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Full text of "Historische Zeitschrift"

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Historisclie  ZeitsicMt 

Begrfiadet  voa  HEINRICH  v.  SYBEL 


Unter  Mitwirkung  von 

Paul  Bailleu,  Otto  Hintze,  Oho  Krauske, 
Max  Lenz,  Sigm.  Riezler,  Moriz  Ritter,  Konrad  Varrentrapp, 

Karl  Zeumer 

herausgegeben  von 

FRIEDRICH  MBINBCKB 


Der  ganzen  Reihe  lOl.  Band 
Dritte  Folge  —  5.  Band 


MÜNCHEN  UND  BERLIN 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  R.  OLDENBOURG 
1906. 


INHALT. 


Aufeätze.-  3^„ 

Richard  Löwenheri  im  Heiligen  Lande.    Von  Alezander  Gartellieri   .    .    .  1 
Die  Anfinge  der  veneiianiachen  Oaleerenfahrten  nach  der  Nordsee.     Von 

AdoU  Schaabe 28 

Ober  GIsterecht  und  Gattgerichte  in  den  deutschen  Stldten  des  Mittelalters. 

Von  Alfred  Schultse 473 

Die  Missionspllne  des  Ignatius  von  Loyola  nnd  die  Gründung  des  Jesuiten- 
kollegs in  Messina  im  Jahre  1548.    Von  Friedrich  Meyer 237 

Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    Von  Moris  Ritter  253 

Ober  die  Ursachen  der  Fransösischen  Revolution.    Von  Adalbert  Wahl     .    .  283 

Die  Geschichtschreibung  des  Vatilcanischen  Konzils.    Von  Carl  Mirbt.    .    .  529 

Louis  Erhardt.    Von  Friedrich  Mein eclce 90 

Miszellen. 

Zur  Geschichte  des  karollnglschen  Kriegswesens.    Von  W.  Erben 321 

Zur  Gcachi^te  Belgiens  im  Mittelalter.    Von  F.  Keutgen 601 

Die  Denkschrift  des  Gnfen  von  Finckenstein  .Über  die  Freiheiten  der  Ritter- 
schaft« (1811).    VeröHentlicht  von  Friedrich  Meusel      337 

Zu  Johannes  Ronge.    Von  Hermann  Oncken 100 


Lriteraturbericht. 


Seite 

Ibissenprobiem 612 

Makedonen 615 

Rom 104.  360  ff . 

Christentum 356 

Deutsche  Geschichte 361  ff. 

Mittelalter: 

Quellen 113.  623 

Politische  Geschichte  107. 114.  369.  618 
Wirtschafts-     und     Rechtsge- 
schichte .    .     115.  119.  378  f.  621  IL 

Reisen 118 

16.  Jahrhundert: 

Reformation  und  Gegenreforma- 
tion      120  «.  380 

Guicciardini 624 


Seite 

17.  und  18.  Jahrhundert: 

Zeit  Ludwigs  XIV 382 

Zeit  Friedrichs  des  Großen  127  ff.  384  ff. 
Preußische  Heerführer    ....    627 

Zeitalter  Napoleons 133  ff. 

19.  Jahrhundert: 

Preußen 392  ff. 

Österreich 629 

Saint-Simon 142 

Deutsche  Landschaften: 

Baden 144 

Straßburg 396 

Pfalz 400 

Frankfurt 145.  632 


195494 


IV 


Inhalt. 


Seite 

Westfalen 148 

Mühlhausen  in  Thüringen  ...    149 

Sachsen 403 

Meclclenburg 404 

Hanse 150 

Österreich : 

Historischer  Atlas 153 

19.  Jahrhundert 629 

Schweiz : 

Politische  Geschichte  (16.  Jahrh.)    159 
Kirchengeschichte   .    .    .  157.  161.  405 

Niederlande  (1692-1715) 164 

Frankreicti : 

Mittelalter 165  ff . 


Seite 

16.  Jahrhundert 407 

18.  Jahrhundert 410  ff . 

Italien: 

Mittelalter 415 

16.  Jahrhundert 418 

18.  Jahrhui\dert 124 

England: 

Mittelalter 171 

Thomas  Cromwell 421 

O.  Cromwell 177 

Maitiand 419 

Ruthenen 180 

Mohammed 182 


Alphabetisches  Verzeichnis  der  besprochenen 
Schriften. 

(Enthält  auch  die  in  den  Aufsätzen  und  den  Notizen  und  Nachrichten  besprochenen 
selbständigen  Schriften.) 


Seite 

Annaies  Marbacenses  ed.  Bloch.  198 

A  r  b  u  s  o  Wy  Grundriß  der  Geschichte 
von  Liv-,  Est-  und  Kurland    .    .    691 

Arnold,  Das  eheliche  Güterrecht 
von  MUlhausen  im  Elsaß  am  Aus- 
gang des  Mittelalters 225 

Aus  dem  geistigen  Leben  und  Schaf- 
fen in  Westfalen 148 

Baltische  Bürgerlcunde 692 

Bärge,  Andreas  Bodenstein  von 
Karlstadt.    Bd.  2 206 

Barlchausen,  Francesco  Guicciar- 
dinis  politische  Theorien  in  sei- 
nen Opere  inedite 624 

Barth,  Hildebert  von  Lavardin 
und  das  IcirchÜctie  Stellenbeset- 
zungsrecht       648 

Baumgartner,  Geschichte  und 
Recht  des  Arctiidiakonates  der 
oberrheinischen  Bistümer  mit 
Einschluß  von  Mainz  und  Würz- 
burg    649 

Beclcer,  Der  Dresdner  Friede  und 
die  Politik  Brühls 385 

Begemann,  Die  Haager  Loge  von 
1637  und  der  Kölner  Brief  von 
1535 211 

Beschorner,  Geschichte  der  säch- 
sischen Kartographie  im  Grund- 
riß   403 

Beß  s.  Unsere  religiösen  Erzieher. 

Bibliothek  wertvoller  Memoiren. 
Bd.  1-6 185 

Bindschedler,  Kirchliches  Asyi- 
recht  und  Freistätten  in  der 
Schweiz 157 

Binz  8.  Handschriften. 


Seite 

Bitterauf,  Napoleon  1 678 

B 1  a  n  c  h  e  t ,  Les  Enceintes  Romaines 
de  la  Gaule 354 

Böhmer,  Regesta  imperii  1,2.  AufL 
1,  3  besorgt  von  J.  Lechner    .    .    195 

Bondois,  La  translation  dessaints 
MarceUin  et  Pierre 113 

Bot  he.  Die  Entwicklung  der  direk- 
ten Besteuerung  in  der  Reichs- 
stadt Frankfurt  bis  zur  Revolution 
1612-1614 145 

B  o  t  h  e ,  Frankfurter  Patrizierver- 
mögen im  16.  Jahrhundert ...    632 

Brabant,  Das  Heilige  Römische 
Reich  teutscher  Nation  im  Kampf 
mit  Friedrich  dem  Großen      .    .    127 

Brandl  s.  Klein. 

Brettiolz,  Das  mährische  Landes- 
archiv, seine  Geschichte,  seine 
Bestände 690 

Brunner,  Politische  Bewegungen 
in  Nürnberg  1848/49 460 

Capasso,  II  govemo  di  Don  Fer- 
rante Gonzaga  in  Sicilia  dal  1535 
al  1543 .418 

Gartellieri,  Philipp  II.  August, 
König  von  Frankreich.    Bd.  2     .    167 

Clausing,  Der  Streit  um  die  Kar- 
tause  vor  Straßburgs  Toren  1587 
bis  1602 398 

Giemen,  Alexius Chrosner,  Herzog 
Georgs  von  Sachsen  evangeli- 
scher Hofprediger 444 

Couiin,  Der  gerichtliche  Zwei- 
kampf im  altfranzösischen  Pro- 
zeß.   I 165 


Inbiau 


Seite 

Gourteaut,  BUite  de  Monluc  Hi- 
storien      407 

Creutzberg,  Kmrl  von  Miltitx.    .    120 

D a e n e II ,  Geschichte  der  Vereinig- 
ten Staaten  von  Amerika    ...    222 

Delbrück,  Geschichte  der  Kriegs- 
kunst. III    ...'.....    321 

Denkschrift  zur  Hundertjahrfeier 
der  SUdt  Mühlheim  a.  d.  Ruhr  .    688 

Dormann,  Die  Stellung  des  Bis- 
tums Freising  im  Kampfe  zwi- 
schen Ludwig  dem  Bayern  und 
der  römischen  Kurie      ....    6&3 

D  o  1 1  i  n ,  Manuel  pour  servir  k  l'tftude 
de  TAntiquittf  CelUque  ....    430 

Dfirrwaechter,  Wege  und  Ziele 
des  Historischen  Vereins  Bam- 
berg     225 

Durand,  Die  Memoiren  des  Mar- 
quis d'Argenson 670 

V.  Eberhardt,  Aus  Preußens 
schwerer  Zeit 458 

Eccardus,  Geschichte  des  niede- 
ren Volkes  in  Deutschland.    .    .    368 

Esser,  Geschichte  der  Cluniazen- 
serklöster  in  der  WestsciNreic 
bis  zum  Auftreten  der  Gister- 
zlenser 405 

Erzieher  des  preußischen  Heeres. 
Herausgegeben  von  v.  Pelet- 
Narbonne 627 

Escher- Ziegler,  Eine  schweize- 
rische Garnison  zur  Beschützung 
der  Neutralität  der  ReichssUdt 
Straßburg 224 

d 'Est er,  Zeitungswesen  in  West- 
falen     215 

Festschrift  zur  49.  Versammlung 
Deutscher  Philologen  und  Schul- 
mlnner  in  Basel  im  Jahre  1907  .    190 

Fieger,  P.  Don  Ferdinand  Ster- 
zinger 672 

Fineisen,  Die  Akzise  in  der  Kur- 
pfalz     685 

Fi  not.  Das  Rassenvorurteil  ...    612 

Fischer,  Der  hl.  Franziskus  von 
Assisi  während  der  Jahre  1219 
bis  1221 199 

Flamm,  Der  wirtschaftliche  Nie- 
dergang Freiburgs  i.  Br.  und  die 
Lage  des  städtischen  Grundeigen- 
tums im  14.  und  15.  Jahrhundert    684 

Folz,  Kaiser  Friedrich  II.  und  Papst 
Innozenz  IV 371 

Fresset,  Das  Ministerialenrecbt 
der  Grafen  von  Tecklenburg  .    .    467 

Fr  icke,  Memoiren  und  Lebens- 
schicksale des  Grafen  Tourville .    452 

F  r  i  c  k  e ,  Untersuchungen  zur  älteren 
holsteinischen  Geschichte  ...    197 


„   .    . .  Ä  Seite 

Fried  jung.  Osterreich  von  1848 
bis  1860.  l.Bd  :  Die  Jahre  der  Re- 
volution und  der  Reform  1848—51    629 

Friedrich,  Studien  zur  Vorge- 
schichte der  Tage  von  Kanossa  .    435 

Fr ii 8, Bemstorffsche Papiere.  Bd.  2    673 

Führer  durch  Berlin  und  seine 
wissenschaftlichen  Institute    .    .    695 

FUß  lein,  Anfänge  des  Herren- 
meistertums  in  der  Ballel  Bran- 
denburg    438 

Fustel  de  Coulange,  Der  antike 
Staat 191 

Gagliardi,  Novara  und  Dijon  .    .    159 

Gardiner,  Oliver  Cromwell.    .    .    177 

O  fröre  r,  Straßburger  Kapitelstreit 
und  Bischöflicher  Krieg  im  Spiegel 
der  elsäss.  Flugschriftenliteratur    398 

Glaser,  Montesquieus  Theorie  vom 
Ursprung  des  Rechts 670 

Golowkihe,  La  cour  et  la  rigne 
de  Paul  I" 676 

Gottlob,  Ablaßentwicklung  und 
Ablaßinhalt  im  11.  Jahrhundert  .    196 

Grabowsky,  Recht  und  Staat.  Ein 
Versuch  zur  allgemeinen  Rechts- 
und Staatslehre  . 637 

Oranderath,  Geschichte  des  Vati- 
kanischen Konzils 533 

Greving,  Johann  Ecks  Pfarrbuch 
für  U.  L.  Frau  in  Ingolstadt    .    .    380 

Grundriß  der  Geschichtswissenschaft 
zur  Einführung  in  das  Studium 
der  deutschen  Geschichte  des 
Mittelalters  und  der  Neuzeit. 
Herausgegeben  von  A.  Meister. 
I,  1  und  2 -361 

Guggenberger,  Die  Legation  des 
Kardinals  Pileus  in  Deutschland. 
1378-1382 114 

Guillaume,  Proc^s-verbaux  du 
Comittf  d'instruction  publique 
de  la  Convention  nationale.  VI  .    675 

Hagedorn,  Ostfrieslands  Handel 
und  Schiffahrt  im  16.  Jahrhundert    688 

Halphen,  Le  comt^  d'Anjou  au 
XI«  si^cle 648 

Die  Handschriften  der  öffentlichen 
Bibliothek  der  Universität  Basel.  I. 
Die  deutschen  Handschriften  der 
öffentlichen  Bibliothek  der  Uni- 
versität Basel.  I.  Bd.  Beschrie- 
ben von  Binz 637 

Harnack  s.  Klein. 

Hauck,  Kupprecht  der  Kavalier, 
Pfalzgraf  bei  Rhein  (1619—1682)    668 

H  a  u  s  e  r ,  Les  compagnonnages  d'arts 
et  mdtiers  ä  Dijon  aux  17*  et 
18«  sidcle 671 

Held  mann.  Die  Rolandsbilder 
Deutschlands     in    dreihundert- 


n 


jihtifcr  PBnrhMf  wmd  aatdk  dem. 
QmfOlem ttl 

Heldaaaa,  RoindMpidBffwca, 
KidMerbUder  oder  Kteiffibadcr?    «21 

Herakes,  Die  ScUaeht  bei  Crc- 
feld ri73«>   214 

H^ffaaaa,  Die  Miircdof,  ihre 
Spradie  «üd  ihr  Volkstoa     .    .    «15 

H^llvec.  Dr,  Georg  HeMcr     .    .    iM 

Hoppe,  Ewtbmchoi  Wichanon  voa 
Macdcborc 4» 

Hralevflkyj.GescUdttedesakrü- 
■leciMi  (rätbeattchen)  Volkes. 
1.  Bd. Ui 

fflflfaer.  Des  RecbtsimtitBt  der 
kUMerlicben  Ezemtioa   ....    4» 

Isstea,  Die  AnOnfe  der  Fngfer 
(bis  I4*e ^79 

iraa  Kalkes,  La  fia  da  r^fime  es- 
pagnol  aaz  Pajs-Bas IM 

Kleis,  Weadlaad,  Braadl  «ad 
Haraack^UalTersititaMlSciMle  1» 

Klette.  Die  Christenkalastropbe 
anter  Nero M3 

K  B  i  e  b ,  Gctchicbte  der  katbollscbea 
Kirche  io  der  freiea  Reichsstadt 
MOhihaasea  i.  Thflr 149 

Kaorr,  Die  verzierten  Terra-Sigll- 
latsffefifle  ron  RottveU  ....    193 

La  Mantla.  Capitoli  Anfiofaii  sal 
diritto  di  sifillo  della  cancelleria 
regia  per  la  Sicilia  posteriori  al 
1272 453 

Lampe,  Die  Sciilaclit  bei  Maaper- 
tois 6S4 

Lechner  s.  Böhmer. 

Lefeuvre,  Les  communs  en  Bre- 
tagne k  la  fin  de  fanden  r^ime 
(1647-1789) 671 

Le  Olay, Theodore  de  Neuhoff,  Roi 
de  Corte 124 

Le  Monnier,  Les  stigmates  de 
Saint  Fran^ois 199 

L  i  e  r  m  a  n  n ,  Das  Ly  ceum  Carolinum. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des 
Bildungswesens  im  Großherzog- 
tum Frankfurt 679 

Der  römische  Limes  in  Österreich. 
Heft  7  u   8 104 

L  Ö  h  n  e  r  t ,  Personal-  und  Amtsdaten 
der  Trierer  Erzbischöfe  des  10.  bis 
15.  Jahrhunderts 434 

Loserth,  Bericht  über  die  Ergeb- 
nisse einer  Studienreise  in  die 
Archive  von  Linz  und  Steyregg  .    449 

Lossen,  Staat  und  Kirche  in  der 
Pfalz  im  Ausgang  des  Mittelalters    400 

Luchaire,  Documenti  per  ia  storia 
dei  rivolgimenti  politici  dei  co- 
mune  di  Siena  dal  1354  al  1369   .    415 


Seite 

Lagiabibl  a  QmeOtm. 

de   Magistris. 

CofTSi  fra  b  repaböGca  Te 
ePaoio  V 

Maalock,  Fri 

KovreapoBdeBz  mit  Arxtea .    .    .    U2 

llarr^.  Die  Eorvieklang  der  Lan- 
dcabobeit  aa  der  Grafscbaft  Mark 
bis  Mmm  Ende  des  IX  jahrfam- 
deits 2Z7 

▼oa  der  Marvitz.  Vom  Leben 
mm  preaüicbca  Hofe  ISIS- 1852    395 

Mayer,  Die  I  Biiaag  der  deatacbca 
Frage  im  Jahre  1814  bmI  die 
Ott  utHLht  Arbeitubeacgujig  461 

Mecklenburgisches 
22.  Bd 

Meister  s.  Gmndriü. 

Meltziag,     Das 

Medici  BMl  seioe  Vorliofer    .    .    203 

Merriman.  Life  and  lecters  of 
Tboatts  Cromsren 421 

Mensel,  Friedrich  Aagnst  Lodwig 
von  der  Marwitz 192 

Ed.  Meyer,  Ägypten  zur  Zeit  der 
Pjraaiideiierbaner.  (Seadschril- 
ten  der  Dentscben  Orient-Gcsell- 
scfaaft.  Nr.  5) 439 

Meynier,  Un  Repräsentant  de  la 
Bourgeoisie  Angevine  k  r  Assem- 
bl^  Nationale  Constitnante  et  k 
la  Convention  Nationale     .    .    .    412 

Mitteilungen  des  Russischen  Archio- 
logischen  Instituts  zu  Konstanti- 
nopel    XII 644 

V.  Möller,  Aymar  du  Rivail,  der 
erste  Rechtshutoriker     ....    659 

Mollat,  Stades  et  docnments  sur 
lliistoire  de  Bretagne,  XIII.-XVI. 
siicles 205 

Monod,  Essai  sur  les  rapports  de 
Pascal  II  avec  Philippe  I«.    .    .    166 

Monumenta  Germaniae,  Constitu- 
tiones  III  und  IV  ed.  Schwelm    651 

Moräne,  Paul  !•*  de  Russie  avant 
ravtoement  1754—17%    ....    676 

Muckle,  Saint-Simon  und  die  öko- 
nomische Geschichtstheorie    .    .    142 

Ed.  Müller,  F.  K.  v.  Savigny    .    .    219 

Fr.  Müller,  Karl  Friedrich  v  Car- 
dell,  ein  Demminer  als  Königl. 
Schwedischer  Generalfeldzeng- 
meister 680 

Müller,  Zur  Beurteilung  der  Per- 
sönlichkeiten im  Feldzuge  von  1815  457 

Mulder,  Dietrich  von  Nieheim. 
Zijne  opvatting  van  het  concilie 
en  zijne  kronick 623 

Nazelle,  Le  protestantisme  en 
Saintonge  sous  le  regime  de  la 
r^vocation  1685-1789 669 


Historiscbe  Zeitschrift 

Beiladet  voa  HEINRICH  v.  SYBEL 


Unter  Mitwirkung  von 

Paul  Bailleu,  Otto  Hintze,  Oho  Krauske, 
Max  Lenz,  Sigm«  Riezler,  Moriz  Ritter,  Konrad  Varrentrapp, 

Karl  Zeumer 

herausgegeben  von 

FRIEDRICH  MBINBCKB 


Der  ganzen  Reihe  101.  Band 
Dritte  Folge  —  5.  Band 


MÜNCHEN  UND  BERLIN 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  R.  OLDENBOURG 
1906. 


VIII 


lobAlt. 


Seite 

Untere  religlOien  Erxieher.  Hermut- 
fegeben  von  Befi 356 

Vancsa,  Geichicbte  Nieder-  und 
OberAtterreichs.    1 691 

de!  Vecchio,  Su  Im  Teoria  dei 
Gontratto  Sociale 410 

Veil,  Dat  Schalfest  des  Straßbur- 
ger Gymnasiums  im  18.  Jahr- 
hundert   684 

Vogel.  Die  Normannen  und  das 
Frinlclsche  Reich  bis  aur  GrOn- 
dung  der  Normandie 107 

Voll,  Die  Erinnerungen  der  Prin- 
sessin  Wilhelmlne  von  Oranlen 
an  den  Hof  Friedrichs  d  Gr.  (1751 
bis  17o7) 384 

WardfProthero,  Stanley  Lea- 
thesy  The  Cambridge  Modem 
History.  Vol.  V:  The  age  of 
Louis  XIV 382 

— ,  The  Cambridge  Modem  History. 
DC:  Napoleon 133 

Wendland  s.  Klein. 


Seite 

Widmann,  Weltgeschichte.  Bd.  3 
u.  4 634 

Wiegand,  Das  politische  TesU- 
ment  Friedrichs  d.  Gr.  vom  Jahre 
1752 452 

W  i  m  m  e  r »  Deutsches  Pflanrenleben 
nach  Albertus  Magnus    ....    198 

W in iara,  Erbleihe  und  RentenlEanf 
in  Österreich  ob  und  unter  der 
Enns  im  Mittelalter 230 

Wolf,  Aus  KurlLOln  im  16.  Jahr- 
hundert 123 

V  Wretschico,  Zur  Frage  der  Be- 
setaung  des  erzbiscböflichen 
Stuhles  in  Salzburg  im  Mittel- 
alter 649 

Zelle,  Die  Hundert  Tage,  von  Elba 
bis  Helena 141 

Ziegler,  Die  PoUtik  der  SUdt 
Strafiburg  im  Bischöflichen  Kriege 
1592-93 398 

Ziekursch,  Sachsen  und  Preußen 
um  die  Mitte  des  18.  Jahrhun- 
derts    385 


Notizen  und  Nachrichten.  g^j^^ 

Allgemeines 184.  424.  633 

Alte  Geschichte 188.  427.  639 

Römisch-germanische  Zeit  und  frUhes  MitteUiter  bis  1250  ...    .  192.  431.  645 

Spiteres  MitteUiter  (1260-1500) 200.  437.  651 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648) 206.  442.  659 

16«— 1789 212.  451.  668 

Neuere  Geschichte  seit  1789 216.  454.  674 

Deutsche  Landschaften 224.  464.  681 

Vermischtes 233.  470.  693 

Berichtigung 700 


Historiscbe  Zeitschrift 

Begrfladet  von  HEINRICH  v.  SYBEL 


Unter  Mitwirkung  von 

Paul  Bailleu,  Otto  Hintze,  Otto  Krauske, 
Max  Lenz,  Sigm.  Riezler,  Moriz  Ritter,  Konrad  Varrentrapp, 

Karl  Zeumer 

herausgegeben  von 

FRIEDRICH  MBINBCKB 


Dritte  Folge  —  5.  Band   —  1.  Heft 
Der  ganzen  Reihe  101.  Band 


MÜNCHEN  UND  BERLIN 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  R.  OLDENBOURG 
1908. 


Zur  gefl.  Beachtung! 


Die  HISTORISCHE  ZEITSCHRIFT  (3.  Folge)  erscheint  in  Heften  von  ä  15  Bogen 

Umfang  In  iweimonatlichen  Zwischenräumen.  Je  3  Hefte  bilden  einen  Band,  dessen 

Inhaltsverzeichnis  sich  jeweils  am  Schlüsse  des  dritten  Heftes  befindet. 

Der  Preis  eines  Bandes  (45  Bogen)  beträgt  M.  14.—. 


Sendungen  für  die  RedaktiOD  der  Historischen  Zeitschrift  sind  an   Prof.  Dr. 
MEINECKE,  FREIBURO  1.  B.,  Längenhardstraße  3,  zu  richten. 

Rezensioasexemplare 

sind  entweder  direkt  an  die  Redalction  oder  an  die  Verlagsbuchhandlung 

R.  OLDENBOURO,  MÜNCHEN,  OlUckstraße  8,  zu  senden. 

Die  Versendung  der  zur  Besprechung  einlaufenden  Bücher  an  die  Rezensenten. 

erfolgt  durch  die  REDAKTION. 


INHALT. 


Aufsätze.  Seite 

Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.    Von  Alexander  Garteilieri    .    .    .  1 
Die  Anfinge  der  venezianischen  Oaleerenlahrten  nach  der  Nordsee.     Von 

Adolf  Schaube 28 

Louis  Erhardt.    Von  Friedrich  Meinecice 90 

MiszeUen. 

Zu  Johannes  Ronge.    Von  Hermann  Oncken 100 


Literaturbericht 


Seite 
Römisch-germaxiische  Zeit. 
Der  römische  Limes  in  Österreich. 
Heft  7  u.  8 104 

Mittelalter. 

Vogel,  Die  Normannen  und  das 
Fränkische  Reich  bis  zur  Grün- 
dung der  Normandie 107 

Bondois,  La  translation  dessaints 
Marcellin  et  Pierre 113 

Ouggenberger,  Die  Legation  des 
Kardinals  Pileus  in  Deutschland. 
1378-1382 114 

Süß  mann.   Die  Judenschuldentil- 

>  gungen  unter  König  Wenzel  .    .    115 

Newett,  Canon  Pietro  Gasola's 
Pilgrimage  to  Jerusalem  in  the 
year  1494 118 

Rudorff,  Zur  Rechtsstellung  der 
Gäste  im  mittelalterlichen  städti- 
schen Prozeß 119 

i6.  Jahrhundert. 
Creutzberg,  Karl  von  Miitits.    .    120 
Wolf,   Aus   Kurköln   im    16.  Jahr- 
hundert    123 

i8.  Jahrhundert. 

le  G  lay,  Theodore  de  Neuhoff,  Roi 
de  Corse 124 

Brabant,  Das  Heilige  Römische 
Reich  tentscher  Nation  im  Kampf 
mit  Friedrich  dem  Großen     .    .    127 


Seite 


132 


Mamlock,  Friedrichs  des  Großen 
Korrespondenz  mit  Ärzten .    .    . 

Napoleonische  Zeit. 
Ward  u.  a ,  The  Cambridge  Modern 

History.    IX:  Napoleon  ....    133 
▼.  Taysen,  Wanderungen  auf  dem 

Jenaer  Schlachtfelde 139 

Schottmflller,  Der  Polenaufstand 

1806A)7 140 

Zelle,  Die  Hundert  Tage,  von  Elba 

bis  Helena 141 

19.  Jahrhundert. 
Muckle,  Saint-Simon  und  die  öko- 
nomische Geschichtstheorie 


142 


Deutsche  Landschaften. 


Roller,  Die  Einwohnerschaft  der 
Stadt  Durlach  im  18.  Jahrhundert    144 

Bot  he.  Die  Entwicklung  der  direk- 
ten Besteuerung  in  der  Reichs- 
stadt Frankfurt  bis  zur  Revolution 
1612-1614 145 

Aus  dem  geistigen  Leben  und  Schaf- 
fen in  Westfalen 148 

K  n  i  e  b ,  Geschichte  der  katholischen 
Kirche  in  der  freien  Reichsstadt 
Mtthlhausen  1.  ThUr 149 

Stein,  Hansisches  Urkundenbuch. 
10.  Bd 150 

Österreich. 
Richter,    Historischer   Atlas    der 
österreichischen  Alpenländer.  1 .    153 


IV 


Inhalt. 


Schweiz. 


Seite 


Bindschedler,  Kirchliches  Asyl- 
recht   und    Freistätten    in    der 

Schweiz 157 

Gagliardiy  Novara  und  Dijon  .    .    159 
Steffens  und  Reinhardt,  Nun- 
tiaturberichte    aus   der   Schweiz 
seit  dem  Konzil  von  Trient.    1, 1    161 

Niederlande, 
van  Kalken,  La  f in  du  regime  es- 
pagnol  aux  Pays-Bas 164 

Frankreich. 
Coulin,     Der    gerichtliche  Zwei- 
kampf  im  altfranzösischen  Pro- 
zeß.   I 165 


Seite 
Monod,  Essai  sur  les  rapports  de 

Pascal  11  avec  Philippe  l*' .  .  .  166 
Cartellieri,    Philipp  II.   August. 

König  von  Frankreich.    Bd.  2     .     167 

England. 
Oman,  The  Great  Revolt  of  1381   .    171 
Gardiner,  Oliver  Cromwell.    .    .    177 

Osteuropa. 
HruSevskyj,  Geschichte  des  ukrai- 
nischen    (ruthenischen)    Volkes. 
1.  Bd 180 

Orient. 
Reckendorf,  Mohammed  und  die 
Seinen 182 


Verzeichnis  der  in  den  „Notizen  und  Nachrichten" 
besprochenen  selbständigen  Schriften. 


Seite 

Bibliothek  wertvoller  Memoiren. 
Bd.  1-6 185 

Klein,  Wendland,  Brandl  und 
H  a  r  n  a  c  k ,  Universität  und  Schule  185 

Festschrift  zur  49.  Versammlung 
Deutscher  Philologen  und  Schul- 
männer in  Basel  im  Jahre  1907   .    190 

Fustel  de  Coulange,  Der  antike 
SUat 191 

Knorr,  Die  verzierten  Terra-Sigil- 
latagefäße  von  Rottweil  ....    193 

Böhmer,  Regesta  imperii  1, 2.  Aufl. 
1,  3  besorgt  von  J.  Lechner    .    .    195 

Gottlob,  Ablaßentwicklung  und 
AblaOinhalt  im  11.  Jahrhundert  .    196 

S  c  h  i  1 1  m  a  n  n ,  Beiträge  zum  Urkun- 
denwesen der  älteren  Bischöfe 
vo.i  Cammin  (1158—1343)     ...    197 

F  r  i  c  k  e ,  Untersuchungen  zur  älteren 
holsteinischen  Geschichte  .    .    .    197 

Annales  Marbacenses  ed.  Bloch.  198 

W  i  m  m  e  r ,  Deutsches  Pflanzenleben 
nach  Albertus  Magnus    ....    198 

Fischer,  Der  hl.  Franziskus  von 
Assisi  während  der  Jahre  1219 
bis  1221 199 

Le  Monnier,  Les  stigmates  de 
Saint  Fran9ois 199 

Meltzing,  Das  Bankhaus  der 
.Medici  und  seine  Vorläufer     .    .    203 

Mollat,  £tudes  et  documents  sur 
rhistoire  de  Bretagne,  XIII.-XVI. 
siöcles 205 


Seite 

Bärge,  Andreas  Bodenstein  von 
Karlstadt.    Bd.  2 206 

Begemann,  Die  Haager  Loge  von 
1637  und  der  Kölner  Brief  von 
1535 211 

Hermkes,  Die  Schlacht  bei  Cre- 
feld  (1758) 214 

d 'Ester,  Zeitungswesen  in  West- 
falen     215 

Noack,  Deutsches  Leben  in  Rom, 
1700—1900 218 

Ed.  Müller,  F.  K.  v.  Savigny    .    .    219 

Daenell,  Geschichte  der  Vereinig- 
ten Staaten  von  Amerika    .    .    .    222 

Escher-Ziegler,  Eine  schweize- 
rische Garnison  zur  BeschUtzung 
der  Neutralität  der  Reichsstadt 
Straßburg 224 

Arnold.  Das  eheliche  Güterrecht 
von  MUlhausen  im  Elsaß  am  Aus- 
gang des  Mittelalters .    .    .    .    .    225 

DUrrwaechter,  Wege  und  Ziele 
des  Historischen  Vereins  Bam- 
berg     225 

Marr^,  Die  Entwicklung  der  Lan- 
deshoheit in  der  Grafschaft  Mark 
bis  zum  Ende  des  13.  Jahrhun- 
derts     227 

Win^arz,  Erbleihe  und  Rentenkauf 
in  Österreich  ob  und  unter  der 
Enns  im  Mittelalter 230 


l?n*  A^m%  RM/4iKl«tflAr«  Die  ersten  4  Seiten  der  einzelnen  Hefte,  Titel  und  In- 
rur  aen  DUaiomaer.  haltsverzeichnis,  kommen  beim  Binden  eines  Bandes, 
der  sich  aus  3  Heften  zusammensetzt,  in  FortfalL  Titel  und  Inhaltsverzeichnis  für 
einen  Band  befinden  sich  jeweils  am  Schlüsse  des  3.  Heftes. 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.') 

Von 

Alexander  Cartellieri. 


Als  Friedrich  Schiller  seine  universalhistorische  Ober- 
sicht über  die  Kreuzzüge  schrieb,  da  hielt  er  es  für  nötig, 
sich  wegen  der  Wahl  des  Stoffes  zu  entschuldigen.  Er 
begründete,  daß  auch  diese  Bewegungen,  bei  deren  Schilde- 
rung er  von  Torheit,  Raserei,  Gewalttätigkeit  sprach,  eine 
notwendige  Entwicklungsstufe  auf  der  Bahn  der  Auf- 
klärung gewesen  seien.  Durch  Nachdenken  über  Ge- 
schichte belehrt,  sind  wir  heute  zurückhaltender  im  Urteil 
geworden.  Wir  versuchen,  ein  Gebilde  der  Vergangen- 
heit rein  aus  sich  selbst  zu  würdigen  und  unser  Wert- 
urteil aus  der  Zeit  für  die  Zeit  zu  entnehmen.  So  möchte 
ich  es  auch  halten  mit  der  Persönlichkeit,  die  zu  ver- 
gegenwärtigen ich  heute  die  Ehre  habe.  Richard  Löwen- 
herz im  Heiligen  Lande  soll  auf  Grund  zuverlässiger  zeit- 
genössischer Mitteilungen,  unter  strenger  Abweisung  alles 
sagenhaften  Beiwerks,  vor  uns  erstehen. 

Die  Stimmung  der  Gegenwart  ist  meinem  Vorhaben 
allerdings  nicht  günstig.  Alle  Kulturperioden  liegen 
uns  zurzeit  näher  als  die  ritterliche.  Neben  dem  farben- 
prächtigen Qemälde,  das  Meister  der  Geschichtswissen- 


*)  Die  Belege,  auf  denen  dieser  Vortrag  beruht,  linden  sich 
entweder  in  meinem  „Philipp  August*  oder  werden  später  gegeben 
werden. 

Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  S.  Folge  5.  Bd.  1 


2  Alexander  Cartellieri, 

Schaft  von  der  italienischen  Renaissance  entworfen  haben, 
versinkt  die  Barbarei  des  sog.  Mittelalters  in  tiefes  Dunkel. 
„Was  sind  uns,^  so  schrieb  kürzlich  ein  Schriftsteller  in 
einer  weitverbreiteten  Tageszeitung,  „heute  die  staufischen 
Kaiser?"  Diese  Mißachtung  wäre  scharf  zu  rügen,  wenn 
sie  nicht  großenteils  auf  mangelnder  Kenntnis  beruhte. 
Es  ist  heute  nicht  leicht  möglich,  sich  eine  anschauliche 
Vorstellung  zu  machen  von  den  Jahrhunderten,  in  denen 
Rittertum  und  Priestertum  die  Führung  auf  allen  Gebieten 
hatten.  Um  so  reizvoller  ist  aber  auch  der  Versuch,  in 
weniger  Bekanntes  einzudringen.  Denken  und  Fühlen  von 
Menschen  zu  erschließen,  die  uns  so  unendlich  fern 
stehen  oder  zu  stehen  scheinen.  Die  Geschichte  der 
Kreuzzüge  ist  dazu  besonders  geeignet.  In  ihnen  gehen 
die  beiden  Betätigungen  des  Zeitgeistes,  die  wir  nannten, 
Rittertum  und  Priestertum,  eine  innige  Verbindung  ein, 
und  Richard  Löwenherz  ist  ein  glänzender  Vertreter  dieser 
Verbindung. 

Einen  Irrtum  müssen  wir  von  vornherein  vermeiden, 
wollen  wir  nicht  von  Richard  ein  ganz  schiefes  Bild  be- 
kommen: wir  dürfen  ihn  nie  und  nimmermehr  für  einen 
Engländer  halten,  wenn  er  auch  König  von  England  war 
und  wir  mangels  einer  besseren  zusammenfassenden 
Benennung  den  Ausdruck  „englisch"  gar  nicht  entbehren 
können.  Richard  war  durch  und  durch  Franzose,  ein 
Angiovine  durch  seinen  Vater,  ein  Poitevine  durch  seine 
Mutter,  ein  Normanne  durch  seine  Großmutter.  England 
liebte  er  nicht  und  hielt  sich  nur  selten  dort  auf,  war 
zufrieden,  wenn  es  ihm  Geld  und  Söldner  lieferte. 

Einer  seiner  Begleiter  auf  dem  Kreuzzuge,  der  ihm 
auch  den  Beinamen  „Löwenherz"  gegeben  hat,  schildert 
ihn  folgendermaßen:  „Der  König  war  groß  von  Gestalt, 
von  elegantem  Äußern;  das  Haupthaar  hielt  die  Mitte 
zwischen  rot  und  gelb,  die  Glieder  waren  geschmeidig. 
Arme  und  Beine  lang.  Benehmen  und  Haltung  würdig 
und  echt  königlich.  Niemand  war  geschickter  als  er, 
das  Schwert  aus  der  Scheide  zu  ziehen  und  einen  Hieb 
zu  führen."  Dem  Vater,  jenem  vorsichtigen,  gern  zu- 
wartenden  Heinrich  IL,  war  er  in  allem  unähnlich.  Das 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  3 

Erbteil  der  Mutter,  der  schönen  Eleonore  von  Aquitanien, 
die  man  die  hervorragendste  Frau  der  Zeit  nennen  darf, 
war  die  helle  Freude  am  heiteren  Lebensgenuß,  wie  er 
im  Süden  Frankreichs  üblich  war,  am  Gesang  der  Spiel- 
leute und  feiner  ritterlicher  Sitte.  In  merkwürdiger  Weise 
verband  er  damit  die  ganze  ungefüge  Kraft,  wilde  Kampf- 
lust und  heiße  Begierde  nach  rotem  Golde  seiner  nor- 
mannischen Vorfahren,  so  daß  man  ihn  wohl  mit  den 
alten  Wikingern  vergleichen  darf.  Die  ungezügelten  Triebe 
seiner  Brust  waren  durch  die  unseligen  Zwistigkeiten 
im  Schöße  seiner  Familie,  die  uns  an  die  fluchbeladenen 
Geschlechter  der  griechischen  Tragödie  erinnern,  erst 
recht  entfacht  worden. 

Herzog  Richard  von  Aquitanien  zählte  dreißig  Jahre, 
als  der  große  Sultan  Saladin  das  durch  innere  Parteiungen, 
Weiberregiment  und  Raubrittertum  geschwächte  Reich 
Jerusalem  über  den  Haufen  warf.  Nicht  anders  als  1806 
nach  der  Schlacht  bei  Jena,  so  öffneten  1187  nach  der 
Niederlage  bei  Hattin  alle  Festungen  in  kopflosem  Ent- 
setzen dem  Sieger  ihre  Tore.  Das  Heilige  Land  schien 
völlig  verloren,  wenn  nicht  der  tapfere  und  vielgewandte 
Markgraf  Konrad  von  Montferrat  Tyrus  behauptet  hätte. 
Im  ganzen  Abendlande  erregte  die  Schreckenskunde 
bitteren  Schmerz  und  leidenschaftliche  Rachegedanken. 
Die  Sache  lag  für  die  damalige  Weltanschauung  so  un- 
endlich einfach.  Das  Land,  wo  Christus  für  alle  gelitten 
hat,  ist  von  den  Feinden,  den  canes  immundi,  erobert 
worden.  Darum  muß  jeder  Christ  seine  Waffen  umgürten 
und  zur  Wiedergewinnung  des  Verlorenen  ausziehen. 
Wer  zu  Hause  bleibt,  ist  ein  Feigling.  Im  Banne  solcher 
Auffassung  stand  auch  Richard.  Kaum  hatte  er  die 
Hiobspost  vernommen,  als  er  vor  allen  anderen,  der  erste 
unter  den  größeren  Fürsten,  sich  das  Kreuz  anheften  ließ 
und  auf  die  Ausführung  seines  Gelübdes  das  heilige 
Abendmahl  nahm.  Das  hinderte  ihn  nicht,  in  dem  neu  aus- 
brechenden Kampfe  der  Engländer  und  der  Franzosen, 
die  sämtlich  das  Kreuz  genommen  hatten  und  doch  die 
weltlichen  Händel  nicht  vergessen  konnten,  den  eigenen 
Vater  bis  in  den  Tod  zu  verfolgen.     Sobald  er  aber  selbst 


4  Alexander  Cartellieri, 

die  Krone  trug,  dachte  er  nur  noch  daran,  durch  seine 
Kreuzzugsvorbereitungen  jedermann  in  Schatten  zu 
stellen.  Vor  allem  brauchte  er  dazu  Geld,  und  um  es 
zu  bekommen,  begann  er  einen  schamlosen  Handel  mit 
geistlichen  und  weltlichen  Würden  und  Ämtern.  Er  würde 
auch  London  verkaufen,  meinte  er  in  bissiger  Selbst- 
ironie, wenn  er  nur  einen  Käufer  fände.  Aber  er  erreichte 
seinen  Zweck.  Mit  einer  gewaltigen  Flotte  von  im  ganzen 
219  Galeeren  und  Frachtschiffen,  großen  Vorräten,  treff- 
lichen Kriegsmaschinen  und  Waffen,  vor  allem  mit  einem 
wohlgefüllten  Schatze  trat  er  die  Ausreise  an.  Er  und 
König  Philipp  August  von  Frankreich  verpflichteten  sich 
eidlich,  gemeinsam  das  Heilige  Grab  den  Ungläubigen 
zu  entreißen  und,  was  bezeichnend  ist,  auch  die  Kriegs- 
beute redlich  zu  teilen.  So  finden  wir  neben  den  zweifel- 
los vorhandenen  idealen  Motiven  der  Kreuzzugsbewegung 
auch  sehr  starke  materielle. 

Kaum  ist  eine  stärkere  Verschiedenheit  denkbar  als 
zwischen  den  Herrschern,  die  wegen  der  politischen  Ver- 
hältnisse Erbfeinde  sein  mußten  und  noch  dazu  sehr 
triftige  persönliche  Gründe  hatten,  es  zu  sein.  Das  Schick- 
sal einer  Frau  spielte  fortwährend  in  ihre  Beziehungen 
hinein :  Philipp  Augusts  Schwester  Adelaide  war  am  eng- 
lischen Hofe,  wo  sie  als  Braut  Richards  weilte,  von  ihrem 
künftigen  Schwiegervater  Heinrich  11.  verführt  worden, 
und  Richard  dachte  an  eine  andere  Ehe.  So  erklärt  sich 
die  Glut  des  Hasses,  die  sie  entzweite  und  die  durch 
tägliche  Reibungen  noch  vermehrt  wurde.  Um  ihr  Ver- 
hältnis richtig  zu  würdigen,  muß  man  immer  im  Auge 
behalten,  daß  der  König  von  Frankreich  der  Lehens- 
herr, der  König  von  England,  nicht  als  solcher,  aber 
als  Herzog  der  Normandie  und  Graf  von  Poitiers,  der 
Lehens  mann  war.  Jener  hatte  mehr  Rechte,  dieser  mehr 
Pflichten. 

In  der  Feindschaft  der  Könige  lag  schon  der  Keim 
des  Mißlingens  für  das  ganze  Unternehmen.  Zum  Aus- 
bruch kam  sie  zuerst  während  des  Winteraufenthalts  in 
Messina.  Später,  im  Heiligen  Lande,  wurde  sie  immer 
heftiger.    Philipp  August  war  der  erste,  der  daselbst  ein- 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  5 

traf  (20.  April  1191).  Die  Lage,  die  er  vorfand,  war 
wenig  erfreulich.  Seit  fast  zwei  Jahren  lag  Wido  von 
Lusignan,  mehr  dem  Namen  als  der  Tat  nach  König  des 
morgenländischen  Reiches,  vor  Akkon,  der  stärksten  Burg 
des  Küstenlandes.  Er  war  ein  schöner  und  tapferer 
Haudegen,  aber  ein  unfähiger  Führer,  und  entschiedene 
Erfolge  waren  bisher  nicht  erzielt  worden.  Unter  den 
neu  ankommenden  Abendländern  räumte  das  Klima  noch 
mehr  auf  als  der  unablässige  Kampf.  Tausende  und 
Abertausende  mußten  in  den  heißen  Sand  Syriens  ge- 
bettet werden.  Die  Oberlebenden  spalteten  sich  in  zwei 
Parteien,  da  jenem  Wido  der  schon  genannte  Konrad  von 
Montferrat  die  Krone  streitig  machte. 

Mit  großer  Umsicht  traf  Philipp  August  vor  Akkon 
seine  Vorkehrungen.  Besonders  bemühte  er  sich,  das 
Lager  der  Christen  gegen  das  Entsatzheer  Saladins,  der 
persönlich  herbeigeeilt  war,  zu  befestigen.  Richard  fuhr 
nicht  direkt  von  Sizilien  nach  Palästina.  Um  die  Zufuhr 
für  das  Belagerungsheer  zu  sichern,  ging  er  nach  Zypern, 
wo  sich  ein  byzantinischer  Prinz  zum  Gewalthaber  auf- 
geworfen hatte.  In  14  Tagen  eroberte  er  die  Insel,  die 
etwa  so  groß  ist  wie  Kurhessen,  nahm  den  Griechen 
gefangen  und  machte  unermeßliche  Beute.  Die  dringenden 
Mahnungen  des  Königs  von  Frankreich,  seine  Abfahrt 
zu  beschleunigen,  schlug  er  seiner  Art  nach  in  den  Wind 
und  jagte  von  Abenteuer  zu  Abenteuer.  Philipp  August 
hätte  Akkon  wohl  ohne  ihn  nehmen  können.  Wenn  er 
es  nicht  tat  und  die  Vertragsbestimmungen,  wonach  alle 
Erwerbungen  gemeinsam  gemacht  werden  sollten,  genau 
beobachtete,  so  leitete  ihn  die  Erwägung,  daß  es  für  ihn 
nicht  ratsam  sei,  allein  die  blutige  Arbeit  zu  verrichten, 
während  dann  Richard  mit  ungeschwächten  Truppen 
gleich  auf  das  eigentliche  Ziel  des  Kreuzzuges,  nämlich 
Jerusalem,  losgehen  könnte.  Richard  sah  es  natürlich 
gerne,  wenn  die  Stadt  unbezwungen  blieb,  solange  er 
nicht  am  Kampfe  teilnahm,  und  erst  als  er  hörte,  daß 
die  Einnahme  unmittelbar  bevorstehe,  brach  er  auf.  An 
der  syrischen  Küste  traf  er  ein  ungewöhnlich  großes 
sarazenisches  Frachtschiff,    das    mit   Lebensmitteln    und 


6  Alexander  Cartellieri, 

Waffen  für  die  Garnison  schwer  beladen  war,  und  brachte 
es  zum  Sinken. 

Diese  glückliche  Tat,  der  Ruf,  der  ihm  von  Zypern 
vorauseilte,  nicht  zum  wenigsten  seine  gefüllte  Kasse, 
aus  der  er  freigebig  schöpfte,  bereiteten  ihm  den  freudig- 
sten Empfang.  Ihm  zu  Ehren  erstrahlte  das  Lager  die 
ganze  Nacht  hindurch  in  festlicher  Beleuchtung.  Um 
recht  deutlich  zu  machen,  mit  welchen  Gefühlen  sein 
König  aufgenommen  wurde,  vergleicht  ihn  ein  Engländer 
mit  Christus,  der  wiederkomme,  um  auf  Erden  das  Reich 
Israel  herzustellen.  Lehrreicher  als  solche  Übertreibung 
ist  die  Ansicht  der  Umgebung  Saladins.  Sie  rühmt  an 
ihrem  Feinde  das  gesunde  Urteil,  die  große  Erfahrung, 
die  äußerste  Verwegenheit  und  Ehrbegier,  hebt  auch 
richtig  hervor,  daß  er  dem  französischen  König  an  Rang 
nachstand,  ihn  aber  an  Schätzen,  Kriegsruhm  und  Helden- 
mut übertraf. 

Vom  ersten  Augenblick  seiner  Ankunft  im  Lager  an 
versuchte  Richard  ohne  jede  Rücksicht  auf  seinen  Lehens- 
herrn und  die  anderen,  schon  lange  an  der  Belagerung 
teilnehmenden  Barone  sich  auf  alle  Weise  in  den  Vorder- 
grund zu  drängen,  um  als  hervorragendster  Führer  der 
Christen  überhaupt  gepriesen  zu  werden.  Er  benutzte 
seine  überreichen  Geldmittel,  um  die  nur  allzuvielen  ver- 
armten Ritter  an  sich  zu  ketten,  ja  er  scheute  sich  nicht, 
durch  höhere  Löhnung  dem  französischen  Könige  Knechte 
abspenstig  zu  machen,  so  daß  dessen  Maschinen  un- 
bewacht blieben  und  den  Sarazenen  in  die  Hände  fielen. 
In  dem  Streit  um  die  Krone  Jerusalems  griff  Richard 
lebhaft  für  Wido  von  Lusignan  ein,  während  Philipp 
August  für  Konrad  eintrat.  Dieser  war  zweifellos  bei 
weitem  vorzuziehen,  aber  Wido  war  poitevinischer  Vasall, 
Richard  völlig  ergeben  und  ihm  daher  genehmer.  So 
veranlaßte  die  Anwesenheit  der  Könige  eine  womöglich 
noch  stärkere  Spaltung  im  Heere  als  vorher,  und  von 
einem  einheitlichen  Oberbefehle,  der  naturgemäß  Philipp 
August  hätte  zustehen  müssen,  konnte  keine  Rede  sein. 
Es  waren  Zustände  ähnlich  denen  der  österreichisch- 
preußischen Kriegführung  gegen   die  erste  französische 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  7 

Republik.  Einsichtige  Zeitgenossen  waren  voller  Be- 
trübnis. So  sagt  einer:  „In  jedem  Unternehmen,  an  dem 
die  Könige  und  ihre  Leute  beteiligt  waren,  leisteten  sie 
zusammen  weniger,  als  wenn  jeder  allein  gewesen  wäre. 
Der  König  von  Frankreich  und  seine  Leute  verachteten 
den  König  von  England  und  die  Seinen  und  umgekehrt 
„Vor  Akkon,"  klagt  ein  anderer  in  Erinnerung  an  ein 
Bibelwort,  „richteten  die  Könige  nichts  aus,  weil  unter 
ihnen  Streit  herrschte,  wer  der  größte  wäre." 

Nicht  anders  meint  es  ein  Italiener.  Nur  steigert  er 
die  Wirkung  durch  Rhetorik:  „Mit  den  Königen  kam 
die  Verführerin  zu  allem  Bösen,  Tochter  des  Teufels, 
mächtigste  Königin  der  Hölle,  die  Zwietracht,  und  setzte 
sich  in  ihre  Mitte  samt  ihrer  erstgeborenen  ausgezehrten 
und  scheelblickenden  Schwester,  der  Eifersucht.  Die 
Könige  wie  das  ganze  Heer  der  Christen  spalteten  sich 
im  Wollen  wie  im  Tun.  Wenn  dem  Franzosen  der  An- 
griff auf  die  Stadt  gefiel,  so  mißfiel  er  dem  Engländer, 
und  was  dem  Engländer  gefiel,  mißfiel  clem  Franzosen. 
Die  Zwietracht  führte  fast  zum  offenen  Kampfe." 

Um  wenigstens  in  irgendeiner  Form  ein  Zusammen- 
wirken zu  ermöglichen,  wurde  ein  Abkommen  getroffen, 
wonach,  wenn  der  eine  stürmte,  der  andere  das  Lager 
gegen  Saladin  verteidigen  sollte.  Da  erkrankte  Richard, 
wohl  infolge  der  Oberanstrengung  in  dem  ungewohnten 
Klima.  Durch  maßlosen  Waffensport  und  tolle  Aus- 
schweifungen war  sein  riesenstarker  Körper  ohnehin  ge- 
schwächt. Philipp  August  nahm  darauf  keine  Rücksicht 
und  versuchte,  die  Stadt  schnell  in  seine  Gewalt  zu 
bringen.  Aber  auch  er  erkrankte,  vermutlich  an  Schweiß- 
fieber: die  Haare  fielen  aus  und  die  Haut  schälte  sich 
ab.  Von  den  Gefühlen,  die  diese  Kreuzfahrer  gegen- 
einander beseelten,  gibt  das  in  französischen  Kreisen 
verbreitete  Gerücht  eine  Anschauung,  daß  Philipp  August 
auf  Betreiben  Richards  vergiftet  worden  sei. 

Zunächst  war  die  Enttäuschung  der  Christen  groß: 
die  mit  solcher  Sehnsucht  erwarteten  Könige  waren  da 
und  es   geschah   nichts   Rechtes.     Durch   Schaden   klug 


8  Alexander  Cartellieri, 

geworden,  gab  man  jetzt  den  Versuch  auf,  mit  Türmen 
an  die  Mauern  heranzukommen,  weil  diese  regelmäßig 
trotz  aller  Panzerung  durch  griechisches  Feuer  zerstört 
wurden.  Jetzt  rückten  die  Belagerer  mit  einem  großen 
Wall  immer  näher:  sie  hoben  die  Erde  hinten  aus  und 
schütteten  sie  vorne  wieder  auf.  Diesem  Wall  konnte 
kein  Feuer  etwas  anhaben.  Darauf  standen  Stein- 
schleudermaschinen, von  denen  eine  vom  Lagerwitz  die 
„böse  Nachbarin"  genannt  wurde.  Ihr  antwortete  aus 
der  Stadt  eine  andere,  die  „böse  Tante".  Richards  Ma- 
schinen galten  für  die  besten.  Er  benutzte  besonders 
harte  und  scharfe  Steine,  die  er  als  Ballast  aus  Sizilien 
mitgebracht  hatte.  Ein  solcher  erschlug  einmal  zwölf 
Menschen. 

Anfang  Juli  war  die  Mauer  so  weit  beschädigt,  daß 
Philipp  August,  der  zuerst  gesund  geworden  war,  mit 
äußerster  Anspannung  stürmen  ließ.  Er  erreichte  auch, 
daß  die  Garnison  wegen  vollständiger  Erschöpfung  ihrer 
Kräfte  einer  Kapitulation  geneigt  wurde,  freilich  noch  ohne 
Zustimmung  Saladins.  Während  darüber  Verhandlungen 
stattfanden  und  Waffenruhe  von  französischer  Seite  ge- 
boten war,  gab  Richard  seinen  Leuten  den  Befehl  zum 
Angriff.  Persönlich  konnte  er  noch  nicht  stürmen,  dazu 
war  er  viel  zu  schwach.  Aber  er  ließ  sich  unter  ein 
im  Stadtgraben  stehepdes  Schutzdach  tragen  und  schoß 
von  hier,  in  eine  seidene  Decke  gehüllt,  Sarazenen  mit 
der  Armbrust  von  der  Mauer  herunter.  Als  er  sah,  daß 
ein  durch  Mineure  unterhöhlter  Turm  zu  wanken  anfing, 
machte  er  durch  seinen  Herold  bekannt,  er  wolle  für 
jeden  herausgebrochenen  Stein  zwei,  dann  drei,  endlich 
vier  Goldstücke  geben.  Das  war  ein  guter  Monatssold, 
und  den  Eifer  der  Knechte  kann  man  sich  denken.  Der 
Turm  stürzte  auch  zusammen,  aber  trotzdem  vermochten 
die  Engländer  nicht  einzudringen.  Die  Franzosen  be- 
teiligten sich  nicht,  und  Philipp  August  war  über  den  Bruch 
des  Stillstandes  so  empört,  daß  er  nahe  daran  war,  die 
Engländer  gewaltsam  zurückzutreiben. 

Als  sich  dann  die  Vertreter  der  Garnison  wegen  der 
einzelnen  Bedingungen  erkundigten,  gab  es  im  Rate  der 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  9 

Fürsten  gleich  wieder  Meinungsverschiedenheiten.  Die 
Franzosen  wollten  den  Einwohnern  gestatten,  beim  Aus- 
zuge ihre  Habe  mitzunehmen.  Sie  wurden  vom  Mark- 
grafen Konrad  beraten,  und  dieser  als  Bewerber  um  die 
jerusalemitische  Krone  wollte  die  Gegensätze  zwischen 
Christen  und  Mohammedanern  nicht  verschärfen,  sondern 
mildern.  Saladin  hatte  den  von  ihm  genommenen 
Städten  seinerzeit  das  gleiche  gewährt.  Richard  wurde 
nur  von  seiner  Habsucht  geleitet,  wenn  er  erklärte,  er 
wolle  nach  langer  und  mühseliger  Belagerung  nicht  in 
eine  leere  Stadt  einziehen.  Eine  Eroberung  mit  stürmender 
Hand  und  nachfolgende  Plünderung  wären  mehr  nach 
seinem  Geschmacke  gewesen.  Um  die  dauernden  Be- 
dürfnisse des  Heiligen  Landes  kümmerte  er  sich  in  seinem 
Eigennutze  nicht.  Nur  mit  Mühe  wurde  eine  Einigung 
erzielt  und  Akkon  am  12.  Juli  1191  übergeben.  Saladin 
sollte  das  bei  Hattin  eroberte  heilige  Kreuz  und  1500  christ- 
liche Gefangene  innerhalb  einer  bestimmten  Frist  ausliefern 
und  200000  Goldstücke  zahlen.  Als  Geiseln  für  die 
pünktliche  Ausführung  sollten  die  Verteidiger  Akkons 
in  die  Gefangenschaft  gehen  und,  falls  die  Frist  vor  der 
Ausführung  abliefe,  auf  Gnade  und  Ungnade  der  Könige 
angewiesen  sein. 

Gleich  nach  der  Besetzung  Akkons  spielte  sich 
Richard  so  auf,  als  wenn  er  alles  allein  gemacht  hätte, 
und  die  Empörung  über  die  Obergriffe  seiner  Ritter 
gegenüber  den  alteingesessenen  Bürgern,  überhaupt  allen 
Nicht-Engländern,  war  bald  allgemein.  Damals  geschah 
es  auch,  daß  er  jene  Freveltat  beging,  die  ihm  selbst 
so  lange  Leiden  bringen  sollte.  Herzog  Leopold  von 
Österreich,  der  sich  mit  Recht  zu  den  angesehensten 
Fürsten  des  Heeres  zählte,  hißte  sein  Banner  auf  einem 
Turme  und  beanspruchte  den  angrenzenden  Stadtteil  als 
sein  Eigen.  Das  erregte  den  leidenschaftlichen  Zorn 
Richards,  dem  Leopold  als  Verwandter  Konrads  von 
Montferrat  und  Isaaks  von  Zypern  sowie  als  Anhänger 
Philipp  Augusts  verhaßt  war,  und  er  stiftete  seine  Mannen 
an,  das  Banner  herunterzureißen :  unter  höhnischen  Zu- 
rufen traten  sie  es  in  den  Kot. 


10  Alexander  Cartellieri, 

Man  hat  diesen  Vorfall  bisher  vereinzelt  betrachtet 
und  daher  nicht  richtig  aufgefaßt.  Wer  die  Geschichte 
des  Kreuzzuges  auf  Grund  aller  Quellen  übersieht^  erkennt 
in  dem  Ereignis  nur  eine  besonders  auffällige  Kund- 
gebung der  Willkür  Richards,  die  wegen  der  Person  des 
Beleidigten  und  namentlich  wegen  der  weittragenden 
Folgen  der  Beleidigung  mehr  Eindruck  gemacht  hat  als 
andere. 

Das  gewalttätige  Benehmen  Richards,  der  auf  seine 
militärische  und  finanzielle  Obermacht  pochte,  verhinderte 
jedes  gedeihliche  Zusammenwirken  mit  den  Franzosen. 
Philipp  August  dachte  seit  einiger  Zeit  an  Heimkehr, 
da  ihm  der  Tod  des  Grafen  Philipp  von  Flandern  die 
Aussicht  auf  Gebietserwerbungen  eröffnete,  und  seine 
geschwächte  Gesundheit  einen  willkommenen  Vorwand 
bot.  Er  mußte  feierlich  schwören,  in  Richards  Abwesen- 
heit dessen  Land  nicht  anzugreifen,  und  segelte  dann 
am  31.  Juli  ab.  Der  Hauptteil  seines  Heeres  blieb  aber 
unter  dem  Befehle  des  Herzogs  Hugo  111.  von  Burgund 
zurück. 

Laute  Flüche  und  Verwünschungen  gaben  den  schei- 
denden Franzosen  das  Geleit.  Es  galt  als  schmähliche 
Feigheit,  sich  dem  heiligen  Krieg  auch  wegen  Krankheit 
zu  entziehen.  Richards  Ansehen  stieg.  Er  war  jetzt 
unbestrittener  Anführer.  Seine  Sache  war  es,  zu  zeigen, 
was  er  leisten  konnte. 

Das  erste  große  Ereignis,  für  das  er  allein  auf- 
zukommen hat,  ist  das  berüchtigte  Blutbad  vom  20.  August. 
Es  ist  nicht  unwichtig,  um  den  Charakter  des  Königs 
kennen  zu  lernen.  Man  erinnert  sich  der  Bedingungen 
der  Kapitulation.  Im  Laufe  des  Juli  hatten  noch  Ver- 
handlungen zwischen  Saladin  und  den  Königen  statt- 
gefunden, in  denen  Ergänzungen  oder  Erläuterungen 
vorgenommen  wurden.  Die  Einzelheiten  stehen  nicht 
fest.  Damals  war  Philipp  August  noch  anwesend  und 
es  liegt  nahe,  zu  vermuten,  daß  Richard  sich  auch  dies- 
mal nicht  an  das  halten  wollte,  was  jener  abgemacht 
hatte.     Jedenfalls   stimmten   Saladin    und   Richard    nicht 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  ]] 

überein  in  betreff  der  gegenseitigen  Leistungen.  Keiner 
traute  dem  anderen.  Saladin  wollte  seinen  Verpflichtungen 
wohl  nachkommen,  aber  Geiseln  dafür  haben,  daß  auch 
die  Christen  wirklich  die  ihren  befreiten.  Richard  ver- 
langte, der  Sultan  sollte  sich  mit  seinem  Eide  begnügen. 
Saladin  brach  daraufhin  die  Verhandlungen  ab.  Von 
seinem  realpolitischen  Standpunkte  aus  war  das  Leben 
einer  auch  größeren  Zahl  Glaubensgenossen  weniger 
wert  als  die  dem  Islam  drohende  Gefahr,  wenn  der  Mut 
der  Christen  durch  die  Wiedergewinnung  des  Kreuzes 
gehoben  und  ihre  Angriffskraft  durch  ihre  bisher  ge- 
fangenen Brüder  und  hohe  Geldsummen  verstärkt  wurde. 
Er  dachte  wohl,  Richard  würde  die  Geiseln  in  die  Sklaverei 
verkaufen.  Richard  scheute  aber  vor  der  äußersten 
Folgerung  nicht  zurück.  Wütend  darüber,  daß  ihm  soviel 
Gold  entging,  gab  er  Befehl,  die  Unglücklichen,  2600  an 
der  Zahl,  in  die  Ebene  hinauszuführen  und  abzuschlachten. 
Nur  eine  kleine  Auswahl  von  vornehmen  und  reichen 
Leuten,  die  viel  Lösegeld  einbringen  konnten,  wurde 
verschont.  Von  all  den  christlichen  Chronisten,  die  das 
Blutbad  erwähnen,  tadelt  es  nur  einer,  allerdings  ohnehin 
kein  Freund  der  Engländer.  Wieweit  die  Verrohung  der 
Pilger  fortgeschritten  war,  ergibt  sich  deutlich  auch  daraus, 
daß  sie  erst  die  Eingeweide  ihrer  Opfer  und  dann  die 
Asche  der  verbrannten  Leiber  durchwühlten,  weil  jene 
Edelsteine  verschluckt  haben  sollten. 

Der  Vorgang  erweckt  die  Erinnerung  an  einen 
anderen  ähnlichen,  der  sich  nicht  weit  von  Akkon  in 
neuerer  Zeit  abspielte,  an  jenes  Gemetzel  der  in  Jaffa 
gemachten  Gefangenen  durch  Napoleon  I.  auf  seinem 
ägyptischen  Feldzug.  Wenn  aber  der  Korse  es  für 
militärisch  notwendig  hielt,  so  zu  handeln,  so  darf  solches 
von  Richard  doch  kaum  gesagt  werden,  und  das  einzige, 
was  man  für  ihn  anführen  kann,  ist  die  grausame  Auf- 
fassung des  Christentums  seiner  Zeit. 

Saladin  vergalt  nicht  Gleiches  mit  Gleichem.  Die 
schon  versammelten  christlichen  Gefangenen  schickte  er 
in  die  Haft  zurück,  ohne  ihnen  ein  Leid  anzutun,  tötete 
allerdings   im  Fortgang  des   Krieges   diejenigen,    die  in 


12  Alexander  Cartellieriy 

seine   Hände  fielen,   mußte   es  wohl  auch   tun,   um   die 
Erregung  seiner  Leute  zu  dämpfen. 

Richard  traf  die  notwendigen  Maßregeln  für  den 
Marsch  auf  Jerusalem.  Der  Weg  führte  der  Küste  ent- 
lang bis  Jaffa,  und  von  dort  hoffte  der  König  das  Ziel 
der  allgemeinen  Sehnsucht  zu  erreichen.  Sehr  zweck- 
mäßig war,  daß  er  zur  Verminderung  des  Trosses  alle 
unnützen  Weibspersonen  entfernte  und  nur  eine  Anzahl 
rüstiger  Wäscherinnen,  die  zu  Fuß  gehen  konnten,  behielt. 
Am  22.  August  fand  der  Aufbruch  statt.  Die  Christen, 
für  deren  Verproviantierung  die  Flotte  sorgte,  zogen  un- 
weit der  Küste  südwärts,  die  Muslimen  folgten  ihnen  auf 
den  Höhen.  Eigenartig  war  die  Marschordnung.  Man 
weiß,  daß  die  Hauptgefahr,  die  den  abendländischen 
Truppen  drohte,  in  der  Tötung  nicht  der  durch  den 
Panzer  geschützten  Reiter,  sondern  der  unbewehrten 
Pferde  durch  den  feindlichen  Pfeilregen  lag.  Man  muß 
es  durchaus  vermeiden,  sich  etwa  die  Bewaffnung  der 
Begleiter  Richards,  ähnlich  den  Plattenrüstungen  vor- 
zustellen, die  man  in  vielen  Sammlungen  sieht,  die  aber 
aus  sehr  viel  späterer  Zeit  stammen  und  schon  auf 
Feuerwaffen  Bedacht  nehmen.  Die  Reiterei  der  Kreuz- 
zugszeit war  leicht,  wie  sich  schon  daraus  beweisen  läßt, 
daß  die  Christen  ohne  weiteres  die  erbeuteten  Rosse  be- 
nutzen konnten.  Das  wäre  bei  sehr  erheblicher  Ver- 
schiedenheit des  Gewichtes  unmöglich  gewesen.  Um 
den  Feinden  ihre  gewohnte  Taktik  zu  verleiden,  umgab 
Richard  seine  Reiterei,  Ritter  und  berittene  Knechte,  mit 
Fußsoldaten,  die  jeden  Ansturm  mit  Armbrust  und  Spieß 
abwehrten.  Die  Fußsoldaten  trugen  einen  dicken  filz- 
artigen Rock  und  darüber  einen  Maschenpanzer.  Pfeile 
drangen  nicht  durch,  und  es  wird  erzählt,  daß  einer  von 
ihnen  wohl  zehn  Pfeile  im  Rücken  stecken  hatte  und 
dennoch  ruhig  im  Gliede  weitermarschierte.  Zur  Ver- 
ringerung der  durch  die  andauernde  Gefechtsbereitschaft 
verursachten  Beschwerden  teilte  sich  das  Fußvolk  in 
zwei  Hälften:  die  eine  wehrte  den  Feind  ab,  bewegte 
sich  also  an  der  Bergesseite,  die  andere  ruhte  sich  aus, 
marschierte  am  Meeresstrande.     So  kam   man   langsam. 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  13 

aber  sicher  vorwärts,  und  die  Muslimen  hatten  keine  Ge- 
legenheit, einen  Schlag  zu  führen.  Erst  in  der  Nähe  von 
Arsuf  ergab  sich  die  Unmöglichkeit,  länger  an  der  Küste 
zu  t)leiben,  weil  das  Gestrüpp  zu  dicht  war.  Das  Heer 
mußte  auf  schlechten  Pfaden  emporklimmen  und  war 
erschöpft,  als  es  wieder  die  Ebene  erreichte.  Richard 
selbst  erlitt  hier  eine,  allerdings  leichte  Verwundung. 
Der  Entfernung  der  Flotte  wegen  gingen  die  Lebens- 
mittel aus,  und  es  mußte  Pferdefleisch  herhalten.  Diese 
Lage  blieb  Saladin  natürlich  nicht  verborgen.  Er  war  fest 
entschlossen,  die  Christen  zu  vernichten. 

So  kam  es  am  7.  September  zur  Schlacht  von  Arsuf, 
die  unter  den  militärischen  Ruhmestaten  Richards  an 
erster  Stelle  genannt  zu  werden  pflegt.  Als  er  sah,  daß 
die  Sarazenen  ihn  auf  drei  Seiten  umzingelten  und  nur 
noch  die  Meeresseite  frei  blieb,  traf  er  seine  Anstalten 
für  den  nicht  mehr  zu  vermeidenden  Kampf.  Alles  Ge- 
päck wurde  an  den  Strand  gebracht.  Ostlich  vom  Gepäck 
gliederte  sich  das  Heer.  Die  Spitze  hielten  die  Templer, 
dann  kamen  die  Bretagner  und  Angiovinen,  zu  dritt 
König  Wido  und  die  Poitevinen,  zu  viert  Normannen  und 
Engländer  mit  dem  königlichen  Standartenwagen,  endlich 
die  Johanniter.  Die  Franzosen  bildeten  eine  Gruppe  für 
sich.  Jede  Reiterschar  hatte  ihren  eigenen  Führer  und 
war  von  dem  dazugehörigen  Fußvolk  umgeben.  Die 
Bogen-  und  Armbrustschützen  machten  immer  den  Be- 
schluß. Zwischen  der  marschierenden  Heeressäule  und 
den  vom  Feinde  besetzten  Höhen  hielt  sich  Richards 
Neffe,  Graf  Heinrich  von  Champagne,  um  die  Bewegungen 
der  Feinde  zu  beobachten.  Richard  selbst  und  der 
Herzog  von  Burgund  als  die  Oberbefehlshaber,  beide 
von  auserlesener  Ritterschaft  umgeben,  wechselten  je 
nach  Bedürfnis  ihre  Stellung,  um  die  nötigen  Weisungen 
zu  geben.  Die  Ebene  war  von  den  dichten  Reihen  der 
Marschierenden  vollständig  erfüllt.  Kein  Apfel  hätte  zur 
Erde  fallen  können,  sagt  einer,  der  dabei  war.  Die 
Sarazenen  hatten  daher  keinen  rechten  Platz,  sich  zu 
entwickeln,  und  begnügten  sich  zunächst  mit  einer  leb- 
haften Beschießung.     Da  die  Christen  ruhig  weiterzogen. 


14  Alexander  Cartellieri, 

gab  Saladin  Befehl  zum  Angriff  mit  der  blanken  Waffe. 
Sofort  stürzten  sicfi  seine  Reitermassen  auf  die  Nach- 
fiut  und  versuchten,  genau  so  wie  die  Mamelucken  in 
der  Schlacht  bei  Abukir  gegenüber  Napoleon,  eine  Ein- 
bruchsteile zu  finden.  Es  gelang  ihnen  nicht,  da  die 
Armbrustschützen  unerschütterlich  blieben  und  ihnen 
die  größten  Verluste  zufügten.  Richard  hatte  strengsten 
Befehl  gegeben,  die  Reiterei  solle  nicht  früher  angreifen, 
als  bis  er  das  Zeichen  dazu  gäbe.  Ihm  lag  daran,  den 
Feind,  der  nur  allzuleicht  entfloh,  in  größtmöglicher  Nähe 
zu  haben.  Die  Christen  mußten  sich  daher  längere  Zeit 
beschießen  lassen,  und  das  erzeugte  bei  den  Rittern,  die 
viele  Pferde  verloren,  tiefgehende  Erbitterung.  Der 
Großmeister  der  Johanniter  ging  zum  König  und  bat  um 
Abhilfe.  Aber  dieser  sagte  bloß:  „Lieber  Meister,  man 
kann  nicht  überall  sein.''  Inzwischen  benutzte  der  Mar- 
schall des  Ordens  die  Abwesenheit  des  Großmeisters  und 
galoppierte  unter  Anrufung  des  heiligen  Georg  aus  der 
Reihe  heraus  gegen  die  Muslimen.  Da  glaubten  alle 
Christen,  das  Zeichen  sei  gegeben,  das  Fußvolk  bot  Raum, 
die  Reiter  griffen  nach  ihren  Lanzen  und  wandten  ihre 
Rosse  zum  Angriff.  Ein  arabischer  Berichterstatter 
schildert  uns  anschaulich  den  Eindruck,  den  er  gewann, 
als  plötzlich  ein  lauter  Kriegsruf  erscholl,  die  christliche 
Reiterei  aus  der  Masse  des  Fußvolks  herausbrach  und 
gerade  in  dem  Augenblicke,  da  der  Feind  ihrer  Herr  zu 
werden  hoffte,  alles  überrannte,  was  ihr  in  den  Weg  kam. 
Vergeblich  machte  Saladin  den  Versuch,  die  Fliehenden 
zu  sammeln.  Da  sie  die  Höhen  nicht  so  rasch  wieder 
hinaufkonnten,  hatten  sie  ungeheure  Verluste.  Richard 
selbst  schrieb  in  die  Heimat,  der  Sultan  habe  an  diesem 
Tage  mehr  Leute  eingebüßt  als  in  allen  vorhergehenden 
Kriegen. 

Die  Schlacht  bei  Arsuf  hat  von  jeher  die  Aufmerk- 
samkeit der  Militärhistoriker  auf  sich  gezogen,  und 
zweifellos  gewährt  sie  einen  lehrreichen  Einblick  in  das 
Kriegswesen  der  Zeit.  Man  hat  Richard  den  Vorwurf 
gemacht,  er  habe  den  glänzenden  Sieg  nicht  hinreichend 
ausgenutzt,  namentlich  die  Verfolgung  zu  früh  eingestellt; 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  15 

aber  es  erscheint  fraglich,  ob  er  es  hätte  wagen  können, 
seine  Leute  in  die  bewaldeten  Höhen  zu  schicken,  wo 
ihnen  überall  ein  Hinterhalt  drohen  konnte.  Es  liegt 
daher  kaum  ein  Anlaß  vor,  sein  Verdienst  zu  schmälern. 
Wenn  er  auch  die  zum  Siege  führende  Taktik  nicht 
erfunden  hatte,  so  wandte  er  sie  doch  sachgemäß  und 
erfolgreich  an,  verstand  es  dieses  eine  Mal,  einen  be- 
stimmten Plan  einheitlich  durchzuführen  und  sich  die 
Mitwirkung  aller  Barone,  vornehmlich  der  Franzosen,  zu 
sichern. 

Was  war  jetzt  mehr  geboten  als  sofortiger  Marsch 
auf  Jerusalem?  Aber  schon  kommen  wir  in  Zeiten,  in 
denen  wir  die  lange  Untätigkeit  des  Königs  gar  nicht 
begreifen  können.  Man  möchte  glauben,  daß  er  dazu 
neigte,  nach  heldenhafter  Anstrengung  einer  Art  Mattig- 
keit zu  verfallen.  Ob  sein  Körper  ihm  schließlich  nach 
allzu  starken  Zumutungen  den  Dienst  versagte?  Oder 
ob,  was  bei  dem  Charakter  des  Königs  wohl  möglich 
wäre,  er  in  wildem  Sinnentaumel  seine  Erfolge  immer 
erst  genießen  wollte?  Übler  war,  daß  er  wohl  dreinzu- 
schlagen,  aber  gar  nicht  Menschen  zu  behandeln  wußte. 

Saladin  war  durch  die  Niederlage  derart  erschreckt, 
daß  er  sich  entschloß,  nicht  nur  andere  geringere  Burgen, 
sondern  auch  das  überaus  feste  Askalon,  die  Braut 
Syriens,  wie  man  es  nannte,  zu  zerstören,  nur  um  zu 
vermeiden,  daß  die  Christen  daraus  einen  Stützpunkt 
für  Angriffe  auf  Ägypten  machten.  Da  Askalon  am  Meere 
liegt,  war  die  Möglichkeit  dauernder  Verbindung  mit 
Europa  besonders  zu  berücksichtigen.  Als  Richard  sich 
darüber  vergewissert  hatte,  daß  Saladin  sein  Vorhaben 
wirklich  ausführte,  wollte  er  schleunigst  dahin  gehen,  die 
wenig  zahlreichen  Sarazenen  vertreiben  und  die  Stadt 
in  Besitz  nehmen,  um  von  dort  aus  spätere  Unter- 
nehmungen ins  Werk  zu  setzen.  Davon  wollten  aber 
die  Franzosen  nichts  wissen,  und  sie  stimmten  im  Kriegs- 
rat für  die  Neubefestigung  von  Jaffa,  wohin  man  inzwischen 
gelangt  war,  und  dann  sofortigen  Vormarsch  nach  Jeru- 
salem, um  ihre  Pilgerfahrt  tunlichst  abzukürzen.  Richard 
gab  nach.     Es    ist    schwer   zu    sagen,   wer  mehr  Recht 


16  Alexander  Cartellieri, 

hat.  Gerade  bei  den  Kreuzzügen  kommen  so  viele  ideale 
Gesichtspunkte  in  Frage,  daß  eine  rein  militärische 
oder  rein  politische  Betrachtung  doch  nicht  ausreicht. 
Der  Hauptfehler  Richards  liegt  darin,  daß  er  den  Be- 
schluß des  Kriegsrates  nur  lau  förderte.  Zum  Teil  er- 
klärt sich  das  aus  der  Anknüpfung  von  Friedensverhand- 
lungen, zum  Teil  aus  dem  üblen  Einfluß  des  langen  Auf- 
enthalts der  Christen  in  Jaffa,  das  für  das  ohnehin  schwer 
in  Ordnung  zu  haltende  Heer  zu  einem  Capua  wurde. 
Allerhand  liederliches  Volk  kam  von  Akkon  herbei,  und 
die  Mannszucht  lockerte  sich  bedenklich.  Man  gewinnt 
den  Eindruck,  daß  die  Christen  sich  für  den  Zwang, 
den  sie  sich  auf  dem  Küstenmarsch  auferlegt  hatten, 
schleunigst  entschädigen  wollten.  Der  König  ließ  die 
Dinge  gehen  und  befriedigte  seine  Eitelkeit  mit  kleinen 
Erfolgen,  die  seine  Tapferkeit  weit  und  breit  zum 
Schrecken  der  Feinde  machten.  An  Vorsicht  ließ  er  es 
nur  allzu  leicht  fehlen  und  bedachte  gar  nicht,  welche 
Bedeutung  sein  Leben  als  das  des  Oberbefehlshabers 
für  die  christliche  Sache  hatte.  Er  führte  Krieg,  wie 
wenn  es  sich  um  ein  Turnier  in  der  Normandie  han- 
delte. Als  er  einmal  bei  einem  Streifzuge  eingeschlafen 
war,  wurde  er  überfallen.  Es  gelang  ihm,  sein  Pferd, 
den  durch  seine  Schnelligkeit  berühmten  zyprischen 
Renner,  zu  besteigen,  und  tollkühn  verfolgte  er  die 
Feinde  bis  in  ihren  Schlupfwinkel.  Aber  von  der  Ober- 
zahl gepackt,  hätte  er  sein  Leben  verloren  ohne  die  Auf- 
opferung eines  seiner  Mannen,  der  sich  für  ihn  ausgab. 

Sieben  Wochen  dauerte  der  Aufenthalt  in  Jaffa,  und 
erst  Ende  Oktober  begann  der  Vormarsch  auf  Jerusalem, 
für  den  Richard  mühsam  lässige  Krieger  hatte  heran- 
holen müssen.  Langsam  zog  man  vorwärts.  Die  Ab- 
sicht war,  auf  dem  Wege  liegende  Burgen  wieder  auf- 
zubauen und  damit  die  Rückkehr  zu  sichern.  Man  kann 
sich  leicht  vorstellen,  wie  wenig  solche  Schanz-  und 
Mauerarbeit  geeignet  war,  die  Stimmung  des  Heeres 
frisch  zu  halten. 

Anfang  November  wurden  die  Furiere  des  Heeres 
in  der  Nähe  von  Bombrak  angegriffen.     Richard  sandte^ 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  17 

da  er  selbst  mit  Bauen  beschäftigt  war,  einige  seiner 
Getreuen  voraus  und  kam  dann  selbst  nach.  Inzwischen 
war  das  kleine  Häuflein  der  Christen  umzingelt  worden, 
und  man  riet  ihm  dringend  ab,  ihnen  zu  Hilfe  zu  eilen. 
Jene  seien  doch  nicht  mehr  zu  retten,  und  es  sei  besser, 
daß  sie  allein  fielen  als  er  noch  mit  ihnen.  Treffe  ihn 
Unglück,  so  sei  die  christliche  Sache  verloren.  Aber 
Richard  erklärte,  er  habe  sie  hingeschickt,  darum  dürfe 
er  sie  auch  nicht  im  Stiche  lassen.  Stürben  sie  ohne 
ihn,  wolle  er  nicht  mehr  König  heißen.  Sprach's  und 
spornte  sein  Roß  vorwärts.  So  furchtbar  regneten  seine 
Hiebe  herab,  daß  abgeschlagene  Arme  und  Köpfe  herum- 
flogen. Wie  eine  Herde  stoben  die  Muslimen  auseinander. 
Wir  sehen  hier  bei  Richard  stark  ausgeprägt  den  alt- 
germanischen Zug  der  Treue  bis  in  den  Tod,  wie  ihn 
das  Nibelungenlied  hervorhebt.  Das  Band,  das  seine 
Mannen  an  ihn  knüpft,  sieht  er  als  unlöslich  an.  Er 
ist  ebenso  bereit,  sich  für  sie  zu  opfern,  als  jener  Ritter 
für  ihn.  Es  herrscht  volle  Gegenseitigkeit,  und  die 
Königswürde  vermag  das  Lehensverhältnis  nicht  zu  er- 
schüttern. Nur  zog  Richard,  wie  früher  betont  wurde, 
aus  politischen  Gründen  gegenüber  seinem  Lehensherrn 
von  Frankreich  die  entsprechende  Folgerung  nicht. 

In  der  Nähe  von  Ramla  blieb  das  Heer  sechs  Wochen. 
Fortwährend  gingen  Gesandte  zwischen  Saladin  und  dem 
Könige  hin  und  her,  aber  auch  Markgraf  Konrad  suchte 
den  Sultan  zu  einem  Sonderabkommen  zu  bewegen^ 
dessen  Spitze  sich  gegen  die  Engländer  richtete.  Aben- 
teuerlich dünkt  uns  der  Plan,  der  damals  auftauchte,  daß 
Saladins  Bruder  eine  Schwester  oder  Nichte  Richards 
heiraten  sollte,  um  künftige  Eintracht  zu  befestigen.  Aber 
Richard  setzte  einen  Dispens  des  Papstes  voraus,  und 
man  darf  nicht  vergessen,  daß  Geschichten  von  wunder- 
baren Bekehrungen  zum  Christentum  damals  weit  ver- 
breitet waren. 

Saladin  konnte  sich  nur  freuen,  wenn  er  Zeit  ge- 
wann. Denn  die  Christen  hatten  jetzt  alle  Unbilden 
eines  syrischen  Winters  zu  überstehen.  Sie  wußten  gar 
nicht,   wie  sie  sich  vor  dem  unaufhörlichen  Regen  retten 

Historische  ZeiUchrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  2 


18  Alexander  Cartellieri, 

sollten.  Die  Waffen  rosteten,  die  Kleider  verfaulten,  die 
Vorräte  verdarben,  die  Zelte  wurden  vom  Sturm  um- 
geworfen. Trotzdem  war  der  Eifer  groß  und  alles  voll 
sehnsüchtiger  Erwartung.  Denn  man  war  bis  Bet  Nuba, 
eine  Tagereise  von  der  heiligen  Stadt,  gekommen,  und 
schon  rechnete  man  mit  baldiger  Erfüllung  aller  Wünsche. 
Kranke  ließen  sich  aus  Jaffa  in  Sänften  herbeitragen,  um 
ja  nur  nicht  später  als  dringend  notwendig  zum  Grabe 
des  Erlösers  zu  gelangen. 

•  Ganz  anders  war  die  Meinung  aller  derjenigen,  die 
das  Land  seit  jungen  Jahren  kannten  und  dort  auch  zu 
bleiben  gedachten.  Der  lauten,  aber  unklaren  Be- 
geisterung der  Pilger  trat  die  ruhige  Überlegung  der 
Ansässigen  entgegen.  In  erster  Linie  stellten  die  Templer 
und  Johanniter  dem  Könige  vor,  Saladin  würde  sie  an- 
greifen, während  sie  Jerusalem  belagerten,  genau  wie  er 
es  vor  Akkon  getan,  und  könne  sie  naturgemäß  sehr 
viel  leichter  als  dort  vom  Meere  als  ihrer  einzigen  Zu- 
flucht abschneiden.  Gelinge  es  ihnen  aber,  Jerusalem  zu 
nehmen,  so  sei  auch  das  nicht  unbedenklich.  Denn  die 
fremden  Pilger  würden  eiligst  heimkehren  und  wer  würde 
übrigbleiben,  um  die  Verteidigung  der  großen  Stadt  zu 
übernehmen?  Sie  empfahlen,  umzudrehen,  Askalon 
wieder  aufzubauen  und  von  dort  aus  die  Zufuhr  aus 
Ägypten  zu  unterbrechen,  also  indirekt  dem  Sultan  zu 
schaden.  Das  bedeutete  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als  ein  Zurückkommen  auf  das,  was  Richard  schon  von 
Jaffa  aus  gewollt  hatte.  Nur  war,  wenn  man  jetzt  so 
handelte,  der  ganze  verlustreiche  und  unendlich  müh- 
selige Vormarsch  auf  Jerusalem  vergeblich  gewesen. 
Trotzdem  wurde   der  Entschluß  gefaßt,  zurückzugehen. 

Am  13.  Januar  1192  verbreitete  sich  die  üble  Kunde 
im  Heere.  Da  gab  es  nicht  nur  Enttäuschung  und 
Trauer,  sondern  auch  Bitterkeit  und  Ingrimm  genug. 
Viele  verwünschten  den  langsamen  Marsch  und  den 
vielen  Aufenthalt. 

Von  diesem  Augenblick  an  hatte  Richard  als  Ober- 
befehlshaber kein  Glück  mehr.  Wie  übel  wurde  er  dafür 
belohnt,  daß  er  in  Jaffa  nachgegeben  hatte !    Die  Spannung 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  19 

zwischen  ihm  und  den  Franzosen  wurde  verschärft  durch 
Konrad  von  Montferrat.  Außerdem  gab  es  blutige  Händel 
zwischen  Pisanern  und  Genuesen  in  Akkon,  kurz  Streit 
und  Mißstimmung  überaU. 

Richard  war  mit  dem  Aufbau  Askalons  beschäftigt, 
sparte  dabei  weder  Geld  noch  Mühe.  Auf  seine  Kosten 
sollen  drei  Viertel  der  Stadt  hergestellt  worden  sein.  Da 
bekam  er,  während  sich  um  Ihn  herum  eine  allgemeine 
Auflösung  ankündigte,  noch  die  aufregendsten  Nach- 
richten aus  der  Heimat,  wo  sein  Bruder  Graf  Johann 
ohne  Land  geradezu  hochverräterische  Pläne  auszuführen 
suchte,  die  königlichen  Beamten  verjagte,  Burgen  und 
Einkünfte  in  Besitz  nahm.  Richard  verhehlte  sich  den 
Ernst  der  Lage  Englands  nicht.  Er  berief  seine  Barone 
zusammen  und  tat  ihnen  kund,  daß  er  abfahren  müsse. 
Aber  er  wolle  auf  seine  Kosten  eine  ansehnliche  Streit- 
macht im  Heiligen  Lande  unterhalten.  Groß  war  der 
Schmerz  aller,  die  es  hörten.  Gerade  von  Richard  hätte 
man  das  nicht  erwartet,  was  er  ein  Jahr  vorher  Philipp 
August  so  verächtlich  vorgeworfen  hatte.  Für  die  rich- 
tigen Kreuzzugsfanatiker,  wie  sie  namentlich  unter  den 
ungebildeten,  besitzlosen  und  unverantwortlichen  Pilgern 
zahlreich  waren,  gab  es  überhaupt  nichts  auf  Erden,  was 
von  dem  Gelübde,  das  Heilige  Grab  zu  befreien,  lösen 
konnte,  es  sei  denn  der  Tod.  Alle  Barone  verlangten 
unter  diesen  Umständen  eine  Königswahl  für  das  Reich 
Jerusalem,  sonst  würden  auch  sie  fortgehen.  Als  Richard 
fragte,  wen  sie  wollten,  nannten  sie  ohne  Ausnahme 
nicht  etwa  Wido,  den  Parteimann  der  Engländer,  der 
sich  noch  als  König  betrachtete,  sondern  den  Markgrafen 
Konrad  von  Montferrat,  da  dieser  der  tüchtigste  sei. 
Richard  sprach  nicht  dagegen,  begnügte  sich  nur,  den 
einen  oder  den  anderen  daran  zu  erinnern,  daß  er  früher 
vom  Markgrafen  nichts  habe  wissen  wollen.  Leicht 
mochte  es  ihm  nicht  werden,  den  Vertreter  der  franzö- 
sischen Partei,  seinen  Feind,  jetzt  noch  so  spät  anzu- 
erkennen und  damit  seine  ganze  bisherige  morgen- 
iändische  Politik  zu  verdammen.  Aber  die  Not  war  groß, 
und  er  entsandte  daher  einige  Herren   nach  Tyrus,    um 

2* 


20  Alexander  Cartellieri, 

die  Wahl  zu  verkünden.  Konrad  konnte  sich  nicht  lange 
freuen,  endlich  den  Platz  erreicht  zu  haben,  auf  den  ihn 
sein  Ehrgeiz  und  seine  hervorragenden  Eigenschaften 
schon  lange  beriefen.  Unmittelbar  nachher,  am  28.  April, 
wurde  er  ermordet.  Ein  geheimnisvolles  Dunkel  schwebt 
bis  heute  über  den  Anstiftern  der  blutigen  Tat.  Voll- 
zogen wurde  sie  von  zwei  Assassinen,  Mitgliedern  jener 
merkwürdigen  Genossenschaft,  deren  Tätigkeit  schon 
durch  den  Namen  allein  gekennzeichnet  wird.  Sehr  bald 
kam  Richard  in  den  Verdacht,  den  ihm  verhaßten  Mark- 
grafen aus  dem  Wege  geräumt  zu  haben,  und  in  Frank- 
reich wie  in  Deutschland,  das  heißt  überall,  wo  Richard 
Feinde  hatte,  glaubte  man  dem  Gerüchte  nur  zu  gerne. 
Die  Forschung  wird  es  abweisen,  wenn  sich  auch  kein 
zwingender  Beweis  führen  läßt.  Richards  Art  war  es 
nicht,  Meuchelmörder  auszusenden,  denn  Feigheit  lag 
ihm  fern.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ist  Konrad  der 
Rache  des  Scheiks  der  Assassinen  zum  Opfer  gefallen^ 
weil  er  sich  geweigert  hatte,  für  eine  durch  seine  Unter- 
gebenen verübte  Plünderung  Genugtuung  zu  gewähren. 
Seine  Erhebung  zur  höchsten  Würde  mag  die  Vollziehung 
beschleunigt  haben. 

Konrads  Nachfolger  wurde  Graf  Heinrich  von  Cham- 
pagne, der  mit  Richard  verwandt  war  und  immer  gut 
mit  den  Engländern  gestanden  hatte.  Richard  machte 
damals  in  der  Gegend  von  Ramiah  Jagd  auf  Sarazenen, 
denn  anders  kann  man  es  nicht  nennen,  wenn  er  von 
seinen  Ritten  ein  oder  zwei  Dutzend  Sarazenenköpfe  am 
Sattel  mitbrachte.  „Durch  einen  einzigen  Menschen," 
rühmt  unser  Gewährsmann,  „sind  niemals  so  viele  Un- 
gläubige getötet  worden."  Dann  ging  Richard  an  die 
Belagerung  von  Darum,  der  südlichsten  Burg  des  Reiches. 
Als  die  Schleudermaschinen  zu  Wasser  ankamen,  lud  er 
als  erster  einen  Balken  auf  seine  Schulter  und  trug  ihn 
schweißtriefend  über  eine  Meile  weit  durch  den  Sand. 
Auch  hier  wieder  tritt  der  Grundzug  seines  Wesens  her- 
vor: immer  der  erste  sein,  mag  es  sein,  was  es  will. 
Die  Burg  wurde  genommen,  noch  ehe  Graf  Heinrich 
und    die    Franzosen    ankamen,    und    das   bereitete    den 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  21 

Engländern  große  Freude.  Aber  ihr  König  empfing  auf 
dem  Wege  nacfi  Askalon  Nachrichten  aus  der  Heimat, 
schlimmere  als  die  früheren.  Ganz  England  sei  in  Auf- 
ruhr, Philipp  August  treffe  Anstalten,  sich  mit  Johann 
zu  verbünden.  Abermals  entschloß  sich  Richard  zur 
Heimkehr.  Trotzdem  oder  vielleicht  gerade  deshalb, 
weil  er  ja  dagegen  gewesen  war,  wollten  die  Barone  jetzt 
nach  Jerusalem.  Wieder  genoß  die  arme,  nur  zu  oft 
enttäuschte  Pilgerschar  einige  Tage  freudigster  Erregung, 
wieder  wurden  aller  Herzen  von  seliger  Erwartung  ge- 
schwellt. Und  dann  sollte  Richard,  der  auserkorene 
Olaubensheld,  fehlen?  Das  bekümmerte  einen  ihm  treu 
ergebenen  Kleriker  aus  Poitou,  und  er  richtete  es  so 
ein,  daß  ihn  der  König  sah,  als  er  laut  weinend  am 
Zelte  vorüberging.  Richard  rief  ihn  auch  an  und  fragte 
nach  der  Ursache  solches  Kummers.  Jener  ließ  sich 
erst  das  Versprechen  geben,  daß  ihm  sein  Freimut  nicht 
schaden  würde,  und  stellte  ihm  dann  in  beredten  Worten 
vor,  wie  Gott  ihn  bisher  bei  allen  seinen  Unternehmungen 
seit  seinen  Grafenjahren  sichtlich  gesegnet,  aus  so  mancher 
schweren  Gefahr  und  aus  tödlicher  Krankheit  gerettet 
habe.  „König,"  so  schloß  er,  „Ihr  seid  cjer  Vater  der 
Christenheit.  Wenn  Ihr  sie  im  Stich  laßt,  so  ist  sie  ver- 
raten und  verkauft."  Man  kann  sich  denken,  in  welchen 
inneren  Zwiespalt  Richard  geriet.  Auf  der  einen  Seite 
die  quälende  Sorge  um  sein  Land  und  seine  königliche 
Würde,  auf  der  anderen  die  Scham,  unverrichteter  Sache 
aus  dem  Dienste  seines  himmlischen  Herrn  zu  scheiden, 
die  Mannentreue  gegen  Christus  zu  verleugnen.  Die 
irdische  Pflicht  trat  vor  der  überirdischen  zurück.  Er 
änderte  wieder  seinen  Plan  und  machte  durch  den  Herold 
bekannt,  er  wolle  unter  allen  Umständen  bis  Ostern  1193 
ausharren.  Jedermann  solle  sich  zum  Marsche  nach  der 
heiligen  Stadt  rüsten. 

Auch  diesmal  gelangte  man  wieder  bis  Bet  Nuba, 
wie  im  Winter  vorher,  aber  nicht  weiter.  Während  hier 
hin  und  her  beraten  und  der  Versuch  gemacht  wurde, 
allerlei  saumseliges  Volk  zur  Verstärkung  heranzuziehen, 
ging  Richard  seiner  Art  nach  wieder  auf  Abenteuer  aus. 


22  Alexander  Cartellieri, 

Einmal  sah  er,  während  er  einen  Trupp  Feinde  ver- 
folgte, Jerusalem  vor  sich,  und  man  behauptete,  die  Nähe 
des  allgemein  gefürchteten  Helden  allein  habe  den  Be- 
wohnern einen  solchen  Schrecken  eingejagt,  daß  die  Er- 
oberung ein  leichtes  gewesen  wäre.  Aber  er  hatte  zu- 
nächst andere  Dinge  im  Kopfe.  Es  galt,  eine  besonders 
große  Karawane  aus  Kairo  abzufangen.  Er  überfiel  sie, 
sagt  ein  Augenzeuge,  so  wie  der  Windhund  den  Hasen 
jagt.  Keine  Rüstung  widerstand  seinem  Schwerte.  Die 
Beute  an  Kostbarkeiten  und  Waffen  war  ganz  außer- 
gewöhnlich reich.  Auf  dem  Rückweg  wurde  die  Ver- 
einigung mit  Graf  Heinrich  vollzogen,  und  das  Heer  war 
noch  einmal  vollzählig. 

Jetzt  war  es  aber  auffallenderweise  Richard,  der 
einen  Angriff  auf  Jerusalem  widerriet,  gestützt  auf  seine 
langjährige  kriegerische  Erfahrung.  Er  meinte,  Saladin 
könne  ihnen  die  Lebensmittel  abschneiden  und  Jerusalem 
sei  zu  groß  für  die  geringe  christliche  Macht.  Er  ver- 
wies auf  das  Urteil  eines  aus  den  verschiedenen  Heeres- 
gruppen zu  wählenden  Ausschusses,  und  dieser,  in  dem 
die  beiden  Ritterorden  und  die  morgenländischen  Christen 
die  Mehrheit  hatten,  entschied  sich  für  die  Eroberung 
von  Kairo.  Hauptsächlich  der  bei  der  großen  Hitze 
vorauszusehende  Wassermangel  wurde  als  Grund  gegen 
weiteres  Vorrücken  auf  Jerusalem  genannt.  Ungemein 
lebhaft  äußerte  sich  der  Unwille  des  Heeres,  als  am 
4.  Juli  abermals  der  Rückzug  angetreten  wurde.  Vor 
allem  waren  die  Franzosen  empört,  und  sie  suchten 
Richard  die  Schuld  an  dem  ganzen  mißlungenen  Unter- 
nehmen aufzubürden.  Herzog  Hugo  von  Burgund  machte 
Spottverse  auf  ihn  und  ließ  sie  öffentlich  vortragen. 
Richard  blieb  eine  entsprechende  Antwort  nicht  schuldig, 
und  damit  wurde  der  Zwist  zwischen  den  beiden  Natio- 
nalitäten erst  recht  entfacht.  Sie  marschierten  und  lagerten 
von  nun  an  getrennt. 

Als  Richard  der  allgemeinen  Zerfahrenheit  um  ihn 
herum  inne  wurde,  versuchte  er  durch  Verhandlungen 
mit  Saladin  zu  einem  befriedigenden  Abschluß  des  Kreuz- 
zuges zu  gelangen.    Aber  dieser  forderte  als  erstes  die 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  23 

Schleifung  Askalons,   und  deshalb   kam   zunächst   keine 
Einigung  zustande. 

Nach  fast  einem  Jahre  zog  das  christliche  Heer  in 
demselben  Akkon  wieder  ein,  das  es  einst  mit  aus- 
schweifenden Hoffnungen  auf  die  Eroberung  Jerusalems 
und  die  Niederwerfung  des  Islam  verlassen  hatte.  Jaffa, 
das  Saladin  hart  bedrängte,  wollte  Richard  für  die  Christen 
retten.  Wenn  er  eine  ganz  bestimmte,  scharf  umgrenzte 
Aufgabe  vor  sich  hatte,  wo  vor  allem  Kühnheit  und  Kraft 
notwendig  waren,  dann  war  er  an  seinem  Platze.  Mit 
geringer  Begleitung  vor  dem  Hafen  angekommen,  erfuhr 
er,  daß  die  Burg  schon  so  gut  wie  genommen  seL 
Während  er  deshalb  zu  landen  zögerte,  kam  ein  Priester 
herangeschwommen  und  bat  dringend  im  Namen  der 
hart  bedrängten  Verteidiger  um  Hilfe.  Augenblicklich 
sprang  der  König  ins  Wasser,  das  ihm  bis  an  den  Gürtel 
reichte,  und  langte,  wie  das  seine  Art  war,  unter  den 
Ersten  am  Ufer  an.  Die  ihm  entgegeneilenden  Feinde 
zersprengte  er  rasch,  drang  durch  eine  kleine  Pforte, 
die  er  erspähte,  ein,  und  in  kürzester  Frist  hatte  er  die 
Burg  entsetzt  Da  rückte  Saladin  selbst  mit  Obermacht 
heran  und  näherte  sich  unbemerkt  dem  christlichen  Lager. 
Erst  im  letzten  Augenblicke  wurden  die  Engländer  ge- 
weckt. Richard  und  seine  Ritter  mußten,  nur  halb  ge- 
rüstet, zu  Pferde  steigen.  Die  Aufstellung,  die  er  wählte, 
um  sein  Häuflein  nicht  erdrückt  zu  sehen,  verdient  unsere 
Aufmerksamkeit.  Die  Mitte  eines  Kreises  bildeten  etwa 
50  Ritter,  die  aber  längst  nicht  alle  und,  wenn,  schlecht 
beritten  waren.  Von  den  Fußsoldaten  ringsherum  ließ 
sich  die  erste  Reihe  auf  das  rechte  Knie  nieder,  hielt  in 
der  linken  Hand  den  breiten  Schild,  in  der  rechten  die 
fünf  bis  sechs  Meter  lange  Lanze,  die  mit  dem  unteren 
Ende  des  Schaftes  in  die  Erde  gerammt  wurde  und  den 
Feinden  also  schräg  entgegenragte.  Von  den  Schützen 
der.  zweiten  Reihe  schoß  immer  einer  über  den  Kopf 
des  Vordermannes  durch  die  Lücke  zwischen  zwei 
Schilden  hindurch,  während  ein  anderer  die  Armbrust 
spannte  und  zureichte.  Diesen  kleinen,  aber  lanzen- 
starrenden,  unbeweglich    standhaltenden    Kreis    gewalt- 


24  Alexander  Cartellieri, 

sam  zu  sprengen,  wagte  die  wild  anstürmende  musli- 
mische Reiterei  nicht.  Im  richtigen  Augenblicke  stürzte 
sich  der  König,  dessen  Person  aliein  schon  Entsetzen 
verbreitete,  mit  seinen  paar  Reitern  in  das  dichteste  Ge- 
wühl der  Sarazenen.  Ein  Augenzeuge  schildert  anschau- 
Jich,  wie  er  kämpfte.  Um  sich  etwas  Ähnliches  vorzu- 
-stellen,  muß  man  schon  auf  die  alten  Heldenlieder  und 
Sagen  zurückgreifen.  Richard  bahnte  sich  überallhin 
einen  Weg,  vorwärts  wie  rückwärts.  Ob  er  einen  Men- 
schen oder  ein  Pferd  traf,  alles  schlug  er  in  Stücke. 
Mit  einem  gewaltigen  Hiebe  trennte  er  Kopf  und  Arm 
eines  eisenbewehrten  Emirs  vom  Rumpfe.  An  den  Händen 
platzte  ihm  die  Haut  vor  Anstrengung.  Roß  und  Reiter 
waren  dermaßen  mit  steckengebliebenen  Pfeilen  bedeckt, 
daß  sie  aussahen  wie  ein  Stachelschwein.  Aber  auch 
übermenschliche  Tapferkeit  würde  den  König  nicht  ge- 
rettet haben,  hätte  ihm  nicht  ein  Abgesandter  von  Sala- 
dins  Bruder,  der  ihn  bewunderte,  zwei  edle  Rosse  ge- 
bracht, was  Richard  zu  der  Bemerkung  veranlaßte,  in 
solcher  Not  würde  er  auch  von  seinem  Todfeinde  kein 
Geschenk  zurückweisen.  Schließlich  gelang  es  ihm,  aus 
der  Stadt  und  der  Flottenmannschaft  einige  Verstärkungen 
heranzuziehen  und  durch  erneuten  Angriff  den  Feind 
zum  Rückzug  zu  bewegen. 

Es  war  der  letzte  schöne  Erfolg  Richards  im  Heiligen 
Lande.  Infolge  der  Überanstrengung  erkrankt,  von  den 
Franzosen  gemieden,  seiner  Geldmittel  entblößt,  aus  der 
Heimat  immer  lauter  zurückgerufen,  mußte  er  wohl  oder 
übel  Frieden  schließen.  Er  versuchte  es  noch  einmal, 
sich  Askalon,  das  er  unter  solchen  Mühen  und  Kosten 
wieder  aufgebaut  hatte,  zu  sichern. 

Aber  es  war  vergeblich.  Die  schwere  Kunst  diplo- 
matischen Meinungsaustausches  in  einer  verlorenen  Sache 
verstand  er  nicht,  weil  es  ihm  an  Ruhe,  Geduld  und 
Menschenkenntnis  fehlte.  Auch  war  er  nicht  mehr  zu 
fürchten,  und  Saladin  beharrte  auf  seiner  Forderung.  Der 
Friede  kam  am  2.  September  1192  zu  Jaffa  unter  fol- 
genden Bedingungen  auf  drei  Jahre  zustande:  Die 
Christen  behielten  die  Küste,  d.  h.  Tyrus,  Akkon,  Haifa, 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  25 

Cäsarea,  Jaffa.  Ramiah  und  Lydda  sollten  geteilt,  Aska- 
lon  gemeinsam  geschleift  werden.  Jerusalem  und  alles 
Land,  abgesehen  von  dem  Küstenstrich,  gehörte  den 
Sarazenen.  Die  Herrschaften  Antiochien  und  Tripolis 
konnten  in  den  Vertrag  mit  einbezogen  werden.  Die 
Christen  durften  frei  und  ungehindert,  aber  als  unbe- 
waffnete Pilger  das  Heilige  Grab  aufsuchen. 

Einige  Wochen  später,  sobald  es  seine  Gesundheit 
erlaubte,  am  9.  Oktober  segelte  Richard  heim,  ein  halbes 
Jahr  früher,  als  er  es  einst  laut  verkündet  hatte.  Was 
hatte  er  erreicht?  Akkon  war  der  Übergabe  nahe,  als 
er  ankam,  Tyrus  gehörte  schon  den  Christen,  nur  die 
anderen  genannten  Orte  hatte  er  gewonnen  und  zum 
Teil  wieder  aufgebaut.  Nimmt  man  den  Zugang  zum 
Heiligen  Grabe  dazu,  so  war  das  alles,  sicher  verschwin- 
dend wenig,  wenn  man  seine  hochfliegenden  Pläne  und 
den  ungeheuren  Aufwand  an  Gut  und  Blut  bedenkt. 
So  urteilten  auch  schon  Zeitgenossen,  das  ganze  Unter- 
nehmen sei  doch  mißlungen,  da  Jerusalem  in  den  Händen 
der  Ungläubigen  geblieben  sei;  aber  ein  Gefährte  Richards 
fertigt  sie  damit  ab,  daß  die  Pilger,  die  so  viel  erduldet, 
den  Märtyrern  gleich  ihren  Platz  an  der  Seite  Gottes  im 
himmlischen  Paradiese  eingenommen  hätten.  Politisch 
kann  man  nur  sagen,  daß  der  gewaltige  Ansturm  des 
Abendlandes  und  mehr  noch  der  im  Frühjahr  1193  ein- 
tretende Tod  Saladins  den  Resten  der  christlichen  Herr- 
schaft eine  längere  Frist  gewährten,  als  man  es  nach 
den  ersten  Siegen  des  Sultans  von  1187  für  möglich 
gehalten  hätte. 

Richard  trägt  ohne  jeden  Zweifel  einen  großen  Teil 
der  Schuld  an  der  Geringfügigkeit  des  Ergebnisses. 
Gerne  wird  man  seinen  tollkühnen  Mut  bewundern,  ihm 
die  Krone  des  Rittertums  zusprechen,  aber  er  war  eben 
nicht  bloß  Ritter,  sondern  großer  Vasall  und  König.  Die 
Pflichten,  die  ihm  solch  eine  hervorragende  Stellung  auf- 
legte, hat  er  nicht  erfüllt.  Als  Vasall,  solange  Philipp 
August  da  war,  verstand  er  es  nicht,  sich  unterzuordnen, 
als  Oberbefehlshaber,  als  er  allein  war,  nicht,  Befehle 
zu   geben.     Er  tat  doch  endlich  immer  das,  was  er  erst 


26  Alexander  Cartellieri, 

keinesfalls  hatte  tun  wollen.  Er  war  ebenso  eigenmächtig 
wie  unselbständig,  unstet  wie  wankelmütig.  Durch  Auf- 
stellung und  Verwendung  von  Truppen  hat  er  sich  aus- 
gezeichnet und  sie  vor  allem  durch  seine  persönliche 
Leistung  angefeuert:  der  schwierigen  Aufgabe,  ein  ge- 
mischtes und  der  Natur  der  Sache  nach  unbotmäßiges 
Heer  zu  leiten,  war  er  nicht  gewachsen. 

Aber  er  hatte  das  große  Glück,  daß  aus  seiner  Um- 
gebung die  besten  und  ausführlichsten  Berichte  über  den 
Kreuzzug  stammen,  während  sie  vom  französischen 
Standpunkte  aus  fehlen.  Er  hatte,  wie  man  treffend  ge- 
sagt hat,  eine  gute  Presse,  und  in  alter  und  neuer  Zeit 
haben  Sage  und  Dichtung  seine  wunderbaren  Taten  ge- 
priesen, ihn  als  nationalen  Helden  Englands  gefeiert. 

Lange  erhielt  sich  die  Erinnerung  an  ihn  im  Orient. 
Jedermann  kennt  die  Geschichten,  die  immer  wieder  er- 
zählt werden :  sarazenische  Mütter  beruhigen  ihre  schrei- 
enden Kinder  mit  den  Worten:  „Sei  still,  dort  kommt 
der  König  von  England  1"  Sarazenische  Reiter  sagen 
zu  ihrem  Roß,  wenn  es  vor  einem  Strauche  scheut: 
„Glaubst  du  denn,  der  König  von  England  sitzt  darin?" 

Lehrreich  ist  das  Urteil  des  größten  Feindes,  des 
Sultans  Saladin.  Willig  erkannte  er  Richards  Tapferkeit 
und  schöne  Freigebigkeit  an,  tadelte  aber  seine  Unüber- 
legtheit und  Maßlosigkeit.  Durch  diese  beiden  Fehler 
hatte  Richard  sich  im  Heiligen  Lande  unter  seinen  Mit- 
streitern so  erbitterte  Feinde  geschaffen,  daß  es  ihn 
nachher  fast  sein  Reich  gekostet  hätte.  Es  ist  bekannt, 
wie  er  auf  dem  Heimwege  vom  Herzog  von  Österreich 
gefangen  genommen,  dem  deutschen  Kaiser  Heinrich  VL 
ausgeliefert,  zur  Freude  Philipp  Augusts  lange  in  Haft 
gehalten  und  erst  gegen  ein  ungeheures  Lösegeld  be- 
freit wurde.  Die  wirklichen  und  vermeintlichen  Gewalt- 
taten, die  er  auf  dem  Kreuzzuge  begangen  hatte,  spielten 
eine  entscheidende  Rolle  in  der  europäischen  Politik 
jener  Jahre.  So  gewinnt  sein  Aufenthalt  im  Heiligen 
Lande  doch  eine  weit  über  bloße  Abenteuer  und  Reiter- 
streiche hinausgehende  Bedeutung.  In  unseren  Zeiten, 
da   alle  Welt  von   englischen  Weltreichsplänen    spricht, 


Richard  Löwenherz  im  Heiligen  Lande.  27 

ist  es  vielleicht  auch  nicht  unangebracht,  daran  zu  er- 
innern,  daß  damals  zum  ersten  Male  eine  gewaltige  eng- 
lische Flotte  das  Mittelmeer  durchfurchte,  ein  englischer 
König  Zypern  eroberte,  Palästina  mit  dem  Rufe  seiner 
Taten  erfüllte  und  von  dort  aus  Ägypten  zu  gewinnen 
plante.  Aber  nicht  als  großer  Politiker  oder  großer  Feld- 
herr hat  Richard  das  vollbracht,  sondern  als  der  stärkste 
und  kühnste  Ritter  seiner  Zeit.  Darin  liegt  sein  unver- 
gänglicher Ruhm,  darin  aber  auch  die  Grenze  seines 
Wesens. 


Die  Anfänge  der  venezianischen  Galeeren- 
fahrten nach  der  Nordsee. 


Von 

Adolf  Schaube. 


Inhalt:  I.  Bisherige  Anschauungen  von  dem  Beginn  dieser 
Fahrten.  II.  Ihr  wirklicher  Beginn.  Veranlassung.  III.  Orga- 
nisation der  ersten  Fahrt.  Zeitweilige  Freigabe  der  Han- 
delsschiffahrt  nach  Flandern.  IV.  Fünf  Fahrten  nach  Brügge 
und  Antwerpen  1317 — 1319.  V.  Fahrten  bis  zur  Errichtung 
des  venezianischen  Konsulats  in  Brügge  1322.  VI.  Brügge 
oder  Antwerpen.  Die  Malatolta.  Übersicht  über  die  äußere 
Geschichte  der  Galeerenfahrten  im  nächsten  Jahrzehnt. 
VII.  Innere  Verhältnisse:  Fahrt-  und  Aufenthaltszeiten, 
Zwischenstationen,  Zulassung  der  Fremden,  Förderung  der 
Fahrten  gegenüber  der  Konkurrenz,  Sorge  für  Ausfuhr  der 
draparia  Flandriae,  Abgabenfreiheit,  Frachtermäßigungen. 
Die  Warenbewegung  bei  Hin-  und  Rückfahrt.  VIII.  Un- 
freundliches Verhältnis  zu  England.  Umschwung  infolge 
des  Hundertjährigen  Krieges. 

I. 

In  einer  seiner  gehaltvollen,  an  fruchtbaren  An- 
regungen reichen  Abhandlungen  zur  Geschichte  der  Erd- 
kunde hat  Peschel  bemerkt,  daß  ihm  in  bezug  auf  das 
Zeitalter  der  großen  überseeischen  Entdeckungen  viel 
wichtiger  als  das  gewöhnlich  für  das  Entscheidungsjahr 
geltende  Jahr  der  Entdeckung  Amerikas  das  Jahr  1318 
erscheine,    in    dem    zuerst   fünf   venezianische  Galeeren 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    29 

Gewürze  nach  Antwerpen  gebracht  hätten.^)  Man  wird  sich 
dem  darin  enthaltenen  Werturteil  nicht  anzuschließen 
brauchen  und  doch  anerkennen  können,  daß  die  Ein- 
richtung eines  regelmäßigen  Seeverkehrs  von  den  Ge- 
staden Italiens  nach  denen  der  Nordsee  in  der  Geschichte 
des  Handels  und  der  allgemeinen  Kultur  in  der  Tat  einen 
sehr  erheblichen  Fortschritt  bedeutet.  Dem  Jahre  1318 
kann  allerdings  die  ihm  zugedachte  Ehre  auf  keinen 
Fall  verbleiben,  da  die  von  Peschel  angeführte  Fahrt  gar 
nicht  die  erste  der  venezianischen  Galeerenfahrten  nach 
Flandern  gewesen  ist. 

Pigeonneau,  der  Verfasser  einer  geschätzten  franzö- 
sischen Handelsgeschichte,  läßt  die  erste  venezianische 
Galeere  in  Antwerpen  im  Jahre  1312  landen,  im  Jahre 
1318  die  Signorie  einen  Handelsvertrag  mit  Brügge 
schließen  und  seit  dem  Jahre  1325  alljährlich  eine  vene- 
zianische Flotte  von  15  Schiffen  nach  dem  Norden  gehen, 
die  zum  Teil  für  England,  zum  Teil  für  Flandern  be- 
stimmt gewesen  sei.  2)  Ich  muß  gestehen,  in  arger  Ver- 
legenheit zu  sein,  wenn  ich  sagen  sollte,  worauf  diese 
Nachrichten  fußen;  indessen  habe  ich  Grund  zu  glauben, 
daß  auch  des  Verfassers  Verlegenheit  nicht  geringer 
wäre,  wenn  er  uns  die  Quellen  für  seine  mit  so  großer 
Bestimmtheit  vorgebrachten  Angaben  mitteilen  sollte.  In 
Wahrheit  wird  sich  uns  ergeben,  daß  jede  einzelne  dieser 
Angaben  tatsächlich  unrichtig  ist. 

Zwei  andere  französische  Forscher  haben  gemeint, 
die  flandrischen  Handelsfahrten  der  Venezianer  bis  in 
das  13.  Jahrhundert  zurückrücken  zu  können.  ^)    A.  Baschet 


»)  Ausland  1869,  Nr.  14  (Abh.  zur  Erd-  und  Völkerkunde 
von  O.  P.,  herausg.  von  Löwenberg,  N.  F.  1878,  S.  111).  S.  auch 
Peschels  Gesch.  des  Zeitalters  der  Entd.  S.  44  und  seine  Gesch. 
der  Erdkunde,  2.  Aufl.  bes.  von  Rüge,  München  1877,  S.  192. 

«)  Histoire  du  commerce  de  la  France  I  (Paris  1887),  226. 

»)  Pincharts  Essai  sur  les  relations  commerciales  des  Beiges 
avec  le  Nord  de  Vltalie  et  particulikrement  avec  les  Vänitiens, 
depais  le  XI I^  jusqu'au  XVI^  siicle  (Messager  des  Sciences  hisL, 
des  arts  etc,  de  la  Belgigue,  ann^e  1851,  Gand,  p.  9—25)  erwähne 
ich  nur;  es  ist  eine  ganz  hübsch  geschriebene  Skizze,  die  aber 
wissenschaftlichen  Wert  nicht  beansprucht. 


30  Adolf  Schaube, 

nennt  1273  das  fUr  diese  Fahrten  zuerst  urkundlich  be- 
glaubigte Jahr^);  alljährlich  sei  in  dieser  Zeit  aus  dem 
Hafen  des  reichen  Venedig  jene  Handelsflotte  ausgelaufen, 
der  die  Signorie  mit  Rücksicht  auf  ihre  Bestimmung  den 
Namen  der  flandrischen  Galeeren  gegeben  habe;  zwei- 
mal auf  jeder  dieser  Reisen  sei  dabei  in  dem  englischen 
Hafen  Southampton  Station  gemacht  worden.  Baschet 
fuhrt  das  urkundliche  Zeugnis,  auf  das  er  sich  stützt, 
zwar  nicht  an,  aber  ich  glaube  es  zu  kennen;  es  bestätigt 
zwar  seine  Angaben  durchaus  nicht,  ist  aber  wichtig, 
weil  es  meines  Wissens  das  älteste  Zeugnis  ist,  das  uns 
von  direkten  kommerziellen  Beziehungen  zwischen  Venedig 
und  Flandern  positive  Kunde  gibt.  Es  ist  ein  Beschluß 
des  Großen  Rats  von  Venedig  vom  19.  Dezember  1273^), 
der  zunächst  allen  Venezianern  und  Fremden,  die  von 
Venedig  nach  Marseille,  Montpellier,  Aigues-Mortes  oder 
sonst  einem  Hafen  der  französischen  SUdkiiste  fahren 
wollten,  unter  Beschränkung  des  Exports  auf  die  aus 
der  Levante,  der  Romania  und  aus  Slavonien  stammenden 
Waren  und  auf  die  Erzeugnisse  der  venezianischen  In- 
dustrie, Abgabenfreiheit  verheißt  und  dann  fortfährt: 
et  si  iverint  ad  feras  vel  in  Flandriam  .  .  .  et  deinde 
venerint  Veneciam  cum  draparia,  debeant  esse  franchi  de 
tanta  mercatione  quanta  traxerint  de  Venecia,  Wer  von 
diesen  Kaufleuten  also  von  Südfrankreich  aus  nach  den 
Champagner  Messen  oder  nach  Flandern  weiterging,  ge- 
noß für  die  Tuche,  die  er  bei  der  Rückkehr  von  da  nach 
Venedig  einführte,  Abgabenfreiheit  bis  zur  Höhe  des 
Wertes  der  Waren,  die  er  aus  Venedig  ausgeführt  hatte. 
Daß  die  in  diesem  Zusammenhange  und  unter  der  Auf- 
schrift  yyde  forma  navigantium  mercatorum  ad  partes 

»)  La  diplomatie  v^nitienne  (Paris  1862)  p.  106:  la  date  docu- 
mentaire  est  1273. 

')  Mas  Latrie,  Commerce  et  expiditlons  militaires  de  la  France 
et  de  Venise  au  moyen-dge,  in:  Milanges  Historiques.  Choix  de 
documents  III  (Paris  1880),  p.  15.  In  Obersetzung  bei  Marin,  Stör, 
del  commercio  de'  Ven.  V,  295  f.  mit  dem  irrigen  Datum  13.  Dez. 
1272;  auch  R.  Brown,  CaL  of  Statepapers  I,  p.  2,  no.  5  gibt  den 
13.  Dez.,  während  der  Beschluß  1273,  ind.  II,  13  exe  ante  Dec. 
datiert.    Vgl.  Heyd,  Hist.  du  commerce  du  Levant  II,  713. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    31 

Provinciae  et  ad  Marsiliam,  Montempessulanum  et 
Aquas  Mortuds*"  stehende  Stelle  des  Ratsbeschlusses 
nicht  auf  Seefahrten  nach  Flandern  gedeutet  werden  kann, 
sondern  allein  die  Fortsetzung  der  nach  Südfrankreich 
gehenden  Seereisen  zu  Lande  bis  zu  den  Messen  der 
Champagne  und  nach  Flandern  hin  im  Auge  hat,  dürfte 
danach  klar  sein. 

Immerhin  bedeutet  es  einen  wichtigen  Fortschritt  in 
der  Richtung  der  späteren  Entwicklung,  wenn  wir  in 
dieser  Zeit  Venedig  seinen  Seeverkehr  mit  Südfrank- 
reich sorgfältig  pflegen  sehen.  Während  sich  in  der 
ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  nur  sehr  geringe 
Spuren  eines  solchen  Verkehrs  zeigen^),  hat  Venedig 
im  Mai  1267  einen  eigenen  Handelsvertrag  mit  Mont- 
pellier geschlossen^),  und  als  König  Philipp  III.  von 
Frankreich  im  Jahre  1278  mit  der  Gemeinschaft  der  auf 
den  Champagner  Messen  verkehrenden  lombardischen 
und  toskanischen  Kaufleute  ein  Abkommen  traf,  das  dar- 
auf hinauslief,  an  Stelle  von  Montpellier  das  zum  fran- 
zösischen Königreiche  gehörige  Ntmes  mit  dem  Seehafen 
Aigues-Mortes  zum  Umschlagsplatz  für  den  italienisch- 
französischen Handelsverkehr  zu  machen,  haben  auch 
zwei  Konsuln  von  Venedig  bei  diesem  Abkommen  mit- 
gewirkt.') 

Aus  solchen  Tatsachen  hat  Perret,  der  Geschicht- 
schreiber der  Beziehungen  Frankreichs  zu  Venedig  im 
Mittelalter,  den  Schluß  ziehen  zu  können  geglaubt,  daß 
zweifellos  um  diese  Zeit  die  venezianischen  Fahrten  nach 
Flandern  und  Aigues-Mortes  organisiert  worden  seien*) 


*)  Siehe  hierüber  meine  bis  1250  geführte  Handelsgesch.  der 
romanischen  Völker  des  Mittelmeergebiets  (München  und  Berlin 
1906)  S.  606. 

*)  A.  Germain,  Hist,  de  la  commune  de  M.  (Mp.  1851)  II,  522. 

*)  Ordonnances  des  rois  de  France  IV,  669.  Goldschmidt, 
Universalgesch.  d.  Handelsrechts  I,  195  ff. 

*)  P.  M.  Perret,  Hist.  des  relations  de  la  France  avec  Venise 
du  XI  11^  sUcle  ä  l'avinement  de  Charles  VIII  (Paris  1896,  nach- 
gelassenes, für  das  14.  und  15.  Jahrhundert  wegen  der  archiva- 
lischen  Forschungen,  die  es  enthält,  sehr  verdienstliches  Werk 
des  allzufrüh  verstorbenen  Verfassers)  I,  14. 


32  Adolf  Schaube, 

—  ein  Schluß,  der,  wenigstens  was  Flandern  betrifft, 
allzu  kühn  genannt  werden  muß.  Allerdings  weiß  er 
zur  Unterstützung  seiner  Ansicht  noch  einen  Beschluß 
des  Großen  Rats  von  Venedig  vom  März  1289  anzuführen, 
wonach  die  Kaufmannsgaleeren,  die  nach  Frankreich  und 
Flandern  gingen,  mit  Rücksicht  auf  die  kriegerischen 
Zeitläufte  von  Kriegsschiffen  geleitet  werden  sollten^); 
wäre  das  richtig,  so  würden  wir  die  venezianischen 
Galeerenfahrten  nach  Flandern  allerdings  als  im  Jahre 
1289  schon  völlig  eingebürgert  erachten  müssen.  Die 
ganze  Angabe  Perrets  beruht  aber  nur  darauf,  daß  er 
seinen  Gewährsmann  Marin  völlig  mißverstanden  hat. 
Das  Dekret  des  Großen  Rats  vom  25.  März  1289  hat 
einen  ganz  anderen  Inhalt;  es  zieht  nur  eine  frühere 
Verordnung,  die  den  Venezianern  die  Schiffahrt  in  den 
Gewässern  zwischen  Civitavecchia  und  Nizza  wegen  des 
Krieges  zwischen  Genua  und  Pisa  verboten  hatte,  zurück, 
da  der  Grund  des  Verbots  nunmehr  fortgefallen  sei.^) 
Im  Hinblick  auf  dieses  Dekret  hat  Marin  dann  an  anderer 
Stelle^)  verallgemeinernd  ausgeführt,  daß  Venedig  im 
Falle  eines  Krieges  zwischen  den  westlichen  Seemächten 
seinen  Untertanen  den  Seehandel  nach  Westen  hin  zu 
untersagen  pflegte;  zu  größerer  Sicherheit  des  Handels 
habe  man  sodann  allgemein  bestimmt  (venne  poi  stabi- 
lito),  daß  Waren  nach  Frankreich  und  nach  Flandern 
ebenso  auf  den  großen,  gleichmäßig  für  den  Handels- 
wie  für  den  Kriegsgebrauch  verwendbaren  Galeeren  zu 
transportieren  seien,  wie  es  im  Verkehr  mit  der  Romania, 
mit  Trapezunt  und  Zypern  üblich  war.  Aus  dieser  der 
Zeit  nach  völlig  unbestimmt  gelassenen  und  quellen- 
mäßig nicht  weiter  belegten  Bemerkung  Marins  hat  sich 
Perret  den  Inhalt  des  Dekrets  von  1289  konstruiert;  daß 
Marin  selbst  diesen  Inhalt  an  anderer  Stelle  getreu  an- 
gibt, ist  ihm  entgangen. 

Am    meisten    Anklang    hat    bisher   der   Ansatz    der 
ersten  Fahrt  venezianischer  Galeeren  nach  Flandern  zum 


^)  Perret  I,  15  unter  Zitierung  von  Marin  V,  297. 
«)  Marin  V,  196. 
»)  Ebd.  p.  297. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    33 

Jahre  1317  gefunden.  Er  rührt  von  Rawdon  Brown 
her,  dem  eifrigen  und  glücklichen  Durchforscher  der 
venezianischen  Archive;  seine  Ansicht  hatte  um  so  mehr 
Anspruch  auf  allgemeine  Beachtung,  als  sie  unmittel- 
bar aus  dem  archivalischen  Material  Venedigs  geschöpft 
war.^)  Es  ist  daher  nur  natürlich,  daß  so  bedeutende 
Forscher  wie  L.  Goldschmidt 2),  W.  Götz»),  G.  Schanz*), 
Gh.  de  la  Roneifere ^),  sich  dieser  Ansicht  einfach  an- 
geschlossen haben,  und  es  entsprach  durchaus  dem 
Stande  der  wissenschaftlichen  Forschung,  daß  R.  Mayr 
das  Datum  1317  auch  in  sein  Lehrbuch  der  Handels- 
geschichte aufgenommen  hat.^)  Heyd  allerdings  gab  die 
Ansicht  Rawdon  Browns  nur  mit  einem  Vorbehalt  wieder. 
Er  machte  darauf  aufmerksam,  daß  sich  Angaben  über 
die  Frachtsätze  für  die  mit  den  flandrischen  Galeeren 
Venedigs  zu  befördernden  Waren  schon  in  dem  kauf- 
männischen Handbuche  Pegolottis  vorfänden,  und  es  sei 
anzunehmen,  daß  dieser  Florentiner  seine  Nachrichten 
während  seines  Aufenthaltes  in  den  Niederlanden  in  den 
Jahren  1315—1317  gesammelt  haben  werde. '^)  Nun  ist 
aber  Pegolottis  Pratica  di  Mercatura  in  Wahrheit  erst 
zwei  Dezennien  später  verfaßt®),  und  ein  so  eminent  auf 
die  Praxis  berechnetes  Werk  konnte  doch  nicht  veraltetes 
Material  geben ;  zudem  konnte  es  für  ihn  als  ein  Mitglied 


*)  Calendar  of  State  Papers,  relating  to  english  affairs, 
existing  in  the  archives  of  Venice  vol.  I  (1202 — 1509),  ed.  R.  Brown 
(London  1864),  p.  LXI,  CXXII,  CXXXII. 

•)  Universalgesch.  d.  Handelsr.  I,  187. 

•)  Verkehrswege  im  Dienste  des  Welthandels  (Stuttgart  1888) 
S.  626  ff. 

*)  Englische  Handelspolitik  gegen  Ende  des  Mittelalters 
(Leipzig  1881).  Seine  Behauptung  freilich  (I,  120):  „Die  ersten 
sieben  Fahrten  der  venezianischen  Flottillen  fielen  in  die  Jahre 
1317,  1319,  1322,  1325,  1334,  1336,'  ist  ganz  unzutreffend;  von  einer 
Regelmäßigkeit  dieser  Fahrten  könnte  ja  dann  auch  keine  Rede  sein. 

»)  Histoire  de  la  marine  franfaise  I  (Paris  1899),  382. 

•)  Wien  1894,  S.  91  f. 

0  Heyd  1.  c.  II,  720. 

*)  S.  hierüber  meine  Abh.  in  Conrads  Jahrb.  60  (1893),  56 
Anm.  3. 

HUtorische  ZeitschrUt  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  3 


34  Adolf  Schaube, 

des  Welthauses  der  Bardi  wahrlich  nicht  schwer  sein, 
sich  fUr  die  verschiedensten  Handelsgebiete  zuverlässige 
Nachrichten  zu  beschaffen.  In  der  Tat  wird  sich  uns  er-^ 
geben,  daß  Pegolottis  Angaben  nicht  auf  die  ersten  An- 
fänge, sondern  auf  ein  späteres  Entwicklungsstadium  der 
venezianischen  Galeerenfahrten  nach  Flandern  zu  be- 
ziehen sind.  Heyds  Bedenken  gegen  das  Jahr  1317 
ruhte  also  auf  einer  irrigen  Voraussetzung.  Wenn  sich 
Aloys  Schulte  in  seinem  großen,  weit  über  das 
in  seinem  Titel  umschriebene  Gebiet  hinausgreifenden 
Werk  dahin  äußert,  daß  der  regelmäßige  Schiffsdienst 
zwischen  Venedig  und  Flandern  sehr  wahrscheinlich  1317, 
vielleicht  schon  etwas  früher  begonnen  habe^),  so  mag 
er  durch  Heyds  Bedenken  zu  dieser  vorsichtigen  Stellung- 
nahme veranlaßt  sein;  der  Sache  nach  traf  sie  das 
Richtige;  die  erste  venezianische  Galeerenfahrt  nach  der 
Nordsee  hat  in  der  Tat  schon  ein  paar  Jahre  zuvor 
stattgefunden. 

11. 

Für  die  ersten  Anfänge  dieser  Fahrten  gibt  es  nun 
wirklich  keine  andere  und  keine  bessere  Quelle  als  die 
schon  von  Rawdon  Brown  benutzte.  Die  entscheidenden 
Beschlüsse  über  diese  Fahrten  hatte  der  Rat  der  Pregadi 
zu  fassen;  in  seinen  Akten  müssen  wir  erwarten,  auch 
über  die  erste  Einführung  und  Einrichtung  dieser  Fahrten 
den  zuverlässigsten  Aufschluß  zu  finden.  Leider  hat  es 
ein  ungünstiges  Geschick  gewollt,  daß  die  Folianten 
selbst,  in  denen  diese  Ratsbeschlüsse  aufgezeichnet  waren, 
gerade  für  die  Zeit,  auf  die  es  uns  in  erster  Linie  an- 
kommen müßte,  verloren  sind:  nur  vom  Dezember  1300 
bis  zum  Februar  1302  und  dann  wieder  seit  dem  März 
1332  sind  sie  erhalten.  Zum  Glück  aber  besitzen  wir 
auch  für  die  verlorene  Foliantenreihe  die  Indices,  die  man 
in    der    venezianischen    Kanzlei    zur    Erleichterung    der 


*)  Gesch.  des  mittelalterlichen  Handels  und  Verkehrs  zwischen 
Westdeutschland  und  Italien  mit  Ausschluß  von  Venedig  I  (Leipzig 
1900),  348. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    35 

Auffindung  früherer  Beschlüsse  hergestellt  hat;  unter  be- 
stimmten Stichworten,  wie  officiales  armamenti,  Provincia, 
ambaxatores,  geben  diese  „rubrice  consiliorum  de  Rogatis 
et  Quadraginta'' j  wie  sie  selbst  sich  nennen,  mehr  oder 
minder  kurz  den  Hauptinhalt  der  betreffenden  Senats- 
beschlüsse  wieder.  Durch  das  Verdienst  Gius.  Giomos 
liegt  uns  diese  wertvolle  Quelle  in  sorgfältiger  Publikation 
vor^);  der  Abschnitt  unter  der  Rubrik:  „Flandria,  Fran- 
cia,  Anglia,  Maiorica,  Yspania  et  Aragonia^  erregt  natür- 
lich am  meisten  unser  Interesse;  doch  findet  sich  auch 
unter  anderen  Rubriken  manche  für  die  Geschichte  der 
flandrischen  Fahrten  wichtige  Notiz. 

Diese  Regesten  sind  nun  an  sich  nicht  datiert  oder 
doch  nur  ganz  ausnahmsweise;  doch  sind  sie  innerhalb 
jedes  einzelnen  Abschnittes  nach  den  Folianten,  denen  sie 
entstammen,  geordnet,  und  wir  wissen  von  jedem  dieser 
Bücher,  welchen  Zeitraum  es  umspannte.^)  Was  Flandern 
betrifft,  so  ergibt  sich,  daß  die  ersten  drei  Bücher  über 
den  Verkehr  Venedigs  mit  diesem  Lande  überhaupt  nichts 
enthalten  haben;  erst  mit  dem  vierten  Buche,  das  den 
Zeitraum  vom  Februar  1313  bis  zum  April  1317  umfaßte, 
ändert  sich  das.  Auf  die  diesem  Buche  entstammenden 
Regesten'*)  nun  stützt  sich  die  Ansicht  Rawdon  Browns, 
daß  die  erste  venezianische  Galeerenfahrt  nach  der  Nord- 
see unter  dem  Kommando  des  zugleich  zum  Gesandten 
für  Flandern  und  England  bestellten  Gabriel  Dandolo 
gestanden  habe  und  in  das  Jahr  1317  zu  setzen  sei. 

Nun  ist  es  merkwürdig,  daß  Brown  ebenso  wie  alle 
späteren  Forscher  ganz  unbeachtet  gelassen  haben,  daß 
wir  nicht  nur  das  Buch,  sondern  auch  die  Stelle  inner- 
halb des  Buches  kennen,  der  die  einzelnen  Regesten 
entnommen  sind.     Nur   dann    konnten   ja   diese   kurzen 


*)  Le  rubhriche  dei  Libri  Misti  dei  Senato  perduti,  trascritte 
da  Gius,  Giomo,  erschien  zuerst  seit  1879  im  Archivio  veneto 
vol.  17 — 30,  dann  separat  unter  dem  Titel:  /  Misti  dei  Senato 
della  repubblica  Veneta,  1293—1331.  Venedig  1887.  Ich  zitiere 
nach  der  Zeitschrift. 

•)  Übersicht  darüber  Arch,  ven,  17,  129. 

»)  Arch.  ven.  19,  90  f. 

3» 


36  Adolf  Schaube, 

Regesten  ihren  praktischen  Zweck  erfüllen,  wenn  der 
Epitomator  jedem  Regest  auch  die  Blattzahl  hinzufügte^ 
auf  der  der  betreffende  Beschluß  zu  finden  war.  Es  liegt 
auf  der  Hand,  daß  wir  in  diesen  Blattzahlen  ein  ganz 
wesentliches  Hilfsmittel  zur  Datierung  der  einzelnen  Be- 
stimmungen besitzen,  da  die  Beschlüsse  des  Rates  der 
Pregadi  selbstverständlich  in  chronologischer  Folge  zur 
Eintragung  gelangt  sind;  aus  besonderer  Veranlassung 
könnte  ja  auch  einmal  eine  Abweichung  davon  statt- 
gefunden haben,  aber  doch  sicher  nur  höchst  selten. 
Wenn  wir  nun  die  Beobachtung  machen,  daß  unter  der 
Rubrik  Flandria  etc,  Buch  IV,  das  Regest:  „ser  Gabriel 
Dandulo  sit  capitaneiis  et  amhaxator*"  mit  der  Blattzahl 
182  versehen  ist,  während  die  ersten  auf  die  Flandern- 
fahrt bezüglichen  Regesten  die  Blattzahlen  40,  41,  42, 
43^)  tragen,  so  ist  damit  allein  schon  zur  Genüge  dar- 
getan, daß  diese  Bestimmungen  sich  unmöglich  auf  ein 
und  dieselbe  Fahrt  beziehen  können.  Die  Zahl  der 
Blätter  des  Folianten  hat,  wie  ich  bei  einer  Durchmusterung 
der  Publikation  Giomos  festgestellt  habe,  185  betragen, 
allenfalls  könnte  es  auch  eins  mehr  sein;  da  der  Band 
mit  dem  April  1317  endete,  so  ist  es  für  die  Ernennung 
Dandolos  allerdings  gerechtfertigt,  sie  in  das  Jahr  1317 
zu  setzen.  Die  Blätter  40  ff.  gehören  aber  noch  dem  ersten 
Viertel  des  Folianten  an;  die  rein  mechanische  Wahr- 
scheinlichkeit spricht  also  schon  dafür,  daß  sie  noch  dem 
ersten  der  vier  Jahre,  die  der  Foliant  umspannte,  also 
dem  Jahre  1313,  zuzurechnen  sind.  Ein  glücklicher  Zu- 
fall ermöglicht  uns  aber  eine  noch  weit  genauere  Datie- 
rung. Ein  auf  die  Verleihung  des  venezianischen  Bürger- 
rechts bezüglicher  Beschluß,  der  die  Blattzahl  45  trägt, 
findet  sich  in  den  Registerbänden  der  Provveditor  del 
Comun  wieder  und  trägt  hier  das  genaue  Tagesdatum 
des  3.  Oktober   13132),  und  wie  um  jeden  Zweifel   aus- 

*)  Rawdon  Brown  selbst  gibt  von  dem  besonders  reich- 
haltigen Regest  aus  Blatt  41  ein  schönes  Faksimile  (Nr.  2),  das 
diese  Blattzahl  sehr  deutlich  wiedergibt. 

*)  Giomo,  Regesti  di  alcune  deliberazioni  del  Senato  „Misii*' 
im  Arch,  ven.  31,  193,  no.  302. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    37 

zuschließen,  sind  wir  auch  für  Blatt  46  in  der  Lage,  ein 
genaues  Datum  anzugeben:  ein  an  dieser  Stelle  ver- 
zeichneter, die  Poschiffahrt  betreffender  Vertrag  Venedigs 
mit  der  Kurie  und  Ferrara  trägt  im  Capitolare  des  Officio 
al  Cattaver  das  Datum  des  8.  Oktober  1313.^)  Danach 
haben  wir  die  offenbar  untereinander  zusammenhängenden 
Beschlüsse  bezüglich  der  flandrischen  Galeeren,  die  auf 
Blatt  40—43  standen,  zur  zweiten  Hälfte  des  September 
anzusetzen,  und  da  sich  auf  Blatt  41  die  Bestimmung 
fand,  daß  die  Galeeren  ihre  Fahrt  zwischen  Anfang  und 
Mitte  März  anzutreten  hätten,  so  sind  wir  damit  auf  ein- 
fache Weise  zu  folgendem  wichtigen  Ergebnis  gelangt: 
Die  für  die  erste  staatlich  organisierte  Fahrt 
venezianischer  Galeeren  nach  Flandern  ent- 
scheidenden Beschlüsse  sind  im  Rat  der  Pre- 
gadi  im  September  1313  gefaßt  worden;  im 
März  1314  haben  die  ersten  „flandrischen 
Galeeren"  Venedig  verlassen. 

Es  fragt  sich,  ob  wir  nun  auch  erkennen  können, 
welche  Gründe  für  die  Entschließung  der  venezianischen 
Regierung  im  Herbst  1313  maßgebend  gewesen  sein 
mögen. 

Gerade  in  dieser  Zeit  hatte  Venedig,  das  seit  dem 
Sommer  1312  von  dem  tüchtigen  Dogen  Giovanni  Soranzo 
geleitet  wurde,  seine  volle  Bewegungsfreiheit  wiederer- 
langt; der  mit  dem  Heiligen  Stuhl  um  Ferrara  geführte 
Kampf  war  zu  Ende  2);  die  im  Frühjahr  1309  über 
Venedig  verhängte  päpstliche  Exkommunikation  war  im 
Februar  1313  feierlich  aufgehoben  worden,  für  den  Ver- 
kehr mit  fremden  Völkern  von  erheblicher  Wichtigkeit, 
da  der  päpstliche  Bann  nur  zu  leicht  zum  Anlasse  oder 
Vorwande  eines  gewalttätigen  Vorgehens  gegen  die  vene- 
zianischen Kaufleute  genommen  werden  konnte;  die 
Kapitulation  von  Zara  (23.  September  1313)  stellte  gerade 
damals  den  vollen  Frieden  in  der  Adria  wieder  her. 


>)  Ebd.  no.  303. 

»)  S.  über  diesen  Krieg  die  Monographie  von  G.  Soranzo: 
La  guerra  tra  Venezia  e  la  S,  Sede  per  ii  dominio  di  Ferrara 
(a.  1308—1313).    Cittä  di  Castello,  1905. 


3S  Adolf  Schaube, 

Auf  der  anderen  Seite  ließen  sich  zur  selben  Zeit 
auch  die  Verhältnisse  in  den  Niederlanden  für  friedliche 
Handelsunternehmungen  ungewöhnlich  günstig  an.  Ende 
Juli  1313  wurde  zwischen  König  Philipp  dem  Schönen 
von  Frankreich  und  den  Flamländern  ein  Abkommen 
getroffen'),  das  Aussicht  auf  eine  längere  Dauer  des 
Friedens  zu  bieten  schien ;  sicher  hatte  die  Signorie-  bei 
ihrem  Beschluß  auch  schon  Kenntnis  davon,  daß  der 
Papst  am  27.  August  die  Flamländer  von  dem  Interdikt 
befreit  hatte,  das  wegen  Verletzung  der  mit  Frankreich 
geschlossenen  Verträge  über  sie  verhängt  worden  war .2) 

Waren  damit  die  allgemeinen  Vorbedingungen  ge- 
geben, unter  denen  der  Entschluß  der  Signorie  reifen 
konnte,  so  fehlte  es  für  Venedig  auch  nicht  an  ganz  be- 
stimmten Gründen,  gerade  damals  den  im  Verkehr 
mit  Flandern  bisher  allein  üblichen  Landweg  durch  den 
Seeweg  zu  ersetzen.  Diese  Gründe  liegen  in  Irrungen 
mit  Mailand  einerseits  und  in  den  Wirren  im  oberen 
Deutschland  anderseits.  Für  den  Import  der  flandri- 
schen Tuche  auf  dem  Landwege  kamen  aber  für  Venedig 
entweder  die  Straßen  durch  das  mailändische  Gebiet 
oder  die  durch  Tirol  und  Oberbayern  fast  ausschließlich 
in  Betracht.  Im  Sommer  1313  hatte  der  Rat  der  Pregadi 
die  formelle  Erklärung  abgegeben,  daß  das  Vorgehen 
der  Mailänder  gegen  die  Venezianer  in  Zollsachen  mit 
den  bestehenden  Verträgen  nicht  in  Einklang  zu  bringen 
sei^);  man  forderte  Zurückgabe  der  seit  zwei  Jahren 
überhobenen  Beträge,  widrigenfalls  man  zur  Beschlag- 
nahme der  im  venezianischen  Machtbereich  vorhandenen 


^)  Ratifikation  desselben  durch  den  apostolischen  Legaten 
am  3\.  JuW;  Cod,  dipL  Flandriae,  ed.  Th.de  Limburg-Stirum 
(Brügge  1879)  I,  98. 

')  Genaue  Darstellung  der  flandrisch-französischen  Verhält- 
nisse bei  F.  Funck-Brentano:  Les  Origines  de  la  Guerre  de  Cent 
Ans,    Philippe  le  Bei  en  FL  (Paris  1896)  p.  527,  630,  635,  640. 

.')  Misli  del  senato  1.  IV,  c.  24:  Declaratum  fuit  quod  non 
potueruntMediolanenses  facere  que  fecerunt  contra  nostros  de  daciis. 
Item  quod  satisfaciant  nostris  de  denariis  acceptis  per  eos  a 
2  annis  citra,  quod  si  non  fecerint,  intromitti  faciemus  bona  eorum, 
Arch.  ven,  24,  98. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    39 

mailändischen  Waren  schreiten  würde.  Im  Oktober  wurde 
der  Beschluß  erneuert,  als  man  den  zu  Verhandlungen 
mit  Mailand  bevollmächtigten  Unterhändlern  Direktiven 
für  ihre  Haltung  gab;  Venedig  erklärte  sich  damals  be- 
reit, fUr  jedes  durch  das  Mailändische  transitierende 
Stück  Tuch  (pro  qualibet  pecia  panni)  30  imp.  und  die 
seit  alters  in  Ponte  Tresa  am  Luganer  See  und  am  Lago 
Maggiore  für  den  Erzbischof  erhobenen  Abgaben  zu 
zahlen,  während  die  Mailänder  von  jedem  Stück  Tuch 
bei  der  Einfuhr  nach  Venedig  10  sol.  ven.  entrichten 
sollten.^)  Doch  dauerte  die  Differenz  noch  geraume  Zeit 
an,  wie  aus  der  im  folgenden  Jahre  abgegebenen  Er- 
klärung hervorgeht,  daß  die  in  Venedig  seßhaft  ge- 
wordenen mailändischen  Handwerker  von  dem  Vorgehen 
gegen  die  Mailänder  nicht  mit  betroffen  werden  sollten.^) 

Waren  so  die  westlichen  Alpenstraßen  für  den  vene- 
zianischen Handel  gesperrt  oder  doch  nur  unter  er- 
heblichen Schwierigkeiten  zu  benutzen,  so  waren  die 
östlichen  mindestens  stark  gefährdet  durch  die  Kämpfe, 
die  im  oberen  Deutschland  zwischen  den  oberbayerischen 
Herzögen  und  den  habsburgischen  Brüdern  ausgebrochen 
waren,  Kämpfe,  die  bekanntlich  am  9.  November  1313 
zu  der  Schlacht  bei  Gammelsdorf  geführt  haben^);  dazu 
hatte  der  am  24.  August  in  Italien  erfolgte  Tod  Kaiser 
Heinrichs  VII.  die  Aussicht  auf  eine  weitere  Steigerung 
der  deutschen  Wirren  eröffnet,  so  daß  auch  die  östlichen 
Landwege  für  längere  Zeit  für  den  friedlichen  Handels- 
verkehr in  hohem  Grade  unsicher  erscheinen  mußten. 

Unter  diesen  Verhältnissen  lag  es  nahe  genug,  das 
System  der  Fahrten  mit  armierten  Galeeren,  das  Venedig 
für  den  Transport  wertvoller  Waren  im  Verkehr  mit  der 
Levante  seit  geraumer  Zeit  erprobt  hatte,  nunmehr  auch 
auf  den  Verkehr  mit  Flandern  zu  übertragen.  Das  lag 
um  so  näher,  als  man  damit  nicht  etwa  noch  ganz  un- 


0  MisH  IV,  c.  48;  1.  c. 

•)  Non  incUidantur  in  processibus  contra  Mediolanenses  f actis, 
ib.  c.  72;  Verbot  der  Einfuhr  mailändischer  Tuche:  ib.  c.  113. 

»)  Näheres  S.  Riezler,  Gesch.  Bayerns  II  (1880),  298  f.,  304. 
Erst  17.  April  1314  Friede  zu  Salzburg. 


40  Adolf  Schaube, 

betretene  Pfade  des  Seeverkehrs  einschlug.  Vielmehr 
war  die  Handelsschiffahrt  der  mit  Venedig  rivalisierenden 
Mittelmeermacht,  der  Genuesen,  nach  England  sowohl 
wie  nach  Flandern  damals  schon  in  vollem  Gange  ^); 
so  trat  zu  allem  anderen  noch  der  Antrieb  hinzu,  den 
Wettbewerb  mit  der  Nebenbuhlerin  auch  auf  dem  Gebiete 
der  ozeanischen  Handelsschiffahrt  aufzunehmen. 

III. 

Über  die  Organisation  der  ersten  Flandernfahrt  hatte 
der  Rat  der  Pregadi  sehr  eingehende  Bestimmungen 
getroffen;  auch  was  uns  die  Regesten  davon  erhalten 
haben,  ist  verhältnismäßig  reichhaltig.  2) 

Vor  allem  interessiert,  daß  diese  erste  Fahrt  vom 
Staate  recht  beträchtlich  subventioniert  worden  ist.  Zu 
«der  Fahrt  wurden  Galeeren  von  zweierlei  Art,  eines 
größeren  und  eines  kleineren  Typs,  zugelassen;  den 
Unternehmern  zahlte  der  Staat  eine  Subvention,  die  bei 
den  kleineren  Galeeren  15  1.  gr.  monatlich  (rund  1500  M.) 
betrug.^)  Wenn  sie  bei  den  größeren  Galeeren  um  ein 
Fünftel  geringer  war,  so  wird  man  zunächst  geneigt  sein, 
den  Grund  für  diese  Differenz  in  ihren  größeren  Fracht- 
einnahmen zu  suchen;  indessen  wird  dieser  Grund  da- 
durch hinfällig,  daß  auch  die  Frachtsätze  bei  den  größeren 
Galeeren  um  ein  Fünftel  niedriger  normiert  wurden  als 
bei  den  kleineren.  Es  scheint  mir  nur  die  Annahme 
übrigzubleiben,  daß  die  Regierung  einer  auf  Ver- 
wendung des  größeren  Galeerentyps  für  die  neuein- 
gerichteten Flandernfahrten  gerichteten  Strömung  zwar 
insoweit  nachgab,  als  sie  diese  Galeeren  überhaupt  zu- 
ließ, daß  sie  aber  andererseits  alles  tat,  um  den  arma-- 
tores  die   Wahl   der  kleineren  Galeeren   empfehlenswert 

*)  Den  Genuesen  gebührt  das  Verdienst,  die  Trennung  der 
Seehandelsgebiete  des  südlichen  und  des  nordwestlichen  Europa 
aufgehoben  zu  haben ;  auch  dieser  wichtige  Vorgang  bedarf  noch 
besonderer  Untersuchung. 

«)  Misti  Senato  1.  IV,  c.  40-43  im  Anh.  ven,  19,  90  f. 

»)  Volentes  armare  in  Flandria  cum  galeis  minoris  mensure 
habeant  /.  15  in  mense  grossonim,  et  cum  galeis  majoris  mensure 
L  12  in  mense  gr. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    41 

erscheinen  zu  lassen.  Übrigens  entsprachen  diese  kleinen 
Galeeren  in  ihren  Größenverhältnissen  den  für  die  Fahrten 
nach  Klein-Armenien  gebräuchlichen;  ausdrücklich  wird 
bestimmt,  daß  sie  so  viel  Ladung  einnehmen  dürften  wie 
die  armenischen  Galeeren.^)  Weiterhin  ist  dann  von 
zwei  verschiedenen  Typs  der  flandrischen  Galeeren  nie 
mehr  die  Rede;  der  kleinere  Typ  dieser  „galee  grosse" 
(denn  als  solche  werden  alle  bei  diesen  staatlich  organi- 
sierten Fahrten  verwendeten  Galeeren  bezeichnet)  hat 
also  rasch  den  Sieg  davongetragen. 

Die  Subvention  wurde  für  4  Monate  auf  jeden 
Fall  gezahlt;  verstrich  bis  zur  Heimkehr  der  Galeeren 
eine  längere  Zeit,  so  wurde  die  Subvention  entsprechend 
erhöht,  jedoch  nicht  über  eine  Gesamtzeit  von  6  Monaten 
hinaus.  Man  veranschlagte  also  die  für  eine  solche 
Galeerenfahrt  nach  Flandern  bis  zur  Wiederankunft  in 
Venedig  erforderliche  Zeit  auf  durchschnittlich  fünf 
Monate;  rechnet  man  auf  den  Aufenthalt  in  Flandern 
rund  50  Tage,  so  nahmen  Hinfahrt  und  Rückfahrt  im 
Durchschnitt  eine  ebenso  lange  Zeit  in  Anspruch. 

Zur  Deckung  der  für  die  flandrischen  Galeeren  er- 
forderlichen Mittel  wurde  die  Behörde  der  Extraordinarii 
angewiesen,  dem  Konstantinopler  Fonds  leihweise  10000 1. 
(rund  30000  M.)  zu  entnehmen;  es  ist  das  ein  Betrag, 
der  gerade  ausgereicht  haben  würde,  um  die  viermonat- 
liche Subvention  für  fünf  kleinere  Galeeren  zu  be- 
streiten. 

Nicht  ganz  sicher  ist,  ob  eine  Stelle  der  Regesten, 
nach  der  dem  von  der  Regierung  ernannten  Geschwader- 
kommandeur (capitaneus)  das  Recht  der  Annahme  der 
Armbrustschützen  und  der  Ruderer  (^Äß//5/am  und  vogerii) 
zustand  und  ihm  auf  Kosten  der  Regierung  ein  Navi- 
gationsoffizier (admiratus)  und  ein  Arzt  mitgegeben 
wurden,  sich  gerade  auf  unsere  Fahrt  bezieht 2);  daß  sie 


')  Später,  Anfang  1329,  heißt  es  einmal:  Galee  navigaiure 
ad  dictum  viagium  Flandrie  et  Armenic  sint  unius  calapi  et  men- 
sure  etc.  Misti  Sen,  XI,  c.  67  {Arch,  ven,  19,  100). 

«)  Misti  1.  IV,  c.  74,  rubr, :  „galee  annale  indifferenter  per  spe- 
ciales personas,"    Arch,  ven.  18,  52. 


42  Adolf  Schaube, 

aber  auch  auf  diese  zutrifft,  ist  mit  Sicherheit  anzu- 
nehmen. 

Um  das  Gelingen  der  neueingerichteten  Fahrt  mög- 
lichst sicherzustellen,  beschloß  man,  von  den  mancherlei 
für  solche  Fahrten  sonst  üblichen  Beschränkungen  ab- 
zusehen; danach  wurden  Fremde  für  die  Ausreise  wie 
für  die  Rückfahrt  mit  diesen  Galeeren  allgemein  zu- 
gelassen und  den  armatores  die  Annahme  von  Waren 
jeglicher  Art  von  jedermann  ebenfalls  für  Hin-  wie  Rück- 
fahrt zugestanden,  natürlich  nur  soweit  die  zulässige 
Maximalbelastung  dadurch   nicht   überschritten   wurde.*) 

Die  Haupteinnahme  der  armatores  oder  patroni  be- 
stand natürlich  in  den  Frachtgeldern,  die  ihnen  zufielen. 
Ihre  Höhe  wurde  vom  Staate  festgesetzt  und  \yar  für 
die  kleineren  Galeeren^)  in  folgender  Weise  normiert: 
Bei  groben  Waren  (havere  grosso)  einschließlich  Alaun 
waren  vom  Tausend  kleiner  Pfund  (302,4  kg)  20  sol. 
gross.  (97,5  M.)  zu  erheben;  bei  feinen  Waren  (havere 
sottile)  betrug  der  Frachtsatz  für  die  Last  von  400  kleinen 
Pfund  15  sol.  gr.,  für  das  kleine  Tausend  also  37^2  sol. 
gr.,  beinahe  doppelt  so  hoch  wie  bei  groben  Waren. 
Ausgenommen  waren  besonders  wertvolle  Waren,  bei 
denen  die  Fracht  nach  Wertanteilen  berechnet  wurde; 
bei  Edelmetallen  und  Kostbarkeiten  (predaria)  waren 
2%,  bei  Drogen  (speciaria),  Seide  und  ähnlichen  Waren 
2V2%>  bei  Kermes  (grana)  3^2%  vom  Wert  an  Fracht 
zu  entrichten. 

Fanden  diese  Sätze  in  erster  Linie  bei  der  Ausreise 
Anwendung,  so  kamen  für  die  Rückreise  vor  allem  die 
Sätze  für  Tuche  und  Wolle  in  Betracht.  Vom  Ballen 
Tuche  zu  je  10  Stück  wurden  20  sol.  gr.,  vom  Ballen  Wolle 
im  Gewicht  von  500  kleinen  Pfund  30  sol.  gr.  an  Fracht 

*)  Qui  recipiant  omnes  mercaiiones  ab  omnibus,  tarn  eundo 
quam  redeundo,  usque  ad  suum  plenum, 

')  Für  die  größeren  heißt  es  nur:  Galee  vero  majoris  men- 
sure  accipiant  de  naulo  quintum  minus  predictis ;  auch  daraus 
geht  hervor,  daß  man  die  kleineren  Galeeren  als  die  eigentlich 
in  Betracht  kommenden  ansah. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    4^ 

erhoben.  Das  bedeutet  für  Wolle  60  sol.  gr.  vom  kleinen 
Tausend,  also  das  Dreifache  des  Frachtsatzes  für  grobe 
und  mehr  als  das  Anderthalbfache  des  Frachtsatzes  für 
feine  Waren.  Für  Tuche  stellt  sich  das  Verhältnis 
weniger  hoch.  Den  Ballen  panni  nobiles,  und  nur  solche 
kamen  bei  dem  Tuchexport  aus  Flandern  in  Betracht, 
rechnete  man  in  Venedig  zu  260  großen  Pfund  Gewichts^ 
was  rund  400  kleinen  Pfund  entspricht^),  so  daß  sich 
also  für  das  kleine  Tausend  ein  Frachtsatz  von  rund 
50  sol.  gr.  ergibt.  Auf  unser  metrisches  Gewicht  reduziert, 
würden  wir  also  für  ein  Quantum  von  100  kg  folgende 
Frachtskala  erhalten: 

havere  grossum  einschließlich  Alaun     32,24  M. 
havere  sottile  (Gewürze  etc.)    .     .     .     60,45  „ 

Tuche 80,60  „ 

Wolle 96,72  „ 

Während  die  Frachtgelder  den  Unternehmern  zu- 
fielen, bestand  der  direkte  Gewinn,  den  der  Staat  aus 
diesen  Galeerenfahrten  zog,  in  den  Zolleinnahmen.  Als 
Grundsatz  wurde  hingestellt,  daß  die  Einfuhrzölle  von 
den  mit  diesen  Galeeren  importierten  Waren  in  der- 
selben Höhe  erhoben  werden  sollten,  als  wenn  ihr  Trans- 
port auf  dem  Landwege  erfolgt  wäre;  für  flandrische 
Tuche  wird  dieser  Grundsatz  noch  besonders  hervor- 
gehoben, während  für  Wolle  ein  besonderer  (niedrigerer) 
Zoll  in  Höhe  von  \%%  des  Wertes  festgesetzt  wurde. 2) 
Als  man  im  Oktober  oder  November,  in  einigem  Wider- 
spruch mit  dem  vorher  aufgestellten  Grundsatz  voller 
Bewegungsfreiheit,  den  flandrischen  Galeeren  die  Mit- 
führung von  ribolium  (Most,  Schaumwein)  bis  zu  40 
Amphoren    (240    Hektoliter)    gestattete,    setzte    man    für 


*)  Genauer  410,8  Pfund;  nach  Pegolotti  war  das  Verhältnis 
der  beiden  Pfunde  wie  100:158. 

*)  Adducentes  drappariam  de  Flandria  cum  galeis  solvant 
datium  sicut  $i  adducerentur  per  terram.  De  lana  vero  et  aliis 
solvatur  Ih  pro  centenario.  Wenn  es  danach  scheinen  könnte, 
daß  1V,%  der  auch  sonst  geltende  Satz  war,  so  heißt  es  doch 
weiterhin  allgemein:  Datium  solvatur  quantum  solveretur  sl  ad- 
ducerentur per  terram. 


44  Adolf  Schaube, 

diesen  Artikel  einen  Ausfuhrzoll  von  3  gr.  pro  urna 
(1,22  M.)  fest.i) 

Die  Abfahrt  der  Galeeren  ging  im  zeitigen  Frühjahr 
vor  sich;  bei  einer  Konventionalstrafe  von  5000  1. 
(15000  M.)  hatten  sich  die  Unternehmer  verpflichten 
müssen,  die  Ausreise  zwischen  dem  1.  und  16.  März  1314 
anzutreten.  Im  übrigen  wissen  wir  von  dieser  ersten 
flandrischen  Galeerenfahrt  nur,  daß  Mallorka  unterwegs 
angelaufen  wurde,  wo  ein  venezianischer  Unterhändler 
an  Land  gehen  sollte. 2) 

In  den  Jahren  1315  und  1316  haben  staatlich  organi- 
sierte Galeerenfahrten  nach  Flandern  nicht  stattgefunden. 
Im  Frühjahr  1315  etwa  faßte  vielmehr  der  Rat  der  Pre- 
gadi  bezüglich  der  Handelsschiffahrt  nach  Flandern 
folgenden  Beschluß:  Terra  aperiatur  ita,  quod  navigia 
Venetorum  possint  ire  in  Flandriam  et  redire  dando 
plezariam  de  exequendo  vlagio,  et  Veneti  et  forenses 
possint  ducere  et  portare  ut  poterant  cum  galeis, 
que  pridie  navigarunt^)  Zunächst  beweist  also  die 
Stelle,  daß  die  vorjährige  Galeerenfahrt,  was  immerhin 
noch  hätte  bezweifelt  werden  können,  wirklich  zur  Durch- 
führung gelangt  ist.  Sollte  man  aber  das  „pridie'^  des 
venezianischen  Kanzleistils  nicht  auf  das  vergangene 
Jahr  beziehen  wollen,  so  müßte  man  annehmen,  daß 
kurz  vor  diesem  Ratsbeschluß  schon  eine  zweite  Galeeren- 


»)  Lib.  IV,  c.  50  (Arch,  ven.  19,  91).  „Riboilium  et  vinum  quod 
conducetur  de  partibus  Sclavonie^  heißt  es  1339  in  einem  vene- 
zianischen Abgabentarif;  S.  Romanin,  ßtoria  documentata  dl 
Venezia  IM,  384. 

*)  Lib.  IV,  c.  49:  Miitatur  una  persona  cum  eis  (seil,  galeis 
Flandr.)  ostensura  nostram  justiclam  contra  Petrum  Glronum. 
Sein  Schiff  S.  Antonius  war  im  Hafen  von  Konstantinopel  von 
der  venezianischen  Flotte  unter  Ruggiero  Morosini  verbrannt 
worden,  was  Anlaß  zu  jahrelangen.  Verhandlungen  mit  Mallorka 
und  Aragon  gab.  Commemoriali  ed.  Predelli  1,  no.  556  (1312), 
558  (1313),  643  (1314  f.),  710  (1316).  S.  auch  Arch,  ven,  XVII,  260 
(1.  in,  c.  131,  133):  Mittantur  Regi  Major,  sententia  et  processns 
facti  in  questlone  Petri  Gironi, 

•)  Misti  1.  IV,  c.  118;  Arch,  ven,  19,  91.  Kürzer  unter  der 
Aufschrift:  disarmatum  navigium,  ib.  105:  Terra  aperiatur  dlsar^ 
matis  navigils  eundl  in  Flandriam  et  forensibus. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    45 

fahrt  nach  Flandern  abgegangen  sei;  allerdings  wissen 
wir,  daß  die  Signorie  beschlossen  hatte,  für  dieses  Jahr 
acht  Galeeren  zum  Zwecke  des  Handels  in  eigener  Regie 
auszurüsten^);  ob  aber  einige  davon  für  Flandern  bestimmt 
waren,  steht  doch  sehr  dahin. 

Keinesfalls  aber  darf  man  aus  dem  Unterbleiben  der 
staatlichen  Fahrten  in  diesem  und  dem  folgenden  Jahre 
auf  ein  Mißlingen  der  ersten  Galeerenfahrt  schließen. 
Vielmehr  ist  die  Ursache  für  dieses  Unterbleiben  in 
erster  Linie  gerade  in  dem  Umstände  zu  suchen,  den 
man  früher  als  Grund  für  den  Beginn  der  direkten  See- 
fahrten der  Italiener  nach  der  flandrischen  Küste  geltend 
machen  zu  können  gemeint  hat 2):  in  der  strengen 
Handelssperre,  die  der  Nachfolger  Philipps  des  Schönen, 
Louis  X.,  aus  Anlaß  des  bald  wieder  ausgebrochenen 
Zwistes  mit  Flandern  im  Jahre  1315  diesem  Lande  gegen- 
über proklamierte  und  so  eifrig  betrieb,  daß  er  auch 
König  Robert  von  Neapel  und  den  englischen  König, 
dessen  Beamte  sich  freilich  bald  sehr  lässig  erwiesen, 
zum  Anschluß  an  diese  Sperre  zu  bestimmen  wußte.^) 
Die  venezianische  Politik  aber  strebte  in  dieser  Zeit  kon- 
sequent danach,  das  gute  Einvernehmen  mit  Frankreich 
aufrechtzuerhalten.  So  fürchtete  Venedig  offenbar,  durch 
Fortsetzung  seiner  staatlich  organisierten  Galeerenfahrten 
den  Schein  der  Parteinahme  für  Flandern  zu  erwecken. 
Andererseits  erschien  ihm  die  Weiterentwicklung  der 
eben  angeknüpften  direkten  Handelsbeziehungen  zur  See 


')  Misti  1.  IV,  c.  106,  rub.  „Armate  galee  per  comune  ad  mer- 
catum^ :  Armentur  per  Comune  galee  8  pro  mercatoribus  {Arch. 
ven,  17,260).  Die  Zeit  läßt  sich  nur  ungefähr  danach  bestimmen, 
daß  c.  46  zum  8.  Oktober  1313,  c.  147  aber  zum  18.  Oktober  1315 
datiert  (ib.  31,  194,  no.  306). 

«)  Schanz  I.  c.  I,  118:  Ein  politisches  Zerwürfnis  zwischen 
Frankreich  und  Flandern  (1315/16)  trug  hauptsächlich  dazu  bei  usw. 

•)  Genaueres  über  die  damaligen  Kämpfe  bei  de  La  Roneifere 
I.  c.  375  ff.,  über  den  Anschluß  König  Roberts  bei  G.  Yver,  Le 
commerce  et  les  marchands  dans  VItalie  märidionaie  (Paris  1903) 
p.  216  f.  Antwort  Eduards  II.  auf  französische  Beschwerden  über 
fortwährende  Transporte  zwischen  England  und  Flandern  bei 
Rymer,  Foedera  111,  555  (17.  März  1316). 


46  Adolf  Schaube, 

mit  Flandern  doch  so  wichtig,  daß  es  die  Handelsschiff- 
fahrt von  Venedig  nach  Flandern  völlig  freigab  und  nur 
zur  Sicherung  der  Teilnehmer  an  diesen  Fahrten  von 
den  Schiffseignern  Bürgschaftsstellung  dafür  verlangte, 
daß  sie  ihre  Reise  auch  wirklich  durchführten.  Eine 
besondere  Vergünstigung  gewährte  die  Signorie  für  diese 
Fahrten  noch  dadurch,  daß  sie  für  die  Ausfuhr  kretischen 
Weines  von  Venedig  nach  Flandern  Zollfreiheit  zugestand^), 
für  einen  Exportartikel  also,  der  namentlich  im  Verkehr 
mit  England  (Malvasier)  zu  erheblicher  Wichtigkeit 
gelangt  ist. 

Im  Jahre  1316  gab  die  schwere  Hungersnot,  die  die 
Niederlande  und  die  angrenzenden  Teile  von  Deutsch- 
land, Frankreich  und  Burgund  sowie  England  heimsuchte, 
für  die  Ausdehnung  der  Handelsschiffahrt  des  Mittel- 
meergebiets nach  der  Nordsee  noch  einen  besonderen 
Anstoß;  Villani  weiß  uns  zu  berichten,  daß  der  Mangel 
an  Lebensmitteln  in  diesen  Gebieten  so  groß  war,  daß 
alle  Hungers  gestorben  wären,  wenn  die  Kaufleute  nicht 
um  des  hohen  Gewinnes  willen,  der  ihnen  hier  winkte, 
Lebensmittel  zur  See  aus  Sizilien  und  Apulien  nach  den 
Gestaden  der  Nordsee  geschickt  hätten.^)  Daß  Venezianer 
an  diesem  Handel  beteiligt  waren,  ist  um  so  mehr  anzu- 
nehmen, als  zu  jener  Zeit  ein  großer  Teil  des  Getreide- 
exports aus  Unteritalien    in    ihren  Händen  gelegen  hat.*) 

Gerade  in  diesem  Jahre  sehen  wir  in  der  Tat  auch 
venezianische  Schiffe  an  der  englischen  Küste  auftauchen. 
Die  ,,Rugine  de  Venesia"  und  die  „Dode  de  Venesia^, 
zwei  Fahrzeuge,  die  als  „dromonds''  bezeichnet  werden*), 


»)  Misti  Sen.  1.  IV,  c.  119  (Arch,  ven.  19,  91). 

*)  Giov.  Villani,  Chroniche  storiche  etc.,  ed.  Dragomanni, 
1.  IX,  c.  80. 

')  S.  meine  Handelsgesch.  S.  493. 

*)  Calendar  of  the  Patent  Rolls,  Edward  II,  1313—1317  (Lon- 
don 1898),  p.  510.  Die  englische  Bezeichnung  dromond  scheint 
identisch  mit  der  italienischen  tarida,  über  welche  Heyck:  Genua 
und  seine  Marine  (Innsbruck  1886)  S.  81  ff.  zu  sehen.  Eine  tarida 
der  Ruzzini  wird  1312  in  einem  Bericht  des  venezianischen  Bailo 
von  Armenien  erwähnt :  Commemoriali  I,  no.  550.  Die  Namen  der 
Schiffe  beziehen  sich,  wie  in  Venedig  üblich,  auf  ihre  Padroni. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    47 

mit  Wein  und  anderen  Waren  beladen,  erschienen  im 
Sommer  dieses  Jahres  im  Kanal;  am  8.  Juli  I3I6  wurden 
ihren  Patronen  Luca  Ruzzini  einerseits,  Niccolb  Duodo 
und  Pietro  Amato  andererseits,  zugleich  für  alle  Leute  und 
Waren  auf  ihren  Schiffen  königliche  Geleitsbriefe  aus- 
gestellt, die  bis  Michaeli  Gültigkeit  hatten.  Hatte  König 
Eduard  II.  doch  am  16.  März  dieses  Jahres  in  einer  be- 
sonderen Proklamation  allen  Kaufleuten  und  Fremden, 
mit  Ausnahme  der  Flamländer  und  der  Schotten,  die 
Feinde  des  englischen  und  französischen  Königs  seien, 
um  falschen  Auffassungen  zu  begegnen,  sicheres  Geleit 
auf  ein  Jahr  verheißen,  wenn  sie  mit  Getreide  und  anderen 
Lebensmitteln,  Wein,  Spezereien  und  anderen  Waren  in 
sein  Königreich  kämen.^) 

Es  ist  das  älteste  Zeugnis  von  einem  Verkehr  vene- 
zianischer Schiffe  mit  England,  das  wir  besitzen;  auch 
von  einem  Handelsverkehr  der  Venezianer,  der  sich  auf 
dem  Landwege  bis  England  hinüber  erstreckt  hätte,  sind 
vorher  nur  sehr  geringe  Spuren  wahrzunehmen.^)  Das  gilt 
auch  noch  für  die  ganze  Regierung  König  Eduards  I.  (1272 
bis  1307).  Während  die  acht  starken,  auf  diese  Zeit  be- 
züglichen Bände  der  Patent  und  Close  Rolls  eine  Fülle  ita- 
lienischer Namen  enthalten,  begegnet  nur  ein  einziges  Mal 
ein  venezianischer  Kaufmann  unter  ihnen;  am  15.  Januar 
1281  wurden  200  m.  st.  zur  Auszahlung  an  Jakob  von 
Venedig,  der  in  geschäftlichen  Beziehungen  zur  Königin 
Eleonore  stand,  angewiesen.^)  So  beruht  denn  auch  die 
Nachricht   von    einem   Privileg,    das   König  Eduard   den 


")  Fat,  Rolls  1.  c.  p.  440  (zur  Hungersnot  vgl.  p.  501,  23.  Mai 
1316). 

«)  Hierüber,  besonders  auch  über  die  merkwürdige  Rolle  des 
Job.  Sucuhull,  s.  meine  Handelsgesch.  S.  412. 

»)  CaL  of  the  Patent  Rolls  (1272—1281)  p.  422.  Dagegen  ist 
Peter  de  Veneise,  der  10.  März  1273  unter  lauter  Engländern  ge- 
nannt wird,  gegen  die  eine  Witwe  in  der  Grafschaft  Middlesex 
wegen  des  Todes  ihres  Gemahls  eine  Klage  eingereicht  hat  (ib. 
p.  32),  schwerlich  ein  Venezianer.  Die  Bände  der  Patent  und 
Close  Rolls  liegen  nunmehr  für  die  Regierungen  Edwards  1.  und  11. 
vollständig  vor,  mit  alleiniger  Ausnahme  des  5.  Bandes  der  Close 
Rolls  für  Edward  I.  (1302-1307). 


48  Adolf  Schaube, 

Venezianern  im  Jahre  1304  verliehen  haben  sollte,  nur 
auf  einem  argen  Mißverständnis  Baschets  und  Roma- 
nins,  und  nur  dieses  wieder  ist  die  Quelle  Hazlitts, 
wenn  dieser  leichtfertige  Schriftsteller  auch  die  Miene 
annimmt,  als  ob  er  das  Privileg  des  Königs  selbst  ge- 
sehen, so  daß  er  sogar  mancherlei  aus  seinem  Inhalt 
mitzuteilen  weiß.^) 

IV. 
Im  Januar  1317  beschloß  man  in  Venedig,  die  Ga- 
leerenfahrten nach  Flandern  wieder  aufzunehmen  2);  waren 
doch  auch  zwischen  Frankreich  und  Flandern  trotz  der 
fortbestehenden  Gegensätze  die  Handelsbeziehungen  seit 
dem  Spätherbst  1316  wiederhergestellt  worden.*)  Man 
stellte  diesmal  geeigneten  Bewerbern  vollständig  aus- 
gerüstete Galeeren  (cum  armis  et  corredis)  von  Staats 
wegen  unentgeltlich  zur  Verfügung;  zwei  der  armatores 
für  diese  Fahrt,  Michele  Dolfin  und  Dardi  (Leonardo) 
Bembo,  dem  wir  noch  mehrfach  begegnen  werden,  sind 
uns  mit  Namen  bekannt.  Man  regelte  nun  auch  die 
Oberfahrtskosten  für  die  Kaufleute,  die  die  Fahrt  mit- 
machten; wenn  ein  famulus  sie  begleitete,  hatten  sie 
3  grossi  (1,22  M.)  pro  Person  und  Tag,  sonst  nur  2  grossi 
(0,81  M.)  zu  zahlen.     Der  Geschwaderkommandeur  sollte 


»)  Baschet  1.  c.  beruft  sich  auf  einen  acte  authentlque  d*une 
concession  de  libre  commerce  aux  V,  en  Fl  andre  et  en  Angleterre 
von  1304  in  den  Libri  commem,  des  Archivs  t.  I,  p.  60  f.,  ebenso 
Romanin  III,  p.  99  Anm.  9.  Wie  das  für  Flandern  und  England 
zugleich  geschehen  sein  sollte,  bleibt  unklar;  in  Wahrheit  zeigt 
uns  der  Druck  der  Commemoriali  durch  Predelli,  daß  an  dieser 
Stelle  „lettere^  der  gardes  des  foires  gegen  zwei  von  der  Messe 
von  Troyes  flüchtige  Venezianer  vom  Oktober  1304  stehen;  unter 
den  Geschädigten  ist  ein  Tuchkaufmann  von  Mecheln  und  ein 
Rob.  Anglicus  von  Provins,  Commem.  1,  no.  188—204.  Vgl.  W.  C. 
Hazlitt,  The  History  of  the  origine  and  rlse  of  Venise  (London 
1858  ff.)  111,  39  und  IV,  241  (ohne  Quellenangabe). 

»)  Misti  Senato  1.  IV,  c.  166-169  (Arch.  ven,  19,  91  f.),  zeitlich 
gut  bestimmt  dadurch,  daß  ein  Beschluß  vom  27.  Januar  1317  auf 
c.  168  stand  (ib.  31,  194,  no.  308). 

•)  König  Philipp  V.  bewilligte  den  Flamländern  am  5.  Nov. 
1316  sogar  ein  Moratorium;  L.  Gilliodts-van  Severen,  Inventaire 
des  Chartes  de  Bruges  VI  (Brügge  1876),  530,  no.  1321. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    49 

gleichzeitig  mit  den  Funktionen  eines  Gesandten  betraut 
werden^);  seine  Wahl  erfolgte  erst  kurz  vor  der  Abfahrt 
der  Galeeren,  im  April;  sie  fiel  auf  Gabriel  Dandolo.^) 
Brown  und  Heyd  nehmen  an,  daß  er  auch  mit  einem 
Kreditiv  für  England  versehen  gewesen  sei.»)  Ein 
positiver  Anhalt  dafür  fehlt;  ich  halte  es  gerade  deshalb 
für  unwahrscheinlich,  weil  er  zugleich  Admiral  war  und 
seine  Flottille  schwerlich  für  längere  Zeit  im  Stiche  lassen 
durfte,  um  nach  London  zu  gehen. 

Auf  den  guten  Erfolg  seiner  Sendung  nach  Flandern 
läßt  sich  daraus  schließen,  daß  im  folgenden  Jahr,  1318, 
zum  erstenmal  zwei  Galeerenfahrten  nach  Flandern 
stattgefunden  haben.  Schon  im  Dezember  1317  beschloß 
man  eine  starke  Herabsetzung  der  1313  normierten  Fracht- 
sätze ;  von  37^2  sol.  gross,  für  das  kleine  Tausend  feiner 
Waren  ging  man  auf  27  herunter.*)  Vor  allem  aber  tritt 
die  günstige  Entwicklung,  die  die  Flandernfahrten  ge- 
nommen^), darin  zu  Tage,  daß  sich  nun  zuerst  Unter- 
nehmer fanden,  die  bereit  waren,  für  die  Überlassung 
staatlicher  Galeeren  für  diese  Fahrt  einen  nicht  ganz  un- 
erheblichen Preis  zu  zahlen;  auf  eine  Petition  des  Marino 

>)  Hierher  gehört  Arch,  ven.  18,53,  Rubrik:  Galee  armate  etc.: 
Capitaneus  fiat  et  ambaxator  habiturus  Ib.  4  in  mense;  solemni- 
tos  electionis  et  commissio ;  c.  67  steht  hier  irrig  für  167.  Sein 
Gehalt  war  also  pro  Monat  auf  etwa  400  M.  bemessen. 

•)  Lib.  IV,  c.  182  {Arch.  ven.  19,  92). 

»)  R.  Brown  1.  c.  p.  LIII  (außerdem  irrig  zu  1316),  CXXII. 
Heyd  II,  720. 

*)  Lib.  V,  c.26f.  (Arch.  ven.  19,  92).  Zur  Zeitbestimmung: 
auf  Blatt  19  des  im  ganzen  193  Blatt  vom  Mai  1317  bis  März  1320 
umfassenden  5.  Buches  stand  ein  Beschluß  vom  28.  Oktober,  auf 
Blatt  23  ein  solcher  vom  29.  November  1317.  Über  die  Fracht- 
sätze bemerkt  der  Epitomator  nur :  Naulum  galearum  FL  sit  sol- 
dorum  27  gr.  de  milliare  subtili,  et  cetera  multa.  Übrigens  wurde 
die  Zollfreiheit  für  diese  Fahrt  zuerst  auch  auf  istrischen  Wein, 
Rosinen  und  gequetschte  Trauben  (uva  passa  et  masere)  aus- 
gedehnt.   Lib.  V,  c.  32,  37  (ib.). 

*)  An  einer  der  ersten  F'ahrten  nach  Brügge  hat  auch  der 
bekannte  Verfasser  des  Über  Secretorum  fidelium  Crucls  (voll- 
endet 1321),  Marino  Sanudo,  teilgenommen  (Bongars  II,  72):  Jam 
ego  presens  cap.  consumaveram,  et  ecce  per  mare  de  Ven.  ad 
partum  Cluse  in  Flandriam  cum  galeis  armatis  veniens  etc. 
HistorUche  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  4 


BO  Adolf  Schaube, 

Zeno  beschloß  man,  falls  er  selbst  keine  geeignete  Galeere 
besäße,  ihm  eine  solche  von  Staats  wegen  für  10  1.  gr. 
(rund  1000  M.)  monatlich  zu  vermieten;  in  derselben 
Weise  sollte  mehreren  anderen  Personen  gegenüber  ver- 
fahren werden.*)  Schließlich  ging,  im  Februar  oder 
anfangs  März  1318,  ein  Geschwader  von  drei  Galeeren 
unter  dem  Kommando  von  Paolo  Morosini  nach  Flandern 
ab;  als  es  die  Balearen  passierte,  suchten  und  fanden 
griechische  Sklaven,  die  offenbar  von  den  Katalanen  aus 
ihrer  Heimat  im  Archipel  auf  einem  ihrer  Raubzüge 
entführt  worden  und  nun  auf  einer  Barke  entflohen  waren, 
bei  den  Venezianern  eine  Zuflucht;  Morosini  schützte 
sie,  und  auch  Dardi  Bembo,  der  auf  der  Rückfahrt  das 
Kommando  führte,  verweigerte  dem  Statthalter  von 
Mallorka  gegenüber  ihre  Herausgabe.^) 

Die  zweite  Fahrt  dieses  Jahres  ist  darum  denkwürdig, 
weil  sie  zuerst  Antwerpen  zu  ihrem  Ziele  hatte,  während 
bis  dahin  Brügge  mit  seinem  Hafen  Sluis  am  Zwyn,  der 
Haupthandelsplatz  Flanderns,  das  selbstverständliche  Ziel 
dieser  Fahrten  gewesen  war.  Der  zeitgenössische  niederlän- 
dische Chronist  van  Heyst  berichtet  uns,  daß  im  Mai  1318 
zwei  „ghaleyen  van  Venegien^  nach  Antwerpen  kamen; 
ausdrücklich  betont  er,  daß  dies  die  ersten  Galeeren 
gewesen  seien,  die  den  Hafen  von  Antwerpen  angelaufen 
hätten.^)  Aus  unseren  Regesten  geht  das  besondere  Ziel 
dieser  Fahrt  nicht  hervor,  wohl  aber  bestätigen  sie,  daß 
an  dieser  Fahrt  in  der  Tat  nur  zwei  Galeeren  teilge- 
nommen haben ;  für  eine  größere  Zahl  von  Schiffen  mag 


>)  Lib.  V,  c.  28  {Arch.  ven.  19,  93). 

')  Als  Piero  di  Cardona  von  Mallorka  wegen  dieses  ^Raubes** 
der  Venezianer  im  Frühjahr  1320  persönlich  in  Venedig  eine  ihn 
befriedigende  Entschädigung  erlangte,  rief  das  immer  weitere 
Ansprüche  hervor,  die  bei  Dalmasio  de  Banolis,  dem  neuen 
Statthalter  von  Mallorka,  bei  den  Venezianern  von  Zara  her  in 
sehr  üblem  Angedenken,  eifrige  Förderung  fanden.  Commem,  II, 
Reg.  no.  214,  219,  234,  260.  Wenn  Dalmasio  als  Jahr  der  Tat  1317 
angibt,  so  erklärt  sich  das  aus  der  Jahreszählung  von  Ostern  zu 
Ostern.    Ober  Dalmasio  s.  Romanin  III,  91  ff. 

»)  D'Boeck  der  Tyden,  158  bei  F.  H.  Mertens  en  K.  L.  Torfs, 
Geschiedenis  van  Antwerpen  II  (A.  1846),  90. 


Die  Anfänge  der  venez.  Gaieerenfahrten  nach  der  Nordsee.    51 

die  Fracht,  die  sich  für  Antwerpen  fand,  wohl  nicht  aus- 
gereicht haben.  Der  Rat  der  Pregadi  hatte  sich  die  Aus- 
wahl der  Padroni  für  die  beiden  staatlichen  Galeeren 
aus  der  Zahl  der  Bewerber  vorbehalten^);  am  Tage 
nach  der  Wahl  hatten  sich  die  Gewählten  endgültig  zu 
entscheiden.  Im  September  waren  sie  wieder  in  Venedig 
zurück;  damals  beschloß  man,  die  beiden  Schiffe,  die  sich 
offenbar  sehr  gut  bewährt  hatten,  sogleich  wieder  an  die 
Bestbietenden  zu  vermieten.^)  Eine  Unfreundlichkeit  gegen 
Brügge  braucht  man  in  dieser  Fahrt  nach  Antwerpen 
um  so  weniger  zu  sehen,  als  sie  der  Fahrt  nach  Brügge 
so  rasch  gefolgt  ist ;  die  Galeeren  der  ersten  Reise  waren 
sicher  noch  nicht  zurück,  als  die  zweite  angetreten  wurde. 
Es  war  nur  natürlich,  daß  Venedig  auch  mit  dem  Haupt- 
handelsplatz des  Herzogtums  Brabant  direkte  Handels- 
beziehungen anknüpfte;  verkehrten  doch  auch  andere 
Italiener,  die  Florentiner  namentlich,  unbehindert  an 
beiden  Plätzen.  Immerhin  war  es  für  die  ganze  Ent- 
wicklung des  venezianisch- niederländischen  Verkehrs  sehr 
wertvoll,  daß  Venedig  nicht  unbedingt  nur  an  den  einen 
dieser  beiden  Plätze  gebunden  war. 

Auch  im  Jahre  1319  haben  zwei  Fahrten  der  flan- 
drischen Galeeren  stattgefunden,  nur  ging  diesmal  umge- 
kehrt die  erste  Fahrt  nach  Antwerpen,  die  zweite  nach 
Brügge.  So  vervollkommnet  hatte  sich,  dank  großenteils 
der  unablässigen  Fürsorge  der  venezianischen  Regierung, 


»)  Lib.  V,  c.  45,  48  (Arch.  ven,  18,  53;  Rubrik:  galee  armate 
indiff.  per  spec.  personas) :  Patroni  istarum  2  galearum  fiant  in 
isto  consilio  per  electionem  etc. 

»)  Ib.  88  (Arch.  ven.  17,  267;  Rubrik:  Comune) :  lUe  2  galee 
comunis  que  venerunt  de  Flandria,  dentur  ad  naulum  per  incan- 
tum  cum  condicione  etc.  (sie).  Das  folgende  Blatt  89  enthält  einen 
Beschluß  vom  22.  September  1318  {Arch.  ven.  31,  195,  no.  317). 
Im  Herbst  1318  kam  auch  ein  Rechtsstreit,  betr.  die  Befrachtung 
des  Schiffes  der  Michele,  das  mit  Wein,  Mandeln,  Kümmel  u.  dgl. 
beladen  nach  Flandern  gegangen  war,  zur  Entscheidung;  die 
Ufficiali  al  Cattaver  wurden  angewiesen,  von  einem  der  Ver- 
frachter 156.  7.  5  1.  di  gr.  für  Waren  und  Fracht  einzuziehen. 
Commem.  II,  Reg.  no.  138;  in  welches  Jahr  die  Fahrt  gehört,  ist 
nicht  ersichtlich. 


4 


* 


52  Adolf  Schaube, 

im  Lauf  der  Zeit  die  Technik  des  Schiffsbaus,  daß  man 
keinerlei  Bedenken  trug,  mit  diesen  Galeeren  mitten  im 
Winter  die  stürmischen  Gewässer  des  Golfs  von  Biskaja 
und  des  Kanals  zu  kreuzen.  Noch  im  November  1318 
hat  man  die  erste  Fahrt  beschlossen.  Man  betonte,  daß 
den  Kaufleuten  bei  der  Mitnahme  ihrer  Tische  (trapuntis), 
Schreine,  Felleisen  und  Waffen  keine  Schwierigkeit  bereitet 
werden  sollte  und  setzte  die  Stärke  der  Bemannung  für 
jede  Galeere  nunmehr  auf  200  Mann  fest;  auch  Anzahl* 
und  Art  der  mitzuführenden  Waffen  wurden  genau  vor- 
geschrieben. Brod  (panatica)  war  für  einen  Monat, 
Fleisch  für  22  Tage  mitzunehmen.')  So  wird  man  An- 
fang Januar  1319  aufgebrochen  sein,  da  wir  wissen,  daß 
die  drei  Galeeren  dieser  Expedition  Antwerpen  noch  im 
Februar  erreicht  haben.^)  Die  fünf  venezianischen  Galeeren 
des  Jahres  1318,  von  denen  Peschel  spricht,  setzen  sich 
in  Wahrheit  aus  diesen  drei  von  1319  und  den  zwei 
Galeeren  der  vorigen  Fahrt  zusammen.^) 

Wieder  befand  sich  die  erste  Expedition  noch  in  den 
Niederlanden,  als  die  zweite,  diesmal  in  der  Stärke  von 
fünf  Galeeren,  in  der  zweiten  Hälfte  März  nach  Brügge 
aufbrach.  Ursprünglich  war  ein  früherer  Abfahrtstermin 
beschlossen  gewesen ;  aber  obwohl  ein  Antrag  auf  Änderung 
dieses  Beschlusses  mit  einer  Geldbuße  von  100  1.  (300  M.) 
bedroht  war,  brachten  vier  Ratsherrn,  denen  die  armatores 


»)  Lib.V,  c.  97  {Arch,  ven.  19,92  und  24,94;  Blatt  96  enthielt 
einen  Beschluß  vom  22.  November  1318,  ib.  31,  195,  no.  318): 
Teneatur  galea  quelibet  habere  in  armario  WO  inter  supraensegnas 
et  zupellosy  125  curazias,  et  ultra  60  arma  a  capite  et  homines 
200  pro  galea. 

*)  van  Hey  st  1.  c.  „Item  in  Februario,  in  't  selve  jaer  qua- 
men  noch  drye  ghaleyen  V Antw.  van  Venegien*',  Für  den  Chro- 
nisten war  es  in  der  Tat  dasselbe  Jahr;  das  neue  begann  für  ihn 
erst  mit  dem  Karfreitag  unseren  Stils. 

")  Er  schöpfte  aus  Guicciardini,  Descrittione  dei  Paesi  bassi 
(Anversa  1567)  p.  119,  dessen  Angabe,  daß  im  Jahre  1318  zuerst 
fünf  venezianische  Galeeren  nach  Antwerpen  gekommen  seien, 
ganz  richtig  war,  da  auch  für  ihn  der  Februar  1319  noch  zum 
Jahre  1318  gehörte;  er  hat  nur  die  Schiffe  beider  Expeditionen 
zusammengefaßt.  Es  liegt  also  kein  Widerspruch  vor,  wie  Heyd 
II,  72P  meint.     ' 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    53 

Schadloshaltung  zugesagt,  doch  einen  solchen  Antrag 
ein,  der  nun  auch  Annahme  fand.  Venedig  befand  sich 
damals  in  Differenzen  mit  den  Provenzalen  ^) ;  wohl  aus 
Besorgnis  vor  provenzalisch-neapolitanischen  Kaperschiffen 
verordnete  man,  daß  die  fünf  Galeeren  bei  Strafe  von 
1000  1.  auf  der  Hin-  wie  Rückreise  im  Konvoi  fahren 
müßten ;  die  zyprischen  und  armenischen  Galeeren  sollten 
mit  ihnen  zugleich  aufbrechen  und  bis  zur  Höhe  von 
Otranto  ebenfalls  mit  ihnen  „in  conserva"  fahren.  Ein 
Gesandter  der  Republik  machte  die  Fahrt  mit,  für  dessen 
Oberfahrt  396  1.  (rund  1200  M.)  bezahlt  wurden.^)  Von 
seiner  Tätigkeit  ist  uns  leider  nichts  bekannt. 

So  zweckmäßig  durch  solche  Maßnahmen  für  die 
Sicherheit  der  Fahrt  gesorgt  war,  sie  konnten  nicht 
verhindern,  daß  man  mit  den  Engländern  in  üble  Diffe- 
renzen kam,  Differenzen,  die  für  uns  lehrreich  sind,  weil 
sie  uns  einen  Einblick  in  die  Art  des  Handels  eröffnen, 
der  damals  von  den  flandrischen  Galeeren  aus  mit  Eng- 
land getrieben  wurde.  Keineswegs  nämlich  pflegten  diese 
Galeeren  des  Handels  wegen  in  England  selbst  anzu- 
legen; vielmehr  legten  sie  sich  am  Zielpunkte  fest,  und 
von  hier  aus  unternahmen  dann  manche  der  Kaufleute, 
die  die  Fahrt  mitgemacht,  ihre  Handelsreisen,  die  sich 
auch  nach  England  hinüber  erstreckten.  So  hatte  in 
diesem  Jahre  Tommaso  Loredan  seinen  Faktor  Niccolb 
Basadonna  mit  rund  100  Zentner  Zucker,  10  Zentner 
Kandis  und  4  I.  tur.  gross.  Bargeld  im  Gesamtwerte  von 
3580 1.  (10750  M.)  nach  England  hinübergeschickt;  er  hatte 
seine  Ware  auch  glücklich  in  London  verkauft  und  war 
dann  zur  St.  Bothulfs-Messe  nach  Boston  gereist  (im 
Juli;  Beginn  am  24.  Juni).  Hier  hatte  er  von  dem  Erlös 
Wolle  eingekauft  und  diese  auf  zwei  englischen  Koggen 
verladen,  die  ihn  und  seine  Waren  zu  den  Galeeren  nach 
Flandern  zurückbringen  sollten;  unterwegs  aber  wurde  er 
getötet   und    seine  Ware   von   der  englischen  Besatzung 


')  Arch.  ven.  20,  301. 

•)  Lib.  V,  c.  120-125  (Arch,  ven.    19,  92  f.,  dazu  27,  386  und 
18,  318). 


54  Adolf  Schaube, 

geraubt.^)  Weiteres  kam  bald  hinzu.  Als  die  auf  der 
Rückfahrt  begriffenen  Galeeren  in  Southampton  angelegt 
hatten,  gerieten  die  Venezianer  mit  Bürgern  von  South- 
ampton und  Leuten  von  der  Insel  Wight  in  einen 
schweren  Konflikt;  eine  blutige  Schlägerei  entstand,  bei 
der  es  auf  beiden  Seiten  sogar  mehrere  Tote  gab. 
Näheres  über  den  Anlaß  wissen  wir  nicht,  nur  scheint 
es,  daß  die  Venezianer  hier  der  angreifende  Teil  gewesen; 
vielleicht  war  die  Kunde  von  der  Ermordung  ihres  Lands- 
mannes und  dem  Raube  seiner  Waren  jetzt  erst  zu  den 
Venezianern  auf  den  Galeeren  gelangt.  Daß  der  ganze 
Vorgang,  der  zu  einer  lange  anhaltenden  Spannung 
zwischen  Venedig  und  England  führte,  diesem  Zeitpunkte 
angehört,  erfahren  wir  überhaupt  nur  durch  eine  Ordre 
des  englischen  Königs  an  die  Stadt  Southampton  vom 
7.  Oktober  1319,  sie  möge  wegen  ihrer  Streitigkeiten 
mit  den  Venezianern  die  Kaufleute  von  der  Gesellschaft 
der  Bardi  nicht  beunruhigen,  da  er  diese  und  ihre  Habe 
in  seinen  besonderen  Schutz  genommen  habe.^)  In  welcher 
näheren  Beziehung  das  florentinische  Welthaus  zu  diesen 
Vorgängen  stand,  bleibt  unklar;  möglich  ist,  daß  es  mit 
den  Venezianern  über  die  Einnahme  eines  Wolltrans- 
portes in  Southampton  akkordiert  hatte;  jedenfalls  sehen 
wir  es  damals  auch  sonst  mit  den  Venezianern  mehrfach  in 
enger  Verbindung;  so  wurde  noch  am  30.  November 
desselben  Jahres  den  venezianischen  Kaufleuten  Peter 
Nicholaus  und  Franz  Scarpache,  die  im  Dienst  der  Bardi 


»)  Cotnmemoriali  II,  Reg.  no.  191  (daß  es  3580  I.  di  gross, 
gewesen,  ist  sicher  irrig);  R.  Brown  I,  p.  3  f.  Marin  V,  306.  Vgl. 
noch  Brown  I,  p.  LVIII  f.,  der  Basadonna  zum  captain  oder  super 
cargo  eines  venezianischen  Handelsschiffes  macht,  und  Romanin 
III,  99.  Über  englische  Piraten  hatten  in  diesem  Jahre  auch  die 
Kaufleute  von  Brügge  zu  klagen.  Cartulaire  de  Vancienne  Estaple 
de  BrugeSy  6±  Gilliodts-van  Severen  (Brügge  1904)  I,  150,  no.  212. 

«)  Calendar  of  Close  Rolls,  £dw.  II,  1318—1323  (1895)  p.  1591. 
Früher  setzte  man  den  Vorgang  mit  Rawdon  Brown  I,  p.  LXIX 
erst  in  das  Jahr  1322  und  Schanz  I,  119  behauptet  sogar,  die  eng- 
lischen Seeleute  seien  am  10.  April  1323  von  fünf  venezianischen 
Galeeren  überfallen  worden,  während  dieser  Tag  in  Wahrheit  der 
Tag  einer  vorläufigen  Beilegung  des  Streites  beider  Nationen  ist. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    55 

standen  und  mit  Waren  derselben  in  das  Königreich 
kamen,  ein  königlicher  Geleitsbrief  auf  ein  Jahr  ausgestellt.^) 
Als  die  Galeeren  gegen  Ende  September  nach  Venedig 
zurückkehrten,  untersagte  man  unter  dem  ersten  Eindruck 
der  Nachrichten,  die  sie  mitbrachten,  alle  Vorkehrungen 
für  eine  neue  Flandernfahrt  bis  auf  weitere  Ordre  2);  am 
10-  November  erstattete  Donato  Albasii,  der  wohl  zu 
Lande  heimgekehrt  war,  über  die  Affäre  Basadonna  im 
Senat  genauen  Bericht.**) 

V. 
Wohl  noch  Ende  1319  einigte  man  sich  in  Venedig 
dahin,  eine  Gesandtschaft  nach  England  zu  schicken, 
zugleich  aber  auch  alle  Vorbereitungen  für  eine  neue 
Fahrt  nach  Flandern  zu  treffen.*)  Zum  Gesandten  wurde 
Johannes  de  Lege*)  ausersehen,  der  am  Anfang  des 
Jahres  1320  die  Reise  nach  England  auf  dem  Landwege 
angetreten  haben  muß;  am  13.  März  schon  wurde  ein 
Antrag  eingebracht,  eine  Kommission  von  acht  Sach- 
verständigen zu  ernennen,  die  das  Recht  haben  sollte, 
in  Gemeinschaft  mit  der  für  diese  Angelegenheit  schon 
bestehenden  Kommission  von  drei  Mitgliedern    und    der 


')  Cal,  of  Patent  Rolls,  Edw,  II,  1317—1321,  p.  409.  Wenige 
Monate  später  (20.  Februar  1320)  erhalten  Peter  Scorpaz  und  sein 
Bruder  Franz  (der  zweite  sicher  mit  dem  obengenannten  iden- 
tisch), Kaufleute  von  Venedig,  sicheres  Geleit  für  ihren  Handel 
in  verschiedenen  Teilen  des  Königreichs  (ib.  423),  und  einige 
Jahre  darauf  erscheint  Peter  Scarepac'  von  Venedig  als  Gläubiger 
von  300  1.  sterl.  gegenüber  dem  Prior  von  St.  Swithin's  in  Win- 
chester. Close  Rolls,  Edw.  11,  1323—1327,  p.  383,  —  ein  Fall,  der 
für  einen  Venezianer  in  England  ganz  vereinzelt  dasteht. 

»)  Lib.  V,  c.  157  {Arch.  ven.  19,  93);  c.  158  datiert  vom  27.  Sep- 
tember 1319  (ib.  31,  196,  no.  319).  Gleichzeitig  eine  Anweisung 
auf  Zahlung  von  10 1.  gr.  (1000  M.)  an  die  Häuser  Bembo  und 
Tingo  (Uli  de  ca  B,  et  T,)  „de  datio  galearum  redeuntlum  de 
Flandria''  {Arch,  ven.  19,  93  und  27,  100). 

»)  Commemoriali  l.  11,  no.  319. 

*)  Auf  diese  neue  Fahrt  beziehen  sich  Misti  Senato  1.  V, 
c.  172-178,  182,  185  und  1.  VI  (mit  dem  April  1320  beginnend), 
c.  1,  3  (Arch.  ven.  19,  93). 

*)  Der  Name  wird  erst  später  genannt :  Misti  1.  VI,  c.  74,  79 
(ib.  94). 


56  Adolf  Schaube, 

Signorie  den  Gesandten  in  Ergänzung  seiner  Instruktion 
mit  weiteren  Anweisungen  zu  versehen;  der  Antrag  er- 
langte indessen  nicht  die  Mehrheit.^)  Es  war  wohl  ein 
Erfolg  der  Bemühungen  des  Gesandten,  daß  König 
Eduard  IL  am  18.  April  1320  den  venezianischen  Kauf- 
leuten, die  mit  Waren  in  sein  Königreich  kämen  um 
Handel  zu  treiben,  einen  allgemein  gehaltenen  Sicherheits- 
brief für  ein  Jahr  ausstellte.^) 

Inzwischen  war  für  die  bevorstehende  Fahrt  der  „ordo 
galearum^  festgestellt  worden;  Wolle  sollte  diesmal  ab- 
gabenfrei sein,  nur  blieb  es  verboten,  Wolle  anderswo 
als  in  Venedig  selbst  zu  löschen;  kurz  vor  der  Abfahrt 
bestimmte  man  noch,  daß  außer  dem  kretischen  auch 
jeder  andere  außerhalb  der  Adria  gewachsene  Wein 
zollfrei  sein  sollte,  so  daß  es  scheint,  daß  es  Schwierig- 
keiten gemacht  hat,  für  die  Galeeren  volle  Ladung  zu 
erhalten.  Weniger  angenehm  mußte  es  die  „mercatores 
Flandriae''  berühren,  daß  sie  zu  den  Kosten  der  Ver- 
handlungen mit  Karl  von  Valois  in  Sachen  der  französi- 
schen Malatolta  mit  einhalb  Prozent  von  dem  Werte  ihrer 
Waren  beitragen  sollten.^)  Zum  Capitaneus  wurde  Marino 
Morosini  mit  einem  Monatssalär  von  6  I.  gross.  (600  M.) 
bestellt  und  ihm  ein  Wundarzt  (medlcus  cirurgie)  mit- 
gegeben, der  ebenfalls  von  der  Regierung  honoriert 
wurde.  England  anzulaufen  verbot  man  ausdrücklich, 
solange  nicht  der  Abschluß  einer  „concordia''  erzielt 
wäre;  frühestens  im  Mai  ist  das  Geschwader  erst  abge- 
gangen. 

In  der  Vorbereitungszeit  für  diese  Expedition,  noch 
im  venezianischen  Jahre  1319,  das  bekanntlich  bis  zum 
Ende  Februar  1320  unseres  Stils  reichte,  stellte  man  auch 
die  Instruktion  für  einen  Gesandten  nach  Flandern  fest, 
die  erste,   die  uns  erhalten    ist;    sie    war   für   den    nach 


*)  Brown  p.  4,  no.  13. 

«)  Patent  Rolls,  Edw,  II,  1317—1321,  p.  440. 

»)  Lib.  V,  c.  178  {Arch.  ven,  17,  267:  Rubrik:  Comune).  Etwas 
später  setzte  man  diese  Abgabe  für  Venezianer,  die  zu  Lande 
Waren  nach  Frankreich  schickten,  auf  P/©  ^est.  Lib.  VI,  c.  50 
(ib.  19,  95). 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    57 

England  gehenden  Gesandten  oder,  falls  dieser  nicht  nach 
Flandern  käme,  für  eine  andere  geeignete  Persönlichkeit, 
die  die  Mission  nach  Flandern  übernahm,  bestimmt.^) 

Zunächst  sollte  der  Gesandte  dem  Grafen  und  den 
Schöffen  von  Brügge  dafür  danken,  daß  sie  dem  Er- 
suchen der  Signorie  gemäß  gegen  den  Venezianer  Alipetro 
Buscarini  eingeschritten  wären,  der  sich  einige  Jahre 
zuvor  in  Pisa  der  Beihilfe  zu  einem  groben  Betrüge  mit 
nachgemachten  Edelsteinen  schuldig  gemacht  hatte  und 
deswegen  in  Venedig  verurteilt  worden  war. 2)  Sodann 
sollte  er  im  Namen  der  Republik  fordern,  daß  die  Vene- 
zianer, wie  in  so  vielen  anderen  Ländern,  auch  in  Brügge 
einen  Konsul  aus  ihrer  Mitte  bestellen  dürften,  dem  die 
Gerichtsbarkeit  in  ihren  eigenen  Streitigkeiten  zustehen 
sollte');  auch  sollten  Venezianer  um  Schulden  nicht  eher 
verhaftet  werden  dürfen,  als  bis  sie  als  Schuldner  er- 
wiesen seien.  Auch  in  kommerzieller  Beziehung  hatte 
der  Gesandte  allerlei  Gravamina  vorzubringen :  die  Vene- 
zianer sollten  ihre  Seide  wie  ihre  anderen  Waren  an 
jedem  Tage  frei  auslegen  und  verkaufen  und  ihre  Ballen 
nach  Belieben  in  mehr  oder  weniger  Teile  zerlegen 
dürfen ;  das  Gewicht  sollte  für  Venezianer  wie  Flamländer 
das  gleiche  sein*);  die  Maklergebühren  seien  herabzu- 
setzen; auch  sollte  den  Venezianern  kein  Hindernis  be- 
reitet werden  dürfen,  wenn  sie  Brügge  verlassen  wollten. 
Alle  Zugeständnisse  sollte  der  Gesandte  sich  bemühen, 
in  einem  förmlichen  Vertrage  schriftlich  aufgezeichnet  zu 


>)  Commemoriall  II,  Reg.  no.  202.  Marin  V,  304  f.  Romanin 
III,  99. 

«)  Näheres  über  diese  Affäre  Commem,  II,  no.  45,  432,  456; 
sie  fand  erst  1326  mit  der  Zahlung  von  1100  Goidfl.  durch  die 
Erben  Alipietros  an  den  Bevollmächtigten  des  geschädigten 
Genuesen  Guglieimo  Cibo  ihren  Abschluß. 

»)  Quod  nostri  fideles  possint  habere  consulem  qui  jus  faciat 
inter  nostros  de  questionibus  que  onrentur  inter  nostros,  Brown 
I,  p.  LIX  bezieht  diese  Stelle  irrtümlich  auf  England. 

*)  Klagen  auch  der  Deutschen  darüber  s.  z.  B.  Hanserezesse 

I,  Nr.  81  (1305),  abgestellt  durch  den  Garantiebrief  Brügges   betr. 
die  öffentliche  Wage  vom  24.  Dezember  1318  (Hans.  Urkundenb. 

II,  138,  Nr.  336). 


58  Adolf  Schaube, 

erhalten.  Wäre  nicht  alles  zu  erreichen,  so  sollte  er  vor 
Abschluß  des  Vertrages  erwägen,  ob  es  nicht  zweckmäßig 
wäre,  vorher  nach  Antwerpen  zu  gehen,  wo  die  Venezianer 
im  Jahre  zuvor  eine  gute  Aufnahme  gefunden  hätten. 

Die  Instruktion  ist  auf  jeden  Fall  lehrreich;  inwieweit 
ihre  Forderungen  gerade  in  diesem  Zeitpunkt  mit  Nach- 
druck geltend  gemacht  wurden,  steht  dahin;  zum  Ab- 
schluß eines  Vertrages  mit  dem  Grafen  und  der  Stadt 
Brügge  ist  es  damals,  soviel  wir  wissen,  nicht  gekommen. 
Aber  auch  bei  dem  Konkurrenten  Flanderns  erreichten  sie 
zunächst  nicht  mehr;  denn  wenn  Herzog  Johann  von 
Brabant  am  1.  Oktober  1320  in  Beantwortung  eines 
Schreibens  des  Dogen  die  in  seinen  Landen  handel- 
treibenden Venezianer  seines  Schutzes  und  jeder  An- 
nehmlichkeit versicherte^),  so  entsprachen  auch  diese  sehr 
allgemein  gehaltenen  Zusicherungen  sicherlich  nicht  den 
Wünschen  der  Venezianer. 

So  wenig  also  Venedig  in  diesem  Jahre  an  den  Ge- 
staden der  Nordsee  zu  seinem  vollen  Ziele  kam,  rein 
kommerziell  bedeutete  seine  Flandernfahrt  wieder  einen 
vollen  Erfolg,  und  trotz  der  mit  England  fortbestehenden 
Spannung  nahm  gerade  die  englische  Wolle  einen  sehr 
bedeutenden  Teil  der  Rückfracht  der  Galeeren  ein.  Im 
August  1320  gestattete  König  Eduard  II.  einer  ganzen 
Anzahl  italienischer  Kaufleute,  Wolle  aus  England  zu 
exportieren  und  auf  die  im  Zwyn  liegenden  venezianischen 
Galeeren  zu  verfrachten,  wobei  sie  Garantie  dafür  zu 
leisten  hatten,  daß  die  Wolle  nicht  etwa  in  Flandern^ 
Brabant  oder  Artois  abgesetzt  wurde,  sondern  wirklich 
nach  Venedig  gebracht  wurde;  außer  dem  Wollzoll  war 
für  diese  Erlaubnis  eine  besondere  Summe  an  das  könig- 
liche Schatzamt  zu  zahlen.^)     Ob  der  Gesandte  Venedigs 


0  Commem,  II,  no.  241.     Vgl.  Romanin  III,  100. 

*)  Erhalten  sind  die  entsprechenden  königlichen  Orders  an 
die  Erheber  des  Wollzolls  in  den  Häfen  von  London,  Southanipton 
und  Boston,  vom  4.  bis  22.  August  1320;  CaL  of  the  Close  Rolls, 
Edw.  II,  1318-1323,  p.  251  f.  Ebenda  p.  250  ff.  steht  noch  eine 
ganze  Anzahl  ähnlicher  Stücke  aus  derselben  Zeit,  Ende  Juli  bis 
Ende  August,  für  Kaufleute  aus  Asti,  Lucca,  Florenz  und  Genua^ 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    59 

hierbei  mitgewirkt  hat,  steht  dahin ;  jedenfalls  reicht  das 
Interesse  der  exportierenden  Kaufleute  und  das  finanzielle 
Interesse  der  stets  geldbedürftigen  englischen  Krone  zur 
Erklärung  des  Vorganges  vollkommen  aus.  Mit  einem 
sehr  bedeutenden  Quantum,  nicht  weniger  als  800  Sack, 
waren  Galvanus  Guch  (Guccii)  und  Donatus  Baroni  und 
die  von  ihnen  mitvertretenen  Florentiner  Kauf leute  beteiligt; 
Galvanus  vertrat  die  Interessen  der  Gesellschaft  in  London, 
wo  685  Sack  zur  Verschiffung  gelangten,  während  Donatus 
die  Versendung  der  übrigen  115  in  Southampton  über- 
wachte.*) Von  London  aus  wurden  unter  denselben  Be- 
dingungen ferner  nach  dem  Zwyn  versandt:  110  Sack 
für  Almarico  Caisoli  von  Piacenza,  100  Sack  für  die 
Bardi,  50  Sack  für  Chatus  Merconaldi  (Gatto  Marcovaldi) 
von  Siena,  70  Sack  für  More  Bonsignori  und  Pietro 
Falconieri,  die  wohl  beide  auch  aus  Siena  waren;  dazu 
traten  noch  40  Sack  für  Manfredino  Garetta,  Kaufmann 
von  Asti,  die  in  Boston  expediert  wurden  —  im  ganzen 
also  1170  Sack,  die  auf  rund  195000  kg  Gewicht  zu  ver- 
anschlagen sind.  Wir  sehen  also,  welche  wichtige  Rolle 
den  Kaufleuten  des  italienischen  Binnenlandes,  die  ja  seit 
langer  Zeit  schon  im  englischen  Handel  tätig  waren,  bei 
der  Befrachtung  auch  der  venezianischen  Galeeren  zu- 
gefallen ist;  allerdings  mag  gerade  in  diesem  Jahre  die 
Zollfreiheit,  die  Venedig  der  eingeführten  Wolle  gewährt 
hatte,  einen  besonderen  Anreiz  auf  die  Kaufleute  des 
Binnenlandes  ausgeübt  haben,  zumal  diese  mit  ihrer 
Wolle  noch  einen  beträchtlichen  Weg  von  Venedig  bis 
in  ihre  Heimat  zurückzulegen  hatten.  Schon  das  folgende 
Jahr  brachte  denn  auch  in  dieser  Beziehung  einen  voll- 
ständigen Umschlag. 


die  aber  auf  die  venezianischen  Galeeren  keinen  Bezug  nehmen; 
s.  dazu  noch  Patent  Rolls,  1317—1321,  p.  496  t.  (5.  u.  9.  August 
1320). 

*)  Diese  115  Sack  hatte  der  Sheriff  von  Southampton  gemäß 
einem  Befehle  des  Königs,  der  sich  gegen  die  Wolle  und  die 
sonstigen  Waren  der  fremden  Kaufleute,  der  Deutschen  wie  der 
anderen,  richtete,  schon  beschlagnahmt;  am  23.  Juli  hatte  der 
König  aber  ihre  Freigabe  verfügt;  Close  Rolls  1.  c.  p.  251. 


60  Adolf  Schaube, 

Als  man  sich  im  Januar  1321  im  Rat  der  Pregadi 
mit  der  nächsten  Galeerenfahrt  nach  Flandern  zu  be- 
schäftigen begann  (das  System  der  Doppelfahrten  findet 
sich  nur  in  den  Jahren  1318  und  1319),  faßte  man  zuerst 
wieder  die  Beziehungen  zu  England  ins  Auge.  Man 
erwog,  die  Signorie  in  Gemeinschaft  mit  Sachverständigen 
zu  ermächtigen,  den  Gesandten  in  England  mit  neuen 
Instruktionen  zu  versehen^);  die  y^pro  concordia  Anglie'' 
erforderliche  Summe  sollte  zunächst  vom  Getreideamt 
vorgeschossen  und  dann  bei  der  Rückkehr  der  Galeeren 
durch  Erhebung  einer  besonderen  Abgabe  von  20  gross, 
(ca.  8  M.)  von  jedem  Sack  Wolle  mit  Zinsen  zurücker- 
stattet werden.2)  Doch  kam  man  von  diesen  Absichten 
wieder  zurück  und  zog  es  im  Frühjahr  vor,  den  Ge- 
sandten schriftlich  zu  ermächtigen,  falls  er  nicht  imstande, 
mit  den  ihm  bewilligten  Geldmitteln  die  Verständigung 
zu  erzielen  (concordiam  complere)^  für  diesen  Zweck 
50  M.  Sterl.  mehr  auszugeben.  Aber  die  Sache  rückte 
nicht  vorwärts.  Am  1.  März  1321  war  man  gerade  so 
weit,  daß  der  König,  der  Forderung  des  Dogen  ent- 
sprechend, eine  königliche  Kommission  mit  dem  Bischof 
von  Exeter  an  der  Spitze  zur  Untersuchung  des  Vorfalles 
in  Stadt  und  Hafen  Southampton  ernannte.^)  So  führte 
die  Unzufriedenheit  mit  den  Erfolgen  des  Gesandten  am 
14.  Mai  zu  dem  Antrage,  der  Signorie  Vollmacht  zu  er- 
teilen, die  Angelegenheit  anderen  geeigneten  Personen, 
die  im  übrigen  die  gleiche  Instruktion  und  die  gleiche 
Berechtigung  zu  Ausgaben  haben  sollten  wie  Johannes 
de  Lege,  zu  übertragen^);  zunächst  aber  blieb  die  eng- 
lische Angelegenheit  weiter  in  der  Schwebe. 

Noch  im  Januar  hatte  man  auch  die  Ordnungen  für 
die  neue  Galeerenfahrt  (ordines  galearum  Flandrie)  aufge- 

*)  Lib.  VI,  c.  53  (i4rcÄ.  ven,  19,  94)  mit  der  Bemerkung  ^can- 
cellatum'*, 

«)  Brown,  Cal.  I,  5,  no.  15;  =1.  VI,  c.  54.  Beschluß  vom 
27.  Januar,  mit  der  Bemerkung:  Sed  est  cancellatum.  Wenn 
Brown  20  (sol,)  gross.  liest,  so  ist  das  sol.  sicherlich  nur  eine 
falsche  Ergänzung. 

•)  Pat  Rolls,  1317-1321,  p.  605. 

*)  Brown,  CaL  1,  5,  no.  16. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    61 

stellt^);  für  jede  Fahrt  arbeitete  man  solche  Ordnungen 
von  neuem  aus,  wobei  natürlich  eine  Reihe  bewährter 
Vorschriften  immer  wieder  übernommen  wurde,  während 
man  zugleich  Gelegenheit  hatte,  sich  veränderten  Ver- 
hältnissen oder  neu  hervortretenden  Bedürfnissen  genau 
anzupassen ;  eine  ganz  ähnliche  Erscheinung,  wie  sie  die 
Konsular-Statuten  der  italienischen  Städte  des  12.  Jahr- 
hunderts zeigen  und  merkwürdig  abweichend  von  den 
in  moderner  Zeit  üblichen  die  Prätention  der  Dauer  an 
der  Stirn  tragenden  Reglements. 

An  die  Spitze  stellte  man,  daß  für  die  bevorstehende 
Fahrt  Waren  von  Fremden  gänzlich  ausgeschlossen  sein 
sollten;  weder  in  Venedig,  noch  an  der  Zielstation,  noch 
irgendwo  unterwegs  dürften  solche  von  den  Galeeren  an 
Bord  genommen  werden.  Die  Zölle  wurden  in  der  Höhe 
wiederhergestellt,  wie  sie  früher  bestanden  hatten;  doch 
wurde  jetzt  für  Leinwand  und  Flaggentuch  (tele  et 
stamegne)  Zollfreiheit  proklamiert.  Es  sollte  wohl  das 
Vertrauen  auf  den  Erfolg  dieser  Fahrt  heben,  daß  man 
sogleich  beschloß,  daß  in  diesem  Jahre  keine  andere 
Galeerenkarawane  ausgerüstet  werden  dürfte,  die  einen 
jenseits  von  Gibraltar  gelegenen  Hafen  zum  Ziele  hätte^); 
für  die  Fahrt  selbst  bestimmte  man,  daß  der  Aufenthalt 
an  der  Zielstation  nicht  über  40  Tage  dauern  sollte,  eine 
Fristbestimmung,  die  sich  eng  an  die  in  den  Nieder- 
landen wie  in  England  herkömmliche  Aufenthaltsbe- 
schränkung der  Fremden  anschloß. 

Wie  üblich,  unterwarf  man  die  Galeeren,  die  zur 
Beteiligung  an  der  Fahrt  angemeldet  wurden,  einer  genauen 
Prüfung  auf  ihre  Seetüchtigkeit  im  allgemeinen  sowie 
darauf,  ob  sie  den  besonderen  für  die  Fahrt  nach  der 
Nordsee  zu  stellenden  Bedingungen  entsprachen;  die 
Maße  der  Galeere  des  Giustiniano  Giustiniani,  so  be- 
stimmte man  damals,  dürfe  keine  der  flandrischen  Galeeren 


»)  Lib.  VI,  c.  59—63  (Arch,  ven,  19,  94 f.);  c.  60  enthielt  eine 
vom  29.  Januar  1321  datierte  Bestimmung  (Arch,  ven.  31,  197, 
no.  328). 

')  Non  possit  aliquis  pro  illo  anno  armare  per  aliquant 
aliam  muduam  pro  transeundo  montem  de  Zibeleta. 


62  Adolf  Schaube, 

Überschreiten.  Gerade  aus  diesem  Jahre  sind  uns  nun 
die  Maße  von  vier  Galeeren,  die  an  der  Fahrt  teilge- 
nommen haben  —  es  waren  die  von  Marino  Zeno, 
Pancrazio  Capello,  Marino  Capello  und  Andreasio  Moro- 
sini —  erhahen;  sie  wurden  im  Arsenal  aufs  genaueste 
registriert  und  weichen  im  übrigen  untereinander  nur 
wenig  ab.^)  Auch  bestimmte  man  damals,  daß  der  Ge- 
schwaderkommandeur die  armatores  anzuhalten  hatte, 
für  den  baldigen  Ersatz  abgängig  gewordener  Mannschaften 
zu  sorgen ;  im  übrigen  wurden  alle  weiteren  Vorkehrungen 
für  die  Fahrt  bis  zur  Rückkehr  der  Galeeren  aus  dem 
Schwarzen  Meer  verschoben.^)  Die  Rücksicht  au!  die 
für  Flandern  einzunehmende  Ladung  wie  auf  die  An- 
werbung bewährter  Mannschaften  mag  in  gleicher  Weise 
auf  diesen  Beschluß  bestimmend  gewirkt  haben. 

So  verzögerte  sich  die  Abfahrt  der  Galeeren  in 
diesem  Jahre  beträchtlich ;  schließlich^)  wurde  den  arma- 
tores der  15.  Mai  als  Termin  gesetzt  und  bestimmt,  daß 
im  Falle  der  Überschreitung  dieser  Frist  die  angeworbenen 
Mannschaften  von  diesem  Termin  an  bis  zum  Tage  der 
Abfahrt  Anspruch  auf  vollen  Unterhalt  und  auf  die  flälfte 
ihres  Soldes  hätten.  Sechs  Galeeren  machten  die  Fahrt 
mit;  falls  der  von  der  Regierung  bestellte  Capitaneus 
einmal  verhindert  sein  sollte,  das  Kommando  zu  führen, 
sollten  die  Kaufleute  aus  ihrer  Mitte  (man  erkennt  an 
diesem  Zuge  so  recht  die  Beteiligung  der  venezianischen 
Aristokratie  an  diesen  Fahrten)  einen  Stellvertreter  wählen, 
dem  ein  Anspruch  auf  Entschädigung  dafür  nicht  zu- 
stand. Der  steten  Bereitschaft  der  Flotte  diente  die 
Bestimmung,  daß  der  Capitaneus  in  Städten  oder  be- 
festigten Ortschaften  nicht  an  Land  gehen  durfte.  Eine 
bestimmte  Zielstation  faßte  man  diesmal  nicht  von  vorn- 
herein ins  Auge ;  mit  Rücksicht  offenbar  auf  die  unruhigen 


0  Commem,  1.  11,  Reg.  no.  256.  Marin  V,  211  f.  S.  auch  Jal, 
Archäologie  navale  (Paris  1840)  H,  60. 

*)  Non  ponatur  banchum  pro  armando  usque  ad  reditum 
galearum  de  Mari  Majori. 

')  Das  Folgende  1.  VI,  c.  79-85  (1.  c.),  etwa  in  den  April 
1321  zu  setzen. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    63 

und  häufigem  Wechsel  unterworfenen  Verhältnisse  in 
Flandern,  die  man  von  Venedig  aus  schwer  übersehen 
konnte,  überließ  man  es  dem  Kommandeur,  in  Gemein- 
schaft mit  den  armatores  und  den  mercatores  sich  an 
Ort  und  Stelle  über  den  Hafen  schlüssig  zu  werden,  in 
dem  man  Aufenthalt  zu  nehmen  gedachte  (ubi  foret 
melius  portum  facere).  Von  der  Flotte  aus  sollte  auch 
eine  zuverlässige  Persönlichkeit  entsandt  werden,  die  mit 
dem  Grafen  von  Flandern  und  dem  Herzog  von  Brabant 
über  den  Abschluß  von  Verträgen  in  Verhandlungen 
treten  sollte  (tractet  pacta)\  als  man  etwas  später  im 
Rate  der  Pregadi  beschloß,  einen  der  in  Frankreich 
weilenden  Venezianer  mit  Verhandlungen  beim  Könige 
zum  Zwecke  der  Abschaffung  der  Malatolta  zu  betrauen^), 
fügte  man  hinzu,  daß  er  auch  in  Brügge  und  in.  Brabant 
„de  commodo  mercatorum"  verhandeln  sollte. 

Doch  kamen  die  Venezianer  mit  ihrem  Streben  nach 
festen  Verträgen  erst  im  folgenden  Jahre  in  Flandern 
endlich  an  ihr  Ziel. 

Schon  Mitte  Dezember  machte  man  sich  schlüssig^), 
für  die  Flandernfahrt  des  Jahres  1322  wieder  sechs  Ga- 
leeren durch  einzelne  Unternehmer  ausrüsten  zu  lassen. 
Zugleich  gab  man  das  Experiment  mit  dem  Ausschluß 
der  Fremden  und  ihrer  Waren  wieder  auf;  sie  sollten 
„more  solito^  auf  Hin-  wie  Rückfahrt  wieder  zugelassen 
werden  mit  der  einzigen  Beschränkung,  daß  ihr  Import 
nach  Venedig  ihren  Export  mit  diesen  Galeeren  an  Wert 
nicht  überschreiten  dürfte^);  ihre  Waren  außerhalb  Venedigs 
oder  des  Zielpunktes  der  Fahrt  zu  laden  oder  zu  löschen 
blieb  allerdings  streng  untersagt.  Es  deutet  wohl  auf 
den  Weg,  den  man  im  vergangenen  Jahre  zur  Umgehung 
des  Verbots  nicht  selten  eingeschlagen  haben  mag,  wenn 


»)  Lib.  VI,  c.  91  {Arch,  ven,  19,  95).  Er  sollte  dafür  ausgeben 
dürfen  usque  flor,  100,  quos  solvant  mercationes  que  de  hinc  con- 
ducentur  ad  dictas  partes  (seil.  Franeie), 

«)  Lib.  VI,  c.  123-125,  130  f.  {Arch.  ven.  19,  95  f.).  Auf  c.  124 
ein  Beschluß  vom  15.  Dezember  1321  (Arch,  ven,  31,  197,  no.  330). 

')  Arch.  ven,  24,  94;  rub.  Forenses, 


64  Adolf  Schaube, 

den  Fremden  nunmehr  verboten  wird,  etwas  von  ihrer 
Habe  einem  Venezianer  in  Commenda  zu  geben.^) 

Im  März  beschloß  man  2),  zur  Wahl  des  capitaneus 
galearum  Flandrie  zu  schreiten;  sein  Gehalt  bemaß  man 
für  diesmal  auf  nur  3  I.  gross.  (300  M.)  monatlich ;  ein 
Verlassen  der  Galeeren  blieb  ihm,  wie  im  vorigen  Jahre, 
untersagt;  auch  durfte  er  sich  selbst  am  Handel  mit 
Flandern  während  seiner  Fahrt  nicht  beteiligen.  Neu  ist 
auch,  daß  er  sich  durch  Absendung  eines  Kuriers  zu 
Lande  mit  der  Signorie  in  Verbindung  setzen  sollte. 

Das  Geschwader  war  noch  nicht  abgegangen,  als 
man  sich  entschloß,  auf  dem  Landwege  eine  solenne 
Gesandtschaft  an  den  Grafen  von  Flandern  und  den 
Herzog  von  Brabant  zu  schicken^),  deren  Aufgabe  es 
offenbar  war,  den  Galeeren,  sei  es  in  Brügge  oder  in 
Antwerpen,  eine  gute  Aufnahme  zu  sichern;  war  doch 
die  Bestimmung,  die  den  maßgebenden  Personen  au! 
dem  Geschwader  in  bezug  auf  die  Zielstation  freie  Hand 
ließ,  noch  in  Kraft.  Die  Wahl  fiel  auf  Pietro  Zeno  und 
Perono  Giustinian^),  und  ihnen  winkte  nunmehr  in 
Flandern  ein  schöner  Erfolg. 

Am  22.  Mai  1322  ließ  Graf  Robert  die  von  ihm  den 
venezianischen  Kaufleuten  gemachten  Zugeständnisse  zur 
öffentlichen  Kenntnis  bringen.  Vor  allem  war  wichtig, 
daß  sie  nunmehr  das  von  ihnen  so  dringend  gewünschte 
Konsulat  wirklich  erhielten.  Keiner  sollte  um  Schulden 
verhaftet  werden,  der  nicht  gerichtlich  als  Schuldner 
festgestellt  war;  auch  in  anderen  Fällen  sollte  immer  nur 
der  Schuldige  selbst  belangt  werden  dürfen.  Ihre  Klagen 
wegen  der  Maklergebühren  und  der  Gewichte  sollten 
berücksichtigt  werden,  und  in  ganz  Flandern  sollten  sie 
ihre  Waren  frei  verkaufen  dürfen,  wobei  der  Graf  nur 
die  besonderen  Verhältnisse  von  Brügge  vorbehielt.  Eine 


*)  Ebd. :  Aliquis  forensis  non  possit  recommendare  Veneto  de 
suo;  c.  132. 

»)  Lib.  VII,  c.  1  ff.  (das  Buch  beginnt  mit  dem  März  1322). 

»)  Ebd.  c.  8  {Arch.  ven,  19,  97). 

*)  Geht  aus  1.  VII,  c.  58,  60  {Arch.  ven,  \%  9t)  hervor.  Richtig 
auch  bei  Romanin  III,  100. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    65 

ganz  analoge  Bekanntmachung  erließen  Bürgermeister, 
Schöffen  und  Rat  von  Brügge  am  Dienstag  nach  Trinitatis 
(8.  Juni),  in  der  nur  einige  Punkte  noch  genauer  geregelt 
waren.^)  So  wurde  ausdrücklich  festgesetzt,  daß  fortan 
nur  ein  Gewicht  gebraucht  und  auch  von  den  Venezianern 
nur  die  übliche  Maklergebühr  erhoben  werden  dürfte; 
nach  ihrer  Ankunft  in  Brügge  durften  sie  4ü  Tage  hin- 
durch ihre  Waren  hier  verkaufen;  auch  sollten  sie  mit 
ihren  Waren  das  Stadtgebiet  nach  Belieben  verlassen  und  be- 
treten dürfen,  vorausgesetzt,  daß  sie  die  vorgeschriebenen 
Abgaben  entrichteten  und  ihre  Schulden  beglichen.  Endlich 
versprach  die  Stadt,  die  Venezianer  gegen  jedermann  zu 
schützen,  der  ihnen  Unrecht  täte;  wenn  nötig,  würde 
sie  dazu  auch  die  Unterstützung  von  Gent  und  Ypern 
nachsuchen. 

Allerdings  war  die  Rechtsgültigkeit  aller  dieser  Frei- 
heiten in  beiden  Proklamationen  zunächst  auf  die  Dauer 
von  drei  Jahren,  von  Johanni  1322  an  gerechnet,  be- 
schränkt; doch  ließ  sich  wohl  annehmen,  daß  die  einmal 
gewährten  Privilegien  nicht  so  leicht  wieder  zurückge- 
zogen werden  würden. 

VI. 

Wenn  ein  gleichmäßig  ruhiger  Fortgang  in  der  Ent- 
wicklung dieser  Galeerenfahrten  auch  nach  den  Privi- 
legien von  1322  nicht  eintrat,  so  liegt  der  Grund  dafür 
zum  großen  Teil  in  den  schweren  politischen  und  sozialen 
Stürmen,  von  denen  Flandern  damals  erfüllt  war.  Sie 
haben  auch  in  erster  Linie  darauf  eingewirkt,  ob  sich  die 
Venezianer  für  Brügge  oder  Antwerpen  entschieden; 
wenn  es  irgend  anging,  zogen  sie  den  damals  kommerziell 
noch  erheblich  bedeutenderen  Hafen  am  Zwyn  der 
Scheidestadt  vor. 

So  beruht  es  auch  nur  auf  einem  Mißverständnis, 
wenn  Schulte  einen  entscheidenden  Grund  dafür,  daß 
Brügge  der  Rivalin  den  Rang  ablief,  darin  sucht,  daß 
sich  der  Graf   von  Flandern    mit  einer  jährlichen  Mala- 


»)  Commemoriali  II,  Reg.  no.  321,  322. 
Hifltoriflcbe  ZeitscbriH  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd. 


66  Adolf  Schaube, 

tolta  von  100  flor.  begnügte.^)  Mit  diesem  „Ungelt"  hat 
es  eine  ganz  andere  Bewandtnis;  diese  Warensteuer  war 
gar  keine  gräfliche,  sondern  eine  französische  Steuer, 
die  für  den  König  auch  in  dem  lehnsabhängigen  Flandern 
erhoben  wurde.  Die  Hoffnung,  die  die  Signorie  noch 
im  Jahre  1321  gehegt  hatte,  beim  Könige  eine  Befreiung 
ihrer  Untertanen  von  dieser  Steuer  erwirken  zu  können*), 
hatte  sich  als  trügerisch  erwiesen;  so  strebte  Venedig 
wenigstens  danach,  die  als  Wertzoll  der  Willkür  der  Er- 
heber  nur  zu  sehr  ausgesetzte,  dem  fiandel  höchst  un- 
bequeme Steuer  durch  Zahlung  eines  Pauschquantums 
abzulösen.  Im  Jahre  1323  beauftragte  man  drei  Kauf- 
leute, mit  den  officiales  regit  darüber  zu  verhandeln; 
sie  waren  ermächtigt,  mit  ihren  Anerbietungen  bis  zu 
einem  jährlichen  Pauschquantum  von  300  fl.  zu  gehen.«) 
Zwei  Jahre  darauf  weilte  Dardi  Bembo  lange  Zeit  am 
französischen  Hofe  „pro privilegio  obUnendo"^)\  es  steht 
sicher  im  Zusammenhang  damit,  daß  man  in  diesem 
Jahre  ausnahmsweise  seit  langer  Zeit  wieder  einmal  eine 
Fahrt  von  drei  Galeeren  nach  der  Provence  einrichtete 
und  subventionierte.*^)  Derselbe  Bembo  traf  im  folgenden 
Jahre  ein  vorläufiges  Abkommen  mit  der  überwiegend 
aus  Florentinern  bestehenden  Gesellschaft,  die  vom  Könige 
die  Erhebung  der  Malatolta  von  Johanni  1326  an  für 
drei  Jahre  in  Pacht  erhalten  hatte®);  mit  ihrem  General- 
agenten für  Flandern,  Guelfo  degli  Amici  von  Piacenza, 
verständigte  er  sich  dahin,  daß  Venedig  zunächst  für 
zwei  Jahre  jährlich  200  flor.   zahlen   sollte,    wofür   seine 


>)  Gesch.  d.  mittelalterl.  Handels  I,  348. 

»)  Oben  S.  60. 

')  Misti  Sen.  1.  VH,  c.  84:  qui  concordent  cum  officialibus 
regiis  pro  mala  tolta  usque  300  flor.  (Arch,  ven,  19,  %). 

*)  Misti  1.  IX,  c.  28,  39,  44  (Arch.  ven.  19,  97;  20,  297;  27,  388). 
Irrig  machen  ihn  Brown  I,  p.  CXXXIl  und  Perret  p.  22  zum  da- 
maligen Capitaneus  galearum, 

*)  Ebd.  26—29,  44  f.  (Arch.  ven.  20,  302). 

•)  Commem.  1.  III,  no.  310.  Die  Pächter  waren  der  Genuese 
Francesco  de'  Garimbanti  und  die  Florentiner  Bindo  de'  Marchi 
und  Naldo  Falconi,  zu  denen  mit  Genehmigung  des  Königs  noch 
Bonato  degli  Spini  hinzutrat. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    67 

Untertanen  in  der  ganzen  Grafschaft  Flandern  Befreiung 
von  der  Malatolta  genießen  sollten.  Im  Sommer  1327 
ermächtigte  die  Signorie  ihren  Unterhändler  Dardi  Bembo 
sowie  den  Admiral  ihrer  Galeeren  und  ihren  Konsul  in 
Flandern,  das  getroffene  Abkommen  zu  erfüllen^);  am 
21.  August  hat  Giovanni  Lioni  zu  Antwerpen  die  400  fl. 
im  Auftrage  der  Signorie  ausgezahlt.^)  Die  Gesellschaft 
zeigte  sich  bereit,  das  Abkommen  mit  Venedig  auch  für 
das  dritte  Jahr  ihres  Kontrakts  in  Kraft  zu  lassen;  die 
Signorie  aber  suchte  jetzt  eine  Ermäßigung  des  Pausch- 
quantums herauszuschlagen  und  wies  ihren  Konsul  im 
Jahre  1328  an,  über  eine  Herabsetzung  desselben  auf 
100  flor.  zu  verhandeln^);  ob  er  damit  Erfolg  hatte,  wissen 
wir  nicht.  Man  sieht,  wenn  die  Angelegenheit  der  Mala- 
tolta in  der  Frage,  ob  Brügge  oder  Antwerpen,  überhaupt 
eine  Rolle  gespielt  hätte,  so  hätte  sie  nur  zuungunsten 
von  Brügge  und  zugunsten  von  Brabant,  das  von  Frankreich 
nicht  lehnsabhängig  war,  ins  Gewicht  fallen  können. 

Nun  habe  ich  nicht  die  Absicht,  den  flandrischen 
Fahrten  auch  nach  1322  noch  im  einzelnen  zu  folgen; 
nur  die  flauptmomente  aus  ihrer  äußeren  Geschichte 
sollen  für  das  folgende  Jahrzehnt  noch  hervorgehoben 
werden. 

Im  Jahre  1323  wurden  die  sieben  flandrischen  Ga- 
leeren, die  Venedig  am  26.  April  verlassen  hatten,  viel- 
leicht noch  Zeugen  der  wilden  Zerstörung,  die  die  Be- 
wohner von  Brügge  selbst  im  August  über  die  Hafen- 
stadt Sluis  verhängten,  da  die  törichte  Verleihung  des 
Ortes  an  Johann  von  Namur  durch  den  jungen  Grafen 
Louis  von  Nevers,  Roberts  Nachfolger,  sie  ein  Selbständig- 
werden ihrer  bisherigen  Hafenstadt  befürchten    ließ;    im 

>)  Misti  1.  X,  c.  81  (Arch.  ven.  19,  99).  Die  gleiche  Ermäch- 
tigung war  übrigens  auch  schon  ein  Jahr  zuvor  dem  Admiral 
und  dem  Konsul  erteilt  worden,  ib.  IX,  c.  83  (19,  98),  ohne  da- 
mals zur  Erfüllung  zu  führen. 

')  Die  bezüglichen  Dokumente  hat  Lioni  dem  Dogen  am 
15.  März  1328  überreicht.    Commem,  1.  c. 

')  Misti  1.  XI,  c.  14  (Arch,  ven.  19,99):  Scribatur  consuli  nostro 
Flandrie,  quod  tractet  et  concordet  factum  male  tolte  usque  ad 
100  florenos.    Das  ist  die  Stelle,  die  Schulte  im  Auge  hat. 

5* 


68  Adolf  Schaube, 

November  brach  dann  noch  ein  gefährlicher  Aufstand 
der  niederen  Volksklassen  in  Brügge  aus.^)  So  ist  es 
klar,  weshalb  man  in  Venedig  im  Jahre  1324  von  vorn- 
herein beschloß,  die  Galeeren  diesmal  nach  Antwerpen 
zu  entsenden.2)  Wie  erfreut  man  in  Antwerpen  darüber 
war,  zeigen  uns  zahlreiche  Posten  der  Stadtrechnungen 
dieses  Jahres^),  das  Stückfaß  Wein,  das  man  dem  Kom- 
mandeur der  Galeeren  in  seine  Behausung  abrollen  ließ, 
die  kleineren  Weinspenden  an  vornehme  Venezianer,  wie 
Dardi  Bembo  und  Giovanni  Zorzi*),  das  Geldgeschenk 
an  diejenigen,  denen  man  die  Wahl  Antwerpens  haupt- 
sächlich zu  verdanken  meinte^),  die  Kosten  für  Gesandt- 
schaften und  Boten,  die  Antwerpen  im  Interesse  der 
Venezianer  an  den  Herzog  von  Brabant  und  andere 
Personen  schickte  und  für  Kuriere,  die  nach  Venedig 
gingen.«) 

Als  man  in  Venedig  trotzdem  beschloß,  im  folgenden 
Jahre  die  Galeeren,    die  diesmal   von  Perono  Giustinian 


')  H.  Pirenne,  Gesch.  Belgiens  II  (Gotha  1902),  95  f.,  102  fL 
Villani  1.  c.  IX,  221,  232  (nach  ihm  zählte  Sluis  damals,  abgesehen 
von  der  fluktuierenden  Bevölkerung,  1500  abitanti).  Hans.  Ur- 
kundenbuch  II,  170.  Verordnung  des  Grafen  Louis  von  Nevers 
über  das  Stapelrecht  Brügges  gegen  die  Ansprüche  von  Sluis: 
Cartulaire  de  l'anc.  Estaple  de  Bruges,  6d.  Gilliodts-van  Severen 
(Brügge  1904)  I,  158,  no.  223  (9.  April  1324). 

«)  Misti  Senato  1.  VIII,  c.  4  {Arch.  ven,  19,  97).  Vgl.  Heyd 
1.  c.  II,  721. 

»)  Bei  Mertens  en  Torfs  1.  c.  II  (Beilage),  541  f. 

*)  Wenn  man  in  der  Börse  zu  Antwerpen  die  Szene,  wie 
diese  beiden  als  Befehlshaber  venezianischer  Galeeren  und  Ab- 
gesandte der  Signorie  in  Antwerpen  feierlich  empfangen  wurden^ 
durch  J.  Swerts  in  einem  Wandgemälde  darstellen  ließ,  so  hat 
man  der  geschichtlichen  Wahrheit  damit  doch  nicht  entsprochen; 
Bembo  wenigstens  war  schon  vor  der  Ankunft  der  Galeeren  in 
Antwerpen,  wie  aus  der  Stadtrechnung  hervorgeht.  Vgl.  P.  G^nard^ 
Anvers  ä  travers  les  dges  (Brüssel  1888)  II,  398  und  Abbildung 
p.  361. 

*)  300  kleine  Gulden  (450  L  payement)  den  ghenen,  die  daer 
toe  holpen  dat  de  galeiden  dit  jaer  t'Antw,  quamen, 

•)  Rogekene,  der  commune  messalgier  van  Venegien, 
dat  hi  droech  der  stat  brieve  van  A,  ane  den  hertoghe  ende  ane 
de  stat  van  Venegien,  2  deine  güldene. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    69 

befehligt  wurden,  wieder  nach  Brügge  gehen  zu  lassen, 
machte  man  vonseiten  der  Stadt  Antwerpen  und  des 
Herzogs  von  Brabant  alle  Anstrengungen,  die  Venezianer 
von  diesem  Gedanken  abzubringen;  wenn  die  Stadt  ver- 
sprach, ihnen  allen  erlittenen  Schaden  zu  ersetzen,  so 
scheint  sich  das  auf  uns  sonst  nicht  bekannte  Vorfälle 
bei  der  letzten  Fahrt  zu  beziehen.^) 

Gegen  Ende  des  Jahres  1325  kam  es  zu  einem 
schweren  Konflikt  zwischen  der  Volkspartei  in  Flandern, 
insbesondere  Brügge,  und  der  französischen  Krone;  der 
König  ließ  am  4.  November  1325  über  seine  Feinde  das 
Interdikt  und  die  Handelssperre  verhängen,  die  erst  am 
19.  April  1326  durch  den  Frieden  von  Arques  wieder 
aufgehoben  wurden.^)  Wenn  die  Signorie  sonach  für  die 
Galeeren  dieses  Jahres,  die  Venedig  Mitte  April  verließen, 
Antwerpen  als  Zielstation  bestimmte^),  so  erklärt  sich 
das  ohne  weiteres  aus  ihrer  gewohnten  Rücksichtnahme 
auf  die  französische  Politik.  Für  die  Fahrt  von  1327  de- 
signierte der  Rat  der  Pregadi  im  Geheimen  zwölf  Personen 
aus  der  Zahl  der  mitreisenden  Padroni  und  Kaufleute, 
die  mit  dem  Capitaneus  zusammen  draußen  in  Flandern 
selbst  entscheiden  sollten  „ubi  galee  debeant  portum 
facere''^)]  aus  dem  Umstände,  daß  die  Urkunde  über  jene 
Zahlung  Lionis  an  den  Pächter  der  Malatolta^)  am 
21.  August  1327  vor  den  Schöffen  von  Antwerpen  auf- 
genommen ist,  glaube  ich  schließen  zu  können,  daß  die 
Galeeren  auch  in  diesem  Jahre  wieder  nach  Antwerpen 
gegangen  sind. 

Im  Jahre  1328  hatte  man  wegen  des  Seekrieges,  in 
den  Venedig  mit  Savona  und   der  genuesischen  Außen- 


')  Commemoriali  1.  II,  no.  425—427.  Daß  Perono  Giustinian 
damals  Gap.  war,  ergibt  sich  aus  Misti  Sen.  1.  IX,  c.  78  im  Zu- 
sammenhalt mit  1.  IX,  c.  7  (Arch.  ven.  19,  97  f.). 

»)  Pirenne  I.  c.  105  f. 

»)  Recedant  galee  usque  ad  medium  Aprilem  etc,  faciant  por- 
tum in  Angversam  pro  hoc  viagio:  Misti  1.  IX,  c.  60  u.  79  {Arch. 
ven.  19,  97  f.). 

•)  Ebd.  1.  X,  c.  48  (ib.  19,  99). 

»)  Oben  S.  67. 


70  Adolf  Schaube, 

partei  verwickelt  war,  schon  beschlossen,  die  Flandern- 
fahrt ausfallen  zu  lassen^);  als  aber  durch  Castruccios 
Vermittlung  die  Beilegung  des  Streites  gelungen  war, 
entschloß  man  sich,  trotz  der  vorgerückten  Jahreszeit 
doch  noch,  die  Fahrt,  wenn  auch  mit  einer  geringeren 
Zahl  von  Galeeren  als  sonst  üblich  geworden,  (nur  vier) 
zu  unternehmen.^)  Die  Entscheidung  über  die  Ziel- 
station sollte  der  Mehrheit  der  mitreisenden  Kaufleute 
zustehen,  mit  der  Maßgabe  indes,  daß  Antwerpen  zu 
wählen  sei,  falls  sich  Brügge  im  Kriege  mit  dem  fran- 
zösischen Könige  befände.^)  Nun  war  letzteres  zunächst 
tatsächlich  noch  der  Fall;  am  23.  August  aber  errang 
der  neue  König,  Philipp  von  Valois,  seinen  entscheidenden 
Sieg  bei  Cassel  und  konnte  bald  darauf  mit  dem  Grafen 
seinen  Triumpheinzug  in  dem  völlig  gedemütigten  Brügge 
halten*);  so  sind  die  erst  im  Herbst  eintreffenden  vene- 
zianischen Galeeren  wahrscheinlich  doch  in  Brügge  vor 
Anker  gegangen.  Durch  einen  Kurier  übersandte  die 
Signorie  dem  Admiral  die  Erlaubnis,  seine  Rückreise  bis 
zum  10.  Februar  zu  verschieben^);  auch  hielt  man  dies- 
mal, namentlich  wohl  mit  Rücksicht  auf  die  geringere 
Zahl  der  Galeeren,  besondere  Maßnahmen  zur  Sicherung 
ihrer  fleimkehr  für  erforderlich  und  beauftragte  die  in 
der  Adria  stationierte  Wachtflottille,  den  Galeeren  bis 
Sizilien  entgegenzufahren.®)  Inzwischen  hatte  man  sich 
schon  über  die  Fahrt  des  Jahres  1329  schlüssig  gemacht; 
eine  Kommission  von  drei  Sachverständigen  sollte  y,de 
portu galearum*' und  über  eine  nach  Flandern  zu  schickende 
Gesandtschaft  die  Entscheidung  treffen;  sie  beschloß  im 
März,    daß    einer   der   mitreisenden    Kaufleute    zugleich 


»)  Misti  Sen.  1.  XI,  c.  12:  Non  armetur  in  Flandria  pro  pre- 
senti  mudua. 

«)  Villani  I.  c.  1.  X,  c.  64.    Misti  1.  XI,  c.  17  ff.  (Arch.  ven.  19, 99). 

»)  Misti  1.  XI,  c.  29  (Arch.  ven.  19,  100). 

*)  Pirenne  1.  c.  II,  109  ff. 

*)  Misti  1.  XI,  c.  62. 

•)  Ebd.  c.  84  {Arch,  ven,  18,  45):  Capitaneus  culfi  si  sibi  vide- 
bitur  exten  dere  se  ultra  confines  suos  pro  securitate  quatuor  que 
expectantur  de  Flandria;  dazu  c.  91  (ib.  19,  100),  wo  Sizilien  ge- 
nannt ist. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    71 

als  Gesandter  an  den  Grafen  und  an  die  Schöffen  von 
Brügge  funktionieren  sollte^);  die  Entscheidung  war  also 
wieder  zugunsten  von  Brügge  gefallen. 

Was  im  Jahre  1328  nur  gedroht  hatte,  geschah  im 
Jahre  1331  wirklich.  Bedenklich  erschien  zunächst  ein 
schweres  Zerwürfnis  Venedigs  mit  dem  Welthause  der  Bardi 
(1330),  die  nicht  nur  den  König  von  England  ganz  auf 
ihrer  Seite  hatten,  sondern  auch  den  französischen  König 
zu  bestimmen  wußten,  die  Beschlagnahme  aller  vene- 
zianischen Waren  in  seinem  Lande  anzuordnen.^)  Als 
man  trotzdem,  in  der  floffnung  auf  baldige  Beilegung 
des  Konflikts,  beschlossen  hatte,  im  kommenden  Frühjahr 
mindestens  sieben  Galeeren  nach  Flandern  zu  schicken^), 
brach  der  genuesisch-katalanische  Krieg  aus,  der  es 
Venedig,  nachdem  es  der  Beteiligung  an  diesem  Kriege 
glücklich  auszuweichen  gewußt^),  doch  rätlich  erscheinen 
ließ,  die  Galeerenfahrt  aufzugeben;  um  die  armatores 
wenigstens  einigermaßen  zu  entschädigen,  beschloß  man 
damals,  ihren  Galeeren,  die  sonst  immer  nur  fünf 
Jahre  hindurch  in  Dienst  gestellt  werden  durften,  aus- 
nahmsweise ein  sechstes  Lebensjahr  zuzubilligen.^) 

Im  folgenden  Winter  faßte  man  dann  zeitig  die  vor- 
bereitenden Beschlüsse  für  die  Flandernfahrt  des  Jahres 
1332.*)  Offenbar  mit  Rücksicht  auf  das  Ausfallen  der 
Fahrt  im  vergangenen  Jahre  sollten   diesmal   mindestens 

')  Ebd.  c.  62  ff.,  94;  1.  XII,  c.  6  (ib.  100  f.). 

»)  Ebd.  1.  XIII,  c.  74  {Arch.  ven.  19,  101 ;  24,  110),  c.  90  (ib.  27, 
%),  c.  106  (ib.  24,  110).  Dazu  Davidsohn,  Forsch,  z.  Gesch.  von 
Florenz  III,  192,  Nr.  974. 

»)  Ebd.  I.  XIII,  c.  88  (ib.  19,  101). 

*)  Villahi  1.  c.  1.  X,  c.  172. 

*)  Misti  I.  XIII,  c.  101 :  Armata  Flandrie  debeat  remanere  et 
non  ire;  1.  XIV,  c.  3:  Quod  in  alleviatione  damnorum  patronorum 
galearum  FL  non  permissorum  navigare  elongetur  ter minus  ipsis 
galeis  ultra  tempus  5  annorum  per  I  annum.  Die  als  „Perpetua" 
bezeichnete  Bestimmung:  „Nulla  galea  que  transiverit  tempus 
5  annorum,  possit  armari  Veneciis,  nee  de  extra  pro  venire  Vene- 
das''  steht  schon  in  Buch  III;  Arch,  ven,  18,  52. 

•)  Misti  Sen.  1.  XIV,  c.  80  ff.  {Arch.  ven.  19,  101  f.).  Mit  dem 
Februar  1332  enden  die  von  Giomo  publizierten  Regesten,  da 
vom  März  an  die  Bände  der  Misti  Senato  selbst  erhalten   sind. 


72  Adolf  Schaube, 

neun  Galeeren  zur  Reise  nach  Flandern  armiert  werden, 
bis  zum  18.  April  sollte  das  Ladegeschäft  beendet  sein 
und  die  Ausreise  spätestens  am  23.  April  erfolgen.  Das 
Studium  der  Frage,  welcher  Hafen  als  Zielstation  zu 
wählen  sei,  übertrug  man  diesmal  den  Provveditori  del 
Comun;  ihre  sehr  eingehenden  Vorschläge,  die  am 
23.  März  die  Zustimmung  des  Rates  der  Pregadi  fanden, 
liegen  uns  vor.^)  Sie  sprachen  sich  für  Brügge  aus, 
aber  keineswegs  vorbehaltslos.  Bezüglich  des  Waren- 
verkaufs sollte  man  auf  völliger  Freiheit  des  Weiterver- 
kaufs für  alle  Waren,  die  Fremde  oder  Einheimische  in 
Brügge  von  den  Venezianern  kauften  oder  kaufen  ließen, 
bestehen;  ebenso  sollten  die  Venezianer  untereinander 
ganz  nach  Belieben  verkaufen  und  wiederverkaufen  dürfen. 
Ferner  sollte  zur  Besserung  von  Mißständen  an  der 
öffentlichen  Wage  gefordert  werden,  daß  sie  sich  zur 
Kontrolle  an  der  Wage  einen  eigenen  Wieger  mit 
eigenem  Gewicht  halten  dürften  und  daß  ein  recht- 
schaffener, auf  sein  Amt  zu  vereidender  Mann  als  Wiege- 
meister eingesetzt  werde,  dem  im  Falle  des  Unterschleifs 
empfindliche  Strafen  und  Amtsentsetzung  drohten. 

Die  Erfüllung  dieser  Forderungen  sollte  conditio  sine 
qua  non  sein;  würden  sie  nicht  in  vollem  Umfange  er- 
reicht, so  war  der  Capitaneus  galearum  angewiesen, 
Brügge  zu  meiden  und  nach  Brabant  zu  gehen.  Darüber 
hinaus  sollten  aber  noch  andere  Forderungen  erhoben 
werden,  u.  a.  sorgfältige  Bewachung  der  Galeeren  in 
Sluis,  Unterlassung  des  Kreditgebens  an  die  Mann- 
schaften, Herabsetzung  der  für  einige  Waren  übermäßig 
hohen  Maklergebühren 2),  Überlassung  des  Nachlasses 
verstorbener  Venezianer  allein  an  den  Konsul,  Gewährung 

^)  Bei  Romanin  HI,  376  f.  (Druck  mangelhaft).  Unvollständig 
und  ungenau  bei  Marin  V,  309. 

*)  Nach  Pegolotti  p.  246  hatte  in  Brügge  jedermann  an 
Maklergebühr  für  Seide  3»/,°/o  des  Wertes  zu  zahlen;  die  Vene- 
zianer dagegen  hatten  nach  ihm  während  der  Zeit,  wo  ihre 
Galeeren  dort  waren,  auf  Grund  eines  ihnen  von  der  Stadt  ein- 
geräumten Vorzugsrechts  nur  die  Hälfte  davon  zu  entrichten. 
Dies  Privileg  wird  also  den  Venezianern  1332  oder  doch  wenig 
später  zugestanden  worden  sein. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    73 

einer  Abzugsfrist  von  einem  halben  Jahre,  falls  die 
Machthaber  nicht  mehr  gewillt  wären,  die  Sicherheit  der 
venezianischen  Waren  in  ihrem  Gebiete  zu  gewährleisten. 
Dazu  sollte  natürlich  die  Bestätigung  der  schon  früher 
erlangten  Zugeständnisse  treten,  wobei  das  venezianische 
Konsulat  besonders  hervorgehoben  wird.  Die  Verhand- 
lungen wegen  dieser  Forderungen  sollten  durch  Kauf- 
leute, die  schon  in  Brügge  weilten,  oder  solche,  die  zu 
Lande  nach  Flandern  abzureisen  im  Begriff  waren,  ge- 
führt werden;  offenbar  wollte  man  diesmal  ihr  Ergebnis 
in  Venedig  selbst  abwarten,  da  man  die  ursprünglich  auf 
den  23.  April  festgesetzte  Abreise  der  Galeeren  bis  zum 
28.  Juni  hinausschob;  man  war  so  in  der  Lage,  einen 
weit  stärkeren  Druck  als  sonst  auf  die  Machthaber  in 
Flandern  auszuüben.  Die  Fahrt  ist  tatsächlich  mit  zehn 
Galeeren  ausgeführt  worden^);  es  ist  meines  Wissens 
die  stärkste  Galeerenflotte,  die  Venedig  jemals  nach 
Flandern  entsandt  hat. 

VII. 
Auch  den  inneren  Verhältnissen  dieser  Flandern- 
fahrten in  der  ersten  Periode  ihres  Bestehens  müssen 
wir  uns  noch  zuwenden  Wie  sie  regelmäßig  Jahr  um 
Jahr  stattfanden,  so  bildete  sich  in  dieser  Zeit  auch  schon 
eine  gewisse  Regelmäßigkeit  in  bezug  auf  Ausreise,  Auf- 
enthalt in  der  Fremde  und  Heimreise  heraus,  von  der 
durch  besondere  Umstände  veranlaßte  Abweichungen 
freilich  nicht  selten  waren.  Aber  wo  ein  bestimmter 
Termin  für  die  Ausreise  von  vornherein  festgesetzt  ist, 
bewegt  er  sich  innerhalb  der  Tage  vom  12.  bis  26.  April  2); 
vier  oder  fünf  Tage  vorher  sollte  des  Ladegeschäft  be- 
endet sein.  Die  Aufenthaltsdauer  wird  in  dem  Privileg 
Brügges  für  Venedig  von  1358  auf  45  Tage,  wie  es  seit 


»)  Geht  aus  den  späteren  Beschlüssen  bei  Marin  V,  311 
hervor. 

*)  1323:  26.  April;  1326:  usque  ad  medium  Aprilem;  1329, 
1332,  1334:  12.,  23.,  13.  April.  Das  ist  fast  genau  die  Zeit,  die 
Uzzano  noch  im  15.  Jahrhundert  als  Abfahrtszeit  der  Galeeren 
angibt:  zwischen  8.  und  25.  April  (bei  Pagnini,  della  Decima  IV,  104). 


74  Adolf  Schaube, 

alters  üblich,  angegeben^);  schon  Ende  1326  schrieb 
man  die  gleiche  Zeit,  ungerechnet  die  Tage  der  Ankunft 
und  Abfahrt,  vor;  Ende  1328  ließ  man  bei  zwingender 
Veranlassung  (pro  necessitate)  noch  weitere  fünf  Tage 
zu  2),  und  am  25.  November  1323  überließ  man  es  für 
die  nächste  Fahrt  dem  Ermessen  des  Admirals,  im  Ziel- 
hafen 45  bis  50  Tage  zu  verweilen ;  war  mit  dem  50.  Tage 
der  25.  August  noch  nicht  erreicht,  so  hatte  er  das  Recht, 
bis  zu  diesem  Tage  zu  warten,  wenn  er  damit  im  Interesse 
der  Beteiligten  zu  handeln  meinte.^) 

Es  erhebt  sich  die  Frage,  wie  es  mit  dem  Anlaufen 
von  Zwischenstationen  zum  Zwecke  des  liandels  stand; 
denn  daß  es  zu  anderen  Zwecken,  zur  Ergänzung  des 
Proviants  oder  des  Trinkwassers,  der  Witterung  oder 
nötiger  Reparaturen  wegen  vorkam,  ist  selbstverständlich. 
Anfänglich  war  jedes  Einnehmen  oder  Löschen  von 
Ladung  unterwegs  durchaus  verboten;  doch  klammerte 
man  sich  in  Venedig  auch  hier  nicht  an  ein  Prinzip. 
Wichtigste  Zwischenstation  war  jederzeit  und  von  vorn- 
herein Mallorka.  Für  die  nach  Antwerpen  gerichtete 
Fahrt  von  1324  bestimmte  man,  daß  die  Galeeren  nach 
Mallorka  und  anderwärts  grobe  Waren,  natürlich  nur 
innerhalb  des  für  solche  Waren  festgesetzten  Maximums, 
transportieren  dürften^),  und  für  die  flerbstfahrt  von  1328 
wurde  den  Galeeren  gestattet,  falls  sie  in  Venedig  nicht 
volle  Ladung  fänden,  in  Mallorka  und  jenseits  davon 
Waren,  insbesondere  Safran  und  Alaun,  einzunehmen; 
1329  wird  die  gleiche  Erlaubnis,  unter  Beschränkung  auf 
Mallorka,  allein  für  havere  grossum,  havere  casselle  und 
Safran  ausgesprochen.^)     Erst  im  Jahre  1332  wandte  man 


*)  CartuL  de  Vancienne  Estaple  de  Bruges  1.  c.  no.  298,  p.  222. 

«)  Misti  Sen.  I.  X,  c.  23,  I.  XI,  c.  63  {Arch.  ven.  19,  98  u.  100). 

»)  Romanin  IIl,  378.    Marin  VI,  269. 

*)  Lib.  Vin,  c.  5  (Arc/i.  ven.  19,  97). 

*)  Lib.  XI,  c.  18  u.  63  (ib.  99  f.).  Wenn  es  an  ersterer  Stelle 
heißt:  possint  in  Maiorica  et  supra  caricare  mercationes  grossas, 
seil,  zafaranum  et  lumen  non  transeundo  signa,  so  liegt  eine 
ungenaue  Ausdrucksweise  des  Epitomators  vor,  da  Safran  selbst- 
verständlich nicht  zu  den  merc.  grossae  gehörte.  Die  Bedeutung 
von  havere  casselle  ergibt  sich  am  besten  aus  den  Stat.  navium 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    75 

auch  den  Häfen  des  iberischen  Festlandes  eine  größere 
Aufmerksamkeit  zu.  In  einem  Beschlüsse  der  Pregadi 
von  diesem  Jahre  heißt  es,  daß  man  nach  kaufmännischen 
Berichten  in  Cadix,  Sevilla  und  Lissabon  nicht  wenig 
Nutzen  und  Förderung  für  den  Handel  Venedigs  zu  er- 
warten habe  und  daß  man  es  deshalb  dem  Admiral  und 
den  armatores  oder  der  Mehrheit  derselben  anheimgebe, 
auf  der  Ausreise  diese  Häfen  anzulaufen  und  zwei  bis 
vier  Tage  in  jedem  derselben  zu  verweilen,  um  sich  zu 
überzeugen,  inwieweit  diese  Häfen  wirklich  den  Erwartun- 
gen entsprächen.  Jedenfalls  mit  Rücksicht  auf  die  unge- 
wöhnlich große  Stärke  der  Flotte  in  diesem  Jahre  ge- 
stattete man  den  Galeeren  damals  auch,  in  Mallorka 
Lammfelle  aus  der  Berberei  als  Ladung  einzunehmen. 
Auf  der  Rückreise  sollten  die  Galeeren,  falls  nach  Ein- 
nahme aller  in  Brügge  und  Brabant  zur  Verladung  nach 
Venedig  bestimmten  Waren  noch  Schiffsraum  übrig, 
Waren  für  Cadix  annehmen  und  den  dort  gelöschten  Teil 
der  Ladung  durch  Ladung  nach  Venedig  ersetzen  dürfen.^) 
Übrigens  hatte  Venedig  mit  Kastilien  in  dieser  Zeit  nicht 
selten  Schwierigkeiten;  erst  im  Jahre  zuvor  hatte  die 
Signorie  die  Beschlagnahme  aller  bona  hominum  regis 
Ispanie  angeordnet,  um  für  Schäden  Vergeltung  zu  üben, 
die  Venezianern  von  Spaniern  zugefügt  worden  waren.  2) 
Pegolottis  Bemerkung,  daß  die  flandrischen  Galeeren 
auf  der  Ausreise  unterwegs  keinerlei  Ladung  von  einem 
Venezianer  einnehmen  durften,  daß  sie  aber  auf  der 
Rückreise  überall  und  von  jedermann  Waren  anzunehmen 
ermächtigt    gewesen     wären ^),    muß,     wenn    sie    wirk- 


von  1255  (rub.  55),  wonach  jeder  Kaufmann  oder  marinarius  nur 
eine  cassela  mitführen  darf  „sad  mittendum  in  ipsa  quicquid 
voluerit" ;  der  servitor  (famulus)  ist  von  diesem  Recht  ausge- 
schlossen. Neue  Ausgabe  von  Predelli  und  Sacerdoti  im  Nuovo 
Arch,  ven,,  n,  s.,  V  (1903),  p.  211 

>)  Marin  V,  310  f.  Romanin  III,  378  (HI,  101  heißt  es  irrtüm- 
lich 1322  für  1332). 

»)  Ulis  de  ca  Geno  et  Nigro  Cauco;  Misti  I.  XIV,  c.  20  II.  {Arch. 
ven,  19,  101  u.  18,  57).  Über  Irühere  Differenzen  ib.  X,  50,  81 ; 
XI,  19,  22. 

»)  Bei  Pagnini  III,  140. 


76  Adolf  Schaube, 

lieh  ganz  zutrifft,  auf  einer  jüngeren  Bestimmung  be- 
ruhen. 

Den  Fremden  blieb  die  Benutzung  der  flandrischen 
Galeeren  nach  dem  bald  als  verfehlt  erkannten  Experi- 
ment von  1321  durchaus  gestattet,  freilich  mit  einer  Ein- 
schränkung von  allergrößter  Wichtigkeit :  sie  sollten  nicht 
mehr  Ware  aus  Flandern  nach  Venedig  einführen  dürfen, 
als  dem  Wert  der  von  ihnen  aus  Venedig  ausgeführten 
Ware  entsprach.^)  Darin  lag  zunächst,  daß  sie  nicht 
eigene  von  auswärts  nach  Venedig  gebrachte  Waren 
nach  Flandern  exportieren  durften ;  war  ihnen  doch  auch 
die  Einfuhr  von  Levantewaren  nach  Venedig  ohnehin 
untersagt.  2)  Sie  waren  also  darauf  angewiesen,  zum 
Export  nach  Flandern  geeignete  Waren  in  Venedig  selbst 
erst  zu  erstehen  und  nur  den  Erlös  derselben  durften 
sie  dann,  in  Tuche  oder  Wolle  umgesetzt,  auf  den 
Galeeren  von  Flandern  nach  Venedig  schaffen  lassen; 
eine  Handelsfreiheit  in  unserem  Sinne  bestand  also  für 
die  Fremden  auch  rücksichtlich  der  flandrischen  Galeeren 
keineswegs.  Eine  andere  Frage  ist,  ob  man  mit  Rück- 
sicht auf  praktische  Vorteile  nicht  doch  gegebenenfalls 
von  diesen  Grundsätzen  Ausnahmen  gemacht  hat. 

Jedenfalls  war  man  von  Seiten  der  Regierung  be- 
müht, diese  flandrischen  Galeerenfahrten  in  jeder  Be- 
ziehung zu  fördern,  gleichzeitig  aber  den  Handel  soviel 
wie  möglich  an  Venedig  zu  binden.  So  verbot  man  am 
19.  Dezember  1333  allen  Schiffen,  die  mit  Waren  aus 
der  Levante  kamen,  bei  hoher  Buße  über  die  Ostküste 
Siziliens  hinauszufahren,  da  die  Erfahrung  gelehrt  habe, 
daß  viele  dieser  Fahrzeuge  direkt  nach  Sizilien,  Pisa, 
Aigues-Mortes  und  Mallorka  gingen,  um  hier  die  Waren 
der  Levante  abzusetzen,    die   dann    von    da  aus  in  das 


*)  Misti  XI,  c.  63 :  Quod  forenses  et  havere  ipsorum  possint 
ire  et  redire  secundum  usum  cum  dictis  galeis,  conditione  quod 
quantum  extraxerlnt  de  Ven,  possint  conducere  de  Flandria  et  non 
plus,  et  non  possint  levare  havere  forensium  alicubi  (Herbst  1328). 
Ähnlich  I.  X,  c.  23. 

«)  Ebd.  I.  V,  c.  86  (1318). 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    77 

Binnenland  und  bis  nach  Flandern  hinein  weiterzugehen 
pflegten.*) 

So  schien  dieser  Handel  also  auch  den  Galeeren- 
fahrten nach  Flandern  Abbruch  zu  tun.  Aber  auch  im 
Interesse  ihrer  Rückfracht  suchte  man  die  flandrischen 
Galeeren  gegen  Konkurrenz  zu  schützen.  Für  die  Zeit 
der  Flandernfahrt  von  1332  verbot  man  nicht  kriegs- 
mäßig armierten  Handelsfahrzeugen  den  Transport  von 
Wolle  von  Cadix  oder  einem  der  diesseits  von  Cadix  ge- 
legenen Häfen  aus  nach  Venedig  2)  und  gleichzeitig  be- 
legte man  die  Einfuhr  englischer  oder  flandrischer  Wolle 
auf  dem  Landwege  mit  einer  Buße  von  25%  des  Wertes; 
für  die  Fahrt  von  1334  wissen  wir,  daß  das  entsprechende 
Verbot  am  14.  Dezember  1333  beschlossen,  am  folgenden 
Tage  verkündet  wurde,  am  1.  März  in  Kraft  trat  und  bis 
einen  Monat  nach  Antritt  der  Heimreise  durch  die 
Galeeren  in  Kraft  geblieben  ist;  ausdrücklich  wurde  dies 
Verbot  damit  begründet,  daß  die  flandrischen  Galeeren 
volle  Ladung  finden  und  nicht  wegen  der  Wollzufuhr 
zu  Lande  Verluste  erleiden  sollten.^)  Die  Konkurrenz- 
fähigkeit des  Landtransportes  ist  damit  außer  allen 
Zweifel  gestellt  und  der  Gedanke,  daß  die  größere 
Billigkeit  des  Seetransports  einen  wichtigen  Anstoß  zu 
diesen  Galeerenfahrten  gegeben  haben  müßte*),  auf  das 
bündigste  als  hinfällig  erwiesen ;  der  Transport  auf  diesen 
Galeeren  mit  ihrer  starken  Bemannung  und  ihrem  ver- 
hältnismäßig geringen  Fassungsraum  gestaltete  sich  eben 
recht  kostspielig  und  war  deshalb  auch  der  Hauptsache 
nach  auf  besonders  wertvolle  Waren  beschränkt. 


>)  UArmeno  Veneto.  Yen,  1893,  11,  114,  no.  237:  non  declinant 
cum  mercationibus  Venecias  ut  deberent. 

•)  Lib.  XIV,  c.  80,  84  {Arch,  ven.  19,  102). 

»)  Misti  Senate  I.  XVI,  c.  45  bei  Brown  I,  7,  no.  23. 

*)  Peschel,  Zeitalter  der  Entdeckungen  S.  44.  Schanz  I.  c. 
I,  usf.  Wenn  ebenda  auch  die  Versicherungsprämien  im  See- 
und  Landtransport  zum  Vergleich  herangezogen  werden,  so  ist 
zu  bemerken,  daß  das  Versicherungswesen  damals  überhaupt 
noch  nicht  bestand.  S.  hierzu  meine  Abhandlungen  in  den  Conrad- 
sehen  Jahrbüchen  60  (1893),  p.  40  ff.  und  61,  481  ff. 


78  Adolf  Schaube, 

Während  nun  das  kostbare  Rohprodukt  der  Wolle  in 
Venedig  selbst  und  den  gewerbfleißigen  Städten  des 
italienischen  Binnenlands  willige  Abnehmer  fand,  war 
ein  großer  Teil  der  edlen  Tuche,  die  die  flandrischen 
Galeeren  heimbrachten,  zur  Wiederausfuhr  aus  Venedig 
nach  dem  Osten  bestimmt.  Mehrfach  wird  verordnet, 
daß  der  Rat  der  Pregadi  binnen  14  Tagen  nach  der 
Heimkehr  der  Galeeren  für  diese  Wiederausfuhr  Fürsorge 
zu  treffen  habe^);  und  mehrfach  erfahren  wir  auch  von 
der  Art  dieser  Fürsorge.  Anfang  1323  wurde  bestimmt, 
daß  eine  Galeere,  die  Gesandte  nach  Sklavonien  zu  bringen 
hatte,  sodann  „cum  drapparia  Flandrie''  nach  Kreta  und 
Negroponte  zu  gehen  hätte  2);  im  Spätherbst  desselben 
Jahres  heißt  es  von  der  eben  angekommenen  drapparia^ 
daß  sie  „in  solario"  untergebracht  werden  sollte,  so  lange 
offenbar,  bis  ihre  Wiederausfuhr  erfolgte,  für  die  dann 
am  Anfang  des  folgenden  Jahres  die  in  der  Adria  statio- 
nierten Wachtgaleeren  (galeae  culfi)  bestimmt  worden 
sind.^)  Und  im  Spätherbst  1326  beschloß  man  die  Er- 
nennung eines  Capitaneus  culfi  und  die  Armierung 
zweier  Galeeren,  die  nur  der  Ausfuhr  der  drapparia 
Flandrie  dienen  und  dabei  ihre  Fahrt  bis  Negroponte 
ausdehnen  durften.^)  Man  fand  also  schon  an  der  Ost- 
seite der  Adria,  in  Griechenland  sowie  auf  Kreta  und 
Euboea  ein  reiches  Absatzgebiet  für  diese  Tuche,  während 
ein  nicht  geringer  Teil  derselben  offenbar  mit  den  regel- 
mäßigen Galeerenfahrten  nach  Konstantinopel,  Zypern, 
Klein-Armenien  und  dem  Schwarzen  Meere  weiter- 
gegangen ist.  Denn  mit  gewöhnlichen  Handelsfahrzeugen 
wurde  der  Export  dieser  kostbaren  Ware  im  allgemeinen 

0  Lib.  X,  c.  23  (in  bezug  auf  die  Fahrt  von  1327):  Teneantur 
consiliarii  post  reditum  galearum  infra  dies  15  venire  ad  con- 
silium  Rogatorum  ad  videndum  de  dando  exitum  drapparie. 
Ebenso  1.  XI,  c.  65. 

«)  Lib.  Vn,  c.  65,  89  (Arch.  ven,  18,  54). 

')  Lib.  VII,  c.  118  (ib.  19,  96);  c.  134  (ib.  18,  43;  Culfi  et  Ro- 
man ie  custodia):  Drapparia  Flandrie  adducta  per  alias  galeas 
possit  portari  cum  galeis  culfi, 

*)  Lib.  X,  c.  4  (ib.  17,  261  und  271;  rub,  Armate  galee  per 
comune  ad  mercatum). 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    79 

nicht  gestattet;  es  ist  durchaus  als  Ausnahme  anzusehen, 
wenn  diese  Erlaubnis  im  Jahre  1314  einmal  erteilt  worden 
ist.i)  Die  Vorstellung  aber,  daß  diese  Handelsflotten 
die  Vermittler  eines  großartigen  Produktenaustausches 
zwischen  Ägypten  und  Flandern  gewesen  sind  2),  bedarf 
nach  mehr  als  einer  Richtung  starker  Einschränkungen, 
zumal  der  Handel  Venedigs  mit  Ägypten  gerade  in 
dieser  Zeit  infolge  der  kirchlichen  Handelsverbote  und 
der  Eröffnung  neuer  Handelswege  nach  dem  Osten 
einen  wesentlichen  Rückgang  erfahren  hatte. 

Eine  ganz  besondere  Begünstigung  der  Galeeren- 
fahrten nach  Flandern  war  die  vollständige  Abgaben- 
freiheit der  mit  ihnen  aus-  oder  eingeführten  Waren,  die 
sich  bei  letzteren  auch  auf  die  Wiederausfuhr  oder  auf 
ihren  Verkauf  in  Venedig  selbst  erstreckte.  Wir  erfahren 
das  durch  Pegolotti,  während  in  den  ersten  Jahren,  wie 
wir  wissen,  ein  ganz  anderes  System  geherrscht  hatte. 
1320  hatte  man  zuerst  Zollfreiheit  für  Wolle  beschlossen, 
das  folgende  Jahr  der  Reaktion  führte  die  üblichen  Ab- 
gaben wieder  ein,  dann  aber  verschwindet  das  datium 
ganz  aus  den  Regesten,  so  daß  es  damit  wahrscheinlich 
wird,  daß  der  uns  von  Pegolotti  mitgeteilte  Grundsatz 
schon  am  Anfang  der  zwanziger  Jahre  zu  allgemeiner 
Geltung  gelangt  ist.')  So  bestand  der  Vorteil,  den  der 
Staat  aus  diesen  Fahrten  zog,  nur  in  der  Hebung  von 
Handel  und  Industrie;  auch  der  Brauch  der  Verwertung 
staatlicher  Galeeren,  die  eine  Einnahmequelle  für  den 
Staat  hätte  werden  können,  ist  gerade  bei  den  Flandern- 
fahrten in  dieser  Zeit  mehr  und  mehr  abgekommen ;  die 
Galeeren,    deren    Maße    im    Jahre    1321    aufgezeichnet 


*)  Drapparia  et  omnes  mercature,  que  non  possint  portari 
nisi  cum  galeis  armatis,  possint  portari  cum  disarmato  pro  hac 
mudua;  Hb.  IV,  c.  84  (ib.  19,  105).  Anfang  1321  lehnte  man  einen 
dahingehenden  Antrag  ab:  Posita  parte  tunc  utrum  drapparia  et 
alie  mercationes  possint  portari  cum  navigiis  disarmatis,  capta 
est  pars  de  non.  Lib.  VI,  c.  66  (ib.  18,  53;  rub,  Galee  armate  in- 
differenter per  speciales  personas). 

•)  So  Heyd  II,  722. 

»)  Pegolotti  p.  140.    Oben  S.  66. 


80  Adolf  Schaube, 

wurden,  gehörten  Privatpersonen;  Ende  1323  gab  man 
den  Bau  von  Galeeren  für  die  Flandernfahrt  in  den  da- 
für festgesetzten  Maßen  allgemein  frei  mit  dem  Hinzu- 
fügen, daß  aber  nicht  etwa  Übernahme  dieser  Galeeren 
durch  den  Staat  beansprucht  werden  dürfte;  im  Herbst 
1329  erklärte  man,  gegenwärtig  keine  „galee  grosse  de 
mensura  galearum  Flandrie'',  wohl  aber  sechs  Galeeren 
in  den  Maßen  der  Alexandrienfahrer  und  vier  in  denen 
der  Wachtgaleeren  der  Adria  bauen  zu  wollen^);  und 
am  25.  November  1333  beschloß  man,  daß  alle  Unter- 
nehmer, die  sich  für  die  nächste  Fahrt,  die  mit  acht 
Galeeren  ausgeführt  werden  sollte,  einschreiben  lassen 
würden,  damit  zugleich  die  Berechtigung,  sich  neue 
Galeeren  bauen  zu  lassen,  erhalten  sollten.  2) 

Auch  eine  nicht  unwesentliche  Ermäßigung  der 
Frachtsätze  hat  in  dem  Vierteljahrhundert,  das  ungefähr 
von  der  Aufstellung  des  ersten  Frachttarifs  im  Jahre 
1313  bis  zur  Abfassung  des  Pegolottischen  Handbuches 
verstrichen  ist,  stattgefunden.  Nur  Wolle  hat  ihren  alten 
hohen  Frachtsatz  von  60  sol.  gr.  vom  kleinen  Milliare 
(302,4  kg)  beibehalten;  Tuche  jeder  Art  sind  jetzt  nicht 
mehr  nach  Ballen,  sondern  auch  nach  Gewicht,  und  zwar 
zum  halben  Satz  der  Wolle  tarifiert,  wie  es  zuerst  für 
Leinwand  im  Jahre  1322  begegnet;  gleichzeitig  erscheint 
Bernstein  (ambrum)  zum  erstenmal,  auch  mit  demselben 
Frachtsatz  von  25  sol.  gr.,  den  noch  Pegolotti  kennt  ^); 
Kupfer  und  Zinn  sind  von  20  sol.  auf  den  vierten  Teil 
davon  herabgegangen. 

Von  den  Waren,  die  für  den  Export  nach  Flandern 
in  Betracht  kamen,  zeigt  nur  Zucker  in  Fässern  den 
Satz  von  30  sol.  gr.  vom  kleinen  Tausend;  Pfeffer, 
Brasilholz  in  Kisten,  Gewürznelken,  Muskatblüte  und  alle 
feinen  Spezereien   sind   mit  27  sol.  auf  dem   Satze  von 


0  Oben  S.  56.  Misti  1.  VII,  c.  126  (Arch.  ven.  19,97;  17,269); 
I.  XII,  c.  65  (ib.  17,  262).  Privatgaleeren  waren  es  natürlich  auch, 
denen  man  1331  wegen  des  Ausfalls  der  Flandernfahrt  ein  Lebens- 
jahr zulegte;  oben  S.  71 

«)  Romanin  III,  378  f. 

•)  Der  Tarif  Pegolotti  p.  140.    Misti  Senato  I.  VI,  c.  130. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    81 

1317  stehengeblieben'),  Rauchwaren  zeigen  den  schon 
1321  für  sie  sowie  bearbeitetes  Leder  und  Baumwollgarn 
bestehenden  Satz  von  25  sol.^)  Staubzucker  in  Kisten 
ist  auf  22,  Wachs  auf  20,  Alaun,  Waid  und  Krapp  auf 
15  sol.  gr.  ermäßigt.  Kermes  in  Säcken  ist  die  einzige 
Ware,  die  eine  Steigerung  der  Fracht,  von  3^2  auf  4% 
des  Wertes  aufzuweisen  hat,  Rohseide  ist  auf  2%  zurück- 
gegangen, während  Seidenstoffe  (buccherami)  aller  Art 
jetzt  neu  mit  3%  tarifiert  sind.  Vom  kretischen  Wein 
waren  für  die  Amphora  25  sol.  gr.,  vom  Hektoliter  also 
etwa  20  M.,  an  Fracht  zu  entrichten.  Daß  Pegolotti 
diesen  Frachttarif  in  sein  Handbuch  aufgenommen  hat, 
ist  ein  deutliches  Zeichen  von  dem  praktischen  Interesse, 
das  die  venezianischen  Flandernfahrten  auch  für  den 
Handel  der  Florentiner  besaßen. 

Suchen  wir  uns  zuletzt  noch  ein  Bild  von  der 
Arbeitsleistung  dieser  Galeeren,  von  dem  Quantum  der 
Warenbewegung,  die  sie  zwischen  Venedig  und  der 
Nordsee  vermittelten,  zu  verschaffen.  Die  Ausmessungen 
dieser  Galeeren  sind  uns  wohlbekannt;  für  unseren 
Zweck,  eine  allgemeine  Vorstellung  zu  ermöglichen,  wird 
es  genügen,  die  Hauptmaße  anzugeben:  ihre  Länge  be- 
trug 4078  m,  die  Breite  in  der  Mitte  am  oberen  Schiffs- 
rand 5,5,  am  Schiffsboden  3,3  m,  die  Tiefe  endlich  2,5  m.^) 
Es  waren  Ruderschiffe  mit  Segelvorrichtung;  von  der 
200  Mann  starken  Besatzung  waren  175,  später  180  Mann 
Ruderer.*)  Natürlich  nahm  das  Ruderwerk  einen  be- 
trächtlichen Teil  des  ohnehin  nicht  sehr  großen  Fas- 
sungsraumes fort;   man   rechnete  die  Tragfähigkeit  von 


>)  Oben  S.  49. 

•)  Misti  1.  VI,  c.  61 :  de  curamine  concio,  bombice  filato  et 
pilizaria, 

»)  Marin  V,  211  f.    Oben  S.  46. 

*)  Misti  1.  X,  c.  23;  1.  XI,  c.  63:  conducant  homines  200  sol- 
datos  de  suo  saldo  de  quibus  sint  vogerii  175  (1328).  Für  1334 
heißt  es  bei  Romanin  III,  380:  Cum  galee  Fl,  habere  debeant 
homines  solutos  200,  quod  de  ipsis  sint  homines  ad  remum  180, 
ex  quibus  sint  ballistarii  12  (etc.), 

Hittoritche  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  6 


82  Adolf  Schaube, 

acht    bis    zehn    Galeeren    erst    gleich    der    eines    Voll- 
schiffes. ^) 

Jede  der  flandrischen  Galeeren  beförderte  eine  Last 
von  280  milliaria  kleinen  Gewichts  =  84672  kg,  also 
von  842/3  Tonnen,  das  ist  nicht  mehr  als  die  Ladung  von 
8V2  der  früheren  Normalgüterwagen  unserer  Eisenbahnen. 
Dieses  Quantum  begegnet  uns  als  Ladegewicht  der  Ga- 
leeren schon  im  Jahre  13212),  und  1333  wird  es  als 
unerläßliche  Bedingung  für  alle  Neubauten  von  Galeeren, 
die  dem  Verkehr  mit  Flandern  zu  dienen  bestimmt 
waren,  ausdrücklich  vorgeschrieben.^)  Wenn  nun  der 
alleinige  Zweck  dieser  kriegsmäßig  armierten  Galeeren, 
die  ein  verhältnismäßig  sehr  hohes  Maß  von  Sicherheit 
gewährleisteten,  in  dem  Transport  besonders  wertvoller 
Waren  bestand,  so  ließ  sich  doch  schon  mit  Rücksicht 
auf  die  zweckmäßige  Unterbringung  und  Verstauung  der 
Waren  keineswegs  der  ganze  zur  Verfügung  stehende 
Raum  für  diesen  Zweck  ausnützen.  Für  die  Rückfahrt 
von  Flandern  her  wurde  das  Verhältnis  schon  1321  dahin 
geregelt,  daß  Eisen,  Blei,  Kupfer,  Zinn  und  andere 
Metalle  als  Ballast  bis  zu  einem  Quantum  von  80  kleinen 
Tausend  (24192  kg),  die  übrigen  Waren  aber,  wie  vor 
allen  Dingen  Wolle  und  Tuche,  bis  zu  200  kleinen 
Tausend  (60480  kg),  als  Fracht  eingenommen  werden 
dürften,  und  dabei  ist  es  in  der  nächsten  Zeit  im  wesent- 
lichen verblieben.^)     Für  die  Hinfahrt  gestaltete  sich  die 

^)  S.  meine  Abhandlung  über  die  wahre  Beschaffenheit  der 
Versicherung  in  der  Entstehungszeit  des  Versicherungswesens: 
Jahrb.  f.  Nationalök.  u.  Statistik  60  (1893),  43. 

»)  MlsH  1.  VI,  c.  61  f.  Ferner  I.  X,  c.  22  (für  1327):  Quod  dicte 
galee  non  possint  portare  ultra  milliaria  280  mercimoniorum  ad 
subtile;  1.  XI,  c.  62  (für  1329). 

')  Bei  Romanin  III,  378  f.:  cum  conditione  quod  dicte  galee 
possint  portare  miliaria  280  ad  pondus  subtile  de  mercimoniis. 

*)  Misti  Sen,  1.  VI,  c.  61f.;  1322  fügte  man  hinzu,  daß  sich 
unter  den  200  mill.  tele  bis  zum  Höchstgewicht  von  20  mill.  be- 
finden dürften,  c.  130  f;  1326  gestattete  man  ausnahmsweise, 
pro  galea  10  milliaria  von  havere  subtile  (ausgenommen  Wolle) 
mehr  zu  laden  non  transeundo  signa;  1.  IX,  c.  104.  Für  1334  be- 
stimmte man,  daß  Metalle  als  Ballast  nunmehr  bis  zu  80  mill,  ad 
pondus  grossum  mitgenommen  werden  durften  (Romanin  III,  379), 


Die  Anfänge  der  Venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    83 

Beschaffung  besonders  wertvoller  Waren  in  dem  er- 
wünschten Umfange  offenbar  schwieriger.  Im  Jahre  1321 
zwar  hatte  man  die  Ladung  von  merces  grossae,  zu  denen 
auch  Eisalaun  (alumen  de  roza)  gerechnet  wurde,  auf 
70  kleine  Tausend  (21168  kg)  beschränkt;  schon  im 
folgenden  Jahre  aber  erhöhte  man  sie  wie  bei  der  Rück- 
fracht auf  80.^)  Im  Jahre  1328  bestätigte  man  das,  fügte 
aber  hinzu,  daß  jede  Galeere  in  Venedig  mindestens 
100  kleine  Tausend  de  mercationibus  subtilibus  laden 
müßte,  widrigenfalls  den  Padrone  eine  Strafe  von  40  sol. 
gr.  (200  M.)  für  jedes  fehlende  Milliare  traf;  Alaun  und 
Baumwollgarn  sollten  zu  den  merces  grossae  gerechnet 
werden.  Dieses  Minimum  ließ  also  die  Möglichkeit,  daß 
der  Galeere  bei  ihrer  Ausreise  100kleineTausend(30240kg) 
zur  Volladung  fehlten ;  darum  erklärte  man  damals  auch 
die  Ergänzung  der  Ladung  in  Mallorka  und  an  anderen 
Orten  jenseits  davon  für  zulässig. 2)  Für  die  Fahrten 
von  1332  und  1334  erhöhte  man  dieses  Minimum  auf 
120  kleine  Tausend  und  ermäßigte  die  Buße  auf  die 
Hälfte;  zu  den  merces  grossae  rechnete  man  jetzt  außer 
den  genannten  Waren  auch  Staubzucker,  Rosinen,  Bar- 
chentstoffe (fustagni)  und  pulverisierten  Krapp  (rubea 
macinata):^)  Die  Ladebeschränkung  für  grobe  Waren  auf 
ein  Maximum  von  80  kleinen  Tausend  fiel  weg;  doch 
mußte,  falls  bis  drei  Tage  vor  dem  letzten  Ladetermin 
feine  Waren  als  Fracht  über  das  Minimum  von  120 
Milliaria  hinaus  angeboten  wurden  und  sonst  kein  Raum 
mehr  zur  Verfügung  stand,  durch  Wiederausladen  von 
groben  Waren  für  sie  Raum  geschaffen  werden;  den 
zuwiderhandelnden    Padrone     traf    eine    Buße    in     der 


während  bisher  70  mill.  das  zulässige  Maximum  gewesen  sei. 
Diese  Erhöhung  mag  wohl  mit  der  großen  Zahl  von  Galeeren 
zusammenhängen,  die  man  gerade  in  diesen  Jahren  abfertigte. 

»)  MisH  1.  VI,  c.  61,  130. 

*)  Ebd.  1.  XI,  c.  18.  Die  besonderen  Verhältnisse  der  Fahrt 
von  1328  (oben  S.  69  f.)  sind  auf  diese  Bestimmungen  sicher  von 
Einfluß  gewesen.  1327  hatte  man  die  Mitnahme  von  Malvasier, 
der  auf  die  merces  grossae  anzurechnen  war,  auf  21  anforae  be- 
schränkt; I.  X,  c.  49. 

»)  Ebd.  1.  XIV,  c.  80  f.    Romanin  111,  379. 

6* 


84  Adolf  Schaube, 

doppelten  Höhe  der  für  die  betreffende  feine  Ware  zu 
entrichtenden  Fracht. 

Nimmt  man  nun  die  Zahl  der  in  unserem  Zeitraum 
jährlich  abgefertigten  flandrischen  Galeeren  mit  durch- 
schnittlich sechs  an  und  rechnet  man  weiter,  daß  jede 
derselben  von  feinen  Waren  (also  Gewürzen,  Spezereien, 
Drogen,  Seide,  feinen  Geweben  u.  dgl.)  eine  Fracht  von 
150  Milliarien  erhielt^),  so  gelangten  danach  im  Durch- 
schnitt jährlich  272160  kg,  also  5443  Zentner  von  diesen 
zum  allergrößten  Teil  aus  der  Levante  stammenden 
Waren  mit  den  flandrischen  Galeeren  zum  Export. 

In  umgekehrter  Richtung  können  wir  annehmen,  daß 
die  Galeeren  im  allgemeinen  ihre  volle  Ladung  von  je 
200  Milliarien  an  Wolle  und  Tuchen  (andere  Waren, 
wie  Bernstein,  kamen  nicht  wesentlich  in  Betracht)  er- 
hielten, so  daß  sie  im  Jahresdurchschnitt  362880  kg  = 
7258  Zentner  dieser  kostbaren  Waren  nach  Venedig 
brachten.  Wie  sich  dieses  Quantum  auf  Wolle  und  Stoffe 
verteilte,  können  wir  freilich  nicht  sicher  sagen.  Rechnet 
man  den  englischen  Sack  Wolle  zu  166  kg^),  so  hätte 
eine  Galeere,  wenn  sie  außer  dem  Ballast  nur  Wolle 
geladen  hätte,  das  Gewicht  von  364  Sack  zu  transportieren 
vermocht.  Jene  1170  Sack,  für  die  wir  im  Jahre  1320  die 
englische  Ausfuhrlizenz  zu  den  im  Zwyn  liegenden  Ga- 
leeren nachgewiesen  haben  ^),  beanspruchten  also  für  sich 
allein  mehr  als  den  ganzen  für  feine  Waren  verfügbaren 
Schiffsraum  von  drei  Galeeren,  und  den  vollen  Umfang 
des  Wolltransports  der  Galeeren  dieses  Jahres  werden 
diese  Lizenzen  schwerlich  decken;  leider  ist  uns  die 
Zahl  der  Galeeren  dieses  Jahres  nicht  bekannt,  doch  rst 
sie    schwerlich    über   sechs   hinausgegangen.     Vielleicht 


*)  Das  erscheint  gerechtfertigt,  da  die  Zulassung  des  Mini- 
mums von  120  mill.  für  die  Fahrten  von  1332  und  1334  sich 
offenbar  aus  der  ungewöhnlichen  Stärke  der  Galeerenflotte  (10 
und  8)  in  diesen  Jahren  erklärt;  je  weniger  Galeeren,  desto  mehr 
war  natürlich  auf  volle  Ladung  zu  rechnen. 

•)  S.  meine  Abh.  über  die  Wollausfuhr  Englands  von  1273 
in  der  Vierteljahrschr.  f.  Sozial-  u.  Wirtschaftsgesch.  1908,  S.  40  f. 

»)  Oben  S.  59. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    85 

kann  man  auf  ein  ungefähres  Verhältnis  des  Exports 
von  Wolle  und  Stoffen  wie  2 : 1  schließen.  Dann  würden 
die  flandrischen  Galeeren  jährlich  durchschnittlich  etwa 
1000  Ballen  Tuche  (121000  kg)  und  rund  1450  Sack 
Wolle  (242000  kg)  nach  Venedig  geführt  haben.  Danach 
kann  es  nicht  weiter  Wunder  nehmen,  daß  auch  der 
Landimport  dieser  Waren  nach  Venedig  seine  Wege 
weiterging;  doch  kann  darauf  hier  nicht  eingegangen 
werden;  nur  auf  den  wichtigen  Vertrag  Venedigs  mit 
Como  vom  Jahre  1328  sei  noch  kurz  hingewiesen.^) 

VIII. 
Einen  Punkt  haben  wir  ganz  aus  den  Augen  ver- 
loren: die  Entwicklung  der  Beziehungen  Venedigs  zu 
England  in  dieser  Zeit.  Als  im  Frühjahr  1322  Pietro 
Zeno  und  Perono  Giustinian  nach  den  Niederlanden 
entsandt  wurden,  beschloß  man,  sie  auch  mit  der  Er- 
ledigung des  yyfadum  Anglie"  zu  betrauen;  in  einem 
weiteren  im  Spätherbst  des  Jahres  gefaßten  Beschlüsse 
gab  der  Senat  unter  gewissen  (nicht  mitgeteilten)  Vor- 
behalten seine  Zustimmung  zum  Abschluße  der  „concordia'' 
mit  dem  englischen  Könige  gemäß  der  den  Gesandten 
seinerzeit  erteiften  Instruktion. 2)  Im  April  1323  endlich 
schien  die  Einigung  erreicht.  Nicht  weniger  als  fünf 
englischerseits  ausgestellte  Dokumente  liegen  uns  darüber 
vor.  Am  10.  April  erklären  1.  14  Bürger  von  South- 
ampton,  die  speziell  geschädigt  waren,  wegen  ihrer  An- 
sprüche auf  Schadenersatz  befriedigt  zu  sein;  2.  Mayor 
und  Gemeinde  von  Southampton,  daß  Venedig  für  die 
von  den  Leuten  seiner  fünf  Galeeren  verursachten  Schäden 
volle  Genugtuung  gegeben  habe  und  daß  niemand 
weiter  einen  Venezianer  deswegen  belästigen  dürfe; 
3.  gibt  Ritter  John  von  der  Insel  Wight  bezüglich 
der    von    seinen   Leuten    erlittenen  Schäden   die  gleiche 


0  Marin  VI,  272  f. 

«)  Lib.VII,  c.  8,  58.  60  (Arch.  ven.  19,  97  u.  96);  dazu  c.  13 
(ib.  17,  136).  Brown  I,  p.  CXXII  setzt  diese  Gesandtschaft  irrig 
zu  1321  an. 


86  Adolf  Schaube, 

Erklärung  ab.^)  Am  16.  April  erläßt  4.  der  König  für 
die  Padroni,  Kaufleute,  Führer  und  Mannschaften  der 
fünf  Galeeren  wegen  der  Totschläge,  die  in  ihrem  Streit 
mit  den  Leuten  vonSouthampton  und  Wight  vorgekommen, 
so  daß  sie  sich  seitdem  scheuten,  in  das  Königreich  zu 
kommen,  einen  Pardon,  unter  der  Bedingung,  daß  sie 
bereit  wären,  Recht  zu  geben,  wenn  jemand  sie  ge- 
richtlich zu  belangen  wünschte  2);  gleichzeitig  erläßt  er 
5.  einen  Generalpardon  wegen  des  Geschehenen  für  alle 
Venezianer,  da  sie  Bedenken  trügen,  das  Königreich  zu 
besuchen;  feierlich  erklärte  er,  daß  die  Venezianer  mit 
ihren  Galeeren  und  Waren  in  voller  Sicherheit  nach  Eng- 
land kommen,  dort  sich  aufhalten  und  Handel  treiben 
und  ebenso  unbehindert  wieder  zurückkehren  dürften.') 

Indessen  stellten  diese  Dokumente,  wie  die  weitere 
Entwicklung  zeigt,  die  Venezianer  keineswegs  zufrieden; 
insbesondere  wird  der  Passus,  der  auch  jetzt  noch  ein 
gerichtliches  Vorgehen  Einzelner  gegen  die  an  dem  Vor- 
fall von  1319  Beteiligten  zuließ,  den  Widerspruch  der 
Signorie  erregt  haben,  so  daß  ein  Abschluß  auch  jetzt 
nicht  erfolgte.  Vielmehr  kam  es  gerade  in  diesem  Jahre 
zu  einem  Zusammenstoß  der  beiden  Nationen  zur  See. 

Als  im  September  1323  die  sieben  mit  ihren  Waren  von 
Flandern  zurückkehrenden  venezianische^  Galeeren  auf 
dem  Heimwege  waren,  wurden  sie  im  Kanal  von  34  eng- 
lischen Koggen  in  räuberischer  Absicht  angefallen.  Aber 
die  Piraten  hatten  die  Gefechtskraft  dieser  Galeeren  mit 
ihrer  starken  Besatzung  arg  unterschätzt;  sie  wurden 
von  den  Venezianern  mit  schweren  Verlusten  abgewiesen 
und  verloren  zehn  ihrer  Schiffe.**) 

So  hatten  sich  die  Venezianer  bei  der  in  damaliger 
Zeit  zu  Übergriffen    nur   zu    sehr   geneigten   englischen 

>)  Commemoriali  IH,  Reg.  no.  47—49.  Brown  I,  5.  Der  letzte 
Akt  vollständig  bei  Rymer,  Foedera,  Record  Edit.  II,  514.  Regest 
in  CaL  of  the  Close  Rolls  p.  696. 

*)  CaL  of  the  Patent  Rolls,  Edw.  II,  1321  —  1324  (Lond.  1904), 
p.  276. 

»)  Rymer,  Foedera,  //.  Ed,  II,  2,  p.  69. 

*)  Giov.  Villani,  ed.  Dragomanni  1.  IX,  c.  224;  die  Ausgabe 
bei  Muratori  (c.  223)  hat  nur  24  cocche. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    87 

Küstenbevöikerung  tüchtig  in  Raspelet  gesetzt;  da  die 
schwächliche  Regierung  Eduards  11.  offenbar  jede  Ver- 
antwortung für  diesen  Akt  derPiraterie  ablehnte,  so  konnten 
die  Verhandlungen  über  ein  dauerhaftes  Abkommen 
zwischen  beiden  Staaten  trotz  dieses  Vorfalls  ihren  Fort- 
gang nehmen.  Am  10.  März  1324  wurde  der  vom  Könige 
im  Jahre  zuvor  erlassene  Pardon  und  Generalpardon, 
nunmehr  unter  Zustimmung  des  Parlaments  von  West- 
minster,  erneuert  und  dabei  betont,  daß  dieser  Pardon 
für  alle  Zeiten  Gültigkeit  haben  sollte.^) 

Aber  das  genügte  den  Venezianern  noch  nicht.  Um 
zu  einer  ganz  einwandfreien,  sie  völlig  sicherstellenden 
Fassung  der  Delcrete  des  Königs  zu  gelangen,  bedienten 
sie  sich  nunmehr  der  Vermittlung  der  großen  floren- 
tinischen  Banken,  die  in  England  höchst  einflußreich 
waren  und  auch  in  Venedig  ihre  Vertreter  hatten.  So 
erging  im  Sommer  1324  ein  Schreiben  der  Signorie  an 
die  Peruzzi  und  die  Bardi  „pro  concordia  AngUe'''^)\  es 
ist  wohl  ein  Erfolg  dieser  Vermittlung,  daß  der  König  am 
26.  Februar  1325  allen  Baillis  in  seinem  Reiche  zu  wissen 
tat,  daß  er  alle  Kaufleute  und  Seeleute  von  Venedig  für 
zwei  Jahre  unter  sein  sicheres  Geleit  genommen;  ins- 
besondere betont  er,  daß  wegen  Übertretungen  oder 
Schulden  nur  der  Schuldige  oder  Schuldner  oder  dessen 
Bürgen  belangt,  niemals  aber  andere  Venezianer  des- 
wegen in  Person  oder  in  ihrer  Habe  angetastet  werden 
dürfen.  3)  Etwa  im  Mai  beschloß  dann  die  Signorie,  den 
Peruzzi  außer  ihren  bisherigen  Auslagen  noch  50  M.  SterL 
(rund  2200  M.)  zu  bewilligen,  wenn  sie  ein  anderes 
Dekret  (als  das  von  1323/24)  vom  Könige  erwirkten^); 
nicht  lange  darauf  setzte  man  selbst  ein  Schriftstück  in 
der  Fassung  auf,    wie   man    es   vom   englischen  Könige 


»)  Rymer,  Foedera,  Rec  Edit.  II,  546  (H.  II,  2,  93).  CaL  of 
Fat.  Rolls,  Edw.  II,  1321  —  1324,  p.  368. 

»)  Lib.  VIII,  c.  35  (Anh.  ven.  19.  97). 

•)  CaL  of  Patent  Rolls,  Edw.  II,  1324—1327  (London  1904), 
p.  100. 

')  Lib.  IX,  c.  25  (Arch.  ven.  19,  98). 


S8  Adolf  Schaube, 

durch  die  Vermittelung  der  florentinischen  Banken  zu 
erlangen  wünschte.^) 

Und  nun  kam  man  wirklich  zum  Ziele.  Nachdem 
das  in  Westminster  versammelte  Parlament  am  18.  November 
seine  Zustimmung  dazu  gegeben,  erklärte  der  König  am 
6.  Dezember  1325  nochmals  jene  Vorkommnisse  von 
Southampton  für  völlig  verziehen;  allen  seinen  Unter- 
tanen verbot  er  nunmehr,  die  Venezianer  deswegen  noch 
irgendwie  zu  behelligen;  fortan  sollten  alle  Venezianer 
mit  ihrer  Habe  und  ihrer  Ware  im  ganzen  Königreich 
in  voller  Sicherheit  kommen  und  gehen  dürfen.  2) 

Am  26.  Mai  1326  fand  die  Sache  im  Dogenpalast  in 
einem  offiziellen  Akte  zwischen  dem  Dogen  und  den 
Vermittlern  ihren  Abschluß;  der  Doge  bestätigte  den 
Vertretern  der  Peruzzi  und  der  Bardi,  Niccolb  Lamber- 
teschi  und  Andrea  di  Borgognone,  die  Übergabe  der 
auf  den  Frieden  mit  England  bezüglichen  Dokumente, 
wogegen  diese  über  den  Empfang  der  ihren  Häusern 
für  die  Vermittlung  zustehenden  Gelder  in  Höhe  von 
500  M.  Sterl.  Quittung  leisteten.») 

Trotz  der  mit  so  vielen  Mühen  endlich  erreichten 
Verständigung  hören  wir  nichts  von  einem  Aufschwung 
des  venezianischen  Handels  mit  England.  Wohl  scheint 
der  neue  König  Eduard  III.  den  Venezianern  günstiger 
gesinnt  gewesen  zu  sein,  als  sein  Vorgänger;  am  20.  März 
1330  legte  er  bei  der  Signorie  Fürsprache  für  die  mit 
Venedig  in  Differenzen  geratenen  Bardi  ein^);  noch  im 
Frühjahr  1332   aber    beschloß  Venedig,  die  flandrischen 


0  Lib.  IX.  c.  35  (ib.  19,  97  und  17,  270):  Forma  litterarum 
quam  voluimus  impetrare  a  Rege  Anglie  pro  facto  Peruciorum  et 
Azaiolorum,  Abgesehen  von  der  schlechten  Fassung  des  „pro 
facto''  hat  der  Epitomator  auch  die  Acciaiuoli  nur  irrtümlich  für 
die  Bardi  hineingebracht,  wie  die  schließliche  finanzielle  Abwick- 
lung der  Sache  zeigt. 

»)  Cal.  of  Patent  Rolls  1.  c.  p.  195.  Commemoriali  11,  no.  453, 
in,  no.  70.    Brown  I,  6. 

')  Commem,  111,  Reg.  no.  84. 

*)  Rymer,  Rec.  Ed.  11,  783;  CaL  of  the  Close  Rolls,  Edw.  III, 
1330—1333,  p.  131.     Oben  S.  71. 


Die  Anfänge  der  venez.  Galeerenfahrten  nach  der  Nordsee.    89 

Galeeren  unter  keinen  Umständen  nach  England  gehen 
zu  lassen.^) 

Diese  entschiedene  Ablehnung  ist  höchst  bemerkens- 
wert; offenbar  beruht  sie  auf  der  in  Venedig  fest- 
gewurzelten Überzeugung,  daß  ein  freundschaftliches 
Einvernehmen  mit  Frankreich  für  das  Gedeihen  der 
flandrischen   Fahrten  von  entscheidender  Bedeutung  sei. 

Aber  die  Zeit  war  nahe,  wo  sich  die  Bedingungen, 
unter  denen  diese  Fahrten  bisher  stattgefunden,  völlig 
ändern  sollten.  Der  hundertjährige  Krieg  brach  aus; 
das  furchtbare  Elend,  das  die  strenge,  von  Eduard  III. 
über  Flandern  verhängte  Sperre  der  Wolleinfuhr  und 
Tuchausfuhr  rasch  in  dem  Lande  hervorrief  (1336/37)2), 
zeigte  den  gewaltigen  wirtschaftlichen  Einfluß  Englands; 
der  glänzende  Sieg  bei  Sluis,  wenige  Monate,  nachdem 
Venedig  ein  ihm  von  Eduard  angetragenes  Bündnis 
gegen  Frankreich  abgelehnt,  brachte  England  die  Vor- 
herrschaft in  den  Gewässern  des  Kanals  (1340);  die 
Einnahme  von  Calais  machte  es  zum  Herrn  des  Seewegs 
nach  Flandern.  Es  ist  bezeichnend  für  den  eingetretenen 
Umschwung,  daß  noch  während  der  Belagerung  von 
Calais  1347  der  venezianische  Konsul  von  Brügge, 
Nicholetto  Contarini,  der  erste,  den  wir  mit  Namen 
kennen'),  vor  dem  Sieger  von  Cr^cy  erschien  und  um 
einen  königlichen  Geleitsbrief  für  die  vier  flandrischen 
Galeeren  Venedigs  nachsuchte. 


')  MUH  Senate  XV,  1  bei  Brown,  Cal,  1,  7,  no.  22. 

«)  Pirenne  II,  122  ff. 

»)  Rymer,  Foedera  III,  116  (Rec.  Ed.).  Cal.  of  Ciose  Rolls, 
Edw.  I!I,  1346—1349,  p.  210  (mit  der  verstümmelten  Namensform: 
Nie.  de  Comaryn). 


Louis  Erhardt. 

Von 

Friedrich  Meinecke. 


Was  Louis  Erhardt  der  Historischen  Zeitschrift  ge- 
wesen ist,  habe  ich  im  Geleitworte  zum  100.  Bande  der 
Historischen  Zeitschrift  angedeutet,  habe  aber  dabei  nur 
eben  eine  Seite  von  dem,  was  er  für  sie  geleistet,  be- 
rührt. Jetzt  ist  es  mir  eine  wehmütige  Genugtuung,  daß 
ihm  diese  Dankesworte,  die  ich  ihm  öffentlich  schuldete, 
in  den  letzten  umwölkten  Wochen  seines  Lebens  noch 
eine  kleine  Freude  bereitet  haben.  Am  21.  Januar  d.  J. 
hat  er,  gequält  durch  langjährige  Nervenschwäche  und 
tiefe  Melancholie,  durch  eigene  Hand  geendet.  Sein 
Leben,  und  insbesondere  sein  wissenschaftliches  Leben, 
hat  auch  im  früheren  Verlaufe  von  außen  viel  mehr 
Schatten  als  Sonne  empfangen.  So  sind  die  starken 
Keime,  die  in  ihm  lagen,  nicht  zu  ihrer  vollen  Entwick- 
lung gekommen,  und  so  ist  auch  sein  Name  nicht  weit 
über  den  Leserkreis  der  Historischen  Zeitschrift  hinaus- 
gedrungen, und  innerhalb  dieses  waren  es  auch  nur  ganz 
wenige,  die  den  vollen  Wert  dieses  herrlichen  Menschen 
ganz  kannten.  Ihre  Freundespflicht  ist  es,  jetzt  zu  sagen^ 
was  man  an  ihm  verloren  hat. 

Er  wurde  am  21.  September  1857  in  Gadebusch 
geboren,  verlor  früh  seinen  Vater  und  wuchs  in  be- 
drängter äußerer  Lage  auf.  Die  Energie  seiner  Mutter 
und  die  Hilfe   der  älteren  Geschwister  ermöglichten  es, 


Louis  Erhardt.  91 

daß  er  das  Gymnasium  in  Schwerin  besuchen  und  seit 
Ostern  1875  in  Göttingen,  Berlin  und  Leipzig  studieren 
konnte.  In  Leipzig  promovierte  er  im  Dezember  1878, 
dann  kamen  bis  1882  Jahre  des  Hauslehrerlebens,  die 
ihn  bis  nach  Rumänien  führten.  Zurückgekehrt,  lebte 
er  als  Schriftsteller  und  Privatgelehrter,  der  sich  auf  die 
Habilitation  vorbereitet,  vorzugsweise  in  Berlin.  Die 
Folgen  eines  schweren  Typhus  in  den  Jahren  1883  oder 
1884  knickten  seine  Arbeitskraft  derart,  daß  er  erst  1893 
mit  dem  Werke,  das  seiner  Habilitation  dienen  sollte, 
der  „Entstehung  der  homerischen  Gedichte"  (erschienen 
1894)  fertig  wurde.  Damals  lernte  ich  ihn  durch  Ver- 
mittlung Sybels,  der  ihn  seit  Jahren  schätzte,  kennen  als 
einen  tieferschöpften  und  mit  dem  letzten  Aufgebot 
seiner  Kräfte  ringenden  Mann,  der  auch  mit  seinen  mate- 
riellen Hilfsquellen  zu  Ende  war.  Sybel  nahm  ihn  in 
den  preußischen  Archivdienst,  beim  Geheimen  Staats- 
archiv in  Berlin,  auf  und  sicherte  ihm  dadurch  wenigstens 
seine  äußere  Existenz.  Aber  sein  Buch,  das  er  „blut- 
schwitzend'', so  drückte  er  sich  damals  aus,  zu  Ende 
führte,  brachte  ihm  eine  herbe  Enttäuschung.  Die  philo- 
logische Kritik  lehnte  es  zumeist,  zum  Teil  in  recht  bru- 
talem Tone,  ab  oder  ignorierte  es,  und  die  philosophische 
Fakultät  der  Berliner  Universität  wies  1894  sein  Habili- 
tationsgesuch zurück.  Noch  eine  andere  schwere  Lebens- 
erfahrung kam  damals  hinzu;  seine  Schwingen  waren 
seitdem  geknickt,  und  so  kräftig  sich  auch  sein  stolzer 
wissenschaftlicher  Charakter  behauptete,  mit  Mut  und 
Kraft  für  größere  Leistungen  war  es  vorbei.  Das,  was 
er  noch  schaffen  konnte,  kam  der  Historischen  Zeitschrift 
einerseits  und  dem  Archivdienste  anderseits  zugute.  Für 
die  Historische  Zeitschrift  hat  er  seit  1893  die  drei  ersten 
Abteilungen  der  „Notizen  und  Nachrichten"  über  fünf 
Jahre  allein  bearbeitet,  dann  sich  entlasten  lassen,  aber 
die  Abteilung  „Allgemeines"  bis  zum  Jahre  1905  (Bd.  95, 1) 
fortgeführt.  Eigentlich  aber  war  er  in  den  Jahren,  in 
denen  ich  mit  ihm  zusammen  am  Geheimen  Staatsarchiv 
beschäftigt  war,  der  Mitredakteur  unserer  Zeitschrift 
überhaupt,  weil  ich  das  Bedürfnis  fühlte,   in  jeder  wich- 


92  Friedrich  Meinecke, 

tigeren  Angelegenheit  sein  immer  selbständiges  und 
charaktervolles  Urteil  zu  hören.  Als  Archivar  wurde  er 
bald  einer  der  tätigsten  Beamten  des  Archivs,  der  nicht 
nur  unermüdlich  und  hingebend  im  kleinen  war,  sondern 
auch  mit  dem  Sinne  für  System  und  Zusammenhang,  der 
ihm  eigen  war,  die  größeren  organisatorischen  Aufgaben 
seines  Berufes  einsichtig  förderte.  Man  konnte  aus  der 
konzentrierten,  fast  verbissenen  Energie,  mit  welcher  der 
körperlich  oft  Leidende  jede  Arbeit  hier  anpackte,  ent- 
nehmen, was  für  eine  hohe  moralische  Spannkraft  in 
ihm  steckte,  und  ab  und  zu  blitzten  im  Verkehr  mit 
seinen  Freunden  auch  noch  hellere  und  freudigere  Seiten 
an  ihm  auf.  Auch  wir  wußten  freilich  nicht  immer,  was 
ihn  innerlich  bewegte,  denn  er  verbarg  uns  manches 
Schmerzliche,  was  er  erfahren,  verbarg  uns  auch,  daß 
er  in  eigener  Dichtung  Freude  und  Trost  suchte  und 
sogar  ein  wirklicher  Dichter  zu  sein  glaubte.  Aber  wir 
meinen  trotzdem  ihn  gekannt  zu  haben.  Wir  liebten 
ihn  um  seines  goldreinen,  warmen  und  treuen  Gemütes, 
um  seines  unbeugsamen  Idealismus  willen,  und  freuten 
uns  auch  des  Eckigen  und  des  Altmodischen,  das  dieser 
Idealismus  hatte,  da  er  sich  oft  zu  hartnäckigem  Morali- 
sieren versteifte  und  gern  auf  Dinge  schalt,  die  man 
tragen  muß,  aber  schwer  bessern  kann.  Solch  Rigoris- 
mus schloß  eine  behaglich-harmlose  Lebensfreude  aber 
nicht  aus,  und  zuweilen  kam  selbst  der  derb-gutmütige 
Mecklenburger,  der  auch  in  ihm  saß,  zum  Vorschein, 
aber  mehr  und  mehr  wurden  solche  Regungen  gegen 
Ende  seines  Lebens  wieder  erstickt  durch  den  Druck 
seiner  körperlichen  Hinfälligkeit.  Sein  Junggesellenleben 
wurde  einsamer  und  düsterer,  seine  Briefe  klangen  immer 
trüber,  und  mit  seinem  eigensinnigen  Pessimismus  ver- 
sperrte er  sich  auch  die  Wege,  die  zu  seiner  Genesung 
oder  wenigstens  zur  Milderung  seiner  Neurasthenie  viel- 
leicht führen  konnten.  So  kam  denn  die  Katastrophe, 
ein  Akt  akuter  Melancholie,  aber  vorbereitet  durch  alles 
Schwere  seines  Lebens. 


Louis  Erhardt.  93 

Erhardts  wissenschaftliche  Bedeutung  genau  zu  be- 
zeichnen, könnte  nur  jemandem  gelingen,  dem  seine 
beiden  Hauptarbeitsgebiete,  die  altgermanische  und  die 
altgriechische  Zeit,  gleichmäßig  vertraut  wären.  Ich  kann 
hier  nur  eben  versuchen,  die  allgemeinen  Eindrücke,  die 
mir  seine  Schriften  machen,  zu  ergänzen  aus  der  Kennt- 
nis seiner  Persönlichkeit.  Diese  aber  wieder  war  ein 
wissenschaftlicher  Wert  für  sich.  Das  Wertvolle  an  ihr 
war  die  unbedingte  Selbständigkeit,  die  innere  geistige 
Freiheit,  die  Freiheit  insbesondere  von  Schulmeinung 
und  Menschenfurcht,  die  stolze  Verachtung  alles  äußeren 
Klüngels,  aller  gemachten  Autoritäten.  Es  war  eine 
wahre  Freude,  inmitten  des  Schwarmes  von  Gelehrten, 
die  nach  Schulen  und  Richtungen  sich  abstempeln  lassen 
und  andere  wieder  abstempeln,  einmal  einem  Manne  zu 
begegnen,  der  ganz  autonom  einherging  und  ein  echter 
Republikaner  der  Gelehrtenrepublik  war.  Es  ist  mir  nicht 
einmal  der  besondere  Einfluß  eines  bestimmten  Lehrers 
aus  seiner  Studienzeit  mit  Sicherheit  bekannt.  Er  sprach 
am  meisten  noch  von  Noorden  und  von  Steinthal,  zu  dem 
er  jedenfalls  dann  in  ein  nahes  persönliches  Verhältnis  trat. 
Er  lernte  gleichmäßig  von  Historikern,  Sprachforschern 
und  klassischen  Philologen,  und  es  wurde  dann  der  Ge- 
danke und  der  Ehrgeiz  seines  eigenen  Forscherlebens, 
eine  Synthese  dieser  drei  Wissenschaften  darzustellen, 
weil  nach  seiner  Meinung  nur  durch  sie  das  Gebiet, 
dem  seine  Neigung  galt,  die  Frühzeit  der  indogerma- 
nischen Völker,  aufgehellt  werden  konnte.  Daß  die  vor- 
und  frühgeschichtliche  Forschung  auch  noch  weiter  aus- 
greifen muß  und  mit  Anthropologie,  Ethnologie,  Geo- 
logie usw.  Hand  in  Hand  gehen  muß,  hat  er  selbst 
grundsätzlich  später  in  vollem  Umfange  anerkannt,  wie 
sein  letzter,  in  der  Historischen  Zeitschrift  Bd.  98  er- 
schienener Aufsatz  über  die  Anfänge  und  Grundbedin- 
gungen der  Geschichte  zeigt;  aber  im  ganzen  blieb  er 
auf  der  historisch-philologisch-linguistischen  Basis,  die 
er  sich  durch  seine  Erstlingsarbeiten  über  „Kelten,  Belgier 
und  Germanen"  1878  und  „Älteste  germanische  Staaten- 
bildung"  1879  erobert  hatte.     Er  versuchte  hier  nachzu- 


94  Friedrich  Meinecke, 

weisen,  daß  Nervier  und  Trevirer  germanische  Stämme 
gewesen  seien,  betonte  aber  anderseits  sehr  stark  das  Ver- 
wandte in  den  Zuständen  der  Kelten  und  Germanen  und 
führte  die  germanische  Staatenbildung  zurück  auf  die  krie- 
gerisch-monarchischen Bedürfnisse  der  Wanderzeit.  Krie- 
gerische Verbände  unter  je  einem  Führer  bilden  die  Grund- 
lage der  späteren  Gaue,  der  princeps  des  Tacitus  ist  der 
Gaufürst  von  mehr  monarchischem  als  republikanischem 
Charakter.  Kriegerische  Bedürfnisse  können  zum  Zu- 
sammenschluß mehrere  Gaue  zu  einer  civitas  und  zu 
einem  Königtume  führen.  So  ist  es  eine  organische, 
allmähliche  Entwicklung,  die  von  der  Wanderzeit  zum 
Königtum  der  Völkerwanderung  hin  führt,  und  eine  wirk- 
liche „Staatenbildung",  die  die  Germanen  schon  zur  Zeit 
Cäsars  vollzogen  und  durch  die  sie  bewiesen,  daß  sie 
keine  so  rohen  Barbaren  waren,  wie  man  sie  sich  oft 
vorstellt.  Diese  Grundgedanken  seiner  Schrift:  Relative 
Reife  der  germanischen  Zustände,  enge  Verwandtschaft 
der  indogermanischen  Völker  untereinander,  allmähliches, 
stetiges  Wachstum  in  ihren  Urzuständen  aus  hoher 
innerer  Begabung  heraus,  —  hat  er  sein  ganzes  Leben 
durch  mit  fast  romantischer  Gesinnung  festgehalten  und 
jede  Forschung,  die  nicht  zu  ihnen  stimmte,  als  Verkehrt- 
heit getadelt  (vgl.  z.  B.  seinen  gegen  Wittich  und  Hilde- 
brand gerichteten  Aufsatz  „Staat  und  Wirtschaft  der  Ger- 
manen zur  Zeit  Cäsars",  Hist.  Zeitschr.  Bd.  79).  In  seinen 
letzten  Lebensjahren  noch  war  es  ihm  vergönnt,  einen 
Lieblingsgedanken  seiner  Jugend  wieder  aufzunehmen 
und  seine  Hypothese  über  Einwanderung  der  Germanen 
und  Urheimat  der  Indogermanen  zu  entwickeln  (Histor. 
Vierteljahrschrift  8,  1905).  Da  malt  er  es  denn  aus,  wie 
sich  der  indogermanische  Stamm  am  Fuße  des  Kaukasus 
im  Laufe  von  Jahrtausenden  entwickelt  hat  „zu  einer 
besonderen  Rasse  von  wundervoller  Eigenart,  voll  reicher, 
aber  nicht  ausschweifender  Phantasie,  voll  Energie  und 
Kraft  zu  wirken,  lebensfroh  und  sterbensmutig".  Er 
sprach  damit  auch  sein  eigenes  Charakterideal  aus,  das 
festzuhalten  ihm  doch  so  furchtbar  schwer  gemacht 
wurde  durch  sein  Schicksal. 


Louis  Erhardt.  95 

So  haben  Phantasie  und  Gemüt  seine  eigene  For- 
schung immer  getragen  und  ihre  Resultate  beeinflußt. 
Aber  auch  dieser  letzte  Aufsatz,  wo  er  sich  am  weitesten 
herauswagte  mit  seiner  Phantasie,  beruhte  in  den  Dar- 
legungen über  die  Einwanderung  der  Germanen  auf  einer 
feinfühligen  kritischen  Analyse  der  Taciteischen  Angaben. 
Und  die  Sorgfalt  und  Schärfe  seiner  Quellenbenutzung 
und  Kritik  wurde  schon  seinen  Erstlingsschriften  von 
solchen  nachgerühmt,  die  seine  Resultate  sonst  nicht 
annehmen  wollten.  Seine  sachkundigen  und  strengen 
Rezensionen  frühgermanischer  Forschungen  in  der  Histo- 
rischen Zeitschrift  und  den  Göttinger  Gelehrten  Anzeigen 
genossen  in  den  achtziger  Jahren  großes  Ansehen.  So 
will  es  einem  nicht  so  recht  in  den  Sinn,  daß  Erhardt, 
als  er  auf  das  Gebiet  der  griechischen  Urgeschichte 
überging,  zum  reinen  Dilettanten  geworden  sein  und 
seine  gute  Methode  ganz  vergessen  haben  sollte.  Viel- 
mehr glaube  ich,  daß  die  klassischen  Philologen  sich 
die  Kritik  der  Erhardtschen  Homerhypothese  etwas  zu 
leicht  gemacht  haben.  Sie  widersprach  den  augenblick- 
lich herrschenden  Meinungen  und  fand  nicht  die  Gnade 
der  Meister  vom  Stuhle,  und  ich  will  auch  nicht  leugnen, 
daß  der  Hang  zu  einem  eigensinnigen  Doktrinarismus, 
den  unser  Freund  hatte,  seine  Arbeitsweise  geschädigt 
haben  könnte,  als  er  an  die  Aufhellung  der  Entstehungs- 
geschichte der  homerischen  Gedichte  ging.  Aber  wer 
mit  unbefangenem  Sinne  die  große  Einleitung  seines 
Homerbuches  auf  sich  wirken  läßt,  muß  zugeben,  daß 
hier  ein  ungewöhnlich  fester,  ernster  und  reifer  Kopf 
spricht,  daß  hier  eine  geistvolle,  bedeutende  und  inner- 
lich durchaus  mögliche  Auffassung  von  der  Entstehung 
der  homerischen  Epen  vorgetragen  wird.  Es  ist  weitaus 
das  Beste,  was  Erhardt  geschrieben  hat,  und  es  sollte 
nicht  in  Vergessenheit  geraten.  Und  ich  halte  es  gar 
nicht  für  ausgeschlossen,  daß  das  Buch  noch  eine  Zu- 
kunft hat  und  spätere  Forscher  daran  wieder  anknüpfen 
können. 

Erhardt  kam  zu  Homer  durch  seine  Lieblingsidee 
von  der  Vergleichbarkeit  altgermanischer  und  altgriechi- 


96  Friedrich  Meinecke, 

scher  Zustände.  Er  studierte  die  ältesten  griechischen 
Verfassungsverhältnisse  und  fand  bald,  daß  er  sich  den 
Weg  dazu  erst  bahnen  müsse  durch  die  Untersuchung 
der  Hauptquelle,  eben  der  homerischen  Gedichte.  Er 
kehrte  sich  dabei  nicht  an  das,  was  die  Notabilitäten  der 
klassischen  Philologie  gerade  lehrten,  sondern  knüpfte 
an  die  älteren  Gedanken  Jakob  Grimms  und  Wilhelm 
V.  Humboldts  über  das  Wesen  des  Volksepos  und  des 
Volksgeistes  an,  wobei  er  übrigens  einen  Anhalt  an 
der  von  Lazarus  und  Steinthal  begründeten,  ja  auch 
von  Humboldt  ausgehenden  Richtung  der  Völkerpsycho- 
logie hatte.  Durch  eine  eindringende  Analyse  des  Inhalts 
der  Ilias  bestätigte  sich  ihm  die  Auffassung,  daß  die 
homerischen  Gedichte  Volksepen  im  strengsten  Sinne  des 
Wortes  seien,  Schöpfungen  des  altgriechischen  Volks- 
geistes in  jahrhundertelanger  Arbeit,  in  denen  schlecht- 
hin nirgends  eine  einzelne  Dichterpersönlichkeit,  nirgends 
ein  zusammenfassender  Dichterplan  zutage  trete.  Wie 
der  Baum  mit  seinen  Jahresringen,  so  seien  auch  diese 
Epen  gewachsen,  auf  Schritt  und  Tritt  spüre  man  bei  ^ 
ihrer  Analyse  hier  Verwitterung,  dort  frische  Triebe, 
überall  aber  unabsichtliche  Entwicklung  und  deswegen 
Widersprüche  und  Diskrepanzen  in  allem,  die  man  aber 
nicht  mit  hochmütiger  und  skeptischer  Kritik  bemäkeln, 
sondern  als  organisch  Gewordenes  anzuerkennen  habe. 
Diese  Auffassung  vom  schaffenden  Volksgeiste,  wie  er 
sie  hier  vertrat,  verdient  durchaus  nicht  den  Vorwurf,  daß 
sie  mystisch-verschwommen  sei,  denn  er  dachte  sich, 
gemäß  den  Überlieferungen  selbst  und  den  Analogien 
anderer  Volksdichtung,  den  Hergang  ganz  konkret  so, 
daß  berufsmäßige  Sänger  Generationen  hindurch  die 
Hauptträger  des  epischen  Gesanges  gewesen  seien, 
aber  sie  fungierten  dann  eben  mehr  als  Sänger  wie 
als  Dichter,  mehr  als  Organe  ihrer  Volksgenossenschaft, 
als  priesterliche  Werkzeuge  der  Musen  denn  als  Indi- 
vidualitäten. Er  leugnete  durchaus  nicht,  daß  auch  große 
Dichter  unter  diesen  Sängern  gewesen  sein  konnten,  die 
nebenher,  wo  sie  anderes  dichteten,  vielleicht  schon  als 
Individuen   dichten   mochten,  aber,  wenn  sie  mitwirkten 


Louis  Erhardt.  97 

am  Volksgesang  y  unwillkürlich  hineingerissen  wurden 
in  dessen  Strom  und  so  ihr  Selbst  auslöschten.  Dem 
Einwände,  daß  die  homerischen  Epen  doch  trotz  aller 
Brüche  im  einzelnen  große  Einheiten  im  ganzen  bildeten, 
die  zum  mindesten  auf  eine  individuelle  Redaktoren- 
tätigkeit deuteten,  konnte  er  leicht  begegnen,  indem  er 
genau  zwischen  äußerer  und  innerer,  formaler  und  vir- 
tueller Einheit  unterschied.  Die  formale  und  äußere 
Einheit  einer  individuellen  Dichtung  oder  Zusammen- 
arbeitung von  Dichtungen  besitzen  die  Epen  nicht,  wohl 
aber  jene  virtuelle  Einheit,  wie  sie  auch  die  Sprache 
eines  Volkes  hat,  eine  innere  Einheit  der  Handlung,  die 
von  vornherein,  lange  vor  der  Ausbildung  der  Volks- 
epik selbst  schon,  keimhaft  vorhanden  war  in  einfachen 
Naturmythen;  um  diese  setzte  sich  dann  Schicht  auf 
Schicht,  es  kam  auch  historischer  Stoff  hinein,  es  kam 
innerhalb  des  überlieferten  Rahmens  ferner  zur  Aus- 
bildung größerer  und  kleinerer  Rhapsodien,  Lieblings- 
^  stücke  des  Volkes,  die  aber  immer,  darin  wich  er  von 
der  Lachmannschen  Theorie  ab,  im  Zusammenhange  der 
einheitlichen  Kernhandlung  ausgebildet  und  überliefert 
wurden. 

Seine  Hauptthese  ist  also,  daß  die  Gesamtheit,  ohne 
Eingreifen  einzelner  individueller  Genies,  diese  Epen 
so  schaffen  konnte,  wie  sie  uns  vorliegen.  Das  ist  das 
große  und  interessante  Problem,  das  er  aufstellte  und 
das  ernsthafter  erwogen  zu  werden  verdient,  als  es  ge- 
schehen ist.  Man  muß  sich  dabei  ganz  freimachen  von 
allen  Schlagworten  und  Vorurteilen  kollektivistischer  oder 
individualistischer  Art.  Natürlich  kann  man  sich  keine 
geniale  Dichtung  ohne  Dichtergenie  denken,  aber  das 
dichterische  Genie  selbst  wird  ja  von  der  Erhardtschen 
Theorie  auch  nicht  ausgemerzt.  Nur  seine  Individualität 
läßt  sie,  nicht  etwa  untergehen,  sondern  aufgehen  im 
Strome  der  Volksdichtung  und  sich  priesterlich  ihr  hin- 
geben. Es  ist  deswegen  so  verfehlt  wie  nur  möglich, 
wenn  man  der  Erhardtschen  Auffassung  eine  demokra- 
tische und  nivellierende  Tendenz  vorgeworfen  und  sie  in 
Zusammenhang  gebracht  hat  mit  dem  modernen  sozio- 

Hittoritcbe  Zeitochrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  7 


■98  Friedrich  Meinecke, 

logischen  Kollektivismus  (vgl.  Pöhlmanns  Aufsatz  über 
Erhardts  Buch,  Histor.  Zeitschr.  Bd.  73).  Niemand  konnte 
schärfer  über  die  modernen  Soziologen  sprechen  als 
Erhardt,  wie  seine  langjährige  Mitarbeit  an  den  Notizen 
und  Nachrichten  dieser  Zeitschrift  beweist.  Wenn  man 
denn  seine  Auffassung  vom  Verhältnis  des  Individuums 
zur  Gesamtheit  Kollektivismus  nennen  will,  so  war  es  ein 
Kollektivismus  von  ganz  anderem  Schlage  als  der  gewöhn- 
liche moderne.  Dieser  sucht  in  den  kollektiven  Größen 
die  streng  kausal  wirkenden  Faktoren  auf,  die  das  Leben 
des  einzelnen  bestimmen,  und  erkennt  dabei  in  Natur 
und  Geschichte  nur  eine  und  dieselbe  Art  von  Kausa- 
lität an.  Der  Erhardtsche  Kollektivismus  sah  in  den  kol- 
lektiven Größen  die  Mächte,  denen  der  einzelne  sich  mit 
sittlicher  Tat  hingeben  müsse,  sah  „die  wahre  geistige 
Freiheit  im  Erkennen  und  Vollbringen  des  Notwendigen* 
und  glaubte  an  eine  besondere  geistige  Kausalität,  an 
höhere  geistige  Notwendigkeiten  in  der  Geschichte,  die 
über  den  kausalen  Bedingtheiten  im  einzelnen  stünden. 
In  der  Humboldtschen  Ideenlehre,  die  er  vor  Jahren  in 
dieser  Zeitschrift  (Bd.  55)  eindringend  interpretiert  hat, 
sah  er  die  klassische,  für  alle  Zeiten  gültige  Begründung 
dieses  Glaubens.  Wer  aber  zu  Humboldt  schwört,  wird 
wohl  nicht  in  Verdacht  geraten,  für  den  modernen  Kol- 
lektivismus etwas  übrig  zu  haben. 

Demnach  war  es  also  ein  rein  ethischer  Kollektivis- 
mus, den  Erhardt  vertrat.  Er  sah  diejenigen  Perioden 
der  Geschichte  als  die  fruchtbarsten  und  größten  an,  in 
denen  der  einzelne  demütig  und  treu  dem  Ganzen,  in 
dem  er  lebt,  der  Aufgabe,  die  ihm  Zeit  und  Geschick 
stellen,  seine  Kraft  widme.  So  hat  er  gedacht  und  so 
hat   er   selbst   gelebt.^)     Er    hielt   deswegen    die    Über- 


')  Sehr  schön  hat  dies  der  Nachruf,  den  O.  Hintze  ihm  im 
Verein  für  Geschichte  der  Mark  Brandenburg  (SitzungsprotokoU 
vom  12.  Februar  1908)  gewidmet  hat,  ausgedrückt:  „Es  ist  eine 
großartige  Selbstlosigkeit  in  seiner  Tätigkeit  (als  Archivar).  Es 
wurde  ein  Ziel  seines  Lebens,  da  er  selbst  auf  eigene  große  Er- 
folge nicht  mehr  ausging,  andere  zu  fördern,  für  ein  Allgemeines 
seine  Kräfte  einzusetzen.^ 


Louis  Erhardt.  99 

Schätzung  des  Individuums  allerdings  für  eine  Zeitkrank- 
heit und  fand  auch  im  mündlichen  Gespräche  nicht 
scharfe  Worte  genug  für  die  lächerliche  Anmaßung  derer, 
die  um  jeden  Preis  ihre  kleine  Individualität  geltend 
machen  wollen.  Und  er  ging  so  weit,  sich  die  Gegner- 
schaft gegen  die  Anerkennung  des  Volksepos  aus  dem 
„Sträuben  des  Individuums  gegen  die  Anerkennung  der 
Volkstätigkeit  überhaupt,  dem  Verkennen  der  wahren 
Bedeutung  des  Volkes  und  des  Volksgeistes''  zu  erklären. 
Es  tritt  hier  deutlich  zutage,  wie  er  in  den  von 
Humboldt  und  den  Romantikern  ausgebildeten  Lehren 
vom  Volksgeiste  und  von  dem  geistigen  Charakter  der 
die  Geschichte  im  großen  beherrschenden  Mächte  zu- 
gleich aufs  festeste  wurzelte  und  sie  doch  mit  einer  ganz 
persönlichen  Nuance  ethisch  weiterbildete  und  anwandte. 
Wenn  wir  im  Freundeskreise  mit  ihm  zusammensaßen, 
spürten  wir  oft  diese  seine  Eigenart  und  spürten  zugleich, 
daß  er  von  etwas  anderem,  älterem  Schlage  war  als  wir, 
daß  er  näher  und  enger  an  die  Zeit  Humboldts  und 
Grimms  heranreichte,  daß  er  viel  mehr  Glaubenskraft, 
viel  weniger  Skepsis  hatte,  als  der  durchschnittliche 
moderne  Forscher  heute  hat.  Immer,  wenn  wir  relativierten, 
war  er  der  Absolutierende.  Aber  er  widerlegte  zugleich 
dabei  in  jedem  Augenblicke  das  Wort,  das  er  in  seiner 
Homereinleitung  gewagt  hat:  „Gerade  in  der  Wissen- 
schaft tritt  das  Individuelle  ganz  zurück."  Seine  Freunde 
werden  ihn  nie  vergessen  und  wünschen,  daß  auch  die 
Wissenschaft  ihn  nicht  vergessen  möchte. 


?♦ 


Miszellen. 


Zu  Johannes  Ronge. 

Von 
Hermann  Oncken. 

Der  jüngst  in  dieser  Zeitschrift  (Bd.  99,  S.  515—530)  unter- 
nommene Versuch  G.  Kaufmanns,  den  politisch  -  religiösen 
Charakter  von  Johannes  Ronge  gegenüber  der  Schilderung 
Treitschkes  in  eine  richtige  Beleuchtung  zu  rücken,  dürfte  durch 
die  Mitteilung  des  unten  folgenden  Briefes  aus  dem  Jahre  1861 
ergänzt  werden.  Der  in  den  Akten  des  Nationalvereins  ^)  auf- 
bewahrte Brief  ist,  allem  Anschein  nach,  an  den  Rechtsanwalt 
Feodor  Streit  in  Koburg,  damals  Ausschußmitglied  und  Ge- 
schäftsführer des  Nationalvereins,  gerichtet.  Er  läßt  die  cha- 
rakteristischen Züge  des  Mannes  deutlich  hervortreten:  Haß 
gegen  die  katholische  Hierarchie,  Drang  zur  agitatorischen 
Tätigkeit,  ein  redliches  patriotisches  Streben,  das  von  eigen- 
süchtigen und  eiteln  Motiven  und  auch  von  der  „Verbitterung 
einer  elfjährigen  Verbannung*  (G.  Kaufmann  a.  a.  0.)  frei  er- 
scheint; daneben  aber  eine  völlige  Unklarheit  darüber,  ob  sich 
Politik  und  Religion,  deren  Trennung  er  als  prinzipiell  not- 
wendig anerkennt,  auf  dem  von  ihm  vorgeschlagenen  Wege 
würden  praktisch  auseinanderhalten  lassen. 


*)  Die  Akten  des  Nationalvereins,  soweit  sie  bei  den  Geschäfts- 
führern des  Ausschusses  (erst  Streit,  dann  Nagel)  erwachsen 
sind,  wurden  bei  der  im  Jahre  1867  erfolgten  Auflösung  an 
Rudolf  v.  Bennigsen  abgeliefert  und  beruhen  noch  heute  auf 
dem  Gute  zu  Bennigsen.  Sie  sind  nur  zum  Teil  geheftet  und 
geordnet.  Ihrem  Ursprung  entsprechend,  enthalten  sie  über- 
wiegend geschäftliche  Papiere;  was  an  poütischem  Gehalte  In 
ihnen  steckt,  habe  ich  in  dem  ersten  Bande  meiner  demnächst 
erscheinenden  Biographie  Bennigsens  zu  verwerten  gesucht. 


Zu  Johannes  Ronge.  101 

Wie  sich  aus  den  Akten  des  Nationalvereins  ergibt,  wurde 
der  Antrag  Ronges  von  den  Leitern  des  Vereins  abgelehnt, 
nicht  nur  aus  dem  formalen  Grunde,  daß  eine  solche  aus- 
drückliche Bevollmächtigung,  wie  sie  gewünscht  ward,  über- 
hanpt  nicht  üblich  war,  sondern  vor  allem  auf  Grund  einer 
naheliegenden  sachlichen  Erwägung.  Wie  konnte  der  National- 
verein seine  wesentlich  politische  Agitation  durch  die  Person 
Ronges  mit  rein  kirchlichen  Bestrebungen  in  Verbindung 
bringen:  das  hieß  alle  Katholiken,  die  in  ihrer  Kirche  zu 
bleiben  gedachten,  von  vornherein  vor  den  Kopf  stoßen! 
Das  Verhältnis  zu  den  Katholiken  war  überhaupt  die  schwache 
Seite  des  Nationalvereins,  da  seine  (mehr  oder  minder  her- 
vortretende) kleindeutsche  Tendenz  mit  ihrer  Ausschaltung 
der  Deutschösterreicher  tatsächlich  die  Zerspaltung  der  deut- 
schen Katholiken,  in  ihrer  kulturellen  Einheit  wie  in  ihrem 
politischen  Zusammenhange,  zur  Folge  haben  mußte.  Diese 
ausschließende  Tendenz  durfte  durch  die  enge  Verbindung 
mit  einer  so  ausgesprochenen  Persönlichkeit  nicht  noch  weiter 
verstärkt  werden.  Das  Problem,  in  einem  konfessionell  seit 
Jahrhunderten  gespaltenen  Volke  neue  Formen  staatlicher 
Einheit  zu  finden,  hing  so  wie  so  mit  den  Lebensinteressen 
der  Konfessionen  aufs  innerlichste  zusammen,  und  die  poli- 
tische Machtentscheidung  trug  in  ihren  Falten,  wie  auch  die 
Folge  gezeigt  hat,  eine  Neubelebung  der  alten  kirchlichen 
Gegensätze,  die  in  der  Anarchie  des  alten  Reiches  im  18.  Jahr- 
hundert mehr  und  mehr  zurückgetreten  war,  in  dem  neuen 
Reiche  aber  vom  ersten  Augenblick  an  sich  wieder  erhoben. 

Breslau,  den  24.  April  1861. 
Ich  habe  Ihr  freundliches  Schreiben  voriges  Jahr  in  London 
erhalten  und  habe  mich  im  Londoner  Nationalverein  als  Mit- 
glied einschreiben  lassen.  Seitdem  habe  ich  Gebrauch  von  der 
Amnestie  gemacht  und  befinde  mich  seit  5  Wochen  in  Breslau. 
Die  politischen  Verhältnisse  in  Deutschland  sind  der  Art,  daß 
ich  es  für  Pflicht  halte,  auch  als  Staatsbürger  thätig  zu  sein 
und  namentlich  für  die  Zwecke  des  Nationalvereins  zu  wirken, 
obgleich  ich  viel  für  die  religiöse  Reform  zu  tun  finde.  Es  liegt 
wohl  klar  auf  der  Hand,  daß  die  religiöse  Reform  leidet,  wenn 
das  Vaterland  im  Großen  leidet,  und  daß  die  politische  Reform 


102  Hermann  Oncken, 

Schritt  halten  muß  mit  der  religiösen.  Der  Mangel  an  Einheit 
der  religiösen  und  politischen  Reformen  des  Mittelalters  hat 
uns  bekanntlich  viel  geschadet  und  ich  will  für  meinen  Teil 
nicht  einen  ähnlichen  Fehler  begehen  in  unsrer  Zeit.  Wenn 
ich  es  aber  für  Pflicht  halte,  die  Einheit  und  Selbständigkeit 
Deutschlands  mit  Rücksicht  auf  seine  politische  oder  staatliche 
Form  zu  fördern,  so  verwechsle  ich  durchaus  nicht  Religion 
und  Politik  und  würde  durchaus  nicht  die  Gemeinden  benutzen, 
um  meine  individuelle  politische  Oberzeugung  zur  Geltung  zu 
bringen.  Niemals  werde  ich  politische  Gegenstände  auf  der 
Kanzel  verhandeln.  Aber  ich  bin  nicht  bloß  Prediger,  sondern 
auch  Staatsbürger  und  nach  meiner  religiösen  Anschauung 
sind  die  Pflichten  für  die  Nation  religiöse  Pflichten.  Denn 
wenn  die  Liebe  zum  einzelnen  Mitmenschen  Sache  der  Moral 
ist,  so  muß  die  Liebe  zu  Millionen  meiner  Mitmenschen,  welche 
meine  Nation  ausmachen,  im  höheren  Grade  Sache  der  Moral  sein. 
Ich  schickte  diese  wenigen  Sätze  voraus,  um  meinen  Vor- 
schlag zu  begründen  oder  verständlicher  zu  machen.  Dieser 
geht  dahin  „Daß  Sie  mir  von  Seiten  des  Vorstandes 
die  Vollmacht  geben  neue  Vereine  zu  begründen 
oder  Mitglieder  zu  werben  und  Versammlungen 
anzuregen,  zu  halten  etc.  in  den  verschiedenen 
Städten  wo  ich  Elemente  vorfinde*.  Ich  bereise  jetzt 
die  meisten  größeren  und  kleineren  Städte  und  kann  in  dieser 
Beziehung  viel  thun.  Leider  finde  ich  in  Schlesien  noch  gar 
wenig  gethan.  Wir  haben  selbst  in  Breslau  noch  keine  Ver- 
sammlung gehabt.  Es  gehört  mehr  Begeisterung,  Schwung 
und  Organisationstalent  zu  dieser  Sache  und  ich  will  meine 
Kräfte  gerne  verwerten.  Bis  jetzt  habe  ich  bei  vielen  Politikern 
eine  schädliche  Rücksichtsnahme  auf  die  katholische  Hierarchie 
und  das  Pfaffentum  gefunden  und  man  hat  die  Reformpartei, 
weil  sie  numerisch  kleiner  ist,  geradezu  verleugnet.  Indes 
nutzt  dies  zarte  Rücksichtnehmen  unter  den  Katholiken  nichts, 
und  auf  der  anderen  Seite  werden  die  tätigen  Kräfte  der 
Reformpartei  unbenutzt  gelassen.  Die  katholische  Geistlichkeit 
und  orthodoxe  Katholiken  werden  uns  wahrlich  nicht  helfen, 
ein  einiges  Deutschland  zu  schaffen.  Der  polnische  Aufstand 
hat  wieder  klar  gezeigt,  welch  eine  Thorheit  es  ist,  sich  auf 
das  Pfaffentum    zu   stützen    bei    einer   Fortschrittsbewegung! 


Zu  Johannes  Ronge.  103 

Das  Pfaffentum  ist  faul  durch  und  durch  und  lasterhaft,  und 
jede  Bewegung,  die  sich  mit  ihm  in  Verbindung  setzt,  muß 
notwendig  verunglücken. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  ich  bei  der  Organisation 
von  Vereinen,  die  sich  dem  Nationalverein  anschließen,  alle 
religiösen  Parteisachen  unberührt  lasse  und  nur  die  Zwecke 
des  Vereins  fördere,  die  im  Programm  angegeben  sind,  die 
aber  dem  Prinzip  nach  aufs  Innigste  mit  der  religiösen  Reform 
zusammenhängen  und  die  wir  als  gewissenhafte  Glieder  der 
Gemeinden  fördern  müssen  in  unserer  Stellung  als  Staats- 
bürger. Das  Letztere  wird  Ihnen  den  Schlüssel  zu  meiner 
Erklärung  geben,  die  ich  meinem  Anerbieten  beifüge:  , Sollte 
der  Vorstand  des  Nationalvereins  in  Gotha  auf  mein  Aner- 
bieten nicht  eingehen,  so  würde  ich  es  bedauern  aber  mich 
von  der  Erfüllung  meiner  Pflichten  für  das  Vaterland  nicht 
abhalten  lassen  und  Vereine  bilden  auch  ohne  formale  Voll- 
macht, welche  jene  Zwecke  verfolgten  und  förderten." 

Vom  Mai  ab  gebe  ich  eine  Monatsschrift  heraus  und 
werde  darin  auch  die  Pflichten  behandeln,  welche  jeder 
Deutsche  als  Staatsbürger  hat.  Ich  habe  hiemit  die  Hand  zur 
Mitwirkung  geboten,  und  werde  gern  in  der  Weise  wirken, 
in  welcher  es  nötig  ist  unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen, 
und  in  allen  wichtigen  Dingen  den  Rat  des  Vorstandes  ein- 
holen. Es  würde  mir  lieb  sein,  wenn  Sie  die  Sache  vermittelten, 
damit  nicht  zu  viel  Zeit  verloren  geht.  Wahrlich,  es  ist  traurig, 
daß  in  der  großen  Provinz  Schlesien  bis  jetzt  noch  kein 
Zweigverein  des  Nationalvereins  besteht,  während  Gefahren 
uns  umringen  und  die  Schande  in  der  Holsteinischen  Ange- 
legenheit so  groß  wird,    daß  sie   kaum  mehr  zu  ertragen  ist. 

Einer    freundlichen    Antwort    entgegensehend,    zeichnet 

'"'^  G'"ß  Johannes  Ronge. 

NB.  Man  hat  oft  behauptet,  ich  sei  extremer  Parteimann 
und  hielte  mich  starr  an  eine  bestimmte  Form.  Darum  halte 
ich  für  nötig  zu  erklären,  daß  es  mir  gar  nicht  auf  Namen 
ankommt,  und  daß  ich  die  Verfassung  fördre,  welche  den 
Zuständen  unserer  Nation  angemessen  ist.  Gesetze  und  Rechte 
sind  mir  die  Hauptsache,  nicht  die  Form  der  Verfassung  und 
der  Name  des  Oberhauptes. 


Literaturbericht. 


Der  römische  Limes  in  Österreich.    Heft  7  und  8.    Wien,  Holder. 
1906—1907.     142  Sp.,  2  Tafeln  bzw.  224  Sp.,  3  Tafeln.   4*. 

In  dem  7.  Hefte  der  rühmlich  bekannten  Publikation  (vgl. 
H.  Z.  98,  140)  sind  die  Ergebnisse  der  im  Jahre  1904  ausge- 
führten Grabungen  der  österreichischen  Limeskommission 
niedergelegt.  Berichterstatter  ist  auch  diesmal  der  rührige 
und  scharf  beobachtende  Leiter  der  Grabungen,  Oberst  von 
Groller.  Erfreulicherweise  ist  in  dem  Berichtsjahre  nicht  allein 
an  dem  ersten  und  bedeutendsten-  Objekt  für  die  Tätigkeit  der 
Kommission,  Carnuntum,  sondern  auch  an  dem  zweiten,  an 
der  österreichischen  Limesstrecke  gelegenen  großen  Legions- 
lager, Lauriacum  bei  Enns,  gearbeitet  worden. 

Der  erste  Abschnitt  des  Heftes  (Sp.  5 — 46)  berichtet 
denn  auch  über  die  Untersuchungen  an  diesem  Punkte.  Wie 
bei  allen  von  der  österreichischen  Limeskommission  bisher 
untersuchten  Kastellen  hat  sich  auch  bei  Lauriacum  der  alte 
Wallgraben  in  Form  einer  deutlichen  Bodensenkung  sichtbar 
erhalten,  und  zwar  in  solcher  Vollständigkeit,  daß  Form  und 
Größe  des  Lagers  ohne  weiteres  erkennbar  sind.  Der  jetzt 
freigelegte  Teil  der  nordöstlichen  Umfassungsmauer  von  etwa 
365  m  Länge  bietet  außer  dem  nördlichen  Eckturme  noch  drei 
nach  innen  einspringende  Zwischentürme;  vor  der  Mauer  lag 
ein  doppelter  Graben,  von  denen  der  äußere  bedeutend  breiter 
und  tiefer  war  als  der  innere.  Fast  möchte  man  annehmen,  daß 
allein  jener  ein  wirklich  offener  Graben  gewesen,  der  kleinere, 
in  seinem  schwachen  Profil  kaum  ein  Hindernis  bildende,  aber 
zur  Aufnahme  irgendeines  künstlichen  Annäherungshindernisses 


Römisch-germanische  Zeit.  105 

gedient  habe.  Hinter  der  Mauer  wurden  das  entsprechende 
Stück  der  Wallstraße  und  eine  Entwässerungsanlage  festgestellt. 
An  eine  kurze  Übersicht  über  frühere  Funde  in  Lauriacum 
schließt  sich  dann  der  Bericht  über  die  Auffindung  eines 
weiteren,  in  alter  Zeit  wohl  auf  einer  Donauinsel  gelegenen 
Lagers  bei  Albing  (Sp.  39—46),  welches  nach  den  1905  dort 
fortgesetzten  Grabungen  sich  als  das  größte  aller  am  öster- 
reichischen Limes  bisher  untersuchten  Kastelle  von  über 
412  X  ^6S  m  Seitenlänge  herausgestellt  hat.  Die  zeitliche 
Bestimmung  dieser  gewiß  eine  Hauptrolle  im  Verteidigungs- 
system Noricums  bildenden  Anlage  scheint  noch  nicht  klar  zu 
sein. 

Im  Legionslager  Camuntum  wurde  ein  westlich  vom 
sog.  Quästorium  gelegener  gewaltiger  Bau  oder  richtiger 
Gebäudekomplex  freigelegt;  hier  ließen  sich  deutlich  zwei 
Bauperioden  scheiden.  Außer  kleineren  Aufdeckungen  von 
Teilen  der  Lagerstraßen  und  Kanäle  wurde  dann  außerhalb 
des  Lagers  in  der  Zivilstadt  das  große,  schon  früher  in  An- 
griff genommene  Gebäude  vor  der  südlichen  Lagerecke  fertig 
untersucht  und  eine  weitere  Gebäudegruppe  ausgegraben.  An 
jeden  der  verschiedenen  Ausgrabungsberichte  schließt  sich, 
wie  üblich,  die  Beschreibung  und  Abbildung  der  erhobenen 
Einzelfunde,  unter  denen  sich  manche  bemerkenswerte  Stücke 
befinden.  Den  Beschluß  macht  ebenfalls  nach  feststehendem 
Brauch  Bormanns  Veröffentlichung  der  inschriftlichen  Funde; 
unter  ihnen  ist  diesmal  ein  kleines  Altärchen  des  collegium 
der  capsari  leg,  XIV  gem.,  welche  Bormann  als  Lazarettge- 
hilfen auffassen  möchte,  erwähnenswert,  sowie  der  Grabstein 
eines  Soldaten  derselben  Legion,  der  jedenfalls  noch  dem 
1.  Jahrhundert  anzugehören  scheint;  ob  er  gerade,  einer  von 
Bormann  mitgeteilten  Vermutung  Goldfingers  entsprechend, 
von  einem  gänzlich  unbezeugten  Durchmarsch  der  Legion 
während  des  Jahres  68/69  n.  Chr.  G.  herrührt,  bleibt  dagegen 
sehr  zweifelhaft. 

Das  8.  Heft  enthält  den  Bericht  über  die  Grabungen  im 
Jahre  1905. 

Zum  ersten  Male  seit  Bestehen  der  Kommission  haben 
in  diesem  Jahre  die  Grabungen  in  Carnuntum  nur  den  kleineren 
und  sachlich  weniger  wichtigen  Teil  ihrer  Tätigkeit  gebildet; 


106  Literaturbericht 

es  ist  nur  zu  begrüßen,  daß  sich  diese  Tätigkeit  mehr  und 
mehr  auch  den  anderen  in  so  reicher  Fülle  vorhandenen  Ob- 
jekten und  Fragen  zuwendet.  Außer  einer  Nachuntersuchung 
an  dem  einen  Turme  des  rechten  Prinzipaltores  wurde  in 
Carnuntum  überhaupt  nicht  am  Lager  gearbeitet;  dagegen 
wurde  in  dem  östlich  vom  Lager  gelegenen  Teil  der  Zivil- 
niederlassung durch  eine  Reihe  von  Versuchsschnitten  neben 
zahlreichen  interessanten  Einzelheiten  die  sichere  Tatsache 
festgestellt,  daß  auch  hier  eine  geschlossene  Bauweise  ge- 
herrscht hat. 

Weit  wichtiger  waren  aber  die  Grabungen  in  dem  zweiten 
Legionslager  der  österreichischen  Donaugrenze,  Lauriacum  bei 
Enns.  In  der  nördlichen  Ecke  dieses  Lagers  wurde  eine  Reihe 
langer,  in  der  Hauptsache  einander  gleichartiger  Bauten  auf- 
gedeckt, die  unzweifelhaft  richtig  als  Mannschaftskasernen 
gedeutet  werden.  Sie  haben  große  Ähnlichkeit  mit  den 
Zenturienkasernen  des  Neußer  Lagers  am  Niederrhein;  nur 
fehlt  in  Lauriacum  die  in  Neuß  regelmäßig  mit  der  Mann- 
schaftskaserne verbundene  Wohnung  des  Zenturionen. 

Für  unsere  Kenntnis  des  römischen  Militärwesens  ist  es 
nicht  ohne  Bedeutung,  daß  auch  in  Lauriacum,  welches  allem 
Anschein  nach  erst  um  die  Wende  des  2.  und  3.  Jahrhunderts 
erbaut  worden  ist,  die  Zusammengehörigkeit  von  je  zwei 
kleinsten  taktischen  Einheiten  noch  gewahrt  erscheint:  die 
Zusammenfassung  je  zweier  Zenturien  zu  einem  Manipel  kann 
also  auch  in  dieser  Zeit  nicht  gänzlich  aufgehört  haben.  Vor 
den  Kasernen  nach  der  via  angularis  zu  befanden  sich  freie 
unbebaut  gelassene  Alarm-  und  Formierungsplätze,  wie  sie 
in  kleinerem  Maße  auch  in  dem  Limeskastell  Niederbieber  im 
Jahre  1906  nachgewiesen  worden  sind. 

Endlich  wurde  ein  1904  bereits  angeschnittenes,  nur  fünf 
Kilometer  von  Enns  gelegenes  Lager  bei  Albing  weiter  unter- 
sucht und  der  größte  Teil  seiner  Umfassung  festgestellt:  es 
erweist  sich  als  das  größte  in  Österreich  bisher  bekannte 
römische  Lager  und  bedeckt  eine  Fläche  von  über  230  Hektar» 

In  einem  historisch  wervollen  Anhang  behandelt  F.  Kenner 
die  im  Lager  Lauriacum  bisher  zutage  gekommenen  römischen 
Münzen.  Diese  eingehende  Behandlung  leitet  von  der  Be- 
schränkung auf  die  Schilderung  des  tatsächlich  Festgestellten 


Mittelalter.  107 

über  zu  dem  Versuche,  die  ermittelten  Tatsachen  auch  historisch 
zu  verwerten  und  mit  unserer  dürftigen  literarischen  Über- 
lieferung in  Verbindung  zu  setzen;  ein  Versuch,  wie  er  bei 
den  vortrefflichen  Arbeiten  der  österreichischen  Kommission 
bisher  noch  größtenteils  vermißt  wurde.  Wenn  man  den  Dar- 
legungen des  sachkundigen  Verfassers  auch  nicht  in  allen 
Punkten  wird  zustimmen  können,  so  scheint  doch  der  von  Kenner 
aus  dem  Münzmaterial  gezogene  Schluß  sicher,  daß  das  Lager 
von  Lauriacum  erst  an  Stelle  des  damals  geräumten  Lagers 
von  Albing  unter  Commodus  oder  Septimius  Severus  erbaut 
worden  ist  Eine  nur  kurz  dauernde  Besetzung  und  eine 
absichtliche  friedliche  Räumung  des  Albinger  Lagers  scheint 
mir  auch  durch  die  zu  den  ausgedehnten  Grabungen  in  gar 
keinem  Verhältnis  stehenden  Geringfügigkeit  der  Kleinfunde 
in  Albing  zu  bestätigen. 

Wiesbaden.  E,  Ritterling, 

Die  Normannen  und  das  Fränkische  Reich  bis  zur  Gründung  der 
Normandie(799— 911).  Mit  einer  Karte.  Von  Walther  VogeL 
(Heidelberger  Abhandlungen  zur  mittleren  und  neueren 
Geschiebe.  Herausgegeben  von  Karl  Hampe,  Erich  Marcks 
und  Dietrich  Schäfer.  14.  Heft.)  Heidelberg,  Garl  Winter. 
1906.    XV  u.  442  S. 

Je  mehr  in  der  karolingischen  Zeit  durch  die  im  ganzen 
so  spärlich  fließenden,  zum  größten  Teil  edierten  und  leicht 
zugänglichen  Quellen  der  Raum  für  Spezialarbeiten  auf  dem 
Gebiete  der  politischen  Geschichte  eingeschränkt  wird  oder 
unfruchtbare,  zum  Teil  vielleicht  für  immer  unlösbare  Kontro- 
versen von  neuem  Bearbeitung  finden,  um  so  gegebener  er- 
scheint es  gerade  hier  zusammenzufassen,  zumal  die 
historisch-kritische  Arbeit  im  Laufe  der  Jahre  so  unendlich 
viele,  teilweise  sehr  wertvolle  Einzelleistungen  hervorgebracht 
hat.  Zwar  haben  wir  die  Kirchengeschichte  Haucks,  die  Jahr- 
bücher, Mühlbachers  Karolinger,  Parisots  y,Le  royaume  de 
Lorraine*  und  manches  andere  Werk  weiterer  Spannung  und 
allgemeineren  Charakters;  aber  ganz  abgesehen  von  dem  Be- 
dürfnis einer  Papstgeschichte  und  einer  allgemeinen  Geschichte 
jener  Epoche,  welche  den  Gewinn  aller  Einzelarbeit  der  letzten 
Jahrzehnte  verarbeitet,  sind  auf  den  entlegeneren  Gebieten  noch 


108  Literaturbericht 

manche  Lücken  auch  in  zusammenhängender  Darstellung  der 
politischen  Geschichte  der  karolingischen  Jahrhunderte  aus- 
zufüllen. Das  Verdienst,  die  bisher  sehr  unvollkommen  be- 
arbeitete Geschichte  eines  bedeutsamen,  nicht  immer  genügend 
berücksichtigten  Faktors  jener  Zeiten  erschöpfend  im  Zu- 
sammenhange behandelt  zu  haben,  kommt  dem  vorliegenden 
Werke  zu.  Es  hat  zum  Inhalt  die  Einfälle  der  Normannen  in 
das  fränkische  Reich  bis  zur  Begründung  der  Normandie. 

Der  Vf.  macht  uns  zunächst  mit  der  vorhandenen  Lite- 
ratur und  mit  den  Quellen  bekannt,  auf  die  seine  Darstellung 
sich  gründet.  In  eingehender  Untersuchung  legt  er  dar,  daß 
die  Heimat  der  Normannen,  welche  sich  das  fränkische  Reich 
als  Zielpunkt  ihrer  Züge  gewählt  hatten,  in  der  Hauptsache 
Dänemark  war.  Übervölkerung  ist  die  wesentliche  Ursache 
gewesen,  die  zu  ihren  Fahrten  den  Antrieb  gab.  Wenn  man 
sich  die  Wikinger  vornehmlich  als  Seeräuber  denkt,  so  ist 
diese  Vorstellung  irrig.  Viel  eher  sind  sie  als  Landräuber 
zu  bezeichnen,  da  ihnen  die  Flotte  fast  immer  nur  Trans- 
portmittel und  Stützpunkt,  nicht  aber  ein  Kampfeswerkzeug 
war;  den  Engländern,  die  über  stärkere  Schiffe  verfügten, 
unterlagen  sie  meist  in  den  Seekämpfen.  V.  schildert  uns 
ausführlich  das  Wesen  der  normannischen  Heere  und  Flotten, 
das  während  der  von  ihm  behandelten  Zeit  verschiedene 
Wandlungen  durchmachte.  Für  'die  Franken  war  das  Fehlen 
einer  Seemacht  verderblich;  es  ermöglichte,  daß  die  Erfolge 
der  Normannen  beinahe  während  der  ganzen  Periode  so 
nachhaltige  waren. 

In  anziehender  Darstellung  werden  uns  dann  die  Wikinger- 
züge vorgeführt;  insbesondere  ist  dabei  zu  beachten,  wie 
sehr  sie  im  Verlauf  des  9.  Jahrhunderts  ihren  Charakter  änderten. 
Solange  Ludwig  der  Fromme  regierte  und  durch  seine  Herr- 
schaft die  Einheit  des  fränkischen  Reiches  äußerlich  noch  be- 
stand, erfolgten  die  Angriffe  nur  durch  kleinere  Gruppen  von 
Wikingern  und  auf  einem  Gebiete  verhältnismäßig  geringen 
Umfangs.  Wenn  wir  von  Friesland  absehen,  das  schon  in 
der  letzten  Lebenszeit  Ludwigs  ein  häufiges  Ziel  normannischer 
Einfälle  war  und  bereits  in  jenen  Jahren  als  ihr  tatsächliches 
Besitztum  angesehen  werden  muß,  so  waren  es  doch  zuerst 
nur  die  Küstengebiete  des  Frankenreiches,  die  von  ihnen  heim- 


Mittelalter.  109 

gesucht  wurden.  Mit  dem  Streite  der  Brüder,  der  nach  dem 
Tode  des  Vaters  um  das  karolingische  Erbe  entflammt,  ist  den 
Wikingern  die  Schwäche  des  Reiches  dargetan,  und  sofort 
erweitert  sich  der  Umkreis  ihrer  Invasion  in  weitestem  Maße. 
Sie  fahren  in  die  Flußmündungen  ein  und  dringen,  besonders 
auf  den  großen  Strömen,  aufwärts  in  das  Land,  das  sie  weit 
und  breit  verheeren.  Reicher  Erfolg  begleitet  sie  auf  ihren 
Beutezügen;  Städte  wie  Hamburg,  Nantes,  selbst  Paris  fallen 
ihnen  zum  Opfer,  werden  zerstört,  die  Bretagne,  Aquitanien, 
Friesland  geplündert.  Der  glückliche  Fortgang  der  bisherigen 
Wikingerfahrten  hat  dann  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  weit 
größere  Massen  von  Dänen,  die  bereit  waren,  ihre  Heimat  zu 
verlassen,  auf  dieselben  Spuren  gelenkt.  Heere  und  Flotten 
von  gewaltiger  Macht  überschwemmen  das  ganze  westfränkische 
Reich,  Lothringen  und  Friesland;  es  ist  die  Zeit,  in  der  die 
Angriffe  der  Normannen  hier  ihren  Höhepunkt  erreichen 
(850 — 878).  Allgemeine  Hilflosigkeit  gegenüber  diesen  Feinden, 
häufige  Uneinigkeit  im  eigenen  Lager  und  Empörungen  der 
westfränkischen  Großen,  die  Unfähigkeit  Karls  des  Kahlen  zu 
organisierter,  kraftvoller  und  ausdauernder  Abwehr  benehmen 
den  Franken  zunächst  jegliche  Möglichkeit  des  Widerstandes. 
Nicht  mehr  handelt  es  sich  jetzt  nur  um  einzelne  Raubzüge 
der  furchtbaren  Gegner,  sondern  es  dringen  bereits  große 
Heerscharen  in  das  Land,  deren  Ziel  es  ist,  sich  dauernd  in 
fränkischen  Gebieten  festzusetzen,  sich  in  denselben  eine  neue 
Heimat  zu  begründen.  Nur  unter  schmählichen  Abzugs- 
bedingungen wird  oftmals  ein  vorübergehender  Friede  oder 
Waffenstillstand  in  einzelnen  Landesteilen  von  ihnen  erkauft. 
Die  Vertreibung  zahlreicher  eingesessener  Franken  durch  die 
Normannen  und  die  weitere  Abnahme  der  kleineren  Gemein- 
freien hat  einerseits  das  unerhörte  Raubunwesen,  von  dem 
uns  die  Quellen  jener  Zeit  so  viel  zu  erzählen  wissen,  zur 
Folge  gehabt,  andererseits  auf  die  Stärkung  und  den  Sieg  des 
Lehenswesens  in  Westfranken  weittragenden  Einfluß  geübt. 
Gegen  die  Mitte  der  genannten  Periode,  schon  in  der  Zeit 
Roberts  von  Anjou,  zeigt  sich  das  Bild  ein  wenig  zugunsten 
der  Franken  verändert.  Man  beginnt  mit  einer  planmäßigen 
Gegenwehr,  die  manche  Erfolge  aufweist;  so  daß  unter  dem 
Hinzutreten  anderer  wichtiger  Momente  etwa  seit  den  sieb- 


1 10  Literaturbericht. 

ziger  Jahren  eine  Abnahme  der  eigentlichen  Einfälle  —  nament- 
lich im  südlichen  Gallien  —  und  eine  auf  bestimmten  Ursachen 
beruhende  Nordwärtskonzentrierung  der  Normannen  zu  be- 
merken ist. 

Die  gewaltigste  und  bedeutungsvollste  Invasion  der  Nor- 
mannen im  Frankenreiche  aber  stand  noch  bevor;  nach  dem 
frühzeitigen  Tode  König  Ludwigs  des  Stammlers  setzte  sie 
ein.  Abermals  verändert  sich  in  dieser  letzten  Periode  der 
Normanneneinfälle  der  Charakter  derselben;  die  plündernden 
Wikinger  wurden  allmählich  zu  „erobernden  Kolonisten*,  wo- 
für das  —  freilich  zukunftslose  —  Königtum  Gottfrieds  am  Nieder- 
rhein ein  erstes,  interessantes  Beispiel  bietet.  Es  ist  von  nun 
ab  im  wesentlichen  ein  einziges  großes  Heer,  welches  dauernd 
im  Frankenreiche  haust,  auf  ein  festes  Standlager  gestützt, 
und  weithin  die  fränkischen  Lande,  in  dieser  Zeit  besonders 
auch  die  östlichen  Teile  Westfrankens,  Rhein-  und  Mosel- 
gebiet, sogar  Burgund  unsicher  machte.  Bald  nach  der 
Schlacht  von  Löwen  sieht  sich  dann  das  Heer,  hauptsächlich 
um  den  Folgen  der  großen  Mißernte  des  Sommers  892  zu 
entgehen,  genötigt,  seinen  Abzug  nach  England  zu  bewerk- 
stelligen. Noch  einmal  kehrten  die  Normannen  nach  West- 
franken zurück,  jetzt  aber  nur  mehr  in  der  Absicht,  in  Frieden 
sich  dort  niederzulassen:  die  Normandie,  seit  899  etwa  in 
ihrem  tatsächlichen  Besitz,  wird  —  nicht  ohne  daß  diese 
letzte  Zeit  kampflos  verlaufen  wäre  —  ihrem  Führer  Rollo,  der 
dem  westfränkischen  Könige  die  Lehenshuldigung  leistete,  in 
der  Zusammenkunft  zu  S.  Clair  (911)  überlassen  und  damit 
die  Begründung  eines  besonderen  Bestandteils  des  fränkischen 
Reiches  durch  die  Normannen  förmlich  anerkannt. 

V.s  Buch  schildert  uns  sonach  gewissermaßen  den  Ein- 
tritt der  Normannen  in  die  europäische  Geschichte,  in  der  sie 
in  der  Zukunft  unter  berühmten  Führern  noch  eine  weit 
wichtigere,  weil  mehr  oder  ausschließlich  aufs  Positive  ge- 
richtete Rolle  zu  spielen  berufen  waren.  Wir  können  seinem 
verdienstvollen  Werke  hohe  Anerkennung  zollen.  Mit  siche- 
rem Blicke  erkennt  er  aus  dem  Vielen  das  Wesentliche  her- 
aus, dabei  immer  das  Ganze  im  Auge  behaltend.  Wenn  auch 
einzelne  Absätze,  wie  z.  B.  §  37  (der  Reichstag  zu  Pttres  864) 
vielleicht  ein  wenig  breit  angelegt  sind,   so  leidet  doch  die 


Mittelalter.  111 

Arbeit  im  ganzen  keineswegs  an  Weitschweifigkeit.  Im  Gegen- 
teil ist  zu  bemerken,  daß  der  Vf.  seinen  zum  Teil  ziemlich 
spröden  Stoff  uns  meist  sehr  anschaulich  vorzuführen  weiß, 
daß  er  ihn  in  sachgemäßer  und  klarer  Anordnung  zu  dispo- 
nieren verstanden  hat  Was  Einzelheiten  anbetrifft,  so  über- 
rascht die  verhältnismäßig  günstige  Charakteristik  Karls  des 
Kahlen  nach  allem,  was  voraufgegangen  ist;  er  hatte  gerade 
noch  in  seinen  letzten  Lebensjahren  Mißerfolg  auf  Mißerfolg, 
besonders  aber  in  sein  en  kriegerischen  Unternehmungen,  er- 
lebt. Niemals  war  er  ein  zielbewußter  Politiker  von  großem 
und  weitschauendem  Geiste,  immer  nur  ein  verschlagener 
Rechner  von  diplomatischen  Fähigkeiten  gewesen:  diesen 
Eindruck  gewinnen  wir  aus  allen  guten  Quellen,  die  uns 
von  diesem  Könige  berichten.  Daß  er  sich  in  der  Nor- 
mannennot nicht  als  schlechterer  Regent  als  die  übrigen 
fränkischen  Fürsten  erwies,  werden  wir  zugeben  können;  aber 
es  dürfte  überhaupt  schwer  fallen,  untauglichere  Herrscher 
nachzuweisen,  als  es  ein  Lothar  IL  oder  Karl  IIL  (der  Dicke) 
gewesen  sind.  —  Der  vergeblichen  Belagerung  von  Paris 
durch  die  Normannen  (885 — 886)  schreibt  V.  mit  Recht  eine 
erhebliche  Bedeutung  zu,  indem  er  einerseits  die  Stellung 
und  die  Verdienste  deutlich  charakterisiert,  die  sich  Graf 
Odo,  der  Vorläufer  der  Capetinger,  damals  erwarb,  während 
das  westfränkische  Karolingerkönigtum  in  seiner  Schwäche 
verharrte,  andererseits  aber  ihren^  stark  hemmenden  Einfluß 
auf  weitere  Normannenzüge  betont.  Dagegen  tritt  ihm  der 
Einfluß  und  der  Eindruck  der  Schlacht  an  der  Dyle  zurück; 
V.  erkennt  den  moralischen  Erfolg  derselben  durchaus  an, 
schätzt  aber  die  Folgen  der  Niederlage  in  zweifellos  richtigem 
Urteil  nur  gering  ein.  Mit  guten  Gründen  verlegt  er  den 
Zeitpunkt  der  Schlacht  in  die  zweite  Oktoberhälfte  (891), 
während  Dümmler  (Ostfränkisches  Reich  III,  351)  u.  a.  sie 
zum  1.  November  ansetzten.  Überhaupt  befleißigt  sich  V. 
durchgehend  einer  höchst  sorgsamen  und  besonnenen  Einzel- 
kritik; er  vermag  seine  literarischen  Vorgänger,  besonders 
auch  die  Jahrbücher  Dümmlers,  vielfach  zu  verbessern  und 
zu  ergänzen,  und  wenn  auch  manche  Einzelfragen  streitig 
bleiben  mögen,  so  ist  in  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  die 
scharfe  Interpretation  und  Kritik  der  Quellen  und  das   nach 


1 12  Literaturbericht. 

reiflicher  Prüfung  gefällte  Urteil  durchaus  überzeugend,  die 
Darstellung  selbst  nur  auf  sichere  und  zuverlässige  Quellen 
gestützt. 

Im  ganzen  ist  zu  sagen,  daß  die  vorliegende  Arbeit  unter 
umfassendster  Heranziehung  der  in  Betracht  kommenden 
Quellen  geleistet  wurde  und  daß  auch  die  Literatur,  ins- 
besondere was  die  nordische,  französische,  deutsche  angeht, 
in  gebührendem  Maße  berücksichtigt  worden  ist.  Wie  der 
Rezensent  aber  oft  noch  aus  seinem  eigensten  Arbeitsgebiete 
Quellenstellen  oder  Literatur  nachzuweisen  imstande  ist,  die 
in  dem  besprochenen  Werke  übersehen  wurden,  so  vermag 
auch  ich  hier  zwei  Stellen  anzuführen,  die,  wenn  ich 
nicht  irre,  V.  entgangen  sind.  Papst  Nikolaus  I.  erwähnt  in 
einem  Schreiben  (863),  das  die  Antwort  auf  einen  Synodal- 
bericht westfränkischer  Bischöfe  darstellt,  deren  Aussage,  daß 
sie  in  ihren  Provinzen  unter  den  häufigen  Feindseligkeiten 
der  Normannen  (paganorum)  zu  leiden  hätten  (Jaff6- Ewald 
Reg.  no.  2723,  Migne,  PatroL  laL  CXIX,  827  B);  wichtiger 
erscheint  die  Stelle  in  seinem  gleichzeitigen  Brief  an  Karl  den 
Kahlen:  „tantoque  de  Northmannorum  vobis  subada  rabie 
grates  auctori  exsultantes  rependimus''  (J.-E.  Reg.  no.  2722, 
Migne,  Patr.  laL  CXIX,  837  B),  die  sich  wohl  auf  den  862 
erfolgten  Abzug  der  Normannen  aus  dem  Seinegebiete  be- 
zieht, demnach  bei  V.  S.  187 — 188  zu  ergänzen  wäre.  — 
Bischof  Aktard  von  Nantes,  dem  868  durch  Hadrian  II.  das 
Pallium  verliehen  und  erst  871  ein  Erzbistum  (Tours)  über- 
tragen wurde,  wird  versehentlich  schon  S.  137  f.  als  Erzbischof 
bezeichnet.  S.  225  Anm.  2  wäre  statt  Baronius  für  den  Brief 
des  Adventius  die  neue  Ausgabe  in  den  MG.  Epist.  VI, 
233  sq.  (no.  16)  zu  zitieren  gewesen. 

In  zwei  Beilagen  behandelt  V.  dann  noch:  1.  das  dänische 
Königshaus  und  die  Verwandschaften  unter  den  dänischen 
Wikingerführern  im  9.  Jahrhundert  und  2.  Paris  in  der  Nor- 
mannenzeit (nach  Favre,  Eudes,  Comte  de  Paris  et  Roi  de 
France  S.  19 — 26).  Endlich  ist  noch  der  Karte  zu  gedenken, 
die  in  ihrer  trefflichen  Ausführung  einen  unentbehrlichen  Be- 
standteil dieses  tüchtigen  Werkes  ausmacht. 

Berlin.  Ernst  Pereis. 


Mittelalter.  113 

La  translation  des  saints  Marcellin  et  Pierre,  itude  sur  Einhard 
et  sa  vie  politique  de  827  ä  834  par  Marguerite  Bondois. 
Paris,  Honori  Champion.     1907.     116  S. 

Die  letzten  Jahrzehnte  haben  uns  über  den  berühmten 
Biographen  Karls  des  Großen  mehrere  neue  Arbeiten  ge- 
bracht. So  die  Studie  von  Bacha,  die  Abhandlung  von  Hampe 
im  Neuen  Archiv  (Bd.  21),  desselben  neue  Ausgabe  der 
Epistolae  Einharti  in  den  Monumenta  Germaniae,  das  Büch^ 
lein  von  Kurze.  Hierzu  gesellt  sich  nun  die  oben  erwähnte 
Schrift,  welche  ein  Heft  der  Bibliothkque  de  Vtcole  des 
hautes  itudes  bildet.  Sie  behandelt  zunächst  die  Translatio 
SS.  Marcellini  et  Petri,  den  Reliquienkult  jener  Zeit  überhaupt 
und  die  persönliche  Wundergläubigkeit  Einhards;  weiterhin 
sein  Walten  als  Laienabt  verschiedener  Klöster  und  seine 
Bauten  in  Seligenstadt,  endlich  seine  politische  Rolle,  be- 
sonders in  den  Jahren  827  bis  834.  Die  Verfasserin  sucht 
die  Abfassungszeit  der  einzelnen  Bücher  der  Translatio  ge- 
nauer und  zum  Teil  anders,  als  es  bisher  geschehen,  zu  be- 
stimmen (s.  jedoch  die  Berichtigung  von  Holder-Egger,  N.  Arch. 
33,  233).  Die  rhythmische  Passio  der  Märtyrer  spricht  sie 
Einhard  ab  und  tritt  den  Beweis  an,  daß  die  darin  verarbeitete 
Legende  ihm  noch  nicht  bekannt  gewesen  sei  —  obwohl  eine 
Stelle  wie  M.  G.  Epp.  V,  p.  113  (qui  etiam  percussori  suo 
peperceruni)  dagegen  geltend  gemacht  werden  könnte.  Ein- 
hards schwankendes  politisches  Verhalten  beurteilt  die  Ver- 
fasserin strenger  als  einzelne  andere  Forscher  und  bekämpft 
die  Ansicht,  daß  er  zu  den  Anhängern  Lothars  gehört  habe. 
Außerdem  legt  sie  dar,  daß  er  sich  seit  830  keineswegs  von 
den  Staatsgeschäften  ganz  zurückzog.  Die  verhältnismäßig 
umfangreiche  Schrift  ist  mit  sehr  großem  Fleiße  verfaßt.  Be- 
sonderes Lob  verdienen  die  eingehenden  psychologischen 
Analysen.  Unter  den  Vorarbeiten  verdankt  die  Verfasserin 
namentlich  denen  Hampes  viel,  weicht  jedoch  von  seinen  An- 
sichten mehrfach  ab.  Zu  Berichtigungen  bietet  sich  nur  wenig 
Anlaß.  Am  wenigsten  befriedigt  die  Zitierweise,  wie  man  es 
auch  kaum  billigen  kann,  daß  die  Epistolae  Einharti  nach  der 
veralteten  Ausgabe  von  Teulet  zitiert  werden,  weil  in  ihr  die 
Reihenfolge  der  Handschrift  beibehalten  ist.  Die  Zitate  aus 
Kapitularien   nach  Mansi  S.  71  N.  2  sind  nach  M.  G.  Capitu* 

Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  8 


1 1 4  Literaturbericht. 

laria  reg.  Francor.  I,  p.  125.  119  zu  verbessern;  desgleichen 
S.  80  N.  6  nach  Capp,  1,  p. 68.  Der  I.Band  von  Wattenbachs 
^Geschichtsquellen^  hätte  in  der  neuesten,  7.  Auflage  benutzt 
werden  sollen.  S.  82  N.  1  ist  in  der  Liste  der  Erzkapellane 
Karls  d.  Gr.  und  Ludwigs  d.  Fr.  Fulrad  zu  ergänzen ,  Ebroin 
zu  streichen.  S.  108  N.  2  steht  chancelier  statt  archichapelain. 
Daß  die  Bezeichnung  „Nikolaiten*"  nicht  erst  so  spät,  wie 
die  Verfasserin  S.  93  N.  1  argwöhnt,  in  die  Ann.  Fuldenses 
eingeschwärzt  sein  kann,  wird  schon  durch  die  im  Anfange 
des  10.  Jahrhunderts  verfertigte  Schlettstadter  Handschrift  be- 
wiesen. Doch  genug  solcher  kleiner  Korrekturen,  wenn  man 
sie  auch  noch  etwas  vermehren  könnte.  Hinsichtlich  der 
Stelle  bei  Nithard  über  die  Leiber  der  Heiligen  (S.  42  N.  3) 
sei  noch  auf  die  kürzlich  erschienene  neue  Ausgabe  von 
Ernst  Müller  hingewiesen. 

Berlin.  B.  v.  Simson. 

Die  Legation  des  Kardinals  Pileus  in  Deutschland,  1378 — 1382. 
Mit  einem  Anhange:  Die  Frage  der  zweiten  und  dritten 
deutschen  Legation  des  Kardinals  Pileus  in  den  Jahren 
1394  und  1398.  Von  Karl  Guggenberger.  (Veröffentlichungen 
aus  dem  Kirchenhistorischen  Seminar  München.  IL  Reihe, 
Nr.  12.)    München,  Lentner.     1907.   Vlll  u.  138  S. 

Man  wird  vielleicht  die  Frage  aufwerfen,  ob  es  angebracht 
war,  mit  dem  Gegenstand  der  vorliegenden  Arbeit  ein  Buch 
zu  füllen,  wenngleich  man  gegenüber  der  sorgfältigen  Zu- 
sammenstellung des  Tatsachenmaterials,  der  eine  umfang- 
reiche, durch  Umfrage  an  mehr  denn  150  Archive  und  andere 
wissenschaftliche  Anstalten  ermöglichte  Heranziehung  bisher 
ungedruckter  Quellen  zugute  gekommen  ist,  nicht  undankbar 
sein  darf.  Die  Lektüre  wird  dadurch  erschwert,  daß  die  von 
gewöhnlichen  Sterblichen  befolgten  Regeln  der  Zeichensetzung 
für  Guggenberger  nicht  zu  existieren  scheinen,  —  sie  wird  auch 
nicht  genußreicher  dadurch,  daß  man  neben  anderen  stilistischen 
Besonderheiten  und  Verstößen  auf  Schritt  und  Tritt  einer  un- 
bezwinglichen  Neigung  zu  wenig  schönen  Superlativen  („treue- 
stens*,  »eindringlichst*,  „nachdrücklichst*,  „entgegenkom- 
mendste usw.)  begegnet.  Aber  wie  gesagt,  Fleiß  und  Sorg- 
falt haben  nicht  gefehlt,  und  die  Arbeit  wird  manchem  bei  der 


Mittelalter.  115 

Beschäftigung  mit  den  in  die  ersten  Jahre  der  großen  Kirchen- 
spaltung fallenden  Ereignissen  von  Nutzen  sein.  Wesentliche 
Änderungen  in  unserer  Auffassung  von  der  Reichspolitik 
und  ihrer  Behandlung  der  kirchlichen  Fragen  ergeben  sich 
übrigens  nicht. 

Soweit  ich  sehe,  ist  dem  Vf.  an  wichtiger  Literatur  kaum 
etwas  entgangen ;  aufgefallen  ist  mir  nur,  daß  er  Herm.  Haupts 
Aufsätze  in  der  Zeitschr.  f.  d.  Gesch.  d.  Oberrheins  N.  F. 
Bd.  V  u.  VI  (Das  Schisma  des  ausgehenden  14.  Jahrhunderts 
in  seiner  Einwirkung  auf  die  oberrheinischen  Landschaften 
und  weiter  Markgraf  Bernhards  I.  von  Baden  kirchliche  Politik 
während  des  großen  Schismas  1378—1415)  nicht  herange- 
zogen hat,  in  denen  er  mehrere  Urkunden  des  Pileus  und 
einen  Hinweis  auf  ein  an  anderer  Stelle  veröffentlichtes  Stück 
gefunden  hätte.  Hieraus  ergeben  sich  einige  Ergänzungen 
und  Berichtigungen  zu  dem  vom  Vf.  (S.  105  ff.)  aufgestellten 
Itinerar  des  Legaten.  Die  von  Haupt  in  Bd.  V,  S.  67  (Nr.  8  u.  9) 
abgedruckten  Urkunden  nennen  als  Ausstellungsort  für  den 
19.  Juni  1381  Prag.    Ohne  auf  die  Wichtigkeit  dieser  Nachricht 

—  Pileus  befindet  sich  damals  auf  der  Rückreise  von  England 

—  näher  einzugehen,  beschränke  ich  mich  im  Hinblick  auf 
die  bei  0.  verzeichnete  Ortsangabe  Kaub  zum  Tag  darauf 
(20.  Juni)  auf  die  Feststellung,  daß  die  in  den  Urkunden  des 
Kardinals  sich  findenden  Ortsangaben  also  nicht  immer  dem 
wirklichen  Aufenthalt  entsprechen. 

In  einem  Anhang  setzt  sich  G.  mit  Jos.  Kaufmann  und 
Th.  Lindner  über  die  Frage  der  zweiten  und  dritten  deutschen 
Legation  des  Pileus  in  den  Jahren  1394  und  1398  auseinander. 
Er  ist  der  Ansicht,  daß  beidemal  von  einer  Legation  nicht 
die  Rede  sein  könne,  und  damit  hat  er  meiner  Meinung  nach 
das  Richtige  getroffen. 

Straßburg  i.  E.  Hans  Kaiser, 

Die  Judenschuldentilgungen  unter  König  Wenzel.  Von  A.  SfiO- 
mann.  (Schriften  der  Gesellschaft  zur  Förderung  der 
Wissenschaft  des  Judentums.)  Berlin,  Lamm.  1907.  XV  u. 
203  S. 

Im  Mittelpunkt  dieser  Untersuchung  steht  die  Interpretation 
und  Wertung  der  beiden  großen  Judenschuldentilgungsgesetze 


1 1 6  Literaturbericht. 

König  Wenzels  von  1385  und  1390.  Der  Vf.  wendet  sich 
gegen  ein  Buch  von  Eugen  NUbling  (Die  Judengemeinden  des 
Mittelalters),  der  in  diesen  Gesetzen  wohltätige  politische 
Maßnahmen  sah,  während  SUßmann,  Hegel  folgend,  sie  im 
wesentlichen  als  «Beraubungen'*,  sagen  wir  lieber:  «finanzielle 
Schiebungen",  betrachtet.  Zweifellos  ist  dem  Vf.  dieser  Kern 
seines  kleinen  Buches  vortrefflich  gelungen.  Zwar  ist  seine 
Auffassung  nicht  original,  aber  zum  ersten  Mal  werden  die 
Vorstadien,  die  Ausführung  und  die  Wirkung  jener  Ge- 
setze unter  Heranziehung  der  neuesten  UrkundenbUcher  in 
allen  Einzelheiten  dargestellt.  Den  Faden,  an  dem  die  Unter- 
suchung läuft,  bildet  naturgemäß  die  Politik  König  Wenzels. 
Hier  freilich  möchte  ich  einen  ersten  Einwand  erheben.  Allzu- 
sehr erscheint  doch  die  Politik  des  Königs  ausschließlich  von 
der  Gier  nach  den  jüdischen  Schätzen  bestimmt.  So  wird 
denn  gleich  zu  Eingang  (S.  8)  das  Verdammungsurteil  über 
Wenzel  vorweggenommen.  Wenn  er  sich  wieder  einmal 
den  Städten  nähert,  so  sind  nach  S.  selbstverständlich  seine 
Bündnisanträge  unaufrichtig,  was  er  will,  ist  nur  ein  neuer 
Anschlag  auf  die  Juden.  Vielleicht  hätte  den  Vf.  die  Disser- 
tation von  Messerschmidt:  Der  rheinische  Städtebund  von 
1381 — 1389  (Marburg  1906)  auch  auf  andere,  rein  politische 
Motive  aufmerksam  gemacht.  Daß  S.s  Motivierung  nicht  aus- 
reicht, ergibt  schon  die  eine  Erwägung,  daß  der  König,  wenn 
ihm  nur  am  Geld  der  Juden  gelegen  gewesen  wäre,  das 
Widerstreben  der  Städte  dadurch  hätte  brechen  können,  daß 
er  sich  entschlossen  auf  die  fürstliche  Seite  stellte.  Die  Städte 
wußten  eben,  daß  er  sie  nicht  ganz  konnte  fallen  lassen,  dar- 
aus erklärt  sich  ihre  widerstrebende  Haltung  in  der  Judenfrage. 
Schwerer  aber  wiegt  ein  anderer  Fehler,  der  Mangel  einer  sorg- 
fältigen rechtsgeschichtlichen  Grundlegung.  Der  Leser  wird 
gleich  in  mediasres,  in  die  Zeit  Wenzels,  geführt,  und  da  ihm  nicht 
gesagt  ist,  welches  die  Rechte  des  Königs  an  der  Judenschaft 
des  Reiches  ursprünglich  waren  und  was  um  1378  aus  ihnen 
geworden  war,  so  muß  er  ein  besonderes  Studium  anstellen, 
um  dem,  was  dann  geschah,  nicht  ganz  verständnislos  gegen- 
überzustehen. Es  mußte  vollständig  zusammengestellt  werden, 
welche  Rechte  an  den  Juden  bis  dahin  dem  Reiche  verloren 
gegangen  waren  und  an    wen.    Nur    so    begreift    man,    was 


Mittelalter,  117 

Wenzel  im  Grunde  wollte:  Die  Zurückgabe  der  Judensteuer 
wenigstens  seitens  der  Reichsstädte.  Dies  Ziel  hat  S.  infolge- 
dessen nicht  recht  herausgearbeitet:  Die  Maßnahmen  des  Königs 
von  1385  sind  ein  Kompromiß  zwischen  ihm  und  den  Städten, 
die  von  1390  eine  Pression  auf  die  Städte,  da  sie  zugunsten 
derjenigen,  die  etwas  nachgaben,  abgeändert  wurden.  Die 
eigentümliche  Verschiedenheit  in  der  Haltung  des  rheinischen 
Bundes  von  der  des  schwäbischen  ist  S.  (S.  84)  nicht  ent« 
gangen;  wenn  er  aber  meint,  die  rheinischen  Städte  hätten 
das  uneingeschränkte  Verfügungsrecht  über  ihre  Juden  gehabt, 
so  nur  Nachteile  von  der  Schuldentilgung  erwartet  und  des- 
halb widerstrebt,  so  ist  das  eine  Verlegenheitsauskunft.  Denn 
Belege  hat  er  keine,  und  tatsächlich  hatten  die  rheinischen 
Städte  auch  nicht  mehr  Rechte  als  die  schwäbischen.  Neben  die 
von  Messerschmidt  S.  167  beigebrachte  wirtschaftliche  Erklärung 
möchte  ich  eine  rechtliche  setzen :  Im  rheinischen  Bund  über* 
wogen  die  Freistädte  Mainz,  Worms,  Speyer,  Straßburg,  die 
der  königlichen  Ingerenz  viel  weniger  unterlagen  als  die  im 
schwäbischen  Bund  fast  ausschließlich  dominierenden  Reichs- 
städte. Hoffentlich  nimmt  der  Vf.  Gelegenheit,  die  Lücken, 
die  hier  angemerkt  werden  mußten,  auszufüllen  und  diese 
Epoche  der  Finanzgeschichte  des  Reiches  in  ihre  Zusammen- 
hänge einzustellen.  Dann  aber  möchte  ihm  zu  raten  sein,  in 
der  Wiedergabe  von  Urkunden  sorgfähiger  zu  verfahren  und 
sich  mit  ihrem  Formelwesen  vertraut  zu  machen;  denn  es  be- 
gegnen ihm  Entgleisungen,  die  man  in  der  Arbeit  eines 
zünftigen  Historikers  nicht  erwarten  sollte.  Nicht  immer  sind 
sie  bedeutungslos  wie  S.  44^),  93^);  S.  10  wird  berichtet,  der 
König  habe  1383  „Räte  in  die  rheinischen  Gemeinden  senden 
wollen,  um  den  zehnten  Teil  der  Judeneinkünfte  der 
Städte  in  Beschlag  zu  nehmen*.  Die  betreffende  Akte  (Reichs- 
tagsakten I,  n.  233)  sagt  aber  „daz  sie(dieFürsten)...  dem 
konige  das  zehende  teil  folgen  laißent*.  Es  ist  also  von  den 
Städten  gar  nicht  die  Rede;  auch  kann  ebensogut  eine  zehn- 
prozentige  Vermögenssteuer  von  den  Juden  gemeint  sein.  Die 
5800  Gulden,  die  Regensburg  1385  zahlte,  gingen  als  Ent- 
schädigungszahlung an  den  Pfandinhaber  der  Regensburger 
Judenschaft,  den  Herzog  von  Bayern,  nicht  als  außerordentliche 
Judenbedc  an  Wenzel,   wie  S.  S.  72  meint;   was  die   Regens- 


1 1 8  Literaturbericht. 

burger  Juden  damals  dem  König  gaben,  ist  nicht  bekannt. 
Ihren  Wert  für  die  Geschichte  der  Finanzpolitik  einer  großen 
Gruppe  deutscher  Städte  behält  aber  die  Schrift  trotz  dieser 
Ausstellungen. 

Göttingen.  H.  Niese. 


Canon  Pietro  Casola's  Pilgrimage  to  Jerusalem  in  the  year  1494 
by  M.  Margaret  Newett  B.  A.  Formerly  Jones  Fellow 
history.    Manchester  at  the  Univers,  Press.   1907.    427  8. 

Unter  den  Publikationen  der  Universität  Manchester  ist 
dieses  neuerdings  erschienene  Buch  von  nicht  geringem  Inter- 
esse. Der  mailändische  Priester  Pietro  Casola  hat  im  Jahre 
1494  in  seinem  67.  Jahre  eine  Pilgerreise  nach  Jerusalem 
unternommen  und  seine  Erlebnisse  auf  derselben  für  Freunde 
in  Mailand  zu  deren  Belehrung  und  Unterhaltung  niederge- 
schrieben. Als  ein  scharfer  und  kenntnisreicher  Beobachter, 
als  ein  Mann  von  reicher  Erfahrung,  Weltgewandtheit  und 
praktischer  Lebensphilosophie  gibt  er  in  lebendiger  Darstellung 
ein  höchst  anziehendes  Bild  vom  Verlaufe  seiner  Reise,  die 
er  von  Mailand  nach  Venedig  und  von  da  auf  einer  Galee 
über  Zara,  Ragusa,  Modone,  Candia,  Rhodus  und  Limasol  nach 
Jaffa  gemacht  hat,  wo  er  am  17.  Juli  1494  angekommen  ist, 
um  von  da  nach  Jerusalem  zu  pilgern  und  die  hl.  Orte  daselbst, 
ebenfalls  Bethlehem,  den  Jordan  und  Jericho  zu  besuchen  und 
nach  einem  fast  sechswöchentlichen  Aufenthalte  im  Gelobten 
Lande  von  Jaffa  aus  wieder  auf  demselben  Wege  heimzu- 
fahren. Fast  drei  Viertel  seiner  Erzählung  handelt  von  seinen 
Erlebnissen  auf  der  Hin-  und  Rückfahrt  und  nur  ein  Viertel 
derselben  von  seinem  Aufenthalte  in  Palästina.  Ganz  besonders 
wertvoll  und  anziehend  ist  u.  a.  was  er  über  seinen  Aufent- 
halt in  Venedig  des  längeren  auf  S.  134—154  und  336—341 
zu  berichten  weiß.  Casolas  Pilgerreise  war  in  Vergessenheit 
geraten,  bis  anfangs  der  fünfziger  Jahre  des  vorigen  Jahr- 
hunderts Graf  G.  Porro  das  Manuskript  in  der  Trivulziana  zu 
Mailand  entdeckte  und  im  Jahre  1855  mit  einer  ungenügenden 
Einleitung  und  Anmerkungen  in  100  Exemplaren,  welche  jedoch 
nicht  in  den  Buchhandel  gekommen  sind,  hat  drucken  lassen. 
Es  war  deshalb   ein  dankenswertes   Unternehmen,    dem    sich 


Mittelalter.  119 

die  gelehrte,  der  Studien  halber  in  Venedig  wohnende  Eng- 
länderin, Fräulein  M.  Newett,  unterzogen  hat,  nach  dem  alt- 
italienischen Texte  der  Handschrift  eine  englische  Obersetzung 
zu  fertigen  und  dieselbe  nebst  einer  sehr  instruktiven,  auf 
genauer  Kenntnis  des  einschlägigen,  zum  Teil  im  Staatsarchiv 
zu  Venedig  befindlichen  literarischen  Materials  beruhenden 
Einleitung  über  mittelalterliche,  vornehmlich  von  Venedig  aus 
unternommene  Pilgerreisen,  und  mit  Noten  und  einem  genauen 
Namen-  und  Sachregister  versehen,  herauszugeben.  Nicht 
unerwünscht  wäre  es,  wenn  diese  bis  in  die  neueste  Zeit  fast 
ganz  übersehene  Casolasche  Reisebeschreibung  ihrer  kultur- 
geschichtlichen Bedeutung  wegen  auch  einen  deutschen  Über- 
setzer und  Herausgeber  finden  würde. 

Bödigheim.  //.  Hagenmeyer, 

Zur  Rechtsstellung  der  Gäste  im  mittelalterlichen  städtischen 
Prozeß.  Vorzugsweise  nach  norddeutschen  Quellen  von 
Hermann  Rudorff.  Breslau,  M.  u.  H.  Markus.  1907.  203  S. 
(Untersuchungen  z.  deutschen  Staats-  u.  Rechtsgeschichte, 
herausgegeben  von  Otto  Gierke.    Heft  88.) 

Der  Vf.  erörtert  die  Abweichungen  von  der  normalen  Ge- 
staltung der  Gerichtsverfassung  und  des  Rechtsganges,  die 
sich  im  städtischen  Recht  allmählich  für  diejenigen  Fälle 
herausbildeten,  in  denen  gegen  einen  Gast,  d.  h.  Stadtfremden^ 
oder  von  einem  Gast  Recht  gesucht  wurde.  Vor  allem  be- 
mühte man  sich,  die  Streitsachen  der  Gäste  nach  Möglichkeit 
vor  das  eigene  Stadtgericht  zu  bringen.  Das  schließliche 
Hauptmittel  dafür  wurde  das  seit  Ende  des  12.  Jahrhunderts 
auftretende  forum  arresii.  Wegen  jeder  auf  Geld  oder  Fahrnis 
gehenden  Schuld  konnte  ein  Gast  ohne  weiteres,  wenn  man 
ihn  in  der  Stadt  antraf,  mit  Personalarrest  oder,  wenn  er  Gut,. 
z.  B.  Handelsware,  in  die  Stadt  eingebracht  hatte,  mit  Sach- 
arrest belegt  und  dadurch  vor  das  Stadtgericht  gezwungen 
werden.  Und  ebenso  wurde  gegen  ihn  wegen  einer  einem 
Bürger  zugefügten  Missetat,  selbst  wegen  einer  auswärts  ge- 
schehenen, ein  forum  deprehensionis  vor  dem  Stadtgericht 
dann  eröffnet,  wenn  er  sich  im  Stadtbezirk  blicken  und  fassen* 
ließ.  Als  Gegenstück  hatte  er  das  Recht  auf  schnelles  Gericht 
(Gastgericht),  das  sofort  als  Notgericht  mit  einer  geminderten 


120  Literaturbericht. 

Zahl  von  Urteilsfindern,  eventl.  au!  der  Gasse,  zusammentrat. 
Während  der  Jahrmarktzeiten  wurden  die  Gäste  durch  eine 
entsprechende  Ausdehnung  des  Marktfriedens  wenigstens  gegen 
solchen  Arrest  und  solche  Vermögens-  und  Strafklage,  deren 
Grund  zurücklag,  d.  h.  nicht  in  der  Marktzeit  selbst  entstanden 
war,  gesichert.  Verbündete  Städte  schalteten  nicht  selten  durch 
besondere  Gegenseitigkeitsverträge  jene  den  Gästen  beschwer- 
lichen Sätze  für  das  Verhältnis  ihrer  Bürger  zueinander  aus. 
Die  auf  sorgfältiger  Quellenforschung  beruhende,  anschauliche 
Darstellung  aller  dieser  Rechtsbildungen,  die  im  wesentlichen 
wohl  das  allgemeine  Bild  des  städtischen  Gästerechtes  wieder- 
spiegeln, ist  nicht  bloß  für  die  Prozeßrechtsgeschichte,  sondern 
auch  für  die  Wirtschaftsgeschichte  von  großem  Interesse. 
Freiburg  i.  B.  Alfr.  SchuUze. 


Karl  von  Miltitz,  1490—1529.  Sein  Leben  und  seine  geschicht- 
liche Bedeutung.  Von  Dr.  Heinr.  Aug.  Creutzberg.  (Stu- 
dien u.  Darstell,  aus  d.  Gebiet  d.  Geschichte,  herausg.  von 
Dr.  Herrn.  Grauert.  6.  Bd.,  1.  Heft.)  Freiburg  L  B.,  Herder. 
1907.    Vlll  u.  123  S. 

Manche  Widersprüche  und  Unebenheiten  dieser  Bonner 
Dissertation  erklären  sich  aus  dem  Umstände,  daß  sie  begonnen 
wurde,  ehe  noch  durch  neuere  Forschungen  die  kirchen- 
politische Bedeutung  der  Machenschaften  Miltitzens  in  recht 
enge  Grenzen  eingeschlossen  war.  Bei  dem  Bestreben,  seiner  Ar- 
beit doch  noch  eine  selbständige  Bedeutung  zu  sichern,  indem 
er  Person  und  Auftrag  des  Nuntius  wieder  etwas  respektabler 
und  wichtiger  erscheinen  ließ,  hat  sich  der  Vf.  besonders  im 
ersten  Teil  in  der  Methode  stark  vergriffen.  Nach  bekanntem 
Rezept  schiebt  er  dem  Gegner  eine  einseitige  oder  übertriebene 
Behauptung  unter,  gegen  die  sich  nun  gut  rappieren  läßt. 
Also:  „in  den  letzten  Jahren  ist  man  mehr  und  mehr  dazu 
übergegangen,  Miltitzens  Person  für  eine  durchaus  unbedeutende 
zu  halten  und  ihren  Träger  selbst  als  einen  Dummkopf  und  Be- 
trüger hinzustellen '*;  „man  sei  in  der  Verurteilung  Miltitzens 
und  der  Herabsetzung  seines  Lebenswerkes  etwas  gar  weit 
gegangen"  (S.  30).  Damit  dürfte  neben  dem  Ref.  vor  allem 
K.  Müller  gemeint  sein,    der  sein  sachlich  wohlbegründetes 


Reformation.  121 

Urteil  in  die  Ausdrücke  «Renommist,  Schwindler,  Schwätzer** 
(Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  XXIV,  76  f.)  zusammenge- 
faßt hat;  den  wichtigsten  Teü  dieses  „Lebenswerkes",  das  von 
Miltitz  eigenmächtig  eingefädelte  und  hartnäckig  betriebene 
Trierer  Schiedsgericht,  bezeichnet  Creutzberg  selbst  als  einen 
«ungeheuren  Schwindel"  (S.65),  bei  dem  der  junge  Pfründenjäger 
seinen  materiellen  Vorteil  bei  der  Kirche  wie  bei  der  Gegenpartei 
suchte;  den  von  mir  eingeführten  mildernden  Umstand,  daß 
die  von  Miltitz  verschuldeten  Ausflüchte  und  Weiterungen  ihm 
vom  Kurfürsten  suggeriert  und  rücksichtslos  zu  Luthers  Gunsten 
ausgebeutet  wurden,  läßt  der  Vf.  zurücktreten,  um  nicht  die  Zweifel 
an  den  «großen  diplomatischen  Fähigkeiten"  Miltitzens  (S.  35) 
zu  unterstützen.  Gleichwohl  ist  die  zusammenfassende  Charak- 
teristik im  „Schlußwort*  als  wohlgelungen  zu  bezeichnen,  wie 
überhaupt  die  zweite  Hälfte  der  Arbeit  etwa  von  den  Alten- 
burger  Verhandlungen  an  mehr  befriedigt,  da  sich  der  Vf.  hier 
mit  einer  im  wesentlichen  korrekten  Wiedergabe  des  vor  ihm 
Gewonnenen  begnügt.  Der  Fehler,  auch  hier  das  Treiben  Mil- 
titzens möglichst  wichtig  erscheinen  zu  lassen,  korrigiert  sich  bei 
Berücksichtigung  der  größeren  Zusammenhänge.  Aufgebauscht 
wird  hier  u.  a.  «die  ungewöhnlich  wichtige  Gesandtschaft  zu 
Friedrich  d.  W."  (Mai  1519),  die  ebenfalls  beweisen  soll,  daß 
die  Kurie  und  Kajetan  den  Nuntius  nicht  «für  einen  einfältigen 
Menschen  gehalten"  hätten.  Mein  nach  Cr.  «unhaltbares 
Urteil,  das  ihn  fast  zu  einer  Art  Briefträger  herabdrücken 
wolle"  (S.  35),  habe  ich  gelegentlich  einer  Untersuchung  über 
«die  Fakultäten  Aleanders"  (in  einer  1908  in  Leipzig  er- 
schienenen Sammlung  von  «Studien  zu  ungedruckten  Akten- 
stücken aus  Aleanders  Nachlaß"  unter  dem  Titel  «Aleander 
gegen  Luther",  S.  7ff.)  durch  den  Nachweis  gestützt,  daß  M. 
in  seiner  Eigenschaft  als  Nuntius  von  der  «seines  Nachfolgers 
Aleander"  (Cr.  S.  35)  durch  eine  weite  Kluft  getrennt  war: 
die  mit  diplomatischen  Aufgaben  betrauten,  für  ihre  Verhand- 
lungen auch  besonders  instruierten  Vertreter  des  Papstes 
werden  von  jenen  untergeordneten  Sendlingen  durch  den  Titel 
^nuntius  et  orator'  scharf  geschieden.  Indem  er  Miltitzens 
Stellung  an  der  Kurie  herausstreicht,  bringt  Cr.  eine  Notiz 
aus  dem  privaten  Rechnungsbuch  des  Papstes,  dem  Miltitz 
«so  nahe  trat,  daß  er  oft  zum  Lottospiel  von  Leo  herangezogen 


122  Literaturbericht. 

wurde*.  Aber  der  eine  Vermerk  besagt  nur,  daß  Leo  X.  sich 
einmal  beim  Spiel  13  Dukaten  von  Miltitz  entlieh,  der  sich  auf 
jenem  Jagdausflug  nach  Toskana  im  päpstlichen  Gefolge  be- 
fand, weil  er  von  dort  aus  nach  Deutschland  abgefertigt  werden 
sollte;  die  50  Dukaten  vom  25.  Oktober  aber  stellen  sein 
Reisegeld  vor  (S.  9  Anm.  2).  Ein  „Verhältnis  Miltitzens  zum 
Vizekanzler"  nimmt  Cr.  ohne  weiteres  an,  obwohl  er  „nichts 
darüber  feststellen  konnte*.  Den  Lobeserhebungen  eines  so 
anpassungsfähigen  Strebers  wie  Cochläus  hier  nicht  zu  miß- 
trauen, haben  wiederum  wir  „keinen  Grund*  (S.  6  und  28)^ 
zumal  derartiges  in  Humanistenbriefen  ohnehin  sehr  leicht 
wiegt.  Wie  völlig  nichtig  Urteilsfähigen  die  dreisten  Umtriebe 
des  Junkers  erschienen,  zeigt,  daß  Pirkheimer  auf  sein  An- 
gebot hin,  ihm  hinter  dem  Rücken  des  zuständigen  Kommissars 
Lösung  vom  Banne  zu  verschaffen,  nicht  einmal  dankte ;  wenn 
ihn  Cr.  (S.  98  f.)  dafür  der  „Fahrlässigkeit*  beschuldigt, 
so  übersieht  er,  wie  sorglich  die  Nürnberger  damals  schon 
bemüht  waren,  ohne  zu  schlimme  Demütigung  vor  Dr.  Eck 
aus  dem  Handel  zu  kommen.  Statt  derartiger  Sophistereien, 
von  denen  besonders  die  erste  Hälfte  wimmelt,  hätte  der  Vf.^ 
dem  nennenswertes  neues  Material  nicht  zu  Gebote  stand,  die 
Dresdener  und  Siebeneichener  Akten  einsehen  sollen  (S.  2f.), 
um  nach  dem  Muster  Vircks  vor  den  Planitz-Berichten  über 
Familien-  und  Vermögensverhältnisse,  vielleicht  auch  über  das 
Geburtsjahr  Abschließendes  zu  bieten.  Verwunderlich  ist  die 
zweimalige  Verwendung  (S.  43,  105)  des  Schreibens  des  von 
mir  enträtselten  A.  de  Mironibus  und  so  manches  andere; 
befremdlich  die  Art,  wie  er  mich  zitiert  für  Ansichten,  von 
denen  ich  das  Gegenteil  nachgewiesen  habe  (so  S.  16,  Anm.  6 
und  S.  114,  betreffend  das  Verhältnis  Friedrichs  d.  W.  zu 
„Ablaß  und  Reliquienverehrung*),  oder  mit  Übergehung  des 
wichtigsten  Ergebnisses  wie  S.  45,  wo  er  sogar  die  veränderte 
Datierung  der  Lichtenburger  Verhandlungen  von  1518  un- 
beachtet läßt,  noch  befremdlicher  in  verschiedener  Hinsicht, 
wie  er  mich  nicht  zitiert.  —  An  Fleiß  und  Gewandtheit  hat 
es  der  Vf.  nicht  fehlen  lassen,  aber  er  hat  sie  bei  einer  nicht 
mehr  lohnenden  Aufgabe  und  leider  auch  in  einer  falschen 
Richtung  eingesetzt. 

Breslau.  P,  Kalkoff. 


16.  Jahrhundert.  123 

Aus  Kurköln  im  16.  Jahrhundert.  Von  Gust.  Wolf.  (Historische 
Studien,  veröffentlicht  von  E.  Ehering.  Heft  51.)  Berlin, 
E.  Ehering.    1905.   VIII  u.  342  S. 

Das  vorliegende  Werk  ist  wertvoll  nicht  nur  für  die 
Provinzial-,  sondern  auch  für  die  Reichsgeschichte.  Indem 
der  Vf.  bei  seinen  Vorstudien  für  den  2.  Band  seiner  Deutschen 
Geschichte  im  Zeitalter  der  Gegenreformation  eine  Rundschau 
über  den  Zustand  der  bedeutendsten  Territorien  nach  dem 
Augsburger  Religionsfrieden  zu  geben  und  hierbei  als  Muster- 
beispiel für  die  geistlichen  Fürstentümer  das  Kurfürstentum 
Köln  aus  verschiedenen  Gründen  zu  nehmen  sich  veranlaßt 
sah,  stieß  er  auf  die  empfindliche  Lücke  in  unserer  Kenntnis 
von  dessen  Geschichte,  die  zwischen  den  trefflichen  Darstel- 
lungen Varrentrapps  über  Hermann  von  Wied  und  Lossens 
über  Gebhard  Truchseß  klafft.  Durch  eifriges  Aktenstudium 
in  den  Archiven  zu  Köln  und  Düsseldorf  erwuchs  ihm  das 
Material  zu  dem  Buche  über  Kurköln  im  16.  Jahrhundert,  das 
jene  Lücke,  abgesehen  von  der  Regierung  Salentins  von  Isen- 
burg,  auszufüllen  bestimmt  ist.  Eine  erschöpfende  Geschichte 
des  Kölner  Kurstaates  in  diesem  wichtigen  Zeitraum  von 
20  Jahren  (1546—67)  darf  man  freilich  nicht  erwarten  bei  der 
selbstgewollten,  weil  durch  den  Charakter  des  Hauptwerkes 
bedingten  Beschränkung  auf  die  Ereignisse,  welche  ihrerseits 
zu  der  gemeindeutschen  politischen  und  Kirchengeschichte  in 
Beziehung  stehen.  Aber  trotzdem  fällt  doch  manches  Streif- 
licht auf  die  innere  Entwicklung  des  Territoriums.  Das  Bild, 
welches  Wolf  von  den  Verhältnissen  Kurkölns  in  dem  von  ihm 
behandelten  Zeitraum  entwirft,  ist  recht  unerfreulich.  Die 
Interessen  der  maßgebenden  Faktoren  waren  einander  allzu- 
sehr entgegengesetzt,  so  daß  eine  Gesundung  der  von  einer 
Generation  zur  anderen  verschleppten  traurigen  Finanzlage 
nicht  eintreten  konnte.  Und  diese  Lage  wirkte  wie  ein  Hemm- 
schuh, der  die  Erzbischöfe  an  einem  entschiedenen  Auftreten 
sowohl  im  Reiche,  wie  im  eigenen  Territorium  hinderte.  Die 
Wurzel  des  ganzen  Übels  deckt  der  Vf.  in  der  ersten  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  auf  in  der  kurzsichtigen  Finanzwirtschaft 
des  Erzbischofs  Dietrich  von  Mors,  der  sich  die  Mittel  zu 
seiner  hochstrebenden  Politik  auf  wenig  haushälterische  Weise 
verschaffte.    Als  er  starb,  schlössen  die  Stände  des  Erzstiftes 


1 24  Literaturbericht. 

die  Erblandesvereinigung  vom  Jahre  1463,  in  der  sie  sich  den 
maßgebenden  Einfluß  au!  die  Regierung  vorbehielten,  um  der 
Verschuldung  des  Erzstiftes  entgegenzuarbeiten.  Aber  die 
Entschuldung  wurde  nicht  erreicht;  trostlos  blieb  die  finan- 
zielle Lage  der  Erzbischöfe  durch  das  ganze  16.  Jahrhundert; 
sie  gipfelte  in  erschütternder  Tragik,  als  beim  Tode  Johann 
Gebhards  von  Mansfeld  seine  bejahrte  Mutter  nicht  einmal 
ihre  Herberge  bezahlen  konnte  und  das  Domkapitel  Sorge 
tragen  mußte,  daß  die  Gläubiger  nicht  die  Hand  auf  die  Leiche 
des  Erzbischofs  legten.  Interessantes  Licht  fällt  auch  auf  die 
reformatorischen  Bewegungen  in  der  Stadt  Köln,  insbesondere 
auf  die  Prozesse  gegen  die  Professoren  Justus  Velsius  und 
Jakob  Leichius.  Die  Benutzung  des  Buches  wird  leider  da- 
durch sehr  erschwert,  daß  weder  ein  eingehendes  Inhalts- 
verzeichnis, noch  ein  Register  den  reichen  Inhalt  erschließt, 
Köln.  Herrn.  Keussen. 


Theodore  de  Neuhoff ,  Roi  de  Corse,  par  Andr6  It  Glay.   Paris^ 
A.  Ricard  et  fils.     1907.    XII  u.  447  S. 

Der  westfälische  Baron,  dem  die  Korsen  am  15.  April  1736 
eine  ephemere  Königskrone  aus  Lorbeerzweigen  aufs  Haupt 
setzten,  ist  schon  zu  seinen  Lebzeiten  Gegenstand  biographischer 
Darstellungen  geworden,  und  seine  Schicksale  haben  bis  in 
die  neuere  Zeit  teils  wegen  ihres  romanhaften  Charakters, 
teils  wegen  des  politischen  Intrigenspiels,  das  sich  an  dieses 
seltsame  Königtum  knüpfte,  zu  weiteren  Nachforschungen  gereizt. 
Der  Vf.  der  neuen  Biographie  hat  das  Archiv  des  auswärtigen 
Ministeriums  in  Paris  und  die  Staatsarchive  von  Turin  und 
Genua  durchsucht  und  daraus  noch  eine  Menge  neuer  Notizen 
von  größerem  oder  geringerem  Belang  geschöpft :  man  gewahrt 
die  lebhafte  Bewegung,  in  die  das  Auftreten  des  Abenteurers 
die  Höfe  versetzte,  die  ein  Interesse  an  den  Machtverhält- 
nissen im  Mittelmeer  hatten;  man  sieht  die  aufgeregte  Diplo- 
matie der  genuesischen  Republik  am  Werk,  die  überall  dem 
gefürchteten  Prätendenten  auf  den  Fersen  war,  ihn  von  Ort  zu 
Ort  verfolgte,  seinen  Umtrieben  nachspürte  und  die  Briefe 
unterschlug,  die  er  mit  den  korsischen  Häuptlingen  wechselte. 
Aber  es  fehlt  doch  viel,  daß  es  dem  Vf.  gelungen  wäre,  das 


18.  Jahrhundert.  125 

vorhandene  Material  kritisch  zu  sichten  und  daraus  eine  über- 
zeugende Biographie  aufzubauen.  Im  einzelnen  bleiben  viele 
Lücken,  bleibt  vieles  rätselhaft,  unsichere  Vermutung,  was 
freilich  damit  zusammenhängt,  daß  der  gekrönte  Baron,  der 
nur  ein  halbes  Jahr  wirklich  den  Szepter  trug,  die  meiste  Zeit 
ein  flüchtiges  Abenteurerleben  führte,  das  die  Öffentlichkeit 
scheute,  daß  er  seine  Fäden  nur  im  verborgenen  spann,  und 
daß  die  Pläne  der  Mächte,  die  nach  der  Beute  lüstern  sich 
gegenseitig  beargwöhnten,  gleichfalls  nur  im  dunkeln  gesponnen 
wurden.  Tatsächlich  war  Theodor  von  englischer  und  hollän- 
discher Seite  unterstützt;  immerhin  bleibt  es  zweifelhaft,  ob 
und  inwieweit  auch  die  Regierungen  hinter  den  zu  seinen 
Gunsten  ausgerüsteten  Expeditionen  standen.  Außerdem  sehen 
wir  Spanien,  Sardinien,  Toskana,  Neapel  als  Mitbewerber  für  den 
Fall,  daß  Genua  die  Insel,  mit  deren  Unbotmäßigkeit  es  beständig 
zu  kämpfen  hatte,  nicht  länger  zu  behaupten  vermochte. 
Zuletzt  wandte  sich  die  altersschwache  Republik  an  Frankreich, 
und  Frankreich  Heß  sich  nicht  lange  bitten,  entschlossen,  den 
Besitz  der  Insel  keiner  anderen  Macht  zu  gönnen.  Einen  Einblick 
in  die  französische  Politik  gewährt  die  Instruktion,  die  dem 
französischen  Gesandten  in  Genua,  Campredon,  am  5.  Mai  1737 
erteilt  wurde :  ,Es  wäre  zu  wünschen,  daß  die  Republik,  wie  man 
Sie  versichert  hat,  zu  einem  Verkauf  der  Insel  sich  geneigt  zeigte. 
Der  König  würde  seine  Blicke  niemals  dahin  richten,  solange 
sie  in  der  Gewalt  der  Genuesen  bleibt,  und  Seine  Majestät 
hat  es  bisher  auch  nicht  für  angezeigt  gehalten,  sich  in  diese  Re- 
volution einzumischen,  über  die  man  bloß  sehr  unsichere 
Vermutungen  anstellen  könnte;  aber  sobald  der  Verkauf  der 
Insel  in  Frage  käme,  würde  es  den  Interessen  der  Franzosen 
nicht  entsprechen,  daß  irgendeine  andere  Macht  sie  erwürbe. 
Ich  bitte  Sie  deshalb,  genau  darüber  zu  wachen,  was  in  der 
Sache  vorgeht,  und  mir  zu  berichten,  was  Sie  in  Erfahrung 
bringen."  Von  den  Genuesen  zu  Hilfe  gerufen,  sind  dann  die 
Franzosen  im  Februar  1738  erstmals  auf  der  Insel  gelandet; 
sie  gerieten  aber  sogleich  mit  den  Genuesen  in  Streit,  weil 
diese  wollten,  daß  mit  Feuer  und  Schwert  gegen  die  Empörer 
vorgegangen  werde,  während  die  Franzosen,  weiterschauend, 
die  Unterwerfung  zuerst  mit  Güte  versuchten.  Theodor  hatte 
schon  im  November  1736  seinen  wankenden  Thron  verlassen, 


126  Literaturbericht. 

angeblich,  um  die  Mittel  zu  dessen  Erhaltung  persönlich  zu 
betreiben.  Es  gelang  ihm  auch,  in  Amsterdam  eine  Handels- 
gesellschaft zusammenzubringen,  die,  durch  Aussicht  au!  Ge- 
winn angelockt,  eine  Expedition  für  ihn  ausrüstete,  und  es 
gelang  ihm,  nachdem  dieses  Unternehmen  gescheitert  war, 
in  London  Gönner  für  eine  Expedition  zu  finden,  mit  der  er 
sich  selbst  wieder  nach  seinem  Königreich  aufmachte.  Allein 
er  befuhr  mit  diesem  Geschwader  wohl  die  KUstenplätze  der 
Insel,  wagte  aber  nicht  mehr,  den  Fuß  auf  korsischen  Boden 
zu  setzen.  Seine  Rolle  war  jetzt  ausgespielt.  Während  er 
sich  in  Toskana  verborgen  hielt,  unterstützten  die  Engländer 
noch  eine  Zeitlang  den  unternehmungslustigen  König  Karl 
Emanuel  von  Sardinien,  zogen  sich  aber  zuletzt  ganz  von  dem 
korsischen  Abenteuer  zurück.  Auch  bei  den  Kämpfen  auf  der 
Insel  hatte  sich  Theodor  stets  außer  Schußweite  gehalten; 
jetzt  aus  Florenz  ausgewiesen,  geht  er  nach  Westfalen  zurück, 
und  sein  ferneres  Leben  ist  ein  verzweifelter  Kampf  um  das 
tägliche  Brot.  Er  wendet  sich  nach  Holland  und  schließlich 
nach  England,  wo  er  von  der  Mildtätigkeit  seiner  Gönner 
lebt,  die  meiste  Zeit  aber  im  Schuldgefängnis  sitzt  und,  aus 
diesem  freigelassen,  nach  wenigen  Tagen  im  Elende  stirbt« 
Dezember  1756.  Der  Biograph  hat  die  Gestalt  dieser  bettel- 
haften Majestät  wohl  allzusehr  ins  Burleske  gezogen,  er  hält 
auch  den  von  Mitleid  diktierten  Aufruf  Walpoles  zu  Zeichnungen 
für  den  Unglücklichen  für  eitel  Hohn  und  Spott.  Im  ganzen 
dient  aber  die  Erzählung  seiner  Lebensgeschichte  wirklich  nicht 
dazu,  den  Nimbus  um  Theodors  Person  zu  erhöhen.  Varn- 
hagen  und  noch  Gregorovius  haben  sich  durch  die  Lands- 
mannschaft und  den  romantischen  Schimmer  der  korsischen 
Königskrone  bestechen  lassen.  Mag  man  auch  anerkennen, 
was  Theodor  während  seiner  kurzen  Regierung  zum  Besten 
des  Landes  zu  tun  versuchte,  und  mag  man  auch  die  Genialität 
bewundern,  die  es  so  lange  verstand,  die  Leichtgläubigkeit 
anderer  für  seine  Zwecke  auszunützen,  sein  phantastisches 
Königtum  ist  allzusehr  mit  dem  Fluch  der  Lächerlichkeit  be- 
lastet, und  seinem  Ehrgeiz  hat  allzusehr  der  kecke  Wagemut 
gefehlt,  als  daß  er  ein  tieferes  Interesse  einflößen  könnte. 
Nicht  durch  heroisches  Einsetzen  seiner  Person,  sondern  nur 
durch  lügnerische  Versprechungen   hat  er   sich    eine  Zeitlang 


18.  Jahrhundert.  127 

über  Wasser  halten  können.  Daß  die  Korsen  einen  so  frag- 
würdigen Fremdling  zum  König  wählten,  war  aber  ein  Beweis 
dafür,  daß  ihnen  zur  Abschüttlung  des  verhaßten  genuesischen 
Jochs  ein  jedes  Mittel  recht  war,  von  da  an  trat  der  voraus- 
sichtliche Verlust  der  Insel  für  Genua  in  die  Berechnung  der 
Mächte  ein,  und  so  beruht  die  Bedeutung  dieser  historischen 
Episode  im  Grunde  nur  darauf,  daß  an  Theodors  Unternehmen 
die  Festsetzung  der  Franzosen  auf  Korsika  sich  knüpft.  Zwölf 
Jahre  nach  Theodors  Tod  ist  sie  durch  förmlichen  Kaufvertrag 
besiegelt  worden.  W.  L. 

Das  Heilige  Römische  Reich  teutscher  Nation  im  Kampf  mit 
Friedrich  dem  Großen.  Von  Artur  Brabant«  1.  Bd.  Joseph 
Friedrich,  Herzog  zu  Sachsen-Hildburghausen,  des  Heiligen 
Römischen  Reichs  Generalissimus,  1757.  Berlin,  Gebr. 
Paetel.    1904.   394  S. 

In  den  Darstellungen  des  Siebenjährigen  Krieges  ist  bis 
jetzt  die  Geschichte  des  Kampfes  zwischen  Friedrich  d.  Gr. 
und  dem  Heil.  Rom.  Reiche  immer  zu  kurz  gekommen.  Haupt- 
sächlich wohl  darum,  weil  die  deutschen  Bearbeiter  dieser  Zeit 
fast  durchgängig  vom  preußischen  Standpunkt  aus  urteilen 
und  weil  gerade  auf  preußischer  Seite  die  Quellen  für  diesen 
Teil  des  Krieges  nicht  so  reichlich  sprudeln,  wie  für  alle 
andern  Phasen  des  gewaltigen  Ringens.  Brodrück  ^)  wiederum, 
dessen  tüchtige  Arbeit  bis  jetzt  noch  das  meiste  zur  Auf- 
hellung über  Organisation,  Führung  und  Leistung  des  Reichs- 
heeres getan  hat,  rückt  doch  den  Anteil  des  hessischen  Kon- 
tingents zu  sehr  in  den  Vordergrund.  Die  einschlägigen  fran- 
zösischen Arbeiten  gehen  aber  fast  alle  darauf  hinaus,  die 
Schuld  an  dem  unglücklichen  Ausgang  des  Feldzuges  von 
1757  von  den  eigenen  Truppen  möglichst  abzuwälzen  2)  und 
der  Reichsarmee  und  ihrer  schlechten  Führung  in  die  Schuhe 
zu  schieben.  Dem  Bedürfnis,  das  somit  nach  einer  unbe- 
fangenen   kritischen   Untersuchung    dieser  verwickelten   Ver- 


*)  Quellenstücke  und  Studien  über  den  Feldzug  der  Reichs- 
armee von  1757.    Leipzig  1858. 

«)  Auch  Waddington:  La  Guerre  de  Sept-Ans  I,  621—637  ist 
trotz  allen  Strebens  nach  Objektivität  davon  nicht  freigeblieben. 


128  Literaturbericht. 

hältnisse  immer  noch  bestand,  hilft  nun  das  oben  bezeichnete 
Buch  von  A.  Brabant  ab.  Br.  baut  seine  Arbeit  au!  Grund 
der  vorhandenen  Druckliteratur  und  der  Benutzung  zahlreicher 
alter  und  neuer  Archivalien,  hauptsächlich  aus  den  bayerischen 
Kreisarchiven  auf.  In  einer  trefflichen  Einführung  werden  wir 
mit  den  Grundlagen  der  bestehenden  Reichsverfassung,  den 
ersten  Ankündigungen  des  neuen  Zwistes  zwischen  Osterreich 
und  Preußen  und  den  parlamentarischen  Vorverhandlungen 
im  Jahre  1756  vertraut  gemacht.  Dann  lernen  wir  die  Regens- 
burger  Beschlüsse  selbst  kennen,  die  nach  vielem  Hin  und  Her 
am  19.  Mai  1757  mit  der  kaiserlichen  Ratifikation  des  Mobil- 
machungsbeschlusses und  der  Ernennung  Hildburghausens 
zum  Generalissimus  endeten.  Der  EinfaU  Mayrs  ins  Reich, 
von  dessen  einschüchternder  Wirkung  sich  Friedrich  d.  Gr. 
so  viel  versprochen  hatte,  beschleunigte  im  Zusammenhange 
mit  der  Niederlage  von  Kollin  gerade  die  erst  recht  lässig  betrie- 
benen Rüstungen  der  Stände.  Fürth  wurde  zum  Sammelplatz 
des  Heeres  bestimmt,  aber  es  sollte  der  Anfang  August 
herankommen,  ehe  wenigstens  der  größere  Teil  der  Aufgebote 
beisammen  war.  Einzelne  Kontingente,  wie  vor  allem  das 
württembergische,  blieben  trotzdem  noch  aus.  Und  wie  sah 
es  bei  den  gestellten  Truppen  aus!  Wer  die  lebendige  Schil- 
derung Br.s  von  den  Schwierigkeiten  der  Mobilmachung,  des 
Marsches  und  hauptsächlich  der  Verpflegung  liest,  der  wird 
von  vornherein  diesen  Truppen  keine  großen  kriegerischen 
Leistungen  zutrauen.  Niemand  sah  darin  klarer  als  der  Oberst- 
kommandierende selbst.  Aus  seinem  Briefwechsel  mit  CoIIo- 
redo,  den  Br.  sehr  ausgiebig  heranzieht,  blickt  uns  das  ganze 
Elend  dieser  Reichsarmee  an.  Es  fehlte  an  allem  und  jedenu 
Die  Mannschaften  waren  großenteils  gar  nicht  einexerziert,  teils 
zusammengelaufenes  Gesindel,  ohne  Treu  und  Glauben  (S.  157), 
teils  in  den  besseren  Elementen  überwiegend  friderizianisch 
gesinnt;  der  Kavallerie  fehlten  die  Pferde;  Artillerie  war  zu 
wenig,  Pontons  waren  gar  nicht  vorhanden.  Kein  Wunder, 
wenn  Hildburghausen  in  Wien  eifrig  um  Zusendung  einiger 
kaiserlicher  Regimenter  bat,  um  dem  Heere  wenigstens  etwas 
Rückhalt  zu  geben,  denn  sonst  glaubte  er  überhaupt  nichts 
unternehmen  zu  dürfen.  Am  10.  August  schrieb  er  dem  Vize- 
kanzler nach  Wien:  «Wer  die  Beschaffenheit  dieser  Armee  genau 


18.  Jahrhundert.  129 

prüft,  wird  nur  mit  Zittern  seine  Ehre  und  seinen  Ruf  ihrem 
Wohlverhalten  anvertrauen"  (S.  177).  Wenn  er  trotz  dieser 
Oberzeugung  und  trotz  seines  sehr  bald  geäußerten  Ent* 
Schlusses,  im  nächsten  Jahre  das  Kommando  nicht  wieder  zu 
übernehmen,  den  Oberbefehl  nicht  sofort  niederlegte,  so 
dürfen  wir  die  Erklärung  dafür  wohl  in  seinem  Charakter 
suchen.  Er  war  eine  jener  in  sich  uneinigen  Naturen,  bei 
denen  Verstand  und  Phantasie  in  stetem  Widerstreite  liegen. 
Trotz  aller  Einsicht  in  die  Mängel  seiner  Armee  hoffte  er  im 
Innern  doch  wohl  immer  noch  auf  die  Möglichkeit  eines  Er- 
folges. Sein  Eifer  in  der  Organisierung  des  Heeres  war  un- 
begrenzt, aber  vielleicht  fehlte  er  gerade  dadurch  am  meisten, 
daß  er  alles  selbst  tun  wollte  (s.  S.  159).  Immerhin  wird  man 
nach  Br.s  Ausführungen  nur  noch  mehr  in  der  günstigeren 
Auffassung  seiner  Persönlichkeit,  wie  sie  schon  das  0.  St.  W.^) 
vertritt,  bestärkt.  Am  24.  August  begann  der  allgemeine  Vor- 
marsch nach  Erfurt  (S.  189) ;  wohin  schon  einige  der  besten  Regi- 
menter vorausgeschickt  waren;  am  17.  September  erfolgte  die 
Vereinigung  des  ganzen  Heeres  mit  der  französischen  Armee 
unter  Soubise  bei  Eisenach,  weil  Friedrich  unterdessen  Erfurt 
bedrohte.  Diese  Vereinigung  erhöhte  aber  nur  die  Schwierig- 
keiten für  Hildburghausen,  da  zu  den  Unzuträglichkeiten  im 
eigenen  Lager  nun  auch  noch  leidige  Rangfragen  zwischen  den 
beiden  Führern  und  ständige  Reibereien  zwischen  den  beider- 
seitigen Mannschaften  und  Offizieren  kamen.  Ausführlich 
werden  wir  dann  von  Br.  über  die  Märsche  und  Gegen- 
märsche der  feindlichen  Heere  unterrichtet.  Hierbei  kam  es 
auch  zu  dem  so  oft  in  seiner  Bedeutung  übertriebenen  Reiter- 
stückchen von  Seydlitz  bei  Gotha  [(19.  September),  das  Br. 
ganz  richtig  nur  als  »Vorpostengefecht**  charakterisiert.  Das 
Verhalten  von  Soubise,  der  mit  glänzenden  Umgangsformen 
eine  skrupellose  Doppelzüngigkeit  gegenüber  Hildburghausen 
verband,  wird  scharf  beleuchtet,  er  selbst  sehr  hübsch  als 
«Rokokogeneral''  bezeichnet.  Bei  der  Beurteilung  der  offiziellen 
französischen  Politik  scheint  uns  allerdings  Br.  zu  viel  Finessen 
herausklauben  zu  wollen.  Eine  „doppelpolige  Politik''  in  dem 
Sinne,  wie   Br.   will   (S.  173),    mit  dem  bewußten  zweifachen 


»)  Generalstabswerk  1903,  Teil  111,  Bd.  5,  S.  30—34. 

Hiitorische  Zeitochrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  9 


130  Literaturbericht. 

Ziel  der  Niederwerfung  Englands  und  der  Aufrechterhaltung 
des  Gleichgewichts  zwischen  Österreich  und  Preußen  wird 
man  bei  unbefangener  Prüfung  der  veröffentlichten  Quellen 
dem  französischen  Hofe  nicht  wohl  nachsagen  können.  Eine 
deutsche  Politik  dieser  Richtung  hatte  man  dort  vor  dem 
Siebenjährigen  Kriege  verfolgt.  Jetzt  wollte  man  auch  in 
Versailles  sicher  ernstlich  die  Demütigung  Preußens.  Die 
Kriegsführung  1757  war  allerdings  schwächlich,  und  sie  mochte 
darum  schon  den  Zeitgenossen  zweideutig  erscheinen^),  aber 
sie  findet  eine  hinreichende  Erklärung  in  der  von  Anfang  an 
kundgegebenen  Absicht,  den  Feldzug  von  1757  nur  als  eine 
Vorbereitung  zu  dem  Hauptschlage,  der  Eroberung  Magde- 
burgs im  folgenden  Jahre,  führen  2)  und  demgemäß  die  Truppen 
jetzt  keinen  unnötigen  Gefahren  aussetzen  zu  wollen.^)  Die 
hochmütige  Ablehnung  der  preußischen  Friedensanträge  durch 
Ludwig  XV.  im  Oktober*)  bekundet  aber  dessen  feindselige 
Gesinnung  gegen  seinen  ehemaligen  Verbündeten.  Und  daß 
man  im  rechten  Augenblicke  auch  eine  kriegerische  Nieder- 
werfung Preußens,  die  doch  sein  ferneres  erfolgreiches  Aus- 
spielen gegen  Österreich  unmöglich  gemacht  hätte,  nicht  ver- 
meiden wollte,  geht  schon  aus  dem  lebhaften  Wunsch  hervor, 
mit  dem,  nach  Bernis  doch  gewiß  einwandfreiem  Zeugnis, 
(bei  Br.  S.  195,  196)  die  Marquise  de  Pompadour  kriegerische 
Lorbeeren  für  ihren  Schützling  Soubise  ersehnte.  Ein  weiterer 
Beweis  dafür  sind  die  Angriffsgelüste,  die  in  den  letzten 
Oktobertagen  den  französischen  General  selbst  beseelten,  nach- 
dem er  Verstärkungen  von  Richelieu  empfangen  hatte.  ^) 
Wenn  vorübergehend  die  Mahnungen  zur  Vorsicht  aus  Ver- 
sailles^)  seinen   Eifer  wieder  etwas   dämpften,   so   schimmert 


^)  Stuhr,  Forschungen  und  Erläuterungen  über  Hauptpunkte 
der  Geschichte  des  Siebenjähr.  Krieges.  Hamburg  1842.  Bd.  1, 
217/18. 

«)  Stuhr  1,  172-175.  179/80.  201.  215—216.  R.  Koser,  König 
Friedrich  d.  Gr.  II,  128. 

»)  Stuhr  1,  186.  357.    Brief  von  Paulney  an  Soubise,  Okt.  23. 

*)  R.  Koser,  König  Friedrich  d.  Gr.  11,  125;  vgl.  auch  ebenda 
n,  39—44. 

»)  Stuhr  1,  221. 

•)  Stuhr  1,  223. 


18.  Jahrhundert.  131 

doch  aus  seinen  weiteren  Briefen  deutlich  genug  die  Neigung 
zur  Offensive  durch,  falls  der  König  die  Saale  überschreite^), 
und  es  will  uns  nicht  scheinen,  als  ob  er  diese  nur  dazu  lüge, 
wie  Br.  meint.  Seine  Depesche  kurz  vor  der  Schlacht  an 
Ludwig  XV.:  «Bald  sende  ich  Ihnen  den  König  von  Preußen'' 
(bei  Br.  S.  324)  beweist  erst  recht,  daß  er,  sobald  der  Moment 
günstig  schien,  an  eine  Schonung  des  Königs  nicht  im  ge- 
ringsten dachte.  —  Die  Schlacht  selbst,  ihre  Entwicklung  und 
ihre  Folgen  schildert  Br.  recht  anschaulich  und  mit  Verwertung 
reicherer  Quellen  als  das  G.  St.  W.  Wir  dürfen  wohl  dem 
ehrlichen  Hildburghausen  glauben,  daß  Soubise  vor  allem  zur 
Last  fällt,  nur  flüchtig  rekognosziert  zu  haben  und  doch  Hild- 
burghausen in  dem  Wahn  von  dem  Abzüge  des  Königs  und 
der  Notwendigkeit  einer  Verfolgung  bestärkt  zu  haben  (Br. 
S.  327,  328).  Soubise  war  ihm  nur  im  Lügen  gar  zu  sehr  über^ 
und  seine  Darstellung  der  Vorgänge  hat  leider  allzulange  das 
Urteil  über  die  Schlacht  beeinflußt.  —  Sehr  verdienstlich  ist 
auch  die  ausführliche,  durch  das  ganze  Buch  gehende  Dar- 
stellung des  Verhaltens  von  Plothos  in  Regensburg  während 
der  beiden  Jahre  1756  und  1757  und  vor  allem  die  eingehende 
Schilderung  der  Reichsachtzustellung  durch  den  Notar  Dr.  Aprill, 
da  hierdurch  die  Anzweiflung  des  Vorganges  durch  Thudichum  ^) 
endgültig  entkräftet  wird.  —  Alles  in  allem:  das  sehr  an- 
ziehend geschriebene  Buch  Br.s  löst  reiche  Anregung  aus 
und  verdient  schon  darum  ernste  Beachtung.  Wir  wollen 
hoffen,  daß  uns  der  Vf.  bald  die  Fortsetzung  seiner  Darstel- 
lung schenken  wird.  Noch  wäre  zu  wünschen,  daß  bei  einer 
2.  Auflage  verschiedene  Druckfehler  ausgemerzt  werden  und 
daß  der  Vf.  die  Zeilen  im  Texte  von  5  zu  5  abteilt,  um  die 
Vergleichung  seiner  Zitate  zu  erleichtern. 

Dresden.  0.  A,  Hecker. 


>)  Stuhr  1,  226  u.  230. 

*)  Der  Achtsprozeß  gegen  Friedrich  d.  Gr.  usw.  8.  160/61  in 
der  Tübinger  Festgabe  für  Ihering.  1892.  Vgl.  auch  Bitterauf, 
Die  kurbayerische  Politik  im  Siebenjährigen  Kriege  (1901)  S.  105 
u.  Anm.  122. 


132  Literaturbericht. 

Friedrichs  des  Großen  Korrespondenz  mit  Ärzten,  herausgegeben 
von  Mamlock.  Stuttgart,  Ferd.  Enke.  1907.  XII  u.  168  S. 
6  M. 

Die  vom  VL  mit  Unterstüzung  der  Kgl.  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  Berlin  veranstaltete  Publikation  bildet  die  Er- 
gänzung zu  seiner  vor  sechs  Jahren  erschienenen  kleinen  Schrift 
„Friedrichs  des  Großen  Beziehungen  zur  Medizin*".  Behandelt 
diese  die  Krankheiten  des  Königs,  seine  Kenntnis  von  medi- 
zinischen Dingen,  den  Verkehr  mit  Ärzten,  die  Stellung  zu 
zeitgemäßen  ärztlichen  Fragen  usw.,  so  soll  in  der  vorliegenden 
Publikation  ein  Bild  von  Friedrichs  Stellung  zur  Heilkunde  in 
seiner  Eigenschaft  als  „Landesherr"  gegeben  werden.  Außer 
einer  Reihe  von  Briefen,  die  in  „Einleitung"  und  Anmerkungen 
auszugsweise  verwertet  sind,  werden  174  zum  größten  Teil 
noch  nicht  veröffentlichte  Schriftstücke  aus  den  Staatsarchiven 
in  Berlin  und  Breslau,  dem  Hausarchiv  in  Charlottenburg 
sowie  der  Generalregistratur  der  Kgl.  Charit^  in  Berlin  mitgeteilt. 
Sie  sind  verschiedener  Art;  teils  betreffen  sie  Friedrichs 
Person,  seine  Familie  und  seine  Freunde,  teils  gehören  sie 
dem  dienstlichen  Verkehr  mit  den  Verwaltungsbehörden  und 
den  maßgebenden  Persönlichkeiten  an,  teils  handelt  es  sich 
um  Immediatgesuche  und  deren  Beantwortung.  In  einer  um- 
fangreichen „Einleitung*  gibt  Mamlock  einen  erläuternden 
Überblick  über  den  wesentlichen  Inhalt  der  Publikation.  Da 
kommt  zunächst  das  Militärsanitätswesen  in  Frage;  ferner 
werden  die  Maßnahmen  beleuchtet,  welche  die  öffentliche 
Hygiene  erforderte,  sowie  die  Fürsorge  für  das  Charit6kranken- 
haus.  Endlich  wird  die  Korrespondenz  mit  fremden  Gelehrten, 
im  besonderen  mit  dem  Abb6  Spallanzani,  berührt;  sie  gibt 
M.  Anlaß,  den  damaligen  Stand  des  biologischen  Wissens  und 
in  diesem  Rahmen  die  persönlichen  Ansichten  des  Königs 
darzulegen.  Friedrichs  Interesse  an  den  medizinischen  Fragen 
war  zunächst  durch  praktische  Rücksichten,  wie  die  auf  das 
Heer,  den  Handel,  die  Landwirtschaft,  bedingt;  denn  bei  den 
balneologischen  Bestrebungen  zur  Hebung  der  schlesischen 
Bäder  kam  vor  allem  der  volkswirtschaftliche  Gesichtspunkt 
zur  Geltung.  So  veranlaßten  auch  die  Viehseuchen  die  Ent- 
sendung von  Ärzten  zum  Studium  an  die  Tierarzneischule  von 
Lyon,   da  die  Berliner  erst  1790  gegründet  wurde.    Das  Ein- 


Napoleon.  133 

greifen  des  Königs  geschah  auch  keineswegs  immer  aus  eigener 
Initiative;  vielmehr  folgte  er  meist  Anregungen,  die  von 
anderer  Seite  an  ihn  herantraten,  mochte  es  sich  um  die 
Begründung  der  Hebammenschule  am  Charit^krankenhaus, 
um  das  Studium  von  Mitteln  gegen  die  Tollwut,  um  die 
Impfung  von  Vieh  gegen  Seuchen  handeln.  Das  gleiche  war 
auch,  wie  ich  an  anderer  Stelle  näher  nachgewiesen  habe  (vgl. 
Ärztliche  Sachverständigen-Zeitung,  Jahrg.  1908,  Nr.  3),  bei 
Einführung  der  Pockenimpfung  der  Fall;  denn  M.  irrt,  wenn 
er  behauptet,  daß  der  König  zu  diesem  Zwecke  englische 
Ärzte  berufen  habe.  Vielmehr  hat  Friedrich  ihnen  nur 
erlaubt,  Impfungen  vorzunehmen,  und  darüber  hinaus,  wie 
es  aus  den  von  M.  selbst  mitgeteilten  Aktenstücken  er- 
hellt, im  Jahre  1775  dem  engüschen  Arzt  Dr.  Baylies  ein 
«größeres  Wirkungsfeld'  dadurch  eröffnet,  daß  er  ihn  beauf- 
tragte, vor  Ärzten  aus  der  ganzen  Monarchie  einen  Impfkursus 
abzuhalten.  Trotz  dieser  Einschränkung  bleibt  indessen  die 
rühmende  Anerkennung  zu  Recht  bestehen,  die  M.  dem  König 
zollt,  ,daß  er,  unabhängig  von  gewissen  berechtigten  Zweifeln 
und  Bedenken  gegen  die  neue  Methode,  sofort  erkannte,  daß 
sie  für  die  Volkswohlfahrt  von  eminenter  Bedeutung  sei'*. 
So  will  auch  M.  «im  einzelnen  dem  damals  Erstrebten  und 
Erreichten''  seine  Anerkennung  nicht  versagen,  obwohl  das 
meiste,  was  geleistet  wurde,  heute  überholt  sei.  Ein  aus- 
führliches Personen-  und  Sachregister  nebst  einem  Verzeichnis 
der  Briefe  erleichtert  wesentlich  die  Benutzung  dieses  Doku- 
mentenbandes, der  durch  die  von  dem  Vf.  beigebrachte 
erstaunliche  Fülle  von  literarischen  Nachweisen  und  bio- 
graphischen Angaben  über  alle  in  den  Urkunden  erwähnten 
Ärzte  vornehmlich  einen  wertvollen  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Medizin  im  18.  Jahrhundert  darstellt. 

Charlottenburg.  G,  B,  Volz. 

The  Cambridge  Modern  History,  Planned  by  the  Laie  Lord  Acton, 
Edited  by  A.  W.  Ward,  G.  W.  Protbero,  Stanley 
Leatbes.  Vol.  IX:  Napoleon,  Cambridge  1906.  XXVIII 
u.  946  S. 

Der  9.  Band  der  Cambridge  Modern  History  zählt  16  Mit- 
arbeiter, unter  denen  sich  nur  1 1  Engländer  befinden,  während 


134  Literaturbericht 

die  übrigen  5  sich  auf  Deutschland  (Keim  und  PHugk-Hart- 
tung),  Frankreich  (G.  Pariset),  Rußland  (Stschepkin)  und  die 
Schweiz  (Guilland)  verteilen.  Ist  die  Freiheit  von  nationa- 
listischen Gesichtspunkten,  die  sich  schon  in  solcher  Hinzu- 
ziehung von  Ausländern  kundtut,  stark  anzuerkennen,  so 
muß  zu  Ehren  der  englischen  Wissenschaft  nach  dem  Urteil 
des  Ref.  auch  noch  festgestellt  werden,  daß  in  diesem  Bande 
die  Beiträge  der  Nichtengländer  sich  im  allgemeinen  keines- 
wegs vor  den  übrigen  auszeichnen.  Eher  das  Gegenteil! 
Und  fast  hätte  man  gewünscht,  daß  etwa  einem  Holland  Rose, 
wenn  nicht  der  ganze  Band,  so  doch  weit  größere  Partien 
anvertraut  worden  wären.  Allein,  das  hätte  freilich  dem  Grund- 
gedanken des  ganzen  Unternehmens  widersprochen,  das  sogar 
auf  Kosten  der  Einheitlichkeit  der  Auffassung  und  des  Stils 
für  jeden  kleinsten  Abschnitt  den  speziellsten  Fachmann  sucht. 
Die  Arbeitsteilung  geht  in  diesem  Bande  so  weit,  daß  mehrere 
Kapitel  (II,  XIV,  XXllI),  darunter  eines  von  nur  21  Seiten, 
auf  je  zwei  Mitarbeiter  verteilt  worden  sind,  während  freilich 
auch  einige  Autoren  mehrere  Kapitel  (Fisher  sogar  3V2) 
übernommen  haben.  Daß  bei  diesem  System  Widersprüche 
fast  unvermeidlich  sind,  wurde  schon  bei  der  Anzeige  des 
S.Bandes  (Hist.  Zeitschr.  96,  311  ff.)  hervorgehoben.  Aus 
dem  9.  nur  zwei  Beispiele!  Während  Stschepkin  (S.  505)  die 
alte,  nicht  mehr  haltbare  Auffassung  der  Konvention  von  Tau- 
roggen vorträgt,  schließt  sich  Pflugk-Harttung  wenige  Seiten 
später  (S.  510/11)  mit  Recht  Thimme  an.  S.  554  lesen  wir, 
daß  der  Zar  und  Friedrich  Wilhelm  III  1814  bei  ihrem  Ein- 
zug vom  Volke  von  Paris  mit  Rufen  von  ,vive  le  roi,  vive 
Louis  XVIII 1^  empfangen  worden  seien;  S.  555 (!)  dagegen, 
daß  bei  dieser  Gelegenheit  alles  schwieg  und  nur  an  einer 
Stelle  40  junge  Edelleute  ,viveni  les  Bourbons!'  schrieen.  In- 
dessen ist  anzuerkennen,  daß  in  der  Gesamtauffassung  Napo- 
leons eine  weitgehende  Übereinstimmung  herrscht.  Auch  das 
in  jener  Anzeige  über  die  Bibliographien  Gesagte  gilt  für  den 
vorliegenden  Band:  so  dankenswert  sie  sind,  enthalten  sie 
doch  bedauerliche  und  zum  Teil  auffallende  Lücken.  Nur 
wenige  wichtigere  Beispiele  seien  erlaubt :  Kap.  V.  G.  Pariset 
vergißt  die  Arbeit  seines  Namensvetters  E.  Pariset,  Histoire 
de  la  Fabrique  Lyonnaise,    VII.   Es  fehlt  für  die  Geschichte 


Napoleon.  135 

der  Protestanten  unter  Napoleon  der  grundlegende  Vortrag 
von  Lucius.  IX,  X.  Es  fehlt  Bitterauf,  Rheinbund  I.  XI.  Es 
fehlt  Driault,  La  Politique  Orientale  de  Napolion,  XIV.  Es 
fehlt  Madelin,  La  Rome  de  Napolion;  Darmstädter,  Großher- 
zogtum Frankfurt.  XVI.  Es  fehlen  die  Denkwürdigkeiten  des 
Markgrafen  Wilhelm  von  Baden;  zum  Brande  von  Moskau 
die  nützliche  Greif swalder  Dissertation  von  Schmidt;  zu  Tau- 
roggen die  Arbeiten  Thimmes  (vgl.  oben)  usw. 

Es  mögen  nun  knappe  Inhaltsangaben  der  einzelnen  Kapitel 
nebst  gelegentlichen  kritischen  Bemerkungen,  die  sich  aber 
nicht  auf  Einzelheiten  erstrecken  sollen,  folgen.  I  und  V. 
G.  Parisets  Darstellung  der  Einrichtungen  des  ersten  Konsuls 
und  der  inneren  Geschichte  des  Kaiserreichs  ist  praktisch 
und  gut.  Immerhin  hätte  schärfer  zwischen  den  früheren  und 
späteren  Zeiten  geschieden  und  hervorgehoben  werden  können, 
daß  die  Regierung  des  neuen  Herrn  in  den  ersten  Jahren 
eine  weit  fleißigere,  durchdachtere  und  wohltätigere  war  als 
später.  Fast  möchte  man  gelegentlich  von  einem  gewissen 
Idealismus  des  ersten  Konsuls  reden!  Hatte  er  doch  sogar 
hier  und  da  Stimmungen,  in  denen  er  an  Dezentralisation  und 
Erweckung  lokalen  Lebes  dachte!  II.  Walker  und  Wilson 
schildern  „die  bewaffnete  Neutralität  1780—1801*,  also  mit 
zunächst  überraschendem,  aber  wohlbegründetem  Zurückgreifen 
auf  die  Zeiten  der  zweiten  Katharina.  Ihre  Darlegungen  regen 
wohl  mehr,  als  ihnen  selbst  bewußt  ist,  zu  Vergleichen  mit 
der  modernen,  von  Rußland  ausgehenden  Friedensbewegung 
an.  Im  III.  Kapitel  behandelt  Guilland  die  Friedensschlüsse 
von  Lun6ville  und  Amiens,  während  er  im  folgenden  (Frank- 
reich und  seine  Vasallenstaaten)  den  Wiederausbruch  des 
welthistorischen  Zweikampfes  gut  und  geschickt  erzählt.  Mit 
seiner  Darstellung  des  Bruches  des  Friedens  von  Amiens 
i.  e.  8.  scheint  er  uns  den  Nagel  auf  den  Kopf  zu  treffen: 
Napoleon  will  den  Frieden,  glaubt  aber  irrtümlicherweise  ihn 
durch  seine  brutalen  Beleidigungen  und  Einschüchterungen 
des  englischen  Volkes  aufrecht  erhalten  zu  können,  während 
gerade  diese  den  Ausbruch  des  Krieges  herbeiführen  oder 
zum  mindesten  beschleunigen.  VI.  Fishers  Darstellung  der 
Codes  Napoleons  ist  tüchtig  und  sehr  anziehend  geschrieben. 
Treffend   bemerkt  er  gegen  Savigny,   der  bekanntlich  meinte. 


136  Literaturbericht. 

der  Moment  der  Herstellung  des  Code  Civil  sei  ein  ungün- 
stiger gewesen,  daß  dieser  Moment  —  wenn  auch  vielleicht 
gesetzgebungstechnisch  kein  glücklicher  —  in  Wirklichkeit 
unvergleichlich  günstig  gewesen  ist :  wenige  Jahre  früher  ver- 
faßt hätte  der  Code  den  Stempel  der  revolutionären  Extra- 
vaganz, wenige  Jahre  später  den  des  kaiserlichen  Despotismus 
getragen.  Nicht  so  anschaulich  und  auch  stilistisch  weniger 
erfreulich  ist  das  VII.  Kapitel,  betitelt  „Die  Konkordate*,  von 
Wickham-Legg.  Doch  schöpft  auch  dieser  Autor  aus  reichster 
Kenntnis  und  seine  Bemerkungen  über  die  Fehler  der  Politik 
Pius'  VII.  (S.  207)  zeugen  von  treffendstem  Urteil.  Unbefrie- 
digend ist  die  Darstellung  der  Verhältnisse  der  Protestanten 
(vgl.  oben  über  die  Bibliographie).  Frisch,  wie  in  seinen  Bei- 
trägen zum  8.  Bande,  behandelt  der  schon  erwähnte  Wilson 
im  VIII.  Kapitel  die  , Seeherrschaft  1803—1815«.  Er  wird  der 
Schwierigkeit,  sehr  komplizierte  Vorgänge  (s.  z.  B.  die  Er- 
zählung der  Schlacht  von  Trafalgar,  in  der,  wie  gebührlich, 
ein  leises  Pathos  durchbricht)  zusammenzufassen,  mühelos 
—  vielleicht  allzu  mühelos!  —  Herr.  Seinen  Schlußsatz:  »Tra- 
falgar war  die  wirklich  entscheidende  Schlacht  der  napoleoni- 
schen Kriege*  hat  wohl  fast  jeder  Historiker  schon  gedacht. 
Indessen  ist  er  noch  tiefer  zu  begründen,  als  es  hier  geschieht. 
Es  mag  noch  erwähnt  werden,  daß  Wilson  mit  Recht  darauf 
aufmerksam  macht,  daß  selbst  nach  einer  gelungenen  Landung 
in  England  ein  französisches  Korps  in  mehr  oder  weniger  fataler 
Lage  gewesen  wäre.  Im  IX.  und  X.  Kapitel  erzählt  der  Oberst 
Lloyd  mit  zurückhaltendem  Urteil  den  dritten  Koalitionskrieg. 
Das  XI.  Kapitel  („Napoleons  Kaisertum  auf  seiner  Höhe  1807 
bis  1809«)  und  das  XUI.  (,Das  Kontinentalsystem  1809—1814«) 
verdanken  wir  Holland  Rose.  Die  Hand  des  Meisters  zeigt 
sich  hier  (XI)  u.  a.  in  der  Darlegung  des  allmählichen  Reifens 
von  Napoleons  spanischen  Plänen,  in  drei  Schritten.  Auf 
einer  scharfsinnigen  Studie  (Transaciions  XX)  beruhen  die 
Bemerkungen  über  die  Entstehung  des  englischen  Unter- 
nehmens gegen  Dänemark  1807.  Weniger  vollständig  wird 
die  Befriedigung  des  deutschen  Historikers  wohl  bei  der 
Schilderung  der  preußischen  Reformen  sein;  Rose  scheint 
den  Anteil  Friedrich  Wilhelms  111.  stark  zu  überschätzen. 
Dagegen  leitet  n.  u.  A.  den  Engländer  sein  gesundes  politisches 


Napoleon.  137 

Urteil,  wenn  er  empfindet,  daß  die  Städteordnung  „im  schärf- 
sten Gegensatz**  zu  den  einschlägigen  französischen  Gesetzen 
von  1789  und  1790  steht  (trotz  den  Entlehnungen  im  einzelnen, 
die  Lehmann  nachgewiesen  hat).  Geistreich  und  im  besten 
Sinne  anregend  ist  (XIII)  die  paradoxe  Bezeichnung  Napoleons 
als  «obersten  Ideologen^  des  Zeitalters,  wegen  seines  Glaubens 
an  die  Wirksamkeit  seines  Kontinentalsystems.  Nicht  ohne 
militärische  Kritik  Napoleons  schildert  Keim  (XII)  knapp  und 
brauchbar  den  Feldzug  von  1809.  Auch  das  XIV.  Kapitel  (Die 
abhängigen  Reiche  und  die  Schweiz),  in  das  Fisher  und 
Guilland  sich  teilen,  ist  zu  loben.  Doch  fällt  in  ihm  u.  a. 
das  Urteil  auf,  daß  das  Königreich  Westfalen  einen  ziemlichen 
Grad  von  Konsistenz  gehabt  habe.  Der  Ausgang  hat  doch 
das  Gegenteil  bewiesen.  Der  erste  Beitrag  Omans  (XV.  Der 
spanische  Krieg  1808—1814)  ist  im  Rahmen  des  Ganzen  zu 
breit  und  enthält,  bei  reichster  Sachkenntnis  des  Vf.,  eine  zu 
große  Fülle  von  Einzelheiten.  Wenig  befriedigend  ist  der 
Abschnitt,  den  Stschepkin  beigesteuert  hat  (XVI.  Rußland 
unter  Alexander  I.  und  die  Invasion  von  1812).  Pflugk-Hart- 
tung  hat  die  Freiheitskriege  übernommen  (XVII).  Er  schließt 
sich  denjenigen  an,  die  eine  Abnahme  der  Leistungen  Napoleons 
annehmen.  Bei  aller  Anerkennung  seiner  Sachkenntnis  wünschte 
man  manches  anders.  So  erwähnt  er  nicht  die  Gefahr  für 
Preußen,  daß  ein  russisches  Obergewicht  an  die  Stelle  des 
französischen  trete;  schwach  ist  auch  die  freilich  schwierige 
Darstellung  der  österreichischen  Politik  im  Frühjahr  1813  und 
der  Verhandlungen  während  des  Waffenstillstandes.  Die  erste 
Restauration  wird  von  Fisher  (XVllI)  mit  gewohnter  Leben- 
digkeit und  vernünftigem  Urteil  geschildert.  Er  hebt  mit 
Recht  sehr  stark  die  unermeßlichen  Schwierigkeiten  hervor 
(S.  566  und  575),  welche  den  Bourbonen  entgegenstanden. 
«Selbst  eine  Regierung  von  Engeln  und  Weisen  hätte  sich 
Feinde  gemacht  und  Hoffnungen  enttäuscht."  Den  Wiener 
Kongreß  schildert  der  eine  der  Herausgeber,  Ward,  in  zwei 
Kapiteln  (XIX  und  XXI),  die  durch  ein  solches  über  die 
100  Tage  (XX,  von  Oman,  vorzüglich,  doch  gelegentlich 
etwas  einseitig  englische  Auffassung)  unliebsam  getrennt  sind. 
Wie  zu  erwarten,  zeigt  er  sich  durchaus  auf  der  Höhe  seiner 
überaus  schwierigen  Aufgabe;  nur  verliert  er  sich  vielleicht 


138  Literaturbericht. 

hier  und  da  zu  sehr  in  Einzelheiten.  Der  deutsche  Leser 
vermißt  femer  die  Feststellung,  daß  das  Ausland  eine  große 
Abneigung  gegen  ein  starkes  Deutschland  hegte.  Fast  ver- 
wirrend durch  zu  viele  Einzelheiten  (über  die  Ref.  übrigens 
nicht  immer  in  der  Lage  ist,  zu  urteilen)  ist  das  XXH.  Kapitel 
von  Gooch,  betitelt  ^^Großbritannien  und  Irland  in  den  Jahren 
1792 — ISlb".  Das  folgende  muß  dagegen  wieder  als  ganz 
hervorragend  bezeichnet  werden.  Es  handelt  von  dem  briti- 
schen Weltreich  1783—1815  und  hat  zu  Verfassern  Hutton 
(für  Indien  und  Ceylon)  und  Egerton  (für  die  Kolonien),  den 
seit  wenigen  Jahren  amtierenden  Professor  der  Kolonial- 
geschichte, durch  dessen  Ernennung  die  Universität  Oxford 
vorzügliches  Urteil  bewiesen  hat.  Bei  der  Schilderung  der 
englischen  Verwaltung  in  Indien  empfängt  man  einen  bedeu- 
tenden Eindruck  von  den  Bemühungen  um  die  Ausscheidung 
jedes  Restes  von  unreinlicher  Regierungspraxis,  wie  überhaupt 
von  dem  Läuterungsprozeß,  den  die  englische  Aristokratie 
damals  nach  der  Verderbtheit  des  18.  Jahrhunderts  durch- 
machte. Hier,  also  wohl  in  den  Zeiten  der  französischen 
Revolution,  nicht  aber  in  der  Revolution  mit  ihren  bestech- 
lichen und  plündernden  Diplomaten  und  Offizieren,  liegt 
eine  Hauptwurzel  der  Gesundung  der  öffentlichen  Moral  im 
19.  Jahrhundert.  (Eine  andere  Wurzel  ist  in  Preußen  zu 
suchen.)  Aus  dem  Abschnitt  über  die  Kolonien  heben  wir 
den  Nachweis  hervor,  daß  die  englischen  Staatsmänner  (aber 
doch  wohl  mehr  im  Gegensatz  zur  öffentlichen  Meinung,  als 
Egerton  zugibt)  in  bezug  auf  den  Besitz  von  Kolonien  ver- 
hältnismäßig gleichgültig  waren.  Er  zitiert  den  überklugen 
Satz  Castlereaghs,  daß  es  nicht  im  Interesse  Englands  sei, 
Frankreich  zu  einer  rein  militärischen  statt  einer  handel- 
treibenden Nation  zu  machen.  Den  Schluß  des  Bandes 
(Kap.  XXIV,  S.  Helena)  bilden  sympathische  Seiten  Fishers, 
dem  auch  das  zusammenfassende  Urteil  über  Napoleons  histo- 
rische Bedeutung  überlassen  wurde.  Dieses  ist,  wie  der  vor- 
liegende Band  im  ganzen,  ausgezeichnet  durch  Sachkenntnis, 
Vernünftigkeit,  Klarheit  und  Gerechtigkeit. 

Hamburg.  Adalbert  Wahl. 


Napoleon.  139 

Wanderungen   auf   dem  Jenaer   Schlachtfelde.     Von   Hauptmann 
V.  Taysen  (Jena).    Jena,  G.  Fischer.    1906.    87  S. 

Alle  älteren  Darstellungen  und  Kritiken  der  Jenaer  Schlacht 
gehen  von  der  Bedeutung  des  Landgrafenberges  aus  und  be- 
trachten die  frühzeitige  Aufgabe  desselben  als  eine  Haupt- 
ursache der  Niederlage.  Erst  Kolmar  von  der  Goltz  hat 
1882  diese  Ansicht  erschüttert,  indem  er  zeigte,  daß  der  Land- 
grafenberg dem  preußischen  Heere  weder  zum  Angriff  noch  zur 
Verteidigung  eine  günstige  Stellung  bot.  Durch  vielfache 
Wanderungen  auf  dem  Schlachtfelde,  durch  genaue  Unter- 
suchungen über  die  damalige  Beschaffenheit  der  Wege,  die 
Bepflanzung  und  die  Wasserverhältnisse  des  Bodens  kommt 
Taysen  zu  der  gleichen  Anschauung  und  meint,  daß  es  hohe 
Zeit  sei,  „mit  der  100  Jahre  alten  Legende  von  der  Bedeutung 
des  Landgrafen  aufzuräumen^. 

Indessen  zeigen  gerade  seine  Versuche  mit  Flaggen-Auf- 
stellungen und  seine  Erkundung,  daß  der  nordwestlich  vom 
Landgrafenberg  gelegene  Landrücken,  die  Schnecke,  damals 
auf  seiner  Hochfläche  ganz  kahl  war,  wie  große  Bedeutung 
der  Blick  von  der  Höhe  des  Landgrafenberges  für  Napoleon 
hatte.  Er  übersah  von  dort  aus  die  Lage  des  preußischen 
Heeres  noch  weiter  und  vollständiger,  als  man  bisher  an- 
genommen hatte.  Dieser  Umstand  fällt  um  so  mehr  ins  Gewicht, 
da  man  auf  der  preußischen  Seite  infolge  mangelhafter  Auf- 
klärung von  der  Stärke  und  den  Absichten  des  Gegners  eine 
durchaus  unrichtige  Vorstellung  hatte. 

Im  übrigen  gehen  des  Vf.  und  Goltzes  Ansichten  über  den 
Gang  der  Schlacht  weit  auseinander.  Nach  des  letzteren 
Darstellung  haben  „erst  8000,  dann  5000,  dann  20000,  dann 
12 — 15000  Mann  je  eine  kleine  abgeschlossene  Schlacht  für 
sich  geschlagen,  ohne  Zusammenhang,  unter  Ausführung  ein- 
zelner ruhmvoller,  aber  nutzloser  Bravourstücke*.  Lettow- 
Vorbeck  in  seinem  1891  erschienenen  Werke  spricht  sogar 
von  der  „elenden  Führung*,  die  dem  Kaiser  gestattete,  „in 
sechs  verschiedenen  Einzelkämpfen  jedesmal  einen  Teil  seines 
Gegners  mit  erheblicher  Übermacht  zu  schlagen*.  T.  dagegen 
wUl  nur  Tauentziens  Vorgehen  als  „Einzelkampf*  gelten 
lassen,  wie  ihn  gegebenenfalls  jede  Avantgarde  oder  Arriere- 
garde  fechten  muß;  nutzlos  sei  derselbe  keinenfalls  gewesen. 


140  Literaturbericht. 

nur  hätte  er  früher  abgebrochen  werden  müssen.  Die  Kämpfe 
des  preußischen  Zentrums,  des  rechten  und  des  linken  Flügels 
bezeichnet  er  als  „ein  wohlkombiniertes  Manöver^. 

Trotz  der  Lebhaftigkeit  und  Frische,  mit  welcher  er  diese 
Ansicht  vorträgt,  wirkt  sie  nicht  überzeugend,  der  Eindruck 
bleibt  bestehen,  daß  es  an  einheitlicher  Leitung  fehlte  und 
daß  die  Bewegungen  der  einzelnen  Heeresteile  nicht  ineinander 
eingriffen. 

Berlin.  Paul  Goldschmidt, 

Der  Polenaufstand  1806/07.  Urkunden  und  Aktenstücke  aus  der 
Zeit  zwischen  Jena  und  Tilsit.  Von  Dr.  Kurt  Schottmfiller. 
(Sonderveröffentlichungen  der  Histor.  Gesellschaft  für  die 
Provinz  Posen.)  Posen  1907.  80  S.  Text  und  203  S.  Ur- 
kunden. 

Der  jetzt  in  der  preußischen  Polenpolitik  herrschende 
kräftige  Zug  lenkt  den  Blick  rückwärts  auf  die  Beziehungen, 
die  sich  früher  in  der  Zeit  nach  der  preußischen  Besitz- 
ergreifung zwischen  der  Regierung  und  den  Polen  entwickelt 
haben.  Unter  den  verschiedenen  von  diesen  Verhältnissen 
handelnden  Schriften  können  die  von  Schottmüller  aus  dem 
Staatsarchiv  in  Posen  und  aus  dem  Geheimen  Staatsarchiv  in 
Berlin  herausgegebenen  Verfügungen,  Berichte,  Briefe  und 
Denkschriften  ein  besonderes  Interesse  beanspruchen.  Sie 
werden  eingeleitet  zunächst  durch  eine  übersichtliche  Dar- 
stellung der  polnischen  Umtriebe  in  dem  Jahrzehnt  vor  1806 
und  ihre  Begünstigung  durch  die  1797  von  Bonaparte  in 
Italien  gebildete  polnische  Legion  unter  dem  General  Dom- 
browski.  Dieser  wird  im  Herbst  1806  von  Napoleon  nach 
Berlin  berufen,  er  leitet  den  Aufstand  zuerst  in  Posen,  dann 
auch  in  den  Bezirken  von  Kaiisch  und  Warschau.  An  die 
Darstellung  des  Aufstandes  knüpft  sich  eine  eingehende  Be- 
sprechung der  am  Hofe  des  preußischen  Königs  stattfindenden 
Erörterungen  über  die  Möglichkeit  einer  Gegeninsurrektion  und 
vor  allem  darüber,  wie  künftig  nach  der  zu  hoffenden  Wieder- 
eroberung das  polnische  Land  regiert  werden  soll.  Zwei 
Richtungen  stehen  sich  schroff  gegenüber:  die  milde,  auf 
Versöhnung  zielende  Ansicht  des  Fürsten  Radziwill  und  die 
straffere  Politik  des  aus  Posen  geflüchteten  Kammerdirektors 


Napoleon.  141 

Grüner,  der  dem  Deutschtum  eine  feste,  ausschlaggebende 
Stellung  sichern  will.  Hardenberg,  zum  Gutachten  über  beide 
Denkschriften  aufgefordert,  entscheidet  sich  für  die  Ansicht 
Radziwills  und  führt  sie  noch  weiter  aus.  Dieser  Kampf  der 
Meinungen  zeigt  bereits  deutlich  den  Gegensatz,  der  nachher 
zu  so  großen  Schwankungen  in  dem  Verhalten  der  preußischen 
Regierung  geführt  hat.  Nach  Radziwills  Vorschlägen  ist  1815 
von  Hardenberg  das  Großherzogtum  Posen  eingerichtet  worden, 
Gruners  Geist  aber  durchweht  Grolmanns  Denkschrift  von 
1832;  noch  deutlicher  tritt  er  hervor  in  Flottwells  berühmter 
Denkschrift  von  1841,  mit  welcher  er  auf  seine  zehnjährige 
Verwaltung  der  Provinz  zurückblickt;  ebenso  läßt  er  sich  in 
Bismarcks  Auftreten  erkennen,  als  dieser  1872  die  Zügel 
wieder  fester  anzieht.  Durch  Sch.s  dankenswerte  Veröffent- 
lichung wird  es  möglich,  diese  Anschauungen  bis  in  die  Zeit 
ihres  Entstehens  zu  verfolgen. 

Berlin.  Paul  Goldschmidt, 

1815.  Die  Hundert  Tage,  von  Elba  bis  Helena.  (Geschichte  der 
Freiheitskriege  1812—1815.  Bd.  4.)  Von  Stabsarzt  a.  D. 
Dr.  W.  Zelle,  Kreisarzt.    Leipzig,  R.  Sattler.    679  S. 

Mit  flammender  Begeisterung  für  Napoleon,  der  „die 
Schwärmerei  des  Knaben,  das  Ideal  des  Jünglings'*  gewesen, 
sucht  der  Vf.  ihm  den  Dank  „für  die  Erhellung  mancher 
dunklen  Lebensstunde*  abzustatten.  Rückhaltlos  bewundert  er 
seinen  Helden,  nicht  nur  als  Feldherrn  und  Staatsmann, 
sondern  auch  in  seinen  menschlichen  Eigenschaften.  Er  will 
„im  Gegensatz  zu  den  neuesten  von  Fachmilitärs  heraus- 
gegebenen Einzelwerken*  nachweisen,  „daß  nicht  Napoleon 
der  Geschichtsfälscher  von  Ligny  und  Waterloo  ist*,  wie 
Charras  behauptet  hat,  „sondern  daß  der  Imperator  allein  die 
Wahrheit  gesagt  hat  und  daß  wirklich  Grouchy,  Ney  und 
Erlon  die  einzig  Schuldigen  bei  der  großen  Katastrophe  ge- 
wesen sind*.  Indessen  über  Charras  ist  die  Geschichts- 
forschung längst  fortgeschritten,  und  gerade  der  neueste 
wissenschaftliche  Bearbeiter  des  Feldzuges  von  1815,  der  kürz- 
lich verstorbene  General  v.  Lettow-Vorbeck,  urteilt  über  die 
von  Ney,  Erlon  und  namentlich  von  Grouchy  begangenen 
Fehler  ebenso  scharf   wie  der  Vf.     Trotzdem  ist  dieser  auf 


1 42  Literaturbericht. 

Lettow-Vorbeck  schlecht  zu  sprechen  und  schmäht  ihn  mehr- 
mals ohne  ersichtlichen  Grund.  So  sagt  er  S.  367  bei  Gelegen- 
heit eines  an  Grouchy  erteilten  Befehls,  den  dieser  später  ab- 
zuleugnen versucht  hat:  »Herrn  v.  Lettow  und  den  meisten 
Historikern  ist  alles  dies  nicht  bekannt**,  während  auf  S.  380 
und  381  des  Lettow-Vorbeckschen  Werkes  die  Nichtbefolgung 
und  spätere  Verleugnung  dieses  Befehls  ausführlich  besprochen 
und  ernstlich  getadelt  wird. 

Sicherlich  ist  Napoleon  in  diesem  Feldzuge  von  seinen 
Unterbefehlshabern  schlechter  unterstützt  worden  als  früher; 
zu  seinem  Unglück  hat  er  die  besten  von  denen,  die  ihm 
noch  zur  Verfügung  standen,  nicht  mit  einem  größeren  Kom- 
mando betrauen  wollen  und  sie  deshalb  an  falscher  Stelle 
verwendet.  Namentlich  paßte  Soult,  der  an  Bureaugeschäfte 
gar  nicht  gewöhnt  war,  durchaus  nicht  zum  Chef  des  Stabes. 
Die  Ausfertigung  der  Befehle  ist  daher  meistens  unklar,  oft 
widersprechen  sie  einander.  Neys  Zögern,  Erlons  unnützes 
Hin-  und  Hermarschieren  ist  zum  großen  Teil  durch  die  Un- 
bestimmtheit dieser  sich  kreuzenden  Befehle  verschuldet 
Der  Vf.  ist  allzu  geneigt,  die  Wirkung  solcher  Fehler  zu 
überschätzen,  sie  als  die  alleinige  Ursache  von  Napoleons 
Niederlage  zu  betrachten.  Er  übersieht  dabei,  daß  ähnliche 
Fehler  und  Mißverständnisse  auch  auf  der  Gegenseite  vor- 
gekommen und  seinem  Helden  von  Nutzen  gewesen  sind. 

Die  Darstellung  ist  oft  dramatisch  zugespitzt;  durch  ihre 
Wärme,  durch  dichterischen  Schwung  und  Anschaulichkeit  ist 
sie  wohl  geeignet,  Laien  zu  fesseln  und  anzuregen,  doch  wäre 
besserer  Druck  und  größere  Sorgfalt  im  einzelnen  zu  wünschen. 
Beispielsweise  heißt  der  zur  Zeit  des  Wiener  Kongresses 
regierende  österreichische  Kaiser  nicht  Franz  Josef,  unter  den 
verhaßten  „droits  räunis'  sind  die  indirekten  Steuern  zu  ver- 
stehen, nicht  aber,  wie  S.  99  gesagt  wird:  „vereinbarte Rechte*. 

Berlin.  Faul  GoldschmidL 

Saint-Simon  und  die  ökonomische  Geschichtstheorie.  Ein  Beitrag 
zu  einer  Dogmengeschichte  des  historischen  Materialismus. 
Von  Friedrich  Muckle.    Jena,  G.  Fischer.    1906.    45  S. 

Die  vorliegende  Doktordissertation  gibt  sich  als  Vorläufer 
eines   größeren  Werkes   über  , Saint-Simon,   sein  Leben   und 


19.  Jahrhundert.  143 

seine  Lehre*,  das,  als  im  Manuskript  vollendet,  demnächst  vor 
das  Publikum  treten  soll.^)  Vorläufig  will  der  Vf.  einen  Punkt 
herausheben  und  einer  besonderen  Beleuchtung  unterwerfen, 
nämlich  die  Stellung,  welche  Saint-Simon  zu  der  später  von 
Karl  Marx  zur  Vollendung  gebrachten  sog.  materialistischen 
Geschichtsauffassung  einnimmt.  Dabei  gibt  Muckle  zu,  daß 
der  Franzose  eigentlich  einen  dualistischen  Standpunkt  ver- 
tritt. V  Neben  der  ökonomischen  Geschichtsauffassung,  dem 
Thema  der  vorliegenden  Studie,  findet  sich  in  seinen  zahl- 
reichen Schriften  noch  eine  ideologische  Geschichtsbetrachtung 
vor.*  Näheres  hierüber  erfährt  der  Leser  aber  nicht,  das  soll 
offenbar  dem  späteren  ausführlicheren  Schriftwerke  vorbehalten 
bleiben.  Gleiches  gilt  von  dem  Verhältnis  Saint-Simons  zu 
seinem  ehemaligen  Jünger  und  Sekretär  Auguste  Comte,  über 
welches  der  Vf.  zu  überraschenden  Ergebnissen  gelangt  sein 
will.  Er  behauptet  (Anm.  3,  S.  4):  „Man  kann  ohne  Über- 
treibung sagen:  alle  leitenden  soziologischen  Ideen  Comtes 
.  . .  sind  durchgängig  von  Saint-Simon  übernommen,  dem  die 
Nachwelt  keineswegs  das  ihm  gebührende  Denkmal  errichtet 
hat.*  Das  ist  richtig,  aber  nicht  eigentlich  neu.  Immerhin 
wird  man  auf  den   späteren  Nachweis   gespannt   sein   dürfen. 

In  der  vorliegenden  Studie  will  der  Vf.,  der  seinen  Aus- 
gangspunkt bei  Marx,  dem  „großen  Soziologen*,  genommen 
hat,  es  bloß  mit  der  materialistischen  Seite  der  Geschichts- 
philosophie zu  tun  haben,  die  ideologische  Seite  soll  außer 
Betracht  bleiben.  Ob  es  glücklich  war,  eine  derartige  Trennung 
vorzunehmen,  wollen  wir  bis  zum  Erscheinen  der  Haupt- 
schrift dahingestellt  sein  lassen.  Schon  jetzt  sei  übrigens 
bemerkt,  daß  der  Unterschied  der  Lehre  des  Klassenkampfes 
bei  Marx  einerseits,  bei  Saint-Simon  anderseits  nicht  scharf 
genug  hervortritt,  um  verstehen  zu  lassen,  wie  es  kam,  daß 
der  eine  daraus  die  Idee  des  sozialen  Königtums,  der  andere 
diejenige  der  sozialen  Revolution  ableitete.  Hätte  übrigens  in 
letzterer  Hinsicht  nicht  Babeuf  der  Betrachtung  näher  ge- 
standen als  der  Urheber  der  ^Religion  saint-simonienne'  f 

Bern.  August  Oncken. 


")  Mittlerweile  erschienen. 


144  Literaturbericht. 

Die  Einwohnerschaft  der  Stadt  Durlach  im  18.  Jahrhundert,  in 
ihren  wirtschaftlichen  und  kulturgeschichtlichen  Verhält- 
nissen dargestellt  aus  ihren  Stammtafeln.  Von  Otto  Konrad 
Roller.  Karlsruhe,  Braun.  1907.  XXII  u.  424  S.  Text  nebst 
272  S.    Tabellen. 

Die  umfangreiche  Arbeit  wird  durch  ihre  eigenartige 
Methode,  die  Aufstellung  von  Stammtafeln  aus  den  Kirchen- 
büchern und  durch  ihre  Ergebnisse  vor  allem  den  Bevölke- 
rungsstatistiker interessieren.  Für  den  Wirtschafts-  und  Sozial- 
historiker kommen  die  Abschnitte  über  die  Berufsarten  und 
die  Stände  in  Betracht,  die  z.  B.  Beiträge  zur  Geschichte  des 
Handwerks  und  des  Verfalls  der  Zunftverfassung  im  18.  Jahr- 
hundert liefern.  Von  Bedeutung  scheint  mir  die  Beobachtung 
des  Verfassers  zu  sein,  daß  während  oder  vielleicht  gerade 
weil  der  Unterschied  zwischen  Adel  und  Bürgertum  so  überaus 
scharf  hervortrat,  die  soziale  Differenzierung  innerhalb  des 
Bürgertums  im  18.  Jahrhundert  in  der  badischen  Markgraf- 
schaft noch  wenig  vorgeschritten  war.  So  war  es,  wie  der 
Vf.  zeigt,  durchaus  nicht  ungewöhnlich,  daß  Söhne  von 
Pfarrern,  Ärzten  oder  fürstlichen  Räten  Handwerker  oder 
Kammerdiener  wurden  und  Töchter  von  akademisch  gebildeten 
Männern  oder  bürgerlichen  Offizieren  in  adeligen  Häusern  als 
Dienstboten  eintraten  und  sich  mit  Handwerkern  oder  Be- 
dienten verheirateten.  Erst  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts 
tritt  dann  eine  schärfere  Differenzierung  ein  zwischen  den 
akademisch  Gebildeten,  den  höheren  Beamten  und  Offizieren 
einerseits  und  den  Handwerkern  anderseits.  Von  Interesse 
sind  auch  die  Ausführungen  des  Vf.  über  die  Anfänge 
des  Fabrikarbeitertums  und  über  die  Durlacher  Wohnungs- 
verhältnisse. Es  ist  sehr  merkwürdig,  daß  der  Boden  zwar 
nicht  so  stark  ausgenutzt  war  wie  heute,  daß  aber  auf  den 
bewohnbaren  Raum  1766  und  1800  in  Durlach  mehr  Personen 
kamen,  als  heute  in  irgendeiner  badischen  Stadt.  Auffallend 
ist  auch  die  außerordentlich  große  Beweglichkeit  der  Be- 
völkerung im  18.  Jahrhundert,  trotz  seiner  mangelhaften  Ver- 
kehrsmittel. Allerdings  ist  es  sehr  zweifelhaft,  inwieweit  man 
die  durch  das  Quellenmaterial  einer  Stadt  gewonnenen  Ergeb- 
nisse verallgemeinern  darf,  und  gerade  die  Verhältnisse  der 
Durlacher  Bevölkerung,   die   in   ihrer  sozialen  und  Wirtschaft- 


Deutsche  Landschaften.  145 

liehen  Struktur  durch  die  1715  erfolgte  Gründung  von  Karls- 
ruhe in  allernächster  Nachbarschaft  außerordentlich  stark 
beeinflußt  wurde,  können  kaum  als  typisch  angesehen  werden. 
Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  die  Arbeit  für  den  Lokal- 
historiker die  reichste  Ausbeute  liefert. 

Göttingen.  Paul  Darmstaedter. 


Die  Entwickelung  der  direkten  Besteuerung  in  der  Reichsstadt 
Frankfurt  bis  zur  Revolution  1612— -1614.  Von  Dr.  Friedrich 
Bothe.  (Staats-  und  sozialwissenschaftliche  Forschungen, 
herausgegeben  von  Schmoller  und  Sering.  Band  36, 
Heft  2.)  Leipzig,  Duncker  «  Humblot.  1906.  XLllI,  304  u. 
215  S. 

Vorliegende  Arbeit  Bothes  soll,  wie  schon  bei  Besprechung 
seiner  „Beiträge  zur  Wirtschafts-  und  Sozialgeschichte  der 
Reichsstadt  Frankfurt*^  erwähnt  ist,  mit  dieser  die  Unterlage 
für  eine  Schilderung  des  Frankfurter  Fettmilchaufstandes 
schaffen.  Danach  ist  die  harte  Besteuerung  der  wichtigste 
Anlaß  zum  Ausbruch  des  Aufstandes  gewesen.  Gewonnen 
wird  dies  Resultat  aus  einer  äußerst  mühevollen  und  gewissen- 
haften Durchforschung  und  Verarbeitung  der  seit  1320  vor- 
liegenden Bedebücher  und  der  für  die  rechte  Beurteilung  der 
darin  verzeichneten  Steuerleistungen  maßgebenden,  seit  1354 
zahlreich  erhaltenen  Bedeordnungen.  Indem  der  Vf.  im  Zu- 
sammenhange mit  der  daraus  sich  ergebenden  Steuergeschichte 
der  Stadt  unter  Heranziehung  weiteren  Quellenmaterials  die 
Entwickelung  der  wirtschaftlichen  und  sozialen  Verhältnisse  bis 
zum  Ausbruche  des  großen  Krieges  verfolgt,  erhält  sein  Buch 
eine  über  die  Beantwortung  der  Frage  weit  hinausgehende  Be- 
deutung. Sie  wird  erhöht  durch  die  fast  die^Hälfte  des  Bucli- 
umfanges  ausfüllenden  Quellenbeilagen,  die  uns  nicht  nur  in 
den  Stand  setzen,  die  Ausführungen  des  Vf.  in  manchen 
Punkten  nachzuprüfen,  sondern  auch  ein  reiches,  vom  Vf. 
zum  Teil  selbst  noch  nicht  verarbeitetes,  für  den  Historiker 
und  Nationalökonomen  wichtiges  Material  darbieten.  Bei  der 
großen  Fülle  des  Gebotenen  wird  sich  begreiflicherweise  zu 
manchen  Aufstellungen  des  Vf.  ein  Fragezeichen  machen 
lassen.    In  der  Beurteilung  der  Steuerpolitik   des   Rates   ist, 

Hittorische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  10 


1 46  Literaturbericht. 

glaube  ich,  der  Vf.  demselben  nicht  immer  gerecht  ge- 
worden. Hat  der  Rat  auch  die  Armut  scharf  angefaßt,  weil 
er  sie  möglichst  von  der  Stadt  ferngehalten  zu  sehen  wünschte, 
hat  er  auch  in  der  späteren  Zeit  selbstsüchtige  Interessen- 
politik getrieben,  lange  Zeit  hindurch  läßt  sich  doch  eine,  wenn 
auch  nicht  gleichmäßig  geübte,  gerade  die  Existenz  des 
kleinen  Bürgers  fördernde  Politik  nicht  verkennen.  Wenn 
eine  Reihe  von  Steuerordnungen  für  jeden  vollständigen  Haus- 
halt ein  Pferd  und  eine  Kuh,  den  Jahresbedarf  der  Familie 
an  aufgestapeltem  Getreide  und  vorhandenem  Wein,  den 
Jahresbedarf  an  aufgestapeltem  Brennholz,  den  Jahresbedarf  an 
vorrätigem  Hafer,  Heu  und  Stroh  für  das  nicht  zum  Zwecke 
des  Verkaufs  gehaltene  Vieh  etc.  oder  bald  das  eine  bald  das 
andere  davon  für  steuerfrei  erklären,  so  spricht  das  für 
eine  weise  Mittelstandspolitik  des  Rates.  Vf.  führt  diese 
Steuerbefreiungen  auf  „die  Notwendigkeit  der  steten  Kriegs- 
bereitschaft*' zurück,  wenn  er  es  auch  als  „ursprüngliche  Ab- 
sicht^ gelten  läßt,  an  jedem  die  „Notdurft*  unversteuert  zu 
lassen.  Daher  rührt  wohl  auch  seine  Erklärung  der  Bestimmung 
der  Steuerordnung  von  1495,  daß  steuerfrei  bleiben  soll  „weisz 
(Weizen),  Kornn,  so  die  Bürger  by  sich  legenn,  das  der  ge- 
meinschafft zu  der  Nottorfft  zügebruchen  gehalten  wird'':  sie 
waren  der  Besteuerung  entzogen,  „falls  sie  im  Interesse  der 
Gesamtheit  aufgeschüttet  worden  waren**  (S.  70).  Wie  hätte 
das  wohl  entschieden  werden  sollen?  In  Anbetracht  der 
analogen  Bestimmungen  anderer  Steuerordnungen  kann  ich 
hier  nur  an  die  Steuerbefreiung  des  Weizens  und  Kornes 
denken,  soweit  sie  zum  Gebrauch  der  Hausgemeinschaft  — 
Familie  und  Gesinde  —  bestimmt  waren.  Vf.  vermutet  aber 
eine  Rücksichtnahme  auf  Kriegsbedürfnisse  selbst  da,  wo  es 
sich  wie  in  der  JSteuerordnung  von  1354  —  und  später  öfters 
—  um  die  Freilassung  zweier  Trinkgefäße  jedes  Haushalts 
von  der  Steuer  handelt.  Man  habe  dabei  die  Absicht  ver- 
folgt, „möglichst  viel  thesauriertes  Silber  trotz  seiner  Ertrag- 
losigkeit  in  der  Stadt  vorrätig  zu  halten  für  den  Notfall,  wenn 
ein  Krieg  große  Kosten  verursachte**  (S.  37/38).  Ob  man 
solchen  Zweck  wirklich  hätte  mit  dieser  Steuerbefreiung  er- 
reichen können  und  ob  man  wirklich  von  dem  kleinen  Bürger 
in  der  Kriegsnot  die  zu  seinem  täglichen  Gebrauch  dienenden 


Deutsche  Landschaften.  147 

Becher  abgefordert  hätte?  Vf.  muß  selbst  gestehen,  daß  man 
in  einem  solchen  Fall  im  Jahre  1547  „besonders  das  Tafel- 
silber der  Patrizier  und  die  Geräte  der  Geistlichkeit*  in  An- 
spruch nahm.  Auch  ein  Charakteristikum  «für  eine  trunkfrohe 
und  schönheitsdurstige  Zeit*  kann  ich  in  diesem  Seuerpassus 
mit  dem  Vf.  nicht  erblicken.  Wein  bildete  einmal  in  den 
weinbautreibenden  Gebieten  das  übliche  Tischgetränk,  das 
auch  dem  Gesinde  nicht  vorenthalten  wurde  —  die  Bede- 
ordnung von  1372  läßt  auch  den  vorhandenen  Wein  steuerfrei, 
den  jemand  bis  zum  Michaelstage  „mit  sime  gesinde  ge- 
drincken  mag*  (Beilage  S.  6);  aus  der  Steuerbefreiung  der 
dazu  nötigen  Trinkgefäße  auf  eine  trunkfrohe  Zeit  und  aus 
dem  Material  dieser  Familienbecher  —  Silber  —  gleich  auf 
eine  schönheitsdurstige  Zeit  zu  schließen,  geht  doch  etwas 
zu  weit.  Auch  hier  handelt  es  sich  lediglich  um  die  Frei- 
lassung der  „Notdurft*  des  Bürgers  von  der  Steuer.  Auf 
irriger  Anschauung  beruht  es  auch,  wenn  (S.  230)  die  Forde- 
rung der  Zimmerleute  im  Jahre  1425,  zu  jeder  Mahlzeit,  drei- 
mal täglich,  V2  Maß  Wein  zu  erhalten,  als  Beweis  für  die 
damals  in  Frankfurt  herrschende  Völlerei,  „namentlich  dem 
Bacchus  wurden  Hekatomben  geopfert*,  angeführt  wird.  Es 
handelt  sich  doch  hierbei  um  keine  Trinkgelage,  sondern  um 
das  zu  den  Mahlzeiten  übliche  Getränk,  das  als  einfacher  Land- 
wein weder  kostspielig  —  für  Mittagessen  und  Vesper  ein- 
schließlich Wein  wird  in  der  Lohnforderung  l  Schilling  in 
Ansatz  gebracht  (Beilage  S.  153,  no.  3  f.)  —  noch  berauschend 
gewesen  sein  dürfte.  Doch  genug  von  Einzelheiten,  die 
den  Wert  des  Ganzen  nicht  in  Frage  stellen.  Erwähnung 
möge  noch  der  Exkurs  (XXXIIl— XLIII)  finden,  in  dem  Vf. 
Stellung  zu  der  Frage  nach  dem  Ursprünge  der  großen  Ver- 
mögen im  Mittelalter  nimmt.  Gegenüber  Strieders  auf  die 
Untersuchung  der  Augsburger  Verhältnisse  basierenden  Be- 
hauptungen betont  der  Vf.  mit  Recht,  daß  —  mindestens  in 
Frankfurt  —  neben  dem  Gewerbe  und  dem  Kleinhandel  der 
Grundbesitz  eine  wichtige  Quelle  für  den  Kapitalismus  und 
den  Großhandel  gewesen  ist. 

Breslau.  Kolmar  Schaube. 


10« 


148  Literaturbericht. 

Aus  dem  geistigen  Leben  und  Schaffen  in  Westfalen.  Festschrift 
zur  Eröffnung  des  Neubaues  der  Kgl.  Universitätsbibliothek 
in  Münster  (Westf.)  am  3.  November  1906.  Herausgegeben 
von  den  Beamten  der  Bibliothek.  Münster  (Westf.),  Coppen- 
rath.  1906.  V  u.  314  S.  nebst  4  Abbildungen  und  2  Plan- 
zeichnungen. 

Die  Herren  Bibliothekare  haben  also  die  Abneigung 
gegen  Sammelpublikationen,  die  aus  bibliothekstechnischen 
Erwägungen  früher  vielfach  in  deren  Kreisen  gehegt  wurde» 
fallen  gelassen,  wie  uns  die  vorliegende  Festschrift  lehrt 
Wir  können  uns  darüber  nur  freuen;  denn  ohne  den  beson- 
deren Anlaß,  die  Feier  der  Eröffnung  des  Neubaues  der 
Universitätsbibliothek,  würde  sicherlich  der  eine  oder  andere 
Beitrag  dieses  Werkes  nicht  so  bald  ans  Licht  gekommen 
sein.  Den  Reigen  derselben  eröffnet  Molitor  mit  sehr  knappen 
sachlichen  Erläuterungen  zu  den  Abbildungen  und  Grundriß- 
darstellungen des  neuen  Dienstgebäudes.  Die  Geschichte 
der  Bibliothek  —  früher  Paulinische  Bibliothek  genannt  — 
behandelt  Bahlmann.  Küster  verfolgt  den  Ursprung  der  juri- 
stischen Abteilung  des  Instituts  in  frühere  Jahrhunderte 
zurück,  während  die  ausführlichste  Abhandlung  des  Bandes» 
die  von  Degering,  sich  mit  dem  hervorragendsten  Geschenk- 
geber der  ehemaligen  Dombibliothek  in  Münster,  die  den 
Grundstock  der  Paulina  bildet,  dem  Domdechanten  Gottfried 
V.  Raesfeld  und  dessen  Familie  befaßt.  Ins  rein  fachwissen- 
schaftliche Gebiet  gehört  wieder  der  von  Molitor  veröffent- 
lichte Bibliothekskatalog  des  Mindener  Kanonikus  Johann  von 
Bersen  aus  dem  Jahre  1353.  Bömer  dagegen  schildert  uns 
in  seinem  sehr  lehrreichen  Beitrag  das  literarische  Leben  in 
Münster  während  des  Mittelalters  und  bis  zu  dem  ersten  Jahr- 
zehnt des  16.  Jahrhunderts.  Etwas  eigenartig  nimmt  sich  in 
dieser  Sammlung  der  Aufsatz  von  Krüger  über  Anton  Fahne 
aus,  dessen  Inhalt  ja  für  des  letzteren  Persönlichkeit  äußerst 
bezeichnend  ist.  Einen  Ruhmeskranz  hat  Krüger  diesem 
literarischen  Industrieritter  nicht  gerade  gewunden;  zudem 
fällt  das  Thema  doch  eigentlich  aus  dem  geistigen  Leben  und 
Schaffen  in  Westfalen  heraus. 


Deutsche  Landschaften.  149 

Geschichte  der  katholischen  Kirche  in  der  freien  Reichsstadt 
Mühlhausen  i.  Thür.  Nach  archivalischen  und  anderen 
Quellen  bearbeitet  von  Philipp  Knieb.  Freiburg  i.  B.,  Herder. 
1907.  XIV  u.  151  S.  (Erläuterungen  und  Ergänzungen  zu 
Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.   V,  5.) 

Man  traut  seinen  Augen  kaum,  wenn  man  an  der  Spitze 
des  Vorworts  dieser  Schrift  folgenden  Unsinn  liest:  „Bis  vor 
einigen  Jahrzehnten  gehörte  es  bei  den  protestantischen  Ge- 
schichtschreibern des  16.  Jahrhunderts  gleichsam  zum  eisernen 
Bestände  ihrer  Voraussetzungen,  daß  die  neue  Lehre  vom  Volke 
mit  offenen  Armen,  ja  mit  Jubel  und  Frohlocken  aufgenommen 
worden  sei.  Wie  so  manche  ihrer  Voraussetzungen  von  den 
katholischen  Geschichtsforschern  als  grundfalsch  nachgewiesen 
worden  ist,  so  auch  diese,  und  es  bricht  sich  auch  in  den 
wissenschaftlichen  Kreisen  der  Protestanten  immer  mehr  die 
Überzeugung  Bahn,  daß  sie  fallen  gelassen  werden  muß.*" 
Zum  Beweise  dafür,  daß  im  Gegenteil  „das  Volk  durch  die 
Gewaltmaßregeln  der  Fürsten  von  der  katholischen  Kirche 
losgerissen  und  dem  Protestantismus  zugeführt  worden  ist*, 
will  Knieb  den  Sieg  des  Protestantismus  und  das  Unterliegen 
des  Katholizismus  in  Mühlhausen  i.  Th.  darstellen.  Nun  er- 
zeugt aber  die  Lektüre  seiner  Schrift  gar  nicht  den  Eindruck, 
den  sie  hervorrufen  soll.  Kn.  ist  nämlich  doch  viel  zu  sehr 
Historiker  und  zu  gewissenhaft,  als  daß  er  es  fertig  brächte, 
anders  Geschichte  zu  schreiben,  als  es  die  Tatsachen  und  die 
Quellen  gestatten.  Im  wesentlichen  hat  er  einfach  die  Tat- 
sachen zusammengestellt  ohne  viel  subjektive  Zwischenbemer- 
kungen und  dabei  die  Quellen  reichlich  zu  Wort  kommen  lassen. 
Wer  wird  aber  aus  seiner  Erzählung  den  Eindruck  gewinnen, 
daß  die  Masse  des  Volkes  in  Mühlhausen  und  den  zu- 
gehörigen Dörfern  der  Reformation  abgeneigt  gewesen  wäre 
und  sie  ihm  aufoktroyiert  werden  mußte?  Daß  der  Rat 
längere  Zeit  widerstrebte,  lag  in  seiner  Zusammensetzung  und 
in  der  Politik,  die  er  trieb,  begründet.  Daß  der  Kurfürst  von 
Sachsen  und  der  Landgraf  von  Hessen  zu  Gewaltmitteln  und 
Oberrumpelungen  gegriffen  haben,  um  ihn  zur  Zulassung  evan- 
gelischer Prediger  zu  bewegen,  ist  ja  richtig,  aber  die  Politik 
zwang  sie  dazu;  auch  durften  sie  sich  wohl  darauf  berufen, 
daß   die   katholischen   Prediger   „kein   gutes   Leben  führten* 


1 50  Literaturbericht. 

(S.  21),  und  anderseits  hat  Herzog  Georg  gelegentlich  dieselben 
Mittel  angewandt,  um  den  Rat  bei  dem  katholischen  Bekennt- 
nis festzuhalten  (S.  23).  Ganz  ungehörig  aber  ist  es,  die 
Reformationsgeschichte  MUhlhausens  als  Beispiel  dafür  hin- 
zustellen, daß  überhaupt  das  deutsche  Volk  i,  durch  die  Ge- 
waltmaßregeln der  Fürsten  von  der  katholischen  Kirche  los- 
gerissen und  dem  Protestantismus  zugeführt  worden''  sei. 
Dazu  war  das  Schicksal  Mühlhausens  viel  zu  eigentümlich. 
Bei  der  Kapitulation  im  Jahre  1525  war  festgesetzt  worden, 
daß  die  drei  Schutzfürsten:  Herzog  Georg,  Kurfürst  Johann, 
Landgraf  Philipp,  abwechselnd  je  ein  Jahr  die  Stadt  regieren 
sollten,  und  die  städtischen  Gesandten,  die  im  Jahre  1536  dem 
Landgrafen  ihre  Not  klagten,  hatten  nicht  unrecht,  wenn  sie 
meinten,  es  sei  doch  „mamelukisch*  gehandelt,  wenn  sie  in 
den  zwei  Jahren,  in  denen  der  Kurfürst  und  der  Landgraf  das 
Regiment  hätten,  lutherisch  und  im  Jahre  des  Herzogs  Georg 
katholisch  sein  sollten  (S.  30). 

So  soll  also  die  Schrift  eine  katholische  Tendenzschrift 
sein,  im  Effekt  ist  sie  es  aber  nicht.  Der  2.  Abschnitt  (8.  96 
bis  145),  der  „die  Bemühungen  der  Katholiken,  wieder  in  den 
Besitz  einer  Kirche  zu  gelangen  (1567 — 1629)*,  schildert,  hat 
vornehmlich  lokalhistorisches  Interesse.  Es  ist  aber  doch 
wertvoll,  daß  Kn.  dieses  etwas  langweilige  Nachspiel  so  aus- 
führiich  behandelt,  da  die  1904  und  1905  im  1.  und  2.  Jahr- 
gang der  „Zeitschrift  des  Vereins  für  Kirchengeschichte  in 
der  Provinz  Sachsen*  und  1905  auch  separat  bei  E.  Holter- 
mann  in  Magdeburg  erschienene  „Reformationsgeschichte  der 
Stadt  Mühlhausen  i. Th.*  von  H.  Nebelsieck,  der  im  übrigen 
der  Vorzug  zu  geben  ist,  da  abbricht,  wo  Kn.s  1.  Abschnitt 
endigt.  Q    f^i 


Hansisches  Urkundenbuch.  10.  Bd  :  1471—1485.  Bearbeitet  von 
Walther  Stein.  Leipzig,  Duncker  &  Humblot.  1907.  XIV 
u.  796  S. 

Der  neue  Band  des  Hansischen  Urkundenbuches,  den 
W.  Stein  in  gewohnter  sorgfältiger  Bearbeitung  der  Forschung 
vorlegt,  ist  an  Umfang,  wenn  man  Einleitung  und  Text  zu- 
sammenfaßt, dem  neunten  Bande  annähernd  gleich;  er  umfaßt 


Deutsche  Landschaften.  151 

aber  die  doppelte  Zahl  der  Jahre,  ein  Umstand,  der  dem  Be- 
nutzer nicht  unwillkommen  sein  wird.  Ein  Übelstand  freilich 
besteht  darin,  daß  dieselben  Jahre  sich  auf  drei  Bände  der 
bei  der  Benutzung  unentbehrlichen  Hanse-Rezesse  verteilen. 
Wie  mir  scheint,  ist  der  Inhalt  noch  mannigfacher  wie  früher. 
Direkte  Handelsbeziehungen  Kölns  nach  Sizilien  (Messina) 
und  nach  Spanien  (Coruöa)  werden  aufgedeckt.  Daneben 
kommt  auch  der  Osten  nicht  zu  kurz;  namentlich  fällt  reiches 
Licht  auf  Danzigs  Großmachtstellung  im  östlichen  Handel. 
Eine  größere  Zahl  von  Stücken  gehört  dem  Kontor  zu  Kowno 
und  dem  von  ihm  vermittelten  Handel  an ;  dieses  Kontor  tritt 
hier  zum  erstenmal  in  die  hansische  Geschichte  ein.  Nicht 
minder  tritt  der  Einfluß  der  deutschen  Kaufleute  in  den 
nordischen  Reichen  in  die  Erscheinung;  freilich  gerade  eines 
der  interessantesten  Stücke  des  Bandes  zeigt  schon  die 
Minderung  der  deutschen  Vormacht:  die  Aufhebung  der  Ver- 
pflichtung aller  schwedischen  Kaufstädte,  speziell  Stockholma 
zur  Besetzung  der  Hälfte  der  Stadtratsstellen  mit  Deutschen; 
ein  Punkt,  über  den  St.  selbst  in  den  Hansischen  Geschichts- 
blättern (1904/05)  eingehend  gehandelt  hat. 

Die  Einleitung  beschränkt  sich  im  Gegensatz  zum  9.  Bande 
auf  eine  kurze  Zusammenfassung  und  Beleuchtung  der  Er- 
gebnisse aus  dem  weitschichtigen  Stoffe.  Der  Utrechter  Friede 
und  die  Bremer  Konkordie  sind  die  beiden  Wendepunkte 
der  hansischen  Geschichte  dieser  Jahre.  Der  erste  legte  in 
einem  der  Hanse  günstigen  Sinne  die  englische  Fehde  bei; 
wertvolle  Aufschlüsse  gewährt  über  ihn  der  Bericht  der  eng- 
lischen Gesandten  in  Utrecht  vom  Jahre  1473,  das  umfang- 
reichste Stück  des  vorliegenden  Bandes.  In  der  Bremer  Kon- 
kordie vom  September  1476  wurde  der  Schoßstreit  mit  Köln 
in  der  Hauptsache  zu  Kölns  Ungunsten  entschieden;  aber 
die  Aussöhnung  mit  der  Hanse  war  die  Vorbedingung  für  die 
Wieder-Zulassung  der  Kölner  Kaufleute  zum  Stalhof  in  London 
gewesen.  In  no.  784  druckt  St.  ein  Verzeichnis  der  Kölner 
Hansekaufleute  ab,  das  er,  unterstützt  durch  Angaben  von 
V.  Loesch,  in  die  Jahre  c.  1470—80  setzt,  aber  nicht  näher  zu 
deuten  vermag.  Nach  neueren,  noch  nicht  veröffentlichten 
Untersuchungen  von  Bruno  Kuske  werden  die  Namen  der 
Liste,    indem    als   Termini    a  quo    die  Bürgeraufnahmen,    als 


152  Literaturbericht. 

Termini  ad  quem  Sterbedaten  verwandt  wurden,  durch  das 
Jahr  1476  und  den  Anfang  des  Jahres  1477  begrenzt.  Somit 
erscheint  mir  ein  im  einzelnen  noch  näher  aufzuklärender 
Zusammenhang  mit  der  Bremer  Konkordie  als  Lösung  des 
Rätsels  anzusehen  zu  sein,  das  diese  interessante  Liste  auf- 
gibt. Für  die  Bestimmung  der  Buchdrucker  hätte  das  neuere 
Werk  von  Voulli6me  bessere  Anhaltspunkte  ergeben.  In  den 
englischen  Dingen  tritt  die  überragende  Persönlichkeit  Gerhards 
von  Wesel,  auf  den  schon  der  vorige  Band  hinwies,  kräftig 
hervor.  Von  Interesse  sind  seine  Briefe,  darunter  ein  in  eng- 
lischer Sprache  geschriebener.  Von  hervorragender  Bedeutung 
für  den  hansischen  Handel  dieser  Zeit  war  auch  der  berühmte 
Neußer  Krieg;  dessen  Folgen  sind  für  die  Verkehrsbeziehungen 
Kölns  zum  burgundischen  Reiche  noch  lange  fühlbar  ge- 
wesen. Das  letzte  im  vorliegenden  Bande  auftretende  wichtige 
Ereignis  ist  der  Erwerb  neuer  französischer  Privilegien,  das 
Verdienst  des  Sekretärs  des  Brügger  Kontors,  Gerhard  Bruns. 
Den  überaus  mannigfachen  Inhalt  des  Bandes,  auf  den  hier 
nicht  näher  eingegangen  werden  kann,  läßt  eine  Durchsicht 
der  knappen  Einleitung  leicht  ersehen;  hinweisen  möchte  ich 
nur  auf  den  Aufenthalt  des  ersten  englischen  Buchdruckers 
William  Caxton  in  Köln  1471/72  (S.  46).  Die  Erläuterungen, 
welche  St.  den  Stücken  angedeihen  läßt,  sind  sehr  reichhaltig 
und  zeugen  von  einer  ausgedehnten  Kenntnis  namentlich  auch 
der  ausländischen  Literatur. 

Das  Orts-  und  Personenregister  umfaßt,  dem  Umfange  des 
Bandes  entsprechend,  über  40  Seiten ;  Tzellis,  Tzernbolt  usw. 
wären  unter  Z  zu  setzen;  ebenso  würde  man  Wilh.  von  Swolle 
unter  Zwolle  suchen.  Etwas  stiefmütterlich  behandelt  ist  das 
Sachregister,  das  zugleich  als  Glossar  dient.  Das  Schema, 
nach  dem  dasselbe  angelegt  ist,  ist  der  Verbesserung  bedürftig, 
zudem  nicht  einmal  folgerichtig  durchgeführt.  So  sind  als 
Sammelnamen  die  Stichworte  Fisch,  Bücking,  Häring,  Stock- 
fisch aufgeführt ;  unter  Fisch  hätte  auf  die  übrigen  einschlägigen 
Wörter  verwiesen  werden  müssen;  zweckmäßigerweise  wären 
die  unter  diese  Sammelnamen  fallenden  Einzelwörter  auch  an 
ihrem  Platze  im  Alphabet  aufzuführen  gewesen;  z.  B.  pam- 
mucheln  (übrigens  =  Kabliau),  tijbucking  usw.  Unter  Stock- 
fisch fehlen  die  als  solcher  erklärte  raekiingh  und  rekelvisch. 


Osterreich.  153 

Man  würde  auch  gerne  manche  Erklärung  im  Sachregister 
finden,  die  der  Herausgeber  kraft  seiner  Sachkenntnis  vielleicht 
mühelos  hätte  geben  können.  Mehrfach  hätte  der  Aufsatz 
von  Kuske  über  den  Kölner  Fischhandel  (Westdeutsche  Zeit- 
schrift, Band  XXIV)  mit  Nutzen  verwertet  werden  können, 
z.  B.  tijbucking  =  Zuyderseeer  oder  im  Y  gefangener  Fisch, 
bollich  =  Schellfisch  (nicht  Kabliau),  ventgut  =  leicht  ver- 
derbliche Ware  usw.  Nicht  unanfechtbar  erscheint  das  Ver- 
fahren, das  deutsche  Wörter  mit  vereinzelten  dänischen,  schwe- 
dischen, englischen  Wörtern  in  einem  Glossar  vereinigt. 
Köln.  Herrn.  Keussen, 

Historischer  Atlas  der  österreichischen  Alpenländer.  Heraus- 
gegeben von  der  Kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften. 
1.  Abtlg.:  Die  Landgerichtskarte,  bearbeitet  unter  Leitung 
von  weil.  Eduard  Richter.  1.  Liefg.:  Salzburg  (von  Eduard 
Richter),  Oberösterreich  (von  Julius  Strnadt),  Steiermark 
(von  Anton  Meli  und  Hans  Pirchegger).  Wien,  Adolf  Holz- 
hausen.   1906. 

Erläuterungen  zum  historischen  Atlas  der  österreichischen  Alpen- 
länder.   1.  Abtlg.,  1.  Liefg.    IV  u.  49  S.  Fol. 

In  der  Pflege  der  historischen  Geographie  machte  sich 
bis  in  die  neuere  Zeit  hinein  das  Übergewicht  geltend,  das 
das  klassische  Altertum  innerhalb  der  Wissenschaften  im  all- 
gemeinen lange  behauptet  hat.  Man  beschäftigte  sich  durch- 
weg mehr  mit  der  Geographie  der  griechisch-römischen  Welt 
als  mit  der  historischen  Landeskunde  der  Heimat.  Das  ist 
jetzt  anders  geworden.  Es  gehört  heute  zu  den  allerorten 
anerkannten  Aufgaben  der  nach  Territorien  organisierten  Ge- 
schichtsvereine in  deutschen  Landen,  sich  auch  um  die  hi- 
storische Geographie  ihres  Bezirkes  zu  kümmern.  Von  dem 
Interesse  für  solche  Fragen,  wie  es  überall  rege  ist,  bis  zur 
Veröffentlichung  historischer  Kartenwerke  ist  freüich  noch  ein 
weiter  Weg,  und  bis  vor  kurzem  hatte,  wenn  man  von  den 
beiden  Wüstungskarten  absieht,  die  die  historische  Kommis- 
sion der  Provinz  Sachsen  herausgebracht  hat,  nur  der  „Ge- 
schichtliche Atlas  der  Rheinprovinz""  zu  erscheinen  begonnen. 
Ihm  hat  sich  jüngst  ein  zweites  monumentales  Werk  zur  Seite 
gestellt,   der    historische   Atlas    der    österreichischen   Alpen- 


1 54  Literaturbericht. 

länder,  dessen  erste  Lieferung  vorliegt.  Der  Atlas  nimmt  sich 
zum  Vorwurf  die  Darstellung  eines  Gebiets,  das  an  Umfang 
(119000  qkm)  weit  ein  Territorium  oder  eine  Provinz  von 
durchschnittlicher  Größe  Übertrifft;  er  umfaßt  eine  ganze  An- 
zahl österreichischer  Kronländer,  mehr  als  ein  Drittel  von 
ganz  Cisleithanien,  und  dementsprechend  ist  es  auch  nicht 
ein  territorialer  Geschichtsverein,  der  das  gewaltige  Werk 
unternommen  hat,  sondern  die  Wiener  Akademie  der  Wissen- 
schaften. Natürlich  aber  ist,  wie  meist  bei  den  großen  Ver- 
öffentlichungen unserer  Akademien,  so  auch  hier  einer  der 
Spiritus  rectory  der  die  reichen  Mittel  der  Korporation  in  den 
Dienst  der  ihm  am  Herzen  liegenden  wissenschaftlichen  Arbeit 
gestellt  hat:  leider  hat  der  Vater  des  Atlas,  Eduard  Richter, 
den  Augenblick  nicht  mehr  erleben  dürfen,  an  dem  das  Werk, 
das  ohne  seine  organisatorische  Tätigkeit  und  eifrige  Mit- 
arbeit gewiß  nicht  zustande  gekommen  wäre,  zu  erscheinen 
begann. 

Sechzig  Jahre  bereits  sind  verflossen,  seit  zuerst  J.  Chmel 
die  neu  errichtete  Wiener  Akademie  zur  Herstellung  histori- 
scher Karten  der  Heimat  anregte.  Sein  Programm  war  weit 
gespannt,  die  verschiedensten  historischen  Vorgänge  wünschte 
er  kartographisch  dargestellt.  Aber  wie  es  oft  geht,  seine 
Pläne  gingen  so  ins  Weite  und  waren  so  wenig  fest  umrissen, 
daß  schließlich  nichts  zustande  kam;  zudem  waren  die  rein 
historischen  Vorarbeiten,  die  ein  österreichischer  Geschichts- 
atlas zur  Voraussetzung  hatte,  damals  noch  nicht  genügend  ge- 
fördert, und  es  fand  sich  niemand,  der  wirklich  an  die  Arbeit  ge- 
gangen wäre:  Chmel  selbst  hatte  nichts  weiter  gewollt,  als 
dazu  anregen.  Ganz  anders  präsentiert  sich  Richters  Werk; 
hier  ist  von  vornherein  in  weiser  Selbstbeschränkung  ein 
enger  umschriebenes  Ziel  gesetzt,  und  der,  von  dem  die  An- 
regung ausging,  hat  gleichzeitig  selbst  als  eifrigster  Mitar- 
beiter dafür  gesorgt,  daß  die  Unternehmung  in  Fluß  kam ;  nun 
hat  sie  sich  auch  nach  ihres  Schöpfers  Tode  als  lebensfähig 
erwiesen.  Richter  war  in  seltenem  Maße  für  eine  historisch- 
geographische  Arbeit  geeignet:  als  Historiker  war  er  durch 
Sickels  straffe  Schule  gegangen,  und  als  Geograph  beherrschte 
er  völlig  die  technische  Seite  des  Kartenzeichnens,  die  dem 
Historiker  meist  so  abschreckend  schwer  erscheint,  da  er  mit 


Osterreich.  155 

diesen  Dingen  garnicht  vertraut  ist.  Die  beiden  Aufsätze  im 
V.  und  VI.  Ergänzungsband  der  Mitteilungen  des  Instituts  für 
österreichische  Geschichtsforschung,  in  denen  Richter  von 
seinen  Plänen  und  Arbeiten  für  den  Atlas  Zeugnis  abgelegt 
hat^),  sind  Programmschriften  geworden,  die  weit  über  den 
Rahmen  des  Werkes,  das  sie  einführen  sollen,  hinaus  wichtig 
sind  für  alle,  die  historische  Karten  anfertigen  wollen. 

Den  von  den  Bearbeitern  des  geschichtlichen  Atlas  der 
Rheinprovinz  aufgestellten  Grundsatz,  historische  Kartenwerke, 
die  in  der  Hauptsache  das  Mittelalter  betreffen,  seien  rück- 
läufig zu  bearbeiten,  hat  Richter  als  zu  Recht  bestehend  an- 
erkannt. Und  zwar  haben  sich  ihm  für  sein  Arbeitsfeld  er- 
geben als  das,  wovon  auszugehen  sei,  die  Grenzen  der  Land- 
gerichte. Er  hat  deshalb  die  ganze  Arbeit  zunächst  nach 
dem  einen  Ziel  orientiert,  eine  Karte  der  österreichischen 
Alpenländer  herzustellen,  die  die  Landgerichte  nach  ihren 
Grenzen  von  1848  und  von  da  ab  rückwärts  darstellt.  Die 
Quellen  erlauben  durchweg  die  sichere  Feststellung,  wie  aus 
den  alten  großen  ursprünglichen  Gerichtssprengeln  des  früheren 
Hittelalters  auf  dem  Wege  der  Zerschlagung  —  selten  kommt 
auch  der  entgegengesetzte  Fall  der  Zusammenlegung  vor  — 
sich  die  Landgerichte  entwickelt  haben,  wie  sie  sich  schließ- 
lich in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  darstellen.  Die 
Karte  zusammen  mit  den  Erläuterungen,  die  die  Filiation  der 
Landgerichte  anschaulich  in  Stammbäumen  vorführen,  gibt 
von  dieser  grundlegenden  Entwicklung  ein  klares  Bild;  vor 
«inigen  Jahren  erschien  bekanntlich  schon  als  programmatische 
Probe  des  Atlas  der  Aufsatz  von  A.  Meli,  der  aus  den  be- 
treflenden  Landgerichten  des  19.  Jahrhunderts  den  aUen  stei- 
rischen  comitatus  Liupoldi  zu  rekonstruieren  unternimmt. 

Eine  grundsätzliche  Neuerung  der  historischen  Karte 
Richters  liegt  darin,  daß  er  entscheidenden  Wert  auf  die  Dar- 
stellung des  Geländes  legt.  Hier  ist  einer  der  Gründe  — 
freilich  nicht  der  einzige  —  zu  suchen,  aus  denen  sich  die 
Österreicher  schließlich  so  schroff  gegen  die  Thudichumschen 


^)  Vgl.  auch  die  sonstigen  Vorarbeiten  zum  Atlas,  deren 
Titel  in  den  „Erläuterungen*  Seite  II  Anm.  1  zusammengestellt 
sind. 


156  Literaturbericht. 

Grundkarten  erklärt  haben,  die  von  der  natürlichen  Landschaft 
lediglich  das  Wasser,  nicht  aber  das  Gebirge  darstellen.  Be- 
greiflich ist  es,  warum  gerade  der  Geograph  der  Alpen  die 
vollständige  Geländedarstellung  verlangen  mußte.  Die  durch 
den  Verlauf  der  Gebirgszüge  durchweg  bedingten  Grenzen 
würden  auf  einer  Karte  ohne  Gelände  in  der  Tat  oft  unver- 
ständlich erscheinen.  Allerdings  hält  Richter  die  Wiedergabe 
der  physikalischen  GestaUung  der  Erdoberfläche  nicht  für 
eine  der  selbständigen  Aufgaben  der  historischen  Karte;  er 
hat  vielmehr  seinem  Atlas  ein  modernes  Kartenbild  zugrunde 
gelegt.  Das  ist  erlaubt  und  richtig  in  den  Alpen,  wo  die 
natürlichen  Veränderungen  des  Geländes  in  historischer  Zeit 
so  minimal  sind,  daß  sie  auch  bei  relativ  großem  Maßstab 
kaum  kartographisch  darstellbar  wären.  Für  einen  Geschichts- 
atlas etwa  der  norddeutschen  Tiefebene,  zumal  ihrer  Meeres- 
küste, wäre  dies  Verfahren  natürlich  ausgeschlossen. 

Der  Maßstab  der  Landgerichtskarte  ist  ungewöhnlich  groß, 
1:200000;  auch  diese  Wahl  ist  mit  vollstem  Bewußtsein  ge- 
troffen, wie  übrigens  auch  die  Hauptkarte  des  rheinischen 
Werkes  einen  sogar  noch  etwas  größeren  Maßstab  aufweist. 
Was  nun  die  Landgerichtskarte  darstellt  und  dank  ihrem  Maß- 
stab auch  darstellen  kann,  ist  nicht  —  wie  schon  angedeutet  — 
eine  historische  Zustandskarte,  die  nur  die  Gerichtseinteilung 
für  ein  bestimmtes  Jahr  veranschaulicht,  sondern  eine  Ent- 
wicklungskarte; man  kann  von  ihr  mit  Hilfe  der  Erläuterungen 
ablesen,  wie  zu  jeder  Zeit  des  Mittelalters  und  bis  ins  19.  Jahr- 
hundert hinein  die  Gerichte  verteilt  waren.  Die  Landgerichts- 
karte ist,  soweit  sie  voriiegt  —  Lieferung  1  umfaßt  mit  Salz- 
burg, Oberösterreich  und  Steiermark  gut  ein  Viertel  des  ganzen 
Gebiets  —  erstaunlich  rasch  zustande  gekommen.  Wird  sie 
erst  beendigt  sein,  so  ist  mit  ihr  eine  Grundlage  geschaffen, 
die  es  ermöglicht,  von  da  aus  an  andere  Probleme,  die  der 
karthographischen  Darstellung  harren ,  heranzutreten.  Da 
werden  vielfach  Übersichtskarten  in  kleinerem  Maßstabe  ge- 
wählt werden  können:  sind  sie  auf  Grund  der  Landgerichts- 
karte  gearbeitet,  so  gewährleistet  diese  exakte  Basis  in  jedem 
Falle  die  denkbar  größte  Genauigkeit. 

Ich  weise  schließlich  darauf  hin,  daß  neben  den  direkt  im 
Anschluß  an  die  Karten  erscheinenden  „Erläuterungen*  auch 


Schweiz.  157 

«Abhandlungen  zum  historischen  Atlas  der  österreichischen 
Alpenländer''  erscheinen,  und  zwar  im  „Archiv  für  öster- 
reichische Geschichte''.  Der  1.  Band  der  „Abhandlungen* 
(=  Bd.  94  des  „Archivs*.  VI  u.  660  S.  Wien,  Alfred  Holder. 
1907)  liegt  vor.  Er  wird  in  der  Hauptsache  gefüllt  durch 
zwei  Arbeiten  von  Julius  Strnadt ;  zwei  weitere  Untersuchungen 
steuerte  H.  v.  Voltelini  bei,  und  zwei  kürzere  Aufsätze  sind 
noch  aus  Ed.  Richters  Feder  geflossen. 

Die  akademische  Atlas-Kommission,  deren  Obmann  jetzt 
0.  Redlich  ist,  leistet  Gewähr  für  ein  rüstiges  Fortschreiten 
des  monumentalen  Werks  im  Sinne  seines  Begründers. 

Charlottenburg.  Hermann  Krabbo, 

Kirchliches  Asylrecht  (Immunitas  ecclesiarum  localis)  und  Frei- 
stätten in  der  Schweiz.  Von  R,  G.  Bindschedler.  Stutt- 
gart, P.  Enke.     1906.    Vll  u.  406  S. 

Als  Heft  32/33  der  von  Professor  Stutz  herausgegebenen 
«Kirchenrechtlichen   Abhandlungen*   ist   die   rechtshistorische 
Untersuchung  des  Zürcher  Juristen   erschienen,  die  die  Ent- 
wicklung des  kirchlichen  Asylrechtes  und  daneben  der  welt- 
lichen Freistätten  in  der  Schweiz  zum  Gegenstand  hat.    Die 
Tragweite  dieser  Fragen  ist  nicht  allein  von  historischer  Be- 
deutung;  denn  über  das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  hinaus, 
wo,  zwar  vielfach  angefochten,  die  Rechtsgültigkeit  dieser  Ein- 
richtung noch  in  Kraft  stand,  reichen  Zeugnisse  für  die  An- 
rufung der  Asylpraxis :  abgesehen  von  Forderungen  der  römi- 
schen Kurie,  in  den  Jahren  1869  und  1880,  hat  1861  im  Kanton 
Obwalden  ein  Rechtsstreit  hierüber  stattgefunden,  indem  die 
Gemeinde  Engelberg  vom  Kloster  forderte,  daß  das  Eigen- 
tumsrecht an  der  im  Klosterfreihof  liegenden  Allmend  für  die 
Gemeinde  anerkannt  werde. 

Aus  der  gedruckten  Literatur  und  aus  Archiven  ist  ein 
reicher  Stoff  gesammelt  und  auf  das  beste  ausgenutzt.  Einige 
interessante  Dokumente  sind  hier  zum  erstenmal  zum  Abdruck 
gebracht,  so  das  Asylprivilegium  Kaiser  Rudolfs  11.  von  1587 
für  die  Stadt  St.  Gallen. 

Denn  neben  dem  kirchlichen  Asylrecht  findet  sich  das 
weltliche  eingehend  behandelt.    Für  jenes  erstgenannte  bildet 


s 


158  Literaturbericht. 

selbstverständlich  die  Reformation  einen  tief  eingreifenden 
Einschnitt,  obschon  auch  in  den  reformierten  Teilen  der 
Schweiz  die  Gültigkeit  der  Freistätten  nicht  völlig  erlosch. 
In  den  katholischen  Gebieten  erfuhr  das  Asylrecht  durch  die 
Konstitution  Gregors  XIV.  eine  wesentliche  Abwandlung.  Das 
weltliche  Asylrecht  dagegen,  wie  es  zum  Teil  aus  dem  Haus- 
frieden, teilweise  aus  dem  Stadtfrieden  erwachsen  war,  daneben 
die  Freihöfe,  mit  ihren  besonderen  Rechtsbedingungen,  in 
Aarau,  Thun  und  noch  an  anderen  Orten,  sind  im  zweiten 
Abschnitt  behandelt;  eben  jenes  kaiserliche  Privileg  hatte  für 
St.  Gallen  an  der  Seite  der  alten  Klosterfreiung  eine  eigene 
städtische  Asylstätte  geschaffen. 

Für  die  politische  und  die  Kulturgeschichte  aufschlußreich 
sind  die  zahlreichen  Konflikte,  die  aus  dem  Asylrecht  er- 
wuchsen, denen  der  Vf.  seine  besondere  Aufmerksamkeit 
schenkt.  Denn  nicht  nur  da,  wo  in  der  Mitregierung  gemein- 
samer Untertanenländer  reformierte  Obrigkeiten  neben  katho- 
lischen ihr  Wort  mitzureden  das  Recht  hatten,  sondern  auch 
zwischen  katholischen  Trägern  der  weltlichen  Gewalt  und 
Vorfechtern  des  kirchlichen  Asyls  entstanden  derartige  oft 
weithin  wirkende  Reibungen.  So  geriet  das  Kloster  Einsiedeln, 
mit  einer  sehr  ausgeprägten  Asylpraxis,  die  Mördern,  Ketzern, 
Verrätern,  Kirchenräubern  unbeschränkt  zugute  kam,  mit  der 
Regierung  zu  Schwyz  in  Kampf.  Das  Kloster  Engelberg  kam 
in  schwere  Verlegenheit,  als  1679  ein  unter  gravierender  An- 
klage stehender  angesehener  Urner  hier  zuerst  Schutz  suchte, 
dann  das  Asyl  wieder  flüchtig  verließ.  Auch  Luzern  erlebte 
ähnliche  Vorfälle,  und  so  wurden  1725  in  einer  Konstitution 
Benedikts  Xlll.,  1770  in  einem  Projekte  des  päpstlichen  Nun- 
tius Versuche  gemacht,  hier  durch  neue  Vorschriften  derartigen 
Friktionen  vorzubeugen.  Als  1795  ein  Teilnehmer  an  einer 
Räuberbande  im  Kloster  der  Kapuziner  zu  Rapperswil  ein  Asyl 
suchte,  räumte  der  Nuntius  selbst  ein,  daß,  in  formeller  Wah- 
rung der  kirchlichen  Vorschriften,  der  staatlichen  Rechtspflege 
Genüge  geschah. 

Ein  interessantes  Kapitel  schweizerischer  Rechtsgeschichte 
ist  hier  zur  Darstellung  gebracht. 

Zürich.  M.  v.  K. 


Schweiz.  159 

Novara  und  Dijon.  Höhepunkt  und  Verfall  der  schweizerischen 
Großmacht  im  16.  Jahrhundert.  Von  Ernst  Gagliardi. 
Zürich,  Druck  und  Verlag  von  Gebr.  Leemann  &  Co.  1907. 
346  S. 

In  dieser  Schrift  macht  ein  junger  schweizerischer  Ge- 
lehrter den  Versuch,  ein  Jahr  aus  den  Kämpfen  um  Ober- 
italien zu  Beginn  des  16.  Jahrhunderts,  soweit  die  Eidgenossen- 
schaft als  selbständige  Macht  eingriff,  zum  erstenmal  auf  Grund 
der  originalen  Quellen  eingehend  darzustellen.  Die  Erzählung, 
die  sich  der  Zeit  nach  an  Kohlers  Werk  „Les  Suisses  dans  les 
guerres  d'/lalle'  anschließt,  beginnt  mit  der  Schilderung  der 
Zustände  im  Mailändischen  nach  der  Einsetzung  des  Herzogs 
Massimiliano  Sforza  zu  Ende  1512  und  behandelt  dann  die 
beiden  noch  ins  Jahr  1513  fallenden  FeldzUge  der  Eidgenossen, 
die  durch  die  Schlacht  bei  Novara  und  die  Belagerung  Dijons 
bezeichnet  sind.  Der  Stoff  war  zum  letzten  Male  in  Gisis 
.Anteil  der  Eidgenossen  an  der  europäischen  Politik  in  den 
Jahren  1512  bis  1516"  selbständig  behandelt  worden.  Aber 
während  der  ältere  Forscher  sich  ausschließlich  an  das  damals 
(1866)  gedruckte  Material  hielt  und  daher  gezwungen  war, 
die  abgeleiteten  Darstellungen  wie  die  Chroniken  und  die 
humanistischen  Geschichtswerke  in  reichlichem  Maße  heran- 
zuziehen, konnte  Gagliardi  ebensowohl  seither  publizierte 
Fundgruben  originaler  Berichte,  vor  allem  den  Sanuto,  wie 
ein  großes  ungedrucktes  Material  benutzen,  das  er  in  schweize- 
rischen und  ausländischen  Archiven  gesammelt  hatte.  Man 
wird  ihm  das  Zeugnis  nicht  versagen  dürfen,  daß  er  diese 
Quellen  mit  großem  Fleiße  durchgearbeitet  und  die  wich- 
tigeren Angaben  in  den  sehr  umfangreichen  Anmerkungen 
gewissenhaft  zusammengestellt  hat;  man  wird  auch  nicht  be- 
streiten dürfen,  daß  er  die  Ergebnisse  seiner  Quellenkritik  zu 
einer  lesbaren,  öfter  rhetorisch  geformten  Darstellung  geformt 
hat  und  daß  er  es  dabei  mit  Glück  verstanden  hat,  Darstel- 
lung und  Exkurse  auseinander  zu  halten.  Trotzdem  hat 
sich  das  Werk  von  den  Mängeln  einer  Erstlingsschrift  nicht 
ganz  freihalten  können.  Die  Darstellung  läßt  vielfach  er- 
kennen, daß  dem  Vf.  nur  die  Zeit,  die  er  behandelt,  durch 
eigenes  Arbeiten  in  den  Einzelheiten  bekannt  ist.  Nicht  nur  ist 
m  Text  und  Anmerkungen  viel  Detail  aufgenommen  worden,  das 


160  Literaturbericht. 

weder  für  die  Politik  noch  für  das  Militärwesen  der  damaligen 
Eidgenossenschaft  charakteristisch  ist;  auch  die  Komposition 
im  ganzen  und  die  allgemeinen  Bemerkungen  hätten  wohl  bei 
größerer  Vertrautheit  mit  der  allgemeinen  Geschichte  die  der 
Eidgenossenschaft  eigentümlichen  entscheidenden  politischen 
und  militärischen  Momente  schärfer  hervortreten  lassen.  So  sind 
weder  die  Kämpfe  bei  Novara  etwa  in  der  Art  Delbrücks  oder 
Eschers  von  allgemein  militärgeschichtlichen  Gesichtspunkten 
aus  erfaßt  worden,  noch  ist  bei  der  Besprechung  des  Dijoner 
Zuges  die  ausschlaggebende  Bedeutung  des  Söldnerwesens  für 
die  Existenz  der  alten  Eidgenossenschaft  genügend  erkannt 
G.  hat  den  unverständigen  Urteilen  zeitgenössischer  und 
späterer  Historiker  über  den  angeblich  durchaus  schädlichen 
Einfluß  des  Reislaufens,  dem  allzuoft  die  Schuld  an  den  Miß- 
ständen des  schweizerischen  politischen  Lebens,  auch  an  den 
früher  vorhandenen  und  allgemein  europäischen  zugeschrieben 
wurde,  zu  viel  Glauben  geschenkt;  er  hat  daher,  was  unter 
diesen  Umständen  allerdings  nicht  auffallend  ist,  die  Revolte 
der  franzosenfeindlichen  Bauern,  denen  die  für  den  einzelnen 
einträglicheren  Frei züge  natürlich  besser  paßten  als  die  offiziell 
organisierten  Werbeunternehmungen,  und  den  Widerstand  der 
Regierungen,  die  im  politischen  Interesse  der  ganzen  Eid- 
genossenschaft den  Vertrieb  der  Söldner  in  ihren  Händen 
monopolisieren  und  die  darin  Hegende  Macht  je  nach  der 
Lage  für  oder  gegen  Frankreich  fruktifizieren  wollten,  nicht 
verstanden  und  in  dieser  Erhebung,  die  zu  dem  verunglückten 
Zuge  gegen  Dijon  geführt  hat,  eine  „Reaktion  des  gesunden 
Instinktes^  gesehen.  Die  Bestechlichkeit  der  Staatsmänner 
war  übrigens  bekanntlich  damals  so  wie  so  keine  schweize- 
rische Eigentümlichkeit,  wie  man  nach  den  Ausführungen  des 
Verfassers  meinen  müßte.  Es  läßt  sich  auch  fragen,  ob  man 
schon  mit  der  Episode  von  Dijon  den  „Verfall*  der  schweize- 
rischen Großmacht  beginnen  lassen  kann;  dies  Unternehmen 
ändert  doch  prinzipiell  kaum  etwas  an  der  Stellung  der 
Schweiz  in  Europa.  Der  Verfasser  ist  zu  seiner  Ansicht  aller- 
dings durch  die  bei  den  Schweizer  Historikern  traditionelle 
Anschauung  geführt  worden,  daß  dufch  die  Schlacht  bei 
Marignano  die  Großmachtstellung  der  Schweiz  definitiv  ver- 
nichtet worden  sei;   er   hat   dabei  so  wenig   wie   die   andern 


Schweiz.  161 

beachtet,  daß  die  Ereignisse  nach  1515  dieser  Meinung 
keineswegs  Recht  geben,  daß  vielmehr  erst  die  im  Gefolge 
der  Reformation  auftretende  konfessionelle  Spaltung  den  Ein- 
fluß der  Schweiz  in  der  internationalen  Politik  für  immer  be- 
seitigt hat. 

Es  mag  noch  bemerkt  werden,  daß  dem  Werke  ein  zu- 
verlässiges Register  beigelegt  ist  und  daß  der  zweite  Teil 
unter  dem  Titel  »Der  Feldzug  von  Novara  1513*  bereits  früher 
selbständig  als  Zürcher  Dissertation  erschienen  ist. 

Zürich.  Fueter. 

Nuntiaturberichte  aus  der  Schweiz  seit  dem  Konzil  von  Trient 
nebst  ergänzenden  Aktenstücken.  1.  Abteilung:  Die  Nun- 
tiatur von  Giovanni  Francesco  Bonhomini  1579 — 1581.  Doku- 
mente, 1.  Bd.  Bearbeitet  von  Franz  Steffens  und  Heinrich 
Reinhardt.  Solothurn,  Druck  und  Kommissionsverlag  der 
Union.    1906.    XXX  u.  762  S. 

Die    „Nuntiaturberichte   aus   Deutschland*    haben   katho- 
lischen Geschichtsfreunden  in  der  Schweiz  die  Anregung  zur 
Publikation  ähnlicher  Berichte  aus  der  Schweiz  gegeben.   Eine 
feste    Organisation   gleich   der   Görresgesellschaft   oder    dem 
preußischen  Institut    in  Rom  hat   sich   dafür  allerdings    noch 
nicht   bilden  lassen   und   eine  Garantie   für  vollständige  Ver- 
öffentlichung der  Berichte    liegt    noch    nicht    vor;    trotzdem 
haben    die   Herausgeber    „im   Vertrauen   darauf,    daß    dieser 
Band    nur   den  Beginn   einer   längeren  Serie    bilden   werde*, 
schon  dem  ersten  Band   den   allgemeinen  Obertitel  gegeben. 
Seite  1 — 322    enthalten    „Dokumente   zur    Vorgeschichte   der 
Nuntiatur*;  sie  behandeln  vor  allem  die   ersten  Bemühungen 
Carlo  Borromeos    um  die  Sendung  eines  Nuntius    oder  Visi- 
tators   in    die    Schweiz   in    den  Jahren  1570 — 1572    und    die 
Visitation  des  Tessin  und  des  Veitlins  durch  den  Bischof  von 
Vercelli    und   späteren   ersten    schweizerischen  Nuntius   Bon- 
homini (die  Herausgeber  haben  die  von  dem  Nuntius  selbst 
gebrauchte,    halb    latinisierte  Form  des  Namens  der  üblichen 
auch   in    den    deutschen    Nuntiaturberichten    durchgeführten 
«Bonomi*  vorgezogen.)    Der  Rest  des  Bandes  führt  das  erste 
der  drei  Jahre,   die   die  schweizerische  Nuntiatur  Bonhominis 
dauerte  (1579 — 1582),  zu  Ende;  die  Dokumente  umfassen  die 

Hittorifche  ZeitschrUt  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  1 1 


162  Literaturbericht. 

Monate  Mai  bis  Dezember  1579.  Die  ^Nunziatura  dl  Germania' 
des  vatikanischen  Archivs  hat  natürlich  auch  für  diese  Publi- 
kation die  Hauptausbeute  geliefert;  neben  ihr  kam  vor  allem 
die  Ambrosiana  und  die  dort  aufbewahrte  Korrespondenz 
Carlo  Borromeos  in  Betracht.  Ein  Vorbericht  orientiert  ein- 
gehend über  Herkunft  und  Fundort  der  Dokumente.  Eine 
eigentliche  Einleitung  ist  dagegen  dem  Bande  nicht  vorgesetzt 
worden.  Eine  solche  soll  später  als  besonderes  Werk  erscheinen ; 
sie  soll  sich  in  ihrem  Inhalt  nicht  auf  die  Persönlichkeit  des 
Nuntius  und  die  Beziehungen  der  katholischen  Orte  zu  Rom 
beschränken,  sondern  deren  religiöses  Leben  überhaupt  dar- 
stellen und  dabei  bis  in  die  ersten  Jahrzehnte  des  16.  Jahr- 
hunderts zurückgreifen.  Leider  ist  Heinrich  Reinhardt  (wie 
Franz  Steffens  Professor  in  Freiburg  i.  Ue.),  der  die  Abfas- 
sung der  Einleitung  übernommen  hatte,  Ende  1906  bald  nach 
dem  Abschlüsse  des  Aktenbandes  gestorben;  doch  ist  seine 
Einleitung  so  weit  vollendet,  daß  sie  zu  einem  großen  Teil 
wird  gedruckt  werden  können. 

So  wie  er  vorliegt,  ist  der  Band  ein  wichtiger  Beitrag  zur 
Geschichte  der  Gegenreformation  wie  zu  der  der  Vorrefor- 
mation. Man  kann  allerdings  nicht  sagen,  daß  er  für  die  all- 
gemeine Kirchengeschichte  der  Zeit  zu  prinzipiell  neuen  Ge- 
sichtspunkten führt.  Aber  er  bestätigt  zunächst  aufs  schönste 
manche  Ergebnisse,  die  aus  dem  spärlichen,  zur  Erforschung 
der  vorreformatorischen  Zustände  vorliegenden  Material  nur 
mit  Hilfe  stets  anfechtbarer  Verallgemeinerungen  gewonnen 
werden  konnten.  Weder  die  apologisierende  Betrachtung  der 
Kirche  vor  der  Reformation,  die  die  offenkundigsten  Schäden 
bestreitet  (das  Konkubinat  der  Priester  verteidigen  Geistliche 
selbst  als  eine  Notwendigkeit,  die  zudem  noch  Schlimmeres 
verhüten  solle,  S.  504),  noch  die  früher  bei  der  nichtkatholi- 
schen Geschichtschreibung  beliebte  Tendenz,  alle  Mißstände 
in  der  spätmittelalterlichen  Kirche  auf  Rechnung  des  Papstums 
zu  setzen  und  die  antizentralistischen  Bestrebungen  der  welt- 
lichen Regierungen,  die  über  die  Geistlichkeit  ihrer  Gebiete 
eine  Art  landeskirchlicher  Hoheit  ausüben  wollten,  als  aus 
moralischen,  der  Reinigung  der  Kirche  günstigen  Motiven 
entsprungen  hinzustellen,  werden  sich  länger  verteidigen  lassen. 
Die  Publikation  erlaubt  ferner,   die  Stellung  der  katholischen 


Schweiz.  163 

Orte  zur  Gegenreformation  schärfer  zu  präzisieren  als  bisher 
möglich  war.  Die  Haltung  der  schweizerischen  Regierungen 
ist  mit  Ausnahme  von  Freiburg  mit  einigen  Modifikationen 
überall  dieselbe:  sie  stellen  sich  auf  die  Seite  ihres  Klerus, 
der  gegen  die  vom  Tridentiner  Konzil  geforderten  Reformen 
Opposition  macht  und  gegen  die  Visitationen  des  päpstlichen 
Nuntius  die  Privilegien  der  Landesregierung  anruft,  und  zeigen 
höchstens  so  weit  Neigung,  der  Kurie  entgegenzukommen,  als 
es  sich  um  die  kirchliche  Disziplin  handelt,  keineswegs  aber 
soweit  das  Recht  des  Staates  zu  Eingriffen  in  die  Kirche  in 
Frage  steht.  Die  den  Protestantismus  so  sehr  begünstigende, 
an  sich  aber  mit  der  neuen  Lehre  nicht  verwandte  Bewegung 
zur  Bildung  von  Nationalkirchen,  die  im  späteren  Mittelalter 
der  Entstehung  von  Nationalstaaten  parallel  geht,  läßt  sich 
dabei  deutlich  beobachten,  und  zwar  gerade  da,  wo  die  dog- 
matische Korrektheit  eine  Berührung  mit  der  neuen  Dogmatik 
ausschließt.  Kantone  wie  das  Wallis,  wo  einerseits  die  re- 
gierenden Kreise  der  reformatorischen  Bewegung  völlig  fern 
standen  und  anderseits  die  Kirche  dem  Staate  beinahe  wie 
eine  Landeskirche  untergeordnet  war,  haben  die  Visitations- 
versuche des  Nuntius  am  schroffsten  abgelehnt.  Und  wie 
üblich  mußte  dabei  die  Behauptung,  hinter  dem  Vorwande  der 
Visitation  verstecke  sich  die  Habsucht  der  Kurie,  den  Deck- 
mantel liefern,  um  verrottete  Zustände  der  Kontrolle  der  Ober- 
behörde zu  entziehen  (S.  445).  Nur  ein  so  energischer  und 
mutiger  Mann  wie  der  Nuntius  Bonhomini,  der  übrigens  in 
den  Augen  der  Kurie  selbst  öfter  allzu  rücksichtlos  vorging, 
hat  hier  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Wandel 
schaffen  können. 

Die  Edition  ist  mit  großer  Gewissenhaftigkeit  besorgt 
worden;  die  umfangreichen  Anmerkungen,  die  zugleich  dazu 
dienen,  eine  Anzahl  unwichtigerer  Stücke  zu  resümieren, 
bringen  zum  Verständnis  des  Textes  alles  nötige.  Die  Heraus- 
geber hätten  dabei  in  der  Verweisung  offizieller,  rein  formeller 
Schreiben  in  die  Anmerkungen  vielleicht  noch  weitergehen 
können ;  Begleitschreiben  wie  Nr.  323  und  324  hätten  in  einem 
Satze  in  einer  Anmerkung  erledigt  werden  können.  Im 
übrigen  ist  der  Text  zum  Unterschied  von  den  deutschen 
Nuntiaturberichten  fast  überall  im  Originalwortlaut  wieder- 
um 


164  Literaturbericht 

gegeben;  nur  die  Stellen,  die  ausländische  Verhältnisse  be- 
treffen,  sind  ausgelassen  worden.  Vielleicht  können  in  den 
folgenden  Bänden  noch  einige  nicht  unentbehrliche,  aber  die 
Benutzung  wesentlich  erleichternde  Mittel  der  modernen 
Editionstechnik  angewandt  werden,  wie  die  Zählung  der  Zeilen 
am  Rande  und  Numerierung  der  Briefabschnitte  im  Regest  mit 
Wiederholung  der  Zahlen  im  Text;  die  auch  in  dem  vor- 
liegenden Bande  gar  nicht  seltenen  Schriftstücke,  die  ver- 
schiedenartige Materien  behandeln,  gewinnen  dadurch  sehr 
an  Übersicht.  Etwaige  Titelvermerke  in  der  Handschrift, 
Notizen  über  Ausfertigungen  und  dgl.  sollten  konsequent  unter 
der  Überschrift  des  Herausgebers  registriert  werden,  nicht 
bald  als  Anmerkung,  bald  im  Text ;  vgl.  Nr.  283,  S.  327  und 
den  Anfang  des  Schreibens  Nr.  292.  Auf  der  anderen  Seite 
muß  anerkannt  werden,  daß  eigentliche  Versehen  in  den  Re- 
gesten, die  öfter  beinahe  einen  Kommentar  bilden,  recht  selten 
sind,  und  daß  der  Index  sich  bei  Stichproben  als  zuverlässig 
erwiesen  hat. 

Zürich.  E.  Fueter, 

La  fin   du   regime  espagnol  aux  Pays-Bas,    Par  Frans   van 
Kalken.    Braxelles,  J.  Lebkgue  <g  CU.    1907.    283  S. 

Ein  nach  Inhalt  und  Form  gelungenes  Werk,  das  sich  den 
Arbeiten  Lonchays  und  Huismans,  als  deren  Ergänzung  es 
sich  gibt,  würdig  an  die  Seite  stellt.  Der  Vf.  schildert  mit 
Zugrundelegung  eines  reichen  handschriftlichen  und  eines 
umfassenden  gedruckten  Materials  die  politische,  ökonomische 
und  soziale  Geschichte  der  spanischen  Niederlande  in  den 
Jahren  1692—1715.  Im  Mittelpunkte  des  bis  1700  reichenden 
ersten  der  beiden  Teile,  in  die  der  Vf.  sein  Werk  gliedert, 
steht  die  Persönlichkeit  Maximilian  Emanuels  von  Bayern, 
dessen  Tätigkeit  in  Belgien  in  neuerer  Zeit  wiederholt,  zuletzt 
von  Preuß  und  Rosenlehner,  Gegenstand  eingehender,  kritischer 
Untersuchungen  gewesen  ist.  Van  Kalken,  der  diese  Arbeiten 
ihrem  Werte  entsprechend  eifrig  zu  Rate  gezogen  hat,  schließt 
sich  in  seinem  Urteile  über  Maximilian  Emanuel  seinen  Vor- 
gängern, zumal  Preuß,  an.  Er  anerkennt  den  redlichen  Willen 
und  die  Begabung  dieses  Fürsten,  und  mißt,  wie  Ref.  glaubt 
mit  Recht,  die  Schuld  an  dem  geringen  Erfolge  der  von  Maxi- 


Niederlande.  165 

milian  Emanual  im  Interesse  der  Belgier  aufgewandten  Mühe 
in  erster  Linie  der  Eifersucht  der  Großmächte  und  dem  Parti- 
kularismus  der  belgischen  Stände  bei.  Jene  Kapitel,  in  denen 
V.  K.  den  schädlichen  Einfluß  der  am  Hofe  Maximilian  Emanuels 
und  in  den  einzelnen  Provinzen  wirkenden  Parteien  schildert, 
möchte  Ref.  als  besonders  wertvoll  bezeichnen.  Der  scharfen 
Kritik,  die  der  Vf.  in  dem  zweiten  Teile  seiner  Arbeit  an  dem 
Verhalten  der  Franzosen,  Engländer  und  der  Generalstaaten 
in  der  Zeit  des  spanischen  Sukzessionskrieges  übt,  wird  gleich- 
falls beizupflichten  sein.  Hier  ist  es  weniger  das  von  v.  K.  bei- 
gebrachte neue  Tatsachenmaterial,  das  unsere  Anerkennung 
verdient  —  denn  dasselbe  ist  keineswegs  von  besonderer 
Bedeutung  —  als  die  geschickte  Gruppierung  des  Stoffes. 
Indem  der  Vf.  von  dem  Gesichtspunkte  der  belgischen  Sonder- 
interessen das  Vorgehen  der  Großmächte  betrachtet  und  den 
Egoismus,  der  sie  alle,  zumal  die  Generalstaaten,  bei  ihrem 
Verhalten  bestimmte,  deutlich  hervortreten  läßt,  wird  es  ihm 
möglich,  die  scheinbar  befremdende  Tatsache  zu  erklären,  daß 
die  Mehrzahl  der  Bewohner  Belgiens,  die  doch  wahrlich  keine 
Ursache  hatten  der  spanisch-habsburgischen  Herrschaft  eine 
Träne  nachzuweinen,  den  Übergang  der  Regierung  an  die 
deutsche  Linie  dieses  Hauses  als  die  für  sie  unter  den  ge- 
gebenenen  Verhältnissen  günstigste  Lösung  ansahen.  Inter- 
essante Einzelheiten  bringt  der  Vf.  über  die  Bemühungen 
Maximilian  Emanuels  bei,  den  Handel  und  die  Industrie 
Belgiens  in  den  Jahren  1697 — 1700  zu  heben.  Instruktiv  ist 
auch,  was  er  über  das  Leben  und  Wirken  Bergeicks  und  Quiros 
mitteilt.  Auch  für  die  am  Schlüsse  des  Werkes  gegebene 
Darstellung  der  sozialen  Zustände  und  des  geistigen  Lebens 
der  spanischen  Niederlande  in  den  letzten  Jahren  der  spani- 
schen Herrschaft  verdient  v.  K.  den  Dank  seiner  Leser. 
Wien.  A,  Pribram, 

Der  gerichtliche  Zweikampf  im  altfranzösischen  Prozeß  und  sein 
Übergang  zum  modernen  Privatzweikampf.  1.  Teil:  Der 
gerichtliche  Zweikampf  im  altfranzösischen  Prozeß.  Von 
A.  Coulin.  Mit  einem  Vorwort  von  Jos.  Kohler.  Berlin, 
J.  Guttentag.  1906.  XIII  u.  169  S. 
In  mehreren  Arbeiten  (vgl.  über  sie  H.  Z.  78,  S.  544  und 

81,  S.  366)  habe  ich  darzulegen  versucht,  daß  das  moderne 


166  Literaturbericht. 

Duell  nicht  in  Deutschland,  sondern  in  den  romanischen 
Ländern  seinen  Ursprung  hat.  In  Übereinstimmung  mit  dieser 
Anschauung  übernimmt  die  vorliegende  Schrift  es,  das  Auf- 
kommen des  modernen  Duells  in  Frankreich  zu  untersuchen. 
Einstweilen  bietet  der  Vf.  nur  eine  Voruntersuchung,  indem 
er  den  gerichtlichen  Zweikampf  im  mittelalterlichen  Frankreich 
schildert.  Die  Erörterung  des  eigentlichen  Problems  wird 
erst  folgen.  Aber  auch  jene  Voruntersuchung  ist  mit  Dank 
aufzunehmen ;  sie  hat  einen  selbständigen  Wert.  Coulin  liefert 
mit  seiner  auf  einem  höchst  umfangreichen  Quellenmaterial 
ruhenden  allseitigen  Schilderung  des  gerichtlichen  Zweikampfes 
im  mittelalterlichen  Frankreich  einen  wertvollen  Beitrag  zur 
Verfassungs-,  Prozeß-  und  allgemeinen  Kulturgeschichte.  Bei 
der  Interpretation  deutscher  Rechtsquellen  wird  man  die  von 
ihm  erläuterten  Nachrichten  als  Parallelstellen  oft  mit  Vorteil 
verwerten;  vgl.  z.  B.  S.  150  über  die  Strafe  der  Wüstung  der 
Häuser. 

In  der  Definition,  die  C.  auf  S.  1  von  dem  privaten  Zwei- 
kampf gibt,  sind  die  Motive  und  Ziele  desselben  nicht  voll- 
ständig aufgezählt.  Die  Begründungen,  die  er  findet,  gehen 
bekanntlich  kreuz  und  quer.  In  dem  Vorwort,  das  Kohler 
dem  Buch  vorausschickt,  fällt  es  auf,  daß  der  französische 
Geist  des  Mittelalters  so  einfach  als  ein  fränkischer  gedeutet 
wird.  Von  einem  Rechtsvergleicher  wie  Kohler  sollte  man 
das  am  allerwenigsten  erwarten.  M.  E.  ist  das  keltische  Ele- 
ment im  französischen  Rittertum  mit  Händen  zu  greifen. 

Freiburg  i.  B.  G.  v.  Below. 

Essai  sur  les  rapports  de  Pascal  II  avec  Philippe  /•«•  (1099^1108), 
Par  Bernard  Monod,  Paris,  Champion.  1907.  XXVII  u. 
163  S.  (Bibliothigue  de  l'icole  des  Hautes-dtudes,  sciences 
historiques  ei  philologiques,  fasc.  164.) 

Man  kennt  aus  dem  Nachruf  der  Revue  historique  87 
(1905),  310  ff.  das  tragische  Schicksal  des  jungen  Forschers, 
der  aus  lebhaftester  wissenschaftlicher  Betätigung  durch  eine 
tückische  Krankheit  abgerufen  wurde.  Dank  der  Bemühung 
des  Vaters,  Gabriel  Monod,  und  treuer  Freunde  konnten  die 
nachgelassenen  Schriften  veröffentlicht  werden.  Ich  erwähne 
noch:   Le  moine   Guibert  et  son  temps   (1053 — II24),    Paris 


Frankreich.  167 

1905.  Die  kleine  Arbeit:  Uiglise  ei  Vtitat  au  Xlb  sUcle, 
Vdlection  ipiscopale  de  Beauvais  de  1100  ä  1104,  Paris  1904, 
S.-A.  aus  den  Mäm,  de  la  Soc,  acad,  de  VOise  19,  ist  in  das 
vorliegende  Buch  eingefügt  worden.  Dieses  verdient  die 
Aufmerksamkeit  aller  derjenigen,  die  den  Kampf  zwischen 
Staat  und  Kirche  auch  außerhalb  Deutschlands  verfolgen. 
Im  Vordergrund  steht  die  Frage  der  Beurteilung  des  Papstes 
Paschalis  II.  Wir  würden  jetzt  ausgehen  von  der  Würdigung 
Mirbts  in  der  Realenzyklopädie  14  (1904),  717,  wobei  aber 
ausdrücklich  hervorgehoben  sei,  daß  der  Vf.  schon  im  März 
1904  erkrankte.  Monod  sieht  in  Paschalis  einen  sehr  geschickten 
und  erfolgreichen  Politiker,  der  ganz  im  Gegensatz  gegen  die 
Heftigkeit  seines  Vorgängers  Urban  II.  sich  mit  König  Philipp 
verständigte,  weil  er  klar  erkannte,  daß  er  einen  Bundes- 
genossen brauchte,  um  dem  Kaiser  zu  widerstehen.  So  ergab 
sich  die  Möglichkeit,  die  gallikanische  Kirche  der  Reform 
näher  zu  bringen,  ohne  zu  Gewaltmaßregeln  zu  greifen.  Die 
welthistorische  Leistung  des  Paschalis  würde  demnach  sein^ 
die  in  späteren  Jahrhunderten  so  bedeutsame  Verbindung  des 
Papsttums  mit  Frankreich  eingeleitet  zu  haben. 

Wenn  einmal  ein  französischer  Historiker  sich  an  die 
Aufgabe  macht,  die  Albert  Hauck  für  Deutschland  so  glänzend 
gelöst  hat,  dann  wird  die  Anschauung  M.s  in  größerem  Zu- 
sammenhange nachzuprüfen  sein.  Man  darf  sich  dabei  nicht 
verhehlen,  daß  es  sich  um  ein  Werturteil  handelt,  das  quellen- 
mäßig kaum  zu  erweisen  sein  wird.  Es  sei  den  Fachgenossen 
zur  Beachtung  empfohlen  und  gleichzeitig  aufrichtigem  Be- 
dauern darüber  Ausdruck  gegeben,  daß  ein  Geist,  der  sich 
mit  solcher  Liebe  in  jene  alten  und  doch  so  modernen  Kämpfe 
vertiefte,  nicht  zu  voller  Entfaltung  kam.  B.  M.,  so  sollte  man 
meinen,  hätte  an  eine  Kirchengeschichte  Frankreichs  denken 
können. 

Jena.  A,  Cartellieri. 

Philipp  11.  August,  König  von  Frankreich.  Bd.  2:  Der  Kreuzzug 
(1187—1191).  Von  Alexander  Cartellieri.  Mit  4  Stamm- 
tafeln.    Leipzig,  Dyk.     1906.    XXXI  u.  360  S. 

Während  der  1900  abgeschlossene  1.  Band  in  drei  Büchern 
bis  1189  reicht,   wird   die  Darstellung  in  den  beiden  Büchern 


168  Literaturbericht 

des  vorliegenden  Bandes  nur  um  zwei  weitere  Jahre  ge- 
fördert, derart,  daß  Buch  4  die  Vorgeschichte  des  Kreuz- 
zuges (1146 — 1190),  insbesondere  auch  die  finanziellen  Vor- 
bereitungen behandelt,  während  Buch  5  der  Kreuzfahrt  selbst 
bis  zur  Heimkehr  des  Königs  (Juli  1190  bis  Dezember  1191) 
gewidmet  ist.  Dabei  werden  in  beiden  Büchern  die  englischen 
Verhältnisse  genau  ebenso  eingehend  und  quellenmäßig  be- 
handelt wie  die  französischen,  der  gewählten  Aufgabe  wohl 
nicht  ganz  entsprechend,  für  die  Wissenschaft  aber  ein  ent- 
schiedener Gewinn.  Bezüglich  des  Gesamtcharakters  des 
Werkes  kann  ich  auf  Davidsohns  Urteil  in  dieser  Zeitschrift 
87  (1901),  524  verweisen;  auch  dieser  2.  Band,  auf  sorgfältig- 
ster Erforschung  der  Quellen  erster  Hand  beruhend,  ist 
durchaus  solid  und  zuverlässig  gearbeitet  und  empfiehlt  sich 
durch  eine  klare  und  nüchterne  Darstellung;  die  vielfache 
Wiedergabe  von  Verträgen  und  Verordnungen  in  wortgetreuer 
Übersetzung  wäre  allerdings  besser  unterblieben. 

Unter  den  Beilagen  ist  hervorzuheben  das  Verzeichnis 
der  Urkunden  König  Richards  I.  Löwenherz  vom  August  1189 
bis  Anfang  1192  (p.  288— 301);  besonders  verdienstlich  aber 
ist  es,  daß  der  Vf.  in  Beilage  4  (p.  302—325)  die  Frage  der 
Echtheit  der  Kreuzzugsurkunden  der  Sammlung  Courtois  von 
neuem  aufgerollt  hat.  Zwar  enthält  er  sich  vorsichtig  eines 
bestimmten,  formell  abschließenden  Urteils ;  auf  eine  Benutzung 
dieser  Urkunden  für  seine  Arbeit  aber  hat  er  grundsätzlich 
verzichtet.  Mit  vollem  Recht ;  ich  habe  keinerlei  Zweifel  mehr, 
daß  dieses  ganze,  angeblich  über  2000  Stück  umfassende 
Material  eine  einzige  große  Fälschung  ist.  Wohl  nie  hat  eine 
derartige  Fälschung  einen  solchen  materiellen  und  —  wissen- 
schaftlichen Erfolg  gehabt  wie  diese.  Entscheidend  dafür  war 
doch,  daß  Lacabane,  der  Präsident  der  £cole  des  chartes  und 
erster  Beamter  im  cabinet  des  manuscrits  der  Kgl.  Bibliothek, 
dem  über  190  dieser  Urkunden  zur  Prüfung  vorgelegen  hatten, 
sie  für  unzweifelhaft  authentisch  erklärt  hatte;  wem  konnte 
man  ein  richtigeres  Urteil  darüber  zutrauen  als  einem  solchen 
Sachverständigen  ? 

Wenig  später  erklärte  zwar  de  Reiffenberg  in  seinen 
Notices  sur  les  documents  concernant  la  Belgique  von  mehreren 
dieser  Urkunden,  die  er  in  Brüssel  geprüft  hatte,  mindestens 


Frankreich.  169 

zwei  für  unecht^);  aber  das  einzige  wirklich  greifbare  Argu- 
ment, das  er  vorbrachte:  »9«^  dire,  par  exemple  de  ces  usu- 
Hers  italiens,  qui  , . ,  se  servent  de  livres  tournois,  quand 
on  sait  qu'lls  comptaient  alors  en  argent  de  Lucques*^,  ließ 
ihn  wirklich  nicht  gerade  als  Sachkenner  erscheinen.  Und 
was  konnte  es  helfen,  daß  Lacabane  später  seine  veränderte 
Meinung  handschriftlich  niederlegte  2),  wenn  er  den  Mut  nicht 
fand,  sie  öffentlich  zu  bekennen  und  wissenschaftlich  zu  be- 
gründen! So  konnten  die  Veröffentlichungen  von  Papa 
d'Amico  und  Röhricht  aus  der  Sammlung  Courtois  geschehen, 
ohne  daß  irgendwelche  Anfechtung,  auch  von  selten  der 
deutschen  Kritik  nicht,  erfolgt  wäre. 

Kein  Wunder,  daß  auch  so  bedeutende  Forscher  wie  Heyd 
und  Goldschmidt  diese  Materialien  ohne  weiteres  verwertet 
haben.  Auch  ein  mit  der  Zeit  so  vertrauter  Forscher  wie 
Luchaire  hat  die  Urkunden  über  die  finanziellen  Beziehungen 
pisanischer  Bankiers  zu  König  Richard  unbedenklich  für  echt 
genommen  (bei  Lavisse,  Hist,  de  France  111,  1,  p.  107).  Mir 
selbst  ist  es  mit  ihnen  wunderlich  genug  ergangen.  In  meiner 
Abhandlung  über  die  Wechselbriefe  König  Ludwigs  des  Heiligen 
hatte  ich  Veranlassung,  die  bei  Papa  d'Amico  stehenden  Stücke 
für  die  Jahre  1249  ff.  heranzuziehen;  sie  entsprachen  durch- 
aus den  unzweifelhaft  echten  Urkunden  in  den  Layettes  du 
Trisor  des  Charies^);  auch  die  Namen  der  Geldgeber,  wie 
Rossus  Consilii  u.  a.,  fanden  sich  in  diesen  wieder,  was  an 
sich  doch  gewiß  nicht  gegen  ihre  Echtheit  sprechen  konnte. 
Allerdings  werden  diese  Geldgeber  hier  als  Januenses,  in  den 
Layettes  dagegen,  und  unzweifelhaft  richtig,  als  Senenses  be- 
zeichnet. Natürlich  machte  mich  das  zunächst  stutzig.  Wie 
aber  sollte  ein  Fälscher  dazu  kommen,  aus  den  Senenses 
seiner  Vorlage  Januenses   zu   machen!    Vielmehr   nahm    ich 

0  Compte-rendu  des  s^ances  de  la  Comm.  R,  d'hist,  VI 
(Brüssel  1843),  141  f. 

')  Von  C.  mit  Recht  als  für  die  Beurteilung  besonders  wichtig 
veröffentlicht  p.  319  f. 

»)  Conradsche  Jahrbücher  70,  p.  620  A.  1 ;  73,  p.  734  A.  1. 
Papa  d'Amico:  /  titoli  dl  credito  surrogati  della  moneta  p.  203 
A.  2,  p.  365.  Layettes  du  Tresor  des  Chartes  111,  no.  3811,  3823, 
3827,  3948. 


170  Literaturbericht. 

an :  geradeso,  wie  man  notorisch  Florentiner,  Lucchesen  u.  a., 
die  mit  den  Pisanem  nach  Accon  kamen,  selbst  als  Pisaner 
bezeichnete^),  würden  auch  die  mit  den  Genuesen  hinüber- 
gekommenen Binnenländer  vielfach  als  Genuesen  gegolten 
haben.  So  erblickte  ich  gerade  in  diesem  Zuge,  in  dieser 
zunächst  auffallenden  Bezeichnung  der  Sienesen  als  Genuesen 
einen  inneren  Beweis  für  die  Echtheit  jener  Urkunden  bei 
Papa  d'Amico.  Eine  genauere  Untersuchung  der  für  mich 
subjektiv  zunächst  erledigten  Frage  schob  ich  auf,  bis  ich 
einmal  dazu  käme,  die  finanzielle  Seite  der  Kreuzzüge  im 
Zusammenhange  zu  behandeln.  So  hat  mich  erst  das  Buch 
Cartellieris  zu  erneuter  Prüfung  der  Frage  veranlaßt  —  für 
meine  Handelsgeschichte  leider  zu  spät.  Möge  man  es  als 
wissenschaftliche  Sühne  ansehen,  daß  ich  nun  selbst  den 
positiven  Beweis  der  verübten  Fälschung  an  bestimmten  Fällen 
führe.  Ich  sagte  mir,  daß  einem  Fälscher  so  vieler  Urkunden 
bei  der  Datierung  am  ehesten  ein  nachweisbarer  Fehler  unter- 
laufen konnte  und  habe  daraufhin  die  im  Drucke  vorliegenden 
Stücke  der  Sammlung  aus  der  Zeit  des  dritten  Kreuzzuges 
durchgesehen.  Nach  einer  dieser  in  durchaus  üblicherweise 
im  Mai  1191  im  Lager  vor  Accon  ausgestellten  Urkunden  soll 
König  Richard  Löwenherz  mit  seiner  Garantie  für  vier  seiner 
Ritter  eingetreten  sein,  die  bei  dem  Pisaner  Andriolo  Conte 
und  Genossen  ein  binnen  Jahresfrist  im  Betrage  von  120  Mark 
Silber  rückzahlbares  Darlehen  aufgenommen  hatten.  2)  Im 
Mai  1191  aber  war  König  Richard  gar  nicht  vor  Accon,  sondern 
weilte  noch  auf  Cypern. 

In  einer  anderen  mit  besonderen  Details  ausgestatteten 
Urkunde  hat  König  Richard  seinem  Getreuen  Jean  d'Hosmond 
angeblich  versprochen,  seinen  Vater  Hosmond  d'Estouteville, 
der  ihn  enterbt  hatte,  zur  Bezahlung  einer  von  ihm  bei  dem 
Pisaner  Jacobus  de  Jhota  kontrahierten  Schuld  von  100  Pfund 
Silber  zu  zwingen  und  dies  Versprechen  mit  dem  königlichen 
Siegel  beglaubigt.    Die  Urkunde  ist  datiert:  Vor  Accon  1191, 


*)  S.  meine  Handelsgeschichte  der  romanischen  Völker  etc. 
p.  199  f. 

*)  Bei  Papa  d'Amico  1.  c.  358  f.  Actum  in  castris  juxta  Accon 
a.  D,  1191,  mense  maio. 


England.  171 

am  Tage  nach  Pfingsten.^)  Pfingsten  war  aber  in  diesem 
Jahre  am  2.  Juni,  und  erst  am  5.  Juni  ist  König  Richard 
auf  Cypem  in  See  gegangen;  erst  am  8.  Juni  kam  er  vor 
Accon  an.  2) 

Man  sieht,  so  vorsichtig  der  Fälscher  im  allgemeinen 
operiert,  über  den  genaueren  Termin  der  Ankunft  König 
Richards  vor  Accon  war  er  doch  nicht  genügend  unterrichtet. 

Mit  solchen  positiven  Nachweisen  aber  stürzt  das  ganze 
kühne  Gebäude  des  Fälschers  in  sich  zusammen;  ich  glaube 
auch  gar  nicht,  daß  irgendwelches  echte  Stück  unter  der 
ganzen  Sammlung  ist.  Ihre  Beziehung  auf  italienische  Kauf- 
leute, die  nach  C.  (p.  321)  noch  der  Aufklärung  bedarf,  er- 
klärt sich  zur  Genüge  aus  der  Kenntnis,  die  der  Fälscher  von 
zahlreichen  analogen  Originalen  im  Pariser  Archiv  hatte ;  eine 
Beziehung  zur  Banca  di  S.  Giorgio  in  Genua  aber  liegt  über- 
haupt nicht  vor,  vielmehr  nur  der  Versuch,  die  Herkunft  der 
Sammlung  aus  der  Ausplünderung  genuesischer  Archive  zur 
napoleonischen  Zeit  zu  erklären. 

Hervorgehoben  sei  zum  Schlüsse  noch,  daß  C.  diesem 
Bande  eine  ganze  Reihe  von  Nachträgen  und  Berichtigungen 
zu  Bd.  1  beigefügt  hat  (p.  341—348). 

Brieg.  Adolf  Schaute. 

The  Great  Revolt  of  1381,  By  Charles  Oman.  Oxford,  Clarendon 
Press.     1906.    219  S. 

Das  von  Andr6  R6ville  gesammelte  und  von  ihm  nur  teil- 
weise verarbeitete  Quellenmaterial  des  Record  Office  über  die 
gefährliche  Volkserhebung  unter  Richard  IL,  das  nach  dessen 
frühzeitigem  Tode  1898  unter  dem  Titel  ,Le  SouUvement  des 
travailleurs  d'Angleterre  en  1381,  Paris*  mit  einer  Einleitung 
von  Gh.  Petit-Dutaillis  veröffentlicht  wurde,  hat  Professor  Oman 
vom  All  Souls  College  in  Oxford  zu  einer  Monographie  be- 
nutzt, die   als  die   erste  vollständige    aus  amtlichen  Quellen 


*)  Galeries  historiques  du  palais  de  Versailles,  partie  2  (Paris 
1844),  p.  181.  Delley  de  Blancmesnil  (comte  de),  Notices  sur  gueU 
ques  anciens  ttlres  etc.  (Paris  1866),  p.  446.  In  beiden  Werken 
nur  in  Übersetzung  und  Regest. 

«)  S.  Cartellieri  p.  196. 


1 72  Literaturbericht. 

schöpfende  Darstellung  jener  denkwürdigen  Begebenheit  Be- 
achtung verdient.  Zu  den  von  R^ville  aufgefundenen  Ge- 
richtsprotokollen ,  Verzeichnissen  der  konfiszierten  Besitz- 
stücke Verurteilter,  Petitionen  und  Erlassen  kommen  als  Bei- 
gaben des  Verfassers  statistische  Nachweise  über  die  Poll 
Tax,  ferner  eine  gegen  die  massenhaften^  bei  deren  Erhebung 
vorgekommenen  Steuerdefraudationen  gerichtete  königliche  Ver- 
fügungy  sodann  die  Übersetzung  einer  R^ville  noch  unbe- 
kannten Yorker  Chronik  und  endlich  ein  amtlicher  Bericht 
über  den  höchst  auffallenden,  seitens  einiger  Londoner  Bürger 
geübten  Verrat,  durch  den  die  Hauptstadt  den  Aufrührern 
preisgegeben  wurde.  Die  Arbeit  umfaßt  elf  Kapitel,  von  denen 
die  beiden  ersten  die  politischen  und  sozialen  Mißstände  jener 
Zeit  und  die  auf  die  Poll  Tax  bezüglichen  Ereignisse  schildern 
und  das  letzte  die  Ergebnisse  des  Aufstandes  bespricht, 
während  uns  in  den  acht  übrigen  eine  anschauliche,  durch 
eine  Fülle  von  Einzelheiten  belebte  Erzählung  des  Verlaufs 
dieses  kaum  einen  Monat  dauernden  Aufstandes,  seines 
Ausbruchs  in  Kent  und  Essex,  der  Vorgänge  in  London  sowie 
des  Aufruhrs  in  den  übrigen  Grafschaften  bis  zur  Verspren- 
gung  der  letzten  Banden  gegeben  wird. 

Das  geschichtliche  Interesse  knüpft  sich  naturgemäß 
weniger  an  den  Verlauf  als  an  die  Ursachen,  die  Ziele  und 
Ergebnisse  dieses  Aufstandes.  Prof.  0.  verwirft  —  in  Überein- 
stimmung mit  anderen  neueren  Historikern  —  die  namentlich 
von  Th.  Rogers  aufgestellte  Theorie  seines  einseitig  agrari- 
schen Ursprungs.  Danach  sollten  vor  allem  die  Versuche  der 
Gutsherrn,  der  Leutenot  durch  Widerruf  der  schon  fast  durch- 
geführten Aufhebung  der  Frondienste  abzuhelfen,  die  Bauern 
zum  Aufstand  veranlaßt  haben.  Die  in  demselben  beteiligten 
Personen  hatten  sehr  verschiedenartige  Beschwerden.  Neben 
den  seßhaften  Gutsbauern,  deren  persönliche  Dienste  aller- 
dings auf  vielen  Gütern  schon  in  Pachtzins  umgewandelt 
worden  waren,  beteiligten  sich  an  der  Erhebung  auch  große 
Massen  landloser,  also  freier  Arbeiter,  zu  denen  sich  als 
drittes  Hauptelement  die  städtischen  Handwerker  gesellten. 
Für  diese  bildeten  die  sog.  Arbeiterstatuten,  durch  welche  die 
Regierung  der  Steigerung  der  Löhne  durch  eine  amtliche, 
noch  dazu  sehr  niedrig  bemessene   Preisfestsetzung  zu  be- 


England.  173 

gegnen  suchte,  die  Hauptursache,  da  diese  Verordnungen  alle 
Arbeitnehmer  an  der  Ausnutzung  der  für  sie  günstigen  Kon- 
junktur gewaltsam  verhinderte.  Nicht  nur  wurden  Übertreter 
grausam  bestraft,  sondern  auch,  was  besonders  demütigend 
erschien,  unbeschäftigte  Arbeiter  zur  Annahme  von  Dienst- 
verhältnissen gezwungen.  Dieser  unmittelbar  nach  der  großen 
Pest  des  Jahres  1348  erfolgte  Eingriff  des  Staats  in  die 
Lohnbewegung  zugunsten  der  Arbeitgeber  hatte  große  Er- 
bitterung hervorgerufen,  die  sich  schon  während  der  drei  dem 
Aufstand  vorangehenden  Jahrzehnte  in  Gewalttaten  und  Zu- 
sammenrottungen Luft  machte.  Allgemeine  politische  Miß- 
stände, die  schlechten  Erfolge  im  französischen  Kriege  und 
drückende  Steuern,  besonders  die  Poll  Tax,  trugen  um  das 
Jahr  1381  dazu  bei,  den  Unmut  auf  den  höchsten  Punkt  zu 
steigern.  Als  die  Bewegung  weiter  um  sich  griff,  traten  ihr 
auch  mancherlei  andre  unzufriedene  Bevölkerungsgruppen 
bei.  Haß  gegen  die  drückende  Konkurrenz  der  Flamänder, 
sowie  Predigten  der  sogenannten  „armen  Priester*  gegen  den 
Luxus  der  Reichen  trugen  das  ihrige  bei.  Professor  0.  legt 
besonderen  Nachdruck  auf  die  Vielheit  aller  dieser  Ursachen, 
und  warnt  davor,  eine  derselben  unzulässig  zu  verallgemeinern. 
Aber  um  den  symptomatischen  Charakter  des  Aufstandes 
recht  zu  würdigen,  erscheint  es  doch  nötig,  in  dieser  an- 
scheinenden Vielheit  die  wesentliche  Einheit  aufzusuchen. 

Ende  Mai  brach  in  mehreren  Grafschaften  gleichzeitig 
und  unerwartet  der  Aufstand  los.  Diese  überraschende 
Gleichzeitigkeit  will  Professor  0.  nicht  auf  eine  gemeinsame 
Verabredung  zurückführen,  sondern  daraus  erklären,  daß  um 
diese  Zeit  der  König  eine  Kommission  mit  der  Untersuchung 
der  Ergebnisse  der  Poll  Tax  beauftragte;  die  Androhung  von 
Strafen  gegen  die  sehr  zahlreichen  Steuerhinterzieher  sei  die 
unmittelbare  Provokation  der  schon  bis  zur  Siedehitze  ge- 
reizten Arbeiter  zu  einer  gemeinsamen  Erhebung  gewesen. 
Ich  muß  gestehen,  daß  mir  das  Rätsel  dieser  plötzlichen 
riesenhaften  Zusammenrottung  fast  aller  Arbeiter  im  ganzen 
Südosten  des  Königreiches,  ihrer  von  Norden  und  Süden 
nach  der  Hauptstadt  hin  konvergierenden  Fortbewegung  und 
ihres  in  wichtigen  Zügen  gleichartigen  Verhaltens  durch  die 
Verstimmung  über  eine  schwere  Steuerauflage  und  der  Furcht 


174  Literaturbericht. 

vor  Hinterzieliungsstrafen,  auch  selbst  bei  vorhergehenden 
Beschwerden  ungleicher  Art,  nicht  gelöst  erscheint.  Mangels 
vorhandener  Zeugnisse  möchte  ich  aus  inneren  Gründen  an- 
nehmen, daß  durch  die  unkluge  Lohnpolitik  der  Regierung 
sich  unter  den  in  sozialem  Aufstieg  begriffenen  Massen  aller 
Handarbeiter  ein  starkes  Gefühl  der  Zusammengehörig- 
keit entwickelt  hatte  und  dieses,  erstarkt  an  den  im  Laufe 
der  vorangehenden  Jahrzehnte  wiederholt  ausgebrochenen  ört- 
lichen Arbeiterverschwörungen ,  allmählich  ein  allgemeines 
Einverständnis  über  die  Notwendigkeit  einer  Massenerhebung 
hervorgerufen  hatte,  welche  dann  schnell  nach  einem  ge- 
wissen, wenigstens  Essex  und  Kent  umfassenden  Plan  ins 
Werk  gesetzt  wurde.  Auf  die  Poll  Tax  wird  im  weiteren  Ver- 
lauf der  Bewegung  fast  niemals  mehr  Bezug  genommen,  da- 
gegen enthält  der  Bericht  über  den  Verrat  der  Londoner 
Bürger  an  sich  schon  einen  auf  eine  bestehende  Verabredung 
hindeutenden  Zug,  ebenso  die  wichtige  Angabe,  daß  schon 
14  Tage  vor  der  Ankunft  der  Aufrührer  in  London  Männer 
aus  der  Hauptstadt  die  Losung:  „Nach  London!*  ausgegeben 
hätten.  Wir  dürfen  vielleicht  hiermit  in  Verbindung  bringen, 
daß  Wat  Tyler,  der  Führer  der  Kenter,  wahrscheinlich  aus 
Essex  stammte  und  ferner  darauf  hinweisen,  daß  in  einer 
Predigt  John  Balls  die  Aufrührer  zur  Eintracht  und  Disziplin 
ermahnt  wurden. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  über  die  Organi- 
sation des  Aufstandes,  zumal  nach  Wat  Tylers  Tode,  amt- 
liche Zeugnisse  nur  spärlich  vorhanden  sind;  doch  liegen 
Äußerungen  genug  vor,  um  das  allgemeine  Ziel  desselben 
erkennen  zu  lassen.  Die  Aufrührer  aus  Essex  und  Kent, 
die  unter  dem  Ruf  Jhe  King  and  his  Commons'  nach  London 
zogen,  drohten,  den  König  von  seinen  Ratgebern,  die  sie 
Verräter  nannten,  zu  befreien.  In  diesem  Zuge  tritt  uns  der 
politische,  auf  den  Staat  gerichtete  Charakter  des  Aufstandes 
entgegen,  der  ihn  wesentlich  von  den  deutschen  Bauern- 
kriegen unterscheidet.  Arbeiter,  die  im  Gefühl  der  in  ihrer 
Solidarität  liegenden  Macht  sich  zu  einer  großen  politi- 
schen Aktion  zusammenschlössen,  um  auf  diesem  Wege 
s  o  z  i  a  1  e  Forderungen  durchzusetzen  —  in  diesen  drei  Zügen 
tritt  uns  hier  im  tiefsten  Mittelalter  eine    überraschende  Ana- 


England.  175 

logie  mit  ganz  modernen  Bestrebungen  entgegen.  So  scheint 
auch  G.  Steffen  in  seinen  „Studien  zur  Geschichte  der  eng- 
lischen Lohnarbeiter,  Stuttgart  1901",  und  der  von  ihm  zitierte 
C.  Edm.  Maurice  (Lives  of  English  populär  leaders  in  the 
middle  ages,  London  1875)  die  Bewegung  aufzufassen;  der 
letztere  bezeichnet  die  ganze  Zeit  von  1347  bis  1377  als  Vor- 
bereitung auf  den  Klassenkampf. 

Wie  Professor  0.  den  politischen  Charakter  des  Auf- 
standes unseres  Erachtens  unterschätzt,  scheint  er  auch  den 
sittlichen  und  intellektuellen  Standpunkt  der  Teilnehmer  zu 
verkennen,  die  er  wiederholt  als  ,mob'  kennzeichnet.  Nach 
seiner  eigenen  Darstellung  hielten  sich  die  Aufrührer  aus 
Kent  und  Essex,  wenigstens  bis  zu  ihrer  Ankunft  in  London, 
in  auffallendem  Grade  frei  von  rohen  Mißhandlungen  und 
gemeinen  Verbrechen;  selbst  in  London,  wo  das  hauptstädti- 
sche Bier  und  vielleicht  auch  das  Vorbild  der  hauptstädtischen 
Kameraden  ihre  Haltung  verschlechterte,  zogen  sie  einen  Ge- 
nossen, der  Diebstahl  beging,  unter  Berufung  auf  die  Heilig- 
keit ihrer  Sache  zu  strenger  Rechenschaft.  Ihr  Haß  rich- 
tete sich  gegen  die  Vertreter  der  Regierung  und  gegen 
Beamte,  an  denen  sie  durch  Enthauptung  mit  dem  Beil  Straf- 
justiz übten ;  sie  zerstörten  und  durchstöberten  die  Wohnungen 
der  sogenannten  Verräter  und  mißliebigen  Gutsherren  und 
verbrannten  alle  Dokumente,  deren  sie  habhaft  werden  konn- 
ten. Daß  sie  plünderten,  müssen  wir  natürlich  finden,  da 
eine  so  große  Menschenmenge  auf  dem  Marsch  ohne  Plün- 
derung nicht  leben  konnte.  So  stehen  diese  Aufrührer  hoch 
über  den  deutschen  Bauern,  die  die  Not  und  Verzweiflung 
antrieb,  an  ihren  unmittelbaren  Herren  bestialische  Rache  zu 
nehmen,  während  ihnen  der  Staatsbegriff  fast  völlig  fremd 
war.  Die  Haltung  der  Massen  gestattet  einen  Rückschluß  auf 
die  Führer,  denen  die  Bewahrung  der  Disziplin  und  Eintracht 
zum  Verdienst  angerechnet  werden  muß.  Es  ist  befremdlich, 
daß  Professor  0.,  ohne  durch  bestimmte  geschichtliche  Zeug- 
nisse dazu  befugt  zu  sein,  ihn  als  eigensüchtigen,  großmäu- 
ligen Abenteurer  mit  etwas  militärischer  Erfahrung  hinstellt. 
Wenn  die  Geschichte  das  Weltgericht  ist,  so  ziemt  es  dem 
Historiker,  ganz  besonders  gegen  die  unterlegenen  Parteien 
vergangener    Zeiten     seines     Richteramtes    unparteiisch    zu 


176  Literaturbericht. 

walten.  Wir  werden  daher  weder  den  Männern,  von  denen 
viele  ihr  Wagnis  mit  Gefängnis,  Verstümmelung  und  Galgen, 
alle  aber  mit  schmerzlicher  Enttäuschung  büßen  mußten,  noch 
ihrem  freigewählten  Führer,  dessen  Ermordung  ihn  verhin- 
derte, seinen  Plan  durchzuführen,  die  verspätete  Anerkennung 
versagen  dürfen,  daß  sie  opfermütig  für  eine  große  Sache 
kämpften  und  litten.  Professor  0.  macht  Wat  Tyler  sein 
freches  Gebahren  vor  dem  König  in  Smithfield  zum  Vorwurf. 
Aber  war  nicht  des  Königs  schnelle  Nachgiebigkeit  in  Mile 
End  nur  ein  hinterlistiger  Betrug,  durch  den  er  die  königstreu 
gesinnten  Arbeitermassen  um  den  Erfolg  ihres  Unternehmens 
zu  bringen  gedachte?  Wenn  nun  Wat  Tyler  das  Spiel  durch- 
schaute und  es  darauf  anlegte,  einen  Streit  anzufangen,  um 
sich  der  Person  des  Königs  zu  bemächtigen?  Dies  letztere 
war  das  Ziel,  das,  nach  dem  von  Jack  Straw  vor  seiner  Hin- 
richtung abgelegten  Bekenntnis,  die  Führer  in  London  verab- 
redet hatten.  Und  hatte  Wat  Tyler  zu  einem  solchen  Vor- 
gehen weniger  Recht  als  später  CromweU,  der  seinen  König 
hinrichten  ließ? 

Bezüglich  des  Ergebnisses  des  Aufstandes  hatten  Stubbs 
und  Rogers  die  Anschauung  vertreten,  daß  zwar  der  Aufruhr 
niedergeschlagen  worden  sei,  aber  dennoch  durch  ihn  die 
Hörigkeit  in  England  den  Todesstoß  erhielt.  Demgegenüber 
weist  Professor  0.  darauf  hin,  daß  nach  neueren  Detail- 
forschungen Streitigkeiten  zwischen  Gutsherrn  und  ihren 
Bauern  auch  noch  im  folgenden  Jahrzehnt  sehr  häufig  waren  und 
daß  das  Parlament  in  dieser  Zeit  reaktionäre  Tendenzen  zeigte. 
Mag  somit  nun  auch  der  Aufstand  keinen  unmittelbaren  Erfolg 
gehabt  haben,  so  mußte  er  doch  immer  den  herrschenden 
Klassen  als  Warnung  vor  Augen  stehen  und  zur  Vorsicht 
mahnen.  Die  Ratlosigkeit  der  Ordnungsparteien  während  des 
Aufstandes,  dem  eigentlich  außer  dem  jungen  König  nur  der 
Bürgermeister  Walworth  und  der  streitbare  Bischof  von  Nor- 
wich  tatkräftig  entgegentrat,  zeigt  uns,  daß  ein  genügender 
Schutz  gegen  eine  allgemeine  Volkserhebung  damals  nicht 
bestand;  umsomehr  mußte  man  die  Wiederkehr  einer  solchen 
durch  Vermeidung  von  Streitigkeiten  verhindern.  Tatsäch- 
lich wandten  sich,  um  Arbeitskräfte  zu  sparen,  viele 
Gutsherrn  vom  Ackerbau  zur  Viehzucht  und  Wollproduktion, 


England.  177 

auch  nahm  die  Umwandlung  der  Frondienste  in  Pachtzins 
ihren  Fortgang,  so  daß  am  Schluß  des  14.  Jahrhunderts  die 
Hörigkeit  in  England  fast  ein  toter  Buchstabe  war.  Die  eng- 
lischen Bauern  gewannen  im  Laufe  des  15.  Jahrhunderts  mehr 
und  mehr  Einfluß  auf  das  nationale  Leben,  ihnen  verdankt 
England  den  Sieg  bei  Azincourt.  In  der  nKlageschriff"  Jack 
Cades  vom  Jahre  1450  finden  die  Frondienste  keine  Er- 
wähnung. 

Gr.-Lichterfelde.  Parow. 


Oliver  Cromwell.  Von  Samuel  Rawson  Gardiner.  Übersetzung 
von  E.  Kirchner.  Mit  einem  Vorwort  von  A.  Stern.  Mün- 
chen und  Berlin,  R.  Oldenbourg.  1903.  VI  u.  228  S.  (Histo- 
rische Bibliothek.   XVII.) 

Die  Gelehrtenwelt  kennt  zur  Genüge  die  Bedeutung  von 
Rawson  Gardiners  Lebenswerk.  Es  war  der  Erforschung 
der  englischen  Geschichte  eines  halben  Jahrhunderts  gewid- 
met. Das  gesamte,  in  britischen  Landen  erreichbare,  ge- 
druckte und  handschriftliche  Material,  dazu  in  erheblicher 
Menge  die  Schätze  fremder  Archive,  sind  von  dem  Autor 
durchforscht,  gesichtet  und  kritisch  verarbeitet  worden.  Er 
hat  sein  Vaterland  durchreist  und  ist  über  die  Schlachtfelder 
des  Bürgerkrieges  gewandert.  So  hat  er,  mit  einer  wissen- 
schaftlichen Rüstung  angetan,  wie  keiner  vor  ihm,  seine  Auf- 
gabe gelöst,  langsam  fortschreitend,  in  jedem  seiner  Bände 
die  Geschichte  nur  weniger  Jahre  behandelnd.  In  diesem 
unvergleichlich  soliden  Aufbau  liegt  die  Größe  des  Werkes, 
welches  sich  nun  über  den  gesamten  Zeitraum  vom  Tode 
Elisabeths  bis  zur  Höhe  des  Protektorats  erstreckt.  Denn 
ehe  die  Erzählung  bis  zur  Restauration  geführt  worden  war^ 
hat  der  Tod  dem  unermüdlichen  Arbeiter  die  Feder  aus  der 
Hand  genommen. 

Die  Gardinerschen  Werke  werden  ihren  Ruhm  behaupten 
ebenso  sehr  als  Denkmal  eines  ungeheuren  Gelehrtenfleißes, 
wie  als  das  unentbehrliche  Mittel  der  Belehrung  über  die 
Periode,  welcher  sie  gewidmet  sind.  In  Deutschland  haben 
sie  einen  größeren  Leserkreis  wohl  kaum  gefunden,  vielleicht 
weil   über   der  gewissenhaften  Untersuchung    und    Erzählung 

Hittoritcbe  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  12 


1 78  [Literaturbericht. 

der  Einzelereignisse  der  Überblick  über  die  Gesamtentwick- 
lung nicht  immer  leicht  festzuhalten  ist,  auch  weil  die  ab- 
schließenden Urteile  über  Personen  und  Dinge  zu  selten  auf- 
treten, überhaupt  —  bei  aller  Anerkennung  sei  es  gesagt  — 
weil  Gardiners  Arbeiten,  von  der  künstlerichen  Seite  betrachtet, 
mit  so  manchem  anderen  englischen  Geschichtswerke  des 
19.  Jahrhunderts  —  man  denke  an  Macaulay  und  Carlyle, 
oder  auch  nur  an  Freeman  und  Froude  —  doch  nicht  ganz 
wetteifern  können.  An  wissenschaftlichem  Wert  aber  werden 
sie  sicherlich  von  keinem  der  ebengenannten  Autoren  über- 
troffen. 

Nun  hat  aber  Gardiner  noch  eine  einbändige  Biographie 
Cromwells  verfaßt,  welche,  mit  prächtigen  Portraits  geschmückt, 
zuerst  1899,  300  Jahre  nach  Cromwells  Geburt,  dann  noch 
einmal  in  einfacherer  Ausstattung  erschien.  Man  kann  es 
nur  mit  Genugtuung  begrüßen,  daß  die  Redaktion  der  H.  Z. 
der  deutschen  Übersetzung  dieses  Buches  einen  Platz  in 
ihrer  „Historischen  Bibliothek*  gegönnt  hat. 

Was  hier  vorliegt,  ist  in  biographischer  Anordnung  eine 
knappe  Zusammenfassung  des  ungeheuren,  in  Gardiners 
Werken  über  die  englische  Revolutionsepoche  enthaltenen 
Stoffes. 

Inbezug  auf  die  mitgeteilten  Tatsachen  wird  einem  solchen 
Autor  gegenüber  die  Kritik  wenig  zu  sagen  haben.  Sie  darf 
sich  höchstens  unterfangen,  über  die  Gruppierung  des  Stoffes, 
über  Auffassung  u.  dgl.  zu  reden. 

Gardiner  stellt,  ohne  gerade  die  anderen  Seiten  seines 
Themas  zu  vernachlässigen,  die  eigentlich  konstitutionelle  Frage 
in  Cromwells  Leben  scharf  in  den  Vordergrund.  Er  findet 
(S.  84,  85)  das  konstitutionelle  Problem,  wie  es  1689  gelöst 
ward,  schon  durch  Cromwell  einmal  in  aller  Schärfe  formu- 
liert. Er  sieht  auf  der  einen  Seite  Cromwells  Bestreben,  streng 
auf  dem  Wege  des  Gesetzes  zu  wandeln,  auf  der  andern  die 
übermächtige  Notwendigkeit,  das  Schicksal  des  Landes  immer 
wieder  in  die  Hände  des  Heeres  zu  legen,  d.  h.  der  militäri- 
schen Gewalt  ihren  Willen  zu  tun.  Gardiner  sieht  in  diesem 
Gegensatze,  in  der  Unmöglichkeit,  die  militärischen  Politiker 
auf  die  Dauer  in  Schach  zu  halten,  „die  Tragik,  die  erhabene 
Tragik*  von  Cromwells  späterer  Laufbahn. 


England.  179 

Indem  nun  die  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  besonders 
wichtigen  Epochen  und  Entscheidungen  in  Cromweils  Lauf- 
bahn, sein  Auftreten  im  langen  Parlament,  besonders  die  Ver- 
handlungen des  Armeerates  im  Jahre  1647,  sowie  Cromweils 
Stellung  zu  seinen  eigenen  Parlamenten  ausführlich  gewür- 
digt werden,  tritt  die  Behandlung  anderer  Fragen  naturgemäß 
etwas  in  den  Hintergrund.  Dies  gilt  sogar  von  der  Krieg- 
führung Cromweils,  wobei  seine  militärischen  Eigenschaften 
vielleicht  noch  vorsichtiger  gewürdigt  werden,  als  es  in  den 
früheren  Werken  Gardiners  geschehen  war.  Man  ist  ein  wenig 
überrascht,  das  Urteil  zu  vernehmen,  daß  Cromwell  zuerst 
im  Jahre  1651,  also  just  am  Ende  seiner  militärischen  Lauf- 
bahn, strategisches  Können  bewiesen  habe.  Dementsprechend 
wird  z.  B.  der  Feldzug  von  Dunbar  auf  die  Formel  gebracht, 
daß  der  Kampf  sich  zu  Cromweils  Gunsten  entschied,  sobald 
der  Wettbewerb  der  Strategie  sich  in  einen  Wettbewerb  der 
Taktik  verwandelt  habe.  Schon  Firth  {Engl.HisL  Rev.  XV,  175) 
hat  sich  gegen  die  zu  enge  Deutung  des  Begriffes  Strategie 
bei  Gardiner  erklärt,  wie  auch  auf  die  günstiger  lautenden 
Urteile  der  über  Cromwell  handelnden  Militärschriftsteller  hin- 
gewiesen. 

Etwas  zu  kurz  kommt  auch  die  Behandlung  der  eigent- 
lichen Regierung  Cromweils  als  Protektor,  seiner  inneren  und 
auswärtigen  Politik.  Was  insbesondere  die  letztere  betrifft, 
so  war  Gardiner  in  späteren  Jahren  in  seinem  Bestreben,  das 
seit  dem  17.  Jahrhundert  oft  wiederholte  Lob  von  Olivers  aus- 
wärtiger Politik  nicht  zu  übertreiben,  geradezu  zu  einem  recht 
ungünstigen  Urteile  über  diese  gelangt.  Es  läuft  im  Grunde 
auf  den  alten  Vorwurf  hinaus,  daß  das  von  Cromwell  selbst 
häufig  ausgesprochene  Streben  nach  einem  großen  Prote- 
stantenbunde, zum  Schutze  gegen  die  von  den  katholischen 
Mächten  drohende  Gefahr,  ein  grober  Anachronismus  (S.  213) 
gewesen  sei,  und  ferner  auf  die  Erwägung,  daß  die  Finanzen 
des  Protektorats  zu  schwach  waren,  um  eine  so  weitgreifende 
Politik  wie  Oliver  sie  verfolgte,  auf  die  Dauer  unmöglich  zu 
machen.  Ich  habe  in  meiner  Cromwell-Biographie  bereits  den 
Nachweis  versucht,  daß  Cromweils  Politik  am  Ende  doch 
von  politischen  Gesichtspunkten  bestimmt  wurde,  und  daß 
sich   der   religiöse  Gedanke   bei    ihm,    ohne    daß    man    von 

12* 


180  Literaturbericht. 

Heuchelei  reden  kann,  zuletzt  immer  dem  nationalen  Bedürf- 
nisse unterordnete.  Sonst  wäre  auch  der  Eindruck  dieser 
Politik  in  Europa  nicht  ein  so  gewaltiger  gewesen.  (Vgl.  auch 
Firth,  a.  a.  0.) 

Es  läßt  sich  wohl  denken,  daß  Gardiner  seine  herab- 
stimmende Schätzung  der  auswärtigen  Politik  des  Protektors 
selbst  noch  modifiziert  hätte,  wenn  es  ihm  vergönnt  gewesen 
wäre,  seine  Erzählung  bis  zur  Restauration  weiter  zu  führen 
und  den  großen  Unterschied  in  der  europäischen  Stellung 
Englands,  zu  Lebzeiten  und  gleich  nach  dem  Tode  Olivers 
aus  den  Quellen  heraus  zu  entwickeln. 

Freiburg  i.  B.  W.  Michael. 

Geschichte  des  ukrainischen  (ruthenischen)  Volkes.  1.  Bd.:  Ur- 
geschichte des  Landes  und  Volkes.  Anfänge  des  Kijever 
Staates.  Von  M.  HruSevskyj.  Autorisierte  Übersetzung 
aus  der  zweiten  ukrainischen  Ausgabe.  Leipzig,  B.  G.Teubner. 
1906.     XVIII  u.  754  S. 

Das  vorliegende  Werk  kann  in  der  westeuropäischen 
wissenschaftlichen  Literatur  als  das  erste  seit  Engels  Ge- 
schichte der  Ukraine  (1793)  gelten,  das  eine  Gesamtdarstellung 
des  ukrainischen  (kleinrussischen  oder  ruthenischen)  Volkes 
enthält.  Lag  dem  Vf.  schon  wegen  der  Wichtigkeit,  welche 
die  Kenntnis  der  Geschichte  des  ukrainischen  Volkes  an  sich 
besitzt,  daran,  auch  die  geschichtsfreundlichen  Kreise  im 
Deutschen  Reiche  mit  den  Ergebnissen  seiner  Forschungen 
vertraut  zu  machen,  so  bewog  ihn  hierzu  noch  der  Umstand, 
daß  diese  Geschichte,  „wie  überhaupt  die  ganze  wissenschaft- 
liche Literatur  in  ukrainischer  Sprache  in  Rußland  (bis  1904) 
verboten  war*,  und  er  hoffen  durfte,  durch  eine  Ausgabe  in 
deutscher  Sprache  ihr  den  Eingang  nach  Rußland  zu  er- 
zwingen, um  sie  jenen  Kreisen,  für  die  sie  vor  allem  bestimmt 
war,  in  die  Hände  zu  bringen.  Über  den  Plan  und  Inhalt 
des  gesamten  Werkes  geben  die  Ausführungen  auf  den  ersten 
Seiten  Aufschluß:  darnach  enthält  der  größere  Teil  des  vor- 
liegenden ersten  Bandes  die  Grundlagen,  auf  denen  sich  die 
Geschichte  des  ukrainischen  Volkes  aufbaut:  die  Ansiedlung 
auf  seinem  gegenwärtigen  Territorium  und  die  folgenden 
Jahrhunderte,  welche  die  Organisation  des  russischen  Staates 


Osteuropa.  181 

vorbereiten,  die  Bemühungen  der  Kijever  Dynastie,  alle  Teile 
des  ukrainischen  Volkes  zu  einem  einheitlichen  politischen 
Körper  zu  vereinigen  usw.  Diese  Periode  bildet  noch  den 
Inhalt  des  zweiten  und  dritten  Bandes.  Im  14.  Jahrhundert 
gelangen  die  ukrainischen  Länder  teils  an  Polen  teils  an  Lit- 
tauen, und  beginnt  das  Überwiegen  des  westlichen  über  den 
byzantinischen  Einfluß.  Diese  Teile  werden  im  4.  und  5.  Band 
(bis  zu  letzterem,  an  das  Ende  des  16.  Jahrhunderts  reicht 
die  ukrainische  Ausgabe)  dargestellt,  ein  6.  und  7.  Band 
werden  die  Geschichte  bis  auf  die  neueste  Zeit  herabführen. 
Der  vorliegende  1.  Band  bringt  Dinge,  die  man  mit  dem 
Vf.  selbst  als  Prolegomena  bezeichnen  darf:  1.  Einleitende  Be- 
merkungen über  das  Territorium  und  die  Bevölkerungszahl 
des  ukrainischen  Volkes,  seine  Rassen-  und  Sprachzugehörig- 
keit usw.  2.  Das  ukrainische  Territorium  vor  der  slavischen 
Wanderung  mit  einem  Anhang:  die  Bewegung  der  asiatischen 
Stämme  während  der  slavischen  Ansiedlung.  3.  Die  slavi- 
sche  Kolonisation  des  ukrainischen  Territoriums,  gleichfalls 
mit  einem  Anhang:  die  Kolonisationsverluste  im  10.  Jahrhun- 
dert, und  4.  Kultur  und  Lebensweise  der  ukrainischen  Volks- 
stämme seit  den  Zeiten  der  Ansiedlung.  Die  eigentliche 
Geschichte  beginnt  mit  Nr.  5,  S.  374  die  Anfänge  des  Kijever 
Reiches;  es  folgt  6.  Abschluß  des  Ausbaues  dieses  Reiches, 
die  Zeiten  Wladimirs  des  Großen  (bis  1015).  Der  Anhang 
enthält  61.  Beigaben:  prähistorische  und  historische  Erläute- 
rungen, von  denen  Nr.  11  die  slavische  Urheimat,  Nr.  16  die 
rumänische  Frage  (das  Buch  von  Jorga  ist  noch  nicht  ge- 
nannt), Nr.  18  die  gothische  Migration,  Nr.  19  die  Spali  u.  a. 
hervorzuheben  sind;  dann  folgen  zwei  wichtige  Exkurse:  die 
älteste  Kijever  Chronik  und  2.  die  normannische  Theorie. 
Es  ist  bei  dem  uns  knapp  bemessenen  Raum  nicht  möglich, 
auf  die  einzelnen  Partien  dieses  wichtigen  Buches  kritisch 
einzugehen,  wiewohl  viele  Punkte  zu  starkem  Widerspruch 
reizen  dürften.  Als  die  hauptsächlichsten  Punkte  sind  die  zu 
bezeichnen,  mit  denen  sich  die  Exkurse  befassen.  Die  Nor- 
mannentheorie wird  verworfen:  die  Dynastie  Ruriks  ist  eine 
einheimische;  allerdings  erklärt  auch  der  Vf.:  „Ohne  die 
Theorie  der  Chronik  über  den  warägischen  Ursprung  des 
russischen  Staates  und  der  Fürstendynastie  anzunehmen,  muß 


182  Literaturbericht. 

man  eine  große,  wenn  auch  untergeordnete  Bedeutung  der 
warägischen  Truppen  im  Aufbauprozeß  dieses  Reiches  im 
9.  bis  10.  Jahrhundert  anerkennen  usw.*"  S.  408.  Einzelne 
Partien  des  Buches  sind  auch  für  die  Geschichte  der  West- 
slaven wichtig,  z.  B.  S.  500  ff.  Hier  wie  in  den  anderen 
Partien  des  Buches  ist  die  fremde  Literatur  sehr  sorgsam 
herangezogen  worden.  Sehr  angenehm  empfindet  man  die 
Beigabe  einer  Karte  „Osteuropa  in  der  Zeit  der  Formierung 
des  Kijever  Reiches^,  welche  die  Siedlungsplätze  der  ost- 
slavischen  und  benachbarten  Stämme  auf  Grund*  der  ältesten 
Chronik  darstellt.  In  jedem  Fall  darf  man  es  dankbar  be- 
grüßen, daß  dieses  wichtige  Werk  durch  die  (nicht  immer 
ganz  korrekte)  deutsche  Übersetzung  auch  den  deutschen 
Gelehrtenkreisen  zugänglich  gemacht  wurde.  /.  L, 

Mohammed  und  die  Seinen.  Von  H.  Reckendorf,  Professor  an 
der  Universität  Freiburg  i.  B.  Leipzig,  Quelle  6  Meyer. 
1907.     134  S. 

Das  für  weitere  Kreise  bestimmte  Büchlein  gibt  eine  meist 
recht  frisch  und  anschaulich  geschriebene  Darstellung  von 
1.  Mohammeds  Wirksamkeit  (S.  1—22),  2.  Mohammeds  Krie- 
gen (S.  23—53),  3.  Mohammeds  Gefährten  (S.  54—85), 
4.  Staatsoberhaupt  und  Untertanen  (S.  86— 115);  dazu  kommt 
noch  5.  ein  Ausblick  (S.  116—132)  und  6.  ein  Anhang:  Lit- 
teratur  (S.  133—134). 

Der  Vf.  schreibt  ohne  irgendwelche  dogmatische  oder 
religiöse  Voreingenommenheit  und  sucht  der  Person  des 
eigenartigen  Mannes,  der  durch  sein  Wirken  als  Prophet, 
Religionsstifter  und  Staatsmann  einen  so  tiefen  Einschnitt  in 
die  Geschichte  der  Menschheit  gemacht  hat,  in  jeder  Hinsicht 
gerecht  zu  werden;  dies  tritt  besonders  auch  in  der  Charak- 
teristik des  Menschen  Mohammed  auf  S.  93—94  hervor. 
Ebenso  charakterisiert  er  recht  zutreffend  an  mehreren  Stellen 
das  geringe  Interesse,  das  die  arabischen  Beduinen,  christ- 
liche sowohl  wie  islamische,  an  religiösen  Dingen,  genommen 
haben.  Im  5.  Abschnitte  aber  hätte  von  der  Übernahme  der 
griechisch-orientalischen  Zivilisation  durch  die  Araber  die 
Rede  sein  sollen;  was  subjektiv  für  die  Araber  „dringende 
Neuerungen*     (S.    125)    waren,    waren    objektiv    doch    zum 


Orient.  183 

großen  Teile  längst  bestehende  Einrichtungen.  Für  den 
Nichtarabisten  wäre  vielleicht  auch  eine  etwas  schärfere  Defi- 
nition des  Begriffes  „Tradition"  erwünscht  gewesen.  Jeden- 
falls aber  hätte  eine  Definition  des  Wortes  „Islam"  nicht 
fehlen  sollen.  Über  die  rechtlichen  Dinge,  soweit  sie  in 
diesem  Buche  berührt  sind,  zu  urteilen,  muß  ich  Spezial- 
kennem  überlassen. 

Von  Druckfehlern  habe  ich  mir,  um  nicht  aus  der  Übung 
zu  kommen,  etwa  ein  Dutzend  notiert;  es  handelt  sich  aber 
meist  nur  um  Verwechslung  von  n  und  u.  S.  127,  Z.  19 
wird  jeder  leicht  Kuba  in  Kaba  verbessern.  Auf  S.  102,  Z.  10 
von  unten  muß  in  Wehrgeld  das  h  fehlen;  Wergeid  hat  be- 
kanntlich nichts  mit  wehren  zu  tun. 

Straßburg  i.  E.  E.  Littmann. 


Notizen  und  Nachrichten. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  welche  sie  an  dieser 
Stelle  berücksichtigt  wünschen,  uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 


Allgemeines. 

„Neue  Weltanschauung^  nennt  sich  eine  „Gesellschaft 
für  Kulturfortschritt  auf  naturwissenschaftlicher  Grundlage",  die 
unter  gleichem  Titel  auch  eine  neue  Monatschrift  (redigiert  von 
W.  Breitenbach)  begründen  will  (Stuttgart,  Fritz  Lehmann).  Sie 
sei  hier  erwähnt,  weil  sie  ihr  Arbeitsgebiet  auch  auf  Religions- 
und Kulturgeschichte,  Völkerkunde  etc.  erstrecken  will. 

Die  Akademie  zu  Bologna  hat  jetzt  eine  „Classe  di  scienze 
moraW  erhalten,  die  in  eine  historisch  -  philogische  und  eine 
juristische  Sektion  zerfällt  und  jährlich  einen  Band  ^Memorie* 
veröffentlichen  wird.  Aus  den  vorliegenden  ersten  beiden  Heften 
des  ersten  Bandes  erwähnen  wir  eine  Untersuchung  Albinis 
über  den  Liber  Jsottaeus,  eine  humanistische  Gedichtsammlung 
des  15.  Jahrhunderts,  und  von  Gaudenzi:  Lo  svolgimento paral- 
lelo  del  diritto  langobardo  e  del  diritto  romano  a  Ravenna. 

Eine  neue  Zeitschrift,  die  ausschließlich  der  franziskanischen 
Geschichtsforschung  dienen  soll,  hat  der  Minoritenorden  ins  Leben 
gerufen.  Dsls  „Archivum  Franc iscanum  historicum'  wird 
von  dem  Collegium  s,  Bonaventurae  in  Brozzi-Quaracchi  bei 
Florenz  herausgegeben  und  soll  in  Vierteljahresheften  erscheinen 
(Preis  des  Jahrgangs  14  Lire).  Den  Inhalt  der  Zeitschrift  werden 
Veröffentlichungen  von  Quellen  und  Abhandlungen  zur  Geschichte 
des  Franziskanerordens,  Beschreibungen  franziskanischer  Hand- 
schriften, Besprechungen  der  neuen   einschlägigen  Wissenschaft- 


Allgemeines.  185 

liehen  Erscheinungen  und  eine  fortlaufende  franziskanische  Biblio- 
graphie und  Ordenschronik  bilden.  Dem  internationalen  Cha- 
rakter der  Zeitschrift  entsprechend,  ist  den  Mitarbeitern,  wenn 
auch  in  erster  Linie  der  Gebrauch  der  lateinischen  Sprache  ge- 
wünscht wird,  die  Wahl  zwischen  der  französischen,  italienischen, 
englischen,  deutschen  und  spanischen  Sprache  bei  Abfassung 
ihrer  Beiträge  freigestellt.  Das  erste  bisher  erschienene  Viertel- 
jahresheft (208  S.)  macht  einen  recht  günstigen  Eindruck  und 
berechtigt  zu  der  Erwartung,  daß  die  franziskanischen  Studien 
durch  die  neue  Zeitschrift  mannigfache  Förderung  finden  werden. 

Herman  Haupt 

Das  Beiheft  zum  28.  Bande  der  Zeitschr.  f.  Kirchengeschichte 
bringt  die  sorgfältige  „Bibliographie  der  kirchenge- 
schichtlichen Literatur'',  Jahrgang  1906/07.  Einen  „histo- 
risch-pädagogischen Literaturbericht**  über  das  Jahr  1906 
bietet  das  15.  Beiheft  zu  den  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für 
deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte. 

Sehr  verdienstlich  ist  das  Unternehmen  der  „Bibliothek 
wertvoller  Memoiren*,  das  Dr.  Ernst  Schultze  in  Hamburg 
(Gutenbergverlag)  begonnen  hat.  Er  wendet  sich  selbst  aus- 
drücklich mehr  an  den  gebildeten  Laien  als  an  den  Historiker 
von  Fach,  der  von  den  hier  gebotenen  Obersetzungen  doch 
immer  zu  den  Originalen  greifen  müßte.  Aber  auch  der  Histo- 
riker von  Fach  ist  im  Nebenfach  gebildeter  Laie,  der  es  sich  er- 
lauben darf,  Memoirenwerke  aus  ihm  ferner  liegenden  Gebieten 
einmal  in  einer  leicht  zugänglichen  Obersetzung  zu  lesen.  Er- 
schienen sind  bisher  Bd.  1 :  Reisen  Marco  Polos,  bearbeitet  von 
H.  Lemke  (6M.),  Bd.  2:  Bartholomäus  Sastrow  und  Hans  v.  Schwei- 
nichen,  bearbeitet  von  M.  Goos  (5  M.),  Bd.  3:  Aus  der  Dekabristen- 
zeit,  bearbeitet  von  A.  Goldschmidt  (5  M.),  Bd.  4:  Die  Cortezschen 
Berichte  über  die  Eroberung  von  Mexiko,  bearbeitet  von  E.  Schultze 
(6  M.),  Bd.  5:  Graf  Ph.  v.  S^gur,  bearbeitet  von  Kircheisen  (6  M.), 
Bd.  6:  Erinnerungen  aus  dem  indischen  Aufstand  1857,  bearbeitet 
von  El.  Braunholtz  (6  M.).  In  Vorbereitung  sind:  Memoiren  aus 
dem  spanischen  Freiheitskampfe  1808 — 1811  und  die  Erinnerungen 
des  Generals  Gordon  of  Khartum. 

Die  auf  dem  Baseler  Philologentage  gehaltenen  pädagogi- 
schen Vorträge  von  Klein,  Wendland,  Brandl  und  Har- 
nack  sind  unter  dem  Titel  „Universität  und  Schule*  jetzt  ge- 
sammelt erschienen  (Leipzig,  B.  G.  Teubner.  87  S.  1,50  M.). 
Harnack  behandelt  darin  die  Beziehungen  zwischen  Universität 
und    Schule   im   Geschichtsunterricht.     Sein    Wunsch,    daß    auf 


186  Notizen  und  Nachrichten. 

allen  Hochschulen  ein  Kolleg  über  Weltgeschichte  in  zwei  oder 
drei  Semestern  gelesen  werde,  generalisiert  wohl  zu  stark.  Gewiß 
sollte  überall  allgemeine  Geschichte  im  Harnackschen  Sinne  als 
„Geschichte  des  Geistes*  gelesen  werden;  eine  solche  verträgt 
aber  auch  noch  mancherlei  andere  Gewänder  als  die  Uniform  des 
dreisemestrigen  Weltgeschichtskollegs.  Seinen  übrigen  Wünschen 
(mehr  Berücksichtigung  der  römischen  Kaiserzeit  und  Einführung 
in  die  Elemente  der  Quellenkritik  im  Geschichtsunterricht,  Kolleg 
über  Bürgerkunde  an  den  Universitäten)  stimmen  wir  leichter  zu. 

Rudolf  Euckens  Aufsatz  ,L'histoire  et  la  vie"  {Revue  de 
Synth,  hist.  XV,  3)  bezweckt,  den  lebendigen  Zusammenhang 
echter  Geschichtsphilosophie  mit  unserem  Leben  darzulegen, 
worüber  er  in  der  „Kultur  und  Gegenwart*  ausführlicher  ge- 
handelt hat. 

Gustave  Glotz,  der  Nachfolger  Guirauds  an  der  Sorbonne, 
bringt  in  der  Rev,  Internat,  de  l'enseignement  54,  12  „Räflexions 
sur  le  but  de  l'histoire^,  (den  Inhalt  seiner  Einleitungsvorlesung 
über  griechische  Geschichte),  worin  er  sich  als  einen  geläuterten 
Soziologen,  d.  h.  als  einen  maßvollen  Kritiker  gegenüber  dem 
historischen  Gesetz  und  der  vergleichenden  Methode  zeigt.  Wenn 
er  dabei  warnt,  bei  Vergleichen  von  einem  Volk  wahllos  zum 
andern  zu  springen,  so  richtet  sich  diese  verständige  Mahnung 
leider  nicht  nur  an  französische  Forscher.  W,  G. 

Das  gesamte  2.  Heft  des  15.  Bandes  der  Revue  de  Synth,  hist, 
gilt  Deutschland.  And  1er  eröffnet  es  mit  einem  Aufsatz  über 
j^Nietzsche  et  Jacob  Burckhardt" ,  der  vielleicht  nach  dem  Er- 
scheinen von  Bernoullis  Buch  über  Overbeck  mancherlei  Ände- 
rungen erfahren  dürfte ;  R  ^  a  u  weist  Woltmanns  Germanentheorie 
für  Frankreich  als  eine  anthropologische  Paradoxie  zurück; 
Pineau  schildert  die  deutsche  Literatur  am  Ende  des  19.  Jahr- 
hunderts: gDu  naturalisme  au  n^o-romantisme" ;  Lichten- 
berg e  r  zeigt  in  einem  selbständigen  Aufsatz  die  Anschauungen 
Lamprechts  über  die  deutsche  Entwicklung  im  19.  Jahrhundert 
an  und  beschäftigt  sich  in  einem  zweiten  Aufsatz  mit  der  deut- 
schen Musik  im  19.  Jahrhundert,  insbesondere  mit  neuen  Ver- 
öffentlichungen über  Richard  Wagner.  Pagfes  kritisiert  ausführ- 
lich das  Werk  von  Ernest  Denis,  La  fondation  de  VEmpire  Alle- 
mand  (1906),  worin,  bei  allen  Vorzügen,  der  subjektive  Gharakter 
der  Auffassung  und  das  absichtliche  Zurückschieben  einer  rein 
wissenschaftlichen  Anschauung  zum  Prinzip  erhoben  ist,  natur- 
gemäß sofort  mit  dem  Eindringen  moralischer  Urteile,  bei  denen 
übrigens  Deutschland  gut  wegkommt.  —  R^au  zeigt  Lichten- 


Allgemeines.  187 

bergers  Buch  über  ^UAllemagne  moderne,  son  Evolution'  an,  ein 
Buch,  das  mit  vollem  Verständnis,  ja  mit  Vorliebe  für  Deutsch- 
land geschrieben  ist.  —  Benrubi  schildert  auf  Grund  der  „Kultur 
der  Gegenwarf*  die  „Tendances  actuelles  de  la  philosophie  en 
Allemagne" .  —  Auch  alle  kleineren  Notizen  des  Heftes  gelten 
Deutschland.  Die  Freude  über  dieses  starke  Interesse  der  Fran- 
zosen an  unserem  Lande  wird  hoffentlich  nur  die  eine  Wirkung 
haben:  auch  deutsche  Studien  über  Frankreich  immer  neu  zu 
beleben. 

Ernst  Troeltschs  erster  Aufsatz  über  „Die  Soziallehren 
der  christlichen  Kirchen*^  (Arch.  f.  Sozialwiss.  u.  Sozialpol.  26,  1) 
prüft  die  im  Wesen  des  Christentums  liegende,  aus  dem  Evan- 
gelium zu  gewinnende  „soziologische  Idee^,  sowie  deren  Ausbau 
und  Organisation.  Durch  diesen  Aufsatz  unmittelbar  angeregt 
sind  die  Ausführungen  Harnacks  in  den  Preuß.  Jahrbüchern,  April. 

F.  Tönnies  beschließt  im  selben  Hefte  des  Arch.  f.  Sozial- 
wissensch.  den  1.  Teil  seiner  Ausführung  über  „Ethik  und  Sozia- 
lismus^. 

Brandis  Aufsatz  über  „Das  Werden  der  Renaissance",  zu- 
erst in  der  Deutschen  Rundschau  34,  6,  dann  erweitert  als  Göt- 
tinger Kaisergeburtstagsrede  erschienen,  sollte  besser,  wie  es  im 
Texte  denn  auch  geschieht,  das  „Werden  der  Auffassung  von 
der  Renaissance"  heißen,  denn  das  Werden  der  Vorstellungen 
über  dieses  Zeitalter  ist  darin  behandelt  —  eine  willkommene 
Ergänzung  zu  dem,  was  Goetz  in  seiner  Tübinger  Antrittsrede 
über  „Mittelalter  und  Renaissance"  (H.  Z.  98)  gegeben  hat. 

Lacombe  setzt  in  der  Rev,  de  Synth,  hist,  XV,  3  seine 
gNotes  sur  Taine'  fort^  diesmal  „Le  probUme  de  la  Terreur*  be- 
handelnd. 

„Die  Soziologie  Albert  Schäffles"  behandelt  P.  Barth  in 
der  Vierteljahrschr.  f.  Philos.  u.  Soziol.  31,  4,  dabei  als  grundsätz- 
lichen Irrtum  Schäffles  bezeichnend,  daß  er  den  Begriff  der  Gesell- 
schaft als  eines  geistigen  Organismus  nicht  klar  genug  erfaßt  habe. 

In  seiner  Akademierede  auf  den  verstorbenen  J.-A.  Lair 
(1836—1907),  abgedruckt  Bibliothique  de  l'äcole  des  chartes  68,  5/6 
zeichnet  Perrot  das  Bild  eines  weitblickenden,  überaus  tätigen 
Geschäftmannes,  der  in  ergebnisreichen  und  umfassenden  Studien 
zur  mittelalterlichen  und  neueren  Geschichte  Erholung  suchte 
von  arbeitsreichen  Tagen. 

Aus  der  Zeitschrift  für  historische  Waffenkunde  4,  9  ist  ein 
Aufsatz   W.  Erbens,    Zur    Methode    der   waffengeschichtlichen 


188  Literaturbericht. 

Forschung,  hervorzuheben.  Der  Verfasser  verweist  auf  die  Not- 
wendigkeit vergleichender  Heranziehung  der  Museumskataloge 
als  der  einzigen,  wenn  auch  noch  so  lückenhaften,  Nachschlage- 
werke auf  dem  Gebiete  der  Waffenkunde  bei  allen  einschlägigen 
Arbeiten. 

Neue  Bficher:  Asturaro,  La  sociologia:  i  suoi  metodi  e  le 
8ue  scoperte.  Parte  I,  sezione  L  2,  ed,  interamente  rifatta  ed 
ampliata,  (Genova,  Libreria  modema,  5 Lire,)  —  Gerber,  Eng- 
lische Geschichte.  (Leipzig,  Göschen.  0,80  M.)  —  A.  Lang, 
A  history  of  Scotland  from  the  roman  occupation.  VoL  4,  (Lon- 
don, Blackwood.  20  sh.)  —  G.  de  Pascal,  Lettres  sur  l'histoire 
de  France.  Priface  de  P.  BourgeL  T.  L  2.  (Paris,  Nouv.  Libr. 
nationale.)  —  Pf  ister,  Histoire  de  Nancy.  T.3.  (Nancy,  Berger- 
Levrault  S  Cie.)  —  Manno,  Bibliografia  storica  degli statt  della 
monarchia  di  Savoia.  Vol.  VIII.  (Torino,  Fratelli  Boua.)  — 
Brown,  Studies  in  the  history  of  Venice.  2  vols.  (London, 
Murray.  18  sh.)  —  Serrano,  Fuentes  para  la  historia  de  Gas- 
tilla,  por  los  PP.  Benedictinos  de  Silos.  Tomo  II.  (Valladolid, 
Impr.  de  Cuesta.  10  Pes.)  —  Budgä,  The  Egyptian  Sudan,  its 
history  and  monuments.  2  vols.  (London,  Ryl.  42 sh.)  —  Parodi, 
Storia  dei  cavalieri  di  s.  Giovanni  di  Gerusalemme.  (Bari,  La- 
terza  e  figli.) 


Alte  Geschichte. 

Aus  der  Revue  de  V histoire  des  religions  1908,  1  notieren 
wir  A.  M  ort  et:  Du  sacrifice  en  igypte. 

Bei  der  zunehmenden  Bedeutung  der  Papyri  wie  bei  der 
leider  auch  zunehmenden  Zersplitterung  der  Veröffentlichungen 
machen  wir  auf  M.  Z  e  c  h  s  zusammenfassenden  Bericht :  La  pa- 
pyrologie  grecque  in  Bulletin  de  VAcadimie  r.  d'archiologie  de 
Belgique  1907,  5  aufmerksam. 

Lesenswert  und  anregend  ist  die  Arbeit  von  A.  Furt- 
wängler:  Zur  Einführung  in  die  griechische  Kunst  (Deutsche 
Rundschau  1908,  5/6). 

In  den  Neuen  Jahrbüchern  für  das  klassische  Altertum,  Ge- 
schichte und  deutsche  Literatur  und  für  Pädagogik  1908,  3  ver- 
öffentlicht J.  G  e  f  f  c  k  e  n  eine  sehr  lesenswerte  Arbeit  über  Kaiser 
Julianus  und  die  Streitschriften  seiner  Gegner,  worin  er  der  Per- 
sönlichkeit des  Kaisers  im  literarischen  Kampfe  mit  seinen  Gegnern, 
anderseits  dem  Wesen  der  bedeutenderen  Feinde  Julians  gerecht 


Alte  Geschichte.  189 

zu  werden  mit  Glijck  versucht  Dann  weisen  wir  noch  hin  auf 
Fr.  Scbemmel:  Die  Hochschule  von  Konstantinopel  im  4.  Jahr- 
hundert p.  Ch.  n. 

In  den  Mitteilungen  des  Kais.  Deutschen  Archäologischen 
Instituts,  Athen.  Abteilung  32,  4  (1907)  berichtet  F.  Noack:  Die 
Mauern  Athens  über  seine  Ausgrabungen  und  Untersuchungen, 
welche  ungewöhnlich  reich  an  Ertrag  und  Aufschlüssen  aller 
Art  waren.  Weiter  folgt  die  Arbeit  W.  Dörpfelds:  Die  kreti- 
schen Paläste,  welche  sich  im  wesentlichen  gegen  die  Ausfüh- 
rungen von  D.  Mackenzie  wendet. 

Im  Hermes  43,  2  sucht  R.  Laqueur:  Die  literarische  Stel- 
lung des  Anonymus  Argentinensis,  abweichend  von  U.  Wilcken 
zu  beweisen,  daß  der  Anonymus  die  Capitulatio  eines  Buches 
Tte^i  Jfifioad'ivovi  enthält  und  nicht  mehr  als  Epitome  von  Demo- 
sthenes  Schollen  aufzufassen  ist.  Jedenfalls  —  und  das  ist  für 
den  Historiker  die  Hauptsache  —  hat  sich  Wilckens  Kombination 
des  Anonymus  mit  Demosthenes  Rede  gegen  Androtion  glänzend 
bewährt.  Weiter  ist  auf  die  wichtige  Arbeit  0.  Busolts  hinzu- 
weisen: Der  neue  Historiker  und  Xenophon  und  auf  die  kurze 
Miszelle  -von  M.  Holle  au  x:  La  rencontre  d'Hannibal  et  d'An" 
Hochos  le  Grand  ä  äphkse.  Höchst  instruktiv  ist  der  Aufsatz  von 
K.  Holl:  Das  Fortleben  der  Volkssprachen  in  Kleinasien  in  nach- 
christlicher Zeit. 

Aus  dem  Jahrbuch  des  Kais.  Deutschen  Instituts  nebst 
Archäologischen  Anzeiger  1907,  4  notieren  wir  H.  Thiersch: 
Gjölbaschi  und  lykisches  Mutterrecht  und  Ad.  Schulten:  Aus- 
grabungen in  Numantia. 

In  der  Revue  archiologique  1907,  November-Dezember  setzt 
G.  S  e  u  r  e  seine  trefflichen  Forschungen  über  Nicopolis  ad  Istrum. 
itude  historique  et  dpigraphique  fort,  und  zwar  mit  einer  Zu- 
sammenstellung der  nikopolitanischen  Inschriften.  Dann  versucht 
L.  S  i  r  e  t  einen  Essai  sur  la  Chronologie  protohistorique  de  l'Es- 
pagne  zu  geben,  und  zum  Schluß  veröffentlichen  R.  Gagnat  et 
M.  Besnier  ihre  vortreffliche  Revue  des  publications  äpigra- 
phiques  relatives  ä  l'antiquitä  romaine  für  September  bis  De- 
zember 1907. 

In  der  Revue  archiologique  1908,  Januar-Februar  sucht 
S.  Reinach;  Tarpeia  nachzuweisen,  daß  hier  ein  Mythus  aus 
einem  Kultritus  entstanden  ist,  womit  er  wohl  das  Richtige  ge- 
troffen hat.  Weiter  notieren  wir  eine  aus  dem  Nachlaß  von 
Fustel  de  Goulanges  herausgegebene  Vorlesung:  Les  dibuts 
de  l'histoire  de  la  Gaule  und    S.  de  Ricci:  Une  chronique  Ale- 


190  Notizen  und  Nachrichten. 

xandrine  sur  papyrus.  Mit  vielem  Vergnügen  wird  man  O.  Per- 
rots Lettres  de  Grice  lesen. 

Unter  dem  Titel:  ,Divina  Philippica^  zeigt  S.  Reinach 
sehr  fein  den  Einfluß  Ciceros  auf  Lucanus  und  führt  darauf  vor 
allen  Dingen  Lucans  Enthusiasmus  für  Pompeius  zurück  (Revue 
de  Philologie,  de  littirature  et  d'histoire  anciennes  1908,  1). 

Ebenda  veröffentlicht  E.  Cavaignac  eine  Arbeit  sur  les 
variations  du  cens  des  classes  „Soloniennes* , 

In  den  Harvard  Studies  in  classical  philology  18  (1907)  ver- 
öffentlicht A.  S  e  a  r  1  e  Notes  on  the  battle  of  Pharsalus, 

Sehr  interessante  und  an  Ergebnissen  reiche  Studien  zur 
Oberlieferungsgeschichte  der  Römischen  Kaiserurkunde  (von  der 
Zeit  des  Augustus  bis  auf  Justinian)  veröffentlicht  B.  Faß  im 
Archiv  f.  Urkundenforschung  1,  2  (1908). 

M.  Guidi  veröffentlicht  in  den  Rendiconti  della  r,  Acca- 
demia  dei  Lincei,  Classe  di  scienze  morali  1907,  6/8  einen  ßioQ  di 
Costantino,  die  viel  Neues  enthält  und  unsere  Kenntnisse  mehrt. 

In  den  Sitzungsberichten  der  philosophisch-philologischen 
und  der  historischen  Klasse  der  Kgl.  Bayer.  Akademie  der  Wissen- 
schaften 1907,  3  findet  sich  eine  Arbeit  von  J.Friedrich:  Über 
die  kontroversen  Fragen  im  Leben  des  gotischen  Geschicht- 
schreibers Jordanes. 

J.  Declareuil  setzt  seine  schon  angezeigten  Quelques  pro- 
biimes  d'histoire  des  institutions  municipales  au  temps  de  Vem- 
pire  romaine  fort  in  der  Revue  historique  de  droit  franpais  et 
itranger  1908, 1. 

In  der  Neuen  kirchlichen  Zeitschrift  19, 1  (1908)  findet  sich 
die  Fortsetzung  der  schon  angezeigten  Untersuchungen  von  Th. 
Zahn:  Zur  Heimatkunde  des  Evangelisten  Johannes.  3:  Die 
Stadt  Ephraim  11,  54.  Ebendort  beginnt  E.  Nestle  Forschungen 
über:  Die  Eusebianische  Evangeliensynopse  zu  veröffentlichen. 

Im  Expositor  1908,  März  berichtet  J.  R.  Harris  über  The 
present  state  of  the  controversy  over  the  place  and  time  of  the 
hirth  of  Christ. 

Festschrift  zur  49.  Versammlung  Deutscher  Philologen  und 
Schulmänner  in  Basel  im  Jahre  1907.  Basel,  Buchdr.  Em.  Birk- 
häuser,  1907  (aufgedruckt:  Leipzig,  Verlag  Carl  Beck).  15  M.  — 
Diese  gut  ausgestattete  Festschrift  enthält  22  Aufsätze,  von  denen 
hier  nur  diejenigen,  welche  auf  die  alte  Geschichte  Bezug  haben, 
kurz  erwähnt  sein  mögen.  Zunächst  bespricht  Fr.  Münz  er  die 
Komposition  des  Velleius,  der  ja  allerdings  zu  Basel  in  einer  be- 


Alte  Geschichte.  191 

sonderen  Beziehung  steht,  weil  er  dort  ans  Licht  gezogen  und 
zuerst  gedruckt  wurde.  Schon  damals  wurde  sein  Wert  für 
Deutschlands  älteste  Geschichte  voll  gewürdigt,  und  das  ist  auch 
heute  nicht  anders.  Was  aber  Münzer  anstrebt,  in  seine  Arbeits- 
weise uns  einen  Blick  tun  zu  lassen  und  auf  die  Quellen  auf- 
merksam zu  machen,  welche  er  benutzte,  ist  ihm  wohlgelungen; 
sein  Urteil:  Velleius  hat  viel  von  der  Art  und  Unart  des  mittel- 
mäßigen Journalisten  ist  gut  begründet.  Was  hier  von  der  Auf- 
lösung der  Geschichtschreibung  in  einzelne  Biographien,  von 
derartigen  Biographiensammlungen  und  weiter  von  der  Art  und 
Weise,  wie  Velleius  sie  ausschrieb,  gesagt  wird,  gibt  der  Münzer- 
schen  Arbeit  ihren  Wert.  Auch  Fei.  Stachel  in  knüpft  an 
Lokaltradition  an,  wenn  er  in  seiner  Arbeit :  Giceros  Briefwechsel 
mit  Plancus  die  Geschichte  des  Gründers  der  colonia  Raurica 
näher  erforscht.  Man  wird  ihm  mit  Vergnügen  zugeben,  daß 
seine  Interpretation  des  Briefwechsels  scharfsinnig  ist  und  zur 
Aufhellung  der  Geschichte  des  Jahres  43  n.  Chr.  wesentlich  bei- 
trägt. Damit  ist  auch  gesagt,  daß  er  in  einigen  Punkten  das 
Bild  vom  Lebensgange  dieses  Mannes  schärfer  und  sorgfältiger 
gezeichnet  hat  als  E.  Jullien.  Weiter  sei  hingewiesen  auf  K.Joe  1: 
Zur  Entstehung  von  Piatons  „Staat**  und  A.  Körte:  Der  Kothurn 
im  5.  Jahrhundert,   Arbeiten,   welche  vielfache  Anregung  bieten. 

Br. 
Im  Verlage  von  W.  Rothschild,  Berlin  ist  eine  deutsche 
Obersetzung  von  Fustel  deCoulanges  CiU  antique  erschienen 
(„Der  antike  Staat,  Studien  über  Kultus,  Recht  und  Einrichtungen 
Griechenlands  und  Roms.  Autorisierte  Obersetzung  von  Paul 
Weiß.  Mit  einem  Begleitwort  von  Heinr.  Schenkl.  1907.  XI 
u.  476  S.).  Diese  Obersetzung  kann  als  ein  Wagnis  erscheinen, 
einmal  weil  sie,  obgleich  gewandt  und  lesbar,  doch  den  literari- 
schen Reiz  des  Originals  nicht  erreichen  kann,  und  dann,  weil 
der  Leser  eine  Naivität  in  der  Benutzung  der  antiken  Quellen  oft 
in  Kauf  nehmen  muß,  die  man  heute  keinem  Anfänger  verzeiht. 
Dennoch  wünschen  wir,  daß  die  Obersetzung  dem  Buche  neue 
Freunde  gewinne,  denn  es  gehört  zu  denen,  wo  die  geistige 
Kraft  und  die  historische  Intuition  des  Autors  durch  alle  Irrtümer 
und  Fehlmethoden  hindurch  zu  fruchtbarer  Erkenntnis  gelangt. 
Es  ist  bekanntlich  das  Verdienst  des  1864  zuerst  erschienenen 
Buches,  die  tiefen  Wirkungen  der  primitiven  Religion  der  Antike, 
des  Ahnenkultus  und  der  Religion  des  häuslichen  Herdes  durch 
alle  Gebiete  des  antiken  Lebens  zu  verfolgen,  mit  jener  unbeirr- 
baren und  starren  Konsequenz  freilich  zugleich,  wie  sie  der  fran- 
zösische esprit  ä  systime,  wenn  er  ein  neues  Erkenntnismittel  in 


192  Notizen  und  Nachrichten. 

die  Hand  bekommt,  leicht  entwickelt.  Aber  Werke  dieser  Art, 
gemischt  aus  starken  Irrtümern  und  starken  Wahrheiten  und  doch 
dabei  aus  einem  Guß,  üben  einen  unverwüstlichen  Reiz  aus. 

Neue  Bficher :  Chronicles  concerning  early  Babylonian  kings, 
including  records  of  the  early  history  of  the  Kassites  and  the 
country  of  the  sea,  ed.  by  L,  W.  King.  Vol.  1.2.  (London,  Luzac 
S  Co.  8,6  sh.)  —  Francotte,  La  polis  grecque.  Recherches  sur 
la  formation  et  V Organisation  des  citäs,  des  ligues  et  des  con- 
fädärations  dans  la  Grice  ancienne.  (Paderborn,  Schöningh. 
6,60 M.)  —  Hans  Weber,  Attisches  Prozeßrecht  in  den  attischen 
Seebundsstaaten.  (Paderborn,  Schöningh.  2  M.)  —  Holmes, 
Ancient  Britain  and  the  Invasion  of  Julius  Caesar.  (Oxford, 
Clarendon  Press.    20  sh.) 

RSmisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

Eine  ausführliche  Beschreibung  und  Darstellung  des  großen 
römischen  Friedhofs  in  Regensburg  nebst  Besprechung  seiner 
Gefäße  und  Fibeln  gibt  H.  Lamprecht  in  Verhandlungen  des 
Historischen  Vereins  von  Oberpfalz  und   Regensburg  58  (1907). 

Zwei  Aufsätze  von  A.  Riese  in  der  Westdeutschen  Zeit- 
schrift 26,3  gelten  einem  Offizier  Kaiser  Domitians,  L.  Appius 
Norbanus  Maximus,  und  den  sog.  Juppiter-  oder  Gigantensäulen 
Aus  dem  Korrespondenzblatt  der  Westdeutschen  Zeitschrift  26, 
9—12  (den  letzten  unter  diesem  Titel  erscheinenden  Heften) 
notieren  wir  die  Berichte  von  J.  Grünenwald  über  den  Fund 
eines  Torso  togatus  im  pfälzischen  Landstuhl,  von  G.  Kro- 
patschek  über  Ausgrabungen  im  Römerlager  von  Oberraden 
(es  ist  augusteischen  Ursprungs,  war  für  längere  Dauer  befestigt 
und  kann  sich  an  Festigkeit  mit  dem  zu  Haltern  messen),  von 
F.  Koepp  über  ein  angebliches  Römerlager  beim  westfälischen 
Niederenne,  das  sich  in  Wahrheit  als  ein  viel  jüngeres  Gräberfeld 
herausstellte.  W.  Vollgraff  handelt  über  Vechten  und  die 
Fossa  Drusiana,  F.  K  o  e  p  p  über  die  Ausgrabungen  bei  Haltern 
im  Jahre  1907,  H.  Lehner  über  solche  zu  Xanten;  Körb  er 
endlich  teilt  römische  und  frühmittelalterliche  Inschriften  aus 
Mainz  mit.  In  den  Bonner  Jahrbüchern  116  bespricht  F.  Gramer 
alte  Befestigungsanlagen  zu  Kinzweiler  bei  Eschweiier.  Die 
Deutsche  Literaturzeitung  1908,  Nr.  6  und  9  berichtet  über  die 
Aufdeckung  eines  merowingischen  Friedhofs  bei  Haine-St.  Paul  in 
Belgien,  des  weiteren  über  einen  reichen  Fund  von  Trierer  und 
Metzer  Münzen  zu  Büdlich  bei  Trier.    In  den  Württembergischen 


Frühes  Mittelalter.  193 

Vierteljahrsheften  für  Landesgeschichte  N.  F.  17, 1  stellt  P.  O  ö  ß  I  e  r 
die  im  Württembergischen  während  der  Jahre  1905  bis  1907  ge- 
machten Münzfunde  zusammen.  —  Wir  verzeichnen  gleich  hier 
aus  der  Römischen  Quartalschrift  21,  4  die  Bemerkungen  von  G. 
A.  Weber  über  das  angebliche  Grab  des  hl.  Emmeram  in  Regens- 
burg (vgl.  auch  Studien  und  Mitteilungen  aus  dem  Benediktiner- 
und  Zisterzienserorden  27,  1906),  aus  der  Zeitschrift  für  christliche 
Kunst  27,  11  und  12  einen  Aufsatz  von  J.  Bachem  über  den 
Meister  der  Kreuzigungsgruppe  im  sächsischen  Wechselburg. 

Albrecht  Haupt-  Hannover  behandelt  in  der  neuen  Zeitschr. 
für  Geschichte  der  Architektur  (Heidelberg  1907)  I,  1  und  2  »Die 
äußere  Gestalt  des  Grabmals  Theoderichs  zu  Ravenna  und  die 
germanische  Kunst".  Er  macht  einen  neuen  Rekonstruktions- 
versuch und  betont  —  sicherlich  zu  stark  —  die  germanischen 
Bestandteile  des  Werks  sowohl  in  der  Ornamentik  wie  im  Deck- 
stein. Der  Streit  wird  nie  ganz  geschlichtet  werden,  sondern  auf 
eine  subjektive  Einschätzung  der  verschiedenen  Momente  hinaus- 
kommen. Doch  bringt  Haupt  sehr  viele  und  lehrreiche  Einzel- 
heiten. 

Ein  erster  Aufsatz  von  G.  v.  Bezold  mit  Beiträgen  zur 
Geschichte  des  Bildnisses  bespricht  Bildnisse  römischer  Kaiser, 
aber  auch  germanischer  Herrscher  bis  auf  Ludwig  den  Frommen 
auf  Grund  von  Münzen  im  Besitz  des  Germanischen  National- 
museums (Anzeiger  des  Germanischen  Nationalmuseums  1907, 
1/2,  S.  31  ff.);  vgl.  auch  H.  Omont  in  Atx  Bibliothkque  de  Vicole 
des  Charles  68  (1907),  S.  673  f. 

Seiner  Arbeit  über  die  verzierten  Terra-Sigillatagefäße  von 
Kannstatt  (vgl.  96,  533  und  100,  192.  427  f.)  hat  R.  Knorr  eine 
solche  über  „Die  verzierten  Terra-Sigillatagefäße  von  Rottweil* 
(Stuttgart,  W.  Kohlhammer  1907,  IX,  70  S.  mit  32  Taf.)  folgen 
lassen.  Anlage  und  Ausführung  der  neuen  Veröffentlichung  sind 
dieselben  wie  bei  ihrer  Vorläuferin.  Ihre  klare  Durchsichtigkeit 
ist  nicht  ihr  geringster  Vorzug,  und  die  große  Zahl  der  Tafeln 
veranschaulicht  das  reiche  Material  an  Sigillaten  von  mancherlei 
Herkunft.  Ihre  Beschreibung  ist  ein  neuer  Beitrag  zur  Geschichte 
der  römischen  Keramik. 

Aus  der  Revue  des  questions  historiques  \2,  165  erwähnen 
wir  den  Aufsatz  von  P.  Allard  über  die  Jugend  des  bekannten 
Sidonius  Apollinaris. 

Erwähnt  seien  aus  Tilles  Deutschen  Geschichtsblättern  9,5 
die  Bemerkungen  von  J.  Kretzschmar  über  den  Stadtplan  als 
Geschichtsquelle;  zur  Literatur  mag  nachgetragen  werden  der 
Historische  ZeiUclirilt  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  13 


194  Notizen  und  Nachrichten. 

Aufsatz  von  Borck  in  der  Altpreußischen  Monatsschrift,  Bd.  31 
und  32  (1894  und  1895). 

G.  Schnürer   verteidigt    im   Historischen   Jahrbuch   29,   1 

5.  530  ff.  seine  und  Ulivis  Behandlung  und  Ausgabe  des  Frag- 
mentum  Fantuzzianum  (vgl.  99,  664  f.)  gegen  die  Vorwürfe,  die 
J.  Hai  1er  in  der  Theologischen  Literaturzeitung  1908,  1  gegen 
sie  erhoben  hatte. 

In  der  Vierteijahrschrift  für  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte 

6,  1  behandelt  Kluge  vom  sprachwissenschaftlichen  Standpunkte 
aus  den  Zusammenhang  zwischen  Sippensiedelungen  und  Sippen- 
namen. Er  kommt  zu  dem  negativen  Ergebnis,  daß  ein  solcher 
Zusammenhang  nicht  nachzuweisen  ist,  daß  also  z.  B.  Ortsnamen, 
die  auf  yingen^  enden,  noch  nicht  auf  Sippensiedelungen  schließen 
lassen. 

Wir  verweisen  in  aller  Kürze  auf  den  an  Etymologien  nicht 
armen  Vortrag  von  L.  Wilser  über  Namen  als  Geschichtsquelle, 
dessen  Abdruck  zugleich  einen  Stammbaum  der  bayerischen 
Agilolfinger  enthält  (Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins  56,  2 ; 
vgl.  diese  Zeitschrift  96,  347).  Erwähnt  mag  im  Anschluß  hieran 
die  Miszelle  von  J.  Weiß  sein,  die  sich  mit  Hadrianus  Vaiesius, 
dem  Historiker  aus  der  Zeit  Ludwig  XIV.,  und  der  Frage  nach 
der  Herkunft  der  Bayern  beschäftigt  (Mitteilungen  des  Instituts 
für  österreichische  Geschichtsforschung  29,  1). 

Die  Quellen  und  Forschungen  aus  italienischen  Archiven 
und  Bibliotheken  10,  2  enthalten  mehrere  hier  zu  verzeichnende 
Arbeiten.  A.  Gaudenzi  handelt  über  einen  vielleicht  in  Bobbio 
geschriebenen  Codex  des  11.  oder  12.  Jahrhunderts  mit  der  irischen 
Kanonessammlung  und  den  pseudoisidorischen  Dekretalen;  zu- 
gleich teilt  er  Briefe  von  und  an  Innozenz  III.  aus  dem  Jahre 
1199  betr.  das  Kloster  San  Pietro  in  Olivete  mit.  F.Schneider 
bespricht  acht  mittelgriechische  Urkunden  für  die  Abtei  San 
Filippo  di  Gerace  aus  den  Jahren  1101  bis  1200,  um  damit  die 
Wiedergabe  ihres  Wortlauts  zu  verbinden.  P.  Kehr  endlich  be- 
faßt sich  mit  verschollenen  Papyrusbullen,  veröffentlicht  (S.224f. 
nach  einer  Abschrift,  S.  365  ff.  nach  dem  Original)  eine  Supplik 
des  Abtes  von  San  Lorenzo  di  Coltibuono  an  Kaiser  Otto  IV. 
aus  dem  Jahre  1209  oder  1210,  und  macht  (S.  369  ff.)  eine  bisher 
unbekannte  Urkunde  Heinrichs  VI.  aus  dem  Jahre  1191  für  das 
Kloster  S.  Maria  di  Montepiano  zugänglich. 

Während  M.  J  u  s  s  e  1  i  n  über  die  Tironischen  Noten  der 
Merowingerkönige  berichtet  (Bibliothkque  de  Vdcole  des  chartes  68, 
5/6),  knüpfen  zwei  Studien  von  W.  Erben   (Mitteil,  des  Instituts 


Frühes  Mittelalter.  195 

für  österreichische  Geschichtsforschung  2%  1)  und  G.  See  liger 
(Histor.  Vierteljahrschrift  1908,  1)  an  die  Ergebnisse  der  Unter- 
suchungen von  M.  Tangl  und  H.  Breßlau  (vgl.  100,  430)  an. 
Erben  schlägt  verschiedene  neue  Lesungen  vor;  gleich  ihm  tritt 
namentlich  Seeliger  für  die  Aufrechterhaltung  der  alten  Ansicht 
ein,  daß  erst  in  der  Mitte  des  9.  Jahrhunderts  der  Erzkapellan 
Chef  der  Kanzlei  geworden  sei.  „Für  die  Geschichte  des  Erz- 
amts kommen  als  Gründungsjahre  854  und  860,  für  die  Geschichte 
des  Kanzleramts  868  in  Betracht.** 

Ein  Aufsatz  von  B.  A 1  b  e  r  s  in  den  Studien  und  Mitteilungen 
aus  dem  Benediktiner-  und  Zisterzienserorden  28  (1907)  gilt  der 
Oberlieferung  von  Ludwigs  des  Frommen  Aachener  Capitulare 
aus  dem  Jahre  817. 

Die  dritte  und  letzte  Lieferung  von  E.  Mühlbachers  Be- 
arbeitung der  Regesta  imperii  ist  vor  kurzem  dank  der  un- 
ermüdlichen Fürsorge  von  J.  Lechner  veröffentlicht  und  damit 
ein  Werk  zum  Abschluß  gebracht  worden,  das  unter  den  Bänden 
der  großen  Sammlung  stets  einen  Ehrenplatz  behaupten  wird. 
Ihren  Inhalt  bilden  einmal  den  Schluß  der  Regesten  Konrads  I. 
für  die  Jahre  916  bis  918,  das  Verzeichnis  der  verlorenen  Karo- 
lingerurkunden, deren  Anlage  nach  Empfängern  sich  als  zweck- 
mäßig erweist,  die  Obersicht  der  erhaltenen  Urkunden  nach  Emp- 
fängern, die  der  zitierten  Bücher,  zu  allem  Konkordanztabellen 
und  endlich  Nachträge  und  Berichtigungen,  die  von  der  gleich- 
bleibend intensiven  Beschäftigung  mit  karolingischer  Geschichte 
Zeugnis  ablegen.  Lechner  hat  sich  keine  Mühe  verdrießen  lassen, 
dem  Benutzer  zu  Diensten  zu  sein  und  dem  Werke  Mühlbachers 
den  Charakter  eines  nie  versagenden  Arsenals  aufzudrücken: 
der  Dank  Vieler  ist  ihm  sicher.  Allem  voraufgeschickt  sind 
außer  den  Vorreden  die  historischen,  diplomatischen  und  quellen- 
kritischen Einleitungen  aus  Mühlbachers  Feder;  auch  sie  hat 
Lechner  ergänzt.  Möchte  er  als  der  dazu  Berufene  die  Neu- 
bearbeitung der  Regesten  der  westfränkischen  Karolinger  über- 
nehmen (J.  F.  Böhmer,  Regesta  imperii  I.  Die  Regesten  des 
Kaiserreichs  unter  den  Karolingern  715 — 918.  Neubearbeitet  von 
E.  Mühlbacher.  2.  Aufl.  1.  Band,  3.  Abteilung  besorgt  von  J.  Lechner. 
Innsbruck,  Wagner  1908.  CXXll,  S.  833— 952;  vgL  diese  Zeitschrift 
84,  165  f.  93,  529  f.).  A.  W. 

Die  Zeitschrift  des  Aachener  Geschichtsvereins  29,  S.  68  ff. 
enthält  einen  sehr  breit  angelegten  Aufsatz  von  G.  Buch- 
krem er  über  das  Grab  Karls  des  Großen  im  Aachener  Münster 
(vgl.  91,  155). 

13* 


1%  Notizen  und  Nachrichten. 

M.  Jusselins  Aufsatz  über  die  monogrammatische  Invo- 
kation  in  einigen  Urkunden  Lothars  I.  und  seines  gleichnamigen 
Sohnes  (Le  Moyen  Age  1907,  Nov.-Dez.)   war  uns  unzugänglich. 

Im  Archiv  für  Stenographie  58,  11/12  veröffentlicht  M.  Tan  gl 
den  Text  einer  Messe,  die  in  tironischen  Noten  in  einer  ursprünglich 
Reimser,  jetzt  vatikanischen  Handschrift  des  9.  Jahrhunderts 
überliefert  ist. 

Zur  Geschichte  des  angelsächsischen  Rechts  seien  zwei  Auf- 
sätze von  F.  R  o  e  d  e  r  angemerkt,  der  eine  über  die  Schoß-  oder 
Kniesetzung  als  angelsächsische  Verlobungszeremonie,  der  andere 
über  den  Schatzwurf  als  Formalakt  bei  der  Verlobung  (Nachrichten 
von  der  Kgl.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen,  phil.- 
hist.  Klasse  1907,  3  mit  Faksimile  einer  Handschrift  aus  dem 
11.  Jahrhundert).  Mit  dem  Brautkauf  nach  altalamannischem  Recht 
befaßt  sich  der  Beitrag  von  O.  Opet  zur  Festgabe  der  Kieler 
Juristenfakultät  für  A.  Haenel  (Kiel  und  Leipzig  1908),  S.  215  ff. 

St.  Srkulj  betrachtet  im  Archiv  für  slavische  Philologie 
29,  2/3  ^drei  Fragen  aus  (!)  der  Taufe  des  hl.  Vladimir**  von 
Rußland.  Alleinherrscher  seit  978  habe  er  sich  Ende  987  taufen 
lassen,  um  die  Hand  der  byzantinischen  Prinzessin  Anna  zu  ge- 
winnen, mit  der  er  sich  989  vermählte,  eine  Ehe,  die  zur  Taufe 
des  russischen  Volkes  990,  aber  auch  zur  Bindung  des  russischen 
Herrschers  an  die  byzantinische  Politik  führte.  Sie  ermöglichte 
die  Bekämpfung  der  Bulgaren  durch  Byzanz,  vereitelte  die  der 
Pedenegen  durch  Rußland,  dessen  Organisation  und  Christiani- 
sierung Vladimir  fördern  konnte  (f  1015). 

Die  neue  Schrift  von  A.  Gottlob  (Ablaßentwicklung  und 
Ablaßinhalt  im  11.  Jahrhundert.  Stuttgart,  F.  Enke  1907.  VI, 
68  S.)  setzt  sich  aus  drei  Abschnitten  zusammen,  die  sein  Werk 
über  Kreuzablaß  und  Almosenablaß  (ebd.  1906)  rechtfertigen,  be- 
richtigen und  ergänzen  wollen.  Der  erste  polemisiert  gegen  An- 
zeigen von  N.  Paulus  und  weist  dessen  Meinung  zurück,  daß 
der  Ablaß  von  den  individuellen  Bußermäßigungen  herzuleiten 
seL  Der  zweite  gilt  den  Bußformeln  und  ihrer  Textverwandt- 
schaft, der  dritte  denselben  Formeln  und  dem  Ablaßobjekt.  Das 
wichtigste  Resultat,  daß  der  Kreuzablaß  dem  Almosenablaß  sein 
Dasein  verdankt,  läßt  die  Anfänge  des  Ablasses  in  einem  anderen 
Lichte  erscheinen  als  das  voraufgehende  Buch,  alteriert  aber 
nicht  weiter  seine  Darlegungen  über  die  Geschichte  des  Kreuz- 
ablasses und  die  Gesamtentwicklung  des  Ablaßinstituts.  Ein  An- 
hang bringt  die  Ablaßformeln  des  11.  Jahrhunderts,  soweit  bis 
jetzt    bekannt,    zum   Abdruck.     Nicht    zugänglich    war    uns   der 


Frühes  Mittelalter.  197 

Beitrag  von  A.  M.  Koeniger  über  den  Ursprung  des  Ablasses 
in  den  bei  besonderen  Gelegenheiten  erteilten  bischöflichen 
Generalabsolutionen  von  öffentlicher  Buße  (Festgabe  für  A.  Knöpfler, 
herausgegeben  von  A.  Bigelmair  u.  a.,  München  1907,   S.  167  ff.). 

E.  Hirsch  handelt  im  Archiv  für  katholisches  Kirchenrecht 
88,  1  über  die  Stellung  des  Kardinals  Deusdedit  zur  Frage  der 
Laieninvestitur;  der  Verfasser  selbst  bezeichnet  sie  als  minder 
wichtig,  denn  die  Beurteilung  der  Simonie  und  der  von  simini- 
stischen  oder  schismatischen  Priestern  verwalteten  Sakramente 
durch  jenen  Kardinal  (vgl.  96,  536.  97,  195  f.  99,  195). 

Lokalgeschichtlichen  Inhalts  und  Interesses  ist  der  Aufsatz 
von  J.P.Kirch  über  den  hl.  Bernhard  von  Clairvaux  und  seine 
Wirksamkeit  in  Lothringen  (Histor.  Jahrbuch  29,  1). 

Eine  Studie  von  A.  Hofmeister  sucht  darzutun,  daß  Erz- 
bischof Eberhard  von  Salzburg  im  Jahre  1147  die  Regalien  vor 
der  Weihe  nachsuchte  und  empfing;  die  oft  behandelte  Stelle  in 
der  Chronik  Ottos  von  Freising  (Vll  c.  16)  muß  nicht  erst  nach 
II47  geschrieben  sein  (Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  29,  1). 

Zwei  umfangreiche  Arbeiten  zur  Diplomatik  sind  zu  ver- 
zeichnen. H.  Hirsch  untersucht  die  Urkundenfälschungen  des 
Klosters  Prüfening  bei  Regensburg,  deren  Entstehungszeit  und 
Tendenz  durch  seine  behutsame  und  gleichzeitig  überzeugende 
Beweisführung  aufgedeckt  werden  (mit  4  Lichtdrucktafeln;  Mit- 
teilungen des  Instituts  für  österreichische  Geschichtsforschung 
29,  1).  Nicht  minder  willkommen  ist  die  Studie  von  F.  Salis 
über  Schweriner  Fälschungen,  die  durch  die  Beigabe  einer  Karte 
und  eines  Faksimiles  erhöhten  Wert  erhält  (Archiv  für  Urkunden- 
forschung 1,  2). 

F.  Schillmanns  fleißige  „Beiträge  zum  Urkundenwesen  der 
älteren  Bischöfe  von  Gammln  (1158—1343)**  untersuchen  rund 
500  Urkunden  nach  ihren  Empfängern,  äußeren  wie  inneren  Merk- 
malen, handeln  über  das  Beurkundungsgeschäft,  die  Einflüsse 
fremder  Kanzleien  und  die  Fälschungen,  um  mit  einem  Vergleiche 
des  Camminer  Urkundenwesens  mit  dem  anderer  Bistümer  zu 
schließen.  Von  den  Anhängen  sei  hier  nur  der  mit  den  Regesten 
der  Bischöfe  Arnold  und  Friedrich  (1325—1343)  erwähnt.  Alles 
in  allem  ein  gelungener  Beitrag  zur  Lehre  von  den  mittelalter- 
lichen Privaturkunden,  der  durch  die  Beigabe  zweier  Faksimile- 
tafeln erhöhten  Wert  erhält  (Marburger  Diss.;  Leipzig,  J.  Klink- 
hardt  1907.     116  S.). 

Die  „Untersuchungen  zur  älteren  holsteinischen  Geschichte** 
von   W.  Fricke    (Jenaer  Diss.    1907,  65  S.)   befassen    sich    zu- 


198  Notizen  und  Nachrichten. 

nächst  mit  der  Quellenkritik  der  Chronik  der  nordelbischen 
Sachsen,  in  der  u.  a.  eine  verlorene  Aufzeichnung  über  die  vier 
ersten-  Schaumburger  Grafen  Holsteins  benutzt  sein  soll.  Sie 
wollen  sodann  eine  ebenfalls  verlorene  Lebensbeschreibung  des 
Missionars  Vicelin  erschließen  und  endlich  das  Jahr  1131  als 
Todesjahr  des  Grafen  Adolf  I.  von  Holstein  festlegen;  vgl.  aber 
B.  Schmeidler  im  Neuen  Archiv  33,  561  f. 

Als  neues  Heft  der  Scriptores  rerum  Germanicarum  hat  H. 
Bloch  eine  sorgfältige  Neuausgabe  elsässischer  Annalen  ver- 
öffentlicht. Den  ersten  Teil  bilden  die  Marbacher  Annalen,  die 
sich  aber  ergeben  haben  als  zusammengesetzt  aus  einer  Chronik 
von  Hohenburg  (631—1212),  einer  Neuburger  Fortsetzung  (1213— 
1238  bzw.  1262),  Straßburger  Fortsetzungen  (1308—1375).  An  sie 
schließen  sich  kürzere  elsässische  Annalen  verschiedenen  Ur- 
sprungs und  von  verschiedenem  Umfang,  bis  zur  Mitte  des  14. 
Jahrhunderts  reichend.  Die  Edition  zeichnet  sich  aus  durch  pein- 
liche Akribie  und  den  reichhaltigen  Apparat  erläuternder  An- 
merkungen, des  weiteren  durch  zwei  von  A.  Hofmeister  an- 
gefertigte Register,  die  den  Benutzer  trefflich  unterstützen.  Plan 
und  Inhalt  des  Bandes  legt  die  Einleitung  dar,  deren  lateinische 
Einkleidung  die  Forderung  deutscher  Fassung  aufs  neue  wach- 
werden läßt:  bei  so  verwickelten  quellenkritischen  Fragen  noch 
mühsam  lateinische  Perioden  analysieren  und  übersetzen  zu 
müssen,  ist  recht  hart  {Annales  Marbacenses  qui  dicuntur  [Cro- 
nica  Hohenburgensis  cum  continuatione  et  additamentis  Neobur- 
genslbusj.  Accedunt  Annales  Alsatici  breviores.  Hannover  und 
Leipzig,  Hahn  1907.   XXIH,  167  S.  mit  Faksimiletafel).        A.  W. 

Das  Buch  von  J.  W  i  m  m  e  r  (Deutsches  Pflanzenleben  nach 
Albertus  Magnus  1193—1280)  will  des  Verfassers  Werk  über  die 
Geschichte  des  deutschen  Bodens  (1905)  ergänzen.  Aus  der 
Schrift  de  vegetabilibus  des  gelehrten  Dominikaners  sind  dessen 
Bemerkungen  über  Baum-  und  Strauchformen,  Kräuter-,  Acker- 
und  Wiesenpflanzen,  Wein-  und  Obstgärten  wiederholt,  bald  in 
Übersetzung,  bald  in  kürzenden  Inhaltsangaben,  die  manchen 
lehrreichen  Einblick  auch  in  die  damalige  Kultur  gewähren  (vgl. 
z.  B.  S.  40  f.  über  die  wirtschaftliche  Ausnutzung  der  norddeutschen 
Marschländereien  mit  ihrem  Deichsystem).  Ein  begründetes  Ur- 
teil wird  nur  der  Botaniker  oder  Landwirtschaftler  fällen  können; 
hier  sei  in  Kürze  auf  die  Schrift  deshalb  verwiesen  als  lesens- 
wert für  den,  dem  noch  etwas  Sinn  für  die  Natur  gebüeben  ist 
in  unserem  nicht  immer  schönen  deutschen  Bücherwald  (Halle  a.  S., 
Waisenhaus.  1908.  77  S.). 


Frühes  Mittelalter.  199 

Sehr  interessant  sind  die  Ausführungen  von  W.  Ebstein 
über  den  Scheintod  Ludwigs  des  Heiligen  von  Frankreich  (1244); 
sie  ergänzen  vom  Standpunkt  des  Mediziners  aus  die  Dar- 
legungen von  W.  Meyer  (vgl.  100,  664)  zu  dem  von  ihm  heraus- 
gegebenen Gedichte  (Deutsche  Medizinische  Wochenschrift  1908, 1). 

Hermann  Fischers  Schrift  „Der  hl.  Franziskus  von  Assisi 
während  der  Jahre  1219—1221«  (Freiburg  i.  Schw.  1907.  144  S.) 
schafft  für  diese  wichtigen  drei  Jahre  eine  neue  Chronologie 
(Rückkehr  aus  dem  Orient  schon  Anfang  1220),  betont  den 
scharfen  Gegensatz  des  Heiligen  gegen  wissenschaftliche  Be- 
tätigung im  Minoritenorden,  beleuchtet  das  Verhältnis  zur  Kurie 
und  läßt  in  alle  die  Gegensätze  hineinsehen,  die  Franzens  letzte 
Lebensjahre  verbitterten.  Die  mit  kritischem  Sinne  gearbeitete 
Schrift  wird  jedenfalls  zu  einer  Revision  der  bisherigen  Chronologie 
dieser  Jahre  führen. 

In  einer  kleinen  Schrift  von  16  Seiten  beschäftigt  sich  der 
französische  Franziskusbiograph  Abb^  Le  Monnier  mit  den 
Stigmen  des  hl.  Franz  {Les  stigmates  de  Saint  Franpois.  Paris, 
Dumoulin).  Er  weist  darin  nochmals  Hases  und  Renans  An- 
nahme eines  von  Elias  verübten  Betrugs  zurück,  was  vielleicht 
bei  dem  jetzigen  Stand  der  Meinungen  nicht  mehr  nötig  ge- 
wesen wäre.  Dann  bekämpft  er  die  von  französischen  Medizinern 
vorgetragenen  natürlichen  Erklärungsversuche,  die  —  ob  sie  im 
einzelnen  richtig  sind  oder  nicht  —  uns  doch  jedenfalls  den  Weg 
zur  Aufklärung  zeigen.  Le  Monnier  beharrt  darauf,  daß  es  sich 
um  ein  Wunder  handle,  und  das  kann  man  freilich  leicht  tun, 
wenn  man  erstens  die  Quellenberichte  nicht  scharf  untersucht, 
sondern  Elias,  Celanos  erste  Biographie  und  Bonaventura  gleich- 
wertig nebeneinander  stellt,  und  wenn  man  zweitens  jenen  wissen- 
schaftlichen Drang  nicht  in  sich  spürt,  die  Rätsel  der  Welt  zu 
lösen.  W.  G. 

A.  Warburgs  Aufsatz  über  „Francesco  Sassettis  letztwillige 
Verfügung**  (Kunstwiss.  Beiträge,  Schmarsow  gewidmet,  1907)  ist 
von  doppelter  Bedeutung:  er  zeigt  das  Verhältnis  eines  Floren- 
tiner Kaufmanns  aus  altem  Geschlecht  zu  Christentum  und  An- 
tike, und  ferner  die  Notwendigkeit  historischer  Betrachtung  der 
Kunstwerke  neben  der  ästhetischen  —  denn  Sassettis  Grabmal  in 
S.  Trinitä  in  Florenz  ist  von  Warburg  nur  auf  historischem  Wege 
zur  vollen  Erklärung  gebracht  worden.  Diesen  historischen  Weg 
betont  Warburg  am  Schluße  seiner  Ausführungen;  der  ganze 
Aufsatz  mit  seiner  feinen  Erläuterung  der  von  Warburg  neu  ge- 
fundenen  letztwilligen  Verfügung  Sassettis  von   1488  spricht  für 


200  Notizen  und  Nachrichten. 

die  historische  Anschauungsweise  und  für  den  seelischen  Scharf- 
biiclc  des  Hamburger  Kunsthistorikers. 

Nene  Bficher:  Brutails,  Pixels  d'arcMologie  du  moyen- 
dge,  (Paris,  Picard  et  fils,  6  fr.)  —  Lot,  Milan ges  d'histoire 
bretonne (VI^ — XI^  sUcle).( Paris, Champion,)  —  L.  M.  Hartmann, 
Geschichte  Italiens  im  Mittelalter.  3.  Bd.,  1.  Hälfte.  (Gotha, 
Perthes.  8  M.)  —  Codex  diplomaticus  et  epistolaris  regni  Bohe- 
miae.  Ed.  Gast.  Friedrich.  Tom.  I.  Fase.  II.  (Prag,  ßivnäe. 
20  M.)  —  Heck,  Die  h-iesischen  Standesverhältnisse  in  nach- 
fränkischer Zeit.  Mit  sprachwissenschafU.  Beiträgen  von  Siebs. 
(Tübingen,  Laupp.  6  M.)  —  Biron,  Saint- Pierre  Damien  (1007 
—1072).  (Paris,  Gabalda.)  —  Stevenson,  The  crusaders  in  the 
Fast.  A  trief  history  of  the  wars  of  Islam  with  the  Latins  in 
Syria  during  the  twelfth  and  thirteenth  centuries.  (Cambridge, 
University  Press.  7,6  sh.)  —  Jörgensen,  Der  hl.  Franz  von 
Assisi.  Aus  dem  Dänischen  von  Henriette  Gräfin  Holstein-Ledre- 
borg.  (Kempten,  Kösel.  5  M.)  —  Ott,  Thomas  von  Aquin  und 
das  Mendikantentum.    (Freiburg  i.  B.,  Herder.    2,50  M.) 


Spateres  Mittelalter  (1250—1500). 

Unter  dem  Gesichtspunkt  der  völkerrechtsgeschichtlichen 
Entwicklung  behandelt  F.  Holldack  die  durch  die  kilikischen 
Handelsprivilegien  der  Republiken  Genua  und  Venedig  geschaf- 
fenen Verhältnisse  (Zeitschr.  f.  Völkerrecht  u.  Bundesstaatsrecht 
2,  3  u.  4). 

O.  Redlich  und  A.  E.  Schönbach  haben  in  gemeinsamer 
Arbeit  eine  neuentdeckte  Translatio  s,  Delicianae  des  Gutolf  von 
Heiligenkreuz  herausgegeben  und  genau  untersucht.  Dieselbe 
findet  sich  in  einem  aus  dem  Besitz  des  bekannten  Geschicht- 
schreibers Thomas  Ebendorfer  von  Haselbach  herrührenden 
Legendär,  das  jetzt  in  der  Wilczekschen  Sammlung  auf  Schloß 
Kreuzenstein  bewahrt  wird ;  sie  enthält  nicht  nur  bemerkenswerte 
Nachrichten  aus  der  Zeit  des  Kampfes  zwischen  Rudolf  von 
Habsburg  und  Ottokar  von  Böhmen,  sondern  gibt  den  Verfassern 
auch  zu  der  eingehend  begründeten  Vermutung  Anlaß,  daß  Gutolf 
als  Verfasser  der  sachlich  sehr  wertvollen  Historia  annorum 
1264— 1279  (Mon.  Germ.  SS.  IX)  zu  betrachten  sei  (Sitzungs- 
berichte der  K.  Akademie  d.  Wiss.  in  Wien,  phil.-hist.  Kl.  159.  Bd., 
2.  Abhandl.    Wien,  Holder.    1908.    38  S.). 

Einen  Brief  Friedrichs  des  Freidigen  vom  Jahre  1270,  der 
als  Antwort  auf  eine  Zuschrift  König  Enzios  aufzufassen  is^  hat 


Späteres  Mittelalter.  201 

J.  Werner  im  Neuen  Archiv  d.  Ges.  f.  ä.  dtsch.  Gesch.  33,  2  ver- 
öffentlicht. 

In  der  Vierteljahrschrift  f.  Sozial-  u.  Wirtschaftsgeschichte 
6,  1  beginnt  A.  Schaube  mit  dem  Abdruck  eines  längeren  Auf- 
satzes über  die  Wollausfuhr  Englands  im  Jahre  1273.  Er  wider- 
legt hierin  die  Behauptung  Sombarts,  daß  der  Gesamtexport  der 
englischen  Wolle  für  das  Jahr  1277  sicher  bezeugt  sei,  weist  aber 
darauf  hin,  daß  die  Möglichkeit  der  Berechnung  für  1273  gegeben 
ist,  um  sodann  den  Anteil  der  einzelnen  Handelsvölker  an  dieser 
Ausfuhr  festzustellen.  —  Ebenda  stellt  Joh.  Müller  die  Haupt- 
straßen des  den  größten  Teil  von  Europa  umfassenden  Handels- 
gebiets der  Stadt  Nürnberg  im  späteren  Mittelalter  zusammen. 

Das  von  P.  Wentzcke  in  der  Zeitschrift  f.  d.  Gesch.  des 
Oberrheins  N.  F.  23,  1  veröffentlichte  Ausgabenverzeichnis  der 
Straßburger  Abtei  St.  Stephan  aus  den  Jahren  1276—1297  kommt 
natürlich  in  erster  Linie  für  die  oberrheinischen  Verhältnisse  in 
Betracht,  enthält  aber  auch  einige  ganz  erwünschte  Ergänzungen 
unserer  Kenntnis  von  der  Reichsgeschichte  in  jener  Zeit. 

Interessante  Mitteilungen  über  die  Organisation  des  Post- 
wesens zu  Brügge  macht  für  die  Jahre  1280—1344  L.  Gilliodts 
vanSeveren  in  den  Annales  de  la  SocUti  d'imulation  de 
Bruges  58,  1. 

An  Beiträgen  zur  Geschichte  des  päpstlichen  Kanzleiwesens 
erwähnen  wir  die  Arbeiten  von  P.  M.  Baumgarten,  der  in 
einem  zweiten  Abschnitt  seiner  kleinen  diplomatischen  Beiträge 
(vgl.  100,  434)  die  Registrierungszeichen  der  päpstlichen  Kammer 
behandelt  (Römische  Quartalschrift  1907,4),  und  von  E.  Göller, 
der  mit  seinen  Mitteilungen  über  Konzepte  der  päpstlichen  Sekre- 
täre und  Konzepte  aus  der  Kanzlei  des  Kardinallegaten  Guido 
von  Bologna  die  früheren  Forschungen  in  Einzelheiten  wesentlich  zu 
ergänzen  vermag  (Quellen  u.  Forschungen  aus  Italien.  Archiven 
u.  Bibliotheken  1907,  2). 

Den  vielbesprochenen,  aus  der  Zeit  des  Kampfes  zwischen 
Philipp  dem  Schönen  und  der  Kurie  stammenden  Brief  „Realis 
est  veritas'  hat  ein  Schüler  Finkes,  M.  M  o  s  e  r ,  in  den  Mitteilungen 
des  Instituts  f.  österr.  Geschichte  29,  1  einer  eingehenden  Unter- 
suchung unterzogen  nnd  als  eine  vertrauliche  Bitte  an  den  be- 
kannten Publizisten  Pierre  Dubois  um  Ausarbeitung  eines  als 
Gutachten  und  Verteidigung  gedachten  Schriftstücks  für  den 
König  bezeichnet.  Moser  läßt  das  Schreiben  Ende  April  oder 
Anfang  Mai  1304  entstanden  sein  und   von  einem  Freunde   des 


202  Notizen  und  Nachrichten. 

Königs,  vielleicht  Richard  Leneveu,  später  Bischof  von  B^ziers, 
ausgehen.  —  Was  die  Textgestaltung  anlangt,  so  ist  an  der  be- 
sonders wichtigen  Stelle  S.  66  Z.  4  mit  Recht  das  höchst  auffällige 
^meque*^  beanstandet  worden.  Ich  muß  freilich  gestehen,  daß  ich 
mich  mit  dem  von  Moser  vorgeschlagenen  Ersatz  „regem'  nicht 
befreunden  kann,  da  mir  diese  Verbesserung  zu  gewaltsam  er- 
scheint, und  möchte  statt  dessen  vorschlagen,  die  einfachste 
Lösung,  die  man  sich  denken  kann,  anzunehmen:  ineque  statt 
meque  zu  lesen,  was  durchaus  zu  den  folgenden  Worten  paßt. 

//.  Kaiser 
H.  Prutz'  Artikel:  Ein  neuer  Versuch  zur  Lösung  des 
Templerproblems  ist  eine  Auseinandersetzung  mit  den  neuerdings 
erschienen  Forschungen  von  Heinr.  Finke  (Papsttum  und  Unter- 
gang der  Templer),  dessen  Beweisführung  ihn  von  der  Unschuld 
des  Ordens  nicht  zu  überzeugen  vermocht  hat  (Beilage  zur  All- 
gemeinen Zeitung  1908,  Nr.  36/37).  Finke  antwortet  an  der  gleichen 
Stelle  Nr.  48. 

Zwei  wertvolle  Beiträge  zur  Reichsgeschichte  des  14.  Jahr- 
hunderts sind  aus  dem  Neuen  Archiv  d.  Ges.  f.  ä.  dtsch.  Gesch. 
23,  2  anzumerken.  R.  Lud  icke  zergliedert  die  großen,  von 
Kaiser  Karl  IV.  den  Trierer  Erzbischöfen  erteilten  Sammelprivi- 
legien nach  ihren  ursprünglichen  Bestandteilen  und  stellt  die  im 
Laufe  der  Zeit  eingetretenen  Veränderungen  fest,  während  R.  Sa- 
lomon  ein  bisher  nicht  sonderlich  beachtetes,  von  dem  kur- 
trierischen  Sekretär  Peter  Maier  von  Regensburg  (1481—1542) 
überliefertes  Rechnungs-  und  Reisetagebuch  vom  Hofe  Erzbischof 
Boemunds  II.  von  Trier  aus  den  Jahren  1354 — 1357,  das  nament- 
lich durch  seine  Aufzeichnungen  über  die  Beteiligung  des  Erz- 
bischofs an  den  beiden  großen  Reichstagen  zu  Nürnberg  und 
Metz  von  Wert  ist,  aufs  neue  zum  Abdruck  bringt  und  erläutert. 

Im  Historischen  Jahrbuch  29,  1  bringt  L.  Pfleger  ein  die 
kirchlichen  Zustände  des  14.  Jahrhunderts  in  düsteren  Farben 
schilderndes  Kapitel  aus  der  Vita  Jesu  Christi  des  Karthäusers 
Ludolf  von  Sachsen  zum  Abdruck,  während  N.  P  a  u  1  u  s  in  einem 
Aufsatz  über  die  Rolle  der  Frau  in  der  Geschichte  des  Hexen- 
wahns gegen  die  bekannten  Theorien  von  Riezler  und  Hansen 
zu  Felde  zieht. 

J.  P.  Kirsch  veröffentlicht  in  der  Römischen  Quartalschrift 
1907,  4  den  Vertrag  der  päpstlichen  Bevollmächtigten  mit  dem 
von  ihnen  zur  Unterdrückung  des  Aufstands  im  Kirchenstaat  an- 
geworbenen Söldnerführer  Robert  de  Altavilla  von  Capua  aus 
dem  Jahre  1376. 


Späteres  Mittelalter.  203 

Aus  dem  Archivio  stör,  Lombardo  ser.  quarta,  anno  34,  fasc.  16 
erwähnen  wir  die  mancherlei  ungedrucktes  Material  verwertende 
Arbeit  von  G.  Co  11  in o:  La  preparazione  della  guerra  veneto- 
viscontea  contro  i  Carraresi  nelle  relazioni  diplomatiche  fiorentino- 
bolognesi  col  conte  dl  Virtä  (1388),  die  aus  den  Schriften  des 
Mailänder  Malers  Giov.  Paolo  Lomazzo  geschöpften  Ricordi  della 
vUa  e  delle  opere  di  Leonardo  da  Vinci,  zusammengestellt  von 
E.  Solmi,  und  endlich  die  von  G.  Biscaro  veröffentlichten  Er- 
gänzungen zum  Lebensbild  des  Mailänder  Chronisten  Antonio 
da  Retenate  (ca.  1240—1320). 

Zahlreiche  kleinere  Arbeiten  zur  Geschichte  des  späteren 
Mittelalters,  von  denen  an  dieser  Stelle  nur  die  wichtigsten  nam- 
haft gemacht  werden  können,  bringt  das  von  der  Acadimle  royale 
de  Belglque  herausgegebene  Bulletin  de  la  commlsslon  royale 
d'hlstolre  im  76.  Bande  (1907).  So  gibt  U.  Berlifere  aus  den 
vatikanischen  Registerbänden  neues  Material  zur  Lebensgeschichte 
des  Lütticher  Chronisten  Radulphus  de  Rivo  bekannt,  dessen 
Aufzeichnungen  ja  auch  für  die  Reichsgeschichte  wertvoll  sind, 
während  H.  Nelis  das  Verhältnis  der  Fortsetzung  der  »Bra- 
bantsche  Yeesten"  zu  Edmund  Dynter,  dem  bekannten  burgun- 
dischen  Geschichtschreiber,  untersucht  und  des  letzteren  Einfluß 
auf  diese  anonyme  Fortsetzung  stark  betont.  L.  Verriest  ver- 
öffentlicht einige  in  wirtschaftsgeschichtlicher  Hinsicht  interessante 
Urkunden  des  14.  Jahrhunderts,  und  J.  Cuvelier  handelt  über 
die  Bevölkerungsziffer  von  Brabant  im  Jahre  1374.  Altere  Sta- 
tuten der  Universität  Löwen,  die  der  Zeit  vor  1459  angehören, 
werden  von  R.  van  Hove  zum  Abdruck  gebracht. 

Die  Mitteilungen  des  Vereines  für  Geschichte  d.  Deutschen 
in  Böhmen  1908,  Februar  bringen  den  Anfang  einer  vorläufig  bis 
zum  Ende  des  Jahres  1427  reichenden  Schilderung  aus  der  Feder 
VaL  Schmidts:  Südböhmen  während  der  Hussitenkriege,  die 
ausführlich  bei  den  Taten  des  Ulrich  von  Rosenberg  verweilt. 

Ein  breit  angelegter  Aufsatz  des  verstorbenen  Mor.  Brosch 
schildert  die  41  Jahre  währende  Herrschaft  der  in  den  Albizzi 
verkörperten  florentinischen  Oligarchie  bis  zu  ihrem  Zusammen- 
bruch im  Herbst  1434  und  der  Ablösung  durch  das  Regiment  der 
Medici  (Histor.  Vierteljahrschrift  11,1).      . 

Otto  Meltzing,  Das  Bankhaus  der  Medici  und  seine  Vor- 
läufer. Jena,  Gustav  Fischer.  1906.  X  u.  142  S.  —  Der  Haupt- 
teil dieses  Buches  (zugleich  Heft  6  der  N.  F.  der  Volkswirtsch. 
und  wirtschaftsgeschichtl.  Abhandlungen,  herausgegeben  von  W. 
Stieda)  wird,  dem  Titel  entgegen  und  ohne  daß  der  Sachverhalt 


204  Notizen  und  Nachrichten. 

erwähnt  wird,  von  des  Verfassers  Leipziger  Dissertation :  Floren- 
tinische  Bankhäuser  der  vormediceischen  Zeit  (94  S.)  gebildet; 
nur  auf  sie  bezieht  sich  auch  das  Vorwort.  Gewiß  wird  man 
eine  Dissertation  nachsichtig  beurteilen;  aber  verschwiegen  darf 
doch  nicht  werden,  daß  die  Literatur-  und  Quellenkenntnis  des 
Verfassers  höchst  mangelhaft  ist,  daß  er  z.  B.  die  für  seinen 
Gegenstand  besonders  wichtigen  Abhandlungen  von  W.  E.  Rhodes 
und  von  Whitwell  über  die  italienischen  Bankiers  in  England 
nicht  kennt,  ja  daß  er  von  Werken  wie  P.  Yver,  Le  commerce  et 
les  marchands  dans  l'Italie  m^ridionale  und  sogar  von  der  ge- 
waltigen Bändereihe  der  Calendars  of  the  Patent  Rolls  und  Close 
Rolls,  die  für  ihn  Quellenwerke  ersten  Ranges  hätten  sein  müssen, 
keine  Ahnung  hat.  Ebenso  sind  in  dem  letzten  Drittel  des  Buches, 
das  über  das  Bankhaus  der  Medici  handelt,  u.  a.  die  wichtigen 
Mitteilungen,  die  Sieveking  aus  den  Fragmenten  des  Hauptbuchs 
von  Averardo  de'  Medici  e  comp,  gemacht  hat  (Anzeiger  der 
Wiener  Akademie  d.  Wiss.,  philos.-hist.  Kl.  XXXIX  (1902),  Nr.  25, 
S.  170  ff.),  unbenutzt  geblieben.  Im  übrigen  bietet  die  Arbeit  auch 
in  den  Einzelheiten  zu  zahlreichen  Ausstellungen  Anlaß;  auf  der 
einen  Seite  93  verübt  Verfasser  den  Grammatikalier  „der  er  sich 
mit  Eifer  bemächtigte'',  läßt  Lucca  1315  zerstört  werden  und 
macht  Florenz  zur  Seestadt. 

Brieg.  Adolf  Schaube, 

Unter  dem  Titel:  Ein  mittelalterlicher  Prediger  über  Liebe 
und  Liebeswahn  stellt  H.  Crohns  eine  Reihe  höchst  bemerkens- 
werter Äußerungen  über  den  „amor  hereos^  zusammen,  die  sich 
in  dem  ein  Handbuch  für  den  Seelsorger  darstellenden  Praecep- 
torium  divinae  legis  des  westfälischen  Predigers  Gottschalk 
Hollen  finden  (Öfversigt  af  Finska  VetenskapsSocletetens  För- 
handlingar  XLIX,  1906—1907,  Nr.  14). 

Gh.  P  e  t  i  t  -  D  u  t  a  i  1 1  i  s  handelt  in  Fortführung  seiner  Bd.  100, 
436  erwähnten  Beiträge  zur  Gesittung  der  Niederländer  zu  Aus- 
gang des  Mittelalters  in  längeren  Ausführungen,  zu  denen  die 
Belege  folgen  sollen,  über  Blutrache  und  Familienfehden  {Annales 
de  l'Est  et  du  Nord  1908,  Januar). 

Im   Bulletin    de   la   Sociiti  de  Vhistoire  du  protestantisme 

ranpais  1908,  Januar-Februar  entwirft   A.  Renaudet  ein  sehr 

ausführliches  Lebensbild    von  Jean  Standonk   (geb.  um  die  Mitte 

des    15.  Jahrhunderts,  Leiter  des   Kollegiums   Montaigu),  den   er 

als  „r^formateur  catholique  avant  la  r^ forme'  feiert. 

Die  Bedeutung  des  mittelalterlichen  Heiligenkultus  für  die 
Kunst    wird   von   E.  Male    erörtert   in    einem   Aufsatze:    L'art 


Späteres  Mittelalter.  205 

franfais  de  la  fin  da  mayen-dge  (Revue  des  deux  mondes  1908, 
Februar  1). 

In  fein  abgewogenem  Urteil  behandelt  ein  Vortrag  von 
J.  Wille  Eigenart  und  Bedeutung  des  Humanismus  in  der  Pfalz 
(Zeitschrift  f.  d.  Gesch.  d.  Oberrheins  N.  F.  23,  1).  -  Wir  fügen 
einen  Hinweis  an  auf  den  Vortrag  von  G.  F  i  n  s  1  e  r :  Homer  in 
der  italienischen  Renaissance  (eigentlich  eingebürgert  erst  im 
15.  Jahrhundert)  in  den  Neuen  Jahrbüchern  f.  d.  klass.  Altertum, 
Gesch.  u.  deutsche  Literatur  u.  f.  Pädagogik  21,  3  und  den  Anfang 
eines  anonym  erschienenen  Aufsatzes  über  Nikolaus  von  Cusa 
und  die  Reform  von  Staat  und  Kirche  in  den  Historisch-politischen 
Blättern  141,  5. 

Chaumeix,  La  Renaissance  italienne  et  la  vie  de  socidU 
(Le  Correspondant  80,  4)  bespricht  das  Leben  der  Renaissance 
an  der  Hand  von  E.  Gebharts  Buch  über  Sandro  Botticelli  (1907), 
Rodocanachis  La  femme  italienne  ä  Vipoque  de  la  Renaissance 
(1907),  Hauvettes  Litt^rature  italienne  und  der  2.  Auflage  von 
Schmitts  französischer  Obersetzung  von  Burckhardts  Kultur  der 
Renaissance. 

L.  F  e  b  u  r  e  bespricht  in  der  Revue  de  Synth,  hist.  XV,  3  an 
der  Hand  neu  erschienener  Werke  den  Zusammenhang  Guillaume 
Bud^s  mit  den  Anfängen  des  französischen  Humanismus  {„GuilL 
Budä  et  les  origines  de  l' humanisme  franpais*), 

G.  Mollat,  itudes  et  documents  sur  l'histoire  de  Bretagne, 
XIII^^XVI^  Südes.  Paris,  Champion.  1907.  254  S.  —  Mollat  ver- 
öffentlicht und  erläutert  eine  Reihe  von  Briefen  und  Urkunden 
aus  dem  Vatikan,  die  zumeist  dem  14.  Jahrhundert  angehören  und 
vorwiegend  lokalhistorisches  Interesse  haben.  Von  den  32  kleinen 
Aufsätzen  sei  hier  bloß  auf  Nr.  28  hingewiesen :  Les  ddsastres  de 
la  Guerre  de  Cent-ans  en  Bretagne.  O.  C, 

Neue  Bficher:  Däprez,  Etudes  de  diplomatique  anglaise, 
de  l'avinement  d*idouard  I^r  ä  celui  de  Henri  VII  (1272— 1485). 
I.  (Paris,  Champion.)  —  Gardner ,  Saint  Catherine  of  Siena. 
A  study  in  the  religion,  literature  and  history  of  the  14^^  Century 
in  Italy.  (London^  Dent.  16  sh.)  —  Zeumer,  Die  goldene  Bulle 
Kaiser  Karls  IV.  1.  u.  2.  Tl.  (Weimar,  Böhlaus  Nachf.  13  M.)  — 
France,  Vie  de  Jeanne  d'Arc.  T.  /«^  (Paris,  Calmann-L^vy. 
7,50  fr.)  —  Pontani,  II  diario  romano,  giä  riferito  al  Notaio 
del  Nantiporto  (30  gennaio  I48I  —  25  luglio  1492),  a  cura  di 
D.  Toni.  Fase.  I.  (Cittä  di  Castello,  Lapi.)  —  Garosci,  Mar- 
gherita  di  Navarra  (1492— 1549).    (Torino,  Lattes  e  C.  5  Lire.) 


206  Notizen  und  Nachrichten. 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648). 

Eine  neue  Hexenstudie  von  Nikolaus  Paulus  (vgl.  H.  Z.  100, 
672  u.  675)  bringt  das  Hist.  Jahrbuch  2%  1 :  Die  Rolle  der  Frau  in 
der  Gesch.  des  Hexenwahns.  Der  Aufsatz  sucht  hinsichtlich  der 
Zuspitzung  des  Aberglaubens  auf  das  weibliche  Geschlecht  den 
Hexenhammer  zu  entlasten. 

In  der  Ztschr.  f.  d.  Gesch.  des  Oberrheins  N.  F.  23,  1  setzt 
G.  Bossert  seine  Biographie  von  Theodor  Reysmann  fort  (vgl. 
H.  Z.  100,  441),  indem  er  die  bewegten  Jahre  1534  und  1535  be- 
spricht. 

Ein  sehr  günstiges  Bild  von  dem  großen  Wohlstand  des 
städtischen  Bürgertums  entrollt  das  Testament  eines  Frankfurter 
Großkaufmanns  Jakob  Heller  v.  J.  1519,  das  Friedrich  Bothe  im 
Archiv  f.  Frankfurts  Gesch.  u.  Kunst  3.  F.,  9  veröffentlicht  und 
bespricht,  und  dem  allerhand  kulturhistorisches  Material  zu  ent- 
nehmen ist. 

Was  sich  über  Leben  und  Werke  von  Leonardo  da  Vinci  in 
den  Schriften  des  Giov.  Paolo  Lomazzo  (1538 — 1600)  findet,  wird 
von  Edmondo  Solmi  im  Archivio  storico  Lombardo  4,  16  er- 
schöpfend zusammengestellt. 

Nachdem  ich  den  ersten  Band  des  Bargeschen  Werkes  über 
Karlstadt  hier  angezeigt  hatte  (H.  Z.  96,  471  ff.),  wurde  mir  bei 
dem  Studium  des  zweiten  klar,  daß  für  das,  was  ich  weiter  zu 
sagen  hätte,  eine  bloße  Anzeige  des  Werkes  nicht  ausreichen 
würde.  Aus  meiner  Beschäftigung  mit  dem  ganzen  ist  so  ein 
eigenes  Buch  erwachsen:  „Luther  und  Karlstadt,  Stücke  aus  ihrem 
gegenseitigen  Verhältniß  untersucht.  1907''.  Auf  die  Ausführungen, 
die  Bärge  in  dieser  Zeitschrift  99,  256  ff.  gegeben  hat,  konnte  ich 
noch  im  Vorwort  eingehen.  Ich  möchte  eben  darum  meine  An- 
zeige des  zweiten  Bands  von  Barges  Karlstadt_^auf  diesen  kurzen 
Hinweis  beschränken. 

Tübingen.  Karl  Müller. 

Die   Aufsätze    von   F.  Spitta   über  Herzog  Albrecht    von 
Preußen  als  geistlichen  Liederdichter  (vgl.  H.  Z.  100,  677)  nehmen 
in  den  Heften  2  und  3  der  Monatschrift  f.  Gottesdienst  und  kirchl. 
Kunst  die  eigentliche  Untersuchung  auf  und  weisen  als  älteste  Dich- 
tung des  Herzogs  ein  Marienlied  von  1520,  als  jüngste  ein  Psalmen- 
*ed   von   1564  nach,  ferner  ein   erst  neuerdings  (1885)  aus  dem 
eußischen  Gesangbuch   verschwundenes  Glaubenslied,  das   wir 
•genhändiger  Niederschrift  des  Herzogs  besäßen  (wobei 
»ine  Vergleichung  der  Handschrift  vermißt). 


Reformation  und  Gegenreformation.  207 

Die  Einführung  der  Reformation  in  Troppau,  von  den  ersten 
evangelischen  Regungen  der  20  er  Jahre  bis  1569  (dem  Todesjahre 
des  ersten,  nach  der  Thronbesteigung  Maximilians  II.  berufenen 
protestantischen  Predigers  Martin  Zenkfrei),  behandelt  Josef  Zukal 
im  2.  Jahrg.  der  Zeitschr.  f.  Gesch.  u.  Kulturgesch.  österreichisch- 
Schlesiens  4. 

Wie  vor  einigen  Jahren  Kalkoff  die  heimliche  Beteiligung 
des  Erasmus  bei  verschiedenen  Kölner  Flugschriften  dargetan 
hat  (vgl.  H.  Z.  92,  542  und  dazu  auch  93,  166),  so  sucht  Karl 
Zickendraht  in  der  Zeitschr.  f.  Kirchengesch.  29, 1  nachzuweiseh, 
daß  auch  die  irenische,  den  Namen  Pellikans  tragende  Vorrede  zu 
Kaspar  Satzgers  Scrutinium  (1522)  in  Wahrheit  von  Erasmus 
herrühre. 

Eine  kurze  Darstellung  des  theologischen  Standpunktes  von 
Sebastian  Franck  entwirft  Heinrich  Ziegler  in  der  Zeitschr.  f. 
wissenschaftl.  Theologie  50,  3  auf  Grund  der  Paradoxa,  von  denen 
Ziegler  zusammen  mit  W.  Köhler  eine  neuhochdeutsche  Ausgabe 
vorbereitet. 

In  der  Revue  des  questions  historiques  Nr.  165  (]3hrg,  42) 
handelt  E.  Rodocanachi  über  die  Engelsburg  im  Krieg  der 
Liga  von  Cognac  und  während  der  Okkupation  Roms  1526  bis 
1527.  —  Die  Untersuchung  von  Vito  Vitale  über  die  Versuche 
Venedigs  in  Apulien  1528—1529  (vgl.  H.  Z.  100,  210)  wird  im 
Nuovo  archivio  Veneto  Nr.  67  u.  68  (N.  S.  14,  1  u.  2)  zu  Ende  ge- 
führt (am  Schluß  mit  reichem  Aktenanhang). 

Der  Berner  Reformator  Berchtold  Haller  unternahm  im 
Jahre  1530  auch  einen  Reformationsversuch  in  Solothurn,  den 
R.  S  t  e  c  k  in  den  Blättern  f.  bernische  Gesch.,  Kunst  u.  Altertumsk. 
3,  4  auf  Grund  der  Briefe  Hallers  und  Nikiaus  Manuels  (über 
letzteren  vgl.  H.  Z.  100,441)  darstellt.  —  Die  spärlichen  Nachrichten 
über  Hallers  Frau  Apollonia  vom  Graben,  die  sich  nach  dem  Tod 
ihres  Mannes  (1536)  noch  dreimal  verheiratete  und  1574  gestorben 
ist,  werden  von  H.  Türler  ebenda  3,  3  zusammengestellt. 

Albrecht  von  Rosenberg,  ein  fränkischer  Ritter  und  Reformator 
(über  den  zuletzt  Ernst,  Brief w.  Christophs  v.  Wirtemberg  1,  100 
Anm.  2  u.  3,  297  n.  151  Anm.  1,  Literatur  zusammenstellte),  wird 
von  (Karl)  Hofmann  im  Neuen  Archiv  f.  d.  Gesch.  der  Stadt 
Heidelberg  u.  d.  rhein.  Pfalz  7,  4  zum  Gegenstand  einer  Biographie 
gemacht,  die  vorerst  von  der  Geburt  (1519)  bis  1561  reicht,  in 
welchem  Jahr  sein  langer  Erbschaftsstreit  mit  Kurpfalz  um  die 
Herrschaft  Boxberg  durch  Vertrag  geschlichtet  wurde. 


206  Notizen  und  Nachrichten. 

Aus  dem  jetzt  abgeschlossenen  76.  Band  der  Bulletins  de  la 
Commission  royale  d'hisL  de  Belgique  heben  wir  hier  noch  einige 
Aufsätze  hervor  (vgl.  H.  Z.  100,444).  Charles  Bornate  ver- 
öffentlicht eine  ausführliche  Denkschrift  Gattinaras  über  die  Rechte 
Karls  V.  auf  das  Herzogtum  Burgund  (nach  1530,  Versuch  näherer 
Datierung  wird  vermißt).  F.  B  a  i  x  teilt  einige  wieder  aufgefundene 
Bruchstücke  der  verlorenen  Chronik  des  Abtes  Martin  de  Remou- 
champs  v.  Florennes  mit  (betr.  die  Jahre  1554  u.  1555).  Em.  Dony 
druckt  ein  interessantes  Einwohnerverzeichnis  des  Fürstentums 
Chimay  (Hennegau)  von  1616.  Zu  Anfang  schließlich  (S.  Xlllff.) 
handelt  H.  Lonchay  in  Fortsetzung  der  Arbeiten  Gachards  über 
den  Inhalt  des  Archivs  von  Simancas  zur  Geschichte  der  Nieder- 
lande im  17.  Jahrhundert. 

,,Das  Parlament  und  die  Reform**  betitelt  F^lix  Aubert  einen 
Aufsatz  in  der  Revue  des  questions  historiques  Nr.  165  (Jahrg.  42), 
in  dem  er  die  feindliche  Haltung  des  Pariser  Parlaments  gegen 
die  Reformierten  von  1522—1576  schildert  und  sie  als  ein  „ewiges 
Ehrenzeichen"  (I)  preist. 

Auf  die  Tätigkeit  der  Welser  in  Venezuela  fällt  neues  Licht 
durch  den  Brief  eines  Lindauers,  Titus  Neukomm,  aus  Venezuela 
vom  Jahre  1535,  den  Franz  Joetze  in  den  Forschungen  zur  Gesch. 
Bayerns  15,  4  aus  der  Chronik  Ulrich  Neukomms   veröffentlicht. 

Das  Gutachten  der  Schmalkaldener  über  die  Kirchengüter 
von  1540,  das  bei  Bindseil,  Melanchthonis  epistolae  142  nach  einer 
Abschrift  gedruckt  ist,  wird  von  Georg  Berbig  in  der  Ztschr.  f. 
wissenschaftL  Theologie  50,  3  nach  dem  wiederaufgefundenen 
Original  veröffentlicht. 

Eine  ausführliche,  quellenmäßige  Darstellung  des  Donau- 
feldzugs von  1546  gibt  Paul  Schweizer  in  den  Mitteilungen  des 
Instituts  f.  österr.  Geschichtsf.  29,  1.  In  der  Auffassung  lehnt  er 
sich  im  wesentlichen  an  Lenz  und  Brandenburg  an. 

Im  8.  Jahrgang  der  Histor.  Monatsblätter  f.  d.  Prov.  Posen 
finden  wir  zwei  neue  Aufsätze  von  Theodor  Wotschke  zur 
polnischen  Reformationsgeschichte.  In  Nr.  1 :  Ein  Sprachenstreit 
in  Posen  im  Jahre  1535  (über  einen  Versuch,  die  deutsche  Sprache 
von  den  Gerichten  auszuschließen);  in  Nr.  10:  Andreas  Gorka  auf 
seinem  Kranken-  und  Sterbebette  (Graf  Gorka,  der  eifrig  für  die 
Reformation   tätige  Posener  Generalstarost,  f  3-  Dezember  1551). 

Die  „neuen**  Briefe,  nach  denen  R.  Dareste  in  der  Revue 
historique  97,  2  über  Franz  Hotmann  in  den  Jahren  1561 — 1563 
handelt,  sind  die  1891  (I)  von  L.  Ehinger  in  den  Beiträgen  zur 
vaterländischen   Geschichte  der  hist.   u.  antiquar.   Gesellsch.  zu 


Reformation  und  Gegenreformation.  209^ 

Basel  14,  1    aus  dem   Marburger  Archiv   veröffentlichten ,   deren 
Wiederholung  recht  überflüssig  war.  /?.  //. 

Melanchthons  lateinische  Originalhandschrift  der  Confessio 
Augustana  ist  seit  ihrem  Obergang  aus  dem  Brüsseler  Archiv  an 
Philipp  11.  1569  verschollen.  Die  Nachrichten  über  ihre  Aus- 
lieferung stellt  Adolf  Hasenclever  in  der  Zeitschr.  f.  Kirchen- 
gesch.  29,  1  zusammen  und  weist  darauf  hin,  daß  Maximilian  II. 
sich  vorher  (wahrscheinlich  1568)  eine  Abschrift  vom  Original  hat 
anfertigen  lassen. 

Albert  Elkan  kommt  in  der  Zeitschr.  f.  Kirchengesch.  29,  1 
nochmals  auf  die  Vindiciae  contra  tyrannos  zurück  und  verstärkt 
seinen  Indizienbeweis,  daß  Duplessis-Mornay  ihr  Verfasser  ist  (vgl. 
H.  Z.  98,  650  f.  und  dazu  auch  ebenda  217). 

Karl  Schellhass,  Italienische  Schlendertage  Herzog  Ernsts 
von  Bayern  (Quellen  und  Forschungen  aus  italienischen  Archiven 
u.  Bibliotheken  10,  2)^  bringt  zahlreiche  neue  Einzelheiten  über 
Ernsts  heimliche  Flucht  aus  Rom  1575  und  seine  Erlebnisse  bis 
zur  Rückkehr  (vgl.  Lossen,  Kölnischer  Krieg  1,  348—351). 

Hauptsächlich  auf  Grund  der  1906  von  F.  Steffens  und 
H.  Reinhardt  herausgegebenen  Berichte  des  1579  zur  Durch- 
führung der  Tridentiner  Beschlüsse  nach  der  Schweiz  gesandten 
Nuntius  Bonhomini,  aber  daneben  auch  mit  anderem,  zum  Teil 
ungedrucktem  Material  untersucht  A.  Büchi  im  1.  Jahrgang  der 
Ztschr.  f.  Schweizer  Kirchengeschichte  den  Gang  der  Reform  in 
den  thurgauischen  Klöstern.  Einleitend  wird  die  frühere  Geschichte 
von  Reformation  und  Gegenreformation  im  Thurgau  seit  den 
Kappelerkriegen  abgehandelt. 

Zur  Lebensgeschichte  des  preußischen  Kartographen  und 
Historikers  Kaspar  Hennenberger  (1529 — 16(X))  vermag  Karl  Boysen 
in  der  Altpreußischen  Monatschrift  45,  1  einige  neue  archivalische 
Nachrichten  zu  geben. 

Ober  die  Versammlung  der  Generalstaaten  am  Nachmittag 
des  10.  Juli  1584  (nach  der  Ermordung  Wilhelms  von  Oranien,  vgl. 
Blök,  Gesch.  der  Niederlande  3,  390 f.)  handelt  J.  Huizinga  in 
den  Bijdragen  voor  vaderlandsche  geschiedenis  en  oudheidkunde 
4.  Reihe  6,  4. 

Das  21.  Heft  der  Beiträge  zur  sächsischen  Kirchengeschichte 
enthält  einige  beachtenswerte  Untersuchungen  zur  Geschichte  der 
Gegenreformation.  Frank  Ludwig,  der  erst  kürzlich  (1907)  eine 
Schrift  über  die  Entstehung  der  kursächsischen  Schulordnung  von 
1580  erscheinen  ließ,  behandelt  die  Entstehungsgeschichte  der 
Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  14 


210  Notizen  und  Nachrichten. 

durch  die  Kirchenordnung  von  1580  festgelegten  Lokal  Visitationen, 
des  Synodus  und  des  Oberkonsistoriums  in  Kursachsen,  insonder- 
heit seit  dem  Bericht  Andreas  von  1576;  bei  weiterem  Zurück- 
greifen hätte  wohl  auch  die  Schrift  von  W.  Schmidt  über  die 
Visitation  von  1555  mit  Criolg  herangezogen  werden  können  Xvgl. 
H.  Z.  99,  211).  Ernst  Otto  gibt  eine  ausführliche  aktenmäßige 
Darstellung  von  dem  Streit  der  beiden  kursächsischen  Hofprediger 
Mathias  Hoe  v.  Hoenegg  und  Daniel  Hänichen  1613 — 1618,  wobei 
dem  letztgenannten  der  größere  Teil  der  Schuld  beigemessen 
wird.  O.  Finder  schließlich  sucht  eine  Anekdote  über  den  Ab- 
zug Torstenssons  vor  Pegau  (Dezember  1644)  mit  nicht  ganz 
durchschlagenden  Gründen  als  historisch  zu  erweisen.       R.  H, 

Joseph  de  la  Serviere  setzt  in  der  Revue  des  questions 
historiques  Nr.  165  (Jahrg.  42)  seinen  Aufsatz  über  die  politischen 
Ideen  Bellarmins  fort  (vgl.  H.  Z.  100,  446)  und  betrachtet  insonder- 
heit dessen  Lehre  vom  Recht  des  Widerstands  und  von  der  sattsam 
bekannten  ,,indirekten  Gewalt"  der  Kirche  über  den  Staat,  wobei 
er  dem  Kardinal  in  der  Hauptsache  durchaus  die  Stange  hält. 

Die  im  Dienst  der  Hanse  unternommene  Reise  des  DanzigerRats- 
herrn  Arnold  von  Holten  durch  Spanien  und  Oberitalien  1606  bis 
1608  wird  von  Paul  Simson  im  Archiv  f.  Kulturgesch.  6,  1  nach 
den  (schon  von  Ernst  Kestner,  Ztschr.  des  westpreuß.  Geschichts- 
vereins 5,  Uff.  benutzten)  Reisenotizen  ausführlich  besprochen. 
—  Ebenda  druckt  Eduard  Otto  einen  Protest  der  Herrschaft 
Breuberg  (bei  Neustadt  im  Odenwald)  gegen  die  Verbrennung  von 
Hexen  durch  die  Obrigkeit  der  Stadt  Wörth  am  Main  auf  Breu- 
berger  Gebiet  1628. 

Der  Aufsatz  von  L.  Batiffol  über  den  „Staatsstreich"  vom 
24.  April  1617  (vgl.  H.  Z.  100,  446)  wird  in  der  Revue  historique 
97,  1  u.  2  zu  Ende  geführt. 

Über  den  Feldzug  des  Jahres  1622  am  Oberrhein  eröffnet 
Kari  V.  R ei tzen stein  in  der  Ztschr.  f.  d.  Gesch.  des  Oberrheins 
N.  F.  23,  1  eine  neue  Reihe  von  Aufsätzen  (vgl.  zuletzt  H.  Z.  98, 
219).  Er  beginnt  mit  Verhandlungen  über  die  Neutralität  Badens 
nach  der  Schlacht  von  Wimpfen  und  mit  Rückblicken  auf  den 
Kampf  um  Oberbaden.  —  Ebenda  handelt  Kari  Jacob  über  zwei 
Fragmente  der  bei  dem  Brand  der  Straßburger  Bibliothek  zugrunde 
gegangenen,  von  Dacheux  in  ganz  unzulänglicher  Weise  rekon- 
struierten Wenckerschen  Chronik  zur  Geschichte  des  Dreißig- 
jährigen Kriegs.  Sie  fanden  sich  in  einer  KoUektaneensammlung 
von  Wenckers  Enkel  im  Straßburger  Thomasarchiv  und  betreffen: 
1.  die  Ereignisse  von  der  Schlacht  bei  Nördün^en  bis  Ende  1635; 


Reformation  und  Gegenreformation.  211 

2.  allgemeine  Betrachtungen  über  Ursachen  und  Aussichten  des 
Kriegs,  die  Politik  der  Mächte  u.  dgl.,  die  zu  1637  eingeschoben 
waren.  Der  Druck  der  interessanten,  fUr  die  Urteilsfähigkeit  ihres 
Verfassers  sprechenden  Stücke  wird  im  nächsten  Heft  zu  Ende 
geführt  werden. 

Einige  Briefe  Richeiieus  aus  der  Sammlung  Gordon-Bennetts 
werden  von  Robert  Lavollde  im  Annuaire-bulletin  de  la  socUU 
de  VhisL  de  France  1907,  4,  S.  250  ff.  veröffentlicht.  Sie  waren 
Avenel  entgangen  und  gehören  den  Jahren  1630  und  1641  an. 

In  den  Forschungen  zur  Gesch.  Bayerns  15,  3  publiziert 
M.  Doeberl  aus  dem  Münchner  Staatsarchiv  eine  Relation  un- 
bekannter Herkunft  und  ausschweifenden  Inhalts  über  das  Kaiser- 
projekt und  die  letzten  Absichten  Gustav  Adolfs,  die  am  baye- 
rischen Hof  Glauben  fand. 

Zwei  Quartierlisten  über  die  Unterbringung  Wallensteins  und 
des  Freiherrn  v.  Holka  mit  ihren  zahlreichen  Gefolgschaften  in 
Eger  1632  werden  von  Karl  Siegl  in  den  Mitteilungen  des  Vereins 
f.  Gesch.  der  Deutschen  in  Böhmen  46,  3  veröffentlicht.  Ebenda 
2  und  3  beginnt  S.  Gorge  eine  Untersuchung  über  die  Schick- 
sale der  Konfiskationen  Wallensteins  nach  dessen  Ermordung. 
Auch  ein  Aufsatz  desselben  Veriassers  im  2.  Jahrgang  der  Zeit- 
schrift f.  Gesch.  u.  Kulturgesch.  Osterreichisch-Schlesiens  3,  Zur 
Geschichte  Schlesiens  im  Dreißigjährigen  Kriege,  beschäftigt  sich 
mit  dem  Konfiskationswesen  nach  der  Egerer  Katastrophe  (vgl. 
ferner  H.  Z.  100,  212). 

Eine  neue  Schrift  von  Wilhelm  Begemann  gegen  die,  mehr 
von  Phantasie  als  von  kritischer  Gründlichkeit  zeugenden  For- 
schungen Ludwig  Kellers  zur  Geschichte  der  Freimaurer  führt 
den  Titel:  „Die  Haager  Loge  von  1637  und  der  Kölner  Brief  von 
1535«  (Berlin,  E.  S.  Mittler  6  Sohn.  1907.  XVI  u.  84  S.  2  M.).  Sie 
bringt  den  Nachweis,  daß  die  von  Keller  kürzlich  wieder  als  echt 
behandelten  Haager  Protokolle  von  1637—1638  über  die  Verhand- 
lungen einer  unter  den  Auspizien  des  Statthalters  Friedrich  Hein- 
rich von  Uranien  im  Haag  neu  gegründeten  Loge  »Fredericks 
Vreedendall'^  ebenso  gefälscht  sind  wie  die  mit  ihnen  zusammen- 
hängende Kölner  Urkunde  von  1535  (über  eine  Zusammenkunft 
von  19  Vertretern  verschiedener  Freimaurerbrüderschaften  Europas, 
darunter  Erzbischof  Hermann  von  Wied  und  Melanchthon).  Seit 
dem  ersten  Auftreten  der  beiden  Stücke  im  Jahre  1818  hat  zwar 
schon  eine  ganze  Reihe  von  Forschern  (Delprat  1862  u.  a.)  ihre 
Unechtheit  erkannt,  aber  erst  jetzt,  nach  Begemanns  eingehender 
Arbeit,  dürften   die  Verteidiger  verstummen.    Die  Unechtheit  der 

14» 


212  Notizen  und  Nachrichten. 

Urkunde  beweist  jedem  Kundigen  allein  ein  Blick  auf  das  bei- 
gegebene Faksimile  ihres  Schlusses  mit  den   19  Unterschriften. 

R.  H. 
Im  Archivio  storico  per  le  provincie  Napoletane  32,  4,  S.  841 
wird  ein  Brief  des  Vizekönigs  von  Neapel,  Herzogs  von  Arcos,  an 
den  Herzog  von  Parma  über  den  Tod  Masaniellos  (16.  Juli  1647) 
veröffentlicht. 

Neue  Bficher:  Codex  diplomatUus  ord,  E,  S.  Augustini  Pa- 
piae,  cura  R.  Maiocchi  et  N.  Casacca.  Vol.  ///  (1501—1566). 
(Papiae,  Typ.  Rossetti.)  —  Theal,  History  and  ethnography  of 
Africa  South  of  the  Zambesi.  Vol.  1.  The  Portuguese  in  South 
Africa  from  1505  to  1700.  (London,  Sonnenschein.  7,6  sh.)  — 
Catalogue  des  actes  de  Franpois  /«".  T.  9.  (Paris,  Impr.  nationale.) 

—  Cristiani,  Luther  et  le  Luthäranisme.  (Paris,  Bloud  &  Cie.) 

—  Walther,  Heinrich  Vill.  von  England  und  Luther.  (Leipzig, 
Deichert  Nachf.  1  M.)  —  Courteault,  Blaise  de  Montluc  histo- 
rien.  (Paris,  Picard.)  —  Danmarfc-Norges  Traktater,  1523—1750 
med  dertil  harende  Aktstykker,  Udgivne  af  L.  Laursen.  I.  Bind 
1523— 1560.  (Kebenhavn,  Gad.  12  Kr.)  —  de  Castries,  Les 
sources  inädites  de  l'histoire  du  Maroc  de  1530  ä  1845.  /*■«  särie: 
Dynastie  saadienne.  T.  2.  (Paris,  Leroux.  25  fr.)  —  H  e  y  c  k , 
Wilhelm  von  Oranien  und  die  Entstehung  der  freien  Niederlande. 
(Bielefeld,  Velhagen  6  Klasing.  4M.)—  Blennerhasset,  Maria 
Stuart,  Königin  von  Schottland,  1542- 1587.  (Kempten,  Kösel.  4,20  M.) 

—  Die  Berichte  und  Briefe  des  Rates  und  Gesandten  Herzog 
Albrechts  von  Preußen  Asverus  v.  Brandt  nebst  den  an  ihn  er- 
gangenen Schreiben  in  dem  Kgl.  Staatsarchiv  zu  Königsberg. 
Hrsg.  von  Bezzenberger.  2.  Heft.  1545.  1546.  1547.  (Königs- 
berg, Gräfe  &  Unzer.  3  M.)  —  /  Libri  commemoriali  della  republica 
di  Venezia:  regesti.  Tomo  VIL  (Venezia,  Visentini,  15  Lire.)  — 
Osgood,  The  American  colonies  in  the  W^  Century.  Vol.  3. 
(London,  Macmillan.  12,6  sh.)  —  Briefe  und  Akten  zur  Geschichte 
des  Dreißigjährigen  Krieges.  Neue  Folge.  Die  Politik  Maximi- 
lians 1.  von  Baiern  und  seiner  Verbündeten,  1618—1651.  2.  Tl., 
1.  Bd.    Bearbeitet  von  Goetz.    (Leipzig,  Teubner.    20  M.) 

1648—1789. 

K.  Wenck  veröffentlicht  drei  ungedruckte  Briefe  Muratoris 
an  den  Danziger  Orientalisten  und  Polyhistor  G.  Groddeck  (1679— 
1709)  und  erläutert  sie  durch  Briefe  von  B.  de  Montfaucon,  Rost- 
goars  und  anderen  Orientalisten  und  Philologen  aus  den  Jahren 
1697—1702.    Aus  diesen  Korrespondenzen   „tritt  in  hellen  Farben: 


1648—1789.  213 

das  Bild  der  damals  erstandenen  europäischen  Gelehrtenrepublik 
hervor*  {Raccolta  di  Scritti  Storici  in  onore  del  Prof,  G,  Romano. 
Pavia,  Fusi.  1907). 

M.  E.  W.  Dahigren,  Direktor  der  Kgl.  Bibliothek  in  Stock- 
holm, handelt  über  die  französischen  Südseefahrer  vor  Bougaln- 
villc  (1695—1749).  Auf  Grund  sorgfältigster  archivalischer  Studien 
wird  der  Handel  französischer  Schmuggler  besonders  in  Chile 
und  Peru  geschildert,  der  im  ersten  Viertel  des  18.  Jahrhunderts 
florierte,  von  der  französischen  Regierung  offiziell  verpönt,  in 
Wirklichkeit  begünstigt,  1720  durch  die  Lawsche  indische  Kom- 
panie monopolisiert,  1724  eingestellt  wurde  {Nouvelles  Archives 
des  Missions  Scientifiques  t.  XIV). 

F.  Härtung  schildert  kurz  und  gut,  vornehmlich  auf  Grund 
der  trefflichen  Arbeiten  K.  Wilds,  das  Zeitalter  des  Absolutismus 
im  Fürstentum  Bamberg  von  Lothar  Franz  v.  Schönborn  bis 
Franz  Ludwig  v.  Erthal  (1693—1795)  (Deutsche  Geschichtsblätter 
Bd.  9,  Heft  5). 

In  einer  akademischen  Festrede  handelt  R.  Koser  über 
eine  ungedruckte  Ode  Friedrichs  des  Großen  „Sur  les  jugements 
que  le  public  porte  sur  ceux  qui  sont  chargis  dans  la  socUti 
civile  du  malheureux  emploi  de  politiques* ^  —  ein  interessantes 
Stück  aus  dem  Nachlaß  Voltaires,  dessen  Korrespondenz  mit 
König  Friedrich  seit  kurzem  zum  größten  Teil  im  preußischen 
Geheimen  Staatsarchiv  geborgen  ist  und  neu  herausgegeben 
werden  soll.  Die  in  geschmackvoller  Obersetzung  gegebene  Ode 
—  ein  Epilog  zum  Antimacchiavell,  ein  Vorläufer  der  zur  „Histoire 
de  mon  temps"  —  ist  eine  poetische  Rechtfertigung  des  Breslauer 
Friedens.  Sie  richtet  ihre  Spitze  gegen  den  Kardinal  Fleury,  der 
dem  jungen  König  „als  Typus  des  falschen  Freundes  und  unzu- 
verlässigen Verbündeten  galt"".  Sie  klingt  aus  mit  dem  Hinwels 
auf  Phaeton,  dessen  Beispiel  vor  allzu  hohem  Flug  der  Entwürfe 
warne:  „Der  junge,  soeben  dreißigjährige  Fürst,  der  siegreiche 
Führer  der  unbedingt  besten  Truppen  in  Europa  besaß  bei 
starkem  Selbstbewußtsein  ebensoviel  Beherrschung  und  übte 
Selbstkritik.  Er  besaß  die  Fähigkeit,  im  gegebenen  Augenblick 
innezuhalten,  die  Mäßigung,  die  dem  echten  Staatsmann  unent- 
behrlich ist  und  die  das  Gegengewicht  gegen  den  dem  Wesen  der 
Macht  innewohnenden  Drang  nach  immer  größerer  Machtent- 
faltung bilden  muß.  Er  hatte  das  Augenmaß  für  das  Erreichbare. 
Wie  denn  Macchiaveil  die  wahre  staatsmännische  Größe  darin 
gesehen  hat,  daß  man  nur  das  will,  was  man  kann.^  —  König 
Friedrich,  den  Voltaire  durch  die  Veröffentlichung  des  Antimac- 


214  Notizen  und  Nachrichten. 

chiavell  „auf  die  Staatstheorie  und  den  Moralcodex  der  philan- 
tropischen  Aufklärung  verpflichtet  zu  haben  glaubte,  hat  die 
Fessel,  in  die  ein  Voltaire  ihn  verstricken  wollte,  zerissen  wie  eine 
flächserne  Schnur^.  Wie  anders  Friedrich  Wilhelm  IV.,  der  nie 
vermocht  hat,  den  Gedankenballast  der  Hallerschen  Theorie  über 
Bord  zu  werfen !  „Den  sentimentalen  Idealismus  Voltaires  ersetzte 
Friedrich  für  sein  Handeln  durch  einen  Idealismus  härterer  Art, 
.durch  die  unbedingte  Unterweriung  seiner  Persönlichkeit  unter 
das  Gebot  des  Staatswohls"  (Sitzungsberichte  der  Kgl.  Preuß. 
Akad.  d.  W.  1908,  IV). 

W.  Hermkes  handelt  sorgfältig  über  den  Sieg  des  Herzogs 
Ferdinand  von  Braunschweig  bei  Crefeld  (23.  Juni  1758)  (Münster, 
Dissertation  1906). 

Mit  einer  anschaulichen  Schilderung  der  türkischen  Gesandt- 
schaft am  Hofe  Friedrich  des  Großen  im  Winter  1763/64  verbindet 
G.  B.  Vo  Iz  eine  instruktive  Obersicht  über  die  preußische  Orient- 
politik bis  1779.  „Kein  anderes  Prinzip  als  der  unversöhnliche 
Oegensatz  gegen  Osterreich  beherrschte  Friedrichs  Orientpolitik. 
Das  einzige  Interesse,  das  ihn  mit  der  Türkei  verband,  war  die 
gemeinsame  Gegnerschaft  gegen  den  Wiener  Hof.  Daher  suchte 
er  die  Pforte,  so  lange  er  mit  Österreich  im  offenen  Kampfe  lag, 
zur  Offensive  zu  bestimmen,  und  als  er  mit  Maria  Theresia  seinen 
[Frieden  gemacht,  ein  Verteidigungsbündnis  zu  schließen,  das  den 
:Wiener  Hof  von  einem  neuen  Angriff  auf  Preußen  zurückhalten 
«ollte.^  Die  Anknüpfungen  Friedrichs  mit  der  Pforte  wurden 
durch  sein  russisches  Bündnis  gestört.  Während  Katharina  II. 
die  preußisch-türkische  Allianz  zu  verhindern  suchte,  faßte  König 
Friedrich  schon  1763  einen  Dreibund  zwischen  Preußen,  Rußland 
und  der  Pforte  ins  Auge,  ein  Plan,  der,  später  (1779)  wieder  auf- 
genommen, Rußland  und  Osterreich  zusammenführte  (Hohen- 
zollern- Jahrbuch  1907).  —  An  weiteren  Beiträgen  zur  frideri- 
zianischen  Geschichte  von  Volz  notiere  ich  einen  Aufsatz  über 
H.  K.  V.  Winterfeldt  (wesentlich  nach  L.  Mollwo)  (ebd.);  ferner 
die  Veröffentlichung  eines  „Porträts**  des  preußischen  Hofs  aus 
der  Feder  des  österreichischen  Gesandten  in  Berlin,  v.  Ried 
(Sept.  1763)  (ebd.);  endlich  eine  Mitteilung  über  die  Einführung 
der  Impfung  in  Berlin,  wobei  dem  König  irrtümlich  die  Initiative 
zugeschrieben  ist   (Arztl.  Sachverst.  Ztg.  1908^  Nr.  3). 

Als  Nachtrag  zum  29.  Band  der  Pol.  Korr.  Friedrichs  des 
Großen  gibt  R.  Kos  er  Stellen  aus  zwei  Briefen  des  Königs  an 
den  Prinzen  Heinrich  (25.  Juni,  4.  Juli  1770)  und  ordnet  sie  in  den 
Zusammenhang   der   polnischen    Politik    Friedrich   II.   ein.    „Der 


1648-1789.  215 

Prinz  drängt  zu  einem  Versuch,  den  Staat  durch  polnisches  Oe^ 
biet  abzurunden.     Der  König  retardiert**    (Sitzungsberichte  der 
'Kgl.  Preuß.  Akad.  d.  Wiss.  1908,  XIII). 

M.  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n  handelt  über  die  ersten  Polen  unter 
preußischer  Herrschaft  (Nord  und  Süd  32,  1/2). 

K.  d  *  E  s  t  e  r  gibt  Auszüge  aus  einer  umfangreicheren  Arbeit 
über  das  „Zeitungswesen  in  Westfalen**,  die  demnächst  in  den 
„Forschungen  zur  neueren  Literaturgeschichte**,  her.  v.  Schwering, 
erscheinen  soll.  Wir  notieren  den  Abschnitt  über  die  gelehrten 
und  schöngeistigen  Zeitschriften  bis  zum  Jahre  1813,  wo  Namen 
wie  J.  Moser,  W.  Dohm,  Kortum  begegnen  (Münster,  Disser- 
tation 1907). 

Neue  Bficher:  Elisabeth  Charlotte,  Herzogin  von  Or- 
leans. Eine  Auswahl  aus  ihren  Briefen,  hrsg.  und  eingeleitet  von 
J.Wille.  (Leipzig,  Teubner.  2  M.)  —  Du  Bled,  La  socUtd  fran- 
faise  du  XV h  sUcle  au  XX^  siicie.  7*  särie:  XVI I!^  sUcle.  (Paris, 
Perrin  &  Cie,)  —  Watson,  The  Scot  of  the  IS^f*  Century.  Hia 
religion  and  his  life,  (London,  Hodder  <S  «S.  7,6  sh.)  —  Marfil 
Garciay  Relaclones  entre  Espana  y  la  Gran  Bretana  desde  las 
paces  de  Utrecht  hasta  nuestros  dias,  (Madrid,  hijos  de  R,  AI- 
varez,  5  Pes.)  —  Journal  inädit  du  duc  de  Cray  (17 18— 1784). 
Publik  par  de  vicomte  de  Grouchy  et  Paul  Göttin,  T.  3.  (Paris, 
Flammarion,)  —  Acta  borusslca,  4.  Bd.  Akten  vom  8.  Januar  1723 
bis  Ende  Dezember  1729,  bearb.  von  Schmoll  er  und  Stolze. 
9.  Bd.  Akten  von  Anfang  August  1750  bis  Ende  1753,  bearb.  von 
Schmoll  er  und  Hintze.  (Berlin,  Parey.  52  M.)  —  Die  Kriege 
Friedrichs  des  Großen  1740—1763.  1.  Bd.  Der  1.  und  2.  schlesische 
Krieg.  Bearb.  von  Ritter  v.  Hoen.  (Berlin,  Vossische  Buchh. 
10  M.)  —  de  Lord at,  Un  page  de  Louis  XV.  Lettres  de  Marie 
Joseph  de  Lordat  ä  son  oncle  Louis,  comte  de  Lordat,  Baron  de 
Bram,  brigadier  des  arm^es  du  roi  (1740—1747),  recueillies  et 
publikes  par  le  marquis  de  Lordat  et  le  chanoine  Charpentier. 
(Paris,  Plön,  Nourrit  S  Cie,  7,50  fr,)  —  Wiegand,  Das  poli- 
tische Testament  Friedrichs  des  Großen  vom  Jahre  1752.  (StraB- 
burg,  Heitz.  1,20  M.)  —  Waddington,  La  guerre  de  sept  ans. 
T.  4,  (Paris,  Firmin-Didot  S  Cie.)  —  Durand,  Die  Memoiren 
des  Marquis  d*Argenson.  (Berlin,  Rothschild.  2,50  M.)  —  Karl 
Engel,  Der  Fähnrich  Zorn  v.  Bulach  vom  Regimente- Württem- 
berg zu  Pferd  im  Siebenjährigen  Kriege  1757—1758  nach  seinem 
Tagebuche.  (Straßburg,  Schlesier  &  Schweikhardt.  1  M.)  — 
Härissay,  Un  girondin:  Franpois  Buzot,  ddputd  de  VEure  ä 
l'AssembUe  Constituante  et  ä  la  Convention  (1760— 1794),  (Paris, 


216  Notizen  und  Nachrichten. 

Petrin  S  Cie,)  —  Lettres  et  papiers  du  chancelier  comte  de  Nessel- 
rode  (1760—1850),  extraits  de  ses  archives,  T,  1—5.  (Paris,  La- 
hure,)  —  Souvenirs  du  baron  de  Frinilly ,  pair  de  France 
(1768-1826),  PublUs  par  A,  Chuquet,  (Paris,  Plan,  Nourrit  &  Cie, 
7,50  fr,)  —  Mariani,  II  viaggio  di  Giuseppe  II  a  Roma  e  a 
Napoli  nel  1769,  (Lanciano,  Carabba,)  —  Politische  Korrespon- 
denz  Friedrichs  des  Großen.    32.  Bd.    (Berlin,   Duncker.     19  M.) 

Neuere  Geschichte  seit  1789. 

In  dem  Aufsatze  Wahls  „Die  französische  Revolution  und 
das  19.  Jahrhundert""  (Zeitschr.  f.  Politik  I,  2)  findet  man  eine 
Fülle  von  Gedanken  und  Gesichtspunkten,  die  zwar  nicht  alle 
miteinander  harmonisch  ausgeglichen  sind,  aber  jedenfalls  höchst 
anregend  und  fruchtbar  wirken  werden.  Ein  Hauptgedanke  ist,  daß 
innerhalb  der  französischen  Revolution  selbst  schon  eine  tiefe 
Zäsur  liegt  zwischen  dem  Geiste  von  1789  und  dem  von  1793,  dem 
staatsfremden,  weichlichen  Individualismus  auf  der  einen,  dem 
Staatsdespotismus  auf  der  anderen  Seite.  Und  tiefer  und  nach- 
haltiger auf  das  neue  Jahrhundert  habe  doch  letzterer  gewirkt. 
Wir  meinen  auch,  daß  man  diesen  Gegensatz  aufs  schärfste  be- 
tonen muß,  aber  daß  man  darüber  nicht  die  geistigen  Bindeglieder 
vergessen  darf,  die  die  Männer  von  1789  und  die  von  1793  trotz- 
dem verknüpfen.  Richtig  wird  ferner  bemerkt,  daß  man  bei  den 
geistigen  Wirkungen  der  Revolution  genauer  darauf  achten  solle, 
ob  man  nicht  vielmehr  Wirkungen  der  vorrevolutionären  Jahr- 
zehnte vor  sich  habe.  So  versucht  Verfasser  gleich  nachzu- 
weisen, daß  Stein  viel  mehr  von  Turgot  als  von  den  Ideen  und 
Gesetzen  der  Revolution  gelernt  habe. 

Im  Januarheft  1908  der  R^vol,  Franpaise  liefert  Jean  Drey- 
f  u  s  eine  Arbeit,  die  Le  manifeste  royal  du  21  juin  1791  betitelt 
ist  und  einen  Teil  einer  demnächst  erscheinenden  Studie  über  die 
persönliche  Politik  Ludwigs  XVI.  während  der  Revolution  dar- 
stellt. Man  wird  dieser  nicht  ohne  Bedenken  entgegensehen, 
wenn  man  hier  liest,  die  Grundstimmung  des  genannten  Mani- 
festes könne  in  die  Worte  gefaßt  werden  l*dtat  c'esi  moi.  Es  ist 
uns  vollkommen  unbegreiflich,  daß  der  Verfasser  meinen  kann, 
Ludwig  XVI.  hätte  diese  Worte,  die  er  für  Ludwig  XIV.  mit  Recht 
legendär  nennt,  gern  gesprochen.  H.  Zivy  veröffentlicht  einige 
Aktenstücke,  aus  denen  die  intransigente  Haltung  des  bretoni- 
schen Bischofs  von  Saint-Pol-de-L^on  gegen  die  Zivilkonstitution 
hervorgeht.  Schließlich  beginnt  der  unermüdliche  Dilettant  H.  L  a  - 
broue    einen    Aufsatz    über   la  soMt^  populaire  de  la    Garde- 


Neuere  Geschichte.  217 

Freinet  (Var),  den  er  im  Februarheft  glücklich  zu  Ende  führt. 
Ebd.  setzt  Mathiez  seine  schon  öfters  erwähnte  Artikelserie 
über  la  France  et  Rome  sous  la  Constituante  fort.  Er  kommt 
zur  Zivilkonstitution  und  zeigt  nun  auch  seinerseits,  daß  die  in 
der  Nationalversammlung  sitzenden  Bischöfe  zu  weitgehendem 
Entgegenkommen  bereit  waren.  Dafür,  daß  diese  sehr  inter- 
essante Tatsache  von  Mathiez  nicht  zum  erstenmal  entdeckt  wurde, 
8.  Hist.  Ztschr.  100,  S.  450. 

In  der  Rev.  d'Histoire  moderne  etc,  9,  4  (Jan.  1908)  beginnt 
A.  Carr6  eine  Arbeit'  u.  d.  T.  VAssembläe  Constituante  et  la 
„mise  en  vacances^  des  Parlements  (Nov.  1789 — Janv.  1790),  in  der  er 
zeigt,  einen  wie  gefährlichen  Konkurrenten  die  Nationalversamm- 
lung noch  damals  in  den  Parlamenten  sah,  die  einen  so  außer- 
ordentlichen Einfluß  auf  die  Geschicke  des  alten  Frankreich  aus- 
geübt hatten. 

Zur  Kriegsgeschichte  sind  folgende  Beiträge  beachtenswert: 
A.  Chuquet  veröffentlicht  eine  Artikelserie  über  den  Aidemajor 
von  Beifort  Bellegarde  (Rev,  Bleue  8.  Febr.  1908  ff.).  Bedeutender 
ist  der  Held,  den  Ch.de  Lomdnie  behandelt,  und  zwar  in  sehr 
anziehender  Weise :  Marbot,  garde  du  corps  et  g^n^ral  de  la  R^- 
publique  (Rev,  des  Quest,  histor,  Jan.  1908).  Ebd.  findet  sich  eine 
Arbeit  des  Vicomte  deGrimouard  mit  dem  schwerfälligen  Titel 
Les  origines  du  domaine  extraordinaire.  Le  receveur  g^niral  des 
contributions  de  la  Grande  Armie  (1805—1810),  ses  attributions 
et  ses  comptes,  die  interessante  Zahlen  über  die  Aussaugung  vor 
allem  der  deutschen  Länder  enthält. 

Aus  dem  Correspondant  Nr.  1089  (10.  Febr.  1908)  notieren 
wir  P.  Pisani,  Une  paroisse  Parisien ne  pendant  la  Rfyolution, 
Saint-Gervais  (1789—1804);  aus  dem  Arch,  Stör,  per  le  provincie 
Napoletane  32,  4:  Maresca,  La  missione  de  Ruffo  a  Parigi 
1797/98. 

G.  Sommerfeldt  veröffentlicht  einige  weniger  bedeutende 
Briefe  aus  der  Korrespondenz  der  Königin  Luise  aus  den  Jahren 
1807—1809  (Zeitschrift  der  Altertumsgesellschaft  Insterburg,  H.  10, 
1907);  Klaje  ein  Schreiben  des  Hauptmanns  v.  Waidenfels,  des 
Vizekommandanten  von  Kolberg,  vom  31.  Mai  1807,  als  Ergänzung 
seiner  kürzlich  erschienenen  Schrift  (s.  H.  Z.  100,  S.  432)  über  diesen 
tapferen  Offizier  (Monatsbl.,  herausg.  von  der  Ges.  f.  Pommersche 
Geschichte  Nov.  1907). 

In  den  Streit  um  die  Konvention  von  Tauroggen  greift  nun 
auch  Max  Lehmann,  auf  der  Seite  seines  alten  Kampfgenossen, 
H.  Delbrück,  ein.    Er  bringt  überzeugende  Argumente  gegen  die 


21 S  Notizen  und  Nachrichten. 

Glaubwürdiglceit  der  Angaben  des  Briefes  Wrangeis  vom  Jahre 
1838  bei,  vermag  aber  n.  u.  A.  die  Mitteilungen  des  Tagebuchs 
in  keiner  Weise  zu  entkräften.  Gerade,  daß  Wrangel  darin  von 
einem  Befehl  an  Yorck  berichtet,  den  dieser  in  seinen  Einzel- 
heiten keineswegs  ausführte  (Marsch  auf  Graudenz  usw.)>  scheint 
uns  endgültig  seine  Zuverlässigkeit  zu  beweisen.  Ein  wie  raffi- 
nierter Fälscher  müßte  sonst  Wrangel  gewesen  sein!  Auch  mit 
den  berühmten  Briefen  Yorcks  an  den  König,  die  ja  in  der  Tat 
von  einem  königlichen  Befehl  nichts  wissen,  sollte  n.  u.  A.  nicht 
operiert  werden:  wußte  denn  Yorck,  daß  diese  Briefe  sicher  in 
die  Hand  des  Königs  gelangen  würden?  (Major  v.  Wrangel,  der 
angebliche  Urheber  der  Konvention  von  Tauroggen,  Preuß.  Jahrb. 
März  1908).  « 

W.  Lang,  der  Verfasser  der  verdienstlichen  Biographie  des 
Grafen  Reinhard,  veröffentlicht  umfangreiche  Analekten  zu  dieser 
(Württemberg.  Vierteljahrshefte  f.  Landesgeschichte  N.  F.  XV 11, 
S.  17—100).  Einen  sehr  großen  Raum  darin  nehmen  die  wesent- 
lich literarisch  interessierten  Briefe  des  späteren  Diplomaten  aus 
dem  Tübinger  Stift  und  aus  der  Vikariatszeit  in  Balingen  ein. 
Weitere  Abschnitte  behandeln  Reinhard  in  der  Fremde,  die  Briefe 
seiner  Gemahlin  Christine  geb.  Reimarus,  die  Mission  in  die 
Schweiz,  wo  Reinhard  bekanntlich  scheiterte,  schließlich  seinen 
jüngeren  Bruder  Christian. 

Die  vielseitigen  Beziehungen  deutscher  Kunst  und  Wissen- 
schaft zu  der  Stadt  Rom  hat  Fr.  Noack  in  einem  Gesamtbilde 
darzustellen  unternommen:  Deutsches  Leben  in  Rom  1700—1900. 
Stuttgart,  J.  G.  Cotta  Nachf.  VI  u.  462  S.  Einzelne  Abschnitte, 
wie  die  Zeiten  Winkelmanns  und  Goethes,  sind  längst  bearbeitet 
worden;  der  Versuch  eines  Gesamtbildes  ist  neu,  und  erst  aus 
diesem  erhellt  der  ganze  Reichtum  jener  Beziehungen,  die  eine 
so  bedeutende  Rückwirkung  auf  das  deutsche  Kulturleben  gehabt 
haben.  Ist  doch  Rom  geradezu  ein  wichtiger  Mittelpunkt  für  die 
deutsche  Wissenschaft  und  Kunst  geworden.  Es  sei  nur,  von 
den  älteren  Zeiten  abgesehen,  an  das  Humboldtsche  Haus  er- 
innert, an  die  Blütezeit  des  Klassizismus,  an  Cornelius  und  die 
Nazarener,  an  Bunsen  und  an  den  König  Ludwig  von  Bayern,  an 
den  Deutschen  Künstlerverein  und  seine  Feste,  an  die  Gründung 
der  Archäologischen  und  des  Historischen  Instituts,  an  Mendels- 
sohn und  Liszt,  an  Hase  und  Ranke,  Mommssen  und  Gregorovius. 
Mit  philologischer  Genauigkeit  hat  der  Verfasser  aus  Akten  und 
Archiven  alle  erreichbaren  persönlichen  Notizen,  sowie  Zeit-  und 
Ortsangaben  festzustellen  gesucht,  und  verdienstlich  ist  auch  dies, 


Neuere  Geschichte.  219 

daß  er  mit  unhistorischen  Legenden  schonungslos  aufgeräumt 
hat,  wie  mit  den  Legenden  von  Goethes  römischer  Liebschaft 
und  der  sog.  Goethekneipe.  W,  L, 

Eine  trotz  einiger  anfechtbarer  Urteile  recht  anziehende 
kleine  Skizze  über  F.  K.  v.  Savigny  veröffentlicht  Reichsgerichts- 
rat Ed.  Müller  in  der  von  JuL  Ziehen  herausgegebenen  Samm- 
lung ^Männer  der  Wissenschaft"  (Leipzig,  W.  Weicker.  32  S.  1  M.). 

Die  von  A.  Stern  in  der  Rivista  cuitura  espanola  publi- 
zierten Documentos  de  historia  espanola  moderna  gehören  teils 
ins  Jahr  1822  (zeigen,  daß  die  österreichische  Politik  bemüht  war, 
alle  Berührung  mit  revolutionären  Elementen  von  ihrem  italieni- 
schen Machtbereich  fernzuhalten)  und  1835  (Bericht  des  preußi- 
schen Gesandten  am  sardinischen  Hofe  betr.  dessen  Haltung  zu 
Don  Carlos). 

P.  Walt  her,  Fregattenkapitän  a.  D.,  erzählt  in  der  Deut- 
schen Revue  (Märzheft)  von  dem  „ersten  Jahre  der  preußischen 
Marine'^,  den  preußischen  Bemühungen  1848,  in  kurzer  Frist  eine 
Flotte  zur  Verteidung  gegen  Dänemark  zu  schaffen,  in  den  kleinen 
Verhältnissen  jener  Tage.  Auch  auf  diesem  Gebiete  zeigt  sich 
schon  damals  das  Problem:  Preußen  und  Deutschland  (in  dem 
Versuch  der  Nationalversammlung,  jedem  Einzelstaate,  auch 
Preußen,  die  Bildung  einer  Flotte  zu  untersagen).  Rühmend  wird 
der  Tätigkeit  des  Prinzen  Adalbert  gedacht. 

Ober  „ein  vergessenes  Bismarckbild''  berichtet  O.  Tschirch 
im  Aprilheft  von  Westermanns  Monatsheften:  ein  im  Jahre  1850 
von  M.  Berendt  gemaltes  Bild  (Kniestück),  das  von  der  Familie 
nicht  angekauft  und  der  Verlosung  ausgesetzt,  1854  als  Geschenk 
märkischer  Edelleute  an  die  Stadt  Brandenburg  kam  und  hier 
bisher  unbeachtet  im  Oberbürgermeisterzimmer  des  Rathauses 
gehangen  hat. 

Die  reizvollen  und  inhaltvollen  Briefe  Malvida  v.  Meysen- 
bugs  —  aus  Alexander  Herzens  Hause  —  an  ihre  Mutter,  die 
H.  Z.  100,  S.  689  erwähnt  sind,  finden  im  März-  und  Aprilheft  der 
Deutschen  Revue  ihren  Abschluß  (aus  den  Jahren  1852 — 1860). 

Die  neueste,  5.  Fortsetzung  von  G.  Goyaus  Studien  Les 
origines  du  culturkampf  allemand  (s.  zuletzt  H.  Z.  100,  S  689) 
beschäftigt  sich  mit  den  „intellektuellen  Krisen"  innerhalb  des 
Katholizismus  in  den  20  Jahren,  die  dem  Vatikanischen  Konzil 
vorangehen:  den  geistigen  Bewegungen  und  Konflikten  inner- 
halb der  katholischen  Wissenschaft  auf  deutschem  Boden  (L  der 
„Güntherianismus",    die   Lehren    des   Wiener  Theologen    Anton 


220  Notizen  and  Nachrichten. 

Günther  [gest  1863],  II.  die  in  Deutschland  gegen  das  Dogma 
von  der  unbefleckten  Empfängnis  enstandene  Opposition,  III.  das 
Vorgehen  Roms  erst  gegen  Günther,  dessen  Werke  1857  auf  den 
Index  kamen,  dann  [1859]  gegen  seine  Anhanger,  IV.  der  Abfall 
des  Philosophen  Froschhammer,  V.  die  innere  Gegnerschaft  zwi- 
schen Romanismus  und  deutscher  Wissenscliaft,  VL  DöUingers 
Entwicklung  Anfang  der  60  er  Jahre  und  seine  ersten  Konflikte. 
VII.  die  Vorkämpfer  Roms  in  Deutschland  (t>es.  in  Würzburg  und 
Mainz],  Vlll.  die  Bewegung  in  Deutschland  gegen  die  Unfehlbar- 
keitserklärung und  für  die  Freiheit  der  Wissenschaft,  der  Kongreß 
kathol.  Gelehrter  in  München  im  Herbst  1863,  der  von  Rom  höchst 
ungern  gesehen  wurde;  die  Verschärfung  der  Gegensätze,  auch 
in  der  Presse,  IX.  die  Fragen  der  Vorbildung  des  Klerus:  Semi- 
nar oder  Universität  und  die  darüber  geführten  Erörterungen 
und  Kämpfe,  X.  die  Haltung  der  katholischen  Fakultäten  an  den 
Universitäten,  im  ganzen  auf  Seite  der  antirömischen  Tendenzen, 
das  Auftauchen  des  Gedankens  der  Gründung  einer  ^freien*  Uni- 
versität). Das  Ergebnis  ist :  die  Zeit  ist  reif  für  die  Entscheidung 
durch  ein  Konzil. 

Der  Aufsatz  von  Ernst  Salzer  über  „Fürst  Chlodwig  zu 
Hohenlohe-Schillingsfürst  und  die  deutsche  Frage**  (Hist  Viertel- 
jahrschr.  1908,  1)  ist  als  einer  der  ersten  Versuche  zu  kritischer 
Ausnutzung  der  Denkwürdigkeiten  Hohenlohes  mit  Freuden  zu  be- 
grüßen. Er  beschränkt  sich  wesentlich  auf  die  Jahre  1867—1869, 
die  Zeit  von  Hohenlohes  Ministerpräsidentschaft  in  Bayern  und 
sucht  die  Abwandlungen  aufzuzeigen,  die  des  Fürsten  Pläne  und 
Politik  für  eine  Herbeiführung  der  deutschen  Einheit  in  dieser 
Epoche  genommen  haben  (kleindeutsche  Wünsche,  Triasideen  und 
besonders  die  wechselnden  Modalitäten  einer  Verbindung  der 
Südstaaten  mit  dem  Norddeutschen  Bunde);  im  ganzen  ist  dabei 
doch  eine  zunehmende  Abschwächung  zentralistischer  Neigungen 
erkennbar.  Die  Resultate  erscheinen  freilich  nicht  allzu  ergebnis- 
reich, zum  guten  Teil  doch  wohl  deswegen,  weil  die  Basis  nicht  breit 
genug  gewählt  ist  und  die  kritischen  Schwierigkeiten  mehr  an- 
gedeutet als  durch  eingehende  Untersuchung  der  Lösung,  soweit 
eben  möglich,  entgegengeführt  werden.  Das  gilt  besonders  für 
den  bei  der  von  Salzer  gewählten  Fragestellung  grundlegenden 
Punkt:  bez.  des  Verhältnisses  von  Hohenlohes  eigentlichen  Wün- 
schen und  den  ihm  durch  die  Verhältnisse  und  namentlich  die 
Rücksicht  auf  den  König  auferlegten  Notwendigkeiten.  Selbst- 
verständlich enthält  der  Aufsatz  manche  gute  und  auch  manche 
bestreitbare  Einzelbeobachtung.  /C  /. 


Neuere  Geschichte.  221 

Unter  der  Oberschrift  „Der  Marsch  ins  Verderben*"  veröffent- 
licht der  bekannte  französische  Militärschriftsteller  General  B  o  n  - 
nal,  damals  „ein  junger  Leutnant  (26  Jahre)*,  „persönliche  Er- 
innerungen aus  den  Kämpfen  vom  23.  bis  31.  August  1870*,  deren 
Wert  in  den  oft  nur  zwischen  den  Zeilen  zu  lesenden  kritischen 
Bemerkungen  liegt. 

März-  und  Aprilheft  der  Deutschen  Revue  enthalten  zwei 
weitere  Fortsetzungen  von  H.  Onckens  Publikation  aus  den 
Briefen  Rudolf  v.  Bennigsens  (XXXII.  XXXIII)  (s.  zuletzt  H.Z. 
100,  S.  224).  Sie  betreffen  die  „Sezession*  von  1880  (Briefe  zwischen 
Rickert  und  Bennigsen,  nebst  solchen  von  Stephani  und  Benda 
und  1881  [Briefe  zwischen  Lasker,  auch  v.  Benda  und  Bennigsen], 
vor  und  nach  den  Wahlen).  Die  schon  früher  gemachte  Bemer- 
kung, daß  diese  doch  nur  „ausgewählten*  Briefe  zu  richtiger  Wür- 
digung eines  ziemlich  ausführlichen  Kommentars  bedürfen,  drängt 
sich  hier  in  verstärktem  Maße  auf.  Besondere  Beachtung  ver- 
dienen einmal  Laskers  Bemühungen,  den  Liberalismus  im  Reichs- 
tage als  Einheit  aktionsfähig  zu  machen,  anderseits  Bismarcks 
Kundgebung  an  Bennigsen  im  September  1880,  wenige  Wochen 
nach  der  Sezession:  hoffentlich  werde  Bennigsen  „den  Sezessio- 
nisten  die  Tür  zumachen.  Mit  nur  negierenden  (!)  Parteien  kann 
man  nicht  regieren*. 

Der  Schluß  von  H.  v.  Posch ingers  Publikation  „aus  den 
Denkwürdigkeiten  von  Heinrich  v.  Kusserow*  (Deutsche  Revue 
März)  enthält  vornehmlich  Mitteilungen  und  Aktenstücke  aus  den 
Anfängen  unserer  Kolonialpolitik  1884  f.,  in  der  hei  Poschinger 
bekannten  Form. 

Wegen  der  freilich  überwiegend  wohl  den  Widerspruch  der 
Historiker  —  die  doch  sonst  mit  den  meisten  Nationalökonomen 
sich  darin  in  erireulicher  Übereinstimmung  befinden  —  herausfor- 
dernden historischen  Aussführungen  über  die  deutsche  Wirtschafts- 
politik seit  1879  sei  auf  die,  wohl  aus  einem  Vortrag  erwachsenen 
Darlegungen  des  Breslauer  Ordinarius  A.  v.  Wenckstern  ver- 
wiesen („Das  Wachstum  der  Bevölkerung  in  Deutschland,  die 
Wirtschaftspolitik  und  die  Landarbeiten*,  Deutsche  Rundschau^ 
Märzheft).  Glaubt  Wenckstern  wirklich :  „wenn  Bismarck  1879 
nicht  durchgegriffen  hätte  —  wer  weiß,  ob  sich  die  Dinge  nicht 
durchaus  freihändlerisch  entwickelt  hätten*?  Eigenartig  berührt 
auch  die  Zusammenstellung  der  in  Deutschland  Geborenen  als 
„Deutsche,  Polen,  Dänen,  Franzosen  und  Israeliten*. 

Auch  an  dieser  Stelle  darf  auf  den  Aufsatz  von  M.  Spahn 
über    die    (preußische    und    deutsche)    Polenpolitik    hingewiesen 


222  Notizen  und  Nachrichten. 

werden  (Hochland,  Aprilheft):  nicht  um  der  Stellung  willen,  die 
er  zu  den  aktuellen  Fragen  politischer  Maßnahmen  einnimmt, 
sondern  soweit  er  historische  Rückblicke  und  Perspektiven  ent- 
hält. Es  verdient  —  im  Hinblick  auf  die  bisherige  historisch- 
publizistische Stellungnahme  Spahns  —  hervorgehoben  zu  werden, 
daß  er  anerkennt:  „die  Polengefahr  besteht  für  den  preußischen 
Staat.  Wer  sie  noch  leugnet,  hat  entweder  keinen  Einblick  in  die 
Verhältnisse  der  östlichen  Provinzen  oder  es  geht  ihm  die  Fähig- 
keit ab,  die  politische  Lage  und  die  Erfordernisse  des  Staates 
zutreffend  zu  würdigen.*^  Ihm  erscheint  die  polnische  Aktion  als 
eine  «nationale  Bewegung  ganz  von  der  Art,  wie  sie  zuerst  durch 
Frankreich,  dann  durch  Deutschland  und  Polen  .  .  .  geflutet  ist"". 
Niemand  darf  sich  daher  leichtsinnig  gegen  das  Eingeständnis 
sperren,  daß  das  heimliche  Sehnen  der  von  der  Bewegung  er- 
griffenen polnischen  Bevölkerung  auf  die  Herstellung  der  politi- 
schen Einheit  und  Selbständigkeit  Polens  gerichtet  ist*".  Damit 
glaubt  nun  Spahn  vom  Boden  „christlich-konservativer^  Politik 
sich  einverstanden  erklären  zu  können  —  wofern  nur  für  dies 
Gebilde  die  zu  Preußen  gehörigen  ehemals  polnischen  Gebiete, 
deren  der  preußische  Staat  zu  seiner  äußeren  Sicherung  bedarf, 
nicht  dazu  beansprucht  werden:  also  ein  auf  die  russischen  und 
habsburgischen  Polenlande  beschränkter  Staat,  der  freiwillig  auf 
seine  preußischen  Stammesgenossen  verzichten  müßte.  Hält  der 
Historiker  Spahn  eine  derartige  geschichtliche  Entwicklung  im 
Ernst  für  möglich  ?  /C.  / 

G.  W  e  i  1 1  s  Literaturbericht  über  ^Le  Catholkisme  franpais 
au  XlXt  sUcle"  (Rev.  de  Synth,  hist  XV,  3)  behandelt  in  der  Ein- 
leitung die  Hauptfragen  dieser  Entwicklung  und  führt  dann  alle 
wichtigeren  Werke,  auch  handschriftliche,  in  sachlicher  Gliede- 
rung auf. 

In  „Natur  und  Geisteswelt"  hat  Daenell  die  Geschichte 
der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  kurz,  aber  unter  Hervor- 
hebung des  wesentlichen  und  mit  Berücksichtigung  der  neueren 
Forschungen  behandelt.  /C. 

Neue  Bficher:  Bonald,  Consid^rations  sur  la  Revolution 
franpaise.  (Parts,  Nouvelle  Libr,  nationale,)  —  Lenotre,  M^- 
moires  et  Souvenirs  sur  la  Revolution  et  l' Empire,  (Paris,  Perrin 
&  Cie,)  —  Chantavoine,  Les  principes  de  1789  (la  DMaration 
des  droits ;  la  DMaration  des  devoirs),  (Paris,  Sociale  franpaise 
d'impr,  et  de  libr,)  —  Pastoors ,  Histoire  de  la  ville  de  Cambrai 
pendant  la  Revolution  (1789—1802),  T,  /«•.  (Cambrai^  Masson,)  — 
Bonne fons ,  La  chute  de  la  Republique  de  Venise  (1789 — 1797), 


Neuere  Geschichte.  223 

(Paris,  Petrin  &  Cie.)  —  d'Almeras,  Marie- Antoinette  et  les 
Pamphlets  royalistes  et  r^volutionnaires.  (Paris,  Libr,  mondiale,) 

—  Guibal,  Le  mouvement  fidiraliste  en  Provence  en  1793.  (Paris, 
Plön,  Nourrit  &  Cie,  7,50fr.)  —  Bourgeois,  Le  Giniral  Bona- 
parte  et  la  presse  de  son  ipoque.  2*  sirie.  (Paris,  Champion. 
2,50  fr.)  —  Honig,  Die  Kämpfe  um  Mantua  von  der  2.  bis  zur 
3.  Einschließung  durch  die  Franzosen  August  bis  September  17%. 
(Wien,  Stern.  4  M.)  —  Savini,  La  repubblica  anconitana  (1797 
— 1798).  (Firenze,  Tip.  G.  Carnesecchi  e  figli.)  —  Pagani,  The 
life  of  Antonio  Rosmini-Serbati.  (London,  Routled ge.  7,6  sh.)  — 
Westerburg,  Preußen  und  Rom  an  der  Wende  des  18.  Jahr- 
hunderts. (Stuttgart,  Enke.  7,20  M.)  —  Ernst  v.  Meier,  Franzö- 
sische Einflüsse  auf  die  Staats-  und  Rechtsentwicklung  Preußens 
im  19.  Jahrhundert.   2.  Bd.    (Leipzig,  Duncker  &  Humblot.    12  M.) 

—  Chavanon  »et  Saint- Yves,  Le  Pas-de-Calais  de  1800  ä 
1810.  itude  sur  le  systime  administratif  Institut  par  NapoUon  l^. 
(Paris,  Picard  et  fils.)  —  Guerrini,  La  campagna  napoleonica 
del  1805.  VoL  /.  (Torino,  Olivero  e  C.)  —  Petre,  Napoleon's 
conquest  of  Prussia,  1806.  (London,  Lane.  12,6  sh.)  —  Johs. 
Bauer,  Schleiermacher  als  patriotischer  Prediger.  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  der  nationalen  Erhebung  vor  100  Jahren.  (Gießen, 
Töpelmann.  10  M.)  —  Geschichte  der  Kämpfe  Österreichs.  Krieg 
1809.  2.  Bd.  Italien.  Bearb.  von  Max.  Ritter  v.  Hoen  und  Alois 
Veltz^.  (Wien,  Seidel  &  Sohn.  16  M.)  —  Rosso,  Atto  Vannucci 
(1810—1849).  (Torino,  Lattes  e  C.  5  Lire.)  —  Mdmoires  de  la  com- 
tesse  de  Boigne,  n^e  d'Osmond.  Publiäs  par  Ch.  Nicoullaud.  II 
(1815-1819).  (Paris,  Plön,  Nourrit  &  Cie.  7,50  fr.)  —  Massa- 
rani,  Carlo  Tenca  e  il  pensiero  civile  del  suo  tempo.  (Firenze, 
Succ.  Le  Monnier.  4  Lire.)  —  Guardione,  Il  domin io  dei  Bor- 
boni  in  Sicilia  dal  1830  al  1861  in  relazione  alle  vicende  nazio- 
nali.  Vol.  I.  (Torino,  Soc.  tip.  ed.  Nazionale.  8  Lire.)  —  Hen- 
ning, Die  Erinnerungen  des  Grafen  Chaptal  an  Napoleon  1. 
(Berlin,  Nauck.  2,40  M.)  —  Favaro,  V insurrezione  aquilana 
del  1841,  con  documenti  inediti.  (Roma,  Tip.  Biccheri.)  —  Comte 
de  Chambo rd,  comte  de  Paris  et  duc  d'Or Idans ,  La  Mon- 
archie franpaise.  Lettres  et  documents  politiques  (1844—1907). 
(Paris,  Nou v.  libr.  n ationale.)  —  Quentin-Bauchart,  La- 
martine et  la  politique  dtrangkre  de  la  Revolution  de  f^vrier 
(24  fivrier  ä  24  juin  1848).  (Paris,  Juven.)  —  Nava,  L'Armata 
sarda  nella  giomata  del  24  giugno  1859.   (Roma,  Tip.  Voghera,) 

—  Rob.  Wagner,  Delr  kretische  Aufstand  1866/67  bis  zur  Mission 
Aali  Paschas.  (Bern,  Grünau.  5M.)  —  Matschoß,  Die  Kriegs- 
gefahr von  1867.   Die  Luxemburger  Frage.   (Bunzlau,  Kreuschmer. 


224  Notizen  und  Nachrichten. 

3  M.)  —  Matter,  Blsmarck  et  son  temps.  T.  3:  1870^1898. 
(Paris,  Alcan  et  Guillaumin,  10  fr,)  —  E  g  e  1  h  a  a  f ,  Geschichte 
der  neuesten  Zeit  vom  Frankfurter  Frieden  bis  zur  Gegenwart. 
(Stuttgart,  Krabbe.  6  M.)  —  Ernst  C.  Meyer,  Wahlamt  und  Vor- 
wahl in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika.  Ein  Beitrag 
zur  Verfassungsgeschichte  der  Union,  insbesondere  zur  Geschichte 
der  jüngsten  Verfassungsreformen.    (Leipzig,  Voigtländer.    6  M.) 

Deutsche  Landschaften. 

M.  Reichlin  veröffentlicht  in  den  Mitteilungen  des  bist. 
Vereins  d.  Kantons  Schwyz  18  eine  zehn  Bogen  starke  Abhandlung 
über  die  schweizerische  Oberallmende  bis  zum  Ausgang  des 
15.  Jahrhunderts,  bei  deren  Abfassung  es  jedoch  ohne  mancherlei 
Flüchtigkeiten  nicht  abgegangen  zu  sein  scheint. 

Im  Archiv  des  histor.  Vereins  des  Kantons  Bern  18,  3  ver- 
QÜentlicht  P.  Hof  er  den  1250  Einträge,  darunter  auch  einige  be- 
kannte Namen,  enthaltenden  Bruderschaftsrotulus  der  Kapelle  von 
Oberbüren  aus  dem  Ende  des  15.  und  dem  Anfang  des  16.  Jahr- 
hunderts. —  Im  Archiv  f.  schweizerische  Gesch.  1908,  1  knüpft 
W.  0  e  c  h  s  1  i  an  den  von  G.  Caro  seinerzeit  unternommenen  Nach- 
weis an,  daß  der  von  Tschudi  überlieferte  sogenannte  Einkünfte- 
rodel des  Bistums  Chur,  der  früher  dem  11.  oder  12.  Jahrhundert 
zugeteilt  wurde,  ein  aus  der  Zeit  Ludwigs  des  Frommen  stammen- 
des UHbar  des  Reichsguts  in  Churrätien  sei  (vgl.  99,  665),  um 
damit  den  diese  Charakterisierung  einigermaßen  modifizierenden 
Hinweis  zu  verbinden,  daß  der  von  ihm  zwischen  825  und  831  an- 
gesetzte Rodel  zugleich  aber  ein  Verzeichnis  alles  dessen  enthalte, 
was  das  Bistum  Chur  als  sein  ihm  vom  König  vorenthaltenes 
Eigentum  in  Anspruch  nahm.  Ebenda  handelt  R.  Hoppeler 
über  eine  alte  Briger  Chronik  und  deren  Bericht  von  einem 
Treffen  zu  Hospenthal  (1321)  und  E.  Wy  mann  über  den  Familien- 
stand der  venetianischen  Gesandten  in  Zürich  während  des  17.  Jahr- 
hunderts (nach  den  Registern  des  in  der  Nähe  gelegenen  Klosters 
Fahr,  das  die  Venetianer  zur  Erfüllung  ihrer  religiösen  Pflichten 
aufsuchen  mußten). 

Eine  Arbeit  von  Conr.  Escher-Ziegler:  Eine  schweizerische 
Garnison  zur  Beschützung  der  Neutralität  der  Reichsstadt  Straß- 
burg (103.  Neujahrsblatt  der  Feuerwehr-Gesellschaft  in  Zürich  f. 
d.  Jahr  1908)  behandelt  nach  den  Archivalien  eine  in  die  letzte 
Zeit  vor  dem  Übergang  in  die  französiscfie  Herrschaft  fallende 
Episode,  die  eine  Folge  des  seit  1588  Straßburg  mit  Bern  und 
Zürich  verknüpfenden  Bündnisses  bildet. 


Deutsche  Landschaften.  225 

Als  erstes  Heft  der  von  K.  B  e  y  e  r  1  e  herausgegebenen,  dem 
Ausbau  der  Privatrechtsgeschichte  und  der  Erforschung  stadt- 
rechtlicher Fragen  dienenden  „Deutschrechtlichen  Beiträge*  ist 
eine  Arbeit  von  Herrn.  Arnold  erschienen,  in  der  das  eheliche 
Güterrecht  von  Mülhausen  im  Elsaß  am  Ausgange  des  Mittel- 
alters behandelt  wird  (Heidelberg,  Winter  1906.  72  S.).  Der  Unter- 
suchung liegen  namentlich  die  alten  Gerichtsbücher  aus  den 
Jahren  1438—14%  zugrunde,  aus  denen  in  einem  Urkundenanhang 
zahlreiche  Proben  mitgeteilt  werden. 

Zur  elsässischen  Geschichte  verzeichnen  wir  ferner  außer 
der  Fortführung  der  Arbeit  von  R.  R  e  u  ß  über  das  Volksschul- 
wesen im  Elsaß  zur  Zeit  der  französischen  Revolution,  die  sich 
mit  der  durch  das  kirchliche  Schisma  geschaffenen  Lage  und 
allerlei  Reform  versuchen  beschäftigt  (Annans  de  l'Est  et  du  Nord 
1908,  Januar;  vgl.  100,  460)  einen  in  mancher  Hinsicht  freilich  nicht 
ganz  auf  der  Höhe  stehenden  Aufsatz  von  A.  Hanauer  über 
Hagenau  und  den  Heiligen  Forst  bis  zur  Mitte  des  14.  lahrhunderts 
(Revue  d'Alsace  1908,  Januar -Februar)  und  den  Anfang  einer 
längeren  Abhandlung  von  Ch.  H  o  f  f  m  a  n  n  f  über  die  Grafschaft 
Rappoltstein  im  Jahre  1789  (ebenda,  Januar-April).  ^P.  Wentzcke 
hat  im  Straßburger  Münster-Blatt,  Jahrgang  1907  und  1908  Urkunden 
und  Regesten  zur  Baugeschichte  des  Straßburger  Münsters  von 
778—1275  zusammengestellt. 

In  der  Alemannia  N,  F.  8,  1  u.  2  erläutert  P.  Albert  den 
Inhalt  der  ältesten  Urkunde  der  Stadt  Freiburg,  eines  zwischen 
Konrad  I.  von  Freiburg  und  der  Stadt  sowie  Gottfried  Marschall 
von  Staufen  abgeschlossenen,  in  Abbildung  beigegebenen  Münz- 
vertrags vom  19.  Januar  1259,  um  einige  allgemeinere  Bemer- 
kungen über  die  schnelle  Ausbreitung  der  deutschen  Sprache  in 
den  Freiburger  Urkunden  anzuschließen.  —  In  den  Freiburger 
Münster-Blättern,  Jahrg.  1907  hat  der  gleiche  Verfasser  Regesten 
zur  Geschichte  des  Münsters  aus  der  Zeit  von  1120 — 1248  ver- 
öffentlicht und  in  der  einleitenden  Skizze  der  Entstehungs-  und 
Entwicklungsgeschichte  nachdrücklich  der  höheren  Bewertung  des 
urkundlichen  Materials  das  Wort  geredet. 

Aus  dem  Neuen  Archiv  f.  d.  Gesch.  der  Stadt  Heidelberg 
und  der  rheinischen  Pfalz  7,  4  ist  der  Schluß  der  Mitteilungen 
Th.  Wilckens  über  die  kurpfälzische  und  bayerische  Armee 
unter  Karl  Theodor  im  Jahre  1785  zu  erwähnen  (vgl.  100,  461). 

Eine  bei  Gelegenheit  der  Feier  des  900  jährigen  Bestehens 
des  Bistums  Bamberg  gehaltene  Festrede  von  A.  Dürrwaechter 
behandelt  in  gemeinverständlicher  Form:  Wege  und  Ziele  des 
HittorUcbe  ZeltschrUt  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  15 


226  Notizen  und  Nachrichten. 

Historischen  Vereins  Bamberg  (1907.  33  S.).  —  Aus  den  Verhand- 
lungen d.  histor.  Vereins  von  Oberpfalz  und  Regensburg  erwähnen 
wir  noch  die  Arbeit  von  M.  Siebengartner:  Die  innere  Ein- 
richtung des  Reichsstifts  Obermünster  in  Regensburg  nach  den 
Statuten  des  Jahres  1608. 

Beiträge  zur  Geschichte  der  Universität  Gießen  und  ihrer 
älteren  Mainzer  Schwesteranstalt  bringt  das  Archiv  f.  hessische 
Gesch.  u.  Altertumsk.,  N.  F.  Bd.  5,  1907.  Der  Band  beginnt  mit 
G.  Bauchs  eingehender  Darstellung  des  (in  R.  Stintzings  Entw. 
d.  Rechtsstudiums  nicht  berücksichtigten)  Mainzer  Humanismus^ 
dessen  Spezialgebiet  Jus  (civile)  und  Poätica  waren,  vom  , Vater* 
des  Mainzer  Humanismus  Dietrich  Gresemund  an  bis  auf  Ulrich 
von  Hütten  (etwa  1475  bis  1520).  Abweichend  von  Ulman  hebt 
Bauch  die  Verdienste  hervor,  die  auch  Erzbischof  Berthold  von 
Mainz  sich  um  Förderung  des  Humanismus  erworben.  —  Eben- 
daselbst folgen  Abhandlungen  über  die  Mainzer  Bursen  ^zum 
Algesheimer''  und  ,,zum  Schenkenberg''  und  ihre  Statuten  (Fritz 
Herrmann),    die    Wiederbesetzung    erledigter    Professuren    im 

17.  Jahrhundert  (Heinrich  Schrohe),  die  Ausbildung  von  Pro- 
fessoren der  Rameralwissenschaft   an   der  Universität  Mainz    im 

18.  Jahrhundert  (Wilh.  Stieda),  „zur  Geschichte  des  Pennalismus 
in  Marburg  und  Gießen«  (W.  M.  B  e  c  k  e  r) ,  über  „Alt-Gießen«,  Grün-^ 
dungszeit  der  Stadt,  Lage  und  Reste  der  Gießener  Grafenburg 
(G.  Schenk  zu  Schweinsberg),  ferner  biographische  Auf- 
sätze über  den  ersten  Rektor  der  Mainzer  Hochschule  Jakob 
Weider,  1478-1483  (Franz  Falk),  den  Marburger  Historiker 
Joh.  Balth.  Schupp,  1639—1646  (Wilh.  Diehl),  den  Gießener  Pro- 
fessor und  hessischen  Staatsminister  Chr.  Samuel  Gatzert,  f  1807 
(Jul.  Reinh.  Dieter  ich),  den  Gießener  Juristen  Karl  Ludw.  Wiih.^ 
V.  Grolman  (K.  Esselborn). 

H.  Bastgen,  „Die  Entstehungsgeschichte  der  Trierer  Archi- 
diakonate«  (Trierisches  Archiv,  Heft  10,  1907)  schildert  Entstehung, 
rechtliche  Stellung  und  Amtsbefugnisse  der  Archidiakonate,  ihr 
Verhältnis  zum  Chorepiskopat,  den  Kampf  der  archidiakonalen 
und  bischöflichen  Gewalt  bis  in  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts. 
Daß  die  „Verselbständigung«  der  nur  mit  Domherren  besetzten 
Archidiakonate  mit  der  Umwandlung  des  Domkapitels  aus  einem 
abhängigen  beratenden  Presbyterium  zur  konsensberechtigten 
Korporation  aufs  engste  zusammenhängt,  kommt  nicht  gebührend 
zum  Ausdruck.  —  An  dem  schwierigen  Problem  „Entstehung  der 
bürgerlichen  Selbstverwaltung  in  Trier  im  M.  A.«  versucht  sich 
Kentenich  in  Heft  11  (1907)  derselben  Zeitschrift.    Nach  seiner 


Deutsche  Landschaften.  227 

Meinung  haben  besonders  äußere  Ereignisse,  Kriegsnot  und 
Mauerbau,  zur  Bildung  der  neuen  Bürgergemeinde  geführt,  die 
1 142  durch  coniuratio  entstanden  sei.  —  Am  gleichen  Ort  schildert 
Reimer  den  „Verfall  der  Deutschordensballei  Koblenz  im  15.  Jahr- 
hunderf*,  der  reichsten  unter  den  4  dem  Hochmeister  direkt  unter- 
stellten preußischen  Kammerballeien,  welche  in  den  Niedergang 
des  preußischen  Ordenslandes  hineingezogen  wurden. 

Fr.  Gramer  vertritt  in  der  Zeitschr.  des  Aachener  Gesch.- 
Ver.,  Bd.  29,  1907  die  Ansicht,  daß  die  Ortsnamen  auf  -weiler  (Lehn- 
wort vom  lateinischen  villare)  lediglich  in  den  einst  zum  Imperium 
Romanum  gehörenden  Gebieten  vorkommen.  Nach  seinen  Aus- 
führungen sind  die  Weiler-Ortschaften  im  Aachener  Bezirk  aus 
(vielleicht  römischen)  Herrensiedlungen,  nicht  aus  (germanischen) 
Sippendörfern  hervorgegangen. 

Die  eingehende  Abhandlung  von  Hilar  Schwarz  „Zur  Ge- 
schichte der  rheinischen  Pfalzgrafschaft^  (in  der  Westdeutschen 
Zeitschr.  1907,  Jahrg.  26,  Heft  3)  handelt  über  die  zwischen  dem 
Pfalzgrafen  bei  Rhein  und  Erzstift  Köln  strittigen  Besitzrechte  in 
Zülpich  und  ihre  Wandlungen  seit  dem  10.  Jahrhundert.  Durch 
Feststellung  der  ursprünglichen  Güter  und  Rechte  des  Pfalzgrafen 
sucht  Schwarz,  abweichend  von  der  herrschenden  Ansicht,  den 
Beweis  zu  führen,  „daß  die  Pfalzgrafschaft  eine  Reihe  von  eigent- 
lichen Amtslehen  besessen  habe^.  Solche  erkennt  er  in  der  Vogtei 
und  dem  als  „Palenz"  bezeichneten  Teile  der  Stadt  Zülpich.  — 
Nach  umfangreichem  Aktenmaterial  schildert  L.  Schwering 
ebendaselbst  die  Auswanderung  protestantischer,  wegen  ihres 
Glaubens  1714  aus  Köln  vertriebener  Kaufleute  nach  Mühlheim  a.  R., 
^as  gleich  anderen  Ortschaften  dem  Zuwachs  protestantischer 
Familien  einen  bedeutenden  Aufschwung  verdankte. 

Die  Beiträge  zur  Gesch.  d.  Niederrheins  Bd.  21,  1907  ent- 
halten ausführliche  Abhandlungen  von  W.  Holtschmidt  über 
die  Kölner  Stadtverfassung  vom  Sturze  der  Geschlechterherrschaft 
(13%)  bis  1513,  ihre  Organe,  den  neuen  Rat  und  seine  Macht- 
befugnisse, das  Bürgermeisteramt,  die  Aufstände  1481/82  und  1512/13, 
von  Hans  Mosler  über  den  „Düsseldorfer  Rheinzoll  bis  zum 
Ausgang  des  16.  Jahrhunderts*",  seine  Geschichte  und  Einrichtung 
(mit  urkundlichen  Beilagen). 

Wilh.  M  a  r  r  ^ ,  Die  Entwicklung  der  Landeshoheit  in  der  Graf- 
schaft Mark  bis  zum  Ende  des  13.Jahrh.  Dortmund,  F.W.Ruhfus.  1907. 
Nach  einleitenden  Ausführungen  über  „Entstehung  und  Entwick- 
lung der  Grafschaft  Mark^  bis  1243,  d.  i.  bis  zu  dem  Zeitpunkt, 
in  dem  das  Territorium  im  wesentlichen  seine  spätere  Ausdehnung 

15^ 


228  Notizen  und  Nachrichten. 

gewonnen  hat,  erörtert  Marr^  den  Ursprung  der  Landesherrlich- 
keit Er  gibt  zu,  daß  auch  in  der  Mark  der  Besitz  voller  Gerichts- 
barkeit, der  Grafschaft  und  vogteilicher  Gerechtsame  die  Grund- 
lage für  die  Entwicklung  gebildet  habe.  Aber  er  macht  der 
grundherrlichen  Theorie  doch  eine  Konzession :  Daß  es  den  Grafen 
nur  südlich,  nicht  nördlich  der  Lippe  gelungen  ist,  die  Landes- 
herrlichkeit zu  erwerben,  erklärt  er  aus  dem  Mangel  „ausgedehnter, 
grundherrlicher  Komplexe^  im  Norden  des  Flusses.  Nun  mochte 
es  der  landesherrlichen  Gewalt  freilich  schwer  fallen,  sich  zur 
Geltung  zu  bringen,  wenn  sie  „nicht  durch  finanzkräftigen  Grund- 
besitz unterstützt  war*".  Aber  der  „Hauptgrund''  (S.  31)  für  das 
Mißlingen  der  gräflichen  Versuche  nördlich  der  Lippe  ist  gewiß 
nicht  im  Mangel  „ausgedehnten  Grundbesitzes'',  sondern  in  der 
Tatsache  zu  sehen,  daß  es  nicht  den  Grafen,  sondern  den  Bischöfen 
von  Münster  gelungen  ist,  dortselbst  die  Gogerichtsbarkeit  zu  er- 
werben. —  In  einer  Arbeit  über  Entstehung  der  Landeshoheit 
(richtiger  hieße  es  „Landesherrlichkeit";  vgl.  O.Gierke,  Genossen- 
schaftsrecht 1, 535.  536)  müßte  der  entscheidende  Einfluß,  den  das 
Lehenswesen  in  seiner  eigentümlichen  Entwicklung  ausgeübt  hat, 
zum  mindesten  erwähnt  werden.  Wie  es  meist  geschieht,  so  hat 
sich  auch  M.  darauf  beschränkt,  die  Entstehung  des  Territoriums, 
Erwerbung  und  Entwicklung  jener  gräflichen,  vogteilichen  und 
sonstigen  öffentlichen  Gerechtsame  zu  schildern,  welche  Grund- 
lage und  notwendige  Voraussetzung  für  die  Bildung  der  landes- 
herrlichen Gewalt  gewesen  sind.  „Der  wichtigste  Hebel"  aber 
für  die  Ausbildung  der  Landesherrlichkeit  ist  die  Umwandlung 
der  Amter  in  Lehen  gewesen  (Brunner,  Grundriß  S.  141).  Erst 
die  Feudalisierung  des  Amtes  und  der  Gerichtsgewalt  hat  den 
gräflichen  Beamten  zum  Inhaber  eigenen  Rechtes,  zum  Landes- 
herrn gemacht.  Indem  Marr^  diese  Entwicklung  ignoriert,  hat 
er  einen  sehr  wesentlichen  Teil  seiner  Aufgabe  unbeachtet 
gelassen.  Auf  welchem  Wege  man  sich  eriolgreich  der  Lösung 
des  schwierigen  Problems  nähern  kann,  läßt  H.  Fehrs  Monographie 
über  „die  Entstehung  der  Landeshoheit  im  Breisgau"  (Leipzig, 
1904)  erkennen,  die  bei  Arbeiten  dieser  Art  nicht  übersehen 
werden  darf.  Spangenberg. 

In  den  Rahmen  der  bekannten,  von  AI.  Schulte  angeregten 
Forschungen  gehört  G.  Finks  Untersuchung  über  die  „Standes- 
verhältnisse in  Frauenklöstern  und  Stiftern  der  Diözese  Münster 
und  Kloster  Herford"  (Westfäl.  Zeitschr.  für  vateri.  Gesch.  1907, 
Bd.  65).  In  den  reichsunmittelbaren  Klöstern  Herlord  und  Vreden 
und  sechs  anderen  reichsmittelbaren  westfälischen  Stiftern,  deren 
Zusammensetzung  Fink  prüft,  sind  die  Äbtissinnen  sämtlich  oder 


Deutsche  Landschaften.  229 

größtenteils  adeliger  Geburt,  die  Konventsmitglieder  aber  (be- 
sonders seit  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts)  teilweise  oder 
ausschließlich  ministerialischer,  zum  geringen  Teil  hier  und  dort 
auch  bürgerlicher  Herkunft  gewesen.  —  AI.  Meister  beschließt 
im  gleichen  Bande  seine  Abhandlung  „Das  Herzogtum  Westfalen 
in  der  letzten  Zeit  der  kurkölnischen  Herrschaft**  (Gerichts- 
wesen, innere  Verwaltung,  Gewerbe-,  Heer-,  Kirchenwesen  usw.), 
W.  Richter  die  eingehende  Schilderung  vom  „Obergang  des 
Hochstifts  Paderborn  an  Preußen*'  (bis  zur  zweiten  Besitznahme 
des  Fürstentums  durch  Friedrich  Wilhelm  III.  im  November  1813), 
vgl.  H.  Z.  Bd.  99,  S.  227.  —  Linneborn  behandelt  die  katholische 
Reform  des  Kölner  Erzbischofs  Adolf  III.  von  Schaumburg  (1547 
bis  1556)  in  Westfalen,  P.  Druffel  das  münstersche  Medizinal- 
wesen von  1750  bis  1818. 

Die  dankenswerte  Arbeit  von  Martin  Stalman,  „Beiträge 
zur  Geschichte  der  Gewerbe  in  Braunschweig  bis  zum  Ende  des 
14.  Jahrhunderts**,  in  der  Zeitschr.  des  Harzvereins  f.  Gesch.  1907, 
Jahrg.  40,  Heft  2  beginnt  mit  einer  Statistik  der  in  Braunschweig 
nachgewiesenen  95  Gewerbearten  und  Aufzählung  der  Innungs- 
briefe; im  zweiten  Abschnitt  behandelt  sie  die  organisierten  Ge- 
werbe Braunschweigs  (1.  Verfassungsgesch.  der  Zünfte,  2.  Die 
Zünfte  als  Wirtschaftsgenossenschaften).  —  Es  folgt  eine  historisch- 
topographische Studie  Otto  Gerlands  über  die  von  nieder- 
ländischen Ansiedlern  bewohnte  „Dammstadt  von  Hildesheim**.  — 
Aus  der  Publikation  M.  Lehmanns  „Preußen  und  d.  kath.  Kirche'* 
und  den  Archivbeständen  des  Klostergutes  Hadmersleben  schöpft 
H.  Eckerlin  das  Material  zu  seinem  am  gleichen  Ort  veröffent- 
lichten Aufsatz  „Die  Halberstädter  Klöster  unter  brandenburgischer 
Herrschaft**,  wo  er  das  Verhältnis  des  großen  Kuriürsten,  König 
Friedrichs  I.  und  Friedrich  Wilhelms  I.  zu  den  katholischen  Stiftern 
der  Stadt  darstellt. 

Die  Bedeutung  der  Stadt  Schleswig  „als  Vermittlerin  des 
Handels  zwischen  Nord-  und  Ostsee  vom  9.  bis  in  das  13.  Jahr- 
hundert** erörtert  A.  Kiesselbach  in  der  Zeitschr.  d.  Ges.  f. 
Schleswig-Holsteinische  Gesch.,  Bd.  37,  1907. 

In  der  Zeitschrift  des  Ver.  f.  Gesch.  Schlesiens,  Bd.  41,  1907 
liefert  G.  Bauch  Beiträge  zur  Lebensgeschichte  des  schlesischen 
Reformators  Johann  Heß  und  weist  in  einem  zweiten  Aufsatz 
„Schlesien  und  die  Universität  Krakau  im  15.  und  16.  Jahrhundert* 
den  starken  Besuch  der  Krakauer  Universität  durch  schle^ 
sische  Studenten  aus  Matrikeln,  Promotionsbüchern  u.  dgl.  nach* 
G.  Schönaichs  Abhandlung  „Die  Entstehung  der  schlesischen 


230  Notizen  und  Nachrichten. 

Stadtbefesti^ungen'  führt  frühere  Studien  zur  Stadtgeschichte  fort; 
vgl.  H.  Z.  Bd.  97,  S.  693. 

In  den  Untersuchungen  zur  deutschen  Staats-  und  Rechts- 
geschichte Heft  80  (Breslau,  Marcus)  veröffentlicht  Dr.  Alois 
Win^arz,  Privatdozent  an  der  Universität  Lemberg,  eine 
Abhandlung  über  Erbleihe  und  Rentenkauf  in  Osterreich  ob 
und  unter  der  Enns  im  Mittelalter.  Die  fleißig  gearbeitete 
Schrift  stützt  sich  namentlich  auf  das  ziemlich  zahlreich  in  den 
Urkundenbüchern  der  niederösterreichischen  Stifter  und  den 
Quellen  zur  Geschichte  der  Stadt  Wien  vorliegende  gedruckte 
Material.  Sie  schließt  sich  an  die  herrschenden  Ansichten  ins- 
besonders  an  die  Theorien  von  Arnold,  Inama  und  Rietschel  an. 
Allerdings  ist  Niederösterreich,  das  für  den  Verfasser  im  wesent- 
lichen in  Betracht  kommt,  nicht  das  Land,  in  dem  die  Lösung 
der  so  bestrittenen  Frage  nach  Entstehung  der  freien  Erbleihe 
gefunden  werden  kann.  Kolonialland,  hat  es  die  Leiheverhältnisse 
nicht  selbständig  entwickelt,  sondern  von  außen  übernommen. 
Zuerst  herrscht  die  Vitalleihe  vor,  erst  später  hat  sich  die  Erb- 
leihe entwickelt.  Doch  gibt  es  auch  viele  schlechtere  Leihen  zu 
Baumanns-  oder  Preisassenrecht.  Die  Erbleihe  taucht  auch  hier 
zuerst  in  den  Städten  auf,  daher  wird  sie  vorzugsweise  als  Burg- 
recht bezeichnet.  Nach  Rietschels  Vorgang  sucht  der  Verfasser 
auch  nach  Gründerleihen.  Es  hat  deren  jedenfalls  mehr  gegeben, 
als  aus  den  Urkunden  ersichtlich  ist.  Denn  alle  österreichischen 
Städte  und  Märkte  sind  Neugründungen.  Privatrechtlich  nehmen 
sie  keine  Sonderstellung  ein.  Was  Rechte  und  Pflichten  der 
Leiheherrn  und  Burggenossen  betrifft,  weisen  die  österreichischen 
Leihen  keinerlei  Sonderheiten  auf.  Nur  die  Fristen  für  das  An- 
wachsen des  versessenen  Zinses  der  „zwispild''  sind  auffallend 
kurze.  Aus  den  Erbleihen  haben  sich  Renten  und  Rentenkauf 
entwickelt,  die  in  den  österreichischen  Städten  eine  große  Rolle 
gespielt  haben.  Sie,  aber  auch  die  Erbleihen,  wurden  durch  die 
Verordnungen  Rudolfs  IV.  getroffen,  deren  Bedeutung  der  Ver- 
fasser neuerdings  vor  Augen  stellt.  Zuletzt  wird  das  Bergrecht 
behandelt,  eine  Erbleihe  an  Weinbergen,  die  in  Niederösterreich, 
aber  auch  in  den  innerösterreichischen  Ländern  eine  große  Rolle 
spielt.  H.  VoUelini. 

Die  Land-  und  peinliche  Gerichtsordnung  Erzherzog  Karls  II. 
für  Steiermark  vom  24.  Dezember  1574  hat  in  Dr.  Fritz  Byloff 
einen  Bearbeiter  gefunden  (Forschungen  zur  Verfassungs-  und 
Verwaltungsgeschichte  der  Steiermark,  6.  Bd.,  3.  Heft.  Graz,  Styria. 
1907),  der  sich   bei  Ausarbeitung  seiner  Schrift   der  Materialien 


Deutsche  Landschaften.  231 

des  verstorbenen  Professors  Dr.  Karl  Hiller  bedient  hat.  Die 
Landgerichtsordnung  ist  das  hervorragendste  Produkt  der  Gesetz- 
gebung des  16.  Jahrhunderts  in  Innerösterreich  geblieben.  Der 
Verfasser  verfolgt  die  Geschichte  dieses  Gesetzes  und  stellt  seine 
Quellen  fest.  Das  Interessante  bei  dieser  Kodifikation  ist,  daß 
sie,  wie  so  manche  andere,  nicht  vom  Landesfürsten,  sondern  von 
den  Ständen  veranlaßt  worden  ist,  um  der  Sonderstellung  eines 
der  Landgerichte,  des  Wolkensteinschen  im  Ennstal,  die  bis  zu 
dessen  Trennung  vom  Lande  zu  führen  drohte,  ein  Ende  zu 
machen.  Denn  daß  bereits  Maximilian  I.  eine  Landesordnung 
erlassen  hat,  wie  man  wohl  geglaubt  hat,  erweist  sich  nach  den 
Ausführungen  des  Verfassers  als  unrichtig.  Der  Landesfürst,  der 
an  der  bestrittenen  Sonderstellung  festhält,  um  seine  Privilegien- 
hoheit zu  wahren,  ist  es,  der  das  Zustandekommen  des  Gesetzes 
verzögert.  Erst  Erzherzog  Karl  II.  nimmt  dies  Unternehmen 
energisch  in  die  Hand  und  bringt  die  Kodifikation  zum  Abschluß. 
Drei  Entwürfe  konnte  der  Verfasser  feststellen,  die  sämtlich  von 
den  Ständen  ausgearbeit  wurden;  der  erste  bot  örtliches  Recht, 
der  zweite  benutzte  Landesordnungen  der  benachbarten  öster- 
reichischen Länder,  der  dritte  den  Codex  Criminalis  Carolinas, 
Der  Landesfürst  ist  es,  der  auf  die  Benutzung  der  außerprovin- 
ziellen Rechtsquellen  dringt  und  auch  zuletzt  der  Annahme  des 
schriftlichen  Prozesses  mit  seinen  Formen,  wie  er  in  der  Karolina 
ausgeprägt  war,  das  Wort  spricht.  Das  Gesetz  selber  stellt  sich 
als  Kompilation  örtlichen  Rechtes,  einzelner  Sätze  der  österreichi- 
schen Landgerichtsordnungen,  vor  allem  der  niederösterreichi- 
schen vom  21.  August  1514,  und  namentlich  der  Karolina  dar. 

H.  VoltelinL 

Alfr.  Nagl  schreibt  in  der  Numismat.  Zeitschr.,  Wien  1907, 
Bd.  38  über  ,das  Tiroler  Geldwesen  unter  Erzherzog  Siegmund 
und  die  Entstehung  des  Silberguldens''.  Erzherzog  Siegmund 
(1446—1490)  hat  das  Verdienst,  nicht  nur  zielbewußter  als  irgend 
ein  anderer  Herrscher  jener  Zeit  den  rechten  Weg  zur  Aufbesse- 
rung des  Geldwesens  seines  Landes  eingeschlagen,  sondern 
auch  hierdurch  den  Anstoß  zu  einer  gründlichen  Reform  des 
deutschen  Geldwesens  gegeben  zu  haben.  Die  silbernen  Gulden- 
groschen Siegmunds  sind  die  ersten  Münzen  „auf  deutschem 
Boden,  mit  deren  Darstellung  Porträtähnlichkeit  des  Münzherrn 
angestrebt  wurde**  (S.  94). 

K.  Fajkmajer,  „Die  Ministerialen  des  Hochstifts  Brixen**, 
in  der  Zeitschr.  d.  Ferdinandeums  3.  Folge,  Heft  52  erörtert  den 
Ursprung  der  Ministerialen,   ihre  Entwicklung  vor  und  nach  dem 


232  Notizen  und  Nachrichten. 

Ausscheiden  aus  der  „familia*  des  Hochstifts,  die  Erwerbung 
öffentlicher  Rechte  durch  die  Ministerialen  (Gerichtsbarlceit,  Vogtei), 
ihren  Einfluß  auf  die  Verfassung  des  Hochstifts  (Mitwirkung  bei 
der  Bischofswahl,  Konsensrecht),  rechtliche  Stellung,  Ehe-  und 
GQterrecht.  Auch  im  Hochstift  Brixen  hat  es  ^milites"  von  Mini- 
sterialen, ritterliche  Eigenleute  gegeben  (S.  37  ff.),  deren  Existenz 
zuerst  Zallinger  für  Osterreich  und  Steiermark  nachwies.  Das 
sichtliche  Streben  Fajkmajers  nach  gründlicher  Erforschung  seines 
Gegenstandes  wäre  bei  genügender  Verwertung  der  Literatur  zweifel- 
los noch  erfolgreicher  gewesen.  Die  Ausführungen  z.  B.  über  Ver- 
schmelzung der  Ministerialen  und  freien  Ritter  (S.  25  ff.)  würde 
Fajkmajer,  wenn  er  Gierkes  Genossenschaftsrecht  (1, 198  ff.)  und 
V.  Belows  Landständische  Verfassung  in  Jülich  (1,  6  ff.)  ver- 
wertet hätte,  gewiß  wesentlich  modifiziert  und  berichtigt  haben. 
Auch  Ph.  Hecks  und  W.  Wittichs  Arbeiten  sind  nicht  berücksich- 
tigt worden.  Daß  „speziell  der  Burggrafendiensf",  der  doch  im 
Hochstift  nur  von  wenigen  versehen  werden  konnte,  „zur  Aus- 
bildung eines  mächtigen  Ministerialenstandes  geführf*  habe,  ist 
zum  mindesten  stark  übertrieben.  Sp. 

Neue  Bficber:  Blaum,  Das  Geldwesen  der  Schweiz  seit 
1798.  (Straßburg,  Trübner.  4,50  M.)  —  Klinke,  Das  Volksschul- 
wesen des  Kantons  Zürich  zur  Zeit  der  Helvetik  (1798—1803). 
(ZUrich-Selnau,  Gebr.  Leemann  &  Co.  4  M.)  —  Peter,  Zur  Ge- 
schichte des  zürcherischen  Wehrwesens  im  17.  Jahrhundert.  (Zürich, 
Schultheß  &  Co.  4M.)  —  Escher,  Die  Staatsgefangenen  auf 
Aarburg  im  Winter  1802/03.  Aus  den  Aufzeichnungen  des  Seckel- 
meisters  Joh.  Caspar  Hirzel.  (Zürich,  Fäsi  &  Beer.  3  M.)  — 
Lahusen,  Zur  Entstehung  der  Verfassung  bairisch-österreichi- 
scher  Städte.  (Berlin,  Rothschild.  2  M.)  —  Lurz,  Mittelschul- 
geschichtliche Dokumente  Altbayerns.  1.  Bd.  Geschichtlicher 
Oberblick  und  Dokumente  bis  zur  Mitte  des  16.  Jahrhunderts. 
(Berlin,  Hof  mann  &  Co.  9  M.)  —  Siegm.  Keller,  Patriziat  und 
Oeschlechterherrschaft  in  der  Reichsstadt  Lindau.  (Heidelberg, 
Winter.  3,20  M.)  —  Gerlach,  Chronik  von  Lauchheim.  Geschichte 
der  ehemaligen  Deutschordenskommende  Kapfenburg.  (Ellwangen, 
Bucher.  3  M.)  —  Ch.  Hoffmann,  La  Haute- Alsace  ä  la  veilie 
de  la  r^volution.  IV,  V.  Pub/,  p.  Ingoid.  (Colmar,  Hüffel.  6,40  M.) 
—  Regesten  der  Bischöfe  von  Straßburg.  1.  Bd.,  1.  Tl.  Herm. 
Bloch,  Die  elsässischen  Annalen  der  Stauferzeit.  (Innsbruck, 
Wagner.  14  M.)  —  Küchler,  Chronik  der  Stadt  Kaiserslautern 
aus  den  Jahren  1566—1798.  (Kaiserslautern,  Rohr.  12,50  M.)  — 
Schotte,  Studien  zur  Geschichte  der  westfälischen  Mark  und 
Markgenossenschaft  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Münster- 


Vermischtes.  233 

landes.  (Münster  i.W.,  Coppenrath.  3  M.)  —  Meister,  Das  Herzog- 
tum Westfalen  in  der  letzten  Zeit  der  kurkölnischen  Herrschaft. 
(Münster  i.  W.,  Selbstverlag.  1,60  M.)  —  Rud.  Schulze,  Die 
Landstände  der  Grafschaft  Mark  bis  zum  Jahre  1510.  (Heidelberg, 
Winter.  4,60  M.)  —  Thoms,  Die  Entstehung  der  Zünfte  in  Hil- 
desheim. (Braunschweig,  Wagner.  2,50  M.)  —  Z e c h ii  n ,  Lüne- 
burgs Hospitäler  im  Mittelalter.  (Hannover,  Hahn.  1,50  M.)  — 
Hans  Gg.  Schmidt,  Die  evangelische  Kirche  der  Altmark,  ihre 
Geschichte,  ihre  Arbeit  und  ihr  Einfluß.  (Halle,  Strien.  5  M.)  — 
Consentius,  Alt-Berlin.  Anno  1740.  (Berlin,  Schwetschke 
A  Sohn.  3  M.)  —  B  erb  ig,  Bilder  aus  Coburgs  Vergangenheit. 
2.  TL  (Leipzig,  Heinsius  Nachf.  2,50  M.)  —  Weidner,  Gotha 
in  der  Bewegung  von  1848.  (Gotha,  Perthes.  4,50  M.)  —  Berth. 
Schmidtjund  Carl  Knab,  Reußische  Münzgeschichte.  (Dresden, 
Baensch.  16  M.)  —  v.  Mansberg,  Erbarmanschaft  wettinischer 
Lande.  Urkundliche  Beiträge  zur  obersächsischen  Landes-  und 
Ortsgeschichte  in  Regesten  vom  12.  bis  Mitte  des  16.  Jahrhunderts. 
4.  (Schluß-)  Bd.  (Dresden,  Baensch.  75  M.)  —  Teutsch,  Ge- 
schichte der  Siebenbürger  Sachsen.  Bd.  2.  (Hermannstadt,  Krafft.) 
—  Wopfner,  Die  Lage  Tirols  zu  Ausgang  des  Mittelalters. 
(Berlin,  Rothschild.  6  M.)  —  G  h  o  n ,  Oberkärnten  unter  franzö- 
sischer Herrschaft.    (Villach,  Liegel.    1  M.) 

Verinischtes. 

Das  Organisationskommitee  des  Interna  tu  onalen  Kon- 
gresses für  historische  Wissenschaften,  der  vom  6. 
bis  12.  August  in  Berlin  stattfinden  wird,  versendet  das  Programm 
der  Tagung.    Die  Leser  finden  es  diesem  Hefte  beigelegt. 

Die  letzten  Nummern  des  Korrespondenzblatts  des  Gesamt- 
vereins 56,  2  und  3  bringen  außer  einigen  Jahresberichten 
kleinerer  Geschichtsvereine  den  ausführlichen  Bericht  über  die 
letzte  Tagung  des  Gesamtvereins  in  Mannheim. 

Die  Satzungen  der  HistorischenKommission  für  das 
Großherzogtum  Hessen  (vgl.  H.  Z.  100,  236)  sind  nunmehr 
festgestellt  und  im  Hessischen  Regierungsblatt  (1908,  S.  32)  mit- 
geteilt. Die  Kommission  besteht  demnach  aus  dem  Minister  des 
Innern  und  fünfzehn  vom  Großherzog  auf  Vorschlag  der  Kommis- 
sion ernannten  Mitgliedern.  Außerdem  sollen  die  Vertreter  von 
Körperschaften  und  Vereinen ,  die  einen  Jahresbeitrag  von 
wenigstens  1000  M.  leisten,  Sitz  und  Stimme  in  der  Kommission 
haben.  An  staatlichen  Mitteln  sind  für  das  laufende  Jahr  zu- 
nächst 2000  M.  für  die  Zwecke  der  Kommission  zur  Verfügung 


234  Notizen  und  Nachrichten. 

gestellt  worden.  Auch  von  den  Provinzialverwaltungen  und  den 
bedeutenderen  Städten  des  Landes  sind  größere  Zuschüsse  zu 
erwarten.  Die  Feststellung  des  Arbeitsprogramms  ist  noch  nicht 
erfolgt. 

Der  Historische  Verein  für  Dortmund  und  die 
Grafschaft  Mark  hat,  wie  wir  dem  35.  Jahresbericht  ent- 
nehmen, u.  a.  Heft  15  und  16  der  Beiträge  zur  Geschichte  Dort- 
munds und  der  Grafschaft  Mark  an  seine  Mitglieder  verteilen 
können.  In  Vorbereitung  ist  ein  Ergänzungsband  zum  Dort- 
munder Urkundenbuch,  bearbeitet  von  Rubel,  sowie  Urkunden 
der  Stadt  Iserlohn,  die  ebenfalls  von  Rubel  bearbeitet  werden, 
und  das  Klarenberger  Urkundenbuch  von  Merx. 

Preisaufgaben:  Die  Teylersche  Theologische 
Gesellschaft  zu  Haarlem  hat  zur  Beantwortung  bis  zum 
1.  Januar  1910  folgende  Preisaufgaben  wiederholt: 

1.  9 Die  Gesellschaft  verlangt  eine  Antwort  auf  die  Frage: 
Welche  Rolle  hat  das  Luthertum  gespielt  im  Niederländischen 
Protestantismus  vor  1618,  welchen  Einfluß  haben  Luther  und  die 
deutsche  Reformation  auf  die  Niederlande  und  auf  Niederländer 
geübt,  und  wie  ist  es  zu  erklären,  daß  diese  Richtung  gegenüber 
anderen  in  den  Hintergrund  getreten  ist?** 

2.  „Wie  verhält  sich  der  Calvinismus  unserer  Tage  zu  dem 
des  16.  Jahrhunderts  hinsichtlich  seiner  Lehren?** 

Der  Preis  besteht  in  einer  goldenen  Medaille  von  400  fl.  an 
innerem  Wert.  —  Die  Arbeiten  sind  in  der  üblichen  Form  ein- 
zureichen —  deutsche  nur  mit  lateinischer  "Schrift I  —  an:  ,,/%»//- 
datiehuis  van  wjilen  den  Heer  P.  Teyler  van  der  Hülst,  te 
Haarlem,*^ 

Preisaufgaben  der  Fürst  1.  Jablonowskischen 
Gesellschaft:  Der  Termin  für  die  Einreichung  von  Bearbei- 
tungen der  für  1907  ausgeschriebenen  Preisaufgabe  über  Deutsche 
Kulturgeschichtsschreibung  ist  bis  zum  30.  November 
1908  hinausgeschoben.  Weiter  stellt  die  Gesellschaft  u.  a. 
folgende  Aufgaben:  Für  den  30.  November  1908:  „Eine  syste- 
matisch vergleichende  Darstellung  der  Wirtschafts- 
gesetzgebung der  größeren  deutschen  Territorien 
in  der  Zeit  vom  15.  Jahrhund ert  bis  zum  Beginn  des 
dreißigjährigen  Krieges  unter  besonderer  Hervorhebung 
ihres  gleichartigen  wirtschaftspolitischen  Ideengehalts'';  für  den 
30.  November  1909  wird  die  schon  früher  gestellte  Aufgabe  wieder- 
holt: „Eine  Darstellung  des  griechischen  Finanz- 
wesens, die  auf  die  literarischen  und  besonders  die  Inschrift- 


Vermischtes.  23^* 

Ikhen  Quellen  zu  gründen  und  wenigstens  bis  auf  die  Zeit  der 
römischen  Herrschaft  herabzuführen  ist.*"  Näheres  durch  den 
Sekretär  der  Gesellschaft  (für  1908,  Professor  Dr.  Otto  Wiener, 
Leipzig,  Llnn^straße  4),  an  den  auch  die  Bewerbungsschriften, 
wie  üblich  mit  Kennwort  versehen,  zu  senden  sind.  Preis  je 
1500  M. 

Für  den  ersten  Preis  der  v.  Frege-Weltzienstiftung 
stellte  die  Kgl.  SächsischeKommission  fürGeschichte 
die  Aufgabe:  „Der  Einfluß  der  Kontinentalsperre  auf  die  Ent- 
wicklung des  Wh-tschaftsiebens  im  Königreich  Sachsen  soll  mög- 
lichst allseitig  so  untersucht  werden,  daß  die  Ergebnisse  sichere 
Bausteine  zu  einer  vertieften  Geschichte  Sachsens  in  der  Zeit 
Friedrich  Augusts  des  Gerechten  bieten.'^  Bearbeitungen  sind 
unter  Beigabe  des  Namens  des  Verfassers  in  einem  verschlos- 
senen Briefumschlage,  der  ein  Kennwort  und  eine  Adresse  für 
die  Rücksendung  des  Manuskriptes  tragen  muß,  bis  zum  1.  Sep- 
tember 1910  an  die  Kgl.  Sächsische  Kommission  für  Geschichte, 
Leipzig,  Universität,  Bornerianum  einzusenden.    Preis  1000  M. 

Zur  Bearbeitung  der  Geschichte  der  privaten  wie  der  so- 
zialen Versicherung  in  Deutschland  schreibt  der  Deutsche 
Verein  für  Versicherungswissenschaft  zunächst  fol- 
gende Preisaufgaben  aus:  1.  Geschichte  der  Lebensver- 
sicherung in  Deutschland,  2.  Geschichte  der  Feuerver- 
sicherung in  Deutschland.  Preis  je  2500  M.  Näheres  beim 
General-Sekretariat  des  Vereins,  Berlin  W.  50,  Pragerstraße  26. 

Unsere  Totenliste  hat  an  erster  Stelle  den  Namen  eines 
der  Großen  unserer  Wissenschaft  zu  nennen.  Am  21.  April  ist 
Theodor  v.  Sickel  (geb.  1826  zu  Aken  in  der  Provinz  Sachsen) 
in  Meran  gestorben.  Sein  Lebenswerk  war  längst  abgeschlossen. 
Den  klar  umgrenzten  Platz,  den  er  in  der  Geschichte  der  mittel- 
alterlichen Geschichtsforschung  einnimmt,  hat  er  sich  im  wesent- 
lichen schon  durch  seine  ,,Beiträge  zur  Diplomatik*^  (1861  ff.)  und 
den  ersten  Band  der  „Acta  regum  et  imperatorum  Karolinorum" 
(1867)  bereitet.  Man  weiß,  daß  diese  Schriften  nicht  weniger  als 
eine  neue  Grundlegung  der  Diplomatik  in  sich  schließen.  Ihre 
Gedanken  hat  er  im  Dienste  der  Monumenta  Germaniae  als  Leiter 
der  Diplomata  und  als  Bearbeiter  der  Königsurkunden  bis  auf 
Otto  III.  in  fruchtbarer  Tätigkeit  verwertet  und  erweitert.  Seine 
organisatorischen  Fähigkeiten  sind  insbesondere  seinem  zweiten 
Vaterlande  Österreich  zugute  gekommen.  Das  Istituto  austriaca 
zu  Rom,  vor  allem  aber  das  Wiener  Institut  für  österreichische 
Geschichtsforschung  verdanken  ihm  die  erste  Blüte. 


236  Notizen  und  Nachrichten. 

Die  Französische  Akademie  hat  zwei  Mitglieder  verloren: 
Arthur  de  Boislisle  (geb.  1835),  als  Sekretär  der  SocUU  de 
l'histoire  de  France  und  durch  seine  Forschungen  auf  dem  Ge- 
biete der  französischen  Wirtschaftsgeschichte  bekannt,  und  Emile 
Gebhart  (geb.  1839  in  Nancy),  dessen  Andenken  manche  fein- 
sinnige Arbeiten  zur  Geschichte  und  Kunst  der  Renaissance 
wachhalten  werden. 

Adolf  Wrede,  der  sich  besonders  durch  seine  Mitarbeit  an 
der  jüngeren  Reihe  der  deutschen  Reichstagsakten  verdient  ge- 
macht hat,  ist  am  5.  April  in  Göttingen  gestorben. 


Historische  Zeitsclirift 

Begrfindet  von  HEINRICH  v.  SYBBL 


Unter  Mitwirkung  von 

Paul  Bailleu,  Otto  Hintze,  Otto  Krauske, 

Max  Lenz,  Sigm.  Riezier,  Moriz  Ritter,  Konrad  Varrentrapp, 

Karl  Zeumer 

herausgegeben  von 

FRIEDRICH  MBINBCKB 


Dritte  Folge  —  5.  Band  —  2.  Heft 
Der  ganzen  Reihe  101.  Band 


MÜNCHEN  UND  BERLIN 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  R.  OLDENBOURG 
1908. 


Zur  gefl.  Beachtung! 


Die  HISTORISCHE  ZEITSCHRIFT  (a.  Folge)  erscheint  in  Heften  von  k  15  Bogen 

Umfing  in  zweimonatliclien  ZwitclienrXunien.  Je  3  Hefte  bilden  einen  Band,  dessen 

Inlialtsverzeichnis  sicti  jeweils  sm  Schlüsse  des  dritten  Heftes  befindet 

Der  Preis  eines  Bandes  (45  Bogen)  betrigt  M.  14.—. 


Sendungen  fUr  die  Redaktion   der  Historischen  Zeitschrift  sind  an  Prof.  Dr. 
MEINECKE,  FREIBURG  i.  B.,  Längenhardstraße  3,  zu  richten. 

Rezensionsexemplare 

sind  entweder  direkt  an  die  Redaktion  oder  an  die  Verlagsbuchhandlung 

R.  OLDENBOURG,  MÜNCHEN,  GiUckstraße  8,  zu  senden. 

Die  Versendung  der  zur  Besprechung  einlaufenden  BUcher  an  die  Rezensenten 

erfolgt  durch  die  REDAKTION. 


INHALT. 


Aufsätze. 


Seite 


Die  Missionsplttne  des  Ignatius  von  Loyola  und  die  Gründung  des  Jesuiten- 
kollegs in  Messina  im  Jahre  1548.    Von  Friedrich  Meyer 237 

Das  römische  Kircbenrecht  und  der  Westfilische  Friede.    Von  Moriz  Ritter  253 

Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.    Von  Adalbert  Wahl     .    .  283 

Miszellen. 

Zur  Geschichte  des  Icarolingischen  Kriegswesens.    Von  W.  Erben 321 

Die  Denkschrift  des  Grafen  von  Finckenstein  .Über  die  Freiheiten  der  Ritter- 
schaft' (1811)     Veröffentlicht  von  Friedrich  Meusei       337 


Literaturbericht. 


Seite 
Alte  Geschichte. 
G.  de  Sanctis,  Storia  dei  Romani, 

la  conquista  del  primato  in  Italia    350 
Smith,  Die  römische  Tiraokratie  .    353 
B 1  a  n  c  b  e  t ,  Les  Enceintes  Romaines 
de  la  Gaule 354 

Geschichte  des  Christentums. 
Untere  religiösen  Erzieher.  Heraus- 
gegeben von  C.  Beß 356 

Deutsche  Geschichte. 

Grundriß  der  Geschichtswissenschaft 
zur  Einfuhrung  in  das  Studium 
der  deutschen  Geschichte  des 
Mittelalters  und  der  Neuzeit. 
Herausgegeben  von  A.  Meister. 
I,  1  und  2 -361 

Eccardus,  Geschichte  des  niede- 
ren Volkes  in  Deutschland.    .    .    368 

Mittelalter. 
Stevenson,  The  crusaders  in  the 

East 369 

Folz,  Kaiser  Friedrich  II.  und  Papst 

Innozenz  IV 371 

Schrader,   Die   RechnungsbUcher 

der  hamburgischen  Gesandten  in 

Avignon  1338-1355 378 

Jansen,  Die   Anfänge  der  Fugger 

(bis  1494) 379 

Reformationszeit. 
Greving,  Johann  Ecks  Pfarrbuch 
für  U.  L.  Frau  in  Ingolstadt    .    .    380 

17.  Jahrhundert. 
Ward,  Prothero,  Stanley  Lea- 
thes,    The  Cambridge    Modern 
History.     Vol.    V.      The  age    of 
Louis  XIV 382 


Seite 
z8.  Jahrhundert. 

Volz,  Die  Erinnerungen  der  Prin- 
zessin Wilhelmine  von  Oranien 
an  den  Hof  Friedrichs  d.  Gr.  (1751 
bis  17b7) 384 

Zlekursch,  Sachsen  und  Preußen 
um  die  Mitte  des  18.  Jahrhun- 
derts    386 

Becker,  Der  Dresdner  Friede  und 
die  Politik  Brühls 38» 

19.  Jahrhundert. 
Meusei,  Friedrich  August  Ludwig 

von  der  Marwitz 392 

von    der   Marwitz,    Vom   Leben 

am  preußischen  Hofe   1815-1852    396 
v.  Petetsdorf f,  Kleist-Retzow.    .    3% 

Deutsche  Landschaften. 

C lausing,  Der  Streit  um  die  Kar- 
tause  vor  Straßburgs  Toren  1587 
bis  1602       398 

G  f  r  Ö  r  e  r ,  Straßburger  Kapitelstreit 
und  Bischöflicher  Krieg  im  Spiegel 
der  elsassischen  Flugtchriftenlite- 
ratur 398 

Ziegler,  Die  Politik  der  Stadt 
Straßburg  im  Bischöflichen  Kriege 
1592-93 398 

Lossen.  Staat  und  Kirche  in  der 
Pfalz  im  Ausgang  des  Mittelalters    400 

Beschorner,  Geschichte  der  säch- 
sischen Kartographie  im  Grund- 
riß   403 

Mecklenburgisches  Urkundenbuch, 
22.  Bd 404 

Schweiz. 
Egger,  Geschichte  der  Cluniazen- 
serklöster    in    der   Westsehweiz 


IV 


Inhalt. 


Seite 
bis   zum   Auftreten   der  Cister- 
zienser 405 

Frankreich. 

Courteaut,  Blaise  de  Monluc  Hi- 
storien      407 

del  Vecchio,  Su  la  Teoria  del 
Contratto  Sociale 410 

Meynier,  Un  Repräsentant  de  la 
Bourgeoisie  Angevine  k  TAssem- 
bl^e  Nationale  Constituante  et  k 
la  Convention  Nationale     .    .    .    412 


Seite 
Italien. 
Luchai re,  Documenti  per  la  storia 
dei  rivolgimenti   politici  del  co- 
mune  di  Siena  dal  1354  al  1369    .    415 
Capasso,  II  govemo  di  Don  Fer- 
rante Gonzaga  in  Sicilia  dal  1535 
al  1543 418 

England. 
Smith,  Frederick  William  Maitland    419 
Merriman,    Life    and    letters    of 
Thomas  C romwell 421 


Verzeichnis  der  in  den  „Notizen  und  Nachrichten« 
besprochenen  selbständigen  Schriften. 


Seite 

Schweizer,  Die  religiöse  Auffas- 
sung der  Weltgeschichte     .    .    .    424 

P  h  i  1  i  p  p  s  o  n ,  Das  Mittelmeergebiet    426 

Oliver,  Roman  Economic  condi- 
tions  to  the  dose  of  the  Republic    429 

Stähelin,  Geschichte  der  klein- 
asiatischen Oalater 430 

D  o  1 1  i  n ,  Manuel  pour  servir  k  l'^tude 
de  TAntiquit^  Celtique  ....    430 

E.  Seyler,  Der  Römerforschung 
Irrtümer  in  der  Alisofrage  ...    431 

— ,  Die  Osterstufe  und  die  Bari- 
gilden       431 

L  ö  h  n  e  r  t ,  Personal-  und  Amtsdaten 
der  Trierer  Erzbischöfe  des  10.  bis 
15.  Jahrhunderts 434 

Schäfers,  Personal-  u  Amtsdaten 
der  Magdeburger  Erzbischöfe  von 
968  bis  1513 434 

Soehn^e,  Catalogue  des  Actes 
d'Henri  !•%  roi  de  France  (1031  k 
1060) 435 

V.  Pflugk-Harttung,  Die  Papst- 
wahlen und  das  Kaisertum  ...    435 

HUfner,  Das  Rechtsinstitut  der 
klösterlichen  Exemtion   ....    435 

Friedrich,  Studien  zur  Vorge- 
schichte der  Tage  von  Kanossa  .    435 

Sägmüller,  Die  Bischofswahl  bei 
Gratian 435 

Hoppe,  Erzbischof  Wichmann  von 
Magdeburg 436 

FUß  lein,  Anfänge  des  Herren- 
meistertums  in  der  Bailei  Bran- 
denburg    438 

C 1  e  m  e  n ,  Atexius  Chrosner,  Herzog 
Georgs  von  Sachsen  evangeli- 
scher Hofprediger 444 

Prentout,  Une  r^forme  parlemen- 
taire  k  Tuniversit^  de  Caen    .    .    445 


I  Seite 

I  Prentout,  La  vie  de  l'^tudiant  k 

I       Caen  au  XVI*  si^le 445 

j  — ,  L'universitd  de  Caen  k  fa  fin  du 

I       XVI-siÄcle 445 

— ,  Statuts  et  ordonnances  des  apo- 
thlcaires  de  Caen 446 

Loser th,  Bericht  über  die  Ergeb- 
nisse einer  Studienreise  in  die 
Archive  von  Linz  und  Steyregg  .    449 

Fricke,  Memoiren  und  Lebens- 
schicksale des  Grafen  Tourville.    452 

Wiegand,  Das  politische  Testa- 
ment Friedrichs  d.  Gr.  vom  Jahre 
1752 452 

Müller.  Zur  Beurteilung  der  Per- 
sönlichkeiten im  Feldzuge  von  1815  457 

V.  Eberhardt,  Aus  Preußens 
schwerer  Zeit 458 

Strich,  Marschall  Alexander  Ber- 
thier  und  sein  Ende 458 

Pöppelmann,  Georg  Beseler  und 
seine  Tätigkeit  für  die  Grund- 
rechte des  deutschen  Volkes  im 
Jahre  1848 459 

Brunner,  Politische  Bewegungen 
in  Nürnberg  1848/49 460 

Mayer,  Die  Lösung  der  deutschen 
Frage  im  Jahre  1866  und  die 
deutsche  Arbeiterbewegung    .    .    461 

Rapp,  Die  öffentliche  Meinung  in 
Württemberg  von  1866  bis  zu  den 
Zollpartamentswahlen,  März  1868    461 

Roth,  Die  Rechtsverhältnisse  der 
landesherrlichen  Beamten  in  der 
Markgrafschaft  Baden-Durlach  im 
18.  Jahrhundert 465 

Schulze,  Die  Landstände  der  Graf- 
schaft Mark  bis  zum  Jahre  1510.    467 

Fressel,  Das  Ministerialenrecht 
der  Grafen  von  Tecklenburg  .     .    467 


Für  «ftfkffi  Rttr4ihlffirfAr*  ^^^  ersten  4  Seiten  der  einzelnen  Hefte,  Titel  und  In- 
rur  aen  ouaioinaer.  haltsverzeichnis,  kommen  beim  Binden  eines  Bandes, 
der  sich  aus  3  Heften  zusammensetzt,  in  Fortfall.  Titel  und  Inhaltsverzeichnis  für 
einen  Band  befinden  sich  jeweils  am  Schlüsse  des  3.  Heftes. 


Die  Missionspläne  des  Ignatiusvon  Loyola 

und  die  Gründung  des  JesuitenkoUegs  in 

Messina  im  Jahre  1548. 


Von 

Friedrich  Meyer. 


Es  ist  bekannt,  daß  anfänglich  im  Zentrum  der  Pläne 
des  Ignatius  von  Loyola,  zu  deren  Verwirklichung  er  seinen 
Orden  gründete,  nicht  der  Gedanke  der  Bekämpfung 
des  Protestantismus  gestanden  hat,  sondern  der  Gedanke 
der  Weltmission.  Die  Überwindung  der  Ungläubigen  war 
die  hohe  Aufgabe,  welche  die  im  Kampf  mit  den  Mauren 
groß  gewordene  spanische  Nation  seit  Jahrhunderten  sich 
stellte.  Sie  spiegelt  sich  bei  Ignatius  in  der  Idee  der  Welt- 
mission. Während  seines  Aufenthaltes  in  Palästina  im 
Jahre  1523  nahm  sie  zum  erstenmal  greifbare  Gestalt  an. 
Elf  Jahre  später  legte  er  mit  seinen  Genossen  auf  dem 
Montmartre  das  Gelübde  ab,  in  Palästina  zum  Wohle 
der  Mitmenschen  zu  wirken.  Doch  hatte  er  schon  damals 
die  Möglichkeit  ins  Auge  gefaßt,  daß  seine  Pläne  an  der 
schwierigen  Lage  der  Verhältnisse  scheitern  könnten.  Als 
ihm  während  seines  zweiten  Aufenthaltes  in  Venedig  im 
Jahre  1537  durch  den  Seekrieg  zwischen  der  Republik  und 
den  Türken  wiederum  die  Aussicht  genommen  wurde, 
sein  Vorhaben  zu  verwirklichen,  gab  er  seinen  Gönnern 
die  gespendeten  Reiseunterstützungen  zurück:  von  jetzt 
ab  sollten  seine  Gefährten  zu  je  zweien  überallhin  wandern, 

Hittoritche  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  16 


238  Friedrich  Meyer, 

WO  sie  nur  immer  für  den  Herrn  wirken  könnten.  Sei 
ihnen  der  Weg  nach  Palästina  auch  nach  Jahresfrist  noch 
versperrt,  so  wollten  sie  in  ihrer  Liebestätigkeit  fortfahren. 
Ignatius  sei  damals  wohl  auch  innerlich  bereits  über  seine 
ursprünglichen  Missionspläne  hinausgewachsen,  sagt  Go- 
thein.^)  Wie  tief  jedoch  den  Ordensstifter  noch  über  ein 
Jahrzehnt  später,  im  Jahre  1548,  der  Gedanke  der  Welt- 
mission beseelt  haben  muß,  zeigt  eine  genauere  Betrach- 
tung der  Umstände,  unter  denen  das  Kolleg  von  Messina 
gegründet  wurde. 

Bereits  im  Jahre  1546  wirkte  ein  Jesuit  auf  der  Insel 
Sizilien,  der  Niederdeutsche  Jakob  Lhoost:  er  reformierte 
Klöster  und  sammelte  die  Jugend  zum  Katechismusunter- 
richt um  sich.2) 

Festen  Fuß  aber  begann  der  Orden  doch  erst  im 
nächsten  Jahre  auf  der  Insel  zu  fassen,  als  Johann  de 
Vega  zur  Übernahme  des  Vizekönigtums  dorthin  ging.^) 
Er  wünschte,  in  Obereinstimmung  mit  seiner  Gemahlin, 
die  Tätigkeit  von  Ordensgliedern  auf  der  Insel,  sowohl 
zur  Befriedigung  der  persönlichen  religiösen  Bedürfnisse, 
wie  zur  Einrichtung  und  Leitung  gottgefälliger  Werke. ^) 

Ignatius  gab  ihm  den  Pater  Hieronymus  Domenech 
mit,  einen  früheren  Magister  und  Kanoniker  in  Valencia. 
Bereits  im  Mai  1547  landete  dieser  mit  der  königlichen 
Familie  in  Palermo.  Der  Orden,  der  die  höchste  welt- 
liche und  geistliche  Autorität  auf  der  Insel  für  sich  hatte, 
nahm  sofort  die  Gründung  eines  Kollegs  in  Aussicht  und 
zwar  eines  Kollegs  mit  öffentlichem  Unterricht,  wie  er 
ein  solches  bisher  nur  zu  Gandfa  in  Spanien  besaß. 
Domenech  hatte  es  zur  Hebung  des  geistigen  und  sitt- 

0  Eberhard  Gothein,  Ignatius  von  Loyoia  und  die  Gegen- 
reformation.   Halle  1895. 

•)  Polanko,  Chronicon  Soc.  Jesu,  Madrid  1894—1898.  I,  198 
(aus  den  Monumenta  historica  Soc.  Jesu),  Jos.  Hansen,  Rheinische 
Akten  zur  Geschichte  des  Jesuitenordens.    Bonn  18%.   S.  48. 

')  Seine  Ernennung  durch  kaiserl.  Erlaß  vom  24.  Dezember 
1546,  registriert  in  Palermo  31.  Mai  1547.  Reg.  der  kaiserl.  Kanzlei 
1546/47  bei  Giov.  E.  Di-Blast,  Storia  chronologica  dei  Vicerk,  Luogo- 
tenenti  e  President i  del  Regno  di  Sicilia,   Palermo  1842.  S.  189. 

*)  Pol.  I,  210. 


Die  Missionspläne  des  Ignatius  von  Loyola  etc.  239 

liehen  Niveaus  des  Klerus  vorgeschlagen,  dessen  Un- 
wissenheit man  gesehen  haben  müsse,  um  sie  für  möglich 
zu  halten.^) 

Welche  der  großen  Städte  auf  der  Insel  sollte  man 
nun  „der  Wohltat  eines  Jesuitenkollegs"  teilhaftig  machen? 
Von  jeher  bestand  unter  ihnen  eine  erbitterte  Rivalität, 
die  ihren  Grund  in  der  Willkür  hatte,  mit  der  die  spani- 
sche Regierung  bei  der  Gewährung  königlicher  Privi- 
legien verfuhr.  Fast  immer  gab  das  Geld  den  Ausschlag, 
dessen  die  Monarchie  zur  Durchführung  und  Aufrecht- 
erhaltung ihrer  Weltstellung  so  sehr  bedurfte.  Der  Kampf 
um  den  Vorrang  war  naturgemäß  zwischen  den  beiden 
größten  Kommunen  Palermo  und  Messina  am  erbittert- 
sten. Die  der  spanischen  Regierung  in  Madrid  nahe 
standen,  kamen  auf  den  Gedanken,  daß  sie  diese  Eifer- 
sucht absichtlich  begünstige,  nur  um  vor  einer  gemein- 
samen Rebellion  sicher  zu  sein.  „Zwei  können  sich  die 
Hauptstädte  dieses  Reiches  nennen,  Palermo  und  Mes- 
sina," sagt  der  venetianische  Gesandte  Federico  Badoero; 
„denn  weder  der  Kaiser  noch  der  König  haben  jemals 
den  Vorrang  zwischen  ihnen  entscheiden  wollen,  obschon 
Palermo  nach  der  allgemeinen  Meinung  als  die  erste  gilt, 
sondern  sie  in  ihrer  Rivalität  lassen,  weil  es  zur  größeren 
Sicherheit  und  zum  größeren  Nutzen  des  Königs  diene."  2) 

Durch  seinen  Reichtum,  den  es  seinem  durch  die 
Lage  begünstigten  Handel  verdankte,  hatte  es  besonders 
Messina  vermocht,  sich  eine  Stellung  zu  verschaffen,  die 
der  einer  selbständigen  Republik  fast  gleichkam.  Die 
Stadt  wies  stolz  auf  ihre  kommunale  Unabhängigkeit  hin, 
wenn  sie  sich  in  Urkunden  „die  als  die  einzige  Tochter 
ihres  Hirten  und  Königs  Geachtete"  nannte.')  So  war 
gerade  ihr  gegenüber  die  Stellung  der  Vizekönige  eine 

»)  „  Una  grandissima  ignorancia  entre  los  clerigos,  cosa  para 
no  poder  creer  sino  lo  viese.'  Literae  quadrimestres,  4  Bde.  Madrid 
(Monum,  histor,  Soc.  Jesu)  I,  51.  Franziscus  MaurolycuSy  SUani- 
carum  rerum  compendium,     1716.   S.  215.    Pol.  1,  236. 

*)  Eugenio  Alb^ri,  Le  Relazioni  degli  Ambasciatori  Veneti 
al  Senato  durante  il  sec,  XVI.    Ser.  I,  Vol.  III.    Firenze  1853. 

')  Epistulae  Mixtae,  ex  variis  Europae  locis  ab  anno  1537 
— 1556  scriptae,    Madrid  1898.  (Monum,  histor,  Soc.  Jesu)  I,  451. 

16* 


240  Friedrich  Meyer, 

besonders  schwierige.  Stets  mußten  sie  gewärtig  sein, 
bei  ihren  königlichen  Erlassen  und  Anordnungen  auf 
Widerspruch  zu  stoßen,  der  mit  irgend  einem  Vorrecht 
begründet  wurde.  Antworteten  sie  mit  Gewalttätigkeiten, 
80  war  ein  mit  Geld  unterstützter  Protest  bei  der  spani- 
schen Regierung  in  Madrid  die  Folge,  der  selten  erfolg- 
Jos  war.  Kein  Wunder,  wenn  wir  bei  den  insularen  Streitig- 
keiten die  Vizekönige  meist  auf  Seiten  Palermos  und  der 
anderen  Messina  feindlich  gesinnten  Kommunen  sehen.^) 
Auch  Vega  machte  davon  keine  Ausnahme.  2)  Das  aber 
zeigte  sich  auch,  als  es  galt,  einen  Platz  auf  der  Insel 
für  das  Jesuitenkolleg  auszuwählen.  Wir  wissen  aus  den 
betreffenden  neuerdings  von  den  spanischen  Jesuiten 
herausgegebenen  Briefen,  daß  der  Vizekönig  die  Städte 
Catania,  Calatagirone  und  Palermo  vorschlug,  die  Königin 
und  der  Beichtvater  Domenech  vor  allem  Palermo,  „die 
Hauptstadt  des  Reiches,"  wie  er  sagt.^)  Von  dem  privi- 
legienstolzen, stets  auf  seine  Unabhängigkeit  eifersüchtigen 
Messina  dagegen  ist  in  diesen  ersten  Briefen  nicht  die 
Rede. 

Und  nun   zum  Stifter  des  Jesuitenordens:    Wie  ver- 
hielt er  sich?    Ignatius  von  Loyola  kehrte  sich  nicht  an 


')  Ich  erinnere  an  die  Streitigkeiten  um  den  Vorrang  gegen- 
über Palermo  mit  dem  Vizekönig  Giov.  Cardona  di  Prades:  Giu- 
seppe Buonfigüo,  Prima  parte  dell' Historia  SicUiana.  VeneL  1604. 
I,  379  ff.  387.  Franc.  Maurolyco,  Compend,  307;  ferner  an  den 
Streit  um  die  Residenzpflicht  der  Vizekönige :  C.  Domenico  Gallo, 
Gli  annali  della  cittä  di  Messina.  Messina  1877.  Apparate  agli 
annali  70;  um  die  Verlegung  der  Münze:  ebd.  76.  Annali  II,  457. 
Franc.  Maurolyco,  Della  Storia  di  Sicilia  Hb,  VI.  suppl.  publ.  dal 
Baluzio.    Palermo  1849.    p.  325. 

')  Man  denke  2.  B.  an  das  Strafgericht  über  die  nobili  aus 
dem  Jahre  1549.  Epistulae  P.Nadal.  2  Bde.  Madrid  1899.  (Monum^ 
hist.  Soc.  Jesu)  I,  72  ff. 

»)  Lit.  quadr.  I,  47  ff.  u.  130.  Dazu  51.  Wenn  Polanco  in 
seiner  Chronik  sagt:  Prorex  et  ejus  uxor  ad  hoc  opus  valde  pro- 
pensi  erant,  nee  solum  Messanae,  sed  Panormi,  Catanae  et  Calata- 
gironae  institui  Collegia  posse  Prorex  judicabat;  sed  ab  ipsa 
civitate  Messanensi  rogari  voluit,  antequam  ipse  ad  P.  Ignatium 
scriberet  \,  242,  so  ist  er  hier  infolge  seiner  zusammenfassendea 
Kürze  ungenau. 


Die  Missionspiäne  des  Ignatius  von  Loyola  etc.  241 

die  persönlichen  Sympathien  oder  Antipathien  der  könig- 
lichen Familie  und  ihres  Beichtvaters  Domenech.  Gerade 
auf  Messina  fiel  seine  Wahl.  Denn  noch  einmal  ergriffen 
ihn  jetzt  die  von  enthusiastischer  Romantik  durchtränkten 
Lieblingspläne  seiner  ersten  Bekehrungsjahre.  Damals 
zauberte  ihm  die  Vision  jene  beiden  Heerlager  bei  Jeru- 
salem und  bei  Babylon,  das  eine  Christi,  das  andere 
Satans  kampfgerüstet  einander  gegenüber  vor:  „Christus 
der  ewige  König  ist  es,  der,  einer  ganzen  Welt  sichtbar, 
jeden  einzelnen  mit  diesen  Worten  herbeiruft :  Mein  ist 
dieser  gerechteste  Wille,  die  Herrischaft  über  die  ganze 
Welt  mir  zu  verschaffen,  alle  meine  Feinde  zu  be- 
kämpfen.**^) 

Als  sich  jetzt  gegen  das  Ende  seines  Lebens  die 
Gelegenheit  bot,  eine  Ordensniederlassung  auf  Sizilien 
zu  begründen,  glaubte  er  die  Zeit  endlich  gekommen^ 
seine  langgehegten  Missionspläne  zu  verwirklichen.  Ein 
Kolleg  sollte  erstehen,  das  alle  früheren  an  Ausstattung 
übertreffen,  das  seinen  Ordensstreitern  als  Ausgangspunkt 
für  die  Unterwerfung  aller  Nationen  der  Erde  unter  die 
Herrschaft  Christi  dienen  sollte.  Welche  Stadt  Siziliens 
hätte  ihm  dafür  passender  erscheinen  sollen  als  Messina 
mit  seinem  gesunden  Klima,  seinem  ausgedehnten  Handels- 
verkehr, seinem  schon  im  Altertum  gerühmten  Seehafen, 
„so  geeignet,"  wie  ein  Historiker  der  Insel  sagt,  „die 
Grenzen  des  Imperiums  in  die  Welt  hinauszutragen  ?**  2) 
„Wenn  wir  Messinas  Lage  betrachten:"  schrieb  damals 
ein  römischer  Jesuit  nach  Löwen,  „Fast  alle  Völkerrassen 
pflegen  sich  in  dem  berühmten  Hafen  der  Messinesen  zu 
versammeln.  Wenn  wir  aber  Siziliens  Lage  dabei  in  Er- 
wägung ziehen,  es  ist  gewissermaßen  ein  Fahrzeug,  um 
leicht  in  aller  Völker  Nationen  einzudringen,  ist  gleichsam 
ein  Schlüssel  und  ein  Tempel  ganz  Italiens,  ist  für  den 
Erdkreis  selber  derselbe  Mittelpunkt,  wie  einst  Jerusalem 
es  war.3)    Griechenland,  Kalabrien,  die  Sarazenen  wollte 

*)  Exercitia  spiritualia  S,  P,  Ignatii  Loyolae,  Antwerpen  1635. 
p.  49,  50.    Vgl.  Ranke,  Die  römischen  Päpste.     1874.     I,  119. 
')  Rochus  Pirrus,  Sicilia  sacra,    Panormus  1733.   1^  315. 
«)  Brief  vom  19.  März  1548.    Rhein.  Akten  119. 


242  Friedrich  Meyer, 

man  von  hier  aus  zuerst  dem  Glauben  wiedergewinnen: 
Leicht  gehe  es  von  hier  nach  dem  Orient  und  nach  fast 
allen  Seiten  der  Welt.^)  Noch  einmal  sehen  wir  hier  die 
Kreuzzugsidee  des  Mittelalters  sich  erneuern:  Auf  den 
Spuren  von  Philipp  August  und  Richard  Löwenherz,  im 
Sinne  der  Pläne  des  großen  Hohenstaufen  Heinrichs  VI. 
sollten  die  geistig  Gewappneten  der  Kompagnie  Jesu  von 
Messina  hinausziehen,  den  Unglauben  zu  bekämpfen. 

Es  geschah  ohne  Zweifel  auf  den  ausdrücklichen 
Wunsch  des  Ignatius,  daß  der  Vizekönig  bei  der  Stadt- 
verwaltung von  Messfna  anfragen  ließ,  inwiefern  sie  zur 
Einrichtung  und  Ausstattung  eines  Jesuitenkollegs  in  ihren 
Mauern  geneigt  sei.  Er  ging  dabei  mit  einer  peinlichen, 
fast  ängstlichen  Zurückhaltung  zu  Werke.  Die  offizielle 
Vermittlerrolle  übernahm  Didacus  von  Corduba,  der  Sin- 
dikator  des  Königreichs.  Der  Vizekönig  empfahl  ihm,  die 
Angelegenheit  völlig  als  private  und  persönliche  zu  be- 
trachten und  durchaus  nicht  etwa  die  Stadt  in  der  Freiheit 
ihres  Entschließens  und  Handelns  zu  beengen.^) 

Der  vertraute  Leibarzt  und  Freund  des  Vizekönigs, 
Dr.  Ignatius  Lopez,  hatte  in  seinem  unauffälligen  Privat- 
verkehr unvermerkt  die  Aufmerksamkeit  der  maßgebenden 
Persönlichkeiten  auf  den  Gegenstand  zu  richten  und  sie 
vorzubereiten  gewußt.  So  brachte  Didacus  eines  Tages 
die  Angelegenheit  im  Rate  der  Stadt  zur  Sprache.  Sie 
war  zu  allem  bereit:  Wir  hören  von  einem  Ratsbeschluß, 
der  dem  Orden  eine  dauernde  bequeme  Wohnung,  eine 
Kirche  und  500  Dukaten  fester  jährlicher  Dotation  zum 
Lebensunterhalt  gewährleistete.') 

Mit  einer  gewissen  Hast  schritt  man  hierauf  zur 
formellen  Regelung  der  Angelegenheit.  Am  17.  Dezember 
reichte  die  Stadt  ihr  Gesuch  beim  Vizekönig  ein,  in 
welchem  sie  um  seine  Vermittlung  bei  der  Einladung  des 
Ordens  und  um  seine  Bestätigung  ersuchte.   Bereits  zwei 

0  Rhein.  Akten  139.  Pol.  II,  240.  Emanuele  Aguilera  {S.J.), 
Provinciae  Siculae  Soc.  Jesu  ortus  et  res  gestae.  Palermo  1737. 
I,  1.  20.  21. 

»)  Aguilera  I,  5.    PoL  I,  242. 

»)  Pol.  I,  242.  243. 


Die  Missionspläne  des  Ignatius  von  Loyola  etc.  243 

Tage  darauf  war  die  gewünschte  Antwort  eingegangen. 
Die  Stadt  vermochte  ihr  eigenes  Einladungsschreiben 
an  den  Ordensstifter  zu  richten.  Sie  bat  um  die  be- 
schleunigte Sendung  von  zehn  Jesuiten  für  das  Kolleg: 
vier  sollten  scholastische  Theologie,  Kasuistik  und  Philo- 
sophie lesen,  ein  Magister  den  sprachlich  rhetorischen 
Kursus.  Die  fünf  andern  sollten  ihrer  Meinung  nach  die 
Werke  der  katholischen  Frömmigkeit  üben.  Später  schickte 
sie  auch  noch  100  Dukaten  Reisegeld.  Gleichwohl  ver- 
gingen noch  Monate,  ehe  die  Jesuiten  anlangten.^) 

Wir  haben  gesehen,  welche  hohe  Bedeutung  Igna- 
tius  dieser  Kolleggründung  beimaß.  So  erwünscht  ihm 
daher  das  lebhafte  Drängen  und  Verlangen  der  Stadt 
auch  sein  mußte,  so  durfte  er  doch  die  Gründung  auch 
nicht  überstürzen.  Nie  wieder  hat  er  für  ein  Kolleg  der- 
artig eingehende  und  sorgsame  Vorbereitungen  getroffen, 
wie  er  es  für  Messina  getan  hat.  Eine  weihevolle  Be- 
geisterung, welche  die  Berichte  noch  heute  fühlbar  machen, 
verklärte  damals  seine  Person.  Die  ihren  Meister  sahen, 
haben  den  tiefen  Eindruck  nicht  vergessen,  den  sie  emp- 
fingen. Man  begriff  nicht  den  Sinn  seiner  Worte,  nicht 
den  Sinn  der  Maßnahmen,  die  er  traf.  Man  verstand 
die  tiefe  Bewegung  seiner  Seele  nicht.  Aber  man  sprach 
doch  auch  später  immer  nur  mit  ehrfurchtsvoller  Scheu 
davon:  Herrliche  Hoffnungen  setze  er  auf  jene  neue 
Niederlassung,  sagte  er  eines  Tages;  denn  wenn  auch 
die  Gesellschaft  schon  mehrere  fertige  Kollegien  zähle, 
so  dünke  ihm  doch  von  jenen  allen  Messina  mit  Recht 
das  teuerste:  schaute  er  doch  schon  damals  im  Geiste, 
daß  es  die  größten  Erfolge  bringen  werde  zum  Dienst 
der  göttlichen  Majestät.  Dies  prägte  sich  allen  tief  ein, 
erzählt  Codreto,  einer  der  Zehn,  der  es  hörte.  Sie  be- 
hielten die  Worte,  konnten  aber  damals  nicht  verstehen, 
weshalb  er  das  Kolleg  höher  schätzte  wie  die  in  Koimbra 
und  Padua.2) 

Seine  ganze  Sorgfalt  verwandte  er  auf  die  Auswahl 
der  Zehn.   Es  sollte  gleichsam  eine  Elitetruppe  sein,  wohl- 

»)  EpisL  mixtae  I,  450—452.  456.    Pol.  I,  243.    Aguil.  I,  6.  12. 
>)  Aguilera  I,  8.  20. 


244  Friedrich  Meyer, 

diszipliniert,  mit  den  schärfsten  Waffen  modernen  Wissens 
ausgerüstet,  die  hier  noch  einmal  für  den  Herrn  zum 
Kreuzzug  hinauszog.  Eines  Tages  versammelte  er  die 
36  Insassen  des  römischen  Kollegs  und  legte  ihnen  feier- 
lich vier  Fragen  vor,  über  die  sie  sich  schriftlich  äußern 
sollten.  Sie  betrafen  ihre  Bereitwilligkeit  zum  Gehorsam 
in  allen  Dingen,  besonders  aber  hinsichtlich  der  Unter- 
richts- und  Weltmissionszwecke  des  neuen  Kollegs,  und 
zwar  nicht  nur  zum  Gehorsam  der  Tat,  sondern  auch 
der  Gesinnung.^) 

Mit  Befriedigung  mag  Ignatius  die  Antwort  des 
Deutschen  Kanisius  gelesen  haben,  welche  dieser  am 
5.  Februar  des  Jahres  1548  abgab.  Unbedenklich  erklärte 
sich  der  bereit,  nach  Sizilien,  nach  Indien  zu  gehen  oder 
in  Rom  zu  bleiben,  als  Koch,  Türhüter,  Gärtner  oder  als 
Hörer  oder  Lehrer  zu  wirken,  wie  der  Gehorsam  es  vor- 
schreibe. „Wahrlich  ihm,  dem  General,  unterwerfe  ich 
Seele  und  Leib,  mein  Verstehen  selbst  und  mein  Wollen 
in  allen  Dingen  ohne  Ausnahme.  Demütig  bring  ich's 
zum  Opfer  und  empfehle  es  treu  in  Jesu  Christo  unserm 
Herrn." ''^) 

Bis  Ende  des  Monats  hatte  der  Ordensstifter  die  Aus- 
wahl der  Zehn  getroffen.  Immer  wieder  ermahnt  er  zum 
Gehorsam,  der  auch  Willen  und  Verstehen  umfasse  und 
keine  Herzensgeheimnisse  gegenüber  dem  Superior  kenne. 
Vollkommen  sollten  sie  sein,  nicht  um  ihrer  selbst,  son- 
dern um  seinetwillen.  Noch  kurz  vor  ihrer  Abreise 
sammelte  er  sie  um  sich,  gab  ihnen  ein  geistliches  Thema 
zu  freier  Aussprache  und  freute  sich  an  ihren  Äuße- 
rungen.') 

Es  waren  alles  Männer  von  erlesener  Gelehrsamkeit, 
die  er  nach  Messina  sandte.  Aber  das  hinderte  ihn  nicht, 
sie  zum  Teil  wieder  zur  Grammatik  des  Despauterius 
zurückkehren  und  lateinische  Sprachübungen  machen  zu 
lassen.     Denn  diese  Männer  sollten  mit  dem  herkömm- 


»)  Rhein.  Akten  112,  113.  117.     Pol.  I,  268.  269. 
•)  Otto  Braunsberger  {S,  /.),   B,  Petri  Canisii  Soc,  Jesu  Epi- 
stulae  et  Acta.    Freiburg  i.  B.  1896.     I,  263. 
=)  Aguilera  I,  8—10. 


Die  Missionspiäne  des  Ignatius  von  Loyola  etc.  245 

liehen  philosophisch-theologischen  Wissen  das  modern 
humanistische  verbinden.  Kanisius  ermahnte  damals  die 
Brüder  in  Köln,  die  Ordensglieder  auch  zu  humanisti- 
schen Sprachstudien  anzuhalten.  Auch  Wischaven,  Anton 
Vinck  u.  a.,  die  darin  Lücken  zeigten,  hätten  Befehl  er- 
halten, zum  Despauterius  zurückzukehren  und  Stilübungen 
zu  machen,  besonders  dabei  die  Briefe  Ciceros  zugrunde 
zu  legen.  ^) 

Unter  den  zehn  Auserlesenen  sehen  wir  in  der  Tat  die 
bedeutendsten  Männer  des  Ordens,  vor  allem  den  Spanier 
Nadal,  den  Franzosen  Frusius,  den  Deutschen  Kanisius. 
Jeder  von  ihnen  zeigte  den  Typus  seiner  Nation  und  ver- 
körperte so  das  Ideal  des  Ordens  in  eigenartiger  Weise. 

Hieronymus  Nadal,  ein  Gutsbesitzerssohn  von  der 
Insel  Mallorka,  hatte  sich  auf  den  Universitäten  Alkalä 
und  Paris  seine  reichen  Kenntnisse  erworben,  die  außer 
Philosophie  und  Theologie  alle  damals  im  Zusammen- 
hang mit  diesen  gelehrten  Wissensgebiete  umfaßten,  wie 
Mathematik,  Astrologie,  die  drei  Sprachen  der  Huma- 
nisten :  Latein,  Griechisch,  Hebräisch.  Seine  Briefe,  vor 
allem  seine  von  ihm  selbst  nach  1565  geschriebene  Be- 
kehrungsgeschichte zeugen  von  einem  reichen  Innen- 
leben, von  einer  feinen  Beobachtungsgabe.  Man  darf  in 
ihr  nicht  eine  Erzählung  im  Stile  der  wundersüchtigen, 
farblos  schablonenmäßigen  Heiligenliteratur  suchen.  In 
ihrer  inneren  Wahrhaftigkeit  und  Lebenswahrheit  stellt  sie 
sich  ebenbürtig  neben  die  Acta  antiquissima  des  Ordens- 
stifters. Sie  gibt  uns  einen  Begriff  davon,  wie  sich  dieser 
mit  seiner  überragenden  Persönlichkeit  seine  Werkzeuge 
schuf.  2) 

Eine  solche  sensible  und  rezeptive  Natur  war  es, 
deren  Ignatius  bedurfte.  Keiner  hat  ihm  und  seinem 
Werke  näher  gestanden.  „Er  dürfte  seinen  (des  Ignatius) 
Geist  verstanden  haben  und  wie  nur  irgend  einer,  den 
ich   von   der   Gesellschaft    kenne,   in   ihr  Institut  einge- 

»)  Brief  vom  28.  Februar  1548.  Rhein.  Akten  114,  vgl.  auch 
130,  131,  136  etc.    Aguil.  1,  89. 

»)  Chronicon  Natalis  jam  inde  a  principiis  vocationis  suae 
<1535 — 1546),  vorn  im  ersten  Bande  seiner  oben  erwähnten  Briefe. 


246  Friedrich  Meyer, 

drungen  sein,''  urteilt  der  Geheimsekretär  des  Ordens- 
stifters, Polanko.^) 

Dieser  Nadal  war  es,  den  das  Schicksal  bestimmt 
zu  haben  schien,  die  Gedanken  Loyolas  in  die  Praxis  zu 
übersetzen.  Dieser  selbst  hat  sein  Organisationstalent 
gerühmt.  Vor  allem  das  Ordensschulwesen  verdankt  ihm 
seine  Form,  die  er  ihm  eben  hier  in  Messina  gegeben 
hat.^)  Nadal  ist  der  Melanchthon  des  Ignatius  geworden. 
Er  konnte  kein  schöneres  Zeichen  des  Vertrauens  er- 
halten, als  daß  er  im  Jahre  1555  von  dem  Ordensgeneral 
zu  seinem  Generalvikar  gemacht  wurde  mit  derselben 
Autorität,  wie  er  selbst  sie  besaß.  ^) 

Würdig  stehen  Andreas  Frusius  und  Peter  Kanisius 
neben  ihm,  jener  der  Philologe,  der  Humanist  des  Ordens, 
der  Herausgeber  von  Schulautoren,  der  Verfasser  von 
Grammatiken,  Gedichten  und  Schülerdialogen,  dieser  der 
Interpret  der  Ordensfrömmigkeit,  der  sanktionierten  kirch- 
lichen Glaubenslehre,  wie  sie  besonders  in  seinen  beiden 
Katechismen  zum  Ausdruck  gekommen  ist. 

Von  den  übrigen  sieben  wäre  der  Savoyarde  Cou- 
dreto  noch  zu  nennen,  der  später  als  Rektor  des  Kollegs 
von  Messina  eine  leider  verloren  gegangene  Geschichte 
über  die  ersten  zehn  Jahre  desselben  verfaßt  hat,  die 
Aguilera  noch  für  seine  Darstellung  benutzte  und  häufig 
wörtlich  zitiert. 

Kurz  vor  ihrer  Abreise  nach  Messina  wurden  die 
Zehn  noch  einmal  vom  Papst  in  Audienz  empfangen, 
um  seinen  Segen  zu  erhalten.  Dann  —  es  war  am 
18.  März  des  Jahres  1548  —  durchschritten  sie  die  Tore 
Roms.  Bis  Neapel  benutzten  sie  Pferde,  von  da  aus 
Schiffe.  Die  Oberfahrt  war  äußerst  stürmisch  und  ge- 
fahrvoll.  So  kam  es,  daß  sie  erst  am  8.  April  in  Messina 

')  Zeugnis  vom  7.  Juni  1553  an  Miron  in  Portugal,  als  Nadal 
zur  Visitation  des  Ordens  dorthin  reiste.    Pol.  III,  427  A.  3. 

')  Darüber  handelt  ausführlich  meine  Berliner  Inaugural- 
dissertation von  1904:  „Der  Ursprung  des  jesuitischen  Schul- 
wesens, ein  Beitrag  zur  Lebensgeschichte  des  heiligen  Ignatius.^ 

*)  Empfehlungsschreiben  an  den  König  von  Portugal  vom 
6.  Juni  1553.  Cartas  de  San  Ignacio  de  Loyola.  6  Bde.  Madrid. 
111,  215.    Die  Wahl  zum  Generalvikar  ebd.  V,  28h 


Die  Missionspläne  des  Ignatius  von  Loyola  etc.  247 

an  Land  stiegen,  von  Lopez,  dem  Sindikator  Diego  und 
den  Behörden  der  Stadt  begrüßt.  Noch  an  demselben 
Tage  wurden  sie  auch  der  Familie  des  Vizekönigs  vor- 
gestellt. Da  das  Kolleg  noch  nicht  fertig  ausgebaut 
war,  so  wurde  ihnen  zuerst  im  Palast  Vegas,  dann  in 
dem  des  Erzbischofs  ein  vorläufiges  Unterkommen  ge- 
währt. ^) 

Die  Jesuiten  waren  von  der  Reise  sehr  mitgenommen. 
Es  machte  einen  vorzüglichen  Eindruck,  als  sie  bereits 
am  dritten  Tage  nach  ihrer  Ankunft  bei  der  offiziellen 
Empfangsfeierlichkeit  in  den  geschmückten  Räumen  der 
Kirche  ihre  von  Gelehrsamkeit  und  humanistischer  Form- 
fertigkeit zeugenden  Reden  hielten.  Am  24.  April  be- 
gannen sie  den  öffentlichen  Unterricht. 

Es  mochten  etwa  14  Tage  oder  drei  Wochen  ver- 
gangen sein,  als  die  Stadt  mit  einem  unerwarteten 
Wunsche  hervortrat.  Sie  forderte  durch  den  Sindikator 
den  Orden  auf,  die  Rechte  einer  öffentlichen  Universität 
auszuüben,  die  auch  die  Fakultäten  Recht  und  Medizin 
umfassen  sollte.  Nadal,  der  Rektor  des  Kollegs,  sollte 
auch  als  Rektor  der  Universität  fungieren,  ein  Kanzler 
aus  demselben  Kolleg  die  Promotion  in  Philosophie  und 
Theologie  leiten.  2) 

Nadal  und  Domenech,  von  diesem  Anliegen  der 
Stadt  völlig  überrascht,  benachrichtigten  sofort  den 
Ordensstifter.  ^)  Konnte  man  etwas  anderes  erwarten, 
als  daß  dieser  aufs  freudigste  seine  Zustimmung  gab? 
Wie  mußte  dieses  Kolleg,  das  seinen  tiefsten  Plänen 
einen  weithin  sichtbaren  Ausdruck  geben  sollte,  ge- 
winnen, wenn  es  noch  mit  dem  Glanz  einer  privilegierten 
Universität  umgeben  wurde  1  In  ganz  anderem  Maße 
wie  heute  waren  dies  in  damaliger  Zeit  internationale 
Institute.  Hörer  aus  aller  Herren  Länder  sammelten  sich 
zu  den  Füßen  großer  Professoren  und  trugen  deren 
Ruhm  zugleich  mit  demjenigen  der  Anstalt,    an   der   sie 

»)  Rhein.  Akten  117—119,  121  ff.  Lit.  guadr.  l  95.  Aguil.  I, 
12  u.  13. 

«)  Pol.  I,  283.    Aguil.  1,  72. 
•)  Aguil.  I,  70.  71. 


248  Friedrich  Meyer, 

lehrten,  in  die  Welt  hinaus.  Nichts  konnte  dem  Ordens- 
stifter mehr  erwünscht  sein  als  diese  großartige  Er- 
weiterung seiner  Pläne.  Die  ganze  Energie,  die  ihm  zu 
Gebote  stand,  raffte  er  zusammen,  um  der  Stadt  Messina 
ihren  Wunsch  zu  erfüllen.^)  Er  konnte  die  Schwierig- 
keiten nicht  ahnen,  die  dem  Orden  gerade  aus  dem 
Universitätsprojekt  der  Stadt  erwachsen  sollten:  Fast 
hätten  sie  die  Existenz  des  Kollegs  selbst  in  Frage 
gestellt. 

Die  Stadt  rechnete  darauf,  daß  der  Orden  sofort  den 
Universitätsbetrieb  eröffnen  würde.  Nach  ihrer  Meinung 
war  jetzt  alles,  was  dazu  erforderlich  war,  vorhanden. 
Wiederholt  hat  sie  später  behauptet,  von  König  Alfons 
1434  und  von  König  Johann  1459  das  Privileg  zur  Grün- 
dung eines  Generalstudiums  zu  besitzen.^)  Ignatius  je- 
doch hielt  für  gut,  damals  noch  nicht  die  Last  einer 
Universität  zu  übernehmen,  „aus  gerechten  Gründen"*, 
sagt  Polanko.     Er  unterläßt  es  aber,    sie  zu  nennen.^) 

Es  ist  einleuchtend,  daß  der  Orden,  der  seine  Ziele 
völlig  mit  denen  des  Papsttums  identifizierte,  die  Über- 
nahme einer  Universität  verweigerte,  die  nach  Angabe 
der  Stadt  nur  mit  landesherrlicher  Vollmacht  gestiftet  zu 
sein  schien.  „Man  gibt  sich  Mühe,  damit  die  Univer- 
sität Messina  auf  päpstlicher  Vollmacht  beruhe",  schrieb 
Kanisius  im  August  nach  Köln.^) 

Den  auszustellenden  päpstlichen  Stiftungsbrief  wollte 
Ignatius  dann  benutzen,  sich  die  unabhängige  Leitung 
der  Universität  durch  eine  eingeschobene  Klausel  dauernd 
zu  sichern.  Das  sei  mit  ein  Grund  für  die  großen  Hoff- 
nungen, die  er  für  die  Zukunft  des  Kollegs  hegte,  er- 
zählt Coudreto,  der  es  von  einem  hörte.  Die  übrigen 
Kollegien  hätten  mehr  den  Nutzen  ihrer  Stifter  im  Auge 


»)  Aguil.  I,  71. 

•)  Vgl.  die  Urkunde  vom  6.  Juni  1550  und  von  1756.  CCCL 
Anniversario  della  Universitä  di  Messina,  Messina  1900.  S.  100, 
286.  Dazu  die  Bewerbungsdokumente  S.  85  u.  96.  Dazu  Gallo, 
AnnalL    Apparato  82,  83. 

»)  Pol.  I,  283. 

*)  Rhein.  Akten  139.    Pol.  I,  364. 


Die  Missionspläne  des  Ignatius  von  Loyola  etc.  249 

als  den  der  Gesellschaft:  die  Gesellschaft  könne  sie  nicht 
nach  Gutdünken  leiten,  sondern  sei  genötigt,  in  den 
meisten  Angelegenheiten  nach  deren  Winken  zu  handeln.  ^) 

Doch  der  Ordensgeneral  rechnete  nicht  mit  dem 
Unabhängigkeitssinn  einer  stets  auf  die  Wahrung  ihrer 
Vorrechte  bedachten  Kommune.  Sollte  sie  einem  ihr  in 
mancherlei  Hinsicht  politisch  verdächtigen  Orden  die 
Oberhoheit  über  ein  Institut  einräumen,  von  dem  sie 
einmal  eine  großartige  Förderung  ihrer  eigenen  städti- 
schen Interessen  erwartete?  An  der  Superioritätsfrage 
ist  in  der  Tat  das  Universitätsprojekt  gescheitert.  Nach 
dreijährigen  schwierigen  Unterhandlungen  einigte  man 
sich  schließlich  auf  die  Errichtung  eines  Schulkollegs 
ohne  Universitätsansprüche.  Der  Orden  verpflichtete  sich 
dauernd  zu  fünf  Lektionen :  Grammatik,  Humanität,  Rhe- 
torik, Griechisch,  Hebräisch.  Die  Stadt  gewährte  ihm 
die  ausreichende  Dotation  von  750  Dukaten,  wozu  sie 
noch  75  Dukaten  als  jährliche  Miete  für  ein  Probationshaus 
hinzufügte.  Alle  früheren,  die  Selbständigkeit  des  Ordens 
beschränkenden  Bestimmungen  kamen  in  Wegfall:  „Es 
war  dafür  gesorgt,  daß  die  Gesellschaft  durch  die  Ein- 
künfte nicht  der  Willkür  der  städtischen  Behörden  unter- 
worfen war",  sagt  Polanko.  Am  4.  Januar  1552  wurde 
von  beiden  Teilen  ein  entsprechender  Vertrag  unter- 
zeichnet, den  am  13.  des  Monats  der  Vizekönig  be- 
stätigte. 2) 

Man  kann  sich  denken,  daß  die  wenig  erfolgreichen 
Unterhandlungen  des  Ignatius  mit  der  Stadt  bezüglich 
der  Universität  auch  die  Hoffnungen,  die  er  für  die  Zu- 
kunft des  Kollegs  überhaupt  hegte,  herabgestimmt  haben. 
Man  schalt  über  die  Banausen,  denen  das  Geld  mehr 
am  Herzen  läge,  wie  die  Studien.^)  Seit  August  des 
Jahres  1550  behandelte  er  die  Angelegenheit  mit  merk- 
lich kühlerem  Interesse.     So   berief  er  am  6.  September 


»)  Aguil.  I,  21. 

«)  Pol.  11,  241.  551.  Nad.,  Ep.  I,  127  ff.  Anniversario  63,  64. 
Aguil.  I,  88.  Genauere  Angaben  über  den  Gang  der  Verhand- 
lungen gedenke  ich  an  anderer  Stelle  zu  veröffentlichen. 

»)  Aguil.  I,  74. 


2oO  Friedrich  Meyer, 

den  bedeutendsten  humanistischen  Sprachlehrer  des  Kol- 
legs, Frusius,  aus  Messina  ab  nach  Rom.  Er  kehrte  sich 
nicht  an  die  Bedenken  und  Drohungen,  welche  die  Stadt 
äußerte:  Frusius'  Weggang  werde  der  Universität  nicht 
wenig  Ungelegenheiten  bereiten.  Für  das  neue  Schul- 
jahr gewährte  er  der  Stadt  diesmal  nur  acht  Lektoren: 
ein  neuer  philosophischer  Kursus  wurde  nicht  mehr  be- 
gonnen. ^) 

Dazu  kam,  daß  der  Anfang,  der  in  diesem  Jahre 
mit  der  Verwirklichung  seiner  Missionspläne  gemacht 
wurde,  nicht  seinen  großartigen  Hoffnungen  entsprechen 
konnte.  Im  Juni  1550  unternahm  Johann  de  Vega^  vom 
Kaiser  zum  General  über  alle  Expeditionen  nach  Afrika 
ernannt,  seinen  Zug  gegen  den  Seeräuber  Rais  Dragutte, 
der,  früher  Hauptmann  im  Dienste  des  Seeräubers  Bar- 
barossa, die  Festungen  Monistero,  Marhadfa  u.  a.  in  Tunis 
erobert  hatte  und  von  hier  aus  die  Küsten  und  die  Schiff- 
fahrt Siziliens  bedrohte.^)  Ignatius  beschloß,  die  Gelegen- 
heit wahrzunehmen,  und  erreichte  es,  daß  der  Vizekönig 
einem  Jesuiten  die  Teilnahme  an  der  Expedition  ge- 
stattete. Keinen  Geringeren  als  Lainez  beauftragte  er 
damit,  die  Missionstätigkeit  zu  beginnen,  den  ersten  Ein- 
fall in  das  Land  der  Ungläubigen  zu  wagen.  Ihn  hatte 
der  Ordensgeneral  zurechtweisen  müssen,  als  er  bald 
nach  dem  Scheitern  der  Reisepläne  von  Venedig  1537 
seiner  „ungeduldigen  Sehnsucht  nach  der  Missionstätig- 
keit und  seiner  schmerzlichen  Resignation"  Ausdruck 
gab.^)     Nach  einigen  glücklichen  kriegerischen  Erfolgen 

—  die   Festen  Monistero   und   Marhadfa  wurden  erobert 

—  kehrte  er  im  Oktober  mit  dem  Vizekönig  nach  Sizilien 
zurück.*)  Er  brachte  von  dort  einige  eingeborene  Knaben, 
die  ihr  zehntes  Lebensjahr  noch  nicht  erreicht  hatten, 
mit  nach  Sizilien.     Sie  sollten,  ähnlich  wie  die  Moriskos 


«)  Pol.  II,  32.  36. 

«)  Maurolyco,  Compend,  213.  Prudencio  de  Sandoval,  La 
Historia  del  Emperador  Carlos  V.    Madrid  1675.    435  ff. 

5)  Gothein  284. 

*)  Carlas  II,  529.  Sandoval  437  u.  438.  Maurolyco,  Cam- 
pend, 214. 


D»  IgnasüsS'  von  Lorola  etc.  ISl 

iai  KoiEe^  vnt  GondaL  Idct  im  KoDeg  Ton  Messiiu  er- 
zofBc  vsmeüL  mr  spiKr  önnud  als  cdirisdidie  Missio- 
nare inosr  iüügii  Lan^ediesi  zn  wiriLcn.'! 

Dura  %ü  DnrissL  der  bd  der  ersten  E3q>edition 

oakfioiiDSüi  var.  wxrot  SoJaman  bestimme  im  April  des 

foigeaäex  jmr»  15&]   eine  Torkenflotte  g^^en  Sizilien 

m  fofafaL  Vff^  «nie  £e  insel  in  Verteidigungszustand, 

umBtt  aber  aacx  am  den  Schutz  seiner  Eroberungen  in 

Airfta  Bedxäc   iiriiiiiffn     Er  schickte  Dona   mit  einer 

2000  MaoB  iSvtieD  Brarrnng  und  mit  reidilichem  Pro- 

Tiam  im  Jeie  sack  Tonis  Unüber.^)     Wie   Lainez    im 

Vofjahre.  so  aafaoMs  (fiesmal  Nadal  und  Isidonis  Bellini 

ans  Rom  ao  der  Fipnfihon  teiL    Sie  fanden  bei   dem 

SdofflinidL  den  cfie  Flotte  durchzumachen  hatte.   Ge- 

legenheiL   Hat  and  Gotticrtfanen    zu    zeigen.     Bellini 

kam  onu  Nadal  konnte  sidi  retten.^)  Dieser  scheint  den 

besdramten  Anhn^  gehabt  zu  haben,  geeignetenfalls  ein 

TocbterkoD^   nur    zu    Missionszwecken    in    Tunis    zu 

gründen.  Er  fand  jedoch  die  Verhaltnisse  noch  zu  wenig 

günstig  und  schrieb  an  Ignatius,  daß  er  ein  Kolleg  dort 

vorläufig  noch  für  nutzlos  ansehe.    Am    11.  November 

trat  er  die  Heimreise  an.^) 

Auch  jene  afrikanischen  Knaben,  die  Lainez  mit- 
brachte, hat  er  spater  wieder  aus  dem  Kolleg  in  Messina 
entfernt    Die  Einricfafauig  bewahrte  sich  nicht. 

Das  ist  nach  den  vorhandenen  Berichten  das  Ganze, 
was  der  Ordensstiter  jv  Verwirklichung  seiner  welt- 
umspannenden Kwmipeae  erreicht  hat,  die  ihn  zur 
Gninduf^  des  KnOe^  ^  «^„^  begeisterten.  Die 
UnsKTherhea  d«  V^»  ^  Einern  Meer,  das  die 
Turkenflotte  bg«n^,  4h,  mangelnde  Verständnis, 
das  semro  fc'^f^ J**»  ^ir  tawsuchtig  auf  ihre  Un- 
abhangigkat  bedad«.  ^fcfcj^  Behörden,  aber  auch 

»  Pol  IL  2Ä 

*»  Aar*'!-  1  '^-  Hl  S^u  ^_, . 
pend.  214-  "^^  *jpifc  I,  ||0.     Maurolyco.  Com- 

Bne:  TVÄ  at  i 


NacL  Ep.  •*-  :r:,  IÄ.   fSuS^S^  *"•  Aphrodisium  (Marhadfa). 
^^  **  quadr.  I,  474. 


252  Friedrich  Meyer,  Die  Missionspläne  des  Ignatius  von  Loyola  etc. 

seitens  der  höchsten  landesherrlichen  und  der  höchsten 
geistlichen  Gewalt  entgegengebracht  wurde,  brachte  sie 
auch  diesmal  zum  Scheitern.  Papst  Paul  III.  hatte  dem 
Ordensgeneral  bereits  im  Jahre  1537,  als  der  ihm  seine 
venezianischen  Reisepläne  darlegte,  seine  Zweifel  ge- 
äußert: sie  würden  nicht  nach  Palästina  hinüberkommen. ^) 
Derselbe  Papst  erwähnte  bei  der  Abschiedsaudienz,  die 
er  im  März  1548  den  zehn  nach  Messina  bestimmten 
Jesuiten  gewährte,  mit  keinem  Worte  die  Weltmissions- 
pläne des  Ignatius.  Statt  dessen  wies  er  sie  energisch 
auf  die  Bekämpfung  der  lutherischen  Ketzerei  und  im 
Zusammenhang  damit  auf  die  Aufrechterhaltung  seiner 
apostolischen  Autorität  hin.'-^) 

Ignatius  von  Loyola  war  der  Mann,  der  aus  den 
Tatsachen  die  Konsequenzen  zu  ziehen  verstand.  Das 
klägliche  Fiasko,  das  er  mit  seiner  Kolleggründung  in 
Messina  erlebte,  bewog  ihn,  endgültig  die  Kampfidee 
seines  Ordens  zu  modifizieren,  die  Hauptkraft  desselben 
nicht  mehr  gegen  Heiden,  Muhammedaner,  orthodoxe 
Christen,  Juden  und  Moriskos  zu  richten,  sondern  gegen 
die  Ketzer,  wie  der  Papst  es  wollte. 

Im  Jahre  1550  wurde  Kanisius  zum  Provinzial  von 
ganz  Deutschland  ernannt.  Im  Juni  des  nächsten  Jahres 
1551  wurde  das  erste  deutsche  Kolleg  in  Wien  gegründet. 
Es  geschah  einen  Monat  später,  daß  der  Unterrichtsplan 
des  Kollegs  in  Messina  nach  Rom  gesandt  wurde,  um 
als  Vorbild  für  die  Organisation  des  Unterrichts  im  Kol- 
legium Romanum  zu  dienen.  Man  sieht,  dieser  Vorgang 
hat  eine  tiefe  symbolische  Bedeutung:  Er  bezeichnet  die 
Tatsache,  daß  die  weltbewegenden  Pläne  des  Ordens 
vom  Kolleg  in  Messina  auf  das  Collegium  Romanum 
übergingen.  Im  nächsten  Jahre  wurde  das  Collegium 
Oermanicum  für  deutsche  Jünglinge  in  Rom  gegründet: 
es  hat  die  Hoffnungen  des  Ignatius  besser  gerechtfertigt, 
als  das  Pensionat  der  afrikanischen  Knaben  in  Messina. ''^) 

»)  Gothein  281. 

>)  Rhein.  Akten  117,  118. 

»)  LiL  quadr.  I,  349  ff.     Pol.  II,  242  Anm.  1. 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der 
Westfälische  Friede. 


Von 

Moriz  Ritter. 


Die  folgenden  Erörterungen  knüpfen  an  eine  sehr 
anerkennenswerte  Münchner  Doktorschrift  an:  „Ludwig 
Steinberger,  Die  Jesuiten  und  die  Friedensfrage  in  der 
Zeit  vom  Prager  Frieden  bis  zum  Nürnberger  Friedens- 
exekutionshauptrezeß,  1635 — 1650."^)  Es  ist  eine  Arbeit, 
deren  Gegenstand  allerdings  kein  einheitlich  geschlossener 
ist.  Denn  der  Jesuitenorden  als  Gesamtheit  hat  auf  die 
Friedensverhandlungen,  die  in  dem  Münster-Osnabrücker 
Kongreß  ihren  Höhepunkt  erreichten,  nicht  eingewirkt, 
und  was  einzelne  Mitglieder  desselben  zur  Förderung 
oder  Erschwerung  des  Friedenswerkes  beigetragen  haben, 
zerrinnt  in  zahllosen  Ratschlägen  und  Darlegungen,  die 
sie  bald  als  Gewissensräte,  bald  als  Mitglieder  der  von 
den  Fürsten  zur  Beratung  kirchlich -politischer  Fragen 
niedergesetzten  Kommissionen,  bald  endlich  als  Verfasser 
theologisch-kanonistischer  Tagesschriften  vortrugen.  Suchl 
man  also  ein  geschlossenes  Bild  ihrer  Wirksamkeit,  so 
muß  man  die  einzelnen  Gebiete,  auf  denen  ihre  Tätigkeit 


^)  Studien  und  Darstellungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte, 
herausgegeben  von  H.  Grauert,  V,  2,  3.  Freiburg  1906.  XXIII  u. 
215  S. 

Hittoritche  Zeitochrift  (101.  Bd.)  a.  Folge  5.  Bd.  17 


254  Moriz  Ritter, 

sich  bewegte,  für  sich  ins  Auge  fassen,  und  dazu  empfiehlt 
sich  vor  allem  die  kirchenpolitische  Literatur.  Hier  je- 
doch erweitert  sich  die  Betrachtung  von  selber.  Denn  an 
dieser  Literatur,  wie  sie  vornehmlich  die  westfälischen 
Friedensverhandlungen  begleitete,  haben  nicht  nur  Jesuiten, 
sondern  auch  andere  katholische  Theologen  mitgearbeitet, 
und  nur  in  der  Gesamtheit  ihrer  Erscheinungen  kann 
sie  sachgemäß  behandelt  werden.  Das  ist  denn  auch 
von  Steinberger  geschehen,  und  ich  möchte  den  Teil 
seines  Buches,  welcher  dieser  Streitschriftenliteratur  ge- 
widmet ist,  als  den  wertvollsten  bezeichnen. 

Mit  einer  sehr  umfassenden  Durchforschung  ge- 
druckter und  ungedruckter  Quellen,  besonders  auch  der 
Nunziaturberichte  aus  Münster  und  Rom,  mit  einer  sorg- 
fältigen, manchmal  ans  Peinliche  streifenden  Prüfung  der 
Beweisstellen  sucht  er  die  Verfasser  und  die  Zeit  der 
Abfassung,  den  Anlaß  und  die  Wirkung  der  einzelnen 
Streitschrift,  die  Zahl,  das  Datum  und  den  Ort  der  Aus- 
gaben festzustellen.  Es  ist  eine  bibliographische  Arbeit 
im  besten  Sinne.  Nur  gestreift  ist  dabei  ein  anderer 
Gegenstand:  der  Inhalt  der  Schriften,  besonders  also  die 
zugrunde  gelegten  Prinzipien,  die  daraus  gezogenen 
Schlüsse  und  die  Anwendung  derselben  auf  die  vor- 
liegenden praktischen  Fragen.  Diesem  Gegenstand  sollen 
meine  jetzt  folgenden  Erörterungen  gewidmet  sein.  Oberall 
wo  ich  nicht  meinen  Widerspruch  besonders  geltend 
mache,  lege  ich  dabei  die  bibliographischen  Ermittlungen 
Steinbergers  zugrunde. 


Eine  Bemerkung  allgemeinster  Art  wird  durch  un- 
sern  Gegenstand  dem  Betrachtenden  überall  aufgedrängt, 
die  Beobachtung  nämlich,  daß  jede  geschichtliche  Be- 
wegung, welche  dem  menschlichen  Gemeinleben  neuen 
Inhalt  zuzuführen  strebt,  in  ihrem  Fortwirken  auf  das 
Gebiet  des  Rechts  übergreift:  gegen  die  überkommenen 
Formen  des  Rechts,  in  denen  die  alten  Lebensinhalte 
Schutz  und  Förderung  gefunden  haben,  erhebt  sich  die 
Forderung  neuen  Rechts  zu  Schutz   und  Förderung  der 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    255 

neuen  Lebensziele.  Es  entsteht  so  der  Kampf  ums  Recht, 
der  im  Verlauf  der  Geschichte  den  unmittelbarsten  Gegen- 
stand der  Betrachtung  bildet.  Unübersehbar  ist  die  Fülle 
und  Mannigfaltigkeit  dieser  Kämpfe,  aber  naturgemäß  ist 
die  Hartnäckigkeit,  mit  der  sie  geführt  werden,  dann  am 
größten,  und  die  Dauerhaftigkeit  der  Ausgleiche,  in  die 
sie  auslaufen,  ist  dann  am  zweifelhaftesten,  wenn  als 
kämpfende  Partei  eine  Macht  auftritt,  die  an  innerer 
Geschlossenheit  alle  anderen  nichtstaatlichen  Gemein- 
schaften überragt  und  dem  Staat  selber  die  Befugnis,  als 
höchste  rechtsetzende  Autorität  den  Streit  zu  schlichten, 
abspricht. 

Beide  Voraussetzungen  und  demgemäß  auch  beide 
Folgen  sehen  wir  in  den  Jahrhunderten  der  mittleren 
und  neueren  Geschichte  für  keine  Gemeinschaft  in  so 
vollem  Maße  zutreffen,  wie  für  die  römisch-katholische 
Kirche.  Die  Kämpfe,  welche  sie  um  das,  was  sie  als  ihr 
Recht  ansah,  geführt  hat,  bilden  darum  einen  hervorragen- 
den Teil  der  Geschichte  Westeuropas  in  den  bezeichneten 
Epochen.  Zwei  Abschnitte  treten  in  dem  Verlauf  dieser 
Kämpfe  auseinander:  der  erste  ist  die  Epoche  des  Auf- 
steigens,  in  welcher  die  Kirche,  als  die  auf  dem  Gebiet 
der  Religion  waltende  Erzieherin  der  Völker,  Zwangs- 
herrschaft und  Alleinherrschaft  erringt,  zugleich  als  ma- 
terielle Unterlage  ihrer  Macht  das  ungeheure  Kirchengut 
gewinnt  und  in  selbständiger  Gesetzgebung  Grenzen  und 
und  Inhalt  ihrer  Rechte,  mit  dem  Anspruch  auf  unbe- 
dingte Verbindlichkeit  dieser  Gesetze,  zu  bestimmen  unter- 
nimmt. Der  zweite  tritt  ein,  sobald  die  Tendenz  kirch- 
licher Spaltung  zum  Durchbruch  kommt :  dem  Verlangen 
der  katholischen  Kirche  nach  Alleinherrschaft  tritt  der 
Anspruch  der  protestantischen  Kirche  auf  gesicherte  Gel- 
tung entgegen,  das  ausschließliche  Recht  der  katholischen 
Kirche  auf  das  Kirchengut  wird  durch  die  Zugriffe  der 
Protestanten  gebrochen,  über  beiden  streitenden  Kirchen 
endlich  erhebt  sich  als  höhere  rechtsetzende  Macht  der 
Staat,  um  in  dem  Streit  über  Religionsfreiheit  und  Kirchen- 
gut  jeder  ihr  Recht  zuzumessen.  Da  alle  diese  Neue- 
rungen dem  widersprechen,  was  die  Kirche  als  ihr  Recht 

17» 


256  Moriz  Ritter, 

verficht,  so  entsteht  ein  durch  Jahrhunderte  hindurch- 
gehender Kampf,  in  welchem  die  Kirche,  langsam  zu- 
rückweichend, sich  den  Forderungen  des  Gegners  und 
den  Anordnungen  des  Staates  widerwillig  fügen  muß.  — 
Einen  kleinen  Ausschnitt  aus  diesem  Kampfe  will  ich  in 
den  folgenden  Erörterungen  ins  Auge  fassen:  die  Frage 
nämlich,  wie  aus  Anlaß  der  Unterhandlung  des  West- 
fälischen Friedens  die  literarischen  Verfechter  der  katho- 
lischen Kirche  zwischen  den  den  Rechtsansprüchen  ihrer 
Kirche  zugrunde  liegenden  Prinzipien  und  den  von  den 
Protestanten  gestellten  und  schließlich  durchgesetzten 
Forderungen  die  Grenzen  des  statthaften  Ausgleichs  zu 
finden  suchten. 

Was  zu  derartigen  Untersuchungen  in  besonderem 
Maße  auffordert,  ist  der  Umstand,  daß  damals  die  prin- 
zipiellen Grundlagen  der  kirchlichen  Abmachungen  mit 
einer  fast  ängstlichen  Sorge  berücksichtigt  wurden.  Die 
katholischen  Fürsten  wagten  kein  wesentliches  Zugeständ- 
nis zu  bewilligen,  ohne  auserlesene  Theologen  darüber 
zu  Rate  zu  ziehen,  wie  weit  sie  ohne  Beschwerung  ihres 
Gewissens  gehen  dürften;  hatten  sie  dann  einen  grund- 
sätzlichen Standpunkt  gewonnen,  so  suchten  sie  die  An- 
dern hinüberzuziehen,  indem  sie  schriftstellerisch  geübte 
Theologen  veranlaßten,  das,  was  in  geheimen  Gutachten 
ausgesprochen  war,  der  Welt  in  öffentlichen  Tagesschriften 
vorzutragen.  So  sehen  wir  in  dem  Kreise  der  kaiser- 
lichen Regierung  —  und  ähnlich  bei  den  andern  katho- 
lischen Fürsten  —  von  dem  Tage,  da  nach  Gustav  Adolfs 
Siegen  die  Notwendigkeit  eines  Ausgleichs  mit  den  deut- 
schen Protestanten  herantritt,  jeden  wichtigeren  Abschnitt 
in  den  Ausgleichsverhandlungen  von  theologischen  Gut- 
achten begleitet^);  und  wie  dann  der  westfälische  Friedens- 


*)  Die  Reihe  der  Gutachten  beginnt  mit  dem  von  Kheven- 
hüller  (XI,  1483)  in  kurzem  Auszug  mitgeteilten  Bedenken  von 
Ende  1631  (über  den  Zusammenhang  vgl.  meine  Deutsche  Ge- 
schichte in,  S.  529).  Über  neue  Befragungen  der  Theologen  hören 
wir  nach  Eröffnungen  der  Pirnaer  Friedensverhandlungen.  Der 
Nuntius  Rocci  berichtet  1634  Sept.  30  über  einen  schriftlich  erteilten 
Rat  Pazmanys  für  und  mündliche  Vorstellungen  Lamormains  gegen 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    257 

kongreß  eröffnet  war,  und  hier,  neben  der  Befriedigung 
der  siegreichen  auswärtigen  Mächte,  der  Ausgleich  über 
die  zwischen  katholischen  und  protestantischen  Reichs- 
ständen streitigen  Rechts-  und  Besitzansprüche  kirch- 
licher Art  endlich  zum  Abschluß  kommen  mußte,  da 
gesellten  sich  bald  zu  den  geheimen  Gutachten  auch 
die  veröffentlichten  Streitschriften.  Diese  Schriften,  von 
denen  ich  jedoch  einige  unbedeutende  Machwerke  aus- 

die  Zugeständnisse  (nach  Gindelys  Auszügen  im  böhmischen 
Landesarchiv).  Nach  dem  Pirnaer  Präliminarfrieden  und  vor  Er- 
öffnung der  Prager  Schlußverhandlung  ging  ein  neues  Gutachten 
aus  einer  „Consultation^  von  „patres  (Jesuiten)  et  alii  theologi" 
(nach  Caramuel,  Prodromiis  S.  39,  waren  es  achtzehn  oder 
zwanzig)  hervor.  Da  einige  Theologen  schwere  Bedenken  ein- 
gewandt hatten,  so  legte  der  Kaiser  die  Sache  neuerdings  acht 
Theologen  ex  utroque  statu  vor  (Richel  an  Kurfürst  Maximilian, 
1635  März  16.  Münchener  Staatsarchiv  41/17.  Vgl.  Caramuel, 
a.  a.  O.  S.  39—41).  —  Hierauf  war  es  der  Regensburger  Reichstag 
1640/41  und  die  dort  erörterte  Amnestie  und  Rückgabe  geistlicher 
Güter,  weiter  der  ungarische  Reichstag  von  1646/47  und  die  dort 
den  Protestanten  zu  bewilligenden  Artikel,  welche  neue  Gutachten 
veranlaßten.  Über  die  auf  erstere  Fragen  bezüglichen  Gutachten 
vgl.  Steinberger  S.  36,  über  die  ungarischen  Angelegenheiten  ließ 
der  Kaiser  zuerst  im  Jahre  1645  in  Linz  beraten  (Caramuel,  Pro- 
dromus  S.  42.  Über  den  Zusammenhang  s.  Huber,  Osterreichische 
Geschichte  V,  S.  575  f.),  dann  nachdem  er  am  11.  Sept.  1646  (Huber 
S.  612)  in  Preßburg  erschienen  war,  durch  eine  nach  demselben 
Ort  berufene  Theologenkommission  (Caramuel  a.  a.  O.  S.  42,  wo 
fälschlich  das  Jahr  1645  angegeben  ist).  —  Infolge  der  westfäli- 
schen Friedensverhandlungen  gingen  dem  Kaiser  folgende  Gut- 
achten zu:  1.  von  Pater  Gans  1645  vor  Okt.  10,  dem  Datum  des 
neuen  Amnestieediktes  (Steinberger  S.  39);  2.  von  einer  Theo* 
logenkommission  Linz  1646  Febr.  16  (a.  a.  O.  S.  59  Anm.  1);  3.  neues 
Gutachten,  daselbst  1646  April  (a.a.O.  S.  61);  4.  Gutachten  einer 
Theologenkommission  zu  Prag  1647  Okt.  (Caramuel,  Prodromus 
S.  43  f.,  Syndromus  S.  42).  —  Zu  unterscheiden  ist  von  1.  und  2. 
wohl  eine  resolutio  Viennensium,  in  der  des  Kaisers  Kompetenz 
zu  den  Abmachungen  mit  den  Protestanten  verfochten  wurde. 
Von  ihr  sagt  Caramuel  einmal :  sie  sei  transmissa  ad  me  ab  , . , 
electore  Anselmo  Casimiro  (Prodromus  S.  43),  dann  resolutionem, 
tametsi  petierim,  non  habeo  (Pax  n.  35).  Beides  ist  wohl  inso- 
fern richtig,  als  das  Gutachten  ihm  nur  verkürzt  (u.  a.  ohne  Nen- 
nung der  Autoren.  Prodromus  a.  a.  O.)  und  aufgenommen  in  eine 
Widerlegung  der  Mainzer  Theologen  (Pax  n.  35  und  Prodromus 
a.  a.  0.)  mitgeteilt  war. 


256  Moriz  Ritter, 

scheide^),  bilden  die  Grundlage  der  folgenden  Betrach- 
tungen. 

Ihre  Veriasser  sind,  wie  es  der  damalige  Stand  der 
Theologie  in  Deutschland  mit  sich  brachte,  durchweg 
Ordensmänner:  zwei  Jesuiten,  der  Dillinger  Universitäts- 
lehrer Heinrich  Wangnereck  und  der  Beichtvater  des 
bairischen  Kurfürsten,  Johann  Vervaux,  ein  Zisterzienser, 
der  Prager  Abt  und  Mainzer  Weihbischof  Johann  Cara- 
muel  y  Lobkowitz  und  ein  Benediktiner,  der  Prior  von 
Murrhard,  Adam  Adami.  In  ihren  Darlegungen  scheiden 
sie  sich'scharf  nach  den  Gegensätzen  von  nachgiebig 'und 
unnachgiebig,  aber  doch  mit  der  Einschränkung,  daß  sie 
in  den  grundlegenden  Prinzipien  übereinstimmten  und 
erst  auseinandergingen,  wo  es  sich  um  die  Anwendung 
derselben  auf  bestimmte  Rechtsverhältnisse  handelte.  Hier- 
nach werden  zunächst  die  übereinstimmenden  Lehren 
klar  zu  legen  sein. 

Wie  die  im  Religionsfrieden  erzielten  Errungenschaften 
der  Protestanten,  so  wurden  auch  die  in  den  Münster- 
Osnabrücker  Verhandlungen  neuerdings  von  ihnen  er- 
hobenen, auf  Befestigung  und  Erweiterung  der  vorherigen 
Errungenschaften  ausgehenden  Forderungen  unter  zwei 
Gesichtspunkte  gestellt:  1.  Freiheit  des  Bekenntnisses 
und  der  Lehre,  des  Gottesdienstes  und  der  Kirchen- 
verfassung der  Protestanten;  2.  Anteil  derselben  an  dem 
Gut  der  alten  Kirche  von  der  Ausstattung  der  kleinsten 
Anstalten  und  Stiftungen  bis  hinauf  zu  den  mit  Bistümern 
und  Klöstern  verbundenen  Fürstentümern.  Hinsichtlich 
des  ersten  Punktes  nun  wurde  einhellig  und  unerbittlich 
die  Pflicht  der  Ketzerausrottung  und  die  Verwirklichung 
derselben  mittels  stetigen  Zusammenwirkens  kirchlicher 
und  staatlicher  Gesetzgebung  und  Exekutive  gelehrt,  nur 
etwa  mit  dem  Unterschied,  daß  die  Eiferer  noch  mit  be- 
sonderem Nachdruck  das  Unterthanenverhältnis  des  Staates 
zur  Kirche  hervorhoben:  nicht  auf  Gleichberechtigung 
beider  Gewalten   beruhe    jenes   Zusammenwirken,    son- 


0  Das  Vehiculuni  iudicii  theologici  (Steinberger  S.  85),   die 
Crisis  anticriseos  des  Cornäus  (S.  109). 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    259 

dem  auf  der  Pflicht  der  staatlichen  Regenten,  ihre  Ge^ 
setzgebung  und  Exekutive  nach  den  Weisungen  der 
kirchlichen  Gewalt  bei  Vermeidung  von  Bann  und  Ab- 
setzung einzurichten.^)  Um  diese  Lehre  zu  begründen, 
berief  man  sich  in  erster  Linie  auf  das  mittelalterliche 
Ketzerrecht^) ;  dann  aber  ging  man  vom  positiven  Gesetz 
auf  das  ewige  Sittengesetz,  welches  die  Beihilfe  zur 
Sünde  verbietet,  zurück:  die  Ketzerei,  hieß  es,  gehört 
unter  allen  Freveln  gegen  Gott  zu  den  schwersten;  die 
Mitschuld  dieses  Frevels  würde  aber  der  Staat  oder  auch 
die  Kirche  auf  sich  laden,  wenn  sie  den  Ketzern  Freiheit 
des  Bekenntnisses  oder  der  Lehre  gewährte.  Hiernach 
schloß  also  das  Gesetz  der  Ketzerausrottung  eine  unab- 
änderliche und  furchtbar  ernste  Gewissenspflicht  für  die 
Regenten  in  sich. 

Konnte  man  nicht  noch  weiter  gehen  und  das  Gebot 
der  gewaltsamen  Ausrottung  der  Ketzerei  und  die  füh- 
rende Rolle,  welche  dabei  der  Kirche  zufiel,  auf  Bibel 
und  Tradition  zurückführen?  Caramuel,  als  Sprecher 
der  Gemäßigten,  hatte  diese  Untersuchung  mit  dem  kurzen 
Worte  abgeschnitten :  kein  (positiv)  göttliches  Gebot  gibt 
es,  kraft  dessen  die  Fürsten  ihren  Untertanen  den  wahren 
Glauben  vorzuschreiben  haben. '*)  Aber  Wangnereck,  als 
Sprecher  der  Unversöhnlichen,  wußte  es  besser.  Er  be- 
wies aus  Johannes  XXI,  15,  daß  der  Papst  mit  dem  Recht 
des  Weidens  der  Schafe  auch  das  Recht  der  Abwehr  der 
Wölfe,  d.  h.  der  Ketzer,  erhalten  habe^);  aus  der  Parabel 
vom  Unkraut  und  Weizen  (Matth.  XIII,  24  f.)  zeigt  er 
sonnenklar,  daß  der  Hausvater  der  Papst  sei  und  die 
Knechte  die  weltlichen  Fürsten,  daß  folglich  der  Papst, 
und  zwar  er  allein,  zu  entscheiden  habe,  ob  in  Ausnahme- 
fällen, wenn  nämlich  sonst  den  Rechtgläubigen  größerer 

>)  Man  beruft  sich  (z.  B.  Anticaramuel  S.  41)  auf  c.  9  (statui- 
musj,  c.  10  (in  terris  vero\  c.  13  (moneantur)  X  de  Haereticis  (5, 7). 

')  In  bezug  auf  das  Deutsche  Reich  wird  noch  besonders  der 
Eid  des  Kaisers  angerufen,  wobei  aber  die  Theologen  nur  von 
dem  veralteten  Eidesformular  in  Clement.  II,  9  Kenntnis  zeigen« 
(Judicium  theoL  IV,  5.   Caramuel,  Fax  licita  n.  43). 

•)  Caramuel,  Fax  n.  294. 

*)  Judicium  IV,  4.    Responsum  S.  112. 


260  Moriz  Ritter, 

Schaden  drohe,  den  Ketzern  Duldung  zu  gestatten  sei^); 
ja,  die  von  Innozenz  III.  über  die  Ketzer  verhängte  In- 
famie und  in  verdeckter  Wendung  selbst  die  Todesstrafe, 
hatte  er  in  der  Bibel  gefunden:  erstere  in  der  Stelle 
Matth.  XVIII,  17:  wenn  er  die  Kirche  nicht  hört,  so  sei 
er  dir  wie  ein  Heide  und  Zöllner^),  letztere  im  Römer- 
brief 1,  32 :  die  solches  (nämlich  die  vorbenannten  Sünden, 
unter  denen  der  Exeget  auch  die  Ketzerei  einbegriffen 
findet)  begehen,  sind  des  Todes  wert.')  Indem  dann 
sein  Gesinnungsgenosse  Adam  noch  die  unvermeidliche 
Autorität  Augustins  hinzufügt*),  ist  der  Beweis  für  die 
Pflicht  der  Zwangsstrafe  gegen  die  Ketzer  und  die  dienende 
Stellung  der  Staatsgewalt  gegenüber  dem  Oberbefehl  des 
Papstes  aus  Bibel  und  Tradition  erbracht. 

Nicht  weniger  abweisend  lautete  die  Lehre,  welche 
der  zweiten  Forderung  der  Protestanten  entgegengesetzt 
wurde.  „Die  Verfügung  über  das  Kirchengut  ist  von 
Gott  der  Geistlichkeit  allein  übertragen ;  die  Laien  sollen 
sich  nicht  herausnehmen,  irgend  etwas  darin  zu  be- 
schließen." Diesen  Satz  entnahm  man  den  Beschlüssen 
des  römischen  Konzils  von  502,  bekräftigte  ihn  durch 
die  weiteren  Entscheidungen  der  kirchlichen  Gesetzgebung 
bis  auf  Innozenz  III.  und  meinte  ihn  vollends  sicher  zu 
stellen  durch  das  Wort  des  hl.  Ambrosius:  auf  das,  was 
Gott  gehört,  hat  der  Kaiser  kein  Recht;  die  Paläste  ge- 
hören dem  Kaiser,  die  Kirchen'  dem  Bischof.  —  An  dem 
Grundsatz,  daß  das  Kirchengut  für  die  staatliche  Gewalt 

*)  Judicium  V  ad  3.    Responsum  S.  99/100. 

«)  Judicum  IV,  2.    Responsum  S.  40,  41. 

»)  Judicium  IV,  2.  Unmittelbar  zitiert  er  die  Stelle  als  Beweis 
der  Sündhaftigkeit  der  cooperatio,  aber  vollständig,  wie  sie  mit- 
geteilt war,  mußte  sie  zugleich  als  Beweis  für  die  Todesstrafe  ge- 
faßt werden.  Der  Jesuit  Comäus  (Crisis  anticriseos  S.  133)  läßt 
den  Wagnereck  nicht  gerade  die  Todesstrafe  verlangen.  Aber  in 
der  Ponderalio  (Meiern  IV,  S.  598)  sagt  W.;  die  Ketzerei  solle 
gestraft  werden  perinde  ut  alia  crimina,  immo  magis,  —  Zu  be- 
achten ist  übrigens,  daß  das  Alte  Testament  nicht  unmittelbar 
herangezogen  wird,  wie  es  z.  B.  von  Becanus  (Summa  theologiae 
schol,  pars  III,  tract.  I,  cap.  13,  qu.  6)  geschieht,  dessen  Autorität 
diesen  Schriftstellern  sonst  am  nächsten  lag. 

*)  Anticaramuel  S.  45. 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    261 

unantastbar  sei,  wagten  hiernach  auch  die  vermittelnden 
Theologen  keineswegs  zu  rütteln. 

Aber  ein  anderes  ist  es,  die  Grundsätze  in  ihrer 
Schärfe  aufstellen,  und  ein  anderes,  sie  dem  Zwang  tat- 
sächlicher Machtverhältnisse  anpassen.  Das  hatten  die 
Katholiken  bei  Abschluß  des  Religionsfriedens,  dann  des 
Prager  Friedens  erfahren,  und  neuerdings  mußten  sie  es 
erproben,  als  in  den  westfälischen  Friedensverhandlungen 
der  Austrag  der  zwischen  katholischen  und  protestan- 
tischen Ständen  schwebenden  Streitigkeiten  über  den 
Religionsfrieden  und  dessen  Erweiterung  oder  Verengung, 
wie  sie  in  den  beiderseitigen  Beschwerdeschriften  zu- 
sammengestellt waren,  in  Angriff  genommen  wurde.  Da 
machten  sich  angesichts  der  praktischen  Fragen  sofort 
die  Gegensätze  der  Vermittelnden  und  der  Unnach- 
giebigen innerhalb  der  katholischen  Partei  geltend.  Na- 
türlich trafen  diese  Gegensätze  nicht  nur  in  den  Streit- 
schriften, sondern  vor  allem  auch  in  den  Münster-Osna- 
brücker Verhandlungen  aufeinander,  und  eben  das  gibt 
der  literarischen  Behandlung  derselben  ein  besonderes 
Interesse,  daß  die  wichtigeren  der  in  Betracht  kommenden 
Schriften  auf  die  unmittelbare  Anregung  der  streitenden 
Reichsstände  zurückzuführen  sind:  ein  Zusammenhang, 
der  ebenfalls  genauer  ins  Auge  gefaßt  werden  muß. 

Den  Vortritt  in  dem  literarischen  Kampfe  nahm  ein 
Mann,  der  bereits  im  Jahre  1640,  bei  Gelegenheit  der  da- 
maligen Reichstagsverhandlungen,  auf  Anregung  eines 
der  heftigsten  Gegner  der  Protestanten,  des  Bischofs 
Heinrich  von  Augsburg,  eine  ungedruckte  Schrift  über 
die  Grenzen  der  zulässigen  Konzessionen  an  die  Prote- 
stanten verfaßt  hatte.  Es  war  der  Jesuit  und  Dillinger 
Universitätsprofessor  Heinrich  Wangnereck,  während  des 
Münsterer  Kongresses,  als  Haupt  der  zeitweilig  in  Lindau 
wirkenden  Jesuitenmission,  dem  Ort  der  Friedensverhand- 
lungen weit  entrückt.  In  den  letzten  Tagen  des  Jahres 
1646  erschien  unter  dem  Titel  eines  theologischen  Gut- 
achtens (Judicium  theologicum)  jene  ältere  Schrift  in  einer 
der  damaligen  Zeit  angepaßten  Überarbeitung,  unter  fin- 
giertem   Namen    und   fingiertem    Druckort.     Die    Ober- 


262  Moriz  Ritter, 

arbeitung  war  in  ihrem  Verhältnis  zur  Vorlage  höchst 
oberflächlich  und  ohne  nähere  Kenntnis  der  Einzel- 
heiten der  Münsterer  Verhandlungen  gefertigt,  Mängel, 
die  indeß  gerade  geeignet  waren,  den  Anlaß  der  Publi- 
kation zu  verraten :  sie  war  auf  rasche  Lieferung  bestellt, 
und  die  Besteller,  indem  sie  den  Druck  der  Arbeit  selber 
besorgten,  enthoben  zugleich  den  Verfasser  der  Verant- 
wortung für  die  von  seinen  Ordensobern  durchaus  nicht 
gewünschte  Veröffentlichung  derartiger  Schriften.^)  Eine 
Vorfrage,  die  nicht  umgangen  werden  kann,  lautet  daher: 
wer  waren  die  Besteller?  Man  kann  darauf  nicht  ant- 
worten, ohne  einige  Andeutungen  über  den  Gang  der 
westfälischen  Friedenskonferenzen  vorauszuschicken. 

Die  Verhandlungen  über  den  Austrag  der  entgegen- 
gesetzten   Ansprüche    der    katholischen    und    protestan- 


*)  Zur  Kennzeichnung  der  Überarbeitung  mögen  zwei  Bei- 
spiele dienen.  1.  Der  Verfasser,  obgleich  zu  einer  Zeit  schrei- 
bend (nach  dem  Tode  des  Bischofs  Heinrich  von  Augsburg, 
25.  Juni  1646),  da  die  Forderungen  der  Protestanten  längst  for- 
muliert und  in  Verhandlung  gezogen  waren,  nimmt  (I,  1)  einen 
Abschnitt  aus  seiner  Urschrift  (vgl.  die  Zusammenstellung  bei 
Steinberger  S.  68)  enthaltend  fünf  Punkte,  welche  die  Protestanten 
fordern  werden,  unverändert  herüber  und  fügt  dann  ein  bloßes 
N.  B.  hinzu:  in  Münster-Osnabrück  haben  sie  dieses  und  vieles 
anderes  bereits  gefordert,  2.  In  der  Urschrift  (von  Walter  Goetz 
für  mich  eingesehen)  findet  sich  der  Satz  eadem  praecessoris  sui 
ho  die  vestigia  tenet ,  .  .  Heinricus  ep.  Augustanus.  Diesen  Satz 
rückt  der  Verfasser,  nur  mit  Umsetzung  zweier  Worte  in  gleich- 
wertige Synonyma,  aber]  unter  Beibehaltung  des  hodie,  in  seine 
Überarbeitung  ein  und  fügt  dann  dem  ersten  Teil  des  Satzes  einen 
Nachsatz  hinzu  (statt  des  Punktes  zwischen  Augustanus  und  dum, 
welchen  auch  Steinberger  in  seinem  Zitat  S.  68  Anm.  hinüber- 
genommen hat,  muß  ein  Komma  gesetzt  werden),  in  dem  er  von 
dem  Bischof  als  einem  Verstorbenen  spricht.  (Steinbergers  Er- 
klärung, daß  der  Verfasser  auch  die  Überarbeitung  selbst  in  aus- 
einanderliegenden Zeiten  geschrieben  habe,  und  daß  er  dem- 
gemäß jene  ersten  Worte  vor  des  Bischofs  Tod  aufgezeichnet,  zu 
den  weitern  erst  nach  dem  Tod  die  Feder  angesetzt  habe,  erscheint 
vollends  unannehmbar,  wenn  man  beachtet,  daß  bei  richtiger  Inter- 
punktion die  widersprechenden  Worte  sich  nicht  auf  zwei  Sätze 
verteilen,  sondern  in  einem  Satzgefüge  sich  finden.)  Gedanken- 
losigkeit, nicht  verschiedene  Zeiten  der  Überarbeitung,  liegt 
zugrunde. 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    26S 

tischen  Reichsstände  hatten  von  den  Tagen,  da  diese 
Ansprüche  von  den  Protestanten  in  ihren  am  25.  De- 
zember 1645*)  der  Mainzer  Kanzlei  und  den  kaiserlichen 
Gesandten  übergebenen  Beschwerden,  von  den  Katholiken 
in  ihren  am  8.  Februar  1646  den  Protestanten  zugestellten 
Gegenbeschwerden  eröffnet  waren,  bis  zu  ihrem  endlichen 
Ausgleich  sehr  verschiedene  Stadien  zu  durchlaufen :  erst 
Aussprache  zwischen  den  beiden  Parteien  in  ihrer  Ge- 
samtheit, die  ihren  Höhepunkt  in  Ausgleichskonferenzen 
zwischen  Deputierten  beider  Teile,  geführt  zu  Osnabrück 
vom  12.  April  bis  5.  Mai  1646,  erreichten.  Hierauf  ein 
zweiter  Abschnitt,  in  welchem  die  kaiserlichen  Gesandten, 
vornehmlich  Trautmannsdorf,  die  Unterhandlung  mit  den 
protestantischen  Deputierten  dem  Ausschuß  der  Katholiken 
aus  der  Hand  nehmen  und  dabei  so  verfahren,  daß  sie 
ihre  ersten  Ausgleichsentwürfe  vom  11.  Juni  und  12.  Juli 
1646  noch  im  Namen  der  Katholischen  überhaupt,  einen 
weiteren  dagegen  vom  30.  November  nur  noch  im  Ein- 
vernehmen „mit  etlichen  vornehmen  katholischen  Stän- 
den*'^j  überreichen  können.  Ein  dritter  Abschnitt  wird 
damit  eröffnet,  daß  nicht  nur  die  Katholiken  vor  den 
Kaiserlichen,  sondern  auch  die  Protestanten  vor  den 
schwedischen  Gesandten  zurücktreten:  diese  führen  nun 
in  Osnabrück  vom  7.  Februar  1647  ab*^)  die  Verhand- 
lungen, die  Schweden  unter  steter  Verständigung  mit 
einem  Ausschuß  der  Protestanten,  die  Kaiserlichen  nur 
zeitweilig  von  einigen  eifrigen  katholischen  Gesandten^ 
die  zu  dem  Zweck  von  Münster  herbeigekommen  sind, 
bald  aber  mißvergnügt  abziehen^),  überwacht.  Nach  un- 
endlich   mühsamen    Auseinandersetzungen    enden    diese 

^)  Bericht  der  kaiserlichen  Gesandten,  1645  Dez.  25.  (Gärt- 
ner VII,  S.  227.)  Adam  VIII,  1,  S.  134.  Ich  zitiere  nach  der  Aus- 
gabe Meierns,  1737. 

»)  Volmars  Vortrag,  Meiern  III,  S.  435,  Z.  7.  —  Nebenher 
ging  eine  Konferenz  der  Deputierten  der  beiderseitigen  Stände^ 
Münster  1646  November  20—30.  (Meiern  III,  S.  412.)  Ergebnis 
derselben  war  eine  von  den  Protestanten  verfaßte  Zusammenstel- 
lung der  Differenzen,  53  an  der  Zahl.    (Meiern  III,  S.  419.) 

»)  Meiern  IV,  S.  34,  §  8. 

0  Adam  XXIII,  5,  13,  S.  426,  443. 


264  Moriz  Ritter, 

Konferenzen  mit  einem  von  den  Kaiserlichen  verfaßten 
und  am  3.  Juni  1647  in  der  Mainzer  Kanzlei  diktierten 
Entwurf^),  welcher  der  schließlichen  Fassung  der  Friedens- 
akte schon  sehr  nahe  kommt.  Dann  aber,  indem  nun 
am  12.  Juni^)  die  katholischen  Stände  diesen  Entwurf 
ihrer  Prüfung  unterziehen^  erhebt  sich  ein  letztes  Gewirre 
von  Streitigkeiten:  zwischen  den  Katholiken  und  den 
Kaiserlichen,  zwischen  den  nachgiebigen  und  unnach- 
giebigen Katholiken,  zwischen  Reformierten  und  Luthe- 
ranern, zwischen  den  Protestanten  und  Katholiken  ins- 
gesamt und  ihren  Vertretern  und  Protektoren  insbeson- 
dere, bis  am  24.  März  1648  der  Abschnitt  über  die  kirch- 
lichen Fragen  im  wesentlichen  diejenige  Fassung  erhält, 
in  welcher  er  in  der  Friedensakte  erscheint. 

Als  Vorkämpfer  der  unnachgiebigen  Katholiken  konnte 
bei  diesen  Verhandlungen  der  Bischof  Franz  Wilhelm, 
Graf  von  Wartenberg,  angesehen  werden.  Von  seinen 
drei  Bistümern  Osnabrück,  Minden  und  Verden  waren 
das  erstere  großenteils,  die  beiden  andern  ganz  in  der 
Gewalt  der  Schweden,  während  das  Recht  auf  dieselben 
ihm  durch  den  Prager  Frieden,  wenigstens  nach  der 
kaiserlichen  und  katholischen  Auffassung,  gesichert  war.') 
Dieses  Recht  ihm  zu  entreißen,  waren  schon  im  Jahre 
1646  die  Schweden  und  protestantische  Fürsten  bemüht; 
Franz  Wilhelm,  indem  er  es  hartnäckig  verteidigte,  mochte 
dabei  in  die  Stimmung  eines  Mannes  geraten,  der  wohl 
zu  gewinnen,  aber  nichts  mehr  zu  verlieren  hat.  Erhöht 
wurde  übrigens  sein  Ansehen  in  Münster  noch  dadurch, 
daß  sein  Vetter,  der  Erzbischof  Ferdinand  von  Köln,  ihn 
zugleich  zum  Haupt  seiner  Gesandtschaft  gemacht  hatte. 
Neben  ihm  trat  Adam,  Prior  von  Murrhard,  hervor.   Auch 


»)  Meiern  IV,  S.  557. 

•)  Meiern  IV,  S.  608,  §  5;  S.  699,  §  5. 

3)  Vgl.  meine  Deutsche  Geschichte  111,  S.  592.  Meine  dort 
gegebene  Darstellung  des  Prager  Friedens  stützt  sich  neben  der 
gedruckten  Literatur  auf  Akten  des  Münchener  Archivs  (Kaiser- 
liche, Mainzer  und  Kölner  Korrespondenz);  darunter  ein  ein- 
gehender Bericht  der  Hessen-Darmstädter  Gesandten  an  Kur- 
mainz und  Köln,  1634  Dez.  27  bis  1635  Jan.  2  (Staatsarchiv  34/11). 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    265 

der  hatte,  als  Vertreter  der  in  den  Zeiten  des  Restitutions- 
ediktes wieder  katholisch  gemachten  württembergischen 
Klöster^),  den  verzweifelten  Kampf  um  die  Erhaltung 
dieser  Restitution  zu  führen.  Er  hatte  vor  dem  viel  vor- 
nehmeren Osnabrücker  Bischof  den  Vorzug  voraus,  daß 
er  als  Theologe,  Kanonist  und  gewandter  Schriftsteller 
auch  zur  literarischen  Verfechtung  seiner  Sache  keiner 
fremden  Feder  bedurfte.  —  Diesen  beiden,  dem  Bischof 
und  dem  Prior,  standen  als  Vertreter  der  vermittelnden 
Richtung  vor  allem  die  kaiserlichen  Gesandten  gegenüber, 
mit  denen,  wie  es  scheint,  die  des  Mainzer  Kurfürsten 2) 
in  ihren  Absichten  zusammentrafen. 

Als  nun  am  Ende  des  Jahres  1646  die  Schrift  Wang- 
nerecks erschien,  stand  man  in  dem  zweiten  Abschnitt 
der  Ausgleichsverhandlungen,  und  die  Katholiken  ins- 
besondere waren  in  einer  teils  durch  die  Entwürfe  vom 
11.  Juni  und  12.  Juli,  teils  durch  die  von  Trautmannsdorf 
den  Schweden  bereits  in  Aussicht  gestellte  Abtretung 
der  Reichsstifter  Bremen  und  Verden')  schon  recht  er- 
hitzten Stimmung.  Da  seien  es  denn,  so  meldet  der 
Nuntius  Chigi,  die  Eiferer  der  katholischen  Partei  gewesen, 
welche  die  Schrift  veranlaßt  hätten.  Vermutlich  hätte  Chigi 
auch  die  Namen  dieser  Eiferer  nennen  können.  Leider 
unterließ  er  es,  und  nur  der  spanische  Gesandte,  der 
weniger  tief  in  das  Geheimnis  sah,  berichtet:  man  nehme 
an  (jusgase)j  daß  die  Schrift  unter  „Teilnahme  und  Pro- 
tektion "^  des  Bischofs  von  Osnabrück  verfaßt  sei.    Auch 


^)  Da  deren  beanspruchte  Reichsunmittelbarkeit  und  Session 
bestritten  wurde,  so  gewann  er  einen  sicheren  Platz  als  Bevoll- 
mächtigter des  Bischofs  von  Corvey. 

')  Auf  vermittelnde  Tendenzen  der  Mainzer  deutet  die  Äuße- 
rung Trautmannsdorfs  1645  Nov.  13  bei  Egloff stein,  Baierns  Frie- 
denspolitik S.  63  Anm.  1;  ferner  der  Umstand ,  daß  sich  Mainz 
unter  den  Bischöfen  findet,  an  welche  Kurfürst  Maximilian  im 
Januar  1646  seine  „eindringlichen  Mahnungen**  zu  festerer  Haltung 
in  der  Frage  der  Kirchengüter  richtet  (a.  a.  0.  S.  66).  Übrigens 
tritt  der  Erzbischof  in  den  zur  Zeit  bekannten  Akten  wenig  hervor. 

*)  Über  des  B.  Osnabrück  Gegenvorstellungen  an  Traut- 
mannsdorf, zwischen  1645  Dez.  und  1646  Febr.,  vgl.  Adam  XI,  1,2^ 
S.  205/06. 


266  Moriz  Ritter, 

wir  müssen  uns  mit  dieser  Annahme  als  der  wahrschein- 
lichsten begnügen.') 

Wie  schon  bemerkt,  ging  Wangnerecks  Arbeit  auf 
die  einzelnen  zur  Verhandlung  gestellten  Fragen  nicht 
ein ;  seine  Absicht  war,  die  Grundsätze,  welche  bei  allen 
Beschlüssen  nicht  überschritten  werden  dürften,  fest- 
zustellen und  durch  ihre  unerbittliche  Feststellung  den 
katholischen  Machthabern  das  Gewissen  zu  schärfen. 
Zwei  Sätze  sind  es  nun,  aus  denen  sich  alle  seine  Ur- 
teile ableiten  lassen.  Der  erste  lautet:  jene  doppelle 
Gewährung  von  Religionsfreiheit  und  Kirchengui,  welche 
die  Protestanten  erheischen,  kann  die  staatliche  Gewalt 
weder  im  großen  noch  im  kleinen  bewilligen  ohne  aus- 
drücklich eingeholte  Ermächtigung  des  Papstes.  Die  dem 
Papste  in  dieser  Beziehung  zukommende  Autorität  erhebt 
unser  Autor  dann  auf  die  höchste  Höhe,  indem  er  es  als 
seine  persönliche  Ansicht  ausspricht,  daß  die  Entschei- 
dungen, welche  der  Papst  aus  den  Anschauungen  der 
Kirche  heraus  (ex  sensu  ecclesiae)  über  Statthaftigkeit 
oder  UnStatthaftigkeit  solcher  Einräumungen  treffe,  eben- 
sowohl unfehlbar  seien,  wie  die  Entscheidungen  in  Glau- 
benssachen: das  Mindeste,  worüber  unter  allen  Katho- 
liken kein  Streit  bestehe,  sei,  daß  derartige  Entscheidungen 
gehorsam  entgegengenommen  werden  müßten.^) 

Daß  eine  derartige  päpstliche  Genehmigung  weder 
vorlag,  noch  zu  erwarten  war,  wußte  alle  Welt.   Wangner- 


»)  Steinberger  (S.  69  Anm.  4,  S.  80)  fußt  auf  einer  Aussage 
Wangnerecks,  daß  seine  Schrift  auf  Verlangen  des  Nuntius  Chigi 
und  des  Mainzer  Erzbischofs  herausgegeben  sei.  Daß  der  erste 
Teil  dieser  Aussage  falsch  ist,  beweist  er  selber.  Damit  aber 
verliert  auch  der  zweite  Teil  seine  Glaubwürdigkeit,  und  Stein- 
bergers  Versuch,  diese  Glaubwürdigkeit  dadurch  zu  stützen,  daß 
er  dem  Mainzer  einen  Platz  unter  den  Extremen  anweist  (S.  80 
Anm.  3,  4;  dagegen  meine  vorhergehende  Anm.)  bedürfte  doch 
ganz  anderer  Beweise,  als  er  beibringt.  Die  Schrift  Wangnerecks 
war  eine  wahre  Brandschrift,  und  nur  die  Schärfsten  unter  den 
Intransigenten  konnten  ihre  Veröffentlichung  befürworten.  Daß 
die  Verfasser  intransigenter  Schriften  den  Erzbischof  nach  seinem 
Tode  für  ihre  Partei  in  Anspruch  nehmen  (z.  B.  Anticaramuel  S.  6, 
Steinberger  S.  104  Anm.  4),  kann  auch  keinen  Ausschlag  geben. 

«)  Responsum  theoL  S.  114/15. 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    267 

eck  ließ  sich  nun  aber  noch  besonders  angelegen  sein> 
aus  dem  von  seinem  Bischof  ihm  geöffneten  Archiv  den 
urkundlichen  Beweis  zu  führen,  daß  gegen  die  Bestä- 
tigung des  Religionsfriedens  der  päpstliche  Legat  Com- 
mendone  eine  geheime  Protestation  ausgestellt,  und  daß 
gegen  die  Einräumungen  des  Prager  Friedens  Urban  VIII., 
noch  vor  Abschluß  desselben,  auf  eine  Anfrage  des  Erz- 
bischofs von  Mainz  seinen  Widerspruch  erhoben  habe, 
ebenso  wie  er  ein  Jahr  später  darauf  hinweisen  konnte, 
daß  während  der  westfälischen  Friedensverhandlungen 
der  Nuntius  die  einzelnen  kirchlichen  Abmachungen  mit 
seinen  Protesten  begleitet  habe,  und  beim  eventuellen 
Abschluß  des  Friedens  sein  zusammenfassender  Protest 
nicht  fehlen  werde.^)  Damit  war  denn  von  vornherein 
über  den  Religionsfrieden,  über  den  auf  ihn  gebauten 
Prager  Frieden  und  den  auf  beide  gegründeten  West- 
fälischen Frieden  das  Verwerfungsurteil  gesprochen,  und 
im  Sinne  Wangnerecks  war  das  Urteil  um  so  verdienter, 
da  die  Stifter  des  Religionsfriedens  sich  nicht  mit  der 
Übergehung  des  Papstes  begnügt,  sondern  auch  mit 
frevelnder  Hand  in  seine  Rechte  unmittelbar  eingegriffen 
hatten:  durch  die  Bestimmung  nämlich,  nach  welcher  die 
bischöfliche  Jurisdiktion,  die  doch  ein  Ausfluß  der  päpst- 
lichen Gewalt  sei 2),  den  Protestanten  gegenüber  sus- 
pendiert wurde. 

Der  zweite  Leitsatz  Wangnerecks  lautete:  Protestan- 
tische Religionsfreiheit  und  protestantischer  Besitz  von 
Kirchengut  kann  unter  der  durch  den  ersten  Satz  gege- 
benen Vorbedingung,  alsdann  aber  auch  durch  bindenden 
Vertrag. gestattet  werden,  und  zwar  kraft  der  Regel,  daß 
man  Übel  und  Sünde  —  hier  den  Greuel  der  Ketzerei 
und  des  Kirchenraubs  —  zulassen  darf,  wenn  infolge  der 
Ungunst  der  äußeren  Machtverhältnisse  nur  hierdurch 
größeres  Übel  —  hier  noch  größerer  Verlust  der  katho- 
lischen Kirche  —  zu  verhindern  ist.  Allein  eben  diese 
Regel  schließt  gleich  zwei  Beschränkungen  in  sich:  1.  da 


»)  Judicium  IV,  8,  §  2.    Responsum  S.  117/18. 
»)  Judicium  IV,  4  n.  2. 


268  Moriz  Ritter, 

die  Ungunst  der  Verhältnisse  dem  Wandel  der  Zeiten 
unterworfen  ist,  so  kann  niemals  eine  ewige  Gewährung 
an  die  Ketzer  statthaft  sein.  2.  Die  Duldung,  welche  die 
Obrigkeit  den  Ketzern  einräumt,  darf  niemals  den  Cha- 
rakter eigentlicher  Mitwirkung  an  fremder  Sünde  an- 
nehmen. Die  erste  Schranke,  so  schloß  nun  wieder 
Wangnereck,  hat  der  Reügionsfriede  frevelhaft  nieder- 
gerissen, indem  er  seine  Gewährungen  bis  zu  der  frei- 
willigen Wiedervereinigung  der  Protestanten  mit  den  Ka- 
tholiken erstreckt;  denn  eine  solche  freiwillige  Rückkehr 
ist  gegen  die  boshafte  Natur  der  Ketzerei,  die  Konzes- 
sionen sind  also  als  ewige  erteilt.  Abermals  fällt  also 
hiermit  ein  vernichtendes  Urteil  auf  den  Religionsfrieden, 
nicht  minder  auf  den  Prager  Frieden,  der  auf  den  Reli- 
gionsfrieden gegründet  ist,  und  im  voraus  auch  auf  den 
Westfälischen  Frieden,  weil  er  die  Ewigkeit  der  Zugeständ- 
nisse wiederholt. 

Und  nun  die  Frage  der  sündhaften  Mitwirkung!  Hier 
war  ein  Tummelplatz  für  kasuistische  Definitionen  und 
Distinktionen  eröffnet,  den  wir  aber  nur  soweit  betreten 
werden,  als  erforderlich  ist,  um  die  Einwürfe  gegen  be- 
stimmte Friedenssatzungen  zu  verstehen.  Eine  beson- 
ders verwerfliche  Art  tätiger  Beihilfe  findet  Wangnereck 
in  den  Bestimmungen  des  Religionsfriedens,  welche  die 
Gleichheit  von  Ehren  und  Rechten  für  Katholiken  und 
Protestanten  anordnen.  Daß  aus  dieser  Gleichheit  heraus 
das  Recht  der  katholischen  Obrigkeit  zum  Verbot  anderer 
Religionen  nun  auch  den  protestantischen  Reichsständen 
in  der  Form  zugesprochen  wird,  daß  sie  ihren  katho- 
lischen Untertanen  die  Wahl  zwischen  Auswanderung 
oder  Übertritt  zur  protestantischen  Religion  stellen  dürfen, 
vergleicht  er  mit  dem  Verfahren  des  Pilatus,  der  Christus 
den  Juden  zum  Kreuzigen  übergab.  Daß  aus  derselben 
Gleichheit  heraus  die  Reichsgewalt  den  Protestanten 
einen  über  das  bloße  Geschehenlassen  hinausgehenden, 
tätig  eingreifenden  Schutz  zur  Behauptung  oder  Erlan- 
gung der  ihnen  überlassenen  kirchlichen  Freiheiten  und 
Besitztümer  leisten  soll,  erscheint  ihm  grundsätzlich  eben- 
falls verwerflich,  nur  daß  er  hier  als  Folge  der  Konzes- 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    269 

sionen  doch  Ausnahmen  zugibt,  über  deren  Umfang  er 
sich  aber  wenig  bestimmt  ausspricht.  Es  scheint,  daß  er 
fUr  solche  Zugeständnisse,  welche  den  Protestanten  auf 
zulässigem  Wege,  also  mit  päpstlicher  Genehmigung  und 
mit  Ausschluß  der  ewigen  Dauer  zukommen  möchten, 
den  aktiven  Schutz  der  Gerichte  zugeben  will.  Aber  mit 
besonderm  Zorn  wendet  er  sich  gegen  einen  derartigen 
Schutz,  wenn  er  zum  Zweck  der  Wiederauslieferung  der 
kraft  des  Restitutionsediktes  von  den  Katholiken  wieder- 
gewonnenen geistlichen  Güter  an  ihre  früheren  protestan- 
tischen Besitzer  geleistet  werden  soll.^) 

Natürlich  war  hiermit  nochmals  das  Verdammungs- 
urteil über  den  Religionsfrieden  und  jede  au!  ihm  be- 
ruhende Friedensstiftung  in  Deutschland  gefällt.  Und  alle 
diese  Urteile  wurden  in  einer  zum  Erschrecken  rückhalts- 
losen Form  vorgetragen.  Die  Vorsicht,  mit  welcher  vor 
dem  Krieg  die  katholischen  Polemiker  in  Deutschland 
ihre  Zweifel  an  der  Gültigkeit  des  Religionsfriedens 
äußerten 2),  war  jetzt  in  ihr  Gegenteil  verkehrt,  selbst  die 
im  Jahre  1629  von  Wangnerecks  Dillinger  Ordensgenossen 
herausgegebene  Compositio  pacis,  in  der  die  Protestanten 
das  eigentliche  katholische  Kriegsmanifest  gegen  die  kraft 
des  Religionsfriedens  ihnen  zukommenden  Rechte  er- 
blickten, wurde  verworfen,  weil  sie  nur  die  protestanti- 
sche Deutung,  nicht  aber  die  Gültigkeit  des  Religions- 
friedens an  sich  bestritt.^)  Die  Schrift  zeigte  auf  jeder 
Seite,  daß  die  Feindschaft  der  intransigenten  Katholiken 
gegen  die  Protestanten  unter  den  bitteren  Erfahrungen 
des  Krieges  keineswegs  abgeschwächt,  sondern  nur  noch 
gewachsen  war.  Konnte  man  aber  von  den  vermittelnden 
Wortführern  der  Katholiken  sagen,  daß  ihre  Gesinnung 
im  Grunde  genommen  viel  freundlicher  war? 

Der  erste,  der  unter  diesen  hervortrat,  war  Johann 
Caramuel-Lobkowitz,  Abt  des  Zisterzienserklosters  Emaus 


»)  Die   Stellen  finden   sich  Judicium  I,  1,  §  2,  3;  V,  9,  §  3; 
VI  n.  9—13. 

«)  Vgl.  meine  Deutsche  Geschichte  II,  S.  75  f.     Geschichte 
der  Union  II,  S.  122  f. 

»)  Judicium  V,  10.    Vgl.  Responsum  S.  10. 
Historische  ZeiUcbrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  18 


270  Moriz  Ritter, 

ZU  Prag  und  Weihbischof  in  Mainz,  vor  allen  katholischen 
Theologen  im  damaligen  Deutschland  hervorragend  durch 
die  staunenswerte  Vielseitigkeit  seines  Wissens  und  die 
noch  erstaunlichere  Massenhaftigkeit  seiner  literarischen 
Produktion.  Was  ihn  zum  Schreiben  antrieb,  war  ein 
ganz  bestimmter  Vorgang.  Im  zweiten  Abschnitt  der 
Verhandlungen  über  die  den  Protestanten  einzuräumenden 
reichsunmittelbaren  und  mittelbaren  Kirchengüter  war  die 
Frage,  ob  die  Einräumung  eine  zeitweilige  oder  immer- 
währende sein  solle,  besonders  heiß  umstritten.  Von 
kaiserlicher  Seite  war  in  den  am  11.  Juni  und  12.  Juli 
1646  übergebenen  Entwürfen  nur  ein  Zeitraum  von  hundert 
Jahren,  endlich  aber  in  der  Schrift  vom  30.  November 
die  Formel  „bis  zu  christlicher  und  gütlicher  Vergleichung 
der  Religionsstreitigkeiten"  zugegeben.^)  Kurz  vor  dieser 
letzten  Konzession  nun,  am  29.  November,  hatte  eine 
Versammlung  von  Gesandten  „so  vieler**  Erzbischöfe, 
katholischer  Kurfürsten  und  Fürsten,  d.  h.  der  vermittelnd 
gesinnten,  oder,  wie  Adam  sie  bezeichnet,  der  an  Zahl 
zurückstehenden,  aber  der  Macht  nach  vorgehenden, 
besonders  solcher,  die  neben  dem  Kaiser  noch  die  Waffen 
führten  (also  Baiern  und  Köln),  in  gewundenen  Worten, 
indem  sie  die  Verantwortung  dem  Kaiser  und  seinen 
Theologen  zuschoben,  ihre  Zustimmung  erklärt.^)  Über 
diese  Erklärung  forderte  der  Mainzer  Erzbischof  das  Gut- 
achten seiner  Theologen  ein,  und  deren  Arbeit  wieder'), 
da  sie  ihm  auch  nicht  genügte,  schickte  er  nebst  einem 
anderweitigen  Gutachten  derselben  Verfasser  zur  erneuten 
Prüfung  an  Caramuel. 

0  Meiern  III,  S.  152  n.  4;  S.  193  n.  3;  S.  1%  n.9;  S.  436  iul; 
S.  438,  Z.  10  f. 

')  Über  diese  Versammlung  Caramuel,  Pax  n.  22.  Ober  die 
Gegensätze  innerhalb  der  Katholiken  im  Sommer  und  Herbst  1646 
vgl.  Adam  XIV,  1,  19,  20,  S.  268,  293  f. 

')  Caramuel  n.  19,  25,  26.  Caramuel  hält  es  für  das  Gut- 
achten eines  einzelnen.  Aber  der  Plural,  in  dem  die  Verfasser 
desselben  sprechen,  ist  gewiß  nicht  pluralis  maiestatis.  Der  Ver- 
fasser des  Anticaramuel  (n.  26)  wirft  diese  Konferenz,  die  im 
November  stattfand,  mit  Verhandlungen  zusammen,  die  in  den 
Mai  gehören,  über  die  nachzusehen  ist  Adam  XIII,  1 1 — 14.  Gärtner 
IX,  S.  597,  671,  798,  806,  870,  874,  942.    Meiern  III,  S.  150. 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    271 

Dem  angesehenen  Theologen  waren  derartige  Fragen 
nicht  fremd.  Vom  kaiserlichen  Hof  waren  seit  den  Vor- 
bereitungen des  Prager  Friedens  in  rascher  Folge  Wiener 
und  Prager  Theologen  zu  Beratungen  über  die  den  Pro- 
testanten in  Deutschland  und  in  Ungarn  zu  machenden 
Konzessionen  gehalten,  und  so  sehr  waltete  dabei  der 
Geist  der  Nachgiebigkeit  vor,  daß  das,  was  Trautmanns- 
dorf offen  erst  am  30.  November  1646  zu  bieten  wagte, 
nämlich  die  zeitlich  unbeschränkte  Hingabe  der  Kirchen- 
güter, hier  im  stillen  bereits  im  April  gutgeheißen  und 
dann  dem  Grafen  Trautmannsdorf  anheimgestellt  wurde.  ^) 
Der  Mann,  welcher  solche  Nachgiebigkeit  vor  allem  be- 
fürwortete, war  der  spanische  Kapuziner  und  Beichtvater 
der  Kaiserin,  Diego  Quiroga,  mit  diesem  aber  stand 
Caramuel  in  vertrautem  Verkehr.  Er  war  daher,  als  die 
Anfrage  des  Mainzer  Erzbischofs  am  4.  Februar  1647  bei 
ihm  eintraf,  über  die  betreffenden  Fragen  schon  ein- 
gehend unterrichtet,  und  sofort  kam  denn  auch  seine 
geläufige  Feder  ins  Schreiben.  Am  11.  Februar^)  hatte 
er  über  die  gestellte  Frage,  ob  die  Kirchengüter  bis  zur 
Wiedervereinigung  der  Bekenntnisse,  also  dauernd,  den 
Protestanten  überlassen  werden  dürften,  eine  kleine, 
höchst  subtile  Abhandlung  fertiggestellt;  wie  aber  hier- 
bei der  von  den  Intransigenten  mit  Vorliebe  heraus- 
gestrichene Protest  des  Bischofs  Otto  von  Augsburg  gegen 

^)  Steinberger  S.  61.  Auf  eine  gleichartige  Weisung  bezieht 
sich  der  Kaiser  schon  am  24.  März  (Gärtner  VIII,  S.  624/25). 

')  Auf  dieses  in  der  dritten  Ausgabe  beigesetzte  Datum  hat 
Steinberger  aufmerksam  gemacht  (S.  79  Anm.).  Im  Gegensatz 
dagegen  ist  das  Mainzer  Schreiben,  in  dem  das  Gutachten  er- 
beten wird,  um  mehr  als  ein  Jahr  früher  datiert,  auf  den  29.  Jan. 
1646  (der  von  Caramuel  in  seiner  undatierten  Antwort  angegebene 
Empfangstag,  4.  Februar,  wird  ohne  Jahreszahl  angeführt).  Stein- 
berger korrigiert  daher  das  Datum  des  Abschlusses  in  ,11.  Februar 
1646''.  Aber  er  mußte  umgekehrt  das  Mainzer  Schreiben  in 
„29.  Januar  1647''  korrigieren.  Denn  die  in  diesem  Schreiben  er- 
wähnten Vorgänge  fielen  ja  in  den  November  1646  (s.  oben  S.  263 
Anm.  2),  und  die  in  Caramuels  undatierter  Antwort  erwähnte  Preß- 
burger  Theologenkonferenz  konnte  erst  nach  des  Kaisers  Ankunft 
daselbst,  also  nach  1646  Sept.  11  (s.  oben  S.  256  Anm.  1)  ausge- 
schrieben werden. 

IS» 


272  Moriz  Ritter, 

den  Religionsfrieden  seine  Aufmerksamkeit  erregte,  so 
fügte  er  in  der  folgenden  Woche  gleich  eine  zweite  Ab- 
handlung über  den  wahren  Inhalt  und  die  Tragweite 
dieses  Protestes  hinzu,  und  kaum  war  er  hiermit  fertig, 
als  ihm  die  Schrift  Wangnerecks  und  mit  ihr  eine  dritte 
Aufforderung  zukam.  Es  war  Quiroga,  der  „riet",  und 
es  waren  „andere",  d.  h.  wohl  Mitglieder  der  kaiserlichen 
Regierung,  die  ihm  ^befahlen",  diese  Schrift  zu  wider- 
legen. Dadurch  entstand  nun  eine  dritte  Abhandlung, 
die  bei  ihrem  ungleich  größeren  Umfang  den  schreib- 
fertigen Mann  doch  immerhin  einen  Monat  lang,  bis  zum 
20.  März,  in  Anspruch  nahm.  Den  drei  Abhandlungen 
zusammen  gab  er  nun  den  Titel  sacri  Romani  imperii 
pax  licita  demonstrata  und  wünschte  sie  zu  veröffent- 
lichen. Zu  dem  Zweck  erhielt  er  von  Quiroga  eine 
billigende  Zensur  des  Werkes,  hierauf,  am  1.  Juni  1647,^ 
von  seinem  Ordensobern  die  Druckerlaubnis.^)  Gleich- 
zeitig legte  er  seine  Arbeit  dem  Nuntius  in  Münster  und 
natürlich  auch  dem  Erzbischof  von  Mainz  vor,  die  indes 
beide  von  der  Veröffentlichung  nichts  wissen  wollten. 
Hierdurch  wahrscheinlich  verzögert,  erfolgte  die  Heraus- 
gabe erst  um  die  Mitte  des  Monats  März  1648,  und  bald 
darauf  noch  die  Veröffentlichung  von  zwei  Ergänzungen 
unter  dem  Titel  Prodromus  und  Syndromus. 

Zwischen  Caramuel  und  Wangnereck  ist  kein  Unter- 
schied in  den  Prinzipien.  Auch  der  Prager  Theologe 
sieht  in  der  Freigabe  der  Religion  und  der  Hingabe  von 
Kirchengut  an  die  Protestanten  ein  Übel,  das  nur  gerecht- 
fertigt werden  kann  durch  ein  ohne  solche  Einräumung 
zu  gewärtigendes  größeres  Übel;  auch  er  will  die  Ge- 
währung nur  als  ein  Geschehenlassen,  nicht  als  positive 
Mitwirkung  gestatten,  und  auch  bei  ihm  konnten  die  Pro- 
testanten den  widerlichen  Vergleich  der  ihnen  gewährten 
Rechte  mit  der  Konzessionierung  von  Bordellen  lesen.  2) 
Aber  in  ihren  Schlußfolgerungen  gehen  sie  weit  aus- 
einander.    Caramuel  versteht  zu  beweisen,  daß  alle  Zu- 


>)  Prodromus  S.  8. 
«)  Pax  n.  90,  233. 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    273 

geständnisse,  welche  die  Protestanten  im  Religionsfrieden 
errungen  hatten,  mitsamt  denjenigen,  welche  sie  in  den 
damaligen  Friedensverhandlungen  im  Begriffe  waren,  sich 
weiter  zu  erkämpfen,  durch  einen  entsprechenden  Not- 
stand gerechtfertigt  und  als  bloßes  Geschehenlassen  auf- 
gefaßt werden  können.  Sollte  es  der  Mühe  wert  sein, 
die  dialektischen  Kunststücke,  die  er  hierbei  aufführt,  aus- 
einanderzusetzen ?  Ich  glaube,  es  wird  genügen,  neben 
der  Bezeichnung  des  Ergebnisses  nur  noch  solche  Punkte 
hervorzuheben,  in  denen  doch  wieder  eine  wesentliche 
Einschränkung  der  gemachten  Zugeständnisse  heraustritt. 
Zunächst  die  Deckung  des  Theologen  gegen  gefähr- 
liche Verantwortung.  Caramuel  will  nur  die  Regeln  auf- 
weisen, welche  unter  bestimmten  tatsächlichen  Voraus- 
setzungen anzuwenden  sind;  ob  aber  diese  Voraus- 
setzungen, d.  h.  eine  solche  Not  der  katholischen  Kirche 
in  Deutschland,  welche  alle  jene  Zugeständnisse  recht- 
fertigen würde,  wirklich  vorliege,  darüber  haben  nicht 
die  Theologen,  sondern  die  Staatsmänner  zu  entscheiden. 
Allerdings  die  durch  eigene  Erlebnisse  ihm  eingegebenen 
Klagen  über  das  Wüten  der  Feinde  seines  Kaiserhauses 
und  seiner  Kirche  zeigen  deutlich  genug,  daß  er  für 
seinen  Teil  diese  Frage  bejahen  möchte.  —  Dann  eine 
nähere  Bestimmung,  was  unter  immerwährendem  Frieden 
zu  verstehen  ist.  Je  nach  der  Höhe  des  Notstandes  will 
er  die  immerwährende  Dauer  zugestanden  wissen;  aber, 
so  fragt  er  sofort,  was  kann  bei  der  Wandelbarkeit  mensch- 
licher Zustände  unter  dem  Wort  „immerwährend*  ver- 
standen werden?  Nichts  ist  gewöhnlicher,  so  antwortet 
er,  als  daß  Friedensverträge  auf  ewige  Zeiten  geschlossen 
werden;  ihre  wirkliche  Dauer  pflegt  aber  nach  Ausweis 
der  Erfahrung  nicht  über  40  bis  60  Jahre  hinauszugehen 
und  kaum  das  Maß  eines  Jahrhunderts  zu  erreichen.  So 
ist  auch  ein  Religionsfriede  mit  den  Protestanten  zu  ver- 
stehen, der  außerdem  hinfällig  wird,  wenn  ihre  Häresie 
erlischt  oder  sie  selber  den  Vertrag  verletzen.*)  —  Daß 
zu  der  Dauerhaftigkeit  des  Friedens,  wenn  sie  so  definiert 


»)  Pax  n.  132,  195,  246.    Syndromus  S.  38,  Art.  11. 


274  Moriz  Ritter, 

wurde,  die  Protestanten  kein  sonderliches  Vertrauen  fassen 
konnten,  ist  leicht  zu  begreifen. 

An  dritter  Stelle  kommt  die  Untersuchung  auf  die 
Frage  der  päpstlichen  Zustimmung,  welche  Caramuel 
vornehmlich  in  bezug  auf  die  Hingabe  des  Kirchengutes 
erörtert.  Nachdem  er  einzelne  Theorien  angedeutet  hat, 
die  zu  weitergehender  Verfügung  der  Staatsgewalt  führen 
würden^),  rückt  er  mit  einer  Distinktion  hervor,  welche 
den  Papst,  den  Kaiser  und  die  Protestanten  zugleich 
befriedigen  soll.  Der  Papst,  sagt  er,  ist  nicht  Eigentümer 
des  Kirchenguts,  aber  er  hat  vermöge  seines  altum  im- 
perium  das  Recht  an  demselben  zu  schützen,  den  Ge- 
brauch desselben  zu  regeln  und  zu  beaufsichtigen.  Ein 
wirkliches  Recht  auf  die  Kirchengüter  könnten  folglich 
die  Protestanten  nur  gewinnen,  wenn  der  Papst  und  dazu 
die  Bischöfe  es  ihnen  übertrügen;  das  aber  sollen  sie 
nicht  tun,  im  Gegenteil,  bei  den  Münsterer  Abmachungen 
sollen  sie  oder  doch  der  Papst  und  sein  Nuntius  in  aller 
Form  gegen  die  Hingabe  des  Kirchengutes  protestieren, 
es  soll  so  „wenigstens  das  Recht  auf  die  Sachen  be- 
hauptet werden,  wenn  wir  die  Sachen  selbst  verlieren**. 
Denn  —  und*  damit  lenkt  er  auf  die  Befriedigung  der 
Protestanten  ein  —  verlieren  sollen  die  Geistlichen  aller- 
dings den  Besitz  der  Kirchengüter,  nur  daß  der  Verlust 
nicht  unbedingter  sei,  als  es  zur  Erlangung  eines  der 
Kirche  heilsamen  Friedens  nötig  ist,  und  daß  deshalb 
eine  Form  gewahrt  werde,  nach  welcher  der  Kaiser  den 
Protestanten  solche  Güter  nicht  gibt,  sondern  über- 
läßt und  sie  dann  bei  dieser  Überlassung  schützt.  2)  — 
Wiederum   mußten  sich  hier  die  Protestanten  fragen,  ob 

^)  Vor  allem  der  Satz,  daß  die  Kirchengüter  zum  großen  Teil 
aus  Schenkungen  der  Staatsgewalt  entstanden  seien,  diese  Schen- 
kungen aber  nur  gültig  seien  unter  der  sei  es  ausgesprochenen, 
sei  es  stillschweigenden  Bedingung  ad  resumendum  illa,  si  (res 
publica)  extremam  indigentiam  incurrat,  et  Uli  (ecclesiastici)  non 
egeant  (Fax  n.  8).  An  anderer  Stelle  (n.  118)  weist  er,  wohl  aus 
seiner  Kenntnis  spanischer  Verhältnisse  heraus,  darauf  hin,  daß 
die  Kirchengüter  erst  unter  Voraussetzung  der  amortizatio  für 
den  Staat  unangreifbar  werden. 

»)  Fax  n.7,  11,  18,  37,  39—42,  90—92,  141,  221. 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    275 

sie  einem  Gegner,  der  solche  Vorbehalte  machte,  ver- 
trauen dürften. 

So  stellte  sich  bei  Wangnereck  und  Caramuel  neben 
der  Gleichheit  der  Prinzipien  doch  auch  in  den  daraus 
gezogenen  Folgerungen  bei  allen  Widersprüchen  eine 
nicht  zu  unterschätzende  Verwandtschaft  heraus.  Diese 
Erscheinung  wiederholte  sich,  als  ein  neuer  Abschnitt  in 
den  Ausgieichsverhandlungen  eine  neue  Welle  katholischer 
Polemik  hervorrief. 

Am  S.Juni  1647  ließen  die  Kaiserlichen  in  der  Mainzer 
Kanzlei  den  schon  erwähnten  Friedensentwurf  diktieren, 
der,  weit  über  die  Vorlage  vom  30.  November  1646  hin- 
ausgehend, das  entscheidende  Entgegenkommen  gegen 
die  Forderungen  der  Protestanten  bedeutete.  Hatten  sie 
in  der  Schrift  vom*  November  als  Maßstab  für  die  Rege- 
lung der  Rechte  am  Kirchengut  das  Jahr  1624  angenommen, 
dabei  aber  unter  den  demgemäß  den  Protestanten  wieder 
einzuräumenden  Bistümern  wenigstens  das  Bistum  Minden, 
unter  den  den  protestantischen  Landesfürsten  zurück- 
zugebenden Klöstern  wenigstens  acht  württembergische 
Klöster  für  die  Katholiken  zu  retten  gesucht,  so  gaben 
sie  diese  Versuche  jetzt  auf  und  rückten  auch  den  Termin 
des  Normaljahres  auf  den  ersten  Tag  desselben  zurück. 
Hatten  sie  im  Novemberentwurf  an  dem  Recht  der  katho- 
lischen Obrigkeit,  ihre  protestantischen  Untertanen  aus 
dem  Lande  zu  weisen,  festgehalten,  so  machten  sie  jetzt 
in  dieser  Beziehung  drei  große  Konzessionen,  von  denen 
allerdings  die  kaiserlichen  Erblande  ausgenommen  wurden: 
1.  soweit  solche  Untertanen  zu  irgend  einer  Zeit  des 
Jahres  1624  Religionsübung  besaßen,  sollte  sie  ihnen 
gewahrt  bleiben ;  2.  soweit  sie  bis  zum  Jahre  des  Friedens 
ohne  Religionsübung  unter  katholischen  Landesherren  an- 
sässig waren,  sollten  sie  sich  weiterhin  der  Gewissens- 
freiheit ohne  öffentliche  Religionsübung  erfreuen;  3.  so- 
weit sie  erst  nach  dem  Jahre  des  Friedens  das  protestan- 
tische Bekenntnis  annahmen  oder  als  Protestanten  ins 
Land  zogen,  trat  allerdings  das  Recht  der  Ausweisung 
ein,  aber  nur  unter  Ansetzung  eines  zehnjährigen  Ter- 
mins, der  bei  besonderen  Schwierigkeiten  des  Güterver- 


276  Moriz  Ritter, 

kaufs  oder  Domizilwechsels  um  fünf  weitere  Jahre  ver- 
längert wurde.  —  Ein  besonderes  Ärgernis  für  die  Un- 
versöhnlichen war  es  endlich,  daß  gelegentlich  auch  für 
die  gemachten  Zugeständnisse  neben  der  Bestimmung 
„bis  zur  Vereinigung  der  Religion"  auch  das  Wort  „auf 
immer"  gebraucht  wurde.  ^) 

Dieser  Entwurf  —  das  ist  zum  Verständnis  des  Fol- 
genden festzuhalten  —  ging  nicht  aus  einer  Vereinbarung 
der  katholischen  Stände,  sondern  aus  dem  selbstherrlichen 
Vorgehen  der  Kaiserlichen  hervor;  um  seine  Annahme 
mußte  also  nicht  nur  mit  den  Protestanten,  sondern  auch 
mit  den  Katholiken  gestritten  werden.  Und  der  im  letzten 
Kreise  geführte  Streit  war  es,  der  wieder  zwei  Schrift- 
steller auf  den  Kampfplatz  rief:  der  ^eine  war  abermals 
Wangnereck,  der  andere  sein  Ordensbruder  Johann  Ver- 
vaux.  Von  ersterem  erschien  unter  verstelltem  Namen 
in  der  zweiten  Hälfte  des  Monats  August  eine  Prüfung 
(ponderatio)  des  kaiserlichen  Entwurfs,  von  Vervaux 
wurden  um  dieselbe  Zeit  Bemerkungen  (notae)  zu  der 
ersten  Schrift  Wangnerecks,  dem  Judicium  theologicum^ 
verfaßt,  die  anonym  und  handschriftlich  unter  den  Katho- 
liken in  Münster  verbreitet  wurden. 

Für  den,  der  Wangnerecks  erste  Schrift  kennt,  hat 
die  zweite  Arbeit,  was  ihren  Inhalt  angeht,  geringes 
Interesse.  Als  echter  Radikaler  vergleicht  er  einfach  die 
Artikel  des  kaiserlichen  Entwurfs  mit  seinen  unverrück- 
baren Prinzipien,  um  über  jeden  die  Verdammung  aus- 
zusprechen und  mit  dem  schneidenden  Satze  zu  enden: 
diesen  Ausgleich  unterschreibe,  wer  sich  einredet,  daß 
göttliches  und  natürliches  Recht  ohne  Gefahr  der  ewigen 
Verdammnis  verletzt  werden  kann.  2)  Positiv  gewandt, 
lautete  Wangnerecks  Urteil:  alle  im  Jahre  1555  für  den 
Religionsfrieden  und  alle  jetzt  für  den  neuen  Frieden 
zwischen  Protestanten  und  Katholiken  aufgewandten  Be- 
mühungen  sind   nichtig;   ein  gültiger  Friede   müßte  auf 

')  Meiern  VI,  S.  566  n. 3,  S.  568  n. 9;  hier:  in  perpetuum,  donec 
controversiae  religionis  amicabili  partium  compositione  universali 
definiantur. 

«)  Meiern  IV,  S.  606,  Abs.  2  v.  u. 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    277 

ganz  andere,  nämlich  den  im  Judicium  theologicum  dar- 
gelegten Grundlagen  aufgerichtet  werden,  und  da  von- 
seiten der  Protestanten  ein  Eingehen  auf  diese  Grund- 
lagen noch  nicht  zu  erwarten  ist,  so  muß  einstweilen 
der  Religionskrieg  mit  all  seinen  Opfern,  Gefahren  und 
Greueln  fortgehen. 

Waren  das  Ergüsse  eines  einzelnen  Fanatikers  oder 
stand  auch  hier  wieder  eine  Masse  katholischer  Stände, 
mit  der  gerechnet  werden  mußte,  hinter  dem  Autor? 
Die  Antwort  darauf  gibt  abermals  der  Nuntius  Chigi,  in- 
dem er  auf  Wangnereck  zwar  als  den  Schreiber,  auf  die 
„eifrig  Katholischen''  aber,  d.  h.  die  Partei  der  Intransi- 
genten  unter  den  katholischen  Ständen,  als  die  eigent- 
lichen Urheber  hinweist.  Bestätigt  und  erweitert  wird 
auch  diese  Angabe,  wenn  man  der  Frage,  wer  dem 
Jesuiten  das  Aktenmaterial  lieferte,  näher  tritt.  Zu  be- 
achten  ist  da  eine  an  die  kaiserlichen  Gesandten  gerichtete 
Denkschrift,  welche  der  oben  als  Wortführer  der  Unver- 
söhnlichen genannte  Prior  Adam  verfaßte  und  den  katho- 
lischen Ständen  zu  Münster  am  11.  Juni  zur  Kenntnis 
gab.^)  Hier  tritt  der  Verfasser,  und  zwar  im  Gegensatz 
zu  dem  Entwurf  vom  3.  Juni,  u.  a.  für  die  württem- 
bergischen Klöster  ein,  weiter  für  gewisse  rheinpfälzische 
Klöster  und  für  die  Abtei  Schöntal  in  ihrem  Prozeß 
gegen  Schwäbisch  Hall.  Alle  diese  Streitpunkte  nun 
werden  in  Wangnerecks  Schrift  als  Beispiele  verwertet.^) 
Hieraus  muß  man  doch  schließen,  daß  Adam  in  den 
Beziehungen  zwischen  Wangnereck  und  seinen  Auftrag- 
gebern die  Rolle  des  Vermittlers  und  zugleich  des  sach- 
kundigen Beistandes  übernahm. 

Noch  eine  andere  Anspielung  ist  nicht  zu  übersehen. 
In  tadelndem  Gegensatz  gegen  die  Sorglosigkeit,  mit  der 
die  württembergischen   Klöster  preisgegeben  seien,  hebt 


")  Meiern  V,  S.  308— 319.  Bezug  auf  den  Juni-Entwurf:  S.  310 
Z.  2  V.  u. 

«)  Meiern  IV,  S.  592,  Abs.  2,  4,  S.  593,  Abs.  3.  Eine  kleine 
Differenz  bezüglich  der  drei  rheinpfälzischen  Klöster  (als  drittes 
bei  Adam  Hornburg,  d.  h.  wohl  Hornbach,  vgl.  IV,  S.  397,  bei 
Wangnereck  Heilsbruck  [?])  fällt  wohl  nicht  ins  Gewicht. 


278  Moriz  Ritter, 

Wangnereck  die  Sorgfalt  hervor,  mit  welcher  der  Ent- 
wurf dem  Kurfürsten  von  Baiern  die  aus  dem  Württem- 
bergischen für  ihn  herausgeschnittene  Herrschaft  Heiden- 
heim zu  erhalten  suche.  ^)  Das  weist  auf  eine  wenig 
freundliche  Stimmung  des  Jesuiten  gegen  den  Kurfürsten 
Maximilian,  und  dies  wieder  leitet  uns  hinüber  zu  des 
letzteren  Stellung  in  dem  damaligen  Streit. 

Bis  zum  Sommer  des  Jahres  1646  scheint  die  Masse 
der  Katholiken,  darunter  auch  Baiern ^),  in  der  Ablehnung 
aller  tiefergehenden  Zugeständnisse  an  die  Protestanten 
mit  den  Unversöhnlichen  zusammengegangen  zu  sein; 
dann  aber,  und  zwar,  wie  oben  (S.  271)  angedeutet  ist, 
vor  der  kaiserlichen  Schrift  vom  30.  November,  begann 
das  Auseinandergehen  derjenigen,  welche  das  Durchführ- 
bare von  dem  Undurchführbaren  unterschieden,  und  der- 
jenigen, welche  in  starrer  Verneinung  der  Zugeständ- 
nisse über  solche  Unterscheidungen  hinwegstürmten.  Der, 
welcher  unter  den  ersteren  seit  dem  Sommer  1647  am 
entschiedensten  die  Friedensbestrebungen  der  Kaiserlichen 
unterstützte,  war  der  Kurfürst  Maximilian  von  Baiern. 
Im  Oktober  ging  er  dem  Kaiser  gegenüber  bis  zu  dem 
Vorschlag,  er  möge  bei  weiterem  Widerstand  der  Ex- 
tremen den  Frieden  mit  den  Protestanten,  „so  gut  der- 
selbe zu  erhalten"",  schließen  und  dann  jedem  Stand  frei- 
stellen, beizutreten  oder  auf  eigene  Gefahr  den  Krieg  fort- 
zuführen.') Einige  Wochen  vorher  machte  er  den  Unver- 
söhnlichen gegenüber   den    Versuch,    ihr    Beharren    auf 

*)  Meiern  IV,  S.  592.  Die  Stelle  über  Heidenheim  im  Juni- 
Entwurf  IV,  S.  561. 

')  Vgl.  Maximilians  Schreiben  vom  4.,  11.,  18.  Juli  1646  bei 
Egioffstein  S.  109,  116. 

')  Maximilian  an  tlen  Kaiser,  1647  Okt.  21,  27  (Meiern  V, 
S.  106,  110).  —  Eine  Ausnahme  machte  dabei  des  Kurfürsten 
Widerstand  gegen  die  Einschränkungen  des  Reformationsrechts 
der  katholischen  Landesherren.  Über  seine  Bemühungen  gegen 
die  „autonomia'^  im  allgemeinen,  für  den  Schutz  seiner  oberpfälzi- 
schen Reformation  gegen  Anwendung  des  Normaljahrs  1624  im 
besonderen:  brandenburgische  Relationen  1647  Aug. 3,  Okt. 24,  25, 
Dez.  26.  (Urkunden  und  Aktenstücke  z.  Gesch.  des  Großen  Kur- 
fürsten IV,  S.  571/72,  611/12,  616  f.,  645).  Über  die  zur  Wahrung 
seiner  oberpfälzischen  Reformation  erzielten  mündlichen  Zusiche- 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    279 

undurchführbaren  Prinzipien  durch  eine  nochmalige  Prü- 
fung derselben  zu  erschüttern. 

Zu  diesem  Zweck  mußte  Vervaux  die  erwähnte  Schrift 
verfassen.  Sie  war,  ähnlich  wie  die  dritte  Abhandlung 
Caramuels,  gegen  das  Judicium  theologicum  gerichtet. 
Gleich  jenem  stellt  sie  sich  mit  dem  Gegner,  den  sie 
bekämpft,  auf  den  Boden  gleicher  Prinzipien,  um  dann 
mit  ähnlichen  Gründen,  wie  Caramuel,  abweichende  Fol- 
gerungen zu  entwickeln,  schließlich  aber  in  besonders 
brennenden  Fragen  sich  doch  dem  Widersacher  bis  zur 
Hälfte  des  Weges  wieder  zu  nähern.  Nur  auf  den  letzten 
Punkt  verlohnt  sich  ein  näheres  Eingehen.  Die  beiden 
Hauptpunkte,  in  denen  Caramuel  sowohl  wie  Vervaux 
die  Sätze  ihrer  Gegner  nicht  annehmen  konnten  und  offen 
abzulehnen  nicht  wagten,  betrafen  die  UnstatthaftIgkeit 
immerwährender  Einräumungen  und  die  Notwendigkeit 
päpstlicher  Autorisation.  Wie  Caramuel,  so  ergriff  nun 
auch  Vervaux  einen  Ausweg,  der  Protestanten  und  päpst- 
lich Gesinnte  zugleich  befriedigen  sollte,  jedenfalls  aber 
nicht  geeignet  war,  den  Protestanten  Vertrauen  einzu- 
flößen. Der  ewigen  Dauer,  wie  sie  im  Juni-Entwurf  be- 
stimmt war,  wußte  er  mit  Erläuterungen  derart  zu  Leibe 
zu  gehen,  daß  eigentlich  von  der  Ewigkeit  nichts  übrig 
blieb.  Die  Bestimmung  ^bis  zur  Religionsvergleichung^, 
so  lautete  eines  seiner  Argumente,  ist  doch  nicht,  wie 
die  Unversöhnlichen  behaupten,  gleichbedeutend  mit  dem 
Wort  „auf  alle  Zeit",  sie  enthält  die  Verpflichtung  beider 
Teile,  sich  ernstlich  um  die  Wiedervereinigung  zu  be- 
mühen, und  wenn  die  Protestanten  dieser  Pflicht  nicht 
nachkommen,  so  gilt  der  Termin  der  Einräumung  für 
abgelaufen.  Noch  bedenklicher  lautet  eine  andere  Ein- 
schränkung: jede  Verpflichtung  gilt  nur  so  lange,  als  die 
Erfüllung  ohne  Sünde  möglich  ist;  zur  Sünde  wird  aber 
die  Duldung  der  Ketzerei,  wenn  unter  veränderten  Zeit- 
umständen die  Notwendigkeit  ihrer  Duldung  aufhört.  — 
Bei   so    unerschrockener  Interpretation   konnte   es  dem 


rungen  vom  Juli  1647  und   März  1648:  Meiern,  Acta  execuiionis 
I,  S.  268,  485,  871—880,  642  f. 


280  Moriz  Ritter, 

Jesuiten  auch  nicht  schwer  fallen,  über  die  Frage  der 
päpstlichen  Zustimmung  hinwegzukommen.  Er  unter- 
scheidet eine  ausdrücklich  erteilte  und  eine  stillschweigend 
vorausgesetzte  Genehmigung  und  weiß  nun  zu  beweisen, 
daß,  da  die  erstere  zu  erbitten  und  zu  geben  zurzeit 
nicht  opportun  erscheint,  die  letztere  vorliegt.^) 

Während  auf  solche  Weise  die  Theologen  wieder  auf 
die  Prinzipien  des  Ausgleichs  zurückgingen,  nahmen  aber 
die  praktischen  Ausgleichsverhandlungen  unter  dem  Drang 
der  wirklichen  Machtverhältnisse  ihren  gedeihlichen  Fort- 
gang, und  zwar  vornehmlich  dadurch,  daß  unter  den 
Katholiken  die  besonders  die  mächtigeren  Fürsten  um- 
fassende Gruppe  der  Vermittelnden  den  Widerstand  der 
Intransigenten  durch  Majoritätsbeschlüsse  überwand.  Am 
24.  März  1648  kam  endlich  der  Ausgleich  über  die  kirch- 
lichen Angelegenheiten,  wie  er  dann  in  die  Friedensakte 
übergegangen  ist,  zustande.  2) 

Auch  dieser  letzte  Abschnitt  der  Friedensverhand- 
lungen ist  noch  durch  ein  literarisches  Rückzugsgefecht 
bezeichnet.  Zu  Anfang  des  Jahres  1648,  noch  vor  dem 
Ausgleich  vom  24.  März,  ließ  Wangnereck  seine  dritte 
Schrift,  eine  Widerlegung  von  Vervaux'  Bemerkungen, 
unter  dem  Titel  Responsum  theologicum  ausgehen,  und 
um  die  Mitte  desselben  Jahres  veröffentlichte  Adam  eine 


*)  Nota  10  und  Nota  partic.  2  im  Responsum  theoL  S.18,  33. 

*)  Die  für  die  Haltung  der  Katholiken  wichtigsten  Schrift- 
stücke sind  folgende:  1.  Katholisches,  unter  dem  Einfluß  der  In- 
transigenten abgestattetes  Gutachten,  1647  Okt.  11  (Meiern  IV, 
S.  767.  Adam  XXV,  10,  S.  486  f.  Das  Datum  bei  Odhner  S.  236). 
2.  Katholische,  nach  Beschluß  der  Kaiserlichen  und  der  Majorität 
ermäßigte  Eingabe,  Dez.  17,  22  (Meiern  IV,  S.  800,  818,  826,  827. 
Vgl.  Odhner  S.  240).  3.  Katholische  Erklärung,  wiederum  nach 
Beschluß  der  friedlich  gesinnten  Majorität,  1648  Febr.  3  (Meiern 
IV,  S.922,  931a,  936a).  4.  Konferenz  beiderseitiger  Deputationen, 
aus  vermittelnden  Ständen  bestehend,  Febr.  9 — 17  (Brandenburger 
Relation,  Febr.  10.  Urkunden  IV,  S.  655.  Meiern  IV,  S.  940,  943, 
947,  966—968,  989—992).  5.  Konferenzen  zwischen  Kaiserlichen 
und  Schweden  mit  den  beiderseitigen  Religionsparteien  in  den 
Nebenzimmern,  ohne  die  in  Münster  bleibenden  katholischen  In- 
transigenten, Febr.  28  f.  (Meiern  IV,  S.  998,  1004,  1008;  V,  S.470f., 
483—508,  538—562). 


Das  römische  Kirchenrecht  und  der  Westfälische  Friede.    281 

Gegenschrift  gegen  die  beiden  ersten  Abhandlungen  von 
Caramuels  Fax  licita.  Trotz  der  unbarmherzigen  Weit- 
schweifigkeit, mit  welcher  beide  den  angegriffenen  Schriften 
Absatz  für  Absatz  folgen,  gehen  sie  nicht  über  den  vor- 
her schon  umschriebenen  Kreis  von  Thesen  und  Beweisen 
hinaus.  Zur  Kennzeichnung  ihrer  Arbeiten  wird  es  daher 
genügen,  nur  zwei  Punkte  hervorzuheben. 

Einmal  die  Verwerfung  des  Religionsfriedens!  So- 
weit hat  auf  Adam  doch  seine  Beschäftigung  mit  prak- 
tischer Politik  gewirkt,  daß  er  sie  nicht  unbedingt  aus- 
sprechen möchte.  Wenn  daher  Wangnereck  einen  der 
Nichtigkeitsgründe  aus  der  Ewigkeit  der  Zugeständnisse 
entnahm  und  dabei  die  Formel  „bis  zum  Religionsver- 
gleich" mit  dem  Worte  „auf  immer"  als  gleichbedeutend 
faßte,  so  war  Adam  mit  einer  neuen  Distinktion  bei  der 
Hand.  Als  man,  sagte  er,  den  Religionsfrieden  verein- 
barte, durfte  man  mit  Grund  noch  auf  einen  baldigen 
derartigen  Vergleich  und  somit  auf  baldiges  Erlöschen 
des  schlimmen  Paktes  rechnen;  jetzt  erst,  da  man  diese 
Hoffnung  als  Täuschung  erkannt  hat,  ist  die  Wiederholung 
einer  solchen  Zeitbestimmung  unerlaubt.^)  Aber  freilich, 
kaum  hat  er  dieses  Zugeständnis  zugunsten  des  Religions- 
friedens gemacht,  so  zieht  er  es  doch  wieder  in  Zweifel, 
indem  er  die  Frage  stellt:  als  jene  Hoffnung  sich  als 
eine  Täuschung  erwies,  verlor  da  nicht  auch  der  Reli- 
gionsfriede seine  Kraft?  Diese  Frage  will  er  nicht  ent- 
scheiden, allein  ihre  Bejahung  liegt  nach  seinen  Worten 
näher  als  die  Verneinung.  2) 

Ein  zweites  Merkmal  liegt  in  der  gesteigerten  Leiden- 
schaft der  Polemik.  In  dem  Augenblick,  da  man  in 
Osnabrück  vor  dem  Abschluß  des  Friedenswerkes  steht, 
schreit  Wangnereck  das  Urteil  in  die  Welt:  ich  muß,  auch 
gegen  meinen  Willen,  diesen  Frieden  sakrilegisch  nennen 
wegen  der  Beleidigungen,  die  er  dem  Schöpfer,  der 
wahren  Religion  und  dem  Rechte  des  Papstes  zufügt. 
Und  wie  gegen  den  Frieden,  so  wendet  sich  der  Zorn 


')  Anticaramuel  S.  22,  unterster  Absatz. 

*)  A.  a.  O.  S.  23,  die  beiden  untersten  Absätze. 


282  Moriz  Ritter,  Das  römische  Kirchenrecht  etc. 

auch  gegen  seine  Urheber.  Adam  droht  ihnen  mit  päpst- 
licher Exkommunikation,  Wangnereck  aber  hat  damit 
noch  nicht  genug.  Er  kannte  Vervaux  als  Verfasser  der 
von  ihm  bekämpften  Bemerkungen,  und  vermutlich  kannte 
auch  der  Beichtvater  des  bairischen  Kurfürsten  schon  bei 
Abfassung  seiner  Schrift  den  Wangnereck  als  Verfasser 
des  Judicium.^)  Wenn  nun  Vervaux  mit  dem  Wunsche 
schloß,  sich  mit  seinem  Gegner  am  Orte  der  ewigen  Selig- 
keit wieder  zu  finden,  so  donnerte  dieser  seinen  Ordens- 
genossen mit  der  Ankündigung  der  ewigen  Verdammnis 
an,  wenn  er  nicht  die  von  ihm  Verführten,  nämlich  den 
Kaiser  und  die  katholischen  Stände,  eines  Besseren  be- 
lehre. 2)  Daß  gegen  einen  solchen  Widersacher  Vervaux 
schließlich  die  Rache  seines  Kurfürsten  aufrief,  war  dann 
eine  sehr  erklärliche,  wenn  auch  nicht  der  Ironie  ent- 
behrende Veränderung  seines  frommen  Wunsches.  Nicht 
minder  erklärlich  war  es  freilich  auch,  daß  Chigi  und  die 
römische  Kurie  dem  Wangnereck  ihre  vollste  Gunst  be- 
wahrten. 


»)  Steinberger  S.  104  Anm.6,  S.  112. 

•)  Anticaramuel  S.62,  Responsum  S.  155,  161  f.,  159. 


über  die  Ursachen  der  Französischen 
Revolution. 


Von 

Adalbert  Wahl. 


Die  folgenden  Ausführungen^)  wollen  dazu  beitragen, 
eines  der  schwierigsten  Probleme  der  Weltgeschichte 
seiner  Lösung  näher  zu  bringen.  Dabei  beschränken  sie 
sich  nicht  auf  den  Versuch,  darzulegen,  warum  es  zur 
Berufung  der  Generalstände  von  1789  gekommen  ist, 
sondern  sie  streben  danach,  soweit  es  möglich  ist,  das 
Charakteristische  auch  des  weiteren  Verlaufes  der  Revo- 
lution auf  seine  vorrevolutionären  Ursachen  zurückzu- 
führen.   Der  Autor  ist  sich  dessen  wohl   bewußt,   wie 


')  Sie  geben  ziemlich  unverändert  einen  Vortrag  wieder,  der 
im  Februar  190S  in  der  iLulturwissenschaftlichen  Gesellschafft  in 
Freiburg  i.  B.  gehalten  wurde.  In  fast  allen  Fällen  finden  sich 
die  Belege  für  das  hier  Ausgeführte  in  meiner  Vorgeschichte  der 
Französischen  Revolution  (Tübingen  I,  1905 ;  II,  1907),  auf  die 
auch  zur  Ergänzung  des  Gesagten  verwiesen  sei.  —  Die  soeben 
(Juni  1908)  erschienene,  teilweise  recht  verdienstliche  Schrift 
Glagaus,  „Reform versuche  und  Sturz  des  Absolutismus  in  Frank- 
reich (1774—1788)",  die  sich  stofflich  mit  einem  kleinen  Teile  des 
im  folgenden  Ausgeführten  berührt  und  auf  einem  kleinen  Teile 
der  von  mir  benutzten  Quellen  beruht,  kann  mich  da,  wo  sie  von 
meinen  Auffassungen  abweicht,  in  keiner  Weise  zu  einer  Ände- 
rung dieser  veranlassen.  In  einer  ganzen  Reihe  wichtiger 
Punkte  finde  ich  eine  sehr  erfreuliche  Obereinstimmung  seiner 
Ansichten  mit  denen  meiner  Vorgeschichte. 


284  Adalbert  Wahl, 

mangelhaft  ein  derartiger  Versuch  trotz  allen  Vorarbeiten 
ausfallen  mußte,  hat  es  aber  dennoch  aus  mehreren 
Gründen  gewagt,  ihn  vorzulegen.  Im  folgenden  wird 
dem  Hauptteil  der  Arbeit  (II)  ein  kürzerer,  kritischer  Ab- 
schnitt (I)  vorausgehen. 

I. 
Wenn  soeben  von  einem  sehr  schwierigen  Problem 
gesprochen  wurde,  so  machen  sich   dagegen  die  wohl 
noch  immer  herrschenden  Auffassungen  von  den  Ursachen 
der  Französischen  Revolution  die  Sache  recht  leicht.    Es 
fanden   sich   so   entsetzliche  Mißstände,   so   etwa  lauten 
sie  im  ganzen,  daß  der  gewaltsame  Ausbruch  erfolgen 
mußte.     Da  war,  wird  dann  weiterhin  im  einzelnen  aus- 
geführt,    zunächst    die    absolutistische    Regierungsweise 
selbst,  welche  alle  Franzosen,  und  voran  die  bürgerlichen 
Elemente,  fast  zu   Unfreien   herabdrückte.    Die  Zensur 
und  die  Kontrolle  alles  Gedruckten   machten  den  freien 
Ausdruck  der  Meinungen  unmöglich.    Die  administrativen 
Bestrafungen  bedrohten  jeden  Bürger  in  seiner  Freiheit. 
Von  einer  wirtschaftlichen  Bewegungsfreiheit  war  keine 
Rede.     Die  Steuern  waren  überaus  drückend  und  unge- 
recht verteilt,  indem  dem  dritten  Stande,  d.  h.  dem  Bürger- 
und Bauernstande,  weitaus  die  meisten  Lasten  aufgebürdet 
wurden.     Überhaupt   waren   in   allen   Punkten   die   zwei 
ersten  Stände,  Adel  und  Klerus,  in  unerhörter  Weise  be- 
günstigt.    Und  dem  entsprechend  wären  denn  auch  die 
wirtschaftlichen  Güter  verteilt  gewesen :  auf  der  Seite  der 
Privilegierten  aller  Glanz  und   Reichtum,  auf  der  Seite 
des  dritten  Standes  bescheidenes  Auskommen  in  manchen 
Fällen,  in  den  meisten  —  vor  allem  auf  dem  Lande  — 
ein  Jammer  und  Elend  ohnegleichen.     Vor  allem  Taine 
hat  die  ganze  Wucht  seiner  Feder  und  die  ganze  Kunst 
seiner  Darstellung  darauf  verwandt,   uns  das  Loos  des 
Bauern  als  ein  über  die  Maßen  klägliches  und  hoffnungs- 
loses zu  schildern.     Er  zeigt  ihn  uns,  wie  er,  mit  einem 
kaum    mehr    menschlichen   Antlitz    versehen,    sich   vom 
Grase  des  Feldes  nährt,  und  berechnet,  daß  er  von  seinem 
bescheidenen  Einkommen  8P/o  an  den  Staat,  den  Grund- 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.         285 

herrn,  die  Kirche  abgeben  mußte.  Lebhaft  werden  uns 
weiterhin  die  Schäden  der  Agrarverfassung  dargestellt. 
Und  die  Monarchie  erwies  sich  als  unfähig,  diesem  Jammer 
zu  steuern.  Sie  hatte  zeitweiligen  guten  Willen  (wenigstens 
unter  Ludwig  XVL),  aber  sie  begann  damit  zu  spät,  es 
fehlte  ihr  ferner  die  Konsequenz,  an  diesen  Reformen 
fortzuarbeiten,  fehlte  ihr  vor  allem  der  Wille,  sie  durch- 
zusetzen gegen  den  Widerstand  der  zwei  ersten  Stände, 
einer  reaktionären  Masse,  welche  starr  am  Oberlieferten 
festzuhalten  gewillt  und  weder  ihre  rechtlichen  noch 
ihre  wirtschaftlichen  Privilegien  preiszugeben  bereit  war. 
Quos  perdere  vult  Jupiter  dementat  prius,  ruft  einer  der 
besonnensten  Historiker  des  alten  Frankreich  in  diesem 
Zusammenhang  aus.  Bei  dieser  Lage  mußte  schließlich 
eine  gewaltsame  Revolution  stattfinden ;  der  vergewaltigte, 
enterbte  und  hungernde  dritte  Stand  mußte,  da  man 
ihm  nicht  auf  normalem  Wege  sein  Recht  verschaffte, 
alles  zerstören,  um  dazu  zu  gelangen,  wie  der  Dampf- 
kessel, dessen  Ventil  man  vergessen  hat  zu  öffnen,  unter 
allgemeiner  Zerstörung  platzt.  So  also  etwa  die  übliche 
Auffassung.  Ich  habe  dem  noch  hinzuzufügen,  daß  neben 
diesen  Ursachen  der  Revolution  Taine,  dessen  Anschau- 
ungen im  obigen  im  ganzen  wiedergegeben  sind,  noch 
eine  weitere  aufs  stärkste  betont  hat,  nämlich  den  „klassi- 
schen Geist'',  die  verhängnisvolle  Geistesrichtung  und 
Denkweise,  die  Frankreich  vom  17.  bis  ins  19.  Jahr- 
hundert hinein  beherrscht  und  verheert  hat.  Er  versteht 
darunter  —  kurz  gesagt  —  die  unhistorische  Denkweise, 
die  es  nicht  vermag,  das  Individuelle,  das  Eigenartige 
zu  erfassen;  die,  auf  das  politische  Leben  angewandt, 
den  Staat  meistern  will  mit  ein  paar  Formeln,  unter  der 
Voraussetzung,  daß  alle  Menschen  gut  und  gleich  sind 
und  ohne  jede  Rücksicht  auf  das  historisch  Gewordene. 
Dabei  steht  Taine  zu  den  beiden  großen  Ursachen  etwa 
folgendermaßen:  Die  eine,  die  ich  zuerst  nannte,  die 
man  etwa  zusammenfassen  könnte  als  die  hoffnungslos 
schlechten  rechtlichen  und  wirtschaftlichen  Zustände  des 
dritten  Standes,  hat  den  Zusammenbruch  des  Staates  an 
sich  überhaupt  herbeigeführt  —  ein  Vorgang,  bei  dem 

Hittoritchc  Zeitschrift  (101.  Bd.)  Z,  Folge  5.  Bd.  19 


286  Adalbert  Wahl, 

Taine  offenbar  eine  gewisse  Genugtuung  fülilt,  wie  sie 
der  Anblick  der  Strafe  eines  Scliuldigen  nun  einmal  bei 
den  meisten  Menschen  liervorruft.  Die  zweite  Ursactie, 
der  klassisclie  Geist,  hat  das  Wie  des  Umsturzes  ver- 
schuldet; denn  der  klassische  Geist  —  und  hier  wird 
nun  Taine  zum  strengen  Richter  der  Revolution  —  hat 
es  herbeigeführt,  daß  die  Revolution  nichts  stehen  ließ, 
daß  sie  mit  dem  Schlechten  zugleich  das  Gute  vernichtete, 
mit  dem  Morschen  zugleich  das  Lebensvolle  zerbrach. 
Der  klassische  Geist  vor  allem  hat  es  verschuldet,  daß 
die  Männer  der  Konstituante  so  jämmerlich  versagten, 
als  es  galt,  einen  neuen  Staat  zu  schaffen.  So  etwa 
Taines  unter  der  Mehrzahl  der  Gebildeten  wohl  noch 
immer  herrschende  Auffassung,  und  ähnlich  die  zahl- 
reicher ihm  verwandter  Autoren,  der  man  eine  gewisse 
Großartigkeit,  der  man  Einfachheit  und  Geschlossenheit 
gewiß  nicht  absprechen  wird. 

Wenn  es  nun  unsere  Aufgabe  sein  soll,  zu  dieser 
Auffassung  Stellung  zu  nehmen,  so  sei  die  These  vom 
klassischen  Geiste  hier  zunächst  ausgeschieden:  sie  wird 
in  dem  positiven  Teil  unserer  Ausführungen,  bei  der 
Betrachtung  der  Geistesverfassung,  noch  einmal  anklingen. 

Wir  wenden  uns  jetzt  gegen  die  erste  der  darge- 
stellten Ursachen.  Auch  sie  allein  betrachtet  hat  viel 
Bestechendes.  Jedoch  ich  glaube,  daß,  wer  an  historische 
Untersuchung  gewöhnt  ist,  von  vornherein  mißtrauisch 
gegen  sie  sein  wird:  sie  enthält  eine  viel  zu  einfache 
Formel,  und  das  historische  Leben  ist  unendlich  kompli- 
ziert. So  einfach  liegen  die  Dinge  meistens  leider  nicht. 
Sehr  viel  wichtiger  ist  dann,  daß  sie  im  einzelnen  nicht 
der  Kritik  Stich  hält:  ihre  Voraussetzungen  sind  nur  zu 
einem  Teile  richtig,  zum  anderen  sind  sie  schief,  zum 
größten  überhaupt  falsch  —  wie  hier  natürlich  nicht  aus- 
führlich bewiesen,  sondern  nur  in  Kürze  angedeutet 
werden  kann. 

Da  sind  es  zunächst  die  Auffassungen  von  der  des* 
potischen  Regierungsweise  an  sich,  die  fast  ganz  in 
nichts  zerfließen,  wenn  man,  wie  gebührlich,  die  letzten 
Zeiten  Ludwigs  XV.  und  vor  allem  die  ganze  15jährige 


über  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.         287 

Regierungszeit  Ludwigs  XVI.  vor  der  Revolution  ins  Auge 
faßt.  Als  wichtigstes  Beispiel  für  diese  Regierungsweise 
pflegen  ja  immer  wieder  die  berüchtigten  lettres  de  cachet 
angeführt  zu  werden.  Es  waren  das  die  schriftlichen 
Befehle  des  Königs,  durch  die  —  ohne  Urteil  eines  Rich- 
ters —  Bestrafungen,  Verbannungen,  Gefangensetzungen 
herbeigeführt  wurden.  Gewiß  ein  liäßlicher  Mißbrauch! 
Aber  er  wurde  unter  Ludwig  XVL  fast  gar  nicht  mehr 
angewandt  und  zwar  nur  noch  in  zwei  Fällen.  Auf  Wunsch 
der  Eltern  wurden  noch  gelegentlich  hoffnungslose  junge 
Taugenichtse,  meist  aus  vornehmen  Familien,  in  leichter 
Haft  gehalten.  Andererseits  wurden  die  eigenen  Beamten 
öfters  durch  lettres  de  cachet  bestraft,  meist  verbannt. 
Das  hing  aber  nicht  mit  despotischen  Methoden,  sondern 
umgekehrt  mit  der  Weichheit  und  Schlaffheit  zusammen, 
die  diesen  Staat  charakterisierten,  worüber  unten  mehr 
zu  sagen  sein  wird.  Er  zeigte  nämlich  eine  Milde  und 
Schwäche  gegenüber  rebellischen  und  aufsässigen  Be- 
amten, von  denen  wir  uns  kaum  einen  Begriff  machen 
können.  Was  würden  wir  z.  B.  sagen,  wenn  die  höchsten 
Richter  unseres  Landes  in  öffentlichen,  amtüchen  Kund- 
gebungen einen  deutschen  Fürsten  als  Despoten,  als 
Tyrannen,  als  Verletzer  der  Gesetze  bezeichneten,  wenn 
sie  verböten,  daß  Gesetze  befolgt,  ja  nur  veröffentlicht 
würden,  wenn  sie  in  amtlichen  Kundgebungen  die  Steuer- 
zahler aufforderten,  ihre  Steuern  nicht  zu  bezahlen,  wenn 
sie  königliche  Steuerbeamte,  die  ihre  Pflicht  täten,  er- 
griffen, gefangen  setzten  und  bestraften?  Denn  so  un- 
glaublich waren  die  Zustände  des  damaligen  Frankreich! 
Statt  nun  harten,  wirklichen  Strafen  anheimzufallen,  er- 
hielten diese  Herren  eben,  wenn  sie  es  allzu  toll  getrieben, 
eine  lettre  de  cachet,  die  sie,  sofern  sie  in  Paris  wohnten, 
etwa  nach  Troyes,  Blois  oder  Orleans  verbannte,  von  wo 
sie  nach  einigen  Monaten  vergnügt,  mit  dem  Verdienst 
des  Märtyrers  geschmückt,  nach  Paris  zurückkehrten.  — 
Entsprechend  dieser  gelinden  Handhabung  der  admini- 
strativen Strafe  war  ja  dann  auch  bekanntlich  das  Resultat 
des  Sturmes  der  Bastille,  des  vornehmsten  der  Staats- 
gefängnisse, in  deren  weiten  Räumlichkeiten  man  Hunderte 

19* 


288  Adalbert  Wahl, 

von  Opfern  des  Despotismus  zu  finden  hoffte,  in  Wirk* 
lichkeit  aber  nur  ein  paar  Taugenichtse  und  ein  paar 
Fälscher  entdecken  konnte. 

Ebensowenig  wie  in  diesem  Punkte,  kann  in  einem 
anderen  —  um  noch  ein  zweites  Beispiel  zu  nennen  — 
von  einer  despotischen  Regierungsweise  die  Rede  sein: 
in  dem  der  Preßfreiheit.  ^)  Wohl  bestanden  auch  noch 
unter  Ludwig  XVI.  Gesetze,  welche  sie  knebeln  konnten, 
aber  sie  wurden  unter  diesem  König  noch  weniger  wirk- 
sam angewandt  als  unter  Ludwig  XV.  Die  Maßnahmen 
der  Zensur  blieben  durchaus  illusorisch.  Höchstens  daß 
in  seltenen  Ausnahmefällen  das  Parlament  von  Paris  sich 
dazu  aufschwang,  ein  schon  erschienenes  Werk  zum  Ver- 
brennen zu  verurteilen,  was  regelmäßig  seiner  Verbreitung 
nicht  hinderlich,  sondern  im  höchsten  Grade  förderlich 
war!  Und  so  findet  man  denn  auch,  daß  selbst  ruhig 
denkende  Franzosen,  welche  jene  Zeiten  miterlebt  hatten 
und  dann  zurückblickend  über  sie  urteilten,  nach  ihren 
späteren  Erfahrungen  erstaunt  sind  über  die  unglaubliche 
Preßfreiheit,  Redefreiheit,  Gedankenfreiheit,  die  damals 
geherrscht.  Ein  bedeutender  Engländer,  der  Frankreich 
genau  kannte,  sagt  von  den  Jahren  1787—1889,  daß  die 
Presse  Frankreichs  freier  sei  als  die  englische,  also  freier 
als  die  des  Musterlandes  der  Freiheit.  Und  der  Historiker 
wird,  zurückblickend  und  selbst  prüfend,  diese  Urteile  nur 
bestätigen  können.  Mit  Erstaunen,  ja  Schaudern  wird  er 
lesen,  was  damals  massenweise  an  wilden  Schmähungen 
und  Verleumdungen  z.  B.  gegen  die  Königin  straflos 
veröffentlicht,  ja  durch  Maueranschläge,  die  zum  Teil  an 
den  Mauern  königlicher  Schlösser  angebracht  wurden, 
so  recht  herausfordernd  zur  Kenntnis  gebracht  wurde, 
was  ferner  an  sinnloser  Verlästerung  gegen  die  Regierung 
als  solche  straflos  hinging.  Er  wird  sein  Urteil  dahin 
zusammenfassen,  daß  eine  derartige  Freiheit,  die  dann 
noch  bis  1792/93  andauerte,  um  in  diesen  Jahren  durch 
eine  neue  Regierung  und  neue  Menschen  ihr  jähes  Ende 

')  Damit  sind  die  zwei  Beispiele  genannt,  die  in  jenen  Zeiten 
selbst  weitaus  die  größte  Rolle  als  Beweise  des  Despotismus 
spielten. 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        289 

ZU  finden,  von  keinem  größeren  Staatswesen  nach  1793 
wieder  geduldet  worden  ist  und  geduldet  werden  könnte 
—  am  allerwenigsten  in  Frankreich.  So  sicher  es  nun 
ist,  daß  die  alten  Gesetze  in  diesen  Punkten  geändert 
werden  mußten  (was  die  Regierung  ja  auch  zusagte),  so 
sicher  ist  doch  auch,  daß  von  einer  despotischen  Regie- 
rungsweise keine  Rede  sein  kann.  Hier  mögen  diese 
beiden  Beispiele  genügen ;  auch  dieser  Gegenstand  wird 
in  dem  positiven  Teil  unserer  Ausführungen  wieder  an- 
klingen. 

Dann  werden  weiterhin  die  Beschränkungen  der 
wirtschaftlichen  Freiheit  hervorgehoben.  Daran  ist  man- 
cherlei richtig.  Noch  immer  bestanden  zahlreiche 
Binnenzölle.  Die  Aufhebung  der  zUnftlerischen  Ver- 
fassung durch  Turgot  (1776)  konnte  nicht  aufrecht  er- 
halten werden.  Der  Getreidehandel  im  Innern  des  Lan- 
des wurde  zwar  öfters  freigegeben,  dann  aber  wieder 
beschränkt.  Aber  dennoch  verbietet  es  sich  aus  mehreren 
Gründen,  in  dieser  Beschränkung  der  wirtschaftlichen 
Freiheit  eine  Ursache  der  Revolution  zu  sehen.  Da  ist 
eine  Erwägung  die  folgende:  es  fand  auch  auf  dem 
wirtschaftlichen  Gebiete  unter  Ludwig  XVI.  eine  mäch- 
tige Bewegung  in  der  Richtung  zur  Freiheit  statt.  Die 
Binnenzölle  verschwanden  allmählich,  wenn  auch  noch, 
wie  gesagt,  viele  übrig  blieben.  Als  die  Zünfte  1776 
wieder  eingeführt  wurden,  traf  man  dabei  so  viele  Än- 
derungen im  Sinne  der  Freiheit,  daß  von  einem  eigent- 
lich ZUnftlerischen  Regime  kaum  mehr  die  Rede  sein 
konnte.  Vor  allem  aber  gilt  es  nun,  zweierlei  zu  be- 
tonen. Erstens  ist  es  leicht  nachzuweisen,  daß  unter 
dem  ersten  Ministerium  Necker  (1776—1781)  die  ganze 
Reglementiererei  der  Industrie  de  facto  aufgehoben 
wurde.  Die  Handhabung  der  Gesetzgebung  sollte  sein 
und  war  eine  solche,  daß  von  Beschränkung  keine 
Rede  sein  konnte.  Weiter  aber  ging  Necker  der 
wichtigsten  Industrie  gegenüber,  der  Verfertigung  von 
Tuchen  und  Stoffen  aller  Art.  Hier  wurde  die  voll- 
kommene Freiheit  eingeführt  (1779).  Dabei  ließ  er  nun 
freilich,    vorsichtig,    wie    er   war,    die  alten  Reglements 


290  Adalbert  Wahl, 

bestehen,  ja  er  baute  sie  aus  —  eben  deswegen  hat 
man  seine  Maßregeln  mißverstanden  — ,  aber  es  wurde 
bestimmt,  daß  kein  Fabrikant  sich  fürderhin  nach  diesen 
Reglements  zu  richten  brauche.  Das  zweite  war,  daß 
seit  1785  eine  Reihe  von  Handelsverträgen  abgeschlossen 
wurde,  von  denen  der  mit  England  (1786)  der  vor- 
nehmste war,  welche  außerordentlich  niedrige  Zollsätze 
einführten  und  einen  mächtigen  Schritt  zum  Freihandel 
bedeuteten.  Also  überall  bedeutende  Entwicklung  zur 
wirtschaftlichen  Freiheit,  kein  Beharren  in  der  alten 
Gebundenheit.  Daß  die  wirtschaftlichen  Beschränkungen 
nicht  an  sich  zur  Revolution  geführt,  kann  man  aber 
noch  aus  einer  anderen  Erwägung  erkennen:  Die  Revo- 
lution zeigte  sich  von  Anfang  an  mehr  schutzzöllnerisch 
gesinnt,  als  das  alte  Frankreich,  nicht  weniger,  wenn 
auch  die  Zünfte  auf  einige  Jahre  ganz  verschwanden. 

Weiter,  wenn  über  die  Härten  und  Ungleichheiten 
des  Steuersystems  des  alten  Frankreich  geklagt  wurde, 
so  waren  diese  Klagen  im  großen  und  ganzen  berech- 
tigt. Freilich  wird  auch  hierbei  bedeutend  übertrieben. 
Von  einer  Steuerfreiheit  des  Adels  und  des  Klerus 
kann  keine  Rede  sein,  sondern  nur  von  einer  Bevor- 
zugung. Ferner  sind  Berechnungen  wie  die  Taines, 
wonach  der  Bauer  54%  seines  Einkommens  allein  an 
direkten  Steuern  habe  abgeben  müssen,  ohne  jeden 
wissenschaftlichen  Wert.  Allein,  vieles  bleibt  doch  be- 
stehen, so  z.  B.,  daß  die  wichtigste  indirekte  Steuer, 
die  Salzsteuer,  Gabelle,  von  einer  empörenden  Härte 
und  Ungleichheit  war.  In  einer  Provinz  zahlte  man  20- 
mal  mehr  als  in  einer  anderen.  Die  Folge  war  ein  un- 
ausrottbarer Schmuggel,  der  jährlich  zu  zahllosen  Be- 
strafungen führte.  Ungleich  war  diese  Steuer  auch  in- 
sofern, als  sie  im  allgemeinen  den  Armen  mehr  belastete 
als  den  Reichen.  Ungleich  waren  weiterhin  die  direkten 
Steuern,  die  weitaus  am  schwersten  den  Bauern  belaste- 
ten, das  Stiefkind  des  merkantilistischen  Staates.  Aber 
nun  gilt  auch  von  den  Steuern  etwas  ähnliches,  wie  von 
der  wirtschaftlichen  Gebundenheit.  Die  Steuergleichheit 
der   zwei  ersten   Stände  war  von  diesen   vor   der   Re- 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        291 

volution  unmißverständlich  und  wiederholt  zugestanden. 
Die  Salzsteuer  ward  1787  von  der  Regierung  selbst  so 
heftig  verurteilt  —  der  Graf  von  der  Provence,  später 
Ludwig  XVIII.,  nannte  sie  eine  Höllenmaschine!  — ,  daß 
ihre  Abschaffung  eine  Frage  der  nahen  Zukunft  sein 
mußte.  An  der  Verbesserung  der  Erhebung  und  Ver- 
teilung der  Steuern  wurde  unablässig  und  unermüdlich 
gearbeitet.  Nun  aber  ein  zweiter  Gedanke,  welcher  uns 
davor  warnen  muß,  einen  engen,  ursächlichen  Zusammen- 
hang zwischen  Steuerveriassung  und  Revolution  zu 
konstruieren.  Es  ist  bekannt,  daß  der  eigentliche  Trä- 
ger der  Revolution  der  Bürgerstand  gewesen  ist.  Die 
Bauern  wurden  durch  städtische  Agitation  in  letzter 
Stunde  zeitweilig  in  sie  hineingezogen;  sie  spielten 
aber  doch  nur  eine  mehr  sekundäre,  überdies  in  den 
größten  Teilen  des  Landes  eine  wechselnde  Rolle.  Sie 
sind  die  Geführten;  die  Führerin  ist  die  städtische 
Bourgeoisie.  Wie  aber  stand  es  mit  ihrer  Besteuerung? 
Die  Wahrheit  ist,  daß,  wie  es  leicht  ist  zu  beweisen,  sie 
im  alten  Frankreich  auf  das  außerordentlichste  begün- 
stigt wurde  und  zwar  sowohl  in  bezug  auf  dasjenige 
Vermögen,  welches  in  industriellen  Unternehmungen  an- 
gelegt war,  wie  auf  das  bewegliche,  also  ebenso  das 
Vermögen  des  Fabrikanten,  wie  das  des  Großkaufmannes 
und  des  Rentiers.  Diese  Gruppen  von  Vermögenswerten 
zahlten  viel  zu  wenig  im  Verhältnis  zu  dem,  was  die 
Landwirtschaft  aufbrachte.  Die  Summen,  für  die  sich 
die  Städte  von  der  direkten  Besteuerung  loskauften,  sind 
meist  überaus  gering.  Blühende  und  reiche  Städte  mit 
Handel  und  Industrie  zahlten  da  wohl  nicht  mehr 
direkte  Steuern,  als  10  bis  15  Dörfer.  Diese  Privilegie- 
rung nun  nimmt  vor  der  Revolution  noch  zu,  während 
die  von  Adel  und  Klerus  abnimmt.  Der  Rentier  ist  der 
privilegierteste  Steuerzahler  des  alten  Frankreich.  Nur 
die  Parteilichkeit  der  Geschichtschreiber  konnte  an 
diesen  Tatsachen  vorbeisehen.  Es  mag  hier  als  an  ein 
Kuriosum  daran  erinnert  werden,  daß  das  französische 
reiche  Bürgertum  es  bis  zum  heutigen  Tage  ja  verstan- 
den hat,  von  der  direkten  Steuer  mit  wachsender  Rate 


292  Adalbert  Wahl, 

frei  zu  bleiben.  Jedenfalls  hat  ein  privilegierter  Steuer- 
zahler in  die  Revolution  geführt,  nicht  ein  unterdrückter. 
Und  etwas  ganz  Ahnliches  gilt  von  der  wirtschaft- 
lichen Lage.  Auch  hier  muß  unter  den  einzelnen 
Elementen  des  dritten  Standes  streng  unterschieden 
werden.  Es  ist  zweifellos,  daß  unter  Ludwig  XVL  in 
der  ländlichen  Bevölkerung  mancherorts  noch  viel  Elend 
herrschte,  vor  allem  wohl  unter  den  Tagelöhnern,  aber 
vielleicht  auch  noch  unter  Bauern  und  Pächtern.  Nament- 
lich gilt  dies  vom  Westen.  Ebenso  sicher  sind  aber 
zwei  weitere  Tatsachen:  erstens  hat  Taine  in  diesem 
Punkte  geradezu  maßlos  übertrieben,  vor  allem,  indem 
er  Berichte  aus  allen  Zeiten  des  18.  Jahrhunderts  zu- 
sammentrug und  verwandte,  als  ob  sie  für  1780  Geltung 
hätten ;  indem  er  weiter  sogar  Nachrichten  über  Zustände 
nach  Krisen  —  Hagel,  Überschwemmungen  usw.  —  an- 
führte, als  ob  sie  sich  auf  normale  Zeiten  bezögen. 
Auch  ist  von  ihm  und  zahlreichen  anderen  die  Härte 
der  Agrarverfassung  außerordentlich  stark  übertrieben 
worden.  Sieht  man  näher  zu,  so  findet  man  eine  Fülle 
von  Nachrichten,  welche  in  anderem  Sinne  sprechen. 
Eine  kürzlich  erschienene  Arbeit  von  Sakmann  zeigt 
ferner,  daß  der  vorzüglich  informierte  Voltaire  dCn  Klagen 
über  das  Los  der  Bauern  gegenüber  sehr  skeptisch  war. 
Vor  allem  aber  ist  zweitens  eines  sicher:  seit  etwa  der 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  seit  sich  das  Interesse  aller 
Kreise  wieder  der  Landwirtschaft  zuwandte,  tritt  un- 
zweifelhaft eine  ganz  bedeutende  Hebung  der  Zustände 
auf  dem  Lande  ein;  besonders  geht  es  rapide  aufwärts 
unter  Ludwig  XVI.  Die  Preise  der  landwirtschaftlichen 
Produkte  steigen  mächtig  und  dementsprechend  die 
Güterpreise  und  die  Pachten,  die  sich  vielfach  in  zehn 
Jahren  mehr  als  verdoppeln.  Wir  hören  ferner  1787 
aus  einer  höchst  glaubwürdigen  Denkschrift,  die  Ein- 
nahmen aus  der  Landwirtschaft  im  ganzen  hätten  sich 
in  den  letzten  zwanzig  Jahren  verdoppelt.  Dazu  dann 
Schilderungen,  welche  zeigen,  daß  sich  in  der  Tat  die 
Lebenshaltung  des  Bauern  gegen  früher  außerordentlich 
gehoben  hat,   daß  er  besser  wohnt,  sich  besser  kleidet 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.         293 

und  nährt,  als  früher.  Wir  haben  Berichte  von  eng- 
lischen Reisenden,  weiche  erstaunt  sind,  so  viel  Wohl- 
stand und  Fröhlichkeit  unter  den  französischen  Bauern 
zu  finden,  die  man  ihnen  als  elend  und  arm  geschildert 
hatte.  Auf  der  anderen  Seite,  wir  wiederholen  es,  blieb 
gewiß  an  vielen  Orten  genug  des  Elends  und  der  Armut 
übrig.  Aber  auch  in  diesem  Punkte,  und  gerade  in  diesem, 
darf  man  nun  keineswegs  die  Lage  des  Bauern 
mit  der  Lage  des  dritten  Standes  überhaupt 
verwechseln.  Müssen  wir  mit  unserm  Urteil  über 
die  wirtschaftliche  Lage  des  Bauern  immerhin  vorsichtig 
sein,  so  kann  auf  der  anderen  Seite  nichts  mit  größerer 
Sicherheit  ausgesprochen  werden,  als  daß  der  Bürger- 
stand damals  in  einem  unerhörten  Emporblühen  sich 
befindet.  Er  ist  längst  auf  das  Land  gedrungen  und 
Großpächter  geworden;  niemals  aber  erwirbt  er  so  viel 
Land  wie  in  den  Jahren  vor  der  Revolution.  Am  deut- 
lichsten sieht  man  seinen  Aufschwung  in  den  großen 
Städten.  Die  Reisenden,  und  zwar  selbst  die  verwöhnten 
Engländer,  empfangen  die  stärksten  Eindrücke  von  der 
Pracht  der  großen  Städte,  von  ihren  neuen  Straßenzügen 
und  von  den  Palästen  ihrer  Kaufherren.  Das  gilt  u.  a, 
von  Nantes,  Havre,  Marseille,  Lyon  und  vor  allem  von 
Bordeaux;  weit  mehr  noch  jedoch  von  der  großen 
Führerin  der  Revolution,  von  Paris.  Hier  hat  man 
zweierlei  beobachtet:  gerade  in  dem  Jahrzehnt  vor  der 
Revolution,  von  etwa  1780  an,  beginnt  in  größerem  Maß- 
stabe das  alte,  mittelalterliche  Paris  zu  verschwinden. 
Ganze  Straßen  werden  niedergerissen;  neue  Straßenzüge 
entstehen,  gesunder,  breiter,  prächtiger  als  die  alten. 
Es  ist  eine  rein  bürgerliche  Bautätigkeit.  Und  ebenso 
hat  man  für  jene  Jahre  eine  Fülle  von  Verkäufen  von 
Adelspalästen  beobachtet,  die  in  die  Hände  der  Bour-* 
geoisie  übergingen.  Der  Autor,  der  diese  Beobach- 
tungen über  Paris  gemacht  hat,  ist  der  bekannte  Sozia- 
listenführer Jean  Jaurfes,  der  sonst  als  Historiker  wenig 
selbständig  ist.  Er  zieht  aus  diesen  Tatsachen  trotz 
seiner  materialistischen  Grundrichtung  den  Schluß:  ce 
n'est  pas  du  fond  de  la  misire  qu'est  monUe  la  rdvolu- 


294  Adalbert  Wahl, 

tion  —  ein  Satz,  dem  man  nur  unbedingt  zustimmen 
kann.  Von  ihm  ist  es  dann  nicht  mehr  weit  zu  dem  Wort 
des  geistvollen  Rivarol,  wonach  das  vorrevolutionäre 
Frankreich  an  der  maladie  du  bonheur  gelitten;  doch 
möchten  wir  diesen  kurzen  Weg  nicht  gehen!  So 
scheidet  also  wirtschaftliches  Elend  oder  selbst  eine 
wirtschaftlich  gedrückte  Lage  als  Ursache  der  Revolution 
aus.  Man  müßte  denn  annehmen,  der  Bürgerstand 
habe  —  selbst  reich  und  blühend  —  die  Sache  der 
Bauern  führen  wollen.  Diese  Annahme  aber  ist  aus 
einer  Reihe  von  Gründen  ohne  weiteres  zu  beseitigen, 
von  denen  es  nur  einer  ist,  daß  die  Bürger  bei  der  ge- 
meinsamen Abfassung  der  cahiers  des  dritten  Standes 
ganz  systematisch  die  Wünsche  der  Bauern  beiseite 
geschoben  haben.  Auch  sprechen  ja  die  erst  neuerdings 
bekannt  werdenden  heftigen  Gegensätze  zwischen  Stadt 
und  Land  dagegen. 

Ebenso  unhaltbar  sind  schließlich  die  zwei  letzten 
Elemente  der  hier  von  uns  bekämpften  Lehre  von  der 
Entstehung  der  Revolution:  daß  nämlich  die  Reform- 
tätigkeit der  Regierung,  bei  zuzugebendem  gutem  Willen, 
doch  ungenügend  gewesen  sei.  Wir  werden  vielmehr 
von  der  Regierungszeit  Ludwigs  XVI.,  über  die  allein 
hier  ein  paar  Worte  gesagt  werden  können,  urteilen 
müssen,  daß  zwar  gewiß  eine  stärkere  und  härtere  Re- 
gierung noch  mehr  hätte  leisten  können,  daß  aber  doch 
das,  was  erreicht  worden  ist,  vor  allem,  wenn  man  be- 
denkt, daß  es  sich  doch  nur  um  kurze  15  Jahre  handelt, 
von  denen  noch  dazu  ein  Teil  Kriegsjahre  waren,  als 
an  sich  sehr  viel  bezeichnet  werden  muß.  Manches  ist 
ja  schon  erwähnt  worden.  Da  war  ferner  zunächst  eine 
Fülle  von  kleinen  Verbesserungen  und  von  Anregungen,  die 
teils  durch  die  Gesetzgebung,  teils  in  der  Stille  der  Ver- 
waltung gegeben  wurden.  Wenn  vorhin  von  einem  so 
bedeutenden  Aufschwung  in  der  Landwirtschaft  gesprochen 
werden  konnte,  so  war  dieser  keineswegs  ohne  Zutun 
der  Regierung  erzielt  worden,  sondern  sie  ist  umgekehrt 
dabei  energisch  beteiligt.  Vor  allem  wirkt  sie  systema- 
tisch in  mannigfacher  Weise  auf  die  Verbesserung  der 


über  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        295 

Technilc  der  Landwirtschaft  ein  —  eine  der  zukunfts- 
reichsten Bestrebungen  der  damaligen  Zeit  — ,  ferner 
erreicht  sie  es  durch  Ermutigungen  und  Vergünstigungen, 
daß  bisher  unbebautes  Land  in  ganz  außerordentlichem 
Umfange  urbar  gemacht  wurde.  Da  wurde  ferner,  um 
ein  zweites  Beispiel  zu  nennen  —  nur  um  Beispiele  kann 
es  sich  hier  handeln  — ,  durch  tüchtige  Intendanten  in 
zahlreichen  Provinzen  Frankreichs  die  Steuererhebung 
außerordentlich  vereinfacht  und  verbessert,  wodurch  es 
z.  B.  in  der  Generalität  von  Paris,  der  Isle  de  France, 
ermöglicht  wurde,  die  direkte  Steuerzahlung  der  länd- 
lichen Bevölkerung  um  ein  volles  Viertel  herabzusetzen. 
Daß  eine  freiheitliche  Handhabung  der  Fabrikgesetz- 
gebung, daß  neue  Gesetze  unter  dieser  Regierung  die 
Grundlage  bildeten  für  eine  unerhörte  Blüte  der  Industrie, 
die  nach  Urteilen  von  Kennern  erst  nach  1850  die  Höhe 
wieder  erreichte,  die  sie  vor  1780  inne  hatte,  ist  schon 
gesagt  worden.  Hierbei  ist  freilich  auf  eines  hinzuweisen. 
Gerade  ein  bedeutender  Fortschritt  in  der  Richtung  der 
Freiheit  brachte  in  den  letzten  Jahren  vor  der  Revolution 
eine  Krise  über  einen  Teil  der  französischen  Industrie,  vor- 
nehmlich in  der  Normandie.  Es  handelt  sich  dabei  um 
jenen  freiheitlichen  Handelsvertrag  mit  England  vom  Jahre 
1786,  den  sog.  Edenvertrag,  der  ansehnliche  Teile  der 
französischen  Industrie  der  englischen  Konkurrenz  aus- 
setzte, der  sie  nicht  gewachsen  war  —  ein  wichtiger 
Hinweis,  daß  die  von  der  Theorie  von  allen  Seiten  ge- 
forderten Reformen  gerade  es  sein  konnten,  welche  Un- 
heil anrichteten.  Im  Strafprozeß  wurde  eine  ganze  Reihe 
von  Milderungen  eingeführt,  von  denen  die  bekannteste 
die  Abschaffung  der  Tortur  ist;  Todesstrafen  durften  in 
Zukunft  in  letzter  Instanz  nur  mit  drei  Stimmen  Majo- 
rität verhängt  werden.  Einen  außerordentlichen  Fort- 
schritt im  Sinne  der  Toleranz  bedeutete  ein  Gesetz  vom 
November  1787.  Dadurch  wurde  den  Nichtkatholiken 
die  Fähigkeit  wiedergegeben,  die  Ludwig  XIV.  ihnen 
1685  geraubt,  rechtlich  gültige  Ehen  zu  schließen  und 
ihr  Vermögen  ihren  Kindern  zu  vererben.  Freilich  hatte 
schon   seit  etwa   1750  die  Regierung  Ludwigs  XV.  die 


2%  Adalbert  Wahl, 

abscheulichen  Bestimmungen  von  1685  nicht  mehr  ge- 
handhabt. Die  rechtliche  Stellung  der  Juden  zu  ver- 
bessern, auch  damit  hat  sich  die  Regierung  beschäftigt; 
der  bekannte  Malesherbes  wurde  1787  mit  einer  Denk- 
schrift darüber  betraut.  Daran  möge  eine  weitere  Be- 
trachtung geknüpft  werden:  neben  den  durchgesetzten 
Reformen  plante  man  eine  FUlle  von  weiteren,  die 
zum  Teil  schon  zur  Veröffentlichung  bereit  waren,  als 
die  Revolution  ausbrach;  hierher  gehört  z.  B.  die  Be- 
seitigung sämtlicher  innerer  Zollschranken  und  die  Um- 
gebung von  ganz  Frankreich  mit  einer  einzigen  Zoll- 
linie mit  sehr  niedrigen  Sätzen,  also  ein  Fortschritt  im 
Sinne  der  Einheit  und  der  Freiheit  von  unabsehbarer 
Bedeutung.  Hierher  gehört,  daß,  wie  ja  schon  angedeutet 
wurde,  die  Abschaffung  der  lettres  de  cachet,  die  Ein- 
führung der  Preßfreiheit  und  weitere  Reformen  in  der 
Justiz  den  Generalständen  auf  das  bestimmteste  zugesagt 
wurden.  Aber  zurück  zu  dem,  was  wirklich  erreicht 
wurde  I  Allgemein  galt  als  ein  sehr  schwerer  Schaden 
die  Tatsache,  daß  beim  Bau  der  herrlichen  öffentlichen 
Straßen  die  Landbevölkerung  6—8  Tage  im  Jahre  Frohn- 
dienste  leisten  mußte.  So  beseitigte  denn  die  Regierung 
im  Jahre  1787  auch  diese  Einrichtung.  Freilich  zeigte  es 
sich  hierbei  wiederum,  daß  die  Theorie  den  Wünschen  und 
Bedürfnissen  der  Bevölkerung  vorausgeeilt  war.  Die  länd- 
lichen Bewohner  zogen  die  Leistung  der  paar  Tage  Ar- 
beit, die  man  in  die  tote  Jahreszeit  verlegte,  der  Geld- 
zahlung, die  an  ihre  Stelle  trat,  vielfach  vor,  so  z.  B.  im 
Elsaß ;  und  als  man  es  nach  der  Revolution  den  Bauern 
freistellte,  entweder  die  Wegefrohn  abzuleisten  oder  aber 
Geld  zu  zahlen,  entschied  sich  noch  unter  Napoleon  III. 
die  überwiegende  Mehrzahl  der  Bauern  für  die  Frohn. 
Da  war  eine  weitere  Reform  die  Aufhebung  der  Reste 
von  Hörigkeit  unter  den  Domänenbauern,  wodurch  ein 
Beispiel  gegeben  war,  dem  eine  Reihe  von  weltlichen 
und  geistlichen  Grundherren  folgte. 

Noch  über  manche  Verbesserung  im  kleinen  und 
und  großen  wäre  zu  berichten.  Allein  nur  noch  eine 
sei  erwähnt  —  es   ist  die  wichtigste  von  allen  — :    die 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        297 

große  Verwaltungsreform  des  Jahres  1787,  die  an  die 
Stelle  der  Zentralisation  die  Selbstverwaltung  setzte.  Es 
war  das  eine  der  großzügigsten  Reformen,  die  je  in  einem 
Staatswesen  unternommen  wurden.  Sie  beruhte  auf  einem 
schönen  Optimismus  und  einem  starken  Vertrauen  zum 
Volke  Frankreichs.  Auch  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß 
darin  eine  sehr  heilsame,  prinzipielle  Abweichung  von 
den  Methoden  des  aufgeklärten  Absolutismus  vollzogen 
wurde,  dessen  Devise  „alles  fürs  Volk,  aber  nichts 
durchs  Volk""  in  ihrem  zweiten  Teile  hier  aufgegeben 
wurde.  Daß  diese  Verwaltungsreform,  einmal  eingeführt, 
sich  aufs  kräftigste  entwickelte,  daß  ihr  Wert  in  allen 
drei  Ständen  des  alten  Frankreich  vollauf  verstanden 
wurde  und  daß  sie  die  Keime  zahlloser  weiterer  Ver- 
besserungen in  ihrem  Schöße  barg,  wurde  an  anderer 
Stelle  des  breiteren  ausgeführt.  —  Schon  nach  diesen 
kurzen  Andeutungen  wird  man  die  Reformtätigkeit  Lud- 
wigs XVI.  kaum  anders,  denn  als  eine  recht  bedeutende 
ansehen  können. 

Und  nun  noch  ein  paar  Worte  der  Kritik  gegen  das 
letzte  Element  jener  geschlossenen  und  imposanten  Theorie 
von  den  Ursachen  der  Revolution,  die  ich  hier  zu  wider- 
legen trachte:  daß  nämlich  die  zwei  ersten  Stände,  also 
Adel  und  Klerus,  nicht  geneigt  gewesen  wären,  dem 
dritten  Stande  entgegenzukommen  und  den  notwendigen 
Verzicht  auf  ihre  Vorrechte  zu  leisten.  Auch  diese  Auf- 
fassung ist  im  wesentlichen  falsch.  Zwar  hielten  diese 
beiden  Stände  an  ihrer  Qualität  als  besondere  Stände 
fest  —  das  ist  keineswegs  zu  verkennen  —  aber  sie  er- 
klärten sich  dabei  bereit,  auf  alle  diejenigen  Vorrechte 
zu  verzichten,  welche  ihre  Mitbürger  materiell  belasteten: 
d.  h.  vor  allem  auf  ihre  Privilegien  bei  der  Besteuerung, 
die  sie  in  einer  Reihe  von  eindrucksvollen  Kundgebungen 
preisgaben.  Ferner,  eben  bei  der  Einführung  der  Selbst- 
verwaltung, waren  sie  damit  einverstanden,'  dem  dritten 
Stande  in  den  Kreisen  und  Provinzen  einen  gleichen,  in 
den  ländlichen  und  städtischen  Gemeinden  einen  größeren 
Einfluß  einzuräumen,  als  sie  ihn  selbst  besitzen  wollten. 
Gewiß  eine  weitgehende  Konzession,  wenn  man  an  die 


298  Adalbert  Wahl, 

Vergangenheit  Frankreichs  denkt  oder  an  die  Verhältnisse 
der  damaligen  Lokalverwaltung  Englands  mit  ihrem  Vor- 
wiegen des  Adels  und  Squire-Standes. 


II. 

So  wäre  wohl  jene  Auffassung  von  den  Ursachen 
der  Revolution  in  allen  ihren  wesentlichen  Teilen,  soweit 
es  der  Raum  erlaubt,  widerlegt.  Es  bleibt  jetzt  die 
zweite,  schwierigere  Aufgabe,  etwas  anderes  an  ihre 
Stelle  zu  setzen.  Dabei  wird  man  sich  bewußt  sein 
müssen,  daß  es  gewiß  niemals  möglich  sein  wird,  eine 
Erscheinung  wie  die  französische  Revolution  restlos  zu 
erklären,  und  es  soll  sich  im  folgenden  nur  um  die  Haupt- 
ursachen handeln,  d.  h.  solche  eigenartigen  Erschei- 
nungen, welche  das  vorrevolutionäre  Frankreich  qualitativ 
oder  quantitativ  von  anderen  Zeitaltern  oder  von  anderen 
Völkern  unterscheiden  und  nachweislich  in  erster  Linie 
zu  dem  höchst  eigenartigen  Ereignis  der  französischen 
Revolution  beigetragen  haben.  Von  derartigen  Haupt- 
ursachen möchten  wir  drei  annehmen,  von  denen  die 
erste  die  beiden  anderen  in  einer  Hinsicht  sicher  an  Be- 
deutung überragt,  als  sie  wieder  mit  deren  Ursache  ge- 
wesen ist. 

Diese  in  dem  angedeuteten  Sinne  bedeutendste  Ur- 
sache möchten  wir  sehen  in  dem  Gemütszustand,  den 
Stimmungen  und  den  Ideen  der  Franzosen  jener  Zeiten, 
wie  sie  vor  allem  in  der  Literatur  ihre  Wurzel  haben 
und  in  ihr  auch  vornehmlich  erkennbar  sind.  Es  ist 
auch  von  guten  Kennern  jener  Zeiten  die  umgekehrte 
Auffassung  vertreten  worden,  man  müsse  den  Geistes- 
zustand als  Ursache  der  Revolution  ausschalten.  Diese 
Forscher  meinen,  die  Zustände  hätten  direkt  die  Revolution 
herbeigeführt,  ohne  literarische  Beeinflussung.  Uns  scheint 
eine  oberflächlichere  Geschichtsauffassung  kaum  denkbar. 
Zunächst  können  wir  dagegen  ja  mit  Waffen  vorgehen, 
die  aus  der  Rüstkammer  unseres  ersten,  des  kritischen 
Teiles  stammen.  Wenn  die  Zustände  an  sich  die  Revolution 
herbeigeführt,  warum  nicht  die  so  außerordentlich  viel 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        299 

schlechteren  Zustände  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts 
oder  etwa  noch  zur  Zeit  des  Siebenjährigen  Krieges? 
Viel  wichtiger  ist  aber  gegenüber  dieser  Theorie  ein 
zweites  Argument,  das  allgemeinere  Gültigkeit  hat.  Zu- 
stände wirken  doch  nicht  wie  Maschinen,  welche  lebloses 
Material  befördern,  sondern  doch  nur,  indem  sie  im 
Menschen  gewisse  Meinungen  erzeugen  helfen,  Meinungen, 
welche  aber  noch  von  zahlreichen  anderen  Faktoren  ab- 
hängig sind,  z.  B.  die  Meinung,  daß  sie  unerträglich 
seien.  Wie  verschieden  gleich  schlechte  Zustände  wirken 
können,  ist  ja  leicht  klar  zu  machen.  Der  jenseitig  ge- 
richtete Mensch,  der  in  der  Erde  nur  ein  Jammertal  sieht 
und  sehen  will,  wird  nie  oder  selten  zu  der  Oberzeugung 
gelangen,  daß  seine  materielle  Lage  eine  unerträgliche 
sei.  Umgekehrt  können  z.  B.  Vorgänge  des  Nervenlebens, 
Decadence  oder  wie  man  sagen  will,  massenweise  die 
Vorstellung  erwecken.  Zustände  seien  unerträglich,  von 
denen  der  Historiker  den  Mut  haben  muß  zu  sagen,  sie 
seien  vorzügliche  gewesen.  Diese  Meinungen  über  die 
Zustände  können  aber  in  einem  Kulturvolk  doch  gar 
nicht  anders  zustande  kommen  als  u.  a.  auch  durch 
literarische  Einflüsse.  Und  von  der  damaligen  Zeit,  von 
dem  damaligen  Frankreich  ist  es  ja  bekannt,  welch  be- 
sonders großen  Einfluß  gerade  die  Literatur,  z.  B.  im 
Vergleich  mit  der  Religion  oder  mit  der  Beobachtung 
des  praktischen  Lebens  gehabt  hat. 

Bei  der  Betrachtung  der  Literatur  hat  Taine,  wie 
gesagt,  ihre  Methode  in  den  Vordergrund  gestellt:  den 
klassischen  Geist,  der  fast  identisch  ist  mit  dem  klassi- 
schen Stil.  Von  seinen  Beobachtungen,  die  ihn  zu  dieser 
These  führen,  ist  eine  ganze  Fülle  tief  und  richtig,  vor 
allem  auf  dem  Gebiete  der  schönen  Literatur.  Auf  der. 
anderen  Seite  muß  er,  was  die  für  unsere  Zwecke  viel 
wichtigere  politische  Literatur  angeht,  selbst  schon  recht 
viele  Ausnahmen  anerkennen,  Ausnahmen,  die  indessen 
noch  sehr  stark  vermehrt  werden  müssen,  z.  B.  durch 
den  Namen  eines  der  einflußreichsten  Männer  der  Zeit, 
den  Montesquieus,  so  daß  viel  von  der  großen  These 
Taines  doch  hinfällig  wird.    Es  möchte  das  Entscheidende 


300  Adalbert  Wahl, 

in  der  damaligen  Literatur  doch  nicht  in  ihrer  Methode, 
sondern  —  viel  einfacher  —  in  ihrem  Inhalte  zu  finden  sein, 
auch  wo  dieser  von  der  Methode  unabhängig  ist.  Dabei 
muß  hier  von  den  Einzelheiten  des  Inhalts  —  Freiheit 
und  Gleichheit  1  —  abgesehen  und  sollen  nur  die  Grund- 
richtungen ins  Auge  gefaßt  werden.  Und  zwar  kommen 
da  hauptsächlich  drei  Richtungen  in  Frage.  Von  der 
ersten  nur  wenige  Worte:  es  ist  die  Diesseitigkeit  der 
Literatur.  Es  wird  in  ihr  der  energische  Versuch  ge- 
macht, jenseitige  Erwägungen  aller  Art  konsequent  zu 
vermeiden,  sowohl  was  den  Ursprung  des  staatlichen 
Lebens  angeht,  als  auch  im  Hinblick  auf  seine  Zwecke 
und  seine  Gestaltung  im  einzelnen.  Das  Jenseits  wird 
ferner  als  Faktor  der  Ausgleichung  ausgeschaltet  und 
deswegen  das  irdische  Wohlergehen  in  ganz  anderer 
Weise  in  den  Vordergrund  gestellt,  als  früher. 

Eine  zweite  Richtung  ist  ein  stark  einseitiger  Indi- 
vidualismus, der,  auf  das  Grundproblem  des  Verhältnisses 
von  Staat  und  Mensch  angewendet,  ein  ausschließliches 
Betonen  der  Interessen  des  letzteren,  des  Menschen,  und 
ein  vollständiges  Verkennen  der  Zwecke,  Ziele  und  des 
eigenen  Lebens  des  Staates  bedeutet.  Dieser  Individua- 
lismus hängt  unzweifelhaft  mit  dem  der  Renaissancezeit 
zusammen,  unterscheidet  sich  doch  aber  sehr  stark  von 
ihm :  ist  jener  sehr  aristokratisch,  so  dieser  demokratisch. 
Der  Individualismus  findet  sich  1780  bei  unzähligen 
Menschen  mehr  als  etwa  1500.  Dadurch  ist  er  aber  nicht 
nur  ausgedehnt,  sondern  doch  auch  in  seinem  Wesen 
bedeutend  verändert  worden :  er  wurde,  ohne  es  zu  wissen 
und  zu  wollen  unter  christlichem  Einfluß,  altruistisch,  wo 
jener  im  wesentlichen  heidnisch-egoistisch  war.  Diese  Tat- 
sache wirkt  auf  das  stärkste  bis  auf  den  heutigen  Tag 
weiter.  Eine  andere  Wirkung  jener  Veränderung  aber 
kommt  für  uns  hier  unmittelbar  in  Betracht.  Indem  der 
Individualismus  sich  nunmehr  der  Massen  bemächtigt, 
wird  er  staatsfeindlich,  was  der  der  Renaissance  in  keiner 
Weise  war.  Damals  waren  seine  Vertreter  in  erster  Linie 
Könige,  Fürsten,  Staatsmänner  und  große  Gelehrte,  die 
oft  in  der  Nähe  jener  lebten;  also  Menschen,  die  durch 


über  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        301 

ihre  Geburt,  ihren  Beruf,  ihre  Tätigkeit,  ihre  Denkarbeit 
täglich  auf  den  Staat  hingewiesen  waren  oder  ihn  gar  zu 
verkörpern  glaubten.  Das  wird  nun  anders:  die  Mehrzahl 
dieser  verdünnten  Individualisten  des  18.  Jahrhunderts 
kennt  den  Staat  nur  von  Ferne,  ist  ihm  abgeneigt,  da  er 
ihnen  Geld  abnimmt  und  Schranken  errichtet,  die  es  nicht 
immer  bequem  ist  zu  achten,  und  hat  Sinn  höchstens 
für  die  Tätigkeit  des  Staates  als  Sicherheitswächter,  da- 
mit, wie  etwa  Wieland  sich  mit  unendlicher  Spießbürger- 
lichkeit, freilich  wohl  auch  mit  leiser  Ironie  ausdrückt, 
Jedermann  unter  seinem   Feigen-   oder  Holzbirnbaume 

ein  stilles  geruhiges  Leben  in  aller  Gottseligkeit  und 

Ehrbarkeit  führen  könne"".  So  philisterhaft  drücken  sich 
die  Franzosen  der  Zeit  nicht  aus.  Allein  eine  höhere 
Auffassung  haben  auch  sie  im  allgemeinen  nicht.  Die 
Männer,  die  1789  die  Menschenrechte  formulierten,  stellten 
ganz  schroff  als  Zweck  des  Staates  nichts  weiter  hin  als 
die  Aufrechterhaltung  von  vier  (vier  ganzen  1)  Rechten 
der  einzelnen  Bürger.  Eigene  Zwecke,  z.  B.  den  Schutz 
seiner  Macht  und  seiner  Ehre  oder  die  Ausdehnung  seiner 
Macht,  hat  der  Staat  nicht.  Der  Staat  ist  ihnen  nichts 
als  die  Summe  der  einzelnen.  Weiter,  er  ist  durchaus 
nur  Diener  des  einzelnen,  dessen  Glück  er  fördern  soll. 
Dieses  Glück  wird,  wieder  mit  starker  Einseitigkeit,  im 
Genuß  gesucht,  statt  in  der  Tat,  und  zwar  in  weitgehender 
Weise  doch  im  materiellen  Genuß.  Aus  dieser  Quelle 
strömt  dann  eine  Fülle  von  Einzelauffassungen,  die  uns 
zum  Teil  anmuten,  als  seien  sie  aus  einer  fremden  Welt, 
während  wir  uns  mit  einem  Teile  von  ihnen  noch  heut- 
zutage auseinanderzusetzen  haben.  Bei  der  Pflicht, 
Steuern  zu  zahlen,  fühlte  sich  jeder  damalige  Franzose 
doch  noch  in  ganz  anderer  Weise  vergewaltigt  als  der 
Staatsbürger  zu  anderen  Zeiten.  Im  Kriege,  vor  allem 
dem  Angriffskriege,  war  die  Mehrzahl  doch  nur  geneigt, 
einen  sinnlosen  Greuel  zu  sehen,  da,  wie  gesagt,  für 
staatliche  Macht-  und  Ehrpolitik  in  der  Theorie  gar  kein  Sinn 
vorhanden  war.  Damit  hing  zusammen,  daß  die  richtige 
Schätzung  der  Dinge  der  bewaffneten  Macht  überhaupt 
fehlte.    Nicht  nur  die  Betroffenen,  sondern  auch  gerade 

Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  a.  Folge  6.  Bd.  20 


302  Adalbert  Wahl, 

die  Reformfreunde,  hoch-  und  höchstgestellte  Männer, 
die  es  besser  hätten  wissen  müssen,  ergehen  sich  in  er- 
bärmlichen und  weibischen  Klagen  bei  dem  Gedanken, 
daß  die  Fischer  der  Bretagne  im  Kriege  Dienste  in  der 
Marine  tun  mußten  oder,  was  uns  fast  komisch  anmutet^ 
über  das  bischen  Milizdienst,  ein  paar  Tage  im  Jahre, 
das  einem  kleinen  Bruchteile  der  Bevölkerung  zugemutet 
wurde.  —  Ein  weiteres  Beispiel,  aus  einer  beliebigen 
Fülle  herausgegriffen !  Voltaire  war  gewiß  ein  gemäßigt 
denkender  Mann ;  er  stand  den  Führern  der  Staaten  sehr 
viel  näher  als  die  Mehrzahl  der  damaligen  Autoren, 
auch  hatte  er  relativen  historischen  Sinn;  die  Ge- 
schichte interessierte  ihn  wenigstens.  Und  doch  finden 
wir  auch  bei  ihm  folgenden  Satz:  „nicht  der  Minister, 
sondern  der  Kaufmann,  der  sein  Land  reicher  macht, . . . 
trägt  zum  Glück  der  Menschheit  bei.''  Keine  Ahnung, 
daß  der  Kaufmann  den  Minister  braucht,  um  sein  Land 
reicher  zu  machen,  wie  ihn  der  Minister  braucht,  und 
daß  in  der  Tätigkeit  des  Kaufmanns  die  des  Ministers 
steckt.  Kein  Anflug  von  Verständnis  für  die  Bedeutung 
des  Staates  und  nur  Abneigung  gegen  die  staatliche 
Tätigkeit.  Voltaire  macht  sich  lustig  über  die,  welche  so 
frivol  sind,  darüber  zu  streiten,  ob  Alexander,  Cäsar  oder 
Cromwell  der  größte  Mann  gewesen.  Newton  ist  ihm 
vielmehr  der  größte  Mann.  Derartige  Äußerungen  finden 
sich  unzählige  —  noch  1791  sagt  Napoleon  Bonaparte 
ungefähr  dasselbe,  wie  Voltaire  in  dem  zuletzt  zitierten 
Satze  —  und  sind  Gemeingut  fast  aller  Gebildeten,  denen 
die  Geschlossenheit  dieser  Ansichten  ihren  ausgespro- 
chenen Stil  verleiht.  Der  Russe,  Graf  Speranski,  um  ein 
weiteres  Beispiel  zu  geben,  schreibt  einmal  mit  Recht, 
die  französischen  Würdenträger  vor  der  Revolution  hätten 
sich  ganz  allgemein  über  ihre  Ehren,  Würden,  Stellungen 
und  Titel  lustig  gemacht.  Wenn  sie  selbst  es  taten,  so 
noch  vielmehr  die  Massen  der  Gebildeten.  Nun  kann 
man  gewiß  der  Ansicht  sein,  daß  heutzutage  auch  bei 
uns,  vor  allem  aber  bei  den  romanischen  Völkern,  auf 
die  Etikette,  die  der  Staat  dem  Bürger  aufklebt,  ein  viel 
zu  großes  Gewicht  gelegt  wird,  und  doch  erkennen,  daß 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        303 

in  derartiger  Mißachtung  der  staatlichen  Ehren,  wie  sie 
vor  1789  in  Frankreich  zu  beobachten  ist,  ein  Keim  des 
Verderbens  liegt.  Dem  geschilderten  Geiste  entsprechend, 
herrschte  damals  ein  Gefühl,  als  ob  jeder  Befehl  ein  Un- 
recht, jeder  Gehorsam  eine  ehrenrührige  Zumutung  sei. 
Aus  solchen  Ideen  und  Stimmungen  heraus,  denn  Stim-  . 
mungen  waren  es  zum  Teil  nur,  wie  auf  das  schärfste 
betont  sei,  erwuchs  die  Forderung  der  Freiheit, 
die  eine  große  Forderung  der  Zeit,  die  ebenso  mächtig 
und  allgemein  war,  wie  sie  unklar  gestellt  wurde.  Wohl 
unterscheidet  man  persönliche,  wirtschaftliche,  politische 
Freiheit  (also  Beschränkung  der  Monarchie),  zu  weiterer 
Klarheit  dringt  man  bei  aller  Stärke  des  Gefühls  nicht 
vor.  Nur  das  eine  ist  sicher:  beim  Worte  Freiheit  meint 
jeder  Freiheit  vom  Staate,  nicht  Freiheit  im  Staate  1  Es 
ist  kein  Wunder,  dünkt  uns,  daß  bei  derartiger  Geistes- 
verfassung vom  Staate  schließlich  nichts  stehen  blieb, 
daß  das  Gute  zugleich  mit  dem  Schlechten  an  ihm  zer- 
stört und  daß  er  so  schwach  und  wehrlos  gemacht  wurde, 
daß  er  bald  die  Beute  jedes  ehr-  und  skrupellosen 
Demagogen  wurde.  Ähnliches  gilt  dann  weiterhin  von 
der  zweiten  großen  Forderung  des  demokratischen  Indi- 
vidualismus: der  Gleichheit. 

Dazu  kommt  dann  die  dritte  Hauptrichtung  in 
der  Literatur,  wie  wir  sie  zur  Revolution  führend  wirkr 
sam  sehen:  das  unhistorische  Denken,  über  das  Taine 
so  vieles  Tiefe  gesagt  hat. 

Auch  hier  könnte  man  wieder  eine  ganze  Reihe 
von  Richtungen  oder  vielleicht  besser  von  Seiten  der 
Betrachtung  unterscheiden.  Da  ist  die  eine  eine  völ- 
lige Verkennung  der  Tatsache,  daß  der  Mensch  selbst 
ein  historisches  Produkt  ist.  Man  stellte  sich  die  Lage 
so  vor,  daß  jeder  Mensch  unmittelbar  aus  der  Hand  der 
Natur  komme  oder  daß,  sofern  das  nicht  wörtlich  der 
Fall  sei,  man  ihn  doch  so  behandeln  könne,  da  es  für 
die  Masse  des  Volkes  doch  sicherlich  zutreffe,  daß  also 
im  Grunde  alle  Menschen  gleich  seien.  Keine  Ahnung 
von  der  enormen  Verschiedenheit,  die  die  Rasse,  die 
Geschichte,     die    Beschäftigung    und    andere    Momente 

20» 


304  Adalbert  Wahl, 

unter  den  Menschen  hervorrufen.  Zwar  ist  dieser  Irr- 
tum nicht  so  allgemein,  wie  angenommen  zu  werden 
pflegt.  Vor  allem  einer  der  größten  Denker  der  vor- 
revolutionären Epoche  bedeutet  eine  bewußte  Reaktion 
gegen  diese  Auffassung,  Montesquieu.  Er  betont  in 
seinem  Geist  der  Gesetze  gerade  die  uneinschätzbaren 
Unterschiede  zwischen  den  Menschen  der  verschiedenen 
Zeiten,  Zonen,  Länder.  Allein  an  dieser  seiner  Erkennt- 
nis ging  man  vorüber,  und  man  kann  sagen,  daß  der 
Geist  des  Geistes  der  Gesetze  vollständig  unverstanden 
blieb.  Im  großen  und  ganzen  aber  gehen  die  Autoren 
sowohl  wie  die  Gesetzgeber  von  der  Voraussetzung  aus: 
die  Menschen  sind  gleich  oder  wenigstens,  sie  können 
von  der  Gesetzgebung  als  gleich  ^  behandelt  werden. 
Condorcet  z.  B.,  gewiß  ein  vielseitig  gebildeter  Mann, 
versteigt  sich  im  Leben  Turgots  einmal  zu  folgender  Be- 
trachtung: Turgot  kannte  den  Menschen  an  sich,  den 
einzelnen  Menschen  kannte  er  nicht.  Und  wozu,  fragt 
Condorcet,  hätte  ihm  diese  Kenntnis  auch  genützt? 
Turgot,  dem  Minister  1  Grotesker  können  wohl  die  Be- 
dingungen staatlicher  Tätigkeit  gar  nicht  verkannt  wer- 
den. Daher  denn  die  entscheidende  Erscheinung,  daß 
den  Männern  der  Revolution  der  Gedanke  gar  nicht 
gekommen  ist,  daß  es  untunlich  sei,  diesen  historisch 
gewordenen  französischen  Menschen  mit  einem  Schlage 
den  Staat  auszuliefern;  diesen  Menschen,  die  bisher  in  ihrer 
großen  Mehrzahl  dem  Staate  ferngeblieben  waren,  mit 
ihrem  unverkennbaren  Leichtsinn,  ihrer  fast  krankhaften 
Erregbarkeit,  ihrer  Kritiklosigkeit  und  gallischen  Leicht- 
gläubigkeit. Ebenso  wenig  dachte  der  Mann  der  Revo- 
lution daran,  daß  auch  jeder  Staat  historisch  bedingt 
ist,  daß  hier  Zusammenhänge  bestehen,  die  zu  zerreißen 
Verderben  bringt,  daß  es  große  und  fruchtbare  historische 
Kräfte  gibt,  die,  wie  viele  Pflanzen,  auf  ihrem  heimischen 
Boden  wachsen  und  gedeihen,  die  aber,  herausgerissen 
und  verpflanzt  —  und  wäre  es  in  das  schönste  Treib- 
haus der  Welt  —  verdorren.  Eines  der  besten  Beispiele 
ist  die  gallikanische ,  d.  h.  landeskirchlich-staatliche 
Gesinnung     des     französischen     Klerus.      Die     Konsti- 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        305 

tuante  machte  die  schönsten  kirchenpolitischen  Gesetze, 
welche  —  die  Kirche  Frankreichs  von  Rom  nunmehr 
ganz  loslösend  und  die  Priester  staatlich  besoldend  — 
für  den  rationalistischen  Betrachter  die  Krönung  des 
Gallikanismus  bringen  mußten.  Wie  anders  war  aber 
der  Erfolg  I  Man  erntete  statt  eines  verstärkten  Galli- 
kanismus den  Ultramontanismus  —  eben  weil  man  die 
historischen  Bedingungen  des  Gallikanismus  so  voll- 
ständig verkannt  hatte,  weil  man  nicht  sehen  wollte, 
daß  er  auf  dem  tausendjährigen  Bund  des  Hauses  Capet 
mit  der  Kirche  Frankreichs  beruhte  und  daß  er  wohl 
auch  in  dem  Boden  Frankreichs  und  in  dem  aristokra- 
tischen Charakter  seiner  Kirche  wurzelte.  Derartige 
Erwägungen  blieben  vollständig  aus,  und  man  vertraute 
auch  hier  der  automatisch  und  plötzlich  wirkenden  Kraft 
klug  ausgedachter  Gesetze.  Hiermit  ist  eine  weitere 
Erscheinung  von  Bedeutung  berührt:  die  Oberschätzung 
der  Wirkung  der  Gesetze  gegenüber  den  historisch  wir- 
kenden Kräften.  Condorcet  sagt  einmal,  das  Wort  des 
Römers  quid  vanae  sine  moribus  leges  sei  grundfalsch; 
es  müsse  heißen  quid  vani  sine  legibus  mores.  Jedes 
Wort  des  Abscheus  gegenüber  dieser  Auffassung  ist 
natürlich  überflüssig.  Zunächst  sind  diese  Worte  über- 
haupt unverständlich.^)  Sinn  können  sie  nur  haben, 
wenn  man  annimmt,  daß  Condorcet  gemeint  habe,  die 
mores  beruhten  auf  zu  unsicherer  Grundlage,  seien  also 
vergänglich,  während  die  leges  nicht  nur  die  erwünschten 
mores  sofort  hervorbrächten,  sondern  auch  für  ihre  Dauer 
eine  sichere  Garantie  böten.  Liest  man  derartige  Äuße- 
rungen späterer  Führer  der  Revolution,  so  möchte  man 
manchmal  geneigt  sein,  das  Buch  zuzumachen  und  sich 
zu  sagen,  man  brauche  gar  keine  weiteren  Erklärungen 
des  ganzen  Verlaufes  der  Französischen  Revolution,  und 
vor  allem  auch  nicht  der  Tatsache,  daß  diese  Führer 
selbst  nach  so  wenigen  Jahren  untergegangen  sind. 

')  Verständlicher  werden  sie  durch  den  Vergleich  mit  einer 
Stelle  in  der  Nouvelle  HiloXse  I.  Teil,  Brief  30:  ,y>  hßis  les  maU" 
vaises  maximes  encore  plus  que  les  mauvaises  acllons'  .  un4 
Rousseaus  Anmerkung  zu  diesem  Satze. 


306  Adalbert  Wahl, 

Als  eine  besondere  Richtung  der  unhistorischen 
Denkweise  muß  dann  noch  eine  hier  hervorgehoben 
werden:  die  gänzliche  Mißachtung  des  positiven  Rechts. 
Nun  ist  es  ja  selbstverständlich,  daß  die  meisten  Ände- 
rungen im  Staatsleben  nur  unter  Abschaffung,  Modifi- 
zierung, Einschränkung  von  positivem  Recht  vor  sich 
gehen  können.  Allein  dabei  sind  doch  sehr  bedeutende 
Gradunterschiede  möglich!  Im  allgemeinen  wird  der 
politisch  denkende  Mensch,  wie  es  z.  B.  das  englische 
Volk  außer  in  der  ersten  Revolution  noch  fast  immer 
getan  hat,  doch  dem  positiven  Recht  gegenüber  sehr 
vorsichtig  sein.  Er  wird  ungern  und  zögernd  ohne  Zu- 
stimmung des  Betroffenen  positives  Recht  ändern  und 
sich  bewußt  bleiben,  daß  er,  sobald  er  es  tut,  mit  dem 
Feuer  spielt.  Mit  welcher  Frivolität  aber  wurde  in  der 
Zeit,  die  wir  betrachten,  mit  dem  positiven  Recht  um- 
gesprungen I  Während  man  den  Rechtsgedanken  an 
sich  so  stark  in  den  Vordergrund  stellte,  daß  man  es  als 
alleinigen  Zweck  des  Staates  hinstellen  konnte,  die  vier 
Naturrechte  des  Menschen  zu  schützen  (vgl.  oben),  galt 
das  positive  Recht  nichts.  Sehr  schön  läßt  sich  das  an 
der  Behandlung  des  Eigentumsrechts,  des  allerheiligsten 
der  Bourgeoisie,  zeigen.  Während  man  das  Eigentumsrecht 
des  Menschen  schon  vor  der  Revolution  als  wichtigstes 
Menschen  recht  bezeichnete,  sofern  und  weil  es  vorstaat- 
lich war,  leugnete  man  das  Eigentumsrecht  der  Korpo- 
rationen seit  dem  Enzyklopädie-Artikel  Turgots  über 
„Stiffungen"  mehr  oder  weniger  konsequent.  Weder  die 
Kirche  noch  die  Gemeinden  Frankreichs  sind  Eigentümer 
ihrer  Ländereien,  da  sie  sie  nicht  von  der  Natur  haben; 
Man  erkennt  bei  diesen  widerwärtigen  Sophistereien 
leicht,  daß  sie  nur  möglich  sind  bei  gänzlicher  Miß- 
achtung des  positiven  Rechtes. 

Wie  weit  die  Verachtung  des  Historischen  selbst 
bei  den  besonnensten  Männern  der  Zeit  geht,  möge  zum 
Schlüsse  noch  ein  Wort  Turgots  illustrieren  oder  genauer 
genommen  ein  von  ihm  inspiriertes  Wort  eines  seiner 
Mitarbeiter.  Turgot,  erst  Parlamentsmitglied,  dann  In- 
tendant,   dann    Minister,   war   also   ein    im    Staatsdienst 


über  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        307 

herangereifter,  auch  sonst  gemäßigter  und  vielseitig  ge- 
bildeter Mann.  Und  doch  haben  wir  von  ihm  folgende 
Sätze:  ;,man  hat  in  wichtigen  Dingen  viel  zu  sehr  die 
Methode  befolgt,  das,  was  man  einführen  will,  danach 
zu  beurteilen,  was  unsere  Väter  in  Zeiten  eingeführt 
haben,  die  wir  selbst  als  solche  der  Unwissenheit  und 
Barbarei  bezeichnen  ...  In  Wirklichkeit  braucht  man 
indessen  nur  die  Rechte  und  Interessen  der  Menschen 
zu  kennen.  Diese  Wissenschaft  führt  zu  sehr  großer 
Sicherheit  und  ist  leicht  zu  erlernen.''  Derselbe  Mann 
tadelt  in  der  Einleitung  seiner  Gesetze,  also  in  aller 
Öffentlichkeit,  ausdrücklich  und  hart  zahlreiche  frühere 
Maßnahmen  der  Regierung.  Wir  sehen,  er  blickt  mit 
unendlicher  Verachtung  herab  auf  jene  Zeiten  der  Un- 
wissenheit und  Barbarei  seiner  Väter.  Mit  einem  bis- 
chen Studium  einer  leicht  zu  erlernenden  Wissenschaft 
kommt  man  viel  weiter,  als  die  größten  Geister  und  ge- 
waltigsten Staatsmänner  jener  barbarischen  Zeitalter  mit 
der  ganzen  ererbten  Summe  ihrer  Weisheit.  Mit  anderen 
Worten:  diese  Generation  war  ihrer  Sache  außerordent- 
lich sicher;  sie  zweifelte  nicht  an  ihrer  eigenen,  unbe- 
grenzten Befähigung;  sie  besaß  einen  unermeßlichen 
geistigen  Hochmut;  sie  litt  an  Größenwahn.  Gewiß  hat 
sie,  gerade  von  dieser  Seite  betrachtet,  viel  Bewunderns- 
wertes und  Imposantes.  Eben  das  Sichere,  Einheitliche, 
Stilvolle,  Ungebrochene  dieses  Geschlechts  muß  jedem 
auffallen,  der  ihm  näher  tritt.  Aber  diese  Sicherheit, 
von  der  ich  eben  sprach,  war  eben  doch  nur  die  des 
Unerprobten,  die  Sicherheit  des  Ignoranten,  wenn  man 
will.  Und  doch  glaubte  man  Anlaß  genug  zu  diesem 
Selbstvertrauen  zu  haben.  Zwar  war  auf  dem  Gebiet 
der  schönen  Literatur  in  den  letzten  Jahrzehnten  vor 
der  Revolution  ein  starker  Verfall  eingetreten.  Wie 
anders  aber  in  den  technischen  und  Naturwissenschaften  I 
In  den  letzten  Jahren  vor  der  Revolution  stieg  von  Paris 
der  erste  Luftballon  empor  und  wurde  der  erste  Tele- 
graph hergestellt.  Der  Mensch,  der  Franzose,  hatte  also 
gelernt,  in  die  Lüfte  zu  fliegen  und  zum  Zwecke  der 
Mitteilung    des    Gedankens    Raum    und   Zeit    zu    über- 


306  Adalbert  Wahl, 

winden  —  und  derselbe  sollte  nicht  die  leichte  Wissen- 
schaft vom  Staate  sich  aneignen  und  mit  Vollendung 
anwenden  können? 

Tocqueville  —  auch  daran  sei  jetzt  erinnert  —  hat 
mit  Recht  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die  Bildung 
aller  Stände  im  damaligen  Frankreich  eine  gleichartige 
gewesen,  wobei  man  nur  den  Bauernstand  wird  aus- 
nehmen müssen.  Sonst  aber  lebten  der  Bürger,  der 
arme  Landedelmann,  der  Grandseigneur  und  der  Bischof 
in  den  gleichen  Ideenkreisen.  Wie  anders  etwa  bei  uns 
heutzutage!  Welche  Wucht  verlieh  dieser  Umstand  den 
Forderungen  und  Zielen  der  Nation,  sobald  sie  sich, 
wie  es  ja  1787  und  1788  geschah,  einmütig  gegen  die 
Regierung  wandte. 

Und  schließlich  sei  noch  eine  letzte  Bemerkung  über 
die  Geistesverfassung  erlaubt  und  an  eine  Erscheinung 
erinnert,  auf  die  der  stärkste  Nachdruck  zu  legen  ist. 
Die  wunderbaren  Leistungen  und  die  furchtbaren  Ver- 
fehlungen der  ersten  Jahre  der  Revolution  wurden  her- 
beigeführt in  einem  Zustande  wildester  Erregung.  Wer 
dieses  Moment  ausscheidet,  wird  sie  nie  verstehen.  Spuren 
jener  Erregbarkeit  der  öffentlichen  Meinung  —  eine  Er- 
scheinung für  sich,  die  man  sich  selten  oder  nie  unter- 
fangen wird,  restlos  erklären  zu  wollen,  vielfach  das 
Primäre,  das  sich  dann  an  irgend  ein  Ereignis  heftet  — 
finden  sich  in  den  80  er  Jahren  und  früher  mehrfach. 
Dahin  gehören  z.  B.  die  zahlreichen  Selbstmorde  an  der 
Stätte  verübt,  wo  Rousseau  mit  Frau  von  Warens  ge- 
wandelt, mit  der  ihn  ein  eigentlich  abstoßendes  Liebes- 
verhältnis verband.  Dahin  die  beispiellosen  Erfolge 
Mesmers  und  Cagliostros,  die  in  allen  Kreisen  der  Be- 
völkerung eine  Art  von  Massenhysterie  hervorriefen.  Po- 
litisch wurde  diese  Erregung,  fast  plötzlich,  im  Jahre  1787 
und  nicht  vor  diesem  Jahre,  als  die  Regierung  eine 
Notabeinversammlung  berufen  hatte  und  in  dieser  einen 
unerwarteten  Widerstand  fand.  Von  da  an  steigerte  sich 
die  Erregung  stetig  bis  tief  in  die  Zeiten  der  Revolution 
hinein.  Aber  schon  vor  dem  Zusammentritt  der  General- 
stände hatte  sie  eine  kaum  glaubliche  Siedehitze  erreicht. 


über  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.         309 

Genährt  wurde  sie  durch  das  Beispiel  der  revolutionären 
Bewegungen  in  österreichischen  Landen,  die  sich  gegen 
Kaiser  Josephs  zentralistische  Reformen  erhoben,  durch 
die  Gefahr  eines  Krieges  mit  England,  der  dann  durch 
eine  schimpfliche  diplomatische  Transaktion  verhindert 
wurde,  durch  aufregende  Reformen  der  Regierung.  Nur 
wenige  Belege  können  hier  für  diese  sich  vielfach  bis 
zur  Verrücktheit  steigernde  Aufregung  gegeben  werden. 
Den  stärksten  Ausdruck  fand  sie  in  den  vielen  tausenden 
von  Broschüren  der  Zeit.  Aber  diese  hysterischen  Äuße- 
rungen meist  obskurer  und  anonymer  Skribenten,  mögen 
hier  zugunsten  von  anderen  Beispielen  beiseite  gelassen 
werden.  Als  die  Regierung  im  Jahre  1787  die  Heran- 
ziehung des  Klerus  und  Adels  zur  Territorialsteuer  be- 
schlossen hatte,  widersetzten  sich  die  zwei  betreffenden 
Stände  zwar  nicht,  wohl  aber  das  Parlament  von  Paris, 
der  oberste  Gerichtshof  des  Landes.  Dabei  gelang  es 
ihm  mühelos,  die  Bevölkerung  von  Paris  und  zwar  so- 
wohl Bürger,  studierte  und  unstudierte,  wie  die  anderen 
Schichten  des  Volkes,  zu  wüsten  Straßäntumulten  gegen 
die  Regierung  hinzureißen,  also  gegen  die  Besteuerung 
der  Privilegierten,  gegen  die  Wohltat,  die  dem  dritten 
Stande  erwiesen  werden  sollte.  Der  Vorgang  gibt  nach 
mancherlei  Richtung  zu  denken,  ist  aber  ganz  unerklär- 
lich, wenn  man  nicht  schon  damals  eine  blinde  Erregung 
annimmt,  welche  jede  gesunde  Überlegung  unmöglich 
machte.  —  In  demselben  Jahre  verstieg  sich  ein  Parla- 
ment, also  eine  Vereinigung  von  hohen  Richtern,  von 
Männern,  die  ihr  Leben  damit  zubrachten.  Aussagen  zu 
prüfen  und  Urteile  zu  fällen,  zu  folgender,  dem  Wahn- 
witz naher  Behauptung:  „Wenn  man  alle  Vergeudungen, 
von  denen  unsere  Annalen  berichten,  aus  den  vierzehn 
Jahrhunderten  der  Monarchie  zusammentäte,  so  würde 
man  Mühe  haben,  eine  solche  Summe  zusammenzubringen, 
wie  wir  sie  in  weniger  als  vier  Jahren  (d.  h.  unter  Ca- 
lonne)  haben  verschwinden  sehen."  —  Und  noch  ein 
drittes  Beispiel  I  Als  im  Mai  1788  im  Parlament  von  Paris 
zwei  Räte  verhaftet  werden  sollten,  die  sich  einem  be- 
deutenden und  heilsamen  Reformprojekte  der  Regierung 


310  Adalbert  Wahl, 

in  maßlos  unverschämter  Weise  widersetzt  hatten,  ent- 
stand in  dieser  würdigen  und  meist  so  würdevollen  Ge- 
sellschaft, in  der  sich  damals  auch  die  Herzöge  und 
Pairs  Frankreichs  befanden,  eine  höchst  erstaunliche  Be- 
wegung. Von  allen  Bänken  erscholl  Schluchzen  und 
allenthalben  flössen  Tränen.  Der  Marschall  von  Noailles 
schluchzte  laut.  Man  muß  diese  erstaunliche  Szene  fest- 
halten. Wenn ,  so  muß  man  sagen ,  hier  alte  Geheim- 
räte, gepuderte  Höflinge,  im  Dienste  ergraute  Soldaten, 
Leute  also,  die  erzogen  waren,  sich  im  Zaume  zu  halten 
und  ihre  Gefühle  zu  unterdrücken,  sich  bei  geringfügigem 
Anlaß  benahmen  wie  bartlose  Knaben,  wie  tief  muß  da 
die  Erregung  gewesen  sein,  die  das  französische  Volk 
erschütterte  —  eine  Erregung,  die  ja  dann  im  nächsten 
Jahre  noch  mächtig  anschwoll. 

Also :  eine  für  den  Staat  höchst  gefährliche  Gedanken- 
richtung erstens,  zweitens  Einmütigkeit  aller  Franzosen 
in  dieser  Gedankenrichtung,  drittens  eine  unermeßliche, 
wilde  Erregung.  So  die  Gemütsverfassung  der  Zeit. 
Die  Frage  war  —  und  damit  kommen  wir  zu  dem 
zweiten,  kürzeren  Abschnitt  unseres  positiven  Teiles  — 
wie  war  der  Staat  gerüstet,  dieser  Gefahr  zu  begegnen? 
Ich  schicke  die  Antwort  gleich  voraus,  daß  seine  Rüstung 
eine  überaus  schwache  war.  Es  ist  noch  immer  eine 
verbreitete  Ansicht,  daß  der  Absolutismus  in  Frankreich 
unter  Ludwig  XV.  und  Ludwig  XVI.  eine  starke  Re- 
gierungsform gewesen  sei.  Diese  Auffassung  ist  indessen 
eine  im  höchsten  Grade  irrige.  Zunächst  ist  es  unbe- 
streitbar, daß  die  Könige  von  Frankreich,  sogar  Lud- 
wig XIV.,  sich  selbst  in  der  Theorie  nicht  eine  wirklich 
absolute  Regierungsgewalt  zuschrieben,  vor  allem  nicht 
eine  unbeschränkte  Gesetzgebungsgewalt.  Doch  diesen 
Gesichtspunkt  übergehe  ich  hier,  zugunsten  eines  wich- 
tigeren: Es  ist  schwer,  sich  einen  Begriff  davon  zu  ma- 
chen, wie  schwach  in  der  Praxis  diese  Monarchie  unter 
Ludwig  XV.  und  Ludwig  XVI.  geworden  war.  Als  letzten 
Grund  für  diese  Erscheinung  möchten  wir  eine  Änderung 
der  Charaktere  und  der  Stimmung  der  Regierenden  an- 
nehmen. Ein  geistvoller  Minister  in  der  Zeit  Ludwigs  XIV. 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.        311 

bemerkt  von  dem  Nachfolger  Colberts,  daß  er  im  Ge- 
gensatz zu  ihm  n'avait  pas  le  coeur  assez  dur.  Unter 
den  Nachfolgern  Ludwigs  XIV.  nahm  diese  Weichheit 
der  Herzen  noch  sehr  bedeutend  zu.  Vor  allem  bei  den 
Königen  selbst.  Da  finden  wir  keine  Spur  mehr  von  der 
heiligen  Oberzeugung,  die  Ludwig  XIV.  noch  erfüllte, 
daß  der  königliche  Beruf  notwendig  sei.  Mehr  apologe- 
tisch wird  er  ausgeübt,  als  ob  das  Regieren  an  sich  Un- 
recht, Tyrannei,  sei :  genau  wie  es  ja  (vgl.  oben)  von  der 
Stimmung  der  Regierten  empfunden  wurden.  Unter  Tur- 
gots  Verwaltung  wurde  ein  Spottvers  verbreitet  über 
notre  mattre,  qui  se  croyant  un  abus  ne  voudra  plus 
Vitre  —  ein  Verschen,  das  die  Stimmung  dieses  Ministers 
zwar  schlecht,  gut  aber  die  der  zwei  letzten  Monarchen 
ausdrückt.  Es  ist  interessant  zu  sehen,  daß  Goethe,  mit 
seinem  Blick  für  das  Reale,  diese  Stimmung  wohl  erkannt 
hat.  In  einer  kulturhistorisch-politischen  Skizze  für  die 
Fortsetzung  von  Wahrheit  und  Dichtung,  die  kürzlich  zu 
Tage  getreten  ist,  wollte  er,  vielleicht  jenen  Vers  über- 
setzend, ausführen  u.  a.  „daß  der  König  von  Frankreich 
sich  schließlich  selbst  für  einen  Mißbrauch  hält''.  Dieselbe 
Stimmung  findet  sich  bei  zahlreichen  hohen  und  höchsten 
Dienern  der  Krone,  die  ihr  Amt  ausüben,  als  ob  sie  da- 
mit ein  Unrecht  begingen.  Entsprechend  dieser  Stim- 
mung dann  die  Handlungen.  Ludwig  XVI.  war  ziemlich 
gleichgültig,  wenn  ihm  nicht  gehorcht  wurde.  Als  am 
23.  Juni  1789  der  dritte  Stand  dem  ausdrücklichen  Be- 
fehle des  Königs,  auseinanderzugehen,  nicht  nachkam, 
sagte  er  -  in  dieser  entscheidenden  Stunde  -  „dann  mögen 
sie  eben  zusammenbleiben!''  So  war  er  vorher  gewesen, 
so  blieb  er  bis  zum  Ende  seiner  Herrschaft.  Nie  hat  er 
es  mit  Leidenschaft  empfunden,  wenn  er  ohne  Achtung 
behandelt,  ja  wenn  er  mißhandelt  wurde.  Und  genau  so 
die  obersten  Organe  seiner  Regierung.  Im  Jahre  1788 
zeichnete  sich  das  Parlament  der  Bretagne  durch  beson- 
dere Aufsässigkeit  aus.  Schließlich  wurden  die  zwei 
obersten  Beamten  der  Provinz,  der  Gouverneur  und  der 
Intendant,  beauftragt,  die  heilsamen  Reformgesetze,  um 
die  man  stritt,  gegen  den  Willen  des  Parlaments  ein- 


312  Adalbert  Wahl, 

zuregistrieren.  Die  beiden  Beamten  wurden  zunächst 
nicht  eingelassen.  Dreiviertel  Stunden  mußten  sie  vor 
der  Tür  warten.  Nachdem  sie  dann  mit  Hilfe  von  Sol- 
daten eingedrungen  waren,  fragten  sie,  wo  sie  sich  setzen 
könnten.  Keine  Antwort.  Dagegen  wurde  ihnen  ein 
Beschluss  des  Parlaments  vorgelesen,  der  ihnen  befahl, 
den  Saal  sofort  wieder  zu  verlassen!  In  jeder  anderen 
Zeit  und  jedem  anderen  Lande  hätten  gewiß  große 
Würdenträger,  im  Besitze  der  Macht  befindlich  und  über- 
dies in  durchaus  rechtmäßiger  Ausübung  ihres  Berufs 
begriffen,  endlich  die  Geduld  verloren.  Ganz  anders  hier; 
indem  sie  nun  zu  ihrer  eigentlichen  Aufgabe,  der  Ein- 
registrierung  der  Gesetze  schritten,  begannen  sie  diese 
damit,  daß  sie  apologetische  Erklärungen  verlasen!  Der 
Gouverneur  drückte  sein  Bedauern,  der  Intendant  sein 
lebhaftes  Bedauern  darüber  aus,  daß  mehrfache  königliche 
Befehle  sie  gezwungen  hätten,  diese  Aufgabe  auszuführen. 
Zum  Dank  für  solche  Schlaffheit  wurden  sie  nach  der 
Sitzung  von  dem  draußen  harrenden  Volk  der  Bretagne 
verwundet  und  beinahe  umgebracht.  So  sah  der  Des- 
potismus im  alten  Frankreich  ausi  Ein  ähnliches  Bei- 
spiel aus  dem  Süden  des  Reiches,  aus  BdarnI  Aus 
demselben  Anlaß  war  auch  hier  Mai/Juni  1788  eine  Em- 
pörung ausgebrochen.  Das  Parlament  brachte  hier  einen 
offenen  Aufruhr  zustande:  der  Landadel,  die  Bauern  und 
die  Stadtverwaltung  der  Hauptstadt  Pau  —  also  ein 
höchst  charakteristisches  Bündnis  —  taten  sich  zusam- 
men, bemächtigten  sich  der  Stadt  und  der  in  ihr  be- 
findlichen Artillerie  und  verübten,  der  Monarchie  trotzend, 
weitere  Gewalttaten.  In  dieser  Lage  beschloß  die  Re- 
gierung versöhnlich  vorzugehen!  Sie  schickte  zur  Her- 
stellung der  Ruhe  einen  B^arner,  den  Herzog  von  Guiches, 
in  sein  Heimatland.  Dieser  fiel,  in  Bdarn  angelangt,  voll- 
ständig um,  wie  man  zu  sagen  pflegt.  Er  sollte  von 
der  Provinz  weiter  nichts  verlangen,  als  eine  formelle 
Genugtuung,  aber  selbst  diese  forderte  er  nicht,  sondern 
er  versicherte  fortwährend,  er  fühle  sich  als  B^arner 
und  werde  keine  strenge  königliche  Order  gegen  seine 
Heimat    ausführen,    so     daß    die    ganze    Aktion    auch 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.         313 

äußerlich  mit  einem  vollkommenen  Siege  der  Revolution 
endigte. 

Dieselbe  Weichheit  der  Charaktere  der  Regierenden 
verursachte  es,  daß,  im  Gegensatz  zu  den  Zeiten  Lud- 
wigs XIV.,  die  Parlamente,  die  obersten  Gerichtshöfe  des 
Landes,  statt  die  feste  Stütze  der  Monarchie  zu  sein,  seit 
der  Mitte  des  Jahrhunderts  etwa  systematisch  und  fana- 
tisch am  Werke  waren,  ihre  Macht  zu  untergraben.  Das 
versuchten  sie  in  mehrerlei  Richtungen  1  Die  eine  war  die 
Mitwirkung  an  der  Gesetzgebung,  durch  die  sie  es  in  der 
Tat  durchsetzten,  daß  seit  1750  die  wichtigsten  und  oft 
auch  heilsamsten  Gesetze  wieder  rückgängig  gemacht 
wurden:  so  solche  auf  kirchenpolitischem  Gebiete,  so 
mehrfach  Gesetze,  welche  die  Freiheit  des  Getreide- 
handels einführten,  so  die  bedeutenden  wirtschaftlichen 
Reformen  Turgots.  Am  heftigsten  wurden  sie,  wenn 
neue  Steuern  durchgehen  sollten,  wodurch  die  Monarchie 
gestärkt  worden  wäre,  und  sie  in  erster  Linie  haben  es 
durchgesetzt,  daß  die  Finanznot  zum  Anlaß  der  Revo- 
lution werden  konnte.  In  einer  zweiten  Richtung  wirkten 
sie  schwächend  auf  die  Regierung  ein,  indem  sie,  wenig- 
stens unter  Ludwig  XVI.,  einen  sehr  bedeutenden  Ein- 
fluß auf  die  Auswahl  der  Ratgeber  des  Königs  ausübten, 
zwar  nicht  im  positiven  Sinne,  wohl  aber  im  negativen 
durch  Beseitigung  von  ihnen  mißliebigen  Ministern.  Es 
kann  n.  u.  A.  kein  Zweifel  sein,  daß  Turgot,  daß  Necker  in 
seinem  ersten  Ministerium,  daß  Brienne  der  Feindschaft 
der  Parlamente  in  letzter  Linie  zum  Opfer  gefallen  sind. 
Schließlich  eine  dritte  Richtung:  sie  übten  in  zahllosen, 
öffentlichen  Kundgebungen  eine  Kritik  an  der  Regierung, 
die  deren  Ansehen  auf  das  Tiefste  erschüttern  mußte ;  in 
diesen,  oft  in  Hunderttausenden  von  Exemplaren  ver- 
breiteten Beschwerden  der  Parlamente,  drängen  sich  förm- 
lich die  Vorwürfe  der  Tyrannei,  des  Despotismus,  des  Treu- 
bruchs, des  Rechtsbruchs  und  der  Verfassungsverletzung 
gegen  die  Regierung.  Wie  oft  wird  man  dabei  an  ein 
erst  jüngst  bekannt  gewordenes  Wort  B.  Constants,  eines 
gewiß  unverdächtigen  Zeugen,  erinnert,  der  in  höherem 
Alter   mit  Bezug    auf   einen   Vorgang   des  Jahres   1787 


314  Adalbert  Wahl, 

schreibt:  „Wenn  man  heutzutage  nur  ein  Viertel  einer  der- 
artigen Rede  gegen  die  Regierung  hielte,  wäre  man  nicht 
eine  Stunde  in  Sicherheit.""  Hieran  läßt  sich  bequem 
eine  weitere  Betrachtung  knüpfen.  Es  pflegt  behauptet 
zu  werden,  daß  es  der  Regierung  des  alten  Frankreich 
im  Gegensatz  zu  konstitutionell  regierten  Staaten  an 
Kritik  gefehlt  habel  Davon  kann  gar  keine  Rede  sein! 
Abgesehen  von  der  Presse,  genoß  sie  vielmehr  eine  immer 
wache,  herbe,  sachkundige,  organisierte,  öffentliche  Kritik 
von  selten  ihrer  höchsten  Beamtenschaft.  Es  ist  also 
die  charakteristische  Eigenschaft  dieser  Regierung  die 
Schwäche.  Nun  aber  nicht  nur  an  ihrer  höchsten  Spitze, 
sondern  auf  allen  Stufen.  Am  erschreckendsten  vielleicht 
zeigt  sich  diese  Erscheinung  auf  dem  wichtigsten  Gebiete 
staatlicher  Tätigkeit:  auf  dem  der  Armee.  Es  ist  schwer, 
sich  einen  Begriff  von  der  inneren  Zerrüttung  der  fran- 
zösischen Armee  von  1789  zu  machen,  von  der  Fülle 
von  mißverstandenen  humanen  Gedanken,  von  der  Un- 
sicherheit und  Weichheit  den  Untergebenen  gegenüber, 
von  der  staatsfeindlichen  und  antimonarchischen  Stim- 
mung im  Offizierskorps  —  Erscheinungen,  die  in  den  vor- 
nehmsten Truppenteilen  noch  stärker  gewesen  zu  sein 
scheinen,  als  bei  den  Linienregimentern.  Daß  Komman- 
deure von  Gardekavallerieregimentern  sich  in  der  Konsti- 
tuante durch  besonderen  Eifer  gegen  die  Monarchie  aus- 
zeichneten, ist  bekannt.  Wie  weit  die  Disziplin  und  rich- 
tiges Gefühl  im  Militär  geschwunden  waren,  mögen  folgende 
wenige  Beispiele  zeigen:  Im  Jahre  1788  wurden  in  Frank- 
reich Manöver  nach  preußischem  Vorbild  eingeführt,  dazu 
neue  Exerzierreglements;  allein  es  gelang  nicht,  damit 
durchzudringen.  Ganze  Kompagnien  weigerten  sich,  die 
neuen  Griffe  einzuüben.  Aus  einem  Manöver  heraus  deser- 
tierten 37  Grenadiere  des  Regiments  Cond^  mit  allen 
Waffen  von  S.  Omer  nach  der  niederländischen  Grenze 
zu.  Der  Oberst  holte  sie  ein  und  brachte  sie  zurück. 
Darauf  hielt  ihnen  —  es  ist  überaus  charakteristisch  —  der 
Prinz  von  Cond^  eine  so  rührende  Ansprache,  daß  sie 
in  Tränen  ausbrachen.  Das  genügte!  Sie  gingen  völlig 
straffrei  aus.  —  In  dem  Kampfe  der  Regierung  gegen  die 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.         315 

Parlamente,  den  wir  schon  öfters  zu  erwähnen  Gelegen- 
heit hatten,  ergriff  die  Armee  fast  ausnahmslos  gegen  die 
Monarchie  Partei.  Bei  dem  Gedanken,  gegen  das  Par- 
lament einschreiten  zu  müssen,  versagte  sie.  Der  Herzog 
von  Sully  erklärte  öffentlich,  er  sei  zwar  bereit,  all  sein 
eigenes  Blut  für  den  König  zu  vergießen,  niemals  aber 
das  seiner  Mitbürger.  Ein  Offizier  wurde  von  seinen 
Kameraden  ausgestoßen,  weil  er  auf  Befehl  gegen  ein 
rebellisches  Mitglied  des  Parlaments  von  Toulouse  ein- 
geschritten war.  Als  bei  jener  obenerwähnten  Szene, 
bei  der  in  Rennes  der  Gouverneur  und  der  Intendant  der 
Bretagne  vom  Pöbel  beinahe  ermordet  worden  wären, 
schließlich  die  Wache  gerufen  worden  war,  überließ  der 
Führer  der  Wache,  ein  Leutnant,  die  zwei  wehrlosen 
Männer  ihrem  Schicksal,  indem  er  mit  theatralischer  Geste 
seine  Waffen  wegwarf  und  dem  Mob  zurief:  „Ich  bin 
Bürger  wie  ihr.** 

Ich  glaube,  selbst  die  wenigen  obigen  Bemerkungen 
werden  genügt  haben,  um  zu  zeigen,  daß  wir  es  hier 
mit  einer  überaus  gutmütigen,  weichen  und  schwachen 
Regierung  zu  tun  haben.  Absolutismus  kaum  noch  der 
Form  nach.  Von  einer  despotischen  Regierungs weise 
entfernt  keine  Rede!  Ich  möchte  diesen  Abschnitt  be- 
schließen mit  einem  Zitat  aus  Condorcet,  das  auf  das 
stärkste  gebilligt  zu  werden  verdient,  ja  das  jeder  Hi- 
storiker des  alten  Frankreich  sich  recht  tief  einprägen 
sollte;  er  schreibt:  „Man  litt  unter  den  Nachteilen  der 
Anarchie,  glaubte  aber,  die  des  Despotismus  zu  emp- 
finden." 

Und  nun  noch  wenige  Worte  über  eine  dritte  Haupt- 
ursache der  Revolution:  die  Handlungen  der  leitenden 
Persönlichkeiten.  Und  zwar  deswegen  nur  wenige  Worte, 
weil  sie  erschöpfend  doch  nicht  behandelt  werden  kann, 
ohne  eine  hier  untunliche,  ausführliche  Erzählung,  nicht 
aber  deshalb,  weil  wir  sie  von  geringer  Bedeutung  er- 
achteten. Im  Gegenteil :  nach  zahlreichen  Beobachtungen 
aus  anderen  Zeiten  dürfte  man  der  Ansicht  zuneigen,  daß, 
trotzdem  die  Lage  nach  dem,  was  oben  ausgeführt  wurde, 
schon  seit   im  November   1787    die  Generalstände  ver- 


316  Adalbert  Wahl, 

sprochen  waren,  als  überaus  ernst  erscheinen  mußte^ 
doch  ein  Mann  von  Geist  und  Erfahrung,  von  leiden- 
schaftlichem Wollen   und  genügender  Rücksichtslosigkeit 

—  angenommen,  er  wäre  damals  im  Gegensatz  zu 
seinen  Zeitgenossen  erstanden  —  den  Staat  zu  retten 
imstande  gewesen  wäre. 

Die  Handlungen  der  entscheidenden  Menschen  hängen 
auf  das  engste  zusammen  mit  den  oben  kurz  geschil- 
derten zwei  Ursachen:  der  Geistesverfassung  einerseits, 
der  Schwäche  des  Staates  andererseits.  Nicht  unbegabt 
und  auch  nicht  ohne  Verständnis  für  manche  Seiten  seiner 
Aufgabe,  ließ  der  König  sich  doch  von  der  öffentlichen 
Meinung  und  von  seinen  Ministern  zu  immer  weiter- 
gehenden Konzessionen  hinreißen  —  mehrfach  gegen 
seine  bessere  Überzeugung.  Ganz  Ahnliches  gilt  von  der 
Königin  Marie  Antoinette.  Es  ist  nicht  richtig,  daß  sie 
damals,  im  Gegensatz  zum  König,  eine  Politik  der  Stärke 
und  des  Widerstandes  gegen  die  öffentliche  Meinung  ge- 
trieben habe.  Im  Gegenteil!  Gerade  sie  ist  bei  ihren 
entscheidenden  Eingriffen   in   die  Geschicke  des  Landes 

—  es  sind  ihre  einzigen  wichtigen  Eingriffe  vor  der  Re- 
volution —  auf  Seiten  der  öffentlichen  Meinung.  Es  han- 
delt sich  dabei  um  Personenfragen,  freilich  solche  aller- 
größter Bedeutung.  Marie  Antoinette  ist  es  in  erster 
Linie  gewesen,  welche  im  Mai  1787  dem  Erzbischof  von 
Toulouse,  Lomdnie  de  Brienne,  dem  Freunde  Turgots, 
dem  Freigeist,  dem  bisherigen  Führer  der  Opposition, 
die  Leitung  des  Staates  verschaffte,  wie  es  die  öffentliche 
Meinung  stürmisch  forderte.  Es  hielt  bei  dem  frommen 
Ludwig  XVI.,  der  meinte,  jener  glaube  nicht  einmal  an 
Gott,  schwer.  Noch  weit  folgenreicher  war  die  Be- 
förderung eines  zweiten  Kandidaten  der  vox  populi  an 
die  leitende  Stelle:  Neckers,  der  damit,  August  1788,  sein 
zweites  Ministerium  antrat.  Viel  wichtiger  als  die  Hand- 
lungsweise und  die  Handlungen  des  Königspaares  sind 
nun  die  dieser  zwei  leitenden  Minister,  von  denen  der 
erstere,  Brienne,  vom  Mal  1787  an  über  ein  Jahr  lang, 
der  zweite,  Necker,  vom  August  1788  an  bis  zum  Zu- 
samm'^ntritt  der  Stände,  Mai  1789,   nahezu  unbeschränkt 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.         317 

gebot.  Mit  ein  paar  Beispielen  für  die  Fehler  dieser  zwei 
Männer  möchte  ich  schließen.  Brienne  war  ohne  Zweifel 
ein  sehr  kluger  Mann,  der  eine  Reihe  der  heilsamsten 
und  tiefgreifendsten  Reformen  durchgeführt  hat.  Aber 
das  eigentliche  Regieren  verstand  er  nicht.  Er  verstand 
es  nicht,  zu  zeigen,  welch  unerhörten  Fortschritt  seine 
Reformen  bedeuteten.  So  fand  er  bald  das  ganze  Volk 
aller  Schichten  gegen  sich.  Bei  der  wilden  Revolution 
von  Mai  bis  August  1788  hat  er  nun  zwar,  was  ihm  un- 
vergessen sei,  eine  Zeitlang  Widerstand  geleistet,  dann 
aber  gab  auch  er  nach.  Am  deutlichsten  läßt  sich  aber 
an  folgendem  wichtigstem  Beispiel  zeigen,  wie  er  zwar 
gute  politische  Gedanken  zu  ergreifen  imstande  war,  nicht 
aber,  sie  stark  und  konsequent  durchzuführen.  Im  No- 
vember 1787  hat  Brienne  bekanntlich  die  Generalstände 
zusammenzurufen  versprochen.  Man  wird  urteilen,  daß 
das  gut  und  notwendig  war.  Mit  dem  vorhandenen 
Regierungsapparat  ging  es  bei  der  allgemeinen  Schwäche 
der  Charaktere  doch  nicht  weiter.  Ebenso  stark  zu  bil- 
ligen war  dann  ein  zweiter  Gedanke,  der  sich  mit  dem 
ersten  verband:  Die  Generalstände  sollen  erst  in  fünf 
Jahren  zusammentreten,  wenn  in  die  zerrütteten  Finanzen 
Ordnung  gebracht  sein,  wenn  vor  allem  die  wilde  Er- 
regung der  Gemüter,  die  damals  (1787)  schon  so  bedroh- 
lich erschien,  sich  gelegt  haben  würde.  Also  gewiß  vor- 
zügliche Gedanken  I  Wie  schwach  aber  die  Ausführung  I 
Der  Eindruck  des  epochemachenden  Versprechens  auf 
die  öffentliche  Meinung  war,  im  Gegensatz  zu  dem,  was 
man  erhofft  hatte,  ein  überaus  geringer.  Was  kümmerte 
sich  dieses  Volk  von  ungeduldigen  und  verzogenen  Kin- 
dern darum,  was  in  fünf  Jahren  eintreten  sollte!  So 
rückte  denn  die  Regierung  den  Zusammentritt  der  Gene- 
ralstände immer  näher.  Schon  wenige  Tage  nach  dem 
ersten  Versprechen,  noch  im  November  1787,  interpre- 
tierte es  der  König  dahin,  daß  er  die  Stände  vor  1792, 
also  1791,  also  nicht  in  fünf,  sondern  in  vier  Jahren  be- 
rufen wolle.  Am  5.  Juli  1788  wurden  schon  Studien  über 
die  Zusammensetzung  der  ^tats  Giniraax  befohlen  und 
damit  ihr  Zusammentritt    noch   mehr   in    die  Nähe   ge- 

Historitche  ZeiUchrift  (101.  Bd.)  i.  Folge  5  Bd.  21 


318  Adalbert  Wahl, 

rückt;  am  8.  August  1788  wurden  sie  auf  den  1.  Mai 
1789  berufen.  Aus  den  fünf  Jahren  waren  ein  Jahr  und 
fünf  Monate  geworden!  Möge  für  Brienne  dieses  eine 
Beispiel  genügen! 

Noch  viel  stärkere  Schuld  trifft  nach  unserer  Auf- 
fassung Necker,  der  nicht  einmal  die  Lichtblicke  eines 
Brienne  hatte.  Die  Regierungskunst  schien  ihm  im  Nach- 
geben so  recht  aufzugehen !  Seine  Tochter,  Frau  von  Stael, 
berichtet,  daß  er  die  öffentliche  Meinung  als  die  Magnet- 
nadel betrachtete,  nach  der  er  das  Staatschiff  steuerte. 
Wie  sollte  er  es  da  anders,  als  dem  Verderben  zulenken  ? 
Ranke  hat  in  seinen  Vorträgen  an  den  König  von  Bayern 
es  als  Neckers  Pflicht  hingestellt,  von  einem  monarchi- 
schen Gesichtspunkte  aus  zu  handeln  —  eine  Ansicht, 
der  man  nur  auf  das  energischste  zustimmen  kann. 
Necker  selbst  hat  sich  über  diesen  Punkt  in  späteren 
Zeiten  verschieden  ausgesprochen.  Einmal  sagt  er,  es 
sei  keineswegs  seine  Aufgabe  gewesen,  die  Monarchie 
zu  stärken.  Anhänger  einer  konstitutionellen  Regierungs- 
weise, verwechselte  er  die  Einführung  einer  solchen  mit 
vorhergehender  Schwächung  der  Monarchie.  Ein  anderes 
Mal  hat  er  doch  behauptet,  sich  der  radikalen  Entwicklung 
entgegengeworfen  zu  haben,  und  zwar  braucht  er  dabei 
ein  so  schönes  Bild,  daß  es  wörtlich  mitgeteilt  zu  werden 
verdient.  Er  schreibt:  „Immer  um  einen  vom  Berg  herab- 
rollenden Karren  umherlaufend,  habe  ich  nicht,  wie  die 
Zuschauer  meinten,  ihn  hinabgeschoben  oder  seine  Be- 
wegung beschleunigt,  sondern  ich  hieU,  im  Gegenteil, 
mit  allen  meinen  Kräften  die  Räder  an  und  schrie  fort- 
während um  Hilfe.**  Leider  war  der  Staatsmann  nicht 
besser  als  der  Schriftsteller.  Statt  mit  allen  seinen  Fähig- 
keiten danach  zu  streben,  z.  B.  daß  die  Regierung  durch 
kräftige  Maßregeln  die  Initiative  in  die  Hand  bekäme, 
hat  er  umgekehrt,  von  dem  Beginn  seines  zweiten  Mini- 
steriums an,  den  Gedanken  ergriffen,  nichts  Größeres 
mehr  zu  unternehmen,  sondern  alles,  sogar  auf  dem  Ge- 
biete der  Finanzen,  den  Generalständen  anzuvertrauen: 
als  ob  er  ihre  in  den  Augen  jedes  denkenden  Politikers 
schon   so   bedrohliche   Macht    geflissentlich    noch   habe 


Ober  die  Ursachen  der  Französischen  Revolution.         319 

stärken  wollen.  Auf  keine  feste  Partei  hat  er  sich  zu 
stützen  versucht.  Daß  er  den  bewaffneten  Widerstand 
nicht  vorbereitet,  ist  bei  einem  Mann  wie  er  selbstver- 
ständlich. Die  schlimmste  Unterlassung  war  die,  daß  er 
ohne  genügend  festumrissenes  Verfassungsprogramm  vor 
die  Stände  trat.  Wenn  er  ein  solches  gleich  im  September 
1788  vorgelegt  hätte,  so  wären  die  Aussichten  der  Mon- 
archie wohl  gar  keine  so  schlechten  gewesen.  Necker 
hätte  dabei  nur  den  Mut  zu  haben  brauchen,  seinen 
eigenen  Ideen  zu  folgen.  Er  war  Anhänger  der  englischen 
Verfassung,  wie  man  sie  seit  Montesquieu  sah  —  mit 
unbedingtem  Veto  des  Oberhauses  und  der  Krone.  Dabei 
hätte  er  viele  der  Besten  des  Landes  aus  allen  drei  Ständen 
um  sich  vereinigt,  die  sogenannten  „Anglikaner",  die  ja 
noch  lange  während  der  Revolution  dieses  Ziel  erstrebten. 
Er  hatte  eine  bedeutende  Partei  für  sich  gehabt.  Aber 
dazu  war  er  zu  feige.  Er  fürchtete  den  Widerstand  des 
Königs,  der  doch  immer  so  leicht  zu  überwinden  war. 
Er  fürchtete  vor  allem  die  radikalen  Wünsche  vieler 
Skribenten  des  dritten  Standes.  Ein  letztes  Beispiel:  Im 
September  1788  brach  endlich  in  Paris  der  Zwist  der 
Stände  untereinander  aus,  die  bis  dahin  einmütig  gegen 
die  Krone  zusammengehalten  hatten,  und  nahm  bald 
eine  große  Wildheit  an.  Necker  hatte  diesen  Zwist  im 
geheimen  geschürt,  dem  gefährlichen  Gedanken  divide 
et  impera  folgend,  ohne  fürs  erste  noch  offen  Partei  zu 
ergreifen.  Dann  endlich,  nach  mehr  als  drei  Monaten, 
Ende  Dezember  1788,  hat  er,  was  er  jedenfalls  von  vorn- 
herein gewollt,  nach  peinlichem  Zögern  sich  für  die 
große  Forderung  des  dritten  Standes  entschieden.  Das 
war  zweifellos  an  sich  ein  politischer  Gedanke;  hatten 
doch  die  zwei  ersten  Stände  bisher,  seit  Anfang  1787,  die 
Führung  in  der  revolutionären  Bewegung  gehabt!  Aber 
wie  jämmerlich  war  die  Ausführung!  Erstens  hat  er  sich 
nun  auch  unter  dem  dritten  Stande  keine  Partei  gebildet 
und  keine  führenden  Männer  um  sich  gesammelt,  mit 
denen  er  verhandeln  konnte,  die  ihm  für  seine  Zugeständ- 
nisse nun  auch  Unterstützung  von  selten  des  dritten 
Standes  verbürgen  konnten.    Nein,  er  unterwarf  einfach 

21» 


320    Adalbert  Wahl,  Ober  die  Ursachen  der  Franz.  Revolution. 

sich  und  den  König  in  phrasenreichen  Kundgebungen 
den  Wünschen  des  Bürgerstandes  im  allgemeinen  und 
reizte  so  nur  dessen  Begehrlichkeit.  Zweitens  aber  hat 
er  den  Gedanken  dieses  Bundes  nicht  konsequent  fest- 
gehalten. Als  in  den  ersten  Monaten  des  Jahres  1789 
die  Forderungen  und  Äußerungen  des  dritten  Standes 
immer  wilder  wurden  —  zahllose  lesen  sich  in  der  Tat, 
als  ob  sie  aus  dem  Irrenhause  oder  aus  dem  Zuchthause 
stammten  — ,  bekam  er  Angst  vor  diesem  Bundesgenossen 
und  suchte  dann  seit  dem  Zusammentritt  der  Stände 
wieder  unparteiisch  zu  sein.  So  hatte  er  denn  —  er- 
staunliche Tatsache!  —  trotz  aller  unbegrenzten  und  all- 
gemeinen persönlichen  Beliebtheit,  niemanden,  keinen 
Stand,  keine  Partei,  keine  Gruppe,  ja  keine  einzige 
Person  in  den  Generalständen,  auf  die  er  sich  verlassen 
konnte.  * 

Unzweifelhaft  hat  also  staatsmännische  Unfähigkeit 
der  zwei  Dilettanten,  des  Bischofs  und  des  Bankiers, 
Mitschuld  an  dem  gänzlichen,  unermeßlichen  Zusammen- 
bruch. Der  Anblick  dieses  Zusammenbruchs  aber,  wie 
er  wirklich  erfolgt  ist,  gewährt  nicht,  wie  es  meist  emp- 
funden wurde,  die  etwas  philisterhafte  moralische  Be- 
friedigung darüber,  daß  hier  eine  Monarchie  und  zwei 
herrschende  Stände  untergegangen  sind,  weil  sie  in  harter 
Selbstsucht  nichts  oder  nicht  genug  von  dem  Ihrigen 
hergeben  wollten.  Der  Vorgang  ist  vielmehr  ein  anderer^ 
und  er  löst  auch  andere  Gefühle  des  Betrachters  aus, 
die  männlichem  Empfinden  aber  auch  ihrerseits  nicht 
allzu  schmerzlich  sind,  da  es  sieht,  wie  ein  weichliches 
Geschlecht  unterging,  weil  es  sich  nicht  zu  wehren  ver- 
stand. 


Miszellen. 


Zur  Geschichte  des  karolingischen  Kriegs- 
wesens. 

Von 
W.  Erben. 

Geschichte  der  Kriegskunst  im  Rahmen  der  politischen  Geschichte. 
Von  Hans  Delbrück.  3.  Teil.  Das  Mittelalter.  Berlin, 
G.  Stilke.    1907.    700  S. 

In  den  Jahren  1886  bis  1890  hatte  0.  Köhler  sein  umfang- 
reiches Werk  über  die  «Entwicklung  des  Kriegswesens  und 
der  Kriegführung  in  der  Ritterzeit*  erscheinen  lassen,  eine 
wohlgegliederte  und  auf  weitreichenden  Quellenstudien  auf- 
gebaute Darstellung,  die  aber  in  der  wissenschaftlichen  Welt 
sehr  geringen  Anklang  fand ;  zwanzig  Jahre  nach  ihm  ist  nun 
H.  Delbrück  mit  seiner  Geschichte  der  Kriegskunst  soweit 
gelangt,  um  ein  Seitenstück  und  gewissermaßen  einen  Ersatz 
für  jenes  ältere  Werk  zu  schaffen.  Sein  dritter  Band  reicht 
von  Karl  d.  Gr.  bis  zu  dem  endgültigen  Sieg  der  Schweizer 
über  Karl  d.  Kühnen;  ergreift  also  zeitlich  über  Köhlers  Werk 
hinaus,  welches  mit  der  Mitte  des  11.  Jahrhunderts  beginnt 
und  mit  den  Hussitenkriegen  schließt.  Inhaltlich  bleibt  Del- 
brück hinter  seinem  Vorgänger  insofern  zurück,  als  er  die 
von  Köhler  in  einem  besonderen  Bande  behandelte  Geschichte 
der  Waffen  und  des  Befestigungswesens  nicht  zusammen- 
hängend vorführt;  er  streift  wohl  auch  diesen  Gegenstand 
gelegentlich,  nimmt  aber  an,  daß  solche  technische  Erörte- 


322  W.  Erben, 

rungen  (abgesehen  von  der  Geschichte  der  Feuerwaffen,  die 
in  einem  späteren  Bande  nachgetragen  werden  soll)  »in  dem 
Zusammenhang  dieses  Werkes  überhaupt  entbehrt  werden'' 
können  (S.  669).  Die  Vernachlässigung  dieser  wichtigen  Seite 
des  Kriegswesens  ist  eine  der  Schwächen  des  Werkes,  nicht 
bloß  eine  Lücke ;  sie  beeinträchtigt  auch  die  Sicherheit  der  von 
Delbrück  über  Kampfweise  und  Kriegsverfassung  vorgetragenen 
Ansichten.  Immerhin  wird  man  in  vieler  Hinsicht  Delbrück 
den  Vorzug  vor  den  breiteren  Ausführungen  Köhlers  geben 
müssen.  Ihm  ist  nicht  nur  die  rege  Fühlung  mit  der  Wissen- 
schaft zugute  gekommen,  die  dem  geschichtsforschenden  Ge- 
neral fehlte,  auch  die  gewandte  Feder  und  der  sichere  Ober- 
blick über  antike  und  moderne  Kriegsgeschichte;  Vergleiche 
mit  Vorgängen  der  griechischen  Freiheitskämpfe  strömen  dem 
Verfasser  ebenso  leicht  und  reichlich  zu,  wie  solche  mit  den 
Feldzügen  und  militärischen  Einrichtungen  der  neuesten  Zeit. 
So  entstand  eine  anziehende  Darstellung,  welche  dem  Bande 
viele  dankbare  Leser  sichern  dürfte.  Eine  befruchtende  Wir- 
kung auf  Erforschung  mittelalterlicher  Kriegsgeschichte  wird 
nicht  ausbleiben,  wenn  man  auch  den  Meinungen  des  Ver- 
fassers nicht  überall  zustimmen  kann. 

Wie  sich  Delbrück  das  Karolingische  Heerwesen  denkt, 
war  schon  am  Schluß  seines  zweiten  Bandes  angedeutet;  er 
ist  der  Ansicht,  daß  im  fränkischen  Reich  ein  Berufskrieger- 
stand nicht  erst  seit  Karl  Martell,  sondern  wohl  schon  von  den 
Zeiten  der  Völkerwanderung  her  bestanden  habe,  und  er  spricht 
dem  bäuerlichen  Aufgebot,  dessen  Verschwinden  man  sonst 
ins  9.  Jahrhundert  zu  setzen  pflegt  auch  schon  für  die  mero- 
wingische  und  frühkarolingische  Zeit  die  Bedeutung  ab.  Eine 
Auseinandersetzung  mit  jenen  Kapitularien  Karls  d.  Gr.,  welche, 
dieser  Auffassung  widersprechen,  hatte  im  zweiten  Bande  noch 
gefehlt,  der  Anfang  des  dritten  sucht  sie  nachzuholen,  nicht 
eigentlich  in  geschlossener  Beweisführung,  wie  sie  die  Wich- 
tigkeit des  Gegenstands  erfordern  würde,  sondern  in  leicht- 
geschürzter, von  kleinen  Widersprüchen  nicht  ganz  freier  Dar- 
stellungsform. Sucht  man  aus  dieser  die  Gründe  heraus,  welche 
Delbrück  anführt,  um  dem  bäuerlichen  Aufgebot  eine  Mitwirkung 
an  den  Feldzügen  Karls  abzusprechen,  so  kommen  mehrere 
Punkte  in  Betracht,  die  hier  einzeln  gewürdigt  werden  müssen. 


Zur  Geschichte  des  karolingischen  Kriegswesens.         323 

Nach  Delbrück  (S.  4)  wäre  der  karolingische  Krieger  mit 
Helm  und  Brünne,  Schwert  mit  Scheide,  Beinschienen,  Lanze 
und  Schild  bewehrt  gewesen,  so  daß,  wenn  man  das  Pferd 
hinzurechnet  und  die  Wertsätze  des  ripuarischen  Rechtes  zu- 
grunde legt,  die  Ausrüstung  eines  einzigen  Kriegers  45  Kühen 
oder  15  Stuten  »dem  Großvieh  eines  ganzen  Dorfes*  gleich- 
gekommen wäre.^)  Vom  Helm  ist  in  den  Kapitularien  aber 
nur  einmal  die  Rede  (Mon.  Germ.  Gap.  1,  171),  und  zwar  in 
solche/  Art,  daß  wir  dieses  Stück  nur  als  Erfordernis  der 
besser  Gerüsteten  ansehen  können,  und  auch  diesen  besser 
Gerüsteten  wird  nicht  eine  eiserne  Kopfbedeckung,  eine  cassls 
oder,  wie  es  in  jenem  Einschiebsel  der  lex  Ribuaria  heißt,  ein 
helmus  cum  diredo^)  vorgeschrieben,  sondern  die galea,  die,  von 
Leder  hergestellt,  einen  weit  geringeren  Wert  haben  konnte.^) 
Als  allgemeine  Bewaffnung,  welche  der  Graf  von  jedem  Auf- 
gebotenen zu  fordern  hatte,  nennt  dasselbe  Kapitulare  nur 
Schild  und  Lanze,  Bogen  und  Pfeile,  wobei  nicht  einmal  an 
gleichzeitige  Führung  dieser  viererlei  Waffenarten  zu  denken 
ist,  sondern  die  Wahl  zwischen  Lanze  und  Schild  auf  der  einen, 
Bogen  und  Pfeilen  auf  der  anderen  Seite  gelassen  sein  wird.^) 


0  Etwas  vorsichtiger  äußert  sich  Delbrück  über  diesen  Gegen- 
stand S.  24  f.,  er  bemerkt  Widersprüche  in  den  QueUen,  kommt 
aber  schließlich  S.  26  „wie  auch  die  einzelnen  Quellenstellen  zu 
erklären  seien*  für  die  Mehrzahl  der  Krieger  Karls  doch  so  ziem- 
lich zu  denselben  Anschauungen,  die  er  S.  4  aufgestellt  hat. 

')  Vgl.  Lindenschmit,  Handbuch  der  deutschen  Altertums- 
kunde 1,  254  f. 

')  Das  stimmt  gut  zu  den  gleichzeitigen  Zeichnungen,  siehe 
Rahn,  Das  Psalterium  aureum  von  S.  Gallen  Taf.  9,  10,  15  (vgL 
Text  S.  42  f.),  wo  der  Helm,  wenn  überhaupt  vorhanden,  eine 
Form  aufweist,  die  sich  bei  metallener  Herstellung  nicht  verstehen 
ließe.  Vgl.  V.  Ubisch  im  Jahrbuch  d.  preuß.  Kunstsammlungen  24, 21 1. 

*)  Boretius  hat  die  in  drei  Handschriften  vertretene  Lesart 
lanceam  scutum  et  arcum  cum  duas  cordas  sagittas  duodecim  in 
den  Text,  das  ebensogut  verbürgte  aut  in  die  Noten  gestellt.; 
ich  möchte  dieser  zweiten  Lesart  den  Vorzug  geben  und  auch 
in  dem  Aufgebotschreiben  Karls  an  Abt  Fulrad  (Gap.  1,  168)  bei 
Aufzählung  der  Waffen  ein  aut  oder  vel  einschalten,  da  sich 
Schild  und  Bogen  schwer  vereinen  (vgl.  Delbrück  S.  25).  Die  von 
Boretius  zugunsten  seiner  Lesart  angeführte  Stelle  des  cap.  de  viUis 


324  W.  Erben, 

Auch  die  Brünne  wird  nur  von  den  Reicheren  gefordert,  an 
der  schon  erwähnten  Stelle  von  den  Bischöfen,  Grafen  und 
Äbten  und  deren  Leuten,  an  einer  anderen  (Cap.  1,  123)  von 
jenen,  welche  zwölf  Hufen  besitzen.  Daß  der  Krieger  mit 
Beinschienen  versehen  sein  solle,  steht  in  den  Kapitularien 
nirgends,  sie  müssen  also  auch  jedenfalls  aus  der  Rechnung 
gestrichen  werden.  Für  sehr  unsicher  halte  ich  ferner  auch 
Delbrücks  Annahme,  daß  die  karolingischen  Krieger  «ganz 
vorwiegend  beritten*  waren;  gestattet  der  Aufgebotsbefehl  an 
Fulrad  die  Annahme,  daß  dieser  reiche  Abt  nur  berittene 
Mannschaft  herbeizuführen  hatte,  so  darf  diese  Vorstellung 
doch  nicht  ohne  weiteres  verallgemeinert  werden.  In  einer 
Aufgebotsordnung  für  die  Friesen  (Cap.  1,  136)  sind  die  ca- 
ballarü  mit  den  Grafen  und  belehnten  königlichen  Vasallen 
zusammengefaßt,  die  reliqui  vero  pauperiores,  von  denen  jeder 
siebente  gleichfalls  ausrücken  mußte,  ihnen  deutlich  gegen- 
übergestellt. Es  steht  nach  dem  Wortlaut  dieser  Stelle  und 
anderer  Kapitularien  nichts  im  Wege,  die  letztgenannten,  also 
die  überwiegende  Menge  des  Heeres,  als  unberitten  anzusehen. 
So  schwindet  die  schwere  Ausrüstung,  die  Delbrück  dem  karo- 
lingischen Krieger  zumutet  und  für  die  er  einen  so  erschreckend 
hohen  Wert  berechnet,  gar  sehr  zusammen,  wenn  man  sich 
an  die  Quellen  hält.  Was  als  allgemeines  Erfordernis  übrig 
bleibt,  Schild  und  Lanze,  Bogen  und  Pfeile,  das  konnte  auch 
der  ärmere  Bauer  leisten,  und  auch  die  Rüstung  der  Reichsten 
dürfte  nur  sehr  selten  den  von  Delbrück  angenommenen  Preis 
erreicht  haben,  zumal  wenn  die  Wertsätze  des  ripuarischen 
Volksrechts  als  Maximalzahlen  und  nicht  als  Durchschnitts- 
ziffern  aufzufassen  sind.^) 

Mit  der  Frage  nach  der  Bewaffnung  hängt  aufs  engste  das 
Urteil  über  die  kriegerische  Brauchbarkeit  des  bäuerlichen 
Aufgebots   zusammen.     Delbrück   schätzt   sie   so   niedrig  als 

läßt  sich,  da  sie  nicht  von  der  Rüstung  eines  Mannes,  sondern 
von  Ausrüstung  der  Wägen  handelt,  nicht  verwenden;  dagegen 
spricht  eines  der  langobardischen  Gesetze,  auf  welche  schon 
Boretius  selbst,  Beiträge  zur  Kapitularienkritik  124  Anm.  1  hin- 
wies, sehr  deutlich  von  der  Alternative:  entweder  Schild  und 
Lanze  oder  Bogen,  Pfeüe  und  Köcher. 

*)  Vgl.  darüber  Brunner,  Deutsche  Rechtsgesch.,  2.  Aufl.,  1,322. 


Zur  Geschichte  des  karolingischen  Kriegswesens.         325 

möglich,  und  meint  auf  diese  Weise  die  Glaubwürdigkeit  der 
vom  allgemeinen  Aufgebot  handelnden  Kapitularien  beseitigen 
zu  können;  er  vergleicht  (S.  13)  das  Ergebnis,  welches  solche 
Bestimmungen  haben  konnten,  mit  brandenburgischen  Defen- 
sionsbestrebungen  im  Dreißigjährigen  Krieg  und  sucht  die 
schlechten  Erfahrungen,  die  man  hier  machte,  als  Beweis  gegen 
die  militärische  Verwendbarkeit  der  Bauern  zur  Zeit  Karls  d.  Gr. 
zu  verwerten.  Es  ist  kaum  notwendig,  dieses  Argument  ernst- 
lich zu  widerlegen;  die  Bedingungen  für  die  Wehrhaftigkeit 
des  deutschen  Bauernstandes  hatten  sich  ja  in  acht  Jahrhun- 
derten in  vieler  Hinsicht  geändert;  am  meisten  allerdings  in- 
sofern, als  die  Kriegskunst  und  die  Bewaffnung  sich  geändert 
hatte,  an  den  einzelnen  Krieger  also  andere  Anforderungen 
herantraten.  Wollte  man  nun  die  von  Delbrück  an  die  Spitze 
seines  Buches  gestellte  Ansicht  von  der  schweren  Ausrüstung 
des  karolingischen  Heeres  gelten  lassen,  so  müßte  zugegeben 
werden,  daß  in  einem  solchen  Berufsheer  der  Bauer  keine 
große  Rolle  spielen  konnte.  Da  aber  jene  Voraussetzung  sich 
durchaus  nicht  bewährt  hat,  die  Quellen  vielmehr  auf  eine  viel 
leichtere  Bewaffnung  der  Mehrzahl  schließen  lassen,  so  liegt 
kein  Grund  vor,  den  Bauern  die  Eignung  zum  Heerdienst 
unter  Karl  d.  Gr.  abzusprechen.  Es  muß  hier  freilich  noch 
eine  weitere  Prämisse  Delbrücks  erwogen  werden,  die  sein 
ungünstiges  Urteil  über  die  Leistungsfähigkeit  der  Bauern  stark 
beeinflusst.  Er  spricht  wiederholt  (S.  12,  14,  31,  vgl.  auch 
S.  532)  von  einem  Aufgebot  im  Turnus  und  nimmt  also  an, 
daß  bei  der  Auswahl  eines  einzelnen  Kriegers  aus  einer  Gruppe 
von  drei,  vier  oder  noch  mehr  kleineren  Grundbesitzern  jedes- 
mal ein  anderer  hätte  ausziehen  müssen,  wodurch  allerdings 
die  Auswahl  der  Tüchtigsten  verhindert  und  der  Vorteil,  etwas 
kriegserfahrene  Leute  zusammenzubringen,  aufgegeben  worden 
wäre.  Aber  diese  Voraussetzung  findet  in  den  Quellen  keinen 
Halt.  Das  Kapitulare  von  807  (Gap.  1,  134)  betont  vielmehr 
dreimal  ausdrücklich,  daß  von  jeder  Gruppe  immer  der  Best- 
geeignete (qui  melius  ex  ipsis  potuerit)  auszurücken  habe,  und 
auch  dort,  wo  das  nicht  ausdrücklich  bemerkt  ist,  darf  man 
annehmen,  daß  tatsächlich  so  vorgegangen  wurde.  Aus  einem 
der  folgenden  Jahre  ist  uns  auch  die  Klage  überliefert,  daß 
die  Beamten  immer  wieder  dieselben  Leute  ins  Feld  schickten 


326  W.  Erben, 

(Cap.  1,  165);  die  dem  Ruin  ausgesetzten  Kläger  führen  das 
auf  die  böse  Absicht  der  weltlichen  und  geistlichen  Großen 
zurück ;  diese  hätten  auf  solchem  Wege  die  Kommendation  des 
Betroffenen  erzwingen  wollen.  Sollte  diese  Absicht  in  einzelnen 
Fällen  wirklich  mitgewirkt  haben,  so  mußten  doch  ebensogut 
auch  die  Bestimmungen  von  807  dazu  Anlaß  geben,  denselben 
Mann  wiederholt  auszuheben;  auch  im  Interesse  des  Kaisers 
lag  es,  wenn  möglich  immer  wieder  die  tüchtigsten,  die  kriegs- 
geübten Bauern  aufzubieten  und  nicht  andere,  denen  jede 
Übung  fehlte.  Von  einem  Turnus  ist  in  den  Gesetzen  keine 
Rede,  Delbrück  kämpft  also  gegen  Windmühlen,  wenn  er  diesen 
angeblichen  steten  Wechsel  der  Wehrmannschaft  als  unprak- 
tisch geißelt,  um  ihn  als  Zeugnis  für  die  Wertlosigkeit  der 
Aufgebotsordnungen  Karls  hinzustellen. 

Eine  andere  unbewiesene  und  sehr  unwahrscheinliche  Vor- 
aussetzung der  Delbrückschen  Auffassung  ist  die  Annahme,  daß 
auch  schon  zu  Karls  Zeit  in  den  reingermanischen  Gebieten 
eine  ähnliche  soziale  Schichtung  geherrscht  hätte  wie  in  den 
romanischen  Gebieten  (S.  6).  Delbrück  gelangt  zu  dieser  An- 
sicht, die  freilich  bald  darauf  (S.  1 1  f.)  wieder  starke  Einschrän- 
kungen erfährt,  nicht  etwa  in  offenem  Anschluß  an  Wittichs 
Theorie  von  einer  bis  in  altgermanische  Zeit  zurückreichenden 
grundherrlichen  Verfassung  i),  sondern  indem  er  die  moderne 
Vorstellung  einer  ausgleichenden  staatlichen  Gerechtigkeit  auf 
die  Kapitularien  anwendet;  aber  von  der  Unsicherheit  dieses 
Maßstabes  abgesehen,  liegt  uns  die  Gesetzgebung  Karls  doch 
viel   zu  unvollständig   vor  und   bestehen  über  den  Geltungs- 


')  Im  2.  Bande  S.  462  sind  ,die  einschlagenden  Ansichten 
von  Wittich*  vielmehr  ohne  jede  nähere  Bezeichnung  und  Be- 
gründung als  verfehlt  zurückgewiesen;  aber  Delbrücks  Argur 
mentation  im  3.  Bande  S.  6  erinnert  doch  stark  an  die  Ausfüh- 
rungen Wittichs  in  der  Zeitschr.  f.  Rechtsgesch.,  Germ.  Abt.  22, 
329  f.,  und  was  Delbrück  von  dem  angeblichen  Stand  der  Minder- 
freien bei  den  Sachsen  und  vom  Stellingaaufstand  sagt,  deckt 
sich  mit  den  von  Wittich  übernommenen  Ansichten  von  Heck. 
Dennoch  werden  weder  Heck  und  Wittich  von  Delbrück  genannt, 
noch  auch  die  Aufsätze  von  Brunner  und  Schröder  in  der  Zeit- 
schrift f.  Rechtsgesch.,  Germ.  Abt.  23, 193  ff.  und  24,  347  ff.  (bes.  377) 
berücksichtigt,  welche  diesen  Theorien  mit  Recht  entgegentreten. 


Zur  Geschichte  des  karolingischen  Kriegswesens.         327 

beziric  der  zufällig  auf  uns  gekommenen  Verordnungen  doch 
zu  viele  Zweifel,  als  daß  wir  daraus  auf  ungefähr  gleichmäßige 
Verteilung  der  Freien  im  ganzen  Frankenreich  Schlüsse  ziehen 
dürften.  Unrichtig  ist  es  jedenfalls,  wenn  Delbrück  (S.  30  f.) 
aus  den  Kapitularien  von  808  und  811  folgern  will,  daß  es 
schon  damals  keine  freien  Krieger  gegeben  habe,  die  nicht 
ihren  Senior  hatten,  nicht  in  das  Vasallitätsverhältnis  getreten 
wären;  beide  Stellen  nennen  neben  dem  senior  auch  den  comes 
und  wenn  es  das  einemal  (Cap.  1,  167)  heißt:  Quicumque  Über 
homo  inventtts  fuerit  anno  praesente  cum  seniore  suo  in  hoste 
non  fuisse,  plenum  heribannum  persolvere  cogatur,  so  ist  hier 
eben  nicht  von  der  Gesamtheit  der  Freien,  sondern  nur  von 
jenen,  welche  Senioren  haben,  die  Rede;  die  übrigen,  welche 
noch  nicht  in  Abhängigkeitsverhältnis  getreten  sind,  konnten 
hier  unberücksichtigt  bleiben,  weil  über  ihre  Bestrafung  schon 
im  ersten  Absatz  desselben  Gesetzes  gehandelt  war.  Erst 
ein  Gesetz  Ludwigs  d.  Fr.  vom  Jahre  819  (Cap.  1,  291)  spricht 
bloß  von  Bestrafung  der  vom  Feldzug  ausgebliebenen  Vasallen, 
aber  nicht  mehr  von  jener  der  übrigen  Freien,  so  daß  zu  ver- 
muten ist,  daß  man  im  Jahre  819  von  dem  allgemeinen  Auf- 
gebot keinen  Gebrauch  mehr  gemacht  habe,  weil  man  sonst 
wohl  auch  von  nicht  im  Vasallitätsverhältnis  stehenden  Leuten 
Bußen  einzutreiben  gehabt  hätte.  Aber  auch  hier  wird,  wie 
schon  Boretius  (Beiträge  S.  125)  hervorhob,  mit  der  Möglich- 
keit zu  rechnen  sein,  daß  man  eine  ergänzende  Bestimmung  zu 
dem  Gesetz,  die  sich  auf  die  Heerbannbußen  der  anderen  Freien 
bezog,  etwa  nur  mündlich  den  Missi  eingeschärft  haben  könnte. 
Daß  die  Heerbannbuße  von  60  Schilling  für  den  Besitzer 
einer  Einzelhufe  sehr  drückend  und  vielleicht  sogar  unmöglich 
gewesen  wäre,  wie  S.  36  hervorgehoben  wird,  darf  zugegeben 
werden.  Aber  so  kleine  Besitzer  wurden  ja,  soviel  wir  wissen, 
zumeist  gar  nicht  allein  vom  Aufgebot  getroffen;  sie  erfreuten 
sich  im  Falle  des  Ausrückens  der  Mithilfe  von  zwei  oder  drei 
Genossen,  und  es  ist  wohl  selbstverständlich,  daß  ihnen  auch, 
wenn  sie  den  Auszug  unterließen  und  deshalb  straffällig  wurden, 
das  Adjutorium  irgendwie  zugute  kommen  mußte;  hatten  sie 
es  in  vollem  Maße  wirklich  empfangen  und  waren  doch  daheim 
geblieben^  so  traf  sie  die  Strafe  nicht  unberechtigt  schwer; 
waren  die  zu  seiner  Zahlung  Verpflichteten  schuldig  geblieben. 


328  W.  Erben, 

so  mußten  nun  sie  einen  entsprechenden  Teil  der  Buße  zahlen.^) 
Dadurch  vermindern  sich  die  Schwierigkeiten  sehr  bedeutend. 
Daß  tatsächlich  die  Strafe  doch  viele  Freie  hart  getroffen  und 
wirtschaftlich  zugrunde  gerichtet  hat,  ist  uns  genügend  bezeugt; 
wir  dürfen  also  nicht  an  der  ernsten  Absicht  des  Gesetzgebers 
und  der  wirklichen  Durchführung  seiner  Bestimmungen  zweifeln. 

An  anderer  Stelle  (S.  10  ff.)  werden  von  Delbrück  die 
erhaltenen  Detailbestimmungen  über  partielles  Aufgebot  je 
nach  der  Größe  des  Besitzes  als  für  die  Behörden  selbst 
wertlos  hingestellt,  weil  es  ,,für  die  Zentralregierung  schlechter- 
dings unmöglich*'  gewesen  wäre  „eine  zuverlässige  Vorstellung 
davon  zu  gewinnen,  wie  viel  Männer  und  mit  wie  viel  Besitz 
in  jedem  Gau  vorhanden  seien*'.  Das  könnte  aber  doch  nur  für 
die  erstmalige  Anwendung  solcher  Bestimmungen  gelten;  waren 
sie  schon  wiederholt  angewendet,  vielleicht  seit  alters  gebräuch- 
lich, so  war  man  am  Hofe  sehr  wohl  in  der  Lage,  sich  Ober- 
schlag davon  zu  machen,  wie  stark  das  Aufgebot  ausfallen 
müsse,  je  nachdem  man  vier  Hufen  (wie  es  808  geschah)  oder 
fünf  Hufen  (wie  es  für  807  bezeugt  ist)  oder  irgendein  anderes 
Maß  von  Grundbesitz  als  Grundlage  für  die  Stellung  eines 
Mannes  festsetzte. 

So  bleibt  von  allem,  was  Delbrück  gegen  die  wirkliche 
Ausführung  der  Bauernaufgebote  Karls  anführt,  nur  dasjenige 
bestehen,  was  er  schon  im  2.  Bande  seines  Werkes  vorbrachte: 
die  ungeheure  Größe  der  Heere,  welche  nach  seiner  Meinung 
auf  diese  Art  zustande  gekommen  wären,  die  gewaltigen 
Schwierigkeiten  der  Verpflegung,  die  sie  verursacht  hätten. 
Allein  die  zu  diesem  Zwecke  von  Delbrück  angestellten  Be- 
rechnungen sind  zweifellos  viel  zu  hoch  gegriffen;  während 
er  (2,  410)  auf  eine  Quadratmeile  90  Höfe  rechnet,  die  (nach 
dem  Maßstab  von  807  gemessen)  höchstens  30  —  nach  jenem 
von  808  höchstens  22  —  Krieger  zu  stellen  gehabt  hätten, 
würden  sich  aus  den  Berechnungen,  die  Caro  für  die  nord- 

*)  Ein  Kapitulare  von  805  (a.  a.  O.  125)  zeigt,  wie  eine  solche 
Bußenverteilung  auf  Ärmere  sich  gestaltete;  ich  glaube,  daß  das 
nicht  Ausnahmsvergünstigungen  waren,  wie  Boretius,  Beiträge 
S.  112  annahm,  sondern  daß  analoge  Aufteilung  der  Bußen  auch 
dort  stattfand,  wo  das  Gesetz  kurzweg  den  Daheimgebliebenen 
die  Zahlung  der  ganzen  60  Schilling  auferlegt. 


Zur  Geschichte  des  karolingischen  Kriegswesens.         329 

östliche  Schweiz  angestellt  hat,  etwa  5  bis  10  freie  Grund- 
besitzer für  dasselbe  Flächenmaß  ergeben.^)  Und  auch  die 
so  gewonnenen  Zahlen  wird  man  nicht  ohne  weiteres  mit  dem 
Umfang  des  Reiches  oder  mit  dem  Flächeninhalt  der  Gebiete^ 
die  uns  als  aufgeboten  überliefert  sind,  zu  multiplizieren 
haben;  zahllose  Schwierigkeiten  werden  mit  und  ohne  Willen 
des  Herrschers  auch  in  den  Zeiten  bestgeordneter  Verwaltung 
dem  vollen  Erfolg  des  Aufgebots  in  den  Weg  getreten  sein. 
Schmilzt  so  die  Zahl  der  Heere  gegenüber  den  Größen,  mit 
welchen  Delbrück  das  allgemeine  Aufgebot  ad  absurdum  zu 
führen  meinte,  wesentlich  zusammen,  so  wird  bei  der  Mit- 
nahme von  Verpflegung  doch  auch  der  Handel,  der  dem  Heere 
Nahrung  zugeführt  haben  kann,  zu  berücksichtigen  sein.  Nicht 
bloß  der  Rhein,  wo  Delbrück  selbst  (2,  456)  die  Möglichkeit 
des  Bestehens  von  Magazinen  zugibt  und  nur  tatsächliche 
Zeugnisse  hierfür  vermißt,  auch  die  Donau,  an  der  es  noch 
hundert  Jahre  nach  Karl  einen  lebhaften  Handel  gab,  kommt 
hierfür  in  Betracht,  und  noch  weniger  kann  es  in  alten  Kern- 
ländern des  Römerreichs,  wie  in  Italien  oder  Aquitanien,  an 
größeren,  dem  Heere  zunutzen  kommenden  Stapelplätzen 
gefehlt  haben.    Gerade  von  Karl  d.  Gr.  sind  uns  so  viele  An- 


*)  Für  den  Argengau  und  den  Nlbelgau,  die  zusammen  eine 
Fläche  von  etwa  24  Quadratmeilen  umfassen  dürften,  berechnete 
Caro,  Beiträge  zur  älteren  deutschen  Wirtschafts-  und  Verfassungs- 
geschichte S.  42  f.  (D.  Geschichtsbl.  5,  199  f.)  nach  dem  Vor- 
kommen der  Zeugennamen  für  das  Menschenalter  nicht  viel  mehr 
als  120  Freie,  für  den  großen  Thurgau  (100  bis  120  Quadratmeilen) 
mit  Hilfe  der  freilich  unsicheren  Annahme  einer  fränkischen  Ein- 
führung der  Hundertschaften  ungefähr  1000  bis  1200  Freie.  Caro 
hat  seine  Ergebnisse  von  vornherein  nicht  als  unanfechtbar  hin- 
gestellt und  selbst  auf  gewisse  Fehlerquellen  hingewiesen;  ich 
kann  daher  den  Vorwürfen,  welche  Rietschel  in  der  Vierteljahr- 
schrift f.  Sozial-  u.  Wirtschaftsgeschichte  5,  351  erhebt,  nicht  zu- 
stimmen. Solange  der  von  Rietschel  angeregte  Versuch,  von 
den  Reihengräbern  zu  einer  Bevölkerungsstatistik  zu  gelangen, 
nicht  ausgeführt  ist,  wird  Caros  Untersuchung  ihren  Wert  be- 
halten, und  gerade  für  die  Frage  nach  der  Zahl  der  freien  Männer 
bietet  seine  Methode  besondere  Vorteile.  Die  Beschaffenheit  und 
Oberlieferungsart  der  betreffenden  Urkundengruppe  wird  dabei 
allerdings  sorgfältig  abgewogen  werden  müssen. 


330  W.  Erben, 

zeichen  einer  Förderung  des  Verkehrs  bezeugt,  daß  es  zu 
seiner  Zeit  sicher  öffentliche  Einrichtungen  und  auch  pri- 
vate, von  den  großen  Grundherren  oder  von  eigentlichen 
Händlern  geleitete  Unternehmungen  gegeben  haben  wird, 
welche  im  Bedarfsfall  den  Heeren  Proviant  auch  an  den 
Grenzen  des  Reichs  aufzunehmen  gestatteten.  Endlich  er- 
leichtern sich  die  von  Delbrück  so  stark  betonten  Verpflegungs- 
schwierigkeiten am  allermeisten  dadurch,  daß  wir  uns  die 
Heere  nicht  wie  Delbrück  (vgl.  3,  15)  aus  anspruchsvollen 
Gliedern  eines  bevorrechteten  Standes,  sondern  zumeist  aus 
deutschen  Bauern  zusammengesetzt  denken,  die  an  einfache 
Lebensführung  gewöhnt  waren. 

Alle  diese  Erwägungen  mögen  in  den  Augen  eines  mili- 
tärischen Fachmanns  vielleicht  nicht  ausreichend  sein,  um  die 
Bedenken,  die  Delbrück  gegen  die  Bauernheere  Karls  vor- 
bringt, ganz  zu  beseitigen.  Es  ist  für  einen  an  den  ver- 
wickelten Mechanismus  des  Berufsheeres  gewöhnten  Beobachter 
gewiß  schwierig,  ja  vielleicht  unmöglich,  ein  anschauliches 
Bild  davon  zu  gewinnen,  wie  mit  dem  einfachen  Mittel  des 
Volksaufgebotes  die  enormen  militärischen  Leistungen,  welche 
die  Reichsgründung  Karls  erforderte,  geleistet  worden  sein 
können ;  ja  selbst  von  einer  dauernden  Mitwirkung  der  bäuer- 
lichen Kräfte  neben  anderen  besser  geeigneten  läßt  sich  kaum 
eine  greifbare  Vorstellung  gewinnen.  Es  wird  Delbrücks  Ver- 
dienst bleiben,  diesen  Widerspruch  der  Oberlieferung  mit  den 
modernen  Vorstellungen  recht  scharf  beleuchtet  zu  haben: 
aber  es  geht  nicht  an,  um  dieses  Widerspruchs  willen  den 
klaren  Wortlaut  der  Quellen  beiseite  zu  schieben,  die  an  so 
vielen  Stellen,  in  mannigfaltiger  Abstufung  des  Ausmaßes,  das 
Aufgebot  aller  Freien  behandeln,  die  Strafen  für  Außeracht- 
lassung des  Gebotes  normieren,  von  Mißbräuchen  aller  Art 
sprechen,  die  sich  hierbei  ergaben. 

Trotz  jener  Schwierigkeiten  wäre  es  falsche  Sachkritik, 
wenn  wir  uns  über  den  Wortlaut  der  Kapitularien  hinweg- 
setzen wollten.  Von  Delbrück  sind,  soviel  ich  sehe,  zwei 
Auswege  angedeutet  worden,  auf  denen  man  sich  diesem  Vor- 
wurf entziehen  könnte.  Er  meint  (S.  12),  ein  bäuerliches  Auf- 
gebot, wie  es  die  Gesetze  Karls  d.  Gr.  schildern,  war  „viel- 
leicht   noch   möglich  unter  den  ersten  Merowingern,   wo  die 


Zur  Geschichte  des  karoÜngischen  Kriegswesens.         331 

Masse  der  Franken  eben  erst  den  Obergang  aus  dem  kriege- 
rischen Urzustand  in  das  bäuerliche  Leben  und  den  Bauern- 
charakter vollzog.  Damals/  so  sagt  er,  „mögen  zuerst  solche 
Vorschriften  über  den  Auszug  erlassen  worden  sein  und  sich 
mit  dem  wirklichen  Leben  auch  gedeckt  haben".  Für  die  Zeit 
Karls  seien  sie  unmöglich:  „ Alle  die  Wendungen,'  so  heißt  es 
S.  14,  ,,die  so  bestimmt  zu  verlangen  scheinen,  daß  einer  der 
Pflichtigen  selbst  ins  Feld  ziehe,  sind  als  bloße  Kanzleifloskeln 
anzusehen,  die  sich  durch  die  Generationen,  vielleicht  schon 
durch  die  Jahrhunderte  so  hinschleppten. '  An  anderen  Stellen 
(S.  27,  31)  glaubt  er  eine  „Kanzleiformel  ohne  jeden  realen 
Inhalt*',  „ein  bloßes  Wortemachen'',  „alte  Kanzleischemata' 
oder  „nichts  als  eine  versteinerte  Kanzleifloskel'  vor  sich  zu 
haben.  Es  ist  richtig,  die  Kanzleien  des  Mittelalters  neigen 
zur  Wiederholung  alter  Formeln  so  sehr,  daß  in  Urkunden 
häufig  veraltete,  zur  Zeit  nicht  mehr  passende  Rechtsausdrücke 
und  Bestimmungen  sich  forterben.  Aber  die  Kapitularien  sind 
keine  Urkunden,  so  oft  auch  Delbrück  für  sie  unwissen- 
schaftlicherweise diesen  Ausdruck  anwendet,  und  sie  sind 
wenigstens  für  die  Zeit  Karls,  wie  die  gänzliche  Abweichung 
von  den  Formen  der  Diplome  dartut,  überhaupt  nicht  in  der 
Kanzlei  verfaßt ;  erst  in  späterer  Zeit,  namentlich  bei  den  west- 
fränkischen Karolingern,  vollzieht  sich  zwischen  Königsurkunden 
und  Kapitularien  eine  gewisse  Annäherung  in  den  Formen, 
die  uns  berechtigt,  der  Kanzlei  eine  Mitwirkung  an  der  Fassung 
dieser  Gesetze  zuzumuten.^)  Dadurch  entfällt  einerseits  die 
Möglichkeit,  das  in  der  Kanzlei  übliche  Nachschreiben  alter 
Formeln  zur  Erklärung  der 'unter  Karl  erlassenen  Aufgebots- 
ordnungen heranzuziehen,  anderseits  verlieren  aber  auch  die 
Analogiefälle  aus  spätkarolingischen  Kapitularien,  auf  die  sich 
Delbrück  (S.  31)  stützt,  alle  Beweiskraft  für  die  ältere  Zeit. 
Mag  es  unter  Karl  d.  Kahlen  vorgekommen  sein,  daß  Kanzlei- 
beamte, welche  an  mechanische  Behandlung  der  Vorlage  von 
den  Urkunden  her  gewöhnt  waren,  wenn  sie  zur  Abfassung 
und  Niederschrift  der  Kapitularien  herangezogen  wurden,  über- 

^)  Vgl.  Seeliger,  Die  Kapitularen  der  Karolinger  S.  16  ff.;  in 
meiner  einschlägigen  Bemerkung,  Urkundenlehre  1,  48  Anm.  1, 
habe  ich  den  von  Seeliger  festgestellten  Unterschied  zwischen  den 
früheren  und  den  späteren  Kapitularien  leider  außer  acht  gelassen. 


332  W.  Erben, 

lebte  Dinge  mit  in  den  Text  der  Gesetze  aufnahmen,  so  liegt 
doch  für  die  Zeit  Karls  d.  Gr.,  unter  dem  die  Kapitularien  in 
anderer  Weise  entstanden,  keine  Berechtigung  zu  dergleichen 
Annahmen  vor.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Bestimmungen  und  die 
wiederholte  Bezugnahme  auf  Ereignisse  des  betreffenden  oder 
des  vorhergehenden  Jahres  bieten  vielmehr  deutliche  Anzeichen 
dafür,  daß  die  Aufgebotsbestimmungen  Karls  d.  Gr.  zu  seiner 
eigenen  Zeit  ohne  wörtliche  Anlehnung  an  Vorlagen  verfaßt  sind. 
Indes  hat  sich  Delbrück  noch  einen  anderen  Ausweg  offen 
gehalten,  der  mit  seiner  Ansicht  von  dem  Fortleben  alter 
Formeln  in  den  Kapitularien  gut  zusammenzustimmen  scheint. 
Er  meint  (S.  8  f.),  es  sei  nicht  bloß  »Zähigkeit  der  überlieferten 
Rechtsformen '^  gewesen,  welche  die  Wiederholung  an  sich 
wertloser  Bestimmungen  über  bäuerliches  Aufgebot  bewirkte, 
«sondern  auch  ein  positives,  sehr  starkes  Motiv^,  die  Absicht, 
den  freien  Germanen  zur  Steuerleistung  heranzuziehen.  ,,Die 
Vorschriften  der  karolingischen  Könige  über  die  Gruppen- 
bildung der  freien  Männer,  .die  immer  einen  von  sich  in  den 
Krieg  schicken  sollen,  ist(!)  daher  wesentlich  als  eine  maskierte 
Steuerumlegung  aufzufassen. '^  In  der  Mehrzahl  der  Fälle,  so 
denkt  Delbrück,  hätten  es  die  drei  Hufner,  die  etwa  verpflichtet 
waren^  einen  aus  ihrer  Mitte  auszurüsten  und  auszusenden, 
vorgezogen,  die  Ausrüstung  dem  Grafen  zu  liefern,  der  sie 
«dann  einem  seiner  Vasallen  zuwandte"";  Delbrück  läßt  Aus- 
nahmen zu  für  den  Fall,  daß  etwa  «zufällig  einer  unter  ihnen 
war,  der  Neigung  hatte,  in  den  Krieg  zu  ziehen""  (S.  14).  «In 
Wirklichkeit,""  so  sagt  er  hier,  «haben  wir  es  in  den  Auf- 
gebotskapitularien  mit  der  Ausschreibung  von  Kriegssteuern 
zu  tun.*  Der  Unterschied  seiner  Auffassung  von  der  bisher 
geltenden,  die  ja  auch  eine  schließliche  Auflösung  des  Kriegs- 
dienstes in  Geldleistung  annimmt,  liegt,  wie  Delbrück  S.  32 
sagt,  «in  der  früheren  Datierung  und  in  der  Motivierung"". 
Was  die  Motive  der  Umwandlung  betrifft,  so  muß  man  Del- 
brück Recht  geben;  sie  lagen  gewiß  «nicht  bloß  in  dem  wirt- 
schaftlichen Nichtleistenkönnen,  sondern  ebensosehr  in  der 
kriegerischen  Qualität*",  in  dem  Streben,  zu  einem  besser  be- 
waffneten und  besser  verpflegbaren  Heere  zu  gelangen.  ^)    In 

*)  Die  Vorteile,  die  sich  bei  der  Verpflegung  eines  durch  die 
Grundherrschaften  und  nicht  von  den  einzelnen  Freien  gebildeten 


Zur  Geschichte  des  karolingischen  Kriegswesens.         333 

bezug  auf  die  frühere  Datierung  aber  ist  größere  Vorsicht 
geboten,  als  sie  Delbrück  anwendet;  er  meint,  die  Umwand- 
lung wäre  schon  unter  Karl  d.  Gr.  «so  gut  wie  vollendet"  ge- 
wesen, «nur  eine  alte  Form  fristete  noch  mühsam  das  Leben*. 
Man  muß  zugeben,  daß  weder  die  Zahl  der  freien  Bauern, 
welche  tatsächlich  an  den  Feldzügen  Karls  teilnahmen,  noch  die 
Rolle,  die  sie  tatsächlich  neben  und  unter  den  gleichzeitig 
ausrückenden  Vasallen  spielten,  genau  zu  erkennen  ist;  der 
wirkliche  Effekt  des  aMgemeinen  Aufgebots  mag  schon  unter 
Karl  stark  hinter  dem  Wortlaut  seiner  Gesetze  zurückgeblieben 
sein.  Aber  von  diesem  Effekt  gänzlich  abzusehen  oder  anzu- 
nehmen, daß  der  Gesetzgeber  gar  nicht  das  Ausrücken  der 
Bauern,  sondern  ihre  Steuerleistung  bezweckte,  sind  wir  durch- 
aus nicht  berechtigt.  Die  Kapitularien  sprechen  ja  nicht  in 
theoretischem  Ton  von  der  Heerpflicht,  wie  man  erwarten 
dürfte,  wenn  es  sich  eigentlich  um  Ausschreibung  von  Kriegs- 
steuem  handeln  würde,  sondern  sie  verlangen  ausdrücklich, 
daß  der  so  und  sovielte  Mann  sich  ausrüste  und  in  den  Krieg 
ziehe,  ipse  se  praeparet  et  per  se  in  hostem  pergat\  sie  ver- 
langen, daß  der  Geeignetste  von  jeder  Gruppe  qui  melius  ex 
ipsis  potuerit  ausrücke ;  sie  reden  von  der  Bestrafung  jener, 
die  gegen  den  vorjährigen  Befehl  super  iUam  ordinationem 
quam  de  liberis  et  pauperioribus  hominibus  fieri  iussimus  zu 
Hause  geblieben  und  weder  selbst  ausgerückt  seien  noch 
einen  Standesgenossen  unterstützt  hätten.  Dadurch  ist  die 
Gewißheit,  daß  tatsächliches  Ausrücken  der  Freien  am  Hofe 
beabsichtigt  war,  gegeben.  Vermißt  man  in  den  Kapitularien 
noch  manche  Detailbestimmungen  über  die  Art  der  Aus- 
führung, über  den  Ort  und  Zeitpunkt  der  Heeresversammlung, 
so  wird  sich  das  teils  aus  der  Oberlieferungsart  jener  Quellen, 
teils  aber  daraus  erklären,  daß  hier  die  mündüchen  Weisungen 
der  Königsboten  sowie  das  Herkommen  ergänzend  eintraten. 
Wir  müssen  es  demnach,  so  schwer  es  sich  mit  modernen 
Vorstellungen  auch  vereinbaren  läßt,  doch  als  sicher  hin- 
nehmen, daß  Kari  d.  Gr.  seine  freien  Bauern  noch  in  den 
späteren  Jahren  seiner  Regierung  wirklich  aufbot,  und  wir 
dürfen  ihm  nicht  zumuten,  daß  er  damit  etwas  praktisch  Un- 
Heeres ergaben,  hat  Kötzschke  in  der  Hist.  Vierteljahrschrift  2 
(1899),  243  richtig  betont. 

Hiitoriicbe  ZeiUcbrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  22 


334  W.  Erben, 

durchführbares  und  Wertloses  angestrebt  habe.  Das  in  Kriegs- 
und Verwaltungssachen  so  erfahrene  Urteil  des  Herrschers 
und  seines  Hofes,  das  den  Kapitularien  zügrunde  lag,  wi^ 
alle  Bedenken  moderner  Sachkritik  reichlich  auf. 

Vermag  ich  demnach  den  Ansichten  Delbrücks  über  das 
karolingische  Heerwesen,  welche  das  erste  Buch  dieses  Bandes 
einnehmen,  nicht  beizupflichten,  so  will  ich  nicht  verschweigen, 
daß  die  weiteren  Partien  zu  so  starken  Bedenken  keinen  An- 
laß geben.  Gewisse  Seiten  des  mittelalterlichen  Kriegswesens, 
denen  Delbrück  von  vorneherein  mit  geringer  Teilnahme  ent- 
gegenkommt, so  die  militärischen  Einrichtungen  der  Städte 
und  die  Lehrschriften  über  den  Krieg,  sind  wohl  allzu  dQrftig 
behandelt^);  aber  diese  Mängel  werden  durch  Vorteile  in 
anderer  Richtung  ausgeglichen.  Manche  Kapitel,  besonders 
jene  über  Rittertum  und  Söldner  im  3.  Buche,  wo  ein  schwer 
zu  disponierender  Stoff  vortrefflich  behandelt  ist,  betrachte 
ich  als  sehr  wertvolle  Bereicherungen  unserer  Literatur.  Natür- 
lich ist  hier  nicht  alles  neu,  aber  neben  der  Verwertung 
fremden  Wissensgutes  hat  Delbrück  doch  auch  sehr  viel 
Eigenes  beigesteuert.  Die  Grundgedanken  über  mittelalterliche 
Kriegskunst  stammen  aus  seinem  eigenen,  schon  1887  er- 
schienenen Werk  über  die  Perserkriege  und  Burgunderkriege. 
Sehr  viele  Einzelheiten  entnimmt  er  den  Arbeiten  seiner  Ber- 
liner Schüler,  welche  er  seit  bald  zwei  Jahrzehnten  mit  Fragen 
mittelalterlicher  Kriegsgeschichte  beschäftigt  und  die  besonders 
in  den  Jahren  1905  bis  1907  eine  ganze  Reihe  einschlägiger 
Schriften  zum  Druck  gebracht  haben.  2)    Delbrück  tut  diesen 


*)  Zu  der  S.  670  ff.  nachgeholten  „theoretischen'^  Literatur 
sei  bemerkt,  daß  die  von  Delbrück  nicht  erwähnte,  durch  die 
Sempacher  Schlacht  angeregte  ,,Lehr  von  den  Streiten*  des 
Wiener  Hochschullehrers  Seffner,  jetzt  in  Seemüllers  Ausgabe, 
Mon.  Germ.,  Deutsche  Chroniken  6,  224  ff.  vorliegt ;  im  übrigen 
sind  alle  diese  Dinge  zumeist  besser  als  bei  Delbrück  in  der 
Geschichte  der  Kriegswissenschaften  von  Jahns  zu  finden. 

•)  Zu  den  in  dieser  Zeitschr.  95,  154  f.  u.  531 ;  96,  356  u.  536  f.; 
99,  197  u.  203  f.;  100,  669  besprochenen  Dissertationen  wären  noch 
Wodsak,  Die  Schlacht  bei  Kortryk  11.  Juli  1302  (Berliner  Dissert. 
1905)  und  BaUhausen,  Die  Schlacht  bei  Bouvines  27.  Juli  1214 
(Jena  1907,  nicht  als  Dissertation  bezeichnet,  aber  wohl  in  diesen 


Zur  Geschichte  des  kafolingischen  Kriegswesens.         335 

Anf&ngerieistungen  im  allgemeinen  wohl  zu  viel  Ehre  an,  in- 
dem er  sie  mit  vieler  Anerkennung  zitiert  und  größtenteils  als 
«maßgebend*  hinstellt;  sie  zeigen  den  Einfluß  des  Lehrers 
ziemlich  deutlich  und  haben  ihre  Themata  wohl  etwas  ge- 
fördert, aber  zumeist  nicht  gelöst.  Kann  man  das  den  ein- 
zelnen Verfassern  gewiß  nicht  zum  Vorwurf  machen,  so  er- 
wächst für  eine  Geschichte  der  Kriegskunst,  die  sich  auf  solcher 
Grundlage  aufbaut,  doch  ein  gewisser  Nachteil.  Aber  in  der 
Hauptsache  ist  der  regere  Betrieb,  den  Delbrück  auf  diesem 
Gebiet  entfacht,  eine  erfreuliche  Erscheinung.  Für  den  Fort- 
gang möchte  ich  mir  erlauben,  den  Wunsch  auszusprechen, 
daß  die  Quellenuntersuchungen  selbst  energischer  geführt 
und  daß  das  Terrain  in  jedem  Falle  genauer  untersucht  tf'ürde. 
Es  genügt  bei  Darstellung  eines  kriegerischen  Unternehmens 
nicht,  die  Quellen  zu  sammeln  und  das  Urteil  zu  buchen, 
welches  über  Entstehung  und  Wert  jedes  einzelnen  Berichtes 
in  der  Literatur  schon  zu  finden  ist,  sondern  die  Eigentüm- 
lichkeit der  Fragestellung  erfordert  eine  neue,  selbständige 
Bewertung;  diese  ist  bei  den  genannten  Dissertationen  manch- 
mal zu  vermissen.  Daß  Delbrück  das  Studium  des  Terrains 
vernachlässigt,  ist  eine  alte  Klage.  Die  Beschaffenheit  der 
dem  dritten  Bande  beigegebenen  Karten  bestätigt  sie  leider 
von  neuem ;  es  sind  nur  neun  rohe  Skizzen,  davon  drei  ohne 
Angabe  des  Maßstabs,  die  Mehrzahl  ohne  jede  Bezeichnung 
der  orographischen  Verhältnisse,  keine  in  einem  solchen  Maß 
gezeichnet,  daß  man  genauere  Anschauung  gewinnen  würde. ^) 
Delbrück  ist  allerdings  der  Meinung,   daß  die  taktische  Ver- 


Kreis gehörig)  nachzutragen.  Ober  einen  Teil  dieser  Schüler- 
arbeiten berichtet  Baltzer  in  den  Mitt.  d.  Instituts  28,  694;  über 
einige  s.  Haene,  Perlbach  und  Holtzmann  in  der  Deutschen  Lite« 
raturzeitung  1906,  Nr.  17;  1907,  Nr.  1;  1908,  Nr.  15. 

>)  Zur  Schlacht  am  Lechfeld  ist  S.  115  eine  Karte  beige- 
druckt, die  den  Maßstab  1 :  500  000  trägt,  in  WirkKchkeit  aber  wohl 
1 :  1350000  gezeichnet  und  wohl  aus  Hartlebens  Volksatlas  od.  dgl. 
abgeleitet  ist;  Karten  in  so  kleinem  Maße  (ähnüche  S.  455,  593, 
633)  hätten  wohl  ganz  wegbleiben  können;  irgendeinen  Altlas 
wird  doch  jeder  Leser  zur  Hand  haben.  Es  käme  auf  Karten- 
skizzen an,  die  wenigstens  unseren  Generalstabskarten  entsprechen ; 
dieser  Erwartung  ist  aber  nirgends  wirklich  entsprochen. 

22» 


336    W.  Erben,  Zur  Geschichte  des  karolingischen  Kriegswesens. 

Wendung  des  Terrains  für  die  Ritterheere  in  den  Hintergrund 
trete  (S.  309),  und  er  glaubt  wohl  deshalb,  der  örtlichen  Be-^ 
schaflenheit  des  Schlachtfeldes  im  Mittelalter  nicht  dieselbe 
Beachtung  schenken  zu  müssen  wie  auf  anderen  Gebieten.^) 
Es  mag  sein,  daß  er  darin  Recht  hat,  soweit  es  sich  um  seinen 
besonderen  Zweck,  die  Feststellung  der  Kampfweise,  handelt; 
aber  der  ganze  Kreis  dieser  Studien  verliert,  wenn  es  ver- 
säumt wird,  die  kriegerischen  Vorgänge  auf  den  Raum  so 
genau,  als  es  angeht,  zu  projizieren.  Mit  der  Möglichkeit» 
aus  den  räumlichen  Verhältnissen  heraus  zu  genauerem  Ver-^ 
ständnis  der  Quellen  zu  gelangen,  werden  auch  jene  Vorteile 
preisgegeben,  die  aus  der  archäologischen  Untersuchnng  und 
aus  der  historisch-geographischen  Betrachtung  der  Ortlichkeit 
gewonnen  werden  könnten.  Es  ist  für  das  Mittelalter  in  dieser 
Hinsicht  bisher  nur  wenig  geleistet  worden,  weit  weniger  ats 
für  die  antike  Zeit.  Und  doch  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dafi 
eine  Kombination  archäologischer,  historisch-geographischer 
und  kriegsgeschichtlicher  Forschung  auch  hier  lohnende 
Früchte  bringen  wird,  nicht  bloß  für  die  Kenntnis  der  Kriegs- 
kunst, sondern  auch  für  andere  Wissenszweige.  Der  Krieg  ist 
keine  isolierte  Erscheinung  des  geschichtlichen  Lebens,  im 
Mittelalter  noch  weniger  als  jemals;  auch  seine  Erforschung 
kann  daher  nicht  von  anderen  Aufgaben  und  Fragen  getrennt, 
nicht  von  dem  Boden  losgelöst  werden,  auf  dem  er  spielt; 
sie  wird  sich  um  so  fruchtbarer  gestalten,  je  mehr  der  Forscher 
geneigt  ist,  ernstlich  auch  an  der  Aufhellung  anderer  Arbeits- 
gebiete mitzuwirken.  Nicht  bloß  im  ,,  Rahmen  der  politischen 
Geschichte",  wie  Delbrücks  Titel  ankündigt,  sondern  in  engster 
Verbindung  mit  den  erfaßbaren  Zweigen  der  staatlichen  und 
kulturellen  Entwicklung  sollte  die  Geschichte  der  Kriegskunst 
betrieben  und  geschrieben  werden. 

')  S.  359  lies  statt  Wasserburg  (am  Inn?)  Wassenberg  (a.  d. 
Roer);  der  falsche  Name  ist  auch  in  das  chronologische  Ver- 
zeichnis der  Gefechte  (S.  687  f.)  und  in  das  recht  nachlässig  ge- 
arbeitete Sachregister  übergegangen.  —  An  Flüchtigkeiten  fehlt 
es  freilich  auch  sonst  nicht:  S.  130  der  Markraf  Ernst  „von  Bayern* 
soll  doch  heißen  „von  Österreich",  S.  291  Herzog  Johann  »von 
Neumark*  richtig  „von  Neumarkt*,  S.  384  wird  Rudolf  von  Habs- 
burg   der  spätere  Kaiser*  (I)  genannt. 


Eine  Denkschrift  des  Grafen  von  FincUnstein  etc.        ^7 

Eine  Denkschrift  des  Grafen  von  Pinckenstein 
„Über  die  Freiheiten  der  Ritterschaft''  (1811). 

Veröffentlicht 
von 

Friedrich  Meusel. 

Erst  seit  kurzem  hat  die  geschichtliche  Forschung  die 
Bedeutung  der  Hardenbergschen  Edikte  von  1810/11  für  die 
Überwindung  der  ständischen  Kastengliederung  in  der  Mon- 
archie Friedrichs  d.  Gr.  voll  erkannt.  Sie  haben  auf  dem  Ge- 
biete der  Besteuerung  das  Werk  fortgesetzt,  welches  durch 
Steins  Reformen  von  1807/08  und  Scharnhorsts  Heeresreform 
begonnen  war.  Die  alte  landständische  Verfassung  der  Kur- 
mark, Pommerns  und  Preußens,  nach  welcher  nur  durch 
Vertrag  der  Regierung  mit  den  Ständen  den  Provinzen 
Lasten  auferlegt  werden  durften,  war  durch  den  Großen  Kur- 
fürsten und  Friedrich  Wilhelm  1.  zwar  faktisch  beschiHnkt, 
aber  rechtlich  nie  aufgehoben  worden:  indem  nun  durch 
Hardenbergs  Finanzedikt  vom  27.  Oktober  1810  die  bisherige 
Steuerfreiheit  der  meist  adligen  Rittergutsbesitzer  (die  bis 
dahin  nur  ihre  Lehnsverpflichtungen  zu  erfüllen  hatten)  be- 
seitigt wurde,  erlitt  die  privilegierte  Stellung  des  ersten  Standes 
einen  Schlag,  wie  ihn  dieser  seit  den  Zeiten  des  Großen 
Kurfürsten  nicht  mehr  erlitten  hatte.  Es  ist  kein  Zufall,  daß 
Hardenberg  die  adligen  Rittergutsbesitzer,  die  sich  in  ihren 
Eingaben  stets  als  , Stände*  und  , Ritterschaf f"  bezeichneten, 
nach  der  Berechtigung  dieser  Benennung  fragte  und  selbst 
nur  «adlige  Gutsbesitzer*  nannte. 

War  es  ein  Wunder,  daß  sich  der  märkische,  pommersche, 
preußische  und  schlesische  Adel  —  die  Kurmärker  voran  — 
gegen  die  Aufhebung  seiner  Privilegien  wehrte?  Wäre  es  nicht 
ein  Schwachheitssymptom  gewesen,  wenn  diese  alte  Herrscher- 
schicht die  Reformen  ohne  Widerstand  und  Haß  über  sich 
hätte  ergehen  lassen?  Merkwürdige  Wandlung  1  Einst,  zu 
Zeiten  des  Großen  Kurfürsten,  hatten  die  Märker  geduldiger 
als  der  Adel  einer  anderen  Provinz  das  Joch  des  modernen 
absoluten  Staates  auf  ihren  Nacken  genommen;  eben  deshalb 
waren  die  Rechte   der  märkischen  Stände   auf  Selbstverwal- 


338  •  Friedrich  Meusel, 

tung  im  engeren  Kreise  verhältnismäßig  am  wenigsten  ein- 
geschränkt worden.^)  Ja,  unter  Friedrich  d.  Gr.  noch  hatte 
das  kreisständische  Leben,  von  ihm  befördert,  sich  namentlich 
in  der  Kurmark  kräftig  entfaltet.  So  ist  es  verständlich,  daß 
sich  gerade  hier  der  stärkste  Widerstand  gegen  Hardenbergs 
die  letzten  Reste  ständischer  Freiheit  vernichtendes  Vorgehen 
erhob. 

An  der  Spitze  der  altständischen  Opposition,  über  die 
wir  kürzh'ch  durch  einen  Schüler  Max  Lehmanns  im  einzelnen 
sorgfältig,  im  Urteil  wohl  nicht  allenthalben  zutreffend  unter- 
richtet sind^),  stand  bekanntlich  der  damalige  Major,  spätere 
General  Ludwig  von  der  Marwitz,  der  konsequenteste  Ver- 
fechter der  ständisch-feudalen  Doktrin.  Neben  ihm  ist  als  ein 
Vorkämpfer  der  alten  märkischen  Stände  der  Reichsgraf  Karl 

V,  Finckenstein  zu  nennen,  der  Sohn  des  bekannten  Staats- 
ministers Friedrichs  d.  Gr.,  derselbe,  der  einst  an  der  Spitze 
des  KUstriner  Gerichts  gestanden  hatte,  welches  dem  Müller 
Arnold  durchaus  Recht  geben  sollte,  und  der,  da  er  nach 
seiner  Rechtsüberzeugung  entschied,  zusammen  mit  dem  Groß- 
kanzler Fürst  aus  dem  Staatsdienst  entlassen  worden  war  (1 779).') 
Zwar  hatte  der  Nachfolger  des  großen  Königs  schon  bald 
nach  seinem  Regierungsantritt  eine  Revision  des  Prozesses 
vornehmen  lassen;  die  seinerzeit  mit  Festungshaft  bestraften 
Richter  wurden  freigesprochen,  ihr  Urteil  bestätigt;  aber  der 
einstige   Regierungspräsident  Graf  Finckenstein   kehrte  nicht 

^)  Vgl.  über  die  Kurmärkischen  Stände  um  das  Jahr  1740 
Otto  Hintze,  Behördenorganisation  und  Allgemeine  Verwaltung 
in  Preußen  beim  Regierungsantritt  Friedrichs  IL,  Acta  Boruasica 

VI,  1,  S.  347—361.  In  Pommern  ebenda  S.  390  ff.,  in  Ostpreußen 
8.  316  f. 

*)  Wilhelm  Steffens,  Hardenberg  und  die  ständische  Oppo- 
sition 1810/11  (Veröffentlichungen  des  Vereins  für  Gesch.  d.  Mark 
Brandenburg),  Leipzig,  Duncker  ^  Humblot.  1907.  Vgl.  auch 
meine  Einleitung  zu  Marwitz'  Memoiren  (Fr.  Aug.  L.  v.  d.  M.,  ein 
märkischer  Edelmann  im  Zeltalter  der  Befreiungskriege  Bd.  1, 
1908)  S.  XXXV  ff. 

')  Vgl.  über  Finckenstein :  Schwarze  in  der  Allg.  Dtsch.  Blogr« 

VII,  21  f.  und  meine  Mitteilung  in  den  Forsch,  z.  Brand.-Preufl. 
Gesch.  XIX,  2,  S.  204  ff.  Ober  den  Müller  Arnoldschen  Prozeß.: 
Koser,  Friedrich  d.  Gr.  IP,  S.  542  ff.,  687  f. 


Eine  Denkschrift  des  Grafen  von  Finclcenstein  etc.        339 

wieder  in  den  Staatsdienst  zurück,  sondern  lebte  landwirt- 
schaftlicher Beschäftigung  und  literarischen  Neigungen  auf 
seinen  Gütern. 

Erst  in  der  Reformzeitf  im  Kampfe  für  das  alte  Recht, 
scheint  er  mit  voller  Leidenschaft  an  der  inneren  Politik  wieder 
Anteil  genommen  zu  haben.  Jetzt  war  die  Feder  des  ge- 
schulten Juristen,  der  einst  in  Halle  studiert  und  sich  an  den 
Schriften  von  PUtter  weitergebildet  hatte,  seinen  Mitständen 
von  Wert;  einige  der  prägnantesten  und  durchdachtesten 
Denkschriften  im  Kampfe  gegen  Hardenberg  stammen  von 
ihm.  Zwar  gehörte  Graf  Finckenstein  weder  den  von  Harden- 
berg zusammenberufenen  yConvocirten*',  jenen  Notablen  an, 
die  in  Berlin  zur  Beratung  der  neuen  Edikte  tagten,  noch 
war  er  Mitglied  der  «Versammlung  der  Deputierten  der  kur- 
märkischen Stände*,  jener  Vertretung  der  alten  Provinziaf- 
stände,  die  daneben  zusammengetreten  war,  um  gegen  die 
Reformen  des  Staatskanzlers  Protest  einzulegen^);  er  hat  aber 
trotzdem  durch  seine  Eingaben  und  seine  bei  den  kreisstän- 
dischen Beratungen  erworbene  Erfahrung  in  diesen  Kämpfen 
—  zumal  bei  der  berühmten  Immedialeingabe  der  Kreisstände 
von  Lebus  und  Beeskow-Storkow  an  den  König —  eine  Rolle 
gespielt. 

Auch  der  folgende,  von  Finckenstein  verfaßte  Aufsatz: 
Ȇber  die  Freiheiten  der  Ritterschaff",  dem  Marwitz 
einige  Bemerkungen  und  Erläuterungen  hinzugefügt  hat,  ist 
an  die  Deputierten  der  kurmärkischen  Stände  gerichtet  2)  und 
kurz  vor  ihrem  Zusammentritt  (am  18.  Januar  1811)  nieder- 
geschrieben. Zwar  trägt  die  Abhandlung  einige  Spuren  rascher 
Abfassung  an  sich,  zeigt  aber  die  Anschauungen  des  fron- 
dierenden  Adels  in  dem  letzten  Kampfe  gegen  die  Staats- 
einh^it  und  Rechtsgleichheit  der  Monarchie  wie  in  einem 
Brennpunkt  zusammengefaßt,  so  daß  ihr  Abdruck  im  Wortlaut 
mit  einigen  Erläuterungen  gerechtfertigt  erscheint. 


>)  Vgl.  über  sie  Steffens  a.  a.  O.  S.  41  ff.,  76  ff. 

*)  Eine  Abschrift  liegt  im  Stand.  Archiv  der  Mark  Bjanden- 
burg  (ßerUn;  B.  1,  Nr.  104).  Sie  wurde  der  Versammlung  durch 
Marwitz  eingereicht.  Das  mir  vorliegende,  von  Finckenstein 
unterzeichnete  Original  im  Marwitzscben  Famüienarchiv,  Landes- 
angelegenheiten VI,  Nr.  6,  vol.  111. 


340 


Friedrich  Meusel, 


Gesetz 


yDie   Freiheiten    der   Ritterschaft    sind 
nichts  anderes,  als  der  Inbegriff  aller  ihrer 
Gerechtsame  und  Vorzüge,  so  benannt,  weil 
sie  aus  ihrer  uralten  Eigenschaft  eines  freien 
Deutschen     herrühren.      Diese     uneinge- 
schränkte Freiheit  hat  in  der  Folge  in  den 
einzelnen  Deutschen  Ländern   mannigfaltige 
Einschiünkungen  und   auch  allgemeine  Be- 
stätigungen durch  Vertrags-Gesetze  mit  den 
Majori "v^n^deT   Landesfürsten   erhalten,    gründet  sich    aber 
Marwitz:        nicht  auf  ein  geschriebenes  Gesetz,  sondern, 
X  iit,  aU  irgend       da  sic  älter  X  als  ein  jedes  solches  ist,  auf 
_  **"*•  ^^"  ^^^•*"  das  ehrwürdige,  jetzt  von  einigen  Schwindel- 
köpfen verschrieene,  ungeschriebene [7  das 
Herkommen. 

Es  ist  daher  unmöglich,  die  Freiheiten 
des  Deutschen  Adels  überhaupt  vollständig 
zu  spezifizieren  und  leichter  (Ihnen)  die 
Einschränkungen  0  in  Rücksicht  auf  den 
Brandenburgischen  Adel  als  die  Freihei- 
ten <|)  mit  Gesetzes-Stellen  zu  belegen.  Was  in 
diesem  letzten  Stück  fehlet,  läßt  sich  nur  aus 
dem  allgemeinen  Begriff  deduciren.  [Wenn 
Sie  einen  Blick  auf  den  Titl.  9  des  2««"  Thls. 
des  Allg.  Landrechts^)  werfen  und  gegen 
die  Ständischen  Monita  halten,  so  wer- 
den Sie  sehen,  wie  mangelhaft  die  Materie 
vom  Adel  dort  bearbeitet  ist.  Der  Herr 
Land-Syndikus  in  Berlin  2)  wird  Ihnen  diese 
Monita  mittheilen  und  überhaupt  am  besten 
das  ergänzen  können,  was  in  der  folgenden 
Ausführung  aus  Mangel  an  Hülfsbüchem  und 
an  Zeit  fehlen  wird.] 


O   der  Freiheit 


^    seibat 


^)  «Von  den  Pflichten  und  Rechten  des  Adelstandes.*  AUg. 
Landrecht  für  die  Preußischen  Staaten,  Neue  Ausg.  (1804)  Bd.  4, 
8.  a— 14. 

•)  Fritze.  Er  führte  das  Protokoll  bei  der  Deputierten-Ver- 
sammlung von  1811. 


Eine  Denkschrift  des  Grafen  von  Finckenstein  etc.        341 

I. 

a.  Die  Freiheit  des  Märkischen  Adels  von 
Persönlichen  Steuern  nnd  Lasten  gilt  also 
vermöge  des  Herkommens  mit  einziger 
Ausnahme  der  gesetzlichen  Einschränkungen 
durch  Landes-Verträge,  nicht  Edicte^), 
da  dergleichen  laut 

Landtags-Rezesses  von  1653  in  fine') 
denenselben  zuwiderlaufend  nicht  publiciret 
werden  sollen. 

b.  Die  Freiheit  der  Rittergüter  von  Real- 
steuern und  Lasten  beruhet  auf  die  alte 
Lehnsverfassung  mit  einziger  Ausnahme 
der  in  den  Lehnbriefen  aufgelegten  oder 
nach  der  Provinzial-Observanz  herge- 
brachten Lehn-Dienste.  Durch  Vertrag  sind 
aber  diese  Lehndienste  in  einen  jährlichen 
Canon  von  40  Reichsthalern  pro  Lehn-Pferd 
verwandelt. 

Lehns- Assecuration  von  1717.') 

c.  Das  Persönliche  Recht  des  Adels  zum 
Eintritt  in  die  Hoch-Stifter  und  den  Jo- 
hanniter-Orden  beruht  auf  das  alte  Her- 
kommen und  ist  sogar  in 

Titl.  9.  2*cn  Theils  des  AUg.  Landrechts  §  22 
anerkannt. 

d.  Das  vorzügliche  Recht  endlich  der  Land - 
Standschaft  ist  eine  Folge  der  ursprüng- 
lichen  Verfassung   aller    deutschen   Völker- 


*)  Wie  sie  Hardenberg  erließ. 

*)  Der  Rezeß  vom  26.  Juli  1653  ist  abgedruckt  bei  Mylius, 
Corpus  Constitutionum  Marchicarum  VI,  1 — 3,  S.  425  ff. 

*)  Vgl.  über  den  Abschluß  der  Lehnsassekuration  Ranke, 
Zwölf  Bücher  Preuß.  Gesch.  III,  153—159.  Die  Assekurationsakte 
vom  30.  Juni  1717  ist  gedruckt  bei  Mylius,  Corpus  Constitutionum 
Marchicarum  11,  5,  Sp.  89  ff.  (Nr.  LXII).  Vgl.  Acta  Borussica,  Be- 
hördenorganisation 11,  S.  466—4%.  V.  Löwe,  Die  AUodifikation 
der  Lehen  unter  Friedrich  Wilhelm  1.,  Forsch,  z.  Brand.-Preuß. 
Gesch.  XI,  2,  S.  41—74. 


342 


Friedrich  Meusel, 


f^  Auch  in  den  Hul- 
dlgongtassecimtioiien 
von  1786  und  1798 
verbis:  Versprechen 
bei  Unserm  Ktfnig- 
lichen  Worte,  daß  Wir 

auf  die  von 

ihnen  (den  Stünden) 
bei  Uns  anzubringen- 
den Landetbeschwer- 
den  und  Desideria 
allergnldigst  Rück- 
sicht nehmen  und 
Uns  darüber  derge- 
stalt erkllren  wol- 
len, dafl  männigUch 
Unsere  Landesväter- 
liche, für  UnsereChur- 
lande  hegende  Gnade 
zu  erkennen,  und  in 
der  That  zu  verspüh- 
ren  haben  soU^  etc^) 

T  NB.  Dieser  heißt, 
daß  die  Regierung 
die  schrecklicfaie  Ver- 
fügung,    daß    wegen 

Gerechtsame  etc. 
gegen  die  Edlcte  kein 
Gehör  bei  den  Ge- 
richtshöfen verstattet 
werden  soll,  zurück- 
nehmen muß,  weil  im 
Gegentheil  gegen  den 
Inhalt  der  Landtags* 
Recesse  keine  Edicte 
publicirt  werden  sol- 
len. 


Schäften  und  jener  ursprünglichen  Freiheit 
Vermöge  derselben  konnte  kein  Anderer  den 
freien  Deutschen,  sondern  nur  Er  sich  selbst 
und  in  Seiner  Person  seine  Knechte,  nach- 
mals Unterthanen,  besteuern.  Ebenso  wurden 
die  Fragen  von  Bündnissen,  von  Krieg  und 
Frieden,  von  Gesetzen,  nur  mit  seiner  Zu- 
ziehung entschieden.  Das  Herkommen  in 
einer  steten  Folge  von  Landtags  -  Recessen 
hat  dieses  Recht  bestätigt,  ja  es  ist  sogar 

in  dem  Landtags-Receß  von  1653  Artikel  14 
ausdrücklich  versprochen,  daß 
der  Landesherr  in  wichtigen  Sachen,  daran 
des  Landes  Gedeihen  oder  Verderb  gelegen, 
ohne  der  Stände  Vorwissen  und  Rath  nichts 
vornehmen,  sich  auch  in  keine  Verbündnisse 
etc.  einlassen  wolle,  p 
und  regelmäßig  ist  in  Rücksicht  auf  die  Ge- 
setzgebung in  eben  diesem  Rezeß 

Articulo  24  und  46 
bestimmt  anerkannt,  daß  die  Stände  Gesetzes- 
Vorschläge  zu  thun  berechtigt  sind. 

Bei    dieser   Gelegenheit    kann   ich    nicht 

umhin,  Ihnen  die  Nachlesung  und  Erwägung 

dieser  Articul  mit  Rücksicht  auf  den  No.  6 

unserer  Punkte^)^  zu   empfehlen,  damit 

unter  Ihren  Vorschlägen  auch  der  sich  finde : 

daß  eine  schleunigere  und  unpartheiischere 

Administration  der  Justiz  eingeschärfet,  und 

nicht  durch   eine   in    den    Gesetzen  nicht 

gegründete  Billigkeit  das  Recht  gebeuget, 

am  wenigsten  aber  ein  Stand  gegen  dem 

anderen    begünstigt    oder    zurUckgesc^tzet 

werde,  wie  es  jetzt  sichtlich  mit  Bauern 

und  Edelmann  geschiehet. 


')  Die  Assekurationsakte  von  1798  ist  abgedruckt  in  meiner 
Neuausgabe  von  der  Marwitz'  Memoiren  Bd.  1,  S.  131  f. 

')  Bezieht  sich  auf  die  „Punkte  worüber  man  einig  ist'',  einen 
Aufsatz  des  Grafen  Finckenstein  vom  Dezember  1810. 


Eine  Denkschrift  des  Grafen  von  Finckenstein  etc.       343 

IL 
Gegen  diese  Vorrechte  des  Adels  kommt 
nun   seine   Ausschließung   von  gewissen 
Rechten  in  Betrachtung. 

a.  Diese  Rechte  sind  nun  erstlich  das  Recht, 
eigentlich  sogenannte  bürgerliche  Gewerbe, 
Kaufmannschaft  etc.  zu  treiben.  Dieses  hielt 
der  Deutsche  Edelmann  unter  seiner  Würde, 
erst  das 

Allgemeine    Landrecht    Theil  2    Titel  9 
§  76  und  l 
hat  den  Adel  unter  gewissen  Einschränkungen 
dazu  berechtigt.^) 

b.  Zweitens:  noch  weniger  konnte  der 
Edelmann  unterthäniger  Bauer  werden  wollen, 
und  er  ist  auch  daher  nach  dem 

Allgemeinen  Landrecht  loco  citato  §  73 
in  der  Regel  nicht  Bäuerliche  Nahrungen 
zu  erwerben  befugt.  2) 

Drittens  hat  König.  Friedrich  Wilhelm  I. 
als  die  Zeitpachtungen  der  Domainen 
von  ihm  eingeführt  wurden,  den  Edelmann 
ganz  davon  ausgeschlossen,  welches  dem 
Landesherrn  als  Verpächter  betrachtet  wohl 
freistehn  mußte. 

Diese  Ausschließungen ,  besonders  die 
letzte,  haben  den  Märkischen  Adel  freilich 
gegen  den  Bürgerstand  in  Rücksicht  auf 
Reichtum  zurückgesetzt;  sie  sind  aber  doch 


0  §  76,  77  und  79  lauten:  «Adliche  sollen  in  der  Regel  keine 
bürgerliche  Nahrung  und  Gewerbe  treiben.''  «Wo  die  Handlung 
im  Großen  an  keine  Gilde  gebunden  ist,  kann  auch  ein  Adlicher 
dergleichen  Gewerbe  unternehmen.''  „In  geschlossene  Kaufmanns- 
innungen soll,  der  Regel  nach,  kein  Adücher  ohne  besondere 
Landesherrliche  Erlaubniß  aufgenommen  werden." 

*)  A.  L.  R.  II,  9,  §  73  lautet:  „Nur  unter  ausdrücklicher  Ge- 
nehmigung der  Landes-Polizeibehörde ,  können  Personen ,  vom 
Adel  Rustikalgründe  als  eigne  für  sich  bestehende  Güter  erwerben." 
Vgl  auch  §  74—75  und  A.  L.  R.  II,  7,  §  14—16. 


344  Friedrich  Meusel, 


für  seine  Existenz  von  den  glücklichsten 
Folgen  gewesen.  Denn  sie  haben  dazu  ge- 
dient, ihn  von  den  anderen  Ständen  abge- 
sondert zu  halten,  und  er  hat,  wie  der  gegen- 
wärtige Augenblick  beweiset,  mit  dem  alten 
Geiste  noch  eine  gewisse  Unabhängigkeit 
behauptet,  die,  wenn  viele  seiner  Glieder 
Domänen-Pächter  wären,  nicht  Statt  finden 
würde. 

III. 
Nunmehr    sind    die    Einschränkungen 
der   Freiheiten   des   Adels   aufzuzählen,   sie 
sind,  so  viel  mir  bewußt,  nur  folgende: 

1.  in  Rücksicht  auf  Persönliche  Steuer- 
freiheit, die  Zollpflichtigkeit  in  Ab- 
sicht des  Kornes  bei  der  Ausfuhr  in 
fremde  Lande,  wie  sie 

Landtags-Receß  1653  articel  52 
bestimmt  ist;  die  Erlegung  der  Bier-  und 
Branntwein-Ziese    an    die    Landschaft, 
wo    zum  Krug-Verlag  und  Verkauf  diese 
Gewerbe  getrieben  werden. 

2.  in  Rücksicht  auf  Real-Steuerfreiheit  der 
einzige  Lehns-Canon,  und  der  Giebel- 
schoß an  die  Landschaft;  denn  die  Real- 
Lasten  wüster  Hufen,  die  der  Edelmann 
unterm  Fuß  hat,  können  hierher  nicht  ge- 
rechnet werden,  und  eben  so  wenig  kann 
die  Verpflichtung,  den  Impost  und  die 
Accise  von  fremden  Waren  zu  erlegen, 
zugegeben  werden,  da  diese  dem  Adel 
nur  abgezwungen  werden,  und  er  stets 
dagegen  reclamiret  hat,  und  namentlich  im 
Jahr  1798  oder  99 1)  von  ihm  bei  der  Land- 
schaft dagegen  förmlich  protestiret  wor- 
den ist. 


*)  Die  Akzisefreiheit  des  Adels  in  den  Städten  war  1799  auf- 
gehoben worden.  Vgl.  Hintze,  Histor.  Zeitschr.  76,  426  ff.  (über 
Finckensteins  AnteU  an  der  Opposition  S.  427  Anm.  5,  428  Anm.  4). 


Eine  Denkschrift  des  Grafen  von  Finckenstein  etc.        345 

IV. 
In   allen   übrigen   Stücken,   sofern   nicht 
hier  Einiges  mir  in  der  Eile  entwischet  ist, 
bestehen  die  Freiheiten  des  Adels  als  Recht 
noch  in  ihrem  ganzen  Umfange  und  haben 
die  ausdrücklichen  Bestätigungen  der 
Landesherm  für  sich.    Der  letzten  des  jetzi- 
gen Königs  vom  Jahre  1798^)  nicht  zu  ge- 
denken, finden  sie  sich  in  allen  Landtags- 
Recessen  und  Reversen,  namentlich  in 
dem  Landtags-Recesse  von    1653    introitu 
in  fine 
mit  den  Worten: 
„gereden  demnach  und  geloben  —  Unseren 
getreuen  Landständen  —  bei  Ihren  Privi- 
legien, Freiheiten,  wohlhergebrachten  Ge- 
rechtigkeiten,    Besitz,     Gewerbe     und 
Possession  ungehindert  —  zulassen,  sie 
auch  insonderheit  bei  den  alten  Kurfürst- 
lichen Reversen  —  zu  schützen  etc.* 
ferner  in  fine 

„Es  sollen  auch  die  vorigen  Landes-Re- 
verse  etc.  in  ihrem  vigore  verbleiben  etc.* 
endlich  articel  19 
soll  über  die  Landes-Reverse  in  judicando 
und  sententionando  festiglich  gehalten  — 
und  darnach  allerdings  gesprochen  und 
erkannt  werden  etc. 

A.  Die  Real-Steuerfreiheit  der  Ritter- 
güter findet  ihre  Bestätigung  besonders  in 
der  Lehns- Assecuration  vom  30*«"  Juny  1717 
§  3.  4.  6  und  7, 


und  meine  Mitteilung:  „Über  die  Aufhebung  der  Akzisefreiheit 
des  Adels  in  den  Städten**,  die  in  einem  der  nächsten  Hefte  der 
Forsch,  z.  Brand.-Preuß.  Gesch.  veröffentlicht  werden  soll. 

*)   Die  bei  der  Huldigung  gegebene  Akte,  vgl.  oben  S.  342 
Anm.  1. 


346  Friedrich  Meusel, 


worin   besonders   merkwürdig   ist,   daß   der 
Lehns-Canon 

a.  als  ein  purum  surrogatum  der  Ritter- 
pferde und  geleisteten  Lehns-onerum 
consideriret  werden  sollen; 

b.  derselbe  niemal  und  zu  ewigen  Zeiten 
nicht  erhöht  werden  soll; 

c.  durch  Aufhebung  des  Nexus  feudalis  inter 
Dominum  et  Vasallum]  die  Qualität  der 
Ritterfreien  Güter  nicht  alteriret  und  selbige 
von  allen  oneribus  und  Auflagen,  sie  mögen 
Namen  haben  wie  sie  wollen,  erdacht 
sein  oder  annoch  erfunden  werden, 
künftig  überall  befreiet  bleiben  sollen; 

d.  allen  Freiheiten  etc.,  so  der  Ritterschaft  in 
den  Landtags-Recessen,  vornehmlich  aber 
dem  von  1653,  soweit  er  nicht  der  Lehns- 
Vererbung  entgegen  ist,  nicht  das  geringste 
präjudiciret  werden  soll. 

B.  Die  Persönlichen  Freiheiten  werden 
schon  hierdurch,  noch  viel  bestimmter  aber 
durch 

die  Resolution  vom  24*«"  Februar  1717  §  7 
bestätigt  mit  den  Worten; 

«Also  versichern  auch  Seine  Königliche 
Majestät  dero  Ritterschaft  etc.  —  daß  sie  so- 
wohl wegen  Ihrer  Güter  als  Personen  bei 
Ihren  Vorrechten,  Prärogativen  und  Immuni- 
täten, wie  Sie  dieselben  von  Seiner  König- 
lichen Majestät  und  dero  Vorfahren  er- 
langt, auch  hergebracht  und  genos- 
sen, ungekränket  gelassen,  geschützet  und 
mainteniret  werden  sollen.* 

Jedes  Vorrecht  und  jede  Immunität,  welche 
die  Ritterschaft  also  im  Jahr  1717  noch  be- 
sessen und  genossen  (§  7  allegatus,  und 
Landtags-Rezeß  von  1653  introitu  in  fine 
verbo    Besitz,    Possession:)   jedes   Ge- 


Eine  Denkschrift  des  Grafen  von  Finckenstein  etc.        347 

werbe  (ibid.  i.  c.)  welches  Sie  damals  frei 
ausgeübt,  ist  also  auch  jetzt  noch  Ihr  un- 
verletzbares Recht. 

Hiernach  wird  es  nicht  schwer  sein,  die 
Rechtmäßigkeit  der  neuen  Edicte  und  Auf- 
lagen zu  beurtheilen. 

Formaliter  werden  sie  alle  solange  un- 
rechtmäßig bleiben,  bis  die  Stände,  gemäß 
dem 
Artikel  14  des  Landtags-Recesses  von  1653 
und  in  fine 
dabei  zugezogen  werden; 

Materialiter  aber  sind  unrechtmäßig: 

1.  in  Rücksicht  auf  die  Real-Steuerfrei- 
heit,  die  Grundsteuer,  die  Einquartie- 
rungs-Pflichtigkeit,  nach  §  3  der  Lehns- 
Assekuration ; 

2.  in  Rücksicht  auf  die  Personal-Steuer- 
freiheit, 

a.  die  Lux  US- St  euer  auf  den  Rittersitzen; 

b.  die  Consumtions-Steuer  für  den  Be- 
sitzer Ritterfreier  Güter,  und  seinen  ganzen 
Haushalt  und  Dienerschaft; 

c.  die  Gewerbe-Steuer,  insofern  das  Ge- 
werbe nicht  ein  solches  ist,  welches  nach 
dem  obigen  dem  Adel  verwehrt  war; 

d.  die  Vorspannpflichtigkeit,  und  auch 
in  Rücksicht  auf  die  wüsten  Hufen; 

denn  alle  diese  Freiheiten  hat  die  Ritter- 
schaft vor  anno  1717  genossen  und  von  da 
an  bis  jetzt,  bis  auf  einige  Eingriffe,  welche 
keine  Rechtsgültigkeit  haben  erlangen  kön- 
nen, behauptet.  In  Ansehung  jedes  Punktes 
ist  folgendes  besonders  zu  bemerken : 

ad  a.  Der  Haushalt  des  Rittergutsbesitzers 
wird  gegen  den  vorigen  Zustand  belästigt, 
wenn  seine  Dienerschaft,  oder  Er  für  sie, 
eine  Steuer  bezahlen  solL 


348  Friedrich  Meusd, 

ad  b.  Gilt  das  gleiche,  wenn  herrschaftliche 
Deputanten^)  z.  B.  ihr  Mahlgut  versteuern 
sollen.    Ebenso 

ad  c.  wenn  ein  herrschaftlicher  Wirtschaf- 
ter, oder  Förster  eine  Gewerbesteuer  ent- 
richten soll. 

Hauptsächlich  aber  ist  wegen  der  länd- 
lichen Gewerbe  als  z.  B.  Brauerei,  Wein- 
pressen, Ziegelbrennen,  Theerschwälen  und 
wie  alle  diejenigen  heißen  mögen,  mittelst 
welcher  irgend  ein  ländliches  Product  des 
Bodens  veredelt  wird  oder  werden  kann,  zu 
bemerken,  daß  dergleichen  von  jeher  auf  den 
Rittergütern  frei  getrieben  worden  sind,  und 
also  unter  dem  Ausdruck  Gewerbe  in  dem 
Landtags-Receß  von  1653  introitu  in  fine  be- 
griffen zu  sein  geachtet  werden  müssen.  Es 
findet  sich  in  den  Monitis  zum  Allge- 
meinen Landrecht,  wo  Ich  nicht  irre,  ad 
Titel  8  des  Theil  2,  ein  umständliches  Gut- 
achten über  die  der  Märkischen  Ritterschaft 
zukommende  ländliche  Fabrication,  welche 
der  Herr  Landschafts-Syndicus  nachweisen 
kann. 

ad  d.  Muß  behauptet  werden,  daß  der 
X  wire  der  Vorspann  Vorspann   nicht  eine  Real-,  X  sondern  eine 

eine     Real-Loist,     »o    „  ,    ,        ^        .  i   l      j  «x  ot 

maßten  Schatten-  Personal-Last  sei,  welche  dem  mit  Pfer- 

""aWe^^Mk^^^ilid""  ^^"  bespannten  Unterthan  aufgelegt  wor- 

Schmiede,  femer  Och-  den,  und  davon   die  Herrschaft,  da  sie  auf 

lÄ'SÄ  den  wüsten  Hufen  ein  besonderes  Gespann 

Büdner,  die  aus  zer-  hält,  auch  bis  auf  diesen  Tag  frei  geblieben, 

8Undcn"*8ind,^°am:h  ""^  namentlich   auch   in  anno  1717  frei  ge- 

zum  Vorspann  heran-    weSCn   ist. 

gezogen  worden  sein,  .x     ««•      c 

welches   doch  nicht         3.  Unrecht mäDig  ferner 

ist.  (▼.  M.)      jg^   jjjg   Einziehung   der  geistlichen   Stif- 

*)  d.  h.  solche,  die  ein  Deputat  (in  Getreide,  Kartoffeln  etc.) 
von  der  Herrschaft  bekommen. 

*)  Ober  die  Bezeichnung  „Schattenhüfner"  vgl.  Isaacsohn, 
Geschichte  des  preußischen  Beamtentums  11,  187  Anm.  2. 


Eine  Denkschrift  des  Grafen  von  Finckenstein  etc.        349 

tungen^)  und  ebenso  was  irgend  die  Frei- 
heit des  Rittergutsbesitzers  in  Rücksicht  auf 
Aufhebung  der  Dienste  und  des  Laß- 
Besitztumes  der  Höfe  einschränken  würde, 
weil  dieses  alles  wohlhergebrachte  Gerechtsame 
des  Adels  sind,  und  das  Recht  zum  Eintritt 

I  nicht  weniger  in  die  Stifter  und  den  Johanniter-Orden  ^ 
jedes  stiftsmäßigen  Edelmannes  Eigentum 
zu  sein  geachtet  werden  muß,  als  das  Ober- 

L  als  ein  Eigenthum  eigentum  des  Laßhofes  und  der  Hofedienst  \2 
des  Rittergutsbesitzers,  folglich  jenes  Recht 
so  wenig  dem  ersten  vereitelt,  aJs  die  Frei- 
heit über  dieses  zu  schalten,  dem  letzteren 
beschränket  werden  kann. 

4.  Endlich  ist  die  Aufhebung  einer  be- 
sonderen Kur-  und  Neumärkischen  Ständi- 
schen Verfassung,  so  wie  sie  an  und  für 
sich  schon  ein  höchst  bedenkliches  und  ge- 
fährliches Unternehmen  sein  würde,  so  als 
offenbare  Verletzung  der  Rechte  der  Ritter- 
schaft, ohne  Ihre  und  Ihrer  Mitstände  freie 
Einwilligung  nach  dem  obigen  sichtlich  un- 
rechtmäßig. 

Madlitz,  den  14^en  Januar  1811. 

C.  Reichsgraf  v.  Finkenstein.'' 


*)  Durch  das  « Edikt  iiber  die  Einziehung  sämmtlicher  geist- 
licher Güter  in  der  Monarchie*  vom  30.  Oktober  1810,  Preuß» 
Gesetzsammlung  1810,  S.  32. 


Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  23 


Literaturbericht 


G»  de  Smnctis,  Storia  dei  Romani,  la  conquista  del  primato  in 
Italia.  2  Bde.  (Biblioteca  di  scienze  moderne  Nr.  32,  33.) 
Turin,  Fratelli  Bocca.    1907.    458  u.  575  S.    24  Lire. 

Die  beherrschende  Stellung,  die  Mommsens  römische 
Geschichte  immer  noch  einnimmt,  bewirkte  es,  daß  in  den 
letzten  Dezennien  zwar  mehrere  darstellende  Werke  über 
griechische  Geschichte  erschienen  sind,  dagegen  in  der 
deutschen  Literatur  z.  B.,  von  B.  Nieses  kurzem  Abriß  ab- 
gesehen, kein  Versuch  mehr  unternommen  wurde,  die  Re- 
sultate der  wissenschaftlichen  Forschung  auf  dem  Gebiet 
der  Geschichte  Roms  zusammenfassend  vorzulegen. 

Das  Buch  von  G.  de  Sanctis,  einem  Schüler  J.  Belochs, 
der  sich  schon  durch  eine  Anzahl  tüchtiger  Monographien 
bekannt  gemacht  hat,  füllt  daher  eine  Lücke,  die  auch  in 
der  deutschen  wissenschaftlichen  Literatur  sich  bemerklich 
macht,  —  wie  gleich  gesagt  werden  soll  —  in  vortrefflicher 
Weise.  Den  Anstoß  zu  seiner  Arbeit  gab  dem  Vf.  der  Zu- 
stand der  Studien  über  die  Vergangenheit  Roms  im  heutigen 
Italien;  er  will  ebensowohl  gegen  den  blinden  Traditionalis- 
mus, wie  gegen  die  verblendete  Neigung,  welche  die  ganze 
Überlieferung  negiert,  Front  machen  und  zeigen,  daß  eine 
gesunde  wissenschaftliche  Kritik  auch  aus  der  arg  entstellten 
Tradition  über  die  Geschichte  Roms  vor  den  punischen 
Kriegen  positive  Erkenntnisse  zu  gewinnen  vermag,  er  will 
ferner  für  die  geschichtliche  Erkenntnis  nutzbar  machen,  was 
die  prähistorische,  archäologische,  numismatische  und  sprach- 
geschichtliche  Forschung   der    letzten  Jahrzehnte    an   neuen 


Alte  Geschichte.  351 

Materialien  erschlossen  hat.  So  gibt  sich  sein  Werk  nicht 
nur  durch  die  Widmung  an  J.  Beloch  als  ein  Denkmal  der 
scuola  di  Roma, 

Damit  ist  noch  eine  weitere  rühmenswerte  Eigenschaft 
gekennzeichnet:  Das  Buch  ruht  auf  einer  vollkommenen 
Kenntnis  und  vollem  Verständnis  für  alles,  was  die  deutsche 
Wissenschaft  auf  dem  Gebiet  römischer  Geschichte  geleistet 
hat.  Damit  verbindet  der  Vf.  eine  ebenso  eingehende,  in 
deutschen  Publikationen  öfter  mangelnde  Verwertung  der 
weitschichtigen  italienischen  Spezialliteratur,  die  den  Ab- 
schnitten über  die  Vorgeschichte  Italiens  (I,  c.  2  ff.)  und  der 
Erörterung  verschiedener  topographischer  Fragen  in  den 
späteren  Abschnitten  zugute  gekommen  ist. 

In  Italien  ist  heute  die  Prähistorie  Trumpf,  und  staunens- 
wert groß  ist  die  Zahl  der  Funde  aus  dieser  Zeit,  die  überall 
zur  Erweiterung  der  Museen  drängt;  bei  de  S.  liegt  nun  zum 
erstenmal  ein  Versuch  vor,  die  Nachrichten  über  die  ältesten 
Völker  und  Völkerverschiebungen  Italiens  mit  den  piühistori- 
schen  Funden  zu  einem  Gesamtbilde  zusammenzufassen,  für 
das  ihm  die  Fundtatsachen  die  Umrisse  und  Grundlage 
liefern.  Das  prähistorische  Schema  bildet  den  Ausgangspunkt, 
und  in  dieses  werden  die  Nachrichten  über  die  Ethnographie 
des  alten  Italiens  hineingearbeitet;  späterhin  werden  die  ar- 
chäologischen Funde  auch  zur  Datierung  der  griechischen 
Niederlassungen  auf  Sizilien  herangezogen.  Die  Bewohner 
der  Terremare  ebenso  wie  die  Etrusker  betrachtet  der  Vf. 
als  eine  nichtarische  Bevölkerung;  die  übrigen  Völker,  die 
in  historischer  Zeit  Italien  bewohnen,  treten  mit  der  Bronze 
gleichzeitig  auf,  die  Bronzekultur  wiederum  ist  teils  auf  dem 
Seeweg  aus  dem  Ostbecken  des  Mittelmeeres,  teils  auf  dem 
Landweg  über  die  Lombardei  in  Italien  bekannt  geworden. 
Phönizier  haben  auf  Sizilien  vor  den  Griechen,  wie  die  Ar-^ 
chäologie  lehrt,  überhaupt  nicht  gesessen,  Thukydides  ist  dar- 
über falsch  unterrichtet;  die  Phönizier  beschränken  sich  viel- 
mehr deshalb  auf  Westsizilien,  weil  die  übrigen  Küsten  schon 
in  den  Händen  der  Griechen  waren. 

In  der  Einschätzung  der  literarischen  Tradition,  deren 
zusammenfassender  Behandlung  das  erste  Kapitel  gewidmet 
ist,   nimmt  de  S.  insofern    einen   besonderen  Standpunkt  ein, 

23* 


352  LHenturbericht 

als  er  der  epischen  Überlieferung  der  Römer  einen  stärkeren 
Einfluß  zuerkennt  Dieser  Standpunkt  kommt  naturgemäfi 
auch  in  der  Kritik  der  Tradition  zum  Ausdruck:  unter  den 
verschiedenen  Versionen  gilt  dem  VL,  sei  es  als  die  ursprung- 
liche, ja  häufig  sogar  geradezu,  in  ihrer  Grundlage  wenigstens, 
als  die  historische  diejenige,  welche  Zöge  volkstümlicher 
Epik  aufweist  Dabei  ist  de  S.  meines  Erachtens  nicht  immer 
vor  dem  Fehlgriff  bewahrt  geblieben,  was  in  sich  geschlossen 
und  poetisch  wirksam  ist,  deshalb  auch  schon  für  alt  zu  hal- 
ten (vgL  z.  B.  11,  p.  173). 

Ich  hebe  nun,  der  Anordnung  der  Kapitel  folgend,  kurz 
hervor,  zu  welchen  Ergebnissen  de  S.  in  einer  Anzahl  be- 
sonders häufig  erörterter  Streitfragen  gekommen  ist  Die 
als  Septimontium  vereinigten  Gemeinden  sind  ebenso  eine 
Bildung  für  sich,  wie  die  palatinische  Stadt,  die  nach  etrus- 
kischem  Vorbild  zur  Stadt  gestaltet  ist  und  ihren  Namen 
von  dem  Flusse  erhielt,  wie  die  Bezeichnung  porta  Romana 
lehrt  Den  Ursprung  der  Plebs  sieht  der  Vf.,  wie  E.  Meyer, 
vornehmlich  in  wirtschaftlichen  Verhältnissen,  und  wie  dieser 
betont  er,  daß  der  Staat  in  Rom  älter  ist  als  die  Kurien  und 
diese  wieder  älter  sind  als  die  Gentes.  Nicht  durch  eine 
Revolution,  sondern  durch  allmählichen  Verfall  ist  in  Rom 
das  Königtum  beseitigt  worden.  Ursprünglich  gab  es  drei 
Prätoren,  von  denen  zwei  —  sie  heißen  später  Konsuln  — 
die  beiden  Legionen  befehligen,  während  dem  Dritten  die 
Rechtspflege  zufällt,  er  tritt  dadurch  im  Ansehen  hinter  den 
Konsuln  zurück;  es  ist  daher  ganz  unglaubhaft,  daß  366  die 
Prätur  als  neues  Amt  geschaffen  wurde;  diese  Dreizahl  der 
Prätoren  hängt  mit  der  der  Tribus  zusammen.  Die  Diktatur 
ist  eine  Nachahmung  der  gleichnamigen  Institution  im  latini- 
schen Bund.  Den  etruskischen  Einfluß  auf  Rom  schätzt  de  S. 
geringer  ein,  als  jetzt  zumeist  geschieht,  und  er  verhält  sich 
daher  auch  gegen  W.  Schulzes  auf  die  Namen  gestützte 
Nachweise  ziemlich  skeptisch.  Die  Tribusversammlung  ist 
älter  als  die  Einrichtung  des  Tribunats,  das  auch  nicht  im 
Wege  eines  Vertrages  zwischen  Patriziern  und  Plebejern  ge- 
schaffen wurde.  Die  Schlacht  an  der  Allia  setzt  der  Vf.  mit 
den  älteren  Forschern  am  linken  Tiberufer  an,  die  servianische 
Klasseneinteilung  nebst  der  damit  zusammenhängenden  Heeres- 


Alte  Geschichte.  353 

reform  verlegt  er  in  die  Zeit  nach  der  gallischen  Katastrophe. 
In  den  neuen  comitia  centuriata  gaben  aber  die  kleinen 
Grundbesitzer  und  nicht  die  Patrizier  durch  ihre  Zahl  den 
Ausschlag;  die  Reform  nach  dem  Gallierkrieg  bestand  also 
darin,  daß  nach  den  Zenturien  nicht  mehr  bloß  die  Wehr- 
pflichtigen, sondern  das  ganze  Volk  zur  Versammlung  zu- 
sammentrat. Den  ersten  Vertrag  zwischen  Rom  und  Karthago 
setzt  de  S.  ins  Jahr  348  v.  Chr.,  den  ersten  Samniterkrieg  in 
Kampanien  hält  er  trotz  vieler  Ausschmückungen  der  Tradi- 
tion für  historisch,  desgleichen  die  Nachricht  von  der  Ge- 
sandtschaft der  Römer  an  Alexander  d.  Gr.  nach  Babylon, 
dagegen  vermag  er  in  Pyrrhos  nicht,  wie  meist  geschieht, 
einen  Abenteurer  zu  sehen  und  die  chronologischen  Unter- 
suchungen Vareses  und  Bei  ochs  über  den  Kalender  zur  Zeit 
des  ersten  punischen  Krieges  lehnt  er  samt  allen  Folge- 
rungen ab,  wie  dies  auch  von  anderer  Seite  schon  ge- 
schehen ist. 

In  der  Wiedergabe  der  Tradition  befolgt  der  Vf.  das  Ver- 
fahren, nur  soviel  mitzuteilen,  daß  der  Leser,  ohne  die 
Quellen  nachzusehen,  die  folgenden  kritischen  Betrachtungen 
verstehen  kann;  in  der  Anführung  von  Belegstellen  und  Ar- 
beiten aus  der  neueren  Literatur  hält  er  in  gleicher  Weise 
Maß,  wie  z.  B.  Beloch  in  seiner  griechischen  Geschichte. 
Gleichwohl  vermißt  man  nichts  von  Belang  unter  diesen  Be- 
helfen. 

Mit  einer  Schilderung  der  staatlichen  Einrichtungen  und 
des  Kulturzustandes  nach  dem  Ende  des  Krieges  gegen 
Pyrrhos  schließt  das  vorzügliche  Werk,  das  aus  den  früher 
angeführten  Gründen  auch  außerhalb  Italiens  als  belehrende 
Darstellung  und  wichtiger  Studienbehelf  willkommen  sein  wird. 

Graz.  Adolf  Bauen 

Die  römische  Timokratie.   Von  Dr.  Francis  Smith.    Berlin,  Georg 
Nauck  (Fritz  Rühe).    1906.    161  S. 

Daß  die  sog.  servianische  Klassenordnung  mit  Servius 
Tullius  nichts  zu  tun  hat,  überhaupt  nicht  in  die  Königszeit 
gehört,  sondern  in  eine  sehr  viel  spätere  Periode,  ist  längst 
zum  Gemeinplatz  geworden.  Um  so  weiter  gehen  die  An- 
sichten auseinander  über  die  Bedeutung  der  Organisation  und 


S54  Literaturbericht 

über  die  Zeit  ihrer  Einführung.  Vf.  bestreitet  mit  vollem  Recht, 
daß  die  ,servianischen'  nach  Vermögensklassen  gegliederten 
Centurien  jemals  taktische  Körper  gewesen  sein  können,,  so- 
weit das  Linienfußvolk  in  Betracht  kommt.  Es  waren  also 
Stimmkörper.  Anderseits  aber  müssen  die  Centurien,  wie  der 
Vf.  weiter  ausführt,  ursprünglich  Unterabteilungen  der  Tribus 
gewesen  sein.  Nun  lassen  sich  aber  die  bei  Livius  und 
Dionysios  überiieferten  Centurienzahlen  für  die  einzelnen 
Klassen  der  servianischen  Ordnung  weder  auf  die  4  sog.  ser- 
vianischen  Tribus,  noch  auf  die  20  bzw.  21  Tribus,  die  in 
frührepublikanischer  Zeit  bestanden  haben  sollen,  in  der  Weise 
verteilen,  daß  auf  jede  Tribus  die  gleiche  Zahl  von  Centurien 
der  iuniores  und  seniores  kommt.  Vf.  schließt  daraus,  daß 
die  Klassen  der  , servianischen*  Ordnung  überhaupt  fremd 
waren  und  erst  in  viel  späterer  Zeit  eingerichtet  sind.  Er 
nimmt  an,  daß  das  durch  die  Censoren  des  Jahres  179  v.Chr. 
geschehen  ist,  und  zwar  auf  Grund  der  Angabe  bei  Liv.  XL,  51 : 
mutarunt  [censoresj  suffragia,  regionatimque  generibus  homi- 
num  causisque  et  quaestibus  tribus  discripserunt.  DieReform 
hätte  übrigens  politisch  nicht  viel  zu  bedeuten  gehabt;  ,die 
Timokratie  dürfte  eine  Totgeburt  gewesen  sein*"  (S.  157). 

Ich  glaube  nicht,  daß  der  Vf.  für  diesen  positiven  Teil 
seiner  Aufstellung  viel  Zustimmung  finden  wird.  Die  Reform, 
von  der  Liv.  XL,  51  spricht,  war  sehr  harmloser  Art:  es 
handelte  sich  im  wesentlichen  nur  darum,  die  10  Jahre  früher 
erfolgte  Gleichstellung  der  Söhne  der  Freigelassenen  mit  den 
übrigen  Bürgern  (Plut.  Flam.  18)  wieder  rückgängig  zu  machen. 
Was  der  Vf.  sonst  aus  der  Stelle  herauslesen  möchte,  sind  Ver- 
mutungen für  die  jeder  Beweis  fehlt.  Und  überhaupt:  die 
römische  Geschichte  wird  völlig  unverständlich,  wenn  wir  das 
timokratische  Element  eliminieren.  Ich  hoffe  an  anderer  Stelle 
auf  diese  Fragen  zurückzukommen. 

Rom.  Beloch. 

Adrien  Blancbet:  Les  Enceintes  Romaines  de  la  Gaule,  itude 
sur  l'origine  d'un  grand  nombre  de  villes  franpaises, 
Paris,  Leroux.     1907.    III  u.  356  S. 

Das  Buch  bietet  viel  mehr,  als  der  Titel  erwarten  läßt. 
Vf.  gibt  für  Gallien  das,   was   Nissen   in   seinem  Buche  über 


Alte  Geschichte.  555 

Alt-Italien  hätte  geben  sollen,  und  nicht  gegeben  hat:  Pläne 
aller  wichtigeren  Städte,  die  uns,  wenn  auch  nur  in  rohem 
Holzschnitte,  doch  eine  klare  Anschauung  des  Stadtbildes 
vermitteln.  Das  ist  um  so  dankenswerter,  als  der  Vf.  sein 
Material  zum  größten  Teil  aus  Lokalpublikationen  entnehmen 
mußte,  die  außerhalb  Frankreichs  sehr  schwer  oder  gar  nicht 
zugänglich  sind. 

Der  zweite  Abschnitt  (Le  sysUme  de  construction  des  en- 
ceintes)  handelt  von  den  technischen  Fragen.  Für  die  Ge- 
schichte des  römischen  Festungsbaues  in  der  Kaiserzeit  sind 
diese  Untersuchungen  nicht  weniger  wichtig,  als  die  des  ersten 
Abschnittes  für  die  Entwicklung  des  Städtewesens  in  Gallien. 
Zwanzig  Tafeln  die  dem  Buche  beigegeben  sind,  setzen  den 
Leser  in  den  Stand,  sich  von  verschiedenen  Konstruktions- 
arten ein  klares  Bild  zu  machen. 

Der  dritte  Abschnitt  (Epoque  de  la  construction  des  en- 
ceintes  en  Gaule)  ist  der  Chronologie  gewidmet.  Eine  An- 
zahl der  größeren  Städte  Galliens,  namentlich  im  Süden  und 
an  der  Rheingrenze  sind  schon  unter  Augustus  und  seinen 
ersten  Nachfolgern  befestigt  worden.  Die  große  Mehrzahl 
der  erhaltenen  Stadtmauern  aber  sind  erst  im  3.  Jahrhundert 
erbaut  worden,  infolge  der  damals  beginnenden  Einfälle  der 
Germanen.  Dabei  ist  es  vorgekommen,  wie  z.  B.  in  Autun 
und  Ntmes,  daß  die  ausgedehnten  Befestigungen  der  augustei- 
schen Zeit  durch  engere  Mauerringe  ersetzt  wurden.  Aber  ich 
glaube  nicht,  daß  man  das  generalisieren  darf,  wie  der  Vf.  zu 
tun  geneigt  ist.  Im  allgemeinen  waren  die  gallischen  Städte 
im  3.  Jahrhundert  ohne  Zweifel  größer  als  im  Anfang  der 
Kaiserzeit;  bei  Neubefestigungen  hat  man  sich  natürlich  be- 
müht, möglichst  den  ganzen  mit  Häusern  bedeckten  Raum 
zu  schützen,  wobei  die  Amphitheater,  die  ja  in  der  Regel  an 
der  Peripherie  lagen,  oft  als  Castrum  zu  dienen  hatten;  in 
anderen  Fällen,  z.  B.  in  Bordeaux,  hat  man  sich  damit  be- 
gnügt, die  alten  Befestigungen  wieder  herzustellen,  wobei 
dann  die  Vorstädte  unverteidigt  blieben.  Wenigstens  findet 
sich  von  einer  älteren  weiter  ausgedehnten  Befestigungslinie 
hier  nicht  die  geringste  Spur.  Vf.  gibt  (S.  283)  eine  sehr 
nützliche  Zusammenstellung  des  Mauerumfangs  von  43  galli- 
schen Städten ;  es  wäre  gut  gewesen,  wenn  er  daneben  den  von 


336  Literaturfoericht 

der  Mauer  umschlossenen  Flächenraum  gegeben  hätte,  denn 
nur  danach  können  wir  uns  ein  Bild  von  der  relativen  Be- 
deutung der  Städte  machen.  Doch  lassen  diese  Zahlen  sich 
auf  Grund  der  in  dem  Buche  gegebenen  Stadtpläne  leicht 
berechnen;  für  eine  leider  nur  kleine  Zahl  von  Städten  ist  das 
bereits  durch  den  Vf.  geschehen. 

Das  Werk  ist  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  für  jeden, 
der  sich  mit  der  Geographie,  der  Geschichte  oder  den  wirt- 
schaftlichen Verhältnissen  des  alten  Galliens  beschäftigt;  nicht 
minder  für  jede  Untersuchung  über  die  Entwicklung  des  Städte- 
wesens in  Frankreich  und  den  Rheinlanden  während  des 
Mittelalters.  Möchte  das  von  dem  Vf.  gegebene  Beispiel  recht 
bald  in  anderen  Teilen  des  alten  Römerreiches  Nachfolge 
finden.  Aber  dazu  scheint  leider  für  jetzt  wenig  Aussicht 
zu  sein. 

Rom.  Belach. 

Unsere  religiösen  Erzieher.    Eine  Geschichte  des  Christentums 
in    Lebensbildern    unter   Mitwirkung    von    O.  Baumgarten, 
A.  Baur,  B.  Beß,  R.  Buddensieg,    C.  Giemen,   O.  Giemen, 
S.  M.  Deutsch,  A.  Dorner,  P.  Grünberg,  W.  Herrmann,  O.  Kim, 
Th.  Kolde,  I.  Meinhold,  A.  Meyer,  E.  Preuschen,  K.  Seil  und 
K.  Wenck  herausgegeben  von  C.  Befi.  Von  Moses  bis  Huß. 
VIII   u.  279  S.     Von    Luther    bis    Bismarck.     III   u.  265  S. 
Leipzig,  Quelle  6  Meyer.     1908.    Jeder  Band  3,80  M.,  geb. 
4,40  M. 
Im    Vorwort    sagt   der   Herausgeber:    „Wir    wollen    eine 
Sammlung  sich  aneinanderreihender  Biographien  der  hervor- 
ragendsten Typen   christlicher  Frömmigkeit   darbieten  —  eine 
Sammlung,   die   in    ihrer  Zusammenfassung  ein  Bild  der  Ent- 
wicklung  des  Christentums   gibt,   in    ihren    einzelnen   Teilen 
aber   den  Blick   schärfen    soll   für  das  in    allen   Wandlungen 
konstante  Wesen  jener  Frömmigkeit.''     Der  Gedanke  ist  frag- 
los  zeitgemäß.    Macht  er  sich  doch  bei  freilich  engerer  Be- 
grenzung des  Themas  und  dagegen  um  so  reichlicherer  Aus- 
führung im  Detail  auch  in  dem  ganz  gleichzeitig  erschienenen 
Buche  Pfannmüllers    „Jesus   im   Urteil  der  Jahrhunderte*  gel- 
tend.   In   unserem  Falle  spricht  aber  nicht  ein  einziger  Ver- 
fasser über  Christen,   die  sich   auf  19  Jahrhunderte  verteilen, 
sondern    16  Lebensbilder   erscheinen,   jedes  gezeichnet   von 


Geschichte  des  Christentums.  357 

einem  anderen  Verfasser,  mit  Zugabe  eines  abschließenden 
Artikels  von  W.  Herrmann  über  „die  Religion  der  Erzieher**, 
d.  h.  derjenigen  Menschen,  »die  es  anderen  vernehmlich 
machen  konnten,  wie  sie  in  dem  Halten  an  dem  Unsicht- 
baren ihr  Schicksal  bezwangen*.  «Bei  ihnen  allen  ist  der 
Glaube  an  Gott  nicht  ein  Ausdruck  des  natürlichen  Lebens 
in  seinem  phantastischen  Streben  nach  Sicherung  und  Vollen- 
dung, sondern  die  Beugung  unter  eine  gewaltige  Erfahrung, 
die  den  Menschen  aus  der  Bahn  seiner  Triebe  herauszwingt. ** 
„Bei  keinem  dieser  Männer  verleugnet  es  sich,  daß  ihr 
Glaube  an  Gott  in  seinem  Ursprung  und  seinem  Ziel  mit  den 
sittlichen  Gedanken  verwoben  ist,  die  dem  Individuum  als 
die  Forderung  einer  höheren  Macht  gegenübertreten/  „Bei 
allen  hier  geschilderten  Menschen  ist  die  Quelle  ihrer  Reli- 
gion die  Erfahrung  einer  Macht,  die  sie  aus  der  Zerstreuung 
der  Welt  errettet,  indem  sie  ihnen  die  Einheit  wahrhaften 
Lebens  gab.' 

Die  aus  jeder  einzelnen  Biographie  hervorleuchtende 
Bestätigung  einer  solchen,  der  fortgeschrittenen  Theologie 
des  heutigen  neuzeitlichen  Protestantismus  geläufigen,  Auf- 
fassung vom  Wesen  der  Religion  macht  die  Stärke  des  vor- 
liegenden Werkes  aus,  sofern  man  es  etwa  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt eines  gediegenen  modernen  Andachtsbuches 
betrachten  könnte.  Sein  historischer  Wert,  auf  den  es  an 
diesem  Orte  ankommt,  leidet  darunter  in  keiner  Weise.  Dafür 
bürgen  schon  die  Namen  der  Verfasser,  deren  nicht  wenige 
sich  geradezu  als  Spezialisten  und  Autoritäten  auf  den  ihnen 
hier  zur  Bearbeitung  zugefallenen  Gebieten  bewährt  haben. 
So  spricht  Meinhold  von  „Moses  und  den  Propheten**  — 
wichtig,  weil  in  Folge  der  neueren  Pentateuchkritik  im  Bilde 
des  Moses  der  Gesetzgeber  hinter  dem  Propheten  zurück- 
treten muß,  dessen  religionsgeschichtliche  Bedeutung  freilich 
nur  auf  dem  Wege  eines  Rückschlusses  von  der  später  er- 
reichten Höhe  der  prophetischen  Entwicklung  festgestellt 
werden  kann.  Das  von  Arnold  Meyer  gezeichnete  Lebensbild 
Jesu  ist  Produkt  einer  glücklichen  Verbindung  von  wissen- 
schaftlich gut  geschulter  Methode  und  gesunder  Intuition. 
Letztgenannte  Quelle  wird  gerade,  wo  ein  solches  Problem 
zur  Debatte  steht,  immer  mehr  oder  weniger  reichlich  fließen ; 


358  Literaturbericht. 

hier  ist  es  in  einwandfreier,  weil  takt-  und  maßvoller  Weise 
der  Fall.  Dagegen  gestehe  ich,  daß  mir  die  Resultate  der 
Quellenkritik  hinreichende  Berechtigung  zu  einer  etwas  be- 
stimmteren Zeichnung  der  äußeren  Umrisse  des  Lebens  Jesu 
zu  bieten  scheinen.  Ich  mache  diese,  vorzugsweise  auf  die 
übertriebene  Skeptis  S.  86  L  bezügliche  Bemerkung  nur  unter 
Voranstellung  des  durchschlagenden  Eindruckes,  daß  der 
Zweck  dieser  Biographien  überhaupt  nicht  so  sehr  im  Aufriß 
des  äußeren  Lebens  der  betreffenden  Persönlichkeiten,  als 
vielmehr  in  der  Veranschaulichung  ihres  inneren  Werdegangs, 
im  allerdings  durchweg  geschichtlich  bedingten,  stufenweise 
sich  gestaltenden  Aufbau  ihrer  religiösen  Gedankenwelt, 
speziell  in  der  Darstellung  ihrer  Erfassung  und  Fortbildung 
des  christlichen  Prinzips  gefunden  werden  wilL  Denn  hier 
allein  liegt  die  erzieherische  Macht,  welche  von  solchen 
Typen  der  christlichen  Frömmigkeit  ausgehen  kann.  So 
hat  Karl  Giemen  den  Missionar  Paulus  nicht  bloß  als  einen, 
sondern  als  den  Erzieher  par  excellence  behandelt.  Es  folgen 
als  Vertreter  der  spezifisch  griechischen  und  der  spezifisch 
abendländischen  Theologie  Origenes  und  Augustinus,  dar- 
gestellt von  Erwin  Preuschen  und  von  August  Dorner:  dort 
die  in  sich  einheitliche  Durchbildung  einer  großartigen  spe- 
kulativen Gottes-  und  Weltanschauung,  hier  eine  wunderbar 
vielgestaltige,  aber  auch  entschieden  weniger  geradlinige 
Entwicklungslinie  des  Theoretikers  zum  Praktiker.  „Er  ahnt 
die  Bedeutung  der  einheitlich  auf  Gott  gerichteten  Persön- 
lichkeit und  unterstellt  sie  doch  wieder  der  Autorität  der 
Kirche."  Eine  Über-  und  Unterströmung  in  der  von  ihm 
inaugurierten  Periode  der  mittelalterlichen  Kirchlichkeit  macht 
sich  teilweise  wenigstens  schon  bemerklich  in  dem  Mönch 
und  Kirchenmann  Bernhard  von  Glairvaux,  mehr  noch  in 
Franz  von  Assisi,  am  entschiedensten  in  der  eigentlichen 
Mystik  geltend,  hier  vertreten  durch  Heinrich  Seuse.  Dem 
Franzosen  Bernhard,  dem  Italiener  Franz  und  dem  Deutschen 
Seuse,  deren  religiöse  Eigenart  uns  S.  M.  Deutsch,  K.  Wenck 
und  Otto  Giemen  nahe  bringen,  treten  der  Engländer  Wiclif 
und  der  Böhme  Hus  zur  Seite,  beide  zugleich  als  Propheten 
der  Reformation  von  Rudolf  Buddensieg  gezeichnet  zum  Er- 
weis der  unzweifelhaften  Wahrheit,  daß  „Männer,  nicht  Bücher 


Geschichte  des  Christentums.  359 

erziehen^.  Dies  der  leitende  Gedanke  wie  des  ersten,  so 
auch  des  zweiten  Bandes,  den  die  drei  von  Koide,  August 
Baur  und  Beß  meisterhaft  entworfenen  Charakterbilder  Luthers, 
Zwingiis  und  Kalvins  eröffnen,  und  zwar  in  einer  Weise,  die 
der  erzieherischen  Tendenz  des  Ganzen  schon  insofern  in 
ausgezeichneter  Weise  entspricht,  als  wir  an  längst  Be- 
kanntes aus  ihrem  Leben  doch  nur  darum  und  soweit  erinnert 
werden,  als  der  Zweck  einer  charakteristischen  Umrißzeich- 
nung der  Persönlichkeiten  es  unumgänglich  erscheinen  ließ. 
So  dient  gleich  der  Luther  gewidmete  Artikel  ganz  nur  dem 
Zweck,  das  von  innen  heraus  erfolgende  Wachstum  einer 
mit  elementarer  Macht  wirksamen  religiösen  Persönlichkeit 
verständlich  zu  machen;  daher  vornehmlich  der  Luther  bis 
1520  zum  Wort  kommt.  Zur  Beurteilung  des  Luther  von 
1529  findet  sich  eine  ganz  gelegentlich  und  tendenzlos  kom- 
mende, die  Kontraste  betonende  Korrektur  in  dem  zwar 
knapp  gehaltenen,  aber  alles  zur  richtigen  Einschätzung  der 
Bedeutung  des  Mannes  darbietenden  Artikel  über  Zwingli  und 
seine  durch  Humanismus  und  Patriotismus  eigentümlich  ge- 
kennzeichnete Religiosität.  Vielleicht  am  meisten  Neues 
bringt  das  Charakterbild  Kalvins,  als  des  Vertreters  der  fran- 
zösisch gedachten  und  empfundenen  Reformation.  Noch 
mehr  fast  erscheint  er  im  Gegensatze  zu  Luther  durch  den 
inneren  Zwang,  den  ihn  seine  ganz  nur  vom  Gedanken  der 
Ehre  Gottes  bestimmte,  wesentlich  als  Unterwerfung  und 
Gehorsam  empfundene  Religiosität  kostet,  und  durch  den 
unausgleichbaren  Widerspruch,  in  welchem  sein  Ideal  von 
der  Kirche,  soweit  es  sich  mit  der  Lehre  Luthers  berührt,  zu 
jener  praktischen  Ausführung  tritt,  die  er  ihm  in  Genf  geben 
mußte.  Ein  merkwürdiges  Seitenstück  zu  Kalvin  bildet 
Spener,  den  als  sachkundigster  Kenner  Grünberg  behandelt, 
insofern,  als  auch  er  in  seine  öffentliche  Rolle  nur  wider- 
strebend, ganz  gegen  Anlage  und  Neigung  hereingezogen 
wurde,  in  allem  andern  freilich  eher  ein  kraftvoll  überlegenes 
Gegenstück  zu  jenem  darstellt. 

Aus  der  Atmosphäre  der  alten  Kirchlichkeit  treten  wir 
heraus,  wenn  wir  uns  mit  den  drei  letzten  Lebensbildern 
befassen.  Ihren  gemeinsamen  Hintergrund  bildet  die  moderne 
Welt.  Zunächst  in  Schiller  und  Goethe   der  deutsche  Idealis- 


560  Literaturbericht. 

mus  mit  seinem,  der  Religion  verwandten,  Ideal  der  sitt- 
lichen Selbstvollendung  der  einzelnen  Persönlichkeit.  Es  ist 
der  Verfasser  des  rühmlich  bekannten  Werkes  «Die  Religion 
unserer  Klassiker  Lessing,  Herder,  Schiller,  Goethe*  (1904), 
K.  Seil,  der  hier  das  gleiche  Thema  in  zweckgemäB  ver- 
kürztem Rahmen  behandelt  und  uns  vornehmlich  in  den 
beiden  Dichterfürsten  Menschen  vor  Augen  stellt,  die  sich 
zu  Erziehern  eignen,  weil  sie  sich  selbst  erzogen  haben. 
Ohne  gerade  auf  dem  Gebiet  der  Religion  eine  schöpferische 
Wirkung  geoffenbart  zu  haben,  wirken  sie  durch  stetig  fest- 
gehaltene Richtung  auf  ein  ideales  Menschentum  indirekt 
religiös.  Was  dagegen  direkte  Wirkung  heißen  kann,  zeigt 
Kirn  in  seinem  recht  verständnisvoll  entworfenen  Bilde  des 
umfassenden  Lebenswerkes  des  Bahnbrechers  Schleiermacher. 
„Klares  politisches  Denken,  lauterer  sittlicher  Ernst  ver- 
binden sich  mit  einer  am  Ewigen  genährten  Zuversicht  zu 
einer  neuen  Gestalt  evangelischer  Frömmigkeit,  die  das 
18.  Jahrhundert  nicht  gekannt  hat,  und  deren  Vorbild  man 
nur  in  den  ersten  reformatorischen  Schriften  Luthers  wieder- 
findet.'' Der  Gedanke,  daß  nicht  bloß  Religion  und  Bildung, 
sondern  auch  Religion  und  Vaterlandsliebe  innig  verbundene 
Mächte  sind,  leitet  über  zu  dem  letzten  Lebensbild,  das 
freilich  nur  in  einem  spezifisch  deutschen  Buch  den  Ab- 
schluß einer  mit  Moses  beginnenden  Reihe  religiöser  Er- 
zieher bilden  konnte.  Otto  Baumgarten  beschränkt  sich  in 
dem,  was  er  hier  über  Bismarcks  Religiosität  berichtet,  im 
Anschlüsse  an  Meineckes  Darstellung  von  „Bismarcks  Ein- 
tritt in  den  christlich-germanischen  Kreis''  (im  Jahrgang  1903 
dieser  Zeitschrift),  auf  die  mit  der  Verlobung  verbundene 
Krisis,  als  auf  die  Zeit,  „da  er  sich  selbst  erzog  oder  er- 
ziehen ließ  zu  seinem  persönlichen,  lebendigen,  ins  Leben 
greifenden  Christentum.*  Diese  Zeit  liegt  freilich  jetzt  mehr 
als  zwei  Menschenalter  zurück,  und  die  absonderliche  Art 
von  Frömmigkeit,  an  die  wir  erinnert  werden,  ist  uns  mittler- 
weile unverständlich,  vielfach  sogar  verdächtig  geworden. 
Für  Bismarck  hat  sie  doch  nur  ein  Durchgangsstadium  ge- 
bildet, und  gern  vernimmt  man  am  Schlüsse  einen  Hinweis 
auf  uns  näher  liegende  Tage,  da  „der  der  Wirklichkeit  und 
Erfahrung  gehorsame,   aller  selbstgenügsamen  Enge  abholde 


Deutsche  Geschichte.  361 

Christ''  über  jene  mittelalterlich-romantischen  Begriffe  vom 
christlichen  Staat  mit  ihrer  legitimistischen  Verquickung  von 
Thron  und  Altar  hinausgewachsen  war.  —  Die  Ausstattung 
des  Werkes,  Buchschmuck  u.  dgl.  verdient  alles  Lob. 

Baden.  //.  Holtzmann. 

Grundriß  der  Geschichtswissenschaft  zur  Einführung  in  das 
Studium  der  Deutschen  Geschichte  des  Mittelalters  und 
der  Neuzeit.  In  Verbindung  mit  K.  Bretholz  u.  a.  heraus- 
gegeben von  Aloys  Meister.  1.  Bd.  1.  u.  2.  Liefg.  Leipzig, 
B.  G.  Teubner.     1906. 

Wenn  man  den  gegenwärtigen  Stand  wissenschaftlicher 
Tätigkeit  auf  geschichtlichem  Gebiete  überblickt,  kann  man 
eine  Abwendung  von  der  in  früherer  Zeit  mit  größtem  Eifer 
betriebenen  kritischen  Arbeit  auf  der  einen,  das  Streben  nach 
Zusammenfassung  und  Sichtung  der  durch  sie  gewonnenen 
Ergebnisse  auf  der  andern  Seite  wahrnehmen.  Gegen  einen 
derartigen  Wechsel  der  Arbeitsrichtung  könnte  man  umso- 
weniger  etwas  einwenden,  als  jene  kritische  Richtung  vielfach 
übertrieben  wurde  und  darunter  ohne  Frage  die  Sicherheit  der 
Methode  gelitten  hat.  Freilich  darf  es  sich  nur  um  eine  kurze 
Unterbrechung,  ein  Atemholen,  ein  auf  sich  selbst  Besinnen 
handeln,  da  die  Aufgaben  der  Kritik  keineswegs  in  ihrer  Gänze 
erfüllt  sind,  der  Stillstand  wissenschaftlicher  Forschung  ver- 
mieden und  der  Gefahr  begegnet  werden  muß,  daß  an  Stelle 
dieser  die  mit  allerlei  Schlagworten  verhüllte  statistische  oder 
enzyklopädische  Verarbeitung  trete.  Das  wäre  schon  mit  Rück- 
sicht auf  gewisse  der  Kritik  abholde  Strömungen,  dann  aber 
auch  in  Hinblick  auf  den  Umstand  bedenklich,  daß  bisher  die 
Versuche  einzelner,  die  wissenschaftlichen  Errungenschaften  der 
neueren  Zeit  in  einem  Gesamtbilde  zu  vereinigen,  nicht  zum 
besten  geglückt  sind,  man  infolgessen  immer  wieder  zu  dem 
Auskunftsmittel  gegriffen  hat,  die  von  der  Gegenwart  vergeb- 
lich erhoffte  Einzelleistung  durch  vereinte  Arbeit  mehrerer  zu 
ersetzen.  Daß  das  an  sich  nicht  mögüch  ist,  hat  nicht  ver- 
hindert, daß  sich  dieses  Auskunftsmittel  namentlich  bei  den 
Deutschen  großer  Beliebtheit  erfreute,  ihnen  Franzosen  und 
Engländer  gefolgt  sind,  wobei  man  eine  Wirkung  des  Volks- 
charakters und   der  gleichmäßigen  Schulung  darin  erblicken 


362  Literaturbericht 

darf,  daß  eigentlich  nur  die  Franzosen  auf  diesem  Wege  zu 
befriedigenderen  Leistungen  gelangten,  während  die  Deutschen 
fast  regelmäßig  scheiterten.  Ein  Ausfluß  dieser  Richtung  ist 
auch  der  vorliegende  , Grundriß  der  Geschichtswissenschaft*. 
Der  allgemein  gehaltene  Haupttitel  erfährt  eine  merkwürdige 
Einschränkung  auf  die  deutsche  Geschichte  des  Mittelalters 
und  der  Neuzeit,  die  dem  einen  und  anderen  Mitarbeiter  einige 
Verlegenheit  bereiten  mußte,  und  einem  Prospekte  der  Ver- 
lagshandlung können  wir  entnehmen,  daß  es  sich  um  eine 
Ergänzung  zu  Gebhardts  Handbuch  der  Deutschen  Geschichte 
handelt,  vornehmlich  die  in  diesem  übergangenen  Hilfswissen- 
schaften in  kurzen  Übersichten  zur  Darstellung  gebracht  wer- 
den sollen.  Nach  dem  heute  üblichen,  Verwirrung  stiftenden 
Verfahren,  in  dem  eigenen  Fache  den  Mittelpunkt  des  ge- 
samten wissenschaftlichen  Betriebes  zu  sehen,  wurde  der  Kreis 
der  Hilfswissenschaften  wesentlich  über  jene  Fächer,  die  man 
gemeinhin  als  historische  Hilfswissenschaften  bezeichnet, 
hinaus  erweitert,  es  wurden  namentlich  Rechtsgeschichte  und 
Wirtschaftsgeschichte  einbezogen,  denen  der  zweite  Band  ge- 
widmet ist.  Für  Anlage  und  Ausführung  sollte  vor  allem  die 
Rücksicht  auf  den  „Neuling''  maßgebend  sein;  ist  der  „Grund- 
riß*'  vorzugsweise  für  Studierende  bestimmt,  so  soll  das  nach 
Ansicht  des  Herausgebers  nicht  ausschließen,  daß  „nicht  die 
abgeklärten  sicheren  Ergebnisse  allein,  auch  die  neuaufge- 
worfenen, die  ungelösten  und  zur  Diskussion  stehenden  Fragen 
erörtert*  werden. 

Dem  zweifachen  Zwecke  entsprechend  müssen  also  die 
einzelnen  Beiträge  auf  ihren  wissenschaftlichen  und  pädago- 
gischen Wert  hin  geprüft  werden.  Was  den  erstem  betrifft,  so 
ist  anzuerkennen,  daß  der  Herausgeber  bei  der  Auswahl  der 
Mitarbeiter  gutes  Geschick  bewiesen  hat,  und  es  ist  vor  allem 
zu  begrüßen,  daß  wichtige  Abschnitte  von  jüngeren  Gelehrten 
behandelt  worden  sind.  Wenn  man  des  Herausgebers  eigenen 
Beitrag  über  „Begriff  und  Aufgabe  der  Geschichtswissenschaft*, 
Thommens  „Lehre  von  den  Königs-  und  Kaiserurkunden*  und 
Max  Jansens  „Historiographie  und  Quellen  des  Deutschen 
Geschichte  bis  1500*  ausnimmt,  werden  die  in  den  beiden 
ersten  Lieferungen  enthaltenen  Beiträge  (Bretholz,  Paläo- 
graphie;  Grotefend,  Chronologie;  Schmitz-Kallenberg,  Papst- 


Deutsche  Geschichte.  ^65 

Urkunden;  Steinacker,  Privaturkunden ;  Ilgen,  Sphragistik; 
Gritzner,  Heraldik;  Kötzschke,  Historische  Geographie)  volles 
Lob  beanspruchen  dürfen,  einzelne  Abschnitte,  wie  die  Schmitz- 
Kallenbergs,  Ilgens  und  Gritzners  werden  nicht  nur  dem  Neu- 
ling, sondern  viel  mehr  noch  dem  schon  bewanderten  Forscher 
von  Nutzen  sein. 

Was  die  pädagogische  Seite  betrifft,  so  möchte  ich  mir 
vor  allem  meine  Bedenken  gegen  das  ganze  Unternehmen  vom 
Herzen  schreiben.  Muß  wirklich  jemand,  der  in  das  Studium 
der  Deutschen  Geschichte  eingeführt  werden  soll,  all  das 
wissen,  was  in  diesem  Grundriß  zusammengepreßt  sein  wird? 
Wird  es  dem,  der  tiefer  eindringen,  die  eine  oder  andere 
Einzelfrage  behandeln  will,  nicht  eine  Enttäuschung  bereiten, 
ihn  entmutigen,  wenn  er  erfährt,  daß  er  mit  dem  hier  Ge- 
botenen doch  nicht  ausreicht,  für  ihn  manche  andere  Dinge 
wichtiger  sind,  als  die  in  den  Grundriß  aufgenommenen?  Sind 
nicht  zum  Teile  Gegenstände  behandelt,  zu  deren  sicherer 
Erfassung  unmittelbare  Unterweisung  durch  den  Lehrer  un- 
bedingt erforderlich  ist,  wie  Paläographie  und  Urkundenlehre, 
andere,  für  die  den  Studierenden  bessere  Hilfsmittel  zu  Gebote 
stehen  ?  Welchen  Zweck  hat  Thommens  Lehre  von  den  Königs- 
und Kaiserurkunden  neben  Erbens  Urkundenlehre,  Grotefends 
Chronologie  neben  der  zweiten  Auflage  des  Taschenbuches  und 
neben  Rühls  Chronologie  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit, 
Jansens  Abschnitt  neben  den  Büchern  von  Vildhaut  und  Jacob? 
Ich  wage  zu  bezweifeln,  daß  der  „Grundriß'  „zu  einer  mög- 
lichst vielseitigen  Ausbildung  der  studierenden  Historiker'' 
beitragen,  „ergänzend  und  vertiefend  den  geschichtlichen  Uni- 
versitätsvorlesungen zur  Seite  treten '^  wird,  glaube  vielmehr, 
daß  in  den  kurzen  Obersichten  und  Darstellungen,  wie  sie  zu 
häuf  erscheinen,  eine  große  Gefahr  liegt.  Denn  man  wird  es 
als  einen  ernstlichen  Schaden  betrachten  dürfen,  daß  das  Lesen 
im  Sinne  Friedrichs  d.  Gr.  immer  mehr  in  Abnahme  kommt,  die 
Studierenden  die  Anlage  von  Auszügen  aus  den  ursprüng- 
lichen, grundlegenden  Werken,  die  unmittelbare  Verbindung 
mit  diesen  mehr  und  mehr  vernachlässigen;  und  wenn  mit 
Recht  darüber  geklagt  wird,  daß  die  Studierenden  zu  wenig 
Gewicht  auf  den  eigentlich  wissenschaftlichen  Betrieb,  die  Art, 
wie  Wissen  geschaffen  und  erworben  wird,  legen,   dadurch 


364  Literaturbericht. 

daß  sie  dem  die  Aufnahme  möglichst  bequem  bereit  gestellter, 
dogmatischer  Kenntnisse  vorziehen,  mit  dieser  Forderung  auch 
an  die  Vorlesungen  herantreten,  ein  wesentliches  Moment  des 
Rückschrittes  bilden,  so  wird  zwischen  diesen  Neigungen  und 
der  Art,  wie  ihnen  der  Buchhandel  entgegenkommt,  eine  recht 
bedauerliche  Wechselwirkung  anzunehmen  sein. 

Selbst  wer  diese  Bedenken  nicht  zu  teilen  vermag,  wird 
kaum  sagen  dürfen,  daß  die  in  diesen  beiden  Lieferungen  ent- 
haltenen Beiträge  ihrem  Zwecke,  der  Einführung  des  Neulings, 
gleichmäßig  entsprechen.  Schon  vorher  habe  ich  angedeutet, 
daß  in  ihnen  Gegenstände  behandelt  werden,  bei  denen  sach- 
gemäße Unterweisung  durch  den  Lehrer  unerläßlich  ist;  hat 
diese  stattgefunden,  dann  bietet  sie  mehr,  als  der  Lernende 
aus  dem  «Grundriß^  erfahren  kann.  Daß  so  viele  Einzelheiten 
als  nur  möglich  untergebracht  worden  sind,  erklärt  sich  aus 
dem  weit  gesteckten  Ziele,  bedauern  kann  man,  daß  für  diesen 
Zweck  der  jede  Obersicht  verhindernde,  das  Lesen  erschwe- 
rende Petitdruck  in  überreichem  Maße  verwendet  werden 
mußte. 

Von  Einzelheiten  glaube  ich  an  dieser  Stelle  absehen  zu 
dürfen,  nur  an  Steinackers  Beitrag  möchte  ich  etliche  Bemer- 
kungen knüpfen.  Die  Diplomatik  ist  in  drei  Abschnitte  zer- 
legt, die  Lehre  von  den  Königs-  und  Kaiserurkunden,  die 
Lehre  von  den  Papsturkunden  und  „die  Lehre  von  den  nicht- 
königlichen (Privat-)Urkunden  vornehmlich  des  deutschen 
Mittelalters''.  An  und  für  sich  ist  die  Bezeichnung  des  dritten 
Abschnittes  nicht  ganz  genau,  da  sie  entsprechend  den  §§  1 
und  2  lauten  sollte  „von  den  nichtköniglichen  und  nichtpäpst- 
lichen Urkunden''.  Doch  nicht  darum,  sondern  um  die  Zu- 
sammenfassung dieser  unter  der  Bezeichnung  „ Privaturkunden " 
handelt  es  sich.  Das  geht,  wie  bekannt,  auf  die  Unterschei- 
dung zwischen  cartae  regales  und  cartae  pagenses  in  Markulfs 
Formelbuch  zurück,  die  von  Mabillon  und  seinen  Nachfolgern 
übernommen,  von  späteren  Forschern  beibehalten,  ja  auf  das 
ganze  Mittelalter  ausgedehnt  worden  ist.  Zwar  konnte  man 
sich  der  Wahrnehmung  nicht  verschließen,  daß  die  Bezeich- 
nung in  dieser  Ausdehnung  ganz  willkürlich  und  unpassend  ist, 
vor  allem  Breßlau  hat  folgerichtig  auf  die  Notwendigkeit  einer 
zeitlichen  Unterscheidung  hingewiesen,  aber  er  hat  damit  nicht 


Deutsche  Geschichte.  365 

viel  Anklang  gefunden,  und  erst  jüngst  hat  Redlich  sich  dahin 
ausgesprochen,  daß  „die  Bezeichnung  Privaturkunden  einer 
jener  streng  genommen  unzutreffenden,  aber  bequemen  ter* 
mini  technici  sei,  weiche  die  Wissenschaft  nur  schwer  ent- 
behren kann"",  daß  wir  das  Wort  gebrauchen  müssen,  wenn 
auch  mit  dem  Vorbehalte,  daß  es  nur  ein  Notbehelf  und  sach- 
lich unzutreffend  sei,  und  mit  dem  andern  Vorbehalte,  daß 
„die  Behandlung  der  Lehre  von  den  Privaturkunden  andere 
Wege  gehen  muß  als  bei  den  anderen  einheitlichen  Gruppen*. 
(Erben,  Urkundenlehre  1,  20.)  Steinacker  legt  auf  die  Be- 
quemlichkeit kein  so  großes  Gewicht^  ihm  paßt  es  durchaus 
nicht,  daß  in  seinem  Abschnitte  ganz  verschiedenartige,  des 
inneren  Zusammenhanges  entbehrende  Dinge  zusammenge- 
worfen sind,  er  tadelt  die  Bezeichnungen  „ Privaturkunden '^ 
und  „Privaturkundenlehre*  als  ungenau,  er  wendet  die  Frage 
mit  gewohntem  Scharfsinne  nach  allen  Seiten,  aber  zum 
Schlüsse  der  für  einen  Neuling  gewiß  nicht  leicht  verständ- 
lichen und  auch  überflüssigen  Ausführungen  kommt  auch  er 
auf  die  rein  praktische  Rücksicht,  behält  die  Bezeichnung 
Privaturkunde  für  die  ganze  so  wenig  einheitUche  Masse  bei, 
unterscheidet  höchstens,  was  die  Verwirrung  nur  noch  steigert, 
davon  Privaturkunden  im  engeren  Sinne  (S.  251).  Nach  wie 
vor  steht  man  vor  der  gewiß  weder  bequemen,  noch  prakti- 
schen Tatsache,  daß  unter  der  Bezeichnung  Privaturkunden 
der  Mehrzahl  nach  öffentliche  Urkunden  verstanden  werden. 
Um  aus  dem  Wirrsal  herauszukommen,  müßte  man  sich 
vor  allem  darüber  klar  werden,  was  öffentliche  und  was 
Privaturkunden  sind.  Am  besten  hält  man  sich  dafür  an  die 
heute  gang  und  gäbe  juristische  Auffassung.  Darnach  sind 
öffentliche  Urkunden  jene,  welche  von  einer  öffentlichen  Be- 
hörde oder  von  einer  mit  öffentlichem  Glauben  versehenen 
Person  innerhalb  der  Grenzen  der  Amtsbefugnisse  der  Be- 
hörde oder  innerhalb  des  einer  solchen  Person  zugewiesenen 
Geschäftskreises  in  der  vorgeschriebenen  Form  errichtet  sind 
(Lothar  Seuffert,  Zivilprozeßordnung  für  das  Deutsche  Reich, 
zu  §  380),  wobei  der  öffentliche  oder  private  Zweck  der  Ur- 
kunde gleichgültig  ist  (Rietsch,  Handbuch  der  Urkunden- 
wissenschaft '  S.  40  ff.).  Da  die  Grenzen  zwischen  öffentlich 
und  privat  im  Lauf  der  Zeiten  schwanken,  die  Entscheidung 

Historische  ZeitscbrUt  (101.  Bd.)  a.  Folge  5.  Bd.  24 


366  Literaturbericht 

Über  den  öffentlichen  Charakter  einer  Behörde  oder  einer 
Person  sowie  über  Amtsbefugnisse  und  Geschäftskreis  durch 
die  geschichtliche  Entwicklung  oder  durch  Gesetz  und  Ver- 
ordnung vollzogen  wird,  die  öffentliche  Geltung  von  Urkunden 
bald  über  die  obige  Bestimmung  erweitert,  bald  wieder  ein- 
geschränkt wurde,  die  öffentliche  Urkunde  an  sich  als  ein 
Ausfluß  staatlicher  Hoheitsrechte  sich  im  Anschluß  an  die 
verfassungsrechtliche  Entwicklung  ausgebildet  hat,  ergibt  sich, 
daß  die  über  den  großen  Zeitraum,  in  dem  sich  die  in  Be- 
tracht kommenden  verfassungsgeschichtlichen  Vorgänge  ab- 
spielen, ausgedehnte,  für  den  Anfang  passende  Unterschei- 
dung ihre  Gültigkeit  allmählich  einbüßen  muß,  daß  die  Ein- 
teilung der  Urkunden,  soll  der  vorhin  gerügte  Obelstand  ver- 
mieden werden,  sich  der  verfassungsgeschichtlichen  Entwick- 
lung anzupassen  hat. 

Wie  verhält  es  sich  mit  der  Scheidung  nach  methodischen 
Gesichtspunkten,  vor  allem  nach  organisierter  oder  nicht  or- 
ganisierter Herstellung  (bekannter  oder  unbekannter  Hand), 
die  nach  Redlich  den  Hauptgrund  für  die  Absonderung  der 
nichtköniglichen  und  nichtpäpstlichen  Urkunden  abgibt  und 
ihre  Vereinigung  in  eine  Gruppe  rechtfertigen  soll?  Sofern 
man  den  Begriff  der  organisierten  Herstellung  nicht  zu  enge 
faßt  und  zur  größeren  Vereinfachung  die  Trennung  nach 
Empfänger  und  Aussteller  bei  Seite  läßt,  entspricht  diese 
Unterscheidung  durchaus  einer  in  dem  Wesen  der  Urkunden- 
lehre begründeten  Forderung.  Nur  muß  man  sich  gegenwärtig 
halten,  daß  sie  nicht  mit  der  zwischen  königlichen  und  nicht- 
königlichen Urkunden  zusammenfällt,  da  auch  königliche  Ur- 
kunden, wie  z.  B.  die  älteren  englischen,  ohne  ständige  Kanzlei 
entstanden  sind  und  daß  umgekehrt  im  Laufe  der  Zeiten  die 
wichtigsten  nichtköniglichen  Urkunden  den  Übergang  zu 
kanzleimäßiger  Herstellung  durchmachen  (s.  auch  Steinacker 
S.  266).  Werden  wir  also  auch  da  auf  den  zeitlichen  Unter- 
schied gewiesen,  so  sind  wir  nach  allen  Richtungen  hin  ge- 
nötigt, der  geschichtlichen  Entwicklung  und  der  Tatsache 
Rechnung  zu  tragen,  daß  etwa  vom  13.  Jahrhundert  an  eine 
Einteilung  der  Urkunden  weder  nach  dem  Gesichtspunkte  des 
öffentlichen  oder  privaten  Charakters,  noch  nach  dem  der 
organisierten  oder  nicht  organisierten  Herstellung  möglich  ist. 


Deutsche  Geschichte.  367 

sondern  daß  für  diesen  Zweck  zuerst  die  Stellung  der  ur- 
kundenden  Person,  K(irperschaft  oder  Behörde,  dann  der 
Gegenstand  und  die  Art  der  Urkunde  in  Betracht  zu  ziehen 
wäre.  Die  Scheidung  nach  diesen  Gesichtspunkten  dürfte  am 
ehesten  eine  entsprechende  Ordnung  der  Urkundenmasse 
gestatten ;  erst  dann  wird  es  möglich  sein,  die  engen  und  viel- 
fältigen Beziehungen,  die  zwischen  den  zu  bildenden  Gruppen 
bestehen,  aufzudecken.  Denn  man  wird  für  diese  späteren 
Jahrhunderte  mit  der  an  den  Königsurkunden  schon  festge- 
gestellten  Tatsache  zu  rechnen  haben,  daß  hinsichtlich  des 
Gesamtbildes,  der  Schrift,  des  Formulars  eine  über  ganz 
Westeuropa  sich  verbreitende  Gleichmäßigkeit  herrscht,  inner- 
halb der  durch  diese  gezogenen  Grenzen  sich  einzelne  Ab- 
weichungen in  den  verschiedenen  Territorien,  innerhalb  dieser 
nach  den  Ausstellern  ergeben. 

Steinacker  hat  diese  Verhältnisse  zwar  angedeutet  (S.  233, 
237,  251),  sie  aber  nicht  in  rechtem  Sinne  verwertet.  Daher 
ist  allerdings  die  erste  Hälfte  seines  Beitrages,  in  der  jene 
Fragen  nicht  so  sehr  in  Betracht  kommen  und  er  die  Ergeb- 
nisse der  bisherigen  Forschung  verwerten  konnte,  wohl  ge- 
lungen, wogegen  die  zweite  nicht  so  recht  zu  befriedigen  ver- 
mag. Bedenklich  erscheint  mir  die  Zerlegung  in  geistliche 
und  weltliche  Urkunden,  da  diese  durchaus  nicht  immer  zwei 
verschiedenen  Rechtskreisen  entsprechen,  die  geistlichen  Aus- 
steller, wie  in  vielen  anderen  Beziehungen,  auch  darin  eine 
Doppelstellung  einnehmen,  wie  denn  St  selbst  die  Gleich- 
artigkeit der  Entwicklung  in  beiden  Kreisen  eingeräumt  hat 
(S.  260).  —  Als  eine  Lücke  wird  man  es  gerade  mit  Rück- 
sicht auf  die  studierenden  Historiker  betrachten  müssen,  daß 
die  Notariatsurkunden,  die  seit  dem  14.  Jahrhundert  doch  auch 
in  Deutschland  nicht  selten  sind,  und  oft  recht  wichtige  ge- 
schichtliche Angaben  enthalten,  nur  nebenher  berührt  sind 
(S.  260,  265).  —  Die  gegen  den  zuerst  von  Posse  angenom- 
menen ^fKlosterductus*"  gerichteten  Bemerkungen  (S.  256) 
können  in  ihrer  etwas  zu  bestimmt  ablehnenden  Form  leicht 
irreführen  und  von  weiterer  Forschung  abhalten.  Jetzt  hat 
Schillmann  (Beiträge  zum  Urkundenwesen  der  älteren  Bischöfe 
von  Cammin  S.  14  ff.,  S.  90)  mindestens  für  die  Zisterzienserstifte 
Dargun  und  Kolbatz  Schreibschulen  festgestellt,  und  ich  habe 

24^ 


368  Literaturbericht. 

allen  Grund,   sie   auch  für  wichtige  nieder-  und  oberösterrei- 
chische Klöster  anzunehmen. 

Graz.  Karl  Uhlirz. 

Geschichte  des  niederen  Volkes  in  Deutschland.  Von  Eccardus. 
2  Bde.  Berlin  und  Stuttgart,  W.  Spemann.  1907.  VII  u. 
862  S. 

Es  dürfte  zu  den  selteneren  Erscheinungen  der  geschichts- 
wissenschaftlichen Literatur  gehören,  daß  ein  mehrbändiges 
Werk,  welches  die  Geschicke  des  deutschen  Volkes  von  einem 
neuen  Gesichtspunkte  aus,  nämlich  von  unten  herauf,  «aus 
der  Froschperspektive^,  darstellen  will,  unter  einem  Pseudo- 
nym in  die  Öffentlichkeit  tritt.  Da  der  Vf.  dies  für  nötig 
gehalten  hat,  um  dem  Buche  eine  unbefangene  Prüfung  zu 
sichern,  liegt  es  nahe,  anzunehmen,  daß  seine  Person  den 
politischen  Kämpfen  der  Gegenwart  nicht  fernsteht.  Die 
Grundgedanken  des  Werkes  sowie  gewisse  stilistische  Eigen- 
tümlichkeiten deuten  darauf  hin,  daß  er  wohl  unter  den  jour- 
nalistischen, vielleicht  auch  parlamentarischen  Vertretern  des 
neuzeitlichen  Nationalsozialismus  oder  Sozialliberalismus  zu 
suchen  sein  wird. 

Dem  Andenken  des  preußischen  Befreiungsediktes  vom 
9.  Oktober  1807  gewidmet,  schildert  das  Werk  in  seinem  ersten 
Bande  die  Gemeinfreiheit  und  ihren  Verfall,  im  zweiten  das 
Emporkommen  von  Bürger,  Bauer  und  Arbeiter  seit  der  Re- 
formation, indem  es  von  den  dunklen  Zeiten  des  „Mutter- 
rechtes^  ausgeht  und  unter  dem  Gesichtspunkte,  daß  die 
Sehnsucht  und  das  Streben  nach  Wiederherstellung  jener 
idealen  Gemeinfreiheit  der  Vorzeit,  „da  jeder  mannbare  Ger- 
mane  gleichberechtigt  war  in  Ding,  Heer  und  Hufe^,  durch 
alle  Zeiten  bis  in  die  moderne  Sozialdemokratie  hinein  sich 
wirksam  erwiesen  habe  und  erweise,  alles  das  zusammenstellt, 
dessen  die  respektable  Belesenheit  des  Vf.  in  Beziehung  auf 
die  verfassungs- ,  rechts-  und  wirtschaftsgeschichtliche  Ent- 
wicklung unseres  Volkes  hat  habhaft  werden  können.  Daß 
dabei  Vermutungen,  Verallgemeinerungen  und  sonstige  Kon- 
struktionen nicht  selten  dazu  dienen  müssen,  die  Lücken  aus- 
zufüllen und  die  Abgründe  zu  überbrücken,  die  sich  aus  der 
Quantität  und  Qualität  des  Quellenmaterials  für  das  tatsäch- 


Mittelalter.  369 

liehe  Wissen  ergeben,  ist  ein  Mangel,  der  mehr  oder  weniger 
allen  Versuchen  anhaftet,  von  so  komplizierten  Verhältnissen 
eine,  auch  weiteren  Kreisen  verständliche  und  ihrem  Grund- 
gedanken nach  einheitliche  Darstellung  zu  geben.  Die  politi- 
schen Ereignisse  sind  nur  nebenbei  und  oft  im  trockensten 
Chronikenstil  behandelt,  während  der  Vf.  an  und  für  sich  über 
eine  gewandte,  temperamentvolle  Schreibart  verfügt,  die  auch 
burschikosen  und  burlesken  Wendungen  nicht  aus  dem  Wege 
geht  und  in  geistreichem  Wortgefunkel  über  manche  Schwäche 
der  Beweisführung  hinwegtäuscht. 

Alles  in  allem  ein  für  den  Dilettanten  nicht  ungefährliches, 
für  den  Fachmann,  soweit  er  kein  Pedant  ist,  nicht  uninter- 
essantes Buch,  dessen  wissenschaftliche  Bedeutung  freilich 
nicht  auf  der  Darstellung  beruht,  die  es  von  vergangenen 
Zeiten  gibt.  Wohl  aber  möchte  es  als  ein  Dokument  zur  Ge- 
schichte der  Gegenwart  Beachtung  verdienen,  indem  es  die 
historischen  Grundlagen  und  Voraussetzungen  gewisser  Theo- 
rien und  Systeme,  die  im  Parteikampfe  unserer  Tage  eine 
nicht  geringe  Rolle  spielen,  erkennen  hilft  und  zeigt,  wie  sich 
im  Kopfe  manches  Zeitgenossen  die  Vergangenheit  malt. 

Gr.-Lichterfelde.  /.  Härtung. 

W.  A.  Stevenson:  The  crusaders  in  the  East,  a  brief  history 
of  the  wars  of  Islam  with  the  Latins  in  Syria  during  the 
twelfth  and  thirteenth  centuries.  Cambridge,  Univ.  Press. 
1907.    Xn  u.  387  S. 

Dies  Buch  ist  eine  auf  dem  Gebiete  der  Kreuzzugsliteratur 
eigenartige  und  sehr  hervorragende  Leistung.  Der  Vf.  be- 
handelt die  Geschichte  der  Kämpfe  zwischen  den  Muhani- 
medanern  und  Franken  zumeist  vom  Standpunkt  der  muham- 
medanischen  Staatenverhältnisse  aus ,  dementsprechend  er 
seine  Darstellung  in  folgende  sechs  Kapitel  eingeteilt  hat: 
/.  The  first  Crusade;  establishment  of  the  Latins  in  Jerusalem 
and  Tripolis,  a.  D,  1099—1119.  —  2.  Early  history  of  Antioch 
and  Edessa;  Moslem  reaction  down  to  a.  D.  1127.  —  3.  Imad  ed- 
Din  Zanki.  —  4.  Nur  ed-Din  Mahmud.  —  5.  Salah  ed-Din 
Yusuf.  —  6.  The  thirteenth  Century,  an  epilogue.  Eigentlich 
sind  es  drei  Perioden,  innerhalb  welcher  die  Geschichte  dieser 
Kämpfe  verläuft:   Die  Eroberung  Syriens  durch  die  Lateiner 


370  Literaturbericht 

und  die  Zunahme  ihrer  Machtverhältnisse  bis  zum  Jahre  1127^ 
in  welchem  Imad  ed-Din  Zanki  Herrscher  von  Mosul  ge- 
worden ist:  darüber  handeln  die  zwei  ersten  Kapitel,  worin 
allerdings  mehr  die  Lage  der  Lateiner  geschildert  wird.  Dann 
die  Periode  der  Moslemischen  Reaktion  und  die  Siege  der 
Muhammedaner  unter  Zanki,  Nur  ed-Din  und  Salah  ed-Din, 
welche  ihren  Kulminationspunkt  haben  in  der  Wiedereroberung 
Jerusalems  und  der  Abweisung  des  ,3.  Kreuzzuges*,  in 
Kap.  3,  4,  5.  Endlich  eine  lange  Periode  von  Streitigkeiten 
zwischen  den  Lateinern  und  von  weniger  bedeutenden  Kämpfen 
derselben  mit  den  Muhammedanem  bis  zum  Falle  Akkos, 
welche  mit  dem  13.  Jahrhundert  zusammenfällt  und  in  Kap.  6 
mehr  im  Oberblick  dargestellt  wird.  Der  VL  bemüht  sich,  den 
Verlauf  der  Ereignisse  von  Jahr  zu  Jahr  genau  zu  verfolgen 
und  in  präziser  Fassung  zu  beschreiben,  soweit  ihm  dazu 
durch  die  Quellen  die  Möglichkeit  geboten  wird.  Mit  diesen 
und  mit  der  neueren  Literatur  der  Kreuzzugsgeschichte  wohl- 
vertraut, ist  es  ihm  ganz  besonders  daran  gelegen,  jeweils 
das  richtige  Datum  für  das  betreffende  Ereignis  angeben  zu 
können  —  und  in  dieser  Beziehung  nimmt  sein  Buch  in  der 
Reihe  der  bisherigen  Darstellungen  den  ersten  Platz  ein,  denn 
in  keiner  derselben  ist  auf  diesen  sehr  wesentlichen  Punkt 
solch  eine  Sorgfalt  verwendet  wie  in  dem  Buche  Stevensons, 
wenn  man  auch  der  fast  durchgängigen  Bevorzugung  der 
arabischen  Datumsangaben  vor  denen  der  abendländischen 
Quellen  in  einzelnen  Fällen  etwas  skeptisch  gegenübersteht. 
Interessant  ist  im  Appendix  seine  Darlegung  über  die  Chrono- 
logie der  arabischen  Schriftsteller  und  des  Wilhelm  von  Tyrus, 
worin  er  u.  a.  zeigt,  wie  z.  B.  Ibn  el  Athir,  Sibt  ibn  el-Jauzi, 
Kemal  ed-Din  und  Makrizi,  indem  sie  für  die  ihrer  Zeit  voran- 
gehenden Jahre  aus  anderweitigen  Quellen  ihre  Nachrichten 
gesammelt  haben  und  für  jedes  einzelne  Jahr  die  Gescheh- 
nisse unter  der  Überschrift  des  Jahres  mitteilen,  zuweilen  den 
Irrtum  begehen,  daß  von  ihnen  Tatsachen  doppelt  angeführt 
werden,  was  insbesondere  dann  der  Fall  ist,  wenn  in  den  ver- 
schiedenen Quellen,  die  sie  kopierten,  die  Erzählungen  über 
ein  und  denselben  Vorgang  bedenklich  voneinander  abweichen, 
so  daß  dadurch  Doppelberichte  gegeben  werden,  die  bis  in 
die  neueste  Zeit  auch   irrigerweise  in  den  Darstellungen  ver- 


Mittelalter.  371 

wertet  wurden,  und  Ereignisse  beschrieben  werden,  die  nie- 
mals stattgefunden  haben.  Auch  weist  St.  auf  die  mancherlei 
Schwierigkeiten  hin,  die  dem  Geschichtsforscher  bei  Eruierung 
der  Zeitbestimmungen  in  den  arabischen  Quellen  begegnen, 
und  gibt  schätzenswerte  Winke,  wie  man  jeweils  das  richtige 
Datum  ausfindig  machen  kann.  Am  Schlüsse  des  Buches  ist 
vor  dem  Personen-  und  Ortsnamen-Index  ein  Verzeichnis  der 
hauptsächlichsten  von  St.  in  den  Fußnoten  benutzten  Bücher 
und  Quellenwerke  beigegeben.  Daß  er  aber  über  den  Wert 
der  letzteren  und  vornehmlich  über  den  seiner  arabischen 
Quellen  und  deren  gegenseitigem  Verhältnis  sich  nicht  be- 
sonders ausspricht,  und  nicht  deutlich  erkennen  läßt,  warum 
und  inwieweit  er  ihnen  volle  Glaubwürdigkeit  zugestehen  darf, 
bzw.  welche  derselben  er  als  Hauptquellen  und  welche  als 
sekundäre  Quellen  betrachtet  wissen  will,  überhaupt  eine  be- 
sondere zusammenhängende  Darlegung  darüber  nicht  gibt,  — 
dies  ist  eine  Unterlassung,  welche  um  so  weniger  zu  billigen 
ist,  als  die  kritische  Untersuchung  der  arabischen  Quellen  zur 
Geschichte  der  Kreuzzüge  noch  sehr  im  argen  liegt  und  der 
Vf.  bei  seinem  eingehenden  arabischen  Quellenstudium  sicher 
in  dieser  Beziehung  viel  Neues  und  Zweckdienliches  dem 
Leser  zu  bieten  vermocht  hätte. 

Bödigheim.  //.  Hagenmeyer. 

Kaiser  Friedrich  II.  und  Papst  Innozenz  IV.  Ihr  Kampf  in  den 
Jahren  1244  und  1245.  Von  Aug.  Folz.  Straßburg  i.  E., 
Schlesier  &  Schweikhardt.     1905.     158  S. 

Eine  fleißige  und  durchaus  tüchtige  Arbeit  aus  der  Schule 
von  H.  Breßlau  führt  uns  auf  den  Höhepunkt  des  großen 
Kampfes  zwischen  Friedrich  11.  und  Innozenz  IV.,  in  die  Er- 
eignisse, in  deren  Mitte  das  erste  Konzil  von  Lyon  steht.  Wir 
erhalten  darüber  nicht  nur  eine  gute  Gesamtdarstellung,  an 
der  es  seit  geraumer  Zeit  fehlte,  sondern  auch  in  manchen 
wesentlichen  Einzelpunkten  dankenswerte  Aufklärungen,  die 
ich  als  förderlich  vielfach  auch  da  bezeichnen  möchte,  wo 
ich  mit  den  Ergebnissen  des  Vf.  nicht  übereinstimme. 

Ein  erster  Teil  behandelt  die  Zeit  von  der  Flucht  des 
Papstes  bis  zum  Beginn  des  KonzUs.  Im  Mittelpunkte  stehen 
da  die  Friedensverhandlungen,  die  auf  die  böse  Kunde  aus 


372  Litermturfoericht 

dem  Orient  hin  seit  Ende  des  Jahres  1244  durch  die  Be- 
mühungen des  Patriarchen  von  Antiochia  noch  einmal  in 
Gang  kamen.  Indem  ich  dieser  meist  an  Fickers  Ausführungen 
angelehnten  Darstellung  fast  durchgehends  beipflichte,  möchte 
ich  nur  an  den  Friedensstörungen,  die  der  Vf.  S.  39  aus  dem 
leidenschaftlichen  Temperament  Friedrichs  hervorgehen  läßt, 
und  die  nach  ihm  zum  Scheitern  der  Verhandlungen  wesent- 
lich beitrugen,  einige  Abstriche  machen;  denn  sie  sind  uns 
großenteils  nur  aus  einem  von  gehässigster  Feindseligkeit  ent- 
stellten Bericht  bekannt,  dessen  Verfasser,  wie  ich  an  anderer 
Stelle  darzutun  gedenke,  im  Auftrage  des  Kardinals  Rainer  von 
Viterbo  mit  der  bestimmten  Absicht  schrieb,  den  Frieden 
zu  hintertreiben.  Die  Vorgänge  in  Acquapendente  z.  B.  (S.  38) 
werden  sich  in  Wirklichkeit  wohl  wesentlich  anders  abgespielt 
haben,  als  ein  leidenschaftlicher  Gegner  sie  mit  einem  ,ui 
pro  firmo  asseritur"  schildert. 

Bei  der  Besprechung  der  Quellen  zum  Konzil  erhebt  Folz 
berechtigte  Zweifel  an  der  Zuverlässigkeit  des  Matthäus  Paris, 
der  nicht  selbst  in  Lyon  zugegen  war,  und  dem  entspricht 
die  sehr  vorsichtige  Benutzung  bei  der  folgenden  Darstellung, 
so  daß  man  gelegentlich  fast  versucht  ist,  ein  Wort  zu  seinen 
oder  seines  Gewährsmannes  Gunsten  einzulegen.  Wie  schwierig 
ist  es  doch,  den  Gang  einer  längeren  Rede  oder  gar  einer 
Debatte  ohne  gleichzeitige  protokollarische  Aufzeichnung  im 
Gedächtnis  zu  bewahren  und  nachher  wiederzugeben!  Da 
können  die  festgehaltenen  Bruchstücke,  aus  dem  Zusammen- 
hang gerissen  und  mannigfach  verschoben,  den  wirklichen 
Eindruck  der  Reden  nur  noch  ganz  schwach  widerspiegeln, 
ohne  darum  auf  Erdichtung  zu  beruhen  (vgl.  S.  77  ^eine  selbst- 
verfaßte Rede**).  Wer  die  doch  meist  auf  gleichzeitige  steno- 
graphische Aufzeichnungen  zurückgehenden  Referate  unserer 
Zeitungen  über  öffentliche  Versammlungen  zum  Vergleich 
heranzieht,  wird  über  den  Konzilsbericht  bei  Matthäus  Paris, 
wie  ich  denke,  gerechter  urteilen.  Daß  Matthäus  übrigens, 
wie  Tangl  annahm,  die  „Brevis  nota*"  über  das  Konzil  benutzt 
habe,  bestreitet  F.  In  der  Beurteilung  der  satirischen  Schrift 
,Pavo*  schließt  er  sich  im  allgemeinen  den  Ausführungen  von 
Wilhelm  an,  die  sie  als  ein  Werk  des  Jordan  von  Osnabrück 
in  die  Mitte  der  80  er  Jahre  des  13.  Jahrhunderts  verlegen. 


Mittelalter.  373 

Verdienstlich  ist  das  Eingehen  auf  die  wichtigen  Flug- 
schriften in  Winkelmanns  Acta  imperii  inedita  II,  717  (^  A), 
I,  568  (=  B)  und  II,  709  (=  C).  Daß  A  den  größten  Einfluß 
auf  die  Gestaltung  der  Absetzungssentenz  geübt  hat,  und  daß 
C  nur  eine  Beilage  von  B  ist,  wird  überzeugend  dargetan. 
Im  übrigen  aber  besteht  das  Verdienst  doch  mehr  in  der  ge- 
gebenen Anregung  als  in  der  Ausführung,  denn  schon  ein 
flüchtiger  Einblick  zeigt,  wie  ich  glaube,  daß  sich  da  noch 
erheblich  weiterkommen  läßt.  Ich  kann  das  hier  nicht  näher 
begründen,  ohne  den  Rahmen  einer  kritischen  Besprechung 
zu  zersprengen;  jedoch  hoffe  ich,  daß  etwa  gleichzeitig  mit 
dieser  Anzeige  eine  Abhandlung  von  mir  über  jene  Flug- 
schriften in  der  Historischen  Vierteljahrschrift  erscheinen  wird. 

Die  Meinung  des  Vf.,  daß  das  Konzil  trotz  nicht  allzu  zahl- 
reichen Besuches  grundsätzlich  als  ein  allgemeines  zu  be- 
trachten sei,  stimmt  mit  der  herrschenden  Ansicht  überein. 
Der  verständigen  Erzählung  der  Verhandlungen  am  ersten 
und  zweiten  Sitzungstage  wird  man  sich  im  allgemeinen  an- 
schließen können.  Daß  Thaddäus  von  Suessa  den  Bischof 
von  Carinola  einfach  als  befangenen  Zeugen  ablehnte  (vgl. 
auch  Folz  S.  135),  und  das  Konzil  sich  ihm  offenbar  an- 
schloß, so  daß  jener  Bischof  nicht  weiter  das  Wort  er- 
greifen konnte,  wäre  wohl  klarer  hervorzuheben  gewesen.  Es 
ist  dies  eine  Stelle,  aus  der  man  ersieht,  daß  der  Gewährs- 
mann des  Matthäus  Paris  Einzelheiten  der  äußerlichen  Vor- 
gänge recht  gut  wiedergeben  konnte,  ohne  sie  juristisch  zu 
begreifen. 

Weniger  befriedigt  haben  mich  dagegen  die  Ausführungen 
von  F.  über  den  Zug  des  Kaisers  von  Verona  nach  Westen, 
über  die  verschiedenen  Botensendungen  zwischen  ihm  und 
Thaddäus  von  Suessa,  namentlich  die  des  Walter  von  Ocra, 
und  die  damit  im  engen  Zusammenhang  stehende  Frage  der 
Vertagung  und  Wiederaufnahme  der  Konzilsverhandlungen. 
Ein  förderndes  Bemühen  um  die  gewiß  nicht  leicht  zu  er- 
mittelnde Wahrheit  dieser  Dinge  möchte  ich  auch  hier  keinen 
Augenblick  verkennen,  aber  die  Ergebnisse,  zum  Teil  auf  un- 
sicherem Grunde  aufgebaut,  sind  recht  anfechtbar.  Die  Ver- 
hältnisse sind  freilich  so  verwickelt,  daß  ich  sie  hier  auf  be- 
schränktem  Räume  nicht  klarzulegen   vermag.    Statt  dessen 


374  Literaturbericht 

möchte  ich   nur  ein  paar  Ecksteine  herausheben,  von  denen 
freilich  der  Halt  des  Gebäudes  wesentlich  abhängt. 

Nach  der  ,Brevis  nota'  bat  Thaddäus  am  zweiten  Ver- 
handlungstage inständig,  die  dritte  Sitzung  in  Rücksicht  auf 
die  zu  erwartende  Herankunft  des  Kaisers  zu  vertagen;  ^pro 
eo"",  so  heißt  es  in  allen  Handschriften,  j,quod  Imperator,  prout 
ipse  per  cerios  habebat  nuntios,  ac  ipse  ad  eum  plures  alics, 
qui  in  civitate  Taurinensi  fuerant,  nUserat,  qaod  Her  arri- 
puerat  ad  concilium  venlendL'  Ich  gebe  F.  (S.  83  Anm.  1) 
darin  vollkommen  recht,  daß  die  in  der  Monumentenausgabe 
an  dieser  ungeschickt  stilisierten  Stelle  vorgenommene  Emen- 
dation  vom  Übel  ist.  Wenn  er  aber  selbst  emendiert:  ^prout 
ipse  per  cerios  habebat  nuntios,  ac  ipse  ad  eum,  qui  in  civi- 
tate Taurinensi  fuerat,  plures  alios  miserat'  etc.,  so  ist  es 
an  sich  schon  nicht  ganz  unbedenklich,  an  dieser  Überliefe- 
rung aller  Handschriften  gleich  zwei  verschiedene  Emenda- 
tionen  :  eine  Umstellung  und  eine  Wortänderung  vorzunehmen; 
dann  aber  gibt  F.  doch  auch  keine  ganz  genügende  Erklärung 
dafür,  wie  denn  Thaddäus  zu  dem  zuversichtlichen,  aber  völlig 
falschen  Glauben  kommen  konnte,  der  Kaiser  sei  bereits 
gerade  in  Turin.  Dürfte  es  da  nicht  besser  sein,  jene  Text- 
stelle so  lange  unverändert  zu  lassen,  als  sie  noch  die  Mög- 
lichkeit einer  Erklärung  bietet  ?  Mir  scheint  bei  der  ja  auch 
von  F.  geteilten  Annahme,  daß  das  letzte  ,quod'  das  erste 
^eo  quod*"  etwas  ungeschickt  wieder  aufnimmt,  alles  in  Ord- 
nung zu  sein.  Thaddäus  hat  vom  Kaiser  Nachrichten  erhalten, 
nach  denen  er  annehmen  muß,  daß  Friedrich  sich  am  5.  Juli 
bereits  von  Verona  nach  dem  Westen  bewegt,  da  er  das  als 
seine  Absicht  ausgesprochen  hat.  Um  ihn  aber  noch  mehr 
anzutreiben,  hat  Thaddäus  selbst  ihm  Boten  mit  dringender 
Aufforderung  dazu  geschickt.  Diese  Boten  müssen,  wie  er 
angibt,  am  5.  Juli  Turin  bereits  hinter  sich  haben  ;  er  will 
damit  andeuten,  daß  ihre  Vereinigung  mit  dem  Kaiser  un- 
mittelbar bevorsteht,  dessen  beschleunigte  Herkunft  also  um 
so  eher  zu  erwarten  ist.  —  Auf  der  zum  mindesten  unsicheren 
Interpretation  dieser  Worte  beruhen  aber  großenteils  die  Fol- 
gerungen von  F.  Noch  eine  weitere  wichtige  Quellenstelle 
scheint  mir  eine  andere  Auslegung  zuzulassen  oder  gar  zu 
fordern,  als  ihr  bisher  von  allen  Forschern,  selbst  Ficker,  und 


Mittelalter.  375 

jetzt  auch  von  F.  zuteil  geworden  ist.  Es  ist  die  S.  156  be- 
handelte Stelle  des  in  drei  verschiedenen  Ausfertigungen  vor- 
liegenden großen  Rundschreibens  des  Kaisers  (M.  G.  Const. 
11,  360).  Nachdem  dem  Papste  der  Vorwurf  gemacht  ist,  daß 
er  nicht  einmal  die  nur  drei  Tagereisen  von  Lyon  entfernte 
Fürstengesandtschaft  des  Kaisers  abgewartet  habe,  fahren  zwei 
Ausfertigungen  A  und  C  fort:  „Non  expectato  etiam  magistro 
Gaalterio  de  Ocra,  —  qui  de  conveniencia  sammi  pontificis 
et  quorandam  ex  fratribus  ad  nos  missus  per  daodecim  (vi" 
ginti  A)  dies  expectari  debuii,  nee  fuit  solummodo  per  biduum, 
quo  tempore  predicti  processus  iniqui  Lugduno  distabat,  ad 
multam  nobilium  et  quam  plurium  prelatorum  instanciam  ex- 
pectatus,"  F.  meint  dazu:  „Wörtlich  bedeutet  diese  Stelle,  der 
Papst  wartete  auf  Walter  von  Ocra,  trotzdem  er  ihn  zwölf 
(zwanzig)  Tage  erwarten  mußte,  wie  er  selbst  und  einige 
Kardinäle  zugestanden  hatten,  nicht  einmal  zwei  Tage.  Daß 
Innozenz  versprochen,  den  Walter  zwölf  Tage  zurückzuer- 
warten, dieses  Versprechen  jedoch  schon  am  zweiten  Tage 
nach  der  Abreise  des  Boten  gebrochen  hätte,  ist  direkt  un- 
glaublich.' Diese  Auslegung  ist  nun  freilich  nur  möglich, 
wenn  man  wie  F.  den  erklärenden  Relativsatz  zu  ^biduum': 
„(zwei  Tagemärsche),  welche  er  zur  Zeit  jenes  unbilligen  Pro- 
zesses (am  17.  Juli)  von  Lyon  entfernt  war**,  einfach  ausläßt. 
Aber  hat  der  Papst  sich  überhaupt  auf  eine  bestimmte 
Wartezeit  von  zwölf  oder  zwanzig  Tagen  verpflichtet?  Das 
ist  mir  auf  Grund  dieser  Stelle  allein  doch  recht  zweifelhaft 
Ich  übersetze:  „indem  nicht  einmal  der  Magister  Walter  von 
Ocra  zurückerwartet  wurde,  der,  nachdem  er  mit  Billigung 
des  Papstes  und  einiger  Kardinäle  zu  uns  abgeschickt 
war,  doch  zwölf  (zwanzig)  Tage  hätte  erwartet  werden 
müssen**^),  d.  h.  es  wäre  nicht  mehr  wie  anständig  gewesen, 
so  lange  zu  warten,  nachdem  man  einmal  die  Entsendung 
des  Boten  gutgeheißen,  weil  die  Hin-  und  Herreise  zwischen 
Lyon  und  dem  Sitz  des  Kaisers  mindestens  so  viel  Zeit  er- 
forderte. Da  ich  nun  nach  meiner  obigen  Interpretation  nicht 
glaube,  daß  Thaddäus  wirklich  irrtümlicherweise  Turin  für  den 


*)  Eine  derartige  Übersetzung  des  Indikativs  ist  ja  bei  „debere^ 
nicht  nur  zulässig,  sondern  geradezu  geboten. 


376  Literaturbericht. 

Aufenthaltsort  des  Kaisers  hielt,  sondern  mit  Verona  oder, 
falls  jener  schon  von  da  aufgebrochen  war,  mit  einem  Orte 
zwischen  Verona  und  Turin  rechnen  mußte,  so  ziehe  ich  die 
Lesart  „zwanzig^,  die  sich  auch  als  die  der  ursprünglichen, 
frühesten  Ausfertigung  empfiehlt,  vor. 

Von  einem  offenen  Wortbruch  des  Papstes,  der  in  der  Tat 
sehr  unwahrscheinlich  wäre,  kann  also  keine  Rede  sein;  bei 
Fickers  Annahme  aber,  nach  der  Innozenz  die  versprochene 
Frist  von  zwanzig  Tagen  zwar  wirklich  gewartet,  nur  darüber 
hinaus  keine  weiteren  Tage  hätte  zugeben  wollen,  ist  es  auch 
nicht  eben  sehr  wahrscheinlich,  daß  der  Kaiser  im  Tone  des 
Vorwurfs  den  Papst  an  die  Wartepflicht  erinnert  haben  sollte, 
die  jener  dann  ja  loyal  innegehalten  hätte.  Bei  meiner  Inter- 
pretation fällt  eine  solche  Schwierigkeit  fort. 

Wenn  diese  beiden  von  F.  abweichenden  Auslegungen 
wichtiger  Stellen  richtig  sind,  so  wird  dadurch  ein  großer  Teil 
seiner  weiteren  Annahmen  umgestoßen.  Ich  will  mich  da  nicht 
zu  sehr  verlieren  und  übersehe  vielleicht  auch  die  einzelnen 
Maschen  dieses  diplomatischen  Verkehrsnetzes  noch  nicht 
genügend,  um  selbst  das  Gewirr  zu  lösen.  Aber  ich  möchte 
doch  fragen,  ob  die  Dinge  vielleicht  nicht  noch  einfacher  ver- 
laufen sind,  als  F.  sie  sich  vorstellt.  Der  Kaiser  in  Verona 
war  nach  den  letzten  Eröffnungen  des  Papstes  aus  dem  Mai 
offenbar  noch  im  Anfang  Juli  voll  Friedenszuversicht  ^);  nur 
das  erklärt  seine  unbesorgte  Haltung.  Er  war  von  der  Kurie 
wohl  absichtlich  in  dieser  Täuschung  möglichst  lange  festge- 
halten, auch  nachdem  die  Kriegspartei  in  Lyon  wieder  Ober- 
wasser bekommen  hatte.  Ein  Abbruch  der  so  aussichtsreichen 
letzten  Verhandlungen  war  nicht  erfolgt.  Erst  zu  Beginn  des 
Konzils  erkannte  Thaddäus  von  Suessa  den  Umschwung  zum 
Schlimmen,  seine  Vollmachten  reichten  dafür  nicht  aus.  Er 
wünschte  den  Kaiser  unter  solchen  Umständen  mehr  in  die  Nähe 
oder  gar  ganz  nach  Lyon.  Daher  die  Botensendung  des  Walter 
von  Ocra,   wohl  unmittelbar  nach  der  ersten  Konzilssitzung.^) 

^)  Noch  in  der  am  8.  Juli  ausgestellten,  wenn  auch  wohl  ein 
wenig  früher  konzipierten  Urkunde  Reg.  Imp,  V,  3490  tritt  das 
deutlich  hervor. 

*)  Daß  er  schon  am  27.  Juni  aufbrach,  wie  Ficker  meint,  ist 
wohl    kaum    nötig.    Ich   möchte    an    den  29.  Juni  denken;   dann 


Mittelalter.  377 

Papst  und  Kardinäle  machten  keine  Einwendungen  dagegen. 
Walter  traf  nicht  lange  vor  dem  8.  Juli  in  Verona  ein.  Der 
Kaiser  ward  durch  die  Nachrichten  zum  Aufbruch  veranlaßt. 
Er  sandte  Walter  als  Eilboten  voraus,  um  die  Fürstengesandt- 
schaft anzukündigen,  die,  aus  dem  Bischof  von  Freising,  dem 
Deutschordensmeister  und  Peter  von  Vinea  bestehend,  neue 
umfassendere  Vollmachten  bringen  sollte,  denn  persönlich  vor 
dem  Konzil  zu  erscheinen,  lehnte  Friedrich  doch  ab.  Aber  er  zog 
jetzt  eilig  —  möglicherweise  noch  ein  Stück  Weges  zusammen 
mit  jener  Fürstengesandtschaft  —  bis  Turin,  um  für  etwaige 
Verhandlungen  dem  Konzilsorte  näher  zu  sein  —  wohl  kaum, 
wie  F.  S.  87  meint,  um  unmittelbar  nach  Abschluß  des  Friedens 
mit  dem  Papste  persönlich  zusammenzutreffen,  denn  so  sicher 
konnte  ihm  der  Frieden  gerade  nach  den  letzten  Nachrichten 
kaum  mehr  erscheinen. 

Der  Eilbote  Walter  von  Ocra  war  der  Fürstengesandt- 
schaft eine  Tagereise  vorauf,  aber  beide  kamen  zu  spät.  Thad- 
däus  hatte  zwar  die  Vertagung  der  dritten  Sitzung  auf  d^n 
17.  Juli  mit  Hinweis  auf  die  wahrscheinliche  Herkunft  Fried- 
richs selbst  durchgesetzt,  aber  bei  der  Kurie  stand  jetzt  der 
Entschluß  zur  Vernichtung  des  Gegners  fest,  wohl  mindestens 
schon  seit  Beginn  des  Konzils.  Wenn  F.  die  eigentliche  Ent- 
scheidung S.  97  in  die  Tage  zwischen  dem  5.  und  17.  Juli 
verlegt,  so  kann  es  sich  da  wohl  nur  um  den^  Entschluß  zur 
Überrumpelung  des  Konzüs  handeln,  nicht  mehr  um  die  Rich- 
tung der  kurialen  Politik.  Und  auch  auf  eine  bestimmte,  da- 
mals abgehaltene  geheime  Sitzung,  in  der  man  in  einem  Schein- 
verfahren Für  und  Wider  von  Friedrichs  Sache  erörtert  hätte, 
möchte  ich  aus  den  Worten  eines  Papstbriefes  ^)  nicht  mit  F. 
schließen.  Denn  mit  dem  Ausdruck  „//i  secretis*^  meint  Inno- 
zenz doch  wohl  allgemein  die  geheimen  Konsistorialsitzungen, 
die  natürlich  diese  ganze  Zeit  über  mehrfach  stattfanden ;  und 

wären  es  bis  zum  18.  Juli  abends,  wo  er  wieder  hätte  in  Lyon 
sein  können,  der  brieflichen  Äußerung  Friedrichs  entsprechend 
gerade  20  Tage,  und  zwar  bis  zum  8.  Juli  genau  10  Tage  für  die 
Hinreise  und  von  da  10  Tage  für  die  Rückreise.  Unmöglich  ist 
natürlich  auch  nicht,  daß  Friedrich  dem  Boten  auf  Eilnachricht 
bis  Cremona  entgegenreiste  (vgl.  Heg.  Imp.  V,  3490  a). 
>)  Huillard-Br^holles  VI,  347. 


378  Literaturbericht. 

es  fragt  sich  auch  noch,  ob  gewisse  Kardinäle  da  wirklich  nur 
zum  Schein  oder  vielmehr  aus  Überzeugung  die  Sache  Fried- 
richs verteidigten.  Genug,  als  am  17.  Juli  noch  keine  neue 
Vollmacht  vom  Kaiser  eingetroffen  war^),  war  alles  Bemühen 
des  Thaddäus,  den  entscheidenden  Schlag  gegen  seinen  kaiser- 
lichen Herrn  abzuwenden,  vergeblich. 

Die  Absetzungssentenz  ist  von  F.  mit  dankenswerter  Schärfe 
analysiert;  auch  die  juristische  und  politische  Verteidigung 
Friedrichs  und  die  Antwort  des  Papstes  —  in  ihren  kirchen- 
politischen Darlegungen  ein  Vorläufer  der  Bulle  „unam  sanc- 
tam^  —  sind  gründlich  und  fördernd  besprochen. 

So  scheidet  man  von  dem  Buche  nicht  ohne  Dank  für 
vielfache  Belehrung  und  Anregung,  die  es  neben  manchem 
Verfehlten  bietet,  aber  freilich  auch  mit  dem  Bewußtsein,  daß 
der  Forschung  auf  diesem  Gebiete  noch  Ernte   übrig  bleibt. 

Heidelberg.  K.  Hampe. 

Die  Rechnungsbücher  der  hamburgischen  Gesandten  in  Avignon 
1338—1355.  Bearbeitet  von  Dr.  Th.  Schrader.  Hamburg 
und  Leipzig,  Voß.     1907.     111  und  156  S.,  3  Tafeln. 

Heftige  Streitigkeiten  zwischen  der  Stadt  Hamburg  und 
dem  mächtigen  Hamburger  Domkapitel  führten  zu  einem  lang- 
wierigen Prozeß,  der  1337  vor  die  päpstliche  Kurie  kam,  1348 
durch  die  Pest  unterbrochen,  erst  1353  wieder  aufgenommen 
und  1355  durch  einen  Vergleich  beendet  wurde,  der  dem 
Domkapitel  1356  die  Rückkehr  in  die  Stadt  ermöglichte.  Der 
VL  legt  uns  nun  die  Rechnungsbücher  und  sonstige  mit  dem 
Rechnungswesen  zusammenhängende  Aktenstücke  der  Ge- 
schäftsträger vor,  die   die   Stadt   Hamburg  in   dieser  Zeit  an 

*)  Folz  meint  S.  98  Anm.  3  mit  Ficker,  der  Papst  sei  von  der 
bevorstehenden  Ankunft  verständigt  gewesen.  Sicheres  konnte 
man  in  Lyon  darüber  schwerlich  wissen,  da  Walter  von  Ocra 
wohl  so  rasch  wie  möglich  reiste,  und  kaum  Eilboten  voraus- 
senden konnte,  die  ihn  um  mehr  als  zwei  Tage  überholt  hätten. 
Ich  halte  diese  Annahme  auch  für  durchaus  unnötig.  Thaddäus 
erwartete  täglich  die  Antwort  des  Kaisers  und  bat  um  Aufschub 
bis  dahin.  Manche  unterstützten  das  Gesuch,  aber  der  Papst 
wollte  diese  Rücksicht  nicht  mehr  nehmen. 


Mittelalter.  379 

der  Kurie  unterhalten  hat  (als  Gesandte  möchte  ich  sie  lieber 
nicht  bezeichnen,  da  das  repräsentative  Element  völlig  fehlt). 
Eine  ausführliche  Einleitung  behandelt  den  Prozeß  selbst,  die 
Akten,  Münzwesen  und  Geldverkehr  und  stellt  übersichtlich 
zusammen,  was  sich  für  die  Kulturgeschichte  nicht  nur  aus 
dem  veröffentlichten  Material,  sondern  auch  aus  der  umfang- 
reichen Korrespondenz  der  hamburgischen  Bevollmächtigten 
entnehmen  ließ,  die  im  Jahre  1359  von  Avignon  nach  Ham- 
burg überführt  wurde.  Für  die  Preisgeschichte  ist  der  Ertrag 
geringer  als  sich  erwarten  ließ,  da  bei  Einkäufen  die  Quantität 
meistens  nicht  angegeben  ist.  Ausgabe  und  Einleitung  sind 
durchaus  sorgfältig  bearbeitet  und  verdienen  um  so  mehr 
Anerkennung,  als  der  Vf.  nicht  Historiker,  sondern  als  Land- 
gerichtsdirektor in  Hamburg  tätig  ist.  In  bezug  auf  Einzel- 
heiten verweise  ich  auf  die  Besprechung  von  K.  H.  Schaefer 
in  der  Römischen  Quartalschrift  21  (1907),  151  ff.  und  füge 
folgendes  hinzu:  Die  juliati  sind  =  gigliati,  angiovinische 
Silbermünzen,  von  denen  60  einer  Goldunze  des  Königreichs 
Neapel  gleichgerechnet  wurden;  da  man  diese  Goldunze  mit 
5  Goldfloren  umzurechnen  pflegte,  so  ergibt  sich  daraus  ein 
ungefährer  Metallwert  von  1  Eres,  für  den  juliatus.  Er  ist 
also  ein  grossus;  ebenso  sind  die  obuli  albi  (Robertini)  nicht 
halbe  denarii  parvi,  wie  der  Vf.  annimmt,  sondern  halbe  grossi 
(S.  22*).  Der  curreteriusy  der  als  Fuhrmann  erklärt  wird 
(S.  94  u.  151),  ist  in  Wahrheit  ein  Sensal  (coartier).  Unter 
den  Lombarden  de  Bonocurs  (S.  20*  und  25*)  ist  die  floren- 
tinische  Gesellschaft  der  Bonaccursi  zu  verstehen,  die  in 
Avignon  ihre  Filiale  hatte  und  z.  B.  im  Jahre  1328  für  die 
Kurie  5000  Goldgulden  an  den  Vizerektor  der  Mark  Ancona 
übermittelte  (Davidsohn,  Forsch,  z.  Gesch.  von  Florenz  HI, 
Nr.  924). 

Brieg.  Adolf  Schaabe, 


Die  Anfänge  der  Fugger  (bis  1494).  Von  Max  Jansen.  (Studien 
zur  Fugger-Geschichte.  1.  Heft.)  Leipzig,  Duncker  ^  Hum- 
blot.     1907.    X  u.  200  S. 

Der  verstorbene  Fürst  Fugger  nahm  außerordentlich  leb- 
haften Anteil  an  allem,  was  die  Geschichte  seiner  Familie  be- 


380  Literaturbericht. 

traf,  und  es  war  einer  seiner  Lieblingspläne,  diese  in  einem 
monumentalen  Werke  behandelt  zu  sehen.  Es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  auseinanderzusetzen,  weshalb  der  Wunsch  unerfüllt 
geblieben  ist.  Mit  Freuden  dürfen  wir  es  aber  begrüßen,  daß 
wenigstens  in  bescheideneren  Formen  auf  Grund  jener  An- 
regungen familiengeschichtliche  Studien  über  die  Fugger  zu- 
stande gekommen  sind.  Auch  um  die  Anfänge  der  Fugger 
hat  die  Tradition  ihre  Schleier  gewoben  und  dadurch  der 
wissenschaftlichen  Forschung  mehr  die  Arbeit  erschwert  als 
die  Bahnen  gewiesen.  Aber  der  Vf.  hat  es  mit  großem  Ge- 
schick verstanden,  die  Pietät  gegen  die  Überlieferung  nicht 
zu  verletzen  und  trotzdem  scharf  zu  unterscheiden  zwischen 
dem,  was  urkundlich  feststeht,  und  dem,  was  nur  der  Legende 
angehört.  Es  ist  begreiflich,  daß  er  auf  einem  so  vielfach 
durchforschten  Gebiete  keine  überraschenden  Entdeckungen 
gemacht  hat.  Im  einzelnen  ist  die  Zahl  der  unbekannten  oder 
berichtigenden  Notizen  dennoch  durchaus  nicht  unbeträcht- 
lich. Nach  der  sorgfältigen  Durchforschung  der  Archive,  die 
der  Vf.  vorgenommen  hat,  darf  man  nun  aber  wohl  die  Unter- 
suchung auf  diesem  Gebiete  als  abgeschlossen  ansehen.  Der 
Vf.  hat  sich  ein  besonderes  Verdienst  dadurch  erworben,  daß 
er  seiner  Darstellung  einen  Anhang  beigegeben  hat,  der  neben 
einigen  Exkursen  eine  Reihe  der  wichtigeren  Quellen  auszugs- 
weise oder  in  vollem  Umfange  wiedergibt. 

Friedenau.  Haebler. 

Johann  Ecks  Pfarrbuch  für  U.  L.  Frau  in  Ingolstadt.  Ein  Beitrag 
zur  Kenntnis  der  pfarrkirchlichen  Verhältnisse  im  16.  Jahr- 
hundert von  Joseph  Greving.  (Reformationsgeschichtliche 
Studien  und  Texte,  herausgegeben  von  Joseph  Greving. 
Heft  4  u.  5.)  Münster  i.  W.,  Aschendorff.  1908.  XIV  u. 
253  S. 

Im  Jahre  1904  veröffentlichte  F.  Falk :  „Die  pfarramtlichen 
Aufzeichnungen  des  Florentius  Diel  zu  St.  Christoph  in 
Mainz  (1492—1518)«  (vgL  H.  Z.  94,  541).  Dieser  Schrift 
schließt  sich  die  vorliegende  an.  Nur  daß  Ecks  Pfarrbuch 
viel  umfang-  und  inhaltreicher  und  durch  die  Person  seines  Ver- 
fassers bedeutungsvoller  ist.  Eck  hat  es  im  Dezember  1525, 
sehr  bald  nach  seinem  Amtsantritt  an  der  Ingolstädter  Frauen- 


Reformationszeit.  381 

kirche,  begonnen,  um  seinen  Nachfolgern  zuverlässige  Nach- 
richten über  alles  das,  was  sie  interessieren  konnte,  zu  hinter- 
lassen: wie  der  Kultus  in  der  Kirche  gehalten  werden  sollte, 
welche  Beziehungen  sie  mit  der  älteren  Stadtpfarrei  St.  Moritz, 
mit  der  Universität  und  dem  Herzog  verband,  welches  die 
Rechte  und  Pflichten  des  Pfarrers,  der  Benefiziaten,  Koopora- 
toren  waren,  welche  Bruderschaften  sich  zu  der  Kirche 
hielten  usw.  Die  den  Kultus  betreffenden  Aufzeichnungen 
hat  er  wahrscheinlich  im  Laufe  des  ersten  Kirchenjahres,  das 
er  in  seiner  neuen  Stellung  verlebte,  zusammengetragen,  die 
große  Masse  der  Nachrichten  gehört  überhaupt  den  ersten 
Jahren  seiner  Tätigkeit  an,  doch  hat  er  bis  zum  Februar  1532, 
wo  er  resignierte,  und  dann  wieder  von  1538 — 1540,  wo  er 
die  Pfarrstelle  noch  einmal  provisorisch  verwaltete,  zahlreiche 
Nachträge  gemacht,  ebenso  seine  Nachfolger  bis  c.  1600. 
Mit  Verständnis  und  Geschick  hat  Greving  die  wichtigen  und 
interessanten  Abschnitte  ausgewählt.  Im  Anhang  hat  er  zwei 
nicht  von  Eck  geschriebene  Stücke  gesondert  mitgeteilt:  den 
ersten  Teil  der  zwischen  1524  und  1545  aufgesetzten  und 
vielleicht  unter  Eck  und  auf  seine  Veranlassung  hin  einge- 
tragenen „Ordnung  des  Gottesdienstes^  und  einen  von 
einem  Nachfolger  Ecks  um  1575  eingeschriebenen  Abschnitt 
9 De  celebratione  primitiarum*^ , 

Gr.s  Publikation  ist  aber  nicht  nur  ein  wichtiger  Beitrag 
zur  Kultus-  und  Kirchenrechtsgeschichte,  sondern  auch  eine 
sehr  beachtenswerte  Ergänzung  des  Lebens-  und  Charakter- 
bildes Ecks.  Sie  lehrt  uns  den  großen  Polemiker  «von  einer 
ganz  neuen  Seite,  in  der  stillen  Ausübung  der  alltäglichen 
seelsorgerlichen  Berufspflichten**  kennen.  Es  sind  durchaus 
anziehende  Eigenschaften,  die  hier  an  seinem  Charakter  zum 
Vorschein  kommen.  Schon  das  muß  uns  für  ihn  einnehmen, 
daß  er  1525  mit  Georg  Hauer  tauschte  und  statt  der  Moritz- 
pfarre, die  er  seit  Mai  1519  inne  gehabt  hatte,  die  Frauen- 
pfarre, die  bei  größerer  Seelenzahl  geringeres  Einkommen 
hatte,  übernahm  und  zwar  weil  er  im  Hinblick  auf  seine  aka- 
demische und  literarische  Tätigkeit  die  Last  und  Unruhe 
eines  bei  dem  St.  Moritz-Pfarrhause  nötig  werdenden  Neu- 
baues scheute.  Die  Rücksicht  auf  seine  akademische,  litera- 
rische  und  kirchenpolitische  Tätigkeit  war  es  auch,   die  ihn 

Historische  ZeittcbriH  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  25 


382  Literaturbericht 

1532  auf  das  Pfarramt  mit  seiner  wachsenden  Arbeitslast  re- 
signieren ließ.  Die  Verdächtigungen,  die  seine  Gegner  bei 
dieser  Gelegenheit  aussprengten  (Corpus  reformatorum  11, 599, 
Enders,  Luthers  Briefwechsel  IX,  198  f.)  sind  grundlos,  er 
schied  in  allen  Ehren  und  in  vollem  Frieden  mit  seiner  Ge- 
meinde. Es  ergibt  sich  ferner,  daß  er  ein  sehr  fleißiger  und 
{gewissenhafter  Prediger  war  —  in  6Vs  Jahren  hielt  er  trotz 
wiederholter  längerer  Abwesenheit  nicht  weniger  als  456  Pre- 
digten (S.  92,  73  ff.)  —  und  daß  er  sich  bemühte,  seinen 
Mitarbeitern  ein  milder  und  uneigennütziger  Vorgesetzter  zu 
sein.  Es  ist  recht  gut,  daß  die  Charakteristik  Ecks  eine 
solche  Ergänzung  und  Berichtigung  erTährt;  die  satirischen 
Bemerkungen  Mosellans,  Pirkheimers  u.  a.  haben,  obgleich 
man  nicht  verkannt  hat,  daß  sie  von  Parteileidenschaft  in- 
spiriert sind,  doch  das  allgemeine  Urteil  viel  zu  sehr  be- 
stimmt. 

Die  ganze  Arbeit  weist  in  gesteigertem  Maße  die  Vor- 
züge der  das  Unternehmen  eröffnenden  Studie  desselben 
Verfassers  über  Johann  Ecks  Chrysopassus  auf  (vgl.  H.  Z.  99, 
574  ff.).  Der  Stoff  ist  nach  jeder  Richtung  hin  mit  größter 
Sorgfalt  und  mit  ebenso  gründlicher  wie  ausgebreiteter  Ge- 
lehrsamkeit durchgearbeitet. 

Zwickau  i.  S.  O.  Giemen. 


The  Cambridge  Modern  History.  Edited  by  A.  W.  Ward,  G.  W. 
Protbero,  Stanley  Leatbes.  Vol.  V.  The  ageof  Louis  XIV. 
Cambridge,  University  Press.    1908.    XXXII  u.  971  S. 

Über  Anlage,  Vorzüge  und  Schwächen  dieser  allgemeinen 
Geschichte  der  neueren  Zeit,  die  von  Engländern  und  wohl 
in  erster  Linie  für  Engländer  herausgegeben  wird,  ist  in 
dieser  Zeitschrift  wiederholt  von  maßgebender  Seite  berichtet 
worden.  Ref.  darf  sich  daher  wohl  auf  einige  Bemerkungen 
beschränken,  zu  denen  der  vorliegende  das  Zeitalter  Lud- 
wigs XIV.  umfassende  Band  des  Werkes  Anlaß  gibt.  Im 
Vordergrunde  steht  auch  diesmal  die  politische  Geschichte. 
Sie  wird  von  den  zahlreichen  Verfassern  der  einzelnen  Ab- 
schnitte in  knapper,  gemeinverständlicher,  die  Resultate  der 
neuen    Forschung    gewissenhaft    und    geschickt    zusammen- 


17.  Jahrhundert.  383 

fassender  Weise  vorgetragen.  Ref.  bedauert  nur,  daß  Gründe, 
die  er  nicht  kennt,  ein  so  weitgehendes  Teilungsprinzip  not- 
wendig gemacht  haben.  Weniger  wäre  in  diesem  Falle  besser 
gewesen.  Denn  es  hätten  sich  in  diesem  Falle  die  Wieder- 
holungen desselben  Gegenstandes  und  die  verschiedenartige 
Wertung  der  Ereignisse  wie  der  Persönlichkeiten  vermeiden 
lassen,  die  für  den  weniger  orientierten  Leser  nicht  ersprieß- 
lich wirken  können.  Über  die  Konflikte  Ludwigs  XIV  mit 
den  europäischen  Groß-  und  Mittelstaaten  berichten  vier 
Autoren  in  vier  verschiedenen  Abschnitten  und  ebenso  oft 
werden  die  Kriegsereignisse  geschildert,  die  diesen  Kon- 
flikten folgten.  Man  wird  auch  bezweifeln  dürfen,  daß  es 
zweckmäßig  war,  die  englische  Geschichte  der  Jahre  1660  bis 
1702  von  zehn  Gelehrten  schreiben  zu  lassen,  zumal  einige 
vort  denen,  die  zu  der  Arbeit  herangezogen  wurden  —  es 
möge  nur  C.  H.  Firth  genannt  werden  —  unbedingt  befähigt 
gewesen  wären,  die  ganze  Periode  in  einer  den  höchsten 
Anforderungen  genügenden  Weise  zu  bearbeiten.  Daß  die 
einzelnen  Abschnitte  inhaltlich  und  formell  nicht  gleichwertig 
sind,  braucht  wohl  erst  nicht  hervorgehoben  zu  werden;  da- 
gegen erfordert  es  die  Rücksicht  auf  die  stille  aber  mühe- 
volle Arbeit  der  Herausgeber  zu  betonen,  daß  keiner  der 
24  Abschnitte,  in  die  der  vorliegende  Band  zerfällt,  ohne 
Verdienst  ist.  Dem  englischen  Leser  dürften  die  zu- 
sammenfassenden Darsteüungen  der  russischen  und  der 
preußischen  Geschichte,  die  von  den  Herausgebern  im  Hin- 
blicke auf  das  im  Zeitalter  Ludwigs  XIV.  stattfindende  Ein- 
treten dieser  beiden  Mächte  in  die  Weltpolitik  für  den  vor- 
liegenden Band  bestimmt  wurden,  besonders  erwünscht  sein, 
während  der  deutsche  Leser  den  einzelnen  Autoren,  welche 
die  englische  Geschichte  jener  Zeit  so  eingehend  erörtert 
haben,  zu  besonderem  Danke  verpflichtet  sein  dürfte.  Mit 
größter  Freude  aber  werden  die  Vertreter  aller  Nationen  jene 
Abschnitte  des  Werkes  begrüßen,  in  denen  hervorragende 
Schriftsteller  die  englische  und  französische  Dichtung  des 
17.  Jahrhunderts,  die  bedeutungsvollen  religiösen  Strömungen 
jener  Tage,  sowie  die  Fortschritte  der  Natur-  und  Geistes- 
wissenschaften in  Europa  schildern.  Wenn  Ref.  auch  in  dieser 
Hinsicht  einen  Wunsch   äußern   dürfte,    wäre  es  der,  daß  es 

25* 


384  Literaturbericht. 

den  Herausgebern  gelänge,  die  einzelnen  Mitarbeiter  dafür  zu 
gewinnen,  ihrerseits  die  Beziehungen  zwischen  der  sozialen 
und  der  politischen  Geschichte  in  jedem  einzelnen  Falle  kurz 
zu  charakterisieren. 

Eine  außerordentlich  reichhaltige  Bibliographie,  —  die  eine 
wesentliche  Kürzung  erfahren  würde,  wenn  ein  und  dasselbe 
Buch  nur  einmal  angeführt  würde  —  und  ein  vortrefflicher 
Index  beschließen  den  vorliegenden  Band  des  großen  Werkes, 
dessen  Beendigung  wohl  in  Bälde  zu  erwarten  steht. 

Wien.  A.  F.  Pribram. 


Die  Erinnerungen  der  Prinzessin  Wilhelmine  von  Oranien  an  den 
Hof  Friedrichs  d.  Gr.  (1751—1767).  Von  Dr.  Gustav  Berthold 
Volz.  Berlin,  Alexander  Duncker.  1903.  93  S.  (Quellen 
und  Untersuchungen  zur  Geschichte  des  Hauses  Hohen- 
zollern.    Bd.  7.    3.  Reihe:  Einzelschriften  V.) 

Prinzessin  Wilhelmine  von  Oranien  hat  die  hier  publi- 
zierten Memoiren  im  Exü  in  Berlin  1812  niedergeschrieben. 
In  zwei  verschiedenen  Redaktionen  bewahrt  sie  das  königliche 
Hausarchiv  im  Haag:  die  erste  mit  dem  Titel:  ^Mes  Sou- 
venirs^ schließt  bereits  1758,  die  zweite:  „Afal^riaux  pour 
l'histoire  de  ma  vie"  geht  bis  zur  Vermählung  der  Prinzessin 
mit  dem  Erbstatthalter  im  Jahre  1767.  Die  Aufzeichnungen 
sind  vor  allem  wertvoll  wegen  der  Erinnerungen  der  Prin- 
zessin an  die  während  des  Siebenjährigen  Krieges  in  Magde- 
burg und  später  in  Berlin  verlebten  Jahre.  In  den  wesent- 
lichsten Zügen  ist  ihr  Bericht  durchaus  wahrheitsgetreu; 
Gedächtnisfehler  und  sonstige  Versehen  hat  der  Herausgebe 
berichtigt.  Die  knapp  gehaltene  Einleitung  gibt  einen  guten 
Überblick  über  den  Lebenslauf  der  Prinzessin,  die  sich  als 
junges  Mädchen  der  besonderen  Zuneigung  ihres  großen 
Onkels  zu  erfreuen  hatte;  mehrere  dem  Haager  Hausarchive 
entnommene  Briefstellen  (S.  23)  zeigen  das  Interesse  und  die 
Liebe  des  Königs  für  die  einzige  Tochter  seines  ältesten  im 
besten  Mannesalter  verstorbenen  Bruders. 

Göttingen.  Ferd,  Wagner. 


18.  Jahrhundert.  385 

Sachsen  und  Preußen  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts.  Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  des  österreichischen  Erbfolgekrieges 
von  Johannes  Ziekursch.  Breslau,  M.  u.  H.  Marcus.  1904. 
VII  u.  228  S. 

Der  Dresdener  Friede  und  die  Politik  Brühls.  Von  Reinhold 
Becker.  Leipzig,  S  Hirzel.  1902.  XIV  u.  113  S.  (Biblio- 
thek der  sächsischen  Geschichte  und  Landeskunde,  heraus- 
gegeben von  Dr.  Gustav  Buchholz,  a.  o.  Professor  an  der 
Universität  Leipzig.     1.  Bd.,  1.  Heft.) 

Die  heutigen  Anschauungen  über  den  Kurstaat  Sachsen 
um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  beruhen  auf  den  Darstel- 
lungen in  der  „Histoire  de  mon  temps*"  und  auf  den  in  der 
politischen  Korrespondenz  Friedrichs  des  Großen  veröffent- 
lichten preußischen  Gesandtschaftsberichten.  Der  Ministerresi- 
dent von  Ammon,  auf  den  zum  guten  Teile  die  pikanten  Anek- 
doten in  der  j,Histoire^  über  Hof  und  Staat  in  Sachsen  zurück- 
gehen, war  sehr  eingenommen  gegen  den  Minister  Grafen 
V.  Brühl  und  ohne  jede  Kritik  in  dem,  was  er  von  ihm  nach 
Berlin  berichtete  (S.  21).  Wie  sich  nun  tatsächlich  die  Politik 
Sachsens  in  den  ersten  Jahren  des  Erbfolgekrieges  gestaltet 
hat,  von  welchen  Motiven  sich  der  damalige  Premierminister 
leiten  ließ  und  welche  Gründe  das  Unterliegen  Sachsens  be- 
wirkten, diese  Frage  beantwortet  Joh.  Ziekursch  in  seinem 
vortrefflichen  Buche:  , Sachsen  und  Preußen  um  die  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts.* 

Die  bisher  nur  wenig  eingesehenen  Aktenbestände  des 
Dresdener  Hauptstaatsarchives  sind  benutzt  worden,  und  mit 
Geschick  hat  Vf.  die  sehr  umfangreiche  Literatur  älteren  und 
neueren  Datums  in  seinem  Werke  verwertet.  Das  Ergebnis 
seiner  Forschung  ist  folgendes:  Der  Erwerb  Niederschlesiens 
war  politisch  und  wirtschaftlich  für  den  Kurstaat  Sachsen  im 
18.  Jahrhundert  eine  unabweisbare  Notwendigkeit,  die  der 
Minister  Brühl  auch  richtig  empfindet  und  im  Auge  behält. 
Damit  kam  er  in  Todfeindschaft  mit  König  Friedrich  dem  Großen, 
nachdem  dieser  ihm  mit  überraschender  Schnelligkeit  in  der 
Besetzung  Schlesiens  zuvorgekommen  war. 

War  nun  von  vornherein  für  Sachsen  der  Kampf  verloren? 
Direkt  beantwortet  der  Vf.  diese  Frage  nicht,  er  weist  nur 
darauf  hin,  daß  der  großen  Heeresschöpfung  Friedrich  Wil- 


386  Literaturbericht. 

heims  1.  der  König-KurfUrst  1740  nur  24000  Soldaten,  alles 
Landeskinder,  entgegenzustellen  hatte  (S.  24).  Allerdings  war 
Sachsen  damals  imstande,  eine  größere  Armee  aufzubringen, 
denn  im  Herbst  1742  stieg  die  Zahl  der  Truppen  auf  46000  Mann 
(S.  222).  Nur  zum  Teil  mißt  Z.  die  Schuld  an  der  Zer- 
rüttung der  sächsischen  Finanzen,  die  zu  einer  Reduktion 
der  Truppen  im  Mai  1756  auf  19000  Mann  zwangen  (S.  205), 
der  Verschwendungssucht  des  Königs  und  des  Ministers  zu 
(S.  27).  Die  Gründe  lagen  zum  großen  Teile  in  der  geo- 
graphischen Position  des  Landes. 

Die  Wirtschaftspolitik  Friedrich  Wilhelms  I.  und  außerdem 
die  an  der  schlesischen  Grenze  von  Kaiser  Karl  VL  schon 
zu  Lebzeiten  Augusts  des  Starken  eingesetzten  hohen  Zölle 
haben  die  Ausfuhr  der  sächsischen  Industrieprodukte  geschädigt. 
Unbedingt  nötig  für  den  Bestand  der  Leipziger  Messen  war 
die  Erhaltung  des  so  überaus  wichtigen  Marktes  in  Polen. 
Aber  auch  der  ungehinderte  Verkehr  mit  Schlesien  war  für 
die  sächsische  Wollen-  und  Leinwandindustrie  nicht  zu  ent- 
behren, denn  von  dort  wurden  große  Quantitäten  von  Garn 
und  Flachs  nach  Kursachsen  eingeführt  (S.  3,  5).  Neben  dem 
durchaus  berechtigten  Wunsche  der  Kurfürsten  nach  einer  an- 
sehnlichen Territorialvergrößerung  war  der  Erwerb  mindestens 
von  Niederschlesien  direkt  eine  Lebensfrage  für  die  Fort- 
entwicklung der  sächsischen  Industrie  und  des  ganzen  Landes. 
Die  sächsischen  Staatsmänner  durften  die  sich  beim  Aussterben 
des  habsburgischen  Mannesstammes  eröffnenden  Aussichten 
nicht  außer  acht  lassen.  Es  galt,  die  alte  Machtstellung  der  Alber- 
tiner  neben  Preußen  und  Bayern  zu  behaupten.  Wie  wenig 
sich  Brühl  damals  als  umsichtiger  Diplomat  bewährte,  legt  das 
2.  Kapitel,  „der  Frankfurter  Partagevertrag*,  dar.  Der  am  19.  Sep- 
tember 1741  abgeschlossene  Vertrag  war  nach  dem  Vf.  eine 
schwere  Niederlage  Sachsens,  dem  darin  ein  Gebietszuwachs 
angewiesen  wurde,  der  sich  gar  nicht  behaupten  ließ  (S.  72). 
Brühl  hätte  im  Frühjahr  1741  in  Versailles  bessere  Bedingungen 
erlangt,  damals  wäre  er  hochwillkommen  gewesen,  man  konnte 
ihn  dort  sehr  gut  neben  Bayern  und  Preußen  gebrauchen.  Die 
bisher  geltende  Meinung,  die  sich  namentlich  auf  Ranke  stützt, 
daß  Brühl  außer  mit  England  und  der  Königin  von  Ungarn 
auch    mit   Frankreich   die  ganze  Zeit   über  verhandelt  habe, 


18.  Jahrhundert.  387 

wird  von  Z.  widerlegt.  Mit  Preußen  war  ja  ein  Zusammen- 
gehen nicht  möglich,  dies  erkannte  Brühl  nach  einigem  Son- 
dieren. Der  Tag  von  Mollwitz  hat  zwar  im  ersten  Momente 
konsternierend  in  Dresden  gewirkt,  dieser  Eindruck  verlor  sich 
aber  bald,  als  Neipperg  Schlesien  nicht  räumte.  So  hat  der 
Marschall  Belle-Isle  bei  dem  zweimaligen  Besuche  in  Dresden 
nichts  erreicht,  besonders  seine  loyale  Erklärung,  daß  Nieder- 
schlesien im  ganzen  Umfange  Friedrich  zugesichert  wäre,  nahm 
Brühl  alle  Lust  zu  ernstlichen  Verhandlungen.  Aus  der  Poli- 
tischen Korrespondenz  ersehen  wir  dann,  mit  welchem  Miß- 
behagen Friedrich  der  Große  die  endlich  doch  erfolgte  Annähe- 
rung Sachsens  an  die  französische  Allianz  wahrnahm,  er  vergaß 
sich  sogar  gegenüber  Belle-Isle  soweit,  die  Sachsen  als  ^ees 
mdchants  voisins  et  faux  amis^  zu  betitein  (S.  66).  Mit  Recht 
sagt  der  Vf.,  daß  der  geglückte  Versuch  Frankreichs  Sachsen 
zu  den  Gegnern  Maria  Theresias  hinüberzuziehen  bei  Friedrich 
sehr  stark  mit  eingewirkt  habe,  auf  das  Abkommen  von  Klein- 
Schnellendorf  einzugehen.  Brühl  ist  bei  seinen  guten  Verbin- 
dungen im  Lager  Neippergs  schon  nach  14  Tagen  von  der 
erfolgreichen  Mission  des  englischen  Ministers  unterrichtet 
gewesen  (S.  75),  gab  auch  getreulich  sein  Wissen  an  Belle- 
Isle  weiter  (S.  81)  und  suchte  es  zum  eigenen  Vorteil  auszu- 
nutzen. 

Das  3.  und  4.  Kapitel  behandeln  die  kriegerischen  Ereig- 
nisse an  der  Donau  während  des  Sommers  1741  und  die  in 
Böhmen  und  Mähren  in  dem  darauffolgenden  Winter.  Der  VL 
hat  viel  Mühe  darauf  verwandt,  die  Entwicklung  der  Opera- 
tionspläne des  Marschalls  Belle-Isle  zu  erklären;  durch  die 
ihm  fortwährend  zugehenden  Nachrichten  und  Wünsche  der 
verschiedenen  Kabinette  waren  sie  einem  beständigen  Wechsel 
unterworfen.  Der  Marschall  hat  sich  damals  durchaus  korrekt 
benommen,  der  ihm  im  preußischen  Generalstabswerke  ge- 
machte Vorwurf  der  Doppelzüngigkeit  läßt  sich  nicht  aufrecht- 
erhalten. Gestehen  wir  es  ein,  das  der  eigentliche  Hemmschuh 
Preußen  war,  und  daß  an  zweiter  Stelle  Sachsen  kam,  das 
seine  besten  Karten  damit  aus  der  Hand  gab,  daß  es  nicht 
bereits  im  September  1741,  wie  Moritz  von  Sachsen  vorschlug, 
seine  Armee  in  Böhmen  einmarschieren  ließ  und  sich  in  den 
Besitz  der  Landstriche  setzte,   die   ihm   am   besten  gelegen 


388  Literaturbericht. 

waren.  Das  ängstliche  Abwarten  Brühls  und  Hinhorchen 
nach  den  fremden  Kabinetten  hat  sich  bitter  gerächt. 

Eingehend  weilt  Vf.  bei  der  ehrenvollen  Teilnahme  des 
sächsischen  Korps  an  der  Eskalade  Prags,  doch  soll  man 
nicht  tibersehen,  daß  die  österreichische  Besatzung  nach  der 
Übergabe  nur  noch  1894  Köpfe  zählte.  In  sehr  gutem  Lichte 
zeigt  er  den  Grafen  Moritz  von  Sachsen,  der  das  aggressive 
Element  war,  erst  an  der  Donau  und  später  vor  Prag,  dessen 
Rat  aber  von  Brtihl  nicht  geschätzt,  vielmehr  mit  Mißtrauen 
entgegengenommen  wurde. 

In  der  Beurteilung  der  Motive  Friedrichs  des  Großen  bei 
der  Eröffnung  des  Mährischen  Feldzugs  schließt  jsich  Z.  der 
Darstellung  Rankes  an,  hebt  aber  ein  bisher  nicht  beachtetes 
Moment  hervor,  das  hauptsächlich  Friedrich  den  Großen  nötigte, 
aus  der  monatelangen  Passivität  hervorzutreten.  Der  König 
erfuhr  Anfang  Januar  1742,  daß  Brtihl  nahe  daran  war,  den 
Königgrätzer  Kreis  als  Bindeglied  zwischen  Sachsen  und  Mähren 
von  Frankreich  zugesichert  zu  erhalten  (S.  136).  Auf  diesen 
Kreis  hatte  er  selber  auch  sein  Augenmerk  gerichtet,  es  galt, 
Sachsen  an  diesem  ftir  Preußen  nicht  erwünschten  Machtzu- 
wachs zu  hindern  und  es  sich  nicht  tiber  den  Kopf  wachsen 
zu  lassen. 

Brühls  Weigerung,  die  sächsische  Armee  durch  ein  schrift- 
liches Abkommen  Friedrich  zu  unterstellen,  ist  durchaus  be- 
rechtigt (S.  143),  und  ist  die  „Hlsioire''  in  ihrer  Beschreibung 
der  Dresdener  Tage  im  Januar  1742  parteiisch  und  einseitig. 
Später,  nach  der  Besetzung  Iglaus,  ließ  Brtihl,  trotz  des  Wider- 
spruchs der  Generalität,  das  sächsische  Korps  unter  Fried- 
richs Oberbefehl  in  der  nicht  unrichtigen  Erkenntnis,  daß 
der  König  bei  einem  erneuten  Abfall,  auf  den  die  wieder  auf- 
genommenen Verhandlungen  mit  Maria  Theresia  hinwiesen, 
Sachsen  berticksichtigen  mtißte  (S.  151). 

Die  ganzen  Leiden,  die  der  Winterfeldzug  in  Mähren  dem 
sächsischen  Korps  auferlegte,  erfahren  wir  aus  den  vom  Vf. 
benutzten  Akten  des  Dresdener  Archives.  Eine  detailliertere 
Geschichte  des  Mährischen  Feldzuges  hat  nicht  in  seinem 
Plane  gelegen;  so  vernehmen  wir  leider  nichts  über  das  in 
militärischer  Hinsicht  merkwürdige  Verhalten  Friedrichs  in  den 
ersten  Tagen  des  Februar  1742  vor  Brunn.   Ohne  große  Schwie- 


18.  Jahrhundert.  389 

rigkeit  hätte  der  König  damals  die,  wie  die  österreichischen 
Quellen  zugeben,  fast  unbewehrte  Hauptstadt  Mährens  ein- 
nehmen können.  Sein  Verhalten  ist  vom  militärischen  Stand- 
punkte nicht  zu  verstehen  und  findet  allein  dadurch  seine  Er- 
klärung, daß  Friedrich  die  Hauptstadt  von  Mähren  dem  säch- 
sischen Kurfürsten  nicht  einräumen  wollte. 

Deutlicher  konnte  sich  dann  die  Unversöhnlichkeit  der 
preußischen  Bestrebungen  gegen  die  sächsichen  nicht  zeigen, 
als  in  dem  Versuche  Friedrichs,  Anfang  April  1742  unter  Fallen- 
lassen seiner  Alliierten,  Bayern  und  Sachsen,  den  Königgrätzer 
und  Pardubitzer  Kreis  direkt  von  der  Königin  von  Ungarn  für 
sich  selbst  zu  gewinnen. 

Mit  großer  Erbitterung  gegen  Preußen  sind  bekanntlich 
die  Trümmer  des  sächsischen  Korps  nach  Böhmen  zurückge- 
kehrt. Brühl  selbst  hatte  um  so  mehr  Grund  erzürnt  zu  sein, 
als  er  gerade  dem  Könige  die  Truppen  zur  Verfügung  gestellt 
und  sich  in  jener  Zeit  gegen  Preußen  durchaus  korrekt  ver- 
halten hatte.  Der  einseitige  Friedensschluß  Friedrichs  mit  Maria 
Theresia,  ohne  daß  von  Seiten  des  ersteren  der  Dresdener 
Hof  in  Kenntnis  gesetzt  war,  erregte  dort  die  größte  Bestürzung. 

Im  5.  und  letzten  Kapitel  setzt  Vf.  auseinander,  wie 
sich  Brühl  in  dieser  schwierigen  Situation  als  Minister  zu 
halten  wußte,  in  Frieden  sich  von  den  Franzosen  trennte 
(S.  170)  und  mit  der  Königin  von  Ungarn  wieder  in  Verbin- 
dung trat.  König  und  Minister  wußten  nun  den  Wert  einer 
starken  Armee  zu  würdigen ;  eifrig  wurde  in  Sachsen  gerüstet, 
und  als  sich  am  Ende  des  Jahres  die  Zahl  der  Truppen  auf 
46000  Mann  (s.  Anhang  VI,  S.  222)  belief,  war  Sachsen  wieder 
ein  Faktor,  mit  dem  man  in  Deutschland  zu  rechnen  hatte. 
So  kam  mit  Maria  Theresia  das  Wiener  Bündnis  vom  20.  De- 
zember 1743  zustande.  Unwillkürlich  muß  sich  der  Leserfragen, 
weshalb  von  Brühl  die  Vermehrung  der  Armee,  die  seiner 
Diplomatie  ein  ganz  anderes  Gewicht  gegeben  hätte,  nicht  ein- 
einhalb Jahr  früher  ins  Werk  gesetzt  worden  ist.  Mit  mög- 
lichst geringem  Einsatz  hoffte  er  eben  das  zu  erreichen,  was 
dem  Lande  not  tat;  während  er  verhandelte,  sagt  Z.  an  einer 
Stelle,  handelte  Friedrich  und  gewann  Schlesien.  Z.  schließt 
seine  Darstellung  mit  dem  Augenblicke,  als  Sachsen  offen  an 
Österreichs  Seite  am  zweiten  Schlesischen  Kriege  teilnahm. 


390  Literaturbericht 

Mit  demselben  Jahre  nimmt  Reinhold  Becker  den  Faden 
auf  mit  seinem  an  zweiter  Stelle  genannten  Buche  «Der  Dres- 
dener Friede  und  die  Politik  Brühls''.  Auch  B.  geht  in  seiner 
exakten  Arbeit  von  der  Erwägung  aus,  daß  der  Minister  im 
Interesse  des  Staates  den  Gewinn  eines  ansehnlichen  Zu- 
wachses an  Land  und  Leuten  zur  Richtschnur  seiner  Politik 
machen  mußte.  Nach  dem  Obergang  Schlesiens  in  preußi- 
schen Besitz  konnte  sich  der  König-Kurfürst,  wenn  er  nicht 
kampflos  auf  seine  polnische,  d.  h.  europäische  Stellung  ver- 
zichten wollte,  der  Teilnahme  an  der  gegen  Preußen  gerich- 
teten Koalition  nicht  entziehen  (S.  6).  Beim  unglücklichen 
Ausgange  des  Feldzuges  rächte  sich  das  Versäumnis  Brühls, 
sich  nicht  in  den  Verträgen  mit  Österreich  gegen  die  Mög- 
lichkeit eines  Mißerfolges  gedeckt  zu  haben  (S.  31).  Somit 
war  der  Wiener  Hof  im  Rechte,  als  er  die  von  Brühl  im  De- 
zember erhobenen  Entschädigungsansprüche  an  Land  oder  Geld 
zurückwies.  In  seinem  Ärger  über  diesen  Echec  suchte  Brühl 
bei  Friedrich  dem  Großen  Hilfe,  der  auch  im  ersten  Separat- 
artikel des  Friedensvertrages  das  Versprechen  gab,  beim  Wiener 
Hofe  vollständige  Entschädigung  und  Genugtuung  auszu- 
wirken (S.  33).  Ungewiß  läßt  es  Vf.,  ob  der  zweite  Separat- 
artikel, der  den  Obergang  Erfurts  an  Sachsen  ins  Auge  faßt, 
von  Brühl  herrührt  oder  von  Friedrich  aufgesetzt  worden  ist 
(S.  34). 

Ohne  Zögern  zog  Brühl  die  sich  für  Sachsen  ergebenden 
Konsequenzen  aus  dem  Dresdener  Frieden.  Die  Denkschrift 
vom  Januar  1746  —  im  Anhange  IV  abgedruckt  —  verzichtet 
auf  jede  fernere  aggressive  Politik  in  Hinsicht  auf  die  Not- 
lage des  Landes.  Die  Furcht  vor  seinen  Widersachern  am 
Hofe,  wo  die  preußische  Partei  sehr  rührig  war,  mag  ihn  be- 
wogen haben,  sich  gegen  alle  Anerbietungen  des  Wiener  Hofes 
ablehnend  zu  verhalten  (S.  48).  Als  drückende  Fessel  empfand 
man  jetzt  in  Dresden  den  vor  Jahresfrist  mit  den  Seemächten 
abgeschlossenen  Subsidienvertrag,  denn  nach  dem  Frieden 
mit  Friedrich  trat  nun  der  sechste  Paragraph  des  Vertrages 
in  Kraft,  der  Sachsen  gegen  Fortzahlung  der  Subsidien  die 
Stellung  eines  Korps  von  10000  Mann  auf  dem  Niederländi- 
schen Kriegstheater  auferlegte  (S.  65).  Aus  dem  Fortgange 
des  Krieges   in    den   Niederlanden    und    Italien  zog  Sachsen 


18.  Jahrhundert  391 

keinen  Vorteil.  Da  es  auch  im  Frieden  fremder  Subsidien 
bedurfte,  so  wurde  der  Versuch,  mit  Frankreich  und  Spanien 
anzuknüpfen,  zur  absoluten  Notwendigkeit  (S.  70).  Die  ersten 
Eröffnungen  gingen  Ende  Januar  1746  von  Brühl  aus,  nicht 
von  Frankreich,  wie  bisher  angenommen  wurde.  Außer  dem 
Monarchen  wurde  von  Brühl  niemand,  selbst  nicht  der  säch- 
siche  Gesandte  in  Paris,  ins  Geheimnis  gezogen.  Dem  An- 
schein nach  durfte  Sachsen  auf  großes  Entgegenkommen 
rechnen,  nachdem  im  vergangenen  Jahre  der  französische  Hof 
dreimal  mit  dem  Kurfürsten  Fühlung  gesucht  hatte.  So  bereit- 
willig aber,  wie  es  sich  Brühl  dachte,  ging  der  französische 
Minister  d'Argenson  nicht  auf  seine  Wünsche  ein ;  ihm  waren 
zwar  die  sächsischen  Eröffnungen  höchst  willkommen,  die 
Akten  widerlegen  die  gegenteilige  Ansicht  Vitzthums  (S.  95 
Anm.  1),  aber  die  von  Brühl  erhobenen  Forderungen  schienen 
viel  zu  hoch.  Trotzdem  hat  Brühl  in  Paris  alle  seine  Wünsche 
erreicht;  er  war  dabei  so  vorsichtig,  die  Fäden,  die  nach 
England  und  Holland  führten,  nicht  vorzeitig  zu  durchschneiden 
(S.  86);  die  Mißerfolge  Frankreichs  in  Oberitalien  kamen  ihm 
zugute,  und  schließlich  gab  die  Hofpartei  in  VersaUles,  geleitet 
durch  den  Marschall  von  Sachsen,  den  Ausschlag  zugunsten 
des  sächsischen  Ministers. 

Der  Vf.  legt  viel  Wert  auf  den  Nachweis,  daß  Brühl  einen 
Bruch  mit  Österreich  oder  gar  mit  Rußland  nie  geplant  habe. 
Unbedenklich  konnte  Brühl  später  den  Wortlaut  des  neuen 
Bündnisses  in  Wien  und  Petersburg  mitteilen,  da  er  alles  fem 
gehalten  hatte,  was  die  beiden  Mächte  verstimmen  konnte 
(S.  113).  Auch  gegen  Friedrich  den  Großen  übte  der  säch- 
sische Minister  die  gleiche  Vorsicht.  Die  Behauptung  A.Schae- 
fers  (Hist.  Zeitschr.  15,  131),  daß  Brühl  gleich  nach  dem 
Frieden  das  alte  Spiel  wieder  begonnen  und  bei  den  fremden 
Höfen  gegen  Preußen  intrigiert  habe,  weist  B.  auf  Grund  der 
Akten  als  unrichtig  nach.  Schon  die  Rücksicht  auf  seine 
Gegner  im  Lande,  die  eine  engere  Verbindung  mit  Preußen 
wünschten,  nötigte  ihn  zu  großer  Zurückhaltung.  Die  Hoff- 
nung auf  eine  spätere  Abrechnung  wird  bei  ihm  wach  ge- 
blieben sein;  schon  im  Frühjahr  1746  rechnete  er  mit  der 
Möglichkeit  einer  Allianz  der  Höfe  von  Wien  und  Versailles 
(S.  131). 


392  Literaturbericht. 

Zu  günstig  beurteilt  scheint  mir  die  militärische  und 
politische  Stellung  Friedrichs  des  Großen  nach  dem  Friedens- 
schlüsse, wenn  der  Vf.  einen  Unterschied  konstatiert,  ob  der 
Sieger  Friedrich  sich  Enthaltung  auferlege  oder  der  Besiegte 
(S.  130).  Die  großen  Opfer,  die  der  unglückliche  Feldzug  von 
1744  gefordert  hatte,  und  der  leere  Schatz  erlegten  dem  Könige 
eine  vorsichtige,  zurückhaltende  Politik  auf  und  lassen  an  der 
Aufrichtigkeit  seines  im  September  1746  an  Sachsen  gerich- 
teten Allianzvertrages  nicht  zweifeln  (S.  128).  Aber  die  poli- 
tischen Konstellationen,  die  Friedrich  dem  Großen  ein  freund- 
schaftliches Einvernehmen  mit  dem  sächsischen  Hofe  nahe- 
legten (S.  123),  konnten  über  Nacht  eine  Änderung  erfahren, 
und  wie  wenig  dann  auf  seine  Bundestreue  zu  bauen  war, 
hatten  die  Ereignisse  der  letzten  fünf  Jahre  allen  offenbart 

In  dieser  Zeitschrift  (Bd.  90  S.  342)  ist  bereits  darauf  hin- 
gewiesen, daß  Professor  Gustav  Buchholz  als  Herausgeber 
der  „Bibliothek  der  sächsischen  Geschichte  und  Landeskunde'' 
in  der  Einführung  die  Ziele  der  neuen  Publikation  begründet, 
welche  sich  die  Aufgabe  gestellt  hat,  die  bisher  recht  ver- 
nachlässigte neuere  sächsische  Geschichte  wissenschaftlich 
zu  bearbeiten. 

Göttingen.  F.  Wagner. 

Friedrich  August  Ludwig  von  der  Marwitz.  Ein  märkischer  Edel- 
mann im  Zeitalter  der  Befreiungskriege,  herausgegeben  (so  I) 
von  Friedrich  Meusel.  1.  Bd.  Lebensbeschreibung.  Berlin, 
E.  S.  Mittler  &  Sohn.     1908.    XV  u.  736  S. 

In  dem  Nachlaß  des  1837  verstorbenen  märkischen  Patrioten 
sind  neben  politischen  und  militärischen  Ausarbeitungen  und 
Briefen  vorhanden  militärische  Tagebücher  aus  den  Jahren  1805, 
1807,  1813 — 1815,  dann  zusammenfassende  Aufzeichnungen 
im  Hauptrechenbuch  für  die  Jahre  1804 — 1828,  die  meist  wenige 
Jahre  nach  den  Ereignissen  und  zwar  anscheinend  in  einem 
Zug  geschrieben  sind  (das  sog.  „Hausbuch^)  und  endlich 
wirkliche  Memoiren,  die  er  unter  dem  Namen  „Nachrichten 
aus  meinem  Leben*"  nach  1832  großenteils  aus  der  Erinnerung 
(S.  210)  ausführlich  in  nicht  weniger  als  5  Foliobänden  bis 
1808  fertiggebracht  hat.  Es  ist  als  besonderer  Glücksfall  zu 
betrachten,  daß  von  diesem  lebensklugen  und  wahrheitsmutigen 


19.  Jahrhundert.  393 

Kämpfer,  der  freilich  ein  sehr  eigenrichtiges  Selbstgefühl  in 
der  tapferen  Brust  barg  und  ein  unnachsichtiger  Hasser  sein 
konnte,  so  zahlreiche  Blätter  auf  die  Nachwelt  gekommen 
sind.  Auszüge  aus  allen  den  genannten  Aufzeichnungen,  aus- 
schließlich der  Briefe,  waren  in  zwei  Bänden  1852  unter  dem 
Titel  „Aus  dem  Nachlaß  F.  A.  L.  von  der  Marwitz""  veröffent- 
licht und  von  der  Wissenschaft  gern  benutzt  worden.  Daß  der 
Kabinetsrat  Friedrich  Wilhelms  IV.,  Markus  Niebuhr,  der  Be- 
arbeiter, war  bekannt.  Eine  Überraschung  ist  es,  nunmehr  aus 
dem  Vorwort  der  Meuselschen  Neuausgabe  zu  ersehen,  daß 
Ranke  der  Ratgeber  der  Familie  bei  Bestimmung  des  zu  ver- 
öffentlichenden Stoffs  gewesen  ist  und  daß  politische  Rück- 
sicht für  Schonung  des  Andenkens  Friedrich  Wilhelms  III. 
sein  Urteil  hierbei  gelenkt  hat.  Man  begreift  das,  wenn  man 
weiß,  daß  die  Publikation  im  Sinne  der  damals  siegreichen 
Partei  politisch  zu  wirken  bestimmt  war.  Aber  man  er- 
staunt doch,  wenn  man  hört,  nicht  nur  wie  stark  die  Auslassun- 
gen, sondern  auch  absichtlichen  Entstellungen  gewesen  sind. 
Der  Herausgeber  hat  nun  auch  jetzt  geglaubt,  auf  Abdruck 
des  Ganzen  verzichten  zu  müssen:  er  schlägt  das  Mitzuteilende 
auf  V6  der  autobiographischen  Aufzeichnungen  an.  Nicht  über 
das  „Ob*,  sondern  nur  über  das  „Wie**  möchte  ich,  ohne  das 
Verdienst  dieser  sehr  erwünschten  Ausgabe,  der  noch  zwei  Bände 
mit  Briefen,  militärischen  Tagebüchern  und  Denkschriften  folgen 
sollen,  zu  verkennen,  einige  Bemerkungen  mir  erlauben.  Aller- 
dings wird  man  es  schwerlich  ohne  weiteres  gutheißen,  daß 
nicht  wenige  Partien,  die  in  der  Ausgabe  weggelassen  sind, 
bereits  in  der  Sonntagsbeilage  der  Vossischen  Zeitung  und 
auch  in  den  Forschungen  zur  Brandenburgischen  und  Preußi- 
schen Geschichte  abgedruckt  worden  sind.  Warum  das?  Wenn 
es  galt,  Platz  zu  sparen,  so  hätte  man  z.  B.  lieber  die  Feld- 
züge von  1792 — 1794,  an  denen  Marwitz  nicht  teilnahm  und  die 
er  nur  nach  fremden  Berichten  darstellt,  vermißt  als  so  manches 
andere,  z.  B.  den  in  den  Nachtragsband  verwiesenen  Feldzug 
von  1806,  S.  302,  s.  320.  Aber  mehr  Gewicht  lege  ich  auf 
Auslassung  einzelner  Stellen  und  angeblich  zu  harter  Urteile. 
Einseitig  harter  Urteile  ist  das  Buch  voll:  es  geht  nicht  an 
und  beruht  auf  einer  Verkennung  der  Aufgaben  wissen- 
schaftlicher Veröffentlichungen,  wenn  hier  aus  dynastischen 


394  Literaturbericht. 

oder  sonstigen  Rücksichten  Ausnahmen  gemacht  werden.  Was 
hätte  es  bei  der  zwar  treffenden,  wenngleich  vielleicht  ein 
wenig  zu  herben  Beurteilung,  die  Friedrich  Wilhelm  IIL  an 
verschiedenen  Stellen  erfahren  hat,  verschlagen,  wenn  der 
S.  171  weggelassene  Tadel  stehen  geblieben  wäre!  Ohnedies 
läßt  sich  aus  dem,  was  ebenda  und  sonst  der  Königin  als  aus- 
zeichnend vor  ihrem  Gemahl  nachgerühmt  wird,  und  dem, 
was  S.  264  über  den  König  abgedruckt  ist,  unschwer  erschließen, 
was  dagestanden  haben  wird.  Ahnliches  kommt  öfters  vor, 
z.  B.  416.  Aber  meinen  Augen  hätte  ich  beinahe  nicht  getraut, 
wenn  ich  S.  703  ein  Urteil  über  die  militärischen  Fähigkeiten 
des  Prinzen  von  Preußen  aus  dem  Jahre  1826  als  zu  scharf 
gestrichen  fand.  Wie  ich  höre,  darf  die  Rüge  wegen  dieser 
unzulässigen  Prüderie  nur  teilweise  den  Herausgeber  treffen, 
der  im  Interesse  des  Zustandekommens  der  Ausgabe  unbe- 
rufener Beeinflussung,  und  zwar  nicht  von  Seite  der  Familie 
seines  Helden,  zu  willig  sich  gebeugt  hat. 

Abgesehen  davon  kann  man  sich  der  Bereicherung  unserer 
Auffassung  durch  dieses  Werk,  hinaus  über  das,  was  die  erste 
Bearbeitung  ans  Licht  gebracht,  mit  Recht  freuen.  Es  steckt 
doch  noch  weit  mehr  in  diesem  Eisenkopf,  als  man  ohnedies 
schon  wußte.  Manche  Partien  seines  Jugend-  und  Liebeslebens 
sind  von  einer  bezaubernden  Zartheit  und  Innigkeit,  die  man 
dem  manchmal  wachtstubenmäßig  scheltenden  Autor  schwer 
zugetraut  hätte.  Auch  kulturgeschichtlich  und  politisch  ist  das 
Gegebene  wertvoll.  Es  kann  kaum  schärferes  Licht  auf  die 
in  Preußen  1809  gegeneinander  ringenden  Kräfte  geworfen 
werden  als  durch  den  S.  527  wiedergegebenen  Dialog  zwischen 
Marwitz  und  einem  Mitglied  der  Bewegungspartei. 

Die  erklärenden  Anmerkungen  des  Herausgebers  genügen 
dem  Bedürfnis,  dagegen  wären  Hinweise  auf  speziellere 
Werke  da  erwünscht,  wo  es  sich  um  kritische  Beanstandung 
der  Angaben  im  Text  handelt.  Doch  sind  auch  bei  den  Er- 
klärungen leicht  vermeidbare  Ungenauigkeiten  untergelaufen. 
So  wenn  S.  220  Kutusow  als  Sieger  von  Smolensk  bezeichnet 
oder  wenn  S.  548  Fürst  Schwarzenberg  als  Nachfolger  Wittgen- 
steins genannt  ist. 

Greif swald.  //.  Ulmann, 


19.  Jahrhundert  395 

Vom  Leben  am  preußischen  Hofe  1815—1852.  Aufzeichnungen 
von  Karoline  v.  Rochow  geb.  von  der  Marwitz  und  Marie 
de  la  Motte-Fouqu^.  Bearbeitet  von  Luise  von  der  Marwitz. 
Berlin,  E.  S.  Mittler  &  Sohn.  1908.  Mit  2  Bildnissen.  XVI 
u.  4%  S. 

Die  bis  ins  letzte  Jahrzehnt  der  Regierung  Friedrich  Wil- 
helms III.  sich  erstreckenden  und  nur  gelegentlich  einmal 
weiter  ausgreifenden  Aufzeichnungen  der  Frau  des  Ministers 
von  Rochow,  einer  Schwester  Ludwigs  von  der  Marwitz,  sind 
erst  1854  niedergeschrieben.  Das  könnte  anscheinend  darüber 
trösten,  daß  die  Herausgeberin  sich  für  verpflichtet  erachtet 
hat,  w  Erzählungen  und  Urteile  diskreter  Natur  auszuschalten '^ 
(S.  VI),  denn  am  Lebensabend  pflegen  die  Dinge  leicht  anders 
angesehen  zu  werden  als  im  Strom  der  Ereignisse.  Aber  so 
manches,  was  stehen  geblieben  ist,  beweist  eine  überaus  sym- 
pathische Natur,  einen  so  offenen  Geist,  ein  so  im  besten 
Sinne  echt  weibliches  Empfinden,  daß  man  ungern  weiteres, 
nach  dem  leider  öfters  angewendeten  Muster  höfischer  Be- 
richte sich  entzogen  sieht.  Wie  interessant  spricht  sie  über 
die  moralischen  Folgen  der  religiösen  Erziehung  im  Zeitalter 
des  Rationalismus  und  dem  der  Orthodoxie  (S.21).  Wie  typisch 
für  ein  weibliches  Gemüt  ist  die  von  Napoleons  Erscheinung 
abstrahierte  Unterscheidung  „einer  Größe,  der  man  sich  mit 
Schauer  beugf",  von  , einer  Gewalt,  vor  der  man  mit  Wider- 
willen zurückschreckt*"  (28).  Den  Historiker  wird  vor  allem 
die  lebensvolle  Schilderung  der  Persönlichkeiten  des  Hofes, 
der  Gesellschaft,  der  eigenen  Familie  interessieren.  Die 
ministerielle  Tätigkeit  ihres  Gatten  (1834^1842)  ist  nicht  in 
den  Bereich  der  Darstellung  gezogen. 

Dafür  bieten  die  auszüglich  angefügten  Tagebücher  und 
Briefe  ihrer  Schwägerin,  der  Stiefschwester  Rochows,  einen 
Ersatz.  Sie  sind  in  mehrfacher  Beziehung  lehrreich,  aber  an 
allgemeinem  Interesse  mit  denen  Karolines  v.  R.  nicht  zu  ver- 
gleichen. Erwähnt  sei,  daß  Rochow  bei  Friedrich  Wilhelm  IV. 
gegen  die  Berufung  der  Gebrüder  Grimm  intervenierte  (373), 
was  der  Herausgeberin  bei  der  Formulierung  ihres  Urteils 
über  den  Minister  entfallen  zu  sein  scheint.  S.  99  in  den 
Erinnerungen  der  Frau  von  Rochow  sind  wohl  die  königlichen 


3%  Literaturbericht. 

Verfassungsversprechen    vom    Mai    1815    gemeint    und    nicht 
Artikel  13  der  Bundesakte. 

Greifswald.  //.  Ulmann, 

Kleist-Retzow.    Ein  Lebensbild   von  Dr.  Herman  v.  Petersdorff. 

Stuttgart  und  Berlin,  J.  G.  Cotta  Nachf.    1907.    XII  u.  556  S. 

Hans  V.  Kleist-Retzow,  geboren  1814,  gestorben  1892,  ist 
unserer  Zeit  noch  in  lebendiger  Erinnerung,  denn  er  war  in 
seinen  letzten  Lebensjahren  die  charaktervollste  und  respek- 
tabelste Erscheinung  in  den  Reihen  der  konservativen  Partei. 
Wenn  der  kleine  straffe  Mann  im  Reichstage,  im  Herrenhause 
oder  in  der  Synode  einmal  das  Wort  ergriff,  immer  als  Kämpfer 
und  Bekenner  zugleich,  so  verkörperte  er  dabei  in  höchst 
fesselnder  Weise  fünf  inhaltsreiche  Jahrzehnte  von  preußischem 
Konservatismus.  Man  sah  dessen  Wurzelwerk  dann  gleichsam 
leibhaftig  vor  sich  und  verglich  damit  den  leichteren  Nach- 
wuchs um  ihn  herum,  verglich  ihn  aber  auch  mit  der  noch 
ungleich  mächtigeren  Erscheinung,  die  unmittelbar  neben  ihm 
aus  demselben  Boden  hervorgegangen  war.  Man  kennt  ja  aus 
Bismarcks  Briefen  an  seine  Gattin  den  „Onkel  Hans^,  mit  dem 
Bismarck  1849  in  einer  Wohnung  zusammenhauste,  den  tyran- 
nischen Frühaufsteher  und  Beter,  der  dann  in  den  fünfziger 
Jahren  als  Oberpräsident  in  Koblenz  noch  ein  so  gottseliges 
Leben  mit  Morgen-  und  Abendandacht  führte,  daß  es  der  über 
ihm  wohnenden  Prinzessin  von  Preußen  auf  die  Nerven  fieh 
Wenn  man  sich  einen  Augenblick  Bismarck  in  der  Rolle  von 
Goethes  Sturmlied-Wanderer  vorstellen  darf,  so  ist  sein  tapferer 
Onkel  neben  ihm  der  „kleine,  schwarze,  feurige  Bauer**,  der 
immer  zu  dem  wärmenden  Feuer  seiner  ursprünglichen  Über- 
zeugungen zurückkehren  darf,  während  der  Wanderer  höheren 
Gluten  zustrebt.  Man  hatte  früh  ein  Gefühl  davon,  daß  von 
den  beiden,  die  als  politische  Kameraden  auftraten,  Hans  der 
Taktfestere  für  die  Partei  sei,  denn  als  Ludwig  von  Gerlach 
am  3.  Oktober  1848  Moritz  v.  Blankenburg  fragte,  wem  er  mehr 
traue  als  Minister,  Hans  Kleist  oder  Bismarck,  antwortete  jener 
sofort:  „Hans  Kleist.*  Und  ein  Hauptreiz  seines  politischen 
Lebensganges  besteht  dann  eben  darin,  wie  er  sich  bald  mit 
demjenigen  Bismarcks  berührt,  bald  sich  wieder  von  ihm  ent- 
fernt;   wie  die  beiden  sich  in  oft  dramatischen  Konflikten  die 


19.  Jahrhundert.  397 

Zähne  zeigen  und  dann  wohl  zu  gemeinsamen  Zwecken,  aber 
nie  wieder  zu  völliger  innerer  Gemeinschaft  zusammenfinden 
können.  Man  lernt  nicht  aus  an  solchem  Schauspiel,  denn 
man  sieht  alle  historischen  Kräfte  des  alten  Preußens  und 
des  preußischen  Junkertums  insbesondere  hier  in  freundlich- 
feindlicher Bewegung  ineinander.  Kleist  war  z.  B.  schon  als 
rheinischer  Oberpräsident  und  dann  in  den  Tagen  der  Sozial- 
reform ein  eifriger  Vorkämpfer  der  Sonntagsruhe,  von  der 
wiederum  Bismarck  nicht  viel  wissen  wollte.  Beide  zeigten 
darin  ein  Stück  ihrer  Junkernatur,  der  eine  mit  christlich- 
patriarchalischem, der  andere  mit  mehr  agrarischem  Einschlag. 
Wiederum  lebt  auch  in  denjenigen  sozialreformerischen  Ge- 
danken, die  sie  gemeinsam  vertraten,  ein  Stück  von  jener 
altpreußischen  Staatsweisheit  und  Staatsklugheit  zugleich,  die 
wohl  soziale  Pflichten  des  Staates  und  der  Gesellschaft  nach- 
drücklich anerkennt,  aber  durch  ihre  Organisierung  auch 
gleichzeitig  neue  Machtmittel  für  den  Staat  und  die  im  Staate 
herrschenden  sozialen  Schichten  zu  schaffen  beflissen  ist. 
Ähnlich  lassen  sich  Verwandtschaft  und  Gegensatz  zwischen 
Kleist  und  Bismarck  auch  an  ihren  Anschauungen  über  das 
Verhältnis  von  Staat  und  Kirche  demonstrieren.  Bismarck 
hatte,  wie  man  weiß,  von  Hause  aus  als  Mensch  der  Kirche 
gegenüber  gewisse  independentistische  Neigungen,  ist  durch 
sie  gerade  auch  mit  in  den  christlich-germanischen  Kreis  ge- 
zogen worden,  aber  hat  als  Staatsmann  nicht  entfernt  daran 
gedacht,  die  Konsequenzen  des  Independentismus  zu  ziehen 
und  die  Landeskirche  aus  den  Banden  des  Staates  zu  ent- 
lassen. Die  bekannten  kirchenpolitischen  Anträge,  die  Kleist 
und  Hammerstein  1886  stellten,  schienen  dann  gerade  dies  zu 
beabsichtigen,  aber  Petersdorff  weist  mit  Recht  darauf  hin, 
daß  sie  nur  den  Einfluß  der  staatlichen  Bureaukratie  auf  die 
Kirche,  aber  nicht  den  des  Monarchen  als  summus  episcopus 
beseitigen  wollten.  Das  heißt,  das  independentistische  Moment, 
das  in  der  christlich-germanischen  Bewegung  in  Preußen  von 
vornherein  mit  lebendig  war  und  ein  sehr  kräftiges  Salz  in 
ihr  gewesen  ist,  ist  niemals  ganz  zum  Durchbruch  gekommen, 
ist  immer  wieder  erstickt  worden  durch  den  Autoritäts-  und 
Herrschaftsgedanken  der  preußischen  Junker.  Und  die  Diffe- 
renz zwischen  Bismarck  und  Kleist  liegt  dann  nur  darin,  daß 

Hittoritche  Zeitschrift  (101.  Bd.)  a.  Folge  &.  Bd.  26 


398  Literaturbericht. 

Bismarck  die  politische  Herrschaft  über  die  Landeskirche  un- 
mittelbar dem  Staate,  Kleist  dem  christlich-patriarchalischen 
Monarchen  geben  woUte. 

Diese  interessanteren  und  verwickeiteren  Probleme  hat  der 
Vf.  ja  nicht  ganz  erschöpft,  und  seine  Biographie  leidet  dar- 
unter, daß  sie  die  sachlichen  Zusammenhänge  aller  Dinge, 
in  denen  Kleist  gearbeitet  hat,  zu  kurz  und  obenhin  behandelt, 
aber  man  muß  ihm  zugute  halten,  daß  die  Fülle  dieser  Dinge 
einerseits  zu  groß  und  der  Rahmen  einer  Kleist-Retzow-Bio- 
graphie  anderseits  von  Natur  aus  zu  eng  ist,  um  solche  weiteren 
Durchblicke  überall  eröffnen  zu  können.  Das  Vielerlei  modemer 
parlamentarischer  und  politischer  Tätigkeit  macht  es  zu  einer 
der  schwierigsten  und  künstlerisch  undankbarsten  Aufgaben, 
das  Lebensbild  einer  solchen  Persönlichkeit  durchzuführen. 
Der  Vf.  hat  es  sich  nicht  verdrießen  lassen,  all  den  mannig- 
faltigen Betätigungen  seines  Helden  nachzugehen,  hat  auch 
das  Glück  gehabt,  einen  reichhaltigen  Nachlaß,  ergiebige  Kor- 
respondenzen der  Freunde  und  archivalische  Materialien  be- 
nutzen zu  können,  so  daß  wir  auf  Schritt  und  Tritt  auch  zeit- 
geschichtlich belehrt  werden  und  bei  allen  Studien  zur  preußi- 
schen Geschichte  seit  1848  sein  Buch  fortan  zu  Rate  ziehen 
müssen.  Es  ist  ein  überaus  stoffreiches  Buch  und  die  ge- 
diegenste Leistung,  die  der  Vf.   uns  bisher  geschenkt  hat. 

Freiburg  i.  B.  Fr.  Meinecke, 

Straßburger  Beiträge  zur  neueren  Geschichte,  herausgegeben  von 
Professor  Dr.  Martin  Spahn  in  Straßburg.  1.  Bd.,  Heft  1—3. 
Straßburg  i.  E.,  B.  Herder.     1906. 

1.  Heft:  Der  Streit  um  die  Kartause  vor  Straßburgs  Toren   1587 

bis  ie>02.  Von  Dr.  Joseph  Clausing.    71  S. 

2.  Heft:    Straßburger    Kapitelstreit    und    Bischöflicher    Krieg    im 

Spiegel    der    elsässischen   Flugschriftenliteratur.     Von    Dr. 
Eduard  Gfrörer.    121  S. 

3.  Heft:  Die  Politik  der  Stadt  Straßburg  im  Bischöflichen  Kriege 

1592—93.    Von  Dr.  Oskar  Ziegler.     113  S. 

Es  handelt  sich  hier  um  drei,  fast  gleichzeitig  erschienene 
Dissertationen,  die  stofflich  eng  zusammenhängen.  Die  Kar- 
tause,  deren    Untergang   Joseph  Clausing   schildert,   gehörte 


Deutsche  Landschaften.  399 

zu  den  wenigen  Straßburger  Klöstern,  auf  die  sich  die 
Reformation  nicht  erstreckt  hatte.  Natürlich  war  dem  evan- 
gelischen Magistrat  dieser  Rest  katholischer  ReligionsUbung 
innerhalb  seines  Gebiets  sehr  zuwider,  um  so  mehr  als 
die  Kartäuser  über  reiche  Einnahmen  verfügten.  Trotzdem 
darf  man  sagen,  daß  es  ganz  überwiegend  die  Sorge  für  die 
Sicherheit  der  Stadt  war,  die  Straßburg  1591  bewog,  die 
Klostergebäude  niederzureißen;  denn  es  ist  kein  Zweifel  und 
wird  auch  von  Clausing  zugegeben,  daß  die  Kartause  wegen 
ihrer  beherrschenden  Lage  unmittelbar  vor  der  Stadt  mit  Recht 
als  trefflicher  Stützpunkt  für  kriegerische  Unternehmungen 
gegen  die  Bürgerschaft  galt,  und  daß  der  katholische  Graf 
von  Schomberg  nahe  daran  war,  sie  durch  Kauf  in  seinen 
Besitz  zu  bringen.  Solchen  Gefahren  sollte  die  Zerstörung 
des  Klosters  vorbeugen.  Dies  hätte  Clausing  bei  der  Würdi- 
gung des  Straßburger  Gewaltstreichs  noch  stärker  betonen 
dürfen.  Um  sich  den  Rücken  zu  decken,  hatte  die  Stadt  von 
dem  französischen  Könige  Heinrich  IV.  durch  ansehnüche  Sub- 
sidienzahlungen  das  Versprechen  erlangt,  daß  er  die  Ober- 
leitung des  Kartäuserordens,  dessen  Schutzherr  er  war,  für 
den  Verlust  der  Straßburger  Niederlassung  in  geeigneter  Weise 
entschädigen  würde.  Das  Generalkapitel  der  Kartäuser  war 
auch  nach  längerem  Widerstreben  zu  einer  Verständigung 
bereit,  aber  die  vertriebenen  Straßburger  Mönche  protestierten 
und  fanden  dabei  an  dem  Kaiser  und  den  katholischen  Reichs- 
ständen einen  mächtigen  Rückhalt.  Dieser  Einmischung  Frank- 
reichs und  des  Kaisers  verdankt  der  Streit  seine  weit  über 
die  engeren  Grenzen  hinausgreifende  Bedeutung.  Erst  1601 
wurde  er  durch  das  Übergewicht  des  französischen  Einflusses 
zugunsten  der  Stadt  entschieden,  nachdem  diese  noch 
schwere  Opfer  hatte  bringen  müssen.  Clausing  hat  sich  red- 
lich bemüht,  die  verwickelten  Fäden  der  zahllosen  Praktiken 
und  Verhandlungen  in  dieser  Angelegenheit  einigermaßen  zu 
entwirren  und  klarzulegen:  im  ganzen  mit  gutem  Geschick, 
wenn  auch,  in  größerem  Zusammenhange  betrachtet,  manches 
vielleicht  noch  in  anderer  Beleuchtung  erscheinen  wird. 

Im  zweiten  Hefte  der  „Beiträge**  gibt  Eduard  Gfrörer  ein 
recht  anschauliches  Bild  davon,  wie  sich  Straßburger  Kapitel- 
streit  und   bischöflicher   Krieg   im   Spiegel   der    elsässischen 

26* 


400  Literaturbericht 

Flugschriftenliteratur  darstellen.  Er  geht  dabei  noch  auf  die 
Zeit  vor  dem  Kapitelstreit  bis  auf  die  Wahl  des  Bischofs 
Johann  von  Manderscheid  (1569)  zurück  und  führt  uns  auf 
der  anderen  Seite  noch  über  den  Hagenauer  Friedensschluß 
hinaus  bis  zum  Jahre  1610.  Literargeschichtlich  bemerkens- 
wert ist  der  Nachweis  des  Vf.,  daß  einige  der  anonym  oder 
Pseudonym  erschienenen  Flugschriften  von  dem  berühmten 
Satiriker  Fi  sc  hart  herrühren.  Eine  ganze  Reihe  weiterer, 
temperamentvoller  Streitschriften  wird  mit  Sicherheit  dem  bis- 
her wenig  beachteten  Anwalt  der  evangelischen  Domherren, 
Dr.  Weiß,  zugeschrieben,  den  man  hiernach  geradezu  als  die 
Seele  der  protestantischen  Kriegspartei  bezeichnen  muß.  Ein 
objektiv  vollständiges  und  verläßliches  Zeitbild  kann  man 
natürlich  aus  der  Flugschriftenliteratur  allein  nicht  gewinnen, 
so  lebendig  auch  der  Einblick  ist,  den  man  durch  sie  in  die 
Stimmungen,  Leidenschaften  und  Tendenzen  der  verschiedenen 
Bevölkerungskreise  erhält.  Insofern  würde  die  von  Oskar 
Ziegler  im  dritten  Heft  der  „Beiträge"  versuchte  Darstellung  der 
„Politik  der  Stadt  Straßburg  im  bischöflichen  Kriege  1592—93* 
eine  willkommene  Ergänzung  zu  Gfrörers  Arbeit  sein,  wenn 
sie  nicht  gar  zu  sehr  an  der  Oberfläche  der  Ereignisse  haften 
bliebe.  Der  Vf.  hat  aus  den  Archiven  von  Straßburg, 
Bern,  Zürich,  Magdeburg  und  Berlin  allerlei  beachtenswerte 
Aktenstücke  zusammengetragen ;  aber  er  beherrscht  und  durch- 
dringt das  weitschichtige  Material  nicht  genügend,  weiß  das 
Wichtige  vom  Nebensächlichen  nicht  recht  zu  trennen  und 
läßt  eine  ausgiebige  Benutzung  der  älteren  Quellen  vermissen. 
Straßburg  i.  E.  0.  Winckelmann, 


Staat  und  Kirche  in  der  Pfalz  im  Ausgang  des  Mittelalters.  Von 
R*  Lossen.  (Vorreformationsgeschichtliche  Forschungen. 
Herausgegeben  von  H.  Finke.  III.)  Münster  i.  W.,  Aschen- 
dorf.    1907.    XII  u.  268  S. 

Über  das  Verhältnis,  das  sich  zwischen  der  weltlichen 
Gewalt  und  den  Kirchen  und  kirchlichen  Instituten  innerhalb 
der  deutschen  Territorien  am  Ende  des  Mittelalters  entwickelt 
hat,  sind  in  den  letzten  Jahren  eine  ganze  Anzahl  wertvoller 
Arbeiten   erschienen.     Die  Schrift   von  Lossen   sucht   es  nun 


Deutsche  Landschaften.  401 

auch  für  die  Pfalz  festzustellen.  Sie  ist  zum  Teil  etwas  weit- 
schweifig und  breit,  aber  immer  gründlich  und  auf  reiches, 
vielfach  ungedrucktes  Material  aufgebaut.  Es  sind  natürlich 
dieselben  Fragen,  wie  sie  auch  sonst  in  den  Territorien  in 
Betracht  kommen:  das  Verhältnis  zum  Papsttum  und  zu  den 
Bistümern,  deren  geistliche  Gewalt  in  das  Gebiet  hineinreicht, 
Patronat  und  Vogtei  des  Fürsten  und  der  Anteil  an  den  Re- 
formen von  Klöstern,  Stiftern,  teilweise  auch  des  Weltklerus. 

Das  Verhältnis  zum  Papsttum  ist  wie  damals  meist.  Die 
Pfalzgrafen  benutzen  jeden  Anlaß  auch  auf  diesem  Gebiet,  um 
in  ihrer  Macht  vorwärts  zu  kommen.  Händel  gibt  es  dabei 
gar  nicht  notwendig.  Nur  versteht  man  es  das  einemal,  seine 
Rechte  in  möglichst  weitem  Umfang  anzuerkennen,  um  durch 
Berufung  darauf  den  Ansprüchen  des  Reiches  zu  entgehen 
oder  den  kirchlichen  Instanzen  und  Personen  des  Landes 
gegenüber  etwas  durchzusetzen  (Zehnten,  Reformen  u.  a ),  das 
anderemal  aber,  wenn  das  Papsttum  selbst  unbequeme  An- 
sprüche erhebt,  alle  jene  Rechte  völlig  verschwinden  und  die 
Landesgewalt  durchaus  auf  eigenen  Füßen  stehen  zu  lassen. 

Die  Pfalzgrafen  haben  es  vor  allem  mit  den  Bischöfen  von 
Speyer  und  Worms  zu  tun.  Hier  entwickelt  sich  nun  das- 
selbe Verhältnis,  wie  es  namentlich  in  den  norddeutschen  Terri- 
torien zu  den  Bistümern  in  ihrem  Bereich  geht.  Der  pfälzische 
Adel  besetzt  die  Domherrnstellen,  der  Landesherr  erwirbt 
—  durch  private  Verträge  —  die  Schirmvogtei  mit  all  ihren 
tiefgreifenden  Wirkungen  (in  Worms  seit  1349,  in  Speyer  seit 
1392  und  ausschließlich  seit  1462).  Das  Ergebnis  ist  am  Ende 
des  Mittelalters,  daß  die  Reichsunmittelbarkeit  der  Bistümer 
ganz  untergraben  ist  und  die  Pfalz  z.  B.  überall  in  den  Städten 
und  Schlössern  von  Worms  den  Mitbesitz  hat.  Hier  hat  dann 
aber  gerade  die  Reformation  die  letzten  Konsequenzen  ab- 
gewehrt und  die  Bistümer  schließlich  doch  wieder  selbständig 
werden  lassen. 

Für  die  Entwicklung  der  geistlichen  und  weltlichen  Ge- 
richtsbarkeit stellt  L.  fest,  daß  die  Bedeutung  der  weltlichen 
und  das  Vertrauen  zu  ihr  selbst  bei  Klerikern  und  Mönchen 
in  steter  Ausdehnung  begriffen  ist,  ohne  daß  es  zu  eigentlich 
gewaltsamen  Vordringen  gekommen  wäre.  Doch  ist  es  mir 
dabei   nicht   klar  geworden,  ob   und   wieweit  die   geistliche 


402  Literaturbericht. 

Gerichtsbarkeit  noch  im  Vorsprung  geblieben  ist.  Man  hört 
wohl  von  dem  Wachstum  der  weltlichen,  nicht  genug  aber 
über  das  tatsächliche  Maß  dessen,  was  die  geistliche  für  sich 
gerettet  hatte.  Ob  aber  dafür  die  Quellen  überhaupt  aus- 
reichen ? 

Für  die  Patronatsrechte  des  Pfalzgrafen  ist  es  zu- 
nächst bezeichnend,  daß  die  Kirchen,  die  ihnen  unterstehen, 
wenig  zahlreich  sind,  viel  weniger  als  in  anderen  süddeutschen 
Territorien.  Es  scheint  auch  nicht  zur  pfalzgräflichen  Politik 
gehört  zu  haben,  möglichst  viel  Patronate  zu  erwerben.  Da- 
gegen ist  der  Einfluß  auf  die  vorhandenen  und  die  Methode 
ihrer  Ausnutzung  recht  intensiv.  L.  gibt  hier  eine  eingehende 
dankenswerte  Darstellung,  die  auch  für  andere  Gebiete  frucht- 
bar sein  wird. 

Auch  unter  den  pfälzischen  Klöstern  sind  nicht  viele 
landesherrliche  Stiftungen:  die  Pfalzgrafschaft  ist  zu  jungen 
Datums.  Aber  die  Schirm-  und  Kastenvogtei  der  Fürsten 
dehnt  sich  über  fast  alle  Klöster  und  Stifter  aus  und  dringt 
sehr  tief  in  alle  Verhältnisse  dieser  Institute  ein.  So  ent- 
wickelt sich  auch  hier  dasselbe  Bild,  das  uns  fast  in  allen 
Territorien  entgegentritt.  Den  Schluß  bilden  die  Reformen 
der  Klöster  und  Stifter  im  15.  Jahrhundert  und  den  Anteil,  den 
die  Pfalzgrafen  daran  gehabt  haben:  ein  Beitrag  zu  diesem 
wichtigen  Kapitel  der  inneren  Kirchengeschichte  des  15.  Jahr- 
hunderts.i)  Auch  hier  tritt  freilich  deutlich  hervor,  wie  unvoll- 
kommen und  ungleichmäßig  die  Ergebnisse  dieser  Reform 
waren. 

Im  Anhang  sind  eine  Anzahl  Urkunden  und  Akten  abge- 
druckt. Auf  viel  archivalisches  Material  ist  schon  in  den  An- 
merkungen hingewiesen.  Ein  reichhaltiges  Verzeichnis  der 
Quellen  und  der  Literatur  und  ein  sorgfältiges  Register  schließen 
das  Buch. 

Tübingen.  Karl  Müller, 


*)  Für  die  Einführung  der  Observanz  im  Heidelberger  Mino- 
ritenkonvent  wären  die  Bullen  im  Bullarium  Franciscanum  Bd.  7, 
Nr.  1679,  1727  und  1783  zu  vergleichen  gewesen. 


Deutsche  Landschaften.  403 

Geschichte  der  sächsischen  Kartographie  im  Grundriß.  Von 
Haos  Beschonier.  Leipzig,  B.  G.  Teubner.  1907.  27  S. 
1,20  M. 

Viele  Besucher  des  Dresdener  Historikertages  im  vorigen 
Herbste  werden  sich  noch  gern  der  damaligen  Ausstellung 
älterer  Karten  und  Risse  erinnern.  Sie  war  von  dem  VL  der 
vorliegenden  kleinen  Schrift  zusammengestellt  und  der  er- 
läuternde Vortrag,  den  er  uns  damals  hielt,  bildet  offenbar 
die  Grundlage  für  die  jetzt  herausgegeben^  monographische 
Darstellung.  Sicherlich  verdient  die  sächsische  Kartographie 
eine  solche  besondere  Behandlung,  denn  sie  blickt  auf  eine 
ruhmvolle  Geschichte  zurück,  von  Mathias  Oders  für  seine 
Zeit  (Wende  des  16.  und  17.  Jahrhunderts)  unerreichtem 
Meisterwerke  bis  auf  den  Oberreitschen  Atlas.  Trotzdem  möchte 
ich  weniger  auf  eine  vortreffliche  Spezialarbeit  hinweisen  als, 
darauf,  daß  hier  der  Versuch  gemacht  wird,  eine  bisher  voir 
der  Geschichtsforschung  ganz  ungebührlich  vernachlässigte 
Quellengruppe  etwas  leichter  zugänglich  zu  machen.  Aut 
einem  Gebiete,  das  bisher  den  Geographen  vorbehalten  war> 
spricht  dieses  Mal  ein  Historiker  zu  seinen  Fachgenossen. 
Der  Vf.  sagt  ausdrücklich  (S.  6)^  .daß  er  hauptsächlich  solche 
Karten  und  Risse  berücksichtigt  habe,  die  heute  noch  bei 
historisch -geographischen  und  topographischen  Studien  mit 
Nutzen  herangezogen  werden  können  *".  Er  hätte  sich  auch 
dahin  ausdrücken  können,  daß  er  vornehmlich  von  den  hand- 
schriftlichen Karten  handeln  wolle,  im  Gegensatze  zu  den  ge- 
druckten, denn  es  ist  ein  himmelweiter  Unterschied  zwischen 
den  Produkten,  mit  denen  die  kartographischen  Firmen  des 
17.  und  18.  Jahrhunders  den  Markt  beschickten  und  den  Meister- 
werken der  Zeichenkunst,  über  die  die  Fürsten  dieser  Zeit 
bereits  verfügten.  Aber  diese  Karten  waren  zumeist  nur  für 
den  persönlichen  Gebrauch  der  Landesherren  bestimmt  und 
wurden  eifersüchtig,  geradezu  als  Staatsgeheimnisse,  gehütet. 
Erst  jetzt  beginnt  dies  Material  wieder  der  Vergessenheit  ent- 
rissen zu  werden^  und  es  zeigt  sich,  welche  feste  Grundlage 
die  historische  Geographie  an  diesen  Karten  gewinnen  kann^ 
die  noch  aus  der  Zeit  vor  der  gewaltsamen  Veränderung  aller 
langsam  gewordenen  und  gewachsenen  Verhältnisse  durch  die 
moderne  Bureaukratie  stammen. 


404  Lilentnrfoericht 

Wenn  dem  vorliegenden  Abrisse  in  hoffentlich  nicht  allzu 
langer  Zeit  die  angekündigte  (vgl.  S.  6)  größere  Geschichte 
der  sächsischen  Kartographie  folgen  wird,  so  wäre  sehr  zu 
wünschen,  daß  nicht  nur  ausgiebige  Illustrationsproben  den 
Charakter  der  verschiedenen  Karten  vor  Augen  führen,  sondern 
daß  auch  zugleich  ein  Handbuch  zur  Benutzung  der  älteren 
Karten  geschaffen  wird,  das  möglichst  ausführlich  über  den 
Umfang  der  einzelnen  Aufnahmen  und  den  Inhalt  der  Karten 
Auskunft  gibt 

Greifswald.  F.  Carschmann. 

Mecklenburgisches  Urkundenbuch.  Herausgegeben  von  dem  Verein 
für  mecklenburgische  Geschichte  und  Altertumskande.  22.  Bd. 
1391—1395.  Schwerin,  Druck  und  Vertrieb  der  Bärensprung- 
schen  Hofbuchdruckerei.     1907.    660  u.  172  S. 

Nicht  mehr  unter  der  Redaktion  des  Geh.  Archivrats 
Dr.  Grotefend,  der  jahrzehntelang  die  Herausgabe  des  großen 
Urkundenwerkes  geleitet  hat,  sondern  unter  der  des  Archivars 
Dr.  Stuhr  ist  der  vorliegende  Band  erschienen.  Die  altbe- 
währten  Grundsätze,  die  Sorgfalt  und  Zuverlässigkeit  sind  aber 
unverändert  geblieben,  namentlich  auch  wieder  sehr  ein- 
gehende praktische  Register  beigegeben,  die  ja  bekanntlich 
eine  Zierde  dieses  Werkes  sind.  Für  den  Zeitraum  von 
1391  bis  1395,  der  besonders  durch  die  Gefangenschaft  des 
Schwedenkönigs  Albrecht  von  Mecklenburg  gekennzeichnet 
ist,  werden  629  Urkunden  und  Regesten  gegeben,  von  denen 
415  zum  erstenmal  gedruckt  worden  sind.  Die  Verhand- 
lungen über  die  Freilassung  des  Königs  nehmen  einen  großen 
Raum  ein;  für  manche  Einzelheiten  wird  neues  Material  ge- 
boten. Vielleicht  wäre  es  möglich  gewesen,  etwas  Raum  zu 
sparen,  wenn  die  in  den  Hanserezessen  bereits  gedruckten 
Stücke  hier  nicht  vollständig  mitgeteilt  worden  wären;  es  ist 
doch  anzunehmen,  daß  den  Benutzern  des  mecklenburgischen 
Urkundenbuches  auch  die  Ausgabe  der  Hanserezesse  zur  Ver- 
fügung steht.  Für  die  Abteilung  des  Werkes,  in  der  die  Ur- 
kunden nach  1400  gesammelt  werden,  wird  man  wohl  notge- 
drungen zu  solchen  Kürzungen  greifen.  Die  Registerbände 
des  päpstlichen  Archivs  im  Vatikan  sind  nicht  vollständig  aus- 
genutzt; aus  den  sog.  Lateranischen  Registern  vermag  ich  für 


Schweiz.  405 

diesen  Band  noch  11  Urkunden  nachzuweisen,  in  denen 
mecklenburgische  Personen  oder  Verhältnisse  berührt  werden. 
Von  kleinen  Versehen  sei  bemerkt,  daß  die  Nummer  12410 
zweimal  vorkommt,  daß  im  Ortsregister  weder  der  Name 
Acqui  (Nr.  12771),  noch  der  in  12758  dafür  gesetzte  Da«  zu 
finden  sind  und  daß  das  Archidiakonat  Stolp  nicht,  wie  eben- 
dort  angegeben  ist,  zur  Stadt  in  Hinterpommern,  sondern  zu 
dem  Kloster  an  der  Peene  gehört.  Der  nächste  Band  wird 
diese  in  ihrem  ununterbrochenen  Fortschreiten  fast  einzig- 
artig dastehende  Urkundensammlung  zu  einem  gewissen  Ab- 
schlüsse bringen.  Es  ist  zu  erwarten,  daß  er  bald  nachfolgen 
wird. 

Stettin.  M.  Wehrmann. 

Geschichte  der  Ciuniazenserklöster  in  der  Westschweiz  bis  zum 
Auftreten  der  Cisterzienser.  Von  P.  Bcoaventura  Egger, 
O.  S.  B.,  Dr.  theol.  (Freiburger  Historische  Studien.  Fasz.  111.) 
Freiburg,  Universitätsbuchhandlung.    1907.    XIV  u.  252  S. 

Wie  die  einführenden  Worte  Professor  Kirschs  aussagen, 
ist  die  vorliegende  Schrift  aus  der  Lösung  einer  von  der  Uni- 
versität Freiburg  gestellten  Preisfrage  erwachsen.  Sie  will  die 
Verbindung  der  westschweizerischen  Priorate  mit  Cluny,  als 
der  moralischen  Einheit,  die  von  den  gleichen  Satzungen  und 
Ideen  beherrscht  erscheint,  in  das  Licht  setzen,  und  es  ist 
von  vorneherein  naheliegend,  daß  bei  der  örtlichen  Nähe  der 
Sprengel  von  Lausanne  und  Genf  an  Burgund,  nur  durch  den 
Jura  getrennt  vom  Ursprungsgebiet  des  Cluniazenser- Ordens, 
die  Einwirkung  des  Mutterklosters  eine  ganz  intensive  sein 
mußte. 

An  eine  äußerst  klare,  kurze  Auseinandersetzung,  die  die 
„Einleitung""  über  die  Ursachen  der  notwendigen  Erscheinung 
darbietet,  daß  aus  dem  in  Verfall  geratenen  Mönchtum  der 
Benediktusregei  die  Verjüngung  in  Cluny  sich  ergab,  schließt 
sich  die  Übersicht  der  in  Betracht  kommenden  cluniazensi- 
sehen  Niederlassungen  in  der  Westschweiz.  Deren  erste,  das 
weit  ältere  Romainmotier,  dessen  Geschichte  seit  dem  7.  Jahr- 
hundert gedrängt  vorausgeschickt  wird,  wurde  schon  gleich 
929  dem  Verband  des  Abtes  Odo  angegliedert;  die  folgende, 
Peterlingen,   die   Stiftung  der  Königin   Bertha  von  Burgund, 


406  Literaturbericht. 

wurde  alsbald  mit  der  Gründung  962  dem  Abte  Majolus  über- 
geben. 

In  den  folgenden  Kapiteln  werden  die  Beziehungen  zu 
Cluny,  diejenigen  zu  Rom  und  den  Sprengelbischöfen  und 
zum  Weltklerus  überhaupt^  die  Stellung  zum  Landesherrn  und 
Adel  gewürdigt.  Eine  Fülle  von  einzelnen  zur  Landesgeschichte 
Aufschluß  bringenden  Verhältnissen  gewinnt  dadurch  inter- 
essante Beleuchtung.  Beispielsweise  sei  (S.  134  ff.)  auf  die 
Reibungen  oder  Förderungen  hingewiesen,  die  sich  für  Ro- 
mainmotier  aus  der  Nachbarschaft  mit  der  mächtigen  Dynastie 
von  Grandson  oder  den  Herren  von  Joux  ergaben,  woneben 
zahlreiche  Begünstigungen  der  Cluniazenser  durch  den  Adel, 
enge  gegenseitige  geistige  Verbindungen  stehen.  Kulturge- 
schichtlich wichtige  Aufschlüsse  bietet  der  Abschnitt  über 
die  wirtschaftlichen  Verhältnisse,  sowie*  die  Ausfühmng  über 
die  innere  Organisation  der  einzelnen  Priorate,  wobei  einige 
Persönlichkeiten,  wie  die  Priore  Stephan  von  Romainmotier 
und  Guigo  von  Peterlingen,  individuell  greifbar  hervortreten. 
Kapitel  Vll,  „Baugeschichtliches^,  knüpft  an  die  früheren  ein- 
dringlichen Forschungen  Rahns  über  die  Cluniazenserbauten 
der  Westschweiz,  sowie  an  die  Zürcher  Dissertation  von 
E.  Reinhart  von  1904  an,  wozu  für  Romainmotier  die  neuesten 
Ergebnisse  Näfs :  Les  phases  constructives  de  l*^glise  de  Ro- 
mainmotier kommen. 

Der  „Anhangt  bringt  Priorenlisten  der  einzelnen  Klöster, 
sowie  einen  Exkurs  über  Peterünger  Urkunden.  Für  die 
nebeneinander  stehenden  zwei  Exemplare  der  Gründungsur- 
kunde von  962  wird  die  Ableitung  aus  der  gemeinsamen 
Quelle,  einem  Urkundentexte,  wobei  eigentümliche  Einschübe 
in  die  zwei  Scheinoriginale  stattfanden,  festgestellt;  Ottos  IL 
Diplom  von  983  ist  gegenüber  früherer  Anzweifelung  als  echt 
bezeichnet,  und  ebenso  gilt  das  gegenüber  Hidbers  Unecht- 
erkärung  für  die  bei  Stumpf,  Reichskanzler,  als  Nr.  2996  ver- 
zeichnete Urkunde  Heinrichs  IV. 

In  dieser  Untersuchung  über  einen  Abschnitt  der  Ge- 
schichte der  großen  Wirksamkeit  von  Cluny  liegt  eine  höchst 
beachtenswerte,  auf  vollständig  beherrschtem  Materiale  auf- 
gebaute Arbeit  vor. 

M.  V.  K. 


Frankreich.  407 

Biaise  de  Monluc  Historien.  Etüde  critique  sur  le  texte  et  la 
valeur  historique  des  ^Commentaires''.  Avec  un  portrait  et 
quatre  cartes.  Par  Paul  Courteaut.  Paris,  Alph.  Picard 
et  fils.    1908.    XLVm  u.  685  S. 

Obwohl  die  ,  Commeniaires*  BlaisedeMonlucs  seit  ihrem 
ersten  Erscheinen  im  Jahre  1592  bis  zur  Gegenwart  häufig 
und  meist  sehr  unbedenklich  als  Quelle  benutzt  worden  sind, 
so  hatte  es  doch  wie  bei  allzuvielen  Geschichtschreibern  des 
1 6.  Jahrhunderts  immer  noch  an  einem  Werke  gefehlt,  das  sie 
systematisch  auf  ihre  Glaubwürdigkeit  hin  untersucht  hätte. 
Wir  besitzen  freilich  auch  noch  keine  wirklich  kritische  Edition ; 
denn  in  der  seinerzeit  sehr  verdienstlichen  Ausgabe,  die  de 
Ruble  1864—1872  für  die  Sociiii  de  VHisioire  de  France  be- 
sorgte, kann  weder  der  Text  noch  der  Kommentai  modernen 
Ansprüchen  genügen.  Ein  jüngerer  französischer  Gelehrter, 
von  Studien  zur  Biographie  Monlucs  zu  einer  kritischen  Unter- 
suchung der  jfCommentaires'  angeregt,  hat  es  unternommen, 
diese  Lücke  auszufüllen,  zugleich  die  Vorarbeiten  zu  einer 
neuen  Ausgabe  auszuführen  und  die  Notwendigkeit  einer 
solchen  nachzuweisen.  Der  stattliche  Band,  der  dabei  ent- 
standen ist,  wird  wohl  auf  lange  hinaus  als  abschließende 
Arbeit  über  Monluc  zu  gelten  haben.  Courteaut  hat  seiner  Ab- 
handlung umfassende  archivalische  Studien  vorangehen  lassen; 
dazu  kommt  eine  genaue  Kenntnis  der  Literatur  und  ein  im 
langen  Umgange  mit  dem  Stoffe  erworbenes  sicheres  Urteil, 
das  Lob  wie  Tadel  in  ruhiger  Weise  abwägt. 

Das  klar  und  trefflich  disponierte  Werk  behandelt  nach 
einer  Einleitung,  in  der  die  Ausgaben  der  ^Commentaires' 
und  ihre  Einwirkung  auf  die  ältere  Geschichtschreibung  be- 
sprochen werden,  zuerst  den  Ursprung  und  die  Entstehungs- 
weise der  Memoiren ;  es  ist  dabei  C.  gelungen,  über  das  Ver- 
hältnis der  früheren  Redaktionen  zu  dem  endgültigen  Texte, 
das  Ruble  sehr  ungenügend  untersucht  hatte,  zum  erstenmal 
Klarheit  zu  schaffen.  Den  Anstoß  zur  Abfassung  der  «Cd/n- 
mentaires*'  hat  Monluc  aus  persönlichen  Verhältnissen  emp- 
fangen. Der  Keim  zu  seinem  Werke  liegt  in  einem  Schreiben, 
das  er  an  König  Karl  IX.  richtete,  nachdem  er  1570  als  Gou- 
verneur der  Guienne  abgesetzt  worden  war.  Er  berief  sich 
damals  zu  seiner  Rechtfertigung  kurz  auf  die  Verdienste,  die 


408  Literaturbericht. 

er  sich  auf  seinen  Kriegszügen  in  Italien  und  Frankreich  um 
die  Krone  Frankreich  erworben  hatte.  Nachträglich  führte  er 
dann  das,  was  er  dort  mehr  angedeutet  als  berichtet  hatte, 
zu  einer  eigentlichen  Erzählung  aus.  Es  ist  dies  die  erste, 
noch  erhaltene  Redaktion  der  Memoiren;  Monluc  hat  sie  im 
Winter  1570/71  in  der  Zeit  von  sieben  Monaten  diktiert.  Sie 
zeigt  noch  unverkennbare  Spuren  des  praktischen  Zweckes, 
für  den  sie  bestimmt  war.  Diese  erste  Fassung  blieb  aber 
Manuskript;  sie  wurde  später  formell  und  inhaltlich  sorgfältig 
umgearbeitet,  bis  sie  die  Gestalt  annahm,  in  der  sie  (mit 
einigen  Auslassungen)  nach  Monlucs  Tode  publiziert  wurde* 
Das  erste  Original  war  in  einem  Zuge  niedergeschrieben  worden 
und  in  der  eigentlichen  Memoirenform  gehalten;  es  enthielt, 
lose  aneinandergereiht,  eine  Anzahl  bemerkenswerter  Ereig- 
nisse aus  dem  Leben  des  Autors.  Monluc  hat  die  Jahre,  die 
ihm  bis  zu  seinem  Tode  (1577)  blieben,  dazu  benutzt,  aus 
diesem  rtdiscours  de  sa  v/V*,  so  gut  es  ging,  ein  Geschichts- 
werk zu  machen.  Die  Vergleichung  der  beiden  Redaktionen 
zeigt  die  Prinzipien,  von  denen  er  sich  dabei  leiten  ließ.  Er 
fügte  Nutzanwendungen  und  moralische  Betrachtungen  hinzu 
und  legte  Reden  ein,  wie  es  die  literarischen  Vorschriften 
damals  vom  Historiker  verlangten  (zu  beidem  finden  sich  in 
der  ersten  Fassung  nur  dürftige  Ansätze),  und,  was  noch 
wichtiger  war,  er  sah  einige  Historiker  (du  Bellay,  Jovius, 
Paradin,  Rabutin)  durch  und  entnahm  ihnen  eine  Anzahl 
Notizen,  die  nicht  nur  seine  Darstellung  um  vergessene  oder 
unbekannt  gebliebene  Dinge  bereicherten,  sondern  ihm  zum 
Teil  überhaupt  erst  die  Möglichkeit  gaben,  seine  Erinnerungen 
in  die  allgemeine  Geschichte  einzureihen.  Es  handelt  sich 
dabei  übrigens  nur  um  Ergänzungen;  denn  in  den  Fällen, 
da  sich  Differenzen  zwischen  seiner  Erzählung  und  der  eines 
Historikers  ergaben,  hieh  Monluc  (mit  einer  Ausnahme)  an 
seiner  ersten  Darstellung  fest.  Es  wirkte  dabei  mit,  daß  er 
wie  die  meisten  Soldaten,  die  Memoiren  geschrieben  haben, 
der  Überzeugung  war,  die  offizielle  Geschichtschreibung 
spreche  allzuviel  nur  von  den  „Fürsten  und  Großen"*;  aber 
dies  allein  hätte  ihn,  den  seine  Vorgänger  kaum  genannt 
hatten,  davon  abgehalten,  seine  Erinnerungen  an  Hand  der 
Historiker  zu  korrigieren. 


Frankreich.  409 

Nachdem  er  auf  diese  Weise  die  Entstehungsgeschichte 
der  „Commentaires''  klar  gelegt,  geht  C.  zur  Kritik  des  Werkes 
selbst  über.  In  einer  äußerst  sorgfältigen  Untersuchung, 
einem  eigentlichen  fortlaufenden  Kommentare  zu  den  Memoiren, 
wird  Abschnitt  nach  Abschnitt  auf  seine  Glaubwürdigkeit  ge- 
prüft. Literarische  Kritiker  haben  etwa  über  das  staunenswerte 
Erinnerungsvermögen  Monlucs  ihr  Erstaunen  ausgesprochen  und 
die  bewundernswürdige  naive  Ehrlichkeit  des  Autors  rühmend 
hervorgehoben.  C.  führt  in  seinem  Urteile  am  Schlüsse  das 
treue  Gedächtnis  und  die  Aufrichtigkeit  des  Autors  Monluc 
auf  das  normale  Maß  zurück.  Wenn  Ruble  noch  meinte,  die 
Biographie  Monlucs  liege  in  seinen  Memoiren,  so  weist  C. 
nach,  daß  die  Akten  vielfach  einen  Monluc  zeigen,  der  in 
seinem  Charakter  mit  dem  Helden  der  „Commentaires*'  keines- 
wegs übereinstimmt.  Monluc  erscheint  dort  durchaus  nicht 
als  der  alte  ehrliche  Soldat  und  Biedermann,  als  den  ihn  die 
bloß  nach  dem  literarischen  Eindruck  urteilende  Kritik  allzu- 
gern hingestellt  hat.  Mit  der  Wahrhaftigkeit  hat  er  es  nur  in 
den  spätem  Partien  seiner  Memoiren  genauer  genommen,  wo 
er  die  Kontrolle  von  Augenzeugen  zu  fürchten  hatte.  Er  hat 
sorgfältig  alles  unterdrückt,  was  seine  Geldgier  und  sein  poli- 
tisches Strebertum  an  den  Tag  gebracht  hätte.  Und  wo  keine 
persönlichen  Interessen  seine  Darstellung  färbten,  da  steht  es 
mit  seiner  Glaubwürdigkeit  so,  wie  unter  den  Umständen  zu 
erwarten  war.  Aus  der  früheren  Zeit  (der  Regierung  Franz  I.) 
erinnert  sich  Monluc  nur  an  einzelne  Ereignisse,  deren  Zu- 
sammenhang ihm  bereits  entschwunden  ist.  Von  der  Zeit 
Heinrichs  11.  an  wird  seine  Erinnerung  besser;  die  Erzählung  ist 
weniger  lückenhaft,  obwohl  sie  immer  noch  aus  fragmentarischen 
Episoden  zusammengesetzt  ist.  Erst  von  1559  an  gibt  Monluc 
eine  fortlaufende  Darstellung,  zum  Teil  mit  Benutzung  von  Doku- 
menten, und  die  Auslassungen,  die  sich  hier  noch  finden,  sind 
mit  bewußter  Absicht  vorgenommen  worden.  Während  Monluc 
sich  besonders  in  den  ersten  Büchern  öfters  grobe  chronolo- 
gische Verstöße  zu  schulden  kommen  läßt,  verrät  sich  der  ge- 
borne  Soldat  in  dem  unfehlbaren  topographischen  Gedächtnis. 
Seine  Terrainschilderungen  erinnern  in  ihrer  Präzision  an  Cäsar; 
er  ist  in  der  Kenntnis  fremder  Lokalitäten  selbst  Eingeborenen 
überlegen,  wenn  diese  nur  als  Zivilisten  schreiben  (p.  268). 


410  Literaturbericht. 

Mit  Recht  wendet  sich  schließlich  C.  wie  bereits  Ruble 
dagegen,  daß  man  gegen  Monluc  den  Vorwurf  besonders 
großer  Grausamkeit  erhoben  hat  Monluc  hat  sich  nur  des- 
halb den  Namen  eines  mehr  als  andere  erbarmungslosen 
Heerführers  erworben,  weil  gerade  von  ihm  durch  die  ^Com- 
meniaires*  einzelne  Züge  von  Grausamkeit  bekannt  sind;  an 
sich  berechtigt  nichts  zu  der  Annahme,  Monluc  habe  in  dieser 
Beziehung  schlimmere  Dinge  auf  dem  Gewissen,  als  andere 
KriegsfUhrer  seiner  Zeit. 

Zürich.  E.  Fueter, 

Giorgio   dei   Veccbio,    Su    la    Teoria    del   Contratto    Sociale, 
Bologna,  Nicola  ZanichellL     1906.     118  S. 

In  einer  früheren  Arbeit  (s.  Hist.  Zeitschr.  99,  167)  hatte 
del  Vecchio  eine  Schrift  in  Aussicht  gestellt,  in  der  er  den 
Nachweis  erbringen  wollte,  daß  die  Erklärungen  der  Menschen- 
rechte der  Revolutionszeit  hauptsächlich  auf  den  Contrai  Social 
zurückzufuhren  seien,  wie  das  ja  früher  allgemein  angenommen 
wurde.  Schon  damals  erlaubte  sich  der  Ref.,  Bedenken  zu 
äußern.  Die  versprochene  Schrift  ist  nun  erschienen,  und 
jene  Bedenken  haben  sich  als  nur  allzu  gerechtfertigt  erwiesen! 
d.  V.  wendet  sich  hauptsächlich  gegen  Jellinek ,  der,  freilich 
nicht  als  einziger,  den  Gegensatz  zwischen  den  Prinzipien  des 
C.  5.  und  „einer  jeden  Erklärung  der  Rechte*  ganz  zu- 
treffend sehr  scharf  betont  hatte.  Die  Polemik  des  Vf.  gegen 
diese  Auffassung  scheint  uns  nun  durchaus  mißlungen  zu  sein. 
Er  beginnt  mit  einem  Oberblick  über  die  Vertragstheorien  seit 
dem  Altertum.  Wie  wenig  er  aber  in  ihr  Wesen  eingedrungen 
ist,  geht  daraus  hervor,  daß  er  den  fundamentalen  Unterschied 
zwischen  Gesellschaftsvertrag  und  Herrschaftsvertrag  nur  ein- 
mal in  einer  Anmerkung  streift!  In  jeder  Hinsicht  überflüssig 
ist  die  breite  Zurückweisung  der  Ansichten  des  Grotius 
(Kap.  3).  Wenn  er  dann  weiterhin,  dem  Kern  der  Frage  sich 
wieder  nähernd,  zeigt,  daß  die  Vertragstheorie  (soll  heißen: 
die  Idee  des  Herrschafts  Vertrages)  bei  Locke  —  übrigens 
schon  bei  zahlreichen  sehr  viel  früheren  Autoren  —  gerade  der 
Sicherung  der  Untertanen  gegen  den  Herrscher  dienen  sollte, 
so  hat  er  damit  natürlich  recht.  Was  aber  beweist  das  für 
Rousseau,  der  ja  den  Herrschaftsvertrag  leugnet?    Was  dann 


Frankreich.  41 1 

den  C.  «S.  angeht,  so  ist  es  ja  selbstverständlich  und  allgemein 
bekannt,  daß  manche  seiner  Aussprüche  zugunsten  der  Auf- 
rechterhaltung vorstaatlicher  Menschenrechte  verwendet  werden 
konnten.  So  vor  allem  derjenige  (1  Kap.  6),  welcher  als  Zweck 
des  C.  5.  die  HersteMung  einer  Vereinigung  nennt,  in  der 
jeder  . .  .  ^so  frei  bleibe  wie  bisher*".  Allein,  das  ist  doch 
nur  die  eine  Seite  von  Rousseaus  damaliger  Auffassung. 
Man  kann  nicht  zum  Verständnis  der  Sachlage  durchdringen, 
ohne  die  tiefgreifendsten  und  nicht  zu  beseitigenden  Wider- 
sprüche in  den  Gedanken  dieses  Großen  des  Gefühls  anzu- 
nehmen: wir  finden  zahlreiche  Ausführungen  im  entgegen- 
gesetzten Sinne,  und  diese  sind  unzweifelhaft  die  eindrucks- 
volleren und  mit  mehr  Anteil  dargelegten,  sind  die  Kern- 
gedanke n  d  e  s  C  «S.  Sie  sind  in  der  Tat  mit  der  Idee  der 
Aufrechterhaltung  vorstaatlicher  Menschenrechte,  die  der  Staat 
zu  achten  habe,  schlechterdings  unvereinbar.  Wird  doch 
geradezu  als  Inhalt  des  C.  «S.  der  angegeben,  daß  jeder  sich 
ganz  und  mit  allen  seinen  Rechten  dem  Staate  ausliefere!  Es 
ist  nur  ein  leeres  Wort,  wenn  d.V.  von  einem  scheinbaren 
Verzicht  aller  einzelnen  auf  ihre  Rechte  redet.  Daß  Rousseau 
an  einen  sehr  realen  Verzicht  denkt,  zeigen  auch  noch  andere 
seiner  Behauptungen,  wie  z.  B.  die,  daß  der  Souverän  keine 
Garantien  zu  berücksichtigen  habe  (I  Kap.  7).  Auch  der 
folgende  Passus,  den  d.  V.  für  seine  Auffassung  zitiert,  spricht 
in  Wahrheit  gegen  ihn.  Rousseau  sagt,  wenn  der  C  «S.  ge- 
brochen werde,  „trete  jeder  wieder  in  seine  ursprünglichen 
Rechte  ein  und  nehme  seine  natürliche  Freiheit  zurück,  indem 
er  die  konventionelle  Freiheit  verliere**.  Deutlicher  kann  man 
es  doch  wohl  nicht  ausdrücken,  daß  die  vorstaatlichen  Rechte 
durch  den  C  5.  verloren  gehen!  Daran  ändert  natürlich 
auch  die  —  übrigens  sinnlose  —  Behauptung  Rousseaus 
nichts,  daß  der  Souverän  seinem  Wesen  nach  kein,  dem  der 
Bürger  entgegengesetztes  Interesse  haben  könne,  da  diese 
doch  wieder  nur  beweisen  soll,  daß  Garantien  unnötig,  nicht 
daß  sie  vorhanden  seien.  Es  ist  nicht  anders:  Rousseau 
opfert  in  seiner  Konstruktion  des  C.  5.  die  Freiheit  um  der 
Gleichheit  willen,  der  zuliebe  er  ja  in  Wirklichkeit  seinen 
luftigen  Gedankenbau  errichtet.  Sucht  man  diese  Tatsache 
aus  ihm  hinwegzuinterpretieren,   so   leugnet   man    einen  be- 


412  Literaturbericht. 

sonders  bedeutenden  Teil  seiner  historischen  Wirkung,  die 
Wirkung  nämlich  auf  die  späteren  Jahre  der  Revolution 
(nach  1792),  als,  genau  wie  in  Rousseaus  Idealbild,  ein  auf 
der  Grundlage  der  Volkssouveränität  beruhender,  allmächtiger 
Staat  die  Rechte  und  Freiheiten  der  Bürger  mit  Füßen  treten 
konnte. 

Lassen  sich  also  bei  Rousseau  zwar  manche  Stellen  finden, 
welche  für  die  Aufrechterhaltung  der  Rechte  des  Menschen 
verwertet  werden  konnten,  so  widerspricht  unzweifelhaft  der 
Kerngedanke  des  C.  «S.  der  Idee  des  Menschenrechts  auf  das 
schroffste.  In  dieser  Überzeugung  kann  auch  das  vorliegende 
Werkchen  d.  V.s  nicht  wankend  machen.  Ob  freilich  bei  der 
damaligen,  fast  aligemeinen  Unklarheit  des  politischen  Denkens 
nicht  mancher  der  Männer  von  1789  ehrlich  überzeugt  war, 
es  seien  gerade  die  Kerngedanken  des  C.  S.,  für  die  er  ein- 
zutreten im  Begriff  sei,  das  mag  dahingestellt  bleiben. 

Hamburg.  Adalbert  Wahl. 

Albert  Meynier,  Un  Repräsentant  de  la  Bourgeoisie  Angevine  ä 
V Assembläe  Nationale  Constituante  et  ä  la  Convention 
Nationale.  L,-M.  La  ReveiUire  —  Upeaux  (1753—1795), 
Paris,  A.  Picard  et  fils.    1905.    539  S. 

Ein  Teil  des  langen  Lebens  des  späteren  Direktors  bildet 
den  Gegenstand  der  vorliegenden  Arbeit,  die  im  ganzen  mit 
Dank  aufzunehmen  ist.  Freilich,  um  das  vorauszuschicken,  nicht 
ohne  Kritik!  Die  Darstellung  ist  viel  zu  breit.  Man  ermüdet  häufig 
bei  dieser  ausführlichen  Schilderung  eines  Lebensabschnitts  eines 
nicht  bedeutenden  und  nicht  erfreulichen  Menschen.  Schlimmer 
ist,  daß  das  Werk  nicht  ausreichend  durchgearbeitet,  und  zwar 
weder  wirklich  durchdacht  noch  stilistisch  ausgereift  ist.  Der 
Schatz  von  Gedanken  und  Worten  z.  B.,  den  L.  R.  zur  Kon- 
stituante mitbrachte,  ist  ebensowenig  eindringend  untersucht 
wie  die  Entwicklung,  die  er  durchmachte,  wenn  auch  wert- 
volle einzelne  hierher  gehörende  Mitteilungen  über  das  ganze 
Werk  zerstreut  sind.  Ferner  fehlen  auffallende  Widersprüche 
nicht:  S.  121  lesen  wir,  daß  die  Cahiers  der  zwei  ersten  Stände 
von  Anjou  auf  dem  des  Tiers  beruhen;  S.  155  dagegen,  daß 
das  des  Adels  ,ydas  originellste  ....  der  drei  Cahiers'  sei. 
Nach  S.  409  war  es  unvermeidlich,  daß  in  den  späteren  Jahren 


Frankreich.  413 

der  Revolution  die  Masse  sich  von  der  herrschenden  Bour- 
geoisie abwandte;  nach  S.  411  dagegen  war  dieselbe  Masse 
nur  durch  den  Schrecken  auf  die  Seite  der  fortgeschritteneren 
Partei  zu  bringen.  Wenige  Leser  werden  sich  wohl  mit  den 
widerspruchsvollen  Darlegungen  des  Vf.  über  den  Ursprung 
des  Vend^e- Aufstandes  befreunden!  Von  stilistischen  Ver- 
irrungen  sei  nur  die  folgende  erwähnt  (S.  241):  , Die  äußerste 
Kühnheit,  welche  .  .  .  nicht  zögerte,  einen  Krieg  von  Riesen 
herbeizuführen,  indem  sie  Europa  als  Herausforderung  das 
Haupt  des  unglücklichen  Ludwig  XVI.  zuwarf.^  Auch  von 
einer  außerordentlichen  Einseitigkeit  wird  man  Meynier  nicht 
freisprechen  können.    Doch  genug  der  Einwände. 

Wertvoll  ist  das  Werk,  vor  allem  durch  das  in  ihm  mit- 
geteilte Material,  in  mancherlei  Richtung.  Zunächst,  wie  sich 
denken  läßt,  für  die  Kenntnis  seines  Helden.  Daß  dieser 
dabei  sonderlich  gewonnen  hätte,  wird  man,  trotzdem  M. 
anderer  Ansicht  ist,  nicht  sagen  können.  Es  bleibt  bestehen, 
daß  L.  R.,  ein  fanatischer  Verfolger  der  Aristokraten,  sich, 
wie  Robespierre,  noch  in  den  Zeiten  der  Revolution  unrecht- 
mäßigerweise die  »adlige  Partikel*  (sogar  de  la  R.  de  L.) 
beilegte.  Das  mag  man  aus  den  Sitten  der  damaligen  Bour- 
geoisie heraus  verstehen,  unsympathisch  bleibt  die  Erschei- 
nung auf  alle  Fälle.  Auch  daß  er  zahlreiche  Ansichten  aus- 
gesprochen, die  eine  vollkommene  Unfähigkeit  zu  politischem 
Denken  erkennen  lassen,  geht  gerade  wieder  aus  dem  vor- 
liegenden Werke  hervor;  hierher  gehört  der  Satz:  «Je  weniger 
ein  Mensch  besitzt,  desto  konservativer  wird  er  sein.*  Tak- 
tisch freilich  war  er  von  solcher  Vorsicht,  daß  man  den  Vor- 
wurf der  Feigheit,  der  ihm  öfter  gemacht  wird,  wohl  versteht. 
Auch  dieser  Jakobiner  machte  in  vieler  Hinsicht  jene  überaus 
rapide  Entwicklung  durch,  welche  ihm,  wie  seinesgleichen, 
den  Tadel  rein  theoretisch  beeinflußten  Handelns  wahrlich  er- 
sparen sollte !  Gegen  Ende  1792  donnert  er  z.B.  (ganz  im  Sinne 
Rousseaus,  was  M.  entgeht)  gegen  das  Parteiwesen,  das  an 
Stelle  der  Staaten  eine  «Ansammlung  von  Menschen  ohne 
Zügel  und  Regel*  setze.  Weniger  als  ein  halbes  Jahr  später 
ist  er  der  Anhänger  der  ersten  eigentlichen  Partei  der  Revo- 
lutionszeit, der  Gironde.  So  spielte  die  Macht  der  Tatsachen 
mit  Worten,  Prinzipien   und   Schulmeinungen,   übrigens  auch 

Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  a.  Folge  S.  Bd.  27 


414  Literaturbericht. 

bei  bedeutenderen  und  stärkeren  Männern,  als  L.  R.  einer 
war.  —  Interessant  sind  ferner  die  Abschnitte  des  Werkes 
über  die  Vorgänge  in  Anjou  unmittelbar  vor  dem  Zusammen- 
tritt der  Oeneralstände.  Sie  sind  zwar  mit  vollendeter  Partei- 
lichkeit abgefaßt,  allein  M.  teilt  so  viele  Tatsachen  und  so 
viel  Material  mit,  daß  man  sich  dennoch  ein  richtiges  Bild 
machen  kann:  Im  Gegensatz  zu  den  meisten  anderen  Teilen 
Frankreichs  wurde  hier  das  Landvolk  nicht  nur  von  den 
Städten,  sondern  auch  vom  Adel  agitatorisch  bearbeitet  — 
ein  Wettbewerb  um  die  Bauern,  bei  dem  bekanntlich  zunächst 
die  Bourgeoisie  auf  einige  Zeit  siegte,  um  dann  nach  wenigen 
Jahren  gründlich  aus  dem  Felde  geschlagen  zu  werden.  Führer 
des  Adels  bei  dieser  Agitation  war  anfangs,  bezeichnender- 
weise, ein  Grundherr  fremder  (irischer)  Abstammung,  namens 
Walsh  de  Serrant,  den  seine  Standesgenossen  aber  bald, 
ebenfalls  bezeichnenderweise,  als  zu  wenig  opferwillig  den 
Bauern  gegenüber,  fallen  ließen.  —  Die  Korrespondenz  L.  R.s 
mit  seinen  Wählern  liefert  eine  neue,  nüchterne,  nicht  unglaub- 
hafte Version  der  berühmten  Worte  Mirabeaus  an  Brez6  am 
23.  Juni  1789:  Uassemblde  a  dilihM  de  ne  point  disemparer, 
ä  moins  qu'on  ne  Vy  contraigne  par  la  force.  —  Das  Wert- 
vollste an  dem  Werke  aber  scheinen  dem  Ref.  die  Abschnitte 
über  den  sog.  Föderalismus  und  seine  Unterdrückung  zu  sein 
(u.  a.  S.  213,  215,  422  ff.).  M.  interessiert  sich  mit  Recht  be- 
sonders für  diese  Frage  und  kommt  in  ihr  über  Aulard  hin- 
aus. Nicht  freilich,  als  ob  er  deswegen  weiterer  Untersuchung 
nicht  noch  Raum  gelassen  oder  überall  die  glücklichsten  For- 
mulierungen gefunden  hätte !  Die  Entwicklung  der  Bedeutung 
der  föderalistischen  Idee  wird  sich  vielleicht  am  besten  in 
folgende  Sätze  zusammenfassen  lassen:  Die  vom  Ende  des 
Jahres  1789  an  stattfindenden  Föderationen  zweier  oder  mehrerer 
(Provinzen  oder)  Departements,  wie  das  große  Fest  des  Juli 
1790,  bedeuten  Ansätze  eines  staatlichen  Zentralismus.  Die 
Departements  wollen  dabei  auf  einen  Teil  ihrer  Rechte  und 
ihrer  Selbständigkeit  zugunsten  der  patrie  verzichten.  1793 
aber  sind  diese  Ansätze  durch  die  fast  plötzliche  Herstellung 
einer  überaus  mächtigen  Zentralgewalt  gänzlich  überholt,  und 
nun  wird  der  Föderalist,  indem  man  die  andere  Seite  des 
Begriffes   hervorhebt  —   man   müßte  sagen  der  „Nur-Födera- 


Italien.  415 

list*  — ,  der  todeswürdige  Vertreter  der  Selbständigkeit  der 
Departements  gegen  die  Zentralgewalt.  Bald  wird  dann 
»Föderalist**  ein  vages,  freilich  für  den  Betroffenen  lebens- 
gefährliches Schimpfwort,  wie  „Royalist*  und  »Aristokrat*,  mit 
dem  derjenige  belegt  wird,  der  zugrunde  gerichtet  werden  soll. 
Hamburg.  Adalbert  WahL 

Documenti  per  la  storia  dei  rivolgimenti  politici  del  comune  di 
Siena  dal  1354  al  1369,  pubblicati  con  introduzione  ed 
indici  da  G.  Luchaire.  (Annales  de  VuniversiU  de  Lyon, 
Nouvelle  s^rie,  II,  Droit,  Lettres,  fasc.  17.)  Lyon-Paris  1906, 
LXXXVII  u.  272  S.    7,50  Fr. 

Für  den  Wert  einer  Publikation  aus  ungemein  reichhaltigen, 
aber  noch  verhältnismäßig  wenig  erschlossenen  Archivbe- 
ständen, wie  es  die  von  Siena  sind,  kommt  es  am  meisten  auf 
den  Gesichtspunkt  an,  nach  dem  die  Auswahl  des  mitgeteilten 
Materials  getroffen  wurde.  Es  wäre  wohl  erwünscht  gewesen, 
daß  der  Herausgeber  irgendwelche  Hinweise  auf  Beschaffen? 
heit  und  Inhalt  der  von  ihm  benutzten  Statutenkodices,  Kon- 
siisbücher und  andern  Archivalien  gegeben  hätte,  statt  sich 
mit  bloßer  Anführung  der  Archivbezeichnung  zu  begnügen, 
über  deren  Bedeutung  der  vom  Staatsarchiv  Siena  veröffentlichte 
Indice  sommario  delle  serie  dei  documenti  (Siena  1900)  be- 
greiflicherweise nur  kurze  Andeutungen  geben  kann.  Über- 
reste einer  Verwaltung  mit  so  ausgedehnter  Schriftlichkeit  des 
Verfahrens,  wie  es  die  der  italienischen  Städte  war,  sind  an 
sich  schon  beachtenswert,  und  nicht  allerwärts  haben  sie  sich 
so  gut  erhalten  wie  in  Siena.  Die  Texte  sind  übrigens  lesbar 
und  wohl  auch  korrekt  wiedergegeben.  Auf  S.  2  Zeile  24  ist 
vor  „et  singuli'  augenscheinlich  „omnes*  zu  ergänzen;  eine 
Bemerkung  über  die  bei  der  Edition  befolgten  Grundsätze 
hätte  nicht  fehlen  dürfen. 

Der  Gesichtspunkt,  von  dem  Luchaire  ausgeht,  ist  nun 
gewissermaßen  ein  rein  formaler:  er  will  Material  zur  Erläute- 
rung der  Staatsumwälzungen  beibringen,  die  während  eines 
bestimmten  Zeitabschnitts  in  Siena  stattfanden.  1355  wurde 
das  Regierungskolleg  der  Neun  gestürzt;  an  ihre  Stelle  traten 
die  Zwölf,  die  1368  den  15  Defensoren  das  Feld  räumen 
mußten.     In   den  Verfassungsänderungen   lag,   ähnlich  wie  in 

27* 


416  Literaturbericht. 

den  etwa  gleichzeitigen  zu  Florenz,  ein  Übergang  der  Herr- 
schaft vom  popolo  grasso  auf  den  media  und  minuto  inbe- 
griffen, der  sich  nicht  ohne  Gewaltsamkeit  vollzog  und  — 
zufällig  —  jedesmal  mit  einem  Aufenthalt  Kaiser  Karls  IV.  in 
Siena  zusammentraf,  wie  das  in  der  recht  ausführlich  gehaltenen 
Einleitung  des  näheren  dargelegt  wird.  Den  verwaltungs- 
technischen Mechanismus,  den  jeweils  die  obsiegende  Partei 
zur  Sicherung  ihrer  Errungenschaften  schuf,  lassen  die  Statuten 
und  Ratsbeschlüsse  vortrefflich  erkennen;  so  bieten  sie  eine 
wertvolle  Ergänzung  zu  den  Berichten  der  Cronica  Sanese 
(Afuralorl  SS.  15)  über  den  äußeren  Verlauf  der  Ereignisse; 
aber  um  das  Wesen  der  für  die  Parteibildung  maßgebenden 
Gegensätze  klar  zu  legen,  reichen  sie  nicht  aus.  Gesteht  doch 
L.  in  der  „Einleitung*"  (S.  63)  selbst  zu,  daß  er  über  die 
Spaltung  der  Zwölf  in  zwei  Fraktionen,  die  kurz  vor  ihrem 
Sturz  eintrat,  nichts  näheres  habe  finden  können.  Jede  der 
beiden  Fraktionen  stand  nach  Angabe  des  Chronisten  mit 
einem  der  ansehnlichsten  Adelsgeschlechter  in  Verbindung. 
Wenn  L.  (S.  62)  in  einer  fortschreitenden  Demokratisierung 
der  Verfassung  den  Grundzug  der  Entwicklung  erblickt,  der 
ihr  höheres  Interesse  verleihe,  als  es  den  bloßen  Intriguen, 
Familienzwistigkeiten  und  Ausbrüchen  der  Volkswut  zukomme, 
aus  denen  die  Ereignisse  hervorzugehen  scheinen,  so  kann 
diese  Auffassungsweise  nur  mit  erheblichen  Einschränkungen 
gelten.  Richtig  ist,  daß  eine  fortschreitende  Erweiterung  der 
Teilnahme  am  Regiment  sich  erkennen  läßt;  aber  es  genossen 
immer  nur  Stadtbürger  den  Vorzug.  Die  Einwohner  des  Ge- 
biets, der  abhängigen  kleineren  Städte  und  der  Landorte,  blieben 
die  Beherrschten.  Selbst  zu  Gemeinden  konstituiert,  wurden 
sie  von  der  Stadtobrigkeit,  wie  diese  auch  immer  sich  be- 
nennen mochte,  nach  Maßgabe  der  ihr  zustehenden  Hoheits- 
rechte und  besonderen  Verträgen  regiert.  L.  hat  (S.  58)  von 
den  vielen  auf  das  Gebiet  bezüglichen  Statutarbestimmungen 
aus  dem  triftigen  Grunde  abgesehen,  weil  der  ungeheuren 
Stoffmasse  gegenüber  eine  Beschränkung  geboten  war.  Immer- 
hin läßt  sich  das  Gebiet  nicht  von  der  Stadt  trennen,  wie  es 
denn  auch  in  der  Chronik  die  gebührende  Berücksichtigung 
findet.  In  dem  Stadtstaat,  der  aus  der  herrschenden  großen 
und  den  untertänigen  kleineren  Kommunen  zusammengesetzt^ 


Italien.  417 

eine  freilich  nicht  sehr  fest  gefügte  Einheit  bildete,  konnte  die 
Regierungsform  nur  oligarchisch  sein,  außer  im  Falle,  daß  sie 
in  die  Tyrannis  (Signorie)  umschlug.  Saßen  doch  z.  B.  in  dem 
Konsil  der  Reformatoren  (S.  133  ff.)  zwar  Gevatter  Schneider 
und  Handschuhmacher  aus  der  Stadt,  aber  das  Gebiet  war,  soviel 
ersichtlich,  überhaupt  nicht  vertreten.  Nun  haben  sich  aus  dem 
weiteren  Kreise  der  Bürgerschaft  Gruppen  abgesondert,  die 
nach  möglichst  ausschließlichem  Besitz  der  Macht  und  der 
daraus  fließenden  Ehren  und  Vorteile  strebten.  Bei  dieser 
Gruppenbildung  wirkten  zweifellos  soziale  Unterschiede  mit. 
Die  Nobili  waren  Besitzer  von  Landgütern  und  Herrschafts- 
rechten im  Gebiet;  zum  popolo  grosso  gehörten  jene  Ban- 
kiers und  Kaufleute,  die  am  päpstlichen  Hofe  und  auf  den 
Messen  der  Champagne  eine  Rolle  gespielt  hatten,  während 
als  Hauptbestandteil  des  popolo  minuto  sich  die  Handwerks- 
meister betrachten  lassen.  Eine  nähere  Erläuterung  dieser 
Unterschiede  durch  Herbeischaffung  geeigneten  Materials  (die 
Steuerbücher  von  Siena  beginnen  1219,  s.  Indice  S.  41)  wäre 
umso  wünschenswerter  gewesen,  als  für  die  Gruppenbildung 
doch  auch  noch  andere  als  rein  wirtschaftliche  Momente  in 
Betracht  kommen.  Die  Nobili  erscheinen  geradezu  als  eine 
geschlossene  Kaste,  die  aus  einer  fest  begrenzten  Anzahl  von 
Geschlechtern  bestand ;  aber  auch  der  popolo  grosso  hat  einen 
familienartigen  Abschluß  erlangt.  Nach  dem  Sturze  der  Neun 
wurden  nicht  nur  alle  die,  welche  das  Amt  bekleidet  hatten, 
von  der  Wählbarkeit  zu  den  Zwölf  ausgeschlossen,  sondern 
ihr  ganzer  ordo,  Söhne,  Brüder  und  Anverwandte  in  männ- 
licher Linie  (S.  2).  Die  zugleich  aus  der  Wahlurne  entfernten 
Zettel  mit  den  Namen  der  regimentsfähigen  Bürger  wurden 
jedoch  sofort  durch  neue  ersetzt,  auf  denen  nur  Platz  fand, 
wer  mit  Zweidrittel-Majorität  durch  die  20  Reformatoren  aus- 
erkoren war,  die  selbst  wieder  ihr  Amt  nicht  einer  Wahl  ver- 
dankten, sondern  der  Ernennung  durch  den  zur  Zeit  an- 
wesenden König.  Es  handelte  sich  schließlich  um  nicht  viel 
mehr  als  um  Ersetzung  einer  Klique  durch  eine  andere.  Ebenso- 
wenig kann  die  Herrschaft  des  popolo  minuto^  der  1355  nicht 
unter  die  Regierenden  aufgenommenen  Handwerker,  als  reine 
Demokratie  angesehen  werden.  Außerhalb  der  Regiments- 
fähigkeit blieben  die  Arbeiter  des  Wollgewerbes,   über  deren 


418  Literaturbericht 

Erhebung  1371  L.  (S.  87)  eine  weitere  Publikation  in  Aussicht 
stellt.  Die  vorliegende  ist  ein  Bruchstück,  welches  die 
Forschung  fördert,  aber  nirgends  zum  Abschluß  bringt  So 
bleibt  auch  trotz  der  Erörterungen  (S.  31  ff.)  unklar,  ob  die 
Signorie,  die  Karl  IV.  1355  in  Siena  übernahm,  nur  «bis  zur 
vollendeten  Neuordnung  des  Stadtregiments*  dauern  sollte 
(Werunsky,  Gesch.  Karls  IV.  2,  S.  569).  Es  würde  sich  daraus 
erklären,  daß  sein  Vikar  abdankte  (S.  35),  und  doch  das  Ver- 
hältnis des  Kaisers  zu  Siena  später  (s.  Cron.  San.  168  zu 
1361)  als  ein  durchaus  freundschaftliches  erscheint. 

Zürich.  G.  Caro. 

Prof,  Gaetano  Capasso,  II  governo  di  Don  Ferrante  Gonzaga 
in  Sicilia  dal  1535  al  1543.  (Estratio  dall'  Arch,  Stör.  Sic. 
N.  S.  Anno  XXX— XXXI.)  Palermo,  Scuola  tip.  „Boccone 
del  povero".    1906.    303  S. 

Der  Vf.  will  keine  Biographie  Gonzagas  geben ;  er  schildert 
nur  in  der  Einleitung  kurz  seine  Jugend  und  schließt  mit 
einem  Ausblick  auf  den  Schluß  seines  Lebens.  Befremdlich 
wirkt  es  aber  doch,  wenn  er  dabei  den  Vorwurf  des  Nepotis- 
mus als  berechtigt  zugesteht,  während  man  davon  im  ganzen 
Buche  kein  Wort  findet  Im  Mittelpunkte  der  Darstellung  soll 
aber  nicht  der  Herzog,  sondern  Sizilien  stehen.  Es  werden 
daher  über  die  rechtlichen,  fiskalischen,  kommerziellen  und 
personalen  Verhältnisse  der  Insel  aus  den  Urkunden  eine 
Fülle  von  Einzelheiten  zusammengebracht,  die  nach  manchen 
Richtungen  hin  recht  wertvoll  sind.  Die  Bestrebungen  zur 
Hebung  der  Rechtspflege  z.  B.  bilden  einen  wertvollen  kleinen 
Ausschnitt  aus  dem  Leben  der  Zeit  Nicht  minder  interessant 
sind  die  Nachrichten  über  den  Getreidehandel  und  die  in  Ver- 
bindung damit  befolgte  Zollpolitik.  Die  Darstellung  zeigt,  daß 
Sizilien  zu  jener  Zeit  eine  sehr  reiche  Provinz  war,  daß  seine 
Hilfsquellen  aber  von  der  kaiserlichen  Politik  auch  besonders 
stark  in  Anspruch  genommen  wurden.  Das  Hauptinteresse 
der  Studie  aber  liegt  darin,  daß  es  uns  einen  tiefen  Einblick 
in  die  Türkenpolitik  Karls  V.  gibt  Diese  steht  in  dem  ganzen 
Werke  entschieden  im  Vordergrunde  des  Interesses.  Das 
Buch  erweist  deutlich,  daß  es  von  seiten  des  Kaisers  keine 
leeren  Worte  waren,  wenn  er  fortgesetzt  betonte,  daß  er  den 


England.  419 

Kampf  gegen  die  Ungläubigen  als  seine  hauptsächlichste  Auf- 
gabe ansähe.  In  Spanien  hinderte  ihn  das  Steuerbewilligungs- 
recht der  Stände  daran,  das  Land  zu  einem  Kampfe  in  großem 
Stile  gegen  den  Halbmond  fortzureißen.  In  Sizilien  waren 
der  kaiserlichen  Macht  die  Schranken  weniger  eng  gezogen, 
die  Insel  hatte  ein  noch  unmittelbareres  Interesse  an  der  Ab- 
wehr der  Türkengefahr,  und  so  bildet  sie  denn  in  dem  Jahr- 
zehnt, das  die  Darstellung  umfaßt,  recht  eigentlich  den  Mittel- 
punkt, um  den  sich  alle  Angriff-  und  Abwehrmaßregeln  gegen 
den  Halbmond  kristallisieren.  In  dem,  was  in  bezug  auf  die 
Bekämpfung  der  Türken  geschildert  wird,  besitzt  die  Darstel- 
lung ein  weit  über  die  Grenzen  Siziliens  hinausreichendes 
allgemeines  Interesse  für  die  Geschichte  Karls  V.  und  ergänzt 
nicht  unerheblich  unsere  Kenntnis  dieser  Vorgänge,  obwohl 
der  Vf.  sich  sehr  gewissenhaft  darauf  beschränkt  hat,  alle  da- 
bei berührten  Fragen  nur  so  weit  in  den  Kreis  der  Betrachtung 
zu  ziehen,  als  sie  sich  mit  Sizilien  oder  mit  der  Person  des 
Vizekönigs  berühren.  Ein  Urkundenanhang  dient  zur  Be- 
legung verschiedener  im  Texte  erwähnter  Begebenheiten 
mannigfahigen  Charakters. 

Friedenau.  /f.  Haebler. 

Frederick  William  Maitland ;  two  lectures  and  a  bibliography,  By 
A.  L.  Smitb,  Balllol  College,  Oxford.  Oxford,  Clarendon. 
Press.     1908.    71  S. 

Diese  Oxforder  Vorlesungen  schildern  Englands  größten 
Rechtshistoriker  als  fertigen  Künstler  in  trefflich  gelungenen 
Zügen.  Biographische  Einzelheiten  aber  oder  eine  fortlaufende 
Entwicklung  des  Mannes,  die  ihm  vorangehende  Lehre  oder 
den  von  ihm  hinterlassenen  Neuerwerb  der  Wissenschaft,  seine 
Hilfsmittel  oder  Arbeitsmethode  offenbaren  sie  nicht.  Einige 
Geheimnisse  seiner  plastischen  Darstellung  und  seines  be* 
bezaubernden  Stils  enthüllen  sich  dieser  fein  ästhetischen 
Analyse:  z.  B.  die  Variation  eines  Leitmotivs,  die  Wahl  ein* 
drucksvoller  Schlagworte,  der  Vergleich  des  Vergangenen  mit 
lebendiger  Gegenwart.  Wer  Maitlands  Werke  nicht  gelesen 
hat,  wird  zu  ihnen  hingezogen,  wer  sie  kennt,  schmerzlich 
an  den  Verlust  des  Mannes  erinnert  werden  durch  diese  ge- 
schickte   Auswahl    seiner    überraschendsten    Gedanken    und 


420  Literaturbericht. 

glänzendsten  Aussprüche.  Den  Genius  schät2:t  Smith  in  der 
Hauptsache  mit  richtigem  Urteil  ein.  Maitland  sah  das  höchste 
Ziel  der  Geschichte  in  der  Entwicklung  der  Ideen,  nicht  als 
abstrakter  Hypostasen,  sondern  als  mächtiger  Triebklüfte  in 
lebenswarmen  Menschen,  deren  religiöse  Strebungen  dieser 
weiten  Sympathie  nicht  zu  hoch,  deren  bierdurstige  Kehlen 
ihr  nicht  zu  tief  lagen.  Er  verband  schärfste  Analyse  mit  der 
Gabe  zu  weltumspannender  Kombination.  Er  arbeitete  schnell 
und  leicht,  laut  der  Riesenfülle  der  Erzeugnisse  fast  nur  zweier 
Jahrzehnte;  er  vollendete  jedes  Werk  bis  zu  durchsichtiger 
Klarheit  und  reizender,  heiterer  Form.  Aus  der  philosophi- 
schen Schule  seiner  Jugend,  aus  seinem  juristischen  Fache 
strebte  er  stets  zur  Auffindung  des  Typischen,  der  Gesetze 
der  Entwicklung,  an  deren  Aufsteigen  im  großen  Ganzen  er 
glaubte.  Um  so  höher  muß  man  es  ihm  mit  Sm.  anrechnen, 
daß  er  die  Macht  des  Unerklärbaren,  des  Zufälligen,  des  rein 
Persönlichen  nie  verkannt  hat.  Mir  scheint  daneben  bewun- 
dernswert, wie  er  in  eigenen  schwer  errungenen  Ergebnissen 
das  noch  Problematische  selbst  aufwies,  gleichsam  prophetisch 
zukünftiger  Forschung  neues  Feld  zuteüend.  Daß  in  Oxford 
das  Dasein  der  Geschichtswissenschaft  noch  verteidigt  werden 
muß,  weil  sie  für  Gegenwart  und  Zukunft  praktische  Philo- 
sophie lehre,  den  Juristen  zur  Gesetzgebung  schule,  hört  man 
staunend;  in  Maitlands  Sinne  lag  solch  Zugeständnis  nicht. 
Dort  erschien  es  auch  nötig,  die  Freiheit  dieser  hohen  Seele 
von  Schranken  kirchlicher  Konfession  zu  entschuldigen  mit 
der  Versicherung,  als  Wahrheitsucher  sei  Maitland  echt  reli- 
giös gewesen.  Nur  er?  „Wer  Wissenschaft  und  Kunst  besitzt, 
der  hat  Religion."  —  Die  gewöhnlicheren  Tugenden  weiter 
Gelehrsamkeit,  geduldiger  Emsigkeit,  hoher  Unparteilichkeit 
und  Befreiung  vom  Maßstabe  moderner  Moral  zeigt  Sm.  an 
Maitland  in  klarem  Lichte;  er  hebt  richtig  hervor,  wie  der 
Historiker  Anglonormannischen  Rechts  doch  auch  in  Kano- 
nistik  und  auf  dem  Gebiete  des  Zeitalters  Elisabeths  Bedeu- 
tendes leistete,  wie  der  Entfalter  von  Ideen  und  Institutionen 
auch  lebendig  zu  erzählen  verstand  von  Einzelmenschen. 
Zum  idealen  Schwünge  über  beschränkte  Insularität  hinauf  zu 
universellem  Europäertum  hätte  wohl  Erwähnung  verdient  das 
reale  Sprungbrett  eingehenden   Studiums  festländischer  Lite- 


England.  421 

ratur,  besonders  Deutscher  Rechtsgeschichte.  Auch  über 
die  erfolgreich  anregende  Tätigkeit  wird  der  künftige  Biograph 
vieles  ergänzen  können;  da  Miss  Batesons  Mund  allzu  früh 
verstummte,  müssen  einige  andere  Forscher  zeugen,  die  durch 
Maitland  lernten,  aus  Archivalien  Rechtsleben  erstehen  zu 
lassen.  —  Eine  fachmäßige  Kritik  war  für  unterhaltende  Vor- 
lesungen nicht  am  Platze.  Es  genügt,  daß  sie  recht  oft  im 
Lobe  den  Nagel  auf  den  Kopf  treffen.  Maitland  als  Jurist 
triumphiert  in  der  Entwicklung  der  Lehre  von  der  Körper- 
schaft ;  er  macht  uns  die  Gedanken  der  Vergangenheit  wieder 
denkbar.  Häufig  findet  Sm.  glückliche  Ausdrücke:  jener 
Midashand  wird  Aktenstaub  zu  glänzendem  Golde.  Eine 
Eigenheit  englischen  Universitätsstils,  die  er  an  Maitland  rügt, 
vermeidet  er  selbst  nicht  ganz,  nämlich  die  Anspielung  auf 
Esoterisches,  bei  der  der  Deutsche  sich  bedauernd  als  Fremden 
empfindet.  Die  Disposition  der  Vorlesungen  ist  in  Kategorien 
und  Distinktionen  mit  Zahlen  und  Buchstaben  so  stark  her- 
vorgehoben, daß  ich  dahinter  das  Dasein  des  Planes  zu  einer 
Biographie  erhoffe,  die  jenen  Rahmen  erst  recht  mit  blühen- 
dem Leben  erfüllen  wird.  Gewiß  ist  Sm.,  Maitlands  Mitarbeiter 
an  Social  England,  zuletzt  sein  persönlicher  Gefährte,  dazu 
berufen.  Die  Bibliographie  müßte  dann  vervollständigt  werden : 
ihr  fehlen  jetzt  zahlreiche  größere  Aufsätze  Maitlands  für 
Amerikas  Harvard  Law  Review;  auch  der  köstliche  Artikel  in 
Quarlerly  Review,  July  1904,  Laws  of  Ihe  Anglo-Saxons  ist 
von  ihm.  Unter  den  Kritiken  über  Maitland  vermißt  man  alle 
französischen  und  deutschen,  auch  die  Brunners,  auf  die  Mait- 
land großen  Wert  legte.  —  Das  Schicksal  mißgönnte  Mait- 
land Gesundheit  und  langes  Leben;  seinem  Nachruhme  hat 
es  warme  Verehrer  und  in  Sm.  einen  würdigen  Verkünder  be- 
schert. 

Berlin.  F.  Liebermann. 

Life  and  letters  of  Thomas  Cromwell  by  Roger  Bigelow Merri' 
man.  Vol.  l  Life,  Letters  to  1535.  Oxford,  Clarendon  Press. 
1902.  Vm  u.  442  S.  Vol.  II  Letters  from  1536,  Notes,  Index. 
Oxford,  Clarendon  Press.    1902.    IV  u.  356  S. 

Die  wissenschaftliche  Bedeutung  des  vorliegenden  Werkes 
liegt  vor  allem  darin,  daß  hier  zum  erstenmal  ein  vollständiger 


422  Literaturbericht. 

Abdruck  der  sämtlichen  Briefe  Thomas  Cromwells  geboten 
wird.  Die  größte  Zahl  derselben  war  freilich  inhaltlich  aus 
den  Calendars  of  State  Papers  bekannt;  hier  aber  sind  sie 
in  vollem  Wortlaut  abgedruckt.  Die  Sammlung  ist  demnach 
wohl  geeignet,  rein  biographisch  das  Wesen  des  Mannes  aus 
seinen  Briefen  erkennen  zu  lassen,  während  diese  für  die 
Geschichte  der  Zeit  natürlich  nicht  anders  als  gemeinsam  mit 
den  in  den  Calendars  wiedergegebenen  Antworten  studiert 
werden  können.  Etwas  Willkürliches  liegt  also  immerhin  in 
dieser  Art  der  Publikation,  wenn  auch  die  am  Schlüsse  des 
zweiten  Bandes  gegebenen  Anmerkungen  meistens  die  nötigen 
Hinweise  auf  das  zur  sachlichen  Ergänzung  gehörige  Material 
enthalten. 

Die  eigentliche  Biographie  bildet  nur  den  größeren  Teil 
des  ersten  Bandes.  Sie  beruht  auf  gründlichem  Studium  der 
gedruckten  und  handschriftlichen  Quellen.  Von  den  letzteren 
mögen  die  in  Marburg  benutzten  Archivalien,  auf  die  Heirat 
Heinrichs  VIII.  mit  Anna  von  Cleve  bezüglich,  noch  be- 
sonders erwähnt  sein.  Ein  paar  interessante  Stücke  sind  als 
Appendix  zu  Kapitel  13  abgedruckt.  Einiges  Neue  bietet 
Kapitel  1  für  die  Herkunft  und  die  jüngeren  Jahre  Crom- 
wells. Aus  den  Court  Rolls  der  Grundherrschaft  Wimbledon, 
welche  von  1461  an  vorliegen,  ergeben  sich  einige  Tatsachen, 
welche  auf  das  Leben  und  die  bürgerlichen  Berufe  der  aus 
Nottinghamshire  zugewanderten  Familie  einiges  Licht  werfen. 
Daß  Thomas  Cromwell  in  jungen  Jahren  nach  Italien  gereist 
sei,  scheint  jetzt  sicher,  daß  er  an  der  Schlacht  am  Garigliano 
teilgenommen,  wahrscheinlich.  Dann  tritt  er  wieder  in  England 
auf,  als  Woll-  und  Tuchhändler  und  zugleich  als  Anwalt  be- 
schäftigt. Seine  Beziehungen  zu  Wolsey,  welche  die  Quelle 
seiner  Größe  wurden,  lassen  sich  mit  Sicherheit  nicht  weiter 
als  1520  zurückdatieren.  In  bezug  auf  die  Familiengeschichte 
Cromwells  wird  auch  (I,  54)  die  noch  unbekannte  Tatsache 
festgestellt,  daß  er  außer  einem  Sohne,  der  bekanntlich  das 
Geschlecht  fortsetzte,  noch  zwei  Töchter  besaß,  die  wahr- 
scheinlich beide  vor  dem  Vater  starben.  Lehrreich  ist  auch 
der  Hinweis,  daß  Cromwell  als  Erster  unter  den  großen  Rat- 
gebern   der  englischen   Krone,   weltlichen   Standes   und    von 


England.  423 

niederer  Herkunft  war.  Auch  die  Bedeutung  dieses  Umstandes 
für  den  Aufstand  von  1536  wird  jetzt  erst  verständlich. 

Die  von  Merriman  gegebene  Charakteristik  Cromwells  ist 
vollkommen  einleuchtend.  Der  Mann,  welcher  durch  Wolsey 
emporgekommen,  den  Sturz  seines  Gönners  geschickt  zu  seinem 
Vorteil  ausnutzt,  welcher  des  Königs  Ehe  mit  Anna  Boleyn 
möglich  macht,  und  doch  einige  Jahre  später  den  Untergang 
derselben  Anna  Boleyn  herbeiführt  und  ihrer  Hinrichtung  per- 
sönlich beiwohnt,  ist  sicher  als  Staatsmann  wie  als  Mensch 
ein  kalter  Rechner  gewesen,  ohne  alle  Ideale,  ohne  Rücksicht 
auf  Recht  und  Moral,  auch  religiös  indifferent  und  sicher  nicht 
ein  überzeugter  Protestant.  „Der  Nutzen  einer  jeden  Handlung 
war  ihm  entscheidend  für  ihren  sittlichen  Charakter  und  ihre 
Rechtmäßigkeit.^  Er  verachtet  die  hergebrachte  Staatsweis- 
heit, nach  der  die  Ratgeber  der  Krone  für  die  Ehre  ihres  Herrn 
zu  arbeiten  hätten.  Seine  Lieblingslektüre,  den  Fürsten  des 
Macchiavell,  empfiehlt  er  auch  anderen,  um  daraus  einen  prak- 
tischen Maßstab  für  ihr  politisches  Handein  zu  gewinnen.  Ja, 
er  erweitert  gewissermaßen  die  Lehren  Macchiavells,  welcher 
nur  vom  Standpunkte  des  Fürsten  aus  schreibt,  indem  er 
(Cromwell)  zeigen  will,  wie  ein  kluger  Minister  es  nun  anzu- 
fangen habe,  um  seinerseits  auch  einen  stolzen  Fürsten  zu 
leiten  und  zu  beherrschen.  Freilich  hat  er  eben  hierin  seiner 
Kraft  zu  viel  vertraut  und  ist  zuletzt,  gleich  anderen,  durch 
seinen  Herrn  wie  ein  verbrauchtes  Werkzeug  weggeworfen 
worden. 

Dabei  kann  ich  dem  Vf.  wohl  zustimmen,  wenn  er  der 
Meinung  ist,  daß  mit  all  diesem  mächtigen  Egoismus  Thomas 
Cromwell  doch  ein  großer  Staatsmann  und  Patriot  gewesen 
sei.  (Nicht  übel  ist  der  Vergleich  mit  Moritz  von  Sachsen. 
Preface  S.  3.)  An  der  Ausbildung  des  Absolutismus  der 
Krone  zu  arbeiten,  war  in  Cromwells  Augen  sicher  ein  patrio- 
tisches Beginnen  und  lag  zugleich  im  Geiste  der  Zeit. 

Freiburg  i.  B.  W.  Michael. 


Notizen  und  Nachrichten. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  welche  sie  an  dieser 
Stelle  berücksichtigt  wünschen,  uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 


Allgemeines. 

O.  Baensch^s  Aufsatz  „Ober  historische  Kausalität'  (Kant- 
studien XIII,  1/2)  will  nicht  von  philosophischen  Forderungen, 
sondern  vom  Wesen  und  von  den  Aufgaben  der  Geschichte  aus- 
gehen. Er  kann  deshalb  mit  einer  Kausalität,  die  in  der  not- 
wendigen Zeitfolge  definiert,  keine  Naturgesetze  für  die  Geschichte 
gewinnen,  sondern  nur  ;, Idealtypen  von  Wirkungsreihen"  ohne 
die  Sicherheit  des  Gesetzes.  Dabei  sieht  er  in  der  schließlichen 
Verbindung  der  notwendigen  Einzelgebiete  (Politische  Geschichte, 
Kirchengeschichte,  Wirtschaftsgeschichte  usw.)  zu  einer  Kultur- 
geschichte das  anzustrebende  Ziel  der  Geschichtswissenschaft 

P.  Schweizer,  Die  religiöse  Auffassung  der  Weltgeschichte 
(Schweizer  theol.  Zeitschr.  25,  2)  (Sonderausgabe  Zürich,  Frick. 
2  M.)  will  den  geschichtsphilosophischen  Anschauungen  seines 
Vaters  Alexander  Schweizer  ein  Denkmal  setzen,  indem  er  die 
christlich-religiöse  Geschichtsauffassung  vom  Alten  Testament 
und  von  Christi  Zeiten  an  bis  zur  Gegenwart  schildert  und  dabei 
zum  Schlüsse  ausführlicher  auf  die  zugehörige  Anschauung  Alex. 
Schweizers  eingeht. 

R.  A.  Fritzsches  kurzer  Aufsatz  über  „Justus  Moser  und 
W.  H.  Riehl«  (Hess.  Blätter  f.  Volkskunde  VII,  1)  stellt  die  Be- 
rührungspunkte beider  Männer  zusammen.  Aus  den  gleichen  An- 


Allgemeines.  425 

schauungen  vom  historisch  gewordenen  Volkstum  lag  der  eine 
mit  der  Aufklärung,  der  andere  mit  dem  Vulgärliberalismus  seiner 
Zeit  im  Widerspruch. 

Ed.  Sprangers  Aufsatz  ,W.  v.  Humboldt  und  Kant**  (Kant- 
studien XIII,  1/2)  zeigt,  wie  Humboldts  Entwicklung  entscheidend 
von  Kant  beeinflußt  wurde,  wie  er  dann  aber  auch  seine  selb- 
ständigen Wege  ging,  indem  er  den  Dualismus  Kants  durch  eine 
Anschauung  von  der  harmonischen  Totalität  der  menschlichen 
Seele,  durch  den  Humanitätsgedanken  zu  überwinden  strebte. 
Darin  wie  in  Humboldts  Ideenlehre  liegen  Gegensätze  zu  Kant  — 
Humboldts  Weltanschauung  ist  ästhetischen  Charakters. 

Fichtes  Geschichtsphilosophie,  ihre  Wendung  vom  Ratio-« 
nalismus  zum  Irrationalismus  und  ihre,  im  Kerne  wenigstens,  sehr 
nahe  Verwandtschaft  mit  den  heutigen  geschichtsphilosophischen 
Auffassungen  wird  von  Windelband  in  der  Internationalen 
Wochenschrift  vom  18.  April  gedrungen  und  gedankenreich  ent^ 
wickelt. 

Die  Literatur  über  Taine  ist  noch  immer  im  Steigen:  in  der 
Revue  des  deux  mondes  43,  3  behandelt  Giraud:  ,La  personne 
et  l'auvre  de  Taine^  (auf  Grund  der  kürzlich  veröffentlichten 
Briefe);  im  Aprilheft  der  Deutschen  Rundschau,  A.  Bossert: 
„Hipp.  Taine  in  seinen  Brief en*";  in  der  Rev,  de  Paris  X,  9  Andr6 
Chevrillon:  ,Taine,  Notes  et  Souvenirs'. 

In  der  Besprechung  des  2.  Bandes  von  Schmollers  Grundriß 
der  Allgemeinen  Volkswirtschaftslehre  sucht  v.  Below  abermals 
den  Nachweis  zu  führen,  daß  Schmollers  Leistungen  überschätzt 
werden  (Vierteljahrsch.  f.  Sozial-  u.  Wirtschaftsgeschichte  5,  4). 
Below  stützt  sich  dafür  nicht  nur  auf  die  Besprechungen  anderer, 
sondern  untersucht  auch  im  einzelnen  finanzgeschichtliche  Teile 
des  Buches  sowie  die  Ausführungen  Schmollers  über  den  wirt- 
schaftlichen Fortschritt. 

Eine  Sammlung  wissenschaftlicher  Arbeiten  über  das  Böh- 
mische Wirtschaftsleben  in  Geschichte  und  Gegenwart 
beabsichtigt  die  Gesellschaft  zur  Förderung  deutscher  Wissen- 
schaft, Kunst  und  Literatur  in  Böhmen  unter  der  Leitung  der 
Professoren  Ulbrich,  Bachmann,  Jung,  Weber  und  Zuckerkandl 
herauszugeben.  Die  Sammlung  soll  auch  einschlägige  Arbeiten 
älterer  deutsch-böhmischer  Forscher  zugänglich  machen  und  zu- 
gleich die  jetzt  eingehenden  „Beiträge  zur  Geschichte  der  deut- 
schen Industrie  in  Böhmen^  (herausgegeben  vom  Ver.  f.  Gesch. 
der  Deutschen  in  Böhmen)  ersetzen. 


426  Notizen  und  Nachrichten. 

Die  wertvolle,  aber  tendenziöse  „Ungarische  Verfassungs- 
und  Rechtsgeschichte^  des  Äkos  von  Timon  wird  durch  A. Luschin 
von  Ebengreuth  im  Jahrb.  f.  Gesetzgeb.  1908,  Jahrg.  32,  Heft  1 
ausführlich  besprochen.  Die  Behauptung  Timons,  das  ungarische 
Volk  habe  seine  besondere,  von  der  Rechtsgeschichte  anderer 
Völker  abweichende  Entwicklungsgeschichte  gehabt,  widerlegt 
Luschin  an  vielen  Beispielen,  indem  er  im  Anschluß  an  die  von 
Timon  gewählte  Gliederung  des  Stoffes  in  vier  Perioden  den 
starken  Einfluß  westeuropäischer  Rechts-  und  Staatsideen  auf  die 
ungarische  Veriassung  und  Rechtsentwicklung  überzeugend  nach- 
weist. Vgl.  auch  Harold  Steinacker,  ,Ober  Stand  und  Auf- 
gaben der  ungarischen  Verfassungsgeschichte",  in  den  Mitt.  des 
Inst.  f.  österr.  Gesch.  1907,  Bd.  28,  S.  276  ff. 

Das  Mittelmeergebiet,  seine  geographische  und  kulturelle 
Eigenart.  Von  Alfred  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n.  2.  Aufl.  Leipzig,  Teubner. 
1907.  X  u.  261  S.  —  Das  Buch  ist,  laut  der  Vorrede,  ein  in  der 
Hauptsache  unveränderter  Abdruck  der  1.  Auflage.  Daß  diese 
schon  nach  drei  Jahren  vergriffen  war,  zeigt,  wie  trefflich  der 
Veriasser  die  Aufgabe  zu  lösen  verstanden  hat,  auf  knappstem 
Raum  ein  Bild  der  geographischen  Verhältnisse  der  Mittelmeer- 
länder zu  geben.  Gerade  wir  Historiker  haben  besonderen  Grund, 
ihm  dafür  dankbar  zu  sein.  Wir  werden  es  ihm  auch  gern  ver- 
zeihen, daß  der  letzte  Abschnitt  („Der  Mensch'')  etwas  summa- 
risch ausgefallen  ist.  Auch  die  Literaturangaben  hätten  etwas 
reichlicher  sein  können.  Die  Karten  lassen  in  der  Ausstattung 
viel  zu  wünschen:  ohne  Farbe  geht  es  nun  einmal  nicht,  und  die 
Sprachenkarte  z.  B.  hätte  lieber  unterdrückt  werden  sollen.  Da- 
gegen bilden  die  13  Landschaftsbilder,  meist  aus  Griechenland, 
zum  Teil  nach  eigenen  Aufnahmen  des  Verfassers,  einen  schönen 
Schmuck  des  Buches  und  unterstützen  das  Verständnis  des 
Textes  in  wirksamer  Weise;  schade,  daß  es  nicht  mehr  sind. 

Beloch. 

Ein  anregender  Aufsatz  von  Wilh.  Bauer,  der  in  Tilles 
Deutschen  Geschichtsblättern  9,  6  u.  7  erschienen  ist,  handelt 
über  das  Verhältnis,  das  zwischen  den  historischen  Hilfswissen- 
schaften und  der  Geschichte  der  Neuzeit  besteht.  Mit  dem  Vf. 
wird  ein  jeder,  der  einmal  in  der  Lage  gewesen  ist,  in  Übungen 
auf  die  Schriftentwicklung  der  Neuzeit  einzugehen,  ^eine  leicht 
erreichbare,  nicht  allzu  kostspielige  Zusammenstellung  neuzeit- 
licher Schriftproben,  die  nicht  bloß  die  palaögraphische  Ent- 
wicklung in  Deutschland  veranschaulichen  dürfte,  sondern  auch 
Italien,  Frankreich,  allenfalls  auch  Spanien  und  England  in  ihren 


Allgemeines.  427 

Bereich  ziehen  müßte^,  für  ein  dringendes  Bedürfnis  halten. 
Auch  die  Bedeutung  der  Archiv-  und  Aktenkunde  wird  mit  Recht 
stark  betont. 

Im  Bibliographe  moderne  11,  4  u.  5  handelt  P.  de  Vaissifere 
über  Bedeutung  und  Schicksale  des  Pariser  Johanniterarchivs 
(Fonds  du  Grand  Prieuri  de  France,  jetzt  im  Nationalarchiv  be- 
wahrt). H.  Stein  verzeichnet  ebenda  zahlreiche  Handschriften 
der  städtischen  Bibliothek  zu  Ferrara,  die  zumeist  dem  15.  bis 
18.  Jahrhundert  angehören,  und  gibt  ferner  eine  nach  den  ein- 
zelnen Departements  geordnete  „Bibliographie  de  susages  locaux'. 

Neue  Bficher:  Cavagnari,  Principt  critici  di  scienza  po- 
litica  dello  stato.  Vol.  III.  (Padova,  Societä  cooperativa  tipogra- 
fica.  10  Lire,)  —  Grabowsky,  Recht  und  Staat.  Ein  Versuch 
zur  allgemeinen  Rechts-  und  Staatslehre.  (Berlin,  Rothschild. 
2  M.)  —  de  Tourville ,  The  growth  of  modern  nations.  A  history 
of  the  particularisl  form  of  society.    (London,  Arnold.    12,6  sh,) 

—  Eleutheropulos,  Soziologie.  2.  erweit.  u.  umgearb.  Aufl. 
(Jena,  Fischer.  4  M.)  —  Small,  Adam  Smith  and  modern  socio- 
logy.  (London,  Unwin.  5,6  sh.)  —  Ruhland,  System  der  poli- 
tischen Ökonomie.  3.  Bd.  (Berlin,  Puttkammer  6  Mühlbrecht. 
10  M.)  —  Tugan-Baranowsky,  Der  moderne  Sozialismus  in 
seiner  geschichtlichen   Entwicklung.    (Dresden,  Böhmert    4  M.) 

—  Rethwisch,  Leopold  v.  Ranke  als  Oberlehrer  in  Frank- 
furt a.  O.  (Berlin,  Weidmann.  1  M.)  —  Mommsen,  Gesammelte 
Schriften.  V.  Bd.  Historische  Schriften.  2.  Bd.  (Beriin,  Weid- 
mann. 15  M.)  —  Lord  Acton,  Historical  essays  and  studies. 
Ed.  by  J.  N.  Figgis  and  /?.  V.  Laurence.  (London,  Macmillan. 
10  sh.)  —  Dow ,  Atlas  of  European  history.    (London,  Bell,  6  sh.) 

—  Day,  A  history  of  commerce.   (London,  Longmans.    7,6  sh.) 

—  He  man,  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  seit  der  Zerstörung 
Jerusalems.  (Calw  und  Stuttgart,  Vereinsbuchh.  8  M.)  —  Brown, 
Studies  in  the  history  of  Venice.   2  vols,   (London,  Murray.    18  sh.) 

—  Acht,  Die  Entstehung  des  Jahresanfangs  mit  Ostern.  Eine 
historisch-chronologische  Untersuchung  über  Entstehung  des  Oster- 
anfangs  und  seine  Verbreitung  vor  dem  13.  Jahrhundert.  (Berlin, 
Trenkel.  2M.)  —  Gu^nin,  Histoire  de  la  Stenographie  dans 
rantiguite  et  au  moyen-äge.  Les  notes  tironiennes.  (Paris, 
Hachette  S  Cie.) 

Alte  Geschichte. 

In  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Sprachforschung  42,  I 
(1908)  findet  sich   ein   lehrreicher  Aufsatz  von  Ed.  Meyer:  Die 


428  Notizen  und  Nachrichten. 

ältesten  datierten  Zeugnisse  der  iranischen  Sprache  und  der 
zoroastrischen  Religion. 

Einen  guten  Oberblick  über  die  außerfranzösischen  Erschei- 
nungen auf  dem  Gebiet  der  Antiquit^s  latines  gibt  Ch.  L^cri- 
vain  in  der  Revue  historique  1908,  Mai-Juni. 

Einen  trefflichen  Oberblick  über  La  papyrologie  grecque  et 
ses  progrks  gibt  M.  Zech  in  Bulletin  de  l'AcatUmie  r.  d'arcMo-^ 
logie  de  Belgique  1907,  5. 

W.  A.  G  o  1  i  g  h  e  r  bespricht  in  der  English  historical  Review 
1908,  April  das  New  Historical  Fragment  und  fügt  hinzu:  Attri- 
buted  to  Theopompus  or  Cratippus.  Nach  dem  Verfasser  kommt 
Theopomp  als  Autor  nicht  in  Betracht 

In  den  Wiener  Studien  29,  2  (1907)  finden  wir  zwei  Aufsätze, 
welche  fördernd  sind,  von  A.  Ledl:  Das  attische  Bürgerrecht 
und  die  Frauen,  und  von  St.  Braßloff:  Die  prätorischen  Pro- 
vinzialstatthalter  in  der  Kaiserzeit. 

Sehr  lehrreich  und  fördernd  ist  das  letzte  Heft  des  Archivs 
für  Papyrusforschung  (4,  3/4).  M.  Rostowzew,  Zur  Geschichte 
des  Ost-  und  Südhandels  im  ptolemäisch-römischen  Ägypten; 
G.Lumbroso:  Letter e  al signor professore  Wilcken ;  U. W i  1  c k e n : 
Der  ägyptische  Konvent,  worin  vieles  aufgeklärt  und  mit  Glück 
eine  neue  Auffassung  des  wichtigen  Institutes  gegeben  wird; 
J.  L  e  s  q  u  i  e  r :  Sur  deux  dates  d*EvergHe  et  de  Philopator,  Wichtig 
ist  auch  U.  Wilckens  Bericht  über  Papyrusurkunden,  der  viel 
Neues  bringt. 

In  den  Neuen  Jahrbüchern  für  das  klassische  Altertum  1908, 
4/5  finden  sich  wichtige  Aufsätze  von  E.  Kornemann:  Stadt- 
staat und  Flächenstaat  des  Altertums,  und  von  E.  Bruhn: 
Q.  Ciceros  Handbüchlein  für  Wahlbewerber;  von  C.  Schuch- 
hardt:  Hof,  Burg  und  Stadt  bei  Germanen  und  Griechen. 

Aus  dem  Rheinischen  Museum  für  Philologie  63,  2  (1908) 
notieren  wir  C.  C  i  c  h  o  r  i  u  s :  Panaitios  und  die  attische  Stoiker- 
inschrift; W.  Vo  11g raff:  Das  Alter  der  neolithischen  Kultur  in 
Kreta  und  O.  Seeck:  Das  Leben  des  Dichters  Porphyrius. 

Die  Comptes-rendus  de  rAcadämie  des  Inscriptions  et  Beiles- 
lettres  1908,  Januar-Februar  bringen  folgende  Aufsätze  G.  de  J  e  r- 
phanion:  Les  ^glises  souterraines  de  Gueurime  et  SoghanU 
(Cappadoce),  ein  Bericht  der  auf  eigenen  Reisen  und  Beobach- 
tungen beruht  und  unser  Wissen  bereichert,  wie  dies  auch  die 
von  demselben  Verfasser  entdeckten  und  besprochenen  Two  new 
Hittite  monuments  in  the  Cappadocian  Taurus  tun  {Proceeding  of 


Alte  Geschichte.  429 

the  Society  of  biblical  archeology  30,  2) ;  D  e  1  a  1 1  r  e :  Z.a  Basilica 
Maiorum  (puits  rempHs  de  squelettes);  A.  Blanchet:  Le  mon- 
nayage  de  l^empire  Romain  aprks  la  mort  de  Thiodore  /«•;  F.  de 
M  ^  1  y :  Le  Christ  ä  tSte  d'äne  du  Palatin. 

In  The  classical  Journal  3,  4  erörtert  G.  Terrell:  The  ex- 
cavations  in  Crete  and  what  they  mean  for  the  Student. 

Aus  dem  Bullettino  della  Commissione  archeologica  comu" 
nate  di  Roma  35,  4  (1907)  notieren  wir  G.  Pansa:  /  ludi  venu- 
torii  dei  Peligni  rappresentati  in  alcuni  bassiriiievi  di  Sulmona; 
O.  Marucchi:  //  tempio  della  Fortuna  Prenestina  secondo  ii 
risultato  di  nuove  indagini  e  di  recentissime  scoperte;  G.  Gatti: 
Notizie  di  recenti  trovamenti  di  antichitä  in  Roma  e  nel  suburbio ; 
L.  Cantarelli:  Scoperte  archeologiche  in  Italia  e  nelle  antiche 
provincie  Romane, 

Aus  den  Rendiconti  del  R.  Istituto  Lombardo  di  seiende  e 
lettere  40  (1907),  19  notieren  wir  De  Marchi:  Nuove  iscrizioni  e 
resti  romani  trovati  recentemente  in  Afilano. 

In  den  Rendiconti  della  r.  Accademia  dei  Lincei,  Glosse  di 
scienze  morali,  storiche  e  filologiche  1907,  9/12  findet  sich  zu- 
nächst die  Fortsetzung  des  schon  angezeigten  j^bios"  di  Co^ 
stantinOy  herausgegeben  von  M.  Guidi;  dann  Aufsätze  von 
G.  Corradi:  Le  potestä  tribunizie  dell* imperatore  Traiano  Decio; 
von  A.  della  Seta:  Appunti  di  topografia  Omerica;  L.  P igo- 
rin i:  Scavi  del  Palatino, 

Aus  The  numismatic  Chronicle  1907,  4  notieren  wir  F.  A. 
Walters:  A  find  of  early  roman  bronze  coins  in  England;  P.  H. 
W  e  b  b :  The  coinage  of  Carausius,  und  F.  W.  H  a  s  1  u  c  k :  Coin 
collecting  in  Mysia. 

Aus  der  Revue  numismatique  1908,  1  notieren  wir  J.  de 
Foville:  Ricentes  acguisitions  du  Cabinet  des  mädailles,  Mon- 
naies  grecques  d'ltalie  et  de  Sicile,  und  Froehner:  Un  nouveau 
ligat  de  Sicile. 

Roman  Economic  conditions  to  the  dose  of  the  Republic,  by 
Edmund  Henry  Oliver,  University  of  Toronto  Library.  1907. 
XV  u.  200  S.  —  Verfasser  will  einen  Abriß  der  wirtschaftlichen 
Entwicklung  des  römischen  Staates  bis  zum  Beginn  der  Kaiser- 
zeit geben.  Dazu  reichen  nun  freilich  seine  historischen  Kennt- 
nisse in  keiner  Weise  aus.  Eine  kritische  Verarbeitung  des  Ma- 
terials sucht  man  vergebens,  dafür  verliert  sich  die  Darstellung 
in  unwesentlichen  Einzelheiten.  Weite  Gebiete:  Bevölkerung, 
Preisgeschichte,  Finanzen  usw.  werden  kaum  gestreift.  Etwas 
Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  28 


430  Notizen  und  Nachrichten. 

eingehender  wird  die  Landwirtschaft  behandelt;  aber  auch  hier 
erhalten  wir  nichts  anderes  als  Auszüge  aus  den  Scriptores  rerum 
rusticarum.  Beloch. 

Geschichte  der  kleinasiatischen  Galater.  Von  Felix  Stä- 
helin.  Leipzig,  Teubner.  1907.  122  S.  4,80  M.  —  Der  Verfasser 
hat  in  dieser  Schrift  seine  gleichbetitelte  Baseler  Doktordisser- 
tation von  1897  in  erweiterter  und  vielfach  verbesserter  Gestalt 
neu  herausgegeben.  Während  die  Dissertation  nur  bis  zur  Er- 
richtung der  römischen  Provinz  Asien  ging,  ist  jetzt  die  Geschichte 
bis  in  die  Zeit  herabgeführt,  wo  Galatien  in  die  römische  Ver- 
waltung überging,  also  bis  in  den  Anfang  der  Kaiserzeit.  In 
einem  Anhange  ist  ein  alphabetisches  Verzeichnis  der  erwähnten 
galatischen  Personennamen  beigegeben.  Ein  vollständiges  Register 
fehlt  leider.  Niese, 

Manuel  pour  servir  ä  r^tude  de  l'Antiquitä  Celtique,  par 
Georges  Dottin.  Paris  1906.  407  S.  —  Der  Verfasser  stellt  alles 
dasjenige  zusammen,  was  wir  über  die  Sprache,  Sitten,  Religion 
und  äußere  Ausdehnung  der  Kelten  im  Altertum  wissen  oder 
wissen  können.  Er  bringt  zugleich  die  wichtigste  neuere  Lite- 
ratur mit  ihren  zahlreichen  Hypothesen,  denen  er  mit  besonnener 
Kritik  gegenübersteht.  Das  Buch  ist  wohlgeeignet,  in  die  Wissen- 
schaft der  Keltologie  einzuführen.  Zwei  Indices  erleichtern  die 
Benutzung.  B,  Niese, 

A.  Harnack:  Die  angebliche  Synode  von  Antiochia  im 
Jahre  324/25  wendet  sich  gegen  Ed.  Schwartz  (Zur  Geschichte 
des  Athanasius),  der  auf  Grund  eines  bisher  unveröffentlichten 
Synodalschreibens  eine  Synode  in  Antiochia  im  Dezember  324 
ansetzte,  um  diesen  Ansatz  erfolgreich  zu  entkräften  (Sitzungs- 
berichte der  Kgl.  Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften  1908, 
24/26). 

In  der  Neuen  kirchlichen  Zeitschrift  19,3  setzt  Th.  v.  Zahn 
seine  schon  mehrfach  angezeigten  Untersuchungen  Zur  Heimat- 
kunde des  Evangelisten  Johannes.  IV.  Sychar  4,  4—42  fort,  weiter 
bespricht  j.  Köberle  die  neuerdings  gefundenen  Papyri  von 
Assuan  und  das  Alte  Testament. 

Aus  der  Zeitschrift  für  neutestamentliche  Wissenschaft  und 
die'  Kunde  des  Urchristentums  8,  4  (1907)  notieren  wir  M.  W. 
Müller:  Die  apokalyptischen  Reiter;  H.  Vollmer:  Nochmals 
das  Sacaeenopfer,  und  P.  G I  a  u  e :  Zur  Echtheit  von  Cyprians 
3.  Buch  der  Testimonia. 

Neue  Bücher:  Cook,  Critical  notes  on  Old  Testament 
history :  the  traditions  of  Saut  and  David,  (London,  Macmillan. 


Frühes  Mittelalter.  431 

2,6  sh,)  —  Eduard  Meyer,  Ägypten  zur  Zeit  der  Pyramiden- 
erbauer. (Leipzig,  Hinrichs.  1,50  M.)  —  Naville,  La  religion 
des  anciens  l^gypHens,  (Paris,  Leroux,)  -  Toffteen,  Ancient 
chronology.  (London,  Luzac,  10,6  sh.)  —  Guerber,  The  myths 
of  Greece  and  Rome,  their  stories,  signification,  and  origin. 
(London,  Harrap.  7,6  sh,)  —  Do  bös,  Philosophy  and  populär 
morals  in  ancient  Greece,  (London,  Simpkin.  5  sh.)  —  B  o  e  s  c  h , 
SBüiQOi.  Untersuchung  zur  Epangelie  griechischer  Feste.  (Berlin, 
Mayer  &  Müller.  3,60  M.)  —  Drerup,  [U^iaBov]  neoi  noktTfiai, 
Ein  politisches  Pamphlet  aus  Athen  404  v.  Chr.  (Paderborn, 
Schöningh.  3,20  M.)  —  Schjett,  König  Alexander  und  die  Mace- 
donier.  (Christiania,  Dybwad.  1  M.)  —  Dubois,  Pouzzoles  an- 
tique  (histoire  et  topographie),  ( Paris ^  Fontemoing,)  —  Funk, 
Die  Juden  in  Babylonien,  200—500  2.  (Schluß-)  Tl.  (Berlin,  Pop- 
pelauer. 4  M.)  —  Federici,  Esempt  di  corsiva  antica  dal  se- 
colo  I  deir^ra  moderna  al  IV,    (Roma,  Anderson.) 


Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

K.  Gutmann  verzeichnet  in  der  Westdeutschen  Zeitschrift 
26,  4  die  Ergebnisse  von  Ausgrabungen  im  Kastell  Larga,  d.  h. 
bei  dem  Dorfe  Friesen  im  Kreis  Altkirch,  die  Reste  einer  römischen 
Villa  aus  der  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  n.  Chr.  zutage  förderten. 
Ebendort  veröffentlicht  E.  Krüger  den  zusammenfassenden  Be- 
richt über  die  Neuerwerbungen  der  Museen  und  Sammlungen  in 
Westdeutschland  und  in  der  Schweiz  während  des  Jahres  1906  auf 
1907.  Elf  Tafeln  mit  Abbildungen  sind  der  wie  stets  willkommenen 
Museographie  beigegeben.  Gleichzeitig  damit  ist  im  Korre- 
spondenzblatt des  Gesamtvereins  1908,  4  aus  der  Feder  von 
K.  Schumacher  und  L.  Lindenschmit  der  Jahresbericht 
des  Römisch-Germanischen  Zentralmuseums  zu  Mainz  für  das 
Rechnungsjahr  1907  auf  1908  erschienen. 

Zwei  neue  Schriften  von  E.  Seyler  sollen  hier  erwähnt 
werden,  um  den  Verfasser  darüber  nicht  im  Zweifel  zu  lassen, 
daß  sie  besser  ungeschrieben  geblieben  wären.  Die  erste  ver- 
breitet sich  über  „Der  Römerforschung  Irrtümer  in  der  Alisofrage*' 
(Nürnberg,  Selbstverlag  1907.  18  S.);  ihr  Zweck  ist  ebensowenig 
klar  zu  erkennen  wie  ihre  Ergebnisse.  Die  zweite  behandelt  „Die 
Osterstufe  und  die  Barigilden''  (ebd.  1907.  17  S.).  Es  genügen 
folgende  Sätze:  „Parochus  (es  handelt  sich  um  die  Interpretation 
der  Urkunde  Friedrichs  I.  für  das  Bistum  Würzburg  aus  dem 
Jahre  1168)   bedeutet  den   die  Staatspersonen  auf  den  Mansionen 

28* 


432  NoCizea 

bewirtenden  Beamten,  in  der  griecldschen  Sprache  also  nrsprnng- 
lieh  denjenigen,  der  mit  ani  dem  Wagen  fitzt  oder  einem  Reisenden, 
besonders  einem  Soldaten,  die  nötige  Vahnmg  gibt  Bargilden 
halte  ich  entstanden  aus  parangeltikos.  der  Befehlende,  wonach 
also  diese  Kamen  auf  jene  Verrichtongen  hinweisen,  welche  kein 
Graf  oder  öffentlicher  Richter  den  im  Bistnm  Wörzburg  An- 
sässigen auferlegen  durfte,  namfich  das  fmäa  exigemdmm^  man- 
Mienen  vel  paralas  fadeadmm.  Den  Bargilden  kam  es  zu,  bdun 
Straßenverkehr  die  nötigen  Anordnungen  zu  treffen  und  deren 
Ausführung  zu  überwachen,  die  den  Sachsen  und  Slaven  über- 
tragen war.  So  sehen  wir  also  noch  tief  im  Mittelalter  jene  Staats- 
einrichtungen erhalten,  welche  die  Franken  too  den  Römern  im 
f'ostkurs  übernommen  haben*  (S.  14  \x  Nach  neueren  Ari>eiten 
sind  die  fränkischen  Duces  Landvermessungsbeamte  gewesen; 
da  darf  man  sich  nicht  wundem,  daß  die  zu  Königszins  ver- 
pflichteten Grundbesitzer  zu  Straßenwärtem  befördert  werden! 
Ne  nutor  nupra  crepldam. 

In  der  Revue  des  questions  hisioriques  42  n.  166  handelt 
P.  Allard  aufs  neue  (vgL  101,  193)  über  Sidonius  Apollinaris, 
anknüpfend  an  dessen  Panegyriken  auf  die  römischen  Kaiser 
Avitus  (456)  und  Maiorianus  (458). 

In  eindringender  Untersuchung  setzt  «ch  eine  Studie  von 
j.  Friedrich  in  den  Sitzungsberichten  der  philosophisch-philo- 
logischen und  der  historischen  Klasse  der  K.  B.  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  München  1907,  a,  S.  379  ff.  mit  den  Ansichten 
von  Mommsen,  Simson  und  Wattenbach  über  die  Heimat,  Lebens- 
geschichte und  Werke  des  Geschichtschreibers  der  Ostgothen, 
jordanes,  auseinander.  Ihre  Ergebnisse,  vielfältig  von  denen  der 
aufgezählten  Forscher  abweichend,  erscheinen  sorgfältiger  Be- 
achtung wert 

Aus  dem  Katholik  88,  5  notieren  wir  die  Inhaltsangabe  des 
bedeutsamen  Werkes  von  H.  Quentin  (Les  martyrologes  historiques 
du  moyenäge.  Paris  1908)  durch  R.  Helmling  (vgl.  auch  die 
anerkennende  Anzeige  von  B.  Krusch  im  Neuen  Archiv  33, 
S.  553  ff.),  aus  demselben  Jahrgang  Heft  3  und  4  die  gegen 
Kirsch  (vgL  97,  429)  gerichteten  Bemerkungen  von  H.  Lemmers 
über  die  ältesten  Zeugnisse  für  den  sog.  Portiunculaablaß. 

Mehrere  zerstreute  Arbeiten  seien  in  einer  einzigen  Notiz 
zusammengefaßt  L.  Gougaud  handelt  über  die  Tätigkeit  der 
iroschottischen  Mönche  auf  dem  europäischen  Festlande  (Revue 
d'histoire  ecMsiastique  1908,  April);  M.  jusselin  veröffentlicht 
ein  unbekanntes  Diplom  Karis  des  Kahlen  vom  a  November  846 


Frühes  Mittelalter.  433 

{Le  Moyen  dge  1908,  1),  während  R.  Latouche  sich  mit  der 
Fortsetzung  der  Actus  pontificum  Cenomannis  in  urbe  degentium 
857-1255  befaßt  (ebd.  1907,5).  J.P.Kirch  beschließt  im  Histo- 
rischen  Jahrbuch  29,  2  seine  mit  übertriebener  Breite  angelegte 
Studie  über  den  hl.  Bernhard  von  Clairvaux  in  Lothringen  (vgl. 
101,  197).  J.  P.  Kirsch  verbreitet  sich  über  den  päpstlichen 
Steuerdruck  in  den  Diözesen  Genf,  Lausanne  und  Sitten  während 
des  13.  und  14.  Jahrhunderts  (Zeitschrift  für  schweizerische  Kirchen- 
geschichte 2,  1,  1908). 

M.  Kemmerich  verzeichnet  im  Neuen  Archiv  33,  2, 
S.  463  ff.  die  Porträts  deutscher  Kaiser  und  Könige  bis  einschließ- 
lich Rudolf  von  Habsburg,  ihre  Fundstätten  und  Reproduktionen; 
seine  Zusammenstellung  will  eine  Vorarbeit  sein  für  die  von  dem 
neubegründeten  deutschen  Verein  für  Kunstwissenschaft  geplante 
Kaiserikonographie.  Zu  den  verzeichneten  Bildnissen  Karls  des 
Großen  sei  nachgetragen  das  auf  einem  Wandgemälde  im  Lateran 
bei  A.  de  Waal,  Roma  sacra  (München  o.  J.),  S.  165,  zu  denen 
Ottos  111.  die  Abbildung  des  von  Kemmerich  S.  487  erwähnten 
Marmorreliefs  in  San  Bartolomeo  zu  Rom  bei  de  Waal  a.  a.  O. 
S.  330;  zur  Sandsteinplatte  in  Hagenau  mit  dem  Bildnis  Fried- 
richs I.  (K.  S.  502)  vgl.  jetzt  die  Auseinandersetzungen  von  Bach 
und  Lempfrid  im  Jahrbuch  für  Geschichte,  Sprache  und  Lite- 
ratur« Elsaß-Lothringens  23  (1907),  S.  241  ff.,  246  ff.  Seither  hat 
derselbe  Autor  im  Repertorium  für  Kunstwissenschaft  31, 2,  S.  120  ff. 
Nachträge  und  Berichtigungen  zu  seinem  früheren  Verzeichnis 
der  malerischen  Porträts  aus  dem  8.  bis  13.  Jahrhundert  veröffent- 
licht (vgl.  99,  666). 

A.  Luschin  von  Ebengreuth  handelt  im  ersten  seiner 
Beiträge  zur  Münzgeschichte  im  Frankenreich  über  einen  bedeut- 
samen Münzfund  beim  graubündischen  Harz,  dessen  Bestandteile 
—  Stücke  aus  dem  8.  und  beginnenden  9.  Jahrhundert  —  ihm  zu 
wertvollen  Berechnungen  und  Schlußfolgerungen  Anlaß  geben 
(Neues  Archiv  33,  2). 

Hervorhebung  verdienen  die  scharfsinnigen  Bemerkungen 
von  W.  L  e  V  i  s  o  n  über  Bischof  Theutbert  von  Wijk  bij  Ouurstede 
(im  ersten  Drittel  des  8.  Jahrhunderts)  und  über  die  Zeit  und  die 
Gründe  von  Wynfreths  ümnennung  in  Bonifatius,  dessen  neuer 
Name,  anknüpfend  an  den  eines  römischen  Heiligen,  ihm  durch 
Papst  Gregor  II.  verliehen  wurde  (Neues  Archiv  33,  2). 

In  den  Studien  und  Mitteilungen  aus  dem  Benediktiner-  und 
Cisterzienserorden  28  handelt  B.  Albers  über  die  Aachener 
Reformsynode  von  817  und  das  von  ihr  erlsLSStnt  Capituiare  man- 


434 

aUicmm.  toci  dessen  zwei  RedaktiaiKa  cfie  kiifxcfc  als  die  ur- 
ftpröngficbe  dargetan  vird.  Abs  dem  Centralblatt  fnr  BibDotheks- 
vesen  fö.  4  mag  in  alier  Kerze  die  Stncfie  too  P.  Lehmann 
über  Erzbiftchol  HOdeboU  «t  Si9»  and  die  Dombibliotiiek  von 
Köln  erwähnt  sein. 

Im  BmlUtiHo  d^ll'Uiitmto  siarico  fiaiiamol»  «Rom  1906)  teilt 
C.  C  i  p  o  1 1  a  aus  einer  Handschrift  des  13L  Jahrhundert  AmnaUs 
Veromenset  aMti4fmi  bis  zum  Jahre  1251  mit,  P.  Egidi  Urkunden 
aus  dem  CathedralarchiT  Ton  \ltcrbo  too  rund  1060  bis  zum  Aus- 
gang des  lA.  Jahrhunderts,  eine  Ergänzung  seiner  von  K.  Hampe 
in  dieser  Zeitschrih  100.  198  L  angezeigten  Veröffentlichung. 
Am  wichtigsten  aber  ist  der  3.  Teil  der  Diplomatik  itafienischer 
Königsurkunden  von  L.  SchiaparellL  Ihr  Gegenstand  »nd  die 
Urkunden  Ludwigs  HL  (t  92Sk  von  dem  21  echte  und  6  gefälschte 
Urkunden  aus  den  Jahren  900  bis  905  untersucht  werden.  Die 
italienische  Kanzlei  dieses  Herrschers,  die  Formeln  und  der  Text 
seiner  Urkunden  fähren  zu  kritischen  Bemerkungen  aber  die  Ge- 
schichte seines  italienischen  Königtums,  um  mit  einer  I^rüfung 
der  unter  Ludwigs  Namen  gehenden  Fälschungen  zu  schließen, 
alles  in  der  gefälligen  und  sorgfältigen  Art  die  man  an  den 
Arbeiten  des  Gelehrten  gewohnt  ist 

.Personal-  und  Amtsdaten  der  Trierer  Erzbischöfe  des  10. 
bis  15.  Jahrhunderts*  und  der  Magdeburger  Erzbischöfe  von  968 
bis  1513  (nicht  1503,  nie  auf  dem  Titel  steht)  stellen  zwei  Greifs- 
walder  Dissertationen  ( 1906)  von  K.  Löhnert  und  J.  Schäfers, 
die  A.  Werminghoff  veranlaßt  hat  in  nützlicher  Weise  zusammen. 
Hinsichtlich  der  Beziehungen  jener  Erzbischöfe  zur  Reichskanzlei 
hätten  beide  Verfasser  mancherlei  Ergänzungen  den  Ergebnissen 
der  neueren  Urkundenforschung  entnehmen  können.  So  war,  um 
zu  Schäfers  einen  solchen  Nachtrag  zu  liefern,  der  nachmalige 
Erzbischof  Adalbert  von  Magdeburg  seit  953  jahrelang  Notar 
Ottos  des  Großen:  auch  hätte  erwähnt  werden  können,  daß  die 
Fortsetzung  der  Chronik  des  Regino,  wohl  die  wichtigste  Quelle  für 
Adalberts  Biographie,  von  ihm  selber  herrührt  In  Löhnerts 
Arbeit  hätte  sich  bei  Erwähnung  der  Kanzleitätigkeit  Egberts  ein 
Hinweis  auf  Sickels  Forschungen  empfohlen ;  Erzbischof  Meingaud 
ist  nach  einer  Vermutung  Breßlaus  vielleicht  mit  einem  Mainzer 
Kleriker  identisch,  der  unter  Otto  III.  und  Heinrich  II.  gelegentlich 
in  der  Kanzlei  tätig  war  (Hildibald  H.  der  Oiplomata-Ausgabe). 
Besonders  ist  den  beiden  Schriften  ihre  durch  strenge  Beschrän- 
kung auf  den  engsten  Kreis  der  Persönlichkeiten  und  ihre  kirch- 
liche  Laufbahn    erzielte    Knappheit   nachzurühmen.     Solche   be- 


Frühes  Mittelalter.  435 

quemen  Orientierungsmittel   sollten  der  kirchlichen  Verfassungs- 
geschichte  aus   möglichst   vielen   Diözesen   dargeboten   werden. 

E.  St. 
Der  Catalogue  des  Actes  d'Henri  hr^  roi  de  France  (\OS\—\ObO) 
(Paris  1907)  von  Fr^d^ric  Soehn^e  bietet  125  Nummern  und 
4  Fälschungen.  Auf  eine  Inhaltsangabe  der  Urkunde  folgen  Nach- 
weise über  die  Urschrift,  die  Abschriften,  die  Drucke  usw.  Ein 
alphabetisches  Namenverzeichnis  macht  den  Beschluß.  Diploma- 
tische Einleitung  und  Bibliographie  fehlen,  was  sich  daraus  er- 
klären mag,  daß  der  Verfasser  verhindert  war,  selbst  die  letzte 
Hand  an  sein  Werk  zu  legen.  Für  die  allgemeine  Geschichte 
bieten  die  Urkunden  kaum  etwas,  für  andere  Zwecke  würden  sie 
erst  durch  ein  Sachverzeichnis  benutzbar  werden.  A,  C. 

j.  V.  Pflugk-Harttungs  Aufsatzreihe  über  „Die  Papst- 
wahlen und  das  Kaisertum''  (vgl.  99,  440,  668;  100,  195)  ist  nun 
unter  gleichem  Titel  als  besonderes  Buch  veröffentlicht  worden 
(Gotha,  Perthes  1908),  ebenso  die  Studien  von  A.  Hüfner  (vgl. 
99,  440.  666;  100,  432)  über  „Das  Rechtsinstitut  der  klösterlichen 
Exemtion  in  der  abendländischen  Kirche  in  seiner  Entwicklung 
bei  den  männlichen  Orden  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters'^ 
(Mainz,  Kirchheim  1908.  XIII,  124  S.). 

Gleichzeitig  mit  den  kritischen  Bemerkungen  von  H.  Breßlau 
zu  einem  Führer  durch  Kanossa  (N.  Campanini,  Kanossa.  Guida 
storica  illustrata,  Reggio  1894)  im  Neuen  Archiv  33,  2  ist  der  2. Teil 
von  „Studien  zur  Vorgeschichte  der  Tage  von  Kanossa^,  ver- 
faßt von  R.  Friedrich,  als  wissenschaftliche  Beilage  zum  4.  Jahres- 
bericht der  Realschule  in  Eppendorf  zu  Hamburg  erschienen 
(Hamburg,  Lütcke  &  Wulff  1908.  66  S.).  Ihren  Gegenstand 
bilden  die  Wirkungen  der  Wormser  Synode  vom  Januar  1076  in 
der  Beleuchtung  der  Urkunden;  es  will  scheinen,  als  hätten  die 
breiten  Darlegungen  durch  schärfere  Heraushebung  der  entschei- 
denden Gegensätze  an  Oberzeugungskraft  gewonnen. 

Als  erstes  Heft  einer  neuen,  von  der  Görres-Gesellschaft  ins 
Leben  gerufenen  Reihe  von  Veröffentlichungen  aus  dem  Gebiete 
der  Rechts-  und  Sozialwissenschaften  ist  das  aus  der  Feder  von 
J.  B.  Sägmüller  über  „Die  Bischofs  wähl  bei  Gratian^  (Köln, 
Bachem  1908.  23  S.)  erschienen.  Die  ansprechende  Studie, 
dankenswert  durch  ihre  fast  völlige  Zusammentragung  der  neueren 
Literatur  über  das  Wormser  Konkordat  und  die  Bischofswahlen 
im  11.  und  12.  Jahrhundert,  enthält  weniger  neue  Resultate,  als 
man  zunächst  annehmen  möchte;  lehrreich  ist  sie  immerhin  als 
Spezimen  kirchenrechtlicher  Übungen,  aus  denen  sie  hervorging 


43ift 

ufid  für  ifie  «e  besömnit  isL  vie  sc  aber  är 
Theologen  und  z.  B.  aacfa  fnr  i£e  Jnristess  giwiifh  feUcB.  S.  19 
4v^  mit  S.  17»  ialh  anl  da£  der  ober  Gregor  VIL  Lumigchciide 
Standpunkt  Gratians  —  er  «cUo6  die  Laien  ans.  «aincad  der 
Pap»!  noch  an  eine,  venn  aad  nnnder  rnrwhridcadc  Teftnahme 
der  Laien  gedachx  hatte  —  mcixt  scharfer  nsd  nacfadrnckürhrr 
hervorgehoben  Ut. 

Zur  Geschichte  Friedrichs  L  ist  zu  Terveiseo  einmal  anf  das 
3.  Verzeichnis  too  Urkunden  dieses  Herrsciicrs.  cfie  H.  Simons! eld 
in  Italienischen  Archiven  und  Bibfiodbeken  dmchaibeiten  und 
denen  er  eine  Urkunde  des  Bischofs  Ebeihaid  too  Bamberg  als 
kaiserlichen  Hoirichters  ans  dem  Jahre  1162  beigeben  konnte 
(Sitzungsberichte  der  philos.-phüoL  und  der  hist.  Klasse  der 
K,  B.  Akademie  der  Wissenschaften  zu  München  1907.  3|l  sodann 
auf  den  Teildruck  einer  Berliner  IMssenatios  von  W.  Hoppe  ober 
Erzbischof  ^^Ichmann  von  Magdeburg  «Magdeburg.  E.  Baenscfa  jun. 
t90ß.  33  S.K  Er  enthält  das  3l  Kapitel  der  ganzen  Arbeit,  cfie  in 
den  Geschichtsblattem  für  Sudt  und  Land  Magdeburg  erscheinen 
soll,  und  behandelt  Wichmanns  SteDung  znm  Schisma  nach  dem 
Tode  Hadrians  IV.  tf  1159|  bis  zum  Jahre  1166:  man  wird  dem 
unverkürzten  Abdruck  der  Erstlingsschnn  nicht  ohne  Ervartung 
entgegensehen  dürfen. 

F.  Güterbock  untersucht  in  den  Quellen  und  Forschungen 
aus  italienischen  Archiven  und  BibBotheken  11.1  (fie  Lukmanier- 
Straße  und  die  Paßpolitik  der  SUufer,  sodann  Friedrichs  L  Marsch 
nach  Legnano  ivgL  9S,  670|.  Dem  1.  Teil  der  ergebnisreichen 
Studie  ist  der  Abdruck  einer  Zeugenaussage  über  Rechtsansprüche 
auf  die  Grafschaft  Blagni  in  einem  Rechtsstreit  der  Mailander 
Kirche  beigefügt,  soweit  ihre  schlechte  Cberfieferung  eüie  \Meder- 
gabe  des  Textes  gesuttete. 

Sicht  zugänglich  war  uns  ein  Aufsatz  von  E.  Berg  er  über 
Kaiser  Otto  IV^  der  sich  auf  die  Arbeiten  von  A.  Luchaire  zur 
Zeitgeschichte  jenes  Kaisers  und  des  Papstes  Innozenz  111.  stützen 
soll  (Journal  des  savants  1907,  Oktober).  Immerhin  mag  seine 
Anführung  Gelegenheit  geben  auf  zwei  neue  Artikel  aus  Luchaires 
unermüdlicher  Feder  über  Innozenz  IIL  und  das  dritte  Lateran- 
konzil vom  Jahre  1215  hinzuweisen.  Allzutiefes  Eindringen  in  die 
Materie  wird  man  nicht  bemerkeru  wohl  aber  ein  gewisses  Ge- 
schick der  Zusammenfassung  (Reriu  kistorique  97,  2  S.  225  ff. 
98,  1  S.  1  ff.;  vgl.  auch  diese  Zeitschrift  100.  oöoK 

A.  Schaubes  Aufsatz  in  der  Zeitschrift  für  das  gesamte 
Handels-  und  Konkursrecht  61,  3  4  gilt  den  Rechtsgeschäften  und 


Späteres  Mittelalter.  437 

der  Rechtsstellung  der  Lombarden  in  der  ersten  Zeit  ihres  Auf- 
tretens in  Frankreich.  Sie  behandelt  zunächst  den  Wechselverkehr 
jener  Kaufleute  nach  den  Messen  der  Champagne  am  Ende  des 
12.  Jahrhunderts  (vgl.  des  Verfassers  Handelsgeschichte  der  roma- 
nischen Völker  §  309) ,  dann  die  Kommendaverträge,  schließlich 
das  älteste  Lombardenprivileg  der  französischen  Krone,  die  sog. 
carta  civium  Astensium  von  König  Ludwig  VIII.  aus  dem  Jahre  1225. 

B.  Schmeidlers  eindringende  Studien  zu  Tholomeus  von 
Lucca,  die  soeben  im  Neuen  Archiv  33, 2  erschienen  sind,  befassen 
sich  zunächst  mit  den  Annalen  oder  Gesta  Tuscorum  des  ge- 
nannten Autors,  um  darauf  ihre  Beziehungen  zu  den  Gesta  Lu- 
canorum  und  den  Gesta  Florentinorum  aufzudecken.  Die  ruhig- 
sichere Art  der  Beweisführung  weckt  Vertrauen  in  ihre  Ergebnisse. 

Neue  BQcher:  Kiekebusch,  Der  Einfluß  der  römischen 
Kultur  auf  die  germanische  im  Spiegel  der  Hügelgräber  des 
Niederrheins.  (Stuttgart,  Strecker  &  Schröder.  3,60  M.)  —  Bau- 
et rill  art,  Saint  Säverifiy  apötre  du  Norique  (453-^  482),  (Paris, 
Gabalda  S  Cie.)  —  Langlois,  La  vie  en  France  au  moyen  dge. 
(Paris,  Hachette  S  Cie.  3,50  fr.)  —  Latouche,  Essai  de  critique 
sur  la  continuation  des  Actus  pontificum  Cenomannis  in  urbe  de- 
gentium  (857—1255).  (Paris,  Champion.)  —  Schubert,  Eine 
Lütticher  Schriftprovinz,  nachgewiesen  an  Urkunden  des  11.  und 
12.  Jahrhunderts.  (Marburg,  Elwert.  3  M.)  —  Macfcie,  Pope 
Adrian  IV.  (London,  BlacfcwelL  2,6  sh.)  —  Gerlich,  Das  Testa- 
ment Heinrichs  VI.  Versuch  einer  Widerlegung.  (Berlin,  Ehe- 
ring. 3,20  M.)  —  Gordon,  Innocent  the  Great.  An  essay  on  his 
life  and  times.  (London,  Longmans.  9 sh.)  —  Huyskens,  Quel- 
lenstudien zur  Geschichte  der  hl.  Elisabeth,  Landgräfin  von  Thü- 
ringen. (Marburg,  Elwert.  5  M.)  —  Davidsohn,  Geschichte 
von  Florenz  2.  Bd.:  Guelfen  .und  Ghibellinen.  2.  Tl.  (Schluß). 
(Berlin,  Mittler  &  Sohn.  13  M)  —  Sassen,  Hugo  von  St.  Cher. 
Seine  Tätigkeit  als  Kardinal  1244—1263.  (Bonn,  Hanstein.  2,50  M.) 
—  Krammer,  Der  Reichsgedanke  des  staufischen  Kaiserhauses. 
Ein  Beitrag  zur  Staats-  und  Geistesgeschichte  des  Mittelalters. 
(Breslau,  Marcus.    2,60  M.) 

Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

Die  schon  einmal  an  entlegener  Stelle  gedruckte,  aber  trotz 
ihrer  Bedeutung  für  die  Verfassungsgeschichte  nicht  genügend 
beachtete  Klageschrift,  die  Isabella  de  la  Marche  an  Alfons  von 
Poitou  gegen  den  Seneschall  Thibaud  de  Neuvi  gerichtet  hat  (um 
1257),  hat  nunmehr  in  besserem,  das  Original  zugrunde  legenden 


438  Notizen  und  Nachrichten. 

Text  A.  Thomas  mit  zahlreichen  Erläuterungen  in  der  Bibliothique 
de  l'äcole  des  chartes  1907,  September-Dezember  nochmals  ver- 
öffentlicht. 

Unter  Veröffentlichung  unbenutzter  Archivalien  handelt 
H.  Stein  im  Moyen  dge  1908,  Januar-Februar  über  Eustache  de 
Beaumarchais,  einen  der  hervorragendsten  Verwaltungsbeamten 
Ludwigs  des  Heiligen  und  seiner  beiden  Nachfolger,  und  die 
Frage  nach  seiner  Heimat,  die  er  im  nördlichsten  Teile  des  heutigen 
Departements  Seine-et-Marne  sucht. 

E.  Werunskys  Aufsatz:  Die  landrechtlichen  Reformen  König 
Ottokars  II.  in  Böhmen  und  Österreich  tritt  den  Nachweis  an,  daß 
von  einer  planmäßigen  Reform  des  österreichischen  Landrechts 
nach  dem  Vorbild  tschechoslavischer  Rechtsanschauungen,  wie 
M.  Stieber  angenommen  hatte,  nicht  die  Rede  sein  kann  (Mittei- 
lungen d.  Instituts  f.  österr.  Gesch.  29,  2). 

Ungedruckte  Materialien  zur  Geschichte  des  Bischofs  Bruno 
von  Schauenburg  hat  M.  Eisler  im  Anschluß  an  seine  mehrfach 
erwähnte  Arbeit  (vgl.  94,  537;  %,  538;  100,670)  in  der  Zeitschrift 
d.  Deutsch.  Vereines  f.  d.  Gesch.  Mährens  und  Schlesiens  12,  1 — 2 
mitgeteilt. 

A.  M.  Koeniger  bespricht  im  Katholik  88,4  einen  in  einem 
Sammelbande  der  Münchener  Staatsbibliothek  befindlichen 
deutschen  Beichtspiegel,  den  er  um  die  Wende  vom  13.  zum 
14.  Jahrhundert  ansetzt  und  aus  sprachlichen  Gründen  dem  Elsaß 
zuweist. 

Eine  die  Untersuchungen  Pflugk-Harttungs  in  wesentlichen 
Punkten  angreifende  Arbeit  von  W.  Füßlein  über  die  Anfänge 
des  Herrenmeistertums  in  der  Bailei  Brandenburg  bringt  in  weit 
ausholender  Darlegung  die  Ausbildung  des  Amtes  mit  der  im 
Juli  des  Jahres  1317  erfolgten  Einführung  einer  neuen  Provinzial- 
verfassung  in  Zusammenhang,  durch  die  der  Großprior  des 
Johanniterordens  deutscher  Zunge  ^  Paulus  de  Mutina,  auf  den 
nordöstlichen  Zweig  beschränkt  worden  ist  (Beilage  zum  Jahres- 
bericht der  Realschule  in  St.  Georg  zu  Hamburg,  Ostern  1908. 
Hamburg  und  Leipzig,  Verlag  von  Voß.   48  S.). 

In  der  Bibliothägue  de  Väcole  des  chartes  1907,  September- 
Dezember  entwirft  H.  Moranvill^  ein  etwas  breit  angelegtes 
Lebensbild  Karls  von  Artois,  des  Sohnes  des  Grafen  Robert,  der 
1337  als  Feind   des  Königs  und   des   Königreichs   erklärt  w^de. 

Unter  dem  Titel :  J^paves  d'archi  ^äl^^üficales  du  A"/!^'  ^^^ 
beginnt  U.  Berühre  in  der  Revue  24,  4  d 


Späteres  Mittelalter.  439 

eines  in  die  Bibliothek  von  Reims  verschlagenen  Handschriften- 
bandes auszubeuten,  der  u.  a.  zahlreiche  Originalsuppliken  aus  der 
zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  enthält. 

Aus  den  Studien  und  Mitteilungen  aus  dem  Benediktiner- 
und  dem  Cisterzienserorden  28  sind  wiederum  Arbeiten  von 
Fr.  Bliemetzrieder  zur  Geschichte  der  großen  Kirchenspaltung 
zu  erwähnen.  Heft  1  enthält  die  Veröffentlichung  einer  aus  dem 
letzten  Drittel  des  Oktober  1378  stammenden  Instruktion  der  avigno- 
nesischen  Kardinäle  für  ihren  Abgesandten  Aegidius  de  Bellemere, 
während  Heft  3/4  einen  der  Vertiefung  noch  fähigen  Vortrag  über 
die  geschichtliche  Bedeutung  Konrads  von  Gelnhausen  bringt,  der 
in  dem  Widerstreit  der  Meinungen  eine  vermittelnde  Haltung 
einnimmt.  Der  Ton,  in  dem  —  ebenfalls  in  dem  letztgenannten 
Doppelheft  —  eine  durch  den  überflüssigen  Wiederabdruck  der 
Ansprache  des  Ulrich  von  Albeck  (vgl.  97,  203  u.  99,  205)  veran- 
laßte  Auseinandersetzung  mit  G.  Sommerfeldt  gehalten  ist,  zeigt 
aufs  neue,  daß  Bliemetzrieder  über  die  Gebote  des  literarischen 
Anstands  seine  eigenen  Ansichten  hat.  H,  /C 

G.  Sommerfeldts  Mitteilungen :  Aus  der  Zeit  der  Begrün- 
dung der  Universität  Wien  (Mitteilungen  d.  Instituts  f.  österr.  Gesch. 
29,  2)  handeln  von  der  wissenschaftlichen  Tätigkeit  der  bekannten 
Magister  Heinrich  von  Oyta  und  Heinrich  von  Langenstein  und 
von  den  Beziehungen  des  letzteren  zu  der  Pariser  Universität, 
wie  sie  aus  Anlaß  der  kirchlichen  Lage  in  den  neunziger  Jahren 
des  14.  Jahrhunderts  bestanden  haben. 

Einen  kleinen  Beitrag  zur  Entwicklung  des  französischen 
Archivwesens  bildet  das  der  Nationalbibliothek  entstammende 
Memoire  touchani  la  Garde  des  Chartres  pour  les  Greffiers  de  la 
Chambre  des  Comptes  (1390),  das  von  A.  Vidier  im  Moyen  dge 
1908,  März-April  zum  Abdruck  gebracht  und  erläutert  wird. 

Ein  Aufsatz  von  H.Werner:  Landesherrliche  Kirchenpolitik 
bis  zur  Reformation  bemüht  sich,  die  Entwicklung  klarzulegen, 
die  dazu  geführt  hat,  daß  schon  im  ausgehenden  Mittelalter  in 
vielen  Territorien  trotz  der  natürlich  festgehaltenen  Verbindung 
mit  der  Universalkirche  die  Rechte  eines  landesherrlichen  Kirchen- 
regiments von  den  Fürsten  gehandhabt  wurden  (Deutsche  Ge- 
schichtsblätter 9,  6  und  7). 

In  den  Historisch-politischen  Blättern  141,  6  ist  der  Schluß 
des  anonym  erschienenen  Aufsatzes  über  Nikolaus  von  Cusa  und 
die  Reform  von  Staat  und  Kirche  zu  lesen  (vgl.  oben  S.  205) ;  in 
Nr.  11  desselben  Bandes  findet  sich  eine  Zusammenstellung  von 
N.  Paulus:   Mittelalterliche  Stimmen   über  den  Eheorden,  durch 


440  Notizen  und  Nachrichten. 

die  er  beweisen  will,  daß  man  schon  vor  Luther  die  Ehe  ge- 
würdigt hat. 

Die  Fortsetzung  der  mehrfach  erwähnten  Arbeit  von  Ch.  Petit- 
Dutaillis:  Documents  nouveaux  sur  l'histoire  sociale  des  Pays- 
Bas  au  XV^  sikcle  (vgl  100,  436;  101,  204)  handelt  von  dem  all- 
mählich einsetzenden  Einschreiten  der  öffentlichen  Gewalt,  durch 
das  die  Selbsthilfe  eingeschränkt  und  je  länger  je  mehr  zurück- 
gedrängt wird  {Annales  de  l'Est  et  du  Nord  1908,  April). 

Durch  den  Abdruck  zweier  Quittungen  des  Illuminators  Jean 
Moreau,  der  im  Jahre  1456  vom  Herzog  von  Orleans  für  die  Aus- 
malung zweier  Bücher,  darunter  einer  Petrarkahandschrift,  ent- 
lohnt wurde,  bringt  A.  V  i  d  i  e  r  für  die  von  den  Valois  gerade  in 
dieser  Richtung  ausgeübte  Kunstpflege  ein  neues  Zeugnis  bei 
(Le  Moyen  dge  1907,  November-Dezember). 

Über  die  letzten  Jahre  eines  vielbewegten  Lebens  berichtet 
A.Thomas  in  der  Revue  historique  1908,  Mai-Juni.  Es  handelt 
sich  um  Flucht  und  Tod  des  bekannten  Leiters  der  französischen 
Finanzverwaltung  unter  König  Karl  VII.,  Jacques  Coeur;  die  Unter- 
lage bilden  einige  neuentdeckte  Schriftstücke  des  Pariser  National- 
archivs. 

J.  H  a  n  s  e  n  kommt  in  einem  in  der  Westdeutschen  Zeitschrift 
26,  4  erschienenen  Aufsatz:  „Der  Hexenhammer,  seine  Bedeutung 
und  die  gefälschte  Kölner  Approbation  vom  Jahre  1487''  auf  die 
Angriffe  zurück,  die  N.  Paulus  in  den  Artikeln  über  die  Approba- 
tion (vgl.  100,  672)  und  ganz  neuerdings  über  die  Rolle  der  Frau 
in  der  Geschichte  des  Hexenwahns  (vgl.  oben  S.  202)  gegen  seine 
früheren  Untersuchungen  gerichtet  hat.  Hansens  sachliche  Dar- 
legungen lassen  die  Arbeitsweise  seines  vielschreibenden  Gegners 
in  wenig  günstigem  Licht  erscheinen:  hat  Paulus  es  nicht  für 
erforderlich  gehalten,  sich  die  entscheidende  Umwandlung  des 
Hexenbegriffs  im  15.  Jahrhundert  klar  zu  machen,  wie  ihn  Hansen 
in  mühsamer  Untersuchung  herausgearbeitet  hatte,  so  ist  auch 
der  Versuch,  den  die  Fälschung  der  Approbation  ergebenden 
Nachweis  zu  entkräften,  durchaus   als  gescheitert  zu  betrachten. 

Aus  dem  Archivio  stör.  Lombardo,  serie  quarta,  anno  35, 
fasc.  17  erwähnen  wir  die  ungedruckte  Materialion  des  aus- 
gehenden 15.  Jahrhunderts  mitteilende  Arbeit  von  A.  Luzio: 
Isabella  d'Este  e  Francesco  Gonzaga,  promessi  sposi  und  die  neuen 
Beiträge  zur  Geschichte  der  unglücklichen  Beatrice  di  Tenda, 
Gemahlin  des  Filippo  Maria  Visconti,  von  G.  Rossi. 

M.  Hoßfelds  inhaltreiche  Studie  über  den  vielgewanderten, 
mannigfach   in   das   geistige   und   kirchliche  Leben  eingreifenden 


Späteres  Mittelalter.  441 

Humanisten  Johann  Heynlin  aus  Stein  (vgl.  99,  447;  100,  437)  findet 
in  der  Basler  Zeitschrift  für  Geschichte  und  Altertumskunde  7,  2 
ihren  Abschluß.  Zu  schildern  blieb  noch  die  durch  eine  kurze 
Bemer  Episode  unterbrochene  Wirksamkeft  Heynlins  in  Baden- 
Baden  (1479—1484)  und  in  Basel,  wo  er  1496  gestorben  ist,  nach- 
dem er  neun  Jahre  vorher  der  Welt  entsagt  und  sich  zu  den 
dortigen  Karthäusern  zurückgezogen  hatte.  Besondere  Hervor- 
hebung verdienen  die  Mitteilungen  über  seine  schriftstellerische 
Tätigkeit,  die  in  diesem  letzten  Zeitraum  überwiegend  theolo- 
gischer Art  ist  und  in  der  Menge  der  hinterlassenen  Predigtmanu- 
skripte uns  sichtbar  entgegentritt.  Die  auffallende  Tatsache,  daß 
ein  so  einflußreicher  und  tätiger  Mann  so  wenig  Erfolg  und  Be- 
friedigung in  seiner  Arbeit  gefunden  hat,  wird  darauf  zurück- 
zuführen sein,  daß  Heynlin,  wie  so  mancher  Zeitgenosse,  bei 
klarer  Erkenntnis  der  herrschenden  Schäden  doch  nicht  willens 
war,  auch  nur  das  geringste  von  den  kirchlichen  Einrichtungen 
preiszugeben:  „ein  Reformator  ohne  Reformation." 

Als  Ergänzung  zu  dem  von  P.  P^licier  veröffentlichten  5.  Bande 
der  Lettres  de  Charles  VIII  gibt  B.  de  Mandrot  im  Annuaire-- 
bulletin  de  la  Sociätä  de  l'histoire  de  France  1907,  4  eine  stattliche 
Anzahl  von  Schriftstücken  aus  den  Jahren  1484  bis  1498  bekannt, 
die  fast  durchweg  an  das  Pariser  Parlament  gerichtet  sind  und 
aus  der  jetzt  in  der  Nationalbibliothek  aufbewahrten  Collection 
Lamoignon  stammen. 

Das  Erscheinen  einer  von  dem  frühverstorbenen  R.  Stauber 
hinterlassenen  Arbeit  über  die  Schedeische  Bibliothek  gibt 
H.  Grauert  Veranlassung  zu  längeren  Ausführungen  über  den 
von  der  Möglichkeit  eines  Seeweges  zum  Lande  Kathay  handelnden 
Brief  des  Nürnberger  Arztes  Hieronymus  Münzer  an  König 
Johann  IL  von  Portugal  (14.  Juli  1493)  und  seine  Stellung  in  der 
Geschichte  der  großen  Entdeckungsfahrten  (HisL  Jahrbuch  29,  2). 

Neue  Bücher:  PappadopouloSy  Theodore  IL  Lascaris, 
empereur  de  Nicäe.  (Paris,  Ricard  et  fils,)  —  Bruce,  The  age 
of  schism,  Being  an  outline  of  the  history  of  the  church  from 
A.  D.  1304  to  A.  D.  1503,  (London,  Rivingtons.  3,6  sh.)  —  Sa- 
mar  an,  La  Maison  d'Armagnac  au  XV^  siicle  et  les  dernikres 
lüttes  de  la  fäodalitä  dans  le  Midi  de  la  France.  (Paris,  Ricard 
et  fils,  15  fr,)  —  France,  Vie  de  Jeanne  d'Arc,  T,  2,  (Raris, 
Calmann-Lävy,  7,50  fr,)  —  Figgis,  Studies  of  political  thought 
from  Gerson  to  Grotius,  1414—1625,  (Cambridge,  University  Press. 
3,6  sh.)  —  Hare,  The  life  of  Louis  XI,  the  rebel  dauphin  and 
the  statesman  king,  from  his  original  letters  and  other  documents. 


442  Notizen  und  Nachrichten. 

(London,  Harper,  10,6  sh,)  —  Ady,  A  history  of  Milan  ander  the 
Sforza.  Ed.  hy  E,  Armstrong.  (London,  Methuen.  10,6  sh.)  — 
Brinton,  The  Renaissance :  its  art  and  life.  Florence  1450 — 1550. 
(London,  Goupil.    210*sh.) 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500 — 1648). 

Einen  kurzen,  mehr  für  Ausländer  zur  ersten  Information 
berechneten  Oberblick  über  die  deutsche  Literatur  im  16.  Jahr- 
hundert (auch  über  die  Geschichtschreibung)  gibt  Arthur  Chu- 
quet  in  der  Nouvelle  revue,  3.  Serie,  3, 1. 

Zwei  hübsche  Aufsätze  über  Reformation  und  Humanismus 
im  Urteil  der  deutschen  Aufklärung  veröffentlicht  Leopold  Zschar- 
nack  in  den  Protestantischen  Monatsheften  12,  3  u.  4.  Zugrunde 
liegt  dem  Urteil  der  Aufklärung  die  Oberzeugung  von  der  inneren 
Zusammengehörigkeit  ihrer  eigenen  Ideen  mit  den  zu  vollenden- 
den großen  Bewegungen  der  Reformation  und  des  Humanismus, 
die  deshalb  in  eins  geschaut  werden:  Luthers  Werk  als  Folge 
der  humanistischen  Aufklärung. 

Aus  der  ungedruckten  Mainzer  Chronik,  die  der  Kanonikus 
Hebelin  v.  Heimbach  im  Jahre  1500  verfaßte,  veröffentlicht  Fritz 
Herr  mann  in  den  Beiträgen  zur  Hessischen  Kirchengeschichte 
3,  3  einige  charakteristische  Stücke  über  die  Geldgier  der  Kurie 
und  über  die  Stifts-  und  Pfarrgeistiichkeit,  die  gleichfalls  viel  zu 
klagen  gab. 

August  Wolkenhauer  berichtet  in  den  Hansischen  Ge- 
schichtsblättern 1908,  1  über  ein  interessantes  oberdeutsches  Kauf- 
mannsitinerar  aus  dem  Anfang  des  16.  Jahrhunderts,  das  in  Rollen- 
form erhalten  ist  und  genaue  Angaben  über  zahlreiche  Routen 
im  Umkreis  von  Antwerpen  bis  Neapel  und  von  Paris  bis  Villach 
enthält. 

In  diesem  Jahre  ist  ein  Vierteljahrhundert  verilossen,  seit 
die  Lutherfeier  von  1883  eine  gesteigerte  wissenschaftliche  Arbeit 
über  den  Begründer  der  Reformation  eingeleitet  hat.  Aus  diesem 
Anlaß  gibt  G.  Kawerau  in  den  Theologischen  Studien  und 
Kritiken  1908,  Heft  3  und  4,  einen  Oberblick  über  das  seitdem 
von  der  Lutherforschung  Geleistete  und  Erreichte. 

Die  Bedeutung  Luthers  und  des  Luthertums  für  die  Ge- 
schichte der  Schule  und  Erziehung  führt  Friedrich  Michael 
Schiele  in  den  Preußischen  Jahrbüchern  vom  Juni  1908  auf  das 
richtige,  bei  dem  sog.  Luthertum  sehr  bescheidene  Maß   zurück; 


Reformation  und  Gegenreformation.  443 

stark  hervorgehoben  wird  das  Verdienst  Melanchthons  und  das 
Verhängnis,  das  sich  an  den  Sturz  des  Philippismus  in  Sachsen 
anschloß. 

Wir  verzeichnen  zwei  Untersuchungen  über  die  Flugschriften- 
literatur der  20er  Jahre  des  16.  Jahrhunderts:  Wilhelm  Lücke, 
Deutsche  Flugschriften  aus  den  ersten  Jahren  der  Reformation 
(bis  1525),  in  den  Deutschen  Geschichtsblättern  9,  8;  Karl 
Schottenloher,  Die  Druckschriften  der  Packschen  Händel, 
Zentralblatt  f.  Bibliothekswesen  25,  5  (mit  Nachträgen  25,  6). 

Nicht  sehr  glücklich  erscheint  eine  Abhandlung  von  Otto 
Giemen  über  die  Verbrennung  der  Bannbulle  durch  Luther 
(Theologische  Studien  und  Kritiken  1908,  3).  Der  Verfasser  will 
hier  wahrscheinlich  machen,  daß  der  Magister,  der  den  Scheiter- 
haufen errichtet  und  angezündet  hat,  Melanchthon  gewesen  sei  (?), 
und  versucht  die  Worte  Luthers  nach  der  kürzlich  (vgl.  H.  Z.  99, 
208  f.)  von  Perlbach  und  J.  Luther  veröffentlichten  Aufzeichnung 
Agricolas  aber  mit  Cmendation  des  conturbare  in  condemnare 
wiederherzustellen  (während  doch  gerade  das  Wort  conturbasti 
auch  anderweit  bezeugt  ist).  Zum  Schluß  folgt  ein  Neudruck  der 
seltenen  Schrift  „Epigrammata  in  iuris  canonici  incendium" , 

R.  H. 

Eine  sehr  sorgfältige  und  ausführliche  Untersuchung  über 
Thomas  Münzer  in  Zwickau  (1520 — 21)  und  die  Wirksamkeit  der 
Zwickauer  Propheten,  insonderheit  des  Nikolaus  Storch,  bis  1525, 
ihre  Versuche  in  Wittenberg  und  ihre  Verbindung  mit  Karlstadt, 
hat  Paul  Wappler  dem  Jahresbericht  des  Realgymnasiums  zu 
Zwickau  1908  beigegeben. 

Seit  dem  Erscheinen  der  Karlstadt-Biographie  von  Hermann 
Bärge  hat  sich  eine  lebhafte  Polemik  über  die  hier  vorgetragene 
neue  Wertung  Karlstadts  und  seines  Kreises  (des  „laienchristlichen 
Puritanismus**)  erhoben;  vgl.  die  Anzeige  Karl  Müllers  in  dieser 
Zeitschrift  %,  471  ff.  und  H.  Hermelinks  in  der  Histor.  Viertel- 
jahrschrift 10,  442  ff.  mit  den  Erwiderungen  Barges  H.  Z.  99, 256  ff. 
und  H.  V.  11,  120  ff.  (mit  Replik  Hermelinks)  sowie  die  eigene 
Schrift  Müllers  „Luther  und  Karlstadf*  (1907).  Im  ganzen  wird 
wohl  das  Urteil  des  Unparteiischen  dahin  gehen,  daß  das  Ver- 
dienst Barges  um  eine  unbefangene  Würdigung  Karlstadts  sehr 
erheblich  ist,  wie  wir  auch  sonst  an  einer  gerechten  Beurteilung 
der  Schwärmer  und  Wiedertäufer  in  den  letzten  Jahren  entschieden 
gewonnen  haben,  daß  aber  Bärge  im  einzelnen  nicht  selten  zu 
weit  geht  und  insonderheit  die  Abhängigkeit  Karlstadts  von  den 
Ideen  Luthers  unterschätzt.   Auch  dem  neuesten  Aufsatz  Barges 


444  Notizen  und  Nachrichten. 

gegen  Müller  (Die  älteste  evangelische  Armenordnung,  Histor. 
Vierteljahrschrift  11,  2,  S.  193  ff.)  glaube  ich  in  der  Hauptsache 
nicht  zustimmen  zu  dürfen,  sofern  die  interessante,  von  Bärge 
ans  Licht  gezogene  Wittenberger  Beutelordnung  nicht  ein  origi- 
nales Werk  Karlstadts  und  jünger  als  die  Stadtordnung  vom 
24.  Januar  1522  sein  kann,  da  sich  diese  Ansicht  mit  dem  S.  205  ff. 
vergeblich  umgedeuteten  Zeugnis  des  ülscenius  nicht  verträgt; 
auch  die  Worte  Beyers  (S.  209)  und  Karlstadts  (S.  211)  scheinen 
mir  eher  für  als  gegen  ein  Bestehen  der  Beutelordnung  vor  dem 
24.  Januar  1522  zu  sprechen,  und  entscheidend  fällt  das  große 
Interesse  Luthers  ins  Gewicht  (Hermelink  a.  a.  O.  11,  127),  das 
wohl  einer  eigenen  Schöpfung,  gewiß  aber  nicht  einer  solchen 
Karlstadts  zu  teil  werden  konnte.  R.  //. 

Es  ist  wenig  bekannt,  daß  Herzog  Georg  von  Sachsen  im 
Jahre  1524  in  der  Person  des  Magisters  Alexius  Chrosner  aus 
Colditz  einen  Hofprediger  anstellte,  der  starke  Neigungen  zum 
Luthertum  hatte  und  darob  mannigfache  Kämpfe  auszustehen 
hatte,  bis  er  1527  wieder  entlassen  wurde  und  sich  nach  Altenburg 
zurückzog,  wo  er  1535  starb.  Eine  sorgfältige  Biographie  dieses 
Mannes  veröffentlicht  soeben  Otto  Giemen  (Alexius  Ghrosner, 
Herzog  Georgs  von  Sachsen  evangelischer  Hofprediger.  Leipzig, 
M.  Heinsius  Nachf.  1908.  111  u.  70  S.).  Das  Gharakterbild  Ghrosners 
erleidet  manchen  Makel  durch  das  Lavieren  und  die  Halbheit, 
auf  die  er  angewiesen  war;  ja  selbst  vor  offenen  Fälschungen 
scheute  er  gelegentlich  nicht  zurück,  wie  die  von  Giemen  ge- 
druckte Originalhandschrift  einer  Predigt  über  die  christliche 
Kirche  bei  einem  Vergleiche  mit  der  Gestalt,  in  der  sie  Ghrosner 
selbst  später  veröffentlicht  hat,  beweist.  /?.  //. 

Einen  Beitrag  zur  Geschichte  des  Bauernkrieges  gibt  Paul 
Haustein,  der  im  Trierischen  Archiv  12  die  wirtschaftliche  Lage 
und  die  sozialen  Bewegungen  im  Kurfürstentum  Trier  während 
des  Jahres  1525  zu  behandeln  beginnt.  Die  Lage  der  Bauern  und 
der  Handwerker  war  recht  ungünstig,  die  bäuerliche  Bewegung 
führte  aber  nur  zu  einigen  lokalen  Unruhen,  die  leicht  gedämpft 
waren.  —  Im  Archiv  des  historischen  Vereins  von  Unterfranken  49 
veröffentlicht  O.  Merx  einige  Aktenstücke  zur  Geschichte  der 
religiösen  und  sozialen  Bewegung  in  den  Stiftern  Mainz,  Würz- 
burg und  Bamberg  1524—1526. 

Die  „Kritischen  Beiträge  zu  den  Anfängen  Ferdinands  I.*, 
welche  G.  Turba  in  der  Zeitschr.  für  die  österreichischen  Gym- 
nasien 59,  3  veröffentlicht,  richten  sich  namentlich  gegen  einige 
der  Aufstellungen  von  Bauer  (vgl.  H.  Z.  99,  674),  demgegenüber 


Reformation  und  Gegenreformation.  445 

Turba  in  den  Fragen  der  Landausstattung  und  der  Erbverträge 
die  in  seinem  Buche  über  das  habsburgische  Thronfolgerecht 
(vgl.  die  Anzeige  von  ühlirz  H.  Z.  99,  617  ff.)  niedergelegten  An- 
schauungen aufrecht  hält,  und  dem  auch  mangelhafte  Sorgfalt  bei 
der  Wiedergabe  und  Interpretation  von  Texten  vorgeworfen  wird. 
Gegen  Uhlirz  behauptet  Turba  (mit  Bauer)  von  neuem,  daß  der 
Brüsseler  Vertrag  vom  30.  Januar  1522  ein  Scheinakt  gewesen  sei. 

Die  Erzählungen,  die  uns  Melanchthon  dreimal,  namentlich 
1559  in  der  Oratio  de  congressu  Bononiensiy  von  der  Zusammen- 
kunft Karls  V.  mit  Clemens  VII.  1529—30  gibt,  sind  schon  von 
Ehses  als  objektiv  durchaus  unrichtig  gekennzeichnet  worden. 
Jetzt  geht  Adolf  Hasenclever  in  der  Zeitschrift  für  Kirchenge- 
schichte 29,  2  der  Frage  nach,  wie  Melanchthon  zu  dem  hohen 
Lob  des  Kaisers  komme,  und  weist  auf  die  Ähnlichkeit  der  Si- 
tuation im  Jahre  1530  und  1559  hin.  —  Ebenda  gibt  derselbe  noch 
einige  Nachträge  zu  einem  Aufsatz  über  das  Original  der  Con- 
fessio  Augustana  (vgl.  oben  S.  209). 

Ein  kurzes  Lebensbild  von  Wilhelm  Farel  versucht  R.  Mulot 
im  laufenden  Jahrgang  (1908)  der  Theologischen  Studien  und 
Kritiken  zu  entwerfen.  Die  im  3.  Heft  vorliegende  erste  Hälfte 
führt  die  Geschichte  bis  1532,  also  bis  unmittelbar  vor  das  Auf- 
treten des  Reformators  in  Genf. 

Zur  Geschichte  der  Universität  Caen  (Normandie)  hat  Henri 
Prentout,  der  sich  schon  in  seiner  lateinischen  These  von  1901 
(Renovatio  ac  reformatio  in  universitate  Cadomensi)  mit  ihr  be- 
schäftigt hat,  eine  Reihe  neuer  anziehender  Studien  veröffentlicht, 
die  in  Zeitschriften,  aber  auch  separat  erschienen  sind.  Im  Bulletin 
de  la  sociätä  des  antiquaires  de  Normandie  22  bespricht  er  die 
Reform,  der  die  Universität  1521  durch  das  Parlament  von  Ronen 
unterworfen  wurde,  und  die  den  Zweck  hatte,  nicht  nur  den  Stu- 
denten sondern  auch  den  Professoren,  die  ihr  Lehramt  vielfach 
in  erster  Linie  als  willkommene  Pfründe  betrachteten,  das  Gewissen 
zu  schärfen  (Une  rä forme  parlementaire  ä  l'universit^  de  Caen, 
Caen,  Henri  Delesques.  1903.  16  S.).  Umfangreicher  sind  zwei 
Arbeiten,  die  zuerst  in  den  Mtfmoires  de  Vacadämie  nationale  des 
sciences,  arts  et  belles-lettres  de  Caen  1905  und  1907  erschienen 
sind:  La  vie  de  r^tudiant  ä  Caen  au  XVh  siMe  (ebenda  1905, 
57  S.)  und  L'universitif  de  Caen  ä  la  fin  du  XVI*  sUcle,  la  contre- 
r^ forme  catholique  et  les  räformes  parlementaires  (ebenda  1908, 
88  S.).  Sie  entwerfen  ein  hübsches  Bild  von  dem  gesamten  Leben 
und  Treiben  auf  der  Universität,  die  zwar  durchaus  den  Charakter 
einer  Provinzialanstalt  trug,  aber  im  16.  Jahrhundert  einen  be- 
Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  &.  Bd.  29 


446  Notizen  und  Nachrichten. 

merkenswerten  Hochstand  erreichte.  Wir  hören  von  dem  Ein- 
dringen des  Kalvinismus,  dem  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  die 
Mehrzahl  der  Studierenden  angehörte,  dann  von  der  auch  hier 
schließlich  siegreichen  Gegenreformation,  die  seit  1564  erst  sachte, 
allmählich  immer  entschiedener  einsetzte,  die  vornehmlich  durch 
eine  neue  große  Reform  des  Parlaments  von  1586  gestützt  wurde 
und  am  Schluß  des  Jahrhunderts  ihr  Ziel,  zugleich  aber  auch 
einen  augenscheinlichen  Niedergang  der  Universität  erreicht  hatte. 
—  Derselbe  Verfasser  gab  kürzlich  auch  die  Satzungen  der  Zunft 
der  Apotheker  zu  Caen  von  1547  heraus  (Statuts  et  ordonnances 
des  apothicaires  de  Caen.  Paris,  Imprimerie  nationale.  1907.  16  S. 
aus  dem  Bulletin  historique  et  philologique  1906);  sie  zeichnen 
sich  ähnlichen  Werken  dieser  Art  gegenüber  durch  manche  recht 
verständnisvolle  Bestimmung  aus,  zeigen  aber  gleichfalls  bereits 
die  Tendenz  nach  Abschluß  der  Korporation.  R.  H, 

Die  Untersuchung  von  L.  deLaigue  über  den  seltsamen 
Abenteuerer  und  Diplomaten  ßtienne  de  Laigue  (vgl.  H.  Z.  100, 442) 
wird  in  der  Revue  d'hist,  diplomatique  22,  1  u.  2  zu  Ende  geführt. 
Laigue  ist  nach  Schluß  seiner  erfolglosen  Venetianer  Gesandt- 
schaft noch  bis  1537  in  der  Schweiz  und  in  Schottland  nachweis- 
bar, aber  vielleicht  erst  1560  gestorben.  Er  hat  u.  a.  auch  die 
Kommentare  Cäsars  übersetzt. 

Zur  französischen  Verwaltungsgeschichte  notieren  wir  zwei 
interessante  Mitteilungen  von  E.  Jarry  über  den  Orlöanais.  In 
den  M^moires  de  la  soc.  arch^oL  et  hist.  d'OrUanais  31  spricht  er 
über  die  Erhebung  der  Taille  in  der  Election  von  Orleans  1536 
und  veröffentlicht  eine  Liste  aller  Pfarreien  dieses  Bezirkes  und 
der  Summen,  die  sie  zu  zahlen  hatten.  Im  Bulletin  derselben 
Gesellschaft  14,  Nr.  186  stellt  er  eine  vollständige  Liste  der  Prdvöts 
von  Orleans  von  1392 — 1568  zusammen. 

Die  Fortsetzung  der  Biographie  Th.  Reysmanns  von  G.  Bos- 
se rt  (Zeitschr.  f.  d.  Gesch.  des  Oberrheins  N.  F.  23,  2;  vgl.  oben 
S.  206)  behandelt  Reysmanns  Tätigkeit  als  Pfarrer  von  Cleebronn 
(Württemberg,  Mitte  der  30  er  Jahre  bis  1541)  und  den  Ausgang 
seines  Lebens  im  Herzogtum  Zweibrücken.  Der  Humanist  und 
Dichter  kam  durch  seine  Trunksucht  stark  herunter  und  ist  Ende 
1543  oder  Anfang  1544  gestorben. 

In  einem  ersten  Aufsatz  über  Luther  und  die  Nebenehe  des 
Landgrafen  Philipp  (Zeitschr.  f.  Kirchengesch.  29,  2)  wendet  sich 
Th.  Brieger  gegen  die  Ansicht  Rockwells,  daß  der  von  diesem  ge- 
fundene Entwurf  des  Wittenberger  Ratschlags  von  1539  in  Kassel 
entstanden  sei,  und  untersucht  seine  älteste  Gestalt,  die  vielmehr 


Reformation  und  Gegenreformation.  447 

von  Melanchthon  herrühre;  eine  Übersicht  über  die  Textüber- 
lieferung des  Beichtrates  gibt  als  Anhang  Theodor  Nitzsche. 

Zwei  kleine  Beiträge  zur  Sleidanforschung  veröffentlicht 
Richard  Wolff  in  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Ober- 
rheins N.  F.  23,  2.  In  dem  ersten  verbessert  er  die  Angaben 
Böhmers  über  die  Reihenfolge  der  Drucke,  die  wir  von  Sleidans 
Rede  an  die  Stände  haben,  weist  eine  bisher  unbekannte,  vielleicht 
von  Calvin  verfertigte  (?)  französische  Obersetzung  derselben 
Rede  nach  und  zeigt,  daß  es  auch  noch  eine  ältere  italienische 
Obersetzung  als  die  uns  erhaltene  gegeben  hat  Der  zweite  be- 
seitigt den  alten  Irrtum,  daß  Sleidan  eine  besondere  Schrift  De 
capta  Buda  a  Solimanno  anno  1542  geschrieben  habe.  Aus  dem 
von  Wolff  eingesehenen  Am  Ende'schen  Nachlaß  dürfen  wir  noch 
weitere  Mitteilungen  über  Sleidan  erwarten. 

Eine  erwünschte  Ergänzung  zu  den  Briefen  Johann  Laskis 
sind  acht  Schreiben,  die  Herzog  Albrecht  von  Preußen  1542 — 1549 
an  den  polnischen  Reformator  richtete  und  die  von  Theodor 
Wotschke  in  der  Altpreußischen  Monatschrift  45,  2  mitgeteilt 
werden.  Sie  werfen  neues  Licht  auf  die  Beziehungen  zwischen 
Preußen  und  Polen. 

Der  Schluß  der  Aufsätze  von  F.  Spitta  über  Herzog 
Albrecht  von  Preußen  als  geistlichen  Liederdichter  (Monatschrift 
für  Gottesdienst  und  kirchliche  Kunst  13,  4 — 6;  vgl.  oben  S.  206) 
weist  dem  Herzog  das  vielfach  (auch  von  Ranke)  dem  Mark- 
grafen Albrecht  Alcibiades  zugeschriebene  Gedicht  „Was  mein 
Gott  will,  das  g'scheh  allzeif*  zu,  ferner  die  beiden  Königsberger 
Liedersammlungen,  als  deren  Verfasser  man  früher  auf  Paul 
Speratus  oder  auf  Kaspar  Löner  geraten  hatte,  die  sogenannten 
Markgrafeuüeder  (1524  und  1527,  mit  dem  Anagramm  der  beiden 
älteren  Brüder  des  Herzogs),  ein  Türkenlied  von  1539  sowie  ein 
Lied  zur  zweiten  Vermählung  des  Herzogs  (1550);  allerhand 
Schlaglichter  fallen  dabei  auf  Albrechts  Leben  und  Denken. 

In  den  Beiträgen  zur  Hessischen  Kirchengeschichte  3,  3 
handelt  Wilhelm  Hotz  über  das  Jahrzehnt,  welches  der  Theologe, 
Geschichtschreiber  und  Dichter  Cyriacus  Spangenberg  als 
Pfarrer  in  Schlitz  verbrachte  (1580—1590). 

Von  Endres  (Andreas)  Imhof  dem  Alteren,  einem  Nürnberger 
Kaufmann  und  Bankier,  der  von  1491 — 1579  lebte  und  auch  im 
Rat  seiner  Vaterstadt  eine  hervorragende  Rolle  spielte,  entwirit 
Johannes  Müller  im  Unterhaltungsblatt  des  Fränkischen  Kurier, 
55.  Jahrg.  (1908)  Nr.  2,  4  u.  6,  ein  sehr  ansprechendes  Bild  auf 
Grund  archivalischer  Quellen  und  unter  besonderer  Berücksichti- 

29» 


448  Notizen  und  Nachrichten. 

gung  seiner  erfolgreichen  kaufmännischen  Tätigkeit,  deren  Ge- 
heimnis (in  einer  Zeit,  wo  es  mit  den  Fuggern,  Weisem  u.  a. 
zurückging)  im  letzten  Ende  darin  ruhte,  daß  er  um  die  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts  von  dem  immer  weniger  einträglichen  Warenhandel 
zu  den  riskanteren,  aber  mehr  Gewinn  bringenden  Geld-  und 
Wechselgeschäften  überging,  dabei  aber  die  gebotene  Vorsicht 
nicht  außer  acht  ließ. 

Den  Gerüchten,  die  nach  dem  frühen  Tod  Eduards  VI.  von 
England  auftauchten  und  besagten,  daß  der  König  in  Wahrheit 
gar  nicht  gestorben  sei,  geht  Margrete  E.  Gornford  in  der 
English  hist,  review  23  (Nr.  90)  nach.  Das  Gerede  läßt  sich  bis 
zum  Jahr  1599  verfolgen. 

Das  englische  Münzwesen  im  16.  Jahrhundert  wird  von  Fried- 
rich V.  Schrötter  im  Jahrbuch  der  Gesetzgebung,  Verwaltung 
und  Volkswirtschaft  im  Deutschen  Reich  32  zum  Gegenstand  einer 
eingehenden  Untersuchung  gemacht.  Die  (im  Heft  2)  vorliegende 
1.  Hälfte  reicht  bis  zum  Tod  Marias  der  Katholischen.  Wir  notieren, 
daß  von  einer  Münzverbesserung  unter  Eduard  VI.  nicht  wohl 
geredet  werden  kann  und  daß  beim  Tod  Marias  das  ganze  eng- 
lische Geldwesen  zerrüttet  war. 

Die  derzeitigen  Hauptkämpen  in  dem  Streit  über  Verfälschung 
oder  Echtheit  der  Kassettenbriefe  Maria  Stuarts,  Andrew  Lang 
und  T.  F.  Henderson,  setzen  sich  in  der  Scottish  hist,  review  5 
Nr.  17  u.  18  aufs  neue  auseinander;  zweifellos  hat  Henderson,  der 
für  Echtheit  und  Schuld  plädiert,  dabei  die  besseren  Gründe. 
Ebenda  Nr.  18  wendet  sich  Thomas  Duncan  in  einer  Unter- 
suchung über  die  Beziehungen  Marias  zu  William  Maitland  von 
Lethington  gegen  den  Versuch  Längs,  Lethington  mit  der  Ver- 
fälschung der  Kassettenbriefe  zu  belasten.  —  Aus  der  österreichi- 
schen Rundschau  15,  1  verzeichnen  wir  eine  Studie  von  August 
Fournier  über  Maria  Stuart  und  die  Habsburger. 

Den  Sturz  und  den  Prozeß  der  Caraffa,  die  Paul  IV.  1559 
fallen  ließ  und  die  unter  seinem  Nachfolger  hingerichtet  wurden, 
macht  Renö  Ancel  in  der  Rev.  B^n^dicHne  24  und  25  zum  Gegen- 
stand einer  (noch  nicht  abgeschlossenen)  Untersuchung  nach  un- 
veröffentlichten Akten  aus  den  Jahren  1559—1567. 

Während  wir  sonst  über  die  Gründung  der  einzelnen  evangeli- 
schen Gemeinden  in  Frankreich  zumeist  nicht  gut  unterrichtet 
sind,  vermag  N.  W(eiß)  im  Bulletin  de  la  soc,  de  l'hist,  du  pro- 
testantisme  Franpais  1908  (Heft  März-April)  einige  genauere  Nach- 
richten über  die  Anfänge  der  reformierten  Kirche  zu  Saint-Maixent 
(Poitou)  1559—1560  mitzuteilen.  —  In  der  English  hist.  review  23 


Reformation  und  Gegenreformation.  449 

(Nr.  90)  gibt  Maurice  Wilkinson  an  der  Hand  neuer  Akten 
einige  Ergänzungen  zu  seinem  Aufsatz  über  die  Religionskriege 
im  Pdrigord  (vgl.  H.  Z.  98,  447). 

Die  Aufsätze  von  W.  Beemelmans  über  die  Organisation 
der  vorderösterreichischen  Behörden  in  Ensisheim  im  16.  Jahr- 
hundert (vgl.  zuletzt  H.  Z.  100,  445)  finden  in  der  Zeitschr.  f.  d. 
Gesch.  des  Oberrheins  N.  F.  23,  2  ihren  Abschluß  mit  einer  Unter- 
suchung der  schwierigen  Frage,  die  sich  seit  der  Errichtung  der 
vorländischen  Kammer  über  deren  Verhältnis  zur  Regierung  erhob. 

Zu  dem  Traktat  über  den  Reichstag  im  16.  Jahrhundert,  den 
neulich  K.  Rauch  nach  sechs  alten  Drucken  herausgegeben  hat 
(vgl.  H.  Z.  98,  387),  vermag  Fritz  Härtung  in  den  Mitteilungen 
des  Instituts  f.  österr.  Geschichtsf.  29,  2  Verbesserungen  und  Er- 
gänzungen nach  drei  Handschriften,  die  im  Wiener  Staatsarchiv 
beruhen,  zu  geben. 

Aus  der  Beschäftigung  mit  einer  ungedruckten  Isagoge  des 
böhmischen  Humanisten  und  Rechtsgelehrten  Johannes  Cocinus 
a  Cocineto  zu  Ciceros  Schrift  „De  oratore"  nimmt  Richard  Schmer- 
tosch  v.  Riesenthal  in  den  Neuen  Jahrbüchern  f.  d.  Klass. 
Altertum  22,  2  Anlaß,  das  Leben  des  Cocinus  von  seiner  Geburt 
(1543)  bis  1578,  in  welchem  Jahre  die  Isagoge  verfaßt  wurde,  zu 
verfolgen. 

G.  Baguenault  de  Puchesse  veröffentlicht  im  Bulletin  14 
der  SocUU  archäol,  et  hist,  de  rOrUanais  (Nr.  187)  einen  an  den 
Humanisten  Pierre  Daniel  gerichteten  Brief  vom  Jahre  1579,  der 
auf  dessen  Arbeiten  und  gelehrte  Beziehungen  (zu  Pithou)  einiges 
Licht  wirft. 

Einige  Bemerkungen,  die  Roger  Bigelow  Merriman  in  der 
American  hist.  review  13,  3  über  die  Behandlung  der  englischen 
Katholiken  zur  Zeit  Elisabeths  macht,  beziehen  sich  namentlich 
auf  die  80  er  Jahre  und  den  Gedanken  Walsinghams,  die  Katho- 
liken nach  Amerika  abzuschieben. 

An  der  Hand  der  neueren  Literatur  zur  Geschichte  Heinrichs  IV. 
von  Frankreich  bespricht  J.  Nouaillac  in  der  Revue  d'hist. 
moderne  9  den  Stand  der  Forschung  über  äußere  und  innere 
Politik,  Wirtschafts-  und  Geistesgeschichte  in  Frankreich  zur  Zeit 
dieses  Königs   und   formuliert  einige  noch  zu  lösende  Aufgaben. 

Eine  ausführliche  Darstellung  der  Staatslehre  des  Mariana 
bringt  das  Archiv  f.  Gesch.  der  Philosophie  21  (N.  F.  14)  aus  der 
Feder  von  Basilius  Antoniades. 

Als  Nr.  24  der  Veröffentlichungen  der  Histor.  Landeskom- 
mission f.  Steiermark  ist  erschienen:  J.  Loserth,   Bericht  über 


450  Notizen  und  Nachrichten. 

die  Ergebnisse  einer  Studienreise  in  die  Archive  von  Linz  und  Stey- 
regg  in  Oberösterreich  mit  einem  Anhang  von  Urkundenausztigen 
(Graz  1907,  Selbst veriag  der  Histor.  L.-Komm.,  54  S.).  Der  Bericht 
enthält  namentlich  eingehende  Angaben  über  die  Bestände,  welche 
seit  dem  Bericht  von  Krones  (18%)  in  die  Linzer  Archive  neu 
hinzugekommen  sind,  sowie  über  das  gräflich  Weissenwolfische 
Archiv  zu  Steyregg,  in  dem  sich  aber  von  den  Ungnadschen  Sachen 
des  16.  Jahrhunderts  leider  nur  wenig  mehr  erhalten  hat  Die 
beigegebenen  Urkundenauszüge  gehören  zumeist  dem  16.  und 
dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  an;  wir  erwähnen  drei  Schreiben 
Rudolfs  II.  und  des  Erzherzogs  Matthias  von  1599  an  David 
Ungnad  über  seine  Gesandtschaft  nach  der  Türkei. 

Die  Akten  zur  Geschichte  des  Pfalzgrafen  Wolfgang  Wilhelm 
von  Neuburg  und  seiner  Brüder  August  von  Sulzbach  und  Johann 
Friedrich  von  Hilpoltstein,  die  G.  L  i  n  d  e  r  m  a  y  r  im  69.  Jahrg.  des 
Neuburger  Kollektaneenblatts  veröffentlicht,  und  die  zugleich 
einen  Beitrag  zur  Geschichte  der  Primogenitur  im  Hause  Wittels- 
bach  darstellen  sollen,  enthalten:  1.  den  Jülichschen  Erbvertrag 
vom  26.  Oktober  1613  zwischen  dem  alten  Pfalzgrafen  Philipp 
Ludwig  und  seiner  Gemahlin  einerseits  und  ihren  drei  Söhnen 
anderseits;  2.  eine  Vollmacht  Wolfgang  Wilhelms  für  den  Grafen 
Friedrich  von  Solms,  4.  September  1614,  die  Beamten  nach  seines 
Vaters  Tod  in  Pflicht  zu  nehmen;  3.  ein  Beileidschreiben  des 
Kaisers  Matthias  von  20.  September  1614  mit  der  Bemerkung,  daß 
Wolfgang  Wilhelm  in  Sachen  der  Religion  nur  an  die  Reichs- 
konstitutionen und  den  Religionsfrieden  gebunden  sei,  nicht  an 
etwaige  andere  Anordnungen  Phüipp  Ludwigs. 

Über  unveröffentlichte  Memoiren  eines  Herrn  Favreau  de 
Chizay  handelt  Robert  La  voll  de  in  der  Rev.  des  Stades  histo- 
riques  77  (Nr.  IinV,  1908).  Sie  betreffen  die  Jahre  1614—1671, 
Lavollde  beschäftigt  sich  aber  nur  mit  dem  Teil  zur  Geschichte 
Ludwigs  XIll.  und  findet  ihn  recht  zuverlässig. 

Die  Ermordung  des  Obersten  Hans  Sprecher,  eines  der 
Häupter  der  Drei  Bünde,  zu  Marienfeld  am  12.  November  1631  war 
nach  Paul  Sprecher,  der  sich  mit  ihr  im  Jahresbericht  der 
Hist.-antiquar.  Gesellsch.  v.  Graubünden  Jahrg.  1907  (Chur  1908) 
beschäftigt,  vielleicht  eine  politische,  auf  Befehl  RicheÜeus  voll- 
zogene Tat,  was  aber  nicht  sicher  nachweisbar  ist. 

Im  2.  Heft  der  Zeitschr.  f.  d.  Gesch.  des  Oberrheins  N.  F.  23 
beendet  K.  Jacob  den  Druck  der  von  ihm  gefundenen  Fragmente 
aus  der  Wenckerschen  Chronik  zur  Geschichte  des  Dreißigjährigen 
Kriegs  (vgl.  oben  S.  210  f.). 


1648-1789.  451 

Die  Bezeichnungen  exercitium  religionis  publicum  bzw. 
privatum  und  devotio  domestica  im  Westfälischen  Frieden  haben 
nach  J.  B.  S  ä  g  m  ü  1 1  e  r  in  der  Theolog.  Quartalschrift  90,  2  noch 
nichts  mit  den  Theorien  von  den  öffentlich-rechtlichen  und  privaten 
Korporationen  zu  tun,  sondern  bezeichnen  nur  die  verschiedenen 
Grade  der  Erkennbarkeit  des  Gottesdienstes. 

Neue  Bficher:  Max  Müller,  Johann  Albrecht  v.  Widman- 
stetter  1506—1557.  Sein  Leben  und  Wirken.  (Bamberg,  Handels- 
druckerei und  Verlagsh.  2,40  M.)  —  Lindsay,  A  history  of  the 
Reformation.  Vol.  2,  (London,  Clark.  10,6  sh.)  —  Gengenbach, 
Pamphilus:  Ein  klägliches  Gespräch  von  einem  Abt,  Curtisanen 
und  dem  Teufel  wider  den  frommen  Papst  Hadrian.  Hrsg.  von 
Arth.  Richel.  (Leipzig,  Haupt.  0,75  M.)  —  Kalkoff,  Aleander 
gegen  Luther.  Studien  zu  ungedruckten  Aktenstücken  aus  Ale- 
anders  Nachlaß.  (Leipzig,  Haupt.  5  M.)  —  Spalatiniana.  Hrsg. 
von  B e r b i g.  (Leipzig,  Heinsius  Nachf.  4  M.)  —  Bossert,  Johann 
Calvin.  Deutsche  Ausg.,  besorgt  von  Herm.  Krollick.  (Gießen,, 
Töpelmann.  3,60  M.)  —  Wotschke,  Der  Briefwechsel  der 
Schweizer  mit  den  Polen.  (Leipzig,  Heinsius  Nachf.  15,75  M.)  — 
Richardson,  The  lover  of  queen  Elizabeth.  Being  the  life  and 
character  of  Robert  Dudley,  Earl  of  Leicester,  1533-^1588,  (Lon-- 
don,  Laurie.  12,6  sh.)  —  Markham,  King  Edward  VI:  an  ap- 
preciation.  (London,  Smith.  7,6  sh.)  —  Montague,  The  history 
of  England  from  the  accessio n  of  James  I  to  the  Restauration 
(1603-1660).  (London,  Longmans.  7,6  sh.)  —  Magne,  Femmes 
galantes  du  XV  11^  sikcle.  Madame  de  la  Suze  (Henriette  de 
Coligny)  et  la  sociM  präcieuse.  (Paris,  Sociüi  du  Mercure  de 
France.  3,50  fr.)  —  de  Souvigny ,  Mämoires,  publiäs  par  Ludo^ 
vic  de  Contenson.     T.  2  (1639—1659).    (Paris,  Laurens.    9  fr.) 


1648—1789. 

P.  Piccolomini  veröffentlicht  das  erste,  bis  1651  reichende 
Drittel  von  Korrespondenzen  der  römischen  Kurie  mit  dem  Inqui- 
sitor von  Malta,  welcher  dort  die  Geschäfte  eines  päpstlichen 
Nuntius  versah,  aus  der  Zeit  des  Kandiotischen  Krieges  (1645  bis 
1669)  (Archivio  Storico  Italiano,  Serie  V,  tom.  XLl). 

J.  B.  W  i  1 1  i  a  m  s  handelt  über  die  Lage  der  Presse  und  über 
geschriebene  Zeitungen  in  England  um  1660  (English  fiistorical 
Review  Vol.  XXIII,  Nr.  90). 

H.  Jacoby  handelt  über  „Paul  Gerhardt  und  der  Große 
Kurfürst^     Wer   die    Art    und   Weise   mißbilligt,   wie  der   Fürst 


452  Notizen  und  Nachrichten. 

seinen  Unionsbestrebungen  Wirklichkeit  zu  geben  suchte,  schenkt 
doch  jenen  vielleicht  vollen  Beifall,  und  wer  am  strengen  reli- 
giösen Standpunkt  Anstoß  nimmt,  den  der  Dichter  vertritt,  ver- 
mag doch  seine  zarte  Gewissenhaftigkeit  zu  wUrdigen  (Grenz- 
boten, Jahrg.  67,  Heft  17  u.  19). 

F.  Petri  handelt  über  die  Spanheimgesellschaft  in  Berlin 
1689—1697.  Die  regelmäßigen  wissenschaftlichen  Zusammenkünfte, 
welche  im  Hause  des  brandenburgischen  Staatsmannes  und  Ge- 
lehrten Ezechiel  von  Spanheims  stattfanden,  können  als  eine  Vor- 
stufe der  späteren  Berliner  Sozietät  der  Wissenschaften  gelten. 
Sie  stellten  eine  Vermittlung  her  zwischen  den  auf  branden- 
hurgischen  Boden  verschlagenen  Franzosen  und  der  einheimi- 
schen Gelehrtenwelt,  die  dadurch  aus  ihrem  Sonderleben  in  den 
Zusammenhang  der  allgemeinen  europäischen  Literatur  gehoben 
wurde  (Festschrift  zum  50jährigen  Jubiläum  des  Wilhelmgym- 
nasiums in  Berlin). 

d'Haussonville  setzt  seine  Studien  über  die  Herzogin 
von  Burgund  und  die  französisch-savoyische  Allianz  fort  {Revue 
des  deux  mondes,  1  avril  1908). 

G.  Fricke,  Memoiren  und  Lebensschicksale  des  Grafen 
Tourville,  weiland  Admirals  und  Marschalls  von  Frankreich. 
Berlin,  A.  W.  Hayns  Erben.  1908.  —  Es  ergibt  sich,  daß  die 
Memoiren  ein  jämmerliches  Machwerk  sind,  unzuverlässig  und 
parteiisch,  in  den  auf  Tourville  selbst  bezüglichen  Angaben  un- 
vollständig. Doch  enthalten  sie  manche  sonst  nicht  aufbehaltene 
Einzelheiten. 

LeBfegue  deGermigny  gibt  eine  Darstellung  englischer 
Seeräubereien  aus  der  Zeit  Ludwigs  XV.,  zunächst  bis  zum  Jahre 
1744  {Revue  des  questions  historiques,  avril  1908). 

Das  Privilegium  generale  de  non  appellando  illimitatum, 
welches  dem  preußischen  Staate  gänzliche  Befreiung  vom  Rechts- 
mittelzug an  das  Reich  verlieh,  ist  nach  den  Untersuchungen 
von  K.  Pereis  in  den  Sitzungsber.  d.  Berliner  Akad.  d.  Wiss. 
XLVlll,  1907  (28.  Nov.)  erst  im  Jahre  1750  erteilt,  aber  bei  der 
Erteilung  um  vier  Jahre  auf  den  31.  Mai  1746,  d.  i.  auf  den  Tag 
zurückdatiert  worden,  an  dem  Kaiser  Franz  1.  die  Gewährung 
des  Privilegs  zugesagt  hatte. 

W.  Wiegan d,  Das  politische  Testament  Friedrichs  d.  Gr. 
vom  Jahre  1752.  Rede  zur  Feier  des  Geburtstages  Sr.  Maj.  des 
Kaisers,  gehalten  an  der  Straßburger  Universität,  27.  Januar  1908. 
Straßburg,  J.  H.  Ed.  Heiz.  1908.  —  Das  Testament  von  1752  wird 
im  9.  Bande   der  Acta  Borussica   von   Schmoller  und  Hintze  un- 


1648—1789.  453 

vollständig  herausgegeben :  „Warum  man  dies  getan,  warum  man 
Rankes  wohlbegründete  Ansicht  nicht  beachtet  hat,  daß,  wenn  es 
einmal  für  ratsam  erachtet  würde,  das  Testament  zu  publizieren, 
dies  vollständig,  ohne  Auslassung  geschehen  müsse,  ist  nicht 
bekannt.  Religiöse  wie  politische  Bedenklichkeiten  scheinen  den 
Ausschlag  gegeben  zu  haben.''  Wiegand  betont  eingangs,  daß 
der  Neubau  der  Reformer  sich  nur  auf  den  Fundamenten  des 
friderizianischen  Preußens  zu  erheben  vermochte;  daß  in  diesen 
„das  eigentlich  lebendige  Prinzip  preußischen  Wesens  nahezu 
unversehrt  erhalten  blieb''.  Er  verfolgt  dann  den  Gedanken- 
gang des  Politischen  Testaments:  Justiz,  Finanzen,  Handelspolitik, 
Agrarpolitik,  Gewerbepolitik,  Beamtentum,  Adel,  Bauern,  Kabi- 
nettsregierung, Heerwesen,  Prinzenerziehung.  Interessant  die 
Bemerkung,  daß  die  Frage,  ob  man  sich  Friedrich  um  1752  als 
saturierten  Friedensfürsten  oder  als  leidenschaftlichen  Eroberer 
zu  denken  habe,  selbst  aus  dem  uns  vorenthaltenen  Teile  des 
Testaments  nicht  beantwortet  werden  kann,  „wenn  sie  überhaupt 
so  formuliert  werden  darf.  Wiegand  erläutert  manche  Sätze  des 
Testaments  durch  gleichzeitige  Marginalien  des  Königs  und  schließt 
seine  lehrreiche  Abhandlung  mit  einem  vergleichenden  Hinweise 
auf  die  Memoiren  Ludwigs  XIV. 

Neue  Bucher:  Grant,  Quaker  and  Courtier:  the  life  and 
worfc  of  William  Penn,  (London,  Murray,  10,6  sh,)  —  Welt- 
geschichte. Hrsg.  von  J.  v.  Pflugk-Harttung.  5.  Geschichte 
der  Neuzeit.  Das  politische  Zeitalter  1650—1815.  (Berlin,  Ullstein 
&  Co.  16  M.)  —  Mimoriaux  du  conseil  de  1661,  publiäs  par  J,  de 
Boislisle,  T,  3.  (Paris,  Laurens.  9  fr.)  —  Clergue,  The 
Salon.  A  study  of  French  society  and  personalities  in  the  18^  Cen- 
tury. (London,  Putnam.  12,6  sh.)  —  Capon  et  Yve-Plessis, 
Paris  galant  au  XVI 11^  sikcle:  Vie  priv^e  du  prince  de  Conty 
LouiS'Franfois  de  Bourbon  (1717—1776).  (Paris,  Schemit,  15  fr.) 
—  Furgeot,  Le  Marquis  de  Saint- Huruge,  „gän^ralissime  des 
sans'culottes"  (1738—1801).  (Paris,  Perrin  S  Cie.)  —  Elcho, 
A  Short  account  of  the  affairs  of  Scotland  in  the  years  1744,  1745, 
1746.  Printed  from  the  original  ms.  at  Gosford.  (London,  Dou- 
glas. 15  sh.)  —  Creuzinger,  Die  Probleme  des  Krieges.  2. Tl. 
2.  Bd.  Friedrichs  Strategie  im  Siebenjährigen  Kriege.  (Leipzig, 
Engelmann.  3,60  M.)  —  Corbett,  England  in  the  seven  years' 
war.  2  vols.  (London,  Longmans.  21  sh.)  —  de  Bonald,  Franpois 
Chabot,  membre  de  la  Convention  (1756—1794).  (Paris,  ^mile- 
Paul.  5  fr.)  —  Marks,  England  and  America,  1763  to  1783. 
2  vols,  (London,  Brown,  Langham.  30  sh.)  —  Bearne,  A  sister 
of  Marie  An  toi  nette :  the  life  story  of  Maria  Carolina,  queen  of 


454  Notizen  und  Nachrichten. 

Naples.  (London,  Unwin,  10,6  sh.)  —  DyotVs  Diary,  1781—1845. 
A  selection  front  the  Journal  of  W.  Dyott,  sometime  general  in  the 
British  army,  and  Aide-de-camp  to  //.  M,  King  George  III,  Ed. 
by  Jeffery.  2  vols.  (London,  Constable,  31,6  sh,)  —  Taylor, 
Queen  Hortense  and  her  friends,  1783—1837.  2  vols,  (London, 
Hutchinson,   24  sh,) 

Neuere  Geschichte  seit  1789. 

Sehr  lesenswert  ist  der  Artikel,  den  H.  Baier  in  der  Zeitschr. 
f.  Gesch.  d.  Oberrh.  N.  F.  23,  2  über  „Die  revolutionäre  Bewegung 
in  der  Landvogtei  Ortenau  im  Jahre  1789**  veröffentlicht  Indem 
er  darin  mit  maßvollem  Urteil  die  Beschwerden  der  Bauerschaften 
bespricht,  zeigt  er  zunächst,  daß  Spuren  von  Modellbenutzung, 
wie  sie  bei  den  französischen  Cahiers  des  Jahres  stattfand,  sich 
nicht  nachweisen  lassen,  und  geht  dann  zahlreiche  einzelne 
Klagen  durch,  die  eine  weitverbreitete  Unzufriedenheit  mit  der 
österreichischen  Reformregierung  beweisen,  und  zwar  fühlten 
sich  die  Bauern  hier  (wie  anderwärts)  auch  durch  vernünftige 
und  gutgemeinte  Maßregeln,  wie  die  Abschaffung  der  Naturalfron, 
beschwert. 

Im  Märzheft  1908  der  Revolution  Franpaise  berichtet 
Gl.  Perroud  über  die  1790  von  Lanthenas,  dem  Freund  der 
Rolands,  der  selbst  ein  jüngerer  Sohn  war,  gegründete  Soci^tä 
des  amis  de  l'union  et  de  Vegalitd  dans  les  familles,  die  sich  nach 
Erreichung  ihres  Zweckes  wieder  auflöste.  A.  Tuetey  beginnt 
die  Veröffentlichung  von  Auszügen  aus  den  Protokollen  des 
comite  des  inspecteurs  de  la  salle  de  la  Convention  (einstweilen 
bis  29.  Dezember  1792),  aus  denen  u.  a.  hervorgeht,  daß  dieser 
Ausschuß  frei  über  die  bewaffnete  Macht  verfügte  und  Generälen 
Befehle  erteilte!  Im  Aprilheft  setzt  Mathiez  seine  Artikelserie 
über  La  France  et  Rome  sous  la  Constituante  fort.  Der  vorliegende 
Abschnitt  behandelt  die  Revolution  in  Avignon. 

Im  Februarheft  1908  der  Rev,  d'Hist,  Moderne  etc.  beendigt 
Carrd  seine  von  uns  im  letzten  Hefte  erwähnte  Arbeit  über 
l'Assemblde  Constituante  et  la  „mise  en  vacances'  des  Parlements, 
nov,  1789  ä  janv.  1790.  Im  Märzheft  behandelt  G  a  1  a  b  e  r  t  u.  d.  T. 
Le  club  de  Montauban  pendant  la  Constituante  hauptsächlich  die 
Organisation  dieses  Klubs  (Fortsetzung  von  etwas  interessanteren 
Studien  über  seine  politische  Bedeutung  aus  dem  Jahrgang 
1899  1900  ders.  Zeitschrift). 

A.  Chuquet  stellt  in  der  Rev.  Bleue  vom  16.  Mai  1908  unter 
dem  Titel  Mirabeau  jugi  par  Camille  Desmoulins  eine  Reihe  ent- 


Neuere  Geschichte.  455 

gegengesetzter  Urteile  Desmoulins'  über  Mirabeau  zusammen,  die 
maßlos  bald  in  der  Bewunderung,  bald  im  Hasse  sind.  Wer  weiß, 
wie  außerordentlich  selbst  die  bedeutenden  Männer  des 
Zeitalters  in  ihrer  Beurteilung  von  Personen  (und  Dingen)  von 
Stimmungen  und  Situationen  abhängig  sind,  wird  sich  über  diese 
Erscheinung  bei  einem  Menschen  wie  Desmoulins  nicht  wundern. 

Unter  einem  Titel,  der  mehr  verspricht  als  die  Arbeit  hält, 
Les  origines  r^publicaines  de  Bonaparte,  behandelt  Ddprez 
die  bekannte  Denkschrift  Napoleons  aus  dem  Jahre  1793  über 
Korsika  sowie  ihre  Schicksale  und  Drucke,  deren  bester  sich  bei 
Chuquet  findet  (Rev,  Histor.,  Mars-Avr.  1908). 

Unter  Benutzung  von  ungedrucktem  Material  behandelt  Ta- 
bournet  in  der  Rev,  des  Stades  Histor,,  Jan.-Fdvr.  1908  Le  prince 
Henri  de  Prasse  et  le  Directoire  1795—1802  (sie).  Vor  allem  veröffent- 
licht und  bespricht  er  eine  Denkschrift  des  Prinzen  vom  Juni 
1796  über  den  Frieden,  den  Frankreich  Europa  diktieren  müsse, 
die,  reich  an  alten  und  neuen  Gedanken,  nicht  uninteressant,  aber 
stellenweise  peinlich  zu  lesen  ist  Daß  hier  ein  enges  Bündnis 
zwischen  Frankreich  und  Preußen  vorgeschlagen  wird,  daß  Ver- 
größerungen letzterer  Macht  (ein  Gedanke  ist  dabei  die  Ab- 
tretung Mecklenburgs  an  Preußen,  Hannovers  an  das  Haus 
Mecklenburg)  gewünscht  werden,  ist  selbstverständlich.  Säkulari- 
sationen werden  auch  aus  „philosophischen  Gründen""  befürwortet. 
Frankreich  soll,  wenn  Österreich  das  Kaisertum  verüert,  die  freie 
Entscheidung  haben,  wer  König  von  Deutschland  wird.  Eine 
besondere  Belohnung  des  aufgeklärten  Dalberg  wird  verlangt. 
Indessen  wurden  diese  und  spätere  Eröffnungen  des  ja  gänzlich 
einflußlosen  Prinzen  in  Paris  mit  Verachtung  gestraft. 

Im  Aprilheft  1908  der  Rev,  des  Questions  Histor,  behandelt 
P.  d  e  V  a  i  s  s  i  ^  r  e  die  schweren  Schicksale  Grimms  während  der 
Revolution,  der,  trotzdem  er  Gesandter  von  Sachsen-Gotha  war, 
wie  andere  auswärtige  Vertreter  auf  die  Emigrantenliste  gesetzt 
wurde,  worauf  sein  Geld,  seine  Bücher,  Manuskripte  etc.  einge- 
zogen wurden.  Sdrignan  beginnt  eine  Arbeit  über  La  vie  aux 
armies  sous  la  Revolution  et  le  premier  Empire,  in  der  er,  haupt- 
sächlich nach  Memoiren  arbeitend,  „nicht  die  Vorschriften,  sondern 
die  Sitten*"  zu  schildern  übernimmt.  Letztere  waren  nach  ihm  meist 
schlecht.  Doch  kehrten  auch  nach  seiner  Ansicht  im  Jahre  1794 
die  eigentlich  militärisch-moralischen  Kräfte  in  die  zerrüttete  Armee 
zurück.  Der  bekannte  Historiker  G.  Grandmaison  erzählt  Les 
däbuts  de  Joseph  Bonaparte  ä  Madrid  Janvier— Avril  1809  nach 
den  Berichten   von  dessen  Mentor,  dem  französischen  Gesandten 


456  Notizen  und  Nachrichten. 

La  Forest  (die  Grandmaison  herausgibt).  Nach  günstigen  ersten 
Eindrücken  sah  dieser  schon  im  Februar  die  bösen  Vorzeichen 
sich  mehren   und  die  Schwierigkeiten   und  Gefahren  anwachsen. 

Augustin-Thierry  setzt  in  glänzender  Sprache  und  äußerst 
unterhaltender  Weise  Studien  aus  dem  Jahre  1902  fort,  indem  er 
eine  Artikelserle  über  Conspirateurs  et  gens  de  police,  l'aventure 
du  colonel  Fournier  et  la  mystärieuse  af faire  Donnadieu  (1802)  be- 
ginnt, die  zweifellos,  wie  die  frühere,  auch  in  Buchform  erscheinen 
wird,  deren  Besprechung  sich  also  hier  erübrigt  (Rev.  des  deux 
mondes,  1.  April  und  1.  Mai  1908). 

Der  vertriebene  Herzog  Friedrich  Wilhelm  von  Braunschweig 
sandte  im  Jahre  1807  den  Obersthofmeister  seiner  Schwieger- 
mutter, der  Markgräfin  Amalie  von  Baden,  den  Frhrn.  Chr.  von 
Berckheim  (den  späteren  badischen  Minister)  nach  Paris,  behufs 
Wiedererlangung  seines  Landes.  Von  dieser  natürlich  vergeblichen 
Sendung  handelt  Obser,  indem  er  zugleich  den  interessanten 
Bericht  Berckheims  wortgetreuer  veröffentlicht,  als  dies  seinerzeit 
P.  Zimmermann  getan  hatte.  (Die  Sendung  des  Obersthofmeisters 
Frhrn.  Chr.  v.  Berckheim  nach  Paris  im  Jahre  1807  und  seine  Unter- 
redung mit  Napoleon.    Ztschr.  f.  Gesch.  d.  Oberrh.  N.  F.  23,  2.) 

In  der  Internationalen  Wochenschrift  II,  14/15,  4./11.  April  1908 
behandelt  E.  v.  Halle  in  übersichtlicher  Weise  auf  Grund  der  in 
der  letzten  Zeit  erschienenen  Literatur  „Die  Company  of  Merchant 
Adventurers  und  den  Ausgang  ihrer  Niederlassung  in  Hamburg 
1808''.  Die  Niederlassung  wurde  am  20.  April  1808  (nicht  1807, 
wie  es  in  der  Überschrift  in  Nr.  15  heißt!)  auf  Wunsch  Napoleons 
vom  Hamburger  Senat  aufgelöst.  Die  Arbeit  stellt  einen  Auf- 
lösungs-Zentenarfestartikel  dar. 

Max  Lehmann  wendet  sich  im  Maiheft  1908  der  Preuß.  Jahr- 
bücher in,  wie  uns  dünkt,  nicht  sehr  glücklicher,  mehr  persön- 
licher als  sachlicher  Weise  gegen  die  Angriffe,  die  E.  v  Meier  im 
zweiten  Bande  seines  Werkes  „Französische  Einflüsse  auf  die 
Staats-  und  Rechtsentwicklung  Preußens  im  19.  Jahrhundert**  gegen 
ihn  gerichtet  hatte  (Die  preußische  Reform  von  1808  und  die  fran- 
zösische Revolution).  W, 

Aus  der  Nuova  Antologia,  16.  April,  notieren  wir:  Roberti, 
La  lotta  fra  Stato  e  Chiesa  durante  lUmpero  napoleonico ;  aus  der 
Rev,  d'Hist.  Eccl^siastigue,  ISAvril:  Rambaud,  L'äglise  de  Naples 
so  US  la  domination  napoldonienne. 

Unter  Benutzung  von  sehr  reichem  neuem  Material  aus  dem 
Wiesbadener  Staatsarchiv  behandelt  A.Merk  er  in  äußerst  nütz- 
licher Weise   „Die  Steuerreform   im  Herzogtum  Nassau  von    1806 


Neuere  Geschichte.  457 

bis  ISU*"  (S.-A.  a.  d.  Annalen  d.  Ver.  f.  Nassauische  Altertumskunde 
etc.  Bd.  37,  S.  72  bis  142).  Er  schildert  zuerst  die  Behörden- 
organisation und  die  entscheidenden  Persönlichkeiten,  unter  denen 
E.  F.  L.  V.  Marschall  und  Karl  Ibell  die  bedeutendsten  waren.  Be- 
sonders letzterer  tritt  stark  hervor.  Er  war  ein  eifriger,  freiheit- 
lich gesinnter  Mann  (der  allerdings  ein  schreckliches  Deutsch 
s^nreibt),  und  er  hat  viel  dazu  beigetragen,  daß  Nassau  die  Ty- 
rannei Napoleons  verhältnismäßig  gut  überstanden  hat.  Dann 
schildert  Merker  die  Einnahmequellen  Nassaus,  und  zwar  am  aus- 
führlichsten die  auf  französischen  Befehl  eingeführte  Tabak-  und 
Salzregie  (nur  französisches  Salz  durfte  gebraucht  werden !)  und 
die  Grund-  und  Gewerbesteuer,  eine  segens-  und  zukunftsreiche 
Neuerung,  die,  wie  Merker  nachweist,  auf  dem  badischen  Vorbild 
beruhte.  Befriedigt  die  Arbeit  als  Darstellung  der  Neuerungen 
an  sich  im  höchsten  Grade,  so  möchte  man  doch  öfter  mehr 
über  ihre  Herkunft  wissen.  Bei  dieser  Frage  versagt  der  Ver- 
fasser mehrfach  ganz,  während  er  gelegentlich  Behauptungen  auf- 
stellt, ohne  sie  zu  beweisen,  so  wenn  er  meint  (S.  124),  daß  der 
badische  Grund-  und  Gewerbesteuerentwurf  von  1808  die  ber- 
gische Instruktion  vom  16.  April  1807,  die  westfälische  vom 
7.  Januar  1808  und  das  bayerische  Steuerprovisorium  vom  13.  Mai 
1808  schon  verarbeitet  habe.  Es  ist  zu  bedauern,  daß  also  der 
Verfasser  seine  treffliche  Arbeit  nicht  in  einen  größeren  Zu- 
sammenhang gestellt  hat.  Wahl. 

Viel  umstrittene  Probleme  zu  lösen  hat  sich  die  Berliner  Dis- 
sertation von  Paul  Müller,  Zur  Beurteilung  der  Persönlichkeiten 
im  Feldzuge  von  1815  (1907,  66  S.),  zur  Aufgabe  gemacht.  Ver- 
fasser behandelt  zuerst  Napoleon,  bei  dem  er  von  einer  Abnahme 
der  Leistungen  wohl  mit  Recht  nichts  wissen  will,  ohne  freilich 
viel  zu  beweisen,  dann  Wellington,  Müffling,  Bülow  und  Gneisenau. 
In  dem  Abschnitt  über  WeUington  wendet  er  sich  hauptsächlich 
gegen  Pflugk-Harttung  und  nimmt  für  den  Tag  von  Ligny  eine 
zwiefache  Schuld  des  britischen  Feldherrn  an,  eine  militärische 
und  eine  moralische.  Was  Gneisenau  anlangt,  so  meint  er  gegen 
Lettow-Vorbeck,  daß  der  von  ihm  erteilte  Befehl  zum  Rückzug 
nur  bis  Tilly  „eigentlich  noch  höher  anzuschlagen  sei,  als  der 
bisher  überlieferte  zum  Rückzuge  nach  Wavre**  . . .  „da  auch 
durch  ihn  die  natürliche  Basis  aufgegeben  wurde*  usw.  Die 
Arbeit  ist  durch  die  in  ihr  enthaltenen  Gesichtspunkte  entschieden 
fördernd.  Doch  wohnt  den  Resultaten  des  Verfassers  keine  so 
große  Sicherheit  bei,  wie  er  selbst  annimmt,  vor  allem  weil  er 
mehrfach,  mit  allzu  großer  Härte  des  Denkens  vorgehend,  aus  den 
im   Drange  der  Ereignisse   entstandenen   Äußerungen   und  Maß- 


458  Notizen  und  Nachrichten. 

regeln  der  Feldherrn   allzu  weitgehende  Schlüsse  zieht.    Die  Bi- 
bliographie wird  durch  zahlreiche  Druckfehler  entstellt.     Wahl, 

Schuermans  führt  sein  von  uns  öfters  erwähntes,  sehr 
nützliches  Itinerar  Napoleons  in  der  Revue  des  Stades  ffisior,, 
Januar-Februar  und  März-April  1908,  zu  Ende. 

Unter  dem  Titel  »Aus  Preußens  schwerer  Zeit*  (Berlin,  Eisen- 
schmidt. 1907.  168  S.)  zeichnet  Oberst  v.  Eberhardt  in  an- 
sprechender Weise  nach  Briefen  und  anderen  Aufzeichnungen 
das  Leben  seines  Urgroßvaters,  der  1806  als  Major  und  Regiments- 
kommandeur bei  Jena  gefallen  ist,  und  seines  Großvaters.  Der 
letztere  ist  1803  im  Alter  von  12  Jahren  als  Gefreiter-Korporal 
in  das  preußische  Heer  eingetreten,  drei  Jahre  darauf  hat  er  sich 
bei  Jena  als  Ordonnanzoffizier  des  Fürsten  Hohenlohe  aus- 
gezeichnet, indem  er  die  Fahne  eines  weichenden  Bataillons  an 
sich  riß  und  dadurch  das  ganze  Regiment  zu  neuem  Vorgehen 
ermutigte.  Auf  den  Vorschlag  der  Untersuchungskommission  ist 
er  dafür  1809  nachträglich  mit  dem  Orden  pour  le  m^rite  belohnt 
worden.  Später  vor  Leipzig  zum  Krüppel  geschossen,  wurde  er 
ins  Potsdamer  Kadettenhaus  versetzt  und  ist  dann  lange  Zeit 
dessen  Kommandeur  gewesen.  Von  den  mitgeteilten  Briefen  sind 
die  ersten  während  der  Mobilmachung  von  1790,  die  letzten  1813 
und  1814  geschrieben.  Sie  enthalten  manche  interessante  Züge 
aus  dem  militärischen  Leben  dieser  wechselvollen  Zeit.  G. 

Über  den  vielbesprochenen  Tod  Berthiers  im  Juni  1815  gibt 
jetzt  Dr.  Michael  Strich  (Marschall  Alexander  Berthier  und  sein 
Ende.  München  1908.)  durch  sorgfältige  Untersuchungen  in  baye- 
rischen, österreichischen  und  preußischen  Archiven  völlige  Auf- 
klärung. Er  zeigt,  daß  Berthier  zunächst  seine  Pflicht  als  Befehls- 
haber der  Leibgarde  erfüllte,  indem  er  den  flüchtigen  König 
Ludwig  XVlIl.  nach  Ostende  geleitete.  Dann  nahm  er  Urlaub  und 
ging  zu  seiner  in  Bamberg  bei  seinem  Schwiegervater,  Herzog 
Wilhelm  von  Bayern,  weilenden  Familie.  Von  hier  schickte  er 
dem  Könige  sein  Abschiedsgesuch,  er  wollte  nach  Frankreich 
zurückkehren,  um  Napoleon  seine  Dienste  anzubieten.  Auf  Ver- 
langen der  österreichischen  und  der  preußischen  Regierung  wurde 
er  aber  an  der  Abreise  gehindert  und  sorgfältig  überwacht.  Da- 
durch verfiel  er  in  Schwermut.  Seine  Umgebung  erkannte,  daß 
er  sich  mit  Selbstmordgedanken  trug,  und  beobachtete  jede  seiner 
Bewegungen,  so  daß  er  schließlich  seine  Absicht  nur  durch  den 
Sprung  aus  einem  hochgelegenen  Fenster  ausführen  konnte.  Der 
herzogliche  Hof  hat  versucht,  die  Sache  zu  vertuschen  und  den 
Tod  als  Folge  eines  unglücklichen  Zufalls  hinzustellen.   Indessen 


Neuere  Geschichte.  459 

die  sofort  von  dem  Bamberger  Gerichtshöfe  angestellten  Ermitt- 
lungen, ebenso  die  vertraulichen  Berichte,  welche  Metternich  und 
Hardenberg  von  ihren  diplomatischen  Agenten  erhielten,  beseitigen 
jeden  Zweifel.  G. 

Aus  der  Revue  d'histoire  diplomatique  22,  2  (Aprilheft)  sind 
zwei  Aufsätze  zu  erwähnen:  Rain,  La  France  et  VEurope  au 
lendemain  du  congres  de  Vienne^  und  Martens,  La  Russie  et  la 
France  pendant  la  Restauration, 

In  der  Revue  de  synthese  historique  (Februarheft)  gibt  Paul 
Matter,  der  sich  durch  seine  dreibändige  Bismarckbiographie 
auch  in  Deutschland  vorteilhaft  bekannt  gemacht  hat,  auf  Grund 
einer  knappen  Skizze  der  Hauptphasen  der  deutschen  Entwicklung 
von  1815—1890  eine  summarische  und  nicht  gleichmäßige  Über- 
sicht über  die  wichtigsten  literarischen  Erscheinungen,  nament- 
lich auch  französischer,  für  die  Kenntnis  dieser  Epoche  (wobei  er 
über  das  selbstgesetzte  letzte  Jahrzehnt  zum  Teil  weit  htnaus- 
greift).  Matter  fügt  zugleich  Hinweise  auf  solche  Punkte  hinzu,  an 
denen  seines  Erachtens  —  zum  Teil  durchaus  richtig,  aber  nicht 
überall  trifft  das  zu  —  die  Forschung  bisher  reizvolle  und  ergiebige 
Probleme  nicht  genügend  behandelt  und  beachtet  habe.  Auch 
wird  man  der  Charakterisierung  und  Würdigung  der  Autoren 
nicht  überall  zustimmen  können,  z.  B.  daß  Treitschke  plus  peintre 
et  poäte  qu'historien  sei ;  statt  Heinecke  ist  zweimal  Meinecke  zu 
lesen.  Im  ganzen  aber  ist  die  Unbefangenheit  und  politische 
Orientierung  der  Beurteilung  zu  rühmen,  die  freilich  weder  er- 
schöpfend noch  allseitig  ist  und  manche  Ungenauigkeiten  zeigt.  J. 

Lady  Blennerhassett  bespricht  mit  mancherlei  kritischen 
Bemerkungen  und  selbständigen  Zusätzen  die  Rdcits  d'une  tante. 
Mämoires  de  la  comtesse  de  Boigne  nie  d'Osmond  p,  p,  C.  Nicoul- 
laud  (Paris  1801/8,  4  vols.),  von  denen  einzelne  Abschnitte,  die  in 
der  Revue  des  deux  mondes  erschienen  sind,  auch  in  der  H.  Z. 
(100,  S.  454)  erwähnt   waren   (Deutsche  Rundschau,  Juniheft). 

In  der  Osterreichischen  Rundschau  14,  5  finden  sich  Auf- 
zeichnungen des  Grafen  Radetzky  über  die  Märztage  des 
Jahres  1848  (vgl.  H.  Z.  100,  S.  454). 

Eine  Greifswalder  Dissertation  von  O.  Pöppelmann  be- 
handelt „Georg  Beseler  und  seine  Tätigkeit  für  die  Grundrechte 
des  deutschen  Volkes  im  Jahre  1848"*  (1907,  133  S.).  Sie  ist  trotz 
ihrer  Weitschweifigkeit  und  ihrer  jugendlichen  Stilblüten  ein 
tüchtiger  Beitrag  zur  Geschichte  des  Frankfurter  Parlaments.  Sie 
sucht  zunächst   die  Vorwürfe  zu   entkräften,  die  der  Frankfurter 


460  Notizen  und  Nachrichten. 

Versammlung  wegen  der  Voranstellung  der  Grundrechte  vor  den 
Verfassungsfragen  gemacht  werden,  betont  auch  mit  Recht,  dafi 
man  die  moralische  Wirkung  der  Grundrechte  auf  die  kommende 
Landes-  und  Reichsgesetzgebung  nicht  unterschätzen  dürfe,  und 
weist  dann  erfolgreich  nach,  daß  G.  Beseler  die  eigentliche  Seele 
der  Grundrechtsverhandlungen  war  und  zwischen  den  Forderungen 
der  Rechten  und  Linken  hindurch  die  Freiheitswünsche  mit  der 
Achtung  vor  den  geschichtlichen  Realitäten  zu  verbinden  be- 
strebt war. 

Unter  dem  Titel  .Politische  Bewegungen  in  Nürnberg  1848/49" 
(Heidelberger  Abhandlungen  zur  mittleren  und  neueren  Geschichte. 
Heft  17.  Heidelberg.  Winter.  1907.  190  S.)  gibt  Ludwig  Brunner 
zunächst  ein  Bild  der  wirtschaftlichen,  sozialen  und  geistigen  Ver- 
hältnisse Nürnbergs  in  den  40er  Jahren,  um  dann  nach  den  Auf- 
zeichnungen einer  handschriftlichen  Stadtchronik,  nach  den  Be- 
trachtungen, Mitteilungen,  Aufrufen,  Anzeigen  der  Zeitungen  und 
Flugschriften  die  Einwirkung  der  Revolution  und  der  nationalen 
Bewegung  zu  zeigen.  Wir  sehen,  wie  anfangs  die  gemäßigten 
Elemente  das  Heft  in  der  Hand  haben,  dann  aber  im  Kleinbürger- 
tum, bei  den  Gesellen  und  Arbeitern  demokratische  Tendenzen 
die  Oberhand  gewinnen,  so  daß  die  Leidenschaften  sich  steigern 
und  heftige  Konflikte  bevorzustehen  scheinen.  Aber  die  vor- 
sichtige und  besonnene  Haltung  der  mittelfränkischen  Regierung 
in  Ansbach  weiß  ihnen  vorzubeugen.  Allmählich  legt  sich  die 
Aufregung  und  weicht  einer  dumpfen,  resignierenden  Stimmung, 
schon  ehe  die  eigentliche  Reaktion  eintritt.  G. 

„Briefe  von  Karl  Mathy  aus  dem  Frühjahr  1849*  werden 
im  Mai-  und  Juniheft  der  Deutschen  Revue  „mit  Erläuterungen 
herausgegeben  von  Ludwig  Mathy"  (seinem  Neffen,  Oberschulrat 
in  Karlsruhe),  eine  Fortsetzung  zu  dessen  die  Jahre  1846—1848 
umfassender  Publikation.  Es  sind  Familienbriefe  und  solche,  die 
mit  politischen  Freunden  gewechselt  sind;  sie  beginnen  mit  der 
Ablehnung  der  Kaiserkrone  durch  Friedrich  Wilhelm  IV.  (Anfang 
April)  und  sollen  bis  zur  Gothaer  Versammlung  (Ende  Juni  1849) 
führen;  was  bis  jetzt  vorliegt,  betrifft,  soweit  es  von  Belang  ist, 
namentlich  Mathys  Mission  nach  München  zur  Gewinnung  der 
bayerischen  Regierung  für  die  Reichsverfassung. 

Das  Mai-  und  das  Juniheft  der  Deutschen  Revue  bringen  Auf- 
zeichnungen des  Prinzen  Friedrich  Karl  von  Preußen 
aus  den  Jahren  1848  und  1849  (besonders  über  das  Gefecht  von 
Wiesenthal  vom  20.  Juni  1849,  in  dem  der  Prinz,  der  als  Major 
im  Stabe   seines  Oheims,  des  Prinzen  von  Preußen,  am  Feldzuge 


Neuere  Geschichte.  461 

gegen  die  Aufständischen  in  der  Pfalz  und  Baden  teilnahm,  ver- 
wundet wurde). 

Das  60  jährige  Regierungsjubiläum  des  Kaisers  Franz  Josef 
und  die  dem  Historiker  wohl  besonders  eindrucksvolle  l-iuldigung 
deutscher  Reichsfürsten  und  des  Deutschen  Kaisers  haben  Erich 
Marcks  Anlaß  gegeben,  die  Bedeutung  dieser  langen  Regierung 
und  die  Abwandlung  der  deutschen  und  österreichischen  Be- 
ziehungen zu  vergegenwärtigen  (Die  Woche,  Nr.  18  vom  2.  Mai  1908). 

Der  Säkularerinnerung  an  August  Reichensperger  sind 
im  Märzheft  des  Hochland  die  Ausführungen  von  Cardauns 
gewidmet. 

Für  die  Internationale  Wochenschrift  (Nr.  11  vom  14.  März) 
hat  R.  T.  Stevenson,  Professor  der  Geschichte  an  der  Ohio 
Wesleyan  Universität  Delaware,  eine  kurze  Charakteristik  des 
Präsidenten  Abraham  Lincoln  (1809—1865)  geschrieben. 

Ein  aufschlußreicher  Beitrag  zur  deutschen  Parteigeschichte 
ist  Gustav  Mayers  Abhandlung  „Die  Lösung  der  deutschen 
Frage  im  Jahre  1866  und  die  deutsche  Arbeiterbewegung*  in  den 
„Festgaben  für  Wilhelm  Lexis"  (Jena,  Fischer  1907).  Es  fallen  die 
mannigfachsten  Streiflichter  auf  die  verschiedenen  alten  und  neuen 
Tendenzen  in  der  deutschen  Demokratie  und  der  beginnenden 
Sozialdemokratie.  Es  wird  gezeigt,  wie  Schweitzer  im  Lassalle- 
schen Geiste  wohl  fähig  war,  die  Machtpolitik  Bismarcks  1866  zu 
verstehen,  wie  die  deutsche  Volkspartei  dagegen  ohnmächtige 
Tiraden  im  Geiste  der  1848  er  predigte  und  wie  schließlich  in  der 
Arbeiterbewegung  der  internationale  Sozialismus  emporkam.  Daß 
dies  gerade  in  der  1866  geschaffenen  Lage  geschah,  hätte  vielleicht 
noch  tiefer  begründet  werden  können. 

Ahnliche  Beobachtungen  zur  deutschen  Parteigeschichte  um 
1866  kann  man  auch  der  fleißigen  Tübinger  Dissertation  von 
Rapp:  Die  öffentliche  Meinung  in  Württemberg  von  1866  bis  zu 
den  Zollparlamentswahien,  März  1868  (84  S.  1907)  entnehmen.  Der 
Titel  ist  irreführend,  da  die  Dissertation  nur  bis  zum  Ende  des 
Jahres  1866  reicht,  doch  soll  sie  später  erweitert  als  Buch  die  Zeit 
von  1866 — 1871  umfassen. 

In  den  beiden  Mainummern  (1.  und  15.)  der  Revue  des  deux 
mondes  finden  sich  Fortsetzungen  aus  dem  0 1 1  i  v  i  e  r  sehen  Werke 
l' Empire  liberal^  das  sich  dem  Abschlüsse  nähert.  Diesmal  sind 
die  Beziehungen  zu  Preußen  und  die  Entwicklung  der  Kandidatur 
Hohenzollern  (la  Prusse  et  la  France  au  commencement  de  1870) 
und  la  pl^biscUe  behandelt.  Die  Kritik  muß  dem  Erscheinen  des 
Historische  Zeltschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  30 


462  Notizen  und  Nachrichten. 

Werlces  vorbehalten  bleiben.    Daß  Ottokar  Lorenz  admiraieur  tris 
passionn^  de  Bismarc fc  sei,   ist  neu  (vgl.  zuletzt  H.  Z.  99,  S.  463). 

In  den  Grenzboten  Nr.  20  (vom  14.  Mai)  kommt  ein  un- 
genannter, den  Personen  und  der  Sache  augenscheinlich  nahe- 
stehender Offizier  nochmals  auf  die  vielumstrittene  Frage  der 
Beschießung  von  Paris  1870  zurück  und  sucht  den  Nachweis  zu 
erbringen,  daß  Blumenthal  bis  zuletzt  ein  Gegner  jeder  Beschießung 
geblieben  sei  (Das  Tagebuch  des  Grafen  Blumenthal  von  187071). 

Einige  kurze  Aufzeichnungen  des  unlängst  (21.  Juli  1907) 
verstorbenen  Parlamentariers  W.  v.  Kardorff  veröffentlicht 
H.  V.  Poschinger  in  der  Deutschen  Revue  (Juniheft):  I.  Jugend- 
bekanntschaft mit  Bismarck  (1845  als  Freund  von  Reinhold 
v.  Thadden  bei  einem  Besuche  auf  Triglaff  am  Tage  nach  Hoch- 
zeitsfest und  Brand).  II.  Der  hannoversche  Provinzialfonds  (1868). 
III.  Unsere  Polenpolitik :  Kardorffs  Bedenken  gegen  die  bäuerliche 
Ansiedlung,  die  er  Bismarck  nicht  verhehlt  habe  und  die  die  Er- 
fahrung als  berechtigt  erwiesen  hätten;  Bismarck  habe  die  Maß- 
regel damit  verteidigt,  daß  ohne  sie  die  notwendige  Zustimmung 
der  Nationalliberalen  nicht  zu  gewinnen  sei. 

Die  Zeitschrift  für  die  gesamte  Staatswissenschaft  bringt  in 
Bd.  64,  Heft  2  eine  sehr  anregende  Untersuchung  von  Jacobs- 
sohn: Zur  Entwicklung  des  Verhältnisses  zwischen  der  deutschen 
Volkswirtschaft  und  dem  Weltmarkt  in  den  letzten  Jahrzehnten. 
Das  Ergebnis  ist,  daß  1.  der  Außenhandel  in  den  letzten  25  Jahren 
für  die  deutsche  Volkswirtschaft  zugenommen  hat,  daß  aber 
II.  Deutschland  sich  nicht  zu  einem  Exportindustriestaate  hin-, 
sondern  von  ihm  fortbewege,  was  schon  Sombart  vor  9  Jahren 
behauptet  hatte. 

Besondere  Beachtung  verdient  ein  Aufsatz  im  10.  Heft  der 
Sozialistischen  Monatshefte  von  K.  Leuthner  über  „Das  Ende 
der  polnischen  Reichsidee''  (vgl.  auch  H.  Z.  101,  S.  221  f.).  Die 
polnische  Frage  sei  ein  europäisches  Problem,  das  werde  von  den 
meisten  deutschen  Politikern  vergessen.  Die  Polen  kämpfen  auch 
heute  zum  Teil  noch  für  den  Traum  des  alten  polnischen  Reichs, 
das  aufgebaut  war  auf  der  ungeheuerlichsten  politischen,  wirt- 
schaftlichen und  nationalen  Unterdrückung  von  zwei  Dritteln 
der  Bewohner  (Kleinrussen,  Weißrussen,  Litauer  und  Deutsche) 
durch  das  herrschende  Drittel,  die  Polen.  Durch  die  polnischen 
Teilungen  seien  fast  ebensoviel  Deutsche  vom  polnischen  Joche 
befreit  wie  Polen  unter  deutsches  Joch  gebracht.  Im  eigenen 
Herrschaftsgebiet  (Galizien)  halten  die  Polen  einer  zweiten  Nation 
(den  Ruthenen)   die  Faust  an   der  Gurgel.    Der  letzte   Polenauf- 


Neuere  Geschichte.  463 

stand  (1863)  habe  durch  die  Tat  die  polnische  Reichsidee  zu 
nichte  gemacht,  ohne  sie  jedoch  aus  den  Köpfen  der  Polen  selbst 
zu  verbannen.  Sie  sei  aber  am  Verschwinden  durch  die  Entwick- 
lung der  Sozialdemokratie  in  Russisch-Polen  und  Galizien.  Die 
polnische  Unabhängigkeitsidee  ist  für  die  deutsche  Sozialdemo- 
kratie sowohl  vom  deutschen  wie  vom  sozialistischen  Standpunkte 
erst  dann  diskutierbar,  wenn  sie  nur  die  Freiheit  der  Polen,  nicht 
aber  auch,  wie  bisher,  die  Unterdrückung  anderer  Völkerschaften 
in  sich  schließt,  wenn  die  polnischen  Ansprüche  an  der  polnischen 
Sprachgrenze  aufhören,  wenn  der  Pole  seinen  Ostseetraum  ebenso 
wie  seinen  Schwarzenmeertraum  aufgibt.  „Diskutierbar,  das  heißt 
noch  lange  nicht  ein  Gegenstand  des  Handelns  und  der  Be- 
strebungen." „Die  polnische  Frage  ist  eine  europäische  Frage, 
eng  eingeschlossen  in  das  Problem,  das  die  polnisch-litauisch- 
kleinrussisch-westrussisch-jüdisch-rumänischen  Volksmassen  des 
westlichen  Rußlands  in  ihrem  gärenden  Sichgestalten  und  Um- 
gestalten darstellt.  *" 

Neue  Bficher:  Bourloton,  Le  Clergä  de  la  Vendäe pendant 
la  Revolution  (1789—1802),  T,  Icr,  (Vannes,  Impr.  Lafolye  frkres,) 
—  Fk  D'Ostiani,  Brescia  nel  1796,  ultimo  della  veneta  signoria. 
(Brescia,  Tip.  fratelli Geroldi.)  —  Fei.  Burckhardt,  Die  schwei- 
zerische Emigration  1798 — 1801.  (Basel,  Helbing  6  Lichtenhahn. 
10  M.)  —  Rouir^,  La  rivalitä  anglo-russe  au  XIX^  siMe  em 
Asie.  (Paris,  Colin.  3,50fr.)  —  Geoffroy  de  Grandmaison^ 
VEspagne  et  Napolion  (1804—1809).  (Paris,  Plan,  Nourrit  ^  Cie. 
1,50  fr.)  —  Slovak,  La  bataille  d'Austerlitz  (2  dicemhre  1805). 
Traduction  de  L.  Leroy.  (Paris,  Daragon.  3,50  fr.)  —  Hänel, 
Das  zweite  Ministerium  des  Freiherrn  vom  Stein.  (Kiel,  Lipsius 
6  Tischer.  0,60  M.)  —  Robinson,  Wellington's  campaigns, 
Peninsula — Waterloo,  1808—15,  also  Moore's  campaign  of  Corunna. 
(London,  Rees.  8,6  sh.) —  Binns,  Abraham  Lincoln.  (London,  Dent. 
4,6  sh.)  —  V.  Unger,  Blücher.  2.  (Schluß-)  Bd.  (Berlin,  Mittler 
6  Sohn.  9  M.)  —  M^moires  du  ginäral  Bennigsen.  T.  3:  Garn- 
pagnes  de  1812  et  de  1813.  (Paris,  Gharles-Lavauzelle.  12,50  fr.) 
de  Latorre,  A  la  Liberty.  L'Italie  de  1814  ä  1848.  (Paris,  Cor- 
n^ly  S  Gie.  10  fr.)  —  Hooper,  Waterloo:  the  down  fall  of  the 
first  Napoleon.  A  history  of  the  campaign  of  1815,  (London, 
Bell.  2  sh.)  —  Schiemann,  Geschichte  Rußlands  unter  Kaiser 
Nikolaus  I.  2.  Bd.  (Berlin,  Reimer.  12  M.)  —  Low  and  Sandars, 
The  history  of  England  during  the  reign  of  Victoria,  1837—1901. 
(London,  Longmans.  7,6  sh.)  —  Tixerant,  Le  fiminisme  ä  Vipoque 
de  1848  dans  Vordre  politique  et  dans  l*ordre  äconomique.  (Paris, 
Giard  et  Briere.)  —  Wylly,  The  campaign  of  Magenta  and  Soi- 

30* 


464  Notizen  und  Nachrichten. 

ferino,  1859,  (London,  Sonnenschein,  5  sh.)  —  Baldi,  Breve 
studio  sulla  letteratura  storico-politica  del  risorgimento  italiano 
negli  anni  1860  e  1861 ,  (Prato,  Tip,  succ.  Vestri,)  —  Promnitz, 
Bismarcks  Eintritt  in  das  Ministerium  (Beriin,  Ebenng.  6  M.)  — 
Koht,  Die  Stellung  Norwegens  und  Schwedens  im  deutsch-däni- 
schen Konflikt,  zumal  während  der  Jahre  1863  und  1864.  (Kristiania, 
Dybwad.  12  M.)  —  Regensberg,  Der  Mainfeldzug  (1866). 
(Stuttgart,  Franckh.  2  M.)  —  Gl u nicke,  The  Campaign  in  Bohe- 
mia,  1866.  (London,  Sonnenschein,  5  sh,)  —  Bonnal,  Sadowa. 
A  study,  (London,  Rees,  7,6  sh,)  —  Lehautcourt,  Histoire  de 
la  guerre  de  1870—1871,  T,  6:  Sedan.  (Paris,  Berger-Levrault 
S  Cie,  10  fr,)  —  Maistre,  Spicheren  (6  aoüt  1870),  (Paris, 
Berger-Levrault  &  Cie,  12  fr,)  —  Hans  Blum,  Lebenserinnerungen. 
2.  (Schluß-) Bd.:  1870  bis  1907.  (Beriin,  Vossische  Buchh.  6  M.) 
—  Lolide,  La  vie  d'une  imp^ratrice :  Eugenie  de  Montijo,  (Paris, 
Juven,)  —  Maurice,  History  of  the  war  in  South  Africa,  1899 
to  1902,  Vol,  2,  (London,  Hurst,  21  sh,)  —■  Schiemann, 
Deutschland  und  die  große  Politik  anno  1907.  (7.  Bd.)  (Berlin, 
Reimer.    6  M.) 

Deutsche  Landschaften. 

In  den  deutschen  Geschichtsblättern  9^  8  finden  sich  kritische 
und  programmatische  Bemerkungen  des  Herausgebers  A.  Tille 
über  Herstellung  von  Ortsgeschichten,  die  der  Beachtung  der  be- 
teiligten Kreise  zu  empfehlen  sind. 

Aus  dem  37.  Jahresbericht  der  historisch -antiquarischen 
Gesellschaft  von  Graubünden  verzeichnen  wir  die  Beiträge  zur 
Rechtsgeschichte  der  Talschaft  Savien  im  Mittelalter  (nach  der 
wohl  zu  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  erfolgten  Festsetzung 
deutscher  Kolonisten)  von  R.  Hoppeler  und  die  mit  nützlichen 
Erläuterungen  versehene  Veröffentlichung  des  ältesten  Churer 
Steuerbuchs  aus  dem  Jahre  1481  durch  F.  Jecklin. 

In  der  Zeitschrift  f.  d.  Gesch.  d.  Oberrheins  N.  F.  23,  2  nimmt 
F.  Eulenburg,  „Die  Bevölkerung  einer  badischen  Stadt  (Durlach) 
im  18.  Jahrhundert"  zu  dem  letzthin  von  O.  K.  Roller  unternommenen 
Versuch,  das  Arbeitsgebiet  der  Statistik  durch  systematische  Ver- 
Avertung  des  in  den  Kirchenbüchern  aufgespeicherten  Quellenstoffs 
zu  erweitern,  in  längeren  Ausführungen  Stellung  und  modifiziert 
die  hinsichtlich  des  Bevölkerungsstandes  und  der  Bevölkerungs- 
bewegung erzielten  Ergebnisse  (vgl.  auch  oben  S.  144).  Wir 
verzeichnen  ferner  noch  die  Miszelle  von  R.  Krebs:  Zur 
Frage   der  Zuständigkeit  der  geistlichen  Gerichte   (Auszug   aus 


Deutsche  Landschaften.  465 

einer  Ordnung  des  Grafen  Emich  von  Leiningen  für  Bechtheim 
aus  dem  Jahre  1432,  die  auch  hier  die  Übergriffe  der  geistlichen 
Gerichtsbarkeit  in  rein  weltliche  Dinge  erkennen  läßt). 

Zur  elsässischen  Geschichte  verzeichnen  wir  kurz  noch  die 
Fortsetzungen  der  Arbeiten  von  R.  Reuß  über  das  elsässische 
Volksschulwesen  zur  Zeit  der  französischen  Revolution  (Folgen 
der  Gesetzgebung  von  1792—1794;  vgL  100,  460  u.  101,  225)  in  den 
Annales  de  l'Est  et  du  Nord  1908,  April  und  von  Ch.  H  o  f  f  m  a  n  n  t 
über  die  Grafschaft  Rappoltstein  im  Jahre  1789  (Fortschaffung  der 
Archivalien;  vgl.  oben  225)  in  der  Revue  d'Alsace  1908,  Mai-Juni 
sowie  den  an  der  letztgenannten  Stelle  befindlichen  geschichtlichen 
Überblick  von  A.  Hanauer  über  Archiv  und  Bibliotheken  in. 
Hagenau. 

Ein  wertvoller  Beitrag  zur  Geschichte  des  modernen  Beamten- 
tums in  den  deutschen  Einzelstaaten  ist  die  Schrift  von  August 
Roth:  „Die  Rechtsverhältnisse  der  landesherrlichen  Beamten  in 
der  Markgrafschaft  Baden-Durlach  im  18.  Jahrhundert.*  Karls- 
ruhe, Macklotsche  Druckerei  1906.  99  S.  Sie  hätte  zwar  noch 
gewonnen,  wenn  sie  die  Ergebnisse  der  Forschungen  über  das 
preußische  Beamtentum  im  18.  Jahrhundert  ausgiebiger  benutzt 
und  zur  Vergleichung  und  schärferen  Fragestellung  herangezogen 
hätte;  aber  auch  so  ist  das  beigebrachte  und  gut  geordnete 
Material  sehr  lehrreich.  Es  ist  das  Zeitalter  des  Übergangs  vom 
privatrechtlichen  Dienstvertrage  zwischen  dem  Landesherrn  und 
den  Beamten  zur  öffentlich-rechtlichen  Stellung  des  Beamten.  Zu 
dem  fiskalischen  Interesse,  das  im  Beginn  des  18.  Jahrhunderts 
überwog,  tritt  in  seinem  Verlaufe  die  Auffassung,  daß  der  Beamte 
auch  für  das  Wohl  der  Bevölkerung  da  seL  Ahnlich  wie  in 
Preußen  sieht  man  gleichzeitig  auch  in  Baden  die  Bemühungen 
am  Werke,  den  Beamtenstand  moralisch  zu  heben,  straffer  zu 
disziplinieren,  rationeller  zu  besolden.  Aber  die  badischen  Maß- 
regeln atmen  dabei  mehr  patriarchalischen  Geist  gegenüber  dem 
militaristischen  Geiste  Preußens.  m. 

Von  den  im  Neuen  Archiv  f.  d.  Gesch.  d.  Stadt  I-Ieidelberg 
8,  1  veröffentlichten  Arbeiten  nennen  wir  an  dieser  Stelle  den 
Hinweis  auf  Beziehungen  der  Kurpfalz  zu  Mühlhausen  i.  Th.  im 
1 5.  und  16.  Jahrhundert  von  V.  Loewenberg,  die  von  R.  S i  1 1  i b 
gemachten  Mitteilungen  über  das  Schicksal  der  alten  Kurfürsten- 
bildnisse im  Heidelberger  Schloß,  (die  noch  im  18.  Jahrhundert, 
wie  nun  aus  archivalischen  Funden  untrüglich  hervorgeht,  be- 
standen haben),  sowie  die  Veröffentlichung  eines  von  dem  Franzosen 
Balthasar  von  Monconys  herrührenden  Reiseberichts  über  Heidel- 

30  ♦♦ 


^^  Notizen  und  Nachrichten. 

berg  zu  Anfang  des  Jahres  1664  durch  M.  Huffschmid  (noch 
nicht  abgeschlossen). 

Ad.  Lewin  beginnt  in  der  Monatschrift  f.  Gesch.  u.  Wiss.  d. 
Judentums  1908,  Januar-Februar  mit  einer  Abhandlung  über  die 
Vorarbeiten  für  die  badische  Judengesetzgebung  in  den  Edikten 
J807-1809. 

Die  Württembergischen  Vierteljahrshefte  f.  Landesgesch.  N.  F. 
1 7, 2  bringen  den  Anfang  einer  dem  ersten  Jahrhundert  der  gefürsteten 
Propste!  Ellwangen  (1460—1560)  gewidmeten  Abhandlung  von 
Josef  Z  e  1 1  e  r  (Lebensbild  des  Fürstpropstes  Albert  von  Rechberg) 
und  eine  Untersuchung  von  F.  B  a  u  s  e  r  über  die  staatsrechtliche 
Stellung  der  Herrschaft  Wain  (O.-A.  Laupheim),  die  zu  dem  Er- 
gebnis kommt,  daß  von  1774  bis  zur  Mediatisierung  im  Jahre  1806 
eine  freie  allodiale  Reichsherrschaft  mit  voller  Landeshoheit  be- 
standen hat.  —  Wir  schließen  noch  einen  Hinweis  an  auf  eine 
in  der  Numismat.  Zeitschrift  N.  F.  1  veröffentlichte  Arbeit  von 
G.  Schöttle,  die  einen  Einblick  in  die  um  die  Wende  des  17.  Jahr- 
hunderts in  Oberschwaben  herrschenden  Münzwirren  gewährt. 

Johann  Müller  veröffentlicht  in  den  Verhandlungen  des 
16.  deutschen  Geographentages  zu  Nürnberg  1907  einen  bei  dieser 
Gelegenheit  gehaltenen  Vortrag  über  Bodenbeschaffenheit  und 
Bewirtschaftung  des  Nürnberger  Reichswalds  vom  13.  bis  16.  Jahr- 
hundert, indem  er  die  aus  dem  Umfang  und  den  Erträgnissen 
sich  ergebende  Bedeutung  des  Waldes  darlegt  und  auf  die  Ver- 
hältnisse unter  der  unmittelbaren  Herrschaft  der  Reichsgewalt 
(13.  u.  14.  Jahrhundert)  und  unter  der  reichsstädtischen  Verwaltung 
(Ende  des  14.  bis  Anfang  des  16.  Jahrhunderts)  näher  eingeht.  — 
In  der Cisterzienser-Chronik  1908, März  veranschaulicht  M.Wiel and 
in  Regestenform  die  Beziehungen  der  Pfalzgrafen  Ottheinrich  und 
Philipp  zu  Kloster  Kaisheim  (Bez.-Amt  Donauwörth)  in  den  Jahren 
1513—1533. 

Zur  Aachener  Geschichtschreibung  des  17.  Jahrhunderts 
notieren  wir  hier  die  Mitteilungen  von  Emil  Pauls  im  20.  Jahrgang 
der  Zeitschr.  Aus  Aachens  Vorzeit  über  das  Leben  Peter  a  Beecks 
(t  1624)  und  aus  dem  Briefwechsel  des  Johann  Noppius  (1629—1630). 

In  der  Fortsetzung  seines  Aufsatzes  „Zur  Geschichte  der 
rheinischen  Pfalzgrafschaft"  in  der  Westdeutschen  Zeitschrift  für 
Geschichte  und  Kunst,  Jahrg.  26,  Heft  4,  1907  (vgl.  H.  Z.  100,  S.  227) 
schildert  Hilar  Schwarz  (in  Kap.  4  und  5)  sorgsam,  aber  allzu 
weitschweifig  die  zwischen  Kurköln  und  Jülich  um  Zülpicher  Be- 
sitzungen und  Rechte  von  1299  bis  1409  geführten  Streitigkeiten. 


Deutsche  Landschaften.  467 

Die  Beiträge  zur  Geschichte  Dortmunds  und  der  Grafschaft 
Mark,  Bd.  16,  1908  bringen  neue  Arbeiten  zur  Entstehung  und 
Geschichte  des  Königsgutes  und  der  Herrensitze  des  südlichen 
Westfalens,  Arbeiten  von  A.  Meininghaus  über  „die  Herren- 
und  Rittersitze  der  Grafschaft  Dortmund  im  13.  und  H.Jahrhundert*, 
sowie  über  „karolingisches  Königsgut  in  und  um  Soest*.  Karo- 
lingisches  Königsgut  war  auch  der  Hof  zu  Stockum,  seit  858  in- 
folge königlicher  Schenkung  Eigentum  des  Stiftes  Herford,  eine 
besonders  ausgedehnte,  schon  im  13.  Jahrhundert  mehr  als 
70  Bauernhöfe  umfassende  westfälische  Grundherrschaft,  deren 
Entwicklung,  Verfassung  und  Verwaltung  Rothert  bis  zu  ihrer 
Auflösung  (1809)  eingehend  darstellt  (Beil.  A:  Ausführliches  Ab- 
gabenverzeichnis der  Stockumer  Grundherrschaft;  etwa  1240 — 1250). 

Rud.  Schulze,  Die  Landstände  der  Grafschaft  Mark  bis 
zum  Jahre  1510  (K.  Beyerles  Deutschrechtl.  Beitr.  Bd.  I  Heft  4), 
Heidelberg  1907.  Die  fleißige  Arbeit  behandelt  die  Entstehung 
der  Stände,  ihre  Teilnahme  und  Haltung  bei  den  äußeren  und 
inneren  Kämpfen  der  Grafschaft  (bis  1510),  im  zweiten  Teile  Zu- 
sammensetzung, Organisation  und  Befugnis  der  Stände.  Auch  in 
der  Mark,  wie  in  Jülich-Berg  bildete  Burgenbesitz  die  rechtliche 
Grundlage  für  die  Landstandschaft  der  Ritter  (vgl.  S.  72  ff.).  Erst 
sehr  spät  (1486)  läßt  sich  die  erste  von  Ritterschaft  und  Städten 
der  Mark  bewilligte  allgemeine  Steuer  des  ganzen  Landes  nach- 
weisen. —  Richtiger  als  v.  Haeften  setzt  Schulze  die  Anfänge 
der  landständischen  Entwicklung  an.  Ob  aber  die  urkundlichen 
Quellen  wirklich  „genügen*  (S.  8),  die  ersten  Spuren  einer  stän- 
dischen Vertretung  nachzuweisen,  erscheint  doch  sehr  zweifelhaft, 
wenn  1347  zuerst  ständische  Mitberatung,  erst  1389  eine  Union  der 
Ritterschaft  und  gar  erst  1419  eine  Einung  zwischen  Ritterschaft 
und  Städten  überliefert  ist.  Eine  umfassendere  Verwertung  der 
Literatur  (die  Arbeiten  von  Maurer,  Gierke,  Luschin  u.  a.  sind 
nicht  benutzt)  und  geeigneten  Vergleichmaterials  würde  auch  als 
Korrektiv  für  manche  Zufälligkeit  der  Überlieferung  haben  dienen 
können.  Sp. 

Richard  Pres  sei.  Das  Ministerialenrecht  der  Grafen  von 
Tecklenburg.  Münster  i.W.,Coppenrath.  1907.—  Im  ersten  Abschnitt 
behandelt  Fressel  das  Ministerialenrecht  als  Ganzes,  Entstehungs- 
zeit, Überlieferung,  Charakter;  im  zweiten,  speziellen  Teil  das  Ver- 
hältnis des  Grafen  zu  den  Dienstmannen,  ihre  Rechte,  Pflichten, 
Privilegien,  am  eingehendsten  den  Stand  der  Ministerialen  (in 
Kap.  4).  Hier  findet  er  Gelegenheit  zu  neueren  Theorien  von  der 
Entstehung  der  Ministerialität  aus  den  vier  Hofämtern  (Wittich), 


468  Notizen  und  Nachrichten. 

aus  Minderfreien  oder  liberti  (Heck)  Stellung  zu  nehmen.  Beide 
Theorien  lehnt  Fresset  ab ;  dagegen  berührt  er  sich  mit  Heck  hin- 
sichtlich der  Schöffenbaren.  Nicht  ganz  richtig  setzt  Fressel  die 
Entstehung  des  Ministerialenrechtes  in  die  Zeit  zwischen  1186  und 
1236.  Da  das  Recht  von  einem  Grafen  Otto  verliehen  worden  und 
Grafen  dieses  Namens  erst  seit  1203  in  Tecklenburg  regiert  haben, 
müßte  er  den  terminus  a  quo  bis  1203  hinaufrücken.  Hiemach 
würde  Philippi  mit  seiner  zeitlichen  Ansetzung  (um  1220)  Recht 
behalten.  Anlage  1  handelt  von  den  camerlingi,  die  offenbar  eine 
Art  Mittelstellung  zwischen  den  niederen  Unfreien  und  den 
Ministerialen  eingenommen  haben.  Sp. 

In  den  Abhandlungen  und  Vorträgen  zur  Geschichte  Ost- 
frieslands, Heft  8  und  9,  1908  erscheint  als  dankenswerter  Beitrag 
zur  Verkehrs-  und  Kulturgeschichte  eine  Arbeit  des  Postdirektors 
C.  Eßlinger,  die  „das  Postwesen  in  Ostfriesland'',  seine  Ent- 
wicklung und  Verwaltung  von  der  preußischen  Besitznahme  des 
Landes  (1744)  bis  zum  Jahre  1806  darstellt.  Durch  Einrichtung, 
einer  staatlichen  Post  an  Stelle  des  alten,  höchst  unvollkommenen 
Privatbetriebes  lernte  auch  das  ostfriesische  Volk  Segen  und  Vor- 
teile einer  staatlichen  Verkehrsanstalt  kennen.  Verhältnismäßig 
ansehnlich,  zugleich  ein  Zeichen  der  ersprießlichen  Entwicklung, 
war  der  steigende  Gewinn  für  die  Staatskasse,  der  1758  nur  1600, 
1805  dagegen  20000  Taler  betrug. 

Kühnel  stellt  in  d.  Forsch,  z.  Gesch.  Niedersachsens,  1907, 
Bd.  1,  Heft  5  („Finden  sich  noch  Spuren  der  Slaven  im  mittleren 
und  westlichen  Hannover?*")  aus  Urkunden,  Flurkarten  etc.  die 
sicher  bzw.  wahrscheinlich  slavischen  Orts-  und  Flurnamen  zu- 
sammen und  gelangt  zu  dem  Ergebnis,  daß  einzelne  slavische 
Orts-  und  Flurnamen  und  verhältnismäßig  zahlreiche  nach  Wenden- 
art gebaute  „Rundlinge"  im  Süden  Hannovers  bis  nach  Goslar,  im 
Westen  bis  an  die  Weser  und  Hunte  vorkommen.  —  Von  Ursprung 
und  Entwicklung,  Verwaltung,  Lebensweise,  Vermögen  der  Lüne- 
burger Hospitäler,  deren  nicht  weniger  als  fünf  in  der  nur  mäßig 
bevölkerten  Stadt  existierten,  erhalten  wir  in  Heft  6  derselben 
Sammlung  ein  umfassendes  Bild  aus  Zech  lins  Arbeit  „Lüne- 
burgs Hospitäler  im  Mittelalter";  sie  bietet  einen  wertvollen  Bei- 
trag zur  Geschichte  der  städtischen  Wohlfahrtspflege. 

In  den  neuen  Mitteil,  des  thüringisch-sächs.  Vereins  aus  dem 
Gebiet  hist.-antiquar.  Forsch.,  Bd.  23,  Heft  2,  1908  veröffentlicht 
Kost  er  aus  dem  städtischen  Archiv  Aufzeichnungen  des  Ober- 
kämmerers Weinich  über  „die  Stadt  Naumburg  a.  Saale  im  sieben- 
jährigen Krieg**. 


Deutsche  Landschaften.  469 

Einen  Beitrag  zur  kirchlichen  Geographie  Sachsens  liefert 
im  neuen  Archiv  für  sächs.  Gesch.  u.  Altertumsk.  Bd.  29,  Heft  1  u.  2, 
1908  Leo  Bönhoffs  Aufsatz  über  ^den  Pleißensprengel'')  einen 
der  vier  (bzw.  fünf)  Archidiakonate  der  Naumburger  Diözese;  er 
sucht  Grenzen  und  Bestand  (99  Kirchspiele)  des  Sprengeis  zu 
ermitteln.  Karl  Gör  1er  veröffentlicht  ebendaselbst  Studien  »zur 
Bedeutung  des  siebenjährigen  Krieges  für  Sachsen'. 

Über  Hafenrecht  und  Marktzwang  in  Mecklenburg  handelt 
eingehend  Fr.  Tech en  in  den  hansischen  Geschichtsbl.,  Jahr- 
gang 1908,  Heft  1. 

Einen  gut  orientierenden  Oberblick  über  Eigenart  und  Ent- 
wicklung der  Kunst  in  Ostpreußen  gibt  Br.  Schumacher  in 
der  Ostdeutschen  Bauzeitung,  Breslau  1908,  Nr.  40  und  42. 

P.  Girgensohn,  „Die  Inkorporationspolitik  des  deutschen 
Ordens  in  Livland  1378—1397"  in  d.  Mitt.  aus  d.  livländ.  Gesch., 
Bd.  20,  Heft  1,  1907  schildert  die  Bemühungen  des  Ordens,  im 
Interesse  der  inneren  Konsolidierung  des  Landes  die  Selbständig- 
keit der  Bischöfe  zu  brechen,  vor  allem  die  beiden  größten  geist- 
lichen Gebiete,  das  Erzstift  Riga  und  Dorpat,  dem  Orden  zu  in- 
korporieren. —  Der  erste  zwischen  dem  Deutschorden  und  Ruß- 
land geführte  Kampf,  der  trotz  großer  Niederlagen  des  Ordens 
endlich  doch  die  Schicksale  Estlands  zugunsten  der  Deutschen 
entschied  (1242),  wird  am  gleichen  Ort  von  P.  v.  d.  Osten- 
Sacken  dargestellt. 

Val.  Schmidt,  „Südböhmen  während  der  Hussitenkriege* 
in  d.  Mitt.  d.  Ver.  f.  Gesch.  der  Deutschen  in  Böhmen,  Jahrgang  46, 
Nr.  3,  Febr.  1908  schildert  die  Verbreitung  des  Hussitismus,  iiikeLS 
beide  Züge  gegen  Südböhmen  (1420,  1421)  und  die  weiteren 
Kämpfe  der  Parteien  bis  zum  Jahre  1427. 

Neue  Bficher:  Heinr.  Brennwalds  Schweizerchronik.  Bd.  1. 
Hrsg.  von  Luginbühl.  (Basel,  Basler  Buch-  u.  Antiquariatshandl. 
10,40  M.)  —  Gillardon,  Nikolaischule  und  Nikolaikloster  in 
Chur  im  17.  Jahrhundert.  Bündnerische  Schulbestrebungen  in 
dieser  Zeit.  (Chur,  Schuler.  3  M.)— Windelband,  Der  Anfall 
des  Breisgaus  an  Baden.  (Tübingen,  Mohr.  3  M.)  —  Tumbu It, 
Das  Fürstentum  Fürstenberg  von  seinen  Anfängen  bis  zur  Media- 
tisierung  im  Jahre  1806.  (Freiburg  i.  B.,  Bielefeld.  5  M.)  —  Elf  1er, 
Das  ärarialische  Weingut  in  Unterfranken  1805 — 1905.  (Leipzig, 
Deichert  Nachf.  4M.)  ~  Wilh.  Herzberg,  Das  Hambacher  Fest. 
Geschichte  der  revolutionären  Bestrebungen  in  Rheinbayern  um 
das  Jahr  1832.  (Ludwigshafen,  Gerisch  &  Co  5  M.)  —  Valen- 
tin, Frankfurt  am  Main  und  die  Revolution  von  1848/49.    (Stutt- 


470  Notizen  und  Nachrichten. 

gart,  Cotta  Nachf.  10  M.)  — -  Muth,  Die  Kongregation  Unserer 
lieben  Frau  von  Trier.  Welschnonnenkloster.  (Strafiburg,  Heitz. 
6  M.)  —  Der  Liber  Ordinarius  der  Essener  Stiftskirche.  Hrsg.  von 
Arens.  (Paderborn,  Junfermann.  6,50  M.)  —  Schönnes- 
höfer,  Geschichte  der  Bergischen  Landes.  2.,  verm.  u.  neu- 
bearb.  Aufl.  (Elberfeld,  Martini  &  Grüttefien.  5  M.)  —  Höynck, 
Geschichte  der  Pfarreien  des  Dekanats  Arnsberg.  (lausten, 
Severin.  5M.)  —  Jürgens,  Wirtschafts-  und  Verwaltungs- 
geschichte der  Stadt  Varel.  (Oldenburg,  Stalling.  5  M.)  —  Hohn- 
stein, Geschichte  des  Herzogtums  Braunschweig.  (Braunschweig, 
Bartels  Nachf.  3,75  M.)  —  Otto  Bock,  Die  Reform  der  Erfurter 
Universität  während  des  Dreißigjährigen  Krieges.  (Halle,  Nie; 
meyer.  2,80  M.)  —  Costabell,  Die  Entwicklung  der  Finanzen 
im  Herzogtum  Sachsen-Meiningen  von  1831  bis  zur  Gegenwart 
(Jena,  Fischer.  3  M.)  —  Wappler,  Inquisition  und  Ketzerpro- 
zesse in  Zwickau  zur  Reformationszeit.  (Leipzig,  Heinsius  Nachf. 
5,60  M.)  —  Seraphim,  Baltische  Geschichte  im  Grundriß. 
(Reval,  Kluge.  3,50  M.)  —  Haller,  Die  Verschwörung  von  Sege- 
wold  (1316).  (Riga,  Kymmel.  1,20  M.)  —  Rant,  Die  Franzis- 
kaner der  österreichischen  Provinz,  ihr  Wirken  in  Niederöster- 
reich, Steiermark  und  Krain  bis  zum  Verfalle  der  Kustodie  Krain 
und  ihrer  Klöster  (1596).  (Laibach,  Kathol.  Buchh.  2,80  M.)  — 
Bretholz,  Das  mährische  Landesarchiv.  Seine  Geschichte, 
seine  Bestände.    (Brunn,  Winiker.     10  M.) 

Vermischtes. 

Ein  internationaler  historischer  Kongreß,  der  zur 
Erinnerung  an  die  spanischen  Befreiungskämpfe  gegen 
Napoleon  (1807—1815)  vom  14.  bis  zum  20.  Oktober  in  Zaragoza 
abgehalten  werden  soll,  setzt  sich  die  Aufgabe,  durch  Vorträge 
und  Mitteilungen  in  einzelnen  Sektionen  (für  polit.  Geschichte, 
innere  Geschichte,  ungedruckte  Quellen  u.  a.)  unsere  Kenntnis 
jener  Jahre  zu  fördern.  Beitrag  15  Pesetas.  Vorsitzender  des 
Ausschusses:  Universitätsprofessor  Dr.  E.  Ibarra  y  Rodriguez  in 
Zaragoza. 

Paul  Kehrs  Jahresbericht  des  Preußischen  Histori- 
schen Instituts  zu  Rom  für  1907/08  bezeugt  von  neuem  neben 
dem  Wachstum  des  Bestandes  ein  erfreuliches  Gedeihen  der 
wissenschaftlichen  Arbeiten.  Eine  dritte  Assistentenstelle  ist  ge- 
schaffen worden;  ihr  Inhaber,  Liz.  Freiherr  Hans  von  Soden, 
wird  die  ital.  Bibliotheken  nach  voreusebianischer  altchristlicher 
Literatur  durchforschen.   Von  den  Nuntiaturberichten  wird  der 


Vermischtes.  471 

durch  Cardauns  bearbeitete  Band  5  der  1.  Serie  (Morone,  Farnese, 
Cervini),  dessen  erste  Hälfte  im  Druck  fast  vollendet  ist,  nach 
Vollendung  des  2.  Teiles  als  Ganzes  erscheinen.  Band  10  der- 
selben Serie  (Mai  1547  bis  Juli  1548),  bearbeitet  von  Friedensburg, 
ist  erschienen.  III,  5  (Portia),  bearbeitet  von  Schellhaß,  wird  in  Kürze 
vorliegen.  A.  O.  Meyer,  der  durch  reiche  Funde  im  Borghese- 
archiv  aufgehalten  worden  ist,  steht  vor  dem  Drucke  der  Prager 
Nuntiaturberichte  von  1603 — 1606.  Das  Repertorium  Germani- 
cum  wird  zunächst  einen,  dem  Gegenpapst  Klemens  VII.  gewid- 
meten Band  bringen,  der,  von  Göller  bearbeitet,  Anfang  1909  in 
die  Presse  kommen  soll.  Von  Göllers  Geschichte  der  päpst- 
lichen Pönitentiarie  ist  der  1.  Band  (bis  zu  Eugen  IV.)  in  2  Teilen 
erschienen.  A.  O.  Meyers  Darstellung  über  „England  und  die 
katholische  Kirche  unter  Elisabeth**  ist  im  Drucke,  ebenso  der  von 
Hiltebrandt  bearbeitete  1.  Band  der  römisch-preußischen  Akten 
(besonders  des  18.  Jahrhunderts).  Cardauns  hat  die  Akten- 
sammlung für  ein  Werk  über  Febronius  (Hontheim)  abgeschlossen. 
Andere  Arbeiten  sind  im  Entstehen.  Das  Regestum  Volaterranum 
(778—1303)  von  Fedor  Schneider  liegt  bereits  seit  April  1907  vor. 

Die  GesellschaftfürrheinischeGeschichtskunde 
hat,  wie  wir  ihrem  Jahresbericht  für  1907  entnehmen,  folgende 
Publikationen  ausgegeben :  XI,  2,  Landtagsakten  von  Jülich-Berg, 
1400—1610,  herausg.  von  G.  v.  Below,  Band  2  (1563—1589).  — 
XII,  1  und  2,  Die  Kölner  Zunfturkunden  nebst  anderen  Kölner 
Gewerbeurkunden  bis  zum  Jahre  1500,  bearbeitet  und  herausg.  von 
H.  V.  Loesch  (2  Bde.).  —  XXIII,  4,  Urkunden  und  Regesten  zur 
Geschichte  der  Rheinlande  aus  dem  Vatikanischen  Archiv,  Band  4 
(1353—1362),  bearbeitet  von  Sauerland.  Der  von  Knipping 
bearbeitete  3.  Band  der  Regesten  derKölnerErzbischöfe 
(1204 — 1304),  dessen  Erscheinen  schon  öfters  in  nahe  Aussicht 
gestellt  worden  ist,  steht  im  Drucke  erst  beim  Jahre  1247;  dieses 
langsame  Fortschreiten  legt  den  Wunsch  nahe,  daß  sich  die  Ge- 
sellschaft entschließen  möchte,  die  Regesten  lieferungsweise  zu- 
gänglich zu  machen.  Im  Drucke  sind  ferner:  Jülich-Bergische 
Landtagsakten  IL  Reihe,  Band  1,  bearbeitet  von  Küch;  vom 
Geschichtlichen  Atlas  der  Rheinprovinz  die  Karte  der 
kirchlichen  Einteilung  der  Rheinlande  um  1300  (Fabricius)  und 
die  erste,  die  kölnische  Kirchenprovinz  umfassende  Hälfte  des 
zugehörigen  Textbandes  (gleichfalls  von  Fabricius);  der  5.  Band 
von  Sauerlands  Urkunden  und  Regesten  aus  dem  Vatikan. 
Archiv,  der  die  Zeit  Urbans  V.  und  Gregors  IX.  umfassen  wird; 
Inventare  des  Neuwieder  Archivs,  bearbeitet  von  S  c  h  u  1 1  z  e.  Von 
den  zahlreichen  anderen  Unternehmungen  seien  hier  die  Arbeiten 


472  Notizen  und  Nachrichten. 

genannt,  die  nahe  vor  dem  Drucke  stehen :  Die  Matrikel  der  Uni- 
versität Köln,  Band  2,  bearbeitet  von  Keussen;  die  Trierer 
Münzen  von  1556—1794,  bearbeitet  vom  Freiherrn  v.  Schrötter; 
der  2.  Band  von  Redlichs  Werk  über  die  Jülich  -  Bergische 
Kirchenpolitik. 

Die  Oberlausitzische  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften wünscht  eine  auf  die  archivalischen  Quellen  gegründete 
Darstellung  der  Geschichte  des  Siebenjährigen  Krieges 
in  der  Oberlausitz.  Zeitliche  oder  räumliche  Beschränkung 
(z.  B.  auf  eine  Sechsstadt)  ist  gestattet.  Preis  500  M.  dazu  32  M. 
Bogengeid.  Bearbeitungen  (mit  Kennwort)  sind  bis  zum  1.  Januar 
1911  an  Professor  Dr.  Jecht  iu  Görlitz  zu  senden. 

Der  auch  um  unsere  Wissenschaft  verdiente  Assyriologe 
Konrad  Eberhard  Schrader  (geb.  1836  zu  Braunschweig)  ist 
am  3.  Juli  in  Berlin  gestorben. 

Einen  Nachruf  auf  Ludwig  Traube  veröffentlicht  l-I.  Breßlau 
im  Neuen  Archiv  33,  2.  Auch  G.  Morins  Artikel :  Le  dernier  livre 
du  mattre  (Revue  Bdn^dictine  25,  2;  April  1908)  gilt  der  Erinnerung 
an  Traube.  H.  Brunn  teilt  in  den  Süddeutschen  Monatsheften 
(März)  einen  Brief  Traubes  über  die  Bamberger  Bibliothekarver- 
sammlung mit.  —  Das  1.  Heft  des  98.  Bandes  der  Revue  Historique 
(Mai-Juni)  bringt  einen  Nekrolog  auf  Arthur  de  Boislisle  aus 
der  Feder  G.  Monods.  Die  Revue  d'Histoire  moderne  enthält 
gleichfalls  (10,  2;  April  1908)  einen  Nachruf  auf  Boislisle. 


Histomche  Zeitschrift 

Begründet  von  HEINRICH  v.  SYBEL 


Unter  Mitwirkung  von 

Paul  Bailleu,  Otto  Hintze,  Otto  Krauske, 
Max  Lenz,  Sigm.  Riezler,  Moriz  Ritter,  Konrad  Varrentrapp, 

Karl  Zeumer 

herausgegeben  von 

FRIEDRICH  MBINBCKB 


Dritte  Folge  —  5.  Band  —  3.  Heft 
Der  ganzen  Reihe  101.  Band 


MÜNCHEN  UND  BERLIN 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  R.  OLDENBOURG 
1908. 


Zur  gefl.  Beachtung! 


Die  HISTORISCHE  ZEITSCHRIFT  (a.  Folge)  erscheint  in  Heften  von  k  15  Bogen 

Vndang  in  zweimonatlichen  Zwiichenriumen.  Je  3  Hehe  bilden  einen  Band,  dessen 

Inhaltsverzeichnis  sich  jeweils  am  Schlüsse  des  dritten  Heftes  befindeL 

Der  Preis  eines  Bandes  (45  Bogen)  betrigt  M.  14.-. 


Sendungen  für  die  Redaktion  der   Historischen  Zeitschrift  sind  an  Prot  Dr. 
MEINECKE,  n^BURG  L  B^  Lingenhardstrafie  3,  zu  richten. 

Rezeaslonsexemplare 

sind  entweder  direkt  an  die  Redaktion  oder  an  die  Verlagsbuchhandlung 

R.  OLDENBOURG.  MÜNCHEN,  GIQckstrafie  8,  zu  senden. 

Die  Versendung  der  zur  Besprechung  einlaufenden  Bflcher  an  die  Rezensenten 

erfolgt  durch  die  REDAKTION. 


INHALT. 


Aufsätze.  Seite 

Ober  Gätterecbt  und  Gastgerichte  in  den  deutsclien  Städten  des  Mittelalters. 

Von  Alfred  Scbultie 473 

Die  Gcschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konxils.    Von  Carl  Mirbt.    .    .    529 

Miszelle. 

Zur  Geschichte  Belgiens  im  Mittelalter.    Von  F.  Keutgen 601 


Literaturbericht. 


Allgemeines. 
Fi  not,  Das  Rassenvorurteil   . 


Seite 
.    612 


Alte  Geschichte. 
H  off  mann,  Die  Makedonen  .    .    .    615 

Mittelalter. 

P  r  e  d  e  e  k ,  Gregor  VII.,  Heinrieb  IV. 
und  die  deutseben  Fürsten  im  In- 
vestiturstreit   618 

Held  mann,  Die  Rolandsbilder 
Deutschlands 621 

— ,  Rolandsspieifiguren,  Ricbterbil- 
der  oder  Königsbilder?  ....    621 

Mulder,  Dietrich  von  Niebeim      .    623 


Seite 
i6.  Jahrhundert 
Barkbausen,  Ouicciardinis  poli- 
tische Theorien  in  seinen  Opere 

inedite 624 

27.  bis  zg.  Jahrhundert 
Erzieher   des  Preußischen  Heeres. 
Herausgegeben    von    v.  Pelet- 

Narbonne 627 

19.  Jahrhundert 
Fried  jung,   Österreich   von    1848 
bis  1860.    Bd.  1 629 

Deutsche  Landschaften. 
B  o  t  b  e ,    Frankfurter    Patrizierver- 
vermögen im  16.  Jahrhundert      .    632 


Verzeichnis  der  in  den  „Notizen  und  Nachrichten** 
besprochenen  selbständigen  Schriften. 


Seite 
Illustrierte  Weltgeschichte.  Herausg. 

von  Widmann  u.  a.  Bd.  3  u.  4  634 
Schuck  ing,  Organisation  der  Welt  636 
Orabowsky,  Recht  und  Staat  .  .  637 
Shepherd,  Guide  to the  materials 

for   the    bistory   of   the   United 

States  in  Spanish  archives  .  .  637 
Binz,  Die  deutschen  Handschriften 

der  öffentlichen  Bibliothek  der 

Universität  Basel.    I 637 

E.  Meyer,  Ägypten  zur  Zeit  der 

Pyramidenerbauer 639 

Klette,    Die    Christenkatastrophe 

unter  Nero 643 


Seite 
Halpben,    Le  comi6   d*Anjou   au 
Xhsi&cie 648 

Barth,  Hildebert  von  Lavardin 
und  das  kirchliche  Stellenbeset- 
zungsrecht 648 

V.  Wretscbko,  Zur  Frage  der  Be- 
setzung des  erzbischöflichen 
Stuhles  in  Salzburg  im  Mittelalter    649 

Baumgartner,  Geschichte  und 
Recht  des  Archidiakonates  der 
oberrheinischen  Bistttmer  mit 
Einschluß  von  Mainz  und  Wflrz- 
burg 649 


IV 


i  Ggimiiiar,  CoMtfilalio- 
MS  III  oBd  IV  cd.  ScbwalH    . 

Dormaon.  Die  StcUanc  des  Bi»> 
Freisüif  im   Kample  svi- 
vif  dem  Bajera  md 
der  r^misclica  Karie 

La  Mantia,  CapitoU  Aacioini  sal 
diritto  da  sifillo  della  caaceHena 
regia  per  la  Sicilia  posteriori  al 
1272 

Lampe,  Die  Schlacht  bei  Maapcr- 
tiais 

Nirrnheim,  tiinrich  Mormester    . 

H'ollweg:,  Dr.  Gcorc  HeAler      .    . 

Siebert,  Beitrige  zur  Torreforma- 
toriscben  Heilifeii-  nad  Reliquieo- 
▼erebrniif 

Qoelleo  zur  Schweizer  Geschiebte, 
N.   F.    I,    1,    Schveizerchronik 
Heinrich  Brennwalds,  bearb.  von 
Lofinbabl 

▼.  Möller,  Ajmar  da  Rivail,  der 
erste  RechUbistoriker ... 

Schiele,  Die  Reformation  des  Klo- 
sters Schlächtern 

de  Magistris,  Primordi  della Con- 
tesa  fra  la  repnblica  Veneta  e 
Paolo  V 

Hanck,  Rupprecht  der  Kavalier, 
Philzgraf  bei  Rhein 

Nazelle,  Le  protestantisme  en 
Saintonge  sous  le  regime  de  la 
r^ocation  1685—1789 

Glaser,  Montesquieus  Theorie  vom 
Ursprung  des  Rechts 

Durand,  Die  Memoiren  des  Mar- 
quis d*Argenson 

H  a  u  s  e  r ,  Les  compagnonnages  d'arts 
et  m^tiers  Ä  Dijon  aux  17«  et 
18*  si^cle 


«Sl 


«&3 


663 


LeienTre,  Les  ooan 
ta«K  i  b  fin  de  n 
<l*47— 17II)     . 

Fieger.  P.  Doa  F( 


ScHc 


Bre- 


671 


Stcr- 


656 
656 


657 


657 


659 


662 


666 


668 


669 


670 


670 


671 


Friis. 

Gnillaame,    Proete-verbauE    da 

Comit<  diBgifuctioa  pabliqaede 

la  Couienüoa  nationale.  VI   . 
Moräne.  Paal  I'«  de  Rassie  avaat 

ravteeaMst  17S4->17K    .... 
Golowkiae,  La  coar  et  la  rigne 

de  Paal  K* 

Bitteraaf,  Kapoleoa  L     .    .    .    . 
Liermaaa.   Das  Lyceoai   CaroU- 


672 
673 


67i 


676 


676 
678 


679 


Malier.  Kart  Friedrich  ▼.  Cardeil 

Veil,  Das  Schallest  des  Straflbor- 
ger  Gymnasiums  im  18.  Jahr- 
hundert   

Flamm,  Der  wirtschaftliche  Nie- 
dergang Freiburgs  L  Br.  nad  die 
Lage  des  stldtischea  Gnmdcigen  • 
tun»  im  U.  nad  15.  Jahrhnadert 

Fiaeisea,  Die  Akzise  ia  der  Kur- 
pfalz    

R  i  b  e  1 ,  Das  ehemalige  Bencdiktiner- 
Adelsstift  Weißenohe 

Denkschrift  zur  Hundertjahrfeier 
der  Stadt  Mflblbeim  a.  d.  Ruhr  . 

Hagedorn,  Ostfrieslands  fiaadel 
und  Schiffahrt  im  16.  Jahrhnadert 

Bretholz,  Das  mihrische  Laades- 
archiv,  seine  Geschichte,  seine 
Bestände 

Vancsa,  Geschichte  Nieder-  nad 
Oberösterreichs.  I  .    .    .    . 

A  r  b  u  8  o  w ,  Grundriß  der  Geschichte 
von  Liv-,  Est-  und  Kurland 

Baltische  Bargerkunde 692 

Fahrer  durch  Berlin  und  seine  wis- 
senschaftlichen Institute.    ...    695 


684 


685 


688 


690 


691 


691 


Berichtigung «...    700 


PIIp  H*n  Riir4«filnHAr*  ^^^  ersten  4  Seiten  der  einzelnen  Hefte,  Titel  und  In- 
rur  aen  DUaiOinoer.  haltsverzcichnis,  kommen  beim  Binden  eines  Bandes, 
der  sich  aus  3  Heften  zusammensetzt,  in  Fortfall.  Titel  und  Inhaltsverzeichnis  fCr 
einen  Band  befinden  sich  jeweils  am  Schlüsse  des  3.  Heftes. 


über  Gästerecht  und  Gastgerichte  in  den 
deutschen  Städten  des  Mittelalters. 

Von 

Alfred  Schultze. 

Richard  Schröder  zum  19.  Juni  1908  gewidmet. 

In  den  deutschen  Stadtrechten  des  Mittelalters  nehmen 
die  Sätze,  die  den  Gast,  den  Fremden,  anders  behandeln 
als  den  in  der  Stadt  Heimischen,  einen  breiten  Raum  ein. 
Wir  pflegen  sie  als  städtisches  «Gästerecht''  zusammen- 
zufassen mit  einem  Ausdruck,  den  auch  die  Quellen  nicht 
selten  (vgl.  z.  B.  Magdeburger  Fragen  II,  5,  dist.  3,  ed. 
Behrend,  oder  Bamberger  Stadtrecht,  §  433,  ed.  Zöpfl) 
in  diesem  Sinne  gebrauchen,  während  sie  freilich  oft  mit 
gastrecht,  gastesrecht  nur  eine  einzelne  der  hierher  ge- 
hörigen Einrichtungen,  das  Recht  auf  Gastgericht  oder 
das  Gastgericht  selbst,  bezeichnen.  Schon  die  Fülle  der 
gästerechtlichen  Normen  weist  auf  ihre  große  Bedeutung 
für  das  Rechts-  und  Wirtschaftsleben  der  mittelalterlichen 
Stadt  Diesre  Bedeutung  näher  zu  bestimmen  und  ins- 
besondere den  unmittelbar  auf  Handel  und  Handwerk 
sich  beziehenden  Sätzen  des  Gästerechts  die  richtige 
Stellung  im  Rahmen  der  mittelalterlichen  Stadtwirtschaft 
anzuweisen,  ist  die  Wirtschaftsgeschichte  an  der  Arbeit. 
Die  folgenden  Ausführungen  wollen  einige  andere,  vor- 
nehmlich privat-  und  prozeßrechtliche  Seiten  des  Gäste- 
rechts  herausheben,   aber  immerhin  solche,   aus  denen 

HittoriMlM  Zeitechrift  (101.  Bd.)  S.  Folge  5.  Bd.  31 


474  Alfred  Schultze, 

auf  Wesen,  Grundlage,  Richtung  des  Gästerechts  im  all- 
gemeinen Schlüsse  sich  ziehen  lassen,  und  durch  diese 
mehr  dem  Juristischen  zugewandte  Betrachtungsweise 
gerade  auch  der  Wirtschaftsgeschichte  zu  dienen  suchen.^) 

1. 
Ist  das  städtische  Gästerecht  ein  Ausläufer  des  alten 
germanischen  Fremdlingsrechts?  Ist  die  Entwicklung  so 
aufzufassen,  daß  in  den  Beschränkungen  der  Gäste  im 
städtischen  Rechtsverkehr  der  alte  Zustand  der  Recht- 
losigkeit der  Fremden  in  mannigfachen  abgeschwächten 
Varianten,  in  Gestalt  einer  gemilderten  Rechtsunfähigkeit 
oder  einer  beschränkten  Rechtsfähigkeit,  weiterlebt?  Es 
ist  dies  die  Auffassung,  auf  die  z.  B.  Goldschmidt  seine 
kurze  Skizze  in  der  Universalgeschichte  des  Handels- 
rechts (1,  S.  120  ff.)  gestimmt  hat,  wie  sie  ferner  bei 
Otto  Gierke  (Deutsches  Privatrecht  I,  S.  444  f.)  und  wohl 
auch,  obschon  mit  etwas  anderem  Ausgangspunkt,  bei 
Stobbe  (Handb.  des  deutschen  Privatrechts  I,  §  42)  und 
weiter  bei  Heusler  (Instit.  des  deutschen  Privatrechts  I, 
§  34)  vorherrscht.  2) 

>)  Sie  sind  durch  das  vortreffliche  Buch  von  Hermann 
Rudorff  ^Zur  Rechtsstellung  der  Gäste  im  mittelalterlichen  städti- 
schen Prozeß  vorzugsweise  nach  norddeutschen  Quellen*,  1907 
(O.  Gierkes  Untersuchungen  Heft  88)  angeregt.  Vgl.  dazu  meine 
Rezension  in  Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  Bd.  28,  Germanist. 
Abt.  S.  502  ff.  und  Hist.  Zeitschr.  101,  S.  119f.  Die  oben  unter 
I  und  II  behandelten  Fragen  hat  Rudorff  kaum  gestreift.  Da- 
gegen kann  ich  mich  im  Abschnitt  111  zum  großen  Teil  auf  das 
von  ihm  sorgfältig  zusammengetragene  Quellenmaterial  und  auch 
auf  seine  Darstellung  stützen,  in  der  aber  gerade  die  Beziehung 
zur  Gesamterscheinung  des  Gästerechts  und  zum  handeis-  und 
gewerberechtlichen  Teil  desselben  stark  zurücktritt  oder  nur  bei- 
läufig und  mit  anderer  als  der  oben  gewonnenen  Deutung  be- 
rührt wird. 

*)  Vgl.  auch  Beyerle,  Grundeigentumsverhältnisse  und  Bürger- 
recht im  mittelalterlichen  Konstanz  I,  1,  S.  27:  ,,Die  ursprüng- 
liche Rechtlosigkeit  der  Auswärtigen  hatte  sich  zwar  beschränkt, 
aber  sie  erschwerte  immer  noch  nicht  aüein  den  Grundeigentums- 
«rwerb,  sondern  auch  den  Betrieb  von  Handel  und  Gewerbe** ; 
auch  S.  van  Brakel  in  Vierteljahrschr.  f.  Sozial-  u.  Wirtschafts- 
geschichte 5.  S.  401. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  475 

Allein  zunächst  sind  Gäste  im  Sinne  des  städtischen 
Gästerechts,  was  v.  Below  (in  dieser  Zeitschrift  Bd.  86, 
S.  69)  mit  Schärfe  betont  hat,  nicht  bloß  Volksiremde,  Reichs- 
fremde, Reichsausländer,  sondern  in  ihrer  überwiegen- 
den Mehrheit  deutsche  Reichsangehörige,  darunter  auch 
Angehörige  derselben  Landesherrschaft,  also  etwa  Bürger 
einer  benachbarten  Stadt,  die  unter  demselben  Stadtherrn 
steht,  Landleute  der  Umgebung,  deren  Grund-  oder  Ge- 
richtsherr gerade  der  Stadtherr  der  betreffenden  Stadt 
ist.  Denn  alle,  die  „in  der  stat  nicht  gesezzen  sint  noch 
in  der  stat  gerichte"  —  Grimm,  Wörterbuch  IV,  I,  Sp.  1456  — 
sind,  wenn  sie  jetzt  ohne  die  Absicht  dauernden  Auf- 
enthaltes in  der  Stadt  weilen,  für  diese  Stadt  und  dieses 
Stadtrecht  Gäste,  Fremde,  utwendige  Leute,  hospites,  ad- 
venae,  extraneL  Den  Gegensatz  zu  ihnen  bilden  in  erster 
Linie  die  Bürger  der  betreffenden  einzelnen  Stadt,  dann 
aber  auch  die  Mitwohner,  Beisassen,  die  gleichfalls  in 
der  Stadt  wohnen,  die  städtischen  Lasten  mittragen  und 
ihren  allgemeinen  Gerichtstand  vor  dem  Stadtgericht 
haben,  ohne  doch  das  auf  Grundbesitz  oder  später  auch 
auf  Aufnahme  gegründete  Bürgerrecht  zu  besitzen,  also 
die  zur  Miete  Wohnenden,  die  Gesellen,  das  Gesinde, 
endlich,  obwohl  sie  mit  den  Bürgern  weder  die  städti- 
schen Lasten  noch  den  allgemeinen  Gerichtstand  vor  dem 
Stadtgericht  teilen,  die  in  der  Stadt  eingesessenen  Geist- 
lichen, Ritter  (Ministerialen)  und  Grundhörigen.^)  Nur 
ausnahmsweise  wird  in  manchen  Stadtrechten  für  be- 
stimmte prozessualische  Einrichtungen  des  Gästerechts 
aus  Gründen,  die  nur  in  diesen  liegen,  —  besonders  für 
die  Gastgerichte  (vgl.  unten  S.  524)  —  die  Grenze  etwas 
weiter  hinausgeschoben  und  als  Gast  erst  behandelt, 
wer  weiter  als  vier  Meilen  von  der  Stadt  wohnt  (so  in 
Freiberg  i.  S.,  cap.  111,  §  4,  ed.  Ermisch)  oder  von  seiner 
Wohnung  aus  das  Stadtgericht  nicht  in  einem  Tage  ein- 
schließlich der  Heimreise  besuchen  kann  (so  im  Magde- 

*)  Eingehende  Nachweise  bei  Rudorff  S.  2—24,  wo  auch  über 
einige  Schwankungen  in  der  Terminologie  der  Quellen  berichtet 
ist,  die  mitunter  auch  in  der  Stadt  wohnhafte  Nichtbürger  als 
Oäste  bezeichnen. 

31* 


476  Alfred  Schultze, 

burger  Rechtskreis,  vgl.  Magdeb.  Fragen  II,  5,  dist.  1^ 
ed.  Behrend).^)  Wo  aber  dann  später  der  gegen  die 
Gäste  abgegrenzte  Kreis  der  Einheimischen  sich  weitet 
zum  ganzen  landesherrlichen  Territorium,  dem  die  Stadt 
angehört,  da  ist  dieses  territoriale  Gästerecht  das  Er- 
zeugnis einer  das  Interesse  des  gesamten  Territoriums 
wahrnehmenden  landesherrlichen  Politik,  eine  im  Mittel- 
alter nur  vereinzelt  bleibende  Erscheinung  und  jedenfalls 
erst  eine  Nachahmung  des  urspriinglichen  lokalen  Gäste- 
rechts, das  es  nur  selten  verdrängt,  so  daß  hier  gewöhn- 
lich das  alte  lokale  und  das  neue  territoriale  Gästerecht 
nebeneinander  hergehen.^)  Das  Ursprüngliche  und 
Regelmäßige  und  damit  das  für  die  Untersuchung  der 
geschichtlichen  Grundlagen  des  städtischen  Gästerechts 
Maßgebende  ist,  wie  erwähnt,  die  Unterscheidung  zwischen 
den  innerhalb  und  den  außerhalb  der  Stadt  Eingesessenen: 
Alle  letzteren  sind  für  diese  Stadt  Gäste. 

Immerhin  ist  damit  die  Frage  nach  der  Abkunft  aus 
dem  alten  Fremdlingsrecht  noch  nicht  im  verneinenden 
Sinne  entschieden.  Auch  das  alte  schutzherrliche  Recht 
über  die  Fremden,  das  ihnen  den  fehlenden  Rechtschutz 
ersetzte,  dafür  aber  ihre  Person  und  ihr  Vermögen  Be- 
schränkungen und  Leistungen  zugunsten  ihres  Herrn 
unterwari,  ist,  nachdem  es  in  der  fränkischen  Zeit  sub- 
sidiär, später  ausschließlich  als  Fremdenregal  dem  König 
zugestanden  hatte,  in  der  Folgezeit  örtlich  zersplittert. 
Es  ist  vielfach  in  die  Hände  der  Grafen,  Gerichtsherren, 
seigneurs  übergegangen  und  hat  sich  als  französisches 
ius  albanagii  oder  droit  d'aubaine,  als  deutsches  Wild- 
fangsrecht mit  dem  Inhalt,  daß  der  berechtigte  Herr  die 
nicht   binnen  Jahr  und   Tag  von    einem    nachfolgenden 

»)  Rudorff  S.  20,  30,  169  ff. 

*)  Vgl.  hierzu  besonders  v.  Below  in  Jahrb.  f.  Nationalökon. 
Bd.  76,  S.  457  ff.  und  über  die  interessante  Entwicklung  in  Prag, 
wo  schon  1304  die  ersten  Ansätze  einer  Territorialisierung  des 
Gästerechts  auftauchen,  Franz  Pick  in  Mitteil,  des  Vereins  für 
Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen,  Jahrg.  44  (1906),  S.  421  ff. 
Vgl.  ferner  Th.  Stolze,  Die  Entstehung  des  Gästerechts  in  den 
deutschen  Städten  des  Mittelalters  (Diss.  Marburg  1901)  S.  84  ff., 
auch    Holtze ,   Das    Berliner   Handelsrecht   im    13.  und   14.  Jahr- 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  477 

Herrn  vindizierten  Fremden  als  seine  Leibeigenen  be- 
handeln konnte,  lange  über  das  Mittelalter  hinaus  erhalten. 
Dabei  ist  auch  der  Begriff  „Fremder'*  gewandelt,  indem 
das  Recht  nicht  bloß  gegenüber  den  zugewanderten 
Reichsfremden,  sondern  auch  gegenüber  den  Reichsunter- 
tanen, die  aus  anderen  Teilen  des  Reichs  in  den  Macht- 
bereich des  berechtigten  Herrn  gelangten,  ausgeübt  wurde.^) 
So  wäre  es  allerdings  denkbar,  daß  das  Fremdlingsrecht 
und  sein  Grundgedanke  sich  nun  auch  in  die  mehr  und 
mehr  verselbständigten  Stadtgerichtsbezirke  hineinver- 
pflanzt und  sich  dort  zugunsten  des  Trägers  der  Stadt- 
gerichtsbarkeit, des  Stadtherrn,  Vogtes  oder  später  des 
Stadtrats,  gegen  die  von  auswärts  in  den  Stadtbereich 
gelangten  Gäste,  mochten  sie  Reichsfremde  oder  Reichs- 
untertanen, selbst  Angehörige  des  gleichen  Territoriums 
sein,  Geltung  verschafft  hätte.  Deshalb  wird  man  vor  einer 
abschließenden  Stellungnahme  noch  den  kennzeichnenden 
Spuren  des  Fremdlingsrechts  in  den  Stadtrechten  nach- 
zugehen haben. 

Die  hauptsächlichen  Kennzeichen  sind  Jahresleibzins 
und  Nachlaßbehandlung.  Das  erste  entfällt  bei  den  ja 
nur  zu  vorübergehendem  Aufenthalt  in  den  Städten  weilen- 
den Gästen  selbstverständlich.  Selbst  bei  den  dauernd 
sich  in  der  Stadt  niederlassenden  Fremden  ist,  in  Deutsch- 
land wenigstens,  davon  gar  keine  Rede.  Wenn  ein  solcher 
als  Unfreier  zugewandert  war  und  nunmehr  von  seinem 
Herrn  nicht  reklamiert  wurde  oder  sich  nicht  zu  seinem 


hundert  (Schriften  des  Vereins  für  die  Geschichte  der  Stadt 
Berlin,  Heft  16)  S.  8:  Unterschied  zwischen  zollbaren  und  zoll- 
freien Gästen.  Ahnliche  Tendenzen  innerhalb  der  deutschen 
Hanse  in  der  Richtung  teilweiser  Gleichstellung  der  Bürger  der 
Hansestädte  im  Gegensatz  zu  den  Nichthansen:  W.  Stein,  Bei- 
träge zur  Geschichte  der  deutschen  Hanse  S.  112  ff.,  126  ff. 

>)  Brunner,  Rechtsgeschichte  Bd.  1  (2.  Aufl.)  §  36  und  Grund- 
züge der  deutschen  Rechtsgeschichte  (3.  Aufl.)  §  45  Ziff.  2, 
Schröder,  Rechtsgeschichte  (5.  Aufl.)  S.242,  541",  827,863*,  Ernst 
Mayer,  Deutsche  und  französische  Verfassungsgeschichte  vom 
9.  bis  zum  14.  Jahrhundert  Bd.  1,  S.  105  ff.,  Karl  Brunner,  Der 
pfälzische  Wildfangstreit  (Diss.  Heidelberg  1896)  S.  1  ff.,  6  ff.  und 
in  Zeitschrift  für  vergleichende  Rechts-  und  Staatswissenschaft 
Jahrg.  2  (1897),  S.  65  ff.,  72»,  82  f.,  106. 


478  Alfred  Schultze, 

Herrn  bekannte,  streifte  er  vielmehr  —  das  wurde  be- 
kanntlich die  Regel  —  sogar  diese  alte  Unfreiheit  ab  und 
kam  in  den  Genuß  bürgerlicher  Freiheit;  keine  Spur  da- 
von, daß  ihn  nach  Jahr  und  Tag  eine  neue  Unfreiheit  — 
kraft  des  Fremdüngsrechts  gegenüber  dem  Stadtherrn  — 
ergriffen  hätte. 

Bei  den  nur  auf  kurze  Zeit  in  die  Stadt  kommenden 
Gästen  könnte  höchstens  das  zweite  Kennzeichen  in 
Frage  kommen:  das  Recht  des  Schutzherrn,  den  beweg- 
lichen Nachlaß  des  in  seinem  Schutzbereich  verstorbenen 
Fremden  sich  anzueignen  —  das  droit  d'aubaine  im 
engeren  Sinne  —  oder  den  Nachlaß  nur  gegen  Abzug 
eines  Teiles  -  der  gabella  hereditaria  —  herauszugeben 
oder  wenigstens,  wie  bei  Grundhörigen  und  Leibeigenen, 
von  dem  Nachlaß  das  Besthaupt  oder  den  Gewandfall 
zu  nehmen.  In  der  Tat  ist  nun  die  Behandlung  der 
Fremdennachlässe  in  den  deutschen  Stadtrechtsaufzeich- 
nungen des  Mittelalters  ein  sehr  beliebtes  Thema.  Manche 
Schriftsteller^)  haben  auch  wirklich  in  den  einschlägigen 
Bestimmungen  oder  doch  in  einigen  von  ihnen  das  droit 
d'aubaine  wiedererkannt.  Ich  meine:  zum  mindesten  für 
Deutschland  mit  Unrecht. 

Die  fraglichen  Rechtsätze  treffen  zunächst  Anord- 
nung über  die  Verwahrung  des  Nachlasses,  ob  und  unter 
welchen  Garantien  er  beim  Wirt,  in  dessen  Behausung 
der  Fremde  gestorben  ist,  belassen  werden  oder  ob  er 
der  Kommune,  den  burgenses,  consuies,  scabiniy  oder  dem 
Beamten  des  Stadtherrn,  dem  Vogt,  in  Verwahrung  ge- 
geben werden  soll.  Dann  setzen  sie  regelmäßig  eine 
Frist  von  Jahr  und  Tag  fest,  innerhalb  deren  der  Emp- 
fangsberechtigte, vor  allem  der  Erbe,  und  zwar  ohne 
Unterscheidung  zwischen  einem  inländischen  und  aus- 
ländischen Erben,  eventuell  aber  auch  der  dominus  des 
unfreien   Fremden,   der  Sozius  oder  der  Gläubiger  des 

0  Stobbe  a.  a.  O.  §  42  N.  24  und  26;  Ernst  Mayer  a.  a.  O. 
Bd.  1,  S.  106  N.  100,  S.  108  N.  104,  S.  109  N.  107;  Goldschmidt,  Uni- 
versalgeschichte S.  121  Text  zu  N.  90.  Auch  das  Zitat  in  Krauts 
Grundriß  zu^Vorlesungen  über  das  deutsche  Privatrecht  (6.  Aufl.  von 
Frensdorff  bearb.)  §  48,  Nr.  5  ist  offenbar  in  diesem  Sinne  gemeint. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  479 

Verstorbenen,  sich  meiden,  sein  Recht  nachweisen  und 
die  Nachlaßgegenstände  —  nirgends  ist  von  einem  Abzug 
die  Rede  —  sich  aushändigen  lassen  soll.  Erst  für  den 
Fall  des  Ablaufs  der  Frist,  wenn  kein  Empfangsberech- 
tigter sich  gemeldet  hat  und  etwaige  Ansprüche  ver- 
schwiegen sind,  wird  der  Nachlaß  der  Obrigkeit  zuge- 
wiesen und  nun  vornehmlich  darüber  Bestimmung  ge- 
geben, ob  er  an  die  regia  potestas,  den  Stadtherrn,  den 
Vogt,  die  Stadt  oder  ob  er  an  Stadtherrn  und  Stadt, 
eventuell  auch  die  Stadtpfarrkirche  gemeinsam  und  zu 
welchen  Anteilen  fallen  soll.  Häufig  wird  noch  ausdrücklich 
die  Gültigkeit  der  letztwilligen  Vergabungen  des  Fremden 
ausgesprochen,  nicht  selten  auch  in  deren  Ermangelung 
der  Obrigkeit,  an  die  der  Nachlaß  gefallen,  zur  Pflicht 
gemacht  oder  ihrem  guten  Willen  empfohlen,  davon  etwas 
für  das  Seelenheil  des  Verstorbenen  zu  spenden. 

Unter  vielen  Beispielen  seien  für  diese  Art  der  Re- 
gelung etwa  die  Urkunde  Heinrichs  des  Löwen  von  1163 
für  die  Gothländer  (Urkundenbuch  der  Staclt  Lübeck  I, 
Nr.  3),  die  Stadtrechtsaufzeichnungen  von  Braunschweig- 
Hagen  aus  dem  12.  Jahrhundert  §  IP),  Hamm  1213, 
§  10,  Münster-Bielefeld  um  1221,  §  17  (Keutgen,  Urkun- 
den zur  städtischen  Verfassungsgeschichte  S.  178,  150, 
152),  Hildesheim  um  1300  §25  (Döbner,  Urkundenbuch 
der  Stadt  Hildesheim  I,  S.  282),  Bodenwerder  1287,  §  24, 
Holzminden  1245,  §  13,  Pritzwalk  i.  Brandenburg  1256, 
§  15  (Gengier,  Deutsche  Stadtrechte  des  Mittelalters  S.  29, 
207,  364),  Lübeck  Cod.  I  von  1243,  §  19  (Hach,  Das  alte 
Lübische  Recht  S.  190),  Emmerich  1233  (Lacomblet,  Ur- 
kundenbuch für  die  Geschichte  des  Niederrheins  Bd.  2, 
S.  100  f.),  Enns  1212  (v.  Schwind  und  Dopsch,  Ausgewählte 
Urkunden  zur  Verfassungsgesch.  d.  österr.  Erblande  S.  45 
Z.  3  ff.),  Wien  1221,  §  20  (Keutgen  S.  209),  Prag,  Rechts- 
buch  Art.  109  (Rößler,  Deutsche  Rechtsdenkmäler  aus 
Böhmen  und  Mähren  Bd.  1,  S.  132)  namhaft  gemacht. 

Hiernach  ist  der  Nachlaß  des  Gastes  dem  Ein- 
ziehungsrecht  des  Gerichtsherrn   erst   dann   ausgesetzt, 

*)  Dazu  Frensdorff  in  den  Göttinger  Nachrichten,  Phil.-hist. 
Kl.  1906.  S.  296  ff. 


480  Alfred  Schultze, 

wenn  er  nach  Jahr  und  Tag  als  erblos  erwiesen  ist,  da- 
mit aber  durchaus  in  eine  Linie  gerückt  mit  dem  Nach- 
laß des  einheimischen  Stadtbürgers,  der,  wenn  er  nach 
Jahr  und  Tag  erbelos  bleibt,  der  gleichen  Einziehung 
unterliegt.  Also  liegt  hier  nichts  anderes  vor^)  als  das 
(unserem  heutigen  Erbrecht  des  Fiskus  ähnliche)  allge- 
meine Heimfallsrecht  an  dem  im  gerichtsherrlichen  Ge- 
biet erblos  gewordenen  Gut,  wie  es  Sachsenspiegel  (1, 28) 
und  Schwabenspiegel  (ed.  Laßberg,  Art.  30)  schildern, 
das,  früher  ein  Bestandteil  der  königlichen  Gewalt,  gleich- 
falls im  Mittelalter  allmählich  in  die  Hände  der  Territorial- 
gewalten gelangt  ist. 2)  So  wird  es  denn  auch  in  vielen 
Stadtrechten  in  einer  einzigen  Vorschrift  zugleich  für 
Nachlässe  von  Einheimischen  und  Fremden  geregelt,  wie 
in  Freiburg  i.  Br.  §  2,  Satz  2  und  3,  Bern  §  51,  Hagenau 
1164,  §  3,  Lübeck  1188,  §  8  (Keutgen  S.  117  f.,  133,  134, 
184),  im  Magdeburg- Breslauer  Recht  von  1261,  §  41 
(Laband,  Magdeburger  Rechtsquellen  S.  19),  in  den  Gos- 
larer Statuten  des  14.  Jahrhunderts  (ed.  Göschen,  S.  9 
Z.  1—5),  in  Freiberg  i.  S.  V,  §  34  (ed.  Ermisch). 

Daß  aber  in  den  Stadtrechtsaufzeichnungen,  wie  wir 
oben  sahen,  so  oft  die  Behandlung  des  Fremdennach- 
lasses gerade  besonders  herausgehoben  wurde,  ist  leicht 
erklärlich.^)  Hier  waren,  wie  die  Quellen  selbst,  z.  B.  das 
Stadtrecht  von  Hamm  (a.  a.  0.),  manchmal  ausdrücklich 
betonen,  wegen  des  Fernseins  der  Familienangehörigen 
oder  Erben  des  in  der  fremden  Stadt  gestorbenen  Gastes 

")  Daß  der  erst  nach  Jahr  und  Tag  bei  Erbenlosigkeit  er- 
öffnete Zugriff  kein  Albanagium  bedeuten  kann,  erkennt  auch 
Stobbe  a.  a.  O.  §  42,  N.  28,  Abs.  2  an,  ebenso  ausdrücklich  Heyde- 
mann,  Elemente  der  Joachimischen  Konstitution  S.  248,  250.  Da- 
gegen sieht  Ernst  Mayer  a.  a.  O.  S.  lOSf.  und  N.  107  (vgl.  auch 
Brunner,  Grundzüge^  3.  Aufl.,  S.  180)  darin  ein  ius  albanagii,  das 
nur  im  Gegensatz  zu  dem  früher  sofort  wirksamen  durch  das 
Vorschieben  der  Jahr-und-Tagfrist  zum  befristeten  und  bedingten 
Okkupationsrecht  geworden  sei. 

»)  Vgl.  Schröder,  Rechtsgeschichte  S.  541  f.  und  die  dort  §  48** 
Zitierten,  besonders  Tomaschek,  Das  Heimfallsrecht,  wo  auf 
S.  14ff.  ein  Überblick  über  das  Heimfallsrecht  im  Stadtrecht 
gegeben  ist. 

')  S.  auch  Frensdorff  a.  a.  O.  S.  2%. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  481 

Bestimmungen  über  Verwahrung  und  Sicherung  des 
Nachlasses  dringend  geboten.  Hier  war  ferner  der  Fall, 
daß  die  hinterlassene  Fahrhabe,  weil  sich  für  die  fernen 
Verwandten  Mühe  und  Aufwand  der  langen  Reise  nicht 
lohnten,  oder  wegen  sonstiger  Hindernisse  binnen  Jahres- 
frist unabgeholt  und  also  erbelos  blieb,  ungleich  häufiger, 
folglich  das  finanzielle  Interesse  sowohl  auf  stadtherrlicher 
Seite  an  der  Festhaltung  als  auf  kommunaler  Seite  an 
der  Abgewinnung  des  Heimfallsrechtes  und  deshalb  die 
Notwendigkeit  einer  Entscheidung  darüber  zwischen  den 
beiden  Teilen  i)  ungleich  stärker,  als  bei  den  Erbschaften 
der  Stadteinwohner.  Hier  lag  endlich  zur  Festlegung 
der  Heimfallsansprüche  des  Sterbeorts  auch  noch  ein 
besonderer  Anlaß  in  dem  Gegensatz  zu  den  immerhin  als 
möglich  in  Frage  kommenden  Heimfallsansprüchen  des 
Heimats-  und  Wohnorts  des  Gastes.  Dagegen  er- 
hellt aus  jenen  Rechtsätzen  in  keiner  Weise,  daß  sie  die 
ordentliche  Beerbung  gegen  etwa  früher  auf  Grund  des 
„Fremdlingsrechts"  geübte  Beschränkungen,  also  gegen 
ius  albanagiiy  Abzug  oder  Besthaupt,  sicherstellen  sollten. 
Während  bekanntlich  ältere  Stadtprivilegien  und  Hand- 
festen nicht  selten  den  Nachlässen  der  Bürger  und  in 
die  Stadt  Zugewanderten  die  Freiheit  von  buteil,  Haupt- 

0  Sie  lautet  je  nach  dem  jeweiligen  Zustand  der  Stadtver- 
fassung recht  verschieden,  in  Lübeck  z.  B.  begegnen  zeitlich 
hintereinander  als  Heimfailsberechtigte :  die  königliche  Gewalt 
allein  —  diese  und  der  Stadtrat  je  zur  Hälfte  —  der  Stadtrat 
allein;  vgl.  darüber  K.  Fr.  Eichhorn  in  Zeitschr.  f.  geschichtliche 
Rechtswissensch.  Bd.  13,  S.  339  ff.,  Frendsdorff,  Stadt-  und  Gerichts- 
verfassung Lübecks  S.  36  f.,  86  f.  und  Karl  Kahler,  Das  Heimfalls- 
recht des  Fiskus  und  anderer  juristischer  Personen  nach  Lübi- 
schem  Rechte  und  BGB.  (Diss.  Rostock  1902)  S.  29  ff.  Ja  es  gibt 
dort  ein  Stadium,  in  dem  gerade  die  erblosen  Fremdennachlässe 
im  Gegensatz  zu  den  anderen  erblosen  Nachlässen  der  regia 
potestas  vorbehalten  sind.  Daß  es  sich  dabei  um  mehr  als  um 
eine  Verteilung  zwischen  den  finanziell  Interessierten,  nämlich, 
wie  Kahler  S.  48  andeutet,  um  einen  Nachklang  des  königlichen 
Fremdlingsrechtes  gehandelt  habe,  leuchtet  schon  deswegen  nicht 
ein,  weil  das  königliche  Heimfallsrecht  an  allen  erblosen  Nach- 
lässen doch  mindestens  ebenso  gut  fundiert  war.  Eine  ähnliche 
Verteilung  begegnet  ja  noch  für  Berlin  im  Jahre  1508,  vgl.  unten 
S.  484  dieses  Aufsatzes. 


482  Alfred  Schultze, 

recht  und  sonstigem  Herrenrecht  im  Verhältnis  zum 
eigenen  Stadtherrn  wie  zu  fremden  Grund-,  Leib-  und 
Gerichtsherren  zusichern^),  ist  in  jenen  Vorschriften  über 
die  Beerbung  der  städtischen  Gäste  von  ähnlichen,  auf 
„  Fremdlingsrecht"  beruhenden  Beschränkungen ,  soviel 
ich  sehe,  nirgends  die  Rede. 

Man  kann  auch  nicht  sagen,  daß  die  von  Stobbe, 
Ernst  Mayer,  Kraut  -  Frensdorff  (oben  S.  478  N.  1)  be- 
sonders angezogenen  stadtrechtlichen  Quellenstellen  dem 
entgegenstehen.  Sicher  nicht  der  §  34  des  Privilegs  des 
Kaisers  Friedrich  II.  für  Goslar  von  1219  (Keutgen  S.  181  f.). 
Nach  Stobbe  habe  sogar  der  Kaiser  hierbei  gerade,  was 
er  das  Jahr  darauf  mit  seiner  berühmten,  dem  Codex 
Justinianeus  als  Authentica  ad  c.  10  C.  6,59  einverleibten 
Konstitution  ^Omnes  peregrini"*  {M.  G.  Legum  Sectio  IV, 
Const.y  II,  no.  85,  c.  9)  allgemein  aufs  strengste  verurteilte 
und  mit  schwerer  Strafe  bedrohte,  eben  die  Ausübung 
des  las  albanagii  bezüglich  der  Fremdennachlässe,  selbst 
noch  seinem  Reichsvogt  in  Goslar  ausdrücklich  zuge- 
standen. Ganz  abgesehen  davon,  ob  diese  in  Rom  er- 
lassene Konstitution  für  Deutschland  praktische  Geltung 
erlangte  2):  der  Widerspruch  besteht  für  Goslar  gar  nicht. 
Denn  heißt  es  in  jenem  Privileg  auch,  daß  der  Vogt  „nul- 
lius hereditatem  debet  accipere  preterquam  hystrionum, 
ioculatorum  et  advenarum"^,  so  schließt  sich  doch  bezüg- 
lich der  advenae  sofort  die  Einschränkung  an,  daß  er  die 

>)  Z.  B.  Speyer  Uli  und  1182,  Worms  1114  und  1184,  Goslar 
1219,  §  1  und  2,  Dieburg  §  3,  Annweiler  1219,  §2,  auch  noch 
Frankfurt  a.  M.  1297,  §  3  (Keutgen  S.  14,  16,  17,  18,  179,  137,  138,  188). 
Auch  im  Privileg  für  Hagenau  1164,  §3  (ebenda  S.  134),  das 
„nullt  hominum  . . .  ius  obitus  aliquod  communicandi"  (Sterbefalls- 
recht) konzediert  und  Ausantwortung  an  den  Erben  „absgue  omni 
refragracione"  vorschreibt,  dürfte  Kaiser  Friedrich  I.  nichts  anderes 
als  in  seinen  Privilegien  für  Speyer  und  Worms  im  Auge  gehabt 
haben ;  jedenfalls  erhellt  auch  hier  nicht,  daß  er  sich  gerade  auch 
gegen  fremdlingsrechtliche  Abgaben  wenden  wollte. 

«)  Dafür  Stobbe  a.  a.  O.  S.  354  und  Schröder,  Rechtsgeschichte 
5.  Aufl.,  §  48".  Dagegen  Brunner,  Grundzüge  3.  Aufl.,  S.  180«, 
Ernst  Mayer  a.  a.  O.  S.  109»«»,  Karl  Brunner  in  Zeitschr.  f.  vergl. 
Rechts-  u.  Staatswissensch.  Bd.  2,  S.  107  f. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  483 

Erbschaft  dann  erst  für  sich  behalten  solle,  wenn  „per 
unius  anni  circulum  .  .  .  nemo  venerit  qui  eam  pelaV". 
Also  nichts  als  das  gewöhnliche  Heimfallsrecht  an  erb- 
losem GutI 

Freilich,  ein  gleicher  Zusatz  fehlt  in  §  13  des  ältesten 
Stadtrechts  von  Soest  aus  dem  12.  Jahrhundert:  „Prae- 
terea  iuris  advocati  est  hereditaiem  accipere  Frisonum 
et  Gallorum''  (Keutgen  S.  140),  wobei  es  übrigens  noch 
sehr  zweifelhaft  ist,  ob  darunter  nicht  vielmehr  in  Soest 
„angesiedelte**  Friesen  und  Walen  i)  statt  friesischer  und 
welscher  „Gäste**  zu  verstehen  sind.  Und  ebenso  fehlt 
ein  solcher  Zusatz  in  der  hier  ins  Feld  geführten  Stelle 
aus  dem  Kölner  Schiedsspruch  zwischen  der  Stadt  und 
dem  Erzbischof  vom  Jahre  1258.  Die  letzte  der  Be- 
schwerden nämlich,  die  der  Erzbischof  dem  Schieds- 
spruch unterbreitet,  stützt  sich  darauf,  daß  sein  camera- 
rius  „bona  adventitiorum  hominum  qui  decedunt  potesi 
et  debet  recipere*",  wovon  er  den  Pfeffer  für  die  erz- 
bischöfliche Küche  liefere,  und  rügt,  daß  nun  „ipsi  cives 
istos  homines  camerario  contradicunf*,  wodurch  den 
Rechten  des  Erzbischofs  und  des  Kämmerers  Eintrag 
geschehe.  Die  Schiedsrichter  entscheiden  offenbar  im 
Sinne  des  Erzbischofs,  indem  sie  sagen,  daß  es  so  ge- 
halten werden  solle,  wie  es  von  Rechts  und  alter  Ge- 
wohnheit wegen  bisher  beobachtet  worden  sei  (Keutgen 
S.  163,  Nr.  53  und  S.  170  ad  53).  Zwingt  uns  hier  nicht 
das  gesamte  übrige  Quellenmaterial  aus  den  gleichen 
Zeiten,  die  Beschränkung  auf  solche  Nachlässe,  die  binnen 
Jahr  und  Tag  ohne  reklamierenden  Erben  geblieben  sind, 
als  selbstverständlich  zu  unterstellen?  Wie  sollten  Soest 
und  Köln  zu  so  schwerwiegenden  Abweichungen  kommen? 
Entschieden  sollte  eben  hier  nur  werden,  wem  das  Heim- 


0  So  Ilgen  in  Deutsche  Städtechroniken  Bd.  24,  S.  XX.  Vgl. 
A.  Schulte,  Geschichte  des  mittelalterlichen  Handels  Bd.  1,  S.  78. 
Dafür  spricht  auch  die  Wiederkehr  der  Bestimmung  in  der  Alten 
Soester  Schrae  aus  der  Mitte  des  U.Jahrhunderts  §38:  „Der 
vreysen  unde  der  walen  erve  binnen  der  stat  dat  is  des  ghe- 
richtes  unses  heren  van  Colne"  (Seibertz,  Landes-  und  Rechts- 
geschichte Westfalens  Bd.  3,  S.  392). 


484  Alfred  Schultze, 

fallsrecht  in  den  fraglichen  Fällen  gebührte.  Das  lehrt 
uns  ja  die  ausführlichere  Kölner  Stelle  aufs  deutlichste. 
Der  Erzbischof  beklagte  sich,  daß  die  Bürger  ihm  oder 
seinem  Kämmerer  das  Recht  streitig  machten.  Sie 
wollten  dasselbe  durchsetzen,  was,  wie  oben  erwähnt, 
die  Bürger  mancher  anderen  Stadt  ihrem  Stadtherm 
gegenüber  damals  erreichten.  Nur  um  die  Formulierung 
dieses  Streitpunktes  handelte  es  sich.  Inhalt  und  Voraus- 
setzungen des  Rechts  blieben  außer  Frage.  Daß  die 
Bürger  es  waren,  welche  das  Recht  für  sich  in  Anspruch 
nahmen,  ist  mir  auch  geradezu  ein  Beweis  gegen  die 
Annahme  eines  albanagium.  Solche  den  leibherrlichen 
ähnliche  Rechte  über  die  Bürger  anderer  Städte  (als 
Gäste)  gewinnen  zu  wollen,  scheint  mir  im  Widerspruch 
mit  den  allgemeinen  Tendenzen  der  bürgerlichen  Kreise. 
In  solchem  Sinne  wird  also  das  j^cives  istos  homines 
camerario  contradicunf*  nicht  zu  nehmen  sein.  Daß 
man,  wo  es  auf  die  Kompetenzregulierung  ankam,  das 
Heimfallsrecht  nicht  immer  inhaltlich  lückenlos  um- 
schrieb, begegnet  auch  anderswo.  Ich  verweise  auf  das 
Stadtrecht  von  Euskirchen  1302,  §  II  (Keutgen  S.  157), 
wo  es  nur  heißt  „sine  prole  vel  herede''  ohne  Hinweis 
auf  die  zur  Feststellung  der  Erbenlosigkeit  gewährte 
Jahr-  und  Tagfrist,  obschon  in  bezug  auf  Nachlässe  der 
heimischen  Stadtbürger,  so  daß  nur  das  übliche  Heim- 
fallsrecht nach  Jahr  und  Tag  gemeint  sein  kann.^)  Ich 
verweise  ferner  auf  die  Urkunde  des  Kurfürsten  Joachim  I. 
von  Brandenburg  von  1508  (von  Raumer,  Codex  dipL 
Brandenburgensis  II,  S.  241  f.),  in  der  er  den  Schwester- 
städten Berlin-Cölln  obere  und  niedere  Gerichtsbarkeit 
mit  allen  Gefällen  und  Nutzungen  überläßt,  aber  sich 
neben  anderem  „alle  erbfelle  von  unechten  (d.  h.  unehe- 
lichen) oder  frombden  (fremden)  lewten,  die  one  erben 
vorsterben",  vorbehält.  Schon  Heydemann  („Elemente 
der  Joachimischen  Konstitution"  S.  256  mit  251)  hat  hier 

')  Das  Prager  Rechtsbuch  erwähnt  in  Art.  109  bei  den  erb- 
losen Nachlässen  der  Gäste  die  Jahresfrist^  in  Art.  107  dagegen 
bei  den  erblosen  Nachlässen  der  Einheimischen  nicht  (Rößler, 
Rechtsdenkmäler  Bd.  1,  S.  132). 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  485 

nach  dem  Vorbild  ähnlicher  Urkunden  die  Wartefrist  von 
Jahr  und  Tag  ergänzt  und  das  ius  albanagii  ausdrück- 
lich abgelehnt.  Die  hier  beliebte  Zusammenstellung  der 
Fremdennachlässe  mit  den  Bastardnachlässen  erinnert  an 
ihre  Zusammenstellung  mit  den  Nachlässen  der  Schau- 
spieler und  Gaukler  in  Goslar  (s.  oben).  In  beiden  Fällen 
ist  sie  aber  nur  eine  rein  äußerliche,  genugsam  erklärt 
durch  den  Anlaß,  nämlich  die  Verteilung  des  Heimfalls- 
rechts unter  die  verschiedenen  öffentlichen  Gewalten: 
nach  Personenklassen  ^),  nicht  nach  Bruchteilen  des  ein- 
zelnen heimgefallenen  Nachlasses.  Sie  rechtfertigt  nicht 
etwa  einen  besonderen  Schluß  auf  eine  allgemeine  per- 
sönliche Gleichbewertung  der  advenae  oder  Fremden  mit 
jenen  „rechtlosen""  Leuten.  Dies  ergibt  sich  schon  da- 
raus, daß  derselbe  KurfUrst  Joachim  in  ähnlichen  Urkun- 
den, die  er  1509,  1513  und  1522  für  Frankfurt  a.  0., 
Brandenburg,  Perleberg  ausstellt,  mit  den  Bastard- 
nachlässen ganz  allgemein  die  Nachlässe  von  anderen 
Leuten,  die  ohne  Erben  versterben,  unmittelbar  zusammen 
nennt  und  einheitlicher  Regelung  unterwirft,  also  die 
Nachlässe  der  Einheimischen  ebensogut  wie  die  der 
Fremden.  2) 

So  viel  steht  also  mindestens  fest:  Der  Inhalt  der 
besagten  Quellenstellen  zwingt  in  keiner  Weise  zu  einer 
Deutung  im  Sinne  des  ius  albanagii.    Die  deutschen 


0  Dies  erklärt  auch  den  §  13  des  Soester  ^tadtrechts. 

')  Nach  den  Zitaten  bei  Heydemann  a.  a.  O.  S.  254,  255.  Ganz 
die  gleiche  Zusammenstellung  begegnet  in  dem  von  Tomaschek, 
Heimfallsrecht  S.  21  wiedergegebenen  Privileg  des  Kaisers  Maxi- 
milian 1.  für  Überlingen  vom  Jahre  1518.  Der  Vergleichungspunkt 
ist  die  Erbenlosigkeit,  die  aber,  während  sie  bei  den  anderen 
(Fremden  wie  Einheimischen)  ein  Vorkommnis  des  einzelnen  Falles 
ist,  bei  den  Bastards  ein  immer  anhaftendes  Attribut,  eine  Folge 
ihres  unechten  Standes  darstellt  (Heydemann  S.  363  ff.).  —  Wo  die 
Fremden  als  aubains,  Wildfänge  wirkliche  Leibeigene  des  Terri- 
torialherrn sind,  da  gehören  sie  in  der  Tat  auch  in  anderen  Be- 
ziehungen, ja  in  ihrer  allgemeinen  Bewertung  neben  die  Bastards 
und  werden  öfter  mit  ihnen  zusammen  genannt.  Vgl.  Karl  Brunner 
in  Zeitschr.  f.  vergl.  Rechts-  und  Staatswissensch.  2,  S.  77^  78^  "-S 
88,  90». 


486  Alfred  SchtütEC, 

Stadtrechte  des  Mittelalters  wenden  in  aller  Regel  auf 
die  „Gäste',  wie  sich  aus  der  Nachlaßbehandlung  ergibt, 
das  alte  Fremdlingsrecht  nicht  an.  Nicht  einmal  aus- 
nahmsweise finden  sich  sichere  Spuren  des  Gegenteils. 
Es  ist  also  gewiß  für  die  Gäste  in  deutschen  Städten 
nicht  richtig,  daß  unter  ihnen  die  Reichsangehörigen 
während  ihres  Aufenthaltes  in  der  Stadt  auf  das  Niveau 
der  Reichsfremden  herabgedrückt  wurden.  Sie  büßten 
so  lange  an  ihrer  allgemeinen  Rechtsfähigkeit,  an  ihrem 
Personenstand  nichts  ein.  Den  Bemerkungen  von  Be- 
lows  in  dieser  Zeitschrift  (Bd.  86,  S.  69)  ist  durchaus 
zuzustimmen.  Umgekehrt  scheinen  eher  unter  den 
Gästen  die  Reichsfremden  während  ihres  Aufenthaltes 
in  der  Stadt  auf  das  Niveau  der  Reichsangehörigen  em- 
porgehoben zu  sein,  ganz  abgesehen  davon,  wie  weit 
sich  ihre  Rechtsstellung  schon  ohnedies  ganz  allgemein 
im  Reiche  gegen  früher  gebessert  hatte.  Denn  ein 
Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Klassen  von  Gästen 
ist  aus  den  Stadtrechtsaufzeichnungen  weder  hinsichtlich 
der  Nachlaßbehandlung  noch  in  anderer  Beziehung  er- 
kennbar. Insofern  wirkte  also  die  oben  geschilderte, 
stadtrechtliche  Normierung  des  Gästebegriffs  —  Gäste 
—  alle  außerhalb  der  Stadt  Gesessenen  —  dem  alten 
Fremdlingsrecht  geradezu  entgegen.  In  diesem  Sinne, 
in  bezug  auf  die  Ausländer,  werden  wir  für  die  Städte 
von  „einer  rückläufigen  Bewegung  im  Mittelalter**  (Heus- 
ler,  Instit.  I,  S.  146)  kaum  reden  dürfen.  Vor  allem 
haben  beide  Klassen  von  Gästen  auch  gleichmäßig  und 
gleich  den  Bürgern  der  Stadt  einen  selbständigen,  d.  h. 
nicht  erst  durch  einen  Schutzherrn  vermittelten  An- 
spruch auf  Rechtschutz  vor  dem  Stadtgericht.^)  Sie 
können  ihr  Recht  in  Person  vor  dem  Stadtgericht  ver- 
treten. Wenn  von  Amira  (Grundriß  des  germanischen 
Rechts,  2.  Aufl.,  S.  92)  sagt:  „Im  Mittelalter  wird  der 
unmittelbare  Rechtschutz  prinzipiell  auf  alle  Ausländer 
erstreckt",    so   trifft   dies  für  die   deutschen   Stadtrechte 


')  Vgl.  besonders  Rudorif  S.  21  f.,  Planck,  Gerichtsverfahren 
im  Mittelalter  Bd.  1,  S.  184. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  487 

sicher  zu.  Der  Richter  hat  nach  der  Eidesformel,  wie 
sie  das  Rechtsbuch  nach  Distinktionen  (III,  1,  dist.  1,  ed. 
Ortloff,  Sammlung  deutscher  Rechtsquellen  Bd.  1,  S.  134) 
gibt,  zu  schwören:  „daz  ich  . .  .  wel .  .  .  glich  gewer  unde 
recht  sin  deme  armen  also  deme  riehen  .  .  .  unde  richten 
deme  gaste  also  deme  ingesessen."  Und  wenn  er  dem 
Gast,  sei  er  Ausländer  oder  Reichsangehöriger,  sein 
Recht  nicht  gibt,  so  ist  das  Justizverweigerung.  — 

Hiernach  verneinen  wir  die  Abkunft  des  deutschen 
städtischen  Gästerechts  aus  dem  alten  Fremdlingsrecht. 
Nicht  aus  Nachwirkungen  der  Idee  von  der  Rechtlosig- 
keit der  Fremden  lassen  sich  die  Unterscheidungen  in  der 
Behandlung  der  Gäste  und  der  Einheimischen  erklären. 
Das  Gästerecht  bildet  nicht  ein  Glied  in  einer  stetigen 
Entwicklung,  die  von  der  Rechtlosigkeit  über  die  be- 
schränkte zur  unbeschränkten  Rechtsfähigkeit  der  Frem- 
den hinüberfuhrt.     Es  ist  aus  anderem  Geiste  geschaffen. 

II. 

Als  einer  der  wichtigsten  gästerechtlichen  Sätze 
wird  gewöhnlich  der  Satz  angesprochen: 

Gäste  dürfen  Grundstücke,  die  dem  Stadtrecht 
und  Stadtgericht  unterliegen,  nicht  erwerben. 

Dieser  Satz  galt  in  weiter  Verbreitung,  bis  lange 
über  das  Mittelalter  hinaus.  Zuweilen  war  nicht  bloß 
der  Erwerb  des  Grundstücks,  der  Erwerb  einer  Weich- 
bildrente, also  der  Rentenkauf,  sondern  auch,  wie  in 
Lübeck^),  der  Erwerb  eines  Pfandrechts  an  dem  Grund- 
stück, weil  die  Pfandverstrickung  unter  Umständen  zum 
Pfandverfall  hätte  führen  können,  verboten.  Der  Erwerb 
war  nichtig;  den  zuwiderhandelnden  Verkäufer  traf 
öffentliche  Strafe  (z.  B.  München  Art.  223,  ed.  Auer, 
Lübeck  Cod.  II,  §  226,  ed.  Mach  S.  364).  Erbte  ein  Gast 
von  einem  Bürger  eine  städtische  Liegenschaft,   so  war. 


*)  Darüber  jetzt  eingehend  Otto  Löning,  Grunderwerb  und 
Treuhand  in  Lübeck  (Gierkes  Untersuchungen,  Heft  93)  S.  31  ff. 


488  Alfred  Schultze, 

wenn  er  nicht  in  die  Stadt  ziehen  und  Bürger  werden 
wollte,  das  mindeste,  daß  er  sie  einem  Bürger  verkaufen 
und  sich  mit  dem  Erlös  begnügen  mußte  (z.  B.  Dort- 
munder Statut  von  1354,  ed.  Frensdorff,  Dortmunder  Sta- 
tuten und  Urteile  S.  205).  Einzelne  Ausnahmen  von  dem 
Verbot  konnte  der  Rat  der  Stadt  bewilligen. 

Der  Grund  des  Verbots  ist  offensichtlich.*)  Die 
alte  deutsche  Stadtgemeinde  war  nach  ihrem  Zweck 
Marktgemeinde,  nach  ihrer  Zusammensetzung  aber 
Grundbesitzergemeinde.  Der  Zweck  der  Stadtansied- 
lung  lag  in  der  Bildung  des  Markts,  im  Betrieb  von 
Handel  und  Gewerbe,  die  Siedlung  selbst  aber  beruhte 
in  dem  Besitze  der  städtischen  Grundstücke  zu  freiem 
Eigentum  oder  zu  freiem  Leiherecht,  Weichbildrecht, 
Burgrecht.  Die  Stadtgemeinde  hat  in  ihrer  Eigenschaft 
als  Grundbesitzergemeinde  manches  Stück  der  Ver- 
fassung von  der  älteren  Landgemeinde  herübergenommen, 
vor  allem  aber  die  Verknüpfung  der  Gemeindemitglied- 
schaft und  der  aus  ihr  entspringenden  Rechte  und 
Pflichten  mit  dem  Grundbesitz.  2)  Freilich,  die  Art  der 
Verknüpfung  ist  nicht  überall  dieselbe  gewesen  und  hat 
auch  in  derselben  Stadt  im  Laufe  der  Zeit  manchen 
Wandel  erfahren. 

Einige  Städte  hielten  den  alten  Landgemeindetypus 
noch  lange  schärfer  fest,  indem  sie  den  Erwerb  städti- 
schen Grundes  den  Altbürgern,  den  alteingesessenen 
Geschlechtern  vorbehielten,  so  daß  weder  Mitwohner 
(oben  S.  475)  noch  zu  dauerndem  Wohnsitz  von  aus- 
wärts Zuziehende  „städtischen''  Grundbesitz  und  damit 


»)  Stobbe  a.  a.  O.  §  42,  Ziff.  1,  Beyerle  a.  a.  O.  S.  28,  Frens* 
dorff,  Stadt-  und  Gerichtsverfassung  Lübecks  S.  133  ff.,  v.  Maurer, 
Geschichte  der  Städte  Verfassung  H,  S.  767  ff.,  O.  Löning  S.  32  f.  mit 
S.  U  ff. 

*)  Vgl.  V.  Below,  Entstehung  der  deutschen  Stadtgemeinde 
S.  52,  Ursprung  der  deutschen  Stadt  Verfassung  S.  431!.,  nament« 
lieh  55,  und  im  Handwörterbuch  der  Staatswissenschaften  Artikel 
„Bürgerrecht«  (2.  Aufl.,  Bd.  2,  S.  1205),  Schröder,  Rcchtsgesch. 
5.  Aufl.,  §  51»«,  Planck,  Deutsches  Gerichtsverfahren  im  Mittel- 
alter Bd.  1,  S.  78. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  489 

das  Bürgerrecht  erlangen  konnten  —  eine  Ausgestaltung^) 
des  schon  in  der  lex  Salica  (Tit.  45)  enthaltenen  Satzes, 
daß  der  Widerspruch  eines  Märkers  die  Einwanderung 
eines  Ausmärkers  auf  eine  zur  Mark  gehörige  Hofstätte 
zu  hindern  vermöge.  Ein  Beispiel  bietet  Konstanz,  wo 
nach  den  Untersuchungen  Beyerles  erst  das  Salmannen- 
recht, d.  h.  die  Mitwirkung  von  Bürgern  als  Treu- 
händern beim  Erwerb  für  Nichtbürger,  allmählich  den 
engen  Kreis  sprengen  konnte. 2)  Andere  Städte  eröff- 
neten den  Zugang  zum  Grunderwerb  und  damit  zum 
Bürgerrecht  auch  Mitwohnern  und  Zuziehenden,  zu- 
weilen mit  der  Einschränkung,  daß  im  Falle  der  Be- 
lastung mit  Renten  oder  Pfandrechten  der  darüber 
hinausgehende,  also  unbelastete,  „ledige"  Anteil  am 
Grundstückswert  ein  gewisses  Mindestmaß  erreichen 
müsse,  um  als  Unterlage  des  Bürgerrechtes  zu  genügen, 
wie  Freiburg  i.  Br.  in  dem  bekannten  Satze  seines 
Stadtrechts  (§  40,  Keutgen  S.  122):  „Qui  proprium  non 
obligatum  sed  liberum  Valens  marcham  unam  in  civitate 
habuerit  burgensis  esL""^)  Wieder  andere  Städte  gingen 
schon  früh  noch  weiter  und  gewährten  auch  Mitwohnern 
ohne  eigenen  Grundbesitz,  ebenso  wie  sie  diese  zu  den 
Pflichten  der  Bürger  heranzogen,  mehr  oder  weniger 
die  Rechte  der  Bürger  oder  überhaupt  auf  ihren  Antrag 


*)  V.  Below  in  dieser  Zeitschr.  S.  69',  74»,  Heusler,  Institu- 
tionen I,  S.  147. 

*)  Parallelerscheinungen  in  Zürich :  Arnold  Escher  im  Jahr- 
buch für  Schweizerische  Geschichte  Bd.  32,  S.  89  ff.,  bes.  105  ff., 
dazu  Stutz  in  Zeitschr.  d.  Savigny-Stiftung  Bd.  28,  German.  Abt. 
S.  574  f. 

')  So  wird  der  Satz  richtig  von  Flamm,  Der  wirtschaftl.  Nieder- 
gang Freiburgs  i.  Br.  und  die  Lage  des  städtischen  Grundeigen- 
tums im  14.  und  15.  Jahrhundert  S.  %ff.  gedeutet.  Die  Deutung 
wird  bestätigt  durch  den  Vergleich  mit  dem  Prager  Rechtsbuch 
Art.  138  (Rößler  I,  S.  140):  „der  ein  erb  hab  in  der  stat,  doz  zins- 
haftig  ist . .,  is  das  is  pesser  ist  den  fünfzig  schock  über  den  zins, 
so  ist  er  gesessen  . . .  nach  der  stat  recht.*'  Das  Grundstück  braucht 
also  nicht  etwa  ganz  unbelastet  zu  sein,  wie  v.  Below,  Urspr. 
S.  52  Anm.  3  annimmt.  Der  Satz  erinnert  an  Sachsenspiegel  I, 
Art.  34  §  1. 

HistorUche  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  &.  Bd.  32 


490  Alfred  Schultze, 

durch  einen  Aufnahmeakt  die  ,, Bürgerschaft'',  doch  nicht 
ohne  einen  wesentlichen  Unterschied  von  den  „burgenses 
qui  proprias  habent  domos''  (Goslar  1219,  §  39,  vgl.  §  9, 
Keutgen  S.  179  ff.),  den  erbgesessenen  Bürgern,  die 
allein  den  Vollbesitz  aller  bürgerlichen  Rechte,  das  Voll- 
bürgerrecht, hatten.^) 

Trotz  aller  Verschiedenheiten  konnte  also  in  der 
älteren  Zeit  das  Stadtbürgerrecht  oder  wenigstens  das 
Vollbürgerrecht  überall  nur  vermittelst  städtischen  Grund- 
besitzes erlangt  und  behalten  werden.  Bezeichnend 
genug  wirft  §  24  des  Berner  Stadtrechts  (Keutgen  S.  129) 
sogar  die  Frage  auf,  ob  nicht  der  Bürger,  dessen  Haus 
abgebrannt  ist  und  der  sich  deshalb  „in  provincia"  auf- 
halten muß,  des  Bürgerrechts  verlustig  gehe,  wenn 
dies  auch  für  den  Fall,  daß  er  tributum  et  collectam 
am  Grundstück  weiterzahlt,  verneint  wird.  Hätte 
man  nun  den  Obergang  städtischen  Grundbesitzes  an 
Fremde,  die  nicht  in  die  Stadt  ziehen  und  nicht  Bür- 
ger werden  wollten,  also  an  „Gäste"  in  unserem 
Sinne,  geduldet,  so  wäre  dies  in  den  Städten  der  erst- 
genannten Art  mit  dem  Grundsatze  der  exklusiven 
Grundbesitzfähigkeit  der  Altbürger  natürlich  ganz  un- 
verträglich gewesen.  Aber  auch  abgesehen  davon,  hätte 
es  überall  die  Gefahr  einer  Verminderung  der  ihre 
Pflichten  gegen  die  Stadt  —  Wach-  und  Verteidigungs- 
dienst, Gerichtsdienst  —  versehenden  Bürger  herauf- 
beschworen und  damit  das  allgemeine  Interesse  der 
Stadt,  ja  den  Grundbau  der  Stadtverfassung  selbst  ge- 
fährdet. Auch  die  Steuerkraft  der  Stadt.  Denn  es  wäre 
fraglich  geblieben,  ob  man  den  bereits  in  seiner 
Heimatstadt  steuernden  Gast  nun  auch  noch  wegen  des 
von  ihm  erworbenen  Grundbesitzes  zu  den  eigenen 
städtischen  Steuern  hätte  heranziehen  und,  wenn  man 
es  tat,  die  Beitreibung  hätte  regelmäßig  und  ohne 
Schwierigkeiten  durchführen  können.  Allein  auf  die 
eigenen    Machtmittel    innerhalb    der    Stadt    angewiesen, 

0  So  besonders  auch  Lübeck,  dazu  O.  Löning  S.  6  ff.  Vgl. 
ferner  v.  Below,  Urspr.  S.  52*. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  491 

wäre  man  gegen  den  auswärts  wohnenden  Gast  dazu 
kaum  imstande  gewesen.  Diese  Umstände  recht- 
fertigten es,  den  Grunderwerb  der  Gäste  ausnahmslos 
zu  verbieten  oder  höchstens  dem  Stadtrat  die  Bewilligung 
des  Erwerbs  nur  in  Einzelfällen  zu  gestatten,  in  denen 
ihm  der  Gast  die  Erfüllung  jener  Pflichten  oder  einen 
ausreichenden  Ersatz  dafür  besonders  sicherstellte. 
Ein  generelles  Mittel  in  dieser  Richtung  bot  hier  die 
Treuhänderschaft,  indem  der  Gast  die  wirtschaftliche 
Nutzung  des  Grundstücks,  aber  ein  Bürger  an  seiner 
Statt  rechtlich  das  Eigentum  und  damit  die  Erfüllung 
der  daran  hängenden  Verpflichtungen  gegen  die  Stadt 
übernahm.  In  Lübeck  z.  B.  stand  dieses  Mittel  lange 
zur  Verfügung,  bis  man  im  Jahre  1543  in  einer  später 
in  die  revidierten  Statuten  von  1586  (1,  2,  §  5)  über- 
gegangenen Ratswillkür  auch  dagegen  einschritt.^) 

Das  Verbot  war  also  tief  begründet  in  der  Struktur 
der  alten  Stadtgemeinde  als  einer  Grundbesitzergemeinde. 
Es  war  das  selbstverständliche  Produkt  dieser  Ver- 
fassungsgestalt. 

Die  gleiche  Maßregel  galt  aber  auch  gegenüber 
Anderen,  so  in  den  Städten  mit  besonders  exklusivem 
Bürgerrecht  (Konstanz)  gegenüber  den  Mitwohnern  und 
Zuziehenden,  überall  aber  gegen  Ritter  und  Hofleute, 
selbst  wenn  sie  bereits  in  der  Stadt  wohnten,  und 
gegen  Geistliche,  Kirchen  und  Klöster,  auch  gegen  die- 
jenigen unter  ihnen,  die  ihren  Sitz  in  der  Stadt  hatten. 
Bei  ihnen  allen  trafen  ganz  ähnliche  Gründe  zu  wie  bei 
den  Gästen.  Man  soll  nicht,  sagt  Art.  129  des  Prager 
Statutarrechts  (Rößler  Bd.  1,  S.  87),  alle  zusammfassend, 
„gesten,  herrn,  munchen,  nunnen,  pfaffen  oder  Juden 
erb  oder  aygen,  zins  oder  selgrct  (letztwillige  Zuwendung 
im  Interesse  des  Seelenheils)  in  der  stat  inwendig  der 
mower  (Mauer)"  verkaufen  oder  schaffen  oder  geben, 
^darumb  daz  der  stat  ir  rechte  davon  nicht  abgee**.    Ja 


»)  O.  Löning  a.  a.  O.,  bes.  S.  59  f.,  39.  Vgl.  auch  A.  Kober, 
Das  Salmannenrecht  und  die  Juden  (Beyerles  Deutschrechtliche 
Beiträge  1,  3)  1907. 

32» 


492  Alfred  Schultze. 

bei  Geistlichen  und  geistlichen  Anstalten  waren  diese 
Gründe  noch  um  vieles  verstärkt  Sie  beanspruchten 
nach  kirchlichem  und  kaiserlichem  Recht  die  allgemeine 
Freiheit  von  Steuern  und  öffentlichen  Leistungen;  die 
manchmal  zu  heftigem  Kampfe  führende  Gegenwehr  der 
Städte  hatte  nur  wechselnden  und  örtlich  verschiedenen 
Erfolg.^)  Dazu  kam  die  Unveräußerlichkeit  der  einmal 
in  die  tote  Hand  gelangten  Güter.  Auf  der  anderen 
Seite  war  mit  dem  besonderen  Antrieb  zu  Seelgiften 
an  Kirche  und  Klerus  zu  rechnen.  So  handelte  es  sich 
hier  um  eine  ganz  besonders  schwere  Gefährdung  der 
Grundlagen  der  Stadtverfassung. 

Diese  Seite  des  Verbots  war  daher  auch  praktisch 
die  weitaus  bedeutsamste.  Sie  tritt  in  den  Stadtrechts- 
quellen häufig  in  den  Vordergrund,  wie  etwa  in  Art.  223 
des  Münchener  Stadtrechts  (ed.  Auer),  wonach  man 
^chainem  chloster  oder  jemant  anders,  der  mit  den  pur- 
gern  nicht  steuert""  verkaufen  soll.  Manche  Stadtrechte 
bringen  sie  nur  allein  zum  Ausdruck,  z.  B.  Goslar  1219,  §  46 
(Keutgen  S.  182)  in  der  Wendung,  daß  es  keinem  ver- 
stattet sei,  sein  Haus  der  Kirche  zu  schenken,  außer  in 
der  Weise,  daß  das  Haus  verkauft  und  nur  der  Erlös 
der  Kirche  zugeteilt  werde,  ^ut  etiam  regi  (dem  Stadt- 
herrn) ius  suum  non  detrahatur*" ,  und  ähnlich  die 
ältesten  lateinischen  Statuten  Lübecks  (Cod.  I,  §  26,  ed. 
Hach  S.  192),  die  dem  Zuwiderhandelnden  die  hohe 
Strafe  von  10  Mark  Silber  androhen,  auch  Hannover 
1307,  §  25  (Keutgen  S.  295),  auch  Erfurt  1281  (Keutgen 
S.  472  f.),  wo  das  trotzdem  der  Kirche  geschenkte 
Grundstück  zugunsten  der  Stadt  verwirkt  sein  soll. 
In  so  starkem  Maße  wie  von  Kirchen  und  Klöstern, 
war  von  auswärts  wohnhaften  Gästen  der  Erwerb  städti- 
schen Grundbesitzes  kaum  zu  erwarten.  Wenigstens 
stellen    sowohl    Beyerle   (S.  75   Anm.  21)    für  Konstanz 

*)  O.  Gierke,  Das  deutsche  Genossenschaftsrecht  Bd.  1,  S.331, 
Hinschius,  Kirchenrecht  Bd.  1,  S.  123  ff.,  v.  Below,  Handwörterbuch 
der  Staatswissenschaften,  Art.  „Bürger**  (2.  Aufl.,  Bd.  2,  S.  1183), 
O.  Löning  a.  a.  O.  S.  15.  Belege  im  einzelnen  besonders  bei  Niese, 
Verwaltung  des  Reichsguts  im  13.  Jahrhundert  S.  98  ff. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  493 

als  Otto  Löning  (S.  39  Anm.  3)  für  Lübeck  fest,  daß 
Gäste  im  Vergleich  mit  der  Geistlichkeit  sich  der  Treu- 
händerschaft auffallend  selten  bedienten;  freilich  gelang 
es,  worauf  ich  hinweisen  möchte,  den  Geistlichen  wohl 
auch  eher  als  den  Gästen,  Bürger  für  die  Rolle  der 
Treuhänder  zu  gewinnen. 

Hiernach  war  die  den  Grunderwerb  der  Gäste  be- 
treffende Vorschrift  nur  eine,  und  zwar  nicht  einmal  die 
praktisch  wichtigste,  aus  einer  Reihe  gleichartiger  Vor- 
schriften, die  sich  aus  dem  Wesen  der  älteren  Stadt- 
gemeinde von  selbst  ergaben.  Dieser  Teil  des  Gäste- 
rechts war  also  bloße  Ausstrahlung  der  auf  dem  Grund- 
besitz aufgebauten  Stadtverfassung.  Es  waren  nicht  speziell 
gerade  gegen  die  Gäste  gerichtete  Motive,  die  ihn  hervor- 
getrieben haben.  Er  entstand  unabhängig  von  dem  Ver- 
halten der  Stadt  gegenüber  den  Gästen  in  Handel  und 
Gewerbe,  vereinbar  sowohl  mit  einer  dem  Verkehr  der 
Gäste  in  der  Stadt  freundlichen  als  mit  einer  ihm  feind- 
lichen Politik.  Erst  unter  veränderten  Verfassungszu- 
ständen,  wo  der  Grundbesitz  nicht  mehr  die  frühere  aus- 
schlaggebende Bedeutung  für  das  Bürgerrecht  oder  Voll- 
bürgerrecht und  für  das  städtische  Finanzwesen  hatte, 
jene  Vorschrift  also  nicht  mehr  durch  solche  Rücksichten 
gerechtfertigt  war,  konnte  für  ihre  Fortexistenz  oder  gar 
Verschärfung  eine  allgemeine  gegen  die  Gäste  gerichtete 
Wirtschaftspolitik  bestimmend  sein.  Etwas  anderes  ist 
es,  ob  nicht  die  Ausschließung  vom  Grunderwerb  für  sich 
allein  in  ihren  Folgen  auch  Handel  und  Gewerbe  der 
Gäste  in  der  Stadt  ungünstig  beeinflussen  konnte.  Das 
ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade  natürlich  nicht  zu  be- 
streiten. Doch  geht  Fr.  Holtze^)  sicher  viel  zu  weit,  wenn 
er  schon  darin  die  Ursache  sieht  für  den  Ausschluß  der 
Nichtbürger  von  dem  regelmäßigen  Gewandschnitt  und 
damit  von  der  ;,  Hauptbetätigung  mittelalterlicher  Kauf- 
mannschaft'', der  „rechtlichen  Basis  zum  Handelsbetrieb", 
da  die  Befugnis  hierzu  von  dem  Volleigentum  oder  Unter- 


»)  A.  a.  O.   (oben  S.  476  N.  2)  S.  16  ff.,  20  f.,  24  f.,  28  f.    Vgl. 
V.  Below  in  Jahrb.  f.  Nationalökonomie  Bd.  75,  S.  4  ff. 


494  Alfred  Schultze, 

eigentum  an  einer  Kaufkammer,  d.  h.  an  einem  Räume 
im  städtischen  Kaufhaus,  abhängig  und,  weil  die  Kauf- 
kammer zu  den  Immobilien  gehört  habe,  eben  wegen  des 
Immobiliarverbotes  für  Nichtbürger  unerreichbar  gewesen 
sei.  Denn,  wie  Holtze  selbst  richtig  darlegt,  durften  die 
Gäste  während  der  Jahrmarktzeit  ja  gerade  in  einem 
besonderen  Teil  des  Kaufhauses  —  und  nur  in  diesem  — 
den  Gewandschnitt,  also  den  Tuchverkauf  im  Detail,  aus- 
üben. Warum  wäre  dies  nicht  auch  außerhalb  der  Jahr- 
marktzeit schließlich  möglich  gewesen?  Wenn  es  ihnen 
außerhalb  dieser  Zeit  verschlossen  war,  so  konnte  das 
also  nicht  eine  bloße  Folge  ihrer  Unfähigkeit  zu  liegen- 
schaftlichem Erwerb  sein,  sondern  es  war  bereits  eine 
nach  Grund  und  Ziel  ganz  speziell  auf  den  Handels- 
verkehr der  Gäste  zugeschnittene  Maßregel,  eine  Aktion 
der  Stadt  als  Marktgemeinde.  Daß  schon  das  Immo- 
biliarverbot  dem  Gästerecht  im  allgemeinen^),  auch  dem 
handeis-  und  gewerberechtlichen  Teil,  seine  Richtung  ge- 
geben habe,  ist  also  nicht  anzunehmen. 

Dagegen  hängen  allerdings  damit  zusammen  die  Be- 
schränkungen der  Zeugnisfähigkeit  der  Gäste. 

Die  Grundbesitzergemeinde  ist  zugleich  die  Gerichts- 
gemeinde, die  Gemeinde  der  dingberechtigten  und  ding- 
pflichtigen Dinggenossen.  Wo,  wie  in  Lübeck 2),  das 
Bürgerrecht  über  die  Grundbesitzer  hinaus  erstreckt  ist, 
haben  doch  nur  diese  als  Vollbürger  das  Recht  auf  aktive 
Teilnahme  am  Ding.  Nur  erbgesessene  Bürger  sind  also 
fähig,  als  Urteilfinder  zu  wirken.  Dem  Urteilfinden  ist 
nach  seiner  Ausgestaltung  im  deutschen  mittelalterlichen 
Recht  das  Zeugnis  vor  Gericht  nahe  verwandt.  Der  Zeuge 
gibt  nicht,  vom  Richter  ausgefragt,  sein  Wissen  über  die 
streitige  Frage  durch  Geschichtserzählung  im  einzelnen 
kund,  so  daß  es  dann  dem  Gericht  überlassen  wäre,  nach 
eigenem  Ermessen  den  Inhalt  der  Aussage  für  die  Bildung 

')  „Zur  Erklärung  des  Gastrechts**,  was  v.  Below  in  dieser 
Zeitschrift  Bd.  86,  S.  69  Anm.  2  als  „vielleicht"  möglich  erwägt, 
möchte  ich  es  also  nicht  heranziehen. 

*)  Mach,  Cod.  I,  §  2,  dazu  O.  Löning  a.  a.  O.  S.  7»  und  die 
dort  Zitierten. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  495 

seines  Urteils  zu  verwerten,  sondern  er  bekräftigt  mit 
seinem  Eide  die  Behauptung  der  Partei.  Wie  diese  selbst 
darin  bereits  den  Tatbestand,  so  wie  sie  ihn  unterstellt, 
mittels  rechtlicher  Schlußfolgerung,  z.  B.  zur  Behauptung 
des  soundso  viel  Schuldig-  oder  Nichtschuldigseins, 
verarbeitet  hat,  so  verarbeitet  nunmehr  der  Zeuge  in 
gleicher  Weise  den  von  ihm  aus  welchem  Grunde  nur 
immer  für  wahr  gehaltenen  Tatbestand  mittels  Anwendung 
der  ihm  bekannten  Rechtssätze  zur  zeugeneidlichen  Be- 
kräftigung jener  Behauptung.  Er  gibt  ein  Urteil  über  die 
streitige  Rechtsbehauptung  ab.  Daher  behandelt  der 
Sachsenspiegel  (Hl,  70)  die  Fähigkeit  zum  Urteilfinden 
und  die  zum  Zeugnis  zusammen  und  einheitlich.  Des- 
halb heißt  es  dort  und  ebenso  ganz  regelmäßig  in  unseren 
Stadtrechten:  Zeuge  sein  „auf"  oder  „über,  super*^  den 
Gegner  —  „Wendungen,  die  den  Gegner  als  der  Macht 
des  Zeugen  unterworfen  darstellen."')  Wer  nicht  Urteil- 
finder sein  kann,  kann  also  auch  nicht  Zeuge  sein.  Und 
es  ergibt  sich  daraus  für  die  Gäste  in  der  Stadt  die 
Folgerung:  Weil  sie  nicht  Dinggenossen  im  Stadtgericht 
sind,  können  sie  auch  nicht  Zeugen  sein.  Das  ist  nicht 
ein  durch  eine  besondere  Gästepolitik  eingegebener,  neu 
geschaffener  Rechtssatz,  nicht  „eine  entschiedene  Zurück- 
setzung des  Fremden  hinter  den  Bürger"  %  sondern  eine 
Folgerung  aus  dem  Wesen  des  Zeugnisses.  Auf  diesem 
Standpunkt  steht  eine  große  Zahl  von  Stadtrechten. 
j,NuUus  extraneus*",  heißt  es  im  Freiburger  Stadtrecht  §  14 
(Keutgen  S.  119),^)  Jestis  erit  super  burgensem  sed  tan- 
tummodo  burgensis  super  burgensem,**  und  in  §  16  (v^l. 
§  13)  wird  der  Satz*),  daß  kein  Ministeriale  oder  Grund- 


>)  Ich  stütze  mich  hierbei  auf  die  lichtvollen  Ausführungen 
Plancks  a.  a.  O.  Bd.  2,  S.46  f.,  63,  65  verbunden  mit  Bd.  1,  S.  224  ff. 

')  Wie  Stolze,  Die  Entstehung  des  Gästerechts  S.  76  meint. 

*)  Ahnlich  aus  der  Freiburger  Stadtrechtsfamilie  z.  B.  Bern 
§  15  (Keutgen  S.  128),  BurgdoH  §  194,  195  (Gaupp  Bd.2,  S.141), 
Dießenhofen  §  1 1  (Gengier,  Stadtrechte  S.  80). 

^)  Vgl.  hierzu  v.  Below  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  59,  S.  227 
Anm.  1,  Flamm  in  Mitteil,  des  Inst.  f.  österr.  Geschichtsforschung 
Bd.  28,  S.  6  f.,  Rietschel,  Vierteljahrschrift  f.  Sozial-  u.  Wirtschafts- 


4%  Alfred  Schultze, 

höriger  des  Stadtherrn  ohne  Konsens  der  Bürger  „in 
civitate  habitabit  vel^)  ius  civile  habebit*'^  mit  den  Worten 
begründet  y,ne  quis  burgensis  illorum  testimonio  possit 
offendi''.  Nicht  überhaupt  Unfreie  —  dasselbe  Stadtrecht, 
§  31,  kennt  noch  einen  „burgensis  Habens  proprium  domi- 
num"* — ,  sondern  Unfreie,  Mannen  ihres  eigenen  Stadt- 
herrn unter  sich  zu  haben,  erscheint  den  Bürgern  als 
eine  Gefahr,  und  diese  Gefahr  nimmt  in  ihren  Augen 
besonders  drohende  Form  an  in  der  Möglichkeit,  vor 
Gericht  dem  Zeugnis  dieser  dem  Stadtherrn  zur  Treue 
verpflichteten,  in  seinem  Interessenkreis  lebenden  Leute 
ausgeliefert  zu  sein.  Das  Berner  Stadtrecht *•*),  §  25,  (Keut- 
gen  S.  129)  will  dem  in  der  Stadt  seßhaften  und  alle 
städtischen  Lasten  mittragenden  hospes^)  (=  Nichtbürger) 
alle  Rechte  der  Bürger  zugestehen,  „excepto  quod  nullum 
burgensem  potest  convincere  de  hoc  quod  negat*",  d.  h. 
nur  darf  er  nicht  durch  sein  Zeugnis  dazu  helfen,  einem 
um  Schuld  oder  Straftat  verklagten  Bürger  den  Reinigungs- 
eid zu  verlegen.  Um  wie  viel  weniger  wollte  man  sich 
dessen  von  stadtfremden,  des  heimischen  Rechts  un- 
kundigen Gästen  versehen !  In  dem  Privileg  des  Kaisers 
Friedrich  11.  für  Goslar  von  1219  (§  11,  Keutgen  S.  180) 
ist  die  Fassung  des  Satzes  emphatisch  bis  zu  den  Worten 
gesteigert:  „Keiner  der  Könige  oder  der  Fürsten  des 
Reichs  oder  der  stadtfremden  Leute  soll  über  einen  Gos- 
larer Bürger  ein  extraneum  testimonium  heraufführen, 
sondern  man  soll  durch  Bürger  der  Stadt  seine  Be- 
hauptung beweisen."  Der  Bürger  braucht  sich  nur  von 
seinen  Mitbürgern  überführen  zu  lassen:  lautet  die  Vor- 
geschichte Bd.  3,  S.  435  ^  und  Neue  Studien  über  die  älteren  Stadt- 
rechte  von  Freiburj?  i.  Br.  (Sonderabdr.  aus  der  Tübinger  Fest- 
gabe für  Thudichum)  S.  7^ 

»)  Stadtrodel  §  36  (Gaupp,  Stadtrechte  Bd.  2,  S.  33)  sagt  ^nec\ 
Die  Verfassungen  von  1275  und  1293  (Schreiber,  Urkundenbuch 
der  Stadt  Freiburg  Bd.  1,  S.  79  u.  129)  sprechen  nicht  vom  Wohnen 
in  der  Stadt,  sondern  uur  vom  „Bürger  werden". 

•)  Obwohl  eine  Fälschung  aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhiftiderts, 
kann  es  natürlich  doch  zur  Kennzeichnung  der  damaligen  Rechts- 
anschauung herangezogen  werden. 

»)  Oben  S.  475  Anm.  1. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  497 

Schrift  in  Münster  1221,  §  35  (Keutgen  S.  152)  und  in 
St.  Polten  1159  (Tomaschek,  Deutsches  Recht  in  Öster- 
reich S.  21 1).  Wer  die  Wahrheit  bezeugen  soll,  muß  nach 
dem  Recht  von  Lübeck  die  Umfriedung  seines  Wohn- 
sitzes innerhalb  der  Stadtmauer,  muß  „torfach  eghen**, 
d.  h.  freies  städtisches  Grundeigen,  haben  (Hach,  Cod.  I, 
§  67,  II,  §  109).^)  Ja,  es  muß  dieser  Grundbesitz  gemäß 
Prager  Statutarrecht  Art.  66  (Rößler  1,  S.  47)  nach  Ab- 
zug der  darauf  liegenden  Zinslasten  noch  einen  Wert 
von  mindestens  20  Schock  großer  Prager  Pfennige  dar- 
stellen.2) 

Freilich  weisen  manche  Stadtrechte,  namentlich  der 
späteren  Zeit,  auch  Abweichungen  auf,  und  zwar  In  den 
verschiedensten  Abstufungen.  So  ist  in  Freiburg  i.  Ochtl. 
1249  (ed.  Zehntbauer:  Art.  71,  ed.  Gaupp,  Stadtrechte  II, 
S.  95,  Art.  67)  für  Bagatellsachen  bis  zum  Streitwert  von 
3  Schillingen  gegen  einen  Bürger  auch  das  Zeugnis  eines 
Nichtbürgers  zugelassen.  In  Iglau,  13.  Jahrhundert,  Art.  8 
(Tomaschek  a.  a.  0.),  Brunn,  14.  Jahrhundert,  Art.  81 
(Rößler  II,  S.  362)  und  ähnlich  in  Hildesheim,  ca.  1249, 
§  15,  16  (Döbner,  Urkundenbuch  der  Stadt  Hildesheim 
I,  S.  103)  ist  das  Zeugnis  eines  Fremden  gegen  einen 
Bürger  dann  gültig,  wenn  es  durch  das  hinzutretende 
Zeugnis  mindestens  eines  Bürgers  bekräftigt  wird.  Und 
Goslar  begnügt  sich  100  Jahre  nach  jenem  eben  erwähnten 
kaiserlichen  Privileg  in  allen  Rechtstreitigkeiten,  außer  um 
Liegenschaften,  ganz  allgemein  mit  dem  Zeugnis  recht- 
schaffener Leute  (Göschen  S.  94  Z.  36  ff.,  96  Z.  25  ff.).'*) 
Ebensowenig  zählt  das  Münchener  Stadtrecht  1347  Art.  85 
(ed.  Auer)  unter  den  zum  Zeugnis  Untauglichen  noch  die 
Gäste  auf.  Aber  auch  diese  mildernden  Abweichungen 
hängen  mit  dem  Wesen  des  Zeugnisses  zusammen,  näm- 

0  Dazu  O.  Löning  a.  a.  O.  S.  7,  33,  59  f. 

*)  Vgl.  ferner  Wipperfürth  1283,  §  10  (Keutgen  S.  155), 
Eisenach  1283,  §  35  (Gengier,  Stadtrechte  S.  106)  unter  vielen 
anderen. 

*)  Ober  andere  Varianten  vgl.  Planck  a.  a.  O.  I,  S.  184,  11, 
S.  56  ff.  Vgl.  auch  Augsburg  1276  (ed.  Meyer),  Art.  87,  §  1  im 
Gegensatz  zu  §  2  und  3. 


498  Alfred  Schultze, 

lieh  mit  Verschiebungen  in  der  Auffassung  dessen,  was 
einem  Zeugnis  seinen  Wert  verleiht.  Durch  eine  überreiche 
Kasuistik  schimmert  die  Gesamttendenz  hindurch,  mehr 
und  mehr  neben  den  allgemeinen  Rücksichten  auf  die 
Persönlichkeit  des  Zeugen  die  besondere  Rücksicht  au! 
die  sein  Wissen  von  dem  streitigen  Sachverhalt  sicher- 
stellenden Momente  zu  betonen,  und  so  gelangt  man  zu- 
weilen dazu  mit  einer  Verstärkung  in  letzterer  ein  Nach- 
lassen in  ersterer  Richtung  zu  verbinden.^)  Darauf  ist 
es  denn  auch  zurückzuführen,  daß  in  gewissen  Streitsachen 
von  dem  Erfordernis,  daß  der  Zeuge  Gerichtsgenosse  sei, 
Abstand  genommen  wird  und  zur  Seltenheit  sogar  Gäste, 
mit  oder  ohne  Gerichtsgenossen  zur  Seite,  als  Zeugen 
geduldet  werden.  Hierbei  kann  die  Ausgestaltung  der 
Details  im  einzelnen  Stadtrecht  durch  die  Gesamtstimmung 
gegenüber  den  Gästen  schließlich  mit  beeinflußt  worden 
sein.2)  Allein,  was  es  hier  galt  zu  zeigen,  die  Grundlage 
und  Grundrichtung  auch  der  auf  das  Zeugnis  der  Gäste 
sich  beziehenden  Sätze  liegen  in  allgemeinen  Einrichtungen 
der  mittelalterlichen  Stadtverfassung ,  Stadtgerichtsver- 
fassung und  Gerichtsprozedur,  nicht  in  besonders  auf  die 
Gäste  abgestellten  Motiven. 

III. 

Das  Schwergewicht  des  Gästerechts  liegt  in  den 
Vorschriften  über  den  Handel,  den  Gewerbebetrieb,  den 
Aufenthalt  und  Verkehr  der  Gäste  in  der  Stadt,  auch 
den  gerichtlichen  Verkehr,  d.  h.  die  Gestaltung  des  Pro- 
zesses und  der  Gerichtsverfassung,  wenn  der  Gast 
Partei  ist,  wenn  von  ihm  oder  gegen  ihn  Recht  ge- 
sucht wird.  Hier  stammen  die  bestimmenden  Ideen 
nicht  aus  der  anfänglichen  Struktur  der  Stadtverfassung, 


>)  Auch  hierzu  besonders  Planck  a.  a.  O.  II,  S.  45  ff.,  73  fi. 
Nähere  Untersuchungen  fehlen  bisher. 

*)  Vgl.  z.  B.  bezüglich  Lübecks  und  Hamburgs  Planck  S.  56: 
dort  schärfere  Entwicklung  der  Beschränkungen  der  Zeugnis- 
fähigkeit „wohl  in  Folge  der  allmählich  erlangten  größeren  staat- 
lichen Selbständigkeit  und  Abgeschlossenheit*'. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  499 

etwa  gar  aus  dem  Recht  der  Landgemeinden,  sie  sind 
vielmehr  erst  Produkte  des  entwickelten  städtischen 
Geistes.  Hier  wirkt  die  Stadt  nicht  als  Grundbesitzer- 
gemeinde, sondern  als  Marktgemeinde. 

Nur  andeutungsweise  sollen  die  Bestimmungen  über 
Handel,  Handwerk,  Aufenthalt  der  Gäste  in  der  Stadt  an 
der  Hand  der  wirtschaftsgeschichtlichen  Literatur^)  im 
folgenden  skizziert  werden. 

Dem  Gast  ist  vor  allem  der  Detailhandel,  darunter 
der  Gewandschnitt,  untersagt;  er  darf  die  Waren,  die  er 
in  die  Stadt  bringt,  oder  doch  gewisse  Warengattungen 
nur  im  großen  absetzen ;  Ausnahmen,  zuweilen  aber  auch 
noch  unter  Beschränkungen,  gelten  für  die  Marktzeiten, 
besonders  die  Jahrmarktzeiten. 

Verbreitet  ist  das  Verbot  des  Handels  zwischen 
Gast  und  Gast,  damit  nicht  der  vom  Gast  kaufende  Gast 
den  Einkauf  der  Stadtbürger  erschwere  und  verteuere 
und  der  an  den  Gast  verkaufende  Gast  den  Gleiches 
feil  haltenden  Bürgern  Konkurrenz  mache.  Wo  das 
Verbot  nicht  voll  durchgeführt  ist,  sind  die  Gäste  wenig- 
stens verpflichtet,  ihre  Waren  zuvörderst  den  Bürgern 
anzubieten.  Derartige  Vorkaufsrechte  der  Bürger  gibt  es 
in  zahlreichen  Abstufungen.  Dem  Gast  ist  der  Vorkauf 
in  jeglicher  Gestalt  aufs  strengste  untersagt. 


^)  Vgl.  besonders  im  Handwörterbuch  der  Staatswissen- 
schaften (2.  Aufl.)  die  Artikel  «Bürger^  (v.  Below),  ,,Fremden- 
recht*  (R.  Ehrenberg)  und  „Stapelrecht*  (Stieda)  und  im  Wörter- 
buch der  Volkswirtschaft  (2.  Aufl.)  die  Artikel  „Fremdenrecht'' 
(v.  Below)  und  „Stapelrecht''  (Rathgen),  femer  Stieda  in  den 
Jahrb.  f.  Nationalök.  Bd.  27,  S.  67  ff.,  v.  Below  in  dieser  Zeitschrift 
Bd.  86,  S.  63  ff.,  68  ff.  und  in  den  Jahrb.  f.  Nationalök.  Bd.  75, 
S.  4  f.,  7  f.  und  Bd.  76,  S.  457  ff.,  460  f.,  Techen  in  den  Hansischen 
Geschichtsblättern,  Jahrg.  1897,  S.60ff.,  Goldschmidt,  Universal- 
geschichte des  Handelsrechts  I,  S.  120  ff.,  Gengier,  Deutsche 
Stadtrechtsaltertümer  S.  162  ff.,  Franz  Pick  in  der  oben  S.  476 
Anm.  2  zitierten  Abhandlung  (wo  das  höchst  entwickelte  Prager 
Gästerecht  behandelt  wird),  Th.  Stolze,  Die  Entstehung  des 
Gästerechts  in  den  deutschen  Städten  des  Mittelalters  (Diss. 
1901),  M.  Scheller,  Zoll  und  Markt  im  12.  und  13.  Jahrhundert 
(Diss.  1903). 


500  Alfred  Schultze, 

Ein  Bürger  darf  nicht  mit  einem  Gast  in  eine  Han- 
delsgesellschaft treten  oder  für  einen  Gast  Handlungs- 
bevollmächtigter sein. 

Das  „Stapelrecht**  mit  Umschlags-,  Niederlags-,  Stra- 
ßenzwang soll  den  auswärtigen  Handel  nach  Möglichkeit 
in  der  heimischen  Stadt  konzentrieren  und  bei  ihr  fest- 
halten. Es  verbietet  den  Gästen,  ihre  Handelsgüter  oder 
solche  gewisser  Gattungen  durch  die  Stadt  hindurch  oder 
an  ihr  vorbei  zu  transportieren,  und  gebietet  ihnen  ent- 
weder, sie  eine  bestimmte  Anzahl  von  Tagen  in  der 
Stadt  liegen  zu  lassen  und  den  Bürgern  zum  Kauf  aus- 
zubieten und  erst  das  dann  noch  Unverkaufte  weiter- 
zuführen, oder  gar  überhaupt,  ihre  Waren  nicht  über  die 
Stadt  hinauszubringen,  also  alles  bis  zum  letzten  an 
die  Bürger  loszuschlagen,  wenn  man  nicht  wieder  zum 
Rücktransport  gezwungen  sein  will. 

Die  Gäste  müssen  die  von  ihnen  zum  Verkauf  ein- 
gebrachten Waren  nach  besonderen,  von  der  Stadt  auf- 
gestellten Tarifen  verzollen. 

Ihr  Handelsverkehr  unterliegt  einer  mannigfaltigen 
Beaufsichtigung.  Sie  dient  der  Einhaltung  der  erwähnten 
Bestimmungen,  aber  auch  der  Kontrolle  ihrer  Waren  auf 
ihre  Güte,  zu  welchem  Zweck  ihnen  bestimmte  Verkaufs- 
plätze angewiesen  sind.  Zur  Geschäftsvermittlung  müssen 
die  Gäste  sich  einheimischer,  von  der  Stadt  angestellter 
Personen  (Makler,  Unterkäufer),  zum  Abwägen  ihrer 
Waren  müssen  sie  sich  einheimischer  Wäger  bedienen 
unter  Benutzung  der  öffentlichen  Wage,  für  die  sie  z.  B. 
in  Freiburg  i.  Br.  (§  36  Keutgen  S.  122)  eine  Gebühr  zu 
zahlen  haben,  während  sie  für  die  Bürger  gebühren- 
frei ist. 

Der  Aufenthalt  der  Gäste  in  der  Stadt  ist  zeitlichen 
Beschränkungen  unterworfen.  Die  Wirte  —  meist  nicht 
berufsmäßige  Gastwirte,  sondern  Bürger,  die  neben  dem 
Betrieb  eines  andern  Gewerbes  Fremde  bei  sich  auf- 
nehmen, —  sind  für  die  Belehrung  ihrer  Gäste  über  das 
Gästerecht  der  Stadt  und  für  ihr  vorschriftsmäßiges  Ge- 
baren haftbar,  sollen  sich  insbesondere  auch  jeder  be- 
günstigenden  Einmischung   in   den   Handel   ihrer  Gäste 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  501 

enthalten.  Manchenorts  dürfen  sie  selbst  nicht  mit  ihnen 
Kaufgeschäfte  abschließen. 

Schließlich  liegt  ja  auch  in  dem  Zunftrecht  ein  wich- 
tiger gästerechtlicher  Inhalt,  gerichtet  darauf,  die  Kon- 
kurrenz auch  der  Gäste  in  den  zunftmäßig  geschützten 
Handwerken  fernzuhalten. 

Diese  Rechtssätze  haben  sich  im  Laufe  des  Mittel- 
alters mit  mannigfachen  Schwankungen  in  den  einzelnen 
Stadtrechten  und  mit  starken  Unterschieden  zwi- 
schen den  verschiedenen  Städten,  doch  im  allge- 
meinen in  steigender  Tendenz  entwickelt;  sie  haben  sich 
noch  lange  über  das  Mittelalter  hinaus  erhalten.^)  Was 
sie  bezwecken,  ist  unverkennbar.  Der  Gast  soll  hinter 
dem  Einheimischen  zurückgesetzt,  er  soll  im  Interesse 
einer  „geschlossenen  Stadtwirtschaft''  für  den  städtischen 
Handel  minder  konkurrenzfähig  gemacht,  seine  Bewegungs- 
freiheit soll  gehemmt  werden.  Gewiß  ist  nicht  alles  dar- 
auf zurückzuführen.  So  rechtfertigt  sich  z.  B.  die  dem 
Gast  obliegende  Verzollung  der  zum  Verkauf  gebrachten 
Waren,  wie  dies  auch  die  Quellen  gelegentlich  zum  Aus- 
druck bringen 2),  schon  als  Ausgleich  dafür,  daß  er  die 
Bürgerlasten,  vornehmlich  die  Schoßpflicht  und  die  Wach- 
pflicht, seinerseits  nicht  trägt,  während  er  doch  die  Vor- 
teile aus  den  städtischen  Einrichtungen  mitgenießt.  Aber 
alles  in  allem  genommen,  zeigen  die  Vorschriften  einen 
den  Gästen  und  ihrem  Handel  unfreundlichen  Geist.  Sie 
sind  nicht  bloße  Äußerungen  der  Notwehr  gegen  Betrüge- 
reien zweifelhafter  Elemente  oder  gegen  sonstige  Aus- 
wüchse des  Gästehandels,  obwohl  dies  natürlich  auch 
mitgespielt  hat.  Sie  sind  auch  nicht  bloß  dazu  da,  „Ord- 
nung in  den  bisherigen  Wirrwarr  zu  bringen",  und  erst 
recht  nicht  dazu  bestimmt,  auf  solche  Weise  „den  Ver- 
kehr zu  heben"  (Sticda  a.  a.  0.  Art.  „Stapelrecht").  Sie 
sind  vielmehr  in  der  Tat  vor  allem  —  man  denke  z.  B. 
nur  an  das  Verbot  des  Handels  zwischen  Gast  und  Gast  — 


>)  v.  Below  in  Jahrb.  f.  Nationalök.  76,  S.  459  Anm.  34. 
*)  Vgl.  Rudorff  a.  a.  O.  S.  9  und  die  dort  angeführten  Stellen, 
Scheller  a.  a.  O.  S.  56  f. 


502  Alfred  Schultze, 

von  dem  Wunsche  der  Bürgerschaft  eingegeben,  zu  ihren 
Gunsten  den  Handel  der  Gäste  nach  allen  möglichen 
Richtungen  einzuschnüren  und  damit  die  Konkurrenz 
niederzuhalten,  welche  ein  freier  Verkauf  der  Gastware 
bringen  könnte.  Einen  kaum  noch  nötigen  Beleg  dafür 
bietet  eine  Handfeste  des  Königs  Wenzel  vom  23.  Mai  1304 
für  die  Prager  Altstadt  und  Neustadt^  die  eine  Reihe  von 
gästerechtlichen  Normen  mit  der  Motivierung  einleitet: 
y,quod  ipsae  civitates  multa  detrimenta  et  dampna  red- 
plant  et  receperint  a  temporibus  retroactis  propter  hospites 
de  quibuscunque  terris,  sua  mercimonia  legata  (=  ligata) 
et  non  ligata  In  dlctas  civitates  adducentes.*"^)  Schon  in 
der  Einführung  der  Waren  selbst  wird  also  hier  die  mög- 
licherweise die  Bürgerschaft  schädigende  Handlung  ge- 
sehen. 

Nun  treten  diese  Bestimmungen  des  Gästerechts,  von 
fjanz  schwachen  und  vereinzelten  Vorläufern  abgesehen,  in 
den  Quellen  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts 
auf  und  in  weiterer  Verbreitung  und  detaillierterer  Aus- 
prägung mit,  wie  gesagt,  steigender  Tendenz  erst  vom 
13.  Jahrhundert  an.  Es  legt  dies,  obschon  wir  mit  dem 
spärlicheren  Bestand  der  früheren  Stadtrechtsquellen  zu 
rechnen  haben,  den  Schluß  nahe,  für  den  auch  die  innere 
Wahrscheinlichkeit  spricht,  daß  es  in  den  Anfangszeiten  des 
städtischen  Wesens  sich  anders  verhalten  hat,  daß  es  ein 
Gästerecht  in  diesem  Sinne,  also  im  Sinne  einer  Zurück- 
setzung und  Einengung  des  Gästehandels  nicht  gegeben 
hat,  daß  vielmehr  der  geschichtliche  Hergang  mit  von 
Below^),  der  dies  besonders  klar  hervorgehoben  hat,  und 
anderen  dahin  zu  kennzeichnen  ist:  Nach  einer  verkehrs- 
freundlichen Zeit,  in  der  die  neugegründeten  Städte  durch 


»)  Aus  dem  Abdruck  bei  Rößier,  Rechtsdenkmäler  aus  Böhmen 
und  Mähren  Bd.  1,  Einl.  S  87,  dazu  Pick  a.  a.  O.  S.  422,  vgl.  auch 
S.  425.  Das  Aufbinden  (disUgare)  der  Ware  in  der  Stadt  be- 
deutet, daß  sie  nun  zum  Verkauf  gestellt  werde. 

•)  In  dieser  Zeitschrift  Bd.  86,  S.  63  ff.,  Th.  Stolze  a.  a.  O., 
R.  Ehrenberg  a.  a.  O.  Art.  „Fremdenrecht*,  Sieveking  in  Viertel- 
jahrschrift für  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte  Bd.  2,  S.  194,  196, 
208  f.,  Flamm  (Zitat  oben  S.  489  Anm.  3)  S.  39  f.,  Pick  a.  a.  O. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  503 

das  Heranziehen  von  Fremden  und  durch  den  freien 
Handel  mit  ihnen  erstarkt  sind,  folgt  mit  dem  ausgehen- 
den 12.  Jahrhundert  ein  Richtungswechsel  in  der  städti- 
schen Wirtschaftspolitik,  die  nunmehr  durch  bewußte  Ab- 
schließung  und  durch  Zurückdrängung  und  Reglemen- 
tierung der  Fremden  den  heimischen  Handel  und  das 
heimische  Handwerk  zu  fördern  strebt.^) 

Da  scheint  Eines  dieser  Auffassung  in  den  Weg  zu 
treten:  die  Gastgerichte. 

Sie  setzen  gerade  erst  um  dieselbe  Zeit  ein  —  Ha- 
genau  (1164)  (Keutgen  S.  136)  ist  das  älteste  bisher  be- 
kannte Beispiel  in  Deutschland^)  —  und  verbreiten  sich 
vom  13.  Jahrhundert  an  weit  über  ganz  Deutschland.  Ihr 
Kernstück,  an  das  anderes  sich  angesetzt  hat  (unten  S.  523  f.), 
liegt  darin,  daß  hier  der  Gast  in  der  Stadt  das  Recht  be- 
kommt auf  eine  ganz  außerordentliche,  schleunige  Rechts- 
hilfe in  Prozessen  mit  Bürgern  und  anderen  Gästen 
^propter  transeuntis  impedimenta'' ,  wie  das  Hagenauer 
Stadtrecht  sagt,  oder  „daz  er  an  dem  naechsten  tag 
seiner  tagwaid  (=  Tagreise)  nicht  versaumpt  sey",  wie 
Art.  260  des  Münchener  Stadtrechts  von  1347  (ed.  Auer) 
sich  ausdrückt.  Und  dies  in  Prozessen  um  Geldschulden 
und  fahrende  Habe,  also  gerade  in  solchen,  die  aus 
dem  Handelsverkehr  entspringen,  und  in  leichteren  Straf- 
sachen.') Er  kann  verlangen,  daß  seinetwegen  auf  seinen 
Antrag  ein  außerordentliches  Notgericht  außerhalb  des 
„rechten  ausgelegten  Dings",  wenn  es  not  tut:  mit  ver- 
einfachter Besetzung,  zusammentrete  und  daß  die  Sache 
sofort  (Jo  /tant"*)  noch  an  dem  Tage  der  Antragstel- 
lung selbst  oder  nach  manchen  Stadtrechten  (besonders 
wenn  Beweismittel,  Eideshelfer,  Zeugen,  Urkunden  zu 
beschaffen  sind)  spätestens  „ubir  twere  nacht'' ^  d.  h.  nach 
einer  dazwischen  (quer  1)  liegenden  Nacht,  also  am  näch- 


0  V.  Below,  Jahrb.  f.  Nationalök.  75,  S.  7:  «Das  Gästerecht 
trägt  erheblich  zur  Bildung  eines  kräftigen  bürgerlichen  Klein- 
händlerstandes bei.^ 

«)  Rudorff  S.  152«. 

»)  Nicht  in  Prozessen  um  Ungericht  (schwere  Missetat)  und 
Liegenschaften:  Rudorff  S.  164  ff. 


504  Alfred  Schultze, 

sten  Tage,  entschieden  werde ,  auch  die  Vollstreckung 
des  Urteils  sich  alsbald  anschließe.  Dabei  soll  das  Gast- 
gericht ohne  Aufschub  zu  jeder  Tageszeit,  nach  einigen 
Rechten  selbst  zur  Nachtzeit,  unbekümmert  um  Feiertag 
oder  gebundene  Tage  und  nicht  bloß  an  der  ordentlichen 
Gerichtsstätte,  sondern  überall  „praeterquam  in  ecclesia, 
balneo  et  taberna''  (Eger  1279,  §  18  mit  §  17  bei  Gengier, 
Stadtrechte  S.  99),  auch  auf  der  Gasse,  abgehalten  werden 
können.^)  Eine  Justizbeschleunigung,  wie  man  sie  sich 
schöner  gar  nicht  wünschen  kanni 

Das  erscheint  als  eine  Bevorzugung  der  Gäste,  ge- 
radezu als  eine  Besserstellung  gegenüber  den  Einhei- 
mischen und  will  schlecht  passen  zur  Annahme  einer 
allgemeinen  die  Gäste  beschränkenden  Wirtschaftspolitik, 
ist  denn  auch  gegen  eine  solche  ins  Feld  geführt  wor- 
den. So  nennt  Stieda^)  die  Gastgerichte  „ein  lebhaftes 
Zeichen  der  zunehmenden  Beweglichkeit  des  Mittel- 
alters", „nur  in  dem  Wunsche  entstanden,  dem  Handeis- 
manne eine  Begünstigung  zuteil  werden  zu  lassen''. 
Auch  in  Otto  Gierkes  Deutschem  Privatrecht  (I,  §  56) 
finden  wir  den  Satz:  „Als  dann  der  aufblühende  Welt- 
verkehr eine  rücksichtsvolle  Behandlung  der  Fremden 
forderte,  wurde  ihre  Rechtstellung  immer  mehr  ver- 
bessert und  namentlich  durch  die  Einrichtung  der  städ- 
tischen Gastgerichte  befestigt."  Brunner  (Grundzüge 
der  deutschen  Rechtsgeschichte,  3.  Aufl.,  1908)  S.  166 
zählt  die  Gastgerichte  zu  den  „prozessualischen  Er- 
leichterungen", die  man  „zur  Begünstigung  des  Verkehrs 
den  Stadtfremden  einräumte".  Stobbe  (Deutsches  Privat- 
recht I,  §  42,  Ziff.  5)  sieht  in  dem  Anspruch  auf  das 
Gastgericht  eine  „Privilegierung"  der  Fremden,  und 
Goldschmidt  (Universalgeschichte  1,  S.  120)  erblickt 
einen  „Fortschritt"  gegen  früher  darin,  daß  dem  Fremden 
„gar  im  Gastgericht  unverzögertes,  vielleicht  beschleu- 


>)  Rudorff  S.  188  ff.,  149. 

•)  Jahrb.  f.  Nationalök.  27,  S.  67,  im  Anschluß  an  Osenbrüggen 
(unten  S.  505  N.  2)  S.  19,  aufrechterhalten  im  Art.  »Stapelrecht** 
a.  a.  O.  Bd.  6,  S.  994. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  505 

nigtes  Recht  gesprochen  wird".  RosenthaP)  sagt:  „Dem 
Fremden  wurde  beschleunigte  Rechtshilfe,  namentlich 
in  Abkürzung  der  Termine  bestehend,  gewährt  im  In- 
teresse eines  ungehinderten  Fremdenverkehrs."  Osen- 
brüggen^),  der  ältere  Schriftsteller  der  Gastgerichte,  leitet 
ihre  nähere  Darstellung  mit  den  Worten  ein:  „Wenn 
nun  ein  Kaufmann  .  .  .  nach  vielen  Fährlichkeiten  und 
Ausgaben  einen  Ort  erreicht  hatte,  so  war  er  gern  ge- 
sehen mit  seiner  Kaufmannschaft  und  da  genoß  er 
denn  auch  ein  wirkliches  .  . .  Recht  in  dem  allgemein 
verbreiteten  Institut  der  Gastgerichte."  Ebenso  betont 
der  jüngste  Bearbeiter  dieses  Themas,  Hermann  Rudorff 
(a.  a.  0.  S.  153),  die  in  den  Gastgerichten  liegende  „Be- 
vorzugung der  Gäste ""  mit  Nachdruck,  wenn  auch  die 
Gründe,  wie  er  sagt,  „zuletzt  egoistische''  sein  moch- 
ten, „sei  es,  daß  man  den  Verkehr  der  eigenen  Stadt 
fördern,  sei  es  daß  man  auswärtigen  Repressalienarrest 
(vgl.  unten  S.  511)  gegen  einheimische  Bürger  verhin- 
dern wollte''.  Dagegen  hat  v.  Below  (in  dieser  Zeitschrift 
86,  S.  69)  Bedenken  gegen  diese  Einschätzung  der 
Gastgerichte  angedeutet,  und  sein  Schüler  Stolze  (S.  78  ff.) 
hat  dieselbe  ausführlicher  zu  bekämpfen  gesucht,  docti 
ohne  wirklich  durchschlagende  Gründe  zu  finden  und  ohne 
dem  juristischen  Inhalt  der  Institution  gerecht  zu  wer- 
den. Nach  V.  Amira  hatte,  wenn  ich  seine  kurze  Be- 
merkung (Grundriß,  2.  Aufl.,  S.  92)  recht  verstehe,  die 
Institution  ein  Doppelgesicht,  indem  sie  zum  einen  Teil 
eine  Bevorzugung  der  Einheimischen,  zum  anderen  Teil 
eine  Bevorzugung  der  Gäste  bedeutete. 

Die  interessante  Frage  will  im  Zusammenhang  mit 
anderen  wichtigen  prozeßrechtlichen  Teilen  des  Gäste- 
rechts betrachtet  sein,  vor  allem  mit  den  Gericht- 
stands-,  den   Kompetenzverhältnissen  des  Stadtgerichts. 

Zielbewußt,  Schritt  für  Schritt,  in  Abwandlung  der 
entgegenstehenden    Sätze    des    Landrechts,    dehnte    das 

*)  Geschichte  des  Gerichtswesens  und  der  Verwaltungsorga- 
nisation Bayerns  Bd.  1,  S.  161. 

')  Studien  zur  deutschen  und  schweizerischen  Rechts- 
geschichte S.  19  ff.,  33. 

HIttoriMlic  Zeitschrift  (101.  Bd.)  X  Folge  b.  Bd.  33 


506  Alfred  Schultze, 

Stadtgericht  seine  Kompetenz  auf  die  Prozesse  der 
Gäste  aus,  sowohl  auf  die  bürgerlichen  als  auf  die  pein- 
lichen Prozesse.  Man  wird  dies  nicht  lediglich  erklären 
dürfen  aus  der  Schwäche  des  Reichs  und  der  terri- 
torialen Zersplitterung  und  aus  der  daraus  entspringen- 
den Sorge,  auswärts,  z.  B.  in  dem  Gericht  des  Wohnorts 
des  Gastes,  kein  Recht  zu  erlangen.^)  Denn  auch  auf 
Gäste  aus  dem  Territorium,  dem  die  Stadt  selbst  an- 
gehörte, auf  „homines''  des  eigenen  Stadtherrn,  auf 
seinen  landsässigen  Adel  erstreckte  sich  die  Ausdeh- 
nungstendenz der  städtischen  Gerichtsbarkeit.^)  Viel- 
mehr offenbart  sich  darin  vor  allem  die  Absicht,  was 
nur  irgendwie  in  dem  Machtbereich  der  Stadt  war,  der 
städtischen  Gerichtsherrschaft  zu  unterwerfen  und  gegen 
die  Konkurrenz  jeder  anderen  Gerichtsbarkeit  abzu- 
schließen, und  damit  —  was  ein  Hauptpunkt  war  —  das 
Streben,  die  städtischen  Gerichtseinkünfte,  an  denen  zu- 
erst allerdings  noch,  aber  in  sinkendem  Maße,  der  Stadt- 
herr teilnahm,  nach  Möglichkeit  zu  vermehren.  Was 
ähnlich  auch  in  den  anderen  Gerichtsherrschaften  all- 
mählich versucht  wurde,  in  den  Städten  wurde  es  be- 
sonders früh,  zum  Teil  erst  ein  Vorbild  für  die  anderen, 
mit  besonderer  Kraft,  Konzentration,  Einseitigkeit  und 
mit  besonderem  Erfolge  durchgeführt.')  Den  monopo- 
listischen Maßregeln  im  Handel  und  Gewerbe  reihte 
sich  die  monopolartige  Entwicklung  der  stadtgericht- 
lichen Kompetenz  gleichmäßig  an.  Das  tritt  schon  im 
Verhalten    zu    den    eigenen    Bürgern    hervor.     Handelte 

0  Vgl.  Stobbe  im  Jahrbuch  des  gemeinen  deutschen  Rechts 
Bd.  1,  S.  443,  auch  Rudorff  S.  38. 

*)  Kölner  Schiedsspruch  von  1258  (Keutgen  S.  162,  Nr  46), 
Braunschweig-Hagen  (12.  Jahrhundert)  §  14  verglichen  mit  §  13 
und  dazu  Frensdorff  in  den  Göttinger  Nachrichten,  phil.-hist.  Kl. 
1906,  S.  298  ff.,  Stadtrecht  von  Iglau  (13.  Jahrhundert)  III  bei  Toma- 
schek,  Deutsches  Recht  in  Osterreich  im  13.  Jahrhundert  S.  199 
und  die  dort  angeführten  Quellensteüen  aus  Schlesien  und  der 
Lausitz.  Vgl.  auch  Planck,  Deutsches  Gerichtsverfahren  im 
Mittelalter  Bd.  2,  S.  372  Anm.  2.  Ober  hiergegen  einsetzende  Ab- 
wehrbestrebungen Rudorff  S.  47. 

»)  Planck  a.  a.  O.  Bd.  1,  S.  86. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  507 

es  sich  um  einen  Rechtstreit  zwischen  ihnen,  so  daß 
Kläger  und  Beklagter  Bürger  derselben  Stadt  waren,  so 
sollte  er  nach  einer  überall  in  den  Stadtrechten  wieder- 
kehrenden Vorschrift  auch  dann  nicht  vor  ein  auswär- 
tiges Forum  gebracht  werden,  wenn  beide  Teile  sich 
gleichzeitig  im  dortigen  Gerichtsbezirk  aufhielten  und 
dort  ein  Gerichtstand  nach  den  dortigen  Rechtsregeln 
(dort  begangene  Straftat,  dort  kontrahierte  Schuld)  be- 
gründet war.  Nur  unter  dem  Titel  daheim  erlittener 
Justizverweigerung  (Regensburg  1230,  §  5,  bei  Keutgen 
S.  197)  oder  mit  erlangtem  Erlaubnisurteil  des  heimischen 
Stadtgerichts  (Lippstadt  nach  1198,  §3,  vgl.  Goslar  1219, 
§  30,  ebenda  S.  148,  181)  sollte  in  solchen  Fällen  der 
Bürger  seinen  Mitbürger  zwingen  dürfen,  vor  dem  aus- 
wärtigen Gericht  Recht  zu  geben.  Der  zuwiderhandelnde 
Kläger  war  nicht  bloß  dem  Beklagten  Schadenersatz 
und  Buße  schuldig  (vgl.  das  erste  Straßburger  Stadt- 
recht, 12.  Jahrhundert,  §  30,  31,  bei  Keutgen  S.95),  sondern 
—  das  war  die  Auffassung  —  er  hatte  sich  damit  auch 
an  seiner  Heimatstadt  selbst  versündigt,  ein  Delikt  be- 
gangen, das  ihm  öffentliche  Strafe,  manchmal  eine  nicht 
gering  bemessene,  so  nach  dem  alten  Soester  Recht 
§  29  (Keutgen  S.  141)  eine  solche  von  10  Mark  und  einer 
„carrata  vini*"  oder  nach  den  Statuten  von  Hannover 
(Anfang  des  14.  Jahrhunderts)  c.  26  (Keutgen  S'.  295) 
gar  den  Verlust  des  Bürgerrechts,  eintrug.^)  Ein  Beleg, 
wie  stark  in  diesen  zunächst  dem  Interesse  der  mit 
Klage  bedrohten  Bürger  dienenden  Vorschriften  doch 
auch  die  Eifersucht  auf  Kompetenz  und  Sportein  lebendig 
warl  Und  nun  das  Verhalten  gegenüber  den  Gästen. 
In  beiden  Richtungen  suchte  man  nach  Kräften  die 
Kompetenz  über  sie  zu  gewinnen:  sowohl  nämlich  für 
ihre  Klagen  gegen  die  Bürger  als  für  die  Klagen  gegen 
sie.  2) 


>)  Vgl.  die  weiteren  Belege  bei  Planck  a.  a.  O.  Bd.  1,  S.  46  f., 
Simon,  Juris  saxonici  medii  aevi  de  foro  competenti  praeceptä 
(Di88.  1867)  S.  6  ff.  und  RudoHf  S.  44  H. 

*)  Vgl.  zum  Folgenden  die  Darstellung  und  Quellenbelege 
von  Rudorff  S.  37  H.,  86  ff. 

33* 


508  Alfred  Schultze, 

Nehmen  wir  zunächst  die  Bestrebungen  in  letzterer 
Richtung,  also  in  den  Fällen,  in  denen  der  Gast  bddagt 
werden  sollte.  Hier  galt  es  den  allbekannten  Fundamental- 
satz des  mittelalterlichen  wie  des  heutigen  Gerichtsrechts: 
„actor  sequitur  forum  rei*"^  der  den  Kläger  in  diesen 
Fällen  nach  auswärts  in  das  Gericht  des  Wohnsitzes  des 
zu  verklagenden  Gastes  wies,  zugunsten  der  eigenen 
stadtgerichtlichen  Kompetenz  möglichst  außer  Kraft  zu 
setzen.  Mittel  hierfür  bot  schon  das  Landrecht  (Sachsen- 
spiegel 111,  25,  §  2  und  3),  wonach  für  alle  Schuldver- 
pflichtungen, die  der  Gast  in  der  Stadt  kontrahiert  hatte, 
das  forum  contractus  und  für  alle  in  der  Stadt  von  ihm 
verübten  Frevel  (leichtere  Vergehen)  und  Ungerichte 
(schwerere  Verbrechen)  das  forum  delicti  commissi  in 
Anspruch  genommen  werden  konnte.  Aber  man  ging  sehr 
viel  weiter.    Man  schuf  Gästerecht  im  schärfsten  Sinne  1 

Es  ward  ein  Mittel^)  gefunden,  alle  möglichen  bür- 
gerlichen Prozesse  gegen  Gäste  um  Schuld  oder  Fahr- 
habe —  Liegenschaftsprozesse  kamen  ja  auch  nach  dem 
oben  zu  II  Gesagten  so  gut  wie  garnicht  in  Betracht  — 
im  Stadtgericht  anzustrengen,  ganz  ohne  Rücksicht  dar- 
auf, ob  die  betreffende  Verpflichtung  in  der  Stadt  oder 
auswärts,  ob  sie  in  vergangener,  vielleicht  längst  zurück- 
liegender Zeit  oder  neuerlich  kontrahiert  war :  das  forum 
arresti.  Jeder  Gast  —  so  legte  man  sich  die  Sache  zu- 
recht —  ist  als  solcher  ein  unsicherer  Mann,  er  gleicht 
dem  Bürger  „uppe  der  vluchtsalen'*,  der  sich  anschickt, 
seinen  Gläubigern  durch  die  Flucht  zu  entgehen.^)  Da- 
her kann  man  ihn,  wenn  man  seiner  in  der  Stadt  hab- 
haft wird,  und  wenn  er  nun  nicht  auf  Ansprache  gut- 
willig zahlt,  unter  Zuziehung  des  Richters  oder  des  Büt- 


0  Hierzu  außer  Rudorff:  v.  Meibom,  Deutsches  Pfandrecht 
S.  147  ff.,  158  ff.,  Planck  a.  a.  O.  Bd.  2,  S.  367  ff.,  Auer  in  der  Ein- 
leitung der  Ausgabe  des  Münchener  Stadtrechts  S.  89  ff.,  v.  Amira, 
Nordgermanisches  Obligationenrecht  Bd.  1,  S.  164  ff.,  Frensdorff 
a.  a.  O.  S.  298  ff.  Für  Italien:  Wach,  Italienischer  Arrestprozeß 
S.  38  ff. 

■)  Goslarer  Statuten  (U.Jahrhundert)  bei  Göschen  S.  110Z.14, 
Münchener  Stadtrecht  Art.  14,  15. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  509 

telSy  oder  falls  diese  nicht  zu  erlangen  sind,  unter  Zu- 
ziehung von  Bürgern  der  Stadt  arrestieren,  „besetzen**, 
„aufhalten",  „verbieten",  „hindern",  „bekümmern."  Man 
kann  dies  überall  im  städtischen  Gerichtsbezirk,  nicht 
bloß  innerhalb  der  Stadtmauern,  sondern  auch  „uz  der 
stad,  vor  deme  tore,  in  der  borger  holze"  (d.  h.  im 
Stadtwald),  auf  der  Straße,  in  der  Herberge,  in  der  Ta- 
verne, im  Kaufhaus,  aber  auch  im  Privathaus,  zu  aller 
Zeit,  es  sei  Tag  oder  Nacht,  „vor  der  Frühmette  und  nach 
der  Wächterglocke ".^)  Dadurch  wird  der  Gast  verpflichtet, 
dem  Kläger  vor  dem  Stadtgericht  zu  Recht  zu  stehen  — 
darin  eben  liegt  das  Kompetenzbegründende  dieses  Ar- 
restes —  und  wandert,  wenn  er,  was  bei  ihm  als  Fremdem 
gewiß  häufig  der  Fall,  keine  Bürgen  für  sein  Erscheinen 
zu  setzen  imstande  ist,  auch  nicht  das  Einstehen  seines 
Wirtes,  bei  dem  er  in  Herberge  ist,  zu  erreichen  vermag, 
bis  zur  entscheidenden  Gerichtstagung  in  gerichtlichen 
Gewahrsam,  in  das  öffentliche  Gefängnis,  in  den  „Stock" 
in  der  „Stadt  Eisen ".^)  Man  soll  ihn  dann  „hintz  dem 
nachrichter  auf  das  recht"  legen,  wie  das  Wiener  Stadt- 
rechtsbuch (Art.  22  mit  Art.  9,  ed.  Heinrich  M.  Schuster) 
sich  ausdrückt.  Mit  diesem,  in  Deutschland  weitaus  in 
erster  Linie  stehenden  Personalarrest  konnte  der  Sach- 
arrest verbunden,  d.  h.  es  konnten  auch  Sachen  des 
Gastes,  so  sein  Pferd,  dessen  die  Quellen  mit  Vorliebe 
gedenken,  und  seine  in  die  Stadt  gebrachte  Handels- 
ware, arrestiert,  „besetzt",  „versprochen"  werden.  Eine 
selbständige,  ganz  besondere  Bedeutung  für  die  Erwei- 
terung der  stadtgerichtlichen  Kompetenz  gewann  aber 
dieser  Sacharrest  dann,  wenn  er  in  Abwesenheit  des 
Gastes  an  seiner  Habe  angelegt  wurde,  da  so  selbst  ein 
außerhalb  der  Stadt  weilender  Gast  dem  forum  arresti 
unterworfen  und  vor  das  Stadtgericht  gezogen  werden 
konnte.  „Sicut  actor —  urteilen  die  Schöffen  von  Brunn  — 
potest  reum  in  omni  iudicio,  in  quo  ipsum  personaliter 
reperuerit  pro  debitis  arrestare:  sie  etiam  potest  res  eius 


*)  Gosiarer  Statuten,  ed.  Göschen  S.  63  Z.  5. 
»)  V.  Amira  a.  a.  O.  S.  166. 


510  Alfred  Schultze, 

occupare,  et  ad  illud  iudicium  debet  reus  venire,  et  res 
rf/sAr/^a/M/{?  (unter  Befreiung  der  Sachen  vom  Arrestschlag), 
actoris  querimoniis  respondere.**^) 

Alles  das  drohte  dem  Gast  nicht  bloß  von  einem 
Bürger,  sondern  auch  nach  vielen  Rechten  von  einem 
klagenden  anderen  Gast.  Die  „Besetzung''  der  Person 
des  anwesenden,  der  Habe  des  abwesenden  Gastes  wurde 
so  geradezu  die  regelmäßige  Art,  den  Prozeß  gegen 
Gäste  einzuleiten. 

Ahnlich  konnte  in  peinlichen  Sachen  wegen  einer 
Missetat,  die  ein  Gast  an  einem  Bürger  oder  nach 
manchen  Stadtrechten  auch  an  einem  anderen  Gast 
früher  auswärts  verübt  hatte,  derentwegen  also  in  der 
Stadt  das  forum  delicti  commissi  nicht  begründet  war, 
doch  die  Klage  vor  dem  Stadtgericht  erhoben  werden, 
wenn  der  Gast  sich  später  in  der  Stadt  blicken  ließ  und 
vom  Kläger  festgenommen  wurde:  forum  deprehen- 
sionis.'^) 

Diese  Bestimmungen  mußten  den  Verkehr  der  Gäste 
in  der  Stadt  unbehaglich  machen.  Man  denke,  daß  doch 
nicht  bloß  gerechte  Arrestierungen  und  Festnahmen, 
sondern  auch  ungerechte  zu  befürchten  waren.  Man 
denke  an  die  Furcht  vor  der  Aburteilung  durch  das 
fremde  Gericht,  an  die  Sorge,  nicht  die  genügende 
Zahl  Eideshelfer  aufzutreiben')  oder  keine  mit  den  nötigen 


»)  Rößler  II,  S.  58,  Nr.  110;  ähnlich  Magdeburger  Weistum 
für  Kulm  1338,  §  8  (Laband,  Magdeburger  Rechtsquellen  S.  141), 
Rechtsb.  nach  Distinktionen  111,  4,  dist.  4,  Augsburger  Stadtrecht 
1276,  Art.  141  (ed.  Meyer). 

»)  Vgl.  z.  B.  schon  das  Alte  Soester  Recht  §  21  (Keutgen 
S.  141).  Das  Recht  von  Freiburg  i.  Br.  §  26  und  manche  seiner 
Tochterrechte  gestatten  in  solchem  Falle  dem  vom  Gast  verwun- 
deten Bürger,  wenn  dieser  die  Tat  bei  seinem  Stadtrichter  ge- 
meldet hatte  und  nun  den  Täter  in  der  Stadt  betrifft,  sogar  noch 
die  Selbsthilfe  —  ein  exorbitant  gästefeindlicher  Satz!  (Rudorff 
S.  43  f.) 

»)  In  welchem  Falle  freilich  die  merkwürdige  Institution  des 
„Elendeneides*  —  Beweisführer  leistet  die  ihm  fehlenden  Hilfs- 
eide selbst  ab  —  Schutz  bieten  sollte;  doch  wurde  sie  meist  nur 
in^  peinlichen   und   nur  vereinzelt  in   bürgerlichen   Sachen   zuge- 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  51 1 

Qualitäten  ausgestatteten  Zeugen,  also  vor  allem  Bürger 
der  fremden  Stadt,  in  der  man  sich  aufhielt,  (oben  II) 
für  sich  zu  haben.  Wie  sehr  das  Unbehagliche  dieser 
Rechtslage  empfunden  wurde,  lassen  die  Quellen  er- 
sehen. In  dem  bereits  erwähnten  Kölner  Schiedsver- 
fahren vom  Jahre  1258  beschwert  sich  der  Erzbischof 
über  die  Bürger  auch  deswegen  (Nr.  46,  Keutgen  S.  162  f.), 
weil  sie  seine  eigenen  „homines''  ebenso  wie  Gäste,  die 
mit  Verkaufsware  oder  anderer  Fahrhabe  in  die  Stadt 
kämen,  unter  der  Behauptung,  daß  sie  Geld  oder  anderes 
ihnen  schuldig  wären,  mit  Person  und  Habe  arrestierten 
und  vor  ihr  Gericht  schleppten.  Er  sucht  dann  weiter 
gerade  durch  die  Ausführung  zu  wirken:  die  Kölner 
ständen  sich  mit  solchem  Verhalten  selbst  im  Lichte,  da 
sie  doch  nun  für  ihre  eigenen  Personen  und  Sachen 
draußen  an  den  verschiedensten  Orten  von  den  ver- 
schiedensten Personen  gleichfalls  Arrestschlag  und  Ver- 
handlung des  Rechtsstreites  „coram  iudice  actoris**  be- 
fürchten müßten,  „cum  tarnen  iuris  sit  in  utroque  casu, 
ui  actor  forum  rei  sequatur'^.  Aber  der  Schiedsspruch 
lautet  kurz  ablehnend  (Keutgen  S.  170),  „quod  quidam 
de  hominibus  possunt  arrestari  et  similiter  de  extraneis"". 
Die  Schwüle  wurde  noch  gesteigert  durch  den  wegen 
seiner  Unvoraussehbarkeit  besonders  drückenden  Re- 
pressalienarrest, eine  mittelalterliche  Anwendung  der 
Selbsthilfe  und  der  genossenschaftlichen  Gesamthaftung 
von  allgemeiner  Verbreitung,  für  den  Gästeverkehr  in 
den  Städten  aber,  wie  die  zahlreichen  einschlägigen 
Normen  der  Stadtrechte  beweisen,  von  besonderer  Be- 
deutung. ^    Hatte   nämlich  ein   Kölner   eine    Schuldfor- 


lassen. Rudorff  S.  29  ff.,  meine  Bemerkungen  in  Zeitschr.  d.  Sav.- 
Stiftung  Bd.  28,  German.  Abt.  S.  505  f. 

*)  Vgl.  die  Formulierung  in  der  Stadtrechtsmitteilung  von 
Frankfurt  a.  M.  nach  Weilburg  von  1297,  §  25  (Keutgen  S.  189). 
Rudorff  passim,  besonders  S.  135  f.  Anm.,  femer  O.  Gierkc,  Ge- 
nossenschaftsrecht Bd.  2,  S.  386  ff.,  Stobbe,  Zur  Geschichte  des 
deutschen  Vertragsrechts  S.  150  ff.,  Planck  a.  a.  O.  Bd.  2,  S.  388f., 
v.  Voltelini,  Südtiroler  Notariatsimbreviaturen,  Einleitung  S.  129  ff. 
Für  Italien:  Wach  a.  a.  O.  S.  47  ff. 


512 


Alfred  Schultze, 


derung  gegen  einen  Frankfurter  und  hatte  er  für  dies 
in  Frankfurt  vor  dem  dortigen  Stadtgericht  nicht  in  g< 
höriger  Weise  Recht  bekommen,  so  konnte  er  sich  i 
Köln  oder  anderswo  an  jeden  beliebigen  Mttbürgc 
seines  Schuldners,  also  jeden  Frankfurter,  der  als  Ga^ 
dort  weilte,  halten  und  ihn  statt  des  Schuldners  für  sein 
Forderung  mit  Personal-  oder  Sacharrest  belegen  un 
beklagen.  Wer  konnte  nun,  wenn  er  als  Gast  eine  Stac 
betrat,  mit  Sicherheit  wissen,  ob  dort  nicht  solche  Rc 
pressalienarreste  gegen  seine  Heimatstadt  auf  ihn  lauerten 
Gewiß,  eine  gästeabschreckende  Maßregel  ersten  Range; 
die  freilich  insofern  doch  auch  zugunsten  der  Gast 
zu  wirken  vermochte,  als  sie  ein  Antrieb  war,  de 
Gästen  den  stadtgerichtlichen  Rechtschutz  (oben  I  a.  E 
in  gehöriger  Weise  zu  gewähren,  um  nicht  gegen  di 
eigenen  Bürger,  während  sie  auswärts  weilten,  die  Rc 
pressalien  heraufzubeschwören. 

Das  Drückende  dieser  Regeln  bestätigen  auch  di 
Ausnahmen,  die  man  von  ihnen  machte.  Erstens  ein 
Ausnahme  für  einen  Einzelfall  zugunsten  eines  eir 
zelnen  bestimmten  Gastes:  das  sog.  Prozeßgeleit.' 
Wollte  er  aus  besonderem  Anlaß,  z.  B.  zum  Zweck 
diplomatischer  Verhandlungen  oder  einer  persönliche 
Prozeßführung  vor  dem  Stadtgericht  oder  zum  Zweck 
der  Erfüllung  einer  ihn  im  Wege  der  Zwangsvollstreckun 
für  eine  Schuld  treffenden  Einlagerpflicht  das  Stadtgebic 
betreten,  so  mochte  ihm  wohl  auf  seine  Bitte  die  Bc 
hörde,  sei  es  der  Stadtherr,  der  Stadtrichter  oder  späte 
namentlich  der  Rat  der  Stadt,  durch  jene  Art  des  Gc 
leites  das  Freibleiben  von  Klagen  oder  Arresten  zi 
sichern,  mit  denen  er  sonst  etwa  während  seines  Aufem 
haltes  in  der  Stadt  hätte  begrüßt  werden  können.  Nac 
manchen  Stadtrechten  mußten  freilich  vorher  seine  Gläi 
biger  in  der  Stadt,  von  denen  ihm  dergleichen  droh! 
und  die  er  deshalb  anzugeben  hatte,  ihre  Einwilligun 
dazu  erteilt  haben,  während,  wo  der  Stadtrat  entschie< 
gewöhnlich    die  Bewilligung  des   Geleites    davon   Unat 


')  Rudorff  S.  133  ff. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  513 

hängig  war.  Als  Beispiel  diene  auch  hier  der  Kölner 
Schied  von  1258  und  zwar  ad  3  der  gravamina  der  Kölner 
Bürger  (Keutgen  S.  164  und  170).  Sie  beschweren  sich 
über  den  Erzbischof:  er  dulde,  daß  sie  in  Prozessen 
wegen  in  Köln  geschlossener  Geschäfte  vor  ein  auswär- 
tiges Gericht  geladen  und  dort  womöglich  „pro  causis  fri- 
volis''  zum  Zweikampf  gefordert  würden.  Die  Schieds- 
richter erklären  die  Beschwerde  für  gerechtfertigt  und 
fügen  hinzu,  daß  wenn  ein  Gast  „metum  allegety  quod 
in  Colonia  agere  non  audeat*",  der  Erzbischof  ihm  Prozeß- 
geleit geben  müsse. 

Eine  zweite  Ausnahme,  wie  von  einzelnen  anderen 
gästerechtlichen  Vorschriften,  so  auch  von  den  Arrest- 
regeln, schufen  die  Reziprozitätsverträge  zwischen  be- 
freundeten Städten.  Im  Verhältnis  zwischen  den  beider- 
seitigen Bürgern  wurde  der  Repressalienarrest  an  die 
formale  Feststellung  geknüpft,  daß  dem  Bürger  in  der 
anderen  Stadt  sein  Recht  nicht  geworden  sei,  oder  ganz 
ausgeschlossen  oder  sogar  auch  —  es  sind  dies  die 
selteneren  Fälle  —  das  forum  arresti  gegen  den  Haupt- 
schuldner beseitigt.  Oder  es  verlieh  einmal  ein  Terri- 
torialherr den  Bürgern  einer  seiner  Städte,  wie  der  Graf 
von  Cleve  im  Jahre  1242  denen  der  Stadt  Cleve  oder 
die  Markgrafen  von  Brandenburg  im  Jahre  1256  den 
Bürgern  der  Stadt  Pritzwalk,  das  Privileg  der  Arrest- 
freiheit in  den  anderen  Städten  des  Territoriums.^) 

Die  dritte,  wichtigste  Ausnahme  galt  allgemein. 
Sie  galt  für  die  Zeit  des  Jahrmarkts^),  also  für  die  Zeit, 
in  der  auch  manche  der  handeis-  und  gewerberechtlichen 
Sätze  des  Gästerechts,  z.  B.  das  Verbot  des  Kleinhandels 
(oben  S.  499),  pausierten  oder  sich  abschwächten.  Hier 
brauchte  man  die  Gäste.    An  einer  regen  Beschickung 

»)  Rudorff  S.  64  f.,  136  Anm.  Kleve :  Gengier,  Cod.  jur.  municip. 
S.  495,  Pritzwalk  §11:  Gengier,  Stadtrechte  S.  363.  Inwieweit  das 
Gleiche  unter  den  Mitgliedern  der  Hanse  im  Einklang  mit  anderen 
Milderungen  des  Gästerechts  (oben  S.  476  N.  2)  durchgeführt  wurde, 
wäre  noch  zu  untersuchen. 

■)  Manchmal  auch  für  häufiger  abgehaltene  Märkte  (Wochen- 
markttage). 


514  Alfred  Schultze, 

des  Jahrmarkts  war  man  in  der  Stadt  um  des  eigenen 
Ein-  und  Verkaufs  willen  nach  wie  vor  lebhaft  interessiert. 
Hier  bedeutete  anderseits  die  unbegrenzte  Möglichkeit, 
mit  seiner  Person  und  seinen  Waren  „besetzt**  und  vor 
Gericht  gezogen  zu  werden,  für  den  Gast,  der  mit  seinen 
Geschäften  auf  die  knappe  Marktdauer  angewiesen  war, 
den  schwersten  Druck.  Deshalb  mußte  sie  während 
dieser  Zeit  sistiert  werden.  Den  Typus  gibt  das  Jahr- 
marktsprivileg des  Kaisers  Friedrich  l.  für  Aachen  von 
1166  c.  2  (Keutgen  S.  38),  wonach  der  Marktfahrer  „in 
his  nundinis**  frei  ist  von  jeder  prozessualischen  Ansprache 
„pro  debito  solvendo  vel  alio  quolibet  negocio  quod  ante 
nundinas  perpetratum  fuerU"*,  wogegen,  was  während 
der  Marktzeit  selbst  vorgefallen,  uneingeschränkt,  dafür 
aber  auch  sofort  „//i  nundinis"",  gegen  ihn  im  Rechts- 
wege verfolgbar  sein  soll.  Noch  schärfer  gerade  auf 
den  Arrest  zugeschnitten  ist  z.  B.  der  Satz  im  Privileg 
für  Lechenich  im  Kölnischen  von  1279  §  25  (Gengier, 
Stadtrechte  S.  244):  „guod  ita  libere  sint  nundine  pre- 
dicte,  quod  nullus  ibidem  veniens  Ulis  tribus  diebus  possit 
occupari,  arrestari  vel  aliquo  modo  molestari,  nisi  excedat 
in  foro  diebus  predictis"*  ^)  Also  ein  Stück  Jahrmarkts- 
freiheit I  Sohm  (S.  soff.)  will  es  aus  dem  Asylrecht  der 
Stadt  als  einem  Teil  des  der  Stadt  zukommenden  Burg- 
friedens ableiten.  Besser  erscheint  es  mir,  es  mit  Rietschel 
(Markt  und  Stadt  S.  204)  und  Rudorff  in  den  allen 
Marktteilnehmern  und  Marktfahrern  als  solchen  zukom- 
menden Marktfrieden  einzugliedern.  Das  Wiener  Stadt- 
recht 1296  §36  (Keutgen  S.  219)  nennt  den  Übertreter 
des  Satzes  „einen  Zerbrecher  des  Friedens".  Kaum  aber 
ruht  der  Satz  in  den  Grundlagen  und  Anfangszeiten  des 
Markt-  und  Stadtwesens,  sondern  er  ist,  wie  Rudorff 
(S.  133)  sehr  wahrscheinlich  macht,  überhaupt  erst  durch 
die  zuungunsten  der  Gäste  eingetretene  Verschiebung 
der    Gerichtsstandsverhältnisse    und    Ausgestaltung    des 


*)  Zahlreiche  andere  Belegstellen  bei  Rudorff  S.  130  Anm.  1, 
2,  3,  auch  bei  Sohm,  Entstehung  des  deutschen  Städtewesens 
S.  51  f. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  515 

Arrestes  hervorgetrieben  worden   zum  Schutze  des  da- 
durch gefährdeten  Marktverkehrs. 

Außerhalb  dieser  drei  Ausnahmen  war  der  Gast  in 
der  Stadt  den  Konsequenzen  der  ins  Ungemessene  aus- 
gedehnten stadtgerichtlichen  Kompetenz  preisgegeben. 
Und  nun  denke  man  sich,  daß  er,  nachdem  ihn  während 
seines  Aufenthaltes  Arrest  und  Klage  getroffen  hatte,  die 
ordentliche  Dingfrist  (meist  14,  in  manchen  Städten 
8  Tage)  hätte  abwarten  und,  was  das  ordentliche  Ver- 
fahren häufig  mit  sich  brachte,  infolge  der  Notwendig- 
keit weiterer  Termine  auf  eine  Wiederholung  der  Warte- 
frist hätte  gefaßt  sein  müssen.  Und  so  lange  hätte  er 
dann  im  gerichtlichen  Gewahrsam,  im  „Stock",  sitzen, 
so  lange  hätte  seine  Habe,  sein  Pferd,  seine  Ware  im 
Beschlag  liegen  müssen.  Wohl  hätte  er  einen  in  der 
Stadt  eingesessenen  Bürger,  etwa  den  Wirt,  der  ihn  be- 
herbergte, für  sein  Erscheinen  im  nächsten  Gericht  als 
Bürgen  stellen  und  dadurch  seine  Person  und  vielleicht 
auch  seine  Habe  vom  Arrest  befreien  dürfen.  Aber 
schwer  genug  mochte  ihm  das  als  einem  Fremden  werden, 
und  gelang  es  ihm,  so  wäre  ihm  das  Ausharren  in  der 
Stadt  bis  zum  vollen  Austrag  der  Sache  doch  nicht  er- 
spart geblieben;  sein  Fernbleiben  hätte  den  Verlust  des 
Prozesses  und  für  den  Bürgen  Prozeßstrafe  (Wette)  und 
volle  Haftung  für  den  Inhalt  des  Urteils  zur  Folge  gehabt. 
Die  Möglichkeit,  sich  vor  Gericht  vertreten  zu  lassen, 
war  in  der  Zeit,  wo  jene  Regeln  entstanden,  noch  nicht 
gegeben;  sie  wäre  aber  auch  später,  als  sie  sich  all- 
mählich in  manchen  Stadtrechten  eingebürgert  hatte,  für 
den  „besetzten"  Gast  nicht  in  Frage  gekommen,  da  das 
Besetzen  dem  Kläger  nicht  bloß  das  Antworten  vor  Ge- 
richt, sondern  auch  die  Vollstreckung  des  zu  erstreiten- 
den Urteils  gegen  die  Person  des  Gastes,  die  Personal- 
exekution, sichern  sollte.^)  Die  geplante  Heimkehr,  weitere 


»)  Vgl.  Schröder,  Rechtsgeschichte  §  63*,  Planck  a.  a.  O.  Bd.  1, 
S.  190  ff.,  Bd.  2,  S.  378  f.,  386,  389  ff.,  Rudorff  S.  34  ff.,  95  ff.,  v.  Amira, 
Nordgermanisches  Obligationenrecht  Bd.  1,  S.  166  f.  Ein  gutes 
Beispiel  für  die  Folgen  der  Besetzung  des  Gastes  ohne  Gast- 
gericht bietet  das  Wiener  Stadtrechtsbuch  Art.  22  verbunden  mit 


516  Alfred  Schultze, 

Reisen,  Verkaufsgelegenheiten  aller  Art  hätten  also  wegen 
jedes  beliebigen  begründeten  oder  unbegründeten  An- 
spruchs eines  Bürgers  oder  eines  anderen  Gastes  ver- 
säumt werden  müssen.  Das  war  bei  Klagen  um  schwere 
Missetat,  die  an  Leib  oder  Leben  gingen,  natürlich  nicht 
zu  beanstanden.  Bei  Klagen  um  Geldschuld,  Fahrhabe, 
leichtere  Frevel  wäre  es  eine  unerträgliche  Härte  gewesen. 
Hier  war  ein  schleuniges  Gericht,  das  bald  den  Prozeß 
erledigte  und  bald  vom  Arrest  löste,  ein  dringendes 
Gebot  der  Billigkeit.  Es  war  auch  ein  Gebot  der  städti- 
schen Gefängnisökonomie;  an  einer  Oberfüllung  des  öffent- 
lichen Gefängnisses  mit  besetzten  Gästen  konnte  der  Stadt 
nichts  gelegen  sein.  Dieses  schleunige  Gericht  war  eben 
das  Gastgericht,  das  auf  Antrag  des  beklagten  Gastes 
abgehalten  wurde.  Er  mußte  den  Antrag  sofort  nach 
der  Besetzung,  „von  Stund'  an",  stellen,  worauf  der 
Kläger  auch  sofort,  längstens  „über  eine  Nacht **,  bereit 
sein  mußte,  „von  ihm  das  Recht  vor  dem  Gastgericht  zu 
nehmen",  widrigenfalls  die  Besetzung  ihre  Kraft  verlor. 
Ein  Aufschub  des  Antrages  war  dem  Beklagten  nicht 
gestattet.  Wollte  er  nicht  alsbald  vor  einem  Gastgericht 
Antwort  stehen,  so  mußte  er  das  nächste  ordentliche 
Gericht  abwarten  und  die  oben  geschilderten  Kon- 
sequenzen auf  sich  nehmen.  Denn  er  sollte  auch  nicht 
seinerseits  den  Kläger  beschweren,  indem  er  ihn  tage- 
lang zur  Gerichtsbereitschaft  zwang. 

Der  enge  Zusammenhang  des  Gastgerichts,  das  auf 
Antrag  des  beklagten  Gastes  tagte,  mit  dem  Fremden- 
arrest tritt  in  den  Stadtrechtsquellen  auf  das  deutlichste 
hervor.^)     Wo  sie  sich  eingehender  über  diese  Seite  des 


Art.  9  (ed.  Schuster),  auch  Hamburg  1270,  IX,  8  (ed.  Lappenberg 
S.  52)  =  Mach,  Cod.  III,  359  verglichen  mit  Visby  II,  10,  §  1  und  2 
(ed.  Schlyter,  Corpus  juris  Sveo-Gotorum  Bd.  8,  S.  83  f.).  —  v.  Amira, 
a.  a.  O.  S.  168  — ,  wo  freilich  dem  Kläger  wenigstens  bei  Strafe 
aufgelegt  ist,  den  Beklagten  nur  bis  zum  nächsten  ordentlichen 
Gerichtstag  im  Arrest  sitzen  zu  lassen. 

0  Schon  Planck  a.  a.  O.  Bd.  2,  S.  372  Anm.  3  hat  auf  diesen 
Zusammenhang  hingewiesen.  Auch  Rudorff  S.  156,  157  verkennt 
ihn  nicht,  sieht  aber  darin  doch  nur  einen  Hauptfall  des  vom  be- 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städtendes  Mittelalters.  517 

Gastgerichts  äußern,  knüpfen  sie  regelmäßig  einzig  und 
allein  an  den  Fall  an,  daß  der  Gast  an  seiner  Person 
oder  Habe  mit  Arrest  bekümmert  worden  ist.  So  das 
Rechtsbuch  nach  Distinktionen  (III,  4,  d.  9),  das  Stadt- 
recht von  Freiberg  i.  S.  (c.  III,  §  3),  die  Goslarer  Sta- 
tuten (bei  Göschen  S.  66  Z.  35  ff.,  S.  110  Z.  13  ff.),  die 
Stadtrechte  von  Münster  (um  1221,  §  56)  und  Lüneburg 
(c.  50),  das  Privileg  für  Lechenich  im  Kölnischen  von  1279 
(§  15).^)  Aber  auch  das  Prager  Stadtrecht  des  U.Jahr- 
hunderts (c.  117,  Rößler  I,  S.  71),  das  sogar  dem  Prager 
Bürger,  ^der  sich  eines  Gastes  Gut  unterwindet  in  fremden 
Landen  oder  hier  in  der  Stadt  und  nicht  damit  tut  Gastes 
Recht**  eine  Buße  von  10  Schock  Groschen  androht,  offen- 
bar, wie  Rudorff  richtig  vermutet  2),  für  die  dadurch  auf 
die  Stadt  heraufbeschworene  Gefahr  des  Repressalienar- 
restes. Ferner  eine  Schöffensatzung  aus  Brunn  (no.  210 
bei  Rößler  II,  S.  397)  des  Inhalts :  „Ein  elender  (fremder) 
Mann,  der  nicht  Bürgen  zu  haben  vermag,  der  schwört 
alle  Tage  einen  Eid  —  d.  i.  einen  die  Schuld  an  den 
Kläger  verneinenden  Reinigungseid  — ,  wäre  es  selbst  an 
dem  Karireitag,  um  kleine  Schuld  (nicht  schwere  Misse- 
tat), daß  er  sich  des  Stockes  überhebe  und  der  Gefangen- 
schaft.""  Eine  Kennzeichnung  des  Zweckes  des  Gast- 
gerichts von  prägnanter  Kürzel  Ahnlich  Magdeburger 
Fragen  I,  16,  dist.  5,  wonach  Gäste  ohne  Aufschub  auch 
an  gebundenen  Tagen  zum  Schwören  vorzulassen  sind, 
während  sie  ja  sonst  beim  Mangel  von  Bürgen  bis  zu 
offenen  Tagen  und  zu  gehegtem  Ding  durch  die  „Frone- 
gewalt behalten''  werden  müßten.  Vor  allem  gehören  hier- 
her auch  die  wörtlich  oder  inhaltlich  übereinstimmenden 
bayerischen  Satzungen:  Art.  15  (vgl.  60)  des  Münchener 
Stadtrechts  (ed.  Auer),  Kaiser  Ludwigs  Rechtsbuch  (1346) 
§  297  (v.  Freyberg,  Sammlung  historischer  Schriften  und 
Urkunden  Bd.  4,  S.  485),  das  Stadtbuch  von  Landshut 
(Rosenthal,  Beiträge  zur  deutschen  Stadtrechtsgeschichte 

klagten  Gast  beantragten  Gastgerichts,  nicht  den  Entstehungs- 
und Rechtfertigungsgrund  für  dieses  überhaupt. 

0  Nähere  ZiUte  für  diese  Stellen  bei  RudoHf  S.  157  Anm.  4. 

P)  S.  136  Anm. 


518  Alfred  Schultze, 

S.  188  unter  VII).  i)  Allerdings  reden  andere  Stadtrechte, 
wo  sie  dem  beklagten  Gast  den  Antrag  auf  Gastgericht, 
das  alsbaldige  Abschwören  der  vom  Kläger  behaupteten 
Schuld  gewähren,  nicht  gerade  vom  „Besetzen''  des 
Gastes,  sondern  nur  vom  „in  causam  ducere'*^  vom  „Ver- 
folgen des  Gastes  mit  Klage",  von  der  „Klage  auf  ihn"*.*) 
Allein  man  darf  auch  hier  als  die  Form,  in  der  sich  die 
Erhebung  der  Klage  vollzog,  das  Besetzen  unterstellen, 
da  es  eben  gegenüber  Gästen  die  regelmäßige  Form  der 
Prozeßeinleitung  war  und  in  vielen  Fällen  ja  erst  den 
Gerichtsstand  vor  dem  Stadtgericht  begründete.  Auch 
trat,  wenn  der  Gast  auf  die  Ansprache  des  vom  Fron- 
boten begleiteten  Klägers  sofort  freiwillig  mit  beiden 
zum  Richter  ging  und  dort  im  Gastgericht  Rede  und 
Antwort  stand,  das  im  Besetzen  liegende  Moment  körper- 
lichen Zwanges  für  die  äußerliche  Betrachtung  sehr  zurück. 
Schon  die  Möglichkeit  der  wirklichen  Betätigung  eines 
solchen  Zwanges  mußte  es  rechtfertigen,  dem  damit  be- 
drohten Beklagten  den  Antrag  auf  Gastgericht  zu  ge- 
währen. 

Das  Besetzen  des  Gastes  wegen  Schuld  tritt  bereits 
in  ausgeprägter  Gestalt  im  Recht  des  Hagen  (Stadtteil 
von  Braunschweig)  §  13  auf,  welches  Frensdorff*)  neuer- 
dings als  eine  der  ältesten  für  niedersächsische  Städte 
unternommenen  Rechtsaufzeichnungen  anspricht  und  in 
die  Zeit  um  1165  versetzt.  Die  älteste  uns  bekannte 
Satzung  über  gastgerichtliches  Verfahren,  auch  über 
solches,  das  auf  Antrag  des  beklagten  Gastes  erfolgt, 
gibt,  wie  oben  erwähnt,  das  Hagenauer  Stadtrecht  von 
1164  in  §  18  (Keutgen  S.  136).  Selbstverständlich  kann 
man  daraus  keine  sicheren  Schlüsse  ziehen  auf  die  wirk- 
lichen Entstehungszeiten  der  beiden  Rechtseinrichtungen. 


0  Das  hier  im  Anfange  stehende  Wort  „verpüt"  oder  „ver- 
peut**  oder  „verbuitet"  geht  auf  Verbieten  =  Arrestieren,  nicht, 
wie  Rosenthal  a.  a.  O.  S.  88  und  Rudorff  S.  63  übersetzen ,  auf 
Fürbieten  =  Vorladen.    Richtig  Osenbrüggen  a.  a.  O.  S.  50. 

')  Vgl.  die  Stellen  bei  Rudorff  S.  157  Anm.  2  und  3  mit  Aus- 
nahme der  schon  vorher  von  mir  oben  im  Text  angeführten. 

»)  Göttinger  Nachrichten  1906,  S.  278  ff.,  311. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  519 

Aber  immerhin  schafft  das  ungefähre  zeitliche  Zusammen- 
fallen, zu  dem  dann  auch  das  gleichzeitige  Aufkommen 
der  Arrestfreiheit  während  der  Jahrmärkte  (Aachener 
Privileg  von  1166)  und  die  gleichzeitigen  Anfänge  der 
handeis-  und  gewerberechtlichen  Vorschriften  des  Gäste- 
rechts stimmen,  ein  gewisses  Maß  von  Wahrscheinlich- 
keit dafür,  daß  alle  diese  Dinge  in  der  Tat  zusammen- 
gehören. 

Das  waren  die  folgenschweren  Einwirkungen  der  er- 
weiterten stadtgerichtlichen  Kompetenz  gegenüber  Gästen 
in  der  Rolle  des  Beklagten.  Auch  für  den  umgekehrten 
Fall,  wo  also  der  Gast  der  klagende  Teil  war,  waren 
ähnliche  Bestrebungen  an  der  Arbeit.^)  Vor  allem  handelte 
es  sich  hier  um  die  Klagen  der  Gäste  gegen  die  Bürger 
der  Stadt.  Galt  es  dort,  wie  wir  sahen,  den  Fundamen- 
talsatz „actor  sequitur  forum  reV\  weil  er  nach  auswärts 
wies,  möglichst  außer  Kraft  zu  setzen,  so  galt  es  hier, 
den  Satz,  weil  er  den  gegen  den  Bürger  klagenden  Gast 
gerade  an  das  Stadtgericht  wies,  auf  Kosten  sonst  etwa 
begründeter  auswärtiger  Gerichtsstände  zur  möglichst 
vollständigen  Anwendung  zu  bringen.  Solche  Gerichts- 
stände waren  nach  Landrecht  bei  auswärtigem  Vertrags- 
schluß für  eine  Klage  aus  diesem  Vertrage  das  forum 
contractus,  für  eine  Klage  aus  Missetat,  die  der  Bürger 
auswärts  gegen  den  Gast  verübt  hatte,  das  forum  delicti 
commissi.  Man  fürchtete  für  die  Bürger  die  Ladung, 
Abrufung,  Evokation  in  das  auswärtige  Gericht  um  der 
Fährlichkeiten  und  Beschwerden  der  Reise,  um  der  Ver- 
säumung im  Handwerk  und  Handel  willen,  wegen  der 
Sorge  vor  der  Aburteilung  durch  die  fremden  Urteiler 
nach  fremdem  Recht,  vor  dem  dortigen  Alleinstehen  ohne 
Eidesheifer  und  taugliche  Zeugen,  wegen  der  Gefahr  des 
dort  den  Bürger  nicht  bloß  in  jenem  Prozesse  selbst, 
sondern  auch  in  allen  möglichen  anderen  Klagsachen 
beim  Mangel  geeigneter  Bürgen  bedrohenden  Fremden- 
arrestes. Die  Städte  suchten  daher  die  daheim  weilenden 
Bürger  —  für  die  draußen  in  anderen  Städten  auf  der 

»)  Rudorif  S.  38  ff. 


520  Alfred  Schultze, 

Reise  weilenden  galt  das  nicht:  diese  mußten  sich  dort 
nach  den  oben  dargestellten  Regeln  als  Gäste  behandeln 
und  verklagen  lassen^)  —  von  dem  Zwange  der  Evokation 
in  'auswärtige  Gerichte  zu  befreien,  solche  Evokationen 
auszuschließen.  Am  liebsten  mit  Hilfe  kaiserlicher  Privi- 
legien, deren  uns  eine  ganze  Reihe,  mit  dem  12.  Jahr- 
hundert beginnend,  überliefert  sind,  so  z.  B.  eins  von 
Friedrich  II.  für  Regensburg  vom  Jahre  1230  (§  18,  Keutgen 
S.  199)  in  der  Fassung:  „cives  Ratisbonenses  non  cogantur 
venire  ad  aliquod  iudicium  extra  civitatem,  cum  hoc  sit 
de  antiquo  iure  ipsorum,"  Oder  wenigstens  durch  Privi- 
legien von  Fürsten  für  den  Bereich  ihrer  Territorien. 
Oder  schließlich  in  Ermangelung  eines  Besseren  auch 
durch  eigene  autonome  Satzungen.^)  So  waren  mithin  die 
Gäste  gezwungen,  alle  ihre  Klagen,  auch  die  nach  Land- 
recht anderswo  verfolgbaren,  gegen  die  Bürger  der  Stadt, 
so  lange  diese  zu  Haus  sich  befanden,  im  dortigen  Ge- 
richt anzubringen  und  zu  diesem  Zweck  die  Stadt  auf- 
zusuchen oder  dazu  ihren  dort  aus  anderem  Grunde 
genommenen  Aufenthalt  zu  verwenden  und  ihrerseits  die 
Beschwerden  einer  in  der  Fremde  unternommenen  Rechts- 
verfolgung auf  sich  zu  nehmen.  Auch  hier  mußte  das 
Abwarten  der  ordentlichen  Dingfristen  und  Termine  und 
der  damit  verbundene  Aufschub  der  Abreise  besonders 
fühlbar  sein.  Dies  drängte  nach  Kompensationen.  Die 
Möglichkeit,  sich  durch  einen  Bürger  als  Prozeßbevoll- 
mächtigten vertreten  zu  lassen,  war,  wie  wir  sahen,  in 
der  Zeit,  wo  die  hier  einschlagenden  Rechtsregeln  sich 
herausbildeten,  noch  nicht  vorhanden.  Fälle,  wie  die 
unsrigen,  sind  nachher  auf  die  Zulassung  der  Prozeß- 
vertretung wohl  nicht  ohne  Einfluß  gewesen,  obwohl  — 
ein  bezeichnendes  Stück  gästefeindlicher  Rechtsbildung  — 
manche  späteren  Stadtrechte,  die  sie  eingeführt  hatten, 
auch  dann  noch  gerade  ihrer  Anwendung  auf  die  klagenden 


')  Nur  nicht  von  ihren  eigenen,  mit  ihnen  zusammen  draußen 
weilenden  Mitbürgern;  oben  S.  507. 

•)  Belege  für  das  Obige  bei  Simon  (Diss.  1867),  jaris  saxo- 
nici  medii  aevi  de  foro  competenti  praecepta  S.  10  ff.  und  bei  Ru- 
dorif  S.  401. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  521 

Gäste  in  den  Weg  traten.^)  Eine  ausnahmsweise  vor- 
kommende Kompensation  war  die  in  scharfer  Progression 
von  Ding  zu  Ding  sich  steigernde  Bestrafung  des  beklagten 
Bürgers  wegen  Prozeßverschleppungen  (Freiberg  i.  S.  III, 
§  1,  ed.  Ermisch)  oder  die  Verpflichtung  des  nachher  im 
ordentlichen  Gericht  verurteilten,  also  unrechter  Zahlungs- 
verweigerung überführten  Bürgers  zum  Ersatz  des 
Schadens,  insbesondere  der  Verpflegungskosten,  die  dem 
Kläger  durch  das  Liegen  in  der  Stadt  erwachsen  waren.^) 
Die  regelmäßige,  in  den  nieder-  wie  oberdeutschen  Stadt- 
rechten gewährte  Kompensation  war  aber  auch  hier  das 
Gastgericht  auf  Antrag  des  Gastes  mit  beschleunigter  Ver- 
handlung und  Vollstreckung.  Die  dem  klagenden  Gast 
aufgezwungene  Stadtgerichtsbarkeit  sollte  ihm  wenigstens 
schleuniges  Gericht  darbieten.  Bot  man  ihm  dieses  nicht, 
so  mußte  man  ja  auch  damit  rechnen,  daß  er  seine  Klage 
bis  auf  die  Zeit  aufsparte,  wo  der  Bürger  aus  der  Stadt 
gefahren  war,  um  ihn  dann  am  fremden  Ort  als  einen 
Gast  mit  Arrestschlag  auf  Person  und  Habe  zu  überfallen. 
Insofern  wirkte  also  die  Einrichtung  des  Fremdenarrestes 
mittelbar  auch  auf  die  Zulassung  des  klagenden  Gastes 
zum  Gastgericht  —  ein  Zusammenhang,  der  uns  besonders 
dort  deutlich  wird,  wo  befreundete  Städte,  die  für  die 
Prozesse  zwischen  ihren  beiderseitigen  Bürgern  zugunsten 
des  Beklagten  das  forum  arresil  ausschließen  (oben  S.513) 
und  sein  Heimatsgericht  allein  zuständig  erklären,  diesem 
Gericht  zugunsten  des  Klägers  dann  wenigstens  „lustlclam 
expeditant",  d.h.  beschleunigtes,  gastgerichtlichesVerfahren, 
zur  Pflicht  machen.')  Jenes  Abdrängen  des  klagenden 
Gastes  vom  heimischen  Gericht  des  beklagten  Bürgers 
zum  auswärtigen  forum  arresti  hätte  ja  ferner  auch  nicht 


0  Rudorff  S.  36*,  dazu  Münchener  Stadtrecht,  Art.  32S  (ed. 
Auer). 

')  Stadtrecht  von  Hannover  aus  dem  14.  Jahrhundert  nach 
dem  Zitat  bei  Rudorff  S.  159  Anm.  1.  München,  Art.  260,  294  (vgl. 
auch  395)  hält  dies  in  Reserve  für  den  Fall,  daß  der  Bürger  dem 
Gast  nicht  im  Gastgericht  antwortet. 

»)  Wie  im  Vertrag  Münster-Osnabrück-Soest-Dortmund  von 
1277  §  8  (Osnabrücker  Urkundenbuch  Bd.  3,  S.  418). 
HittorUche  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  34 


522  Alfred  Schultze, 

bloß  eine  Schädigung  des  Bürgers,  sondern  ebenso  eine 
Schädigung  des  Stadtgerichts  selbst  bedeutet,  dem  auf 
diese  Weise  der  Prozeß  mit  seinen  Gerichtsgefällen  ent- 
gangen wäre.  Die  Rücksicht  auf  das  letztere  konnte 
dann  auch  ein  Grund  sein,  wie  dem  Gast,  der  gegen 
einen  Bürger,  so  auch  dem,  der  gegen  einen  anderen 
Gast  klagen  wollte^),  den  Antrag  auf  gastgerichtliches 
Verfahren  zuzubilligen  und  damit  einen  Anreiz  zu  geben, 
daß  er  seinen  Rechtsstreit  dem  Stadtgericht  zuführte. 

Wir  sehen  also:  Auch  in  dieser  Richtung,  in  der 
man  meist  die  entschiedenste  Begünstigung  des  Gastes 
zu  finden  meint^),  für  die  Klagen  der  Gäste,  ist  ebenso, 
wie  in  der  anderen  Richtung,  für  die  Klagen  gegen  die 
Gäste,  der  Urgrund  für  die  Einführung  des  Gastgerichts 
in  den  Bestrebungen  auf  Erweiterung  der  städtischen 
Gerichtsherrschaft  und  auf  Ausschließung  der  Konkurrenz 
auswärtiger  Gerichtsbarkeit,  auf  Gewinnung  eines  Ge- 
richtsmonopols zu  erblicken.  Das  Gastgericht  war  in 
beiden  Richtungen  nur  ein  unvollkommener  Ausgleich, 
notwendig,  um  die  dadurch  für  die  Gäste  geschaffene 
Zwangslage  einigermaßen  erträglich  zu  machen  oder  sie 
mit  ihren  Prozessen  beim  Stadtgericht  festzuhalten.  Der 
Augsburger  Bürger,  der,  wie  uns  berichtet  wird*),  am 
11.  September  1557  in  München  als  Gast  wegen  einer 
angeblichen  Forderung  eines  Bürgers  von  Wasserburg 
mit  Arrest  belegt  wurde,  wovon  er  sich  durch  Bürgen- 
stellung löste,  und  nunmehr  als  Beklagter  sich  vor  dem 
Gastgericht  in  München  verantworten  sollte,  tröstete  sich 
nicht  darüber  mit  der  Aussicht  auf  gastgerichtliches 
Verfahren  hinweg.  Er  setzte  vielmehr  den  Rat  seiner 
Heimatstadt  Augsburg  in  Bewegung,  der  unter  Berufung 
auf  ein  dieser  Stadt  1433  vom  Kaiser  Sigismund  erteiltes 
Privilegium  de  non  evocando  die  Verweisung  des  Klägers 
an   des   Beklagten  ordentliches   Gericht  nach   Augsburg 

0  Hier  hatte  dann  Kläger  wie  Beklagter  das  Recht  auf  Gast- 
gericht. 

•)  Vgl.  Rudorff  S.  157  sub  b. 

*)  In  L.  V.  Stoixner,  Das  Gastrecht  der  hfaupt-  und  Residenz- 
stadt München  (München  1784)  S.  51  ff. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  523 

verlangte.  So  wenig  erschien  dem  Gast  die  Bewilligung 
des  gastgerichtüchen  Verfahrens  als  ein  voller  Ausgleich 
für  das  forum  arrestil  In  Wahrheit  war  eben  auch  in 
diesem  Punkte  die  Rechtslage  des  Gastes  keineswegs  eine 
bessere  als  die  des  Bürgers.^)  Denn  letzterer  hatte  als 
gegen  den  Gast  klagender  Teil  in  dem  Arrestschlag  ein 
genügendes  Sicherungsmittel,  um  sich  vor  dem  Ent- 
weichen des  Beklagten  zu  schützen,  und  als  vom  Gast 
beklagter  Teil  konnte  er  daheim,  ohne  Bürgen  stellen 
oder  in  den  Stock  wandern  zu  müssen,  den  ordentlichen 
Verlauf  des  Gerichtsverfahrens  ruhig  abwarten.  Von 
einer  Bevorzugung  oder  Privilegierung  der  Gäste  vor 
den  Bürgern  kann  keine  Rede  sein.  Die  Gastgerichte 
waren  keine  Einrichtung,  die  belebend  auf  den  Gäste- 
verkehr in  der  Stadt  wirken  oder  die  Rechtsstellung  der 
Gäste  in  der  Stadt  befestigen  konnte  oder  sollte.  Sie 
waren  keine  zur  Begünstigung  des  Verkehrs  ausgedachte 
Erleichterung.  Tiefer  nach  ihren  Motiven  und  ihren 
Funktionen  betrachtet,  fügt  sich  die  Einrichtung  durch- 
aus in  den  Rahmen  der  gästerechtlichen  Sätze,  die,  von 
der  Stadt  als  Marktgemeinde  ausgehend,  den  Handels- 
verkehr und  gerichtlichen  Verkehr  der  Gäste  monopoli- 
stischen Tendenzen  der  Stadt  unterordneten. 

Nachgetragen  seien  noch  zwei  Punkte. 

Die  Institution  der  Gastgerichte  hat  in  einigen,  dar- 
unter bedeutenden,  Stadtrechten  (z.  B.  Hamburg,  Magde- 
burg, Freiburg  i.  0.)^)  auch  noch  direkt  stark  zugunsten 
der  Bürger  übergegriffen,  so  daß  dort  noch  viel  weniger, 
auch  rein  äußerlich  betrachtet,  eine  Besserstellung  der 
Gäste  gegenüber  den  Bürgern  gefunden  werden  kann. 
Es   ist   dort   auch    dem    gegen    den    Gast    klagenden 

*)  Die  Bemerkung  des  Ruprecht  von»Freising  In  seinem  Stadt- 
rechtsbuch (1328)  c.  69  (ed.  G.  L.  v.  Maurer  S.  309!.),  daß  ein  zur 
Stadt  kommender  Gast  ebenso  gutes  Recht  habe  als  ein  in  der 
Stadt  gesessener  Bürger  „un  so  vil  pesser  das  man  ihm  zue  aller 
zeit  richtnn  sol*",  beruht  daher  nur  auf  rein  äußerlicher  und  iso- 
lierter Betrachtung.  Man  kann  sie  nicht  mit  Rudorff  (S.  153  f.) 
für  die  Würdigung  des  Gastgerichts  im  Zusammenhang  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung  verwenden. 

*)  Zitate  bei  RudoHf  S.  161  ff. 

34* 


524  Alfred  Schultze, 

Bürger  das  Recht  auf  Gastgericht,  neben  dem  Recht  auf 
Arrestschlag  oder  (Horde  1340,  §21,  Gengler,  Stadtrechte 
S.  200)  anstatt  dieses  Rechtes,  unbedingt  oder  nur  im  Falle 
seiner  Wegefertigkeit,  eröffnet.  Das  Magdeburgische  Recht 
und  das  Recht  in  Freiberg  i.  S.  billigen  es  sogar  unter 
dieser  Bedingung  der  Wegefertigkeit  dem  beklagten 
Bürger  ganz  allgemein  zu,  mag  ihn  ein  Gast  oder  selbst 
ein  Bürger  beklagt  haben.  Nach  ihnen  verdiente  der 
Bürger,  der  sich  bereitet  hatte  „umme  koufmanschaft 
adir  betevart  (Wallfahrt)  czu  varnde  busin  landis,  daz 
her  des  dingis  nicht  gewartin  möge"  (Magdeburg-Bres- 
lauer syst.  Schöffenrecht  II,  2,  d.  35,  ed.  Laband)  die 
schnelle  Justiz^)  ebenso  wie  der  Gast,  obschon  bei  ihm 
nicht  der  Reiseaufschub  mit  dem  arrestatorischen  Zwang, 
Bürgen  zu  stellen  oder  Personalhaft  zu  leiden,  verbunden 
war.  Umgekehrt  wurde  in  diesen  Stadtrechten  sogar  der 
im  nächsten  Umkreis  wohnhafte  Gast,  der  von  Hause 
für  den  Besuch  des  Stadtgerichts  einschließlich  der  Heim- 
kehr nicht  mehr  als  einen  Tag  brauchte  (oben  S.  475) 
und  leichter  Bürgen  für  sein  Erscheinen  aufzutreiben 
vermochte  (Magdeb.  Fragen  I,  16,  d.  5,  ed.  Behrend),  vom 
Antrag  auf  Gastgericht  ausgeschlossen.  Der  Gast,  der 
Gastgericht  haben  wollte,  mußte  vielmehr  nach  Magdebur- 
gischem Recht  (Magdeb.  Schöffenrecht  V,  §  3,  ed.  Laband 
S.  116)  schwören,  „das  her  ein  wilde 2)  gast  si  und  also 


*)  Schon  das  erste  Straßburger  Stadtrecht  (12.  Jahrhundert) 
§  30  (Keutgen  S.  95)  berücksichtigte,  worauf  mich  Kollege  v.  Below 
aufmerksam  macht,  die  Wegefertigkeit,  aber  nur  in  der  Weise,  daß 
es  den  klagenden  Bürger  zum  Aufschub  der  Klage  bis  nach  der 
Heimkehr  des  zu  beklagenden  Mitbürgers  zwang. 

•)  Was  heißt  hier  „wild"  ?  Die  Frage  ist  streitig.  Die  Quellen 
selbst  stimmen  nicht  überein.  Sie  nennen  so  den  ständig  auf  der 
Reise  Befindlichen,  nirgends  Jahr  und  Tag  Wohnhaften,  aber  auch 
einfach  den  nicht  in  der  Stadt  gesessenen  Gast.  Rudorff  S.  172  ff. 
übersetzt  „wegefertiger  Gast"  und  meint,  daß  nur  dieser,  nicht 
der  Gast  schlechthin,  nach  Magdeburgischem  Recht  den  Anspruch 
auf  Gastgericht  habe.  Das  läßt  sich  sprachlich  kaum  rechtfertigen. 
„Wild"  heißt  vielmehr  auch  hier  „fremd".  Eine  Parallelstelle  be- 
stätigt dies:  das  Prager  Rechtsbuch  Art.  21  (Rößler  I  S.  108)  gibt 
dieselbe  Eidesformel  dahin  wieder:  „das  er  ein  fremder  gast  sey 
und  alzo   werre   gesessen   sie   das   er  zu  rechten  tage  zeit  nicht 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  525 

verre    gesessen,    das  her  des   dinges    eines  tages  nicht 
gesuchen  muge". 

Ein  Zweites,  worauf  ich  noch  kurz  hinweisen  möchte, 
betrifft  die  Qualität  des  Gastgerichts.  Es  war,  wie  schon 
erwähnt,  ein  Notgericht,  d.  h.  nichts  anderes  als  das 
Stadtgericht  selbst,  nur  in  außerordentlicher  Tagung,  die 
im  Einzelfalle  auf  Antrag  ad  hoc  mit  vereinfachter  Be- 
setzung stattfand.  Es  war  also  nicht  ein  selbständig 
neben  dem  Stadtgericht  bestehendes  oder  von  ihm  ab- 
gezweigtes Gericht,  ebensowenig  wie  das  zur  Marktzeit 
abgehaltene  Gericht,  das  in  Deutschland  auch  nicht,  wie 
z.  B.  in  Frankreich,  ein  besonderes,  vom  Stadtgericht 
getrenntes  Marktgericht  war.^)  Nur  in  einigen  deutschen 
Städten  sind  im  späteren  Mittelalter  ständige,  vom  Stadt- 
gericht abgezweigte  Gastgerichte  entstanden,  so  vornehm- 
lich in  Köln  in  Gestalt  zweier,  vom  engeren  Rat  aus 
seiner  Mitte  deputierter  Einzelrichter,  „richter  van  den 
gestin "",  die  am  Dienstag,  Donnerstag,  Samstag  und  wäh- 
rend des  Jahrmarktes  alle  Tage  eine  schleunige  Gerichts- 
barkeit mit  besonders  für  die  Gäste  verkürzten  Fristen 
ausübten.^)  Manchenorts,  wie  in  Lübeck  und  München, 
hat  es  solche  oder  ähnliche  ständige,  regelmäßige  „Gast- 
gerichte" noch  bis  in  das  18.  und  19.  Jahrhundert  hinein 
gegeben.') 


komen  muge.^  Ich  möchte  daher  mit  Planck  (Bd.  2,  S.  412)  in 
dem  wilden  Gast  den  stadtfremden  Gast  im  Gegensatz  zu  dem  in 
der  Stadt  wohnhaften  Nichtbürger,  der  auch  gelegentlich  Gast 
genannt  wird  (oben  S.  475  Anm.  1),  sehen. 

<)  V.  Below,  Ursprung  S.  69,  86  ff.,  Rietschel,  Markt  und  Stadt 
S.  206  ff.,  Schröder,  Rechtsgesch.  (5.  Aufl.)  S.  643»». 

*)  Das  Nähere  bei  Rudorff  S.  185  ff.  Über  ähnliche  ständige 
Gastgerichte  in  England,  die  im  13.  Jahrhundert  dort  schon  stark 
verbreitet  waren  und  den  bezeichnenden  Namen  ^court  of  pie- 
powder*  (von  „piepoudres,  pede  pulverosi"),  Gerichtshof  der  fuß- 
bestaubten Leute,  trugen,  vgl.  Charles  Gross  in  Quarterly  Journal 
of  Economics  (Harvard)  Bd.  20,  S.  231  ff. 

*)  Lübeck :  Funk  in  Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  Bd.  26, 
Germ.  Abt.  S.  69.  München:  L.  v.  Stoixner  (selbst  Gastrichter), 
Das  Gastrecht  der  Haupt-  und  Residenzstadt  München  (München 
1784). 


526  Alfred  Scholtze, 

IV. 

Ich  wiederhole  die  Ergebnisse  der  vorstehenden 
Untersuchungen,  soweit  sie  dazu  dienen,  das  städtische 
Gästerecht  des  Mittelalters  im  allgemeinen,  bei  aller  An- 
erkennung der  auch  auf  diesem  Gebiete  herrschenden 
örtlichen  Verschiedenheiten  und  zeitlichen  Schwankungen, 
zu  charakterisieren. 

Es  war  nicht  eine  Anwendung  oder  Nachwirkung 
des  alten  germanischen  Fremdenrechtes,  wie  es  etwa 
das  mittelalterliche  Judenrecht  war.  Die  Gäste  erlitten 
in  den  Städten  nicht  darum,  weil  sie  Gäste  waren,  und 
so  lange  als  sie  es  waren,  Einbuße  an  ihrer  Rechtsfähigkeit 
und  an  ihrem  Rechtschutzanspruch.  Sie  waren  dadurch 
nicht  in  ihrem  Personenstande  betroffen,  nicht  darum 
persönlich  minder  bewertet.  Die  Sonderbehandlung  der 
Gäste  im  Vergleich  mit  den  Stadteingesessenen  oder 
wenigstens  den  Stadtbürgem  war  vielmehr  zum  kleineren 
Teil  nichts  weiter  als  eine  Folge  der  auf  dem  Grund- 
besitz aufgebauten  städtischen  Kommunal-  und  Gerichts- 
verfassung, der  Struktur  der  älteren  Stadtgemeinde  als 
Grundbesitzergemeinde.  Insofern  wirkten  Gedanken  des 
früheren  Landgemeinderechtes  in  das  Stadtrecht  hinüber. 
In  der  Hauptsache  aber  war  die  Sonderbehandlung  eine 
allmähliche,  zielbewußte  Schöpfung  der  Stadtgemeinde 
als  Marktgemeinde,  verwirklicht  in  einer  großen  Zahl 
von  Einzelbestimmungen,  worunter  manche,  wie  die 
wichtigen  Vorschriften  über  die  Abzüge,  denen  man  die 
im  Wege  Erbgangs  aus  der  Stadt  an  Gäste  ausgeführten 
beweglichen  Güter  Einheimischer  unterwarft),  oben  noch 
nicht  einmal  Erwähnung  gefunden  haben.  Das  Ziel  war, 
das  werbende  Gut  in  der  Stadt  zu  bewahren,  die  Herr- 
schaft im  Handel,  Gewerbe  und  Gericht  und  die  Ein- 
künfte daraus  nach  Möglichkeit  für  die  Stadt  und  ihre 
Bürger  zu  monopolisieren,  auswärtige  Konkurrenz,  soweit 
es  anging,   fernzuhalten  und  den  Handel-  und  Gerichts- 


0  Vgl.  Stobbe  a.  a.  O.  §  42,  Ziff.  2.,  O.  Gierke,  Deutsches 
Privatrecht  I,  S.  450,  O.  Löning,  Grunderwerb  und  Treuhand  in 
Lübeck  S.  35  Anm.  6. 


Gästerecht  u.  Gastgerichte  in  deutsch.  Städten  des  Mittelalters.  527 

verkehr  der  Gäste  in  Fesseln  zu  schlagen.  Die  Gast- 
gerichte waren  der  Preis,  um  den  allein  die  Städte  die 
volle  Gerichtsherrschaft  über  die  Gäste  zu  gewinnen 
vermochten. 

Gewiß  dienten  manche  unter  den  gästerechtlichen 
Maßregeln  auf  dem  Gebiete  des  Gerichtsstandes  und  des 
Arrestes  auch  dem  berechtigten  Bestreben,  die  Bürger 
gegen  Benachteiligungen  zu  schützen,  die  ihnen  aus  dem 
Verkehr  mit  unbekannten,  keine  persönlichen  Garantien 
bietenden  Leuten  sonst  hätten  entstehen  können.  Auch 
nach  heute  geltendem  deutschen  Reichsrecht  lassen  sich 
Klagen  wegen  vermögensrechtlicher  Ansprüche  gegen 
einen  im  Ausland  Eingesessenen  überall  da  anbringen, 
wo  sich  nur  immer  Vermögen  von  ihm  oder  der  mit 
der  Klage  in  Anspruch  genommene  Gegenstand  befindet, 
und  als  ein  zureichender  Arrestgrund  gilt  es  ein  für  alle 
Male,  ohne  Notwendigkeit,  noch  im  Einzelfalle  eine  Ge- 
fährdung darzutun,  wenn  das  Urteil  im  Auslande  voll- 
streckt werden  müßte.  (§  23,  917  der  deutschen  Zivil- 
prozeßordnung.) Aber  die  Stadtrechtssätze  des  Mittel- 
alters gingen  doch,  wie  wir  sahen,  über  die  Bedürfnisse 
einer  solchen  Notwehr  sehr  erheblich  hinaus.  Vor  allem: 
das  Ausland  fing  hier  schon  vor  d^n  Toren  der  Stadt 
an.  Und  dies  zu  einer  Zeit  (12.  Jahrhundert),  wo  die 
territoriale  Zersplitterung  in  Deutschland  noch  keines- 
wegs so  weit  gediehen  war,  um  allein  dies  rechtfertigen 
zu  können.  Worauf  es  in  diesen  Normen  über  Gericht 
und  Arrest  hauptsächlich  abgesehen  war,  das  lehren  uns 
am  besten  die  Fälle,  in  denen  sie  ausnahmsweise  nicht 
gelten  sollten,  besonders  ihre  Suspension  während  der 
Jahrmarktzeiten.  Nur  im  Zusammenhalt  mit  den  wirt- 
schaftsgeschichtlichen Vorgängen  wird  der  wahre  Geist 
der  Abschließung  und  Konkurrenzbefehdung,  der  auch 
in  dem  gerichts-  und  prozeßrechtlichen  Teil  des  Gäste- 
rechts lebte,  voll  erkennbar.  Mitunter  tritt  er  aus  eigen- 
artigen Übertreibungen  grell  hervor.  Zu  den  Beispielen 
dafür,  die  unter  die  obigen  Erörterungen  eingestreut 
werden  konnten,  möchte  ich  noch  ein  besonders  be- 
zeichnendes  hinzufügen,   das  dem  Recht  der  Personal- 


528        Alfred  Schuitze,  Gästerecht  und  Gastgerichte  etc. 

exekution  und  zwar  der  durch  Einlager  des  Bürgen  zu 
bewirkenden  angehört.  Dieses  Einlager,  das  durch  Ver- 
zehr in  der  Herberge  zu  leisten  war,  wobei  der  dadurch 
von  Tag  zu  Tag  anwachsende  Aufwand  an  Zehrkosten 
den  Schuldner,  dem  er  zur  Last  fiel,  indirekt  zur  Zahlung 
seiner  Schuld  anzutreiben  bestimmt  war,  sollte  nach 
Bamberger  Recht  (ed.  Zöpfl,  §  217,  433)  wie  nach  §  4 
des  Stadtrechts  von  Amhem  in  Holland  ^)  auf  selten  des 
Gastes  mit  einem  Druck  von  zwei  Mahlzeiten  für  jeden 
Tag,  auf  Seiten  des  heimischen  Stadtbürgers  mit  einem 
solchen  von  bloß  einer  Mahlzeit  wirken !  Ahnliche,  mehr 
oder  minder  willkürliche  Verschärfungen  der  Rechts- 
position des  Gastes  finden  sich  auch  in  anderen  Dingen, 
so  z.  B.  in  Münster  (um  1221)  eine  höhere  Prozeßstrafe 
<Gewette)  für  unrichtiges  Prozessieren  gegen  einen  mit 
der  Klage  abgewiesenen  Gast,  als  gegen  einen  damit 
abgewiesenen  Einheimischen  und  ebendort  für  einen  sein 
gestohlenes  Gut  einklagenden  Gast  die  Auflage,  ein 
Dritte!  des  Wertes  dem  Stadtrichter  zu  geben,  während 
ein  gleicherweise  klagender  Bürger  von  solcher  Auflage 
frei  war  (§  32,  33,  38,  39,  Keutgen  S.  152  f.).  2)  Eine  die 
Gäste  zuweilen  bis  ins  kleinliche  verfolgende  Rechts-  und 
Wirtschaftspolitik!  Immerhin  derselbe  Geist,  der  mit  sel- 
tener Energie  und  Konsequenz  durch  die  Abschließung 
nach  außen  die  Konzentration  aller  Kräfte  im  Innern  auf 
dem  Grunde  gesteigerten  Vertrauens  zu  den  eigenen 
heimischen  Einrichtungen  herbeizuführen  und  damit  doch 
auch  zur  Blüte  mittelalterlichen  städtischen  Wesens  bei- 
zutragen wußte. 

^)  Zitat  bei  Rintelen,  Schuldhaft  und  Einlager  im  Vollstreckungs- 
verfahren (1908)  S.  143. 

')  Vgl.  u.  a.  auch  die  Aufzählung  aus  dem  Bamberger  Recht 
bei  Zöpfl,  Das  alte  Bamberger  Recht  (1839)  S.  70  f. 


Die  Geschichtschreibung  des 
Vatikanischen  Konzils. 


Von 

Carl  Mirbt 


Pius  IX.  ist  der  erste  römische  Papst  gewesen,  der 
^die  Jahre  des  Petrus**  nicht  respektiert,  sondern  mit 
seiner  Regierungszeit  von  einunddreißig  Jahren,  sieben 
Monaten,  zweiundzwanzig  Tagen  sogar  erheblich  über- 
schritten hat.  Auch  Leo  XIII.  ist  es  dann  beschieden 
gewesen,  länger  als  fünfundzwanzig  Jahre  die  römisch- 
katholische Kirche  zu  leiten,  aber  er  blieb  doch  hinter 
seinem  Amtsvorgänger  zurück,  da  nach  weiteren  fünf 
Monaten  der  Tod  seinem  glanzvollen  und  erfolgreichen 
Pontifikat  ein  Ziel  setzte.  Pius  IX.  nimmt  daher  schon 
durch  die  Dauer  seiner  Regierung  in  der  Liste  der  an- 
nähernd zweihundertundsechzig  Päpste,  die  in  der  römisch- 
katholischen Kirche  gezählt  zu  werden  pflegen,  einen 
besonderen  Platz  ein.  Er  gehört  auch  in  die  Reihe  der 
wichtigsten;  freilich  nicht  zu  den  bedeutendsten.  Denn 
er  war  weder  als  Theolog,  noch  als  Kanonist,  noch  als 
Diplomat  hervorragend,  und  nur  in  den  beiden  ersten 
Jahren  seiner  Regierung  konnte  es  scheinen,  daß  er  die 
Kraft  besaß,  eine  führende  Persönlichkeit  zu  werden. 
Nach  seiner  Rückkehr  aus  der  Verbannung  wird  er  nicht 
mehr  leicht  so  beurteilt  worden  sein;  denn  in  Gaeta  war 
er  alt  geworden,  d.  h.  er  hatte  die  Fähigkeit  verloren,  neue 
Eindrücke  aufzunehmen  und  stand  seitdem   dem   Fort- 


523         Alired  SchulUe,  Gästerecht  und  Gastgerichte  etc. 

exekution  und  zwar  der  durch  Einlager  des  Bürgen  zu 
bewirkenden  angehört.  Dieses  Einlager,  das  durch  Ver- 
zehr in  der  Herberge  zu  leisten  war,  wobei  der  dadurch 
von  Tag  zu  Tag  anwachsende  Auhvand  an  Zehrkosten 
den  Schuldner,  dem  er  zur  Last  fiel,  indirekt  zur  Zahlung 
seiner  Schuld  anzutreiben  bestimmt  war,  sollte  nach 
Bamberger  Recht  (ed.  Zöpfl,  §  217,  433)  wie  nach  §  4 
des  Stadtrechts  von  Amhem  in  Holland^)  auf  selten  des 
Gastes  mit  einem  Druck  von  zwei  Mahlzeiten  für  jeden 
Tag,  auf  selten  des  heimischen  Stadtburgers  mit  einem 
solchen  von  bloß  einer  Mahlzeit  wirken !  Ahnliche,  mehr 
oder  minder  willkürliche  Verschärfungen  der  Rechts- 
position des  Gastes  finden  sich  auch  in  anderen  Dingen, 
so  z.  B.  in  Münster  (um  1221)  eine  höhere  Prozeßstrafe 
(Gewette)  für  unrichtiges  Prozessieren  gegen  einen  mit 
der  Klage  abgewiesenen  Gast,  als  gegen  einen  damit 
abgewiesenen  Einheimischen  und  ebendort  für  einen  sein 
gestohlenes  Gut  einklagenden  Gast  die  Auflage,  ein 
Drittel  des  Wertes  dem  Stadtrichter  zu  geben,  während 
ein  gleicherweise  klagender  Bürger  von  solcher  Auflage 
frei  war  (§  32,  33,  38,  39,  Keutgen  S.  152  f.).  2)  Eine  die 
Gäste  zuweilen  bis  ins  kleinliche  verfolgende  Rechts-  und 
Wirtschaftspolitik!  Immerhin  derselbe  Geist,  der  mit  sel- 
tener Energie  und  Konsequenz  durch  die  Abschließung 
nach  außen  die  Konzentration  aller  Kräfte  im  Innern  auf 
dem  Grunde  gesteigerten  Vertrauens  zu  den  eigenen 
heimischen  Einrichtungen  herbeizuführen  und  damit  doch 
auch  zur  Blüte  mittelalterlichen  städtischen  Wesens  bei- 
zutragen wußte. 

*)  Zitat  bei  Rintelen,  Schuldhaft  und  Einlager  im  Vollstreckungs- 
verfahren (1908)  S.  143. 

*)  Vgl.  u.  a.  auch  die  Aufzählung  aus  dem  Bamberger  Recht 
bei  Zöpfl,  Das  alte  Bamberger  Recht  (1839)  S.  70  f. 


Die  Geschichtschreibung  des 
Vatikanischen  Konzils. 


Von 

Carl  Mirbt. 


Pius  IX.  ist  der  erste  römische  Papst  gewesen,  der 
„die  Jahre  des  Petrus"  nicht  respektiert,  sondern  mit 
seiner  Regierungszeit  von  einunddreißig  Jahren,  sieben 
Monaten,  zweiundzwanzig  Tagen  sogar  erheblich  über- 
schritten hat.  Auch  Leo  XIII.  ist  es  dann  beschieden 
gewesen,  länger  als  fünfundzwanzig  Jahre  die  römisch- 
katholische Kirche  zu  leiten,  aber  er  blieb  doch  hinter 
seinem  Amtsvorgänger  zurück,  da  nach  weiteren  fünf 
Monaten  der  Tod  seinem  glanzvollen  und  erfolgreichen 
Pontifikat  ein  Ziel  setzte.  Pius  IX.  nimmt  daher  schon 
durch  die  Dauer  seiner  Regierung  in  der  Liste  der  an- 
nähernd zweihundertundsechzig  Päpste,  die  in  der  römisch- 
katholischen Kirche  gezählt  zu  werden  pflegen,  einen 
besonderen  Platz  ein.  Er  gehört  auch  in  die  Reihe  der 
wichtigsten;  freilich  nicht  zu  den  bedeutendsten.  Denn 
er  war  weder  als  Theolog,  noch  als  Kanonist,  noch  als 
Diplomat  hervorragend,  und  nur  in  den  beiden  ersten 
Jahren  seiner  Regierung  konnte  es  scheinen,  daß  er  die 
Kraft  besaß,  eine  führende  Persönlichkeit  zu  werden. 
Nach  seiner  Rückkehr  aus  der  Verbannung  wird  er  nicht 
mehr  leicht  so  beurteilt  worden  sein;  denn  in  Gaeta  war 
er  alt  geworden,  d.  h.  er  hatte  die  Fähigkeit  verloren,  neue 
Eindrücke  aufzunehmen   und  stand  seitdem   dem   Fort- 


530  Carl  Mirbt, 

schritt  der  Zeit  nur  noch  grollend  und  schmollend  gegen- 
über. In  dem  lebhaft  pulsierenden  Leben  der  modernen 
Kultur  sah  er  fortan  nur  die  Triebe  zur  Emanzipation 
von  Kirche  und  Christentum ;  ein  positives  Verhältnis  zu 
dieser  Kultur  zu  gewinnen,  war  ihm  versagt. 

Aber  in  seine  Regierung  fallen  Ereignisse  von  großer 
und  bleibender  Bedeutung.  Schon  die  Dogmatisierung 
der  Lehre  von  der  Immaculata  conceptio  der  Maria  im 
Jahre  1854  und  die  Publikation  des  Syllabus  vom  Jahre 
1864  verdienen  es,  so  eingeschätzt  zu  werden.  Denn  die 
Aufstellung  des  Mariendogmas  war  nicht  nur  die  Er- 
hebung einer  einzelnen,  bis  dahin  stark  umstrittenen  und 
von  den  angesehensten  Kirchenlehrern  des  Mittelalters 
bekämpften  Schulmeinung  zum  Glaubenssatz,  sondern 
bedeutete  zugleich  die  Anerkennung  einer  bestimmten 
Richtung  der  katholischen  Frömmigkeit;  durch  den  Sylla- 
bus aber  wurde  die  römische  Kirche  auf  Anschauungen 
über  das  Verhältnis  von  Kirche  und  Staat  festgelegt,  die 
bis  dahin  als  die  Spezialität  ultramontaner  Kreise  gegolten 
hatten.  Seine  Signatur  hat  jedoch  der  Pontifikat  Pius  IX. 
in  erster  Linie  von  zwei  Ereignissen  empfangen,  die  für 
den  römischen  Stuhl  epochemachend  geworden  sind: 
von  dem  Vatikanischen  Konzil  und  von  dem  zeitlich 
sich  unmittelbar  anschließenden  Zusammenbruch  des 
Kirchenstaats. 

Die  Beseitigung  des  Kirchenstaats  war  die  Lösung 
eines  längst  und  vielfach  behandelten  Problems,  das  zwar 
in  erster  Linie  die  Interessen  des  italienischen  Volkes 
berührte,  aber  zugleich  internationaler  Natur  war.  Da 
die  Kurie  nicht  imstande  war,  die  Verhältnisse  abzuändern, 
die  auf  eine  Aufhebung  des  Kirchenstaats  hindrängten, 
blieb  ihren  Versuchen,  die  drohende  Katastrophe  durch 
Proteste  aufzuhalten,  der  Erfolg  versagt.  Als  die  Tat- 
sache der  Annexion  vorlag,  haben  ihre  Verwahrungen  sich 
dann  sogar  noch  gesteigert  und  zum  Teil  Formen  ange- 
nommen, die  keinen  anderen  Schluß  zuzulassen  scheinen, 
als  daß  der  Besitz  dieses  Staatswesens  dem  Papsttum 
unentbehrlich  sei.  Dabei  wurde  jedoch  außer  acht  ge- 
lassen, daß  der  Kirchenstaat  erst  in  der  Mitte  des  8.  Jahr- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       531 

Hunderts  begründet  worden  ist  und  nicht  beachtet,  daß 
die  Festhaltung  dieses  Besitzes  mit  großen  und  schweren 
Opfern  erkauft  worden  war.  Denn  die  italienische  Terri- 
torialpolitik hat  viel  Kraft  der  Päpste  absorbiert  und 
wurde  zeitweise  so  sehr  der  Mittelpunkt  der  gesamten 
Kurialpoiitiky  daß  darunter  die  Interessen  der  katholischen 
Christenheit  nachweislich  gelitten  haben.  Als  nach  dem 
Zusammenbruch  der  Napoleonischen  Macht  auf  dem 
Wiener  Kongreß  der  Kirchenstaat  wiederhergestellt  wurde, 
hat  Pius  VII.  darin  allerdings  einen  Erfolg  gesehen,  und 
dieses  Urteil  wird  sehr  begreiflich,  wenn  man  in  Rech- 
nung zieht,  unter  welchen  Umständen  er  verloren  ge- 
gangen war.  Aber  sehr  bald  hat  sich  dann  herausgestellt, 
daß  mit  der  Restitution  dieses  Kirchenstaats  dem  Papsttum 
eine  Aufgabe  zufiel,  der  es  jetzt  noch  weniger  gewachsen 
war  als  jemals  zuvor;  schon  nach  wenigen  Jahren 
herrschten  geradezu  unhaltbare  Zustände.  Da  ängstlich 
vermieden  wurde,  die  Staatsverwaltung  nach  den  in  dem 
übrigen  Europa  herrschenden  Grundsätzen  modernen 
Staatslebens  umzugestalten  und  die  wachsende  Unzu- 
friedenheit der  Bevölkerung  nicht  au!  die  Dauer  durch 
das  Militär  auswärtiger  Mächte  in  Schranken  gehalten 
werden  konnte,  war  der  Kirchenstaat,  längst  bevor  er 
tatsächlich  von  der  italienischen  Einheitsbewegung  weg- 
gespült wurde,  dem  Untergang  verfallen.  Die  Entschei- 
dung über  den  Termin  des  Eintritts  dieser  Katastrophe 
lag  in  Paris.  Die  italienische  Okkupation  Roms  hat  daher 
das  Papsttum  aus  einer  Komplikation  befreit,  die  seinem 
Ansehen  wenig  förderlich  war,  aus  der  es  sich  aber 
schwer  selbst  befreien  konnte.  Papst  Pius  IX.,  der  von 
dem  Wechsel  der  Dinge  zunächst  Betroffene,  hat  freilich 
den  Verlust  des  Kirchenstaats  lediglich  als  eine  ihm 
widerfahrene  Vergewaltigung  beurteilt  und  dieser  Emp- 
findung dann  nicht  selten  den  temperamentvollen  Aus- 
druck gegeben,  der  für  seine  Kundgebungen  charakteri- 
stisch ist.  Auch  seine  beiden  Nachfolger  haben  zu  der 
vollzogenen  Säkularisation  keine  andere  Stellung  ge- 
wonnen, und  es  ist  auch  nicht  zu  erwarten,  daß  der 
Protest  dagegen  jemals  fallen  gelassen  werden  wird,  da 


532  Carl  Mirbt, 

der  Kirchenstaat  als  Kirchengut  gilt  und  die  im  Syllabus 
vom  Jahre  1864  niedergelegten  Urteile  eine  starke  Bin- 
dung enthalten.  Trotzdem  wird  niemand  behaupten 
wollen,  daß  der  Papst  durch  seine  Entthronung  als  welt- 
licher Fürst  im  Leben  der  Völker  an  Bedeutung  verloren 
hat,  mag  man  die  Frage,  ob  er  noch  als  Souverain  an- 
zusehen ist,  bejahen  oder  verneinen.  Vielmehr  war  die 
Auflösung  des  Kirchenstaats  für  ihn  in  Wahrheit  eine 
Stärkung,  denn  sie  hat  dem  Papsttum  wieder  zu  der 
internationalen  Position  verhelfen,  die  es  früher  besessen 
hatte,  und  sie  hat  der  dauernden  Beeinträchtigung  seines 
Ansehens  durch  die  berechtigten  Klagen  über  die  Miß- 
wirtschaft seiner  Staatsverwaltung  ein  Ende  gemacht. 

In  der  gleichen  Richtung  hat  das  Vatikanische  Konzil 
gewirkt.  Von  den  zahlreichen  ihm  zugedachten  Aufgaben 
hat  es  nur  zwei  gelöst,  aber  die  beiden  wichtigsten, 
indem  es  die  Lehre  von  dem  Universalepiskopat  des 
römischen  Bischofs  und  die  Lehre  von  dessen  Unfehl- 
barkeit in  Sachen  des  Glaubens  und  der  Sitte  zum 
Dogma  erhob.  Wir  werfen  hier  nicht  die  Frage  auf, 
welche  Wirkung  diese  Beschlüsse  auf  die  römisch- 
katholische Kirche  in  religiöser,  in  sittlicher,  in  intellek- 
tueller Beziehung  ausgeübt  haben,  sondern  halten  uns  an 
die  Tatsache,  daß  durch  sie  die  Zentralgewalt  der  Kirche 
und  eben  damit  die  Aktionskraft  dieser  Kirche  in  der 
Sphäre  des  politischen  Lebens  erheblich  gesteigert  wor- 
den ist.  Bei  ihrer  politischen  Betätigung  kommen  aller- 
dings noch  andere  Umstände  und  Faktoren  stark  in  Be- 
tracht. Wir  denken  an  die  geringe  Widerstandskraft 
mancher  Völker  gegenüber  dem  Klerikalismus,  an  die 
Macht  von  Zeitströmungen,  wie  sie  beispielsweise  die 
Romantik  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  ausgeübt  hat, 
an  die  weit  verbreitete  Unkenntnis  über  das  Wesen  und 
die  Ziele  des  römischen  Katholizismus.  Aber  der  tat- 
sächlich von  der  römischen  Kirche  ausgehende  Einfluß 
wird  doch  nur  vorübergehend  oder  sekundär  durch  solche 
der  Veränderung  unterliegende  günstige  Verhältnisse  be- 
stimmt sein,  im  letzten  Grunde  verdankt  sie  ihn  ihren 
eigenen   Qualitäten.     Sie    besitzt    ein    stark    entwickeltes 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       533 

Solidaritätsgefühl  ihrer  Mitglieder,  mit  dem  sie  gerade 
in  schwierigen  Lagen  sicher  rechnen  kann,  sie  stellt  sich 
dem  Außenstehenden  als  eine  einheitliche  Größe  dar, 
sie  repräsentiert  durch  ihre  reichen  Mittel  eine  sehr  ge- 
wichtige wirtschaftliche  Potenz,  sie  verfügt  über  eine 
große  Erbweisheit,  an  die  vielleicht  nicht  jeder  Nuntius 
oder  Bischof  immer  den  erwünschten  Anschluß  gewinnt, 
die  aber  doch  im  allgemeinen  regulierend  eingreift,  sie 
ist  auch  nicht,  wie  die  Regierungen  weltlicher  Staaten, 
durch  wechselnde  Majoritäten  der  Volksvertretung  be- 
engt. Kurz  sie  wird  durch  Disziplin,  durch  Organisation, 
durch  materielle  Interessen,  durch  ideale  Güter  so  fest 
zusammengeschlossen,  daß  sich  das  Gewicht  dieser 
größten  internationalen  Korporation  im  gesellschaftlichen 
und  politischen  Leben  jedes  Volkes,  in  dem  sie  Wurzel 
schlägt,  ohne  weiteres  geltend  macht. 

Bei  dieser  Sachlage  kann  ein  Werk,  das  sich  die 
Aufgabe  stellt,  die  Geschichte  dieser  Kirchenversammlung 
auf  breitester  Grundlage  und  mit  neuem  Material  zur 
Darstellung  zu  bringen,  von  vornherein  auf  ernste  Be- 
achtung rechnen.  Neuerdings  haben  wir  eine  derartige 
Monographie  in  der  „Geschichte  des  Vatikanischen  Konzils 
von  seiner  ersten  Ankündigung  bis  zu  seiner  Vertagung" 
von  Theodor  Granderath  S.  J.  erhalten,  die  nach  dem 
Tode  des  Verfassers  von  Konrad  Kirch  S.  J.  herausgegeben 
worden  ist.^)  Da  der  Verfasser  schon  an  der  Herausgabe 
des  von  dem  Vatikanischen  Konzil  handelnden  Bandes  der 
Maria  Laacher-Sammlung  neuerer  Konzilsakten  hervor- 
ragenden Anteil  gehabt  hat  und,  von  1893  an  in  Rom 
lebend,  seine  ganze  Kraft  auf  die  Erforschung  dieser 
Kirchenversammlung  konzentrierte,  so  war  er  mit  diesem 
Gegenstand  in  hervorragendem  Maße  vertraut.  Als  er 
1902  starb,  war  das  Manuskript  bis  auf  einzelne  Ab- 
schnitte des  dritten  Bandes  fertig. 


*)  Herder,  Freiburg  i.  B.  Der  erste  Band,  der  die  Vor- 
geschichte behandelt  (XXIV  u.  533  S.),  und  der  zweite,  der  bis  zur 
dritten  öffentlichen  Sitzung  reicht  (XX  u.  75S  S.),  sind  1903  er- 
schienen, der  dritte  Band,  der  die  Darstellung  zum  Abschluß 
bringt  (XXll  u.  748  S.),  wurde  1906  veröffentlicht. 


534  Carl  Mirbt, 

I. 

Eine  vollständige  Bibliographie  zur  Geschichte  des 
Vatikanischen  Konzils  existiert  noch  nicht.  Die  von 
E.  Friedberg  in  seiner  „Sammlung  der  Aktenstücke  zum 
ersten  Vatikanischen  Konzil"  dargebotene  Zusammen- 
stellung ist  zwar  eine  sehr  dankenswerte  Grundlage  und 
gibt  schon  dadurch,  daß  sie  die  Titel  von  mehr  als  elf- 
hundert Schriften  aufführt,  eine  Vorstellung  davon,  mit 
welchem  Interesse  das  Konzil  von  den  Zeitgenossen  be- 
gleitet worden  ist.  Aber  das  Verzeichnis  stammt  aus 
dem  Jahre  1872  und  ist  leider  später  weder  revidiert 
noch  fortgeführt  worden. 

Sehr  früh  ist  mit  der  Sammlung  von  Quellen  zur 
Geschichte  des  Konzils  begonnen  worden.  J.  Friedrich 
hat  seine  wichtigen  y^Documenta  ad  illustrandum  conci- 
lium  Vaticanum  anni  1870^  schon  1871  ausgehen  lassen; 
das  eben  genannte  Quellenwerk  Friedbergs  folgte  im 
nächsten  Jahr;  Bischof  Martin  von  Paderborn  ließ  seine 
„CoUectio  omnium  documentorum  concilii  Vatlcani*'  1873 
erscheinen;  in  dem  Archiv  für  katholisches  Kirchenrecht 
von  Vering  ist  in  den  Bänden  XXII  bis  XXXIII  u.  a. 
ein  reiches  Material  aufgespeichert,  das  durch  das  General- 
register leicht  zugänglich  gemacht  ist;  der  Sammler 
A.  V.  Roskoväny  hat  von  seinem  ^Romanos  pontifex*^  die 
Bände  VII  bis  XVI  und  die  Supplementbände  VII  bis  X 
in  den  Jahren  1871  —  1879  veröffentlicht;  auch  die  „Akten- 
stücke zur  Geschichte  des  Verhältnisses  von  Kirche  und 
Staat",  die  H.  v.  Kremer- Auenrode  1876  herausgab  (Staats- 
archiv XXIV)  enthalten  mancherlei;  von  den  zahlreichen 
Ausgaben  und  Abdrücken  der  Beschlüsse  des  Konzils 
dürfen  wir  hier  absehen.  Die  weitaus  vollständigste 
Sammlung  von  Konzilsakten,  die  wir  zurzeit  besitzen, 
bietet  der  siebente  Band  der  y,Acta  et  decreta  sacrorum 
conciliorum  recentiorum**  in  der  Collectio  Lacensis,  der  auf 
Grund  der  Vorarbeiten  von  G.  Schneemann,  wie  oben 
bemerkt,  durch  Granderath  1890  herausgegeben  worden 
ist  und  dadurch  besonderen  Wert  erlangt  hat,  daß  auch 
zahlreiche  Aktenstücke  über  die  durch  das  Konzil  in 
den    verschiedenen    Ländern    Europas    hervorgerufenen 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       535 

Bewegungen  Aufnahme  gefunden  haben.^)  Nach  dieser 
Richtung  hin  gewährt  auch  die  Spezialliteratur  Über  den 
Altkatholizismus  mancherlei  Ausbeute,  vor  allem  Joh. 
Friedr.  v.  Schulte,  Geschichte  des  Altkatholizismus  in 
Deutschland  (1887). 

Ober  die  Vorgänge  auf  dem  Konzil  sollte,  nach  dem 
Befehl  des  Papstes,  strengstes  Stillschweigen  beobachtet 
werden,  aber  es  hat  nicht  erzwungen  werden  können.  Zu 
besonderer  Berühmtheit  sind  die  Berichte  gelangt,  die 
die  Augsburger  Allgemeine  Zeitung  fortlaufend  zu  bringen 
in  der  Lage  war;  sie  erschienen  dann  unter  dem  Titel: 
Quirinus  „Römische  Briefe"  (1870)  in  Buchform.  Daß  der 
Schreiber  über  eine  intime  Kenntnis  auch  der  hinter  den 
Kulissen  sich  abspielenden  Kämpfe  verfügte,  war  auf 
den  ersten  Blick  ersichtlich.  Da  es  für  die  Kurie  und 
die  Konzilsmajorität  recht  unbequem  und  peinlich  war, 
ihre  Machinationen  der  großen  Öffentlichkeit  unterbreitet 
zu  sehen,  ist  keine  Mühe  gescheut  worden,  den  Autor 
zu  entdecken,  und  es  ist  mit  großem  Nachdruck  versichert 
worden,  daß  diese  Briefe  von  Irrtümern  strotzten  und 
von  Sensationslust  und  Klatschsucht  diktiert  seien.  Wenn 
dieses  abfällige  Urteil  in  jenen  aufgeregten  Zeiten  von 
ultramontaner  Seite  eifrigst  kolportiert  wurde,  so  ist  dies 
aus  parteitaktischen  Gesichtspunkten  zu  begreifen  und 
daher  nicht  allzuschwer  zu  nehmen.  Aber  es  wird  auch 
heute  noch  festgehalten.  Tatsächlich  ist  der  Beweis  der 
UnZuverlässigkeit  dieser  Berichte  von  ihren  Anklägern 
jedoch  noch  immer  nicht  erbracht  wurden  —  daß  in 
Einzelheiten  auch  einmal  ein  Fehlgriff  vorkam,  ist  bei 
der  Art  ihrer  Entstehung  nicht  auffällig  — ,  Bischof 
Stroßmayer  hat  sie  sogar  als  die  beste  und  getreueste 
Geschichte  des  Konzils  bezeichnet  und  Bischof  Dinkel 
von  Augsburg  die  Wahrheit  der  Berichte  zugestehen 
müssen.  Wie  schwer  die  durch  die  „Briefe"  der  Ver- 
borgenheit entrissenen  Tatsachen  noch  heute  empfunden 
werden,  zeigen  die  starken  Worte,  die  Granderath  in 
die  Feder  fließen,  wenn  er  auf  sie  zu  sprechen   kommt. 


»)  Herder,  Freiburg  i.  B.  (XX  S.  u.  1944  Kol.). 


536  Carl  Mirbt, 

Er  vertritt  die  Auffassung ,  daß  sie  ^ nicht  den  Zweck 
verfolgen,  Über  das  Konzil  aufzuklären,  sondern  dasselbe 
in  den  Augen  der  Leser  verächtlich  und  lächerlich  zu 
machen"  und  bemüht  sich,  in  einer  längeren  Erörterung 
(Bd.  II,  S.  578  ff.)  seine  Leser  davon  zu  überzeugen,  daß 
sie  lügenhafte  und  tendenziös  entstellte  Mitteilungen  und 
mißdeutete  Tatsachen  enthalten.  Die  Frage  nach  der 
Herkunft  dieser  berühmten  Briefe  ist  oft  gestellt,  aber 
nicht  zutreffend  beantwortet  worden,  auch  die  römische 
Polizei  hat  sich  seinerzeit  vergeblich  um  ihre  Lösung 
bemüht.  Granderath  schlägt  den  eigenartigen  Weg  ein 
(Bd.  11,  S.  578),  aus  der  Ankündigung  des  Buches  als 
eines  Werkes  von  Friedrich  in  dem  Antiquariatskatalog 
einer  Nördlinger  Buchhandlung  den  Schluß  zu  ziehen: 
„Friedrich  also  hat  die  Sammlung  herausgegeben.''  Das 
ist  ein  Irrtum,  denn  nach  den  Mitteilungen  Friedrichs 
in  der  Revue  internationale  de  ThSologie  von  1903  hat 
er  zwar  selbst,  neben  Lord  Acton,  dem  Grafen  Arco 
und  anderen,  zu  den  Berichten  beigesteuert,  aber  sie 
wurden  von  Döllinger  redigiert.  —  Von  nicht  geringem 
Werte  ist  weiter  das  von  J.  Friedrich  vom  Dezember 
1869  bis  zum  21.  Juli  1870  geführte  Tagebuch.  Der  Ver- 
fasser stand  als  theologischer  Berater  des  Kardinals 
Hohenlohe  den  Ereignissen  sehr  nahe,  und  seine  Auf- 
zeichnungen geben  ein  interessantes  Spiegelbild  der 
Stimmungen  und  Auffassungen,  die  in  den  verschiedenen 
Phasen  des  Konzils  unter  den  Minoritätsbischöfen  ver- 
breitet waren.  —  Es  muß  dahin  gestellt  bleiben,  ob  nicht 
noch  andere  dem  Konzil  nahestehende  oder  ihm  ange- 
hörende Persönlichkeiten  ihre  Eindrücke  schriftlich  fest- 
gehalten haben.  Wenigstens  von  einem  solchen  Tage- 
buch berichtet  Granderath,  es  ist  das  von  ihm  mehrfach 
benutzte  und  hoch  eingeschätzte  „Diarium  eines  Konzils- 
mitgliedes". Nachdem  bekannt  geworden  ist,  daß  es  von 
Bischof  Senestr^y  von  Regensburg  herstammt  (Beiles- 
heim, Hist.-polit.  Blätter  138,  718),  haben  die  Mitteilungen 
daraus  erheblich  an  Gewicht  gewonnen.  Es  würde  mit 
großer  Freude  zu  begrüßen  sein,  wenn  es  vollständig 
veröffentlicht  würde,   da  die   nicht  große  Zahl  der  Be- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       537 

richte  über  das  Konzil  von  Männern,  die  gut  orientiert 
waren,  dadurch  eine  wichtige  Ergänzung  erfahren  und 
als  Gegenstück  zu  Friedrich  und  Quirinus  sehr  will- 
kommen sein  würde.  —  Daß  gleichzeitige  Aufzeich- 
nungen über  das  Konzil  oder  persönliche  Erinnerungen 
einzelner  Synodalen  in  verhältnismäßig  so  geringer  Zahl 
den  Weg  in  die  Öffentlichkeit  gefunden  haben,  ist  zu- 
nächst auffallend.  Jenes  päpstliche  Schweigegebot  kann 
diese  Wirkung  nicht  ausgeübt  haben,  da  es  mit  der 
Vertagung  des  Konzils  außer  Kraft  trat.  Der  Grund 
der  großen  Zurückhaltung  der  weitaus  meisten  Konzils- 
mitglieder in  Mitteilungen  über  die  innere  Geschichte 
des  Konzils  ist  vielmehr  darin  zu  sehen,  daß  das  Gros 
der  mit  allem,  was  von  der  Konzilsleitung  geschah  oder 
nicht  geschah,  von  vornherein  einverstandenen  Konzils- 
majorität in  das  innere  Getriebe  der  Konzilsdiplomatie 
wohl  überhaupt  keinen  Einblick  gehabt  haben  wird. 
Die  Bischöfe  der  Minorität  haben,  infolge  ihrer  Opposition 
und  ihrer  größeren  geistigen  Regsamkeit,  wohl  mehr  er- 
lebt und  daher  auch  mehr  Anlässe  gehabt,  das  Stück 
Zeitgeschichte,  in  dem  sie  selbst  eine  hervorragende 
Rolle  spielten,  als  Augen-  und  Ohrenzeugen  in  unver- 
fälschten Berichten  der  Nachwelt  zu  überliefern.  Aber 
dieses  Interesse  erlosch  in  dem  Augenblick,  wo  sie  sich 
den  Konzilsbeschlüssen  unterwarfen,  und  tatsächlich 
haben  schließlich,  früher  oder  später,  sämtliche  Minoritäts- 
bischöfe diesen  Schritt  getan.  Da  sie  damit  ihr  eigenes 
Verhalten  auf  dem  Konzil  verleugneten,  so  wird  es  ver- 
ständlich, wie  es  hat  geschehen  können,  daß  gerade  die 
Männer,  die  in  erster  Linie  in  der  Lage  gewesen  wären, 
die  offizielle  und  offiziöse  Berichterstattung  zu  ergänzen, 
darauf  verzichteten,  das  Wort  zu  ergreifen.  Auch  der 
Gedanke  an  die  große  historisch-wissenschaftliche  Ver- 
antwortung, die  auf  ihnen  lastete,  hat,  wenn  er  ihnen 
überhaupt  kam  —  und  einem  Manne  wie  Hefele  konnte 
er  kaum  fernbleiben  —  neben  dem  Wunsch,  eine  nun- 
mehr als  peinlich  empfundene  Episode  vergessen  zu 
machen,  sich  nicht  behaupten  können.  Nach  denselben 
Grundsätzen  handelten  dann  auch  ihre  Biographen,   die 

Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  a.  Folge  6.  Bd.  35 


538  Carl  Mirfot, 

schonend  und  nachsichtig  über  diese  Sturm-  und  Drang- 
periode ihrer  Helden  mit  sanften  Worten  hinwegführen. 
So  erklärt  es  sich,  daß  die  Lebensbeschreibungen  man- 
cher berühmter  Synodalen  der  Minorität  für  die  Konzils- 
geschichte eine  verhältnismäßig  sehr  dürftige  Ausbeute 
gewähren,  z.  B.  M.  Lagrange :  „  Vie  de  Mgr.  Dupanloup, 
ävique  (VOrlians^,  3.  Band  1884;  M.  J.  Guillermin:  ,,VU 
de  Darboy'' y  1889;  C.  Wolfsgruber,  „Kardinal  Rauscher**, 
1888;  A.  Baumgartner,  „Erinnerungen  an  Dr.  K.  J.  Greith"*, 
1884;  0.  Pfülf,  „Bischof  von  Ketteier«,  3.  Band,  1899. 
Bei  den  Bischöfen  der  Majorität  war  allerdings  nichts 
zu  verbergen,  aber  bei  den  meisten  über  die  Feststellung 
ihrer  Korrektheit  hinaus  auch  wenig  bedeutungsvolles  zu 
berichten.  Die  Kenntnis  der  Konzilsgeschichte  ist  daher 
nur  sehr  gering  gefördert  worden  durch :  Zobl,  „Vinzenz 
Gasser,  Fürstbischof  von  Brixen",  1883,  wenn  er  auch, 
nach  einem  Ausspruch  Pius  IX.,  zu  den  Säulen  des  Kon- 
zils gehört  hat;  auch  nicht  durch  K.  Meindl,  „Bischof 
Rudigier  von  Linz",  1892,  und  ebensowenig  durch  Fr. 
V.  Ger,  „Fürstbischof  Zwerger  von  Seckau",  1897,  dem 
Aufzeichnungen  von  dessen  Hand  zur  Seite  standen. 
Eine  weit  reichere  Ausbeute  gewährt  Purcell,  j^Life  of 
Cardinal  Manning*'y  2.  Band,  1896.  Aus  der  neuesten 
Memoirenliteratur  nennen  wir  die  „Denkwürdigkeiten  des 
Fürsten  Chlodwig  zu  Hohenlohe- Schillingfürst",  1906, 
die  über  einige  wichtige  Punkte  Aufklärung  gebracht 
haben  und  sehr  bedeutungsvolle  Urteile  des  Kardinals 
Hohenlohe  mitteilen. 

Es  bereitet  einige  Schwierigkeiten,  aus  der  Flut  der 
publizistischen  Literatur,  die  alle  Phasen  des  Konzils  be- 
gleitet hat,  das  wichtigste  herauszugreifen.  Denn  die  Wir- 
kung der  einzelnen  Schriften  auf  die  Zeitgenossen  war 
naturgemäß  nicht  nur  von  der  Gediegenheit  ihres  Inhalts, 
von  der  logischen  Schärfe  ihrer  Beweisführung  und  von 
der  Art  ihrer  Darstellungsweise  abhängig,  sondern  zum 
nicht  geringen  Teil  von  der  Konstellation  der  Verhältnisse 
zur  Zeit  ihres  Erscheinens  und  vor  allem  von  der  Partei- 
stellung  des  Verfassers.  Den  durchschlagendsten  Erfolg 
erzielte  die  in  der  Augsburger  Allgemeinen  Zeitung  ver- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       539 

öffentlichte  Serie  von  Artikeln  „Das  Konzil  und  die 
Civiitä",  die  dann  neubearbeitet  unter  dem  Titel:  Janus, 
„Der  Papst  und  das  Konzil''  als  Buch  erschienen  (1869). 
Erst  durch  die  von  Friedrich  im  Jahre  1892  veranstaltete 
neue  Ausgabe  ist  vor  der  Öffentlichkeit  die  Autorenfrage 
klargestellt  worden ;  der  Titel  lautet  hier :  J.  v.  Döilinger, 
„Das  Papsttum".  In  diesen  Artikeln  wurde  den  Gegnern 
des  Infallibilitätsdogmas  aus  der  Geschichte  ein  pole- 
misches Material  zur  Verfügung  gestellt,  wie  es  bis  dahin 
nirgends  in  ähnlicher  Vollständigkeit  und  Zuverlässigkeit 
gesammelt  vorlag.  Was  sich  vom  Standpunkt  der  Gegen- 
partei aus  dagegen  sagen  ließ  und  was  vor  der  Öffent- 
lichkeit dagegen  gesagt  werden  mußte,  hat  der  damalige 
Professor  der  Kirchengeschichte  in  Würzburg  und  spätere 
Kardinal  J.  Hergenröther  in  seinem  „Anti-Janus"  (1870) 
vorgebracht;  aber  es  glückte  ihm  nicht,  den  durch 
Janus  hervorgerufenen  Totaleindruck  zu  verwischen,  daß 
es  eine  Unmöglichkeit  war,  das  kommende  Dogma  mit 
dem  kirchlichen  Altertum  in  Einklang  zu  bringen.  Auch 
Joh.  Friedrich  v.  Schulte  hat  durch  seine  inhaltreichen 
Schriften  „Die  Macht  der  römischen  Päpste  über  Fürsten, 
Länder,  Völker,  Individuen"  und  „Die  Stellung  der  Kon- 
zilien, Päpste  und  Bischöfe  und  die  päpstliche  Konsti- 
tution vom  18.  Juli  1870"  (1871)  in  die  öffentliche  Er- 
örterung eingegriffen.  Den  gleichen  Standpunkt  vertraten 
die  „Stimmen  aus  der  katholischen  Kirche  über  Kirchen- 
fragen der  Gegenwart"  (zwei  Bände  1870),  die  aus  der 
Feder  von  Huber,  Döjlinger,  Reinkens  Abhandlungen 
brachten.  Das  jesuitische  Gegenstück  bilden  die  von 
Fl.  Rieß  und  K.  v.  Weber  in  den  Stimmen  aus  Maria 
Laach  unter  dem  Titel  „Das  ökumenische  Konzil"  ge- 
sammelten Schriften  (1869—1871),  denen  auch  Rund- 
schauen zur  kirchlichen  Lage  und  Referate  über  die 
Konzilsliteratur  beigefügt  sind.  Auf  demselben  Stand- 
punkt steht  das  dreibändige,  von  Jos.  Scheeben  heraus- 
gegebene Werk:  „Das  ökumenische  Konzil  vom  Jahre 
1869"  (Periodische  Blätter  zur  Mitteilung  und  Besprechung 
der  Gegenstände,  welche  sich  auf  die  neueste  allgemeine 
Kirchenversammlung   beziehen).   —    In    den    außerhalb 

35* 


540  Carl  Mirbt, 

Deutschlands  über  das  Konzil  sich  abspielenden  Kämpfen 
ist  die  energische  Beteiligung  des  französischen  Klerus 
von  besonderem  Interesse.  Vor  allem  war  es  Dupanloup^ 
Bischof  von  Orleans,  der  eine  ausgedehnte  literarische 
Tätigkeit  entfaltete.  Großes  Aufsehen  erregten  auch  die 
Schriften  des  früheren  Oratorianers  P.  Gratry.  Dann  hat 
die  auch  ins  Deutsche  übersetzte  anonyme  Schrift  y,Ce  qui 
se  passe  au  concile*",  die  im  Mai  1870  in  Paris  erschien 
und  durch  die  rückhaltlose  Darlegung  der  Vorgänge  auf 
dem  Konzil  in  dessen  Mitte  die  größte  Bestürzung  hervor- 
rief, geradezu  sensationeil  gewirkt.  Die  Sache  der  Anti- 
infallibilisten  war  tatsächlich  bereits  verloren,  als  der  Ver- 
fasser von  „La  derniire  heure  du  concUe*'  angesichts  der 
bevorstehenden  Schlußabstimmungen  noch  einen  letzten 
Versuch  machte,  in  den  gelockerten  Reihen  den  Geist 
der  Tapferkeit  zu  wecken.  Die  publizistische  Vertretung 
der  Gegenpartei  lag  vor  allem  in  der  Hand  des  Erz- 
bischofs Dechamps  von  Mecheln  und  des  Vertrauens- 
mannes der  Kurie,  Louis  Veuillot,  des  Herausgebers  des 
Vnivers, 

Begreiflicherweise  ist  die  Geschichte  der  Vatikani- 
schen Kirchenversammlung  der  Gegenstand  zahlreicher 
Darstellungen  geworden,  aber  nur  wenige  besitzen  selb- 
ständigen Wert.  Die  Schrift  von  Lord  Acton:  „Zur  Ge- 
schichte des  Vatikanischen  Konzils"  (1871)  hat  einen 
geringen  Umfang,  aber  einen  reichen  Inhalt.  Der  Ver- 
fasser lebte  während  des  Konzils  in  Rom  und  stand  zu 
der  Minorität  in  den  engsten  Beziehungen.  Die  folgen- 
den Werke  stellen  vom  entgegengesetzten  Standpunkt 
aus  den  Verlauf  dar.  Als  Sekretär  des  Konzils  hatte 
Bischof  Feßler  von  St.  Polten  Gelegenheit,  Beobachtungen 
zu  machen  und  Dinge  kennen  zu  lernen,  die  anderen 
nicht  zugänglich  waren;  er  berichtet  darüber  in  der 
Schrift  „Das  Vatikanische  Konzilium,  dessen  äußere  Be- 
deutung und  innerer  Verlauf"  (1871).  Auch  Bischof 
Martin  von  Paderborn  verdient  als  einer  der  Vorkämpfer 
des  Dogmas  für  sein  Buch  „Die  Arbeiten  des  Vatikani- 
schen Konzils"  (1870)  Beachtung.  Noch  weniger  darf 
man  an  ^yThe  true  story  of  the  Vatican  Council*"  des  Kar- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       541 

dinals  Manning  von  Westminster  vorübergehen,  die  1877 
in  London  veröffentlicht  wurde  und  in  demselben  Jahr 
auch  in  deutscher  Sprache  erschien.  Denn  der  Verfasser 
war  in  noch  weit  höherem  Grade  ein  Führer  der  Majorität 
und  neben  Senestr^y  von  Regensburg  vielleicht  der 
energischste  Vertreter  der  Proklamation  der  Unfehlbarkeit 
des  Papstes  unter  den  Synodalen,  jedenfalls  einer  der 
geschicktesten.  Da  die  Entscheidung  darüber,  ob  das 
Konzil  zusammentreten  und  nach  seinem  eigenen  Er- 
messen arbeiten  konnte,  in  der  Hand  Frankreichs  lag, 
ist  der  Versuch  des  damaligen  französischen  Minister- 
präsidenten fimile  Ollivier,  die  von  ihm  befolgte  Politik 
der  Zurückhaltung  zu  rechtfertigen,  von  erheblichem 
Interesse,  und  sein  zweibändiges  Werk  „Uiglise  et  Vüat 
au  concile  du  Vatican"*  (1879)  liefert  uns  manches  wich- 
tige Detail.  Aber  der  apologetische  Zweck  des  Autors 
darf  nie  aus  den  Augen  gelassen  werden,  und  für  die 
Haltung  Napoleons  werden  der  Geschichtschreibung 
in  Zukunft  wohl  noch  weitere  Quellen  sich  erschließen. 
Auf  breitester  Grundlage  begann  Eugen  Cecconi  seine 
„Geschichte  der  allgemeinen  Kirchenversammlung  im 
Vatikan",  von  der  vier  Bände  1873  und  1879  in  Rom 
erschienen  sind,  der  erste  auch  in  deutscher  Übersetzung 
1873.  Da  er  zahlreiche  Originalakten  veröffentlichen 
konnte,  eröffnete  das  Werk  große  Aussichten,  aber  es 
ist  nicht  über  die  zweite  Sessio  vorgeschritten  und  ist 
dann  auch  nach  Seiten  des  urkundlichen  Materials 
durch  die  Collectio  Lacensis  überholt  worden.  Den 
ersten  Versuch,  den  gesamten  Verlauf  des  Konzils 
quellenmäßig  und  in  größerem  Stil  zu  behandeln,  hat 
J.  Friedrich  in  seiner  „Geschichte  des  Vatikanischen  Kon- 
zils" (drei  Bände,  1877,  1883,  1887)  unternommen.  Da 
er  die  Ereignisse  in  bevorzugter  Position  aus  nächster 
Nähe  hatte  beobachten  können  und  das  Konzil  in  die 
größeren  historischen  Zusammenhänge  einrückte,  von 
denen  aus  es  allein  verstanden  werden  kann,  hat  dieses 
Werk  einen  starken  Einfluß  ausgeübt.  Granderath  will 
es  ersetzen  und  nennt  es  „antikirchlich  tendenziös" 
(I,  7).     Daß   wir    diesem    Granderathschen    Gegenwerk 


542  Carl  Mirbt, 

eine  eingehendere  Würdigung  zuteil  werden  lassen,  ver- 
dankt es  seinem  Gegenstand,  ferner  den  dem  Verfasser 
zur  Verfügung  gestellten  Materialien,  aber  auch  der  in 
ihm  zur  Anwendung  gelangten  Methode.  Wer  die 
Schreibweise  und  Technik  der  Schriftsteller  des  Jesuiten- 
ordens etwas  kennt,  wird  die  ernste  Verpflichtung  emp- 
finden, auch  ihren  historischen  Arbeiten  mit  großer 
Vorsicht  gegenüber  zu  treten;  das  vorliegende  Werk  ist 
dazu  geeignet,  das  Verständnis  für  diese  Verpflichtung 
zu  fördern.  Der  äußere  Hergang  des  Konzils,  der  auf 
den  folgenden  Blättern  als  bekannt  vorausgesetzt  werden 
muß,  ist  zuletzt  in  meinem  Artikel  „Vatikanisches  Konzil** 
Realenzyklopädie  für  protestantische  Theologie,  Band  20, 
S.  445—474  (1908)  geschildert  worden. 

II. 
Einen  großen  Vorsprung  vor  allen  bisherigen  Ge- 
schichtschreibern des  Vatikanischen  Konzils  gewann 
Granderath  dadurch,  daß  Papst  Leo  XIII.  ihm  die  Be- 
nutzung aller  vorhandenen  Akten  gestattet  hat.  „Alle 
Aktenstücke  stehen  Ihnen  zu  Gebote.  Nicht  ein  einziges 
ist  Ihnen  vorenthalten.  Nun  legen  Sie  den  Verlauf  des 
Konzils  gerade  so  dar,  wie  er  objektiv  gewesen  ist**,  so 
lauteten  seine  Worte  (I,  9).  Diese  Zusage  bedeutete  sehr 
viel,  denn  große  Massen  neuen  Materials  wurden  ihm 
dadurch  zugänglich.  Wir  erfahren,  daß  von  dem  ersten 
Auftauchen  des  Konzilsprojekts  an  der  späteren  Geschicht- 
schreibung über  das  Konzil  durch  die  Sammlung  aller 
Quellen  in  dem  Vatikanischen  Archiv  planmäßig  vor- 
gearbeitet worden  ist.  Da  findet  man  die  Protokolle  der 
öffentlichen  wie  der  geheimen  Sitzungen  des  Konzils 
und  aller  Kommissionen,  die  in  seinem  Dienst  gearbeitet 
haben,  alle  auf  das  Konzil  sich  beziehenden  Korrespon- 
denzen, Entwürfe,  Konzepte;  sogar  Papierschnitzel  mit 
kurzen  Notizen,  lose  Blätter,  Wahlzettel  sind  aufbewahrt 
worden.  Für  die  Vorgeschichte  des  Konzils  sind  die 
wichtigsten  Quellen  die  Protokolle  der  dirigierenden 
Vorbereitungskommission  (Zentralkommission),  die  vom 
9.  März  1865  bis  zum  Dezember  1869  an  60  Sitzungen 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       543 

abhielt,  die  Gutachten  der  in  Rom  anwesenden  Kardinäle 
über  die  Zweckmäßigkeit  der  Berufung  eines  Konzils, 
die  Gutachten  von  etwa  40  Bischöfen  über  die  auf  dem 
Konzil  zu  verhandelnden  Gegenstände  (1865)  und  die 
Antworten  der  1867  zur  Zentenarfeier  der  Apostel  Paulus 
und  Petrus  versammelten  Bischöfe.  Da  die  Arbeit  des 
Konzils  selbst  zum  großen  Teil  in  den  Generalkongre- 
gationen sich  abgespielt  hat,  so  sind  von  der  Eröffnung 
der  Synode  an  die  Akten  über  die  hier  geführten  Ver- 
handlungen von  hervorragendem  Wert.  In  24  Folio- 
bänden sind  die  Protokolle  dieser  Generalkongregationen, 
alle  auf  ihre  Beratungen  sich  beziehenden  Aktenstücke, 
alle  Schemata  über  die  verhandelt  worden  ist,  und  alle 
Stenogramme  über  die  gehaltenen  Reden  gesammelt.  Wir 
erfahren  hier  zugleich  die  interessante  Tatsache,  daß  die 
Reden  selbst  auch  gedruckt  vorliegen  und  fünf  Foliobände 
füllen,  die  in  den  Jahren  1875 — 1884  durch  die  Vatika- 
nische Druckerei  hergestellt  worden  sind,  freilich  nur  „in 
etwa  zehn  Exemplaren"",  so  daß  die  Zugänglichmachung 
dieses  Quellenmaterials  für  die  wissenschaftliche  For- 
schung nicht  beabsichtigt  zu  sein  scheint.  Die  von  den 
Vätern  in  bezug  auf  die  ConstUutio  de  fide  und  die 
Constitutio  de  ecclesia  eingereichten  schriftlichen  Be- 
merkungen bilden  zwei  Bände.  Besondere  Bedeutung 
kommt  ferner  den  Protokollen  der  Glaubenskommission 
zu  und  den  Aufzeichnungen  der  Kommission,  der  die 
Prüfung  der  Vorschläge  zufiel,  die  von  den  Synodalen 
ausgingen.  Auch  über  die  Beratungen  der  Präsidenten 
des  Konzils  liegen  Aufzeichnungen  vor.  Dem  Archiv 
sind  weiter  die  von  einzelnen  Mitgliedern  und  Beamten 
des  Konzils  gesammelten  Schriftstücke  oder  Nieder- 
schriften einverleibt  worden,  z.  B.  der  Nachlaß  des  Kar- 
dinals Schwarzenberg.  Granderath  hat  auch  zahlreiche 
im  Privatbesitz  befindlichen  Dokumente  einsehen  können. 
Er  erwähnt  besonders  die  drei  Diarien  „eines  hervor- 
ragenden Mitgliedes  des  Konzils  und  der  Glaubens- 
deputation"" (Bischof  Seneströy)  und  das  Tagebuch  eines 
wohl  orientierten,  in  Rom  lebenden  Diplomaten.  Endlich 
standen  dem  Verfasser  auch  für  die  Schilderung  der  Auf- 


544  Carl  Mirbt, 

nähme  der  Konzilsbeschlüsse  die  denkbar  besten  Quellen 
offen,  denn  er  konnte  Einsicht  nehmen  in  den  Brief- 
wechsel zwischen  der  Kurie  und  den  Nuntien  und  in 
die  zwischen  dem  Staatssekretär  und  den  einzelnen 
Bischöfen  gewechselten  Briefe. 

Auf  Grund  dieses  Materials  ist  Granderath  in  der 
Lage,  manches  Neue  mitzuteilen  und  manche  Berichti- 
gung der  bisherigen  Darstellung  vorzunehmen.  In 
welchem  Umfang  dies  aber  geschehen  ist,  ist  schwer 
festzustellen.  Denn  der  Verfasser  hat  sich  nicht  die 
Mühe  genommen,  dem  Leser  mitzuteilen,  was  er  der  von 
ihm  gründlich  studierten  Literatur  verdankt  und  in 
welchen  Punkten  er  über  sie  hinausgreift.  Nur  der  Ver- 
mutung möchte  ich  mit  allem  Nachdruck  entgegentreten, 
als  ob  der  Verfasser  überall  dort,  wo  er  keinerlei  Lite- 
ratur nennt,  unbebautes  Land  angetroffen  hätte.  Von 
diesem  Irrtum  wird  jeder  gründlich  geheilt,  der  mit  einem 
frischen  Eindruck  der  oben  genannten  Werke  an  die 
Granderathsche  Darstellung  herantritt. 

Diese  Feststellung  soll  die  Tatsache  aber  nicht  ver- 
dunkeln, daß  wir  ihm  manche  wertvolle  Mitteilung  ver- 
danken. Einige  Beispiele  mögen  dies  zeigen.  Als  Pius  IX. 
zwei  Tage  vor  der  Veröffentlichung  des  Syllabus  in  der 
Rituskongregation  am  6.  Dezember  1864  zum  erstenmal, 
«oweit  sich  nachweisen  läßt,  den  Gedanken  der  Be- 
rufung einer  allgemeinen  Kirchenversammlung  aussprach, 
forderte  er  die  Kardinäle  dieser  Kongregation  und  dann 
alle  in  Rom  residierenden  Kardinäle  auf,  sich  zu  diesem 
Plan  gutachtlich  zu  äußern.  Diese  Gutachten  (1,  20—45) 
waren  von  sehr  verschiedenem  Umfang,  das  umfäng- 
lichste und  inhaltlich  bedeutendste  stammte  aus  der 
Feder  des  Kardinals  Reisach.  Nur  von  Kardinal  Pentini 
wurde  die  Frage  der  Notwendigkeit  des  Konzils  glatt 
verneint,  er  bestritt  das  Vorhandensein  eines  ausreichen- 
den Anlasses.  Die  übrigen  Kardinäle  bejahten  sie  zwar, 
aber  die  Mehrheit  gestand  doch  nur  die  relative  Not- 
wendigkeit der  Einberufung  zu,  und  aus  innerkirchlichen 
wie  aus  politischen  Gründen  wurde  deren  Zweckmäßig- 
keit mehrfach  beanstandet.     Für  den  Fall  des  Zustande- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       545 

kommens  des  Konzils  wurden  auch  bereits  zahlreiche 
Gegenstände  zur  Beratung  empfohlen.  Dabei  ist  von 
Interesse,  daß  die  Meinungen  darüber,  ob  die  Notwendig- 
keit der  zeitlichen  Herrschaft  des  Papstes  zum  Glaubens- 
satz erhoben  werden  sollte,  stark  auseinandergingen. 
Die  Definition  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  wurde  nur 
von  zwei  Kardinälen  in  Vorschlag  gebracht.  —  Wir  er- 
halten ferner  genauere  Mitteilungen  über  die  Gutachten 
der  36  Bischöfe,  die  von  Pius  IX.,  nachdem  er  sich 
für  die  Berufung  des  Konzils  entschlossen  hatte,  selbst 
ausgewählt  worden  waren,  um  ihr  Urteil  über  die  auf 
ihm  zu  behandelnden  Gegenstände  abzugeben.  Grande- 
rath  stützt  sich  hier  auf  den  offiziellen  Bericht  über 
ihre  Antworten,  den  Monsignore  Jakobini  verfaßt  hat. 
Beachtenswert  ist,  daß  aus  Deutschland  nur  zwei 
Bischöfe  befragt  worden  waren:  Bischof  Weiß  von 
Speyer  und  Bischof  Senestr^y  von  Regensburg.  Der 
letztere  benutzte  die  Gelegenheit  zu  einer  Denunziation 
der  Theologen  in  München,  die  darauf  ausgingen,  „den 
apostolischen  Stuhl,  seine  Autorität  und  Regierungsweise 
durch  geschichtliche  Erörterungen  herabzusetzen  und 
der  Verachtung  Preis  zu  geben  und  besonders  die  Un- 
fehlbarkeit Petri  bei  Kathedralentscheidungen  in  Abrede 
zu  stellen".  Unter  den  befragten  Bischöfen  hat  „eine 
ganze  Reihe"  auch  die  Definition  eben  dieser  Lehre  ver- 
langt; wer  alles  dazu  gehörte  und  wie  viele  es  waren, 
wird  nicht  mitgeteilt.  —  Zur  Vorbereitung  des  Konzils 
wurden  sieben  durch  je  einen  Kardinal  geleitete  Kom- 
missionen gebildet,  jener  „dirigierenden  Kommission" 
aber  fiel  die  wichtigste  Arbeit  zu.  Sie  hatte  u.  a.  die 
Aufgabe,  durch  Vermittlung  der  Nuntien  geeignete  Sach- 
verständige ausfindig  zu  machen.  Es  war  nun  längst 
bekannt,  daß  Kardinal  Schwarzenberg  sich  über  die  Ein- 
seitigkeit in  der  Auswahl  dieser  sog.  Konsultoren  in 
Rom  beschwert  hat  (im  Mai  1868),  da  er  es  auffällig 
fand,  daß  die  Universitäten  München,  Bonn,  Tübingen, 
Freiburg,  Breslau  vollständig  übergangen  waren,  während 
man  aus  Würzburg  zwei,  und  zwar  Zöglinge  des  Col- 
legium   Germanicum,    berufen    hatte  (Hergenröther    und 


546  Carl  Mirbt, 

Hettinger).  Er  hatte  dann  Hefele  in  Tübingen  und  Döl- 
linger  in  München  besonders  namhaft  gemacht.  Von 
Antonelli  war  ihm  darauf  geantwortet  worden,  der  Ruf 
würde  an  Döllinger  ergangen  sein,  wenn  dem  Papst 
nicht  versichert  worden  wäre,  daß  Döllinger  eine  Ein- 
ladung nicht  annehmen  würde.  Wir  erfahren  nun  aber 
aus  einem  Briefe  Döllingers  die  interessante  Tatsache, 
daß  eine  Anfrage  dieser  Art  an  ihn  niemals  ergangen 
war  (I,  70).  —  Sehr  eingehende  Mitteilungen  macht 
Granderath  über  die  zum  Teil  sehr  komplizierten  kirchen- 
rechtlichen Untersuchungen,  die  durch  die  Frage,  wer 
zum  Konzil  zu  berufen  sei,  angeregt  wurden.  Bezüg- 
lich der  Kardinäle  und  Diözesanbischöfe  bestand  kein 
Zweifel,  dagegen  große  Unsicherheit  in  betreff  der  Titular- 
bischöfe,  der  Äbte  und  Generaloberen  der  religiösen 
Orden,  der  Prokuratoren,  der  Kapitelsvikare.  Die  beiden 
letzten  Gruppen  wurden  ausgeschlossen,  die  anderen 
zugelassen. 

In  zahlreichen  Fällen  beruft  sich  Granderath  auf  die 
stenographischen  Protokolle  über  die  in  den  General- 
kongregationen gehaltenen  Reden,  um  den  apokryphen 
Charakter  mancher  daraus  verbreiteter  Wendungen  zu 
erweisen.  Dies  führt  uns  zu  der  viel  verhandelten 
Frage  nach  dem  Wert  der  von  den  Konzilsstenographen 
vollzogenen  Niederschriften.  Aus  den  von  Granderath 
(II,  8  ff.)  gemachten  Mitteilungen  ergibt  sich  zunächst 
die  wichtige  Tatsache,  daß  von  der  Kurie  offenbar  mit 
großer  Sorgfalt  die  Ausbildung  eines  tüchtigen  Steno- 
graphenpersonals vorbereitet  worden  ist.  Auf  Grund 
der  Stenogramme  hat  daher  der  Verfasser  den  authen- 
tischen Text  der  berühmten  Rede  des  Bischofs  Stroß- 
mayer  (II,  395  ff.)  feststellen  können  und  den  Nachweis 
zu  führen  vermocht  (II,  349  ff.),  daß  der  Vorwurf  einer 
Fälschung  der  Rede  des  Erzbischofs  Casangian  gegen 
den  stenographischen  Bericht  nicht  erhoben  werden  darf. 
Auch  ein  Irrtum,  der  in  bezug  auf  eine  Rede  des  Bischofs 
Greith  von  St.  Gallen  (II,  107  f.)  sich  verbreitet  hat, 
wird  berichtigt.  Trotzdem  ist  aber  von  Konzilsvätern 
über  mangelnde  Zuverlässigkeit  der  Stenographen  geklagt 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       547 

worden,  z.  B.  von  Kardinal  Rauscher.  Als  die  Bitte  aus- 
gesprochen wurde,  daß  die  stenographischen  Aufzeich- 
nungen gedruckt  würden  (11,  53  ff.),  ist  sie  von  dem  Papst 
abgeschlagen  worden.  Nach  Granderath  hatten  die  Syno- 
dalen das  Recht,  die  Stenogramme  ihrer  Reden  durch- 
zulesen und  durchzukorrigieren,  aber  sie  haben  nur  am 
Anfang  des  Konzils  davon  häufiger  Gebrauch  gemacht 
(II,  11).  Dieser  einfache  Tatbestand  erfährt  nun  aber  eine 
eigenartige  Beleuchtung  durch  die  Bemerkung  Grande- 
raths:  ^Vielleicht  wußten  auch  einige  nicht,  daß  sie  ihre 
Reden  noch  einmal  lesen  konnten."  Wenn  diese  „einige" 
jener  großen  Masse  angehörten,  die  nur  bei  Abstim- 
mungen in  Tätigkeit  traten,  so  ist  ihr  „Nichtwissen"  um 
ein  ihnen  zustehendes  Recht  wohl  möglich,  da  es  für 
sie  keinen  Wert  hatte.  Aber  Granderath  berichtet  weiter, 
daß  er  in  dem  Archiv  den  Text  einer  Rede  des  Kardi- 
nals Rauscher  gefunden  habe,  den  er  nebst  einem  Be- 
gleitschreiben an  den  Sekretär  gesandt  hatte,  indem  er 
bat,  die  Rede  unter  die  Akten  des  Konzils  aufzunehmen, 
da  er  aus  seinen  Erfahrungen  in  den  Kammern  wisse, 
daß  man  sich  auf  die  Referate  der  Stenographen  nicht 
verlassen  könne  und  fügt  hinzu:  „Man  möchte  hieraus 
schließen,  daß  der  Kardinal  von  der  Möglichkeit,  er  könne 
seine  stenographische  Rede  noch  einmal  durchlesen  und 
nötigenfalls  korrigieren,  nicht  gewußt  habe."  Ein  noch 
weiter  gehender  Schluß  aber  drängt  sich  auf.  Wenn 
eine  führende  und  im  politischen  Handeln  so  geschulte 
Persönlichkeit  wie  Rauscher  so  vorgehen  muß,  wie  es 
hier  beschrieben  ist,  dann  ist  den  Synodalen  ihr  Recht 
zur  Durchsicht  ihrer  Reden  eben  nicht  bekannt  gegeben 
worden  und  diese  Unterlassung  war  dann  wohlüberlegt, 
oder  aber  sie  besaßen  überhaupt  nicht  ein  „Recht"  zur 
Durchsicht,  sondern  es  ist  nur  einzelnen  auf  besonderen 
Wunsch  die  Einsicht  in  die  Aufzeichnungen  gewährt 
worden.  Hätten  die  Synodalen  das  zugestandene  Recht 
zu  dieser  Durchsicht  besessen,  dann  würden  die  Bischöfe 
der  Opposition  schwerlich  auf  dieses  Mittel  der  Nach- 
prüfung verzichtet  haben.  Übrigens  spricht  auch  Grande- 
rath  streng    genommen    gar  nicht  von    einem  „Recht", 


548  Carl  Mirbt, 

sondern  nur  von  einem  „Können*",  von  einer  „Möglich- 
keit''. Es  ist  für  Granderath  höchst  bezeichnend,  daß  er 
sich  in  dieser  unbestimmten  Weise  äußert.  Der  Leser 
soll  offenbar  den  Eindruck  erhalten,  daß  die  Synodalen 
aus  Interesselosigkeit  es  selbst  verschuldet  haben,  falls 
etwa  ein  Fehler  sich  eingeschlichen  und  nicht  heraus- 
korrigiert worden  ist.  Da  die  Akustik  der  Konzilsaula 
anfangs  eine  wirkliche  Verhandlung  unmöglich  machte 
und  auch  nach  deren  Umbau  von  Ende  Februar  bis  Mitte 
März  1870  noch  Anlaß  zu  Klagen  bot,  z.  B.  von  Seiten 
Hefeies,  darf  auch  die  Möglichkeit  von  Hörfehlern  bei  den 
Stenographen  nicht  in  Abrede  gestellt  werden.  Nach 
den  jetzt  bekannt  gewordenen  Verhältnissen  wird  aber 
den  von  der  Konzilsleitung  veranstalteten  Stenogrammen 
das  Vertrauen  entgegenzubringen  sein,  daß  sie  als  zu- 
verlässige Zeugen  angesehen  werden  dürfen  für  die  von 
Stenographen  gehörten  Worte.  Wenn  aber  Granderath 
sie  auch  als  Autorität  für  das  Stattfinden  oder  Nichtstatt- 
finden  von  Beifallsäußerungen  heranzieht  (II,  22  Anm.  4), 
geht  er  zu  weit  und  hat  übersehen,  daß  hier  der  Subjek- 
tivismus des  Hörers  eine  große  Rolle  spielt.  Ich  möchte 
doch  nicht  die  Möglichkeit  ganz  von  der  Hand  weisen, 
daß  das  Ohr  eines  strebsamen  angehenden  Klerikers 
das  einem  oppositionellen  Bischof  gespendete  „beifällige 
Murmeln"  gelegentlich  einmal  überhört  hat.  —  Da  die 
Autorschaft  der  unter  dem  Namen  des  Pomponio  Leto 
publizierten  berühmten  Schrift  vielfach  dem  Kardinal 
Vitelleschi  zugewiesen  worden  ist  und  diese  Frage  seiner- 
zeit sehr  viel  Staub  aufgewirbelt  hat,  so  sei  darauf  hin- 
gewiesen, daß  offenbar  nicht  der  Kardinal  selbst,  sondern 
sein  Bruder  Francesco  als  der  Verfasser  anzusehen  ist. 
Über  die  Persönlichkeit  dieses  „entarteten  Bruders"  und 
die  Quellen,  die  ihm  zur  Verfügung  standen,  teilt  Grande- 
rath, der  auf  die  Entlastung  des  Kardinals  großes  Gewicht 
legt  (II,  517  Anm.  1),  jedoch  nichts  Näheres  mit.  —  Das 
sind  nur  einige  Proben  der  zahlreichen  Berichtigungen, 
die  von  Granderath  gegeben  werden.  Die  wichtigste 
Förderung  unserer  Kenntnis  der  Konzilsgeschichte  aber 
liegt  in  seinen  fortlaufenden  Berichten  aus  den  Protokollen 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       549 

über  die  Generalkongregationen.  Aber  ich  muß  die 
starke  Einschränkung  hinzufügen,  daß  sie  überaus  sum- 
marisch gehalten  sind  und  uns  jedes  Mittel  fehlt,  zu 
kontrollieren,  ob  Granderath  die  Redner  richtig  ver- 
standen hat  und  ob  in  seinen  Referaten  das  wiederge- 
geben ist,  was  sie  selbst  für  das  wesentliche  hielten  und 
ob  es  so  wiedergegeben  ist,  daß  Stimmung  und  Gesamt- 
eindruck zu  ihrem  Recht  kommen.  Unter  diesen  Um- 
ständen wird  die  Freude  über  die  Erschließung  dieser 
neuen  Quellen  doch  sehr  stark  gedämpft,  und  leider  be- 
raubt uns  die  schriftstellerische  Eigenart  Granderaths 
auch  der  Möglichkeit,  durch  einen  großen  Vertrauensakt 
uns  über  alle  diese  Schwierigkeiten  hinwegzusetzen. 

An  der  Spitze  des  Buches  steht  die  doppelte  Er- 
klärung (I,  8  f.),  daß  der  Standpunkt  des  Verfassers  „vor 
allem  der  Standpunkt  eines  Geschichtschreibers  ist, 
welcher  nach  den  ihm  vorliegenden  Quellen  ein  klares 
und  wahres  Bild  seines  Gegenstandes  entwerfen  will" 
und  daß  dieses  Werk  „vom  katholischen  Standpunkt  aus, 
der  für  die  Beurteilung  eines  Konzils  als  der  einzig 
richtige,  ja  unumgängliche  erscheint",  geschrieben  worden 
ist.  In  dieser  Position  brauchte  nicht  notwendig  eine 
Bindung  zu  liegen,  die  eine  wirklich  historische  Auf- 
fassung ausschließt,  für  den  Verfasser  aber  ist  sie  zu 
einer  Gefahr  geworden,  der  er  nicht  gewachsen  war. 
„Vor  allem"  wollte  Granderath  als  Historiker  schreiben, 
d.  h.  offenbar  nicht  nur  als  solcher.  Diese  Worte  sind 
in  der  Tat  sehr  zutreffend  und  enthalten  eine  richtige, 
allerdings  nicht  beabsichtigte ,  Selbstcharakteristik  des 
Autors.  Denn  in  dieser  Geschichte  des  Vatikanischen 
Konzils  kommt  nicht  nur  der  Historiker  zu  Wort,  sondern 
auch  der  Anwalt  und  zwar  ein  solcher,  wie  wir  ihn  vor 
den  Schranken  des  Gerichts  ungern  sehen,  der  auch  die 
kleinen  Mittel  nicht  verschmäht  und  durch  die  Diskre- 
ditierung der  gegnerischen  Partei  die  eigene  Sache  zu 
heben  meint.  An  der  zitierten  Stelle  ist  freilich  die  ver- 
trauenweckende Versicherung  zu  lesen:  „Ich  werde  nichts 
verschweigen  und  nichts  bemänteln",  aber  sie  ist  ersicht- 
lich sehr  rasch  wieder  vergessen  worden.     Denn  es  ist 


550  Carl  Mirbt, 

gerade  eine  der  Haupteigentümlichkeiten  Granderaths, 
daß  er  gegenüber  Vorgängen,  die  ihm  aus  was  für 
Gründen  immer  peinlich  oder  unangenehm  sind,  eine 
befremdende  Zurückhaltung  übt  oder  sich  in  merkwür- 
dig gewundenen  Redensarten  ergeht.  Sonst  ist  er  nicht 
selten  breit  und  wiederholt  sich  auch,  aber  in  solchen 
Fällen  befleißigt  er  sich  einer  lapidarischen  Kürze  oder 
bewegt  sich  in  schillernden  Wendungen  oder  erörtert 
eine  wichtige  Materie  ganz  nebenbei. 

Proben  solcher  Zurückhaltung  liegen  zahlreich  vor. 
Eine  viel  besprochene  Episode  in  der  Geschichte  des 
Konzils  ist  die  Verhandlung  über  das  Schema  De  fide 
catholica  am  22.  März  1870,  in  der  Bischof  Stroßmayer 
von  Sirmium  unter  anderm  die  Schlußworte  der  Einleitung 
scharf  kritisierte,  in  denen  aus  den  Häresien,  die  von 
den  tridentinischen  Vätern  verurteilt  seien,  alle  mög- 
lichen monstra  abgeleitet  wurden  und  der  Protestantismus 
als  eine  Pest  bezeichnet  wurde,  von  der  auch  die  Katho- 
liken angesteckt  seien.  Bei  der  nächsten  Verhandlung 
über  diesen  Gegenstand,  einige  Tage  später,  wurde  dieser 
Text  in  einer  wesentlich  gemilderten  Form  vorgelegt.  Der 
Umschwung  war,  nach  dem  Bericht  Friedrichs  (Geschichte 
111,789),  dadurch  herbeigeführt  worden,  daß  der  nord- 
deutsche Bundesgesandte  Arnim,  auf  Weisung  aus  Berlin, 
die  Erklärung  abgegeben  hatte,  daß,  wenn  das  Bekenntnis 
des  Königs  von  Preußen  und  dadurch  er  selbst  amtlich 
beleidigt  würden,  der  Gesandte  abberufen  würde  und  die 
deutschen  Bischöfe  aufgefordert  werden  würden,  in  ihre 
Diözesen  zurückzukehren.  Granderath  beschränkt  sich, 
soviel  ich  sehe,  darauf  (II,  393  Anm.  1)  zu  bemerken: 
^Friedrich  weiß  zu  erzählen  .  .  .,  daß  sich  deshalb  die 
preußische  Regierung  bei  der  Kurie  beschwert  habe." 
Ob  dieses  Eingreifen  wirklich  stattgefunden  hat  und  in 
welcher  Form  es  sich  vollzog,  bleibt  also  ganz  unauf- 
geklärt, d.  h.  der  Historiker,  dem  das  ganze  Vatikanische 
Archiv  offen  stand,  unterläßt  es,  einen  strittigen  Vorgang 
aufzuklären,  und  es  ist  ein  merkwürdiger  Zufall,  daß  in 
dem  Register  weder  unter  Arnim,  noch  unter  Bismarck, 
noch   unter  Preußen    auf   unsere  Stelle    hingewiesen  ist. 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.      551 

Nach  Lage  der  Dinge  wird  aus  dem  Schweigen  Grande- 
raths  zu  folgern  sein,  daß  in  der  von  Friedrich  berichtteten 
Weise  oder  ähnlich  Preußen  seinen  Einfluß  geltend  gemacht 
haben  wird,  d.  h.  also  die  Kurie  einen  Rückzug  antreten 
mußte.  —  Eine  andere  berühmte  Szene  ist  die  Audienz 
von  sechs  Prälaten  der  unterliegenden  Partei  bei  dem 
Papst  am  Abend  des  15.  Juli,  in  der  sie  in  bezug  auf 
die  Fassung  des  Unfehlbarkeitsdekretes  zwei  Bitten  vor- 
trugen und  Bischof  Ketteier  vor  dem  Papst  sich  nieder- 
warf und  ihn  anflehte,  der  Kirche  den  Frieden  zu  erhalten. 
Wir  sind  begierig,  nun  endlich  eine  authentische  Darle- 
gung dieses  vielumstrittenen  Vorgangs  zu  erhalten. 
Granderath  aber  schreibt  (HI,  480):  „Sie  trugen  dem 
Papste  ihre  Bitte  vor,  und  Ketteier  soll  vor  ihm  auf  die 
Knie  gefallen  sein  und  ihn  angefleht  haben,  durch  Nach- 
geben in  den  beiden  Punkten  die  Einmütigkeit  in  der 
Abstimmung  herbeizuführen.  Was  der  Papst  geantwortet 
hat,  ist  nicht  mit  Gewißheit  zu  ermitteln.  Er  scheint 
einer  definitiven  Antwort  aus  dem  Wege  gegangen  zu 
sein'',  d.  h.  Granderath  will  den  Niederfall  Kettelers  als 
zweifelhaft  bezeichnen  und  will  nichts  sagen  über  die 
Antwort  des  Papstes.  Warum  beruft  er  sich  zu  diesem 
Zweck  auf  das  Buch  des  Jesuiten  Pfülf,  „Bischof  v.  Ketteler** 
(III,  111)  und  sagt  uns  nicht,  wie  dieser  denkwürdige  Vor- 
gang nach  den  Aufzeichnungen  des  Vatikanischen  Archivs 
sich  in  Wirklichkeit  abgespielt  hat?  Wer  nun  aber  zu 
Pfülf  seine  Zuflucht  nimmt,  erfährt  eine  neue  Enttäuschung, 
denn  auch  dieser  Biograph  eilt  über  diese  Audienz  sehr 
rasch  hinweg  und  erklärt  zwar,  daß  jeder  Anhaltspunkt 
fehle,  um  die  hergebrachte  Darstellung  zu  bestreiten, 
aber  schwächt  diese  Erklärung  sofort  wieder  dadurch 
ab,  daß  er  hinzufügt:  „Immerhin  kann  man  nicht  sagen, 
daß  die  Tatsache  vollkommen  feststehe."  —  Für  die  Kon- 
zilsleitung war  es  eine  sehr  schmerzliche  Erfahrung,  als 
in  Erzbischof  Guidi  von  Bologna  ein  Kardinal  der  römi- 
schen Kirche  schwere  Bedenken  gegen  das  Infallibilität- 
schema  aussprach.  Dazu  gehörte  einiger  Mut,  denn  die 
andersdenkende  Mehrheit  suchte  ihn  niederzuschreien 
und  war  nicht  wählerisch  in  dem  Ausdruck  ihres  Urteils; 


552  Carl  Mirbt, 

freilich  fehlte  ihm  auch  nicht  der  ermunternde  Zuruf  seiner 
Gesinnungsgenossen.  Da  Granderath  sich  damit  be- 
gnügt, zu  erklären  (III,  396),  daß  diese  Darstellung 
^von  Zeitungsschreibern  und  von  meistens  konzilsfeind- 
lichen Neuigkeitssammlern"  herstammt,  wird  sie  wohl 
zutreffend  sein,  denn  selbst  die  offiziöse  Schilderung 
dieser  peinlichen  Vorgänge,  d.  h.,  wie  Granderath  sagt, 
„der  authentische  Bericht",  läßt  deutlich  erkennen,  daß 
es  in  der  Generalkongregation  vom  18.  Juni  recht  stür- 
misch herging,  oder,  genauer  gesagt,  eben  das  Referat 
Granderaths  über  diesen  Bericht  läßt  dies  erkennen.  Wir 
erwähnen  diese  Vorgänge  wegen  des  Nachspiels,  das  sie 
selbst  an  Bedeutung  noch  weit  überragt.  Der  Kardinal 
wurde  sofort  nach  der  Sitzung  vor  den  Papst  zitiert 
und  hatte  hier  die  ersten  temperamentvollen  Äußerungen 
der  gewaltigen  Erregung  Pius'  IX.  über  sich  ergehen  zu 
lassen.  Als  er  seine  in  der  Generalkongregation  vor- 
getragenen Ansichten  aus  der  Heiligen  Schrift  und  der 
Tradition  begründen  wollte,  unterbrach  ihn  der  Papst  und 
sagte  zu  ihm:  „Die  Tradition  bin  ich."  Über  diesen  Auf- 
tritt äußert  sich  unser  Historiker  wiederum  in  einer  für  ihn 
sehr  bezeichnenden  Weise,  Granderath  gibt  nämlich  nicht 
eine  positive  Darstellung  der  Hergangs,  sondern  erteilt 
Friedrich  das  Wort,  um  ihn  dann  zu  glossieren.  Wir 
lesen:  „Friedrich  erzählt  .  .  .,  daß  Kardinal  Guidi  gleich 
nach  der  Sitzung  zum  Papst  beschieden  und  wegen  seiner 
Rede  scharf  angelassen  worden  sei.  Er  weiß  genau, 
welche  Unterhaltung  zwischen  dem  Papste  und  dem  Kar- 
dinale stattfand.  Als  Guidi  sich  für  seine  Lehre  auf  die 
Tradition  berief,  habe  Pius  IX.  ihn  lebhaft  unterbrochen 
und  erklärt:  „Die  Tradition  bin  ich."  Daß  der  Papst 
den  Kardinal  zu  sich  beschieden  hat,  wird  richtig  sein, 
aber  welche  Unterredung  zwischen  beiden  stattfand,  ist 
so  wenig  festzustellen,  daß  es  sich  nicht  lohnt,  die  dar- 
über in  Umlauf  gesetzten  Gerüchte  weiter  zu  beachten." 
Sollte  es  dem  von  der  Kurie  begünstigten  Historiographen 
wirklich  nicht  möglich  gewesen  sein,  mehr  zu  ermitteln  ? 
Besteht  denn  über  die  Zitation  Guidis  auch  nur  irgend 
ein  Zweifel?     Und  ist  dem  Verfasser  nicht  bekannt,  daß 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       553 

das  Wort:  „Die  Tradition  bin  ich",  sofort  die  größte 
Sensation  erregt  hat  und  bald  zum  geflügelten  Wort 
wurde?  Da  meines  Wissens  ein  offizielles  Dementi  dieses 
Wortes  1870  nicht  erfolgt  ist  und  auch  Granderath  es 
nicht  bestreitet,  so  haben  wir  es  als  authentisch  an- 
zusehen. Es  paßt  zu  der  Situation  und  zu  dem  Mann, 
der  es  gesprochen  haben  soll.  —  Wir  sind  auf  diese 
beliebig  ausgewählten  Fälle  etwas  näher  eingegangen, 
weil  die  von  Granderath  eingeschlagene  Taktik  des  Um- 
gehens  von  Schwierigkeiten  nur  auf  diesem  Wege  er- 
kennbar wird. 

Es  seien  wenigstens  noch  einige  Beispiele  für  die 
von  ihm  geübte  Zurückhaltung  kurz  notiert.  Der  Leser 
erfährt  nicht,  wer  die  vierzehn  Unterzeichner  der  be- 
rühmten Petition  vom  10.  April  1870  (Collectio  Lacensis 
p.  975  ff.)  gewesen  sind,  welche  noch  vor  der  Infallibili- 
tätsdebatte  über  die  weltliche  Gewalt  der  Kirche  und  die 
Geltung  der  Bulle  unam  sanctam  von  Bonifazius  VIIL 
verhandelt  sehen  wollten,  obwohl  oder  weil  es  darüber 
später  zu  Kontroversen  gekommen  ist  (Granderath  III,  9, 
vgl.  Friedrich  III,  857).  —  Obergangen  wird  der  Vorwurf, 
daß  die  in  letzter  Stunde  vorgenommene  Verschärfung 
des  Entwurfs  der  Infallibilitätsformel  (Zusatz:  „non  autem 
ex  consensu  ecclesiae*")  zur  Abstimmung  gebracht  worden 
ist,  ohne  durchberaten  worden  zu  sein  (Friedrich  III,  1185, 
vgl.  Granderath  III,  485).  —  In  dem  Schema  De  vita  et 
honestate  clericorum  wurde  cap.  II  die  Zustimmung  des 
Bischofs  zu  der  Erteilung  des  Religionsunterrichts  für  not- 
wendig erklärt.  Daß  es  sich  dabei  um  die  Festlegung 
der  strittigen  missio  canonica  handelte,  wird  mit  keinem 
Wort  angedeutet  (II,  188,  vgl.  Friedrich  III,  528  f.).  —  Bei 
Gelegenheit  der  Diskussion  des  Schemas  De  episcopis, 
de  synodis  et  de  vicariis  generalibus  wurde  an  der  Kurie 
Kritik  geübt,  über  die  reichlichere  Mitteilungen  am  Platze 
gewesen  sein  würden.  Es  empfiehlt  sich  daher,  neben 
dem  Referat  Granderaths  (H,  166  ff.)  auch  den  Bericht 
Friedrichs  zu  konsultieren,  denn  eine  Rede  wie  die  des 
Bischofs  Charbonnel  (II,  452)  über  die  Stellenjägerei  regt 
zum  Nachdenken  an.  —  Im  Mai  1870  ist  von  Arnim  ein 

Historiiche  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  36 


554  Carl  Mirbt, 

Promemoria  über  die  päpstliche  Unfehlbarkeit  für  die 
deutschen  Bischöfe  verfaßt  worden,  in  dem  er  sie  zum 
Widerstand  gegen  ihre  Definition  aufforderte  (II,  720  ff.). 
Granderath  handelt  ausführlich  darüber,  um  schließlich 
dann  zu  erklären  (II,  724):  „Ob  Arnim  das  Promemoria 
den  Bischöfen  wirklich  zugesandt  hat,  weiß  ich  nicht" 
War  dieses  Nichtwissen  unüberwindlich? 

Granderath  übt  nun  aber  diese  Politik  der  Zurück- 
haltung nicht  etwa  nur  in  der  Behandlung  mehr  oder 
minder  wichtiger  einzelner  Punkte,  sondern  auch  in  der 
Abgrenzung  der  von  ihm  behandelten  Stoffe,  und  zwar  im 
großen  Stile.  Die  ganze  weitere  Vorgeschichte  des  Dog- 
mas im  19.  Jahrhundert  hat  er  vollständig  ausgeschieden 
und  weiß  von  den  darauf  hinzielenden  Agitationen  des 
Jesuitenordens  nichts  zu  sagen;  das  mag  schon  hier  er- 
wähnt werden,  wenn  sein  Verfahren  auch,  wie  wir  sehen 
werden,  noch  andere  Gründe  gehabt  hat.  Über  die  Auf- 
nahme der  Konzilsbeschlüsse  von  seiten  der  Katholiken 
wird  am  Schluß  des  Werkes  in  mehreren  Kapiteln  ge- 
handelt, aber  wir  hoffen  umsonst  auf  eine  Einführung 
in  die  Stimmung  der  katholischen  Kreise,  die  zögernd 
und  schweren  Herzens  in  den  Prozeß  des  Umdenkens 
und  Umglaubens  eintraten,  und  wundern  uns  daher 
kaum  noch,  daß  der  Verfasser  für  die  religiösen  Kon- 
flikte, wie  sie  Amalie  von  Laseaulx  zu  durchkämpfen  hatte, 
ebensowenig  ein  Wort  findet,  wie  für  die  Vergewalti- 
gungen, die  diesen  vornehmen  Charakter  aus  der  Kirche 
hinausgedrängt  haben,  der  sie  bis  dahin  ihre  Kraft  ge- 
widmet hatte  und  wahrlich  keine  geringe. 

Eine  Eigentümlichkeit  der  Granderathschen  Ge- 
schichtschreibung ist  ferner  die  Unfähigkeit  des  Ver- 
fassers, sich  in  die  Gedankengänge  der  Gegner  des 
Dogmas  auf  dem  Konzil  zu  versetzen  und  sich  dadurch 
die  Möglichkeit  zu  eröffnen,  ihnen  gerecht  zu  werden. 
Da  die  komplizierten  Stimmungen,  die  religiösen  Kon- 
flikte, der  Widerstreit  zwischen  Pietät  und  Wissen  bei 
den  Bischöfen  der  Minorität  von  ihm  nicht  nachempfunden 
und  von  ihm  gar  nicht  verstanden  werden,  erfährt  diese 
Minorität  eine  Beurteilung,  die  für  seine  ganze  Darstellung 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       555 

des  Konzils  verhängnisvoll  wird.  Wer  der  Infallibilitäts- 
erklärung  des  Papstes  in  den  Weg  tritt  und  sich  daran 
beteiligt,  die  Definition  des  Dogmas  zu  verzögern,  gehört 
zu  den  Gegnern  der  Wahrheit  und  wird  als  solcher  be- 
handelt. Nicht  den  geringsten  Zweifel  läßt  Granderath 
darüber  aufkommen,  wohin  seine  Sympathien  sich  neigen; 
sie  treten  in  jedem  Bericht  über  eine  diesem  Gegenstand 
gewidmete  Verhandlung  hervor.  Die  Freunde  der  Vorlage 
erhalten  gute,  die  Gegner  schlechte  Zensuren.  Ebenso 
ist  alles,  was  von  selten  des  Papstes  geschieht,  ohne 
weiteres  das  Richtige  und  jede  Kritik  an  seinen  Maß- 
nahmen ein  Beweis  von  Überhebung  oder  Auflehnung. 
Ruhiger  wird  die  Beurteilung  im  dritten  Band,  als  die 
Schlacht  ihr  Ende  erreicht  hat  und  die  Unterwerfung 
der  Bischöfe  unter  das  promulgierte  Dogma  ihren 
Anfang  nahm. 

III. 
Am  Schluß  seines  ganzen  Werkes  hebt  Granderath 
hervor,  daß  aus  der  großen  Zahl  von  Vorlagen,  die  für 
das  Konzil  ausgearbeitet  worden  waren,  überhaupt  nur 
sechs  zur  Verhandlung  gekommen  sind  und  am  Ende 
nur  von  zweien  verhältnismäßig  recht  kleine  Teile  zu 
wirklichen  Konzilsdekreten  erhoben  worden  sind.  „Was 
dagegen  den  allgemeinen  Kirchenrat  vom  ersten  Augen- 
blick seines  Zusammentrittes  bis  zu  seiner  Auflösung 
tatsächlich  fast  allein  in  Anspruch  genommen  hat,  das 
hatte  in  keinem  der  vielen  Entwürfe  gestanden,  das 
hatte  man  in  Rom  gar  nicht  der  Beratung  der  Kon- 
zilsväter unterbreiten  wollen.  —  Eines  steht  heute 
zweifellos  fest:  daß  nämlich  die  Unfehlbarkeitsfrage  von 
außen  her  in  die  Konzilsverhandlungen  hineingetragen 
worden  ist.  Aber  von  dem  Augenblicke  an,  da  Mitte 
1868  der  Plan  des  Dekans  der  Pariser  theologischen 
Fakultät,  Msg.  Maret,  bekannt  wurde,  mit  Rücksicht  auf 
das  bevorstehende  Konzil  ein  Werk  über  das  Verhältnis 
des  Papstes  zum  Episkopat  und  über  die  päpstliche 
Unfehlbarkeit  zu  veröffentlichen,  erfaßte  die  sog.  gebil- 
deten Kreise  allenthalben,  besonders  aber  in  Frankreich 

36* 


556  Carl  Mirbt, 

und  Deutschland,  eine  derartige  geistige  Erregung, 
machten  in  Frankreich  die  letzten  Freunde  des  Galli- 
kanismus  und  in  Deutschland  die  zielbewußten  Vertreter 
und  mehr  noch  die,  vielleicht  unbewußten,  Anhänger  des 
Rationalismus  solche  Anstrengungen,  jene  Lehre,  die 
schon  seit  langem  in  dem  Glaubensbewußtsein  der 
großen  Mehrheit  der  Katholiken  eingewurzelt  war,  herab- 
zusetzen und  als  unbegründet,  unsinnig  und  gefährlich 
hinzustellen,  daß  den  berufenen  Wächtern  der  geoffen- 
barten Wahrheit  die  dringende  Pflicht  erstand,  nun  auch 
ihrerseits  ungesäumt  dieser  Frage  näher  zu  treten  und 
der  hochgradigen  Verwirrung  der  Geister  und  der  daraus 
für  die  Gläubigen  erwachsenden  Gefahr  durch  ihren 
höchsten  Urteilspruch  ein  für  allemal  ein  Ende  zu  be- 
reiten" (III,  724  f.).  „Als  daher  die  Bischöfe  in  Rom  ein- 
trafen, war  es  allen  klar,  daß  die  große  Frage,  ob  schon 
sie  in  dem  vom  Papste  vorgezeichneten  Programm  fehlte, 
nicht  mehr  weiter  umgangen  werden  konnte"  (ebd.  725)- 
Die  im  Wege  stehenden  Hauptschwierigkeiten  gingen 
von  den  Minoritätsbischöfen  aus.  Nur  nebenbei  sei  be- 
merkt, daß  Granderath  in  der  Schlußcharakteristik  dieser 
Gruppe,  mit  der  er  sie  verabschiedet,  es  fertig  bringt, 
ihnen  die  „Obergehung  der  Majoritätsmitglieder  bei  den 
Wahlen"  zum  Vorwurf  zu  machen.  Die  Aussicht  der 
Definitionsgegner  mit  ihrem  Widerspruch  durchzudringen, 
war  trotz  ihrer  geringen  Zahl  nach  Granderaths  Urteil 
„eine  geraume  Weile"  nicht  gering,  und  die  Furcht  vor 
den  schlimmen  Folgen  der  Annahme  der  Lehre  von  der 
päpstlichen  Unfehlbarkeit  hat  zeitweise  sogar  die  Konzils- 
leitung erfaßt.  Als  dann  aber  schließlich,  nach  Ostern 
1870,  durch  den  Papst  die  sofortige  Verhandlung  über 
diese  Materie  angeordnet  wurde,  war  „die  Sache  so  gut 
wie  abgetan". 

Nach  dieser  Darstellung  Granderaths,  die  nicht  ihm 
eigentümlich  ist,  sondern  heutzutage  auf  römisch-katholi- 
scher Seite  offiziöse  Geltung  besitzt,  hat  demnach  —  das 
ist  der  entscheidende  Punkt  —  Pius  IX.  die  Definition 
des  Dogmas  nicht  gewollt,  wenn  er  ihm  auch  freundlich 
gegenüberstand,  sondern  ist  dazu  gezwungen  oder  wenig- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       557 

stens  dazu  gedrängt  worden.  Es  liegt  auf  der  Hand, 
daß,  wenn  das  Dogma  unter  diesen  Umständen  ent- 
standen ist,  dann  ein  erheblicher  Teil  der  Kritik,  soweit 
sie  nicht  prinzipieller  Natur  ist,  bisher  auf  falschen  Vor- 
aussetzungen sich  aufgebaut  hat  und  die  Stellung  Pius'  IX. 
in  dieser  ganzen  Aktion  wesentlich  verbessert  wird,  wenn 
er  als  der  den  stürmischen  Wünschen  der  Kirche  nach- 
gebende Teil  erscheint.  Die  Versuche,  für  diese  Beurtei- 
lung der  Entstehung  des  Dogmas  Propaganda  zu  machen, 
gehen  in  die  Konzilszeit  selbst  zurück,  aber  das  Ver- 
hältnis der  Fragestellung  Granderaths  zu  denen  seiner 
Vorgänger  lassen  wir  unberücksichtigt.  Uns  kommt  es 
hier  nur  darauf  an,  festzustellen,  wie  über  diese  These, 
daß  die  Definition  des  Unfehlbarkeitsdogmas  nicht  die 
Absicht  des  Papstes  war,  zu  urteilen  ist. 

Friedrich  widmet  den  ersten  Band  seiner  „Geschichte 
des  Vatikanischen  Konzils''  dessen  Vorgeschichte  und 
liefert  darin  den  Nachweis,  daß  durch  die  innerhalb  der 
römisch-katholischen  Kirche  zur  Herrschaft  gelangende 
ultramontane  Richtung  planmäßig  für  die  Verbreitung 
und  Einwurzelung  des  Infallibilitätsgedankens  in  der 
abendländischen  katholischen  Christenheit  agitiert  worden 
ist.  Schon  die  Begründer  des  modernen  Ultramonta- 
nismus in  Frankreich  haben  ihn  vertreten,  de  Maistre, 
Lamennais,  Lacordaire  und  dann  vor  allem  der  Schöpfer 
der  ultramontanen  Presse,  Louis  Veuillot.  Dadurch,  daß 
die  Definition  der  Lehre  von  der  Immaculata  conceptio 
der  Maria  ohne  vorangegangene  Abstimmung  des  Epis- 
kopates von  Pius  IX.  1854  vorgenommen  wurde,  wurde 
von  ihm  die  Befugnis  bereits  tatsächlich  ausgeübt,  die 
ihm  erst  achtzehn  Jahre  später  zuerkannt  worden  ist. 
Planmäßig  haben  dann  die  Deharbeschen  Katechismen 
für  die  Popularisierung  der  neuen  Lehre  in  dem  Volks- 
unterricht gewirkt,  ebenso  die  Beschlüsse  zahlreicher  Pro- 
vinzialkonzile  seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts,  auch  der 
Syilabus  von  1864,  der  in  seiner  dreiundzwanzigsten  These 
erklärte,  daß  die  Päpste  in  der  Festsetzung  von  Glaubens- 
und Sittenlehren  nicht  geirrt  haben.  Man  kann  geradezu 
sagen,  daß  diese  Lehre  das  Charakteristikum  der  ultramon- 


558  Carl  Mirbt, 

tanen  Partei  auf  dem  Gebiet  des  Dogmas  wurde,  daß  sie  von 
jesuitischer  Seite  vornehmlich  gepflegt  und  von  Rom  aus 
ganz  unmißverständlich  gefördert  worden  ist  Es  scheint 
fast,  als  ob  eine  internationale  geheime  Liga  bestanden 
hat,  um  der  Infallibilitätslehre  zum  Siege  zu  verhelfen. 
Denn  Kardinal  Manning  und  Bischof  Senestr^y,  die  beiden 
Hauptinfallibilisten  auf  dem  Konzil,  haben,  wie  der  erstere 
selbst  erzählt  hat,  als  sie  1868  am  Vorabend  des  Festes 
des  Petrus  am  Throne  des  Papstes  assistierten,  das  von 
einem  italienischen  Jesuiten  Liberatore  in  seinem  Wortlaut 
entworfene  Gelübde  abgelegt,  alles  zu  tun,  was  in  ihrer 
Macht  stände,  um  die  Definition  dieser  Lehre  herbei- 
zuführen (Granderath  11,  292,  vgl.  dazu  Friedrich  I,  680  f.). 
Daß  bei  Beginn  des  Konzils  schon  weite  Kreise  sich  an 
diese  Vorstellung  gewöhnt  hatten,  ist  eine  Tatsache,  die 
Granderath  zugunsten  ihrer  Proklamation  zum  Dogma 
verwertet.  Aber  er  äußert  sich  darüber  nicht,  wie  dieser 
Zustand  herbeigeführt  worden  ist  und  der  Leser  erfährt 
davon  nichts,  daß  die  rastlose  Arbeit  von  Dezennien  vor- 
anging und  daß  die  römische  Kurie  und  der  Jesuitenorden 
die  Seele  dieser  zielbewußten  und  konsequenten  Beein- 
flussung der  katholischen  Christenheit  waren.  Es  wäre 
von  höchstem  Interesse  gewesen,  wenn  Granderath  auch 
nur  versucht  hätte,  sich  mit  diesen  Tatsachen  auseinander- 
zusetzen und  der  von  seinem  Standpunkt  aus  als  falsch 
beurteilten  Deutung  die  richtige  entgegenzusetzen.  Dieser 
Pflicht  durfte  er  sich  um  so  weniger  entziehen  als  das 
Verhalten  der  beiden  Konzilsparteien  und  der  gesamte 
Verlauf  des  Konzils  unverständlich  bleiben,  wenn  sie 
nicht  mit  der  vorangegangenen  Geschichte  in  Verbin- 
dung gebracht  werden.  Jedenfalls  aber  war  es  das  Be- 
quemste, an  diese  Aufgabe  nicht  erst  heranzutreten,  und 
vielleicht  auch  das  Klügste,  das  wollen  wir  gern  zu- 
gestehen. 

Gegen  die  Granderathsche  These  spricht  weiter,  daß 
Pius  IX.  demonstrativ  und  energisch  für  die  Definition 
der  Lehre  gewirkt  hat.  Zum  Beweis  hierfür  sei  auf  die 
Veröffentlichung  des  Breves  vom  11.  Februar  1869  an 
den   Kapitelsvikar  und  den   Klerus  von  Adria  (Rovigo) 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       559 

hingewiesen,  von  denen  die  Liste  der  Leute  eingesandt 
worden  war,  die  das  Unfehlbarkeitsgelübde  geleistet  hatten 
und  die  nun  dafür  mit  Lobsprüchen  überschüttet  wurden. 
Noch  vor  dem  Zusammentritt  des  Konzils  erging  das 
dann  im  Univers  veröffentlichte  Breve  vom  27.  November 
1869,  in  dem  der  Papst  einem  französischen  Bischof  seine 
Freude  über  sein  Bekenntnis  zur  Infallibilität  aus  sprach 
(Friedrich  III,  99).  Daß  der  „Janus"  durch  die  Index- 
kongregation verdammt  wurde  und  der  Papst  dieses  Urteil 
am  30.  November,  also  vor  Beginn  des  Konzils,  bestätigte, 
war  nach  Lage  der  Dinge  ebenfalls  eine  sehr  deutliche 
Stellungnahme.  Da  Granderath  jedem  Redner,  der  auf 
selten  der  Infallibilität  stand,  ein  freundliches  Wort  zu. 
sagen  weiß,  fällt  die  überaus  kühle  Art  seiner  Bericht- 
erstattung über  die  Eröffnungspredigt  des  Erzbischofs« 
Puecher-Passavalli  auf.  Pius  IX.  soll  ihm  den  Wunsch 
haben  ausdrücken  lassen,  daß  er  darin  auf  die  Zweck- 
mäßigkeit einer  Definition  dieser  Lehre  durch  das  Konzil 
hinwiese,  aber  die  Rede  enthielt  davon  nichts,  und  er  fiel 
in  Ungnade.  Sehr  lehrreich  ist,  was  Granderath  über 
die  Stellung  des  Papstes  zu  den  streitenden  Konzils- 
parteien im  Anschluß  an  eine  Erörterung  über  diese 
beiden  Gruppen  zu  sagen  für  gut  befindet  (II,  294  ff.). 
Daß  Pius  IX.  mit  ganzer  Seele  von  der  Richtigkeit  der 
Unfehlbarkeitslehre  überzeugt  war,  wie  von  der  Notwen- 
digkeit, sie  zu  dogmatisieren,  wird  von  dem  Verfasser 
natürlich  nicht  bestritten  und  steht  in  der  Tat  außerhalb 
jeder  Diskussion.  Dagegen  ist  kontrovers,  ob  er  auf  die 
Synodalen  einen  Einfluß  zugunsten  seiner  eigenen  Auf- 
fassung ausgeübt  hat.  In  den  „Römischen  Briefen''  und 
bei  Friedrich  findet  sich  gerade  für  diese  Frage  ein  sehr 
reiches  Material,  aus  dem  wir  aber  auch  nicht  einmal 
eine  Auswahl  hier  vornehmen  können.  Unser  Geschicht- 
schreiber erklärt  nun  auf  der  einen  Seite  wörtlich:  „Pius  IX. 
mischte  sich  in  den  Streit  der  Väter  nicht  ein  und  ließ 
dem  Konzile  volle  Freiheit,  die  Lehre  zu  definieren  oder 
nicht**,  und  ist  so  tapfer,  auch  den  Satz  zu  wagen:  „Der 
Antrag,  die  Lehre  von  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  dem 
Konzil  vorzulegen,  ging  ganz  frei  aus  dem  Kreise  der 


560  Carl  Mirbt, 

Bischöfe  hervor,  ohne  daß  von  päpstlicher  Seite  irgend 
eine  Veranlassung  hierzu  gegeben  war."  Andererseits  muß 
er  jedoch  zugestehen:  „Es  ist  richtig,  daß  Pius  IX.  den 
Schriftstellern,  die  ihm  ihre  zur  Verteidigung  der  Unfehlbar- 
keitslehre verfaßten  Werke  einsandten  und  denen,  welche 
Adressen  zugunsten  der  Definition  einreichten,  seinen 
belobenden  Dank  hat  sagen  lassen.*"  Da  dies  nicht  selten 
geschehen  ist  und  in  jenen  Monaten  eben  diese  eine 
Frage  im  Mittelpunkt  der  Synode  stand,  so  hatten  schon 
diese  Belobigungen  den  Charakter  einer  demonstrativen 
Parteinahme.  Nach  Granderath  aber  war  dies  „nichts 
anderes  als  die  Erfüllung  einer  Hirtenpflicht",  nämlich 
„die  Verteidigung  der  Glaubenswahrheiten  zu  fördern*. 
Gegenüber  den  zahlreichen  Erzählungen  von  abfälligen 
Äußerungen  des  Papstes  über  Bischöfe  der  Minderheit 
befindet  sich  der  Verfasser  offenbar  in  großer  Verlegen- 
heit. Er  antwortet  darauf  durch  folgendes  Musterstück 
verklausulierter  Redewendungen :  „In  gewöhnlichen  Unter- 
redungen und  Ansprachen,  so  sagt  man,  habe  Pius  IX. 
zuweilen  sich  über  die  Bischöfe  der  Minorität  ungünstig 
ausgesprochen.  Was  den  Inhalt  gewöhnlicher  Unter- 
redungen angeht,  so  ist  derselbe  schwer  festzustellen; 
indessen  scheint  uns,  daß  einige  Minoritätsbischöfe  einer- 
seits Anlaß  zu  gerechtem  Tadel  gaben,  daß  anderseits 
Pius  IX.  offen  genug  war,  um  seine  Unzufriedenheit 
hierüber  klar  und  unverblümt  auszusprechen.  Wenn 
uns  also  eine  ungünstige  Bemerkung  Pius'  IX.  über 
Bischöfe  der  Minorität  mitgeteilt  und  wohlverbürgt 
würde,  so  könnten  innere  Gründe  uns  nicht  veranlassen, 
die  Wahrheit  der  Mitteilung  zu  bezweifeln*'  (III,  297). 

Schon  diese  Tatsachen  genügen,  um  die  Erklärung 
Granderaths,  daß  der  Papst  auf  das  Konzil  „keinen 
Druck  ausübte  und  es  ganz  der  Leitung  des  Heiligen 
Ceistes  überließ",  richtig  abzuwerten.  Pius  IX.  hat  doch 
^ohl  etwas  nachzuhelfen  versucht.  In  einem  späteren 
Abschnitt  werden  wir  sehen,  daß  er  sich  dabei  auch  noch 
;anderer  Mittel  bedient  hat,  um  diese  seine  „Lieblings- 
idee"  zu  verwirklichen,  die,  nach  dem  Urteil  des  Bischofs 
Greith  von  St.  Gallen,  dem  Papst  ein  unersetzliches  Kapital 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       561 

von  treuer  Liebe  und  Anhänglichkeit  gekostet  hat  (III, 
587).  Mir  scheint,  daß  man  eine  besondere  geistige 
Schulung  durchgemacht  haben  muß,  um  von  dieser  Sach- 
lage aus  den  Weg  zu  der  These  zu  finden,  daß  die  Ver- 
kündigung des  Dogmas  nicht  die  Absicht  des  Papstes 
gewesen  ist.  Von  dieser  Fiktion  aus  werden  übrigens 
manche  wunderlichen  Einzelurteile  verständlicher.  Zu 
dem  Vorgehen  der  deutschen  Bischöfe,  die  im  September 
1869  zur  Beschwichtigung  der  Aufregung  ihrer  Diözesanen 
ein  beruhigendes  Hirtenschreiben  erließen,  aber  zugleich 
an  den  Papst  ein  Schreiben  richteten,  in  dem  sie  ernst- 
liche Vorstellungen  gegen  die  Definierung  der  Unfehl- 
barkeit erhoben,  bemerkt  nämlich  Granderath:  „Der  Papst 
war  mit  dem  Brief  unzufrieden.  Warum,  haben  wir  nicht 
in  Erfahrung  bringen  können.  Man  sagte  uns,  Pius  IX. 
habe  es  übel  genommen,  daß  die  Bischöfe  von  der  De- 
finierung einer  Lehre  abrieten,  die  zu  definieren  gar  nicht 
beabsichtigt  war*'  (I,  241). 

Von  besonderem  Interesse  ist  natürlich  die  Frage, 
ob  zu  den  das  Konzil  vorbereitenden  Maßnahmen  der 
Kurie  auch  die  Ausarbeitung  einer  auf  die  Unfehlbarkeit 
sich  beziehenden  Vorlage  gehört  hat.  Zu  den  für  das 
bevorstehende  Konzil  eingesetzten  fünf  Kommissionen 
gehörte  auch  eine  dogmatische,  über  deren  Tätigkeit 
Cecconi  in  seiner  Geschichte  des  Vatikanischen  Konzils 
(deutsche  Obersetzung  von  Molitor  I,  291)  folgendes  be- 
richtet: 

„In  den  Sitzungen  vom  14.  und  21.  Januar  1869  diskutierte 
die  Kommission  die  Materie  des  Primates  und  bestimmte  die 
Hauptgedanken,  weiche  die  ständige  Deputation  in  dem  Schema 
des  Dekretes  zusammenstellen  sollte,  wonach  dieses,  der  be- 
stehenden Ordnung  gemäß,  von  der  Kommission  selber  zu  priifen 
war.  Am  11.,  18.  und  25.  Februar  handelte  man  von  der  päpst- 
lichen Infaiiibilität.  Unter  den  Fragen,  weiche  am  11.  Februar 
zur  Beratung  kamen,  waren  folgende:  1.  Utrum  illa  (die  Infaiii- 
bilität des  Papstes)  tamquam  fidei  articulus  definiri  possit; 
2.  utrum  illa  tamquam  articulus  fidei  sit  definienda.  Die  erste 
Frage  wurde  in  der  Kommission  einstimmig  bejaht,  bezüglich  der 
zweiten  stimmten  alle  Konsultoren,  mit  Ausnahme  eines  einzigen, 
dahin,  daß  dieser  Gegenstand  auf  dem  Konzil  nicht  zu  propo- 
niren  sei,  wenn  die  Bischöfe  nicht  den  Antrag  stellten.  Sententia 


562  Carl  Mirbt, 

commissionis  est  (sind  die  Worte  des  Protokolls)  nonnisi  ad 
postulationem  episcoporum  rei  huius  propositionem  ab  apostoUca 
sede  faciendam  esse.  Der  Konsultor,  weicher  anderer  Meinung 
war,  erachtete  die  Definition  gänzlich  inopportun.  Zufolge  dieses 
Beschlusses  nahm  die  ständige  Deputation,  als  sie  am  22.  April 
das  Schema  de  Romano  pontifice  vorbereitete,  völlig  Umgang 
von  dem  Kapitel  der  Infallibilität  ob  pmdentem  illam  oeconomiam 
(heißt  es  im  Protokoll)  de  qua  alibi.  Nichtsdestoweniger  unter- 
ließ man  es  nicht,  diese  Frage  zu  prüfen,  was  nicht  allein  in  den 
drei  genannten  Sitzungen  geschah  sondern  auch  in  jener  vom 
darauffolgenden  18.  Juni,  wo  man  das  Schema  eines  Dekretes 
diskutierte,  welches  für  den  oben  erwähnten  Fall  in  Bereitschaft 
zu  halten  sei.  Die  Kommission  beriet  über  eine  Menge  von  Modi- 
fikationen zu  diesem  Entwurf;  aber  die  übergroße  Anzahl  anderer 
dringenderer  Fragen  verursachte,  daß  man  nicht  mehr  auf  die 
päpstliche  Unfehlbarkeit  zurückkam.  So  blieb  die  Arbeit  eine 
unvollendete." 

Aus  diesen  Mitteilungen  ergibt  sich,  daß  längst  vor 
der  Eröffnung  des  Konzils  die  Infallibilitätsfrage  der 
Gegenstand  eingehender  Untersuchungen  in  Rom  gewesen 
und  daß  bereits  ein  Schema  darüber  ausgearbeitet  worden 
ist.  Mit  diesem  Bericht  sich  auseinanderzusetzen,  der 
für  die  Beurteilung  der  Stellung  der  Kurie  zu  dem  In- 
fallibilitätsproblem  von  entscheidender  Bedeutung  ist, 
war  für  den  Geschichtschreiber  des  Konzils  eine  unab- 
weisbare Pflicht.  Da  ferner  gerade  über  diese  noch 
nicht  ausreichend  aufgeklärte  Vorgeschichte  die  Akten 
des  Vatikanischen  Archivs  das  authentische  Material  ent- 
halten, das  Granderath  vollkommen  zugänglich  war,  so 
durften  wir  gerade  von  ihm  jetzt  volle  Aufklärung  er- 
warten. Ich  bin  in  der  peinlichen  Lage,  erklären  zu 
müssen,  daß  ich  sie  vergeblich  gesucht  habe. 

Endlich  soll  die  Definition  der  Infallibilität  des  Papstes 
dadurch  zur  Notwendigkeit  geworden  sein,  daß  diese 
Lehre  innerhalb  und  außerhalb  des  Konzils  scharfe  An- 
griffe zu  erfahren  hatte;  unter  dem  Druck  dieses  An- 
sturms die  Entscheidung  auszusetzen,  würde  als  eine  in- 
direkte Anerkennung  der  materiellen  Berechtigung  dieser 
Einwürfe  mißdeutet  worden  sein.  Wir  wollen  dahin- 
gestellt sein  lassen,  ob  durch  diese  Beweisführung,  die 
uns  schon   in  den  Konzilsverhandlungen  begegnet  und 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       563 

auch  von  Granderath  vertreten  wird,  das  tatsächlich  dann 
eingeschlagene  Verfahren  gerechtfertigt  werden  könnte. 
Für  uns  ist  hier  nur  das  von  Wichtigkeit,  daß  sie  nach 
der  rein  historischen  Seite  von  der  irrigen  Voraussetzung 
ausgeht,  daß  zuerst  der  Kampf  gegen  die  Infallibilität  aus- 
gebrochen sein  soll  und  dann  erst  die  Verteidigung  dieser 
Lehre  eingesetzt  habe.  Schon  im  Februar  1869  erschien 
aber  jener  berühmte  Artikel  in  der  von  Jesuiten  geleiteten 
Civiltä  Cattolica,  der  in  der  Form  einer  Korrespondenz 
aus  Frankreich  u.  a.  den  Gedanken  aussprach,  daß  das 
Konzil  nur  von  kurzer  Dauer  sein  werde  und  die  Mehr- 
heit der  Katholiken  mit  Freuden  die  Verkündigung  der 
Unfehlbarkeit  des  Papstes  annehmen  werde.  Dieser 
Artikel,  über  dessen  Entstehung  Granderath  (I,  183  ff.) 
einige  neue  interessante  Mitteilungen  macht,  hat  bekannter- 
maßen eine  gewaltige  Wirkung  in  ganz  Europa  hervor- 
gerufen und  die  großen  publizistischen  Kämpfe  eingeleitet, 
auf  die  wir  schon  hinzuweisen  hatten.  Für  die  Beurtei- 
lung der  ganzen  jetzt  folgenden  Aktion  und  des  Streites 
um  die  Infallibilität  ist  es  nun  von  sehr  großer  Wichtig- 
keit, ob  die  Jesuitenpartei  dadurch,  das  sie  diesen  litera- 
rischen Fühle?  ausstreckte,  den  großen  Kampf  entzündet 
hat  oder  ob  dieser  Kampf  bereits  im  vollen  Gang  war, 
wie  Granderath  sagt  (III,  725),  als  dieser  berühmte  Artikel 
erschien.  Hier  urteilen  die  beiden  Geschichtschreiber  des 
Konzils  direkt  entgegengesetzt;  Friedrich  ist  aber  auch 
hier  nicht  widerlegt  worden.  Allerdings  war  schon  vorher 
über  die  Infallibilität  geschrieben  worden,  dazu  nötigte 
schon  das  wachsende  Umsichgreifen  der  ultramontanen 
Richtung,  aber  zur  großen  Tagesfrage,  an  der  sich  die 
Geister  schieden,  ist  sie  doch  erst  geworden,  als  eben 
durch  jenen  von  Döllinger  und  anderen  sofort  in  seiner 
Bedeutung  durchschauten  Artikel  die  bestimmte  Absicht 
der  unter  jesuitischen  Einflüssen  stehenden  Kurie  offen- 
bar wurde,  das  bevorstehende  Konzil  zur  Definition  dieser 
Lehre  zu  benutzen.  Granderath  ist  uns  den  Beweis 
schuldig  geblieben,  daß  „die  Konzilswirren"  schon  vor 
dem  Februar  1869  ausgebrochen  waren  (I,  183  f.),  und 
die  Kardinäle  Rauscher  und  Schwarzenberg  waren  bessere 


564  Carl  Mirbt, 

Historiker,  als  sie  erklärten,  daß  katholische  Zeitschriften 
(die  Civiltä  und  der  Univers)  ,,den  ganzen  Streit  ange- 
stiftet hätten.  Dann  erst  seien  von  gegnerischer  Seite 
die  Angriffe  auf  den  Primat  erfolgt«  (III,  173). 

Unter  diesen  Umständen  müssen  wir  den  Grande- 
rathschen  Versuch,  die  Proklamation  der  Infallibilität  aus 
der  Reihe  der  von  der  Kurie  bei  der  Berufung  des  Kon- 
zils ins  Auge  gefaßten  Ziele  auszuscheiden,  als  verfehlt 
ablehnen.  Der  Gang  des  Konzils  hat  sogar  den  Beweis 
geliefert,  daß  sie  ganz  offenbar  der  Hauptzweck  gewesen 
ist,  denn  die  Unfehlbarkeitsfrage  hat  die  Synode  von 
Anfang  an  beherrscht.  Daß  die  Definition  dieses  Dogmas 
nicht  in  der  Berufungsbulle  genannt  worden  war,  wird 
niemand  als  einen  Beweis  für  das  Nichtvorhandensein 
dieser  Absicht  anerkennen,  der  dieses  in  Allgemeinheiten 
sich  bewegende  Aktenstück  gelesen  hat  und  mit  dem 
tatsächlichen  Verlauf  der  Angelegenheit  auf  dem  Konzil 
selbst  etwas  vertraut  ist. 

Die  Erklärung  des  Verhaltens  der  Kurie  erblicke  ich 
darin,  daß  sie  anfänglich  in  der  Tat  nicht  beabsichtigt  hat, 
über  die  Unfehlbarkeit  eine  Vorlage  zu  machen,  sondern 
ihr  Ziel  zu  erreichen  hoffte  —  auf  dem  Weg^der  Akklama- 
tion. Es  läßt  sich  sehr  wohl  begreifen,  wie  in  den  Kreisen 
der  Infallibilisten  der  Gedanke  entstehen  konnte,  daß  das 
Konzil  unter  Verzicht  auf  eine  Durchberatung  die  Lehre 
von  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  annehmen  werde. 
Jener  Staatsstreich  auf  dem  Gebiet  des  Dogmas  im  Jahre 
1854  hatte  begeisterten  Widerhall  gefunden,  und  bei  der 
großen  Zentenarfeier  des  Martyriums  der  Apostel  Petrus 
und  Paulus  1867  hatten  an  fünfhundert  Bischöfe  in  einer 
an  den  Papst  gerichteten  Adresse  ihre  Unterwerfung  in 
Ausdrücken  bezeugt,  die  wohl  dahin  gedeutet  werden 
konnten,  daß  sie  noch  zu  weiteren  Selbstverleugnungen 
bereit  sein  würden.  Schon  damals  soll,  wie  in  Frank- 
reich erzählt  wurde,  die  Proklamation  der  Unfehlbarkeit 
in  Frage  gekommen  sein.  Jener  Februarartikel  der  C/- 
viltä  Cattolica  1869  hat  nun  auch  die  Diskussion  über 
die  Zulässigkeit  einer  Annahme  des  Dogmas  auf  dem 
Wege    der   Akklamation    in    Fluß   gebracht.     Denn    hier 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       565 

wurde  die  Hoffnung  ausgesproclien,  „daß  die  einmütige 
Kundgebung  des  Heiligen  Geistes  durcli  den  Mund  der 
Väter  des  Konzils  die  Lelire  durcti  Akklamation  definieren 
werde",  und  auch  noch  später  wurde  für  diesen  Ge- 
danken in  diesem  Organ  Propaganda  gemacht.  Daß 
ihm  auch  andere  zustimmten,  bewies  beispielsweise  seine 
Verteidigung  durch  Bischof  Plantier  von  Nimes  und  Louis 
Veuillot  im  Univers.  Aber  er  wurde  andererseits  scharf 
von  dem  Avenir  bekämpft,  auch  von  dem  Correspondantj 
und  Kardinal  Bonnechose  wie  Bischof  Dupanloup  erklärten 
sich  dagegen.  Daß  zunächst  die  Ausführung  des  Planes, 
schon  in  der  ersten  Sitzung  des  Konzils  das  Dogma 
unter  Dach  und  Fach  zu  bringen  —  Kardinal  Manning 
galt  als  der  Vertrauensmann,  dem  die  Mission  zugewiesen 
war,  den  Papst  um  die  Bestätigung  seiner  Unfehlbarkeit 
zu  bitten,  worauf  die  Konzilsväter  mit  Akklamation  hätten 
antworten  sollen  —  unterblieben  ist,  wurde  durch  diese 
publizistischen  Erörterungen  vorbereitet  und  stellte  sich 
schon  vor  der  Eröffnung  des  Konzils  als  Notwendigkeit 
heraus,  indem  unter  den  in  Rom  eingetroffenen  Vätern 
die  für  eine  solche  Aktion  erforderliche  Einmütigkeit 
fehlte. 

Der  Plan  selbst  war  aber  damit  noch  nicht  aufge- 
geben. In  den  Weihnachtstagen  traten  in  Rom  die  Ge- 
rüchte von  einer  bei  der  Wiederaufnahme  der  Verhand- 
lungen am  28.  Dezember  stattfindenden  Akklamation  mit 
solcher  Bestimmtheit  auf,  daß  Erzbischof  Darboy  von 
Paris  bei  dem  damaligen  Vorsitzenden  Kardinal  de  Luca 
vorstellig  wurde.  Als  ihm  nur  zugesagt  wurde,  daß  sie 
an  diesem  Tage  nicht  erfolgen  werde,  erklärte  er,  daß 
einhundert  Bischöfe  gegen  eine  solche  Überrumpelung 
protestieren  und  Rom  sofort  verlassen  würden.  Darauf- 
hin unterblieb  die  Aktion.  Noch  im  März  1870  haben 
aber  vier  amerikanische  Bischöfe  es  für  ihre  Pflicht  ge- 
halten, in  einem  Schreiben  an  die  Präsidenten  der 
Generalkongregation  gegen  eine  Definition  durch  Zuruf 
ernstliche  Verwahrung  einzulegen  und  für  den  Eintritt 
dieses  Falles  ihre  Abreise  und  Bekanntmachung  der 
Gründe  ihres  Vorgehens  anzudrohen.     Wir  haben  also 


566  Carl  Mirbt, 

die  Tatsache  zu  konstatieren,  daß  sowohl  in  den  Kreisen 
der  Freunde  als  in  denen  der  Gegner  der  Infallibilität 
die  Ansicht  sehr  verbreitet  gewesen  ist,  daß  vielleicht 
auf  diesem  Wege  das  von  vielen  heiß  ersehnte  Dogma 
zustande  kommen  werde.  Dabei  ist  es  von  besonderem 
Interesse,  daß  die  Jesuiten  es  waren,  welche  die  öffent- 
liche Meinung  darauf  vorzubereiten  und  dafür  Stimmung 
zu  machen  suchten.  Trotzdem  aber  ist  von  ultramontaner 
Seite  während  des  Konzils  und  nach  seiner  Vertagung 
mit  großer  Entschiedenheit  das  Vorhandensein  solcher 
Bestrebungen  geleugnet  worden,  nachdem  sich  heraus- 
gestellt hatte,  daß  das  Pflichtbewußtsein  der  Synode 
unterschätzt  worden  war.  Granderath  ist  sehr  wortkarg, 
wo  er  (II,  290  Anm.  5)  auf  diese  Materie  zu  sprechen 
kommt.  Nach  der  uns  bereits  bekannten  Methode  schreibt 
er:  „Friedrich  kommt  in  seiner  Geschichte  des  Vatika- 
nischen Konzils  unzähligemal  darauf  zurück,  daß  die 
Leitung  des  Konzils  beabsichtige,  durch  Akklamation 
die  alles  in  Bewegung  setzende  Frage  zu  entscheiden. 
Er  scheint  zu  glauben,  die  Präsidenten  hätten  durch 
künstliche  Machinationen  eine  Akklamation  hervorrufen 
und  das  Konzil  dadurch  überrumpeln  wollen.  Daß  ein 
derartiger  Versuch  der  Präsidenten  eine  horrende  Sünde 
gewesen  wäre,  scheint  ihn  in  seiner  Behauptung  nicht 
zu  beirren.  Ebensowenig  stört  ihn  der  Gedanke  an  die 
Torheit  dieses  Unterfangens  und  an  die  Gefahren,  die 
es  in  sich  schließt.  Daß  übrigens  selbst  Bischöfe  an  die 
Möglichkeit  eines  solchen  Vorgehens  der  Präsidenten 
gedacht  haben,  zeigt  nur,  wie  groß  die  Aufregung  der 
Geister  war."  Granderath  bestreitet  also  hier  nur,  daß 
die  Präsidenten  des  Konzils  auf  eine  Akklamation  hin- 
gewirkt haben,  und  gewiß  mit  Recht.  Aber  darum  handelt 
es  sich  gar  nicht.  Wenn  aus  der  Mitte  der  infallibilistisch 
gesinnten  Majorität  heraus  die  Akklamation  inszeniert 
worden  wäre,  dann  hätte  bei  dieser  Aktion,  die  doch 
den  Charakter  einer  spontanen  Eingebung  tragen  mußte, 
auf  die  Mitwirkung  des  Präsidiums  leicht  verzichtet 
werden  können;  jedenfalls  wäre  ihm  nicht  die  Rolle 
überwiesen  worden,  die  Initiative  zu  ergreifen.  Wir  dürfen 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       567 

es  ununtersucht  lassen,  ob  auch  in  dem  Fall,  der 
hier  von  Granderath  in  einer  die  tatsächlichen  Verhält- 
nisse verwirrenden  Weise  berücksichtigt  wird,  von  einer 
„horrenden  Sünde"  der  Präsidenten  zu  reden  sein  würde. 
In  der  Geschichte  des  Konzils  fehlt  es  wahrlich  nicht  an 
Oberrumpelungen  der  Synodalen,  aber  Granderath  hat 
die  Mitwirkung  daran  sonst  offenl)ar  anders  eingeschätzt. 
Auch  würde  wohl  Pius  IX.  ein  milderer  Richter  gewesen 
sein,  wenn  die  Präsidenten  imstande  gewesen  wären,  die 
Definition  auf  diesem  schnellen  Weg  durchzusetzen.  Mit 
dem  Hinweis  auf  die  Gefahren  eines  solchen  Vorgehens 
stellt  sich  Granderath  aber  wieder  auf  den  Boden  der 
tatsächlichen  Verhältnisse,  und  diese  Gefahren  waren 
sicher  sehr  bedeutend.  Aus  ihrer  Erkenntnis  ergab  sich 
für  die  Kurie  und  die  infallibilistische  Majorität  die  Un- 
gangbarkeit des  Weges,  der  allen  denen,  welche  ein- 
gehender Erörterungen  des  Dogmas  nicht  zu  bedürfen 
glaubten,  als  der  kürzeste  besonders  verlockend  er- 
schienen war. 

Das  Verhalten  des  Konzils  hat  dem  Papst  anfangs 
schwere  Enttäuschungen  bereitet.  Aus  der  ersten  Ge- 
schäftsordnung, aus  der  Wahl  des  Sitzungslokales,  aus 
der  Ansetzung  des  Termins  der  zweiten  Sitzung,  aus 
der  gesamten  Behandlung  der  Synode  ergibt  sich  klar, 
daß  die  Kurie  ihren  Verlauf  sich  ganz  anders  gedacht 
hatte,  als  er  dann  in  Wirklichkeit  sich  abgespielt  hat. 
Die  gesamte  Vorbereitung  und  Direktion  der  Kirchenver- 
fassung weist  darauf  hin,  daß  eine  rasche  Annahme  der 
gemachten  Vorlagen  erwartet  wurde.  Statt  dessen  er- 
wachte unter  eben  den  Bischöfen,  die  durch  ihr  Ver- 
halten in  den  letzten  Jahren  zu  dieser  Einschätzung  reich- 
lichen Anlaß  gegeben  hatten,  in  dem  Augenblick,  als  sie 
sich  als  Mitglieder  eines  ökumenischen  Konzils  zu  fühlen 
begannen,  das  Bewußtsein  einer  besonderen  Verantwor- 
tung, auch  das  Verlangen  nach  selbständiger  Mitarbeit 
und  der  Mut  zu  offener  Aussprache.  Das  Gros  verharrte 
freilich  in  dem  Zustand  der  Gebundenheit  und  Unfreiheit, 
den  klerikale  Erziehung,  die  Macht  der  Gewohnheit  und 
äußere  Abhängigkeit  hervorzurufen  pflegt,   aber  es  weht 


568  Carl  MIrbt, 

doch,  wenigstens  durch  einen  Teil  der  Versammlung,  ein 
Zug  von  konziliarer  Arbeitsfreudigkeit  und  Streben  nach 
Selbständigkeit  Schon  die  ersten  Generalkongregationen 
zerstörten  die  Hoffnung  auf  eine  nur  ausnahmsweise  Be- 
anstandung der  kurialen  Vorlagen  und  das  Konzil  ließ 
sich  das  Recht  einer  mehr  oder  weniger  gründlichen 
Durchberatung  nicht  nehmen.  In  bezug  auf  die  Unfehl- 
barkeitsfrage konnte  freilich  diese  Erfahrung  erst  in  der 
zweiten  Hälfte  des  Konzils  gemacht  werden;  trotzdem 
bereitete  sie  von  Anfang  an  die  weitaus  größten  Schwie- 
rigkeiten. Als  sich  nämlich  die  Unmöglichkeit  ihrer  Er- 
ledigung durch  das  summarische  Verfahren  der  Akkla- 
mation herausgestellt  hatte,  d.  h.  von  dem  Eingreifen 
Darboys  am  Ende  des  Jahres  1869  an,  stand  die  Kurie 
vor  der  Alternative,  entweder  die  Definition  zu  vertagen 
oder  aber  sie  zum  Gegenstand  konziliarer  Verhandlung 
zu  machen.  Für  die  Zurückstellung  konnte  geltend  ge- 
macht werden,  daß  nach  den  vorangegangenen  publi- 
zistischen Erörterungen  stürmische  Verhandlungen  zu 
erwarten  waren  und  mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen 
war,  daß  ein  stattlicher  Bruchteil  der  Synodalen  mit 
„Nein**  votierte.  Auch  konnte  die  Deklaration  der  Un- 
fehlbarkeit einer  späteren  Bischofsversammlung,  ähnlich 
der  von  1867,  überwiesen  werden,  die  dann  keine  Ge- 
legenheit zu  Debatten  bot.  Nach  den  Erfahrungen  von 
1854  war  auf  einen  ernsten  und  nachhaltigen  Widerstand 
gegen  die  vollendete  Tatsache  der  Promulgation  nicht  zu 
rechnen,  zumal  dann  nicht,  wenn  man  sich  zunächst  mit 
einer  wie  durch  Inspiration  zustande  gekommenen  Kund- 
gebung für  das  Dogma  begnügt  hätte  und  die  Fixierung 
der  kirchenrechtlichen  Folgerungen,  speziell  für  das  Ver- 
hältnis von  Papsttum  und  Episkopat,  nicht  unmittelbar 
angeschlossen  worden  wäre.  Der  Hinausschiebung  der 
Definition  standen  jedoch  die  persönlichen  Neigungen 
Pius'  IX.  und  das  Drängen  der  mehr  und  mehr  fanati- 
sierten  Majorität  im]  Wege.  Es  ist  durchaus  wahrschein- 
lich, daß  den  Worten  Granderaths  (III,  8):  „Hätten  die 
Mitglieder  der  Majorität  nicht  mit  unermüdlicher  Aus- 
dauer  auf    die   Erfüllung  ihrer  Petition   gedrungen,    die 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       569 

päpstliche  Unfehlbarkeit  wäre  gewiß  nicht  zur  Verhand- 
lung gekommen**  etwas  Wahres  zugrunde  liegt,  wenn 
auch  ihre  Fassung  zunächst  zum  Widerspruch  reizt. 
Auch  die  bereits  obenerwähnte  Erwägung,  daß  ein  Auf- 
schub als  Rückzug  angesehen  werden  konnte,  war  viel- 
leicht von  Einfluß;  und  in  der  Tat  war  die  Kurie,  wesent- 
lich durch  das  Verhalten  des  Papstes  vor  der  Öffentlich- 
keit, längst  zugunsten  der  Infallibilität  engagiert.  Ob  aber 
die  zahlreichen  Petitionen  um  Einbringung  einer  Vor- 
lage Erfolg  haben  würden  oder  die  Gegenvorstellungen 
der  Minorität  durchdrangen,  war  bis  zum  6.  März  1870 
nicht  mit  Sicherheit  vorauszusagen.  An  diesem  Tage 
wurde  den  Synodalen  ein  Zusatzartikel  zu  Kapitel  1 1  des 
Schemas  De  ecclesia  zugestellt,  in  dem  die  Irrtumslosig- 
keit  des  Papstes  in  der  Festsetzung  von  Sachen  des 
Glaubens  und  der  Sitten  ausgesprochen  war;  die  Kurie 
hatte  ihre  Entscheidung  getroffen.  Aber  noch  war  ein 
weiter  Weg  zurückzulegen,  denn  die  heiß  umstrittene 
Lehre  kam  nach  dem  Entwurf  des  Schemas  erst  nach 
Erledigung  der  ganzen  Lehre  von  der  Kirche  zur  Ver- 
handlung. Die  Freunde  der  Infallibilität  aber  waren  nicht 
gewillt,  zu  warten  und  bestürmten  daher  den  Papst,  die 
Konzilspräsidenten  und  die  Kongregation  der  Postulate 
mit  Gesuchen,  sie  unverzüglich  zur  Debatte  zu  stellen 
(in,  4).  Die  Minoritätsbischöfe  verlangten  dagegen  die 
ordnungsmäßige  Behandlung  des  Schemas,  d.  h.  seine 
Erörterung  in  der  Reihenfolge  seiner  Artikel.  Wie  be- 
rechtigt diese  Forderung  war,  hat  sich  dann  bei  der 
späteren  Debatte  gezeigt,  als  man  mit  dem  Ende  anfing 
und  über  die  Stellung  des  Papstes  disputierte,  ohne  daß 
vorher  über  das  Wesen  der  Kirche  eine  Verständigung  erzielt 
worden  war.  Die  Konzilspräsidenten  und  der  Vorsitzende 
der  Glaubensdeputation,  Kardinal  Bilio,  verschlossen  sich 
der  Berechtigung  der  Wünsche  der  Minorität  nicht  und 
waren  geneigt,  ihnen  Folge  zu  geben.  Granderath,  der  in 
ihnen  nur  „Machenschaften"  erblickt,  wirft  den  Präsidenten 
deshalb  Schwäche,  Ängstlichkeit,  Unentschlossenheit  vor 
(III,  11)  und  redet  sogar  von  einer  Erschütterung  der 
Zuversicht  der  Konzilsleitung  (111,727).     Über  diese  offen- 

Hiitoriiche  Zeitichrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  37 


570  Carl  Mirbt, 

bar  kritische  Episode  sind  wir  durch  die  Mitteilungen 
(in,  9  ff.)  aus  dem  Tagebuch  (Seneströys)  jetzt  genauer 
orientiert.  Sie  spielte  sich  in  der  Karwoche  ab  und  fand 
dadurch  ihr  Ende,  daß  auf  Betreiben  von  Manning  und 
Senestr^y  eine  von  mehr  als  hundertundfünfzig  Bischöfen 
unterzeichnete  Petition  an  den  Papst  gerichtet  wurde: 
„damit  die  Seelen  der  Christen  nicht  länger  von  jedem 
Winde  der  Lehrmeinungen  umhergetrieben  werden,  da- 
mit das  allgemeine  Konzil  und  die  katholische  Kirche 
nicht  länger  mehr  den  Beschimpfungen  der  Häretiker 
und  Ungläubigen  ausgesetzt  bleiben  und  das  Obel,  das 
schon  allzu  groß  geworden,  nicht  ganz  unheilbar  werde 
.  .  .  das  einzige  wirksame  Heilmittel  in  Anwendung  zu 
bringen  und  zu  befehlen,  daß  das  Schema  über  die  Un- 
fehlbarkeit des  Papstes  unverzüglich  der  Beratung  des 
Konzils  unterbreitet  werde.**  Am  27.  April  erging  dieser 
Befehl.  — 

Aber  so  bedeutend  auch  der  Einfluß  einzelner  Bischöfe 
der  Majoritätspartei  auf  den  Gang  des  Konzils  gewesen 
ist,  die  eigentlich  treibende  Kraft  ging  von  dem  Jesuiten- 
orden aus.  Wie  diese  Gesellschaft  von  langer  Hand  her 
mit  der  von  ihr  betriebenen  Ultramontanisierung  der  Kirche 
dem  neuen  Dogma  die  Wege  geebnet  hat,  wie  sie  in  den 
Vorstadien  des  Konzils  und  während  dessen  Tagung  in 
Rom  und  außerhalb  Roms  tätig  gewesen  ist,  hat  Friedrich 
in  dem  Umfang  nachgewiesen,  als  sich  das  Treiben  einer 
vorwiegend  im  Verborgenen  arbeitenden  Organisation 
überhaupt  nachweisen  läßt  und  findet  in  der  übrigen 
antiinfallibilistischen  Literatur  seine  Ergänzung  und  Be- 
stätigung. Es  ist  nun  eine  für  den  Historiker  Grande- 
rath  sehr  bezeichnende  Tatsache,  daß  er  zwar  nicht  an- 
erkennt, daß  sein  Orden  diese  Rolle  gespielt  hat,  aber  auch 
gar  nicht  erst  den  Versuch  wagt,  die  dieser  Auffassung 
zugrunde  liegenden  Tatsachen  zu  widerlegen.  Er  ver- 
fährt nach  anderer  Methode.  Der  Jesuitenorden  wird 
durch  ihn  aus  der  Geschichte  des  Konzils  so  gut  wie 
ausgeschieden,  und  er  läßt  bei  dem  Leser  gar  nicht  erst 
den  Gedanken  aufkommen,  als  ob  er  dafür  von  irgend 
welcher  Bedeutung  gewesen  ist.    Die  alphabetischen  Re- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       571 

gister  aller  drei  Bände  haben  nicht  einmal  das  Stichwort 
„Jesuiten".  Diese  Register  sind  freilich  recht  unzuver- 
lässig, aber  es  wäre  jedenfalls  ein  der  Tendenz  des  Autors 
stark  zu  Hilfe  kommendes  Mißgeschick,  wenn  der  Zufall 
das  Fehlen  gerade  dieser  Rubrik  verschuldete.  Zurzeit 
mögen  für  den  Jesuitenorden  noch  starke  Anlässe  vor- 
liegen, diese  Politik  der  Zurückhaltung  und  Bescheiden- 
heit zu  üben,  aber  wenn  einmal  Verhältnisse  eintreten 
sollten,  die  es  zweckmäßig  und  ratsam  erscheinen  lassen 
würden,  seine  Verdienste  um  das  Zustandekommen  des 
Papstdogmas  der  Öffentlichkeit  zu  unterbreiten,  dann 
wird  ein  anderer  Geschichtschreiber  S.  J.  auftreten  und 
Granderath  —  ergänzen.  Wir  dürfen  hinzufügen,  daß 
diese  Aufgabe  nicht  besonders  schwer  sein  wird. 

Auf  die  „Denkwürdigkeiten  des  Fürsten  Chlodwig 
zu  Hohenlohe-Schillingsfürst"  ist  bereits  oben  hinge- 
wiesen worden ;  sie  bringen  u.  a.  auch  über  die  Jesuiten 
einige  sehr  beachtenswerte  Notizen  und  Urteile.  Von 
besonderer  Bedeutung  ist  das  Schreiben  des  Kardinals 
Hohenlohe  an  seinen  Bruder,  vom  15.  September  1869, 
das  bisher  noch  keine  Beachtung  gefunden  zu  haben 
scheint.  Hier  heißt  es  (1,393  ff.):  „Von  den  Jesuiten 
wird  jetzt  wieder  die  große  Komödie  aufgeführt,  wonach 
sie  vor  dem  Publikum  in  zwei  Parteien  geteilt  sind,  aber 
au  fond  sind  sie  eins  und  werden  von  einem  Zentrum 
regiert.  Es  existieren  also  vor  dem  Publikum  zwei  Par- 
teien unter  den  Jesuiten.  Die  einen  schreien  und  jubi- 
lieren für  die  Unfehlbarkeit  des  Papstes  (wie  z.  B.  die 
„Civiltä'*),  um  Pius  IX.  für  sich  zu  haben,  provozieren 
alle  guten  Katholiken,  die  nicht  jesuitisch  sind,  gegen 
die  Unfehlbarkeit  zu  sprechen,  entfernen  sie  dadurch 
vom  Papst,  so  daß  der  Papst  die  Herren  der  „CivUtä'' 
für  seine  Leibhusaren  auserlesen  muß.  Die  andere  Partei, 
worunter,  wie  es  scheint,  auch  der  Pater  Bekx,  der 
General  (früher  glaubte  ich,  Döllinger  gehöre  au  fond 
auch  dazu)  schütteln  bedächtig  den  Kopf  wie  alte  er- 
fahrene Leute,  die  Pius  IX.  als  einen  leichtfertigen  Jungen 
ansehen,  aber  nur  im  tiefen  Vertrauen.  Diese  halten 
sich  die  Türe  offen,  sei  es  für  ein  nächstes  Pontifikat, 

37  ♦ 


572  Carl  Mirbt, 

sei  es  namentlich  für  den  Episkopat,  z.  B.  den  franzö- 
sischen, und  sobald  sich  der  Wind  einmal  gedreht  haben 
würde,  werden  die  Jesuiten  die  ersten  sein,  die  die 
„Civiltä*'  (dies  Spielzeug,  erfunden  für  Pius  IX.)  per- 
horreszieren,  sich  über  Pius  IX.  lustig  machen  und  die 
„Civiltä" 'Wäier  womöglich  nach  Australien  schicken, 
woher  man  sie  dann  später  einmal  als  reumütige  Sünder 
wieder  zurückkommen  lassen  kann.  Ein  Beispiel  haben 
wir  im  vorigen  Jahrhundert,  wo  in  Rom  die  Jesuiten  die 
Gallicam  propositionen  verabscheuten,  während  gleich- 
zeitig in  Frankreich  der  Jesuitengeneral  mit  seinen  bons 
pferes  die  Gallicam  propositionen  unterschrieb  und  ver- 
teidigte, und  dies,  weil  sie  dadurch  hofften,  die  Bourbonen 
und  das  Parlament  usw.  von  der  Idee  der  Aufhebung 
des  Ordens  abzubringen.  —  Ich  glaube,  daß  die  Frage 
der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  von  der  der  Jesuiten  voll- 
ständig zu  trennen  ist.  Wie  die  Unfehlbarkeit  auch  ent- 
schieden wird,  den  Jesuiten  ist  dies  im  Grunde  einerlei. 
Sie  werden  nach  wie  vor  ihre  falsche  Moral,  ihre  Intrigen 
und  ihr  gottloses  Treiben  mit  Gemütlichkeit  fortsetzen. 
Sie  haben  die  Frage  der  Unfehlbarkeit  nur  als  eine 
Standarte  aufgebracht  und  diese  Standarte  der  „Civiltä*" 
in  die  Hand  gegeben,  damit  sie  dem  Papst  damit  Wind 
vormacht.  Der  Papst,  entzückt  davon,  ohne  zu  ahnen, 
was  die  alte  Jesuitenpartei  sagt  und  tut,  wirft  sich  der 
„C/V///^"  gerührt  in  die  Arme,  umfaßt  gar  in  seiner  Ver- 
blendung den  ganzen  Orden  als  den  Retter  seiner  Ehre 
in  der  (ganz  unnötig  aufgebrachten)  Unfehlbarkeitsfrage, 
flieht  alle  andern,  macht  den  Jesuiten  alle  möglichen 
Konzessionen,  und  les  bons  pires  lachen  sich  ins  Fäust- 
chen. Wie  erklärt  sichs,  daß  Dupanloup  überall  herum- 
fährt und  gegen  die  Unfehlbarkeit  des  Papstes  agitiert? 
Er  ist  doch  auch  Jesuit  (wenn  er  gleich  jetzt  so  tut,  als 
habe  er  sich  von  ihnen  getrennt),  nur  um  une  masse  de 
monde  zu  kompromitieren  und  womöglich  im  entscheiden- 
den Augenblick  in  einen  Chausseegraben  zu  werfen. 
Die  Unfehlbarkeitsentscheidung,  günstig  oder  ungünstig, 
bringt  uns  in  der  Jesuitenfrage  nicht  vor  noch  zurück. 
Wohl    aber    hat    die    Unfehlbarkeitsfrage    Pius  IX.    den 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       573 

Jesuiten  so  in  die  Arme  gebracht,  daß  von  allen  den 
Plänen  und  Ideen  Pius'  IX.  gegen  die  Jesuiten  keine 
Spur  mehr  übrig  ist.  Die  Patres  wissen,  daß  sie  Pius  IX. 
nur  dadurch  festhalten  können,  daß  er  in  die  Enge  ge- 
trieben wird  und  sich  zu  ihnen  flüchten  muß.  Pius  IX. 
muß  vollständig  isoliert  bleiben,  deshalb  hetzen  sie  ihn 
auch  gegen  alle  Regierungen,  damit  er,  mit  allen  Regie- 
rungen verfeindet,  nie  mehr  auf  einen  grünen  Zweig 
komme." 

Über  das  Verhältnis  der  Jesuiten  zu  Pius  IX.  ist 
auch  sonst  schon  ähnliches  gesagt  worden,  aber  die  vor- 
stehenden Ausführungen  sind  trotzdem  von  großem  Wert, 
da  sie  das  Urteil  eines  Mannes  sind,  der  an  der  Kurie 
lebte  und  in  seiner  hohen  Stellung  Gelegenheit  hatte,  in 
die  intimere  Geschichte  des  römischen  Hofes  Einblick  zu 
gewinnen.  Sehr  instruktiv  sind  auch  seine  Beobach- 
tungen über  die  Doppelpolitik  des  Ordens,  der  diese 
Methode  auch  gegenüber  dem  berüchtigten  Leo  Taxil- 
Schwindel  in  den  neunziger  Jahren  des  vergangenen 
Jahrhunderts  zur  Anwendung  gebracht  hat.  Bischof 
Dupanloup  ist  schon  sehr  früh  als  die  Persönlichkeit 
bezeichnet  worden,  die  bei  dem  Papst  die  Berufung 
eines  ökumenischen  Konzils  angeregt  hat.  Granderath 
vermeidet  auch  hier  eine  bestimmte  Erklärung  darüber, 
ob  das  Vatikanische  Archiv  zur  Beantwortung  dieser 
wichtigen  Frage  Material  enthält  oder  nicht,  und  schreibt 
in  seiner  gewundenen  Weise :  „Man  weiß  hierüber  nichts 
Zuverlässiges,  und  diejenigen,  welche  geneigt  sind,  es 
anzunehmen,  gestehen,  über  die  Zeit,  wann  der  Bischof 
dem  Papst  den  Rat  erteilt  habe,  ob  es  vor  oder  nach 
dem  6.  Dezember  1864  gewesen  sei,  keine  Auskunft 
geben  zu  können""  (1,21).  Da  Bischof  Dupanloup  zu 
den  rührigsten  und  einflußreichsten  Gegnern  der  Infalli- 
bilität  gehört  hat,  bedeutet  die  von  Hohenlohe  ihm  zu- 
gewiesene Rolle  den  Vorwurf  schwerster  religiöser  und 
sittlicher  Verirrung.  Wir  sind  nicht  in  der  Lage  nach- 
zuprüfen, welche  Unterlagen  der  römische  Kardinal  ge- 
habt hat,  als  er  seinem  Bruder  diese  Mitteilungen  machte. 


574  Carl  Mirbt» 

IV. 
Ein  großer  Teil  der  gegen  das  Vatikanische  Konzil  er- 
hobenen Vorwürfe  läßt  sich  au!  das  Urteil  zurückführen, 
daß  es  nicht  die  Freiheit  besessen  hat,  deren  uneinge- 
schränkter Besitz  die  Voraussetzung  des  Wertes  seiner 
Beschlüsse  ist.  Da  keine  weltliche  Macht  auch  nur  den 
Versuch  gemacht  hat,  diese  Freiheit  zu  verkürzen,  ent- 
hält dieses  Urteil  eine  Anklage  gegen  die  Leitung  des 
Konzils,  d.  h.  gegen  den  Papst,  auf  dessen  Anordnung 
alles,  was  geschehen,  erfolgt  ist.  Nachdem  die  Beschlüsse 
des  Konzils  zu  tatsächlicher  Anerkennung  gelangt  und 
geltendes  Recht  geworden  sind,  hat  die  Einrede,  daß  sie 
durch  die  Anwendung  von  Mitteln  zustande  gekommen 
sind,  durch  die  die  Rechtsgültigkeit  und  Verbindlichkeit 
dieser  Beschlüsse  in  Frage  gestellt  wird,  praktisch  aller- 
dings keine  Bedeutung  mehr.  Dieser  aktuelle  Gesichts- 
punkt konnte  wohl  für  die  bis  Mitte  der  siebziger  Jahre 
angestellten  Erörterungen  von  Wichtigkeit  sein,  aber  die 
Einfügung  der  Vatikanischen  Dekrete  in  das  Kirchen- 
recht und  deren  Anerkennung  bzw.  Nichtbestreitung  von 
Seiten  der  weltlichen  Regierungen  hat  den  Gedanken, 
daß  auf  diesem  Wege  die  tatsächliche  Bedeutung  des 
Konzils  irgendwie  abgeändert  werden  könnte,  ausgeschie- 
den. Trotzdem  aber  behält  die  ganze  Frage  noch  große 
Wichtigkeit,  schon  im  Blick  auf  ein  etwa  in  der  Zukunft 
stattfindendes  ökumenisches  Konzil.  Die  römisch-katho- 
lische Kirche  findet  allerdings  gegebenenfalls  sehr  wohl 
den  Mut,  sich  von  ihrer  eigenen  Vergangenheit  loszu- 
lösen und  die  Fesseln  lästig  gewordener  Traditionen  ab- 
zustreifen. Diese  Sicherheit  betätigte  sie  auch  in  der 
ganzen  Behandlung  des  Vatikanischen  Konzils,  das  man 
nur  mit  dem  tridentinischen  und  dem  von  Konstanz  zu 
vergleichen  braucht,  um  von  den  praktischen  Wirkungen 
der  in  der  Zwischenzeit  fortgeschrittenen  Romanisierung 
der  Kirche  einen  starken  Eindruck  zu  erhalten.  Aber 
es  wird  später  für  sie  eine  wesentliche  Erleichterung  sein, 
wenn  sie  ihre  Maßnahmen  auf  der  Basis  der  in  Rom  1869 
und  1870  geübten  Praxis  zu  treffen  in  der  Lage  sein 
wird.    Aufregende  Erörterungen  über  die  Angemessen- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       575 

heit  dieses  Ausgangspunktes  würden  ihr  dann  schwer- 
lich willkommen  sein.  Derartigen  Eventualitäten  wird 
aber  vorgebeugt  —  und  die  römische  Kirche  vergißt  nie 
über  der  Gegenwart  die  Zukunft  — ,  wenn  den  alten 
Klagen  über  die  Unfreiheit  des  Konzils  der  Boden  völlig 
entzogen  wird.  Da  das  uns  hier  beschäftigende  Werk 
unter  den  Auspizien  der  Kurie  geschrieben  ist,  dürfen 
solche  Erwägungen  nicht  von  der  Hand  gewiesen  werden. 
Mir  ist  es  sogar  in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  daß  es 
zu  manchen  möglichen,  aber  noch  nicht  aufgeworfenen 
Fragen  Stellung  nimmt,  über  die  der  Leser  zunächst 
hinwegsieht.  Aber  es  bestand  auch,  abgesehen  von 
solchen  Zukunftsmöglichkeiten,  für  den  Vertrauensmann 
Leos  XIII.  die  Pflicht,  von  dem  Andenken  Pius'  IX.  den 
dunklen  Schatten  zu  entfernen,  den  jene  Beschuldigung 
ihm  anheftete.  Mit  großem  und  nie  ermüdendem  Eifer 
hat  Granderath  sich  dieser  Aufgabe  gewidmet,  und  das 
ganze  Werk  ist  von  dieser  wohlgemeinten  Apologetik 
durchzogen.  Daß  sein  Plaidoyer  auf  eine  Freisprechung 
des  Angeklagten  durch  den  Leser  abzielt,  ist  gewiß  nicht 
auffällig,  denn  der  Verfasser  hält  sich  damit  ganz  inner- 
halb des  Zwecks,  dem  die  Veröffentlichung  des  Buches 
dienen  soll;  aber  es  wäre  vielleicht  wirkungsvoller  ge- 
worden, wenn  er  davon  Abstand  genommen  hätte,  alles 
und  jedes  zu  beschönigen. 

Im  „Moniteur  universell  erschien  am  14.  Februar  ein 
damals  viel  beachteter  Artikel  (Granderath  II,  546  ff.),  der 
die  Frage  untersuchte,  warum  das  Konzil  noch  keinen 
Beschluß  zustande  gebracht  habe,  obwohl  es  bereits  fast 
zwei  Monate  zusammen  war,  und  nannte  als  einen  der 
Gründe,  daß  man  das  Konzil  vor  dem  Konzil  hatte  halten 
wollen.  Nach  einseitigen  Gesichtspunkten  ausgewählte 
Theologen  und  Kanonisten  hätten  Vorlagen  ausgearbeitet, 
denen  die  Bischöfe  nun  ohne  weiteres  rasch  zustimmen 
sollten,  was  sie  aber  nicht  vermöchten,  da  ihnen  die  Ar- 
beiten der  Kommissionoi  nicht  vor  dem  Konzil  zuge- 
schickt worden  waren,  damit  sie  die  zur  Verhandlung 
kommenden  Fragen  vorher  gründlich  studierten.  Die 
Formel:  „ Konzil  vor  dem  Konzil"  war  gut  gewählt,  denn 


576  Carl  Mirbt, 

eben  darin  wurzelten  die  Hauptbeschwerden  der  Mino- 
ritätsbischöfe, daß  die  Kurie  bereits  vor  dem  Zusammen- 
tritt des  Konzils  alle  wichtigeren  Entscheidungen  ge- 
troffen hatte.  Über  die  Notwendigkeit  von  umfassenden 
Vorbereitungen  für  eine  solche  Versammlung  braucht  kein 
Wort  verloren  zu  werden,  aber  sie  nahmen  hier  einen 
Umfang  an,  daß  viele  Synodalen  sich  in  ihren  Rechten 
beeinträchtigt  fühlten  und  die  Empfindung  hatten,  daß 
das  Konzil  von  dem  Papste  wesentlich  nur  als  eine  be- 
ratende Körperschaft  aufgefaßt  wurde.  Durch  die  Be- 
schlüsse der  Vatikanischen  Synode  ist  das  ökumenische 
Konzil  allerdings  dann  auf  dieses  Niveau  herabgedrückt 
worden,  aber  als  es  zusammentrat,  konnte  es  mit  Fug 
und  Recht  beanspruchen,  nicht  so  behandelt  zu  werden, 
wie  Papst  Pius  IX.  es  für  angemessen  erachtet  hat.  Durch 
die  Bildung  der  vorbereitenden  Kommissionen,  durch 
die  Auswahl  der  Konsultoren,  dadurch  daß  die  in  diesen 
Ausschüssen  ausgearbeiteten  Vorlagen  die  Arbeit  des 
Konzils  bestimmten,  durch  die  Ernennung  der  Leiter  des 
Konzils  und  aller  Beamten  usw.  war  aber  der  Tätigkeit 
des  Konzils  so  stark  präjudiziert,  daß  allein  schon  diese 
Vorgeschichte  dazu  genügt,  um  gegen  die  Kurie  den 
Vorwurf  zu  erheben,  die  Beschränkung  der  freien  Ent- 
schließung des  Konzils  planmäßig  vorbereitet  zu  haben. 
Das  Vatikanische  Konzil  sollte  die  gesamte  Christen- 
heit umfassen,  deshalb  ergingen  auch  an  die  Schisma- 
tiker Einladungen.  Einen  Erfolg  haben  sie  nicht  gehabt, 
und  die  Art  der  Abweisung  ist  zum  Teil  vielleicht  schärfer 
ausgefallen,  als  sie  erwartet  worden  war.  Die  Fiktion, 
daß  die  römische  Kirche  alle  Getauften  umfaßt  und  daher 
auch  die  von  ihr  getrennt  lebenden  nicht  vergessen  darf, 
war  aber  gewahrt  und  der  Zweck  der  Einladungen  also 
erreicht.  Ein  die  ganze  Christenheit  repräsentierendes 
Konzil  ist  es  unter  diesen  Umständen  jedoch  nicht  ge- 
wesen, sondern  es  war  nur  die  Synode  einer  einzelnen, 
allerdings  der  größten,  christlichen  Partikularkirche.  Es 
ist  nun  aber  von  erheblicher  Wfehtigkeit,  daß  auf  dieser 
Generalsynode  der  römischen  Kirche  auch  nicht  einmal 
alle  Länder,  die  sich  zu  ihr  halten,  gleichmäßig,  d.  h.  der 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.      577 

Zahl  der  Kirchenangehörigen  entsprechend,  vertreten  ge- 
wesen sind.  Darüber  ist  schon  auf  der  Synode  viel  ge- 
klagt worden,  und  der  zugrunde  liegende  Obelstand  ist 
noch  heute  vorhanden.  Es  war  in  der  Tat  ein  abnormer 
Zustand,  daß  einzelne  Länder,  vor  allem  Italien,  durch 
die  Zahl  ihrer  Bischöfe  einen  sehr  starken  Einfluß  aus- 
übten, während  andere  ebenso  große  oder  noch  größere 
Gebiete  infolge  der  geringen  Zahl  ihrer  Bistümer  zurück- 
standen. Wenn  etwa  je  eine  Million  Katholiken  durch 
einen  Bischof  vertreten  gewesen  wäre,  wie  damals  vor- 
geschlagen worden  ist,,  dann  wären  auf  Italien  24,  auf 
Deutschland  samt  den  deutschen  Gebieten  Österreichs  24, 
auf  Spanien  und  Portugal  20,  auf  Frankreich  35  ent- 
fallen (Granderath  I,  164).  Tatsächlich  aber  waren  z.  B. 
in  der  dritten  Sitzung  122  Bischöfe  Italiens  anwesend, 
während  alle  übrigen  Länder  Europas  zusammen  nur  175 
stellten.  Sehr  lehrreich  ist  auch,  daß  unter  den  außer- 
italienischen Ländern  Irland,  das  nicht  ganz  4  Millionen 
Katholiken  zählte,  16  Bischöfe  nach  dem  Konzil  ent- 
sandte, Österreich-Ungarn  aber  trotz  seiner  32  Millionen 
nur  18  und  Deutschland  trotz  seiner  17  Millionen  nur 
15  Bischöfe  (Granderath  II,  36  f.).  Diese  Mißverhältnisse 
sind  übrigens  keine  Eigentümlichkeit  des  Vatikanischen 
Konzils.  Das  Übergewicht  der  Italiener  macht  sich  auch 
in  der  Zusammensetzung  des  Kardinalkollegiums  und 
der  Kurie  in  hohem  Maße  geltend  und  drückt  der  römisch- 
katholischen Kirche  mehr  und  mehr  den  Charakter  einer 
italienischen  Institution  auf,  in  deren  Rahmen  die  anderen 
Völker  nur  in  recht  bescheidenem  Umfang  zur  Mit- 
wirkung an  den  Zentralinstanzen  zugelassen  werden. 
Daß  in  dieser  Bevorzugung  des  italienischen  Elements  ein 
Obelstand  vorliegt,  wird  übrigens  von  Granderath  direkt 
ausgesprochen,  aber  er  scheint  ihn  mit  Rücksicht  auf 
die  geschichtliche  Entwicklung  für  unabänderlich  zu 
halten,  als  ob  keine  neuen  Zirkumskriptionen  möglich 
wären.  Wir  möchten  bezweifeln,  daß  die  Kurie  in  abseh- 
barer Zeit  sich  für  die  Zusammenlegung  der  kleinen 
italienischen  Bistümer  interessieren  wird.  Auf  dem  Vati- 
kanischen   Konzil   besaß   sie    gerade   in    den    Inhabern 


578  Carl  Mirbt, 

dieser  kleinen  Episkopate,  die  in  Rom  von  dem  Papste 
unterhalten  wurden,  wie  in  den  Tituiarbischöfen  einen 
sicheren  Rückhalt.  Durch  die  Art  der  Zusammensetzung 
des  Konzils  war  ihr  eine  unbedingt  zuverlässige  Majorität 
von  vornherein  gesichert.  Daß  die  dieser  Majorität  an- 
gehörenden Synodalen  sich  sofort  als  Partei  konstituierten 
und  die  Macht  der  größeren  Zahl  voll  auszunutzen  keine 
Bedenken  trugen,  stellte  sie  gleich  anfangs  bei  der  Auf- 
stellung von  Kandidatenlisten  fUr  die  Wahlen  zu  den 
Kommissionen  heraus  und  hat  die  Aktionsfreiheit  der- 
jenigen Mitglieder,  die  zur  selbständigen  Prüfung  der  zur 
Verhandlung  gelangenden  Gegenstände  sich  verpflichtet 
fühlten  und  daher  ihre  eigenen  Wege  einschlugen,  stark 
beschränkt.  Es  war  ebensowenig  ein  Zufall,  daß  diese 
Gruppe  wesentlich  aus  Deutschen,  Österreichern,  Fran- 
zosen und  Amerikanern  gebildet  wurde.  Die  ständige 
Privilegierung  des  italienischen  Volkes  von  seiten  der 
Kurie  hat  demnach  auf  dem  Konzil  wesentlich  mit  dazu 
beigetragen,  die  Bedeutung  der  Bischöfe  anderer  Länder 
herabzudrücken. 

Das  Hauptmaterial  für  den  Vorwurf  der  Unfreiheit 
des  Konzils  hat  aber  seine  Geschäftsordnung  und  deren 
Handhabung  geliefert.  Durch  die  Konstitution  Multiplices 
inter  vom  27.  November  1869  war  sie  von  Pius  IX.  ohne 
jede  Mitwirkung  des  Konzils  erlassen  worden  und  den 
zu  dem  Konzil  nach  Rom  gekommenen  Prälaten  am 
2.  Dezember  zugegangen.  Das  fait  accompli  hat  offen- 
bar eine  geradezu  verblüffende  Wirkung  ausgeübt,  sonst 
wäre  es  kaum  denkbar,  daß  einzelne  der  darin  enthaltenen 
Bestimmungen  ohne  sofortigen  Protest  hingenommen 
wurden.  So  wurde  das  Recht  der  Synodalen,  Anträge 
zu  stellen,  mit  so  vielen  Klauseln  umgeben,  daß  es  im 
Belieben  des  Papstes  lag,  in  jedem  einzelnen  Fall  einen 
Antrag  von  der  Verhandlung  auszuschließen;  die  Befugnis, 
die  Arbeiten  der  Synode  zu  bestimmen,  sollte  das  Pri- 
vileg des  römischen  Bischofs  sein.  Allen  Mitgliedern  und 
Beamten  des  Konzils  wurde  ferner  die  Verpflichtung  auf- 
erlegt, über  alle  Vorgänge  auf  dem  Konzil,  über  seine 
Beschlüsse   und  alle  zur  Prüfung  vorgelegten  Entwürfe 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       579 

Stillschweigen  zu  beobachten  und  nichts  zu  veröffent- 
lichen. Die  eigentliche  Arbeit  des  Konzils  sollte  in  den 
Generalkongregationen  getan  werden,  während  die  öffent- 
lichen Sitzungen  dazu  bestimmt  waren,  die  Resultate  der 
vorangegangenen  Verhandlungen  auf  dem  Wege  der 
definitiven  Abstimmung  und  der  sich  unmittelbar  an- 
schließenden Proklamation  durch  den  Papst  zu  fixieren. 
Die  Gegenstände  für  die  Verhandlungen  in  den  General- 
kongregationen zu  bestimmen,  war  sein  Privileg,  die 
Vorlagen  selbst  sollten  einige  Tage  zuvor  den  Vätern 
zugestellt  werden,  und  wer  dazu  das  Wort  zu  ergreifen 
wünschte,  hatte  dies  spätestens  am  Tag  vor  der  Ver- 
handlung dem  Präsidenten  anzuzeigen.  Wenn  der  vor- 
gelegte Entwurf  nicht  die  Zustimmung  der  General- 
kongregation fand,  wanderte  er  zur  weiteren  Beratung 
an  eine  der  vier  ständigen  Kommissionen,  die  von  dem 
Konzil  zu  wählen  waren,  aber,  ebenso  wie  die  General- 
kongregationen, der  Leitung  vom  Papst  ernannter  Vor- 
sitzender unterstanden.  Unter  ihnen  wurde  die  weitaus 
wichtigste  die  Glaubenskommission,  sie  gewann  einen 
geradezu  dominierenden  Einfluß  (Granderath  II,  459). 
Der  Verlauf  des  Konzils  hat  gezeigt,  daß  diese  Geschäfts- 
ordnung, unter  der  Voraussetzung  entworfen,  daß  die 
Synodalen  nur  ausnahmsweise  in  eine  Kritik  der  Vor- 
lagen eintreten  würden,  mancherlei  Lücken  aufwies,  und, 
um  zum  Ziele  zu  führen,  einer  weiteren  Ausgestaltung 
bedurfte.  Schon  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  aber  hat 
sie  zum  Widerspruch  herausgefordert.  Dazu  gehörte  vor 
allem  die  darin  ausgesprochene  Schweigepflicht.  Daß 
sie  in  der  hier  auftretenden  allgemeinen  Form  ein  voll- 
ständiges Novum  in  der  Konzilsgeschichte  war,  konnte 
Pius  IX.  nicht  verborgen  bleiben,  aber  er  hat  sich  darüber 
hinweggesetzt,  da  diese  Isolierung  der  Synode  für  seine 
Zwecke  die  günstigsten  Aussichten  erweckte  und  zu- 
gleich die  Handhabe  bot,  alle  über  das  Konzil  ver- 
breiteten unbequemen  Nachrichten  als  Entstellungen,  als 
Lügen  usw.  zu  dementieren  (Friedrich  III,  54 ff.).  Die 
Konzilsleitung  überließ  es  ferner  nicht  etwa  den  ein- 
zelnen  Vätern,    diese    Verpflichtung    in    das    praktische 


580  Cari  Mirbt, 

Leben  nach  bester  Oberzeugung  umzusetzen,  sondern 
zog  daraus  bestimmte  Folgerungen.  Der  Verkehr  der 
von  einzelnen  Bischöfen  mitgebrachten  Theologen  wurde 
beschränkt,  der  gesamte  Postverkehr  wurde  ständig  kon- 
trolliert, Schriften  oder  Schriftstücke  über  das  Konzil  in 
Rom  drucken  zu  lassen,  war  auch  dann  untersagt,  wenn 
sie  nur  zur  Verteilung  unter  die  Mitglieder  bestimmt 
waren  (Granderath  11,  301,  390).  Doch  war  es  „nicht  ganz 
unmöglich  gemacht,  denn  man  konnte  auswärts  Schriften 
drucken  lassen  und  sie  dann  in  Rom  einführen''.  Das 
ist  auch  vielfach  geschehen.  Beispielsweise  von  Bischof 
Ketteier,  der  aber  das  Mißgeschick  erlebte,  daß  das 
Paket  mit  den  zur  Verteilung  bestimmten  Broschüren 
konfisziert  und  erst  auf  seine  sehr  energischen  Reklama- 
tionen hin  freigegeben  wurde  (III,  38  ff.).  Zu  den  Klagen 
über  diese  Zensur  macht  Granderath  die  weise  Bemerkung 
(II,  590  Anm.  3):  „Die  Bischöfe  mögen  also  schreiben, 
was  die  Zensur  passieren  kann ;  dann  ist  das  Gesetz  der 
Zensur  keine  Beschränkung  für  sie."  Daß  die  Verhand- 
lungen nicht  vorwärts  kamen  und  einen  überaus  schlep- 
penden Eindruck  machten,  war  in  erster  Linie  die  Folge  der 
Geschäftsordnung,  die  nur  die  Form  der  Plenarsitzungen 
und  nicht  die  Bildung  von  Kommissionen  zur  gründlichen 
Durchberatung  der  den  Vätern  unterbreiteten  Materien 
kannte;  jene  päpstlichen  Kommissionen  und  die  perma- 
nenten des  Konzils  hatten  andere  Aufgaben.  Umsonst 
machte  Kardinal  Schwarzenberg  den  Vorschlag,  kleine 
Ausschüsse  zu  wählen,  um  durch  eingehende  Diskus- 
sionen über  die  vorhandenen  Gegensätze  die  sachliche 
Auseinandersetzung  zu  fördern.  Aber  obwohl  diese  An- 
regung auch  von  anderen  Bischöfen  aufgenommen  wurde 
(Granderath  111,  197,  273,  404),  ist  ihr  keine  Folge  ge- 
geben worden.  Mehrfach  ist  von  Konzilsvätern  auch 
darüber  Klage  geführt  worden,  daß  ihnen  nicht  alle 
Gegenstände,  die  zur  Verhandlung  kommen  sollten,  von 
Anfang  an  vorgelegt  wurden.  Diese  Forderung  war 
wohlbegründet,  wurde  aber  nicht  erfüllt.  Denn  nach 
Granderath  (II,  184)  war  zu  befürchten,  daß  sie  rasch 
den  Weg  in  die  Öffentlichkeit  fänden  und  dann  würden 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       581 

„die  Journalisten  schon  vor  dem  Vatikanischen  Konzil 
alle  Gegenstände  desselben  entschieden  und  im  christ- 
lichen Volk  die  heilloseste  Verwirrung  angerichtet  haben." 
Aber  nicht  um  die  Zugänglichmachung  der  Schemata 
vor  dem  Konzil  handelte  es  sich  hier,  sondern  um  deren 
iMitteilung  an  die  in  Rom  zur  Synode  versammelten  Väter, 
und  auf  welches  Niveau  drückt  Granderath  das  vom 
Heiligen  Geist  inspirierte  Konzil  herab,  wenn  er  es  von 
„Journalisten"  abhängig  sein  läßtl 

Durch  ein  päpstliches  Dekret  vom  20.  Februar  1870 
erfuhr  die  in  jener  Konstitution  MultipUces  erlassene 
Geschäftsordnung  eine  nicht  unbeträchtliche  Umgestal- 
tung, und  zwar  in  der  Richtung,  daß  die  Freiheit  des 
einzelnen  Synodalen  noch  weiter  eingeschränkt  wurde. 
Diese  Absicht  tritt  hervor:  in  den  Vorschriften  über 
die  kritischen  Ausstellungen  (animadversiones)  an  einem 
Schema,  ferner  in  der  Bestimmung,  daß  fortan  Anträge 
auf  Schluß  der  Debatte  zulässig  sein  sollten  und  der 
Majorität  die  Entscheidung  darüber  zugewiesen  wurde, 
endlich  in  der  den  Präsidenten  erteilten  Befugnis,  Redner 
zur  Sache  zu  rufen.  Außerdem  wurde  der  Abstimmungs- 
modus dahin  abgeändert,  daß  für  die  Annahme  einer 
Vorlage  Stimmenmehrheit  genügen  und  neben  der  Ab- 
stimmung mit  Ja  oder  Nein  auch  die  Abgabe  eines 
bedingten  Ja  zulässig  sein  sollte.  Jede  dieser  Abände- 
rungen ist  Gegenstand  von  Beschwerden  geworden. 
Wir  greifen  nur  die  Wirkungen  der  neuen  Rechte  des 
Präsidiums  auf  die  Redefreiheit  der  Synodalen  heraus. 
Schon  unter  der  Herrschaft  der  ersten  Geschäftsordnung 
war  es  zu  Konflikten  zwischen  den  Vorsitzenden  und 
einzelnen  Rednern  gekommen.  Als  Bischof  Stroßmayer 
von  Diakovär  in  der  fünften  Generalkongregation  zum 
ersten  Male  das  Wort  ergriff,  um  die  Aufschrift  der 
Konstitution  De  fide  catholica:  „Pius,  Bischof,  Knecht 
der  Knechte  Gottes,  mit  Zustimmung  des  ganzen  Kon- 
zils" zu  kritisieren,  wurde  er  unterbrochen,  und  Kardinal 
Capalti  erklärte  ihm,  daß  der  beanstandete  Titel,  weil 
durch  den  Papst  festgestellt,  nicht  in  die  Diskussion  ge- 
zogen werden  dürfe.     „Er  ist,"  sagte  er,  „heilig  (sacerj. 


582  Carl  Mirbt, 

weil  er  schon  vom  Papste  angeordnet  ist''  (Granderath 
II,  92  ff.).  In  der  Spezialdebatte  über  dasselbe  Schema 
ist  dann  zwischen  eben  diesem  Redner  und  dem  Präsi- 
denten der  berühmte  Zusammenstoß  erfolgt,  dessen  dra- 
matische Einzelheiten  in  dem  jetzt  veröffentlichten  steno- 
graphischen Bericht  (Granderath  II,  395  ff.)  scharf  hervor- 
treten. In  dieser  Versammlung  der  Verunglimpfung  der 
Protestanten  entgegenzutreten,  war  freilich  eine  Ver- 
wegenheit, aber  Stroßmayer  war  der  Situation  gewachsen. 
Wie  die  Vorsitzenden  ihn  unterbrachen  und  zurecht- 
wiesen, wie  ein  Sturm  der  Entrüstung  losbrach  und  die 
Väter  ihn  von  der  Tribüne  herunterschrien,  diesen  ^Luzi- 
fer",  diesen  „zweiten  Luther",  das  muß  man  nachlesen. 
Die  Szene  ist  lehrreich  in  vielen  Beziehungen.  Erz- 
bischof Haynald  mußte  nach  seiner  energischen  Forde- 
rung einer  Verbesserung  des  Breviers  von  dem  Präsi- 
denten Capalti  sich  abkanzeln  lassen:  „Mehr  Worte  sind 
ganz  überflüssig  und  dem  Konzil  sehr  lästig.  Machen 
Sie  Ihrer  schon  ausreichend  langen  Rede  ein  Ende  und 
überlassen  Sie  den  Platz  einem  anderen  Redner.  Weitere 
Worte  dienen  zu  nichts  als  zur  Erregung  von  Überdruß. 
Also,  es  sei  genug"  (II,  222).  Einem  andern  Bischof,  der 
in  derselben  Verhandlung  auf  „weniger  geeignete  Aus- 
führungen der  Kirchenväter,  die  sich  im  Brevier  fän- 
den", hinwies,  wurde  die  Zurechtweisung  zuteil,  daß  er 
„ehrfurchtsvoller  über  die  Kirchenväter  zu  sprechen"  habe 
(II,  193).  Die  Zensuren  mehrten  sich  in  den  Debatten 
über  die  Infallibilität.  Bischof  V^rot  von  St.  Augustine, 
der  erklärte,  er  würde  ein  Sakrileg  begehen,  wenn  er 
dieser  Lehre  zustimme,  mußte  sich  von  Capalti  sagen 
lassen,  daß  es  für  ihn  keinen  Zweck  habe,  noch  weiter 
auf  der  Rednertribüne  zu  bleiben,  wenn  er  nichts  weiter 
beizufügen  habe,  „als  solche  unpassenden  Redensarten*" 
(III,  187).  Als  derselbe  Bischof  in  der  Spezialdebatte  über 
die  Einleitung  der  Infallibilitätsvorlage  die  zutreffende  Be- 
merkung machte,  daß  die  Vorrechte  des  Papstes  in  dem 
Schema  nicht  nach  dem  alten  Glauben  der  Kirche,  sondern 
nach  der  Auffassung  der  „Ultramontanen"  auseinander- 
gesetzt seien,  durfte  er  nicht  weiter  reden,  weil  dies  nicht 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       583 

hierher  gehöre  (III,  296).  Als  Vdrot  in  der  Spezialdebatte 
über  das  dritte  Kapitel  diese  Anschauungen  aufs  neue  vor- 
trug, war  es  schlechterdings  nicht  möglich,  ihm  aus  dem- 
selben Grunde  das  Wort  zu  entziehen,  jetzt  war  es  der 
Inhalt  seiner  Rede,  der  die  Handhabe  lieferte.  Er  ging 
davon  aus,  daß  es  in  der  katholischen  Kirche  eine  doppelte 
Schule,  eine  ultramontane  und  eine  gallikanische,  oder 
eine  Schule  Bellarmins  und  Bossuets  gebe,  die  erstere 
rede  von  einer  grenzenlosen  Gewalt  des  Papstes,  die 
zweite  erkenne  an,  daß  ihr  gewisse  Grenzen  gezogen 
seien.  Darauf  polemisierte  er  gegen  den  extremen  Ku- 
rialismus  der  ersteren  Richtung  und  formulierte  schließ- 
lich seine  eigene  Auffassung  in  der  scharf  pointierten 
These :  Si  quis  dixerit,  tarn  plenam  esse  romani  pontificis 
auctoritatem  in  ecclesia,  ut  omnia  pro  natu  suo  disponere 
valeat,  anathema  siL  Da  rief  ihm  Capalti  zu:  „Wir  sind 
nicht  in  einem  Theater,  um  Possen  anzuhören,  sondern 
in  der  Kirche  des  lebendigen  Gottes,  um  über  wichtige 
kirchliche  Angelegenheiten  zu  verhandeln;  bei  diesen 
Verhandlungen  darf  nichts  gesagt  werden,  was  unziem- 
lich oder  abgeschmackt  oder  irrig  (I)  ist"  (III,  31 5  f.).  Das 
waren  etwas  starke  Worte.  Aber  auch  aus  ihnen  ist 
etwas  zu  lernen,  die  Wahrheit  nämlich,  daß  die  Lehre 
von  dem  schrankenlosen  Papalismus  eine  Posse  ist. 
Granderath  findet  diese  und  ähnliche  Eingriffe  des  Präsi- 
denten stets  in  der  Ordnung  und  scheint  sich  die  Frage 
gar  nicht  vorgelegt  zu  haben,  ob  diese  Unterbrechungen 
des  Redners  von  dessen  Parteistellung  ganz  unabhängig 
waren.  Als  der  Patriarch  Valerga  eine  sehr  eingehende 
Vergleichung  des  Gallikanismus  mit  der  alten  Ketzerei 
des  Monotheletismus  vortrug  (III,  278),  die  begreiflicher- 
weise unter  den  französischen  Bischöfen  großen  Un- 
willen hervorrief  und  weitere  Auseinandersetzungen  zur 
Folge  hatte  (377  ff.),  trat  die  Klingel  des  Präsidenten  nicht 
in  Tätigkeit.  Nach  Granderath  hatte  Valerga  allerdings 
seinen  Gegenstand  „in  äußerst  zarter  Weise"  behandelt 
und  „geistreich"  gesprochen.  Die  gesamte  Bericht- 
erstattung über  die  Konzilsverhandlungen  ist  von  den 
Sympathien    und  Antipathien   des  Autors   durchleuchtet, 


;»t  Cafi 

cer  =:  j*ryygr  GmiKle  jede  cmdriiigende  und  ernsthafte 
K'rrfk  2n  i«::  dern  Koczzl  gemachten  Vorlagen  für  etwas 
UnKznhzfres  azssah.  Wir  lesen  bd  ihm  folgende  Sätze: 
«H2r:d«h  es  si<ii  am  ein  Schema,  das  eine  so  überaus 
groie  Meri^  toc  Gegenständen  umfaifit  wie  das  vorge- 
legte ^d£  docaimA  catkdicaj  und  würden  die  Väter  er- 
Uiren.  es  als  ganz  unbrauchbar  begraben  zu  müssen 
und  gar  nichts  Gutes  darin  zu  finden ,  was  der  An- 
r^ahme  würdig  wäre,  so  könnte  (fieses  ihr  Vorgehen 
kauni  in  der  Mangelhaftigkeit  des  Schemas  seine  volle 
Erklärung  finden:  es  würde  vielmehr  auf  ein  nicht  nor- 
males Verfaähnis  des  Konzils  zum  Papste  hindeuten' 
I II.  12  h-  Bald  darauf,  bei  Begründung  der  Notwendigheit 
der  zweiten  Geschäftsordnung,  wird  er  noch  deutlicher: 
.Zwei  und  einen  halben  Monat  hatte  das  Konzil  schon 
getagt,  und  noch  lag  kein  Ergebnis  vor ...  So  etwas 
hatte  man  nicht  erwartet  Die  Schemata  waren  von  den 
bedeutendsten  Krähen,  über  die  man  in  Rom  und  in  der 
ganzen  Kirche  verfügte,  zum  voraus  mit  großem  Fleiße 
ausgearbeitet  worden.  Freilich  sollten  sie  der  freiesten 
Prüfung  unterworfen  werden.  Aber  man  erwartete  doch, 
daß  dieselben  allgemein  von  den  Vätern  zunächst  mit 
Wohlwollen  und  dann  auch  in  den  wesentlichen  Punkten 
mit  Beifall  aufgenommen  würden.""  Den  Synodalen  aber 
fehlte  es  an  dem  ^wahren  Wohlwollen**  gegenüber  den 
Entwürfen,  sie  waren  auch  nicht  „von  dem  Verlangen 
beseelt,  die  Beratungen  nach  Möglichkeit  zu  fördern, 
sondern  zum  Teil  mißgestimmt  und  zu  Obstruktion  ge- 
neigt" (II,  224  f.).  In  der  Annahme  einer  Mißstimmung 
bei  zahlreichen  Vätern  hat  Granderath  sicher  Recht,  nur 
unterläßt  er  es,  deren  Ursachen  zu  erforschen.  Wenn 
er  aber  von  den  Konzipienten  der  Entwürfe  als  von  den 
„bedeutendsten  Kräften"  der  Kirche  redet,  so  übt  er  an 
dem  unrechten  Ort  Bescheidenheit.  Es  wäre  nicht  zu 
verantworten,  wenn  wir  ihm  folgen  und  die  Höhenlage 
der  römischen  Theologie  und  der  geistigen  Fähigkeit 
der  römischen  Kirche  zur  Zeit  des  Konzils  nach  den 
hier  vorgelegten  Entwürfen  bemessen  wollten;  vor  diesem 
Irrtum  bewahrt  uns  schon  die  auf  eben  diesem  Konzil  ent- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       585 

faltete  wissenschaftliche  Kraft.  Allerdings  war  sie  vor- 
wiegend auf  der  Seite  der  Kritiker  zu  finden.  Die  Auf- 
deckung der  Unvollkommenheiten  der  Schemata  war  keine 
Rabulistik  und  keine  Streitsucht,  sondern  die  Betätigung 
der  den  Mitgliedern  des  Konzils  obliegenden  Pflicht,  nur 
Dekrete  ausgehen  zu  lassen,  für  die  sie  die  Verantwortung 
tragen  konnten.  —  Noch  auf  ein  weiteres  Wort  Grande- 
raths  sei  hingewiesen.  Daß  Pius  IX.  Ende  April  verfügte, 
die  Verhandlung  Über  die  Infallibilität  unter  Zurückstel- 
lung aller  anderen  Materien  sofort  zu  beginnen,  war  ein 
so  starker  Eingriff  in  die  Arbeit  des  Konzils,  daß  die 
Redner,  welche  die  Zweckmäßigkeit  dieser  Maßregel 
bezweifelten,  dies  begreiflicherweise  auch  aussprachen. 
Dazu  macht  unser  Geschichtschreiber  die  seltsame  Be- 
merkung: „Man  konnte  daran  zweifeln,  ob  es  überhaupt 
noch  erlaubt  war  (I),  über  die  Ordnung  der  Gegenstände 
zu  debattieren,  nachdem  dieselbe  einmal  durch  das  Haupt 
des  Konzils  festgestellt  worden  war^  (III,  148  f.).  In 
solchen  Redewendungen  bekundet  sich  eine  Auffassung 
des  Verhältnisses  von  Konzil  und  Papst,  bei  der  dem 
Konzil  eine  so  untergeordnete  Stellung  zufiel,  daß  es 
kaum  noch  die  Bezeichnung  einer  selbständigen  Körper- 
schaft verdiente.  Das  hat  freilich  den  gewandten  Jesuiten 
nicht  gehindert,  andererseits  über  die  oben  erwähnte 
Audienz  von  Führern  der  Minderheitspartei  bei  Pius  IX. 
das  Urteil  zu  fällen:  „Es  war  in  der  Tat  sonderbar  ge- 
nug, daß  die  Minorität  überhaupt  auch  nur  eine  Inter- 
vention des  Papstes  zu  beanspruchen  sich  erlaubte" 
(III,  481).  Worin  bestand  denn  ihr  Übergriff  in  die  Rechte 
des  Konzils?  Hat  etwa  der  Papst  sonst  nicht  in  die 
Verhandlungen  eingegriffen?  Und  wenn  sich  die  Mino- 
rität durch  ihre  Bitte  von  ihren  bisherigen  Grundsätzen 
losgesagt  hätte,  was  zu  bestreiten  ist,  so  würde  dies  von 
seinem  Standpunkt  aus  ja  nur  zu  billigen  gewesen  sein. 
Die  Konzilsgeschichte  zeigt  viel  größere  Schwierigkeiten, 
die  der  Aufklärung  bedurften,  als  der  hier  konstruierte 
Widerspruch.  Wann  haben  denn  z.  B.  die  Väter  die  De- 
finition der  Beschlüsse  des  Konzils  durch  ihre  Unter- 
zeichnung vollzogen,  die  namens  der  Glaubensdeputation 

HUtoriscbe  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  S.  Bd.  38 


586  Carl  Mirbt, 

Erzbischof  Simon  von  Gran  am  26.  März  durch  die  Er- 
klärung: „i///  qui  ad  finem  concilii  supervicturi  ex  nobis 
sunt,  subscribent  actis  concilii:  Ego  deflnlens  subscrlpsi^' 
(Coli.  Lac.  VII,  94 d)  angekündigt  hatte?  Die  Definition 
ist  vielmehr  erfolgt  nicht  durch  die  Väter,  sondern  nur 
durch  den  Papst  (Granderath  11,  406  vgl.  471).  —  Als 
eine  besonders  schwere  Vergewaltigung  ist  es  empfunden 
worden,  daß  durch  Mehrheitsbeschluß  am  3.  Juni  die 
Generaldebatte  über  die  Infallibilität  geschlossen  wurde. 
Dagegen  reichten  81  Väter  der  Minorität  einen  schrift- 
lichen Protest  ein,  weil  dadurch  das  Recht  jedes  Syno- 
dalen, die  Gründe  seiner  Abstimmung  anzugeben,  ver- 
letzt worden  war.  Gegen  diese  Motivierung  war  schwer 
etwas  einzuwenden,  da  die  naheliegende  Analogie  der 
Praxis  moderner  Parlamente  hier  nicht  anwendbar  ist. 
Aber  die  Zurückweisung  des  Protestes  erfolgte  trotzdem 
und  konnte  erfolgen,  da  die  Präsidenten  nur  die  ihnen 
in  der  zweiten  Geschäftsordnung  vom  20.  Februar  erteilte 
Vollmacht  ausgeübt  hatten.  Allerdings  waren  gegen 
eben  diese  Geschäftsordnung  sofort  nach  ihrer  Publi- 
kation verschiedene  Proteste  eingereicht  worden,  aber 
sie  war  in  Kraft  getreten  und  auch  tatsächlich  von  allen 
Synodalen  anerkannt  worden. 

Die  das  Konzil  beherrschende  ultramontane  Partei 
hat  auf  die  ihr  widerstrebenden  Elemente  noch  durch 
andere  Mittel  einzuwirken  gesucht.  Erzbischof  Darboy 
von  Paris  beklagte  sich  bitter  über  diese  Treibereien  in 
seiner  Rede  vom  20.  Mai.  „Die  Agitation  (zugunsten 
der  Unfehlbarkeit)  wurde  durch  demagogische  Künste 
so  weit  betrieben,  daß  viele  Väter  des  Konzils  im  Ge- 
wissen beängstigt  und  mit  der  Furcht  erfüllt  wurden, 
sie  könnten  in  ihre  Diözesen  nicht  zurückkehren  und 
dieselben  nicht  ohne  die  größten  Schwierigkeiten  leiten, 
wenn  sie  Widerstand  gegen  die  Definition  leisteten.  So 
ist  es  geschehen,  daß  diese  Väter,  obgleich  gewissenhaft 
ihrer  Pflicht  folgend,  dem  heftigen  Drängen  von  außen 
her  und  der  künstlich  gemachten  Meinung  zu  weit  nach- 
gaben und  die  Frage  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  dem 
Konzil  vorzulegen  beantragten.     Durch  den  sozusagen 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       587 

vor  den  Toren  des  Konzils  erhobenen  Lärm  ist  unsere 
Freiheit  und  unsere  Würde  einigermaßen  beeinträchtigt 
worden,  was  sehr  beklagt  werden  muß"  (Bericht  Grande- 
raths  III,  234).  In  Frankreich  hatte  die  Verhetzung  und 
Aufwiegelung  der  Diözesanen  gegen  ihre  nichtinfalli- 
bilistischen  Bischöfe  zum  Teil  recht  bedenkliche  Formen 
angenommen,  vor  allem  in  den  Diözesen  Marseille  und 
St.  Brieuc  (III,  281).  Auch  Kardinal  Schwarzenberg 
führte  Klage  über  diese  Bedrohung  der  Freiheit  der 
Rede.  „In  öffentlichen  Blättern  und  Zeitungen  haben 
Männer,  die  gar  nicht  zur  bischöflichen  Hierarchie  ge- 
hören, im  Gegenteil  hauptsächlich  Laien  sind,  nicht 
wenige  ehrwürdige  Bischöfe  dieses  Konzils,  deren  An- 
sicht von  der  ihrigen  abweicht,  des  Liberalismus  anzu-^ 
klagen  und  den  Feinden  der  Kirche  beizuzählen  gewagt; 
ja  sie  sind  in  ihrer  Anmaßung  so  weit  gegangen,  die- 
selben mit  den  Häretikern  und  den  Anhängern  des 
Staatsdespotismus  und  den  Bekrittlern  des  Heiligen  Stuhles 
in  Vergleich  zu  stellen''  (III,  279).  Nun  ist  freilich  nicht  zu 
bestreiten,  daß  auch  von  der  Gegenseite  mit  großer 
Schärfe  gekämpft  worden  ist,  und  es  wird  schwer  zu 
entscheiden  sein,  ob  überhaupt  zwischen  beiden  Parteien 
in  der  Art  ihres  Kampfes  eine  Abstufung  vorliegt.  Aber 
die  Wirkungen  dieser  publizistischen  Kämpfe  über  die 
Infallibilität  waren  für  die  Gegner  der  Definition  andere 
als  für  deren  Freunde.  Denn  die  letzteren  waren  in 
der  Majorität,  und  der  Papst  wie  die  Leiter  des  Konzils 
standen  auf  ihrer  Seite,  für  sie  bestand  mithin  nicht  die 
Gefahr  einer  Einschüchterung.  Die  Definitionsgegner 
dagegen,  die  nur  in  der  Verneinung  der  Opportunität 
des  Dogmas  unter  sich  einig  waren,  deren  Rechtgläubig- 
keit planmäßig  verdächtigt  wurde,  die  infolge  der  Un- 
klarheit und  Schwäche  ihrer  Positionen  zu  keiner  großen 
Aktion  sich  aufraffen  konnten,  wurden  durch  diese  Ein- 
wirkungen von  außen  in  der  Tat  sehr  stark  beeinflußt. 
Die  ultramantane  Presse  war  damals  längst  eine  Groß- 
macht und  gegen  den  von  ihr  ausgeübten  Terrorismus 
hatten  sich  schon  20  Jahre  zuvor  die  französischen  Bischöfe 
vergeblich  zu  wehren  versucht. 

38* 


588  Carl  Mirbt, 

Eine  interessante  und  viel  diskutierte  Episode  in  der 
Geschichte  des  Konzils  bilden  die  Kämpfe  zwischen  der 
Kurie  und  den  unierten  orientalischen  Kirchen,  die  durch 
die  handelnden  Personen  in  eigentümlicher  Weise  mit 
den  Streitigkeiten  um  die  Unfehlbarkeit  sich  verquickten. 
Da  die  hier  in  Frage  kommenden  Vorgänge  als  Beweis 
dafür  verwertet  worden  sind,  daß  Pius  IX.  selbst  vor  der 
Anwendung  von  Gewaltmaßregeln  nicht  zurückschreckte^ 
um  die  Definitionsgegner  einzuschüchtern,  hat  Grande- 
rath  ihnen  eine  längere  Erörterung  gewidmet  (III,  325  bis 
360),  durch  die  der  Papst  entlastet  werden  soll.  Die 
Beachtung  dieses  Kapitels  empfehlen  wir  dringend,  da 
schon  die  Art,  wie  damals  gegen  die  widerspenstigen 
Orientalen  vorgegangen  wurde,  einen  wertvollen  Einblick 
in  die  römische  Unionspolitik  gewährt,  auch  in  die  Mittel^ 
die  sie  zur  Aufrechterhaltung  der  Disziplin  für  zulässig 
erachtet.  Wir  greifen  nur  einen  Punkt  hier  heraus.  Für 
die  Konzilsgeschichte  ist  es  von  besonderer  Bedeutung^ 
ob  das  Vorgehen  des  Papstes  gegen  den  chaldäischen 
Patriarchen  Audu  mit  dessen  Auftreten  in  dem  Konzil 
in  Zusammenhang  gestanden  hat.  Granderath  bestreitet 
es,  aber  in  einer  wenig  befriedigenden  Weise.  Mit  anderen 
orientalischen  Bischöfen  hatte  Audu  am  18.  Januar  eine 
Adresse  gegen  die  Unfehlbarkeit  unterzeichnet  —  am 
13.  Juli  gehörte  er  zu  den  mit  Non  placet  Stimmenden 
—  und  am  25.  Januar  in  der  Generalkongregation  eine 
Rede  gehalten,  um  deren  willen  Pius  IX.  ihn  zitierte  und 
überaus  scharf  angelassen  haben  soll.  Was  zunächst 
die  inkriminierte  Rede  betrifft,  so  teilt  Granderath  sie 
nicht  wörtlich  mit,  sondern  nur  „ihren  Inhalt  nach  den 
Akten",  und  er  verlangt  etwas  viel,  wenn  er  hinzufügt: 
„dies  wird  der  beste  Beweis  sein,  daß  der  Papst  nicht 
ihretwegen  den  Patriarchen  getadelt  hat".  Denn  wenn 
nach  eben  diesem  Bericht  Audu  gesagt  hat:  „Es  sei  die 
Bitte  an  den  Papst  und  das  Konzil  (1)  zu  richten,  daß 
den  chaldäischen  Bischöfen  Zeit  und  Ort  bestimmt  werde, 
um  aus  den  Disziplinarvorschriften  des  Konzils  die  für 
sie  passenden  auszuwählen  und  so  aus  diesen  und  ihren 
alten  Gesetzen  ein  neues  kanonisches  Recht  zusammen- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       589 

zustellen,  das  sie  der  Prüfung  der  Väter  (1)  unterwerfen 
müßten,  um  deren  Billigung  zu  erhalten''  (III,  334),  so 
ist  die  Notiz  Friedrichs  (Geschichte  d.  Vat.  Konzils  III, 
508),  daß  er  in  seiner  Rede  im  Grunde  von  Pius  IX.  an 
das  Konzil  appelliert  habe,  durchaus  bestätigt.  Es  bedarf 
keines  Wortes,  daß  eine  solche  Rede  zumal  bei  dem 
aus  anderen  Ursachen  bereits  gespannten  Verhältnis  zum 
Papst,  und  bei  dessen  eigenartiger  Auffassung  vom  Wesen 
eines  Konzils,  Pius  IX.  wie  eine  Auflehnung  erscheinen 
konnte.  Daß  es  zwischen  beiden  Männern  zu  einer  er- 
regten Aussprache  gekommen  ist,  wird  nicht  nur  durch 
Friedrich,  sondern  auch  durch  Ollivier  berichtet,  die  Aus- 
sprache selbst  darf  also  als  gesichert  gelten.  Granderath 
will  nun  aber  nicht  zugeben,  daß  bei  dieser  Gelegenheit 
von  der  Konzilsrede  Audus  die  Rede  gewesen  ist  und  weist 
darauf  hin,  daß  auch  andere  Differenzpunkte  bestanden. 
Daß  dies  keine  Widerlegung  ist,  braucht  nicht  erst  aus- 
geführt zu  werden.  Denn  offenbar  lagen  gerade  in  der 
Komplikation  dieser  aus  der  römischen  Unionspolitik 
hervorgegangenen  Schwierigkeiten  mit  dem  Eindruck 
seiner  Rede  die  Ursachen  für  die  erregten  Äußerungen, 
zu  denen  sich  Pius  IX.  fortreißen  ließ.  Auch  Granderath 
scheint  von  dieser  Erregung  angesteckt  zu  sein,  denn  er 
spricht  von  einem  „Lügengewebe**  des  Berichterstatters 
Döllingers,  das  dann  Friedrich  mit  Freuden  aufgegriffen 
habe.  Als  Historiker,  dessen  Aufgabe  es  ist.  Sicheres, 
Wahrscheinliches  und  Mögliches  zu  unterscheiden,  durfte 
er  nur  sagen,  daß  ihm  die  gegnerische  Darstellung  un- 
wahrscheinlich sei;  aber  er  schreibt:  „Von  Andus  Rede 
ist  in  der  Audienz  gar  kein  Wort  gefallen '^  und  begründet 
dies  durch  den  folgenden  Satz:  „Das  „Regensburger 
Morgenblatt",  das  in  der  Regel  gut  bedient  war,  schrieb 
sofort,  daß  die  Audienz  Andus  gar  keine  Beziehung  zu 
seiner  Rede  gehabt  habe."  Dem  „Regensburger  Morgen- 
blatt" wollen  wir  gewiß  nicht  zu  nahe  treten  und  ihm 
alle  Hochachtung  entgegenbringen ,  die  unbekannten 
Größen  zusteht,  aber  es  ist  doch  eine  etwas  starke  Zu- 
mutung, wenn  der  Rekurs  auf  eine  solche  Instanz  in 
einer   wissenschaftlichen    Erörterung   den  zu  führenden 


590  Carl  Mirbt, 

Beweis  ersetzen  soll.  Auch  wenn  der  betreffende  Artikel, 
der  übrigens  nicht  mitgeteilt  wird  —  auch  eine  Angabe 
über  die  Nummer  oder  den  Tag  seines  Erscheinens  fehlt 
—  von  Bischof  Seneströy  herrühren  sollte,  würde  er 
doch  noch  nicht  ohne  weiteres  als  ein  authentisches 
Zeugnis  über  den  wirklichen  Hergang  der  Audienz  an- 
zusehen sein,  denn  Senestr^y  war  ein  ausgesprochener 
Parteimann. 

Ein  Anonymus  flüchtete  sich  mit  seinen  Beschwerden 
über  den  Mangel  an  Freiheit  auf  dem  Konzil  in  die 
Öffentlichkeit  und  schrieb  in  seinem,  im  Mai  in  der 
„Times*'  und  im  „Journal  des  Dibats*"  veröffentlichten 
Brief  (Granderath  II,  283 f.):  „Bei  unserer  Ankunft  war 
alles  ohne  uns  gemacht.  Alle  Maschen  des  Netzes  waren 
geknüpft,  und  die  Jesuiten  . . .  zweifelten  keinen  Augen- 
blick, daß  wir  darin  gefangen  würden. . .  Wir  haben  also 
ein  fertiges  Reglement,  d.  h.  Handschellen  gefunden. . . . 
Wir  haben  eine  vollständig  fertige  Majorität  gefunden, 
ganz  kompakt  an  Zahl  mehr  als  genügend,  vollkommen 
diszipliniert,  und  die  nach  Bedürfnis  Unterweisungen,  Be- 
fehle, Drohungen,  Gefängnis  und  Geld  erhalten  hat.  Das 
System  der  offiziellen  Kandidaturen  ist  um  100  Kilometer 
überholt.  Eine  Kommission  ...  ist  geschaffen  worden,  bei 
welcher  man  sich  beschweren  kann...  Aber  man  muß 
zu  ihrem  Lobe  sagen,  daß  sie  nicht  funktioniert,  weil 
sie  nie  antwortet  oder  nur  den  Mitgliedern  der  Majorität 
antwortet.  In  der  Wahl  der  anderen  Kommissionen  waren 
wir  frei,  d.  h.  die  fingierte  Majorität  durfte  sie  wählen  nach 
festgestellten  und  lithographierten  Listen.  Es  blieb  noch 
das  Wort.  Aber  unter  welchen  Bedingungen  ?  Verboten 
war,  ein  Wort  zu  erwidern,  zu  diskutieren,  aufzuklären. 
Wollte  man  reden,  so  mußte  man  sich  einschreiben 
lassen,  und  am  folgenden  Tage  oder  zwei  Tage  nach- 
her, wenn  alles  abgekühlt  war,  konnte  man  auftreten, 
um  die  Versammlung  durch  einen  Vortrag  zu  langweilen. 
Dann  war  es  verboten,  das  Thema,  welches  den  Schülern 
gegeben  war,  zu  verlassen  (ausgenommen  den  Herren 
von  der  Majorität),  und  wenn  man  versuchte,  über  Frei- 
heit, Dezentralisation,  Desitalianisation  zu  sprechen,  er- 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       591 

lebte  man  Tumultszenen. . .  Die  arme  kleine  Minorität  ist 
den  Beleidigungen  und  Verleumdungen  ausgesetzt  und 
gehetzt  von  der  „Civltlä",  dem  „L/niverSy**  dem  „Monde'' , 
der  „Union'' ^  dem  „Osservatore''  und  der  „Correspondance 
de  Rome''.  Diese  Journale  sind  autorisiert  und  ermutigt. 
Sie  wiegeln  gegen  uns  den  Klerus  unserer  Diözesen 
auf,  und  diesem  Klerus  wird  Beifall  gezollt.  —  Was  aber 
die  Unterdrückung  unserer  Freiheit  vollendet,  ist  dies: 
sie  wird  zermalmt  durch  das  ganze  Gewicht  der  Achtung, 
die  wir  gegen  unser  Oberhaupt  hegen  (es  folgt  die 
Schilderung  von  Kundgebungen  des  Papstes  gegen  die 
Minoritätsbischöfe).''  Es  ist  eine  sehr  verbitterte  und 
pessimistische  Stimmung,  die  sich  hier  Ausdruck  schafft,, 
aber  es  war  nicht  die  eines  einzelnen  Sonderlings.  Sie 
ist  in  ihrem  Grundton  typisch  für  die  Minorität,  und 
die  vorstehenden  Ausführungen  haben  gezeigt,  daß  der 
Briefschreiber  in  der  Lage  gewesen  wäre,  für  die  meisten 
seiner  Behauptungen  einen  direkten  Beweis  anzutreten« 

V. 

„Von  einer  Seite  drohte  dem  Vatikanischen  Konzil 
während  der  ganzen  Zeit  von  seiner  Berufung  bis  zu 
seiner  Vertagung  eine  beständige  Gefahr:  von  Seiten  der 
Staatsgewalt.  Während  die  Regierungen  sein  Hort  und 
Schutz  und  die  Hilfe  bei  Ausführung  seiner  Beschlüsse 
hätten  sein  sollen,  zeigten  sich  ihre  Staatsmänner  und 
Diplomaten  durchgehends  als  gelehrige  Schüler  und 
Gönner  der  ausgesprochenen  Feinde  des  Konzils,  die 
alles  in  Bewegung  setzten,  dasselbe  zu  vereiteln  oder 
wenigstens  seines  Ansehens  zu  berauben.  Dazu  war  die 
Stadt,  in  der  es  tagte,  umlagert  von  ihren  Todfeinden, 
welche  nur  auf  den  geeigneten  Augenblick  lauerten,  um 
über  sie  herzufallen,  den  Papst  zu  entthronen  und  die  ehr- 
würdige Versammlung  auseinanderzusprengen"^  (II,  675). 
Wir  haben  es  hier  mit  einer  Idee  Granderaths  zu  tun, 
die  ihn  geradezu  beherrscht.  Tatsachen,  durch  die  eine 
Gefährdung  der  Freiheit  des  Konzils  von  Seiten  der 
Staatsgewalt  eingetreten  ist  oder  auch  nur  beabsichtigt 
war,  vermag  er  freilich  nicht  mitzuteilen;  er  kennt  also 


592  Carl  Mirbt, 

offenbar  keine.  Aber  sein  Glaube  an  diese  Bedrohung 
verliert  dadurch  nichts  an  Zuversicht,  es  lebt  in  ihm 
gewissermaßen  die  Stimmung  des  Konzils  fort,  das  sich 
auch  von  allen  denkbaren  und  undenkbaren  Seiten  her 
bedroht  gefühlt  hat.  Für  den  Gang  des  Konzils  war 
diese  Vorstellung  von  nicht  geringer  Bedeutung,  denn 
sie  mußte  dazu  dienen,  die  Synodalen  auf  das  große 
Heilmittel  gegen  alle  Nöte  der  Zeit  hinzuführen,  und  da 
die  infallibilistischen  Kreise  auf  Entscheidungen  hindräng- 
ten, die  in  die  Interessensphäre  der  weltlichen  Staaten 
hinübergriffen,  so  war  die  Befürchtung  irgendwelcher 
Gegenwirkungen  psychologisch  auch  wohl  begreiflich. 
Ein  Menschenalter  später  wäre  freilich  eine  ruhigere  Be- 
trachtungsweise am  Platz  gewesen,  und  die  Anerkennung 
der  Tatsache,  daß  nicht  eine  einzige  Regierung  den 
Versuch  unternommen  hat,  den  Zusammentritt  und  die 
Verhandlungen  des  Konzils  zu  stören,  auch  nicht  die 
italienische  nach  der  Okkupation  Roms,  durfte  wohl  von 
dem  Geschichtschreiber  des  Konzils  erwartet  werden. 
Auch  der  von  Granderath  vermißte  Schutz  ist  dem  Konzil 
tatsächlich  dadurch  gewährt  worden,  daß  alle  katholischen 
Bischöfe,  abgesehen  von  denen  Rußlands,  mit  Zustimmung 
ihrer  Regierungen  ungehindert  an  ihm  teilnehmen  durften 
und  dadurch,  daß  Frankreich  seine  schirmende  Hand  über 
dem  Kirchenstaat  ausgebreitet  hielt,  bis  die  bekannten 
Ereignisse  zur  Abberufung  des  französischen  Militärs 
führten.  Denn  niemand  wird  behaupten  wollen,  daß  gegen 
den  Willen  der  weltlichen  Mächte  und  speziell  Frankreichs 
die  Kirchenversammlung  in  ihrer  tatsächlichen  Dauer 
und  Ausdehnung  hätte  tagen  können.  Ihr  Gewährenlassen 
war  nach  Lage  der  Dinge  ein  Schutz ;  das  wäre  billiger- 
weise  zuzugestehen  gewesen. 

In  den  das  Konzil  vorbereitenden  Verhandlungen 
der  Zentralkommission  in  Rom  ist  auch  die  Frage  er- 
wogen worden,  ob  die  Fürsten  einzuladen  seien.  Der 
Beschluß  ging  dahin,  von  einer  direkten  Einladung 
Abstand  zu  nehmen,  dagegen  in  der  Berufungsbulle  die 
auf  sie  sich  beziehenden  Worte  so  zu  wählen,  daß  ihnen 
die  Teilnahme   ermöglicht  wäre,   wenn  sie  den  Wunsch 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       593 

äußerten.  Antonelli  hatte  den  Auftrag,  dies  den  Höfen 
mitzuteilen  (I,  131  f.).  Es  ist  aber  wohl  kaum  zu  bezwei- 
feln, daß  die  dauernde  Anwesenheit  von  Gesandten  auf 
dem  Konzil  von  der  Kurie,  trotz  gegenteiliger  Versiche- 
rungen des  Kardinalstaatssekretärs ,  nicht  gewünscht 
werden  konnte.  Denn  offizielle  Vertreter  der  auswärtigen 
Mächte  wären  verpflichtet  gewesen,  wenn  das  Grenz- 
gebiet von  Staat  und  Kirche  in  den  Kreis  der  Verhand- 
lungen einbezogen  wurde,  dazu  Stellung  zu  nehmen. 
Daß  sich  aber  die  Arbeit  des  Konzils  auf  solche  Mate- 
rien erstrecken  würde,  war  der  Kurie,  die  die  Beratungs- 
gegenstände bestimmte,  wohl  bekannt.  Auch  wäre  bei 
der  Zulassung  weltlicher  Gesandten  für  die  Verhand- 
lungen der  Ausschluß  der  Öffentlichkeit  nicht  aufrecht- 
zuerhalten gewesen.  Als  die  französische  Regierung  im 
September  1869  sich  entschied,  keinen  Vertreter  zum 
Konzil  zu  schicken,  war  man  in  Rom  darüber  sehr  be- 
friedigt (1, 377).  Späteren  Wünschen  um  Zulassung  eines 
französischen  Gesandten  gegenüber  hat  sich  denn  auch 
Antonelli  glatt  ablehnend  verhalten  (II,  701). 

Die  römisch-katholische  Kirche  war  aber  eine  für  das 
öffentliche  Leben  viel  zu  bedeutsame  Korporation,  als  daß 
die  Einberufung  eines  ökumenischen  Konzils  nach  einer 
Pause  von  dreihundert  Jahren  von  den  Staatsregierungen 
hätte  ignoriert  werden  dürfen.  Sie  mußten  sich  um  so 
mehr  zur  Wachsamkeit  verpflichtet  fühlen,  als  wenige  Jahre 
zuvor  der  Syllabus  den  erneuten  Beweis  erbracht  hatte, 
daß  die  wichtigsten  Umgestaltungen  und  Fortschritte  des 
modernen  Staatslebens  in  dem  Papsttum  einen  grund- 
sätzlichen Gegner  besaßen  und  ein  aggressiver  Geist 
von  Rom  aus  genährt  und  gepflegt  wurde.  Bei  dieser 
Sachlage  war  von  vornherein  mit  der  Möglichkeit  zu 
rechnen,  daß  die  bevorstehende  Kirchenversammlung  nicht 
nur  mit  Angelegenheiten  beschäftigt  werden  würde,  die 
als  rein  interne  gelten  konnten,  sondern  daß  auch  die 
an  der  Kurie  herrschende  Neigung  sich  betätigen  würde, 
ihre  Auffassung  von  dem  Verhältnis  der  Kirche  zum 
Staat  zum  Gegenstand  von  Beschlüssen  zu  machen. 
Aus  der  politischen  Entwicklung  wie  aus  der  konfessio- 


594  Carl  Mirbt, 

nellen  Zusammensetzung  der  einzelnen  Völker  ergab 
sich  ferner,  daß  das  Interesse  für  diese  Eventualitäten 
in  den  verscliiedenen  Ländern  nicht  gleichmäßig  war^ 
sondern  starke  Abstufungen  aufwies ;  bei  einzelnen  fehlte 
es  fast  vollständig.  Das  größte  Verständnis  für  die 
Tragweite  etwaiger,  das  politische  Gebiet  berührender 
dogmatischer  Festsetzungen  zeigte  sich  in  Frankreich, 
Österreich,  Preußen,  Bayern  und  Großbritannien.  Da 
jede  dieser  Regierungen  ihr  Verhalten  zu  dem  Konzil 
nach  ausschließlich  politischen  Gesichtspunkten  zu  be- 
stimmen hatte,  hat  darauf  die  gesamte  innere  und  äußere 
Politik  des  betreffenden  Landes  einen  maßgebenden  Ein- 
fluß ausgeübt.  Wohl  am  klarsten  sind  diese  Einwirkun- 
gen in  der  französischen  Kirchenpolitik  erkennbar,  die 
unter  dem  Druck  der  als  notwendig  erachteten  Rücksicht- 
nahme auf  den  ultramontanisierten  Klerus  und  im  Blick 
auf  den  bevorstehenden  Krieg  sich  zu  einer  Zurückhal- 
tung entschloß,  die  mit  den  Traditionen  des  Gallikanis- 
mus  in  offenbarem  Widerspruch  stand.  Ober  diese  ganze 
politische  Seite  der  Geschichte  des  Vatikanischen  Konzils 
handelt  Granderath  in  verschiedenen  Kapiteln,  ganz  über- 
wiegend übrigens  unter  Benutzung  gedruckten  Materials. 
Wir  erhalten  auch  manche  dankenswerte  Mitteilungen  aus 
Nuntiaturberichten,  trotzdem  aber  dürften  über  manche 
Vorgänge  auf  dem  Konzil  selbst  wie  über  die  außerhalb 
Roms  sich  abspielende  Konzilsgeschichte  in  den  Be- 
richten der  in  Rom  stationierten  Gesandten  doch  wohl 
noch  weitere  Aufklärungen  enthalten  sein,  als  die  bisher 
veröffentlichten  und  in  der  Collectio  Lacensis  zugäng- 
lichen Aktenstücke  sie  uns  vermitteln.  Auch  hatten  ein- 
zelne Regierungen  neben  ihren  offiziellen  Gesandten  noch 
Vertrauensmänner  in  Rom,  die  sie  über  die  dortigen 
Vorgänge  unterrichteten.  So  hatte  Preußen  den  Staatsrat 
Geizer  entsandt,  der  von  Granderath,  wenn  ich  nicht 
irre,  überhaupt  nicht  erwähnt  wird. 

Eine  größere  Aktion  in  Sachen  des  Konzils  ist  von 
dem  bayerischen  Ministerpräsidenten  Fürst  Chlodwig  zu 
Hohenlohe  durch  seine  berühmte  Zirkulardepesche  an 
die  diplomatischen  Vertreter  Bayerns  vom  9.  April  1869 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       595 

versucht  worden;  seinen  „Denkwürdigkeiten"  verdanken 
wir  die  Nachricht,  daß  sie  aus  Döllingers  Feder  stammte. 
Hohenlohe  schlug  die  Veranstaltung  von  Konferenzen 
vor,  um  über  die  von  selten  der  weltlichen  Staaten 
gegenüber  dem  Konzil  zu  beobachtende  Haltung  ge- 
meinsam zu  beraten.  Das  direkte  Ergebnis  der  Um- 
frage war  ein  Mißerfolg  Hohenlohes;  aber  er  darf  viel- 
leicht für  sich  das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen,  die 
Aufmerksamkeit  der  Regierungen  angeregt  zu  haben. 
Wenn  unter  den  europäischen  Mächten  Geneigtheit  be- 
standen hätte,  auf  das  Konzil  einen  Druck  auszuüben, 
bot  sich  ihnen  die  beste  Gelegenheit,  als,  zum  Schrecken 
der  Kurie,  am  10.  Februar  1870  in  der  „Süddeutschen 
Presse"  das  geheim  gehaltene  Schema  de  ecclesia  Christi 
veröffentlicht  wurde,  das  drei  Wochen  zuvor  unter  die 
Konzilsväter  verteilt  worden  war.  Denn,  da  diese  Vorlage 
die  Lehren  und  Grundsätze  des  Syllabus  enthielt,  wären 
die  Regierungen  gegen  den  Vorwurf  eines  Übergriffs  in 
innerkirchliche  Angelegenheiten  gesichert  gewesen,  wenn 
sie  mit  allen  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  der 
Dogmatisierung  solcher  den  Frieden  der  Völker  gefähr- 
dender Vorstellungen  entgegengewirkt  hätten.  Der  franzö- 
sische Minister  des  Auswärtigen,  Daru,  betrat  in  der  Tat 
diesen  Weg,  aber  Ollivier  durchkreuzte  seine  Bestrebungen, 
und  der  Sturz  Darus  besiegelte  den  Verzicht  Frankreichs, 
die  in  seiner  Hand  liegende  Macht  zu  einer  Einschränkung 
des  konziliaren  Ultramontanismus  zu  benutzen.  Daß 
Napoleon  unter  dem  Einfluß  seiner  auswärtigen  Politik 
die  Linie  diplomatischer  Vorstellungen  nicht  überschreiten 
würde,  erwies  sich  als  eine  zutreffende  Berechnung  der 
wohlunterrichteten  Kurie.  Sie  konnte  daher  wagen,  eben 
der  Macht,  die  in  der  Lage  war,  der  Vatikanischen  Kirchen- 
versammlung ein  jähes  Ende  zu  bereiten,  mit  großem 
Selbstbewußtsein  entgegenzutreten.  —  Österreich  erfuhr 
eine  noch  schroffere  Behandlung,  als  Graf  Beust  dem 
Kardinalstaatssekretär  hatte  erklären  lassen,  daß  die  Ver- 
öffentlichung von  Beschlüssen,  die  die  Achtung  vor  dem 
Gesetz  verletzten,  in  Österreich  untersagt  und  im  Ober- 
tretungsfall   gerichtlich    bestraft   werden  würde,    und  er 


596  Carl  Mirbt, 

Darus  Vorgehen  unterstützte.  —  Die  Meldung  des  Pariser 
Nuntius  an  Antonelli,  am  21.  März,  „daß  der  preußische 
Gesandte  Baron  v.  Werther  dem  Grafen  Daru  den  Vor- 
schlag zu  einer  Vereinigung  aller  Regierungen  und  zur 
Entwerfung  eines  gemeinsamen  Planes  hinsichtlich  ihres 
Benehmens  dem  Konzil  gegenüber  gemacht  habe",  wird 
von  Granderath  (II,  711  Anm.  2)  mit  Recht  als  Irrtum 
zurückgewiesen.  Bismarck  hat,  von  der  obenerwähnten 
Episode  abgesehen,  die  Politik  der  Reserve  strikt  inne- 
gehalten und  auch  durch  die  entgegenlaufenden  Wünsche 
Arnims  sich  davon  nicht  abdrängen  lassen.  —  Die  ver- 
schiedenen Strömungen  innerhalb  des  englischen  Kabinetts 
sind  wesentlich  für  die  innere  Konzilsgeschichte  von 
Interesse.  Manning  wurde  von  dem  Schweigegebot  dis- 
pensiert, damit  er  auf  seinen  Sonnabendspaziergängen 
mit  dem  englischen  Geschäftsträger  Russell  diesen  in- 
spirieren und  dadurch  auf  den  Minister  des  Auswärtigen, 
Lord  Clarendon,  einwirken  konnte.  Auf  diesem  Wege 
wurde  der  Einfluß  Lord  Actons,  der  das  Ohr  Gladstones 
besaß,  lahmgelegt.  Eine  Koalition  der  Mächte  zu  einem 
gemeinsamen  Verhalten  gegenüber  dem  Konzil  hat  niemals 
bestanden,  ist  von  den  maßgebenden  Stellen  nicht  einmal 
geplant  worden.  — 

Daß  die  Berichterstattung  Granderaths  unter  dem 
Einfluß  von  Zwecken  steht,  die  von  den  Interessen  einer 
nur  der  Ermittelung  der  Wahrheit  dienenden  Geschicht- 
schreibung fernabliegen,  bedarf  nach  den  vorgelegten 
Proben  wohl  keiner  weiteren  Begründung.  Die  Erkennt- 
nis dieses  tendenziösen  Gesamtcharakters  des  Werkes 
entzieht  ihm  das  Vertrauen,  das  wir  sonst  einem  Forscher 
entgegenzubringen  gewohnt  sind,  der  die  Früchte  lang- 
jähriger Studien  der  Öffentlichkeit  unterbreitet,  und  wir 
studieren  es  mit  den  peinlichen  Empfindungen,  von  einem 
unzuverlässigen  Führer  geleitet  zu  werden.  Wir  ver- 
schließen uns  dabei  nicht  der  Erwägung,  daß  das  unter 
diesen  Umständen  gebotene  Mißtrauen  sich  auch  auf 
Punkte  richten  kann,  die  eine  Anzweiflung  nicht  ver- 
dienen, aber  es  ergibt  sich  eben  aus  der  Art  seiner  Dar- 
stellung,  daß   eine  Abgrenzung  des  Zweifeihaften  nicht 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       597 

im  Bereich  der  Möglichkeit  liegt.  Der  Grundfehler  besteht 
nicht  in  der  Zugehörigkeit  des  Verfassers  zur  römisch* 
katholischen  Kirche,  sondern  darin,  daß  er  Apologet  und 
Historiker  zugleich  sein  wollte,  das  sei  nachdrücklichst 
betont.  Denn  wir  würden  einer  überaus  ernsten  Situation 
gegenüberstehen,  wenn  von  dem  dogmatischen  Standort 
des  Autors  aus  keine  andere  Geschichtschreibung  mög- 
lich wäre,  als  die  in  dieser  Geschichte  des  Vatikanischen 
Konzils  dargebotene. 

Als  Theolog  schließt  Granderath  nicht  besser  ab. 
Wir  dürfen  es  ihm  freilich  nicht  als  Fehler  anrechnen, 
daß  aus  seinem  Buch  nicht  entnommen  werden  kann, 
wie  das  definierte  Infallibilitätsdogma  zu  verstehen  ist, 
denn  das  Recht,  die  Feststellung  seiner  dogmatischen 
und  kirchenrechtlichen  Bedeutung^)  aus  dem  Kreis  seiner 
Aufgaben  auszuscheiden,  kann  ihm  nicht  bestritten  wer- 
den. Aber  gelegentliche  Bemerkungen  und  Urteile  über 
dieses  Dogma  im  Laufe  der  Darstellung  zeigen  ihn  auf 
einem  theologischen  Niveau,  das  geradezu  überrascht. 
Als  Darboy  die  Schwierigkeit  hervorgehoben  hatte,  einen 
päpstlichen  Ausspruch  ex  cathedra  als  einen  solchen  zu 
kennzeichnen,  schreibt  Granderath:  „Kann  der  Papst 
denn  nicht  bei  einem  Erlaß  sagen,  er  beabsichtige,  die 
ganze  Kirche  zu  verpflichten?  Und  wenn  dies  einmal 
nicht  deutlich  genug  gesagt  ist,  nun  so  entsteht  eine  jener 
Schwierigkeiten,  die  sich  auch  bei  manchen  Konzilsaus- 
sprüchen finden"  (III,  241).  Aber  wenn  er  dieses  „Können** 
nicht  ausnutzt?  Wenn  er  sogar  dauernd  darauf  verzichtet, 
eine  Entscheidung  als  kathedratische  kenntlich  zu  machen  ? 
Wir  besitzen  bis  auf  den  heutigen  Tag  keine  offizielle 
Sammlung  von  infalliblen  Entscheidungen  der  Päpste 
und  werden  wohl  nie  eine  erhalten.  Ebensowenig  haben 
Pius  IX.  und  Leo  XIII.  die  Praxis  geübt,  einzelne  Ent- 
scheidungen als  kathedratische  zu  charakterisieren,  denn 
gerade  in  der  Nichtkenntlichmachung  dieser  Qualität  liegt 
die  durch  dieses  Dogma  dem  heiligen  Stuhl  überwiesene 

')  Vgl.  meinen  Artikel  Vatikanisches  Konzil:  Realenzyklo- 
pädie für  protestantische  Theologie  und  Kirche,  20.  Bd.,  Leipzig 
1908,  S.  468  ff. 


598  Carl  Mirbt, 

Macht.  Es  gelten  infolgedessen  nicht  einzelne  seiner 
Entscheidungen  als  infallibel,  sondern  alle.  Die  Antwort 
Granderaths  ist  also  recht  oberflächlich.  Daß  er  gar 
keine  theologischen  Probleme  und  Schwierigkeiten  kennt, 
erklärt  vielleicht  manches  seiner  wunderlichen  Urteile, 
und  in  jesuitischem  Obereifer  schießt  er  gelegentlich 
recht  weit  über  das  Ziel  hinaus.  So  bringt  er  es  nicht 
nur  fertig,  zu  erklären,  daß  die  Lehren  des  dritten  Kapitels 
des  Schemas  De  ecclesia  Christi  „keine  ernsten  theolo- 
gischen Schwierigkeiten**  boten  (III,  355),  sondern  leistet 
sich  sogar  den  Satz:  „Die  Frage  über  die  Unfehlbarkeit 
des  Papstes  gehört  keineswegs  zu  den  schwierigen  Fragen 
der  Theologie"  (III,  7)  und:  „Diese  Frage  war  in  der 
Tat  keineswegs  eine  besonders  schwierige,  sondern  eine 
sehr  leichte  theologische  Frage"  (II,  235),  Auch  der 
Kontext  dieser  beiden  Stellen  ist  interessant,  denn  es 
wird  hier  der  Wunsch  weiterer  Verhandlungen  über  die 
Lehre  durch  den  seltsamen  Vorwurf  zurückgewiesen, 
daß  die  Bischöfe  vor  Beginn  des  Konzils  sich  damit 
hätten  beschäftigen  sollen,  da  „viele  Zeichen  darauf  hin- 
wiesen, daß  (diese  Kontroverse)  die  Väter  des  Konzils 
beschäftigen  werde"  (II,  235)  und  „jeder  Bischof  wußte, 
wie  notwendig  gerade  für  ihn  ein  gründliches  Studium 
derselben  sei,  weil  sie  vielfach  als  der  Hauptgegenstand 
der  Verhandlungen  des  bevorstehenden  Konzils  bezeich- 
net wurde".  —  Den  dogmatischen  Urteilen  sind  manche 
historische  ebenbürtig.  Wir  lesen  z.  B.  (II,  254):  „Die 
Leugnung  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  (!)  nahm  ihren 
Anfang  zur  Zeit  des  abendländischen  Schismas"  (am 
Anfang  des  15.  Jahrhunderts).  Bei  der  Lektüre  solcher 
Erklärungen^),     die    jede    Kommentierung    überflüssig 

')  Nachdem  die  Definition  der  Lehre  von  der  päpstlichen 
Unfehlbarkeit  erfolgt  ist,  gilt  damit  zugleich  als  festgestellt,  daß 
sie  immer  zu  dem  depositum  fidei  der  Kirche  gehört  hat.  Den 
historischen  Nachweis  für  dieses  dogmatische  Urteil  zu  liefern, 
ist  Aufgabe  der  Theologen.  Die  Glaubenskommission  hat  In 
einem  Bericht  an  das  Konzil  sich  darUber  ganz  klar  ausge- 
sprochen: „Nachdem  einmal  die  Unfehlbarkeit  des  Papstes  aus 
ganz  und  gar  einwandfreien  Quellen  als  eine  göttlich  geoffen- 
barte Wahrheit  erwiesen   ist,   kann   sie   unmöglich  irgend  jemals 


Die  Geschichtschreibung  des  Vatikanischen  Konzils.       599 

machen,  erinnert  man  sich,  daß  der  Verfasser  dieses  Werk 
„für  weitere  Kreise  bestimmt"  sein  läßt  (11,411).  Dieses 
Geständnis  wirkt  freilich  sehr  überraschend,  denn  in  Ge- 
samthaltung wie  Einzelausführung  wendet  es  sich  tat- 
sächlich an  gelehrte  Kreise,  aber  es  kommt  darin  doch 
ein  richtiges  Empfinden  zum  Ausdruck.  Denn  nur  in 
„weiteren  Kreisen"  kann  Granderath  hoffen,  das  Publikum 
zu  finden,  das  an  solchen  Vergewaltigungen  der  Ge- 
schichte keinen  Anstoß  nimmt  und  ohne  zu  lächeln  sich 
erzählen  läßt,  daß  „Rom  im  16.  Jahrhundert  lieber  den 
Abfall  von  ganz  England  zuließ,  als  daß  es  eine  recht- 
mäßige Ehe  geschieden  hätte".  — 

Die  „Geschichte  des  Vatikanischen  Konzils",  mit  der 
wir  uns  vorzugsweise  in  dieser  kritischen  Obersicht  über 
die  dieser  Kirchenversammlung  geltenden  Literatur  be- 
schäftigt haben,  provoziert  durch  die  Art,  wie  Granderath 
sich  allen  früheren  Arbeiten  gegenüberstellt  und  durch 
das  ihm  gewährte  Privileg,  die  gesamten  archivalischen 
Schätze  der  Kurie  für  sein  Unternehmen  fruchtbar  zu 
machen,  große  Ansprüche.  Es  eröffnete  sich  ihm  die 
Möglichkeit,  unter  den  denkbar  günstigsten  Arbeits- 
bedingungen ein  Werk  von  fundamentaler  Bedeutung  zu 
schaffen.  Wir  haben  es  nicht  erhalten.  Es  fehlt  dieser 
Geschichte  jeder  große  Zug;  sie  ist  breit,  aber  nicht 
groß  angelegt,  der  Verfasser  ist  mehr  Referent,  als  Ge- 
schichtschreiber, und  versagt  gerade  in  den  Fällen,  wo 
Unbefangenheit  und  Gerechtigkeit  des  Urteils  am  not- 
wendigsten waren.    Auch    in    der    Beschränkung    seiner 


auf  Grund  geschichtlicher  Tatsachen  als  falsch  befunden  werden. 
Wenn  also  derartige  Tatsachen  beigebracht  werden,  so  ist  es 
sicher,  daß  dieselben,  insoweit  sie  jener  Wahrheit  entgegenstehen, 
unrichtig  sind^  (III,  133).  Eine  der  Konsequenzen,  die  sich  dar- 
aus für  die  Geschichtsforschung  und  Geschichtsbetrachtung  er- 
geben, ist  die,  daß  der  Stand  der  theologischen  Studien  in  einem 
Lande  danach  bewertet  wird,  welche  Stellung  seine  theologische 
Wissenschaft  zu  der  Unfehlbarkeitslehre  einnimmt.  Man  muß 
sich  die  Anwendung  dieses  Maßstabes  gegenwärtig  halten,  um 
die  wundersamen  Urteile  über  den  Tiefstand  der  katholischen 
Theologie  in  Deutschland  zur  Zeit  des  Konzils  (1,  155,  vgl.  III, 
261.  654)  richtig  einzuschätzen. 


600    Carl  Mirbt,  Die  Geschichtschreibung  des  Vatikan.  Konzils. 

Aufgabe  auf  die  Darstellung  des  äußeren  Verlaufs  der 
Kirchenversammlung  hätte  er  aber  der  historischen  For- 
schung große  Dienste  leisten  können,  wenn  er  das  Neue, 
das  er  bringt,  als  solches  überall  kenntlich  gemacht  hätte 
und  wenn  es  ihm  möglich  gewesen  wäre,  auf  seine 
Nebenzwecke  zu  verzichten.  Gerade  durch  Granderaths 
Werk  gelangen  die  beiden  wichtigsten  historischen  Schrif- 
ten der  Antiinfallibilisten,  die  Friedrichsche  Geschichte  und 
die  „Römischen  Briefe",  zu  neuem  Ansehen;  denn  der 
Nachweis  wird  nicht  erbracht,  daß  sie  aufhören  müssen, 
als  historische  Quellen  zu  gelten.  Die  „objektive"  Ge- 
schichte des  Konzils  soll  also  noch  geschrieben  werden. 


Miszelle. 


Zur  Geschichte  Belgiens  im  Mittelalter. 

Von 
F.  Keutgen. 

Henri  Pirenne,  Geschichte  Belgiens.  Obersetzung  des  fran- 
zösischen Manuskripts  von  Fritz  Arnheim.  Bd.  1  bis 
zum  Anfang  des  14.  Jahrhunderts;  Bd.  2  bis  zum  Tode 
Karls  des  Kühnen  (1477)  (mit  einer  Karte);  Bd.  3  bis  zur 
Ankunft  des  Herzogs  von  Alba  (1576).  (Allgemeine  Staaten- 
geschichte, herausgegeben  von  K»  Lamprecht.  1.  Ab- 
teilung. Geschichte  der  europäischen  Staaten.  30.  Werk*) 
Gotha,  F.  A.  Perthes.  1899,  1902,  1907.  XXIV  u.  496;  XXVIII 
u.  594;  XXI  u.  606  S. 

Le  soulivement  de  la  Flandre  Maritime  de  1323-^1328.  Documenta 
inäditSj  publica  avec  une  introduction  par  Henri  P trenne, 
Bruxelles,  Kiessting,    1900.    LXX  u.  243  S. 

Das  Erscheinen  des  dritten  Bandes  von  Pirennes  Geschichte 
Belgiens  mahnt  mich,  endlich  zur  Besprechung  des  Ganzen 
zu  schreiten.  Meine  Schuld  an  der  Verzögerung  ist  indessen 
nicht  ganz  so  groß,  wie  sie  scheint,  da  mir  Band  1  erst  zu- 
sammen mit  Band  2  zugegangen  ist.  Da  schrak  ich  etwas 
davor  zurück,  sogleich  zwei  Bände  eines  französischen  Buches 
in  Übersetzung  lesen  zu  sollen.  Möge  diese  grundsätzliche 
Frage  zuerst  besprochen  sein.  Wenn  sich  einmal  kein 
deutscher  Gelehrter  fand,  oder  wenn  es  an  sich  wünschens- 
wert schien,  die  Geschichte  Belgiens  für  das  Heeren  und 
Ukert'sche  Unternehmen  einem  Belgier  zu  übertragen,  wäre  es 

Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  39 


602  F.  Keutgen, 

da  nicht  richtiger  gewesen,  das  Werk  auch  in  französischer 
Sprache  der  Sammlung  einzuverleiben  ?  Gibt  es  wohl  jemand, 
der  des  Französischen  nicht  mächtig  wäre  und  der  gleichwohl 
eine  so  ausführliche  Geschichte  von  Belgien  lesen  würde,  die 
mit  ihrem  dritten  Bande  erst  bis  zum  Jahre  1576  reicht?*) 
Ein  französischer  Forscher  stellt  nun  einmal  anders  dar  als 
ein  deutscher,  und  aus  einem  übersetzten  französischen  Buche 
wird  niemals  ein  deutsches  werden,  mag  die  Übersetzung 
noch  so  wohlgelungen  sein,  —  was  bei  der  vorliegenden, 
abgesehen  von  einigen  stilistischen  Absonderlichkeiten,  zu- 
trifft.^) In  wissenschaftlichen  Werken  befremdet  uns  eine 
Eleganz,  von  der  wir  fürchten,  daß  sie  kaum  anders  als  durch 
Abschleifung  der  harten  Ecken  der  Tatsachen  erkauft  werden 
kann.  So  steht  es  mit  den  beliebten  Antithesen,  sowie  mit 
der  Neigung  zu  verallgemeinern  und  Verbindungslinien  zu 
ziehen,  deren  Berechtigung  uns  nicht  sicher  genug  ist.  Die- 
selbe Weichheit  zeigt  sich  oft  in  einem  Mangel  an  Ent- 
scheidungsmut gegenüber  grundsätzlichen  Fragen.  Femer: 
wo  wir  einen  Gedankenkomplex  in  einen  einzigen,  vielleicht 
ungefügen  Satz  bannen,  erreicht  der  Franzose  Flüssigkeit, 
Grazie  und  scheinbare  Knappheit  des  Ausdrucks  durch  den 
Kunstgriff,  daß  er,  was  uns  ein  Ganzes  ist,  in  seine  Teile 
auseinanderlegt,  den  Körper  nicht  perspektivisch  darstellt, 
sondern  die  Flächen,  die  ihn  begrenzen,  nebeneinander.  Uns 
scheint  auch  dies  Verfahren  nicht  gut.  Indes  wir  nehmen  es 
wie  das  übrige  gerne  hin,  da  es  bei  einem  französischen 
Werke  im  eigentlichsten  Sinne  zum  Stil  gehört,  und  wir  jede 
Eigenart  schätzen.  Doch  in  der  Übersetzung  stört  es ;  ja  es 
kommt  manchmal  etwas  fast  wie  Weitschweifigkeit  dabei  heraus, 
wo  uns  ein  Mehr  an  Tatsachen  lieber  gewesen  wäre. 


')  Vgl.  auch  K.  Völlers  über  die  deutsche  Obersetzung  von 
Cromers  Modern  EgypL  L,  Z,  B.  1908,  Nr.  19,  Sp.  617. 

*)  Am  meisten  stört  das  fortwährende  „allzu*',  anstatt  ,zu*; 
ferner  mehrfach  das  „einverleiben  mif,  wo  der  einfache  Dativ 
richtig  ist;  „Revindikationen^  (I,  S.  214.  215)  soll  wohl  heißen 
„Ansprüche**;  „Enguerrand**  (I,  S.  53)  ist  nur  französische  Um- 
bildung von  Ingelram;  statt  „Viscount*'  muß  es  heißen  „Sheriff 
von  Lancaster  (H,  S.  150),  denn  viscount  ist  nur  ein  modemer 
Titel. 


Zur  Geschichte  Belgiens  im  Mittelalter.  603 

Trotz  alledem  würde  ich  das  Buch  sofort  gelesen  haben, 
wenn  ich  hätte  ahnen  können,  wie  außerordentlich  interessant 
es  ist.  Dem  Verfasser  gegenüber  aber  darf  mich  wegen  der 
Versäumnis  der  Umstand  trösten,  daß  sein  Werk  bereits  an 
vielen  Stellen  so  günstig  rezensiert  worden  ist,  daß  mein 
Urteil  wenig  mehr  ins  Gewicht  fallen  kann. 

Es  hat  einen  eigenen  Reiz,  und  zugleich  sein  besonderes 
historiographisches  Verdienst,  auch  einmal  die  Geschichte  eines 
kleineren  Landes  im  Zusammenhange  ausführlich  zu  erzählen 
und  in  den  Mittelpunkt  der  weltgeschichtlichen  Betrachtung 
zu  rücken,  zumal  eines  Landes,  das,  wie  Belgien  inmitten 
großer  Reiche  gelegen,  durch  ihre  freundlichen  oder  feindlichen 
Beziehungen  untereinander  fortwährend  in  Mitleidenschaft  ge- 
zogen wird,  auf  sie  zurückwirkt,  und  dabei  seine  entschiedene 
Eigenart  und  Kontinuität  der  Entwicklung  wahrt.  Wie  vieles 
gewinnt  dadurch  eine  neue  Beleuchtung!  Wie  sehr  muß  man 
nicht  bedauern,  daß  Freemans  große  Geschichte  Siziliens  nicht 
weiter  hat  fortgeführt  werden  können!  Bei  Belgien  kommt 
noch  hinzu  —  was  freilich  auch  die  Schwierigkeit  erhöht  — , 
daß  es  aus  einer  ganzen  Reihe,  die  längste  Zeit  getrennter 
Landschaften  von  großer  Eigenart  erst  später  zusammen- 
gewachsen ist ;  daß  das  vielleicht  wichtigste  seiner  Territorien 
der  Krone  Frankreich  unterstand,  während  die  übrigen  zum 
Deutschen  Reiche  gehörten;  daß  endlich,  doch  ohne  Rück- 
sicht auf  die  politische  Zugehörigkeit,  auch  die  Bevölkerung 
teils  deutscher,  teils  romanischer  Nationalität  war. 

Band  1  und  2  führen  die  Darstellung  bis  zur  Vereinigung 
der  Niederlande  unter  dem  Szepter  des  Hauses  Burgund. 
Sie  greift  anderseits  zurück  bis  auf  die  frühesten  Zeiten. 
Der  Hauptinhalt  ist  die  Schilderung  der  großen  Mannigfaltig- 
keit, der  Eigentümlichkeiten  der  politischen  und  wirtschaft- 
lichen Verhältnisse  eines  jeden  dieser  doch  wieder  eng  ver- 
wandten Gruppe  von  Territorien.  Die  politischen  Gründe, 
die  zu  diesen  Sonderbildungen  im  ganzen  und  im  einzelnen 
Anlaß  gegeben,  sowie  die  wirtschaftlichen  Ursachen,  die  im 
Laufe  der  Zeiten  weiter  dabei  mitgewirkt  haben,  werden  ein- 
gehend dargelegt:  alles  in  einer  durchaus  einleuchtenden, 
klaren  und  übersichtlichen  Weise.  Eins  habe  ich  aber  den- 
noch vermißt,  etwas,  dessen  Mangel  dem  Verfasser  vielleicht 

39* 


604  F.  Keutgen, 

gerade  als  Inländer,  dem  diese  Verhältnisse  völlig  vertraut 
sind,  nicht  zum  Bewußtsein  gekommen  ist,  das  er  aber  um 
so  besser  zu  leisten  imstande  gewesen  wäre:  nämlich  eine 
zusammenhängende  Würdigung  der  geographischen  Vor- 
bedingungen. Ich  denke  dabei  an  etwas  in  der  Art,  wie  es 
Vidal  de  la  Blache  für  Lavisse  Histoire  de  France  geliefert  hat 
Hier  wird  ja  auch  Belgien  geschildert;  aber  von  den  Lesern 
einer  deutsch  geschriebenen  Geschichte  Belgiens  kann  man 
nicht  verlangen,  daß  sie  zur  notwendigen  Ergänzung,  noch 
nach  einem  besonderen  Werke  über  die  Geographie  Frank- 
reichs sich  umsehen  sollen.  Vielleicht  liegt  die  Schuld  nicht 
beim  Verfasser;  allein  bei  einem  Unternehmen,  das  jetzt  der 
Leitung  eines  Lamprecht  untersteht,  wäre  die  grundsätzliche 
Berücksichtigung  gerade  dieser  Forderung  wohl  zu  erwarten 
gewesen.  Freilich  ist  es  bei  kaum  einem  andern  Lande  so 
nötig  wie  bei  Belgien  wegen  der  scharf  ausgeprägten  Eigen- 
tümlichkeit jeder  dieser  politisch  so  lange  selbständigen  Ge- 
biete. Auch  Kärtchen  in  Holzschnitt  könnten,  wie  bei  Vidal,  in 
Zukunft  wohl  beigegeben  werden.  Daß  Pirenne  uns  eine 
große  Übersichtskarte  der  Niederlande  schenkt,  ist  freilich 
eine  sehr  willkommene  Neuerung  (um  so  mehr  als  es  im 
Spruner-Menke  hier  an  jeder  entfernt  genügenden  Karte  fehlt): 
allein  diese  dient  nur  der  politischen  Geschichte. 

Von  allgemein  geschichtlichem  Interesse  istzunächst  die  Klar- 
stellung der  historischen  Gründe  für  den  Lauf  der  französisch- 
lothringischen,  später  französisch-deutschen  Grenze,  nach  dem 
Vertrag  von  Verdun,  womit  die  weitverbreitete  Ansicht  wider- 
legt wird,  als  hätten  bei  ihrer  Ziehung  Willkür  und  Zufall  ob- 
gewaltet; insbesondere  ist  die  Erklärung  lehrreich,  wie  es  ge- 
kommen ist,  daß  Gebiete  mit  deutscher  Bevölkerung  Frank- 
reich, weiter  nach  Westen  sich  erstreckende  mit  romanischer 
Bevölkerung  Deutschland  blieben.  Ferner  die  ganz  besondere 
Bedeutung  der  Bischöfe  als  Vertreter  des  Königtums  in  den 
lothringischen  Grenzgebieten  von  erzwungener  Zugehörigkeit 
zum  Reich.  Damit  mag  es  zusammenhängen,  daß  auch  während 
des  Investiturstreites  wir  gerade  in  diesen  Gegenden  unter 
ihnen  ausgezeichnet  treue  Anhänger  Heinrichs  IV.  antreffen, 
während  umgekehrt  der  einheimische  Adel  die  Männer  der 
Reform   begünstigte.    Mit   der  Verfügung  über  die   Bistümer 


Zur  Geschichte  Belgiens  im  Mittelalter.  605 

nahm  denn  auch  der  Einfluß  des  Reichs  hier  sein  Ende.  Es 
sind  auf  dem  Boden  Belgiens  früher  als  anderswo  im  deutschen 
Reiche  Landesfürstentümer  entstanden,  bei  deren  Inhabern  das 
Unabhängigkeitsgefühl  in  hohem  Grade  ausgebildet  war. 

Sehr  bemerkenswert  sind  Pirennes  Darlegungen  über  den 
Ursprung  der  Landesherrlichkeit  (Bd.  I,  S.  120  ff.). 
Ausgangspunkt  ist  ihm  der  Großgrundbesitz  des  künftigen 
Landesherm,  der  während  der  anarchischen  Zeiten  der  letzten 
Karolinger  und  der  Normanneneinfälle  auf  Kosten  der  Kleinen, 
vor  allem  aber  der  Kirche  gewaltig  anwuchs.  Wenn  die  — 
gleichwohl,  wie  wir  sahen,  willkommen  geheißene  —  Kloster- 
reform den  Säkularisationen  Einhalt  gebot,  so  entschädigte 
dafür  die  mit  Nachdruck  gehandhabte  Vogtei.  Nicht  minder 
nahm  der  Grundbesitz  der  Grafen  und  der  Herzöge,  kraft 
Ausübung  ihres  Anrechtes  auf  die  Ödländereien,  mit  der  fort- 
schreitenden Urbarmachung  des  Landes  zu  (I,  S.  122.  330  f.). 
Daß  damit  die  materielle,  die  wirtschaftliche  Grundlage  der 
Landesherrlichkeit  gekennzeichnet  ist,  wird  niemand  leugnen; 
fraglich  bleibt  es  aber  bei  der  ideellen,  der  rechtlichen  Be- 
gründung. Die  Rückführung  auf  das  Grafenamt  scheint  der 
Verfasser  nicht  anzuerkennen;  dieser  Faden  wird  vielmehr 
ausdrücklich  für  abgerissen  erklärt,  da  die  werdenden  Landes- 
herren ihr  Verhältnis  zum  deutschen  oder  französischen  König 
nur  noch  als  (sehr  loses)  vassallitisches  empfanden,  die  alten 
Grafschaften  aber  als  Privateigentum  behandelt,  wohl  geradezu 
verkauft  wurden  und  großenteils  verschwanden  (alles  schließ- 
lich doch  kein  Grund !).  Dagegen  sei  der  Übergang  von  einem 
bloßen  ^potens^  zum  ^princeps'',  vom  Inhaber  der  bloß 
faktischen  zu  dem  ,  Organ ^  der  gesetzmäßigen  Gewalt  in 
Flandern  und  in  Niederlothringen  bewirkt  durch  die  Stellung 
als  Beschützer  des  Gottesfriedens  (S.  124)!  Es  ist  das 
dahin  zu  verstehen,  daß  das  Volk  den  Mächtigen,  der  den 
Frieden  schützt,  bereit  war,  nicht  mehr  bloß  als  Gewalt- 
haber, sondern  als  Fürsten,  als  Hort  des  Rechts  anzuerkennen, 
—  also  praktische  Ausübung  der  Volkssouveränität  im  Bund 
mit  der  (französischen)  Kirche  hier  in  diesen  Gegenden,  wo 
die  königliche  Gewalt  so  gut  wie  ausgeschaltet  war.  Vertreter 
des  deutschen  Königs,  wie  Bischof  Gerhard  von  Cambrai, 
woUten  deshalb  vom  Gottesfrieden  nichts  wissen,  da  es  dem 


ö06  F.  Keutgen, 

Herrscher  allein  zukomme  die  Erhaltung  des  Friedens  zu 
Überwachen  (S.  68).  In  Flandern  ist  Anfang  des  12.  Jahrhunderts 
der  Gottesfriede  zum  , Grafenfrieden''  geworden  (S.  126),  und 
auch  die  Erhebung  einer  Grafensteuer  schon  1038  (S.  127 2) 
scheint  Pirenne  in  nicht  näher  erklärter  Weise  auf  diese  Be- 
wegung zurückzuführen.  Ich  muß  gestehen,  daß  ich  nicht 
einsehe,  warum  dies  und  was  der  Verfasser  sonst  über  die 
Handhabung  der  landesherrlichen  Gewalt  mitteilt,  nicht  recht- 
lich auf  Erbschaft  des  alten  Grafenamtes  zurückzuführen  sein 
soll,  mag  auch  die  Gottesfriedensbewegung  dessen  Ausübung 
mächtigen  Rückhalt  und  in  dem  Volkswillen  einen  (juristisch 
doch  sehr  fragwürdigen)  doppelten  Boden  gewährt  haben. 
(Vgl.  aber  auch  noch  S.  131  Z.  1  bis  3,  sowie  S.  135  ff.  und 
S.  140.)  Die  ungeteilte  Erbfolge  in  Flandern  und  den 
lothringischen  Territorien  scheint  Pirenne  nicht  mit  Ficker 
(Reichsfürstenstand  §  189;  vgl.  Pirenne  I,  S.  127«)  auf  franzö- 
sischen Brauch  zurückführen  zu  woüen,  sondern  irgendwie  auf 
das  Souverän-werden  (S.  127  f.). 

Allen  Nachbargebieten  noch  voran  war  Flandern  femer 
in  der  Ausbildung  der  landesherrlichen  Verwaltung 
und  zwar  schon  seit  dem  10.  Jahrhundert  (S.  128  ff.),  wenn 
auch  erst  1089  durch  Robert  den  Friesen  abgeschlossen: 
Pirenne  leitet  sie  sogar  von  dem  Capiiulare  de  Villis  her, 
insofern  Ausgangspunkt  die  gräfliche  Domänenverwaltung  ge- 
bildet habe.  Mittelpunkt  jedes  Bezirkes  war  die  Burg,  in  der 
als  Rechnungsbeamter  der  Notar  oder  ^ratiocinator"  haust,  der 
^brevia  redituum'  nach  Brügge  an  den  Kanzler  abgibt;  seit  dem 
13.  Jahrhundert  geht  aus  diesen  Beamten  die  ,Chambre  des 
Renenghes'  hervor.  Die  militärischen  und  gerichtlichen  Befug- 
nisse versehen  die  Kastellane  oder  Vicecomites.  Im  11.  Jahr- 
hundert aber  schon  wird  ganz  Flandern  verwaltungsgemäß  in 
^ministeria'  oder  , off icia' ,  militärisch  und  gerichtlich  inKastel- 
lanien  geteilt,  über  deren  privaten  oder  öffentlichen  Ursprung 
Pirenne  sich  nicht  zu  entscheiden  wagt  (S.  130  f.).  Im  Anschluß 
an  die  Burgen  aber  entstehen  überall  die  Städte  und  auf 
finanzieller  Abhängigkeit  der  Grafen  von  ihnen  baut  sich  die 
politische  Macht  der  großen  Städte  auf,  die  maßgebend  wird 
schon  bei  dem  Dynastiewechsel  nach  der  Ermordung  Karls  des 
Guten  1127  (S.  216  ff.).    Bezeichnend  für  das  industrielle  und 


Zur  Geschichte  Belgiens  im  Mittelalter.  607 

kommerzielle  Flandern  ist  nun  das  Handinhandgehen  der 
Grafen  aus  dem  Hause  Elsaß  mit  den  Bürgerschaften.  Als 
sich  dann  die  Zünfte  gegen  die  Patrizier  erhoben,  fanden  sie 
ihrerseits  einen  bereitwilligen  Bundesgenossen  an  Guido  von 
Dampierre,  der  den  Hochmut  der  Geldleute  längst  drückend 
empfunden  hatte  (S.  423  ff.).  Den  Kampf  der  Häuser  Avesne 
und  Dampierre  stellt  Pirenne  dar  als  ein  Ringen  Deutschlands 
und  Frankreichs  um  die  Vormacht  in  den  Niederlanden  (S.  280  ff.). 
Die  Rolle  Flanderns  und  der  verschiedenen  Schichten  seiner 
Bevölkerung  in  den  englisch-französischen  Kriegen  ist  be- 
kannt. Das  Übergewicht  der  drei  großen  Städte,  die  übrigens 
untereinander  keineswegs  eins  waren,  die  wachsende  Aus- 
dehnung ihrer  Herrschaft  über  das  platte  Land  vermittelst 
ihrer  Pfalbürger,  führte  endlich  zum  Bruch  auch  der  Zünften 
mit  dem  Grafen  (Bd.  11,  S.  86  ff.).  In  diese  Streitigkeiten  spielt: 
hinein  die  Erhebung  Seeflanderns  (seit  1323;  Bd.  II,  S.  99ff.)^. 
der  freien,  vielfach  wohlhabenden  Bauern  hauptsächlich  auf  dea. 
dem  Meere  abgewonnenen  ^polders'  gegen  die  adligen  ^keut- 
iieeren'.  Zu  vergleichen  wäre  dieser  Aufstand  mit  den  Schweizer 
Freiheitskämpfen,  an  die  Pirenne  merkwürdigerweise  nicht 
erinnert,  während  er  den  Unterschied  gegenüber  der  Jacquerie 
und  den  Unruhen  unter  Wat  Tyler  als  denen  eines  ländlichen 
Proletariats  hervorhebt.  Ein  furchtbar  blutiger  und  erbitterter 
Bürgerkrieg  zog  sich  sechs  Jahre  lang  hin,  der  mit  der  Nieder- 
lage der  ^Kerels'  und  der  mit  ihnen  verbündeten  Städte 
endete,  aus  dem  indes  auch  der  Adel  so  geschwächt  hervor- 
ging, daß  er  dennoch  den  Versuch  aufgeben  mußte,  das  Land 
seinem  Machtgebot  zu  unterwerfen  (S.  113).  Die  Einmischung 
Frankreichs  dagegen  hat  zum  guten  Teil  die  feindliche 
Haltung  der  niederen  Schichten  während  des  Hundertjährigen 
Krieges  bestimmt.  Diesen  Dingen  hat  Pirenne  eine  eigene 
Untersuchung  gewidmet,  die  ihr  besonderes  Interesse  durch 
die  statistischen  Beilagen  erhält  (das  zweite  oben  genannte 
Werk) :  lange  Namenlisten  der  in  der  Schlacht  bei  Cassel  ge- 
fallenen Bauern  aus  den  einzelnen  Parochien  mit  ihrem  Grund- 
besitz (S.  1 — 148)  sowie  derer,  die  aus  der  Schlacht  entkommen 
sind  (S.  149—162).  Es  sind  Inventare,  von  Flamländern  im 
Auftrage  des  französischen  Königs  zu  Konfiskationszwecken 
aufgenommen:  ein  höchst  wertvolles  aber  traurig  stimmendes 


608  F.  Keutgen, 

Material.  Angeschlossen  hat  der  Herausgeber  achtzehn  weitere 
Urkunden  und  Akten,  die  die  Ordnung  der  Dinge  nach  dem 
Aufstand  beleuchten.  (Willkommen  wäre  ein  erneuter  Abdruck 
des  „KerelsUedes''  gewesen.) 

Der  Ausbau  der  niederlothringischen  weltlichen 
Territorien  ist  nach  den  von  Flandern  vorgezeichneten 
GrundzUgen  erfolgt,  wenn  auch  mit  Abweichungen,  wie  sie 
die  historischen  und  geographisch-wirtschaftlichen  Umstände 
bedingten.  Überall  spielen  die  neben  den  landesherrlichen 
Burgen  aufkommenden  Städte  eine  Rolle,  wenn  auch  nirgends 
die  gleiche  wie  in  jener  Grafschaft.  Die  geringste  in  Luxem- 
burg, das  wegen  seiner  natürlichen  Armut  überhaupt  in  der 
Entwicklung  am  meisten  zurückbleibt  und  wo  der  zahlreiche 
Ritteradel  den  Ton  angibt.  Auch  Hennegau  bleibt  lange 
Agrikulturland.  Für  das  wichtigste  dieser  Länder  dagegen, 
Brabant,  wird  von  Bedeutung,  daß  ihm,  im  Gegensatz  zu 
Flandern,  die  heimische  Dynastie  in  gerader  männlicher  Linie 
bis  über  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  erhalten  blieb  (I,  S.  263  ff. 
358  ff.;  11,  S.  178—186).  Die  Stände,  Geistlichkeit,  Adel  und 
Städte,  hielten  einander  das  Gleichgewicht  und  suchten  An- 
schluß beim  Landesherrn,  dem  auch  die  Schwäche  seines 
deutschen  Lehnsherrn  zustatten  kam,  der  nicht,  wie  der  fran- 
zösische König  in  Flandern,  in  der  Lage  war,  sich  in  die  inne- 
ren Verhältnisse  einzumischen.  Seit  Anfang  des  14.  Jahrhun» 
derts  freilich  zwangen  auch  hier  finanzielle  Bedürfnisse  den 
Herzögen  eine  Reihe  von  politischen  Zugeständnissen  zugunsten 
der  Stände  ab:  voran  der  Städte,  neben  ihnen  des  Adels, 
während  die  Abteien  sich  an  wirtschaftlichen  Erleichterungen 
genügen  ließen  (II,  S.  178—186).  Als  dann  mit  Wenzel  von 
Luxemburg  auch  in  Brüssel  eine  neue  Dynastie  einzog,  fand 
diese  Entwicklung  in  der  „blijde  incomste'*  (,Joyetise  entriß*) 
von  1356  ihren  Abschluß.  Durch  das  Zusammenhalten  der 
oberen  Stände  war  es  ferner  stets  gelungen,  Erhebungen  der 
Handwerker  niederzuschlagen:  zuerst  1248  (I,  418),  dann  die 
ansteckungsweise  durch  die  Brügger  Mette  veranlaßte,  der  ja 
neben  der  franzosenfeindlichen  auch  eine  Richtung  der  «Kleinen'' 
gegen  die  ^Großen**  innewohnte.  Wenn  das  Patriziat  der 
Brabanter  Städte  länger  seinen  Einfluß  behielt  als  das  der 
flandrischen   (bis  gegen  Ende   des    14.  Jahrhunderts),  so  be- 


Zur  Geschichte  Belgiens  im  Mittelalter.  609 

ruhte  das  auch  darauf,  daß  es  verstanden  zu  haben  scheint, 
seine  Lakengilden  aufstrebenden  Elementen  offen  zu  halten 
(II,  S.  56—63). 

Ganz  anders  gestaltete  sich  der  Verlauf  in  den  geist- 
lichen Fürstentümern,  insbesondere  in  Lüttich.  Die 
Bischöfe,  Männer  von  auswärts  und  in  der  ersten  Zeit  außer- 
dem Vertreter  des  Kaisers,  hatten  keinen  Halt  im  Lande: 
eher  schon  die  Domkapitel,  die  sich  gewissermaßen  mit  jenen 
in  die  Rolle  des  Landesherrn  teilten,  anderseits  aber  doch 
nicht  in  der  Lage  waren,  die  Regierung  fest  zu  handhaben 
(I,  360  ff.).  Hinzu  kommt,  daß,  wie  Pirenne  meint  (I,  S207; 
vgl.  auch  meine  „Untersuchungen  über  den  Ursprung  der 
deutschen  Stadtverfassung*  S.  154,  und  Pirenne,  Revue  Histo- 
rlque  LXIl ,  305)  der  freiheitlichen  Bewegung  der  Bürger- 
schaften gegenüber  die  Haltung  der  geistlichen  Herren  von 
vornherein  eine  andere  als  die  der  weltlichen,  eine  doktrinär- 
feindliche war.  So  bietet  die  Geschichte  Lüttichs  (vgL  auch 
Reinecke,  Geschichte  der  Stadt  Cambrai  bis  1227)  das 
Schauspiel  einer  fast  ununterbrochenen  Folge  von  Empörungen 
und  Umwälzungen  (1,  S.  207 ff.  264 ff.  314 ff.  360 ff.;  II,  S.  35 ff. 
166  ff.  310  ff.),  die  ihr  Ende  jeweils  durch  „Vergleiche*"  und 
„Friedensverträge*  fanden.  Industrie  besaß  die  Stadt  Lüttich 
bis  zum  15.  Jahrhundert  nicht  (S.  36).  Die  „Geschlechter* 
—  Tuchhändler  und  Geldwechsler  —  wurden  durch  enge  Be- 
ziehungen zum  Landadel  seit  Ende  des  13.  Jahrhunderts  dem 
Stadtleben  entfremdet  i) ,  und  die  Folge  war  hier  nach  der 
Brügger  Mette  der  Sieg  der  mit  dem  Klerus,  ihrem  Brotgeber, 
verbündeten  Zünfte  (II,  S.  39  ff.).  Und  trotz  eines  blutigen 
Sieges,  den  Bischof  Adolf  von  der  Marck  mit  seinen  deutschen 
Verwandten,  der  Lütticher  und  Brabanter  Adel  und  nun  auch 
das  Domkapitel  nur  einen  Monat  nach  der  Schlacht  bei 
Cassel  über  die  Städte  erfochten,  ist  es  bis  zur  Einmischung 
Karls  des  Kühnen  dabei  geblieben. 

')  Pirenne  läßt  die  Wandlungen  im  Patriziat  zunächst  Beginn 
des  14.  Jahrhunderts  eintreten,  einen  Teil  der  Folgen  davon  jedoch 
bereits  Ende  des  13.  (11,  S.  39  f.).  Es  ist  das  natürlich  nur  eine 
kleine  Unachtsamkeit  im  Ausdruck ;  denn  es  handelt  sich  um  eine 
Entwicklung,  bei  der  Ursache  und  Folgeerscheinungen  chrono- 
logisch vielfach  ineinander  übergreifen. 


610  F.  Keutgen, 

Es  ist  hier  nur  möglich  gewesen,  einige  Hauptzüge  der 
Entwicklung  zu  wiederholen.  Zuletzt  wurde  aller  Selbst- 
herrlichkeit und  reichen  Mannigfaltigkeit  ein  Ende  bereitet: 
es  kamen  das  Haus  Burgund  und  das  Haus  Habsburg,  beide 
Fremdherrschaften  (II,  S.  474),  und  .hobelten  alle  gleich*.  In- 
des spricht  sich  Pirenne  nachdrücklich  gegen  die  Anschau- 
ung der  „meisten  Historiker*  aus,  als  hätte  die  burgundische 
Verfassungsumwälzung  im  monarchischen  Sinne  «einen  rohen 
Sieg  der  Macht  über  das  Recht'  bedeutet  (II,  S.  400;  vgl.  S.  412). 
Auch  wird  niemand  leugnen  wollen,  daß  die  Zusammenfassung 
all  dieser  eng  verwandten  Territorien  unter  eine  gemeinsame 
Oberverwaltung  und  der  Ausgleich  der  so  vielfachen  wider- 
streitenden Interessen  der  einzelnen  Gruppen,  der  sich  da- 
durch ermöglichte,  einen  Fortschritt  bedeutete.  Es  kam  darauf 
an,  ob  das  Volk  und  seine  Vertreter  den  Wink  verstehen  und 
sich  zur  Verteidigung  der  gemeinsamen  Interessen  des  Ganzen 
zusammenschließen  würden.  Eine  Zeitlang  konnte  es  so 
scheinen.  Indes  wird  es  sich  empfehlen,  von  den  späteren 
Wandlungen  erst  nach  Ausgabe  des  vierten  Bandes  zu  reden, 
da  der  dritte  mit  Albas  Ankunft  im  spannendsten  Augenblicke 
abbricht.  Einstweilen  wird  man  geneigt  sein,  aus  dem  Ver- 
lauf der  älteren  belgischen  Geschichte  die  Lehre  zu  ziehen, 
daß  wenn  dem  belgischen  Volke  trotz  günstigster  Umstände 
und  bewundernswerter  Leistungen  kein  erfreuücheres  Ge- 
schick zuteil  geworden  ist,  die  Schuld  an  einer  übermäßigen 
Neigung  zu  Gewalttätigkeiten  und  zur  extremen  Ausbeutung 
errungener  Vorteile  gelegen  hat.  Ob  diese  Neigung  nur  die 
unvermeidliche  Kehrseite  eines  ungewöhnlichen  Maßes  ge- 
sunder Kraft  darstellt,  mag  andern  zu  untersuchen  überlassen 
bleiben. 

Überhaupt  hätte  man  auf  manche  Fragen  von  dem  Autor 
gern  eingehendere  Antwort  vernommen:  eine  Wirkung  der 
vielfachen  Anregung,  die  seine  Darstellung  gibt.  Einzelheiten 
würden  jedoch  jetzt  zu  weit  führen.  Dankenswert  sind  die 
genealogischen  Übersichten  am  Schluß  des  zweiten  Bandes, 
wenn  auch  einfache  Stammtafeln  vielleicht  noch  zweckmäßiger 
gewesen  wären.  Ein  paar  Wünsche  richten  sich  an  den  Ver- 
lag oder  an  die  Leitung.  Nämlich  nach  Registern  auch  der 
Orte  und  wichtigsten  Sachen ;  ferner  nach  Kolumnentiteln,  die 


Zur  Geschichte  Belgiens  im  Mittelalter.  611 

den  Inhalt  der  Seiten  geben  (was  hilft  es  dem  Leser,  wenn 
er  rechts  vierzigmal  liest  » Veränderungen  im  politischen  und 
sozialen  Leben''  oder  dreißigmal  „die  Politik  der  Fürsten*). 
Es  ist  einfache  Pflicht  der  Buchverfertiger,  die  Benutzung  der 
Bücher  auf  jede  erdenkliche  Weise  zu  erleichtern.  In  anderen 
Werken  der  Sammlung,  wie  Hartmanns  Geschichte  Italiens 
und  Kretschmayrs  Geschichte  von  Venedig,  die  auch  einen 
erfreulicheren  Druck  haben,  ist  das  übrigens  alles  besser.  Je 
wertvoller  aber  das  Buch,  desto  wichtiger  sind  auch  diese 
Dinge. 


Literaturbericht. 


Das  Rassenvorurteil.  Von  Jean  PInot.  Autorisierte  Übersetzung 
aus  dem  Französischen  von  E.  Müller-Röder.  Berlin,  Hü- 
peden  £  Merzyn.    1906.   VIII  u.  428  S. 

Die  Rassenfrage  spielt  in  der  wissenschaftlichen  Dis- 
kussion der  letzten  Jahre  keine  unerhebliche  Rolle.  Seit  der 
Schrift  des  Grafen  Gobineau  hat  man  von  verschiedenen  Ge- 
sichtspunkten aus  die  Bedeutung  der  Rasse  für  die  Geschichte 
und  Kultur  der  Völker  festzustellen  unternommen.  Man  geht 
dabei  im  allgemeinen  von  der  Annahme  aus,  daß  es  be- 
stimmte anthropologische  Dauertypen  gibt,  die  ihre  charakte- 
ristischen Merkmale  durch  die  ganze  Generationsfolge  festge- 
halten haben  und  denen  auch  ganz  bestimmte  seelische  Eigen- 
schaften zukommen.  Die  äußeren  somatischen  Kennzeichen 
lassen  zugleich  auf  psychologische  Wesensverschiedenheiten 
schließen,  die  für  die  Geschichte  der  Völker  von  ausschlag- 
gebendem Einfluß  gewesen  sind  und  es  noch  sind.  Der 
Hauptgedanke,  der  im  Grunde  immer  wieder  zum  Vorschein 
kommt,  ist  dabei,  daß  es  bevorzugte,  herrschende,  „geniale*" 
Rassen  auf  der  einen,  niedrigere,  dienende,  geistig-minder- 
werte Rassen  auf  der  anderen  Seite  gibt  und  immer  gegeben 
hat.  Diese  Theorie,  die  sich  durch  ihre  bestrickende  Einfach- 
heit auszeichnet,  hat  dann  mannigfache  Anwendungen  auf 
geschichtliche,  soziale  und  kulturelle  Probleme  gefunden,  und 
sie  empfiehlt  sich  vor  allem  dem  Laien  wegen  der  großen 
Bequemlichkeit,  mit  der  sie  schwierige  Probleme  scheinbar 
in  plausibelster  Weise  zu  lösen  versteht.  Der  wissenschaft- 
liche Dilettantismus  hat  sich  denn  auch  ihrer  bemächtigt  und 
sowohl  in  Frankreich  wie  in  Deutschland,  weniger  bei  anderen 


Allgemeines.  613 

Nationen,  seine  behenden  Folgerungen  —  so  z.  B.  besonders 
die  Eingeborenenfrage  in  den  Kolonien  —  daraus  gezogen. 
Demgegenüber  unternimmt  es  nun  Finot,  dessen  Werk  in 
einer  gut  lesbaren  und  zuverlässigen  Übersetzung  hier  vor- 
liegt, die  Grundlagen  der  Rassentheorie  einer  kritischen  Unter- 
suchung zu  unterziehen.  Er  behandelt  demgemäß  zuerst  die 
anthropologischen  und  physiologischen  Unterscheidungsmerk- 
male der  Rassen,  dann  die  Bedeutung  der  Umgebung  und  die 
Rassenkreuzung,  sowie  den  angeblich  psychologischen  Habitus 
der  Rasseneinheit  der  lateinischen  und  germanischen  Völker 
und  endlich  im  besonderen  die  Negerfrage.  F.  kommt  über- 
all zu  einem  durchaus  ablehnenden  Votum:  weder  somatisch 
noch  psychologisch  lasse  sich  eine  Ungleichheit  des  Menschen- 
geschlechtes beweisen.  Somatisch  nicht,  weil  gleiche  oder 
ähnliche  Merkmale  bei  ganz  verschiedenartigen  Rassen  sich 
finden,  die  durchaus  keine  innere  Verwandtschaft  zueinander 
haben  —  Dolichokephalen  sind  neben  den  Germanen  auch 
die  Bantus!  —  und  umgekehrt  die  heterogensten  Individuen 
bei  demselben  Volke  vorkommen.  Psychologisch  nicht, 
weil  die  Geistigkeit  von  dem  Stande  der  kulturellen  Entwick- 
lung und  einer  großen  Menge  direkt  aufzeigbarer  Ursachen 
abhängt.  Es  gibt  demnach  auch  keine  Völker,  die  dazu  ver- 
urteilt sind,  ewig  den  anderen  untergeordnet  zu  sein  —  auch 
die  Neger  nicht.  »Es  gibt  keine  höheren  und  niederen  Rassen 
—  es  gibt  nur  Rassen  und  Völker,  die  innerhalb  oder  außer- 
halb des  kulturellen  Einflusses  leben  *"  (S.405).  Und  dieses  ist 
im  ganzen  das  Ergebnis:  «Die  unter  dem  Einfluß  der  Um- 
gebung entstandenen  Urrassen  haben  nie  aufgehört,  sich  ge- 
legentlich ihrer  namentlich  durch  die  Völkerwanderungen  ver- 
anlaßten  Annäherung  miteinander  zu  mischen.  Die  folgenden, 
unter  dem  Einfluß  der  Umgebung  stattfindenden  Kreuzungen, 
die  allenthalben  und  ohne  Unterlaß  wirken,  haben  diese  Reihe 
von  Zwischentypen  ins  Leben  gerufen,  die  die  Menschheit 
miteinander  verknüpfen.  Die  Kreuzung  endlich  hat  den  durch 
die  Umgebung  geschaffenen  Typen  ihr  nivellierendes  Gepräge 
aufgedrückt*  (S.  210).  Demnach  scheint  für  F.  „die  allge- 
meine Mischung  aller  mit  allen  das  oberste  Gesetz  der  histo- 
rischen Fortentwicklung  zu  sein*^ :  es  ist  der  strikte  Gegenpol 
der  einseitigen  Rassentheoretiker. 


614  Literaturbericht. 

Was  in  dem  Buche  vor  allem  mangelhaft  erscheint,  das 
ist  das  Fehlen  eines  bestimmten  Rassenbegriffes,  den  F. 
zugrunde  legen  mußte.  Es  ist  allerdings  richtig,  daß  die  An- 
hänger der  Rassenlehre  durchaus  im  unklaren  über  die  Trag- 
weite des  Begriffes  sind,  daß  das  Wort  einen  vielfach  schil- 
lernden und  schwankenden  Sinn  angenommen  hat,  der  eine 
mehrfache  —  linguistisch -psychologische,  anthropologische, 
biologische  und  soziologische  —  Bedeutung  angenommen 
hat.  Das  entbindet  aber  doch  den  Kritiker  nicht  von  der 
Notwendigkeit,  seinerseits  mit  einem  festen  Begriffe  oder 
mindestens  mit  einem  eindeutigen  Sprachgebrauch  zu  arbeiten 
und  auf  die  verschiedenen  Anwendungen  hinzuweisen.  Denn 
sonst  kann  es  geschehen,  wie  es  tatsächlich  bei  F.  der  Fall 
ist,  daß  er  an  verschiedenen  Stellen  und  bei  verschiedenen 
Autoren  Verschiedenes  darunter  versteht.  F.  macht  selbst 
eine  durchaus  zutreffende  und  entscheidende  Bemerkung 
darüber:  daß  nämlich  der  ganze  Rassebegriff  ein  logisches 
Gepräge  an  sich  trägt,  daß  man  gewisse  äußere  Merkmale 
unter  einem  Sammelnamen  zusammenfaßt,  um  dadurch  eine 
bequeme,  abkürzende  Bezeichnung  zu  haben:  diesem  kon- 
ventionellen Ausdruck  vindiziert  man  dann  reale  Wesenheit  und 
betrachtet  die  Varietäten  und  Abweichungen  von  dem  Begriffs- 
schema als  reale  Wesensverschiedenheiten  wirklich  vorhandener 
Urrassen,  während  man  es  eben  nur  mit  einem  Einteilungs- 
prinzip zu  tun  hat.  „Im  Auge  des  Laien  aber  erlangt  dieses  an 
sich  völlig  logische  Verfahren  den  Anschein  einer  realen  selb- 
ständigen Materie,  während  Rasse  nur  eine  abstrakte  Vorstel- 
lung ist,  die  über  unser  Begriffsvermögen  hinaus  keine  Wesen- 
heit besitzt*  (S.73).  Aber  dieser  durchaus  richtige  Grundgedanke 
wird  im  Laufe  der  Arbeit  nun  nicht  festgehalten,  weil  eben  von 
vornherein  die  verschiedenen  Begriffe  desselben  Wortes  nicht 
auseinander  gehalten  werden.  Dadurch  hat  sich  aber  F.  die 
Beweisführung  erheblich  zu  leicht  gemacht.  So  wird  von  den 
fortgeschritteneren  und  ernsteren  Anthroposoniologen  (z.  B. 
Woltmann)  ja  behauptet,  daß  Italiener,  Deutsche  und  Franzosen 
verschiedene  Rassenbestandteüe  in  sich  beherbergen  und  daß 
trotz  aller  Kreuzung  doch  ein  bestimmter  Typus  sich  durch- 
setzt. Wenn  aber  nun  F.  diese  Völker  von  vornherein  als 
Einheiten  annimmt  und  dann  nachweist,  daß  sie  ganz  hete- 


Alte  Geschichte.  615 

rogene  Geistesrichtungen  enthielten,  so  hat  er  jene  These 
verschoben,  aber  noch  nicht  bündig  widerlegt.  Denn  es 
könnte  innerhalb  eines  Volkes  sehr  wohl  dichterische  und 
künstlerische  Begabung  an  bestimmte  biologische  Merkmale 
geknüpft  sein,  die  eine  bestimmte  Ahnenreihe  (»Rasse**)  reprä- 
sentieren —  wenn  das  nämlich  nachgewiesen  werden  könnte. 
Dieser  Nachweis  scheint  mir  bisher  in  keiner  Weise  erbracht; 
aber  offenbar  kann  die  Widerlegung  dann  nicht  in  der  Weise 
erfolgen,  wie  F.  es  getan  hat.  Entschuldigend  muß  man  aller- 
dings sagen,  daß  die  verschiedenen  Rassentheoretiker  so  wider- 
spruchsvoll sind,  auch  so  verschiedenes  beweisen  wollen,  daß 
sie  in  ihrer  Gesamtheit  gar  nicht  durch  einzelne  Urteile  zu 
fassen  sind.  F.s  Verdienst  ist  es,  einen  Teil  der  Ungereimtheiten, 
zu  denen  die  Rassenfanatiker  kommen,  aufgezeigt  und  das 
Unhaltbare  vieler  ihrer  anthropologischen  Beweise  von  neuem 
vorgeführt  zu  haben;  auch  hat  er  mit  Recht  die  Einwirkung 
äußerer  Faktoren  auf  die  kulturelle  Entwicklung  wieder  in  den 
Vordergrund  gestellt  und  manche  Vorurteile  beseitigt.  Eine 
Entscheidung  über  die  Bedeutung  der  anthropologischen  und 
biologischen  Momente  für  Kultur  und  Geschichte  kann  aber 
damit  noch  nicht  gegeben  sein:  die  bleibt  nach  wie  vor  ein 
ernsthaftes  Problem  auch  für  die  Geschichtswissenschaft  — 
ganz  unabhängig  von  den  Modeströmungen  des  Tages  und 
von  den  einseitigen  Übertreibungen  der  Rasseanhänger  und 
Rassepolitiker. 

Leipzig.  F,  Eulenburg, 

Die  Makedonen,  ihre  Sprache  und  ihr  Volkstum.  Von  Dr.  Otto 
Hoffmann,  ao.  Professor  an  der  Universität  Breslau.  Göt- 
tingen, Vandenhoeck  £  Ruprecht.     1906.    VI  u.  284  S. 

Die  Geschichte  der  Frage,  welchen  Stammes  die  Make- 
donen gewesen  sind,  bietet  ein  charkteristisches  Beispiel  für 
die  Abhängigkeit  der  philologischen  Kritik  von  dem  Wortlaut 
der  Quellen.  Weil  die  Makedonen  in  der  Kultur  hinter  den 
übrigen  Griechen  zurückgeblieben  waren  und  einen  rauhen 
Dialekt  sprachen,  werden  sie  von  den  Schriftstellern  des 
4.  Jahrhunderts  als  , Barbaren**  bezeichnet;  und  das  war  für 
die  große  Mehrzahl  der  Philologen  bis  in  unsere  Zeit  hinein 
Grund  genug,  die  Makedonen  als  ein  ungriechisches  Volk  zu 


6 1 6  Literaturbericht 

betrachten.  Ein  Nachhall  dieser  Auffassung  findet  sich  selbst 
in  dem  sonst  so  verständigen  Buche  von  Kretschmer.  Und 
doch  hatten  schon  lange  vorher  Droysen  vom  historischen,  Fick 
vom  sprachwissenschaftlichen  Standpunkte  aus  das  Griechen- 
tum der  Makedonen  erwiesen.  Es  gibt  auf  dem  ganzen  Ge- 
biete der  Altertumswissenschaft  kaum  eine  zweite  Frage  von 
gleich  weittragender  Bedeutung;  hängt  doch  nichts  Geringeres 
davon  ab,  als  unsere  ganze  Auffassung  der  griechischen  Ge- 
schichte seit  Philipp  und  Alexander.  Um  so  dankenswerter 
ist  es,  daß  Hoffmann  die  Frage  einer  neuen  Prüfung  unter- 
worfen hat  —  auf  Grund  eines  Materials,  wie  es  in  solcher 
Vollständigkeit  noch  niemand  zusammengebracht  hatte. 

Vf.  beginnt  mit  einer  Untersuchung  über  die  , Quellen 
der  altmakedonischen  Sprache*.  Hier  ist  der  Nachweis  wichtig, 
daß  der  aus  Makedonien  gebürtige  Grammatiker  Amerias 
„weder  ausschließlich  makedonische  Worte  gesammelt  hat, 
noch  von  den  späteren  Glossographen  lediglich  um  des  make- 
donischen Wortschatzes  und  Dialektes  willen  benutzt  und  aus- 
geschrieben worden  ist*.  Es  dürfen  also  Glossen,  die  unter 
Amerias'  Namen  überliefert  sind,  nicht  ohne  weiteres  als 
makedonisch  in  Anspruch  genommen  werden,  wie  man  das 
bisher  stets  getan  hat.  Ob  dagegen  die  Hoffnung,  aus  dem 
heutigen  makedonischen  Dialekt  etwas  für  unsere  Kenntnis 
des  Altmakedonischen  zu  gewinnen  (S.  33),  sich  erfüllen  wird, 
will  mir  sehr  zweifelhaft  scheinen. 

Es  folgt  dann,  im  zweiten  Abschnitt,  eine  ausführliche 
Behandlung  des  altmakedonischen  Wortschatzes,  soweit  er 
uns  überliefert  ist.  Es  ergibt  sich,  daß  der  Gesamtcharakter 
des  makedonischen  Dialektes  durchaus  griechisch  ist;  die 
nichtgriechischen  Elemente,  die  ja  in  einem  solchen  Grenz- 
lande mit  zum  Teil  gemischter  Bevölkerung  nicht  fehlen  können, 
treten  demgegenüber  durchaus  zurück  und  «beschränken  sich 
auf  einen  ziemlich  engen  Kreis  von  Gegenständen  und  Be- 
griffen* (S.  112).  Der  Dialekt  zeigt  nahe  Verwandtschaft  mit 
dem  Thessalischen ;  es  kann  also  von  einer  Hellenisierung 
Makedoniens  von  den  chalkidischen  Kolonien  aus  nicht  die 
Rede  sein.  Dies  findet  dann  seine  vollständige  Bestätigung 
durch  die  Analyse  sämtlicher  uns  erhaltenen  makedonischen 
Personennamen,   der  der  dritte  Abschnitt  gewidmet  ist    Sie 


Alte  Geschichte.  617 

sind  alle  ihrer  Bildung  und  ihren  Lauten  nach  „rein  griechisch^, 
in  »ihrer  dialektischen  Färbung  den  thessalischen  Namen  am 
nächsten  verwandt*.  Da  diese  Namen  zum  Teil  in  das  6. 
und  5.  Jahrhundert  zurückgehen,  ist  eine  Entlehnung  aus- 
geschlossen und  damit  das  griechische  Volkstum  der  Make- 
donen  sichergestellt.  Auf  die  Ortsnamen,  die  ja  zum  großen 
Teil  ebenfalls  rein  griechisch  sind,  geht  der  Vf.  nur  gelegent- 
lich ein. 

Der  vierte  Abschnitt  behandelt  den  makedonischen  Dia- 
lekt. Die  am  meisten  hervortretende  Eigentümlichkeit  des 
Makedonischen  besteht  bekanntlich  darin,  daß  hier  die  Mediae 
die  Stelle  der  gemeingriechischen  Aspiratae  vertreten ;  z.  B. 
Begeyixa  für  OiQivixtj.  Kretschmer  hat  deswegen  —  und  zwar 
nur  wegen  dieses  einzigen  Grundes  —  das  Makedonische  für 
eine  vom  Griechischen  verschiedene  Sprache  erklärt.  Dem 
gegenüber  hat  schon  Hatzidakis  betont,  daß  es  ein  metho- 
discher Fehler  ist,  eine  einzelne  lautliche  Erscheinung  heraus- 
zugreifen und  darauf  hin  über  den  Charakter  einer  Sprache 
zu  urteilen.  „Und  würde  denn  wirklich,*  setzt  der  Vf.  hinzu, 
,der  Übergang  einer  Tenuis  aspirata  in  die  Media  in  einem 
griechischen  Dialekte  unmöglich  sein,  widerspricht  er  etwa 
einem  bestimmten  Grundgesetze  des  Griechischen  ?  Ich  wüßte 
nicht.*  Vf.  glaubt  aber  eine  noch  einfachere  Erklärung  geben 
zu  können.  Er  nimmt  an,  daß  die  griechischen  Aspiratae  in 
ältester  Zeit  nicht  Tenues  aspiratae,  sondern  stimmlose  Mediae 
aspiratae,  also  nicht  stimmlose  harte,  sondern  stimmlose 
weiche  Explosivlaute  mit  nachklingendem  Hauchlaute  waren. 
Im  Makedonischen  sind  dann  aus  dem  stimmlosen  Mediae 
aspiratae  stimmhafte  Mediae  aspiratae  geworden.  „Das  ist 
ein  Lautwandel,  der  für  das  Griechische  als  ein  einzeldialek- 
tischer Vorgang  um  so  weniger  Befremden  erregt,  als  er  unter 
bestimmten  Bedingungen  im  ganzen  griechischen  Sprachgebiet 
eingetreten  ist.*  Die  Begründung  möge  man  bei  dem  Vf. 
selbst  nachlesen,  der  sich  hier  in  Gegensatz  zu  der  Auf- 
fassung Brugmanns  stellt. 

Der  letzte  Abschnitt  handelt  von  der  „Gründung  des 
makedonischen  Reiches*.  Vf.  betritt  hier  ein  Gebiet,  auf  dem 
er  nicht  Fachmann,  ist,  und  hat  sich  deswegen  damit  begnügt, 
seinen  Standpunkt  auf  wenigen  Seiten  in  knappster  Form  dar- 

Historteche  ZeitechrUt  (101.  Bd.)  a.  Folge  6.  Bd.  40 


618  Literaturbericht 

zulegen.  Ich  hätte  im  einzelnen  manches  einzuwenden,  sehe 
aber  um  so  lieber  davon  ab,  als  ich  in  der  Hauptsache  ein- 
verstanden bin.  Von  den  drei  Exkursen,  die  das  Buch 
schließen,  mag  der  über  Kassandros'  Bruder  Alexarchos  her- 
vorgehoben werden ;  dagegen  halte  ich  das,  was  der  Vf.  über 
Arrabaeos  sagt,  nicht  für  richtig;  Polyaenos  VII,  30  bezieht 
sich  keineswegs  auf  die  Belagerung  von  Kyzikos  im  Jahre  319. 

Ob  nun,  nach  den  erschöpfenden  Darlegungen  des  Vf., 
die  Frage  nach  der  Nationalität  der  Makedonen  endlich  zur 
Ruhe  kommt?  Ich  glaube  kaum,  denn  es  wird  immer  Leute 
geben,  die  durch  Gründe  nicht  zu  überzeugen  sind.  Jeden- 
falls aber  darf  niemand,  der  sich  mit  griechischer  und  über- 
haupt mit  alter  Geschichte  beschäftigt,  das  Buch  ungelesen 
lassen. 

Rom.  Beloch. 

Papst  Gregor  VII.,  König  Heinrich  IV.  und  die  deutschen  Fürsten 
im  Investiturstreit.  Dissertation  von  Albert  Predeek. 
Münster  1907.    XI  u.  104  S. 

Fleißige,  sorgfältige  Arbeit,  scharfe  Musterung  der  QueUen, 
wodurch  manche  Unstimmigkeit  herausgestellt  wird,  manche 
aufklärende  Darlegungen  kann  man  der  vorliegenden  Disser- 
tation zuerkennen.  Daß  Papst  Gregor  andere,  weitere  Ab- 
sichten und  Ziele  verfolgte,  als  die  rebellischen  Fürsten,  —  auch 
speziell  hinsichtlich  der  Besetzung  des  deutschen  Thrones  — , 
daß  König  Heinrich  die  Erfolge  seiner  Politik  der  geschickten 
Trennung  der  beiderseitigen  Interessen  verdankte,  ist  jetzt 
ziemlich  aUgemein  anerkannt.  Zur  klaren  Erkenntnis  dieser 
Differenzen  trägt  die  Dissertation  Predeeks  Gutes  bei.  Aber 
der  Gesichtspunkt,  „daß  die  fürstliche  Politik  ganz  andere 
Ziele  verfolgte,  als  den  Papst  zu  unterstützen '^  (Seite  X), 
wird  mit  einer  Einseitigkeit  eingenommen  und  durchgehalten, 
die  sich  bis  in  die  Quellenkritik  und  -Interpretation  einschnei- 
dend geltend  macht  und  den  Tatsachen,  den  Anschauungen 
der  Zeit  nicht  gerecht  wird. 

Am  deutlichsten  und  einschneidendsten  zeigt  sich  das 
Seite  71  ff.  bei  dem  Versuche,  nachzuweisen,  daß  die  in  Tribur 
versammelten  Fürsten  den  Papst  nicht  zu  einem  Entscheidungs- 
tage  nach   Deutschland   eingeladen   haben,    sondern   daß  er 


Mittelalter.  619 

„sich  selbst  einlud''  und  jene  vielmehr  sein  Kommen  ver- 
eitelten, weil  sein  Eingreifen  in  Deutschland  ihre  Pläne  gestört 
haben  würde. 

Gegen  diese  Behauptung  sprechen  zunächst  die  positiven 
Angaben  von  Lampert,  Berthold,  Bernold,  Bruno,  Bonitho, 
sowie  —  um  von  dem  femerstehenden  Paul  v.  Bernried 
abzusehen  —  der  Vita  Anselmi,  welche  eine  Einladung  des 
Papstes  seitens  der  Fürsten  berichten,  also  übereinstimmende 
Angaben  zeitgenössischer,  z.  T.  wohlunterrichteter  Autoren, 
die,  voneinander  unabhängig,  in  den  verschiedensten  Gegenden 
lebten  und  schrieben.  Vf.  meint,  diese  Zeugnisse  entwerten 
zu  können,  indem  er  Seite  72  Note  geltend  macht:  erstens, 
sie  hätten  alle  die  Tendenz  gehabt  und  wären  darauf  aus- 
gegangen, „Zusammenhang  zwischen  Papst  und  Fürsten  her- 
zustellen**;  zweitens,  es  hätte,  weil  die  Fürstengesandtschaft, 
die  nach  Rom  ging,  die  Selbsteinladung  Gregors  mit  zurück- 
brachte, an  und  für  sich  leicht  die  Meinung  entstehen  können, 
sie  sei  von  vorneherein  mit  einer  Einladung  beauftragt  gewesen 
—  also  einen  ganz  allgemeinen  Irrtum  der  Schriftsteller,  auch 
der  Gregor  nahestehenden  in  Italien,  müßte  man  annehmen, 
und  eine  entsprechende  wie  auf  Verabredung  hüben  und 
drüben  auftretende  politische  Tendenz,  um  Pr.s  Ansicht 
glaubhaft  erscheinen  zu  lassen.  Pr.  sucht  die  offenbare 
Schwäche  dieser  Argumente  zu  stützen  durch  ein  noch 
schwächeres  Argumentum  ex  silentio:  er  beruft  sich  darauf, 
daß  Gregor  in  seinen  Briefen  (Ep.  coli.  17  und  18)  sich  nicht 
ausdrücklich  auf  eine  an  ihn  ergangene  Einladung  bezieht, 
sondern  nur  sein  Kommen  wie  von  sich  aus  im  allgemeinen 
ankündigt. 

In  Konsequenz  seiner  Auffassung  sieht  Pr.  sich  weiterhin 
<S.  79  f.)  veranlaßt,  die  Verhinderung  von  Gregors  Reise  nach 
Deutschland  den  Fürsten  zuzuschreiben,  die  ihr  Interesse,  die 
Entfernung  Heinrichs  vom  Throne  und  eine  Neuwahl,  durch 
die  päpstliche  Einmischung  bedroht  gesehen  und  ihm  deshalb 
nicht  das  erforderliche  Geleit  gestellt  hätten.  Hier  setzt  sich 
Pr.  in  direkten  Widerspruch  mit  der  Angabe  des  schwäbischen 
Annalisten,  die  er  stillschweigend  übergeht,  die  Fürsten  haben 
aus  Furcht  vor  den  Ränken  Heinrichs  „quamvis  inviti  et  no' 
lentes^  unterlassen,  das  Geleit  zu  stellen,  setzt  sich  in  Wider- 

40* 


620  Literaturbericht 

Spruch  mit  den  Angaben  anderer  Autoren,  die,  als  Grund  für 
die  Verhinderung  der  Reise,  Heinrichs  Erscheinen  in  Italien 
berichten,  wie  mit  der  Äußerung  des  Papstes  selbst  (Reg.  IV,  23): 
y^sed  quia  defuerunt,  qui  nos  secundum  quod  disposUum  erat 
conducerent  impediii  adventu  regis  in  Italiam  in  Langobardia 
remansimus'' j  eine  Äußerung,  durch  die  jedenfalls  die  Ankunft 
des  Königs  in  Italien  als  Hinderungsgrund  der  Reise  bezeichnet 
wird,  auch  wenn  man  impediti  usw.  nicht  zum  Vordersatz, 
sondern  zum  Nachsatz  zieht.  Gegen  diese  Zeugnisse  kann 
es  m.  E.  nicht  aufkommen,  wenn  man  mit  Pr.  die  Antworten 
Gregors  (IV,  12  und  Ep.  coli.  20)  auf  die  Entschuldigung  der 
Fürsten,  sie  könnten  in  diesen  Zeitläufen  wegen  vieler 
Schwierigkeiten  kein  Geleit  senden,  in  ironischem  oder 
sarkastischem  Sinne  interpretiert,  als  wolle  der  Papst  andeuten, 
daß  er  den  eigentlichen  Grund  der  Geleitsverweigerung,  den 
bösen  Willen  der  Fürsten,  wohl  durchschaue,  wenn  er  das 
auch  nicht  geradeheraus  sage,  um  sich  mit  ihnen  nicht  ganz 
zu  überwerfen. 

Mir  scheint,  durch  diese  Beweisführungen  wird  kein  halt- 
barer Boden  für  Pr.s  Auffassung  geschaffen,  und  damit  entfällt 
ein  wesentlicher  Grundstein  derselben. 

Aber  ich  meine,  daß  diese  Auffassung  auch  im  ganzen 
den  Anschauungen  und  Motiven  jener  Zeit  nicht  gerecht  wird. 
P.  sieht  die  Fürsten  wesentlich  wie  moderne,  , aufgeklärte'' 
Politiker  an ;  von  religiösen,  kirchlichen  Anschauungen  ist  bei 
ihnen  gar  nicht  die  Rede;  sagt  Vf.  doch  Seite  98  zusammen- 
fassend von  den  Laiengroßen:  „Die  Aussicht  auf  Unterstützung 
(durch  den  Papst  und  dessen  Anhänger)  in  dem  Kampfe  gegen 
den  König  trieb  sie  dazu,  kirchliches  Interesse  zu  heucheln.' 
Er  leugnet  also  das  Hervortreten  solchen  Interesses  auf  ihrer 
Seite  nicht,  will  aber  an  dessen  Wahrheit  nicht  glauben.  Das 
ist  mutatis  mutandis  so,  wie  es  von  gewissen  Geschichts- 
anschauungen aus  geschieht,  als  ob  man  die  Teilnahme  eines 
Friedrich  des  Weisen  und  anderer  Fürsten  für  Luthers  Refor- 
mation lediglich  aus  weltlich-politischen  Motiven  (landesherr- 
licher Autonomie,  Opposition  gegen  die  römische  Finanz- 
ausbeutung u.  dgl.)  herleitet  und  Glaubensmotive  nicht  aner- 
kennt. Man  kann  dergleichen  nur  für  einen  großen  Ana- 
chronismus halten  und  wird  sich  schwerlich  überzeugen,  daß 


Mittelalter.  621 

die  Menschen  in  der  Zeit  des  Investiturstreites  über  dem 
Glauben  an  die  Autorität  des  rechtmäßigen  Stellvertreters 
Christi  standen,  daß  sie  nur  eine  politische,  nicht  auch  eine 
moralische  Stütze  bei  ihm  suchten,  daß  ihnen  das  Zusammen- 
gehen mit  ihm  nicht  auch  als  eine  Gewissenssache  erschien. 
Die  Briefe  der  Sachsenfürsten  an  Gregor  während  des  Thron- 
kampfes in  Deutschland  sprechen  in  dieser  Hinsicht  eine 
beredte  Sprache  gerade  da,  wo  sie  die  Grenze  der  Ehrer- 
bietung gegen  den  apostolischen  Stuhl  zu  streifen  gedrungen 
sind. 

Soweit  diese  einseitige  Grundauffassung  des  Vf.  sich 
geltend  macht,  wird  man  seinen  Ausführungen  m.  E.  nicht 
zustimmen  können.  E.  B, 


Die  Rolandsbilder  Deutschlands  in  dreihundertjähriger  Forschung 
und  nach  den  Quellen.  Von  K.  Heldmann.  Halle  a.  S., 
M.  Niemeyer.     1904.    VHI  u.  172  S. 

Derselbe,  Rolandsspielfiguren,  Richterbilder  oder  Königsbilder? 
Ebenda  1905.    210  S. 

Die  Deutung  der  Rolandssäulen  hat  eine  interessante  Ge- 
schichte. Vor  etwa  20  Jahren  —  um  nur  über  die  letzten 
zwei  Jahrzehnte  zu  berichten  —  sah  man  sie  als  Marktzeichen 
an,  und  da  um  jene  Zeit  auch  die  Theorie,  welche  das  Stadt- 
recht aus  dem  Marktrecht  herleitete,  in  den  Vordergrund  zu 
treten  begann,  so  zeigten  Juristen  und  Historiker  den  Rolands- 
säulen lebhafteste  Aufmerksamkeit.  Diese  wurde  in  den 
Kreisen  der  speziellen  Stadtrechtsforscher  etwas  geringer,  als 
die  Blütezeit  der  erwähnten  Theorie  ihr  Ende  erreichte.  Aber 
jene  Kreise  beschäftigten  sich  immerhin  auch  jetzt  eifrig  mit 
den  Rolandssäulen.  Die  größte  Verbreitung  fand  in  dieser 
Zeit  deren  Deutung  als  Gerichtsbilder,  die  am  eingehendsten 
Rietschel  vertrat.  Ein  neuer  Abschnitt  wurde  dann  eingeleitet 
durch  das  erste  der  oben  genannten  Bücher  Heldmanns, 
welches  die  Rolandssäulen  gewissermaßen  von  der  Verfassungs- 
geschichte loslöst:  es  will  sie  als  bloße  Spielfiguren  erklären 
und  gibt  sich  demgemäß  als  einen  Beitrag  zur  Geschichte  der 
mittelalterlichen  Spiele.  Nun  treten  die  Philologen,  die  be- 
rufenen Forscher  auf  dem  Gebiete   der  Privataltertümer  des 


622  Literatlirbericht 

Mittelalters,  auf  den  Plan.  Zwar  nehmen  noch  Juristen  und 
Historiker  an  der  Forschung  Teil,  und  H.  selbst  schreibt  zur 
Verteidigung  seiner  Theorie  ein  neues  Buch.  Aber  er  erklärt 
eben  hier  (S.  205),  sich  nunmehr  von  der  Rolandforschung 
zurückziehen  zu  wollen.  Man  hat  (Jostes,  Roland  in  Schimpf 
und  Ernst,  Dortmund  1906,  S.  6)  ihm  daraus  einen  Vorwurf 
gemacht;  jedoch  nicht  mit  Recht,  da  der  Historiker  andere 
Aufgaben  zu  lösen  hat  als  die  Erforschung  der  Privatalter- 
tUmer.  H.s  Kontroverse  mit  Jostes  ist  ein  Streit  vor  dem 
Forum  der  Philologie. 

Es  ist  freilich  die  Frage,  ob  H.  Recht  hat  und  ob  dem- 
gemäß die  Veriassungshistoriker  das  Rolandproblem  fallen 
lassen  können.  Obwohl  ihm  vielerlei  Zustimmung  zu  teil  ge- 
worden ist  (vgl.  z.  B.  Fr.  Kauffmann  in  d.  Ztschr.  f.  deutsche 
Philologie  1906,  S.  278  ff.),  wird  man  seine  These  doch  ab- 
lehnen müssen.  Dem  Urteil  Rietschels  in  der  Histor.  Viertel- 
jahrschrift 1906,  S.  535  ff.  (vgl.  ferner  R.  Schröder  in  der 
Savigny-Ztschr.,  Germ.  Abt.  Bd.  27,  S.  457  ff.  und  Kampers, 
Deutsche  Literaturztg.  1906,  Sp.  3234  f.)  trete  ich  durchaus 
bei.  Einen  vernichtenden  Schlag  gegen  H.  hat  auch  W.  Stein 
(Hansische  Geschichtsblätter  1906,  S.  139  ff.;  vgl.  Gott.  Gel. 
Anzeigen  1907,  S.  352)  geführt  (in  einer  Quellenfrage).  Ich 
sehe  nach  wie  vor  in  den  Rolanden  Richterbilder.  Wenn  wir 
somit  in  der  Hauptsache  H.s  Ausführungen  verwerfen,  so  er- 
kennen wir  gerne  an,  daß  seine  beiden  Bücher  viel  Gelehr- 
samkeit, namentlich  auf  dem  Gebiet  der  Trachtengeschichte, 
enthalten.  Er  ist  berechtigt,  im  Nebentitel  sie  als  Beitrag  zur 
Kulturgeschichte  zu  bezeichnen.  Es  mag  femer  seine  sehr 
gründliche  Kenntnis  nicht  bloß  der  neuesten,  sondern  auch 
der  ältesten  Rolandliteratur  noch  besonders  hervorgehoben 
werden.  Allerdings  hat  das,  was  er,  in  Nebenuntersuchungen, 
zur  Quellenkritik  beisteuert,  teilweise  nicht  die  Probe  bestanden 
(s.  W.  Stein  a.  a.  0.).i) 

Freiburg  i.  B.  G.  v.  Below. 

*)  Zur  Literatur  über  das  Rolandsproblem  vergleiche  noch: 
Heck,  Die  Rolandsstelle  des  Bremer  Henricianums,  Histor.  Viertel- 
jahrschrift 1906,  S.  305«.;  Liter.  Zentralblatt  1906,  Nr.  10,  Sp.  349 
und  Nr.  38,  Sp.  1294;  Puntschart,  Mitteilungen  des  Instituts  1903, 
S.  499;  H.  Z.  98,  S.  207  und  100,  S.  665  (über  Huizingas  Beitrag). 


Mittelalter.  623 

Dietrich  von  Nieheim.  Zijne  opvatting  van  het  concilie  en  zijne 
kroniek  door  Dr,  W.  J*  M.  Malder,  S.  J.  Amsterdam  und 
Löwen,  van  der  Vecht.    1907.    XXV,  215  und  XXIX,  88  S. 

Das  ziemlich  nachlässig  gedruckte  Buch  hat  seinen  Ausgang 
von  der  Untersuchung  einer  der  Universitätsbibliothek  zu 
Leiden  angehörenden  Handschrift  des  16.  Jahrhunderts  ge- 
nommen, die  Professor  Blök  auf  die  Bitte  des  Bibliothekars 
P.  C.  Molhuysen  vornehmen  ließ.  In  dieser  Handschrift  fanden 
sich  Bruchstücke  der  Chronik  Dietrichs,  die  zum  teil  mit  den 
von  Sauerland  in  den  Mitteilungen  des  Insttiuts  für  öster- 
reichische Geschichtsforschung  VI,  S.  583—614  veröffentlichten 
Fragmenten  identisch  sind,  überdies  aber  noch  viar  bisher 
unbekannte  Stücke  aufweisen.  Da  Mulder  während  der  Unter- 
suchung das  Bedürfnis  empfand,  sich  eingehender  über  den 
Lebensgang  und  die  Anschauungen  des  merkwürdigen  Mannes 
zu  unterrichten,  dem  diese  Chronik  verdankt  wird,  sind  noch 
Forschungen  über  Dietrichs  Stellung  zur  Konzilienfrage  hin- 
zugekommen, so  daß  der  vorliegende  Band  zwei  verschiedene, 
nur  lose  miteinander  zusammenhängende  Arbeiten  enthält. 
Von  vornherein  darf  gesagt  werden,  daß  beide  Teile  ihr  Ver- 
dienst haben.  Das  schließt  indessen  nicht  aus,  daß  die  Lektüre 
der  aus  Darstellung  und  Forschung  bestehenden  größeren 
Hälfte  (I:  Das  große  Schisma,  11:  D.  v.  N.,  III:  Die  Reform- 
traktate, IV :  D.  und  das  Konzil)  dennoch  keine  rechte  Freude 
aufkommen  läßt.  Schuld  daran  ist  in  erster  Linie  außer  den 
in  der  Gliederung  zutage  tretenden  Mängeln  die  mehr  als 
behagliche  Umständlichkeit  der  Ausführungen,  die  freilich 
deutschen  Lesern  infolge  der  Eigentümlichkeiten  der  hollän- 
dischen Sprache  ganz  besonders  zu  Bewußtsein  kommen  mag. 
Um  den  historischen  Hintergrund  zu  zeichnen,  braucht  der 
Vf.  mehr  als  ein  Drittel  des  ganzen  Teiles  und  zwar  ohne 
irgend  etwas  eigenes  zu  bieten,  man  müßte  denn  seinen  gut 
klerikalen  Standpunkt  dahin  rechnen,  der  ihn  gelegentlich 
(wie  die  Äußerung   über   die   gallikanischen   Freiheiten  S.  39 


Ober  die  Schrift  von  K.  Höde,  Die  sächsischen  Rolande,  Beiträge 
aus  Zerbster  Quellen  zur  Erkenntnis  der  Gerichtswahrzeichen 
(Zerbst  1906),  s.  Kampers  a.  a.  O.  und  Deutsche  Literaturzeitung 
1906,  Nr.  45,  Sp.  2844. 


624  Literaturbericht. 

zeigt)  zu  wenig  geschmackvollen  Vergleichen  verleitet.  Zu 
den  verdienstlichsten  und  ertragreichsten  Partien  gehört  ohne 
Zweifel  die  Erörterung  der  Streitfrage,  ob  Dietrich  als  Ver- 
fasser der  vielbehandelten  Reformtraktate  anzusehen  sei.  M. 
sichert  Dietrichs  Anspruch  auf  die  Schrift  ^De  necessUaie^y 
indem  er  die  Kette  der  Beweise  um  ein  neues  Glied  noch 
verstärkt,  stellt  aber  anderseits  seine  Autorschaft  für  die  beiden 
zusammengehörigen  Traktate  „De  modis*"  und  „De  di/flculiate" 
entschieden  in  Abrede,  wobei  hauptsächlich  innere  Gründe 
ins  Feld  geführt  werden.  Wenn  nun  auch  hier,  trotz  der 
zuversichtlichen  Äußerungen  M.s,  das  letzte  Wort  wohl  noch 
nicht  gesprochen  ist,  wenn  insbesondere  seine  Behauptung, 
daß  Dietrich  auf  dem  Konstanzer  Konzil  keine  irgendwie  er- 
hebliche Rolle  gespielt  habe,  begründetem  Zweifel  begegnen 
dürfte  (vgl.  letzthin  noch  Göller  in  der  Römischen  Quartal- 
^schrift  Bd.  20,  Heft  4) :  eine  dankenswerte  Förderung  bedeuten 
gleichwohl  gerade  diese  Untersuchungen  auf  jeden  Fall. 

Der  im  zweiten  Teil  folgende  Abdruck  der  Fragmente 
beschränkt  sich  nicht  auf  das  neu  hinzutretende,  durchweg 
das  Zeitalter  Karis  des  Großen  behandelnde  Material,  sondern 
^ibt  auch  die  schon  von  Sauerland  veröffentlichten  Stücke 
nochmals  mit  mannigfachen  Verbesserungen  wieder,  da  die 
^wei  Menschenalter  früher  liegende  Leidener  Handschrift  sich 
als  viel  zuverlässiger  erweist  als  der  von  jenem  seinerzeit 
benutzte  Wiener  Codex.  Um  die  Herstellung  eines  einwand- 
freien, durch  zahlreiche  Anmerkungen  erläuterten  Textes  und 
den  Nachweis  der  Quellen,  die  der  Chronik  zugrunde  liegen, 
hat  M.  mit  anerkennenswertem  Fleiß  sich  bemüht. 

Straßburg  i.  E.  Hans  Kaiser. 

Francesco  Guicciardinis  politische  Theorien  in  seinen  Opere  in- 
edite.  Von  Max  Barkhausen.  (Heidelberger  Abhandlungen 
zur  mittleren  und  neueren  Geschichte,  herausgegeben  von 
Kari  Hampe,  Erich  Marcks  und  Dietrich  Schäfer.  22.  Heft.) 
Heidelberg,  Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung.  1908. 
117  S. 

Erst  seitdem  Guicciardinis  „Opere  inediie*'  publiziert 
worden  sind,  wissen  wir,  daß  es  neben  dem  Historiker  auch 
einen  bedeutenden  politischen  Denker  und  Theoretiker  Guic- 


16.  Jahrhundert.  625 

ciardini  gegeben  hat,  dessen  Ansichten  an  sich  nicht  minder 
interessant  sind,  als  dadurch,  daß  sie  sich,  trotz  mancher 
Ähnlichkeit  in  der  Grundanschauung,  vielfach  zu  den  Theorien 
Machiavellis  in  einen  bewußten  Gegensatz  stellen.  Die  Be- 
deutung der  neu  entdeckten  Schriften  wurde  von  Anfang  an 
allgemein  erkannt.  Trotzdem  sind  sie  noch  nie  in  einer 
besondem  Abhandlung  in  genügender  Weise  behandelt  worden: 
auch  Villari,  der  sie  am  besten  charakterisiert  hat,  betont,  der 
Natur  seines  Werkes  entsprechend,  vor  allem  die  ZWge,  die 
Guicciardini  von  Machiavelli  unterscheiden,  und  gibt  deshalb 
von  dessen  politischer  Denkweise  kein  ganz  richtiges  Bild. 
Eine  tüchtige  Heidelberger  Dissertation  hat  nun  diese  Lücke 
ausgefüllt.  Der  Vf.,  Max  Barkhausen,  hat  sein  Thema  in  sehr 
nützlicher  Weise  begrenzt.  Er  schloß  die  nSioria  d'Italia'' 
und  Guicciardinis  Ansichten  über  die  auswärtige  Politik  von 
seiner  Darstellung  aus  und  untersuchte  bloß  Guicciardinis 
Stellung  zu  den  florentinischen  Verfassungskämpfen.  Im 
Mittelpunkt  der  Abhandlung  steht  daher  der  ausführlich  ana- 
lysierte Dialog  über  die  Verfassung  von  Florenz;  neben  diesem 
werden  hauptsächlich  das  ^Discorso  di  Logrogno^  genannte 
Verfassungsprojekt  des  Jahres  1512,  die  „Ricordi^  und  die 
Betrachtungen  über  Machiavellis  „Discorsi''  besprochen.  Das 
Buch  ist  das  Ergebnis  einer  fleißigen  Arbeit.  Der  Vf.  hat  die 
Quellen  gründlich  studiert  und  sein  Urteil  langsam  reifen 
lassen ;  die  besprochenen  Schriften  werden  klar  resümiert  und 
die  wesentlichen  Punkte  meist  richtig  hervorgehoben;  auch 
über  die  gar  nicht  leicht  zu  charakterisierende  „Siorla  fioren- 
tina''  enthält  die  Schrift  recht  brauchbare  Bemerkungen.  Mit 
Recht  betont  B.,  daß  Guicciardinis  starke  aristokratische 
Grundanschauung  von  Anfang  an  auf  seine  politischen  Theorien 
von  entscheidendem  Einfluß  gewesen  ist,  und  kommt  auf 
diesen  Punkt,  den  er  vor  allem  mit  der  Abstammung  Guic- 
ciardinis in  Verbindung  bringt,  immer  wieder  zurück.  Ein- 
zelnes ist  wohl  anders  zu  fassen.  Wenn  B.  einmal  meint,  für 
Guicciardini  sei  im  Grunde  doch  immer  die  Frage  entscheidend : 
«Wie  komme  ich  als  Individuum  im  Staate  zu  meinem  Recht?'', 
während  bei  Machiavelli  die  Stellung  des  Individuums  im 
Staate  eine  sehr  geringe  Rolle  spiele,  so  übersieht  er  dabei, 
daß    das   Problem    bei   beiden    Denkern    nicht    dasselbe    ist. 


626  Literaturbericht. 

Machiavelli  untersucht,  wie  man  am  besten  einen  Staat, 
speziell  den  italienischen  Einheitsstaat,  der  den  auswärtigen 
Großmächten  die  Stange  halten  würde,  gründen  und  behaupten 
könne;  Guicciardini  fragt,  welche  Verfassung  für  einen  bereits 
bestehenden  Staat  (Florenz)  die  beste  sei.  Daher  hat  sich 
Machiavelli  zunächst  nicht  um  die  Rechte  des  Individuums 
zu  kümmern,  und  seine  Bedeutung  beruht  zu  einem  großen 
Teile  gerade  darauf,  daß  er  den  Zusammenhang  der  italie- 
nischen, speziell  der  florentinischen  kommunalen  Verfassungs- 
probleme mit  der  internationalen  Inferiorität  Italiens  erkannte 
und  deshalb  vor  allem  eine  Stärkung  gegenüber  dem  Auslande, 
u.  a.  eine  Reform  der  Heeresverfassungen,  empfahl.  Daß 
Guicciardini  diese  eigentliche  Ursache  der  neuen  mediceischen 
fierrschaft  in  Florenz,  nämlich  die  Abhängigkeit  der  Stadt  von 
den  auswärtigen  Großmächten,  nicht  entdeckte  und  die  Neu- 
ordnung des  florentinischen  Staates  immer  noch  als  eine  ganz 
interne  Sache  behandelte,  während  doch  das  Ausland  hier  bereits 
das  entscheidende  Wort  zu  sprechen  hatte,  daß  er  überhaupt, 
wie  B.  selbst  an  einer  andern  Stelle  bemerkt,  ,den  tief  inner- 
lichen Zusammenhang  zwischen  Heeresverfassung  und  Staats- 
verfassung nicht  empfand*",  ist  die  eigentliche  Differenz  von 
Machiavelli,  die  mehr  ins  Gewicht  fällt  als  sein  allerdings 
starker  Egoismus.  Wie  es  auf  der  andern  Seite  für  seine  allen 
phantastischen  Plänen  abholde  Natur  bezeichnend  ist,  daß  er 
Machiavellis  utopische  Hoffnungen,  die  Italiener  könnten  in 
wenigen  Jahren  die  Entwicklung  zum  Einheitsstaat  nachholen, 
zu  der  Spanien  und  Frankreich  Jahrhunderte  gebraucht  hatten, 
nie  ernsthaft  erörtert  hat.  Einer  jetzt  weitverbreiteten  Ge- 
wohnheit nachgebend,  hat  dann  B.  wohl  auch  allzuvieles  auf 
die  Renaissance  zurückgeführt,  was  in  persönlichen  Verhält- 
nissen oder  Anlagen  seinen  Grund  hatte. 

Die  Literatur,  die  dem  Verfasser  für  seine  Zwecke  allerdings 
nicht  viel  bot,  ist  vollständig  herangezogen  und  richtig  chatrak- 
terisiert.  Nur  Pittis  r,Apologia  dei  Cappucci*"  wird  man  un- 
benutzt finden.  Diese  Schrift  bringt  uns  allerdings  zur  Dar- 
stellung der  politischen  Theorien  Guicciardinis  eigentlich  nichts 
Neues.  Aber  nirgends  hat  die  Stimmung  der  Popolarehpartei 
und  ihr  fanatischer,  vielfach  bornierter  Haß  gegen  die  Opti- 
maten    so   lebendigen  Ausdruck  gefunden  wie  dort;    erst  sie 


17.  bis  19.  Jahrhundert.  627 

gibt  für  die  Äußerungen  Guicciardinis  über  das  Volk  und  seine 
Abneigung  gegen  das  Popolarenregiment  des  richtige  Ver- 
ständnis. 

Zürich.  E,  Fueter, 

Erzieher  des  Preußischen  Heeres.  Herausgegeben  von  General- 
leutnant z.  D.  Y.  Pelet-Narbonne.  Berlin,  Behrs  Verlag. 
1905—1907.—  I.  Friedrich  Wilhelm,  der  Große  Kurfürst,  von 
G.  V.  Pelet-Narbonne.  2.  König  Friedrich  Wilhelm  I.  und 
Fürst  Leopold  zu  Anhalt-Dessau  von  K.  Linnebach,  Leut- 
nant. 3.  Friedrich  d.  Gr.  von  W.  v.  Bremen,  Oberstleutnant 
z.  D.    4.  Yorck  von  W.  v.  Voß,  General  d.  Infanterie  z.  D. 

5.  Schamhorst    von   Vr.  v.  Liegnitz,   General   d.  Inf.  z.  D. 

6.  Gneisenau  von  R.  Friederich,  Oberstleutnant.  7.  Glause- 
witz  von  R.  V.  Caemmerer,  Generalleutnant  z.  D.  8.  Boyen 
von  F.  V.  d.  Boeck,  Generalleutnant  z.  D.  9.  Prinz  Fried- 
rich Kari  von  W.  Balck,  Major.  10.  II.  Wilhelm  I.  und 
Roon  von  W.  v.  Blume,  General  d.  Inf.  z.  D.  12.  Moltke 
von  demselben.  Seiden:  1:  110,  2:  120,  3:  102,  4:97,  5:  100^ 
6:  132,  7:  123,  8:  112,  9:  100,  10/11:  295,  12:  127. 

Der  Herausgeber  dieser  Sammlung  hat  sich  durch  Ge- 
winnung vieler  auf  militär- wissenschaftlichem  Gebiete  be- 
währter Schriftsteller  ein  großes  Verdienst  erworben.  Nur  der 
Verfasser  des  Bandes  über  Friedrich  Wilhelm  1.  war  bisher 
nicht  bekannt,  doch  ist  dessen  Arbeit  durchaus  keine  minder- 
wertige. Ohne  Ausnahme  sind  die  Bücher  zuverlässig  und 
unter  Benutzung  der  besten  Vorarbeiten  geschrieben  worden, 
keins  verfällt  in  den  Fehler,  ein  Lobeshymnus  zu  sein.  War 
die  Aufgabe  gestellt,  auf  wissenschaftlicher  Grundlage  Volks- 
tümlichkeit anzustreben,  so  ist  auch  dieses  Ziel  mehr  oder 
weniger  erreicht,  wenn  man  sich  unter  »Volk**  gebildete  Laien 
denkt,  die  Spezialwerke  zu  lesen  entweder  keine  Zeit  oder 
keine  Gelegenheit  haben. 

Ich  möchte  den  trefflichen  Arbeiten  gegenüber  nicht  in 
einen  schulmeisternden  Ton  fallen,  sondern  nur  kurz  deren 
Art  charakterisieren.  An  den  beiden  ersten  Bändchen  wird 
unsere  Wissenschaft  nicht  vorübergehen  können,  denn  die 
Biographie  des  Großen  Kurfürsten  von  Pelet  ist  ein  erster 
gelungener  Versuch,  die  militärischen  Verdienste  Friedrich 
Wilhelms  sowohl  in  Organisation  wie  auch  in  Kriegführung  in 


628  Literaturbericht. 

knapper  Form  zusammenzufassen ;  und  die  Arbeit  Linnebachs 
bringt  von  allen  Bändchen  am  meisten  der  Allgemeinheit 
bisher  Unbekanntes  über  die  beiden  Organisatoren  Friedrich 
Wilhelm  1.  und  Leopold,  das  jedem  von  beiden  zukommende 
Verdienst  gerecht  abwägend.  Dagegen  standen  Bremen  vor- 
zügliche Vorarbeiten  über  Friedrich  d.  Gr.  zu  geböte,  die 
er  geschickt  benutzt  hat:  er  zeigt,  wie  der  König  dem 
Heere  die  noch  fehlende  Kriegsschulung  beibrachte  und  die 
Offiziere  anhielt,  „aktiv  und  infatigable  zu  sein,  sich  loszu- 
machen von  aller  Faulheit  des  Leibes  und  des  Geistes*. 

Auch  die  Lebensbeschreibungen  der  Helden  der  Freiheits- 
kriege konnten  sich  meist  auf  berühmte  Monographien  stützen, 
so  daß  nun  der  Vergleich  interessant  ist,  was  der  einzelne 
daraus  gemacht  hat.  Vielleicht  ließe  sich  fragen,  ob  Biographien 
wie  die  Boyens  in  diese  Sammlung  gehören,  jedenfalls  scheint 
mir,  daß  es  den  Autoren  des  Schamhorst  und  Boyen,  was 
„die  zu  erstrebende  Volkstümlichkeit  anbetrifft*,  mit  am  schwer- 
sten geworden  ist.  Das  am  flüssigsten  und  gewandtesten  ge- 
schriebene Bändchen  der  ganzen  Serie  ist  unstreitig  Fried- 
richs Gneisenau.  Ein  sehr  zutreffendes  Lebensbild  bietet 
Caemmerer  in  seinem  anregend  geschriebenen  Clausewitz. 
Gewissermaßen  zusammengehörig  sind  Yorck  und  Prinz  Fried- 
rich Karl  als  ausgezeichnete  taktische  Lehrmeister;  mit  Recht 
widmen  Voß  und  Balck  den  Instruktionen  beider  Generale  einen 
großen  Raum.  In  dem  Streit  um  die  Konvention  von  Tau- 
roggen steht  Voß  nicht  auf  Thiemes  Seite. 

Die  Krone  der  Sammlung  bilden  die  drei  Schlußbände. 
Deren  Verfasser,  General  v.  Blume,  ein  bekannter  strategischer 
Schriftsteller,  hebt  in  seinem  Leben  des  Kaiser  geschickt  die 
springenden  Punkte  heraus;  der  Schwerpunkt  liegt  natur- 
gemäßer Weise  in  den  Kapiteln,  die  Wilhelms  Einfluß  auf  die 
Truppenausbildung,  Erziehung  des  Offizierkorps,  Armeeorgani- 
sation behandeln,  wobei  denn  auch  Roons  Leben  und  Haupt- 
verdienst kurz  und  treffend  geschildert  wird.  Nicht  unerwähnt 
möge  bleiben,  wie  B.  neben  aller  Anerkennung  der  unver- 
gleichlichen Verdienste  Wilhelms  die  aus  dessen  zu  großem 
Konservatismus  in  den  taktischen  Formen  sich  ergebenden  nach- 
teiligen Folgen  im  Kriege  beurteilt  und  zeigt,  wie  diese  Furcht 
vor  dem  „Debandieren*    der  ganzen  Schlachtlinie  durch   die 


19.  Jahrhundert.  629 

Kriegserfahrungen  im  Kaiser  noch  verstärkt  und  dadurch 
die  Modernisierung  des  Infanterie-Exerzierreglements  bis  zu 
seinem  Tode  aufgehalten  wurde.  —  Wohl  niemand  war  end- 
lich besser  zum  Biographen  Moltkes  geeignet  als  dessen  Bureau- 
chef von  1870/1871.  Mit  großer  Liebe  und  Sachkenntnis 
scheint  mir  in  diesem  Schlußbändchen  eine  Musterleistung 
geboten  zu  sein.  Daraus  möchte  ich  nur  noch  bemerken,  daß 
B.  auch  auf  den  bekannten  Vergleich  der  Strategie  Moltkes 
mit  der  Napoleons  eingeht;  er  sagt  dabei,  Moltkes  vollendete 
Objektivität  hätte  ihn  nie  einen  Cromwell  oder  Napoleon 
werden  lassen. 

Die  Ausstattung  der  Bändchen  mit  den  beigegebenen 
Porträts  und  Faksimiles  ist  vorzüglich. 

F,  Frhr,  v.  Schrötter. 

Osterreich  von  1848  bis  1860.  2  Bde.  1.  Bd.:  Die  Jahre  der  Revo- 
lution und  der  Reform  1848—1851.  Von  Heinrich  Fried- 
Jung.    2.  Aufl.    Stuttgart  und  Beriin,  Cotta.     1908.    512  S. 

In  diesem  neuen  Werke,  von  dem  sofort  eine  zweite  Auf- 
lage nötig  wurde,  hat  H.  Friedjung  unsere  Kenntnis  von  der 
Entwicklung  Österreichs  und  Deutschlands  im  19.  Jahrhundert 
nicht  unerheblich  bereichert.  Durch  neues  Material,  durch 
glückliche  Erläuterung  und  durch  geschickte  Bilder  der  maß- 
gebenden Persönlichkeiten.  Neues  Material  boten  ihm  in 
reicher  Fülle  die  Briefe  und  sonstigen  hinteriassenen  Papiere 
des  jugendlichen  Demagogen  Bach,  der  sich  unter  dem  Ge- 
wicht der  Schicksale  seines  österreichischen  Vaterlandes  in 
den  Jahren  1848  und  1849  zu  einem  Mitgliede  des  Ministeriums 
Schwarzenberg  entwickeln  konnte,  das  die  Revolution  nieder- 
trat und  die  Reaktion  heraufführte,  der  aber  in  dieser  Stellung 
wesentliche  Forderungen  der  Zeit  zu  befriedigen  wußte  und 
namentlich  das  mit  dem  Bauernbefreiungsgesetz  vom  7.  Sep- 
tember 1848  begonnene  Werk  durch  die  Neugestaltung  der 
Gerichtsbehörden  und  der  Verwaltung  vollendete  und  sicherte» 
Bach,  Schwarzenberg,  Stadion,  die  Kaiserin-Mutter  Sophie 
und  zahlreiche  andere  einflußreiche  Persönlichkeiten  treten 
uns  scharf  und  teilweise  in  neuer  Auffassung  entgegen.  Wir 
glauben  zu  verstehen,  wie  groß  ihr  Anteil  an  den  Ereignissen 
war  und  welche  Motive  sie  bewegten.    Das  kann  ja  immer 


630  Literaturbericht 

nur  teilweise  richtig  sein;  aber  wir  lassen  uns  durch  die  ge- 
wandte, in  glücklicher  Knappheit  vorschreitende  Darstellung 
Fr.s  gern  in  die  Vorstellung  einwiegen,  als  sei  es  so  gewesen. 
Bei  Bach  möchte  ich  ihm  ganz  beitreten,  bei  Schwarzenberg 
habe  ich  manches  Bedenken.  Überzeugend  sind  die  Aus- 
führungen über  Ungarn  und  die  Oktoberrevolution.  Kossuths 
Eitelkeit  und  seine  demagogische  Kraft,  die  zugleich  seine 
Schwäche  war,  trugen  offenbar  die  Schuld,  daß  die  Reform 
in  Revolution  umschlug,  die  dann  mit  der  blutigen  Reaktion 
endete,  in  der  die  Saat  der  heutigen  Zersetzung  Österreich- 
Ungarns  gesät  wurde. 

Besonders  eingehend  behandelt  Fr.  die  agrarische  Reform 
und  die  anschließende  Reform  der  Verwaltung,  und  mit 
Recht.  Denn  hier  liegt  der  wichtigste  Fortschritt,  ein  un- 
zweifelhaft segensreicher  Ertrag  der  furchtbaren  und  dem 
oberflächlichen  Betrachter  fruchtlos  verlaufen  scheinenden 
Bewegung.  Fr.  vergleicht  diese  Agrarreform  Österreichs  mit 
der  preußischen  und  bemerkt  richtig,  daß  die  Agrarfrage  in 
der  preußischen  Nationalversammlung  damals  keine  gleich 
große  Rolle  spielte.  Er  sagt,  sie  habe  keine  „entscheidende* 
Rolle  gespielt  (S.  364).  Man  darf  dies  Wort  nur  nicht  so 
verstehen,  als  sei  die  Beseitigung  der  durch  die  Stein-Harden- 
bergische Gesetzgebung  noch  nicht  beseitigten  Rechte  der 
alten  Unfreiheit  und  Gebundenheit  der  Bauern  1848 — 1850  in 
Preußen  nicht  als  eine  wichtige  Aufgabe  angesehen.  Gleich 
im  Beginn  der  Bewegung  kam  es  dem  Adel  zum  Bewußtsein, 
daß  er  eilen  müsse,  sich  der  Privilegien  zu  entäußern, 
deren  Ungerechtigkeit  allgemein  anerkannt  wurde.  Einer  der 
vornehmsten  Magnaten  Schlesiens  schrieb  gleich  in  den  Früh- 
lingstagen des  Jahres  1848  eine  Flugschrift,  welche  die  Ab- 
schaffung der  aus  der  alten  Untertänigkeit  herrührenden  Lasten 
forderte.  Er  legte  zugleich  in  dieser  Schrift  den  Adel  ab, 
indem  er  sich  nannte:  Hermann  Hatzfeld,  Besitzer  des  Fürsten- 
tums Trachenberg.  Das  Gesetz  betreffend  die  Ablösung  der 
Reallasten  und  die  Regulierung  der  gutsherrlichbäuerlichen 
Verhältnisse  vom  2.  März  1850  ist  doch  ein  Produkt  der  Be- 
wegung von  1848,  und  der  Artikel  42  der  Verfassung  vom 
31.  Januar  1850,  welcher  die  Gerichtsherrlichkeit,  die  guts- 
herrliche Polizei  und  obrigkeitliche  Gewalt  sowie  die  gewissen 


19.  Jahrhundert.  631 

Grundstücken  zustehenden  Hoheitsrechte  und  Privilegien  ohne 
Entschädigung  aufhob,  bildete  mit  den  ausführenden  Gesetzen 
eine  wesentliche  Ergänzung  der  unvollendet  gebliebenen  Agrar- 
reform von  1807  bis  1816. 

Diese  Erwägungen  sollen  nur  ein  Mißverständnis  aus- 
schließen, das  sich  an  den  vergleichenden  Ausdruck  Fr.s  knüpfen 
könnte.  Es  lag  in  der  Tatsache,  daß  in  Osterreich  diese  Re- 
form seit  Joseph  11.  nicht  weiter  gefördert  war,  begründet,  daß 
sie  sich  nun  mit  ganz  überwältigender  Gewalt  in  den  Vorder- 
grund drängte.  „In  Osterreich  nun,""  sagt  Fr.  S.  364,  , dauerten 
die  früheren  Verhältnisse  bis  1848:  Fronden  und  Dienste  be- 
standen so  wie  in  den  Tagen  Josephs  IL,  ebenso  aber  auch 
der  Bauernschutz  gegen  Übergriffe  der  Herrschaft.  Durch  die 
Revolution  änderte  sich  das  mit  einem  Schlage,  die  preußische 
Gesetzgebung  wurde  um  Kopfeslänge  überholt,  sowohl  dadurch, 
daß  die  Bedingungen  der  Ablösung  für  den  Bauer  günstiger 
waren,  und  durch  die  zu  diesem  Zwecke  gewährte  namhafte 
Staatshitfe.*  Unter  Berufung  namentlich  auf  Knapps  bekannte 
Arbeiten  schließt  er  dann  S.  365:  „So  kommt  es,  daß  die  Ver- 
teilung des  Bodens  zwischen  dem  großen,  mittleren  und 
kleineren  Grundbesitz  in  Osterreich  gesünder  ist  als  in  den 
preußischen  Provinzen  östlich  der  Elbe."  Ich  füge  hinzu,  daß 
die  Begünstigung  der  Fideikommisse  und  andere  Verhältnisse 
diese  Zustände  Jahr  um  Jahr  verschlimmern  und  der  Sozial- 
demokratie auf  dem  Lande  den  Boden  bereiten.  Ganz  be- 
sonders verhängnisvoll  wirken  daneben  noch  in  gleicher 
Richtung  die  Pilz-  und  Beerengesetze  und  die  anderen  Forst- 
gesetze aus  dem  Anfange  der  80  er  Jahre,  die  den  am  Acker 
ausgebildeten  Eigentumsbegriff  auf  den  Waldbesitz  übertragen 
und  die  waldlosen  Leute  des  Rechtes  beraubt  haben,  sich  im 
Walde  selbst  zu  ergehen  und  die  Beere  zu  pflücken,  die  dort 
wächst.  Die  Bewohner  der  Walddörfer  wissen  wohl,  warum 
sie  nicht  mehr  auf  der  Scholle  bleiben.  Die  großen  Herren 
haben  sich  um  kleinen  Gewinn  einen  großen  Schaden  erkauft, 
und  die  Nation  ist  unberechenbar  geschädigt.  Unvergeßlich 
ist  mir  ein  Erlebnis  aus  einer  Wirtsstube  auf  einem  viel- 
begangenen Passe  des  Riesengebirges.  Wie  eine  Furie  erhob 
sich  die  Wirtin  und  erfüllte  das  Haus  mit  lauten  Klagen  über 
die  Rechtslosigkeit,  in  die  das  Volk  durch  diese  Gesetzgebung 


632  Literaturbericht. 

hinabgestoßen  sei.  Es  kostete  Mühe,  ihr  begreiflich  zu  machen, 
daß  der  Förster  gezwungen  sei,  die  neuen  Gesetze  auszuführen, 
und  ich  hatte  den  Eindruck,  daß  diese  Vorschriften,  die  auf 
dem  Papier  leidlich  unschuldig  aussehen,  tatsächlich  aber  große 
Kreise  des  Volkes  einer  leicht  auszudehnenden  Willkür  aus- 
liefern, die  bäuerlichen  Verhältnisse,  vor  allem  die  ^Leutenot", 
empfindlich  verschärft  haben. 

Breslau.  G.  Kaufmann. 

Frankfurter  Patriziervermögen  im  16.  Jahrhundert.    Von  F.  Bothe. 
(2.  Erg.-Heft  des  Arch.  f.  Kulturgesch.)  Berlin,  Duncker.  1908. 

Der  Vf.,  schon  durch  eine  Reihe  von  Arbeiten  über  die 
Frankfurter  Wirtschaftsgeschichte  bekannt,  bietet  uns  hier 
das  Inventar  Claus  Stalburgs  (f  1524),  dessen  Stellung  im 
Frankfurter  Wirtschaftsleben  er  im  ersten  Abschnitt  erläutert 
Der  Venediger  Handel  führte  neben  der  Landwirtschaft  (Holz- 
hausen) und  dem  Handwerk  (Jacob  Heller)  zur  Bildung  großer 
Vermögen.  Stalburgs  Vermögen  erweiterte  sich  zudem  durch 
Zusammenschmelzen  von  Familien.  Nach  der  Berechnung 
von  1484  versteuerte  er  20364  fl.,  Daniel  Bromm  21  379  fl., 
Wolf  Blume  1488  21600fl.  Für  1524  glaubt  der  Vf.  Stal- 
burgs Vermögen  auf  50 — 60000  fl.  schätzen  zu  können,  inter- 
essant ist  dabei  der  starke  Besitz  an  Edelmetall  und  Pretiosen. 
Auch  in  Venedig  finden  wir  diese  Form  der  Schatzbildung, 
die  in  Zeiten  der  Not,  z.  B.  in  dem  Kriege  von  Chioggia,  von 
Bedeutung  wurde.  Ferner  fällt  auf  die  stattliche  Anzahl  von 
kostbarem  und  künstlerischem  Hausgerät.  Das  Bildnis  Stal- 
burgs und  seiner  Frau  und  der  Abdruck  einer  Kuchenform 
sind  beigegeben. 

Im  zweiten  Abschnitt  wird  uns  über  Hans  Bromms  V^er- 
mögen  berichtet,  der  durch  den  Mansfelder  Kupferhandel  seit 
1554  sich  und  seine  Vaterstadt  in  schwere  Schulden  stürzte. 
Zum  Vergleich  wird  uns  dann  noch  das  Vermögen  des  Diel- 
händlers Hans  Schilling  erläutert,  der  1567  auf  1200  fl.  ein- 
geschätzt wurde.  Zum  Schluß  gibt  der  Vf.  eine  Tabelle  der 
Frankfurter  Steuerzahler  von  1567,  die  den  scharfen  sozialen 
Gegensatz  zwischen  den  88  Zensiten  mit  einem  Besitz  von 
über  6000  fl.   und  der  übrigen  Bevölkerung   hervortreten  läßt 

Zürich.  Heinr.  Sieveking. 


Notizen  und  Nachrichten. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  welche  sie  an  dieser 
Stelle  berücksichtigt  wünschen,  uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 

Allgemeines. 

Das  1.  Heft  des  1.  Jahrgangs  der  Mitteilungen  des 
Gesamtvereins  der  deutschen  Juden,  herausgegeben 
von  Dr.  E.  Täubler  (Leipzig,  Fock),  unterrichtet  über  die  Auf- 
gaben der  Mitteilungen  und  die  des  Gesamtarchivs  selbst.  Dieses 
Archiv  soll  die  für  die  laufende  Geschäftsführung  nicht  benötigten 
Urkunden  und  Akten  aller  jüdischen  Gemeinden,  Vereine  und 
Stiftungen  im  Deutschen  Reiche  in  sich  schließen  und  sie  wissen- 
schaftlicher und  administrativer  Benutzung  zugänglich  machen. 
Gegen  200  Gemeinden  haben  ihre  Akten  bereits  in  dem  Archiv 
(Berlin  W.,  Lützowstraße  15)  deponiert.  Aus  der  Zeit  vor  dem 
17.  Jahrhundert  sind  in  den  Gemeindearchiven  nur  wenige  Stücke 
erhalten.  Die  systematische  Durchforschung  der  staatHchen, 
städtischen  und  anderer  Archive  soll  die  notwendige  Ergänzung 
bieten ;  ein  Regestenkatalog  aller  Urkunden,  die  jüdische  Verhält- 
nisse berühren,  ist  begonnen  worden,  ein  Handschriftenkatalog 
soll  folgen.  Die  „Mitteilungen'^  (sie  erscheinen  Ende  Mai  und 
Ende  Dezember)  sollen  u.  a.  Inventare  über  die  Bestände  der 
Archive  und  eine  Bibliographie  zur  Geschichte  der  Juden  in 
Deutschland  bringen.  Das  vorHegende  1.  Heft  bietet  das  Akten- 
inventar der  Synagogengemeinde  Landsberg  a.  W. 

Das  3.  Heft  der  Mitteilungen  der  Zentralstelle  für 
deutsche  Personen-  undFamiliengeschichte  (Leipzig, 
Breitkopf  «  Härtel.  1908.  90  S.  2  M.)  enthält  neben  Berichten 
Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  5.  Bd.  41 


634  Notizen  und  Nachrichten. 

über  Versammlungen  (u.  a.  A.  T  i  11  e  s  Bericht  über  die  genea- 
logischen Verhandlungen  auf  der  Tagung  des  Gesamtvereins  in 
Mannheim,  September  1907)  und  kleineren  Mitteilungen  den  Ab- 
druck von  drei  Vorträgen.  A.  van  den  Velden  (Weimar) 
handelt  kurz  Über  „Ahnentafeln  einst  und  jetzt"  und  dringt  nach- 
drücklich auf  die  Förderung  der  Pflege  und  des  Verständnisses 
der  Ahnentafeln.  Eine  Ahnentafel  des  väterlichen  Großvaters 
Moltkes,  die  v.  d.  Velden  unter  Benutzung  des  von  Grotefend 
gesammelten  Materials  als  Wandteppich  gemalt  hat,  ist  in  far- 
biger Abbildung  beigegeben.  —  Stephan  Kekule  von  Stra- 
donitz  unternimmt  Streifzüge  „durch  die  neuere  medizinisch- 
genealogische Literatur''.  Er  berücksichtigt  besonders  die  deutsche 
Literatur  und  fügt  einige  kritische  Bemerkungen  hinzu.  Dem 
Eifer,  den  er  auf  „die  alte  Forderung  nach  Lehrstühlen  für  Genea- 
logie an  den  Hochschulen"  verwendet,  entspricht  seine  Erregung 
über  die  „Zunfthistoriker",  die  diese  Forderung  ablehnen  und  so 
nach  der  Meinung  des  Veriassers  zeigen,  daß  sie  von  den  Auf- 
gaben, die  jetzt  an  die  „Genealogie  als  Wissenschaft"  heran- 
getreten sind,  „keine  Ahnung"  haben.  —  Ed.  Heydenreichs 
Vortrag  „Das  Recht  der  Wappenführung"  will  darauf  hinwirken, 
daß  auch  die  Bürgerlichen  sich  ihres  Wappenrechtes  eifriger  be- 
dienen. 

Von  der  im  Verlage  der  Münchener  Allgemeinen  Verlags- 
gesellschaft erscheinenden  und  auf  vier  Bände  berechneten  Illu- 
strierten Weltgeschichte  liegen,  von  S.  Widmann  be- 
arbeitet, die  beiden  letzten  Bände  vor,  die  die  Zeit  von  der 
Reformation  bis  an  den  Vorabend  der  französischen  Revolution 
und  von  da  bis  herab  auf  die  jüngste  Gegenwart  behandeln. 
Obwohl  der  Veriasser  nirgends  seinen  katholischen  Standpunkt 
verleugnet,  ist  er  doch  sichtlich  bemüht,  auch  den  Gegnern  ge- 
recht zu  werden.  Insofern  mag  das  Werk,  als  für  größere  Kreise 
katholischer  Leser  bestimmt,  seinen  Platz  ausfüllen.  Eine  wissen- 
schaftliche Bedeutung  kommt  ihm  dagegen  nicht  zu.  Es  dringt 
nirgends  in  die  Tiefe,  sondern  beschränkt  sich  im  wesentlichen 
darauf,  den  äußeren  Verlauf  der  Geschehnisse  zu  geben,  ohne 
ihre  innere  Verknüpfung  zur  Klarheit  zu  bringen.  Rühmend  her- 
vorzuheben ist  die  äußere  Ausstattung  mit  Reproduktionen  zeit- 
genössischer Bilder,  Faksimiles  u.  dgl.,  die  den  Vergleich  mit 
dem,  was  in  ähnlichen  Werken  geboten  wird,  voll  aushält. 

W.  Struck, 

Franz  Oppenheimers  Aufsatz  „Moderne  Geschichts- 
philosophie" (Vierteljahrschr.  f.  wiss.  Philos.  32,  2)  betrachtet  die 


Allgemeines.  635 

neuen  Versuche  einer  universalen  Geschichtsanschauung  und  be- 
spricht eingehender  H.  Schneiders  Entwicklungsgeschichte  der 
Menschheit  Bd.  1  (Kultur  und  Denken  der  alten  Ägypter)  sowie 
K.  Breysigs  Geschichte  der  Menschheit  Bd.  1  (Die  Amerikaner 
des  Nordwestens  und  des  Nordens).  Oppenheimer  kritisiert 
Schneiders,  von  Lamprecht  übernommenes  „ordnendes  Prinzip* 
der  gesetzmäßigen  Entwicklungsstufen  mit  denselben  Argumenten, 
die  er  früher  bereits  gegen  Lamprecht  vorgebracht  hat;  er  weist 
auf  die  methodische  Gefahr  hin,  die  in  der  Übertragung  eines 
bereits  für  die  Geschichte  eines  Volkes  unrichtigen  Satzes  auf 
die  Geschichte  der  Menschheit  liegt :  es  ist  der  Sieg  des  Schemas 
über  tieferes  Verstehen.  Ebenso  richtet  Oppenheim  seine  Kritik 
gegen  Breysigs  «morphologische'^  Methode.  Grundsätzlich  betont 
Oppenheim  jedoch,  daß  er  das  allgemeine  Ziel  Lamprechts  wie 
Breysigs,  das  Streben  nach  einer  neuen  universalen  Auffassung, 
für  richtig  halte.  Der  Schluß  des  Aufsatzes  ist  eine  Besprechung 
des  Buches  von  Brooks-Adams,  Das  Gesetz  der  Zivilisation  und 
des  Verfalls. 

Milliouds  „Essai  sur  l'histoire  des  idäes'  (Rev,  philos. 
1908,  Nr.  2)  sucht  festzustellen,  wie  sich  Ideen  im  Geiste  des  ein- 
zelnen festsetzen  und  wie  sie  von  einem  Menschen  zum  anderen 
weiterwandern.  Millioud  gewinnt  eine  Reihe  von  Kategorien  der 
Ideen,  aber  nicht  aus  ihrem  eigenen  abstrakten  Dasein,  sondern 
aus  dem  geistigen  Zustande  der  sie  aufnehmenden  Menschen 
(formes  de  riductiorty  d*acHon  d'^vanescence,  forme  personelle ^ 
forme  fictive)  als  Beispiel  sei  erwähnt,  daß  unter  der  forme  de 
r^ducHon  verstanden  ist:  die  Reduktion  des  ursprünglichen  Ge- 
haltes der  Idee  infolge  ihrer  Aufnahme  durch  viele.  Millioud 
will  nichts  Abschließendes  bieten ;  sein  Weg  erscheint  methodisch 
richtig. 

„Ober  den  Begriff  des  Naturgesetzes'^  handelt  P.  Rohland 
in  der  Deutschen  Revue  (1908,  Mai)  mit  jener  Zurückhaltung,  die 
jetzt  bei  Naturforschern  keine  seltene  Erscheinung  mehr  ist. 
Indem  er  im  Naturgesetz  nichts  anders  als  konstante  oder  regel- 
mäßige Naturerscheinungen  sieht,  fordert  er  für  die  ursprüng- 
lichen Energien,  die  bei  physiologischen  Vorgängen  auftreten, 
philosophische  Erklärung. 

Über  die  Möglichkeiten  der  Hebung  der  Rasse  berichtet 
Jankelevitch  in  der  Rev,  de  Synth, hist,  16, 1  {,Assistance  sociale 
ou  s^lection  naturelle  t*). 

Rieh.  Lasch,  Das  Fortleben  geschichtlicher  Ereignisse  in 
der  Tradition  der  Naturvölker  (Globus  93, 18)  sucht  zu  beweisen, 

41* 


636  Notizen  und  Nachrichten. 

daß  nicht  nur  im  Mythus  der  Naturvölker  geschichtliche  Tat- 
sachen weiterleben,  sondern  daß  auch  direkte  Erinnerungen  an 
geschichtliche  Ereignisse  vergangener  Jahrhunderte  vorhanden 
sind,  die  in  mündlicher  Oberlieferung  weitergegeben  werden. 

Im  Globus  93,  17  findet  sich  unter  dem  Titel  „Die  ältesten 
Spuren  des  Menschen  in  Nordamerika''  eine  Anzeige  der  Arbeit 
des  amerikanischen  Anthropologen  Hrdlil^ka,  dessen  Ergebnisse 
lauten;  Amerika  ist  erst  durch  Einwanderung  von  den  anderen 
Weltteilen  aus  besiedelt  worden,  denn  die  bisher  gefundenen 
ältesten  Menschenspuren  in  Amerika  führen  in  eine  Zeit  lange 
nach  der  Entstehung  des  Menschengeschlechts;  die  14  ältesten 
Funde  zeigen  „durchweg  die  größte  Ähnlichkeit,  wenn  nicht  Iden- 
tität mit  jenen  der  heutigen  Indianer**. 

Ad.  Harnacks  Aufsatz  über  „Das  Urchristentum  und  die 
sozialen  Fragen''  (Preuß.  Jahrb.  131)  ist  eine  zustimmende  Be- 
sprechung von  Ernst  Troeltschs  Aufsatz  „Die  Soziallehren  der 
christüchen  Kirchen"  I,  im  Arch.  f.  Sozialwissenschaft. 

Von  Troeltschs  wichtigem  Aufsatz  „Die  Soziallehren  der 
christüchen  Kirchen"  bringt  das  2.  Heft  des  26.  Bandes  des 
Archivs  für  Sozialwissenschaft  und  Sozialpolitik  die  Fortsetzung, 
die  sich  mit  Paulus  beschäftigt,  das  3.  Heft  den  Abschnitt  über 
die  Zeit  des  Frühkatholizismus. 

Bornhaks  Aufsatz  „Die  weltgeschichtliche  Entwicklung 
des  Konstitutionalismus"  (Internat.  Wochenschr.  II,  14)  verfolgt  die 
Abwandlung  des  germanischen  Staatsideals  von  Imperium  et 
Ubertas,  des  monarchischen  Absolutismus  und  der  Volkssouve- 
ränität sowie  ihrer  Verbindung  im  modernen  Veriassungsleben. 

In  den  „Staatsrechtüchen  Abhandlungen,  Festgabe  für  Paul 
Laband"  hat  Walther  Schücking  eine  historisch-politische 
Studie  über  die  „Organisation  der  Welt"  veröffentlicht,  die  auch  als 
Sonderschrift  (Tübingen,  Mohr.  S.  535 — 614.  2,80  M.)  erschienen 
ist.  Er  hält  die  modernen  Weltfriedensbestrebungen  für  eine 
große,  ernste,  zukunftsreiche  Sache  und  mustert  von  diesem  Ge- 
sichtspunkte aus  alle  früheren  Pläne  und  Ideen  einer  internatio- 
nalen Staatenorganisation.  Beinahe  wird  seine  Skizze  zu  einem 
Abrisse  der  Weltgeschichte,  in  dem  nun  diejenigen  Perioden,^ 
die  den  Sondertrieb  der  einzelnen  Nationen  und  Staaten  aufs 
kräftigste  entwickelt  haben,  in  tiefen  Schatten  getaucht  erscheinen 
als  „Zeitalter  der  Desorganisation".  Es  ist  ja  immer  interessant, 
einmal  auch  mit  solchen  Wertmaßstäben  die  Geschichte  gemessen 
zu  sehen.  Geschähe  es  mit  mehr  Geist  und  weniger  Monotonie 
als  hier,  so  würde  es  noch  interessanter  sein. 


Allgemeines.  637 

Grabowsky,  Recht  und  Staat.  Ein  Versuch  zur  Allge- 
meinen Rechts-  und  Staatslehre  (Berlin  und  Leipzig,  Walter 
Rothschild.  1908.  92  S.)  behandelt,  ohne  Neues  zu  bringen  die 
zwei  Fragen:  1.  Gibt  es  positives  Recht  außerhalb  des  Staates? 
(verneint).  2.  In  welchem  Verhältnis  steht  das  Recht  zur  Ge- 
rechtigkeit? Antwort:  Es  gibt  keine  absolute  Gerechtigkeit. 
Gerechtigkeit  ist  Beförderung  der  Sicherheit.  Rehm, 

L.  Rdau,  L'origine  et  la  signification  des  noms  giogra- 
phiquea  (Rev.  de  Synth,  hist.  16,  2)  erörtert  mit  Verwendung  be- 
kannten Materials  die  Bedeutung  europäischer  Städtenamen. 

Die  Bedeutung  des  Studiums  der  Handzeichnungen  für 
Kunstgeschichte  und  allgemeine  Geschichte  erörtert  P.  Marcel 
in  der  Rev.  de  Synth,  hist.  16,  I  („U^tude  des  dessins  dans  l'hi- 
stoire  de  l'art  franpais''). 

In  der  Wochenschrift  ,//  Marzocco"  anno  XIII,  n.  15  (1908, 
April  12)  wird  ein  Vortrag  von  R.  Davidsohn  zum  Abdruck 
gebracht,  der  sich  über  die  Bedeutung  der  geistlichen,  städtischen 
und  Familienarchive  Toskanas  verbreitet,  für  leichtere  Zugäng- 
lichkeit bzw.  bessere  Bewahrung  eintritt  und  vor  allem  die  Auf- 
merksamkeit auf  das  Archiv  der  florentinischen  Inquisition  lenkt» 
über  dessen  Schicksal  ein  geheimnisvolles  Dunkel  zu  lagern 
scheint.  —  Wir  machen  im  Anschluß  daran  noch  auf  den  kleinen 
Aufsatz  von  L.  Zdekauer:  Süll* ordimento  degli  archivi  mit 
seiner  summarischen  Obersicht  über  den  Inhalt  einzelner  kleinerer 
Archive  aufmerksam  (Atti  e  memorie  delle  r,  deputazione  di  storia 
patria  per  le  provincie  delle  Mar  che  N.  S.  4,  4). 

Guide  to  the  materials  for  the  history  of  the  United  States 
in  Spanish  archives  (Simancas,  the  Archivo  Historico  National, 
and  Seville)  hy  William  R.  Shepherd.  Washington,  Carnegie 
instUution.  1907.  107  S.  —  Die  Arbeit  ist  als  praktisches  Hand- 
buch gedacht,  und  so  darf  man  auch  an  ihre  geschichtlichen 
Teile  nicht  allzu  hohe  Maßstäbe  anlegen.  Wer  in  spanischen 
Archiven  gearbeitet  hat  und  die  Schwierigkeiten  kennt,  mit  denen 
eine  gründliche  Nachforschung  in  denselben  verknüpft  ist,  der 
wird  die  Urteile  des  Verfassers  eher  zu  milde  als  zu  streng  finden. 
Auffallend  ist,  daß  der  Verfasser  das  Archiv  der  R.  Academia  de 
la  Historia  mit  Stillschweigen  übergeht,  obwohl  dasselbe  gerade 
für  die  amerikanistische  Forschung  ziemlich  viel  kostbares  Mate- 
rial —  ich  verweise  nur  auf  die  Colleccion  MuTioz  —  enthält. 

Haebler. 

Die  Handschriften  der  öffentlichen  Bibliothek  der  Univer- 
sität   Basel.     Erste    Abteilung.     A.  u.  d.  T.:    Die    deutschen 


638  Notizen  und  Nachrichten. 

Handschriften  der  öffentlichten  Bibliothek  der  Universität  Basel. 
Beschrieben  von  Dr.  Gust.  B  i  n  z ,  Bibliothekar  und  ao.  Professor. 

1.  Bd.:  Die  Handschriften  der  Abteilung  A.  Basel  1907.  (Verlag 
von  C.  Beck,  Leipzig.)  XI  u.  437  S.  —  Die  in  diesem  ersten  Bande 
des  Baseler  Handschriftenverzeichnisses  beschriebenen  Hand- 
schriften enthalten  keineswegs  ausschließlich  oder  auch  nur  vor- 
wiegend Stücke  in  deutscher  Sprache.  Die  Baseler  Universitäts- 
bibliothek eröffnet  vielmehr  mit  dem  vorliegenden  Bande  die 
Beschreibung  derjenigen  Bestände  ihrer  Handschriftensammlung, 
die  für  das  von  der  Berliner  Akademie  geplante  Generalinventar 
der  deutschen  Handschriften  in  Betracht  kommen.  Nach  dem 
Plane  der  Akademie  sollen  aber  für  jenes  Inventar  außer  den 
Handschriften  in  deutscher  Sprache  auch  alle  mittel-  und  neu- 
lateinischen Handschriften  berücksichtigt  werden,  sofern  sie  lite- 
rarische Erzeugnisse  von  ästhetischer  Aussprache  enthalten.  Der 
vorliegende  erste  Band  behandelt  die  ,,deutschen''  Handschriften 
der  Abteilung  A,  welche  die  Baseler  Papierhandschriften  theolo- 
gischen Inhalts  umfaßt.  Es  verstand  sich  von  selbst,  daß  bei 
den  zahlreichen  Sammelbänden  eine  Unterscheidung  zwischen 
„deutschen*  und  „nichtdeutschen''  Stücken  hinsichtlich  der  Aus- 
führlichkeit der  Beschreibung  nicht  gemacht  wurde.  Der  Be- 
arbeiter des  ersten  Bandes,  Gustav  Binz,  hat  sich  seiner  Auf- 
gabe mit  großer  Gründlichkeit  und  Gewissenhaftigkeit  gewidmet 
und  mit  der  Bestimmung  der  zahlreichen  ohne  Nennung  des  Ver- 
fassers überlieferten  Stücke  ein  sehr  vielseitiges  Wissen  bekundet. 
Auch  das  Register  ist  mit  großer  Sorgfalt  aufgestellt  Möchten 
wir  bald  über  das  Erscheinen  eines  neuen  Bandes  des  Baseler 
Handschriftenkatalogs  zu  berichten  haben!  H,  H, 

Neue  Bficher:  Fournier,  Historische  Studien  und  Skizzen. 

2.  Reihe.  (Wien,  Braumüller.  6M.)—  Breysig,  Wolters, 
Vallentin,  Andreae,  Grundrisse  und  Bausteine  zur  Staats- 
und Geschichtslehre.  (Berlin,  Bondi.  4,50  M.)  —  BougU, 
Qu'est'Ce  que  la  sociologief  (PariSy  Alcan,  2,50  fr,)  —  Bimmel, 
Soziologie.  Untersuchungen  über  die  Formen  der  Vergesell- 
schaftung. (Leipzig,  Duncker  6  Humblot.  12  M.)  —  Tarde,  Die 
sozialen  Gesetze.  Skizze  zu  einer  Soziologie.  Deutsch  von  Hans 
Hammer.  (Leipzig,  Klinkhardt.  3  M.)  —  Vierkandt,  Die  Stetig- 
keit im  Kulturwandel.  Eine  soziologische  Studie.  (Leipzig, 
Duncker  Ä  Humblot.  5M.)  —  Haensell,  Die  fließenden  Wasser 
des  Höhenlandes  und  ihre  urgeschichtlichen  Anwohner  in  Sage 
und  Mythos.  Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Entstehung  und 
Verwandtschaft  der  Völker.  (Beriin,  Reimer.  3M.)  —  Leßmann 
Aufgaben  und  Ziele  der  vergleichenden  Mythenforschung.    (Leip- 


Alte  Geschichte.  639 

zig,  Hinrichs.  2  M.)  —  Dewe,  Medieval  and  modern  history: 
its  formative  causes  and  hroad  movements,  (London,  Owen.  10  sh.) 

—  Manfroni,  Storia  deU'Olanda.    (Milano,  Hoepli.   7^50  Lire.) 

—  Cowan,  The  royal  house  of  Stuart,  from  its  origin  to  the 
accession  of  the  house  of  Manöver.  2  vols.  (London,  Greening. 
42  sh.)  —  Barroux ,  Essai  de  bibliographie  critique  des  gini- 
ralitis  de  Vhistoire  de  Paris.  (Paris,  Champion.)  —  Molmenti, 
La  storia  di  Venezia  nella  vita  privata  dalle  origini  alla  caduta 
della  repubblica.  Quarta  edizione  interamente  rifatta.  Parte  III 
(II  decadimento).  (Bergamo,  Istituto  italiano  d'arti  grafiche. 
25  Lire.)  —  Mezzacapo,  Storia  dei  Porto ghesi.  Vol.I.  (Napoli, 
Pierro  e  figlio.  6  Lire.)  —  Elliot,  Chile,  itc  history  and  deve- 
lopment.  (London,  Unwin.  10,6  sh.)  —  Steffens,  Lateinische 
Paläographie.  2.,  verm.  Aufl.  2.  Abtlg.  (Trier,  Schaar  ^  Dathe. 
20  M.)  —  Padiglione,  Motti  degli  ordini  cavallereschi,  delle 
medaglie  e  croci  decorative  di  tutto  il  mondo  e  di  tutti  i  tempi. 
(Napoli,  Tip.  Giannini.) 

Alte  Geschichte. 

Eduard  Meyer,  Ägypten  zur  Zeit  der  Pyramidenerbauer. 
(Sendschriften  der  Deutschen  Orient-Gesellschaft,  Nr.  5.)  Leipzig, 
1908.  1,50  M.  —  Die  kleine,  reich  illustrierte  Schrift  enthält  den 
Vortrag,  den  Ed.  Meyer  am  12.  Januar  d.  J.  in  der  Deutschen  Orient- 
Gesellschaft  gehalten  hat.  Das  Thema  war  für  diesen  Kreis  be- 
sonders glücklich  gewählt,  denn  die  Kenntnis  der  Kultur  des 
Pharaonenreiches  zur  Zeit  der  Pyramidenerbauer  ist  gerade  durch 
die  Ausgrabungen  wesentlich  vertieft  und  erweitert  worden,  welche 
jene  Gesellschaft  in  den  letzten  Jahren  unter  der  Leitung  Ludwig 
Borchardts  auf  dem  Pyramidenfelde  von  Abusir  (südlich  von 
Kairo)  ermöglicht  hat.  So  ist  diese  „Sendschrift",  in  welcher 
neben  dem  ältesten  Ägypten  der  ersten  Dynastien  das  sog.  „alte 
Reich"  (um  2900—2500  v.Chr.)  geschildert  wird,  besonders  ge- 
eignety  auch  weitere  Kreise  mit  den  wichtigen  Ergebnissen  der 
deutschen  Ausgrabungen  in  Ägypten  bekannt  zu  machen.  Be- 
sonders glücklich  ist  offenbar  die  letzte  Kampagne  gewesen.  Sie 
hat  das  Material  zu  der  Vermutung  geliefert,  „daß  die  Ägypter 
aus  einem  libyschen  Stamm  hervorgegangen  sind,  der  in  das 
Niltal  eindrang  und  sich  hier  aus  Jägern  und  viehzüchtenden 
Nomaden  in  ein  Volk  seßhafter  Bauern  umgewandelt  hat".  Die 
Darstellung  einer  Expedition  in  das  Libanongebiet  in  dieser  frühen 
Epoche,  die  wir  uns  bis  vor  kurzem  noch  ganz  außerhalb  des 
Weltverkehrs  dachten,   ist  selbst  für  den  durch  die  Funde  des 


640  Notizen  und  Nachrichten. 

letzten  Jahrzehnts  verwöhnten  Agyptologen  ein  wissenschaftliches 
Ereignis.  W,  Spiegelberg. 

In  einem  längeren  Aufsatz  sucht  E.  Aßmann:  Zur  Vor- 
geschichte von  Kreta  den  Satz  zu  beweisen,  daß  Alt-Kreta  ohne 
Semiten  genau  so  undenkbar  und  unverständlich  sei  wie  das 
Rheinland  ohne  Römer,  der  gewiß  bald  Widerspruch  finden  wird 
(Philologus  67,  2). 

In  der  Mnemosyne  36,  3  handelt  eingehend  j.  M.j.  V aleton 
de  inscriptione  LygdamensL 

Im  Hermes  43,  3  sucht  U.  Wilcken  dem  Theompomp  als 
Verfasser  die  von  Grenfell-Hunt  herausgegebenen  Hellenika- 
Bruchstücke  zuzuschreiben.  H.  Jacobsohn:  Antium  weist  diese 
Stadt  als  zur  Tribus  Camilia  gehörig  nach  und  P.  Graffunder 
bespricht  eingehend  und  sachkundig  die  Steingewichte  von  Mar- 
zabotto. 

Die  Hellenika  von  Oxyrhynchos,  das  neugefundene  Historiker- 
fragment aus  den  Jahren  3%  und  395  v.Chr.,  wird  von  A.  v. Meß 
auf  einen  Athener,  und  zwar  einen  Aristokraten  und  Konserva- 
tiven Athens,  zurückgeführt  und  dann  vermutungsweise  dem  Kra- 
tippos,  der  diesem  Kreise  angehörte,  zugeschrieben.  So  richtig 
gewiß  der  1.  Teil  der  Abhandlung  ist,  so  zweifelhaft  bleibt  doch 
der  2.,  da  Kratipp  eben  nicht  viel  mehr  als  ein  bloßer  Name  für 
uns  ist  (Rheinisches  Museum  63,  3).  Ebendort  behandelt  W.  Ban- 
nier:  Die  Beziehungen  der  ältesten  attischen  Obergabe-  und  Rech- 
nungsurkunden zueinander  und  O.  Seeck:  Die  Quinquennal- 
feiern  des  Licinius. 

Aus  den  Mitteilungen  des  Kaiserlich  Deutschen  Archäologi- 
schen Instituts,  Athenische  Abteilung  1906,  1'2  notieren  wir 
C.  Fredrich:  Aus  Philipp!  und  Umgebung;  H.  Lattermann: 
Noch  einmal  zur  Bauinschrift  aus  Athen  (A.  M.  XXXI,  135); 
C.  Fredrich:  Imbros;  P.  Groebe:  Römi^he  Ehreninschriften; 
U.  V.  Wilamowitz-Moellendorff:  Eleutherai;  Th.Wiegand: 
Inschriften  aus  der  Levante;  W.  Dörpfeld:  Olympia  in  prä- 
historischer Zeit. 

Fast  das  ganze  Heft  8/10  des  Bulletin  de  correspondance 
helUnique  füllt  die  Herausgabe  und  Besprechung  der  in  Delos 
gefundenen  (1904)  Inschriften  durch  L.  Bizard  und  P.  Roussel, 
worunter  viel  Wertvolles  ist. 

In  den  Mämoires  de  l'Acad^mie  des  Inscriptions  et  Beiles- 
lettres  38,  1  (1908)  veröffentlicht  R.  Cagnat  eine  Arbeit,  Les 
deux   camps   de  la   l^gion   llh  Auguste   ä   Latnbkse   d'aprks   les 


Alte  Geschichte.  641 

fouillea  r^centea,  welche  reiche  Aufschlüsse  gibt  und  unentbehr- 
lich ist  fUr  jeden,  welcher  mit  römischem  Militärwesen  sich  be- 
schäftigt. 

Wertvoll  und  reich  an  neuem  Material  ist  der  von  P.  Gauck- 
]  e  r  verfaßte  Rapport  sur  des  inscriptions  latines  difcouvertes  en 
Tunisie  de  1900  ä  1905  (Archives,  Nouvelles,  des  missions  scienti- 
fiques  et  littäraires  15,4).  Ebendort  (14,2)  gibt  A.  Merlin  einen 
Rapport  sur  les  inscriptions  latines  de  la  Tunisie  ddcouvertes 
depuis  la  publication  du[suppUment  du  Corpus  inscriptionum  lati- 
narum. 

Aus  den  Comptes  rendus  de  l'Acad^mie  des  Inscriptions  et 
BelleS'lettres  1908,  März- April  notieren  wir:  A.  Merlin:  Une  in- 
scription  latine  d/couverte  ä  Korbous  (Tunisie);  M.  Holleaux: 
Rapport  sur  les  travaux  ex/cut/s  dans  l'tle  de  D/los  par  l'icole 
franpaise  d' Äthanes  pendant  Vannie  1907 ;  J.  Maurice:  La  vira- 
citi  historique  de  Lactance;  Gh.  Diehl:  Note  sur  deux  inscrip- 
tions Byzantines  d'^phkse;  J.  B.  Mispoulet:  Diocises  et  ateliers 
monätaires  de  rempire  Romain  sous  le  rigne  de  DiocUtien. 

In  den  Mälanges  d'arcMologie  et  d'histoire  28, 1/2  veröffent- 
licht F.  G.  De  Pacht  er  e  eine  Arbeit:  Salluste  et  la  dicouverte 
du  Danube,  ohne  das  interessante  Problem  aber  wesentlich  zu 
fördern. 

Eine  treffliche  Obersicht  bietet  Gh.  Ldcrivain:  Antiquit^s 
latines,  Publications  itrangkres  1902—1907  in  der  Revue  histo- 
rique 1908. 

Im  Journal  of  hellenic  studies  28,  1  finden  sich  einige  gute 
Arbeiten,  welche  hierher  gehören  G.  H.  Dodd:  The  Samians  at 
Zancle-Messana ;  G.  B.  Grundy:  The  population  and  policy  of 
Sparta  in  the  fifth  Century;  R.  M.  Burrows:  Pylos  and  Sphac- 
teria. 

Aus  The  American  Journal  of  Philology  29,  2  notieren  wir 
G.  Showerman:  The  ancient  religions  in  universal  history  und 
E.  B.  van  De  man:  Notes  on  a  few  Vestal  inscriptions. 

Im  American  Journal  of  Archaeology  12  (1908),  1/2  behandelt 
ausführlich  W.  B.  Dinsmoor  das  Mausoleum  von  Halikarnaß, 
und   G.  N.  Oleott    veröffentlicht   Unpublished  latin  insriptions. 

Die  Atti  della  r,  Accademia  delle  scienze  di  Torino  Vol.  43, 
2—7  (1907/08)  bringen  Arbeiten  von  U.  Mago:  La  regina  An- 
tiochide  di  Cappadocia  e  la  cronaca  degli  Ariaratidi,  der  geneigt 
ist,  die  cronaca  regia,  wie  er  den  bei  Diodor  31,  19  erhaltenen 
Abriß  der  kappadokischen  Königsgeschichte   nennt,   für  ein  von 


642  Notizen  und  Nachrichten. 

Ariarates  V.  beeinflußtes  Produkt  zu  halten,  was  möglich  scheint; 
von  G.  de  Sanctis:  L'Attide  di  Androzione  e  an  papiro  di  Oxy- 
rhynchos,  der  den  Verfasser  des  neugefundenen  griechischen 
Historikerfragments,  mit  dem  Attidographen  Androtion  identifiziert, 
was  sehr  wenig  wahrscheinlich  ist,  da  der  Verfasser  offenbar 
einem  anderen  Kreise  angehört,  worin  v.  Meß  (s.  oben)  sicher 
recht  hat;  femer  von  Fr.  Rossi:  Delle  dottrine  religiöse  dell*an- 
tico  Egitto  und  von  L.  Pareti:  Ricerche  sui  Tolomei  Eupatore 
e  Neo  Filopatore, 

Aus  den  Notizie  degli  scavi  di  antichitä  1907, 11'12— 1908, 1/2 
notieren  wir  A.  L.  Milan i:  Due  depoaiti  dell'etä  di  bronzo  di 
Campiglia  d'Orcia  frazione  del  Comune  di  Castiglione  d'Orcia  e 
della  funzione  monetale  deU'aes  rüde  nei  necropoli  deW  Etruria ; 
R.  Paribeni:  Leprignano.  Iscrizioni  latine;  D.  Vaglieri: 
Morlupo,  Scoperta  di  una  tomba  romana ;  D.  Vaglieri:  Roma. 
Nuove  scoperte  nella  cittä  e  nel  suburbio;  D.  Vaglieri:  Pale- 
strina,  Scoperte  varie  di  antichitä;  V.  Spinazzola:  Reggio 
Calabria.  Di  alcuni  scavi  e  trovamenti  nelle  necropoli  Reggine; 
G.  P a t r o n i :  Brescia.  Epigrafi  latine ;  J.  Carcopino:  Porto,  II 
Porto  Claudio  Ostiense  secondo  recenti  tasti;  P.  Orsi:  Relazione 
preliminare  solle  scoperte  archeologiche  avvenute  nel  sud-est  della 
Sicilia  nel  biennio  1/2,  1905—1/2,1907;  G.  Patroni:  Lovere. 
Tombe  romane  con  oggetti  preziosi  e  suppellettile  sepolcrale  di 
etä  preromana  e  romana ;  A.  S  o  g  1  i  a  n  o :  Pompei.  Relazione  degli 
scavi  fatti  dal  decembre  1902  a  tutto  marzo  1905;  G.  E.  Rizzo: 
Torre  del  Padigliano,  Rilievo  Marmoreo  di  Antonianos  di  Afro- 
disia  rappresentante  Antinoo-Silvano, 

Aus  der  Numismatischen  Zeitschrift  N.  F.  Bd.  1  notieren  wir 
A.  Maier:  Die  Silberprägung  von  Apollonia  und  Dyrrhachium; 
W.  Kubitschek:  Der  Denarfund  aus  der  Gegend  von  Usküb 
(Albanien)  und:  Die  Zeitrechnung  der  Stadt  Sinope;  O.  Vetter: 
Valerianus  junior  und  Saloninus;  W.  Kubitschek:  Valerianus 
der  Jüngere  und  Saloninus  und:  Das  Todesdatum  des  Kaisers 
Decius;  K.  Regling:  Nochmals  die  Söhne  des  Gallienus. 

Auf  A.  V.  Domaszewskis  Aufsatz:  Die  politische  Be- 
deutung der  Religion  von  Emesa  sei  nachdrücklich  hingewiesen 
(Archiv  für  Religionswissenschaft  11,  2/3). 

Wegen  ihrer  Wichtigkeit  und  ihrer  hervorragenden  Resul- 
tate sei  hier  auf  die  englischen  Ausgrabungen  in  Palästina  hin- 
gewiesen, worüber  P.  Thomsen  in  den  Mitteilungen  und  Nach- 
richten des  Deutschen  Palästina -Vereins  1908,  4'5  Bericht  er- 
stattet.   In   diesen  Zusammenhang  gehört  auch   H.  Thiersch: 


Alte  Geschichte.  643 

Die  neueren  Ausgrabungen  in  Palästina  im  Archäologischen  An- 
zeiger 1908,  1. 

Aus  Revue  des  quesHons  historlques  167  (I.Juli  1908)  notieren 
wir  C.  L.  Fillion:  Uexistence  historique  de  Jäsus  et  le  rationa- 
lisme  contemporain. 

In  The  Expositor  1908,  August  behandelt  B.  D.  Eerdmans 
die  Frage:  Have  the  Hebrews  beert  Nomades f 

Der  neue  (5.)  Band  der  Oxyrhynchus-Papyri  hat  wie  das  oft 
schon  angeführte  griechische  Historikerfragment  aus  dem  4.  Jahr- 
hundert so  auch  ein  neues  Evangelienbruchstück  uns  gebracht, 
das  E.  Preuschen  übersetzt  und  gut  erläutert  hat  (Zeitschrift 
für  neutestamentl.  Wissenschaft  und  die  Kunde  des  Urchristen- 
tums 9, 1).  Ebendort  beginnt  J.  Chapman  eine  Reihe  von  Unter- 
suchungen über  the  date  of  the  Clementines. 

Die  Christenkatastrophe  unter  Nero  ist  nach  ihren  Quellen, 
insbesondere  nach  Tacitus  ann.  XV,  44  von  neuem  untersucht 
durch  E.  Theodor  Klette,  Lic.  theol.  Dr.  phil.  Pfarrer  (Tübingen, 
Mohr.  1907.  VI  u.  148  S.)  —  In  dem  Widerstreit  der  Meinungen 
über  Charakter  und  Motive  der  ersten  Christenverfolgung,  die 
neuerdings  besonders  in  Italien,  eine  ganze,  zum  Teil  unheimlich 
dickleibige  Literatur  hervorgerufen  hat,  sucht  Klette  einen  festen 
Boden  zu  gewinnen,  indem  er  statt  von  dem  in  seinem  präg- 
nanten Stil  so  vieldeutigen  Tacitusbericht  auszugehen,  erst  auf 
das  genaueste  alle  anderen  Quellen  abhört  mit  dem  Resultat, 
daß  Nero  auf  jüdische  Umtriebe  hin  die  Christen  nicht  als  der 
Brandstiftung  schuldig,  sondern  eben  als  Christen  und  aller  Greuel 
verdächtig  in  grausamer  Weise  vor  dem  Volke  hinopferte,  das 
darin  eine  Sühne  des  im  Brande  der  Stadt  sich  offenbarenden 
Götterzorns  erblicken  sollte.  Erst  Tacitus,  der  Nero  als  der  Brand- 
stiftung schuldig  erscheinen  lassen  wollte,  hat  den  Schein  her- 
vorgerufen, daß  man  abolendo  rumori  die  Christen  verhaftet  habe. 
Aber  ihr  Geständnis  kann  sich,  so  gewiß  Tacitus  das  meinte  doch 
nicht  auf  Brandstiftung,  sondern  nur  auf  ihr  Christsein  bezogen 
haben,  zumal  Tacitus  selbst  angibt,  sie  seien  nicht  der  Brand- 
stiftung, sondern  nur  eines  odium  generis  humani  überführt 
worden.  So  schuf  Nero  (nicht  erst  Trajan)  jenes  besondere 
„Christenrecht",  über  das  sich  die  Apologeten  beschweren,  weil 
es  das  Christsein  als  solches  zum  Delikt  machte  und  jederzeit 
die  Handhabe  zu  Christenverfolgungen  bot.  Die  sehr  sorgfältige 
Arbeit  rückt  durch  genaue  Anwendung  der  von  Mommsen  klar- 
gelegten Strafprozeßordnung  eine  ganze  Reihe  von  Überlieferungs- 
tatsachen in  neue  Beleuchtung. 


644  Notizen  und  Nachrichten. 

Der  12.  Band  der  „Mitteilungen  des  Russischen  Archäologi- 
schen Instituts  zu  Konstantinopel''  (in  Kommission  bei  O.  Har- 
rassowitz,  48  M.)  bringt  aus  der  Hand  des  Direktors  der  Anstalt, 
Th.  Uspenskijs,  die  Publikation  des  illustrierten  Oktateuch- 
kodex  in  der  Bibliothek  des  alten  Serai  zu  Konstan- 
tinopel.  Die  Leser  dieses  Blattes  dürfte  es  besonders  inter- 
essieren, daß  der  Verfasser  die  Herkunft  des  Kodex  aus  dem  von 
Isaak  Komnenos  Porphyrogennetos ,  einem  Bruder  der  Anna 
Komnena,  gegründeten  Kloster  zu  Bera  (jetzt  Feredfik  an  der 
Bahnlinie  Adrianopel  —  Dedeagac)  wahrscheinlich  macht  Dem- 
nach würde  die  alte  Vermutung  vielleicht  zu  Recht  bestehen,  daß 
Teile  der  Bibliothek  der  byzantinischen  Kaiser  in  die  Seraibiblio- 
thek  übergegangen  seien.  Der  Inhalt  des  Bandes  interessiert  in 
erster  Linie  die  Kunsthistoriker,  insofern  in  dem  beigegebenen 
Atlas  die  Miniaturen  der  Seraihandschrift  nebst  einer  Auswahl  von 
Miniaturen  aus  den  Oktateuchhandschriften  von  Vatopedi,  Smyma 
und  Vatic.  747  in  vorzüglichen  Reproduktionen  geboten  werden. 
Damit  ist  eine  Grundlage  für  die  von  Strzygowski  (Byz.  Archiv 
11,  S.  114)  geforderte  vergleichende  Behandlung  der  Bildtypen  der 
illustrierten  Oktateuche  geschaffen.  Daneben  hat  der  Band  be- 
sonderes Interesse  für  die  Theologen,  insofern  in  dem  in  russi- 
scher Sprache  geschriebenen  Textbande  die  Bedeutung  des  Textes 
der  Handschrift  für  die  Oberlieferung  des  Aristeasbriefes,  des 
Septuagintatextes,  der  Katenen  und  der  Hexapla  erörtert  wird. 
Das  Schlußkapitel  gibt  eine  erschöpfende  Geschichte  der  Serai- 
bibliothek  und  ein  Verzeichnis  der  darin  befindlichen  griechi- 
schen Handschriften.  Ein  Exkurs  zum  ersten  Kapitel  behandelt 
die  Geschichte  und  Topographie  des  oben  genannten  Klosters 
der  Theotokos  Kosmosoteira  zu  Bera  sowie  die  literarische  Phy- 
siognomie des  Isaak  Komnenos  Porphyrogennetos,  den  man  bis- 
her mit  dem  Kaiser  Isaak  1.  Komnenos  (vgl.  Krumbacher,  Byz. 
Literaturgeschichte  »,  S.  525—526)  fälschlich  zu  identifizieren  ver- 
sucht hatte.  £.  Gerland. 

Neue  Bficher:  Massey,  Ancient  Egypt,  the  light  of  the 
World,  2  vols.  (London,  Unwin,  42  sh.)  —  Am^lineau,  Pro- 
Ugomknes  ä  Vitude  de  la  religion  e'gyptienne,  Essai  sur  la  mylho- 
logie  de  V^gypte,  (Paris,  Leroux,)  —  Olmstead,  Wesiern  Asia 
in  the  days  of  Sargon  of  Assyria  722—705  B.  C.  (New  York,  Holt 
d  Co,  1,25  Doli,)  —  Svoronos,  Die  Münzen  der  Ptolemäer. 
4.  Bd.  Deutsche  Obersetzung  des  1.  Bds.,  Beiträge  von  F.  Huitsch, 
K.  Regling  etc.  Ergänzungen.  Indices.  (Athen,  Beck  6  Barth. 
28  M.)  —  Konr.  Schmidt,  Die  Semiten  als  Träger  der  ältesten 
Kultur  Europas.    (Gleiwitz,   Neumanns  Stadtbuchdr.    3,50  M.)  — 


Frühes  Mittelalter.  645 

Rothstein,  Juden  und  Samaritaner.  Eine  kritische  Studie  zum 
Buche  Haggai  und  zur  jüdischen  Geschichte  im  ersten  nachexi- 
lischen  Jahrhundert.  (Leipzig,  Hinrichs.  2  M.)  —  Inscriptiones 
Graecfu,  VoL  IX.  Inscriptiones  Graeciae  septentrionalis  volumi- 
nibus  VII  et  VIII  non  comprehensae.  Pars  IL  Inscriptiones  Thes- 
saliae.  Ed.  Otto  Kern.  (Berlin,  Reimer.  49  M.)  —  Prinz, 
Funde  aus  Naukratis.  Beiträge  zur  Archäologie  und  Wirtschafts- 
geschichte des  7.  und  6.  Jahrhunderts  v.  Chr.  Geb.  (Leipzig,  Die- 
terich. 8,40  M.)  —  Pol  lack.  Der  Majestätsgedanke  im  römi- 
schen Recht.  Eine  Studie  auf  dem  Gebiet  des  römischen  Staats- 
rechts. (Leipzig,  Veit  6  Co.  6  M.)  —  v.  Premerstein,  Das 
Attentat  der  Konsulare  auf  Hadrian  im  Jahre  118  n.Chr.  (Leipzig, 
Dieterich.  5,60  M.) —  Tee  igen,  The  life  and  times  of  the  empress 
Pulckeria,  A.  D.  399  to  A.  D.  452.  (London,  Sonnenschein.  10,6  sh.) 
—  Jullian,  Histoire  de  la  Gaule.  L  Les  invasions  gauloises  et 
la  colonisation  grecque.  (Paris,  Hachette  A  Cie.  10  fr.)  —  Ma- 
rucchi,  Manuale  di  archeologia  cristiana.    (Roma,  DescUe  e  C.) 


Römisch-germanische  Zeit  und  frfihes  Mittelalter  bis  1250. 

Ein  orientierender  Aufsatz  von  F.  Rachfahl  über  Nomaden- 
tum  und  Ackerbau,  der  für  die  Erkenntnis  der  wirtschaftlichen 
Zustände  bei  den  alten  Germanen  Beachtung  verdient,  ist  er- 
wachsen aus  der  Anzeige  der  zweiten  Auflage  von  R.  Hildebrands 
heftig  umkämpften  Werk  über  Recht  und  Sitte  auf  den  primitiven 
wirtschaftlichen  Kulturstufen  (Jena  1907);  Schmollers  Jahrbuch 
für  Gesetzgebung  usw.  33,  2.  Notiert  seien  auch  die  Bemerkungen 
von  G.  Necke  1  zu  den  aus  Cäsar  und  Tacitus  {BeU.  GalL  IV 
c.  I,  Germ.  c.  39)  bekannten  centum  pagi  der  Sueben  (Beiträge  zur 
Geschichte  der  deutschen  Sprache  und  Literatur  33,  S.  473  ff.). 

Den  Anschauungen  A.  Haupts  über  das  Grabmal  Theodorichs 
in  Ravenna  (vgl.  diese  Ztschr.  101  S.  193)  tritt  mit  Schroffheit  ent- 
gegen J.  Durm  in  der  Ztschr.  f.  bild.  Kunst  1908,  8  („Nochmals 
das  Grabmal  des  Theodorich  zu  Ravenna**):  er  lehnt  ebenso  die 
Behauptung  des  germanischen  Charakters  ab  wie  den  Haupt- 
sehen  Rekonstruktionsversuch. 

W.  Levison  behandelt  im  Neuen  Archiv  33,  3  zwei  Mero- 
wingerurkunden  für  das  Kloster  Montierender;  die  erste  von 
Theuderich  HI.  (682)  ist  trotz  einiger  Mängel  für  echt  zu  halten, 
die  zweite  von  Childerich  11.  (664/665)  aber  für  eine  späte  Fäl- 
schung. Erwähnt  seien  hier  gleich  zwei  Arbeiten  von  W.  Meyer 
über  einen  Merowinger  Rhythmus  und  altdeutsche  Rhythmik    in 


646  Notizen  und  Nachrichten. 

lateinischen  Versen  sowie  über  Handschriften  der  Gedichte  des 
Venantius  Fortunatus,  beide  in  den  Nachrichten  der  Kgl.  Gesell- 
schaft der  Wissenschaften  zu  Göttingen,  Philol.-Histor.  Klasse 
1908,  1  veröffentlicht. 

Der  zweite  Teil  der  kritischen  Studien  zur  Lex  Baiuvariorum, 
den  E.  v.  Schwind  soeben  im  Neuen  Archiv  33,  3  erscheinen 
ließ  (vgl.  97,  1%  f.),  gilt  der  Entstehung  dieses  Volksrechts.  Es 
hieße  den  Umfang  einer  Notiz  überschreiten,  sollte  versucht 
werden,  die  Ergebnisse  in  kurzen  Sätzen  zu  umschreiben.  Immer- 
hin mag  angemerkt  sein,  «daß  das  Gesetz,  mehr  als  bisher  an- 
genommen wurde,  sich  als  ein  Konglomerat  aus  verschiedenen 
alten  Gesetzen  darstellt  und  insbesondere  neben  dem  „Königs- 
gesetze'' und  dem  alamannischen  und  westgotischen  Gesetze  auch 
aus  der  Lex  Salica  und  langobardischen  Edikten  geschöpft  hat 
und  mancherlei  kirchlichen  Einfluß  verrät*.  Vor  der  Ascheimer 
Synode  (um  756)  hat  das  Gesetz  bestanden,  unter  welchem  König 
aber  oder  Herzog  es  entstand,  läßt  sich  nicht  mehr  ermitteln. 
Mit  der  Chronologie  der  bayerischen  Synoden  zu  Dingoifing  und 
Neuching  befaßt  sich  eine  Miszelle  von  B.  Sepp  in  der  Alt- 
bayerischen Monatschrift  1908,  1/2. 

Im  Archiv  für  Urkundenforschung  1,3  unterzieht  H.  Breß- 
1  a  u  die  Lehre  von  den  Siegeln  der  Karolinger  und  Ottonen  einer 
erneuten,  sorgsam  abwägenden  Prüfung.  Hervorgehoben  sei  das 
Ergebnis,  daß  schon  die  älteren  Karolinger  sich  der  Metallsiegel 
bedient  haben,  was  gegen  Sickel  und  Breßlau  selbst  zuerst  von 
Giry  für  Karl  den  Großen  behauptet  worden  war.  Angeschlossen 
sei  ein  Hinweis  auf  die  Studie  von  M.  Fazy  über  die  chronolo- 
gischen Angaben  in  den  Urkunden  des  Bischofs  Stephan  von 
Tournai  (1192-1202);   Bibliothkque  de  Vicole  des  chartea  69,  1/2. 

Zwei  Quellenuntersuchungen  sind  in  Kürze  zu  notieren. 
S.  He II mann  prüft  die  Entstehung  und  Überlieferung  der  An- 
nales  Fuldenses,  um  den  bisherigen,  namentlich  von  F.  Kurze 
festgelegten  Anschauungen  den  Boden  zu  entziehen,  so  daß  man 
den  Ausbruch  eines  neuen  bellum  annalistUum  befürchten  muß 
(Neues  Archiv  33, 3).  In  der  Revue  historique  98,  2  dagegen  setzt 
sich  L.  H  a  1  p  h  e  n  mit  J.  Lair  und  J.  Chavanon  über  die  Chronik 
Ademars  von  Chabannes  auseinander. 

Wir  verzeichnen  eine  Reihe  neuer  Studien  von  Ferdinand 
Lot  zur  französischen  Geschichte  des  9.  Jahrhunderts.  Im  Moyen 
Age  2.  Serie  10  wendet  er  sich  gegen  einige  Ansichten,  die  A. 
Pdtel  in  den  Mämoires  de  la  soc.  acad,  de  l'Aube  68  über  die 
beiden  Grafen  Aleran  entwickelt   hatte,   und  zeigt,  daß  Aleran  I. 


Frühes  Mittelalter.  647 

auch  844—852,  als  Markgraf  von  Gothien,  die  Grafschaft  Troyes 
behalten  hat,  und  daß  auch  Aleran  II.  nach  Januar  866  kurze  Zeit 
Graf  von  Troyes  war  (vgl.  auch  Replik  und  Duplik  in  Bd.  11). 
Ebenda  1 1  sucht  er  den  Ursprung  des  Grafen  Thibaud  le  Tricheur, 
des  Gründers  des  Hauses  Blois-Chartres,  festzustellen  (seine 
Mutter  sei  die  Kaiserin  Richilde,  Witwe  Karls  des  Kahlen,  die 
ihn  einem  Vasallen  Roberts  v.  Franzien  Gerlo  geboren  habe); 
doch  gestehe  ich,  daß  mir  hier  die  Beweisführung  nicht  ganz  ge- 
schlossen und  überzeugend  erscheint.  Jn  der  Rev,  de  philologie 
Franpaise  21  vergleicht  er  die  bretonische  Geschichte  des  schönen, 
von  den  Feen  entführten  Guengualch  (aus  der  dritten  Vita  S. 
Tutguali  episc.)  mit  der  irischen  Histoire  de  CondU  le  Beau 
und  zeigt,  wie  dieser  Sagenstoff  erst  im  12.  Jahrhundert  auf  den 
Sagenreichen  bretonischen  König  Grallo  übertragen  wurde.  Recht 
ergebnisreich  schließlich  ist  die  ausführliche  Untersuchung  über 
die  große  normannische  Invasion  in  Frankreich  von  856—862  (ihr 
Beginn  wurde  bisher  gewöhnlich  irrig  auf  855  datiert)  in  der  Bi- 
bliothique  de  l'^cole  des  chartes  69;  hier  wird  insonderheit  die 
Geschichte  der  Seinenormannen  unter  Sidrac  und  Berno  sowie 
der  Sommenormannen  unter  Weland  betrachtet  und  eine  wert- 
volle Ergänzung  zu  dem  Buch  von  Walter  Vogel  über  die  Nor- 
mannen und  das  Fränkische  Reich  geboten.  R.  //. 

Ein  Aufsatz  von  G.  Hergesell  in  Tilles  Deutschen  Ge- 
schichtsblättern 9,  9  schildert  die  Panzerung  der  deutschen  Ritter 
im  Mittelalter.  Man  sollte  es  nicht  für  möglich  halten,  daß  der 
Verfasser  noch  immer  der  Meinung  ist,  Turniere  seien  bereits  im 
10.  Jahrhundert  unter  Heinrich  1.  in  Sachsen  landesüblich  gewesen 
(vgl.  dazu  K.  Heldmann,  Mittelalterliche  Volksspiele  in  den  thü- 
ringisch-sächsischen Landen,  Halle  1908,  S.  45  Anm.  6). 

In  der  Altpreußischen  Monatsschrift  45,  2  behandelt  H.  G. 
Voigt  Brun  von  Querfurt  (f  1009)  und  die  Bedeutung  seines 
Missionswerks,  über  die  im  vorigen  Jahre  das  umfangreiche 
Buch  desselben  Verfassers  (Stuttgart  1907)  erschienen  ist. 

Unter  dem  Titel  „Toskanische  Studien  1"  vereinigt  F. 
Schneider  eine  Reihe  kleinerer  Untersuchungen,  die  an  archi- 
valische  Funde  zur  Geschichte  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  an- 
knüpfen. Erwähnt  seien  vor  allem  neben  einer  Reihe  von  Ge- 
richtsurkunden die  Liste  der  Gefälle  eines  Hofs,  den  Gräfin 
Mathilde  dem  Pisaner  Domkapitel  geschenkt  hatte,  und  ein  bisher 
unbekanntes,  leider  der  Datierung  entbehrendes  Mandat  Kaiser 
Friedrichs  1.  an  die  Konsuln  von  Siena  (Quellen  und  Forschungen 
aus  italienischen  Archiven  und  Bibliotheken  11,  1). 


648  Notizen  und  Nachrichten. 

Louis  Halphen,  Le  comU  d'Anjou  au  XU  sikcle,  Paris^ 
Picard  1906.  XXIV,  426  S.  H.,  der  Herausgeber  der  ^ Annales 
Angevines  et  Venddmotses"  (Paris  1903),  ist  gegenwärtig  der 
beste  Kenner  der  Geschichte  von  Anjou  im  Mittelalter.  Die 
voriiegende  Arbeit  enthält  eine  gute  und  kritische  Geschichte  der 
Grafschaft  von  Fulco  Nerra  bis  zu  Fulco  Rechin  (987—1109). 
Aber  das  ist  nicht  alles.  Neben  der  äußeren  Geschichte  wird 
auch  die  innere,  die  Bildung  eines  Territorialstaates,  die  staats- 
rechtliche Stellung  des  Grafen,  die  Verwaltungsorganisation,  die 
Stellung  der  Barone,  die  Arbeit  der  Staatsgewalt  zur  Hebung  des 
Wohlstandes,  freilich  nach  der  Art  unseres  Materials  besonders 
gegenüber  Kirchen  und  ihrem  Gut  nachweisbar,  mindestens 
ebenso  eingehend  untersucht,  wenn  die  Form  vielleicht  auch  etwas 
systematischer  hätte  sein  können.  Daß  die  Beherrschung  des 
Materials  lückenlos  ist,  braucht  nicht  gesagt  zu  werden.  Auf  den 
darstellenden  Teil,  dem  eine  Übersicht  über  Literatur  und  Quellen 
vorausgeht  (S.  H—XXIV)  und  der  236  Seiten  umfaßt,  folgt  ein 
y,Catalogue  des  actes*^  der  behandelten  vier  Grafen,  der  die  Re- 
gesten von  323  echten  und  11  gefälschten  Urkunden  umfaßt, 
denen  überall  die  notwendigen  Angaben  über  Oberlieferung  und 
Literatur  beigegeben  sind  (S.  237—343).  Fünf  Inedita  und  eine 
chronikalische  Aufzeichnung  sind  beigegeben.  Ein  ausführliches, 
65  Seiten  starkes  Register  ist  besonders  hervorzuheben. 

Fedor  Schneider, 
Der  französische  Geistliche  Hildebert,  geboren  zu  Lavardin 
um  1056,  seit  1096  Bischof  von  Le  Mans,  von  1125  bis  zu  seinem 
Tode  1133  Erzbischof  von  Tours,  steht  zwar  unmittelbar  der 
deutschen  Geschichte  fern,  wenn  man  absieht  von  dem  maßvollen 
Schreiben,  in  dem  er  bald  nach  den  aufregenden  Ereignissen  des 
Jahres  IUI  sein  Urteil  über  Heinrich  V.  und  Pascha!  II.  abgab 
(MG,  libelli  de  Ute  \\f  669  iL).  In  der  allgemeinen  Kirchengeschichte 
nimmt  er  jedoch  einen  so  beachtenswerten  Platz  ein,  daß  die 
sorgfältige,  allerdings  sehr  breit  angelegte  Arbeit  von  Franz  X. 
Barth,  Hildebert  von  Lavardin  (1056—1133)  und  das  kirchliche 
Stellenbesetzungsrecht,  XX  und  490  S.,  Stuttgart,  Ferdinand 
Enke,  1906  (=  Kirchenrechtliche  Abhandlungen,  herausgegeben 
von  Ulrich  Stutz,  Heft  34—36)  vollstes  Interesse  in  Frankreich 
wie  bei  uns  verdient  Steht  doch  im  Mittelpunkt  der  Erörterungen 
die  Rechtsfrage  nach  der  Besetzung  der  kirchlichen  Amter,  über 
die  der  französische  Zeitgenosse  des  Investiturstreites  insofern  be- 
sonders berufen  war  zu  schreiben,  als  er  selbst  seine  hohen  kirch- 
lichen Würden  keineswegs  ohne  Anfechtungen  antrat  und  behaup- 
tete.   Den  Arm  des  englischen  wie  den  des  französischen  Königs 


Frühes  Mittelalter.  649 

hat  er  verspüren  müssen.  Hildebert  gehört  nicht  zu  den  bahn- 
brechenden Geistern  in  der  Schar  der  Kanonisten  des  Investitur- 
streits; er  verdient  aber  gewiß  neben  seinem  großen  Landsmann 
Ivo  V.  Chartres  einen  ehrenvollen  Platz.  Barth  stellt  eine  weitere 
Studie  über  Hildeberts  Bedeutung  als  Schriftsteller,  verbunden 
mit  Regesten,  in  Aussicht.  //.  Krabbo. 

A.  V.  Wretschko,  der  im  Jahre  1901  in  der  ^Deutschen 
Zeitschrift  für  Kirchenrecht'  eine  Abhandlung  über  die  electio 
communis  hatte  erscheinen  lassen,  liefert  jetzt  abermals  einen 
Beitrag  zu  dem  neuerdings  wieder  viel  erörterten  Thema  der 
Bischofswahlen:  ,,Zur  Frage  der  Besetzung  des  erzbischöflichen 
Stuhles  in  Salzburg  im  Mittelalter.  |IV  und  111  S.  Stuttgart, 
Ferdinand  Enke.  1907."  Die  Untersuchung  setzt  mit  dem  Wormser 
Konkordat,  ausführlicher  mit  dem  Jahre  1247  ein  und  reicht  bis 
1500.  Sie  gliedert  sich  in  einen  darstellenden  Teil,  dem  sich  an- 
schließen einzelne  Urkunden,  und  dann  genaue  Regesten  der 
einzelnen  Besetzungen  seit  1247.  Besonders  interessant  ist  der 
Zeitabschnitt  1343—1429.  Vor  jeder  der  sechs  innerhalb  dieser 
Zeit  eintretenden  Sedisvakanzen  hatte  sich  der  Papst  die  Ver- 
fügung über  den  frei  werdenden  erzbischöflichen  Stuhl  vorbehalten. 
Trotzdem  schritt  jedesmal  das  Kapitel  zur  Wahl  mit  dem  Erfolg, 
daß  der  Papst  die  Wahl  zwar  kassierte,  dann  aber  —  einmal  frei- 
lich erst  nach  vergeblichen  Gegenmaßregeln  —  dem  Kandidaten 
des  iKapitels  das  Erzbistum  kraft  seiner  Machtvollkommenheit 
verlieh.  So  wahrte  wohl  grundsätzlich  die  Kurie  ihren  Stand- 
punkt, tatsächlich  aber  setzten  ihr  zum  Trotz  die  Domherren 
stets  ihren  Willen  durch.  H,  Krabbo, 

Ein  lebhaftes  Interesse  hat  sich  in  den  letzten  Jahren  der 
durch  das  Tridentinum  fast  überall  beseitigten  Gewalt  der  Archi- 
diakone  zugewendet,  deren  Höhepunkt  um  1200  lag.  Leder  be- 
schäftigte sich  mit  den  Vorläufern,  Hilling  mit  der  Ausbildung 
dieses  Institutes  im  Bereiche  Sachsens,  andere  mit  einzelnen 
Sprengein.  Eugen  Baumgartner:  Geschichte  und  Recht  des 
Archldiakonates  der  oberrheinischen  Bistümer  mit  Einschluß  von 
Mainz  und  Würzburg  (Kirchenrechtliche  Abhandlungen  herausg. 
V.  Stutz.  Heft  39.  Stuttgart  1907)  behandelt,  wiederum  von  Stutz 
angeregt,  ein  räumlich  weiter  ausgedehntes  Gebiet  mit  mannig- 
fachen Unterschieden.  Die  Arbeit  beruht  auf  sehr  sorgfältigen 
Studien  in  der  Literatur,  Archivalien  sind  nicht  herangezogen, 
im  wesentlichen  war  aber  auch  so  zur  Klarheit  zu  gelangen  mög- 
lich. Der  zweite  Teil  gibt  die  Geschichte  nach  Sprengein,  der 
dritte  eine  rechtliche  Darstellung  nach  den  verschiedenen  Kom- 
HistorUcht  ZeittchrUt  (101.  Bd.)  1.  Folge  ft.  Bd.  42 


650  Notizen  und  Nachrichten. 

petenzen.  Der  §  20  über  die  freiwillige  Gerichtsbarkeit  interessiert 
auch  den  Diplomatikery  da  hier  die  Beurkundung  der  Archidia- 
konatsgerichte  behandelt  ist,  doch  sind  nur  Zeugnisse  aus  den 
Bistümern  Basel  und  Straßburg  herangezogen  worden,  was  irre 
führen  könnte.  Auch  der  Abschnitt  über  die  Einkünfte  ist  etwas 
mager,  hier  bleibt  noch  manches  dunkel.  Die  Arbeit  hat  ihren 
Zweck  völlig  erreicht,  das  Charakteristische  der  Geschichte  dieses 
Institutes  in  den  einzelnen  Sprengein  herauszuarbeiten.  Die 
früheren  Historiker  wußten  mit  diesem  Institute  nichts  anzufangen, 
jetzt  sehen  wir,  wie  die  Macht  der  Bischöfe  durch  die  Archidia- 
kone  zeitweise  sehr  erheblich  eingeschränkt  war.  Für  die  Zeit 
von  1100  bis  1400  muß  auch  die  ins  Große  arbeitende  Geschicht- 
schreibung fürder  dieses  Institut  beachten.  Baumgartner  hat  in 
seiner  verdienstreichen  Schrift  dieses  Amt  auch  bis  zu  seinem 
Untergange  verfolgt,  es  hat  sehr  früh  versagt  und  sich  in  eine 
rein  bureaukratische  Organisation  umgewandelt,  die  fast  nur  noch 
auf  die  Einkünfte  sah;  die  vom  Bischöfe  im  13.  Jahrhundert  ge- 
schaffenen zentralen  Behörden  drängten  dieses  Zwischenglied 
zwischen  Bischof  und  Landkapitel  zurück.  AL  Sch^ 

A.  Wal  In  er  untersucht  die  Anordnung  der  Heidelberger 
Liederhandschrift,  ihre  Wappen  und  Bilder  sowie  die  Titel  der  in 
ihr  vorkommenden  Minnesänger.  Seine  Ergebnisse  weichen 
mannigfach  von  denen  A.  Schultes  (Zeitschrift  für  deutsches 
Altertum  39)  ab,  ohne  darum  durchweg  plausibel  zu  sein  (Bei- 
träge zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache  und  Literatur  33, 
S.  483  ff.). 

Unter  dem  Titel:  Sachsenspiegel  und  Sachsenrecht  ver- 
öffentlicht F.  Philipp!  eine  Anzeige  des  Buches  von  Ph.  Heck 
über  den  Sachsenspiegel  und  die  Stände  der  Freien  (Halle  1905). 
Ihr  Ziel  ist  die  Revision  der  herrschenden  Anschauung  über  die 
sächsische  Gerichtsveriassung  zur  Zeit  Eikes.  Den  Grundgedanken 
der  Abhandlung  lehrt  folgender  Satz  erkennen:  „Zur  Zeit  Eikes 
haben  in  Sachsen  zwei  Arten  von  Gerichten  unabhängig  neben- 
einander bestanden  und  sind  von  ihm  zur  Darstellung  gebracht 
worden ;  die  dieser  Auffassung  scheinbar  widersprechenden  Stellen 
sind  dadurch  zu  erklären,  daß  sie  auch  sonst  nachweisbare  Stadien 
einer  Weiterbildung,  richtiger  Verbildung  der  ursprünglichen  Zu- 
stände zugunsten  der  Entwicklung  der  fürstlichen  Landeshoheit 
im  Auge  haben.*  Anhangsweise  bekämpft  Philippi  die  Gleich- 
setzung des  Wortes  pfleghaft  mit  Bürger  in  der  Walkenrieder 
Urkunde  vom  Jahre  1214  (Mitteilungen  des  Instituts  für  öster- 
reichische Geschichtsforschung  29,  2). 


Späteres  Mittelalter.  651 

Mit  dem  Minoritenpater  Bertold  von  Regensburg  und  den 
Urkundenfälschungen  der  beiden  Reichsstifter  Ober-  und  Nieder^ 
miinster  befaßt  sich  ein  für  die  deutsche  Geschichte  um  die  Mitte 
des  13.  Jahrhunderts  lehrreicher  Aufsatz  von  F.  Wilhelm  in 
den  Beiträgen  zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache  und  Litera- 
tur 34,  1. 

Neue  Bficher:  Maurer,  Vorlesungen  über  altnordische 
Rechtsgeschichte.  3.Bd.  (Leipzig,  DeichertNachf.  19  M.)—Zoepf, 
Das  Heiligenleben  im  10.  Jahrhundert.    (Leipzig,  Teubner.    8  M.) 

—  Recueil  des  Actes  de  Lothaire  et  de  Louis  V,  rois  de  France 
(954^987),  publU  par  L.Halphen  et  F.  Lot.  (Paris,  Klincksieck,) 

—  Drehmann,  Papst  Leo  IX.  und  die  Simonie.  Ein  Beitrag 
zur  Untersuchung  der  Vorgeschichte  des  Investiturstreites.  (Leip- 
zig, Teubner.  3  M.)  —  Ramsay,  The  dawn  of  the  Constitution; 
or  the  reigns  of  Henry  III  and  Edward  I,  A,  D,  1216—1307.  (Lon- 
don, Sonnenschein.  12  sh.)  —  D  o  e  r  i  n  g ,  Studien  zur  Verfassungs- 
geschichte von  Leicester.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  englischer 
Stadtverfassung  bis  in  die  Zeit  König  Edwards  I.  (Hanau,  Clauß 
^  Feddersen.  2  M.)  —  Hofmeister,  Die  heilige  Lanze,  ein 
Abzeichen  des  alten  Reichs,  (Breslau,  Marcus.  2,80  M.)  —  Pöschl, 
Bischofsgut  und  Mensa  episcopalis»  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
•des  kirchlichen  Vermögensrechtes.   1.  Tl.   (Bonn,  Hanstein.  6  M.) 


Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

In  die  Ausgabe  der  Monumenta  Germaniae  Constitutiones, 
die  nach  der  Vollendung  der  beiden  ersten  Bände  ins  Stocken 
geraten  war,  ist  in  den  letzten  Jahren  neues  Leben  gekommen. 
Nachdem  schon  im  Jahre  1904  die  erste  Hälfte  des  3.  Bandes  er- 
schienen war,  folgten  im  Jahre  1906  die  zweite  Hälfte  dieses 
Bandes  sowie  die  beiden  Hefte,  die  die  erste  Hälfte  des  4.  Bandes 
umfassen.  Die  Vollendung  des  4.  Bandes  steht  bald  zu  erhoffen. 
Damit  wäre  dann  das  Jahr  1313  erreicht,  der  Zeitpunkt,  an  dem 
die  alte  Folioausgabe  der  Monumenta  ihren  Abschluß  fand.  Der 
alten  Ausgabe  gegenüber  bedeuteten  diese  neuen  von  Jakob 
Schwalm  besorgten  Bände  in  noch  weit  höherem  Grade  ein 
völliges  Novum,  als  das  bei  den  ersten  von  L.  Weiland  besorgten 
Bänden  der  Fall  war.  Nur  ein  verschwindend  geringer  Teil  des 
Quellenmaterials  findet  sich  schon  in  der  alten  Folioausgabe; 
weitaus  das  meiste,  was  Schwalm  bietet,  ist  in  den  Monumenten 
noch  nicht  gedruckt,  zum  Teil  ist  es  überhaupt  noch  nicht  vorher 
veröffentlicht  worden.    Oberhaupt  ist  charakteristisch,  in  welchem 

42» 


652  Notizen  und  Nachrichten. 

Maße  das  Material  anschwillt.  Der  dritte  Band  mit  seinen  sieben- 
halbhiindert  Seiten  Text  konnte  noch  die  Zeit  Rudolfs  I.  und 
Adolfs,  also  ein  reichlich  gemessenes  Vierteljahrhundert  (1273  bis 
1298)  umspannen;  die  mehr  als  700  Seiten  Text,  die  vom  4.  Bande 
erschienen  sind,  reichen  bis  zum  Ende  des  Jahres  1311,  umfassen 
also  nur  die  Hälfte  dieses  Zeitraums,  und  dabei  ist  noch  eine 
Menge  Material  für  den  Schluß  des  Bandes  zurückgestellt.  Hält 
diese  Steigerung  an,  dann  wird  schon  beim  5.  Bande  die  Frage 
auftauchen,  ob  man  nicht  für  manche  Stücke,  die  mehr  von  typi- 
scher als  individueller  Bedeutung  sind  (Lehnsbriefe,  Homagien  etc.), 
nur  einzelne  charakteristische  Beispiele  gibt  und  im  übrigen 
sich  mit  Regesten  oder  besser  mit  Auszügen  begnügt.  Für  die 
vorliegenden  Bände  war  jedenfalls  die  vollständige  Wiedergabe 
des  Materials  noch  durchaus  angebracht.  Ober  die  Publikation 
selbst  ist  nur  Rühmliches  zu  sagen;  das  Register  des  3.  Bandes 
(das  des  4.  steht  noch  aus)  ist  mit  der  Gründlichkeit  gearbeitet^ 
die  wir  von  den  neuen  Monumenten-Ausgaben  gewohnt  sind. 
Tübingen.  Siegfried  RietscheL 

In  der  Vierteljahrschrift  f.  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte 
6,  2  beschließt  A.  Schaube  seine  lehrreichen  Ausführungen  über 
die  englische  Wollausfuhr  des  Jahres  1273,  indem  er  namentlich 
an  der  Höhe  der  für  diese  Ausfuhr  zu  berechnenden  Kapitalien 
die  Unrichtigkeit  des  Sombartschen  Satzes  aufs  neue  nachweist, 
daß  der  gewerbsmäßige  Handel  des  Mittelalters*  bis  tief  ins 
14.  Jahrhundert  hinein  das  unverkennbare  Gepräge  der  Hand- 
werkshaftigkeit  getragen  habe  (vgl.  oben  201). 

Die  Schicksale  der  Engelsburg  schildert  in  ihrer  Verknüpfung 
mit  der  Geschichte  des  Papsttums  für  die  Zeit  von  Nikolaus  111. 
bis  zur  Rückkehr  Martins  V.  nach  Rom  ein  auf  die  neuere  Lite- 
ratur wenig  Rücksicht  nehmender  Aufsatz  von  E.  Rodocanachi 
(Revue  historique  1908,  Juli- August). 

Mit  Dantes  juristischer  Bildung  beschäftigt  sich  die  Arbeit 
von  L.  Chiapelli:  Dante  in  rapporto  alle  fonti  del  diritto  ed 
alla  letteratura  giuridica  del  suo  tempo  (Archivio  stör.  Italiano 
1908,  1). 

Den  Obergang  zur  Signorie  in  Orvieto  behandelt  eingehend 
eine  in  den  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  führende  Arbeit  von  G. 
P  a  r  d  i ,  die  im  Bolletino  della  r,  deputazione  di  storia  patria  per 
rUmbria,  anno  13,  fasc.  2/3  erschienen  ist.  —  In  der  Historischen 
Vierteljahrschrift  11,  2  setzt  sich  G.  Caro  (Zur  Signorie  Hein- 
richs VII.  in  Genua)  mit  einzelnen  Aufstellungen  V.  Samanek& 
(vgl.  97,  674;  98,  668)  auseinander. 


Späteres  Mittelalter.  653 

Wie  sich  der  Kampf  zwischen  Ludwig  dem  Baiern  und  der 
Kurie  in  einem  im  unmittelbaren  Machtbereich  des  Kaisers 
liegenden  Bistum  (Freising)  widerspiegelt,  schildert  eine  Heidel- 
berger Dissertation  von  H.  Dormann,  die  freilich  weder  von 
Flüchtigkeiten  sich  freihält  noch  die  erreichbare  Literatur  voll- 
ständig ausgenutzt  hat.  Wie  in  diesem  Falle  natürlich,  haben  die 
von  der  Kurie  ernannten  Bischöfe  keine  großen  Erfolge  erzielen 
können,  zumal  das  Domkapitel  seinen  Standpunkt  mit  Nachdruck 
vertreten  hat.  Unter  den  Beilagen  ist  Nr.  XIII  (ein  Depositen- 
schein über  das  von  Bischof  Konrad  zu  Salmannsweiler  nieder- 
gelegte Vermögen  und  mancherlei  Kleinodien  vom  31.  Dezember 
1339)  in  kunst-  und  kulturgeschichtlicher  Hinsicht  bemerkenswert 
(Die  Stellung  des  Bistums  Freising  im  Kampfe  zwischen  Ludwig 
dem  Bayern  und  der  römischen  Kurie.  Wiesbaden,  Druck  von 
P.  J.  Marschall.     1907.    54  u.  XXXIX  S.).  H.  Kaiser. 

Aus  den  Forschungen  z.  brandenburgischen  u.  preußischen 
Geschichte  21,  1  sind  die  Arbeiten  von  W.  Füßlein  über  die 
Vormünder  des  Markgrafen  Ludwig  d.  A.  1323—1333  (von  1323 
bis  1327:  Berthold  von  Henneberg,  seitdem  neben  diesem  Mark- 
graf Friedrich  von  Meißen)  und  von  M.  G  i  1  o  w  über  die  Dalminer 
Fehde  von  1444  und  die  geistliche  Gerichtsbarkeit  in  der  Mark 
während  des  15.  Jahrhunderts  zu  erwähnen  (Ergänzung  zu  B. 
Hennigs  Abhandlung  über  die  Kirchenpolitik  der  älteren  Hohen- 
2ollern  und  die  päpstlichen  Privilegien  des  Jahres  1447). 

In  den  Quellen  u.  Forschungen  aus  italienischen  Archiven 
u.  Bibliotheken  11,  1  veröffentlicht  L.  Schütte  mit  eingehenden 
Erläuterungen  einen  für  die  Kurie  bestimmten,  dem  Propst  Heyden- 
reich  von  St.  Severin  zu  Köln  zugeschriebenen  Bericht  aus  dem 
Jahre  1327,  der  die  Stellung  der  rheinischen  Fürsten  und  Städte 
zu  Ludwig  dem  Bayern  kennzeichnet. 

An  der  Hand  eines  im  Vatikanischen  Archiv  erhaltenen 
Aktenstücks  bespricht  G.  M  o  1 1  a  t  (Procks  d'un  collecteur  ponti- 
fical  sous  Jean  XXII  et  Benott  XII)  in  der  Viertel jahrschrift  für 
Sozial-  u.  Wirtschaftsgeschichte  6,  2  den  1334  gegen  Jean  Bernier, 
Kanonikus  von  Chalon-sur-Sa6ne,  wegen  Unterschlagung  und 
anderer  Vergehen  begonnenen  Prozeß. 

G.  La  Mantia  druckt  und  erläutert  in  einer  auch  als  Son- 
derdruck (Palermo,  Scuola  tip.  Boccone  del  Povero  1907.  36  S.) 
erschienenen  Arbeit:  Capitoli  Angioini  sul  diritto  di  sigillo  della 
cancelleria  regia  per  la  Sicilia  posteriori  al  1272  die  unter  dem 
Datum  des  Jahres  1340  gehenden  Verordnungen,  die  einen  sehr 
lehrreichen  Einblick  in  die  sizilianischen  Kanzleiverhältnisse  er- 


654  Notizen  upd  Nachrichten. 

öffnen  und  vermöge  des  angehängten  Sachregisters  nun  besonders 
bequem  benutzt  werden  können  (Archivio  stör.  Siciliano  N.  S. 
anno  32,  fasc.  3/4). 

Der  Oberlieferung  der  ältesten  Urbarien  des  Bistums  Straß- 
burg widmet  H,  Kaiser  in  der  Zeitschrift  f.  d,  Gesch.  d.  Ober- 
rheins N.  F.  23y  3  eine  eingehende  Untersuchung,  als  deren  Er- 
gebnis u.  a.  anzumerken  ist,  daß  die  Niederschrift  des  vielbe- 
nutzten, von  Bischof  Berthold  II.  um  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts 
angelegten  Urbars,  das  bisher  allgemein  als  gleichzeitige  Abschrift 
betrachtet  ward,  erst  im  ersten  oder  zweiten  Jahrzehnt  des  15.  Jahr- 
hunderts ~  und  zwar  unter  sehr  eigenartigen  Umständen  —  er- 
folgt ist. 

Eine  im  Gegensatz  zu  anderen  neueren  Bearbeitern  den 
Quellenwert  Bakers  stark  herabdrückende  Schilderung  der  Schiacht 
bei  Maupertuis  (19.  September  1356)  entwirft  die  auf  H.  Delbrücks 
Anregung  zurückgehende  Berliner  Dissertation  von  K.  Lampe. 
Ober  eine  gemeinsame  Vorlage  der  Chronik  des  Jean  le  Bei  und 
der  Chronographia  regum  Francorum  (S.  1  u.  5  ff.)  Ist  H.  Moran- 
vill6  in  der  Bibliothique  de  Vicole  des  chartes  1904,  S.  583  ff.  zu 
vergleichen  (1908,  72  S.). 

Auf  Grund  eines  von  dem  Notar  Massimo  Porcelilni  ange- 
legten Verzeichnisses  macht  A.  Zoll  Angaben  über  die  raven- 
natischen  Steuerverhältnisse  im  Jahre  1372  (Aiti  e  memorie  dettß 
r.  deputazione  di  storia  patria  per  le  provincie  di  RomagnUf  terza 
Serie,  vol.  26,  fasc.  1 — 3). 

Die  AtH  e  memorie  della  r,  deputazione  di  storia  patria  per 
le  provincie  delle  Marche  N.  S.  4,  4  enthalten  eine  umfangreiche 
Arbeit  von  B.  Feliciangeli  über  den  Feldzug  Ludwigs  von 
Anjou  und  Amadeus'  von  Savoyen  gegen  Karl  von  Durazzo  (1382). 
Unter  den  Beilagen  ist  die  erste,  die  das  genaue  Itinerar  des 
Herzogs  Amadeus  für  den  Durchzug  durch  die  Marken  und  Um- 
brien  für  jeden  einzelnen  Tag  feststellt,  von  besonderem  Wert. 

Neue  Miscellanea  Cameralia  veröffentlicht  P.  M.  Baum- 
garten in  der  Römischen  Quartalschrift  22,  1,  indem  er  die 
überlieferten  Nachrichten  über  Wahlgeschenke  der  Päpste  an 
das  hl.  Kollegium  für  die  Zeit  von  Benedikt  XII.  bis  Benedikt  XIII. 
zusammenstellt  (rund  620000  Goldgulden  =  25  Millionen  Mark) 
und  ferner  eine  Liste  von  30  Bischöfen  und  65  Abten  zum  Ab- 
druck bringt  und  eriäutert,  die  im  Jahre  1390  wegen  Nichtzahlung 
der  Servitien  der  Exkommunikation  veHielen.  —  An  der  gleichen 
Stelle  finden  sich  Beiträge  zur  Lebensgeschichte  des  1480  ver- 
storbenen Nikolaus   von  Wachenheim,  50  Jahre   Hochschullehrer 


Späteres  Mittelalter.  655 

In  Heidelberg,  mit  Angaben  über  einen  von  ihm  herrührenden 
Tractatus  seu  opusculum  contra  errores  quorundam  iuvenum  maS" 
culorum,  die  Fr.  Falk  zum  Verfasser  haben. 

Ein  Ungenannter  gibt  in  den  Historisch-politischen  Blättern 
142,  2  einen   Oberblick   über   die  Missionierung  Nordafrikas    im 

14.  Jahrhundert. 

Mit  einer  vornehmlich  der  Geschichte  italienischer  Kom- 
munen dienenden  Brief  Sammlung,  die  aus  zwei  verschiedenen 
Zeiten    (zweite    Hälfte    des   13.,    Ende  des   14.  und  Anfang  des 

15.  Jahrhunderts)  angehörenden  Bestandteilen  zusammengesetzt  ist, 
macht  uns  H.  Otto  in  den  Quellen  und  Forschungen  aus  italieni- 
schen Archiven  und  Bibliotheken  11,  1  bekannt.  Der  Zeitpunkt 
des  Entstehens  ist  offenbar  zwischen  1421  und  1429  anzusetzen, 
als  Verfasser  vermutlich  Antonio  Morici  aus  Foligno,  Zollbeamter 
zu  Lucca,  zu  betrachten. 

Aus  den  Mitteilungen  des  Vereines  für  Geschichte  der 
Deutschen  in  Böhmen  1908,  Mai  ist  der  Schluß  des  oben  S.  203 
erwähnten  Aufsatzes  von  Val.  Schmidt:  Südböhmen  während 
der  Hussitenkriege  zu  verzeichnen. 

Den  Anteil  Deutschlands  an  der  Jeanne  d' Are-Forschung 
und  an  der  Gestaltung  des  Bildes  überhaupt  sucht  G.  Goyau  in 
den  M^moires  de  la  SocUU  archäologique  et  historique  de  VOrläa- 
nais  31  zu  veranschaulichen. 

Was  neuere  Arbeiten  über  das  Verhältnis  von  Staat  und 
Kirche  in  Deutschland  während  des  späteren  Mittelalters  gebracht 
haben,  wie  die  Beeinflussung  des  kirchlichen  Organismus  durch 
die  landesherrliche  Gewalt  in  ihren  Ursachen  und  in  ihrer  Ent- 
wicklung zu  verstehen  ist,  führt  in  der  Histor.  Vierteljahrschrift 
11,  2  A.  Werminghoff  in  geschickter  Zusammenfassung  vor. 
Eine  Sonderausführung  erläutert  nach  den  Urkunden  des  15.  Jahr- 
hunderts Bedeutung  und  Geschichte  des  Begriffs  „Deutsche 
Nation **,  der  mit  dem  Wiener  Konkordat  (1448)  völlig  ausgestaltet 
erscheint  als  die  Vereinigung  weltlicher  Gebiete  und  kirchlicher 
Verwaltungsbezirke  auf  deutschem  Boden. 

Auf  Grund  einiger  Einträge  eines  im  Frankfurter  Stadtarchiv 
erhaltenen  Rechnungsbuchs  weist  AI.  Riese  im  Römisch-germa- 
nischen Korrespondenzblatt  1908,  Juli- August  auf  das  Zerstörungs- 
werk hin,  dessen  sich  das  ausgehende  Mittelalter  der  alten  Römer- 
stadt Heddernburg-Nida  gegenüber  schuldig  gemacht  hat,  indem 
deren  Steine  in  großen  Mengen  hinweggeführt  wurden,  um  beim 
Bau  der  Kirche  von  Bonames  (Bona  mansio?)  verwandt  zu 
werden  (1477/78). 


656  Notizen  und  Nachrichten. 

Dem  vielfach  recht  spröden  Quellenmaterial  zum  Trotz  hat  H. 
N  i  r  r  n  h  e  i  m :  Hinrich  Murmester  (Pfingstblätter  des  Hansischen 
Geschichtsvereins  Bl.  IV.  Leipzig,  Duncker  £  Humblot  1908.  76  S.) 
ein  lebensvolles  Bild  des  vielgenannten,  1481  verstorbenen  ham- 
burgischen Bürgermeisters  herausgearbeitet,  aus  dem  namentlich 
die  erfolgreiche  Beteiligung  an  der  Lösung  bedeutender,  seiner 
Vaterstadt  'und  der  Hanse  durch  die  Berührung  mit  mächtigen 
europäischen  Staaten  erwachsenden  Aufgaben  zu   erwähnen  ist. 

Ein  Aufsatz  des  Grafen  de  Baglion:  ipisodes  des  lüttes 
en  Ombrie  au  XV*  sUcle  hat  hauptsächlich  die  Kämpfe  in  Perugia 
und  die  bemerkenswerte  Rolle,  die  in  ihnen  das  Geschlecht  der 
Baglioni  spielte,  zum  Gegenstand  (Revue  des  Studes  historiques 
1908,  Mai-Juni). 

Wir  besitzen  noch  wenig  genaue  Biographien  von  Mitgliedern 
des  gelehrten  Beamtentums  aus  dem  endenden  Mittelalter  und 
begrüßen  es  daher  mit  Freude,  daß  uns  Walter  Hol  1  weg  in 
einer  eindringenden  und  inhaltreichen  Abhandlung  das  Leben 
eines  der  wichtigsten,  des  zum  Kardinal  emporgestiegenen  kaiser- 
lichen Rates  Dr.  Georg  Heßler  (f  1482)  schildert.  (Leipzig,  J.  C. 
Hinrichs.  1907.)  Heßler  ist  ein  guter  Vertreter  seines  Standes, 
wenn  es  auch  zu  viel  gesagt  ist,  wenn  Verfasser  ihn  mit  regie- 
renden Kardinälen  wie  Ximenes,  Wolsey,  Richelieu  und  Mazarin 
vergleicht.  Heßler  trat  als  Domherr  in  Köln  während  des  dortigen 
Stiftsstreits,  in  den  Karl  der  Kühne  eingreift,  Kaiser  Friedrich  HI. 
nahe  und  leistete  ihm  namentlich  bei  den  Verhandlungen  mit 
Karl  über  die  Eheangelegenheit  Maximilians  und  dann  bei  der 
Übernahme  des  Landes  nach  Karls  Tode  sehr  gute  Dienste. 
Allerdings  ist  wohl  die  Erreichung  des  Ziels  weniger  das  Ergebnis 
seiner  klugen  Vorarbeit,  als  eine  Folge  der  nach  Karls  Tode  jäh 
veränderten  Verhältnisse.  —  Seinem  kaiserlichen  Herrn  kamen 
übrigens  Heßlers  Dienste  ziemlich  teuer  zu  stehen.  Bezahlt 
wurden  solche  hohen  Beamten  —  wenn  man  von  den  Geschenken 
absieht,  die  ihnen  ihre  einflußreiche  Stellung  von  Bittstellern  ein- 
trug —  ausnahmslos  mit  großen  kirchlichen  Pfründen.  Der  Kaiser 
mußte  ihm  diese  zu  verschaffen  suchen  und  mußte  sich  bei  dem 
Widerstände,  den  Heßlers  Gier  nach  kirchlichen  Einkünften  her- 
vorrief, schließlich  so  stark  für  ihn  einsetzen,  daß  die  Frage  der 
Versorgung  Heßlers  für  ihn  eine  Quelle  großer  Verlegenheiten 
wurde  und  er  in  zahlreiche,  ihm  eigentlich  fernliegende  Händel 
verwickelt  wurde.  Den  Kardinalshut  hat  Heßler  durch  Friedrichs 
Fürsprache  erreicht,  aber  da  er  bei  seinen  ernstlichen  Bemühungen 
um  ein  deutsches  Bistum,  zur  materiellen  Fundierung  seiner  Stel- 


Späteres  Mittelalter.  657 

lung,  trotz  energischer  Bewerbung  um  Köln^  Straßburg,  Speier, 
Salzburg,  Lüttich,  Passau,  nirgends  zu  vollem  Erfolge  gelangte, 
bedeuteten  diese  Fehlschläge  ebensoviele  Niederlagen  der  kaiser- 
lichen Politik.  Felix  Priebatsck, 

Hermann  Siebert,  Beiträge  zur  vorreformatorischen 
Heiligen-  und  Reliquienverehrung.  Freiburg  i.  B.,  Herder.  19Ö7. 
XI  und  64  S.  (Erläuterungen  und  Ergänzungen  zu  Janssens  Ge- 
schichte des  deutschen  Volkes.  VI,  1.)  Jede  Arbeit,  die  in  das 
religiöse  Leben  des  deutschen  Volkes  im  Mittelalter  hineinführt, 
ist  mit  Freuden  zu  begrüßen,  so  auch  die  vorliegende,  die  „znx 
besseren  Erkenntnis  kirchlicher  Denk-  und  Betweise  auf  dem  viel- 
geschmähten Gebiete  der  Heiligen-  und  Reliquienverehrung  bei- 
tragen** will.  Auch  das  ist  zu  billigen,  daß  der  Verfasser  die  ge- 
lehrten Werke  bei  Seite  gelassen  und  nur  die  praktisch-volks- 
tümlichen Schriften,  und  zwar  wegen  ihrer  größeren  Bedeutung 
nur  die  im  Druck  erschienenen  herangezogen  und  aus  dem  über- 
reichen Material  nur  so  viel  ausgewählt  hat,  „9\s  zur  Gewinnung 
eines  zutreffenden  Bildes  unerläßlich  schien**.  Aber  im  übrigen 
befriedigt  die  Schrift  doch  nicht  recht.  Der  Verfasser  ist  meist 
in  seinen  Exzerptensammlungen  stecken  geblieben  und  nur  selten 
in  die  Tiefe  und  Weite  vorgedrungen.  Als  apologetische  Leistung 
angesehen,  mag  seine  Arbeit  ja  als  ganz  tüchtig  erscheinen,  ob- 
gleich er  bei  Sammlung  seines  Materials  ziemlich  eklektisch  ver- 
fahren ist  und  manchmal  den  Schatten  mehr  hätte  hervortreten 
lassen  müssen,  —  aber  ein  rechtes  Urteil  läßt  sich  über  diese 
Seite  der  mittelalterlichen  Volksfrömmigkeit  nur  vom  völlig  un- 
parteiischen, religions-  und  kulturgeschichtlichen  Standpunkt  ab- 
geben. Zu  dieser  Beurteilung  macht  der  Verfasser  in  der  Ein- 
leitung einen  verheißungsvollen  Ansatz,  aber  über  den  guten 
Willen  ist  er  nicht  hinausgekommen.  0.  CL 

In  den  „Quellen  zur  Schweizer  Geschichte.  Neue  Folge**  (erste 
Abteilung:  Chroniken,  Bd.  1.  Basel  1908.  Verlag  der  Basler  Buch- 
und  Antiquariatshandlung  vormals  Adolf  Geering.  503  S.)  hat 
Rudolf  Lugin  buhl  mit  der  Edition  der  Schweizerchronik  Hein- 
rich Brennwalds  (1478—1551),  des  letzten  Propstes  zu  Embrach 
im  Kanton  Zürich,  begonnen.  Die  Ausgabe,  die  erste  vollstän- 
dige überhaupt,  wird  zwei  Bände  umfassen ;  der  erste  vorliegende 
bringt  die  Einleitung  über  die  Geschichte  der  Helvetier,  den 
ersten  Teil,  der  die  Geschichte  jedes  einzelnen  eidgenössischen 
Ortes  gesondert  behandelt,  und  von  dem  zweiten  Teile,  der  eine 
allgemein  eidgenössische  Geschichte  von  1332,  der  Verbindung 
Luzerns   mit  den  Waldstätten   an,  bis    1509  enthält,  den  Anfang 


658  Notizen  und  Nachrichten. 

bis  1436.  Die  Bedeutung  der  Chronik,  die  übrigens  vom  16.  Jahr- 
hundert an  von  vielen  schweizerischen  Historikern,  vor  allem 
Johannes  Stumpf!,  dem  Schwiegersohne  Brennwalds,  und  Bullinger 
reichlich  benutzt  wurde,  liegt  nicht  in  einer  Vermehrung  unseres 
tatsächlichen  Wissens  über  die  Geschichte  der  alten  Eidgenossen- 
schaft —  denn  Brennwald  hat  keine  andern  Quellen  als  die  uns 
bekannten  herangezogen  —  sondern  in  den  zahlreichen  sagen- 
haften Zügen,  mit  denen  der  Chronist  die  Erzählungen  seiner 
Vorgänger  ausgeschmückt  hat.  Allerdings  sind  auch  diese  vor 
allem  durch  die  Vermittlung  Stumpffs  schon  längst  in  die  schwei- 
zerische traditionelle  Legendengeschichte  übergegangen;  aber 
erst  die  vollständige  Publikation  der  Chronik  Brennwalds,  der 
viel  mehr  als  seine  Nachfolger  noch  aus  der  lebendigen  Tradition 
schöpfte,  erlaubt  uns,  das  Datum  der  ersten  schriftlichen  Fixierung 
und  die  Originalgestalt  vieler  Sagenzüge  aus  der  Schweizer  Ge- 
schichte des  14.  und  15.  Jahrhunderts  festzustellen. 

Die  Ausgabe  ist  trotz  einiger  Verlesungen  (auch  S.  186  mufi 
das  dem  Herausgeber  unverständlich  gebliebene  Wort  „minen* 
wohl  als  „nienen'^  gelesen  werden)  mit  großer  Sorgfalt  besorgt 
worden.  Auf  die  umfangreichen  Anmerkungen  hat  Luginbühl 
wohl  sogar  allzuviel  Fleiß  verwendet;  kritische  Auseinander- 
setzungen über  alle  von  der  Chronik  erwähnten  Ereignisse  der 
älteren  schweizerischen  Geschichte  mit  Heranziehung  der  neuesten 
wissenschaftlichen  Literatur  sind  bei  einem  so  durch  und  durch 
unkritischen  Historiker  wie  Brennwald  wohl  kaum  recht  am  Platze. 
Und  es  war  doch  wohl  auch  kaum  nötig,  bei  den  naiven  Aus- 
führungen des  Chronisten  über  die  Bedeutung  des  Volksnamens 
der  jfGalii'*  auf  Pauly-Wissowa  zu  verweisen  (S.  3).  Dagegen 
verdient  der  Fleiß,  mit  dem  der  Herausgeber  die  Arbeitsmethode 
Brennwalds  und  seine  Benutzung  früherer  Chroniken  klargelegt 
hat,  uneingeschränkte  Anerkennung.  Der  sogenannte  j,Anonymus 
Friburgensis'^  sollte  freilich  nicht  mehr  als  echte  Quelle  angeführt 
werden  (S.  445).  Eine  eingehende  Besprechung  der  Edition  muß 
bis  zum  Erscheinen  des  zweiten  Bandes  verschoben  werden,  der 
erst  die  Einleitung  des  Herausgebers  bringen  wird,  umsomehr, 
als  Handschriftenfunde,  die  seit  der  Publikation  des  ersten  Bandes 
gemacht  wurden,  noch  eine  neue  Quelle  Brennwalds,  wie  es 
scheint,  zum  Vorschein  gebracht  haben. 

Zürich.  Fueter, 

Zur  Bevölkerungsstatistik   sind  von  erheblichem  Belang  die 

eingehenden   und    wohlbegründeten   Untersuchungen   von   Julius 

Belo    '     "ber  die  Bevölkerung  von  Stadt  und  Land  Modena  in 

iliana  di  sociologia  Jahrg.  12   (1906)    Heft  1.     Die 


Reformation  und  Gegenreformation.  659 

Einwohnerzahl  der  Stadt  Modena  läßt  sich  seit  dem  Jahre  1306 
verfolgen,  wo  sie  etwa  22000  betrug  —  eine  Zahl,  die  erst  in  der 
zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  wieder  erreicht  wurde.  Über 
die  Stadt  Reggio  erhalten  wir  genauere  Nachrichten  seit  1473 
(etwa  10000  Einwohner);  sie  hat  sich  ohne  sehr  erhebliche  Schwan- 
kungen (abgesehen  von  einer  Pest  1630)  allmählich  vergrößert 
(18000  Köpfe  im  Jahre  1788).  Am  lückenhaftesten  sind  natürlich 
die  Nachrichten  über  die  Bevölkerung  auf  dem  Lande ;  doch  läßt 
sich  seit  dem  17.  Jahrhundert  auch  hier  ein  anschauliches  Bild 
gewinnen. 

Neue  Bficher :  Grandrille,  L 'Organisation  de  IHnquisition 
en  France,  de  1233  ä  la  fin  du  XV^  sikcle,  (Orleans,  Impr.  Gout.) 

—  Monumenta  Germaniae  historica.  (Neue  Quartausgabe.)  Scrip- 
forum  tomi  XXXII,  pars  IL  (Hannover,  Hahn.  13  M.)  —  Maugis, 
Documents  in^dits  concernant  la  ville  et  le  sikge  du  bailliage 
d'Amiens,  extraits  des  registres  du  Parlement  de  Paris  et  du  Träsor 
des  Charles,  T.  I*r:  XIV*  sikcU  (1296—1412).  (Paris,  Picard  et  fils,) 

—  Callkrop,  Petrarch,  his  life  and  times,  (London^  Methuen. 
12,6  sh.)  —  Perier,  Un  prävot  de  Paris  sous  Charles  V:  Hugues 
Aubriot.  (Dijon,  Impr.  Jacquot  &  Floret,)  —  Ferreto  De' Ferreti, 
Opere,  a  cura  di  C.  Cipolla.  Vol.  I.  (Roma,  Tip.  Forzani  e  C 
12  Lire.)  —  Dun  and,  l^tudes  critiques  d'apr^  les  textes  sur 
Vhistoire  de  Jeanne  d'Arc.  3e  s^rie  I.  IL  (Paris,  Poussielgue.  8  fr.) 

—  Navarre,  Louis  XI  en  pHerinage.  (Paris,  Bloud  &  Cie.)  — 
Deutsche  Reichstagsakten.  13.  Bd.,  1.  Hälfte.  König  Albrecht  11. 
1.  Abteilung,  1.  Hälfte.  1438.  Hrsg.  von  Beckmann.  (Gotha, 
Perthes.  26  M.)  —  Ricordi  di  Firenze  delVanno  1459,  di  autore 
anonimo,  a  cura  di  G.  Volpi.    (Cittä  di  Castello,  Lapi.  10  Lire.) 

—  Arnaud  d'Agnel,  Les  comptes  du  roi  Rena,  publ.  d'aprhs  les 
originaux  inädits  conserv^s  aux  archives  des  Bouches-du- Rhone. 
T.  ler,   (Paris,  Picard  et  fils.) 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648). 

E.  V.  Möller,  Aymar  du  Rivail,  der  erste  Rechtshistoriker. 
Berlin,  E.  Ehering  1907.  Aymar  du  Rivail  ist  der  Verfasser  von 
„Libri  de  historia  iuris  civilis  et  pontificii^,  deren  erste  Ausgabe 
sehr  wahrscheinlich  (wie  das  Buchhändlerprivileg)  von  1515  da- 
tiert); es  ist  die  älteste  Rechtsgeschichte,  die  wir  besitzen.  Er 
ist  bei  uns  in  Deutschland  bisher  recht  stiefmütterlich  behandelt 
worden.  Über  seine  Leistung  fällte  Dirksen  in  seinem  Buch  über 
die  zwölf  Tafeln  ein  ungerechtes  absprechendes  Urteil,  das  selbst 
für  Savigny   und  Stintzing  maßgebend  blieb;  die  französischen 


660  Notizen  und  Nachrichten. 

Publikationen  wurden  nicht  oder  nicht  gehörig  beachtet;  sein 
Geburtsjahr  (in  Wirklichkeit  um  1490)  wird  von  Savigny  um  ein 
Menschenalter  zurückgerückt,  und  das  für  seine  Biographie  vor- 
handene Material  blieb  größtenteils  unbenutzt.  Diese  Unterlas- 
sungssünden wurden  durch  die  vorliegende  kleine  Schrift  in 
dankenswerter  Weise  gut  gemacht.  Neben  einer  Schilderung  von 
Rivails  Leben  und  Persönlichkeit  findet  man  darin  eine  eingehende 
Würdigung  der  Historia  iuris  mit  scharfer  kritischer  Spitze  gegen 
Dirksen,  einer  Kritik,  deren  Eindruck  noch  stärker  wäre,  wenn 
Verfasser  in  ihrer  Form  mehr  Maß  gehalten  hätte.        O.  Lenel. 

Erhebliche  Ergänzungen  zu  den  Untersuchungen  Kreitens 
über  den  Briefwechsel  Maximilians  1.  mit  seiner  Tochter  Margareta 
<vgl.  H.  Z.  100,  438)  bietet  Andreas  Walt  her  in  einer  ausführ- 
lichen Anzeige  der  Göttingischen  gelehrten  Anzeigen  1908,  Nr.  4. 
Insonderheit  wird  die  chronologische  Einreihung  zahlreicher  Briefe 
hier  präzisiert  und  verbessert. 

Ein  Aufsatz  von  Imbart  de  la  Tour  über  die  reformato- 
rische Bewegung  im  Katholizismus  vor  Luther  {Le  Correspondant 
80.  Jahrg.,  Nr.  1099)  soll  wohl  eine  Vorstudie  oder  ein  Kapitel 
der  Fortsetzung  seines  Werkes  Les  origines  de  la  r^forme 
darstellen.  Er  beschäftigt  sich  nur  mit  Frankreich,  beginnt 
mit  der  kirchlichen  Seite  der  ständischen  Bewegung  von  1484 
und  der  Notabeinversammlung  von  1493,  betrachtet  die  Kloster- 
reform des  ausgehenden  15.  Jahrhunderts,  die  Legationen  des 
Kardinals  von  Amboise  (1501—1510)  und  anderer,  die  dem  gleichen 
Zweck  dienen  sollten,  und  schließt  mit  den  einschlägigen  Ver- 
handlungen des  Laterankonzils  1512 — 1517.  Ganz  hat  es  diesen 
Bemühungen  nicht  an  Erfolg  gefehlt,  aber  er  war  doch  recht 
gering. 

In  Nr.  18  des  Archivs  f.  Reformationsgesch.  (5.  Jahrg.,  Heft  2) 
gibt  zunächst  Alfred  U  c  k  e  1  e  y  die  (bisher  für  verschollen  gehal- 
tene) Gottesdienstordnung  Bugenhagens  für  die  Klöster  und  Stifte 
in  Pommern  von  1535  in  der  ursprünglichen  lateinischen  Gestalt 
neu  heraus,  mit  historischer  Einleitung  und  mit  der  ältesten 
niederdeutschen  Obersetzung  in  der  Schleswig-Holsteinschen 
Kirchenordnung  von  1542.  Sodann  teilt  Franz  Koch  eine  Kon- 
fession Albrechts  von  Preußen  von  1554  mit,  die  wohl  auf  die 
Königsberger  Hoftheologen  zurückgeht  und  den  Zweck  hatte, 
mit  Rücksicht  auf  den  Osiandrischen  Streit  die  Rechtgläubigkeit 
des  Herzogs  darzutun.  Weiter  druckt  Wilhelm  Stolze  die,  noch 
von  Schäffler  und  Henner  vermißten,  von  ihm  wieder  aufgefun- 
denen ^Supplemente''  (ergänzenden  Nachträge)  zu  der  Geschichte 


Reformation  und  Gegenreformation.  661 

des  Bauernkriegs  in  Ostfranken  von  Lorenz  Fries;  sie  erweisen 
sich  freilich  als  nicht  allzu  wichtig.  Unter  den  „Mitteilungen^ 
veröffentlicht  Fr(iedensburg)  ein  Gutachten  über  die  Bestrafung 
des  gefangenen  Johann  Friedrich  von  Sachsen  1547,  das  wahr- 
scheinlich von  dem  jüngeren  Granvella  herrührt  und  den  Stand- 
punkt vertritt,  daß  der  Herzog  zwar  den  Tod  verdient  habe,  daß 
es  aber  nicht  opportun  sei,  diese. Strafe  vollziehen  zu  lassen.  — 
In  Nr.  19  desselben  Archivs  (5,  3)  gibt  Karl  Pallas  Briefe  und 
Akten  zur  Visitationsreise  des  Bischofs  Johann  VII.  von  Meißen 
im  Kuriürstentum  Sachsen  1522  heraus,  als  urkundliche  Grundlage 
für  seine  demnächst  zu  veröffentlichende  Monographie  über  diese 
Visitationsreise.  Aus  den  „Mitteilungen**  erwähnen  wir  den  Nach- 
weis von  P.  Kalk  off,  wonach  das  bei  Enthoven,  Briefe  an  Eras- 
mus  Nr.  11  gedruckte  Schreiben  Heezes  nicht  von  1522,  sondern 
von  1523  ist,  und  die  Veröffentlichung  eines  Schreibens  Johann 
Fabris  (1523,  über  den  Eintritt  in  den  Dienst  Ferdinands  von 
Osterreich)  durch  Fr(iedensburg). 

Die  Fortsetzung  der  von  J.  Paquier  herausgegebenen 
Familienbriefe  Aleanders  in  der  Revue  des  Studes  historiques,, 
Mai-Juni  und  Juli- August  1908  (vgl.  H.  Z.  99, 450)  bringt  24  Stücke 
aus  den  Jahren  1522—1532  (u.  a.  Mitteilungen  über  Hadrian  VI., 
über  Aleanders  Gesandtschaft  bei  Franz  I.,  die  Schlacht  bei 
Pavia  und  die  Beziehungen  Clemens'  VII.  zu  Karl  V.);  in  einem 
Brief  wendet  er  sich  heftig  gegen  die  Behauptung,  er  sei  jüdischer 
Abstammung. 

Zur  Geschichte  der  Packschen  Händel  verzeichnen  wir  einen 
neuen  Beitrag  von  Karl  Schottenloher  (vgl.  oben  S.  443).  Im 
65.  Bericht  des  Hist.  Vereins  zu  Bamberg  handelt  er  auf  Grund 
von  Bamberger  Archivalien  über  Haltung  und  Tätigkeit  des  Fürst- 
bischofs von  Bamberg  gegenüber  der  bedrohlichen  Lage,  inson- 
derheit über  die  Beziehungen  zu  Würzburg  und  die  Zahlung  der 
Entschädigungssumme. 

Als  erste  Veröffentlichung  des  Georg  Sabinus  weist  Otto 
Giemen  in  den  Forschungen  zur  brandenburgischen  u.  preußi- 
schen Gesch.  21,  1  einen  Druck  der  Elegie  auf  Magnus  von  Meck- 
lenburg 1530  nach;  auch  veröffentlicht  er  einen  Brief  des  Sabinus 
aus  Frankfurt  a.  O.  vom  16.  November  1540  (mit  ausschweifenden 
Nachrichten  über  ein  Judenkomplott  zur  Rückeroberung  Palästinas). 

Das  4.  Heft  der  Theologischen  Studien  und  Kritiken  (Jahrg. 
1908)  bringt  den  Schluß  des  Aufsatzes  von  R.  Mulot  über 
Wilhelm  Farel  (Wirksamkeit  in  Genf  und  Neuenburg  1532—1565); 
vgl.  oben  S.  445.    Ebenda  beginnt  Otto  AI  brecht   eine   Reihe 


662  Notizen  und  Nachrichten. 

von  neuen  Katechismusstudien  (über  den  Begriff  Katechismus  bei 
Luther  und  über  handschriftliches  Material  zu  Luthers  Grofiem 
Katechismus). 

Im  L  Heft  der  Quellen  und  Forschungen  aus  itaL  Archiven 
u.  Bibliotheken  11  untersucht  Ludwig  Cardauns  ausführlich 
die  Beziehungen  zwischen  Paul  III.,  Karl  V.  und  Franz  I.  in  den 
Jahren  1535  und  1536  (mit  neuen  römischen  Archivalien).  Beson- 
ders tritt  die  vorsichtige  Haltung  des  Papstes  gegenüber  den 
Bündnisplänen  des  Kaisers  hervor.  «Die  Sorge  vor  der  Über- 
macht des  Habsburgers  hat  das  Papsttum  der  damaligen  Zeit 
davon  abgehalten,  den  Bund  einzugehen,  den  es  drei  Dezennien 
später  —  nach  dem  Untergang  der  italienischen  Freiheit  und 
unter  der  Herrschaft  kirchlicher  Gesichtspunkte  —  vollzogen  hat' 
Fügen  wir  hinzu,  dafi  es  mit  der  italienischen  Freiheit  schon  1535 
aus  war,  und  daß  der  Bund  des  Papsttums  mit  den  Habsburgem 
auch  später  sich  als  recht  wenig  dauerhaft  erwies  (Clemens  VlIU 
Urban  VIII.  usw.).  ^.  //. 

Der  Dominikaner  Ambrosius  Catharinus  Politus  war  (nament- 
lich wegen  seiner  Stellung  zur  Unbefleckten  Empfängnis)  mit 
seinem  Orden  zeriallen  und  ist  1546  von  seinem  Ordensgenossen 
Bartholomäus  Spina  bekämpft  worden;  jetzt  weist  Josef  Schweizer 
in  der  Römischen  Quartalschrift  22,  1  eine  Schrift  nach,  in  der 
Spina  bereits  1542  gegen  die  kirchliche  Rechtgläubigkeit  des 
Catharinus  Stellung  nahm. 

Eine  reizende  Arbeit  hat  Friedrich  Michael  Schiele  in 
seinem  Buche:  «Die  Reformation  des  Klosters  Schlüchtern*  (Tü- 
bingen, J.  C.  B.  Mohr.  1907.  144  S.  4,50  M.)  geliefert.  Formell  ein 
Meisterstück ;  der  gewandte  und,  wenn  es  sein  mußte,  schneidige 
Chronist  der  ,, Christlichen  Welt*  versteht  es  in  glänzender  Weise, 
streng  wissenschaftliche  Darstellung,  auf  den  vielfach  in  den  Text 
verwobenen  Quellen  aufgebaut,  mit  eleganter  Form,  die  den  Leser 
immer  wieder  fesselt,  zu  verbinden ;  die  Einleitung  liest  sich  z.  B. 
wie  ein  Kapitel  aus  Gustav  Freytag.  Inhaltlich  behandelt  das 
Buch  einen  jener  Reformversuche  auf  kleinem  Gebiete,  deren 
Fortschritt  oder  Rückschritt  abhängig  ist  von  der  jeweiligen  Po- 
sition zweier  in  entgegengesetzter  Richtung  arbeitender  größerer 
Mächte;  die  Reibung  dieser  beiden  aneinander  schiebt  das  Rei- 
bungsobjekt bald  vorwärts,  bald  zurück.  Schlüchtern  steht  zwischen 
Hanau  und  Würzburg,  das  Auf  und  Ab  reguliert  sich  wesentlich 
am  großen  Gange  der  Reichspolitik.  Im  Kloster  übernimmt  die 
schwierige  Rolle  des  lavierenden  Steuermannes  der  Abt  Petrus 
l^otichius.    Gut   reformatorisch   wandelt   er   das   Kloster   in    eine 


Reformation  und  Gegenreformation.  663 

klösterliche  Erziehungsanstalt,  in  ihrer  Einrichtung  aber  schwankt 
er  nach  rechts  und  links,  je  nachdem  der  Wind  von  Würzburg 
oder  Hanau  weht.  1543/44  wird  er  von  Würzburg  exkommuniziert, 
löst  sich  aber  relativ  leicht  vom  Banne.  Die  Klosterschule  wandelt 
sich  allmählich  in  eine  Landesschule  nach  Art  der  sächsischen  um, 
die  Abhängigkeit  von  Hanau  wird  schließlich  eine  absolute.  Das 
etwa  sind  die  Grundzüge  der  Entwicklung,  die  Schiele  durch  eine 
Fülle  von  Einzelzügen  belebt  hat,  namentlich  die  Pädagogik  wird 
aus  den  mitgeteilten  Schulordnungen  Nutzen  ziehen,  aber  auch 
solch  kleine  ZügCy  wie  daß  Melanchthon  zweimal  in  Schlüchtern 
nächtigt,  sind  wertvoll.  Die  Hauptaufgabe,  aber  auch  Haupt- 
schwierigkeit der  territorialkirchengeschichtiichen  Monographien, 
den  Zusammenhang  mit  der  Allgemeingeschichte  nicht  zu  ver- 
lieren, hat  Schiele  stets  im  Auge  behalten  und  glücklich  gelöst. 
Nicht  ganz  richtig  scheint  mir  die  Position  des  Abtes  gezeichnet. 
Die  „Liebe  zum  Helden''  hat  blind  gemacht.  Seine  Reinigung 
von  der  Exkommunikation  bleibt  ein  böser  Flecken,  der  Abt  ist 
kein  Charakter,  sondern  eine  jener  Naturen,  die  durch  Verbeu- 
gungen  nach   rechts  und  links  in  schwieriger  Lage   sich   halten. 

W.  K. 
Aus  Anlaß  der  Universitätsfeier  zu  Jena  veröffentlicht  Georg 
Berbig  ^(Zeitschrift  f.  wissenschaftl.  Theologie  50,  4)  25  Briefe 
Johann  Friedrichs  des  Großmütigen  an  seinen  Bruder  Johann  Ernst 
aus  den  Jahren  1545—1547  nebst  einigen  dazu  gehörigen  Akten- 
stücken, die  allerhand  Schlaglichter  auf  die  vom  Hauptquartier 
des  Kurfürsten  aus  in  Thüringen  und  Franken  geleiteten  Aktionen 
werfen. 

Der  Kölner  Erzbischof  Adolf  von  Schaumburg  (1547 — 1556) 
wirkte  eifrig  für  eine  katholische  Reform  und  eine  Bekämpfung 
des  durch  seinen  Vorgänger  so  erheblich  geförderten  Protestan- 
tismus. Einige  Beiträge  über  seine  Tätigkeit  in  Westfalen  teilt 
Linneborn  in  der  Zeitschr.  f.  vaterländ.  Gesch.  u.  Altertumsk. 
(Westfalens)  65, 2  mit:  einen  Bericht  über  die  Visitation  des  Klosters 
Olinghausen  (Dezember  1548),  Dekanatsberichte  aus  Lüdenscheid 
und  Wormbach  (1549)  sowie  Aufzeichnungen  über  eine  Steuer 
von  1550.  —  Ebenda  handelt  derselbe  auch  über  die  wechselnden 
Schicksale  des  Klosters  Brenkhausen  (Kreis  Höxter)  im  16.  Jahr- 
hundert. 

Der  Schluß  der  von  Th.  Wotschke  herausgegebenen  Briefe 
Albrechts  von  Preußen  an  Johann  Laski  (vgl.  oben  S.  447)  bringt 
zahlreiche  Stücke  aus  den  Jahren  1549—1558  mit  allerhand  Bei- 
lagen und  Nachträgen  (Altpreußische  Monatsschrift  45,  3). 


664  Notizen  und  Nachrichten. 

Eine  ausführliche  Schilderung  von  dem  Krieg  des  Markgrafen 
Albrecht  Alcibiades  in  Franken  1552—1555  entwirft  Ernst  Büttner 
im  Archiv  f.  Gesch.  u.  Altertumsk.  von  Oberfranken  23,  3  an  der 
Hand  der  gedruckten  Literatur.  Auf  einige  unbenutzte  Wiener 
Archivalien  habe  ich  (Kaiser  Maximilian  II.  S.  181  Anm.  4)  hin- 
gewiesen. Das  Bild  des  unruhigen  Markgrafen,  der  schließlich 
nicht  durch  die  verfassungsmäßigen  Organe  des  Reichs,  sondern 
durch  politische  Bündnisse  gestürzt  wurde,  erscheint  auch  bei 
Büttner  wenig  sympathisch.  ^.  //. 

Die  Analectes  Dinantais,  die  D.  D.  Brouwers  in  den  An- 
nales  de  la  soc,  arcMoL  de  Namur  27,  1,  veröffentlicht,  beschäl" 
tigen  sich  mit  der  Stadt-  und  Handelsgeschichte  von  Dinant 
(Prov.  Namur)  im  16.  Jahrhundert.  Wir  heben  daraus  hervor 
einige  Schreiben  über  die  Schlacht  bei  Gravelingen  1558  und  das 
Kapitel  über  die  Beziehungen,  die  Don  Juan  d'Austria  1577—1578 
im  Zusammenhang  mit  den  niederländischen  Kämpfen  zur  Stadt 
anknüpfte. 

Die  Frage,  ob  das  erste  Parlament  der  Königin  Elisabeth 
von  England  (vom  Jahre  1559)  im  Unterhaus  wirklich  den  Willen 
der  Bevölkerung  und  nicht  nur  eine  durch  Wahlmache  zustande 
gekommene  Gefolgschaft  der  Regierung  repräsentiert  habe,  wird 
von  C.  G.  Bayne  in  der  English  historUal  review  zum  Gegen- 
stand einer  Untersuchung  gemacht  Ein  erster  Artikel  (Bd.  23, 
Nr.  91)  beginnt  damit,  einige  direkte  Zeugnisse  für  die  Regierungs- 
mache einer  kritischen  Betrachtung  zu  unterziehen,  und  beleuchtet 
den  Hergang  bei  den  Wahlen  und  die  Zusammensetzung  des 
Parlaments.  —  Ebenda  handelt  James  Gairdner  über  die  Eng- 
lischen Litaneien  Heinrichs  VIII. 

Der  Aufsatz  Friedrichs  v.  Schrötter  über  das  englische 
Münzwesen  im  16.  Jahrhundert  (vgl.  oben  S.  448)  wird  im  Jahrbuch 
f.  Gesetzgebung,  Verwaltung  und  Volkswirtschaft  im  Deutschen 
Reich  32,  3  mit  einer  Betrachtung  der  Regierung  Elisabeths  zu 
Ende  geführt.  Insonderheit  interessiert  die  große  Reorganisation 
von  1560  und  1561,  die  eine  Verbesserung  der  Münzen,  aber  wider 
Erwarten  dennoch  kein  Fallen  der  Preise  brachte. 

Die  etwas  langwierigen  Verhandlungen  des  Herzogs  Wilhelm 
von  Jülich-Kleve  mit  Pius  IV.  wegen  Errichtung  einer  Universität 
in  Duisburg  werden  neu  beleuchtet  durch  ein  Schreiben  des  her- 
zoglichen Rates  Andreas  Masius  an  den  Kardinal  Morone  1561, 
das  Stephan  Ehses  (der  erst  kürzlich  einen  andern  Brief  des 
Masius  mitteilen  konnte,  vgl.  H.  Z.  99,  452)  in  der  Römischen 
Quartalschrift  22,  1  veröffentlicht.    Ober  Wilhelms  Pläne  vgl.  auch 


Reformation  und  Gegenreformation.  665 

C.  Varrentrapp,  Der  GroBe  Kurfürst  und  die  Universitäten  (1894), 
S.  14  f.  mit  34  f.  Anm.  20.  R.  H. 

Nachdem  die  älteren  Franziskanermissionen  in  China  durch 
den  Sturz  der  Mongolenherrschaft  und  die  Erhebung  der  Ming- 
Dynastie  (1368)  ihren  Untergang  gefunden  hatten,  dauerte  es  ge- 
raume Zeit,  bis  sie  Nachfolger  zu  finden  vermochten.  Einen  Über- 
blick über  die  neueren  Franziskanermissionen  Chinas  vom  16.  bis 
20.  Jahrhundert  gibt  Autbert  Groeteken  im  Pastor  bonos  20,  10. 
Ein  kurzer  Aufenthalt  von  vier  Missionaren  in  Kanton  1579  blieb 
erfolglos.  Die  eigentliche  Neugründung  der  Mission  ist  das  Werk 
des  Spaniers  Antonio  a  Santa  Maria,  der  1651  eine  neue  Nieder- 
lassung in  Tsinan  (Schantung)  errichtete. 

Im  11.  Jahrgang  der  Neuen  Jahrbücher  f.  d.  klass.  Altertum 
22,  5  u.  6  beendet  Ernst  Schwabe  seine  für  die  Geschichte  der 
Pädagogik  belangreichen  Studien  zur  Entstehungsgeschichte  der 
kursächsischen  Kirchen-  und  Schulordnung  von  1580  (vgl.  H.  Z. 
95,  362).  Er  untersucht  die  Methodik  des  lateinischen  Elementar- 
unterrichts in  Kursachsen  an  der  Hand  der  dabei  benutzten  Schul- 
bücher und  hebt  insonderheit  die  Verdienste  Melanchthons  und 
der  Sturmschen  Schüler  um  die  sächsische  Schulordnung  hervor. 
—  Ebenda  6  bespricht  Wilhelm  Süß  den  Turbo  des  Joh.  Val. 
Andreae  (1616)  nach  seinen  Ergebnissen  für  die  Geschichte  der 
Pädagogik. 

Der  Vortrag,  den  Georg  Wolfram  im  vorigen  Jahr  auf  der 
Hauptversammlung  der  deutschen  Geschichts-  und  Altertums- 
vereine zu  Mannheim  über  den  Pfalzgrafen  Georg  Hans  (geb.  1543, 
t  1592,  Gründer  der  Stadt  Pfalzburg)  gehalten  hat,  wird  im  Kor- 
respondenzblatt des  Gesamtvercins  56,  Nr.  5— 6,  Sp.  217  f.  auszugs- 
weise veröffentlicht.  Mit  Interesse  nimmt  man  Kenntnis  von  den 
Bemühungen  des  Pfalzgrafen  um  einen  Kanal  vom  Rhein  nach 
Scheide  und  Nordsee  und  um  die  Gründung  einer  deutschen 
Flotte. 

Der  Kondominat,  den  Pfalz  und  Baden  in  der  vorderen  Graf- 
schaft Sponheim  hatten,  brachte  der  Stadt  Kreuznach  im  16.  Jahr- 
hundert einen  häufigen  konfessionellen  Wechsel  und  Streit.  Der 
Bericht  über  die  gewaltsame  Entfernung  des  von  Philipp  von 
Baden'  eingesetzten  lutherischen  Geistlichen  Lorenz  Scheuerlin 
durch  den  Pfalzgrafen  Johann  Casimir  1587,  den  schon  Friedrich 
Beck,  Die  evang.  Kirche  im  Land  zwischen  Rhein,  Mosel,  Nahe 
und  Glan  2,471  f.  benutzte,  wird  jetzt  von  Karl  Harraeus  in 
den  Monatsheften  f.  Rheinische  Kirchengesch.  1,  5  veröffentlicht. 

Hittorisekt  Zdttchrilt  (lOI.  Bd.)  a.  Folf  t  5.  Bd.  43 


666  Notizen  und  Nachrichten. 

Die  Originalausfertigungen  des  Ediktes  von  Nantes  hält  P. 
E.  Vignaux  im  Bulletin  de  la  sociM  de  l'hist  du  prolestantisme 
Franpais,  Heft  Mai-Juni  1908,  S.  285  f.  für  verloren.  —  Ebenda 
S. 250f.  druckt  John  Vi6not  eine  mit  denunziatorischer  Tendenz 
verfaßte  Denkschrift  des  Metzer  Koadjutors  Martin  Meurisse  über 
die  Metzer  Reformierten  vom  Jahre  1644. 

Eine  Dokumentensammlung  über  den  bekannten  Streit 
zwischen  Papst  Paul  V.  und  der  Republik  Venedig,  der  das  letzte, 
für  die  Kurie  erfolglos  verlaufene  Beispiel  der  Verhängung  des 
päpstlichen  Interdikts  über  ein  Gemeinwesen  darstellt,  veröffent- 
licht Carlo  Pio  de  Magistris  unter  dem  Titel  Primordi  della 
Contesa  fra  la  repubblica  Veneta  e  Paolo  V.  Mediazione  dl  Ger- 
mania. Es  sind  53,  mit  Erläuterungen  versehene  Dokumente, 
meist  aus  den  päpstlichen  und  venetianischen  Archiven.  Sie 
reichen  vom  Dezember  1605  bis  zum  November  1606  und  betreffen 
die  Anfänge  des  Konflikts  sowie  besonders  die  allseitigen  Be- 
mühungen, den  Kaiser  zu  einem  vermittelnden  Eingreifen  zu 
veranlassen.  Torino  1907,  112  S.  (bez.  als  Estratto  dal  volume: 
Documenti  per  la  storla  della  contesa  fra  la  repubbL  Veneta  e 
Paolo  V).  F. 

Die  neuerlichen  Studien  Karls  v.  Reitzenstein  über  den 
Feldzug  des  Jahres  1622  am  Oberrhein  (vgl.  oben  S.  210)  werden 
in  der  Ztschr.  f.  d.  Gesch.  d.  Oberrheins  N.  F.  23,  3  zu  Ende  geführt. 
Verfasser  untersucht  die  Entstehungsgeschichte  und  die  Tätigkeit 
der  Kommission,  mit  welcher  am  12.  Februar  1622  Erzherzog  Leo- 
pold und  Maximilian  von  Bayern  durch  den  Kaiser  zur  Wahrung 
der  Rechte  des  Prätendenten  Wilhelm  von  Baden  gegen  den 
Markgrafen  Georg  Friedrich  betraut  wurden;  trotz  des  Drängens 
Maximilians  ist  wenig  Greifbares  aus  ihr  geworden. 

Adolf  K  e  1 1  n  e  r  handelt  in  der  Ztschr.  d.  deutschen  Vereins 
f.  d.  Gesch.  Mährens  u.  Schlesiens  12,3  über  die  Wahl  des  Prinzen 
Karl  Ferdinand  von  Polen  zum  Bischof  von  Breslau  (1625),  seine 
Regierungstätigkeit  und  den  österreichischen  Anteil  des  Fürsten- 
tums Neisse.  Karl  Ferdinand,  der  1640  auch  das  Bistum  Plozk 
erhielt,  starb  1655  ohne  eine  Priesterweihe  oder  gar  eine  bischöf- 
liche Konsekration  erhalten  zu  haben.  —  Ebenda  druckt  Ferd. 
Schenner  weitere  Dokumente  zur  Geschichte  der  Reformation 
in  Znaim  von  1580  bis  1610  (vgl.  H.  Z.  97,  445).  Die  Beiträge  zur 
Geschichte  der  Konfiskationen  nach  Wallenstein  und  seiner  An- 
hänger von  S.  Gorge  (vgl.  oben  S.  211)  werden  im  4.  Heft  der 
Mitteilungen  des  Vereins  f.  Gesch.  der  Deutschen  in  Böhmen  46 
abgeschlossen. 


Reformation  und  Gegenreformation.  667 

Wie  die  reformierten  Gemeinden  im  Herzogtum  Jülich  im 
Niederdeutschen  Krieg  trotz  mehrfacher  Toleranzversprechungen 
durch  Pfalz-Neuburg,  Tiily  und  die  Spanier  bedrängt  wurden, 
geht  aus  einer  beweglichen  Klageschrift  von  1629  hervor,  die  W. 
Rotscheidt  in  den  Monatsheften  f.  Rheinische  Kirchengesch. 
1,  5  druckt. 

Jacques  Marchant,  der  von  1622—1648  Pfarrer  von  Couvin 
(Provinz  Namur)  war  und  sich  als  solcher  durch  seine  Tätigkeit 
für  alle  geistlichen  Interessen  der  Gegend  und  durch  zahlreiche 
theologische  Werke  (Hortus  pastorum  u.  a.)  hervortat,  auch  Freund 
und  Berater  des  Nuntius  Peter  Ludwig  Caraffa  bei  seiner  Reise 
nach  Fulda  1627  wurde,  hat  eine  Biographie  aus  der  Feder  von 
Thierry  Rdjalot  in  den  Annales  de  la  soc,  arcMoL  de  Namur 
27,  1  gefunden. 

Schwedische  Archivalien  zur  niederländischen  Geschichte 
während  des  Dreißigjährigen  Krieges,  die  insonderheit  auch  auf 
die  Beziehungen  Hollands  zu  Schweden  neues  Licht  werfen, 
werden  im  29.  Band  der  Bijdragen  en  mededeelingen  van  het  hi- 
storisch genootschap  (gevestigd  te  Utrecht)  durch  G.  W.  K  e  r  n  - 
kamp  herausgegeben.  Es  handelt  sich  einmal  um  Briefe,  die 
der  holländische  Kaufmann  Samuel  Blommaert  1635—1641  in 
schwedischen  Diensten  aus  Amsterdam  an  Axel  Oxenstierna 
richtete  (im  Interesse  der  schwedischen  Handelspolitik),  ferner 
um  Schreiben  des  bekannten  Großindustriellen  Louis  de  Geer 
1618—1652,  zumeist  an  Axel  Oxenstierna,  Johann  Kasimir  und 
Karl  Gustav  von  Pfalz-Zweibrücken  sowie  an  die  schwedischen 
Gesandten  bei  den  Westfälischen  Friedensverhandlungen  (mit 
interessanten  Nachrichten  über  De  Geers  politische  Tätigkeit, 
vgl.  auch  Geijer,  Gesch.  Schwedens  111,  345 — 347  mit  Anm.  2),  und 
dazu  schließlich  noch  um  neue  verschiedene  andere  Nachrichten 
zur  Lebensgeschichte  De  Geers.  /?.  H. 

Der  Maler  Philippe  de  Champagne  stand  in  hoher  Achtung 
bei  Richelieu,  der  ihm  verschiedene  Aufträge  zukommen  ließ; 
vgl.  über  die  Beziehungen  der  beiden  Gh.  Gailly  de  Taurines 
in  der  Rev,  de  Beigigue  vom  Juni  1908. 

Neue  Bficher:  Deane,  The  Reformation.  (London,  Nisbet. 
2  sh,)  —  Greving,  Johann  Ecks  Pfarrbuch  für  U.  L.  Frau  in 
Ingolstadt.  Ein  Beitrag  zur  Kenntnis  der  pfarrkirchlichen  Ver- 
hältnisse im  16.  Jahrhundert.  (Münster,  Aschendorff.  6,80  M.)  — 
Barkhausen,  Francesco  Guicciardinis  politische  Theorien  in 
seinen  Opere  inedite.  (Heidelberg,  Winter.  3,20  M.)  —  Andreas, 
Die  venezianischen  Relazionen  und  ihr  Verhältnis  zur  Kultur  der 

43* 


668  Notizen  und  Nachrichten. 

Renaissance.  (Leipzig,  Quelle  A  Meyer.  3,50  M.)  —  Bugenhagiana. 
Quellen  zur  Lebensgeschichte  des  D.  Joh.  Bugenhagen.  Gesam- 
melt und  herausg.  von  Geisenhof.  1.  Bd.  Bibliotheca  Bugen* 
hagiana.  Bibliographie  der  Druckschriften  des  D.  Joh.  Bugen- 
hagen. (Leipzig,  Heinsius  Nach!.  15  M.)J —  Träsal,  Les  ori- 
gines  du  schisme  anglican  (1509—1571),  (Paris,  Gabalda  A  Cie, 
3,50  fr.)  —  Koelliker,  Die  erste  Umsegelung  der  Erde  durch 
Fernando  de  Magallanes  und  Juan  Sebastian  del  Cano.  1519  bis 
1522.  (München,  Piper  A  Co.  5  M.)  —  Pfleger,  Martin  Eisen- 
grein (1535 — 1578).  Ein  Lebensbild  aus  der  Zeit  der  katholischen 
Restauration  in  Bayern.  (Freiburg  i.  B.,  Herder.  3,60  M.)  — 
French,  The  correspondence  of  Caspar  Schwenckfeld  of  Ossig 
and  the  Landgrave  Philip  of  Messe  (1535— 1561),  (Leipzig,  Breitkopf 
£  Härtel.  4  M.)  —  Willy  Burger,  Die  Ligapolitik  des  Mainzer 
Churfürsten  Johann  Schweikhard  von  Cronberg  in  den  Jahren 
1604—1613.  (Leipzig,  Quelle  £  Meyer.  3,40  M.)  —  Obregön, 
D,  Guiilän  de  Lampart,  la  inquisiciön  y  la  independencia  en  et 
sigto  XVII,    (Paris,  Bouret,) 

1648—1789. 

In  den  Neujahrsblättern  der  Badischen  Historischen  Kom- 
mission N.  F.  9,  1906  behandelt  Karl  Hauck  das  Leben  des 
Prinzen  Rupprecht  (Rupprecht  der  Kavalier,  Pfalzgraf  bei  Rhein 
1619—1682).  Derselbe  Verfasser  hatte  früher  das  Leben  des  Kur- 
fürsten Karl  Ludwig,  sodann  auch  das  der  Mutter,  der  Königin 
Elisabeth  von  Böhmen,  geschriieben.  Und  auch  in  diesem  Buche 
steht  das  Interesse  an  der  Familiengeschichte  des  pfälzischen 
Hauses  durchaus  im  Vordergrunde.  Ihr  ist  auch  vornehmlich 
die  vielseitige  Benutzung  archivalischer  Materialien  zugute  ge- 
kommen, wobei  das  Münchener  Hausarchiv  mit  seinen  pfälzischen 
Akten  obenan  steht.  Was  der  Leser  hier  vor  sich  hat,  ist  ein 
gut  geschriebenes  Buch  zur  pfälzischen  Geschichte.  Der  Histo- 
riker ist  damit  freilich,  wenn  es  sich  um  den  Prinzen  Rupprecht 
handelt,  noch  nicht  zufrieden.  Weit  mehr  als  die  Verstimmungen 
zwischen  den  pfälzischen  Geschwistern,  als  der  Streit  um  den 
Nachlaß  der  Mutter,  interessieren  ihn  die  Taten  Rupprechts  im 
englischen  Bürgerkriege.  Hier  aber  genügt  die  Darstellung  nicht 
ganz.  Für  die  Gegner,  mit  denen  Rupprecht  es  zu  tun  hatte, 
zeigt  der  Veriasser  wenig  Verständnis,  und  die  Tatsachen  sind 
nicht  immer  genau  wiedergegeben.  Daß  Cromwell  schon  nach 
Hampdens  Tode  die  Führung  auf  parlamentarischer  Seite  über- 
nommen habe,  ist  unrichtig;  noch  bei  Naseby  führte  er  nicht  den 
Oberbefehl.    Die  erbeuteten  Briefe  Karls  sind  daher  auch  nicht 


1648—1789.  669 

in  Cromwells  Hände  gefallen  und  von  ihm  veröffentlicht  worden, 
sondern  Fairfax  schickte  sie  dem  Parlamente,  das  ihre  Veröffent- 
lichung beschloß.  Der  Name  ironsides  (nicht  ironsiders,  wie 
Hauck  S.  45  und  114  schreibt)  ist  nach  der  Schlacht  von  Marston 
Moor  nicht  den  Kürassieren  Cromwells  verliehen  worden,  sondern 
damals  wurde  nur  Cromwell  selbst  von  Rupprecht  ironside  ge- 
nannt. Die  (von  Brosch  herrührende)  Obersetzung  „Eisenrippen" 
statt ,, Eisenseiten''  ist  falsch.  In  einem  1831  geschriebenen  Essay 
gebraucht  Macaulay  neben  Worten  höchster  Anerkennung  für  die 
großen  Eigenschaften  Cromwells  den  Ausdruck  „halb  Fanatiker 
halb  Possenreißer''.  Aber  diese  aus  dem  Zusammenhang  heraus- 
gerissenen Worte  sollten  heute  nicht  mehr  als  Charakteristik 
Cromwells  gegeben  werden.  W.  Michael. 

Huffschmidt  druckt  einen  Reisebericht  des  B.  de  Mon- 
conys  (t  1665)  über  Heidelberg  wieder  ab,  1664,  mit  interessanten 
Nachrichten  über  den  Kurfürsten  Karl  Ludwig  als  Gelehrten  und 
Sammler  (Neues  Archiv  für  die  Geschichte  der  Stadt  Heidelberg 
Bd.  8,  Heft  1). 

E.  Hörn  handelt  über  den  letzten  großen  Hexenbrand  in 
Deutschand,  1676  (Quellen  und  Forschungen  zur  Deutschen,  bes. 
Hohenzollernschen  Geschichte,  5.  Jahrg.,  1.  Halbbd.). 

H.  F.  H  e  1  m  o  1 1  veröffentlicht  Briefe  der  Herzogin  Elisabeth 
Charlotte  1.  nach  Modena,  Turin,  Stockholm,  aus  den  Jahren  1672 
bis  1722  (Histor.  Vierteljahrschrift,  11.  Jahrg.,  3.  Heft),  2.  an  die 
Königin  Sophie  Dorothea  von  Preußen,  1716-1722  (Histor.  Jahr- 
buch der  Görres-Ges.  29.  Bd.,  2./3.  Heft). 

Leicht  und  angenehm  liest  sich  Nazelles  Geschichte  des 
Protestantismus  in  Saintonge  und  Aunis  von  der  Aufhebung  des 
Edikt  von  Nantes  bis  zur  Revolution  (L.  N  a  z  e  1 1  e ,  Le  protestan- 
tisme  en  Saintonge  sous  le  regime  de  la  r^vocation  1685—1789. 
Paris,  Fischbacher.  1907.  329  S.).  Ohne  sehr  in  die  Tiefe  zu 
dringen,  setzt  Verfasser  die  Provinzialgeschichte  in  Verbindung 
mit  den  allgemeinen  Schicksalen  des  französischen  Protestantis- 
mus in  jener  Zeit  und  mit  den  herrschenden  Ideen.  An  die 
Großartigkeit  des  Camisardenkampfes  reicht  der  Widerstand  in 
den  Küstengegenden  nicht  entfernt  heran,  zeitigt  aber  doch  durch 
die  Auswanderung  und  besonders  durch  die  Einrichtung  der 
„maisons  d'Oraison^  (Scheunen,  die  nur  im  Innern  zu  Predigt- 
häusern umgewandelt  sind)  eigenartige  Formen.  Nazelles  Dar- 
stellung darf  Objektivität  im  allgemeinen  nachgerühmt  werden, 
wenn  sich  auch  der  protestantische  Gesichtspunkt  nirgends  ver- 
leugnet: nur  Fdn^lon  ist  er  nicht  gerecht  geworden.  A.  E. 


670  Notizen  und  Nachrichten. 

F.  de  Bojani  handelt  im  papalen  Sinne  über  die  Be- 
ziehungen Ludwigs  XIV.  zum  römischen  Stuhl  gegen  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  {Revue  d'histoire  diplomatique,  ann6e  22,  no.  3). 

R.  Fage  publiziert  sechs  Briefe  von  Baluze  an  F^ndlon, 
1703—1705  {Revue  historique  t.  98,  II). 

R.  Engelmann  teilt  Briefe  von  Philipp  Stosch  mit  (1715 
bis  1732),  der  den  Grundstein  der  Großen  Berliner  Gemmensamm- 
lung legte  und  über  ein  Menschenalter  in  der  italienischen  Ge- 
lehrtenrepublik eine  Stellung  einnahm  wie  kaum  wieder  ein  Deut- 
scher nach  ihm  (C.  Justi)  (Archiv  für  Kulturgeschichte  6.  Bd., 
3.  Heft). 

Ebenda  veröffentlicht  Th.  Renaud  eine  Reisebeschreibung 
des  Chr.  A.  v.  Anacker  von  Lissabon  nach  Wien  (1733):  „13.(Aug.) 
sahen  wir  eine  Insul,  mit  Nahmen  zwar  heilig  Land  (Helgoland), 
in  der  That  aber  Deuffelsland,  denn  lauter  Hexenleuth  allda 
wohnen.  Sie  seind  Pilots,  so  die  Schiffe  in  die  Elbe  führen,  und 
so  man  ihnen  nicht  giebt  was  sie  begehren,  so  offt  in  mehr  denn 
100  fl.  bestehet,  so  machen  sie  gleich  Donnerwetter  oder  machen 
sonst  einen  Schaden  im  Schiff.*" 

H.  S^e  handelt  über  die  politischen  Ideen  Voltaires,  der 
nach  ihm  viel  weniger  abstrakter  Theoretiker  als  praktischer 
Reformer  gewesen  ist.  Auch  Voltaires  Dramen  sind  zum  Teil 
Mittel  politischer  Propaganda,  so  Mahomet,  Olympie,  Gu^bres, 
Don  P^dre  {Revue  d'historique  tome  98,  II). 

In  einer  kleinen,  etwas  schweriällig  geschriebenen,  aber 
gründlichen  Untersuchung  behandelt  Kurt  Glaser  ^Montesquieus 
Theorie  vom  Ursprung  des  Rechts"  (Wiss.  Beilage  der  Oberreal- 
schule Marburg  a.  L.  1907).  Bei  vielfacher  Anlehnung  an  Hobbes' 
Gedankengänge  kommt  Montesquieu  doch  zu  dem  von  Hobbes 
ganz  abweichendem  Ergebnis,  daß  nicht  der  Zustand  des  allge- 
meinen Krieges,  sondern  das  Schwächegefühl  und  Anlehnungs- 
bedürfnis die  Menschen  zur  Gründung  rechtlicher  Ordnungen 
veranlaßt  hat.  Die  Untersuchung  wirft  auch  in  manche  Falten 
der  Hobbesschen  Theorie  Licht 

Die  Richtung  der  Geschichtschreibung,  die  zeigen  will,  daß 
die  französische  Revolution  das  notwendige  Ergebnis  aus  den  Zu- 
ständen Frankreichs  vor  1789  war,  hat  sich  vielfach  auf  das 
Journal  des  Marquis  d'Argenson  berufen,  so  namentlich  ihr  Haupt- 
vertreter Taine.  d'Argenson  schildert  die  Zustände  Frankreichs 
unter  Ludwig  XV.  als  trostlos  und  spricht  schon  um  1750  von 
dem  Kommen  einer  Revolution.  Begreiflicherweise  zieht  die 
uere  Richtung,  die  die  Komplexität  des  historischen  Verlaufs, 


1648-1789.  671 

der  zu  Revolution  führt,  betont  und  eine  günstigere  Auffassung  vom 
ancUn  regime  fiat,  die  Glaubwürdigkeit  d'Argensons  in  Zweifel. 
So  hat  schon  Roustan,  Les  philosophes  et  la  socUt^  franpaise  au 
XVIIß  sUcle  1906  die  Unzuverlässiglieit  d'Argensons  hervor- 
gehoben, ebenso  Willert  in  der  Cambridge  history  und  Wahl. 
Ein  Schüler  des  letzteren,  Durand,  führt  nun  in  den  „Abhand- 
lungen zur  mittleren  und  neueren  Geschichte^  Heft  6  (Berlin  und 
Leipzig  1908)  im  einzelnen  den  Nachweis,  daß  die  Memoiren 
des  Marquis  d'Argenson  als  das  Werk  eines  enttäuschten 
Ehrgeizigen  und  schlecht  unterrichteten  Zeitgenossen  nur  mit 
großer  Vorsicht  zu  benutzen  sind.  G.  /C. 

H.  H  a  u  s  e  r  hat  in  einer  Schrift :  Les  compagnonnages  d'arts 
et  m^tiers  ä  Dijon  aux  I7t  et  18*  sUcle  (Paris  1907,  220  S.)  das  in 
den  Archiven  von  Dijon  befindliche  sehr  reiche  Material  über 
die  Gesellenverbände  ( compagnonnages ),  das  seine  Schüler  unter 
seiner  Anleitung  gesammelt  und  bearbeitet  haben,  mit  einer  Ein- 
leitung versehen,  die  in  vortrefflicher  Weise  über  die  Organi- 
sation und  Geschichte  der  Dijoner  Gesellenverbände  orientiert. 
Entgegen  anderen  Meinungen  setzt  Hauser  ihren  Ursprung  ziem- 
lich spät  an;  die  ersten  Zeugnise  aus  Dijon  reichen  nur  bis  an 
die  Wende  des  15.  und  17.  Jahrhunderts  zurück,  und  Verfasser 
nimmt  an,  daß  die  Verbände  nicht  viel  früher  entstanden  sind. 
Ihre  Organisation  entspricht  im  allgemeinen  dem  von  anderwärts 
her  Bekannten.  Hauser  betont  den  interlokalen  Charakter  der 
Verbände  und  zeigt,  wie  die  Beherrschung  der  Arbeitsvermittlung 
ihr  wichtigstes  Ziel  bildete.  Ihr  wirksamstes  Kampfmittel  war 
die  Sperre,  die  über  einzelne  Meister  und  selbst  über  eine  ganze 
Stadt  verhängt  werden  konnte  und  mit  großer  Energie  und  be- 
deutendem Erfolge  durchgeführt  wurde.  Verfasser  erzählt  dann 
weiter  die  Versuche,  welche  die  Meister  und  die  Staatsgewalt 
unternommen  haben,  um  die  Macht  der  Gesellenverbände  zu 
brechen  und  ihnen  die  Arbeitsvermittlung  zu  entziehen.  Versuche, 
die  infolge  der  Schwäche  der  Behörden  und  der  Verschiedenheit 
der  Interessen,  die  unter  den  Meistern  selbst  bestand,  gescheitert 
sind.  Bis  zum  Ende  des  Ancien  Regime  ist  es  den  Gesellen- 
verbänden in  Dijon  geglückt,  ihre  Organisation  und  ihre  Herr- 
schaft über  den  Arbeitsmarkt  allen  Anfechtungen  zum  Trotz  auf- 
rechtzuerhalten. 

Göttingen.  Paul  Darmstaedter. 

Pierre  Lef  eu  vre  behandelt  in  einer  tüchtigen  und  auf  sorg- 
fältigen archivalischen  Studien  beruhenden  Arbeit  Les  communs 
en  Bretagne  ä  la  fin  de  fanden   regime  (1667—1789)  (Rennes 


672  Notizen  und  Nachrichten. 

1907,  XL  u.  180  S.)  die  Geschichte  der  Allmenden  (Communs) 
der  Bretagne  im  letzten  Jahrhundert  des  Ancien  Regime.  Die 
Allmenden  umfaßten  in  der  Bretagne  beinahe  die  Hälfte  der  ganzen 
Bodenfläche,  und  die  Frage,  wem  das  Eigentum  und  die  Nutzungs- 
rechte an  ihnen  zustanden,  war  gerade  in  dieser  Provinz  von 
besonderer  Bedeutung.  Infolge  der  außerordentlich  schwierigen 
Rechtslage,  die  der  Verfasser  scharfsinnig  auseinandersetzt,  ent- 
standen zahllose  Prozesse  zwischen  den  Seigneurs  und  den 
Bauern,  die  hier  wie  in  anderen  Provinzen  zweifellos  viel  zur 
Verbitterung  der  Landbevölkerung  beigetragen  haben.  Bei  der 
Frage  der  Verwertung  der  Allmenden  tritt  indes  nicht  nur  ein 
Gegensatz  der  Interessen  zwischen  Grundherr  und  Bauer,  sondern 
auch  ein  Widerstreit  zwischen  den  verschiedenen  Schichten  der 
Bauernschaft  deutlich  hervor.  Die  Arbeit  Lefeuvres,  die  in  erster 
Linie  eine  rechtsgeschichtliche  ist,  kann  auch  als  ein  wertvoller 
Beitrag  zur  Wirtschaftsgeschichte  des  vorrevolutionären  Frank- 
reichs bezeichnet  werden. 

Göttingen.  PatU  DarmstaedUr. 

de  Germiny  setzt  seine  Studien  über  englische  Seeräube- 
reien unter  Ludwig  XV.  bis  1755  fort  (Revue  des  questions  histo^ 
riques,  1.  Juillet  1908). 

Einen  liebevollen  Biographen  hat  der  Theatiner  Sterzinger, 
der  wackere  Bekämpfer  des  Hexenwahns  in  Bayern,  in  Hans 
Fieger  gefunden  (Dr.  Hans  Fieger,  P.  Don  Ferdinand  Ster- 
zinger,  Lektor  der  Theatiner  in  München,  Direktor  der  historischen 
Klasse  der  kurbayer.  Akademie  d.  Wiss.,  Bekämpfer  des  Aber- 
glaubens und  Hexenwahns  und  der  Pfarrer  Geßnerschen  Wunder- 
kuren. Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Aufklärung  in  Bayern 
\inter  Kurfürst  Maximilian  III.  Joseph.  München  und  Berlin, 
R.  Oldenbourg.  1907.  275  S.  mit  2  Stammtafeln).  Die  Rede,  die  Ster- 
zinger  am  13.  Oktober  1766  in  der  Münchener  Akademie  der 
Wissenschaften  gegen  den  Hexenwahn  hielt,  entlehnte  ihre  Argu- 
mente im  wesentlichen  italienischen  Vorgängern  und  entbehrte 
der  Originalität.  Als  einen  hervorragenden  Kopf  hat  sich  Ster- 
zinger  weder  dadurch  noch  durch  seine  historischen  Arbeiten, 
die  sich  auf  dem  Gebiete  der  ältesten  bayerischen  Geschichte 
bewegen,  erwiesen.  Aber  die  Rede  war  eine  kühne,  mannhafte 
Tat,  sie  hat  bedeutende  und  hochverdienstliche  Wirkungen  her- 
vorgebracht und  den  Namen  des  Redners  unsterblich  gemacht. 
Nochmal  ist  Sterzinger  dem  Aberglauben  in  wirksamster  Weise 
entgegengetreten,  als  er  die  exorzistischen  Wunderkuren  des 
Pfarrers  Geßner  bekämpfte,  deren  Realität  von  vier  Professoren 


1648—1789.  673 

aus  verschiedenen  Fakultäten  der  Universität  Ingolstadt  anerkannt 
wurde.  Hier  leitete  Sterzinger  die  gesunde  Einsicht,  daß  es  sich 
bei  diesen  Heilungen  um  geheime  Naturkräfte  handle.  Das  Neue 
der  Fiegerschen  Schrift  liegt  zumeist  in  diesem  Kapitel,  ferner 
in  den  genealogischen  Aufschlüssen  über  Sterzingers  Ahnen,  die 
lange  Zeit  Erbsalzfaktoren  in  Nassereit  am  Fuße  des  Fernstein- 
passes waren,  in  der  Schilderung  der  Lehr-  und  Wanderjahre 
und  hinwiederum  der  letzten  Lebensjahre  seines  Helden.       R. 

A.  Rosenlehner  beschließt  seine  Arbeit  über  die  Grund- 
lagen des  Wirtschaftslebens  in  Bayern  unter  dem  aufgeklärten, 
von  Ickstatt  beratenen  Maximilian  111.  Joseph,  Vorgänger  Karl 
Theodors  (Forschungen  zur  Geschichte  Bayerns  16.  Band, 
3.  Heft). 

P.  Clement-Simon  gibt  einen  Überblick  über  Preußens 
Orientpolitik,  1736 — 1871  (Revue  d'hisioire  diplomatiquej  ann^e  22, 
no.  3). 

A  a  g  e  F  r  i  i  s ,  Bernstorffsche  Papiere  Bd.  2.  Kopenhagen 
und  Christiania  1907.  —  In  dem  1.  Bande  war  im  Verhältnis  zu 
Umfang  des  Buches  gar  zu  wenig  wichtiges  historisches  Material 
geboten,  was  ich  in  meiner  Besprechung  (H.  Z.  98,  401  f.)  nicht 
verschweigen  durfte.  Meine  damalige  Angabe,  die  folgenden  Bände 
würden  die  drei  jüngeren  Bernstorffs  behandeln,  hat  sich  als  ein 
Mißverständnis  erwiesen.  Der  vorliegende  bringt  Korrespon- 
denzen J.  H.  E.  Bernstorffs  mit  zahlreichen  Personen,  unter  denen 
manche  Berühmtheit,  wie  Geliert,  Klopstock,  Christian  VII.,  Vol- 
taire, die  Pompadour.  Er  ist  wesentlich  reichhaltiger  an  wichtigem 
Material  für  die  politische  und  kulturelle  Geschichte  sowohl  Däne- 
marks als  anderer  Länder.  Die  Affäre  Struensee  —  die  übrigens 
auch  im  ersten  Bande  in  einigen  Briefen  Johann  Hartwig  Ernsts 
vorkommt  —  ist  diesmal  vielfach  berührt  und  dürfte  dadurch 
manche  Aufklärung  erfahren.  Aus  der  Zeit  Friedrichs  des  Großen 
ist  manches  Interessante  gegeben,  namentlich  Aufzeichnungen 
des  Völkerrechtslehrers  Hübner  über  Verhandlungen  mit  Choi- 
seul,  1759.  Auch  in  diesem  Bande  hätte  wohl  viel  Unwichtiges 
ausgemerzt  werden  können.  Er  weist  auf  812  Seiten  639  Num- 
mern auf.  A,  V,  Ruville, 

Die  Mitt.  d.  Ver.  f.  Gesch.  u.  Landesk.  von  Osnabrück  32 
(1907)  bringen  einen  Aufsatz  von  R.  Hofmann:  ,,Justus  Moser, 
der  Vater  der  deutschen  Volkskunde." 

P.  Cultru  handelt  in  der  Rev,  de,  Synth,  hist,  16,2  von 
Quellen  und  Literatur  zur  Geschichte  der  französischen  Kolonien 
vor  1789  (j,Les  colonies  franpalses  sous  l'ancien  regime'). 


674  Notizen  und  Nachrichten. 

Neue  Bficher:  d* Echirac,  La  jeunesse  du  marächal  de 
BelU'Isle  (1684—1726).  (Paris,  Champion.)  —  Einaudi,  La 
finanza  sabauda  aii'aprirsi  del  secolo  XVIII  e  durante  la  guerra 
di  successione  spagnuola.  (Torino,  Soc.  tip.  ed.  Nazionale.  20  Lire.) 

—  Hassall,  The  expansion  of  Great  B ritain,  1715-  1789.  (Lon- 
don, Rivingtons.  3  sh.)  —  Friedrichs  des  Großen  Brief- 
wechsel mit  Voltaire.  Herausg.  von  Koser  und  Droysen.  1.  Tl. 
(Leipzig,  Hirzel.  12  M.)  —  Robb  ins,  George,  Earl  of  Macartney, 
first  British  ambassador  to  China.    (New  York,  Dutton.  5  Doli.) 

—  Acta  borussica.  Münzgeschichtlicher  Teil.  2.  Bd,  Die  Be- 
gründung des  preußischen  Münzsystems  durch  Friedrich  d.  Gr. 
und  Grauman,  1740—1755.  Darstellung  von  Frdr.  v.  Schrötter, 
Akten  bearb.  von  G.  Schmoller  und  Frdr.  v.  Schrotte r.  (Berlin, 
Parey.  14  M.)  —  Joh.  Jos.  Khevenhüller-  Metsch,  Aus  der 
Zeit  Maria  Theresias.  Tagebuch  1742—1776.  Hrsg.  von  Rud. 
Graf  Khevenhüller-Metsch  und  H.  Schütter,  1745—1749.  (Wien, 
Holzhausen.  14  M.)  —  Dorschel,  Maria  Theresias  Staats-  und 
Lebensanschauung.  (Gotha,  Perthes.  4M.) — Muratori,  Episto- 
lario,  edito  e  curato  da  Matteo  Cämpori.  XI  (1745—1748).  (Modena^ 
Soc.  tip.  modenese.  12  Lire.)  —  Rappoport,  The  curse  of  the 
Romanovs.  A  study  of  the  lives  and  the  reigns  of  two  tzars, 
Paul  I.  and  Alexander  I.  of  Russia,  1754—1825.  (London,  Chatto. 
16  sh.)  —  Willson,  George  III.  as  man,  monarch,  and  states- 
man.  (London,  Jack.  12,6  sh.)  —  Marquis  de  Bouill^,  Sou- 
venirs et  fragments  pour  servir  aux  Mimoires  de  ma  vie  et  de 
mon  temps,  1769— I8I2,  publ.  par  P.-L.  de  Kermaingant.  T.  IL 
(Paris,  Picard  et  fils.  8  fr.)  —  Marie  Antoinette :  Ihre  Briefe  als 
Dauphine  und  Königin.  Übertr.  von  M.  Sudnarb.  (Berlin,  Bran- 
dus.  3,50  M.)  —  Glagau,  Reformversuche  und  Sturz  des  Abso- 
lutismus in  Frankreich  (1774—1788).  (München,  Oldenbourg. 
7,50  M.)  —  Ziekursch,  Das  Ergebnis  der  friderizianischen 
Städteverwaltung  und  die  Städteordnung  Steins.  (Jena,  Coste- 
noble.  6  M.)  —  Lux,  Johann  Kaspar  Friedrich  Manso,  der  schle- 
sische  Schulmann,  Dichter  und  Historiker.  (Leipzig,  Quelle 
£  Meyer.    8  M.) 

Neuere  Geschichte  seit  1789. 

Paul  Lacombe  widmet  dem  Sozialisten  Jean  Jaur^s,  dem 
Geschichtschreiber  der  konstituierenden  Nationalversammlung, 
Ausführungen  voll  lebhafter  Anerkennung,  doch  mit  Ablehnung 
des  politischen  Grundgedankens  („Les  historiens  de  la  Revolution  : 
Jean  Jaur^s" ;  Rev.  de  Synth,  hist.  16,  2). 


Neuere  Geschichte.  675 

Im  Maiheft  1908  der  Revolution  Franpaise  behandelt  Mau- 
berger  den  chef  de  brigade  le  Firon  (1765—1799).  G.  Deville 
geht  dem  Ursprung  der  Worte  socialisme  und  socialiste  nach  und 
findet  sie  etwas  früher  belegt,  als  bisher  angenommen  wurde, 
nämlich  socialisme  1831  und  socialiste  1833.  Wie  zu  erwarten  war^ 
treten  diese  Worte  ursprünglich  immer  in  scharfem  Gegensatz  zu 
individualisme,  individualiste  auf. 

M.  I.  Guillaume:  Procis-verhaux  du  Comiti  d* Instruction 
publique  de  la  Convention  nationale,  Tome  VI.  Paris ,  Imprimerie 
nationale,  1907.  XLVIII  u.  960  S.  —  Dieser  Band,  der  die  wert- 
volle Publikation  (vgl.  H.  Z.  92,  177  und  98,  222)  der  Protokolle 
der  Unterrichtskommission  des  Konvents  zum  Abschluß  bringt, 
enthält  die  Protokolle  der  117  Sitzungen,  welche  dieser  Ausschuß 
vom  26.  März  bis  26.  Oktober  1795  abhielt.  Wie  den  früheren 
so  ist  auch  diesem  Bande  eine  treffliche  Einleitung  vorausge- 
schickt, welche  die  Unterrichtsgesetzgebung  des  in  den  Proto- 
kollen behandelten  Zeitraums  im  Zusammenhang  mit  der  allge- 
meinen politischen  Entwicklung  beleuchtet.  Mehr  und  mehr 
kommt  im  Jahre  1795  der  gegenrevolutionäre  Geist  zum  Durch- 
bruch und  äußert  natürlich  auch  seine  Einwirkung  auf  die  Schul- 
gesetzgebung:  Ein  Konventsmitglied  konnte  jetzt  die  Hoffnung 
als  chimärisch  bezeichnen,  daß  je  alle  Franzosen  lesen  und 
schreiben  lernen  würden;  so  wurde  denn  im  Gesetz  vom  3.  Bru- 
maire  III  das  Prinzip  der  allgemeinen  obligatorischen  und  freien 
Volksschule  geopfert,  und  zugleich  die  Lehrer  für  ihren  Unter- 
halt wieder  auf  das  Schulgeld  ihrer  Zöglinge  angewiesen.  Ein 
7.  Band  soll  das  alphabetische  Register  zur  ganzen  Sammlung 
enthalten;  außerdem  kündigt  der  Herausgeber  als  Fortsetzung 
die  Veröffentlichung  der  Unterrichtsakten  aus  der  Zeit  des  Direk- 
toriums an. 

Göttingen.  Paul  Darmstaedter. 

Die  Rev.  des  Questions  Histor,  1.  Juli  1907,  enthält  folgende 
Beiträge:  Welvert  zerstört  la  Ugende  de  Lakanal  unter  Be- 
nutzung der  kürzlich  veröffentlichten  Akten  des  comiti  de  rin- 
struction  publique  des  Konvents.  Man  wird  in  Zukunft  den  Ein- 
fluß Lakanals  sehr  viel  niedriger  einschätzen  müssen,  auch  gerade 
auf  die  Neugestaltung  des  Schulwesens.  Die  Oberschätzung  des 
Mannes  beruht  darauf,  daß  er  häufig  Berichterstatter  seines 
Comit^s  war.  Sehr  interessant  ist  eine  Arbeit,  die  L.  Soutif 
u.  d.  T.  une  soci^t^  de  culte  catholique  ä  Paris  pendant  la  pre- 
mUre  Separation;  la  paroisse  Saint-Eustache  (\79b— 1902)  beginnt. 
Er  zeigt   an   der  Hand   der  Akten  u.  a.,   daß    in   der  Regierung 


676  Notizen  und  Nachrichten. 

dieser  mit  reichen  Mitteln  ausgestatteten  Gesellschaft  das  Laien- 
element  stark  vorwog.  Sie  übte,  gegen  den  Buchstaben  des  Ge- 
setzes, die  Rechte  einer  juristischen  Person  aus.  S^rignan 
setzt  seinen  von  uns  im  letzten  Hefte  erwähnten  Aufsatz  über 
das  Leben  in  den  revolutionären  und  kaiserlichen  Armeen  fort, 
während  A.  Durand  einen  Teil  einer  demnächst  erscheinenden 
Biographie  des  Kapuziners  de  Barjac  veröffentlicht  u.  d.  T.  un 
pritre  proscrit  pendant  la  Revolution. 

In  der  1.  Juni-Nummer  der  Rev.  des  Deux  Mondes  findet  sich 
die  Fortsetzung  der  von  uns  im  letzten  Hefte  erwähnten  Arbeit 
Augustin -Thierrys  über  den  Obersten  Foumier  etc.  de  La- 
combe  veröffentlicht  (1.  Juli)  den  ersten  Teil  einer  Artikelserie 
über  Talleyrand  imigr^,  der  den  Aufenthalt  in  England  1792—1794 
behandelt  und  mit  der  Abreise  in  die  Neue  Welt  endigt.  Die 
zweite  Anwesenheit  Talleyrands  in  London  im  Jahre  1792  beruhte 
auf  keiner  Mission,  sondern  auf  Emigration.  Wir  sehen  Talley- 
rand  den  Sturz  der  Monarchie  auf  das  heftigste  verurteilen. 
Trotzdem  bleibt  er  in  Verbindung  mit  seiner  Regierung,  der  er 
treffliche  Ratschläge  erteilt,  de  Wyzewa  bespricht  (15.  Juli) 
Vautobiographie  d'un  sans-culotte  allemand  (F.  Gh.  Laukhards 
Leben  und  Schicksale  von  ihm  selbst  beschrieben,  neu  herausg. 
von  Petersen,  1908). 

Die  letzten  Tage  der  acadämie  de  France  in  Rom  im  Jahre 
1793,  die  vor  den  Drohungen  des  römischen  Pöbels  auseinander- 
ging, erzählt,  ohne  neues  Material  zu  benutzen,  Guiffrey  im 
Journal  des  Savants  vom  Mai  1908. 

P.  Moräne,  Paul  /«•  de  Russie  avant  l'avinement  1754  ä 
1796,  Paris,  Libr.  Plön,  1907.  452  S.  —  Eine  sehr  breite,  nirgends 
in  die  Tiefe  gehende  Biographie  Pauls  bis  zu  seiner  Thronbestei- 
gung, die  mit  Behagen  vielerlei  für  den  Historiker  ganz  gleich- 
gültiges Detail  erzählt  und  gelegentlich  auch  Erörterungen  (wie 
S.  277  ff.  über  Alexis  Bobrinski ,  den  Sohn  Katharinas  II.  und 
Gregor  Orlows)  bringt,  die  gar  nicht  herein  gehören.  Das  Buch 
ist  ganz  so  gemacht  wie  die  bekannten  Arbeiten  Waliszewskis 
über  Katharina  IL,  nur  ein  ganz  Teil  weniger  interessant  als  diese, 
und  wie  diese  für  die  Erkenntnis  der  russischen  Geschichte  zu 
bewerten.  O.  H, 

Comte  Fddor  Golowkine,  La  cour  et  la  regne  de  Paul  /«*, 
Portraits,  Souvenirs  et  Anecdotes.  Avec  introduction  et  notes  par 
S.  Bonnet,  Paris,  Libr.  Plön.  1905.  —  Das  448  S.  starke  Buch 
enthält  eine  historische  Einleitung  von  96  S.  über  die  Golowkins 
im  allgemeinen   und  dann  Erinnerungen  des  Grafen  Feodor  Go- 


Neuere  Geschichte.  677 

lowkin  (1766 — 1823)  über  den  Hof  und  die  Regierung  Pauls,  die 
aus  dem  Archiv  des  Schlosses  Monnaz  in  der  Nähe  von  Lau- 
sanne veröffentlicht  werden.  Sie  sind  in  der  Chronologie  nicht 
überall  zuverlässig  und  geben  einen  sehr  geringen  Ertrag  zur 
Geschichte  Pauls.  Noch  weniger  bedeutungsvoll  sind  die  an-» 
gehängten,  beinahe  den  Hauptteil  des  Buches  ausmachenden 
jiPorträts,  Erinnerungen  und  Anekdoten'',  die  derselbe  Verfasser 
aufgezeichnet  hat  Diese  betreffen  eine  ganze  Reihe  russischer 
und  nichtrussischer  Persönlichkeiten  und  sind  zumeist  oberfläch- 
lich und  nicht  sonderlich  interessant.  Das  Buch  ist  keine  wesent- 
liche Bereicherung  der  russischen  Geschichtsliteratur.  Hübsch 
sind  die  beigegebenen  fünf  Porträts.  0.  H. 

Aus  den  reichen  Schätzen  des  Marwitzschen  Familienarchivs 
in  Friedersdorf  veröffentlicht  Meusel  in  den  Mitteilungen  der 
Lit  Gesellschaft  Masovia  H.  13  drei  Beiträge:  1.  ,,Ein  Stimmungs- 
bild nach  der  Schlacht  von  PreuBisch-Eylau."  Es  handelt  sich 
um  einen  anonymen  Bericht,  als  dessen  Verfasser  der  Königs- 
berger Kaufmann  Krause  ermittelt  wurde  und  der  in  interessanter 
Weise  zeigt,  wie  große  Hoffnungen  in  Patriotenkreisen  die  un- 
entschiedene Schlacht  geweckt  hatte.  2.  „Die  englische  Gesandt- 
schaft nach  Preußen  1806/07"  und  3.  »Die  Schlacht  von  Friedland 
(14.  Juni  1807)",  beide  aus  Marwitz'  Memoiren,  sind  willkommene 
Ergänzungen  der  Meuselschen  Marwitz-Publikation. 

Eine  Reihe  sehr  interessanter  Briefe  der  Königin  Luise,  des 
Kronprinzen  Friedrich  Wilhelm  (IV.),  des  Generals  von  der  Mar- 
witz  und  des  späteren  Kaisers  Wilhelm,  alle  dem  Marwitzschen 
Familienarchiv  entstammend,  veröffentlicht  Meusel  ferner  in  der 
BeiL  z.  Voss.  Zeitung  vom  31.  Mai  und  7.  Juni  1908.  Bemerkens- 
wert ist  dabei  u.  a.  Marwitz'  Versuch,  1816  den  Kronprinzen  gegen 
die  Boyensche  Landwehrordnung  einzunehmen  und  des  Kron- 
prinzen Antwort  darauf.  Wir  fügen  aber  den  dringenden  Wunsch 
hinzu,  daß  der  verdiente  Herausgeber  seine  Publikationen,  die  er 
jetzt  überall  verstreut  erscheinen  läßt,  mehr  konzentriere  (vgl.H.Z. 
101,  393).  Es  ist  schon  jetzt  nicht  leicht,  alle  bisher  erschienenen 
Meuseliana  zu  überblicken.  —  Über  die  beiden  großen  Veröffent- 
lichungen Meusels  und  der  Luise  v.  d.  Marwitz  handelt  ein  Essay 
von  H.  V.  Petersdorff  in  der  Deutschen  Rundschau,  August 
1908. 

Aus  der  Nouvelle  Revue  vom  15.  Mai  1908  notieren  wir: 
Raffalowich,  Le  sUge  de  Graudenz  en  1807;  aus  der  Nuova 
Antologia,  1.  Juli  1908:  Cappello,  Napoleone  I  in  Italia  nel 
1807  e  l'esercito  italico  de'  quei  tempL 


678  Notizen  und  Nachrichten. 

Zur  Tauroggenfrage  sind  drei  weitere  Arbeiten  von  Thimme 
2u  erwähnen:  1.  Hat  General  v.  Yorck  die  Konvention  von  Tau- 
roggen auf  Grund  einer  geheimen  Instruktion  vollzogen  oder 
nicht?    (Jahrb.  f.  d.  deutsche   Armee    und  Marine,  März   1908). 

2.  Das  Seydlitzsche  ,,Tagebuch''  des  Yorckschen  Korps  im  Feld- 
zuge von  1812  (Forsch,  z.  brandenburgischen  etc.  Gesch.  XX,  2). 

3.  Die  geheime  Mission  des  Flügeladjutanten  v.  Wrangel  (1812) 
<ebd.  XXIy  2).  Vor  allem  die  zweite  und  dritte  sind  für  die  Frage 
von  erheblicher  Bedeutung  und  düriten  viele  Zweifler  für  die  An- 
schauungen des  Verfassers  gewinnen.  Die  zweite  weist  an  der 
Hand  von  Seydlitzschen  Familienpapieren  nach,  wie  geringfügig 
die  Änderungen  waren,  die  von  dem  früheren  Adjutanten  Yorcks^ 
dem  Generalmajor  von  Seydlitz,  verlangt  wurden,  als  er  1823  das 
„Tagebuch**  veröffentlichte.  Von  dem  ganzen  Abschnitt  über 
die  Konvention  von  Tauroggen  ist  nichts  beanstandet  oder  gar 
gestrichen  worden.  Die  Annahme,  dafi  Seydlitz  ursprünglich  die 
Initiative  Yorcks  schärfer  hervorheben  wollte,  ist  also  hinfällig. 
Der  dritte  Beitrag  wendet  sich  zunächst  gegen  Thimmes  Kri- 
tiker. Dann  aber  bringt  er  aus  Wrangeischen  Papieren  u.  a.  den 
Nachweis,  daß  der  Flügeladjutant  v.  Wrangel  schon  1810  und  1818 
gelegentlich  in  der  kritzeligen  und  unleserlichen  Weise  ge- 
schrieben hat,  wie  bei  jenem  viel  erörterten  Eintrag  in  sein 
Tagebuch.  Dieser  braucht  also  keineswegs  erst  in  hohem  Alter 
eingefügt  zu  sein.  Damit  ist  wohl  der  letzte  Einwand  gegen 
ihn  beseitigt.  Ferner  veröffentlicht  Thimme  Teile  einer  Denk- 
schrift Wrangeis  an  Nesselrode,  die  schon  1818  folgenden  Satz 
hat:  la  conduite  future  du  G.  Yorck  (unzweifelhaft  ist  die  Kon- 
vention gemeint  I)  ^tait  une  suite  des  ordres  secrets  que  je  lui 
avais  partes  du  Roi;  ferner  Teile  eines  nach  dem  Tode  Fried- 
rich Wilhelms  III.  seinem  Nachfolger  von  Wrangel  eingereichten 
Lebensabrisses,  der,  ähnlichen  Inhalts  wie  Tagebuch  und  Brief 
von  1838,  ebenfalls  wichtig  ist. 

In  der  Revue  Bleue  vom  18.  Juli  1908  veröffentlicht  Lair  das 
Urteil  des  bekannten  P.  F.  Dubois  über  den  Marschall  Marmont 
(„certaine  aatisfaction  de  lui-mime  un  peu  vulgaire;  ...  //  ^crit 
m^diocrement  et  d'une  fapon  commune"). 

Th.  Bitterauf,  Napoleon  I.  (Aus  Natur  und  Geisteswelt 
195.)  Leipzig,  B.  G.  Teubner.  1908.  VIII  u.  109  S.  —  Ein  flottes 
Werkchen,  das  auf  acht  im  Wintersemester  1905/06  im  Münchener 
Volkshochschulverein  gehaltenen  Vorträgen  beruht.  Es  steckt 
eine  Menge  Wissen  und  fleißiger  Arbeit  darin,  aber  auch  eigene 
Gedanken   und  vor  allem   frische,   öfters  fördernde  Urteile.    Auf 


Neuere  Geschichte.  679 

der  anderen  Seite  wird  es  durch  eine  Reihe  von  sachlichen  (und 
stilistischen)  Verstößen  entstellt,  von  denen  folgende  angemerkt 
seien:  S.  14.  Im  Vend^miaire  1795  tobte  der  Kampf  hartnäckiger 
nicht  ,,gegen  die  Rue  St.  Honor^  und  die  Rochuskirche  hin*', 
sondern  in  der  Rue  St.  Honor^.  Zu  S.  31.  Der  Rastatter  Kon- 
greß ging  nicht  erst  nach  dem  Gesandtenmord  auseinander. 
S.  54  lesen  wir:  „kein  Deutscher  Bundesgenoß  stand  . .  .  Preußen 
zur  Seite"  (im  Kriege  von  18061).  S.  57  (1807):  „ein  ähnliches 
Schicksal  wie  Kopenhagen  drohte  durch  die  englische  Flotte 
Lissabon"!  S.  59.  Voilä  un  komme  heißt:  Siehe  da  ein  Mann, 
nicht  „ein  Mensch"  !  Zu  S.  75.  Es  ist  ungenau  zu  sagen,  der  C.  N. 
habe  „den  Erbadel  beseitigt"  und  „die  Ehescheidung  ermöglicht". 
Er  hat  vielmehr  in  ersterem  Punkte  die  revolutionäre  Gesetz- 
gebung nur  aufrechterhalten,  in  letzterem  dagegen  sehr  erheblich 
eingeschränkt.  S.  77.  Es  ist  eine  verwerfliche  KUrze,  mit  der 
Bitterauf  von  Chateaubriand  schreibt:  „aber  nach  dem  Tode  des 
Herzogs  von  Enghien  fiel  er  in  Ungnade."  Kein  nicht  Einge- 
weihter kann  daraus  den  Sachverhalt  entnehmen!  Durch  seine 
fast  schrankenlose  Bewunderung  Napoleons  verleitet,  liefert  Bitter- 
auf S.  82  folgenden  Widerspruch:  Er  betont  die  staunenswerte 
Riesenleistung,  wie  die  ungeheuren  Menschenmassen  (1812)  „mit 
allem  Nötigen  versehen  wurden".  Das  ist  gerade,  was  sie  nicht 
wurden,  und  drei  Zeilen  weiter  wird  das  auch  von  Bitterauf  rück- 
haltlos zugegeben:  „Am  ärgsten  litten  die  Truppen,  noch  ehe  sie 
vor  den  Feind  kamen,  unter  der  mangelhaften  Verpflegung."  — 
Möchte  doch  dieser  so  gut  veranlagte  Forscher  sich  endlich  dazu 
entschließen,  seine  immer  interessanten  Schriften  erst  dann  zu 
veröffentlichen,  wenn  sie  wirklich  in  jeder  Hinsicht  völlig  aus- 
gereift sind!  WahL 

Otto  Liermann,  Das  Lyceum  Carolinum,  ein  Beitrag  zur 
Geschichte  des  Bildungswesens  im  Großherzogtum  Frankfurt. 
(Beil.  z.  Progr.  des  Wöhler-Realgymnasiums  in  Frankfurt  a.  M. 
Ostern  1908.)  Frankfurt  a.  M.  70  S.  —  Das  Büchlein  behandelt 
in  fleißiger  und  anschaulicher  Weise  eine  ephemere  Schöpfung 
Dalbergs  (1812— 1814),  die,  auf  französischen  Vorbildern  beruhend, 
die  Zwischenstufe  zwischen  dem  herabgedrückten  Gymnasium 
und  der  „Universität",  d.  h.  der  Summe  von  auch  örtlich  ge- 
trennten Fachschulen,  bilden  sollte.  Nach  einem  einleitenden 
Abschnitt  über  Dalberg  schildert  Liermann  zuerst  den  Lehrkörper 
(sechs  Professoren),  den  Leiter  und  den  Kurator  der  Anstalt,  dann 
den  Studienplan  (vier  Semester!)  und  das  äußere  und  innere 
Leben   des  Lyzeums.    Von   akademischer  Freiheit   war   natürlich 


tSO  Notizen  und  Nachrichten. 

in  keinem  Sinne  die  Rede.  Der  bedeutendste  unter  den  Pro- 
fessoren war  der  nachmalige  Heidelberger  Historiker  Schlosser, 
der  später  hervorragendste  Student  J.  F.  Böhmer.  Wahl. 

Professor  Dr.  Franz  Müller,  Karl  Friedrich  v.  Cardeil,  ein 
Demminer  als  Königl.  Schwedischer  Generalfeldzeugmeister  etc. 
Demmin  1908.  77  S.  —  Die  kleine  Schrift  ist  in  äußerst  wunder- 
licher Weise  abgefaßt  und  handelt  außer  von  ihrem  Gegenstand 
auch  noch  von  sehr  vielen  anderen  Dingen,  aber  sie  zeugt  von 
starker  Begeisterung  für  ihren  Helden,  den  Reorganisator  der 
schwedischen  Artillerie  (1764 — 1B21),  und  vor  allem  für  seine  und 
des  Veriassers  Vaterstadt  Demmin.  WaM. 

Im  Anschluß  an  die  Memoiren  der  Comtesse  de  Boigne 
(H.  Z.  101,  S.  459)  und  andere  neue  Veröffentlichungen  handelt 
Marquis  Costa  de  Beauregard  über  le  manage  secret  de 
madame  la  duchesse  de  Berry  mit  dem  Marchese  Luchesi-Palli 
(Revue  des  Deux  Mondes,  15.  Juni). 

E.  Cartier  veröffentlicht  in  der  Revue  des  Deux  Mondes 
vom  1.  Juli  Briefe  aus  der  Correspondance  de  Guizot  avec 
L^once  de  Lavergne  (aus  den  Jahren  1838 — 1874)  seinem  politi- 
schen Gesinnungsgenossen  und  Freunde. 

Im  Augustheft  der  „Süddeutschen  Monatshefte*  publiziert 
Alfr.  Stern  „Aktenstücke  zur  Geschichte  der  Ausweisung  Hcr- 
weghs  aus  Zürich  1843*. 

Die  Fortsetzung  der  S.  460  erwähnten  Veröffentlichung  aus 
den  Briefen  von  und  an  Karl  Mathy  aus  dem  Frühling  1849 
(Deutsche  Revue,  Juliheft)  enthält  Korrespondenzen  von  Becke- 
rath,  Gagern,  Völderndori  und  Mohl  mit  Mathy  und  zwei  Briefe 
von  Charlotte  Duncker  an  Mathys  Frau. 

An  das  neue  wichtige  Buch  Friedjungs  über  die  Geschichte 
Österreichs  1841 — 1861  knüpfen  ausführliche  Besprechungen  an 
von  O.  Weber  in  den  Mitteilungen  des  Vereins  für  die  Ge- 
schichte der  Deutschen  in  Böhmen  1908  und  von  E.  Daniels 
in  den  Preußischen  Jahrbüchern,  Juni-  und  Juliheft  (Osterreich 
als  deutscher  Einheitsstaat  unter  der  Reaktion). 

Ober  „Bismarck  als  preußischen  Landtagsabgeordneten' 
handelt  in  Nr.  30  und  31  der  Grenzboten  Otto  Tschirch:  die 
Wahlen  in  Brandenburg-Zauche-Belzig  1849  im  Februar  und  Juli, 
mit  manchen  Einzelheiten  aus  den  Zeiten  der  Wahlbewegung  und 
Bismarcks  Beziehungen  zum  Kreise  bis  zum  Ende  seines  Man- 
dats 1852.  Über  „Bismarcks  Freundschaften*  stellt  H.  v.  Peter s- 
dorff  im  Augustheft  des  Türmers  eine  bunte  Menge  von  Nach- 


Neuere  Geschichte.  681 

richten  zusammen,  ohne  tiefer  auf  das  vielversprechende  Thema 
einzugehen. 

Unter  der  Oberschrift  „Bismarck  in  Frankfurt  a.  M."  ver- 
öffentlicht H.  v.  Poschinger  Auszüge  aus  Privatbriefen  Bis- 
marcks  an  den  Ministerpräsidenten  Otto  v.  Manteuffel  aus  den 
Jahren  1851-1858  (Deutsche  Revue,  Juliheft).  Der  gleichen  Quelle 
—  dem  Nachlaß  Manteuffels  —  entstammen  wohl  die  im  August- 
heft derselben  Revue  publizierten  Bruchstücke  „aus  der  unver- 
öffentlichten Korrespondenz  Kaiser  Wilhelms  I.^  (mit  Manteuffel, 
aus  dem  Jahre  1853). 

Zu  den  neuerdings  viel  erörterten  Anfängen  des  Bismarck- 
schen  Ministeriums  ist  auf  einen  Artikel  von  M.  Philippson 
»Wie  wurde  Bismarck  Minister?"  im  Feuilleton  der  Frankfurter 
Zeitung  Nr.  170,  1.  u.  4.  Blatt  vom  20.  Juni,  zu  verweisen. 

In  den  Mitteilungen  des  K.  u.  K.  Heeresmuseums  1907,  Heft  3 
hat  O.  Weber  mit  einer  orientierenden  Einleitung  „Erinne- 
rungen eines  österreichischen  Offiziers  aus  dem 
mexikanischen  Feldzuge  1864 — 1867"  veröffentlicht:  die  Aufzeich- 
nungen des  damaligen  Leutnants  Adolf  Stöhr,  der  als  Frei- 
williger Ende  1864  nach  Mexiko  kam,  1867  in  österreichische 
Dienste  zurücktrat.  Die  Niederschrift  der  „Erlebnisse"  ist  jeden- 
falls viel  späteren  Datums;  über  den  Zeitpunkt  ist  nichts  ver- 
merkt. 

Mit  Interesse,  aber  nicht  ohne  Kritik  wird  man  den  Aufsatz 
von  Germain  Bapst  über  „Die  Monarchen  in  Paris  im  Jahre 
1867  und  das  Attentat  Berezowskis"  aufnehmen.  Bapst  berichtet 
„nach  den  Papieren  und  Gesprächen  des  Marschalls  Canrobert'' 
(Deutsche  Revue,  Juli-  und  Augustheft). 

Die  1.  Juni-Nummer  der  Revue  des  Deux  Mondes  setzt  die 
Veröffentlichungen  aus  E.  Olliviers  VEmpire  liberal,  deren 
zuletzt  S.  461  gedacht  ist,  fort:  la  polUique  exUrieure  aprks  le 
pUhiscite;  der  Artikel  umfaßt  die  Zeit  bis  zu  den  letzten  Juni- 
tagen. 

Weitere  Mitteilungen  aus  den  „Tagebuchaufzeichnungen' 
von  Baron  Gramm  bringen  Schilderungen  über  das  Leben  im 
Bunsenschen  Hause  in  Heidelberg  1855—1866,  über  einen  Besuch 
bei  Garibaldi  1876,  eine  Audienz  Pius'  IX.  1877  und  eine  Unter- 
redung mit  Canovas  del  Castillo  und  Alfons  XII.  in  Madrid  1878 
(Deutsche  Revue,  Augustheft). 

Aus  ^La  Revue''  notieren  wir  einen  Aufsatz  von  P.  de  Fres- 
sens^:  L'Angleterre  pendant  la  guerre  de  1870  und  von  dem 
Historiiche  Zeitschrift  (tOl.  Bd.)  a.  Folge  5.  Bd.  44 


6B2  Notizen  und  Nachrichten. 

bekannten  Politiker  v.  Koscielski  einen  Artikel:  la  question 
polonaise  en  Prusse,  der  zugleich  in  der  Contemporary  Review 
vom  Juli  erschienen  ist  (Ihe  poliah  question  in  Prussia),  für  den 
Historiker  von  Wichtigkeit  nicht  als  wissenschaftliches,  sondern 
politisches  Dokument,  vgL  dazu  Ostmark,  Augustheft  und  im 
allgemeinen  H.  Z.  101,  S.  462. 

In  der  Nouvelle  Revue  vom  1.  Juni  finden  wir  einen  Artikel 
von  Bern  US,  Les  relations  anglo-aUemandes  ä  la  fin  du 
X!X^  sUcU  und  in  der  Revue  de  Paris  vom  1.  Juli  von  B6rard, 
L'ctuvre  d'tdouard  V!L 

Martin  Spahn  hat  sich,  wie  es  scheint,  ganz  auf  die  Be- 
schäftigung mit  der  Geschichte  der  politischen  Parteien  Deutsch- 
lands in  den  letzten  Jahrzehnten  verlegt  (vgl.  H.  Z.  101,  S.  225; 
99,  S.  687).  Aus  solchen  Studien  ist  vermutlich  der  Aufsatz  im 
Augustheft  des  Hochland  über  .Die  christlich-soziale  Partei  der 
Deutschen  Österreichs*  erwachsen.  Nach  Spahn  ist  diese  Partei 
„in  trefflicher  Verwirklichung  das,  was  das  deutsche  Zentrum 
sein  möchte,  eine  große  christlich-deutsche  Reichspartei',  Lueger 
„der  berühmteste  und  bedeutendste  Mann  unter  allen  Oster- 
reichem'.    Der  ganze  Artikel  ist  stark  panegyrisch  gehalten. 

Paul  Matter  bespricht  in  der  Rev.  de  Synth,  hist.  16, 1  unter 
dem  Titel  ,L'Allemagne  de  1815  ä  1890'  alle  wichtigeren,  diesem 
Zeitraum  geltenden  Werke  der  letzten  zehn  Jahre. 

Neue  Bficher:  Pirez  de  Guzmdn  y  Gallo,  Estudios  dela 
vida,  reinado,  proscripMn  y  muerte  de  Carlos  IV  y  Maria  Luisa 
de  Borbön,  reyes  de  Espana.  (Madrid,  Impr.  de  Rat^s  Martin. 
4  Pes.)  —  Gontier,  Les  assembl^s  parlementaires  Institutes  par 
Necker  et  le  mouvement  r^formateur.  (Paris,  Larose  et  Tenin.)  — 
Braesch,  Rapport  adressi  ä  M.  le  Ministre  de  V Instruction  pu- 
blique sur  les  documents  relatifs  ä  la  Revolution  franpaise  ä  Paris, 
conserv^s  au  British  Museum  ä  Londres.  (Paris,  Impr.  nationale.) 
—  Departement  du  Card.  Cahiers  de  doUances  de  la  sinächaussie 
de  Ntmes  pour  les  itats  giniraux  de  1789,  publiäs  par  E.  Bligny- 
Bondurand.  T.  1^.  (Ntmes,  Impr.  Chastanier.)  —  Actes  de  la 
Commune  de  Paris  pendant  la  Revolution,  publiäs  et  annotäs 
par  Sigism.  Lacroix.  2t  sirie  (du  9  octobre  1790  au  10  aoAt  1792). 
T.  1—5.  (Paris,  Noblet.)  —  La  Correspondance  de  Marat,  re- 
cueillie  et  annoUe  par  Ch.  Vellay.  (Paris,  Fasquelle.  3J50  fr.)  — 
Les  Neuf  et  Dix  Thermidor,  an  II  de  la  Ripublique  (27  et  28juillet 
1794).  Pikees  commSmoratives  et  documents  däcrits  par  A.  Marty. 
^ Paris,  Marty.)  —  Gachot,  Histoire  militaire  de  Mass/na.    Le 


Neuere  Geschichte.  683 

SUge  de  Gines  (1800);  la  Guerre  dans  l' Apennin;  Journal  du 
blocus;  les  Operations  de  Sachet.  (Paris,  Plön,  Nourrit  ^  Cie. 
7,50  fr.)  —  Wygodzinskiy  Wandlungen  der  deutschen  Volks- 
wirtschaft im  19.  Jahrhundert.  (Köln,  M.  Du  Mont-Schauberg.  3  M.) 

—  Lampson,  A  consideration  of  the  State  of  Ireland  in  the 
nineteenth  Century,  (London,  Constable.  18  sh.)  —  Leplus,  La 
campagne  de  1900  ä  l'arm/e  des  Grisons,  (Paris,  Chapelot,)  — 
Before  and  after  Waterloo:  Letters  front  Edward  Stanley,  some- 
time  bishop  of  Norwich,  1802,  1814,  1816.  (London,  Unwin.  14  sh.) 

. —  Masson,  Le  Sacre  et  le  Couronnement  de  Napoleon.  (Paris, 
Ollendorf  f.  7,50  fr.)  —  Guerrini,  La  campagna  napoleonica 
del  1805.   Vol.  II:  la  manovra  d'Ulm.    (Torino,  Tip.  Olivero  e  C.) 

—  Chlapowski,  M^moires  sur  les  guerres  de  NapoUon  (1806 
ä  1813);  traduits  par  J.  V.  Chelminski  et  A.  Malibran.  (Paris, 
Plön,  Nourrit  A  Cie.)  —  Sauzey,  Les  Allemands  sous  les  aigles 
franfaises,  essai  sur  les  troupes  de  la  Confiddration  du  Rhin 
(1806—1813).  IV.  (Paris,  Chapelot.)  —  Gigais ki,  Die  wichtigsten 
Schlachten  des  Krieges  zwischen  Preußen  und  Frankreich  im 
Kriege  1806/07  im  Zusammenhang  mit  den  vorhergehenden  und 
den  nachfolgenden  Ereignissen.  (Braunsberg,  Grimme.  1  M.)  — 
Correspondance  du  comte  de  La  Forest,  ambassadeur  de  France 
en  Espagne  (1808—1813),  publice  par  G.  de  Grandmaison.  T.  II. 
(Paris,  Picard  et  fils.  8  fr.)  —  Pratt,  The  Waterloo  campaign. 
(London,  Sonnenschein.  5  sh.)  —  Comte  de  Las  Cases,  Mi- 
moires  de  NapoUon  /«♦'  (le  ^Mimorial  de  Sainte-HiUne" ).  T.  II. 
(Paris,  Cocuaud  A  Cie.)  —  v.  H  eifert,  Zur  Geschichte  des 
Lombardo-venezianischen  Königreichs.  (Wien,  Holder.  8,80  M.)  — 
Festy,  Le  mouvement  ouvrier  au  ddbut  de  la  monarchie  de  Juillet 
(1830—1834).  (Paris,  Corndly.)  —  Mdmoires  de^  la  comtesse  de 
Boigne,  nie  d'Osmond ,  publUs  par  Charles  Nicoullaud.  IV. 
1831—1866.  (Paris,  Plön,  Nourrit  A  Cie.)  —  Whi taker,  Sicily 
and  England:  Political  and  social  reminiscences ,  1848—1870. 
(London,  Constable.  10,6  sh.)  —  Parent,  La  crise  politique  et 
budgitaire  prussienne  de  1862  ä  1866.  (Paris,  A.  Rousseau.)  — 
Nirrnheim,  Das  erste  Jahr  des  Ministeriums  Bismarck  und  die 
öffentliche  Meinung.  (Heidelberg,  Winter.  16  M.)—  de  Marcire, 
Histoire  de  la  Ripublique  de  1876  ä  1879.  Premiire  partie.  (Paris, 
Plön,  Nourrit  ^  Cie.)  —  N^djmidin,  Völkerrechtliche  Entwick- 
lung Bulgariens  seit  dem  Berliner  Vertrage  von  1878  bis  zur 
Gegenwart.  (Bonn,  Georgi.  3  M.)  —  Stil  lieh.  Die  politischen 
Parteien  in  Deutschland.  1.  Bd.  Die  Konservativen.  (Leipzig, 
Klinkhardt.  5  M.)  —  Sergeant,  The  last  empress  of  the  French. 
Being  the  life  of  the  empress  Eugenie,  wife  of  Napoleon  lll.  (Lon- 

44» 


684  Notizen  und  Nachrichten. 

don,  Laurie,  12,6  sh,)  —  Marcuse,  Serbien  und  die  Revolutions- 
bewegung in  Makedonien.  (Berlin,  Kraus.  3  M.)  —  Coolidge» 
Die  Vereinigten  Staaten  als  Weltmacht  Obers,  von  Walt  Lich- 
tenstein.   (Berlin,  Mittler  t  Sohn.    6  M.) 

Deutsche  Landschaften. 

Aus  der  Zeitschrift  t  d.  Gesch.  d.  Oberrheins  N.  F.  23,  3 
erwähnen  wir  an  dieser  Stelle  den  Beitrag  von  P.  Wentzcke: 
Zur  älteren  Geschichte  des  Augustinerstifts  Ittenweiler,  der  die 
Gründung  höher  hinaufrückt  und  ältere  Papstprivilegien  mitteilt, 
und  die  Zusammenstellung  der  badischen  Geschichtsliteratur  für 
das  Jahr  1907  durch  H.  Bai  er. 

In  der  Revue  d'Alsace  1908,  Juli-August  macht  A.  Gasser 
den  vergeblichen  Versuch,  den  von  H.  Bloch  im  ersten  Halbband 
der  Regesten  der  Bischöfe  von  Straßburg  erbrachten  Nachweis, 
dafi  Grandidier  als  der  Fälscher  der  Annales  breves  Argentinenses 
zu  betrachten  sei,  mit  Berufung  auf  den  moralischen  Charakter 
Grandidiers  zu  erschüttern.  —  Wir  erwähnen  weiterhin  noch  zwei 
Aufsätze  von  J.  Bourgeois  und  Ed.  Gasser:  jener  schildert 
die  Reise,  die  Ludwig  XIV.  im  Jahre  1673  von  Markirch  aus  ins 
Elsaß  unternahm ;  dieser  trägt  Quellenstoff  zur  Geschichte  des  in 
der  Revolutionszeit  untergegangenen  Klosters  Masmünster  zu- 
sammen, ohne  davon  Kenntnis  zu  haben,  dafi  die  von  ihm  abge- 
druckte Urkunde  von  823  eine  Fälschung  ist. 

Einen  hübschen  Beitrag  zur  Schulgeschichte  gibt  Heinrich 
Veil,  Das  Schulfest  des  Straßburger  Gymnasiums  im  18.  Jahr- 
hundert (Straßburg  i.  E.  1906.  Besondere  Beilage  zum  Jahres- 
bericht des  Protest  Gymnasiums  zu  Straßburg.  71  S.).  Einen 
Hauptbestandteil  der  Schulfeste  bildeten  die  Schülerdialoge,  von 
denen  VeHasser  eine  reichhaltige  handschriftliche  Sammlung  be- 
nutzen konnte.  Auch  auf  die  Beziehungen  des  Gymnasiums  zur 
Universität  fällt  dabei  manches  neue  Licht.  Das  enge  Band 
zwischen  Schule  und  Stadt  wurde  durch  die  Revolution  zerstört; 
doch  hat  der  protestantisch- kirchliche  Charakter  des  Gymnasiums^ 
den  die  französischen  Regierungen  anerkannten,  ihm  seine  innere 
Selbständigkeit  und  sein  deutsches  Wesen  gewahrt:  «dies  in  Er- 
innerung zu  bringen,  dürfte  heutzutage  nicht  unangezeigt  sein,, 
wo  der  Bestand  der  alten  Stiftung  von  St.  Thomas  und  die  Selb- 
ständigkeit des  Gymnasiums  neu  bedroht  erscheinen"  (nämlich 
durch  die  reichsländische  Regierung). 

Hermann  Flamms  Buch  „Der  wirtschaftliche  Niedergang 
Freiburgs  i.  Br.  und  die  Lage  des  städtischen  Grundeigentums  im 


Deutsche  Landschaften.  685 

14.  und  15.  Jahrhundert*  ( Volks wirtsch.  Abhandlgen.  d.  bad.  Hoch- 
schulen, Bd.  8,  Erg.-Bd.  3.  Karlsruhe,  Braun  1905)  bietet  einen 
wichtigen  Beitrag  nicht  nur  zur  Wirtschaftsgeschichte  Freiburgs, 
sondern  auch  zur  deutschen  Stadtgeschichte  Überhaupt  und  wird 
dadurch  besonders  interessant,  daß  sich  der  Verfasser  von  den 
Freiburger  Verhältnissen  aus  mit  wichtigen  neueren  Theorien  zur 
städtischen  Wirtschaftsentwicklung  auseinandersetzt.  Freiburg 
hatte  im  Jahre  1385  9000—9500  Einwohner,  —  um  1500  dagegen 
5600 — 5800.  Dieser  Niedergang  war  von  inneren  wirtschaftlichen 
Wandlungen  begleitet:   Die  ehemalige  Kaufmannsstadt  wurde  ini 

15.  Jahrhundert  vorwiegend  Handwerkerstadt.  Damit  änderte  sich 
auch  ihr  wirtschaftspolitisches  System,  das  sich  aus  dem  einer 
freien  Verkehrswirtschaft  in  das  der  geschlossenen  Stadtwirtschaft 
umsetzte.  Diese  gilt  dem  Verfasser  zugleich  als  Niedergangs- 
erscheinung. Daneben  liegen  ihm  die  Ursachen  des  Verfalls  auch 
außerhalb  der  Stadt  und  sind  in  erster  Linie  in  dem  Erstarken 
der  Landeshoheit  zu  suchen,  die  zu  Ungunsten  der  alten,  bisher 
dominierenden  städtischen  Gemeinwesen  neue  bevorzugte  und 
förderte,  die  jene  überholten  und  ihnen  Stagnation  und  Rückgang 
bereiteten.  Gegen  Sombart  stellt  der  Verfasser  schließlich  fest, 
daß  das  Vermögen  der  Freiburger  Kaufleute  seit  dem  14.  Jahr- 
hundert nicht  aus  der  Steigerung  der  Grundrente,  die  ja  infolge 
des  Bevölkerungsrückganges  sank,  entstanden  ist,  sondern  sich 
auf  dem  Handelsgewinn  aufbaute.  /C. 

Zu  den  leider  noch  seltenen  Untersuchungen  über  die  Finanz- 
geschichte der  deutschen  Staaten  in  der  neueren  Zeit  wird  durch 
A.  J.  Fin eisen  „Die  Akzise  in  der  Kurpfalz"  (VolkswirtschaftL 
Abh.  d.  bad.  Hochschulen,  Bd.  9,  Heft  1.  Karlsruhe,  Braun  1906) 
eine  sehr  willkommene  Ergänzung  gefügt.  Die  Akzise  wurde  in- 
folge der  verheerenden  Wirkungen  des  Dreißigjährigen  Krieges 
im  Jahre  1664  durch  Karl  Ludwig  eingeführt  und  zwar  als -Ergän- 
zungssteuer zu  der  schon  früher  bestehenden  Vermögenssteuer 
(Schätzung),  zu  dem  ihr  wesensverwandten  Wein-  und  Bier- 
ungeld  und  zu  indirekten  Kriegssteuern.  Sie  war  zunächst  Ab- 
gabe von  ausländischen  Weinen,  Getreide,  Fleisch,  Papier  und 
Pergament,  wurde  im  Jahre  1668  auf  Wein,  der  den  Charakter 
der  Ware  hatte,  ausgedehnt  und  im  Jahre  1680  verdoppelt.  Johann 
Wilhelm  erweiterte  sie  1699  durch  größere  Differenzierung  und 
Vermehrung  der  Steuerobjekte  zu  einer  „Universalakzise"  und 
fügte  ihr  eine  drückende  Lizent  hinzu,  die  Karl  Philipp  jedoch 
im  Jahre  1717  wieder  aufhob.  Die  Akzisen,  unter  denen  die  auf 
Papier  eine  Sonderstellung  erhielt,  blieben  bis  1803  bestehen.  Die 
Untersuchung  enthält  neben  den  rein  steuergeschichtlichen  Tat- 


686  Notizen  und  Nachrichten. 

Sachen  auch  solche  zur  Verwaltungsgeschichte  und  zur  Geschichte 
der  wirtschaftlichen  Theorien  und  beseitigt  manche  Irrtümer,  die 
bisher  über  die  pfälzische  Finanzgeschichte  bestanden. 

Köln.  Bruno  Kuske. 

Aus  dem  Archiv  d.  histor.  Vereins  f.  Unteriranken  u.  Aschaffen- 
burg 49  verzeichnen  wir  die  Beiträge  zur  Geschichte  des  fränki- 
schen Geschlechts  von  Steinau  genannt  Steinrück,  die  besonders 
die  Zugehörigkeit  der  Familie  zum  Hochstift  Würzburg  und  ihren 
dort  gelegenen  Güterbesitz  berücksichtigen  (R.  v.  Steinau- 
S  t  e  i  n  r  ü  c  k),  die  Ausführungen  über  eine  humanistische  Lobrede 
(Peter  Luders?)  auf  den  späteren  Würzburger  Dompropst  Kiüan 
von  Bibra  (f  1494)  aus  dem  Anfang  der  50er  Jahre  (M.  Buchner) 
und  die  Bestandsübersicht  der  Rulandschen  Handschriftensamm- 
lungy  mit  der  vor  einem  Menschenalter  mancherlei  fränkische 
Archivalien  widerrechtlich  in  den  Besitz  der  vatikanischen  Biblio- 
thek gelangt  sind  (Th.  J.  Scherg). 

A.  Schröder  veranschaulicht  im  Jahrbuch  d.  histor.  Vereins 
Dillingen  20  die  Wirtschafts-  und  Veriassungsgeschichte  des  Hoch- 
stifts Augsburg  an  einer  im  Münchener  Reichsarchiv  bewahrten 
Statistik  des  Amtes  Oberdori,  die  von  dem  in  den  Jahren  1540 
bis  1571  dort  als  Vogt  schaltenden  Peter  Galsberg  hergestellt  ist. 

Das  ehemalige  Benediktiner-Adelsstift  Weifienohe  in  der 
Zeit  vom  Landshuter  Erbfolgekrieg  bis  zur  Wiedererrichtung 
(1504—1669)  nebst  einem  Anhang  über  die  Vorgeschichte  des 
Klosters.  Nach  archivalischen  Quellen  bearbeitet  von  Dr.  Hans 
R  ä  b  e  1.  Druck  von  J.  M.  Reindl  (Bamberger  Tagblctt-Veriag). 
Mit  Abbildungen  und  urkundlichen  Beilagen.  588  S.  Die  Geschichte 
der  oberpfälzischen  Klöster  hat  mit  Ausnahme  des  hervorragend- 
sten, der  Reichsabtei  Waldsassen,  in  der  Literatur  bisher  nur 
spärliche  Beachtung  gefunden.  Um  so  mehr  wird  man  die  mit 
gewissenhafter  Sorgfalt  unter  ausgiebiger  Benutzung  der  Archive 
von  Amberg,  Bamberg,  Nürnberg,  Eichstätt,  München  gearbeitete 
Schrift  Räbels  begrüßen,  die  .nur  hier  und  da  allzusehr  in  die 
Breite  geht.  Räbel  erbringt  den  Beweis  für  Scholliners  Ver- 
mutung, daß  das  an  der  alten  Handelsstraße  von  Forchheim  nach 
Regensburg  gelegene  Kloster  eine  Gründung  des  bayerischen 
Pfalzgrafen  Aribo  11.  (f  1002)  war,  und  macht  zugleich  wahr- 
scheinlich, wie  die  falsche  Klostertradition  entstehen  konnte, 
welche  die  Grafen  von  Hirschberg  als  Gründer  nennt.  Nach 
seiner  Annahme  war  Weißenohe  in  der  ältesten  Zeit  reichs- 
unmittelbar. Aber  das  Recht  der  freien  Vogtwahl  (S.  43)  kann 
das  nicht  beweisen.    Sonst  müßte  man  auch  Klöster  wie  Tegern- 


Deutsche  Landschaften.  687 

see,  Wessobrunn  (vgl.  Mon.  Boic,  VI,  178;  VII,  384)  als  reichs- 
unmittelbar betrachten.  Dann  unter  der  weltlichen  Hoheit  der 
Kurfürsten  von  der  Pfalz  stehend,  kam  das  Kloster,  das  nur 
Adelige  in  seinen  Konvent  aufnahm,  infolge  des  Landshuter  Erb- 
folgekrieges 1504  an  die  Reichsstadt  Nürnberg.  Ein  Versuch  des 
Abtes  Eucharius,  die  weltliche  Oberhoheit  dem  Bistum  Bamberg 
zu  verschaffen,  gab  Anlafi  zu  einem  durch  Jahrhunderte  sich  fort- 
ziehenden Jurisdiktionsstreite  zwischen  Bamberg  und  Nürnbergs 
Rechtsnachfolgern.  1521  fiel  Weißenohe  durch  einen  Vertrag  mit 
Nürnberg  an  die  Kurpfalz  zurück  und  unter  dem  Pfalzgrafen  Ott- 
heinrich teilte  es  das  Schicksal  aller  oberpfälzischen  Klöster,  in 
ein  weltliches  Klosteramt  umgewandelt  zu  werden.  Seit  1621 
wieder  unter  katholischer,  bayerischer  Herrschaft,  wurde  es  jedoch 
erst  1669  dem  Benediktinerorden  zurückgestellt.  Besonders  wert- 
voll sind  die  neuen  Aufschlüsse  über  diese  Restitution  des 
Klosters  im  Zusammenhang  mit  der  Wiedererrichtung  der  übrigen 
oberpfälzischen  Klöster  (6.  Kapitel).  Das  Schlußkapitel  behandelt 
den  (immer  sehr  niedrigen)  Personalstand  und  die  Erträgnisse 
des  Klosters,  seine  Amts-  und  Dienstverhältnisse,  seine  Unter- 
tanen und  Besitzungen,  Lehen-,  Steuer-,  Scharwerksverhältnisse, 
Armenwesen,  Gerichtsbarkeit,  Rechnungswesen,  Bibliothek  u.  a. 

R. 

Eine  Reihe  beachtenswerter  Abhandlungen  bietet  das  trierische 
Archiv,  Heft  12,  1908:  Bruno  Markgraf  erörtert  nach  den  Weis- 
tümem  der  Moselgegend  das  Güte-  (Sühne-  und  Schiedsgericht-) 
Veriahren.  —  Die  zahlreichen  Einzeluntersuchungen  über  die 
deutsche  Bauernbewegung  von  1525  ergänzt  P.  Hausteins  Ab- 
handlung ^Wirtschaftliche  Lage  und  soziale  Bewegungen  im  Kur- 
fürstentum Trier  während  des  Jahres  1525";  sie  schildert  1.  die 
Lage  der  Bauernschaft,  2.  des  niederen  Bürgerstandes,  3.  die  Un- 
ruhen des  Jahres  1525,  die  in  Trier  nur  mäßige  Ausdehnung 
hatten  und  schon  im  Keime  vom  Kurfürsten  mühelos  unterdrückt 
werden  konnten.  —  Eine  bisher  nicht  verwertete  Urkunde  des 
Jahres  1351  zur  Geschichte  der  Trierer  Hausgenossen  veröffent- 
licht G.  Kentenich.  Nach  seiner  Ansicht  sind  die  Haus- 
genossen, ursprünglich  Ministerialen  des  Erzbischofs,  bereits 
während  des  12.  Jahrhunderts  aus  Beamten  freie  Gewerbetrei- 
bende geworden. 

Von  H.  Pesch,  Bürger  und  Bürgerrecht  in  Köln,  Diss^ 
Marburg  1908,  wird  die  Entwicklung  des  Bürgerrechtes  als  Grund- 
lage der  neuen  VeHassung  vom  »Verbundbrief*  des  Jahres  1396 
(U.September)  bis  etwa  1797  dargestellt. 


688  Notizen  und  Nachrichten. 

Unter  dem  Titel  „Anfänge  des  landesherrlichen  Kirchen- 
regiments  am  Niederrhein'' referiert  J.  Hashagen  in  den  Monats- 
heften f.  rheinische  Kirchengesch.  (herausgeg.  v.  W.  Rotscheidt- 
Lehe)  Jahrg.  2,  1908  über  die  Ergebnisse  der  Redlichschen 
Publikation  „Jüüch-Bergische  Kirchenpolitik  am  Ausgange  des 
Mittelalters*.  Vgl.  die  ausführlichere  Besprechung  in  der  West- 
deutschen Zeitschr.  1907. 

Derselbe  Verfasser  ,,Zur  Geschichte  der  Presse  in  der  Reichs- 
stadt Köln",  in  d.  Ann.  d.  Hist.  Ver.  f.  d.  Niederrhein,  Heft  85, 
liefert  einen  wertvollen  Beitrag  zur  Geschichte  der  öffentlichen 
Meinung  am  Rhein,  indem  er  den  Einfluß  der  allgemeinen  Auf- 
klärungsbewegung auf  die  Kölner  Presse  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten des  alten  Reichs  an  ausgewählten  Journalen  festzustellen 
sucht. 

J.  Hashagen,  „Zeiten  der  Fremdherrschaft  in  Mühlheim 
a.  d.  Ruhr'  in  der  Denkschrift  zur  Hundertjahrfeier  der  Stadt 
Mühlheim  a.  d.  Ruhr  (Druck  von  Jul.  Bagel,  Mühlheim  1908)  ver- 
sucht ferner  darzulegen,  inwieweit  die  französische  Verwaltung 
(1806—1813)  fördernd  oder  schädigend  die  Entwicklung  der  Stadt 
Mühlheim  und  des  Großherzogtums  Berg  bestimmt  habe. 

Von  einer  umfassenden  für  die  „Abhandlungen  zur  Verkehrs- 
und Seegeschichte'  bestimmten  Arbeit  Beruh.  Hagedorns  „Ost- 
frieslands Handel  und  Schiffahrt  im  16.  Jahrhundert*  erscheint 
der  erste  Teil,  der  Handel  und  Schiffahrt  Ostfrieslands  zu  Beginn 
des  Jahrhunderts  darstellt,  soeben  (Juni  1908)  als  Berliner  Disser- 
tation. 

In  der  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  hessische  Gesch.  u.  Landeskunde, 
Bd.  41,  1908  handelt  Ad.  Henkel  über  die  Saline  Sooden  a.  d. 
Werra  unter  den  Landgrafen  Philipp  dem  Großmütigen  und  Wil- 
helm IV.  (1538—1586),  L.  Armbrust  über  Göttingens  Beziehungen 
zu  den  hessischen  Landgrafen  von  1328  —  1400,  die  Beteiligung 
der  Stadt  an  den  mainzischen  Kriegen  1400—1405  (mit  87  urkl. 
Beilagen  von  1339—1404),  v.  Dalwigk  über  den  Anteil  der 
Hessen  an  der  Schlacht  von  Hastenbeck  am  26.  Juli  1757,  F. 
Küch  über  Siegel  und  Wappen  der  Stadt  Kassel. 

Das  im  Juni  1907  gefeierte  Jubiläum  des  900jährigen  Be- 
stehens der  Stadt  Zerbst  —  zum  Jahr  1007  wird  Zerbst  zum 
erstenmal  vom  Chronisten  Tietmar  als  oppidum  bezeichnet  —  hat 
H.  Wäschke  Anlaß  gegeben,  die  Zerbster  Ratschronik  in  zwie- 
facher Gestalt,  im  Original  und  in  hochdeutscher  Obersetzong 
(Dessau,  C.  Dünnhaupt,  1907)  von  neuem  herauszugeben»    Heinr. 


Deutsche  Landschaften.  689 

Becker   verfaßte    als    Festschrift   eine    „Geschichte    der   Stadt 
Zerbst*  (Kommissionsverlag  von  Friedr.  Gast,  Zerbst  1907). 

P.  Wappler  schildert  in  den  Mitteil.  d.  Altertumsvereins  f. 
Zwickau  u.  Umgegend,  Heft  9,  1908  auf  Grund  eingehender  archi- 
valischer  Studien  im  Zwickauer  Ratsarchiv  und  im  Gesamtarchiv 
Weimars  die  gegen  Wiedertäufer  und  andere  Sektierer  in  Zwickau 
geführten  Inquisitions-  und  Ketzerprozesse  (1528  bis  etwa  1548), 
„im  Zusammenhange  mit  der  Entwicklung  der  Ansichten  Luthers 
und  Melanchthons  über  Glaubens-  und  Gewissensfreiheit'. 

Bd.  21  der  Forsch,  z.  brand.  u.  preuß.  Gesch.,  erste  Hälfte 
1908  wird  eröffnet  durch  eine  Untersuchung  W.  Füßleins  über 
die  Vormundschaft  für  Markgraf  Ludwig  d.  Alteren  (1323—1333); 
das  Ergebnis  hat  F.  am  Schluß  (S.  38)  zusammengefaßt.  —  Eine 
Ergänzung  zu  Br.  Hennigs  Kirchenpolitik  der  älteren  Hohenzollern 
bietet  M.  Gilows  Abhandlung  über  die  Dalminer  Fehde  von 
1444,  die  für  die  Geschichte  der  geistlichen  Gerichtsbarkeit  be- 
deutungsvoll, möglicherweise  der  unmittelbare  Anlaß  zur  ge- 
setzlichen Regelung  der  Streitigkeiten  auf  dem  mittelmärkischen 
Landtage  von  1445  gewesen  ist.  —  Aus  P.  Czygans  Feder 
stammt  der  Aufsatz  über  die  französische  Zensur  während  der 
Okkupation  von  Berlin  und  ihren  Leiter,  den  Prediger  Hauchecorne, 
in  den  Jahren  1806—1808.  —  Zum  Teil  auf  eben  veröffentlichtem 
Material  der  Acta  Borussica  baut  sich  die  ansprechende  Abhand- 
lung A.  Skalweits  auf  über  „König  Friedrich  den  Großen  und 
die  Verwaltung  Masurens^,  die  Pläne  des  großen  Königs  und 
seines  Vaters  zur  Errichtung  einer  eigenen  Verwaltung,  eines 
„besonderen  Deputationskollegiums''  für  Masuren.  Ist  hiermit 
eine  Art  Vorgeschichte  der  neuen  Aliensteiner  Regierung  gegeben, 
80  läßt  sich  auch  das  Projekt  zum  Bau  des  nunmehr  durch  Land- 
tagsbeschluß vom  6.  April  1908  gesicherten  masurischen  Kanals 
bis  in  die  Zeiten  Friedrichs  des  Großen  und  seines  Ministers 
Domhardt  zurückverfolgen.  —  Fei.  Stiller  schildert  die  Ent- 
wicklung des  Berliner  Armenwesens  bis  zum  Jahre  1820. 

Die  wichtigsten  Akten  des  bekannten  Prozesses  der  Stadt 
Kiel  gegen  den  preußischen  Fiskus,  vor  allem  drei  eingehende 
Gutachten  O.  Gierkes,  R.  Schröders,  C.  A.  Volquardsens,  die  beiden 
Urteile  erster  und  zweiter  Instanz  sind  in  den  Mitteilungen  der 
Ges.  f.  Kieler  Stadtgeschichte,  Heft  23,  1908  („Akten  zum  Hafen- 
prozeß der  Stadt  Kiel,  1899-1904«)  von  C.  Rodenberg  ver- 
öffentlicht worden.  Der  Anhang  enthält  zwei  Untersuchungen 
über  die  Echtheit  des  Kieler  Stadtprivilegs  vom  Jahre  1242 
(Rodenberg  und  G  und  lach). 


690  Notizen  und  Nachrichten. 

Ew.  Hörn,  „Die  katholisch-polnische  Universitätspolitik 
Preußens  vor  hundert  Jahren",  in  der  Zeitschr.  d.  Hist  Ges.  f.  d. 
Prov.  Posen,  Jahrg.  23,  erster  Halbbd.  1908  sucht  neues  Interesse 
zu  erwecken  fUr  einstmals  (zwischen  1793  und  1807)  lebhaft  ge- 
führte Verhandlungen  über  Gründung  neuer  Universitäten  in  den 
1793  bzw.  1795  erworbenen  polnischen  Provinzen  Südpreußen  und 
Neuostpreußen  zu  Thorn  bzw.  Culm,  Errichtung  katholisch-theo- 
logischer Lehrstühle  in  Frankfurt  und  Königsberg,  Pläne,  die  den 
Zweck  hatten,  die  südpreußischen  und  neuostpreußischen  Polen 
mit  Hilfe  eines  staatsfreundlich  erzogenen  Klerus  zu  entnationa- 
lisieren, die  aber  seit  Abtretung  der  Provinzen  im  Tilsiter  Frieden 
von  selbst  wegfielen.  Als  letzter  „Ausläufer'  jener  Bestrebungen 
erscheint  die  Gründung  der  katholisch-theologischen  Lehranstalt 
zu  Braunsberg  (1818). 

Th.  Wotschke  veröffentlicht  in  der  Altpreuß.  Monatsschrift, 
Bd.  45,  Heft  3,  1908  Briefe  Herzog  Albrechts  von  Preußen  an  den 
polnischen  Reformator  Johann  Laski. 

B.  Bretholz  hat  die  1907  eHolgte  Übersiedelung  des  seiner 
Leitung  anvertrauten  Archivs  In  neue,  vortrefflich  eingerichtete 
Räume  zum  Anlaß  genommen,  um  in  einer  schön  ausgestatteten 
Festschrift  das  mährische  Landesarchiv,  seine  Ge- 
schichte, seine  Bestände  zu  schildern  (Brunn  1906,  Verlag 
des  Landesausschusses,  161  u.  IX  S.  4^  15  Tafeln).  Der  Wert 
des  Buches  übertrifft  bei  weitem  die  Erwartungen,  die  man  an 
eine  Gelegenheitsschrift  zu  knüpfen  pflegt.  Die  beigefügten  Ur- 
kundenfaksimile und  die  farbig  wiedergegebenen  Miniaturen  ein- 
zelner Handschriften  dienen  nicht  bloß  dem  äußeren  Schmuck, 
sondern  sie  sind  dankenswerte  Hilfsmittel  für  diplomatische,  paläo- 
graphische  und  sphragistische  Studien.  Die  Obersicht  der  Archiv- 
bestände ist  ein  willkommener  Führer  für  Arbeiten  auf  dem  Ge- 
biet der  mährischen  Landesgeschichte  und  der  österreichischen 
Geschichte  überhaupt;  an  mehreren  Punkten,  besonders  in  der 
erst  1907  aus  Schloß  Pimitz  ins  Landesarchiv  übertragenen  fürst- 
lich Collaltoschen  Sammlung  ragt  der  Inhalt  des  Archivs  weit 
hinaus  über  das  provinziale  Interesse.  Ein  lehrreiches  und  trotz 
einzelner  Schatten  im  ganzen  sehr  erfreuliches  Bild  bietet  auch 
die  vorangestellte  Geschichte  des  Archivs.  Seitdem  1839  ein 
eigener  ständischer  Archivar  bestellt  wurde,  der  zugleich  die 
Würde  eines  Landeshistoriographen  innehatte,  sind  hier  archiva- 
lische  und  historiographische  Pflichten  in  eigentümlicher  Weise 
verknüpft  gewesen.  Die  Fülle  der  Aufgaben,  welche  infolgedessen 
auf  dem  jeweiligen  Archivar  lasteten,  hat   die  Einhaltung  fester 


Deutsche  Landschaften.  691 

Tradition  vielleicht  etwas  erschwert,  aber  sie  hat  auch  vor  Ein- 
seitigkeit bewahrt  und  der  Wissenschaft  große  Dienste  geleistet. 
Möchte  der  mährische  Landesausschuß,  dem  die  Kreise  der 
Historiker  für  Herausgabe  dieses  Werkes  und  für  so  viele  der 
Anstalt  gebrachte  Opfer  zu  wärmstem  Dank  verpflichtet  sind, 
glücklich  auf  dieser  Bahn  fortfahren  und  auch  durch  Bereitstel- 
lung etwas  zahlreicherer  geschulter  Arbeitskräfte  die  gleichmäßige 
Pflege  der  verschiedenen  bisher  so  rühmlich  eingeschlagenen 
Richtungen  dauernd  sicherstellen.  E, 

Durch  die  erstmalige  wissenschaftliche  Verarbeitung  eines 
schwer  zu  sichtenden,  ungefügen  Stoffes  hat  Max  Vancsa  sich 
ein  dankbar  anzuerkennendes  Verdienst  erworben.  Der  erste 
Band  seiner  ^^GeschichteNieder-undOberösterreichs* 
(Allgemeine  Staatengeschichte.  Dritte  Abteilung:  Deutsche  Landes- 
geschichten. Sechstes  Werk.  Gotha  1905.  F.  A.  Perthes.  12  M.) 
bietet  nach  dem  seinerzeit  von  Riezler  in  der  Geschichte  Bayerns 
aufgestellten  Muster  eine  gut  lesbare  Darstellung  der  Entwicklung 
der  beiden  Kronländer  bis  zur  Begründung  der  Habsburgischen 
Herrschaft.  Zum  Teile  in  der  Eigenart  des  Stoffes  und  der  bisher 
geleisteten  Vorarbeit  ist  es  begründet,  daß  Vancsas  Vorhaben 
trotz  des  aufgewandten  Fleißes  nicht  vollkommen  gelungen  ist, 
gegen  die  Anlage  im  allgemeinen,  die  Behandlung  im  einzelnen 
Widerspruch  und  Bedenken  erhoben  werden  können,  die  ich  in 
einer  ausführlichen  Besprechung  (Gott.  Gel.  Anz.  1908,  287—310) 
zu  begründen  versucht  habe. 

Graz.  Karl  Uhlirz. 

In  den  Forsch,  u.  Mitt.  z.  Gesch.  Tirols  und  Vorarlbergs, 
Jahrg.  5,  Heft  2,  1908  stellt  Fl.  Heinr.  Haug  das  Itinerar  Lud- 
wigs V.  des  Brandenburgers  zusammen  (1323—1361).  Herm.  J. 
Schwarzweber  beginnt  ebendaselbst  eine  Untersuchung  über 
„Die  Landstände  Vorderösterreichs  im  15.  Jahrhundert''  (Entstehung 
des  Territoriums  und  Bedeutung  des  Namens  ^Vorderösterreich"). 

L.  Arbusow,  Grundriß  der  Geschichte  von  Liv-,  Est-  und 
Kurland.  3.  umgearb.  Aufl.  Riga,  Jonck  Ä  Poliewsky.  1908.  291  S.)  — 
Der  seit  einiger  Zeit  vergriffen  gewesene  vortreffliche  Grundriß 
liegt  jetzt  etwas  erweitert  in  3.  Auflage  vor.  Er  gibt  eine  objek- 
tive, etwas  trockene  Erzählung  der  Tatsachen,  ohne  zuviel  Detail, 
zuverlässig,  klar  und  ausreichend  orientierend.  Die  ausführliche 
Schilderung  geht  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  ein  knappes 
Schlußkapitel  führt  dann  bis  zum  Beginn  der  Russifikationszeit, 
ohne  diese  selbst  und  die  Revolution  der  letzten  Jahre  zu  er- 
zählen.   Sehr  wertvoll  und  angenehm  sind  die  Kapitel  14, 28  und 


692  Notizen  und  Nachrichten. 

37,  die  zusammen  eine  brauchbare  Quellenkunde  geben,  und  die 
Beilagen  am  Schluß:  eine  Karte,  die  synchronistische  Regenten-> 
Übersicht  und  die  Verzeichnisse  der  Hochmeister,  livländischen 
Ordensmeister  und  Bischöfe.  Eine  ganz  kurze  Obersicht  der  bal- 
tischen Geschichte  hat  derselbe  Verfasser  soeben  gegeben  in  der 
sehr  empfehlenswerten  und  wohlgelungenen  Baltischen  Bür- 
gerkunde. Versuch  einer  gemeinverständlichen  Darstellung 
der  Grundlagen  des  politischen  und  sozialen  Lebens  in  den  Ost- 
seeprovinzen Rußlands  (I.Teil.  Riga,  G.Löffler  1908).  S.  127— 156. 

O.  //. 
Neue  Bücher:  Heilmann,  Die  Klostervogtei  im  rechts- 
rheinischen Teil  der  Diözese  Konstanz  bis  zur  Mitte  des  13.  Jahr- 
hunderts. (Köln,  Bachern.  3,20  M.)  —  Sifferlen,  Das  Sankt- 
Amarintal.  Geschichtliche  Notizen.  Deutsch  von  Fr.-A.  Schaller. 
1.  Buch.  (Straßburg,  Le  Roux  t  Co.  1,20  M.)  —  Des  Grafen 
Max.  Jos.  V.  Montgelas  Denkwürdigkeiten  über  die  innere 
Staatsverwaltung  Bayerns  (1799  —  1817).  Hrsg.  von  Laubmann 
und  DoeberL  (München,  Beck.  7  M.)  —  Lurz,  Mittelschul- 
geschichtliche Dokumente  Altbayerns.  2.  Bd.  (Berlin,  Hofmann 
^  Co.  16  M.)  —  Hibler,  Geschichte  des  oberen  Loisachtales 
und  der  Grafschaft  Werdenfels.  (Regensburg,  Verlagsanstalt. 
3,60  M.)  —  Scheglmann,  Geschichte  der  Säkularisation  im 
rechtsrheinischen  Bayern.  3.  Bd.  Die  Säkularisation  in  den  1803 
definitiv  bayerisch  gewesenen  oder  gewordenen  Gebieten.  2.  Tl. 
(Regensburg,  Habbel.  8M.)  —  Goepfert,  Amt  Wallburg  und  Stadt 
Eltmann.  (Würzburg,  Bauch.  3  M.)  —  Ahrens,  Die  Ministeria- 
lität  in  Köln  und  am  Niederrhein.  (Leipzig,  Quelle  ^  Meyer. 
3,50  M.)  —  Inventare  der  nichtstaatlichen  Archive  der  Provinz 
Westfalen.  1.  Bd.  Reg.-Bez.  Münster.  Heft  4  a.  Kreis  Coesfeld 
(Nachträge).  Bearb.  von  Schmitz-Kallenberg.  (Münster, 
Aschendorff.  2  M.)  —  Weddigen,  Neues  und  Altes  von  der 
,,roten  Erde".  Forschungen  zur  Geschichte  und  Kulturgeschichte 
Westfalens  und  der  lippeschen  Lande.  (Duisburg,  Ewich.  2,50  M.) 
—  Nehlsen,  Geschichte  von  Dithmarschen.  (Tübingen,  Laupp. 
2,80  M.)  —  Ribes,  La  cour  impMale  de  Hambourg  (1811—1814), 
(Paris,  Giard  &  Brikre,)  —  Grote-Ebstorf,  Beiträge  zur  Ge- 
schichte der  Elbinseln  vor  Hamburg.  (Wilhelmsburg  bei  Ham- 
burg, Veith.  1,50  M.)  —  Loewe,  Bibliographie  der  hannover- 
schen und  braunschweigischen  Geschichte.  (Posen,  Jolowicz. 
15  M.)  —  Berth.  Schmidt  und  Böhme,  Geschichte  der  Stadt 
Schieiz.  1.  Bd.  (Schleiz,  Lämmel.  4  M.)  —  Treblin,  Beiträge 
zur  Siedlungskunde  im  ehemaligen  Fürstentum  Schweidnitz. 
(Breslau,  Wohlfarth.    4M.)   —    Krische,    Die    Provinz   Posen. 


Vermischtes.  693 

Ihre  Geschichte  und  Kultur  unter  besonderer  Berücksichtigung 
ihrer  Landwirtschaft.  (Staßlurt,  Weicke.  3,50  M.)  —  Urkunden- 
buch  der  Stadt  Krummau  in  Böhmen.  Bearb.  von  Valent.  Schmidt 
und  AI.  P i c h a.  1 . Bd. (Prag,  Cal ve.  lOM.)  —  Pöpperl, Geschichte 
des  Niederlagsrechtes  von  Freistadt  in  Oberösterreich  während 
des  Mittelalters.  (Außig,  Grohmann.  1,50  M.)  —  Acta  Tirolensia. 
3.  Bd.  Quellen  zur  Geschichte  des  Bauernkrieges  in  Deutsch- 
tirol 1525.  1.  Tl.  Beschwerdeartikel  aus  den  Jahren  1519—1525. 
Hrsg.  von  Wopfner.    (Innsbruck,  Wagner.    10  M.) 

Vermischtes. 

Vom  6.-12.  August  hat  in  Berlin  der  Internationale 
Kongreß  für  historische  Wissenschaften  getagt.  Die 
Veranstaltung  war  durch  ein  Komitee  unter  dem  Vorsitze  der 
Herren  Koser,  Ed.  Meyer  und  v.  Wilamowitz-Möllendorff  vortreff- 
lich vorbereitet;  die  Bureaus,  die  Auskunftserteilung  und  die  Be- 
richterstattung funktionierten  in  ausgezeichneter  Weise.  Und  doch 
brachte  der  Verlauf  nicht  wenige  0  berraschungen.  Das  Komitee 
hatte  auf  eine  Beteiligung  von  3000  Mitgliedern  gerechnet;  die 
Gesamtzahl  stieg  nur  auf  1200.  Auch  solche,  die  Vorträge  an- 
gemeldet hatten,  blieben  aus,  fortwährend  mußte  am  Programm 
geändert  werden,  für  die  Leitung  eine  harte  Geduldsprobe.  Vom 
Auslande  waren  besonders  England,  Skandinavien,  die  Nieder- 
lande und  Rußland,  auch  die  Vereinigten  Staaten,  Italien  und 
Griechenland  gut  vertreten.  Die  Mitglieder  der  europäischen 
Missionen  in  Ägypten  waren  fast  vollzählig  erschienen.  Dagegen 
von  den  wenigen  Franzosen  aus  Frankreich  selbst,  die  sich  an- 
gemeldet hatten,  blieb  die  Hälfte  aus,  und  aus  dem  Deutschen 
Reiche,  aus  Osterreich  und  der  Schweiz  waren  bei  weitem  nicht 
so  viele  Teilnehmer  erschienen,  als  man  nach  dem  Besuche 
unserer  Historikertage  und  der  Versammlungen  des  Gesamtvereins 
zu  erwarten  berechtigt  war.  Den  Ausländern  gegenüber,  die  auf 
das  Zusammentreffen  mit  deutschen  Fachgenossen  gerechnet 
hatten,  war  man  zuweilen  in  peinlicher  Verlegenheit. 

Unter  den  mannigfachen  Abhaltungsgründen  hat  vermutlich 
auch  die  Annahme,  daß  auf  dem  internationalen  Kongreß  in 
wissenschaftlicher  Hinsicht  nicht  viel  zu  gewinnen  sei,  eine  Rolle 
gespielt.  Nach  dem  tatsächlichen  Ergebnis  kann  man  das  nur 
doppelt  bedauern:  es  ist  wohl  mancher,  der  nur  aus  Pflichtgefühl 
erschienen  war,  in  Berlin,  wie  Heigel  es  bei  der  Schlußfeier  in 
Hamburg  bekannte,  aus  einem  Saulus  ein  Paulus  geworden.  Der 
unleugbare  Erfolg  des  Kongresses  hing  allerdings  zum  Teil  wohl 


694  Notizen  und  Nachrichten. 

damit  zusammen,  daß  der  Maßstab  für  das  Ganze  zu  groß  ge- 
wählt worden  war  und  der  Verlauf  sich  deshalb  anders  gestaltete, 
als  beabsichtigt  gewesen  sein  mag. 

Indem  nämlich  die  Verhandlungen  auf  die  nach  Berliner  Be- 
griffen zwar  nahe  beieinander  gelegenen,  aber  doch  allzuweit  ge- 
trennten Räumen  des  Herrenhauses,  des  Hauses  der  Abgeord- 
neten, des  Kunstgewerbemuseums,  des  Museums  für  Völkerkunde, 
der  Philharmonie  und  des  Architektenhauses  verteilt  waren,  löste 
sich  der  allgemeine  Kongreß  von  selbst  In  eine  Reihe  wissen- 
schaftlicher Fachversammlungen  auf.  Die  verschiedenen  Sektionen 
kamen  deshalb  miteinander  nicht  recht  in  Berührung.  Dafür  ge- 
staltete sich  aber  die  wissenschaftliche  Tätigkeit  In  den  einzelnen 
Sektionen  um  so  intensiver:  man  sah,  man  hörte,  man  sprach 
sich  viel  ausgiebiger  und  gründlicher,  als  es  sonst  wohl  möglich 
gewesen  wäre. 

Alte  Bekannte,  die  Jahrzehnte  lang  einander  nicht  gesehen 
hatten,  schüttelten  sich  erfreut  die  Hand;  auf  denselben  Gebieten 
arbeitende  Fachgenossen,  die  längst  in  wissenschaftlichem  Aus- 
tausch oder  in  brieflichem  Verkehr  gestanden,  traten  sich  zum 
ersten  Male  Auge  In  Auge  gegenüber;  an  das  erste  flüchtige 
Kennenlernen  reihten  sich  eingehende  Aussprachen;  Verbindungen 
wurden  geknüpft,  die  sicherlich  von  Dauer  sein  werden.  Unter 
denen,  die  bis  zuletzt  aushielten,  herrschte  darüber  nur  eine 
Stimme  hoher  Befriedigung. 

Aber  auch  die  Verhandlungen  selbst  müssen  in  allen  Sek- 
tionen fruchtbar  gewesen  sein.  Wenigstens  wurde  von  den  ver- 
schiedensten Seiten  gerühmt,  wie  viel  Gutes  man  doch  gehört 
habe  und  wie  ertragreich  die  Diskussionen  gewesen  seien.  Ein 
die  Leistungen  abwägendes  oder  zusammenfassendes  Gesamturteil 
abzugeben,  wäre  freiüch  ebenso  unmögüch,  wie  eine  Aufzählung 
der  wissenschaftlichen  Ergebnisse  aus  den  Sektionsverhandlungen. 

Mit  feinem  Takt  war  dafür  gesorgt  worden,  daß  die  Aus- 
länder möglichst  ausgiebig,  in  den  allgemeinen  Sitzungen  aus- 
schließlich, zum  Worte  kamen.  In  manchen  Sektionen  hörte  man 
fast  mehr  englisch  und  italienisch  als  deutsch,  obwohl  ein  großer 
Teil  der  Ausländer  deutsch  vortrug.  Allgemein  fiel  es  auf,  wie 
viele  auswärtige  Mitglieder  des  Kongresses  die  deutsche  Sprache 
beherrschten.  Gleich  in  der  Eröffnungssitzung  zeigte  sich  das  in 
bemerkenswerter  Weise,  indem  der  Oxforder  Philologe  Reginald 
W.  Macon,  der  den  Kongreß  im  Namen  aller  auf  ihm  vertretener 
Universitäten  mit  einer  von  liebenswürdigem  Humor  gewürzten 
Ansprache  begrüßte,  mit  Goetheschen  Strophen  schloß,  und  der 
Botschafter  der  Vereinigten  Staaten  in  Berlin,  David  Jayne  Hill, 


Vermischtes.  695 

den  ersten  Vortrag  über  die  ethische  Aufgabe  des  Geschicht- 
schreibers in  deutscher  Sprache  hielt.  Von  den  zugelassenen 
Sprachen  fand  allein  das  Lateinische  keine  Verwendung. 

Die  Berliner  Gelehrten  betätigten  sich  in  der  vortrefflichen 
Leitung  des  Ganzen.  Vor  allem  war  aber  seitens  des  Organisa- 
tionskomitees dafür  gesorgt  worden,  daß  die  wissenschaftlichen 
Sammlungen  der  deutschen  Reichshauptstadt  durch  ihre  Direktoren 
und  Assistenten  den  auswärtigen  Kongreßmitgliedern  gezeigt  und 
erläutert  wurden.  Diese  meist  in  die  Nachmittagsstunden  ver- 
legten, höchst  instruktiven  Führungen  in  Museen,  Archiven,  Biblio- 
theken und  für  den  Kongreß  eigens  eingerichteten  Sonderausstel- 
lungen haben  dem  Berliner  Kongreß  ein  besonderes  Gepräge 
verliehen.*)  Die  geselligen  Veranstaltungen,  für  welche  ein  Lokal- 
komitee unter  Dr.  Schiffs  umsichtiger  Leitung  gesorgt  hatte,  ver- 
einigten die  sämtlichen  Kongreßmitglieder  immer  wieder  in  un- 
gezwungener Weise.  Auch  von  den  Berliner  Fachgenossen  und 
ihren  Damen  ist  das  Erdenkliche  geschehen,  um  den  auswärtigen 
Gästen  die  Kongreßtage  höchst  anregend  zu  gestalten.  Der  offi- 
zielle Empfang  seitens  der  Reichsregierung  und  der  Stadt  Berlin 
war  sehr  würdevoll  und  doch  nichts  weniger  als  steif,  und  die 
glänzende  Aufnahme  der  Mitglieder  des  Kongresses,  welche  die 
Fahrt  nach  Hamburg  mitmachten,  durch  den  Senat  und  die  Unter- 
richtsverwaltung der  Freien  und  Hanse-Stadt  sowie  durch  die 
Direktion  der  Hamburg-Amerika-Linie  bildete  einen  überaus  wirk- 
samen Abschluß  des  Ganzen. 

In  der  letzten  allgemeinen  Versammlung  wurde  eine  von 
Vertretern  der  englischen  Universitäten,  Akademien  und  wissen- 
schaftlichen Gesellschaften  unterzeichnete  Einladung  überreicht, 
den  nächsten  internationalen  Kongreß  in  England  abzuhalten. 
Sie  fand  namentlich  auch  auf  deutscher  Seite  freudige  Aufnahme, 
denn,  wie  Koser  in  seinen  Schlußworten  mit  Recht  hervorhob, 
das  Band  wissenschaftlicher  und  persönlicher  Beziehungen  zwischen 
den  Historikern  Großbritanniens  und  Deutschlands  ist  in  den 
Berliner  Kongreßtagen  sichtlich  verstärkt  worden,  und  gern  werden 
die  deutschen  Fachgenossen  die  von  England  aus  dem  Berliner 
Kongreß  erwiesene  hervorragende  Teilnahme  in  fünf  Jahren  dank- 
bar erwidern.  E,  F. 


^)  Der  praktische  und  inhaltreiche  Führer  durch  Berlin  und 
seine  wissenschaftlichen  Institute,  der  für  die  Teilnehmer  des 
Kongresses  ausgearbeitet  worden  ist,  ist  jetzt  auch  im  Buch- 
handel noch  zu  erhalten.  (Berlin,  W.  Weber.  Gebunden  mit 
Kartenmappe  2  M.) 


6%  Notizen  und  Nachrichten. 

Dem  Jahresbericht  über  die  Herausgabe  der  Monumenta 
Germaniae  historica,  den  K  o  s  e  r  der  34.  Plenarversammlung  der 
Zentraldirektion  vorgelegt  hat,  entnehmen  wir  folgendes.  In  der 
Abteilung  Scriptores  ist  der  Schluß  der  Chronik  des  Salimbene 
ed.  Holder-Egger  mit  Appendices  und  Registern,  aber  ohne 
die  Vorrede  und  den  Titel  (=  SS.  XXXU,  2),  in  der  Sammlung 
der  Scriptores  rerum  Qermanicarum  die  Ausgabe  der  sog.  Mar- 
bacher  und  anderer  elsässischer  Annalen  von  Bloch  erschienen 
(vgl.  H.  Z.  101,  198),  vom  Neuen  Archiv  32,  3  und  33,  1  und  2. 
Der  Druck  des  5.  Bandes  der  Scriptores  rerum  Merovingicarum 
(Kr u seh  und  Levison)  steht  beim  31.  Bogen.  Für  die  Scrip- 
tores rerum  Germanicarum  liegt  die  Chronik  des  Helmold  (be- 
arbeitet von  Schmeidler)  bis  auf  den  Schluß  des  Textes  im 
Manuskript  vor,  auch  die  von  Hofmeister  besorgte  Ausgabe  der 
Chronik  Ottos  von  Freising  ist  im  wesentlichen  abgeschlossen. 
In  derselben  Sammlung  wird  v.  Simson  die  Annales  Xantenses 
(790—870)  und  die  Annales  Vedastini  (St.  Vaast  zu  Arras,  874  bis 
900)  neu  herausgeben.  Der  Druck  des  Liber  certarum  historiarum 
Johanns  von  Victring  (ed.  Schneider)  ist  nur  bis  zum  8.  Bogen 
vorgeschritten,  während  Holder-Eggers  Ausgabe  der Cronica 
Alberti  de  Bezanis  im  Drucke  fast  vollendet  ist.  Die  Oktavaus- 
gaben der  Chronik  des  Cosmas  von  Prag  (Bretholz)  und  der 
Annales  Austritte  (Uhlirz)  stehen  noch  in  der  Vorbereitung. 
Der  Druck  der  fränkischen  Placita  (bearbeitet  von  Tan  gl)  be- 
ginnt soeben;  Krammers  Ausgabe  der  Lex  Salica  soll  noch  im 
laufenden  Jahre  unter  die  Presse  kommen.  Der  2.  Band  der 
fränkischen  Concilia  (ed.  We  r  m  i  n  g h  o  f  f)  ist  im  Druck  weit  vor- 
geschritten, doch  steht  der  Index  verborum  noch  aus.  Constitu- 
tiones  4,  2  (ed.  Schwalm)  ist  bis  zum  Bogen  161  gedruckt; 
nach  Abschluß  dieses  Bandes  soll  sofort  mit  der  Drucklegung  der 
Akten  Friedrichs  des  Schönen  und  Ludwigs  des  Bayern  (=  Con- 
stitutiones  5 — 7)  begonnen  werden.  Constitutiones  8  (den  1.  Teil 
der  Akten  Karls  IV.  enthaltend),  herausgegeben  von  Zeumer, 
wird  voraussichtlich  vor  Jahresschluß  zum  Druck  kommen.  Von 
den  politischen  Traktaten  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  wird  als 
erster  in  Kürze  die  Determinatio  compendiosa  de  iurisdictione 
imperii  ed.  K  r  a  m  m  e  r  in  den  Fontes  juris  Germanici  erscheinen ; 
den  Marsilius  von  Padua  wird  Prof.  Dr.  Otto  in  Hadamar  heraus- 
geben. Dr.  F.  Bilge  r  in  Heidelberg  ist  zur  Bearbeitung  der 
Hof-  und  Dienstrechte  des  11.  bis  13.  Jahrhunderts,  die  in  die  Fontes 
juris  Germanici  aufgenommen  werden  sollen,  gewonnen  worden. 
Diplomata  Bd.  4,  die  Urkunden  Konrads  II.  enthaltend,  ist  bis 
auf  die  Beilagen  und  Register  im  Drucke  vollendet  (herausgegeben 


Vermischtes.  697 

von  Breßlau  unter  Mitarbeit  von  Hessel  und  Wibel).  Der 
Druck  des  5.  Bandes  der  Diplomata  kann  bald  beginnen.  In  der 
Abteilung  Epistolae  mußte  die  für  1907  angekündigte  Drucklegung 
der  Briefe  des  Papstes  Nikolaus  1.  (bearbeitet  von  Pereis)  hinaus- 
geschoben werden.  Gymnasialdirektor  Dr.  Henze  in  Berlin  hat 
die  Bearbeitung  der  Briefe  Kaiser  Ludwigs  II.  übernommen.  In 
der  Abteilung  Antiquitates  ist  die  Ausgabe  des  Aldhelm  von  Sher- 
borne  (bearbeitet  von  Ehwald)  zum  großen  Teil  druckreif  her- 
gestellt. Die  Nekrologien  für  den  bayerischen  Teil  der  Passauer 
Diözese  hofft  Fastlinger  Ende  1908  in  Druck  geben  zu  können; 
die  des  östlichen  Teiles  dieser  Diözese  hat  an  Fastlingers  Stelle 
Pfarrer  Dr.  Fuchs  O.  S.  B.  in  Brunnkirchen  (Niederösterreich)  zu 
bearbeiten  begonnen.  In  die  zwei  neu  errichteten  Assistenten- 
steilen  sind  M.  Krammer  und  E.  Caspar  eingetreten. 

Die  Mitteilungen  der  Württembergischen  Kommission 
für  Landesgeschichte  enthalten  den  Bericht  über  die  dies- 
jährige Sitzung  der  Kommission  (Stuttgart,  14.  Mai).  Im  Jahre 
1907  sind  außer  den  Württembergischen  Vierteljahrsheften  ver- 
öffentlicht worden:  Binder,  Württembergische  Münz-  und  Me- 
daillenkunde, Heft  5,  bearbeitet  von  Ebner;  Briefwechsel  des 
Herzogs  Christoph  von  Württemberg,  Bd.  4  (1556—1559),  bearbeitet 
von  Ernst;  Heyd,  Bibliographie  der  württembergischen  Geschichte 
4,  1,  bearbeitet  von  Schön;  Denk,  Inventar  des  Finanzarchivs 
(Rentkammer).  Die  Berichte  der  Kreispfleger  zeigen,  daß  die 
Ordnung  und  Inventarisierung  der  Archive  und  Registraturen 
eifrig  gefördert  worden  und  in  einzelnen  Bezirken  dem  Abschluß 
nahe  gerückt  ist.  Professor  Fuchs  in  Tübingen  (bisher  in  Frei- 
burg) ist  zum  ordentlichen  Mitglied  der  Kommission  ernannt 
worden. 

Der  noch  in  den  Anfängen  stehende  Verein  zur  Heraus- 
gabe eines  historis-chen  Atlasses  von  Bayern  hat, 
dem  Jahresbericht  für  1907  zufolge,  seine  wissenschaftliche  Tätig- 
keit mit  umfassenden  Vorarbeiten  für  die  Territorienkarte  von 
1802  begonnen.  An  diesen  Arbeiten  sind  beteiligt:  Dr.  Buchner, 
der  an  die  Stelle  des  im  Berichtsjahre  ausgeschiedenen  ständigen 
Mitarbeiters  Dr.  Hausenstein  getreten  ist,  Dr.  joetze,  Frei- 
herr V.  Karg-Bebenburg  und  Dr.  Knöpf  1er.  Der  wünschens- 
werten Erweiterung  des  Mitarbeiterkreises  „steht  die  Finanzlage 
des  Vereins  noch  immer  hindernd  entgegen*,  obwohl  jetzt  neben 
der  Mehrzahl  der  ehemaligen  Reichsstädte  immerhin  auch  ein 
großer  Teil  der  Geschichtsvereine  Bayerns  dem  Verein  beige- 
treten ist. 

Historische  Zeitschrift  (101.  Bd.)  3.  Folge  S.  Bd.  45 


698  Notizen  und  Nachrichten. 

Die  Gesellschaft  für  fränkische  Geschichte  ver- 
sendet ihren  3.  Jahresbericht  (über  das  Jahr  1907),  in  dem  auch 
die  Gründungsdenkschrift  und  die  Satzungen  enthalten  sind.  In 
den  Vorstand  ist  an  Festers  Stelle  Elias  Steinmeyer  eingetreten. 
Als  erste  größere  Veröffentlichung  ist  die  von  Chroust  nach 
einem  Manuskript  Th.  Knochenhauers  bearbeitete  „Chronik  des 
Bamberger  Immunitätenstreites  von  1430— 1435*^  (=  Chroniken 
der  Stadt  Bamberg  1)  ausgegeben  worden,  als  3.  Neujahrsblatt: 
G.  Schrötter,  Die  Nürnberger  Malerakademie  und  Zeichen- 
schule, im  Zusammenhang  mit  dem  Kunstleben  der  Reichsstadt 
von  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  bis  1821,  nach  literarischen 
und  archivalischen  Quellen  dargestellt.  Von  der  Bibliographie 
der  fränkischen  Geschichte  ist  die  das  Hochstift  Würzburg  be- 
treffende Abteilung  im  wesentlichen  abgeschlossen.  Für  die  Aus- 
gabe der  Akten  des  fränkischen  Kreises  (bis  1559),  die  F.  Här- 
tung vorbereitet,  ist  jetzt  das  Material  zum  größten  Teil  zusam- 
mengebracht; der  Beginn  des  Druckes  ist  für  das  nächste  Jahr 
zu  erwarten.  Die  von  Steinmeyer  bearbeitete  Matrikel  der 
Universität  Altdorf,  die  auf  zwei  Bände  berechnet  ist,  soll  noch 
in  diesem  Jahre  zum  Drucke  kommen.  Die  übrigen  Unterneh- 
mungen (Fränkische  Chroniken  2;  Würzburger  Matrikel;  Fränki- 
sche Weistümer  und  Doriordnungen ;  Urkundenbuch  des  Bene- 
diktinerklosters S.  Stephan  in  Würzburg;  Repertorisierung  der 
evangelischen  und  der  katholischen  Pfarrarchive)  sind  im  Fort- 
schreiten, aber  noch  nicht  dem  Abschluß  nahe. 

Die  34.  Sitzung  der  Historischen  Kommission  für 
die  Provinz  Sachsen  und  das  Herzogtum  Anhalt  hat 
am  16.  und  17.  Mai  1908  unter  dem  Vorsitz  Lindners  zu  Mühl- 
hausen i.  Thür.  stattgefunden.  Die  Vorarbeiten  für  eine  Ausgabe 
von  Quellen  zur  städtischen  Verfassungs-,  Verwaltungs-  und  Wirt- 
schaftsgeschichte, über  die  Prof.  Held  mann  berichtete,  sind  ge- 
fördert worden.  In  der  Reihe  der  Geschichtsquellen  ist  erschienen: 
Kirchenvisitationsprotokolle  des  Kurkreises,  Bd.  2,  bearbeitet  von 
Pallas.  Der  3.  Band  dieses  Werkes  wird  noch  im  laufenden 
Jahre  ausgegeben  werden.  Der  5.  Band  des  Goslarer  Urkunden- 
buches  (bearbeitet  von  B  o  d  e),  das  Urkundenbuch  der  Stadt  Halle 
(Kohl  mann),  das  Urkundenbuch  des  Stiftes  Quedlinburg 
(Rosenfeld)  und  die  Quedlinburger  „Paurgedinge"  (Lorenz) 
stehen  der  Drucklegung  nahe.  Das  Neujahrsblatt  brachte  Heid- 
manns Abhandlung„Mittelalterliche  Volksspiele  in  den  thüringisch- 
sächsischen  Ländern''.  Für  die  Abteilung  »Beschreibende  Dar- 
stellungen der  Bau-  und  Kunstdenkmäler'  ist  das  von  Bergner 
bearbeitete   Heft   über   den   Kreis   Querfurt   im  Druck,   das   von 


Vermischtes.  699 

Rassow  bearbeitete  über  den  Kreis  Heiligenstadt  liegt  druck- 
fertig vor. 

Der  Hansische  Geschichtsverein  hat,  wie  wir  dem 
37.  Jahresbericht  entnehmen,  zwischen  Pfingsten  1907  und  Pfing- 
sten 1908  außer  den  Geschichtsblättem  (1907  Heft  2,  1908  Heft  1) 
den  10.  Band  des  Hansischen  Urkundenbuchs  (1471 — 1485,  bear- 
(beitet  von  Walther  Stein)  und  das  4.  Pfingstblatt  (H.  Nirrnheim, 
Hinrich  Murmester,  ein  hamburgischer  Bürgermeister  in  der  han- 
sischen Blütezeit)  ausgegeben.  Hans.  Urkundenbuch  Bd.  7  (be- 
arbeitet von  Kunze)  ist  in  Vorbereitung.  Das  Danziger  Inventar 
(bearbeitet  von  S  i  m  s  o  n)  wird,  anders  als  früher  beschlossen,  nur 
bis  1591  führen,  aber  auch  die  einschlägigen  Urkunden  der  anderen 
preußischen  Hansestädte  aufnehmen.  Der  8.  Band  der  3.  Abteilung 
der  Hanserezesse  (bearbeitet  von  Dietrich  Schäfer  mit  Unter- 
stützung von  Dr.  Techen)  soll  Ende  dieses  Jahres  in  die  Presse. 
Die  Urkunden  für  die  Geschichte  des  niederländischen  Handels 
aus  niederländischen  und  belgischen  Archiven  sollen  in  einem 
Niederländischen  Inventar  von  R.  Häpke  in  Regestenform  zu- 
gänglich gemacht  werden.  Als  neue  Vereinsveröffentlichung  er» 
scheinen,  von  Dietr.  Schäfer  angeregt  und  herausgegeben,  Ab- 
handlungen zur  Verkehrs-  und  Seegeschichte;  das  1.  Heft  (R. 
Häpke,  Brügges  Entwicklung  zum  mittelalterlichen  Weltmarkt) 
liegt  bereits  vor. 

Ober  die  Tätigkeit  des  Department  of  historical  research  of 
ihe  Carnegie  Institution  of  Washington  in  der  Zeit  vom  1.  Nov. 
1906  bis  zum  1.  Nov.  1907  berichtet  der  Direktor  dieser  Abteilung, 
J.  Franklin  Jameson  (Year  Book  Nr.  6  S.  97— 105).  Erschienen 
ist :  P  d  r  e  z ,  Guide  to  the  materials  for  American  history  in  Cuban 
archives,  eine  Schrift,  die  auch  das  Verdienst  für  sich  beanspruchen 
kann,  die  Aufmerksamkeit  der  amerikanischen  Regierung  auf  die 
verwahrlosten  kubanischen  Archive  gelenkt  zu  haben.  Der  ^Guide 
to  the  materials  for  the  history  of  the  United  States  in  Spanish 
archives  (Simancas,  the  Archivo  Historico-Nacional,  and  Seville)*^ 
von  Shepherd  ist  noch  im  Berichtsjahre  im  Druck  vollendet 
worden  (s.  oben  S.  637),  die  Drucklegung  einer  neuen,  stark  ver- 
mehrten Auflage  der  ersten  Veröffentlichung  des  Department: 
VanTyne  and  Leland,  Guide  to  the  archives  of  the  Government 
of  the  United  States  in  Washington,  bearbeitet  von  Leland  mit 
Unterstützung  von  Russell  und  Lincoln,  hat  begonnen.  Im 
übrigen  heben  wir,  ohne  auf  die  noch  nicht  abgeschlossenen 
Arbeiten  einzugehen,  nur  hervor,  daß  das  Department  zurzeit 
vornehmlich    in    englischen,    französischen    und    mexikanischen 

45^ 


700  Notizen  und  Nachrichten. 

Archiven  arbeiten  läßt  und  demnächst  auch  mit  der  Durchforachung 
der  Archive  und  Bibliotheken  Roms  einsetzen  will. 

Der  berühmte  Theolog  Otto  Pfleiderer  in  Berlin  (geb. 
1839  zu  Stetten  bei  Kannstadt)  ist  am  18.  Juli  gestorben.  Uns 
Historiker  hat  er  besonders  durch  seine  « Geschichte  der  Religions- 
philosophie von  Spinoza  bis  zur  Gegenwart*,  sein  Werk  über  das 
Urchristentum  und  seine  letzten,  mehr  populären  Schriften  (Reli- 
gion und  Religionen;  Entstehung  des  Urchristentums;  Entwick- 
lung des  Christentums)  zu  Dank  verpflichtet.  Aber  auch  seine 
spekulativen  Arbeiten  werden  durch  einen  gesunden  historischen 
Sinn  gekennzeichnet,  und  es  ist  charakteristisch  für  Pfleiderer, 
daß  er  eine  „Religionsphilosophie  auf  geschichtlicher  Grund- 
lage'' geschrieben  hat. 

Am  14.  August  ist  der  Berliner  Philosoph  Friedrich  Paulsen 
(geb.  1846)  gestorben,  eine  der  anziehendsten  Persönlichkeiten 
unter  den  zeitgenössischen  Denkern,  ein  Popularphilosoph  im 
besten  Sinne,  dem  alle  großen  Probleme  unseres  heutigen 
Lebens  am  Herzen  lagen,  dessen  mildes  und  klares  Urteil  man 
immer  gern  hörte.  Seine  zahlreichen  Schriften,  vor  allem  die 
Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts,  das  System  der^Ethik,  sein 
Kant  etc.,  haben  auch  unsere  Wissenschaft  stark  gefördert 

Der  Persönlichkeit  und  der  wissenschaftlichen  Verdienste 
Theodor  Sickels  gedenkt  M.  Tangl  im  Neuen  Archiv  33^  Heft  3, 
S.  773—781;  den  inhaltreichen  Aufsatz  über  Sickel,  den  W.  Erben 
in  der  Hist.  Vierteljahrschrift  11,  Heft  3,  S.333--359  veröKenUicht, 
wird  man  eher  eine  kleine  Biographie  als  einen  Nachruf  nennen. 


Berichtigung. 


S.  359  Z.  6  und  5  von  unten  ist  zu   lesen:  wurde,  während 
Kalvin  in zu  ihm  darstellt 


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REVUE 


t>R 


SYNTHESE  HISTORIQUE 


DiREcrcTO;  HENRI  BERR. 


REVUES  GEN£RALES 

No,  43  (lof^t  1907),  £'ii/^  a/lrmoMJt  par  L.  Riau. 

No,  44  (octobrc  1907),  La  munqut  aUfm^MaV  .iir  XIX'  si^lr: 

Rühard  H'agmr,  par  R  Lichtenberger. 
No.  4j5  (ftvricr  t9i>8),  Valirmagni  dt  fSf^  A  tS^h^,  pv  Pau!  Matter. 


r*t>«tuin»nit  fto&ücl  ^   Fno^,  Jft  fr.,  £UftQpr,  17  *r.,  Oft  n^iins  t  fr*    Ij  coUwäIo» 
d<4  tift  pmifer««  «nc^,  IM  ff,   ^  U  lUibcÜon  n  lAtlmbiltAli^m  NM«  4  U  \X\w^r^ 


AUGLIST  HETTLER  d  HALLE  (Saale). 


Hnhlvallsdier  fllfflanadL 

IL  JAhrfsng  imi/lf«.  In  LcbiciibAitd  6  Mific. 

I.  iilirsviig  1Q«a'l9M,  In  LdnvnliAtiil  A  Mick. 

{FbmX  verifHtfen«  Prcberböhiinj;  bleibt  vofbebjitten.) 

Jldiefibadi  der  wichtigstni  nnhtfe  Europas. 

Mt<  Angaben  Übtf  die  Benuuunf^Htdtcni  dif  wbacn- 
Khaftlkheti  Beamten  und  die  ciiuchllftfljfr  LUeralor. 

L  Teil:  Deutsches  Reich  ohne  Preußen,    lo  Mark 
(IL  TeiU  KJ^dlfrtJdt  Preitfita«  crtdidnl  I9C19>) 

lahilindi  der  dentsdieD  hbtor  RomialsslofleD» 

Institute  und  Vereine  des  Deutschen  Reiches 
und  der  deutschen  Sprachgebiete  des  Auslandes, 

1.  Jdhrftng  I40;i.    In  Leinenband  10  Mari. 

Ibizelfl«  ttkr  RdonnaflOBSpiMdite. 

Hr.  1--^  h  10  P\^,    Dk  FttrU<£t2iing  M  bei  Krwrhelneti  au!  V«rUng«;n 
fcoitenfnH  2a  Hiiben}  nicb  Erichdncn  koatct  die  Nummef  2D  Pfg. 


DtmHäcksi  encfuint: 


RIstorlker-XdrdbndL 


Mit  einer  Stadteilbcmicbt  und  einem  VcnteichnU  Vört  öpeiUlbticbhiiid- 

longen  Hlr  hUinHBche  Littzr^lur 

VonUfBiirels  bei  VoraMsbftUdluaf  6  MArk. 

Dm  ,^lMori»che  Atlreübucb"  enUUUl  ehr»  3000  A<lne«*en  europabcber 

turd  amcHkantAcber  Hifttoiiktsr. 


0«i  CtitMfi4»nir  4m  IUtr»|M  fP<t  A*t  UtmmUtstt^  tid*rr  bb  pitftolT*L  foa«i  unter 


AUGUST  HETTLER  o  HALLE  (Saale). |s 


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Drrlao  oon  K.  Oldcnbourp,  niünd)rn  und  6crlm 


HUrzltd)  ttfmn-' 

ein  oberprälHlfdbes  Regiflei 
I        I  aus  der  2cit  i — 


Kalfer  Ludiulgs  des  Baperi 


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trläiiirrt  und  tttrausoegrticn  Poii 

n}Ut)clm  erben 

171  Seticn  8 '.    Prcts  t  mark 


eint  von  alleren  t)a()crird)en  DlOurihcm  bt« 
ntietr  aticr  hcinc^wrus  (lanz  ausucbruicii: 
Ddiiür()irlfi  des  inuiitDcncr  nci(Dsar(Di»s,  lueldK 
Don  tirr  ncuertn  fürrtDung  uaiulld)  nntiraditi't 
bllrb,  lutrd  uon  erbrn  nait)  it)rrn  iicrdH<))iU<)}  und 
diploinatird)  ülcid)  iticrhutttrdigcn  emRchungS' 
DcrddltnifTcn  iiiiterfud)!  niid  nadi  ibtrm  Tnnalt 
Dcriuma.  Ddbci  eruebrn  ndi  €rörtcruii(ini  libcr 
den  Ocurld'  und  da;  fücfcn  der  Rcoipcr  mi.ari« 
ßfmcinctL  Der  Hnbaug  cni^att  den  TlUdrudi  oon 
70  bleuet  fafl  durdiaus  iintttKannien  Urbundcn, 
wctd)c  dir  öcfdiliDtf  äts  u)UtcUbadiird)cn  nanfcs 
und  die  üeutrdien  DcrnindiifTi'.  in  dir  es  zu  ieder 
3cli  tinöriff,  in  mnnniufad)cr  roctfe  belcuditen.. 


}u  l^rEiciKU  üurdj  dUc  Durtjbanülungcn 


icr«u  j«  eine  Hl  n  tt.ü.Tcu^««.t\nV,t\!»\.Vt«-M«^Ni*A«s»m<tÄ.%^»V'( 


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