtbar gewesen sein. Wenigstens wurde von den ver-
schiedensten Seiten gerühmt, wie viel Gutes man doch gehört
habe und wie ertragreich die Diskussionen gewesen seien. Ein
die Leistungen abwägendes oder zusammenfassendes Gesamturteil
abzugeben, wäre freiüch ebenso unmögüch, wie eine Aufzählung
der wissenschaftlichen Ergebnisse aus den Sektionsverhandlungen.
Mit feinem Takt war dafür gesorgt worden, daß die Aus-
länder möglichst ausgiebig, in den allgemeinen Sitzungen aus-
schließlich, zum Worte kamen. In manchen Sektionen hörte man
fast mehr englisch und italienisch als deutsch, obwohl ein großer
Teil der Ausländer deutsch vortrug. Allgemein fiel es auf, wie
viele auswärtige Mitglieder des Kongresses die deutsche Sprache
beherrschten. Gleich in der Eröffnungssitzung zeigte sich das in
bemerkenswerter Weise, indem der Oxforder Philologe Reginald
W. Macon, der den Kongreß im Namen aller auf ihm vertretener
Universitäten mit einer von liebenswürdigem Humor gewürzten
Ansprache begrüßte, mit Goetheschen Strophen schloß, und der
Botschafter der Vereinigten Staaten in Berlin, David Jayne Hill,
Vermischtes. 695
den ersten Vortrag über die ethische Aufgabe des Geschicht-
schreibers in deutscher Sprache hielt. Von den zugelassenen
Sprachen fand allein das Lateinische keine Verwendung.
Die Berliner Gelehrten betätigten sich in der vortrefflichen
Leitung des Ganzen. Vor allem war aber seitens des Organisa-
tionskomitees dafür gesorgt worden, daß die wissenschaftlichen
Sammlungen der deutschen Reichshauptstadt durch ihre Direktoren
und Assistenten den auswärtigen Kongreßmitgliedern gezeigt und
erläutert wurden. Diese meist in die Nachmittagsstunden ver-
legten, höchst instruktiven Führungen in Museen, Archiven, Biblio-
theken und für den Kongreß eigens eingerichteten Sonderausstel-
lungen haben dem Berliner Kongreß ein besonderes Gepräge
verliehen.*) Die geselligen Veranstaltungen, für welche ein Lokal-
komitee unter Dr. Schiffs umsichtiger Leitung gesorgt hatte, ver-
einigten die sämtlichen Kongreßmitglieder immer wieder in un-
gezwungener Weise. Auch von den Berliner Fachgenossen und
ihren Damen ist das Erdenkliche geschehen, um den auswärtigen
Gästen die Kongreßtage höchst anregend zu gestalten. Der offi-
zielle Empfang seitens der Reichsregierung und der Stadt Berlin
war sehr würdevoll und doch nichts weniger als steif, und die
glänzende Aufnahme der Mitglieder des Kongresses, welche die
Fahrt nach Hamburg mitmachten, durch den Senat und die Unter-
richtsverwaltung der Freien und Hanse-Stadt sowie durch die
Direktion der Hamburg-Amerika-Linie bildete einen überaus wirk-
samen Abschluß des Ganzen.
In der letzten allgemeinen Versammlung wurde eine von
Vertretern der englischen Universitäten, Akademien und wissen-
schaftlichen Gesellschaften unterzeichnete Einladung überreicht,
den nächsten internationalen Kongreß in England abzuhalten.
Sie fand namentlich auch auf deutscher Seite freudige Aufnahme,
denn, wie Koser in seinen Schlußworten mit Recht hervorhob,
das Band wissenschaftlicher und persönlicher Beziehungen zwischen
den Historikern Großbritanniens und Deutschlands ist in den
Berliner Kongreßtagen sichtlich verstärkt worden, und gern werden
die deutschen Fachgenossen die von England aus dem Berliner
Kongreß erwiesene hervorragende Teilnahme in fünf Jahren dank-
bar erwidern. E, F.
^) Der praktische und inhaltreiche Führer durch Berlin und
seine wissenschaftlichen Institute, der für die Teilnehmer des
Kongresses ausgearbeitet worden ist, ist jetzt auch im Buch-
handel noch zu erhalten. (Berlin, W. Weber. Gebunden mit
Kartenmappe 2 M.)
6% Notizen und Nachrichten.
Dem Jahresbericht über die Herausgabe der Monumenta
Germaniae historica, den K o s e r der 34. Plenarversammlung der
Zentraldirektion vorgelegt hat, entnehmen wir folgendes. In der
Abteilung Scriptores ist der Schluß der Chronik des Salimbene
ed. Holder-Egger mit Appendices und Registern, aber ohne
die Vorrede und den Titel (= SS. XXXU, 2), in der Sammlung
der Scriptores rerum Qermanicarum die Ausgabe der sog. Mar-
bacher und anderer elsässischer Annalen von Bloch erschienen
(vgl. H. Z. 101, 198), vom Neuen Archiv 32, 3 und 33, 1 und 2.
Der Druck des 5. Bandes der Scriptores rerum Merovingicarum
(Kr u seh und Levison) steht beim 31. Bogen. Für die Scrip-
tores rerum Germanicarum liegt die Chronik des Helmold (be-
arbeitet von Schmeidler) bis auf den Schluß des Textes im
Manuskript vor, auch die von Hofmeister besorgte Ausgabe der
Chronik Ottos von Freising ist im wesentlichen abgeschlossen.
In derselben Sammlung wird v. Simson die Annales Xantenses
(790—870) und die Annales Vedastini (St. Vaast zu Arras, 874 bis
900) neu herausgeben. Der Druck des Liber certarum historiarum
Johanns von Victring (ed. Schneider) ist nur bis zum 8. Bogen
vorgeschritten, während Holder-Eggers Ausgabe der Cronica
Alberti de Bezanis im Drucke fast vollendet ist. Die Oktavaus-
gaben der Chronik des Cosmas von Prag (Bretholz) und der
Annales Austritte (Uhlirz) stehen noch in der Vorbereitung.
Der Druck der fränkischen Placita (bearbeitet von Tan gl) be-
ginnt soeben; Krammers Ausgabe der Lex Salica soll noch im
laufenden Jahre unter die Presse kommen. Der 2. Band der
fränkischen Concilia (ed. We r m i n g h o f f) ist im Druck weit vor-
geschritten, doch steht der Index verborum noch aus. Constitu-
tiones 4, 2 (ed. Schwalm) ist bis zum Bogen 161 gedruckt;
nach Abschluß dieses Bandes soll sofort mit der Drucklegung der
Akten Friedrichs des Schönen und Ludwigs des Bayern (= Con-
stitutiones 5 — 7) begonnen werden. Constitutiones 8 (den 1. Teil
der Akten Karls IV. enthaltend), herausgegeben von Zeumer,
wird voraussichtlich vor Jahresschluß zum Druck kommen. Von
den politischen Traktaten des 13. und 14. Jahrhunderts wird als
erster in Kürze die Determinatio compendiosa de iurisdictione
imperii ed. K r a m m e r in den Fontes juris Germanici erscheinen ;
den Marsilius von Padua wird Prof. Dr. Otto in Hadamar heraus-
geben. Dr. F. Bilge r in Heidelberg ist zur Bearbeitung der
Hof- und Dienstrechte des 11. bis 13. Jahrhunderts, die in die Fontes
juris Germanici aufgenommen werden sollen, gewonnen worden.
Diplomata Bd. 4, die Urkunden Konrads II. enthaltend, ist bis
auf die Beilagen und Register im Drucke vollendet (herausgegeben
Vermischtes. 697
von Breßlau unter Mitarbeit von Hessel und Wibel). Der
Druck des 5. Bandes der Diplomata kann bald beginnen. In der
Abteilung Epistolae mußte die für 1907 angekündigte Drucklegung
der Briefe des Papstes Nikolaus 1. (bearbeitet von Pereis) hinaus-
geschoben werden. Gymnasialdirektor Dr. Henze in Berlin hat
die Bearbeitung der Briefe Kaiser Ludwigs II. übernommen. In
der Abteilung Antiquitates ist die Ausgabe des Aldhelm von Sher-
borne (bearbeitet von Ehwald) zum großen Teil druckreif her-
gestellt. Die Nekrologien für den bayerischen Teil der Passauer
Diözese hofft Fastlinger Ende 1908 in Druck geben zu können;
die des östlichen Teiles dieser Diözese hat an Fastlingers Stelle
Pfarrer Dr. Fuchs O. S. B. in Brunnkirchen (Niederösterreich) zu
bearbeiten begonnen. In die zwei neu errichteten Assistenten-
steilen sind M. Krammer und E. Caspar eingetreten.
Die Mitteilungen der Württembergischen Kommission
für Landesgeschichte enthalten den Bericht über die dies-
jährige Sitzung der Kommission (Stuttgart, 14. Mai). Im Jahre
1907 sind außer den Württembergischen Vierteljahrsheften ver-
öffentlicht worden: Binder, Württembergische Münz- und Me-
daillenkunde, Heft 5, bearbeitet von Ebner; Briefwechsel des
Herzogs Christoph von Württemberg, Bd. 4 (1556—1559), bearbeitet
von Ernst; Heyd, Bibliographie der württembergischen Geschichte
4, 1, bearbeitet von Schön; Denk, Inventar des Finanzarchivs
(Rentkammer). Die Berichte der Kreispfleger zeigen, daß die
Ordnung und Inventarisierung der Archive und Registraturen
eifrig gefördert worden und in einzelnen Bezirken dem Abschluß
nahe gerückt ist. Professor Fuchs in Tübingen (bisher in Frei-
burg) ist zum ordentlichen Mitglied der Kommission ernannt
worden.
Der noch in den Anfängen stehende Verein zur Heraus-
gabe eines historis-chen Atlasses von Bayern hat,
dem Jahresbericht für 1907 zufolge, seine wissenschaftliche Tätig-
keit mit umfassenden Vorarbeiten für die Territorienkarte von
1802 begonnen. An diesen Arbeiten sind beteiligt: Dr. Buchner,
der an die Stelle des im Berichtsjahre ausgeschiedenen ständigen
Mitarbeiters Dr. Hausenstein getreten ist, Dr. joetze, Frei-
herr V. Karg-Bebenburg und Dr. Knöpf 1er. Der wünschens-
werten Erweiterung des Mitarbeiterkreises „steht die Finanzlage
des Vereins noch immer hindernd entgegen*, obwohl jetzt neben
der Mehrzahl der ehemaligen Reichsstädte immerhin auch ein
großer Teil der Geschichtsvereine Bayerns dem Verein beige-
treten ist.
Historische Zeitschrift (101. Bd.) 3. Folge S. Bd. 45
698 Notizen und Nachrichten.
Die Gesellschaft für fränkische Geschichte ver-
sendet ihren 3. Jahresbericht (über das Jahr 1907), in dem auch
die Gründungsdenkschrift und die Satzungen enthalten sind. In
den Vorstand ist an Festers Stelle Elias Steinmeyer eingetreten.
Als erste größere Veröffentlichung ist die von Chroust nach
einem Manuskript Th. Knochenhauers bearbeitete „Chronik des
Bamberger Immunitätenstreites von 1430— 1435*^ (= Chroniken
der Stadt Bamberg 1) ausgegeben worden, als 3. Neujahrsblatt:
G. Schrötter, Die Nürnberger Malerakademie und Zeichen-
schule, im Zusammenhang mit dem Kunstleben der Reichsstadt
von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1821, nach literarischen
und archivalischen Quellen dargestellt. Von der Bibliographie
der fränkischen Geschichte ist die das Hochstift Würzburg be-
treffende Abteilung im wesentlichen abgeschlossen. Für die Aus-
gabe der Akten des fränkischen Kreises (bis 1559), die F. Här-
tung vorbereitet, ist jetzt das Material zum größten Teil zusam-
mengebracht; der Beginn des Druckes ist für das nächste Jahr
zu erwarten. Die von Steinmeyer bearbeitete Matrikel der
Universität Altdorf, die auf zwei Bände berechnet ist, soll noch
in diesem Jahre zum Drucke kommen. Die übrigen Unterneh-
mungen (Fränkische Chroniken 2; Würzburger Matrikel; Fränki-
sche Weistümer und Doriordnungen ; Urkundenbuch des Bene-
diktinerklosters S. Stephan in Würzburg; Repertorisierung der
evangelischen und der katholischen Pfarrarchive) sind im Fort-
schreiten, aber noch nicht dem Abschluß nahe.
Die 34. Sitzung der Historischen Kommission für
die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt hat
am 16. und 17. Mai 1908 unter dem Vorsitz Lindners zu Mühl-
hausen i. Thür. stattgefunden. Die Vorarbeiten für eine Ausgabe
von Quellen zur städtischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirt-
schaftsgeschichte, über die Prof. Held mann berichtete, sind ge-
fördert worden. In der Reihe der Geschichtsquellen ist erschienen:
Kirchenvisitationsprotokolle des Kurkreises, Bd. 2, bearbeitet von
Pallas. Der 3. Band dieses Werkes wird noch im laufenden
Jahre ausgegeben werden. Der 5. Band des Goslarer Urkunden-
buches (bearbeitet von B o d e), das Urkundenbuch der Stadt Halle
(Kohl mann), das Urkundenbuch des Stiftes Quedlinburg
(Rosenfeld) und die Quedlinburger „Paurgedinge" (Lorenz)
stehen der Drucklegung nahe. Das Neujahrsblatt brachte Heid-
manns Abhandlung„Mittelalterliche Volksspiele in den thüringisch-
sächsischen Ländern''. Für die Abteilung »Beschreibende Dar-
stellungen der Bau- und Kunstdenkmäler' ist das von Bergner
bearbeitete Heft über den Kreis Querfurt im Druck, das von
Vermischtes. 699
Rassow bearbeitete über den Kreis Heiligenstadt liegt druck-
fertig vor.
Der Hansische Geschichtsverein hat, wie wir dem
37. Jahresbericht entnehmen, zwischen Pfingsten 1907 und Pfing-
sten 1908 außer den Geschichtsblättem (1907 Heft 2, 1908 Heft 1)
den 10. Band des Hansischen Urkundenbuchs (1471 — 1485, bear-
(beitet von Walther Stein) und das 4. Pfingstblatt (H. Nirrnheim,
Hinrich Murmester, ein hamburgischer Bürgermeister in der han-
sischen Blütezeit) ausgegeben. Hans. Urkundenbuch Bd. 7 (be-
arbeitet von Kunze) ist in Vorbereitung. Das Danziger Inventar
(bearbeitet von S i m s o n) wird, anders als früher beschlossen, nur
bis 1591 führen, aber auch die einschlägigen Urkunden der anderen
preußischen Hansestädte aufnehmen. Der 8. Band der 3. Abteilung
der Hanserezesse (bearbeitet von Dietrich Schäfer mit Unter-
stützung von Dr. Techen) soll Ende dieses Jahres in die Presse.
Die Urkunden für die Geschichte des niederländischen Handels
aus niederländischen und belgischen Archiven sollen in einem
Niederländischen Inventar von R. Häpke in Regestenform zu-
gänglich gemacht werden. Als neue Vereinsveröffentlichung er»
scheinen, von Dietr. Schäfer angeregt und herausgegeben, Ab-
handlungen zur Verkehrs- und Seegeschichte; das 1. Heft (R.
Häpke, Brügges Entwicklung zum mittelalterlichen Weltmarkt)
liegt bereits vor.
Ober die Tätigkeit des Department of historical research of
ihe Carnegie Institution of Washington in der Zeit vom 1. Nov.
1906 bis zum 1. Nov. 1907 berichtet der Direktor dieser Abteilung,
J. Franklin Jameson (Year Book Nr. 6 S. 97— 105). Erschienen
ist : P d r e z , Guide to the materials for American history in Cuban
archives, eine Schrift, die auch das Verdienst für sich beanspruchen
kann, die Aufmerksamkeit der amerikanischen Regierung auf die
verwahrlosten kubanischen Archive gelenkt zu haben. Der ^Guide
to the materials for the history of the United States in Spanish
archives (Simancas, the Archivo Historico-Nacional, and Seville)*^
von Shepherd ist noch im Berichtsjahre im Druck vollendet
worden (s. oben S. 637), die Drucklegung einer neuen, stark ver-
mehrten Auflage der ersten Veröffentlichung des Department:
VanTyne and Leland, Guide to the archives of the Government
of the United States in Washington, bearbeitet von Leland mit
Unterstützung von Russell und Lincoln, hat begonnen. Im
übrigen heben wir, ohne auf die noch nicht abgeschlossenen
Arbeiten einzugehen, nur hervor, daß das Department zurzeit
vornehmlich in englischen, französischen und mexikanischen
45^
700 Notizen und Nachrichten.
Archiven arbeiten läßt und demnächst auch mit der Durchforachung
der Archive und Bibliotheken Roms einsetzen will.
Der berühmte Theolog Otto Pfleiderer in Berlin (geb.
1839 zu Stetten bei Kannstadt) ist am 18. Juli gestorben. Uns
Historiker hat er besonders durch seine « Geschichte der Religions-
philosophie von Spinoza bis zur Gegenwart*, sein Werk über das
Urchristentum und seine letzten, mehr populären Schriften (Reli-
gion und Religionen; Entstehung des Urchristentums; Entwick-
lung des Christentums) zu Dank verpflichtet. Aber auch seine
spekulativen Arbeiten werden durch einen gesunden historischen
Sinn gekennzeichnet, und es ist charakteristisch für Pfleiderer,
daß er eine „Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grund-
lage'' geschrieben hat.
Am 14. August ist der Berliner Philosoph Friedrich Paulsen
(geb. 1846) gestorben, eine der anziehendsten Persönlichkeiten
unter den zeitgenössischen Denkern, ein Popularphilosoph im
besten Sinne, dem alle großen Probleme unseres heutigen
Lebens am Herzen lagen, dessen mildes und klares Urteil man
immer gern hörte. Seine zahlreichen Schriften, vor allem die
Geschichte des gelehrten Unterrichts, das System der^Ethik, sein
Kant etc., haben auch unsere Wissenschaft stark gefördert
Der Persönlichkeit und der wissenschaftlichen Verdienste
Theodor Sickels gedenkt M. Tangl im Neuen Archiv 33^ Heft 3,
S. 773—781; den inhaltreichen Aufsatz über Sickel, den W. Erben
in der Hist. Vierteljahrschrift 11, Heft 3, S.333--359 veröKenUicht,
wird man eher eine kleine Biographie als einen Nachruf nennen.
Berichtigung.
S. 359 Z. 6 und 5 von unten ist zu lesen: wurde, während
Kalvin in zu ihm darstellt
Historisclie Zeitschrift
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NOV 10
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BeRründet von HalnHoh V. Sybol
Hersu>ti^r{ebea von
FRIEDRICH MEINECKE
Dritte Polt» - S. Band — 9. Haft
Her tßitvm Reihe IUI. B«ad
MONCHBN und BERLIN
DRUCK UND VERLAG VON R. OLOENBOUHG
1008.
Verlag der J. Ü, Cotu *h«n Bucli hiincJlung Nachfolger, Sluttgsrt u. OltIU
WeltgesAidite seit der VOIkerwanderni
Geheftet M- 530; in Lcifico (lebufKlcn M. 7*— ; in Hjübfranx gebttnden M* T^
Jeder B^ad tut elfixeln kluflidi Prospekt gmtlf
Bit Au|;u»t 190(8 erachienco;
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GesddiUspIdlosophle
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REVUE
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SYNTHESE HISTORIQUE
DiREcrcTO; HENRI BERR.
REVUES GEN£RALES
No, 43 (lof^t 1907), £'ii/^ a/lrmoMJt par L. Riau.
No, 44 (octobrc 1907), La munqut aUfm^MaV .iir XIX' si^lr:
Rühard H'agmr, par R Lichtenberger.
No. 4j5 (ftvricr t9i>8), Valirmagni dt fSf^ A tS^h^, pv Pau! Matter.
r*t>«tuin»nit fto&ücl ^ Fno^, Jft fr., £UftQpr, 17 *r., Oft n^iins t fr* Ij coUwäIo»
d<4 tift pmifer«« «nc^, IM ff, ^ U lUibcÜon n lAtlmbiltAli^m NM« 4 U \X\w^r^
AUGLIST HETTLER d HALLE (Saale).
Hnhlvallsdier fllfflanadL
IL JAhrfsng imi/lf«. In LcbiciibAitd 6 Mific.
I. iilirsviig 1Q«a'l9M, In LdnvnliAtiil A Mick.
{FbmX verifHtfen« Prcberböhiinj; bleibt vofbebjitten.)
Jldiefibadi der wichtigstni nnhtfe Europas.
Mt< Angaben Übtf die Benuuunf^Htdtcni dif wbacn-
Khaftlkheti Beamten und die ciiuchllftfljfr LUeralor.
L Teil: Deutsches Reich ohne Preußen, lo Mark
(IL TeiU KJ^dlfrtJdt Preitfita« crtdidnl I9C19>)
lahilindi der dentsdieD hbtor RomialsslofleD»
Institute und Vereine des Deutschen Reiches
und der deutschen Sprachgebiete des Auslandes,
1. Jdhrftng I40;i. In Leinenband 10 Mari.
Ibizelfl« ttkr RdonnaflOBSpiMdite.
Hr. 1--^ h 10 P\^, Dk FttrU<£t2iing M bei Krwrhelneti au! V«rUng«;n
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Ddiiür()irlfi des inuiitDcncr nci(Dsar(Di»s, lueldK
Don tirr ncuertn fürrtDung uaiulld) nntiraditi't
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Dcriuma. Ddbci eruebrn ndi €rörtcruii(ini libcr
den Ocurld' und da; fücfcn der Rcoipcr mi.ari«
ßfmcinctL Der Hnbaug cni^att den TlUdrudi oon
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wctd)c dir öcfdiliDtf äts u)UtcUbadiird)cn nanfcs
und die üeutrdien DcrnindiifTi'. in dir es zu ieder
3cli tinöriff, in mnnniufad)cr roctfe belcuditen..
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icr«u j« eine Hl n tt.ü.Tcu^««.t\nV,t\!»\.Vt«-M«^Ni*A«s»m<tÄ.%^»V'(
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