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Full text of "Historische Zeitschrift"

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_.-. —— — 
_— —— — 


Piſturilſthe SeitlArif 


— 
— 


| herausgegeben von 


Heinrich von Spbel, 


o. 5. Brofeffor der Geſchichte an der k. Lubw.-Mar.-Univerfitit in Münden. 


Erſter Band. 





Mũnchen, 1859. 


Literariſch-artiſtiſche Anſtalt 
der I. ©. Cotla ſchen Puchhandlung. 


HS nad iininde 








Indalts-Aederficit. 





Zur Charakteriſtik ber heutigen Geſchichtſchreibung in Deutichlanb: 
1. Die Entwidlung der mobernen beutfchen Seraihrawitenteft von 
Wilhelm Gieſebrecht 
2. Falſche Richtungen. Schreiben an ben Herausgeber von * org 
Waitz—. .. .. 
3. Einzelne Aufgaben: 
Denkſchrift von Leopold Ranke 
Denkſchrift von G. H. Pert. 
Denkſchrift von J. G. Droyſen 
Macaulay's Friedrich der Große. Mit einem Nachtrag über Cerlyle. 
Bon Ludwig Hänffer 
Der platonifche Etaat in feiner Bebentung für bie Fofgegeit, von 
E. Zeller 
Die Königinhofer Handfchrift und ihre Sqhweſtern, von MM. Büpinger 
Graf Joſeph de Maiftre, von H. v. Sybel . . 
Ueberfiht der hiftorifchen Literatur bes Jahres 1858. 
m Allgemeine Weltgeſchichte . 
2. Alte Geſchichte 
3. Allgemeine Geſchichte bes Diittelolters 
4. Allgemeine Gefchichte der neueren und neueflen Zeit 
5. Dentiche Geſchichte 
Das reale und das ibeale Element in der heſchichtlichen Ueberliefe 
rung und Darſtellung. Ein Geſpraͤch. Von dehaus Wilhelm 
Loebell 
Das romiſche Gaſtrecht umb die mie Clientel. Bon Theodor r 
Mommfen . . . . . . . . . 


Seite 


108 
127 
153 


199° 
205 
222 
229 
237 


269 


832 





Polniſche Wirthſchaft und franzäfiiche Diplomatie 1692 — 1697. Nach 
bandfchriftlichen Quellen bes £. jächfijchen —— — Von 
Karl Guſtav Helbig 

Klopſtock und Marlgraf Karl Friebrich won Baden. it Benätsung 
migegndter Quellen. Bon Davib Friebrid Stranf 

Der Berfaffungsfampf Islands gegen Dünemal. Bon KRonrab 
Maurer (I. Theil.) . . . “ 

Meberficht der hiftoriichen Lir 1858 (Fortſetzung) 

6. Deutihe Specialg . ER 
7. Die Schweiz 
8. Großbritannien und Frl 


= 


. 








Vorwort. 


Um den Stanppunft und die Richtung, welche das hier begin> 
nende Unternehmen einzuhalten wünfcht, unfern Leſern näher zu be— 
zeichnen , tbeilen wir aus dem den Mitarbeitern vorgelegten Profpec- 
tus folgende Stellen mit: 

"Die Zeitjchrift foll vor Allem eine wiffenfchaftliche fein. Ihre 
erfte Aufgabe wäre alfo, die wahre Methove der hiftorifchen Forſchung 
zu vertreten, und bie Abweichungen davon zu Fennzeichnen — —. 

Auf dieſem Boden beabfichtigen wir eine biftorifche Zeitfchrift, nicht 
eine antiquarifche und nicht eine politifche. Einerfeits gehen wir nicht dar⸗ 
aufaus, ſchwebende Fragen ver heutigen Politik zu behandeln oder ung zu 
einer fpeciellen politifchen Partei zu bekennen. Es ift hiegegen Fein Wiber- 
fpruch, weun wir gewifje allgemeine Vorausfegungen als diejenigen 
bezeichnen, welche das politifche Urtheil der Zeitfchrift bedingen werben. 
Der gefchichtlichen Betrachtung erfcheint pas Leben jedes Volkes, unter 
der Herrſchaft ver fittlichen Geſetze, als natürliche und individuelle 
Entwidlung, welche mit innerer Nothwendigkeit die Formen des Staats 
und ber Eultur erzeugt, welche nicht willkürlich gehemmt und befchleu- 
nigt, und nicht unter fremde Pegel gezwungen werten darf. Dieſe 
Auffaffung fchließt den Feudalismus aus, welcher dem fortfchreitenden 
Leben abgefterbene Elemente aufnöthigt, den Napdicalismus, welcher 
die fubjective Willfür an die Stelle des organifchen Verlaufes fett, 
den Ultramontanismus, welcher bie nationale und geiftige Entwicklung 
ber Autorität einer äußern Kirche unteriwirft. 


,; 





Andererfeits wollen wir fein antiquarifches Organ gründen. Wir 
wänfchen alfo vorzugsweife foldhe Stoffe, over ſolche Beziehungen in 
ven Stoffen zu behandeln, welche mit bem Leben der Gegenwart einen 
noch lebenden Zufanmenhang haben. Wenn ed bie höchfte Aufgabe 
ber geſchichtlichen Betrachtung ift, bie Gefenlichteit und Einheit alles 
Werdens und Lebens zu erfenmen, jo wird ſich eine ſolche Erfenntuik 


nicht deutlicher ansprägen Taf m Nachweis, daß das 
Bergangene noch gegenwärtig ſelbſt beftimmenb fort- 
wirkt. Es ift micht bloß ber ten, es ift eim wiſſen— 
fchaftlich berechtigter Trieb, um mit fefter Vorliebe 
nad) Stoffen ber bezeichneten enn bie hierhin gehöri— 
gen Bücher überall ver beve icher find, Es ſcheint 
ung nur angemefjen, went ı ft im ihrem kritiſchen 
Theile vorzugsweife jolche Sch nbers eingehenden Be- 


trachtung unterwirft. Es gehört ganz in biefen Zuſammenhang, wenn 
wir hinzufügen, daß Erörterungen, welche vie charakteriftifchen Unter: 
ſchiede der deutfchen und ber auswärtigen Gefchichtfehreibung unferer 
Tage Har und ſcharf in’s Licht fegen, uns höchſt wilffommen fein 
werden. Denn glüdlicher Weife hat unfere Wiffenfchaft in ver Gegen- 
wart eine folche Stellung gewonnen, daß ihr Beſtand und ihr Fort—⸗ 
fehritt ein Stüd unferes Nationallebens geworben if. Es ergeben 
ſich ſodann aus dem Gefagten folgende allgemeine Regeln für bie 
Rebaction: 


Sie muß im Allgemeinen ben Stoffen ver modernen Gefchichte 
einen größeren Raum als jenen der Älteren, unb ven deutſchen einen 
größeren als den ausländifchen vorbehalten. 


Die einzelnen Gebiete des hiſtoriſchen Studiums ftehen ver Auf- 
aabe der Zeitfchrift gleich nabe. Beiträge aus der Nechts- und Ver⸗ 
ings⸗, aus der Literatur. oder der Kirchengefchichte, foweit fie den 
meinen Grundſätzen unferes Organes entfprechen, werben ebenfo 
Arbeiten aus der politifchen Gefchichte im engern Sinne gegeben 
N. 

Zur allgemeinen Orientirung wirb jedes Heft der Zeitfchrift eine 
ographiſche Lieberficht ver neuen Erſcheinungen ber hiſtoriſchen 
satur Europa's bringen, begleitet, jo weit es möglich ift, von 


U. 





turzen Bemerkungen über ven Inhalt, die Art und den Stanbpunft 
ber erheblicheren Schriftenu. 

Diefe tritifchen Ueberfichten werben in ver Zukunft die Novitä- 
ten ſtets eines BVierteljahres umfaffen: bier im Beginne des Unter- 
nehmens haben wir uns entjchloffen, unfern Rückblick auf das Jahr 
1858 auszudehnen. Dadurch ift die Diaffe der Artikel natürlich ver: 
mehrt und tie Größe der Aufgabe gefteigert worben; es ift nicht mög- 
lich gewefen, für jedes Buch einen Beurtheiler zu gewinnen ober jede 
Anzeige auf das dem Ganzen entfprechende Maaß ver Ausführlichkeit 
zu bringen. Daß fo viel, wie gefchehn, erreicht worben, banfe ich 
vor Allem der Thätigfeit des Hrn. Dr. Kluckhohn, welcher neben 
fonftigen NRevactionsgejchäften insbefondere die Zufammenftellung des 
bibliographifchen Artikels übernommen hat. 

Die Schwierigkeiten, welche bier im Wege lagen, waren nicht ge- 
ring: um fo mehr bebe ich bertor, daß fie ohne große Mühe für 
irgend einen Einzelnen beinahe völlig verfchwinten würden, wenn jever 
ver gelehrten Freunde unferes Unternehmens uns kurze Notizen über 
bie neuen Schriften feines fpeciellen Stupienfaches einfenden wollte, 


Münden im Yebruar 1859. 


V 


Sybel. 








J. DR | 
Zur Charakteriftit der heutigen Geſchichtſchreibung in m 
Deutſchland. 





1. Die Entwichlung der modernen dentſchen Geſchichtswiſſenſchaſt. 


Habilitationsrebe gehalten zu Königsberg am 19. April 1858 
von 


Wilhelm Gieſebrecht.“) 


Indem ich heute öffentlich nach dem Herkommen dieſer Hochfchule 
das mir übertragene Lehramt ver Gefchichte antrete, bin ich nicht ge— 
willt auf einen diefer Veranlaffung fern liegenden Gegenftand die Auf- 
merkjamfeit zu lenken, fondern über ein Thema zu ſprechen, welches 
mir die Gelegenheit gleihfam an tie Hand giebt. Ich beabfichtige über 
bie Entwidlung zu reden, welche die Gefchichtäwiffenfchaft in ven letz⸗ 
ten Zeiten bei uns Deutfchen gewonnen hat. 

Sind auch die Univerfitäten nicht mehr ausfchlichlich die Pald- 
ftren der wiffenfchaftlichen Kämpfe, nicht mehr die einzigen Mittelpunfte 
höherer geiftiger Bildung, wie vor Zeiten, fo müffen fie doch auch jet 
noch mitten inne ftehen in ver wilfenfchaftlichen Bewegung der Gegen 





*) Der nachſtehende Aufſatz ift die Rebe, mit welcher ich mich al® Profeffor 
der Geſchichte an der Univerfitit Königsberg hHabilitirt babe. Sie war 
damals nur für die Angehörigen biefer Univerfität beftimmt, und wilrbe 
ohne das Erfcheinen dieſer Zeitfchrift nie einem größern Kreiſe mitgetheilt 
fein. Mlein die Erwägung, baß bie hier ausgefprocdenen Anfichten im 
Weſentlichen auch die Richtung dieſer Zeitfchrift Tennzeichnen könnten, ver- 
aufaßte mid), fie ber Rebactien gu übenialen- ®. ©. 

ODiſtoxiſche Zeitfrift L Bam. 































u. - 
’ 
a va Bo’ ihfner das Univerfitätslehben eine tiefere Bedeutung A 


nt nachhaffiger auf die allgemeinen Zuftände wirkte, da ift es immer 
nur ding Folge davon geweſen, daß Lehrer und Lernende friſch mitten 
in at geiftigen Strömungen der Zeit hineintraten; wo ein r⸗ 
ſlehrer einen bedeutenden Einfluß geübt hat, da iſt es nur ch 

hen, daß er entſchieden ſeine Stellung in der augenblicklichen Be— 
wegung der Wiſſenſchaft nahm und ſich ſelbſt als Vertreter beſtimmter 
Sc Principien hinjtellte. Es ift ein fehr bevenfliher Ruhm für eine Unis 
verſität fich fern gehalten zu haben von allen geiftigen Nämpfen ver 
Gegenwart, den nenauftauchenden Richtungen ver Wiffenfchaft nur einen 
paſſiven Wiverftand entgegengefegt zu haben ; ein fruchtbares Univerfitäts- 
ftubium fcheint mir wenigftens nur im engjten Anfchluße und in jtetem 
Zufammenhange mit ver allgemeinen wilfenfchaftlichen Bewegung ver 
Zeit möglich zu fein. Und fo wird es für einen eintretenden Vehrer 
auch nicht unangemefjen erfcheinen, wenn er feine Anficht über die letz— 
ten Entwidelungen und den durch fie bedingten aungenblidlichen Stand 
| era barzulegen fucht, wird doch durch dieſe Anficht feine 
? Wirkfamfeit in dem neuen Amte bedingt fein, nach ihr wejent- 
6 Beurtheift werben müſſen. Wenn dieſe Darlegung fih nur im Allge— 
* halten wird, ſo nöthigt mich dazu einerſeits die Fülle des Stoffes 
> bie Beſorgniß Ihre Geduld zu ermüden; wie ich andererſeits 
% aube, mich auch deshalb kürzer faſſen zu Euer, weil ich bereits 
elfach Gelegenheit gefunden habe im Einzelnen zu zeigen, wie ich bie 
Erſcheinungen des Tages auf dem Gebiet ver hiſtoriſchen Wiſſenſchaf— 
nm anjehe, worin ich jest die Aufgabe des Gefchichtsftudiums auf der 
Univerfität erfenne und welches Ziel ih in meinem Lehramte er⸗ 





Man hört nicht felten die Behauptung, daß wir Deutjche erſt 
neuerdings eine hiſtoriſche Yiteratur gewonnen haben, welche fich ber 
da Englänver und Franzofen ebenbürtig an die Seite ftellen könne. Und 
es iſt auch nicht wohl zu leugnen, daß wir nicht fo lange Gefchicht- 
> treiber befigen, welche in glänzender Kunſt der Darftellung mit den 

jofen wetteifern, daß wir noch kaum hiftorifche Werte aufzuweifen 
welche, gleich benen der Engländer, von dem frifchen Hauche 
wo nationalen Staatslebens durchweht, eine männliche Gefinnung 
kräftigen und heben. Aber nichtsveftoweniger liegt doch eine äußerſt 





Entwidfung ber bentichen Geſchichtewiſſenſchaft. 8 


mannigfaltige und reiche hiftorifche Literatur Hinter uns, und eine 
wiſſenſchaftliche Behandlung ver Gefchichte tatirt in gewiſſem Sinne 
in Deutjchland bereits von ven Zeiten der Reformation. Die Entwick⸗ 
lung unjerer Geſchichtswiſſenſchaft ift dann nicht immer eine ftätige 
gewefen, aber feit mehr als einem Jahrhundert zeigt fich unfraglich 
auf. dieſem Gebiet ein nnunterbrochener Fortfchritt. Eine erſchöpfende 
Darftellung der deutfchen Hiftoriegraphie von Maſcov, J. Möfer 
und Schlözer bis auf unfere Tage würde eins der rühmlichſten 
Denkmale fein, welches dem deutſchen Geifte gefegt werben könnte. Auch 
nur ein Conſpect einer folchen Gefchichte deutjcher Gejchichtswiljen- 
Schaft würbe hier nicht am Plage fein; nur einige Hintentungen anf 
ben Zuſtand berfelben im vorigen Jahrhundert feien mir vergönnt. 
Die Gefhihtswifjenfchaft ift bei uns aus Hilfepisciplinen ver 
Theologie, der Jurisprudenz und ber LIumaniora erwachſen; aus Cole 
lectaneen zur Stirchengefchichte und zu antiquarifchen Studien, wie aus 
ben ftaatswifjenfchaftlichen Deductionen ber Rechtslehrer find bie erften 
bijterifchen Werfe hervorgegangen, denen man einen gelehrten unb, 
wenn man will, wijlenfchaftlichen Charakter zufchreiben kann. Die Ge- 
fchichte Elieb fo lange unfrei und im Dienfte anderer Wiljenfchaften, 
been jie das unentbehrliche Material jo bequem wie möglich zurecht 
legen mußte. Bis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts tragen 
faft alle Hifterifchen Werke die veutlichen Epuren dieſer Gebundenheit 
burch außerhalb der Gefchichtswiljenfchaft liegende Rüdfichten. Man 
kennt 3. B. die Handbücher der Göttinger Profejforen, wie fie vor 
etwa hundert Jahren in den Buchhandel zu kommen anfingen; biefe 
Bücher mit ihrem verjtändigen und leicht verftändlichen Schematismus, 
ihren ſcharf begrenzten Paragraphen, ihren eracten Citaten und bes 
quemen Excerpten find lange für muftergüftig gehalten worden und 
waren auch ohne Frage ungemein verbienftlih. Man wird fie noch 
heute nicht ohne Nugen zur Hand nehmen. Aber das Läßt fich doch nicht 
leugnen, die Geſchichte erfcheint in ihnen faft nur als ein zufälliges 
Aggregat einzelner Handlungen und Begebenheiten, die lediglich durch 
einen oft ziemlich oberflächlichen Bragmatismus zufammengehalten wer- 
den; es find äußerliche, meift practifche Gefichtspunfte, nach denen bie 
Creigniffe, wie die Stenntniß von biefen Ereigniffen beurtheilt werben. 
Bon Ideen wird wohl ge’ ©eflerionen, 





W. Gieſebrecht, 


welche man als Ideen bezeichnet. Bon einer, lebendigen Vergegenwär⸗ 
tigung der Vergangenheit, von Ktunſt ber Darftellung iſt kaum die 
Rede. Diefe hijtorifchen Werke find wenig mehr als Vorrathslammern 
ber verjchiedenartigiten Kenntniſſe und Erfahrungen, die für Sule 
und Kanzel, für vie Gefchäftöftube und ben geſelligen Verlehr brauch⸗ 
bar und wünſchungswerth ſcheinen; der Gefchichtjchreiber Ernent 
nur ber ziemlich gleichgültige unbdieſer aufaefpeicherteh 


Schätze 
Aber trotz vieler und weſentlit biefer gelehrten Hiſto— 
riographie, welche ihren Sitz ben Univerjitäten hatte 
; und einen gewiſſen Zunftzwang ie doch auch große und 
ſchöne Vorzüge, die ihr gerecht elbft außerhalb Deutfche 
land erwarben. Bor Allem ein unermüblicher Fleiß 
Am Unfammeln des Materiaus; b bie Gründlichkeit ber 


Forſchung, wie die Wahrheit und umparrenmeit ver Geſinnung. Um 
ber deutſchen Wilfenfchaft damaliger Zeit gerecht zu werben, vergleiche 
man. nur einmal die Werke unferer gelehrten Forſcher in Bezug auf 
die Solivität der Arbeit und die Unbefangenheit des Urtheils mit dem 
Beten, was vie gelehrte Literatur gleichzeitig in Frankreich hervor- 
brachte. Wer die Geſchichte ver Völkerwanderung ftubirt, dem find 
Maſcov's Arbeiten noch heute unentbehrlich, während das damals 
fehr bewunberte Buch des Abbe Dubos faſt verſchollen ift; und felbit 
Montesquieus geiftreiche Apereus, fo wichtig fie für die Entwid- 
lung der politifchen Anfchauungen waren, faum nech für Die gelehrte 
Forſchung irgend welches Intereſſe haben. Niemand wird an fchrift- 
ftelferifcher Kunft Schlözer einem Voltaire zur Seite ftellen, aber 
an Grünplichkeit der Forſchung und Wahrheitsgefühl ift der Göttinger 
Brofeffor dem Schöngeijt von Ferney weit überlegen. Mit viefen 

jorzügen der deutſchen Hiftoriographie hing es zum Theil zufammen, 

enn fie fich nicht auf die eigene Geſchichte befchränfte, fondern auch 
Die der anderen Völker in ihren Bereich zog und mit großer Beharr- 

hfeit fchen damals die Richtung auf die Univerfalbiftorie verfolgte. 

Bir Deutfche haben einmal dieſen univerfellen Zug, und der Sanımel- 
leiß unferer Gelehrten zeigte fich bereits in jener Zeit überall ges 
Ichäftig, wo nur gefchichtliches Material zufammenzufchaffen war. An- 
ere Völker find dadurch unferer Wiffenfchaft manchen Dank fchuldig 





Entwidfung ber beutfchen Geſchichtswiſſenſchaft. 5 


geworden und wohl auch fchuldig geblichen. Vielleicht aber noch größere 
Anerkennung als biefer Fleiß verdient das Gercchtigfeitsgefühl und ver 
unbefangene Sinn, mit vem man bie VBerhältniffe anderer Völfer be: 
trachtete. Man fchien ans Gerechtigleit gegen andere Volksthümlich— 
teiten ungerecht gegen das eigene Volk und feine Gefchichte zu werden. 
Sehr vervienjtliche Leitungen jener Zeit liegen auf dem Gebiet ber 
Provincialgefhichte,; aber an eine Gefchichte Der Deutfchen wurde nach 
Maſcov nicht weiter gedacht. Die Neichsgefihichte mußte allerdings 
für practifhde Zwede von ven Juriſten bearbeitet werden, aber wie 
das heilige römifche Reich deutſcher Nation felbft wurde auch fie im- 
mer ärmer und knapper. Pütters Grundriß war Das belicbtefte 
Noth- und Hilfsbuch für alle, die veutfche Neichsgefchichte treiben 
mußten; e8 hat — in jener Zeit eine Seltenheit — fieben Auflagen 
erlebt. Auch fein anveres Handbuch, die hifterifche Entwicelung der 
Verfaſſung des deutſchen Reiche, wurbe viel bemugt. Was aber daraus 
wurde, wenn man fich einmal an eine umfänglichere Arbeit wagte, 
zeigt Häberlins Umſtändliche Reichshiftorie; umſtändlich ohne Frage, 
aber zugleich ungehenerlich in jeter Beziehung des Worts. E8 ift 
Nieınanven jet zu rathen, fich an bie Xectüre dieſes Werks zu wagen. 
Die beiten Früchte der Wiffenfchaft reiften auf ganz anderen Gebieten. 
An ver Gefchichte ver Ruſſen, Osmanen und Mongolen zeigte Schlö- 
zer zuerft die Grundſätze einer ftrengeren Kritif und methodiſcher 
Forſchung. 

Als in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts Aeſthetik 
und Philoſophie unfere Literatur und unſer geiſtiges Leben zu beherr- 
ſchen anfingen, konnte begreiflicher Weife jene gelehrte Gefchichtjchrei« 
bimg den Forderungen nicht auf die Dauer genügen. Man verlangte 
nun mehr nach anziehender Darftellung als nach gelehrter Forſchung, 
man beanspruchte Schriften, welche in Vollendung ter Form den Haffi- 
ſchen Gefchichtsiwerfen des Alterthums und den beften Erzeugniffen ber 
hiftorifchen Literatur in Italien, Frankreich und England an die Seite 
zu fegen feien. Zugleich wollten vie Philofophen die Anfhanungen, 
in welchen fie lebten und welche fie nach allen Seiten verbreiteten, 
auch in die Gefchichtswiffenfchaft übertragen; fie fuchten Alles zu ge⸗ 
neralifiven, drangen ihre allgemeinen Eonftructionen ber ' Ina 
in ihre Syſtem follte vie unenpliche Fülle 





W Gieſebrecht, 


gezwängt werden und nad ben Maaſtab ihver Moral ſich jeberber 
dentende Perſönlichleit meſſen laſſen. Auch in ber Behandlung Dev 
Geſchichte fing man an, mie Joh. v. Miller fagt, ſich in bie allge 
meinen Ideen zu verlichen, Damme wurde zuerft nach Maſeob — 
d. 5. nach einem halben Jahrhundert — eine Geſchichte ber Deutfihen 
wieder in Angriff genommen; ich meine das bekannte Werk von ME 


chael Ignatz Schmint, welche beten unferer Bäter felten 
zu fehlen pflegte. Schmint’s fri find philoſophiſchen In⸗ 
halts; eine Geſchichte bes Selb er gefchrieben, ehe ex bie 
heſchichte der Deutfchen bearbe Berk ift nun freilich Feine 

nleitung mehr zur Praxis bei hergericht ober beim per—⸗ 
manenten Reichstage, ſondern in den bildungsfähigen 
Bürgern der Nation fein | rſtellung ift lebhaft, aber 
doch in einem ganz anbeven e Göttinger Compendien. 


e Culturgeſchichte tritt im ben Vordergrund, und eine wejentliche 
Ma ift zu zeigen, wie man in Staatseinrichtungen, Künften und 
Bi | haften vorgefchritten, wie man endlich zur gepriefenen Aufklä— 

ng gelommen fei. Der aufgeflärte Katholicismus und liberale Ab- 
‚„lutismus ver jofephinifchen Zeit bilden die Grundanſchauungen des 
Verfaſſers. Zofeph ſelbſt Shätte das Werk und feinen Verfaffer; ber 
Geſchichtſchreiber der Dentfcen wurde kaiſerlicher Hefrath, Mitglied 
des Genfurcolfegiums und Lehrer des Thronfelgers, des fpäteren Kai 
ſers Franz. Schmidt war ein wohlmeinender Mann, von Harem Ver- 
ftande und Ichhaftem Gefühl; aber Niemand wird ihm ein hervor- 
leuchtendes Talent oder ungewöhnliche Geiſteskraft beimeſſen. Es gab 
andere Männer, welche in derſelben Zeitſtrömung ſtehend in ähnlicher 
Weife, aber doch mit ganz anderer Energie des Geiftes auf das Stu⸗ 

inm der Geſchichte umgeſtaltend zu wirken bedacht waren. Es iſt be⸗ 
at, wie Leſſing und Kant einen einheitlichen Gedanken in ver hiſto⸗ 
etichen Entwickelung nachzuweiſen ſuchten. Sie gaben Anregungen; 
requngen und weitere Ausführungen Herder, deſſen Ideen zur Phi- 

” ie der Gefchichte der Menſchheit Epoche in unferer Gejdichte- 
W ſchaft machen. Einen hiftorifchen Kunftjtyl fuchte Scdiller zu 
ſchaffen. Hier begegnete er fi mit Johannes von Müller, der zu— 
ich durch ein grünblicheres, gelehrtes Stubium bie Hiftoriegraphie 
: Zeit zu vertiefen ftrebte. Alle Richtungen derſelben concentriren ſich 





Entwidiung der deutſchen Geſchichtswiſſenſchaft. | 7 


gleichfam in feinem überaus verfatilen Geifte, ohne fich freilich harmoniſch 
zu durchdringen; barin liegt Müllers Bedeutung und Müllers Schwäche. 
Man wird den Einfluß diefer großen Geifter auf ven Entwides 
lungsgang unferer hifterifchen Wilfenfchaft nicht „leicht Hoch genug 
anfchlagen können. Sie haben vor Allem eine tiefere Auffaffung ber 
Univerfalgefchichte bei ums angebahnt und nad) vielen Seiten des 
Studiums die fruchtbarften Keime gelegt. Sie haben unferer Ge- 
ſchichtſchreibung Friſche, Wärme und Kraft gegeben, das bürre Ma- 
terial mit Ideen durchgeiſtigt. Man dankte es ihnen, wenn vie Ges 
ſchichte nicht mehr allein im Kathederton lehrte, wenn ſie aus den 
Studierſtuben unter das Volk trat, wenn fie fortan einen hö⸗ 
heren Anfpruch machen Eonnte,- als im Gefolge anderer Wiffenfchaf- 
ten einberzigiehen. Die Hifterie wurde von dem Univerfitätszwang 
gelöft,, fie entwicelte fich frei in ber Literatur des Tages und nad 
den Berürfnifjen ver Zeitgenoffen. Aber e8 war allereings Gefahr, 
daß dieſe Befreiung fie in cine andere Abhängigkeit verfegen Tonnte, 
in Abhängigkeit von jenen Philofophen und Poeten, welche vie Lite 
ratur beherrfchten, und daß fie auf dieſem Wege vie edeljten Vorzüge 
einbüßen würbe, welche fie bis dahin vor den verwandten Beſtrebun⸗ 
gen anderer Völfer ausgezeichnet Hatten. Es ijt bekannt, wie fich Schon 
Schiller glaubte ftrengerer gelehrter Forfchungen überheben zu bürfen, 
um feine Gefchichtswerfe zu fchaffen. Wie gefährli mußte das 
Beifpiel eines folchen Mannes wirken! Und in der That fah man 
bald eine ziemlich Teichtfertige Hifteriographie an vielen Orten im 
Schwange, in welcher lediglich die currenten Tagesiveen auf ein fchnell 
befchafftes Material angewendet wurten. Es ift minbeftens in Kö⸗ 
nigsberg unvergejjen, daß felbft ein Stoßebue um ven Preis ber deut: 
chen Gefchichtfchreibung zu bublen wagte. — 

Die moderne beutjche Gejchichtswiffenfchaft, in deren Entwidels 
ung wir noch jetzt ftehen und bei ver mir nun etwas länger zu ver 
weilen erlaubt fei, hat fich in ver That mehr im Gegenſatze gegen 
jene philofophifch = äfthetifche Richtung als im Anfchluffe an diefelbe 
durchgebilvet; fie nahın recht eigentlich die gelchrte Hiſtorik der frü- 
beren Zeit wieder auf, aber doch mit ganz anderer Energie, mit einem 
ungleich größeren Reichthum ven Ideen und Anfchauungen und vor 
Allem in dem Gefühl voller Freiheit und Selbftftänpigfeit. Und fragt 





; ®. Gleſebrecht, — 
man, woher ihr der Impuls kant, das Werner Vergangenheit in 
einem ganz neuen Geifte aufzunehmen und fortzuführen, fo ift vor 
Allem auf die großen Weltereiguiffe binzumweifen, welche an ber Scheibe 
des borigen und unferen Jahrhunderts Alle Völker nach langem Eichlafe 
purchrüttelten und vor Allem uns Deutjche einmal recht kräftig daran 
erinnerten, daß wir ein Volk, eim großes Bolf jeien, was wir fait 
vergefien hatten. Unerhörf — — —enber einer Gefchichte 


obne Gleichen, mußte auch wu eſchichte eine ganz andere 
Bedeutung gewinnen. Und inden ı blöbejten Auge fichtbar 
wurde, wie bie Macht des Eim: fie auch einzig in ihrer 
Art und unerbört fcheine — 1 zufammenfnide vor Na— 
tionen, bie ficb zu dem G ttänbigfeit erheben und 
mit Leidenfchaftlicher Begeijn e bed Vaterlandes und 
ihrer angeſtammten Fürften e der mationale Gebanfte 
mit innerer Notbwendigfeit ‚ zzoreı grund jeber biftorifchen 


Betrachtung treten; ein Gedanke, ben tie Fosmopolitifche Tendenz 
ver RPhuloſophiſchen Geſchichtſchreibung über Gebühr zurücgebrängt 
hatte Fr 
“Die nationale Erhebung jener Zeit war ber Born, aus dem 
unfere Gefchichtswiffenfchaft neues eben fchöpfte,; der nationale Ge- 
danke wurde die treibende Kraft verfelben, und ver Glaube an die 
unerschöpfte Lebensfülle der Nation und an das Vaterland gibt ihr 
immer von Neuem Muth und Frifche. Das größte und folgenreichite 
Unternehmen für unfer modernes Gefchichtsftubium ift in dem Wahl: 
ſpruch begonnen und fortgeführt: „Sanctus amor patriae dat ani- 
raum.“ Wer fid) nın in das Studium ber Gefchichte vertieft, der 
hat es wicht mehr fo fehr mit einer abgeftorbenen Vergangenheit, 
mit den vorübergehenden Wirkungen vorübergehender Creigniffe, mit 
‚ben Tugenden und Fehlern längft vahingefchievener Perſonen zu thun, 
al8 das Leben großer Nationen, in denen vie Gedanken Gottes fich 
gleichfam verkörpern, in feinem Urfprung und Wachsthum zu verfol- 
gen. und zu begreifen. Da fehlägt ſich von felbjt die Brüde von ber 
Bergangenheit zur Gegenwart ; das Geftern gewinnt Bedeutung durch 
8 Heute, der heutige Tag durch entfchwundene Zeiten ; da erft lebt 
r Hiftorifer nicht mehr im Tode, fondern im Leben, aber in einem 
heren und bleibenveren als das ſchnell verraufchende Leben des 





Entwicklung ber deutſchen Geſchichtswiſſenſchaft. 9 


Tages. Wird die Geſchichte vom nationalen Geſichtspunkt erfaßt, fo 
gewinnt Bedeutung, was früher faum beachtet wurve, und in ben 
Mittelpunkt der Betrachtung treten Momente, vie man bisher als 
gleichgültig anfah. Wer könnte ba ſich noch auf die Darftellung ver 
großen Hof-, Staats, und Kriegsactionen befchränten? Wer Fönnte 
da noch die Eulturgefchichte — ein fo vieldeutiger und vielmißveutes 
ter Name — als eine Olla podrida von taufend Wunberlichfeiten 
oder ald eine trodene Aufzählung neuer Erfintungen und Moden bes 
traten? Wer das Leben ver Nationen ergründen will, muß ven 
inneren Zuſammenhang ihres Staate- und SKirchenlebens erfaffen, 
muß ihre Sitte und ihr Hecht, ihre Sprache und Literatur, wie fie 
innerlichit mit dem Weſen ver Nationen verwachfen find, begreifen, 
fih in die ganze Denk- und Anſchaunngsweiſe der Völker im Laufe 
ter Zeiten hincinleben. 

Indem tie beutfche Gefchichtswiffenfchaft von dem nationalen 
Gedanken mit umwiterftehlicher Macht erfaßt wurde, war wehl nichts 
natürlicher, als daß der Mangel einer Geſchichte der eigenen Natlon 
vor Allen fühlbar wurde. Und in der That warf man fich bald, 
wie ich alsbald weiter ausführen werde, mit tem ganzen Ernſt deut 
fcher Natur auf das Studium der vaterläntifchen Gefchichte. Aber 
bie univerjellen Gefichtspunfte, welche die Wiffenfchaft fo früh ergrif> 
fen hatte, gab jie deshalb nicht auf. Und wie hätte fie e8 auch thun 
können? Wie das Leben des einzelnen Menſchen erjt in feinem Ver- 
hältniß zu andern Individualitäten begriffen werden kann, fo läßt fich auch 
das Leben jeber Nation nur verftehen aus ihren Beziehungen zu andern 
Völkern. Je tiefer man in die Gefchichte des eignen Volls eintringt, 
je zahlreichere Fäden zeigen fich, welche aus ihr in das Gefammtleben 
ber Menſchheit, in die Geſchichte aller Völker und aller Zeiten hinüber: 
leiten. Der nationale Geſichtspunkt ijt fo wenig einer univerfellen 
Gefchichtsanfhaunng hinderlich, daß fich vielmehr erjt aus ihm ımei- 
nes Erachtens eine tiefere und wahrere Auffaffung der Univerſalge⸗ 
Schichte gewinnen läßt. , 

Mean vergönne mir hier einige Werte über den Mann, ver als 
ber vorzüglichite Begründer unferer modernen beutjchen Geſchichts⸗ 
wiffenfchaft zu betrachten ift. Ich habe Faum zu bemerken, daß ich 
Niebuhr meine Die Hindeutung auf feine Perfon macht vielleicht 





" 
E 2 


10 W. Gleſebrecht, 


Harer, was ich unvollkommen auegebrückt habe, Woher er ven An— 
ftoß und die Kraft zu feiner römiſchen Geſchlihte gewann, ſagt ex 
felbft: „Es war die Zeit, da wir Anerhörtes und Uuglaubliches 
erlebten, eine Zeit, welche die Aufmerkſamfelt auf wiele wergeffene und 
abgelebte Ordnungen durch beren Zuſammenſturz hinzog und unfere 
Seelen durch vie Gefahren, mit deren Dräuen wir vertraut wurben, 


wie durch die leidenſchaftlig glichteit an Landesherrn 
und Vaterland ſtark machte,u n Zeit, fagt er, vermochte 
bie alte Gefchichte nicht mehr zuı enn fie fich nicht an Klar— 
beit und Beſtimmtheit neben wart ftellen konute. "Und 
indem ber Hiſtoriker fich, ene vergangene Welt auf 
das Anſchaulichſte vergegenmn über Hecht und Ungerech- 
tigfeit, Weisheit und Thorbeil ng und ben Untergang bes 


Herrlihen, wie ein Mitlebenver, une. bewegt reben feine Uppen 
darüber, obwohl „Hecuba dem Schaufpieler nichts ift.u Ya fürwähr 
Niebuhr lebte mitten in dieſem Römervolk, er burchlebte mit ihm 
feine ganze Geſchichte, die erft in feinem Geiſte fich als eine zuſam— 
menhängende, fortlaufende Entwidelung in organifcher Einheit geftal- 
tete, erſt durch ihn dieſe Geftalt für und gewann. Nicht die äußere 
Gefchichte des Volks allein betrachtet er, bei Weitem mehr noch be- 


-  fchäftigt ihn das Wachsthum besfelben von innen heraus: bie urfprüng« 


lihe Bildung aus verfchievenen Beftandtheilen, bie Veränderungen 
ter ſtaatlichen Inſtitutionen, die agrarifchen Verhältniffe, Handel und 


. Wandel, Kunft und Literatur. Die gefammte nationale Entwidelung 


wird und von ihm in einem ebenjo reichen als lebensvollen Gefammt- 
bilde vorgeftellt. Vom nationalen Stantpunft aus fehreibt Niebuhr 
die Geichichte Roms, aber zugleich ift feine Auffaffung doch durch und 
durch univerjell. Wie zieht er unabläffig die Gefchichte aller Völker 
herbei, um die Gefchichte des einen Volkes zu begreifen? Und wer 
wüßte nicht wie fruchtbar dieſes Buch für eine vichtigere Behandlung 
ber allgemeinen Gefchichte geworben ift? Man kann fagen, er durch⸗ 
lebt in der Geſchichte Roms die Weltgefchichte und wir mit ihm. 
Das war ein ganz anderes Ideal, dem Niebuhr nachftrebte, als einft 
dem Livius oder irgend einem anderen Römer vworgefchwebt hatte, 
und fchon deshalb mußte Niebuhr mit der ganzen alten Zrabition 
vechen. So ijt es überhaupt; unfere moderne Geſchichtswiſſenſchaft 





Enticklung der beutfchen Geſchichtswiſſenſchaft. 11 


muß über vie Vicherlieferung hinausgehen, weil vie Zielpunkte derfel- 
ben nicht an ihr real hinanreichen, nicht hinanreichen können. Wie 
oft ift ihr vorgeworfen worten, daß fie ver Willfür ſich preisgebe, 
intem fic von tem Buchftaben ver Tradition weiche. Gewiß, fie hat 
fich vom Buchſtaben gelöft, aber nur im Glauben an die Macht des 
Geiftes, ohne welchen die Freiheit ver Wiffenfchaft wicht möglich ift. 
Wo Freiheit ift, da ift Die Möglichkeit des Irrthums, aber ohne 
Freiheit und Selbſtſtändigkeit der Forfchung gibt es im Sinne der 
Wiffenfchaft feine Wahrheit. 

Erſt indem die Gefchichtswiffenfchaft das nationale Princip mit 
aller Energie erfaßte und von ihm erfaßt wurde, gewann fie 
gegen vie anderen Wiffenfchaften auch änßerlich bei uns eine völlig 
freie Stellung als ein ſelbſtſtändiges Studium. Es Äft richtig, fie 
hätte fich zu der Höhe der Auffaffung, auf welcher fie jett fteht, 
niemals erbeten lönnen, wenn ihr nicht Die verwandten Wiffenfchaf- 


- ten vielfach vorgearbeitet, wenn nicht auch dieſe, von demſelben Zeitgeift 


ergriffen, eine ähnliche Richtung eingefchlagen Hätten und ihr nod) 
immer hülfreich zur Eeite ſtänden. Jedermann fennt die nahen Be⸗ 
zichungen der Gefchichte zu den Hifterifchen Difeiplinen der Theologie, 
zur Alterthumswiſſenſchaft, zur vergleichenden Sprachkunde, zur Juris⸗ 
prubenz, zu ten Staatswiffenfchaften, zur Geographie; aber Niemand 
wird bie Gefchichte deshalb noch als eine Hilfswiffenfchaft des einen 
over des andern Studiums anfehen. Eie fteht vielmehr in ber Mitte 
aller jener Wiffenfchaften, ebenfo reichlich fpenvend als empfangend; 
fie verfolgt ihre beſondere Straße, vie fich freilich tauſendfach mit 
den Bahnen anterer Wiſſeuſchaften durchkrenzt. So ift fie in gewif- 
fem Sinne eine neue Wiffenfchaft, aber fie hat nichts deſto weniger 
doch eine lange und rühmliche Vergangenheit, und fie hat fich überdies 
alle jene Vorzüge bewahrt, welche fie bereits auf ihren Vorjtufen ges 
wonnen hatte, nicht allein bewahrt, fonbern jeden erhöht. 

Bor Allen den Ernſt und den Fleiß Der Jorfhung Wem wäre 
unbekannt, welchen Aufſchwung vie Hiftorifche Forſchung bei ung ge- 
nommen bat? Welche Fülle neuen Maaterials ift berbeigefchafft! 
Wie ift die alte Gefchichte bereichert worten! Die hiftorifche Diutel- 
lenliteratur des Mittelalters wird gleichfam jet erft nutzbar gemacht. 
Die neuere Gefchichte wird mit einer faft erdrückenden Maffe des 





W. Gieſebrecht, 


Stoffes ausgeſtattet. Die Wiſſenſchaft müßte erliegen unter der Wucht 
biefes Materials, wenn nicht dem Sammlerflaß mit gleicher Emſig— 
feit die kritiſch ſondernde Thätigfeit zur Seite ſtände. Die Kunſt 
der hiftorifchen Kritik, vor Allem durch Niebuhr feiner und ſchärfer 
aufgebiltet, wird mit immer größerer Eicherheit gehandhabt, im immer 
weiterem Umfauge angewendet. Ein großer Gewinn für imfere Wif- 


jenfchaft ift, daß fie eine fd Trennung ber Geſchicht— 
ſchreibung von ver Forſchung duldet. Wenn wir auch 
nanihafte Forſcher beſitzen, denen die t ber Darſtellung verſagt 
iſt, ſo haben wir doch ſeit N großen Geſchichtsſchreiber, 
der nicht zugleich auch For witechendem Sinne wäre, 
Unfer erfter lebender Ge) zugleich ver fcharffinnigfte, 
der am meiſten kritiſche Fo age. 

Strenge Forſchung iſt ſaue und Niemand unterzieht 


ſich leicht derſelben, den nicht ein aufrichtiges Streben nach Wahr- 
heit. beſeelt. Und dieſes Wahrheitégefühl iſt neben der Gründlichkeit 
das andere edle Kennzeichen unſerer Hiſtoriographie geblieben. Als 
Niebuhr die inneren Widerſprüche ter römiſchen Tradition aufdeckte 
und ſeine Anſchauungen an die Stelle tauſendjähriger Ueberlieferun— 
gen ſetzte, da hat wohl Mancher ungläubig den Kopf geſchüttelt, aber 
Niemand hat doch ernſtlich zu behaupten gewagt, daß es damit ledig— 
lich auf ein geiſtreiches Spiel abgeſehen ſei, ſondern Jeder fühlte, 
daß ein Mann gleich ihm nur um der heiligen Wahrheit willen den 
Glauben von Jahrhunderten erſchüttern konnte. Wer fühlt nicht den 
Abjtand zwifchen dem fittlihen Rigorismus Schloffer’8 und der freie- 
ren Lebensanfiht Ranke's? Aber wie verfchieden auch ihre Anfchau- 
ungen von dem großen Entwidelungegange ver Menfchheit find, wie 
anders fi) die Zeiten und Menfchen in ihrem Geifte fpiegeln, das 
Trachten nach der Wahrheit ver Geſchichte und das Fräftigfte Ningen 
nach der Erfenntniß derſelben wird man ihnen in gleicher Weife zu- 
fchreiben müffen. 

Und wie das Tebendige Wahrheitsgefühl, fo ift auch ber nabe 
verwandte Sinn für Gerechtigkeit, für Gerechtigkeit gegen jebe gefchicht- 
liche Enkwickelung, gegen jedes Vol, jede Hiftorifche Perfönlichfeit un⸗ 
-ferer Geſchichtswiſſenſchaft geblieben. Unſerer Wiffenfchaft fage 
ch, denn bie hiftorifche Tagesliteratur ift von dem Geift der Parteten 





Entwidlung ber beutfhen Geſchichtswiſſenſchaft. 13 


nur zu ſtark inficirt werben. Man hat von ber rechten Seite wie 
von ber linfen laut genug ven Ruf erhoben: auch ver Hiſtoriker müſſe 
auf der Warte ter Partei ſtehen; jene leidenſchaftsloſe Ruhe, welche 
man wohl fenft an ihm gejchägt habe, fei doch nur entweder natür« 
liches Phlegma oder bewußte Täuſchung; er folle mithaffen une mit- 
lieben wie anvere Sterblidde, mitjchlagen bie Echladhten feiner Zeit 
mit den ihm eigenen Waffen. Es ijt ein Schein der Wahrheit in 
folhen Worten, aber doch nur ein Schein. Das Parteitreiben ijt 
weder einem grünklichen Studium abfonverlih günftig, noch läßt 
das tiefere Etutium eine ertreme Parteiftellung zu. Je mehr es 
übervied tem Hifterifer glüdt, fih das Bild einer entſchwundenen 
Zeit zu vergegenwärtigen, je mehr wird es ihn anwibern, feine Ans 
ſchauungen ven terjelben durch tie unfertigen und unficheren Geftal« 
tungen der Gegenwart zu verwirren. Es ift nicht fo lange ber, daß 
man vecht gefliffentlich Stoffe auffuchte, welche irgend eine Analogie 
mit ben momentanen Zeitbewegungen barbeten und dann in fteter 
Rückſicht auf dieſe behandelte. Man wähnte da wohl biftorifche 
Werke zu fchaffen, aber es zeigte fich bald, daß man nur politifche 
Broſchüren der ungejchidteften Art zu Stande brachte. Für die Wif- 
fenfchaft blieben terartige Proructionen meift ohne erheblichen Nutzen, 
und auch für bie Parteien hatten fie felten ben erhofften Erfolg; fie 
waren zu breit und gefpreizt für Die Menge und kamen gewöhnlich 
erſt an den Tag, wenu bie fortjtürmende Bewegung bereits den Höhe— 
punkt überfchritten hatte. Nichtig ift es, daß ven den Geſchichtsfor— 
fhern, welche bie fetten Jahrzehnte entwidelt haben, wenige theils 
nahmslos den politifihen Kämpfen unjerer Zeit zugefehen haben, — 
und wie hätten fie es fünnen. Aber es ijt nicht minder Thatſache, 
bag Die herverragenberen fi von den extremen Parteien abwandten 
und überdies die hiſtoriſche MWiffenfchaft vor ven Einwirkungen ber 
Zagespolitif möglichjt zu ſchützen fuchten. 

Genug hievon! Welche VBerivrungen auf ven Gebiet der Tages- 
literatur auch von dem Parteileben herbeigeführt fein mögen, vie 
Wiffenfchaft ſelbſt ift durch vafjelbe in ihrem Gange wenig beirrt 
worten. Eie ift ihrem Streben nach objectiver Wahrheit und Unpar« 
tbeilichkeit treu geblieben. Steinen befferen Beweis dafür weiß ich an« 
zuführen, als die Anerkennung, welche fremde Nationen noch immer 





W. Giefebredht, 


nicht allein ver Gründlichkeit, fondern auch ber Wahrbaftigfeit unſerer 
Gefchichtfchreiber zolfen. Sie ſelbſt geben zu, daß deutſche Hiftoxifer 
durch dieſe Eigenjchaften fie oft ewft über ihre eigene Geſchichte in das 
Klare gefetst haben. Die Italiener preifen als bie beſite Gejchichte 
ihres Volks ein deutſches Buch, das wir jest Faum noch ala mujter- 
gültig gelten lafjen. Die Engländer räumen ein, daß die Geſchichte 


ber Angeljachfen zuerit von r jtreng kritiſchen Bearbei- 
tung unterworfen und bas m ihrer älteren Geſchichte 
durch Deutſche neu angeregt um rlich wird ein Franzoſe in 
Abrede jtellen fünnen, daß bit nz I. niemals einen grünbli- 
cheren, unparteiifcheren umb cen Darjteller gefunden bat, 
als einen beutfchen Profeſſ nfer unbeftrittener Ruhm: 
die deutſche Forſchung hat ler Völker Europas berei- 
dert und aufgeklärt, ber ne ichfeit, Unparteilichkeit un 


Wahrheitsliebe find alle Rauonen zu nf verpflichtet, Und was 
banft bis heute unfere Gefchichte ver Forfhung anderer Nationen? Es 
bedarf darauf Feiner Antwort. 

Nod auf eine andere Zhatfache, welche für die Unparteilichkeit 
unferer Gefchichtfchreibung zeugt, erlauben Cie mir eine Hindeutung. 
Vielleicht nirgends ift die Unparteilichkeit des Hijtorifers härter ge« 
prüft, als auf dem confefjionellen Gebiete. Aber fihon begegnen -fich 
deutſche Gefchichtsforjcher beider Bekenntniſſe, des evangelijchen und 
bes römifch-kathelifchen, in verwandten Aufchauungen, und wo nur 
wirklich wijfenjchaftliche Begründung der Anficht und tieferes Studium 
iſt, bahnt fich eine Ausgleichung von Gegenſätzen an, welche Yahr: 
hunderte fchmerzlic bewegt haben. Die deutſche Theologie hat die 
Religionsſpaltung herbeigeführt, und fie war meiner Anſicht nach da⸗ 
bei in ihrem vollen Rechte; aber auch mit folhem Bekenntniß Fann’ 
man ein erfrenliches Zeichen gebeihlicher Entwidelung darin fehen, daß 
bie deutſche Gefchichtöwiffenfchaft in ihren Streben nach objectiver 
Wahrheit eine Verftändigung aubahnt über Streitfragen, welche Europa 
und am fchmerzlichiten unfer Vaterland zerriffen haben. 

Weder die gelehrte Gefchichtsforfchung, wie fie bis gegen Ende 
bes vorigen Jahrhunderts blühte, noch die ihr folgende philoſophirende 
Hiftoriographie hatte, wie ich berührte, ein fonberliches Intereſſe für 
die Gefchichte unferes Volks gezeigt. Aber feitvem den nationalen Ge- 





Entwicklung ber deutſchen Geſchichteéwiſſenſchaft. 15 


danken bie hiſtoriſchen Studien erfaßt hatten, konnten fie nicht länger 
in folcher Sleichgültigfeit fich gegen das Studium ber eigenen No- 
ttonalgefchichte erhalten; vielmehr mußte dieſes in ben Mittelpunkt 
aller Beftrebungen auf dem Gebiet der Hiftorie über kurz oder lang 
mit unabweislicher Nothwendigkeit treten. Es ift befannt, wie fchon 
unmittelbar in den Zeitbewegungen, welche ver Geſchichtswiſſenſchaft 
ben neuen Anſtoß gaben, patriotifche Männer als begeifterte Xehrer ver 
vaterländifchen Gejchichte auftraten und fchnell in weiten Streifen Ans 
Hang fanden. Die augenblidlihe Wirkung war außerorbentlih. Wohl 
wenige Lehrer der Gefchichte haben einen dankbareren Zuhörerfreis ges 
habt, als Luden in Jena, und felten ijt ein Buch mit größerer Sehn— 
fucht in Deutfchland erwartet worben al8 feine Gefchichte des veutjchen 
Volks. Aber der Enthufiasmus verrauchte fchnell, und man hatte von 
Hiftorifcher Wiffenfchaft fchen viel zu beftimmte Vorftellungen gewons 
nen, als daß man Erörterungen, bie fih vor Allem durch das patrio- 
tifche Gefühl zu begründen fuchten, einen erheblichen wiffenfchaftlichen 
Werth hätte einräumen follen. Ein tieferes Studium unjerer Ges 
fehichte, wie e8 den jeigen Anforberungen der Wiſſenſchaft entjpricht, 
hat fich erft an ven Monumenta Germaniae entzündet. Diefes Werk, 
von bem man wohl fagen tarf, daß es in ber biftorifchen Literatur 
feines Gleichen nicht hat, verbanft man zunächſt dem eifernen Fleiß 
und ber bewundernewürbigen Lmficht tes berühmten Herausgebers, 
aber e8 ift doch vor Allem ein Probuct des neuen Geiftes, ver fich 
in unſerer Gefchichtswiffenichaft entfaltet hat. Nicht allein, daß ver 
große Karl von Stein auch diefes nationale Werk angeregt und vor⸗ 
bereitet hat, es ift auch vurchgeführt in feinem Sinn und im jteten 
Hinblid auf ihn und feine patriotifhen Anfchauungen. Und es ift 
Niebuhrs Geijt zugleich, der das Ganze durchweht; man kann mit 
Fug behaupten, ohne Niebuhrs Forfchungen hätte Steins Gedanke nie 
von Pert fo in das Leben geführt werten können. 

Seit der Herausgabe ver Monumenta Germaniae herrſcht num 
eine Ihätigfeit auf dem Gebiet der beutfchen Gefchichte, wie nie zu— 
vor. Die Kennutniß unferer Vorzeit ift in den letzten Jahrzehnten un« 
gemein gefördert worden und neue Fortſchritte werden auf dieſem Ges 
biet der Wilfenfchaft von Tag zu Zuge gemacht. Freilich haben wir 
feine den Anfprüchen ver Wifjenfchaft auch nur von fern entfprechenve 





16 W. Giefebrecht, 


allgemeine Gefchichte unferes Volks bis jebt entſtehen fehen, und 8 ijt 
jehr zu bezweifeln, ob für ven Augenblick oder die mächſte Folge ſelbſt 
dem glänzendſten Genie unter den günſtigſtin äußeren Berhäliuſſen 
ein ſolches Werk gelingen wirds: Wir ſtehen vielmehr noch in dem 
Stadium der vorbereitenden Arbeiten: bie wiſſenſchaftliche Bewegung 


ſetzt ſich vornehmlich durch m Bearbeitungen fort" Aber 
ber Gedanke an das Ganze t auch dieſe Monographien; 
man weiß, e8 find nur Baufteme ome, beifen erbhabener Ban 
dem Geift vorfchwebt. 

Und das ift num überhaupt ber ter ber biftorifchen Wiffen- 


Ichaft in unferen Zagen, Man hat t bite Ziel in das Auge ges 
faßt: das Leben ber Menfchheit, w— fih in dem Zuſammen— 


und Auseinandergehen ver Bbllerint ititen gejtaltet, in feiner 
Entwicdelung zu begreifen, im ber aller feiner Erſcheinungen 
zu erfaffen, und zwar nicht alleii Berftande, fondern mit ver 
ganzen Kraft der Phantafie im r Gegenwärtigfeit. Aber 


man hält fich überzeugt, daß man nicht durch irgend eine wunderbare 
Enthüllung des Geiftes zu dieſem Ziel gelangen wird, ſondern nur 
durch die gründlichſte Unterjuchung jedes einzelnen Erbftücdes aus der 
reichen geijtigen Hinterlaffenfchaft ver Vorzeit, nur durch das Hinein- 
leben und Sichverfenfen in die ganze Fülle der echten Tradition, welche 
bor Allem von der unechten mit Nothwendigkeit zu feheiden ift. Man 
weiß vecht wohl, daß der Weg zum Allgemeinen von dem Speciellen 
und Specielljten ein fehr weiter ift, aber man hält ihn für den einzig 
richtigen und zieht mit Recht jeden ruhigen Schritt auf dieſem dem 
higigen Hin= und Herftürmen durch taufend Irrwege vor. Das letzte 
Ziel liegt fo weit, daß wohl Niemand fagen könnte, ob es jemals er⸗ 
reiht wird — es ift ja auch in ben anderen Wilfenfchaften kaum an- 
berg, und wir willen nicht, follen wir uns befjen freuen oder e8 be— 
Hagen, daß die menfchliche Wiſſenſchaft wenigjtens in ihrer Unendlich— 
feit dent Göttlichen analog feheint — aber wie weit und befchwerlich 
der Weg zu jenem Ziele auch ift, er ift doch zugleich überaus anzie- 
hend und lohnend, und wird das Iette Ziel nicht erreicht, fo liegen 
fhon auf vem Wege zu ihm Nuhepunfte, welche auch die größten De- 
ſchwerden vergeffen machen. Noch bemerkt man nicht, daß die Jünger 
ber Wiffenfchaft auf diefem Wege ermatten, obwohl die Schwierigfei- 





. Entwidiung ber beutfhen Geſchichtswiſſenſchaft. 17 


ten ſich eher zu fteigern al® abzunehmen feheinen. ‚Niemand verhehlt 
fich, wie wenig im Verhältniß zum Ganzen gethan tft, wieviel noch zu 
ten bleibt. Der tiefer Blickende erkennt wohl, daß ver fittliche 
&enft, mit welchem bie neuere Gefchichtsfchreibung und Forfchung auf- 
trat, fich nicht Immer auf gleicher "Höhe gehalten hat; gerade da, wo 
bie Menge am lautefter den Fortſchritt begrüßt, wird er ihn fehiver- 
lich: ſuden. Aber daß Fortfchritt im Allgemeinen, daß Leben und Be— 
wegung auf biefem Gebiete der Wilfenfchaft ift, wird Niemand in 
Abrede ftelfen; ebenfowenig wird man leugnen können, daß der Preis 
der Wilfenfchaft ein hoher, der fehwerften Mühe wiürdiger ift und 
daß wir energifche, hochbegabte Männer aus unferen Volke mit allen 
Kräften ihres Geiftes nach dieſem Preife ringen fehen. 

So allgemein diefe Bemerkungen find, Fönnen fie doch darüber 
feinen Zweifel lafjen, daß ich die Entwidelung und ven Stand ver 
biftorifchen Wiffenfchaft bei uns für einen günftigen halte, noch dar⸗ 
über, daß ich die Fortfchritte dieſer Wiffenfchaft vor Allen in ver 
geiftigeren und lebendbigeren Erfaffung der Vergangenheit, wie in ver 
Bertiefung der gelehrten Forſchung ſehe. Meine Meinung kann da- 
nach nur bie fein, daß das afatemifche Studium diefem allgemeinen 
Gange ver biftorifchen Wilfenfchaft ſich anfchliege, von ihm fich Leiten 
laſſe, andererſeits aber auch ihn unterftüge, vegele und fortleite. 





2. Falſche Ridhtiungen. 
Schreiben an den Herauögeber von Georg Waitz. 


Berehrtefter Freund! 


Die Unternehmung ver Hiftorifchen Zeitfchrift kann niemand mit 
größerer Theilnahme begrüßt haben als ich. Seit Fahren habe ich beklagt, 
daß wir eines folchen Organs für unfere Wiffenfchaft entbehrten, 
daß, während alle möglichen Fächer mit Zeitfchriften reich gejegnet 
waren, während auch für einzelne Seiten und Zeige der Gefchichte, 
für Hülfs- und Nebenwiffenfchaften folche beftanden, uns Hiftorifern 
ein periodifches Blatt abging, in dem wir Öelegenheit hätten, und 


über wichtige Fragen zu verftändigen und zugleich zu ven weiteren 
Diſtoriſche Zeitſchrift 1. Ban. 2 





18 G. Wait, x 
Kreifen zu fprechen, vie für geſchichtliche Wiſſeuſchaft Snterejje habe, 
Denn auf dies beides ſcheint es mir auzulommen, und beives will, 
wenn ich Ihr Programm richtig verſtehe, Ihre Zeitjchrift leiſten Sie 
will weder gelehrte Specialmterfuchungen noch populäre Unterhaltung 
bringen; fie will der Wiffenfchaft dienen, ihre Aufgaben und Öragen 
aber fo verhanveli, daß auch andere als die Miiimer don Fach baran 
theilnehmen können, überzeugt, daß kaum eine andere Diseiplin 


heutzutage dem allgemeinen jtebt als die Geſchichte, 
daß für bie richtige und „ rbigung der Gegenwart, 
ihrer Strebungen und Yu btiger ift, als eine leben— 
bige Erfenntniß der Berganyı irfen mit einem gewifjen 
Stolz und mit freubiger } daß unſere Wiſſenſchaft 
ſich in gedeihlicher Entwickel tannigfache friſche Kräfte 
find in derſelben thätig; Die. fgaben, bie fie jtellt, wer: 
ben in regen Wetteifer zu löjen Sammlung des Materials 


und bie kritifche Forſchung gehen tuch rwarts; in der Auffaſſung und 
Darſtellung kommen wir weiter; das eine ſtützt das andere, die Ar» 
beiten greifen fördernd in einander, und weder in ber einen noch 
der andern Beziehung brauchen wir den Vergleich mit andern Natio« 
nen zu fcheuen; zum Theil lafjen wir fie weit hinter uns. Ich zweifle 
nicht, daß bie Zeitfchrift von diefem frifchen Leben auf dem Gebiet der 
Hiftorie mannigfache erfreuliche Belege bringen wird. Sie will ja nicht 
Einer Richtung ever Schule ausjchließlich dienen. Alles, was wahr: 
haft die Wifjenfchaft fördert oder doch auf ihrem ficherem Grunde ruht, 
wird fie bereitwillig aufnehmen. Auch verfchiedene, an fich berechtigte 
Auffaffungen werden Gelegenheit haben, ſich zu äußern und gegen 
‘einander ihre Streitpunfte auszufechten. Ich freue mich nicht am 
Wenigften darauf, mit einem oder dem andern der Freunde, wie früher 
mit Ihnen in Schmidt's Zeitfchrift, über Fragen, fei e8 der Methode, 
fei e8 der Auffaffung, einen Strauß zu bejtehen. 

‚ Aber mit alledem fcheint eg mir noch nicht gethan zu fein. Die 
Zeitichrift wird auch noch andere Aufgaben, wenn ich fo fagen foll, 
Pflichten Haben, und Sie erlauben mir wohl, daß ich meine Theilnahme 
an derjelben mit einigen Bemerkungen hierüber beginie. 

Ich habe es als günftig hervorgehoben, daß mannigfache, unter 
ich verfchiedene Kräfte auf dem Felde ver Gefchichte thätig find, daß 


Tu 





Falſche Richtungen. 19 


verſchiedene Richtungen eingejchlagen werben. Uber wenn wir auch 
fern davon fine, zu behaupten, daß nur Ein Weg der rechte fei und 
nur in Einer Weiſe der Wiffenfchaft gevient werden könne, fo müſſen 
wir uns doch fehr entjchieven dagegen veriwahren, daß alle möglichen 
Wege berechtigt fein follen, daß alles, was fich unter tem Namen 
und einem gewiſſen äußeren Schein ver Wiſſenſchaft einführt, auch 
wirklich dieſer zugerechnet werden dürfe. Die Gefchichte, fagte ich 
weiter, foll vienen, die Gegenwart richtig zu faffen und zu beurtheilen; 
aber fat mit nichts iſt feit lange ſchon fo viel Mißbrauch getrieben, 
wie mit ber Behauptung hiſtoriſch zu fein oder hiftorifch zu verfahren: 
faft ift e8 ja vahin gefommen, daß dies cher zum Vorwurfe und 
Zabel al8 zum Lobe gereicht; gerade in unfern Tagen blickt man wohl 
manchmal mit nicht geringem Mißtrauen auf die Hiſtoriker und will 
fie verantwortlich machen für Dinge, die ihnen fo fremd wie möglich find 
und nichtd weniger als Vergnügen bereiten. Aber es gibt freilich 
ſolche, die fich für Hiftorifch ausgeben, mit denen wir uns nicht dür— 
fen zufammenreihen laſſen. Es gibt überhaupt auf dem Gebiet ver 
Gefchichte, ja mehr faft auf diefem als auf dem irgend einer andern 
Disciplin, Strebungen, die krankhaft und vwerberblich in hohem Grade 
find, die in der Anwendung, die fie auf das Leben fuchen, und in dem, 
was fie in der Wiffenfchaft felber thun, großen Scharen ftiften. 
Diefe muß unfere Zeitjchrift befämpfen, offen, entſchieden, rückſichts— 
108. Da darf fie fich nicht fcheuen, mit dem Schwerte breinzufchla- 
gen, darf fich nicht für zu gut Halten, Unkraut anszujäten, und wenn 
fie einen orventlichen Haufen bei einander hat, ein Inftiges Feuer 
bavon zu machen. Sie braucht barume nicht perſönlich zu werten; 
fie hat es mit den falfchen und vwerberblichen Nichtungen zu thun, und 
wenn gelegentlich dabei auch ein Freund oder Bekannter getroffen wird, 
fo muß das eben um der Sache willen mit hingenommen werden. 
Sie werden auch nicht einwenten, daß es doch wohl fo ſchlimm 
nicht fei, wie ich füge, ober daß wenigftens das Vorhandene fo 
große Gefahr nicht bringe. Allerdings der Wiffenfchaft felber nicht, 
das gebe ich zu. Die wird beftehen und Fortgang haben, ob man 
fie fchelte zerftörend und verneinend, revolutionär und antifirchlich, 
troden und poeftelos, over auch das Gegentheil, je wie bie Gegner 
geftimmt oder geſtellt fine. Aber fie will ja WRGE abgejchloffen für 
. 2* 4 





20 ©. Weit, 


fich fein; fie weiß, daß fie die Aufgabe und das Bermögen hab, ber 
Nation für ihre Bildung und ihr Veben Förberliches Darzubieten, und 
ed kann ihr daher nicht gleichgültig fein, wenn fie vor Diefer geſchmäht 
und verdächtigt wird, ober wenn berfelben jtatt gejunder Nahrung ver— 
doxbene oter unreife Früchte gegeben werben, jei es auf-heimijchem 
Boden gewachfene over vom fremoher eingeführte, Und wer kam 


läugnen, daß das fortwähr ebermaaß geſchieht. Läßt 
das Uebel auf der einen S t c8 auf ber andern neue 
Verbreitung. Hat man wm t radicalen franzöfifchen 
Gefchichtserzählungen zu übe t ntan um ſo mehr ultra—⸗ 
mentane Bücher und Abhan " foldye, die uns vergan⸗ 
gene Zuftände des ſtaatlich figem Lichte malen und 
anpreifen. Die einen, das Programm, find ver Wif- 
ſenſchaft und dem Leben el e die andern, Aber auch 
noch anderes ift cd, Das ı Il hervortritt, das feine 


beitimmten Zwede verfolgt, deſſen zueen mehr im einer gewilfen Be— 
fchränftheit und Bornirtheit befteht, die e8 an fich hat, und troß deren 
es fich gerne für etwas Großes und Bebeutendes, ja für das allein Bes 
rechtigte ausgeben möchte. Ja e8 gibt auch folche®, dem man nicht 
einmal dieſen Vorwurf machen Tann, das wenig Anfprüche erhebt, oft 
fogar mit großer Befcheivenheit auftritt und doch ſchädlich iſt. 
Vielleicht Feine Wiffenfchaft hat mehr von dem Dilettantismus 
zu leiden als die Geſchichte. Es thut einem vielleicht leid, es zu fagen, 
und es ijt doch wahr. Es geht einem ſchwer an, einen wohlmeinenven, 
eifrigen und fleißigen Mann in feinen Illuſionen zu ftören, ihm fein 
Vergnügen zu ververben. Uber wenn folcher gar zu viele werben, 
wenn fie andern im Wege ftehen, wenn fie Mittel verwenden, bie 
 Wightigeren Zweden vienen könnten, dann ift doch nicht darum zu kom⸗ 
auch ihnen einmal ernftlich entgegenzutreten. Wir wiffen alfe, wie 
unfere provinciellen hiſtoriſchen Vereine unter jenem Uebel leiden, und 
nur der aufopfernden Thätigkeit einzelner verdienſtvoller Männer 
t „ervanfen iſt, wenn wenigſtens eine Anzahl derſelben ihre Aufgabe 
eſſer erlanut und für fpecialbiftorifche Forſchung Erhebliches geleiftet 
Hat. Es ift zu beflagen, daß alle Verjuche, durch eine gewiffe Ver- 
Bindung größere Unternehmungen zu Stande zu bringen, überhaupt 
ein mehr wijjenfchaftliches Leben in ven Vereinen zu weden, ohne 





Falſche Richtungen. 21 


rechten Erfolg geblieben find. Die Vereine Hagen wohl, daß bie nam- 
haften Hiſtoriker fih zu ſehr von ihnen fern halten. Aber würde 
das gejchehen, gHefchehen können, wenn fie ver Wiffenfchaft auch nur 
bie Vorarbeit leifteten, vie fie fehr wohl zu leiften im Stande find, 
und die, wie gefagt, mehrere turch Veröffentlihung von Urkunden 
büchern oder Regeften, Herausgabe von Ehronifen und anderen Quellen, 
over durch monographiſche Unterjuchungen von Werth auch wirklid) gege- 
ben haben? Leid thut es dann befonters, wenn man fieht, wie Männer, 
bie auf einem gewijfen Gebiet ver Forſchung ganz Tüchtiges zu voll- 
bringen vermögen, fid) ‚daran nicht genügen lafjen, und fich entweder 
zu Aufgaben verfteigen , denen ihre Kräfte nicht gewachfen find, cber 
ihren Forfchungen alferlei beimifchen, das ihnen fcharffinnig oder geift- 
reich erjcheint und in Wahrheit doch nichts als Schein oder Selbft- 
täufchung iſt. Am übelften freilich, wenn es num gefchieht, daß man 
fih und andern die Möglichfeit und Näthlichkeit von Dingen einrebet, 
bie die ftrenge Wiffenfchaft als unnütz ober eitel verwirft, und 
wenn man durch Eifer und Rührigkeit Kräfte und Mittel zu gewin— 
nen weiß, die man nur mit fehr getheilten Gefühle fo verwandt 
fehen kann, wie fie verwandt werben. Ich meine, daß unfere Zeitfchrift 
nicht wird umbin können, auch in folchen Fällen ihre Stimme zu er- 
heben, wo man vem Eifer und der Hingebung für eine Sache gerne 
Gerechtigfeit widerfahren, auch einen Theil der Bejtrebungen wohl 
gelten läßt, anderes aber für völlig nußlos halten und jebenfalld den 
wifjenfchaftlichen Gewinn als in gar feinem Verhältniß zu dem Auf- 
wand ftebend betrachten muß. Das ift eben das Ueble, daß ven Hafb- 
fundigen in vielen Fällen vie öffentliche Beſprechung überlaffen wir, 
und ein Urtheil, das man mündlich faſt gleichlautend von jedem Sach⸗ 
verftänbigen hören Tann, oft gar nicht in die Deffentlichkeit tritt. 
Aber auch das Stillfchweigen Tann Unrecht fein. Und wenn der Ein- 
zelne fich vamit beruhigen mag, daß er nicht mehr als jeber andere 
verpflichtet fei, feine Anficht auszufprechen, ein wifjenfchaftliches Organ 
hat dieſe Entfchuldigung nicht. Es muß ter Sache, die es vertritt 
auch in folcher Weife dienen. 

Aber unfere Wiffenfchaft hat wohl fchlimmere Feinde zu bekäm⸗ 
pfen als den Dilettantismus. Es ift wahr, dieſer ift meift unkritiſch 
unmiffenfchaftlich, aber er ift es wenigftens, weil er eben nichts F 





G. Waitz, 


res weiß und kann, in einer naiven und faſt, möchte man fagen, aus 
ſchuldigen Weiſe. Viel widerwärtiger erſcheint mir eine Richtung, 
bie ſich ſeit einiger Zeit im ber Literatur breit zumachen anfängt, 
bie fih ihrer Feindſchaft gegen bie Kritif offen rühmt, bie fich für 
pgſitiv, aufbauend, geitaltend ausgibt, im Gegenſatz gegen negative, 
beftructive Tendenzen, welche. die Meifter unſerer Wiſſenſchaft in ben 
legten Decennien befolgt und aelehrt baben ſollen. Die Lente haben 


einen Nefpect vor dem ge ie ber Bauer vor bem ges 
bruckten: was irgend einmmas r hinter einander gejchrie= 
ben, Mylhen und Sagen, fchichte, das foll man jo 
Befagpen und ja möcht mit daran gehen, folche Ge» 
webg, dus einander zur trenne ſen, ob die einzelnen Be: 
ſtandtheile vielleicht brand hen Rollin Lieber. iſt als 
Niebube — wie einer im fi nicht entblöbet hat, 
druden zu laſſen, — jo wer ſche Geſchichte lieber vom 
Pater Daniel als von Guizer ver rıy fih lehren laſſen, das 


bentfche Alterthum aber, wenn fie fich überhaupt um folches küm⸗ 
mern, wohl gar aus Zrittheim oder Sebaftian Franck ftubiren, da 
die Reichshiftorien des 18. Jahrhunderts ihnen leicht fchon zu viel 
Kritik und politifchen Sinn enthalten möchten. Solcher falſcher Eon 
fervatismus hat fich im neuerer Zeit vornemlich auf dem Gebiet der 
Alten Gefchichte hervorgebrängt, und bie etwas kühnen Berfuche, bier 
neue Wege zu bahnen, haben ihm, fcheint es faft, ein neues Vertrauen 
zu feinen alten Pfaden gegeben. Ich habe manchmal gemwünfcht, 
biefe Herren von ber Philologie oder Yurisprudenz möchten fich aud) 
einmal etwas um bie hiftorifchen Duellen des Mittelalters kümmern, 
fie möchten fich einmal das 10. over 11. Jahrhundert in ben Chro— 
nifen des 14. 15. und 16. Jahrhunderts befehen, um zu lernen, wie 
in verhältnigmäßig fo furzer Zeit die Ueberlieferung ausartet, bie ver- 
fehrteften Dinge zufammengehäuft werben. Ich vachte wohl einmal 
in jüngeren Jahren baran, den Spaß zu machen, die Gefchichte eines 

u Kaiſers, eines Dtto I. etwa, aus biefen Büchern zujanı- 

tellen, ganz gelehrt, mit vielen Citaten aus lauter mittelalter- 
Ice Autoren, und doch fo, daß auch nicht ein Factum ber wahren 
Sefchichte entfpräche. Vielleicht würde freilich auch ein ſolches Exem⸗ 
el nichts helfen. Man risfirte am Ende, daß einer käme und fich 





Falſche Richtungen. 23 


wirklich in dieſe Darftellung verliebte und dann den Widukind ober 
Thietmar gar nicht mehr gelten Tieße. Denn oft genug geht ver Haß 
gegen bie Kritit fo weit, baß recht wie zum Trotz gegen biefelbe das 
Unglaublichfte glaublich gemacht, das Falſcheſte als ächt vertheibigt 
werden ſoll: man läßt nicht bloß vie Franken wirklih von Zroja, 
die Bayern aus Armenien kommen, man bat eine‘ Vorliebe felbft 
für grobe Betrügereien, wie jenes Machwerk des 16. Jahrhunderts, 
den fogenannten Hunibald, ten Zrittheim für einen Zeitgenoffen 
Chlodovech's ausgab, als wenn eine innere Stimme fagte, daß bie ei⸗ 
genen Leiſtungen ungefähr von gleichem Werthe feien: ein Urtheil, 
das freilich nicht auf alle Anwendung finden foll, die diefer Richtung 
angehören, aber faum zu hart ift für Arbeiten, die von ihr aus unfer 
beutfches Alterthum zum Gegenſtand ihrer vermeintlichen Reftauration 
lange verfchmähter Wahrheiten gemacht haben. Darin find bann 
freilich die einzelnen, die in diefem Kampf zufanmenftehen, auch wies 
ber ſehr verfchieden von einanver, daß vie einen von gewiſſen Errun⸗ 
genfchaften der neuen Wifjenfchaft überhaupt nichts wiſſen wollen, 
während andere gerade auch von ihnen Gchrauch zu machen fuchen, 
nur freilich in ber werfehrteften Weiſe. 

Ja wenn ich fehe, wie dies von einzelnen, bie gerne ein großes 
Wort unter den Hijtorifern führen und auch ein zahlveiches und gläus 
biges Publifum haben, gefchieht, dann begreife ich allerdings, wie einen, 
der nur dies beachtet und den Mißbrauch mit auf Rechnung berer 
fchreibt, die die Möglichkeit dazu gegeben haben, Abneigung und Miß— 
trauen gegen manches in ver modernen Wiffenfchaft ergreifen Tann. 
Aber cr follte dann feine Streiche dahin führen, wohin fie wirflich ge- 
hören. Es ift gewiß für feinen erfreulich, wenn die großartigen For⸗ 
ſchungen unferer Zeit über den Zufammenhang der Völker, ihrer Spra- 
chen, Religionsvorjtellungen, Sitten u. f. w., fo vermwerthet werben, daß 
man in ver Gefchichte eines beftinmten Volks hunderte von Seiten 
lang Dinge lefen muß, die mit diefer Gefchichte fo gut wie gar nichts 
zu Schaffen Haben. Nur daß es nicht eben Wunver nimmt bei einem 
Autor, der fich darin gefällt, man muß fagen, alles was an abfonder- 
lichen, höchſt unficheren ober geradezu falſchen Anfichten über eine 
frühe und dunkle Zeit ausgefprochen iſt, zufammenzubhäufen, wenig bes 
fümmert darum, daß bie einzelnen Meinungen fich in Wahrheit 





G. Waitz, 


gar nicht mit einander verkragen, und daß das Volk, das ſich fo jeine 
Urgeſchichte. behandeln laſſen muß, immer von Neuen die wunberlichiten 
Metamorphoſen durchzumachen, bie verſchiedenſten Zuftände und stul: 
turen burchzuleben hat, um envlich ba anzufonmmen, wo andere wen— 
ger zu Phagıtafiekilvern geneigte Augen fie zuerjt auftauchen und in 
friſcher Zugendkraft ihr Leben beginnen ſehen. Es iſt doch gerabe, 
Ben ein neuer Hunibald ums irrefübren wollte, 


·Ich finde biefem M Biffenfchaft einen anderen 
wawant, der mir noch em belämpft werden zu müſ⸗ 
ſen He er. meift nicht jo aus ritt, fi wohl noch mehr 
in: ver Mantel befonderer t und Grünplichfeit hüllt, 
feine- Anhänger ſich der gia ate rühmen uud wohl mit 
einem gewiſſen Mitleid auf bie nicht jo umfichtig und 
weiße find, wie fie, die mm nen müſſen, um ben wah— 
ren Sinn der hiltorifchen len, die wahre Bedeutung 


ver Ereigniffe aufzufchliefjen mw ya wecnumvigen. Ich babe mix ſchon 
einige Male die Mühe nicht verdrießen laſſen, Arbeiten viefer Art zu 
beleuchten und vie außerhalb ver Wifjfenfchaft ftehenden aufmerkſam 
barauf zu machen, daß hier nieift Die willführlichften Einbilaungen ſtatt 
verläglicher Ueberlieferung und berechtigter Auffaffung geboten werben. 
Ich bin wahrlich nicht gemeint, der Combiyation auf dem Gebiet der 
Ferſchung ihren Platz zu beſtreiten, oder zu behaupten, daß bie Ge— 
ſchichte -nishts anderes ſolle, als nackte Thatſachen regiſtriren. Sie 
will den rechten Zuſammenhang und die wahre Bedeutung der Dinge, 
ihren Werth für das Leben und die Entwicklung der Menſchheit, des 
Volkes, des Staates oder des kleineren Kreiſes, um ben es ſich eben 
handelt, darlegen: aber fie wird dieſe ihre Aufgabe nur würdig löſen, 
wenn ſie nüchtern und beſonnen, Karen Blickes und freien uneingenom⸗ 
menen Sinnes an dieſelbe, herantritt, wenn ſie auch erkennt, daß ih— 
rem Wiſſen Grenzen gezogen find, und daß am weuigſten ber Einzelne 
ein Recht hat,. die Tücken ber. Ueberlieferung mit den Gebilven ie 
ntafie auszufüllen oder ‚bie vereinzelten Zrümmer berfelben will 

ch zufanumenzufügen aber zu einem Ganzen von modernem Styl 
Une ‚Veift. zu TERN. Ich weiß fehe wohl, daß ich bei meiner Ab⸗ 
neigung und Polen hiergegen auchnit befreundeten und ſolchen zu 
tg. habe, ‚mit denen ich ‚wich in „anderer ‚Beziehung. auß gleichem 





Falſche Richtungen. 25 


Boden weiß. Manchmal mag es ſich auch mehr um die Form als 
die Sache handeln. Ich mag das Recht nicht durchaus in Abrede 
ſtellen, ſorgfältig und mühſam Erforſchtes, auch da wo ſich rechte Ge⸗ 
wißheit freilich nicht gewinnen läßt, mit gutem Selbſtvertrauen fo hin⸗ 
zuftellen, als fehle ihm eigentlich nichts an voller Bewahrheitung, ob» 
Schon folches meiner Art, ja meinem Begriff von hijtorifcher Wahr: 
heit wiberfpricht, der mir zu fordern feheint, daß der größere over ge 
ringere Grad der Zuverficht fich auch äußerlich Fundgebe. Man ſchwächt 
damit wohl tie Wirkung ber ‘Durjtellung. Aber die darf doch auch 
nie das Höchfte fein. Doch etwas ganz anderes ift es noch, wenn 
überall folche forgfältige und mühfame Forſchung fehlt, over wo Fleiß 
und Mühe aufgewandt fin, die Grundbedingungen des Gelingen 
abgingen, gar fein Verftändniß von wahrer Forſchung, gar Fein Ernft, 
feine Gewiſſenhaftigkeit ver Arbeit vorhanden waren, ſondern mit einem 
äußerlichen Zufammentragen von Nachrichten fich ein ganz und gar wills 
fürliches Deuten von Worten, ein Zwifchensbies Zeilen-Lefen, pas alle Bes 
griffe überjteigt, verbindet, und dazu dann ein Hineinlegen von Tendenzen 
in Zeiten und Begebenheiten, von benen ein unbefangenes Auge nicht 
bie Feinfte Spur zu entbeden vermag, fich gefellt. Ja da ift mir 
bie alte naive Gefchichtserzählung auch Lieber, im Vergleich mit folchem 
Zurechtmachen ber Dinge erſcheinen mir ihre trodtenen und langweiligen 
Relationen vergangener Zeiten wahrhaft ehrwürdig. Der oft gefchmähte 
Pragmatismus des vorigen Jahrhunderts und die äſthetiſche Schön- 
färberei, vie fih mit ihm verband, find noch lange nicht fo gefährlich, 
wie dieſe fih für geiftreih und wahrhaft wiljenfchaftlich haltende 
Manie. Und zwar wird fie abftoffender, je mehr fie in das Detail ein- 
geht, wohl gar fich in monographifchen Unterfuchungen und Abhand- 
lungen verfucht, Die unter dem Schein von Gelchrjamfelt ven Mangel 
eines wahrhaft Hiftorifchen Sinnes nicht zu verbergen vermögen. Da 
muß die Larve abgezogen, das Probuft als das, was es ift, gezeigt 
werden. 

Es gibt Hier Fälle, wo Übrigens Doch nichts anderes als eben ein 
Berfennen der weſentlichen Bedingungen Biftorifcher Forſchung ober 
ein Ueberfchägen eigener Kräfte und Anlagen zw Grunde liegt, umb 
man mag 'biefe, wie fehr man ſich auch ven vorgettagekien angeblichen 
Entdeckungen widerſetzen muß, milder beurtheilen. 








6 G. Waitz, 


Anders, wenn noch weitere Tendenzen im Hintergrund liegen, wenn 
politifche oder veligidfe Meinungen dazu führen, die Gefchichte zu ent» 
ftellen, wenn die Behandlung dieſer Waffen für die Durchführung 
anderer Abfichten bieten fol. ch lam ſchon vorbin in Anlaß Ihres 
Programms hierauf zu fprechen, Sie fehliehen fie von Ihrer Zeitfchrift 
aus; aber ich glaube, daß es damit nicht gethan ift, daß biefe noch 
weiter mit ihmen zu than Aahon nd Gewiß verlangt niemand, 
daß die Hiſtoriker Eines Finer politiſchen Meinung 
ſein ſollen: dann würde if n fehr enger werben, mb 


auch, die ſich bereitwillig 
ben bald aus einander ſtie 
wir-bekimpfen müffen, ift 
willen, abfichtliches umd « 
bewußt ift, ober wie man 
pas lebte kann allein au 


t zuſammengefunden, wire 
lein nicht wollen und was 
r Wahrheit um ver Partei 
ie Abficht wenigftens nicht 
Wille vorherrfcht. Denn 
Wir wollen lieber allen 


Gegnern die bejte Ehrlichkeit zutrauen, aber dann auch nur um jo 
entfchievener gegen das angehen, was fie fo, Verkehrtes und ber Wif- 
fenſchaft Schäpliches, zu Markte bringen. 

Und das um fo mehr, ba fie einen gewaltigen Hochmuth haben. 
Da müſſen wir in Büchern und Blättern wieder und wiever lefen, 
wie bie Gefchichte gar Tange gewaltig im Argen gelegen; wie ſie eigent- 
fich feit Jahrhunderten, ſeit jenem manchen fo vergaßter Wiederauf- 
leben der Wiffenfchaften im 15.und 16. Jahrhundekt nur Irrwege ge⸗ 
gangen, wie es nun jetterft gelinge, ver Wahrheit Anerfeitmung und Gel« 
tung zu verfchaffen, wie barnach viel umgelernt und unfere Bü 
her umgefchrieben werden müßten — und es finden fih dann 
wohl auch gleich die, welche fehr bereit jind, ſolches zu thun. Wer 
wollte läugnen, daß bislang Tirchliche oder palttifche Boreingenommens 
heit manches unrichtig aufgefaßt und dargeſtellt bat, daß die Kritik 
unferer Tage e8 wejentlich auch mit Bejeitigung folder Irrthümer zu 
thun hat. Koſtet es große Mühe die conventionell gewordenen Erzäh— 
lungen von denThaten des Nachbarvolfes unter feinem glorreichen 
Kaifer auf das rechte Maß zurädzuführen, fo bebarf es gewiß auch 
weiteser und unbefangener Forſchung, um die Helden. und Begebenhei⸗ 
ten des 15. und 16. Zahrhunderts immer richtig zu beurtheilen. Aber 
daß ſich nicht die modernen Lobredner det Ferdinande und Albas einre⸗ 





Falſche Richtungen. 27 


den, die Gefchichte habe auf fie warten ınüßen, um zu eriennen, 
wer jene wären, was fie wollten und wohin ihre Bilder gehören, ober 
fie würden Gehör finden, wenn fie num umgelehrt die Männer herab⸗ 
fegen, die an ber Spige einer neuen großen Epoche der Gefchichte 
fteben. Und vollends übel, wenn dieſe Richtung Fritifch werben will, 
wenn fie fich verfteigt als unecht zu verwerfen, was ihr unbequem 
und ungelegen erfcheint. Iſt die Öefchichtichreibung Inge meift in ven 
Händen ber Proteftanten gewefen, fo ift ed nicht ihre Schuld. Wir freuen 
ung nur, wenn innerhalb ver Tatholifchen Kirche gleicher Eifer und 
gleiche Thätigkeit fich zeigen. Aber nicht mit Verbächtigungen und 
Schmähungen werben fie das Verfäumte einholen und das Gleichge— 
wicht heritellen. Sind folche mitunter von unferer Seite in unver= 
jtändiger Weife vorgebracht, fo, meine ich, hat gerade Die proteftantifche 
Gefchichtfchreibung, auch vie, welche wir wirklich als eine folche be— 
haupten, im neuerer Zeit veblich geftrebt, objectiv zu fein und aller 
Wahrheit gerecht zu werden. 

Freilich auch dieſe Objectivität hat ihre Gegner, die fie farblos, 
kalt und gleichgültig gegen ewige Güter der Menfchheit oder der Na- 
tion fchelten. Uber ficherlich mit Unrecht. Sie iſt wohl vereinbar mit 
feften Weberzeugungen in religiöfen und ftaatlichen Fragen, mit fittlicher 
Klarheit und patriotifcher Wärme. Auch brauchen dieſe nicht einmal 
äußerlich zurücdzutreten, wo jene Objectivität ber Auffalfung ans 
geftrebt wird, während man andererfeits doch auch nicht zu ber For⸗ 
derung berechtigt ift, daß fie ftets ſich lautmachen und ſich vorbräns 
gen follen, und am wenigjten das Streben nach Erfajjung der ‘Dinge 
in ihrer Bebeutung und ihrem Zuſammenhang mehr als in ihren 
Folgen oder in ihrer fittlichen Berechtigung als Gleichgültigfeit ge⸗ 
gen die höchften Aufgaben und Intereſſen ver Menschheit verläftern 
barf. Wohin ung das Gegentheil, ein Abwägen und Abfchägen alles 
Großen und Gewaltigen nach ver eigenen Kraft oder Sinnesart, ein 
ſtetes Moralifiven vom Stanbpunft des ehrlichen Bürgersmannes oder 
bes liberalen Mitteftandes ausgeführt hat, Liegt zu veutlich vor Augen 
und haben Sie felber früher allen gezeigt, die es fehen wollten. 
Doc ift Hier wohl ein Gebiet, wo am meiften Freiheit berrfchen, ver 
fubjectiven Neigung und Begabimg ver größte Spielraum gelafjen 
werven muß. ch komme darauf zurüd, daß, je näher unjere Wiffen- 





28 Einzelne Aufgaben. 


haft dem Leben fteht, um fo mehr fie auch ben Einwirkungen unters 
liegen muß, welche die Stellung im biefem; die Anficht von ven Auf: 
gaben und Anforberungen deſſelben nothwendig üben. Wir laffen jeber 
Meberzeugung, veligiöfer und pofitifcher, ihr Recht. Uber wir wollen, 
daß fie nicht ver Wiffenfchaft frembartige Zwecke verfolgt, und be— 
fämpfen, was biefer entgenen iſt ober Abbruch thut. 

Ich werde nicht Alles ammannt haben, was bier in Betracht 


fommt; andere werben 9 gen wiſſen. Manchem- wird 
es aber auch ſchon zu ı leßens und Verwerfens fein. 
Ich fordere auch nicht, daß teyichreiben. Aber im Wefents 
lichen, venfe ich, werben t fein, Es ift nur eine Seite 
deſſen, was bie Zeitichrif r zur Sprache kam. Laſſen 
Sie mid mit dem Wun B es ihr gelinge, nach allen 
Seiten bin das zu leiſten b tbnt, was unfere Wiffen- 
Schaft fördern, ausbilden mm, 





3. Einzelne Aufgaben 


Die folgenden Denkfchriften wurden von ihren Verfafſern am 
30. September 1858 in der von König Marimiliaa IF. gegründeten 
biftorifchen Commiſſion vorgetragen, um von verfehlebenen Seiton her 
die Aufgabe und Fünftige Thätigfeit derfelben zu bezeichnen. Dier Com- 
miffion glaubte, daß eine Veröffentlichung derſelben-dem allgemeinen 
Zwede fowohl ihrer felbit als dieſer Zeitfehrift nur. förderlich fein 
konne, da bie Erörterungen, wie man finden wird, an mehreren Stelfen 
über den Gejchäftsfreis der Commiſſion hinausbliden und wichtige 
Seiten unferes gefammten literarifchen Zuſtandes in das Auge faffen. 


Denkſchrift von Leopold Ranke. 


Akademiſche Vereine ſind bisher immer locale Verbindungen zur 
Pflege der allgemeinen Wiſſenſchaften geweſen. Denn wenn die Akademien 
neben den ordentlichen und einheimiſchen auch auswärtige Mitglieder 
zu ernennen gewohnt ſind, ſo wird das doch mehr als eine Sache der 
Ehre betrachtet, als daß es zu wirklicher Gemeinſchaft der Arbeit 
führte. Und dieß mag für Nationen genügen, in denen eine große 
Hauptſtadt ohnehin den Mittelpunkt des geiſtigen Lebens bildet; wie 


L. Ranke, Denficrift. 29 


man das franzöfifche Inſtitut ohne Zweifel als den Ausdruck bes na⸗ 
tionalsfranzöfifchen wilfenjchaftlichen Lebens anfchen darf. Anders in 
Deutſchland, wo die Akademien meift mit ven bornehmften Laudes⸗ 
Univerfitäten verknüpft, bei allem univerfalen Beitreben und urfprüng- 
lich mannigfaltiger Zufammenfegung, doch nothwendig mehr ober minder 
einen provincialen Charakter aunehmen. 

Schon lange ift e8 bei und empfunden worden, daß auch eine 
nationale Verbindung und Genoſſenſchaft wifjenfchaftlicher Deiner nüt- 
fih und erwünscht fein würde. Darin liegt der Urfprung ver freien 
Zuſammenkünfte von Gelehrten eines ober bes andern Faches, vie in 
den legten Jahrzehnten das wilfenjchaftliche Gemeinleben ter Nation 
angeregt uud gefördert haben. Dann und wann bat man wohl 
von einer allgemeinen deutſchen Akademie geredet; aber bei un 
feren Zuftänden wäre ber bleibende Aufenthalt namhaſter und wirt. 
famer Gelehrten an Einer Stelle nimmermehr zu erreichen, und viels 
leicht wäre er nicht einmal winfchenswerth, denn auf der Ausbreitung 
der Bildung und Gelehrfamteit über alle Landſchaften und auf mehr: 
fachen Eoncentrationen ver Culturbeftrebungen beruht num einmal das 
deutſche Weſen. 

Dagegen ließe ſich wohl eine Annäherung an eine allgemeine Ver: 
bindung für das eine oder das antere Fach burchjühren, ich meine 
eine zeitweilige, aber regelmäßige, eine lofal firirte, aber doch dem gan- 
zen beutfchen Namen augehörige Senofjenfchaft, in welcher e8 weniger 
auf gefelligen Austauſch ver Anfichten, als auf wirkliche gemeinfchafts 
liche Arbeit anfüme. Eine folche Vereinigung nun ſcheint mir die zu 
fein, zu beren VBegrüntung wir unter dem Schutze eines hochherzigen 
Fürften beiſammen find; mit einem feften Mittelpunkte, aber doch Ges 
lehrte aus verjchievenen Landſchaften umfafjend: einem ficheren Send; 
für einen beftimmten Zwed. Welcher aber fönnte ver Natur einer fol- 
chen Verbindung beffer entfprechen, als der der Förderung ver allge⸗ 
meinen beutfchen Geſchichte. Die Abjiht und Form ver Gefellfchaft 
ftimmen ba ganz eigen zuſammen. 

Verftatten Sie mir, daß ich von dem Zwecke, wie er mir vor- 
fchwebt, einen Umriß entwerfe. 

Es gibt in Deutfchland zahlreiche hiſtoriſch⸗antiquariſche Gefell- 
haften, welche ein lebhaftes Intereffe für Merkwürbigleiten ver pro- 





vinciellen Gefchichte beweiſen und erhalten. — Wan Könnte meinem, 
daß ein alavemifcher Berein-für allgemeine deutſche Geſchichte am ie 
Spige dieſer Gefellfchaften teil ihre Veftrebimgen zu⸗ vereinigen 
juchen follte. Allein das iſt weder nöthig, nody wärbe es auch nichlich 
fein: das Eine nicht, da ſich ohnehin. Ausſchüſſe ver Geſellſchaften 
gebilvet haben, welche in jährlich wieberlehrenven Zufammenlünften 
Mitteilungen austaufchen; aber auch das Andere nicht; es würbe ber 
Natnr diefer Gefellfchaften entgegenlaufen, welche auf perfänlicher Bes 
theifigung einer größeren Anzahl von Mitglievern an Forfchungen hei⸗ 
mathlicher Alterthümer und Gefchichte beruhen. Unſer Zweck ift ein 
bon dem ihrigen wefentlich abweichenver, nicht auf die Einzelnen Land⸗ 
ſchaften, ſondern auf die allgemeine Geſchichte des geſammten Bater⸗ 
landes iſt er gerichtet. 

Niemand von uns wird einwenden, daß das Ganze doch nur in 
ber Vereinigung ber Theile Liege; geographifch ift dieß fehr wahr, aber 
nicht hiſtoriſch; man dürfte auch in dieſer Beziehung das Wirt des 
Philofophen wiererholen, daß das Ganze eher da ſei als die Theile. 
Wie es ja z. B. in der Gefchichte des deutſchen Oſtens am Tage liegt. Ober 
wie ließe fich vie Eutftehung tes alten Ordeuslaubes, ohme vie Speer 
ver beutjchen Gefamintheit, die e8 recht mit Bewußtſein zu ihrer Plane 
zung gemacht bat, auch nur venfen? Bei uns iſt TS nicht wie in Ye. 
lien: wo ver Begriff der Einheit cin geographiſch⸗nationaler, biefk - 
felbft etwas niemals werer in alten noch tm neueren Zelten zur. Er⸗ 
ſcheinung gefommenes ift. Unſere Gefchichte beruht vielmehr auf Ser 
Idee ver Geſammtheit. In Stalien könnte ſchon eine Zuſammen⸗ 
ſtellung der Provincialgeſchichten ein annäherndes Bild der Geſammt⸗ 
geſchichte geben; dieſe als ein Ganzes zuſammenzufaſſen, iſt, ſobald 
man dem Stoffe gerecht werden will, bei der urſprünglichen und nie— 
mals überwundenen Geſchiedenheit der Glieder faſt unmöglich. Aber 
bei uns war fortwährend eine Repräſentation der Einheit vorhanden; das 
Auseinanderſtreben der verſchiedenen, auch der mächtigſten Glieder konnte 
nie zur Trennung werden. Das Leben der Nation beruht auf un⸗ 
aufhörlicher Gegenwirkung des Beſonderen und des Allgemeinen: das 
Letztere aber iſt immer das ſtärkere Element geweſen. Wollte man 
eine deutſche Geſammtgeſchichte aus den Provincial-Geſchichten zuſam⸗ 
menſetzen, welch' eine Maſſe unverſtändlicher Notizen würde da heraus⸗ 





2. Ranlke, Denbſchrift. 31 


kommen. Erſt von der allgemeinen Geſchichte empfängt die Geſchichte 
der beſonderen Landſchaften Licht und Leben. Selbſt wenn der Auſtoß 
von dem Beſonderen ausgeht, das ſich im Conflict mit einem unzu- 
zureichend conjtituirten Allgemeinen befindet, walten doch die Intereſfen 
ver Gefanmtheit vor. — Der Erforfihung der großen, Alle augehen- 
den, Alle verbindenden, das Leben ter Nation beherrſchenden Ereigniffe 
fol! unfere afademifche Verbindung ihren Fleiß widmen. 

Es Liegt am Tage, daß wir uns nicht zum Ziele feßen fünnten, 
ein bie Nationalgefchichte umfaſſendes Gejchichtswerk in großem Stile - 
hervorzubringen; ein felches könnte nur bie Arbeit Eines Geiſtes fein. 

Aber ohne Bezug felbjt darauf, ob eine des Namens würdige all— 
gemeine beutfche Gefchichte jemals zu Stand kommen wird, hut die 
geficherte Zufammenftellung des hiſtoriſchen Stoffes einen objectiven 
und nicht zu ermeifenden Werth. Auf dieſe hauptſächlich würden wir 
angewiejen fein, und es wirb ben vornehmſten Gegenftand unferer Be— 
ratbung ausmachen, was bafür zu thuu iſt. 

. Das allgemeinjte Object, das anerfanntefte einer gemeinjchajtlis 
chen Thätigkeit wird vie Publication unbefannter oder in bejjeren Texten 
mniltzutheilender Quellenfchriften und Urkunden bilden. Schon Tängjt iſt 
aber das bewundernswurdige Werk per Monumenta historiae Germani- 
036 im Gang, und bereits mit anhaltendem Fleiße eine Reihe von Jahrhun⸗ 
berten herabgeführt; es laͤßt noch eine reiche Ernte kritiſch gefichteter 
Mäithellungen erwarten. Eine andere Reihe von Publicatienen bat die 
t. & Alademie der Wiffeufchaften in Wien unternommen; von hohen 
Werthe iſt darunter die für Geſchichte der Concilien des 15. Jahr⸗ 
hunderts angefangene Sammlung. Es leuchtet ein und iſt ſchon be= 
ſtimmt, daß wir weder mit ber einen noch mit ber andern dieſer Un—⸗ 
ternchmungen concurriren dürfen. Unferer Gefellfcbaft wird dagegen 
die Sammlung der NReichstagsacten angehören, ebenfalls ein Unter- 
nehmen von größter Dimenfion, von dem man fich fehon in feinen er« 
ſten Anfängen reiche Belehrung verjprechen darf. Dann fällt ihr vie 
Beendigung ver von einer anderen Commijjion begonnenen Bekannt⸗ 
machungen zu; bei weiterer Auswahl des aus ven buherifchen Ars 
chiven Mitzutheilenten, würde vornehmlich auf ſolche Aufzeichnungen 
Rückſicht zu nehmen fein, welche zugleich ein über das locale hinaus⸗ 
gehendes Intereſſe für die allgemeine deutſche Gefchichte darbieten. An 





82 Einzelne Aufgaben. 


gar manches Andere liege fich denken, namentlich an eine‘ Zufammen: 
ftelfung dos authentischen auf bie-allgemeine Geſchichte ver Nation und 
ihrer vornehmſten Inſtitute bezüglichen Stoffes aus den Chroniken bes 
fpäteren Mittelalters. Präciſe Vorſchläge in biefer Beziehung würden 
jedoch beſſer von Anderen der verehrten Anweſenden ausgehen; ich will 
hauptſ achlich noch eine andere Seite unferer Thätigleit zur Sprache 


bringen. | 
- Neben der Bublicat chriften und Urkunden möchte 
id empfehlen, baf wir ı cam Gebiete wünſchenswerthe, 
in-beftimmiter Idee combin ervorzurufen ſuchen. 
Wer hätte nicht erfe ten, die vorzugsweiſe in das 
Gebiet der Kritik und F hauptfächlich durch ben Zu—⸗ 
ftand des Buchhanvels 7 ‚ ber auf eine ausgebreitete 
Theilnahme bes Publikum t. Der deutſche Buchhandel 
leiftet hierin mehr als be r der englijche, aber boch nicht 


genug. Die Abfaffung IMepmpp „  brter Werke umnterbleibt zus 
weilen eben deßhalb, weil feine Bekanntmachung derſelben zu hoffen 
wäre. Gben da aber tritt die Königliche Munificenz auf das erwünjd- 
tefte ein, wo materielle Hinderniffe zu heben find, 

Ich denke vor Allem an ein Werk veutfcher Annalen, welches ums 
ſere Gefchichte in Fritifcher Bearbeitung von ihren erſten Anfüngen bis 
auf die neue Zeit herabführte; eine Arbeit nicht zur Yeetüre für das 
große Publikum, fondern zur Orientirung und zum lnterrichte Für bie 
welche ſich mit der Gefchichte eingehend beſchäftigen. 

Die Erfahrung zeigt, daß jüngere Gelehrte, welche in Beſitz 
einer richtigen Methode gelangt find, ſich ſehr wohl bazu eignen, 
bie Hauptarbeit bei einem folchen Unternehmen zu vollziehen. . Sie 
würben zugleich Gelegenheit finden, fich an einem würdigen Stoffe 
zu betheiligen und ihr Zalent zu entwideln. Aeltere, vie eben 
Muße haben, würden dabei mit noch größerem Nuten arbeiten, vor⸗ 
ausgefegt, daß ihnen die Vergütung ficher gejtellt würde, deren fie bei 
den beutfchen Verhäftnilfen nicht wohl entbehren können. Man müßte, 
fcheint mir ferner, Abtheilungen feftfegen, bie,an Epochen over Jahr⸗ 
hunderte gefnüpft, einen beſondern Charakter haben; — nicht als ob 
man an affe auf einmal Hand anlegen Könnte, aber vie Thätigkeit Könnte 
zugleich an verfchievdenen Stellen beginnen. . 





L. Ranke, Denkichrift. 33 


Zwei Abwege wären dabei zu vermeiden. Die Arbeit dürfte nichts 
Gebotenes, gleichſam Fabrikartiges haben: fie muß immer eine Produc» 
tion des mit ver Sache vollfommen bejchäftigten, wijfenfchaftlich an- 
geregten Geiftes ein, und dabei darf doch Die Auffaſſung fich nicht in 
abfonverliche Anſchauungsweifen oder politifch-Kirchliche Tendenzen ein- 
laffen, die Bearbeiter müffen nur ven objectiven Inhalt durch eifrige 
Forſchung zu Zage zu fördern fuchen. 

Ich meine, daß eine zuſammenhängende, annaliftifche Behandlung 
von dem Urfprunge bes fränfifihen Reiches bis auf den Untergang der 
Hohenftaufen in nicht allzuferner Zeit zu erreichen ftünve. 

Leicht würde das 14. Jahrhundert, in welchen die bayerifche und 
allgemeine deutfche Gefchichte am meijten zufammentreffen, angefchloffen 
werben, und könnte man nicht einzelne Arbeiten auch vorläufig zur 
Publication bringen, mit dem Vorbehalt, daß fie Theile des großen 
Ganzen bilven ? ' 

Ich höre die Einwendung, daß bie Bublication der Duellenfchriften 
noch nicht in dem Maße vorgefchritten jei, um überall eine fefte Grund» 
lage darzubieten,; indeß in großem Umfange ift dieß doch ver Fall; 
anderswo werben fich bie Arbeiten gegenfeitig ergänzen, und nicht ein 
abgefchloffenes definitives Werk, das es überhaupt in der Natur ver Dinge 
nicht gibt, fondern nur Grundlagen weiterer Studien wünjchen wir 
zu provociren. Cine herrliche Sache wäre es doch, wenn man Fritijch 
gefichtete Annalen ter deutfchen Gefchichte in einem umfaſſenden Werke 
vor ſich hätte, um fich tarin Raths zu erholen. 

Eine andere Arbeit, die ſchon im Gange ift und mit dem Zweck ber 
afapemifchen Commiſſion ganz übereinftimmt, betrifft die deutſche Hi- 
ftoriographie des Mittelalters. 

Was ich von den hiftorifchen Vereinen ablehnte, dürfte vie afabe- 
mifche Commiffion für die eigentlich gelehrte Bearbeitung ver beut- 
ſchen Gefchichte zu ihrem Gefchäfte machen, ohne ver Spontaneität ver 
Einzelnen Eintrag zu thun, fie zu einem Ganzen zu vereinigen und 
eine auf das Allgemeine gerichtete Thätigkeit zu förbern. 

An die Gefchichte der Hiftoriographie knüpfe ich aber noch einen 
anderen Gedanken, ven ich ben geehrten Herren beſonders an das Herz 
legen möchte, 


Was man heut zu Tage deutfche National » Literatur 
Oiſtoriſche Zeitſchrift L Baud. 





34 Einzeine Aufgaben. 


nen pflegt, begreift nur die poetiſchen und eimige Bamit zumächit ver— 
wandte Hervorbringungen, während doch vie Titerarifche Thätigkeit ber 
deutſchen Nation ein viel weiteres Feld bearbeitet: erſt in ver Umfaſſung 
aller Zweige erjcheint das geſammte geiftige Yeben der Nation. Für bie 
Geſchichte ver Poeſie ijt viel geſchehen und fie bevarf unferer Beihilfe 
nicht, für die Geſchichte ver wiſſenſchaftlichen Studien und ihrer Reſul⸗ 
tate aber fehlt es an aller uſammenbängenden Belehrung, _ Fürwahr 


ein wahres Nationalwerk ı enn man eine Geſchichte der 
Wiffenfchaften in Dentfchk bringen könnte. 

>. Bine ähnliche Arbeit li ch vor md wird langſamen 
Ehrittes gefördert, doch ift te ich zum Mufter empfehlen 
miſchte. Wenn in der poli umächſt die ältere, jo wirbe 
ich rathen, in der literarl jchaftlichen die nenere Zeit 
zuenft zu bearbeiten, Ohne man mit der zweiten Hälfte 
des 15. Jahrhunderts begi 6. und 17, käme e8 Darauf 


an, die theologifchen Streitigterrer möguchſt zur Seite zu laffen und 
nur bie auf die allgemeinen Wiffenfchaften gerichteten Thätigfeiten her— 
boszuheben. Der vornehmfte Nachdruck würde jedoch auf die Gefchichte 
ber Wiffenfchaften in dem 18. und dem Beginne des 19. Jahrhunderts 
fallen, die Zeiten, in denen der deutſche wiffenfchaftliche Geift zu feiner 
vollen Entwicklung gelangt if. 

Dabei tritt die Schwierigfeitein, Haß die eracten Wiffenfchaften einem 
“ andern Kreife der Studien angehören, ald den wir von unferer Stellung aus 
beherrschen können. Ohne Zweifel gehört ein Naturforfcher von Fach dazu, 
um die Fortfchritte ver Geologie, ein gelehrter Mediciner, um die Entwid- 
lung ver Arzneifunde darzulegen; ich venfe aber in den Afavemien, an 
bie fih unfer Verein anfchließt, würden wir fachkundige und ein 
verſtandene Mitarbeiter finden. 

Allerdings haben die Wilfenfchaften Feine nationale Grenze; 
man muß in fteter DVergegemwärtigung deſſen bleiben, was bie 
allgemeine wiffenfchafgirhe Thätigfeit der Welt hervorbringt, aber 
eine große Bedeutung kommt doch der nationalen Theilnahme daran 
zu; die Gegenfeitigfeit der Einwirkung zeitgenöffifcher Studien wird 
ein ganz neues Bild in dem inneren Leben der Nation aufrollen. 

Noch einen anderen Gedanken fei mir geftattet zu erwähnen. Die 
beiden vorgefchlagenen Arbeiten Amfaſſen ven Staat und die Wiſſen⸗ 





8. Ranke, Denkſchrift. 35 


ſchaften; wäre aber nicht auch für die Perſönlichkeiten, die in denſelben 
wirkſam geweſen find, eine beſondere Berückſichtigung nützlich oder nothwen⸗ 
dig? Ich ſchlage jedoch erſt an dritter Stelle eine allgemeine Lebens- 
befchreibung der namhaften Deutfchen vor, ein Werk, vielleicht in lexi— 
falifcher Form, welches in einer befchränkten Anzahl von Bänden fichere 
und parteiloje Auskunft über alle ver Erwähnung würdige Namen varböte. 

Noch manches andere ließe fich anregen, 3. B. ein Handbuch 
germanifcher Altertyume-Wiffenfchaft, welches Sprache, Recht, Sitte, 
Alterthümer aller germanijchen Stämme und Völker umfafjen müßte, 
ein Gebiet, in welchem auf das trefflichfte im Einzelnen gearbeitet 
wird, in welchem man aber eine wijjenfchaftliche Zuſammenſtellung bes 
Allgemeinen vermißt. Ich wäre nicht Dagegen, wenn für cin folches 
Werk ein anfehnlicher Preis ausgefchrieben würde. 

Doch ich halte inne. Hauptfächlich für die erjten beiden Vorſchläge: 
allgemeine Jahrbücher deutfcher Gefchichte und vie Gefchichte ver Wiffen- 
ſchaften wünfchte ich die Theilnahme der Verſammlung zu gewinnen. 

Ich glaube davon, von dem Zwecke müffen wir ausgehen und 
dann erjt daran denken, die Gefellichaft zu conftituiren. Denn wir 
find hier eine begutachtende Verfammlung, welche nach beſtem Wiſſen 
ihre Meinung zu äußern bat. Grundſatz würve es nach meinem Da— 
fürhalten fein müffen, einen befinitiven Verein fo zufammenzufegen, daß 
er eben der gefaßten Abficht entfpricht: Niemand aufzunehmen, ver 
nicht mitarbeitet, oder doch einen beftimmten Untheil an ver Leitung 
einer durch vereinte Kraft zu löſenden Aufgabe übernehmen will: bei 
den Vorzuſchlagenden vielleicht erft anzufragen, in wiefern ihnen ein 
folches Verhältniß angenchm ift und fie darauf einzugehen Neigung haben. 

Ich mipfenne ven Werth gegenfeitiger Anerkennung in gelehrten 
Geſellſchaften nicht, dafür gibt e8 aber mannigfaltige Gelegenheit: Die 
unfere würde dazu nicht beſtimmt fein, fonvern nur zur Förderung 
einer großen Arbeit. Sie würde Sole aus allen Gauen des Vater: 
landes vereinigen, die dabei mitwirken wollen. 





3% 





36 Einzelne Aufgaben. 


Dentidirift von 6, 9. Perb. 


Die Urpeiten, zu welchen bie Commiffion berufen ift, theilen ſich 
in Erforfchung und Bekanntmachung von Duellen beuticher Geſchichte, 
foweit folche nicht in ven Monumentis Germaniae und anderen ber 
reits begonnenen Beröffentlichungen Plab finden, und in Herausgabe 
folcher die deutſche Gejchichte betreffender Schriften, welche ohne Uns 


terftügung der Commiſſion fommen wirben. 

Unter ven Werken ver x che die Aufmerkſamleit ber 
Commiffion verdienen möcht olgende berans; 
“4, eine Sammlungt rdeutſcher Geſchichte, 
welche den Zeitraum vor ı —300 als dem ungefähren 
Anfangspunfte ver Monume ‚e, umfafjen. Ein jolches 
Werk erfordert fehr ausge m, und würde fehr ver 
bienftlich fein, wenn darin en Monumentis zur An— 


wendung gebrachten Grundſatzen vıe were Der einzelnen Scrift- 
ftellee aus dem vollftändig erforichten, benutzten und wiſſenſchaftlich 
geglieverten Beftande aller erhaltenen Handfchriften und Hilfsmittel 
mit Sorgfalt bergeftellt würden. Ein folches Werf erfordert längere 
Zeit, nicht unbeventende Auslagen, würde daher ver Aufmerkfamfeit 
der Commiffion würdig fein „Ab:-fich auch dadurch empfehlen, baß 
bie Koften des Druckes und Payierk durch ben Verkauf vollftändig 
gedeckt werben. w:« 

2. Eine Unternehmung von hohem Werthe, wenn gleich nicht 
ausſchließlich deutich, ift Die Herausgabe einer neuen Sammlung 
der Geſchichtſchreiber der Kreuzzüge. Die Zeit dazu ift ges 
fommen, da die wichtigften Hanpfchriften, welche die Grundlage der 
Ausgabe bilden müffen, bei ven Unterfuchungen ver legten vierzig Jahre 
zum Borfchein gekommen find, und deren Benügung nicht mit außere 
orventlichen Schwierigkeiten verbunden iſt. Die von der Parifer Ata- 
bemie begonnene neue Ausgabe fehreitet außerordentlich langſam vor, 
und umfaßt bisher nur ven Wilhelm von Tyrus und die Aififen 
von Jeruſalem. 

Deutſche Einſicht, Thätigfeit und Ausdauer würde um fo ficherer 
das Ziel erreichen, als in einzelnen Fällen ſelbſt die Originalhand⸗ 
[ohriften anliegen und neben ven bier, in Bamberg, Wolfenbüttel, 





®. H. Bert, Dentichrift. 37 


Drüffel, Paris und in andern ventfchen und ausländifchen Bibliothes 
fen erhaltenen Handfchriften, die Grundlage der Bongars’fchen Aus- 
gabe in Bern aufbewahrt wird und zugänglich iſt. Sollte hin- 
fichtlich des Gegenſtandes einer folchen fehr beveutenden und wich- 
tigen Unternehmung das Bedenken anfgeworfen werben, daß es 
nicht ausfchließlich dentſche Gefchichte betreffe, fo darf darauf auf- 
merkjam gemacht werben, Daß e8 der beutfche Herzog Gottfried von 
Lothringen war, ber Jeruſalem eroberte, und daß König Konrad III. 
und bie Staifer Friedrich I. und Friedrich II., fo wie andere Züge 
veutfcher Kreuzfahrer, der deutſchen Gefchichte angehören. 

Dagegen fällt 

3. ein anderes Unternehmen, welches die Aufmerkſamkeit ver 
Sommiffion verdient, ausfchlieglih in den Kreis der beutfchen &e- 
ſchichte. Es ift diefes eine Sammlung der deutfchgefchriche- 
nen Chroniken der deutſchen Städte. Bei ver mächtigen Ents 
widelung, welche das Städtewejen in Deutfchland vom 13. bis 17. 
Jahrhundert gewonnen hat, und woburd das Aufblühen der Nation 
wefentlich vermittelt ward, find in vielen Städten Chronifen und 
Jahrbücher entitanden, welche das fprechenpite Zeugniß und Denkmal 
bes ftäbtifchen Lebens find, und daher für die teutjche Gefchichte einen _ 
großen Werth haben. inzelne verfelben find gebrudt, aber eine 
große Anzahl findet fich handſchriftlich in Archiven und Bibliotheken, 
und ich glaube, vie Commiſſion wird fich ein namhafte und wefentliches 
Verdienſt um die Kenntniß der vaterländifchen Gefchichte nicht nur 
bei ven Gelehrten und eigentlichen Gefchichtsforfchern, ſondern in fehr 
viel weiteren Streifen erwerben, wenn fie fich es zur Aufgabe ftellen 
wollte, eine Sammlung der veutfchgefchriebenen Chroniken ter beuts 
ſchen Städte in der Art zu veranftalten, daß bei jeder Stadt, welche 
folhe Aufzeichnungen befigt, der ältefte Stern und Anfang aufgefucht 
und ihm die allmälig erwachfenen Fortfegungen und Erweiterungen, 
fo weit fie die Veröffentlichung verdienen, angefchloffen werven. Un 
ein folches Werf würde fich: 

4. fpäterhin eine Samınlung der Statuten und Rechte 
der deutſchen Städte anfchließen können, für welche der Stoff 
gleichzeitig erforfcht und gefanmelt werden möchte. 

5. Auf der Grenze ver Duellenerforfchung und ver Werke zwei⸗ 


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38 Einzelne Aufgaben. 


x 


"ter. Linie, welche‘ ohne Hilfe ber Gonmiffion ſchwerlich ins Leben 


treten würden, fteht ein Werk, welches feit vielen Jahren in Deutſch⸗ 
land lebhaft erfehnt, aber nur in einzelnen tüchtigen Anfängen vor— 
handen ift: eine nach einem Plan gearbeitete, aus geprudten und un— 
gedrucktem urkundlichem und gefchichtlichem Stoffe hergeſtellte Ge— 
ſchichte der deutſchen Bisthümer, Stifter und Klöſter. 

Es iſt nicht nöthig, am bie Ttalin sanra, die unvollendete Gallia 


sacra, welche jeßt wieder a) bas Monasticum Angli- 
canum und Aehnliches bei m zu erinnern; man barf 
nur auf ben burch bie € gonnenen Theil der Ger- 
mania sacra binweijen, 1 Berlangen gerechtfertigt zu 
finden, daß wir ähnliche ganzen Umfang Deutjch- 
lands befigen möchten. 

Es veriteht fich von f jan jest zur That fchreitet, 
die Mittel, welche ſeitdem der Geſchichtsforſcher ge— 


worden find, und die jetzt mit Jo großem wiſſenſchaftlichem Freiſinn 
eröffneten Schätze der Archive und Bibliotheken ſorgfältig benutzt, 
und zur größeren Verbreitung ver einzelnen Theile eines ſolchen um⸗ 
faffenden Ganzen, die veutfche Sprache gewählt wird. 

Indem ich mir erlaube, diefe umfangreichen und wichtigen Ge— 
genjtände ver Aufmerffamfeit ver Commiffion zu empfehlen, darf ich 
mir für eine fpätere Zeit vorbehalten, folche Gegenftänbe zur Sprache 
zu bringen, welche ausfchließlich den in zweiter Linie geftellten Auf⸗ 
gaben angehören, und wohin ich namentlich Arbeiten für die Geogra— 
phie Deutſchlands von den älteften Zeiten durch das Mittelalter bis 
zu den neuern “Jahrhunderten herab rechne. 


Denkſchrift von J. G. Droyfen. 


Durch das uns geſtern mitgetheilte Statut für die hiſtoriſche 
Commiſſion iſt mir von dem, was mit ihrer Begründung beabſichtigt 
wird, zuerſt nähere Kunde geworben; ich habe die heutigen Morgen— 
ftunden dazu verwendet, mir in flüchtigen Aufzeichnungen zu entwickeln, 
was auf der in dem Statut gegebenen Grundlage von derſelben mög— 
licher Weiſe geleijtet werden könnte. 

Es kann nicht daran gedacht werben, daß fich dieſelbe zum 
Gentralorgan oder zur Leiterin ver Studien für deutſche Geſchichte 





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I. ©. Droyfen, Denkfchrift. 39 


ode? gar der deutſchen Hiftoriographie follte machen, wollen. Für bie, 


freie Bewegung ber Geifter und ver fich gegenfeitig ergänzenden und 
fteigeruden Einfluß beventender Perfünlichkeiten würde eine Commiſſion 
feinen Erfaß zu bieten vermögen. 

Die Aufgabe der hiſtoriſchen Commiſſion dürfte ſich zunãchſt 
nach folgenden Geſichtspunkten umgränzen laſſen: 

a) ihre Zuſammenſetzung und Organiſation ſchließt diejenige Art 
bon wiſſenſchaftlichen Arbeiten aus, in denen das Stoffliche gegen bie 
Kunſt der Formgebung oder vie Art der Behandlung zurüdtritt; 

b) ihre Detation legt ihr bie Verpflichtung auf, ſolche Arbeiten 
zu finden, die in vorzüglichem Maaß für das Studium ber veutfchen 
Gefchichte förderlich, nur durch ſolche Mittel zu ermöglichen find; 

c) fie tritt zu einer Reihe Schon vorhandener Bereinigungen und 
Thätigfeiten für ähnliche Zwede, und zwar ohne die Abficht oder ven 
Anfpruch, für fie anch nur der Mittelpunkt ver Correſpondenz, ges 
ſchweige denn mehr zu fein. 

Aus der Beantwortung der Trage, welche Aufgabe ober Aufgas 
ben nach dem Gefagten die Commiſſion fich ftellen kann, wird fich 
ergeben, wie fie ihre Thätigfeit zu organifiren hat. 





Es gibt in dem Bereiche der deutſchen Gefchichte unzweifelhaft 
eine Fülle von Aufgaben, teren Löſung jedem einzelnen von ung in 
hohem Grade wünfchenswerth erfcheinen wird, ohne doch für die Thä⸗ 
tigfeit der hiſtoriſchen Commiffion fich geeignet zu zeigen. Die Coms 
miffion als folche entbehrt vie Eigenfchaften, welche gewiß Einzelne 
in berfelben in ihrer überlegenen Einficht, in ihrer feſt ausgeprägten 


Richtung, in ihrer energifchen Art Thätigkeiten zu erweden und zu Z 


leiten, zur Förderung wiffenfchaftlicher Unternehmungen geltend ma— 
chen können. In diefen haben dann die verfchiedenen Auffafjungen 
in Betreff der Art der Behandlung, der Kunſt ber Formgebung u. 
f. w. ihre Stelle und ihre belebende Wirkung. - 

Es ift nicht wohl abzufehen, wie vie hiftorifche Commiffion als 
folche mit ihrer Auctorität für Forfchungen, Combinationen, fri- 
tifche Unterfuchungen etwa zur Zeftftellung der politifchen Gefchichte, 
zur Erörterung von Rechts⸗ und Verfaffungsverhältnijfen, zur Auf 


Ze 





| 40 Einzelne Aufgaben. 


-flärumg unſerer Literatur- und Kirchengeſchichte beider Confeſſionen 
ſollte eintreten können. Arbeiten ſolcher EP find zu individueller Na— 
tur, als daß fie durch einen noch fo glänzenden Verein von Forſchern 
in Gemeinfchaft vorgenommen oder geleitet werben könnten, 

Es kommt hinzu, daß e8 für derartige Urbeiten bei dem jeßigen 
Stande der bifterifchen Studien in unferem Baterlande weder an Ans 
regung noch am arbeitenden Kräften, noch an Gelegenheit zur Ver— 
öffentlichung gebricht, 


Und für den Fall, fentlichung wichtiger Arbei- 
ten befonberer Unterſtüln ‚ bat das Statut Art. III 
eine ausdrückliche Beftim 

Für eine Art wiffı ten, bie unter ben bier zu 
erörternden Gefichtspunft welche nur in einer gewiſſen 
Bereinigung ausführbar ı e vortrefflihen Jahrbücher 
ber ſächfifchen Maifer ein dem biejenigen, welche An— 
laß Haben, die Etubien eone ber zu leiten, nacheifern 
mögen. N 


Die hiſtoriſche Commiſſion wird nicht in der Lage fein, in ein 
derartiges Verhältniß zu ihren aufßerorbentlichen ober orbentlichen 
Mitglievern zu treten. Sie wird fich eben darum terartige Aufga- 
ben verfagen müffen, vie wefentlih auf die Kunft der Yormgebung 
oder Behandlung geſtellt, zugleich eine veranlaſſende leitende oder bes 
ſtimmende Perfönlichkeit vorausfegen. 

Sie wird ihre Thätigkeit darauf zu richten haben, daß, wie 
Art. III des Statuts fagt, werthvolles Duellenmaterial gefunden und 
in möglichft angemefjener Weife fertig gemacht, ven Studien zuge⸗ 
führt werde, wie dafür iu den Monument. Germ. ein nicht dankbar 
genug anzuerfennendes Muſter gegeben ift. 

Es kann die Abficht nicht fein, im ven Bereich dieſes großen 
und in georoneter Thätigkeit vorfchreitenden Werkes oder anderer ; 
ähnlicher, wie deren in Wien, in ven cod. Dipl. Brandenb., in ein- 
zelnen biftorifchen Vereinen. im Gange find, eingrsifen zu wollen. Die 
hiftorifhe Commiffion wird nur wünſchen fönnen, mit venfelben und 
namentlich mit ben Monum. Germ. in das Berhältniß gegenfeitiger 
Verftändigung und Unterftügung zu treten. 

Wenn, wie zu vermutben, bie der Commiffion zugewiefene Her: 





I G. Droyfen, Denkſchrift. 41 


ausgabe ber Neihstagsakten das Reichsgrundgeſetz der golvenen Bulle 
als Ausgangspunkt nehmen. wird, fo müßte fich damit zugleich eine 
ungefähre Grenzbeftimmung für die Thätigfeit der Commiffion in 
den Monument., foweit biefelben concurriren, ergeben. 

Eine Grenzbeftinmung, die ſich auch darum empfehlen bürfte, 
weil von da an das Duellenmaterial der ventfchen Gefchichte und 
nicht bloß der politifchen einen anteren Charakter gewinnt. 

Es tritt das archivalifche Material gegen das Hiftoriographifche 
in den Vordergrund; c8 beginnen vie Correfpondenzen, Sinftruftionen, 
Dentfchriften gegen vie Urkunden, die Ueberbleibſel der großen Ges 
fhäfte in ihrem Verlaufe gegen die Dokumente ihres Abfchlußes zu 
überwiegen; es wird möglich, in die Zuftände, in bie Stimmun- 
gen, in vie buntbemegte Mannigfaltigkeit aller Lebenskreiſe tiefer eins 
zubringen. 

Die zwei Yahrbunderte vor ber goldenen Bulle bis über bie 
Reformation hinaus dürften ſich in aller Beziehung dazu eignen, 
bie Thätigfeit der hiftorifchen Commiſſion vorerft befonders in Ans 
fpruch zu nehmen; fie könnte fich vorbehalten, auf die Zeiten vom 
breißigjährigen Kriege ab ſpäter einzugehen. 

Es würden fich in der fo vorerft gewählten Umgrenzung meiner 
unmaßgeblichen Anſicht noch folgende Aufgaben ergeben : 

a) Die Publikation ver Neichstagsaften, deren Vorbereitung be: 
reits im ange ift. 

b) Die Publikation von Correfpondenzen, Berichten, Denkichrif- 
ten u. ſ. w, deren ein außerorventlicher Reichthum in den Archiven 
beruht. Ich denke an Schriftjtüde wie Planit, Berichte vom Reichs- 
regiment zu Nürnberg 1521 — 1524, wie die fogenannten bänifchen 
Bücher des Dresdener Archives, wie Martin Mayers Correſpondenz. 
Ich denke namentlich auch an die Archive von Venedig, Rom, Brüffel, 
Kopenhagen u. ſ. w., deren Schäße fo reich fie für die deutſche Gefchichte 
find, inmmer nur wenigen zugänglich bleiben, wenn nicht die Publika— 
tion erfolgt, die nur durch bedeutende Geldmittel möglich ift. 

c) Die Herausgabe von hijterifchen und publiciftiichen Schriften, 
bie entweder noch ungedrudt find oder eine neue Bearbeitung for- 
dern. So Sleivan, Eberhard Windel, Efchenloer. So tie Schrif- 
ten von Gregor Heimburg, Aeneas Sylvins, einzelne von Nicolaus 





42 Einzelne Aufgaben. 


von Cuſa, die Neformationen des Kaiſer Sigiemund und viele 
andere. Nicht bloß die Textkritik würde ba vollauf zu thun finden; 
es käme zugleich darauf an, eine Form ber Interpretation zu fürs 
ben, welche verartige Schriften zum Gebrauche hifterifcher Tor: 
ſchung in möglichit angemeſſener Weife ausjtattet, 

4) Die Sammlung ımd Publikation ber fogenamten bifterifchen 
Lieder, ve un q für ben bezeichneten Zeitraum von ganz befon- 


berem Wert, und Intereſſe fie bie unmittelbare Auf- 
faffung von Thatfachen in ber ftimmtter Tendenz, in fcharf 
ausgezeichneten Partheiinten Yhre Amterpretation würbe 
tief in bie lebendige Beweg ntes und in bie Anſchauun— 
gen, welche die Gemüther en. 

Bei weiterer Erwägu unzweifelhaft noch andere 
Geſichtspunkte Hinzufügen 1 ime vielleicht nur auf eine 
glückliche Formulirung an, m ver Weife Publikationen für 


vie gor ſehrvernachläßigte Geſchichte des deutſchen Handels, ber ge- 
¶verblichen Thätigkeit, ver agrariſchen Verhältniſſe, der Beſteuerung, 
8 Geld- und⸗ Münzweſens u. ſ. w. möglich zu machen. 
Zur Löfung jener Aufgaben könnte vie hifterifche Commiſſion 
x fih vielleicht in Sektionen theilen, deren jede einen. ber betreffenven 
Gefichtspunfte auffaßte und verfolgte. 
. Die Kürze der Zeit erlaubt mir nicht, die weitere Organifation 
" ber Arbeit, wie fie fih dann entwideln müßte, fehriftlich auszuführen. 








IV 


Macaulay's Friedrich der Große. 


Mit einem Nachtrag über Carlyle. 


Bon 
Ludwig Hänffer. 


Es find volle fechszcehn Jahre, feit Macaulay (1842), aus An⸗ 
laß von Thomas Campbell's Buch feinen Aufjak über Frieprich ben 
Großen in ver Edinburgh Review erjcheinen Tieß. Den Ruf eines 
geiftoollen Krititers und Effayiften hatte er fich fchon damals erwor⸗ 
ben, und bie Arbeit über Friedrich II. trug in den Augen feiner 
Landsleute dazu bei, venfelben zu erhöhen. Seitdem ift aus bem 
Eſſayiſten ein Gefchichtfchreiber erwachfen, dem wie felten Einen bie 
populäre Anerkennung in ver Heimath und im Ausland zu Theil ges 
worden iſt; ein Liebling der großen gebildeten Leſewelt, dem unfre 
Zeit feinen gleichen Namen an vie Seite ftellen kann, für Tauſende 
und aber Zaufende ver correcte Ausprud ihres politifchen ‘Denkens, 
gilt er nicht Wenigen als das vollendete Muſter hiftorifcher Kumft, 
neben welchem die ſchmuckloſe Nüchternheit ver Alten fat unfcheinbar 
in den Schatten tritt. 

Nichts natürlicher, als daß von einem fo glänzenden literarifchen 
Namen auch die Heinften Abfälle geſammelt und der Kefewelt als 
claffifche Stüde dargeboten werben. Neben ven efjapiftifchen Gabi: 
netsftüden über Milton, Machiavell, Pitt, Clive, durch die Macaulay 
zuerft feinen Ruf begründet hat, ift auch ver Essay über Friedrich 
den Großen als ebenbürtig anerfanıt, in die Sammlung feiner klei⸗ 
nen Schriften aufgenommen und in England wie bei wıö neu aufge- 





44 2. Häuffer 


legt worven.*) Nicht nur in England ift der Aufſatz jo durch un— 
zählige Hände gegangen und hat auf lange hin das hifterifche Urthell 
über Friedrich beſtimmt, auch in Deutfchland ift im Yaufe Der ung— 
sten Zeit Macaulay’s Friedrich ber Große im Original und in Ue— 
berfegung fleißig gelefen und auf Die Worte des Meiſters vielfady ge- 
fchworen worben. 

Das legt der deutſchen Eritif his Rflicht auf, nicht länger zu 


ichweigen über eine Schrift, nd Inhalt gleich ernjte Bes 
denken erwedt. So lange I in dem befcheivenen Rab 
men einer anonymen Pe 08 begreiflich und zu ent- 
ſchuldigen, daß man ihm ir morirte; ev trat micht mit 
ber Brätenfion auf, Nene Mufterbaftes in der Form 
zu geben. Seit er aber ı chen Werfen eines hochbe— 
rühmten Autors eine S » ber Berfaffer durch ben 
Wiederabdruck erklärt has, nicht von 1842 auch heute 


noch vertrete, da lünnte es nur als Zugeftändnig geventet werden, 
wenn bie KÄME dazu fchwiege. Don Zugeftänbniß Tann aber fo we- 
nig die Rede fein daß wir uns vielmehr zur entfchiedenften Abwehr 
gedrungen fühlen!:zur Abwehr einmal gegen eine hiftorifche Darftell- 
ungsweife, bie wir burchaus nicht für muftergültig, ſondern für einen 
bevenflichen Abweg halten, zur Abwehr gegen eine Muffafjung, die das 
Andenken einer ver Größen unfrer Nation auf unverantwortliche 
Weife verunglimpft. Daß dies nicht zu viel gefagt ift, foll denken 
wir die eingehende Beurtheilung bes Einzelnen barthun. 

Das düſtere und unerquidliche Bild, das der britifche Gefchicht- 
Ihreiber von König Frieprich entwirft, muß doppelt überrajchen, weil 
e8 aus Macaulay’s Fever ftammt. Die ätende Schärfe und Bitter- 
feit eines taciteifchen Griffel liegt ihm fonft fern; eine gewiſſe Milde 
und Zoleranz ter Auffaffung, ein gefunder Sinn, der allen Ertremen 
abhold ift, find mit Recht zu feinen VBorzügen gezählt worben und 
haben gewiß das Ihrige dazu beigetragen, ihm eine fo große popu⸗ 
(äre Anerkennung zu fehaffen. Sein Cromwell und fein Wilhelm ILL, 
fein Lord Clive und Warren Haſtings verratben gewiß nicht den 
ftrengen und fchwarzgalligen Beurtheiler; eher bürfte man bisweilen - 





*) Zuletzt 4857 in der Tauchnitz'ſchen „Collection of british autors.“ 





Macaufay's Friedrich der Große. 45 


die apologetifche Milde bewundern. Und dieſe Milde tritt um fo 
fennbarer da heraus, wo es ſich um nationale Intereſſen hanbelt; 
mit ficherem Tacte hat er überall ven Sinn des britifchen Volfes ges 
troffen, indem er über Perſonen und Mittel dann nachfichtig hinweg⸗ 
fieht, wenn die Dinge und ihre Zwede dazu angethan find, vie Sym⸗ 
pathie Altenglands in Anfpruch zu nehmen. 

Wenn irgend eine Form der Subjectivität in ver Gefchichtichrei« 
bung geftattet ift, fo ift es biefe; auch vie claffifchen Muſter ver 
Alten haben ihr Griechen« und Römerthum nie verleugnet. Wir ehren 
darum das nationale Gefühl, das „König Oliver den Erften und 
leider den Einzigen« rechtfertigt und preist, weil er inmitten der Res 
volution und äußeren Gefahr fein Volk zur Macht und Größe heb, 
allein wir verlangen, daß man auch fonft mit gleichem Maße meffe. 
Wer bei Cromwell und Wilhelm III. die bequeme Moral der Nüt- 
lichkeit walten läßt, der darf bei Friedrich nicht den ängftlichen Eit- 
tenrichter fpielen. Wir haben nicht® dagegen, wenn ver britiiche Ges 
Ichichtfchreiber die Männer feines Volkes vom Roſte ver Parteiau⸗ 
Hagen blanf putzt und mit vanfbarer Nachſicht das Bedeutende und 
Berbienjtvolle an ihnen bervorhebt, allein das dürfen wir fordern, 
daß er ihren Glanz nicht erhöhe auf Koften frember Größen. Wer 
jo beredt für den Mörder Karls I. plaiviren kann, wer fo viel Kunſt 
aufbietet, um ven blutigen Wleden von Glencoe vom Namen Wil: 
helms III. wegzubringen, dem fteht es nicht gut an, Friedrich II. 
wie einen boshaften, menfchenfeindlichen Tyrannen grau in grau zu 
malen. 

Doc iſt es kaum die nationale Einfeitigfeit allein, woraus biefe 
unbillige Vertheilung ver hiſtoriſchen Gerechtigkeit entfpringt. Viel— 
mehr glauben wir nicht zu irren, wenn wir eben in ver eigenthünlis 
hen Weife Macaulay’fiher Darjtellung, in feiner Manier dürfen wir 
wohl fagen, eine Duelle jener Unbilligfeit fuchen. Das Wefen des 
britifchen Gefchichtichreibers ift aus fehr mannigfaltigen und veichen 
Eigenfchaften zufammengefegt,; es Klingt in ihm der Poet feiner Yus 
gendtage durch, man Hört den parlamentarifchen Redner, den Dann 
ber politifchen Debatte, ven Kunftfreund und Aeſthetiker fo gut heraus, 
wie ben Journaliſten. Das friſche Golorit feiner Darftellung, vie 
reiche Fülle von Bilde“ hamgen, bie plaflfehe Lebendig⸗ 





* 


—— 2. Häuffer 


keit feiner Gejtalten un ber poetiſche Hauch, per manche Parthie fei- 
5. ner Werle auszeichnet, quillt eben jo leicht aus dieſer glücklich auge: 
legten Individualität, wie die Ueberladung, die Breite, der Mangel 
an fchlichter Natürlichkeit, woran Andere Theile feiner Werlke leiden. 
Der Zon des Essay iſt allzuſehr Meifter geworden über den einfa— 
chen und ungefuchten hiltorifchen Stilg es wird ber anziehenvden und 
amüfanten Forın oft jichtbar das Weſen aeopfert, Geiftreiche Anti— 


thefen- und pifante Parall um eines momentanen Ef— 
fectes, oft ſelbſt um eine, afe willen ſehen wir ben 
Kern der Dinge verrückt mweilen an Stellen, wo bie 
Macht der Thatſachen en würbe, bie rebnerijche 
Kunft und das ſalbung Tüffiger Weife angewendet, 
um auf den Yejer einen wingen, ber dem jtreng bi- 
ftorifchen Zwed geradezu 

. Wir wijjen wohl, b Bewunderung der großen 


Lefewelt dieſe Schattenfeiten jo warm verehrt wie bie unbeftrittenen 
Vorzüge des Gefchichtfchreibers; aber wir find befjenungeachtet ber 

feſten Ueberzeugung, daß es fehr vom Uebel wäre, wenn biefe Art 
ver Darftellung zur allein nachahmungswerthen erhoben würbe. Wir 
zögen die ftrengen vielleicht oft fteifen Linien ber alten Schule unbes 
bingt vor, jobald es fich darum handelte, ein Mufter daraus zu 
bilden. . — 

Wir glauben z. B. nicht, daß es guter Geſchmack iſt, vom erſten 
preußiſchen König zu ſagen: ver ſpielte unter ben gekrönten Häup⸗ 
tern Europa's eine Figur, ähnlich derjenigen, welche ein Nabob oder 
ein Commiſſär, der ſich einen Titel gekauft hat, in der Geſellſchaft 
von Peers ſpielen würde. Ludwig XIV. ſah auf ihn ungefähr mit 
einer Miene herab, wie der Graf im Moliereſchen Luſtſpiel Monſieur 
Jordan anſieht, als dieſer noch ganz berauſcht iſt von der Mummerei, 
durch die er zum Edelmann geworben iſt.« Oder wir halten es fo 
wenig für fchön, als für wahr, wenn Friedrich Wilhelm L ein „Bar 
ftard von Moloch und Pud« genannt wird und es von ihm heißt: 
«feine Liebhaberei für militäriſche Ordnung wurbe zu einer Manie, 
ähnlich der eines holländischen Bürgermeijters für Tulpen ober eines 
Mitglieves des Norburghe Club für Carton-Drude.u Oder wenn von 
den Cabinetsräthen Friedrichs IL. berichtet wird: „fie mußten bas 





Macaulay's Friedrich der Große. Ai 


ganze Jahr arbeiten wie Negerfclaven zur Zeit der Zuderernte — 
— fie wußten nie, was es hieß zu Mittag cjfen.« Wir wählen viefe 
Beifpiele auf's Gerathwohl; jie ließen fich aber aus jeden Bogen ver 
Macaulay’schen Schriften reichlich vervielfültigen. Im Roman und 
Im Luftfpiel mögen vergleichen feurrile Wenpungen am Plage fein; 
in der Gefchichte follten fie, von der Wahrheit der Dinge ganz ab- 
gefehen, unter allen Unſtänden feine Stelle finven. 

Macaulay felbft hat fich darüber fo bündig ausgefprochen, daß 
wir gern feine Worte citiren. In feinem Aufjag über Machiavell 
unterwirft er Montesquieu's Durftellung einer ftvengen Kritif und 
bemerft dabei: „Dunkelheit und Affectatlon find bie zwei größten Feh— 
ler des Stils. Dunkelheit des Ausdrucks entjpringt in der Regel aus 
Verworrenheit der Ideen und berfelbe Wunfch, um jeden Preis zu 
blenden, ver in der Manier eines Schriftjtellers Affectation erzeugt, 
wird wahrfcheinlich in feinen Raiſonnements Cophijterei erzeugen. ... 
Jeder Kunftgriff des Auspruds, von der myſteriöſen Kürze des Oras 
kels bis zu der Gefchwärigfeit eines Parifer Geden wird benugt, um 
das Trügerifche einiger Züge und die Abgenugtheit anberer zu ver- 
bergen. 

Die Geſchichte Friedrichs IL. iſt von der feines Vaters nicht zu 
trennen; die Entwidlung feiner Perfönlichkeit und feiner Machtftellung 
war dadurch bedingt. So hat denn auch Macaulay das Leben des 
großen Königs mit einer Charakteriftit Friedrich Wilhelms I. einge 
leitet. Sie ift die paffende Duverture zum Ganzen. Wen es mög⸗ 
(ih war, einen hiftorifchen Stoff mit noch üblerem Humor zu bes 
handeln, als ihn der Brite bei Friedrich II. bewiefen hat, fo ift dies 
bei den Vater und Vorgänger gefchehen. Ohnftreitig gehört deſſen 
Berjünlichfeit zu den bejtverleumbeten der neueren Geſchichte. Es ift, 
als wenn die Literatur für die Geringfhägung, womit der Monard) 
fie behandelte, fich hätte an ihm rächen wollen. Bon den Denfwür: 
vigfeiten der Markgräfin an bis zu Macaulay herab, der dieſe nicht 
immer veine Duelle nur zu nachgiebig benügt hat, ift Alles Denkbare 
gefchehen, um viefen Bijtorifchen Charakter zu einer wunderlichen Gar: 
ricatur zu verzeichnen. Daß das eine leichte und wohlfeile Sache ift, 
darüber werben alle Stunbigen einer Meinung fein. Man braucht nur 
feinen Jähzorn, feinen Geiz, feine Härte und bie feltfamen Launen 


B- - 8. Häuffer 


und Liebhabereien, womit er fich trug, zuſammenzufaſſen, das Ganze 
wit einer Anzahl pifanter Aneldoten auszuftaffiven, und bie Vogels 
feheuche ift fertig. Nach dieſem Zufchnitt Hat Maeaulah ven Nönig 
behandelt. Er fpricht dent Vater Fniedrich's des Großen zwar meini- 
ges Verwaltungstälentu nicht ab, allein er fügt auch gleich Hinzu, im 
Uebrigen fei jein Eharafter von der Art gewejen, wie man ibn bis 
dahin aufjerhalb des Tollkanisa nicht nsichen habe, „Alle feine Lei— 





benfchaft habe etwas von intellectueller Krankheit an 
fih getragen.“ „Wenn ( yazieren ging, fo ergriff je 
des menfchliche Weſen vie ald wenn ein Tiger aus 
einer Menagerie ausgebri ‚ein Palais war die Hölle, 
er jelbft ver jchlimmite Baſtard von Moloch und 
Puck. „Das Geſchäft d nach ihm darin, ſich zu 
placken und placken zu Ii ungen, die fich für "einen 
Fürſten ſchickten, beſtanden Wolfe von Tabaksqualm 


zu fiten, zwijchen den Zügen ver Pfeife ſchwediſch Bier zu fchlürfen, 
Tocadille die Parthie zu ſechs Dreier zu fpielen, wilde Schweine ab⸗ 
- zufangen und NRebhühner zu Zaufenden zu fchießen.“ 

Pikant mag Mancden eine foldde Schilderung fein; wahr und 
historisch ift fie nicht. Ein ſolches Zerrbild läßt vor Allen uner- 
Härt, wo denn bie hiftorifche Bedeutung tiefes Zürften lag, welcher 
der hart behandelte Sohn jelbft ein fo auédrucksvolles Gepächtniß 
gewidmet hat. Daß er es war, der Friedrichs Vorarbeit fchaffte, 
daß ohne ihn der große König nie geworben wäre, was er war, daß 
diefer Monarch mit dem großen Kurfürjten und mit Friedrich II. das 
Dreigeftirn ver Gründer von Preußens Größe bildet, das darf nach⸗ 
gerade als ein allgemein zugeftandener Gemeinplag gelten — ber 
aber, wenn Macaulay's Schilderung zuträfe, ein völliges Räthſel 
blicbe. | 

Es ift eines der erften Geſetze aller hiftorifchen Schilderung, 
daß man jede Perfönlichkeit in ihrer Zeit faſſe. Macaulay ſelbſt hat 
einen vielbewunderten Essay über Machiavell gefchrieben, ber fich 
von Anfang bis zu Ende vorzugsweife um den Gedanken bewegt, daß 
ber florentinifche Staatsmann und feine Schriften Tebigli im Zus 
fammenhang mit feiner Zeit und ihren herrſchenden Anfichten richtig 
gewürbigt werben Können. ‘Der allein, bemerkt der Autor bei biefem 


% 





Macaulay’s Friedrich der Große. 49 


5 er 
Anlaß, ver allein liest die Gefchichte recht, ver beobachtet, von wie 
großem Einfluße die Umſtände auf bie Gefühle und Anjichten ver. 
Menfchen find, und der fo das, mas. zufällig und verübergehend in 
der menschlichen Natur ift, von dem, was weſentlich und unveränder— 
lich ift, unterſcheiden lernt. 

Schon diefe Betrachtung hätte Macaulay abhalten müſſen, vie 
Sarricatur Friedrichs Wilhelms J., die vornehmlich von Voltaire und 
ver Markgräfin ſtaumt, noch einmal aufzuwärmen; er hätte im erjten 
beften deutfchen Buch eine richtigere hiftoriſche Auffaffung finden kön— 
nen. In der Zeit, ver Friedrich Wilheim angehörte, war die feinere 
geiftige Bildung und bie tüchtige Sitte durch eine weite Kluft ge— 
trennt; fie fehienen fich faft wie Gegenſätze einander gegenüber zu 
jtehen. Aeuſſere Bildung und gefellichaftlicher Schliff war zu Vers 
failles und an allen darnach geformten Höfen heimiſch; aber dieſe 
Bolitur verdeckte kaum bie fittliche VBerwilderung, vie fihen den gan— 
zen Organismus der herrfchenden Gejelljchaft ergriffen hatte. Derbe 
altwäterifche Sitte, Strenge gegen fich felbjt und gegen Anvere, haus: 
gebadene Moral und ungezwungene Natürlichkeit war felten geworben, 
aber fie erijtirte noch, allerdings in voher, ungefchlachter Hülle, nichts 
weniger al8 licbenswürbig, in der Regel mit ber ftarren Herbheit 
und Brutalität verbunden, die nach dem breißigjährigen Siriege ber 
Grundzug der unverborbenen Streife unferer Gefellfehaft war. Für 
jene ’erfte Form des Lebens, die von Verſailles ausgegangen war, has 
ben wir unter den Fürften jener Tage nur zu viele Repräfentanten ; 
bie zweite Richtung ijt am beveutenditen durch Friedrich Wilhelm I. 
vertreten. In der Folie der Augufte, Max Emanuel; Eberhard 
Ludwig, Karl Philipp e tutti quanti, (auch die erjten britifchen 
George mit eingerechnet), muB Friedrich Wilhelm gewürtigt werten 
und ift er auch bei und in ber Regel gewürdigt worven. Es ijt wahr, 
er prügelte, er war in feinem Jähzorn furchtbar und unbäntig, er 
gab manchen Thaler aus für feine "langen Sterles, er vauchte gern 
Zabaf und tranf dazu fein Dudjteiner Vier, führte übrigens eine 
Schlechte Tafel und war fnauferig bis zum Geiz — aber er vergeu- 
bete nicht den Wohlftand des Landes in despotifchen Launen, er vers 
giftete nicht die öffentliche Sitte mit dem übelu Beifpiel des Mlaitref- 
ſenthums und ber Serailregierung, es war 

Diſtoriſche Zeitſchrift L Band. 





50: ° m 8 vauffer, es“ 
pharaoniſche Uebermuth des Nachwuchſes von Lubwsig-IIV fraiib, 
er feierte nicht Maskeraden und Ringefrenmen, wo dat Belt Hungers 
ftarb, er hing nicht den Wohlftand einer Geheration an einen einzigen 
prahferifchen Feſtzug, er gab nicht das öffentliche Aergernth zahllofer 
fürftlicher Baſtarde und blutſchänderiſcher Grenel, wie fein brillanter, 
geiftreicher und liebenswürbiger Nachbar in Sachſen. Der Bat frei- 
lich nie auf ver Straße mit dem Stock banbthiert, nie im Zorn fee 
Kinder an den Haaren gefaßt, nie fo unfchmadhaften Kohlanf ſtiner 
fürftlichen Tafel gehabt, dort trug Alles ein faſt mebickifchee Ger N 
präge; nur hat er ein reiches Land arın, ein angefehenes Fürſten⸗ 
thum Mein gemacht, wo fein barbarticher Nachbar mit beſcheldenen 
Mitteln ein tüchtiges Staatswefen nmb ein ftahlhartes, Ternigen Bolt 
großzog. Dem Himmel fei Dank, daß wir für all die Angufte, Ge 
orge, Eberhard Ludwig — wenigftens einen Friedrich Wilhelm gehabt .. 
haben; tie Schale war rauh und ftachelig, aber der gute Kern um« 
feres Volksthums blieb in ihr unberührt. 

Es hätte fich einem Gefchichtfchreiber wohl geziemt, an dieß Ver⸗ 
hältnig zu erinnern, denn daran hängt ein Theil ver Bedeutung 
Preußens und der Größe Friedrichs II. Wie viefe Größe empor⸗ 
wuche, wird einem Jeden unbegreiflich fein, der König Friedrich Wil- 
helm nur aus Macaulay’8 burlesfer Schilverung kennt. Denn das 
Dild, das ver Brite entwirft, ift nicht nur Schatten chne Licht, es 
ift auch durchweg verfehlt, weil es die ganze Natur des Königs ver- 
kennt. Nach dem britifchen Gefchichtfchreiber war Friedrich Wilhelm 
boshaft und ſchadenfroh, aus Liebhaberei graufam, kurz ein linge- 
thüm, das zur Strafe der Menfchen geboren war. In Wahrheit 
liegen aber bie Fehler jenes Fürften ganz wo anders. Jähzorn und 
Eigenfiun war die häufigste Duelle feiner Verirrungen, es fehlte ihm 
alfe edlere Cultur und geiftige Zucht, ver autefratifche Dünfel bes 
Fürſtenthums jener Tage hatte auch ihn ergriffen und das feinere 
Nechtagefühl in ihm zerjtört. Allein verfelbe Mann, ver fo ftreng 
gegen antere war, war es auch gegen fich ſelbſt; an Pflichtgefühl und 
an Eifer für das Geſammtwohl hat ihn feiner feiner Zeitgenoffen 
auf dem Thron erreicht. Er war redlich, wahr und kerndeutſch; er 
war feiner ver Niedrigkeiten fähig, von denen bie große und Feine 
Politik jener Tage erfüllt if. So gelang e8 dem rauhen, fpartani« 





Macaulay's Friebrich ber. Große 51 


fhen Zuchtmeifter, in einem Tleinen Lande ein geſundes Staats⸗ 
wefen anfzurichten, in einer Zeit, wo die mächtigften Staaten Eu⸗ 
ropa's in Agonie oder Ververbtheit dem Untergang entgegen gingen. 
Sein Heer, feine Finanzen und feine Verwaltung, ver Anbau des 
Landes und die Taufende von fleifigen Coleniften, vie er herbeizog, das 
Aufblühen von Handel und Gewerbe, das in Zucht, Sparfamtkeit und 
unverbrauchter Kraft herangewachfene Volk, find fürwahr Denkmale 
feines Wirkens genug, um ihm ein Necht auf Hifterifche Würti- 
gung zu fchaffen. Das hätte Macanlay von Friedrich dem Großen 
lernen können; der Cohn, der vielleicht einiges Recht hatte, die Härte 
des Vaters zu beflagen, hat ihn am Schluße feiner branvenburgifchen 
Denkwürdigkeiten in wenigen Haffifchen Säten als Staatsmann und 
Negenten gewürkigt und feiner häuslichen Dinge nur in den Worten 
gebacdht: on doit avoir quelque iudulgence pour la faute des en- 
fans, en faveur des vertus d’un tel p£re. 


Nach dieſen Proben kann e8 nicht überrafchen, wenn Macaulay 
von Friedrich's Yugend und feinen Verhältniß zum Vater ein cbenfo 
ungenügenbes wie fchiefes Bild entwirft. Die befannten Scenen wer⸗ 
ten in ber anekdotenhaften und karrikirenden Manier, die das Ganze 
durchzieht, möglichſt grell zufammengefaßt, über feine literarifche Ju— 
gendthätigfeit, feine Bildung und feinen Briefwechfel mit Voltaire 
ziemlich breit verhandelt und bei Gelegenheit des Antimachinvell bie 
Kraftfentenz hinzugefügt: „es fei eine erbaufiche Abhandlung gegen 
Naubgier, Treuloſigkeit, Willfürherrfchaft, ungerechten Krieg, kurz ge= 
gen faft alle die Dinge, durch) welche der Autor im Gebächtniß der 
Menſchen fortlebe.“ 


Den ganzen pfychologiſchen Confliet zwiſchen Vater und Sohn 
läßt die Darftellung unerörtert; wie diefer Conflict entſtand, wie er 
fih [ö8ste, und wie in ber fehweren Probe dieſer Pehrjahre aus dem 
Kronprinzen ver künftige König erwuchs, ein Stönig, deſſen werdende Größe 
der Bater felbit in feinen letzten Lebensſtunden mit innerer Befriedi— 
gung erfannte, von dem Allem Täßt ung Macaulay auch nicht einmal 
etwas ahnen, während er doch felbit in ver gebrängten Skizze Raum 
genug findet, allerlei Literarifche Quisquilien auszuframen oder ein 
Baar Aneknoten über Yelenuichs fchlechtes Latein aufzutiſchen, und 


1 





BB - "8 Häuffe, 
und zu erzählen, „daß er jo umermiblich, Brofa mb Verſe ſchrieb, 


als ch er ein hungriger Miethferibent für Cave oder Dsborn gewejen 


wäre.u 

Es iſttgewiß, die Erziehung, bie Friebrich Wilhelm feinen Kin 
bern gab, vergriff jich bei aller guten Abſicht in ver Wahl der Mittel, 
Was Martin Luther von feinen Elterm fagt: "Sie meinten's herze 
lich gut, wußten aber vie Inzania nicht 2, umterfcheiden, wornach bie 
Züchtigungen zu bemefjen auch von dem Vater Frieb- 
rih8 des Großen. Yu d die er für feinen Exrjige- 


bornen gab, 3. DB. von. ı allerrings bie guten Sei— 
ten feines Wefens: vie f ben haushälteriſchen Geiſt, 
ben Sinn für Pünftlic Ordnung. Es ijt vie alt- 
väteriiche Weife, vie a freibung ehrenwerther war, 
als die höfifche Drejjur Nuftern. Aber es berricht 


darin eine gewiffe Enge u e jedem nicht gewöhnlichen 
Geift zur- Dual werben mußte, wer ftrenge Fönigliche Herr will ſei— 
nem Thronerben von der Wiege an bafjelbe Gepräge ven Ordnung, 
Sofvpatengeift, Sparfantkeit und Religiofitst aufprüden, das ihm fel- 


bir als Die vechte Art des Mannes erfhiälr Als Kind fhon mußte 


er ſich mit einer Compagnie Cadetten befaffen, feine Spielwerfe wa- 
ren Zeughaus und Feſtungen, feine zarte Jugend und Conftitution 
erfparte ihm nicht die unerwünfchte Pfliht, den Vater auf Jagden 
und Revuen zu begleiten. Für einen feinen, regſamen und aufftre- 
benden Geift war das vie zureichende Beichäftigung nicht. Oder follte er 
fich befonders angezogen fühlen von einer Religionelehre, die feinen 
Kopf mit ſchwerem dogmatiſchem Ballaft erfüllte, die ihn zur Strafe 
Pfalmen und Katechismus memoriren ließ? Des Prinzen feinere und 
vornehmere Natur begehrte nach Genuß, nach erfrifchenpem Umgang, nach 
geiftiger Anregung; bie Paraden und das Exerciren, Dinge, die ber 
Vater mit einer Art von Andacht behandelte, Tangweilten ihn, bie 
Bergnügungen ver Jagd und die Späße des Zabafscollegiums waren 
ihm zuwiber. | 

So bildete fich früh ein Mißverhältniß, das fchon in ven Kna— 
benjahren Friedrichs deutlich genug hervorbricht. An Eigenfinn war 
der Sohn dem Vater nicht unähnlich; der Vater zeigte fich leiven- 
Ichaftlih und hart, ber Sohn war eingejchüchtert und gewann es 








Macaulay’8 Friebrih ber Große. 53 


nicht über fih, dem Vater mit tem Finblich offenen Vertrauen ent— 
gegenzufommen, für dad Friedrich Wilhelm bei allem Jähzorn und 
Schroffheit doch viel empfänglicher war, als tie Eeinen glaubten. 
Ueberhaupt hatte Frietrich Wilhelm mehr von dem altväterifchen Fa- 
milienfinn, al8 man damals im eignen Haus und fpäter in ber Welt 
bat anerkennen wollen. Auch leitete ihn fein Inſtinct nicht ganz un— 
richtig, wenn er ben Argwohn hatte, feine Kinber wollten die ver- 
haßte franzöfifche Art und Eitte ihm ins Haus verpflanzen. Er zog 
bie Schranfen toppelt dicht und feit, weil er ſah, daß er an ver 
Frau, am Sohne und an der Tochter feine Stüten hatte. Gewiß ift 
durch fein Verfahren mancher zarte Keim erdrückt und feinem Eohne 
bie Jugend viel verbittert worden. Allein, wer wollte fagen, daß 
das Wulten des Föniglichen Zuchtmeiftere fo ganz ohne gute Frucht 
gewefen? Friedrichs Natur war von Haufe aus weich und hatte ei« 
nen ſtark finnlichen Zug; feine Form ter Bildung näherte ihn ven 
Franzoſen, feine Sitte neigte zur zwanglofen Ungebundenheit. Es 
war eine Perfönlichfeit, vie zum Größten angelegt, aber auch Ber- 
irrungen fehr auegefett und in jedem alle noch fehr beſtimmbar 
war. Daß in dies Leben Zucht, Strenge und Ernſt bereinfam, war 
für den Fünftigen Herrfcher Tein Unheil, auch wenn der Weg durch 
Schwere Prüfungen bindurchging. 

Aus der Eorrefpondenz zwifchen Vater und Cohn läßt fich das 
Zerwürfniß früh genug erfennen. Die Briefe des fechszehnjährigen 
Prinzen Elingen gedrückt und eingefchüchtert; und ſchlimmer als vieß, 
es fehlt ihnen tie kindliche Aufrichtigfeit. Eeine Worte fprechen Reue 
und Gehorfam aus, aber es läßt fich wohl hevausfühlen, daß dieſe 
Empfinvungen nur unfreiwillige find.*) ‘Die Aeuſſerungen tes Va- 
ters find intereffant, weil fie, wiewol einfeitig und befangen, doch das 
Wefen des Zwieſpalts berühren. „Sein eigenfinniger, böfer Kopf,“ 
das ift die erfte Klage, womit Friedrich Wilhelm das feheinbar reuige 
Bekenntniß des Eohnes erwiedert. Wenn man, meint er, feinen Vater 
lieht, jo thut man was er haben will, nicht wenn er babei ftcht, jon- 
bern wenn er nicht Alles ficht. "Zum andern weiß er wohl, vaß 





— — 


*") S. die Briefe vom Sept. 1728. In den Oeuvres de Frederic (Berlin 
1846 —1857) T. XXVIL 3. 9. ff. 


54 2. Häuffer, 





ich Feine effeminirten Kerl leiden kann, ber Feine menjchlichen Zueli⸗ 

ionen bat, der fich ſchämt, nicht weiten noch ſchießen Tan, und da— 
us, Nalpropre an feinem Leibe, feine Haare ivie ein Narr ſich friſiret 
und nicht verfchneivet, und ich Alles dieſes taufendmal reprimandiret, 
aber- alles umfonjt und Feine Beſſerung in nichts iſt. Zum andern 
boffärtig, recht baueruftolz ift, mit Keinen Menſchen ſpricht, und micht 
populär und affable ijt und mit ben -benichte Grimaſſen macht, als 


wenn er ein Narr wäre, ı nen Willen thut, als mit 
ber Forge angehalten.u 

Es ?war das in bem möſe Reiſe nach Drespen 
gemacht worben war. Ku hatte barüber furz und 
bündig gefchrieben: „sch fatiguiret von alle guhte 
Zage und wohlleben; ifı ch leben bier, aber Gott 
ft mein Zeuge, daß ic u gefunden und noch jo 
rein bin, als ich von Da ınd mit Gottes Hülfe bes 


barren werde bis an mein wnwr. wer seronprinz konnte bekanntlich 
das nicht von fich fagen; er fiel in Verirrungen, bie in feinem Alter 
und feiner Zeit nicht eben felten waren, „bie. nur Friedrich Wilhelm 
viel erufter nahm, als es die Eitte EEE Zeit zu nehmen gewohnt 
war. Für ihn lag nun ernfter Stoff zur Klage vor und fein bitiges 
Temperament ließ ihn leicht auch die harmlojeren ‘Dinge bedenflicher 
beurtheilen, als fie e8 verbienten. Wenn er den Cohn im Buchladen 
ftatt auf der Parade und dem Erercierplag fand, wenn Friedrich lie- 
ber franzöfifche Bücher las und Flöte jpielte als auf die Jagd ging, — 
* 





oder wenn er das Theater dem Tabakscollegium vorzog, fo war das 
für Friedrich Wilhelm ein Stoff zu ernfter Sorge; es war nicht des⸗ 
potifche Yaune, was ihn unmuthig machte, wohl aber vie Furcht: 
feinem Staate einen, „effeminirten Kerl” als Nachfolger zu binter- 
laffen. Er irrte ſich darin, aber feine Unruhe entfprang aus dem 
ftärkften ©efühle feiner Pflicht und Herricherjtelung. In feinem 
Munde war es ein bitterer Vorwurf, wenn er fagte: „Fritz ift ein 
Duerpfeifer und Poet,“ denn er meinte, ein König habe andere 
Pflichten als dergleichen brodlofe äſthetiſche Spielereien „Er macht 
ſich nichts aus den Soldaten, und wird mir meine gange Arbeit ver- 
berben,“ fagte er ein andermal. Und warum follte der ffrenge raft- 
lofe Mann wicht beforgt werben, ver feinem Lande eine treffliche 





Macaulay's Friedrich ber Große. 55 


Berwaltung, eine tüchtige Armee und eine gefüllte Staatscaffe ver- 
Schafft, warum ſollte er nicht bejorgt werden, wenn er zu dem Allem, 
was ihm bie höchite Aufgabe des Lebens und Herrfchens war, ven 
Sohn weder Neigung noch Beruf Hinzubringen, wohl aber die Zeit 
in Künften, die ihm leer und nichtig dünkten, vergeuden fah? Diefe 
wehmüthige Beforgtheit fpricht aus hundert Aeufferungen des Könige 
hervor, ein Zug feines Wefens, von dem bie jonrnaliftiichen Anekdo⸗ 
teuſammler, die fein Andenken ſchmähen, auch feine Ahnung haben. 

Friedrich Wilhelm täufchte ſich; er wollte nicht einfehen, daß es 
noch eine andere Welt gebe, als ven Exercirplatz und die Kanzlei, 
er hatte Fein Verſtändniß für die feinere geiftige Art feines Sohnes, 
er fah auch da, wo ſich mr einer berechtigtes Gefühl der Nichtbefrie- 
bigung regte, nichts als Yeichtfiun uud Frivolität. Allein auch der 
Kronprinz irrte ſich damals; er wollte lange nicht einfehen, was er ſpäter 
vollfommen begriff, welch guter Kern des Mannes und Herrfchers 
in ber rauhen Hülle des Vaters verftedt war. Und doch ergänzte 
eine Natur die andere. Preußen wäre nie geworben, was es ward, 
wenn nicht Friedrich den ftarren Ordnungen feines Vaters Geift und 
Yeben eingehaucht hätte, aber auch Friedrich wäre nicht geworben, 
was er ward, ohne das Capital, das ihm Friedrich Wilhelm erwarb 
und ohne die ftraffe Zucht und ven ernften Sinn, den der jtrenge 
Vater in dem weichen, finnlichen Jüngling heranzog. 

Bis es freilich zu dieſer Erkenntniß auf beiden Seiten fam, 
gingen fehr herbe Prüfungen voraus. Die peinlichfte war die Kata⸗ 
ſtrophe von 1730, die Flucht des Kronprinzen, ihr Mislingen und 
die harte Züchtigung, die folgte. Wer jich das perjänliche Verhält- 
niß Friedrich's zum Vater vergegenmwärtigt, vie blinde Leivenfchaft 
auf der einen und ven Mangel an kindlichem Vertrauen auf der an- 
‚bern Eeite, wer ven Einfluß böfer Zmwifchenträger, wie die Seden- 
dorf und Grumblow waren, das Einmifchen der Frauen vom Hofe 
und bie bienjtfertige Bereitwilligfeit leichtfinniger Gefellen hinzu— 
rechnet, dem wird ber verzweifelte Entſchluß Des Prinzen wohl be- 
greiflich, aber nie gerechtfertigt erjcheinen. Daß der Vater ven Fall 
aufs ftrengfte beurtheilte, vaß ihm der „Deferteur” feine Stellung 
als Solvat und als Thronfolger verwirkt zu haben fchien, das war 
eine einfache Eonjequenz feiner Dent- und Anſchauungsweiſe. Dean 





56 v. Häuffer, 


kann den Prinzen in dieſem fürchterlichen Gonfliete tief betlagen und 
poch-ein lebhaftes Mitgefühl mit Dem unglücllichen Monarchen haben, 
deffen Vorftellungen von kindlicher und Unterthanenpflicht aufs emt- 
pörendſte verlegt find, uno zwar burch ben, ber durch bie Geburt 
bass berufen war, vie Mhevolle Mibeit des Vaters auszubauen, 
Das war. ein vollkommen tragiicher Conflietz wir hätten nicht von 
Muth, ven König darum, wie Macaulay hut, als einen tollen 


Narren zu fchilvern und mgen ‚half crazy‘ zu 
nennen. 

Die Kenntniß der einzel von 4730, die zu wieder: 
holen bier nicht ver Ort ilt, bei Macaulay jo mangel- 
haft, daß man eine zutr img nicht erwarten kann. 
Tiſcht er unsdooch noch hen auf, bas dann moch 
ein paarınal fpüter verwe es Die biplommatiiche Für— 
ſprache namentlich Deften bie Friedrich damals das 


Leben gerettet habe. Er bram  jeumap orefen Effeot, um feine Dar- 
ftellung ver Ereigniffe von 1740, ein wahres Prachtſtück fentimen- 
taler Romantik, wirkſamer auszuftatten. Allein er hätte aus Preuß 
und aus andern Büchern erfahren Fönnen, daß ganz andere Dinge 
bei Friedrichs Schickſal mitjpielten, als bie "diplomatifche Verwendung 
und daß, wenn irgend etwas Zem Zorn des Königs hemmend in den 
Weg trat, es die unerfchrodene Pflichttreue der Offiziere war, bie 
fih zu feinem Schredensgericht über ven ZThronfolger gebrauchen lie⸗ 
gen. Schon vorher hatte ver wadere General von Moſel bei einem . 
Wuthausbruch Friedrich Wilhelms in Wefel geäußert: „Durchboh⸗ a 
ren Sie mich, aber ſchonen Sie Ihres Sohnes." Bei dem Gericht 
fagte Buddenbrock: „Wenn E. M. Blut verlangen, fo nehmen Sie 
meines; jeues befommen Sie nicht, fo lange ich noch fprechen darf.“ 
Das find Züge, die zwar für den beabfichtigten Effect nicht taugen, 
bie aber gleichwol der Aufbewahrung werth find, venn fie zeigen, 
daß unter der harten Disciplin des königlichen Zuchtmeifters noch 
Charaktere gediehen und daß in dem fo despotiſch geleiteten Staate 
doch ddaum war für Männer. 

Es folgte nach ver Begnadigung bes Kronprinzen bie Äußere 
Verſöhnung mit dem Vater; Friedrich legte fein Befenntniß der Neue 
ab, fügte fich den Anordnungen des Könige und ber von ihm vor⸗ 





Macaulay’8 Friedrich der Große. 57 


gefchriebenen Yebensweile, dafür ward ihm denn jene mildere Haft 
in Küftrin, die mit den vorangegangenen fehweren Tagen verglichen 
faft wie Freiheit erfchien. Aber eine bittere Empfindung blieb zurüd, 
die er vielleicht fein Leben lang nicht überwunden bat. So furdt- 
bare Ereigniſſe mußten in einer empfänglichen und reizbaren Seele 
tiefe Narben zurädlaffen; ich habe meine Tugend meinen Vater ge: 
opfert, fchreibt er fast dreißig Jahre fpäter in einer ver trübften 
Stunden feined® Lebens, und er hätte in ver That der fteinharte, 
empfindungsloſe Menjch fein müſſen, als ven ihn vie trisiale Be⸗ 
trachtung bisweilen fehilvert, wenn es anders geiwefen wäre. ‘Der 
Schmelz und vie Freudigkeit feiner Iugend war dahin, ohne daß er 
bafür ein innigeres VBerhältniß zum Vater gewonnen hätte. 


Denn die Verſöhnung war nur äußerlich. Friedrich beugte fich, 
aber er Enirfchte im Stillen; er ſchrieb devote Bricfe an den Vater, 
alfein die Ergießungen an feine Schweſter beweiſen, wie viel Ueber— 
windung ihm das foftete.*) Dieſe erzwungene Zurüdhaltung un 
Duplicität war nicht ver kleinſte Nachtheil, den die Kataſtrophe zurück 
ließ. Friedrich Wilhelin war indeſſen fcharflichtig genug, um der äußern 
Umkehr nicht zu vafch zu vertrauen. Zeine Briefe find ftreng und 
hart, enthalten aber viel Wahre. „Wollte Gott, fehreibt er im Mai 
1731, Ihr hättet meinem wäterlichen Rath) une Willen von Jugend 
auf gefolgt, je wäret Ihr nicht in folch Unglück verfallen; denn bie 
verfluchten Yeute, vie Euch infpiriret haben, durch vie weltlichen Bü— 
cher Hug und weije zu werben, haben Euch vie Probe gemacht, daß 
alle Eure Klugheit und Weisheit ift zu nichts und zu Quark geivor- 
den" — — „Wenn Ihr Euch gleich nicht befehret, nur wenu Ihr 
zu enrem völligen Alter fommet, Ihr möget ed wollen ober nicht 
wollen, Euer Gewiffen Euch immer überzeugen wird, daß alle meine 
Vermahnungen, tie ih Euch von ver Heinften Kintheit bis zuletzt 
getban habe, Euch au ver Seele, vor ver coquetten Welt, für meine 
Arınee, Yünter und Yente heilſam geweſen find.“ 


Wohl mehr um tem Vater zu gefallen, als ans freiwilliger Nei- 
gung bat Friedrich (Aug. 1731) um jeine militärische Wiederherſtel⸗ 





*) ©. u. a. Oeuvres de Frederic XXVII. 1. 8. 





Da e. Haͤuſſer, 


lung; „machen Sie mich, jchrieb er, zu was in ber Welt Sie wollen, ich werbe 


mit Allen zufrieden und vergnligt fein, wer 08 nur Solbat iſt.“ Aber 
Friedrich Wilhelm traut noch nicht recht. Ich glaube, erwiebert er, 
dag Dir dieſes nicht recht von Herzen gehe und Dur mir nur flat— 
tiren wolleft, da Du doch wiſſeſt, mas ich vom Flattiven halte,” Man 
fieht, er-ilt dem Sohne um einen Schritt näher: gelönmen, er nennt 
ihn wieder Du, allein das alte Miſtrauen, daß ber Sohn ein Weidh- 
ling, fei und wäljche Sitte liebe, Mt noch nummer nicht überwunden. 
Ein. Soldat, meint er, müfje eine Duelination Haben zu Allem, was 
männlich und nicht zu Dem, was weibiich ſei; er dürfe fich wicht ſcho— 
nen, ſoudens zuſſe ſich ſogleich sepemiven, wenn: es Occaſionen gel, 
| * Ei: kürfe weder mach. Kälte noch map Oihe, wech ind 
Hunger — fragen. „Du aber, führt er fort, haſt in allen 
Stüden gegen mich einen Abſchen davor gezeigt und wenn sd auf 





Jagden, Reifen und andere Oecafionen angelommen, haft bis altzat 


geſuchet dich zu ſchonen und lieber ein franzöſiſches Buch, des bons 
mots oder ein Komödienbuch, over das Flötenſpiel gefuchet, als ven 
Dienft oder Fatiguen.“ Er wieberholt darum feinen Zweifel, ob es 
Friedrich Ernft fei mit der Soldatenneigung. „Aber was gilt es — 
fragt er — wenn ich Dir vecht dein Herz Fitelte, wenn Ich aus Pa- 
ris einen maitre de fäte mit etlichen zwölf Pfeifen und Muſique— 
büchern, ingleihen eine ganze Bande Comöbianten und ein großes 
Orcheſter kommen ließe, wenn ich lauter Franzojen und Franzöfinnen, 
auch ein Paar Dugend Tanzmeiſter nebſt einem Dutzend petits mai- 
tres verfchriebe und ein großes Theater bauen ließe; fo würde bir 
biefes gewiß befjer gefallen, al® eine Compagnie Grenadiers, denn 
bie Grenadiers find doch nach deiner Meinung nur Canailles, aber 
ein petit maitre, ein Sranzöschen, ein bon mot, ein Mufiquechen 
und Komödiantchen, das fcheint was Nobleres, das ift was König— 
liche, das ift digne d’un prince.“ .... „Sch werde erft zufehen, . 
ob dur ein guter Wirth werten wirft und ob du mit deinem eignen 
Geld nicht mehr fo liederlich umgeben wirft, ald bu vorbem gethan; 
denn ein Soldat, ver fein Wirth ift, und mit dem Gelbe nicht aus— 
fommen kann, fonvern nichts ſparet und Schulden madhet, dieſes tft 
ein recht unnüger Soldat.“ 

Gewiß hat der Sieger von Leutben und Roßbach dieſe Vor- 





Macaulay's Friedrich ber Große. 59 


würfe ſpäter zu Schanden gemacht und ein in modernen Zeiten uns 
übertroffenes Exempel aufgejtellt, 
quid virtus et quid patientia possit — 

allein die Aeufferungen des Königs find Doch auch jetzt noch von In— 
terefje, deun jie berühren bie wejentlichfte Duelle des Misverſtänd— 
nijjes zwijchen Vater und Sohn. Und wer wollte ſagen, daß bie 
Wirkung väterlicher Zucht ganz bedeutungslos geweſen wäre für vie 
Stählung des künftigen Helven? 

Denn wie Vieles auch verkehrt und übel berechnet in Friedrichs 
Erziehung geweſen jein mochte, der Vater bildete mit feiner nüchter- 
nen Proja doch überall ein wohlthätiges Gegengewicht gegen dus 
Dichten, das Spielen und Zänveln, wozu Friedrich wie bie ganze 
franzöſiſche Schule des Lebens unverkennbar neigte. Anmuthig und 
geiftreich find 3. B. gewiß die Briefe, die damals Friedrich an Frau 
von Wreech, oder an feine Schweiter, over jpäter an Voltaire ſchrieb, 
aber das fünnen wir uns dabei doch nicht denken, daß aus folder 
Schule der Held und Monarch feines Jahrhuuderts hervorgehen 
mußte. Wir begreifen daher wohl Friedrich Wilhelm, der den Sohn 
vor allem zu ernfter, trodener Arbeit heranziehen wollte und ber 
darum Jegliches als verdächtig anjah, was von Poejie, Theater und 
Flötenſpiel nur eine entfernte Witterung zeigte. Daß es Friedrich 
anfangs ſchwer geworden ift, ver profaifchen Anleitung des Vaters 
zu folgen, geht aus feinen vertraulichen Aeuſſerungen unwiberjprechs 
lih hervor; um jo wohlthätiger war es aber für ihn, daß er ſchon 
um des Vaters gute Yaune zu erhalten, fich mit ben ihm fremden 
Dingen bejchäftigen mußte; die Zeit kam, wo er es freiwillig that. 
Daß ein Geijt wie ber feine, das, was er einmal ergriffen hatte, 
im ernten und großen Stil treiben würde, ließ ſich eriwarten; bie 
Gefahr war nur, taß er dem Zug der Streife, dem feine Bildung 
angehörte, zu bereitwillig folgen und vor lauter esprit und geijtiger 
Gourmandiſe zum Ernſte Des Lebens nicht gelangen würde. 

Des ftrengen Vaters Miene füngt erft dann an jich etwas auf- 
zubellen, als Friedrich ven ihm worgefchriebenen üfonomifchen Be⸗ 
ſchäftigungen mit einem jelbjtthätigen Intereſſe nachzugehen beginnt. 
Im Dezember 1731 fandte ver Kronprinz feinem Bater einen Vor⸗ 
Ihlag zu einer einfachen und einleuchtenden Verbeſſerung ver Hof: 





60 L. Häuffer, 


% 


dienſte; Friedrich Wilhelm antwortet ihm ohne Säumen. Zum er 
ftenmal iſt er mit dem, was ſein Sohn anerdnen will, „ſehr con 
tent“; „wenn Ihr dasjenige, was Ihr wegen ver Bauern ihrer Dienſte 
angeführet von Euch alleine beobachtet um usfindig gemacht habt, 
feid Ihr jchon weit in ver Yanbiwirtbichait gelommmen" Seit dieſer 
Zeit ändert fi) der Tom im den Briefen bes Könige; mit jebent 
neuen Zeichen kindlichen Gehorſame ichmigt Die Kinde, vie fich m 


das Herz des Vaters gelegt ud. Feine Aeufferungen tra- 
gen das Gepräge von Herz shiwollen,*) das aller un- 
bändigen Leidenfchaft ohner wich Wilbeln’s Weſen lag. 
Da drohte der Plan i ing bes Kronprinzen Alles 

- zu verberben. Friedrich W chtete die Sache unter dem 
Geſichtspunkt altfränkiicher t; er fah nichts dabei, daß 

. en Sohne die Gemahl wollte es vielmehr wie ein 
reichen des Wohlwollens ‚ daß er durch dieſen Met 


die bürgerliche Rehabilitation des Thronerben vollendete. Die ge 
wählte Brinzeffin befaß vortreffliche Eigenfchaften, das genügte nach 
feiner Anficht zu einer vollendeten Ehe. „Ihr könnt wohl perfuapiret 
fein, jchreibt er vem Sohne, daß ich habe die PBrinzeffinnen des Landes 
burch andere, fo viel als möglich ift, eraminiren lafjen, was fie für 
Conduite und Education; da fich denn die PBrinzeffin, vie ältefte von 
Bevern gefunden, bie da wohl aufgezogen ift, modeſte und eingezogen; 
fo müfjen die Frauen fein. 

Das war gewiß recht gut gemeint; baß er dabei jelber nur von 
unfichtbaren Fäden geleitet war und einer ihm fremden politifchen 
Intrigue tiente, ahnte der arglofe König nicht. Davon hatte er aber 
nad) feiner Weltanficht feine Vorftellung, daß es gerade bei einer 
Perfönlichkeit wie der des Keronprinzen ein höchſt bevenflicher Schritt 
fei, eine Frau zu octroyiren und daß auch bie fledenlofefte Ehrbar- 
keit nicht genügte, bier ein gefundes, innerliches Verhältnig berzuftel- 
len. Eine fo reizbare und leivenfchaftliche Natur, wie die Friedrich's 
war, in diefen jungen Tagen voll Wärme des Gefühle und jelbft nach 
ven ſchwerſten Schidfalsprüfungen noch ven weichen menfchlichen ge 
pfindungen unterworfen, bie der Tod einer Mutter, eines Freuftdes, 





*) ©. 5. 8. den Brief in ben oeuvres de Frederic. XXVII. 3. 45. 





Macaulay's Friedrich der Große. 61 


einer Schwefter zu erweden pflegt, eine ſolche Natur brauchte etwas 
mehr, als eine Prinzefjin, die „wohl erzogen, modeſt und eingezogen 
warz;u bier Zwang üben, hieß ein Lebensglück zerjtören, das zum 
Größten angelegt war. Wie Friedrich felbjt damals an feine Schwe- 
fter die Markgräfin ſchrieb: mon coeur ne se laisse point forcer; 
quand il aime, ıl aime sinctrement, et quand il n’aime pas, 
il ne se saurait contraindre. Es ijt denn auch in Friedrich's gau— 
zem Leben nichts Trüberes, als dieſe felbftgewählte Vereinſamung in 
feinem Haufe; was er an Freunden und Unterhaltern jich fuchte, um 
bie Lücke zu deden, war meiſt mehr dazu angethan, fie nur fchmerz> 
licher empfinden zu lajjen. Für ihn felbit, für die Sitte ver Zeit und 
für die Tage nach ihm iſt dieſer Bittere Rip in feinem Leben ver— 
bängnißveller geworden, als tie Meijten damals ahıten. Und am 
wenigjten find Die Urheber ihres Werkes froh geworben; Friedrich 
Wilhelm ſchuf mit der Heirath ten bürgerlich chrbaren Hausftand 
nicht, der fein Ideal war, und die Sedendorf und Grumbkow er- 
reichten alles andere eher, als die engere Verknüpfung mit dem fais 
ſerlichen Hefe, in welche fie ven künftigen Regenten zu verftricden 
bachten. 

Die Zeit der erzwungenen Heirath war ber legte Moment, wo 
noch ein gewaltſamer Bruch zwifchen Vater und Sohn gedroht hat. 
Friedrich's Briefe wenigftens zeugen bon größter Aufregung und Laf- 
fen eine Kataſtrophe fürchten. Wie wenig noch die innere Verſtändi— 
gung Beider vorgejchritten war, ift in jehr unerfreulichen Zügen zu 
erfenuen. Der Kronprinz fchüttet gegen Alle fein Herz aus, nur 
gegen ven Vater nicht; ſelbſt Grumbkow gehört zu feinen Bertrauten, 
nur Friedrich Wilhelm tritt er nicht mit der Offenheit entgegen, bie 
ben Schne und Manne geziemt hätte. Freilich war der Vater hier 
nicht ohue Schuld; er ließ ben Zwiſchenträgern viel zu viel Einfluß, 
ben tiefe natürlich dazu nügten, Weide auseinanter zu halten. Seine 
Kargheit brachte ven Kronprinzen in pecuniäre Verlegenbeiten, die 
dann wicher nur den Intriguanten zu Gute famen. Zwar täufchte 
ſich bie öfterreichifche Politit, wenn fie aus den Anlchen, die Friedrich 
bei Seckendorf machte, vielleicht die Hoffnung jchöpfte, dereinſt ven 
Sohn wie den Vater zu leiten, inbejjen das mindert die peinliche 
Wiverwärtigleit des Verbältniffes nicht, Wie tief vielmehr ver innere 





2. Sänffer, 


lin dem Prinzen mwunnhte, das erglbt fich ans den Briefen, bie 
m Herbft 1734 und im Somit bes folgenden Jahres, bei ber 
veren Erkrankung des F ſchriebz * xelgen faſt ohne Aus⸗ 
ahme ein völliges Erkalten und gehören 
zum Härteften, was Friebe je — oder gefihrieben Hat *). 
Wie verbüftert mußte freilich IE Sfimmmmg Fein, ent ein vier und 
zwanzigjähriger Prinz jo Kanton Ba ri Anfang des Yab- 


re8 1736 an Camas fchri ırte Schule, die der Wiber- 

a wärtigfeiten; ich bin dazu geboren und erzogen. Das 
zieht Einen von der Welt eerheit und Unbeſtändig⸗ 
keit ihrer Dinge erlennen. enſchen meines Alters ſind 
das freilich unangenehme as Fleiſch widerſtrebt ihnen. 
Das Temperament, das ß zur freude hinzieht, iſt 
vie ein verrenktes Glied, us beſtrebt, feine gewöhn- 


lichen Functionen vorzune 

Eine Erleichterung hatte ihm indeſſen die Vermählung gebracht; 
fie löste ihn aus fehr gebundenen äufferen Verhältniffen, infofern ver 
Vater ihm nun etwas reichere Mittel gab und ihn wenigiten® fo 
ausitattete, wie e8 nach feinen Begriffen die Stellung eines Kron⸗ 
prinzen von Preußen gebot. Friedrich konnte mehr feinen Lieblings- 
befchäftigungen nachgehen, Freunde und geiftreiche Gefellfchafter an 
fich heranziehen und in Rheinsberg fich ein Aſyl fir Alles das grüns 
ben, was bes Vaters Gebot feit Jahren geächtet hatte. Mein Haus, 
fchrieb er darüber an Suhm, ift in Wahrheit fein Ort, wo man fidh 
mit Geräufch unterhalten kann; aber ift vie Ruhe, die Stille und 
das Studium nicht den raufchenden Vergnügungen der Welt vorzu⸗ 
ziehen? Ich habe niemal® fo glückliche Tage verlebt wie bier. Und 
noch fpäter in den Tagen feines Glanzes äufferte er: ich hatte ba- 
mals meine Heinen Freuden und meine Heinen Widerwärtigkeiten; 

r ich fchiffte auf ftillem Waffer. 

Seine geiftige Arbeit in viefer Zeit, wie fie in poetijchen its 
güffen, in einzelnen profaifchen Auffägen und namentlich in ſeinen 
Briefen vor uns liegt, ift von höchſtem Intereſſe; dieſe Zeugmiffe 
eben das reichite Material fiir die pſychologiſche Würdigung des 





*) & Oeuvres XXVII. 1. 19. f. Bu 





Macaulay's Friebrich ber Große. 63 


Mannes. Macaulayh hat e8 fich aufferorbentlich leicht gemacht, mit 
diefem Stoffe fertig zu werben; fo daß Cinem wohl der Verbacht 
anfiteigen kann, er habe dieſe Sachen auch nicht einmal in der uns 
vollfommenen und lüdenhaften Geſtalt gelefen, in ver fie vor ver 
neuen Geſammtausgabe ver Welt geboten waren. Wenigitens ent- 
hält das, was er darüber fagt, nicht wiel mehr, als was auch vie 
flüchtigfte Durchblätterung beizubringen vermöchte. Es werben un 
ein Baar abgegriffene Anekdoten über Friedrichs klaſſiſche Bildung mit⸗ 
getheilt; e8 wird feine literarifche Fruchtbarkeit perjiflirt, und ber- 
vorgehoben, wie ſchwierig es für einen Mann, ver weder franzöfijch 
noch deutſch recht konnte, in jedem Falle fein mußte, einen ſchrift⸗ 
ftelleriihen Rang zu erwerben. „Seine Verſe, beißt es, enthalten 
nichts, was über die Linie der Newdigater over Seatoner Poeſie 
hinausgegangen wäre und feine beiten Suchen mögen ungefähr mit 
den fchlechteften in Dodsleyg Sammlung rangiven.” Am angenehm: 
ften feien noch feine Briefe, beſonders diejenigen, bie nicht mit Ver- 
jen verbrämt feien. 

Wenn man einmal überhaupt über biefen Gegenjtand Tpricht, 
follte man ſich anf fo flüchtige Randgloſſen nicht beichränfen. 
Die Jahre der NhHeinsberger Zeit, namentlih 1736 und 1737, gehö⸗ 
ren zu ben ergiebigften in Friedrichs reichem Brieftvechfel. Die Cor- 
refpontenz mit Suhm, Manteuffel, Voltaire, dazwiſchen auc) Fonte⸗ 
nelle und Rollin find bei einer Charakteriftil Friedrich's nicht wohl 
zu mifjen. Wenn auch Manteuffel ein zweidentiger Freund und Vol—⸗ 
taire eine Acquiſition von zweifelhaften Werthe für dem preußiſchen 
Thronerben war, fo gehörte doch 3. B. Suhm zu den Männern, 
die feine Hingebung mit gleicher Treue erwieberten. In ber Vol—⸗ 
tairejchen Eorrefponvenz mag viel Phraſe und Friedrich's franzöſiſcher 
Ausdruck nicht immer akademiſch correct fein, es jind doch aud in 
ihr Stücke genug, die ein bleibenves Interejfe erweden und verdie— 
nen. Saum ein wichtiges Verhältniß, das im Kreije bedeutender 
Zeitgenoijen anregen und feſſeln fonnte, bleibt in dieſer Correſpon⸗ 
denz unerörtert. Poeſie und Kunſt, Naturwiljenfchaften und Epecu- 
- lation, die Forfchungen Newton's und vie Wolf'ſche Philofophie, Ges 
fchichte und Politik, vie tiefjinnigiten Fragen, die den Menſchen be- 
fchäftigen können, neben leichtem Geplau ver über das, was ber Tag 





8. Haͤuſſer, 


gerade brachte, das Alles Finder ji in Be tiefwechſ 
men. Er iſt das erſſe ment, das i eſſeitigteit 








des Prinzen eine unnittee Einficht ee üur Den 
Gegenfat zu feinem Vater, fondern auch den Unterſchie nau er⸗ 
kennen läßt. Die Friſche an Elajtieitit, womt ſi der edjahrige 
Prinz den verſchiedenſten geiſtigen Strömungen hingibt das Man— 
nichfaltigſte zugleich erfaſn und eigenthüümlich tai no ae Be- 
wunberung werth; wir ben, daß bie ion nicht 
immer auf ver Höhe dung ſteht, aber ver Dann, 
der aus dieſen incorreeten t, erweckt mehr Intereffe, 
als alle Alademien ver U san meinte bamalsz*) „Sie 
denken wie Trajan, Sie mius und ſprechen feanzöfiich 
wie unſre beiten Schrifty IV. fprach nicht fo menjch- 
ih wie Cie und wußte jo auszubrüden. Ich habe 
von feinen Briefen geſehe icht einmal Die Orthographie 


feiner Sprache." Aber fir ſo grove weünze der Schmeichelei war 
Friedrich nicht zugänglich; er führte ven Poeten wie ein wahrer Kö— 
nig ab. „Ludwig XIV., erwiedert er, war in hundert Beziehungen 
ein großer Monarch; ein Sprachichniger, ein Fehler in ber Ortho⸗ 
graphie konnte den Olanz feines Ruhmes, ver durch unfterbliche 
Thaten errungen war, nicht trüben. Er burfte wohl von fich fagen: 
Caesar est supra grammaticam.“ 


Diefer eine Zug ſchon charakterifirt den Tünftigen Mann... Es 
ift vielleicht nie ein Thronerbe mit Weihrauch aus dem Munde geift« 
reicher und berühmter Leute mehr überjchüttet worden, als Friedrich; 
aber feiner hat e8 beffer wie er verftanven, feines Lob höflich abzu⸗ 
lehnen und grobe Schmeichelei verjtändlich zurüczuweifen. **) Veber- 
haupt tritt das zugleich Bedeutende und Edle feines Weſens in dies 
fen Briefen zuerft recht prägnant hervor. Bis dahin lernten wir 
ihn vornehmlich in feinem Jugendunglück, feinem Ungehorfam und Zwie⸗ 
fpalt mit dem Vater, feiner inneren PVerbitterung und feinem Grolle 
kennen; jett ift er reifer, ruhiger geworben und die milveren Seiten 





*) Oeuvres de Frederic. XXI. 23. 
-*) 6. die Briefe an Suhm und Voltaire XVI. 279. 284. XXI. 44. 





Macaulay's Friedrich der Große. 65 


feines Weſens, fommen mehr zur Geltung. Cie zu entfalten war 
feine Jugend nicht eben glüdlich angelegt; bie Zeit feiner SKriegs- 
und Herrjcherthätigfeit faft noch weniger. Dieje einzige idhlliſche 
Epiſode feines Lebens, Rheinsberg, hat die Züge mehr zur Entiwid- 
lung gebracht, bie durch unfreundliche Jugendtage wie durch fchiwere 
Lebensprüfungen verpüjtert waren. Damals zeigt er fich fo, wie er 
fich jelber fpäter Garve gegenüber fchilvert: „Wenn Er wüßte, was 
mich 3. B. der Tod meiner Mutter gekoftet hat, jo würde Er jehen, 
daß ich unglüdlich gemwejen bin, wie jeder anvere und unglücklicher 
al® Andere, weil ich mehr Empfinplichkeit gehabt habe.“ 


Diefer Zug von Weichheit und Empfünglichkeit war es ja, der 
ihm feit feiner Kindheit manchen Vorwurf des Vaters zugezogen 
hatte. Er war zugänglich für jeven Schmerz, er konnte Gemälde 
nicht fehen, deren Stoff das Mitgefühl herausforverte, er liebte beim 
Flötenſpiel namentlih das Adagio, er vermochte fremde Züchtigung 
nicht unempfindlich zu ertragen, felbft wenn es die Beltrafung von 
Berbrechern galt. Zum Theil darum bieß ihn der Vater einen „effe- 
minirten Kerl." Die Schule des Lebens, die er durchmachte, war 
freilich fehr dazıı angethan, folch fünfte Anwandlungen zu unterbrüs- 
den und jene® „aes triplex circa peetus“ heranzubilden, das in ben 
Tagen des Sturmes Freunde und Feinde an ihm bewunberten. Aber 
daß er nicht aus dem ehernen Stoffe, wie 3. B. der forjifche Intpe- 
rator gebildet war, hat er auch in dieſen fpäteren Tagen bewieſen. 
Nach feiner erften Niederlage vergieht er Thränen, jedes häusliche 
und Öffentliche Unglück läßt tiefe Furchen in ihm zurüd, ver Tod der 
Mutter und der Lieblingsjchiwefter erjchütterte ihn fo mächtig, wie 
eine verlorene Schlacht; ja noch in feinen greifen Tagen hat er beim 
Tode feines hoffnungsvolliten Neffen dieſer zarten menfchlichen Em- 
pfindung einen ergreifenden Ausdruck gegeben.*) Schrieb er doch 
felbft noch als Siebziger von fih: „So viele Mühe ich mir auch 
gegeben habe, zur Unempfindlichkeit der Stoifer zu gelangen, ich habe 
fie doch nie erreichen können. Ich liebe mein Vaterland, meine Ver— 
wandten und meine Freunde; wenn ihnen Uebles widerfährt, jo bin 





*) ©. den Brief vom Mai 1764 in den Oeurres XXVI. 3807. 
Oiſtoriſche Zeitſchrift 1. Band. 5 





2. Säuffer, , 


ich dafür empfänglich. Die Natur hat mich einmal fo geichaffen np 
ich bin nicht im Stande mich zu anbermn.a®) 

Es tritt diefe Seite feines Weſens zu leiner Zeit Tiebenswürbi- 
ger hervor, als in ver Rheinsberger Perlode. Die bitteren Zugend⸗ 
tage waren damals einigermaſſen verſchmerzt, bie ſchwere Zeit aber, 
bie zur Härte und Menjchenverachtung großzon, nach nicht über ihn 
gefommen. Die Briefe an ven getrenen Duhan, am bie alte Frau 


von Rocoulles, an Suhn ı und Kayſerlingl athmen 
wirffiche Dankbarkeit umt db die Empfänger waren 
biefer Empfindung nicht alle nahm ſchon die erfte 
Zeit feiner Regierung bi reichen Gejellichafter, vie 
wigigen Schöngeifter, die er und Schmaroger ver⸗ 
mochten dieſe Lücke nicht ußte gar manchen dulden, 
auf den die Signatur vı er ift gut bei Zafel, aber 
dann muß man ihn bin er zjwijchen biefen Mieth— 


lingen und zwifchen Areuners wur.» weya zit unterſcheiden vertan, 
beweist fein Verhältniß zu Winterfelot, zu Fouqué und bejonberd 
der Briefwechjel mit Lord Mariihal. Aber eben an dieſen letteren 
fchrieb er auch in den Tagen jeiner jchwerften Bedrängniß: „In jo 
heillofen Zeiten muß man fi mit Eingeweiden von Eifen und einem 
ehernen Herzen verjehen, um alle Empfindſamkeit los zu werben." 


Die Rheinsberger Zeit läßt uns aber auch in manchem einzel« 
nen Zug ben fünftigen Herrjcher erkennen. Friedrichs Anfichten über 
Politik tragen ein ſehr bejtimmtes Gepräge, fein Urtheil über Situa- 
tionen und Männer feiner Zeit zeigt ſchon die durchdringende Schärfe 
und Strenge feines Wefens. **) Einzelne Ausarbeitungen wie bie 
considerations sur l’&tat present du corps politique de l’Eu- 
rope (vom Jahr 1738) ***) beweiſen auch, wie ernft und eingehend 
"ee fich die Lage der europäifchen Politif erwog und wie er in gewil- 
jem Sinne feine Parthie bereits genommen hatte. ‘Die fehr ausge⸗ 
prägte antiöfterreichifche Stimmung jenes Aufſatzes und ver Ton, in 





*) An Brinz Heinrich. Oeuvres XXVI. 491. 
**) S. den Brief an Boltaire. Oeuvres XXI 348. £. und fein bezeichnen. 
des Urtheil über Auguft von Polen. XVI. 78. ” 
*+*) Oeuvres VIII. 3—27. 





Macaulay's Friedrich der Große. 67 


dem er über Frankreich fpricht, beides iſt gleich bezeichnend; es Klingt 
wie eine Introduction zu der Politif, die er auf dem Throne 
einſchlug. 

Sein franzöſiſcher Umgang Hat überhaupt auf feine politiſche 
Meinung fchon in dieſer eriten Zeit feinen Einfluß geübt. Cine 
Aeufferung aus einem Briefe an die Markgräfin (1733) zeigt, wie 
ungebuldig ihn der Ehrgeiz trieb, fich mit den Franzofen in den 
Waffen zu meffen *), und in dem Briefwechtel mit Voltaire tritt 
neben allem Wetteifer ver Courtoifie doch auch fehr fühlbar das Be⸗ 
jtreben hervor, deutſchen Charakter und veutfche Art zur richtigen 
Geltung zu bringen. Es fehlt uns, fehreibt Friedrich im Jahr 1736, 
bie liebenewürbige Lebendigkeit der Franzoſen, allein wir haben als 
Erſatz gefunden Sinn, Offenheit, Wahrhaftigkeit. Der Fehler ver 
Deutjchen, fehreibt er im nächſten Jahr, ijt nicht Mangel an Geift; 
gejunder Sinn ijt ihnen eigen, ihr Charakter nähert fie den Eng- 
ländern. Die Deutjchen find arbeitiam und tief; haben fie einen 
Stoff ergriffen, jo werben fie Meijter. Könnte man ihre Schwer- 
fälligleit befjern und fie mit den ©razien etwas vertrauter machen, 
jo zweifle ich nicht, daß auch meine Nation große Männer bervor- 
brächte. **) Und e8 blieb nicht bei jolchen Parallelen; ſchon aus ven 
eriten Jahren feiner Regierung und ſpäter immer mehr lafjen jich ge- 
ringſchätzende und perjiflirende Stellen genug verzeichnen, in denen 
er Voltaire, p’Alembert, Darget gegenüber das franzöfiihe Weſen 
durchzog. 

Auch für die Erkenntniß ſeiner religiöſen Anſchauungen iſt der 
Briefwechſel aus der Rheinsberger Zeit von beſonderem Jutereſſe; 
er hat ſich in wenig Perioden ſeines Lebens ſo angelegentlich mit 
religiöſen Problemen beſchäftigt, wie damals. Er verhandelt mit 
Suhm über die Wolf'ſche Philoſophie, mit Voltaire über Skepſis und 
Deismus, er läßt ſich mit gläubigen Theologen wie Achard und Beau⸗ 
ſobre in genaue Discuſſionen über ſtreitige theologiſche Fragen ein. 
Eine Art von Bekenntniß hat er damals an Voltaire abgelegt; **) 





*) Oeuvres XXVII. 1. 10. 
**) Oeuvres XXI. 19. 78. 
®=#8) Ocuvres XXI. 86. Bgl. 161. 192. 


nn dh. 





2. Häuffer, - 


es lautet veiftifch, ift aber doch pofitiver als Die franzſiſche Rich 
tung, an deren Hauptrepräfentanten er es richtetee Wahrhaftigkeit 
und Geradheit ging ihm auch in dieſen Dingen über Alles; wie 
ter rücdt er dem Franzoſen jede Heine Connſvenz gegen bie Kicche 
vor, wie ftreng beurtheilt er-bie weltkiugen Bidlinge gegen die Aur 
torität, die Voltaire damals noch nicht für unentbehrlich hielt. Much 
ift ſchon damals die Differenz zwiſchen dem Schriftfteller und dem 






Staatsmann ſehr fühlbar t bisweilen — 
als ſeine phloſophiſchen © iſt aber in Wa 

viel jchonender, bulpfanıer . ser ald die Schule, So 
wie er ben Gegenſatz fpäter ſcharf betont hat, fo läßt 
er ihn jchon damals ahnen, Alle, fchreibt er einmal 
an Voltaire, vie Berbrecheı ſiöſe Fanatismus began- 
gen hat; hüten wir uns, « | der Bhilofophie einzu⸗ 
führen; ihr Wejen muß v und Mäßigung beſtehen. 
Die Toleranz in ver Geſt Seven das Necht fihhern, 


zu glauben was er will; aber dieſe Toleranz foll nicht Die Frechheit 
und Zügellofigfeit derer autorifiren, die da®, was das Volk verehrt, 
ungefcheut verhöhnen. Ich wette, daß, wenn. Sie dies leſen, Sie 
benfen: das ift recht deutſch gedacht." Oder ein andermal: „Glau⸗ 
ben Sie mir, wenn vie Philojophen eine Regierung gründeten, würbe 
das Volk binnen fünfzig Jahren fich einen neuen Aberglauben fchafs 
fen; man würde fich andere Götzen machen, ober das Grab der 
Gründer anbeten, oder die Sonne anrufen, oder es würde irgend 
eine andere Abgeſchmacktheit ven einfachen und reinen Cultus bes 
böchften Weſens verdrängen.” Und als fi Voltaire einmal das 
Bekenntniß entichlüpfen läßt: ich rede nicht von der Canaille, die ver 
Aufklärung nicht werth ift, erzählt ihm Friedrich zur Strafe eine 
recht lehrreiche Gefchichte. Während des Kriegs, fagt er, war eine 
Seuche in Breslau und man begrub täglid 120 Menjchen. Eine 
Gräfin fügte damals: Gott fei Dank, der hohe Adel iſt verſchont; 
es Sterben nur Leute vom Voll. Sehen Sie, das ift das Bild der 
Leute, die da meinen, fie feien aus befjerem Stoffe gefnetet. *) 
Ueberfchlägt man die ganze Summe von Friedrichs Arbeiten und 





*) &, Oeuvres de Frederic XXIII. 103. 109. 119. 127, 





Macaulay’3 Friedrich ber Große. 69 


Aufzeichnungen in der Rheinsberger Zeit, fo erhält man vornehm- 
(ih ven Eindruck frievlichen Genießens und Behagens, nicht etwa 
ven eines rubelojen, unbefrierigten Ehrgeizes. Man wird überall 
mehr an ten geiftreichen Denker erinnert, als an ven Helven und 
Herricher. Die Eontemplation über pie Welt nimmt eine viel größere 
Stelle bei ihm ein, als das Handeln in ver Welt; er reflectirt, 
ichreibt, zerftremt fich mit Freunden, Kinftlern und Poeten und 
ſcheint nichts weniger als begierig, dieſe bebagliche Genußwelt zu 
verlaffen. Diele feiner Aeufferungen verrathen nicht blos ein vorü⸗ 
bergehenves Gefallen, ſondern bekennen geradezu den feineren Epi- 
curäismus als feine Lebensphilofophte. „Ich verhehle nicht, fehreibt 
er einmal, *) daß ich die Vergnügungen, und Alles, was dazu bei— 
trägt, liebe; die Kürze des Lebens mahnt mich, fie zu genießen, denn 
wir haben nur einen kurzen Zeitraum, den man fuchen muß zu 
nügen.” Wir dürfen vaher auch wohl glauben, daß es ihm mit feinem 
ſchmerzlichen Bedauern Ernft war, als ihn der Tod des Vaters zu 
höheren Pflichten rief, wenn ihn gleich der erfte Schritt zu ven 
Stufen des Thrones in jedem Zuge ald ven König und Herricher zeigt. 
Denn jene leichtere Lebensbetrachtung ſchloß zwei Dinge nicht 
aus: die höchſte Arbeitfamfeit in allen Dingen und das höchfte Ge⸗ 
fühl feiner fürftlichen Pflicht. Es mar nicht etwa wie eine wohlfeile 
Phrafe, fonvdern das Programm einer künftigen Regierung, wenn er 
an Voltaire (1739) fchrieb: Gin Regent muß feinen Beruf darin 
ſehen, fo viel es in feiner Macht liegt, menſchliches Elend zu heilen. 
— — Ein Fürft ift für fein Voll, was das Herz für ven Bau des 
Körpers ift. Er empfängt Blut won allen Gliedern und treibt es 
zurücd bis in die äuſſerſten Spitzen. Er empfüngt Treue und Ge— 
borfam von feinen Unterthanen und gibt ihnen dafür Leberfluß, 
Süd, Ruhe und Alles, was zum Gedeihen ver Gefellichaft beitra- 
gen mag. 
Das Verhältniß zum Vater war im Allgemeinen beffer gewor⸗ 
den; bie und da fagerte jich noch eine Wolfe des Mistrauens und 
ver Verſtimmung zwijchen beide, und an Hegern und Zwifchentrügern 
hat e8 auch damals nicht gefehlt, allein e8 kommt doch nicht mehr 





*) Oeuvres XXI. 32. 





2. Häuffer, 


zu ernften und bauernben Zerwürfniſſen. Wohl war es unvertenn⸗ 
"bar, daß der König den jungen äſthetiſchen Def in Rheinsberg un— 
"gern fah, aber ſchon vaf er bei allem Inmerem Wiperjtreben ihn bach 
puldete, war ein Beweis, daß er vom Solme jebt anbers 
> als früher. Ia wenn bie poetifchen und Unſtleriſchen 
ganze Thätigfeit des Prinzen ausgemacht hätten! Mein 
daneben an ernfte Arbeit, er hatte Freude gewonnen auch on der 







trodenften Gefchäften, er nur Befohlene jekt: 
freiwilligen, wißbegierigen ıltung und Fe 

wefen, ver Anbau des Bobeı ſtrie nahmen ſeine Auf 

merkſamkeit eben ſo ſehr um ich, wie Dichtung und 

Muſik. Dem Vater, ver di Iuge hatte, entging bas 

nicht, darum ließ er ihm bie ern Genüffe, auch wenn 

fie nicht nach feinem Gejchn 

Früher hatte fich Frie ‚in gefallen, mit frivo— 


lem glänzendem Wit des Waters aushaueriſche Bemühungen zu 
perfifliven; jet hatte er darüber anders denken gelernt. - Was ihm 
und feinen Iuftigen Genofjen trivial und profaifch erfchienen war, 
das nöthigte ihm nun Achtung ab. Im Sommer 1739 machte er 
mit feinem Vater eine Reife nach Litthauen. Die Provinz war zu 
Anfang des Iahrhunderts durch eine Epidemie furchtbar heimgefucht, 
hunderte von Ortfchaften verövet; jettt bot fie den Anblid einer blüh⸗ 
enden Landſchaft. Das Alles, fehreibt Friedrich an Voltaire, ver⸗ 
dankt man dem König, ver nicht Sorgen und Mühen, nicht große 
Summen, Berheißungen und Belohnungen gefpart hat, um einer 
halben Million Menſchen Leben und Behagen zu fchaffen. Ich habe 
in der hochherzigen und arbeitfamen Art, womit der König eine 
Einöde bewohnt, fruchtbar und glüclich gemacht hat, etwas jo Heroi- 
ſches gefunden, daß ich geglaubt habe, Sie würden die gleiche Em- 
pfindung haben, wenn ich Ihnen bie einzelnen Vorgänge mittheilte. 
Daß der König zur gleichen Sinnesänvderung über den Sohn 
gekommen war, läßt mancher Kleine Zug erkennen, am meilten tritt 
e8 vielleicht in ber Freigebigfeit hervor, womit ver fo farge Mann 
im Sommer 1739 den Kronprinzen dotirte. Er ſchenkte ihm bie 
Löniglichen Gejtüte, die ein Einkommen ven 12— 18000 Thalern 
räfentirten und gab ihm für die aus des Kronprinzen Regiment 





Macaulay's Friedrich ber Große. 71 


ausgewählten Rekruten eine anfehnliche Entjchädigungsfumme. Bei—⸗ 
des aus freiem Antrieb, nur mit dem väterlichen Rath: „Wünfche, 
daß darmit mag fo continuiren; foll nur hübſch haushalten.“ 

Aber Friedrich Wilhelm's Tage waren gezählt; ſeit Frühjahr 
1740 hatte ſich ſein Befinden hoffnungslos verſchlimmert. Sein letz⸗ 
ter Brief an den Thronerben iſt rührend und charakteriſtiſch zugleich: 
„Ich habe, ſchreibt er fünf Tage vor ſeinem Ende, Euer Schreiben 
vom 24. d. wohl erhalten, daraus Euer herzliches Mitleid mit Meis 
nen elenden Umftänden, auch Cure löbliche Entjchließung, in allen 
Stüden meinen väterlichen Rath zu folgen, erjehen. Ich bin fehr 
davon attendriret und habe nicht den geringften Zweifel an dem Ef⸗ 
fect Eures Verjprechens und Eurer guten Sentiments, wenn Gott 
über mein Leben gebieten follte, wie es das Anfehen hat. Daß Ihr 
gegen Pfingiten anhero kommen wollet, folches ift mir fehr lieb und 
wird mir ein rechtes Vergnügen fein, Euch fo Gott will noch zu 
embraffiren. 

Die Nachrichten von dem Landbau find zwar noch fchlecht, weil 
aber nun das warme Frühlingswetter eintritt und das Vieh genug 
fam Gras kriegen wirt, fo hoffe, e8 werte noch ertrüglich fein.“ 

Co beichäftigte den ftrengen Haushalter bis zu feinem letten 
Athemzuge nur Eines: die Wohlfahrt feines Landes. 

Friedrich hatte indeſſen Pfingften nicht abgewartet; auf bevenf- 
liche Nachrichten, vie in ver Nacht zum 27. Mai an ihn kamen, 
brach er’unverzüglih nah Potstam auf und fand ben Vater im 
Sterben. Die früheren Tage waren nun vergefjen; ver Kronprinz 
war ganz der hingebente, vom kindlichen Schmerz ergriffene Sohn. 
Jene weiche Seite feines Weſens kam zu ihren Rechte, durch bittern 
Nachgeſchmack vergangener Zeiten fo wenig getrübt, wie durch ehr⸗ 
geizige Gedanken in vie Zukunft. Auch der ftrenge und harte Mann 
auf dem Eterbebette war ein anderer geworden. Thut mir, rief er, 
Gott nicht viel Gate, daß er mir einen fo braven und wiürbigen 
Sohn gegeben? Und ale nach Podewils Bericht der Kronprinz bie 
Hand des Vaters zärtlich Füßte und mit Thrünen netzte, umarınte 
er ihn und bielt ihn feft umfchlungen, indem er ausrief: „Mein 
Gott, ich fterbe zufrieden, daß ich einen fo würdigen Eohn und 
Nachfolger habe.” 





5 


7 2. Haͤuſſer, 


Die Thronbeſteigung Friedrich's wird von Macaulay in einem 

Tone eingeleitet, der dem Libell unſtreitig beffer ziemen würde als 
der hiſtoriſchen Darftellung. Es habe, jagt er, über Friebrichs Re— 
gierung eine vielfach irrige Erwartung beſtanden. Die Einen ſahen 
in ihm einen Mann des Genuffes, bie andern hätten einen Zelemach 
nach Fenelons Mufter, wieder andere eim mebiceifches Zeitalter für 
Kunſt und Wiffenfchaft erwartet. „Niemand — jo lautet die bril» 


ante Bhrafe, ver bier ı : bie hiſtoriſche Wahrheit 
weichen muß — Niemand baß „ein. Thrann von 
aufferordentlichen Talenten 3 nd Staatsmann und bon 
noch aufferorventlicherer Thi rann obne Furcht, ohne 
Glauben und ohne Barn ut fear, without faith 
and without mercy) ben habe." 

Die „Enttäuschung rönung feines alten Eunte 
pans, heißt e8 dann weit cer als Die, welche einige 
der Hausgenoffen von Nhemsuren rar. Mheinsberg und Fran 


Hurtigs Schenke in Eaftcheap, Keyſerlingk, Iordan, Algarotti und 
Falftaff, Poins und Bardolph — gewiß eine Parallele, die von ebenfo 
viel bifteriicher Treue wie gutem Geſchmack Zeugniß ablegt! Bei ver 
Charafteriftif des neuen Königs findet nun der britifche Gefchicht- 
fchreiber, der vorher Friedrich Wilhelm als einen „Baſtard von Mo— 
loch und Puck“ gefchildert, daß bei genauerer Betrachtung zwifchen 
biefem Monarchen und feinem Nachfolger eine große Familienäha» 
lichfeit bejtehe. „Denn nicht nur Die Orbnungsliebe, die Luft an prak⸗ 
tifcher Thätigkeit, ven militärischen Sinn und die Sparſamkeit hät⸗ 
ten fie mit einander gemein gehabt, fondern auch ven gebieterifchen 
Sinn, das bis zur Wildheit veizbare Temperament und die freude 
an Anderer Dual und Demüthigung.” Diefe Eigenfchaften feien 
freilich bei Friedrich etwas anders berborgetreten, aber die Grund 
lage blieb doch Diefelbe. Friedrich fei fparfam gewefen, aber er habe 
e8 nicht der Mühe werth gehalten, ungefunvden Kohl zu effen, um 
jährlich einige Thaler zu erfparen; er fei wohl fo boshaft wie fein 
Vater geweſen, aber fein Wit habe ihn in Stand geſetzt, feine Bos⸗ 
beit in anftändigeren Formen auszulaffen, als das Frieprich Wilhelm 
vermochte; ebenſo habe fich Friedrich fein erbliches Vorrecht, Fuß- 
vitte und Prügel auszutheilen, Teineswegs nehmen laffen, allein 





Macaulay's Friedrich ber Große. 13 


jetne Praris babe fich doch von ver feines Vaters in einigen weſent⸗ 
lihen Buntten unterſchieden. 

Sapienti sat! Zur Charafteriftif folcher Gefchichtfehreibung ge= 
nügt es gewiß, vie prägnanteften Etellen einfach anzuführen; Jeder 
fann ſich dann über Form und Inhalt ein ausreichendes Urtheil bil 
den. Das Anvenfen einer hiftorifchen Gröfe, wie Friedrich II, wird 
ohnehin durch vergleichen nicht wohl alterirt; höchſtens Tann man 
Macaulay bedauern, daß er ven Ton ver nichrigften Schmäh- 
ichriften, die im 18. Iahrhundert über Friedrich erfchienen find, mit 
einer gewiſſen Virtuofität Überboten bat. 

Nun ein Paar Worte über Friedrichs Thronbefteigung. 

Wir haben fchon früher darauf hingewiefen, daß der Aufenthalt 
in Rheinsberg für Friedrich anziehend genug war, um alle ungedul- 
digen NRegungen der Herrichjucht in Schranken zu halten, Dean 
darf ihm darum wohl glauben, was er kurz vor des Vaters Ende 
an Voltaire fchrieb: Das Privatleben würde meiner Freiheit mehr 
zufagen, als dasjenige, dem ich mich fügen muß. Sie wiljen, daß 
ich die Unabhängigkeit liebe und daß es fehr hart ift, ihr zu ents 
fagen, um fich einer peinlichen Pflicht zu unterwerfen. Was mich 
tröftet, ift der eine Gedanke, meinen Mitbürgern zu dienen und meis 
nem Vaterlande nütlich zu fehn. *) 


Aber wie das 2008 einmal gefallen ift, gehört er auch ganz feis 
ner Pflicht. Nie bat ein König reifer und Königlicher ven ſchweren 
Schritt zum Thron gethan, wie dieſer. Wohl mochten Manche hoffen, 
jegt würden luftige, forglofe Tage beginnen, Rheinsberg vergrößert 
nach Potsdam getragen, tie alten Gegner des Kronprinzen vom Kö- 
nig gezüchtigt und Die geiftreichen Gejellfchafter Friedrichs Günſtlinge, 
Miniſter, Geſandte des jungen Monarchen werden. Nichts von dem 
Allem; in jedem Zuge Ernft, Pflichtgefühl und Erfülltſeyn von der 
Größe feiner Aufgabe. Die Rheinsberger Bekannten und Freunde 
blieben faft ulle in ihrer Stellung, die etwas mehr zu werben hoff- 
ten, erlebten eine Enttäufchung; die fich mit dem freundlich gefelligen 
Verhältniß begnügten, blieben vem König, was fie dem Kronprinzen 





®) Osurres XXI. 859 f. 





74 2. Hänffer, 


geweſen waren. Meinifterten und Kronämter erlangten fie nicht"); 
bie trodenen, effigfauern Gefchäftsmänmer bes Baters wie ber jpar- 
fame Minifter Boden behielten ihre Stellen, ſobald der König nach 
einem flüchtigen Anflug übler Laune ihren Werth erkannt hatte, Die 
wirklichen oder vermeintlichen Gegner des Kronprinzen wurben wicht 
bejtraft; bei einem von ihnen, Derjchau, erinnerte jich jekt Der neue 
Monarch nur, daß er ei ren AEG fer; cr warb beförbert: 


Wer aber, wie Marfaraf a hwedt, fich als luftiger Ka⸗ 
merad ven ehedem näberte ran erinnert, daß er jebt 
bor feinem König jtand, ur ' junge Graf Schulenburg, 
in feiner Herzensfreude bie Urlaub verlieh, um Süd 
zu wünſchen, dem ward nung: daß auch unter dem 
neuen Regenten vie ji Adnung des Vaters ni 


aufhören werde. Ueberha t, ward der Herr und Kön 
icharf betont, wie gegen Deffan, der noch To: 
besbette Friedrich Wilhelms I naiver Weife ven Wunfch kundgab, Die 
Autorität auch fernerhin zu behaupten, bie er unter dem Vater 
gehabt. Bon Autorität des Fürften von Deffau, hieß es va, iſt mir 
nichts befannt; nachdem ich König bin, denke ich der Einzige zu ſehn, 
ver Autorität befigt. Und bamit warb ganzer Ernft gemacht; balo 
flagte die fremde Diplomatie, daß der König Alles felber mache, Ne— 
mand Einfluß habe und daher cin auswärtiger Geſandter nirgenbe 
„mehr desorientirt ſei“ als am Berliner Hofe. 

Allein neben dem Ton des Herrn kam zugleich das Milde und 
Humane ſeines Weſens zur Geltung und verkündete den Aufgang 
einer neuen Zeit. Den Miniſtern ward anbefohlen, fortan zwiſchen 
Intereſſen des Königs und des Landes keinen Unterſchied zu machen, 
die Behörden erhielten die Weiſung, den König nicht mit Kränkung 
der Unterthanen zu bereichern,“ den Generalen ward aufgegeben, 
die Mißbräuche der Härte, der Habſucht und des Uebermuthes 
abzuſtellen. Dann ward der drohenden Hungersnoth vorgebeugt, 





*) Kayſerling und Fouqué wurden Adjutanten, Camas Geſandter in Paris. 
Mit Jordan, Algarotti, Suhm u. a. dauerte der herzliche Briefwechſel und 
Verkehr fort, wie ſelbſt ein flüchtiger Blick in die Correſpondenz darthun 
lann. 










Macaulay’s Zriebrich ber Große. 15 


dem Jagdunfug geftenert, in jener berühmten Marginalrefolution vie 
religiöfe Duldung als Gruntfaß verkündet, Jedermann insbeſondere 
den Offizieren anbefohlen, der Juſtiz ihren freien Lauf zu laſſen. Der 
früher verfolgte Chriſtian Wolf ward mit Ehren zurückgerufen, Leon⸗ 
hard Euler für Berlin gewonnen. Von der Preſſe waren die drückend⸗ 
ſten Feſſeln gleich anfangs weggenommen worden, die Folter ward 
am dritten Tage der neuen Regierung auf die ſeltenſten Fälle be= 
Schränft, um fpäter ganz zu verſchwinden. 


Das waren vie Anfünge des „Tyrannen ohne Furcht, ohne 
Glauben und ohne Barmherzigkeit.“ 


Doch unfer britifcher Gefchichtfchreiber geht leichten Fußes dar⸗ 
über hinweg; vie eben erwähnte Kraftphraje und vie famöſe Fall 
ftaff-Parallele find ihm ausreichend, Friedrichs Throubefteigung wür⸗ 
dig einzuleiten. Um fo viel größeren Raum und Nachdruck winmet 
er der äußeren Bolitif, vor allem dem Bruche Friedrichs mit Oeſter⸗ 
reih. Hatte er in der Schilderung Friedrich Wilhelms I und ver 
Jugend des Helden oft fehr zur Unzeit den Leichtfertigen til des 
humoriftiichen Romans angewandt, To wechſelt bier vie Tonart, fie 
wird durchaus homiletiſch und dic weltgefchichtliche Umwälzung von 
1740 wird zu einer ber ſeltſamſten Kapuzinaden verwerthet, vie fich 
irgendwo in einem bijtorifchen Buche finden mag. 

An ſich wäre bier eine gute Gelegenheit geweſen, britiichen Les 
fern klar zu maden, worin die Bedeutung bes Umſchwunges von 
1740 gelegen war. Wie Preußen aus ver knappen Hülle eines beut- 
ſchen Reichsterritoriums herausgewachſen und doch weder zur Eman⸗ 
eipation vom Kaiſer noch zur enropäifchen Großmacht groß genug 
geworden war, wie baher der Zrieb einer Erweiterung früher oder 
fpäter zur Geltung fommen mußte, wenn die mächtigen Worarbeis 
ten ber brei Regierungen feit 1640 nicht in bedeutungslofer Dede 
enden follten, barüber wäre eine kurze Bemerkung wohl nicht ver: 
foren gewefen. Und wie dies Wachsthum Preußens mächtige Ent⸗ 
widlungen in fich einſchloß — die Bildung eines felbftändigen preufs 
fiihen Staatsweſens, das Entftcehen eines zweiten Großſtaats im 
Reiche und die Erhebung einer neuen proteftantifchen Macht im Ner 
den, nachdem Schweden von feiner Stellung verprängt war 





16 z. Sönke, 


zu berühren, hätte fich wohl ver Mühe verlohnt, ſelbſt Tür ein ae 
jchließlich britifches Publikum, deſſen nationale Geſchichte und Pe 
litik dieſem neuen Geftalten fogar eine gewiſſe Eympathte vis 
gegenbringen mußte. Das Stück preuffifcher, dentſcher unb ws 
ropäifcher Gefchichte von Mollwitz bie Waterloo ift voch wohl bes 
deutſam genug, um einer felbft fehr gefchichtsfunbigen Leſewelt, vwoße 
die britifche ohne Zweifel ift, einige Winfe und Erörterumgen recht 
dankenswerth zu machen. Auch das Hätte ver gründliche Kenner ver 
Gefchichte von 1714 — 1740 wohl hinzufügen bürfen, baß bie poll⸗ 
tifche Page in Preußen bei Friedrichs Thronbeiteigung durchaus eher 
eine antiöfterreichiiche als eine öfterreichifche Richtung erwarten ließ. 
Friedrich Wiſhelm's bekanntes „exoriare aliquis“ und Friebriche 
eigne politiſche Aufzeichnungen, die er als Kronprinz fchrieby" Hiattent 
zur Noth hingereicht, dies Verhältniß mit einem Zuge zu 

An der Stelle aller diefer für ven Hiſtoriker und Staateman 
gewiß nicht ganz bedeutungsloſen Geſichtspunkte erhalten wir eine 
ſeitenlange Erpektoration über die Heiligkeit der Verträge, welche die 
pragmatiſche Sanction verbürgten und über die himmelſchreiende 
Ruchloſigkeit deſſen, der das Zeichen dazu gab, dieſe Verträge zu 
zerreißen. Und troß alfer biefer moralifchen Erwägungen, fo exgählt 
Macanlay, entfchlieht fich Frietrid „the great crime“ zu vollführen; 
ja noch mehr, er vollführt das Verbrechen gegen eine Frau, deren 
Eigenſchaften jeden Edelgeſinnten zu Mitleid, Bewunderung und- 
ritterlicher Dienjtfertigfeit binreißen mußten; gegen eine Frau, bie 
auf vem Punkte ihrer Nieverfunft ftand, „veren Wangen unter dies 
fen Sorgen ihr frifches Roth verloren” (her cheek lost its bloom). 
Und ver Schändliche Fatte zudem perfönliche Verpflichtungen gegen - 
Defterreih. Sein Leben war ihm vielleicht durch die „Verwendung 
des Fürſten erhalten worden, deſſen Zochter er zu berauben im Bes 
griffe war." Aber noch nicht Alles. Friedrich gab nicht blos felbft 
das Beifpiel grober Treulofigkeit, er gab auch den Anvern das Zeis 
chen, ein Gleiches zu thun und befchiwichtigte bei ihnen, mas etwa 
von Schamgefühl fich regte. „Auf Friedrichs Haupt kommt all das 
Blut, das in einem Krieg vergoffen wurbe, der mehrere Jahre hin⸗ 
dur und in jedem Theil bes Erdkreiſes tobte, das Blut der Co⸗ 
lonne von Pontenai, das Blut der Bergfchotten, vie bei Culloden 








Macaulay's Friebrich ber Große. 77 


bingejchlachtet wurben. Die durch feine Gottlofigfeit (wickedness) 
hervorgerufenen Uebel wurten in Lünbern verfpürt, wo der Name 
Preußen unbekannt war, und damit er einen Nachbar berauben könne, 
den zu vertheidigen er veriprochen hatte, fochten fchwarze Männer 
an ver Küfte von Coromandel und fealpirten fich rothe Männer an 
den großen Seen von Nordamerika.” 

Wir haben die ganze Stelle bergefegt, als charakteriftiichen Be⸗ 
weis, bis zu welchem Ungeſchmack vie Manier einen geiftreichen Man 
verleiten kann. Mehr bevarf e8 auch wohl nicht, um zu zeigen, 
wohin es mit einer Gejchichtichreibung kommt, die in dieſer Weife 
eine zubem auf falichen VBorausfegungen beruhende Moral auf vie 
großen SKataftrophen der Weltgefchichte anwendet. Wir möchten 
die Univerfalhiftorie wohl fehen, die uns die Weltgejchichte von Ale⸗ 
zander und Cäſar bis auf Louis Bonaparte herab auf Grund des 
Macaulay’ichen Moralreceptes behandelte! Oder geſetzt den Tall, ein 
deutſcher Profeffor hätte an feinem ftillen Schreibtiich ein Elaborat 
in gleihem Stile über britifche Gefchichte ausgearbeitet, mit welch 
feiner Münze würde Sohn Bull feinen hartköpfigen germanifchen 
Better bedienen, welch homerijche® Gelächter würde jenfeitö des Cas 
nals ausbrechen über dieſe unverbefjerliche Nation von Schulmeiftern 
und moralifirenden Pedanteu! 

Aber Macaulay ift Gejchichtichreiber, Repner, Staatsmann. Wie 
paßt diefe Erpectoration in den Mund eines Mannes, ver es bei 
Karl 1 fo herb und beftimmt ablehnt, perfönliche und gemüthliche 
Motive in der Beurtbeilung großer hiftorifcher Verhältnifje walten 
zu laffen! Eines Mannes, der ſelbſt die blutigen Flecken Wilhelms ILL 
mit dem fchügenden Gewand feiner Apologetit bevedt! Eines Dans 
nes, der uns Warren Hajtings und Lord Clive mit aller Kunft ver- 
fchönert und faft ivealifirt, ver Macchiavell fo beredt vertheidigt hat! 
Oder wäre e8 etwa überhaupt britifche Weife, dieſen moralifirenden 
Maßſtab an große Meltwerhältnifje anzulegen? Wir tächten, von 
Kopenhagen an bis zu Dſcheddah herab hat man in auswärtiger 
Bolitit dort jederzeit ein jehr weites Gewiſſen gehabt. Aber freilich 
ba galt es englifchen Vortheil, englifche Größe! Warum foll aber 
für Friedrich nicht die Erwägung eigner Machtitellung uud eigenen 
Staatsintereffes ein Moment fein, dad man gelten läßt? Bequem 








78 L. Sf, 


ift es allerdings, in frember Sache zu prebigen, we ein Dullter;, in 
eigner zu handeln, wie ein Flibuſtier. 

Salicher Pathos in hiftoriſchen Dingen- fieft aber sicht: ins 
neben das Ziel, er verfällt auch leicht, indem er vor lauter Seut⸗ 
ments das Thatſächliche überfieht, in grobe Parteilichkeit. So iM 
es Macaulay mit der Situation von 1740 ergangen. Er „will ſich 
nicht darauf einlaffen, des Langen und Breiten bie &ränbe zu wi⸗ 
verlegen, vie Campbell und Preuß beigebracht haben;“ er fallt ein⸗ 
fah fein Verdammungsurtel. Wir find nun unfererfeits durcheus 
nicht gemeint, die Rechtsgründe bei Friedrichs Anſpruch an Echleflen 
zu überichägen, aber der Erwähnung find fie doch wohl werth. Wer 
mit fo laut erhobener Stimme Recht und Moral -vertkelbigt, ber 
darf in jevem Falle nicht fo flüchtigen Fußes barliber weggehu. : Die 
alten Anfprüche an vie verfchienenen Theile Schlefiend, vie. Berfanbs 
lungen unter dem großen Kurfürften, der Vertrag über bie Shkre- 
tung des Schwiebufer Kreiſes und die hinterliftige Taktik, wodurch 
der Wiener Hof der Ausführung dieſes Vertrags fich entzog, das 
find doch Momente, die man erwähnt, wenn man mit fo grober 
Münze, wie „great crime, gross perfidy, wikedness‘ um fich 
wirft, denn für die rechtliche Beurtheilung ift e8 Doch nicht ganz 
gleichgültig gewefen, vaß das Haus Branvenburg an einzelne Theile 
von Schlefien Anfprüche gehabt, daß ihm Defterreich diefe Anſprüche 
abgefauft, aber den Kaufpreis nicht bezahlt hatte. Friedrich I felber 
fügte doch, nachdem er jich hatte täufchen laffen, verwahrend hinzu: 
Das Recht in Echlefien auszuführen, will ich meinen Nachlommen 
überlaffen ; fie werben wiffen und erfahren, was fie deßfalls dereinſt 
zu thun und zu laffen haben mögen. 

Dazu kamen dann die Verhältniffe, welche auf die Anerkennung 
der pragmatifchen Sanction und das öfterreichijch:preußifche Bündniß 
gefolgt waren. Der Wiener Hof hatte Friedrich Wilhelm I geſchickt 
ausgebeutet, aber wo es preußifches Intereffe anging, in ber bergi⸗ 
fchen wie in ber polnifchen Frage ihn preisgegeben, ja in dem einen 
Falle felbft eine förmliche Zufage gebrochen. Friedrich Wilhelm war 
fcharffichtig genug, um einzufehen, daß man feine Geratheit und feine 
reichöfürftliche Vietät gegen das Kaiſerhaus arg mißbraucht hatte, 
Bekannte Ueberlieferungen und urkundlich belegte Ausfprüche zeigen, 





Macaulay's Friebrich ber Große. 79 


daß er in voller Reaction gegen Defterreich begriffen war und Dies 
feinem Nachfolger wie ein Bermächtniß hinterließ. „So lange man 
uns nöthig bat, fagte er, fo lange flattiret man; ſobald man aber 
glaubt, der Hülfe nicht mehr zu gebrauchen, jo ziehet man die Masfe 
ab und weiß von feiner Erfenntlichfeit. Die Betrachtungen, jo Euch 
dabei einfallen müſſen, können Cuch Gelegenheit geben, Euch künftig 
in dergleichen Füllen zu hüten *).“ Daß bei Frieprich für folchen 
Rath ein fruchtbarer Boren war, beweifen ſchon vie politifchen Auf- 
geichnungen, die er ald Kronprinz niedergejchrieben hatte, 3. B. vie 
Considerations von 1738, in denen fid) die Stimmung gegen Defter: 
reich fo fcharf und beſtimmt wie nur möglich fund gibt. 

Es waren aljo alte und neue Meikverhältniffe, unvergeſſene An⸗ 
fprüche von früher ber und Beſchwerden aus jüngfter Zeit, vie un 
gefchlichtet zwiichen Wien und Berlin objchwebten; es beſtand nicht 
entfernt jenes cortiale Verhältniß, das Macaulay fälſchlich vorfchiebt, 
um feine Declamationen über unerhörte Treulofigfeit beffer coloriren 
zu können. Ja felbjt das rein Perjönliche, obwol das gewiß am 
wenigiten ven Ausfchlag gab, ſtimmte gegen, nicht für Oeſterreich. 
Denn vie rührente Gefchichte von ver rettenden Fürſprache des 
Wiener Hofes, tie dem Kronprinzen Das Yeben erhalten haben foll, 
ift ja lange widerlegt, une was fich etwa ſonſt von Iugentreminies 
cenzen bei Srierrich regen fonnte, das Treiben Seckendorf's, Grumb⸗ 
kow's und vie Geichichte jeiner Berheirathung war gewiß nicht dazu 
angethan, zur Pietät gegen vie öfterreichiiche Politik zu ſtimmen. 

Doch man müßte ein Buch gegen ein Buch jehreiben, um jede Ins 
vollſtändigkeit, jedes irrige, Tchiefe und ungerechte Urtheil Macaulay's 
Darlegung ter Geichichte von 1740 im Kinzelnen vorzuführen; es 
lohnt fich auch ver Mühe nicht. Die falihe Manier ift in viejer 
Parthie feiner Arbeit fo vollſtändig Meeifter über den Autor gewor⸗ 
den, taß er aus ber rhetorijirenven Erzählung und der erbaulichen 
moraliſirenden Reflerion nicht herausfonmnt. Daß Friedrich's Il Be⸗ 
nehmen um 1740 nicht ritterlih une nicht großmüthig war, vaß 
feine politijche Taktik während ver zwei fchlefiichen Kriege Stoff ges 





*% Schreiben an Friedrich vom 6. Febr. 1786 in bem Osuvres de Frederis 
XXVII. 8. 102. . 





80 e. Quiſfer 


nug zum Vorwurf für Verbündete und Gegner gab, das IR weinis 
und fpäter zur Genüge gefagt werben; auch Macaulah Laßt fidh-ues 
türlich die Gelegenheit nicht entgehen, einen 'erften,. einen zmweilek, 
einen britten und endlich einen vierten Berrath pünktlich einzuregiſtri⸗ 
ren, immer im Zone, als babe Friedrich aus puren uud 
gleihjam aus angeborner Leidenfchaft für das Böfe fo gehandelt, 
Daneben muß er denn wieder eingeftehen, daß ber junge Monarch 
bie leitende Rolle in ver Politik der Zeit au fich riß, daß er Defter- 
reich und Frankreich zugleich bei Seite ſchob, und daß die Welt the 
ſchon jetzt als ven anfah, im beffen Händen das Gleichgewicht Cu⸗ 
ropa's ruhe; und doch, fügt er Hinzu, war „fein Urgroßvater nichts 
weiter als ein Markgraf geweſen.“ Wie das Alles fo geklommen iſt, 
weichen VBerhältniffen vie mannigfaltigen Wendungen in Frichrich's 
Politik zuzufchreiben waren und worin das Geheimniß lag, duß ber _ 
Urentel des Markgrafen binnen wenig Jahren eine fo Impofante 
Stellung gewann — das zu erllären, wäre eine würbige Aufgabe 
für den Staatsmann und Gefchichtjchreiber gewefen, viel würbiger 
in jedem Falle, als die ſchmückenden Beiwörter (‚insatiably rapa- 
cious and shamelessly false‘), womit Macaulay feine Darlegung 
der Dinge von 1740 würzt. 

Denn dabei bleibt es doch immer räthſelhaft, daß fchon nad 
biefen erjten Kriegen des Königs fein Volt mit Enthufiasmus, die 
erwachente deutſche Nation mit Stel; und Bewunderung, Europa 
mit den Neid der Anerkennung zu ihm aufblidte. Wenn und Mas :- 
caulay Friedrich's Politik ald die Moral eines Banpiten zeichnet, ihn 
felbft als einen Mann voll Geift, aber als boshaft und ſchadenfroh 
fhilvert, wenn er uns mit behäbiger Breite ausmalt, daß er bei 
Mollwitz erfchroden vom Schlachtfele weggeritten, wenn er überhaupt 
feinen Anlaß verfäumt, einen großen over Heinen Schmußfleden an 
ven Dann zu hängen — fo wire damit die ganze Gefchichte immer 
unbegreiflicher und wir find immer von Neuem verfucht zu fragen, 
wie geihah es, daß diefer Maun gleich in viefen Anfängen fein 
preußiſches wie das deutfche Volk zu einer größern gefchichtlichen Stel- 
lung eınperhob, und beiden, um Göthe's Wort zu gebrauchen, gleich» 
fam einen neuen Yebensinhalt ſchuf? Wie kam es, daß er fchon früh, 
noch vor der Fenerprobe des fiebenjährigen Krieges, ber Welt die 








Nacaulay's Friebrich der Große. 81 


Bahnen einer Politik vorzeichnete, der in inneren und äußeren Din- 
gen auch die Widerſtrebenden allmälig folgen mußten? Mit einem 
Wort, die nationale wie die weltgejchichtliche Stellung Friedrichs er- 
ſcheint nur wie eine bizarre Laune des Zufalle, wenn er fo und nicht 
anters war, wie ihn Macaulay in feinen Anfüngen fchilvert. 
Aeußere Gewanbtheit und die Gunft des Glückes können doch 
allein jo etwas nicht erreichen. Ohne Zweifel gehört es zu Den beivun- 
dernswertheften hiſtoriſchen Epiſoden: Die Clajticität, womit ſich Fried⸗ 
ri auf vie Nachricht von Kari VI Tode aufrafft, fein Herr fchlag- 
fertig macht, Schlefien nimmt, und unter allen Wechſeln der politi- 
ſchen Lage behauptet; gewiß, dies Alles verziert durch die Tage von 
Hohenfriepberg, Sorr und Keſſelsdorf iſt ein impoſantes Stück Ge- 
ſchichte. Aber auch Karl XII war wie ein Meteor gekommen, um 
doch raſch zu verſchwinden; noch andere größere haben ihre glünzen- 
den und glüdlihen Zuge gehabt, um dann im beiten Falle bewun⸗ 
dert, häufiger noch unberauert zu unterliegen. Daß es mit Friebrich 
nicht fo war, muß doch wohl eine Frucht feiner ihm eigenthünlichen 
Größe fein. Macaulay ahnt etwas von dieſer Größe, wenn er mit- 
ten unter übellaunigen und übelgewählten Ausftellungen fich die Be⸗ 
merkung entjchlüpfen läßt: im Unglüd, wo felbjt Männer von be- 
wunderter Geiftesftärfe unterlegen fein würden, fei jeine wahre Größe 
an den Tag gefommen. War das aber erft in ven Zeiten von Kolin 
und Kunersdorf ver Fall? Uns scheint es nicht; fo glücklich im Ganzen Die 
zwei fchlefifchen Striege verliefen, das Schickſal zeigte ihm doch auch fehr 
umwölkte Zuge und prüfte ihn für fpätere Zeiten. Er fpielte, wie er jelber 
damals fügte, verzmeifeltes Spiel; entweder mußte er Alles behaupten oder 
Alles verlieren. Aber jein Entfchluß war auch gefaßt. Es ift nicht der lei- 
dene, chriftliche Opfermuth eines Märtyrer, ver ihn erfüllt, aber 
es iſt auch nicht8 in ihm von dem himmelſtürmenden Uebermuth, und von 
dem trogigen Haber mit dem Schidjal, der andere Größen gleichen 
Ranges zeichnet; er venft und handelt ganz wie ein heldenmüthiger 
fampfbereiter Dann im Leben bandeln fol. „Wenn alle meine Hülfs- 
quellen und Unterhandlungen verfagen — ſchrieb er in fol einer 
bedrängten Stunde — wenn alle Eonjuncturen gegen mich ausfallen, 
fo will ich lieber untergeh’n mit Ehren, als ein ruhmlofes Leben 


führen. Welcher Schiffetapitein, nachdem alle Verſuche fi) zu ret⸗ 
Oiſtoriſche Zeltſchrift L Bar. u 





82 Bla, 2: 


ten vergeblich geweſen ſind, Hätte nicht ‘ben Muth, bie Puluerlammeer 
in Brand zu fteden, um fo ben Feind wenigſteus im feiner Eriyzer 
tung zu täufchen. Eine Frau, bie Mönigin vom Ungarn, tft wicht 
verzweifelt, als vie Feinde nor Wien unb ihre beiten Provinzen be⸗ 
jegt waren. Sollten wir nicht ben Muth biefer Fran haben?.. ... 
Sch bereite mich auf jedes Ereigniß, das Da kemmen Eönnte, vor. 
Mag das Glüd mir gänftig-fein oder ungünftig, das ſoll 
mich weder muthlos machen, noch übermüthig Muß ic 
untergeh’'n, fo fei es mit Ruhm unb das Schwert in ber. Hand. 
Lernt von einem Manne, ver nie-in bie Prebigten von Elener ‚ging, 
bag man dem Unglüd, das ba kommt, eine Stira von Erz. entgegen- 
fegen muß und fchon während des Lebens auf alles Glück, alle Gü- 
ter, alle Täufchungen Verzicht: leiften muß,. bie. uns nicht über. das 
Grab hinaus folgen werben." . 

Diefe heroiſche Mannesart, in glücklichen und nnglucllichen Ta⸗ 
gen bewährt, Hat ſchon in dieſer erſten Epoche von Friedrichs Res 
gentenleben ihre Probe beftanvden; das fühlte der richtige Inftinct 
bes Volkes früh heraus und nannte das Große groß; es hat troß 
Macaulay nicht das Anfehen, als ob vie nachgeborne Geſchichtſchrei⸗ 
bung an diefem Gottesurtheil etwas ändern werde. 





An die Schilderung ber erften fchlefifchen Kriege reiht ber bri- 
tifche Gefchichtichreiber eine Charafteriftif ver inneren Verhältniſſe 
in den Friedensjahren, befonders der Verwaltung und bed Privat- 
lebens des preußifchen Monarchen. 

Macaulay gibt zu, daß der König von außerordentlicher Thätig- 
feit, daß er unermüblich wachſam war; er rühmt bie Sicherheit des 
Eigenthums und die Ordnung, bie unter ihm herrſchte; er erfennt 
an, daß die Verbefferung und Humanifirung der Rechtspflege fein 
Wert war, daß er religiöfe Toleranz übte und gegen freie Aeußerun⸗ 
gen eine „steadfastness of mind“ bewährte, die felbft bei Staats⸗ 
männern, bie in der Luft des Öffentlichen Lebens aufgewachfen feien, 
nicht häufig vorkomme. 

Aber die ganze Art des Negiments wird doch aufs fchärfite 
verdammt. Daß ein britifcher Staatemann des neunzehnten Jahr⸗ 





Macaulay’s Friedrich ber Große. 83 


hunderts die Mafchinerie von Friedrich's Regierung nicht als ein 
elaffifches Vorbild für alle Zeiten anfchen, daß er fein hanbelepoliti- 
ches Syſtem nicht als das muftergültige bezeichnen könne, das lieh 
fih erwarten. Auch auf dem Continent mögen fich nicht Viele fin- 
den, beren Verehrung für bie Formen von Friedrichs Regierung 
fo weit ginge. Auch unter und wird man im Allgemeinen das self- 
government für eine: vollfomenere Geſtalt des ftaatlichen Yebens 
und die freie Entfaltung der wirthfchaftlichen Kräfte für einen Kort- 
fhritt halten, ven wir nicht um Alles gegen Die Maximen des fieb- 
zehnten und achtzehnten Jahrhunderts hingeben möchten. 

Aber für den Geſchichtſchreiber Friedrichs des Großen ift ja bie 
Trage nicht die, was in bem heutigen Zuftand ber bürgerlichen Ger 
jellfchaft das vollkommenſte und wünfchenswerthefte ift, ſondern was 
banal das Ausführbare war. Man kann heute der Anficht fein, 
baß 3. B. in Preußen der Abfolutismus etwas völfig Ausgelebtes 
ift, und doch dafür halten, daß er vor hundert Jahren das einzig 
Mögliche war. Man kann die patriarchaliſche Bevormundung, das 
Vielregieren, dad Sichrin-Alles-mifchen im neunzehnten Jahrhundert 
lebhaft befänpfen und das Alles gleichwol für das achtzehnte als 
eine unvermeidliche Nothwendigkeit anſehen. Daß man mit dem self- 
government und mit Hantelöfreiheit im Jahre 1740, fo wie Volk 
and Staat befhaffen war, nicht weit gefommen wäre, fcheint doch 
wohl unbeftreitbar; daß dagegen mit dem Abjolutisnus, wie ihn 
Briedrich übte, bewunderungswerthe Nefultate erreicht wurden, ift eine 
Thatſache, tie vor Augen liegt. Nicht an ben freien Nerfajjungen 
des meunzehnten, fordern an dem Abfolutismus Des ſiebzehnten und 
achtzehnten Yahrhunterts muß daher Friedrichs eigenthünmliches Vers 
bienft gemefjen werten. Und dies eigenthünliche Verdienſt liegt vor: 
zugsweiſe darin, daß er die Staatspraxis Des Verfailler Königthums 
in Schatten geftellt und eine Bahn vorgezeichnet hat, in deren jtreng 
gezogenen Linien ein großer Theil ver europäifchen Welt zu einer bej> 
feren und menfchlicheren Entwidlung hinübergeführt worten ift. Nur 
bie oberflächlichfte Betrachtung kann ten Abjolutismus, wie er ven 
Zubwig XIV ausging und wie ihn riedrich übte, für eins und das» 
felbe halten. Dort hieß es: ber Staat bin ich; hier Tautete die De— 
viſe: ber König ift ber erfte Diener feines Staates. Dort ging ver 





=> 





L. 

















82 2. Häufer, 


ten vergeblich geweſen find, Hätte nicht den De 
in Brand zu fteden, um jo ven Feind —— 
tung zu täuſchen. Eine Frau, die Königin von l 
verzweifelt, als bie. Feinde vor Wien und ihre bejten 
fegt waren. Sollten wir nicht ven Muth viefer Ara 
Ich bereite mich auf jedes Ereignif, das va fonmmen 
Mag das Glück mir günftig fein oder unglin 
mich weder muthlos machen, noch * t 
untergeh'n, fo ſei es mit Ruhm und das Sch 
Lernt von einem Manne, ber nie in bie Prepigten ie 
daß man dem Unglüd, das da kommt, eine Stirn D} 
jegen muß und ſchon während des Yebens auf — 
| ter, alle Taäͤuſchungen Verzicht leiften mn, die 
Grab hinaus folgen werben.“ 
Diefe heroiſche Mannesart, in glücklichen und 
| gen bewährt, hat ſchon in biefer erjten Epoche wor 
gentenleben ihre Probe beſtanden; das fühlte ber 
des Volfes früh heraus und nannte das Große gro 
Macaulah nicht das Anfehen, ald ob vie nachgebe 
bung an dieſem Gottesurtheil etwas ändern werbe, x 


* 

An die Schilderung der erſten fchlefischen Kriege T 
tifche Gefchichtjchreiber eine Charakteriftif der inner 
in ben Friedensjahren, befonvders ver Berwaltung IN 
lebens des preufifchen Monarchen. 

Macaulay gibt zu, daß der König von — 
keit, daß er unermüdlich wachſam war; er rühmt DIE 
Eigenthums und die Ordnung, die unter ihm bel u 
an, daß die Berbefferung und Humanifirung der 
Werk war, daß er religiöfe Toleranz übte und gegen T 
gen eine „steadfastness of mind‘ bewährte, bie ſe 
männern, die in ber Luft des öffentlichen Lebens at 
nicht häufig vorfomme. 

Aber die ganze Art des Regiments wird vol 
verdammt. Daß ein britifcher Staatsmann bes v8 


* F 

















Macaulay’s Friedrich der Große. 83 


hunderts die Mafchinerie von Friedrich's Regierung nicht als ein 
claffifches Vorbild für alle Zeiten anſehen, daß er fein hanvelspoliti- 
ſches Syſtem nicht als das muftergültige bezeichnen könne, das ließ 
fih erwarten. Auch auf dem Continent mögen fid nicht Vicle fin- 
den, deren Verehrung für die Formen von Friedrichs Regierung 
fo weit ginge. Auch unter und wird man im Allgeincinen das self- 
government für eine: vollfomenere Geſtalt des ftaatlichen Yebens 
und die freie Entfaltung der wirthfchaftlichen Kräfte für einen Fort- 
fehritt Halten, ven wir nicht um Alles gegen die Marimen des fieb- 
zehnten und achtzehnten Sahrhunderts bingeben möchten. 

Aber für ven Gefchichtjchreiber Friedrichs des Großen ift je bie 
Frage nicht die, was in dem heutigen Zuſtand ver bürgerlichen Ges 
ſellſchaft das vellfommenfte und wünſchenswertheſte ift, ſondern was 
damals das Ausführbare war. Man kann heute ter Anficht fein, 
daß 3. B. in Preußen der Abſolutismus etwas völlig Ausgelchtes 
ift, und boch dafür halten, daß er vor hundert Jahren das einzig 
Mögliche war. Dean kann die patriarchalifche Bevormundung, das 
Vielregieren, das Sichrin-Alles-mifchen im neunzehnten Jahrhundert 
lebhaft befämpfen und das Alles gleihwol für das achtzehnte als 
eine unvermeibliche Nothwenbigfeit anfehen. Daß man mit dem self- 
government und mit Hanvelöfreiheit im Jahre 1740, fo wie Volk 
und Staat befchaffen war, nicht weit gefommen wäre, fcheint doch 
wohl unbeftreitbar; daß vagegen mit dem Abjolutismus, wie ihn 
Friedrich übte, bewunberungswerthe Refultate erreicht wurden, ift eine 
Thatfache, bie vor Augen liegt. Nicht an den freien Verfaſſungen 
des neunzehnten, fondern an dem Abfolutismus des fichzehnten und 
achtzehnten Jahrhunderts muß daher Friedrichs eigenthüntliches Vers 
bienjt gemeffen werten. Und dies eigenthümliche Verdienſt licgt vor- 
zugsweiſe darin, daß er die Stantspraris des Verſailler Königthums 
in Schatten geftellt und eine Bahn vorgezeichnet hat, in deren jtreng 
gezogenen Linien ein großer Theil ver europäifchen Welt zu einer bej- 
feren und menfchlicheren Entwidlung binübergeführt worden ift. Nur 
die oberflächlichite Betrachtung kann ven Abfolutismus, wie er von 
Zubwig XIV ausging und wie ihn Friedrich übte, für eins und dass 
felbe halten. Dort hieß e8: ver Staat bin ich; hier lautete Die Dee 
vife; der König ift der erfte Diener feines Staates. Dort ging ver 

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84 L. Haͤuſſer, 


Staat im Hofe auf, hier warb Alles mit eiſerner Conſequenz be 
Staatswohl untergeoronet. Dort ſchlug bie Monarchie in orien 
fen Sultanismus über, bier gab fie in ber eignen höchften Anftrens 
gung ihrer Kräfte zugleich allen anbern ein Vorbild ihrer Pflicht. 
Dort opferte man bie öffentliche Wohlfahrt Täriglichen und: priefter- 
lichen Launen, bier warb auf dem fpröbeften Beben ein Zuſtand ber 
allgemeinen Wohlfahrt, Sicherheit und Duldung gefchaffen, ven vie 
Meiften zu beneiven Urfache Hatten. Dort zerſtörte man die natär- 
liche Kraft ver beglücteften Staaten der Welt; hier warb in einem 
Heinen und armen Lande ein kernhaftes Gefchlecht von Männern wib 
ein” Gemeinfinn großgezogen, ver auch dann die Probe noch hielt, als 
„feindliche Heere auf allen Seiten. die fchußlofen Gebiete dieſer Mo⸗ 


=. narchie überfchwernmt hatten. Die Schule von’ Fürften und Stante- 


männern, bie fich nach dieſem Mufter bilvete, macht die zweite Hälfte 
bed achtzehnten Jahrhunderts, troß aller Irrthümer und. Einfeitig- 
feiten der Zeit, zu einer ber wohlthätigften. Epochen für bie Entwick⸗ 
lung der europäischen Menſchheit. 

Um aber auf Heinem Raume und mit beicheivenen äußeren Mit- 
teln, umgeben von ber Nivalität faft eines ganzen Welttheiles, eine 
Staatsmacht aufzurichten, wie fie Friedrich in Preußen fchuf, dazu 
war ber Grad von Arbeitfamfeit, wachfamer Eorge und unermübli- 
licher Anftrengung aller Kräfte nothwendig, vie Friedrich entfaltet hat. 
Mit selfgovernment und freetrade hätte bie Generation, bie ber 
die unter Friedrih Wilhelm gefehult und bisciplinirt worden war, 
wahrjcheinlih nicht viel ausgerichtet *). Wenn man darum anklagen 
will, muß man den Verlauf unferer: veutfchen Entwidlung im fieb- 
zehnten Jahrhundert verantwortlich machen, nicht aber den Mann, 
der mit diefem ſpröden Stoffe leiftete was zu leiften war, um nad 
einem Leben voll Mühen und Eorgen zu dem wehmüthigen Ausruf 
zu fommen: »Ich bin e8 müde, über Sklaven zu regieren.“ - Mit 





*) Bielleiht Oſtfriesland, aber 3. B. bie halbflavifche Bevölkerung Oberfchle- 
fiens gewiß nicht, der Friedrich noch 1783 befehlen mußte, ihm ihre Bitt⸗ 
ſchriften nicht Inienb zu überreichen. 


üt 





Nacaulay's Friebri ber Große. 85 


einer blos allgemeinen Gontrole, wie Macaulay meint, war bei dic» 
fem Material und auf fo engem Raume Großes nicht viel zu erzielen; 
die Spannfraft aller Federn mußte auf's Aeußerſte in Anfpruch ges 
nommen fein, wenn Etaat, Heer, Finanzen zu der Größe gelangen 
jollten, die nothwendig war, um die neu errungene Weltjtellung aus⸗ 
zufüllen. 

Zu fagen, Friedrich habe nichts anderes in fich gefühlt, „als 
eine raſtloſe und ımerjättliche Begierde, zu befehlen, fich einzumiſchen 
und feine Macht fühlbar zu machen”, das heißt ihn felber und die 
Lage feines Staates gleich ſchwer verfennen. Aber Macanlay kann 
auch Hier die üble Laune nicht bemeiftern, vie ihn vom erften abe 
feiner Arbeit an erfüllt hat. Für das Große und Verbienftvolle des 
innern Wirkens von Friedrich vermag er faum eine farge und wider: 
willige Anerfennung auszusprechen; das Ungünftige wird mit Weber« 
treibung ausgemalt, bei Schwächen und Schattenfeiten mit unvers 
kennbarem Behagen verweilt. Er zeigt und nicht das Bild des raft« 
fofen, wachfamen, bis in feine Sterbeftunde pflichtgetrenen und uner⸗ 
mübdlichen Königs, ſondern er fucht uns den abfchredenden Eindruck 
eines unrubigen Drängers (busybody) zu erweden, mit dem verglis 
chen jelbjt ein Tyrann oder Wüftling erträglich fein fol! Er zeigt 
uns nicht, wie ver König forgte, milderte, Necht übte, fonbern er malt 
ihn und, wie er an feinem Schreibtiſch mißtrauifch die Ziegel ver 
Briefe und Depefchen prüft, weil er ftetd den Verdacht gehegt habe, 
er könne verrathen werten. Es genügt ihm nicht, zu jagen, taß biefe 
Art von perföulicher Regierung ten Nachtheil hatte, wenig Staats— 
männer groß zu ziehen, er werjichert uns vielmehr, Frietrich habe 
überhaupt Niemanden gewollt, als Schreiber und Gopiermafchinen. 
Er bat fein Wort ver Anerfennung für tes Königs eigene Thätig- 
feit; es dauern ihn nur tie armen Gabinetsräthe, bie das ganze 
Jahr arbeiten müjjen, wie Negerfclaven zur Zeit ter Zuckererndte.“ 
Er bat fein Verſtändniß für tie felbituerleugnente Sparſamkeit, bie 
ber König wie allen antern, jo auch fich jelber auferlegte; er jucht 
ihn vielmehr lächerlich zu machen, intem er ven feiner ärmlichen Gar 
derobe und von ter ftrengen Gontrele feiner Hofausegaben ein farris 
firtes Bild entwirft. Tenn Garrifatur iſt es tech, wenn er feinen 
britifchen Yejern erzählt, feine Flaſche Champagner jei "chne tes 


SUR 








| A. 
86 8. Hänffer, 


Könige ausbrüdlichen Befehl- entlorkt, worden, ober „wein. berielbe: 


mehr als vier Thaler für 100 Stück Auftern zahlen follte, fo Gabe, 
er einen Lärm gemacht, wie wenn einer feiner, Generale eine Feſtung 


.. an Defterreich verrathen hätte.“ Nicht - einmal das findet Guabe 


vor ven Augen des Gefchichtichreibers,; daß Friedrich noch in fpäterm 
Alter, krank und Hinfällig, feine anftwengenben militärifchen Ruudrei⸗ 


fen machte; Macaulay fcheint auch Hier zu glauben, daß er aus purer 
Liebhaberei zum Befehlen und Sicheinsalles-mifchen biefe müßenollen 
Fahrten unternommen babe. Cr .tabelt es wenigftens, „daß Frichrich 
nicht Revue hielt, wie Könige gewöhnlich Revne halten, fonbern mit 
ver Heinlichen Aufmerkſamleit und Strenge eines alten ‚Unteroffigierg, 


- ber Refruten einerercirte.” Friebrich wußte, warum er das that; als 
man in Preußen einmal anfing, Revnen zu Kalten, „fo wie bie. Se 
nige ‚fie gewöhnlich abhalten,“ da ließ auch ber Verfall feines Wertes 
nicht lange auf fich warten. 


Die Schilverung, bie ver britifche Gefchichtfchreiber von Fried⸗ 
rich's Thätigkeit entwirft, gibt, wie ſchon dieſe Proben zeigen, von 
der eigenthämlichen Art des Königs ein ganz faljches Bild. Eben 
das Unruhige und Krampfhafte, das Ueberreizte einer befehlerifchen 
Natur (‚„morbid activity‘ nennt es Macaulay) war nicht feine 
Weife; er lichte eine wenn auch angeftrengte, doch geſunde und ve« 
gelmäßige Thätigfeit. Er arbeitete, ſchrieb Briefe, muficirte, liebte 
eine beitere Tafel, und erletigte Staatsangelegenheiten mit der glei- 
chen Antenfität, wie er fih dem Scherz; und ver gefelligen Unter- 
haltung hinzugeben vermochte. Seine Cabinetsorbres, deren Preuß 
alfein bis zum fiebenjährigen Striege über zwölftaufend vor Augen ges 
habt hat, find Haffifch durch ven Geiſt unermüblicher Sorge für alle 
Verhältniffe des Staats, durch ben gefunden und Haren Sinn, ber 
aus ihnen fpricht, und die hohe Gerechtigkeitsliebe, tie fich im Gans 
zen und Einzelnen barin Fund gibt. Wer die davon veröffentlichten 
durchliest, wird umwillfürlih frappirt durch die praftifche Verſtän⸗ 
bigfeit, wie durch das richtige Eingehen in die verfchiedenartigften 
Verhältniffe Auch vie bekannten Iafonifchen Marginalrefolutionen 
tragen, wenn fie gleich formloſer find, daſſelbe Gepräge; in jenen er- 
ften herrſcht durchweg der gefchäftliche Ernft und die königliche Würbe, 
in ben leßteren findet fich nicht felten eine ſcherzhafte ober farkaftifche 





Macaulay's Friebrih ber Große. 87 


Wendung, aber auch vann trifft er in ver Regel ven Nagel auf ven 
Kopf, niemal® wird dem Wit die Sache geopfert. Das lebt jet 
noch in der Lleberlieferung des Volkes. In hundert und aber hundert 
Anekdoten wird der gefunde Menfchenverftand und bie zutreffendbe 
Schärfe eines unbeftechlich gerechten Siuncs, womit ver König Großes 
und Kleines zu erledigen verftand, auch heute noch verherrlicht. 

Was Alles in dieſen Entſcheidungen enthalten ift, hätte 
von einen fo unerbittlichen SKritifer, wie Macaulay, doch we— 
nigftens mit einem Wort berührt werben dürfen. Wie ber König 
allen Claſſen der DBenöfferung gerecht zu werben trachtete, vom 
perarmten Edelmann an bis zum bebrängten Lehensbauern herab, wie 
er Heer und Finanzen hob, den Anbau des Landes in wahrhaft groß⸗ 
artiger Weife förderte, neue Coloniften heranzog, Teinen Zweig ver Cul⸗ 
tur und der Induſtrie unberüdjichtigt ließ, Straßen, Candle und Hä- 
fen anlegte, dem Lande ein gemeinfames Necht gab, das ift doch wohl 
der Erwähnung werth, denn e8 ſchuf die materiellen und moralifchen 
Mittel, einen ungeheuern Krieg von fieben Jahren leidlich zu über- 
fteben. Nicht Alles, was verfucht ward, gelang; auch mag es ber 
vornehmen hiftorifchen Betrachtung Fein feheinen, wenn ber König 
fih um Obftbäume, Gemüfe, fpanifche Schafe und Ziegeldächer bes 
kümmert, allein es galt hier noch immer, vie Wunden breißigjähriger 
Verdpung zu heilen und ven Arbeitstrich zu erweden, ver einmal an- 
geregt auch ſchon die Wege fand, fich felbftthätig weiter zu helfen, 
Daß es dieſes Spornes um's Jahr 1740 noch bedurfte, weiß Jeder, 
der die deutſchen und preußiſchen Zuſtände jener Zeit genauer kennt. 
Und ein nennenswerthes Ergebniß war es doch, daß des Königs Für⸗ 
ſorge bis zum Anfange des ſiebenjährigen Krieges etwa 280 neue 
Dörfer angelegt und mit tüchtigen Unterthanen bevölkert hatte; ober 
daß er z. DB, bie Oderbrüche urbar machte und mit Stolz fagen 
Konnte: „Hier ift ein Fürſtenthum erworben,‘ worauf ich feine Sol« 
baten zu halten nötbig habe.” Das gegebene Beifpiel wirkte, feit bie 
Früchte fichtbar wurben, durch ganz Deutfchland; es wäre ver Mühe 
werth, dieſe Wirkung einmal ftatiftifch genauer zu verfolgen. Im 
breißigjührigen Kriege waren unfere Fürften und ihre auswärtigen 
Verbündeten auf beftem Wege, und aus ber errumgenen @ultur in 
die Wälder und Einöden des Urzuftanvdes zurüdzufcheuchen; bier kam 


el 








"al un. 
R& a 


inmal einer, welcher der Gl anal Auen neulich 


BE | 2. Hänffer, 


zurückeroberte. 


„So war Friedrich der Regent,“ mit dieſen Worten beſchließt 


J „Macaulayh feine ſehr dürftig und einſeitig entworfene Skizze von des 


Königs innerer Thätigkeit, um ſich mit ſichtbarer Ungeduld zu Dem 
Hofleben und perſönlichen Umgang Friedrichs zu wenden. Das iſt 
freilich ein ergiebigeres Material für eine Darſtellung, wie fie ber 
Brite geben will, In der großen Bolitif, in ver inneren Berwal- 
tung da war boch bie und da eim larges Wort der Anerlenmung 
nicht zu vermeiden; aber in ben geheimen Räumen bes Schloffes 
von Sansſonci, im Umgang mit Poeten und Schöngeifterny da iſt 


x reicher Stoff zum Skandal, da fehlt e8 nicht an großen und Kleinen . 


Menichlichfeiten, da gibt e8 Händel und Zracafferien, pie mach bei- 


‚ben Seiten hin umerquidlich ſind; welch treffliche Gelegenheit für 


einen Schriftiteller, dem es nun einmal mehr darum zu thun iſt, 


Carricatur als Gefchichte zu malen. Wir fagen fein Wort zu viel; 


unter Allen, was die Macanlay'fche Arbeit Anſtößiges bietet, iſt uns 
faum etwas jo widrig erjchienen, wie die eilfertige Kürze, womit alle 
großen hiftorifhen Momente Friedrichs abgethan find, verglichen mit 
ber behäbigen Breite, womit die Händel Friedrichs mit Voltatee aus⸗ 
gemalt werben.?) RR. 


Die ungleiche Vertheilung von Licht und Schatten tritt Re 
noch ftärker al in den übrigen Parthien hervor. Es ‚macht wem 
Autor fichtbares Vergnügen, Voltaire recht Heinlich, ettel, Hakflichtig, 
ben König vecht launenvoll, geizig und boshaft zeichnen zu Tönnen. 
Er verbirgt zwar nicht, daß Voltaires Benehmen auch die Geduld 
eines andern Mannes, als Friebrich war, hätte ermüben müſſen, aber 


. folgt doch in dem Urtheil über Friedrich uns allzu willig dem 


trüben Strom verleumdrifcher Nachreden, deren Quelle bis heute 
vorzugsmweife Voltaire ift. Daß ver König für wirkliche Freundſchaft 
empfänglich war, kann nur ver leugnen, ver weder fein LXeben noch 
feine Schriften ftubirt hat; aber das Schickſal hatte ihm früh pie Beften 





*, Es fällt ſchon Aufferlih in die Augen. Der innern Bolitif Friebriche 
werden acht (S. 30-38 ber Tauchnitz'ſchen Ausgabe), den Hof⸗ wuib 
Privathandeln ſech zehn Seiten (S. 38-64) gewidmet. 





Macaulay's Friedrich ber Große. 89 


feiner Freunde weggenommen. Suhm, Jordan, Keyſerlingk, Winter: 
felot, die Freunde feiner Jugend, fehlten dem Manne; tie Wenig» 
jten von denen, die er fich jpäter berunzog, vermochten ten Verluſt 
zu erjegen, aber bie es werth waren, Freunde zu heißen, wie Lord 
Mariſchal, wurden auch als ſolche geichäßt. Daß Friedrich Die 
Schmarotzer und Yuftiginacher nicht in gleichem Werthe hielt, können 
wir nicht tadeln; daß er fie nicht reich machte, jcheint uns für den Re- 
genten fogar lobenswerth. Daß gar Munde von denen, bie er 
amüjant als Tiſchgeſellſchafter gefunden hat, nicht dazu angethan 
waren, Menjchenachtung in ihm zu nähren, das ift zur beflagen; 
aber die Schuld lag dabei nicht ſowohl am König, ald an den ans 
bern. Daß er Yente brauchte, vie ihn amüjirten und vie er zugleich 
verachten konnte, ift geradeſo richtig und zutreffend, wie ber Vers 
gleich mit Commodus. Gleichwie tiefer, To lautet bie geiftreiche Pa⸗ 
rallele, mit den Schwerte einft gegen einen unglüdlichen nur mit 
dem Rappier bewafineten Gladiator in die Arena herabgeftiegen fei 
und nachdem er das Blut des wehrlofen Opfers vergoffen, Medaillen 
zum Gerächtniß jeines unrühmlichen Sieges habe fchlagen laſſen, fo 
babe auch Frierrich im Wortgefechte feine Triumphe gefeiert! 

Es drängt fih Einem freilich auch hier der gleiche Eintrud wie 
früher auf: wer zu viel beweist, ber beweist nichts. Indem Ma— 
caulay in den übertricbenjten Austrüden des Könige angebliche Bos— 
beit und jeine Schadenfreude an ver Schwäche Anterer ausmalt, 
indem er jeve Situation des vVebens, Hunger ud Yeibeigenfchaft 
nicht ausgenommen, für beneidensowerther erklärt, als die Aufgabe 
Friedrichs Gejelljchafter zu fein, indem er den ärmſten Yondoner 
Autor, „der auf einer Dausflur fchlief, und um Keller zu Mittag aß”, 
al8 einen glüdlicheren Mann bezeichnet, als irgend einen der Haus⸗ 
genofjen des Könige, intem er fo vie grelliten Farben aufträgt, wedt 
er von felbjt auch dem ganz Unkundigen einen Zweifel an ver Kich- 
tigfeit Des Bildes, ta fich doch immer noch Areiwillige gefunden ha⸗ 
ben, vie fi in tiefen Sclavendienſt des Könige begaben. In der 
That ijt denn auch diefe Barthie des Macaulay'ſchen Essay ber 
Reviſion faſt in jedem Sake bebürftig; wir unterlajfen es dem Eins 
zelnen nachzugehen, weil und überhaupt ber Friedrich auf dem 
Throne, nicht Friedrich ter Poet und Gefellfchafter zu Sansſouci, 


das Zerrbild, das Macaulah von dem Letztern entiwkeft, 
.. Wäre, wie es parteiiſch ift, fo bliebe Immer der Erfte non het 








90 8 Oaaſſer, 


als der rechte Stoff für den Geſchichtſchreiber akt SM wen 
fe · vheig 





nug, um ein beneidenswerther Vorwurf für jede hiſtortfche 2 
fung zu fein. Daß unſer britiſcher Geſchichtſchreiber biefentienip- - 
aller Grunvfäge vergeffen bat, ja e8 naiv ausfpricht (&. 38) ui“ 
leicht würde durch das, was in Friedrichs Erholungsſtunden vorgl 
mehr Licht anf feinen Character geworfen, als durch feine-Scytuhune 
ober feine Gefege”, daß er darnach auch’ feinen. Stoff - verteilt -w- 
das ift eine Thatſache, von der es genügt, einfach Act — 
es iſt damit gewiſſermaſſen das rpurov rodo⸗ der r 
enthält. er 

Das läßt fich auch in dem leiten Abſchnitt, ber Die Bee 
heiten des fiebenjährigen Krieges gebrängt zuſammenfaͤßt, dentlich 
burchfühlen. An unwillfürlicher Anerkennung der Größe des Man» 
nes fehlt es zwar hier nicht; und dieſe Anerkennung macht mehr 
Einprud, weil fie wie unfreiwillig durch eine Wolle von Vorurthei⸗ 
len hindurchbricht; allein der Mißton, ver durch die Arbeit von Ans 
fang an hindurchging, läßt e8 auch hier zu einer ungetrübten Em⸗ 
pfindung des Autors felber nicht kommen. Wenn Friedrich von ben 
erften Schickſalsſchlägen ſchwer getroffen wird, fo ruft der Geſchicht⸗ 
ichreiber wie fehadenfroh: „der Spötter, der Tyrann, der ftrengiie’ 
der chnifchefte der Menſchen war fehr unglüdlih." Wenn. er beim 
Tod derer, die ihm thener waren, weicher, menfchliher Empfindung 
nachgab — fo Heißt e8: „er empfand ven Verluſt tiefer, als man 
von ber Härte und Herbheit feines Charakters hätte erwarten follen.* 
Wenn er inmitten hoffnungslofer Zuftänve fich -aufrafft, in Briefen 
und poetifchen Ergüffen Troft und Zerftreuung fucht, fo findet Ma⸗ 
caulay es lächerlich, ja faft komiſch, daß er in folcher Situation noch 
fo viel mittelmäßige Verſe habe jchreiben können. Mit einem Wort, 
der übellaunig fchulmeifternde und nergelnde Ton verläßt den Ge⸗ 
fchichtjchreiber felbft pa nicht, wo fonft auch für ihn große Einprüde 
genug vorlägen, um barüber die Heinliche Fliegenjagd zu vergeffen. 
Mohl imponirt auch ihm die Größe ver Sache und des Mannes; 
auf den Blättern, wo er das ungeheure Mißverhältnig in dem Kam⸗ 
pfe, der bevorſtand, zutreffend fchilvert, faßt er in einem Sag das 















Macaulay’s Friedrich ber Grofe. . 91 


Alles zufammen, was Friedrich Staat ſtark machte; es iſt ein Ge- 
ftänpniß, Das ganze Sciten feiner vorangegangenen Kritik aufiwiegt. 
In dieſem bürftigen, aber gebrungenen und wohlgeübten Körper, 
fagt er, war nichts als Schnen, Muskeln und Knochen; Fein Staats⸗ 
gläubiger jah nach Dividenden, feine entfernten Colonien forberten 
Bertbeidigung, fein Hof gefüllt mit Schmeichlern und Maitreſſen 
verfchlang ben Sold von fünfzig Batnillonen. Oder er fagt vom 
Jahr 1757: es ließe fid) bezweifeln, ob fih in Hannibals, Cäſars 
oder Napoleons Leben ein gleicher Zeitraum fine, der damit die Pa=- 
ralfele aushalte, — aber er fügt auch gleich hinzu, daß Friedrich "bas 
mals Open und Epiſteln hervorgebracht, ein wenig befjer als bie 
Cibber's und ein wenig fchlechter als vie Hayley's.⸗ 

Als wenn Friedrich damals nichts anderes zu Papier gebracht 
hätte, als Oden und poetifche Epifteln! Er hat auch Briefe geſchrie⸗ 
ben, die wir zum Verſtändniß feines Wefens fo wenig miſſen möch⸗ 
ten, al8 feine glänzentften Thaten auf dem Schlachtfelv. 

Das Jahr 1757 wird ewig denkwürdig bleiben burch die wun⸗ 
derbaren Umſchläge des Schickſals, Die es auszeichnen. Im Frühling, 
nach der Prager Schlucht, ftand Sriebric auf dem Höhepunkt feines 
Glüdes. Zwar war es ihm nicht gelungen, durch ven Ueberfall von 
Sachſen die drohende Coalition noch im Keime zu erjtiden, allein er 
hatte doch vie legten Monate des Jahres 1756 einen glücklichen Feld— 
zug geführt, einen ber Fünftigen Feinde entwaffnet, fie alle zuſammen 
in noch unfertiger Rüftung überrafcht und ihnen von Neuem ven Auf 
feiner Unbefiegbarfeit ins Gedächtniß gerufen. Im Frühjahr 1757 
war er dann mit einem rafchen Echachzug glüdlidy in Böhmen ein— 
gebrungen, hatte dem Feind vor Prag eine fiegreihe Schlacht gelic= 
fert und ftand nun vielleicht nach noch einer glücklichen Waffenthat anf 
dem Wege nach Wien. Zwar hatte vie Schlacht vom 6. Mai gewal- 
tige Opfer geloftet, aber die Erfolge ſchienen folchen Preiſes werth; 
das feinvliche Heer war gefchwächt, zerrüttet, führerlos, in Prag wie 
in Wien hatte man einen Moment die Faſſung verloren und ſah im 
Geifte Schon ven verhaßten Zeind vor den Thoren der Hauptſtadt. 
Es war fein vermeſſener Gedanke, durch einen glüclichen Schlag ge- 
gen bie heranrüdende Armee Dauns diefen unſchädlich zu machen, 
unter dem Eindruck eines folchen Sieges Prag zur Uebergabe zu 








92 . Briefen, - 


zwingen und taun ber wehrloſen. Kaiſerin ben ‚Beleben zu dictiren 
Gelang am 18. Juni der Sturm auf bie Höhen vom — 
vollftändig, wie es Anfangs ben- Anſchein hatte, warb die du 
Stelle durch den Angriff übersafchte äfterreihifche Linie von ber 
rechten Flanke ber aufgerojit, fo waren bie kühuften Hoffuungen. Sxie- 
drichs erfüllt und die Geſchichte hätte kaum einen von. Glack ‚mehr 
begünftigten Mann zu nennen gehabt, als: ihn. Von Mollwig Die 
Kolin eine Reihe von Erfolgen, über die nur hie und. ba. eine. leichte 
Wolke hinzuziehen ſchien, um das Verbienft und Glück bes Siegers 
befto glänzenber ftrahlen zu laffen! Es war vom ESchidjal aubers 
beftimmt: alle Ungunft und alle Bitterfeit bes Mislingend ſollte * 
ihn hereinbrechen, auf daß ſich feine eigenthümliche Größe, | 
bewähre. Es war wie eine VBeftätigung bes antilen Spruches, nur 
ver ſei ein Liebling ber Gotter, ber in Brrabe un in Leid pas Hochſte 
erfahren. 

Es war ein ſo jäher Glückwechſel, wie ihn die Geſchichte ſelten 
aufzuweifen bat; am Vormittag hatte er in heiterſter Stimmung und 
voll Siegeszuverficht feine Truppen zur Schlacht geführt, am Abend 
lag der befte Theil feines Heeres und der Zauber feiner Unbeſieg⸗ 
barfeit zerfchmettert am Boden. Hatte ihn bis dahin bie Hoffnung 
aufrecht gehalten, das Gewitter, das ſich über ihm zuſammenzeg, 
theilen zu können, fo fprach jett alle menfchliche Waprfcheinlichkeit 
bafür, daß er durch vereinte gewaltige Schläge zermalmt Werben 
würde. Die eberne Unempfindlichleit Napoleons Tag nicht in feinem 
Wefen; die urfprünglich weiche Natur in ihm kam wieder zu ihrem 
Rechte, er hing dem Schmerze völlig nach, er vergoß Thränen. Aber 
e8 war nur ein Augenblid; dann erhob er fich mit feiner ganzen 
Elafticität und dachte an Mittel ver Abhülfe. Er tröftete fich nicht, 
wie manche andere Größe, mit dem faulen Troft, daß er burch bie 
Uebermacht oder durch das Ungefchi Anderer oder durch Verrath 
erlegen fei; ex machte feinem Unmuth nicht etwa Luft durch Schmähe 
veben über die Sieger. „Die kaiferlichen Grenadiere, fchrieb er an Lord 
Marifhal, find eine bemwunvernswerthe Truppe; fie vertheibigten 
eine Höhe, welche zu nehmen meine befte Infanterie nicht im Stande 
war . . . bie Feinde hatten den Vortheil einer zahlreichen und gut⸗ 
bevienten Artillerie; fie macht dem Liechtenftein Ehre, welcher ihr vor⸗ 












Macaulay's Friedrich der Große. | 98 


fteßt. Ich Hatte zu wenig Infanterie, ich hätte deren mehr nehmen 
follen. ... Der Erfolg, mein lieber Lord, flößt oft ein ſchädliches 
Vertrauen ein; wir werden unfre Sache ein andered Mal beffer mas 
hen.u Und in einer erft vor Kurzem bekannt geworbenen Aufzeich⸗ 
nung, bie aus den nächſten Wohen nach der Schlacht ftammt, *) 
fchreibt er: „ich zweifle nicht, daß esin der Welt viel gefcheitere Leute 
gibt, als ich bin; ich habe in hohem Grabe die Ueberzeugung, daß 
ih von Vollfommenheit weit entfernt bin. Aber wenn es fi um 
Liebe zum Buterlande, um Eifer für feine Erhaltung und feinen 
Ruhm handelt, fo gehe ich darum mit der ganzen Welt einen Wett- 
fampf ein und werbe diefe Gefühle bis zum letzten Hauche meines 
Lebens bewahren.u Er hatte ein Recht dies von fich zu fagen; denn 
fhon Monate vor ber Schlacht hatte er eine Inſtruktion für den 
Fall des Todes oter der Gefangenfchaft erlaffen, die jene heldenmü— 
thige Hingebung für die Geſammtheit in jeden Zuge beftätigt. **) 
"Sollte ich fallen, fagt er, fo müſſen die Gefchäfte ihren Gang fortgehen 
ohne Die geringste Störung und ohne daß man merkt, daß fie in anderer 
Hand Liegen. Sollte ich das Unglüd haben gefangen zu werden, fo 
verbiete ich, daß man irgend welche Rückſicht auf meine Perfon nehme 
oder ben. geringften Werth auf das lege, was ich etwa aus meiner 
Haft fehreiben könnte. Wenn folch ein Unglüd mir begegnete,. fo 
will ich mich für den Staat opfern; man foll dann meinem: Bruder 
gehorchen. Er wird mir, wie alle Deinifter und Generale mit feinem 
Kopf dafür Haften, daß man weber eine Gebietsabtretung noch ein 
Löfegeld für mich Biete, fondern daß man ben Strieg fo fortführe, 
wie wenn ich nie in der Welt gewefen wäre.“ 

Aber Kolin war nur der Anfang einer bittern Wendung bes 
Schickſals. Es folgte feines Bruders unglüdlicher Rüdzug, der Ver- 
luſt von Zittau, der Schlag von Haftenbed und Stlofter Seven, Apra- 
ring Sieg bei Großjägerndorf und ver unglüdliche Kampf bei Moys. 
Sein Land ift nun vom Feinde befett, die Nuffen ftehen in Preußen, 
die Defterreicher in Schlefien, die Schweden haben Pommern, bie 
Franzoſen Weftfalen; die einzigen Verbünbeten die er bat, ftehen auf 





®*) Ocuvres de Frederie XXVII. 8. 269 £. 
®®) Oeuvres de Frederic XXV. 818. 








94 05 are, 


dem Punkte abzufallen, die Uebermacht u ige: Züfens 
menwirken beginnt erſt jetzt fich zu Fl: One eigene Hei 
ſtark gelichtet uns zum Theil -utmuthigt, Die 
ſtimmt, die nächften Anverwandten murren über ihn und * nach 
Frieden. Und damit dem öffentläggen Leid auch das perjänliche wicht 
fehle, ftarb ihm unter dem Einbrud ver Hiobopoſt von Folin die 
Mutter, und ber Ueberfall von Meys Hatte ion einen Hhptichfen 
Freunde, Winterfeldt, gefoftet. 0 

Es waren harte Proben auch -für einen-fo — Be 
wie er nach Macaulay gewefen fein fol; aber er bear ‚acht. 
Nicht irgend eine jelbftfüchtige Betrachtung, fondern ti 
berer Pflicht Hält ihn aufrecht: Wäre ich bei Kolin um ei 
fchrieb er zwar refignixt an B%mens, fo wäre ich im Huſen 
Furcht vor Stürmen; jetzt aber muß ich noch auf dem -Fiärmifchen 
Meere fahren, bis ein Fein Stück Erve mir das Glück verfchafft, 
das ich auf dieſer Welt nicht habe finden können. Uber er fchreibt 
auch dem Nämlichen: „Betrachten Ste mich wie eine Mauer, im 
welche das Unglüd feit zwei Jahren Brefche gefchoffen hat. Ich 
werde von allen Seiten erfchüttert. Häusliches Unglüd, geheime 
Leiden, öffentliche Galamitäten und bevorftehende Trübfal, das iſt 
meine Nahrung. Dennoch glauben Sie nicht, daß ich nachgebe uud 
wenn alle Elemente zu Grunde gingen, fo würde ich mich unter ih⸗ 
ren Trümmern mit fo kaltem Blute begraben laffen, als ich Ihnen 
* dies fchreibe. In diefer fchredlichen Zeit muß man fich mit ehernen Ein⸗ 
geweiden und ftählernem Herzen waffnen, um alle Empfinblichfeit: zu 
verlieren.u Und an vie Lieblingsfchwefter, vie Markgräfin, bie auch 
einen Moment erjchüttert ihm zu Entfchlüffen der Nachgiebigleit ge⸗ 
rathen hatte: „Wenn ich nur meiner Neigung folgte, fo hätte ich 
mich gleich nach der unglüdlichen Schlacht fortgemacht; allein ich 
habe gefühlt, daß das Schwäche wäre und daß es meine Pflicht fet, 
das Uebel wieder gut zum machen, das gefchehen war. Meine An⸗ 
hänglichkeit an ten Staat hat fich geregt und ich habe mir gefagt: 
Im Glücke find die Verteidiger nicht felten, aber im Unglüd. Ich 
mache mir eine Ehrenfache daraus, all’ dies Misgefchid wieder gut 
zu machen. Trotz aller Unfälle bin ich fehr entfchloffen, gegen das 
Misgeſchick zu ringen; aber ebenfo feft ift auch mein Entſchluß, 












Macaulay's Friebrih ber Große. 95 


‚nie meine Schande und ben Schimpf meines Hauſes zu unter⸗ 
zeichnen.“ *) 

88 folgten die Schläge von Roßbach und Leuthen, vie das welt 
biftorifche Jahr auf's denkwürdigſte abfchlojfen. Die Unfälle des Som⸗ 
mers erfchienen jett nur wie eine fchwere Prüfung des Helven, aus 
ber er glänzenber und größer hervorgegangen. Nicht nur, daß die Fol⸗ 
gen der vorangegangenen Nieverlagen zum Theil dadurch gut gemacht 
waren, es war auch die alte Zunerfiht im Heer und Volfe wierer 
bergeftelit, ver Zauber und Echreden von Friedrichs Namen war ven 
Feinden furchtbarer, als jelbjt vor ven Tagen von Kolin; an Roßbach 
erhob fich die vaterlänvifche Begeifterung in ganz Deutſchland, an bei- 
den Siegen zufammen entziindete fi das Intereſſe und Die Bewun⸗ 
derung der gefammten Welt. Sagt doch auch Macaulay, nachtem er 
die Bebeutung des Tages von Roßbach hervorgehoben: felbjt die Yes 
geifterung Deutſchlands für Friedrich fan kaum der Begeifterung Eng⸗ 
lands gleih. Der Gebintstag unjeres Verbündeten wurde mit ebenjo 
großem Enthufiasmus gefeiert, wie ver unſeres eigenen Souverains, 
und in ber Nacht waren die Straßen von London glänzend illuminirt. 
Abbildungen des Helden von Roßbach, mit feinem breiedigen Hut und 
feinem langen Zopf waren in jedem Haufe. Ein aufmerkjamer Beob⸗ 
achter wird bis zum heutigen Tag in den Gaftzimmern altmobdifcher 
Wirthséhäuſer und in ven Mappen der Bilverhändler zwanzig Porträts 
von Friedrich für eins von Georg II. finven. 

In der That bat Friebrich und fein Heer niemals eine glänzen 
bere Zeit gehabt, als die vier Wochen won Roßbach bis Leuthen. ‘Der 
herrliche Sieg vom 5. November, dieſe „bataille en douceur“, wie 
fie der König in einem Briefe an die Markgräfin nannte; dann ver 
bewunderungswürdige Marfch nach Oſten, wo ihm die Unglücksbot⸗ 
ſchaften aus Schlefien und die Trümmer feines Heeres entgegenlamen, 
bie friſche Zuverficht, die er ven Gefchlagenen und Entmuthigten mit⸗ 
theilt, der kühne Entſchluß mit einigen breißigtaufend Mann über 
achtzigtaufend anzugreifen, die heldenmüthige Anfpradhe an die Offie 
ciere und die Todesverachtung, womit Alle dem König folgten, endlich 
bie Schlacht bei Leuthen felbft — das ijt eine Summe jo mächtiger 





*%) Osuvres XIX, 48, 44; XXVII, 1, 804. £. 








96 9 D—— 


Dinge, daß wenn Friedrich nichts als Dies gethan Hätte, fein Name 
unfterblich bliebe für alle Zeiten. Wir wiffen nicht, auf welche Belt 
Macaulay feine Bemerkung, bezieht; es habe der prenßiſchen Armee bie- 
religiöfe Begeifterung, weiche bie Schaaren Erommelf’s erfüllte, ebewie 
gefehlt, wie ver patriotifihe Gifer, pie Ruhmesliebe un Sie Hingebung 
an einen großen Führer, welche Die Garde Napoleons bezeichnet Habe, 
— zu biefer Zeit ftimmt fie in jedem Falle nicht. Sie pakkifeeitich 
auch nicht auf die Kämpfer von Prag und Kolin, nicht auf wie Heßben 
von Zornborf, oder auf bie im furchtbarften‘ nächtlichen Meberfall ws 
verbar bewährte Widerſtandskraft bei Hodjlic, aber vor alleu am 
wenigften paßt fie auf die Heldenſchaat, die in begeifterter: 
ihrem Führer folgte, obwohl fie. wußte, daß fie einen bappelteny fe 
breifachen Feind von unverächtlicher Kraft zu befämpfen Hatte. Unter 
Abfingung geijtlicher Lieder zogen fie zu ber Entfcheirumgefiluikt,. wie 
Schlefien wieber erringen follte. „Meint Er nicht,“ fagte ber König, 
wahrfcheinlich zu Zieten, „daß ich mit folchen Leuten heute fiegen 
werde?“ Und als der Sieg erfochten war, ftimmte bei ver Verfolgung 
bes Weindes auf dem nächtlichen Marſch ein Grenadier das Lieb an: 
„Run danket Alle Gott!“ und die Taufende des Heeres ftimmten da⸗ 
rin ein. Die Dunkelheit und Stille der Nacht, fagt Rekow, und das 
Graufende eines Schlachtfelves, wo man faft bei jedem Schritte: auf 
eine Leiche ftieß, gab dieſer Handlung eine Feierlichkeit, vie fichtYeffer 
enpfinden ließ, als fie befchrieben werden kann; felbft bie auf ber Wahl⸗ 
ftatt Liegenten Verwundeten vergaßen auf einige Minuten ihre Schmerzen, 
um Antheil an dieſem allgemeinen Opfer ver Dankbarkeit zu nehmen. 
Etwas von dieſer Stimmung bewegte auch den König. felbft. 
„Wenn je Preußen,“ fchrieb er an Keith, „„Urfache gehabt hat, das „Herr 
Gott Dich loben wir” anzujtimmen, fo ift e8 bei diefer Gelegenheit.” 
Mebermüthig hatte ihn der Sieg nicht gemacht. Faſt ſcherzend lehnt er 
die freigebigen Lobſprüche von d'Argens ab. „Ihre Freundſchaft, mein 
Lieber, verführt Sie; im Vergleich mit Aleranvder bin ih nur ein 
Schulknabe, und Cäſar bin ich nicht werth, die Schuhriemen aufzus 
löſen. Die Noth, die Mutter der Betriebſamkeit, hat mich handeln 
gelehrt und bei verzweifelten Uebeln auch zu verzweifelten Heilmitteln 
getrieben.” *) Seine höchjte Hoffnung war auch jegt nur ber Friebe; 


*) Oeuvres XIX, 47. 








Macaulay's Friedrich der Große. 97 


er war nicht lüftern nach neuen Schidjalsproben, wie fie das abgelau- 
fene Jahr gebracht hatte. „Wenn das neue Fahr, fchrieb er an Prinz 
Heinrich auf deſſen Glückwunſch, jo grauſam fein follte, wie das eben 
abgelaufene, fo wünfche ich, es wire bas legte meines Lebens.“ *) 

Das neue Jahr war aber nicht dazu angethan, vie Wunden des 
vorangegangenen zu heilen. ‘Der mißlungene Zug nad) Mähren, vie 
nur mit furchtbaren Opfern erfaufte Abwehr der Ruſſen bei Zorn- 
borf, ter ſchwere Echlag von Hochkirch, ver Verluft tes Bruders, 
ber Lieblingsjchweiter und eines Waffengefährten wie Keith war, — 
das war fat ein erneuertes Kolin, ohne die aufrichtenne Macht, vie 
Roßbach und Leuthen gebracht hatten. Die Briefe, die er in jenen 
Tagen an Prinz Heinrich, an d'Argens, an Mariſhal fchrieb, Tafjen 
die Stimmungen erfennen, bie das Herz des Königs zerriffen. Cr 
hatte wohl ein Necht zu dem bittern Wort: „C'est un metier de 
chien que je fais; si la moindre mesure me manque, je suis 
perdu.“ „ch habe Alles verloren,” fchrieb er an d'Argens, „was ich 
geliebt und geachtet Habe auf diefer Welt; ich ſehe mich nur noch von 
Unglüdlichen umringt, die durch das Unglüd der Zeiten gehinvert find, 
mir beizuftehen. Vor meiner Einbildungskraft fteht der Untergang 
unferer fchönften Provinzen und die Gräuel, welche diefe wilden Thiere 
verübt haben.“ Und doch durfte er nicht zeigen, wie tief ihn Das Alles 
angriff. „Trotz alles deſſen, was ich empfinde,“ fchrieb er dem Prin⸗ 
zen Heinrich, „mache ich gute Miene zum böfen Spiel und fuche, fo 
weit e8 an mir iſt, die Leute nicht zu entmuthigen, die man mit ber 
Hoffnung und dem Selbjtvertrauen allein führen kann.“ **) 

So arbeitete er raſtlos fort, fehrieb,„Lichtete zum Zeitvertreib, 
foherzte felbjt unter Thränen, und behandelte in feinem Briefwechfel 
literartfche Fragen mit demjelben Gleichmuth, wie wenn er mitten im 
Frieden feinen Palaft zu Sansſouci bewohnte. Die Elajticität womit 
er das trieb, alte und moderne Autoren las, fi Bücher auf Bücher 
kommen ließ, ernfte und frivole Dinge in feiner Correfpondenz verhan- 
belte, ift in der That ſtaunenswürdig; fich varüber fo zu verwundern, 
wie Macaulay thut, und die fchlechten Verſe zu urgiren, bie dieſer 





*) Oeuvres, XXVI, 170. 
**) Oeuvres XIX, 54. XX, 270, 273. XXVI, 179, 
Hiſtoriſche Zeitſchrift L. Band, 7 








98 2 er 


„vigilant resolute sagacious blue-stagking‘“ 
unter ben vielen Nainetäten, die der Auc 
tig eine ver größten. — Fu 

Friedrich felber hat fh. “aber fein amalig 
genug ausgeſprochen. „Ich weiß nicht,“ fchriek- * Bee 1759 
an b’Ürgens, *) „was mein Schidfal fein ‚und wie:- Heine. Dinge 
wenben werben. Ich werde Alles thun, was von mir -alkielingt, min. mich 
zu halten, und wenn ich erliege, foll e& ver Feind theme: Begahlen.... 
Meine Winterquartiere habe ich als Karthäufer zugebracht. Ichzefle 
allein, ich bringe meine Zeit mit Lefen, mit zu An: 
nicht. Wenn man traurig ift, je tofmk es auf bie 
viel Mühe, feinen Verdruß unaufhorlich zu verbergen, und es und 
beffer, fich allein zu beträben, als feinen Verbruß unter Maßipe zu 
bringen. Es tröftet mich jetzt nichts, als die Anftrengung, vogfche decch 
Arbeit und fortgefegte Befchäftigung geboten ift. Diefe Zerftrenung, 
jo lange fie dauert, zwingt dazu trübe Gedanken fern zu Halten; aber 
leiver, wenn die Arbeit zu Ende ift, tauchen ſolche Gedanken mit ber 
ganzen Lebhaftigfeit des erjten Eindrucks von Neuem auf.” 

Mit einer gebrängten Skizze der Ereigniffe von Zorndorf an bis 
zum Ende des Krieges fchließt die Macaulay’fche Monographie. Dieſe 
legten jeche Blätter find das Beſte und Unbefangenfte an ber ganzen 
Arbeit. „Es war vom Schidfal befchloffen,” jagt der Autor, nbaß bie 
Faſſung dieſes ftarfen Geiftes vafch hintereinander durch beide Extreme 
des Glückes verfucht werben folle. Dicht hinter der Reihe von Trium⸗ 
phen Tam eine Reihe von Unglüdsfällen, die den Ruhm faft jeven 
andern Führers verborbeg, fein Herz gebrochen haben würben. In⸗ 
beffen Fried rich war inmitten feiner Unglücsfälle ein Gegenftanb ber 
Bewunderung für feine Unterthanen, Verbündeten und Feinde. Ueber- 
wältigt vom Mißgeſchick, Tebensfatt, hielt er dennoch den Kampf, größer 
in Niederlage, in Flucht, in fcheinbar hoffnungsloſem Untergang, als 
auf den Feldern feiner ftolzeften Siege.‘ 

An keiner Stelle tritt dies mehr hervor als nach dem Schlage von 
Kunersdorf. Der jühe Uebergang vom glänzenpften Eiege zur furchtbar 
ften Niederlage, war gewaltig genug, um aud) feine Zuverficht einen 















*) Oeuvres XIX, 56. 





Macaulay's Friedrich ber Große. 09 


Moment zn erfchüttern. Er fucht ven Tod; „kann mich denn feine 
verwänfchte Kugel treffen?” foll er zulegt mitten im Kampfgewühl ge- 
rufen haben, bis ihn Prittwis vor den verfolgenden Koſaken vedte und 
die Adjutanten ſein Pferd am Zügel mitfortjchleppten. Der Brief an 
Vinfenftein, noch am Zage der Schlacht gefchrieben, zeigt eine ähnlich 
hoffnungs loſe Stimmung.*) Aber es war nur ein Moment. Wie bie 
Feinde ihren Sieg unbenügt ließen und ftatt den letzten entfcheivenben 
Streich zu führen, in unfruchtbarem Haber die Zeit verderben, da hat auch 
Friedrich feine ganze Elaſticität wieder gefunden. Schon vier Tage nach 
der Schlacht fchreibt er an Prinz Heinrich einen Brief, der zwar die be- 
drängte Lage und die Seelenfchmerzen, vie er erlitt, unverhüllt bar- 
legt, aber doch die Stimmung des Verzweifelns überwunven hat. 
„Zählen Sie darauf, daß fo lange ich die Augen offen habe, ich den 
Staat aufrecht halten werne, wie e8 meine Pflicht iſt.“ Aehnlich lau⸗ 
ten die gleichzeitigen Briefe an d'Argens; fie zeigen den König ebenfo 
ungebeugt in feinem Widerſtand, wie entfchlojfen, die Ernievrigung 
unter die Feinde nicht zu erleben. „Ich fchilvere das Einzelne nicht,“ 
fchreibt er acht Tage nach der Niederlage, „was meine Situation fo 
grauſam macht. Ich fage davon nichts; das Uebele foll nur für mich 
exiftiren, da8 Gute für die Meinung ver Welt. Glauben Sie mir, e8 
gehört etwas mehr als Feſtigkeit und Stanphaftigkeit dazu, um ba zu 
halten, wo ich bin. Aber ich fage es Ihnen offen, wern Unglüd mich 
trifft, feien Sie überzeugt, daß ich dann ven Untergang und bie Ver- 
wüſtung nicht überleben werde.” **) Wohl zählt er felber in einem 
Briefe an Prinz Heinrid) das Wiederaufraffen nad) Kunersdorf zu den 
„Mirakeln des Haufes Brandenburg‘, aber er macht fid) tod) über 
feine Lage im Ganzen feine Illuſion. „Ich werde mich ohne Zweifel 
ſchlagen,“ ſchrieb er an d'Argens, „aber fehmeicheln Sie fich nicht 
über ven Ausgang. Ich verfpreche mir nichts Gutes davon. Meine 
unerfchütterliche Treue gegen das Vaterland, meine Ehre laſſen mich 
das Alles unternehmen ; aber diefen Gefühlen fteht die Hoffnung nicht 
zur Seite. Nur ein glüdlicher Zufall kann uns retten.‘ 

In diefer refiguirten Stimmung ſah er der Kataſtrophe bes 





*) Oeuvres XXV, 306. 
*) S. Oeuvres de Frederic XIX, 78, 82, 85; XXVI, 199. 
7* 


”. 


% » FR N tl 


Nenigkeit nicht zu fehr nieberfchlage." | 2 





L 











100 | Ye 


Krieges entgegen. „Ih folt, Schreibt er im Herkft-1700. an bflegens,®) 
berfulifche Arbeiten in ein Bier verrichfen; ti welchem mich bie 
Kräfte verlaffen, meine Sage zunehmen und ſelbſt bie Hoffmeng, 
ber einzige Troft der nik Hichen ; mir ih mangeln anfängt. Gie 
fennen bie Umftanve 2100 genug, um ſich einen teutlichen Begriff 
von ven Gefahren zumachen, bie dem Staate brohen; ich keune mb 
verjchweige fie, behalte alle meine Beſorgniſſe für mich und thelle ber 
Welt nur die Hoffnungen und bie wenigen guten Neuigkeiten, mit, bie 
ich ihr anzeigen Tann. Gelingt der Streich, auf den ich venle, daun 

wird es Zeit fein, fich der Freude zu überloffen; bis beftir:, . 
wir uns mit nichts fehmeicheln, dauit' uns eine un 












Noch vor der Wendung bes Krieges, eben an dem — 
Nachricht von dem Tode der Warin eintraf, ſchrieb er: VG gehe 
durch eine harte, Lange, graufame, ja barbarifche Schule ver Geduld. 
Ich Habe mich meinem Geſchick nicht entziehen Tönnen; Alles, was 
menfchliche Borausficht angeben kann, habe ich angewendet, nichts ift 
gelungen. Wenn die Glücksgöttin fortfährt, mich fo unerbittlich zu 
verfolgen, fo werte ich ohne Zweifel erliegen; fie allein kann mich 
noch aus meiner jegigen Lage ziehen. Ich vette mich daraus, indem 
ih das AU im Großen betrachte, wie der Befchauer eines fernen 
Planeten: dann erfcheinen mir alle Gegenftänte umentlich Hein und 
ich bemitleive meine Feinde, daß fie fih um fo geringe Dinge fo viel 
Mühe machen. Was würde aus uns ohne Philofophie werben! Ohne 
Nachdenken, ohne Losreißen von ver Welt! Ohne die vernünftige Ver⸗ 
achtung, welche uns die Kenntniß eitler und vergänglicher Dinge ein- 
flößt! .... Das ift die Frucht, welche in ver Schule der Wiber- 
wärtigfeiten reift. 

Daß die frifehe Lebensfreude der Jugend in fo furchtbaren Prüf⸗ 
ungen ſchwand, das ift wohl zu begreifen. Schon furz nach dem 
Schlag von Kunersporf fehrieb er:**) „nad, Beendigung des Krieges 
werbe ich mir einen Pla im Invalidenhauſe erbitten, fo weit bin ich 
herunter gebracht. .... Wir dürfen die Schnellkraft nicht zu ſtark 





*) Oeuvres XIX. 191. 
**) Oeuvres XIX. 93. 





Macaulay's Friedrich ber Große. Eu 101 


anfpannen, fonft erjchlafft fie.” Und bald nach der Liegniger Schlacht 
fagt er: *) Meine Munterfeit und meine gute Laune ift Begraben 
mit ven geliebten und achtungswerthen Menſchen, an denen. mein 
Herz hing. Das Ende meines Lebens tft fehmerzlich und betrübt.“ 


Aber er fügt im nämlichen Briefe hinzu: Sie reden mir immer zu 
viel von meiner Perfon. Sie follten wiffen, daß es nicht nöthig iſt, 
baß ich lebe, fondern daß ich meine Pflicht thue und Fänıpfe für mein 


Baterland, um e8 zu retten, wenn es noch möglich ift. 

ALS der Sieger von Jena im böchften Uebermuth des Glückes 
und voll Haß gegen Alles, was preuffifch hieß, nach Sansfouci kam, 
fagte er zu feiner Uingebung: voild un endroit qui me&rite notre 
respect. Wir follten denken, auch für die Gefchichtjchreibung wäre 
nach der Probe, die uns Macaulay gegeben hat, diefe Mahnung nicht 
überfläffig. - 





In dem Augenblid, wo wir mit ven vorſtehenden Worten unfe 
ven Bericht abgefchloffen hatten, kam ung Thomas Carlyle's "history 
of Friedrich II. of Prussia, called Frederick the great“ in bie 
Hände; es bebarf vor dem Lefer wohl feiner befondern Entſchuldi⸗ 
gung, wenn wir an biefen fchon etwas lang gewordenen Auffag noch 
ein gebrängtes Nachwort über den neueften britifchen Geſchichtſchrei⸗ 
ber Friedrichs des Großen anhängen. 

Thomas Carlyle bedarf ver Einführung in Deutjchland nicht. 
Ein Schriftfteller von fo reicher Begabung und einer in unfern Tas 
gen feltenen Urfprünglichfeit, wird einem jeden Stoffe, und wäre es 
auch der allerbefanntefte von der Welt, einen eigenthümlichen Weiz 
verleihen, fchon weil er es ift, der darüber fpricht. Das zwar, was 
Duintilian an dem großen Meifter helfenifcher Gefchichtfchreibung 
rühmt, das „densus et brevis et semper instans sibi« ift nicht 
Carlyles Weiſe; er Tiebt eine behäbige Breite, ergeht fi gern in 
weiten Digreffionen und läßt feine eigene originelle Art überall fo 
ftarf hervortreten, daß man häufig mehr Carlyle als bie Gefchichte 
liest, die er erzählen will. Den Einprud werden die Leſer feiner 
franzöfifchen Revolution, wie felbft feines Crommell, der boch zum 





*) Oeuvres XIX. 193. 





= 
u, 


L. Hänffer, 


ä rlundenſammlung iſt, gleichmäßig erhalten; wer wie 
nugikrhe und vrecte Stetigkeit Hiftorifcher Darftellung liebt, ber 
mag Blsweil Gebuld verlieren; und doch ‚wirb man wieder nicht 
füygnen Fön daß neben. allen inbivibuelfen Wımberlichleiten der 
‚gerpichtlichen xichiblicke genng zu finden find, um aud ben ftvengen 
Kritiker zu feſſeln. Wie ſellſam ſich and bie Perjönlichleit des Au— 
tors bisweilen zum Stoffe ftellen mag, feine ganze Weife ijt bo 


echt und urjprünglic; Schulm 'enventionelles tritt Einem 

nirgends ftörend im ben Weg, gelloje Unbändigfeit eines 
fchriftftelleruben Autovivacten. 

Ueber beutiche Dinge p id aber wenige Briten jo 

b n, wie biefer Yant 8. Als warmer Berebrer 

deutſchen Yiteratu ht in die Gefahr Fonmen, 

tonale Eigent! ‘t anzufaffen, wie fein be- 

„u Vorgänger; >! Berſtändniß genug und 

der Liebe zum Stoffe ein? t. Bei ibm werben wir 

eber in ben fall kommen, ebermaß des Wohlwollens 

nen, als gegen ven prüben, | ‚zen Hochmuth Proteft ein- 


Inſofern kann man in Deutfehland das Werk nur willlom⸗ 

eißen; mauch hartgeſottenes britiſches Vorurtheil zu widerlegen 
und ver inſularen Selbſtgenügſamkeit von gar vielen Dingen, vie ſte 
nicht kennt, aber verurtheilt, einen beutlicheren Begriff beizubringen, 
überhaupt ein trefflicher Anti-Macaulay zu werden, dazu hat ver An- 
tor vollfommen das Zeug und wir fönnen nur wünfchen, daß fein 
Buch im eigenen Vaterland eine vecht große Ausbreitung finde. 


Aber fo ganz leicht wird es nicht ſein, mit dieſem ſchweren Ge— 
ſchütz die Penny⸗ und Eiſenbahnliteratur zu verdrängen. Es hat ben 
Anſchein, als werde ſich Carlyle in ſeiner Schilderung Friedrich's II 
noch mehr als gewöhnlich gehen laſſen. Die fünf Bände ver Tauch— 
nitz'ſchen Ausgabe, bie und vorliegen, gehen gerade erſt bis zur Thron⸗ 
befteigung Friedrich's, und es ift nicht zu venfen, daß er fich im fol- 
genden mehr zufammennehmen wird. Er füngt freilich ab ovo an, 
fhildert ein Stüd Mittelalter, erzählt und von den Hohenftaufen und 
von ben Deutfchrittern, läßt ſämmtliche Kurfürften des hobenzollern- 
ſchen Haufes die Revue pafjiren und flicht dazwiſchen noch weitläu- 


Macaulay’s Friedrich der Große. 103 


fige Digreffionen- und Zeitbetrachtungen ein — Alles nur zur Ein⸗ 
leitung in vie eigentliche Materie. 

An fleißigen Nachjuchungen bat es ver Autor dabei nicht fehlen 
faffen, aber man merkt ihm ven Ausländer und Dilettanten doch an. 
Seine Mittheilungen Klingen bisweilen wie unvergohrene Ercerpte, 
feine Gelehrfamfeit erfcheint manchmal wie cine umgejtürzte Biblio» 
tgef. Er macht fih gar viel mit dem deutſchen „Dryasdust‘“ zu 
Schaffen, der dem Cyclopen ähnlich wie ein ‚„‚monstrum horrendum 
informe ingens cui lumen ademtum‘‘ erjcheint, und er iſt weber 
höflich noch dankbar gegen bie fanre Arbeit dieſes Vorgängers, ja 
wir find auf manche unfreuntliche Bemerkung gegen verdiente For- 
fcher geftoßen, bie vielleicht beſſer weggeblieben wäre, infoferne es im- 
mer etwas Peinliches hat, wenn ter Darfteller für das große Pub: 
lifum die gelehrte Forſchung, fei fie auch noch fo troden und form 
(08, mit Geringſchätzung behandelt. Auch ift nicht zu läugnen, daß 
mancher Heine Irrthum aus tem verachteten Dryasdust gut hätte 
berichtigt werten können. Dann ijt die literarifche Kenntniß des 
Autors ungleich; es begegnet ihm wohl, daß er ganz fpecielle Monos 
graphien über einen einzelnen Punkt kennt und citirt, während ihm 
anbered Bedeutende entgangen it. Leber die ältere Zeit 3. B. ift 
boch ſeit Rentzſch's „Brandenburgifchen Cederhain“ und Köhler’s 
"Dlünzbeluftigungen« mancherlei Erwähnenswerthes erfchienen ; es fcheint 
aber nicht, tag Carlyle von ven Arbeiten G. W. Raumers, Riedels, 
Märkers, Dropfens über vie frühere brandenburgifche Gefchichte je 
Notiz befommen hat. Des alten würbigen Grafen Bünau Gefchichte 
Friedrich's I ift gewiß ein Werk, das auch heute noch fein Verbienft 
behält, aber es ijt Loch zu wiel gefagt, wenn Carlyle es immer noch 
als das „express book“ über Friedrich ven Hohenftaufen bezeichnet. 
Seit Rentzſch und Köhler und Bünau ift gar Dianches in ver Forſchung 
geichehen, was Erwähnung verdient und vielleicht auch von dem deut⸗ 
fchen „Dryasdust‘‘ eine bejjeve Vorjtellung beizubringen vermag, ale 
die Antiquitäten, aus denen zum Theil Carlyle gefchöpft bat. 

Aber das Zeugnig iſt man dem Autor überall fchulvig, daß er 
nicht leicht und flüchtig gearbeitet hat. Es ift ihm um Wahrheit 
zu thun gewefen und er bat es fich fauer werben laſſen; daß er 
fo Fritiflos wie Macaulay aus dem Wuft alter Schmähfchriften fein 





104 2. Häuffer, 


Bild der Zeit gefchöpft hätte, kann man ihm micht nachfagen, - Viel: 
mehr gibt er fich alle Mühe, folch trübe Quellen in ben Augen feiner 
Fandslente als das zu zeichnen, was fie find, überhaupt über eine 
Menge vom Dingen fie zu belehren, bie ihnen wahrjcheinlich neu over 
doch nur unvellkemmen befannt find, Es begegnet ihm z. B. nicht, 
von König Frieprih Wilhelm I eine Earricatur zum entwerfen, beren 
Lächerlichkeit im Grunde mm auf ben Autor zurädjällt; der ftrenge, 
fpartanifche Dann hat vielmehr Carlyle's ganze Shmpathie, und man 
kann an feiner Zeichnung eber ansfegen, daß fie in zu milden als zu 
grellen Streichen gehalten -ift. Aber er faßt auch volllommen richtig 
die fittliche und politifche Bedentung, bie in dem Manne und feinem 
Regiment lag. 
Erft im zweiten ber uns vorliegenden fünf Bände lommt Ear- 
lyle zur Gefchichte feines Helden, „the little Fritz“ ober „the boy 
Fritzkin,‘“ wie er ihn in gemüthlicher Piebfofung nennt, Wir ler» 
nen dem ganzen Hof des Vaters, die Deffauer und Grumbfow, das 
Tabafecollegium genau kennen und werben in die Erzichungsgefchichte des 
jungen Prinzen mit allem Detail eingeführt. Die veppelte Einwir- 
fung auf Friedrich, die des Vaters, die ihn zurückſtieß, und bie fran— 
zöfiiche Sprache und Sitte, Der er ſich willig hingab, ver erjte Keim 
der Zerwürfniffe, Dis zu den britischen Heirathsprojekten und bis zur 
Flucht des Kronprinzen, das Alles wird mit behäbiger Breite, ja in 
manchen Parthfen ausführlicher felbft als in ven eingehendſten beut« 
ſchen Erzäklungen gefchilvert. Bald läßt er fich behaglich gehen und 
flicht reiche Excerpte aus ten Quellen ein, bald verweilt:er bei ein⸗ 
zelnen Epifoden, vie ihm ein fittengefchichtliches" Sinterefje gewähren, 


ober er behält Zeit genug zu einer anziehenden Abfchweifung und zu 


einer Umfchau über die gefammte europäifche Polltik. Wenn er fei- 
nen Helden nach Dresden führt, fo gibt er zugleich im Kleinen ein 
Bild der Hof- und Sittenzuftinde ver Zeit, und wenn er ihn durch 
das Weich begleitet, jo verweilt er gern unterwegs, fei e8 in Coburg 
ober in Ansbach, oder im medienburgifchen Mirow, um feine briti- 
ſchen Leſer daran zu erinnern, Haß Königinnen und Thronerben Groß- 
britanniens aus biefen Heinen Eden Deutfchlands hervorgegangen find. 
Und in dieſer Weife verfolgt er die Gefchichte feines Helden durch vie 
trüben Zage der -Gefangenfchaft, durch Rheinsberg bis zu dem Mors 





Macaulay’s Friebrich der Große. 105 


gen nach ber Threnkefteigung — alles mit jorgfältiger Kenntniß bes 
Einzelnen und mit der Liebe zur Sache, aus welcher vie rechte Wärme 
des Tones hervorgeht. Wir denken, die Engländer find von W. Scott 
bis auf Macaulay’8 großes Werf daran gewöhnt, daß man in ber 
Gefchichte wie im bijterifchen Roman fich nicht zu kurz zuſammen⸗ 
bränge; fie wirb tarıım wohl die Ausführlichkeit nicht zurüdfchreden, 
zumal für fie faft auf jetem Blatte Neues zu lernen und alter Wuft 
aus den Köpfen zu bannen ift. 


Wie Carlyle Friedrich den Großen faffen wird, läßt fich aus 
einigen trefflihen Sätzen ter Einleitung erkennen. Er hinterließ bie 
Welt, fagt er, gänzlich bankerott; verfallen in bodenloſe Abgründe ber 
Zerrättung; er felber noch zahlımgsfähig und mit einem Boden unter 
fih, der ihn und feine Sachen noch tragen konnte. Als er ftarb im 
Jahre 1786, ließ fich das gewaltige Phänomen, das ınan feittem 
die franzöſiſche Revolution genannt hat, bereits hörbar in den Tiefen 
der Welt vernehmen und rings um den Horizent warb es durch clef- 
trifche Blitze feierlich angekündigt. Seltfan genug, einer von Fried⸗ 
rich’8 legten Befuchern war Gabriel Honoré Riquetti, Graf v. Mi⸗ 
rabeau. Dieje zwei fahen einander zweimal, auf eine halbe Stunde 
jebesmal, ter Leßte von ven alten Göttern und der Erfte von ben 
modernen Zitanen — che Pelion auf den Oſſa fprang und vie faule 
Erde, endlich Feuer fangen, ihre fchlechten mepbitifchen Dünfte in 
vulfanifchen Donner entladen hat. Auch dies ift eine von Friedrichs 
Eigenthümlichleiten, daß er bis hieher ver Letzte ver Könige it, daß 
er bie franzöſiſche Revolution einführt und cine Epoche der Weltge- 
ſchichte abſchließt. Beendend für immer das Handwerk der Stünige, 
denken Manche, vie in tiefer Finfternig befangen find über das Könige 
thum und über ihn. 


ZTreffend hebt dann Carlyle hervor, wie bie franzöfifche Revolu— 
tion ihn eine Zeitlang im Gedächtniß der Menfchen verfchwinven 
ließ und, wie er num wieber and Licht fommt, er fich entftellt zeige 
„mit feltfamen Rinden von Schlanım überzogen”. Das ift, fügt er, 
eine von den Schwierigkeiten dieſer Gefchichte; bejonvers wenn man 
an Beides glaubt, an die franzöfifche Revolution und an ihn, das 
heißt an Beides: daß wirfliches Königthum ewig unentbehrlich ijt und 





106 8. Häuffer, 
ebenfo gelegentlich die Zerſtbrung des Pannen, übrigens ein 


. Schredlicher Proceß. 


Verdunkelt ward Frieprichs Andenken eine Zeitlang durch das 


Titaneunhafte der Revolution und ihres imperatoriſchen Nachipiels. 


In feiner JIronie zieht: Carlyle bie gekänfige Bewunderung burch, 
womit man geraume Zeit die bramarbafivenvden Marfchälle begleitet 
hat „mit ibren dichten Badenkärten Ahnen mächtigen stehlen und 


niit folchen Maffen von Menfa hießpulver zu ihrer Verfü— 
gung, wie nie zuvor. Wie ſie sberfihritten und polterten, 
ben Domner Jupiters zum chmachend.“ Nun, meint 
Carſyle, habe ſich das etwas ft pie Zeit werde fommen, 
"wo man einfehen werde, baf ſige vor Napoleon gegeben, 
und eine Kriegskunſt, gem aftigleit, menfchlichen Muth 
und Einſicht — „not ups rodomontade, grandiose 
"Diek-Turpinism, revo s, aud unlimited expen- 
diture of men and 
Mit Grund be sefchichtfchreiber, daß Preu— 
ben ſelbſt Heim. E Olyamdtig des Mannes hervorge- 
bracht habe/;ab er auch. gleich bie. viel begründetere Klage hin- 
, daß es in und England noch viel fchlimmer fei. 
rrſche da, fe ‚use ungehenre Unwiſſenheit fogar über bie ges 


wöhnlichen Thatir von Friedrichs Leben, und es feien Urtheile 
und Meinungen im Gang, von denen man eben nur fagen könne, daß 
fie auf Unwiffenheit beruhten. In England z. B. exiſtirten nur zwei 
notorifche Heberlieferungen über ihn. Einmal fei es, feit Georg II 
bie Partei Maria Therefia’8 ergriff und Friedrich die entgegengefeßte, 
im Parlament und in den Zeitungen eine ganz ausgemachte Sache 
gewefen: daß Friedrich ein Räuber und Böfericht fei. Dann aber, 
als er mit England verbündet gewefen und das große Drama des 
fiebenjährigen Krieges ſich entwidelt, da hätten fich Georgs Parla— 
ment und feine Zeitungen über einen zweiten Punkt geeinigt: daß es 
einer der größten Solvaten geiwefen, bie je gelebt. ‘Dies zweite At- 


tribut — fegt Carlyle mit verjtändlichem Seitenblid auf ven be- 


rühmten Landsmann hinzu — räumt der britifche Schriftjteller feit- 
dem vollfommen ein, aber er fügt gleichwol in Ioderer Weife die Ei- 
genfchaft des Räubers zu, und ftellt fich einen Königlichen „Did Tur⸗ 





Macaulay's Friedrich der Große. 107 


pin« vor, von ber Art, die in Review-Artifeln und in Abhandlungen 
über ten Fortfchritt ver Menfchheit geläufig ift, und betitelt dann 
das ⸗Friedrich,/ fehr bemüht neues Geplauder lügenhafter Anecho« 
ten, falfcher Krititen und hungriger franzöfifcher Memoiren zu fams 
meln, bie ihn in viefer unmöglichen Auffafjung betätigen follen. 

Carlyle dagegen verfichert, daß gerade Eines an Friebrich ihn 
vorzugsweife anzog und beim Stoffe fefthielt: vie Realität des Man- 
nee, ber nichts vom Scheinmenfchen an fich hatte und nie verfucht 
war, nah Schwindler Art mit den Realitäten umzugehn. „Wie Dies 
fer Mann, fagt er, noch bazu von Beruf ein König, ſich im acht 
zehnten Jahrhundert benahm und es dahin brachte, Fein Lügner und 
fein Charlatan zu fein, wie es fein Jahrhundert war, das verbient 
ein wenig von Menfchen und Königen gefchen zu werben und mag 
ftilffchweigenb feine didaktiſche Bebeutung haben.“ 








"..., 





102 8 8. Hänffer,. 


großen, Teil Urlundenfammlung ift, gleichmäßig. erhalten; wer "ie 
nügptixhe und correcte Stetigkeit hiſtoriſcher Darftellung Tiebt, der 
mat; Kisweilen bie Geduld verlieren;. und doch wird man wieber nicht 


läugnen können, baß neben. allen inbivibuelfen Wunderlichkeiten der 
wefchichtlichen Lichtblicke genng zu finden find, um auch den ſtrengen 
„Kritiker zu feſſeln. Wie ſellſam ſich auch die Perſonlichkeit des Au⸗ 
tors bisweilen zum Stoffe ftellen mag, feine ganze Weiſe ift boch 


echt und urſprünglich; Schulmäßiges und Eonventionelles tritt. Einem 
nirgends ftörend in den Weg, eher bie regelleſe urdandighen eines 
ſchriftſtellernden Autodidacten. 


Ueber deutſche Dinge zu ſchreiben find aber wenige Bruen — 
berufen, wie dieſer Landsmann Macaulay's. ALS warmer Verehrer 
unſerer deutſchen Literatur wird Carlyle nicht in die Gefahr Nomen, 
unfere nationale Eigenthümlichkeit fo verkehrt anzufaffen, wie fein be- 
rühmter Vorgänger; vielmehr bringt er Verſtändniß genug und 
der Liebe zum Stoffe eine reiche Fülle mit. Bei ihm werben wir 
eber in ven Fall kommen, bisweilen das Uebermaß des Wohlwollens 
abzulehnen, als gegen ben prüben, bockbeinigen Hochmuth Proteſt ein- 
zulegen. Inſofern kann man in Deutfchland das Werk nur willkom⸗ 
men beißen; manch hartgefottenes britifches Vorurtheil zu widerlegen 
und ber injularen Selbftgenügfamteit von gar vielen Dingen, bie fie 
nicht Tennt, aber verurtheilt, einen beutlicheren Begriff beizubringen, 
überhaupt ein trefflicher Anti-Macaulay zu werden, dazu hat der Au⸗ 
tor vollfommen das Zeug und wir fünnen nur wünfchen, daß fein 
Buch im eigenen Vaterland eine recht große Ausbreitung finbe. 


Aber jo ganz leicht wird es nicht fein, mit dieſem fchweren Ge⸗ 
ſchütz die Penny- und Cifenbahnliteratur zu verdrängen. Es hat ben 
Anfchein, als werde ſich Carlyle in feiner Schilverung Friedrich's II 
noch mehr als gewöhnlich gehen lajjen. Die fünf Bände ver Tauch- 
nigjchen Ausgabe, vie uns vorliegen, gehen gerade erft bis zur Thron: 
befteigung Friedrich's, und es ift nicht zu denken, daß er fich im fol 
genden mehr zufammennehmen wird. Gr füngt freilich ab ovo an, 
ſchildert ein Stück Mittelalter, erzählt und von den Hohenftaufen und 
von ben Deutfchrittern, läßt ſämmtliche Kurfürſten des hohenzollern- 
hen Haufes die Revue pafjiren und flicht vazwifchen noch weitläus 





Macaulay’s Friedrich der Große. 103 


fige Digreffionen- und Zeitbetrachtungen ein — Alles nur zur Ein- 
leitung in die eigentliche Materie. 

An fleißigen Nachjuchungen bat es ver Autor dabei nicht fehlen 
laſſen, aber man merkt ihm den Ausländer und Dilettanten doch an. 
Seine Mittheilungen klingen bisweilen wie unvergohrene Excerpte, 
feine Gelehrſamkeit erſcheint manchmal wie eine umgeſtürzte Biblio- 
the. Er macht fi) gar viel mit dem beutjchen „Dryasdust‘ zu 
Ichaffen, der dem Cyclopen ähnlich wie ein ‚„monstrum horrendum 
informe ingens cui lumen ademtum‘‘ erfcheint, und er ift weber 
böflich noch dankbar gegen bie ſaure Arbeit dieſes Vorgängers, ja 
wir find auf manche unfreundliche Bemerkung gegen verdiente Yor- 
fcher geftoßen, bie vielleicht beijer weggeblieben wäre, infoferne es im- 
mer etwas Peinliches hat, wenn der Darfteller für das große Pub— 
lifum vie gelehrte Forſchung, fei fie auch noch fo troden und forms 
los, mit Geringfhägung behandelt. Auch ift nicht zu läugnen, daß 
mancher Feine Irrthum aus tem verachteten Dryasdust gut hätte 
berichtigt werden können. Dann ijt die Titerarifche Kenntniß des 
Autors ungleich ; es begegnet ihm wohl, daß er ganz fpecielle Mono⸗ 
graphien über einen einzelnen Punkt kennt und citirt, während ihm 
anderes Bedeutende entgangen ift. Ueber vie ältere Zeit 3. 3. ift 
doch feit Rentzſch's „Brandenburgiſchem Cederhain“ und Köhler’s 
«Münzbeluftigungen« mancherlei Erwähnenswerthes erfchienen ; e8 fcheint 
aber nicht, daß Carlyle von ven Arbeiten G. W. Raumers, Rievels, 
Märkers, Dropfens über die frühere branvenburgifche Gefchichte je 
Notiz befommen hat. ‘Des alten würdigen Grafen Bünau Gefchichte 
Friedrich's I ift gewiß ein Werk, das auch heute noch fein Verbienft 
behält, aber es ift doch zu viel gefagt, wenn Carlyle c8 immer noch) 
als das „express book“ über Friedrich den Hchenftaufen bezeichnet. 
Seit Rentzſch und Köhler und Bünau ift gar Manches in der Forſchung 
gefchehen, was Erwähnung vervient und vielleicht auch von dem beut« 
ichen „Dryasdust“ eine bejjere Borftellung beizubringen vermag, als 
die Antiquitäten, aus denen zum Theil Carlyle gefchöpft Hat. 

Aber das Zeugniß ift man dem Autor überall ſchuldig, daß er 
nicht leicht und flüchtig gearbeitet hat. Es ift ihm um Wahrheit 
zu thun gewefen und er hat e8 fich fuuer werden lajfen; daß er 
fo Fritiflo8 wie Macaulay aus dem Wuft alter Schmähfchriften fein 





104 a 


Bild der Zeit gefchöpft hätte, kann man Ting: nidt-nechfagen:- Bih 
mehr gibt er fich alle Mühe, folch "trübe Quellen in: han Augen feiner 
Landsleute als vas zu zeichnen, was fie fink, überhaupt über" eine 
Menge boy Dingen fie zu belehren, bie ihnen wahrſcheinlich 
doch nur „vrolllommen bekannt find. Es begegnet ihm SR wicht, 
von König Friedrich Wilhelm I eine Sarricatur zu entwerfen, berem 
Lächerlichkeit im Grunde nur auf ben Autor zurüdfällt; der firenge, 
fpartanifche Mann hat vielmehr Garlyle'g ganze Sympathie, uud mia. 


kann an feiner Zeichnung eher ausfegen, daß ſie in milben ala zu 


grellen Streichen gehalten ft. Aber: er faßt mc vollkommen richtig. 
die fittliche und politifche Bedeutung, die in ae anne und jenem 
Regiment lag. 

Erft im zweiten ver une vorliegenden fünf Bände lommt Gar 
lyle zur Gefchichte feines Helden, „the little Frite‘ ober „‚tlie boy 
Fritzkin,““ wie er ihn in gemüthlicher Liehlofung nennt. Wir ler: 
nen den ganzen Hof des Vaters, die Deffauer und Grumblow, das 
Zabakecollegium genau kennen und werben in die Erziehungsgefchichte des 
jungen Prinzen mit allem Detail eingeführt. Die doppelte Einwir- 
fung auf Friedrich, die des Vaters, Die ihn zurüdftieß, und bie fran« 
zöfifche Sprache und Sitte, der er fich willig hingab, ver erfte Keim 
ver Zerwürfniffe, bis zu ven britifchen Heirathöprojeften und bis zur 
Flucht des Kronprinzen, das Alles wird mit behäbiger Breite, ja in 
manchen Parthien ausführlicher felbft als in den eingehenbften beut- 
fhen Erzäklungen gefchilvert. Bald läßt er fich behaglich gehen und 
fliht reiche Excerpte aus ven Quellen ein, bald verweilt er bei ein- 
zelnen Epiſoden, vie ihm ein fittengefchichtliches Intereſſe gewähren, 
ober er behält Zeit genug zu einer anziehenden Abſchweifung und zu 
einer Umfchau über die gefammte europäifche Politik. Wenn er ſei⸗ 
nen Helden nach Dresden führt, fo gibt er zugleich im Kleinen ein 
Bild der Hof- und Sittenzuftände ver Zeit, und wenn er ihn durch 
das Reich begleitet, jo verweilt er gern unterwegs, fei e8 in Coburg 
oder in Ansbach, oder im medlenburgifchen Mirow, um feine britie 
ſchen Leſer daran zu erinnern, daß Königinnen und Thronerben Groß- 
britanniend aus dieſen Heinen Eden Deutſchlands hervorgegangen find. 
Und in diefer Weife verfolgt er die Gefchichte feines Helden durch vie 
trüben Tage der -Gefangenfchaft, durch Rheinsberg bis zu dem More 


r 





Macaulay's Friedrich ber Große. 105 


gen nach ber Thronkefteigung — alles mit jorgfältiger Stenntniß bes 
Einzelnen und mit ver Liebe zur Suche, aus welcher die rechte Wärme 
des Tones hervorgeht. Wir denken, die Engländer find von W. Ecott 
bis auf Macaulay’8 großes Werk daran gewöhnt, daß man in ber 
Geſchichte wie im Hijtorifhen Roman fich nicht zu kurz zuſammen⸗ 
bränge; fie wird darum wohl vie Ausführlichkeit nicht zurüdfchreden, 
zumal für fie faft auf jedem Blatte Neues zu lernen und alter Wuft 
aus den Köpfen zu bannen ift. 


Wie Carlyle Friedrich ven Großen faffen wird, läßt fich aus 
einigen trefflichen Sätzen ter Einleitung erfennen. Cr binterließ bie 
Welt, fagt er, gänzlich banferott; verfallen in bodenloſe Abgründe ber 
Zerrättung; er felber noch zahlungsfähig und mit einem Boden unter 
fi), der ihn und feine Sachen noch tragen Fonnte. Als er ftarb im 
Jahre 1786, Tieß ſich das gewaltige Phänomen, das man feitvem 
die franzöfifche Revolution genannt hat, bereits hörbar in ven Tiefen 
der Welt vernehmen und rings um den Horizont warb e8 durch elek— 
trifche Blitze feierlich angefündigt. Seltſam genug, einer von Fried⸗ 
rich's letzten Befuchern war Gabriel Honere Riquetti, Graf v. Mi⸗ 
rabeau. Diefe zwei fühen einander zweimal, auf eine halbe Stunde 
jedesmal, ter Lette von ven alten Göttern und ber Erfte von ben 
modernen Zitanen — che Pelion auf den Oſſa fprang und vie faule 
Erbe, endlih Feuer fangend, ihre fchlechten mephitifchen Dünfte in 
vulfanifchen Donner entladen hat. Auch dies ift cine von Friedrichs 
Eigenthümlichleiten, daß er bis hicher ver Letzte der Könige ift, daß 
er die franzöfiiche Revolution einführt und eine Epoche ver Weltge- 
ſchichte abſchließt. Beendend für immer das Handwerk ber Könige, 
benfen Manche, die in tiefer Finſterniß befangen find über das Könige 
thum und über ihn. 


Zreffend hebt dann Carlyle hervor, wie die franzöfiiche Revolu- 
tion ihn eine Zeitlang im Gedächtniß der Menfchen verſchwinden 
ließ und, wie er nun wieder ans Licht fommt, er fich entftellt zeige 
„mit feltfamen Rinden von Schlamm überzogen“. Das ift, fagt er, 
eine von den Schwierigkeiten tiefer Gefchichte; befonders wenn ınan 
an Beides glaubt, an die franzöfiiche Nevelution und an ihn, das 
heißt an Beides: daß wirkliches Königthum ewig unentbehrlich ift und 


& 


Dar ü 








106 oz ea - 


ebenfo gelegentlich bie Zeeflärung des Beinitelgtäums, —*8 ea 
ſchrecklicher Proceß. * 

Verdunkelt warb Friebuͤchs Andenken ‚eine Beitlang he 
ZTitanenhafte der Revolution und ihres Imperatorif F 
In feiner Ironie zieht Carlyle bie gößkufige Bewunbeiiug Ferch, 
womit man geraume Zeit bie bramarbaftrenden Marfchälte” begfeitet 
bat „mit ihren vichten Qadenbärten, ihren mächtigen Kehlen ut: 
mit ſolchen Maſſen von Menſchen und Schießpulver ze. ihrer. Berfäs 


gung, wie nie zuvor. Wie fie brüten, einherfchritten um polterten, 
ben Donner Jupiters zum Exftonmen iachnacbenn.” Nun, meine 
Carlyle, habe ſich das etwas gelegt; er heit die Zeit werbe Tommen, > 
wo man einfehen werde, daß .g8 große Nünige wor Napoleon gegeben, | 
und eine Kriegskunſt, gegränbet auf Wahrhaftigfeit, menjchlichen Muth 
und Einſicht — ‚not upon Drawcansir rodomontade, grandiose 
Dick-Turpinism, revolutionary madness, and unlimited expen- 
diture of men and gunpowder.“ 

Mit Grund beflagt es ter britifche Geſchichtſchreiber, daß Preu⸗ 
Ben ſelbſt noch Teine genügende Schilderung des Mannes hervorge⸗ 
bracht habe, aber er fügt auch gleich die viel begründetere Klage hin⸗ 
zu, daß es in Frankreich und England noch viel ſchlimmer ſei. Es 
herrſche va, ſagt er, eine ungehenre Unwiſſenheit ſogar über bie ges _ 
wöhnlichen Thatfachen von Friedrichs Leben, und es feien Urtheile 
und Meinungen im Gang, von denen man eben nur fagen könne, daß 
fie auf Unwiſſenheit beruhten. In England z. B. eriftirten nur zwei 
notorifche Weberlieferungen über ihn. Cinmal fei es, feit Georg II 
die Bartei Maria Thereſia's ergriff und Friedrich bie entgegengefeßte, 
im Barlament und im den Zeitungen eine ganz ausgemachte Sache 
geweſen: daß Friedrich ein Räuber und Böſewicht ſei. Dann aber, 
als er mit England verbündet gewefen und das große ‘Drama des 
fiebenjährigen Krieges fich entwidelt, da hätten fich George Parla⸗ 
ment und feine Zeitungen über einen zweiten Punkt geeinigt: daß es 
einer ber größten Soltaten gewefen, tie je gelebt. Dies zweite At⸗ 
tribut — ſetzt Carlyle mit verftänplichem Seitenblid auf ben be 
rühmten Landsmann hinzu — räumt ver britiiche Schriftfteller feit- 
dem vollfommen ein, aber er fügt gleichwol in loderer Weife die Eis 
genfchaft des Raͤubers zu, und ftellt fich einen Königlichen „Did Tur⸗ 











Macaufay’s Friedrich ber Große. 107 


pin« vor, von der Art, die in Review-Artikeln und in Abhandlungen 
über ven Fortfchritt der Menfchheit geläufig ift, und betitelt dann 
das »Friedrich,/ fehr bemüht neues Geplauder Lügenhafter Anecdo⸗ 
ten, falfcher Kritifen und hungriger franzöfifer Memoiren zu fans 
meln, die ihm in dieſer unmöglichen Auffaſſung betätigen follen. 

Carlyle dagegen verfihert, daß gerade Eines an Friedrich ihn 
vorzugsweife anzog und beim Stoffe fefthielt: die Realität des Man- 
nes, der nichts vom Scheinmenfchen an fich hatte und nie verjucht 
war, nad Schwindler Art mit den Realitäten umzugehn. „Wie bie 
fee Mann, fagt er, noch dazu von Beruf ein König, ſich im acht 
zehnten Jahrhundert benahm und es bahin brachte, fein Lügner und 
fein Charlatan zu fein, wie es fein Jahrhundert war, das verbient 
ein wenig von Menfchen und Königen gefehen zu werben und mag 
ſtillſchweigend feine bivaktifche Bedeutung haben.« 





Der platoniſche Stant in ſeiner Bebeniung für bie F 
Bm m Fi Bit 

; of ah Pie” 
€ zeiter. —— 
Wer die Ideale ver Menſchen kennt, ber kennt mehr als v6 
Hälfte ihres Charakters. Es gilt dieß nicht blos von den Einzelnen, 
fontern auch von ganzen Zeiten und Völkern; und barin liegt eben 
das eigenthümliche Intereſſe jener Schriften, welche der Schilderung 
idealer Zuſtände gewidmet find, jener chiliaftifchen Literatur, welche 
in ber Gefchichte der Religion, der Bildung und des Staatsweſens 
eine fo bedeutende und merkwürtige Stelle einnimmt. Sole Schrif- 
ten pflegen Vorſchläge zu machen und Hoffnungen auszumalen, bie 
weit über alles hinausgehen, was unter den gegebenen Berbältuiffen, 
und oft genug über alles, was überhaupt unter Menſchen möglich ift; 
aber fo phantaftifch fie in ver Negel ausfehen: wenn fich wirflich bie 
Gedanken ihrer Zeit und beventender Menfchen barin ausfprechen, 
werben wir doch nicht wenig aus ihnen lernen können. Einerſeits of» 
fenbaren fie uns die Ziele, die ihren Verfaffern für das Höchfte und 
Wünſchenswertheſte gelten, und eben damit die Triebfedern, von wel⸗ 
hen bie Kreife bewegt wurden, aus denen fie hervorgingen. Auderer⸗ 
feitS zeigen fie uns, was am ben gegebenen Zuſtänden in einem bes 
ftimmten Zeitpunkt als verfehlt erfannt, unter welchen Bedingungen 
auf eine Beſſerung gehofft wurde; und fie beleuchten jo theil® bie 
Vergangenheit, invem fie viefelbe vom Standpunkt der Folgezeit aus 
prüfen und oft unerbittlich verurtbeilen, theils werfen fie prophetifche 
Bilder der fpäteren gefchichtlichen Geftaltungen in die Zukunft. Denn 
jeves wahrhafte und gefchichtlich berechtigte Ideal ift nothwendig eine 








"ım 





ber platonifche Staat in feiner Bebeutung ır. 109 


Weiffagung, und eben das ift es, was ben Idealiſten vom Phanta- 
ften unterfcheivet, daß dieſer willfürlich felbftgeinachte Zwecke mit 
unmöglichen Mitteln verfolgt, jener dagegen von dem Gefühl vorhan- 
dener Uebelſtände ausgeht und gefchichtlich berechtigten Zielen zuftrebt, 
welche nur deßhalb in ihrer weiteren Ausführung phantaftifch werben, 
weil die Bedingungen für ihre veinere Faſſung und ihre naturgemäße 
Berwirflichung noch nicht vorhanden fine. 

Unter allen den Echriften, auf welche die vorjtehenden Bemer: 
kungen anwenpbar find, ift wohl kaum eine zweite an gefchichtlicher 
Bedeutung, wie an inneren Gehalt, mit der platonifchen Republik 
zu vergleichen. Uns freilich fpricht auch diefe Echrift auf den cerften 
Blick feltfam genug an. Ein Staat, in welchen vie Philofephen res 
gieren, und mit abjoluter Macht, ohne eine Verfaſſung over ſonſt 
eine gefetliche Schranke, regieren follen; in welchen die Xrennung 
der Stände fo ſtreug burchgeführt ift, daß ben Striegern und Beam— 
ten jete Beſchäftigung mit Landwirthſchaft und Gewerben unterfagt 
wird, die Landbauer und Gewerbtreibenben ohne Ausnahme von aller 
pelitiichen Thätigkeit ferngehalten, zu jteuerzahlenden Unterthanen 
herabgedrückt werben; im welchem antererfeitd bie Aftivbürger ganz 
nur tem Staate, nic und in feiner Beziehung fich ſelbſt gehören fols 
len; ein Staat, welcher für feine höheren Stände die Ehe, die Fa⸗ 
milie, das Privateigenthun aufhebt; wo alle Verbindungen von Mann 
und Weib für ben einzelnen Fall von ver Obrigfeit angeorbnet, bie 
Kinder, ohne ihre Eltern zu kennen, von ihrer Geburt an in öffentli- 
hen Anftalten erzogen, bie ſämmtlichen Aftiobürger auf Staatskoſten 
gemeinjchaftlich geſpeiſt, die Mädchen ebenfo, wie bie Knaben, in Muſik 
und Gymnaſtik, in Mathematik und Philoſophie unterrichtet, vie 
Weiber, wie die Männer, zu Solpaten und Beamten verivendet wer⸗ 
den; ein Staat, welcher auf wijjenfchaftliche Bildung gegründet fein 
will, und doch ver freien Bewegung des geijtigen Lebens bie ftärfjten 
Feſſeln anlegt, jede Abweichung von ten herrichenden Grundſätzen, 
jede fittliche, religidfe und künſtleriſche Neuerung ftreng unterbrädt 
— ein folder Staat fteht mit allen unfern fittlichen und politifchen 
Begriffen fo vielfach im Widerſpruch, er ſcheint nicht blos, fonbern 
er ift auch fo unausführbar, und er ift bieß fchon in feiner Zeit 
felbft fo fehr gewejen, daß es nicht zu verwunbern ift, wenn ber 


Au 
wi, 


M | m 
a in 
110- > E. Zeller, | 


„platoniſche Staat/ fir ein phantaſtiſches Seal, für! bie Site 
eines Träumers, jprichwörtlich geworben ift. 

EGs iſt noch nicht folange her, daß er allgemein — 
gehalten wurde. Heutzutage hat man ſich jedech nachgerade überzeugt, 
daß hinter dieſem Phantaſiebild wel mehr Realität ftedt, als man 
bei oberflächlicher Betrachtung glaubar möchte, Nie allein, daß 
Plato ſelbſt feine Vorſchläge ganz ernſtlich genommen wiſſen will, 


und nur von ihnen Heil für die Menſchheit erwartet: es iſt auch fo 


Bieles darin, was bejtchenven Sitten und Einrichtungen entjpricht, 


und auch ihre auffallenpften Beſſimmungen erklären ſich fo voltftändig 
aus den Zuſtänden jener Zeit und aus’ ber 


enthiinlichkeit der pi 
i 4 rliche Erfinbungen, 
ſondern nur Folgerungen ſehen können, welchen ſich — 






toniſchen Philoſophie, daß wir darin wicht 


gerade deßhalb nicht zu entziehen wußte, weil er ein Grieche bes 
vierten sorchriftlichen Jahrhunderts und ein folgerichtig benlenber 
Mann war. Gleich die erfte Grunpforberung feines Staats, bie 
Herrſchaft der Philoſophen, ift zugleich aus ben gegebenen Zuſtänden 
und aus den Vorausfegimgen bes platonifchen Shuftems abzuleiten. 
Senes, fofern die herfömmlichen griechifchen Verfaffungen ſich ſichtbar 
überlebt, und in ven Wirren des peloponnefifchen Kriegs wetteifernd 
am Berberben der Staaten gearbeitet hatten; fofern auch bie wieder⸗ 
bergejtellte Demokratie in Athen ſchon durch bie Hinrichtung bed So⸗ 
krates in Plato’8 Augen fih ihr Urtheil unwiderruflich gefprochen 
hatte. Diefes, weil ein Syſtem, das alle Sittlichlelt auf's Wiſſen 
gründen wollte, auch für den Staat feinen anderen „Grund Tegen 
Konnte, weil ver Staat zum Abbild der Idee, das er nach Plate fein 
foll, nur von denen gemacht werben kann, bie fich zur Auſchanung 
ber Ideen erhoben haben. Aehnlich jehen wir bie Trennung ber 
Stände aus einer doppelten Wurzel hervorgehen: aus ber Verachtung 
des Griechen gegen die Hanbarbeit, welche den Meiften das Gewerbe, 
den Spartanern felbft den Landbau als eine Ernievrigung -für ven 
freien Bürger erfcheinen ließ; und aus der Furcht des Philoſophen, 
feine Bürger in die Befchäftigung mit der Siunenwelt zu verwickelu, 
ans der Weberzeugung, daß nur eine gründliche Geiftes- und Charak⸗ 
terbildung zu den höheren Aufgaben des Kriegers und bes Staats 
manns befähigen, und baß biefe mit bem Streben nach irdiſchem Ge⸗ 





zu Ah 





ber platonifche Staat in feiner Bedeutung ꝛc. 111 


winn,. mit einer Thätigkeit, welche den finnlichen Bepürfniffen und 
Begierben dient, unvereinbar fei. Wenn enplich jene Unterprüdung 
ver perjönlichen Intereſſen, welche in ber Aufhebung ber Ehe und bes 
Brivateigenthums ihren ſchroffſten Ausdruck findet, jene Rechtlofigfeit 
des Einzelnen in feinem Berhältnig zum Etaate uns nothwendig ab- 
ſtößt, fo ift fie doch nur das Aeußerſte einer Denkweiſe, welche dem 
Griechen eben fo natürlich war, wie fie uns fremd tft; denn daß bie 
Bürger um des Staates willen ba jeien, nicht der Staat um ber 
Bürger willen, daß dem Ganzen gegenüber fein Einzelner ein Recht 
babe, darüber war man m Griechenland einverftanden, und in Sparta 
befonvers näherte fich auch die beftehenve Sitte in vielen Beziehungen 
den platonifchen Einrichtungen. Es war z. B. gejtattet, im Fall dee 
Bedürfniſſes fremder VBorräthe, Werkzeuge, Hausthiere und Sklaven, 
wie der eigenen ſich zu bebienen; es war ben Bürgern der Beſitz 
von Gold und Silber unterjagt, ſtatt der edeln Metalle ward Eijen 
zu den Münzen verwendet; Die männliche Bevölferung wurde auch im 
Frieden durch Gemeinſamkeit ver Viahlzeiten, der Uebungen, ver Er⸗ 
bolungen, jelbft der Echlafjtätten dem Haufe faſt gänzlich entzogen, 
fie lebte, wie die platonifchen Strieger, in der Weife einer Beſatzung; 
ihre Erzichung war von ten Stinberjahren an eine öffentliche, und 
auch vie Mädchen hatten an ben Yeibesübungen theilzunchmen; bie 
Ehe wurde vom Staat überwacht, ein bejahrterer Mann konnte feiner 
Frau einen Freund zuführen, ein Kinderloſer von einem Andern bie 
feinige leihen; gegen Einjchleppung fremder Sitten, gegen Neuerungen 
aller Art wurden die ſtrengſten Magaßregeln ergriffen, Reifen in’s 
Ausland unterjagt, Dichter und Lehrer, von denen man einen übeln 
Einfluß fürchtete, des Landes verwiejen, einem Muſiker, welcher bie 
berfömmliche Zahl ter Suiten an der Lyra vermehrt hatte, Die über- 
zähligen abgefchnitten. Man ſieht deutlich, jene Einrichtungen und 
Grundſätze, die uns bei Plato fo ſehr befremden, waren in Griechen⸗ 
land nicht fo unerhört, fie ſchließen fihd an das Beſtehende an, fie 
find aus dem Boden des hellenifcben Stantswejens erwachſen. Wenn 
aber Plato in dieſer Richtung allerdings weiter geht, ale irgend ein 
Früherer, wenn er namentlich in der Weiber- und Gütergemeinfchaft 
alles Eruſtes Vorſchläge gemacht hat, wie fie vor ihm nur bie 
Laune eincs Ariftophancs, in anderer Art freilich, als Gipfel alles 


112- - — — 

ey 
pofitifchen Unfintis auf bie — gebracht hatte, fodfinbefnich bie 
In ven Verhältniſſen ver Zeit und in dem Geiſt ber platoni 
Philoſophie feine Erklärung. Einerfeits nämlich hatten lange und 
Schwere Erfahrungen feit dem Unfang bes peloponneflichen Krieges 
gezeigt, mit welchen Gefahren die Wohlfahrt der Staaten durch. bie 
Selbftfucht ver Einzelnen bebroht jei. Diejen Gefahren wollte Blato 


vorbeugen, indem er jener Selbſtſucht die Wurzel abjchnitt: er wollte 


buch gänzliche Aufhebung des Privatbefiges den Streit ver Privat⸗ 


Intereſſen gegen das allgemeine Intereſſe unmöglich machen, - Eitig- 
keit, fagt er, fet für ven Staat das erfie Bebürfnifz die wolle Einig- 
keit werde aber nur ba fein, wo Seiner etwas für ſich abe: Maike 
ging alfo ben gleichen politiſchen Fehler, wie ihu fpäter Meice Apr 
gangen bat, als er ven Uebeln der Revolution durch n 
Deſpotismus begegnen wollte, wie ihn tie Staatstänftler der 
heute noch täglich begehen, wenn fie bie Uebergriffe des Freiheitsſtre⸗ 
bene nicht. surch Befriedigung der begrünbeten und Abfchneirung un⸗ 
begründeten Forderungen, fondern durch Unterbrüdung aller Freiheit 
zu dämpfen verfuchen; mit dem wefentlichen Unterfchieb freilich, daß 
bei Plato mit der unbeſchränkten Herrſchermacht bie vollenkete Tugend 
und Einſicht, mit ven focialiftijchen Einrichtungen eine Erjlehung ver 

Staatsbürger verfnüpft fein fell, welche jeden Mißbrauch verfelben gu 
verhintern und bie äufßerfte Beſchränkung der perfänlichen Freiheit 
mit ihrem freien Wollen in Einklang zu bringen hätte Wit ben po- 
litiſchen Gründen wirkte aber hiefilt Plato’s philofophifche Eigenthüm⸗ 
lichfeit zufammen, und fie ift es, welche für die @eftaltung feines 
Staatsideals den Ausſchlag gab. Die Härten feiner Wörfchläge. be- 
ruhen in letzter Beziehung auf dem idealiſtiſchen Dualismus feiner 
ganzen Weltanſchauung. Wer nichts Höheres kennt, als die Betrach⸗ 
tung der allgemeinen Begriffe, nichts wahrhaft Wirkliches, als die 
außer den Einzelweſen für ſich beſtehenden Gattungen, wer in der 
Sinnenwelt nur die eutſtellende Erſcheinung der überfinnlichen, in ber 
Individualität nur eine Befchränfung und Trübung, nicht die uner- 
läßliche Bedingung für die Verwirklichung des Allgemeinen fieht, ber 
kann folgerichtig auch für's Praftifche feine freie Entwidlung ber 
Individuen zugeben; fondern er wird verlangen müſſen, baß ber 
Einzelne allen perfönlichen Wünfchen entfage und in felbjtlofer Hin⸗ 

















Pass: u m 
oo - . 


ber platonifche Staat in feiner Bedeutung :c. 118 


gebung fi zum reinen Werkzeug der alfgemeinen Gefege, zur Dar: 
ftellung eines allgemeinen Begriffs läutere. in folcher wirb daher 
auch im Staate nicht darauf ausgehen Können, die Rechte der Ein- 
zelnen mit Denen ver Gefammtheit verfähnend zu vermitteln, jene 
werben vielmehr in feinen Augen, diefer gegenüber, gar fein Recht 
haben, e8 wird ihnen nur die Wahl übrig bleiben, entweder auf alle 
Privatinterefjen zu verzichten und fi, alfo befähigt, in den Dienft 
bes Gemeinwejens zu jtellen, oder fofern fie dieß nicht wollen, ben 
politifchen Rechten und ver politifhen Wirkfamleit zu entfagen. So 
hängen bier die politifchen nnd gejellfchaftlichen Einrichtungen an ven 
erften Anfängen des Syſtems. Die Bepentung der Individualität, 
bie unendliche Mannigfaltigkeit und Bewegung des wirklichen Lebens 
vertannt zn haben, dieß ift der fchon von Ariſtoteles fcharf bezeichnete 
Gruntfehler ver platonifchen Metaphyſik und bes platoniſchen So- 
cialismus. | 

Doch hierüber ift auch fchon anderswo und von Anderen geſpro— 
hen worden, und nach diefer Seite hin feheint fich über ben platoni- 
fhen Staat unter den Sachverftändigen mehr und mehr eine allge: 
meine Uebereinftimmung zu bilden. Geringere Beachtung Hat bie 
jest das Verhältniß gefunden, in welchem verfelbe zu den Theo— 
rien und den Zuftänden ber Folgezeit fteht. Dieſer Gegenjtand fell 
baber bier in genauerer Ausführung ver Furzen Andeutungen, welche 
ih an einem antern Orte hierüber gegeben habe, befprochen werben. 

Was in diefer Beziehung unfere Aufmerffanteit zunächft auf fich 
zieht, das find die merhwürbigen Berührungspunkte zwifchen dem pla= 
tonifchen Staatsideal und dein, was fich ſpäter in der altchriftlichen Welt 
auf kirchlichem und ftaatlichem Gebiete geftaltet hat. Gleich der Grundge⸗ 
danke ver platonifchen Staatslehre hat mit der Idee ber chrijtlichen Kirche 
auffallende Aehnlichkeit. Der Staat ift nach Plato feiner eigentlichen 
Beitimmung zufolge nichts anderes, als eine Darftellung und ein Hilf- 
mittel der Sittlichkeit; feine höchſte Aufgabe befteht darin, feine Bür- 
ger zur Tugend und ebendamit zur Glüdfeligkeit zu erziehen; ihren 
Sinn und ihr Auge einer höheren, geiftigen Welt zuzuwenden, ihnen 
jene Seligfeit nach dem Tode zu fichern, welche fih am Schlufje ber 
Republit in großartigem Ausblid als der Gipfel alles menfchlichen 


Strebens darſtellt. Es Liegt am Tage, wie nahe biefer Staat bem 
Hiftorifhe Zeisfärift I. Band. 8 





114 


Reich Gottes“ verwandt "R 2 2 —— —— 
Airche fein will. Die theoretiſchen Boramsfehungen .unb. bie Geftalt 
beider find werfchleven, aber ihr Ghenubgebanle, ift derſelbe spin beiden 
handelt es ſich um ein ſittliches Gemeinweſen, eine. 
ftalt, deren letztes Ziel in einer jenfeltigen Welt Kege . 
Plato auch geradezu, es fei keine Rettung für wie Staaten, 
nicht, die Gottheit in ihnen bie Herrſchaft führe. ‚Siem ferner u, 
Herrſchaft bei Plato durch die Philoſophen ausgeht: werben-soll, weil 
fie allein im Beſitz ver hoͤheren Wahrheit find, fo nehm: Iucker 
mittelalterlichen Kirche die Priefter die gleiche Stellung eins ae. we 
jenen bie Krieger als vollziehende Macht zur. Seite treten,inift unch 
mittelalterlichen Begriffen ‚eben biefe die böchfte Aufgabe bei 
lichen Kriegerftanves, ver Ritter und’ Bürften, bie Kirche aus 
und zu jchügen, die Vorſchriften, welche fie. durch ben 
Prieſter erteilt, auszuführen. ‘Die drei mittelalterlichen Stände, ber 

Lehrftand, Wehrſtand und Nährftand, find im platonifchen Staat vor 
gebildet, uub vie Herrichaft des erfteren, welche fich in ver Wirklich 
feit allerdings nur theilweife durchſetzen ließ, ift wenigftens ven ihm 
felbft nicht minder entfchieven und aus ben gleichen Gränden ver 
langt worben, wie von Plate die der Philofophen: weil fie allein bie 
ewigen Geſetze Tennen, nach denen die Staaten, wie die Einzelnen, 
fich richten müfjen, um ihrer höheren Beſtimmmng zu entiprechen. 
Auch die Beringungen endlich, an welche dieſe hohe Gteliung- des 
Lebrftandes gelnüpft ift, find in ber mittelnsterlichen Kirche großen⸗ 
theils biefelben, wie bei unferem Philofophen, nur aus dem Grirchi⸗ 
ſchen in’s Ehriftliche überfegt; denn jene Gemeinſamkeit alles Beftges, 
welche Plato den Staaten als höchites Gut wünfcht, ift auch chriſt⸗ 
liches Ideal, und wenn biebei in ber chriftlichen Kirche der Begriff 
der Entjagung, ber freiwilligen Armuth, im platonifhen Staat ber ber 
Gütergemeinfchaft ſtärker hervortritt, fo hebt fich doch auch diefer Un⸗ 
terfchied wieder großentbeild auf: auch Plato verlangt ja von feinen 
Philoſophen und Kriegern, daß fie fich auf bie einfachjte Lebensweiſe 
zurüdziehen, unb auch vie chriftliche Kirche hat die geiftliche Armuth 
felbft in ven Bettelorven nur unter ber Form bes gemeinfchaftlichen 
Beſitzes zu verwirklichen vermocht. Selbſt die platonifche Weiberges 
meinfchaft fteßt aber dem Cölibat ihrem Weſen nach weit näher, als 



















ber platonifche Staat in feiner Bebeutung ıc. 115 


wen zunächit glauben möchte. Denn fürs Erfte find bie politifchen 
Gründe beider Einrichtungen bie gleichen: wie Plato feinen „Wäch— 
tern« bie Gründung einer Familie unterfogt, damit fie ganz und 
ausfchlieglich dem Staat gehören, fo zwang Gregor ber widerſtreben⸗ 
ij Weiſtlichleit den Gölibat auf, damit fie fortan ungetheilt ber 
e gehören fellte. Sodann handelt e8 fich ja aber auch bei Pla- 
t0’6 Weibergemeinfchaft Teincewegs darum, ver perfönlichen Neigung, 
oder gar ber finnlichen Begierde einen freieren Spielraum zu geben, 
fie von den Feſſeln der Ehe zu entlaften; ſondern es follen umge- 
kehrt bie perfönlichen Wünfche befeitigt, e8 follen die Bürger in ihren 
gefchlechtlichen Funktionen, wie in Allem, zu Organen des Staats ges 
macht werben, vie Ehe foll nicht Sache ver Neigung ober des In⸗ 
tereſſes, ſondern nur der Pflicht fein: es find Kinder zu erzeugen, 
wenn der Staat deren bevarf, und fie find mit denen zu erzeugen, 
welche ver Staat zur Erzielung eines Fräftigen Nachwuchles den Ein» 
zelnen zuweiſt. Plato verlangt demnach von feinen Bürgern eine 
Selbftverläugnung, eine Unterorduung unter das gemeinfame Intereſſe, 
bon welcher bis zur gänzlichen Enthaltfamfeit nur ein Schritt war; 
er würbe fein Bedenken getragen haben, auch biefe zu forbern, wenn 
fein Staat die Ehe entbehren könnte und wenn bie Afcefe ver fpätern 
Jahrhunderte fchon feine Sache gewefen wäre. 

Es find dieß aber Feine bloßen Analogieen, wie fie auch zwiſchen 
weit auseinanberliegenden Erfcheinungen in Folge eines zufälligen Zu- 
fammentreffens wohl vorkommen, ſondern es findet hier ein wirklicher 
Zufammenbang, eine Einwirtung bes Früheren auf das Spätere 
ftatt. Denn fo verfehlt es auch wäre, dem platonifchen Vorgang 
einen unmittelbar maaßgebenden Einfluß auf die Geſtaltung des chriſt⸗ 
lihen Kirchen» und Staatswefens zuzufchreiben, jo wenig läßt ſich 
andererſeits eine Verwandtſchaft beider verlennen, für welche wir bie 
Zwifchengliever noch großentheils nachweifen können, durch die fie ver- 
mittelt ift. Die platonifche Lehre ift eines der wichtigften von ben 
Bildungselementen des fpäteren Haffifchen Alterthums, eine geijtige 
Macht, deren Wirkungen weit über ben Kreis ver platonifhen Schule 
hinausgehen. Unter ven nachfolgenden Shitemen bat nicht blos das 
ariftotelifche, fondern auch das ftoifche, ihren Geift in fich aufgenom⸗ 


men, und das legtere beſonders bat für feine Moral der platonifchen 
8 * 











16 . Eu. ; 


Ethik ungemein viel zu verbanfen. Die Mloſophie War aber in den 
legten Jahrhunderten vor Chriftus bei alten Gebilbeteuijrjo. weit fie. 
griechifche Sprache und Literatur reichte, im Often unb im Weſten 
an bie Stelle ver Religion getreten, ober-fie hatte doch ihre Aufief- 
fung der Religion fo durchdrungen, daß non ben altem: | 
noch die Hülle übrig geblieben war; ihre weſentlichen Ergebnifſe uͤnd 
vor Allem ihre fittlihen Grunbfäge waren in bie afigemeine Bildung 
übergegangen, zur Weltreligion geworben. "Man brauchte gar nicht 
Bhilofoph von Profeffion zu fein, um an ihnen theilzunehmen? wer 
überhaupt das Bedürfniß eines höheren Unterrichts empfand ,: ber Be 
fndhte die Schulen ber Philofophen und las ihre Schriften; aber auch 
bie Grammatifer, die Rhetoren, die Gefchichtfchreiber, felbft die Adchto⸗ 
lehrer und bie Aerzte pflegten: ſich am philofophiiche Lehren arzulche 
nen und ihre Kenntniß vorauszufeßen. Diefe verbreiteten fich fo af 
hundert Wegen, und wie viel fie auch biebei an wiſſenſchaftlicher 
Strenge und Reinheit verlieren mochten: ihre praftifche Wirkung 
wurde unberechenbar erhöht. Auch das werdende Chriſtenthum Fonnte 
fih diefem Einfluß nicht entziehen; und es find gar nicht blos bie 
platonifirenden Theologen der griechifch-orientalifchen Länder oder bie 
gnoſtiſchen Selten, die ihn in Lie Kirche einführten: die griechifche 
Philoſophie hatte ſchon lange vorher zur Entftehung des Chriſten⸗ 
thums ihren Beitrag geliefert, und fie brang Jahrhunderte lang, wie 
ber Hellenismus überhaupt, deſſen edelſte Früchte fie in fich vereinigte, 
von ben verfchiebenften Seiten her in bie neue Religion ein. Schon 
das vorchriſtliche Judenthum war in ven belleniftifchen Kreifen mit 
griechifcher Bildung und Wiffenfchaft tief gefättigt; Millionen von 
Juden, ber größere Theil der jübifchen Nation, Iebten in Ländern, 
bie feit Alerander unter der geiftigen Herrjchaft Griechenlands ftan- 
ben, bie in ber Negel auch politifch von Griechen oder Halbgriechen 
beberrjcht wurden; und fehon der Verkehr des täglichen Lebens, ſchon 
bie griechifche Sprache, mit welcher die Meiften allmählig die ihrer 
Väter vertaufchten, in welcher fie allein noch ihre heiligen Schriften 
zu lejen verftanten, mußte unmerflich unenblich viel griechifche Ideen 
bei ihnen in Umlauf fegen, am Meiften natürlich in den von Juden 
bewohnten Hauptftäbten griechifcher Bildung, wie Wleranbria, wie 
Zarfus, diefer Sig einer berühmten Philofophen- und Rhetorenſchule, 









ber platonifche Staat in feiner Bedeutung ꝛc. 117 


wis in fpäteren Zeiten Nom, um anderer nicht zu erwähnen. Bald 
Begannen aber auch bie Zeiten, mit der griechifchen Wifjenfchaft als 
folcher ſich zu beichäftigen: es entitand eine jübifch« griechifche Philo- 
fopbie, welche bie jüdiſche Theologie mit den Ideen der griechifchen 
Philoſophen zu erfüllen, dieſe mit jener im Einklange zu bringen be= 
mäht war; wie weit man fchon um ven Anfang ver chriftlichen Zeit- 
rechnung auf viefem Wege fortgefchritten war, wie viel platonifche, 
puthagoräifche, ſtoiſche und peripatetifche Lehren tiefes ungläubige 
Jnudenthum im ſich aufgenommen hatte, zeigen die Schriften Philo's, 
des Alexandriners, ver aber varin nur ber beveutenbfte Vertreter 
einer weitverbreiteten ‘Denfweife gewefen iſt. Der Hauptfit biefer 
Schule war Alerandrien, dieſer große Knotenpunkt für die Kreuzung 
und Verſchmelzung der griechifchen mit ver orientalifchen Bildung; 
fie blieb aber nicht auf dieſe Stadt und nicht auf Aegypten befchränft, 
fie hatte vielmehr unter allen griechiſch redenden Juden zahlreiche Ans 
hänger, und felbft auf Paläftina und bie djtlichen Länder muß fich 
ihr Einfluß erjtredt haben. In enger Verbindung mit biefer theo- 
Iogifchen Schule fteht vie jüdiſche Sekte ver Efjener, welche im 
zweiten vorchriftlichen Jahrhundert zunächft, wie e8 fcheint, durch bie 
Einwirkung ver pythagoräifchen Myſterien und der damit verfnüpften 
Afcefe entjtanden war, welche dann aber, bei der allmähligen Bil- 
dung einer neuphihagoräifchen Philoſophenſchule, auch ar biefer mehr 
noch platonifchen als pythagoräiſchen Spekulation theilnahm. Diefe 
auch in Paläfting verbreitete Sekte war Allen nach einer der wich⸗ 
tigften von den Kanälen, durch welche bie griechifche Bilbung, und 
fomit auch die ethifchen und religiöfen Anfchauungen ver griechifchen 
Philoſophen in’® Judenthum einfteömten. Bon dem platonifchen Staats- 
ibeal finden wir bei ihr unter Anderem bie Gütergemeinfchaft, in ber 
bie Eſſener, als Vorgänger ver chriftlichen Mönche, in Höfterlichen 
Bereinen zufammenlebten. Gerade ber Eſſäismus feheint aber von 
Anfang an bei ver Ausbildung der chriftlichen Lehre in maaßgebender 
Weiſe mitgewirkt zu haben: vie Parthei ver Ehjoniten, welche ung 
fpäter als bie einzige Bewahrerin des urjprünglichen Judenchriſten⸗ 
thums begegnet, trägt alle Züge des Effäismus und unterfcheivet fich 
von ihm nur durch ven Glauben an Jeſus, als den Meſſias. Auch 
der Mann, welcher dem Chriſtenthum zuerft feine Stellung als Welt- 





118 E. Zeller, U 


religion erläͤmpft hat, der Apoſtel Paulus Mar tus AJe [chem 
vor feiner eigenen Ueberfieblung in bie hefletitfche Welt von dem Ein 
fluß griechifcher Bildung wenigftens mittelbar berührt worben; benz 
es läßt fih kaum denken, baß er fich viefem in feiner Baterftaht 
Tarfus ganz entziehen Konnte, und einem fchärferen Ange werben: Sch 
feine Spuren auch in den Briefen des Apoftels nicht verbergen. . Als 
aber, großentheil® durch ihn, die Ghriftengemeinbe den Heiden, und 
zunächft den Hellenen, geöffnet war, als biefe fich maſſenweiſe zu ihr 
herbeidrängten und die Zahl ver Natienaljuden innerhalb Derfelben 
bald um das Vielfache überwogen, ba war es ganz unvermeiblich, daß 
auch griechifche Anfchauungen bier mehr und mehr Eingang fanven. 
Die Neneintretenden,, nicht als Kinder im Chriftentbum unterrichtet, 
fondern in reiferen Jahren für basfelbe gewonnen, lonnten es natir⸗ 
ih nur von ihrem Standpunkt aus auffaffen, nur an bie Borfiels 
ungen, welche ihnen von früher ber feftitanvden, anknüpfen; und mö⸗ 
gen auch viele von ihnen immerhin vorher die Schule bes jübifchen 
Proſelytenthums durchgemacht haben, mochten fich auch längere Zeit 
nur wenige höher Gebilvete darunter befinden: die Einwirkung ber 
griechifchen Wiffenfchaft konnte dadurch zwar abgefchwächt, aber doch 
lange nicht befeitigt werben, und je mehr nachgehends auch Leute von 
wiffenschaftlicher Bildung dem neuen Glauben fich anfchloßen, um fo 
nachhaltiger und umfaffender mußte fie ausfallen. So finden wir 
denn wirklich fchon unter ven älteften chriftlichen Echriftwerten, ſchon 
unter ven Wortführern der Kirche im zweiten Jahrhundert, nicht wer 
nige, welche mit ver halbgriechifchen aleranprinifchen Schule nahe ver⸗ 
wandt find; und felbjt unter unfern neuteftamentlichen Schriften köon⸗ 
nen mehrere, wie der Ebräcrbrief und das vierte Evangelium, ihren 
Einfluß nicht verläugnen, mittelbar alfo auch die der griechtfchen Phi⸗ 
Iofopbie nicht. Wie beveutend dieſe aber in der Folge auf die Ge- 
ftaltung ver chriftlichen Glaubens- und Sittenlehre eingewirkt bat, 
ift befannt. Die ganze Philofophie der Stirchenväter und ein großer 
Theil ihrer Theologie, die ganze Scholaſtik ift nichts anderes, als ein 
großartiger, Jahrhunderte lang fortgefegter Verfuch, vie griechifche 
Philoſophie für die Fortwirkung und das Verſtändniß der chriftlichen 
Lehre zu verwenden. 





ber platonifhe Staat in feiner Bebentung sc. 119 


Dei Berhäktniffe muß man fich vergegenwärtigen, wem man 
ſich vie Bedeutung des Platonismus für das Chriftenthum, und fo 
auch den Zufammenhang der platonifchen Politik mit dem, was ihr 
auf chriftlichen Boden analog ift, Har machen will. War es doch 
gerabe ver Platonismus, welchem theils als folchem, theils in feiner 
Verbindung mit der ftoifchen und der neupythagoräiſchen Philoſophie 
in jenem großen Bilnuugsproceß, aus dem auch vie chriftliche Kirche 
und ihre Dogmatik bervorgieng, eine hervorragende Rolle zufiel, wel⸗ 
chem Jahrhunderte lang die bebeutendften unter ben chriftlichen Kir⸗ 
chenlehrern huldigten, welcher durch feine Wahlverwanttfchaft mit dem 
Chriſtenthum fich vorzugsweiſe eignete, zwiſchen ihm und bem Helles 
ntemus zu vermitteln. Plato ift ber erfte Urheber, ober wenigfteng 
, der bebeutenpfte Vertreter jenes Spiritualismus, welcher nicht blos 
ven Griechen, fonvern auch ten Juden urfprünglich fremd, in ven 
letzten Jahrhunderten vor Chriftus fich allmällg der Gemüther be- 
mächtigt, und durch das Chriſtenthum in weiten Kreifen die Herr- 
ſchaft erlangt hat. Er zuerft hat es andgefprochen, daß vie fichtbare 
Welt nur die Erjcheinung, und zwar die unvollfommene Erfcheinung, 
einer unſichtbaren jet, daß der Menfch aus dem Diesfeits in's Jen⸗ 
feits flüchten, da8 gegenwärtige Leben als Vorbereitung für ein künf⸗ 
tiges benüßgen folle; er hat jenen etbifchen Dualismus begründet, 
“welcher in ver Folge der vorher fehon in orientalifchen Religionen 
und orphiſchem Myſterienweſen vorhandenen Afcefe zur wiſſenſchaftli⸗ 
chen Rechtfertigung dienen mußte. Eben dieſe Ethik ift e8 aber, welche 
den hauptjächlichften Grund jener Eigenthüntlichkeiten enthält, in denen 
die platonifche Bolitit mit dem mittelalterlichen Kirchen- und Staats- 
wefen zuſammentrifft. Auf ihr beruht bort die Herrichaft ver Phi« 
Iofophen, bier die ber Priefter, denn wenn bie Einzelnen und bie 
Staaten die höchſten Geſetze ihres Thuns in einer jenfeitigen Welt 
zu fuchen haben, fo werben fie der Leitung berer folgen müſſen, wel⸗ 
chen jene höhere Welt, fei es von der Wiffenfchaft oder von der Ofs 
fenbarung, erfchloffen ift. Aus ihr ftammt in der altchriftlichen Sit- 
tenlehre die Forderung jener Weltentfagung, bie in einer mönchifchen 
Tugend ihren höchiten Ausdruck findet; in der platonifchen ver Grund- 
faß, daß ver Menfch auf alle perfönlichen Zwecke verzichten folle, um 
nur für's Ganze zu leben, tie Verfennung ber Rechte, welche ver 








120 E. Zeller, 

Individualität zufommen, und die Unterbrückung ihrer Sreihelt: Durch 
jene ethifchen Vorausfegungen war es bedingt, daß Plato feinem 
Staate das gleiche Ziel ſteckte, welches in ver Folge bie chriftliche 
Kirche fich geſteckt Hat, die Menfchen ſittlich und religides zu erziehen, 
fie mehr noch für's Jenſeits als für's Diesſeits zu bilden. Wem 
daher beide in vielen und eingreifenden Zügen zufammentreffen, fo ift 
pieß böchft natürlich: die fittliche Weltanficht, welche dem platoniſchen 
Staat zu Grunde liegt, hat ſich nachher, mit andern Elementen ver: 
fhmolzen, in ver chriftlichen Kirche weiter entwidelt; wer Bunte ſich 
wundern, baß ber gleiche Boden gleichartige Früchte getragen hat? 
Erjcheint doch unfer Philofeph auch noch in. mancher weitern Be⸗ 
ziehung als ein Vorläufer bes Chriſtenthums, welcher biefem: nicht 
etwa nur für feine äußere Ausbreitung im griechifchen Wolle den Weg 
geebnet, ſondern auch den, welchen «6 felbft in feiner inneren Gute 
wicklung zu geben hatte, theilweife worgezeichnet hat. Jene reine und 
erhabene Gottesidee z. B., welche an der Spike feines Syſtems fteht, 
war eine von ben eingreifenpften Normen ber altchriftlichen, wie ſchon 
ber jübifch -alerandrinifchen Dogmatik; jene Reform ber Volksreligion 
auf welche er in der Republik dringt, jene Befeitigung unmwürbiger 
Vorftellungen über tie Gottheit, tie er verlangt, ift vom Chriften- 
thum vollbracht worden; jenen fittlichen Geiſt, in dem er die Reli⸗ 
gion aufgefaßt wiffen will, hat es in fich aufgenommen; jene Gebot 
ber Feindesliebe, das eiue Perle ver evangelifhben Moral ift, finden 
wir vorher fhen, und in tiefer gruntfäglichen Allgemeinheit zuerſt 
bei Blato, wenn er (eben in feinem Staat“) ausführt, der Gerechte 
werbe auch dem Feinde nie Böſes zufügen, denn dem Guten komme 
es nicht zu, Anveres zu thun, als Gutes. Wer in ben Griechen nur 
nHeiben« zu fehen gewohnt ijt, vem mögen folche Züge, bie fich ohne 
Mühe vermehren ließen, befremben: einer wahrhaft hiftorifchen Be⸗ 
trachtung werben fie nur das Geſetz ver gefchichtlichen Continuität 
befräftigen. 

Weit entfernter ift das Verhältniß der Yplatonifchen Politik zu 
ben gegenwärtigen Zuftänben des Staats und der Geſellſchaft. Von 
einer Einwirkung Plato's kann hier kaum die Rebe fein, außer wie⸗ 
fern dieſelbe durch feine Bedeutung für die ältere Zeit vermittelt ift; 
bie Einrichtungen ver Gegenwart haben fich im Wefentlichen jelbftäne 





ber platonifhe Staat in feiner Bebentung sc. 121 


dig, auf Grund ber gegebenen Bebürfniffe, aus bem Mittelalter ent⸗ 
widelt, und bie politifche Speculation hat daran im Ganzen genom⸗ 
men einen geringen Antheil. Nur um fo merkfwürbiger ift es aber, 
wie Plato mit manchen von feinen Vorſchlägen der Sache nach auf 
das Gleiche Hinfteuert, was bie neuere Zeit in anderer Weife und 
meiſt aus anderen Beweggründen in’8 eben gerufen bat. Wenn ſchon 
Sofrates im Gegenſatz zur athenifchen Demokratie verlangt hatte, daß 
nur den Sachverftändigen ein Amt anvertraut und in öffentlichen 
Angelegenheiten eine Stimme eingeräumt werve, und wenn Plato in 
folgerichtiger Anwendung dieſes Grunpfages nur den Männern ver 
Wiſſenſchaft die Leitung der Staaten übertragen wiffen wollte, fo ift 
auch Bei uns in den meilten Ländern eine wilfenfchaftliche Vorberei— 
tung zum Staatsbienft worgejchrieben, es ijt die Staatsverwaltung 
aus der Hand des feubalen und vitterlichen Adels an vie neue Arijto- 
kratie des wiſſenſchaftlich gebildeten Beamtenftandes übergegangen. 
Wenn Plato einen abgefonverten Kriegerftand fchaffen wollte, ver fich 
feinem jonftigen Gejchäft widme, fo glauben auch fie ohne ftehenve 
Heere, und namentlich ohne einen eigenen berufsmäßig gebildeten 
DOffizierjtand nicht auskommen zu können; und ber burchfchlagendfte 
Grund dafür ift heute noch ver, welchen ſchon Plate geltend machte: 
baß die Kriegsfunft eben auch eine Kunſt fei, die Niemand gründlich 
verſtehe, ver fie nicht fuchmäßig erlernt Habe und als Xebensberuf 
treibe. Wenn Plato ferner, im Zuſammenhang damit, die öffentliche 
Erziehung, über vie bei ven Griechen herfömmlichen Unterrichtsgegen- 
ftände, Muſik und Gymnaſtik hinausgreifend, auf die mathematifchen 
und pbilofophifchen Fächer, mit Einem Wort, auf die gefammte Wiſ⸗ 
fenfchaft feiner Zeit ausbehnt, fo haben vie heutigen Staaten biefes 
Bedürfniß ſchon längft durch die Gründung von wiffenfchaftlichen 
Anftalten aller Art anerkannt. Unfer Philoſoph freilich würde fich 
durch die Urt, wie feine reale unter uns verwirklicht find, ſchwer⸗ 
lich befriedigt finden; er würde Mühe Haben, in ter Bevölferung 
unferer Kanzleien feine philoſophiſchen Regenten, oder in unſern Ka⸗ 
fernen die Orte zu erfennen, in denen die Krieger, wie er will, vor 
allem Anhauch des Gemeinen bewahrt, zur fittlihen Schönheit un 
Harmonie erzogen werben follen,; er würbe wohl auch auf unfern 
Univerfitäten, wenn er Manches, was da vorkommt, mitanfühe, ers 





122 €. Beer, 


ftaunt fragen, ob dieß bie Früchte ber Philoſophie feien, ja er würbe 
Grund genug haben, hinzuzufügen, wo denn für bie Meiften, neben 
den hundert Specialitäten, bie ihre Zeit ausfüllen, vie Philoſophie 
jeldft, vie Einheit und der Zuſammenhang aller Wiſſenſchaft bleibe; 
davon nicht zu reden, daß er von nnferen vier Falultäten bie brei 
oberen als folche ftreichen wärbe: denn eine Theologie, die etwas 
anderes, als Bhilofophie fet, würbe er Mütbologie nennen, und was 
die Yurisprubdenz und Medicin betrifft, fo tft er der Meinung, 
Nechtsftreitigkeiten würden in feinem Staat feine vorkommen, umb 
für die Krankheiten werden wenige Hausmittel genügen: went bamit 
nicht zu helfen fei, ven möge man getroft fterben laſſen, da es fl 
nicht verlohne, fein Leben in ber Pflege eines fiechen Körpers hinzu⸗ 
Schleppen. Aber bieß thut ver Thatſache Leinen Eintrag, daß er doch 
Schon manche von den Zielen in's Auge gefaßt bat, welche pie Nen- 
zeit, in ihrer Art freilich und mit anderen Mitteln, verfolgt. Sp 
liegen auch Plato’8 Beitimmungen über die Erziehung und bie Be⸗ 
fchäftigung bes weiblichen Gefchlecht® zwar von unfern Begriffen und 
Gewohnheiten weit genug ab; denn für uns freilich nimmt fich vie 
Forderung -feltfam aus, daß die Frauen Staatsämter begleiten und 
mit zu Felde ziehen follen, fei e8 auch nur (wie er einmal vorfichtig 
beifügt) in ver Neferve; auch ein ftrengerer wifjenfchaftlicher Unter: 
richt verfelben wird troß aller Schrifttellerinnen und gelehrten Das 
men, die wir befiten, fchwerlich je eingeführt werben, und wenn bie 
Gymnaſtik in den weiblichen Crziehungsanftalten immerhin einen 
nütlichen Unterrichtsgegenſtand bilvet, fo würben wir uns doch an 
ter platonifchen Borausjeßung, daß fie in verjelben Weiſe betrieben 
werde, wie in Griechenland unter den Männern, mit Recht ftoßen, 
und und mit Plato’8 Auskunft, vaß die Bürgerinnen feines Staats 
ftatt eines Gewands in ihre Zugend gehülft feien, nicht begnügen. 
Aber indem er, al® einer der Erften, einer jorgfältigen Erziehung des 
weiblichen Geſchlechts, feiner geiftigen und fittlihen Bildung, feiner 
wejentlichen Gleichitellung mit dem männlichen das Wort redet, geht 
Plato über vie Sitte und vie Anficht feines Volks ebenfoweit hinaus, 
als er fih der unfrigen annähert. Auch das erinnert ganz an mo⸗ 
derne Zuftände, wenn er für alle Gedichte, Echaufpiele, Muſikſtücke 
und Kunftwerle eine Cenfur eingeführt willen will, orer wenn er in 





der platonifhe Staat in feiner Bebentung ıc. 128 


- den „Geſfetzen“ ven Borfchlag macht, eine Sammlung von guten 
Schriften und Kernliebern, ſammt Melodieen und Tänzen, zum Ger 
branch für die Bürger, und namentlich auch zu Schulzweden, von 
Staatöwegen zu veranftalten. Noch das Eine und Andere der Art 
ließe fich beibringen, fo 3. B. feine Vorfchläge für Einführung eines 
wenfchlicheren Kriegsrechts; doch mag es an dem Angeführten genug 
fein. 

Dagegen viren wir das Verhältniß ber platonifchen Darſtell⸗ 
ung zu jenen politifchen und focialen Dichtungen nicht übergeben, 
welche die neuere Zeit in fo großer Anzahl hervorgebracht hat. Alle 
dieſe Staateromane, von der Utopia des Thomas Morus bis anf 
Cabet's Jearien herab, find nach Inhalt und Einkleivung Nachahm⸗ 
ungen ber platonifchen Republik und ver Schrift, welche ven Staat 
der Republik in gefchichtlicher Form ſchildern follte, welche aber von 
Plato nicht vollendet wurde, des Kritias. Im ihnen allen find es 
politiiche Ideale, welche mit größerer oder geringerer Freiheit ausge⸗ 
malt werben, und in allen laſſen fich vie bekannten Züge des plato- 
niſchen Typus bald volljtändiger bald unvollftändiger wiedererkennen: 
bei dem einen bie Herrichaft ver Philofophen und Gelehrten, bei an⸗ 
bern die Aufhebung des Familienlebens und des Privateigenthums, 
bie Gemeinfamfeit ver Wohnungen, ver Mahle, ver Arbeit, ver Er⸗ 
ziebung, da und bort felbft der Frauen. Aber Ein wefentlicher Uns 
terfchien ift es, der fie alle in ihrer inneriten Tendenz vom platoni⸗ 
fchen Staat trennt. Plato's leitende Idee ift, wie bemerkt, vie Ver⸗ 
wirklichung der Sittlichleit durch den Staat: der Staat foll feine 
Bürger zur Tugend beranbilden, er ift eine großartige, das ganze 
Leben und Dafein feiner Mitgliever umfafjende Erziehungsanitalt. 
Diefem Einen Zweck haben alle anderen fich unterzuorbnen, ihm 
werben alle Einzelintereffen rückſichtslos geopfert: nur um bie Glüd- 
feligteit und Vollkommenheit des Ganzen könne es fich für ihn han⸗ 
deln, fagt Plato, ver Einzelne habe nicht mehr anzufprechen, als mit 
der Schönheit des Ganzen fich vertrage. Er trägt daher nicht das 
mindefte Bedenken, eine Taftenartige Ungleichheit der Stände und 
eine unbebingte Selbftentäußerung aller Bürger zur Grundlage ſei⸗ 
ned Staatsweſens zu machen. Bel ven modernen Staatsromanen 
umgelehrt,, faft ohne alle Ausnahme, iſt es gerade das Verlangen 








124 E. Selen, 


nach allgemeiner und gleichmäßiger Theilnahme an den @enäflen des 
Lebens, was die Unzufrievenheit mit den beftehenven Zuftänben er⸗ 
zeugt und bie Ideale hervorruft. Plato will pas Privatinterefie auf⸗ 
heben, feine modernen. Nachfolger wollen es befriebigen; jener ſtrebt 
nach Vollkommenheit des Ganzen, diefe nach Beglädung ber Einzel- 
nen; jener behandelt den Staat als Zwei, vie Perfon ale Mittel, 
biefe die Perſonen als Zwed, den Staat und die Gefellichaft. ai 
Mittel. Die meiften unferer Soctaliften und Communiſten fprechen 
bieß offen genug aus: möglichft viel Genuß für den Einzelnen, mb 
deßhalb gleich viel Genuß für Alte ift ihr Wahlſpruch. Aber wenn 
auch die Schlagwörter bei Einzelnen anders lauten, bie praltifchen 
Borichläge felbft zeigen zur Genüge, anf was es in letzter Beyiefung 
abgefeben ift; mag man auch von Brüderlichkeit reden: wenn dieſe 
im Communismus beftehen foll, jo Liegt am Tage, daß es fich nicht 
fowohl um die Erfüllung einer Pflicht handelt, ald um bie Befriedi⸗ 
gung eine® Wunfches; mag man auch gegen ven Individualismus 
der Zeit zu Felde ziehen, wie St. Simon: vie Rehabilitation des 
Fleiſches tft nicht der Weg, ihm zu fteuern. Die Glüdjeligleit ver 
Einzelnen ift e8, auf welche hier Alles berechnet iſt, und fchon der 
Bater biefer ganzen Kiteratur in der neueren Zeit, Thomas Morus, 
bat dieß ausgeſprochen; denn ausprüdlich bezeichnet er vie Luft ale 
ben höchiten Zweck unferer Thätigkeit, und wie fehr er im Uebrigen 
Blato folgen mag, fein ethifches Princip ift eher epikuräifch, als pla⸗ 
tonifh. Weiß doch felbft ein fo ftrenger Moralphiloſoph wie Fichte, 
feinen „gefchloffenen Handelsſtaat,“ bei aller Unausführbarteit doch 
vielleicht das befte und jedenfalls eines der bejonnenften unter ben 
focialiftifchen Staatsidealen, nur mit dem Sat zu begründen, daß 
Jeder fo angenehm leben wolle, als möglich. Wir find weit entfernt, 
bieß ben modernen Theorien fofort zum Vorwurf zu machen: ber 
Gefichtspunft, von dem fie ausgehen, ift in feinem Grunde wahr 
und berechtigt, wenn er auch nicht die ganze Wahrheit enthält, und 
burch Uebertreibung nicht felten zu viel Verkehrtem geführt hat. Doch 
wie dem fein mag: der Werth oder ver Unwerth jener Theorien foll 
bier nicht unterfucht werden, fonbern wir vermweifen nur deßhalb auf 
ihre allgemeinere Tendenz, um ihr Verhältniß zum platonifchen Staat 
zu beleuchten. Dieß ift aber in letter Beziehung das gleiche, wel⸗ 





+ _ 
— 


ber platoniſche Etaat in feiner Bedeutung ꝛec. 135 


ches überhaupt zwifchen unferer Auffaffung des Stantslebens und ver 
helleniſchen ftattfindet. Denn der burchgreifenpfte Unterſchied beider 
ltegt weniger in ven -Berfaffungsformen, als in ver Stellung, welche 
dem Staatöganzen zu ben Einzelnen, ihren Rechten und ihrer Thä⸗ 
tigkeit gegeben wird. Für unfere Anfchauungsweife baut fich ber 
Staat von unten ber auf: die Einzelnen find das Erfte, ver Staat 
entſteht Dadurch, daß fie zum Schuß ihrer Rechte und zur gemeitt« 
famen Förderung ihres Wohls zufammentreten. Ebendeßhalb bleiben 
aber. auch vie Einzelnen der legte Zweck des Staatslebend; wir ver⸗ 
langen vom Staat, daß er der Geſammtheit feiner einzelnen Ange⸗ 
hörigen möglichit viel Freiheit, Wohlftand und Bildung verfchaffe, 
mic wir werben und nie überzeugen, daß e8 zur Volllommenheit des 
Staatöganzen dienen könne, oder daß es erlaubt fei, die wefentlichen 
Rechte und Intereffeh ver. Einzelnen feinen Zwecken zu opfern. Dem 
Griechen erfcheint umgefehrt der Staat als das Erfte und Wefents 
lichfte, der Einzelne nur als ein Theil des Gemeinweſens; das Ges 
fühl der politifchen Gemeinfchaft ift in ihm fe ftark, vie Idee ber 
Berfönlichkeit tritt dagegen fo entfchieven zurüd, daß er fich ein 
menfchenwürbige® Daſein überhaupt nur im Staat zu denken weiß; 
er Tennt feine höhere Aufgabe, als die politifche, kein urfprüngliches 
red Recht. als das des Ganzen: der Staat, fagt Ariftoteles, fei feis 
ner Natur nach früher, al8 die Einzelnen. Bier wird baher ver 
Perſon nur fo viel Recht eingeräumt, als ihre Stellung im Staat 
mit fich bringt: es giebt, ftreng genommen, Leine allgemeinen Mens 
fchenrechte, fondern nur Bürgerrechte, und mögen bie Iutereffen ver 
Einzelnen vom Staat noch fo tief verlegt werben, wenn das Staats⸗ 
Intereffe dieß fordert, Können fie fich nicht beffagen: ver Staat ift 
der alleinige urjprüngliche Inhaber aller Rechte, und er tft nicht 
verpflichtet, feinen Angehörigen an bvenfelben einen größeren Antheil 
zu gewähren, als feine eigenen Zwecke mit fich bringen. Auch Plato 
theiit diefen Standpunft, ja er hat ihn in feiner Republik auf bie 
Spike getrieben. Andererſeits erfennt er aber freilich zugleich an, 
baß eine wahre Sittlichleit nur durch freie Ueberzeugung, durch das 
eigene Wiffen der Einzelnen möglich fei, daß fich auch vie politifche 
Tüchtigkeit durch eine gründliche wiffenfchaftliche Erfenntniß vollen- 
den, die gewöhnliche und gewohnheitsmäßige Tugend fih durch bie 





126 €. Zeller, 


Philoſophie läntern und befeftigen müſſe; und ebendeßhalb iſt ber 
Grundſtein ſeines Staates die philoſophiſche Bildung der Regenten, 
ebendeßhalb werden alle Andern von jedem Antheil an ber Staats- 
verwaltung ausgeſchloſſen. Damit ift offenbar jener altgriechiiche 
Standpurfit, welchen Plato in anderer Beziehung feſthält, wieber 
verlaffen, ver Schwerpunft bes Staatslebens ift in die Einzelnen, in 


ihre Bildung, ihre wiſſe zeugung verlegt. Aber fich 
diefer Richtung ganz zu em Bhilofophen unmöglich; 
dazu ift ber helleniſche nd feinem Syſtem noch zu 
mächtig. So jteht er se ziveier Zeiten, und wäh— 
zend er felbit mit allı eitet, eine neue Bildungs- 
forın heraufzuführen, eich alle die Intereffen, auf 
welche die neuere Zeu en weiß, bem Geift feines 
Volles willig zum Opf aber verfteht man ihn blos 


halb, wenn man mm feine Bebeutung für jeine Zeit im’s Auge 
faßt; das Innerſte feines Weſens gehört, wie bei alien bahnbrechen⸗ 


ven Geiftern, d der Zukunft. 








IV. 


: Die Königinhofer Handſchrift und ihre Schweitern. 
J— | Bou 
M. Büdinger. 


Seit einiger Zeit hat fich in Prag ein lebhafter Streit über vie 
Echtheit einer Anzahl altböhmifcher Dichtungen erhoben, welche feit 
etwa vier Jahrzehnten zum Vorſchein gekommen find. Die Einen 
erflären diefe Dichtungen ſämmtlich für kecke Fälfchungen und nehmen 
feinen Anftand, auf eine noch lebende Perfönlichleit als Hauptfchulbi- 
gen hinzuweiſen; die anderen erklären ſich von der Echtheit ber be- 
treffenden Denkmale überzeugt und fehen in ben Zweifeln ver Gegner 
gerabezu Beleidigungen ber cechifchen Nationalität. Die Angreifer haben 
in dem Prager „Tagesboten- einen fehr gewandten Sprecher gefun- 
ben; bie Sache ver Vertheidigung hat der Gefchichtfchreiber Böhmens, 
Herr Palady, in dem Tagesblatte Bohemia (Nr. 288, 289, 292) 
übernommen, mit ver fchlieglichen Erklärung freilich, daß er „von nun 
an alle weitere Betheilung an bem ferneren Streite in biefer Cache 
aufgebe« und ven Gegnern es überlaffe, ihn dafür nach Belieben zu 
behandeln. 

Es würbe für den Referenten nahe genug gelegen haben, feine 
Meinung über ven Gegenftand unverhohlen zu jagen, nachdem er in 
feiner öfterreichifchen Gefchichte durch beinahe gänzliche Ignorirung 
jener Schriftſtücke ven Werth, den er ihnen beimißt, angedeutet hatte; 
doch beabfichtigte er num gelegentlich auf biefelben näher einzugehen. 
Er verzichtete vorläufig auf eine Betheiligung an der Sache, zum 
Theil mit Nüdficht auf vie angeführte Schlußerflärung bes Herrn 








128 M. Bübinger, 


Palady, ven Ref. unter den Vertheibigern ausfchließlich als competent 
betrachten kann, bie Streitfrage vom Hiftorifchen Standpunkte zu be- 
antworten; zum Theil auch, weil ihm vie Agitation in Tagesblättern 
und öffentlichen Verfammlungen wenig zufagt, burch welche die ganze 
Natur einer Disfuffion verändert wirb, die nur burch nüchterne Er⸗ 
wägung in einem engen Sreife von Sachverftänbigen zu einem Ziele 
gebracht werben kann. Nach einer Aufforderung des verehrten Herrn 
Herausgebers dieſer Zeitſchrift, in derſelben feine Anficht auszuſpre⸗ 
chen, glaubte er aber nicht länger ſchweigen zu bürfen. 

Nach ven einfachften Grundſaͤtzen des Kritik muß man In zwei⸗ 
felhaften Tragen allemal von etwas völlig Sicherem und Unbeſtritte⸗ 
nem ausgehen, um einen Maaßſtab für die Beurtheilung des Unfichern 
und Zweifelhaften zu gewinnen. Bei Schriftftüden von zweifelhafter 
Echtheit fommt aber zu der fachlichen Beurtheilung noch bie derjeni⸗ 
gen Perjon, welche mit denfelben zuerft hervorgetreten ift. Glücklicher 
Weiſe können wir in beiden Bezichungen fichern Boden gewinnen. 

In der Zeitfchrift des böhmischen Muſeums vom Jahre 1849 
(S. 138—140) findet fi ein Gedicht, welches ver Bibliothekar Die 
ſes Muſeums, Herr Hanka, in Iateinifcher und böhmifcher Sprache 
auf dem BVorftehblatte einer Handfchrift der genannten Anftalt gefun- 
ben haben will. Er leitet feine Entvedung mit einer gelehrten Unter« 
fuchung über das Alter des Schriftftüdes ein, das er aus päleogras 
phiſchen Grünten dem Ente tes 14. oder Anfange des 15. Jahr⸗ 
hunderts zumweift. In Bezug auf die Zeit der Abfaffung getraut er 
fich nicht, eine beftimnite Meinung zu äußern: Einiges weife auf bie 
Regierungszeit Karls IV., Anderes auf die Anfänge feines Vaters 
— (Erwägungen, beren vernünftige Methode von nicht geringem 
Werthe für unfere Frage ift, und auf bie wir weiter zurüdfommen 
werben. 

Was nun das Gedicht jelbft betrifft, fo ift e8 eine Impoſtur, 
wenn je eine gewagt worden ift; auch wird viefelbe, fo viel mir bee 
Int, allgemein zugeftanden, wie wir benn nicht zweifeln, daß auch 
Die Balady, trot feiner in Bezug auf biefe Frage etwas ausweis 
enden Aeußerungen (a. a. O.) nicht anders barüber denkt. Wir 
mäffen ven Lefer bitten, fich einen Auszug aus biefem Machwerke 


gefallen zu lafien. 








Die Königinhofer Handſchrift und ihre Schweftern. 129 


"Die Weiffagnng der Lubuffyau, im Iateinifchen Zexte in 
fehr fehlerhaften leoninifchen Herametern abgefaßt, geht davon aus, 
daß Königin Elifabeth ') glänzende Nachlommenfchaft gebären werbe, 
welche ſehr viele Neiche inne haben folle. Die Hauptfache aber ift 
— und die Nußanwentung auf Ereigniffe der Jahre 1848 und 1849 
liegt nur zu nahe —: ihr Exarch, wie der lateinifche, over ihr Erft- 
geborner, wie ver böhmifche Text ſagt, wird als Monarch die Welt 
regieren, weife fein, bie Tobenden fich unterwerfen, fein Reich wird 
wohl jtehn, die Deutſchen wird er verjagen*), die Böhmen wirb er lie- 
ben, adie jett zu nichts geworden find und Anteren unterworfen“, 
er wird fie erhöhen und mächtig machen ?), er wird die ganze Welt 
befiegen; auch wirb er den Sultan bezwingen und Pluto’ Amtmann 
vertreiben. 

Es ift gleichgiltig, ob Hr. Hanka dies Gebicht verfaßt hat ober 
nicht: auf alle Fälle hat er dem Publifum eine ganz moberne Fäl⸗ 
ſchung vorgelegt, welche daſſelbe berechtigt und verpflichtet, alle an« 
beren aus feiner Hand empfangenen Gaben mit befonderer Vorficht 
aufzunehmen. 

Die bedeutendſte unter dieſen Gaben, ſowohl dem Umfange als 
dem Inhalte nach, iſt aber die Königinhofer Handſchrift, welche uns 
zunächſt beſchäftigen ſoll. Beides, ſowohl die Art, wie dieſelbe ge 
funden wurde, als ihr Inhalt, geben ſehr ernſten Bedenken Raum. 

Ueber die Auffindung laſſen wir lieber Hrn. Swoboda reden, 
welcher den betreffenden Schatz dem deutſchen Publikum durch Ueber⸗ 
ſetzung zugänglich gemacht hat‘): „Am 16. September 1817 zum 
„Beſuche bei einem Jugendſreunde in ver Föniglichen Leibgedingsſtadt 
„Königinhof, vie einft Zizkas ſchweren Grimm erfahren, hört er“ 
(nämlich „Freund W. Hanfau), daß in einen niebrigen Mittelge- 





) Eliſabeth, die Tochter K. Wenzel’s I1., am 1. September 1310 mit Jo⸗ 
hann von Luremburg vermäpft, flarb am 28. September 1330. Sie 
war Karl's IV. Mutter. 

?) Lateiniſch: Abjuret extremos (i. e. abjurabit externos), bohmiſch 
rozezene Nömce. 

.3) Ty wzwelbf wzmorzi; im lateinifhen Tert flieht nur: hos peragrabit 

% Die Königinhofer Handſchrift, Prag 1829 &. VII. 

Hißoriſche Zeitfrift 1 Band. 9 








130 "TE Bübinger, 


"wölbe des Kirchenthurms - unter dem Muſikchore eine Sammlung 
"Pfeile liege aus ven Zeiten jener unbeilvollen Zerftörung der Stadt. 
„Er wünfcht fie zu fehn und wie er baruıter wühlt, ftößt er auf 
weinige Blättchen Pergament. Er fieht fie befchrieben mit Lateinifcher 
"Schrift, im belleren Raum der Kirche findet er, daß bie 
«Hanbfchrift böhmiſch fei, und bald hat er ven Inhalt entziffert, ver 
«ihn mit Begeifterung erfüllt.« 

Erregt nun fchon dieſe Art ber Auffindung mancherlei Bedeulen 
— tenn außer ter Höhle, in welcher Simonides einen Theil feiner 
Manufcripte gefunven haben will, ift ung Webnliches nicht befannt — 
fo ift der Anhalt des Fundes fehon nach feiner allgemeinen Natur 
und Anordnung nur geeignet, viefelben zu vermehren. 

Die zwölf Blättchen in Duodez nebft zwei ſchmalen Streifen, 
mit Schriftzügen ans tem Ende des 13. ober Anfange des 14. Jahr⸗ 
bunverts, welcde tie Hanpfchrift bilden, enthalten ſechs epifche und 
acht lyriſche Lieder. Auf die Icgteren kommen wir fpäter zurüd; von 
den erfteren gehören drei in eine worchriftliche Zeit. 

Diefe drei Lieber nun, teren Inhalt vor den Ausgang des neun. 
ten Jahrhunderts fallende Ereigniffe betrifft, wurben bereits im J. 
1829 von Hrn. Palady bei einer Beiprechung ber Königinhofer Hand— 
Ichrift in den Wiener Yahrbüchern in überzeugentfter Weife für Dich- 
timgen ertlärt, welde ohne Kenntniß der wahren Verhältniffe weit 
fpäter, als bie Ereigniffe, vie fie ſchildern, abgefaßt fein müßten. 
Hr. P. wollte fie erjt dem zwölften over breizcehnten Jahrhundert 
zuweiſen. "Man hatte zwar«, um feine eigenen Worte zu gebrauchen, 
„dagegen eingewenbet, ber Geſang athme einen zu lebendig-heidniſchen 
"Zinn, al8 daß man einen Dichter aus jener chriftlic frommen Zeit 
„zu deſſen Verfaſſer machen dürfte/ — ein Einwand, beffen unzwei- 
felhafte Richtigkeit Jedermann leicht einficht. Und wenn Hr. Palacky 
diefen Einwurf mit der Erwiderung abzuweijen fucht, daß doch, falls 
berjelbe begrüntet fei, „bie Tradition dieſer Gefänge durch vier Jahrhun⸗ 
berte auch nicht denkbar⸗ fei, jo fann man fich nur wunbern, daß ver ge- 
lehrte Recenfent nicht ven nächften Schritt that und, durch Conjtatirung 
biefer auffallenvden Thatfachen veranlaßt, nicht überhaupt an der Aechtheit 
ber Gedichte zu zweifeln begann. Denn eben diefe Thatfachen müſſen 
ben Unbefangenen doch Gedichten gegenüber, in welchen von Göttern 





Die Königinhufer Handicrift und ihre Schweftern. 131 


Tbieropfern, heiligen Vögeln jo oft die Rebe ift, höchſt bedenklich ma— 
chen. In den ferbifehen Volfslievern find, mit Ausnahme der noch 
heute in ven Borftellungen des Volkes lebenden, immerbin nur halb- 
göttlichen dämoniſchen Wilten tie heidnifchen Gottheiten äußerlich 
ganz verfchwunten und ihre Attribute, theil® auf die Helven ver Na- 
tion, theils auf S. Johannes, theils auf die Gottheit felbft üfer- 
tragen. 

Eben diefe Reminiscenz an vie ferbifchen Volkslieder gibt aber 
Gelegenheit zu einer weitern Bemerkung. Die zahlreichen altböhmi- 
fchen Dichtungen aus dem vierzebnten und zum Xheil wohl auch dem 
Ausgange des breizehnten Jahrhunderts, welche fich anverweitig cr- 
halten haben, find ausnahmslos in der Form und ohne Zweifel nach 
ben Mufter ver deutſchen Reimpaare verfaßt, je aus acht Sylben 
mit meiſt klingendem, jeltener mit ftumpfem Endreim bejtehend — 
denn biefe Bezeichnung ift entjprechenter, al8 von vier Hebungen ober 
gar Trochäen zu reden. Es find Dichtungen der verfchiedenften Art, 
geijtliche und weltliche, Ueberfegungen und freie Compofitionen: dieſes 
Geſetz aber halten fie alle ein. In ven Helvengevichten ver Känigin- 
bofer Handſchrift vagegen findet fi), und zwar in zmei Blebern un- 
unterbrochen, das zehnfylbige ungereimte Metrum mit einer Cäfur 
nach der vierten Sylbe, welches in den Heldengeſäugen der Serben 
überall herrfcht, und eben nur bei diefen allein, unter allen Slaven, 
üblich ift. Bekannt wurde es, wie Jedermann weiß, erft wenige Jahre 
vor dem Erſcheinen der Königinhofer Handfchrift, aber Herr Wuf 
Steph. Karadſchitſch mit unvergleichlidher Gewilfenhaftigfeit und aus 
reinfter Vaterlandsliebe dieſe Heldenliever fo veröffentlichte, wie er 
fie aus Volkes Munde geſammelt hatte. Man wird es daher fehr 
begreiflich finden, wenn ein Verehrer dieſer ferbifchen Volksdichtung 
wie Stopitar, dem auch bie früher erwähnten Bedenken nicht unbefannt 
waren, bie neue böhmifche Entdeckung fchlechtiweg für eine Fälſchung 
und für eine Nachahmung der Serbenlieder erklärte. 

Da aber dieſer ausgezeichnete Mitbegründer ver flawifchen Phi« 
Iologie feinen Ausspruch nicht weiter zu erklären für gut gefunden 
bat, fo mußte er fih von den Vertheidigern den Vorwurf gefallen 
laſſen, es feien nicht wiffenfchaftliche Gründe, bie ihn veranlaßt hät- 
ten, fondern Neid gegen bie Böhmen und ihre Literatur. Es foll 

⸗ 9* 


132 M. Bübinger, 





uns freuen, wenn wir im Stande find, durch ſtricken Bavers feinen 
Maren gerecht zu werben, 

Waren nämlich vie Art der Muffindung, Die begeifterten Remis 
niscenzen an das Heibenthum, die metrifche Form ſchou bebenkliche 
Faktoren für den unbefangenen Benrtbeiler des neuen Schabes, fo 
kommt auch ohne weiteres Gindringen in Einzelnheiten gleid; noch 
ein vierter in der Anorbnung hinzu. Die Handſchrift gibt ſich mäme 


lich als Fragment bes pritten r Sammlung zır erfennen, 
die man mit Hrn. Palady auf e Blätter in ihrer urfprüng- 
lichen Geſtalt veranfchlagen m | er Jahrb. 1829 ©, 139). 
Was muß das aber für ein San efen fein, der bie drei Ge- 
dichte der vorchriftlichen Zeit zu ı Kapitel dieſes dritten Bu— 
ches machte, zwei Gedichte über en Mongolen und Sachen, 
deren Inhalt den dreizehnten : angehört, als 26, Stapitel 
davor feste? Der dann ji " el vierzehn lyriſche Lieber 


machte? Die epifchen Gedichte N zufällig Dinge, bie ander- 
weitig mehr oder weniger bezeugt find, behandeln Gegenftände aus 
fünf Jahrhunderten und jollen nur zwei Kapitel eines dritten Buches 
gefüllt haben? 

Aber Hr. Palackh hält uns einen Beweis entgegen, der uns, 
wenn er begründet ift, nur die Alternative läßt, einen Fälſcher anzu- 
nehmen, deſſen biftorifche Kenutniffe die des Hrn. P. überragen — und 
ein folcher dürfte nicht zu finden fein — over troß unferer ſchweren 
Bedenken, die Wechtheit ver Handfchrift zuzugeftchen: es enthält bier 
felbe nach feiner Anficht Thatfachen, welche 1817 Niemand Tannte 
und die Forſching erft ſeitdem zu Tage gebracht hat. Es find drei 
Punkte, welde Hr. B. betont und die auch wir demnach in Betracht 
ziehen müſſen. 

Chronologiſch müffen wir das Fragment „Jarmir und Olds 
richu zuerft betrachten, welches die Wiebereinfegung des Herzogs Jaro⸗ , 
mir im %. 1004 feiert. Es verjteht fi, daß von König Heinrich II. 
von Deutfchland, welcher ven Premysliden zurüdführte und mit Bes 
geifterung in Prag empfangen wurde, überhaupt gar nicht die Rede 
ift; aud wird die Einnahme von Prag mit ganz anderen Umftänben 
erzählt, als von dem jenen Greigniffen gleichzeitigen beutfchen Ger 
Ihichtfchreiber, dem Bifchof Thietmar von Merſeburg. Mit Recht 





Die Koniginhofer Hanbferift und ihre Schweftern. 138 


hebt aber Hr. Palady ') hervor, daß unſer Gefang von einer Wie- 
Dereinfegung Jaromir's rede — „Jarmir neu erfteht ob allem Lande⸗ 
fagt Hrn. Swoboda's Ueberſetzung — während doch ſchon Cosmas 
im Anfange des zwölften Jahrhunderts in feiner Chronik ver Böh- 
men nicht mehr wußte, daß Jaromir ſchon früher einmal (und zwar 
im %. 1005) eine furze Zeit geherrfcht habe. Hr. Palady fchließt 
daraus mit Recht ferner, daß ver Gefang (wenn er nämlich über- 
haupt ächt ift) nothwendig „in's eilfte Jahrhundert, kurz nach ver 
Begebenheit” gehöre. Man könnte etwa die Regierungszeit des Her⸗ 
3098 Udalrich (1012 — 1037) als Epoche des Dichters annehmen; 
nur dann würde fich nämlich allenfalls ver von Hr. Palacky nicht 
bervorgehobene auffallende Umftand erklären, daß Ubalrich bereits in 
unferm Gebichte als „Fürſt- fchlechthin vorkommt. 


Eben der Umftand aber, daß Jaromir bereit 1003 eine kurze 
Zeit geherrfcht hatte, war Hrn. Palacky im J. 1829 noch unbekannt; 
„erjt ein tieferes Stubium der Quellen“ Härte ihn nach feinen Wor- 
ten hierüber auf. „Der Falfariuss, fchließt er weiter, „bewährte fich 
fonach als einen überaus tiefen Kenner der Gefchichte, wie Böhmen 
1817 fonft feinen befaß«. 


Aber die Thatfache, daß Jaromir Schon früher einmal Furze Zeit 
geherrfcht Hatte, war in Böhmen lange vor 1817 bekannt und Hr. 
Palacky ift in tiefem Falle von feinem Gedächtniffe irre geführt wor- 
ven. Eben in dem Fundamentalwerke wahrhafter altböhmifcher Ge- 
Ichichte, auf das Jeder zunächft verfällt, ver fich über eine Frage aus 
berfelben unterrichten will, in Gelafius Dobner’8 Hauptwerk ift biefe 
Thatſache bereits unzweifelhaft feftgeftellt. Diefer treue, ftrenge Fer: 
fcher, der ven Lügenwerke Hajek's mit unermüblicher Gewifjenhaftig- 
feit zuerft die Maske abzog, hat bei der betreffenden Stelle Hajek's 
bie Sache zweimal auseinander gefegt (IV, 494, 500) und bie ent- 
fcheidende Stelle Thietmar’s (V, 18) wörtlich abpruden laffen. Auf 





1) Zuerft in der Gefch. von Böhmen I, 259 Anm. 2, dann in ber Abhandl. 
„Über die älteften Denkmäler ber böhmilhen Sprache &. 180 (Abhandl. 
der k. böhm. Geſellſch. der Will. 1841) endlich in der Bohemia 1858 
N, 292 ©. 985 nochmals wiederholt. 





134 M. Büdinger, 


alfe Fälle war ein Fälfcher im 3. 1817 Hinlänglich in Stand geſetzt, 
von einer Wiebereinfegung Jaromir's zu reben. 

Unterfuchen wir num aber die Quellen näher, fo zeigt fich Fol⸗ 
gendes: Thietmar iſt der einzige glaubiwärbige Zeuge über vie böh⸗ 
mifchen Creignijfe des Jahres 1004. Der Bericht des Eosmas, der 
auch nach unferes gelehrten Gegners Meinung ungenügend unter- 
richtet ift, beruht nur auf populären Traditionen und hat Teinen 
hiftorifchen Werth. Was jüngere böhmifche Chroniken über die An- 
gelegenbeit bringen, beruht aber ausfchließlich auf Cosmas. Es ift 
von um fo größerem Werthe, biefe Thatfache im Einzelnen zu er- 
weilen, als unfer Gebicht das Cinzige der ganzen Sammlung ift, 
welches jüngst Geſchehenes einfach wieder zu geben fcheint, ohne auf 
fonftige Weltereigniffe Nüdficht zu nehmen, oder Inrifchen Motiven 
Einwirkung zu geftatten. 

Thietmar berichtet zunächft (VI, 8, 9), auf welche Weife Hein- 
rich II., in deſſen Gefolge fih Iaromir befand, mit Hilfe desſelben 
unvermutbet in Böhmen einprang, das Herzog Boleslaw von Polen 
in Befi genommen und an den Grenzen wohl verwahrt hatte. Die 
Bewohner von Saaz erichlagen vie polnifche Beſatzung und öffnen 
dann dem beutichen Könige vie Thore; Hierauf wird Jaromir mit 
tüchtigen beutfchen Kriegern und den Böhmen, die fich ihm ange- 
fchloffen, nach Prag vorausgefentet, um Boleslaw zu überfallen; die— 
fer aber, zeitig gewarnt, verläßt mitten in der Nacht vie Stadt, ale 
die Glocken von Wyſchehrad die Einwohner zum Kampfe riefen. Nur 
auf der Brüde entfpinnt fich noch ein Kampf, in welchem ein Bruder 
bes heil. Aralbert auf böhmifcher Seite füllt. Am folgenden Zage 
kam Jaromir in vie Stadt und befteigt ven Thron. 

Während nach-Thietmar alfo die Cache ganz natürlich zugieng, 
weiß Cosmas folgende mythiſche Yöfung zu geben (I, 35, 36), Herzog 
Mesco (von Boleslaw weiß er nichts) fuchte, nachdem er Böhmen 
in Beſitz genommen, ven Kaifer, in deſſen Gefolge fich der Premys— 
live Udalrich (Jaromirs Bruder) befand, durch Golpgefchenfe zur 
Cinferferung desſelben zu veranlaffen. Udalrich aber — „wir wilfen 
nicht ficher, ob durch Flucht over auf des Kaifers Befehl," fügt 
Cosmas hinzu — entkam mit Chrifti und des heil. Wenzel Hilfe 
nah Böhmen, bejegte die Burg Dremwic, entfendete von da einen ge⸗ 





Die Königinhofer Handſchrift und ihre Schweftern. 135 


treuen Kriegemann nach Prag und befahl ihm, ven unvorbereiteten 
Feind Nachts durch Pofannenton zu erjchreden. Der Kriegsmann 
läßt in ver Nacht von dem Strahow, dem höchften Punkte der Stabt, 
das Horn ertönen und ruft: „Es fliehen, fliehen die Polen arg 
verwirrt, ſtürzt auf fie, ftürzt auf fie muthig, gerwaffnete Böhmen.“ 
Die Polen überfällt hierauf Echred und Angft, fie fliehen ohne Waf⸗ 
fen, zum Theil ohne Kleider; auf der Flucht kommen Einige durch 
den Sturz von der Brüde um, Andere im Gebränge; Herzog Mesco 
jelbft entlommt mit Wenigen. „Wie gewöhnlich“ fährt ver Autor 
ächt poetifch fort, „wenn die Menfchen aus Yurcht fliehen — auch 
bei einer Bewegung der Luft beben fie, ihr eigenes Beben mehrt 
ihren Schreden — fo ſchienen dieſen, obwohl Niemand fie verfolgte, 
Telfen und Mauern nachzurufen und vie Fliehenden zu verfolgen.“ 

Niemand kann bier den Mythus verkennen, in welchen burch 
eine tönende Gottheit der Landesfeind vertrieben wird. ‘Der ganze 
Vortrag und insbefondere der Schluß weist auf ein Lied, das ber 
Autor wiedergab; hätte er nicht lateinifch, ſondern ſlaviſch gejchrieben 
wie fein Zeitgenoffe Neftor, fo könnte es vielleicht gelingen, was bei 
dieſem zuweilen möglich fcheint, einige Bruchftüde des alten Liedes 
berzuftellen ). Auf alle Fälle darf man fließen, daß nach aller 
Wahrfcheinlichkeit, wenn fich überhaupt eine poetifche Tradition über 
das Ereigniß erhielt, eben dieſe ver Nachwelt überfommen fein wird. 
Wir werden fehn, wie wenig das ver Fall ift. 





1) Bei einer aufmerffamen Lectüre Neftor’s, ber zu ben alten Ruſſen ein 
ähnliches Verhältniß bat, wie Gregor von Tours zu den Franken, beflen 
urſprüngliche Geſtalt fih aber aus bem in ben Ausgaben vorliegenden 
handſchriftlichen Material durchaus nicht erkennen läßt, müſſen jebem Lefer 
auffallen, gegen die einerfeits kein Verdacht der Interpolation möglich ift 
und bie anbererjeits einen von ber fromm -verflänbigen, trodenen Weile 
bes Autors verfchiedenen Charakter tragen. Anfgefallen ift mir nament- 
lich (S. 64 der Ausg. der paliogr. Commiſſion) der Bericht von ber 
Schlacht bei Lyſtwen (Karamfin II, 17) im 3. 1024, ber durchaus einem 
Bolfsliebe entnommen ſcheint: 3. B. Metisfaw rückte mit feiner Gefolgs- 
haare an und begann auf die Wariagen einzubauen und es war ein 
mächtig Hauen; wenn ber Blitz erftrahlte, Ieuchteten bie Waffen unb es 
war ein groß Gewitter, ein mächtig und furchtbar Hauen.“ 





M. Büdingen, 


Bon den Chroniften, welche im Inteinifcher Sprache jchrieben, 
hat bier nur Pullawa, ver ein Zeitgenoffe Karlo IV, war, Werth 
für uns. Er hat ſich genau an Cosmas gehalten; eine Pojaune 
ſchien ihm aber doch zu wenig; er ließ demnach den Kriegsmann 
„durch ven Schall von Poſaunen und Hörnern«) die Polen jchreden, 
inne er es wohl vem verftänbinen Leſer überließ, an eine Kriegstift 
ähnlich der. des Gideon zu 


- Aber noch vor Pulkame ter bem Namen Dalemils 
befannte böhmijche Reimcht em Ende bes breizehnten 
und dem Anfange bes vite ınberts angehört, ſich ver 
Erzählung des Cosmas beı bien nun vollends die von 
ber Höhe tönende Poſaune dt gebeuer, und er bielt 
e8 für natürlicher, vie I Yirtenhorn zu veriwanbeln, 
vor deſſen gewohnten Klar, er Stabt geöffnet werben. 


Dies gethan, beburfte die Erzählung des Cosmas im Uebrigen nur 
fehr geringer Mopification. 

Bei Dalemil kommt Udalrich gar nicht nach Deutichland. Viel⸗ 
mehr wird berjelbe, von Mesko am Leben bedroht, durch ven. heiligen 
Johannes gerettet. Es kommen nämlich feine Getreuen zu ihm, mit 
denen er indgeheim vor Prag zieht. Sie gewinnen einen Hirten 
gegen Berfprechen großen Lohns ihnen Prag zu verratben; nad) ſei⸗ 
nem DBerlangen warten fie am Strabow auf den Zon feines Horne®. 
Dalemil fährt nun wörtlih fort: „Früh am Morgen, als er (ver 
Hirt) feine Heerde hinaustreiben wollte, rief er dem Zhorwärter zu 
und fieß fich die Zugbrüde berablaffen. Alsbald fieng er an, gewaltig 
zu blajen; die Böhmen berennen Prag; die-Polen weichen überall; 
mitten in ver Stadt hielten die Böhmen und verfolgten vie Polen 
nicht weiter; die Polen fahen fich nicht um; Andere ſchwammen nadt 
auf die andere Eeite. Der Hirt rief ihnen zu und ven Polen däuchte 
es, als ob es taufend Roſſe wären; Udalrich vertrieb den Mesco 
aus dem Lande” ?). 





!) — per clamorem buceinarum et tubarum in ber erſten Recenfion 
(Mencken soriptt. III, 1652) — tubis et buccinis in ber zweiten 
(Dobagi; ymum. 111, 107). 

?) Dalemskiärgg.ehsonika (oska ed. Hanca (Prag 1851) p. 64, 65, 197, 198. 





bie Königinhofer Handfchrift umb ihre Schweftern. 187 


Man fieht wohl, wie ver alte Mythus Hier platt gefchlagen und 
gemeiner Verſtändlichkeit angenähert worben ift. 

Der legte, ver bier in Betracht fommt, ift der mehrerwähnte 
berüchtigte Hajek, der übrigens bei näherer Betrachtung viel alber- 
ner zugleich und barmlofer erfcheint, al8 man gewöhnlich annimmt. 
Hajek hatte Cosmas und Pulkawa und die Neimchronif vor ſich und 
bat fie alle drei auf das unbarmberzigfte zufammengefchweift. Aus 
Cosmas entnahm er die Beſtechung des Kaiſers, Udalrichs Flucht 
nach Böhmen, die Einzelheiten der Polenflucht; Dalemil bot ihm 
den Hirten und die Einnahme Prags mit Hilfe desſelben; aus Pul⸗ 
kawas Poſaunen und Hörnern endlich machte er große Trommeln '). 

Das Gedicht ver Königinhofer Handfchrift aber erweift fich als 
einen matten Auszug ans Hajek, in welchem, bei nur unmwichtigen 
Zufägen,”) alle wefentlichen Momente beibehalten find — fogar die 
Trommeln. Und vieß legtere ift ein Anachronismus, ven man felbft 
einem Fälſcher vom 9. 1817 kaum zu gut halten kann; in Hajels 
Zeit, wo man feinen Anitand daran nahm, Troja und Ierufalem 
mit Kanonen befchießen zu laffen, Hektor in flanprifchen Hofen und 
bie heil. Anna in einem venetianifchen Mieder varzuftellen, in einer 
folchen Zeit fallen auch Trommeln bei einem Heere des elften Jahr⸗ 
hunderts natürlich nicht weiter auf. 

Trommeln find aber bei europätfchen Heeren während des gan⸗ 
zen früheren Mittelalters unbelannt gewejen: Trommeln und Paufen 
gelten Kriegsleuten wie Dichtern und Hiftorifern als ein ausſchließ⸗ 
liches Merkmal muhammedaniſcher Kriegführung ’). Selbit der Name 





1) Böhmische Chronica W. Hajecii überf. von Sandel. Prag. 1596. Blatt 
125 b, 126. In der Originalausgabe von 1541 fol. 100b 101a. 


?) So find in das Hajeliche Ercerpt (Bere 12—24) zwei Heine Reben ein- 
gefägt, bie nur eine Begeiſterung fir ben Kampf enthalten. Ueber 
Wyhou Dub geben bie ſchillernden Zweifel ber Vorrede (S. 32, 33) 
guten Aufſchluß. 

2) Wie fie denn auch von den Arabern herrühren, benen fie von ben Per- 
fern überliefert wurden. BgL Pott in Höfers Zeitfchrift IL, 856. Kaifer 
Leo der Weile (886— 912) empfiehlt vor bem Kampfes mit Arabern bie 
Pferde an den Lärm ihrer zvunara unb sunfale ge gewähnen, be⸗ 





138 M. Bübinger, 


ber Trommeln kommt jo viel ich fehe in der ganzem mittelhochdeutſchen 
Yiteratur nicht vor; die beivem einzigen Stellen wenigftens, in Denen 
man fie zu finden glaubte, laffen eine ſolche Dentung ſchwerlich zu "). 
Das entiprechende böhmiſche jowohl Trommel als Paufe bedeutende 
Wort fommt zuerft im vierzehnten Jahrhundert im Pfalmenüberjet- 
ungen vor '). 





Den Zeitpunft, in mi ı in europäiſchen Heeren 
eingeführt wurden, weiß ich nau anzugeben *). Unzwei— 
felhaft finden fie jich mit $ telalter® bei bem nenauf- 

merft auch, wenngleich | ° Araber hätten dieſe Yuftru- 

mente nur, um bie Wei onis tact, ed. Meursius pag. 

312, 363). Etellen mı ner, in welden bie Sarra- 

jenen Tambüre in bie 4 b in: Wolframs Willehalm 


ed. Lachmann S. 425, ranogr xupwigs Krenzfahrt ed. von ber Hagen 
©. 47. Noch im 9. 1291 bei der Einnahme von Allo wurben bie 
Chriſten durch dieſe rauſchenden Iuftrumente gefchredt. (Nach einer hand⸗ 
ſchriftlichen Notiz bei Du Cange ed. Henſchel s. v. Tabur). | 


N In ber einen (PBarzival ed. Lahmanı 571, 1—3 pag. 269) heißt es: 
er hörte ein „gebrummen“ wie von zwanzig „trummen“ beim Tanze. 
Bei Trommeln würde wol döz paffender fein. Die audere ift im Leben 
der heil. Eliſabeth (Wadernagel Lefeb. 744), we von ben Künften bie 
Rebe, in welhen bie anweſenden Ritter fih anszuzeichnen fuchen: „ber 
eine fluoc die brumen, dirre pfeif.- Man wirb wol in beiden Fällen an 
bie dritte im mittelhochd. Wörterbuch von Müller und Zarnde s. v. 
trumbe angegebene Bebeutung von Laute denken müffen. 


?) Yungmann, böhmifch-beutiches Wörterbuh s. v. tuben. 


3) Stammen fie vielleicht von ben italienifchen Bürgerheeren? Dante, inferno, 
22, , Teitet vielleicht auf etwas ber Art hin. Die gewöhnliche Annahme, 
daß fie von ben Sanitfharen überfommen feien, weiß ich nicht zu bele- 
gen. Bei den Huffiten unter Ci5ka feinen fie nicht üblich geweſen; 
wenigſtens finden fie fi) in Palacky's trefflicher Darſtellung bes damaligen 
Kriegeweſens nicht erwähnt. — Das alberne Geſchichtchen von ber Trom⸗ 
mel ans Ciskas Haut ſiammt von Hajet (t. II. fol. 118,, ber deutſchen 
Ueberf.) Der ehrliche PBubitichla bemühte fi, wie es fd;eint, vergeblich 
um die Quelle. Bergi. Balady, Würdigung ©. 247. 





die Königinhofer Handfehrift und ihre Schweftern. 189 


fommenben Fußvolk, ven Schweizern und Lanböfnechten '); aber noch 
in der Schlacht bei Varna (1444) hatte man auf chriftlicher Seite 
nur Trompeten und Pofaunen, auf türkifcher große Trommeln (Heer- 
paufen) ’). Selbjt in der Heeresorbnung Karls des Kühnen finden 
fih nur Trompeten ?). 


Das der Trommel zunächft verwandte, im Mittelalter übliche 
Inftrument hieß TZambür, wurde geworfen und gefchlagen, in ähn- 
licher Weife wie unfer Zambourin. Es wird, namentlich bei roma⸗ 
nischen Völkern, bei Spiel, Tanz und Turnieren oft genug erwähnt *). 
Ausnahmsweiſe findet fih, daß Landgraf Ludwig dem kaiſerlichen 
Heere feine frohe Ankunft mit Tambare und Hörnern fund thut °). 


Genug, ed wäre thöricht, im elften Iahrhundert an Zrommeln 
bei einem böhmifch-ventjchen Heere zu denken, und die Fälfchung hätte - 
ſchon Hieraus allein einleuchten können. 


Zur Ergötung des Leſers laffen wir nunmehr vie bezeichnend- 
jten Stellen aus Hajek und dem Gedichte folgen: 





Hajek Bl. 126 a. Königinh. Handſchrift. 
— — zogen der Herzog Udalrieus V. 1. — — zog in den Schwarz⸗ 
und Berkowecz durch die Wälde wald 
heimlich wie fie ihre Geleithsleuhte Dort wo die Wladyken ſich ver⸗ 
führeten und lägerten fih in... fammelt 
biden Wälpen. Sieben Grafen mit beberzten 
(Die ausgefenveten Kunbfchafter, Schaaren. 
welche einen Hirten für den Ver⸗ (Sie ziehen nach Prag:) 
rath beſtochen, melden:) V. 28. ...borthin wo im Schlafe 





!) Ranke, rom. und germ. Böller I, 327. Barthold, ©. von Frundeberg S. 
45 u. 64: „Zrommeln groß wie Weinfäffer.“ 

?) Karajan, zehn Gedichte Mich. Behaims S. 8. (DOuellen und Forſchungen 
Wien 1849). 

3) Bon dem verewigten Chmel herausgegeben Monum. Habsburg. 1. 

*%) Raynouard s. v. täbor, Roquefort s. v. tamborin. Das Mhd. Wörterb. 
s. v. tabür. 

s) Landgraf Ludwigs Krenzfahrt od. von ber Hagen EBO. 


140 


das zu Prag Alles ſtill und Priebe” 


wäre, die Polen wären jicher und 
ohn’ alle Sorge. — — 

AS c8 zu tagen anfieng (rüd- 
ten die Böhmen) vom Berge Stra» 
how (bis auf vie Holzbrüde um- 
bemerft) denn es war ein Nebel. 


Das Boll... .. hatte ſich auch 
zur Ruhe und Frieden begeben. 


Bald fömpt ver Hirt... mit et- 
lihem Viche und rufete ven Thor: 
hüter, das er bie Brücke mieber: 
laffen follte. Und er rebete ihm 
zorniglich zu, warum er das Vieh 
jo frühe austriebe ? 

Und als vie Brüden nieverge- 


lafien, 
fieng der Hirt an, uberlaut zu 

blafen, 
und gab alfo ven Böhmen vie 


Lofung. 
Indeſſen ſprängten') fie behende 
mit ihren großen Trommeln auf 
die Brücken und in die Altſtadt, 
fiengen ein Lermen und überaus 
zu ſchreyen an ſagende: die Polen 
fliehen ... 





M. Bubinger, 


Hingeſtreckt ver Polen Haufen 
lagen 

B. 30. Oben bielten fie am 
Waldesrande. 

Eich’! da liegt Prag im Mor: 
genjchlummer 

Und die Moldau dampft im Mor- 
gennebel, — 





3.35. Nieber von ber Höh'! 
Still, Alles jtehe! 

Schlau verbergen fte im  ftillen 
Prag ſich 

In die Mintel Hüllen fie bie 
Waffen 

Geht ein Hirt, als früh ver Mor: 
gen dämmert 

Ruft hinauf, daß man das Thor 
ihm öffne. 

V. 40. Hört des Hirten lauten 
Ruf die Wache, 

Deffnet ihm das Thor am Mol- 
bauftrome. 

Auf die Brüde tritt der Hirt, 
laut bläft er, 

Auf die Brück' der Fürft fpringt 
mit acht Grafen. 

ever trabt') mit allen feinen 
Mannen 

3.45. Und die Trommeln fchmet- 
tern Donnerfchläge, 

Und die Hörner fchmettern lauten 
Schlachtruf 





1) Es weit das auf Benutzung ber deutſchen Weberfegung durch ben Fälfcher, 
wenn nicht gar bie Gedichte überhaupt zuerft beutfch geic,rieben wurden. 





die Königinhofer Hanbfchrift und ihre Schweſtern. 141 


Und die Boladen erfchraten von V. 49. Schreck ergreift die Po⸗ 
dieſem Gefchrey uber vie Maßen... lenfrieger alte 
das ihrer viele von den Betten 
nadend... herab fprungen') und 2.51. Und die Polen fpren- 
ein Theil die Flucht gaben. gen‘) bierhin, dorthin. 


Die Lüge ift zu Tage; ein großartiger altflamwiicher Mythus ift 
von armfeligen Scribenten platt gefchlagen und dann von Fälfcher- 
hand mit Flittergold behängt worten, Dobner mußte für Jaromirs 
Wievereinfegung herhalten und den ferbifchen Volksliedern entſpraug 
das Versmaas. 

Wir Lönnten unfere fachlichen Unterfuchungen hier fchließen. 
Aus Rückſicht aber auf einige ängſtliche Seelen, welche glauben könn⸗ 
ten, der Fälfcher von 1817 habe in ver That große Kenntniffe be- 
jeffen, wollen wir die beiden anderen von Hrn. Palacky hervorgeho- 
benen Punkte noch in Betracht ziehen. In der That darf der ge- 
nannte Gelehrte mit Recht voransjegen, daß fein Fälſcher durch grö- 
Bere Kenntniffe auf irgend einem Gebiete böhmifcher Gefchichte ven 
woblerworbenen Ruhm des Gefchichtfchreibers dieſes Landes zu ver- 
dunkeln im Stunde war. | 

Der zweite Punkt, um ben es fich handelt, betrifft das Gedicht 
Jaroslaw, welches einen Sieg über die Mongolen zu verherrlichen 
beftinmt ift. ‘Das entjcheidende Moment foll bier die Erzählung von 
dem burch Deutſche auf deutſchem Boden vollbrachten Morde einer 
Tochter des Tatareuchans fein, als dieſe fich, um frembe Länder zu 
ſehen, auf Reifen begeben hatte. Die betreffende Stelle aus der St. 
Hedwigslegende, welche ein ſolches Ereigniß aus Neumark in Schle- 
jien berichtet, ließ Hr. Palacky allerdings erft im I. 1843 in feiner 
Abhandlung über ven Meongoleneinfall 1241) aboruden, aber nicht 
etwa aus einer Handjchrift, fontern aus dem 1781 erjchienenen erſten 
Bande der dokumentierten Gefchichte von Breslau (von Kloſe), die doch 
1817 fo gut zugänglich war, wie 1843. Uebrigens brauchten die Fälfcher 
nicht einmal dieſe fchlefifche, fondern nur die mährifche Sage zu ken⸗ 








1) S. ©. 140. Anm. 1. 
2) Abhandlungen ber kön. böhm. Gefellfch. ber Wiſſenſch. S. 408, Anm, 2. 





142 MR. Bübinger, 


nen, welche Horky fchon 1818) über ven Morb tatarifcher Prin⸗ 
zeffinen auf ver Dlaidenburg in Mähren veröffentlichte, und den Mord 
nach dem Geifte ihrer ganzen Arbeit jchlechthin Dentfchen zugufchieben. 

Was den Inhalt der Gedichte betrifft, ver in die neueren Ge⸗ 
ſchichtswerke Eingang gefunden bat, fo ift ber noch viel nichtiger ale 
der des zuerft beiprochenen Gebichtes: es bleibt nämlich gar nichts 
aus demfelben übrig, als die Thatfache, daß Olmüß von den Mon⸗ 
golen im 9. 1241 belagert, aber nicht eingenommen wurbe; benn 
dies allein ift bei vem Mangel annaliftifcher Aufzeichnungen durch eine 
Erwähnung in einer Urkunde ficher bezeugt. Zu Ende des breizehnten 
Jahrhunderts hatte fich Die Tradition gebilbet, welche in ver böhmifchen 
Reimchronik überliefert ift, daß ein mongelifcher Prinz vor Olmütz 
gefallen fei*); ob dieſe Tradition Grund hat, läßt fich nicht fagen. 

In der Chronit Pulkawas findet fih nun aber — und wir fol- 
gen hierbei dem von Herrn Palady mit größtem Fleiße gefammelten 
und georpneten Material — in der erjten Necenfion zum I. 1254: 
Die Tataren feien, nach mehrjähriger Verwüſtung Ungarns, nach 
Mähren gekommen, hätten bort in der Umgegend von Olmütz Maſſen 
von Menfchen getöptet, mehrere Burgen zerftört; endlich bei einem 
neuen Erſcheinen derjelben vor Olmüg habe „ein Edler (quidam 
nobilis) von Sternberg,” damals Befehlshaber in viefer Stadt, ei- 
nen muthigen Ausfall gemacht, ven tatarifchen Feldherrn' „tödtlich ver- 
wundend umgebracht.” Hierburch erjchredt, feien die Tataren wieder 
nach Ungarn zurüdgelehrt; jener Edle von Sternberg habe aber zur 
Belohnung vom Könige einige Güter bei Olmütz befommen und dort 
zur Grinnerung an diefe Begebenheit die neue Burg Steruberg er- 
baut. Die Tataren vermüjteten nach einigen Jahren Polen und 
ſchlugen Herzog Heinrich von Schleſien in einer Schlacht. 





1) Hormayrs Ardiv n. 31. ©. 130. 

2) Balady a. a D. ©. 389, 397. Wenn aber von bemfelben weiter ge- 
fhloffen wird: „alfo wollten bie Mongolen Ofmüg und Brünn ero- 
bern, konnten es aber nit; folglich wurden fie zurüchgeſchlagen,“ 
fo wird wol Niemand dieſe Schlußfolgerung für zwingend halten, ba fo 
viele andere Möglichkeiten bleiben; wie benn auch ber Satz bes Roger: 
Peta rex — in terram ducis Moraviae pervadens — ad portam Hun- 
gariao festinavit, buchans nichts won einer gezwungenen Gile enthält. 





bie Königinhofer Haudſchrift und ihre Schweftern. 148 


In der zweiten Necenfion feiner Chronik, in welcher er „von 
Karl IV. mit neuen Hilfsmitteln unterftügt, nur die durch Denk- 
mäler geficherte Geſchichte zu fchreiben beabfichtigte,” ') ließ, er das 
Alles fort und theilte nur unter dem richtigen Jahre 1241 kurz mit, 
daß die Zataren Herzog Heinrich von Polen (Schlefien) bejiegt und 
erichlagen, vor dem herannahenden König Wenzel von Böhmen 
gefloben feien und nach Ungarn durch Mähren eilend, dieſes bald 
und Defterreich dazu vermwüjtet hätten. Dieſe Darftellung ift denn 
auch im Ganzen richtig. 

Fragt man num aber, was für eine Befchaffenheit es mit ber 
Nachricht der erften, von Pulkawa fpäter ſelbſt aufgegebenen Recen- 
fion habe, fo leuchtet ihre Werthlofigfeit ein. Mit Hrn. Palady darf 
man annehmen, daß fie aus mündlicher Ueberlieferung gejchöpft jet; 
ob aber Iemand willkürlich einen Hrn. von Sternberg mit ver aus 
der NReimchronif befannten Zrabition der Belagerung von Olmütz 
und bed Todes eines tatarifchen Prinzen in Verbindung gebracht 
bat, oder ob man mit einer ehemals nicht ungewöhnlichen Art von 
Gelehrſamkeit die Gründung der Stadt Sternberg in Mähren auf 
biefe Weife erklären wollte, ober endlich ob fi der Tradition von 
ber Belagerung Olmügens wirklich die von der Rettung durch einen 
Herru von Sternberg beigefellt hatte — zwiſchen diefen drei. Mög- 
lichkeiten läßt fich fchlechterbings nicht mehr entjcheiben. 

Es ift wahrjcheinlich, aber nicht notbwendig, daß Pulkawa das 
Ereigniß in das Jahr 1254 fegte, weil er von dem Einfalle der Un- 
garn wifjen mochte, welche in dieſer Zeit (1253) in Mähren erfchie- 
nen und Olmüg in der That belagert haben. *) Dem jei wie ihm 
wolle: wir ſahen, ver beffer unterrichtete Pulkawa gab feine eigene 
Nachricht auf. 

Aber Wenzel Hajet konnte jich ein Gefchichtchen derart natürlich 
nicht entgehen lafjen: er ‚hat vielmehr dasſelbe in wunberlichiter 
Weile zu einem ausführlichen Berichte ausgefponnen. Er hatte übri- 





1) Balady a. a. D. ©. 392. 

2) Außer der von Hrn. PBalady S. 401 angeführten urlkundlichen Stelle 
bentet auch die Fortſetzung des Cosmas (Mon. Germ. Seriptt. IX., 174) 
barauf bin: viele Tanſende feien circa Dlomucz erichlagen worben. 


144 \ M. Bübinger, 


gend auch eine andere Duelle, eine Fortſetzung bed Cosmas wor fich, 
welche von Prager Domberven herrührt. In dieſer fand er, daß 
noch vor-dem Tode König Wenzels T. (am 22, Sept.) im 3. 1253 
der König von Ungarn mit Ungarn, Eumanen und anderen Völkern 
verheerend in Mähren einfiel und namentlich in der Umgegend bon 
Olmütz haufte. Die Cumanen ibentificierte er mit den Tataren und 
folgte im Uebrigen Pulfawa und jeiner Bhantafie. Den unbelannten 
Herrn von Sternberg in feiner Duelle, ver als capitaneus in DE 
mütz fungiert, machte er (BL. 318 a) zu einem „trefflichen wehrhaff- 
tigen Hauptmann mit Namen Jaroslaw von Sternberg.” Nach ge 
baltenem Rathe mit ben Wittern und Stabtältejten, ordnet dieſer 
bei Zagesanbruch vie Truppen, ftellt ſich ſelbſt an die Spite ber 
Reiſigen, wagt einen Ausfall, kämpft zwei Stumben lang mit ben 
Veinden, worauf die fich zu Pferde fegen, und zivei weitere Stunden 
wehren; in Folge jchwerer Verwundung ihres Feldherrn flieht dieſer, 
daun das Heer, ver Feldherr jtirbt auf ver Flucht. 


Auffallend ift hiebei, da man Hajeks Art kennt, gar nichts. Mit 
dem Ungenannten von Steruberg konnte er fich nicht begnügen und 
gab ihm ven Namen Iaroslaw. Denn es ift von Boczek mit Recht 
bemerkt, auch von Hrn. Palacky zugeftanden worden, daß gleichzeitige 
Quellen nur einen Idislaw von Sternberg fennen; ven Namen Ias 
roslaw findet man aber in dem Haufe Sternberg mehrfach, zunächit 
bei einem Sohne Idislaws — Hr. Palady ') meint, er könne mög- 
licherweife doch nach einem Oheim oder fonftigen Verwandten, eben 
dem Sieger genannt worden fein — dann aber findet er fich bei dem 
legten Sproffen ver Linie Sternberg -Weffely, vefien Tod in der 
Schlacht am Wiſchehrad (1. Nov. 1420) Hajek (BL. 93 b) felbft er- 
zählt. Daß der Name Iaroslam in der Familie Sternberg vor- 
fomme, war ihn ſomit befannt genug. Zur Erklärung des Umſtan⸗ 
bes aber, daß Hajek eben diefe Gefchichte mit fo großer Verherrli- 
hung des Helden ausfpann, braucht man ſich nur der glänzenden 





) Die Erörterung vollftändig im beffen angef. Abhandl. S. 399 figb. 
Boczek hatte nach feiner Weile auch bier wieber eine unmögliche Urkunde 
in bie Schranfen geführt, was Hr. Palady mit fchlagender Ironie 
darthut. 





Die Königinhofer Hanbfhrift und ihre Schweſtern. 145 


Stellimg zu erinnern, welche das Haus Sternberg in der böhmifchen 
Gefchichte überhaupt einnimmt, und der Bedeutung, welche in ven 
Jahren 1534 — 1539, während deren Hajeks Werk entſtanden ift, 
Adam von Sternberg der Vertraute des Königs Ferdinand I. ge- 
wonnen hatte '). | 

Kehren wir nun wieder zu dem Gebichte der Königinhofer 
Hanpichrift zurüd, fo brauchen wir uns nicht viel auf vie gelehrten 
Notizen über die Aufſtellung chriftlicher Heere gegen die Mongolen 
einzulaffen, welche der Verfaſſer leicht zufanmenraffen konnte, noch 
auf den kurioſen Einfall, ven Namen des Eroberers von China 
Kublai zu den populären Titel der Mongolenbeherrſcher überhanpt 
zu machen — die Tochter heißt daher Kublajewna. — Das Gedicht 
follte ven Anfchein gewinnen, als ob e8 erit einige Jahrzehnte nad) 
den Creigniffen verfaßt, aber doch älter als die Reimchronik fet. 
Daß auch hier Hajek benugt fei, geht nicht nur aus Jaroslaws Na⸗ 
men, fondern noch aus einem andern fatalen Umſtand hervor. Hajek 
hatte nämlich Pulkawas Worte, der Herr von Sternberg babe ven 
feintlichen Führer „tödtlich verwundend umgebracht,“ dahin erwei⸗ 
tert, daß Yaroslam ihm „mit dem erften Straich feinen rechten 
Arm ſambt dem Elnbogen und Echwert abhaut,« ver arme Mann 
fih hierauf zur Flucht wendet und erft auf dieſer am Morgen „bei 
der Zränfe* ftirbt. In der Königinhofer Hanpjchrift wird das wie⸗ 
der zufammengezogen und Jaroslaw „faßt mit feinem Schwert den 
Sohn des Kublay, fpaltet von der Schulter quer bie Hüfte, 
daß er leblos finfet zu ven Leichen.“ 

Die Vermuthung wird wohl geftattet fein, daß die Fälfcher nicht 
am wenigften durch Rückſicht auf die trefflichen Grafen Franz und 
Kafpar von Sternberg bewogen mwurben, diefen Gegenftand zu wäh- 
len. Im Jahre nach der Auffindung entftand unter deren Theil 
nahme das böhmifche Nationalmufeum '). 





I) Bol. Balady, die Steruberge (in Hormayrs Taſchenbuch 1825) S. 308, 
809. 

?) Bol. Palacky Leben ber Grafen Franz und Kafpar von Sternberg in ben 
Abhandl. der in. bbhm. Geſellſch. der Wiffenfh. 1848. Beide waren 
bie größten Förderer böhmifcher Sprachſtudien. „Die Familiengeſchichte 

Diſtoriſche Zeitfhrift L Band. 10 





146 M. Bübinger, 


Auch in dieſem alle, wie bei jenen heidniſchen Gedichten, mar 
übrigens Hr. Palady ver Wahrheit ganz nahe. Boczek hatte nämlich 
bemerkt, daß der Name Jaroslaws an einer Stelle auch nicht in bas 
Metrum paffe, weil ver Vers hier elf ftatt zehn Sylben habe, und 
deshalb wollte Boczek, um ben Gegnern dieſen Verdachtsgrund zu 
entziehen, Idislaws Namen fubjtitwieren; dagegen erklärte num Hr. 


Palacky (S. 402), „daß re Falko MKaweactgr den ſonſt unſtatthaften 


Verdacht erit begründen inte das Wort „krwi“ (in 
Blut) fei eben wie imı em einſylbig zu leſen; won 
competenter Seite wird ext, daß dies in einem alt— 
flawifchen Denkmal ganı Es ift, als ob ein böſer 
Zauber ven hellen Bli jreibers von Böhmen eben 
für die Königinhofer He ert hätte. Denn eben biefe 
Abhandlung über ven M ı ver ſich die Vertheidigung 
des Gedichtes Jaroblaw h gewwefen, die Hru. Palacky 


auf die Unächtbeit des von Hanthaler verfaßten Pernold führte. 
NE zu der britten angeblich prophetifch in der Sammlung ent- 
baltenen Thatſache! Es handelt ſich um ein mehr Ihrifches Gedicht, 
in welchem vie Helventhat eine® Benes Hermanow befungen wird, 
der ein über das Laufiger Gebirge in Böhmen eingebrungenes Heer 
zurüdgefchlagen habe. Hr. Balady ') fette vie hiftorifch nicht weiter 
nachweisbare Begebenheit in das Jahr 1203, als Ottofar J., von 
dem Staufen Philipp zu Otto IV. übergetreten, im Intereſſe deſſel⸗ 
ben mit feinem Deere ausgezogen war. Man kann nicht läugnen, 
daß das Gedicht auf ven erften Anjchein ganz gut in biefe Verhält- 
niffe paffen würbe. Hr. Palady irrt nur darin, — das erfennt man 
- Schon bei oberflächlicger Betrachtung — daß er meint, es pafje nicht 
eben fo gut in bie Zeit, in welche die Herausgeber e8 gefekt haben: 
nämlich in die Zeit der Vormunpfchaft des Markgrafen Otto von 
Brandenburg über ven unmündigen König Wenzel IL, ver von bie- 





des Grafen” (Franz), fagt Hr. P. (a. a. DO. ©. 37) „war der Aus- 
gangspnntt feiner Studien geweſen.“ Die Ausgabe der Königinhofer 
Handſchrift von 1829 ift dem Grafen Kafpar Sternberg gewibmet. 

?) Wiener Jahrbücher 1829, 8. 145, Geld. von Böhmen IIa 66, Bohe- 
mis 1868 a. a. O. 





die Königinhofer Handſchrift und ihre Schweftern. 147 


fem im J. 1279 an einen unbelannten fernen Ort gebracht worden 
war '). 

Herr Palady wendet nun einmal ein, der Dichter habe „ven 
faum zehnjährigen Wenzel fehmwerlich zum Schute des Landes berbei- 
wünfchen” können, man babe auch in Böhmen „nicht über Otto's 
weite Entfernung, fondern über feine Nähe zu Magen gehabt." Es 
bezieht fich das auf die beiden Verſe, deren wörtliche Ueberſetzung 
lautet: „Wo ift der Fürft, wo unfer Kriegsvolk? Zu Otto weit bin- 
gezogen.” Der minverjährige, von Dtto an einen unbefannten Ort 
gebrachte Fürſt kann doch ohne Zweifel gemeint fein; auch nahm 
ihn Otto in der That mit fich in die Ferne, als er das Land ver- 
ließ '). Was das Kriegsvolf betrifft, fo dachte der Verfaſſer ver- 
muthlich, als er von Dtto las (natürlich bei Hajel?), derſelbe habe 
Truppen aus vielen deutſchen Stämmen nach Böhmen verlegt, er 
babe zugleich einen Garnifonswechjel mit dem böhmifchen Heere vor» 
genommen und dies nach Branvenburg gebracht; denn nach allem, 
was wir gehört haben, darf man ben Verfaſſer fir unwiffend genug 
zu einem folchen Anachronismus halten. 

Aber Freund. Hajek läßt uns auch bier nicht im Stich. Gleich 
bie beiden nächjten Verfe (nach Hrn. Swoboda:) „Wer entreißt den 
Drängern ung, waijes (verwaistes) Vaterland,“ find nur ein Auszug 
aus des Markgrafen Otto Rede (BI. 339 b), in ver es heißt, ver 
junge Wenzel könne „weder ihme felbft noch Ench helffen“ und Ru- 
bolf fei ver Verberber dieſes „verwaifeten böhmijchen Königreiches." 
Liest man weiter bei ihm, wie die Bauern in „Steinflippen und 
Wälde” vor den Deutjchen geflohen feien; den Aderbau ganz vers 
nachläffigt hätten, fo findet man im Gepichte: die Feinde hätten 
Alles niedergebrannt, die Heerden fortgetrieben. Hajek berichtet: 
(Bl. 341 b), wie fie Kiechen plünverten, Gold und Silber raubten 
— „Raubten Gold und Silberhort“ heißt e8 im Gedichte. Gänzlich 
unmöglid wird aber Hrn. Palacky's Annahme durch die Verfe ver 
jechiten Strophe, das Gras erhebe jih neu „pas fo lange nieber- 





) Chron. aulae reg. c. 9. ap. Dobner monum. V., 39 cf. Canon. Prag. 
cont. 1. 1. p. 200. 
?) BI. 340 4. 
10 * 





188 M. Bübinger, 


trat frech der Aremblingshuf;" denn Das kann ummöglic won einem 
einmaligen Einfall gefagt werben, ſondern ſetzt jene dauernde Be— 
drangung durch ventiche Truppen voraus, welche Hajel jebildert und 
zwar diesmal mit gutem Grunde ). Bon ber Zeit König Ottokar J. 
aber Kann es um fo weniger gelten, al& in dem einzigen dahre 1203, 
auf das eine äufferliche Betrachtung führen könnte und Hru. Palacky 
auch geführt hat, ver „Rürft“ nur einmal im Eommer zu dıtem 
Berbeerungszuge nad Thüringen auszog und im Derbite wieder zu— 
rüdfehrte ). Kein nleichzeitiger Dichter hätte ba von einer Hilfele- 
figfeit und VBerwaifung des VBaterlandes, einem langen Darniever- 
liegen des Landbaues durch feindliche Berwüſtung reden fünnen, 
Herr Palacky hält uns aben weiten entgegen, daß ein Beue— 
Hermanpw (Hermannsjohn) micht in Wenzels IL, wohl aber in Dt- 
tofars I. Zeit nachweisbar ſei und dazu unter biejen Könige Caſtel— 
lan in Budiſſin geworden jeiz überdies ſelen bie patronhmiſchen Be— 
nennungen der böhmiichen Gropen um 1250 ſchon durch erbliche Fa— 
miliennamen verbrängt geweſen. 
Wir können Beides zugeben (wenn man auch die Bemerkung 
machen könnte, e8 ſei denkbar, daß die patronymiſche Benennung fich 
noch eine Zeitlang im Volksmund erhalten babe), brauchen aber nur 
barauf hinzuweifen, daß in ver Einleitung des Herausgebers, ven 
wir als unterrichtet von des Verfaſſers Gedanken betrachten dürfen °), 
furzweg gejagt ift (S. 28), daß „feite Namen ver Gefchlechter erft 
fpäter angenommen wurden.” Wir werden bier über die Entjtehung 
des Gedichtes in wünſchenswertheſter Weije unterrichtet und können 
unfern Leſer getroft auf dieſelbe verweijen; gegen das Ende wird 
einer Bollsfage und einer in die Ruinen eingegrabenen 
„entfprehenden Jahreszahl 1282 in ven Feljenruinen“ Er- 





1) Balady Geh. von Böhmen Ila. 301, 305 figbe. 

2) DO. Abel, König Philipp S. 164 flgde. 360, 365; Palady Gef. von 
Böhmen Ila. 64—66. 

9) Die Vorrede ift vom Jahr 1828 datiert, Hrn. Paladys Abhandlung über 
den böhmischen Adel, in welcher die Bemerkung über die Familiennamen 
zuerft gemacht ift, erſchien im Januarhefte der Monatsſchrift des böhm. 
Mufeums 1829. 





bie Königinhofer Handſchrift und ihre Schweftern. 149 


wähnung gethan. Mit jener fchilfernven zweifelhaften Verſtändigkeit, 
welche wir oben in der Einleitung zu Libufjas Prophezeiung kennen 
gelernt haben, wird gejagt: „ob er (Benefch Hermannefohn) dem 
Geſchlechte der Waldſteine angehört, vie bis auf unfere Tage dieſe 

- Fecſte befejfen, ift ſchwer zu beftimmen.” Mit anderen Worten, ver 
Fälſcher hat, wie in einem andern Gerichte einen Ahnheren ber 
Sternberge, jo hier einen der Walpfteine gefchaffen und verherrlicht. 
Den Namen Benejh Hermannsfohn hat er entweder aus Urkunden 
vom Anfange des breizehnten Jahrhunderts gekannt over auf gut 
Glück zwei Namen erfunden, von denen ber Erfte in biefer Zeit oft 
genug begegnet und der Zweite 3. B. von dem auch bei Hajek vor⸗ 
fommenten Befehlshaber der Burg Beſig, in welcher Markgraf Otto 
den jungen König fammt feiner Mutter eine Zeitlang gefangen hal- 
ten ließ, geführt wurde. | 

Hiermit haben fih die Thatſachen erledigt, welche nach Hrn. 
Palacky der Fälfcher im 3. 1817 beifer al8 andere Menfchen gewußt 
haben müßte, und auch unfere Unterfuchung ift in allen wejentlichen 
Punkten zu ihrem Ende gefommen. Auf vie äfthetifche Vortrefflich- 
feit des Werfes, welche uns entgegengehalten wird und mit lleber- 
fegungen in fremde Sprachen bewiefen werben joll, gedenken wir 
nicht viel einzugehn. Die fchlechteften franzöfifchen Romane werben 
ja heutzutage in alle möglichen Landesſprachen überjett! Uns per- 
fönlih und anveren in ver Literatur verjchievener Völker erfahrenen 
Männern machen die Dichtungen der Königinhofer Hanpichrift ven 
Eindruck, als ob fie einem Gemüthe entfprungen fein müßten, das 
rohe Gehäfligkeit unter dem Mantel empfinnfamer Weichlichkeit zu 
verbergen fuche — und Beides ift ächter Volfspichtung fremd. Aber 
der Leſer ift ſchon aus den gelegentlich mitgetheilten Bruchſtücken 
binlänglih in Stand gejeßt, ſich ein Urtheil zu bilden, und fehon 
deßhalb Können wir hiermit einhalten. 

Was die paläograpbiiche Seite ver Handſchrift angeht, fo find 
wir nicht im Stande, tarüber ein Urtheil abzugeben, da wir nicht 
das Original, fondern nur das der Ausgabe beigegebene Yacfimile 
unterfuchen konnten. Es Liegen über basfelbe die Aufzeichnungen 
eines in den einjchlägigen Tragen beffer bewanverten Freundes vor, 
welcher der Anficht ift, vaß das Facſimile offenbar von einem Zeichner 


150 M. Bilbinger, 


verfertigt fei, ver feinen Begriff von den über die Echrift entfchei- 
denden Momenten gehabt babe; je näber das Facſimile aber dem 
Driginal komme, um fo verbächtiger müſſe dieſes jchon um des Ge— 
ſammteindruckes willen erfcheinen; die bei der Heinen gothiſchen Mi— 
nusfel fo wichtigen Haarftrichlimien an den Schäften jeien kaum an— 
gedeutet ') u. ſ. w. Aber wir überlaffen dieſe Unterjuchung an dem 
Driginale felbft mit vollem Bertrauen der Forſchung Anderer. 

Es wird bei dieſer Unterfuchung namentlich auch die Schrift ver 
beiden jüngeren Schweitern ber Königinhofer Handiehrift in Betracht 
tommen, deren Unächtheit Hr. Palackh jetst ſelbſt zugibt; es müffen auch 
dieſe mit vieler Sejchidlichkeit gejchrieben fein, wie denn der genannte 
Gelehrte von einer dieſer Schweitern im 3. 1829 meinte (Wiener 
Jahrb. ©. 167), „daß fie ganz ficher aus ver Mitte des dreizehnten 
Sahrhunderts” herſtamme. Es it ein Pergamentblatt, das man einen 
auf ver dffentlichen Bibliothef als Scriptor beſchäftigten, burdh- 
aus ehrlihen Mann, ven PB. Zimmermann, finden lief, als fich ber 
Einwand gegen die Königinhofer Handfchrift erhoben hatte, es fei 
doch höchſt bedenklich, daß jonft feine Spur berartiger Volksdichtun— 
gen erhalten ſei. Dieſes Blatt zeigte nun auf der einen Seite eine 
buchſtäblich ſtimmende Wiederholung des in der Kön. Handſch. ent⸗ 
haltenen Liedes „ver Hirſch“, auf ver andern eine böhmiſche Redac⸗ 
tion des aus der mittelhochdeutſchen Liederſammlung bekannten Minne⸗ 
liedes des Könige Wenzel. Leider ergab ſich aber bei einer Unter- 
fuchung dieſes legteren durh Morig Hqupt baß es aus dem miß- 
verftandenen beutfchen Originale rüdüberfegt fei, und Herr Feifalif 
in Wien fand dann nicht nur die neuhochdestſchen Leberfegungen 
von 1794 und 1803, aus denen das Machwerk in’s Böhmiſche über: 
feßt war, ſondern entpedte auch, daß wie auf dem Simoniveiichen 
Uranios, ſich unter ver älteren Schrift eine jüngere, faft ganz weg- 





1) Wir führen bier noh an: Wire bie Beugung und Brechung in bem st 
ber Handſchrift fo ſtark als im Faeſtmile, wären bie verbindenden Züge 
fo grob, wie 3. 8. in Zeile 8, fo würbe das auf eine bebeutend jüngere 
Schrift Hinweifen, zu der dann Buchſtaben wie das a biefer Seite nicht 
paffen würden, das durchgängig noch die für die gothifche Periode ältefte Ge⸗ 
ftalt beibehält; bei biefer wird kaum bie Wendung bes obern Schentels 
nad Tinte, geſchweige denn bie Umbiegung bemerkt. 





bie Koniginhofer Hanbfchrift. und ihre Schweſtern. 151 


gefchabte befinde‘)... Die Unächtheit des Machwerks wurde dann 
auch chemifch erwiefen. Etwa zu gleicher Zeit wurde auch die Uns 
ächtheit einer andern Schweiter der Königinhofer Hanpfchrift, des 
fogenannten Minnelieves unter dem Wyſchehrad.?) alljeitig zuge- 
ſtanden. 

Mit der Königinhofer Handſchrift und dieſen Schweſtern der⸗ 
ſelben — denn mit den anderen, welche nur ſprachlich in Betracht 
kommen, befaſſen wir uns nicht — fällt aber auch das ſogenannte 
Gericht Libuffas felbft bei den Wenigen, welche noch an bie Echt⸗ 
beit desjelben glauben. Im September 1817, wie wir uns erinnern, 
fam vie Königinhofer Hanpichrift zu Zage; im April 1818 erließ der 
Dberfte Burggraf von Böhmen, Graf Kolowrat Libfteinsty, den Auf: 
ruf, in Folge deſſen das böhmijche Nationalmufeum gegründet wurde; 
im November 1818 erhielt der genannte Graf das Fragment „Li 
bufja’8 Gericht” von anonymer Hand und angeblich als ein einem 
deutichen Gegner der Böhmen 'entwenbeted Eigenthum. ‘Der Inhalt 
betrifft eine Entſcheidung zwijchen zwei Brüdern über ihr wäterliches 
Erbe — „eine Entſcheidung, welche von der im beiten Falle mythiſchen 
Ahnfrau der Premysliden den verjfammelten Großen überlaffen wird, 
bie. zwifchen gemeinfamem Beſitze des väterlichen Erbes oder Thei⸗ 
lung vesfelben wählen follen und fich nach alter flawijcher Gewohn⸗ 
beit für das erjtere enticheiven; ver Ältere Bruder aber fchmäht die ' 
Fürſtin und verlangt als Erftgeborner (nach angeblich deutſchem Vor⸗ 
bild) das Ganze oder ih pen größten Theil des Erbes; die Fürſtin, 
über die Schmähung gekrämtt, droht mit Abdankung und forbert zur 
Wahl eined mit Eifen herrſchenden Mannes als Fürſten auf; ein 
Großer erflärt e8 für „unrühmlich bei den Deutichen Recht zu fu- 
chen." Der Charakter des Gedichtes ift durchaus berjelbe, wie in 
den Heldenliedern der Königinhofer Hanbjchrift, und das hielten bie 





1) Abhandl. der kön. fühl. Geſellſch. der Wiffenfchaften. 1850. Siungeber 
ber kaiſ. Alad. in Wien Bo. XXV. 

?) Findet fih wie das Minnelied Wenzel's als Anhang zur Königinhofer 
Handſchrift in der Edition von 1829. Es ift nach meiner Anficht eine 
verunglüdte Nachahmung zweier Göthifcher Lieber: bes Gefanges ber 
Geifter über den Waſſern und bes Gchluffes des Geiſterchores, der Fauſt 
einfchläfert; dazu fentimentale Seufzer. 





152 M. Büdingen; die Kbuiginhoſer Handſchriſt ıc. 


Vertheidiger ven Zweiflern als ein Argument ver Echtheit auch im— 
mer entgegen. Aber in ver ganzen Haltung jchließt es jich noch enger 
an die ferbifchen Bolfsliever an, ale in jener Sammlung ver Fall 
ift. Das Versmaaß ijt wieberum bas zehnjylbige jerbiiche mit ber 
Cäfur nach der vierten Shlbe. 

Auf die grammatiſchen und paläsgrapbiichen Unmöglichkeiten bes 
Fragmentes einzugehen, jrolhoa nun keinen Bertbeidigern in das 


neunte ober ſpateſtens zel rt gefetst worden ift, wäre 
bier wenig am Plate. Sn das Yinaquiftiiche der Frage 
will ich nur bemerken, da bejien Competenz wohl Nies 
mand zweifeln wird, eb m Gründen und zum Theil 
denfelben, welche Dobn . 1824 geltend gemacht hat, 
von der Unächtbeit des € n überzeugt ijt '). Und was 
das PBaläograpkiiche betr die Vertheidiger ſelbſt zu, 
daß hier die ſchwächſte Sene bed liegt und werben wohl 


nicht wieder darauf zurückkommen. 

- BWenn man eine Vermuthung über den Verfaffer wagen bürfte, 
fo möchte man glauben, e8 müffe verfelbe fein, der das Gedicht „Ja⸗ 
romir und Udalrich“ verfaßt hat. Doch fei es mit biefer Vermu⸗ 
tbung über tie Autoren genug, denn ich kann mir nicht anmaßen, 
beftimmte Perfonen zu bezeichnen und empfinde auch feine Luft, vie 
Unterfuhung nach dieſer Seite zu führen. Daß Herr Hanka bei 
der Berfertigung der Königinhofer Handſchrift nicht unmittelbar be- 
theiligt war, ift möglich, und nach ven ı Sgefährungen des Hrn. Pa⸗ 
lady ſogar wahrfcheinlich. u 








1) Wiener Jahrbücher 8b. 27 5. 102 — Penn 9 

Zuſatz zu Anmerk. 3 ©. 137 u. 138: Das tympanum bellicum ober typanum, 
signum bellicum, durch welches bei Vincentius Prag. (Dobner, mon. I 
51, 56) die Böhmen vor Mailand in K. Friedrich I Heere (1158) zu ben 
Waffen alarmiert werben, und das ale eine Beſonderheit der Böhmen 
(signum Bohemorum) bei biefer Belagerung bezeichnet wird, war entweber 
eine Baule, deren Gebraud König Wladielaw bei feinem Kreuzzuge ken⸗ 
uen gelernt haben konnte, ober eine ©lode (vgl. Du Cange s. v. tympa- 
num n. 3), welde mit einem Hammer geſchlagen wurde, und das Lebtere 
if, da ſtets die Einzahl gebraucht wird, bad Wahrfcheinlichere. 








V. 
Graf Joſeph de Maiſtre. 


Von 
Heiunrich v. Sybel. 


— — 





Lettres inedites du comte Joseph de Maistre. St. Pötersbourg 1858, 
Albert Blanc, me&moires politiques et correspondance de J. de Maistre, 
avec explications et commentaires historiques. Paris 1858. 


Bor einem Menfchenalter gehörte ver Name Joſeph de Maiſtre 
zu den häufigft genannten und eifrigft beiprochenen in Europa. Es 
war die Zeit der Reftauration. Alle Kräfte und Tendenzen, welche 
Rapoleon’® Heerkaijeriäußee zwei Jahrzehnte hindurch niedergedrückt 
hatte, ariſtokratiſche allg le, nationale und religiöfe, regten fich 
in ungeftümer Gähruah." "Nachdem ihrer gemeinfamen Erhebung ver 
Imperator erlegen war, kämpften in ganz Europa die Parteien um 
die Frage, auf welche Weile vie Wieverholung des revolutionären 
Unheils zu verhüten fei, ob durch verftändige Befriedigung oder durch 
principielle Vernichtung der liberalen Begehren, ob durch gründliche 
Abkehr von den Grundfägen des alten Regime oder durch entfchloffene 
Umkehr zu dem alten Arel und dem alten Kirchenthum. Schärfer 
und klarer als fonftwo kam diefer Gegenfat der Brincipien in Frank⸗ 
reich zur Erfcheinung : in feinen anderen Lande hatte damals das alte Sy⸗ 
ftem entjchloffenere und confequentere Vorkämpfer, in feinem anvern 
zeigte es feinen Charakter von der ftarfen wie von der ſchwachen 


Li WIRT 


154 Heinrich v. Sybel, 


Seite in gleich hellem Lichte. Dies gilt namentlich im Vergleiche mit 
ben gleichzeitigen deutſchen Zuftänben, wo vwermöge ber Zahl und 
Mannichfaltigkeit der Territorien, bei ber zugleich Iodern und ver⸗ 
widelten Verfaffung des. Bundes, bei den wechjelnden Rivalitäten 
ber einzelnen Staaten die principiellen Gegenfäge niemals zu reinem 
Auspruc gelangten, und insbeſondere die kirchlich⸗ feudale Richtung 
fih eine Weile mit ver monarchifch » abfolutiftifchen völlig zu ver- 
Ichmelzen fchien. Dagegen entwidelte ſich in Frankreich die tiefe 
Verſchiedenheit zwijchen beiden fett. 1816 in immer fchärferer Aus- 
prägung, fo daß e8 eine Reihe von Jahren hindurch völlig zweifel- 
haft blieb, ob die Krone von ber. meshten ober: der linken Seite ber 
nachbrüdlicher und gefährlicher" in Aſornch genommen wurde. 

Es war inmitten dieſes Getũmmels, daß raſch aucheinander bie 
Schriften Joſeph te Maiſtre's: über den Papft, über die gallicanifche 
Kirche, über die Philoſophie Bacon’s, erfchtenen, und eine wahre Ex⸗ 
plofion in ver franzöfiichen Literatur veranlaßten. Es waren nicht 
eben neue und unbefannte Lehren, welche fie verlünbeten. Es war 
fchon manchesmal gelehrt worden, daß alles Unheil Europa's von ber 
Reformation datire, daß durch dieſe die Macht ver höchſten Autorität 
in den Gemüthern erfchüttert worden, und feitvem auch die andern 
Autoritäten ihr Anſehen verloren Hätten, daß es für vie Kronen feine 
andere Rettung als in ver NRüdfehr zu den Autoritäten des alten 
Adelsſtaats und ver alten Kirche gäbe. Aber noch nie war biefe 
Doctrin in fo anfprechender Form aufgetreten. Hier war fein Ge 
danfe an fchwerfällige fcholaftifche Erörterung, keine Spur von 
püfterer Weltverachtung,, fein Schatten von Feindſchaft gegen bie 
moderne Bildung. Im Gegentbeil, die mittelalterliche Theokratie 
zeigte fich in ihren wichtigjten Momenten als die rechte Vollendung, 
als das bisher nur mißverftandene Ideal dieſer Bildung, und das 
Buch von Papfte ließ ſich mit gleicher Yeichtigfeit und Spannung 
lejen, wie irgend fonft eine Zierde der miobernen Literatur. So war 
denn der Erfolg gewaltig, und Maiſtre trat jofort in bie erite Reihe 
ver feudalen Korhphäen. Warme Bewunderung von der einen, bit- 
terer Haß von der andern Seite befteten fi an feinen Namen, und 
außer Haller bat fein anderer Autor eine fo umfaſſende Wirkung wie 
Meaiftre auf die Politif der Reftauration gehabt. 





Graf Joſeph de Maiſtre. 155 


Es könnte hienach fcheinen, daß jede Beſprechung des bebeuten- 
den Mannes fofort in ven Hader der. politifch-firchlicheu Theorien, in 
die Mitte und den Brennpunkt ihres Getiimmels führen müßte. Und 
ficher ift e&, daß man nicht Maiſtre's Leben erzählen und fich dabei 
ein beitimmtes Urtheil über feine Doctrin erfparen kann. Dennoch 
ift die leßtere nicht unfer eigentliches Augenmerk. Wir gehören wurd» 
aus und beftimmt zu ihren Gegnern, glauben aber nicht, daR auf 
dem Felde der gefchichtlichen Wiffenfchaft heute noch eine Discuffion 
berfelben der Mühe verlohnt. Wer durch religidfes Bedürfniß oder 
durch praftiichen Nuten zum Anhänger päpftlicher Weltherrjchaft ge- 
worden, ift purch Hiftorifche Erörterungen nicht zu belehren: wer nicht 
in dieſem Falle ift, bedarf Derfelben nicht mehr. Die großen Zhat- 
ſachen ver Hiftorifchen Erfahrung ftehn feft, wie oft Maiftre ven 
bündigen Schluß wiederholen mag, daß wer in ber Religion nicht 
dem Papſte gehorcht, auch im Staate unbändig gegen ven König 
fein werde. Es fteht feit, daß im Mittelalter, zur Blüthezeit ver 
päpftlichen Theokratie, die Monarchie in ganz Europa mißachtet, die 
Staatsgewalt aller Orten ſchwach, vie Sicherheit der Unterthanen 
ſtets gefährdet war. Gerade erft ſeit dem Bruche jener Theokratie 
beginnt die Entfaltung der eigentlichen Monarchie, der Monarchie, 
welche die Kraft hat, die Nation zu vertreten und die Einzelnen zu 
ſchirmen. Es fehlt dann nicht an Reibung und Ueberſchreitung, an 
deſpotiſchen Verſuchen und revolutionärem Gegenſtoß, auf katholiſchem 
wie auf proteſtantiſchem Boden. Es iſt ſehr leicht, für jede der 
Confeſſionen ein politiſches Sundenregiſter in allen Farben anzulegen, 
eben weil keine der ſtreitenden Kirchen eine feſte politiſche Farbe hat. 
Eine jede macht Oppoſition gegen eine verfolgende und iſt voll 
loyalen Eifers für eine ſchützende Staatsgewalt: der Katholicis⸗ 
mus iſt monarchiſch unter Philipp II und revolutionär unter Hein⸗ 
rich III, wie ver Proteſtantismus in Schweden das Königthum 
ftügt und gegen Carl I die Republif verfündet. Im Allgemeinen 
läßt fich nur fo viel jagen, daß feit dem Ende der Neligionsfriege, 
alfo feit beiläufig 200 Jahren, unter den Fatholifchen Nationen Eu- 
ropa's die politifchen Bewegungen durchgehends heftiger und gewalt⸗ 
famer auftreten, während auf proteftantifhem Boden überall bie 
Neigung zu Ausgleihung und Vermittlung, zu Reform und Stätig- 


| j 


156 Heinrich v. Eybel, 
keit erichehrt. So ift vie abfolute Monarchie in ihrer fchärfiten Naf- 


“fung von den fatboliichen Habsburgern und Bourbonen ausgebildet, 


und erft von deren Nachahmern nach Deutichland verpflanzt werben; 
dafür haben auch bis auf unlere Zeit Die groben Revolutionen ihren 
Urſprung ſtets in katholiſchen Landen gebabt, Daß in ber Ge— 
ent das Berbältnig noch fortoauert, lehrt jeve Bergleichung zwi—⸗ 
ſchen den Zuſtänden Frankreich's und Eugland's, Deſtreich's und 
Preußens, der italieniſchen und Der ſcandinabiſchen Staaten. 
Diefen Thatjachen gegenüber. dünkt uns ein ausführliches Ein» 


. geben auf Maiitre's Syſtem überflühig. Wohl aber ſcheint es ums 


wr 


eine jchöne Aufgabe, einen Mann, der ein Menſchenalter hindurch 
beſtimmend auf das Thun jeiner Zeilgenoſſen eingewirkt bat, im jeis 
nem perjönlichen Werden zu verfolgen, jeine Eriabrungen, jeine Strüfte, 
feine Yeidenfchaften zu erforichen, und damit ven lebenpigen Grund 
feines Wirkens kennen zu lernen, Cine ſolche Betrachtung wird bier 
wie immer, auch ben boctrinären Gegenſatz feine Schärfe nehmen: 
in dem heftigen Wiperjacher wirb und din fefter, tüchtiger, erregter 
Menſch ericheinen, und nebenbei wird und jein Lebenslauf eine An⸗ 
zahl frappanter Aufflärungen über die wichtigften Creignifje ver Re- 
volutiongzeit in die Hände führen. Das Material für eine ſolche 
Forſchung ift jegt im reicherm Maaße, wenn auch noch nicht in gans 
zer Vollitändigfeit vorhanden. Im Jahre 1851 hat zuerft ver Sobn 


des Grafen einen Band reichhaltigen Briefwechſels nebft einer kur- 


zen Notiz über vie äußern Schidjale feined Vaters veröffentlicht. 
Jetzt find in Peteröburg einige Briefe Maiftre’® an ten ruffijchen 
Admiral Tichitichagoff herausgegeben worden, unerheblich für tie po= 
fitifche oder literariiche Stellung des Schreibenven, aber fuft ausrei- 
chend für feine individuelle Charafteriftif. Ungleich wichtiger iſt da⸗ 
gegen das in Zurin erjchienene Buch, welches Maiſtre's viplomatifche 
Correſpondenz aus St. Petersburg, von 1802 bis 1810, zum Theil 
in wörtlichem Abtrude, zum Xheil in ausführlichen Ercerpten mit- 
theilt. Diefe Depeſchen unterfcheiten ſich höchlich ven ‚ven meiſten 
Actenſtücken ihrer Art, invem fie in jever Zeile neben dem Geſchäfts⸗ 


manne den Menfchen vorführen. Maiſtre war nicht einen Augen: 
blick im Stande, feine perjönlichiten Affecte aus feiner amtlichen Thä- 


tigkeit zu entfernen: jeder diplomatiſche Bericht ift bei ihm auch eine 





— ur 
— 


Graf Joſeph de Maiftre. 157 


Confeſſion, ein Stück eignen Lebens. Seine Briefe find den nicht 
bloß lehrreich, ſondern intereſſant und ſpannend, wenn man fich gleich 
vorſtellen mag, daß ſie einen regelrechten Miniſter nicht ſelten unge— 
duldig gemacht Haben. Sie ſind dann noch beſonders ein Gegen— 
ſtand der Verwunderung geworden, weil ein großer Theil ihres In⸗ 
halts mit der ſonſt bekannten Parteiſtellung Maiſtre's ſehr ſtark zu 
coutraſtiren ſchien. Allein der Widerſpruch war nur ſcheinbar, oder 
entſprang aus einer Aenderung nicht des Schriftſtellers ſondern der 
Zeitverhältniſſe. Die Bücher des Graferr bekämpfen die Revolution 
und verfünten das Princip der Autorität: es ijt damit vollkommen 
im Einklang, daß in den Briefen die Autorität ſehr oft und fehr 
nachdrücklich zu Cinficht, Gerechtigkeit und Freiſinnigkeit aufgefortert 
wird. Die Bücher feiern die Herrichaft des Papſtthums, uud bei 
ver heutigen Parteiftellung fällt es dann freilich auf, daß bie Briefe 
überall mit beftigem Haſſe gegen Deftreich erfüllt find. Indeſſen 
pa e8 damals weder ein öjtreichifched® Concordat noch eine Maz⸗ 
zinifche Propaganta gab, für Meaiftre alfo von feiner Seite ber ver 
natürliche Gegenſatz zwiſchen Deftreich und Piemont verdedt over 
modificirt wurde, fo ift auch bier nicht im Geringften ein Widerſtreit 
zwiſchen dein katholiſchen Theoretifer und dem praftifchen Diplomas 
ten vorhanden. 

Der Zuriner Herausgeber diefer Briefe, ein talentvoller, offen- 
bar noch etwas jugenplicher Mann, ift ſeinerſeits gerade durch biejen 
Zorn gegen Deftreich zu der Bublication beftimmt worten. Er 
fucht Maiſtre's Briefe als Manifeft gegen den großen Feind ver 
Menſchheit, wie er Deftreich nennt, zu verwertben. Wir bedauern 
babei wor Allem, daß ihm Maiſtre's fpätere Depeichen nicht gleich 
nüßlich zu feinen Vorhaben erfchienen find, und daß er ftatt mit 
ihnen einen großen Theil feines Buches mit eignen Declamationen 
von unendlichem Echwulfte und maaßlofer Mebertreibung erfüllt hat. 

Wir haben bier Feine Politik zu treiben, und deshalb feinen 
Grund, und auf feine Erörterungen einzulajfen: wir bemerfen im Ges 
gentheil, daß alles Schlimme, was er gegen Oeſtreich's italienische 
Stellung beibringt, für Deutſchland's heutige Politik ganz bedeutungs⸗ 
[08 erſcheint. Denn die Trage, von welcher im Augenbfid die Ente 
Icheidung unferer Zukunft abhängt, lautet nicht, wie viel Sympathie 





eu 


158 Heinrich v. Sybel, 


Italien verdient, ſondern ob ſich Deutſchland gegenüber ven Drohun⸗ 
gen der Fremden Großmächte von Oeſtreich losſagen darf. Nach un- 
ſerem Dafürhalten erwieſe man Oeſtreich einen ſchlechten Dienſt, wenn 
man dieſe beiden Gefichtöpunfte mit einander zu vermiſchen ſtrebte 
Weber vie Frage, ob Oeſtreich's lombardiſche Herrſchaft ein Vortheil 
für Deutjchland iſt, werden die Anfichtem ftets getheilt fein: unge- 
“theilt aber ſoll hoffentlich die Meberzeugung bleiben, daß, gleichviel 


ob wegen oder. troß bes ita Streites, Deutſchlands Plag in 
Europa neben Dejtreich und Aranfreich oder Rußland tft. 
Wir betonen dies, um dem % rzulommen, ob es nicht im 
Angeficht der" augenblidlichen ‚ Kriegägefahr unpatriotiich 
wäre, den Urjprung wiefer > von Neuem zu beleuchten; 
in Gegentheil fcheint es und ine Pflicht der Wiſſenſchaft, 
auch. ven Neinjten Beitrag 3 euntniß auf Diefem Gebiete 
nachdrücklich bervorzubeben. m ten wir mit voller Unbefan— 
genheit an Maiſtre's YVebensla befien Sorgen nicht zum 
geringiten Theil fih um ben s bon Deſterich und Italien 


bewegt haben. 

Graf Joſeph de Maiftre wurde am 1. April 1754 zu Chambery 
in Savoyen geboren, in einer Familie des hohen Gerichtsavel®, wo 
er in aller Strenge der alten Zucht erzogen, und feit der frühften 

heit an ernfte® Stubium gewöhnt wurbe. Sein Vater, ein ftet® 
wyaltener jchweigfamer Mann, gewöhnte ohne Strafen den Sohn 
zu dem pünktlichſten Gehorjam; wenn er am Ende der Spielftunde 
in der Gartenthüre, ohne Wort, erjchien, fo flog Joſeph aus allem 
Jubel jofort zu den Büchern zurüd. Es war vie Zucht nicht der 
Furcht, fondern der Ehrfurcht; fie trieb ihre Wurzeln in dem Herzen 
des heranmwachjenden Knaben, ver auch nach Jahren auf ver Univer- 
fität fein Buch ohne Erlaubniß des Vaters leſen wollte: aber fie 
tödtete nicht, fondern läuterte und ftählte den Kern einer feiten, wil 
lensjtarfen Natur. Mit gleicher Hingebang hing ver Cohn an ver 
zärtlich verehrten Mutter, von deren himmlifcher Milde er noch im 
hohen Alter nicht ohne Rührung ſprach. Sie war eine tief religidfe 
Frau und eine treue Tochter ihrer Kirche; fie fenkte in Joſeph's 
Seele den Keim des kirchlichen Eifers, welcher für fein Leben und 
Wirken eine fo umfaffende Bedeutung gewinnen follte. Die Ver- 





Graf Joſeph de Raiſtre. 159 


ehrung des Pupftes, des Prieſterthums, der Jeſniten war unvordenk⸗ 
liches Erbe in ver Familie. Joſeph war acht Iahre alt, als er ein- 
mal in lärmentem Spiele in das Zinmer der Mutter hineinftürmte, 
und dieſe ihn plößlich mit dem Worte hemmte: fei wicht fo froh, mein 
Kind, ein großes Unglüd ift geſchehn. So eben war die Nachricht 
von der Ausweifung der Jeſuiten aus Frankreich eingetroffen. * 

Sein Unterricht bis zur Univerſität wurde dem auch .biefen 
Vätern anvertraut, welche die reiche Begabung des Zöglings Schnell 
bemerften, und ihm für immer vie Richtung auf feinen lekten Beruf 
gaben, auf vie Vertheibigung ihrer Kirche unter den Kindern dieſer 
Welt. Einftweilen ftudierte er in Zurin vie NRechtswifjenfchaft, trat 
mit zwanzig Iahren als Subftitut des Wovofatfisfal in die Magi— 
ftratur ein, und ftieg durch die Stufen diefer Anıtöhierarchie, bis er 
1788 zum Mitgliede der höchiten Gerichtsbehörde, des Senats von 
Sapoyen ernannt wurde. Dieſes Zribunal hatte vie angejchenfte 
Stellung und ähnliche Befugniſſe wie die franzöfifchen Parlamente, 
namentlich” das Recht, geſetzwidrige Eönigliche Verfügungen zurückzu— 
weiſen. Es fühlte ſich demnach als den Wächter der ſavoyiſchen 
Freiheit gegen die Uebergriffe der verhaßten Piemonteſen, ohne daß 
dieſe Stimmung der begeiſterten Loyalität für den König, den Herzog 
von Savoyen, irgend Abbruch that. Dieſe Edelleute, welche feſt auf 
ihren Gütern ſaßen und die Städte vermieden, wo ſie unter einem 
königlichen Beamten oder Platzmajor hätten leben müſſen, ſtürzten 
ſich auf Jahre in Schulden, um einen kurzen Beſuch des Königs 
glänzend zu begehen, und ſtellten ihr Blut nicht minder freudig wie 
ihre Habe dem Monarchen zur Verfügung. Sie hatten die perſönliche 
Treue des Vaſallen gegen ven Lehnsherrn; von Staat und Staats⸗ 
gewalt Hatten fie feinen Begriff. Die großen Strömungen der Zeit 
hatten dieſe entlegenen Alpenthäler noch nicht berührt. Sitten und 
Zujtände waren einfach und patriarchalijch, die Familien hielten feſt zu⸗ 
fammen; die väterliche Gewalt wurde in allen Berhältniffen ohne ir⸗ 
gend eine Befchränfung geübt und geehrt. Im öffentlichen Leben gab 
e8 feinen dritten Stand in Savohen, deſſen Theilnahme am Staate 
irgend eine Bewegung in die Verhältniffe hätte bringen können; es 
gab auch fein geiftiges Leben, Feine Schulen als die ter Klöjter, feine 
Bildung als die der Prälaten. In ver guten Gefellfchaft, meldete 


160 Heinrich v. Sybel, 


einmal. ein franzöſiſcher Geſandter, gilt Denten für eine Marotte und 
Schreiben für eme Unanftändigfeit. 

An viefer Umgebung ftand ver junge Meaiftre,- im welchen: 
ber angeborene Genius mit ungebuloigem Ehrgeiz arbeitete, völlig 
einfam, Seit jener Anregung im Golleg verfolgte er die höchſten 
‚Probleme des menjchlichen Dafeins mit raſtloſer Forſchung, und warf 
ſeine ganze Kraft auf große wiſſenſchaftliche Arbeiten. Man fah ihn 
auf feinen Spaziergang, bei feinen Berguügen, bei feiner Feſtlichleit. 
Er hatte troß eines lebhaften Temperaments faft feine Bepürfniffe; mit 
drei oder vier Stunden Schlaf reichte fein Körper aus; jo fanb er 
neben feinen Amtsgejchäften vie Zeit, um Sprachen und Mathema- 
tif, Neligionsphilofophie und Gefchichte im weiteften Umfange zu 
treiben. Seine Yandslente ftaunten ihn an, und wandten jich bald 
von dem eigenmwilligen Sonderling hinweg. Was habe ich leiden 
müſſen, jchrieb er jpäter eimmal,; weil ich Flüger ald meine guten 
Allobrogen fein wollte. - Daß in Mann von gutem Haufe fich im 
ben Staub der Bücher vergrußb, war in: Chambéry eine unerhörte 
Neuerung, Die man ſich nur durch die Annahme erklärte, daß 
Maiftre überhaupt ver neuernden Sekte angehöre, von welcher man 
aus Frankreich fo viel Uebles hörte, ver Sekte ver wühlerifchen Frei⸗ 
geifter und gottlofen Revolutionäre. Diefer Ruf drang bis in bas 
königliche Cabinet nach Zurin, und erzeugte hier ein bleibendes Miß- 
trauen gegen ven philofophirenden Senator, welchem dieſer den vol⸗ 
len unabhängigen Stolz feines adeligen Sinne entgegenfegte, und 
dadurch vie königliche Ungnade mit jedem Jahre fchärfte. Bald mit 
ſchneidendem Wige bald mit hohem prophetifchen Zone wies er jeven 
Zabel, jeven Widerſpruch zurüd; er fette fich in Reſpeet, aber wei⸗ 
hen und liebebepürftigen Herzens wie er war, empfand er auf das 
Ditterfte, daß er völlig allein ſtand. 

Leider vermochte auch feine Wiffenfchaft nicht, ihm vie innere 
Erquickung zu geben, welche fonft ver fichere Lohn des Achten Flei⸗ 
Bes if. Wir werben fpäter die Stärke und die Schwäche feiner 
Studien im Einzelnen kennen lernen: wir bemerken bier das Allge- 
meine, daß ihm die Wiffenfchaft ihren Frieden verfügte, weil er nicht 
um des Wilfens felbit,. fondern un anverer Zwede willen arbeitete. 
Maiftre war eine eminent praftiiche, auf bas! äußere Leben ge⸗ 





Graf Joſeph be Maiftre. 161 


richtete Natur: er lernte, um mit feiner Kenntniß zu wirken, und 
Enirfchte unter dem Mißgeſchick, welches ihn in diefen verſchollenen 
Winkel der Erde geivorfen, und damit, wie es ſchien, auf immer zu 
Nichtigkeit und Verſtummen verurtheilt hatte. Wie oft fank ich, 
Ihrieb er zwanzig Jahre nachher feinem Bruder, auf meinen Seffel 
zurüd, fah rings umher nur Heine Menfchen und Heine Dinge, bin 
ih benn verdammt, feufzte ich, bier zu leben web zu fterben wie 
eine Aufter an ihrem Felſen? Da litt ich viel, mein Kopf war be- 
laden, ermübet, plattgebrüdt durch das entfegliche Gewicht des Nichts. 
Einmal, 1812, in Petersburg, wurde mit Achfelzuden von der Her⸗ 
funft eines Diplomaten aus der Inſel Zanthe gerevet: nun ja, rief 
Maiſtre, aber ich, wie ich bier fite, bin in Chambéry geboren; Sie 
jehen, daß man fich in dieſem Fach Alles erlaubt. 

So gingen ihm die Jahre dahin, ohne Wechjel, ohne Hoffnung. 
Er war verbeirathet, hatte Kinder, ſtand an ver Schwelle ver Vier: 
ziger. Er glaubte den beiten Theil des Lebens bereits hinter fich zu 
haben. Da trat das Weltereigniß ein, welches Franfreih und Eu- 
ropa eine neue Geftalt geben follte. Die Revolution brach aus; nach 
rei Jahren erreichten ihre Wogen Italien, und mit dem Zujammen- 
brechen alfer alten Verhäftniffe follte auch für Maiſtre ein neues, 
e8 follte das eigentliche Leben, das Leben des Wirkens, des Leidens 
und des Ruhmes erjt beginzen. 

Am 15. September 1792 erklärte Franfreih dem König von 
Sardinien den Krieg, und acht Tage fpäter bejekte ein franzöfifches 
Heer unter General Montesquion Savoyen. Die königlihen Beam⸗ 
ten und Dffiziere, darunter drei Brüder Maiſtre's, folgten ver 
abziehenden farbiniihen Armee über die Alpen; ein großer Theil des 
Adels ſchloß fich ihnen an, Maiſtre felbft verließ das Land im 
Dezember, und nahm mit den Seinigen in Aofta Wohnfig. Dieſer 
Schritt, fagte er auf ver Höhe des Bernhard zu feiner Frau, ents 
fcheidet über unfer Xeben. Denn fchon hatte die von den Franzoſen 
veranlaßte Nationalverfammlung zu Chambery die Auswanderung als 
Berbrechen bezeichnet, und mit Confiscation der Güter beproht. “Die 
Gräfin de Maiftre, damals im neunten Monate ſchwanger, aber wohl 
wiffenn, daß ihr Gemahl fi nimmermehr ver Ufurpation fügen 
würde, benüßte eine kurze Abwefenheit deſſelben, um mit ihren Kin⸗ 

Diſtoriſche Zeitfgrift L Band. 11 





162 Henri, von Sybel, 


dern im tiefen Winter bie Alpen zu pafliren, und zur Rettung ihres 
Vermögens nah Chambery zurüdzulehren. Er eite ihr auf ber 
Stelle nach, verweigerte aber den neuen Behörten jede Art von 
Schwur, jeven Schatten eines Verfprechens, jo daß er nur zu bald 
in Händel und Verfolgungen verwidelt wurde, bie ihn gleich nach ber 
Nieverkunft feiner Frau zu neuer Auswanderung, zur Trennung. von 
den Seinen nöthigten. Ag fievelte fich zunächft in Laufanne an Dert 
erfuhr er dann, daß auf ven Antrag jener Nationalverfammlung‘ ˖ Sa⸗ 
voyen mit Frankreich vereinigt, und fofort bie geſammte revolutionäre 
Geſetzgebung und Verwaltung über das arıne Land verhängt wurbe. 
Raſch nach einander folgten fich Die Einziehung der Emigranten- und ber 
Kirchengüter, die Verfolgung ber Edelleute und ver Priefter: auch für 
die Gräfin de Dlaiftre war fein Bleiben mehr in Chamber, und 
mit ihrer Flucht nach Lauſanne ſiel ihre gefanunte Habe ber Confis⸗ 
cation anheim. Die Brüder des Grafen, welche, wie alle ihre Ka⸗ 
meraden, treu bei der Fahne aushielten, erlitten dasſelbe Schidful; 
bie ganze Familie war mit einem Schlage in völliger Armuth. Mai- 
ftre hatte für feine und ber Seinigen Ernährung nichts als eine 
ſchmale Penfion von 2000 %., welche ihm ver König angewiefen. Alle 
meine Güter find verfauft, fchrieb er einem Freunde, ich werde nicht 
ſchlechter deshalb fchlafen. Alte feine Gedanken, alle jeine Sorgen 
waren bereitd feinen perjönlichen Angelegenheiten entrüct inmitten 
bes großen Streites, in welchem die Geſchicke Europa's gewogen 
wurden. 

Seine umfaſſenden Studien und Sammlungen fanden jetzt ihre 
Verwerthung in einen langjährigen literariſchen Kampfe gegen die 
franzöſiſchen Gewaltthaten. Er begann, wie zur Uebung, mit kleinen 
Gelegenheitsſchriften über die Verhältniſſe Savoyens, und trat dann 
im letzten Jahre ſeines Schweizer Aufenthalts mit der erſten Schrift 
von umfaſſender Bedeutung auf, welche ſofort feinen Namen zu euro— 
päiſchem Rufe erheb und eben Burfe une Mallet in vie erfte Reihe 
der conjervativen Streiter ſtellte. Es find die Considerations sur 
la France London (Laufanne) 1796. Es war vie Zeit des franzö- 
fiihen Directeriums, jener Herrfchaft einer aus den Neften ver Gi- 
rondiften und Dantoniſten gebilveten Partei, welche im Herbite 1795 
5 Bonapartes Kanonen fich gegen den offnen Aufjtand der 





Graf Joſeph de Raiſtre. 168 


Hauptftabt und ben tiefen Wiverwillen der Nation am Ruder behaup⸗ 
tet hatte. Unaufhörlich hatte fie mit dem täglich wachfenden Drange 
bes Volfes nach Befeitigung der revolutionären Männer une Doctris 
nen zu kämpfen; bie Mehrheit ver Volfsvertretung wurbe bei. jever 
neuen Wahl ihr entfchievener feinvlich, und die Anhänger des Haufes 
Bourbon überließen fich bereits ver frohen Hoffnung einer durch ven 
Vollewillen, wenn nicht veranlaßten, fo doch begünftigten Reſtaura⸗ 
tion. Diefer Hoffnung Bahn zu brechen und Anhänger zu werbeı, 
ſchrieb Maiſtre fein Buch. Es ijt merkwürdig nach ver allgemeinen 
Doctrin, auf die es feine Sätze ftügt, merfwürbiger aber noch in Be- 
zug auf die praftifchen Folgerungen, welche e8 daraus für die Frage 
des Zuges zieht. 

Maiftre beginnt mit einer Schilverung des Gefammtcharaf: 
ters der Revolution, und man benkt fi), daß er ihn mit bunfeln 
Schatten zeichnet. Vor Allem frappirt ihn die völlige Unfreiheit ver 
handelnden Meenfchen, ver Volksmaſſen, dis ein Werkzeug gewifjenlofer 
Demagogen find, der Führer, welche ihrerjeit8 durch eine unwiderſteh⸗ 
liche Verfettung der Umſtäude chne Wahl vorwärts getrieben werben. 
Er hat feinen Zweifel: e8 ijt eine höhere Fügung, es iſt die Hand 
Gottes, welche ven Strom der Revolution allein leitet. So erhebt er 
fich zu der allgemeinen Wahrnehmung, daß in ven großen politifchen 
Dingen der Menfch überhaupt nichts erfchaffen kann. Er vermag 
einen Kern zu pflanzen, einen Baum zu veredeln, aber nicht ein Ges 
wächs zu machen: noch viel weniger fann er, oder kann eine Verſamm⸗ 
lung von Menfchen einen Staat machen oder eine Verfaſſung erfin« 
den. Er kann in feinen Geſetzen böchftens anerkennen und aufzeich- 
nen, was die Natur der Dinge, was Gott bereits hervorgebracht hat. 

Gott alfo, und die von ihm gefegte Weltordnung ift der Grund 
aller Staaten und Staatsverfaffungen. Und zwar vollzieht Gott die 
Schöpfung des Staates ausnahmslos in der Weife, daß er einen Eins 
zelnen und befjen Gefchlecht mit der Kraft des Herrſchens ausrüſtet. 
Wie die Balme über die niederen Sträucher erhebt ſich dann ein fol: 
her Stamm in die Lüfte; er fommt, man weiß nicht woher, ein Te 
gitimer Ufurpator, und um ihn legen ſich dann die dienenden Genof- 
fen an. Sein mienfchlicher Willen kann vergleichen nachahmen. Erſt 
eine folche von Gott gefegte Souveränität mag darauf den Untertha- 

11* 


164 Heinrich v. Sobel, 


nen einzelne Rechte einräumen; ans ſolcher Wurzel entſproſſen Fönnen 
fie Beſtand haben, währenn jeber Berfuch, jie einemmächtig zu Fehaffen, 
in Spott und Frevel endigt. Neben ſolche Hönigefamilien pflegt ann 
Gott eine Reihe Heinerer, aber im ähnlicher Weiſe ausgezeichneter 
Racen zu fegen; auf ihnen ruht Die breitere politiiche Entwicklung des 
ganzen Volkes, und bie ſchlimmſte VBergiftung ber Nation tritt ein, 
wenn gerade der Adel feines örtlichen Schöpfers vergißt, und ben am - 
geftammten Religion ven; Nüden Ichrt. Das aber ijt jeit hundert 
Jahren in Frankreich geichehn; das iſt die einentlihe Duelle ver We 
volution,- und fo wird mach wollbrachter Sühmung und Reinigung bie 
Stärkung der fatbolifchen Kirche auch ver letzite Abſchluß des aronen 
Trauerſpiels ſein. 





ie Hingt denn ſchroff genug, und hat feit ibrem (Er: 
fcheinen, wie natürlich, den vieffachjtien und unwilligfteen Tadel von 
der liberalen Seite her erfahren. Wir wellen uns babımdh nicht ab« 
halten laſſen, die Nichtigleit der Grundgedanken, von welchen fie aus: 
fetst, bereitwillig anzuerkennen. Es iſt in ver That die Quelle mun 
die Vollendung aller pofitiven Politik, jenes Geſtändniß, daß die WII: 
für des oder der Einzelnen in dem Staatsleben nicht® machen und 
erfchaffen fann, daß vielmehr vie Aufgabe aller politifchen Weisheit 
darin befteht, die vorhandenen Rechte, Bedürfniſſe und Kräfte zu er- 
fennen, zu entwideln und weiter zu bilden. Nur wird es Darauf an— 
fommen, dieſen höchjten aller politifchen Grundſätze richtig zu verwen 
den. In feinem ächten Sinne verfünvet er nichts anteres als ven 
Gegenfag ver radicalen und ter gefchichtlichen Politik; er fchließt vie 
fubjective Wilffür, die revolutionäre fo gut wie die abjolutijtifhe aus; 
er forvert Verſtändniß der Dinge und Gerechtigkeit des Handelns, 
für die Stellung des Monarchen fo gut wie für ten Einfluß des 
Adels und die Rechte des Volkes. Er war alfe, ven Jakobinern von 
1796 gegenüber, die völlig zutreffente Waffe. Dagegen ift es will- 
fürliche Erfchleihung, wenn man aus ihn tie befonvere Vorzüglichkeit 
einer jpeciellen Staatsform bat herleiten wollen, fo wie es Maiſtre 
für feine Adelsrechte, over fpätere Parteigenofjen für tie feutale 
Monarchie verfucht haben. Es ijt vielmehr vie zwingende Confequenz 
jenes Satzes, daß feine Staatsform an fich vor der andern zu preijen, 
und eine jede nach ten Rechten, ven Kräften und Berürfniffen des 





Graf Joſeph de Maifre. 165 


gegebenen Landes zu beurtheilen ift, eine Forderung, in deren jährlich 
weiterer Verbreitung fich vor Allem in Deutfchland der größte Fort» 
Schritt der politifchen Bildung feit 1848 bethätigt hat. 

Zu ähnlichen Bemerkungen gibt die veligidfe Haltung Maiftre’s 
in ten considerations Veranlaffung. Auch hier ift ver leitende Grund» 
ſatz vortrefflidh), jo wenig man die einzelnen Anwendungen billigen 
farm. Es war ein großes gefchichtliches Verbienft, im Jahre 1796 
ber von aller Religion abgefehrten gebilveten Welt zuzurufen, daß 
alle politifchen Einrichtungen, wenn fie Dauer haben follen, an einen 
religiöfen Grundgedanken anfnüpfen, auf einer religidfen Stimmung 
ihrer menfchlichen Zräger ruhen müſſen. Es war ein wahrhaft pro= 
phetifcher Geijt, welcher tanıald inmitten des Waffenlärms und tes 
Praſſelns ſtürzender Throne ausrief: jeder Achte PFhiloſoph wird es 
anerkennen, entweder daß ſich eine neue Religion zu bilden im Begriffe 
iſt, oder daß das Chriſtenthum in irgend einer außerordentlichen Weiſe 
verjüngt werden wird. Wir haben ſeitdem geſehen, wie zuerſt in 
Deutſchland der proteſtantiſche Norden während der napoleoniſchen 
Unterdrückung ſeine Kraft in einer tiefen Erregung des religiöſen 
Sinnes zuſammengenommen, wie dann der Katholicismus in unver— 
muthetem Aufſchwung ſeine Herſtellung erlebt, feinen Einfluß erneu— 
ert, feine Anſprüche verdoppelt, wie endlich in Philoſophie und Ge- 
ſchichte die religiöfen Probleme .die Aufmerkfamfeit aller Denkenden 
in Anspruch genommen haben. So verjchieben vie Meinungen über 
den rechten Inhalt der religiöfen Vorftellungen find, fo felten wird 
jegt noch ein Widerfpruch gegen ven Sat fein, baß irgend eine leben- 
dige Beziehung des Menfchen zu dem Urquell feines Dafeins erfor 
derlich ijt, wenn irgend ein fittliches Chun des Menfchen gebeihn und 
dauern fol. Was dann aber die Confequenzen dieſes Satzes betrifft, 
fo ift e8 offenbar, daß unſerem Autor hier die Erinnerung an bie 
Sefuitenfchule ähnlichen Schaden thut, wie auf dem politifchen Felde 
bie Jugendeindrücke des ſavoyiſchen Adelsſtaats. So wenig aus dem 
biftorifchen Charakter der Achten Politif die Alleinberechtigung des 
Adels, fo wenig folgt aus ver Nothwendigkeit bes religiöfen Verhal⸗ 
tens die Alleingültigkeit der päpftlichen Autorität. 

Wir feben, es ift ein Evelmann des alten Regime von ächteftem 
Korne, der in biefer Schrift die Feder führt. Sein Geiſt erhebt fich 


6 Heinrich v. Sobel, 


mit ſtolzem Wuchſe in die höchſten Regionen ver geiſtigen Atmoſphäre, 
aber fein Weſen wurzelt durchaus in dem Boden feines Standes und 
Herkommens. Seine Argumentationen werben baburch vielfach ges 
gehemmt und verfälfcht, aber ſie erhalten baflie auch eine inbivinnelle 
Frifche und marfige Yebenvigfeit, welche troß aller Beſchränktheit Des 
Bolitifers dem Manne die achtende Neigumg jedes Yejers fichert. Sein 
Adelsſtolz ift frei von aller Brutalität gegen den Niedern, umd feine 
Lopalität gegen ven Höhern bat feine ſervile Ader. Man revet jewt 
immer, fchreibt er einem Freunde, von ber Nothwendigkeit einer ftar- 
fen Regierung: num, wenn bie Monarchie euch in dem Maafe ftart 
erfcheint, als fie abjolut ift, jo müſſen euch Neapel, Madrid, Yiffaben 
entzüden, obgleich alle Welt weiß, daß dieſe Schwachen Ungeheuer nur 
durch die Kraft ver Trägheit fortbeftehen; wollt ihr die Monarchie 
ftärfen, jo meidet vie Willlür und jtellt euch auf ben Boden bes Ge— 
feßes. In religiöfer Hinficht zeigt Malſtre bei aller Kirchlichfeit fei- 
nen Zug von fonatifcher Weltverachtung, von ſchwülſtiger Salbung ober 
moftifcher Unflarheit. Er bat im Gegentbeil wor Allem den Drang zu bia- 
lectiſcher Conſequen; wie Ronffean, und ift, wie dieſer, lieber oberflächlich 
in feinen VBorausjegungen, als tag er auf die formelle Bündigkeit 
feiner Folgerungen verzichtete. So fehr cr Voltaire als den gefähr- 
lichften Kegerfürften des Jahrhunderts, als ven eigentlichen Erzeuger 
ver frivolen Gottlofigfeit haßt, fo iſt es doc fein perfönlichites Be- 
hagen, gegen Voltaire’s Gefinnung mit Voltaire's Waffen, mit Wit 
und Spott und Ganferie, zu kämpfen. Man jehe z. B. jenes Capitel 
der Confiderationen, in welchem er vie äußere Möglichkeit ver Wie- 
bererhebung der Bourbonen in dem damaligen Frankreich erörtert. 
Er fnüpft dabei an feinen erften Sat über die Ohnmacht ver Volfs- 
maffen in den Revolutionen, und malt dann die Unmünbigfeit und 
ben Leichtfinn gerade der franzöfifchen Nation. „Vier over fünf Per- 
fonen, jagt er, werben biefem Lande einen König geben. Briefe aus 
Paris verfünden ven Provinzen, daß Branfreich einen König hat, und 
die Provinzen rufen: e8 lebe der König. Sogar in Paris werben die 
Einwohner, etwa zwanzig ausgenommen, ganz unvermuthet eines 
Morgens erfahren, vaß fie einen König haben. Iſt es möglich, rufen 
fie, das ift ja etwas ganz Beſonderes. Zu welchem Shore wird er 
einziehn? Es wird toch gut fein, ſich Fenſter im Voraus zu miethen, 


Graf Joſeph de Maiſtre. 167 


bas Gedränge wird entjeglich werben. So wirt das fouveräne Volt 
befragt, in folcher Weife wird es die Neftauration decretiren.« Gleich 
neben diefe Schilderung jtelle ich, um fofort den ganzen Umfang ver 


Tonleiter zu bezeichnen, welche dem Schriftftellen zu Gebote fteht, eine 


jpäter gefchriebene Ausführung, worin Maiftre fich ebenfo gewaltig 
im pathetifchen Schwunge, wie vorher leicht und farbig im Spotte 
zeigt. Es Handelt fih um die Entchriftlihung Frankreichs durch 
die Revolution, als vie Hanpturfache der unenblichen Zerftörung. 
„Ein furchtbarer Ruf, heißt es nun, angefchwellt durch taufend Stim- 
men, ertönte in Frankreich — weiche von uns, fchrien fie, follen wir 
ftetS vor deinen Priejtern zittern? fol vie Wahrheit ſtets durch bei- 
nen Weihrauch verbuufelt werten? wir wollen nicht8 mehr von bir 


wilien, alles Vorhandene ärgert uns, weil alles Vorhandene deinen 


Namen trägt; wir wollen Alles zerftören, und Alles beritellen ohne 
dich; verlaſſe unfere Räthe, unfere Schulen, unfere Häufer, wir wollen 
allein fein mit unferer Vernunft und ohne dich, hinweg mit bir! — 
Wie hat Gott viefen entfeglichen Wahnfinn gezüchtigt? Er ftraft ihn, 
wie er das Licht gejchaffen hat, durch ein einziges Wort. Er prad): 
thut nach euerem Willen. Und vie Welt unferer Staaten ftürzte in 
Trümmer zufammen.“ *) 

Man ermißt leicht, daß ein jo begabter Geift nicht ohne Weiteres 
in das Gefchrei der großen Emigrantenmafje auf einfache Herjtellung 
des alten Zujtandes einftimmen konnte. Wohl fah auch er das ein- 
zige Heil für Frankreichs Geveihen und Freiheit in der Wieberauf- 
richtung des legitimen Königthums, ja noch mehr, er erklärte feine 
andere Verfaffung für haltbar, als eine auf die legitimen Geſetze des 
alten Staates gegründete. Aber auf das Nachprüdlichite begehrt er 
bie Reinigung derfelben von der deſpotiſchen Verfälfchung, weldye fie 
feit Ludwig XIV. erfahren Hätte; und will feine Geſetzgebung noch) 
Steuern, welche nicht von den Ständen bewilligt werden. Will man 
hierin nur feubale Tendenz und feinen Sinn für Freiheit und Recht 
erfennen, jo wird man wenigftens das Gegentheil engherzigen Stans 
vesgefühles wahrnehmen, wenn er die Eröffnung aller Aemter für jedes 
Verdienſt, und felbft bei den höchiten nur fchwereren, nicht verjperrten 





*) 11 a dit: FAITES! Et le monde politiquse a eroule. 


67 


168 Heinrich v Subel, 


Zugang begehrt. Und was damals mod viel empfindlicher im wie 
Berhältniffe einfchnitt, er Tpricht die Unmöglichkeit aus, mit ben 
Menfchen des alten Regime zu regieren: er beantragt Amneſtie für 
Alle, felbft für die Mörder Ludwig XVI, wenn fie fich reuig erwei⸗ 
fen, und erklärte die Emigranten für jchlechterbings unfähig, eimen 
erheblichen Einfluß im neuen Frankreich zu erlangen. Tr führt ſelbſt 
das Wort König Carl TI von England an, als man ibm bei Der 
Rückkehr aus dem Exil einen Untrag auf Amneſtie, auf Vergeben 
und Bergeffen vorlegte: „ich verſtehe, was ihr meint, meinen Mein: 
den foll ich vergeben, meine Freunde muß ich vergeſſen.“ Man ers 
innere fih num ber Ereigniffe von 1814 und ber folgenden Yahre, 
und man wirb erfennen, daß Maiftre mit ſtaatsmänniſchem Geiſte 
in jenen Worten den innerften Mern aller Schwierigkeiten und Ge 
fahren ver Reftauration ausgefprochen hat. Denn wohl gab es da— 
mals auch Gegenfüte der Prineipien umd ber Parteien, ohne Zweifel 
aber der ſchlimmſte und ſchwierigſte Wivderftreit war jener der Per- 
fonen, bier der Emigranten und ihres Anbangs, dort der Macht» 
haber des neuen Frankreich, ei Kampf nicht fo fehr zweier Syſteme 
als zweier Bevölferungen innerhalb veffelben Neiches. Kine }o unbes 
fangene Einficht darüber in jo früher Zeit befunvet bei einen Mit⸗ 
glieve der Emigration nicht bloß eine fcharfe, ſondern auch eine höchſt 
mabhängige Kraft des Erkennens. 

Die Consid@rations hatten fofort bei ihrem Erſcheinen einen 
"großen literarifchen Erfolg, fonft in Europa und in Frankreich felbft. 
Freilich lam es damals nicht zu ber erfehnten Reftauration, vielmehr 
überwältigte das Directorium mit der Hilfe ver Armee vie Royali⸗ 
ften, und in Atalien fehritt Bonaparte unaufhaltfam von Sieg zu 
Eieg fort. Auch hier unterfchicn fih Meaiftre auf das Beftimm- 
tefte von dem großen Haufen feiner Unglüdsgenoffen. Wie Burke 
vor Ihn, wie Kaiſer Alexander in fpäterer Zeit, mahnte er zwifchen 
Frankreich und der Revolution zu unterjcheiven, viefe zu befämpfen, 
der Nation ihre Selbjtftänpigfeit und Unverlektheit zu gemwährleiften. 
Schon Im Jahre 1793, als fih eigennügige Abfichten der Mächte 
offenbarten, als man von der Abreißung franzöfiicher Provinzen, von 
dem Plane einer Zheilung Frankreichs hörte, erklärte er, den Tod 
im Erxile einer Herftellung um folchen Preis vorzuziehen. Er war herange- 





Graf Joſeph be Maiſtre. | 168 


wachfen in einer tiefen Abneigung gegen Deftreih, ben Erbfeind 
des Hauſes Savoyen, und den Bedränger der ultramontanen Kirche 
feit Joſeph II; er meinte, lieber wolle er noch einige Jahre aus» 
harren, als daß „das arme Haus Deftreih“ auf Koften Frankreich's 
vergrößert würde. Damals befaß nun Deftreih auf italieniihem 
Boden nur die beiden Provinzen Mailand und Mantua, etwa 200 
Duadratmeilen, abgetrennt von feinen übrigen Befigungen; es war 
alfo weit entfernt von irgend einem herrichenvden ober brüdenven 
Einfluß auf der Halbinfel, und niemand font als der Ausbreitung 
Savoyhens unbequem. Band fich ſchon durch ſolche Verhältniſſe 
Maiſtre's Stimmung gereizt, jo mußte ſich fein Gefühl zur glühen- 
ben Entrüftung fteigern, als fich feit 1794 jene enticheivende Wen- 
bung ber öftreichifchen Politik entwickelte, durch welche der Minifter 
Thugut dieſem Staate feine moderne Stellung gegeben hat. Sie 
läßt ſich kurz dahin ausprüden: Verzicht auf Belgien und damit 
Preisgabe der deutſchen Weftgrenze, dafür Ausdehnung der italieni- 
ſchen Provinzen bis zu einer ganz Italien dominirenden Stellung. 
Diefer Gedanke fchlug zuerft in ver rufjiichen Unterbanplung über 
bie Theilung Polens an, wo der Minifter Thugut Anfprüche auf bie 
venetianifchen Brovinzen anmelvete; er zeigte fich dann in ber tiefen 
Unluſt, womtt Defterreich den König von Earbinien gegen die Fran⸗ 
zojen unterftühte; er wirkte, nach den Umständen mobdificirt, 1797 
bei tem Frieden von Campo Formie, wo Deftreih den Franzoſen 
das linke Rheinufer überließ, um für ven Verluſt Mailands mit 
Benedig und deffen Zerrafirma entjchäpigt zu werden; er brach end⸗ 
lich rückhaltslos an das Licht, ald bei dem neuen Krieg von 1799 vie 
kaiferlichen Heere, dur Suworow geführt und unterftüßt, ganz Ober: 
italien einnahmen. Damals erhob ſich der König von Sardinien, 
von den Franzofen auf feine Infel vertrieben, um in die heimifchen 
Befigungen zurüdzufehren. Aber Deftreich verbot e8 auf ver Stelle, 
in ver Meinung, Piemont oder doch ven größeren Theil deſſelben 
für fich felbjt zu behalten. Es ftarb der Papſt in franzöfifcher Ge- 
fangenfchaft, und die Cardinäle traten zur neuen Wahl in Venepig 
unter faiferlihem Schutze zufammen; Deftreih verbot die Wahl 
eines Sarbiniere, und ließ die Abficht erkennen, bie den Franzoſen 
entriffenen Legationen zu feinem Eigenthum zu machen. Diefe Pläne 


4 
T. 





170 Heinrich v. Sybel, 


ſcheiterten damals au ber Abneigung England's und dem Wider⸗ 
ſpruche Rußlands; eben ans Zern hierüber rief Anifer Paul ſeine 
Truppen ab, und ein Jahr nachher warf Bonaparte zu Marengo 
die Entwürfe des öſtreichiſchen Ehrgeizes fürs Erſte in Trümmer, 
Man ermißt leicht, mit welchen Gefühlen ein warmer unb ener⸗ 
gifcher Patriot, wie Maiſtre, viele Greigniffe erlebte. Er war 
17% nach Zurin zurückgekehrt, batte zwei Jahre fpäter, ale ein 
franzöfijcher Heerestheil die Stadt beſetzte, zum zweitenmale Müdhten 
mäßen, und wur mit feiner familie immitten des Winters zu Schiff 


den Bo Hinabgeeilt, zwiichen treibenden Eisichellen und feinnlichen 
Beretten bindurch, um ein Aſhl in Benedig zu ſuchen. Dort lebte 


er in der bitterften Noib, von bem Erlöfe einiger geretteter Silber⸗ 
geräthe, ohne Verbindung mit feinem Hofe, font in ber Welt obie 


jegliche Ausfiht. Mit welcher Spannung jab er die Ernenerung des 


Krieges, mit welchen Jubel Die Berjagung ber Arranzojen, mit wel: 
chem Knirichen bie neue Ausweiſung feines Königs durch Die eignen 
Bunvesgenoffen. Der Haß geten Deitreich blich ſeitdem der Grumd- 
ton feiner politijchen Anſchaunngen. Er blieb es, auch ald Napoleon 
Schritt auf Schritt fih ganz Italien aneignete, als er Oecfterreich 
aus einer Ernietrigung in die andere ftürzte, als in ven Gedanken 
ber anderen Menſchen jede Erinnerung an die frühern Machtver⸗ 
hältnifje Europa's verblaßte. Denn in tem jcharfen und unerjchüt- 
terlidem Geifte Maiftre’s verſchwand feinen Augenblid vie Ueber: 
zeugung, daß das revolutionäre Kaifertbum feinen Beſtand baben, 
daß cd nach Erfüllung jeiner Miffion ven legitimen Gewalten : wieder 
Plag machen würde: für vie Reftauration, wiererholte er aunanfhör- 
ich, ift nicht das Db fonvdern nur das Wann zweifelhaft. Eben 
biefe Zukunft, welcher jeder Schlag jeines Herzens entgegen flog, 
ſah er für fein Vaterland durch die neue Richtung ver öftreichiichen 
Bolitif bedroht, fein ganzes Weſen fam dadurch in fieberhafte Erre- 
gung: wenn Oeſtreich über VBenerig und Pavia herrfcht, rief er, 
fo ift e8 vorbei mit dem Haufe Savoyen, vixit. 

Cr follte diefen Eorgen noch manches ſchwere und mühevolle 
Jahr feines Lebens widmen. Einftweilen aber wurte er ihnen durch 
einen aus Florenz datirten Befehl feines Könige entrücdt, worin ihn 
biefer zum Präfidenten ver Kanzlei der Inſel Eartinien ernannte. 





Graf Joſeph de Maiftre. 171 


Es war eine ber wichtigften Stellungen des Staates, welche das 
ganze Yuftiziwefen und einen anfehnlichen Theil der Verwaltung ver 
Inſel umfaßte. Aber auch die Anftrengung, zu welcher fie den In- 
haber nöthigte, war übermenſchlich. Die Infel war kurz vorher 
durch einen blutigen Aufſtand ihrer halbwilden Gebirgsbewohner auf 
das Tiefite erjchüttert worden; ein unüberwindlicher Haß gegen jebe 
Neuerung, eine grimmige Erbitterung gegen alle Fremden, ver fich 
am lebhafteften gegen tie Piemontefen richtete, trat den Föniglichen 
Beamten auf jevem Punkte entgegen. Dazu famen in ben Hafen» 
jtäpten die verdrießlichſten Reibungen zwiichen den Schiffen ber krieg⸗ 
führenden Nationen; vie Englänver nahmen mitten im Hafen von 
Cagliari, ohne auf ven Widerfpruch der Behörden zu achten, fran- 
zöfifche Fahrzeuge weg, und ver König mußte fich bequemen, ven 
Werth verjelben and ver eigenen Taſche der franzöfiichen Regierung 
zu erjeten. Diefe Nöthe erleichterten dem Grafen die Trennung 
von der Heimath, als ver König ihn im September 1802 zum Ges 
fandten in Petersburg ernannte. Es war auch dies allerdings fein 
lockender Auftrag; er entfernte ihn auf unbeftimmte Zeit von feiner 
Familie und ftellte ihn in cine völlig fremde Welt, unter Umſtänden, 
welche wenig Hoffnung auf befriedigendes Gelingen gewährten. Bo» 
naparte hatte Deftreich zum Frieden von LQuneville gezwungen, in 
Italien und Deutfchlane war fein Wille allmächtig, endlich hatte 
auch England ſich zu dem Vertrag von Amiens bequemt, und in die— 
fem auf jede Erwähnung des Königs von Sardinien verzichtet. Die- 
fer hatte Savoyen und Nizza längit an Franlreich abgetreten; feit 
1798 war auch Piemont in franzöfiichen Hänten; ver König fette 
feine ganze Hoffnung auf den Kaiſer Alerander, um durch deffen ge= 
wichtige Verwendung wenigftens eine anftändige Entſchädigung von 
dem franzöfifchen Herricher zu erhalten. Aber es war mehr als zmeis 
felhaft, wie viel auch vie Fräftigiten Schritte des Kaifers wirken, 
und noch mehr, ob dieſer fich eben jett, wo er gemeinfam mit Bo⸗ 
naparte bie deutſchen SAcularifationen verhandelte, zu einem nach - 
drücklichen Worte entfchließen würde. Indeſſen Meaiftre hielt es 
für feine Pflicht, feinem Königlichen Herrn, am unbebingteften in ven 
ſchlimmen Tagen, zu dienen, und machte fich Februar 1803 zu fei- 
nem biplomatijchen Abenteuer auf den Weg. Er ging zunächit nach 


1712 Heinrich v. Sybel, 


Rom, wo der Konig damals lebte, um fich feine näheren Inſtructio- 
nen zu bolen. Unterwegs in Neapel ſah er den franzöflichen Ge— 
fantten Alqwer, mit bem er perfönliche Beziehungen aus frübexer 
Zeit hatte. Er ſagte ihm bei einem politiichen Geipräche: ihr babt 
wohl gethan, das Wort Monarchie abzuſchaffen, und baflr Herrichaft 
eines Einziger zu ſetzen; unfere Sprace iſt veich genug, warum aus 
dent Griechiſchen borgen? Alquier lachte, und begann von ben ita= 
lieniſchen Verhältniſſen zu reden. Der Graf erörterte fie darauf mit 
fo fcharfen Accenten, daß Alquier mehr als einmal ausriefs mas 
wollt ihr in Petersburg; entwickelt dieſe Dinge dem eriten Con— 
ſul; niemals hat man fie ibm gefaat, oder doch nicht auf dieſe Weife, 
Indeſſen ehe Maijtre zu einer Eriwägung des Vorſchlags kam, en 
pfing der König in Kom eine franzöſiſche Note, worin Bonaparte 
ihm Siena und Orbitello und eine jährliche Benfion als Entſchädi— 
gung anbot, wenn ber König auf jeine alten Staaten förmlich ver— 
zichte. Rußland riet anzunehmen; je umglinitiger ſich hienach Die 
Stimmung in Peteröburg bevausitellte, deſto eifriger brängte ber 
König den Orafen de Maiſtre zur jchleunigen Abreiſe. Er wollte 
verzichten, wenn Bonaparte ihn Genua und Savona liberließe, an⸗ 
dern Falls aber feine völlige Beraubung ertragen und auf die Zu— 
funft hoffen. 

Im März 1803 eilte alſo Maiftre nach Petersburg. Wiber- 
wärtigfeiten aller Art begleiteten ihn vom erſtem Augenblide an. 
König Victor Emanuel, des beiten Theiles feiner Länder entbehrend, 
und felbit als Flüchtling in Rom lebend, war fortvauernd in finan- 
zieller Bebrängniß, und nicht im Stande, feine Miniſter glänzend 
auszuftatten. Dazu Tam, daß Meaiftre zwar nicht mehr wie in 
alten Tagen für einen heimlichen Jakobiner galt, bei aller Yoyalität 
und Aufopferung aber e8 doch täglich bei dem Könige durch Die uns 
beugfame Selbftjtändigfeit und Yebhaftigfeit feines Auftretens ver- 
darb. Er war, als man feinem Zalente eine Unterhandlung über 
die Eriftenz des Staates anvertraute, in offener Ungnade, und hatte 
mit den Aeußerungen verjelben unaufhörlich zu kämpfen. Dean gab 
ihm einen Reiſewagen, ver auf jeder Station zerbrocdhen ankam; 
man verbot ihm alle wichtigen Schritte in feiner Unterhandlung 
ohne fpecielle Anfrage in Rom, worüber dann Monate vergingen 


Graf Joſeph de Maiſtre. | 178 


und mittlerer Weile die Welt ihre Gejtalt verändert hatte; man un- 
terwarf ihn den Weifungen eines jüngeren GCollegen, des farbinifchen 
Gefandten in London, verweigerte ihm die angemefjenen Orden, gab 
ihm häufig genug ein beftimmtes Mißtrauen in feine Redlichkeit zu 
erfennen. Alle viefe Bitterkeiten wurden gefchärft durch ein endloſes 
Ringen mit harter Armuth. Sein Gehalt erwies fich bei den An⸗ 
fprüchen des ruffifchen Luxus als völlig unzureichend. Auf Zulagen 
hatte er nicht zu hoffen, Schulden wollte er nicht machen: fo legte 
er fich mit unerfchöpflihem Muthe vie vrüdenpften Entbehrungen 
auf, mochten feine glänzenven Standesgenoffen darüber noch fo mweg- 
werfend die Achfeln zuden. Den Befucher empfing auf ver dunkeln 
Treppe des Heinen Quartiers ber einzige Diener mit ber befcheivenen 
Dellampe; jtatt des unerfchwinglichen Pelzes that auch im ruffischen 
Winter der alte ſardiniſche Mantel feinen Dienft; es kam endlich fo 
weit, daß der Gefandte, ohne Mittel, um ſtandesmäßig zu fpeifen, 
für mäßiges Koſtgeld am Zifche feine Bedienten aß, und eine Zeit- 
lang deſſen Stelle einem entfprungenen Verbrecher anvertraute, welcher 
das Aſyl des Geſandtenhauſes ſich anftatt der Löhnung anrechnen 
ließ. 

In allen tiefen Nöthen blieb cr ungebeugt, und fühlte fich in 
dem Bemwußtfein, daß er tie Blößen ver äußeren Stellung durch bie 
Kraft feines Geiftes und die Sicherheit feiner Haltung zu deden babe. 
Die Aufgabe war un fo fehwieriger, als Kaifer Aleranver damals 
im beten Vernehmen mit Bonaparte ftand, und in feiner enthufiaftl- 
chen Weife gemeinfam mit den großen Manne aus ganz Europa ein 
weites Reich des Friedens und ver Gerechtigkeit zu machen hoffte: 
der Gefandte aljo des Königs von Sartinien, der feine andere Aufs 
gabe als Wiberftand gegen Bonaparte hatte, fand als folcher eine 
eifige Aufnahme bei Alerander und deſſen Miniſtern. Perfünlich aber 
frappirte und ereberte er den Kaiſer gleich bei ven erften Gefprächen 
durch die originelle Präcifion feiner Wenbungen, die bligenden Fun⸗ 
fen feines Witzes, vie Eicherheit und Clafticität feines Geiftes, deſſen 
Stolz dody immer durch Begeifterung und Güte durchwärmt war. 
Bald fanden fi) nahe Freunde innerhalb des viplomatifchen Corps, 
ber würbige Serra Sapriola von Neapel, der derbe und eifrige Ste— 
bing von Schweren; vor Allem aber nahmen ihn die Reſte des alten 





2* 


174 Seid v. Sybel, 


Hofes, die Magnaten aus der. Zeit Catharina II, als Verfechter ver 
einzig haltbaren Politik mit froher Bewunderung auf, Männer wie 
Graf Strogonoff und Admiral Tfchitfchagoff, die ihre thätige Bett 
in dem Kampfe gegen die Revolution zugebracht hatten, und in Ale 
rander's Neigungen nichts als, verberbliches Träumen und Schwär⸗ 
men ſahn. Maiftre ſelbſt betrachtete den jungen Kaifer mit fehr 
gemifchten Gefühlen. Es war unmöglich, ver Liebenswürdigkeit und 
edlen Richtung feines Weſens zu wiberftehn, dem beinahe melancholi⸗ 
hen Zuge eines tiefen Ernſtes über allem fürjtlichen Glanze, ver an- 
muthigen Schüchternbeit bei allem monarchiichene Selbitbewußtfein, 
der hinreißenden Begeifterung für jeven großen weltumfaffenden Ge⸗ 
banken. Den Duft ver Yugenbfrifche, welcher damals auf Alexau⸗ 
der's Wejen lag, wußte er völlig zu würbigen, ohne ſich durch ein⸗ 
zelne Unbejonnenheiten irren zu laffen. Als Einer äußerte: um ihr 
zu mäßigen, müjfe jtets ein Graukopf in feiner Nähe fein, ſetzte 
Maiftre hinzu: ganz recht, nur ohne Puder. Um fo mehr aber ber 
klagte er, daß dieſer erregbare Menfch durch feinen erjten Erzieher 
(La Harpe) in die Bahn der franzöfifchen Aufklärung geworfen wor⸗ 
den fei, daß er ten Sinn für feine Nation und Kirche verloren habe, 
und ohne feiten Ausgangs- und Zielpunft unbejtimmten Idealen des 
Fortſchritts und ver Weltbeglüdung nachjage: auf dieſem Boden, 
meinte Maiftre, fei jekt die Neigung zu Bonaparte und dem fran- 
zöfifchen Syſtem erwachfen, und werde fich weiterhin unausbleibliche 
Zäufhung und Zerftörung ergeben. 

„Eine ſolche Fürftengeftalt hob fih doppelt auffallend von dem 
halb afiatifchen Grunde ihrer Petersburger Umgebung ab. Hier la- 
gen die grelfiten Gegeuſätze dicht und heftig neben einander. In der 
höheren Gejellfchaft herrſchte ein maaßloſer Luxus, der mit unges 
beuern Summen vie Genüffe aller Himmelöftriche um fich verfam- 
melte, und mit höchſter Unbefangenbeit alle Schranfen der Sitte 
überfprang. Das Weib, bemerkt Maiftre, ift bier noch wie im 
Drient eine Waare, die von Hand zu Hand geht; ein Chrenmanı, 
ber jein Kinb nicht dem Findelhauſe überweist, fondern dafür forgt 
ober gar um jeinctwillen die Mutter heirathet, gilt für cinen Phönix, 
für einen Heiligen. Dabei waren die großen Familien durchgängig 
in zerrütteter Vermögenslage und unbeilbar verſchuldet. Was ben 





Graf Joſeph de Meiftre. 175 


Staat betraf, fo waren faum drei Fahre jeit der Ermorbung des 
Kaiſer Baul verflojfen, und die Unficherheit und Gewaltfamfeit des 
Zuftandes noch frifch in aller Bewußtfein. Als weiterhin einmal 
Rede davon war, daß Alerander jelbft ein Heer nach Deutfchland 
führen follte, verhinderten e8 die Miniſter, und einer von ihnen fagte 
ganz ernftbaft: wir wollen ihn nicht den Gefahren des Krieges aus⸗ 
fegen, wenn wir ihn verlieren, fo hätten wir wieder Einen (den Groß- 
fürften Conftantin) den man todtſchlagen müßte. ‘Die Extreme berüh- 
ren fih, fand Maijtre. Hier in dieſer abfoluten Monarchie ſtößt 
ber Fürft auf mehr Hinderniffe feines Willens als vielleicht ig ‚einer 
Republik. Catharina II. wollte einmal einen jtatijtijchen Bericht über 
ben Zuftand einer Provinz drucken laffen: da erklärte ihr ver Gene- 
ralprofurator, er könne dann fein Amt wicht mehr verwalten, und 
Satharinı gab nach. Alerander, lebhafter in feinem Triebe für Fort⸗ 
Schritt und Civilifation, gab jelbft GOO Rubel für die Gründung eines 
Jouruals, in welchen fein gleichgefinnter Minifter, Kotfchubey, vie 
wichtigiten Uctenftüce feiner Verwaltung befannt machte. ‘Die Gou⸗ 
verneure der Provinzen murrten, das Journal aber warf gleich im 
erften Jahre einen Gewinn von 13000 Rubeln ab, und Alerander be- 
jtärkte ſich in ſeinen Reformgedanken. Eines freilich vermochte er bei 
bem wärmjten Eifer nicht zu Ändern, daß es ein Hinderniß für das 
Vorwärtskommen eines Beamten war, wenn er für unbejtechlich galt. 

Indeſſen gingen die großen Greigniffe ver europäiſchen Politik 
ihren Gang. Kaum hatten Rupland und Franfreih die neue Ord- 
nung ber deutjchen Staaten burchgefegt, jo brach ber mühfam gefit- 
tete Frieden zwifchen Benoparte und den Engländer. Es war ber 
erfte Hoffnungsftrahl auch für Maiftre. Pitt Hat fehr Recht, rief 
er gleich) damals feiner zweifelnden Regierung zu, wenn er fügte, daß 
biefer Krieg länger und fehredlicher werben wird, al& ber erſte. Als 
eifriger Katholif und Franzoſe im innerften Mark liebte er fonft die 
Größe Englands nicht: es iſt äußerſt verbrieplich, jagte er eines Ta⸗ 
ges, daß gerade bie unaueftehlichjten Leute die einzigen Vertheidiger 
ber guten Sache find. Indeſſen ließ er ſich durch eine folche Antipa⸗ 
thie fein politifches Urtheil nicht verbunfeln. Als ver fpanijche Ge- 
fandte ihm Hagte, daß fein Hof fich nicht zwifchen Frankreich und 
England zu entfcheiden wilje, da die Gefahr auf beiden Seiten gleich 


176 Heinrih v. Subel, 


ſei, brach er aus: aber nicht die Ehre. Es war ganz zutreffend, 
wenn er fi Über feine Mißſtimmung gegen England dahin ansfprach, 
man möge nicht glauben, daß er den Britten nicht volle Gerechtigkeit 
widerfahren laſſe. „Ich bewundere ihre Verfaſſung (ohne freilich zu 
glauben, bag man ſie ohne Weiteres anderswohin verpflanzen künne,) 
ihre Strafgefege, ihre Kunſt und Wiſſenſchaft, ihren öffentlichen Geift. 
Aber das Alles wird in den auswärtigen Beziehumgen durch unertwäg- 
liche nationale Borurtheile und einen maaßloſen Hocmuth verborben, 
ber alfe andern Nationen abjtöptr Neuerdings politifivte Ich mit ihvem 
Botichafter. Jeder rechtfchaffene Enropäer, fagte ich, muß eben ale 
Europäer für euch fein. Wäre id Semverain unb hätte euch mein 
Leben lang auf ven Top bekämpft, heute wilrbe ich für euch fein, 
benn es handelt fich um ganz Europa, Vortrefflich, entgegnete er, 
aber man muß viele Köpfe vereinigen und bas iſt jehwierig. Ich ant- 
wortete: ihr. könnt es, denn Wilhelm TIL hat es bei ähnlichem Anlaß 
gekonnt. Er eroberte das Bertranen aller Cabinette, ex jchmeichelte 
dem fremben Stolze, er vereinigte in feiner jtarfen Hand alle inte 
reffen, und ihr wit, wohin er enblich Yurwig XIV. gebradt bat. 
Es kann euch fo guf gelingen wie ihm.“ | 
Er hatte dann die Genugthuung, daß England fchr bald dieſen 
Geſichtspunkt felbjt ergriff, und Bonaparte feinerfeits durch immer 
neue Webergriffe eine Macht nach der andern in das britiiche Bündniß 
drängte. Wleranver hatte freilich gleich beim Beginne bes Krieges 
feine Vermittlung angeboten, und Bonaparte zum Schreden Maie« 
ſtre's die ganz auf tes Kaiſers erregbare Großmuth berechnete Ante 
wort gegeben: ich lege die Sache völlig in feine Hand, möge er ent« 
fcheiden wie er will. Indeſſen als Alerander fich dadurch nicht unbe— 
bingt für bie franzöfifchen Anfprüche begeiftern ließ, als er das Ur- 
theil abgab, daß beide Mächte auf ven Standpunft der legten Frie— 
densſchlüſſe zurüdtreten follten, da ſchlug das Verhältniß plöglich um, 
und Bonaparte wies bie ruffifche Vermittlung in herrifcher Kürze zu— 
rück. Ulerander empfand es mit fchmerzlichem Zorne, und kam jetzt 
auf den Gedanken, fi) aus eigener Kraft als bewaffneten Schieds⸗ 
richter des Streites und Schöpfer einer neuen europäifchen Orbnung 
zu conftituiren. ‘Die Pläne, welche aus diefer Richtung entfprangen, 
bat bereitS vor einigen Jahren Thiers ausführlich mitgetheilt: e8 han 








Graf Joſeph de Maiftre. 177 


delte ſich um bie Einfchränfung Frankreiche, tie Organifation Deutfche 
lands, Italiens, der Schweiz, um die förmliche Ausarbeitung eines 
neuen Wölferrechts: ta ſchien ſich denn einen Augenblid auch für 
Maiftre und deſſen Monarchen die Ausſicht aufzuhellen. Ihr Brief: 
wechfel zeigt, daß vie ruſſiſche Regierung über Italien Maiſtre's 
Aufichlüffe und Nathfchläge mit bereitwilligem Ohre anhörte, und fich 
ihrerfeits völlig einverftanden erflärte, als er bie enropäijche Noth- 
wenbigfeit eines felbjtjtändigen “Italien erörterte, eines großen Staa- 
tes im Norben ver Hulbinfel, welcher Piemont und Genua, Mailand 
und Venedig umfaßte, und bamit die Kraft befäße, zwifchen Frankreich 
und DOeftreich für fich und die füplichen Staaten eine eigene peliti« 
ſche Haltung zu behaupten. Alexander und fein Miniſter Czartorisky 
gingen in jedem Sinne auf dieſe Gefichtöpunfte ein, jetoch zeigte jich 
bald, auch außer der nächiten Schwierigkeit, ver Befiegung Napoleon's, 
noch eine Reihe anverweitiger Hinderniſſe. Einmal hatte Alerander 
fein beſonderes Zutrauen zu der Fähigkeit und den Grundſätzen bes 
Königs von Sardinien. Wird es ihm möglich fein, fragte Czartorisky 
ven Gefandten, al8 Beherrfcher jener mannichfaltigen Lande den For⸗ 
berungen ber Zeit Genüge zu thun: nach einer Erfchütterung wie bie 
franzöfifche Revolution Tann man doch fchlechterbings nicht in bein 
alten Geleiſe fortregieren. Was vie perfönliche Anficht Maiſtre's 
betraf, fo hatte er nicht das Minvefte dagegen zu erinnern, vielmehr 
beurtheilte er die ſardiniſche Neftauration nach denſelben Grunpfägen, 
wie in den Confiderationen die franzöfifche. Eine Revolution, fagte er, 
kann nicht durch Rückkehr zum alten Zuſtande enbigen; fie verwandelt 
ihre freunde und ihre Belämpfer: vie Völkerwanderung fchloß nicht 
mit der Vertreibung der Barbaren aus ven römifchen Provinzen, ſon⸗ 
bern mit ihrer Feſtſetzung vafelbft und neuen Civilifation. Er benußte 
alfo die ruffifche Erörterung, um feinem Könige bie Nothwenbigfeit 
liberaler Reformen mit dem böchften Nachdruck zu prebigen. Beim 
Anblick diefes afiatifchen Hofes, dieſes allmächtigen Herrichere, fchrieb 
er ihm, wer bächte nicht, daß Ew. Majeftät in ihm bie feftefte Stüge 
ber abfoluten Monarchie haben würden? Aber das gerade Gegentheil 
it der Fall. Der Kaifer ift Philofoph, ift es vielleicht zu fehr. Seine 
ganze Umgebung ift von den neuen Ideen erfüllt; wäre fein Volk für 
eine Verfafjung reif, fo würbe er fie mit Begeifterung ertheilen. Und 
diſtoriſche Beitfärift L Ban, 12 


. 


Ta 





. 


178 Heinrich v. Sybel, 
wenn Ew. Majſeſtät auf Ihren Thron zurüdkehren, und bie Bertreter 


Ihres Volles dies oder jenes Privileg, biefe over jene Repräfentation 
begehren foliten, jo würde zweifellos das erfte Wort des ufers jeim: 
vortrefflih, jo iſt es Recht. Der König, ſchloß demnach Mixiftee, 
müſſe fich darauf gefaßt machen, in Turin König, in Gema aber 
mm Doge zu feinz er möge fih alle Regierungsrechte vorbehalten, 
aber Gefegebung und Beſteuerung von ſtändiſcher Bewilligung ab- 
hangig machen. Er entwickelie dieſe Säge unermüplih, und wenn 


man fine damaligen Briefe wit feinen fpäteren Drudfchriften ver⸗ 


gleicht, fo erſcheint das Wort, welches fein Herausgeber an bie Spige 
der Memoiren geitellt bat, im vollem Lichte: man muß ſtets den Böäl- 
fern Achtung vor der Autorikät und ben Fürſten Achtung wor ber 
Freiheit verlünten. Aber allerdings, er hatte Hier bei dem Pürften 
nicht befferen Erfolg als ſeine Bücher bei den Böllern. Bictor Ema- 
nuel zog aus feinen Lehren nur den Schluß, daß Maiſtre noch im- 


"Mer ein halber NRevolutionär feh weigerte hartnäckig bad geringfte 


Eingehen auf Alexander's Denkweife, und ftimmte bamit ben Eifer bes 
Kaijers um ein DBebentendes berimter. 

Schlimmer aber Als diefes Mißverjtehen im Innern war für bie 
Herjtellung Italiens ein auswärtiges Verhältniß. Es zeigte ſich nur 
zu bald, daß Oeſtreich auch im Jahre 1804 an ven Plänen-von 
1799 feithielt, ohne fich der unheilvollen Folgen feiner damaligen Be— 
ftrebungen zu erinnern. Alerander war fo burchdrungen und begeiftert 
von feinem nenen europäiſchen Syſteme, daß er dem Wiener Hofe für 
die Räumung Venedigs nichts Geringeres als die Beſitznahme ber 
Moldau und Walachei anbot, eine Conceſſion, Welche das ganze Ge⸗ 
biet der nievern Donen und damit die Zukunft des Orients in De- 
fterreich8 Hand gelegt hätte, deren Wichtigkeit alfo gerave für NRuß- 
land ganz unermeßlich war. Allein das Minifterium Gobenzl blieb in 
den von Thugut vorgezeichneten Wegen, lehnte wie Abtretung Venedig 
ab und forderte umgekehrt als Preis feines Bimdniſſes gegen Napo⸗ 
leon eine Erwerbung auf italienifchem Boden. Darüber gefchah, daß 
Napoleon ven Herzog von Enghien gefangen nehmen und erjchießen 
ließ, eine Gewaltthat, welche bei Alexander die lebhaftefte Entrüftung 
bervorrief, und den Bruch zwifchen ihm umb Frankreich unbeilbar 


“ machte. Je näher aber die Ausficht auf einen bewaffneten Zufam- 





Graf Joſeph de Maiftre. 179 


menftoß rückte, vefto fchiverer fiel zu Petersburg das Anfehn Oeſt⸗ 
reichs in die Wagfchale, ohne deſſen Mitwirkung die Nuffen einen 
Krieg gegen Frankreich gar nicht eröffnen Fonnten. Der Wllianzver- 
trag, welchen beide Mächte im Noveniber 1804 abfchlojfen, war denn 
weſentlich im Deftreihifchen Sinne gedacht. Der Krieg follte unter- 
nommen werben, nicht zur Schöpfung eines neuen europäifchen Syſtems, 
fondern im Yalle weiterer Uebergriffe Napoleon's in Stalien. Wenn 
die Beſiegung der Franzoſen gelänge, fo follte nicht ganz Oberitalien 
als felbftftändiger Staat conftituirt, fondern das äftreichifche Gebiet 
bi8 an den Po und die Adda ausgebehnt werden. Schon tiefes Zu- 
geſtändniß traf die Hoffnungen Maiſtre's auf das Bitterftie, und 
das Wiener Sabinet war nicht einmal gefennen, auf ber fo erreichten 
Linie ftehen zu bleiben. Mit dem Frühling 1805 begannen aller Or- 
ten die Rüftungen: Napoleon verleibte damals Genua und Lucca fei- 
nen Beſitzungen ein, und verwirflichte hiemit den im November vor- 
gefehenen Striegsfall; die dftreichifchen und ruſſiſchen Heere fetten 
fih im Laufe de8 Sommers zu dem großen Kampfe in Bewegung. 
Man Hat fih nun oft über die Kurzfichtigfeit gewundert, mit welcher 
Deftreich feinen beiten Feldherrn, ven Erzherzog Carl, und fein 
ftärkjtes Heer an ber Etſch aufftellte, und die Beſchützung feiner deut⸗ 
fchen Lande dem unfühigen Mad und den weit entfernten Ruffen an—⸗ 
vertraute, während Napoleon über 200000 M. an bei Ufern bes 
Sanals, in Holland und Hannover aufgeftellt hatte, und alfo feine 
ftärfiten Schläge ohne Zweifel in Deutfchland zu erwarten waren. 
Die Correfpondenz Maiſtre's gibt jegt die Erklärung. Oeſtreich 
hatte fich wieder wie 1799 vie Erwerbung nicht bloß der Addalinie, 
auch nicht bloß des mailändischen Gebietes, fondern dazu noch Pie 
mont's vorgefeßt: um biefen Zwed mit möglichfter Sicherheit zu er- 
reichen, ſchwächte es fich an der Donau, fanımelte alle Kräfte in Ty— 
rol und Benetien, und wies die Ruſſen, die Freunde und Befchüger 
Piemont’s, auf den deutſchen und höchtens ben neapolitanifchen Kriegs⸗ 
ichauplag. Sein Gefandter in Petersburg, Graf Stabion, war eifrig 
bemüht, den Kaifer Alexander für biefe Tendenzen zu gewinnen. Cr 
erörterte, daß man Italien nur dann vor den Franzoſen ficherte, wenn 
man bie Hut der Alpen einer Kriegsmacht erften Ranges anvertraue, 
und fprach bie Meberzeugung aus, daß wenigitens während ber Dauer 
12* 


ec 





180 Sri ©. Eybel, | — 


des Krieges Piemont unter oſterreichiſcher Verwaltung bleiben muſſe 
Es wurde Maiftre nicht ſchwer, dem Kaifer vie Wirerlegung die⸗ 
fer Säge zu liefern. Er bemerkte, daß das einzige Mittel zur Ver⸗ 
bütung eines ewigen Kampfes zwifchen Deftreich und Frankreich das 
Aufhören ihrer Grenzna ft und bie Bildung eines ungefähe- 
fichen aber in fich feſten Miſchenſtaates fein würbe Er erinnerte 
weiter an die Erfahrung. son 1799, wo Deftreih in Piemont bei 
ver tiefen Abneigung ver Gipianiuge nicht im Stande geivefen war, 
ein Batalllon. Freiwilliger zum Mupfe gegen die Franzoſen zufanmen 
zu bringen, während viele Datfruve nur auf das Erfcheinen des na⸗ 
tionalen Herrſchers warteten, um Out und Leben für bie große ge= 
meinfame Sache einzufegen. Diefe Verhandlungen dauerten noch fort 
in ber Mitte des Septeinber, als die franzöfifchen Eolonnen bereits 
am Rhein und Schwarzwald anlangten: es geſchah barüber nichts, 
206 vereinzelte Mack'ſche Heer zu, verftärden ober zu ftügen, unb fo 
wiederholte fich bie Nemefis von 2Min erhöhten Maaß. Vier Wo- 
chen nachher ſtreckte Mack bei Ulm die Waffen, in reißendem Sieges- 
laufe zog Nupoleon:gegen Wien, Erzherzog Curl cilte ftatt nach Pie- 
ment nad) Ungarn zurüd, und ehe das Jahr zu Ente fam, lieferte 
der Preßburger Frieden das Ergebniß, daß Oeſtreich feine venetia« 
niſchen Befigungen nicht bis an die Alpen oder die Adda erweiterte, 
fonbern an das napoleonifche Königreich Italien abtreten mußte. 

Es würde uns bier zu weit führen, auf das Detail ter Schlacht- 
berichte einzugehen, welche Maiſtre für feinen Hof aus ben Erzäb- 
lungen ber ruffifchen Offiziere zufannen ftellte. Ihre Summe ijt wie 
berftrebende Bewunderung für Napoleon und verachtender Haß gegen 
die deutfchen Verbündeten: bie Einzelnheiten find für und wenig er. 
baulich, indeß wäre es ein fehr übel angebrachter Patriotismus, einen 
fo verlorenen Bolten wie unſere Kriegd- und Staatsfunft von 1805 
zu befchönigen, oder dem Auslänter bie ſchärfſte Kritif Darüber zu ver- 
übeln. Sich felbit fchenen übrigens die rujfifchen Gewährsmänner Mai— 
ſtre's ebenfo wenig; man ift erftaunt über die innere Auflöfung, die 
völlige Anarchie in dieſem Heer, deſſen Lenker mit leichtfinniger Keck⸗ 
beit dem erften Feldherrn des Jahrhunderts die Schlacht anboten. 
Der officielle Führer, General Kutuſoff, warıte, und bat ben Kaifer 
dringend, jedes große Treffen zu vermeiden. Aber die andern Officiere 










Graf Joſeph be Maiſtre. 181 


tes Hauptquartiers erklärten, taß jeder Auffchub verderblich, daß in 
ven nächſten Wochen feine Verftärfung zu erwarten, daß die längere 
Ernährung der Truppen unmöglich ſei. Mit folchen Grörterungen be« 
ſtürmten fie ten Slaifer, ohne zu willen, daß General Effen mit einem 
ftarfen Armeekorps nur noch drei Märfche weit entfernt, daß wenige 
Tagreifen rückwärts colofjule Magazine aufgehäuft waren. In völli- 
ger Unkenntniß ber Yage aljo wurbe ber Kampf befchleffen, welcher 
über Europa's Schidjal entjcheiven follte. Als Alexander fein Ja 
ausgefprochen, wagte Kutufeff feinen Wiperfpruch mehr, ſondern kam 
tief zerknirſcht zum Hofmarſchall, mit ber Bitte, durch feinen Einfluß 
die Schlacht zu verhüten: Liefer aber fuhr ihn zornig an, er forge 
nur für Küche und Steller, ver Krieg fei die Eache ver Generäle, und 
das Unglück möge ven Tfficier treffen, ver bei ihm ſich Raths erholen 
wolle. Unterbejjen fam eine Botſchaft ven Napoleon, mit der Bitte, 
daß Aleranter ihm eine perfönlihe Zufammenkunft gewähren möge, 
Die Ruffen fahen barin ein Zeichen von Furcht, uud beftärkten fich 
in bem Eifer, balpmöglichft breinzufchlagen und die Franzofen nicht 
entrinnen zu laſſen. Alerander lehnte alfo die Zuſammenkunft ab, und 
fandte ftatt feiner den Fürften Peter Dolgorufi, um fih nad Napo⸗ 
leons Wünfchen zu erkundigen. Das Gefpräch, welches dieſer mit 
dem franzöfifchen Monarchen hatte, ift nun äußerſt merkwürdig. Bis⸗ 
ber lagen darüber nur franzöfifche Angaben zweiter Hand vor, welche 
bie wichtigjten Züge vesfelben verwiſchten; Maiſtre liefert dagegen 
einen eingehenden Bericht unmittelbar nach einer Mittbeilung des 
Fürſten Dolgerufi felbft. Napoleon empfing ten Rujjen auf freiem 
Felde, von feiner Garde umgeben, ließ dann aber die Truppen ab« 
rüden und begann das Gefpräch unter vier Augen. Dolgorufi fagte, 
daß fein Kaijer nicht abſehe, was ver Zwed der gewünfchten Zuſam— 
menfunft ver Monarchen fein könnte. Der Frieden, rief Napoleon; 
ich begreife nicht, warum Ihr Herr fich nicht mit mir verftänbigen 
will; ich verlange nichts, als ihn zu fehen; vielleicht wäre es vie 
Sache des Siegers, Geſetze vorzujchreiben, aber ich will ihm ein weis 
Bes Blatt, gezeichnet Napoleon, überreichen, auf welches er ſelbſt dann 
die Srievendbeningungen ſchreiben mag. Dolgoruki aber, einer ber 
hißigften unter der ruffifchen Kriegspartei, Tieß fih auf diefen Ton 
nicht ein, fo daß dann auch Napoleon heftig wurbe, und nach einer 


my 





2 — 


182 Vaerich v. Oyid, 


lebhaften Erörterung das Geſpräch mit ven Worten abſchloß: wehlen,- 
wir werben fänpfen, bringt mir mein Pferd. Man fleht deutlich, daß 
er nicht, wie oft gejagt worden iſt, durch fcheinbare Furchtſamkeit pie 
Verblendung der Nuffen fteigern wollte, ſondern daß er ernftlich dackn 
vachte, anf tie Politik vor? 1803 zurädzulommen, und Alexander 
aus dem Sriegsgetümmel heraus wieder in fein Bündniß hinüberzu⸗ 
ziehen. Er blieb daun auch in biefer Haltung, ale vie Schlacht bei 
Aufferlitz geliefert und das verkänbete Heer zertrummert war. Er gab 
ben gefangenen ruffifchen Gardeofficieren vie Freiheit, er ließ Alexan⸗ 
ber über deſſen perjönliche Tapferleit complimentiren. Gerabe im Ge⸗ 
genfag dazu überhäufte er den Kaifer Franz während eines Geſprä⸗ 
ches auf ver Landſtraße bei Nafieblowicz mit rauhen Vorwürfen und 
brutalen Belchrungen ; Franz kam entrüftet und ingrimmig zurück; jet, 
wo ich ihn geichen babe, fagte er, Tann ich ihn nun gar nicht 
leiden. Weber ven Einfluß, ‚welchen biefe Dinge auf vie Friedens⸗ 
Unterhantlungen hatten, war bieher bie Anficht verbreitet, Franz 
hätte, völlig gefnicht und eingefchüchtert, den Abichluß um jenen ‚Preis 
begehrt; darauf Hätte Alexander mit großmüthigem Zorne bie GErflä- 
rung abgegeben, Franz möge thun, was er unvermeidlich erachte, er 
aber, Alerander, wolle damit nichts zu fchaffen haben, und fi und 
fein Heer in bie Ziefen feines unnahbaren Reiches zurüdziehen. Auch 
Maiftre vernahm anfangs dieſen Hergang; bald nachher aber ges 
wann er die UÜcberzeugung, daß gerade umgekehrt Franz bereit gewe- 
fen fei, um jeden Preis ven Kampf fortzufegen, — in der That er» 
focht damals Erzherzog Ferdinand Vortheile in Böhmen, Erzherzog 
Carl langte mit ftartem Heere vor Wien an, Preußen war in voller 
Rüſtung begriffen — auf dieſe Kriegspläne, nicht aber auf einen 
Friedensantrag, habe Alerander jene Aeußerung gethan, daß er mit 
nichts mehr zu fchaffen haben wolle, und habe Kutuſow erklärt, nicht 
einen Augenblid werte er den Rückzug des Heeres verzögern. Bei 
Maiſtre's Haß gegen Deftreich, bei feiner Berefrung für Alerander 
können wir ficher fein, daß er Angaben dieſer Art nicht ohne fefte 
Bürgſchaft wiederholt hat; auch ftimmt vwöllig bazu, was er noch 
1805 von Dolgerufi und andern Ruſſen des Hauptquartieres über 
bie Stimmung ber maaßgebenden Kreife erfuhr. Er felbft faßt es in - 
den Worten zufammen, daß Alerander von allen Fürften der geeignetfte 





Graf Joſeph de Maiftre. 183 


zum Verkehr mit Napoleon fei, daß zwifchen Beiden feine Verbegung 
durch Charakter, Verhältniſſe oder Nationalität liege. Diefe Punkte 
find offenbar von großer gefchichtlicher Bedeutung, denn fie zeigen das 
Borfpiel zu dem ungehenern Umfchlag ver rujfifchen Politik beim 
Zilfiter Frieden: fie laffen zwei Tage nach Aujterlig die Seine ber 
Geſinnung erkennen, aus welchen anderthalb Jahre fpäter das Bünb- 
niß der beiden Kaifer zur Weltbeherrfchung erwuchs. 

Die Hoffnungen des Königs ven Sardinien lagen feit Aufterlig. 
und Preßburg völlig darnieder. Es fam zu der gewünjchten Vercini« 
gung Italiens, aber freilich nicht unter einheimifcher, ſondern napos 
leonifcher Herrſchaft; Victor Emanuel mußte Nom verlaffen und auf 
ber Inſel Sardinien cine legte Zuflucht fuchen. Ymı Sommer 1306 
zeigte fich die DVerfchlechterung feiner Lage in einem redenden Symp⸗ 
tom: bei der damals verfuchten Friedensunterhandlung erklärte fich 
Rußland bereit, feine bisherige Forderung, daß Napoleon dem Könige 
einen Erſatz für Piemont fchaffen ſolle, aufzugeben. Allerdings kam 
es hier noch nicht zum Abſchluß zwifchen ven beiden Kaiſern; viel 
mehr brach gleich nachher ver preußifche Krieg aus, und beftimmite 
Alerander nochmals, einen Gang gegen Napoleon zu verfuchen. Diejer 
aber fiegte bei Jena, überſchwemmte in vier Wochen bie ganze preu⸗ 
ßiſche Monarchie und verfegte den Striegsfchauplag mit einem Schlage 
an die Ufer ver Weichfel. Nach dieſen furchtbaren Kataſtrophen bo= 
ten in Frühling 1807 die Verbündeten Alles auf, um Deftreich 
zum Beitritte und zur Erhebung gegen Napoleon zu veranlajjen; und 
wirklich gab e8 einige Wochen, in welchen tie Haltung des Wiener 
Hofes Ausficht auf einen folhen Entſchluß gewährte. Dieſe Verhält—⸗ 
niffe übten auch auf Waiftre eine ganz außerorbentlihe Wirkung 
aus. Die Gefahr war auf eine fo betäubende Höhe geftiegen, ver 
Gegner fo coloffal herangewachſen, das Vertrauen auf den bisherigen 
Schu Alexanders fo vollftändig gebrochen, daß ver claftifche Geift 
des Grafen ganz und gar aus dem bisherigen Geleife Hinausgefchnellt 
wırde. Er kam auf ven Gedanken, daß, was die Freunde, was Ruß—⸗ 
land und England uicht verinocht hatten, vielleicht bei den Zobjein« 
ven, bei Deftreich und Frankreich zu erreichen ſei. Er hatte den 
öftreichifchen Geſandten in Peter&burg fontirt, und aus einigen 
Ueußerungen deſſelben vie Vermuthung gefchöpft, Kaifer Franz würbe 


I Dr 2n Pan Se 


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im Falle eines glücklichen lege gegen Frankreich geneigt ſein, Lam 
König von Sardinien Benedig zu überlaffen, wenn Oeftreich bafür 
Diailand und Piemont empfinge. Im Vergleich zu ben früheren 
Plänen auf ein felbftftändiges Italien erfchien biefer Vorſchlag wie 
ein reiches Almofen anftatt eines foliven Vermögens: Maiftre 
aber fchien damals die Welt fo heillos verfunfen, daß er alle Mittel 
feiner Dialektik aufbot, um zuerft fich felbft und dann feinem Könige 
diefe Auskunft als eine glänzende Verbeſſerung darzuftellen. In grel- 
lem Widerfpruch gegen feine Doctrin von 1805 führte er aus, daß 
ein König von Piemont unter allen Umftänven zwifchen Frankreich 
und Oeftreich erſticken müffe, daß er nie die Möglichkeit zu Gedeihn 
und Wachsthum haben werde, daß zur Hut ber Alpen gegen Frauk⸗ 
reich ein flärferer Arm erforberlich fei — eben wie e8 1805 Graf 
Stadion zum höchiten Aergerniß Maiſtre's ven ruſſiſchen Mini⸗ 
ftern vorgetragen hatte. Indeß erfparte ihm das Schichſal Die Des 
müthigung, diefen Abfall von den Grumbfägen feiner ganzen Vergan⸗ 
genheit im öffentlichen Thaten zu vollziehn: Napoleon fihlug bie 
Schlacht bei Friedland, und Alexander widerjtand ter dämoniſchen 
Kraft nicht länger, ınit welcher das Bild des franzöfichen Bundes 
und ber Theilung ber Welt feinen Sinn umftridt hatte. Er fchloß 
den Tilfiter Frieden; von einem üftreichifchen Kriege, von einer 
Vertreibung der Franzofen aus Italien, und folglid) auch von den 
Zaufchplänen Maiſtre's war feine Rede weiter. 

Hierauf griff dieſer, noch nicht völlig entmutbigt, zu einem legten, 
ziemlich abenteuerlichen Mittel. Er wußte, daß fein Name dem Kaiſer 
Napoleon nicht unbekannt war: unter den Gegnern befjelben hervor⸗ 
ragend Hatte er bie feltene Erfahrung gemacht, daß Napoleon ihm 
mehrmals eine gewiſſe Achtung bethätigt hatte — während fonft in 
biefer Zeit ver Nuifer gegen einen gefährlichen Widerfacher fein Mit- 
tel ver Verfolgung und Kränkung unbenutzt zu Taffen pflegte. Mai— 
ftre, überall gewohnt, im perfönlichen Verkehr zu wirken, erinnerte fich 
jegt an jenen Vorfchlag Alquier’s, und glaubte einen untrüglichen 
Weg zur Nettung feines Königs gefunden zu haben, wenn es ihm 
nur gelinge, eine Stunde lang mit Napoleon unter vier Augen zu 
reden. Er wußte jehr gewiß, baß ber König ihn eine Reiſe nach 
Paris nicht geftatten würbe: er meinte aber feiner Sache fo ficher zu 





Graf Iofeph de Veiſtre 186 


fein, daß er anf eigene Hand fein Gefuch zuerft an Alexander, dann 
an ben franzöfifchen Geſandten Savary brachte. Natürlich fragte dieſer 
vor Allem, was Maiſtre dem Staifer vorfchlagen wollte: ber Graf 
antwortete, er werde von Haufe Savohen reden, jedoch nicht Piemont 
begehren, und überhaupt feine Forderung ftellen, zu welcher ihn Napo- 
leon nicht veranlaffe. Mehr aber vermochte ver Geſandte nicht aus 
ihm heranszuloden: was er zu eröffnen habe, fagte der Graf, fei für 
ben Kaifer allein, und Fein anderer fterblicher Menfch werde es jemals 
erfahren. Savary erftattete darauf Bericht nach Paris: Napoleon 
nahm das kecke Gefuch nicht ungnädig auf, wie Maiftre aus dem 
weitern Benehmen ver franzöfifchen Geſandtſchaft gegen ihn erfennen 
konnte, gab ber Bitte felbft aber Feine Folge und Tieß ven Grafen 
ohne Antwort. 

Die politifche Rolle Maiftre’8 in Petersburg war mit diefem 
fraufen Nachfpiel auf lange bin beendigt. Für ven farbinifchen Ge- 
fandten gab es Feine Stelle mehr an dem ruffifchen Hofe, ſeitdem 
diefer mit Napoleon im engften Bündniß ftand und deſſen Botfchaf- 
ter die erfte Stelle in der Ffaiferlichen Gunft behauptete. Maiftre’s 
Lage war um fo peinlicher, als fein König über ben eigenmächtigen 
Pariſer Plan des Grafen wüthete, und ihn mit immer härteren Zei« 
chen feiner Ungnabe heimfuchte. Inter viefen Umſtänden bat Mai—⸗ 
ftre mehrmals um feine Rüdberufung oder Entlafjung, worauf dann 
aber ſtets die trodene Antwort folgte, ver König wolle, daß er feinen 
Dienft fortfege. Dazu kam, daß Alexander in bemfelben Grade, in 
welchen er fich von dem farbinifchen Hofe abwandte, feine perfönliche 
Neigung zu dem Grafen fteigerte: ev bot ihm ein über das andere 
Mal die glänzendften Stellungen in feinem Dienfte an, gab dem 
Bruder und dent Sohne vefjelben ftattliche Aemter, verbhieß ihm, in 
Cagliari ohne alles Zuthun Maiſtre's deſſen Verabſchiedung zit er⸗ 
wirfen. Diefer aber wies in höchiter ‘Dankbarkeit ſtets mit berfelben 
Ruhe alle Bitten des Kaifers zurüd, und fuhr fort, in Hunger und 
Kummer feinem Könige einen hoffnungelofen Dienft zu widmen. Ich 
habe ihm gefchworen, fagte er, chne die Beringung, daß es mir gut 
in feinem Dienfte gehe. Es war wieber bie ächte ritterliche Treue, 
welcher die Gunft des Herrn völlig gleichgültig und das Bewußtſein 
ber eigenen Ehre ber einzige Lohn if. 





4 


186  Setmi u. hl, 


Was die große Politik betraf, fo war Maiftre fortan anf bie 
Stellung des unthätigen und zurückgezogenen Beobachters beſchränkt. 
Seine Beziehungen waren immer noch fo bejchaffen, daß er mehr und 
beffer zu fehen vermochte al8 Hundert Antere, und feine Depefchen 
auch aus tiefer Zeit find keineswegs ohne gefchichtliches Interefſe 
Eine Anzahl lehrreicher Notizen über vie fchwerifche Revolution von 
1809 find ihm zugefemmen; feine Angaben über Alerander’s Verhält⸗ 
niß zu dem neuen Sriegsminifter Uraftfchejeff, fo wie zu dem frans 
zöfifchen Gefantten Eanlaincourt Hären manche wichtige Punkte ver 
politifchen Entwicklung auf; man fieht 3. ®., baß ver Kaiſer viel 
früher als e8 Thiers Wort haben will, von vem Zauber ber napo⸗ 
leonifchen Freundſchaft zurückgekommen ift. Dann finden fi) perſön⸗ 
liche Züge ber intereffanteften Art, Situationen und Stimmungen, 
welche nur in einer folchen Zeit der Weltrevolution möglich waren. 
Da erfcheint im Frühling 1808 ein neuer Geſandter König Carl's 
von Spanien: che er feine Antrittsaudienz erhält, kommen die Nach» 
richten Schlag auf Schlag von dem Sturze Carl's, ber Erhebung 
Ferdinand's, der Thronbefteigung Joſeph's, und jever dieſer Könige 
überſchickt ihm auch fofort vie Ernennung zu feinem Gefandten. Da 
bat er bie drei VBollmachten, und weiß fange nicht, welche gebrauchen, 
fo daß Maiſtre ihm anräth, dem Kaifer Alexander die Wahl zu lafe 
fen. Der entfcheivet dann für Joſeph, und der würdige Grunde ift 
ſeitdem der Vertreter eincd Bonaparte. Aber wenn ihm dam Maiftre 
zu einem Siege Joſeph's über vie rebelliihen Spanier gratulirt, 
braust Doch das caftilifche Blut auf: ihr werbet e8 fehn, daß Spus 
nien unüberwindlich iſt. 

Immer bilden aber dieſe Beobachtungen, ſo dankenswerth ſie 
ſind, ſeit 1808 nur den kleineren Theil von Maiſtre's Thätigkeit. 
Seine unfreiwillige amtliche Muße machte es ihm möglich, mit voller 
Kraft wieber zu den literarifchen Beftrebungen feiner Jugend zurück— 
zukehren. Auf’s Neue verſenkte er fich in hiſtoriſche und politifche, 
in theologiſche und philoſophiſche Studien, und begann feit 1810 bie 
Werfe zu entwerfen, welche das Antenfen feines Namens lebendig 
erhalten und ihn zu einem einflußreichen Parteihaupte der Reſtau— 
rationdzeit gemacht haben. Abgeſchloſſen und veröffentlicht wurden 
fie zum Theil erjt nach feiner Rüdkehr aus Rußland, in feinen lege 





Graf Jeſeph de Maiftre. 187 


ten Lebensjahren: feine Gorrefpontenz zeigt jeboch, daß fie in allen 
wefentlichen Stüden bereits vor 1812 anegearbeitet waren, und fo 
ift bier die Stelle, fo weit es unfer Zwed erfertert, über ihren In⸗ 
halt und ihren Standpunkt zu reben. 

Zuerſt verfaßte er tie Heine Schrift: Essai sur le principe 
générateur des constitutions politiques. Wir fünnen uns kurz 
darüber faffen, ta fie nichts enthält al8 eine fyftematifche Zufammen- 
ftellung der Grundſätze, welche wir fchon oben als ben togmatifchen 
Beſtandtheil der Considerations sur la France kennen gelernt has 
ben. Was die Hanptfrage angeht, bie Unabhängigkeit der Staats» 
entwidlung ven ber individuellen Willfür, fo erfcheinen bie Liberalen 
Confequenzen, welche auch auf dieſem Standpunkte möglich find, hier 
unbefangener und austrüdlicher als in ver früheren polemifchen 
Schrift. Dagegen machen fich vie kirchlichen Nutzanwendungen in 
ven Essai noch viel breiter als in den Betrachtungen: nun ift er» 
ftaunt, an dieſer Etelle einer höchſt betaillivten feitenlangen Lobrede 
auf den Orden der Sefniten, ihre wiſſenſchaftlichen Erfolge, ihre mu⸗ 
fitafifchen Leiftungen, ihren Unterricht und ihre Miſſionen zu begeg- 
nen. Es bing das mit einer praftifchen Frage zufanımen, welche 
allmälig zu einer hohen politifchen Bebeutung heranwuchs, und welche 
auch auf Maiſtre's Schriften ven tiefften Einfluß gewann. Wir bes 
mertten fchon früher, daß er niemals ein Mann ver bloßen Theorie 
war, daß er nicht lernte nur um zu willen, fondern das Wiſſen auf- 
fuchte, weil e8 Macht ift. Gerade damals bet fih ihm nun eine 
glänzende Gelegenheit, ſowohl fein ſchriftſtelleriſches als fein diploma⸗ 
tifches Talent für das liebte Ideal feiner Jugend wirken zu Inffen. 

Der Krieg ift nicht bloß ein Zerftörer, fondern auch ein Erzieher. 
Wie mächtig auch Catharina II. ihr Reich in der europäifchen Politik 
emporhob, wie Ichhaft fie mannichfaltige Reformen im Innern an« 
regte: im Ganzen und Großen blieb tie geiftige Phyſiognomie dee 
ruſſiſchen Volkes bie zum Ente ihrer Regierung biefelbe, bie fie zu 
Anfang gewefen. Ihre Heere kämpften mit Polen und Zürfen: was 
fieß fich dabei lernen, was auf dieſem Boden erleben? Seitvem aber 
hatten die ruffifchen Maffen in Italien und Holland, in Süd- und 
Norddeutſchland gefochten; fie hatten unter furchtbaren Kataftrophen 
mit dem Weltbefieger um die Herrfchaft Europa’s gerungen; fie hats 





3 


188 2 Beheben 


ten die Welfenfchläge der außen Beitftrömung in unmittelbarer Rüge 
rührung empfunden. Daßelbe Verhältniß hatte in Deutfchlaugumg- 
nehmlich auf dem pelitichen Felde Wirkung gehabt: ver Kampfugng - 
gen das neue Frankreich hatte in den beutfchen Staaten eine Menga 
bemofratifcher oder bonapartiftifcher Einrichtungen hervorgerufen. In 
Rußland, wo der Staat dem neuen Geifte fchlechterbings feine Be⸗ 
räßrungspunfte barbot, äußerte fich ber entfprechende Rüdfchlag zu⸗ 
nächſt auf tem religidfen Gebiete. Die Geifter, hier von franzöfifcher 
Aufklärung, dort von beutfcher Philofophie, heute von Iutherifcher, 
morgen von anglicanifcher Theologie berührt, gerietheeweit und breit 
in Schwanten. Das ruffifche Priefterthum, Tängft vom Czaren ale 
hängig, feit ver Confiscation der Kirchengüter durch Catharina völiig 
unfrei, war entfernt nicht im Stande, bie Gemüther im altgetngiene 
ten Geleife feftzuhalten. Die Bewegung wurbe um fo ftärter, je+Iele 
hafter durch die Leiden und Erſchütterungen der Krichahne der se 
figiöfe Sinn in allen Klaffen angeregt wurde. Nirgendwo that bie 
orthobore Kirche dem Bedürfniß ber Geijter Genüge. Unter dem 
niederen Volke gewann bie fanatifche Secte der Raskolniken tägklich 
ftärfere Ausbehnung; in ver gebilveten Gefellfchaft erwarb bie allem 
Priefterthum abgefehrte, nach innerer Erleuchtung ftrebende Myſtil 
St. Martins zahlreiche Anhänger. Weite Kreife wandten fidh.-zatio« 
naliftifchen Anfchauungen aller Farben zu; ein ruffifcher Bifchof felbft 
verbreitete beutfchen Pantheismus, und ein Einfchreiten des Kai⸗ 
fers war nöthig, um einen großen Ausbruch bes Clerus bei biefewe 
Anlaß zu verhüten. Inmitten dieſer Bewegung faßte bie englijche 
Bibelgefellfchaft Fuß im Lande; ver Kaifer Sprach fich günftig über 
ihr Streben aus, es bedurfte nicht -mehr, um einen griechifchen 
und einen Tatholifchen Erzbifchof zu Agenten berfelben zu machen. 
Mit einem Worte, die mannichfaltigften Richtungen arbeiteten in dem 
weiten Reiche durch und gegen einander. 

Es konnte nicht fehlen, daß in biefem allgemeinen Aufbruche 
auch die römifche Kirche ihren Vortheil erfab. Seit den polnifchen 
Zheilungen batte Rußland mehrere Millionen Tatholifcher Unterthanen 
mit einem Clerus, veffen Begabung Maiftre nicht eben rühmt, ber 
aber reich begütert war, und fchon dadurch fich vor dem griechifchen 
berporbob. Dazu kam, daß ber Orden ver Jeſuiten 1772 fonft aufs 





Graf Joſchh de Maiftre. 189 


gehoben war, daß aber Catharina vie in ihrem Gebiete befintlichen 
Collegien hatte fortbeftehen laffer. Die Väter übernahmen die Er- 
ziehung ver Kathelifchen Ingend, und erhielten dafür von der Regie 
rung die Steuerfreiheit ihrer ©liter. Es waren damals 177 Mit— 
glieder; fie blieben unter Catharina und Paul in beitem Verhältniß 
zur Regierung, gebiehen und nahmen zu, gründeten 1800 ein Haus 
in Petersburg, und juchten vorfichtig ihren Wirkungskreis zu erwet- 
tern. Im Mai 1801 ftellte Bapft Pius VIE ven Orten für Aup- 
land förmlich wieder her. Damals gab es einige Reibungen mit ber 
Regierung Alezander’s, weil der Orden, über ven Unterricht ber rö⸗ 
mischen Katholiken binausgreifend, einige Belehrungen ruffiicher Or⸗ 
thodoxen butrchgefettt Hatte. Indeſſen wurde das gute Vernehmen 
bald erneuert: Alexander hatte Feine verfolgungsfüchtige Arer, und 
war fo wenig wie einer feiner Unterthanen für das ruffifche Kirchen⸗ 
thum begeiftert; er fpäbte vielmehr mit ſchwankender Sehnfucht nach 
wärmerer Religioſität und tieferer Bildung, und war alfo in jeder 
Hinficht geneigt, Die guten Seiten auch ber Jeſuiten anzuerfennen. 
Im Jahre 1810 handelte es fih um eine umfaſſende Reform bes 
gefammten Unterrichtswefens, und fchwerlich geſchah es ohne Vor⸗ 
wilfen Alexander's, daß der Minifter Rafınnovsfy von dem Grafen 
ve Maiftre ein Gutachten über ven neuen Schulplan begehrte. Maijtre 
griff auf Diefen Anlaß mit beiven Händen zu, um den Minifter bie 
Methode und die Talente ver Jeſuiten zu empfehlen. Er mahnte ven 
Kreid der Lehrgegenftände auf Latein und Mathematif und das 
Vorleſen einiger hijtorifchen Schriften während der Mahlzeiten zu bes 
Ichränfen. Die Hauptjache fei die Erziehung zur Sittlichkeit nnd Un⸗ 
terthanentreue, und hierin hätten die Jeſuiten feit zwei Jahrhunder⸗ 
ten ihre Meifterfchaft bewährt. Die Lehren Luther's und Calvin's 
hätten bie Revolution in die Welt gebracht, bie Jeſuiten previgten 
unbetingten Gehorfam gegen den Monarchen. Zunächit bevürfe es 
nicht8 weiter, als daß man ihr großes Seninar zu Polotzk unabhän⸗ 
gig ftelle, und es von ver Aufficht der feindlich gefinnten Univerſitäts⸗ 
behörden befreie: dann werve ver Kaifer bald mit Freude bie glän- 
zenden Früchte ihrer Thätigleit wahrnehmen. ‘Der würdige Rafus 
movolyh, welchem Maiſtre's gelehrte Citate nicht wenig Iseponiren moch- 
ten, unb bie Kehrfeite des Bildes gründlich unbelenntetn Keh fich 





190 N 


benn in ber That beſtimmen, dem Seminar in- Polozf bie 
Unabhängigkeit zu gewähren, und im Sabre 1811 bie 
beffelben in eine Univerſitaͤt zu genehmigen. 

Graf ve Maiftre Hatte um fo mehr Grund, mit feinen Erfolge 
zufrieden zu fein, als in den höchſten Kreifen ber Petersburger dies 
fellfchaft fein Einfluß ver römifchen Kirche wichtige Profelyten zuzu⸗ 
führen begann. Er vermieb es forgfältig, wie er fpäter dem Kalfer 
ſelbſt jagte, für feinen Glauben zu werben, hielt es jeboch für .feime 
Pflicht, feine Meinung nicht zu verfohweigen, wenn ihn Jemand u- 
aufgeforbert religiöfe Scrupel vortrug. Bor Allem «ber verboppaite 
er feinen Eifer auf dem literariichen Felde. Anfang 1518 veuäffent- 
lichte er eine Abhandlung gegen ven Erzbifchof Methodius von -SKiugr, 
der in einem Firchengefchichtlichen Werke das Alter und bie Wichtig. 
feit des päpftlichen Primates in Abrebe geftelit hatte; arbeitete am 
ten Büchern „vom Papfte”, "von ber gallicanifcheg Migcher, wuen 
den Zögerungen ber göttlichen Gerechtigkeit“; er war tief in ben 
Etudien und Sammlungen, aus welchen fpäter bie „Abende von St. 
Petersburg» und bie Kritik der PHilofophie Bacon's heraorgingen. 
Wenn man diefe Schriften überblidt, fo fallen einige ihnen allen ge- 
meinfame Züge fofert in das Auge, welche fowohl feine Methode ale 
das Publikum, an welches er fich richtet, fehr beftimmt charakteriflege, 
die wir uns alfo kurz vergegenmwärtigen wollen, um feine literange- 
ſchichtliche Stellung aufzufaffen. 

In der Schrift gegen Methobius, wo es fih um bie Eriftenz 
des päpftlichen Primates in ber Urkirche handelt, machte Maiftre gar 
nicht einmal ven Verfuch, die hiftorifche Frage zu erörtern. Im Ges 
gentheil, e8 bünft ihn ganz in der Ordnung, daß das Papftthpum aus 
unfcheinbaren Anfängen erwachjen fei: wer tarin einen Beweis gegen 
feine Berechtigung fände, fei ebenjo lächerlich, wie wer fich wundere, 
daß Cäſar in ber Wiege nicht eben fo viel Muskelfraft wie auf 
bem Schlachtfeld von Pharfalus gehabt. Die Hauptjache ift ihm 
ber Firchlich=politifche Beweis, daß die päpftliche Macht nothwenbig 
aus dem Begriffe ber Kirche folge. Diefen Beweis führt er aber 
aus dem Wefen der Souveränität, welche bie Einheit überall zur 
Beringung ihres Dafeins habe. Eine Kirche ohne Haupt, fagt er, 
das ift eben ſolch ein Widerfinn, wie ein ruſſiſches Kaiferreich come 








Graf Joſeph be Maiftre. 191 


einen Kaifer von Rußland. Denn freilich, fegt er Hinzu, ift der Wir- 
kungskreis der beiten Gewalten verſchieden, indem der Staat die äu- 
Beren Dinge und vie Stirche tie Gewiſſen regiert; aber die Natur 
und Subftanz ver Macht ift auf beiden Seiten dieſelbe, und was fonft 
bie fouveräne Gewalt charakterijirt, Einheit und Untrüglichkeit, das 
muß aljo auch von ver Kirchlichen Herrfchaft gelten. Auf ven erften 
Seiten des Buches von Papfte führt er diefe Gedantenreihe weiter 
and, indem er von ber vielbefprochenen Untrüglichleit des Papftes 
handelt. Er gibt auch dafür weder hiftorijche noch theologiiche Be⸗ 
weife. Er gebt vielmehr wieder auf ben Begriff der Souveränität 
zurüd, welche überall, wo fie erfcheine, vie Untrüglichkeit in Anfpruch 
nehme. Jever höchſte Gerichtshof werde für untrüglich in feinem 
Urtheil angenommen; jever Gefeßgeber, heiße er Sultan over Bar- 
lament, dulde feinen Wiverfprudy gegen feine Satzungen. Da die 
Kirche, fhließt er, regiert werten muß, fo muß auch ihre Regierung 
untrüglich fein, fonft wäre fie eben feine Negierung mehr. 

Schon bier fieht man deutlich, wie ſcharf der Auter den Yefer- 
kreis begrängt, deſſen Zuſtimmung er zu erwerben wünfcht. Offenbar 
fchreibt er nicht, um einen Proteftanten over fonft einen principiclien 
Gegner zu befehren. Denn ein folcher würde vie ganze Deduction 
fehr einfach durch Ablehnung ihres Grundgedankens auf die Seite 
ſchieben — vurch bie Verneinung jener Couveränität und Negierungs- 
gewalt der Stirche, welche Deniftre als felbftverjtännlich ohne den 
Schatten eines Beweiſes vorausjegt. Er jehreibt viehnehr für vie 
Schwachen im eignen und bie Schwantenven im feindlichen Yager; er 
enthält fich fo viel wie möglich der Fachwilfenfchaftlichen Erörterung ; 
er will nicht ftreitenden Theologen vie Wahrheit feiner Doctrin ers 
bärten, ſondern dem gebildeten und weltfinnigen Publikum die Har- 
monie verfelben mit ber feinften Bildung, mit Sitte und Anſtaud, 
und ver Allem mit monarchifcher Belitif darthun. Wie man ſich 
denken kann, liegt ihm befonderd Frankreich nahe am Herzen, wo 
eben damals Napoleon ven Bapft gefangen bielt, und alle Mittel auf⸗ 
bot, um bie Bilchöfe zu einer nationalen gallicanifchen Oppofition 
gegen Rom nad) dem Muſter Ludwig XIV. um fich zu vereinigen. 
Dem Grafen erfchien dies mit Recht al8 eine Frage von höchfter 
Bereutung; er behandelte aljo bie gallieanifchen Dectrinen mit bün- 





“ 


192 | Heli v. Eyiel, u 


diger, brängenber Dialektik folcher Ausführlichleit, daß a 
fpäter den Schwerpunft bes g Buches in viefem helle 
bat. Allerdings, als es tm Druck erfchten, 1817, mag ver Anter 
felbft viefer DMeinung gemwefen fein: damals war Napoleon’ Macht 
freilich geftürzt, aber die franzdfifche Nation in tiefer Erregung durch 
den Entwurf cines nenen Concorbats mit Rem, gegen welchen 
jegt die liberale Partei alle gallicanifhen Stimmungen wach zu 
rufen fuchte, fo daß Maiftre's Erörterung von Neuem ein actuelles 
Snterefie erhielt. Was aber die urfprängliche Anlage des Buches 
angeht, fo haben wir feinen Zweifel, daß bie Polemik gegen Boffwet 
im Sabre 1812 für Maiftre immerhin wichtig, aber doc) nımb.ci 
Nebenpunft war. ‘Den legten innerften Stern der Wufgabe ſah er 
nicht in Frankreich, fondern in Rußland, und fchwerlich würbe ber 
irren, welcher ald das eigentliche Augenmert des Buches vom Papft 
geradezu bie Belehrung Kaifer Alerander’s bezeichugten Sowohl nie 
Auswahl des Stoffes als die Art der Behandlung laͤßt une barübse 
faum einen Zweifel. Nach Erledigung ver gallicanifchen Frage wen⸗ 
bet fih Maiftre zu größeren Dingen, zu dem Nuten des Papſtthums 
für die menjchliche Sitte und Bildung überhaupt. Als die Beh: 
thaten, welche das Papſtthum ver allgemeinen Gefittung erwieſen⸗ 
zählt er dann auf: die Heivenbefehrung, welche allein ver vömifchen 
Kirche gelinge — ferner vie Befreiung der Leibeigenen und die Erbes 
bung des weiblichen Geſchlechts zu einer geachteten Stellung — dar⸗ 
anf ven Gölibat, ver nicht bloß den Prieſter ſelbſt adele, ſondern 
ihn zu einer Aufficht über vie innerften Geheimniſſe des ehelichen 
Lebens befähige, vie für Moral und Volfsvermehrung äußerft heil⸗ 
fam jet — endlich tie Erziehung und Heranbildung der europätfchen 
Monarchie, deren Eigenthümlichfeit darin gefunden wird, daß fie nicht 
felbft Todesurtheile fälle, und dafür von ben Unterthanen heilig und 
unverleglich erachtet werde, während der afiatiiche Deſpot beliebig 
töpfen laſſe, dafür aber auch täglich felbft feine Ermordung befahre. 
In all diefen Beziehungen hat nun ohne Frage das Papftthum feine 
großen biftorifchen Verbienfte gehabt; in ber Gegenwart aber find 
für das Abendland jene Fragen ſämmtlich erledigt, und fein Menſch 
wärbe ihretwegen fich zu einem Wechfel des kirchlichen Belenntniffes 
entfchließen. Leibeigene gibt es weder in Fatholijchen noch in protes 








Graf Joſeph de Maiftre. 193 


ftantifchen Landen; die Frauen find Hoch geachtet ohne Unterfchieb ter 
Confeſſion; die Reinheit des Familienlebens und bie Keuſchheit der 
Ehen fteht im protejtantifchen Norden auf feinem jchlechteren Fuße 
als im Katholifchen Süden. Aller Orten ift vie Cabinetsjuftiz auf- 
gegeben und verfchollen,; Attentate auf gekrönte Häupter find verab- 
ſcheute Seltenheiten, und überhaupt würde jeder Staatsmann unferer 
Nationen die Weisheit dürftig finden, welche in dieſen beiden Pımnt- 
ten die Pole der politifchen Eutwicklung und die Löſung der politi- 
Shen Probleme erblidte. Dagegen für Rußland int Jahre 1812 hat- 
ten jene Erörterungen ihren fehr handgreiflichen praktiſchen Werth: 
in einem Weiche, wo bis dahin abinetsjuftiz und Balaftrevolutienen 
den Hauptinhalt der inneren Politif gebilvet hatten, in einem Augen- 
blid, wo griechifche und jefuitifche Miffionen in China offenen Kampf 
gegen einander führten, in einer veligiöfen Bewegung, bei der unauf— 
börlich von Entwürdigung der Popen und Fäulniß der Sitten bie 
Rede war, unter einem Kaiſer endlich, welcher Sinn für bürgerliche 
Freiheit befaß, und mit Scham fein Reich durch vie Leibeigenfchaft 
befledt fah. Dort Eonnte ein Schriftfteller zu wirken hoffen durch 
bie Bemerkung, daß die burchfchnittliche Regierungszeit ver Monarchen 
während der legten Jahrhunderte in vem ſchismatiſchen Rußland dreizehn, 
in dem fatholifchen Frankreich fünfundzwanzig Jahre geweſen: heute hat 
fih das Facit dieſes Erempels beinahe umgekehrt, damals war es in 
Petersburg, wo binnen fünfzig Jahren drei Kaifer ermordet worden, 
von befonverer Einpringlichkeit. Aehnlich fteht es dann um bie poli« 
tifche Theorie, nach welcher Maiſtre das Papſtthum als das befte 
Bollwerk der monarchifchen Ordnung bezeichnet. Er geht dabei aus 
von dem Rechte des Widerſtandes gegen Unterbrüdung. Er wieder- 
holt das alte Dilemma: wer dies Recht bejaht, überliefert vie Welt 
ver Revolution, wer e8 läugnet, dem ‘Defpotismus. Er fchließt aljo, 
daß es der Monarchie jelbjt erwünjcht fein müfje, eine höhere Behörde 
über fich zu Haben, une bei einem Yehltritt nicht von wilden Pöbel⸗ 
baufen, fonbern von einem geiftlichen Monarchen controlirt zu werben. 
Der einzelne König könne darunter leiden, das monarchifche Princip 
bleibe ungefchädigt. Auch bier würbe nach abendländiſchem Maaßſtab 
bie Erörterung äußert ſchwach erfcheinen. Die urſprünaliche Schwie⸗ 


rigleit, die Grenze zwiſchen berechtigten 
Hiſtoriſche Zeitſchrift L Band. 





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[1 - 
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194 Gilt v. Gykel,- 


zu finden, wird nicht gehoben, fondern nur verlegt; und offenbar WM 
det das monarchiſche Princip weniger bei einem momentanen Gewalt- 
ausbruch als bei einer bleibenten Unterordnung unter eine andere 
Souveränität. Man muß fich wieder auf ruffiichen Boden verfeen, 
um ven Schriftfteller im rechten Lichte zu fehen. Wan erinnere fidh 
an den tiefen Eindrud, welchen die jacobinifchen Frevel und Paul's 
Ermordung auf Alerander gemacht hatten, an das friiche Bild ber 
ſchwediſchen Revolution von 1809, welcher Maiftre ein ganzes aus⸗ 
füprliches Capitel winmet — und man wird ben Verſuch begreifen, 
auf Alerander’d Stimmung felbft mit fo-purchfichtigen Argumenten zu 
wirlen. So befchäftigt ſich denn auch der letzte Theil des Buchs int“ 
fchlieglich mit der orientalifchen Kirche, und erörtert die Sätze, daß 
ihre Trennung von Rom den Clerus zu unbebingter Knechtfchaft ame 
ter der Staatsgewalt entwürbigt, daß biefe Aber bat ‚nichts gewon⸗ 
nen, fondern nur dem Einbringen eafoinifttfcher un: Solutionärer 
Elemente das Thor geöffnet habe. 

In der That Tieh damals, 1812, Kaifer Alerander bem Grafen 
ein bereitwilliges Ohr. Blanc bemerkt, daß nach Maälftre's: Wiiefen 
der Einfluß veffelben auf ven Monarchen mährenb tes benfäläbigen 
Feldzugs die höchſte Stufe erreicht hatte. E iſt nicht zu bezweifeln, 
daß in dem Verfehr ver beiden Männer während ber ungeheuern 
Krifis nicht bloß von Papft und Yefuiten die Rede gewefen ift: bie 
Befanntmahung von Maiſtre's Depefchen aus dieſer Zeit würbe 
höchſt wahrfcheinlih auch die politiichen Kataftrophen mehrfach neu 
beleuchten, und vielleicht ein intereffantes Gegenbild zu Stein's dama⸗ 
ligen Briefen liefern. Es gehört auch das zu den wunderbaren Er⸗ 
ſcheinungen diefer wunderbaren Epoche, ein ruffiicher Selbitherrfcher, 
der fich in dem größten Kriege feines Reiches vie geiftige Kraft bei 
zwei politifchen Flüchtlingen, hier dem großen beutjchen Proteftanten, 
bort dem geiftreichen Fatholifhen Romanen fucht. 

Indeß war für Maiftre der Höhenpunft auch ver Augenblid ver 
Wendung. Alerander verließ Ende 1812 Petersburg, um bie Heere 
Europa’s gegen Paris zu führen; Maiftre erlebte, daß mit der Tren- 
nung fein Einfluß verfiegte, und ber Staifer auch in religiöfer Bezieh⸗ 
ung einer ganz andern Strömung anheimflel. Statt ſich der feltge- 
glieverten römifchen Kirche zu nähern, öffnete er fein Herz ben my⸗ 





Graf Zofeph de Maiftre. 195 


ftifchen Lehren einer innern, individuellen Erleuchtung auf deren We- 
gen ver Unterſchied ver äußeren Kirchen geringfügig und gleichgültig 
war. Maiſtre und feine geiftlichen Freunde fegten einftweilen in Pe— 
tersburg ihre Bejtrebungen fort, und eine Weile wirkte die frühere 
Gunſt des Kaiſers für fie noch äußerſt förderlich nah. Die Zahl 
der Jeſuiten in Rußland ftieg allınälig bis auf beinahe fiebenhun- 
dert; ihre Wirkſamkeit vehnte fich nach allen Seiten aus; ihr Genes 
ral Thaddäus Bzozowski wurde 1814 nach der Herftellung des Or- 
dens zum Haupte feiner Gefammtheit erhoben, und dadurch in Au—⸗ 
fehen und Deitteln nicht wenig verftärkt. Jedoch rief ver Erfolg auch die 
Gegenwirkung hervor. Der Cultusminifter Fürſt Gollizyn, deſſen 
Neffe ſich unter den Convertiten der Väter befand, zürnte heftig; der 
Orden fand Erſchwerungen aller Art auf feinem Wege, bei der Auf: 
nahme ausländifcher Mitglieder, bei ver Gorrefponvenz mit Rom u. f. w. 
Ein harter Schlag für Maijtre war dann 1815 vie Unterzeichnung 
ver heiligen Allianz durch Kaiſer Alexander. Er fah in biefer Urs 
kunde, in welcher fich griechifche, evangelifche und katholiſche Mouar- 
chen im gemeinfamen chriftlichen Bekenntniß verbrüberten, den völli- 
gen Sieg der antilirchlichen Richtung bei feinen: Faiferlichen Gönner, 
und rebete über bie Allianz mit ebenfo unumwundenem Aerger wie 
feine verhaßten liberalen Gegner. Als Aleranter nach Peteraburg 
zurüdfam, wurde das Verhältuiß nicht beffer. ‘Der Kaiſer verfündete 
nach wie vor auch der römifchen Kirche Toleranz, wenn fie fich den 
Landesgefegen füge: Maijtre fand, daß es das Gegentheil aller To- 
feranz fei, ver Stirche nach dieſen Geſetzen vie befehrenre Thätigkeit 
und die freie Correſpondenz mit Ron zu verbieten. Er war um fo 
beforgter, als er felbjt bei ven General Thaddäus freilich große 
Frömmigkeit, aber geringe Umficht und einen oft blinden Eifer fand, 
und in der That kam im December 1815 das Ungewitter zum Aus— 
bruch. Am Morgen ded 28. wurden plötlich die Jeſuiten in Peters⸗ 
burg verhaftet, und gleich nachher aus allen Theilen des Reiches nach 
Witepst und Polozk verwiefen. Maiftre war tief betroffen; er ſah 
in dem Schlage ein europäiſches Unglüd; er fand e8 unmöglich, wie 
er bisher wohl gewünjcht hatte, fein Leben in Petersburg zu befchlie- 
gen. Perfönlich Tieß ihn der Kaifer die Ungnade gegen feine Freunde 


nicht entgelten, immer aber bedurfte er ver Höchften Borficht bei jebem 
| nn 





DE 7 | 


196 Helurih v. Eybel, 


Schritte und jedem Worte, And verſank in völlig trübe, gedrückte 
Stimmung Man fieht die Farke. verfelben in ven „Abenden won 
St. Vetersburg,u die er in biefer Zeit dem Abjchluß nahe brachte, 
einer Reihe philofophifcher Gefpräche, welche eine Theodicee vom Tas 
tholifchen Standpunkte aus entwideln. Die Leichtigkeit und Elafticktät, 
bie Schärfe und- Helligkeit, welche er fonft der Erörterung der tro⸗ 
denften und der -tiefften Probleme zu geben wußte, ift verfchwunden ; 
ein fchwerer und fchmwerfälliger Ernſt liegt auf der Verhandlung, 
welche, immer noch reich an prägnanten Gedanken, fih in mühſamen 
Formen ohne eigentlichen Zielpunkt fortarbeitet. 

Koum war das Jahr 1816 zu Ende gegangen, fo erwirkte ober 
empfing er feine Abberufung von Petersburg. Er ſchied von ber 
Stätte, die ihn durch lange Gewohnheit, zahlreiche Freunde, große 
Hoffnungen und Leiten werth geworben, wie von einer zweiten Hei⸗ 
math. Alexander entließ ihn mit allen Zeichen ehreuder Anerkennung, 
ber nun wiederhergeſtellte König von Sarpinien berief ihn zu einem 
ber erften Aemter feines Reiches. Wenn er vie politifche Weltlage 
überblidte, fo ſah er die meijten feiner Borausfagungen erfüllt, 
Frankreich unter bourbonifcher Herrfchaft, da8 Haus Savoyen gefräf- 
tigt, feine Parteigenoffen in den meiften Staaten berifchend, in ben 
andern ftarf heramvachfend. Auch von feiner Kirche wur das napo— 
leoniſche Joch hinweggenommen, ter Papft vefivirte wieder in Rom, 
erhob fich täglich ftärfer zu einer neuen Epoche geiftiger Herrichaft. 
Maiſtre's Schriften, welche jett in raſcher Folge erjchienen, machten 
gewaltigen Einprud und wurben im Occident dad Banner einer durch 
alle Staaten Hindurchfluthenden Parteibewegung. Aber das Alles 
entſchädigte ihm nicht völlig für vie ruſſiſche Kataſtrophe. Er ſchil⸗ 
berte im Jahre 1819 einem Freunde die Ausfichten des Chriftene 
thbums in Europa. In zwei Worten, begann er, ift Alles gejagt: 
jehet und weinet. Näher eingehend erklärte er dann, welch eine un— 
geheure Aufgabe in Alerander’3 Macht gelegen, die Bereinigung ber 
ganzen Chriftenheit in ver wahren Kirche; leiver habe er fie zurück— 
geftoßen. Er habe Toleranz verkündet, und nicht gewußt, was Gerech⸗ 
tigkeit fei. Er habe das Chriftenthun auf den Tod getroffen, indem 
er Genf, ven Sit aller Rebellionen bejchüge, indem er die Bibelge- 
ſellſchaft, dies ganz unchriftliche Unternehmen befördere, indem er dem 





Graf Joſeph de Maiftre. 197 


römifchen Clerus in feinem Reiche vie Verbindung mit Rom erfchwere 
und ihn einem profanen Cultminiſter unterjtelle, indem er das deut—⸗ 
he Gift einer allgemeinen Neligiofität in fich ſauge. Wer foll, ſchloß 
er, ihm tiefe Dinge eröffnen? Wenn man fi fragt, durch welches 
Organ die Wahrheit bis zu einem Kaiſer von Rußland vringen 
möchte, fo lafjen fich unter allen Geſchöpfen nur zwei entveden: ein 
Engel over eine Dame. 

Noch immer find Prophet und Weltfind in ihm dicht beiſammen. 

In Rußland blieben freilih Engel und Dame aus vem Spiel. 
Statt dejfen kamen immer ungünftigere Berichte aus Polozf nach Be- 
terburg. Die Yefuiten, hieß es, fuhren fort in ihren Bekehrungen, 
ftiegen zu dem niederen Volke herab, verfündeten — und dies erregte 
ben Zorn des Gzaren am beftigften — den Soldaten, daß es Feine 
Celigfeit ohne Unterwerfung unter Rom gebe. Es ſei ver Beiſtand 
der Ortsobrigkeit nöthig, um jübifchen Eltern ihre Kinder aus ben 
Erziehungshäufern der Jeſuiten wieder zu fchaffen: auf feinen Gütern 
in Polen habe der Drven 22000 Bauern, die er ganz in Elend und 
Unwiſſenheit verwildern laffe. Aın 13. Mai 1820 verfügte Aleranter 
bie Ausweifung ver Jeſuiten aus feinen Reichen und die Eonfiscation 
ihrer Güter. 

Was Maiftre betraf, fo hatten unterdeſſen, wie fein Sohn er- 
zählt, die Ermütung der Seele, die Arbeit des Geiftes, ver Summer 
bes Herzens jeinen kräftigen Körper untergraben. Seitdem er 1818 
feinen Bruder Andreas, Bifchof von Aoſta, verloren, wurde feine Ge- 
funpheit, welcher das Peteröburger Klima nichts angehabt Hatte, 
ſchwankend. Nur der Kopf behielt feine Kraft und Frifche, und mit 
immer gleicher Unermürlichfeit lag er ter Maſſe feiner Gefchäfte ob. 
Noch ein bitterer Kummer war ihm zu erleben beftimmt. ‘Die Re— 
ftauration in Piemont war, wie man weiß, das italienifche Gegen- 
bild zu ven gleichzeitigen Vorgängen in Kurheſſen, ein thörichter Ver: 
juch, ein Tangjühriges Zwifchenreich als nicht gefchehen zu betrachten. 
Wir haben gefehen, mit welcher Verwerfung Maiftre auf eine folche 
Beſchränktheit Hinabblicte; er zürnte, warnte, wurde nicht gehört. 
Bald genug wurben die Folgen fichtbar. Der revolutionäre Gel” 
weit und breit in Italien vertreten, erreichte auch die farbi 
und Anfang 1821 gerieth die Regierung bei ber 





198 .. Heintich v. Sybel, 


Gährung in ernſtliche Beſorgniß. Maiftre wohnte noch einem Mini—⸗ 
fterrathe bei, im welchen zur Beſchwichtigung ver Unruhe wichtige 
Reformen in der Verfaſſung vorgefählagen wurden. Er gab, ohne zu 
ſchwanken, feine Meinung dahin ab, daß ver Plan gut und jelbft 
nothwendig, aber ver Zeitpunkt verfehrt ſei. Er fteigerte ſich allmälig 
zu einer förmlichen Rede, und ſchloß mit ven Worten: die Erbe bebt, 
meine Herren, und Sie wollen bauen. | 
ze Zeit nachher ftarb er, am 26. Februar 1821, fieben und 
Jahre alt. Ein Menſch, den man nicht ven Geijtern erſten 
nges zuzählen kann, deſſen Mängel man am leichteften ermißt, 
wenn man ihn mit Burke und Gent zufammenftellt, beifen Stärken 
nicht minder bejtimmt hervortreten, wenn man ihn mit Haller und 
Görres vergleicht, Vor Allem darf man nicht vergejlen, daß 
bei ihm das jchriftitelleriiche Verdienſt nicht die hervorragendſte 
Seite feines Weſens varftelite. Um ihn richtig zu ſchätzen, muß mau 
nicht feine Bücher, fonbern fein Leben auffchlagen: er felbit hat ven 
Inhalt deffelben in ver Devife feines Wappens zufammengefaßt: 
fors P’honneur nul souci. 








VL 
Ueberſicht der hiftoriichen Literatur des Jahres 1858. 





1. Allgemeine Weltgefchichte. 


Weber, ©., Dr., Brofeffor und Echuldirector. Allgemeine Weltge- 
ſchichte, mit befonberer Berückſichtigung bes Geiftee- umb Culturlebens ber 
Völker unb mit Benüung ber neueren gefchichtlihen Forſchungen für bie ge- 
bildeten Etänbe bearbeitet. Leipzig, W. Engelmann. II. Bd. 1. Hälfte 
480 ©. 8. 


Bon den und vorliegenden neuen Weltgefchichten nimmt Webers 
Merk mit Recht die erfte Stelle ein; denn nach dem umfaflenpften Plane 
angelegt — e8 ift auf 10—12 Bde. berechnet — enthält es das veichfte 
Material, forgfältig durchgearbeitet und lichtvoll georbnet, in beſonders 
überfichtlicher und anfprechender Form. Wie der Stil des Verfaſſers flie- 
ßend und anziehend ift, ohne gerade glänzend zu fein, fo hat freilich auch 
feine verftändige und nüchterne Auffafjung ver Dinge wenig gemein mit 
einer geiftreihen Behandlung der Gefchichte; aber gerade dieſe einfache und 
befonnene Art dürfte die Brauchbarkeit des Buches nur erhöhen. Denn je 
weniger fi der Berfaffer in geiftreihen Apercus ober kühnen Combi- 
natiouen ergeht, um fo grünvlicher verfährt er in der Sammlung und 
Sichtung des weitfchichtigen Material und um fo forgfältiger in ver 
Durcharbeitung des Details. 

Der erſte ſchon 1857 erfchienene Bd. umfaßt vie Gefchichte des 
Morgenlandes; der 2te, von dem uns bie erfte Hälfte vorliegt, behandelt 
die Gefchichte des hellenifchen Volles. Wir werben auf viefe nach dem 
Erſcheinen ver 2ten Hälfte zurüdtonmen 





200 Ueberſicht ber hiſtoriſchen Ateratur 


Faber, J. J., Dr Allgemeine Weltgeſchichte in zufammenbängenber 
Darſtellung für gebildete Beier aller Stände In 3 Theilen. 1. Th. Zlk 
Geſchichte, 104 €. 2. Tb. das Mittelalter, 406 S. 3. Th. Neue Geſchicue 
(feit dem’ 18. Jahrh.) 550 ©. in 8. Stuttgart, Metzler'ſche Buchbanbiung. 


Statt der Fülle des —* Materials und des ſorgfältig verar— 
beiteten Details, welche Webers Werk auszeichnet, iſt es die Auffaſſung 
e* und Darſtellung der Geſchichte im Großen, auf die Faber alles Ge— 


wicht legt. Er will ein „philoß uſonnirendes Leſebuch⸗- für Den 
Kreis des gebildeten Pul riſches Intereſſe hat, ſchrei— 
ben; das Material ſoll im itet werben, „bie man früher 
Hoeen zur Gefchichte over |; e Gefchichte nannte,/ und ber 
neuerbing8 beliebten faljchen & ar gegenüber ſoll feine Darftellung 
einen mehr fubjectiven ( zurch er dem gebilveien Pu— 
blifum nad) feinen ge, fen in der Art zu genügen 
hofft, wie e8 für feine Zeit ſo geyı gelungen ift. 


Die Ausführung dieſes „eo iſt niche jo ſchlimm, oder, wenn man 
lieber will, nicht fo aut, ald man nach dem angedeutelen Programm ew 
warten möchte. Der Berfaller hat ein im Ganzen brauchbares Leſebuch 
gefchrieben, aber auch nicht mehr. Einen befondern Ideenreichthum emt- 
widelt er nicht, und ftatt des philofophifchen Raiſonnements findet man 
jo viel bhiftorifches Material, al8 man in 3 mäßigen Bänden erwarten 
kann. Dabei ift freilich die Auswahl des Details nicht immer die glüd- 
lichfte, und bie und da vermiffen wir zwifchen ven lofe an einander ges 
reihten Fakten den rechten Zufammenhang. Die Darftellung, im Ganzen 
anziehend und gewandt, ift nicht frei von Mängeln, die bei einer forgfäls 
tigern Durchſicht hätten vermieden werden Fünnen. 


Fehr, 3. F., Dr., Privatdocent der Geſchichte in Tübingen, Handbuch 
der chriſtlichen Univerfalgefhichte. Vom Standpunkte der Religion 
und Eultur. 1. ®b. A. n. d. T.: inleitung und Gefcichte der Kirche und 
der Staaten im Mittelalter bis zum Xobe Karls des Großen. Stuttgart, 
Scheitlin. X, 832 ©. in 8. 

Herr Fehr behandelt die Gefchichte des Alterthums blos in einem 
Ueberblid von 30 Ceiten, um vefto ausführlidyer die Entwidlung der 
hriftlichen Kirche darzuftellen, umb hier, „mo eine Heilung wahrhaft noth 
thut, fo viele falſche und fchiefe Anfichten zu befeitigen.. Das kann na« 
türlich nicht anders als durch eine quellenmäßige Behandlung der Geſchichte 





bes Jahres 1858. 201 


geſchehen, und unfer Autor giebt fih auch gern ven Schein, als ob fei- 
nen Ausführungen tiefgehente Studien zu Grunde liegen. Sehen wir 
indeß genauer zu, fo ift fein Buch nichts als cine Compilation, die 
fi nur dadurch von andern unterſcheidet, daß fie mit einer ihr übel an- 
ftehenvden Prätenfion auftritt. Ja noch mehr, Herr Sehr fteht in einzelnen 
Partien feines Buchs tief unter dem Niveau der orbinären Compilatoren: 
er hat ganze Seiten oft wörtlich aus fremden Werfen ausgefchrieben, ohne 
in feinem „chriſtlichen Eifer reblic genug zu fein, ſolches einzugeftehen. 
Men diefes Urtheil zu hart erfcheint, vergleiche 3. B. ven Abſchnitt „über 
die Berfaffungs- und Nechtsverhältuiffe ter Karolingifhen Monarchie« 
(S. 807—27) mit den betreffenden Capiteln in Walters deutſcher Rechts⸗ 
geſchiche. Was Fehr über das Kriegsweſen erzählt ift bis auf unwichtige 
Veränderungen aus Walter’fhen Sägen zufammengeflidt, Walter 109. ff. ; die 
„Handhabung ver öffentlichen Sicherheit« ift wörtlih aus Walter ©. 117 u. 
118 abgefchrieben; ftatt feiner wird in einer Note, die ebenfalls Walter gehört, 
die Lex Rachis c. 10 citirt. Das Capitel über vie Sitten ift gleichfalls 
wörtlich dorther entlehnt; ftatt Walter aber, auf den Fehr nur in Betreff 
ver Geſetzgebung über dieſe Punkte verweift, citirt er eine eigene Abhand⸗ 
fung über den Wberglauben im Mittelalter. Aehnlich verhält es fih mit 
ber „Wohlthätigkeitspflege,/ dem „Königthum,“ der "VBaffalität« und vor 
allem der „Verwaltungs, wo fogar die einleitenden Bemerkungen und Re⸗ 
flexionen wörtlih aus Walter abgefchrieben find, während es in einer 
Note blos heißt: „die Beweisftellen bei Walter S. 74.u Dann folgen 8 
Seiten, von denen uur einige wenige Säte anders als bei Walter lauten, 
uur daß bei dieſen wohl die Reihenfolge des Einzelnen eine andere ift. 
Bei Gelegenheit der »Einkünftes wird einmal des MWeitern wegen auf 
Waig verwiefen, Walter aber, dem er Alles und felbft dieſes Citat ent- 
nommen bat, nicht genannt. 

Während in diefen Theile des Fehr'ſchen Buchs ein immerhin gutes 
Merk (freilich) ftatt in ber zweiten nur in der erften Auflage) mit fo maß- 
Iofer Freiheit benutzt worden ift, bat der Compilator in andern Partien 
fih an weniger zuverläßige Gewährsmänner gehalten, wie jie ihm eben 
fein Parteiftandpunft angenehm machte. So find 3. B. Gfrörer's Urge- 
ichichte und Leo's Borlefungen fleißig benütt. Legterem verbaut Herr 
ehr vornehmlich feine Weisheit in eiymologifhen Dingen, wo er fi 
freilich einmal fo ficher fühlt, vaß er ©. 322 gegen ben’ «b 





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202 | Ueherfiht ber Hals Sliesaten 


Eyrachforſcher J. Grimm⸗ riua Ableitung des Namens Germani (amB 
den Waffe Ger) geltend inacht, nugzpaß auch dieſe längft befeitigt umb 
keineswegs, wie fi Fehr ven Schein giebt, als neu zu erachten if. 
Schließlich noch folgende Proben ver Unzuverläßigleit dieſes Autors auch 
in andern Dingen: ©. 684 wird Regino von Prüm, der nur aus ben Ana. 
Lauriss. maj. gefhöpft, Einhard gegenüber als Quelle benukt, um das Blut 
bad an der Aller zu verringern. S. 598 wird König Dagobert in’ Jahr 583 
geſetzt; S. 417 ver Fall des burgundifchen Königshaufes ganz unrichtig uumit⸗ 
telbar vor die Schlacht von Chalons gefett, S. 380 werben die Cimbern 


und. Teutonen unrichtig auf Pytheas zurüdgeführt. Endlich unftatthaft find 
Ausdrücke wie: „gerigenichaftet* (S. 7) und „Zuchtſauen⸗ (S. 624). 


Zaranehi, Stauisl., Miniſt.Concipiſt, Weltgeſchichte in Annalen, Chro- 
niten- und Hiftorienweife m. e. finnbilbfichschronolog. und geographiichen Ge⸗ 
ſchichtolarte 1. Bd. 9. u. d. T.; bie hrifl. Zeit vom I. 1 bie 1000. Wien, 
topograph.-lit.-artift. Anftalt. V. und 442 ©. 8. 

Schon die erften Hefte dieſes Werks, das auf 6 Bände berechnet ift, 
wovon 4 die dhriftl. und 2 die vorchriftliche Zeit umfafjen follen, wurden 
vor zwei Jahren bei ihrem Erfcheinen won öfterreih. Blättern aufs wärmfte 
empfohlen, nicht allein für ven Schulunterricht, ber durch bie bier gefun- 
dene finnreiche und praftifhe Methode fo fehr vereinfacht werde, ſondern 
aud zur Lektüre für alle Gebilveten, um jo mehr als „das Unternehmen 
echt üfterreich. Geift beherberge‘‘ (Grazer Telegraph Nr. 142, 1856), "ber 
Berfaffer Oefterreiher und Katholik fei,« (Defterr. Zeitung Nr. 631, 
1856) und »jeßt zum erften Male das Bedürfniß derjenigen, welche ihre 
Bildung nicht ans umfangreichen Werken ſchöpfen können, vollkommen ges 
deckt werbe” (ver kath. Wahrheitöfreund Nr. 46, 1856). 

Sehen wir ab von der hier gepriefenen „guten Oefinnung« des Ber- 
fafjers, vie übrigens in feinem Buche nur mäßig hervortritt, fo müſſen 
wir Bedenken tragen, in jenes allfeitige Rob einzuftimmen; denn wir kön⸗ 
nen weber bie Hoffnung theilen, daß durch dir hier eingejchlagene viel zu 
fünftlihe Methode dem Gefchicdhtsunterriht eine neue Bahn gebrochen 
werde; nod) weniger aber glauben wir, daß die feltfame Gliederung ja 
Zerrißenheit des Stoffs bei der ganz äußerlichen Eintheilung in Jahrhunderte 
das Buch geeignet made, ein wahres Verſtändniß ter Geſchichte in weite⸗ 
ren Kreifen zu verbreiten, wenn aud das Einzelne, was ber Verfaſſer 
„giebt, nicht unbrauchbar iſt. 





bes Zahres 1858. Ä 2083 


Shöypner, A., Dr., Iharalterbliber ber allgemeinen Ge- 
ſchichte. Nach den Dieifterwerlen der Seihichtichreibung alter und neuer Zeit. 
Den Studierenden höherer Lehranftaten, fo wie ben Gebilbeten aller Etände 
gewibmet. 2. und 3. Theil: Das Mittelalter und die neuere Zeit (ber fpäter 
erihienene 1. Br. ift uns noch nicht zugegangen) XIV. u. 652 ©., VIII. u. 
678 S. Scaffhaufen, Hurter. 8. 

Died Buch, welches zu nichts geringerem beftimmt ift, als die prote- 
ftantifchen Leſebücher Hiftorifchen Inhalts, die in den Händen vieler Fatholifchen 
Studirenden getroffen werden („was ſich eined Theils aus ber großen 
Toleranz kathol. Yugendberather, andern Theil aus den Mangel entfpre- 
chender Leſebücher erflärt” — Vorw. ©. VI zum 2. Bd.), zu exfeken, 
verbankt feinen bunt zufammengetragenen Stoff neben vielen andern auch 
folgenden „Meiſterwerken“: Kreb8 deutſche Gefchichte, vie ter Berf. Il, 645 
ein „gründliches und gut erzählennes Geſchichtebuch⸗ nennt, Höfler's Lehr: 
buch ver Geſchichte („das fi vor vielen ähnlichen durch Duellenftudien 
auszeichnet« I, p. 651), Damberger's ſynchroniſt. Gefchichte, Bumüller’s 
Weltgeſchichte, vie hiſtoriſch⸗politiſchen Blätter. 


Zeiß, Guſt., Dr., Gymn.Prof, Lehrbuch der allgemeinen Ge 
ſchichte vom Standpunkte der Kultur. 3. Th. 2. Abt. U. n. D. T.: Lehr⸗ 
buch der Gedichte der neueren und ueueflen Zeit. 2. Abth. S. 821— 824. 8. 
Weimar, Böhlau. 


Springer, Rob. Allgemeine Weltgeſchichte von ben äfteflen Zeiten 
bis auf die Gegenwart. Für alle Stände. (In 40 Lfgn) 5—9 Lg. Berlin, 
artift. Anftalt. S. 257—576. 8. 

Die beiden letten Werke find uns nicht zugelommen. 


Neu aufgelegt wurden, von ben eigentlichen Schulbüchern abgefehen: 


Bed, Joſeph, Dr., Geh. Hofrath, Lehrbuch der allgemeinen Ge- 
ſchichte für Schule und Haus. 2. Curſus. W. u. d. T.: Die Geidichte ber 
Griechen und Römer mit Beziehung auf die vorzüglichern Völker, die mit jenen 
in Berührung famen, und mit befonderer Rüdficht auf Archäologie und Lite⸗ 
ratur. Ein Hand» und Lehrbuch. 3. Ausg. in neuer Bearbeitung. Hannover, 
Hahn, X, 503 ©. 8. 


Wernide, C., Dr., Oberlehrer, Die Geſchichte ber Welt. 2. ver- 


befierte Auflage. 1. u. 2. Halb-Bb. Geſchichte bes Alterthume. Berlin, Dan 
fer. V, 756 ©. 8, £ Fe 


— 
u. 


204 Ueberſicht ber bifterifchen Titeratur 


Bnmäter, Iob., Dr., Die Weltgeſchüchte. Ein Lehrbuch für Mitt: 
ſchulen und zum Selbſtunterricht. 4. werbeff. Aufl. Areiburg, Gerber, 3 Bbe, 
von 392, 847 unb 749 ©. in #. 

Das Werk des Herrn Bed ift ein überfichtlihes Handbuch der alten 
Geſchichte, in welchem man das Wiſſenswürdigſte ans dem Yeben ber 
alten Völker Mar und gedrängt dargeſtellt ſindet; Wernides Gedichte if 
mehr ein Leſebuch fiir weltere Kreiſe, und nicht flr gelehrle Zwecle be— 
ſtimmt. Gegen dieſe forgfältig gearbeiteren Blicher tritt aber das Wert 
Bumiüllerd auch im der Aten „verbeſſerten“ Auflage fehr zurüd; denn Im 
halt und Form laſſen gleich wiel zu wünſchen übrig, indem der Verfaffer 
ſich ebenfo nachläßig als einfeitig, wenn wicht unkundig erweist. 


Cantu, Cäſar, Allgemeine Weltgeſchichte. Nach ber fiebenten 
Originalausgabe fiir das latholiſche Deutſchland bearbeitet von Dr. &, U. M. 
Brühpfl. 9. Bd. IL. u. 11, Abb, U um d. T.: Mlgemeine Geſchichte ber 
neuer Zeit, 1. Br. Schaffhauſen, Hurter, 1857 unb 1858. X, 1128 ©. 8. 

Wir haben es bier nicht mit ver urfprünglichen Arbeit von Cantu 
zu thin, welche befanntlic won gewiffer Seite fort und fort als vie beſte 
Meltgefchichte angepriefen wird, indem man ihr jelbft vor beutichen Bi- 
hern gern den Vorrang zugefteht. Nur auf die eigenthümliche Art, wie 
man das Werk des Italieners der deutſchen Pefewelt zugänglich macht, 
glauben wir bier aufmerkfam machen zu müffen, wenn auch die Bearbei— 
tung, wie auf dem Titel ansdrüclich hervorgehoben wird, zunächſt nur für 
das Fatholifche Deutſchland beſtimmt iſt. 

Wohl hat Herr Brühl recht, wenn er behauptet, „der eminente Ge⸗ 
ſchichtſchreiber⸗ (Cantn) ftehe in ver Gefchichte der germanischen Völker nicht 
fo hoch, als in der Darftellung der Geſchichte und Eultur der Romanen. 
Allerdings hätte ſich and) hier vielfach Gelegenheit zu Berichtigungen und 
Bervollftändigungen gefunden; body wir geben zu, daß dies vor allem in 
der Gefchichte Deutſchlands noth that, wo es galt, um mit Gern Brühl 
zu veben, „ben gegenwärtigen Standpunkt beutfcher wiſſenſthaftlicher For⸗ 
ſchung⸗ zur Geltung zu bringen. Aber freilich ſteht in ven Augen bes 
Bearbeiterd. nur das auf der Höhe der Wiffenfchaft, was einen ausge⸗ 
prägt ultramontanen Charakter an ſich trägt; da ift ihm feine leivenfchaft- 
liche Parteifchrift, auch die fchlechtefte nicht zu ſchlecht. Alles was in ben 
letzten Decennien in biefer Beziehung für die Gefchichte der Reformation 
geleiftet ift, wird, jo weit e8 Herrn Brühl unter bie Hände kommt, excer⸗ 





bes Jahres 1858. 206 


pirt oder noch Tieber ausgefchrieben, um Cantu's Werke einverleibt zu 
werben. Zu einer eigentlichen Durcharbeitung bringt er es nicht, fo wenig 
er auch fonft den urfprünglichen Tert verfchont; oft findet er es bequemer, 
feitenlange Noten unter dem Terte fortlaufen zu laffen, vie nichts find 
als Stüde, aus den ihm gerade paffenden Schriften von Döllinger, wel- 
her übrigens das bei weitem Beſte hergeben muß, bis herab zu Jarcke, 
beffen „vortreffliche einfchneidende Unterfuchungen‘ dem Bearbeiter ganz be 
ſonders genehm find, weshalb er fie denn aud in freifter Weife benust 
und ihnen die unmürbigften Auslaffungen, namentlich über Luther, gern 
entnimmt. Bezeichnend ift e8 noch für Herrn Brühl, daß er einige Male 
fein Rüſtzeug fogar einem verjhollenen hiftor. Ronan von W. Meinhold 
entlehnt und dabei nody naiv genug ift, der proteftantifhen Kritik vorzu— 
werfen, daß „es ihr wirklich nahezu gelungen ſei, jenes Werk todt zu— 
ſchweigen“ (S. 166). 

So viel zur Charakteriſtik eines Buches, das ſich mit der Auf 
gabe brüftet, die „deutſche Geſchichte von der fort und fort ſich erben: 
den Krankheit der willfürlihen und unmillfürlihen Fälfhungen zu 
fänbern« oder die deutſche Wiffenfchaft gegenüber dem Italiener zu 
Ehren zu bringen. Bor einer folden Bearbeitung verdient Cantus 
urſprüngliches Wert entſchieden ven Vorzug: es ift zwar einfeitig, 
mangelhaft und nicht frei von Irrthümern und Fehlern, aber es ift doch 
ein Werk nicht ohne Geift und aus einem Guß, während Brühl's Bear: 
beitung nichts Mt als eine geiftlofe und ungefchidte Compilatien, die im 
Tone einer Rarteifchrift gehalten, wenig von der Würde eines Geſchichts— 
buches an ſich hat. K. 





2. Alte Geſchichte. 


Laßen, Ehe, Indiſche Altertyumelunde 3. Bd. Gefchichte bes 
Handels und des griechifch-römifchen Wiſſens won Indien und Geſchichte des 
nörblihen Indiens von 319 n. Chr. Geb. bis auf die Muhamebaner. 2. Hilfte 
2. Abth. Leipzig, Kettler. p. IX — XII, 785 — 1199. 8. 


Weber, Albr., Dr., Indiſche Studien, Beiträge für die Kunde bes 
indifhen Altertfums Im Bereine mit mehreren Genfer Gero. 4. WW. 
2. Hft. (177 886 ©.) Berlin, Dammler. 8. ‚ a. 





DE Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur 


Prinsep, 3., — Essays on Indian antiquities, historie, murdie- 
matic, and paleographic to which are added his useful Tables, illustrative 
«& Indian History, Chronology, modern. Coinnges, Weights,: Measures 
eo. Edited, with notes, and additional matter by Edw. Thomas, with 
numerous illustrations, London, 800 p. 8, 

Dies ift eine Sammlung der verſchiedenen Aufſätze des beſonders 
durch feine Entzifferung der alten indifchen Inſchriften berühmten Bfe,, 


die früher meift im As. Journ. wı ı chienen waren, mit manden 
Zufägen. Sie wird den Freunden wu jen Alterthumslunde willfom- 
men fein. Der Miederaborud feiner tables macht fie indeß a 
für neuere Geſchichte und neuere werthvoll. Pl. 





Gutfhmid, Alfr. v, Beiträge zur Geſchichte bes alten Orients, 
Zur Würdigung von Bunfens Aegypten. Bd. IV nud V. Leipzig, Teubner. 
VI u. 156 S. 38, 


Abdruck einer Kritik von Bunſen's Werte aus dem Rhein. Muſenm 
(N. 3. XU, ©. 1—45) mit einer Entgegnung auf Bunfens Angriffe in 
der Vorrede zur 2. Abth. d. V. Br. 


Brugſch, H., Geographiſche Infhriften altägyptifher Dent- 
mäler, gejammelt während ber auf Befehl S. M. d. Königs Friedrich Wil. 
beim von Preußen unternommenen wiffenfhaftfihen Reife in Aegypten, erläu⸗ 
tert und herausgegeben. 2. Br. U. u. d. T.: 

Die Geographie ber Nachbarländer Wegyptens nah ben- altigyptifchen 
Denkmälern zum erfien Male zufammengeftellt und verglichen mit den geogra⸗ 
phifhen Angaben der hi. Schrift und ber griedhifchen, römijchen, Toptiichen und 
arabiſchen Scriftfieller. XI, 96 €. in 4. nebft 23 Tafeln und 2 Karten. 
Leipzig, Hinrich's Verlag. 

Ein wichtiges Werk, worin Brugſch die Reſultate ſeiner hieroglyphi⸗ 
ſchen Forſchungen über die Geographie des alten Aegyptens niedergelegt 
hat. Die altägyptiſchen geographiſchen Namen ſind von den Griechen 
nur ſehr mangelhaft wiedergegeben worden. Champollion de J. (L’Egypte 
sous les Pharaons. Paris 1814. 2 Bde. 8.) hatte nur die foptifhen Na⸗ 
men wieber berzuftellen gefucht. Brugſch hat zuerft die altägyptiſchen und 
hieroglyphiſchen Schriften aus den Denkmälern ermittelt. Er handelt im 
dem 2. Theile des vorliegenden Werkes in 4 app. von den Länder 





bes Jahres 1858. 207 


und Bölfern im ©., D., N. und W. des Landes und im 5ten vou den 
4 Menfchenracen der alten Aegypter. Brugſch folgt ven Grundprinzipien 
der Entzifferung Champollions mit Lepſius, Bird u. A. Die Deutung 
der geoograph. Namen ift meift durch Parallelſtellen geſichert. Bei feinen 
Bergleihungen ift er mit Borficht zu Werke gegangen und benutzte daher 
die Entzifferungen der aſſyriſchen Keilfchriften duch Rawlinſon, Hide, 
Layard, Oppert u. a. noch nicht als ſchon genug gefihert, obwohl über- 
zeugt, daß die Denkmäler an den Ufern des Tigris und Euphrat einſt 
die am Nile ergänzen werben. Pl. 


Lepſins, €. R., Königsbud der alten Aegypter. 1. Abth. Tert u. 
Dynaftientafeln. II. Abth. die hieroglyph. Taf. Berlin, Herg. VIII, 188 5 in Fol. 

Die 63 Tafeln von Lepfius Lange erwartetem Königsbuche enthalten 
die reichſte Sammlung aller ägyptifchen Königsfchilder und ver ihrer Fa— 
milien, leiver nody ohne Nachweis der Monumente, weldyen jede ägyptiſche 
Legende entnommen ift und ohne die philologifche Begründung ver Deu⸗ 
tung derfelben, jo wie endlich ohne eine Rechtfertigung feiner chronologie 
hen Aufftelung im Einzelnen Diefe wird erft der 2te Theil feiner 
Chronologie der Aegypter bringen; der beigegebene kurze Tert foll nur 
im Allgemeinen zur Rechtfertigung dienen ine ausführliche Kritik des 
Werkes muß Daher einer fpätern Zeit vorbehalten werben; vorläufig haben 
wir die vornehmften feiner Anfichten ſchon in unjerm 2. Artikel über 
Bunjens Werk in den Münch. Gelehrt. Anzeigen 1858 Nr. 16 — 20 
mitberüdjichtigt. Hier nur die Bemerkung, daß Lepfins im Allgemeinen 
bei feiner bisherigen Anficht der Gleichzeitigkeit Manethonifcher Dynaftien 
und ter Annahme ver Zahl von 3555 Jahren für den Umfang der ägyp⸗ 
tifchen Gefchichte nah Manetho, die er hier ©. 9— 12 und in einer befon- 
dern Abhandlung: „Ueber die Manethonifhe Beftimmung des Umfanges 
ber ägyptiſchen Geſchichte/ (Abhandl. d. Berl. Akad. d. Wiſſ 1857) noch 
näher zu begründen verſucht hat, beharrt. Er ſtimmt in beiden Punkten 
mit Bunſen überein. Wir vermögen aber mit Böckh nicht einzuſehen, daß 
die Manethoniſchen Dynaſtien nach ihm und den Aegyptern gleichzeitig zu 
ſetzen ſeien. Die Summe von 3555 Jahren würden wir gern anneh—⸗ 
men, aber die entgegenftehenden Bedenken fcheinen uns auch jest noch Lep⸗ 
ſius allzu zuverfichtlihe Sprache nicht zu rechtfertigen. Obwohl Bunfen 
Manetho nicht genug erheben kann, legt er doch bei feiner Chronologie 
des Eratoſthenes Laterculus zu runde und fchnäbet darnach den Ma- 


j a u u i I 


208 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur 


netho zu. Lepſins zwar gibt auch jetzt noch auf ven Lalereulus nichts 
und weicht darin von Bunſen ab; fein Prineip aber (&, 18), nur bie 
memphitifchen Dynaftien als fortlaufende anzunehmen, möchte ebenfo wenig 
haltbar fein. Ueberhaupt ficht man, wie jeber, welcher die Manerhontichen 
Dynaſtien nicht alle als jucceffio betrachtet, jonbern mehr ober weniger 
als gleichzeitig, zu allerlei willfürlichen Annahmen getrieben wird, wie 
denn auch Lepfius und Bunſen vielfach weit auseinander geben. PI. 


*1) Ahlemann, Mar, Dr, Sanbbud ber gefammten äagyhptiſchen 
Altertyumstunde. 3, Tbl. Chronologie und Geſchichte ber alten Megupter. 
Mit 2 lith. Tafeln. X, 275 p. 4. Thl.: Die Literatur ber alten Acgypter 
an Beifpielen erklärt und erläutert. Mit 2 lith. Zaf. VII, 346 p. Seipig, 
D. Wigand. 8. 


Schulze, Lud., Dr., lic, Iheol. De fontibus ex quibus historia Hye- 
sorum haurienda sit. Berlin, Schlawitz 82 8. 8, 





Ewald, Heinrich, Geſchichte des Bolles Iſrael. 2. Ausg. 6. Dh. 
A. u. d. T.: Geſchichte bed apoſtoliſchen Zeitalters bis zur Zerſtörung Jern⸗ 
ſalenis. Göttingen, Dietrich. X, 7650 S. 8. 





Curtius, Ernſt, Griechiſche Geſchichte. 1. Bd. Bis zur Schlacht bei 
Lade. 2. unverändert. Abdr. Berlin, Weidmann. V, 5186 8. | 


Mone, Yr., Dr. phil. und Privatdoz. ber Geſchichte in Heidelberg, Grie 
chiſche Geſchichte. Erſter Band. Syſtem ber Entwidelungsgefege ber Ge. 
ſellſchaft, der Vollswirthſchaft, des Staates und ber Cultur des griechiſchen 
Boltes, hronologifch dargeftellt von der achäiſchen Wanderung bie zum Untere 
gang des achäiſchen Bundes und der helleniſtiſchen Reiche. Berlin, 5. Heinide, 
1858. 8. 

Ein ungenießbares Gebräu aus BVielwifferei, falſch angebrachter Ge⸗ 
ſchichtsphiloſophie und unverbauten modernen Staats- und Volkswirth⸗ 
Ihafts- Theorien, zu deſſen unverbolener Prätenſion auf den höchften Preis 
der Gefchichtfchreibung der alte Theognis, wenn er milde urtheilen wollte, 
kopfſchüttelnd jagen würde: 6 naı veorys Enınovgide 00V avöpos. 

v. L. 





1) Die mit * bezeichneten Schriften follen fpäter beiprochen werben. 





bes Jahres 1858. 209 


Gottſchick, A. F., Dr., Befhihte der Gründung nmud Blüthe des 
helleniſchen Staates in Kyrenaika. Leipzig, Teubner. (40 ©.) gr. 8. 


Romeijn, A., Phocion. Eine historische Studie. Rotterdam, Drajer. 63 8. 8. 


Markhanſer, W., Der Geſchichtſchreiber Bolybius, feine Weltan- 
ſchauung und Staatelehre mit einer Einleitung über die bamaligen Zeitverhält« 
niffe. Cine gekrönte Preisſchrift. Münden, Rieger. VIII u. 155 © 8. 

Eine forgfültig gearbeitete Darlegung des polgbianifhen Wefens und 
Werkes, geftütt auf eine möglichft volltändige Sammlung ver in leßterem 
über Zeit, Weltanfhauung, Bolitif und Methode des Autors enthaltenen 
Angaben. Es mag im Allgemeinen gerathen und thunlih fein, einen 
Schriftſteller in dieſer Weife aus fich felbjt varzuftellen; nur hätten wir 
gewünfcht, daß deßhalb anderweitige Zeugniffe und Ergebniffe nicht fo gar 
kärglich zu Rathe gezogen wären Bei der einleitenden Darftellung ver 
allgemeinen Zeitverhältniffe, in welche das Peben des Polybins fällt, ift 
dieſe Beſchränkung fogar ein wirfliher Mißgriff. Dankenswerth ift da— 
gegen ter erſte Hauptabſchnitt der M.'ſchen Schrift, welcher »„Polybins“ als 
Hiftorifer fchildert. Hier genügt e8, wenn Theorie und Praris der po- 
lybianiſchen Hiftoriographie aus dem Werke felbft vollſtändig entwickelt 
werden. Nur in einen Hauptpunkte, nänlich in ver Auffaffung tes be- 
kannten polybianifchen „PBragmatismus“ können wir vie an Schweighäufer 
ſich anlehnende Erklärung auf p. 97 u. ff. nicht billigen, indem wir 
ung bierin vielmehr Nitzſch anfchliegen , ver die Pragmata des Poly— 
bins, ganz im Sinne der univerfalbiftorifchen Auffaſſung des Gefchicht- 
fchreibers, für das nimmt, was wir heute Die „internationalen Beziehun- 
gen“ der Staaten nennen. Hie und da durch hübjche Parallelen beleuchtet 
ift das Bild, weldies der Verf. ſodaun von „Polybins Weltanſchauung“ 
entwirft. In dem legten Theile endlich, welcher „Polybius Staatslehre“ 
behanbelt, ſcheint uns die breite Wiederholung des früher ſchon über ven 
Pragmatismus Beigebrachten niht am Plag zu fein. v. L. 


Fustel de Cenlanges, N. Polybe, ou la Grece conquise par les Ro- 
mains. Thöse presentde & la Facul’d des leitres de Paris. Amiens, VI 
109 p. 8. 


Born, Dr., Oberlehrer, Zur makedoniſchen Geſchichte. Berl. 85 ©. 4. 

Ein specimen eraditionis in Geftalt eines Programme, welches ſich auf 

ven erften Blick als ein teodener Auszug ans“: dem bebannten trefflichen 
Diſtoriſche Zeitſchrift L Ber 14 





210 Ueberſicht ber hiſteriſchen Literatur 


Jugendwerke O. Abel's kund giebt, ohne Haxaus auch in ben veichtich au⸗ 
gebrachten Citaten weiter ein Sthl zu machen. Nur ber Schluß führt 
bie Erzählung der Geſchichte Philiwis IL. na um eim Geringes weiter, 
als es bei Abel der Fall ifl,, aim Bis zur Beflegung ver Hlyeier 
im J. 858, Pen . L. 


»Gerlach, Br. Dor., Zalenkos, Charondas, Pythagoras. Bar 
Eniturgefhichte von Großgriechenland. Bafel, Bahnmaier. III, 160 p. 8. 





Arnold, Thomas, History of Rome. New edit. 8 vol. Lenden 
Fellowes. 8. u 


Linker, Guſt., Dr., Die ältefte Sagengeſchichte Roms, Ein Ser 
trag. Wien, Gerold’s Sohn. 276. 8. 


Lewis, Sir George Corawall, An inquiry into the credib:lity of the 
early Roman history. 2 voll. London 1855. 8. 


Derselbe: Untersuchungen ü. d. Glaubwürdigkeit d. alt- 
röm. Geschichte. Deutsche v. Verf. vermehrte und verbesserte, sowie 
mit einem Nachtrag versehene Ausgabe, besorgt durch Felix Liebrecht, 
Bd. I u. Il. Hannover, VII, 510, VIlI, 497. 8. 


Bröder, 2. O., Unterfudungen d. db. Glanbwürdigkeit ber 
altrömifchen Verfaſſungsgeſchiche. Hamburg, V, 172 ©. 8. 


Schwegler, A., Röm. Geſchichte. Dritter Band. U. u. d. T.: Rom. 
Geſchichte im Zeitalter des Kampfes ber Stände. 2 Hälfte Vom erfien 
Decemvirat bis zu ben liciniſchen Geſetzen. Nach d. Verf. Tode berausg. von 
Gymn.-Brof. Dr. Baur. Tübingen, Laupp. XLIL, 380 © 8. 

Der Englifhe und ver Deutfche Verf. (Lewis und Bröder), welche 
in den vorftehenden Schriften die Glaubwürdigkeit der älteren Röm. Gefch. 
von Neuem unterfucht haben, find zu diametral entgegengefegten Refultaten 
gelangt, ſtimmen aber in dem Einen Punkt vollftändig überein, daß fie 
die Methode und bie pofitiven Ergebniffe der Niebuhr'ſchen Kritik durchaus 
verwerfen. Beide behaupten bei ihrer Forſchung die einfachen Regeln des 
gewöhnlichen Denkens zur Geltung gebracht zu haben und verwerfen, auf 
diefe geftüßt, die Aufichten Niebuhr’s und ver Neugren über bie ältere 
Geſch. Roms als die auhaltbaren Erzeugniſſe wigenſchaftlicher Willkür. 





bes Jahres 1858. 211 


Fleiß, Belefenheit uud ein anfrichtiges Streben nad) ficheren Refultaten 
wird Herrn Bröder’s früherem größeren Buch ebenfowenig wie dem jett 
erfchienenen abgefprochen werben fünnen, und fein Engliſcher Antipove fteht 
ihm darin vollfommen gleih. Deſſenungeachtet liegt in dem Widerſpruch, 
in dem fid) beide befinden, ſchon ein hinreichender Grund vor, an der 
Sicherheit diefer „nüchternen« Kritil zu zweifeln. Und wenn Hr. Bröder 
die altrömifche Berfaffungsgefchichte bei Livius, Cicero und Dionys für voll 
kommen unverfälfcht Hält, Sir Cornwall’ Lewis dagegen die ganze ältere 
Geſchichte Roms vor Pyrrhus für ganz und gar unzıwerläßig erflärt, fo 
möchte der allernüchternfte Dienfchenverftand vielleicht zu dem Ausweg ge- 
drängt werden, biefe beiden waderen Leute hätten jeder etwas Recht und 
etwas Unrecht d. h. die Wahrheit liege, wie die Niebuhr’fche Hypotheſe, 
in der Mitte. 

Es follte freilich unnöthig fein, immer von Neuem auf den eigentli- 
hen Charakter einer wiflenfchaftlihen Perſönlichkeit aufmerkſam zu machen, 
die wie Riebuhr fo viel und jo ausführlich beiprochen und bekämpft worden 
ift. Indeß ift es das keineswegs, und es will uns bedünken, als wäre es 
auch diefen Schriften gegenüber nothwendig. Niebuhr's Anficht über bie 
ältere Gefchichte Roms war das Reſultat feiner allgemeinen Anſchauung 
über den Gang aller Hiftoriographie und aller Berfaffungsgefchichte über- 
haupt. Er glaubte, daß Rom eben fo gut wie Florenz oder Köln, wie 
Ditmarfchen oder die Schweiz feine alte Gefchichte, fein Mittelalter und feine 
moderne Zeit gehabt, und da er überall für jeve viefer Perioden eine ge⸗ 
wiffe Bildung der politifhen Organe und der Tradition vorfand, glaubte 
er fich berechtigt, fie auch bei einer Verfaffung und einem Volle aufs 
zuführen, das ganz befonbers gefund bie früheren Perioden feines poli- 
tifchen Lebens zurüdgelegt hatte. Ein Grundzug in einer folhen Entwid- 
fung war für ihn bie naive und unveflectivte Ueberlieferung der politiichen 
Inſtitute und der hiftorifchen Tradition: und zwar fo, daß bie Inſtitute 
meift ihre alte Form bewahrten, lange nachdem fchon der bewegende Ge⸗ 
danfe ihres fchöpferifchen Moments verſchwunden war, und daß die Tra⸗ 
dition viel weniger rationaliftifch erfindet, als vielmehr Stüd für Stüd 
originale Weberlieferungen ver Poeſie oder Proſa mit großer Stätigfeit 
aber wenig Umficht zufammenträgt und fortpflanzt: Beweiſen, d. h. Punkt 
für Punkt thatfächlid: belegen Tonnte für die Altıwe Bm. Geſch. Nie⸗ 
buhr dieß eben fo Wäigy als uns vie heut zu Sege uiglih if, “aber 





212 uUeberſicht der Hifeciichen. Literatur 


auf einer Menge anderer hiſtoriſcher Bubiempuhat die neuere Wilfenfchaft 
nad; ihm die Gefechte des Wififiungen  mircter Diſteriegraphie "unten 
fucht, und überall ift feine wilgeeeine Anfchäeeng weſentlich als bie richtige 
conftatirt, wenn auch manche Mkgeuthllungpäfkeiten zu ‘Tage. getreien fink, 
von deren Feiner übrigens unferecipu.Berfafier genügende Keuntniß zu 
haben ſcheinen. Sir Cornwall Lewis, der bis zum Ueberbruß den. Charab⸗ 
ter der älteften mündlichen Römifchen Tradition erörtert, kennt z. B. bie 
merkwürdige Thatfache einer faft zweihumbertjährigen feften, chrouiſchen 
münblicyen Ueberlieferung nicht, wie fie neuerdings in dem Sölänbifchen 
Sagas conftatirt ift und Herr Bröder fcheint nicht zu ahnen, daß überall 
bie Begriffe der älteren ariftofratifchen. Berfafiungen den fpäteren Dahhr⸗ 
hunderten gerade eben fo unllar waren, und doch fo ficher erfchienen wie 
Niebuhr das bei ven Römern annimmt, man vergleihe nur mit ben 
„patres“‘ die „Bürgerſchaften⸗ unferer Städte ober den » Derremanı« ber 
dänischen, den „Dienſtmann« ber beutfchen, die „ricoshombres“ ber ſpa⸗ 
nifchen Ariftofratie. Allerdings ift die Folge jener allgemeinen und tief 
gehenden Unterfuchungen auf allen anderen Gebieten geweien, daß man 
die Unmöglichkeit, auf vemfelben Wege auch in vie ältere Römiſche Ge- 
fchichte einzubringen, deſto fehmerzlicher empfinden mußte, weil eben bier 
das Material dazu fehlte: aber es bleibt eine wifjenfchaftlihe Kurzfichtig- 
feit, die Niebuhr'ſche Anficht und Methode deßhalb zu verwerfen, weil fie 
nur auf diefem Gebiete nicht fo ftreng conftatirt werben kann, als ſonſt 
auf allen übrigen. Wer dieß thut, fieht ſich natürlich genöthigt, weil er 
bie Möglichkeit der gewöhnlichen Entwidlung als unerwiefen hier nicht 
anerfennen will, eine ebenſo unerwiefene Singularität anzunehmen. Für 
eine ſolche Singularität fehlen gerade eben fo fehr die legten Beweiſe, 
wie für das Gegentheil; fo 3 B. in Rubino's Unterfuhungen und in Hrn. 
Bröcker's früherer Schrift, und jedenfalls Hilft e8 fehr wenig, wie in ven 
vorliegenden Unterfuchungen deſſelben Verf. gejchehen, fie durch moralifi- 
rende Declamationen zu erfeßen. 

Es will uns bevünfen, als hätten beide Verf. von viefer allgemeinen 
Lage der neueren biftorifchen Kritik und daher auch von ber bejonberen 
ber alten römiſchen Geſch. keine Hare Vorſtellung. Die BVorftellungen, 
gegen welche fie anfämpfen, find durchaus unklar oder verzerrt, und weil 
fle von dem Standpunkt der Niebuhr’ichen Hypotheſen im -ganzen Zuſam⸗ 
wenhang der Wiſſenſchaft entweder keine oder nur unflaus Giubrüde ha⸗ 





bes Jahres 1858. 213 


ben, müflen nothwentig auch ihre Debuctionen, fo weit fie eben gegen 
jene gerichtet find, zum größten Theil vorbeitzeffen. 

Die ältere Geſchichte Roms bietet das eigenthümliche Bild einer im 
Ganzen zufammenhängenvden UWeberlieferung. in ver die erfichtlich fagen- 
haften Beſtandtheile gegen vie anderen fcheinbar rein hiftorifchen im Gans 
zen jehr zurüdtreten. Die Erzählung, jo lüdenhaft und zerrüttet fie auch 
an manden Stellen erfcheint, trägt doc im Ganzen ven Charakter that- 
fächlicher, ja individuell lebendiger Anſchanung. Sir Cornw. Lewis nimmt 
an, daß fie im Ganzen allen ihren Hauptbeftandtheilen nah von ven Hi- 
ftorifern feit Yabius Picter aus mündlicher Lieberlieferung zufammenge- 
fhrieben fei, und zwar fo, daß dieſe Schriftfteller die eigentliche, meift 
nüchterne Yaflung einer Erzählung gegeben hätten, die, wäre fie unmittel- 
bar nach der mündlichen Tradition und durch diefelbe firirt geblieben, viel 
„legendariſcher“ ansgefallen fein wirkte und nicht fo „businesslike and 
simple“. Seine Hauptbeweife find einmal die Thatſache, daß Living, 
Dionys und Cicero keine älteren Hiftorifer als Yabius kenuen, daß wir 
alfo nicht berechtigt find, die Abfaffung ver Gefchichte jemand anders als 
jenen Schriftftellern zuzufchreiben, die von Fabius bis auf Livius die ältere 
Geſchichte und zwar meift a. u. c. barftellten. Daß dann aber dieſe aus 
mündlichen Quellen fchöpften, das glaubt er annehmen zu müffen, 1) weil 
wir von fohriftlihen Quellen fo wenig wiflen und 2) weil auch in unfrer 
jetzigen Ueberlieferung bei Livius u. |. w. über bie wichtigften Ereigniſſe 
nad) dem Geſtäudniß ter Echriftfteller vie größten Wiperfprüche fich 
finden, vie bei einer gleichzeitigen Aufzeichnung gar nicht denkbar wä- 
ron. Endlich aber Tann eben die fo von den Schriftftellern zu⸗ 
fammengefegte Geſchichte nicht die reine, naive alte Leberlieferung fein, 
weil feiner Meinung nad eine derartige Ueberlieferung nothwendig einen 
viel wunbergläubigeren und poetifcheren Charakter tragen würde. Es liegt 
auf ver Hand, daß allerdings bei einem ſolchen Urſprung vie betreffende 
Ueberlieferung zu der ſchlimmſten und unzuverläßigſten Claffe biftorifcher 
Arbeiten gerechnet werben müßte: eine ganze Literatur im Stil des Saro 
Grammaticus oder des Gottfried von Monmouth, eine Hiftorie ins Blaue 
hinein, eine Welt von individuellen Muthmaßungen durchſetzt mit wenigen 
Stan von Wahrheit. Mit Einem Wort, fehen wir recht, eine römiſche 
Geſchichte, wie fie fich etwa Hr. Brüder als eigentliche Grundidee der an- 
Haren Nichechoſchen Borftellungen deult: das Gigmifiunlichurkghei mine 





214 ueberſicht ber hiſteriſchen Mteratur 


daß dieſer Art von Gejchichtöffitterung "bie; muhl;in einzelnen Literaturen in 
einzelnen glänzenven Beifpiyien Tuie wein chen- yeugputen vorkonunt, hier 
eben vie wiflenfchaftliche Uſchece eimez ‚ganzen Biheratur von faſt zwei Zahr⸗ 
hunderten geblieben ſein folktey.-gui ‚Maß: Aha beffenungenchtet bei einer 
foldyen Richtung die Gejchichte Zus. AuzE- Roms ſich quantitativ in jemen 
fnappen Gränzen ver Darftellung Nazi ber fpäteren gleichzeitigen Auf⸗ 
zeichnung gehalten haben follte, ba doch weder der Nationaleitelleit noch 
ver Erzählungsinft irgend eine Gränze geftedt war. Saro ſchrieb zehm 
Bücher folder Vorgeſchichte und unr ſechs feiner Zeit; wie ganz andere 
ift dieß Verhältniß bei allen Römern von Cato bis auf Livius. Gerade 
biefe relative, auch vom Berf. bemerkte Kürze ver älteren Geſchichte läßt 
ſchließen, daß bier in einem faßlich vorhandenen und refpectirten Material 
der Grund einer folhen Begränzung lag. Mit Einem Worte, eine folche 
Literatur würde eine der väthfelhafteften und fingulärften Erſcheinungen 
zumal bei einem Bolt wie das römifche fein, das fi ber Verf. ud 
dazu jo fchreibfanl denkt, daß er alles Ernftes bezweifelt, ob es je vor 
Erfindung der Buchdruckerkunſt mehr als einige hundert Codices des Horaz 
oder Birgil gegeben babe (p. 197)? Mommfen, ter ſich in einigen Par⸗ 
tien feiner geiftreihen Darftelung allerdings ſolchen Anfichten von eimer 
Chronifenfabrif nähert, wird dazu durch die unglüdliche Parallele mit dem 
neueren Literaturen veranlaßt. Aber wenn wir uns die Römer nicht fo 
wenig fchriftftellerifch denken wie ver Berf., fondern nur nach dem Maaße 
etwa unfrer mittelalterlihen Schrififteller und Schreiber, fo bleibt es eim 
böchft abnormer Gedanke, daß bei dem Werth und ver Schwierigfeit einer 
ſolchen Echriftftellerei, eine ganze Keihe von bedeutenden Männern an 
joldye Conceptionen ihre Zeit und Arbeitöfraft gewandt haben follten. Und 
fo innerlich unwahrſcheinlich die Hypotheſe des Verf. ift, ebenfo wenig 
wird fie durch die Äußeren Kennzeichen wahrſcheinlich, vie er dafür anführt. 
Die alten isländiſchen Sagas über die innere Geſchichte ver nordifchen 
Republik, find noch vielmehr businesslike and simple als diefe römifchen 
und find bed) nachweisbar nit 60 oder 80, fonvern 150 ja 200 Yahr 
münblih fortgepflanzt worden. Es liegt alfo darin bei dem Römiſchen 
nicht nothwendig eine Spur fpäterer Schriftfteller vor. Was aber bie 
Differenzen über die wichtigften Thatſachen angeht, aus denen dagegen ber 
Berf. auf eine urſprünglich mündliche Tradition ſchließt, ja die er mit 
einer gleichzeitig ſchriftlichen für unvereinbar erklärt, fo Kat ex vielleicht 





bes Jahres 1858, 215 


die Gefchichte des zweiten punifchen Kriegs z. B. nicht mit feiner kritiſchen 
Alribie vurchgearbeitet, wo berartige Differenzen gerade eben fo häufig 
find, wie fpäter 3. B. über den Proceß der Scipionen (Liv. 38, 56). 
Mar aber dieſen Perioden eine gleichzeitige Geſchichtſchreibung zur Seite, 
fo beweift eine folche hiftorifche Unficherheit auch früher nicht gegen eine 
folde. Und unferer Meinung nad kann Niemand, der überhaupt nur bie 
gleichzeitigen Ueberlieferungen ber neueren oder mittleren Gefchichte Fennt, 
zu einer foldyen Schlußfolgerung gelangen. 

Nannten aber Livius und Dionys und alſo auch Fabius Feinen 
Schrifiſteller, ver dieſem letteren voransging, fo beweift dieſe Thatſache 
am allerwenigften, wenn man überhaupt auch bier die Erfahrungen gelten 
läßt, . welche die neuere Kritik über die Gefchichte älterer Annalen und An⸗ 
naliften gemacht hat. Es iſt jetzt in unzähligen Fällen nachgewieſen, daß 
genannte ober ungenannte Autoren eine oder mehrere namentlich befannte 
Quellen wörtlich ausfchreiben, ohne mit irgend einer Andeutung dieſes 
Umſtandes zu erwähnen und daß gerade auf diefem Wege Annalen von 
großem Werth und Echriftfteller von eminentem Berbienft lange Zeit 
hindurch für bie Gefchichte ber Gefchichtfchreibung nur unter dem Namen 
ihrer Ausfchreiber eriftirten. Dieſes Ausfchreiben ohne zu citiren ift bei 
allen älteren Geſchichtſchreibungen ein fo überaus häufiger Gebrauch, ja 
er exfcheint bei einer nur mit der Feder arbeitenden Hiftoriographie fo 
allgemein, daß es jedenfalls ſehr auffallend wäre, wenn die ältere römische 
Annaliftit davon ganz oder faft ganz frei geblieben fein follte Und wenn 
Livius auch den Bolybius an manchen Stellen erwähnt, an wie vielen 
bat audy ex ihn audgefchrieben, ohne ihn zu nennen? Dieß aber ift für 
die Nepublil das einzige Verhältniß diefer Art, das wir controliren kön⸗ 
nen. Weiter zurüd fehlt uns ein ähnliches Material, aber man darf nun 
doch dieſen Mangel, wie ſchon gefagt, nicht zu einem Beweiſe verwenden 
und ben natärlichften Erklärungsgrund für Geftalt und Werth ver älteren 
Geſchichte deshalb zurücweifen, weil die römifhe Forſchung über ihre äl- 


teften Quellen nicht zu ven Aufklärungen gelangte, die bei uns feit der 


Erfindung der Buchoruderkunft und ber Reftauration der Kritik durch bie 
Reformation erſt fehr allmählich gelungen find. 

Dieß ift die eine Gruudanſicht Niebuhr's, vie Wahrſcheinlichleit be⸗ 
bentenber vorfabiſcher Ouellen. Und wie indignirt auch umfer englifcher 
Berf. fie serwirft, wir finden in feiner Audeinanderfetzung keinen ſtichhal⸗ 





216 Ueberficht der "HiRoriflgiitteretur 


gen Grund, ihm beizuftiuniegginhggBeh ee für ältere Unnalipit 
neuerbings faft überall Font nnhgetoiefen iR: Hte Annaliſtik begiemt Aberali 
entweder mit gleichze@geßitffichjeichkikngen ober "WR ber Copie älterer Schrift- 
ftüde, meift ohne die Q einren⸗ Eim⸗eſchichiſchreibimg über äftere 
Geſchichte ganz übertviege ii amor wehhtolicher Ueberlieferung- iſt nach 
allen Bebbachtungen eine Singufarliät,’für die fich wohl -einjelne indivi⸗ 
duelle Beifpiele, aber nirgend fonft eine ganze unfängreiche Literatur als 
Beleg anführen läßt. wre 

Die andere für bie Kritik wefentliche Behanptring Niebuhr's iſt bie, 
daß eben die fpäteren lateiniſchen Schriftſteller von den Inſtituten und Be⸗ 






‚griffen der älteren Verfaſſung keine Mare Berſtellung Hatten. Es Fünnte 


ſcheinen, als wäre dieſe Annahme um fo umbegreiflicher, je beſtimmter der⸗ 
ſelbe Forſcher gerade von einer vorfabiſchen Geſchichtſchreibung ſpricht. Herr 
Bröcker hat dieſen Punkt gerade zum Gegenſtand feiner Erärtermg ge. 
macht, doch urgirt er jenen fcheinbaren Gegenſatz nicht. Seine Debuction . 
folgt einer anderen Richtung. Schon Rubino hat bekanntlich für vie ſtaats⸗ 

rechtlichen Begriffe eine Continnität der ftaatsmännifchen, nicht bet hiſtori⸗ 
hen Tradition zu Rom behauptet. Diefe ganze Borftellung hat für Ref. 
bis auf den heutigen Tag etwas Unflares behalten, tenn, wenn ihre An⸗ 
fihten den hiſtoriſchen Thatfachen nicht überall entfpredhen, wie Rubino 
felbft annimmt, wann enıftanden fie? und wie? und wann wurden durch 
fie die Hiftorifchen Thatſachen vollſtändig in ver Tradition verfhoben? Auf 
alle dieſe unumgänglichen Yragen fehlt noch immer vie Antwort. Momm- 
fen acceptirte Rubino’8 fo gewonnene Refultate über das Imperium, und 
war nur die Auctorität Varro's und feiner Zeitgenofjen anerkannt, fo fuchte 
Meumfen an einem zweiten Punkt vie ununterbrochene Continuität der 
römiſchen Zrabition nachzuweiſen, nemlich in ver Gefchichte der Volks⸗ 
eintheilung, der Aushebung- und Stimmorbnung. Der außerorbentliche 
Scharffinn und die rüdfichtslofe Verwegenheit feiner Exegeſe führten bier 
zu einem Refultat, das auf einem anderen Gebiete vem Rubino'ſchen an 
Neuheit entiprach, bier aber war die Frage nad) ‘der Zuverläßigfeit Ver 
Tradition nicht, wie bei Rubino, durch eine Theorie ungangen, fontern durch 
eine energifche und breite Eregefe kurz und bündig bejahend entjchieven. 
Bröder hat über nody andere Punkte, nemlih die Beſtandtheile und bie 
Thätigleit der Curiatcomitten ebenfalls den Nachweis verjucht, daß im All⸗ 
gemeinen die ganze vömifche- PMeratıe vor wie nad Varro dieſelbe Anficht 





bes Jahres 1858. - 217 


gehabt habe. Merkwurdig genug geht er hier auf jene Unterſuchungen feiner 
Vorgänger gar nicht ein. Und doch kann er unmöglich verlangen, dag man 
ihm für die ganze ältere Geſchichte der Republik einem folchen consensus au- 
etorum zugeftehen fell, fo lange neben den von ihm befprochenen Gegenftän- 
den andere wie die Zahl und Eintheilung der Tribus oder die Machtvoll- 
fommenbeit und ver Amtöbezirt der Duäftur durchaus controverd waren. 
Es ift num nicht unfere Abficht, hier der Zufammenftellung des Berf. weis 
ter zu folgen. Das Bemühen, zunächſt die Anficht des einzelnen Autors 
für fi), und dann bie llebereinftimmung bes einen mit dem anderen zu con⸗ 
ftatiren, verbient gewiß alle Anerkennung. Herr Bröder ift dabei freilich 
zuweilen fehr hitzig zu Werk gegangen. Er findet e8 z. B. ganz gegen 
allen gefunden Wenfchenverftand, daß eine patricifch gefinnte Verſamnilung 
plebejifch gefinnte Magiftrate und umgekehrt eine plebejifch gefinnte Ver: 
fammlung patricifch gefinnte Beamtete gewählt habe (Unterf. p. 34 u. 49) 
Der einfache Umſtand, daß eben jene Verſammlung Plebejer und biefe Pa- 
tricier gefeglich wählen mußte, hat bisher ven Meiften zur Erklärung bie 
ſes Räthſels genügt, freilich nicht tem Verf. zur Aufftellung einer neuen 
Hypotheſe. Wie gefagt, wir wollen hier aud mit Herrn Bröder ebenfo 
wenig wie nit feinem englifchen Antipoden über das Detail rechten. Unſer 
Einwurf gilt auch bier nur der Gefammtanfidht. Wäre wirklich die ftaate- 
rechtliche oder verfaffungsgefchichtlihe Tradition der Römer fo ftätig und 
zuverläßig geblieben, wie Rubino, Mommfen und nun Brüder dieß be- 
hauptet haben, d. h. wäre wirklich der Begriff des imperium, ber creatio, 
das Grundſchema ver Tribus, der Charakter und die Stellung ter curiae 
and den bewegten Zeiten der erften Mepublil mit der vollen Klarheit ihrer 
früheften Geftaltung die Jahrhunderte hindurch in der Ueberlieferung immer 
deutlich verftanden und bargeftellt worden, fo wäre das ein Factum, wie 
e8 fonft nie und nirgends, wenigftens bei ven Bölfern oder Etäbten vor- 
fommt, deren Verfaffungsgefchichte wir in ber möglichft vollftändigen Reihe 
vom möglichft früheften Anfang zu überfchanen vermögen. Ueberall ift vie 
ältere Sefchichte gerade der wichtigften Inſtitute, ift ihr Grundbegriff und 
ihre Urform einer ſich allmählig verſchiebenden und verbunfeluven Leber: 
lieferung umterivorfen, die fpätere Vorftellung tritt um fo ficherer auf, ba 
fie fi) auf ven lebendigen Sprachgebrauch der Gegenwart flügt, fie ver: 
ändert fich wieder unter ben Hänpen beeiiekegfieferung,:je länger das In⸗ 
ſtitut ober der Begriff -in dem täglicheier Durkdin:' —XX 





239 


u Dem ai. 

Here Unnalifil mehr” steht 
tele Urtermution uwerlintunk, ‚une 0 20 
bet unnerer Zeite ande aÜihl " 
snperen Thatſache Tas uuip Befiiüniägge Scnahrrn. Ber 
Men unf eine Weite gerate "ee Tu Dufitute Kingenmin- 
fen, 110 eben anf riefe Weiſe noch heutzutage zum Theil züffelhaft war 
sonlerer Hrstıt zaliegen. Dieſe Heike wäng- nelp-ufprerteuiiih ze ver 
mehren, Lie tıntıldıe Unterſucheng jeber Bafspnppechäiiige Wit uf 
faldye Wesipiele und nur die rõmiſche fellte tro eines kuubertiährigen er⸗ 
hılterten Ziänielampfce, trotz furchtbarer folgenver Revelntisuen in alien 
miätiutten Arayıı Nichts ter Art erfahren haben? „Der Zabel” ſegt 
kat Brder u. Lo, p. 147, „daß ein Autor über einen Grunbzmg ber 
olleumihen Berfaſſungsgeſchichte Falſches oder Auderm Widerſprechendes 
berichte, muree im ganzen Bereich der antifen Literatur nur im gan; ⸗ 
wnın feltenen allen erhoben und betrifft felbft in viefen im Grup vech 
nu meienilich qu onologiſche Data.” Diefes Lob, das wir eumiii.äii 
unterer Ücherzeugung gelten laflen wollen, ift jevenfall® eines" ber. geflhe- 
harten, vua man einer wiffenfchaftlihen und namentlich einer kritiſchhiſtori⸗ 
(den Yıreratur maden lann. Wäre tem wirklich fo, fo ſtände tie remiſche 
Yıleratur eunveder in einer lbermenfchlichen Erhabenheit über allen übrigem, 
oder fie hätte nicht einmal das leifefte Gefühl ihrer menfchlihen Schwäche 
habt, wäre alfo die unkritiſchſte aller Yiteraturen geweien. Wir glauben 
beiten in Ubrere ftellen zu mäflen, fie war eben nicht beſſer noch Ichlechter 
ale alle Übrigen beraiben, taflir fpricht die natürliche Vorausſetzung und 
eine Weihe ſchlagentrer VBeweiſe. Auf ein paar beuteten wir cben bin und 
behaupten einfach, daß 5. B. dieſe dort genanuten Wiverfprüce nicht weg 
gu interpreliren find, 

So entſchieden wir nun nad beiden Ceiten bin die Berfuche zurüd- 
gewiefen haben, die Grundgedanlen der Niebuhr'ſchen Methode zu verdäch⸗ 
tigen, fo beftimmt müflen wir auch urgiren, was Niebuhr felbft nie in Ab⸗ 
rede ftellte, daß feine Refultate zum großen Theil Hypotheſen fein, für 
die es bei unſerem Umellenbeftand nicht möglich fei, die lebten Beweiſe 
beizubringen. Was nach ihm bewiefen werben konnte, das war bie allge- 
meine Nichtigkeit feiner Grundanfiht auf Feldern eines reicheren und zu- 
fanımenhängenderen Quellenbeſtandes. Diefer Beweis ift, unſerer Meinung 









j 
4 





...208 Jahres 1858. 219 


nach, noch an ſehr vichen Stellen ſchlagend geführt werten. Damit aber ift 
auch immer unwahricheimlicher geworben, daß eine andere Grundanſicht als 
bie feinige für vie Auffafjung ver römifchen Gefchichte berechtigter fein 
fönnte. Hypotheſen aber bleiben auf biefens Gebiete alle. 

Wir fließen hier noch die Anzeige bed britten und leider leßten 
Bantes der Schwegler'ſchen Geſchichte an. Wir thun die um fo lieber, 
da gerade biefer Band in der Darftellung des Decemvirats einen werth⸗ 
vollen Beitrag zur Gefchichte der Niebuhr’fchen Kritik bietet. Vielleicht Feine 
der Niebuhr’ichen Hypotheſen war bisher fo faft einftimmig beftritten wor: 
den, ald vie über vie Decemvirat⸗Verfaſſung. Schwegler's Reviſion ber 
ganzen Frage hat ihm entſchieden zu derſelben zurüdgeführt. Und in ber 
That find der Thatfachen, die für dieſelbe fprechen, fo viele und fo bedeu⸗ 
tende, daß man fich hoffentlic nach dieſer neuen Erörterung derfelben fünf» 
tig nicht wieder fo leicht entfchlagen wird, als dieß bisher meiften® ge- 
ſchehen. 

Es iſt gewiß tief zu beklagen, daß die revidirende Darſtellung Schwegler's 
anf einem fo vielbehandelten Gebiet ter neueren Geſchichtsforſching ſobald 
buch den Tob bes Berf. in Stillftand gerathen mußte. Aber fo ſchmerz⸗ 
lich wir biefen rüftigen Arbeiter feiner Aufgabe entrißen fehen, wir leben 
doch der guten Zuverficht, daß vie Fritifche Grundanficht des urfprünglichen 
Meifters auch ferner nicht durch neue, ganz finguläre Hypotheſen verdrängt, 
fondern im Sinn und der Richtung des originalen Entwurfes fortgebilvet 
werben wird. Gelbit Mommfen’s Genialität hat bewußt und unbemußt 
in dieſer Richtung, trog aller Oppofition, weiter gearbeitet. Was ferner 
namentlich zu erwarten fleht, das fcheint uns eine ſteigende, lebendige Rück⸗ 
wirfung von ben fritifhen Arbeiten der neueren und ver mittleren Ges 
ſchichte. Was in Niebuhr vie geniale Allfeitigkeit eines großen Geiſtes lei⸗ 
ftete, das wird immer mehr zum natürlichen Reſultat eines gefunden und 
methopifchen wiſſenſchaftlichen Gemeinlebens fich ausbilden. Nitzsch. 


Niebuhr, 2. G., Borträge über römifche Nitertbümer, an ber 
Univerfität zu Bonn gehalten. Herausgegeben von M. Jeler, Dr. (IV. Abthei- 
Iung ber hiſtoriſchen unb philologiihen Vorträge). Berlin, Georg Reimer. XXI 
und 672 ©. gr. 8. 


Wir behalten uns einen etwas eingehenberen Vericht über biefe erſt 
in den leuten Monaten bes Jahres 1858 erfchienene Mukeiftugr, Daipie 





290 Ueberfißt der Wiwefinüiheetun 


hier die Anfichten des großzen Beguähatäes darf Tektifijen. Gefchichtfehreibiong 
aud über Dinge vanlähmen, wo wirsfie bicher. noch nicht Taunten, mb 
biefelben ficher auch jet noch Wie uhek Böndhling verbienen, abgeſehen 
von dem großen Sntereffe, nP vleſer viht bloß durch außerordentliche 
Friſche und Lebendigleit andgezeichneten Mb vortrefflich redigirten Vor⸗ 
leſungen auch in den übrigen Theilen gewagt ; zumial. der letztmalige Bor⸗ 
trag derſelben erft durch Niebuhr's Men in bet Mieräßgebrodien. wurbe. 


Mommien, Th., die eömifge —DS———— auf Cafar. Berlin, 
Karl Reimer. 283. S. 8. 


Die Anzeige, die uns für dieſe ſchwa wiegende Schrift zugegangen 
iſt, folgt mit Rückſicht auf die neue burchseſchene Auflage (Berlin 1859 
335 ©.) im nächften Heft. 


Macdeugall, P.L. The oampaigns of Hannibal arranged end critically 
considered, expressiy for the use of Students of Military History. London, 
146 p. 8. 


*Arneld, Thomas, History of the later Roman commonwealth, from 
the end of the second Punic war to the .death of Julius Caesar. New 
edition. 2 vols. London, 470 S. 8, 


* Morivale, Charles, A history of the Romans under the empire. Vol. 
6. London, 600 ©. 8. 


*Rehmann, Hr., Dr., Symn.- Lehrer, Claudius und Nero und ihre Zeit. 
1.85. Claudins und feine Zeit. Gotha, Perthes. VIII, 378 und 66 ©. gr. 8. 


Champagny, Frangois de, Rome et Judde au temps de la chute de 
Neron. Paris. XII, 548 8. 8. 





Hermann, Karl Friedrig, Eulturgefhihte der Griechen unb 
Römer Aus dem Nachlaße des Verftorbenen herausgegeben von Dr. Karl 
Guſtav Schmidt I. Theil. (Die Lulturgefhichte ber Römer enthaltend). 
Söttingen, Bandenhoed und Ruprecht's Verlag 1858. 204 ©. gr. 8. | 

Diefer zweite Theil von C. %. Hermann's ulturgefchichte verbient, 
als eine Weberfiht über das gefammte in hiftorifchen Fluß gebrachte Ges 
biet ver römischen Philologie von einen tiefgelchrten Meifter ter Wiſſen⸗ 
haft, alle Beachtung. In den Literaturnachweiſen beſonders giebt auch 
bier die Weherrichung des Literarifchen Materiald oftmale zur Bewunde⸗ 


— 





bes Jahres 1858. 221 


rung Anlaß. Ob aber vas Buch gerade in biefem zweiten Theil, wo 
deun doch ©. 5. Hermann nicht fo zu Haufe war, wie in ten griechiichen 
Alterthũmern⸗, eine größere wiffenfehaftliche Bedeutung anjprechen kann, iſt 
eine andere Yrage. Einzelne Abſchnitte wie der über vie römifche Borges 
fchichte müßen gerabezu als hinter dem heutigen Stand der Willenfchaft 
zurückbleibend bezeichnet werten. Aber auch Cicero 3. B. wird feit Dru⸗ 
mann's Wert, wenn nichts Schlimmeres doch ein ſchwankendes Rohr ftets 
heißen müßen. Auch fonft begegnen wir hie und va auffallenven Anfichten 
uud Wufftellungen, und find eben aud die Charafteriftiten C. F. Her⸗ 
mann’s zwar öfter fehr fein und treffend wie vie Lucian's, fo hoffe ich tod), 
daß er nicht viel Beiftimmung finden wird, wenn er von Tacitus fügt, 
feine Zeitgenofien hätten rhetoriſch gefchrieben, er rhetoriſch gedacht, mag 
auch eiwas Wahres in viefem Ausfpruch liegen, over wenn er Tertullian, 
diefen zugleich tiefjinnigen unt feurigen Geift, wenn er Arnobius neben 
Marcianus Capella, ohne aud nur mit einem Wort wenigftens ven unges 
heuren geiftigen Abſtand tiefer Männer unter ji anzudeuten, an vie 
Schilderung der geſchraubten Dunkelheit und ftiliftifhen Berwerflichleit tes 
Apuleins reiht. Ueberhaupt ift ver letzte Abfchnitt des Werts (vie jpütere 
Kaifergeichichte), der der interefiantefte hätte fein können, keineswegs ter 
glänzenbfte, wie denn auch nach ter Vorrede C. 5. H. in ter Vorleſung 
jelbft nur etwa bis auf Cicero's Zeit zu kommen pflegte. Sprechen wir 
es offen aus, zur Behandlung tiefer vielleicht fchmierigften Partie ver 
Geſchichte war auch C. F. 56. reicher Geift nicht tief genug. Wir 
fliegen mit tem auch von anterer Seite ausgeſprochenen Wunſch, es 
hätten wo möglich nachgeſchriebene Hefte bei der Redaction beigezogen wer⸗ 
den ſollen. Doch auch ſo iſt das Werk in der That, wenn auch lange 
nicht in dem Maaße als die mündlichen Vorträge es geweſen ſein müſſen, 
trog feiner Mängel und Lücken geeignet, ver Philologie ihre großartige 
Aufgabe wie in einem Spiegel zu zeigen und zu immer neuen Anftren- 
gungen, fie zu löfen, aufzuforvern. A. P. 


Bchel, W., Ueber Pytheas von Maffilien und beflen Einfluß auf 
die Keuntniß der Alten vom Norden Europa's, insbeſondere Dentſchland's. 
Göttingen, Bandenhöd und Nuprecht. XVI, 266 ©. 8. 

Die eindringenten Unterfuchungen des Herrn Veffel verbreiten über 
Pytheas von Maffilien, feine Bedeutung als gelehrten Reiſenden, fein 





222 Ueberfiht der Yierikifen Berater. 


Berhältniß zu den nachfolgenden GSeographen, fo: wie über bie Hanbwiirbig- 
feit der durch ihn vermittellen Nachrichten ven den ıturhifchen Ländern 
and Bölfern in mandem Punkten nemes Licht, in andern aber find bie 
Ausführungen des Verfaſſers nur Bernmutbungen, vie an fih. freilich oft 
fehr ſcharffinnig ſind, jedoch ver einer umbefangenen Prüfung wicht beſte⸗ 
ben Tünnen — am wenigften wol baby "wer. Beſſel über vie beutidhe 
Abftammungsfage Neues beibringen daß die Ramen Ingävonen, Iſta⸗ 
vonen und Hermionen nach ber wühtigen Auffaffung den hochſten nel, 
den niedern Adel nnd die Gemeinfreien bezeichnen, iſt eine Hypotheſe, die 
fo wenig für ſich hat, daß es Wunder nimmt, wie ein ſonſt gründlicher 
und offenbar befähigter Forſcher ihr Gewicht beilegen kanm. 1. 





RL u 


3. Algemeine Gefqicie de Mittelallers. 


*Wietersheim, €. v., Dr., Geſchichte der Völkerwanderung. 1. 
Br. 1. Hlfte. Leipzig 1859, Weigel. VII. 268 ©. 8. 


Bergmann, 6. G., Prof., Les Scythes, les anco&tres des peuples 
germaniques et slaves; leur état so ial, moral, intellectuel et religieuse, 
esquisse ethno-gendalogique et historique. Halle, Schmidt. XVI, 76 8. 8. 


‚Sekirten ‚ Carol, De ratione quae inter Jordanem et Cassiodorum 
intercedat commentatio. Dorpati. 95 p. 8. 


Simenid, C., Berfud einer Geſchichte des Alarich, Könige ber 
Weſtgothen. 1. Thl. Imauguraldifiertation. Göttingen, Ruprecht. 47. S. 8. 


Pitra, J. B. Specilegium Solesmense complectens sanctoram 
patrum scriptorumque eocolesisstioorum anecdots hactenus opera, selecta ® 
graecis orientalibusque et latinis eodicibus, publici juris facta. T. IV in 
quo monumenta tam africanae quam byzantinae ecclesise proferuntur et 
illustrantur. Paris, Didot. XXIU, 608 8. 8. 


Hourrisson, J. F., Les Peres de l’Eglise latine, leur vie, leurs 
crits, leur temps. Paris, L. Hachette. XXXI, 866 p. 2 vol. gr. in 18. 


Greenwood. Ph, Cathedra Petri, A Political History of the Great 
Latin Patziarchste. Books 8, 4 and 5, from the close of the filth to the 
dddie of the ninth century. London, 560 p. 8. 





bes Yahres 1858. 223 


Sefele, 8. J., Dr., Beof., Sonciliengefhichte. Nah ben Quellen 
bearbeitet. Freiburg im B., Herber. 3. 8b. 8. VII, 782 ©. 

In dem vorliegenden Bande wirb die Geſchichte der Koncilien von 
ber Mitte des 6. Jahrhunderts bis zum Tode Karls des Großen geführt; 
ber monotheletifhe und ver Bilverftreit nehmen hiervon den größten Raum 
ein, ferner die fränkischen Reformſynoden, die Streitigleiten über ven Adop⸗ 
tianismus und das Ausgehen des hi. Geiſtes, endlich die Berfammlungen 
der fpanifchen und angelfächliichen Kirche. Der Standpunkt des Werkes ift 
ein ftreng-tatholifcher, do wird man ihm Mäßigung und Villigkeit gegen 
Andersdenlende nicht abfprechen können, wie auch fein Urtheil im Ganzen ein 
unbefangenes if. So macht er gegen Baronius und Damberger (welch' 
letzterer freilich Taum Erwähnung verdient hätte) in Bezug auf die Ver 
dammung des Papſtes Honorius durch die 6. öhnn. Synode die Rechte einer 
gefunden Kritit geltend (S. 271 ff.) und wiewohl er feine Glaubensge⸗ 
noffen mit Vorliebe citirt, fo haben doch bie Arbeiten eines Wald), Rett- 
berg u. a. (unter denen wir jedoch Dorner vermiffen) gebührende Berück⸗ 
fihtigung gefunden, und für die Gefchichte des hl. Bonifacius z. B. find 
aus den Differtationen zweier Juden (Hahn und Delsner) einige Auf- 
fchlüffe gewonnen worden. einer ganzen Anlage nad ift das Werk He 
fele's nur ein Nachſchlagebuch: es ift dazu beftimmt, den Theologen und 
Hiſtorikern, die, ohne gerade einen fpeciellen Punkt genauer zu unterjuchen, 
fi nur im Allgemeinen eine nähere Kenntniß der ſynodalen Verhandlun⸗ 
gen verfchaffen wollen, das mühfame Nachichlagen in den großen Concilien⸗ 
fammlungen zu erjparen und ihnen zugleich einen klareren Ueberblick über ven 
Berlauf der dogmatifchen Streitigkeiten zu geben. Freilich kann dieſer Ue⸗ 
berblid, wiewohl der Verf. den einzelnen Concilien oft ausführliche hiftoris 
ſche Erläuterungen beigiebt, eine zufammenhängenve Kirchengeſchichte Feines: 
wegs erſetzen, und feine Arbeit ift im wefentlichen doch nur als eine Ma⸗ 
terialienfanımlung für eine folhe anzufehen. Ueber manche hiftorifche Fragen 
bat der Ber. [hägbare Unterfuchungen angeftelle und ift zu felbftftändigen 
Ergebnifjen gekommen, wie n. a. über die Anfänge des Bilverftreites, den 
er wohl mit Recht durch Maßregeln äußerfter Strenge ſchon im I. 726 
beginnen läßt, über einige Punkte in der Gefchichte des hi. Bonifacius 
u. dgl. m. Andere Partien dagegen, 3. B. die bayerifchen Synoden unter 
Thaffilo, laſſen eindringendere Forſchuug vermiffen und ber Berf. begnägt 
fi, die Meinungen und Vermuthimgen feiner Vorgänger mr neben ein⸗ 





224 ueberſicht der hiſteriſchen Eiteratur 


ander zu ftellen. Hie und da Haben ſich in die geſchichtlichen und geogra⸗ 
phiſchen Angaben auch Fehler eingefſchlichen: ſo verwechſelt Hefele (S. 2) 
Mosa und Mosella, indem er Maſtricht an die Moſel verſetzt, desgleichen 
(S. 578) Genua und Genf wegen ber Gleichheit des Namens; er läßt 
Thaſſilo vin’g Klofter St. Goar« (S. 599) eintreten, währen derſelbe im 


biefer zu Prüm gehörigen Echle.nur gef we, wurde, um fi dann nad) 
Fumiege und fpäter nach Lorſch wo ungenau find die Bes 
merkungen über Karls avarifchen FeEWzng im 9. 791 (S. 628),- in Betreff 


einer Nachricht Sigebert8 über eine Zaferanfynobe vom 9.774 ift es dem 
Berf. entgangen, daß dieſelbe längft in der Ausgabe Bethmann's (Mom. 
Germ. T. IV, 393) als ein fpäterer zu Aachen Binzugefügter Zuſatz aue⸗ 
gemerzt ift. Tür die Zeit Karls des Großen ift vie Synode vergeflen 
worben, die König Pippin von Italien nach Unterwerfung der Avaren im 
3. 796 berief; fie ift und aus einem bafelbft abgegebenen Gutachten bes 
Patriarhen Paulinus von Aquileja (Mensi XI, 921) bekannt. Hoffentlich 
werden die folgenden Bände dieſes nütlichen Werkes von einem forgfälti« 
geren Studium der hiftorifhen Quellen zeugen. D. 


Floß, Heinrich Joſepyh Dr., Prof. in Bonn. Die Papſtwahl unter 
den DOttonen nebſt ungebrudten Bapft- und Kaiferurfunden bes IX. und X. 
FJahrhunderts, darunter das Privilegium Leo's VIII. für Otto I. Aus einer 
Trierer Handfchrift. Freiburg im Br. Herder. VI. 186 u. 174 ©. 8. 

Leonis P. VIIL privilegium de investituris Ottoni I. imperatori con- 
cessum necnon Ludovici Germanorum regis summorum pontificum archiepi- 
scoporum Colonionsium alienorum saeculi IX., X., XI. epistolae. Ex codioc 
Trevirensi nunc primum edidit et recensuit H. J. Fioss SS. Theol. et Phil. 
Dr. 88. Theol. in univ. Frid. Guil. Rhen. Prof. P.E. Praemittitur de eccle- 
sise periculis imperatore Ottone I. disputatio. Friburgi Brisig. 1868. VI, 61 
u. 174 Seiten in Octar. 


Es ift eine bei uns ziemlich ungewöhnliche Erſcheinung, daß gleich⸗ 
zeitig weſentlich daſſelbe Buch unter deutſchem und lateiniſchem Titel, ein⸗ 
mal mit deutſcher und das andermal mit lateiniſcher Einleitung erſcheint, 
wie das bei den beiden hier genannten Werfen der Fall iſt. Die Haupt- 
fache in beiden ift ver Abbrud einer Trierer Handſchrift von Briefen und 
Documenten, von denen eines dann zu einer längern beutfchen, fürzeren 
lateinischen Beſprechung Anlaß gegeben hat; die letzte ift wefentlic nur ein 
Auszug aus der erften, fo daß dieſe Ausgabe jedenfalls den Vorzug ver 





des Jahres 1858. 295 


dient und. e8 in ber That nicht abzufehen ift, warum foldhen Lefern, 
welche vie lateiniſche Einleitung vorziehen niöchten, weniger al® denen des 
deutfchen Buches gegeben wird. Die ganze Sammlung ift ven nicht ge- 
ringem Intereffe und ihre Publication wird vielen willtounmmen fein, auch 
ift die Abfchrift, fo viel ich jehe, zuverläßig, der an einzelnen Stellen ver⸗ 
borbene Tert auch meiſt ausgebejlert, dagegen aber auch mandmal ohne 
Grund die alte Orthographie verändert. Aber von einem „finden“, „pri- 
mum invenire‘‘, oder wie e8 fonft heißt, der Sammlung oder ver einzelnen 
Stüde hätte ver Herausgeber nicht ſprechen follen, da e8 ihm nicht unbe- 
fannt war, daß ich lange vor ihm die Handſchrift in Händen hatte und 
vollftindig benügte. Er erwähnt, daß Wyttenbach fie im Archiv der Ge— 
fellfhaft für ältere deutſche Geſchichtskunde angeführt, er bemerkt, daß id) 
aus temfelben ein Stüd in Haupt’8 Zeitfchrift publicirt, daß Yappenberg 
aus meiner Abjchrift mehrere Briefe gebrudt; warum, darf ich wohl fragen, 
übergeht er denn bie genauere Bejchreibung ter Handſchrift, tie ich im 
Arhiv XI, S. 491 gegeben, in ver alle einzelnen Stüde näher bezeichnet 
find? Ueber das Dokument, das Hrn. Floß befonvers beſchäftigt, habe ich 
bemerkt: „Falſches Dekret Leo's VIII für Otto I, von dem gebrudten ver- 
fhieden, ſehr ausführlihu; und das Urtheil muß ich auch jest fefthalten. 
Ich bin erftannt, wie gerade der Herausgeber tajjelbe hat für ächt erflü- 
ren und vertheidigen künnen, da es fich entfchieven ald ein Machwerk tar: 
ftellt, das in der Zeit des Inveſtiturſtreits von kaiſerlicher Ecite erdichtet 
worden ift, um den Anfprüchen ver Curie entgegengeftellt zu werben. Da— 
bei kann, glaube ich, höchſtens die Trage fein, ob bei Anfertigung deſſelben 
irgend etwas Authentifches zu Grunde liege, und ich läugne nicht, daß 
dafür wohl manches zu fprechen jcheint, daß ein Theil der auf eine rö— 
mifhe Synode zurüdgeführten Beſchlüſſe wohl ver Lage der Dinge ent- 
ſpricht, wie fie damals war, und aud) in ber Form fidh von ben langen 
gefchichtlichen und kirchenrechtlichen Deductionen unterſcheidet, die ſich fonft 
in dieſem Actenftüd finden und es nicht zum wenigften verbäctigen. Aber 
gerade was fi) auf das Recht bezieht, die Biſchöfe überhaupt und indbe- 
fondere ven römiſchen Biſchof zu ernennen, und was ähnlich in einem 
anderen ebenfalls faljchen Document (Pertz, Monumente, Leg. I, p. 147) 
vorliegt, gehört nicht zu dieſem Theil, Es will mir fcheinen, als wenn 
aus jener falfchen Urkunde, aus einer alten Papſtgeſchichte und echten es 
ſchlüſſen einer römischen Synode unter Zufügung von allerlei Deductionen 
Hiſtoriſche Zeitfärift L Cam. 15 


er 





226 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur 


theils aus der Bibel, theils aus den Unftitutionen, das vorliegende Stid 
zufammengefegt fei: doch bevarf das allerdings noch einer nähern Unter: 
fuchung und Darlegung, als ich jet vornehmen Tann. 

Uebrigens hat Hr. Floß in-ber beutfchen Ausgabe, eine fleigige und 
intereffjante Darftellung von dem Bexhaltniß affthen Kaifer und Papft in 
der Ottonifchen Zeit gegeben, bie allerbing®; Re ſreng kirchlichem Stand⸗ 
punkt ſteht, die aber zugleich e Gebrechen der Kirche und die Verdienſte 
ver Kaiſer um dieſelbe wohl anerktante und vie ein ſchãtzenswerther Bei⸗ 
trag zur Geſchichte des 10. Jahrhunderts iſt. 

Die publicirten Briefe beziehen ſich meiſt, wie der lateiniſche Titel 
es näher angiebt, auf die zweite Hälfte des neunten Jahrhunderts, vier 
auf die Zeit und die Verhältniſſe Anno's von Köln. Daß dieſe ein Hr. 
Müller vorher in feiner Biographie Anno's angeblih aus einer Hildes⸗ 
beimer Hanpfchrift herausgegeben, in Wahrheit aus dieſem Abdruck ger 
nommen, hat Hr. Floß felbft in öffentlichen Blättern gerügt. 


&W. 


Giesebrecht, Guil. DeGregoriiVIl. Regiatro emendando. Bruns- 
vigae. 46 8. 8. 


Der Verfaſſer theilt hier die höchſt werthvollen Früchte feiner Col: 
fation des Cod. Vatican. vom Registrum Gregorii in mehr ausführlicher 
Weiſe nit, als dies in Jaffe's Regeſten gefchehen fonnte, Cine Reihe 
von beinahe 400, befonders für Namen und Daten fehr michtigen Leſe— 
arten der faft einzig in Betracht kommenden vatilanifchen Handſchrift wird 
von mehreren fehr zutreffenden Emendationen des allerdings aud in bie- 
fer alten Handſchrift noch fehr mungeihaften Textes begleitet. Dabei er- 
geht fich der Verf. in der treffendften Meife über die Befchaffenheit und 
Bedeutung ber fo ungemein wichtigen Gefchichtsguelle, über den Grund 
ihrer bisherigen Entftelung und den Stand der Handfchriften. Wir bes 
ben vabei hervor, daß Giefebrcht (5 5 N. 4) ſich auf das Allerbe- 
ftinmtefte für die Echtheit des viel genannten und oft beftritienen Dietatus 
Papae erllärt; er it außerdem im Stande, den gleichen Beifag auch 
für andere Stellen des Regiſtrums aus der Vaticana nachzumeifen. — 
Das Berlangen nad) einer neuen kritiſchen Ausgabe dieſer Quelle ftellt 
fih als nur zu berechtigt heraus. Th. K. 





bes Jahres 1858. 227 


° Gfrörer, A. Fr, Papſt Gregorius VII. und feim Zeitalter. Bh. 
Inu. II, 1. Schefihanien, Hurter. XL), 670; 320 5. 8. 


v. Eybel, Aus der Geſchichte ber Kreuzzüge. Vier Borlef. und 

Böldernderff, Dr. Otto Frhr. v., Ueber bie Aſſiſen des Königreichs 
Jernuſalem. In den „Wiffenihaftlihen Vorträgen gehaften zu Münden im 
Winter 1858.” Bramichweig, Verlag von Bieweg n.Schn. S 1- 95 n. 97 bis 
139. 8. 


Whithworth Porter, Major, History of the Knights of Malta; 
or the Hospitallers of St. John of Jerusalem. London. 2 vols. 8. 


Gaude, Franciscus, Card., Bullerum, diplomatum et privilegiorum 
seanctorum romanorum Pontificum Taurinensis editio locupletior facta col- 
lectione novissima plurium brev.um etc. T. III (Von Lucius III, 1181, bis 
Clemens V, 1268). Turin. 860 p in gr. Fol. 


Damberger, J., Exrprofefler, Synchroniſtiſche Geſchichte ber Kirche 
unb der Belt imMittelalter. Kritifh aus den Quellen bearbeitet mit Beihilfe 
einiger gelehrten Freunde. Zehenten Bandes 1. bis 8. Bud. Sechſten Zeitraumes 
8.0. 4. Abfchnitt. Regensburg, Puſtet. 1857 u. 1858. IV u. 150 ©. gr. 8. 


 . Für eine eingehenve Beſprechung der letzten Lieferungen dieſes Werks, 
weldye vie „Zwingherrſchaft“ Friedrich's M von 1227 bi8 zum Lateran- 
concil (1245) und von da bis zum Tode Innocenz IV (1254) behandeln, 
fehlt und noch das zu erwartende Kritifheft, das wir hier um fe weniger 
entbehren Können, als wir vieler Drten Behauptungen finden, bie bes 
quellenmäßigen Beweiſes noch fehr bedürfen. Manche Seite des Buches 
erinnert an Höfler, vor allen die Auffaffung „des fürdhterlichen Hohen⸗ 
ftaufen” und feines „unerſchütterlichen Gegners“ Innocenz IV, „eine gi- 
gantifche Größe des Mittelalters‘. „Ein wahrer Elephant im Heer ver 
Geſchichtslügen“, gegen welches Herr Damberger zu Felde zieht, ift ihm 
unter vielen andern auch die Gefchichte des Kegerrichterd Konrad von Mar- 
burg, die lediglich durch ten Bericht eines „ungeſchickten Chroniſten“ entftellt 
ift. (S. 162.) Uebrigens find die Ausführungen des Hrn. Erprofeflors ſehr 
reich an redneriſchem Schmud, wie unter andern folgende Stilprobe zeigt: 
„Seifenblajen flogen auf und zerplagten in Verona, in yon aber zudte ein 
Blig aus dem Zornwetter Gottes, welder durch den gigantifchen Bau ber 
Sohenftaufen fuhr” (S. 418). K. 
15 * 


2 
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—2 
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228 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur 


Ehreiber, Wilh, Die polttifhen wbb veligidfen Doctrinen un- 
ter Lubwig dem Bayern. Lanbehut, Thomann. 82 ©. 8. 

Der Verfaſſer giebt uns in biefer Schrift — feiner Inaugural-Dif- 
jertation — fleißige Auszüge aus ven bebeutenpften Bubliciften jener Zeit, 
welche die Streitfrage über das Berhaltuiß des Calterthums zum Papfl- 


thum behandelten: Dante, ; pn. Wa, Lochold von Bebenburg, 
Wilhelm von Occam. iges Keilounanmt. chietet nur die Ein⸗ 


leitung und das Schlußcapiti £ ‚über die Folgen dieſer Literatur“; aber 
auch da finden wir weder nehe Gedanlen, noch klare, ſcharf abgegrenzte 
Anſchauungen ver Verhältniſſe und dominirenden Principien. w. 


Schwab, Joh. Bapt., Dr., Johann Gerjon, Profeſſor der Theologie 
und Kanzler ber Univerfität Paris. Eine Monographie. Würzburg, Gtaheliche 
Buchhandlung. XVi, 808 ©. 8. 

Eine überaus fleifige und forgfame Biographie, welche zugleich: bie 
Geſchichte des großen Kirchenſchisma und des Coſtnitzer Concils wejentlich 
erläutert und die Stellung Gerſon's zu Beiden im Anſchluß an ſeine Werke 
entwickelt. Die bisherige Auffaſſung, welche ihn als ſchwankend zwiſchen 
kühnem Liberalismus und pfäffiſchem Dogmatismus, als ſchwebend zwiſchen 
Myſtik und Scholaſtik erſcheinen ließ, wird durch dieſe treffliche Forſchung 
ſchwinden müſſen. Der Verf. zeigt ſich ebenſo als ſtrengen Katholiken, 
wie als genauen Berichterſtatter und will überall nur mit ehrlichen Waffen 
für die Kirchlichkeit ſeines Helden kämpfen. Sein Urtheil über Gerſon 
iſt durch die Ausſcheidung des revolutionären und ſpitzfindigen Tractates 
de modis uniendi et reformandi ecclesiam als nicht von Gerſon herrüh⸗ 
rend bedingt. Faſt mehr als durch die inneren Gründe, welche Sch. bei⸗ 
bringt, überzeugt man ſich von der Richtigkeit ſeiner Annahme, wenn 
man unter den Maſſen von alten Haudſchriften Gerſon'ſcher Werke, welche 
die Münchener Hofbibliothek aufbewahrt, die in Rede ſtehende Abhandlung 
vergebens ſucht und wenn man fie auch in dem Verzeichniſſe feiner Schrif- 
ten, welche ein Bruder Gerfon’8 entwarf und welches gleichfalls in zwei 
Münchener Eodices vorliegt, nicht findet. Damit fällt zugleid die An- 
nahme, daß die Schrift de difficultate reformationis d'Ailly zugehöre. De 
necessitate reformationis mag immerhin auf Dietrid von Niem zurüdzus 
führen fein, wie fchon von ter Hardt annahm. Daß inveß aud) de 
difficultate demfelben und daß de modis etc. dem Benebictinerabt Andreas 
von Randuf zu vindiciren fei, fcheint doch nicht genügend bewieſen. Hätte 









bes Jahres 1858. 229 


bie Einfiht in bie erwähnten Münchener Handſchriften dem Berfaffer bei 
feiner kritiſchen Sichtung nicht Dienfte leiſten können ? —i— 


° Bhifmen, J., Die Unionsverhandlungen zwifchen der orientafi- 
fhen und ber römifchen Kirche feit bem Anfange bes XV. Jahrhunderts bis zum 
Coneil von Ferrara. Wien, Gerold u. Sohn. VI, 257 ©. in 8. 


PL’ 
* Erdmannsdörfer, Berah., Dr., De commidrcio quod inter Vene- 
tos et Germaniae civitates aevo medio intercessit. Dissertatio 
historica. Leipzig (Jena, Döbereier). 8. 51 8. 


Schiudler, H. Bruno, Dr., Sanitätsraty, Der Aberglaube des Mit- 
telaltere. Ein Beitrag zur Eufturgefhichte Breslau Korn. XXIV, 539. 


Handelt von der MWeltanfhauung des Mittelalters (Welt, Engel, 
Teufel, Menſch, Geifter, Gefpenfter), von dem Verhältniß des Chriften- 
thums zur Körperwelt, von den magifchen Wiffenfchaften, von der Zauberei 
mit Hilfe Gottes und der himmlifchen Heerſchaaren, von der Naturmagie, 
der Divination und dem magischen Wirken mit Hülfe böfer Geifter. 





A, Allgemeine Geſchichte der neneren und ueneften Beit. 


Peſchel, Oscar, Geſchichte des Zeitalters der Entbedungen. 
Stuttgart u. Augsburg. 681 ©. 8. 

Mit einem großen Aufwand feltener geographifcher, naturwiffenfchaft- 
licher und hiſtoriſcher Gelehrſamkeit hat der Verf. die Geſchichte ver Ent— 
befungsfahrten, welche zmwifchen 1419 und 1520 liegen, zuſammen geftellt. 
Es find nicht nur für den Hanptgegenftand die oft ſehr entlegenen und 
verftedten Originalquellen der fpanifchen und portugiefifchen Piteratur mit 
unermüdlichem Fleiß durchforſcht, ſondern auch für untergeorpnete Partien 
umfaflende Studien gemacht, da 3. B. wo es fih um eine furze Vorge- 
ſchichte der oftindifchen Reiche und Infeln handelt, die Unterfuchungen ver 
Franzoſen, Engländer und Deutſchen über invifche Geſchichte, Sprache und 
Literatur forgfältig zu Rathe gezogen. Leider kommen dieſe gewiß höchſt 
verbienftlihen und refultatreihen Studien weit mehr der Geographie und 
den Naturwifienfchaften zu Gute, als ver Geſchichte. Denn das Buch trägt 
nicht nur den Titel: „Geſchichte des Zeitalters ver Entvedungen“ mit 
Unrecht, ſondern es bricht auch die Gefchichte der Entvedungsfahrten va ab, 








230 Ueberficht der Hinerftfgen Literatur 


wo fie mit Cortes Zuge gegen Merico wmimittelbar zu großen politiſchen 
Refultaten führen. Und we innerhalb ber vom Verf. behanvelteu Periode 
Anlaß zu Hiftorifchen Erörteruugem gegeben war, finden bie wichliajten po- 
litiſchen Verhältniſſe kaum ſo viel Beratung, als irgend eine wenn auch 
refultatlofe Kahrt irgend eines Tpanifchen Eapitäns. Wenn im Gten Cap. 
des 1. Buches eine in nichts über Das Bekannteſte Mausgehende Schil- 
derung des Zuftandes Gaftilieng unter Ben Tatbeliichen Königen gegeben 
wird, fo wäre eine Darjtellungs ber noch ſehr wenig aufgeklärten ſpani⸗ 
ſchen Handelsverhältniſſe damaliger Zeit Inftreitig viel verdienſtlicher ges 
weſen, die doch auch mit der eigentlihen Aufgabe des Buches in einem 
viel innigerem Zufammenhange ftehen würbe. Ebenfo läßt die kurze Berüh⸗ 
rung ber erften fpanifchen Eolonialpolitit im 8ten Cap. des 3. Buches be⸗ 
bauern, daß ein fo genauer Kenner ver betreffenden Literatur vie Gelegen⸗ 
beit nicht benütt hat, um ums über dieſen intereffanten Gegenſtand ˖aus⸗ 


führlih zu belehren. Ob fi endlich die Darftellung überhaupt vielfady 


nicht zu fehr in Meines Detail verliert, mag denen überlaffen bleiben zu 
entſcheiden, welche aus dieſem fehr gelehrten Werk die meifte Bereicherung 
für ihre Wiffenfchaft zichen werden, ven Geographen. H. B. 


Roßmaun, Wilh., Privatbocent der Geſchichte an ber Univerfiiät Iena, 
Betrahtungen Über das Zeitalter der Reformation. Mit ardivali- 
fhen Beilagen. Jena, Trud und Verlag von Friedrich Maufe. XV, 432 ©. 8. 


Der Berf. läßt das Refermationszeitalter nicht erft mit Luthers Auf- 
treten, ſondern fehen mit jenen Geifterbemegungen beginnen, vie taffelbe 
feit mehr als hundert Jahren vorbereiteten. Un wenngleich ex Luther's 
Wirken nicht unterfchätt, findet er die Sicherung des ewangelifchen Prin- 
cips, ſomit den Abfchluß feiner Darftellung tech ſchon etwa im Fahre 1519. 
Nachdem er die mittelalterlihe und feine eigene moderne Anſchauung von der 
Kirhe in ſcharfem Gontrafte gegenübergeftellt, nachdem er die Oppofitionen 
des 16. Jahrhunderts und ihre hemmenden Momente dargelegt, folgen vie 
Hauptabſchnitte: Evangelismus und Myſticismus (die Brüder vom gemein- 
famen Leben und die Moftifer), Evangelismus und Liberalismus (Iohann 
Huß und das Concil von Conftanz), Evangelismus und Radicalismus (Luther 
und die Wietertäufer). Die urkundlichen Beilagen erläutern faft ausſchließlich vie 
Oppofitionsbeftrebungen der geiftlichen Kurfürften gegen das Papftthum und 
Kaiſer Friedrich. — Ueberall hat der Verf. mit frifchem Eifer vie pofitis 





bes Sahres 1858. + 231 


ſchen und religiöſen Motive bis zu ihrem erſten Aufdänmern verfolgt, 
überall iſt der Stoff mit Lebhaftigkeit und Wärme durchdrungen. Manches 
iſt neu; Anderes wird durch geiſtvolle Gruppirung in ein überraſchend neues 
Licht gerückt. Allein gegen die allgemeine Methode des Buches muß ent⸗ 
ſchieden Proteft eingelegt werten. Cine Analyfis, wie Roßmann fie übt 
und ausführlich and in der Theorie vertheibigt, zerfett die gefchichtlichen 
Thatſachen und Seftaltungen auf willlürliche Weife, um fubjective Ideen 
daraus zu entbinden. Sie muß die hiſtoriſche Kunft vernichten, deren Grund⸗ 
lage immer der epifche Reiz bleiben wird. Cie muß zur Auflöfung ber 
gefchichtlichen Wifjenfchaft führen, da bei ſolcher tenvenziöfen Betrachtung 
jedes eindringente Studium des Geſchehenen faft unnüg und werthlos wird, 
wie denn auch in dem vorliegenden Buche eine bevenklihe Unficherheit 
in manchen Partien, die der Kenntniß des Verf. ferner lagen, und doch 
um der Ideen willen herangezogen werben mußten, bemerkbar ift. -i- 


Schmidt, E., Dr. Prof., Peter Martyr Bermigli. Leben und aus 
gewählte Schriften Nah handſchriftlichen und gleichzeitlihen Quellen. 
Efherfeld, Frietrihe. VII, 296 S. 8. 

In diefer verbienftlihen Darftellung des Lebens und ver Yehre Peter 
Martyr’s werden neben ten dogmatiſchen Fragen auch die äußeren Bes 
gebenheiten, die Theilnahme des Mannes an ven Reformbeftrebungen in 
Deutfchland wie in England, in der Schmeiz wie in Frankreich eingehend 
und forgfältig behandelt. Die handfchriftlihen Quellen beleuchten vornehm— 
ih vie Tätigkeit Vermigli's in Straßburg. Der Darftelung ver erften 
evangelifhen Bewegung in Italien, ver Wirkſamkeit des Reformators 
in England, feiner Theilnahme an ven in Yrankreid von Hofe angeregten 
Einigungsverſuchen (wobei das Geſpräch mit Katharina von Medici bejon- 
ders merfwürdig ift), liegen weniger ungebrudte als zum Theil feltene 
gleichzeitige Quellen zu Grunde. K. 


Catalogus Codicum Manuscriptorum Bibliothecae Regiae Monacensis. 
T. VII. Codices Gallicos, Hispanicos, Italicos, Anglicos, Suevicos, Danicos, 
Slavicos, Isthnicos, Hungaricos complectens. Monachi, Libraria Regia Pal- 
miana; Parisiis apud A. Franck. X, 420. 8. 


Wir machen auf den vorliegenten Band des Münchener Handichrifen- 
Catalog deshalb unter ver Literatur zur neueren Gefchichte aufmerffam, weil 
von ben zahlreichen und wichtigen handſchriftlichen Schägen, worüber hier 


m 





282 Ueberfüiht ber pih. en · eiteratur 


zum erſtenmal berichtet wird, mauthe Und gerabe bie bedeutendſten ber Ge⸗ 
ſchichte der letzten Jahrhunderte angehören. Beſonders reiche, bisher zum 
Theil unbekamnte Quellen beziehen fi auf das Zeitalter Ludwigs XIV, 
boch find vie verfchiedenften Mnder auch in anderen Zeiten vertreten. Die 
größte Ausbeute gewähren meuhl die italienifchen Wamifkötpte und zwar bie 
venetianifchen Gefandtfchaftäßerichte, die viele. Bände füllen; wir heben nur 
einiges Wichtige hervor, wenn mir auf die bisher größtentheils unbelannten 
Relationen unter Nr. 790—96;.298 u, 799, melkh' letztere auf England 
Bezug haben, verweifen, ober auf Ar. 828 bis 832 aufmerkfam machen, 
wo ſich in 5 Bänden Gefandtfchaftsberichte aus den verſchiedenſten Ländern 
(16. u. 17. Jahrh.) finden. Aus den Jahren 1684 bis 1698 liegen in 
15 Bänden avvisi secreti di Constantiuopoli vor( Nr. 857—861), welche 
eine fehr wichtige, bisher unbenütte Quelle für die Geſchichte der Türkei 
bilden. Andere 15 Bände (Ar. 570—584) meift unbelannter Documente 
find ein werthvolles Quellenwerk für die Gefchichte des Elſaßes im 17. und 
18, Iahrhundert. — Die außerordentliche Sorgfalt und Sachkenntniß des 
Bearbeiterd (Hru. Prof. Thomas) erhöht den Werth des vorliegenden Cata⸗ 
Logs nicht wenig; man findet überall angegeben, was von ben Hanbjchriften 
bereitS veröffentlicht ift, und häufig auch, ob fi anderer Orten Gleiches 
oder Achnliches finvet. Ueberfichtlihe Anertnung und ein boppelter Inder 
erleichtern außerdem den Gebrauch. K. 


Samwer, Charles, Recueil, nouveau, general, de traitds, conventions 
ef autres transactions remarquables, servant & la connaissance des relations 
etrangtres des puissances et dtats dans leur rapports mutuels. Redige sur 
copies, collectious et pnblications authentiques. Continuation du grand 
recueil de 6. Fr. de Martens. P. XVI. Partie I. A. s. le t.: Recueil g& 
neral de traites et autres actes relatifs aux rapports de droit international, 
T. ll, Partie ]. Göttingen, Dietrich 8. 588 8. 


Weber, Dr. Karl v., Aus vier Jahrhunderten. Mittheilungen aus 
bem Haupt. Staatsardhiv zu Dresden. In 2 Bänden. Leipzig, B. Tauchnik. 
x u. 474, 477 ©. 


Wer in diefen urkundlichen Mitteilungen neue Auffchlüffe über her- 
vorragende Perfönlichfeiten oder bedeutende Ereigniſſe der neueren zeit 
ſuchen wollte, würde ſich getäuſcht ſehen. Es ſind archivaliſche Schätze un⸗ 
rgeordneter Art, die hier an's Licht gefördert ſind, weniger Beiträge zur 





des Yahres 1858. | 233 


politifchen Gefchichte, als zur Kenntniß der Sitten und der inneren Zu⸗ 
ftände Deutfchlands in den vergangenen Jahrhunderten. Das Leben ver 
Höfe und der höheren Stände, Sitten, Gewohnheiten, Rechtszuſtände, Mo⸗ 
ral und Glauben des Volls werten in intereflanten, meift abſchreckenden 
Zügen vorgeführt; Anecheten und Enrioftäten aller Art wechſeln mit Er- 
zählungen aus dem Leben von Abenteurern, vornehmen Taugenitchfen und 
büfteren Griminalgefhichten. Doch fehlt es nicht ganz an Mittheilungen 
auch über hiſtoriſch wichtige und befannte Perfönlichkeiten, und wenn auch, 
was bier geboten wird, feine neuen Enthällimgen find, fo ift es doch von 
allgemeinem gefchichtlichen Intereffe. So die Nachrichten über Don Carlos, 
bie gleichzeitigen Gorrefpondenzen, namentlich des Churfürften Auguft mit 
anderen Fürften entnommen find, und die Aufzeihnungen eines Hra, Litt⸗ 
leton über eine lange Unterredung mit Napoleon auf dem englifchen Linien⸗ 
Schiff Northumberland am 7. Aug 1815. K. 


Sybel, Heinrich v., Geſchichte der Revolutionszeit von 1789 
bis 1795. Dufſeldorf, J. Buddeus III. Bd. 1. Abthl. Behandelt die Ereigniffe 
ſeit dem Ende des Jahres 1793 bis zu Anfang 1795. 342 ©. 8. 


Gaume, pronotaire apostolique, La Revolution, recherches hi- 
storiques sur l'origine et la propagation du mal en Europe, 
depuis la renaissence jusqu & nos jours. 10. livr. La Renais- 
sange. Paris. In 8. 344 p. 


Mehl, Rob. v., Die Geſchichte und Literatur ber Etaatswif- 
fenfhaften. In Monographien bargeftellt. 3. Bb. Erlangen, Ente. XV, 
851 ©. 8. | 

Wir verweilen auf Died ausgezeichnete Werk befonvers wegen ver Ab- 
bandlungen über franzöfiches Staatsrecht, über die allgemeine Literatur der 
Boritit, über vie Macchiavelli-Titeratur und über Jeremias Bentham und 
feine Bedeutung für die Staatswiſſenſchaft. 


Bernhardi, Theodor v., Dentmwürbigleiten aus bem Leben bes Tail. 
uff. Generals von der Infanterie Carl Friedrich Grafen von Toll. Bierter 
Band. Leipzig, D. Wigand. 8708. 8. 

Wir ftellen diefes Buch zu ber allgemeinen, nicht zu ber ruffifchen 
Geſchichte, weil in diefem Bande noch mehr als in den früheren die Ber- 
fönlichfeit des Grafen Toll zurüdtritt, um einer umfaſſenden und eingehen» 
den Darftellfing des großen europäifchen Krieges Pla zu machen. Der 


, 








284 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur 


ftarte Band behandelt die diplomatiſchen und militärifchen Kämpfe vom 
November 1813 bis zur Einnahme von Paris. Das: Haupithema deſſel⸗ 
ben ift die Darlegung der innern @egenfähe, welde das Hauptquartier 
ber verbünveten Armeen erfüllen und ben hartn Widerſtand Na⸗ 
poleon's erſt möglich machten. Die genaue, vei d lebhafte Er⸗ 
örterung führte durchgängig zu dem Ergebniß, daß Atgägver, Stein und 
Gneiſenau bie treibenden, Metternich und "Schwarzenberg die hemmenden 
Factoren waren, daß die neueren Berſuche von⸗Schels and Thielen, ven 
Ruhm der öſtreichiſchen Heeresleitung zu Zeaclen, ihren Zweck verfehlen, 
daß insbeſondere Schwarzenberg nicht allein durch Meiternich's diploma⸗ 
tiſche Erwägungen, ſondern daneben auch durch militäriſche Kleinmüthig⸗ 
keit von raſcher und entſchloſſener Kriegführung abgehalten wurde. Von 
neuen und inſtructiven Einzelnheiten notiren wir die Angaben S. 228 
und 824 über ven Plan zur Befreiung des Papſtes, ©. 272 die Erör⸗ 
terung über Blücher's Einleitungen zur Schlacht von Brienne, ©. 315 
Toll's Nachrichten über die Trennung der beiten Heere, fowie ©, 485 
über vie Kämpfe Aleranver’8 mit der Frietenspartei in Troyes, ©. 589 
ff. tie Darftellung ver Einnahme von Soiſſons, S. 610 bantichriftliche 
Aufzeichnungen des General Pöwenftern über die Schlacht von Craonne, 
©. 650 Toll's Bericht über die militärifchen Eonferenzen vom 12. März, 
©. 672 die Stinnmungen des ruſſiſchen Hauptquartier einige Tage fpäter, 
©. 697 tie Darlegung der entſcheidenden Monente in ver Schlacht bei 
Arcis, ©. 721 bie 742 der Beweis, Daß nicht Schwarzenberg der Ur⸗ 
beber des entfcheiventen Marfches auf Paris war, ©. 827 Kneſebecks 
Dentichrift über den Zweck tes Kriege. Unter der Menge wichtiger Pu- 
blicationen, welche neuerdings die Gefchichte des erfter Empire aufgeflärt 
baben, nimmt dieſes Buch ohne Zweifel eine ber hervorragendſten Stel- 
len ein. S. 


Gervinnd, G. G., Geſchichte des 19. Jahrhunderts feit den Wie- 
ner Berträgen. 3. Bd. Leipzig, Engelmann. 512 ©. 8. 

Man darf wohl fagen, daß ter Gegenftand, mit welchen ſich ver 
größte Theil dieſes Bandes befhäftigt, ver Unabhängigkeitskampf ter fpa- 
nifhen Colonien in Amerika, zum erften Male von der Geſchichtſchreibung 
berührt wird. Amerikaner und Spanier haben zwar Ereigniffen, durch 
vie ihre Schidfale fo gewaltig beftimmt worben find, eine ausgebehnte 
Unfmerkfamkeit gewidmet; auch die englifhe Piteratur befitt eine enge 





by 





bes Jahres 1858. 235 


darauf bezliglicher Berichte, Memoiren und räfonnirender Echriften. Aber 
von dem einzigen Torrente abgefehen, welcher 1829 eine treibänbige 
historia de la revolucion hispano-americana herausgegeben hat, beſchränken 
fih alle Darftellsngen entweder auf größere oder Fleinere Perioven des 
Rampfes, over, wenn fie den ganzen Verlauf deſſelben umfaffen, verfolgen 
fie ihn doc) nur anf dem Boten eine® einzelnen Landes. Die Verfaſſer 
derartiger Merfe zerfallen der Hauptmaſſe nad in ſolche, vie aus eigenen 
Erlebniſſen nad der zufälligen PVerfchlingung derſelben fragmentarifchen 
Bericht abftatten, und im folhe, welche zur Verherrlichung over Vertheidi⸗ 
gung ihres Baterlanves oder ihrer Partei Die Feder in die Hand genom- 
men haben, in welch' letztere Gategorie namentlich auch Torrente gehört. 
Kaum irgendwo taucht die Spur eines wiſſenſchaftlichen Intereſſes auf. 
Mer möchte auch mit einem folhen Intereſſe Bewegungen verfolgen, welche 
in der Grenze der einzelnen Gebiete betrachtet, nur das Bild wire durd) 
einander fahrenter, fcheinkar zufammenhanglofer Stöße darbieten, welche, 
jelbft über den Raum tes ganzen fpanifchen Amerika verfolgt, ein uner- 
quicliches Chaos von Erfchütterungen bilden, deren Rejultat bis heute nur 
eine Berfchlimmerung ver ſchlimmen Zuftände unter ber fpanifchen Herr 
ſchaft zu fein fcheint? Der Verf. Hat dieſem unendlich fpröten Stoffe, 
indem er ihn mit den europäifchen Kämpfen und bejenters mit ven wech⸗ 
felnten Echidfalen ter ſpaniſchen Heimath in tie inniafte Beziehung febte, 
ein neues Leben einzuhauchen und durch die Nachmweifung dieſes großen 
biftorifchen Zuſammenhanges an fi fterilen Vorgängen ein allgemeines 
Iutereffe zu verleihen gewußt. Dazu kömmt noch ein antered Moment. 
Wir fehen da einmal politifche Tendenzen, monarchiſche und republifanifche, 
füperaliftifche und ımitarifche Gegenfäge, weldye wir nur in europätfchen 
Berhältniffen thätig zu finden gewohnt fint, auf unendlich verſchiedenem 
Boden, unter Menfchen von total abweichendem Temperament und einer 
aus ten robften Zuftänden kaum fich losringenten Cultur operiven. Wir 
lernen ſodann vie Wirkſamkeit Amerika eigenthümlicher Factoren in man- 
nichfaltigfter Abftufung kennen; hier feufzt die Geſellſchaft unter dem Drud 
der bunteften Racenmifhung, dert ringt rein gehaltenes ſpaniſches Blut 
nit der Zertbeilung über unermeßlihe Räume und mit ver unter feldhen 
Berhältnifien gefährlichen Feindſchaft ver Indianer; hier erftidt Die über- 
gewaltige Ueppigfeit ver Tropennatur die ethiſche und intellectuelle Ents 
widlung, dort fteigert ber ununterbrochene Kampf mit den Fährlichkeiten 








286 Ueberſicht der Hiferifchen Literatur 


der Pampas und Llanos das Selbflvertranen und die Selbfigenäigfam- 
feit zu einer Härte, bie fi nuter fein gemeinfame® Gefeg beugen mag: 
alle dieſe verſchiedenartigſten Zuftäinde, Verhältuiſſe vnd Anlagen offenba- 
ren ihre Bedeutung in ber Urt, wie bie gleiche R n von ihnen mo⸗ 
dificirt wird. Die Gefchichte bat nie fo ungeheure Wäume von berjelben 
Bewegung gleichzeitig ergriffen geſehen. 

Bon der Schwierigkeit, aus dem porkambeneg Material eine folche 
Darftellung zu ſchaffen, Tann fi nur beuiskige eine Vorftellung machen, 
weicher die Quellen 3. Th. aus eigener Anſchauung kennt. Für einzelne 
Partien bieten allervings Werke, wie die von Montenegro und Baralt 
über Venezuela und Neugranada, von Mora über Mexico, von Gay über 
Chile eine werthvolle Vorarbeit; fehr oft aber muß nicht nur der große 
Zufammenbang, fondern auch der einzelne Thatbeſtand aus einer Menge 
zerftreuter Notizen und in wertblofem Wuſt verftedter Aftenftüde feftge- 
ftellt werben; hie und ba hat es Schwierigkeiten, felbft die rohſte chrono⸗ 
logifhe Ordnung zu gewinnen, wogegen wieber für andere Abfchnitte um⸗ 
faffende Sammlungen, wie bie der vida pablica Bolivar’8 das trefflichfte 
Material gewähren. 

Der Ausbruch der fpanifchen Revolution von 1820 gewinnt durch 
Zufammenbang mit ven amerilanifhen Bewegungen ein ganz neues Licht, 
während ber weitere Berlauf berfelben aus wenig oder gar nicht belannten 
fpanifchen Quellen werthvolle Aufllärungen erführt. Die portugiefifdie 
brafilianifche Geſchichte der Jahre 1808 — 1820 war bisher eine terre, 
incognita , und body ift fie, abgefehen von ber Belehrung, weiche fich . 
rade aus ſolchen eigenthümlich fremdartigen Zuſtänden zichen läßt, des⸗ 
wegen von Intereſſe, weil ſie in dieſen Jahren ſelbſt die engliſche Bor: 
vielfältig charakterifirt, und weiterhin ven Kampfplatz für den ſchärfſten 
Zufammenftoß ver Rivalität zwifchen Sranfreih und England vorbereitet. 
— Den Schluß des Bandes bilvet die Erzählung der neapolitanifchen 
Revolution bis zum Oct. 1820, und ein Blid auf den mit tiefen Um: 
wälzungen gleichzeitigen dortſchrit der ropaliftifchen Keaction in Frank⸗ 
reich. H. B. 


Allson, Sir Arch., History of Europe from the fall of Napoleon 
in 1815 to the aocession of Louis Napoleon in 1852, London. Vol VII. 
750 8. 8. 








bes Jahres 1868. 237 


5. Bentfche Geſchichte. 


Pfaff, Adam, Beutige Geſchichte von den älteſten Zeiten bis auf 
bie Gegenwart. 24. Lig. Braunſchweig, Weftermann. 4. Bb. ©. 161-240. 8. 


Benedey, Jakob, GSeſchichte des deneſchen Volkes von ben älteſten 
Zeiten bis anf bie Gegenwart. 8. Bd. Verſuch einer Wiederherſtellung von 
Kaifer und Reich. Berlin, Beffer: VIII, 535 ©. 8. 


Krebs, Joſ., Dr., Deutfhe Geſchichte. 3. Thl.: Bon Kourad 11 bis 
anf Rudolf I von Habsburg. Münfter, Theiffing. VIII, 532 &. 8. 


Mayer, Karl Ang, Brof., Deutſche Geſchichte für das deutſche 
Bolk. In 2 Bon. Leipzig, ©. Mayer. 2. Bb. in 2 Hälften. XIV, 756. 8. 
Die beiden zuerft genannten älteren Werke, von tenen anerkannter: 
maßen das des Herrn Pfaff den Vorzug verdient, bedürfen einer kurzen 
Charakteriftit nicht mehr, da fie nah Inhalt und Form im Wefentlichen 
als bekannt vorausgefeßt werven können; eine eingehendere Betrachtung 
aber, wie fie bier wohl am Plate wäre, wird ihnen und verwandten 
Arbeiten über deutfche Gefchichte beffer in einer Abhandlung zu Theil wer 
ben, welche von anderer Seite in Ausficht geftellt worden ift. 
Weniger befannt und einem anderen reife angehörig iſt das Buch 
Dee Herrn srebs; es will gelehrt und kritiſch verfahren, um verjährte 


Brriblimerszu befeitigen und verfannte Wahrheiten zur Geltung zu brin- 


gen, Dabei theilt ver Verfaſſer freilich ganz das Schickſal mander feiner 


Gefimnungsgenoflen, die fih zu Reformatoren der Geſchichtswiſſenſchaft 


aufwerfen, uhne nur das zu kennen oder zu verftehen, was Beſſere lange 
bor ihnen geleiftet haben. In wie weit die neue Abtheilung des Werkes, 
die und noch nicht zugegangen ift, auf dem angedeuteten Wege fortfchreitet, 
fol fpäter bemerft werben. 

Wieder anders verhält es fi) mit der neueften deutſchen Gefchichte 
von Mayer, wovon uns blos der lette fo eben erſchienene Theil noch 
nicht vorliegt. Herr Mayer fchreibt weder als Gelehrter noch ald Kritis 
fer, ſondern als ein populärer Echrififteller im beften Sinn, der den 
Ton, in welchem die vaterlänvifche Geſchichte dem größeren Publi- 
tum erzählt fein will, am glüdlichften getroffen haben dürfte. Der 
fihere Takt, mit dem alles Unwichtige ausgeſchieden, das Wefentliche aber 


5 








238 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur 


in überſichtlicher Gruppirung auf engem Raum zuſammengefaßt und in 
edler, oft ſchwungvoller Sprache dargeſtellt iſt, ſowie der geſunde patrioti⸗ 
ſche Eins und die warme Begeiſterung für jede ſittliche und politiſche 
Größe unferer Gefchichte machen die Werk wie wenig anbere geeignet, in 
weiteren Streifen belehrend und erhebend zu wirken. Neben ven politifchen 
Ereigniſſen ift die Literatur nicht unberüchfichtigt geblispen, und in ber Ge: 
fhichte des 18. und 19. Jahrh., ver vie. größere Hälfte des Werkes ge- 
widmet ift, gehört die Darftellung ber Blüthe unferer Literatur in ähn- 
licher Weife zu dem Beßern, was die populäre Gefchichtichreibung geliefert 
bat, wie die gelungene Erzählung der Gejchichte Friedrich des Großen. K. 


Schere, Joh, Deutfhe Kultur- und Sittengefhichte. Zweite durch⸗ 
gehends umgearbeitete und vermehrte Auflage. Leipzig, DO. Wigand. 8. VIIL 
576 ©. 


Der Berfaffer behandelt in einem mäßigen Oktavband die gefantmte 
Rultur- und Sittengefchichte Deutfchlants incl. einer Ueberſicht ter politi- 
fen Geſchichte. Er ift aber in feiner Weife feines Stoffes recht Herr ge- 
worden. Es fehlt eine fefte und Mare Gliederung deſſelben nach den Ge— 
genftänden und nad) der hiſtoriſchen Entwidlung ebenfofehr wie eine forg- 
fältige Durchbildung des Details. Den Erfolg, melden ver Verfaſſer trogß- 
dem gehabt hat, verdankt er allenfalls feinem Erzählertalent, feiner patrio- 
tifchen Wärme, beſonders aber feiner Fed naturaliftifchen Oppofition gegen 
ben frommen Glauben an die tugenphafte, gute alte Zeit. Er hat fi 
hiedurch um die Verbreitung einer lebensfriihen Anficht von unjerer Kul- 
turgefchichte immerhin ein Verdienſt erworben, nur hat er aus Oppofi- 
tionsluft die Schattenjeiten in den Leben unferer Altvordern, vor allem fo 
weit fie die gefchlechtlihen Verhältniſſe betreffen, nicht allein im Ber ‚leich 
zu dem Umfang des Buches zu eingehend behandelt, ſondern überhaupt zu 
fhwarz gemult. B. K. 


Hopf, Karl, Dr., Historisch-genealogischer Atlas. Abth. L.: 
Deutschland. Bd. I, Gotha, F. A. Perthes. Fol. XVI, 449 8, 

Ueber ven vorliegenden Band dieſes weitausjehenden Unternehmens 
find uns von competenten Richtern, welche einzelne genealogifche Gebiete 
eingehender geprüft haben, fehr dankenswerthe Mittheilungen zugegangen, 
bie wir leider aus Mangel an Raum bier nur auszugsweiſe wiedergeben 
Dunen. Das Urtheil, weidhes wir dadurch gewinnen, lautet aber ziemlich 





bes Jahres 1858, 239 


ungünftig und entfpricht nicht recht der Prätenfion, womit das Werk auf- 
tritt, Denn was zunächft die Anlage deſſelben betrifft, fo wird beflagt, daß 
bem Berf. wein wiſſenſchaftlich ordnender Blid an der Hand ſtaatsrechtlich— 
biplomatifcher Stenntniffes abgehe; ftatt einen der Wiffenfchaft genügenden 
Plan zu verfolgen, Hat der Verf. fein Werk nad ven jetigen Territorien 
„profruftesartig zufommengefchnitten«, unbefünmert darum, daß 3. B. bei 
den Gefchlechtern nicht der Ort, wohin fie durd die Traktate tiefes Jahr⸗ 
hunderts geworfen find, fondern bie Heimath entfcheiden follte, oder daß 
in einer antiquarifchen Wiſſenſchaft, wie die Genealogie ift, 3. B. Biſchöfe 
wie die Straßburger und Lande wie Lothringen nicht von Deutfchland ab» 
zureißen find, ebenfo wenig Schweizer Abteien wie St. Gallen und Ein- 
fieveln. Aber auch zugegeben, daß vie jekige politische Eintheilung für bie 
Anordnung des Werkes mafgebend fein durfte, fo füllt unangenehm auf, 
daß fich der Berf. fo häufig Unkenntniß dieſer Eintheilung zu Schulden 
tommen läßt, wie fid) Beijpiele tavon ©. 417 u. 438 finten. 

Auffallend ift auch u. a, Daß Hr. Hopf zwifchen „Kaiſer und Königs 
den ſehr wichtigen Unterſchied nicht macht, was bei dem jetigen Stande 
ber Wiflenfchaft nur bei einem Volksbuch angeht. — „Bei ver Auswahl 
der Abteien, deren Aebtereihen gegeben werben, ift nirgends ein Princip 
angemerkt, von dem ausgegangen murde.»r „Faſt fellte man glauben, daß 
ber Berf. nur giebt, was er leichter befonmnen fonute; fonft wäre, um von 
vielen Beifpielen nur eines zu geben, das bedeutende Klofter Herrenalb 
nicht ausgelaflen, da doch das viel unbedeutendere Frauenalb aufgenom⸗ 
men ift.« 

Noch mehr aber ijt zu bedauern, daß Hr. Hopf die Frauen und 
Töchter der weltlichen Geſchlechter von feinen Tabellen ausgeſchloſſen hat, 
da doch die geſchichtliche Bedeutung einer Dynaſtie erft durch ven Ueber: 
blit ihrer gefammten verwanbtfchaftlihen Verbindungen zu Tage tritt und 
fih 3. B. nicht Weniges in der Gefchichte durch die Kenntniß der Abkunft 
einer Gemahlin erklärt. „Inden der Berfaffer aber für gut befunden 
bat, ein foldyes erclufives Syſtem zu befolgen, erfpart er uns, wenn wir 
genealogifche Aufklärung fuchen, nicht einmal die Mühe, wierer zu den zer⸗ 
ftreuten Hilfsmitteln zurüdzugreifen, die durd fein Werk entbehrlich ge- 
macht werben follten.« 

Was enblih die Selbftändigfeit und Zuverläßigfeit des Werkes an« 


° betrifft, fo fhreibt und Hr. Prof. Wegele, welcher Sen auf Thüringen und 








240 Ueberfiht der hiſteriſchen Literatur 


Oſtfranken bezüglichen Theil des Hopf'ſchen Werkes genauer geprüft hat, 
er könne nicht umhin zu befennen, daß ihm im jener Beziehung mehrfache 
Bedenken aufgeftiegen feien. „Der Hr. Verf. verfichert zwar, fich auf bie 
bloße Reproduction der vorhandenen genealogiſchen Unterfuchungen nicht 
befchräntt, fonvern ſich überall felbftändig und kritiſch verhalten zu haben. 
Diefe Berfiherung nun habe ich, fo weit meine Revifton fich erftreckte, kei 
neswegs überall beftätigt gefunden. Es find bier durchſchnittlich nur bie 
vorhandenen Gefchlechtstafeln und überhaupt bie Refultate der gegebenen 
einkhlägigen Forſchungen benugt. Damit ift in den mittelalterlichen Thei⸗ 
len, welche das eigentliche Kriterium ber Zuverläßigleit bilden, mandyer Irr⸗ 
tbum mituntergelaufen, der mit Benägung aller Hilfsmittel der Gegenwart 
bätte vermieden werden können, ober es kommen Ungenanigfeiten vor, bie 
ſich zwar leicht aus der laftenden Wucht der Aufgabe, welche der Verf. über: 
nommen, erklären, aber hiermit nicht zu entfchulpigen find, da Hr. Hepf 
hätte ernjter die Frage erwägen follen, ob ein Werk, wie das vorliegende 
zu werben beanfprudht, überhaupt die Arbeit eines Einzelnen fein könne.⸗ 
Um für Thüringen und Oſtfranken einige wenige Beifpiele von Unrichtig- 
keiten und Ungerauigfeiten, auf die Hr. Wegele aufmerkſam macht, zu nen- 
nen, fo führt Nr. 248, Pundgrafen von Thüringen, der Sohn des 
Landgrafen Hermann L, Konrad, der als Deutfchordensmeifter 1240 ftarb, 
den Zufag von Landsberg, was ald völlig unridtig zurückgewieſen 
werden muß; — Nr. 249, Markgrafen von Meipen, it Efbert I. 
von Braunfchweig aufgeführt mit dem Zuſatze „Gegenkaiſer 1088; — Ek— 
bert ift aber nie zum Gegenkönig oder Gegenkaiſer (Heinrich IV.) gewählt 
worden, und es hatte bei dem Wünfchen fein Bewenven. Nr. 263 (d) 
Markgrafen von Meißen, ift Dietrich der Bebrängte, der Kater 
Heinrih des Erlauchten, ungenau als Markgraf feit dem Jahre 1295 auf- 
geführt. Ebendaſelbſt wird die dritte Gemahlin des Landgrafen des Ent⸗ 
arteten (Elifabeth) eine „Gräfin von Caftellu genannt, während fie Mie 
Comitis de Arnsowe war (Annal. Reinhard. p. 279). — In der Reihen⸗ 
folge der Bifchöfe von Würzburg (Nr. 88) vindicirt Hr. Hopf fieben Bi⸗ 
fchöfen, vie in die Zeit 80OO—1100 fallen, die Ablunft aus dem Haufe ver 
Grafen von Rothenburg, während doch dieſe Ablunft in ben wenigften 
Fällen hiſtoriſch begründet ift. Bei der Angabe des Bischofs „Adalbert von 
Schärbinge (10451055) find Namen und Zahlen unrichtig, denn der Bi⸗ 
fchof gie Malbero und regierte von 1055—1088. Nr. 105 hätte das 





des Zahres 1858. 241 


Stift St. Burkhard in Würzburg mit Aebten (menigftens bis zum Yahre 
1464) ftatt mit Pröbften aufgeführt werben follen. 

Günftiger in Beziehung auf die benügten Hilfsmittel iſt das Urtheil 
über die genealogifhen Tafeln von Schwaben, „wo mandye Zeichen erficht« 
ih find, ‚daß durch brieflih eingezogene Nachrichten 3. B. Aebtereihen 
weiter herab, al8 die gedruckten Quellen reichen, ergänzt wurben und über» 
haupt für manche Gefchlechter z. B. das Thurn- und Zarifhe, die Gra- 
fen von Rechberg ꝛc, neues Material herbeigebradht ward.u Doc liegt 
und auch hier eine anfehnliche Lifte von Berichtigungen vor, aus der wir 
nur das wenigfte aufführen können. N. 130, Eberhard 11 (+ 1325) hatte 
feinen Sohn Heinrih; auch Heinrih, + 1370, ift apokryph. N. 140, 
Urah kam gegen Ende des 13. Jahrhunderts an Wirteniberg, Freiburg 
1368 an Oeftreih. N. 148, Wirtemberg erhielt Hirfchau nicht erft 1648, 
fontern durch die Reformation. N. 158, St Peter kam an Baden, nicht 
an Wirtemberg; desgleihen N. 278, das KL Frauenalb. N. 127, Tü- 
bingen fam an Wirtemberg nicht 1634, fondern fchon 1342. N. 111, 
"Ted kam nicht erft 1439 an Wirtemberg, ſ Stälin 3, 695. N. 42, 
Grafen heißen die älteften Herren von Yangenburg nit, am wenigiten 
fteht dies bei Stälin 2, 569 (nicht 407). N. 66, Ludwig VII + 1314, 
nicht 1313. N. 75, Ulrich von Rechberg 1165—1190 ſcheint blos deshalb 
mit den Pappenheim zufammengeworfen worden zu fein, weil beide Fa— 
milien Reichsmarſchälle waren. ©. 438 N. 392 c find die Hohenzollerer 
Värften fonderbar unter Wirtemberg geftellt. ©. 438 N.43, Borberg ge: 
hört zu Baden ꝛc. ıc. 


*»Wattenbach, W, Deutſchlands Geſchichtsquellen im Mittel- 
alter bis zur Mitte des breizehuten Jahrhunderte. Cine von ber hiſt. Ge⸗ 
ſellſchaft zu Göttingen gefrönte Preisihrift. Berlin, W. Hert, XVI, 477 ©. 


Duellen unb Erörterungen zur bayerifchen und deutſchen Gedichte. 
Herausgegb. auf Befehl und Koften S. Maj des Könige Marimilian MI. 
VI 8. Münden, ©. Franz. 479 ©. 8. 


Enthält 3 Formelſammlungen aus der Zeit der Karolinger. Aus Mün- 
chener Handfchriften mitgetheilt ven Dr. Rodinger. Quellenbeiträge zur 
Kenntnig des Berfahrens bei den Gottesurtheilen von deinfelben. Aus⸗ 
züge aus einer Iateinifchen Pergamenthandfchrift ver Sreifinger Domlirche 
vom Ende des 10. Jahrh. von Dr. v. Rudhart. 

Diſtoriſche Zeitſchrift 1. Band. 16 


242 ueberſicht der hißerifen_ Literatur 


Die Gefhihtihreiber ber beutfgen Borzeit in dentſcher Bear⸗ 
beitung herausgeg. von ©. 9. Berk, Iac. Grimm, C. Lachmann, 2. Ranle, 
C. Ritter. 35-37 Lig. Berlin, Befler’s Berl. 8. 

Inhalt: 35. X. Jahrh. 4. Bd.: Das Leben der Königin, Mathilve, 
Nah ver Ausgabe der Monumente Germanise überſetzt von Ph. Jaffé. 
XI, 39 ©. 36. XI Jahr. 2. u. 3, Bd.: Die Lebensbeſchreibung ber 
Bifhöfe Bernward und Godehard von Hildesheim. Ueberſ. von Hüffer. 
xx, 162 ©. — 37. XI Jahrh. 2. Bo. Das Leben Kaifer Hein- 
rich IV, überfegt von Ph. Jaffé. XIV, 43 ©. 


Heber, Bhil., Die vorkarolingiſchen chriſtlichen Glanbenshelden 
am Rhein und beren Zeit. Nebft einem Anhang: lieber Giegfrieb ben Dra- 
hentöbter. Nah den Quellen bargeftellt. Srauff. a. M. Böämel, II, 870 ©. 8. 


Hiemer, K., Die Einführung bes Chriſtenthums in bem bent- 
[hen Landen. A Boch. Die Einführung bes Chriſteuthums im ſüdweſilichen 
und mittlern Süddeutſchland. Echaffhanfen, Hurter, 1857 —1858. XXV, 806; 
CCV, 319; VIII 400;.VII, 526 ©. 8. 

Rettberg's Kirchengefchichte, vie Gefchichtfchreiber der dentſchen Bor- 
zeit, das Freiburger SKirchenlericon und andere gute und ſchlechte Bücher 
find hier in einer Weife geplüntert worden, gegen bie man im Intereſſe 
der Sicherheit des Iiterarifchen Eigenthums Proteft erheben muß, fo fehr 
fi) auch Herr Hiemer von ver ottfeligkeit feines kirchlichen Werkes 
überzeugt hält. Was der Compilator aus eigenem Willen an gelehrten 
und beichaulihen Dingen hinzuzuthnn für gut fand, zeugt aud) nicht ge- 
rade von Bildung und Geſchmack. K. 


Hoyer, J., de intestinis sub Ludovico Pio ejusque filiis in Fran- 
corum regno certaminibus. Dissert. histor. Münster. Ill, 47 S. 8. 


Biper, Ferdinand, Dr., Profeffor der Theologie an ber Univerfität zu 
Berlin ıc., Karl's des Großen Kalendarium und Oftertafel, aus 
der Parifer Urſchrift herausgegeben und erläutert. Nebft einer Abhandlung 
über bie Lateinifhen und griehifhen Iftercyleln des Mittelalters. Mit einer 
Tafel in Steindrud. Berlin, Berlag ber fünigl. Geheimen Oberhofbuchbruderei. 
168 ©. 8. 

Dieſes Buch ift, fo viel wir willen, die erſte literarifche Frucht einer 
Keife nah England, Frankreich und Piemont, welche der Herr Verfaſſer 
im Auftrage des Königs von Preußen behufs archäologifcher und liturgi- 





bes Yahres 1858. 243 


fer Studien im Sommer 1857 unternommen; und merkwürdig genug 
ift der Gegenſtand, von tem es vornehmlich handelt. 

Im Jahr 781 ließ Karl d. Gr. eine Abfchrift ver zur Vorleſung 
im Meßgottesdienſt beftunmten evangelifchen Lehrftüde, wozu ter Sitte 
der Zeit mach ein ihren Gebrauch regulivender Kalender und ein Ber: 
zeihnig über die eier des Oſterfeſtes gehörte, mit fürftlichen Aufwand 
anfertigen Das Buch kam fpäter an die Abtei St. Sernin zu Touloufe, 
wurde 1793 mit Mühe vor der Zerftörung bewahrt, und 1811 von ver 
Statt dem Kaifer Napoleon geſchenkt Jetzt befindet es fi im Musee 
des souverains bed Louvre. Die Miniaturbilder, vie e8 fchmüden, find 
vielfah der Gegenftand Eunfthiftorifcher Betrachtung gewejen, und werben 
auch von Hrn Piper ausführlih erörtert — worauf im Einzelnen ein- 
zugeben bier der Ort nicht iſt. Gegen Barbier d. J. erweist dann der 
Verf., daß die Anfertigung des Coder von Kaiſer Karl im Herbite 781 
befohlen und vor dem April 785 vollendet worben iſt. Eben auf diefen 
Zeitraum führt auch eine in der Oftertabelle zum Jahr 781 angejchrie- 
bene Bemerkung, nach welcher König Karl in diefem Jahr bei St. Peter 
in Rom gewejen und fein Sohn Pippin vom apoftolifhen Herrn getauft 
worden ift; wir erhalten hiernach in den: Gedicht auf den fürftlichen Ur⸗ 
heber der Handſchrift, worin derſelbe als friedliebender Regierer, als ge- 
duldiger und milder, demüthig frommer, vorſichtiger und weiſer, in der 
Kunſt der Bücher eifriger, gerechter und freigebiger Herrſcher geprieſen 
wird, eines der ſchönſten gleichzeitigen Documente zur Charakterſchilderung 
bes großen Karl. Ref. hält dafür, daß dieſe Verſe das geſchichtlich Be⸗ 
beutenbfte find, was die Handſchrift enthält. 

Dem Berf. kam es nun vor Allen darauf an, die darin befintlichen 
Monats» und Oftertabellen als Momente der Entwidlungsgefchichte des 
fichlihen Kalenders auszubenten. Er geht den einzelnen Angaben, welche 
biefelben über das Natur- und Sirchenjahr enthalten, aufs Sorgſamſte 
nach, weift mancherlei darin vorfommende Fehler auf, deutet die für ben 
Laien rätbielhaften Rubriken und ftellt namentlid die darin befindliche 
Reihe von Heiligentagen mit denjenigen Reihen, welche fi in früheren 
Heiligen » Berzeichniffen vom Kalendarium des Polemius Eylvius an bis 
zu dem Lectionar von Lureuil und dem Sacramentar von Bobbio aus 
dem 7Tten oder Bten Jahrhundert finden, fowie mit den aus ber Zeit 
Karl's d. Sr. fonft noch befannten mit auögezeichnetem Fleiß zuſammen. 

| 16 * 





244 Ueberſicht dev hiſtoriſchen Literatur 


In einem zweiten Theile feines Werkes giebt er eine Abhandlung über 
bie mittelalterlihen Ofterchleln d. i. folche Tabellen, in welchen ver Mo⸗ 
nats= und Wochentag des DOfterfeftes nebft den Tagen ber von Oftern 
abhängigen Kirchenfefte, Stand des Mondes zu Oftern,. Zahl her Indic⸗ 
tion u. A. für eine Reihe von Jahren voraus beftimmt werden; sc geht 
bier die ihm bekannt gewordenen Urkunden, zunächſt bie ber aelkifchen, 
dann bie der griechifchen Kirche buch. Auf dem Iateinifchen Gebiet er- 
ſcheinen hier die Oftertufeln des Dionyſius Erigums, des Felix Gillitauns, 
bes Iſidorus von Sevilla, des Beda VBenerabilis, die nach den Namen 
ihres Urfprungsortes genannten ven Toulouſe, Regensburg, Corvei und 
viele Andere, über deren Umfang und Annalen er Ueberfichten giebt. Aus 
dem griechifchen die Lfterbriefe des Athanaſius, der Oſterchklus des Ania- 
nus, die Tafeln des Theophilus und Cyrillus, die Oſterrechnung bes 
Chronicon Pafchale, der Oftercanon des Johannes Presbyter, und, ent⸗ 
fprechend jenen lateinifchen Anonymen, eine Reihe von Oftertafeln in Bibel- 
und andern Hanbfchriften, die ver Df. bis auf die Gegenwart, wo fie in 
kirchlichen Drudjchriften erſchienen, verfolgt. Hiebei betrachtet er ſowohl 
jene als dieſe theil8 in ihrer Eigenſchaft als chronologifches Kennzeichen 
für das Alter des Manuferipts, in denen fie fich befinden, wobei venn 
fowohl die Negeln für ihre Anwendung, die er aufftellt, al8 die gegebenen 
Beifpiele paliographifch wichtig erfcheinen, theil® nach ihrer Beziehung zur 
Geſchichtſchreibung. Beſonders tritt bier der merkwürdige Unterſchied 
zwifchen den Tateinifchen und griechischen Aufzeichnungen hervor, daß jene 
nah ihrer eigenthümlichen Einrichtung den Anſtoß zu unnaliftifcher Ges 
[hichtsichreibung gegeben haben, dieſe, gemäß ihrer äußern Form biefür 
nicht geſchickt, durch die Conftruction der ihnen einverleibten Welt-Aeren 
für die vorhandenen Geſchichtſchreiber eine wirkſame Richtſchnur geworben 
find. Wenn fi) bienady darüber etwa ftreiten läßt, welchen von beiden 
nad dem Maaß ihrer Wirkſamkeit und ihres Gebrauchs die größere Be« 
beutung zukommt, fo laffen die Nachweiſungen des Verfaflers auf ber 
andern Seite die geichichtlihe Würde, welche die griechiſchen Berechnun- 
gen vor den lateinifchen in fofern befiten, als dieſe aus jenen erwachfen 
find, hinreichend hervortreten, und es wirb die unwergleichliche Stellung, 
welche Alerandrien, aus deſſen Kirche fie ftammen, in der Geſchichte 
des Kirchenlebens und der Cultur überhaupt einnimmt, hier von einem 
enen Punkte aus Klar. 





bes Jahres 1858, 245 


Hiernah enthält das vorliegende Werk theils nützliche Winke kunft- 
geſchichtlicher Art, theils beachtenswerthe Beiträge zur Paläographie, theils 
und vorzäglih Borftudien zum Fünftigen Ausbau einer vollftändigen kirdy 
Iihen Kalenderlehre, und wir trüden nur den einfachen Sachverhalt aus, 
wenn wir es al8 ein auf dieſem Gebiet höchſt Ichrreiches und fürberliches 
bezeichnen. Dabei geben wir dem verdienten Herrn Berf. anheim, ob er 
fid) nicht bewogen finden möge,. vie vielen belangreichen Talendarifchen Ro» 
tizen und Einzelunterfuchungen, melde er feit feiner „SKirchenredinumgu, 
Berlin 1841, in verſchiedenen kleinern und größern Auffägen zu Tage 
gebradht, organiſch geordnet in einem umfaſſenden Werke zu neuer ven 
Ueberblick erleichternder, ja eigentlich erft ermüglichender Darlegung zu 
bringen. Die Sammlung der »Kalenvarien allgemeiner Chriftenheit«, mit ber 
er dem Vorwort nad beſchäftigt ift, und zu welder wir ihm Glück wün⸗ 
ſchen, würde dazu den urkundlichen Anhang bilden. — Die gütige, auf 
S. 73 dem Ref. gegebene Mahnung, mit feiner Ausgabe der Urgeſtalt 
des auch in die Erläuterung des Kalendariums eingreifenden Homiliariums 
Karl's d. Gr. vorzugehen, nimmt derſelbe mit wahrer Dankbarkeit an 
und bemerkt nur, daß, da das Werk einen ftarfen Folianten ausmacht, 
zur würdigen SHerftellung veflelben eine äußere Bermittelung nöthig fein 
wird, welche über den guten Willen des Herausgebers, woran allerdings 
fein Mangel vorhanden ift, wefentlich hinausgeht. E. Ranke. 


Foß, R., Dr., Ludwig der Fromme vor feiner Thronbeftei- 
gung. Berlin, Enslin. 486. 4. 

Die Arbeit eines Schülers von NRanfe, der durch anderweitige Be 
rufögefchäfte verhindert ift, fie auf die urſprünglich projektirte „Geſchichte 
Ludwigs des Frommen« auszudehnen. Sie beruht auf gründlichen For⸗ 
fhungen und ift in der Art der Ranke'ſchen Jahrbücher abgefaht. Im 
den Excurfen find ſchätzenswerthe Beiträge, fowohl in feinen Charalteri- 
ſtilen einiger Quellen als in ver Topographie enthalten, wobei Herr Foß 
an mehreren Stellen zu Ergebniffen kommt, welche von jenen Spruner’s 
abweichen. B. K. 


* Oper, Franz, Dr., Prof., König Konrad I und Herzog Heinrid 


von Sachſen. in Beitrag zur deutſchen Reichsgeſchichte. Aus den Abhand⸗ 


fungen ber k. bayer. Atad. d. W. Münden, in Commiſſion bei @. Bea 
167 €. 4. nn 


* 


246 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur 


Müller, Aegib, Anno II der Heilige, Erzbiihef von Köln umb brei- 
maliger Reichsverweſer von Deutſchland 1056—75. ein Leben, fein Wirken 
und feine Zeit nad den Quellen bearbeitet. Leipzig, Weigel, VIH, 206 ©. 8. 

Es ift das ftete Streben des Berf., die Bedeutung Ay halig ge 
fprochenen Anno auf jeve Weile, fei e8 au im Wueiyku. mit ben 
Quellen, zu erhöhen und feinen Charakter von jedem ledig zu reinigen. 
Der Raub des jungen Königs wich eine That von ftantsrechtlicher Klug- 
heit und reiner Frömmigkeit genannt ;- die Lift aber, weldye er babei an⸗ 
gewandt hat, um Heinrich zur Beſteigung des Schiffes zu bringen, ale 
poetifche Ausſchmückung bezeichnet; die Annahme von Gefchenken vom Abte 
Widerad wegen des Streites in Goslar, wie bie Annahme eines Reuntel 
ber Reichseinkünfte werben al8 zu unwürdige Berläumdimgen verfchwiegen ; 
das Klofter Malmedy wird ihm von Adalbert von Bremen gegeben und 
von Anno angenommen, um den ärgerlichen Zwift zwiſchen Stablo und 
Malmedy zu beendigen! — Aus der Literatur. iſt Damberger die Stüße 
des Verfaſſers, Kerz der Gegenftand feiner Polemik; Stenzel wirb zwei⸗ 
mal erwähnt, Floto nie genannt. Die Quellen find z. B. vita Annonis _ 
(Excerpt aus Lanıbert), welche von Lambert benutt fein fol, eine Mi- 
rafeljammlung x. Die Art der Kritif, welche ver Arbeit zu Grunde 
liegt, ift leicht zu erkennen: 3.38. ©. 9— 12, wo Anno zu dem Spröß- 
ling eines vornehmen ſächſiſchen Geſchlechtes gemacht wird. Zum Schluß 
theilt Herr Müller einiges urkundliche Material mit, vem Haupttheil nad) 
eine Correfpondenz Anno’. In No. 22 der kathol. Literaturz. fteht eine 
Erklärung des Prof. Dr. Floß, auf welche Weife fih Herr M. verfelben 
bemädhtigt und eine Erbichtung über ihren Fundort publicirt habe. B.K. 


Naumer, Fr. v., Geſchichte der Hohenftanfen und ihrer Zeit. 
Dritte verbefferte und vermehrte Auflage. In 12 Halbbänden. Leipzig, Brod: 
haus. 9. — 11. Sibb. 422, 193 ©. 8, 

Der berühmte Gefdichtfchreiber der Hohenftaufen hat es zwar in ber 
Porliegenden Auflage feines Werkes, vie er felbft als veine Ausgabe letter 
Hand⸗ bezeichnet, an mancherlei Nachträgen und Berbefferungen nicht feh- 
len laſſen; eine völlige Umarbeitung aber, wie fie für manche Partien und 
nicht am wenigften für die Alterthümer in dem legten Theil des Werkes 





“ wünfchenswerth gewefen wäre, beabfichtigte er nicht. So ift denn das Buch 


im Wejentlichen das alte geblieben — mit ben hinlänglich bekannten Bor» 


zügen und Mängeln. 





des Jahres 1858. 247 


"Philipps, Hofrath, Tie deutſche Königswahl bis zur goldenen 
Bulle (Aus den Situngsber. 1857 und 1858 ber k. Alab. d. W.) Wien, 
Gerold's Sohn in Comm. 8. 


Römer⸗ „Butner, I. B., Dr., Die Wahl und Krönung ber beut- 
[hen ealfer zu Vvraukfurt aM. Mit neun theils colorirten Tafeln. Frank⸗ 
furt a. M. Weller, X, 118 ©. 8. 

Eine oberflächliche Schrift ohne wiſſenſchaftlichen Gehalt. Unbelannt 
mit der neuern rechtöhiftorifchen Literatur hat der Berfafler pas Meifte 
aus älteren Werken Fritiflo8 und ohne Logische Anordnuug zufanmenge- 
tragen. Aber auch das, was Herr Büchner urkundlich und weitläufig ges 
nug zum erften Mal abpruden läßt, Anordnungen bei ver Anmefenheit 
König Friedrich's IT in Frankfurt und Nachrichten über vie lettten Wah— 
len, ift nicht wichtig genug, um feiner Schrift biftorifchen Werth zu vers 
leihen. K. 


Cheling, F. ®., Die deutfhen Biſchöfe bis zum Ende des 16. 
Jahrhunderts. Biographiſch, Titerarifh, Hiftorifh und kirchenſtatiſtiſch. Leipzig, 
Wigand, 1857 u. 1858. 2 Bde. in 8. 

Ebeling's Werk ift eine Compilation an fich fehr verfchievener Dinge, 
theils Biographeen der Biſchöfe der einzelnen Diöcefen, theil® politifche 
Geſchichte der Bisthümer, theils ftatiftifche, geographiſche und literarische 
Notizen — aber alles gleich mangelhaft und ungenügend. Es erhöht den 
Werth des Buches nicht, daß an einzelnen Stellen meitläufige Urkunden 
aus Älteren Werken fogar mit ven Namen fämmtlicher Zeugen mit in den 
Tert aufgeuommen find; denn dem Forſcher genügen fie nicht und jeven 
andern Leſer ftören fi. Noch unnützer aber ift e8, z. B. bei Mainz 20 
Seiten mit den bloßen Namen der zahllofen Ortfchaften der Erzdiöceſe 
auszufüllen. Der mangelhaften Forſchung und ſchlechten Auswahl des 
Stoffes entſpricht die äußerſt nachläßige und ungenießbare Form. K. 


Schmid, 6. W., Dr., Die fecularifirten Bisthümer Deutfd- 
fanbs. 2 Bde. Gotha, Pertbes. XII, 488, 590 ©. 8. 

Schmid's Geſchichte der fäcularifirten Bisthlimer (warum gerabe 
dieſer?) ift nichts als ein vürftiger Auszug aus älteren und großentheils 
veralteten Werten, welche ſich mit der Geſchichte der einzelnen Diocefen 
befchäftign. Ein beftimmter Plan läßt fih in dem, was der Verfaſſer 
mittheilt, nicht erkennen; er erzählt aus ver Gefchichte jeder einzelnen Did- 





248 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur 


cefe oder noch lieber aus dem Leben des einen oder andern Biſchofe, was 
ihm gerade intereffant erfcheint, und vor allen. Dingen, was ihm bequem 
liegt. Wenn aber der DBerf. meint, daß man nur hin und wieber hätte 
"länger verweilen« ober ntiefer einbringen“ mögen, fo gilt dieß 
vielmehr von jeder Seite des Buches, denn tiefer eingebrungen ift Hr. 
Schmid nirgends. Nocd weniger firmen wir natürlich die naive Eutſchuldi⸗ 
gung gelten laſſen, er habe vem ganzen Werke keine größere Auspehnung 
geben oder den Preis vefjelben nicht noch erhöhen wollen. K. 


Cohn, 2. U. Dr., Privatboc. in Göttingen, Die pegauer Annalen aus 
dem 12. und 13. Zahrhundert. Mit Benitung haudſchriftlicher Hilfsmittel kri⸗ 
tisch unterfucht. Altenburg, Hofbuchdruckerei. 64 G. 8. (Abgebrudt aus ben Mit- 
theilungen der Geſchichts⸗ u. Alterihnmsforſchenden Geſellſchaft des OAerlanber. 
Sp. IV, Heft 4.) 


Aus den mit eingehender und fcharffinniger Kritik geführten Unterfuch- 
ungen bes Hrn. Cohn über das Verhältni der Pegauer Annalen zu ver- 
wandten Quellen ergeben ſich folgende Hauptrefultat. Für ven größten 
Theil der Annalen (1125—1149), der von dem Biographen des Wiprecht 
von Groitſch berrührt, find die Erfurter Annalen durch das Medium der 
St. Peters-Chronik die Hauptquelle; für den Zeitraum von 1150—1185 
benutte der Fortſetzer der Pegauer Annalen hauptfächli die Magdeburger 
Annalen; dann folgen nad zeitgenöffiihen Zuſätzen weitere Yortfegungen 
im 13. Jahrh. bis zum Anfang ver dreißiger Jahre von ungleihem Werth. 
Die Bofauer Annalen, aus denen man wohl den größeren Theil der Pe: 
gauer hat ableiten wollen, ergaben ſich umgekehrt als aus ven letzteren 
abgefchrieben. Wie weit diefe Unterfuhungen im Einzelnen fi als 
richtig bewähren, dürfte erft dann zu beftimmen fein, wenn eine kriti- 
ſche Ausgabe der in Frage ftehenden Quellen in ven Mon. Hist. Germ. 
veranftaltet  ift. K. 


Schmid, L., Dr., Hauptiehrer an ber Realfhufe zu Tübingen, Der Kampf 
um bag Reih zwifhen dem römifhen König Adolf von Naffen 
und Herzog Albrecht von Deftreich. Nach zuverläßigen und neuen Quellen 
dargeſtellt. Tübingen, Verlag u. Drud von 8. Fr. Zues. XII u. 186 S. 8. 


Eine fleißige, aber nicht eben kritiſche Arbeit, durch die am Ende 
wenig gefördert wird. Der Verf. ift, wie er fagt, bei Gelegenheit einer 
Schrift über die Grafen von Hohenberg auf den Gegenſtand gekommen, 





bes Jahres 1858. 249 


und findet, daß manche Quellen bisher nicht binlänglich zur Aufklärung 
veffelben benüßt find, — deßhalb nennt er fie neu, zuverläßig aber wohl, 
weil fie zum Theil von Zeitgenoffen und Augenzeugen find; ungebrudtes 
Material hat er keines gehabt. Aber er hat pas Vorhandene auch mehr gefam- 
melt, unter gewiſſe Rubrifen gebracht, als wiſſenſchaftlich verarbeitet. In der 
allgemeinen Erzählung folgt er meift dem Ottokar von Horned, deſſen Wert 
er großentheild im Text oder in den Noten abbruden läßt, ohne fih auf 
eine doch fo nothmwendige Prüfung feiner Zuverläßigkeit im Einzelnen ein- 
zulaffen; in der Beſchreibung der Schlacht von Göllheim dagegen iſt ihm 
eine Hanptquelle das von Maßmann herausgegebene Fragment eines Ge⸗ 
bichte8 über dieſe Schlacht, aber auch hier wird eine nähere Unterfuchung 
der Glaubwürdigkeit im Einzelnen, ja manchmal felbft ein ficheres Berftänd- 
niß des allerdings nicht ganz leichten Textes vermißt. G. W. 


Böhlen, Hugo, Dr., Nove Constitutiones Domini Alberti, 
d. i. der Landfriede v. J. 1235 mit der Gloße des Nielolaus Wurm. Weimar, 
9. Böhlau. XLIV, 91 8. gr. 4. 


Die vorliegende, mit großem Fleiß ausgeführte, nur in der Form 
etwas unerquidlihe Schrift fucht nachzuweiſen, wie das Reichsfriedensgeſetz 
v. J. 1235, weldyes in einzelnen Punkten modificirt und vielfach erweitert 
in der Folgezeit wiederholt von Neuem verfünvet wird, im 14. Jahrhun⸗ 
dert durch die Privatarbeit des Nikolaus Wurm zu einem Rechtsbud ums 
geftaltet wurde, indem es nach einer eigenthümlichen Eintheilung in Con- 
ftitutionen mit einer ausführlichen Gloſſe verfehen ward. Um dieſe Umbil- 
bung im Einzelnen darzuthun, ift der Aborud des urfprünglichen Tateini- 
ſchen und eines doppelten deutſchen Textes, der fich in den Monumentis 
nicht findet, mit zahlreichen Varianten und Parallelftellen aus verwandten 
Redactionen des Landfriedens begleitet, wobei e8 nur auffällt, daß dem 
gründlichen Yorfcher, welcher den Handſchriften und Druden aller hierher 
gehörigen Friedensgeſetze font mit Glück nachgeſpürt hat, gerade die im 
Archiv für Defter. Geſch.Ouellen I, 48, 65 und neuerdings in den Quellen ver 
bayerifchen und deutſchen Geſchichte Bo. V (Monumenta Wittelsbacensia) 
©. 77, 140 ff. abgebrudten baterifchen Landfrieden von 1244 und 12856, 
bie doch für das Verhältniß der Landfrieden des 13. Jahrhundert zu ein⸗ 
ander eine befondere Wichtigkeit haben, entgangen find. Bon ven wert 
oollen in dem Werke niebergelegten rechtähiftorifchen Unterfuchungen heben 











2350 neberficht der hiſtoriſchen Literatur 


wir zwei al8 von allgemeinerem Intereffe hervor; nämlich einmal die über 
die Sprachfrage bei dem Lanbfrieten von 1285, wo Hr. Böhlau der Eich 
born’fchen Anficht beitritt, daß von dem wurfprünglichen Iateinifchen Terxte 
gleichzeitig eine amtliche Ueberſetzung veranftaltet wurve, nnr daß das Original 
dieſes deutſchen Reichsgeſetzes verloren gegangen iſt. Ferner find für eine 
richtigere Mürbigung ſowohl des Landfriedens von 1235 als namentälih 
and) der früheren Trievensgefege eine Reihe treffender Bemerkungen in 
Beilage VI (über vie Entwidlung der Strafrechtsibee bis zum Landfrieden 
v. 3. 1235) nievergelegt; übrigens möchten wir deßhalb nicht alles das 
unterfchreiben, was der Verf. an dieſer Stelle gegen Wilda's Auffaffung 
des germanifchen Strafrechts, als auf benfelben leitenden Ideen wie fpäter 
berubend, mals einer Offenbarung der Idee der Gerechtigkeit⸗, vorbringt. 
Es ift nicht ſchwer, in einzelnen Ausführungen dieſes ausgezeichneten Wer: 
tes Unrictigfeiten und Widerſprüche aufzubeden, ohne daß dadurch bie 
Grundanſchauung Wilda's als verkehrt nachgewiefen wird. K. 


Kopp, I. E., Geſchichte der eidgenöſſiſchen Bünde. Mit Urkun- 
ben. 5ter Bd., I. Abth.: Die Gegenkönige Friedrich und Lubwig und ihre Zeit. 
9. 1322—1330. Berlin. (Auch u. d. T.: Die Geſchichten von ber Wieberher- 
ſtellung und dem Verfalle des heil. röm. Reiches eilftes Buch.) XVI, 508 S. 8. 


Der vorliegende neuefte Theil von Kopp's umfaffendem und bes 
kanntem Werke geht zuerft nah Fr. Böhmer’8 grundlegender Forſchung 
wieber tiefer und mit dem dazu gehörigen gelehrten Rüſtzeug ausgeſtattet 
in bie Geſchichte Ludwig's des Bayern umd feiner Zeit ein. Es umfaßt 
bie wichtige Periode ven der Schlacht bei Mühltorf bis zum Tode des 
Gegenkönigs Frievrih von Habsburg (1322- 1330). E8 ift bier nicht 
nöthig, die längft und allgemein anerkannten Borzüge des in Rebe ftehenven 
Werkes auch für viefen Theil insbefondere hervorzuheben oder die Ber- 
dienſte vefjelben um die deutſche und eidgenöſiſche Geſchichte zugleich, die mit 
Fug nnd Recht hochangeſchlagen werten, auszuführen. Auch brauche ich 
nicht zu erwähnen, daß der Berf. an Material, fo weit e8 überhaupt zu- 
gänglich iſt, kaum etwas hinter ſich gelaffen und manchen bisher verſchloſſe- 
nen urkundlichen Schat fi zu öffnen gewußt; hat doch felbft das Wert 
Bbhmer's durch Kopp's Forſchungen Ergänzungen und Berichtigungen er- 
fahren. Nur möchte ich mir erlauben, ein paar unmaßgebliche Bedenken, 

die mir bei der Leftäire dieſes Theile® aufgeftiegen find, auszufprechen. 





bes Jahres 1858. 251 


Hr. Kopp trägt bekanntlich die eidgenöſſiſche Geſchichte in engfter Ver⸗ 
bindung mit ber Reichsgeſchichte vor. Im Princip, und in diefem Falle 
ganz befonders, wird man das nur billigen können. Jedoch will mir ſchei⸗ 
nen, als tbäte er hierin doch des Guten zu viel und überfchritte er bie 
Grenze des Erlaubten, die, wenn ich nicht irre, dort anhebt, wo ver innere 
Zufammenhang der Specialgefchichte mit der Reichsgeſchichte aufhört. Ohne 
einen folchen inneren Zufammenhang bat die blos räumliche Verbindung 
feinen Sinn mehr und wird zur Willfür, das Vorgetragene an ſich mag 
fo werthvoll und fo mühſam erforfcht fein wie immer. Es wird ſchwerlich 
Jemand beftreiten wollen, daß diefer Einwand gegen einen guten Theil 
veffen, mas Hr. Kopp von eidgenöflifchen Sachen vorträgt, erheben werben 
kann. Ich könnte auch noch ausführen, daß eine foldhe Verbindung des 
fachlich nicht Zufammengehörigen alle künſtleriſche Wirkung ver Compofition 
aufhebt, ftehe jevoch davon ab, weil der Hr. Verf., nach der ganzen Haltung 
und Anlage feines Werkes, auf das Beftreben, die Reſultate feiner For⸗ 
ſchungen künſtleriſch zu geftalten, verzichtet zu haben fcheint. 

Das andere Berenfen, das ich nicht unterbrüden kann, gilt dem 
Standpunkt, ten Hr. Kopp Yudwig dem Bayern gegenüber eingenom- 
men bat und durchweg fefthält. Ich verlange keinen Enthufiasmus für dies 
fen Fürften, nicht einmal Entſchuldigungen oder Mitleid, aber ich forbere 
Gerechtigkeit für ihn wie für jeve andere Perfünlichkeit, — und leider, 
nach meinem Gefühle wenigftens, Tann ich nicht finden, taß fie in ber 
Kopp’ihen Darftellung dem Kaiſer gewährt fei. Der Gejchichtjchreiber agirt 
bier, bei aller jcheinbaren Zurückhaltung und fog. Objektivität, vie Rolle 
des Anklägers ftatt des Richters, und geht von ver ganz unbegrünbeten 
Anfiht aus, daß Papft Johannes XXI. überall und in allen Stüden und 
in allen Yorberungen im Rechte geweſen fei, während tod das Unrecht 
zum ullerwenigften zu gleichen Theilen auf beiden Seiten lag, — In der: 
felben befangenen Weife behandelt Hr. Kopp vie Politif der Habsburger, 
und findet e8 ziemlich natürlich, Daß Herzog Leopold das Reid an Frank. 
reih — verhanbelte (S. 150, 376). Mit einem folden Standpunkt wäre 
e8 zwecklos des weitern zu rechten, und füge ich nur nod die Bemerkung 
hinzu, daß ih aus dieſen Gründen vie betreffenden Abſchnitte des vorlie- 
genden Werkes für Keinen Fortichritt in der Geſchichtſchreibung Ludwig bes 
Bayern zu halten vermag. Wegele. 





262 Ueberficht der hiſteriſchen Literatur 


Marmor, 3, Das Concil zu Conſtanz in den Jahren 1414 bis 
1418. Nach Ulrich von Richentals haudſchriftlicher Chronik bearbeitet. Mit lith. 
Biidern. Konftanz. (Emmiehofen, Hinterficd.) II, 167 ©. 8. 


* Büdert, Wilh., Die kurfärfligde Neutralität während bes 
Barler Concilse in Beitrag zur beutfhen Geſchichte von 1488 — 1448. 
Leipzig, Teubner. VIII, 332. 8. 


Juste, Thöod, Charles-Quint et Marguerite d’Autriche, Etude 
sur ia minorit&, l’&mancipation et l’avdnement de Charles-Quint & l'empire 
(1477— 1521). Bruxelles et Leipzig. XI, 175. 8. 8, 


Es ift dies Feine irgend ausreichende Gefchichte ver Jugend Karls V., 
fondern nur eine Studie über diefelbe, welche die verſchiedenſten Verhält⸗ 
wiffe berührt, ohne fie zu erfchöpfen. Mit Hilfe der zahlreichen Aftenftüde, 
bie in ben letzten Decennien aus nieberlänbifchen, franzöfifchen, beutfchen, 
itafienifchen und anveren Archiven für vie Gefchichte jenes Zeitraums an's 
Licht gezogen find, gelingt es Hrn. Juſte, die verwidelten und wechſelnden 
Beziehungen Marimilians und Philipp des Schönen zu den franzöfiichen 
Königen, vie Stellung der Margaretha zu ven niederländischen Parteien, 
bie Ligue von Sambray und die heilige Ligue, die Regierung des Cardinal 
Ximenes in Spanien und das Berhältnig des jungen Karl zu Franz 1. 
bis zu feiner Thronbefteigung in Deutichland in einzelnen Punkten Harer 
Darzulegen. Am intereffanteften ift wohl das aktenmäßige Detail, welches 
über die der Kaiferwahl vorangehenden Intrigen beigebracht wird, und die 
Beftechlichkeit ver deutſchen Fürften im fchlimmften Lichte erfcheinen läßt. 
Dabei füllt es freilich arg genug auf, daß der Berfafler, der ausländiſche 
Arbeiten fo fleißig citirt, das unentbehrliche Werk Ranke's nicht einmal er- 
wähnt, wie er ſich denn überhaupt in ventfchen Dingen gerade nicht fehr 
ftarf beweiſt. So hält er die Kurfürften für vie Repräfentanten der ver- 
fchievenen Stände bei der Kaifermahl. Was die Auffaffung der Perſön⸗ 
lichleit Karls V. anbetrifft, fo möchte unfer Autor den jugendlichen Herr⸗ 
ſcher al8 einen nationalen nieberländifchen Helden verherrlihen; indeß 
bringt er weder irgend etwas Neues aus feiner Jugend bei, was unfere Be⸗ 
wunderung für Karl fteigern könnte, noch verfucht er es die für deſſen Charak⸗ 
teriftit in Betracht kommenden Verhältniſſe und Beziehungen in ein neues 
Licht zu rüden. K. 





bes Yahres 1858. 268 


Kampfchulte, 3. W., Dr., Die Univerfität Erfurt in ihrem Berhätt- 
niffe zum Humanismus und der Reformation. Aus den Quellen dargeftellt. Im 
2 Thln. I. Thl.: Der Humanismus. Trier, Ling. X, 259 ©. 8. 


Dies forgfältig gearbeitete Buch ift nicht allein fiir die Gefchichte ber 
Univerſität Erfurt, fondern noch mehr für die der Reformation voran 
gehende Literarifche Bewegung, welche dort eine Zeit lang einen eigenthüm⸗ 
lichen Mittelpunkt fand, von Wichtigkeit. Da aber vem Vernehmen nad 
binnen kurzer Zeit auch ver II. Theil des Werks zu erwarten ift, fo wird 
eine weitere Beſprechung bis dahin beffer verfchoben. 


Strauß, Dav. Frdr., Ulrich von Hutten. 2 Thle. Leipzig, Vrodhaus, 
XXII, 752 ©. 8. 


Ueber die Biographie Hutten's von Strauß ift fowohl nad ihrer 
wiſſenſchaftlichen als nach ihrer künftlerifchen Bedeutung von ven verjchie- 
denften Seiten mit jo feltener Uebereinftimmung geurtheilt worben, daß es 
bier einer neuen Würdigung des ausgezeichneten Werkes nicht mehr bevarf. 


(Böcking, Ed.) Epistolae obscurorum virorum. Leipzig, Teubner. 
V, 412 8. 16. 


Derfelbe, Index bibliographicus Huttonianus. Berzeihniß ber 
Schriften Ulrichs von Hutten. Leipzig, Teubner. IV, 104 ©. 8. 


Derfelbe, Drei Abhandlungen über reformationsgeichichtliche 
Schriften. I. Oratio de decimis. 1818. II. Oratio Christi pro Luthero. 
1521. III. Responsio ad apologiam Croti Rubeani. 1532. Leipzig, Teubner. 
uI, 102 ©. 8. 


Shönhuth, Ottm. H. F., Pfarrer, Leben, Fehden und Handlungen 
bes Ritters Götz von Berlihingen, zubenannt mit ber eifernen Hand, durch 
ihn ſelbſt beſchrieben. Nach der alten Handſchrift, nebft einigen noch ungebrud- 
ten Briefen des Ritters heransgegeben. Heilbronn, in Commifl. bei Scheurlen. 
VI, 106 ©. 8. 


Derfelde, Leben und Thaten des weilanb wohleblen und geftrengen 
Heren Sebaftian Schertlin von Burtenbad, durch ihn felbft deutſch be 
fhrieben. Nach der eigenen Handſchrift bes Ritters urkundlich treu berausgegeb. 
Münfter, Aſchen dorjf. VIII, 178 S. 8. 


Der Herausgeber dieſer merkwürdigen Selbſtbiographien hat in bei⸗ 
den Fällen ven Anforderungen, die man heute an eine berartige Edition 





254 Ueberfiht ber hiſteriſchen Literatur 


ftellt, nicht genägt. Er giebt nichts ale einen urkundlich treuen Abdruck ber 
ihm vorliegenden Handfchriften, mit ihren Mängeln und Fehlern, ohne 
jeden kritiſchen Apparat und ohne alle fprachlihen und ſachlichen Erklär⸗ 
ungen. Dazu iſt in dem erften Falle die abgedruckte Handſchrift, wie Hr. 
Schönhuth felbft zugefteht, feine ver beften,; obwohl alt und den Schrift- 
zügen nad) angeblid bis in bie Mitte des 16. Jahrhunderts zurüdreiihäub, 
ift fie ſehr reich an Fehlern, an Wort» und Satzentſtellungen, felbft an 
bebeutenden Auslafjungen. Da der Herausgeber ſich begnügte, nur in ben 
fchlimmern Bällen mit einer fpäteren befleren Handſchrift nachzuhelfen, fo 
bat diefer Abdruck nur infofern Werth, als alle früheren Ausgaben ver- 
griffen find und eine genügende neue noch nicht erfchienen ifl. “Die beige- 
gebenen Heinen Briefe, fieben an ber Zahl, find an bie Grafen von Werth⸗ 
beim gerichtet, aber für die Geſchichte ohne alle Bedeutung. 

Berbienftlicher ift die Ausgabe der Selbftbiographie Schertlin’® von 
Burtenbach, da ihr die eigene auf der k. öffentlichen Bibliothek in Stutt- 
gart befindliche Handſchrift Schertlin’8 zu Grunde liegt; fie verbient jeden: 
falls der 1777 erjchienenen Ausgabe von Holzſchuher vorgezogen zu wer: 
den. Die höchft intereffante Selbftbiographie reiht bi8 zum März 1577, 
wo der tapfere Mann erkrankte; fein Cohn Hans Schaftian führte fie 
auf des Vaters Befehl bis zu deflen Tode, am 17.Nov. 1577, fort. K. 


Schade, Oslar, Satyren und Basquille aus ber Reformationk- 
Zeit. 3Bbe. Miteinem Regifter über alle 3 Be. Hannover, Rümpler. 351 €. 8. 

Die hier mitgetheilten elf Stüde find zum Theil gegen das undhrift- 
liche Treiben der höheren eiftlicyfeit gerichtet, andere wenden ſich direct 
an tie Gegner Luthers; namentlich hervorzuheben aber ift eine in bie 
Werfftatt eines Apothekers verlegte Disputation, wo verſchiedene Specereien 
als Kämpfer für und gegen die Sache ver Reformation auftreten; in ber 
Nähe von Worms um die Zeit des Reichstages, indeß vor dem Erſcheinen 
Luther's, gefchrieben, ift fie al8 ein Ausorud der damaligen Stimmung im 
Bolt von befonteren Intereffe. 


Wohlfahrt, J. F. Th, Dr., Kirchenrath, Philipp Melanchthon. 
Zum Säcnlarandenlen an ben 300jährigen Todestag des Reformatore ben 19. 
April 1840. Ein Buch für Gebilbete aller Stände. Leipzig, Fleiſcher, XVI, 
868 ©. 8. 


Ein hochtrabender Panegurifus, welcher mit ber frühften Offenba⸗ 





des Jahres 1858. 265 


rung Gottes an unfer Geſchlecht⸗ anhebend, vie theologiſchen Schriften 
älterer und neuerer Zeit, die Bibel wie die moderne Lyrik benugt, um 
gleichzeitig den Neformator zu verherrlidhen und der Welt Religion und 
Zugend zu predigen. Ties hätte wirffamer gefchehen fünnen, wenn ber 
Berfaffer einen der Geſchichte mehr entfprecdenden Ton angefchlagen und 
nicht über dem verfehlten Streben nach Popularität jede tiefer gehende For⸗ 


fhung veruachläßigt hätte. K. 


Jansen, Guil. Alb., de Julio Pflugio, ejusque sociis reforma- 
tionis aetate et ecclesiae concordiae et Germaniae unitatis studiosis. Dis- 
sertatio inauguralis historica. Berlin, Hertz. 54 S. 8. 


Bed, Auguſt, Dr., Herzoglih Sachſen⸗Coburg⸗Gothaiſcher Archivrath, Vor⸗ 
ſtand des Herzogl. Haus⸗ und Staatsarchivs, Bibliothekar und Vorſtand bes 
Herzogl. Münzkabinets zu Gotha, Johann Friedrich der Mittlere, 
Herzog zu Sachſen. Ein Beltrag zur Geſchichte des ſechszehnten Jahrhunderts. 
Weimar, Hermann Böhlau, (Bd. J. XIV n. 599 S. — Bd. I. [mit kurzen 
Lebensbeihreibungen des Zeitgenoffen Joh. Fried.,, 56 Urkunden, einer Leber- 
fit der wichtigſten Ereigniffe aus dem Leben Joh Friedr., mit einer genealo- 
giihen Tafel, einem Regifter] 325 ©.) 8. 


Epieler, Chriftiaon Wilhelm, Dr. und Profeffor der Theologie, Superin- 
tenbent, Oberpfarrer und Ehrenbürger der Stadt Fraulſurt a. d. O., Ritter ıc. 
(jest verftorben), Lebensgeidhichte des Andreas Musculus, Generaljurer- 
intendent ber Mark Brandenburg, Confiftorialrath, Doctor und erfier Profeffor 
ber Theologie und Pfarrer in Frankfurt an der Oder. Ein Beitrag zur Re- 
formation und Sittengefhichte des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. d. DO. 
Trowiber u. Sohn. (VII. n. 376 ©.) 8. 

Wir ftellen beive Bücher zuſammen, weil e8 derſelbe hiftorifche Hin— 
tergrund ift, von dem ihre Geſtalten ſich abheben, die einander gegenbilds 
li find. Bed zeichnet uns einen Theologen-Fürften, Spieler einen Für: 
ften- Theologen jener Zeit, welche berufen war, die mächtigen nationalen 
und religiöſen Gedanken, deren Andrang bie mittelalterlihen Ordnungen 
gewichen waren, praktiſch zu formuliven und im eine neue Zuftändlichkeit 
überzuführen. Beide haben ſehr Schätzbares geleiftet und reiches Ma- 
terial geliefert; beſonders das Beck'ſche Buch ift die Frucht der umfaſſend⸗ 
ften archiwalifhen Studien und auf dem Boden einer ausgedehnten Lite- 
raturkenntniß erwachſen. Aber Beide haben infofern ihre Aufgabe nicht 


y 








266 Ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur 


ganz glüdlich angegriffen, als fie die Perfpective, welche fie eröffnen, nicht 
weit genug faflen. Beck beſchreibt das Leben eines proteftirenven Fürſten 
aus einem der Kur und des größeften Theils feiner Lande durch Kaiſer 
und Better beraubten Haufe; aber die Momente des Proteftantisumms, ber 
Hürftlichkeit, ver Taiferlihen Macht, welche, indem fie als Recht faft ganz 
erlofchen war, gerade in jener Zeit in der Form des Einflußes fich wie⸗ 
ber geltend machte, viefe Momente find ihm gegeben und er unterfucht fie 
in ihrer Bedeutung und ihrem biftorifchen echte nicht. Und doch fuchen 
fie damals eıft, indem bie einzelnen fi in ber verſchiedenſten Weiſe mit 
einander verbinden, ſich durchzuſetzen, und daß und wie fie fich durchſetzen, 
ift eben das Intereſſe jener Zeit. So haben wir, indem wir Beck's Buch 
lefen, überall die Empfindung, daß da große und allgemeine in ihrem Zu⸗ 
fanmenbange äußerſt merhvärbige und für bie Geftaltung des Staats 
und der Kirche entjcheivende Kämpfe vor fi) geben, von denen un leider 
nicht mehr zu fehen vergönnt ift, als das wüthende Gefecht um einen 
Hohlweg. Beſonders der fehr reiche flebente Abfchnitt über die Grum⸗ 
bach'ſchen Häntel erregt diefe Empfindung. „Indeſſen«, fagt der Berf., 
mbanerte das Fauſtrecht noch eine Zeit lang (nad dem Lautfrieven ven 
1495) fort, und es bedurfte aller Energie von Seiten der Fürften, um 
die Nitter niederzubalten. Im Jahre 1539 hielt die fränkische Ritter: 
ſchaft einen Kittertag in Schweinfurt, um ihre vermeintlichen Rechte gegen 
die Hürften geltend zu machen. Wie fo vermeintliche Nechte? Und wie 
heißt der Rechtstitel der Fürſten? 

Nicht anders verfährt Spieker. Er ftellt und mitten in bie anti⸗ 
nomiſtiſchen, ofiandriftifchen, kryptocalviniſtiſchen Streitigkeiten, welche, 
inden bie Einen wie die Anvern an das Nothepiscopat appellirten, zu 
jener abfcheulichen Verknechtung ver Geifter führten, die ihren Ausdruck in 
der Eoncordienformel fant. Aber wie e8 gelommen, daß ver Proteftantismus 
fih fofort von ven Wirklichkeiten des gemeinvlichen Lebens zur Doctrin 
wandte; und wenn dieß denn geſchah, warum gerade jene Tragen bie Theo— 
Iogen fo lebhaft beichäftigen (und dieß wäre endlich nad Pland’s rühmli⸗ 
hen Borgange abermaliger Unterfuchung werth), unterfucht er nicht. Hätte 
er es gethan, fo würde er ſchon bei Luther auf einen bebeutfamen Man- 
gel geftoßen fein, ver freilich weniger in feiner urfprünglichen Anfchauung, 
als in feiner Firchenpolitifchen Thätigkeit hervortritt: die Vernachläßigung 
der Gemeinde, welcher Luther kein Gewicht zu geben verſtand. Daß fie 





bes Jahres 1858. 257 


aber als Macht in die großen Kämpfe des XVI. Jahrhunderts gar nicht 
eintrat, dieß war die lettte Urſache des abfolutiftiichen Staats, der alsbald 
refultirte. Denn der Iutberifche Proteſtantismus, da er feine innere Kecht- 
fertigung aufgab, welde in der Wiederermedung ter Gemeinte gelegen, 
mußte trotz allen Widerſtrebens ver Theologen ſich zur Rechtfertigung des 
fürftlichen Abfolutismus hergeben. — Trog dieſes Grundmangels find 
beide Bücher fehr brauchbar. Mas Bed über die Politif des argliftigen 
Fürſten Auguſt von Sachſen, über die Betrügerin Anna, über vie thenlo- 
gifchen Streitigkeiten auf der neu gegrändeten Univerfität Yena, über bie 
Grumbach'ſchen Händel fagt, ift zum guten Theil nen und fehr lehrreich. 
Das Verdienſt des Spieker'ſchen Buches liegt vorzüglich in ven Capiteln 
(befonders im achten), in denen über das Verhältniß des Pfarrers zum 
Magiftrat und zum Kurfürften gehandelt wird. p 


Henned, 3. H. Albrecht von Brandenburg, Erzbifchof von Mainz 
und von Magdeburg. Mainz. (VIII, 336 ©.) 8. 


Der Fürſt, deſſen Lebensbefchreibung wir hier erhalten, gehört un- 
zweifelhaft zu ven bemerfenswertheften Geftalten feiner Zeit. Einem ver 
erjten veutfchen Fürftenhäufer angehörig, gelangt er, noch kaum cin Mann 
an Jahren, zum Beſitz des erften kirchlichen Fürſtenthums in Deutſchland, 
und dieß zu einer Zeit, wo gerade durch die umfafjenpften Bewegungen 
auf allen Gebieten des Staates und der Kirche überall der bisherige Be- 
ftand der Dinge in Frage geftellt wird, wo überall Neucs oder für das 
Alte neue Formen angeftrebt werden. Es muß jedenfalls von ven höch— 
ften Intereffe fein, zu fehen, wie biefe Dinge ſich in ver Projection auf 
einen Mann von fo beveutungsvoller Stellung — auf den oberften teut- 
chen Kirchenfürften — geftalten, — und Died wird der Geſichtspunkt fein, 
von dem aus eine Biographie des Churf. Albrecht zu fallen if. 

Man kann nicht fagen, daß der Berf. ver vorliegenden Biographie 
fih dies eben fehr Har gemacht habe; es mangelt ihm in dieſem Buche 
nicht bloß der bezeichnete, fondern überhaupt jeder ſichere Etandpunkt zur 
Bearbeitung und Darftellung einer fo reihen Zeit uub eines in fo ver- 
fhiedenartigen Bezeichnungen ftebenden Lebens. Es foll anerfannt wer: 
den, daß allerdings das Material zu einem volllommenen Berftänpnif 
Albrecht's und feiner Plane noch lange nicht in ausreichender Fülle vorliegt; 
namentlich für die fo überaus wicktipen vichtigſten feines 

Piſtoriſche Zeltfärift 1. Bam, 





258 lieherfiit ber hipeciiqen Titeratur 


Lebens) vom feiner Erhebung zum (Ehurfürften (1514) bis zum Jehte 
1525, wo gleichzeitig mit der Schlacht von Pavia uud in Zufanmenbhang 
mit ihr ein fo benfwärtiger Umefchtwumng is allen beutichen Bexhältuifien 
und auch im bem Leben Albreches eintritt, muß oe Zweifel Durch nedh 
zu erwartende ardhivaliiche Arbeiten das mölhige Licht auf mande belle 
Stellen fallen. Aber man fellte erwarten, baf eine Wiograpie ſich chem 
diefe Aufgabe ftellte und wenigſtens den Berſuch umndhte, durch men hinym 
gebrachtes Material vie offenen Fragen zu ſordern. Dies iſt jedoch hier 
micht gefchehen; felbft von dem ſchen gebrudte Material iſt dem Berf. 
Miepreres, zum Teil ſchr Wicliges vällig euigangen, unb ber Tetalein- 
druck feines Buches lann nur der fein, daß durch daſſelbe bie Sache im 
Weſentlichen nicht weiter gebracht werben iſt. .Eo 

Zangenn, Friebr. Albr. v., Br., Doctor Meldior von Dffe Eine 
Derfiellung aus dem XVL Jahrhendert. Leipzig, 8. C. Hinrihe’fhe Buch⸗ 
handiung. (VIII, 206 ©) 8. " 

Eine willlommene Beigabe zur Geſchichte des Kurfürften Moritz von 
Sachſen, vie wir demſelben Berf. verdanken. Hier wird das eben eines 
fähfiichen Staatsmannes Melchior von Oſſa (f 1557) meiſtens nad) deſ⸗ 
fen ⸗Handelsbuch⸗ (Tagebuch) und tem fog. Teftament, einer anziehenven 
Schrift über Staatsregierung, erzählt. Auch in feiner Einwirkung auf 
die Reichſs⸗ und Kirchengefchichte erfcheint Offa, wie das Vorwort richtig 
bemerkt, nicht als ein hervorragender, aber doch als ein beveutender Mann. 
Der Berf. hat in dem ſchlichten Tone das Kolorit feiner Duellen zu 
wahren gewußt, dabei aber die oft ſchwierigen Zufammenhänge mit ber 
allgemeinen Gefchichte, auf tüchtige Sachkenntniß geftügt, erläutert. 


Vehſe, Eb., Dr., Geſchichte der beutfhen Höfe feit der Refor- 
mation. 41-44. Bd. (6. Abthl.) A. u. d. T.: Gefchichte der Heinern beut- 
fen Höfe. 7 - 10. Thl. Hamburg, Hofmann und Campe. 8, 


*Surter, Febr. v. Geſchichte Kaifer Ferdinand'e II. und feiner El⸗ 
tern. Perfonen-, Haus- und Landbesgefhichte. 9. Bb. A. u. d. T.: Geſchichte 
KRaifer Ferbinanb’s II. 2. Bo. Schaffpaufen, Hurter. 662 ©. 8. 


Krauſe, G., Hofrath, Tagebuch Chriſtian's des Jüngern, Fürſt 
zu Unhalt; niedergeſchrieben in feiner Haft in Wien, im Geleite Laiſer Ferdi⸗ 
nand's 11 zur Bermäplungsfeier nach Juſpruck, auf dem Reichetage zu Regene⸗ 





des Jahres 1858. 269 


burg, und während feiner Reifen und Raften in Deutfchland, Dänemark und 
Italien. Rah dem Manufcripte ber herzogl. Bibliothek zu Köthen herausge⸗ 
geben. Leipzig, Dyk'ihe Buchhandlung. XVI, 320 ©. 8. 

Dies Tagebuch Chriſtian's des Yüngern fchließt ſich an ein früheres 
von Aretin in ven Beiträgen zur Geſchichte und Literatur (München, 1806) 
beiauögegebenes an und behandelt ben Zeitraum vom November des Jah⸗ 
res 1821 bis zum Ende des Jahres 1824. Es giebt nicht gerade neue 
Aufſchlüſſe Über die Gefchichte jener Zeit, enthält aber außer Heinen Zei⸗ 
tungsnotizen und intereffanten Zügen aus dem Hofleben Ferdinand's II 
und mancher zeitgenöffiichen sürften und Großen eine Menge von wertbh- 
vollen Nachrichten über bie Sitten und Einrichtungen in den von dem 
Autor beſuchten Lauden. Das Meifte ift auf einer italienifchen Reiſe 
nievergefchrieben. Unter ven beigegebenen Documenten ift ein bier zum 
erftenmal vollftändig veröffentlichter Bericht Chriſtian's des Aeltern über bie 
Schlacht bei Prag bemerkenswerth. K. 


Dudik, B., 0. 3. B., Dr., Waldftein von feiner Enthebung bis zur 
abermaligen Uebernahme des Armee -Ober- Kommando, vom 13. Auguft 1630 
bie 13. April 1632. Nach den Alten bes k. k. Kriegsarchivs in Wien barge- 
ſtellt. Wien, bei Carl Gerold's Sohn. XXI, 496 6, 8. | 

Dr. Dubit hat aus den ihm zur Benützung überlaffenen Alten des 
Wiener Kriegsarchivs die Thätigleit des Herzogs von Friedland feit feiner 
Entfegung in Regensburg bis zu befinitiver Uebernahme des Oberbefehls 
im Frühjahr 1632 beleuchtet. Man erfährt aus manchen intereffanten 
Briefen von und an Waldſtein, fo wie anderen, bie fi barauf beziehen, 
wie ſcharf der Herzog die Ereigniffe ber damaligen Zeit beobachtete und 
beurtheilte, wie der Kaifer den Herzog immer im Auge behielt und feit 
dem April 1631 bemüht war, ihn wieder in feine Dienfte zu zieh’n, fer- 
ner wie ber Herzog nad einigen allerdings zweibeutigen Machinationen 
fih entfhloß, im December 1631 auf 3 Monate das Kommando zu über: 
nehmen, wie er unter ben ungünftigften Unftänden mit großer Umſicht 
und Thätigkeit das Heer new organifirte und darauf im April definitiv 
den Oberbefehl übernahm. Dan fieht hieraus, daß man nichts wichtiges 
Neues erfährt. Wohl aber erhält man ein veutlicheres Bild von biefem 
Theile der Kebensgefchichte des Herzogs. Nur darauf muß befonvers hin- 
gewwiefen werden, daß bei ven Unterhandlungen, weldye zur Entſcheidung 
führten, von einem Abtrogen drückender Bedingungen hier wenigftens nir⸗ 

17* 





260 Ueberficht ber hiſteriſchen Literaisr 


gends bie Kebe ift, und man. lann mit bew Berfafler übereinftiunmen, 
wenn er fügt, daß des Herzogs Schuld nicht geweſen fei, zu viel ver⸗ 
langt, fondern vielmehr, was er erlangt, fpäter in were Belbfiiucht 
mißbraucht zu haben. 

Was in den vom Berfafler benntzten Papieren bazır Beiteägt, auf 
ven Charakter und vie Thätigleit bes Feldherrn ein heileres Licht gu 
werfen, das hätte Dr. Dudik taltvoll auswählen und in einem dünnen 
Bändchen veröffentlichen ſollen. Statt deſſen exhalten wir eine große 
Maſſe unbeveutender Dofnmente, und bie. Besaukeitung derſelben, vie 
Dr. Dudit verfucht hat, fteht durchaus unter dem Mivean beflen, was ein 
Siftorifer der Gegenwart zu leiſten verpflichtet ift. Hib, 


Thomad, G. M., Wallenkein’s Ermorbung. Gin gleichzeitiges ita⸗ 
fienifches Gedicht. Hrag., eingefügrt und mit andern unbelannten banbfchrift- 
lichen Belegen ausgeftattet. Münden, Biel, 24 ©. 4. 


* Benfen, 9. ®., Dr., Das Berhängniß Magdeburg's. Cine Ge- 
fchichte aus dem großen Zwieſpalt ber deutſchen Ration im 16. u. 17. Jahrh. 
Echaffhauſen, Hurter. XV, 615 S. 8. 


Pappus, Loomh., Epitome rerum Germanicarum ab a, 1617 ad 
an. 1648 gestarum. Mit Anmerkungen herausgegeben von Reg. - Rath Prof. 
Dr. £. Arndts. 2. ESchluß) Theil vom 3. 1641 bis z. 3. 1648. Wien, 
Braumüller. XXIV, 290 © 8. 


Biedermann, Karl, Deutſchlands geiftige, fittlihe unb’geiel- 
lige Zufänbe im 18. Jahrhundert. I. Bd. (Deutfchland im 18. Jahrh. 
1. Bd.) 1. Thl. Bis zur Thronbeſteigung Friedrich's des Großen (1740), 
Leipzig, Weber. XXIV, 560 ©. 8. 

Hr. Biedermann hat fih in dem vorliegenden Werke um die Kennt: 
niß der innern Gefchichte Deutfchlands während der erften Hälfte des 18. 
Jahrhunderts und weiter zurüd bis zum 3Ojährigen Kriege ein entſchiede⸗ 
nes Verdienſt erworben, indem er theils wirklich neues Material beibringt, 
theils das mander Orten zerftreute überjichtlich zufammenftellt, theils bekann⸗ 
tes durch geſchickte Gruppirung und Verbindung mit anderem in ein neues 
Licht rückt. 

Ausgehend von den Zuftänden vor dem 30jähr. Krieg, ſchildert der Verf. 
zunächſt die unbeilvolle Wirkung dieſes auf Fürſten und Voll, um dann von 
er Sittenverberbniß ber höheren Stände insbefonbere ein abſchrechendes Bild 





bes Yahres 1858. 261 


zu entwerfen. Während bier für die Gefchichte der Fürſten nnd des Adels dus 
vorhandene Material mehr als ausreichend war, bat Hr. B., übergehend zu 
der Darftellung des wiedererwachenden wiſſenſchaftlichen Geiſtes, namentlich 
für die Wirbignng von Peibnig und fein Verhältniß zu den verſchieden⸗ 
fin Fragen der Wiffenfchaft und des Pebens eine Reihe neuer Momente 
anfgeführt, welche ven wichtigen, von Hrn. Dr. Rößler aufgefundenen und 
leiver noch ungebrudten Leibnitz'ſchen Handſchriften entnommen ſind. Diefer 
Abſchnitt gehört zu den beften des Buches, fo wie auch fpäter, nad) der 
Iehrreichen Schilverung des kirchlichen und religtöfen Pebens, die Darftellung 
der Wirkfamfeit des Thomaſius, als Repräfentanten ver beginnenden Anf- 
MHärung, unter beren Vertretern dann Chr. Wolf eine weitere eingehende 
Würdigung findet. Hier wie in der nachfolgenden Sefchichte ver äfthetifch 
literarifchen Bewegung wäre wohl ohne Beeinträchtigung des Verſtändniſſes 
eine größere Kürze möglich gemwefen. Neue und intereflante Züge enthält 
auch das Schlußkapitel, wo ein allgemeines Bild von den geiftigen, fittli- 
hen und gefelligen Zuſtänden bes Volkes vor d. J. 1740 entworfen 
wird. Im Ganzen aber fieht man auch gerabe in viefem Theile, wie ſchwierig 
es ſelbſt dem Kundigſten wird, Culturgeſchichtliches als eine felbftänpige 
hiſtoriſche Disciplin zu behandeln; Religion, Philoſophie, Literatur haben 
jede ihre eigene Geſchichte und fönuen recht wohl nach ihrer eigenthümilichen 
Entwidlung dargeftellt werben, wer aber ſittliche und noch mehr gefellige 
Berhältniffe von ter eigentlichen Gefchichte getrennt behandeln will, fann 
wohl eine Menge werthooller Notizen zufammenftellen, nicht aber, wie es 
unfere Gulturhiftorifer wollen, daraus eine nene für ſich beftchente Wiſſen⸗ 


ſchaft aufbauen. K. 


Brodräd, Karl, Sr. Hefl. Hauptmann, Lehrer der Sriegsgeihichte, Ouel- 
lenftüde und Studien über ben Feldzug ber Keihsarmee von 
1757. Gin Beitrag zur beutfchen Geſchichte im 18. Jahrhundert. Leipzig, 
Berlag der Dyck'ſchen Buchhandlung. XII und 379 ©. 8. | 

Während die bisherigen Darftellungen viefes Feldzugs faft nur auf 
preußifchen Tuellen beruhen, Schloſſer und Stuhr aus dem Parifer Archiv 
nur fragmentarifche Auffchläffe bringen, und Huſchberg's beſchränktes Ma- 
terial weit hinter ven Anfprüden ver Wiflenfchaft zurückbleibt, hat ver 
Berfaffer ein fo vielfaches und vielartiges Quellenmaterial aufgeſucht und 
verarbeitet, wie das bei wenigen hiftorifchen @ 


Die nächſten Yunbe ergaben | 





262 Vcberficht ber hißeriſchen. Aterein 

das bei ver politifhen Haltung des bamaligen Lanbgrafen von Heffen und 
in Folge der Theilnahme eines feiner Prinzen am Feldzug von 1757 
gerade für die Specialgefchichte dieſer Zeit natürlich von befonberem Werthe 
if. Eine Reihe von 49 Briefen des Sekretärs dieſes Prinzen und eim 
ergänzenves Tagebuch, alle aus dem Darmftäbter Archiv, bilden ben 
erften Haupttheil des Buche, dem nur eine allgemeine Einleitung und eine 
Darftellung ver Ereigniffe bis zu der Zeit, mit welcher vice Briefe be 
ginnen, noch vorhergeben. 

Der zweite Haupttheil, der die eigentlich kritiſche —— des Feld⸗ 
zugs enthält, beruht auf Quellenmaterial, das der Berfaſſer aus den Ar⸗ 
chiven zu Wien (Operationsjournal der Reichsarmee, Berichte des Reichs⸗ 
generals, Correſpondenzen x.), Paris, München, Würzburg, Stuttgart, 
Karlsruhe, Darmftabt, Weimar, Meiningen, Eiſenach, Gotha, Altenburg 
x. x. erhoben hat, Daun auf einer Menge von oriögeichichtlichen Materia⸗ 
lien, banpfchriftlihen Tagebüchern und Chroniken, endlich auf der gleich 
zeitigen Literatur, Sammelwerken und Zeitungen. 

Der Fleiß, welchen der BVerfaffer viefen Yorfchungen zugewandt, hat 
dann reiche Früchte getragen. Der thatſächliche Verlauf des Feldzugs, 
wie er ſich hier für das Reichsheer herausitellt, war im Einzelnen theils gar 
nicht gelaunt, theils fagenhaft entftellt, wovon bie Gefechte bei Pegau 
(S. 235) und Gotha (S. 247) fhon denkwürdige Belege geben, während 
die Schlacht von Roßbach ven Beweis liefert, wie dürftig das Urtheil ift, 
"ba man eben hier ofi mit wenigen fouveränen Worten abgethan findet“ 
(S. 363) Wie groß auch damals die Verlommenheit im Neid, und 
Reichöheer war, fo bleibt es immerhin auf deutſchem Standpunkt ein er» 
freuliches Refultat, daß die Unehre, welche an bem ganzen Feldzug und 
namentlich an dem Tage von Roßbach haftet, weientlih an den Namen 
des Prinzen Soubife ſich knüpft. Die vielen genauen Details, welche ber 
Berfafler über die politifchen und militärifhen Zuſtände im eich bei- 
bringt, find ein werthvoller Zuwachs für die biftorifhe Kenntniß jener 
Zeit. Him. 


Kueſebeck, E. v. d., Oberflieutenant im kgl. hanndv. Generalſtab, Fer⸗ 
dinaund, Herzog zu Brauuſchweig und Lüneburg, während bes ſiebenjähri⸗ 
gen Krieges. Aus engliihen und preußiſchen Archiven gefammelt. IL Bd. 
Sauuover, Helwing. 592 S. 8. 

Es ift die umfangreiche Correſpondenz des Herzogs Ferdinand mit 





bes Jahres 1858. 263 


Friedrich dem Großen und dem englifchen Minifterium, vie hier in forg- 
fältiger deutſcher Bearbeitung vorliegt. Während ter erfte 1857 erfchie- 
nene Band die Sabre 1757— 1759 umfaßte, behandelt dieſe zweite Hälfte 
Die Jahre 1760 — 1762. Die mitgetheilten Briefe, Relationen und Aus- 
züge aus dem Tagebuche des Oberanführers ver allirten Armee nehmen 
in mehrfacher Beziehung ein hohes Intereſſe in Anſpruch. Denn einnul 
lernen wir daraus die militärifchen Vorgänge im ſüdweſtlichen Deutfch 
land in manden Punkten genauer und anfchaulicher kennen, als au 
den bisher zugänglihen Quellen — fo u. a. vie Kämpfe im Heffifchen 
im J. 1760 und 1761 mit vem Gefecht bei Warburg und der Bela: 
gerung von Caſſel, ferner die Diverfion des Erbprinzen Karl gegen Weſel. 
Sodann erfcheint die Thätigfeit und das Verdienſt Ferdinand's, wel⸗ 
cher von dem »gräulich ſchlechten Gommiffariat« gehenunt, von den alliirten 
Regierungen nur fchlecht unterftügt, nicht felten an dem Nothwenbigften 
Mangel leivend, dennoch gegen die Wucht der franzufifchen Heere ſiegreich 
das Feld behauptete, erft nad) der Schilderung, die er felbft von den ihm 
entgegenftehenven Schwierigkeiten macht, in ven rechten Lichte. Endlich 
ift es nicht am wenigften intereffant, aus dem Briefwechſel des Herzogs 
mit Friedrih dem Großen nicht allein vie perfönlichen Beziehungen ver 
befreundeten Feldherrn kennen zu lernen, fontern vor allem zu fehen, wie 
Frievrih von Schlefien oder Sachſen ans auch ven Gang des Krieges an 
der Weſer und in Weftphalen zu beſtimmen fuchte, und den umſichtigen 
Oberbefehlshaber der alliirten Armee nicht felten zu elmem raſchen und 
entfchiedenen Vorgehen drängte. K. 


Schottmüller, Abolf, Dr., Brof., Die Schlacht bei Zorndorf. Eine 
Inbelſchrift. Mit 1 lith. Schlachtplan. Berlin, Fr. Schulze. 83 ©. 8. 


Gottſchall, Fr, Die Feldzuge Friedrich's des Großen im fieben- 
jährigen Kriege. 2. Ausg. Leipzig, Biolet. IV, 590 ©. 8. 


Geſchichte des preußiſch-ſchwediſchen Krieges in Pommern, 
der Mark und Medienburg 1757—1762. Zugleich als Beitrag zur Geſchichte 
des fiebenjährigen Krieges. Nach gleichzeitigen preußifchen und ſchwediſchen Be⸗ 
richten von v. d. n. Berlin. VII, 174 © 8. 

Die Heine Schrift erftattet einen forgfältigen und vetaillirten Bes 
richt über bie mit ehr geringen Streitfräften geführten Käufe 
Preußen mit den Schweben während des 7 jährigen Krieges. 


254 Ueberfigt ber hiſteriſchen Literatur 


ſtellt, nicht genägt. Er giebt nichts ale einen urkundlich treuen Abdruck ber 
ihm vorliegenden Hanpfchriften, mit ihren Mängeln und Yehlern, ohne 
jeven kritiſchen Apparat und ohne alle ſprachlichen und ſächlichen Erklär⸗ 
ungen. Dazu ift in ven erften Falle die abgedruckte Handſchrift, wie Hr. 
Schönhuth felbft zugefteht, feine der beften; obwohl alt und den Schrift. 
zügen nach angeblich bis in bie Mitte des 16. Jahrhunderts zurüdreithänb, 
ist fie jehr reich an Fehlern, an Wort- und Satzentſtellungen, felbft an 
beveutenven Auslafjungen. Da ber Herausgeber ſich begnägte, nur in ben 
ſchlimmern Fällen mit einer fpäteren beſſeren Handſchrift nachzuhelfen, fo 
bat diefer Abprud nur infofern Werth, als alle‘ früheren Ausgaben ver- 
griffen find und eine genügende neue noch nicht erfchienen if. Die beige- 
gebenen Heinen Briefe, fieben an ber Zahl, find an die Grafen von Werth⸗ 
heim gerichtet, aber für vie Geſchichte ohne alle Bedeutung. 

Berbienftlicher ift die Ausgabe der Selbftbiographie Schertlin’s von 
Burtenbach, da ihr die eigene auf ber k. öffentlichen Bibliothek in Stutt⸗ 
gart befinbliche Handſchrift Schertlin’® zu Grunde liegt; fie verbient jeven- 
falls der 1777 erichienenen Ausgabe von Holzſchuher vorgezogen zu wer- 
den. Die höchſt intereffante Selbftbiographie reicht bi8 zum März 1577, 
wo ver tapfere Mann erkraufte; fein Cohn Hans Sebaftian führte fie 
auf des Vaters Befehl bis zu deflen Tode, am 17. Nov. 1577, fort. K. 


Schade, Oslar, Satyren und Basquille aus der Reformationt- 
Zeit, 3 Bde. Miteinem Regifter über alle 3 Bte. Hannover, Riimpler. 351 €. 8. 

Die hier mitgetheilten elf Stüde find zum Theil gegen das undhrift- 
liche Treiben der höheren Geiſtlichkeit gerichtet, andere wenden ſich direct 
an vie Gegner Luthers; namentlich herworzuheben aber ift eine in bie 
Werkftatt eines Apotheker verlegte Disputation, wo verfchiedene Specereien 
als Kämpfer für und gegen die Sache ver Reformation auftreten; in ber 
Nähe von Worind um die Zeit des Reichstages, indeß vor dem Erſcheinen 
Luther's, gejchrieben, ift fie al8 ein Ausprud der damaligen Stimmung im 
Bolt von beſonderem Intereffe. 


Wohlfahrt, 3. F. Th, Dr., Kirchenrath, Philipp Melanchthon. 
Zum Säcularandenten an den 300jährigen Tobestag des Reformators den 19. 
April 1840. Ein Buch für Gebildete aller Stände. Leipzig, Fleiſcher, XVI, 
868 ©. 8. 


Ein hochtrabender Panegyrikus, welcher mit der frühften „Offenba⸗ 





bes Yahres 1858. 255 


zung Gottes an unfer Geſchlecht⸗ anhebend, die .theologifhen Schriften 
älterer und neuerer Zeit, die Bibel wie die moderne Lyrik benugt, um 
gleichzeitig den Neformator zu verherrlichen und ver Welt Religion und 
Tugend zu prebigen. Ties hätte wirkjamer gefchehen können, wenn ber 
Berfaffer einen der Gefchichte mehr entſprechenden Ton angefchlagen und 
nicht über dem verfehlten Streben nach Popularität jede tiefer gehende For⸗ 


ſchung vernachläßigt hätte. K. 


Jansen, Guil. Alb., de Julio Pflugio, ejusque sociis reforma- 
tionis aetate et ecclesiae concordiae et Germaniae unitatis studiosis. Dis- 
sertatio inauguralis historica. Berlin, Hertz, 54 S. 8. 


Bed, Anguſt, Dr., Herzoglih Sachſen⸗Coburg⸗Gothaiſcher Ardivrath, Vor⸗ 
Rand des Herzogl. Haus- und Staatsardivs, Bibliothelar und Borftand bes 
Herzogl. Münzlabinets zu Gotha, Johann Briebrid der Mittlere, 
Herzog zu Sadhfen. Ein Beitrag zur Geſchichte des ſechezehnten Jahrhunderts, 
Weimar, Hermann Böhlau. (8b. L XIV n. 599 S. — Bd. II. [mit kurzen 
Lebensbeichreibungen des Zeitgenoffen Joh. Fried., 56 Urkunden, einer Ueber⸗ 
fiht der wichtigſten Creigniffe aus dem Leben Joh Friedr., mit einer genealo- 
giihen Tafel, einem Regifter] 325 ©.) 8. 


Epieler, Chriftian Wilhelm, Dr. und Brofeffor der Theologie, Superin- 
tendent, Oberpfarrer und Ehrenbürger der Stadt Frankfurt a. d. O. Ritter 2c. 
(jetst verftorben), Lebensgeſchiche des Andreas Musculus, Generaljuper- 
intendent ber Mark Brandenburg, Gonfiftorialrathb, Doctor und erfier Profeſſor 
der Theologie und Pfarrer in Frankſurt an der Ober. Gin Beitrag zur Re- 
formation und Sittengefchichte des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. d. DO, 
Trowiger u. Sohn. (VII. n. 376 ©.) 8. 

Wir ftellen beide Bücher zuſammen, weil es derſelbe hiftorifche Hin— 
tergrund ift, von dem ihre Geftalten ſich abheben, vie einander gegenbilds 
lih find. Bed zeichnet uns einen Theologen-Fürften, Spieler einen Yürs 
ften-Theologen jener Zeit, weldye berufen war, die mächtigen nationalen 
und religiöfen Gedauken, deren Andrang die mittelalterlihen Ordnungen 
gewichen waren, praktiih zu formuliren und in eine neue Zuftändlichkeit 
überzuführen. Beide haben fehr Schätzbares geleiftet und reiches Ma- 
terial geliefert ; beſonders das Beck'ſche Buch ift die Frucht der umfaſſend⸗ 
ften ardivaliihen Studien und auf dem Boden einer ausgedehnten Lite- 
raturfenntniß erwachſen. Aber Beide haben infofern ihre Aufgabe nicht 


256 ieberficht ber hiſtoriſchen Literatur 


ganz glüdlich angegriffen, als fie die Perfpective, weiche fie erbffnen, nicht 
weit genug faflen. Bed befchreibt das Leben eines proteftirenden Fürften 
aus einem der Kur und bes größeften Theils feiner Lande durch Kaifer 
und Better beraubten Haufe; aber die Momente des Proteſtantisnns, der 
Hürftlichkeit, ver kaiſerlichen Macht, welche, indem fie als Hecht fat ganz 
erlofchen war, gerade in jener Zeit in der Form des Einflußes ſich wie⸗ 
der gelten machte, dieſe Momente find ihm gegeben und er unterfucht fie 
in ihrer Bedeutung und ihrem hiftorifchen echte nicht. Und doch fuchen 
fie Damals eıft, indem die einzelnen fich in ber verſchiedenſten Weiſe mit 
einander verbinden, fi) durchzuſetzen, und daß und wie fie ſich durchſetzen, 
ift eben das Intereſſe jener Zeit. So haben wir, indem wir Beck's Buch 
lefen, überall vie Empfindung, daß da große und allgemeine in ihrem Zu⸗ 
fammenhange äußerſt merhnärbige und für bie Geflaltung des Staats 
und der Kirche entſcheidende Kämpfe vor fi) gehen, von denen uns leider 
nicht mehr zu fehen vergönnt ift, als das wüthende Gefecht um einen 
Hohlweg. Beſonders der fehr reiche flebente Abſchnitt über die Grum- 
bach'ſchen Händel erregt diefe Empfindung. »Indeſſen⸗, fagt der Berf., 
"bauerte das Fauftrecht noch eine Zeit lang (nad dem Lantfrieven ven 
1495) fort, und es bevurfte aller Energie von Seiten der Fürften, um 
die Ritter niederzubalten. Im Jahre 1539 hielt die fränkiſche Ritter⸗ 
fchaft einen Rittertag in Schweinfurt, um ihre vermeintlichen Rechte gegen 
die Furſten geltend zu machen. Wie fo vermeintliche Rechte? Und wie 
heißt ver Rechtstitel der Fürſten? 

Nicht anders verfährt Spieker. Er ftellt uns mitten in die antis 
nomiſtiſchen, ofianpriftifchen, kryptocalviniſtiſchen Streitigleiten, welche, 
indem die Einen wie die Andern an das Nothepiscopat appellivten, zu 
jener abfcheulichen Verknechtung der Geifter führten, die ihren Ausdruck in 
der Soncordienformel fand. Aber wie es gelommen, daß der Proteftantismus 
fih fofort von den Wirflichleiten des gemeinvlichen Lebens zur Doctrin 
wandte; und wenn dieß denn geſchah, warum gerade jene Fragen die Theo- 
Iogen fo lebhaft beſchäftigen (und dieß wäre endlich nach Pland’s rühmli⸗ 
hen Borgange abermaliger Unterfuchung werth), unterfucht er nicht. Hätte 
er es gethan, fo würde er fchon bei Luther auf einen beveutfamen Man⸗ 
gel geftoßen fein, der freilich weniger in feiner urjprünglichen Anfchauung, 
als in feiner kirchenpolitiſchen Thätigkeit hervortritt: die Vernachläßigung 
der Gemeinde, welcher Luther kein Gewicht zu geben verſtand. Daß ſie 





bes Yahres 1858. 257 


aber als Macht in die großen Kämpfe des XVI. Jahrhunderts gar nicht 
eintrat, dieß war die letzte Urſache des abfolutiftiihen Staats, der alsbald 
refnltirte. Denn der Iutherifche Proteftantisinus, da er feine innere Recht⸗ 
fertigung aufgab, welde in ber Wiebererwedung ver Gemeinde gelegen, 
mußte troß allen Widerſtrebens der Theologen ſich zur Hechtfertigung des 
fürflichen Abſolutismus hergeben. — Trotz dieſes Grundmangels find 
beide Bücher ſehr brauchbar. Was Bed über die Politik des argliſtigen 
Fürſten Auguſt von Sachſen, über vie Betrügerin Anna, über bie theolo⸗ 
gifchen Streitigkeiten auf der neu gegründeten Univerfität Jena, über bie 
Grumbach'ſchen Händel fagt, ift zum guten Theil nen und fehr lehrreich. 
Das Bervienft des Spieker'ſchen Buches liegt vorzüglich in ven Gapiteln 
(befonders im achten), in denen über das Berhältnig des Nfarrers zum 
Magiftrat und zum Kurfürften gehandelt wirt. ps» 


Henned, 3. H. Albredt von Brandenburg, Erzbifchof von Mainz 
und von Magdeburg. Mainz. (VIII, 336 ©.) 8. 

Der Fürſt, deſſen Lebensbefchreibung wir hier erhalten, gehört un- 
zweifelhaft zu ven bemerfensweriheften Geftalten feiner Zeit. Einem ver 
erſten deutſchen Fürſtenhäuſer angehörig, gelangt er, noch kaum cin Mann 
an Jahren, zum Befit des .erften kirchlichen Fürftenthums in Deutfchland, 
und bieß zu einer Zeit, wo gerade durch die umfafjendften Bewegungen 
auf allen Gebieten des Staates und ver Kirche überall ver bisherige Be- 
ftand der Dinge in Frage geftellt wird, wo überall Neues oder für das 
Alte neue Formen angeftrebt werden. Es muß jedenfalld von ten höch— 
ften Intereffe fein, zu fehen, wie diefe Dinge ſich in der Projection auf 
einen Manı von fo beventungsvoller Stellung — auf den oberften beut- 
hen Kirchenfürften — geftalten, — und dies wird der Gefichtspunft fein, 
von dem aus eine Biographie des Churf. Albrecht zu fallen ift. 

Man kann nicht fagen, daß der Berf. der vorliegenden Biographie 
fi dies eben ſehr Mar gemacht habe; es mangelt ihm in biefem Buche 
nicht bloß der bezeichnete, fondern überhaupt jeder fihere Standpunkt zur 
Bearbeitung und Darftellung einer fo reihen Zeit und eines in fo ver 
fhievenartigen Bezeichnungen ſtehenden Lebens. Es foll anerfannt wer- 
den, daß allerrings das Material zu einem volltommenen Verſtändniß 
Albrecht's und feiner Plane noch lange nicht in ausreichender Fülle vorliegt; 
namentlich für die fo überaus wichtigen Jahre (wohl vie wichtigften feines 

Diſtoriſche Zeitſchrift 1. Bam. 17 


T 


268 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur 


Lebens) von feiner Erhebung zum Churfürften (1514) bis zum Jähre 
1525, wo gleichzeitig mit der Schlacht von Pavia und in Zuſammenhang 
mit ihr ein fo denkwürdiger Umſchwung in allen beutichen Berhältnifien 
und auch in dem Leben Wibrechts eintritt, muß ohne Zweifel durch noch 
zu erwartende archivalifche Arbeiten das nöthige Licht auf manche dunkle 
Stellen fallen. Aber man follte erwarten, daß eine Biograpkie ſich eben 
dieſe Aufgabe ftellte und wenigſtens den Verſuch machte, durch nen hinzu 
gebracdhtes Material die offenen Fragen zu ſoͤrdern. Dies ift jedoch hier 
nicht geichehen; felbft von dem ſchon gebrudtser- Material iſt dem Berf. 
Mehreres, zum Theil fehr Wichtiges völlig entgangen, und der Totalein- 
druck feine Buches kann nur ber fein, daß durch baffelbe die Sache im 
Weſentlichen nicht weiter gebracht worben ift. .E 


Langenn, Friedr. Albr. v., Dr., Doctor Nelchior von Offe. Cine 


| Derfiellung aus dem XVI. Jahrhunbert. Leipzig, I. C. Hinricht ſche Buch⸗ 


handlung. (VIII, 206 ©.) 8. 

Eine willlommene Beigabe zur Gefchichte des Kurfürften Morit von 
Sachſen, vie wir vemfelben Berf. verbanten. Hier wird das Leben eines 
fächfifchen Staatsmannes Melchior von Offa (t 1557) meiftens nad) deſ⸗ 
fen „Hanvelsbuhs (Tagebuch) und dem fog. Teftament, einer anziehenven 
Schrift über Staatsregierung, erzählt. Auch in feiner Einwirkung auf 
die Reichs⸗ und Kirchengefchichte erfcheint Oſſa, wie das Vorwort richtig 
bemerkt, nicht als ein hervorragender, aber doch als ein bedeutender Mann. 
Der Berf. bat in dem ſchlichten Tone das Kolorit feiner Quellen zu 
wahren gewußt, dabei aber vie oft ſchwierigen Zufammenhänge mit ber 
allgemeinen Geſchichte, auf tüchtige Sachkenntniß geftütt, erläutert. 


— 1 — 


Behſe, Ed., Dr., Geſchichte der deutſchen Höfe ſeit der Refor- 
mation. 41—44. Bb. (6. Abthl.) X. u. d. T.: Geſchichte der kleinern deut⸗ 
ſchen Höfe. 7T- 10. Thl. Hamburg, Hofmann und Campe. 8. 


*Snrter, Froͤr. v., Geſchichte Kaifer Ferdinaud's IL. und feiner El⸗ 
tern. Perfonen-, Haus- und Lanbesgefcichte. 9. Bd. A. n. d. T.: Geſchichte 
Kater Ferdinaud's II. 2. Bd. Schaffhanfen, Hurter. 652 ©. 8. 


Kranfe, G., Hofrath, Tagebuch Chriſtian's des Jüngern, Fürft 
su Anhalt; niebergefchrieben in feiner Haft in Wien, im Geleite Kaifer Ferbi- 
nand's 11 zur Vermählungsfeier nach Iufprud, auf dem Reichetage zu Regene- 





bes Jahres 1858. 269 


burg, mb während feiner Reifen und Raſten in Dentſchland, Dänemark und 
Ralien. Nach dem Mannfcripte ber herzogl. Bibliothek zu Köthen herautge⸗ 
geben. Leipzig, Dyl'ſche Buchhandlung. XVi, 320 ©. 8. 

Dies Tagebuch Chriſtian's des Jüngern fchließt jih am ein früheres 
von Aretin in den Beiträgen zur Gefchichte und Piteratur (München, 1806) 
berausgegebenes an und behandelt ven Zeitraum vom November des Jah⸗ 
res 1821 bis zum Ende des Jahres 1824. Es giebt nicht gerabe neue 
Auffchlüffe über die Gefchichte jener Zeit, enthält aber außer Heinen Zei- 
tungönotizen und intereflanten Zügen aus dem SHofleben Ferdinand's I 
und mancher zeitgemöffifchen Yürften und Großen eine Menge von werih- 
vollen Nachrichten über die Sitten und Einrichtungen in ven von dem 
Autor befuchten Landen. Das Meiſte ift auf einer italienischen Reiſe 
nievergefchrieben. Unter ven beigegebenen Documenten ift ein bier zum 
erftenmal vollſtändig veräffentlichter Bericht Chriftian’s des Aeltern über bie 
Schlacht bei Prag bemerlenswerth. K. 


Dubil, B., 0. 8. B., Dr., Waldſtein von feiner Euthebung bis zur 
abermaligen Uebernahme bes Armee-Ober- Kommando, vom 13. Auguft 1630 
bis 13. April 1632. Nach den Alten bes k. k. Kriegsardive in Wien barge- 
ſtellt. Wien, bei Earl Gerold's Sohn. XXI, 496 © 8. 

Dr. Dudik bat aus den ihm zur Benützung überlaffenen Alten des 
Wiener Kriegsarchivs die Thätigfeit des Herzogs von Friedland feit feiner 
Entſetzung in Regensburg bis zu befinitiver Uebernahme des Oberbefehle 
im Frühjahr 1632 beleuchtet. Man erfährt aus manchen interefjanten 
Briefen von und an Waldſtein, fo wie anderen, bie fidh darauf beziehen, 
wie ſcharf der Herzog die Ereignifie der damaligen Zeit beobachtete und 
beurtheilte, wie der Kaifer ven Herzog immer im Auge behielt und feit 
dem April 1631 bemüht war, ihn wieder in feine Dienfte zu zieh'n, fer- 
ner wie ber Herzog nad einigen allerdings zweideutigen Machinationen 
fi entfchloß, im December 1631 auf 3 Monate das Kommando zu über 
nehmen, wie er unter den ungünſtigſten Umftänden mit großer Umſicht 
und Thätigfeit das Heer neu organifirte und darauf im April befinitiv 
den Oberbefehl übernahm. Man fieht hieraus, daß man nichts wichtiges 
Neues erfährt. Wohl aber erhält man ein veutlicheres Bild von biefem 
Theile ver Lebensgefchichte des Herzogs. Nur darauf muß beſonders hin- 
gewiefen werben, daß bei den Unterhandlungen, welde zur Entſcheidung 
führten, von einem Abtrotzen drückender Bedingungen hier wenigitens nir⸗ 

\* 


260 Ueberſicht ber hiſteriſchen Titeratur 


genbs vie Rebe ift, umb man kann mit bew Verſaſſer übereinfiunuen, 
wenn er fügt, daß des Herzogs Schul nicht geweſen fei, zu viel ver⸗ 
langt, fonvern vielmehr, was er erlangt, fpäter in ergeiiger Selbfifucht 
mißbraucht zu haben. 

Mas in den vom Verfafler beuukten Papieren Day beiträgt, anf 
ven Sharalter und die Thätigfeit des Feldherrn ein helleres Licht gm 
werfen, das hätte Dr. Dudik taktooll auswählen unb in einem binnen 
Bändchen veröffentlichen follen. Statt beffen- exhalten wir eine große 
Maſſe unbedentenvder Dokumente, und bie. Verachtitung derſelben, vie 
Dr. Dudik verſucht hat, jteht burchaus unter dem Rinean befien, was ein 
Siftorifer der Gegenwart zu leiften verpflichtet ift. Hib. 


Thomas, G. M., Ballenftein’s Ermorbung. Gin gleichzeitige ita⸗ 
ſieniſches Gedicht. Hreg., eingeführt umb mit andern unbefaunten handſchrift⸗ 
lichen Belegen ansgeftattet. Münden, Biel. 24 ©. 4. 


* Benfen, H. W., Dr., Das Berhänguiß Magbeburg's. Cine Ge- 
fchichte aus dem großen Zwielpalt ber dentſchen Ration im 16. u. 17. Jahrh. 
Echaffhauſen, Hurter. XV, 615 S. 8. 


Pappus, Leenh., Epitome rerum Germanicarum ab a, 1617 ad 
an. 1648 gestarum. Bit Anmerlungen herausgegeben ven Reg.» Rath Brof. 
Dr. 2. Arndte. 2. (Schluß) Theil vom 3. 1641 bis ;. 3. 1648. Wien, 
Braumüller. XXIV, 290 €. 8. 


..  Viebermann, Karl, Dentſchlandé geifige, fittlihe nud geſel⸗ 
Uge Zufänbe im 18. Jahrhundert. L Bd. (Deutfchland im 18. Jahrh. 
u. 8b.) 1. ZH. Bis zur Thronbeſteigung Friedrich's des Großen (1740). 
Leipzig, Weber. XXIV, 560 ©. 8. 

Hr. Biedermann bat fih in dem vorliegenden Werke um die Kenut- 
niß der innern Geſchichte Deutichlands während der erften Hälfte des 18. 
Jahrhunderts und weiter zurüd bis zum 3Ojährigen Kriege ein entſchiede⸗ 
nes Bertienft erworben, indem er theils wirklich neues Material beibringt, 
theils das mancher Orten zerftxeute überjichtlich zufammenftellt, theils befann- 
te8 durch gejchidte Gruppirung und Verbindung mit anderem in ein neues 
Licht rückt. 

Ausgehend von den Zuftänden vor dem SOjähr. Krieg, ſchildert der Berf. 
zunächſt die unbeilvolle Wirkung viefes auf Fürften und Bolt, um dann von 
der Sittenverberbniß der höheren Stänve insbefondere ein abſchredendes Bild 





bes Jahres 1858. 261 


zu entwerfen. Während hier für die Gefchichte der Fürften nnd des Adels das 
vorhandene Material mehr als ausreichend war, hat Hr. B., übergehend zu 
der Darftellung des wiedererwachenden wifjenfchaftlichen Geiſtes, namentlich 
für die Wirrdigung von Peibnig und fein Verhältniß zu ven verfchieben- 
ſten Tragen der Wiffenfchaft nnd des Lebens eine Reihe neuer Momente 
aufgeführt, welche ven wichtigen, von Hrn. Dr. Rößler aufgefundenen und 
leiver noch ungebrudten Leibnitz'ſchen Handfchriften entnommen find. ‘Diefer 
Abſchuitt gehört zu ven beften des Buches, fo wie auch fpäter, nach der 
lehrreichen Schilverung des kirchlichen und religiöfen Lebens, die Darftellung 
der Wirkſamkeit des Thomafius, als Repräfentanten der beginnenden Anf- 
Märung, unter deren Bertretern dann Chr. Wolf eine weitere eingehenve 
Würdigung findet. Hier wie in der nachfolgenden Gefchichte der äfthetifch- 
literarifchen Bewegung wäre mohl ohne Beeinträchtigung des Berftänpniffes 
eine größere Kürze möglich geweſen. Neue und intereflante Züge enthält 
auch Das Schlußkapitel, wo ein allgemeines Bild von den geiftigen, fittli- 
hen und gefelligen Zuftänden bes Volkes vor d. J. "1740 entworfen 
wird, Im Ganzen aber ficht man auch gerade in viefem Theile, wie ſchwierig 
es felbft dem Kundigſten wird, Culturgeſchichtliches als eine felbftändige 
biftorifche Disciplin zu behandeln; Religion, PBhilofophie, Literatur haben 
jede ihre eigene Geſchichte und können recht wohl nach ihrer eigenthilmlichen 
Entwidlung dargeftellt werden, wer aber fittlihe und noch mehr gefellige 
Berhältniffe von der eigentlichen Geſchichte getrennt behandeln will, kann 
wohl eine Menge werthvoller Notizen zufammenftellen, nicht aber, wie es 
unfere Culturhiftorifer wollen, daraus eine nene für fich beſtehende Wiflen- 
haft aufbauen. K. 


Brodrück, Karl, Gr. Heſſ. Hauptmann, Lehrer ber Kriegegeſchichte, Duel- 
lenfäde und Studien über ben Feldzug ber Reihsarmee von 
1757. Ein Beitrag zur beutfchen Gefchichte im 18. Jahrhundert. Leipzig, 
Berlag ber Dyckſchen Buchhandlung. XII und 379 ©. 8. 

Während vie bisherigen Darftellungen dieſes Feldzugs faft nur auf 
preußifchen Quellen beruhen, Schlofier und Stuhr aus dem Barifer Archiv 
nur fragmentarifche Auffchläffe bringen, und Huſchberg's beſchränktes Ma⸗ 
terial weit hinter den Anfprücden ver Wiffenfchaft zurüdbleibt, bat ber 
Berfafler ein fo vielfaches und vielartiges Quellenmaterial aufgefucht und 
verarbeitet, wie das bei wenigen hiftorifchen Schriften gefchehen mag. 

Die nähften Funde ergaben ſich ihm in dem Archiv zu Darmftabt, 


262 Vieberficht ber hißeriſchen. Literatur 


das bei der politiihen Haltung des bamaligen Lanbgrafen von Heffen und 
in Folge der Theilnahme eines feiner Prinzen am Feldzug von 1757 
gerabe für die Specialgefchichte dieſer Zeit natürlich von beſonderem Werthe 
if. Eine Reihe von 49 Briefen des Sekretär dieſes Pringen mb ein 
ergãnzendes Tagebuch, alle aus dem Darmfläbter Archiv, bilden den 
erften Haupttheil des Buche, dem nur eine allgemeine Einleitung und eine 
Darftellung ver Ereigniffe bis zn der Zeit, mit welcher bie Briefe bes 
ginnen, noch vorbergehen. 

Der zweite Haupttheil, ver die eigentlich kritiſche Schtite: bes Feld⸗ 
zugs enthält, beruht auf Quellenmaterial, das ber Berfaflerraus den Ars 
hiven zu Wien (Operationsjoursal der Reichearınee, Berichte des Reiche: 
generals, Correfponvenzen x.), Paris, Münden, Würzburg, Stuttgart, 
Karlsruhe, Darmftadt, Weimar, Meiningen, Eifenah, Gotha, Altenburg 
x. x. erhoben hat, dann auf einer Menge von ortögefdhichtlichen Materia⸗ 
lien, handſchriftlichen Tagebüchern und Chronifen, endlich auf ber gleich“ 
geitigen Piteratur, Sammelwerten und ‚Zeitungen. 

Der Fleiß, welchen ber Berfafler dieſen Forſchungen zugewandt, bat 
dann reiche Früchte getragen. Der thatſächliche Verlauf des Feldzugs, 
wie er fich hier für das Reichsheer herausftellt, war im Einzelnen theils gar 
nicht gekannt, theils fagenhaft entftellt, wovon die Gefechte bei Pegau 
(S. 235) und Gotha (S. 247) ſchon denkwürdige Belege geben, während 
bie Schlacht von Roßbach ven Beweis liefert, wie dürftig das Urtheil ift, 
"bad man eben hier oft mit wenigen ſouveränen Worten abgethan findet⸗ 
(S. 363) Wie groß aud damals die Berlommenheit im Reich und 
Reichsheer war, fo bleibt e8 immerhin auf deutſchem Standpunkt ein er⸗ 
freuliches Refultat, daß die Unehre, welde an dem ganzen Feldzug und 
namentlih an dem Tage von Roßbach haftet, wefentlih an ven Namen 
des Prinzen Soubife fih Mnüpft. Die vielen genauen Details, weldye ver 
Berfafler über die politifchen und militärifhen Zuſtände im Reich bei- 
bringt, find ein werthuoller Zuwachs für die hiftorifhe Kenntniß jener 
Zeit. Him. 

Kueichell,, E. v. d., Oberfilientenaut im kgl. hanndo. Generalſtab, Fer⸗ 
dinand, Herzog zu Braunuſchweig und Lüneburg, während bes ſiebenjähri⸗ 
gen Krieges. Aus englifchen und preußiſchen Archiven gefammelt. IL Bd. 
Hammover, Helwing. 592 ©, 8. 

Es ift die umfangreiche Correfponvenz des Herzogs Yerbinand mit 





bes Jahres 1858. 263 


Sriedrih dem Großen und dem engliihen Minifterium, die hier in forg- 
fältiger dentfcher Bearbeitung vorliegt. Während ter erfte 1857 erfchie- 
nene Band die Zahre 1757 — 1759 umfaßte, behandelt dieſe zweite Hälfte 
die Jahre 1760 — 1762. Die mitgetheilten Briefe, Relationen umd Aus- 
züge aus vem Tagebuche des Oberanführers ver allirten Armee nehmen 
in mehrfacher Beziehung ein hohes Intereſſe in Anfprud.. Denn einmal 
lernen wir daraus die militärifchen Vorgänge im ſüdweſtlichen Deutſch⸗ 
land in manden Punkten genauer und anfchanliher kennen, als aus 
den bisher zugänglichen Quellen — fo u. a. die Kämpfe in Heififchen 
im J. 1760 und 1761 mit dem Gefeht bei Warburg und ver Bela» 
gerung von Caſſel, ferner die Diverfion des Exrbprinzen Karl gegen Wefel. 
Sodann erfcheint die Thätigfeit und das Verdienſt Ferdinand's, wel 
her von dem »gränlich fchlechten Commiffariat« gehemnit, von ven alliirten 
Regierungen nur fchlecht unterftütt, nicht felten an dem Nothwendigſten 
Mangel leivend, dennoch gegen die Wucht der franzöfifchen Heere fiegreich 
das Feld behauptete, erft nach der Schilderung, die er felbft von ven ihm 
entgegenftehenden Schwierigfeiten macht, in dem rechten Lichte. Endlich 
ift e8 nicht am wenigſten intereffant, aus dem Briefwechſel des Herzogs 
mit Friedrich dem Großen nicht allein die perfünlichen Beziehungen ber 
befreundeten Feldherrn kennen zu lernen, fontern vor allem zu fehen, wie 
Friedrich von Schlefien oder Sachſen aus auch den Gang des Krieges an 
der Wefer und in Weftphalen zu beftimmen fuchte, umb den umfichtigen 
Oberbefehlshaber der alliirten Armee nicht felten zu einem raſchen und 
entſchiedenen Vorgehen drängte. K. 


Schottmüller, Adolf, Dr., Prof., Die Schlacht bei Zornborf. Eine 
Inbelſchrift. Mit 1 lith. ES chlachtplan. Berlin, Fr. Schulze. 83 S. 8. 


Gottſchalt, Fr, Die Feldzüge Friedrich's bes Großen im fieben- 
jährigen Kriege. 2. Ansg. Leipzig, Biolet. IV, 590 S. 8. 


Geſchichte des preußifh-[hwebifhen Krieges in Bommern, 
der Mark und Medienburg 1757—1762. Zugleich als Beitrag zur Geſchichte 
bes fiebenjährigen Krieges. Nach gleichzeitigen preußifchen und ſchwediſchen Be⸗ 
richten von v. d. n. Berlin. VII, 1746. 8. 

Die Heine Schrift erftattet einen forgfältigen und vetaillirten Bes 
richt über die mit fehr geringen Streillräften geführten Kämpfe ver 
Preußen mit den Schweden während des 7 jährigen Krieges. Jedoch treten 





204 ueberſicht ber hiſeriichen Plteritur 

vie hier erzählten Waffenthaten dem großerligen Kampf: mit den Oeftrei⸗ 
era, Rufien und Franzoſen gegenüber zu fehr..in ben Sintergrumb, 
um ein allgemeines Intereſſe zu erregen. Für ven Forſcher aber, dem 


. das Mitgetheilte willlommen fein wirb, hätten Quellenangaben nicht fehlen 
follen. oo K. 


Sriedrih der Große von Kolin bis Roßbach und Lenthen 
nach den Cabinetsorbres im fgl. Staattarchiv. Nebſt 2 Beilagen und 2 Schlacht⸗ 
plänen. Hereg. von ber hiflor. Abtheil. bes T. yreuß. Generalſtabes. Berlin, 
Mittler und Sohn. VII, 160 ©. 8. 


.  &tel, F. A. v. Die Operationen gegen bie Nuffen und Gchweben . 
im Jahre 1758 und die zweitägige Schlacht bei Zoraborf am 25. mub 26. 
Auguſt. Nebſt 1 Plan des Gdlaähtfelbes und einer Ueberſichtslarte. Ren bes 
arbeitet nach ben Kriegsalten, unter Benätung bes übrigen vorhandenen Na⸗ 
terials. Berlin, Abelsborff. VII, 184 &. 8. 


Loebell, Yeah. W., Die Entwidlung ber deutfhen Poefie von 
Aopſtochs erſtem Auftreten bis zu Gothe's Tod. Zweiter Band: C. M. Wie- 
land. — Braunihweig, ©. A. Schwetſchle und Sohn. XII, 378 ©. 8. 

Die Darftellung Wieland's ift vem Verf, wie er fügt, unter ver Feder 
zu einem einen Band füllenvden Umfang angewachſen. Dieſe monographi- 
Ihe Behandlung rechtfertigt der Geſichtspunkt, von dem fie ausgeht: nicht 
blos über ven Mann zu urtheilen, fondern ihn dem Publitum, das ihn 
heutzutage wenig kennt, erft wieder befannt zu machen. Mit einer Un- 
befangenbeit und Rube, wie fie unfere Literarbiftoriter felten gegen Wieland 
bewiefen haben, mit feinem Geſchmack und ausgebreiteter Kenntniß aller 
irgendwie betreffenten Literatur verfolgt der Verf. diefen Zweck und er- 
fchöpft feinen Gegenftand nad verfchievenen Seiten hin, während er auf 
andern eine neue Einficht aufthut. Intereffant find vor Allem vie längeren 
Ausführungen, die von der Darftellung der ſinnlichen Liebe in der Poefie, 
mit befonderer Rüdficht auf Wieland, und von den vorzüglichften Tieblings- 
fchriftftellern vesfelben handeln; viefe über den nächſten Zwed ver Dar⸗ 
ſtellung hinausgehenven Erörterungen, zu denen aud das Schlußfapitel: 
„Wieland's Schidfale in ven Urtheilen ver Zeitgenoflen« gehört, haben 
durch feines Urtheil und Hare Zufammenftellung ein doppeltes Intereile und 
vervollftändigen zugleich das Bild der dargeftellten Perfönlichkeit. — Die 
Übrigen Excurſe befchäftigen fi mit Wiedland's Yugenbbichtungen, mit ſei⸗ 





des Jahres 1858. 265 


nem Kampfe gegen Enthuſiasmus und Schwärmerei, und jhlieglih in einer 
Reihe einzelner Betrachtungen mit Wieland's wichtigeren Schriften nad) der 
Zeitfolge und zur Gefchichte jeiner Entwidelung. — di. 

* Sänffer, Rubwig, Deutihe Geſchichte vom Tode Friedrichs des 
Großen bis zur Gründung des deutichern Bundes. Neue Ausgabe in 4 Bon. 
Berlin, Weidmann. I. 8b. 544 ©. 8. 

Neitzenſtein, Karl Schr. v., Duellen zur deutfhen Kriegsge- 
fhichte von 1793. Urkundlicher Beitrag zu 2. Häuſſer's deutſcher Geſchichte. 
Weimar, Landes⸗Induſtrie Comptoir. XIV, 168 © 8. 

Die hier in aller Breite mitgetheilten Tocumente beziehen ſich auf vie 
Thätigkeit der Ansbach'ſchen Truppen, welche in tem Feldzuge von 1793 
die Berbindung zwiſchen ver holländiſchen und preußifchen Armee aufrecht 
zu erhalten hatten. Einiges ift ohne allen hiſtoriſchen Werth, Das Uebrige 
aber jedenfalls zu unbeteutend, um unter jo ſtolzem Zitel auftreten zu 
können. Ueberraſchend ift unter den Notizen, welche ver Herausgeber über 
die früher an England verkauften Ausbach'ſchen Truppen beifügt (Z. V), 
die Bemerkung, Ce. Durchlaucht ver Markgraf Alexander habe i. J. 1777 
die bezüglihe Convention mit Großbritannien abgeſchloſſen, „um dafür 
fein Ländchen mit Schöpfungen ver Kunſt und Wiffenfchaft zu ſegnen.“  K. 


Dünter, Heinrih, Zur deutſchen Literatur und Geſchichte. Un— 
gebrudte Briefe aus Knebel’s Nahlaf. Nürnberg, 2 Boch. 186 n. 224 ©. 

Neben manden beiläufigen Beziehungen auf tie Tagesereigniſſe finde 
ich in der bier veröffentlichten Correſpondenz nicht gerade wichtige bifteri- 
ſche Documente. Doch fcheinen mir zwei Briefe von allgemeinen geſchicht 
lihen Intereſſe. Ein Schreiben der Fran von Herder vom 27. Oft. 1802 
(II. Bo. ©. 31), worin fie nad) längerem Aufenthalt in Aachen die Heer 
fhaft der Franzofen auf dem linken Rheinufer in derben Zügen charafteri 
firt: „Wir haben in ein Chaos der Dinge dort gejehen, die unfere Tbeil 
nahme auf ewig abgewandt hat. Alles ift Spiel, Blendwerk, Eitelkeit. — 
Die Franzofen haben nur eine Tendenz: zu ſtehlen, ſinnlich zu ge 
nießen und die Deutfchenr zu verachten. Dies ift das Grofte ver 
Nation.na — Ein anderer fehr umfangreicher Brief von Heinrich v. Bülow, 
einem jungen preußiſchen Offizier, vom 25 Auguft 1814 (S. 137 -46) 
giebt einen intereilanten Bericht von feiner thätigen Theilnahme an dent 
Befreiungstriege, vor allem von dem Zuge der Verbündeten nah R 
Was er hier erzäplt, ift zwar nicht neu, aber charafterifii 





. -. a 
3 


— 


206 nercci⸗t der bRecifden: Eitchtnr 


gendes Urthell über die Frauzoſen Weim Einzug Paripe: "Der Charak- 
ter des franzöfifchen Volles erfchien höchſt verachtengewerth; denn mit einer 
Unverfgämtbeit ſonder Gleichen fpotteten fie über Berhältniffe, deren leifefte 
. Berührung ihnen vor wenigen Tagen noch höchſt gefährfich hätte werben 
fönnen. Eine Mittelftraße fcheint der Franzoſe nicht zu kennen; bie nie- 
drigfte Schmeichelei und die geößte Infolenz folgen ſich Bei 
ibm, wie Schlag und Be. K. 


Förſter, Fr., Dr., Geſchichte der Befreinngslriege, 1813, 1814, 
1815. Dargeſtellt nach theilmeife ungebrudten Quellen und mündlichen Auf- 
ſchlüffen bedeutender Zeitgenofien fowie vielen Beiträgen von Mitlämpfern unter 
Mittpeilung eigner Erlebniſſe. Dritte Auflage. Erfier Band. Mit 6 Schlacht⸗ 
unb Operationeplänen, 2 Bachtmiles und einem lithochromirten Titelbild. Ber- 
Tin, Guſtav Hempel. XI, 870 ©. 4. (Breußens Helben im Krieg und Frie⸗ 
den. V. Bb. Neuere und nenefle prenßifche Geſchichte. III. Bb.) 


Aus Schleiermader's Leben. In Briefen. 2 Be. Berlin, ©. 
Reimer. X, 421, 485. 8, 


Die vorliegenden Briefe Schleiermader’s find vertraute Mittheilungen 
an feine Angehörigen, fowie an nahe Freunde und Freundinnen, in welchen 
nicht öffentliche Angelegenheiten, ſondern das eigene innere Leben oft in 
feinen zarteften Berhältniffen behandelt wird. Gleihwehl fehlt e8 nicht an 
intereffanten Beziehungen auch zu dem politifchen Leben feiner Zeit. So 
namentlich iu ven Briefen aus der zweiten Hälfte des Jahres 1806 (II 
Dr. ©. 60—80), wo Schleiermacher aus feiner glänzenden Wirkſamkeit 
in Halle durch das Unglüd vertrieben wurde, welches alsbald über die 
preußifhe Monarchie bereinbrah und für Halle die einftweilige Auf: 
Hebung der Univerfität berbeiführte. Die damaligen Ereigniſſe bilven auch 
für einige Zeit ven Hauptinhalt ver Briefe Schleiermacher's. Und ähnlich, 
gewähren 7 Jahre fpäter, vom Mai bis Yuli 1815, feine Briefe von Ber 
lin, zu der Zeit, als dort die erften Vorbereitungen für einen allgemeinen 
Befreiungskrieg getroffen wurben, in etwas einen Einblid in den Zuftand 
und die Stimmung der preußifchen Hauptſtadt. Aber merkwürbiger ala 
bie Heinen Züge, die dort wie hier aus ben Tagesereigniſſen eingeflochten 
werben, find auch in hiftorifcher Beziehung die faft prophetifchen Aeußerun⸗ 
gen des großen Geiftes über die fchönere Zukunft, die dem Baterlanve 

aus ber damaligen Noth erblühen werde. 





‚gf 


ro. 





268 Ueberſicht ber Hiftorifchen Literatur zc. 


Görred, Marie, Joſeph v. Görres gefammelte Briefe 1. Band 
(ber gelammelten Schriften VII. Band). Münden. lit.art. Anfalt. 609 &. 8. 

Der Band enthält Briefe von Görres an feine Braut 1799 und 
1800, an feine Familie 1816 bis 1845, darunter eine Reihe Briefe fei- 
nes Sohues Guido, endlich von Görres an feine Schwiegermutter 1806 
bis 1808. Cie umfajjen alfo alle Perioden feiner wechſelvollen geiftigen 
Entwidlung und find von großem biographifchen Iutereffe, indem bie ftar- 
fen ud ſchwachen Seiten des markanten Charakters in den vertraulichen 
Ergießungen noch viel heller und greller als in den für ven Druck be- 
ftimmten Schriften zu Tage treten. Im Uebrigen ift die Ausbeute, welche 
das Buch gewährt, gering, weder über rheinifche noch über bayerifche Zu- 
ftände, weder über deutſche noch franzöſiſche Geſchichte, weder über poli- 
tifche noch Gulturentwidlung gibt es irgend welche neue Aufſchlüſſe. 8. 


Eiferd, Geh. Reg.-R. a. D., Meine Wanderung durch's Leben. 
Ein Beitrag zur inneren Geſchichte der erften Hälfte bes 19. Jahrh. 3. u. 4. 
Thl. Leipzig, Brodhaus. 370 ©. 8. 


Bilmar, A. F. C., Zur neueſten Enlturgefhichte Deutſchlands. 
Zerftrente Blätter wiederum gefammelt. 2 Thle.: Volitifhes und Scciales, 
Kirdliches und Bermifchtes. Branlfurt a. M. und Erlangen, Heyder u. Zim- 
mer. VIII, 576. VI, 338 S. 8. 

Eine Reihe von Zeitungsartifeln, welche in ven Jahren 1848 — 53 
in den von Hrn. Bilmar herausgegebenen „Heſſiſchen Bolfsfreunt« ver- 


"öffentlicht find. Wir leſen hier ı. a. vom Königthum und von ter Re— 


publik, von Preßfreiheit une Todesftrafe, von Communismus und Yagd- 
freiheit, von der Demuth in politifchen Dingen, vom Ehrgeize, von ver 
Ehe, von der Gewalt über die Geifter, vom Kirchengelänte, von der Zu: 
kunft des Chriſteuthums, von Treue, Piebe und Gerechtigkeit. Was dies 
Alles mit der Culturgeſchichte Deutſchland's zu thun hat, ficht man frei— 
lich wicht ein; aber dieſe gute Wilfenfchaft muß einmal ven Namen für 
alles tasjenige hergeben, was unter keinem andern Zitel recht zu Markte 
gehen will. K. 

(Die beutfche Specialgeſchichte und bie Gefdhichte ber auswärtigen Ztaaten im 

2. Hefte.) 





Drind von Dr. € Wolf 4 Sohn in Münden. 





Johann Wilhelm Loebell. 





ar 
* 
4 


eins. Sieht man dich einmal wieder? Sei mir herzlich 





Biikelm mich es wirklich? Ich ftöre dich, wie ich fehe, 
in. einem Lie t, im Durchwühlen einer Maſſe von Neuig— 
keiten, vom Buchhändler bir ins Haus gefandt. 
Zulius. Aber wahrlich nicht zu großer Freude und Erbauung. 
ET Aergerft du dich einmal wieder an ben Erzengniffen 
neueſten Poeſie? 
JIulius. Diesmal iſt es vielmehr hiſtoriſche Litteratur, bie 
Unmuth reizt. 








ABI Beten Yin Fin Biete Pen 


* 





al if j F 
f Din v bi — 
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Wilhelm. Da ſprichſt du wunderbare Dinge. Cs ift ein _ | 


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270 | Johaun Wilhelm Loch, 7 = 


Yulius. Ich Täugne gar nicht, daß ich mich neuerbings an 
mancher fchönen Leiſtung herzlich erfreut und gelabt habe, und ihr 
für manche Belehrung höchlich daukbar bin. Aber es brängt ſich mir 
auch aus ven Werfen gerade ver Velten eine Betrachtung auf, pie ven 
Genuß verkümmert und mich unmutbig macht. 

Wilhelm Du machft mich neugierig. 

.Inlius. Allerdings flößen mir die Größe ihres Scharffinns, 
208 Neue und Kühne ihrer Sombinationen und Urtheile, pas uners 
wartete Licht, das ihre Fritifche Forſchungen auf dunkle Seiten unfers 
Wiſſens werfen, oft Bewunderung ein. Sehe ich aber auf ven gan⸗ 
zen Weg, auf den die Gefchichte nicht fie führt, fondern fie die Ge- 
fchichte führen, fo bin ich geneigt, den Magen fo mancher fchlichten 
Laien, und befonbers ver Frauen, beizuftimmen. 

Wilhelm Und worüber Hagen biefe Klagenden? Ä 

Julius. Darüber, daß fie genöthigt werden, das Tängft Ge- 
wußte und hundertmal Gelefene und Gehörte immer wieder in neuer 
GSeftalt zu lefen, und daß die ftetS veränderten Anfichten und Mei- 
nungen fie in tauſend peinigenbe Zweifel ftürzgen. Daß durch neue 
Entvedungen Lücken ausgefüllt werden, wirb ever mit gebührendem 
Dont hinnehmen. Muß denn darum aber das ganze Gebäude immer 
von Grund aus neu aufgeführt werben ? Gefchieht e8, damit viefe 
Herren ihrem Scharffinn ein Feld bereiten, fo fpielen fie mit arg= 
Iofen Gemüthern ein gewiſſenloſes Spiel. BVerhält es fich aber wirf- 
lich ſo, daß Alles, was frühere Gefchlechter gebaut haben, nur einge- 
riffen zu werben verdient, und verfällt das an feine Stelle Gefekte 
bemfelben unvermeidlichen Xoofe, fo Tann e8 ein betrübteres Reſultat 
alles Forſchens gar nicht geben. Dann fteht vie ganze Vergangenheit 
ba wie eine furchtbare Sphinx, fortwährend Näthfel aufgebend und 
jever Löfung über kurz oder lang immer wieder Verderben bringend. 

Wilhelm. Das Hingt ja tragifch genug. Aber möchteft du, 
baß, gefchredt durch die Menge der Hingewürgten, fich feiner mehr 
an die Löſung der Sphinrräthfel wagte ? 

Fulins Das wahrlich nicht. Aber daß man nicht fortwäh- 
rend Alles in Frage ftelle, nicht Räthſel fehe, wo die Dinge längſt 
plan und Har da liegen, daß man nicht die Pflanzungen der Vor⸗ 
gänger fo gefliffentlich ansrode, um neue an ihre Stelle zu fegen. 





Das reale und das ideale Element zc. 201 


Ja, was ſage ich Vorgänger? Die Luſt am unaufhörlichen Grübeln 
macht, daß man ſich mit eigener Hand von dem kaum errichteten 
Thron wieder herabſtürzt. Hat nicht Niebuhr in der zweiten Aus- 
gabe feiner römiſchen Gefchichte vielen Behanptungen ver erften ben 
Krieg erklärt? Ya, hat er nicht, als der zweiten Ausgabe bie britte 
faft auf dem Fuße folgte, in biefer wienerum Mehreres anders be- 
ftimmt und aufgefaßt? Und viefe dritte Ausgabe — hält fie, hält 
was jpäter ihr beijtimmenb over fie widerlegen verfucht worben ift, 
Stand gegen ven wunderbaren Zauber, ven Mommſen übt? Benel- 
benswerthe Zeiten, wo Rollin für ein völlig ausreichendes Mittel 
der Belehrung über die erhebenven Thaten ver Römer galt, grünblich 
in der Uusführlichkeit feiner, aus den alten Schriftitellern paraphra- 
ftfch aufgenommenen Erzählungen, fromm und fittlich in feiner Ge- 
finnung, anmutbig und leicht in feiner Darftellung! Es war eine 
Lieblingslectüre meiner Großmutter, und ich denke noch immer mit 
Vergnügen an die Stunden, wo fie und Kindern daraus vorlas ober 
erzählte. Seine hyperkritiſchen, fpintifirenden, klaubenden Zweifel ftör« 
ten bie reine Freude an diefen Erzählungen. Und wo find wir jet 
hingekommen! 


Wilhelm. Es ſcheint, daß dir, der du doch ſonſt ein ſcharfes 
Auge auf die hiſtoriſche Litteratur richteſt, ein kürzlich gemachter Ver⸗ 
ſuch, den alten naiven Glauben wieder in ſeine Rechte einzuſetzen, 
entgangen iſt. Er iſt indeß ohne alle Wirkung vorübergegangen. Der 
erwünſchten Rückkehr zu den alten Ueberzeugungen widerſtrebt nun 
einmal die herrſchende Strömung. An dir aber, der du keine Kunde 
von ihm genommen, bat er einen Profelyten gemacht, dieſer Verſuch. 
So wirf dich denn der alten Art, ver man es nachrühmen muß, daß 
fie eine ziemlich bequeme ift, forglo® in die Arıne. Bebaure uns, bie 
wir für jene naive Zreuberzigkeit ven Sinn verloren haben, und uns 
daher mit Zweifeln und Grübeln quälen, und unterfage deinem Buch— 
händler, dir je ein Buch von Mommſen over einem ähnlichen Störe- 
fried ins Haus zu fenden, damit der Verfucher fich dir auch nicht 
einmal nahen könne. Aber beine Mienen verrathen Bebenten. Solite 
ſchon Sehnfucht nach jenen verführerifchen Fr u 
fo wie du fie nur ale verboten bei“ 

99 


Fe. 





272 han Wilhelm Loebel. j 

Julius. Ach, wer ihn zurädführen könnte, ven unſchuldigen 
Kinderglauben und feine Seligfeit! 

Wilhelm. Da Hage bis mufere Stammeltern an, daß fie ge 
gefien haben vom Baume ver Erfenntniß, ver ein Iuftiger Baum war, 
weil er Hug machte. Seitdem ift allen ihren Rachlommen ver Rück 
weg zum Parabiefe des Kinderglaubens verfchlefien geblieben, und 
es hat noch feinem geholfen, daß er fich felbft eine Binde um bie 


. Yugen legte, um in der freiwillig erwäßlten Finfterniß tappenb biefen 


Weg wieber zu finden. 

Yulius. Um eure vom Sommenlicht beftrahlten Fußſtapfen, 
ſchrecken fie etwa nicht zurüd, indem Sieswarnend anf die Abgründe 
weifen, in bie man fällt, wenn mas Afueiffolgt? 

Wilhelm. Als ob ich alle Uchettüeibungen und Verirrungen, 
das Faſeln und Irrlichteriren, bie Peophetenmienen, mit denen Wahn⸗ 
gebilde angeprieſen werden, die Verblendung, zu welcher Luſt am 
Negiren und Auflöfen, oder Eitelkeit führen, in Schutz nehmen wollte! 
Der Weg ift jchwierig und fteil, und es gilt fich zu wahren vor ben 
Abgründen links wie rechts. Dafür führt er aber zu Ausfichten, bie 
entzüden, und uns Blicke werfen laffen in ungeahnte Gebiete. 

Fulius Wenn ih nur wüßte, was uns die Berechtigung geben 
fann, an wohlbegründeter biftorifcher Ueberlieferung zu zweifeln ! 

Wilhelm Ich antworte mit einer Gegenfrage. Welche hifto- 
rifche Ueberlieferung — ober um mich gegen mögliche Confequenzen, 
die ein frommer Sinn bier ziehen könnte, zu verwahren — welche 
menfchliche biftorifche Ueberlieferung — ift denn fo wohlbegrün- 
beier Art, daß man das Recht hätte, ihr unbedingt zu glauben? 

Yulius Du ftellft eine ſcharfe Forderung; tu willft eine 
Meberlieferung charakterifirt, die jeden Zweifel nieverfchlägt. 

Wilhelm Muß ich nicht? Liegt nicht in deiner Frage bie 
Auschließung jenes Nechts zu zweifeln? 

Yulins Nun wohl denn. Cine Ueberlieferung, wie vu fie 
verlangft, muß von einſichtsvollen, aufgeklärten, unbefcholtenen Zeugen 
berrühren, welche vie Wahrheit und nur die Wahrheit zu fagen ent- 
ſchloſſen find, die Fein falfcher Wunderglaube, keine zu Gunften einer 
Anſicht oder einer Partei vorgefaßte Meinung, feine Liebe, kein Haß 
ser font ſelbſtſüchtige Triebfebern, baran hindern; von Zeugen, 





Das reale und das ibeale Element ıc. 273 


welche die Natur mit einer fcharfen, die Dinge raſch überſehenden 
Beobachtungsgabe ausgerüftet hat. Dieß, meine ich, wirb vollkommen 
hinreichen. 

Wilhelm Wir wollen nachher jehen, ob e8 nicht ein von bir 
übergangenes Erforverniß gibt, welches alle andern bebingt, und baher 
an die Spige hätte geftellt werden müſſen. Ich will bich jegt nur 
fragen, ob du für alle Berioven ver Welt- und Völlergeſchichte, ſeit⸗ 
dem es überhaupt Gefchichte gibt, vie auf Gewißheit Anfpruch macht, 
Quellen kennſt, welche ven von dir aufgeftellten Bebingungen genügen. 

Kulins Wenn auch nicht für alle Perioden, doch für bie 
meisten und wichtigiten. 

Wilhelm. Ach bezweifle ſtark, ob du fie für biefe meiften und 
wichtigften würbeft berbeifchaffen Tönnen. ‘Doch dem fei fo. Denn 
fiehe, ich halte meine Sache für eine fo gute und fichere, baß ich bir 
pie Beibringung ver Beweife für bie beine in keiner Weije erfchweren 
will. Du gibft alfo doch zu, daß die Reihe der aus Duellen, vie dich 
befriedigen, zu erforfchenvden Zeiträume burch Lüden unterbrochen ift. 
Nun will doch aber ver menfchliche Geiſt überall Zuſammenhang, 
und ich fehe richt, wie du wirft umhin können, dich nach einem Mittel 
umzuſehen, welches dieſe Tücken auszufüllen ftrebt. 

Yulius Das werde ich allerdings müffen, wenn ich ben Zu—⸗ 
fammenhang will. 

Wilhelm. Diefes Mittel aber — worin wird es beftehen 
fönnen, als in forgfältigjter Auffuchung der Bruchjtüde des unterges 
gangenen und verfchütteten Gebäubes, in der genaueften und fchärfften 
Prüfung ihrer Befchaffenheit, und in dem Streben fie in Beziehung 
zu fegen und fi) dadurch vie Umriſſe von dem vorjtellen zu können, 
was in feiner vollfommenen Geftalt für uns verloren gegangen ift? 

Julius. Du vefinirft da bie gefchichtliche Kritik. 

Wilhelm. Borläufig nur einen Theil verfelben. Immer aber 
find wir allervings angelangt bei ver gefchichtlichen Kritik, welche bie 
große Leſewelt, vie nur unterhalten und höchſtens auch zu einiger 
bandgreiflicher Nutanwenbung geführt fein will, als etwas Läftiges 
und Langweiliges von fich weiſ't. Und leider ift dies nicht bloß bie 
Stimmung bes großen Bublicume, fonbern zuweilen auch folcher, bie, 
obne allen: ver Benztbeilung übernehmen. 











274 Johann Eilhelm Loebell, 


Julius. Nicht bloß, weil man ſich dabei laugweilt, weiſ't 
man die Kritik von ſich, ſondern auch, und noch weit mehr, weil wan 
dabei immer an etwas Negatives, Einreißendes, Zerſtorendes dentt. 

Wilhelm Dann verwecfelt man aber Kritik und Stepfis. 
Die echte Kritik muß nicht minder eine aufbauenve wie eine einreißende 
fein, ober doch wenigftens ven Weg zum Aufbauen zeigen. | 

Yulins Nun fo wäünfche ich denn ver Kritik Gläd und Er- 
folg auf jenen Gebieten ver Lüden, wo die Ueberlieferungen fehlen. 
Aber da ſoll fie bleiben und nicht hinüberfommen auf die, wo wir, 
auf fihere Grundlagen geftäßt, ihrer entbehren können. 


Wilhelm. Vorausgeſetzt, AB du ihr ſolche Grenzen wirft 
ſtecken fönnen, denn wenn bu fie elmafrdaft Hereinbrechen laſſen durch 
jene Lücken, bie ebenfo viele übel brte Etellen in dem Umkreiſe 
beiner Befeftigungen find, wirft du fie auch, beweglich und unterneh⸗ 
mend wie fie ift, nicht abhalten, Hinmwegzuhüpfen über bie Schnüre, 
durch welche du fie abzufperren meinft. Oder werten nicht etwa 
bie Grenzen ver ungewiffen unb ter von bir für gewiß gehaltenen 
Gebiete fo ineinander übergehen, daß folche Linien mit Eicherheit nicht 
zu ziehen fein werben ? 

Yulius Da geben wir doch höchſtens ein Kleines ungewiffes 
Grenzgebiet Preis, und ziehen uns dahin zurüd, wo bie Fülle der 
Gewißheit feinen Streit mehr zuläßt über den Boden, auf dem man 
ſich befindet. 

Wilhelm Wie aber, wenn es nun einen ſolchen über allen 
und jeven Zweifel erhabenen Boden, auf deinem ganzen Gebiete gar 
nicht gäbe? 

Yulius Wenn es dein Ernft ift, das zu behaupten, fo ver- 
lierft du dich damit in jene Stepfis, vie du felbft fo eben als völlig 
unfruchtbar bezeichnet haſt. 

Wilhelm. ine folche habe ich eben nicht im Sinne, fonvern 
bie, welche nur bis zu dem Punkte geht, wo die wirkliche Gewißbeit 
und ihr Schein fich ficher unterfcheiven laffen. 

Julius Ich denke doch, daß deine Skepſis alsdann fehr bald 
ügre Grenze erreicht. Die wirkliche Gewißheit ift da, wo tie Zeugen 
den von mir bezeichneten Erforberniffen entfprechen. 








Das reale und das ideale Clement ꝛc. 275 


Wilhelm. Und ich ſprach bir fchon von einem alle andern 
bevingenden Erforvernifje, welches bu übergangen haft. 


Julius. Willft du e8 nun nicht nennen? 

Wilhelm Ich meine, daß die Zeugen bie reine Wahrheit 
nicht nur müſſen fagen wollen, fondern auch fagen können. 

Julius. Und warum follten Berichterftatter, wie ich fie cha- 
rafterifirt habe, Dies nicht vermögen ? 

Wilhelm Uın es ohne alle weitere Umſchweife zu fagen: teil 
e8 bei einer nur einigermaßen zufammengefeßten Begebenheit unmög⸗ 
lich ift, zu einer aus rein objectiven Gründen und Beweismitteln her⸗ 
genommenen unumftößlichen Gewißbeit über ihre eigentliche Befchaffen- 
beit, über das wahre Verhältniß der Begebenheit im Ganzen zu allen 
ihren heilen, zu gelangen. 

Fulius Dachte ich doch, daß du es an feltfamen Paraborien 
nicht fehlen laſſen würdeſt! 

Wilhelm Du meinft alfo, vie verlangte objective Gewißheit 
über eine äußerlich erfcheinende Thatſache fei möglich ? 

Julius. Gibſt du denn nicht zu, daß man durch fcharfe Bes 
obachtung mit gefunden Sinnen eine Erfcheinung genau kennen lernen 
und von ihrer wahren Befchaffenheit in ver Sinnenwelt eine fefte 
Veberzeugung gewinnen kann? Oper willft bu dich etwa hinter ven 
Sag ber Bhilofophen fteden, daß wir nicht objectiv die Dinge an fich 
erkennen, fondern nur fubjectiv unfere Vorftellungen von ihnen? 

Wilhelm. Nichts weniger ald das. So hoch wollen wir uns 
nicht verfteigen. Jede unmittelbare finnliche Wahrnehmung eines be- 
ftimmten Gegenſtandes foll uns als Duelle einer objectiven Erkennt⸗ 
niß gelten. Wie wird es aber mit ven Erfcheinungen ftehen, bie bu 
nicht ſelbſt beobachtet haft und zu befchreiben hätteft? 

Julius. Ich muß mih da an Augenzeugen halten, bie von 
ihrer Zuverläjfigfeit hinreichende Proben abgelegt haben. 

Wilhelm Setze nun einmal, du hätteft eine Schlacht zu fehil- 
dern, und Ausſagen von beiden Theilen ftänben dir zu Gebote aus 
allen Claſſen ver Kämpfenden. Glaubft du, bu würdeſt aus biefen 
Zeugniſſen ale folchen eine volllommen waheheitegeizeue Schilderung 
des Treffens bilden können? 





276 Sehaun Diſhelin Laekell, 


Juline. Wem ich den natürlichen Hang ver Menſchen, ſich 
ſelbſt ins möglichſt beſte Licht zu ſtellen; abrechne, warum nicht? 

Wilhelm. Dieſe Abrechnung fo haarſcharf zu machen, daß vu 
ber Forderung die ftrengfte Wahrheit auszumitteln, genügeft, würde 
bir entfeglich ſchwer fallen. Aber Tafjen wir bie moralifche Schwäche 
lieber ans dem Spiele, damit nicht Gier Tomme unb fage, wir ver- 
wirrten baburdh ven Standpunlt und diß Fratze. Es fei alſo, bu 
habeſt mit Menſchen von fo großer Wahrheiteliebe zu thun, daß feine 
Leidenfchaft, feine Gemüthebewegung, feine vorgefaßte Meinung anf 
ihre Ausfogen Einfluß haben Lönne. Und bamit bie Aufgabe recht 
einfach werde, will ich annehmen, du babeft ven Schlachtbericht aut 
im Namen einer ber beiven Partelew zu machen. An wen würbeft 
du dich da vorzugsweife menden? 

Aulius Offenbar an ven Feldherrn. 

Wilhelm Glaubft bu, daß dieſer dir über alle Beſonder⸗ 
heiten, über den Muth, bie Entfchlofjenheit, bie Stimmung aller ein- 
zelnen Regimenter in jebem Moment des auf- und abwogenden Ge- 
fechts genügende Auskunft geben könnte ? 

Julius. Ich Hätte demnach feine Schilverung durch Berichte 
von Officieren zu ergänzen. 

Wilhelm. Diefe Berichte würden fich aber doch nur auf das, 
was die Befragten felbjt haben beobachten können, erftreden können; 
und im Schlachtgetümmel fieht der Einzelne, ver nicht commanbirt, 
und mit fich felbjt und feiner nächiten Umgebung genug zu thun hat, 
eben nicht weit. 

Julius. Aber dieſe verfchievenen engen Gefichtsfelver laſſen 
fich zufammenfchieben und ber allgemeinen Weberficht, vie ver Feld⸗ 
herr gegeben, unterorvnen. Das Allgemeine befommt vurch das Be- 
ſondere, und das Beſondere durch das Allgemeine Licht und Erflä- 
rung. Du haft mir wider deinen Willen recht an die Hand gegeben, 
wie fich die Gefchichte ans den einzelnen Thatſachen von felbft macht 
und auferbaut, folglich objective Gefchichte wird. 

Wilhelm. Nicht zu vafch! Laß dich nicht von der Nebensart, 
daß fich die Sefchichte felbft macht, verführen. So wie bu nur bie 
Derichte von zweien beiner Dfficiere, als befonbere, auf das Allge- 

eine ber ganzen Schlacht beziehft und fie ihm unterorbneft, bat fich 





Das veafe unb bes iheale Element ꝛc. 277 


das daraus erwachſene Bild dir nicht von außen bargeboten, fonvern 
in deinem Imnern bat es fich geftaltet. Oper ift e& nicht fo, daß 
jeve Combination, vie fich auf einen innern Zuſammenhang ber 
Dinge. bezieht, durch unfern urtheilenden Geiſt vollgogen wird ? 

Julius. So fcheint es allerbinge. 

Wilhelm Du fiebjt aljo, daß es ein gefchichtliches Combini⸗ 
ren und ein gejchichtliches Wiffen gar nicht geben kann ohne ben 
Zutritt eines ſtark einwirkenden fubjectiven Elements. 

Julius. Ich wüßte das für den Augenblic nicht zu beftreiten. 

Wilhelm. Aber wir find noch lange nicht am Ende. Eine 
Schlacht ift doch ein fehr beftimmtes, äußerlich fo ſtark als möglich 
in die Augen fallendes Factum. Mean kann über vie Art, wie fie 
gewonnen ift, viel ftreiten und ungewiß fein, über ihre Wirkungen 
und Folgen im Großen und Ganzen fehr wenig. Wie wird e8 num 
erft mit der objectiven Gewißheit über Thatſachen ftehen, vie fich im 
Stillen und Geheimen, langjam und allmählich, durch eine lange 
Reihe von Momenten vollziehen, mit ganz anperer Einwirkung jener 
verborgenen alten des menfchlichen Herzens, in welche ver, welcher 
es in der Bruft trägt, felbft nicht vollftänpig hineinſieht? Iſt nun 
ſchon bei jenem einfachen Vorgang eine gefchichtliche Weberlieferung 
ohne den Zutritt fubjectiver Elemente nicht möglich” — wie werben 
fie fih bier erft geltend machen! Die fubjective Thätigfeit aber ver⸗ 
fnüpft bald fo bald anders, fchafft bald viefe, bald andere Vorſtell⸗ 
ungen. Das Urtheil wird Herausgeforbert, und bie Kritik ift ba, 
überall, nicht bloß in ven Rüden der Kenntniffe, wie du meinteft. 
Verſchiedene Auffafjungen bieten fich dar; bie Berichte ftimmen nicht 
überein, und bie Urtheile geratben in Streit. Wie foll, auf jenem 
verbedten Gebiete zumal, eine Ueberzeugung, eine Anficht die andere 
fo vollſtändig ſchlagen und befeitigen können, daß fie allein ftehen 
bleibt und die Stelle einer rein gegenftänblichen Gejchichte vollkom⸗ 
men vertreten Tann? 

Yulius. Schwer genug wird bies freilich fallen. 

Wilhelm Ganz unmöglich wird es fein. Sobald bie That- 
ſache durch Acte der freien Geiftesthätigfeit ergänzt und verknüpft 
werben muß, kann das Ergebniß nie ber Art der Gewißheit gleich- 
fommen, welche vie reine Wabe⸗ »a gewährt. 








2318 , Zehaun -Wlihelm Loebell, €: 
Oder glanbft du, daß e8 irgend ein Urtheil über bie Größe, vie Bes . 
deutung, den fittlichen Werth einer gefchichtlichen Perfönlichkeit. gibt 
und geben fan, an welchem nicht vie fubjective Betrachtung einen 
großen Antbeil bat? Stammt denn nicht die Zurüdführung ber ein- 
zelnen Thatſachen und Charalterzüge auf das Princip, welche® dem 
zufammenfaffenben Urtheil zur Grundlage dient, aus einer fubjectiven 
Auffaßumg? Dabei bringe ich ‘den Fall gar nicht einmal in Anfchlag, 
wo die Auffindung neuer Thatſachen, over die Berichtigung der ſchon 
belannten durch neue Duellen, den ganzen Menſchen in einem mehr 
ober weniger mobificirten Lichte erfcheinen lafjen, welches wieder eine 
Schöpfung des urtheilenven Geiftes ift. 

Julius. Und damit foll ich alfo ven feften Glauben an vie 
Sicherheit ver mit fcharfen Sinnen, voller Unbefaugenheit und guter 
Zreue überlieferten Gefchichte aufgeben? Es foll Feine Thatſache 
mehr geben, veren Kenntniß nicht durch ven Nefler in ver Seele des 
Ueberlieferers verändert, getrübt, entſtellt ift, oder es doch fein kann? 
Weißt du, wohin du mich damit treibft? 

Wilhelm. Das errathe ich nicht gleich. 

Julius. Bu dem teoftlofen Ausfpruch: die Geſchichte ift nicht® 
als eine Fabel, an die zu glauben man überein gekommen: ift. 

Wilhelm. Wenn es in ver That fo wäre, würde ich es bir 
nicht übel nehmen, wenn du es in der Verzweiflung einmal mit der 
Binde vor den Augen verfuchteft, in deinem Zimmer einen vecht 
lebhaften Sprung machteft, und dir einbilveteft, vu habeft dich zurüd- 
verfegt in die Zeit, wo der Hugmachende Baum noch keines Men⸗ 
Ichen Friede geftört Hatte. Aber du kannt doch nicht wirklich mei- 
nen, daß es feine Wahl mehr gäbe zwilchen dem Kinverglauben und 
bem Verzweifeln an allem Wilfen; daß bie jegige Wiſſenſchaft zu 
feinem andern Ziele führe, als zn jenem Ausfpruche, ven vu mit 
Recht troſtlos nennit. 

Julius Ach ja, ich befinne mich: es ijt jett nicht mehr bie 
Rede von einer Yabel an die zu glauben man fich geeinigt hat, 
fondern von verſchiedenen Fabeln über die man zu keiner 
Einigung kommt. 

Wilhelm. Und was nennit du Fabeln? 

Juliuo. Wilflürkiche Exrbichtungen. 





Das reale und das ideale Element c. 279 


Wilhelm Und an die nicht zu glauben foll fein Fortichritt 
fein? . 

Julius. Wenn ihr nur burch euer ftetes Unterwählen der vor⸗ 
handenen Vorftellungen nicht jo deutlich zeigtet, daß ihr nichts ans 
deres übrig laffet! 

Wilhelm. Nichts als willfürlicde Erdichtungen? 

Julius. Oder auch unwillkürliche Dichtungen. Für den, ber 
Gewißheit fucht, verfchwintet der Unterfchied. 

Wilhelm. Unmöglich kannſt vu glauben, daß bie kritifch fich- 
tende Methode alle Leberlieferung in willfürliche over unmwillfürliche 
Fabeln verwandle, und fonft nichts übrig laffe. 

Zulins Nun ja, eine Anzahl etwa noch von ganz Außerlichen 
Thatjachen, die als traurige Zrümmer über vie Wüfte des Fabel—⸗ 
meeres hervorragen, deren Kenntniß keinen Wert) hat, weil fie uns 
verbunden find, und feine Anfchauung im Ganzen und Großen ges 
währen. 

Wilhelm. Siehſt du wol, wie bu felbft dazu fommft, ben 
Zufammenhang, alfo die durch den Geift vollgogene Verknüpfung hö⸗ 
ber zu ftellen als vie Kenntniß vereinzelter Gegenftänvde, vie auf eis 
ner vorgeblich untrüglichen Wahrnehmung durch die Sinne beruht? 
Und fo verhält es fich in der That. Der relativ höchſte Grad hiſto⸗ 
rijcher Gewißheit tft da zu finden, mo ver verfnüpfende Geift eine 
beveutfame Wirkung auf gefchichtliche Thatſachen fo entichieven be- 
zieht, daß ihre Wahrheit tm Ganzen und Großen einleuchtet, mögen 
bie einzelnen Geftalten auch für noch fo viele Zweifel Raum laffen. 

Julius Der Beweis bafür möchte dir ſchwer werben. 

Wilhelm Cr ift vielmehr fehr leicht zu führen. — Damit bu 
fiebft, welchen Stürmen ver Kritik die Wahrheit eines Ereignißes, 
wie ich e8 im Sinne habe, zu widerſtehen vermag, fo laß uns ein- 
mal einer kriti ſchen Unterſuchung eine Macht leihen, die fie in ber 
That gewiß niemals zu üben im Stande fein wird. Es foll einer 
folden gelingen, alle Veberlieferungen von ven Croberungen und 
Niederlaffungen der Germanen im weftlichen Römerreich, ihren ein- 
zelnen Umftänden nach, in Zweifel zn ftellen — daß aber dieſe Staa⸗ 
tengrünbungen Statt gefunven haben, und jo, daß mit ihnen und 
durch fie ber Anſtoß zu neuen Culturer um großen 








280 Iohann Vilheim Loebell, 


Austauſch von Lebensrichtungen, Neigungen und Sitten, zu mannig⸗ 
faltigen neuen Inſtitutionen gegeben worden iſt, daß Alles dieſes den 
tiefſten und nachhaltigſten Einfluß auf die Entwickelung des Men⸗ 
ſchengeſchlechts geübt hat — uns dieſe Ueberzeugung zu rauben — 
das ſoll er bleiben laſſen. 

Julius. Wenn du die Gewißheit auf ſolche Thatſachen be⸗ 
fchränfen willſt, wird ihre Zahl eine fehr kleine werben. 

Wilhelm. Vorläufig einmal fo Mein wie du ingend wiliſt. Es 
ift Doch auf jeven Fall ciStück unzetſiörbaren Bodens von Ge- 
wißheit, ven ich deinem Verzweifeln an allem biftorifchen Miſſen ent- 
gegenfege, du magjt dich nun alles Exrnftes fo übereilt haben, "euer 
nur der Kritik die Schmach haben authun wollen, fie auf ven Staub⸗ 
punkt des Witzworts von ber fable convenue zu brängen. Dich 
Fahne wurbe aufgepflanzt zu einer Zeit, wo man die Anmaßung 
der bloßen, auch der ganz unbegrünbeten Autorität, auf allen Gebie- 
ten des Geiftes Altes allein entfcheiven zu wollen, immer unerträg- 
licher fand, und mit Einem Schlage mit ihr brechen wollte. Es 
fehlte natürlich nicht an beftigem Widerſpruch, an Spott und Zorn. 
Beionnene bejtrebten ſich das Gefährliche und DVerverbliche maßlojer 
Zweifeljucht aufzudeden ; das Anfehen ver Weberlieferung in ven Claf- 
fifern wollten die Philologen nicht antaften Iaffen. Einer ver bedeu— 
tendſten jener Zeit, Perizonius, hielt eine ftattliche Rede gegen ven 
biftorifchen Pyrrhonismus, wie er die aufkommende Richtung nannte; 
um die Wahrheit ver Geichichte des Älteften Roms zu retten, ftellte 
er die Behauptung auf, fie fei urfprünglich in Liedern überliefert 
worden, ohne zu ahnen, daß er dadurch felbjt an ven Grundlagen 
bes alten Autoritätsglaubens rüttelte. Denn jene Zage hatten fchlecht- 
bin feine Einficht in den tiefen und innerlichen Unterſchied zwiſchen 
ber in Helvenlievern und ber in Annalen enthaltenen Gejchichte. 
Merkwürdig it es, mit welchem Leichtjinn fich die mittelmäßigen 
Köpfe an die hergebrachten Darftellungen anflammerten, um in ihrer 
Ruhe nicht geftört zu werden. Vierzehn Jahre vor dem eriten Bande 
jener Darftellung ver römifchen Geſchichte, an ver mit deiner Groß⸗ 
mutter viele Andere, Franzofen und Nichtfranzofen, großes Wohlge- 
fallen fanden, Batte ver geiftuolle und gelehrte Beaufort fein Heines 
aber beveutfames Buch über vie Ungewißheit ber erften fünf Jahr⸗ 





Das reale unb bas ibenle Element zc. 281 


hunderte Roms herausgegeben; Rollin findet nichts bequemer, als 
von den zum Theil höchſt ſchlagenden Nachweiſungen des unver⸗ 
ſchämten Zweiflers nicht die geringfte Kunde zu nehmen. Doch ich 
fomme von unſerm nächſten Gegenftande zu weit ab. Ich wollte bir 
fagen, daß die Anzahl jener Thatfachen, vie in der Art ihrer Gewiß- 
beit mit ver von mir beifpieldweife angeführten übereinfommen, kei⸗ 
neswegs fo Hein ift, wie vu glaubſt. Sie bilden eine nicht geringe 
Neihe, vie unter eine und biefelbe beveutenve Kategorie fällt. 

Julius. Und weldhes wäre dieje Kategorie? 

Wilhelm Sie umfaßt diejenigen Ereigniffe, deren Gewähr 
ver verknüpfende Geift in Zuſtänden ver Gegenwart findet. Der 
Zufammenhang der Eultur bei den romanifchen und ven germanifchen 
Stämmen, wie wir ihn um uns ber erbliden, das Verſchiedene und 
das Gemeinfame darin, jenes offenbar in urfprünglichen Zuftänden, 
dieſes in gegenfeitigen Berührungen wurzelnd, zeigt ſonnenklar, daß 
bie Gefchichte ihres Zufammenftoßes, und alles veffen, was fih aus 
ihm entiwidelt hat, feine erfonnene fein kann. Mit ven fpätern Bes 
gebenheiten find ulturverwanblungen verknüpft, von denen immer 
bie frühere die fpätere erzeugt, bi8 zu den Zuftänden herab, in deren 
Mitte wir leben. Wie fie für die Vergangenheit zeugen, erklärt vie 
Vergangenheit fie. Der denkende Menſch will ja die erfcheinenvden 
Dinge, beſonders bie geiftigen, nicht bloß in der Gejtalt, in ber fie 
fi feiner Betrachtung unmittelbar varbieten, ſondern auch wie fie 
was fie find, geworben find, begreifen; er will vie Verwanblungen, 
die fie erfahren haben, die Befchaffenheiten und Formen, durch welche 
fie hindurch gegangen find, fo weit als möglich, zurüc verfolgen. 

Yulius Es iſt dies wol bie größte Aufgabe und das höchfte 
Ziel der Gefchichte. 

Wilhelm. So möchte ich es nicht gerade nennen; gewiß ift es 
aber eine ihrer größten Aufgaben; es werben bier Probleme geftellt, 
deren Löſung außerorbentlich lohnend und förbernd iſt. Du ſiehſt 
nun, daB es Berichte gibt, die durch unträgliche außerhalb ver Ueber: 
lieferung liegende Beweife gegen jeben Zweifel geſchützt find. Vollends 
entfchieven und überzeugend zeigt fich biefe Gewähr, wenn fie nicht 
auf eine Reihe von Verwandlungen gebaut werben muß, ſondern 
DBergangenheit und Gegenwart eine unmittelbare Weugleichung zufa 








282 Sehaun WBilpelmmlochel, 


Julius. übt es Fälle einer folchen Sleichheit? 

Wilhelm. Ich will vum an Möfer erinnern, ver Man⸗ 
ches, was Tacitus von dem alten: Germanen berichtet, durch Sitten 
und Gewohnheiten der norbbeutfchen Bauern feiner Tage erwieſen 
fand. 

Yulius Das Alles bezieht 4 anf die Zuftände ber Wöller, 
nicht auf ihre Gefchichtee Wenn du wege-Zuftänben veben wollteft, 
brauchteft du nicht die Veobachtung eines einzelnen Mannes für dich 
anzuführen. Alle Culturaälles, welche Deulmale binterlaffen haben, 
geben der Nachwelt in ihnen Kuube-ron ihren Zuſtänden. 

Ä Wilhelm. Ganz richtig, und ich Bitte auch daher einen: Bes 

weis vom fortvauernven Lebeu der Vergangenheit in ber Gegen 
nehmen können. Uber die Anwendung, bie bu von beinem Satze 
machft, ift eine zu befchränfte. Denn Hängen nicht Zuftände und 
Gefchichte innig zufammen? Oder vielmehr find nicht Zuftände auch 
Geichichte? Vielleicht find fie fogar ihr vornehmſter und beachtens- 
wertheſter heil. Und ferner läugne ich, daß in den Deukmalen nicht 
auch die Gewähr für eigentliche gefchichtliche Thatfachen Liegt. Was 
von den Großthaten ver alten Griechen berichtet wird, und von ber 
Gefinnung, mit welcher fie vollbracht wurden, ift deutlich erwieſen 
durch die Denkmale ihrer Kunſt und Litteratur. 

Julius. Das iſt eine Art von Geſchichte, die dir genügt, nicht 
aber mir und unzähligen Andern. Du hältft bie Dinge nur in ihren 
großen Umriſſen für ertennbar, nur diefe für wahr. Alle Detailkennt⸗ 
niß verwirfſt du. 

Wilhelm. Dergleichen hätte ich behauptet? 

Julius. Freilich haſt du das, wenn auch nur mittelbar. Denn 
iſt nicht alle Detailkenntniß nur aus ber Ueberlieferung zu ſchöpfen? 

Wilhelm. Allerbings. 

Julius. Und haft du nicht von ver durch Feine fonftigen Be⸗ 
weife unterjtügten Weberlieferung behauptet: es fei aus ihr, wegen 
ber ſtets nothwendigen Zuthat der fubjectiven Auffaoffung und Ver⸗ 
Inüpfung, fein objectives Ergebniß zu ziehen? 

Wilhelm in großes Mißverſtändniß, hervorgegangen aus 
dem Sprunge, ben bu in einer ziemlich leibenfchaftlichen Webereilung 
machteſt, wie benn eine gegen die Kritik gerichtete Stimmung gewöhn- 





Das reale und das ibeale Element ıc. 283 


lich etwas leidenfchaftlich gefärbt iſt. Auf ver einen Seite ift teine 
irrige Yolgerung ſchon entkräftet durch die Sicherheit ber unmittelba- 
ren Wahrnehmung in der Gegenwart. Laß uns nun näher betrach- 
ten, wie es mit der Ueberlieferung fteht. Der Act der fubjectiven 
Auffaffung in ihr zerfegt und verflüchtigt ihren objectiven Gehalt kei- 
neswegs, ober wenigftens nur in jeltenen Fällen; aber er verändert 
und fürbt ihn; er rüdt feine einzelne Diomente in eine Ordnung, er 
fett fie im eine Beziehung, die aus ihm felbft ftammt. Hier beginnt 
nun das Gefchäft der wahren bijtorifchen Kritik, ein noch viel umfaf- 
ſenderes als bag, welches wir vorhin befchrieben. Denn e8 geht nicht 
bloß auf bie Lüden, fondern auf das gefammte gefchichtliche Wiffen. 
Es kommt dann darauf an, das Gegenftänbliche, won feiner fubjecti- 
ven Zuthat entfleidet, fo rein als möglich auszufondern und hinzu⸗ 
ſtellen. 

Julius. Ich will die Frage, in wie fern und wie weit dies 
möglich, fürs erſte bei Seite laſſen, und zuvörderſt bie aufwerfen: 
wenn die fubjective Zuthat, wie du bebaupteft, eine nothwendige Bes 
dingung jeder gefchichtlichen Auffafjung und Erkenntniß ift, welchen 
Werth haben dann bie burch die Fritifche Behandlung ausgefonderten 
Stüde, die nach dieſer VBorausfegung nur form= und farblofe Atome 
fein können? | 

Wilhelm Das find fie keinesweges. Atome magſt bu diefe 
Beftanptheile immerhin nennen, aber es ftedt in ihmen etwas von 
Form und Farbe, was nur in das rechte Licht und in ven rechten 
Zuſammenhang gebracht fein will. Sie verhalten fich zu dieſem Zus 
fammenbange wie bie vereinzelte reale Erfeheinung zur Idee, deren 
Erfenntnig der Menfch nicht aus den erjcheinenden Dingen in ihrer 
Bereinzelung, fondern aus feinem Geifte zu fehöpfen bat. 

Aulius Auf diefe Weife würde bad Subjective und das 
ideale Moment daſſelbe fein. 

Wilhelm O nein! das Subjective bezieht fich auf das Or⸗ 
gan, vermittelit veffen die Gefchichte ihre Form und Geftalt erhält, 
das ideale Moment auf ven Inhalt der Thatſache außer ihrer äußern 
Erfcheinung. 

Julius. Diefer iveale Beftandtheil wirb alfo gewonnen, ins 
dem bie Dinge, wie bu ſagſt, im ben rechten Zuſammenhang 


u 





284 Hann Biifelm Lock, 


werben. Es iſt alfo die kritiſch aufldſende Ogesation nur eine erfie, 
vorbereitende; und daͤmit bie vechte Geſchichte entficht, muß. eine 
zweite, bie Atomestiisker verbindende eintreten. | 

Wilhelm. Wie Eönnte das wol anders fen? Nur baß bie 


Atome weg geworfen werben, beren Wefeglofigleit die Kritik erwie⸗ 
fen bat. 

FJulius. Nun hat es doch oben fit vre Jahrhauderten und 
barüber eine hiſtoriſche Kritik gegeben. Minbeftens: ſeit dieſer Zeit 
bat man in ben Bearbeitungen ber alten Geſchichte das ganz. Un⸗ 
wahrfcheinliche ober ganz Unglaubliche ansgefcieben,. man, hat uuer 
verfchievenen Berichten ben in fich | ſten gewählt; aber 
darum nicht geglaubt, das Vorſien⸗ «is fe} es noch nie bowgeftelik, 
in feine Urbeſtandtheile auflöfen zu mäflen,- um es ganz von Nest 
wieder zufanımenzufeßen. 

Wilhelm Weil man aus übermäßiger Scheu vor ber —* 
rität der Ueberlieferung bie. Gründe ihres Anſpruchs auf zweifelloſe 
Gewißheit nie fcharf unterfuchte, und daher auch vie Kritik ohne fefte 
Grundſätze nur fragmentarifch, willkürlich und äußerft furchtfam übte. 

Julius. Ich dagegen muß es weife finden, daß man das 





- wohlgefügte Gebäube der Ueberlieferung nicht abzutragen trachtete, 


fondern fich begnügte, Herftellungen und Berbefferungen vorzunehmen, 
wo das Bedürfniß ein unabweitbares war. 
Wilhelm. Aber das Gebäude ift eben in feinen Haupttheilen 


keineswegs ein fo wohlgefügtes, wie es von außen betrachtet erſcheint. 


Laß uns einmal bei ver römifchen Gefchichte ftehen bleiben, ta du 
gleich Anfangs ein Beifpiel von ihr bergenonmmen haft. Dein, ober 
wenn bu lieber willſt, deiner Großmutter Rollin würde ſchon in ſei⸗ 
nen erften Bänden zwifchen Livins, Dionyſius und Plutarch in Ge⸗ 
bränge gelommen fein, wenn er fich nicht von gelehrten Vorgängern 
bätte leiten laſſen. Wie fieht e8 aber erſt aus in ven Zeiten, wo ber 
fonft am weiteften reichende Livius ganz verloren it! ‘Der zufam« 
menhängende Faden, ven da einige im Alterthum gemachte Auszüge 
barbieten, ift höchſt dünn und bürftig; alles Ausführliche und Lebend⸗ 
volle befteht in größeren und kleineren Bruchftäden, welche moderne 
Bearbeiter nach ihren Annahmen und Vorſtellnugen georbnet unb 


verfnüpft haben. Keiner hat dies anfprechenber, geſchickter und mit 





- Das reale und das ibeale Element ꝛc. 285 


größerem bijtorifchen Talent gethan, als Zreinsheim in feinen Er- 
gänzungen des Livius. Die Banfteine Hat er nicht ſelbſt zuſammen⸗ 
getragen; er hat fie empfangen aus der Hand des Pighius, welcher 
in den drei Folianten jeiner römischen Annalen mit einem Umfang 
der Belejenheit und einem beharrfichen Fleige, welche man Bewunbern 
muß, Alles zufammengetragen hatte, was in feiner Zeit vorhanden 
war. Aber die Verbindung und die Reſtauration der Bruchitüde ge 
hört gunz Freinsheim, bem zu folgen fe ziemlich Alle, welche bie 
auf den Anfang unfers Jahrhunderts Römische Gejchichte gefihrieben, 
äußerft bequem gefunden haben. Auch Erevier, Rollins Fortjeger, 
obgleich philologiſch ungleich gelchrter als diefer, hält fih ganz an 
reinsheim, nur daß er ihn in Franzöfticher Weife paraphraſirt, zuwei⸗ 
len die Anerbnung etwas verändert und moralifcbe Betrachtungen 
einftreut. Nach deiner Meinung müßte man cd allen dieſen janften 
Nachwaudlern Dank willen, daß fie beim Hergebrachten ſtehen geblie— 
ben find. Uber ver Schein, daß fie einer fejten un fichern Ucber- 
lieferung folgen, ift, wie bu fichft, cin täufchender, und doch wird bie 
Kritik, die ihn aufzuheben trachtet, oft eine neuermgsfichtige, verwe⸗ 
gene und überflüßige genannt. Ich rede dabei nech gar nicht einmal 
von dem, was in ähnlicher Art fchen im Altertum geſchah. Viele 
andere Beifpiele von Gebäuden biftorifcher Darftellungen, au deren 
Veftigfeit man mit Unrecht glaubt, könnte ich noch anführen! 
Julius. Du Haft da Dinge gejagt, bie dem Laien freifich ent— 
geben. j 

Wilhelm Wenn du die wirklich oft erjtannliche Abhängigkeit 
moberner Schriftiteller von berühmten Vorgängern im Sinne haft, fo 
haben auch viele Hiſtoriker vom Fach fich nicht jonderlich damit bes 
faßt, was ich ihnen nicht vorwerfen will, denn für die Errichtung 
neuer Gebäude aus echtem und bewährten Bauſtoff verſchlägt es we- 
ig. Mir ift Manches dieſer Art aufgeftoßen, als ich in früheren 
Jahren Stoff zu einer Gefchichte der Entwidelung und ver Schid- 
fale der Gefchichtfchreibung fammelte, und damit wol mehr Zeit ver⸗ 
darb, als nützlich anwandte. Und doch muß ich fagen: zu einer vech- 
ten Einficht in das Verhältniß des objectiven Stoffe zu feiner ſub⸗ 
jectiven Abfpiegelung If eine folche Geſchichte 

Yulins Laß und aber aui-Nen 

Diſtoriſche Zeitfrift L Vand. 





286 Johann Wilhelm Löobell, 


vom Wege ablenkte, als du von dem Geſchäfte der Kritik ſprachſt, 
aus den geſchichtlichen Darſtellungen die ſubjectiven Zuthaten hinweg 
zu nehmen. Ich bin begierig zu erfahren, welches Verfahren ſie da⸗ 
bei einſchlägt. 

Wilhelm. Das gäbe Stoff zu einem ganzen Buche. 

Julius. Ein Capitel daraus ſollteſt du doch zum Beſten geben! 

Wilhelm. Nachdem ich einmal ſo weit gegangen bin, werde 
ich das wol müſſen, obſchon ich im Grunde nur Dinge, die alle 
Welt weiß, oder wiſſen könnte, und die ſchon vielfach verhandelt ſind, 
in den Geſichtspunkt von dem wir ausgingen, bringen kann. Voraus 
ſchicken muß ich Die Bemerkung, daß es Formen ber Ueberlieferung 
und eine Claſſe von Thatſachen gibt, welche herausfallen aus dem 
Bereiche des von dir geftellten Problems, weil von einem fubjectiven 
Beſtandtheil bei ihnen gar nicht die Rede fein Tann. | 

Julius. Welche meinft vu? 

Wilhelm Die Formen ver lleberlieferung, welche ein reines 
Factum, ganz ale foldyes, ohne irgend eine Beziehung zu einem an⸗ 
bern, nur als Zeugniß des Gefchehenen und Verhandelten, zu unwan⸗ 
velbarer Vefeftigung im Gedächtniß hinftellen: Geſetze, Verträge und 
ähnliche Urkunden. Hier haben wir wirklich Atome der Gefchichte vor 
ung, die eben barum, weil fie e8 find, eine objective Befchaffenbeit 
haben. Ohne durch eine fubjective Betrachtung hindurch gegangen zu 
jein, find fie zu uns gelangt; vaher gebührt ihnen vor der abweichen- 
ben Angabe eines Schriftjtellers immer ver Vorzug. 

Julius Dies ift gewiß nie geläugnet worven. 

Wilhelm. Aber man bat früher nicht entfernt vie Mühe wie 
jegt angewandt, Urkunden aus dem Staube zu ziehen, ten objectiven 
Stoff in ihnen aufzufuchen und ihn mit dem Anhalt der Schriftfteller 
zu vergleichen. 

Yulius. Die Urkunden bieten alfo, um beine Sprache zu reden, 
die ber Form nach objectioften Thatſachen tar; welche find es, vie 
ihrer Natur nach diefen Rang einnehmen ? 

Wilhelm Die aus einer hiftorifchen Zeit und in einer fols 
hen überlieferten Nachrichten von beveutenden Ereigniffen, bie fo zu 
fagen, vor den Augen aller Welt vorgegangen find. Wenn viefe im 
Großen und Ganzen betrachtet werben, läßt fich gegen ihre unbebingte 





Das reale und das ibeale Element ꝛc. 287 


Gewißheit nichts einwenven. Wir haben von einer Schlacht gefpro- 
chen; ich babe behaupten müffen, daß es unmöglich fei, den Zufammen- 
hang aller ihrer einzelnen Momente mit dem Ganzen zweifellos fejtzu- 
jtellen. Wie fich oft felbit Augenzeugen über vie entjcheiventen Mor 
mente täufchen können, beweifen die faljchen Vorjtellungen, vie man 
nicht felten viele Fahre über. ven Gang großer Treffen gebegt bat, 
bis eine kaum mehr erwartete Enthüllung der Wahrheit gekommen 
iſt. Wie oft iſt fie aber auch gar nicht gekommen! Wie oft hat fie 
ver Natur ver Suche nach nie kommen können! Werben aber darum 
bie aus glaubwürdigen Zeugniffen ftammenden Nachrichten von ben- 
jelben Treffen, vie fich auf vie Angabe befchränfen, zwifchen melchen 
Heeren, wo und warn jie vorgefallen find, irgenb einen Zweifel un- 
terliegen können? Ans dieſem Beifpiele ſiehſt du leicht, von welcher 
Art Die in Gefchichtfchreibern enthaltenen Thatfachen find, deren ob» 
jective Gewißheit eben fo feftjteht, wie bie der aus Urkunden gefchöpften. 
Bon einer andern jehr zahlreichen Claſſe von Begebenheiten wir fich 
fagen laſſen, daß fie fich diefem Grade von Gewißheit fehr nähern; 
und fo wird es immer weiter führende Abftufungen geben bis zu ver 
Grenze bin, jenfeit® welcher Alles von ven aus der Seele des Ge- 
hichtjchreiberd oder feinen Zeugen ſtammenden Verknüpfungen durch 
zogen fein muß. 

Yulins Uber vie Kritik ſoll doch wohl nicht bloß bier, fon» 
bern auch bei jenen nadten Thatfachen ihre Anwenbung finden. 

Wilhelm. Ohne Zweifel hat die Kritik dies doppelte Gefchäft. 
Da wo bie Ueberlieferung verbunfelt und ungewiß ift, wo fich Wider⸗ 
fprüche in ihr finden, muß fie bie Wahrheit des äußerlich Thatſach— 
lichen zu ermitteln trachten; und zweitens ift ihr die Aufgabe geſtellt, 
in jene fubjectiven Beziehungen einzubringen unb ihren relativen 
Werth feitzujtellen. Das die leßtere Arbeit die fchwierigere und bie 
lohnendere, weil zu wichtigeren Auffchlüffen führende ift, verſteht fich 
von ſelbſt. Zur Löfung befonbers biefer höhern Aufgaben Hat bie 
Kritif dad Maß ver Glaubwürbigfeit, welches ven Schriftftellern, 
vermöge ihres Stanbpunltes, ihrer Einfichten der Quellen, die ihnen 
zu Gebote ſtanden, zulommt, zu ermitteln; fie foll zu errathen fuchen — 

Julius Ich muß dich hier unterbreche made 
tige Mühe zu erfparen. Du Haft 1 





288 oben WBiheim Loebell, 


Kritik der neuen hiſtoriſchen Schule verfährt, um die Scheidung ber 
objectiven und fubjectiven Beſtandtheile in der Ueberlieferung zu volle 
ziehen. Nun fchilderft du aber ein wohlbelanntes, Längft angewandtes 
Verfahren bei der Unterfuhung und Ermittelung ber gefchichtlichen 
Wahrheit. Du wirft boch nicht der neuen Weisheit dieſes Verfahren 
wie eine Entdeckung, bie fie gemacht, nindieiren wollen? 

Wilhelm. Ich erwiedere zuerft, daß es mir nicht eingefallen 
ift, die Mittel zur Vollziehung einer vollftänpigen Scheivung ter Be 
ftandtheile zu verheißen; es liegt in ver Natur der Sache, daß nur 
Annäherung in ver Löſung dieſes Broblems möglich ift. - Zweiten® ift 
e8 allerdings richtig, es tft eine allbelannte Thatfache, daß fchon-bie 
Alten verſchiedene Nachrichten über: dieſelbe Begebenheit mit einander 
verglichen, um ber nach rer Meinung glaubwärbigiten ven Vorzug 
zu geben. Die biftorifche Kritik ift fogar noch Alter als Thuchdides; 
wir können fie auf Hefatäus und Hersbot zurüdjühren. Aber es war 
eine weit mehr nach zufälligem Belieben als noch feften Grunpfägen 
geübte Kriti. Sie verwarf oder nahm an mach ganz fubjectiven, 
unbejtimmten oder fchwanfenden BVoritellungen von dem was glaub 
würdig und was es nicht fei. Sie wußte die Eigenthümlichkeiten 
der Zeiten, in denen bie Ueberlieferung entftand, nach ihrer Wejenheit 
nicht zu unterfcheiven. Und fo find die Dinge ziemlich geblieben bis 
zum Ende des vorigen Jahrhunderts. 

Yulius Hat man denn nicht fehon früher ven Sat aufge- 
ftellt, daß die im eigentlichen Sinne gewiß zu nennende, von ben un⸗ 
vermeiblichen Mängeln ber mündlichen Tradition befreite Gefchichte 
erjt da beginnt, wo gleichzeitige Begebenheiten aufgezeichnet werben ? 
Soll ich dich an den Ausſpruch Hume’s erinnern, daß die erfte Seite 
bes Thucydides der Anfang ber wirklichen Gefchichte ift. 

“ Wilhelm. Deine Erinnerung kommt mir fehr gelegen. Denn 
fie liefert den Beweis, wie ungenau, ja wie unbefonnen die Kritik 
jener Tage verfuhr. Hume fest ja wohl hinzu: alle frühern Erzäh- 
lungen feien fo mit Fabeln vermifcht, daß ver Philofoph fie ven 
Ausſchmückungen ver Dichter und Redner überlaffen müffe. 

Yulius Ganz recht. Die Stelle fteht in ver Abhandlung 
von der Bevölkerung in ben alten Staaten. 

Wilhelm Sich nun zu, ob ber Ausfpruch wol als Tritifcher 





Das reale und das tdenfe Element ꝛc. 289 


Kanen zu gebrauchen iſt. Hume will offenbar weit mehr von dem 
Borzuge der weit fortgefchrittenen Zeit fprechen als von dem befon- 
bern des Thuchdides. Alles in ver Weberlieferung, was viefer Zeit 
vorangegangen ift, verwirft er völlig ffeptifch; mit ihr aber beginnt 
die wahre Gefchichte Wenn nun Einer hiernach den Diodor für 
einen glaubwürbigern Hiftorifer halten wollte, als den Herobot, in 
welch einen fchweren Irrthum würde ber gerathen! Nur in fo fern 
fann ich in dem Sate einen Fritifchen Fortfchritt finden, als er bie 
Zeugniffe aus verfchievdenen Perioden als Maffen einander entgegen« 
ftelt. Denn jene Zeit war fat immer dabei ftchen geblieben, vie 
Berichte über einzelne Thatfachen bei verfchievenen Autoren mit einan« 
der zu vergleichen, und nach gewöhnlich willfürlichen und oberfläch- 
lichen Vorausfegungen, die fi aber wieber nur auf ben einen Yall 
bezogen, die Entjcheivung zu treffen, wobei man fich befonvers freute, 
wenn man einen gewilfen Wittelweg ber Ausgleichung gehen konnte, 
fo daß man jedem Zeugen ein Stüd der Wahrheit zutheilte. Kine 
höchft unkritifche Methode, welche die wirkliche Wahrheit nicht heraus⸗ 
bringen konnte, weil fie mit ihr marftete und feilfchte. Weil man 
felten oder nie die Treue, den Scarfblid, den Stantpunft eines 
Autors als ein Ganzes, ein in fich mit Nothwenkigfeit Zufammen- 
bängenbes faßte, ſah man auch nicht ein, daß die hijtorifche Daritel- 
fung oft einen Hauptzeugen durchaus und gänzlich zu Grund legen 
muß, bie übrigen Berichte aber nur etwa als Ergänzungen, nicht 
als Berichtigungen gebrauht. Es fehlt zwar in ältern Büchern 
nicht an Vergleihungen einzelner Autoren in allgemeinen Urtheilen, 
aber von praftifcher Anwendung verjelben läßt fich wenig fpüren. 
Erſt vie Kritik des legten Menſchenalters bat durch Anwendung dieſes 
Grundfates beveutende Ergebnifje erzielt. Kommt es nun aber erft 
darauf an, von einem für uns älteften Bericht auf bejjen verloren 
gegangene Quellen und deren Befchaffenheit, von welcher doch feine 
Slaubwirbigkeit abhängt, zurüdzufchließen; fo hat fich bie ältere Me- 
thode auf folche Unterfuchungen wenig oder gar nicht eingelajfen. 
Julius. Es ift alfo wohl eine neue Entvedung, baß unter 
den auf uns gefommenen Gefchichten Alexanders die Darftellung 
Arrhiand darum ben Vorzug vexbient. wil er ben beiben glaubwür- 


bigften Bengen, dem R 





290 Johann Wilgelm Locke, 


Wilhelm Du nennft dich einen Laien, und biſt boch gar 
nicht übel gerüftet zum Streit. Indeß beweist diefe® Beiſpiel nicht 
viel, denn Arrhian weif’t an mehreren Orten felbft fo entſchieden auf 
die Wahrbeitsliebe jener Geſchichtſchreiber hin, daß ich nicht weiß, 
wie die moderne Kritik e8 hätte anfangen wollen, bieß zu ignorirem. 
Auf den großen Abſtand in ber Wahrheitsliebe bei den Begleitern 
Aleranders, die feine Thaten befchrieben, weifen auch vie Stellen an« 
derer alten Autoren, die auf uns gelommen find, bin. Daß die Alten 
überhaupt bHiftorifche Kritif zu handhaben wußten, wenn auch keine 
ausreichende, babe ich fchon bemerkt, und fchwerlich gab es einen Ge⸗ 
genftand bei bem fich ihre Rothiwenbigfeit mehr von felbft aufge» 
brängt hätte, als bei ven Wunderthaten Alexanders. Die Aufgabe, 
welche ven Modernen vorliegt, befchränkt ſich wicht darauf aus ber ' 
Beichaffenheit ver Quellen, die ein alter Schriftftelfer citirt, ven Werth 
“feiner Nachrichten zu beftimmen. Man ſoll aus ver Befchaffenheit 
der Berichte auch die Quellen, die der Autor nicht nennt, zu erfennen 
fuchen, und damit bat fich die ältere Kritik nicht befaßt. 

Julius. Iſt es denn nicht ein Cirkelfchluß, wenn man aus 
der Beichaffenheit ver Nachricht die Duelle, und aus biefer den Werth 
ber Nachricht beftimmt ? 

Wilhelm. "Wenn man fih.nicht vorfieht, kann dergleichen wohl 
vorfommen. Oft ijt aber auch ſchon die Gewohnheit des Autors, 
biefe over jene Duelle zu befragen, hinreichend, fie zu crrathen. 

Julius. Und von wie manchen Schriftftellern, die unfere 
Nachrichten anführen, willen wir nichts als die nadten Namen. 

Wilhelm Mit denen läßt fich freilich nicht anfangen. Sch 
habe aber auch gar nicht gejagt, daß die Methode überall zu dem ges 
fuchten Ergebniß führt. Zuweilen ift e8 auch fehon erheblich, nur die 
Claſſe ver Quellen, aus denen die uns zugänglichen Autoren gefchöpft 
haben, zu erfennen, und Died wird gewöhnlich nicht fehr fchwer fein. 

Julius. Immer aber kommen wir damit nicht zu dem, was 
wir eigentlich fuchen — wenn auch nicht zur beftimmten und fichern 
Zerlegung der Weberlieferung in ihre Beſtandtheile, doch zu einer 
Annäherung daran. 

Wilhelm. Ich dächte doch. Wenn wir einen Gefchichtichreiber 
recht genau lennen gelernt haben, fo können wir Schlüffe machen auf 





Das reale und das ideale Element ꝛc. 291 


das Verhältniß der Dinge felbjt zu ihrer Abſpiegelung in feinem 
Geiſte. 

Julius. Zu der überaus feinen Kunde von der Seelenbeſchaf⸗ 
fenheit des Gefchichtfchreibers, welche hierzu erforberlich ift, haben 
wir äußert felten Mittel. 

Wiihelm. Das befte Mittel zu einer Kunde, wie wir fie ges 
brauchen, zu gelangen, haben wir immer, nämlich feine Werfe. Auf 
deren Grundlagen bat die Kritit Unterfuchungen über den wiljen- 
ſchaftlichen und auch über ven fittlichen Character von Gefchichtfchrei- 
bern angejtellt, und daraus höchſt beachtenswerthe Folgerungen über 
das Maß ihrer Glaubwürdigkeit gezogen. Und wodurch anders be= 
jtimmt fich denn dieſes Maß, ald durch das Verhältniß der Zubjec- 
tivität des Schriftftellens zur objectiven Thatſache? 

Julius. So viel ich ſehe, iſt das Ergebniß folcher Unterfu- 
Hungen faft immer negativer Art. Wir lernen daraus, was wir 
nicht glauben follen, fehr felten aber, was wir glauben jollen. 

Wilhelm. Auch viefes, wenn wir Berichte Anderer, bie viel 
wahrfcheinlicher lauten d. 5. und der objectiven Wahrheit viel näher 
zu fteben fcheinen, mit denen des zu prüfenden Autors vergleichen 
fönnen. See einmal, es wäre uns dadurch gelungen, ihn in brei, 
ihrer Art nach gleichen Fällen zu berichtigen. Werben wir dann nicht 
einen vierten Fall berfelben Art, wo wir nur ihn felbit befragen 
fönnen, nach dem Geſetze der Analogie berichtigen dürfen, da wir 
feben, daß er vermöge feiner jubjectiven Beſchaffenheit eine gewiffe 
Gattung von Vorfällen immer in einem unrichtigen Lichte fiebt. 

Julius. Aber mit äußerfter Vorficht wird man dabei zu Werke 
gehen müfjen, um nicht in fchwere Täufchungen zu verfallen. ‘Doch 
wir find damit noch nicht am Ende ber Schwierigkeiten. ‘Denn wenn 
der Bericht, ehe er zum Autor gelangt, der für und bie primitive 
Duelle geworben ift, durch verfchiebene Köpfe gegangen ift, wie in 
unzähligen Tällen — wie verhält es fich dann mit der auffaffenven 
Subjectivität des Urzeugen? Werben wir es wagen, in biefen Spies 
gelungen, in dem immer trüber und dunkler geworbenen Lichte, welches 
fie darbieten, ven Gegenſtand von dem Mittel, durch welche wir ihn 
erblicken, zu unterſcheiden? 

Wilhelm. Sieh nur wie wir nik De 





292 Johann Wilgehn Aeuteiij 


bift in Bezug auf die Möglichkeit unbebingter geichichtlicher Erkennt⸗ 
niß undermerft auf die Seite: der ſchärfſten Kritik, ja eigentlicher 
Zweifelfucht getreten. Aber, in meiner oder In beiner wrfprünglichen 
Rolle, ich antworte auf deine Frage: wir werben zumeilen fo kühn 
fein dürfen, auch dieſes Wagftüd zu unternehmen, unb nicht ohne 
Erfolg. Im Ganzen befinden wir uns aber hier allerdings auf einem 
häfeligen Gebiete, wo man leicht ftrauchelt. Laß uns fehen, ob wir 
nicht ein fichereres, zuverläffigeres finden. Die Unficherheit, die une 
dort hemmt, ſtammt daher, daß, indem wir nach Gefegen fjuchen, un 
das ganz Subjective und Perfönliche entgegentritt, welches fich durch 
die Umenplichkeit, die Unberechenbarleit, da8 Unausmeßbare feiner 
mannigfaltigen Geftalten allgemeinen Gefegen entzieht. Und in dem 
allgemein Menfchlichen fällt wieder die Beſonderheit ver Auf- 
foffung, tie wir unter Geſetze bringen möchten, weg. Es gibt aber 
etwas zwifchen den menfchlichen Individnen und dem ganzen Ges 
Schlechte in ver Mitte liegendes. 

Zulins Du meinft die Befonverheiten ver Völker und ber 
Zeiten. 
Wilhelm Ganz richtig. Hier werben ſich Beſonderheiten 
in der Auffaffung des Hiftorifchen finden, in welchen jich Geſetze ent- 
veden laſſen. Die VBorftellungen von ven gefchichtlichen Begebeubet- 
ten und Zuftänden und von dem Geifte, ver in ihnen lebt, weichen 
in verfchievenen Perioden und unter verfchiedenen Völkern fehr von 
einander ab; innerhalb berfelben zeitlichen und räumlichen Gebiete 
zeigen fie aber eine große llebereinftimmung. Wie ein Volt in einem 
beftimmten Zeitabfehnitte denkt und empfindet, wie e& das Verhältniß 
per irdiſchen Dünge zu irgend welchen übermächtigen und überfinn- 
lichen auffaßt, nach feinen Begriffen von Recht und Unrecht, vom 
Eittlihen und Unfittlihen, vom Schönen und Häflichen, fieht es 
Greigniffe und Charaktere an, und gibt ihnen unbewußt das Maß 
und vie Geftalt, in welchen fie in die Welt feiner geiftigen Anfchaus 
ungen fallen, aufgefaßt und begriffen werben können. Bier haben 
wir alfo auch Spiegel, welche das hineinfallende Object in befonderer 
Weiſe refleetiren und cd Dadurch verändert erjcheinen laſſen, aber 
Epiegel, deren Verhältniß zu den Urbildern fich weit eher auf Nor- 
men bringen läßt, als bei Individuen. Und noch weit mehr als für 





[4 


Das reale unb das ibeale Clement ıc. 293 


vie Völker Taffen fich folche Geſetze auffinvden für die Zeitmaffen, ba 
bie eriteren oft nur als Unterabtheilungen ver letteren zu betrachten 
find. Denn in ven frühern Perioden bringt pas gleiche Verhältniß 
zur Natur eine große Achnlichkeit der Auffaffungen hervor, und in 
bie fpätere Entwidelung ver europäifchen Bildung hat die Abhängig: 
feit von den Formen der antiken Welt und von ten Ideen des Chri⸗ 
ſtenthums viel ©leichartiges gebracht. Hiernach werben wir nun bie 
frühefte Entwidelungsftufe der Eulturpölfer ind Auge zu fallen haben. 


Julius. Das beißt doch die erfte, die wir wirklich kennen. 


Wilhelm Natürlich. Mit Speculationen über bie Urzeit, 
denen nichts Thatfüchliches zu Grunde liegt, wollen wir uns nicht 
befaffen. Den Charakter jener Stufe wirjt du doch mit mir als ven 
naiven und inftinktiven betrachten. 

Julius. Kein Zweifel, daß dies die richtige Bezeichnung iſt. 
Une wie. fpiegeln fih nun auf viefer Stufe die Begebenheiten ab? 

Wilhelm. Um es mit einem Worte zu fügen: bie Gefchichte 
wird auf tiefer Stufe als Mythus geboren. Es kommt auf die Zu- 
rüdüberjegung aus ihm in die Wirklichkeit des Objects an. 

Julius. Dachte ich's doch, daß die vielverfuchte und troß alles 
ES cheiternd immer wieder anlodende Mytheuerklärung in deinen Be: 
weifen und Schlüffen nicht fehlen würde! Mich Hat fie zu oft zum Velten 
gehabt, als daß ich nicht gegen einen neuen Verſuch, fie mir aufzu- 
reden, gepanzert fein ſollte. Da ich aber begierig bin zu fehen, wie 
du fie aus den Gefeten, deren Mittheilung du verfprichft, ableiten 
wirft, jo will id) deiner weitern Entwidelung folgen. 

Wilhelm Wohl denn! Laß es dich nicht verbrießen, wenn 
wir Schritt vor Echritt gehen, und ein wenig fokratifiren. ‘Du wirft 
doch den Sag zugeben: daß bie Thatſache fich zur Weberlieferung 
verhalten muß, wie bie objective Wahrheit zur Vorftellung in dem 
Ideenkreiſe, in welchem bie Ueberlieferung entſtanden ift? 

Julius. Freilich. 

Wilhelm. Zur wahren Befchaffenheit ver Objecte wird man 
alſo nur gelangen können durch Einficht in dieſen Ideenkreis. 

Julius. Gewiß nur dadurch. u 

. Wilhelm. Was aber innerhalb, vief® Kreifes vorgeht, wird 





294 Johann Wilken Gechel, - 


doch mur bie befonbere Erfdheinung ‚allgemeiner —8 Rich⸗ 
tungen und Bedirfniſſe fein? 

Julius. Allerdings. 

Wilhelm. Gehoͤrt nicht zu ſolchen Bedürfniſſen des Geiftes, 
bei allen geichichtlichen Erfcheinungen das Verbältniß von Urſache 
und Wirkung zu erfennen ! 

Julius. Darauf ift der Menfch gewiß auf allen Bildungs⸗ 
ſtufen begierig. 

Wilhelm. Und in den vom Inſtinct beberrfchten Zeiten ift 
dies Bebürfniß fogar fo groß, daß ihm bie Angube einer Wirkung 
ohne die der Urſache als etwas ganz Nichtiges erfcheint. Wo bie 
Urfachen nicht unmittelbar in ber Erfcheinung felbft Tiegen, ergänzen 
jolhe Geſchlechter ihre Anfchauungen und Weberlieferungen vermöge 
eines unmittelbaren Geiſtesacts, obne alle Reflerion, aus ihrer Ge⸗ 
danfenwelt. Und werben fie nicht der Befchaffenheit ihrer Geiſtes⸗ 
entwidelung gemäß immer geneigt fein, eine finnlich hervortretende 
Thotfache auf ein nicht minder finnlich hervortretendes Moment 
zurüdzuführen ? 

Julius. Das wird fih ohne Zweifel jo verhalten. 

Wilhelm. Und der außerorventlichen That werben fie eine 
außerorventliche Urfache geben. Nicht wahr? 

Julius. Ja wohl. 

Wilhelm Was dunkt dich nun? Sollen wir die, bei fo 
vielen Dichtern jener Tage außerorventliche Begebenheiten immer be» 
gleitenden Göttererfcheinungen als einen von ihrer Neflerion aus» 
gehenden Erklärungsverjuch kegreifen, ober als entjprungen aus eis 
nem Geiftesact, welcher Urſache und Wirkung unmittelbar verknüpft. 

Julius Daß das Lebtere das Richtige ift, kann feinem auf- 
merkſamen Lefer Homers zweifelhaft fein. 

Wilhelm Sage lieber: es hätte einem vechten Lefer Homers 
nie zweifelhaft fein follen; venn viele haben fich etwas ganz anderes 
aus ihm heraus gelejen. 

Julius Don welchen falfchen Deutern Homers ſprichſt du? 

Wilhelm Bon denen, die meinen, Homer und andere ‘Dichter 
hätten in der Sage nichts vorgefunden, als die einfache That, ber 
ſie als wilffürlich erfindende Boeten anmuthig lautenne Wunder hin⸗ 





Das reale und bas ideale Element ꝛc. 205 


zugefügt Hätten, wie einen äußerliden Echmud, und zur Anregung 
der Phantafie der Zuhörer, wobei ihnen ver von Prieftern vorbereitete 
und emfig genährte Aberglaube zu Hülfe gekommen fein foll. ‘Diefer 
falfchen Theorie der milffürlichen poetiſchen Zuthaten hat die Welt 
eine unüberfehbare Maffe verunglüdter Epopden zu danken, indem 
man im Sinne Homerd zu tichten glaubte, wenn man eine natür- 
liche Gefchichte mit gefchmadlos erfonnenen Wundern verbrämte. 
Und unzählige verfehrte Auslegungen der Götter» und Heroen⸗ 
gefchichte ftammen aus verfelben Theorie. Aber fie war freilich nicht 
die einzige Duelle folder Irrthümer. 

Sulius Welche andere haft du noch im Sinn? 

Wilhelm. Die feit Aleranvers Zeiten aufgelommene unglüd- 
liche Hypotheſe, die man nach ihren Urheber ten Euhemerismus 
nennt, wonach befanntlich die Gefchichte ver Götter entitanden fein 
fol aus den Begebenheiten von Menſchen, vie man nach ihrem 
Tode wegen ihrer fchöpferiichen Thaten und großen Verdienſte zu 
Göttern erhob. Ich kenne feinen Wahn, ver auf dem Gebiete der 
Geſchichte jo viel Unheil gejtiftet bat, wie biefer, weil ber große 
Beifall, ven er fand, den Weg zur richtigen Erkenntniß der ältejten 
Zeiten verfchloß. Beide verkehrte Anfichten ſtammen aus einem und 
demfelben Irrthum. 

Julius Ich fehe noch nicht, was fie mit einander gemein haben. 

Wilhelm. Daß fie das, was urfprünglich Eines ift, die gött⸗ 
ide Kraft, die in ihren Wirkungen geſchaut und begriffen wird, 
auseinanderreißen, und einen natürlichen und einen übernatürlichen 
Beitanptheil darin unterſcheiden wollen, von welchen fie den letztern 
einer willfürlichen Neflerion zufchreiben. Das Göttliche ift aber in 
feiner untrennbaren Einheit das Urfprüngliche, pas mit dem Men⸗ 
chen unmittelbar in vie Gefchichte eintritt, wie nach dem Bibelwort 
Gott ven Menfchen nach feinem Bilde geichaffen hat. Um aber das 
ganze Irrſal jener Hypotheſe und aller falfchen Auslegungen, die aus 
ihr entjprungen find, zu überfehen, müflen wir noch eined andern 

. Mißverftändniffes gedenken, welches ‚ver Eubemerismus in ber Er- 
Härung der alten Zeit fih zu Schulven fommen läßt. Er verfennt 
nämlich nicht nur, Daß biefer das Gelftige Sinnlicher -/mmbern 
auch daß ihr das Collective zum 





Julius. In der Mütbologte hat man dies wol längft-eefannt. 

Wilhelm. Aber in ver biftorifchen Mythologie hat man lange 
aus dieſer Wahrheit keineswegs die Bolgerungen gezogen, vie fich 
auf die fruchtbarfte Weife aus ihr entwideln laſſen. Die Auffaffwerg 
ber Geſchichte im Jugendalter ver Menſchheit iſt auch "Darin poetifdh, 
daß fie wie die Poeſie individualiſtrt. Und biefe beiven Tendenzen, 
bie nahe verwandt find, die verfinnlichenve und die individualiſirende, 
erzeugen in ihrer Vereinigung ven Mythus. > 

Julius. Soweit bin ich ganz mit dir einverftanven, und man 
fann auch fagen: dieſe Geiftesthätigkeiten ſymboliſiren die Erfchein- 
ungen. 

Wilhelm. Vorausgeſetzt, daß man ſich dabei vor dem nicht 

felten vorfommenden Mißverftänpniffe hütet, das Symbol für ein 
conventionelles, willfürliches Zeichen zu halten; daß man nicht glaubt, 
‚Diejenigen, welche die ſymboliſche Sprache redeten und vernahmen, 
hätten in ihren Gedanken das Sinnbild und tie bezeichnete Sache 
getrennt. Wenn aber pas Symbol gedacht wird als ein vie Fülle 
der darin liegenden Idee unmittelbar Enthaltendes, als cin die zer- 
ftrenten vereinzelten Erfcheinungen nicht bloß Bezeichnendes, fondern 
zugleich in fich Begreifenves, dann habe ich gegen den Ausdruck nichts 
einzuwenden. 

Zulius. Aber es ift fehr ſchwer ſich in eine Anſchauungs⸗ 
weife zu verfeßen, aus welcher das fo beichaffene Symbol hervorgeht. 

- Wilhelm. Rein Wunder wahrlid, daß wir das nicht volljtän- 

Dig konnen, denn es ſteht uns dabei immer unfer begriffliches Den- 
en, in welchen das dort Zufammengejchmolzene getrennt vorhanden 
it, im Wege. Aber wir follen ja auch gar nicht Symbole felbftthätig 
erzeugen; nur begreifen follen wir fie und ihr Verhältniß zur objec- 
tiven Wahrheit im Großen und Ganzen. Wenn man dem Mythus 
die in feiner Natur liegenden Vorausſetzungen, das Niefenhafte jei- 
ner Dimenfionen, das Wunderbare und Uebernatürliche zugibt, tft 
Alles im Zufammenhang und mit fich felbft Abereinftimmend. ‘Die 
euhemeriſtiſche Vorftellung dagegen glaubt alle mythiſchen Exrzählun- 
gen als ſolche auf Wahrheit zurückführen zu Bnnen, werm fie von 
dem Außerordentlichen fo viel abfchneidet, daß es etw wwenichlich be⸗ 
greifliches Maß nicht überfteigt, und das Wunder entweder ganz 








Das reale und das ideale Element ꝛc. 297 


tilgt oder, wie der Ausdruck lautet, natürlich erklärt. So ſpannt fie 
die poetifchen Erzählungen in ihren projaifchen Rahmen, daß die zu- 
fammengefchnürten, verftümmelten Xeiber ver ivealen Geftalten jich 
nur noch kümmerlich bewegen. Die großen Verhältniſſe find verloren 
gegangen; was dort harmonifch war, ift durch den zerftörten Zuſam⸗ 
menhang disharmoniſch geworten; was äußerlich begreiflich gemacht 
werben follte, ift innerlich nun erft unbegreiflich geworben. An bie 
Stelle der ivealen, und als einer folchen wahren, Geſchichte ift eine 
vorgeblich reale getreten, die aber in der That feine ift, denn fie ift 
eine nach wilffürlichen Vorausfegungen erjonnene. Die faljche Re- 
flexion, welche diefe Schalen Erfindungen hervorrief, ift alt, und ver- 
hältnigmäßig früh fiegreich aufgetreten. Dadurch ijt es gejchehen, 
daß das Echte in ver auf und gekommenen Ueberlieferung theilweiſe 
fo erlofchen ift, daß wir feine Umriße nur durch Vermuthungen und 
Schlüffe zu erfennen vermögen. Und ver Glaube an vieje Ueber: 
fieferung ift es, den du als einen unfjchulpigen preijeft. Man glaubt 
aber damit nur an das Unglauliche und an das Alberne. 

Julius. Das ift ein ſtarkes Wort. 

Wilhelm. Dit e8 denn etwa nicht albern, wenn dieſe ratio- 
nalifirende Gejchichte vom Tode des Romulus berichtet, vie Senuato- 
ren hätten ihn wegen feines tyranniſchen Uebermuths getöbtet, und 
Jeder habe ein Stüd des zerjchnittenen Leichnams, unter dem Ge⸗ 
wande verborgen, heimlich fortgebracht. Der klügelnde Dionyſius 
zieht dieſe Erzählung andern Berichten wegen ihrer Wahrſcheinlich⸗ 
feit vor, während ber verjtändigere Livius fie ein ſehr dunkles Ge⸗ 
rücht nennt, fich dafür aber von einem feiner Ausleger, dem Glarea⸗ 
nus, wenn ich nicht irre, meiltern lajjen muß. ‘Die Sage batte be- 
richtet, daß Romulus, in einem Unwetter zum Himmel emporgebo- 
ben, nicht mehr gefehen ward, und wenn bie fi wahr nennende 
Geſchichte einen folchen Bericht nicht ganz wegzuläugnen wagt, fon« 
bern feine Entflehung rationalifivend begreiflich machen will, wirb 
fie immer ungereimt. ‘Dabei bleibt aber die Umdeutung nicht ftehen. 
Wie der Beib des Romulus verſchwunden und nicht aufzufinden war, 
das bat fie erflärt, aber -fie fühlt pas Bedürfniß auch ven Grund 
einer fo grauenbvollen That anzugeben, und fälicht num weiter: Me⸗ 
mulus fel ein sädjichtslofer Tyranı gewwordes 





298 Axchaun Wilpelns Buckel; =.r 


cier zum mitheupiten Haſſe gereigt, ien ſarkſten. Widerſpruch zum 
wahren Sum der Sage. In dieſer iſt Alles zuſammenhangend und 
We fich abgeſchloſſen. 

Julius. Das kann ich dir für ‚bein Beifpiel wahrlich nicht 
zugeben, wenn ich auf bie Auslegungen. ver Deuter in deinem Sinne 
eingebe. Ich bin in diefen Unterfuchungen nicht jo unbewanbert, wie 
: wach meinem Unglauben an ihre Ergebniffe fcheinen möchte. 
Eqhagler fchreibt die Dichtung von ver Apotheoje des Romulus 
wenns zu, der Ähnliche Vorftellungen aus ber griechifchen My⸗ 
HPologie:auf den Grünber der Stabt übertragen habe, und ein aller⸗ 
neueftes Buch über Römifche Mythologie, welches hier auf dem Ti⸗ 
fche liegt, pflichtet dieſer Auficht volllommen bei; ja es bazeichnet 
den Eindruck diefer Erzählung fogar als ven einer modernen Erfin⸗ 
bung. Wo bleibt nun ba bie großartige Witerthümlichleit ve My⸗ 
thus? So geben auch dieſe Deutungen, jo geben vie Cinprüde, 
welche man von den Mythen empfängt, auseinander; und man wirb 
durch dieſen Wirrwarr entweder. zum Beharren bei ven Darftellun- 
gen der fpätern Alten, oder zum abjoluten Unglauben an jede Art 
von Deutung geführt. 

Wilhelm Es wäre zu wünſchen, baß die Müthenerklärung 
nicht fo vielen Anlaß darböte, ven Scharfjinn zu üben; dann würde 
man wol die Hypotheſen, vie auf das Einzelne gehen, nicht jo häu⸗ 
fen, ſendern vie Dinge nur im Großen auffaßen. Die Umriffe bes 
Ganzen find es, die ven rechten Einprud machen; mag es fih num 
mit den beſondern Umftänden fo over anders verhalten haben. Bei 
biefen muß bie Unterfuchung fchon darum oft im Dunfeln tappen, 
weil der Mythus eben feiner idealen Natur wegen in der Ausbil 
bung des Einzelnen wechſelnder und wanvelbarer Natur ijt. Wer 
im halben Dämmerlichte zu fcharf ſehen will, ift ver Zäufchung am 
eriten unterworfen, und erregt dann auch an ver Richtigkeit ber Um⸗ 
riffe, die in Wahrheit zu exbliden find, unbegrünvete Zweifel. Ich 
will nicht darüber ftreiten, ob die Gejchichte von der Erhebung des 
Romulusin den Himmel von Ennius vorgefunden, oder in dieſer 
fpeciellen Geſtalt feine Erfindung if. Wenn das legtere der Fall 
wäre, jo hätte er nichts anderes gethan, als was von vielen Dich⸗ 
‘een vor ihm gefchehen ift: fie haben einen in ver Vollsſage enthal- 








Das reale und das ibeale Element :c. 299 


tenen Kern ausgebildet. Gegen ven Sinn des Mythus, ver in jedem 
Fall ven König auf wunderbare Weife von der Erbe verfchwinden 
ließ, hat Ennius damit nicht verftoßen, und in fo fern ift feine Er⸗ 
zählung nichts weniger als modern. Was einander gegenüber ftehen 
bleibt, und fich gegenjeitig ausfchließt, das ift ver Mythus und bie 
euhemeriftifche Erklärung. Wie Romulus in jenem von einem Gotte 
gezeugt auf der Erde erfcheint, in verjelben Weiſe jcheibet er 
auch von ihr, wie ein überirpiiches Wefen. Der wunderbare Anfang 
und das wunderbare Ende feines Lebens jind Bürge tafür, daß bie 
ſes ganze Leben nur Symbol, nur das perfönlic geworvene höchit 
außerorventliche Werk ver Gründung der ewigen Stadt iüft. 

Julius. Könnten wir dann aber nicht einfacher, natürlicher 
und ohne gewaltfame Verflüchtigung eines wirklichen gejchichtlichen 
Lebens jagen: ver Anfang und das Ende mit ihren Wundern find 
fagenhafte Zuthaten zu viefem Yeben? 

Wilhelm. Nein, theurer Freund, das können wir nicht, wenn 
wir uns auf das, was real biftorijch ift, und was nicht, einigermu- 
Ben verftehen. Es gibt allerdings Ausichmüdungen, erfundene Zu— 
füge zu wirklichen Begebenheiten und Lebensläufen, die man weg— 
fchneiven kann, aber was dann übrig bleibt, muß die Kennzeichen 
menfchlicher Wirklichkeit tragen. Dieſe beftehen im Individuellen, in 
der lebendigen Bewegung des für eine Berfänlichkeit ausgegebenen 
Weſens. Solche Züge werben in dem Leben des Romulus gänzlich 
vermißt. Was auf die Eigenthümlichkeit eines werdenden Etaates 
deuten fol, fteht jo troden da, daß es leicht als bloße Abftraction 
erfannt wird. Gerade das Wunberbare, gerade der Anfang und das 
Ende, ift im Leben des Romulus das einzig Yebenvige, objchon es 
idealer d. h. bier mythiſcher Natur ift, und alfo das Unperfönliche 
ganz entichieden zeigt. 

Ju lius. Damit möchteft du zu viel bewieſen haben. Erinnere 
bich, weffen Leben man in den Gefichtepunft eines Mythus gerüct 
bat, indem man fi) auf vie göttlichen Endpunkte des Beginns und 
des Ausgangs berufen hat. Ich weiß doch, daß du biefe Unficht kei⸗ 
neswegs theilft. 

Wilhelm Du haft Net, und darum will iei:gupdh nicht, 
wie ich fonft wol Könnte, deinen Einwurf beieitiges 





300 Sohaun Wilgein Loebel, 


Leſſings: in Dingen des Geſchmacks und der Kritik find Grunde aus 
ber Religion genommen, recht gut feinen Gegner zum Stillfchweigen 
zu dringen, aber nicht fo recht tauglich, ihn zu überzeugen. Sondern 
ih will auf deine Einwendung eingehen, wobei ich nur an bie eben 
Ihon gemachte Bemerkung anzumüpfen habe. Um auf bie mythiſche 
Beſchaffenheit eines als geſchichtlich überlieferten Lebenslauf zu 
ſchließen, dazu reicht es allerdings nicht hin, daß es mit Wunbern 
heginne, ende oder fonft erfüllt fei; es ift auch nöthig, daß das Per⸗ 
fönliche darin zurüdtrete gegen das Allgemeine, als deſſen Träger es 
erſcheinen mn. Nun weiß ich aber in aller Welt kein Leben, welches 
in feinen wichtigeren Veftandtbeilen, zumal in ben Möben,-io ent- 
ſchieden den Stempel des Perſoͤnlichen und Individuellen tilge, wie 
das Leben Jeſu. Es ift das perfönlichfte und individuellſte, “welches 
je gelebt worben ift. Diefe Anfchauung hängt zuſammen mit ber 
Ueberzeugung von der Befonverheit der Lehre Jeſu, die durch Feine 
Geneſis aus irgend welchen frühern Lehren hervorgegangen ift. Ich 
fchweige von offenbarungsgläubigen Theologen und will mich auf ei= 
nen ganz auf dem philofophifchen Standpunkte ftehenven, völlig un⸗ 
abhängigen tiefen ‘Denker berufen, e8 ift Johann Gottlieb Fichte, 
welcher jagt: wie diefer Jeſus von Nazareth, in der und ver bes 
ftinmten Zeit im jüpifchen Lande geboren, zum Bewußtſein feiner 
Ioentität mit Gott gekommen ift, das ift fchlechthin nicht zu erklären; 
& muß als’ An rein hiſtoriſches Factum genommen werben, welches 
als folches nicht metaphuficirt werben kann. Sit es, fete ich hinzu, 
nicht zu metaphyſiciren, To können die mit der Xehre innigft verbun- 
denen Lebensumftände auch nicht aus Vorftellungen, vie ſich fpäter 
in ber Gemeinde Ser Gläubigen gebildet hätten, abgeleitet, mit an 
bern Worten, nicht als Mythus behandelt werben. Und fo liegt hier 
nicht etwa ein Fall vor, bei dem man aus Gründen, die außerhalb 
der hiſtoriſchen Erwägung liegen, inconjequenter Weije eine Aus- 
nahme zuläßt. Sonvern gerade die allgemeinen Gründe, welche das - 
Verbältniß von Gefchichte und Mythus beftimmen, nöthigen biefe 
Thatfache als eine biftoriiche zu faſſen. Das Leben Jeſu ift nichts 
weniger als eine bloße ideale Zufammendrängung des im chriltlichen 
Leben überhaupt Zeritreuten und Verbreiteten. 

Iulius. Hieraus folgt offenbar vie Berechtigung großartige, 





Das reale und das ideale Element ꝛc. 301 


ungewöhnliche Begebenheiten , die als eine ſolche Zuſammendrängung 
ericheinen, zumal wenn fie eine poetifche Färbung haben, als mythiſche 
zu deuten. Setze einmal, es wären nach einer Reihe von Jahrhun⸗ 
verten über bie Gejchichte ver legten Generationen nur noch Trümmer 
vorhanden. Und da Time Einer und bemonftrirte, König Yriebrich 
der Große ſei eine mindeſtens zur Hälfte müythifche Perfon, folgenver- 
maßen. Daß Friedrich gleich im Anfange feiner Regierung eine Pro— 
vinz faft fo beveutend, wie ver ganze VBefig, von dem er ausgegan⸗ 
gen, einer großen mächtigen Monarchie durch einen Yauf ſteter 
Siege entriffen Haben foll, das Klingt ſchon unwahrſcheinlich genug. 
Wenn nun aber weiter berichtet wird, wie er gegen eine Verbindung 
der mächtigjten Reiche Europa's einen Kampf beftanden hat, dem eine 
Dauer von fieben Jahren gegeben wird, einen Kampf, in dem Alles 
dazu beiträgt, das Gemüth aufs höchſte zu ſpannen, wo es bald durch 
Siegesjubel entzückt, ‚bald durch tief tragifche Töne erfchüttert wird, 
ba ber Held und fein Reich mehr als einmal dicht an ven Rand völ- 
ligen Ververbens geführt werden, zulegt ſich aber doch Alles glücklich 
löſ't; da fehen wir die Erfindung mit vollen Segeln gehen, Poem 
und Epos treten uns bandgreiflich entgegen. Es fommt dazu, daß 
Kriegslieber, bie leiver verloren find, angeführt werben, als deren Ver⸗ 
faffer einige einen Grenadier nennen, andere einen Dichter, der Gleim 
geheißen haben foll. Das Letztere ift gewiß die falfche Annahme eines 
Litteratord, während ber Grenadier auf den wahren Urfprung bin- 
deutet. Jene Lieder find offenbar volfspoetifchen Urjprungs und vers 
mutblich fpäter zu einem zufammenhängenden Epos verbunden wor- 
ben, von dem wir jegt nur eine proſaiſche Weberarbeitung befiten, 
welche ver gemeinen unfritifchen Anficht als die wirkliche Gefchichte 
eines wirklichen Strieges erfcheinen. Daß dieſer preußifche Frieprich 
einmal gelebt hat, möchte nicht füglich zu bezweifeln fein, aber eben 
jo wenig wird man läugnen Tönen, daß er in dem erhabenen Gedicht 
nur das Symbol der Gefchichte feines Volkes iſt. Deun fo ift es ja, 
biejed Preußenthum, von Kleinem Beginn mächtig wachjend durch un⸗ 
erjchütterliches Selbftvertrauen, Alles der Kühnheit feiner Pläne und 
feiner Entjchloffenheit verdanfend, gegen vie numerifche Ueberlegenheit 
feiner Feinde die Großheit feiner Gefinnung unb die Macht feiner 
Intelligenz muthig in die Wage werfend. Wenn Einer fo fpräche 
Hiſtoriſche Zeitſchrift 1. Band. 20 





302 Sohann Wilhelm Loebell, 


und es lebten dann noch Kritiker eurer Schule, würden fie ihm nicht. 
beifallen mäffen ? | 

Wilhelm Das ift ja eine fein ausgefonnene und ausgefpone 
nene Parodie. Aber der Frage, mit ver bu beine wohlgeſetzte Rede 
gefchlofjen Haft, will ich eine andere entgegenftellen. Wenn der Hi⸗ 
itorifer, ven bein prophetifcher. Blick fieht, auch Kunde hat von den 
geheimen Einflüffen am rufjifchen und franzöfifchen Hofe, welche vem 
Widerſtande Friedrichs fo fehr zu Hülfe kamen, wenn er ferner weiß, 
daß der König nach dem Kriege genöthigt war, ein Bünbniß einzu- 
‚gehen, in welchen er fremde Zwede weit mehr zu fördern hatte, als 
bie eigenen, baß er bald nachher, um materielle Mittel für Tünftige 
Bertheirigungsfriege zu fammeln, Schaaren frember, verhaßter Zoll 
wächter in fein Land ziehen zu müffen glaubte, und dadurch feiner 
Popularität nicht geringen Eintrag that — meinſt du, daß biefer Kri⸗ 
tifer alsdann auch Friedrichs Gefchichte für ein abgerundetes Epos, 
in welchem der Held ald Symbol glänzt, erklären wiirde ? 

Yulius Dann würde er für feine Hypotheſe allerdings wenig 
Glauben finden. 

Wilhelm. Und doch wol darum nicht, weil diefe Dinge als 
ftörende Elemente den innern Zufammenhang der mythiſchen Vor— 
ftellung aufheben würben ? 

Julius. Notürlihd. Wenn man das Socal von menjchlichen 
Schwächen befreien will, muß man wol viefen Keinigungsproceß 
vornehmen. 

Wilhelm Nicht von menfchlichen Schwächen, fondern von ber 
Zrübung und dem Staube der gemeinen Wirklichfeit. Denn wenn 
man ben ibealen Figuren auch die menfchliche Schwäche nähme, wür« 
ben fie fich leicht ins Wefenlofe verlieren; vie Unvollkommenheit, Das 
Gebrechliche, das Straucheln, welche mit unferer Natur jo verwebt 
find, daß fie ein wefentliches Stück ter Charaktere und ver Begeben- 
beiten ausmachen, würden verloren gehen, und ftatt ver idealen Ge— 
Schichte würden wir Ideale haben, aber feine Gefchichte. Wenn wir 
aber die Gefchichte befreit fehen von den trüben Verwickelungen, dem 
hin= und herfchwanfenden, in Hundert Krümmungen fich bewegenben 
Wefen der menfchlichen Dinge — dies werben wir als ein Merkzeis 
hen des Mythiſchen betrachten pürfen. 





Das reale und das ibeale Element ıc. 303 


Julius. Wohl. Aber laß die Rolle des platonifchen Sokrates 
für einen Augenblid auf mich übergehen. Erhellt nicht aus meinem 
Beiſpiel eines mythiſch zu deutenden Lebenslaufs, trog deiner Be- 
ſchränkung des daraus abzuleitenden Beweiſes, daß auch im wirklichen 
Leben die Elemente des Mythus liegen? 


Wilhelm. Allerdings. Du haſt auch mit deiner geſchickten 
Parodie nur die nahe Verwandtſchaft von Geſchichte und Mythus 
bewiefen, die nur leugnen kann, wer weder weiß, was das eine uoch 
was das andere ift. " 


Julius. Und wenn jener Reinigungsproceß, ber nur die ide— 
alen Clemente ftehen läßt, vollzogen iſt — wird dadurch nicht eine 
als mythiſch zu erkennende Erzählung zum Vorſchein Tommen ? 


Wilhelm. Gewiß; voransgefett daß, was nach Ausſcheidung 
bes caput mortuum übrig bleibt, hinreicht, die Idee, welche ber 
Mythus ausprüden ſoll, anjchaulich zu machen. 

Sulius Immer wird aber doch einem Mythus, fo gut wie 
ein aus Gedanken entnommenes, ein wirkliches Leben zu Grunde lie» 
gen können? 

Wilhelm Wenn nämlich — worauf wir bei der Geſchichte 
des Romulus jchon kamen — die invividuellen Züge nicht fehlen. 
Zuweilen findet fich nicht vie geringfte Spur von perfünlichem Leben, 
wodurch denn der mythiſche Ausdruck faft zu einer bloßen Redefigur 
wird, wie wenn ein Stammpater den Namen feines Stammes trägt, 
und dann eben nur den Stamm in feinem Urſprung bebeutet. 

Julius Hiernach wäre alfo, wo wir wahrhaft individuelle 
Züge finden, auf ein wirkliches gejchichtliche® Leben ihres Trägers zu 
ſchließen. 

Wilhelm. Dieſer umgekehrte Schluß iſt ein zu raſcher. Wie 
die mythenbildende Thätigkeit, für welche der Begriff hiſtoriſcher Treue 
An unſerm Sinne gar nicht vorhanden iſt, ausſcheidet und wegläßt, 
was fie nicht brauchen kann — mit berfelben Unbefangenbeit flicht 
jie erfundeue Züge ein für vie Veranfchaulichung ihrer Bilder, ohne 
baburch, in ihrem Sinne, einen Verftoß gegen die Wahrheit zu be⸗ 
gehen, welche für fie nur eine innere if. Sind nun felche Darftel- 
lungen in einem poetifchen Sinne entworfen, unb 





304 Johaun Wilhelm Loebell, 


Dichter, der ſie ausführt, ſo wird es ihnen an individuellen Zügen 
fo wenig fehlen, als ob fie Copien des Lebens wären. 

Julius. Es werden demnach an ber Grenze beider Welten 
Begebenheiten und Figuren ftehen, von denen es zweifelhaft bleibt, 
- ob fie der einen oder der andern angehören. 

Wilhelm. Gewiß, und ich will bir bei dieſer Gelegenheit ge⸗ 
fteben, vaß ich den Eifer mit welchem man bei folden Grenzfiguren 
darüber geftritten hat, wohin fie zu ftellen find, nicht recht begreife. 
Um ihnen ihren rechten Plap anzuweifen, kommt e8 auf ganz andere 
Dinge an, als auf ihr einſtiges Dafein in leiblicher Erſcheinung. 

Zulius. Und auf welde? 

Wilhelm. Auf die Größe ihrer Bedeutung in ben Borftel« 
lungen der Folgezeit und auf den Einfluß verfelben in ber fortgehen- 
den Eutwickelung. Wenn ich erkenne, daß der Hellene darum fo fehr 
an den poetijchen Bildern des Achill und des Odyßeus hing, weil er 
in ihnen vie feinen nationalen Gefühlen zufagenven Ideale der im 
offenen Kampfe Alles niederfchmetternden Heldenkraft und ver liften- 
erfinnenden, durch die Stürme des Lebeus glüclich hindurchſchiffenden 
Gewandtheit erblidte; jo wird es wenig verjchlagen, ob es einmal 
wirkliche Menfchen dieſes Namens gegeben hat, oder nicht. Ya ſelbſt 
bei Perjonen,, denen Werke zugejchrieben werden, die wir mit Augen 
feben und mit Händen betaften, verhält es jich nicht andere. per 
glaubft du, daß, wenn bas einjtige leibhaftige Dafein eines alten 
Sängers Homer an einem beftimmten Orte, zu einer beftimmten Zeit 
geboren, noch jo fehr feitgejtellt werden Fönnte, dies den Zertrennern der 
Gedichte zur Einfchüchterung over den Einheitömännern zur Stärkung 
gereichen würde ? 

Julius. Ich weiß nicht, wie weit alle diefe fubtilen Unter: 
fcheivungen für eine reflectivende Betrachtung reichen. Das aber 
glaube ich verfichern zu können: mit einer Ausweifung von Geftalten 
wie Achill und Odyßeus aus dem Lande ber Lebendigen wird fich der 
unbefangene Sinn nie verjöhnen. 

Wilhelm. Wenn e8 mit ver Ausweifung aus dem Lande der Leben⸗ 
bigen feine Richtigkeit hätte, würde ich viefen unbefangenen Sinn loben 
möäffen. Aber an dem wahrhaft Lebendigen wäre die Kritik, wenn fie der⸗ 





Das reale und das ideale Element ꝛc. 305 


gleichen wirklich im Sinne hätte, ihre Kunft umfonft verfuchen. Nur 
darüber, daß gewilfe Geitalten ihren Urſprung im Gedanken und doch 
Wahrheit haben, kann und will fie aufflären, und zwar gerabe im 
Interefje ihrer Wahrheit. Denn viefe würde ja fonft ftehen ober 
fallen mit ven Beweiſen für ihre einftige Leiblichkeit. 

Julius. Wie magft du nur Luftgefpinnften Leben und Wahre 
heit zufchreiben ? 

Wilhelm. Und wie magft bu nur Bilder, welche ver Ge- 
danke in feinen Brennipiegel aus zerftreuten Strahlen der wirklich- 
ften Wirklichkeit jammelt und formt, Quftgefpinnfte nennen? 

Julius. Auf diefe Weije würde auch den olympiſchen Göttern 
ein reales hiſtoriſches Leben zukommen. 

Wilhelm So parador es klingen mag: bedingungsweiſe iſt 
auch hierin Wahrheit. Real iſt das Daſein der griechiſchen Götter, 
inſofern ſie Ideen perſonificiren, und man auch von der Realität der 
Ideen reden kann, und hiſtoriſch, wenn man dieſes Wort in dem 
weiten Sinne nimmt, der Alles in ſich begreift, was einmal auf Ent— 
widelung eines Culturvolks einen nachweislich entfchievenen Einfluß 
gehabt hat. Dann wird doch gewiß das unter dieſen Begriff füllen, 
deſſen Einfluß fortdauert. Es find nicht bloß die Natur: und Geiftes- 
mächte, die, als Berfonen gedacht, Gegenſtände des griechiichen Cultus 
waren; es ijt die Individualiſirung Liefer Gejtalten, die mit dem 
wunderbaren, einzigen Zauber ver Wahrheit und Anmuth moderne 
Dichter und Bildner fortwährene begeiftert haben, wie Goethe ihnen 
ein lebendiges Daſein im Pantheon des Künftler® zufchreibt. 

Jupiter ſenket die göttliche Stirn und Juno erhebt fie, 
Phöbus ſchreitet hervor, fchüttelt das lodige Haupt — 
und wie bie Berfe dort weiter heißen. Glaubſt du, daß Schiller ven 
Sturz diejer Götter fo energifch hätte beffagen Können, und daß biefe 
Klagen fo große Wirkung hätten üben können, wenn nicht auch in 
den geftürzten Göttern noch wirfliches Leben wäre? 

Sulins Nimm dich in Acht! ‘Du wirft in den Geruch ver 
beillofeften Ketzerei kommen. 

Wilhelm. Ich mache es doch lange nicht jo arg wie bie Kir⸗ 
chenväter, welche in ven alten Heidengöttern perfänlich lebendige Dä⸗ 
monen faben. Im Ernft geiprochen fcheint e6 mir eine herrliche 





806 Ichenn Wilhelm Loebell, 


Frucht des echten hiftorifchen Sinnes, daß er fich mit Begeifterung 
zu verfenfen vermag in das Große und Echöne auch folder Welt- 
anfchauungen, über vie der erleuchtetere Dienfchengeift hinaus ges 
fohritten ift, und daß er ſich an ihren Früchten laben fann. 

Sulius Wenn ib dir nun auch alle deine Argumentationen 
zugebe, haft du doch nur gezeigt, daß vie jegige Kritik vie ideale Auf- 
faffung ver älteften Zeiten in ihr Recht einzufegen im Stande ift. 
Vermag fie denn aber auch den Schleier zu lüften, ven vie fubjec- 
tiven Anjchauungen jener Zeiten über die Wirklichkeit ver Begeben⸗ 
beiten verbreitet Bat. 

Wilhelm. So daß die objective Geſchichte in ihrem ganzen 
Zuſammenhange klar hervortritt, fehwerlid. Wenn aber vom Durch- 
bliden der wirklichen Geftalt einzelner Gruppen durch jene Hülle vie 
Rede ift, allerdings. 

YZulius Wollteſt du wohl einen Beweis von dieſer ihrer 
Faͤhigkeit geben ? 

Wilhelm Sch bin darum nicht verlegen. Wenn ver Eube- 
merismus mit feiner Auslegung ver Götter- und Heroenwanderungen 
Necht hätte, würde ver Hifteriihe Stoff dadurch um nicht bereichert 
werden, als um einige Abenteuer von Prinzen und Nittern ohne alle 
Bedeutung. Beachten wir aber, daß der Gott over Heros ald Sym⸗ 
bol gedacht Alles umfaßt, was ſich auf den Glauben an ihn bezieht, 
befonder8 daher auf feinen Dienft, und ferner wie fich in den zahl» 
reihen Pflanzftäpten ver Phönicier und der Griechen ver Dienft ihrer 
Stammgötter wieberfindet, jo können wir nicht Mweifeln, daß vie 
Wanderungen eines Gottes die Verpflanzung feined Eultus an bie 
fernen Geſtade bebeutet. Es ift der mythiſche Ausdruck für eine jehr 
wichtige Thatſache der älteften Culturgeſchichte. Von allem Hicher- 
gehörigen hat Otfried Müller in feinen Prolegemenen zu einer 
wifienfchaftlichen Mythologie fo überzeugend gehandelt, daß ich dieſes 
Buch für einen der wichtigften Beiträge für dad Studium der Ver⸗ 
hältniffe der realen Gefchichte zur ivealen halte. Denn ver Unter» 
ſchied zwifchen beiden zeigt fich nirgents jo deutlich, wie in ven Ueber 
lieferungen von ven älteften Zeiten. Streiten kann man eigentlich 
nur noch über die richtige Anwendung der dort aufgeftellten Prin⸗ 
ci pien auf einzelne Fälle. Uber ber verfchievenen Deutungen wegen, 





Das reale und das ideale Element’ ıc. 307 


bie aus Grünen, welche wir fehon berührten, bier möglich find, und 
uns vorgetragen werben, das ganze Gefchäft für ein unnüßes erklären, 
bag wäre um nichts Flüger, als fi) von ber Erklärung fchwieriger 
‚Schriftfteller abwenten, weil man über ihre Auslegung ftreitet, und 
es zuweilen aufgeben muß, ihren Sinn auf unzweifelhafte Weife zu 
enträtbfeln. 

Yulius Es wird alfo Alles auf die Anwendung ber aufge 
ftellten PBrincipien anlommen. Sollten wir aber nun nicht übergeben 
auf die Periode, wo mit der gleichzeitigen Aufzeichnung ver Begebenhei⸗ 
ten eine andere Auffaffung eintreten, und die Gefchichte fich dem Stre- 
ben nach objectiver Wahrheit zumenten muß? Merke wohl, daß ich 
von dem Streben fpreche; denn Daß die objective Wahrheit je voll« 
fommen erreicht werven könne, darf ich dir gegenüber wel nicht mehr 
behaupten. 

Wilhelm, Zuerft dürfen wir nur von dem Zurüdtreten ver früh: 
ern Auffaffung fprechen, nicht von ihrem Verſchwinden. Cie hört zu 
einer gewiffen Zeit nur auf, Alles zu beberrichen und fo alle wirf« 
lichen Thatfachen in ihrer Weife zu affimiliven, und nur allmählich 
Schrit ver Schritt weicht fie ter neuen Betrachtungsweiſe. in 
neued Geſetz ber geiftigen Spiegelung ijt gefommen, aber das alte 
ragt noch ftarf hinein im die neue Zeit. Denn was aus tiefen Wurs 
zeln im Innern des Menfchen entfproffen ift, davon ringt er fich fehr 
ſchwer los. Die Unbefangenheit, mit ver Herodot beiderlei Auffaf- 
jungen aufnimmt, wie fie bald frierlich neben einander ftehen, bald 
mit einander ftreiten, gehört zu dem beſonders Charakterijtifchen und 
Antereffanten in ihm. Noch beteutfaner aber als für ven Gefchicht- 
jhreiber ift dies für bie Zeit, die er befchreibt, weil c8 Har zeigt, daß 
auch im nächiten Menfchenalter vor ihm die Auffaffung ter Gejchichte 
im Gefichtspunfte ver Sage noch immer vorhanden war. Im wei- 
tern Verlaufe des Alterthums war tie Vollsfage nicht mehr mächtig 
genug, bie Wahrheit umzubilden. Wenigſtens ftoßen wir für die Be 
gebenheiten im Großen — ein Paar Ausnahmen vielleicht abgerechnet 
— darauf weder in ber hijtorifchen Litteratur noch in ver Poeſie. 
Denn ein fo fpät zufammengefchriebenes Machwerk wie ver Roman 
bes PfeudorKallifthenes von den Thaten Alexanders gehört doch ge- 
wiß ber letztern fo wenig an wie ber erftern. ber es kam boch auch 


In. 
’ . 
% 





308 Zohaun Wilpelm Loebell, 


eine Zeit wieder, wo ber friſche Hauch eines jugendlichen Völlergeiftes 
Europa von neuem burchwehte, und bie mythenbildende Richtung füdh 
wieder ftarf geltend machte. 


Yulius. Du meinft das Mittelalter. Aber in ihm Tonnte 
diefe Richtung doch nicht fehr auflommen gegen das gefchriebene Wort, 
welches der That auf dem Fuße folgte. 

Wilhelm Das mittelbar. nach der That gefchriebene Wort 
beichränft die Erzeugung des Mytenartigen, aber e8 hebt fie nicht auf. 
Im Mittelalter war das velfepvetifche Element wierer mächtig genug 
geworben, um auch in foldhe Gefchichtebücher einzubringen, veren Ab⸗ 
fiht auf die Ueberlieferung ernfter Wahrheit ging. Ja, .anfehnliche 
Theile großer Werfe find mit Mythen und Sagen erfüllt. So Bat 
im zwölften Jahrhundert Earo Grammaticus feinem vänifchen Vater⸗ 
lande eine aus Volksſagen und Heldenliedern entnommene über viele 
Jahrhunderte fich erſtreckende Gefchichte gegeben, die, eufemeriftifch 
zugeſtutzt und "befchnitten, lange als eine wahrbafte verehrt worden ift. 
Dahlmann hat fie und eine antere aus isläntifchen Eagen ent—⸗ 
nommene fcandinavifche Vorgefchichte auf ihren wahren Werth, d. 5. 
auf den einer vollepoetifchen Gefchichte, zurüdgeführtt. Ob er bamit 
alle Dänen überzeugt bat, möchte ich bezweifeln. Syſteme, an vie 
lange geglaubt worden ift, und die fich tief eingenijtet haben, find 
fchwer zu ftürzen. Am merkwürdigſten aber und höchft belehrend für 
das Verhältnis von Mythus und wahrer Gefchichte ift das Neben- 
einanterfein von beiden, wenn felbft längft vorhandene Jahrbücher 
ber letztern Art die Luft ter Cage, fih in ihrer Weife geltend zu 
machen, nicht tämpfen können. Die Poeſie hat e8 fich nicht nehmen 
laſſen, die Gefchichte Karls des Großen für ihre Zwede zu geftalten, 
ift aber hier mit ver Wahrheit zu Fed umgefprungen, um ihr Abbruch 
thun zu können. Aus tiefen alle kannſt du recht fehen, wie wenig 
bei der Beurtheilung der einem Mythus zu Grunde liegenden Wahr- 
heit darauf anfemmt, ob bie Perfönlichkeit des Helden ganz und gar 
ein Gefchöpf des Getanfens ift, oder nicht. Und doch hat man in 
der Ylias nach Abzug der Götter und Wunder eine Gefchichte des 
trojanifchen Krieges gefehen, und mancher fieht fie vielleicht noch darin! 


Julius. Indeß ift man babei nicht fo vor dem Irrthum ge— 





Das reale und das ideale Element zc. 309 


ſchützt, wie in ven günftigen Fällen, wo Weberlieferungen von beiden 
Arten vorliegen. 

Wilhelm Auch das ſchützt ohne den rechten Fritifchen. Sinn 
noch nicht, wenn die Umbichtung nicht fo riefenmäßig ift, wie bei 
Kaifer Karl, fondern ſich auf einzelne Begebenheiten beichräntt. Da 
taucht ein Jahrhundert etwa nad tem Tode Otto's III. die Erzäh- 
fung auf: Stephania, die Wittme des Römers Crejcentius, babe, um 
ten Gemahl zu rächen, fich ten Umarmungen des von ihrer Schön» 
heit gefejlelten jungen Fürſten Hingegeben, und ihm Gift gereicht. 
Nun wiffen wir durch die zuverläffigiten gleichzeitigen Nachrichten, 
daß Dtto an einer mit heftigem Fieber hervorgetretenen Ausſchlags⸗ 
krankheit geftorben ift. Dennoch meint von zwei beutfchen Geſchicht⸗ 
ichreibern des neunzehnten Jahrhunderts der eine, die Vergiftungs⸗ 
GSefchichte fei nicht unmwahrfcheinlich, ver anvere, die Wahrheit fei nicht 
auszumachen. So groß ift die Gewalt ver Sage, befonders wenn fie 
ein tragifches Intereſſe für fi hat. Und dieſes hat noch überdies 
das der fumbolifchen Bedeutung für das Leben, vie Beftrebungen, bie 
Verirrungen und das Ende tes jchwärmerifchen Otto. Es liegt, fagt 
Gieſebrecht fchän, eine tiefe Wahrheit in biefer Sage, aber nicht 
eine Tochter Roms, ſondern Roma ſelbſt mit ihren unvergänglichen 
Neizen feſſelte, verrieth, tödtete den Taiferlichen Jüngling. Hier haft 
bu eine iveale Wahrheit, die fich der realen gegenüberftellt, und ſiehſt 
zugleich, wie richtige Eritifche Grumndfäße, die in unfern Tagen immer 
mehr zur Anerkennung gelangen, auf ven Weg objectiver Gewißheit, 
der du fo eifrig nachtrachteft, führen. Wenn man bie Wahrheit, troß 
ihrer vollen Gvidenz, vor einigen Jahrzehenden noch fo verkennen 
fonnte, wie wäre e8 erft, wenn wir jene gleichzeitigen Berichte nicht 
hätten! Wie würde ſich ba der Giftbecher der Stephania in der Ger 
ſchichte feftgefegt haben! Und dies muß uns lehren, alle fehr fpäten 
Darftellungen, vie einen poetifchen Charakter tragen, und denen wir 
die volle Wahrheit nicht gegenüber ftellen Können, mit Mißtrauen zu 
betrachten. 

Yulius Soll man denn immer ohne Weiteres den frühern 
Bericht dem fpätern vorziehen? | 

Wilhelm O nein, denn in vielen Fällen wirb ber fpäter Les 
bende beſſer unterrichtet fein Tönnen. Leichter - 


ee 





810 Sehaun Wilpehn Lach, 


allerdings in das Spätere ein, aber auch Gleichzeitige nehmen fie anf, 
wenn die Stimmung und Reigung ihres Geiftes fie dahin führt. Bes 
lege dafür finveft du in Sybels Forſchungen über den erften Kreuz⸗ 
zug, einem Buche, welches überhaupt über bie Entjtehung ber hiſtori⸗ 
fhen Ueberfieferung aus mannigfachen fchriftlichen und mündlichen 
Zeugniffen und aus ber befondern Art ihrer Benutzung ſehr beich- 
send ift. . 

Yulius Wenn bei den Kreuzzügen und namentlich bei dem 
erften, einige Erzählungen ten fagenhaften Charakter tragen, fo tft 
bies doch gewiß durch das Außerordentliche und Wunderbare der Bes 
gebenheit veranfaßt. Bald nachher betritt aber doch das Mittelalter 
eine Entwidelungsftufe, welche die Sagenbildung ausfchließt. 

Wilhelm. Nicht fo ganz. Wenn ein vollsmäßiges Yutereffe 
ihr den Weg gebahnt bat, und die objective Wahrheit dunfel war, 
bat tie Sagenbildung auch fpäter ihr Recht behauptet. Dies ift der 
Ball bei der Entjtehung ber jchweizerifchen Eidgenoſſenſchaft. ‘Die 
Sagen, bie fich darüber im Volk gebildet hatten, wurben erft einige 
Dienfchenalter nachher nievergefchrieben, und um fo williger in die Gefchichte 
aufgenommen, da bie Völker an ihren Urfprüngen ein beſonders groſ⸗ 
ſes Intereſſe nehmen. Hier handelte e8 fih zwar nicht um nationale 
Anfinge, aber um ven Beginn eines Freiftaats, der, als die Sagen 
fih befeftigten, fehon einen großen Auffchwung genommen hatte. Da 
mag nun vie Kritik ihre Sache mit noch fo guten und fcharfen Waffen 
führen; ihrer Predigt begegnet bei vielen, wehl bei den meiſten Schwei« 
zern patriotifcher Zorn, außerhalb des Landes ein ironifches Lächeln 
über die Veberfpannungen der Zweifelſucht. Die Gefchichte von ver 
wilden Graufamfeit ver Vögte, vom Apfelſchuß, von ver gerechten 
Rache, welche die Mebelthäter trifft, find gar zu interefjant, und fie 
bewegen da8 Gemüth fo fehön. 

Julius. So erprobe doch un den ehrlichen Bezweiflern des 
Zweifeld deinen Sat ven der Befriedigung, bie das innerliche Fort⸗ 
leben ver von der Kritik getöbteten Wefen gewährt! Du wirft fehr 
Wenige bereit finden, den Taufch einzugehen. Vergebens wirft bu 


. ihnen fagen, Zell fei ber ewig lebende Repräfentant einer hohen Hel« 


benfraft und Begabung, bie mit Gottvertrauen allen Nachftellungen 
‘er abgefeimteften Graufamleit entgeht, und Vergeltung an ihr übt. 





Das reale und das ideale Element sc. 311 


Nicht dieſes Leben ift e8, welches fie wollen; fie Begehren, nicht ge- 
ftört zu fein in dem Glauben, daß der Apfelfchuß wirklich einmal 
gefchehen ift, wie er auf der Echaubühne fertwährenn vollzogen wirb 
zur nicht geringen Epannung und Rührung ver Zuſchauer. Wo 
bleibt dann nun die Kraft deiner ewigen Dauer der Heroen in ber 


Idee? 


Wilhelm. Ich bitte dich, Liebſter, unterſcheide doch zwiſchen 
der Wahrheit des idealen Fortlebens, und der Fähigkeit, es recht auf— 
zufaſſen. Gewiß wird, wie du ſpotteſt, der Troſt, den ich bereit habe, 
Wenigen genügen, aber aus keinem andern Grunde, als weil die See— 
lenſtimmung, welche die mythenartige Sage hervorrief, das Berürfniß, 
vie Idee leibhaft perfonifizivt zu fehen, une fie gleichfam mit Händen 
betaften zu Fünnen, noch immer vorhanden find. Nur daß, was bei 
ben poetifchen Gejchlechtern einer frübern Zeit eine active Verrichtung 
war, bei ben ſpätern zu einer pajfiven geworben ift. Beide, die fchaf- 
fenden wie bie aufnehmenden Generationen bebürfen zur Unfchauung 
der Begebenheiten folcher Männer und Thaten, welche gleichfam bie 
Summe ter Ereigniffe in fich enthalten. Daß in dieſer Summe bie 
geringeren Motive, welde vie Sage fchon auegemerzt hat, fehlen, 
entfpricht auch ganz wieder jenem Bedürfniß. Wenn ich aber von ber 
paſſiven Zunction der fpätern Gefchlechter fpreche, fo verftehe ich das 
nur von ihrer Vorherrfchaft, nicht meine ich, daß Die andere, tie 
thätige, ganz erlofchen wäre. Der Luft zu vernehmen fteht vie Fäh— 
igfeit zu bilten und vorzutragen naturgemäß zur Seite. Iſt daher 
das mit ver Cage verwandte Element durch den Reichthum und bie 
Genauigkeit der Beobachtung der Wirklichkeit viel fchwächer geworden, 
fo lebt c8 doch, wenn auch nur in leifen Schwingungen, fort bis auf 
ven heutigen Tag. 


Julius. Und worin erblidit du diefe Spuren ? 


Wilhelm Nicht in. ven Berichten von Thaten und Verhand⸗ 
lungen, die offen vor Aller Blicken va liegen, kann eine folche Geis 
ftesthätigfeit hervortreten, wol aber in ven Erzählungen von bem, 
was fich ven Blicken der Meiften entzieht, von ben Privatleben her⸗ 
vorragenber Perfonen, von ihrer mit bem Schleier bes Geheimmiſſes 

bedeckten Einwirkung auf bie äffe 





312 Iohaun Wilhelm Loebel, 


Vorliebe für das Außerordentliche und Ungemdhrliqhe, man kann ſagen, 
für das Novcellenartige. 


Julius. Novellenartig nennſt du das Auferordentliche⸗ 


Wilhelm. Weil die Entwidelungen durch das Unerwartete 
und Ueberraſchende den Charakter der Novelle ausmachen, im Gegen⸗ 
ſatz zum Roman, der Schickſalewendungen aus den Seelenzuſtänden 
und ihren Wandlungen ableitet. Und es zeigt ſich die Freude an dem 
Außerordentlichen nicht nur darin, daß man es, wenn es ſich wirklich 
begeben hat, mit Vorliebe hervorhebt: ſie wirkt auch erzeugend. Man 
greift einzelne Züge aus einem Leben heraus, verknüpft ſie und bildet 
aus ihnen einen Vorfall, in welchem der zu ſchildernde Charakter ſich 
von ſeiner eigenthümlichen Seite recht anſchaulich zeigen ſoll. Eben 
dahin gehören unzählige Witzworte und Antworten, die man großen 
Männern in den Mund legt. Denn dieſe ſinnvollen Ausſprüche ſind 
öfters auch nur ein zuſammengedrängtes Bild der geiſtigen Phyſiog⸗ 
nomie, welche aus manchen Reben, Gefprächen und Schriften ihres Urbe- 
bers hervorblidt. Die Anekdoten, fie mögen Begebenheiten over Witworte 
enthalten, find alfo geiftige Verbichtungen des Zerftreuten, und kommen in 
Bezugaufdie Grundrichtung bes menjchlichen Geiftes, aus ter fie ftaınmen, 
mit.ven Mythen überein; wie ſehr fie fich auch in allen andern Be— 
jiehungen von ihmen unterfcheiven. ch will dich noch auf tie von 
Lehrs gegebene vortrefflihe Nachweifung aufmerkſam machen, wie 
viele Märchen in bie griechifche Literaturgefchichte (und ich meine, nicht 
in tiefe allein) gelommen find aus eben jener Neigung, Vorftellungen, 
die man gefaßt bat, im verzerrte oder ganz erpichtete Gefchichten zu 
Heiden, cover auch aus ver bewußten Abficht, unwahre Borftellungen 
durch ſolche erfonnene Anekdoten zu verbreiten. Denn die Erfahrung 
lehrt, daß nichts beifer haftet. Zu ſolchem Mißbrauch muß eine Rich» 
tung, bie wir boch in ihrem Urfprung als eine ideale zu erfennen 
haben, fich hergeben. Mit Recht ftraft jener feharffinnige Autor bie 
Kritik, die jich bei diefen und andern, aus andern Quellen gefloffenen 
Verfülfchungen fchlaff erweiſ't. Vollkommen ſtimme ich ihm bei, wenn 
er ten Grundfag, Alles für wahr gelten zu lafjen, was allenfalls 
benfbar wäre, einen wahrhaft unerträglichen nennt. Die Kritik kann 
bier gar nicht ftreng genug. verfahren, wenn anders möglichite An- 





Das reale und bas ibenle Element'sc. 313 


näherung an vie objective Wahrheit eines ver erften Gefete der hi- 
ftorifchen Darftellung ift. 

Julius. Indeß haben doch Hifteriker, vie ganz wahrheitsgetreu 
fein wollten, fich öfters erlaubt, felbft etwas hinzuzufügen, einen Kleinen 
Zug etwa, der eine in ihren Quellen gegebene Situation nur ans 
fhaulicher macht. Scheint Dies nicht ftatthaft? 

Wilhelm. Nicht das geringste von einer folchen Urt, infofern 
e8 als Thatfache erfcheint, kann nach meiner Meinung erlaubt fein, 
Die Mufen ver Gefchichte und ver Dichtung find verwandt, aber das 
Necht der Erpichtung kann der erjtern nicht zuftehen. Nicht auf 
biefem Wege wird bie Gefchichte mit dem ihr gebührenven und noth- 
wentigen idealen Beſtandtheil durchwebt. Vielmehr ift es gerade ber 
Weg, die ideale Gefchichte verdächtig zu machen. 

Julius. Hiernach mußt du ven hiftorifchen Roman gänzlich 
veriverfen. Be oo 

Wilhelm Wenn eine wirkliche Perfon im Vlittelpunfte fteht, 
kann ich ihn allerdings nur für eine unftatthafte Zwittergeftalt halten. 
Ganz anters verhält fich die Sache, wenn hijtorifche Perfonen fich 
nur im Hintergrunde bewegen. Denn alsdann hat nicht die Gefchichte, 
jondern vie Peeſie gehandelt. Diefe ift e8, welche Gefchichtliches in 
ihren Bereich gezogen bat. In jenem Bulle hat ınan geglaubt, fich 
burch Meifterwerle der dramatiſchen Poefie rechtfertigen zu können. 
Aber es liegt in der Natur des Drama’s, daß es ganz anbern Ge- 
ſetzen zu folgen bat. 

Julius. Indeß ftehen wir noch immer bei dem mythenartigen 
Geſchlecht. Ich hörte aber gar gern, was du über das Verhältniß 
des Subjectiven und Objectiven auf andern Anfchauungsjtufen zu 
fagen haft. 

Wilhelm. Kine bloße Skizze davon würde noch manche Stunde 
erfordern. | 

Yulins Zu einem Fragment aus biefer Skizze follteft du dich 
doch entfchließen. 
Wilhelm Damit es nicht. das Anfehen Gabe, ale wollte ich 

bir entfchlüpfen, wo bie größten Schwierigleiten, ober, wie du wol 
glaubt, die Unmöglichleiten beginnen, mag es brum fein. Aber bu 
mußt bebenfen, wie fchwierig es ift, ein Glizgen- Bu 





E 


x 


814 Shann Miſhela Sack, - ; s 


Hiſtoriker der reflectivenden rt annehmbar zu sgdhen, wann. nam.iie 
Einzelnen wenig oder gar nicht berüdjichtigen. Denn in. Der 
reflectirenden Zeit, wo fich Alles zerfplittert, fo f den Einzelnen: 
ungleich mehr an, als in ver bisher betrachtete, 

Jul ius. Uebergehe nur in beinem zufammenfaffenden Sturben 
Herodot und Thuchbides nicht ganz. 

Wilhelm Der erfiere gewährt uns unſchätzbare Belehrung 
und einen herrlichen Genuß, aber er repräfentirt feine neue Gattung 
und Richtung, da er, an ber Grenze zweier Welten ſtehend, durch 
bie Großartigfeit und das Umfaſſende feiner Eompofition zwar. anf 
bie Zukunft deutet, aber durch die Naivetät feiner Weltanfchauung 
und die diefer auf das vollfommenfte entſprechende Stilart bey Bew 
gangenheit angehört, und daher keine Nachfolger finden konnte: Beau 
dem andern aber fönnen wir fagen, was Aug. Wilh. Schlegel vom 
Aeſchylus als dem Schöpfer der Tragödie: in voller Rüftung wie 
Ballas aus dem Haupte des Jupiter, fprang bie Geſchichte aus dem 
Haupte des Thucydides hervor. | 

Julius Deinem Syfteme zufolge muß auch er ein ſubjectives 
Element in die Geſchichte getragen haben. Das hat von dieſem wol 
objectivſten aller Geſchichtſchreiber vor bir doch wol Niemand be= 
hauptet. 

Wilhelm. Ich muß deinem Gedächtniſſe zu Hülfe kommen. 
Denn du kannſt nur vergeſſen haben, was du gewiß in einem der 
feinſinnigſten Beurtheiler des alten Schriftenthums geleſen haſt. 

Julius. Ich erinnere mich in der That nicht gleich. 

Wilhelm Reiche mir doch einmal ven zweiten Band von 
Dtfried Müllers griechiicher Litteraturgefchichte vom Bücherbrette hex, 
und höre: „Thucydides hat bie ganze Geſchichte durch feinen Mi _ 
gehen laſſen; fie ift vollfommen: Broduct feines Gelee 
und ihre Glaubwürdigkeit beruht wejentlich darauf, daß viefer Geiſt 
bie Fähigkeit und Bildung hatte, alle Gedanken, welche vie handeln- 
den Perfonen bei ihren Begebenheiten gedacht hatten, nach Anleitung 
ver Handlungen felbft ihnewnölßänvenfen.“ Ein vortreffliches, tiefes 
Urtheil, was auch gar Maht beffar ausgedrückt werben kann. 

Julius. So viele San doch wenigitens richtig, daß — bu 
fiehſt wie ich mir beine Terminologie ſchon angeeignet Habe — daß 







Das reale und das ibeale Element ıc. 315 


im Thuchbides das fubjective Element dem objectiven feinen Cintrag 
gethban Hat, und eben fo wenig das ideale dem realen, weil in ihm 
beide zuſammenfallen. 

Wilhelm. Ja, Theurer, das ift es eben. Wenn das verein⸗ 
zelnte Reale, in einem folchen Geifte fich abfpiegelnd, feine es inner- 
(ich verfnüpfenven, d. 5. idealen Beziehungen erhält, wird e8 erjt zum 
wahrhaft Realen. Weil es aber eine ber jeltenjten Fähigkeiten it, 
die Freigniffe in allen ihren Einzelheiten als nothwendiges Erzeug⸗ 
niß der gejchichtlichen Idee zu faffen, jteht diefer große Autor, wir 
fönnen fait jagen einzig und unerreicht da. Und was bie Aufgabe, 
die er fich geftellt hatte, um fo fchwieriger machte, war, daß bie 
Nothivenvigkeit, vie Zeitläufte ganz anders wie früher aufzufajien, 
gar nicht bloß in ver umgeftalteten Geiftesrichtung der Beobachter 
lag, fondern auch in dem veränderten Charakter ver handelnden Men⸗ 
chen jelbft. Weit ver verberbten Geſinnung waren die Wege, bie 
man ging, krumm geworben, die Plüne ränfevoll, vie Ausführung 
verwidelt und zerftüdelt. Und alles dieſes mußte er in einen Brenns 
punft zuſammenfaſſen. Nun ging es aber auch ver Geſchichtſchreibung 
wie jever Kunft ; denn als Kunſt haben wir jie doch wol zu betrachten? 

Sulius In fo fern ihr auch aufgegeben ift, nach ver Schön⸗ 
beit der Form zu ftreben, ohne Zweifel. 

Wilhelm Noch mehr, weil fie das Reale und das Ideale zu 
verfnüpfen un zu verjchmelzen hat. — Sch wollte fügen, vie Ge- 
Schichtfchreibung entging dem Schickſal nicht, welchen jede Kunſt ver: 
faͤllt: fich auf dem höchſten Gipfel, dei fie erftiegen bat, nicht halten 
zu können. 

Julius Und dann gehen die Künftler falfche Wege, um nicht 
unter den erreichten Höhepunkt zu finfen, oter um ihn wol gar noch 
zu überfteigen. Es beginut alsdann die Herrichaft ver Manier. 

Wilhelm. Ja wohl. Aber es gebricht der beginnenven Mas 
nier oft weder an Geift noch an Kraft. Uebrigens vervielfültigten 
ſich gerade jett die Aufgaben ver Gefchichtfchreibung, und befonders 
wurde fie auf ein Gebiet gebrängt, welches Thuchdides gar nicht be« 
fchritten hatte. Ye mehr fich nämlich die reflectirende Zeit über fich 
felbft befann, je mehr wollte fie auch Albert 
Sinne der Weltanfchauung, in welde | 


y 2. 
Dr 


316 Iehane Wilhelm Lochell, 


Julins. Und indem bie Hiſtoriographie viefes Miikfuil Ier 
frievigen wollte, gerieth fie im vie —— —— nen 
welchen du gefprochen haft. 

Wilhelm. - Das war es nicht allein, webur fie fih an ver 
biftorifchen Wahrheit verjündigte. Da fie einmal angefangen Katie, 
mit der Ueberlieferung willtürlich zu fchalten, und ba fie durch ie 
Syſtem erft Sinn und Verſtand bineingebracht zu haben glaubte 
dehnte fie ein ähnliches Verfahren auch über Jahrhunderte nadp ber 
mothifchen Zeit aus. Wir fehen dies bejonders an ihrer Behaud⸗ 
lung ver römifchen Gefchihte. Sie zwängte Bruchftikte ver echten 
Ueberlieferung in ein erſonnenes Syſtem, änderte, wo fie nicht paſſes 
wollten und füllte Lücken willtürlich aus. 3: Wiebuhre außerordentlicher 
Scharfblid war es, der dieſes Verfahren erfannte und beleuchtete. 
Er unterſchied die echten Fragmente von ben falſchen Reſtanrationen 
der Spftematifer, und objchon ihm nicht alle vie, welche er jeih 
vornahm, gelangen, war es doch eine große und höchſt fruchtbare 
Geiftesthat, durch welche er das Echte ausſchied, und durch jeie Bei- 
fpiel lehrte, wie —— Schein, mit dem das Falſche glänzt, 
überall, wo zu erfennen und zu bejeitigen fe. Und ba 
flehft doch, von Grundfag er dabei geleitet war. 

Julius Wol fehe ich, daß du Niebuhrs Verfahren abhängig 
machen willft von deinem Kanon: vie fubjective Auffaſſung wird 
fichrer durch die Richtung ganzer Zeitalter und Schulen, als durch 
die Eigenthümlichkeit eines Einzelnen erfaunt. 

Wilhelm. So verhält es fih. Bon viefem Brincig, , 
ausgegangen, obſchon er es nicht ausbrüdlich als ein —— 
net, wie ſeine Methode überhaupt vom Leſer ſelbſt abſtrahirt werben 
muß aus dem praftifchen Gebrauch bewsge von ihr macht. - Yenex 
Grundfag ſcheint nun ein höchſt einacher, ſech von ſelbſt veahender 
zu fein: und doch möchte ich bie gefchichtliche Kritik nachgzwwieſen 
feben, die ihn vor Niebuhr angewandt hat. 

Julius. Doch dies Bebräfft nur feine formale Methode. Bon 
den concreten Unterſchieden zwiſchen feiner Auffafjung und jenen fal⸗ 
ſchen Haft du noch nichts geſagt. 

Wilhelm Du willſt mich da in ein Detail verloden, was 
weit über mein Verſprechen hinausgeht. Ich muß aber wol wieder 








Das reale und das ideale Element :c. 317 


einen Schritt über meinen Zwed hinaus thun, damit es nicht fcheine, 
daß dieſe Unterjchievde nur im Unbeftimmten und Blauen liegen. 
Diele Schriftiteller des fpäten Altertbums glaubten die Zuſtände und 
Richtungen ihrer eignen Zeit in venen des frühern Roms wieder zu 
finden. Dieſes Miſtverſtändniß, welches fie zu tiefen Irrthümern 
führte, rührt ber von ihrer Unfähigkeit, fich in andere Anfchauungs- 
freife lebendig zu verjegen. Niebuhr, ver dieſe Fähigkeit in hohem 
Grade beſaß, jchloß auf die Natur der alten Zuftände, beſonders auf 
den politijchen und fittlichen Charakter der verjchievenen Volksclaſſen, 
aus ver Richtung und Gefinnung, die in den Begebenheiten zu er: 
fennen find, und aus Fragmenten ver echten Ueberlieferung, welche 
von jenen Autoren bei Seite gejchoben worden waren, weil fie nicht 
in das von ihnen angenommene allgemeine Syſtem paßten. Denn 
dieſes bequeme Generalifiren gehört auch zum Charakter ihrer faljch 
färbenden Auffaffungen. 

Julius. Wenn aber Cicero und feine Zeitgenoffen, auf welche 
bu zieljt, von ihrer eigenen Zeit ausgehen, ftügen fie fich doch nur 
auf das, was bu früher für die untrüglichite Gewahr der Wahrheit 
des Ueberlieferten erklärt haft. 

Wilhelm. Aber ſie verwandeln das richtige Princip, auf wel⸗ 
chem dieſe Gewähr beruht, in ſein Gegentheil. Die Gegenwart zeugt 
für die Vergangenheit, wenn man fie als aus ſteten Verwandlungen 
hervorgegangen betrachtet; jene aber gehen von einer fälfchlich ange⸗ 
nommenen Stetigfeit der Zuſtände aus. 

Sulius. Im der griechifchen Gejchichte hat man ja wol auch 
von ſolchen Uebertragungen aus einer jpätern Zeit in eine frühere 
Beifpiele. 

Wilhelm. Sie fehlen allerdings nicht, aber bier ift die Wahr⸗ 
beit noch. mehr verbunfelt worden durch einen Irrthum von völlig 
anderer Art. 

Julius Den ich nicht abne. 

Wilhelm. Ich meine verkehrte Vorftellungen von dem Cha⸗ 
ralter einer frühen Vergangenheit, nach welchen er ber Beichaffenbeit 
ber fie erzeugenven Zeit entgegengefet gewefen Wäre. Es ift eine 
Richtung nicht unähnlich der Naturie ten Jahr⸗ 
hunderts, welche eine erisäun 

OBiſteriſche Seitfärift L Bam. 





x 


818 Ichaun Wilpein Lochell, 


Urzeit verlegte, um fich durch ein Gegenbild ver Verderbtheit, in 
deren Mitte man lebte, zu tröften und zu erquiden. Bei ven Gries 
hen hatten viefe Bilder zwar renlere Anhaltspunkte, man umlleivete 
fie aber mit dem trüglichen Schimmer eines faljchen Ivenle. Befon- 
vers ift dieſes bei der Geſchichte der Spartaner ver Fall, deren rauhe 
Simplicität man Ja einer Tugend und Reinheit erhob, vie gegen vas 
Thatfachliche zuweilen auf das feltfamfte abfticht. Aber bie Sopbiften 
ließen fich durch ſolche Wiperfprüche ‚nicht ftören. Es war ein zu 
fchöner Stoff für ihre Prunkreden, von deren Inhalt wir im Plutarch 
viel wieberfinden, Auch pelitiiche Einrichtungen wurden baburch im 
ein falſches Licht gerüdt. Hier tft die «(Entfernung ber fubjectiven, 
over falſchen idealen Zuthat nicht ſehr ie, und boch halten Alter 
thumsforfcher, die fonft ſcharfe Schnitte nicht ſcheuen, mit einer merk⸗ 
würbigen Zähigkeit an jenes Schriftitellers Berichten über Sparta feft. 

Julius Und die Form diefer Vorftellungen ver Vergangenheit ? 

Wilhelm Sie ift keine andere als die, welche vie Gefchicht- 
fchreibung auch fir ihre eigene Zeit gebraucht, eine Form, welche ven 
größten Einfluß auch auf ven in ihren Stoff getragenen Geiſt übt. 

Julius. Und dieſe ift? 

Wilhelm. Die redneriſche. 

Julius. Da will ich dir das Wort aus dem Munde nehmen, 
und in deinem Sinne die Gebrechen dieſer Gattung und die aus 
ihnen abzuleitende Methode für die Ermittelung der Wahrheit an⸗ 
geben. Die redneriſche Geſchichtſchreibung wird das Product einer 
geſunkenen Zeit fein, wo Stoff und Form, nicht mehr in unmittel- 
barer Einheit verknüpft, auseinander gehen, und die Autoren es 
darauf anlegen, durch tie Form als folhe zu gefallen, zu reizen, zu 
imponiren. Du wirft darauf dringen, daß man bie Tendenz zum 
rebnerifchen Schmud bier ftetS im Auge behalte, und gegen Alles 
mißtrauifch fei, mas dieſen Shmud irgend verräth, da man ber 
pomphaften Anfchwellung des hochtönenden Lauts zu Liebe nur. zu 
leicht auch die Thatſache anfchwellen läßt. 

Wilhelm. Deine Eharakteriftif ift treffenn Für den. Berfall 
biefer Gattung, welche wir aber alsdann beſſer die rheterifirenve 
nennen. Der Ausdruck redneriſch tft umfaſſender, und fchließt auch 

ne wirffiche Blüthenzeit ein. Denn es Hat eine Entwidelungeftufe 





Das reale und das ideale Element x. 319 


gegeben, wo in ver redneriſch geformten Geſchichte, jo gut wie in der 
Revefunft als folcher, die Form ein natürlicher Ausfluß des den Stoff 
burchbringenden Geiftes war. Und wenn Einer fagen wollte, dies 
fei im Thuchdides allein der Fall, fo würde er doch zugeben müffen, 
daß das Werk tiefes Mannes hinreicht, nicht nur die Meöglichkeit, 
fondern auch das Daſein einer ſolchen Kunſthöhe zu erweifen. 

Zulius Du rechneſt alfo auch- viefes Werk zur rebnerifchen 
Gattung ? | 

Wilhelm. Zu welcher willjt vu e8 jonft wol zählen? In ihm 
ift, wie ein Kenner fich treffend ausdrückt, vie Seele auch der Bege⸗ 
benbeiten in ven Reden. 

Julius. Wenn e8 fich fo verhält, werden wir nicht bei ber 
bloßen Exiſtenz viefer Kunftforn ftehen bleiben dürfen. Du wirft 
einen gefunden’ Urfprung, eine in der Sache felbit liegende Berech⸗ 
tigung der Gattung nachzumweifen haben. 

Wilhelm. Diefe Berechtigung lag in ver Nothwendigkeit, eine 
Form zu finden, welche ver reflectirenden Auffaffung eben fo entjpreche, 
wie der naiven das epifche Gedicht. Und dieje Form konnte im na⸗ 
turgemäßen Entwidelungsgange der höhern Rede feine andere fein, 
als vie Fünftleriiche Profa.. So weit e8 nur darauf anfommt, die 
ſinnlich erfcheinenven Ereigniffe lebendig zu vergegenwärtigen, fine bie 
alte und die neue Form nicht weientlich verſchieden. Was einem 
Meifter der Hiftoriichen Darftellung hierin gelingt, gelingt ihm ver- 
möge einer poetifchen Begabung, wovon Livius das anfchaulichite 
Beifpiel gibt. 

Yulius Darin liegt aber noch fein eigentlich redneriſcher 
Charalter. 

Wilhelm Auch in ver engern Bedeutung bes Worts wird 
bie Gefchichtichreibung redneriſch vermöge ber Natur ihrer Aufgabe. 
Um dieſelbe Zeit, wo in When vie Staatsberedfamkeit das große 
Mittel wurve, dad Volt für politifche Meinungen und Beitrebungen 
ber leitenden Häupter zu gewinnen, wurden die Intereffen und tie- 
feren Beziehungen des Staatslebend ver wefentliche Inhalt der Ge- 
ſchichte. Sie hatte daher, wenn auch nicht jo unmittelbar praftifch 
und von einem höhern objectiven Standnunkt aus, doch biefelben 
Zwede, wie die Staatekunfi. We natüur⸗ 


820 Sehaun Bilhelm Loebel, 


lich, ja nothwendig, daß das von den Stantemännern mit bem größ- 
ten Erfolge angewandte Mittel auch pas Mittel und bie Form ber 
Geſchichte wurde ? 

Zulius. Wenn Athen ftatt ver Welt gelten kann, haft bu Recht. 

Wilhelm. Kann es denn das nicht als ein Eulturmittelpusekt, 
der mit den Formen, vie in ihm erzeugt wurden, auf wunberbare 
Weife alle folgenden. Sahrhunberte beherriht? Wenn wir Athen nen- 
nen, fo nennen wir bie Duelle eines Stromes, der durch bie römifche, 
die romanifche und die germanifche Welt fortflieht. | 
Julius. Da Haft nur von den and der Form und bem Stoffe 
eiffpringenven Eigenſchaften ver repnerifchen Gattung geſprochen. 
Wie, wird es fi mit der Beſonderheit hres die Dinge verknüpfen⸗ 
den Geiſtes verhalten ? 0 Due 

Wilhelm. Erinnerſt du Dich nicht, von" ‚welcher Forberung des 
menschlichen Geiſtes an die gefchichtliche Weberlieferung wir behaup⸗ 
teten, daß fie fich vor allen andern und zu jeber Zeit geltend machen 
würde? 

Sulius Gar wohl. Es war die, alle Ereigniffe auf beſtimmte 
Urſachen zurückgeführt zu ſehen, Urſachen, die in der homeriſchen 
Weltanſchauung Thaten ver Götter ſind. 

Wilhelm. Oder Entſchlüſſe ver Menſchen, die ein Gott ihnen 
in die Seele gelegt hat. Die reflectirende, einen fo naiven Glauben 
belächelnve Zeit, will die Urjachen der Begebenheiten gleichfalls in 
Entichlüffen der Menſchen, aber in freien, durch natürliche Motive 
angeregten, nachgewiejen fehen. Dieſer Forderung ftrebt der eben fo 
denkende Gefchichtichreiber zu genügen, indem er natürliche Gründe 
der Ereigniffe und die Motive ver Handelnden afıgibt. Dies tft von 
wer Seite des verfnüpfennen Geiftes betrachtet ver Charakter ver 
neuen, ober, wenn du lieber willit, die Gejchichte im Sinne aller fol« 
genden Gejchlechter erſt begründenden Gattung. Sie ift Erzengerin 
bes ſogenannten iftorifchen Fragmatismus. 

Julius: ganze Eonftraction der redneriſchen Gattung iſt 
mir nen, befonkeye auffallend aber dieſe legte Behauptung. . Man leitet 
ja den hiftorifchen Pragmatismus ſonft Fuwöhnlich von Polybius ab, 
ber ja ein Gegner ver rhetoriſchen Geſchichtſchreibung ift. 

Wilhelm Das thut Man’ aber mit Liwwecht, objchon die Be⸗ 





Das reale nnd das ideale Element ıc 321 


nennung von ihm berrührt. Für ihn iſt die Gefchichte die Unter⸗ 
weiferin im Handeln, welches die öffentlichen Gefchäfte, die Pragmata, 
betrifft, und, da fie das nicht fein kann, wenn fie vie Urfachen ber 
Begebenheiten nicht nachweift, dringt er mit dem größten Nachdruck 
auf folche Unterſuchungen. Aber darum ift er fo wenig ber Urheber 
piefer Richtung, als die Aufgabe, die Urfachen der Größe Roms zu 
erforichen, fie veranlaßt bat. Vielmehr liegt dieſer Anlaß in dem 
großen Umſchwung der Verhältniffe und der Gedanken in ver Zeit 
des peloponnefifchen Krieges, einem über alles folgenreichen Umfchwung, 
welcher auch die fubjective Betrachtung des Gefchehenen von Grund 
aus verändern mußte. 

Julius. Im welcher Beziehung fteht aber die Nachtweifung des 
urfachlichen Zuſammenhanges zur Redekunſt? 

Wilhelm. Im einer fehr einleuchtenden, dächte ih. Wenn 
ver Redner — was doch feine höchſte Aufgabe ift — die Hörer zu 
Thaten befenern will, muß er ihnen vie künftigen Ereigniffe als von 
ihren Entjchlüffen abhängige varftellen, alfo immer von ver Voraus⸗ 
fegung ausgeben, daß die Beſchlüſſe ver Menfchen, vie Erzeugerinnen 
der Begebenheiten find. Dieſe Vorausfegung ift auch die des Ges 
chichtfchreibers, jener wendet fie auf die Zukunft, er auf die Ver⸗ 
gangenheit an; und wenn er auch darım weit fichrer und objectiver 
verfahren kann, fo werben doch vie Mittel, welche beive anwenden, 
ihre Verknüpfungen einleuchtend zu machen, von fehr ähnlicher Art 
fein. lm aber vie geheimen und veriwidelten Beweggründe im In- 
nern des Menfchen zu beleuchten, bazu gehört doch, wie du gewiß 
zugeben wirft, die Richtung der Betrachtung auf zergliedernde See⸗ 
lenkunde. 

Julius. Eine Richtung, die ſich nicht früher entwickelt hat, 
als in ven Tagen bes Sobkrates. 

Wilhelm. Welche doch auch die des Thucydides find. Und 
du fiehft nun auch, daß alle Urſachen, welche damals den Anlaß zu 
einer neuen Hiftoriographie gaben, nicht zufällig zufammengetroffen 
find, fondern aus einer und berfelben Wurzel ftanmen. 

Zulius. So hätten wir den Thuchdides denn auch als ben 


Vater der bie wahren Urhacpen. der Dinge ‚beieuchtenben Gefchicht- 
fchreibung zu betvachtene Pr ei 


8522 Sehaun Miſheln Locbeil, 


-WBilheim. Aber als einen Vater, dem ſehr wenige feiner Rad 
fernen gleichen, ober auch nur nahe kommen in bes Ummittelbarkeit 
uk Tiefe der Anfchauung. Viele, vie fich für befonders berufen 
und geiftreich halten, geben den Leſern mit der Miene voller Zuver⸗ 
flögt leere Vermuthungen; auch bier foll das Gefuchte, weit Herge⸗ 
helte bienden tirto beftechen. Bei ver eigenen Zeit und ber ihr zu⸗ 
nächft vorangegangenen bleibt man mit biefer Behanplungsart nicht 
fteben; man geht damit weit zurüd in bie Jahrhunderte. Und hier 
können wir erſi ˖ die ganze Unzuverläßigleit vieler Darftelluugen bes 
Miern Altertäiuns überfehefl;, benn zu ben bereits bezeichneten Claſſen 
irethlimlicher Auffaſſungen treten nun odia Gebrechen der ſinkenden 
wueriſchen Schule nadg"beiken Die Autoren ſind nicht 
fparfam mit erbichteten Zufägen, WER Rhetoren abglätten, 
ven fehlenden Zuſammenhang verveden A durch maleriſche Schil- 
derungen ergögen, und weil fie als vorgebliche philofophifche Betrach⸗ 
ter die verborgenen Abfichten anfpeden wollen. 

Iulius Wenn aber das falfche Hiftorifche Weal auch ans 
einer allgemeinen, herrſchend gebliebenen Zeitrichtung hervorgegangen 
iſt, hat ſich die antike Geſchichtſchreibung doch zuweilen auch wieder 
davon abgewandt. Noch in ſpäter Zeit hat ſie einen ſo großen und 
würdigen Repräſentanten wie Tacitus erzeugt. 

Wilhelm. - Zu einer Geſchichte ver alten Hiſtoriographie, ver⸗ 
möge beren wir ihre Wandelungen genau beftinnmen könnten, haben 
wir fein Material. Bon der Kunftgeftaltung ber redneriſchen Schule, 
um die Zeit, wo fie in einer beftimmten Form zur entfchiedenften 
Herrſchaft gelangte, wiffen wir fehr wenig, da uns das Schidfal von 
ben Schülern des Sokrates, welche man doch als Die Häupter ihrer 
weitern Entwicklung zu betrachten bat, und von ber erftaunlichen Fülle 
von. Werfen aus ber zweiten Generation nach ihnen, leider nichts 
gegönnt: hat. Das aber ift,giwie du richtig bemerkt, vollleumen 
deutlich, daß wir einen allmäßliiftweiter gehenven, gleichmäßigen Ver⸗ 
fall der. Hiftorifchen Kunft nicht angtüchmmen haben. Es bangen in 
ihr — wie e8 in dem Maße in keiner andern Kunfl ver Fall ift — 
Werth und Bedeutung, ver Werke oft weit mehr von der Sinnesart 
und Begabung ver einzelnen Schriftfteller ab, als von dem Gange 
der allgemeinen Entwicklung. Mber''es gibt in ver Kunftübung Tra⸗ 









Das reale und das ibeale Element ac. 323 


bitionen, von denen fich nur das echte Genie loszumachen vermag, 
und auch dies nicht immer. Gebrechen, vie fich aus einem Mißver⸗ 
ſtändniß der Stilart großer Meifter eingefchlichen haben, pflanzen 
fih in ver Schule, wo die Mufter mit Bewunderung ftubirt und 
nachgeahmt werben, fort. So geräth in ver Gefchichtichreibung oft 
auch ver redliche Wahrheitsfreund, der feine Wirfungsmittel nur aus 
der Sache ſelbſt zu fchöpfen meint, unter die Herrjchaft von Kunft- 
griffen ver Schule, welche vie Wahrheit nicht unangetaftet laſſen. 
Darum muß ich behaupten, daß herrſchende Vorftellungen über vie 
Aufgaben und die Ideale der Hiftoriographie in vie ganze repnerifch 
reflectirende Claffe fubjective Auffaffungen allgemeiner Art gebracht 
haben, welche die Kritik mehr beachten follte, um fie für die Ausſon⸗ 
derung ber objectiven Wahrheit zu benutzen. Die-Cautelen, welche 
aus dem rhetorifch angefchwellten und geſchmückten Ton herzunehmen 
find, haft du fchon angegeben, nicht minder leuchten die ein, welche 
pie ftete Hervorhebung der Cauſalverbindung erheiſcht. Hier bat 
man fich zu fehr daran gewöhnt, Motive, von einem für vie Thats 
fachen erprobten Autor angegeben, als richtig anzueriennen, wenn 
nicht ganz entfchievdene und ftarfe Gründe dagegen vorhanden find, 
ba man doch umgekehrt, wenn nicht gewichtige Gründe für ihre Wahr: 
heit fprechen, fie al8 aus der Seele des Autors ftammend betrachten 
follte. Und es ift um fo nöthiger, fich dieſe beiden Gautelen ſtets 
vor Augen zu halten, weil vie rernerifche Schule doch auch die auf 
das Altertbum folgenden Jahrhunderte vorzugsweife beberricht bat. 

Julius. Auch das Mittelalter? 

Wilhelm. Bei den mobernen Völkern ftammt vie Kunftforn 
der Proſa aus dem claffifchen Altertfum. Die Rhetorik, auf de⸗ 
ren Aneignung auch das Mittelalter das größte Gewicht legte, ging 
bei dem Altertbum, fo weit man es zu begreifen vermochte, in bie 
Schule, und mit ihr die Geſchichtſchreibung. Es erfcheint das Rhe⸗ 
torifche bier oft mit der Uebertreibung naiver Ungefchidlichkeit, welche 
die Ausſcheidung des Objectiven erleichtert. 

Julius. Indeß liebt pas Mittelalter doch auch andere Formen 
per Meberlieferung, vor allem bie ber trockenſten Annallſtik. 

Wilhelm. Und ferugemäiftt eine Behandlung der Geſchichte 
auf, bie durch lebendige Anſchaci⸗ 


4 Sehenv Aitheim Sockel, 
vu erinnert, ahne feine. Aumuth und Liehlichleit zu haben. 









Raivetät und Treuherzigfeit läßt die objective Wahrheit oft weit 
er externen, als der künſtlich geſchraubte rhetorifche Ton. 

Julius. Und die religidfe Auffaffung, vie in ber reflectivenben 
Zeit des Altexihene-Fich fo wenig und im Mittelalter fo ſtark gel- 
gs macht? Bildet fie nicht auch eine eigene Gattung ver Geſchicht⸗ 
fyreibung?  -. 

Wilhelm. Schen darum nicht, weil fie feine befonbere Form, 
ſelbſt. ıicht::eime beſondere -Schattirung einer fonft fchon vorhandenen 
Ferm erzeugi-hat. Und wab-mpch mehr fagen will, darum nicht, 
weit fie die — Dinge; als folche, einzeln und in ihrer Ber 
näpfung betrachtet, in .fonft gewohnter Weifs-anffaft. 

Zulius. Doch nicht etwa wie bie redneriſch⸗reflectirende Gat. 
tung? 

Wilhelm Warum nicht auch wie dieſe? Sie kann ſich dieſe 
Auffaſſung aneignen, und hat es oft gethan. 

Julius. Haft du es denn nicht als bie innerſte Eigenthim— 
lichfeit jener Gattung bezeichnet, daß fie ben Urſprung der Ereigniffe 
in den als volllommen frei gepachten menfchlichen Willen fett? 

Wilhelm. Das foll doch nicht etwa ein Widerſpruch fein? It 
ed denn etwas Neues und Fremdes, den Glauben an vie menjchliche 
Freiheit mit dem an eine allwaltende Vorfehung zu verbinden? Ob 
die Gefchichtfchreibung ganz ungläubig ift, oder fleptifch, ober vie 
Leitung der Menſchen durch eine göttliche Weltregierung ſtärker ober 
leifer ahnen läßt, — den nächiten Anlaß zu ven Thaten ver Men⸗ 
chen wird fie immer in ihren Entfchlüffen finven. 

Julius. Aber fie kann auch glauben, Hinter biefen Entjchlüffen 
einen beutlich hervortretenden Plan Gottes zu ſehen, und es unter: 
nehmen, ihn in feinem Zufammenbange durch Die ganze Weltge- 
fchichte nachzuweifen. Du weißt, daß es ſolche Berne, usb mit 
großer Zuverficht auftgetenng.. gibt. | 

Wilhelm, Mit wie ‚gutem Grunde ober wie. willlurlich fie 
dabei verfahren, „Eimnew wir füglich dahingeſtellt fein. laſſen. In je- 
bem alle wird viefer ihgale Beſtandtheil fo entichieven als Betrach- 
tung und in fo augenſcheinlicher Sonderung von ver objectiven That⸗ 
fache auftreten, daß die uufesgesgmugen Unterſuchung zu Grunde lie 





Das reale und das ibenle Element ac. 325 


gende Aufgabe, jenem Beſtandtheile nachzufpüren, ſich von ſelbſt er⸗ 
ledigt. 

Julius. Wir find durch meine Fragen wieder vom Wege ab» 
gelommen. 

Wilhelm So laß uns ihn denn noch einmal betreten, um 
raſch noch einen Blick auf eine litterarifche Erfcheinung zu werfen, die, 
wenn irgend eine, ven lodenven Reiz der repnerifchen Geſchichtſchrei⸗ 
bung für Autoren und Lefer befundet. Ich meine bie anfehnliche Reihe 
beveutenver lateinifcher oder (atinifirender biftorifcher Werke, von ber 
zweiten Hälfte des fünfzchnten Jahrhunderts bis zum Anfang des 
fiebzehnten gefchrieben. Du weißt, daß bie Velten, welche damals 
ihre Zeitläufte der Nachwelt überlieferten, mit ber Milch ver Alte 
genährt waren. Die genaue Nachbildung berfelben fchien ihnen ver 
für Wiſſenſchaft und Kunft und nicht minder für ihren eignen Ruhm 
förverlichite Weg. Gewiß find durch das Talent und ven Zleiß, bie 
darauf verwendet wurben, würbige und großartige Werke entftanden, 
für welche die Wiffenfchaft ver Gefchichte den Verfaffern nicht ge= 
ringen Dank ſchuldig iſt. Es treten in ihnen aber zugleich die Ge- 
brechen ver redneriſchen Gattung nach ihrer ſpätern Geſtaltung ſehr 
ſtark hervor; denn ſie ſind verdoppelt durch die immer mißliche Ver⸗ 
pflanzung eines unter beſtimmten climatiſchen Bedingungen entwickel⸗ 
ten Gewächſes in einen fremden Boden und in eine fremde Luft. 
Dieſe Schriftſteller übergehen mit Stillſchweigen Bildungselemente 
von der größten Wichtigkeit, weil die Alten ſie übergangen haben, 
ſie wollen die Dinge betrachten wie die Alten, ſie wollen nicht nur 
die Sprache, ſondern auch den ganzen Ton ihrer römiſchen Muſter 
wiedergeben. Sie gehören der Bildung an, durch welche claſſiſches 
Latein wie eine Luft ſtrömt, die man nur einzuathmen braucht. Aber 
wie correct, fließend und gewählt der Ansdruck auch iſt: es leidet 
unter ihm, als unter einem rhetoriſirenden und einem fremden, die 
Schärfe und Beſtimmtheit der Zeichnung und die Wahrheit des, 
wenn ich fo fagen darf, lanpichaftlichen Farbentons. Welcher Kenner 
unferer Tage würbe nicht wünfchen, baß ver ireffliche de Thou nicht 
in gewähltem Latein, fondern tn feinem ‚älterlichen Franzöſiſch, in 
ber Art der Recherches de la Fr» Mes vet . 
nen Beitgenofien Patquier geſch 


826 Sehaun Miilgelm Becks, 


wärbe. die Ghgenthümlichleit der Situationen umb ber Menſchen ſich 
abgefpiegelt haben in ver Friſche, ver. Natürlichkeit, ver Raivetät bie 
ſes Tone und ver damaligen Sprachel Ein folder Sprachton näm⸗ 
(ich, oder der verwandte des Eommines, mußte es fein. Denn baf 
mit Werfen in einer mobemen Sprache, wenn ihre Berfaffer bie 
ganze Inteinkihe Barbe auf ihren Stil übertrugen, wenig gehelfen 
war, zeugen Geciardini unb andere Stalläner. Während man ins 
deß bei de Thou; wenigſtens in der Geſchichte ſeines Vaterlandes 
nur jene Wahrheit des Colorits vermißt, haben anbere latiniſtrende 
Hiſtoriker jener Jahrhunderte es wit der Erforfchung ber “factifchen 
Wahrheit und mit der Durcharbeitung ihres Stoffe nicht chen genen 
genommen, eben weil fie ven Einprud und bie Wirkung ihrer Werte 
als rhetorifche Schauftüde am meiften im Auge batten.. Wie vieles 
fie in der Erfüllung der wichtigften hiſtoriſchen Pflichten zu wünfchen 
übrig laffen, hat Rante fo einpringlich gezeigt, daß biefe feine Ar- 
beit eine neue Epoche in ber kritiſchen Behandlung ver nenern Ges 
fchichte vorbereitet bat. Es wurde dies für ihn zugleich ver Antrieb, 
nenen Duellen nachzugehen, und ex fanb unter ben ungebrudten 
folche, welche ven gefchichtlichen Stoff auf das fruchtbarfte vermehrten 
und zur Entfernung ber fubjectiven Uebermalung in jener Gefchicht- 
ſchreibung weſentlich beitragen. 

Jnulius. Wie fie aber ganz aufgehört hat, wird fie doch ſehr 
vermißt. Es ift jet als ob man aus blühenven Lanbfchaften in bärre 
Steppen kaͤme. | | 

Wilhelm Das will ich Teineswegs leugnen. Dürr kann man 
aber unter ven Eompofitionen, die nun vie Stelle jener Werke vertres 
ten mäffen, nur vie zeitungsartige Annaliftit nennen, nicht die Me 
moiren, wenigſtens bie beffern und geiftuolleren unter ihnen nicht. 
Die Memoiren haben boch auch ven großen Vorzug, daß fie nicht 
mit dem Schein von Objectivität täufchen wollen, ſondern das Be⸗ 
fenntniß ihrer ganz fublectiven Haltung an ber Stirne tragen. Auch 
tft die Paufe, in ber die nah Rundung und Eleganz des Vortrags 
ſtrebende Gefchichtfchreibung verftummt ift, keine Inge. Bei den 
Sranzofen beginnt ihr Anbau fchon unter Ludwig XIV wieder. Aber 
er tft freilich fo geartet, daß er die Sehnfucht nach dem claffifchen 
Stil des fechzehnten Jahrhunderts nicht minder erweckt, wie jene von 





Das reale und das ideale Element ꝛc. 327 


dir mit bürren Steppen verglichenen Probucte. Trotz ber großen 
Befähigung ver Franzofen zur Beredſamkeit bleibt ihr hiſtoriſcher 
Etil lange auffallend matt; aber auch wo er fich Träftiger erhebt, 
leidet diefe Renaiffance an ven von uns fattfam bezeichneten Gebres 
hen ver Gattung in vollem Maße. Nicht daß es nicht eine Zahl 
ichöner, erfrenlicher Ausnahmen gäbe; aber der größere Theil ver 
franzöfifchen Hiftorifer wird von der Neigung zum Rhetorifiren, von 
dem mächtigen Einfluß ver Bhrafe, von der Luft an blendenven Ans 
tithefen zur Beeinträchtigung der factifhen Wahrheit geführt, von 
der Willfür, dem Barteigeift und der Eitelfeit zum falfchen Prag» 
matismus. 

Julius. Dann aber liegt die Schuld nicht bloß an der Ents 
artung der Gattung, ſondern auch an den nationalen Fehlern. 

Wilhelm Wir ftreben ja nach ver Erfenntniß und Würdi⸗ 
gung des Subjectiven, welches aus ganzen Kategorien ftammt, und 
dazu gehört doch vie der Volkseigenthümlichkeit fo gut wie vie ber 
Zeit und die der Kunftgattungen. ‘Der Geift, ver feine Gefchinad, 
ber erle Stil im Wiederanbau der repnerifchen Gattung, bei ven 
Englänvern — bangen fie nicht auch ganz mit den Eigenfchaften bies 
ſes Volkes zufammen ? 

Julius. Es werben demnach bie Formen ber Gefchichtfchrei- 
bung bald mehr von der einen bald mehr von der andern ber ge⸗ 
nannten Kategorien abhangen. Daß wir Deutfche auf diefer Bahn 
fo lange zurüc blieben, wird ebenſo aus der Eigenthümlichkeit unferes 
Bolfes zu erklären fein. 

Wilhelm Noch mehr aus feinen Schidfalen. Aus fteifer 
Schwerfälligfeit der Darftellung, in der fih die Schwerfälligfeit in 
einen engen Kreis eingezwängter Gebanfen abfpiegelt, winbet fich bie 
Geſchichte mühfam empor. Mit fchüchterner Befcheivenheit treten un⸗ 
fere Hiftorifer auf. Die Glätte, die Zierlichfeit, ven Wig der Nach- 
barn fchlagen fie zu hoch, die Frucht ihres treuen Fleißes, ihrer for- 
ſchenden Wahrbeitsliebe zu gering an. Die Wiedergeburt der Dich 
tung, die den Formenfinn wecte und fehärfte, und das Sturium ber 
Alten ans einem höhern Gefichtepuntt haben wefentlich dazu beige- 
tragen, enblich auch ver Gefchichtfchreihung eine wärbine Geftalt zu 
geben, aber man kann darum boch nicht ſager 





. ©. 


’ 


928 : Iohaun Wilkelm Loebeil; 


Forbermagen der Form zu genügen, babei bie Hanptrolle fpielte. Weit 
wirkfamer war das Jbeal,Welches aus dem erweiterten Kreife ber 
Gedanken, aus ihrer Freiilsiee Beweglichkeit und aus ver Wärme 
bes Gefühle Gewworging. Daraus erwuchs ber beutichen Geſchicht⸗ 
ſchreibung der letzten A¶Pealter der unſchätzbare Vortheil, ſich 
mehr von innen heraus «jn biden, als bie jedes andern modernen 
Volkes. Darum kann fie eine aufkommende Manier, eine ſich ein- 
ſchleichende Ziererel vbet Auodrucks immer bald wieder überwinden. 
Und vermoͤge der Kraft der Innern, Triebfedern kann fie fo vielfeitig 
fein. 

Julius. Und das Ausfchreiten über bie rechte Grenze? Stammt 
das auch aus. diefer Kraft? 

Bitten. Wo ein organifches‘ Leben fich mächtig regt und 
viele Zweige treibt, pflegt e8 auch an Auswüchfen nicht zu fehlen. 
Ich wollte, die Zeit vergännte mir, dir ein Bild aller Eroberungen 
unferer Gefchichtöforfehung vorzuführen, um deine Luft, immer wieder 
auf die Schattenſeite zu blicken, etwas zu dämpfen. 

Julius. - Du haſt doch ſchon ſolche Siege — Siege in deiner 
Vorſtellung — aufgeführt. 

Wilhelm. Aber ihre Zahl wahrlich lange nicht erſchöpft. An 
einen fehr bebeutenden muß ich doch noch erinnern. Die Zeitalter, in 
welchen ber reflectirende Verſtand allein herrſcht, pflegen voraufge⸗ 
gangene, bie ſich in ganz verfchiedenen Anjchauungsfreifen bewegen, 
in einem falfchen Lichte zu feben. Welchen Irrthümern einer fubjec- 
tiven Auffaffung des frühern Alterthums ſich das fpätere hingab, 
haben, wir betrachtet und erfannt, daß fein Spiegel oft ein verſchö⸗ 
nernder war. Die Irrthümer der neuern Jahrhunderte über bas 
Mittelalterrwaren nicht minder groß, aber ihr Spiegel war ein ver- 
zervenbery er zeigte ihnen nur Finſterniß und Barbarei. Seit ber 
Epoche, welche man die Wieberftellung ver Wiffenfchaften nennt, ha⸗ 
ben große Weltereigniffe fehr verfchievener Art zufammengemwirkt, biefe 
falfche Vorftellung in ven Geiftern recht zü befeitigen. Da war es 
das den Quellen eingewurzelter Vorurtbeile mit feinem fcharfen Geifte 
fo oft glücklich nachfpürende Deutfchland, welches vem vielfach ver⸗ 
Iannten Mittelalter zu feinem Rechte verhalf. Deutſche Forfcher ha⸗ 

Rn es zuerft mit feinem eigenen Maße gemefien, in feinem eigenen. 





Das reale und das ibeale Element sc. 329 


Lichte betrachtet, und andere Völker es fo zu betrachten gelehrt. Die 
Umwälzung der Anfichten begann mit einer gerechten Würbigung ver 
Baukunſt und Poefie der mittlern Jahrhunderte; die erfte Anwendung 
des richtigen Princips auf vie Darftellung eines großen Zeitabſchnitts 
nah allen Yeftrebungen und Richtungen machte Raumer. 

Yulius Und bie falfhe Berberrlihung blieb dann auch 
nicht aus. 

Wilhelm Du fällft wieber in beine Tonart, ver ich ihre Be- 
rechtigung nicht abfprechen Tann. Ich wollte nur, vie gegebenen Sfiz- 
zen — die mich viel weiter geführt haben, als ich dachte — könnten 
bich überzeugen, daß meine Zonart die bei weiten burchklingenvere 
und mächtigere ijt. 

Yulius. Du willft abbrechen und haft der philofophifchen Ge⸗ 
Ihichte noch gar nicht erwähnt. Willft du nicht fehließlich auch von 
ber ein kräftig Wörtchen fagen ? | 

Wilhelm Habe ich mich denn heute jo mephiftophelifch ge- 
zeigt? Doch im Ernft zu reden. Die Disciplin, welche Philofos 
phie ver Gefchichte genannt wird, kann gar nicht in unfern Bereich 
fallen; vie philofophifhe Geſchichte aber fcheint mir eben fo wenig 
eine befenvere Gattung anszumachen, wie die religiöfe. Denn philoe 
fophifch ift jeve in Die Tiefe gehende Gejchichte, in fofern es ihre Aufe 
gabe ift, vie einzelnen Völker cover tie ganze Menſchheit in ihrem 
Berhältniß zu den Ideen zu zeigen, zu deren Verwirklichung fie ber 
ftimmt find. 

Julius. Eo wären wir denn am Ende unferer Verhandlung, 
aber über meine Klage bei ihrem Beginn Hat fie mir nicht fonderlich 
fortgeholfen. Denn wenn ich dir auch zugeben muß, daß das Wech- 
felfpiel des fteten Zertrennens und immer wieter neuen Webens ein 
Ichlechthin nothwenbiges iſt, jo habe ich toch damit nichts gewonnen 
als ein Geſetz, welches in ber Beſchränktheit unferer Natur gegrüns 
bet ift, mich aber nicht beruhigen Tann. Diefes Wälzen eines Siſy⸗ 
phusjteines fell die Frucht aller unfrer Bemühungen und alles un- 
ſeres Forſchens fein? Je mehr ich es werfuche, mich in beine Anficht 
bineinzuvenfen, je trauriger finde ich es, daß die Begebenheiten ver 
Bergangenheit nicht zu uns gelangen Binnen in fo volllommen wahrer 
Geſtalt, daß wir weber etwas bayon bias 





." J 
-. 
„. 


880 Fehanun Wisgekn Lochell, 


thun brauden. Und. gegen den Wunſch, daß biefes mägli wäre, 
wirft auch du gewiß wich haben. 

Wilhelm So viel’? Ach wir die Erfüllung dieſes Vrrſche⸗ 
jede Freude an der Geſchichte zanben würbe. 

Julius. Wie der freilich die einfache natürliche 
Koft verfchmäßt., weil ſeinen ſchon abgeſtumpften Gaumen nur das 
Ueberſcharfe und Prickelnde reizen kann. 

Wilhelm. Bielmehm weil jede Nahrung der Natur bes zu 
Srnährenden analog fen muß, ber Geiſt alfo nur von ber leben 
kann, bie ihm eine fchaffenne Geiftesthätigleit darreicht. Was follte 
er mit dem unabänberlich Fertigen und Etarren beginnen? 

Julius. Mannigfache Anwendungen von dem feit Ueberliefer- 
ten machen, 3. DB. auf vie Staatckunſt. 

Wil helm. Meinſt bu denn, daß .fich fruchtbare Anwendungen 
von Thatfachen machen laffen, wenn ber Geift fie nicht erfaßt und 
durchdrungen bat. 

Fulius Wohl! Warum foll aber ver Geift viefe Thätigkeit 
nicht ein für allemal geübt haben können ? 

Wilhelm. Weil die ivealen Beziehungen einer Aufeinander⸗ 
folge von Xhatfachen unendlich find, und daher von feinem Individuum 
und von Teinem Zeitalter erfchöpft werben Tönnen. Jedes hat nach 
bem Maße feiner Entwidlung und feiner Bebürfniffe andere Fragen 
an die Gefchichte zu richten, und nur allmählich enthüllt fich die Fülle 
ihres geiftigen Inhalts. Die fih fo nach und nach erzeugenden Auf- 
faffungen ftehen in einem innern Zuſammenhang; es find Stufen, 
auf welchen wir zu einer immer ’vollern Erlenntniß ver Vergangen- 
heit emporfteigen. Wie der Geift, der pie Geſchichte macht, 
tft auch der fie auslegenbe ein in fteten Berwanplungen 
fortfchreitenver. 

Yulins Sei denn das ftete Wieperaufwühlen des Bodens ber 
Erkenntniß dienlich. Sollte e8 barum auch dem Forfcher, ber feine 
Kraft daran zu feßen bat, förverlich fein? 

Wilhelm So gewiß als der Geift erlahmt und in Schwäche 
finft, wenn er bei irgend einem gewonnenen Ergebniß fteben bleiben 
vill. Nicht bloß feinen Vorgängern foll ver Gefchichtichreiber fo ges 
snüber ftehen, ſondern, wenn es nöthig ift, auch fich ſelbft. Wen 











Das reale und das ibeale Element ꝛc. 331 


er ein ſchon gefchaffenes Werk auch ganz wieder umbilvet, begeht er 
feinen Selbſtmord, fondern raſtlos weiterftrebend folgt er dem Xriebe 
nad Vervollklommnung, denn er weiß, daß das Streben nach Wahr- 
beit höher zu achten ift, als — 

Yulins Ah! AH! Dein Leffing cher Lieblingsfat. 


Wilhelm. Sch fehe, du fennft meine Schwächen, die zugleich 


meine Stärke find. 

Yulius. Deine Stärfe? Wie das? 

Wilhelm Kann ich ftärker fein, als wenn unfere großen 
Schriftfteller für mich zeugen? Und mit viefem guten Omen will ich 
bich verlaffen. Wir haben lange gefiritten; es ift ſpät geworben. 

Yulius Ziehe nur nicht zu triumphirend von dannen. Sch 
muß mir die Sache noch jehr überlegen. 














II. 
Das römifche Gaſtrecht and die růmiſche Clieutel. 


Ben 
” Theober NMommien. 


Für den Hiftorifer, der die politifchen Grundlagen fennen zu Ter- 
nen fich bemüht, find wenige Verhältniffe wichtiger und zugleich ſchwie⸗ 
riger als diejenigen, in welchen die Echut- und bie Abhängigkeitsbe⸗ 
ziehungen zwiſchen Perfon und Berfon over zwifchen Gemeinde und 
Gemeinde fi bewegen. Denn wenn die allgemein fittlichen natürli- 
hen Grunpbebingungen derfelben überall gleichartig und fehr einfach 
find, fo ift dagegen die rechtliche Ausprägung in ungemein verfchiedener 
Weife denkbar und eben auf diefe kommt es zunächft und vor Allem 
dem Gefchichtfchreiber an. Die folgente Darftellung verfucht es im 
bie immer noch ſchwankenden und unficheren Borftellungen über das 
römifche Gaft-, Freundes» Schug- und Treurecht Feſtigkeit und 
Marheit zu bringen; bie Aufgabe tft nicht Leicht und forvert auch von 
dem Lefer einige Geduld. Die Einzelheiten find weſentlich belannt; 
es handelt fich hier um die innerliche Zufammenfügung, das juriftifche 
Berknüpfen und Zurechtlegen mannigfaltiger publiciftifcher und privat- 
rechtlicher Ueberlieferungen. Wer dies nicht vermag, weil ihm bie 
römifchrechtliche Auffaffung und Behandlung der ‘Dinge nicht hinrei⸗ 
hend geläufig ift, wird wohlthun dieſe Unterfuchungen ungelefen zu 
laſſen, freilich aber auch wohlthun überhaupt von ber älteren Epoche 
Noms abzufeben; denn zu ver älteften Gefchichte fchließt nun einmal 
bier wie überall kein anderer Schlüffel als der ver Nechtserforfchung. 





Das römifche Gaſtrecht und bie römifche Clientel. 333 


Wenn ich gerade in biefen Blättern bie folgende Unterſuchung mit— 
theile, fo gejchieht dies mit Abficht. Die Hier zur Sprache kommenden 
Berhältniffe reichen, wie alle Urzuftandfragen, weit über Rom hinaus 
und in eine fernere Vergangenheit zurück; fie dürfen darum auch von 
den hijtorifchen Fachgenoſſen noch ein anderes ald das allgemeine 
colfegialifche Intereſſe in Anjpruch nehmen. Das große Problem ver 
inbogermanijchen Urzeit, faft erft bei unferem Denken eingetreten in 
ben Horizont der Wiljenfchaft, ift bisher jehr ungleihmäßig gefördert 
werden. Die Spracvergleichung, tie wie billig ven Anfang ger 
macht hat, ift am weiteften vorgefchritten und was fich ihr widerſetzt, 
bereits lediglich eine Euriofität. Die vergleichende Mythologie fteht 
in den Anfängen; Die vergleichende politiiche Wijfenfchaft hat kaum 
begonnen, denn das Aufzeigen einiger äußerlicher Aehnlichkeiten, wie 
zum Beifpiel in J. Grimme Vorrede zu ven Rechtsalterthiimern, ver: 
hält fich dazu wie zu ber vergleichenden Sprachwiſſenſchaft vie feit 
Yahrtaufenden im bilettantifchen Heidenvorhof emfig betriebene Zu⸗ 
fammenftellung ähnlich Hingender Wörter aus verfchiedenen Idiomen. 
Es fommt vielmehr darauf an, diejenigen ftaatlichen und focialen Zus 
ftitutionen, die, als römifche griechifche germanifcye betrachtet, primi— 
tiv erjcheinen, auf die urfprüngliche Einheit zurüdzuführen und damit 
in ihrem Werben zu erfennen. Diefe Aufgabe ift freilich eine von bes 
nen, die nicht eine eigentliche Erledigung, ſondern nur einen unenblis 
hen Näherungsprozeß an die Löfung zulaffen und die darum mit bein- 
jelben Recht von der platten Verftändigfeit, welche die Gefchichte mit 
dem Aufkommen ber Zeitungen beginnen möchte, für unlösbar erklärt 
und von dem fich felbft genügenden Schwindel im Offenbarungswege 
beantwortet werden. Wem es aber Ernſt ift mit der Sache, ver 
wird weder von ber einen noch von der anderen Seite ber fich das 
Necht und die Ehre der freien vorausfegungslofen Forſchung ſchmä⸗ 
fern lafjen und jenes Ziel feft im Auge behalten, mag c8 auch in noch 
fo weiter Ferne liegen. Dabei möchte nicht mit Unrecht wie die |prach- 
liche von dem inbifchen, fo die pelitifche Vergleihung von dem römis 
ſchen Zweige zunächft ausgeben, benn wie wenig wir auch von ber 
älteften römifchen Gemeinde willen, fo wird das Bild verfelben wohl 
immer noch ein feteres und reichere® fein als es fich von den paral- 


lelen griechifchen und beutfchen politifchen Bildungen geben 
Oiſtoriſche Zeitſchrift L Band. 








wiffenfchaftliches Zuſammenarbeiten aber ift hier wenig zu erreichen; 
und eben jett, wo bie deutſche Wefchichtsforfchung und Gefchichtfdhreis 
bung fich täglich mehr durchbriügt von der Gemeinfanleit ver Hebel 
und der Zwede, der Gefahren-web ver Hoffnungen, des Merwinuftes 
und DVerluftes, eben bier,: wo fie öffentlich gleichfam folitarifch auf⸗ 
tritt, möchten vergleichen Unterfuchungen als Anfänge zu einer ver 
gleichenden Geſchichtsforſchung wohl an ihrem Plage fein. 

Es ift das Schutz- und Abhängigkeitsverhältniß zwiſchen phhfis 
ſchen oder juriftifchen Perfonen, von dem bier gehanvelt werben foll, 
wodurch alfo felbjtverftändlich die Sclaverei in dem ſtrengen rämifchen 
den Sclaven aus der Reihe ber Perfonen in die der Sachen verfeen- 
den Sinne auegefchloffen ift. Jenes Verhältuiß ift wieder weientlich ein 
doppeltes, je nachdem es innerhalb: berfelben Gemeinde fich entwickelt 
oder zwifchen verfchievenen Gemeinden ober Gliedern verfchiebener Ge⸗ 
meinen. innerhalb der Gemeinde beruht das Schutrecht und bie 
Schutzpflicht auf Alters- und Gejchlechtsverhältniffen und wird zunächſt 
nach der Blutsverwanbtfchaft georpnet; außerhalb der Gemeinde beruht 
der Schuß auf freiem Vertrag und unterliegt nur den durch biefen felbft 
gefeten Normen. Oper, wie man benjelben Sag auch austrüden Tann, 
die Schutz⸗ und Abhängigfeitsverhältniffe innerhalb der Gemeinde find 
natürliche, nothwendige, unmiverruflich feite, die außerhalb des Ges 
meinbefreifes ftehenden außerordentliche, zufällige, veränderlie. Die 
Inſtitutionen der erfteren Art, die väterliche, eheherrliche, vormunde 
fchaftlide Gewalt liegen außerhalb des Kreifes dieſer Unterfuchungen ; 
biefelben werben fich lediglich mit ven internationalen Schug- und Ab⸗ 
hängigfeiteverhältniffen befchäftigen. Das internationale Schug- und 
Abhängigleitsverhältniß ift aber wieder ein zweifaches: ver Schuß ift 
entweder gegenfeitiger Art, wenn beive Parteien in ben Fall kommen 
konnen ihn zu leiften ober zu empfangen, ober einjeitiger Art, wenn 
bie eine Partei ven Schuß lediglich leiftet, die andere benjelben ledig⸗ 
lich empfängt. Man beachte wohl, daß es hiebei nicht auf das Machte, 
fondern auf das Rechtsverhältniß ankommt, alfo damit der Schuß als 
einfeitiger erfcheine, nicht etwa das genügt, daß bie eine Partei weit 
häufiger und wirffamer ven Schuß zu leiften vermag als bie anbere, 
fondern vielmehr erforvert wird, daß die eine Partei rechtlich ums 
übig ift ver andern Partei Beiſtand zu leiften. Das gegenfeitige 


N 





Das römiihe Gaſtrecht und bie römifche Glientel. 335 


Schutverhältniß werde ich in ver Folge als Gaft- oder Freundſchafts⸗ 
recht, das einfeitige als Schugberrlichleit oder Clientel bezeichnen. 
Beide können auf Individuen fo gut wie auf Gemeinden bezogen wer- 
ben, ohne daß die eigentliche Natur des Rechtsverhältniſſes fich än— 
berte; wie e8 denn Überhaupt eine Eigenthümlichkeit der älteſten rämi- 
chen Rechtsentwidelung ijt, daß Gemeinde und Individuum wefentlich 
gleichartig behandelt werden und das Gemeinderecht nichts ift als das 
auf die Gemeinde bezogene Individualrecht. Es liegt fomit in ber 
Sache, daß jedes hier in Frage kommende Verhältniß im breifacher 
Beziehung auftreten kann: zwifchen zwei Gemeinden, zwifchen zwei 
Bürgern verfchierener Gemeinden und zwifchen einer Gemeinde und 
dem Bürger einer anbern. — Es foll nun zumächjt das zwei⸗, ſodann 
das einfeitige Schußverhältniß erörtert werden. 





Die einfachjte und urfprünglichfte Form des gegenfeitigen Schutz- 
verhältniffes ift das Gaſtrecht oder das hospitium, ') welches Wort 
ver Ableitung nach vermuthlich zufammenhängt mit hostis, dem 
deutschen Gaſt; etymologijfch enthält dies Wort wahrjcheinlich ven 
Begriff der Erwiederung, des Gleichniachens *). Jünger und verſchwom— 
mener, aber rechtlich kaum verfchieden von dem Gaſtrecht ift die Freund⸗ 
Ihaft (amicitis) ?*). Individual⸗- und Gemeindegaſtrecht find rechtlich 
gleichartig; e8 kommt jogar nicht felten vor, daß beide mit einander 
verbunden und Gaftrecht ausgemacht wirb forwohl für die Gemeinde 
als folche wie für jedes einzelne Gemeindeglied »). — Natürlich ift das 
Verhältniß unendlicher vertragemäßiger Mopdificationen fähig. Es kann 
als vorübergehendes gefchloffen werden; wer einen Fremden aufnimmt, 
ift dadurch zunächit nur verpflichtet für diesmal — und auch hier 
vielleicht urfprünglich nur eine gewilfe Zahl von Tagen’) — ihn 
bei fich zu beherbergen, nicht aber genöthigt ihn abermals aufzunch- 
men, wenn er fpäter wiederfommt. Aber ver eigentliche Gaftvertrag 
ift doch derjenige, welcher ein dauerndes Verhältniß herbeiführt, wie 
er denn auch erft dadurch einer wirklichen Neciprocität fühig wird. 
In hohem Grade bemerfenswerth ift e8 ferner, daß ver Gaftvertrag 
nach ter Anfchauung des gefammten Altertbums nicht bloß lebens⸗ 
Tängliche, ſondern dauernde auf "Kinder und Nachlommen« übergehenbe 

22 * 


356 Theober -Mewmnfen, - . .. 


Wirkung bat.) Indem alfo das Gaftrecht befiehen Tan auch zul 
ſchen perfönlich ficd ganz fremven Individuen, zeigt ſich bier fehr fe 
ftimmt der rechtliche Charakter beffelben im Gegenſatz zu ber factifchen { 
Freundſchaft und Bekanntſchaft. — Selbftverftänpli Tann ferner zu 
ber einfachen gaftrechtlichen Bercehung noch mancherlei anderes hinp 
treten, namentlich unter Gemeinden Verabrebungen über Krieg unb 
Frieden, Waffenftillitand (indutiae) und Kriegögenoffenfchaft (foedus) 
— jener eine Freundſchaft mit Endtermin, biefe eine Steigerung bes 
Sreundfchaftsvertrages durch eine Verabrebung über gemeinfchaftlide 
Defenfive, auch wohl gemeinfchaftliche Offenſive. Beide RNechtsver⸗ 
hältniſſe laſſen fügtich ſich auffafen als vertragemäßig modificirte 
Freundſchaftsverträge. — Der Gaft- und Freunpfchaftsvertrag ift um 
zunächft unmöglich zwifchen Bürgern berfelben Gemeinde. Es Liegt 
dies fchon in dem Sprachgebrauch; denn daß hostis fpäterbin ben 
Ausländer beveutet, würde unbegreiflich fein, wenn es nicht von 
Haufe aus den Gaft als Ausländer bezeichnet hätte. Ueberhaupt M 
dem griechifch-römifchen Alterthum nicht bloß die germantfche durqh 
Mifhung des Bluts gefchlojfene Wahlbrüberfchaft fremd, ‘) fonbern 
überall ein auf Wahl beruhendes Näherrecht zwifchen Gemeinbeglie- 
bern nur infofern geläufig, als es, wie bei der Adoption, ſich in bie 
Fiction der Blutskindſchaft einhüllt; felbjt das Verhältniß der Ehe⸗ 
Hatten wird gleichfam im dieſe eingefleivet und vie Frau rechtlich be⸗ 
handelt als des Mannes Tochter. Die uralte Sitte eivlicher Verbrü- 
derung der Kampfgenofjen begegnet zwar auch in Italien; die Abthei- 
lung, die gemeinfchaftlich fechten follte, ſchwor fich unter einander zu 
in ter Schladht nicht vom Platz zu weichen noch aus ber Weihe zu 
treten außer um die Waffe zu holen oder einen {Feind zu treffen ober 
einen Freund zu retten; *) allein vömifchrechtliche Folgen knüpfen fich 
an diefen Eidſchwur, jo weit wir fehen, feine und bezeichnenb ift es, daß 
berfelbe bereits im bannibalifchen Kriege überging in einen gebotenen 
und den Offizieren abzuleiftenden Dienfteiv. In der That ift auch 
logifh und praftifch ein Näherrecht einzelner Gemeinvegliever mit 
bem Wefen der Gemeinde im Gegenfaß; e8 war barum folgerichtig 
baffelbe, foweit e8 auf natürlihen Verhältniffen berußt, wie bie 
Blutsverwandtfchaft, zwar anzuerkennen, aber doch in allen eigentlich 
ftantlichen Beziehungen zu ignoriren, jo weit ed dagegen auf 








Das römifche Gaſtrecht und die römifche Clientel. 337 


Willfür beruht, es ganz zu megiren, alfo, foweit das Bürgerrecht 
reicht, Gaſtverhältniß und Freundſchaft als Rechtsverhältniſſe nicht 
gelten zu laſſen. Die Richtung auf dieſes Ziel liegt ficher Thon in 
dem Wefen der indogermanifchen Gemeinde; wenn gleich bie uner- 
bittlich ftrenge Durchführung dieſes Grundgedankens ebenfo gewiß 
eigenthünnlich römiſch ift als vie loſe der Gemeindeeinheit gänzlich ver⸗ 
gejfenve Behandlung der Genofjenfchaften eigenthümlich germanifch. — 
Daß ferner zwifchen zwei Gemeinden ein Gafte und Freundfchafts- 
vertrag nur dann möglich ift, wenn beibe ſelbſtſtändig find, bebarf 
feiner weiteren Erwähnung; felbft nachdem innerhalb ver römifchen - 
engere Gemeindeverbände zugelaſſen waren, was verhältnißmäßig fpät 
gefchab, erfchien doch ein Freunpfchaftsverhältniß zwifchen Rom und 
einer römiſchen Colonial- oder Municipalgemeinde als fchlechthin un- 
möglich und widerfinnig. — Dajfelbe gilt endlich zwifchen Gemeinden 
und Individuen wenigftens infofern, al8 niemand mit feiner eigenen 
Seineinde, ver Römer nicht mit der Stadt Rom, der Gaditaner nicht 
mit der Stadt Gades in Gaftrecht treten fann *). Damit im Wider⸗ 
ſpruch freilich fteht e8, wenn in ver fpäteren republifanifchen Zeit 
und in ver Saiferzeit Gaftverträge zwifchen römifchen Bürgergemein- 
ben und einzelnen Römern vorkommen; allein es ift dies nichts als 
eine normale Confequenz der in ven letzten Jahrhunderten der Repu- 
blik zugelaffenen und feittem folgerecht entwidelten Anomalie die Bürs 
gercolonien und VBürgermunicipien ald Staaten im Staat zu organis 
firen; damit war e8 nothwendig gegeben, daß fie auch mit römijchen 
nicht diefer befonderen Gemeinde angebörigen Bürgern Gaſtrecht cr- 
richten konnten und in diefer Beziehung den rechtlich ſelbſtſtändigen 
Gemeinden gleichitanden. 

Der Abfchluß des Gaftvertrages unterliegt rechtlich ben Regeln 
ber römifchen Gonfenfualverträge, das heißt er erfolgt durch die aus⸗ 
drücklich oder thatfächlich in verftändlicher Weife abgegebene zufammen« 
treffente Willenserklärung ter betreffenden Parteien. Dies zeigt fich 
zunächft bei dem öffentlichen Gaftvertrag: es ift nie bezweifelt worben, 
baß für dieſen wie überhaupt für jeden Staatsvertrag bie einfache 
Paction vollftändig ausreicht ’), verausgefett natürlich, daß die Paci⸗ 
fcenten von ihren Gemeinden gehörig und verfaffungsmäßig bevollmäch- 
tigt find. *) In gleicher Weife wird den Urkunden zufolge der Gaft- 


338 Theeder Runen, 3 

vertrag zivifchen einer Gemeinde und einen (Iubleibumm Begräukel 
burch die beiverfeitige Willenserlärung, ”) und ohne Zuciſel munf hat 
felbe gelten für den Gaſtvertrag zwifchen Individnen, wofär beftimumte 
Angaben mangeln. Gewiß Tam hier auch wie bei allen Gonfenfual 
verträgen eine ſtillſchweigende Eingehung vor: wer in gaftlichem Ye 
gehren die Echwelle eines Unbelannten überfchreitet uud gaftliche Dul- 
dung findet, hat Anſpruch auf Saftrecht, auch werm barüber keine 
Worte gewechfelt werben. Diefe Behandlung des Gaftverbäftniffes 
bängt wejentlich zufammen mit bem internationalen Charalter beffel- 
ben; benn es ift eine im innerften Weſen bes römifchen, vielleicht 
fhon des indogermanifchen Rechts begrünnete Regel, daß alle Ber 
träge zwifchen Bürgern Formalacte, alle Internationalverträge bage 
gen lediglich factifcher Art und durch bie vollendete Thatfache rechtlich 
begründet find — man vergleiche nur beifpielsweife bie Sonfarzentiem. 
und bie Civilehe, tie Mancipation und ‚die Zrabitien, die Jiducia un 
das Pignus, das Nerum und das Mutuum. — Uber eben Kiss 
Deijpiele zeigen, daß wenn auch bei internationalen Acten au fich ber- . 
Conſens genügte, doch rechtlich gleichgüftige, aber übliche Formalien 
häufig binzutreten, wie zum Beifpiel zu der Conſenſualehe die Heim⸗ 
führung der Braut und die fchriftliche Auffegung der Eheverträge; es 
ift demnach zu unterfuchen, ob ähnliche Solennien auch bei dem 
Gaftvertrage vorgekommen find. Hinfichtlich der religiöfen Beſtärkun⸗ 
gen, an die man zunächft denken möchte, wird dies zu verneinen fein. 
Dei dem privaten Gaſtvertrag ift nirgends von dergleichen bie Rede; 
bei dem öffentlichen kommt allerbings Opfer und Eidſchwur vor, aber 
nicht bei dem einfachen Gaftvertrag, fontern bei ber Wehrgeneſſen⸗ 
haft, dem foedus '°), und die Ausnahme heftätigt eben die Regel. 
Denn offenbar hängt dies zufammen mit jenem uralten oben befpro=. 
chenen Eide der Kriegskameraden; nicht Freunde, wohl aber Kampf- 
genofjen find nothwendig auch Eidgenofien. Der Gaft- und Freund⸗ 
ſchaftsvertrag ift alfo keineswegs ein Sacralgefchäft, fondern einfach 
ein gültiger Vertrag und unterliegt der allgemeinen Regel des romi⸗ 
ſchen und vielleicht überhaupt des älteften Rechts, daß ber gültige 
Vertrag nicht beſchworen zu werben pflegt, während bei bem ungülti⸗ 
gen in dem fittlichen Zwange des Eides ein Erſatz für das Rechte- 
band gefucht wird. '') Dagegen zeigt fich das Streben des römifchen 








Das römische Gaſtrecht und bie römiſche Klientel. 339 


Rechts den Moment der Perfection ſcharf und kenntlich zu firiren auch 
bei vem Gajtvertrag: wir finden den öffentlichen Gaftvertrag, foweit 
nicht die feierlicheren Bündnigformen Anwendung finden, abgeſchloſſen 
burch Frage und Antwort) und es mag wohl auch bei dem analo« 
gen Privatvertrag ähnlich hergegangen fein. Aber beftimmter ausge— 
prägt und praftijch beveutfamer tritt eine andere Solennität bei dem 
Gaftvertrag — natürlich nur dem dauernden — hervor: die Beur- 
kundung desfelben durch Austaufch von Berweiszeichen oder Beweis— 
Schriften. So ſendet fchon in der Ylias '') Proetos den Bellerophon 
an feinen lykiſchen Gaftfreumd mit einem verfchlofjenen Täfelchen, um 
durch die darin eingezeichnete Marke fich als gaftberechtigt auszumeifen. 
Ebenſo erfcheint im plantinifchen Poenulus der Gaftfreund mit feinem 
Zeichen '*); dasſelbe wirb vorgewiefen '’) und anerkannt als überein- 
jtinmend mit dem im Haufe aufbewahrten. ") Es find einige Gaft- 
zeichen biefer Art, öfter mit verfchlungenen Händen barauf, aus bem 
Alterthum erhalten; ';) man wird fich diefelben wejentlich vorftellen 
bürfen nach Art unferer deutſchen Hausmarken und wie diefe hängen 
auch fie mit dem Auffommen ver Wappen und Siegel eng zufummen. '*) 
Indeß bat fih in der römischen Ueberlieferung über bieje ältejten 
privatrechtlihen Gaſturkunden Feine genügende Nachricht erhalten; wohl 
aber finden wir bei Guftverträgen zwiſchen Gemeinden oder zwifchen 
Privaten und Gemeinden eine ganz analoge, nur etwas weiter ent⸗ 
wicelte Inſtitution. Alle Gaftverträge des Staats mit Gemeinven 
wie mit Individuen, mochten fie vom Volfe oder-vom Senat aus⸗ 
gehen, wurden von Rechtswegen auf Eupfernen Tafeln fchriftlich '°) 
in boppelten Exemplaren ausgefertigt und jedem ber contrahirenden 
Theile eines übergeben, das römifche aber in dem Heiligthum ber 
„römiſchen Treue“ (Fides populi Romani) unmittelbar bei dem 
Zempel bes capitolinifchen Jupiter zu ewigem Gedächtniß öffentlich 
ausgeſtellt; *°) wobei man, um dies richtig zu würdigen, fich noch 
erinnern muß, daß im Uebrigen nach römifcher Ordnung die öffent- 
liche Aufftellung dere-Senatsbejchlüffe unftatthaft, vie ber Volksgeſetze 
big in die fpätejte Zeit der Republik hinab facultativ und darum auch an 
feinen feiten Ort gebunden war. In ähnlicher Weife wurden die öffentli- 
hen Gaſtverträge in einer jeben Gemeinde an irgend einem paſſenden 
öffentlichen Orte zufammen anfgeftellt und ebenfo bie Gaftverträge des 


an 


Fr 


3“ Theebor Rowmmien, u 

Hausherru mit auswärtigen Gemeinden die Atriım feines „Gaufes. "9 
Gegen vierzig Urkunden ver leßteren Art find auf uns gefnmmen, bie 
ältefte fpäteftens aus der gracchanifchen Zeit, bie jüngſten ans bem 
Ende des vierten Jahrhunderts unferer Zeitrechuung. Mit ver men» 
lichen over brieflicyen Anzeige des betreffenden Gemeinbebefchiuffes iu 
fie nicht zu verwechjeln, **) fonbern alle in Urkundenform, gleich ven 
Gaftverträgen zwifchen Gemeinden, anf Kupferplatten gefchrieben uns 
an ver Wand befeftigt gewefen; auch das ift beiven Gattungen zen 
Urkunden gemeinfam, daß fie durch befontere Boten (legatı) über 
bracht und deren Namen am Schluß ber Urkunden aufgeführt zu wer⸗ 
ben pflegen. — Obwohl alſo der Freundſchaftovertrag au fig darch 
bloßen Gonfens perfect war, fo war es doch gebräuchlich, wenn er 
zwifchen Privaten abgefchloffen warb, Gaftzeichen zu taufchen, -meun 
aber eine oder beide contrahirende Theile Gemeinden waren,- eine. füge 
liche Urkunde in zwei Eremplaren auf fupfernen Tafeln ausgefeziigen 
und biefelben in den betreffenden Gemeinven reſp. Däufern zu ewägue 
Gedaächtniß öffentlich anzufchlagen. Der römifche Name biefes M 
kundzeichens oder Urkundbriefes ift tessera, was ſowohl von bem Pri⸗ 
vatgaftzeichen °°) als von dem zwiſchen Privaten und Gemeinden, **) 
nicht aber von dem zwifchen Gemeinden errichteten Gaftvertrag vor⸗ 
fommt; daneben wirb wohl noch sumbolus oder sumbolum gebrandht, 
jeboch, fo viel wir fehen, nicht, wie bei den Griechen, von eigentlichen 
Staatsverträgen, ſondern nur für pas Privatgaftzeihen. Sehr mert- 
würdig tritt in allem viefen ver griechifche Einfluß hervor. Jene 
Schriftlichkeit felbft fteht unter dem Einfluß ber nicht altrömifchen, 
aber wohl altgriechifchen Sitte, jeden Vertrag, felbjt wenn er nach 
firengem Recht auch ohne Beweisurkunde galt, doch ale Syngraphe 
abzufaſſen. In ver faft zu formaler Heftigkeit gelangten Sakung, daß 
bie Ynternationalverträge diefer Art gerade auf Kupferplatten geſchrie⸗ 
ben werben müſſen, ift griechifche Einwirkung um fo Weniger zu ver⸗ 
kennen, als vie äfteften latinifchen Verträge, zum Beiſpiel ber zwiſchen 
Sabii und Rom, vielmehr anf Leber gefchrieben waren, dagegen Die 
älteren griechifchen SInternationalverträge regelmäßig ebenfalls in 
Metalitafeln eingegraben wurden. Endlich die Benennungen des Gaft- 
zeichens find beide griechifch, nicht blo8 sumbolum, fondern auch das 
wahrfcheinlich früher eingebürgerte tessera, welches Wort, von reoce- 





Das roͤmiſche Gaſtrecht und bie römifche Clientel. 341 


pes vier in fehr roher Weife abgeleitet, eigentlich ven Würfel bezeich- 
net und fobann, infofern auf dieſem irgend eine Marke gemalt oder 
eingerigt ift, für das militärifche wie für das gaſtliche Erfennungszeichen 
gefekt wirt. Es folgt daraus freilich nicht, daß die Römer das Gafts 
recht felbjt von den Griechen entlehnt haben, aber wohl, daß ihr 
Gaſtrerkehr vorwiegend zu ven Griechen fich hinzog und für vie Aus- 
bildungen ber internationalen NRechtsverhältniffe die griechifchen Ein- 
richtungen maßgebend geworben find; was in vollem Kinflang fteht 
mit «lien übrigen Spuren von der Art und dem Gang der ältejten 
italifgen Culturentwicklung. 

Die Auflöfung des Gaft- und Freundfchaftsverhältniffes erfolgt, 
auch venn daſſelbe als dauerndes eingegangen worben ift, lediglich 
durch gehörig erklärten Nüdtritt eines der Contrahenten, *°) ähnlich 
wie dies auch für die römifche Conſenſualehe und für Die römijche 
vermögensrechtliche Societät gilt. Selbſtverſtändlich Tann der Rück⸗ 
tritt elen wie der Abſchluß fo gut durch ausprüdliche Erklärung er- 
folgen wie durch concludente Hanplungen, wie denn namentlich jede 
Weigenung des einen Theils einer Clauſel ded Vertrags zu genügen 
als ſtilſchweigende Auffünbigung deſſelben angefehen wirt. ?*) Auch 
das Bindniß wird nicht anders behandelt; die demſelben anhaftenven 
Verwilſchungen gegen den bundbrücdigen Theil hindern nicht bie 
Auflöfing des Verhältniſſes, jondern find aufzufaffen nach Analogie 
der Gnventionalſtrafen des Civilrechts. An fich einfeitig lösbar alfo 
ift nach römischer Auffaffung das Freunpfchaftsverhältnig jederzeit; 
damk aber verträgt es fich fehr wohl, daß vaffelbe eben wie bie Ehe 
boch wefentlich und nothwenbig ald dauernder Vertrag gedacht wird 
und die Auflöfung nur dann gerechtfertigt erjcheint, wenn ber andere 
Teil den Worten oder dem Geifte des Vertrags zuwidergehandelt 
und auf erhobene Beſchwerde jich nicht in Güte gefügt hat. — Folge⸗ 
richtig wird wie die Eingehung des Gaftrechts durch die Abfaſſung, 
fa deffen Auflöfung durch Zerbrechen ber Teſſera bezeichnet ?”). 

Der nächte Inhalt des Gaſtrechts ift felbftverjtänblich der Anſpruch 
auf Gaftverpflegung; und es fragt fich alfo, was gewohnheitsrechtlich 
zu dieſer gerechnet worden ift. Indeß für das Privatgaftrecht fehlt es 
barüber an jebweber Nachricht; wie denn überhaupt deſſen praftifche 
Bedeutung jenfeit der Epoche liegt, aus ber wir eine römifche Ueber⸗ 





343 “ Leber Mommfen, “ -  * 


Heferung befigen. Das Gemeinbegaftrecht ſchließt eine belfadge: Bel 
ftung. in fih, deren Beſchaffung in Rom zumäcft dern ſtavtiſchen 
Duäftoren obliegt: **) freies Onartier, *") wozu in ver Kegel ber 
Gemeindehof (villa publice) auf dem Marsfeld benügt warb; ) Das 
fogenannte Babegeräth ’'), das heißt alle Ausräftung, welche ber Gafl 
Braucht um ven Badeleſſel zu erwärmen und fich bie Speifen ze be» 
reiten ; enblich eine Gaftgabe, nicht ein freies Gefchent, fonbern, wie 
fhon der Name fagt, eine Leiftung (munus’*), durchgängig befiehekb 
in Gold: over Silbergeräth von feftem nach dem Anfehen des Eaſtes 
abgemefjenen Werthſatz, jedoch nach roͤmiſchem Gebrauch wie es kheint 
nicht unter- 2000 fchweren Affen (100 Thlr.) für jeden einzelnen @aft- 
freund ober deſſen Vertreter ?). Ganz ähnlich wird nach griedifchen 
Localftatuten dem Gaft von Rechtswegen nichts gereicht ald Dah uns 
Bach, Bett, Tiſch, Teppich, Leuchter, Holz, Effig und Del’) Auf 
Zehrung hat nach diefer Ordnung ber Gemeindegaft feinen redtiichen 
Anfpruch; doch möchte diefelbe in dem urfprünglichen Gaftredt den⸗ 
noch enthalten gewefen und nur im Gemeinvegaftrecht fpäterfin mit 
Geld abgelöft worten fein. Für diefe Auffaffung der Gaftgıbe ale 
eines Zchrpfennigs fpricht fehr entfchieden der römifche Gebrauch bei 
Gemeinbefpeifungen ten Gäften mur die gedeckte Tafel, einfchießlich 
Tiſchbrod und Zifchwein, berzuftellen, im Uebrigen aber einem jebem 
ben Speiſekorb (sportula) und eine gewiffe Summe einzuhänvigen 
und ihm das Einkaufen felber zu überlaffen. Die Verpflegung femder 
Säfte von Seiten der Gemeinde in ähnlicher Weiſe zu behanden Tag 
an fich nahe, und empfahl fi um jo mehr, als dadurch dem Miß⸗ 
brauch der Gaſtfreundſchaft durch ungebührliche Ausvehnung der Gaft- 
zeit auf gute Art vorgebeugt wurde *). Darum möchte wohl das 
urfprüngliche Gajtrecht vielmehr in dem Anrecht auf freies Quartier 
und Geräth und freie Zehrung beftanden haben, das Gaftgefchent 
aber, wo es vorlam, wirflich eine freiwillige Gabe geweſen fein ?% 
ungefähr wie Tacitus das bei den Deutjchen beftehenve ſchildert. — 
Außerorbentlicher Weife tritt noch die Verpflegung des Gaftes im 
Krankheits- und die Beftattung vefjelben im Todesfall zu ven Ver- 
pflichtungen des Gaſtgebers hinzu ). — In dem Gaftrecht liegt ferner 
bie häusliche Gemeinfchaft, von der eine gewiſſe vorübergehenbe Unter⸗ 

nung unter bie Hausordnung und ben Hauséherrn nicht zu trennen 





Das römifche Gaſtrecht und bie römifche Clientel. 343 


ift; doch ift dieſe Seite des Gaſtrechts fo weit wir wilfen zu feiner 
rechtlichen Entwidelung gelangt °’ *). Etwas beftimmter tritt Die aus 
der häuslichen mit Nothwendigkeit folgente religiöfe Gemeinjchaft her- 
vor. Die privatrechtliche ift freilich wiererum verfchollen mit Aus- 
nahme einer einzigen in der Sprache bewahrten Spur: wenn das 
Opferthier (hostia) vom Gaftverhältnig feinen Namen entlehnt ’*)- 
fo liegt darin wohl unzweifelhaft, vaß der Gaft, indem er eintritt in 
bie häusliche Gemeinfchaft, auch an dem häuslichen Gottespienft An- 
theil bat und das ihm zu Ehren gefchlachtete Thier nicht bloß Feſt⸗ 
braten ift, jondern auch vor allen Dingen Opferthier. Beftimmtere 
Kunde befigen wir über ven öffentlichen Gaftvertrag. Es gehört zum 
Wefen des römifchen, daß den befreundeten Gemeinven verftattet wird 
auf vem Capitol zu opfern ?”) und auf einer bejonveren neben ber der 
Senatoren am Comitium errichteten Tribüne, der fogenannten Grae- 
costasis, den Feſtſpielen zuzufchauen; welche Benennung wiederum 
hinweift auf bie Entwidelung des römifchen Wölferrechts in nächiter 
Beziehung auf die Griechen, bier fpeciell auf die Mafjalioten *). Das⸗ 
felbe Recht ftand dann auch umgekehrt ven Römern bei ihren Gaft- 
freunden zu, wovon der Verkehr ver Römer mit dem belphifchen Hei⸗ 
ligthum, die Aufftellung des Weihgeſchenkes aus der veientifchen Beute 
in dem Theſauros der Maſſalioten dafelbft *') vie Spuren bewahrt 
baben. 

Nicht minder Liegt in dem Gaft: und Freundfchaftsrecht der An⸗ 
ſpruch auf Schug und Rechtshülfe. Der Gaſtherr ift als folcher ver- 
pflichtet nicht bloß den Gaft ungefchäpigt zu laſſen, ſondern auch nach 
Vermögen ihm zur Erreichung feiner erlaubten Zwede behülflich zu 
fein. Freilich wird dieſe Verpflichtung nach den Umftänden fich ver- 
ändern. Wer einer Gemeinde angehört, die mit Rom in Krieg ober 
boch nicht in Vertrag fteht, der kann zwar wenigftend in dem letzteren, 
wahrjcheinlich auch in dem erfteren Fall mit einem römischen Bürger 
Privatgajtrecht haben; aber dasſelbe wirkt nur zwiſchen ben Ver: 
tragenen und nicht weiter und gibt dem Gaft feine Nechtsft 
gegenüber ber römifchen Gemeinbe, feine Fähigkeit vor einem römifchen 
Gericht als Partei anfzutreten. Das Gaftrecht wird alfo hier nichts 
weiter bewirten, als baß ver römifche Gaſtherr die Habe dieſes Frem⸗ 
ben nicht von Rechtswegen ala herrenlojes Gut bebanveln, ihm das 


844 - Xhesbor Wommufen, 


Deinige nicht ohne Rechtsverletzung vorenthalten kam us üfer- wer 
Unbill fchügen muß, fo weit er es vermag, ohne bie Befege feiner ige 
nen Gemeinde zu verlegen. Ein folches Gaftrecht wirb bewies‘ amdh iu 
der fpäteren Zeit, wo bie Gaftverpflegung mehr und mehr au Wide 
tigfeit verlor, kaum noch als ein Recht betrachtet unb in ber redii 
lichen Behandlung tes Inſtituts gewiffermaffen fallen gelaffen *') 
Dagegen dad Gaftrecht zwifchen Eumeinden fchlieht die Auerken⸗ 
nung unb den Schu der wohſbegründeten Rechte ſowohll ber 
befreundeten Gemeinde felbft als eines jeven ihrer Glieder mit 
rechtlicher Nothwendigkeit ein — es iſt beifpielewelfe eine An⸗ 
wendung davon, daß das durch Kriegsſtand untergegangene vie 
mifche Freiheits⸗ oder Eigentbumsrecht nicht minder als durch Nie 
Rücklehr des Objects in den römifchen Stat wieder auflebt darch 
ben Eintritt vefjelben in eine ver römifchen befreunbete Gemeiuber 
Darum ift ver auf ein ſolches Gaftrecht fich ftühente Fremde niemals im 
Rom rechtlos, mag er nun bloß das Gemeinbagaftrecht ober wedh 
baneben ein Privatgaftrecht gegen einen einzelnen Römer gelten za 
hen können. Freilich ift Nechtöftellung nicht Rechtogleichheit; es ges 
hört zum Wefen des Gaftrechts, daß der befreundeten Gemeinde over 
ben befreunveten Individuen für gewifje Nechtsbeziehungen ein gewifſer 
Rechtsſchutz gewährt werbe, aber welche Rechte und in welcher Weiſe 
biefe gefchütt werben follen, hängt lediglich ab von bem einzelnen 
Vertrag. Darum find diefe „Prozeffe nach Gaſtvertrag“ (dinaı aro 
Hvul3oAov). wie die Öriechen fie angemeffen nennen, fo manuigfaltig, 
daß fie jeder allgemein rechtlichen Darftellung fich entziehen. Bald 
wird dem Fremden geftattet unter Zuziehung eines Beamten Kauf- 
verträge abzufchließen und fich wegen feiner Forberung an die Ge⸗ 
meinde zu halten, fo baß rechtlich jeder gültige Vertrag mit einem 
Fremden als Staatsvertrag auftritt; dies galt gemäß dem erſten 
Bertrag mit Karthago für vie in Afrifa und Sarbinien verkehrenden 
Römer. Bald werben für ven Verkehr zwifchen Einheimifchen und 
Fremden befondere Rechts⸗ und Prozeßregeln aufgeftellt; jo bilvete fich 
zunächft zwifchen ven Römern und ven ficilifchen und unteritalifchen 
Griechen ein eigenthümliches pofttives Internationalvecht (tus gentium), 
bem zum DBeifpiel von civilcechtlichen Sinftitutionen Bas Mutuum und 
das Pignus, wohl and bie Stipulation, bie Tradition, die Gonfen- 








Das roͤmiſche Gaſtrecht und die romiſche Clientel. 345 


ſnalcontracte, von prozeſſualiſchen das Recuperatorenverfahren ent- 
ſprungen find. Bald wird ber Fremde in vermögensrechtlicher Be⸗ 
ziehung dem Bürger gleichgeſtellt, das heißt ihm das Commercium ) 
eingeräumt, wie zum Beiſpiel von Karthago den Römern in Sicilien, 
von Rom den Latinern. Zuweilen, obwohl ſehr ſelten, wird ſogar 
den Fremden geſtattet im Verkehr mit einem Römer nach ihrem Recht 
gerichtet zu werten, wenn fie nicht das römifche vorziehen; mas zum 
Beifpiel der Yrenndfchaftsvertrag zwiichen Rom und Asflepiades feſt⸗ 
ſtellt. Alle diefe Verträge beziehen ſich auf die vermögensrechtliche 
Gemeinſchaft; die Ehegemeinfchaft (conubium, £rıyauia), das heißt 
ber Gemeinvevertrag, daß eine zwifchen Bürgern zweier Gemeinben 
geſchloſſene Ehe in beiten als rechte gelten fell, ift tavon unabhängig, 
wie zum Beijpiel vie römischen Iſotelen tie vermögensrechtliche ©e- 
meinfchaft in unvordenklich früher Zeit, die Ehegemeinfchaft erſt 
bald nad) der Decempiralreforn gewannen *). Es mürbe zweckwidrig 
fein, auf bie einzelnen hier berührten Momente näher einzugehen, da 
keines berjelben als nothwendig im Gaſtrecht enthalten bezeichnet wer- 
den lann; wohl aber ift e8 wichtig darauf hinzumweijen, daß fie alle 
zu dieſen fich gleichjam wie Nebenberedungen zum Hauptvertrag vers 
halten und ohne bie eine oder die andere Feſtſetzung über Nechtege- 
meinfchaft und Rechtsfolge Fein Gaftvertrag gebucht werden kann. 
Darum beruht bie geſammie rechtliche Stellung ver mit Rom ver- 
Ichrenden und in Rom fich aufhaltenten ober angeficdelten Fremden 
auf den öffentlichen Gaftverträgen; und biemit hängt wieder die merk⸗ 
würdige Veränderung in dem Cprachgebrauche des Wortes hostis 
eng zufammen. Da das Privatgaftrecht bei ven mehr und mehr fich 
orbnienden öffentlichen Nechtsverhältniffen früh zur Unbedeutendheit 
herabſank, wurben biejenigen Leute, vie auf das Gaftrecht ihrer Ge- 
meinde bin in Rom lebten, vorzugsweife hostes genannt; der Gaft, 
heißt e8 in ter alten Nechtspefinition, ift ber nach eigenen echt Te 
bende Fremde *). Da eim folcher nicht felber Gaftrecht genoß, ſon⸗ 
dern nur das feiner Gemeinde ihn zu Gute fam, erflärt es fich, 
weßhalb mehr und mehr in viefem Worte das pofitive Moment ver 
Befreundung zurüd und das negative der Laudfremdheit in den Vor⸗ 
bergrund trat, bis dann jene® völlig verfchiwanb und hostis in_ber 


% 


846 Tpesber Disummien, 


Bereutung Landesfeind gerabezn in das Grgentheil des anfpräugfider 
Sinnes umfchlug. 

Endlich gehört auch das zu dem Nechtächarafter des Gifiverhäfs 
niffes, daß zwifchen ven im Gaftrecht ftehenten PBerfonen ein Pietlis- 
verhältniß angenommen und rechtlich refpectirt wirb; weßhalb namen! 
ih die Klage und tie Klagunterftägung zwifchen ihnen gegenfeltig 
unftatthaft ift. Es wirb indeß zwedimäßig bievon erft bei dem hierin 
gleichartigen Slientelverbältniß gehandelt werben. 

Noch mag fchließlich der freilich mehr factifchen als rechtlichen 
Verbindung zwifchen Gaſtfreundſchaft und Gefäftsführung gebadht 
werben. Es liegt nahe, baß wer ein Gefchäft im Ausland zu be⸗ 
forgen bat und nicht perfönlich dorthin fich begeben will, daſſelbe 
bem Gaftfreund überträgt, und es war dies im Alterthum gewöhnfich 9 
obwohl dieſe Vermittlung keineswegs die einzig mögliche ober ger 
rechtlich nothwendige iſt. Beſondere praftifche Bedentung gewälle 
diefelbe in vem Falle, wo zwifchen einer Gemeinde und einem 
länder ein Gaftvertrag beſtand .unb ber Lektere um bie 
jener bei feiner eigenen Gemeinde erfucht warb; hierauf beruht baß 
Inſtitut ver Proreni bei den Griechen, das mit unferm heutigen 
Confulatswefen die größte Aehnlichkeit Hat. Den Römern ift viefe 
Snftitution fremd, wie fie denn auch feinen eigenen Namen bafür 
haben, over fie laſſen diefelbe vielmehr nur zu für Nichtrömer. Die 
römifche Regierung gejtattete jeder befreundeten ober ımterthänigen 
Gemeinde ihre römijchen Gaftfreunde als ihre Proxeni zu behandeln; es 
war fogar üblich, wenn Streitigkeiten innerhalb ver befreundeten Ge⸗ 
meinde zur fchieberichterlihen Erledigung an den Senat Tamen, bas 
Schiedsrichteramt durch Senatsbefchluß an römische Gaftfreunde berfelben 
zu übertragen *°). Niemalsaber hat umgelehrt die römifche Gemeinbe 
igre Angelegenheiten im Auslande burch ihre bortigen Gaftfreunde 
erledigt, ſondern ſtets fich hiezu römischer Beamten ober römifcher 
Abgeorpneten bevient.e Das Inſtitut der Proreni war politifch im 
hohem Grave bevenklich; man ließ es fich gefallen, wo es ber röomi⸗ 
ſchen Arijtofratie zu Gute kam, obwohl deſſen gefährliche Folgen fich 
oft genug zeigten"), aber man war nicht gemeint das Regiment über 
bie abhängigen Gemeinden an deren Häupter zu übermitteln. 

Die Entftehung und Beendigung und ver Inhalt des römifchen 





bas römiſche Gaſtrecht und bie römifche Klientel, 347 


Gaſt⸗ und Freundſchafts- orer des gegenfeitigen Schukrechts find 
biemit targelegt. Daß bei etiwaniger Verlegung deſſelben fein gericht- 
lich zu erledigender Rechtsſtreit entjteht, hat vajjelbe niit fänmtlichen 
internationalen VBerhältniffen gemein, chne daß ihnen darum ber recht» 
liche Charakter, das Band ver äußerlichen und formulirten Nothwens 
bigfeit abginge. Vor alleın nach der älteren Auffaffung, wo Recht und 
Staat keineswegs Jo vällig zuſammenfielen wie in ber unfrigen, fou- 
bern der Staat noch in der unausgebilpeten Form ter Gemeinde be- 
fangen war und dieſer Mangel burch cine Hohe über all den engen 
Gemeindeverbänden gleichfam perſönlich waltende Rechtsidee wieder 
eingebracht wurde, beſtand ein ſcharfer Gegenfag zwiſchen ven 
bloß ſittlichen Empfindungen und den rechtlichen, wenn auch nicht auf 
ber Dingſtatt verfolgbaren Pflichten. 

Wir wenden und von dem Gaſt- oder dem gegenſeitigen Schutz—⸗ 
recht zu demjenigen Verhältniß, bei welchem zwar auch Schutz gewährt 
und empfangen, aber von der einen Seite nur gewährt, von der andern 
nur empfangen wird. Die allgemeinſte Bezeichnung dafür iſt das 
Treuverhältniß (in ſide esse’), auch das Schutzherrn⸗ und Hörigen⸗ 
verhältniß (palronatus, clientela), welche Bezeichnung indeß vermieden 
wird, wenn der ſchützende Theil eine Gemeinde ift.°°) Es mag fer: 
ner gleich hier bemerkt werden, dag diejenige Claſſe der Clienten, bei 
welcher die Schußherrufchaft am beſtimmteſten hervortritt und am 
längſten ſich behauptet, die Freigelaſſenen, im Sprachgebrauch gewöhn⸗ 
lich nicht den Clienten zugezählt, ſondern ihnen coordinirt werden, 
ganz wie das Foedus als der höchſte Grad des Freundſchaftsvertrags 
von demſelben unterſchieden zu werben pflegt. — Die rechtliche Ent— 
wicelung des Clientelbegriffs wirt zwedmäßig ſich anjchliegen an ben 
früher bargelegten des Gaſtrechts; denn beide Inſtitutionen find ebenfo 
eng verwandte als fcharf gefchiebene, recht eigentlich correlate Begriffe. 

Gaſtrecht und Clientel haben mit einander gemein, daß fie nicht 
innerhalb ver Gemeinde und nicht anders als zwijchen rechtlich oder 
boch thatfächlich freien Sndivituen over Gemeinden vorkommen können. 
Es hat einmal cine Zeit gegeben, wo wie Agnatien und entilität 
rein patriciiche Ynftitutionen waren, jo auch das römijche Gaſtrecht 
nur vorhanden war, wenn einer der Säfte, der römifche Patronat 
nur, wenn ber Patron Patricier war reilich ift biefe Ordnung 





348 Theodor Mommfen, 


nicht fo fehr verändert als verdunkelt worden dadurch, daß, wie fpäter 
noch deutlicher fich zeigen wird, das patrictifche Privatrecht analogifch 
auf vie Plebejer übertragen und darum die Begriffe Agnation, Gen- 
tilität, Clientel auch auf dieſe bezogen worben find; aber in ver publi- 
cijtiichen Clientel hat fich die Beſchränkung auf die Patricier in gewiſſem 
Sinne bis weit in die hiftorifche Zeit hinein behauptet, infofern nach dem 
Recht ver Kaijerzeit nur Senatoren und römifche Ritter, nicht aber 
Plebejer, nach republikaniſchem höchſt wahrfcheinlich lediglich Senato- 
ren des Patronat® über die von Rom abhängigen Gemeinden fähig 
waren ’'). Die Senatoren, die patres ber fpäteren Republil, haben 
mit dem Namen auch bie Vorrechte der urfprünglichen patres, ber 
Batricier, überfommen; e8 liegt alfo bier deutlich der im Privatrecht 
früh verfchollene Rechtſatz vor, daß nur der Patritier fähig ift, Clien⸗ 
ten zu haben. Wahrſcheinlich geht auch die Benennung patro- 
nus für den Schutzherrn gar nicht davon aus, daß der Vater ber 
natürliche Beichüter der Kinder iſt; ſondern es fcheint patronus ur- 
Iprünglich identiſch mit pater, patricius gewefen und ven ber väter- 
lichen Gewalt fähigen Mann, das heißt den Vollbürger bezeichnet zu 
haben °'), auf ven Schußherrn aber infofern übergegangen zu fein, 
al® nur ver Vollbürger Schutherr fein konnte. — Mit verfelben 
Nothwenpigfeit aber, womit bei Gaftrecht und Glientel auf ver einen 
Seite das römiſche Bürgerrecht vorhanden fein muß, mangelt e8 auf 
ber andern: Gaft und Gaftgemeinde, Glient und Glientelgemeinve 
find nothweudig Nichtbürger und Nichtbürgergemeinden. Aber viefe 
Uebereinftinnmung tft nur negativer Art. Das Gaftrecht beruht auf 
ber Nechtögleichheit und Selbftjtänpigfeit beider Theile, die Clientel 
auf ver Ungleichheit, der Herrfchaft des einen, der Unterthänigfeit des 
andern Theil, wie denn auch die publiciftiiche Klientel geradezu 
Herrenrecht (potestas) genannt wird ). Damit hängt ed eng zu- 
ſammen, daß ver Gaft regelmäßig ein beimathberechtigter, ver Client 
nothwendig ein heimathlofer Nichtbürger ift. ‘Der Saft, faben wir 
früher (S. 345), ift ver nach eigenen Recht lebende Ausländer ; 
davon, daß umgekehrt vie Clientel allein bei heimathlofen Leuten zu 
Recht befteht, hat fich eine Anwendung in dem Nechtefag erhalten, 
wonach in die auf Application beruhende Glientel nur eintreten Tann, 
wer feiner mit Rom in Gaftrecht ſtehenden Gemeinde angehört oder, 





Das römiihe Gaſtrecht umb bie römifche Clientel. 549 


wofern er in einem folchen Verbande ſtand, denſelben gültig gelöft 
bat °°). Denn es liegt im Wefen des Gaftrechts, daß der dieſem 
Verbande angehörige Bürger fo wenig in einer gaftberechtigten Ge- 
meinde wie in feiner eigenen unfrei werben kann; wenn aljo bie 
Clientel urjprünglich ein Berhältniß ver Unfreiheit war, fo fonnte 
die Application feinem in dem Gaſtverbande ſtehenden Individuum 
verftattet werden. — Inſofern alfo find Gaſtrecht und Clientel Ge- 
genjäge wie Heimath und Heimathlofigfeit, Freiheit und Knechtfchaft; 
poch darf ein Verhältniß nicht Übergangen werben, das in feiner fpä- 
teren Geſtalt hervorgegangen ift aus einer wenigſtens äußerlichen 
Vermiſchung beider Yujtitntionen: ich meine das Schutverhältnif 
zwifchen römijchen Bürgern und auswärtigen Gemeinden. Nach ver 
urfprünglichen Nechtslogit muß es damit fo gehalten worden fein, 
daß die mit Rom rechtlich gleichjtehenve Gemeinde mit römijchen 
Bürgern Gaſtrecht errichten, die Rom rechtlich unterthänige Gemeinde 
zu römischen Bürgern in Glientel treten, tagegen die Rom incor- 
porirte Gemeinde weder das eine noch das andere Verhältniß ein- 
geben konnte. Allein in ver fpäteren republifanifchen Zeit erhielten 
die Gemeinden ver leßten Kategorie eine Stellung gleichfam ale 
Staaten im Staat (S. 337) und wurde ihnen demgemäß auch das 
Eingehen verartiger Treuverhältniſſe geftattet, die nun freilich mit 
gleichem Recht oder Unrecht Gaſt- wie Clientel-Verhältniſſe ge- 
nannt werden konnten. So mochten bier beide Bezeichnungen zu—⸗ 
gleich angewendet werden. Hierauf ſodaun weiter bauend entiwidelten ſich 
die Verhältniffe dahin, daß fchlieglich allen von Rom abhängigen Ge- 
meinden, förerirten, unterthänigen und verbürgerten bie Abjchliegung 
eines Vertrages mit römifchen Bürgern geftattet warb, welcher dem 
Namen nach zugleich Gaftrecht war und Patronat °°), der Sache nad) 
weder das Eine noch das andere, fonvern eine einfache Procuratur. 

Wie das Gaftrecht auf dem Vertrage, ruht die privatrecht- 
liche Clientel auf dem einfeitigen verftändlich erklärten Willen des 
Herrn, von feinen Herrenrechten feinen Gebrauch machen zu wollen. 
Es ift dabei feftzubalten, daß es nach älteftem römischen Recht eine 
den Herrn bindenve Freilaffung nicht gegeben haben kann °*), weil es 
dafür durchaus an einer unmittelbaren Rechteform-mangelt und weil bis 


in bie fpätefte Zeit bie bloße tm- ung, 
diſteriſe Zeisfgrift 1. Bam. _ 





350 Theodor Mommfen, 


bes Herrn ben Sclaven freizulaffen, die Freiheit keineswegs rechtlich 
erzeugt. Daffelbe geht ebenfalls daraus hervor, daß die Freilaffung 
niemals das wirkliche Bürgerrecht, pas heißt den Patriciat verleiht; 
benn da Freiheit und Bürgerrecht urfprünglich zufammenfallen, vie 
Vreigelaffenen aber vom urfprünglichen Bürgerrecht ausgefchloffen 
find, fo folgt daraus, daß vie ältefte Freilaffung nur thatfächlicher, 
nicht rechtlicher Art gemwefen ift. Dafür zeugt endlich die Bezeichnung 
des Verhältniffes, in dem der Yreigelafiene zu dem Herrn fteht, ale 
eines Zreurechtd; es iſt damit angezeigt, daß die Willenserklärung 
des Herrn ihn wohl innerlich, aber nicht formell band. Was alfo 
alle Spuren andeuten, daß ber Freigelaſſene urfprünglich nur that⸗ 
ſächlich, nicht rechtlich jich won dem Knecht unterfchied, das folgt auch 
and ver allgemeinen rechtlichen Logik. Freiheit ift fein privatrecht- 
licher, fonvern ein publiciftifcher Begriff und kann weder geivonnen 
noch verloren werden ohne einen barauf gerichteten und jelbftverftänd- 
lih die für dieſen Fall hergebrachten ftaatsrechtlichen Formen einhal- 
tenden Gemeindebeſchluß. Der erklärte Wille des biöherigen Herrn, 
auf feine Herrfchaft über den Hörigen zu verzichten, iſt wirkſam, 
ſchafft aber eine herrenlofe Sache, nicht einen freien Mann; ver er- 
Härte Wille deſſelben, ihm vie Freiheit zu geben, welche allein vie Ges 
meinde verleihen kann, ift rechtlich wirkungslos und bleibt e8 alfo zu= 
nächjt dem Herrn unbenommen, troß einer felchen Grflärung feine 
Herrichaft wieder geltenp zu machen ). Daß mit dem Act der Frei— 
laffung von Seiten des Herrn deſſen Beftätigung durch vie Comitien 
und bie Verleihung des vollen Bürgerrechts rechtlich verbunden wer⸗ 
ben konnte, iſt nicht zu bezweifeln; aber jchiwerlich ift jemals ein Fall 
biefer Art vorgekommen. — Allerdings lag in dieſem Verbältniß von 
Haus aus die Tendenz die Thatfache zum echt zu machen und 
ben freifprechenden Herrn an die Haltung feines Wortes rechtlich zur 
binden. Derartige Beichränfungen des Patronatsrechts zu Gunften des 
Clienten, Interventionen ver Gemeinde zu dem Zwed, den PButron 
an die Haltung feines Treuworts rechtlich zu binden, werten uns in 
Menge begegnen und e8 bewegt fich in ihnen ter ganze hijtorifche Ents 
widlungs= oder vielmehr Vernichtungsprozeß des patronatiichen Rechte. 
Über das Rechtöverhältniß zwiſchen dem Freigelaſſenen und dem Frei« 
laſſer muß - feitgeftelit gewefen fein, lange bevor man dem freige- 





Das römische Gaftreht und bie römifche Klientel. 351 


laffenen gegen ven Herrn einen Rechtsſchutz angeveihen ließ; und 
wenn auch durch deſſen Hinzutreten daſſelbe natürlich weſentlich ums 
geftaltet ware, To hat es feinen urjprünglicden Charakter doch nie- 
mals völlig verleugnet und ed iſt die Stellung des Patrons nur 
begreiflih als eine urjprünglich rechtlich vollſtändige, aber theo- 
retiſch und praftifch ftetig fich abichwächente hausherrliche Gewalt. — 
Der Treilaffung rechtlich gleichartig oder genauer gefprechen eine ver 
Seftalten, in der die Kreilaffung auftritt, iſt die Ergebung, welche 
in boppelter Art vorkommt, entiveder als Ergebung eines Fremden 
in die Schutherrichaft eines römiſchen Bürgers (applicatio °*), oder 
als Ergebung einer ver römifchen Schukherrichaft unterliegenpen Ge⸗ 
meinde in vie Schutberrichaft eines einzelnen Römers, zunächſt des- 
jenigen, dem fie zu Handen ber römijchen Gemeinde fich unterworfen 
und mit Dem fie ihr neues Lnterwürfigfeitöverhältnig abgefchloffen 
und georbnet Hatte *). In beiden Fällen finvet fich einerfeits vie 
Unterwerfung unter die Gewalt, andrerſeits vie thatjächliche Belaſ⸗ 
fung der Freiheit, alfo viejenigen Momente, welche bei ver Freilaf- 
jung die wejentlichen find. — Die Erblichteit hat das Patronat mit 
dem Sajtrecht gemein. Sie folgt ſchon daraus, daß die fchutherr- 
lihe Gewalt urfprünglich eine hausherrliche ift und alſo gleich dieſer 
übergeht auf die Deſcendenz; aber es ift auch fowohl im Allgemeinen 
für die Elientel *) als anch befonvers Hinfichtlich ver rechten agna⸗ 
tischen Defcentenz ber Freigelaſſenen °') wie Hinfichtlich ver in Clientel 
eintretenden Gemeinden bie Erblichfeit bezeugt. — Bon einem fchrift- 
lichen Acte, ver über dies Verhältniß aufgenommen worden wäre, 
findet fich bier feine Spur; was bezeichnend ift: es ift eben fein Ber- 
trag und fein Recht, das bier zu Grunde liegt, fondern einfach ber 
willfürlih und einfeitig gefaßte und willfürlich und einfeitig geüußerte 
Entſchluß des Herrn. 

Die publiciftiiche Elientel entfteht immer durch Ergebung (de- 
ditio). Es kann dieſe zwar auch vie förmliche Sclaverei herbeifühs 
ren, wo fi dann die Auflöfung der Gemeinde natürlich von ſelbſt 
verſteht; aber gewöhnlich bleibt doch den Unterworfenen thatfüchlich 
bie Freiheit, bald unter Auflöfung bes bisherigen Gemeindeverbandes, 
jo daß die einzelnen ehemaligen Gemeinvegliever als beimatbiofe aleich⸗ 
ſam freigelaffene Schupleute Roms (de 


852 


bald unter thatfächlichem Fortbeſtand veffelben, fo daß die Gemseinbe 
felbft ale Schugbefohlene der römifchen betrachtet wird (civitates-- 
berae), vie einzelnen Gemeindeglieder aber, fo lange viefer up 
währt, zu Rom in demſelben Verhältniß ftehen, wie die Bürger ber 
mit Rom im Gaftvertrag ſtehenden Gemeinden. 

Die Auflöfung des Patronats Tann in zweifacher Weife erfolgen, 
buch Verwandlung der Glientel entweder in Snechtichaft ober in 
Nechtögleichheit. Jene ift bei ber publiciitifchen Clientel unbebingt 
ftatthaft *); dieſelbe kann wie jedes Precarium zu jeber Zeit beliebig 
aufgerufen werben, ohne daß barin eine Nechtönerlekung läge. Bei 
ber privatrechtlichen Clientel muß urſprünglich daſſelbe gegolten Gaben; 
allein es ift dies Recht des Patrons unter allen am früheften "eiitge- 
fchränft worten. Bon beffen erſten und wichtigften poſitiven Zee 
ſchränkungen können wir wohl erfennen, daß es Neuerungen find, 
aber nicht mehr vie Zeit nachweifen, wo fie auffamen: fo weit un« 
fere Ueberlieferung zurüdreicht, war es Nechtens in Rom, baß, wo 
bie Freilaffung unmittelbar over mittelbar durch die Gemeinde ober 
beren Behörde beftätigt worden war, aljo wo fie erfolgt war durch 
Zeftament, welches auf Euriatbefchluß over was dem gleich ftand 
zurüdging, over mitteljt Klagerhebung (Binvication), oder bei Gele- 
genheit der Schäkung, der Freigelaffene und deſſen Defcendenz zwar 
keineswegs als wirklich frei angefehen, aber dem Herrn doch die EtB- 
rung der thatfächlihen Freiheit, die Zurüdforverung des alſo Bes 
freiten in die thatfächliche Sclaverei nicht verftattet wurde. Dieſelbe 
Rechtsbildung hat dann in ber Hiftorifchen Zeit fich fortgefett für 
bie übrigen von dem Herrn ohne Intervention ber Gemeinde, aber 
in hinreichend deutlicher Weife durch Wort oder That freigegebenen 
Leute, deren und beren Defcendenz Zurüdforverung aus factifcher 
Freiheit in die rechtliche Sclaverei noch bis an das Ende ter cicero«- 
nifhen Zeit in unbeftrittener Rechtskraft beſtand. Erſt das junifche 
Geſetz bat kurz vor oder unter Auguftus dies geänbert; aber auch 
das Rechtsverhältnig diefer junifchen Latiner iſt befanntermaßen nicht 
mehr Knechtſchaft, aber doch noch nicht Freiheit. 

Andrerſeits hoͤrt die publiciſtiſche Clientel ſelbſtverſtandlich auf 
durch den Abſchluß eines Gaſtvertrags, welcher in ſolchen Fällen ſtets 
das ewige Waffenbündniß mit einzuſchließen und darum als Fodus 








Das römische Gaſtrecht und bie römiſche Klientel. 353 


aufzutreten pflegt; denn indem hiedurch bie beiterfeitigen Staaten als 
rechtlich gleichſtehend anerkannt werben, fällt die Grunbbebingung ber 
Clientel weg. Ans demſelben Grunde mußte die privatrechtliche Clien⸗ 
tel mit rechtlicher Nothwendigkeit aufhören, ſowie der Client das volle 
Bürgerrecht gewann; dem er wurbe dadurch feinem bisherigen Schug- 
herrn rechtlich gleichgeftellt und alfo das Schutzrecht aufgehoben. Es 
findet ſich hievon eine merkwürdige Spur in einem ber wenigen poſi⸗ 
tiven Rechtsſätze, die über das faſt verfcholfene Gfientelinftitut in uns 
ferer Ueberlieferung fich erhalten haben: daß nämlich das Glientelver- 
hältniß wegfalle, wenn ter Client zu einem curuliſchen Amt ges 
lange *). Ein folches nämlich giebt in der fpäteren vepnblicanifchen 
Zeit Sit und Stimme im Senat, verfett alfo nad) dem Sprachges 
brauch viefer Epoche unter die patres; wenn man ſich weiter erinnert, 
dag dies Wort die Bedeutung gewechjelt hat und anfänglich die Pa- 
tricier, fpäter tie Senatoren bezeichnet *), fo Tiegt hierin fehr deut⸗ 
lich der ältere Rechtsſatz, daß der Client, wenn er Patricier, das ift 
Bollbürger wird, bamit aus ver Glientel austritt. 

Gaſtrecht und Klientel haben wie das thatfächliche Verhältniß tes 
Schutzes fo auch deſſen Eorollarien bis zu einem gewiffen Grave mit 
einander gemein; wobei man nicht vergeffen darf, daß die letztere viel- 
leicht weniger an ter eigentlichen Manumiffion fi) entwidelt hat als 
an dem Applicationsrecht und urfprünglich das Gaftrecht gedacht wer⸗ 
ben muß bezogen auf ben reifenden, vie Clientel auf den Tanpflüchtigen 
Fremden. Die Verpflegungspflicht, die religiöfe und rechtliche Gemein 
ſchaft, das rechtlich refpectirte Pietätsverhältnig kehren alle hier wie- 
ber, jedoch mit wichtigen durch die mohificirte thatfächliche Grundlage 
verurfachten Modificationen. 

Die Verpflegungepflicht nimmt gegenüber ber bauernven Clientel 
ſelbſtverſtändlich einen andern Charakter an, als gegenüber dem ephes 
meren gaſtrechtlichen Begehren; es liegt in den Verhältniſſen, daß 
die Verpflegung zur Verſorgung wird, der Schutzherr dem Schutzbe⸗ 
fohlenen wo möglich die Mittel gewährt, ſich ſelber durchzubringen, 
ihn etablirt. Höchſt wahrſcheinlich geſchah dies im älterer Zeit durch 
Ausweiſung von Ackerland: das uralte Rechtsinſtitut des Precarium, das 
heißt dauernden, jedoch jederzeit widerruflicheu 
bilien iſt bereits früher *) von mir uf 





354 Theobor Mommfen, 


zurüdgefüyrt worben, welche felbft als urfprünglich precäre Freiheit 
damit im innigften inneren Zuſammenhang fteht; auch die Gemeinke 
pflegte auswärtigen Flüchtlingen, die bei ihr Schug gefucht, Acker 
anzumeifen **). Als die jpätere Großwirthichaft vergleichen Parcelirung 
minder beliebt machte, wurde e8 gebräuchlich tem Eclaven bei ver 
Freilaffung ein Capital zu überweifen, wenigften®, wenn er fchon als 
Eclave factijch eigene Wirthſchaft gehabt haite, ihm das tarin ſteckende 
Capital zu laffen ); auch vie Gemeinde pflegte, wenn fie einen 
Sclaven freilich, ihn mit einer Geldſumme auszuftatten *). Dieſelbe 
Verpflihtung des Schugherrn tritt fchärfer noch als bei Yebzeiten bes 
Schutbefohlenen hervor bei der Beftattung: vie zahlreichen für base 
Haus’ oder für vie ‚Sreigelaffenen” und Sclaven einzeluer Römer 
auf Kojten des Herrn errichteten Grabftätten bezeugen e8, baß bie 
alte Saftrechtsregel auch auf die Clientel angewandt worden if. — 
Begreiflicher Weife ijt dieſe fittliche Verpflichtung des Schußherrn, 
für feine mittellofen Clienten im chen und im Tode zu forgen, nie 
mals entwidelt worden zur rechtlichen TChligation; wohl aber ift Dies 
gefchehen mit einer einzelnen Anwendung davon, nämlich mit dem 
Sate, daß der Putron von feinen Clienten wohl diejenigen Gefchente 
negmen kann, die nichts find als Zeichen ver Anhänglichfeit und ver 
Ehrerbietung des Schenkenden, daß es aber für ihn fchimpflich ift, fich 
burch die Gejchenfe derjenigen zu bereichern, Die er eigentlic) verforgen 
und ausftatten follte — es wurte diefe römiſche Moralvorfchrift in 
ber Epoche, vie tie gute alte Sitte auf dem Wege der Gefeßgebung 
aufrecht zu halten verfuchte, die Veranlaffung zu dem die Schenkun— 
gen befchränfenten cincifchen Geſetz *°). 

Auch die häusliche Gemeinfchaft hat die Elientel mit dein Oaft- 
vecht gemein; begreiflicder Weife aber find die baraus gezogenen Con» 
fequenzen für ten ſonſt heimathloſen Elienten ganz andere und bei 
weiten tiefer greifende, alö bei dem nur vorübergehend außerhalb des 
eigenen Hauſes verweilenten Gaſt. Schen der Name zeigt dies an: 
cliens ijt wörtlih ver Hörige, der Gehorchende. Eben dahin ge— 
hört es, Daß, wenn ver Herr auswandert, die Elienten mit ihm in 
die rende ziehen ’°) und daß fie eben wie tie Sclaven bei Privat- 
anfgeboten und Privatfehren von dem Herrn bewaffnet werben ?'), 
Darum werden auch wenigjtens bie Freigelaffenen noch in ſpäter Zeit 








Das römische Gaſtrecht und die römiſche Elieutel. 355 


zu ven Hausleuten gerechnet ’”) und führen nicht bloß die Freigelaf- 
jenen und beren Nachlommen, fondern bie Clienten überhaupt ven 
Gefchlehtenamen des Herrn ’’). Die hänsliche Gerichtsbarkeit über 
Freigelaſſene fcheint tie ganze republikaniſche Zeit hindurch unbefchränft 
beftanden zu haben. Es kommen Fälle vor aus ber cäfarifchen Be- 
riode, wo der Batronim haͤuslichen Gericht über zreigelaffene vie Todesftrafe 
verhängt °’) und es werben biefelben nicht als Gewaltthaten, fondern 
leriglich als Beifpiele ftrenger Juſtiz berichtet. Die Beftunmung bes 
aclifch: fentifchen Gefeßes vom Jahre 4 n. Chr., daß es dem Patron 
freiftehen folle, feinen fehlbaren Treigelaffenen aus der Hanptitabt 
auszuweifen ’'), ift demnach höchſt wahrfcheinlich nur infofern eine 
Neuerung, als das patronatifche Strafrecht hier zum erften Mal recht« 
lich eingefchränft und dem Patron vie Gewalt über Leben und Tod 
feiner „reigelaffenen genommen ward, Das Nermögen des reige- 
lajfenen und bes Glienten überhaupt kann ber Patron zwar nicht will- 
fürlich einziehen wie das Peculium des Eclaven, aber es fteht ihm 
boch bei allen größeren außerorbentlichen Ausgaben, zum Beifpiel bei 
Ausftattung einer Tochter, bei Erlegung von Löſegeld, bei Verurtheis 
lung zu einer Geldbuße ver Regreß an Treigelaffene und Glienten 
offen ’*) und im Berarmungsfall find die Freigelaffenen verpflichtet 
und werben nöthigenfalls durch obrigfeitlichen Befehl dazu angehalten, 
ihren Patron zu erhalten ’‘). Kine Spur davon, daß, wie es bie 
hausberrliche Gewalt mit fich bringt, zwifchen Patron und Client in 
ältefter Zeit kein Hagbarer Vertrag möglich war, ift entlich die be- 
kaunte Sitte, daß der Patron die bei ber Freilaffung auferlegten Lei⸗ 
ftungen fich eidlich zufichern Läßt '*). Es ift dies ber einzige Ball, 
wo das fpätere Civilrecht ten Eid eine rechtliche Obligation begrün- 
ven läßt; chne Zweifel hat vie uralte Uchung den Eid als fittliches 
Berpflichtungemittel bei rechtlich ungültigen Verträgen zu verwenden, 
auch bier einmal Anwendung gefunden und ftanden in ältefter Zeit 
ber Vertrag tes Hausherrn mit dem Clienten und ter mit dem Scla- 
ven rechtlich fich gleich. — Diefes Alles würte vellfommen unbegreif- 
lich fein, wenn wir und ben Glienten al® einen von Haus aus Freien 
zu benfen hätten; wenn dagegen in ältefter Zeit ver Client überhaupt 
dem Herrn fo rechtlos gegenüber ſtand, wie in ber ciceronifchen ber 
formlo8 freigegebene Sclave, jo war sa in ber Drbnung, baß bie 


306 Theodor Mommſen, 





Spuren ber alten hausherrlichen Gewalt noch lange blieben, nament- 
lich der Client nur gefchügt warb gegen die Willfür des Herrn, nicht 
aber gegen die orenungsmäßige Auwentung ter Gewalt, gegen das 
häusliche Strafverfahren und gegen Uebernahme außerortentlicher La⸗ 
ften im Nothfall. — So ift denn bie häusliche Gemeinſchaft, Die bei 
dem Gaftrecht lediglich ein factiſches Verhältniß blieb, in der Clientel 
entwickelt werben zur vollftäntigen Hausherrlichkeit; und es ift eine 
Folge davon, daß jenes nicht, wohl aber dieſes ben mit allen Eigen⸗ 
thumsverhältniſſen verbundenen Charakter ver Ausfchließlichfeit an⸗ 
nimmt, ber freilich in unferer trümmerhaften Weberlicferuug nur für 
das Freigelaffenenverhältniß auserüdlich bezeugt wire. Freunde kann 
man viele haben, aber nur einen Herrn; fo lange darum das Bas 
tronat in der That ein Herrenrccht geblieben ift, kann auch eine for 
lidariſche Concurrenz dabei nicht vorgefemmen fein ’*). 

In der faeralen Gemeinfchaft dagegen treten Gajtrecht und Clien⸗ 
tel wicberum näher zuſammen, obwohl doch auch hier wefentliche 
Verſchiedenheit obwaltet. Ob die Glientelgemeinden zum Opfer 
anf dem Kapitel glei ven förerirten zugelaffen wurden, Täßt 
ſich wicht entfcheiden; auf jeten Fall wird das Recht, wenn 
überhaupt , ihnen ebenfalls als yprecäres eingeränmt werben 
fein. Die Brivatclienten dagegen müſſen nicht bloß nethiwenbig 
an dem häuslichen Gottesbienft Antheil gehabt haben, was ja felbft 
einigermaßen ven den Sclaven gilt, ſondern we dic Abtheilungen ber 
Gemeinde, die Curien zu veligiöfer Zeftfeier zufammentraten, z. ®. 
bei den Sernacalien, ließ man mit ten Gefchlechtern auch die Frei— 
gelaffenen und Clienten eines jeden Patriciers zu “); und es find dieſe 
Berfammlungen ftantsrechtlich von großer Bedeutung geweſen. Denn auf 
ihnen beruht es doch unzweifelhaft, daß neben ven felbjtftäntigen Voll: 
bürgern auch Hauskinder, Freigelaffene und Elienten, nicht aber Fremde 
und Sclaven ben adjectiviſchen Gefchlechtsnamen *") zu führen be— 
rechtigt ſind — zum Marcusgeſchlechte fich zu zählen, das heißt einen 
Marcier fih zu nennen war jeter befugt, ver in dieſem Gefchlecht 
bie Dürgerfefte mitfeiern vurfte. Darauf wird man auch wohl den 
alten Hereleruf beziehen vürfen, welcher Säfte, Unfreie, Frauen, 
Fungfrauen von gewilfen Opfern wegbietet *'); Die alfe übrig blei— 

nden waren cben Vollbürger und Clienten, Patricier und Plebejer, 





Das römische Gaſtrecht und die römifche Clieutel. 357 


bie ſpätere römiſche Bürgergemeinde, bie bier zuerſt fich als Einheit 
zufammenfanb. 

Was die Rechtaftellung der Clienten Dritten gegenüber anlangt, 
fo liegt ver Anſpruch anf Schug- und Rechtshülfe an fich im Wefen 
wie des Gaſtrechts fo anch der Clieutel; allein er hat fich für die pu⸗ 
biiciftifche und für die Privatclientel in ſehr verfchiebenartiger Weife 
entwidelt. Hinfichtlich ver Clienten der Gemeinte, mögen es Conmuts 
nen oder Individuen fein, gilt wejentlich das hinfichtlich ter Gäfte 
Ausgeführte, indem es für Die Nechteftellung ber Glieder ciner abhän- 
gigen Gemeinde zunächſt feinen Unterfchied macht, ob ver Gemeinde bie 
Freiheit auf belichigen Widerruf oder durch völferrechtlichen Vertrag 
zugeftanden werten ift. Jedes Glied einer Glientelgemeinte fo wie 
jeder, ver mit ber Gemeinde Rom einen individuellen Ergebungsver: 
trag gejchlejfen over ihr dediticius geworben ift, ift tamit im Allge⸗ 
meinen als vechtsfühig anerkannt, während die Frage, wie weit feine 
Rechtsfähigleit reicht und in welchen Formen er fie ausübt, auch hier 
nur nach tem befondern inhalt des einzelnen Actes beantwortet wer: 
den fanıı *"). — Bei ter Privatclientel tritt der Anfpruch auf Schuß» 
und Kechtshülfe fchärfer und anters hervor ale bei den Privatgaft: 
recht, wie dies bei dem frühen Zurüdtreten des leßteren überhaupt 
und bei ter befoubers hülfsbedürftigen und gleichfam verlorenen Stel- 
lung des heimathloſen Glienten begreiflich ift. Nach alter Eitte be— 
ginnt der römifche Hansherr feinen Tag damit, auf ven Hocfig 
(solium) in der Halle des Haufes die abhängigen Lente zu empfangen 
und fie in ihren Angelegenheiten überhaupt zu beratben *). Allein 
außer dieſem allgemeinen Beiftand muß der Patren noch in ciner 
befondern Weije verpflichtet gewefen fein, feinen Schutleuten wenn nöthig 
anf gerichtlichem Wege zu ihrem Recht zu verhelfen und ihre Pros 
jeffe für fie vurchzufechten. Dies bat zu allen Zeiten ale Ehren⸗ 
pflicht Des Patrons gegolten *); es lag die Rechtebeiſtandſchaft jo we⸗ 
fentlich in ver Schußherrfchaft, ta man fich gewöhnte, ven Anwalt 
und bie Partei, auch wenn fie nicht Schugherr und Schußbefohlener 
waren, doch fo zu nennen, ja fegar bie alte Regel, taß ter Schub- 
berr von tem Schugkefohlenen Fein Geſchenk nehmen durfte, auch auf 
das Verhältniß der bloß prozeffualifchen Patrone und Clienten über- 
trug. Schwierig aber ift es, ber aralter biefer 





358 Theobor Monımfen, 


ſchutzherrlichen Prozeßhülfe feftzuftellen. Im fpäteren Prozeß iſt ein 
Zweifel darüber, daß ver römifche Patronus, chen wie der griedhifche 
Broftates, *:) nicht Nechtövertreter ift, fonbern Rechtehelfer und Klä⸗ 
ger und Beklagter nicht der Patron, fontern der Client; **) aber ur⸗ 
fprünglic” möchte vie Stellung des Patrone in dem Prozeffe ber 
Glienten tech wohl eine andere und bebeutfamere gewefen fein. Denn 
einmal ift, wenn es fich hier von Hans aus bloß gehandelt Hat um 
Unterftügung ver Partei durch einen fachkundigeren, erfahrneren, an 
gefeheneren Dann, ſchlechterdings nicht abzufehen, warım biefe Bei⸗ 
ftantfchaft gerate an vie Schußberrlichkeit fich an- und von ihr ben 
Namen und die Nechtefäte entlehnt haben follte, weun fiberbaupt, 
was nicht gerate wahrfcheinlich ift, das urfprüngliche Recht bie etwa 
factifch vorhandene Unzulänglichkeit ver vechtlich zum Prozeß befugten 
Perſonen berüdfichtigte, fo mußte die dadurch veranlaßte Hülfleiſtung 
auch dem Gaft, dem Greife, vem Armen und Kranken zu Gute fom- 
men und es war fein Grund vorhanden ven Beiftantsbepürftigen ge- 
rade als Clienten zu bezeichnen. Dies führt darauf, daß der Mangel, 
um bejjen willen ver Patron zu dem Prozeß binzutrat, zunächit wohl 
nicht factifcher, fonvern rechtlicher Natur gewefen fein wird, die Bei— 
ſtandſchaft des Patrons in tem Glientenprozeß alfo nicht zufällig, 
foudern wefentlich und nothwendig war. Diefer Erwägung begegnet 
eine antere. Wie kommi überall ver vömifche Client dazu im römi— 
fchen Prozeß Kläger und Bellagter zu fein? Nach Gaftrecht Hagen 
fann er nicht, denn er ift nicht Saft, nach Landrecht ebenſo wenig, 
benn er ift nicht Bürger; wenn er gar mit Recht als juriftifch unfrei 
bezeichnet werten ift, fo fan ihm vie Fähigkeit Partei im Prozeß zu 
fein unmöglich von Hans zugeftanven haben. Aber war er unfrei, fo 
fonnte allerdings innerhalb gewiffer Schranfen aus feinen Nechtsver- 
häftniffen fein Herr Hagen; und taher wird es gefommen fein, daß 
in tem Prozeß des Glienten ver Patron nach fpäterem Recht nicht 
zu fehlen pflegte, nach älterem höchſt wahrfcheinlich nicht fehlen durfte. 
Die Civilprozeſſe der Clienten over nach fpäterem Sprachgebrauch ber 
Plebejer müffen in ältefter Zeit durch ven Patron vermittelt worben 
fein *') wie in ber fpäteren vie PBrozeffe ver Hauskinder und Sclaven 
durch den Bater und Herrn. Da aber ter Begriff ber Unfreiheit 


in ältefter Zeit ohne Zweifel theoretifch und praktiſch nicht fo ſcharf 





Das römifhe Gaſtrecht und die römiſche Clientel. 359 


berausgearbeitet war wie wir ihn im fpäteren republifanifchen und 
im Kaiſerrecht finden, fo wurden tie Glientelprozeffe wahrfcheins 
(ich urfprünglich vom Herrn unter factifcher Zuziehung ber Clienten 
geführt, Eis dann aus biefer thatjächlichen allmählich eine rechtliche 
Witbetheiligung wart, ter urfprüngliche Prozeßherr zum bloßen Rechte- 
beiftand herabſauk und auch diefe Beiftanpfchaft fchließlich formell und 
überflüjlig ward. In ganz ähnlicher Weile alfo, wie in der cicero- 
nisch = augufteifchen Zeit man fich genöthigt ſah, tem formlos Yreige- 
laſſenen latinifches Hecht einzuränmen, lange bevor er vollftänbig ein 
freier Mann ward, hat der römijche Client, ohne direct aus der Une 
freiheit entlaffen zu werten, bie vollſtändige Prozeßfähigkeit erworben, 
womit er denn freilich folgeweife als felbitjtinviges Rechtsſubject gleich 
und neben dem Herrn anerkannt war. 

Das rechtlich anerkannte Pietätsverhältnig ift ber Clientel eben- 
falls mit dem Gajtrecht gemein, aber wie gewöhnlich zu weit beveu- 
tenderen Conſequenzen entwidelt. Es gehört hieher zunächjt die Un- 
terfagung der Klage und der Slagunterftügung ſowohl von Seiten bes 
Schutzherrn gegen den Schutzbefohlenen als auch von dieſem gegen 
jenen. As Klagunterſtützung wird Sacdmalterfchaft, ungünftiges 
Zeugniß und ungünſtiger Nichterfpruch betrachtet **). Zunächſt ift 
biebei an GCivilflagen zu denken; feit indeß das Anflageprinzip im 
Criminalprozeß fich geltend machte, ift die Regel auch auf diefen ans 
gewendet worten *). Der Grund ijt offenbar, daß ver Prozeß nad) 
älterer Auffaffung durchaus Krieg ift und darum ber Natur bes Gaft- 
wie des Glientelverhältniffes widerjtreitet "%); und wie dieſe Anfchau- 
ung ben Römern bie in fpäte Zeit geläufig blieb, hat fich auch 
tie bezeichnete Klagbefchränfung wenn nicht in vollem Umfang, 
boch in wichtigen Anwendungen verhältuißmäßig lange in praftifchem 
Gebrauche behauptet. In ver GCollifion mit andern Pietätsverhält- 
niffen geht das Schutzverhältniß, Gaftrecht wie Patrenat, der Bluts⸗ 
verwandtfchnft vor, fo daß es zum Beiſpiel geftattet ift gegen einen 
Cognaten zu zeugen, wenn das Zeugniß für einen GSlienten abgelegt 
wird *'); womit zufanımengebalten werben kaun, daß ber Termin im 
GSaftgericht ven bürgerlichen Termin bricht ). Dagegen weicht das 
gaftrechtliche und patronatifche Verhältniß der Alters 
Gefchlechtstutel *°); ob Gaftrecht dem Patronat: 





360 Theobor Mommſen, 


Gaftrecht vorgeht, war wenigftens in fpäterer Zeit beftritten, während 
tie ältere Rechtsauffaffung ven Gaft dem Glienten vorzog *°*). Der 
Grundgedanke dieſer Satzungen, daß Schugpflicht fehwerer wiegt ale 
Blutöfreuntichaft, Die Schußpflicht gegen Kinder ſchwerer als bie ges 
gen Weiber, die Echuspflicht gegen Weiber fchwerer als die gegen 
Fremde, die Echukpflicht gegen ven Gaft ſchwerer als vie gegen ben 
eigenen Hörigen, ift ein fchöner Beweis der gefunden Männlichkeit, 
auf denen Roms Rechtsanfchaunngen wie Roms Größe beruht. — 
Aus demſelben Pietätsverhältniß ift aber auch ein dem Patronat eis 
genthünnliches Inſtitut hervorgegangen: das rümifche Erbrecht bes 
Schueheren an dem Vermögen des verfterbenen Schubefohlenen mit 
Inbegriff der daran hängenden Vormundſchaft Aber venfelben bei fei- 
nen Lebzeiten, °°) foweit er nach allgemeinen Regeln verfelben beburfte. 
Dem Gaftrecht iſt dies fremd und muß es fein; denn es liegt im 
Wefen der Rechtögemeinfchaft, daß ber Yürger einer vergafteten Stabt, 
auch wenn er zufällig in Nom fterben oder fein Nachlaß in Ron ſich 
befinden fellte, voch nach feinem eigenen Rechte beerbt wird, fo daß 
für ihn von einem vömifchen Erbrecht nie Die Rede ſein kann. Das- 
ſelbe gilt freilich im strengen Sinne des Wortes aud) von dem 
Clienten; denn er ift nicht römifcher Bürger, kann aifo auch an fich 
nicht mach römischen Recht erben oder beerbt werten. Allein da er 
heimathlos, alfo ven Rechtswegen erblos war, fo fand fih bier eine 
Yücde und es lag um fo müher dieſe anf irgend eine Weife aus— 
zufüllen, als das römifche bürgerliche Erbrecht, indem es nach einan⸗ 
ter Kinter, Agnaten und Gefchlechtegenoffen berief, vie Erblofigfeit, 
außer in dem äußerſten alle des Ansfterbens eines ganzen Gefchlech- 
tes, rechtlich unmöglich gemacht hatte. Zunächſt alfo übertrug man 
bie Begriffe der Suität, Agnation und Gentilität von ben Patrictern 
auf ihre Elienten: die Kinder des Applicanten und bes Freigelaffenen 
wurden feine rechten Erben fo gut wie bie des Patriciers, ihren Va— 
ter beerbten und wenn im Laufe der Zeit in der Deſcendenz jener 
fich das geftaltet hatte, was unter Patriciern Agnation und Gentili= 
tät gewefen fein würte, fo ließ man auch darauf hin Erbfolge unter 
Plebejern zu. Allein es reichte dies nicht aus um hänfige Erblofig- 
keitefälle zu verhüten: namentlich bei ven Applicanten und Freige⸗ 
laſſenen jelbft ward der Nachlaß nothwendig herrenlos, wenn fie ftar« 








Das römische Gaſtrecht und die römifche Clientel. 361 


ben chne Kinder zu binterlajfen. Man könnte freilich auf bie ur- 
Iprüngliche Unfreiheit des Clienten zurücgehend annehmen, daß in ei 
nem folhen Ball das Vermögen gleichſam als Peculium an den Pa— 
tron oder deffen Rechtsvertreter fiel; allein tiefe Auffaffung ijt des— 
halb zu verwerfen, weil das Erbrecht ver Kinder und Agnaten des 
Clienten von der Auffafjung veffelben als eines freien Mannes aus: 
geht und darum auch für die weitere Succeſſion von demſelben Rechte: 
grunde auszugeben iſt; auch iſt, ſoweit wir fehen, die Succeffion in 
das Vermögen der Freigelaſſenen burchaus als wahres Erbrecht, nie: 
mals als Peculicneinziekung aufgefaßt worden. Dagegen war es as 
türlich und angemefjen bei erblofem Abgang Die dem Berjtorbenen zus 
nächit ftchenden Perſonen gleichſam zu privilegivter Occupation bes 
rechtlich herrenlofen Nachlajfes zu Gerufen; wie denn fpäterbhin das 
Erbrecht der nicht agnatiſchen Alutsverwandten und das des überles 
beiten Ehegatten in ganz ähnlicher Weife entftanden. Nun waren 
zwar hier, wo es ſich nicht um Leiſtung einer Schugpflicht, ſondern 
um Zuwendung einer Bereicherung handelte, die Blutsverwandten des 
Schutzbefohlenen unzweifelhaft ihn Die Nächften, *°) aber ebenſo uns 
zweifelhaft in deren Ermangelung ter Schugherv ihm näher als jever 
Dritte. Darauf beruht Die Erbfolge ſowohl in das Vermögen bes 
Berbannten, ver fih in ven Schuß eines römiſchen Bürgers begeben 
hat,“) als auch gegen ven Freigelaffenen; welche beiden Fälle bie 
zwölf Zafeln als patronatiſches Erbrecht zujanımengefaßt haben. 
Nur eine logiſche Fortſetzung deſſelben Geranfens ift cd, daß das 
Ihugherrlihe Erbrecht einerjeits in Ermangelung tes Patrons ven 
Defcententen, Agnaten und entilen deſſelben zukommt, andererſeits 
wie gegen den Verbannten und Freigelafjenen jelbjt, fo auch gegen 
deſſen geſammte agnatifche Deſcendenz dem Patron, rejpective deſſen 
Dejcenventen, Agnaten und Gentifen infofern zufteht, als es nicht 
turch das ftärfere biutsverwandtfchaftliche ausgeſchloſſen wird, und 
es fehlt in unſerm römifchen Syſtem viefer Exbtitel feineswegs, ſon⸗ 
bern iſt in ver gentilicifchen Erbfolge mit enthalten. Auch iſt nichts 
der Annahme im Wege, welche in der rechtlichen Conſequenz unab- 
weislich liegt, daß wenn der Defcendent eines Freigelaſſenen ohne 
blutsverwandte Succeventen ftarb, ihm zunächit biejenigen Geſchlechts⸗ 


genofjen fuccebirten, bie zunächt dem Patron feige Stanm 





362 Theodor Mommfen , 


fuccerirt haben würden, und nur in Ermangelung eines folchen Näher⸗ 
rechtes vie Gentilen im eminenten Sinn, bie patricifchen Gefchlechte- 
genojjen. Selche mußte e8 aber urfprünglic in jedem Gefchledyt geben, 
fo lange darauf gehalten ward, daß jeder nicht patricifche Römer fich 
einem beftimmten Geſchlecht anzufchließen und veffen Namen anzuuch- 
men hatte; und e8 war alfo auf diefe Weife die Erbloſigkeit auch für 
die Glientenfchaft mwejentlich verhintert. Daß fpäterhin, als die Curien⸗ 
ordnung ins Schwanken fam, viele patricifche Gefchlechter ausftarben, 
Fremde, namentlich Latiner in großer Zahl in das römifche Plebejat 
eintraten ohne einem beftimmten Gefchlecht fich anzufchließen und ven 
Namen zu wechſeln, auch bie gentiliciſche Erbordnung mehr und mehr 
abkam, ift begreiflich und befannt. 

Endlich ift bei ver Privatclientel noch hervorzuheben die auf 
Berlegung dieſes Verhältniffes gefegte Criminalitrafe. Für das Pri⸗ 
vatgaftrecht befteht ein folder Schuß nicht und war dazu auch 
fein dringendes Bedürfniß verhanden: ter Gaſt fteht ja, regelmäßig 
wenigjtens, auch unter dem Schuß des mit feiner Gemeinde errichteten 
Staatsvertrags und alfo feinem Gaſtherrn nicht rechtlos gegenüber; 
überties giebt tie Möglichkeit das Verhältniß jederzeit zu löſen felbft 
einen gewiſſen Schuß gegen deſſen Mißbrauch. Anders ift e8 bei ver 
Glientel: hatte man auch weder rechtlich nech thatfächlich Urſache, Den 
Patron gegen den Glienten zu fchügen, da ihm ja die Gerichtsbarfeit 
über diefen zuſtand und auch bie Macht, feinem Spruch Geltung zu 
verfchaffen, nicht leicht fehlen konnte, jo war um fo mehr Urfache vor— 
handen, umgekehrt ven Glienten gegen ten Patron zu Tchügen; denn 
als heimathlos hatte der Client feinen völferrechtlichen, ale von Haus 
aus unfrei nicht einmal einen privatrechtlichen Rüdhalt, und das Ver⸗ 
hältnip war, felbjt wenn beide Theile es hätten löſen mögen, dennoch 
wefentlich unlösbar. Ce ijt fehr merfwürrtig, wie man bier half. Wenn 
der Schugherr, verordnen bie zwölf Zafeln, feinem Schußbefohlenen 
Unbill (fraus) zufügt, fo fell er des Tores fchultig fein’). Ver 
alfo die zugejagte Treue bricht, feinen Schußbefehlenen in tie Knecht⸗ 
ſchaft zurücverjegt over ihm fein Bermögen wegnimmt, ver wird ale 
Verbrecher gegen bie Gemeinde behantelt, während dieſelbe Handlung, 
gegen einen Mitbürger begangen, regelmäßig nur eine Givilflage nach 
fih zieht — ganz wie der Bürger, ver ven Bürger fehlägt, von dem 





Das römiſche Gaſtrecht und die römifche Clientel. 363 


Geſchlagenen mit der Injurienklage belangt, dagegen der Sohn, ber 
ben Vater fchlägt, von Gemeindewegen beftraft wird. Nicht die 
bejondere Schwere des einen und des andern Vergebene ift es, welche 
bie Dazwifchenkunft der öffentlichen Gewalt berbeiführt, ſondern das 
in beiven Fällen beftehente Gewaltverhältnig zwifchen dem Verletzer 
und bein Verlegten, welches die Civilklage unmöglich macht und bie 
Gemeinde zwingt, felbft als vie verlegte Partei aufzutreten — was 
denn beiläufig die Todesſtrafe zur Folge hat, denn eine andere als 
biefe äußerfte kannte das ältefte römische Criminalrecht nicht. Freilich ficht 
das Gefeß eben in feiner allgemeinen Faſſung mehr einem frommen 
Wunfche gleich als einer praktischen Norm; auf jeden Fall lag es in 
ber Hand der damals noch in der Criminalrechtspflege frei ſchaltenden 
Obrigkeit, den vagen Begriff ver Unbill billig auf exorbitante Uns 
rechtjertigfeiten und Gemwifjenlojigfeiten in ver Anwendung einzut- 
ſchränken. 





Wer die nicht allzu bequemen Wege, die dieſe Unterſuchung hat 
nehmen müſſen, bis hieher verfolgt hat, wird hoffentlich hier, am Ziel 
derjelben angelangt, manches Harer und fchärfer erkennen, als es in 
ben bisherigen Darjtellungen zu finden war. Alle Rechtöverhältniffe 
ber Gemeinde und bes Gemeindeglieds zu ten außerhalb ver cigenen 
Gemeinde ftehenden Gemeinden over Individuen jind nach der römi⸗ 
fhen, wahrſcheinlich aber nicht erft innerhalb ver römijchen Rechts⸗ 
entwiclung entjtandenen, ſondern uralten Auffaffung entweder Gaſt⸗ 
recht oder Glientel. Beide ruhen auf ver gleichartigen Grundlage ver 
häuslichen Gcmeinfchaft und des häuslichen Schuges; aber je nach- 
den beite Theile jelbitftändig und gleichberechtigt, oder ver eine un⸗ 
ſelbſtſtändig und umtergeorpnet ift, entwidelt fih dort das Gajftrecht, 
berubend auf dem Freundfchaftsvertrag mit einem rechtlich und that« 
fächlich freien Nichtbürger, bier die Clientel, beruhen auf dem ſou⸗ 
veräinen Willen des Herrn den vechtlich Unfreien als precär freien 
Nichtbürger zu behandeln. Darum tft der rechtliche Yuhalt beider 
Berhältnijfe, wenn gleich er den gleichartigen Ausgangspunkt noch überall 
erkennen läßt, doch mehr noch verfchieren ale verwandt, auch eine all» 
gemeine technifche Bezeichnung, vie Gaſt⸗ und Clientelvecht zuſamm 





364 Theebor Mommfen. 


faßte, in ber fpäteren Nechtsfprache nicht mehr vorhanden, obwohl 
bie faerale Beziehung der öffentlichen Gaftverträge zu ber Fides po- 
puli Romani (S. 339) einer- und die Bezeichnung des Glientel- ale 
Treurechts andererfeits darauf binweifen, daß ehemals Gäſte und 
Clienten zuſammengefaßt worben find als die Perfonen in der Treue 
des Hausherren — in truste dominica, wie die germanifchen Volks⸗ 
rechte fagen. Der Saft hat Anfpruch auf Verpflegung, ver Client 
auf Verforgung. Ein Pietätöverhältniß wird fewohl zwifchen Gaft 
und Gaftherrn, wie auch zwifchen Patron und Clienten vom Recht 
angenommen und ein Rechtsjtreit zwifchen ihnen baher nicht zuges 
laffen, außerdem aber noch bei dem leßteren Verhältniß hieraus das 
wichtige patronatifche Erbrecht und die patronatifche Vormundfchaft 
entwidelt. Der Gaft tritt vorübergehend ein in bie Hänslichkeit tes 
Gaftheren und nimmt Theil an veflen Gottesvienft; bei dem Clienten 
ift diefelbe Häusliche Unterwerfung entwidelt worten zu einer wefent- 
lichen hausherrlichen Gewalt, die indeß bei der Privatclientel durch 
Gemeindegeſetz rechtlich befchränft und unter Garantie der Griminal- 
gefege geftellt ift. Der Anfpruch des Gaſtes wie des Clienten auf 
Schuß und Rechtehilfe erzengt als Ausflug des öffentlichen Gaft- und 
Slientelrehts die Gaftgerihte und das private Internationalrecht, 
als Ausflug der Privatclientel das prozejfualifche Eintreten des Pa⸗ 
trons für ten börigen Mann und damit ben allmähfichen Uebergang 
römischen Rechts auf Die heimathloſen römiſchen Schugleute, die Ueber— 
führung derſelben erjt in freie Leute, ſodann thatfüchlich in Veitbürger 
der Patricier. Auf dem Gegenfat ven Gaftrecht und Clientel beruht 
die wichtige Eintbeilung der mit Nom vertragenen Gemeinden in Bundes: 
gemeinven und nur factifch freie Staaten, der von Rom als NRechtsfubjecte 
anerkannten Individuen in erbfreie ») VBollbürger, hörige nicht in volls 
fommener Freiheit, jondern nur in gemilverter Unfreiheit lebende Leute 
und gajtberechtigte Fremde. Hierin liegt Die Antwort auf die Frage, 
was die römische Plebs urfprünglich geweſen und wie fie entjtanden 
ift. Nach der einjtimmigen hiſtoriſch werthlefen, aber ftantsrechtlich 
vollkommen beglanbigten Ucberlieferung geht vie Plebs urjprünglich 
auf in den Begriff der Clientel '%); und man hat dagegen nur Ein: 
jpruch erhoben, theils weil diejenigen Philologen, die vom römifchen 
Recht nicht® verjtehen mögen, immer noch dieſe ragen mit ihrem 





Das römifche Gaftrecht und die römifche Elientel. 365 


unklaren Gerede erneuern, teils weil fentimentale Hiftorifer es nicht 
über fich gewinnen können, den Plebejern einen Urfprungsmafel an- 
zuhängen — webei fie freilich, wie eben gefühlvolle Leute pflegen, 
das wahrhaft Große verfennen und fich und ihre Yefer um vie Ein- 
ficht bringen, wie unendlich mehr tie erwerbene Freiheit die Nation 
erzieht und chrt, als die angeborne. Indeß fell damit nicht geleugnet 
werben, daß in ter fpäteren Plebs neben ver Glientel noch ein an- 
deres Element enthalten iſt. Es gab unter den Gäſten eine wichtige 
Klajje, tie den Glienten in ihrer äußerlichen NRectsftellung ſich ſehr 
näherte: es find dies bie Latiner. Deren gaftrechtliche Gemeinfchaft 
mit Rem befteht, tem latinifchen Bundesvertrag gemäß, in vellfen- 
mener vermögensrechtlicher Gleichheit; fie prozefjiren alfo unter ſich 
wie mit den vömifchen Bürgern nicht nach bein internationalen Recht, 
fondern nad) dem vömijchen, welches eben ihr Gaſtrecht ift. Sie leiſten 
ferner, wenn fie in Rom mit Grundbeſitz anſäſſig oder auch nur do⸗ 
micilirt find, al® municipes, das ijt als Yiotelen, dort die gemeine 
Bürgerpflicht, namentlich Frohnden und Kriegodienſt. Cie nehmen endlich 
an den Qürgerabftimmungen wenn auch in befchränfter Weife Theil. 
In allen dieſen Beziehungen unterfcheiren fie jich ebenfo fcharf von ven 
übrigen in Rom bemicilirten Fremden, als fie weſentlich zuſam— 
mentreffen mit ten Clienten, die ja ebenfalls, ohne Bürger zu fein, 
nach Bürgerrecht lebten, tie durch die ferpianifche Reform zu Waf— 
fengemeinfchaft mit den Patriciern gelangten und foranı in ben 
Senturiate und fpäter ben Zributcemitien Stinmirecht gewannen. 
Nicht minder kamen jene latiniſchen Inſaſſen mit ven Clienten barin 
überein, daß beiten ten Patriciern gegenüber Ehegemeinſchaft und 
Aeniterrecht fehlte. Der wefentliche Unterſchied tiefer beiten Klaſſen 
beftand darin, daß nicht die Tatinifchen Säfte, wehl aber die Clienten 
dem Patronatszwang unterlagen, alfo nur die legteren nicht ohne Ter- 
wittelung des patricifchen Schugheren Prozeß führen konnten und nur 
fie in diefem ihren rechten Borftand und Anerben zu reſpectiren hatten. 
Inſofern ift Die plebejiſche Emancipation zweifacher Art: einmal gebt 
fie dahin, ven Patronatszwang zu fprengen, wie benn in ver That der⸗ 
jelbe bereits in der ciceronifchen Zeit in der Hauptſache befeitigt war 
und nur noch für die Freigelaſſenen einige ber milveren Folgen ber 
ehemaligen Hörigfeit fortbeftanven ; zweitens den fänmtlichen Syfotel 
Hiſtoriſche Zeitſchrift L Band. 24 





366 Theodor Mommfen, 


bie noch mangelnven bürgerlichen Rechte, Ehegemeinſchaft, gleiches 
Stimmrecht und Theilnahme an ven Aemtern und Ehrenrechten zu 
verjchaffen. 





Anmerkungen. 


1) Tas Wort fommt häufiger vom Privat- ala vom Gemeinbegaftrecht vor; 
doch ift e8 auch von biefem nicht gerade felten, 5. 8. Liv. 5, 28. 50. 

2) Dan vergleiche die verwandten Wörter hostire = aequare, redhostire, 
Hostilina. 

2a) Dies Wert ift umgekehrt häufiger vom Gemeinbe- als vom Privatvertrag; 
doch findet es fidh von diefem 3. B. in der Urkunde bei Gori inser. 2, 306. 
Oft wird amieit'a dem foedus entgegengefett; doch ift natürlich jedes foedus 
auch ein Freundſchaftsvertrag. 

2b) Wir beſitzen eine Urkunde (Orelli 156), in ber zwei Geſchlechter (gen- 
tilitates) des Stammes (gens) der Zoelen (eine der zweiundzwanzig Nöffer- 
ſchaſten der fpanifchen Afturee: (Pin. h.n. 3, 3, 28) bie alte Gaſtfreundſchaft er- 
neuern und jeber jedem erbliches Gaftrecht gewähren (hospitium vetustum an- 
tiquom ren;vaverunt eique omnes alis alium in fidem elientelamqgue suam 
suorumgue liberorum pjosterorumque recepit), werauf dann nachträglich noch 
brei Individuen aus drei anderen ebenfalls zoeliſchen Geſchlechtern in denſelben 
Bund aufgenenmen werden. Häufiger kommt es bei Gaftverträgen zwiſchen 
Individuen und Gemeinden vor, Daß Diejelben zugleih mit der Gemeinde unb 
mit jeden Gemeindeglied errichtet werden; die techniſche Bezeichnung dafür ift 
hospitium publice privatimque faccre (Yiv. 30, 13; curubitenfifhe® Patro⸗ 
natsdekret mem. de l’acad. Franc. 49 p. 501). Ganz gewöhnlich wurde neben 
dem Gemeindegaſtrecht noch mit denjenigen Gemeindegliedern, die fih um befien 
Errihtung beſonders bemübt hatten, ein privates errichtet. (Yin. 30, 13. Joſe— 
phus antiq. 13, 9, 2. C. I. Gr. 2485, 3. 3. 4). 

2c) Darauf führen mehrere Spuren in ben älteften griedifchen und beut- 
ſchen Ueberlieferungen. Qei Homer wird ber Saft neum Tage beherbergt, ebe 
ber Gaftgeber ibn nad feiner Legitimation fragt (31. 6, 168). Die nordiſche 
Sitte beſchränkt das Gaſtrecht auf krei Tage (Grimm R. A. ©. 400). Auch 
bei Tacitus Germ. 21 ift wohl das Wegbicten bes über Die Zeit verweilenden 
Baftes gejcilbert. 

3) Es ift überflüſſig Die Veijpiele dafür zu fanımeln; ich crwähne nur, Daß 
die fänmtlichen urkundlich erhaltenen Freundſchaftsverträge, fowohl die ber römi⸗ 





Das römifche Gaſtrecht und bie römifche Clientel. 367 


{hen Gemeinde ale die communalen Patronatstafeln, ausbrüdlich mitgeftellt find 
auf Kinter und Nachkommen (liberi posterique) der zu Freunden gemachten 
Individuen. 

4) Die dem wüſten Züldnerweien bes Altertbums angehörige Sitte (vgl. 
Herodot 3, 11) durch Deenjchenopfer und Trinken von biefem Opferblut ge 
fahrvolle Kameradſchaftsverhältniſſe zu beftärken, begegnet auch in den Erzählungen 
von der Verſchwörung zur Küdführung der Targuinier (Plutarch Popl. 4) und 
von der catilinarischen (Salluſt Cat. 22; Trumann R. ©. 5, 423); allein die 
letztere iſt ebenſo ficher cin Advokatenmärchen wie die erftere eine Rbetorenerfin- 
dung derjenigen Epoche, die aus bem Farbentopf der Revolutionsgeichichte bie 
alten Annalen zu überpinjeln liebte (ogl. meine Chronclogie 2. Aufl. S. 98. 
167). Auf keinen Fall aber durfte I. Grimm (Rechtsalterth. S. 193) biefe 
Sitte zufammenftellen mit der dur Vermiſchung des eigenen Blutes geſchloſſenen 
Brůderſchaft. 

6) Liv. 22, 38. Aehnlich find wohl auch die ſamnitiſchen „Eidtruppen“ 
(milites sacrati, Yiv. 9, 39. 40. 10, 37. 38) aufzufafien, obwohl in ber 
rhetorifchen Darſtellung bei Livius Das rechtlich enticheidende Moment des gegen- 
jeitigen Einſchwörens verwiſcht if. Regelmäßig wurden bie Heerabtheilungen 
und Schwurgenoſſenſchaften durch die Tffiziere gebildet; ausnahnmsweiſe aber las 
der Mann ben Mann, indem die Iffiziere nur jo viel Individuen ausmwählten ale 
Abtheilungen gebildet werden jellten und dann die zunächſt Erleſenen felbft Die Wahl 
fortſetzten, wo natürlich durch das Hinzutreten ber Wahl: zu ber Schmurgemein- 
haft das fittlih-veligiöfe Band weſentlich verftärtt ward. — Die coniuratio 
gehört nicht hieher; die Römer verfteben barımter die Ablegung des gewöhn— 
liches Eides nicht Manu für Mann, jondern in Maſſe. 

6) Unter den Beweifen dafür, daß Balbus das gabitanische Bürgerrecht ver- 
loren babe, führt Cicero (pro Balbo 18, 41) den zwiſchen den Gaditanern und 
Balbus errichteten Gaftvertrag auf, ut (populus Gaditanus) civitate illum mu- 
tatum esse fateretur. In der Kaiferzeit ift e8 zwar gewöhnlich genug. einem 
Gemeinbebärger als Patron der eigenen Gemeinde zu begegnen; dach wird fpäter 
gezeigt werben (A 51), baf dies ein Vorrecht der Senatoren unb Ritter war, 
bie als ſolche in gewiffem Sinne aus ihrer Localgemeinde ausſchieden, fo baf 
die alte Regel auch bier noch nicht ganz verwiſcht if. 

7) Cicero pro Balbo 12, 29. Ulpian Dig. 2, 14, 5. Beſtimmter nod 
zeugt dafür das Stillfchweigen der öffentlichen Urkunden, 3. B. bes römifchen 
Freundichaftsvertrage mit dem Klazomenier Asklepiabes und Genofien, ‚über bie 
Bornahme irgend welchen formalen Acts, z. B. Eib, Opfer, Gponflon. r 


8) Die Frage alfo, inwiefern ber ohne befonderen Auftrag ber Pine 
24* 





368 | Theodor Mommfen, - - 


pacijeirenbe Beamte biefelbe verpflichtet ober nicht nnb ob bie Vollmacht, zei. 
die Ratification von der Gemeindeverfjammlung oder vom Senat zu ertbheile 
iR, kommt hier nicht weiter in Betracht. 


9) Die Formel der älteſten vollftändig erhaltenen derartigen Urkunde, tes 
Decrets der gurzenfiihen Gemeinde in Africa vom 9. 12 vor Ehr. (Marisi 
Arvali p. 782) lautet: senatus populusque . .. . . hospitium fecerunt quom 
L. Domitio .... eumque et poster[o]s eius sibi posterisque sueis ps- 
tronum coptaverunt isque eos posterosque eorum in fidem clientelamque 
suam recepit. 

10) Auch das Wort hängt wohl mit fundere, foedare (begießen) zuſammen 
‚ und bebeutet zunächft ben Weihguß, die Opferſpende. Wie Enmius (bei Varro 
de 1. 1. 5, 86) und Preller (rdm. Myth. S 225) an eine Verwanbtfchaft mit 
fides denken konnten, ſehe ich nicht ab. 

11) Beifpiele der Art geben, aufer ber fpäter no zu erwähnenben Ber- 
pflihtung bes Sclaven gegen ben Herrn bei ber Freilaffung, Cicero de of. 
8, 31, 112 und Sueton Cäſ. 23. Calig. 12. — Dionyſios (1, 40) allgemeine 
Angabe, daß die Römer um einen Vertrag befonders zu befeftigen ihn am Al—⸗ 
tar des Hercules auf bem forum boarium bejchweren hätten, ift ficher mißver 
ftanden, wie faft alles bei ihm, und auf ſolche Verträge zu beſchränken, Die recht- 
ih nicht MHagbar waren. Wäre es üblich geweſen ein rechtlich wirtfames Geſchäft 
durch promifferifchen Eid zu beftärten, fo wiürben wir bei dem Berlöbniß, ber 
Fiducia und fonft die Spuren davon finden. Bei ben Griechen war es üblich 
(Hermann gottesdienftliche Altertb. 8. 9. Privataltertb. $. 68), aber ficher nicht 
durch Älteften Gebrauch, ſondern durch fpätern Mißbrauch des Eides. 

12) Sponsiore. ai. 3, 94. fin. 9, 5. 41. Cicero pro Balb. 12, 299. 
Natürlich ift dies nicht Die Sponſio des fpäteren Civilrechts, ſondern Die bloße 
zufällig mittelft der Worte spondesne? spondeo abgeſchloſſene Paetio. Man ver- 
geſſe nicht, daß zu ber Zeit, mo dieſe wölferrechtlichen Verhältniſſe und die in- 
ternationalen Sponſionen fich feftftellten, ned das Nerum beftand und es gar 
feine Hagbare civilrechtliche Sponſio gab; wie Denn auch namentlih Gaius fehr 
Mar ausſpricht, daß Die völkerrechtliche Sponſio mit der gewöhnlichen nicht® ge= 
mein bat als Die äußere Form. 

13) 6, 168 fg. 

14) 5, 1, 25: deum hospitalem ac tesseram mecum fero. 

15) 5, 2, 87: tesseram conferre si vis hospitalem, eccam attuli. 

16) 5, 2, 89: est par probe, nam habeo domi. — Tie häufige An- 
nahme, daß Das Gaſtzeichen zerbrechen und wieder zufammengepaßt werben fei 
(3. 8. Hermann gried. Privatalterth. F. 51 9. 13), beruht lediglich auf einem 





Das römiſche Gaſtrecht und die römiſche Efleniel. 369 


Mißverſtändniß des Wortes ovußalleır, ovußolor, indem man flatt an das 
Zujammenhalten zweier gleicher Exemplare jälihlih an das Zuſammenhalten 
zweier Hälften eines Ganzen gedacht bat, Dies würde um jo weniger zuläffig 
fein, als die Gaſtfreundſchaft auf alle Deſcendenten übergeht und ſelbſt auf Em- 
pfehlene übertragen werden kann, alfo das Gaſtzeichen nothwendig ber Verviel⸗ 
fäftigung fähig jein mußte. 

17) C. I. Gr. 54%. 6778 und bie bafeldft angeführten Stellen. 

18) Im plautiniſchen Pſeudolus V. 55. 648 weiſt fih jemand durch 
einen Siegelabdruck aus als legitimirt um Zahlung zu empfangen. Darauf be- 
ruht c8 auch, daß symbolum fo wich ift als Ziegelring. Plinius h. n. 33, 
1, 10: Gracci a digitis appellavere, apud nos prisci ungulum vocabant, 
postea et Grac«i et nostri eymbolum. 

19) Auch in dem Ründnißformular Yiv. 1, 24 wird eine fchriftliche Ur⸗ 
finde verausgefegt und der Eid auf das darin Enthaltene (ut illa palam prima 
postrema ex illis tabulis cerave recitata sunt) gerichtet. Nur den Eid, 
nicht Die Schriftlichkeit bat Das foedus her ber amicitia voraus. 

20) Tas heißt rivraxa zalxovv qılias Ev Tu Kanerwlig avadeira 
(A. 39). So entſtand das „uralte herrliche Reichsarchiv, in dem faft von ber Gründung 
„der Stadt an die Senats- und Vollksſchlüſſe Über Verträge, Binbniffe und Aus- 
„Ländern ertheilte Privilegien auf dreitauſend KRupfertafeln enthalten waren” und 
das, nachdem es in dem Branbe unter Vitellius vernichtet war, Veſpaſian nad 
den in den Bunbesgemeinben zerftreuten zweiten Eremplaren wieder berzuftelfen 
unternahm. (Sucten Vespas. 9). Aus biefem ſtammen ſowohl die römiſch⸗kartha⸗ 
giihen Bünbnißverträge bei Polybios, als auch zwei noch beute erhaltene Urs 
funden: ber Freundſchaftsvertrag zwijchen Der Gemeinde Rem und dem Klazomenier 
Aſklepiades und Genoſſen v. 3. 676 und der Freundſchaftsvertrag zwiſchen Rom und 
Termefjos in Pifidien vom 3. 682 oder 683 ber Stadt. — ine genauere 
Ausführung und Begründung der oben aufgeftellten Sätze liber bie Publication 
ber öffentlichen Acte in Rom ift in den annali dell’ Instituto di corrisp. arche- 
ologica 1858 p. 181—212 gegeben. 

21) Das beweifen außer ben Fundörtern und ber verwirrten Notiz bei 
dem Scheliajten des Juvenal 10, 57 vor allem bie Tafeln ſelbſt (apud pe- 
nates domus huius C. 1. N. 591; Orell. 784. 4133). 

22) Ein Tolument diefer Art (Mur. 564, 1) unterfcheibet genau das 
duplomum, den Bricf, und Die tabula aerea patronatus, bie Urfunbe. 


23) Plautus A. 14 und 15 und cistell. 2, 1, 27. 


24) Cicero pro Balb. 18, 41 und mehrere Urkunden (mem. de lacad, 
Frang. vol 49 p. 501; Grut. 362, 1. 868, 1). 


370 Theodor Monmmfen, 


25) Liv. 25, 18. 38, 81. 42, 25. Cicero Berr. 2, 86, 89. Dionyf. 5, 34. 

26) Auf Die Anfrage, ob es vor ber Kriegeserllärung an bie Wetoler mod 
einer bejenberen Auffündigung der Freundſchaft bedürfe, autwerten bie Fetialen 
berneinend: amicitiam renuntistam videri, cum legatis toties repetentibus 
res nec reddi nec satisfieri aeqnum censuissent (Liv. 86, 8). 


27) Die einzige, aber auereichende Spur tiefer Eitte ift enthalten in 
ben metaphorifchen Ausbrud tesseram confringere = bie Freundſchaft Idfen 
(Plautus cistell. 2, 1, 27). 


28) Becker Handb. 2, 2, 351. Darum melben fi bie fremden de 
fanbten zuerft bei ben Quäftoren. — Nach den fpäteren Ordnungen würben biefe 
Geſchäfte fih eher für die Aebilen ſchicken; aber das äffentlihe Gaſtrecht ſtaud 
lange feſt, bewor dieſe Magiftratur eingerichtet warb unb bie Quäſtoren erfchei- 
nen bei bemfelben noch in ihrer urfprünglihen Etellung als äftefte und ehemals 
einzige Gehülfen bes Könige. 

29) Liv. 30, 21. 33, 24. 2al. Mar. 5, 1, 1a. E. Gewöhnlich Heißt 
bies locus, auch wohl aedes liberse (Liv. 30, 17. 35, 23. 42, 6), wemit 
geiagt if, daß ihnen nicht blos in einem bemohnten Raum das Witbenugungs- 
recht, fondern ein freiftehende® Quartier eingeräumt wirb (vergl. Liv. 42, 19, 6). 

30) Docd wurde auch wohl ein Privathaus gemietet (Liv. 45, 44). Da 
bie Geſandten auf ben Garinen gewohnt (Fervius zur Aen. 8, 361), ift Scho⸗ 
liaſtenerfindung. 

31) Tiefe lautia (Feſtus ep. p. 68: dantia quae lautia dicimus dan- 
tur legatis hospitii gratia; Cenatsbeihluß wegen Aſklepiades Lat. 3. 8; 
tiv. 28, 39. 30, 17. 33, 24. 35, 23. 42, 26. 44, 16. 45, 20), griechifch 
rrapoxn (Senatsbefhluß wegen Aſklep. griech. 3 26; Polyb. 22, 1. 25, 6, 
32, 19; Cic. ad Att. 13, 2, 2; ungenau Plutarch q. R. 43 Lern), nad 
Gharifius (1 p. 34 Keil) Erklärung supellex, nad) ben &loffen drdoueria, bes 
zeichnen wahrfcheinlich das Geräth, das ber Reiſende braudt und doch nicht 
bei ſich zu führen pflegt. So iſt das Mindeſte, was reiſende römiſche Beamte 
unterwegs in Anſpruch nehmen, Quartier und lecti (Cicero ad Att. 5, 16, 3), 
welche Tetztere bekanntlich zugleich zum Siten und zum Schlafen bienen. — Die 
Benennung biefes Geräths von den Wafch- und Badegefäßen ift eine beutfiche 
Spur ber homerifhen Sitte dem Anlömmling vor allen Dingen das Bad zu 
rüften. 

32) Munus ift befanntlih bie pflichtmäßige Leiftung (vergl. municeps — 
leiftungspflichtig, immunis = Teiftungsfrei, communis = mitleiftenb ; moenia 
== die Frohnden, daher bie Mauer) und infofern verjhiedben von donum, 
ber freien Gabe (von dare, vergl. dos). 





Das römifche Gaftrecht unb bie römifche Cfientel 371 


33) Diefer Satz findet fih häufig (Lie. 42, 19. 43, 6. 8. 44, 14. 15. 
45, 42), natürlih cft auch ein höherer: fo 4000 Affe (Liv. 37, 3), 5000 
Affe (Liv. 30, 17. 31, 9); 10,000 Affe (Liv 28, 39); 5 Pfund Gold und 
20 Pfund Silber = 28,000 Affe (Liv. 43, 5); 109,000 Affe (Liv. 42, 
6); 20 Pfund Gold und 100 Pfund Silber = 120,000 Affe (Liv. 35, 23). Auch 
das Gefolge der Geſandten wirb beſchenkt mit je 1000 Affen (Liv. 30, 17). 
Da der Senatsbeichluß wegen Aſklepiades bie Duäftoren anweitt, ein „munus 
ex formula“ zu fenden, ohne beffen Vetrag anzugeben, fo feinen bie Säfte 
des Staats binfidtlih ber Gaben ein für allemal Maffifizirt gewefen zu fein; 
was alfo genan ber griechiſchen Weile (vergl. C. I. Gr. 1193. 133: Eevım 
Ta ueyısta Ex 109 vouwr) emtipricht. Niemals werben biefe Gaben in Münze 
gegeben, fonbern in Gefäßen, Ketten ober dgl von Gold ober Silber (Liv. 35, 
23. 43, 5). Ä 

34) Die Delier gewähren bem Gaſt alas xai 0&os xai Zlaroy xai 
tvla xai oroWuara, bie Magneten «las Elmor 605, Erı Auyvor xÄivas 
orgouara roanesag (Athendeos 4, 74). Bl. Hermann Privatalterth. 8. 51. 

35) Bezeichnend if, baf einem Ianbflüdhtigen König vom römiſchen Senat 
bas Gaftrecht in ber Art gewährt wird, ut ei munera per quaestorem coti- 
die darentur (Bgl. Mar. 5, 1, 1). 

36) Dergleihen Berehrungen kommen noch neben dem eigentlihen munus 
nicht felten vor; fo 3. B. werben Kleider (Liv. 39, 17. 43, 5) oder Pferbe 
mit Zubehör und Waffen (Liv. 35, 23. 43, 5) gegeben, aud wohl freie 
Rückreiſe (tiv. 30, 21. 42, 6. 43, 8). 

37) Plutarch q. R. 43. Bal. Mar. 5, 1, 1. 

37a) Tas Nechteverfahren gegen ben Eaſt, welder gegen ein römifches 
Geſetz fich verfehlt, ruht nicht auf der vorübergehenden Unterorbnung bes Gaſtes 
unter bie hänsliche Gewalt des Gaſtherrn, fondern auf ber dauernden Unterwer⸗ 
fung deſſelben unter bie in bem Gaftvertrag fefgefette Rechts. und Prozeß- 
orbnung. 

38) Mit hostis in ber Vebeutung Feind kann das Wort ſchon befhalb 
nicht zuſammengebracht werben, weil biefe Bebeutung notoriſch jung ift. 


39) Vertrag mit Afllepiabes 3 25: Tovzos Te nivaxa ... . dv 1o 
Kanstwlio avadeivaı Ivoiavy ıs nromoae d&. Inſchriften folder Weihge- 
ſchenke C. I. Gr. 5880. 5881. Dahin gehören auch bie von Livius 22, 37. 
28, 39 berichteten Debicationen. 

40) ®arro de 1 1. 5, 155 (vergl. Beder Top. €. 284) und bie wichtige 
oft überjehene Nachricht bei Juſtinns 48, 4, 10: ob quod meritum — 
locus speotaculorum }m - datus Bergl. meine R. ©. 1, 889. 424. 





372 Theodor Mommfen, 


Uebrigens diente der Pla nicht bloß und wahrſcheinlich nicht eiumal zunädk 
als referbirter für bie Epiele, fondern bie Geſandten warteten bier, bis fe | 
in bie Curie eingelaffen wurden (Liv. 45, 20, 6). Mit Unreht bat Niebehe 
(R. ©. 2. X. 116) die Graecostasis zufammengeftelt mit ben stationes mu- 
nieipiorum, ben von einzelnen Gemeinden am Fornm für Gefchäfte und Luftbar- 
feiten gemietheten Pläten (Sueton Ner. 37). 

41) Diodor 14, 93. 

41a) Berge. A. 45. — Ueberall eignet fih ein Verhäliniß biefer Urt 
mehr bazu als Glientel- denn als Gaſtrecht formuliert zu werben, obwohl bie 
Zuföffigleit eines gaftrechtlihen Berbäftniffee mit der Gemeinde nicht befcenn. 
beten Leuten, nad) älteſtem Recht wenigfiene, zugegeben werben muß. 

42) Baulus Dig. 49, 15, 9, 8. 

43) Die als eigenes Rectsinflitut den Römern unbelannte Iyarzacs ber 
Griechen, das Recht im Ausland Immobilien zu erwerben, if hierin mit ent- 
halten. 

44) Die Immunität, bie oft mit biefen Rechten zufammen genannt wirb, 
gehört in einen ganz andern Kreis; fie ift an fi) gar kein internationales Ber- 
bäftniß, obwohl fie in dem Fall, mo ein Nichtbürger Teiftungepflichtig ift, na⸗ 
türlih aud von einem ſolchen erworben werben kann. 





45) Peregrinus qui snis legibus utitur. Barro de .1.5, 3. Diele 
Bedeutung bat hostis in ber ältern Rechtsſprache durchaus, 3. ®. in Dem 
status condictus dies cum hoste; es ift hier hostis meber Gaſt noch Lanbes- 
feind, fondern der Ausländer, ber kraft Baftrechts feiner Heimathgemeinbe mit 
Rom Rechtegemeinſchaft genießt. 

46) 3. B. Liv. 4, 13. 9, 36. 

47) Dionyfios 2, 11: zoilunıs u; JovAy Ta &x TovVIa» auyısd,Tnuara 
Toy nuieov xal EHrWvy Erni Tous mpoiotuusvovs avıov anogt£llovge 
Ta vr Extirwv Öixaaherra xupıa zyeito. Einzelne Belege geben ver 
genuatiſche Sciedsfprudy der Minucier, die ohne Zweifel al8 Patrone der Li—⸗ 
gurer vom Senat dazu committirt wurden, ferner Liv. 9, 20, auch GKic. in 
Verr. 2, 49, 122. Auch waubdten fi bie Gemeinden wohl unmittelbar an 
bie Patrone um fchiebärichterliche Entſcheidung (Cic. pro Sull. 21, 69). 


485; Bgl. 3. B. Zucten Tib. 2: Drusus Italiam per clientelas occu- 
pare temptarit. 


49) Ze am beſtimmteſten im Repetundengejegp; vgl. A. 60. 88. 


50) Meine R. G. 1, 390. Bon auswärtigen Verhältnifien, zum Beifpiel 
benen ber galliihen Gemeinden, wird clientela ohne Bedenken gefekt (Cäfar beil, 





Das römifche Gaſtrecht und die römifche Clientel. 373 


Gall. 1, 81. 4, 6. 5, 39. 6, 12); man vermied das Wort, wicht weil es un- 
paflend, fondern weil es verlegend war (A. 96). 


51) In ber Kaiſerzeit werben bie Gemeinbepatrene eingetheilt in patroni 
clarissimi viri (d. h. fenatorifhen Standes) und patroni equites Romani 
(Orelli 3721), mas nicht zufällig ift, und noch weniger, daß meines Wiſſens 
aus republilanifcher Zeit fein Beiſpiel eines nicht fenaterifchen, aus ber Kaiferzeit 
fein Beifpiel eines nicht dem einen ober andern ber beiden privilegirten Stände 
angehörenden Gemeinbepatrons verfommt. Der Uebergang bes altpatricifchen 
Borrechts auf ben Senat ber fpäteren Republil, dann unter Auguftus auf ben 
Kitterftand find charafteriftifh. Vgl. A. 65. 69. 

52) Ganz ebenfo ift matrona bie Vollbürgerfrau, infofern fie Mutter — 
im Rechtsſinn — ift oder fein kann. 

53) Im Repetundengefeg zu Anfang werben neben ben gaftberechtigten 
(in amicitia populi Romani) bie Clientelgemeinden aufgeführt als ſtehend in 
arbitratu dicione potestate populi Romani; es konnte dies bier ohne Bebenten 
geichehen, da die thatjächliche Freiheit nicht bei unterthänigen Individuen, aber 
wohl bei unterthänigen Gemeinden fi von ſelbſt verſteht, infofern der Berluft 
berfelben nothwendig die völlige Bernichtung bes Gemeindeverbandes herbeiführt. 
Der technifche Ausbrud bes fpäteren Civilrechts für den formlos Freigelaffenen: 
servus, qui in libertate moratur bezeichnet fchr prägnant das urjprüngliche 
Weſen der Glientel. 

51) N. 58: oui Romae exulare jus esset. 

55) ©. die Yormel A. 9. 

56) Meine R. ©. 1, 144. 

57) Man überjehe nicht, daß bier der Herr bie negative Abficht das Eigen⸗ 
thumsrecht aufzuheben nur bat in Berbindung mit ber pofitiven es an ben Scla⸗ 
ven abautreten; nach bekannten Rechtsgrundſätzen tritt, wenn biefe Pofitive nicht 
erreichbar ift, auch jene Negatine nicht ein, obwohl Ietere, wenn fie allein ftände, 
wirkſam fein würbe. 

58) Cic. de off. 1, 39, 177: Quid qnod item in centumvirali iudicio 
certatum esse accepimus qui Romam in exilium venisset, cui Romae exu- 
lare ius esset, si se ad aliquem quasi patronum applicavisset intestatoque 
esset mortuus: nonne in 68 Causa ius applicationis obscurum sane et ig- 
notum patefactum in iudicio atque illustratum est a patrono? So gar früh 
kann dies Applicationsrecht nicht abgelommen fein, ba bas Eentumviralgericht 
fhwerlich vor dem 7. Jahrhundert eingerichtet warb; es verſchwand wohl erft 
ganz, feit das Erilrecht zwiſchen luiichen Gemeinden in Bei | bes ounbetge 
noffenfriege® auffärte . S.. 





374 7 Kpenber Mehr 2: 1:5 er 


» 5% Ciewe da oE na . nt di qei civiisten. ant mationen ‚dgmis- 
tas ballo in fidom reveplumikräprum pairopi sent mare zmaltemu. Ber 
ſpiele find häufig; fo Das Vatronat ber Auer -Aieg Crane mb. andere 
ſiciliſche Ctäbte (iv. 26, 32. Cicero in Vogg 2, 49, 122. Wintarh.. Mer. 
83); bes Aemilins Paullus Über Spanier, E ib Malebonier (Pinterd 
Aem. 39); des älteren Cato über Gpanien (U } div. in Caec,..20); be 
Fabier (Appian b. c. 2, 4) und bes Domitier iee div.,.ig.Cacc. 20) Bier 
keltiſche Nationen; des Bompejus über bie Rönige vom Migptrianien (Käfer b. c. 
2, 25) unb das bieffeitige Spanien (Säfer b. o 2, 18); bes Cato Uticenfis 
über Cypern (Cicero ad fam. 15, 4, 15). 


60) Im beim Sepeiunbengefeh aus ber Gracihenget wurben bie burd 
Elientel zu einge Ausnahmeftellung berechtigten Perſonen bezeichnet wen in fe 
is erit ( Freigelaſſener, Applicant) maioresve in maiorum MAdo Imtini (ven 
Deſeendenz; 3. 10 vgl. 3. 58) Bel. Diony|. 2,.10. — pr: Ar .n 

61) Dionyſ. 4, 23; dgl. oliens libertinuis Rip. 48, 16. Daß bei ber enge, 
wer ben Patromat erwirbt, ber Treigelaffene'igewifferwmeflen ale ımefrei, bapagen 
bei ber Frage, auf wen bie Clientel fich fortpflanzt, ber Freigelaſſene als Pal | 
bebanbelt wird, gehört zu bem bubriben auf bem Conflict von Xhatfache mb 
Recht aufgebauten Charakter des gefammten Verhälmiſſes. 

62) Darım ift ihre freiheit eine precaria (Liv. 89, 87) und werben 
fämmtliche ihnen zugeftandene Begünftigungen ertheilt unter ber Clauſel „fo lange 
es dem Senat und dem Volle gefällt“ (Appian Hisp. 44). Bel Margnartt 
Handb. 3, 1, 249 fg. Man überfieht es gewöhnlich, baß bie civitates fooders- 
tas unb bie civitates liberae, ähnlich wie bie förmlich und bie formlos Freige⸗ 
laſſenen, nicht fo fehr in dem Umfang ber Rechte fich unterfcheiben als barim, 
daß das eine Verhältniß rechtlich, das andere bloß faktifch beſteht. - 

63) Die dixn anoozaniov Meyer und Schömann att. Prozeß S. 478. 

64) As in einem Prozeß gegen Marius ber Senator C. Hermine als 
Zeuge vorgelaben wurbe und fich, um ben Emporkömmling zu demüthigen, wei- 
gerte gegen feinen „Clienten“ Zeugniß abzulegen, erklärte Marius, daß bes 
Clientelverhältniß feines Hauſes buch bie von ihm bekleidete Aedilitäͤt aufgeiäk 
fei — was nicht ganz richtig war, fügt unfer Berichterſtatter (Plutarch Mar. 5) 
hinzu, denn nur ein curnlifches Amt Iöfe die Elientel, Marius aber babe bie 
plebeiſche Aebilität verwaltet. 

64 a) Achnlicd zum Beiſpiel wird bie urſprüngliche Definition ber Trihn⸗ 
comitien, baß barin plebs sine patribus ſtimme (Feflus v. populi oommune p. 
988; seitum populi p. 880) bei Gaius (Dig. 60, 16, 288 pr.) je inteuprehiut: 
Nebs est ceteri cives sine senatoribus. . Img 









Das römifche Gaſtrecht und bie römifche Clientel. 375 


65) R. ©. 1, 176. Feſtus ep. p. 247 (vgl. p. 246) Patres senatores 
ideo appellati sunt quia agrorum pa'tes attribuerant tenuioribus ac si libe- 
ris propriis. Tie „patres” erfcheinen bier wiederum als die eigentlichen Patrone. 

66) Liv. 2, 16. 44, 16. Adergeieß 3. 76 und dazu Rudorff S. 101. 

67) Vat. fr. 8. 261. Zimmern Privatredht 1, S. 683. 

68) Lin. 2, 5. 4, 45. 61. 22, 33. 

69) Dionys 2, 10 (darans Plutarh Rom. 13): 105 rarpızioy — zon- 
natınıy ovdeuiay Öogea» npocssucvor. Gellius 20, 1, 40: neque peius 
ullum facinus existimatum est quam si cui probarctur clientem divisui 
habuisse. Yivius 34, 4: quid legem Cinciam de donis et muneribus (exci- 
tavit) nisi quia vectigalis iam et stipendiaria plebes esse senatui coeperat? 
Man wird es jest verfichen, warım die Batricier, die Senatoren bier in fo be- 
fonderen Bezug auf die Clienten gejettt find. — Kleine Gefchente, zum Beiſpiel 
Bfennigipenden am Neujahretage, fielen nicht unter das Geſetz und waren ge 
wöhnlih. Auch die Geſchenle der Freigelaffenen an den Patron blieben bis zu 
jeber beliebigen Höhe geftattet; bie in Form ber Geſchenle an bie Senatoren ent- 
richteten Abgaben, welchen das Geſetz fteuerte, können alfo nur bie ber Klienten 
im engeren Sinn geweſen fein. 

70) Lin. 2, 16. Dienyf. 2, 46. 5, 40. 10, 14. 

71) Dionvſ. 6, 47. 7, 19. 9, 15. 10, 43. Eine Heerfolge freilich ift dies 
fo wenig bei dem Glienten wie bei dem Sclaven, fenbern einfach eine Conſequenz 
ber häuslichen Gewalt. Das öffentliche Aufgebot ignorirt wie das hausväterliche 
fo auch das patronatiſche Verhältniß und ift ftets eine höchſt perſönliche Yeiftung ; 
die Aufgebotenen können fich nicht Durch ihre Kinder ober Clienten vertreten laffen 
und dieſe unter bad. Heer ober Das Heergeſinde nur nach der allgemeinen für ben noth- 
wendigen ober freiwilligen Dienſt und für ben Troß beftchenden Ordnungen eintreten. 

72) gl.’ die lückenhafte Gloſſe bei Feftus unter patronus p. 253: nume- 
rari inter do[mesticos]. Tie Infchriften geben zahlreiche Belege. 

73) Tafür fpricht theils Die Analogie, daß die ven einem fiegreihen römi- 
ihen Feldherrn mit dem römiſchen Bürgerrecht beichenkten lieder ber beficgten 
Gemeinde deſſen Geichlechtenamen annehmen, theils ber unten hervorzuhebende 
Umftand, daß die Lebertragung bes Gentilnamens ficher auf ber Feſtgenoſſenſchaft 
berubt, diefe aber ohne Zweifel allen Clienten zulam. Vgl. noch ben Klienten bes 
Appius Claudius M. Claudius (Liv. 3, 44). 

74) Val. Mar. 6, 1, 4. Sueton Caes. 48. 

75) Xacitus ann. 18, 26. Zimmern Privatrecht 1, 788. 

76) Dienyf. 2, 10. Pintar Rom. 18. Einm we in hen Pas 
zeflen des Camillus (Liv. 5, 82. Diemyf. ] 





376 Z Theedor mung ° € 
77) Zimmern Privatrecht 1, 800. | 8 2 
77 a) Cie. ad Ait. 7, 2, 8. Dig. 40, 18, dp. -: . : > 


78) Daß die Quotenconcurrenz ben Charafier ber — wit 
aufbebt, braucht Tann bemerkt zu werben. — Die hinfige Goncsrrenz . im bex 
Gemeindepatronaten. erflärt fi) aus dem halb gaſtrechtlichen und früh embartelın 
Charakter dieſes Berhäftniffes; urfprlingfich mochte wehl der einzige. Stirmer, ber 
über bie bebivte Gemeinde das erbliche Patronat befiben ounte, ber Gehen 
geweien fein, der ben Debitionsvertrag abgeichloffen hatte. aba 

79) Marquardt Handb. 4, 898. “ ' 

80) Daß der Inbividualname des Patrone, das Pränomen auf bie Werk 
gelaffenen nothwendig bergeht, if ſinuwidrig und auch belanutlich em ie ver 
Kaiferzeit anfgelommen. ! 

81) Feſtus p. 82: hostis vinctus mul’er virgo exesto. ° 

82) Darum ſchließt and ganz richtig bie —— te Ges — 
poregrinus qui suls legibus utitur (A. 45) ben Bürger ber Cltentefgeliteiube 
ebenfo ein wie ben ber förerirten. Gaft ber römifchen Gemeinde IR’ ber- is 
zelne fireng genommen weber in bem einen noch in dem anbern Well; für Jelte 
Rechtöftellung ift es aber zunächſt gleichgültig, ob bas Gemeinberecht; wei 
er aueübt, beflnitio oder anf Widerruf ertheilt worben ift. 

83) Schön firb diefe frühen Morgenſtunden bes bejahrten römifchen Hans 
vaters bei Horaz (ep. 2, 1, 103) geſchildert: er kringt fein Hanebuch in Orb⸗ 
nung (cautos nominibus rectis expendere nummos); er ertheilt jüngeren Freun⸗ 
ben öfonomifhe und fittlihe Rathſchläge (maiores audire, minori dicere per 
quae Crescere res posset, minni damnosa libido) und abhängigen Leuten 
Rechtsbelehrung (clienti promere iura; vgl. 1,5, 81 und Dionyf. 2, 10). Menu 
hat ſich die Begenftänbe diefer Aubienzen keineswegs vorzugerrife als jurikifche 
zu denken: ad quos, fagt Eicero de or. 8, 83, 183 von ben Borfahren, im 
solio sedentes domi sic adibatur, non solum ut de iure civili ad eos, vo 
rum etiam de filia oollocanda, de fundo emendo, de agro oolendo, de ommi 
denique aut officio aut negotio referretur. Es war unziemlich, wenn ber 
abhängige Mann feine Tochter verheirathete, ohne ben Batron befragt uub bef 
fen Zuftimmung erlangt zu haben (Plutarch Cat. mai. 24), — Daß es ext 
weit fpäter auflam, jedem, auch bem Unbelannteu, und außerhalb des Haufen 

Nechtsbelehrung zu ertheilen, ift befannt. 

84) Bgl. beſonders Dionys 2, 10, wonach es den Patriciern oblag 

Unig ur nelarey adıxovulran layyarsır, el 15 Alanıoro nael Te 
‚ußolawe, xal Tols dyaalovaoe vundyer unb Cäſar bei Gellins 5, 18, 


85) Meier und Schomann att. Prozeß ©. 561. re 





Das römische Gaftrecht und die romiſche Clientel. 377 


86) Gaius 4, 82 nnd fonf. In der neueren Literatur wirb einfach bas 
Gegentheil angenommen (vgl. 3. B. Klenze lex Servil. p. XII; Keller Civil- 
prozeß S. 220), was, wo es fid) um das Recht ber fpäteren republilaniſchen 
und der Kaiferzeit handelt, nicht gebilligt werben Tann. 

87) Da das Ältere Eriminalverfahren auf dem Inquifitions-, nicht auf dem 
Accufationsprineip beruht (meine R. ©. 1, 139), fo kann hiefür die Frage fiber 
Klagberechtigung, reſp. Klagvertretung gar nicht aufgemworfen werben. Es fonımt 
vor, daß wegen einer dem Klienten zugefügten Beleidigung ber Patron ben Be- 
leibiger vor ein Vollsgericht zieht (3. B. Cicero div. in Caec. 20, 67); allein 
ber Patron tritt hier formell als richterliher Beamter und Richter erſter In⸗ 
ſtanz, keineswegs als prozeſſualiſcher Stellvertreter auf. 

88) Am Befimmteften führt dies Dionyfius 2, 10 aus: xow7 Ö augo- 
zepoıs QUTE 0010v ovre Heuis iv xarıyopeiv wllnlov Eni dixas 7) xara- 
naptupeiv 7 wıpov dvavzıiav Enıpegsıw 7 ueTa 109 &xdgwv Eltraseoda:, 
wo ber britte Kal wohl auf die richterlihen Abflimmungen und Urtheilsfindun- 
gen im Volls⸗ oder im Kivilgericht zu befchränlen ift, ber vierte eine unge⸗ 
fhidte Ueberfetzung bes römifchen adesse adversario ift, alfo bie Sachwalter⸗ 
haft bezeichuet. Hiuſichtlich der Zeugniffe und der Sachwalterfchaft beflätigen 
dies Cato (testimonium adversus clientem nemo dicit) und Majurius Sa- 
binus bei Gellius 5, 13; ebenſo ift in der Repetundenorbnung zwar nicht bei 
ber Klage und ber Richterthätigfeit, aber doch bei ber Sachwalterſchaft (3. 10) und 
dent Zeugniß (3. 33) ausgeichloffen, wer mit bem Angellagten im Treuver—⸗ 
hältniß ſteht (vgl. U. 60). Daß ber Freigelaffene gegen den Patron infamni- 
rende Kivilffagen gar nicht, andere nur nad bejonders ertheilter Bewilligung 
des Magiftrats auſtellen Tann, ift belannt. 

89) Tas zeigt nicht die Repetundenordnung, denn biefe gehört vielmehr 
bem Eivilprogeß an. Aber es Lommt in einem Brozeß wegen Wahlbeftechung 
aus republilanifcher Zeit vor, daß ber Patron nicht gegen ben Clienten zeugt 
(Plut. Mar. 5); und daß der Freigelaffene nicht Criminalzeuge jein kaun gegen ben 
Patron, hat noch das Recht ber Kaiferzeit beibehalten (Dig. 22, 51.38.5, 1.4; 
Collat 9, 2; Paulus sent. 5, 15, 3 = Coll. 3, 3; Cod. Iust. 4, 20, 12). 

90) Die Unzuläffigleit der Klage zwiichen Batren und Elienten könnte man 
auch herleiten aus ber urfprünglichen Unfreiheit bes letzteren; aber für bie übri—⸗ 
gen gaft- und clientelrechtlichen Beſonderheiten reidt man mit biefer Erllärung 
nicht aus unb muß uothwendig recurriren auf bie rechtliche Berüdfichtigung 
bes nothwenbigen Friedensſtandes zwilchen Echüger und Geſchütztem. 


91) Cato bei Gellius 5, 18: adversus eoguates: pro--aliente testarl, cum 
(fo ſcheint zu leſen) testimonium ade Kup 





878 | Theodor Mommfen, 


daſelbſt: quibus (clientibnus) etiam a propinquis nostris opem ferre insti- 
tulmus. Bol. Sabinus (A. 98a) und Geil. 20, 1, 40. 

92) Zwölf Tafeln 2, 2 Dirkien. 

93) Cato a. a. D.: maiores sanctius habucre defendi | Papillos quam 
clientem non fallere. Sabinus (W. 93a). 

93a) Mafurins Eabiuus bei Gellius 5, 13: in officiis (b. h. zumächkt bei 
der gerichtlichen Beiſtandſchaft) apud maiores ita observatum est: primum tu- 
telae — pupillaris tutela muliebri (nicht mulieri) praelata —, deinde hos- 
piti, deinde clienti, tum cognato, postea sdfini; aequa (nit de qua) cansa 
feminae viris potiores habitae. Gellins bagegen berichtet, daß er einer Ber 
handlung in Rom beigewohnt, wo man bem Gfienten ben Vorzug vor bem 
Gaſt gegeben habe. 

94) Vgl. Dionyf. 11, 86. 

95) Kato bei Gellius 5, 13: patrem primum, poston patronum presi- 
mum nomen habere. 

95) Die heutigen römifchen Juriften und fon bie ber Kaiferzeit bemfen 
freitich bei bem patronus ber zwölf Tafeln (vergl. Vat. fr $. 208) nur az 
den bes Sreigelaffenen; aber offenbar konnte das auf Application berubende 
noch Jahrhunderte fpäter praltiſch angewendete Erbrecht in dem Geſetze nicht 
übergangen fein. Ueberhaupt kann man es durchgängig verfolgen, daß patronus 
urſprünglich wie einen ſtärkeren rechtlichen Inhalt ſo auch einen viel weiteren 
Gebrauch hat, allmählich aber wie die Rechte fo auch ber Name auf ten pa- 
tronus Jiberti fih einſchräuken Schon Cicero (A. 58) ſcheut fih im alle 
ber Application vor tem Ausdrud und fett ein quasi vor. Xgl. U. 50. 


97) Als der Sohn eines von einem Claudius Marcellus Yreigelaffenen 
ohne biuteverwandte Succedenten flarb, nahmen bie plebejiſchen Marceller den- 
ſelben stirpe, bie patriciihen Claudier benfelben gente in Anfprud (Cic. de 
orat. 1, 39, 176). Hieraus folgt auf jeden Fall, daß in ber gentificifchen 
Erbfolge fo gut die Yortfegung ber patronatifchen wie bie ber agnatifchen ftedt. 
Aber es gebt barans weiter bervor, daß Näherrechte innerhalb ber gens we⸗ 
nigftens behauptet wurben. E3 warb alſo zum Beifpiel in biefem alle der erfle 
Claudius Marcellus als Breigelaffener eines patriciichen Claudiers gedacht und 
darum biefen das Succeſſionérecht gegen jenen erften ſowie gegen alle von biefem 
gezeugten ober freigelaffenen Geſchlechtsgenoſſen zugeiprochen; aber doch warb auch 
diefe gefammte phufifche oder juriftifhe Defcenbenz bes erfien Marcellus wieder⸗ 
um als Quaſi⸗Gens behandelt und biefes letztere gentilicifche Erbrecht dem erfleren 
als das dem Erblaffer mehr genäherte vorgezogen. Ein foldhes Näherrecht inner- 
halb der Gens liegt in ber rechtlichen Confequenz unb kann felbft innerhalb ber 








Das römifche Gaſtrecht und die römifche Clientel. 379 


patriciſchen Gefchlechtegenoffenfchaft vorkommen; der Freigelaflene eines Ecipio warb 

ohne Zweifel nicht von den patriciichen Eorneliern überhaupt, fondern nur von tem 
Zweig der Scipienen beerbt. Natürlid waren bie Patricier in den Beweis Des 
gentilicifchen Erbrechts injofern günftiger geftellt, ale bei ihnen bie gentiliciiche 
Dualität ohne Beweis feitftanb, alſo jeder patricifche Claudier jeben patricifchen 
ober plebejiſchen Mann biefes Namens von Rechtswegen beerbte. Der Plebejer 
dagegen konnte nur etwa feine Cuafi-Gentilität, fein Näherrecht geltend machen 
und mußte dies beſonders erweiien. 

98) Patronus, führt Servius zur Aen. 6, 604 aus den zwölf Tafeln an, 
si clienti fraudem fecerit sacer esto. Dionyſios 2, 10 (und wohl aus ihm 
Plutarch Rom. 13) berichtet, nachdem er bie Obliegenheiten des Patrons darge- 
legt hat, daß, wer überwiejen werde ſich bagegen vergangen zu haben, unter bas 
romuliſche Probitionsgefet falle und dem unterirbiichen Zeus heilig fei (us Fuua 
109 xaraydoniov Ars). In dem Geſetz ſtand alfo mohl Diti patri sacer esto, 
und zwar fowohl in dem Zwöljtafel- wie in bem Königegeſetz, wie denn auch 
Birgit in berfelben Zeile auf ein anberes Königegefeb anfpielt. In der Formel 
sacer esto und in der Subjumirung bes Vergehens unter ben Begriff ber Pro- 
bition liegt nichts als bie Androhung der Tobesftrafe und die Bezeichnung des 
Bergehens als eines Vergehens gegen bie Gemeinde, wie anderswo gezeigt werben 
ſoll. Tionpfios fett darum auch ganz richtig ein Unterfucdhungsverfahren woraus 
(ei dE ris dEeleygIeiı). 

9) Quorum maiorum nemo servitutem servivit. 

100) Cicero de rep. 2, 2: Habuit plebem in clientelas principum de- 
scriptam Der rechtliche Gegenſatz von patres und clientes oder plebeii ifl 
mehrfach früher zur Sprache gekommen. u 





4 vr. 





| UL 
Voluiſche Wirthfäeft und 
1692 bis 1697. 


Nach handſchriftlichen Duellen des k. ſachfiſhen 24 
Archive. 


Bon , . are - 


Karl Guſtar Helbig. 





Schon ein Jahrhundert vor dem Untergang des polniſchen Rei⸗ 
ches waren bie politiſchen wie bie ſittlichen Zuftäube-Wiiliolfes fo 
zerrüttet, daß vie furchtbare Kataftrophe, welche fpäter Mer das Land 
hereinbrach, nur al® die natürliche Folge der innern Verderbniß er- 
fcheinen Tann. Die tiefe Ohnmacht der Regierung, vie niebrige Käuf- 
lichkeit einer leichtfinnigen Ariftofratie, ver völlige Mangel politifchen 
Bewußtſeins in dem kindiſch wankelmüthigen Volke machten bereits 
damals Bolen zu dem Epielball der fremden Diplomatie. Alle Claſ⸗ 
fen der Einwohner wetteiferten, ihr vienftbar zu werben. Die Ge 
fandten verfügten abmwechfelnd über die Factionen des polnifchen Adels; 
je nachbem fie zahlten, wurbe das Land von deutfchen, ruſſiſchem, fran- 
zöfifhem Einfluße beherricht. So ging es dann ununterbrochen das 
18. Jahrhundert hindurch, bis endlich die Einflüffe zur erflärten Herr 
ſchaft wurben, und fich nicht bloß die Parteien ſondern die Provinzen 
Polens vertheilten. Die Mächte vernichteten damit ven Namen ber 
polnifchen Selbftftänpigkeit; das Wefen verfelben hatten bie Welen 
jelbft feit drei Menfchenaltern für klingendes Gold veräußert. :, 








Polniſche Wirthſchaft und franzöſiſche Diplomatie :c. 381 


Die Eriftenz eines verweſenden Staates iſt eine Laſt, und nach 
Umjtänden eine Gefahr für alle Nachbarn deſſelben. Er verjagt fich 
einer zuverläffigen Freundſchaft, einem uneigennügigen Bundesver⸗ 
hältniß. Aber er drängt fich in vie ‘Dienftbarfeit jedes Eroberers, 
welcher den Leivenfchaften feiner Bürger jchmeichelt und ihren Eigennutz 
bezahlt. Wir geben in dem folgenden Aufjate das Bild eines jolchen 
Vorgangs. Man wird ſehn, was es für ‘Deutjchland bedeutete, an 
feiner Djtgrenze dieſes ftetd abhängige und ftet3 unbändige Polen zu 
haben, während von Welten her König Ludwig XIV. von Frankreich 
feine Pläne auf die Unterwerfung Europa’s unabläßig verfolgte. Es 
ift, fcheint uns, auch heute nicht ohne Intereffe, zu beobachten, wie 
bie polnifche Zerrüttung und der franzöfiiche Ehrgeiz fich in die Hände 
arbeiteten, wie einen Augenblid Ludwig's Ausjichten die glänzendſten 
waren, und wie dann plöglich die franzöjifche Staatskunft, durch einen 
beutfchen Diplomaten aus dem Felde gejchlagen, bie für unjern Djten 
erprüdende Poſition für immer verlor *). 

Im Yahre 1688 eröffnete König Ludwig, damals auf dem Hö⸗ 
benpunfte feiner Macht, einen neuen Verheerungskrieg gegen das 
deutſche Reich. Zwar fetten fich Papſt und Kaiſer, Holland und 
England, Spanien und Venedig feiner Gewaltthätigfeit entgegen: 
feine Mittel waren aber jo beveutend, daß er allein ihnen Allen das 
Gleichgewicht Hielt. Dazu kam, daß die Türken, feit lange mit Franl- 
reich befreundet, ihren Krieg gegen Deftreich hartnäckig fortjegten; 
wäre ihnen ein großer Schlag an der Donau gelungen, fo hätte der 
Raifer feine Streitkräfte am Rheine in der bedenklichſten Weife 
ſchwächen müffen: die Eriftenz des deutjchen Reiches hätte in dem 
boppelten Sturme gefährdet werben fünnen. So war ed von ber 
höchften Wichtigkeit, daß der Polenkönig Johann Sobiesfi (1674 bis 
1696) an feinem Bunde mit Kaijer Leopold fefthielt, und gemeinjam 
mit ihm die Osmanen zu bebrängen fortfuhr. Auch er fürchtete Lud⸗ 
wig’® Ehrgeiz, und meinte, daß derſelbe das Intereſſe feiner Söhne 
bedrohen Könnte, deren Nachfolge auf dem polnifchen Throne er durch 





*) Quellen unb Literatur über die hiex behandelten Greigniffe im Auhange, 
Yum. 1. 
Oiſoriſche Zeitſchrift 1. Baur. 





882 Akt Guy Geltig; * De Zen 5 


den Einfluß des Kaiſers zu fichern hoffte. Wer fer gend: fehle de 
fönliche Stimmung war, fo wenig Tonnte er allein Aber Welen’s Ws 
wärtige Politik entfcheiven, da er in ben Kriegs» uub Beriragtep 
fegenheiten zunächft von dem Senate, und dann vom bes te Purieks 
zerriffenen Adel abhing, unter welchem Frankreich zahlreiche Free 
batte'*). Dazu kam, daß Johann's Charakter unb ver Zuftand ber 
niglichen Familie der franzoͤſiſchen Diplomatie mancherlei Aukuäpfungd 
punkte darbot. Der alternde König war [hai und gez abiingig 
von feiner Gemahlin: Marie Eafimire, und dieſe, ein ehrgeiziges leben 
ſchaftliches und intrigantes Weib, war eine Branzöfn (eine Tochter nes 
Marquis d'Arquyan?) und fomit leicht für Frankreich geivonnen. Dage 
gen ftand der ältefte Sohn des Könige, Jacob, welcher durch Feine: Be» 
mählung mit der Pringeffin von Pfalz » Neuburg, ber Schweltus Ber 
Raiferin, fiir Deftreich geivonnen worden war, mit der Mutter fo 
fchlecht, daß dieſe daran dachte, einem der beiden anbern Sohhne, "Wie 
zander oder Eonftantin, die Nachfolge in der Regierung zu verfchef 
fen. Wie viel Veranlaffung für Ludwig, auf einem folchen Boden 
fein Glück zu verfuchen, durch geſchickte Benutzung dieſer Schwächen 
das öſtreichiſch⸗polniſche Bündniß zu ſchwächen, und dadurch vielleicht 
tie Machtverhältniſſe des ganzen Welttheils zu verwandeln! . . 
In diefem Sinne nun war fehon geraume Zeit vor dem Aus⸗ 
bruch des Krieges der Marquis von Bethune, der Schwager ber 
Königin, in Warſchau thätig. Er hatte e8 im Jahre 1691 vahin 
gebracht, daß biefe fich vorläufig mit einem geheimen Vertrag eim- 
verftanven erklärte, der ganz im Intereffe Ludwig's war. Nur ver 
König Johann Hielt mit feiner Anficht varüber noch zurüd, und auch 
bie Einwilligung des Reichstages war noch fehr zweifelhaft. Nach 
biefem Entwurfe follte zunächſt mit Unterftügung des franzöftfcgen 
Gefandten in Konftantinopel, des Herrn Caſtagnere de Chatenumenf, 
ein Separatfrieven zwifchen ven Osmanen und Polen abgefcloffen 
werben, ben ver König Johann auf dem Neichötage burchzubringen 
ſich verpflichten müßte. Erft dann könne fich Ludwig zu irgend einer 
©egenleiftung verftehen. Ferner follte die polnifche Republik nicht 
allein auf jede weitere Unterftügung des Kaiſers und Bran 
verzichten, und keinen Vertrag gegen das Intereſſe Tranfreichg ſchlie 
Ben, jondern man foll auch auf dem Reichstage gegen den Ahnzfärkten 








Polniſche Wirthſchaft und franzöflihe Diplomatie ꝛc. 383 


von Brandenburg wegen Verlegung ver Tractate und Beſchränkung 
der Privilegien der preußiichen Stände lage erheben und demnächſt 
ein polnifches Heer an der Grenze aufitellen. Dabei muß ver König 
von Polen alles aufbieten, daß Oftpreußen wieder ein polnifches 
Leben wird. Endlich ſoll ſich Johann verpflichten, die Frankreich be- 
freundeten Edelleute in vie oberften Stellen zu bringen, die Stimmen 
ber polnifchen Cardinäle für die Wahl eines dem König Ludwig ges 
nehmen Papftes zu gewinnen, mit Schweben ſich in gutes Verneh— 
men zu feten, fobald e& für Frankreich gewonnen worden fei, und 
feine Einwilligung zu geben, wenn fich Töfeli in Siebenbürgen und 
Ungarn eine felbftftändige Herrfchaft grünve. Ludwig jeinerjeits ver- 
fprach, fich alfer polnifchen Intereffen anzunehmen, vie Wahl desjeni- 
gen Prinzen zum Nachfolger zu unterjtügen, der dem König und der 
Königin am ltebften jei, wenn er nur gegen Frankreich wohlgejinnt 
wäre, ferner den König Johann zu einem der Vermittler des Frie- 
bens zwiſchen Frankreich und feinen Gegnern zu machen, Polen di—⸗ 
plomatijch und mit ven Waffen gegen jeden Angriff zu ſchirmen und 
bei allen Differenzen zu unterftügen, envlich 150,000 Livres jührlich 
zur Beftechung der zu gewinnenden Evelleute zu zahlen und ven Ba» 
ter der Königin, den Marquis D’Arquyan, zum Herzog und erbli- 
hen Bair von Frankreich zu erheben. 

Soweit war Bethune gelommen, als er Polen verlaffen mußte. 
Der Einfluß der dftreichiichen Partei, vie Thätigkeit des fchlauen 
Agenten des Kaiſers, des Jeſuiten Vota, fette feine Entfernung durch, 
bie wegen feiner Verfchwägerung mit der Königin auch vielen Polen 
wünfchenswerth fchien: er ging Ende Novembers 1691 als franzd- 
fifcher Gefchäftsträger nach Stodholm. Ludwig befchloß jett, ven 
Vidame d'Esneval, ver feither in Liffabon 3 Jahre lang diploma⸗ 
tifeh thätig geweien war, als außerorventlichen Bevollmächtigten nach 
Warſchau zu fehiden, um die von Bethune eingeleitete und von Stod- 
bolm aus weiter betriebene Angelegenheit zu Ende zu bringen. 

Ein ausführlicher Bericht, welchen Bethune im Ianuar 1692 für 
den neuen Geſandten auffegte, und ein Brief vefjelben an d' Esneval 
(deffen Name in ber Lieberfchrift des Berichts Dennewal heißt) machen 
ven neuen franzöfifchen Diplomaten tm Boraus mit bem eigenthüm⸗ 
lichen Terrain befannt, das er in Br te 








384 Kari Guſtav Helbig, 


barin zunächft auseinanver gefebt, wie weit ber frühere Geſanbte bei 
Intereffe Frankreichs gefördert habe, fobann, welche Mittel und Reg 
d'Esneval einfchlagen müffe, um in dem Sinne feines Vorgangen 
weiter zu wirken. Die fchwierige Art des von der öftreichiide 
Partei beherrichten Königs, der ehrgeizige Charakter ver franzöiid 
gefinnten Königin, vor allem vie Käuflichleit ver Hohen Ariftolratie 
werben in grellen Zügen gefchilvert. Bethune Ahrt ſämmtliche Große 
bes Reichs mit Namen auf, Tennt alle ihre Berfiniffe und intbe 
jonvere ihre Echwächen; die Eunme aber ſchue Schilderungen fait 
er in den Worten zufammen, „daß die Mehrzahl der polnifchen Gre- 
Ben die eigennüßigften, leichtfinnigften und unzuverläßigften Menſches 
auf der Welt find“ *). 

Dem gemäß lautet auch die Inftruction, die für den neuen Ge 
fandten am 12. April 1692 in Berjailles von Ludwig und Colbert 
unterzeichnet ward. Er foll zunächit den von Bethune entworfenen 
Vertrag mit Branfreich zur Ratification zu bringen und ven Sepa- 
ratfrieden zwijchen ven Polen und Türken abzufchließen fuchen, bamit 
ber Kaijer die Türken ohne Interftügung der Polen zu bekämpfen 
habe. Denn da diefer Türfenkrieg ein großes Hinderniß ſowohl für 
die ehrgeizigen Abfichten des öſtreichiſchen Haujes als für bie ver 
Kegerei günjtigen Pläne des Prinzen von Oranien fei, fo babe ver 
König von Frankreich das größte Interefje an einer Diverfion, vie 
jo nützlich fei für die Sicherheit feiner Untertbanen und für den Bes 
ftand der Religion. 

Daber foll der Gefandte den König und die Königin gleichmäßig 
zu bearbeiten und beiden die Meinung beizubringen fucden, daß Frank⸗ 
reich allein ein uneigennügige® Intereffe an Polen nehme, während 
ber Kaiſer bei einem Frieden feinen bisherigen Verbündeten preisge- 
ben werde. Bei Johann Sobiesfi fünne man aus feinem augen- 
blidlichen Unmwillen über ven durch die Schuld des Kaiſers verun- 
glüdten Feldzug in die Walachei Nugen ziehen, während man bei ber 
Königin den Unmuth über ihren Deftreich befreundeten Sohn Jacob 
ansbeuten müſſe. Ihr gegenüber müſſe man aber mit um fo größe 


u 





) E. beide Actenftüde, welche die bamalige Eituation am befien belenchten, 
im Anhange unter Anm. 8. 





Polniſche Wirthſchaft und franzöſiſche Diplomatie 2c. 385 


ver Gejchidlichkeit handeln, als fie, welche das Meifte vermöge, einen 
eitien und leivenfchaftlichen Charakter habe. Man mißfalle ihr nicht, 
wenn man häufig ihre Schönheit und ihren Geift lobe, und ihr fo 
wie denjenigen Berfonen, welche ihr Vertrauen bejiten, nebenbei Feine 
Geſchenke mache. Um tagegen das Vertrauen des Königs zu ge- 
winnen, jei es nütlih, ihn oft ver beſondern Zuneigung Ludwigs 
nachbrüdlich zu verfichern; auch ſchade es nicht, ihm gleichfalls öfters 
Kleine Gefchente zu machen „nach der Sitte des Landes, wo man 
vergleichen nicht verſchmäht.“ Und da das gewöhnliche Spiel des 
Königs nicht beträchtlich ift, fo kann man fich ihn auch gefällig er- 
weilen, indem man daran Theil nimmt und ſich fangen läßt. Um 
ihn aber in Fällen, wo man mit ihm über Gefchäfte jprechen will, in 
guter Yaune zu haben, kann man ihn nit Neuigkeiten, mit Berichten 
über bie verfchiedenften Länder, mit neuen Büchern und andern in- 
tereffanten Dingen, die ihn zerftreuen, angenehm unterhalten. Endlich 
joll ſich d'Eſsneval eine fefte Partei unter dem Adel bilden und zu 
biefem Zwecke vor allen ven Frankreich twohlgefinnten Carbinal und 
Senatspräſidenten Natziejowsfi und die Senatoren Jablonowski, 
Leczinski und die beiven Sapieba im franzöjifchen Intereffe zu erhal- 
ten fuchen. 

Die Sache ging inveß nur langſam weiter, da d'Esneval auf 
der Reife theils an den norbifchen Höfen, für die er Aufträge Hatte, 
theil8 in Danzig durch Kränklichkeit aufgehalten wurte. So konnten 
bie Inftructionen, die er immer von Neuem empfing, und bie ivieber> 
holten Aufforverungen, feine Reife zu befchleunigen, nur wenig belfen. 
Als er endlich im Dftober nach Warfchau fam, war ver Hof abweſend. 
Indeffen hatte Bethune fortbauernd mit der Königin correiponbirt, 
und von ihr ein neues briefliches Verſprechen erlangt, den Trieben 
mit den Türken bei ihrem Gemahle und dem Neichdtage burchzufegen. 
Jedoch werbe fie, fuhr ihr Schreiben fort, ftatt 150,000 Livres wohl 
300,000 2. zur Beſtechung des Adels nöthig haben. Ferner verlangte 
fie 50,000 L. zu Heinen Gefchenten, die Map. Bethune ausfuchen 
folle. Dabei deutete fie naiv an, daß Frankreich wegen früherer 
Dienftleiftungen ihr noch verpflichtet fei. Würde fie mit einem ſchö⸗ 
nen Halsband abgefunden, fo wollte fie für fich nichts weiter fordern: 
die Verforgung ihrer Familie Abe 


| IL 
Poluifhe Wirthſchaft und 
1692 bis 1697. 





". s - 
8” 


Nah banpfchriftlihen Quellen des k. ſa ' | A An 5 
Archive, Hilden Daupt-StanikE 


” 


Bon zn 


Karl Gufan Helbig. 


Schon ein Iahrhundert vor dem Untergang des polnifchen WM 
ches waren vie politifchen wie bie fittlichen Zuftänbgeig 
zerrüittet, daß bie furchtbare Rataftrophe, welche fpäter Aker das Laı 
hereinbrach, nur ale die natürliche Folge der Innern Verberbnuiß e 
fcheinen kann. Die tiefe Ohnmacht der Regierung, die niebrige Miu 
lichkeit einer leichtfinnigen Ariftofratie, ver völlige Mangel politifch 
Bewußtſeins in dem kindiſch wankelmüthigen Volle machten berei 
damals Polen zu dem Epielball ver fremden Diplomatie. Alle Cla 
fen ver Einwohner wetteiferten, ihr vienftbar zu werden. Die G 
fandten verfügten abwechſelnd über vie Factionen des polnifchen Adel— 
je nachdem fie zahlten, wurde das Land von deutſchem, ruſſiſchem, fra: 
zoͤſiſchem Einfluße beherricht. So ging es dann ununterbrochen dx 
18. Jahrhundert hindurch, bis endlich vie Einjlüffe zur ertlärten Her 
ſchaft wurven, und fich nicht bloß die Parteien fondern die Provinz. 
Polens vertheilten. Die Mächte vernichteten damit ven Namen d 
polnifchen Selbftftänpigleit; das Wefen verfelben hatten bie Bol, 
felbft feit drei Menfchenaltern für klingendes Gold veräußert. 








Bolnife-Birthfaft und franpöfihe, Diplomatie. BL 


Die Erijtenz ejenden Staates ijt eine Laſt, und nach 
Umftänden eine Gefahr für alle Nachbarn deſſelben, Er verjagt ſich 
einer zuverläffigen Freundjchaft, einem uneigennützigen Bundesver— 
hältniß. Aber er drängt fi in die Dienftbarfeit- jenes Eroberers, | 
welcher ven Leidenſchaften feiner Bürger jchmeichelt u Ei 
bezahlt. Wir geben in dem folgenden Aufjate das Bild eines 
Vorgangs. Man wird fehn, was es für Deutjchland bedeutete, an 
feiner Djtgrenze diejes ſtets abhängige und ſtets unbäntige Polen zu 

während von Weiten ber König Ludwig XIV. bon Pe 

















nsfihten, ie gl 
je dann plöglich Die pain Staatökunft, durch ein 
en aus dem Felde gejchlagen, die für ——— 
unbe Bofitien: für immer verlor *). — 
Jahre 1688 eröffnete König Yub 
benpunfte jeiner Macht, einen nenen Berbeerungskrie 
deutjche Reich. Zwar fetten ſich Papit und Kaiſer, Holland und 
panien und Venedig feiner Gem tthe igleit entgegen: 















England, 
ſeine n aber jo bedeutend, daß er allein ihnen Allen er 
Gleich ielt. Dazu kam, daß die Türken, ſeit lange mit u 


reich befreundet, ihren Krieg gegen Oeſtreich hartnäckig fortſetzten; 
wäre ihnen ein großer Schlag an ver Donau gelungen, jo hätte ber 
Kaiſer feine Streitkräfte am Rheine im der bevenflichjten Weife 
ſchwächen müffen: die Eriftenz des deutſchen Neiches hätte in bem 
doppelten Sturme geführbet werden Eünnen. So war ed von ber 
höchſten Wichtigkeit, daß der Polenkönig Johann Sobiesfi (1674 bis 
1696) an feinem Bunde mit Kaiſer Leopold fejthielt, und gemeinfan | 
mit ihm die Osmanen zu bebrängen fortfuhr. Auch er fürchtete Lud— 

wig's Ehrgeiz, und meinte, daß berjelbe das Intereffe feiner Söhne 

bevrohen Lönnte, deren Nachfolge auf dem polnijchen Throne er durch 










. 1, 


* 
* und Literatur über die hier behandelten Ereigniſſe im Anhange, 
geitſchrift 1. Band. — 


882 Kerl Guſtav Helbig, 


den Einfluß des Kaiſers zu ſichern hoffte. Aber ſo gut ſeine per⸗ 
ſonliche Stimmung war, jo wenig konnte er allein über Polen's aus⸗ 
wärtige Politik entjcheiven, da er in ven Kriegs- und Vertragsange- 
legenheiten zunächit von dem Senate, und dann von dem in Parteien 
zerriffenen Adel abhing, unter welchen Frankreich zahlreiche Freunde 
hatte '*). Dazu kam, daß Johann's Charakter und ver Zuftand ber kö⸗ 
niglichen Familie der franzöjifchen Diplomatie mancherlei Anknüpfungs⸗ 
punkte darbot. Der alternde König war ſchwach und ganz abhängig 
von feiner Gemahlin: Marie Cafimire, und diefe, ein ehrgeiziges leiden⸗ 
Ichaftliches und intrigantes Weib, war eine Franzöjin (eine Tochter des 
Marquis d'Arquyan?) und fomit leicht für Frankreich gewonnen. Dages 
gen ftand der ältefte Sohn des Königs, Iacob, welcher durch feine Ver⸗ 
mäblung mit der Prinzeffin von Pfalz » Neuburg, der Schweiter der 
Raiferin, für Oeftreih gewonnen worden war, mit ber Mutter fo 
fchlecht, vaß dieſe daran dachte, einem ber beiden andern Söhne, Ale⸗ 
zander oder Conftantin, die Nachfolge in ver Negierung zu verfchaf- 
fen. Wie viel Veranlaffung für Ludwig, auf einem ſolchen Boden 
jein Glück zu verfuchen, durch gejchidte Benutzung dieſer Schwächen 
das öſtreichiſch⸗polniſche Bündniß zu fchwächen, und dadurch wielleicht 
die Machtverhältniſſe des ganzen Welttheild zu verwandeln! 

In diefem Sinne nun war fchon geraume Zeit vor dem Aus⸗ 
bruch des Krieges der Marquis von DBethune, der Schwager ver 
Königin, in Warfchau thätig. Er hatte e8 im Jahre 1691 dahin 
gebracht, daß dieſe fich vorläufig mit einem geheimen Bertrag ein- 
verftanvden erklärte, der ganz im Intereſſe Ludwig's war. Nur der 
König Johann hielt mit feiner Anficht darüber noch zurüd, und auch 
bie Einwilligung des Neichstages war noch fehr zweifelhaft. Nach 
biefem Entwurfe follte zunächſt mit Unterftügung des franzöfifchen 
Gejandten in Konftantinopel, des Herrn Caftagnere de Chatenuneuf, 
ein Separatfrieven zwifchen ven Osmanen und Bolen abgefchloffen 
werben, den der König Johann auf dem Neichstage durchzubringen 
ſich verpflichten müßte. Erſt dann fünne fich Ludwig zu irgend einer 
Gegenleiftung verjtchen. Ferner follte die polniſche Republik nicht 
allein auf jede weitere Unterftügung des Kaifers und Brandenburgs 
verzichten, und feinen Vertrag gegen das Interefje Frankreichs fchlie- 
gen, jondern man foll auch auf dem Neichstage gegen den Churfürften 





Bolniihe Wirihſchaft und franzäflfihe Diplomatie x. 888 


von Brandenburg wegen Verlegung ber Tractate und Beſchränkung 
der Privilegien ver preußifchen Stände Klage erheben und demnächſt 
ein polnifche® Heer an der Grenze aufftellen. Dabei muß ber König 
von Polen alles aufbieten, daB Oftpreußen wieder ein polnifches 
Lehen wird. Endlich foll fih Johann verpflichten, die Frankreich be- 
freunveten Evelleute in vie oberften Stellen zu bringen, die Stimmen 
der polnifchen Earbinäle für die Wahl eines dem König Ludwig ge- 
nehmen Papftes zu gewinnen, mit Schweben fich in gutes Verneh⸗ 
men zu feten, fobald es für Frankreich gewonnen worden fei, und 
feine Einwilligung zu geben, wenn fich Töfeli in Siebenbürgen und 
Ungarn’ eine felbftftändige Herrichaft gründe. Ludwig feinerfeits ver- 
iprach, ſich aller polnifchen Intereffen anzunehmen, die Wahl desjeni⸗ 
gen Prinzen zum Nachfolger zu unterftügen, ver dem König und ver 
Königin am Hebften fei, wenn er nur gegen Frankreich wohlgelinnt 
wäre, ferner ven König Johann zu einem ver Vermittler des Frie⸗ 
dens zwiſchen Frankreich und feinen Gegnern gu machen, Polen di⸗ 
plomatijch und mit ven Waffen gegen jeden Angriff zu fehirmen und 
bei allen Differenzen zu unterftügen, endlich 150,000 Livres jährlich 
zur Beftechung ver zu gemwinnenven Ebelleute zu zahlen und den Va⸗ 
ter der Königin, den Marquis d'Arquyan, zum Herzog und erbli- 
hen Bair von Frankreich zu erheben. 

Soweit war Bethune gekommen, als er Polen verlaffen mußte. 
Der Einfluß der dftreichifchen Partei, vie Thätigkeit des fchlauen 
Agenten des Kaiſers, des Iefuiten Vota, fegte feine Entfernung durch, 
bie wegen jeiner Verfchwägerung mit ver Königin auch vielen Polen 
wünſchenswerth fchien: er ging Ende Novembers 1691 als frunzd- 
fiicher Gejchäftsträger nach Stodholm. Ludwig befchloß jetzt, ven 
Bidame d'Esneval, der jeither in Liffabon 3 Jahre lang diploma⸗ 
tiſch thätig geweſen war, als außerorventlichen Bevollmächtigten nach 
Warſchau zu fchiden, um die von Bethune eingeleitete und von Stod- 
bolm aus weiter betriebene Angelegenheit zu Ende zu bringen. 

Ein ausführlicher Bericht, welchen Bethune im Ianuar 1692 für 
den neuen Gejanbten auffette, und ein Brief veffelben an d'Esneval 
(defjen Name in ber Ueberjchrift des Berichts Dennewal heißt) machen 
den neuen franzöfifchen Diplomaten im Voraus mit dem eigenthüms 
lichen Terrain befannt, das er in Polen vorfinden werde. Es wird 

Ir 


384 Karl Guſtav Helbig, 


barin zunächft auseinanver gefegt, wie weit der frühere Geſandte Das 
Intereſſe Frankreichs gefördert habe, fodann, welche Mittel und Wege 
d'Esneval einfchlagen müffe, um in dem Sinne feines Vorgängers 
weiter zu wirken. Die fchiwierige Art des von der öftreichifchen 
Partei beherrichten Könige, der ehrgeizige Charakter der franzöfifch 
gefinnten Königin, vor allem vie Käuflichleit ver hohen Ariftofratie 
werben in grellen Zügen gefchilvert. Bethune führt fünmtliche Große 
des Reichs mit Namen auf, kennt alle ihre Verhäͤltniſſe und insbe⸗ 
jonvere ihre Schwächen; die Eumme aber feiner Schilverungen faßt 
er in ven Worten zufammen, „vaß die Mehrzahl ver polniſchen Gro⸗ 
Ben die eigennügigften, leichtjinnigften und unzuverläßtgften Menſchen 
auf der Welt find“ *), 

Dem gemäß lautet auch die Inftruction, die für den neuen &e- 
jandten am 12. April 1692 in Verſailles von Ludwig und Eolbert 
unterzeichnet ward. Cr foll zunächjt den von Bethune entworfenen 
Vertrag mit Frankreich zur Ratification zu bringen und ven Sepa- 
ratfrieden zwijchen den Polen und Türken abzuſchließen fuchen, damit 
ber Kaiſer die Türken ohne Unterftügung der Polen zu befämpfen 
babe. Deun da diefer Türkenkrieg ein großes Hinberniß fowohl für 
bie ehrgeizigen Abfichten des öftreichifchen Hauſes als für die ber 
Ketzerei günftigen Pläne des Prinzen von Oranien fei, fo habe der 
König von Frankreich das größte Intereffe an einer Diverfion, Die 
fo nüglich fei für die Sicherheit feiner Unterthanen und für den Be⸗ 
ſtand der Religion. 

Daher ſoll der Geſandte den König und die Königin gleichmäßig 
zu bearbeiten und beiden die Meinung beizubringen ſuchen, daß Frank⸗ 
reich allein ein uneigennügiges Intereffe an Polen nehme, während 
ber Kaiſer bei einem Frieden feinen bisherigen Verbündeten preiöge- 
ben werde. Bei Johann Sobiesfi könne man aus feinem augen- 
blidlichen Unwillen über ven durch die Schuld des Kaiſers verun- 
glüdten Feldzug in die Walachei Nugen ziehen, während man bei der 
Königin den Unmuth über ihren Deftreich befreundeten Sohn Jacob 
ausbeuten müſſe. Ihr gegenüber müffe man aber mit um jo größe- 





*) ©. beide Actenftüde, welche die bamalige Eituation am beften beleuchten, 
im Anbhange unter Anm. 8. 





Polniſche Wirthſchaft und franzöfiihe Diplomatie :c. 385 


ver-Gejchidlichkeit handeln, als fie, welche das Meifte vermöge, einen 
eitlen und leivenfchaftlichen Charakter habe. Man mißfalle ihr nicht, 
wenn man häufig ihre Schönheit und ihren Geift lobe, und ihr fo 
wie denjenigen Perjonen, welche ihr Vertrauen befigen, nebenbei Heine 
Sejchenfe mache. Um dagegen das Vertrauen des Königs zu ge 
winnen, ſei es müßlich, ihm oft ver befondern Zumeigung Ludwigs 
nachbrüdlich zu v ; auch Schade es nichts, ihm gleichfalls öfters 
fleine Geſchenke „nach der Sitte des Yandes, wo man 
dergleichen ——— Und da das gewöhnliche Spiel des 
Königs nicht beträchtlich iſt, ſo kann man ſich ihm auch gefällig er— 
weiſen, indem man daran Theil nimmt und ſich fangen läßt. Um 
ihn aber in Fällen, wo man mit ihm über Geſchäfte ſprechen will, in 
guter Laune zu haben, kann man ihn mit Neuigkeiten, mit Berichten 
über die verſchiedenſten Länder, mit neuen Büchern und andern in— 
tereſſanten Dingen, die ihn zerſtreuen, angenehm unterhalten. Endlich 
ſoll ſich d'Esneval eine feſte Partei unter dem Abel bilden und zu 
dieſem Zwecke vor allem den Frankreich wohlgeſinnten Cardinal und 
Senatspräſidenten Radziejowski und die Senatoren Jablonowöoki, 
Leczinski und die beiden Sapieha im franzöfi ſchen Interefje zu erhal- 
ten juchen. —— 

Die Sache ging indeß nur langſam weiter, da b’Esnenal 
der Reife theils an den nordiſchen Höfen, für die er Aufträge 
theils in Danzig durch Kränklichteit aufgehalten wurde,» So fonnten 
die Inftructionen, die er immer von Neuem empfing, und die wieber- 
holten Aufforberungen, feine Reife zu beſchleunigen, ur wenig 
Als er endlich im Oktober nach Warſchau kam, war ber Hof ab 
Indeſſen hatte Bethune mit der Königin correſp 
und von ihr ein neues briefliches Berſprechen erlangt, bei 
mit ven Türfen bei ihrem Gemahle und ce 
Jedoch werde fie, fuhr ihr Schreiben fort, ſtatt 50,000 Livres wohl 
300,000 L. zur Beftechung des Adels nöthig haben. Fer 
fie 50,000 L. zu Heinen Gefchenten, die Map. Vetbune ausfuchen 
ſolle. Dabei deutete fie naiv an, daß Franfreich wegen früherer 
Dienftleiftungen ihr noch verpflichtet fei. Würde jie mit einem jchö- 
nen Halsband abgefunden, jo wollte fie für fich nichts weiter fordern; 
die VBerforgung ihrer Familie überlaffe fie ver Großmuth des Königs, 




















BE on⸗ ce να 


Demnach ſchlug Bethune dem König vor, 3000 S. ge eleui. Geis 
band für bie Königin und 20,000 2. zu ven Heimen Mefcheuikn ze 
verivenden, welche die Margnife von Bethune für poluiſche· Dem 
ausfuchen würde: auch müßte ver wohlgefinute unb einfinfweiche in 
ftellan von Krakau bevacht werben, weil biefer alle polnifdhen Truppen, 
bie zum Nachtheile Frankreichs operiren Könnten, zurüdguhelten wen 
möchte. — Ludwig unterzeihnete.ven beu he don ber Könige -figuir 
ten Vertrag am 9. November und bevallmächtigts d' Eſsneval zur fürn 
lichen Ratification, fobald der König unterzeichnet haben würde. De 
zeigte ex große Vorficht wegen ber berfprochenen Gelbfummen: 
werde nicht eher etwas fchiden, bis ber Particularfrieden Iwiſchen ber 
Pforte und Polen abgejchloffen fei. Würde dann Sobieski noch einen 
Angriff auf Preußen oder Schlefien unternehmen, fo würbe Frau 
reich im Nothfall bereit fein, zur Förderung dieſes Zweckes weile 
Gratificationen bis zum Betrage von 20,000 Thl. 

Der franzöfifche König war jebt um fo vorſi ‚weil ve 
unterdeß im Herbfte 1692 in Stodholm verftorbene Bethune in fe 
nen Berjprechungen zu liberal gewejen war. So wurde ber Gref- 
fchatmeifter Lubomirski, dem Bethune 3000 Thaler jährliche Penften 
verjprochen, wenn er ein dem Saijer zuzuführendes Truppenforys 
nicht nach Ungarn bringen wollte, von d'Esneval auf Ludwigs WBefehl 
mit Revensarten vertröftet; denn er habe, fchrieb Ludwig, biefe Trup⸗ 
pen dem Kaiſer nur deßhalb nicht gefchickt, weil ihm vom Kaifer bie 
verlangte Geldſumme vafür verfagt worben fei. Ueberhaupt folf ver 
Geſandte fich zu feiner Gratification eher verpflichten, al bie Der be 
treffende Dienft in unzweifelhafter Weife geleiftet worden iſt. So 
ſchob man fich nuglos die wechjeljeitigen Aufforberungen zu: der Eine 
wollte fein Geld geben, ehe er Thaten fähe, der Anvere Teine Lei- 
ftung beginnen, ehe er Geld empfangen hätte. Monat auf Wionat 
verging; feit dem Februar 1693 verjchwindet jede weitere Spur neu 
d'Esnevals Thätigkeit; er muß damals oder bald nachher in War⸗ 
ſchau geftorben fein. Zum Nachfolger d'Esnevals wählte Lubwi eis 
nen noch fehr jungen Mann von 30 Iahren, ven durch Geiſt uub 
Gelehrfamteit, wie durch höchſt liebenswürdiges Betragen a 
neten Abbé de Polignac). Derſelbe hatte kurz vorher als Mer 
gleiter des Cardinals von Bouillon, der nach dem Tode des Papea 











Polniſche Wirthſchaft und franzöflihe Diplomatie ꝛc. 387 


Innocenz XI. zur Papſtwahl nah Rom gereift war, Gelegenheit ges 
funden, in den ihm übertragenen Unterhandlungen mit dem neuen 
Papſt Alerander VIII. über Differenzen zwifchen Frankreich und ber 
Curie fein biplomatifches Talent zu bewähren und fich dem König 
bemerflih zu machen. Alexander hatte über ihn gefagt: „Il ne 
me contredit jamais, il est toujours de mon avis, et ce- 
Pendant c’est toujours le sien qui pr&vaut: ce jeune abbé 
est un seducteur. Ludwig aber äußerte nach der Unterrebung, in 
ber er vor dem Abjchluß der Verhandlungen über feine Thätigkeit in 
Nom Rechenichaft gegeben hatte: Je viens de m’entretenir avec 
un homme et un jeune homme, qui m’a toujours contredit, 
sans pouvoir me fächer ). Polignac fam im Juli nah Danzig 
und bald darauf nah Warſchau an ven Hof‘). E8 gelang ihm nicht 
allein jehr bald das Vertrauen der Königin zu gewinnen und troß 
ihrer Laune und der Zurüdhaltung Ludwigs, ver nur für wirklich ge 
leiftete ‘Dienfte etwas thun wollte, bis zum Tode bed Königs Iohann 
zu behaupten, fondern. er wußte jich auch vie Gunſt des Letzteren zu 
verichaffen, und ohne Geld die franzöjiiche Partei des Adels zufam- 
men zu halten. Eo konnte er fich fagen, daß für den erſten güns 
ftigen Anlaß, welchen die Zukunft bringen würde, Alles auf pas Beſte 
vorbereitet fei, und ſich damit für das augenblidlihe Stocken ver 
türfifchen Sache tröften. Denn allerdings kam dieſe nicht von ber 
Stelle, wehin fie ſchon Bethune gefördert Hatte. 

Der Krieg zwifchen ven Bolen und den Türken tauerte fort: 
von einem Vertrage Ludwig's mit Polen hatte daher nicht die Rebe fein 
können. Die Königin, welcher an Erfüllung der Verfprechungen Lud⸗ 
wigs viel gelegen war und welche von Polignac immer feitgehalten 
wurbe, war am meiften geneigt für jenen Frieden zu wirken, aber 
ber König, wenn gleich des Krieges überdrüſſig, ſchwankte und zögerte, 
weil er vem verjtorbenen Papſt Innocenz XL. verfprochen Hatte, beim 
Raifer auszubarren, bis diefer felbft mit ven Türken fich vertragen 
hätte. Zugleich arbeiteten viele einflußreihe Männer beim König 
und in ihren Streifen Polignac's Abfichten entgegen. Es waren dieß 
befonvers der an Geift und Gewandtheit dem franzöfijchen Geſandten 
ebenbürtige und bei Sobieski ſehr beliebte. Jefult DBota. “ 

Carbinal Janſon Forbin als le plus gan 





388 =" Marl Goflen Geibig, 


des Francais, als fourbe, malın, menteur bezeichnet, fobanı ber vere⸗ 
tianifche Gefantte und der päpſtliche Nuntius St. Eroce, (Ich 
trotz Forbins Anftrengungen in Rom „plus allemand queis 8 
lemands m&me,“) ferner bie öſtreichiſch gefinnten Edelleute neh 
ber Brinzeffin Radziwil und vie trotz Bethune's Bemühungen vom | 
Kaifer gewonnenen Brüder Sapieha in Litthauen. Die Hoffnumg 
aber, daß ver lang gehegte Plan auf dem fir Ende des Sahmed: 16% 
abzuhaltenven Reichstag ausgeführt werden könnte, fchlug fehl, va 
berfelbe wegen Srünklichkeit des Königs verfchoben werden mußte. 
Dur Senatsbefchluß die Sache abzumachen, wie Polignac wünfchte, 
burfte dagegen ver König nicht wagen. Denn man wußte ja nicht 
einmal, was tie Türken zugeftehen wollten, vie ſich gegen bie Bor 
ſchläge Caſtagneres zn Gunften Polens fehr z&h zeigten, während bie 
Sapieha brohten, fie würden fich jedem Particularfrieden mit ber 
Pforte widerjegen. Im April 1694 wurde der Gefandte ſogar durch 
die Nachricht erfchredt, vaß die Türken einen allgemeinen Frieden 
mit ihren Feinden beabfichtigten, „un grand malheur,‘“ wie Forbin 
ſchrieb, „pour nous et pour la religion catholique.“ Da gelang 
es Bolignac, den König beforgt zu machen, daß er dabei aufgeopfert 
werben fünnte. Er entſchloß ſich, befondere Unterhandlungen einzu- 
leiten; aber ver Unterhändler Graf Rzewuski fam mit der Nachricht 
zurüd, daß die Türken vom Frieden mit Polen nichts wiffen wollten, 
weshalb ſich Polignac in einem Briefe an Forbin (Mai 1694) ſowohl 
über vie Gabalen in Polen, als über ven Unverftanp der Türfen bit- 
ter beflagte. Endlich im December 1694 erfuhr er (durch Caſtag⸗ 
nere) aus Conftantinopel felbjt, daß in der That auf einen Frieden 
mit ven Zürfen nicht weiter zu hoffen fei. Auch in ber brandenbur- 
giſchen Sache mußte ſich Polignac darauf befehränfen, nur im Stil 
len den Abfichten des Churfürften, fih zum König zu machen, entge⸗ 
genzufreten. 

Bei all dieſen Schwierigkeiten bewährte indeß der Geſandte fein 
Zalent in ver Behanblung der perfönlichen Verhältniffe, und behaup⸗ 
tete fortvauernd mit böchfter Gewandtheit tie Gunft des Hofes. Na⸗ 
mentlich der Königin gegenüber war dieſes feine leichte Aufgabe. Denn 
ba bie erfte Bebingung bes franzöfifchen Vertrags noch nicht erfum 
war, fo blieb Luvwig fehr zurüdhaltenn und begnügte fich damit, zus 








Bolnifhe Wirtbfhaft und franzöfliche Diplomatie zc. 389 


nächit fchon 1694 ven Vater ver Königin, ven Marquis d'Arquyan, 
dann ein Jahr fpäter ihre beiden jüngern Söhne, Alexander und 
Eonftantin zu Nittern des Michaelis- und heiligen Geiftesordens zu 
ernennen, und wieder ein Jahr jpüter ihren Bruder, ven jüngern 
d'Arquyan mit 20,000 L. jährlicher Rente zum Cardinal erheben zu 
laffen. Dies genügte natürlich ver Königin nicht: fie wollte wenig- 
ftend immer wieder weitere Ausftattung ihrer Familie, und Bolignac 
mußte alle feine Liebenswirbigfeit geltend machen, fie geneigt zu er⸗ 
halten. Beſonders verftimmt war fie im Sahre 1695. Si Vous ne 
la connaissiez pas parfaitement, fchreibt Polignac an Forbin im 
November, je Vous dirais la peine qu’on a tous les jours & lui 
faire entendre raison sur les grandes choses, quand elle est de 
mauvaise humeur sur les petites. Gegen Ende des Jahres befferte 
jich das Verhältniß, fo daß der Geſandte meinte, die Königin fei jetzt 
wieder jo verftändig, daß e8 ihm gelingen werde, fie durch Artigfeiten 
auf den rechten Weg zurüd zu bringen, ven fie nicht aus Neigung, 
Sondern blos aus Laune verlaffen habe. Er wußte fie damals in der 
That zu ven Entfchluffe zu bringen, ihr Vermögen in Frankreich auf 
dem Pariſer Stadthauſe anzulegen, was jie für die Zufunft ganz 
von Ludwig abhängig machen mußte. Jedoch wurde die Ausführung 
des Plancs durch ven hartnädigen Wirerftand des Königs verzögert: 
bie Vorftellungen und Intriguen der Königin, die Meffen, welche fie 
leſen ließ, damit Gott ihm einen andern Einn befcheere, halfen nichts. 
Erit nach feinen Tode konnte Polignac die Sache noch rechtzeitig vor 
feinem Bruch mit der Königin zu Stande bringen’). 

Das Verhältniß zwiſchen König und Königin war überhaupt in 
ber legten Zeit vielfach getrübt, und auch bieß mußte die Stellung 
des Geſandten ſchwierig machen. Gr fuchte inveß nicht ohne Erfolg 
zu vermitteln, fo taß vie letzten Monate ziemlich ruhig verliefen. 
Bemerkenswerth ift, daß ver König, der fich ſehr ſchwach und dem Tode 
nicht fern fühlte, ſich einbildete, ſeine Gemahlin ſei dem Caſimir Sa⸗ 
pieha, Palatin von Wilna und Großhauptmann von Litthauen mehr, 
als es ſich ziemte, gewogen und werde denſelben nach ſeinem Tode 
zum Gatten und König machen. Es ſcheint ein falſcher Berdach 
weien zu fein, denn Bolignac, der Vertrante ' 
der Königin *) verficherte in ben vertru 


” 


5 Riemand in viefem Lande, der nicht das öffentliche "Wohl für nichn 





300 “- Karl Gußee Gehkig, 8. ",.de 


daß der Mönig. Unvecht habe. Die Sapichs mern, wie eaäui..htt 
bie entfchieenften Gegner Frankreichs; yilys deſto weniger, Kituuds 
in Frühjahr 1695 für Gelb dyn Geſanbtin ige * 

gene hätte er die mächtige: Bamilie für feine Partei | 
er hatte feine Mittel, und wurde vom in überzeugt, 
Geld weggeworfen fein wäre: fie fih fofort wieber 
Raifer kaufen laffen. Die ganze Cabale, fchreibt er 
Forbin, Hat nichts Beſſeres zu thun gewußt, als ſich mir ip He 
wen anzubieten, freilich um ven Preis von 400,000 L., welche 
Menſchen von unferm Könige gerlangen.. Außer —— 6 
















bielte, und wenn es dem Könige gefiele das Färtnif gegen bie de 
ten aufzulöfen, und fich beiver Parteien, welche die polnifche Nepub⸗ 
lik büben, zu verfichern, fo bin ich überzeugt, daß es ihm für Geh 
leicht möglich wäre. 

Darauf erinnerte ihn denn Forbin, daß er auf all vie Ber 
fprechungen der Sapieha nicht bauen bürfe; fie wärben fich fein Ge⸗ 
wiſſen daraus machen, ihr Wort nicht nur nicht zu. halten, ſondern 
fih fogar noch dann, wenn fie auf dem Reichstag zugeſtimmt Hätten, 
noch nachträglih vom Kaifer erfaufen laffen, um ber Ratification des 
Friedensvertrages entgegen zu treten. 

So wurden die Sapieha zurüdgewiejen und traten um fo ge 
waltthätiger gegen ven Gefanbten und den König auf, der, wie Po⸗ 
lignac Hagt, im Lande wie bei den auswärtigen Höfen allmählich 
alles Anfehen einbüßte. Die franzöfifche Bartei jchien in jeder Be 
ziebung im Nachteile, währen vie öſtreichiſche Alles vermochte. 
Auf die legtere geftüst, und durch fie ermuthigt, ging der Prinz Ja⸗ 
cob in feinem frechen Tro fo weit, daß er — was auf die bamali- 
gen Verhältniffe in Polen ein grelles Licht wirft — fechE feiner Leute 
anftellte, vem Schagmeifter des königl. Haufes Wolſzinski aufzulauern 
und ihn mieberzufchießen, weil er ihm Geld zu leihen verweigert 
hatte. 


8 —W 







Noch eine beſondere geheime Unterhandlung Polignac'd ge Bi 
erwähnt werben, welche für Frankreich's Intereſſe von ste Mes 
tung war. Troß der Intriguen bed franzöfiichen Gejandten war 

imlich im Frühjahr 1694 die Vermählung der Tochter bes Pie 








polnilche Wirthſchaft und franzöſiſche Diplomatie ꝛc. 391 


Johann mit dem Bundesgenoſſen und frühern Schwiegerſohn des 
Kaiſers, dem verwittweten Churfürſten von Bayern, Mar Emanuel, 
zu Stande gekommen. Sofort ſuchte Polignac mit dem baheriſchen 
Geſandten in Warſchau, Baron Mayer, Anknüpfungspunkte und ver⸗ 
mittelte 1695 die geheime Sendung des geſchäftsgewandten und dem 
polnifchen Hofe und der franzöfifchen Partei fehr vertrauten Biſchofs 
von Plock nach Brüffel, um ven Ehurfürften von Bahern gegen das 
Beriprechen der Unterftütung ver Succeſſion in Spanien auf bie 
franzdfifche Seite zu ziehen. Die Unterhandlung zerichlug fich, weil 
der Ehurfürft zwar einer rein fatholifchen Liga (ohne den König von 
England) an der Epite des fchwäbifchen und fränkiſchen Kreiſes bei« 
treten, aber jetzt noch nicht offen mit dem Kaiſer brechen wollte. 

Ceit dem März 1696 wurde ver Geſundheitszuſtand des Königs 
immer fchlimmer. Bolignac fuchte jegt vor allem fih das Vertrauen 
der Königin zu fichern, die nichts ohne feinen Rath unternahm. Die 
vornehmften Auhänger ver franzöfifchen Partei wurden möglichit bes 
arbeitet, un wenigſtens den kaiſerlichen Thronbeiwerbern entgegenzu- 
treten, wenn ein Frankreich erwünjchter Prinz (einer der jüngeren 
Söhne des Königs) nicht gleich durchzubringen wäre. An Intriguen 
und Beſchuldigungen gegen bie öftreichiiche Partei fehlte es nicht. 
Polignac Hagte mit der Königin fogar die Partei eines Verſuches 
an, den König zu vergiften, ald der Abt von Oliva von Wien Pillen 
für denfelben mitgebracht hatte, und ein krankes Weib im BHofpital, 
der man auf des Gejandten Rath zur Probe eine folche Pille gege- 
ben hatte, nach 5 Stunden unter Krämpfen geftorben war. Die Bil 
(en beſtanden aus Opium und Cublimat — vielleicht ein Zeugniß gegen 
bie Arzneilunde der damaligen Zeit, nicht aber für eine fo ſchändliche 
Abficht der Gegenpartei. Im April litt der König neben Gicht und 
Steinſchmerzen an aufreibenden Fieberanfällen und zulegt an Ge⸗ 
fchwulft ver Beine und des Unterleibes. Bolignac ließ ſich vom ve⸗ 
netianifchen Geſandten echtes beite® Vipernpulver (Theriat) jchiden, 
das ver König in Fleifchbrühe nehmen mußte. Es Half natürlich nichte, 
Am 17. Juni in der Nacht ftarb der König im Beifein des franzd- 
ſiſchen Geſandten am Schlagfluß. 

Nicht allein wegen ber für Frankreich noch im 
Lage der Dinge in Polen kam ver Ton 





392 Karl: Guftan Helig Ti ern 


zur unrechten Zeit. Auch ſonſt waren bie Berhältuiffe Für Kumiei, 
genug beventfich geivorven. Die Frangofen waren. erſchopft un 
fügeten gegen ihre immer kräftigen vwerdenten be nur noch einen 
ehrenvollen Vertbeivigungäfrieg. "Ein wiederholter Berſuch a Ki 
nigs Yatph, II. die engliſche Krone wieder zu gewinnen ‚— 

mald verungludt. « Bolignac und Forbin hatten fich —— iu 
tereffirks in’ Frankreich var großer Jubel geweſen in der 
auf einen glücklichen Erfolg. Deſto größer war die Niedergeſchlagen 
heit, als dieſer nicht eintrat und ve la Rofiere hatte im März -1696 
an Bolignac gejchrieben: „Voila eomme le Francais est fait, il 
donne toujours dans l’excds, aujourdhui-triomphant et demain 
consterne. Dieu est’ls maitre des rois aussi bien que des 
peuples. Mais Louis le Grand ne combat que pour lui, c’est 
ce qui nous doit faire esp6rer.” Solch hochmäthiger Wahn erkieht 
ben König und bie, welche ihm bienten, auch ſpater in weit größeren 
Berrängniffen aufrecht. 

Polignac empfing von Paris aus bie gemeffenfte Inftruction, vie 
Königin und denjenigen von ven jüngern Prinzen für welchen fie 
fich intereffiren würde, zu unterftügen. Es war ds die feitherige 
Bolitit, welche am wenigjten Toftete, und nach dem, was bi® jet ge 
wonnen war, für Frankreich den meiften Vertheil verſprach. Doch 
bald überzeugte er fih, daß auf dieſem Wege nichte zu erreichen fei. 
Die Königin hatte überhaupt nie viele Freunde gehabt: jet ftieß fie 
trag den Mahnungen des Gefandten, ver noch immer bei ihr viel 
galt, durch ungeſchicktes launenhaftes Betragen auch biefe theilweife 
zurüd und ihre Gegner traten immer rüdfichtelofer gegen fie auf. 
Für ihre jüngeren Söhne zeigten ſich eben deßhalb fehr wenig Sym- 
patbien, weil fie von der Mutter bevorzugt wurben: von Alexander 
bieß es jet, er fei durch eine gewilfe Rohheit unangenehm, and 
wollte man Geiz an ihm bemerkt haben. Dieß kam einigermaffen 
dem ſonſt fehr ivenig beliebten Prinzen Jacob zu Gute, ber einen 
Theil ver franzöfifchen Bartei für fih hatte M 
Gewandtheit gleißnerifchen Trugs fuchte Bolignac theild die KNaigin 
jet noch feftzubalten, theils den Prinzen Jacob, der fih ihm näheugg, 
u befchwichtigen, freilich ohne Ausficht auf einen günftigen Erfolg, - 

Der Reichbtag, auf welchem der tieue König gewählt uugteg: 








Polniſche Wirthſchaft und franzöfiihe Diplomatie 2c. 393 





follte, war für Ende Auguft feitgeftellt. Die franzöfifche Partei war 
der Königin und ihren Söhnen nicht geneigt und verlangte Geld, was 
ber Gefandte nicht fchaffen konnte. Neben dem Prinzen Jacob waren 
andere Thronbewerber der öftreichiichen Partei zu erwarten. Da 
entfchloß fich Polignac im Einverjtäntniß mit dem Carbinal Forbin, 
einen Prinzen aufzuftellen, welcher ver franzöfifchen Partei annehm- 
lih gemacht werben konnte. Es war dieß der fchon früher von Ber 
thune empfohlene Franz Ludwig von Conti, Neffe des großen Cote, 
bem vielfach bewährte Friegerifche Befähigung und ein liebenswürbiger 
Charakter nachgerühmt wurde. Mit diefen Eigenfchaften werde er bie 
übrigen fremben Bewerber, bie am meiften zu fürchten waren, aus— 
ftechen, meinte Polignac. Die Hauptfache war freilich Geld: mit 
300,000 2. glaubte er die Wahl durchſetzen zu können. Gelang dieß, 
jo war mehr erreicht, al8 ınan feither erftrebt hatte, denn in tiefem 
Valle war man wenigftens ber franzöfifhen Sympathien des polni- 
ſchen Hofes ficher. 

König Ludwig nahm den Vorfchlag feines Geſandten fehr vor- 
fichtig auf, er zögerte lange und gab erjt im October dem Gefandten 
Vollmacht, für den Prinzen aufzutreten. Unterdeß geftalteten fich bie 
Verhältniſſe für Polignac immer günftiger. Auf dem fehr ftürmifchen 
Neichstage im September wurde es Har, daß die Königin feine Aus- 
ficht hatte, einen ihrer jüngern Söhne burdhzubringen. 

Umfonjt verfchleuderte fie ihr Geld, um ihre Partei zufammen- 
zuhalten: kaum ber vierte Theil ver Landboten hatte einiges Intereſſe 
für fie und ihre Familie; aber felbft viefen Heinen Vortheil verbanfte 
fie vorzugsweiſe dem Cardinal Radziejowski, ver ihr große Verbind⸗ 
lichkeiten ſchuldig war. — Ihre Gegner, Lubomirski, Potocki, Sapieha 
an der Spitze, ſetzten ihre Entfernung von Warſchau durch. 

Es war nahe daran, daß die königliche Familie förmlich von 
der Thronfolge ausgeſchloſſen wurde. Da erzwang ihre Partei den 
26. September die Aufhebung des Reichstages, und es wurde be⸗ 
ſchloſſen, daß die Wahl des Königs und zwar durch das ſogenannte 
Pospelity, d. h. den ganzen bewaffneten Adel, auf den 15. Mai ver⸗ 


ſchoben werven folite. — Polignac, der ſcheinbar gleichgäftig zugefchen 
und fogar vie allerdings bebenklicdh werdende Kön 


hatte, unterftägte in&geheim ben Aufſchuh, 








394 Karl Guten Helbig, 


Zeit zu geckünen. Die Königin neigte fich jet ber "deli 
ihres Schwieherſohnes, des Churfürſten von Bahern zu, file bie is 
Abt Scarlati Freilich nur mit vielem Geraägrtinb > Tafıner tab 
lichem Lächeln zu wirken Achte, /* | 

Doc ter Churfürſt Hatte an unk-für ſich feinten. und 
erhielt nicht einmal bie Partei ver Königin, weit fie Tanrenfeft fa | 
und ber ſchwankte. j 

Hm legten Monate vor dem Bruce mit ber Königin war e 
noch dem Gefandten gelungen, fie zu beſtimmen, ihre jüngeren Söhne 
mit 300,009 Dufaten, bie in Paris angelegt werden fellten, na& 
Frankreich zu ſchicken. Wie freuten fich bie beiden franzöftſchen Dip» " 
maten, der Abbe Polignac und der Carbinal Yorbin, daß die Köeri⸗ 
gin noch zur rechten Zeit in's Garn gegangen war. 

Sobald Poliguac von Ludwig Vollmacht und Selb erhaften hatte, 
entwidelte er, unterftägt von Forbin in Rom eine großartige nah 
bald ſehr wirkfam werdende Thätigfeit. Dabei war es ein grefer 
Vortheil, daß fich die Königin plöglich für ihren früher verftoßenen 
Sohn Yacob erklärte. Die berebte Vorftellung der Unwürbigfeit einer 
folchen plöglichen Sinnesänterung der beleivigten Mutter, vie Schil⸗ 
derung ber Gefahren, welche der Republik unter einem König von 
ſolchem Charakter, wie Jacob war, drohten, wirkte wunderbar auf 
die Stimmung vieler Polen. Das Meifte aber wurde durch Gel 
und glänzende Verſprechnungen erreicht. 

Gegen Ente des Jahres konnte PBolignac mit Zuverficht auf 
einen günftigen Erfolg hoffen: jo ſtark ſchien plöglich feine Partei. 
Eine große Menge einflußreicher Männer verkauften ſich ihm völlig 
und verfprachen, feinen Candidaten zum König zu wählen. Radzie⸗ 
jowefi, die Sapieha, die Yubomirsti, Potodi, Prinz Rabziwil, bie 
Biſchöfe von Plock und Kiow, die preußifchen Evelleute — im Gan- 
zen allein gegen 50 Senatoren — waren, wie er hoffte, gewonnen. 
Er glaubte Kleinpolen und Lithauen ganz für fih zu haben: nur in 
Großpolen hatte die Köntgin noch Anhänger. Der Biſchof von Wilne, 
ber wegen feiner Händel mit ven Sapieha in Rom war, erbielt von 
Forbin vorläufig 60008. für das Verfprechen, ven Streit mit felgen 
Gegnern abzubrechen und bie franzöfifchen Intereffen zu unterfiiiiem, 
Auch. die angefehenften Damen, welche immer in Polen fo viefegf’Ei» 





| 
| 


-  - > 





Bolnifhe Wirthſchaft und framzofiſche Diplomatie ꝛc. 395 


fluß gehabt Haben, wurden durch Artigkeiten und Geſchenle ge- 
wonnen. | | 

Unter dieſen Umftänben refignirte der Prinz Jacob zu Gunften 
feines Schwagers: jedoch der war nicht zu fürchten. Viele feiner Partei 
hatten fich bereitS dem Geſandten genähert. Il me reste encore 
quelque terre & defricher, fchreibt Polignac am 15. Dezember an 
Vorbin, mais comme le plus fort est fait, j’espere que le temps 
et Yargent ameneront tout. Nur das Auftauchen bes Prinzen 
Ludwig von Baden als eines Bewerbers um die Krone machte dem 
Geſandten einige Sorge, ta ihn ver Glanz feines Feldherrnruhmes 
Anhänger verfchaffen konnte. Zwar follte Forbin in Rom dagegen 
arbeiten; er follte darauf aufmerkfam machen, daß er fein guter Ka⸗ 
tholik ſei. Doch ließ fich, wie Forbin immer Elagt, in Rom, wie 
von dem päpftlichen Nuntius in Warfchau überhaupt nichts erwarten, 
was zum Vortheil Frankreichs war. „Ils n’ont pas le coeur trop 
francais“ fchreibt einmal Polignac an Yorbin. 

Als die Königin merkte, daß fie von Polignac betrogen werde, 
wurte fie natürlich fehr erzürmt. Er hatte im Vertrauen auf ben 
guten Erfolg feiner Intriguen die Maske abgewerfen und fich in 
einem in 4000 Eremplaren gebrudten Brief an den Bifchof von Eu- 
javien für ten Prinzen von Conti erklärt, dieſer werde Gaminiec 
wieder erobern und fofort nah der Wahl 10 Millionen polnifche 
Gulden zur Befriedigung ver noch nicht bezahlten Soldaten verwen⸗ 
ben. Doc der Biſchof trat ihm ebenfo öffentlich entgegen und fuchte 
unter andern nachzumweifen, daß fich Ludwig's tel est notre bon 
plaisir mit ber pelnifchen Eonftitution nicht vertrage. „Eine Dornen- 
frone, wie die des polnifchen Königs, fei nicht fo viele Opfer werth, 
wenn nicht andere Vortheile dabei gefucht würben.« Es entftand ein 
heftiger Streit zwifchen beiten Parteien in Schriften, Intriguen und 
Anfeindungen jeder Art: Polignac hatte unenbliche Mühe, fih und 
feine Partei in Polen zu halten. In einem Iateinifchen Aufſatz, in 
dem er den Prinzen empfahl, fagt er von ihm: Dieſer treffliche Prinz 
ift 33 Jahre alt, hoch gewachſen, anmuthig, liebenswürdig, Im Kriege 
bewährt, vieler Sprachen mächtig, gefftweich, Hug, freigebig, zedit- " 
Schaffen, freuntlich, befcheiden, fromm, allgemein beitebr: a 
feine Gegner müjjen ihm zugeftehen, daß Niemcu ben 





396 a A - — 


ihm aushält.u Solche Hhperbeln waren nicht u 
auf den Charakter ver Polen berechnet, Die fchom ba 
arten der Liebe und bes Haljesnfich zu übernchien iebt 
rerſeits ſchrieben die Gegner franzöfi 
von Polen werde ganz vom Ludwig abhängig je 
Polens gegen die Republik aufregen. ich fi 
fo würde Ludwig fein Elwerſtändniß mit den ZTürfen zum 
Nachtheil ver Republik benuten. Enblich jei ber Einfluß —— 
Leichtfertigkeit und des franzöfifchen Luxus auf die Sitten ber Pla 
ſehr zu fürchten“. ‘Die erbitterte Königin verlangte ihr von einem 
Tranzofen Maler gemaltes Portrait vom Gefanbten zuräd wii. 
ließ e8, da er vie Rückſendung Höflichit ablehnte, mit Gewalt we 
ihren Dienern aus feiner Wohnung holen: auch ſchickte fie ihm eimm 
Ring zurüd, ven fie zu ihrem Geburtstage von ihm erhalten hatte 
Die Diener der Gefandtfchaft wurden von ben Leuten ber Käniga 
angefallen, einer feiner Pagen auf der Straße verwundet. Doch hf . 
ihr dies nichts, denn auf ihre fehriftlichen Klagen antwortete Lubwi 
höflich und kalt, und belobte den Gefanbten wegen feiner Haltung u - 
diefer Angelegenheit. Im Ganzen behauptete ver Gefandte vie Ste- 
lung, bie er feit dem October bes Jahres 1696 eingenommen hatt, 
und am Hofe zu Verfailles faßte man, wenn gleich nicht fo fanguinif 
erregt, wie bei ben franzöfifchen Gejanptfchaften in Warfchau ur 
Rom, allmäplic immer mehr Vertrauen zu ber biplomatifchen Ge 
fchielichkeit des jungen Polignac. Im März 1697 erhielt Letter ' 
240,000 2. vou Paris zu fofortiger Verwendung und Anweifung ad 
3 Millionen 8. in Wechjeln, vie aber freilich erft einige Zeit nach ber 
Wahl zahlbar waren. 

Dies genügte dem Gefandten nicht. Denn er wußte wohl, baf 
davon zulett alles abhing. Er hatte aus einer aufgefangenen Yu 
ftruction die ganze Politik Deftreihs erfahren. Die Candibaten, 
welche die öftveichifchen Agenten den Verhältniffen gemäß der Reike 
nach unterftägen follten, Prinz Jacob, Karl von Neuburg, der Her 
309 Leopold von Lothringen und zulegt erſt ber Kurfürſt von 
und der Großfronmarfchall Lubomirsfi waren nicht gefährlich. 

Gegen den, welcher perfönich und vom König von 
‚wie von dem Kurfürften von Brandenburg unterjtüßt X 






















Bolnifche Wirihſchaft unb feassgäflfepe Diplomatie xc. 8097 


Frankreichs am erfolgreichiten entgegentreten Tonnte, gegen Ludwig 
von Baden, follten insgeheim auch die dftreichichen Agenten arbeiten. 
Aber das Bedenklichſte war die Weifung, den franzöfifchen Geſandten 
bei jever Gelegenheit zu überbieten. Dieß machte Polignac unruhig, 
da er den Charakter ver Polen kannte. Trotzdem, daß es auf den 
Heinen vorbereitenven Verfammlungen ganz gut ging, fürchtete er den 
Mangel an zu rechter Zeit visponiblen Fonds und verlangte fort- 
während dringend Fräftigere Unterftügung. „Die Demäthigung Oeft- 
reich’8 durch die Vereinigung Polen's mit Frankreich, meinte er, fei 
mehr wertb, als die Eroberung einer Grenzprovinz, die Millionen 
koſte.“ Gr konnte nicht begreifen, daß er fo wenig beridjichtigt 
wurbe und fchrieb unter andern im April an Forbin: je crains la 
fin et le moment critique, oü il faudra que le mystere soit 
releve. 

Endlich Löfte fich das Räthſel noch vor dem Beginne der Wahl: 
verhandlungen. Bolignac war feit dem Anfange des Jahres von ber 
freilich mit Recht erbitterten Stönigin und ihren Freunden in Ver: 
failles fo vielfach und anhaltend verklagt und verläumdet worden, baß 
fih envlich am Hofe eine üble Stimmung gegen ihn entwidelte. Dan 
glaubte, er habe Mißgriffe gemacht und durch fein Auftreten gegen 
bie Königin Frankreich compromittirt. Viele wünfchten feine fofor- 
tige Zurücdberufung. Doc Ludwig, ber fich nicht Leicht nach folchen 
Erregungen entjchied, fehidte ven Abbs Chateaunenf nach Warjchau, 
um zu fehen, wie bie Sachen ftänden. Da Bolignac klug genug 
war, dem für ihn fo bebeutungsvollen Manne auf das Liebenswür⸗ 
digfte entgegen zu kommen, fo bilvete fich fofort ein gutes Verhält⸗ 
niß. Polignac wurde vollkommen gerechtfertigt und hatte bie Be⸗ 
frievigung, daß er in feinen Plänen von Ehateanneuf in jeber Weife 
unterftügt wurde. Nun erft erbielt er Anfang Juni nach Eröffnung 
der die Wahl vorbereitenpen Verhanplungen beffere Wechſel, deren 
er zum Feſthalten feiner Partei jet dringend bedurfte. So rüdte 
denn num ber entjcheivende Moment immer näher, welcher Bolen von 
Frankreich abhängig machen follte. Der NReichötagsmarichall war bes... 
reits den 15. Iunt gewählt und zwar ganz nach Wunfch bes — 
zoſiſchen Geſandten: nach langen Kämpfen, welche für die ia 
Spaltung "befürchten ließen, erhlelt ber. Runmechens w 

Diſtoeciſche Zeitſchrift L Bam. z 


898 Karl Ouſtav Helbig 


dieſes bedeutungsvolle Amt. Tür die Königswahl ſelbſt war der 28. 
Juni feſtgeſtellt. Noch ganz zuletzt vor der Entſcheidung wurde Po- 
lignac mit einiger Beſorgniß erfüllt, da ein neuer Kronbewerber, den 
er früher ſehr gering geachtet hatte, unvermuthet einige Bedeutung 
zu bekommen ſchien, der Churfürſt von Sachſen. 

In den Jahren 1695 und 1696 hatte Churfürſt Friedrich Auguſt, 
ein mannigfach begabter und thatenluſtiger junger Fürſt, für ben 
Kaiſer nicht ohne Erfolg in Ungarn gegen die Türken gefochten. Im 
Winter 1696—1697 war fein Oberfter Iacob Heinrich v. Ylemming, 
ein Neffe des branvdenburgifchen Feldmarſchalls Flemming, in Wien 
gewefen, um ven Feldzug gegen vie Türken für 1697 mit Rath und 
That zu betreiben. Da kam der Churfürft felbft iin März nach Wien 
und überzeugte fich, daß man nicht gefonnen fei, ihm in feinen krie⸗ 
gerifchen Beftrebungen fo entgegen zu kommen, wie er wünjchte. 

Dies mochte ihn in der Verfolgung des plöglic aufgetauchten 
aber ftreng geheim gehaltenen Planes beftärken, unter den polnifchen 
Kronbewerbern aufzutreten, um fich bier einen Schauplag für Die Bes 
frierigung feines Ehrgeizes zu ſuchen. Ob der Gedanfe von ihm 
ausgegangen, oder in feiner Umgebung entftanden, ift ungewiß. So 
viel ift aber ficher, daß ihn Fein polnifcher Edelmann“ dazu angeregt 
bat’). Auch am kaiſerlichen Hofe wußte man noch nicht Davon. 
Friedrich Auguft hatte vorläufig ganz insgeheim ven franzöfiihen Ge⸗ 
fandten in Rom, Cardinal Forbin, fonviren laffen. Der hatte ihm 
duch den fächfifchen General Roſe freundlich geantwortet, aber 
nicht® weiter für oder gegen ihn gethan, vielmehr fich in feinen Bries 
fen an Polignac über die Prätenfionen des Monjieur de Sare luftig 
gemacht. Als num Flemming in Wien feinen Heren um Urlaub bat 
zu einer Reife in feine Heimath und dann zum Schwiegerjohn ſei⸗ 
ned Oheims, dem Caſtellan von Culm und Senator Przebendowski, 
um nebenbei zur Befriedigung feiner Neugierve in Warfchau der pol⸗ 
nifchen Königswahl beizumohnen, wurde er plöglich von feinem Herrn 
mit den Auftrage überrajcht, für ihn, den Churfürften, in Warſchau 
um bie polnifche Krone zu werben. Flemming machte ven Churfürften 
aufmerkſam, daß ein lutherifcher Fürft Feine Ausficht in Polen habe, 
und daß es fchon zu fpät ſei. Der Churfürft entgegnete, daß er 
Mittel finden werde, jene Schwierigkeit zu befeitigen, und baß fein 





Bolnifhe Wirthſchaft und franzäfliche Diplomatie sc. 399 


ı Auftreten kurz vor der Wahl nach Erichöpfung der Parteien ihm ge⸗ 
: rabe vortbeilhaft werben würde. Nach langem Zögern nahm Flem⸗ 
ı ming den Auftrag an, zunächit fich von ven Verhältniffen in Polen 
zu unterrichten, umter der Bedingung, daß er, Flemming, feinem 
Slauben treu bleiben dürfe, und daß bie ſächſiſchen Unterthanen bes 
Ehurfürften in ihrer Neligionsfreiheit ficher geftellt würden. Nachdem 
er dieſe Zuficherung fehriftlich vom Churfürften erhalten hatte, reiſte 
er, wie auf Urlaub im eigenen Intereffe, im April nach Warfchau 
ab. Auch jett noch blieb die Angelegenheit, wie überhaupt, fo auch 
dem faiferlihen Hofe verborgen. In Warfchau ließ fih nun Flem⸗ 
ming, ohne etwas von feinem Auftrage merken zu laffen, von 
Przebendowski alles erzählen, was er zu wilfen wünſchte. Derjelbe 
fagte ihm, daß er früher zu Jacob gehalten, viefen aber habe auf- 
geben müffen, und daß er jett feinem Schwiegervater zu Viebe an den 
Prinzen Ludwig vente, ver aber freilich auch wenig Ausficht habe. 
Bloß um fich zu deden, habe er ſich an vie franzöfifche Partei ange- 
fchloffen, denn dieſe fei Im Vortheil. Da machte ihın Flemming Klar, 
daß vie Polen einen noch nicht aufgeftellten Candidaten brauchten, 
der beive Parteien einigen und fich durch eigene Mittel halten 
Lönnte: fo würde die Epaltung vermieven. Endlich ließ er es ſich 
abnöthigen, ven Churfürften von Sachfen zu nennen, und bald war 
Przebendowski ganz dafür eingenommen. Diefer vermittelte noch Ende 
April eine Unterrebung zwifchen Flemming und den Häuptern ber 
franzöfiichen Partei, Radziejowski, Lubomirski, Sapieha. Lebtere wa⸗ 
ren ſichtlich überraſcht; auch ſie mochten im Falle eines ungünſtigen 
Ausganges ihrer Beſtrebungen ſich den Rücken decken wollen. Sie 
ſprachen ſich unter der Bedingung des Geheinihaltens ihrer Ver⸗ 
handlung für Unterſtützung des Churfürſten aus, wenn der franzöfiſche 
Geſandte zu feinem Gunften zurüdtreten wolle, doch müßten ihm bie aufs 
gewenbeten Gelbfummen erjeßt werben. Wemming fagte bie® gerne 
zu, wenn fich der Gefandte mit Anweifung auf churfürſtliche Einnah⸗ 
men begnügen wolle; venn er hatte jett noch fein Geld. Polignac, 
mit dem Flemming den 2. Mai ſprach, verficherte mit erbheuchelter 
Verwunderung, daß ihm ber Vorſchlag des Churfürſten eiwas war 
Neues wäre. Jedenfalls wurde feinem Herrn ver Ehurfärft wor S⸗ 
lieber fein, als alle die andern Mabenecke, doch müßte ve 
26° 


von Verſailles Iuftructionen holen. Der Earbinal Radziejowsli hän- 
digte Flemming einen Brief an den Churfürften ein, worin er ihm 
verficherte, alles für ihn thun zu wollen, wenn er von ihm felbft we 
gen des Neligionswechjels eine beftimmte VBerficherung erhalten hätte, 

Auch tie Gegner Frankreichs, mit denen die fächfiichen Agenten 
verkehrten, fchienen geneigt, ihre Canpibaten zu Gunften des Chur⸗ 
fürften von Sachen fallen zu laffen. Da glaubte Flemming, es fei 
alles in beftem Zuge und eilte unter dem Vorwande, daß er zu fei« 
nem Negimente gerufen worden fei, nach Sachſen zurüd und dann 
nah Wien, während Przebendowski im Etillen weiter arbeitete '°). 

Der Churfürft war fehr überrafcht: einen fo günjtigen Erfolg 
batte er nicht erwartet. Sekt erft tbeilte er feine Abficht dem kaiſer⸗ 
lichen Hofe mit, ver bei den geringen Ausfichten für feine Schüglinge 
aufrichtig feine Unterftügung verfprach; der Biſchof von Raab, Chris» 
ftian Auguft, ein Fürft aus dem fächfifchen Haufe, nahm ven Churs 
fürjten in Baden bei Wien am 2. Juni in ven Schooß der katholi⸗ 
ſchen Kirche auf; die Iefuiten in Wien erhielten Pretiofen vom Churs 
fürften als Pfand, um durch ihre Ordensgenoſſen in Bolen die Reis 
hen zu einfiweiliger Entſchädigung des franzöfiichen Gefanpten 
zu veranlajjen. Flemming aber eilte mit Herrn von Beichling und mit 
Vollmacht und Briefen an ven Cardinal und an Bolignac nah Wars 
hau zurüd, um vor ver Wahl dort einzutreffen. Flemming unb 
Przebendowski hatten die fefte Weberzeugung, daß vie franzöfifche 
Partei zu ihnen übergetreten fei und daß Polignac ſich den neuen 
Thronbewerber gefallen laſſe. Doch Polignac hatte nicht einen Au- 
genblid daran gedacht, etwas für den Churfürften zu thun: er hatte 
während der Zeit feine Partei bald wieder befeftigt und wohl in- 
ſtruirt. 

Mit ſcheinbarem Intereſſe für den Churfürſten von Sachſen ver⸗ 
handelten der Cardinal und ſeine Freunde fortwährend mit Przeben⸗ 
dowski, jo daß ſich dieſer ſogar für Birlinski's Wahl zum Marſchall 
intereſſirte, welche von der franzöſiſchen Partei durchgeſetzt worden war. 
Auch Flemming erhielt nach feiner Rückkehr von Polignac's Anhängern die 
freundfchaftlichften Zuficherungen und hegte trotzdem, daß er eigent« 
lich noch gar Feine Partei hatte, etwas leichtfertig die beften Hoff- 
nungen. 





Polniſche WBirtäiiaft und ſrarzfiſche Diplomatie ꝛc. 401 


Den / Juni ſammelten ſich mehr als 100,000 ſtimmfähige 
Edelleute, ſämmtlich bewaffnet, vie meiſten zu Pferde, doch die är⸗ 
meren Adelichen auch zu Fuß, theilweiſe mit Senſen, in Compagnien 
eingetheilt auf dem Wahlfelde (Kolo) bei Warſchau, auf welchem 
für die Senatoren zur Berathung ein Bretterhaus (Schopa, Szopa) 
aufgerichtet war. Der Lirm und die Aufregung war gewaltig. Alles 
ſchien ſich jettt bei vem Cifer ver franzöfifchen Partei für Conti güns 
ftig zu ftellen: über zwei ‘Drittheile der Compagnien erklärten fich lei- 
benjchaftlich noch vor ver Proclamation der Thronbewerber mit lau⸗ 
tem Sejchrei für benfelben, vie Gegner noch uneinig und ängjtlich 
fuchten theilweife unter vem Großkronfeldherrn Jablonowski und dem 
Palatin von Krakau, Potodi, ven Prinzen Jacob feitzubalten, theil- 
weile den Herzog von Lothringen ober ben Prinzen von Neuburg. 
Da empfahl Przebendowski in der Echopa den Senatoren bei der 
drohenden Gefahr einer Epaltung ven Churfürften von Sachjen, doch 
ohne jett damit fichtbaren Einprud zu machen. — Vergeblich ver- 
fprach er im Namen deſſelben vie meuteriiche Miliz der Republik, 
bie lange feinen Solo erhalten hatte, mit zehn Millionen Gulden zu 
befrierigen und 6000 Mann Solvaten auf eigene Koften zu halten. 
Der Eifer ver franzöfifch gefinnten Senatoren ließ feine Einwirkung 
auflommen, und der Garbinal hätte troß bes entfchierenen Proteftes 
von etwa buntert Epvelleuten auf dem Wahlfelde gegen jede Entjchei- 
bung an biefem Tage ven Prinzen Conti ald König proclamiren und 
burchfegen können. Denn alle älteren Mitbewerber hätten dagegen 
nicht8 ausgerichtet, und ber Churfürſt wäre unter dieſen Umftänven 
ficder zurüdgetreten. Doch Radziejowski hoffte noch die anderen Par- 
teien zu gewinnen und eine einftimmige Wahl, wie fie die Conſtitu⸗ 
tion Polens forderte, purchzufegen. Er verfchob die Entſcheidung auf 
ben folgenven Tag. 

AS am andern Morgen '%/., uni ſich die Edelleute wieder auf 
dem Wahlfelde verfammelt hatten, prockamirte der Cardinal, wie es 
Schon ven Tag vorher hätte gefchehen follen, vie Namen ver Thron⸗ 
bewerber und nannte zulegt noch den Ehurfürften Friedrich Auguft 
mit dem Bemerken, daß er als Proteftant nicht in Betracht konmzen 
fönne. Darauf wurben bie Stimmen der Eompagnien gejammelt. 


Es war wie den Tag vorher, überall leidenfchaftliche Aufregung für ' 


& 


402 Karl: Suftan Hrlkig, 


Conti, die Gegner wurden eingefchüchtert, indem fogar einer, ber für 
den Prinzen Jacob fprechen wollte, von einem andern Kpelmamme 
niedergefchoffen wurde. Doch riefen jett einige von Przebendowel 
getvonnene Abteilungen den Namen des Ehurfürjten von Sachjen. 
Daran knüpfte fich die allmähliche Biipung einer Partei für venfelben. 
Przebendowski, der, ſowie Flemming in der Stabt, fortwährenn thätig 
geivefen war, brachte noch vor Mittags das Atteftat des Religions 
wechjel® des Churfürften und ein die Handſchrift des Biſchofs vom 
Raab recognofeirended® Zeugniß des päpftlichen Nuntius Davia vor 
die Senatoren auf den Wahlplag. Dieſer Davia, der kaiſerliche und 
der brandenburgifche Geſandte arbeiteten in der Stadt jekt ſämmt⸗ 
(ich für den Churfürften, um bie Wahl des Prinzen von Conti zu 
hindern. „Um Gottes Willen”, hatte ver brandenburgifche Geſandte 
gegen Przebendowski geäußert, „Lafjet Conti nicht König werben, neh⸗ 
met jeden andern, wen ihr wollt, nehmet ven Churfürften von Sachfen, 
ja felbjt ven Zeufel, wenn ihr wollt, nur Conti nicht.” 

So traten allmählig die Häupter der verjchievenen Parteien ver 
Gegner des Prinzen Eonti an die Spike der fich eben erſt organifi- 
renden fächfifchen Partei, und es waren bie gerade fehr einflußreiche 
Männer: ver Erzbifchof von Cujavien Stanislaw Dombski und vie 
3 Generale und Senatoren Jablonowski, Potodi und der Caftellan 
von Wilna, Sluszka. Der Cardinal Radziejowski, der gegen bie 
Confeſſion des auf einmal bedeutender werdenden Bewerbers nichte 
mehr einwenven konnte, machte jet den Umftand geltend, vaß ja 
noch fein Bevollmächtigter für ihn aufgetreten ſei. Przebendowski 
verficherte, daß diefer in Warfchau fei und bald auf vem Wahlfelde 
erjcheinen werde. Nun ließ Flemming das fächfifche Wappen an feis 
ner Wohnung in Warjchau befeftigen. Während in ver Schopa von 
den Eenatoren verhandelt ward, fteigerte fich die Aufregung auf dem 
Wahlfelde. Die Compagnien der franzöfifchen Partei, fortwährend 
in ſehr bebeutendem Uebergewicht, wurden immer ftürmifcher, fie tra» 
ten zufammen und bebrohten bie jeßt für Friedrich Auguft geneigten, 
aber dennoch fchwachen Gegner mit gewaltſamem Angriff und ver- 
langten vie Proclamation ihres Könige. Auch jet noch konnten fie 
durchdringen. Doch der Cardinal zögerte, wie den Tag vorher, bie 
Häupter der Gegenpartei unterhandelten mit ihm und fchienen zur 


— 





Polniſche Wirthſchaft und franzöſiſche Diplomatie ꝛc. 403 


Ausgleichung geneigt. — Unterdeß ward es dunkel. Der Cardinal 
brach die weitern Verhandlungen ab. Er verſchob die Ernennung 
des Königs auf den nächſten Tag, doch ſollten alle Wähler bis zur 
Entſcheidung auf dem Wahlfelde zurückbleiben. So war von den 
Gegnern Conti's wieder Zeit gewonnen, die Ausſicht auf einen 
glüdlichen Erfolg war zwar noch fehr unfiher, es war aber boch 
eine feitgeeinte Partei für ven Churfürften gebilvet, welche durch eine 
Spaltung vielleicht mit einigem Grfolge gegen die Wahl des Prinzen 
Conti zu proteftiren vermochte. Auch hatte Flemming gegen Abend zu 
rechter Zeit 40,000 Rth. erhalten, welche bis zum andern Morgen 
ausgepadt jein und verwenvet werben Fonnten. 

An dieſem Zage war auch Polignac in Warſchau mit Flemming 
zufammengetroffen. Echon am 25. Juni hatte er ihn vergeblich aufs 
gefucht, um feine Anfprüche zu befeitigen. Jetzt jprach er ganz naiv 
feine Berwunderung aus, daß ver Churfürft ale Bewerber aufgetreten 
fei. Bis jeßt habe er geglaubt, daß fie ein gemeinfchaftliches In- 
terefje (cause commune) hätten, boch num fehe er, daß ihn Flem⸗ 
ming getäufcht habe. Diejer gab die Beſchuldigung ver Zäufchung 
zurüd und wieberholte ganz zuverfichtlich fein Anerbieten, den König 
Ludwig zu entjchäbigen, jedoch nicht, wie früher, durch Anweifung, 
fonvern jofort nach der Wahl feines Herrn in baarem Gelbe. 

Polignac, der von einem folchen Vorſchlag feine Ahnung gehabt 
hatte, gericth außer Faſſung und fragte höchſt aufgeregt Flemming, 
ob er fofort über baares Gelb bisponiren könne. Dieſer blieb ganz 
rubig und bejahte es. Da verließ Polignac den fächfiichen Bevoll⸗ 
mächtigten im höchſten Zorn und überhäufte Przebendowski, den er 
bei Flemming traf, mit ven beftigften Vorwürfen, daß er ihn verra- 
then babe, und ftatt feiner Verpflichtung gemäß mit der franzöfifchen 
Partei zu gehen, nur eine Spaltung herbeizuführen fuche. 

Es verjteht fich von felbft, daß während ber Nacht die Führer 
beider Parteien ſehr thätig gewejen waren. Doch hatte dieß keine 
große Veränderung zur Folge. Brühmorgens den "’/, Juni ftanden 
bie Compagnien einander, wie ben Tag vorher, gegenüber. Die fgan- 
zöfifche Partei war noch immer fehr ftart und deßhalb ſehr zugr- 
ſichtlich: die fächjifche Hatte nur ein Paar Compagnien herfiberge 
und lonnte nur baburch einigermaßen, ihre Pofitton... De] 


404 Kerl Bed Helbig, 


ihre Häupter ihre Leute und Diener zur fcheinbaren VBerftärfung ber 
beigebolt hatten. Der Gartinal fammelte nochmals vie Stimmen 
aber nur vie feiner Anhänger, was natürlich bei ver ſäüchſiſchen Rarte 
fehr übel genemmen une gerügt wurte. Dem ver ver lnigewah 
mußten alle befragt werten, alfe ihre Einwilligung geben. Der Gar 
binal entſchuldigte jich mit ver Gefahr, vie ihm drohe, wenn er fd 
unter vie Gegner begebe. 

Unterteß war ver füchfiiche Rath Herr v. Beihling im Auftrag 
Flemmings in ter Schepa aufgetreten und hatte förmlich im Rame 
feines Herrn tie Werbung vorgebradt. Der Carkinal Fämpfte da 
gegen, une fo zog ſich vie Entſcheidung wierer in die Länge. D 
brachte Przebentemwsti ven Triginalbrief des Sarbinale, werin er tem 
Churfürften feine Unterftügung zugefügt hatte. Dieſes machte eine 
übeln Cinerud auf tie Senatoren, ver Cartinal wurde verlegen um 
dadurch neuen Unterhandlungen, welche vie Gegner verjuchten, zu: 
gänglib. Während tejfen waren viele Compagnien unter Generol 
Sapieha aus ten Reihen ter Gontifchen Partei herausgetreten umt 
hatten eine tritte neutrale Pofitioen eingenemmen. 

Zwar bewog man fie nach vieler Mühe jicb wierer anzufchliefen, 
doch ter üble Eindruck, ven es machte, konnte nicht verwiſcht werten, 
une tie Zeit ging verloren. Tie Spaltung, welche Ratziejomsfi ver: 
meiren wollte, war jegt entſchieden, ta tie Unterhantlungen zu fei- 
nem Rejultate führten. Iablonewefi ließ chen feine Partei vorrũcken 
zum Kampfe bereit. Da — e8 war 6 Uhr Abends — proclamirte 
ber Cardinal in ter Eile ven Prinzen von Conti als König von Re: 
len. Aber e8 ging nicht, wie er wünfchte. Der Marſchall Bielineti, 
obgleich ver franzöjiihen Partei zugethan, proteftirte gegen tie Wahl, 
da fie vor der allgemeinen Frage ungültig jet; Radziejowski, von 
Gzartorisfi als Nerrätbher befchimpft une mit tem Pijtol betreht, ver: 
ließ eiligft ven Wahlplag und zog mit ungeführ.26 Compagnien nach 
ter Stadt, um in ber Ichannesfirche ta8 Te Deum laudamus zu 
fingen, das eigentlich auf tem Wahlfelde hätte angeitimmt werben 
follen. Die antern Anhänger Contis verliefen fih. Nur tie Erel- 
leute der fächjiichen Partei blieben auf dem Wablfelte zurüd. Run 
trat der Biſchof von Cujavien auf, fragte ganz nach der Verfchrift 
der polnifchen Gonftitution breimal herum, proclamirte nach einftim- 


Bolnifche Wirthſchaft und franzöfiſche Diplomatie ꝛc. 405 


miger Wahl durch die anweſenden Compagnien ſeiner Partei den 
Churfürſten Auguſt als König von Polen, und ließ, wie es ebenfalls 
der Brauch war, auf dem Wahlfelde das Te Deum anſtimmen. Ju⸗ 
belnd zogen ſie darauf in die Stadt zurück und traten ſo dreiſt auf, 
daß die Häuſer des Cardinals und der Maitreſſe deſſelben, der Frau 
von Towianska, in der Nacht ungeſtraft angegriffen wurden. Den 
andern Morgen ſangen ſie noch einmal den ambroſianiſchen Lobgeſang 
in der Johanneskirche, zogen wieder auf das Wahlfeld hinaus und 
nachdem ſie dort öffentlich die andere Partei aufgerufen hatten, ſich 
ihnen anzuſchließen, ſchickten ſie zum Oberſten Flemming, damit er 
auf dem Wahlplatze die Nachricht von der geſetzmäßig vollzogenen 
Wahl ſeines Herrn feierlichſt annehme. Flemming erſchien von einer 
großen Anzahl berittener Edelleute begleitet: die auf dem Wahlfelde 
verſammelten Herrn warfen bei ſeiner Ankunft die Mützen in die 
Höhe und riefen: Vivat elector Saxoniae, rex noster. Durch lie⸗ 
benswürbiges Benehmen und höchſt gewandte Beantwortung ver la⸗ 
teinifchen Anreve und Zwiſchenfragen in verjelben Eprache erregte 
der fächfifche Bevollmächtigte großen Jubel und 309 mit ihnen in bie 
Stadt zurüd, worauf in feinem Haufe bis tief in bie Nacht gezecht 
wurde. Es ging toll dabei ber nach polnifcher Sitte, die Speifen 
wurden weggerafft, ehe fie aufgetragen waren, Wein floß in Etrös 
men, in ben Zimmern wurben bie Tapeten beruntergehauen und bie 
Verwüſtung ward damit entfchultigt, daß fich vie Herrn Crinneruns 
gen an ven feftlihen Tag mit nach Haufe nehmen wollten. Und 
alles dieſes gefchab, ohne daß die andere weit zablreichere Bartei ba- 
gegen aufzutreten wagte. So ſchnell war deren Eifer abgekühlt. Flem⸗ 
ming war feines unverhofften Sieges ziemlich ficher, Polignac war 
aus dem Felde gejchlagen und feine fo zahlreiche Partei fchien bie 
Heine abtrünnige Fraction, welche zur Nächgiebigkeit gezwungen wer⸗ 
den müffe. Wie wunderbar fchnell Hatten fich die Verhältniſſe in 
zwei Tagen geändert! Ä | 

Flemming und Przebendowski batten fehr viel gethan. Daß aber 
bie Heine Partei jo ſchnell emporlam und daß vie Gegner ſobulb 
zaghaft wurden, davon war ein Hauptgrund ber, daß ver Bike 
bereit mit einigen taufend Mann eigener Truppen 


ſtand, während ber Prinz Eomtt wech nicht :eiumak lien 


—X 


406 Karl Guſtas Helbig, 


hatte. Jenes hatte Flemming betrieben, dem der Cardinal ſelbſt die 
fen Gedanken eingegeben hatte, als er bei feiner erſten Velpredus 
mit ihm im Frühjahre jich im Falle einer Spaltung bei ver Wahl 
ben Churfürften nicht abgencigt gezeigt hatte. Eonti’S Zögerung wur 
aber nicht Polignac’s Schuld: dieſer batte fortwährenn feine Reik 
nach Warſchan betrieben, aber Ludwig wollte ihn vor ter Entſchei⸗ 
dung in Warſchau nicht abreifen laffen. Unter ſolchen Uniſtänden iz 
Erwartung ver baldigen Aukunft des mit eigener Heeresmacht auf 
tretenden Ghurfürjten wirkten auch vie Verſprechungen von Geldſpen⸗ 
en, Aemtern und Deneficien aller Art, über die ein polnifcher König 
disponiren konnte, ganz anders als die Verheißungen Polignac's, zu 
mal da Flemming gerade im entjcheivenden Momente wenigftens fe 
viel Geld bekommen hatte, daß er bie dringendſten Verbindlichkeiten 
erfüllen, die Sabjucht für ven Moment befriedigen konnte. Bis zur 
vollzogenen Wahl betrugen vie freilich theilweife wohl erft fpäter ge 
beten Ausgaben Flemming's theils für Neifeaufwand und Repräſen⸗ 
tationskoſten, theils für die Organijation feiner Partei 106,000 Spe ı 
ciesthaler, von Denen allein 20000 Species dem Großkrongeneral 
Jablonowolki zugefullen waren ''). Przebendowski und Domboki, melde 
in dieſer erjten Berechnung nicht genannt werben, erhielten ihre gewiß 
fehr bedeutenden Gratificationen jerenfalls aus anderer Quelle. Nach 
ber wurden neben Aemtern und Beneficien aller Art noch ungeheure 
Summen den ſchon gewonnenen GErelleuten und den Däuptern ver 
antern Partei theils verſprochen, theil® gezahlt, fo daß ſchon die Er- 
wählung, noch mehr aber die Sicherung der Wahl gegen vie noch 
lange fortgefeßten Beftrebungen ver franzöfifchen Partei dem EChurfür- 
ften von Sachſen ungemein viel Gelb koſtete. 

Nach ver Wahl wurden einige Verfuche zur Verſtändigung unter 
den Parteien gemacht: fie fchlugen fehl. Flemming fuchte feine Partei 
eifrig zu erhalten und zu verſtärken, ohne fich etwas zu vergeben: ven 
gemeinen Betteleien und unverfchämten Forderungen mander unter 
georbneten Edelleute, die fich ohne Grund ihrer Verdienſte rühmten, 
trat er öfters fo entjchieden entgegen, baß vie zufällig al® Zeugen an- 
wefenden Sachfen über die Demüthigung polnifchen Uebermuths ganz 
erftaunt waren. Doch kam Flemming fo am beften durch, denn bie 
Brutalität konnte nur durch rüdfichtslofes GEntgegentreten eingefchüdh- 





Polniſche Wirthfchaft und franzöfliche Diplomatie sc. 407 


tert werben. Den '/,, uni empfing und bewirthete der König Aus 
guft vie ihn beglüdwünfchenden Evelleute in Zarnowig: feine Tönig> 
liche Haltung und die fehnell improvifirte glänzende Anorbnung ber 
ganzen Teierlichkeit entzüdte die bald burch Zrinfen aufgeregten ‘Des 
putirten '*). Flemming, ver auch hier durch gewandte lateinifche Rede 
viel genütt hatte, wurde von feinem fehr gnädig gefinnten Fürſten 
zum Generalmajor ernannt und erhielt die Bofteinkünfte des Churfür⸗ 
ftentyums zur vorläufigen Belohnung feiner Dienſte. Bald darauf 
eilte er nach Warfchau zurüd und befchwor vorläufig in Gegenwart 
ber meiftens feiner Partei angehörigen Evelleute ‘4, Juli im Namen 
feines Herrn in ver Johanneskirche bie fogenannten pacta conventa, 
d. 5. die VBeringungen, unter benen ein pelnifcher König anerkannt 
wurde. Der Ehurfürft hatte unterveß bie Grenze überfchritten und 
fam den '%, Suli mit einem Theile feines fächfifchen Heeres nach 
Krakau. Nachdem er durch Beftechung des Grafen Wiclopolsti das 
Schloß gewonnen hatte, blieb er bier ruhig fiten und ergößte fich und 
feine Anhänger durch viele Kundgebungen Föniglicher Freigebigkeit und 
fürftlicher Paffionen, während Flemming und Przebenbowsfi durch 
ihre unermübliche Thätigfeit das Land für ihn zu gewinnen fuchten, 
denn dieſes war noch größtentheils in ber Gewalt ber franzöfifchen 
Bartei. Die noch immer fehr zahlreichen Anhänger des Prinzen Conti 
waren zwar fehr unzufrieden mit Polignac, der fie vergeblich mit der 
Hoffnung auf die baldige Ankunft ihres Könige und mit Berfprech 
ungen zu tröften fuchte. Aber weit mehr erbittert waren fie auf bie 
Gegenpartei, ver fie fich nicht fügen wollten. — Sie verfammelten 
fih unter dem Cardinal Radziejowsli im Juli in Warſchau und ver- 
abrebveten für den Auguft eine fogenannte PBoparcie, d. h. Beitätigung 
der frühern Wahl. Um das weitere Vorfchreiten der Agenten des 
Königs Auguft zu hindern, ftellten fie fich eine Zeit lang zur Aus⸗ 
gleichung geneigt, welche ver branvenburgifche Geſandte, Baron von 
Dverbed, zu vermitteln bemüht war. Przebenborwsti ließ fich täufchen 
und hegte bie beiten Hoffnungen, Flemming ſah fchärfer und tramte 
nicht. Der Erfolg betätigte feine Befürchtungen. Bei ver Poparcie 
erklärte ſich '%Y Auguft die franzöfifche Partei Ieivenfchuktlich für. 
Conti und beſchloß '%, Auguft den Krieg gegen ben. ie ine f 

bes Baterlandes erklärten Auguft. Auch bei dieſer Berſaum 





408 Karl Gufan Helbig, 


Blut, Przebendowski und Flemming, der ven einer biplomatij 
Reife zum Churfürften von Branvenburg unb zur 'verwittweten K 
gin von Königsberg und Danzig zurüdgelommen war, mußten zu 
rer Sicherheit bei Overbeck Schuß fuchen "). Die Gontifche Bi 
verlangte Auffchub ver Krönung des Könige Auguft, natürlich um. 
zu gewinnen. Przebendowsti warb ſchwankend, der König Augufl 
Krakau felber beforgt. Da trat Flemming entichieven auf nnd fi 
es durch, daß die feierliche Krönung des Königs feftgeftellt won 
Sie erfolgte nach breitägigen glänzenden Weierlichleiten in Krakan 
/; Septbr. Sofort erflärten fi vie Stabt Danzig und pie pı 
Bifhen Städte für ven neu gefränten König: feine Partei bob 
zuſehends. — Ueberall, wo Deißverftänpniffe eintraten oder unter 
Königs fchlaffem Regimente Antriguen feine Stellung gefährbel 
trat Flemming meijt mit Erfolg dazwifchen und ficherte vorzugswe 
was bis jet gewonnen war. Nur die Gelpverfchleuberungen fon 
er nicht Hintern. Es war nicht feine Schuld, taß dem Prinzen < 
cob und ber verwittweten Stönigin, die fich ihrer angebliden B 
bienfte um die Wahl des Königs Auguft rühmten, von bem [chwad 
Fürften 380,000 Thaler, theil® gezahlt, theil® verfprochen wurken ' 
- Während deſſen harrte Polignac fehnlichft ver Ankunft des Prin; 
von Conti. In Folge von Mißverftänpniffen, welde ter Geſan 
burchaus nicht verſchuldet Hatte, verzögerte fich bie Abreife des Pri 
zen von Paris. Die Nachricht ven der Doppelwahl in Warfch 
hatte in Berfailles Bedenken erregt '). Lubwig wollte den Prinz 
nicht bloßgeben, ver Prinz felbft Hatte nicht viel Zuverſicht. nel 
. ermuthigt durch Polignac's Berficherungen von der Stärke und ve 
Eifer ver franzöfifchen Partei reifte er ab und kam geleitet von Sye: 
Bart, tem franzöfifchen Seehelven, glücklich mit Geld, doch natürli 
ohne Heer, in die Nähe von Danzig und ließ ven 'Y,, Septbr. I 
Diva die Anker auswerfen. Da er in Danzig feine Aufnahme fan 
entfchloß fich ver Prinz auf ven Rath der ihn begrüßenven polnifch 
Evelleute auf feinem Echiffe die ihm verfprochenen Truppen» Abt 
lungen zu erwarten, dann mit diefen irgend einen feften Plaß zu b 
fegen, bafelbft die Streitkräfte der NRepublif zu ſammeln und vb 
Krieg mit feinem Gegner zu beginnen. Doc die mit Worten fo ei 





Bolnifhe Wirthſchaft und frampöflfge Diplomatie sc. 409 


rigen Edelleute feiner Partet zögerten und brachten, trotzdem, baß ber 
Prinz das Geld nicht gefchont hatte, nichts zu Stande. 


In Krakau dagegen bewog Flemming feinen Herrn fofort zu eis 
nem entfcheidenven Unternehmen. In der fichern Erwartung einer 
baldigen Verftärfung der Macht des Königs durch die aus dem un⸗ 
garifchen Feldzuge berbeigerufenen Zruppen ftellte er fih an bie 
Spite einiger Tauſend fächfifcher Reiter und eilte nach Preußen, um 
den Prinzen von Conti zu überrafchen. Der Zug machte veßhalb nicht 
geringe Schwierigkeiten, weil die Bevölkerung überall gefchont und 
gewonnen werben follte und weil fich der völlig unfähige Befehlsha— 
ber der ehrenhalber mitgenommenen polnifchen Abtheilung, Galetzki, 
nirgends den Anordnungen Flemming's fügen wollte. Doch ging Alles 
glüflih von Statten. Eine Abtbeilung fächfifcher Neiter unter dem 
DOberften Brand erſchien am 29. Oktr. (8. Novbr.) vor Dliva und 
ben Zag darauf verließ der Prinz, der fich in feiner Hoffnung auf 
bie von feiner Partei zugefagte Hilfe getäufcht ſah, mit feiner Heinen 
Slotte den Hafen. Darauf gewann Flemming burch bipfomatifche 
Klugheit die Feftung Marienburz und bereitete mit dem zum Palatin 
bon Marienburg erhobenen Przebendowoki ven allmähligen Webertritt 
ber Häupter ver Gegenpartei vor. Erft im Mai 1693 unterwarf fich 
der Führer ver franzöfifchen Partei, der Cardinal Radziejowski nach 
langen Verhandlungen, welche Flemming's Umficht und des Könige 
Vreigebigfeit fehr in Anfpruch nahmen. 


Polignac, der bis zum legten Augenblid hei dem Prinzen und für ihn 
thätig gewefen war, entlam mit Verluft eines Theile feiner Papiere glück⸗ 
lih den Nachitellungen der fächfifchen Reiter. Doch mußte er zunächſt 
für die Niederlage der franzöfifchen Diplomatie als Verbannter in ver 
Abtei Bonport büßen. Später gewann er wieder bie Gunft des Kö⸗ 
nigs und war bei den Verhandlungen in Utrecht und Raſtadt diplo⸗ 
matiſch thätig. Er ftarb als Carbinal 80 Jahre alt 1741. 


Unheilvoll für Sachſen war die Erhebung des Churfürften Fries 
brih Auguft zum König von Polen. Über für Deutſchland war es 
ein großer Vortheil, daß durch Auguſt's ehrgeizige Lanne und Flem⸗ 
ming’s umfichtige Energie Polen dem franzöſiſchen Einfluffe entzogen 
wurde. Freilich dachten daran beide nicht, fie arbeiteten nur für tes. 


410 Kor! Guflav Hellig 


eigenen Nuten. Aber was auch ver Menſch Ta mag, Gutes ı 
Böſes, für ſich oder für andere, er dient doch nur den großen 3 
den des ewigen Geiftes, der die Gefchichte macht. 





Anmerkungen und Attenftüde. 


1) Ron den franzöfifhen Quellen ift Coyer, Histoire de Jean Sobie 
(Varsovie 1761, 3 Vol.) fehr dürftig, Salvandy, Histoire de Pologne ar 
et sous le roi Sobieski (Paris, 1829, 3 Vol.) trog ber rhetorifchen Decla 
tion in der Darftellung nicht viel ausgiebiger. Dalerac, Anecdotes de Polo; 
ou Mdmoires secrets du regne de Sobieski geben für die letzte Zeit bes | 
nigs keine Ausbeute, Salvandy, Lettres du roi de Pologne & la reine Ma 
Casimiro bezieben fih nur auf den Feldzug bes Könige nah Wien Das 
dieſe Terhältniffe bebeutendfte Buch ift Die Histoire du Cardinal de Poligı 
(Paris 1780): e8 entbält allerdings Material aus den Papieren bes franzäfifd 
Minifteriums, aber ein willkürlich und theilweiſe unkundig ausgefuchtes, ol 
lichtvolle Anordnung, durch die es erft brauchbar werben könnte. Daneben iſt 
bie polniſche Königzswahl 1697 De la Bizardiere, Histoire de la scission aı 
vée en Pologne 1697 (Paris 1700) trotzdem, daß es nach Parteiberichten frı 
zöfifh gefinnter Polen abgefaßt ift, beachtenswerth. Flassan, Histoire genen 
de la diplomatie francaise (im 4. Bande) giebt bei dem Zwede eines allgem 
nen Weberblids im Auszuge wieder, was Polignacs Geſchichte biete. Das Jol 
nal des Marquis von Dangeau enthält nur einige Notizen über den Eindri 
den die Nachrichten aus Polen auf ben Hof in Berfailles machten. Beauj 
Memoiren find ohne Bedeutung. Wichtiger, aber nur für bie polnifhen ®: 
bältniffe im Allgemeinen ift Hauteville, Relation historique de la Polog 
(Paris 1687.) — Polniſche Duellen find mir nicht zugänglich geweien auf 
den belannten und nichts Erbebliches bietenden Briefen bes Biſchofs ven BI 
(Zaluski Epist. hist. fam. Vol.2 u. 3) und Maleszewski essai historique 
politique sur la Pologne (Berlin 1833), welcher die polniſchen Berbältniffe « 
Pole ziemlich unbefangen aber ganz kurz beſpricht. 

Was ich in den folgenden Bogen gebe, ift größtentheild aus den Papier 
bes franzöfiihen Gefandten Bolignac in Polen geichöpft, welche 1697 den Sa: 
jen in bie Hände fielen und fi jept im K. Sächſiſchen Haupt - Staats - Ardhi 
finden, theifmeife aus ſächſiſchen Actenſtücken besfelben Archivs, welche fih auf |! 
Wahl des Könige von Polen beziehen. Die franzöfiihen Papiere geben the 
Über die Thätigleit des Marquis von Bethune und bes Biname d'Esneval, mei 





Polniſche Wirthſchaft und franzöfifche Diplomatie sc. 411 


vor Polignac das framzöfliche Imtereffe zu vertreten hatten, eine Auskunft, die 
man, fo viel ich weiß, nirgends findet, theils belehren fie über Polignacs Wirlk⸗ 
ſamkeit und verfchaffen uns ein treues Bild der damaligen polnifchen Wirthichaft 
und ber franzöfifchen Intriguen, wie man es in Polignacs Gefchichte vergeblich 
fuchen wird. Ebenſo geben bie ſächfiſchen Acten Über bie Thätigleit des gewand⸗ 
ten Flemming und über die Wahl des Könige Auguft ganz neue Aufflärung, 
wodurch die franzöfifchen Berichte und die Mittheilungen ber ſächſiſchen Geſchicht⸗ 
fchreiber vielfach berichtigt werben können. 


la) Schon Hauteville (Relation historique de la Pologne. Paris 1687) 
gibt den Geſandten Rathſchläge, bie den pofnifchen Adel jener Zeit charakterifiren : 
Les Polonais aiment fort l’argent et il n’y a point de soumission qu'ils ne 
fassent & ceux, & qui ils en demandent. Mais ce n’est point lour coutume 
de rendre jamais ce qu’ils ont emprunte. — Il y a si peu de Nonces (bie 
Deputirten auf dem Landtage) qui prennent part aux veritables interets de 
la republique, qu'à peine en trouverait - on un à l’&preuve de deux 
mille dcus. Ainsi les ennemis peuvent avec de l’argent obtenir tout ce qu’ils 
desirent et faire rompre une diete, quand ils voient qu’on y veut prendre 
des r&solutions afin de s’opposer à lours desseins. — Comme en Pologne 
la bonne chere et principalement le bon vin contribue le plus apres l' ar- 
gent au succes de tout ce que l’on veut faire, les ambassadeurs doivent 
prendro grand soin de bien traiter les Polonais et m&me de les faire boire 
jusques & les enivrer. — Les ambassadeurs doivent &tre liberaux envers 
tout le monde, envers les uns pour les rendre favorables et envers les au- 
tres pour ne pas les avoir contraires. Mais il ne faut pas leur donner 
tout & la fois l’argent qu’on leur promet. Il faut leur en donner une 
partie et leur faire esperer l’autre parceque de cette sorte on se les atta- 
che plus fortement. Antrement ils ne croient pas d’£tre obliges. Car on 
ne se les conserve que parce qu’ils esperent de recevoir et non parce 
qu’ils ont deja recu. — Les Polonais emploient plus de temps à boire 
qu’& deliberer de leurs affaires. Car ils ne commencent à travailler que 
lorsqu’ils commencent & manquer d’argent pour avoir du vin de Hongrie. 
Die viel könnten bie Franzoſen in ihrem fo oft hervortretenden Enthuſiasmus für 
dieſe Nation von ihrem Landsmann lernen, wenn fie fein Büchlein leſen wollten. 


2) d’Arquyan unterſchreibt ſich ſelber ſtets ber Schwiegervater ie vei 
gin. Er wird in Büchern gewöhnlich fälſchlich Arquiens ober Dargn: » 


Auch bei ben Übrigen Namen iR mögliä bie eigene —— 
worden. Hide 


8) L’information de l’Estat, od j'ay laiss6 —— 


412 arl Gufav Heibig, 


Novemb. 1691 envoyde & Mons. de Baluze *) par Ordre de la Cour, 
la remettre entre les mains de Mons, le Vidame Dennewal Amb. du 
& son arrivde **). 

Le Mariage de Mons. le Prince de Pelogne***) avec Madam 
Princesse de Neubourg s’ dtant conclu malgre les oppositions, que j’y ı 
apportdes, la Cour de Vienne auroit dä selon les apparenoes tirer 
grands avantages de cette lisison. Mais le Roy de Pologne &tant nı 
ellement plus port pour la France que pour les Allemands, et les M 
stres de l’Empereur s’&tant broüillez mal à propos avec la Reine de 
logne ubligeant le Prince son fils & s’ @loigner d’Elle onagissant (?) conj 
tement avec Eux, qu'en faveur de la nouvelle Alliance on me fit sortüı 
Pologne, j'ay profitö assez heureusement de cette conjoncture pour disp 
avant mon depart Ieurs Majestes Polonnoises A entrer dans un Traitte d’ Allüs 
et d’Amitid avec la France dont j'ay envoyé un Projet a la Cour, é 
on fera scavoir & Mons. Denncwal, si l'on aura approuvde ou non: u 
d’une maniere ou d’autre il doit tenir le dit Traittd si secret qu’il n’y 
que le Roy, la Reine et luy, qui en ayent connoissance. 

Etant necessaire, que Ms. Dennewal connoisse & fond la maniere, d 
on doit traitter les aflaires avec leurs Maj. Polonnoises pour Leur i 
plus agrcable à son arrivde et entrer plus facillement dans tout ce que 
mande le service du Roy, il doit scavoir que le Roy de Pologne est ] 
nemy de toute contrainte et du Ceremonial, demeurant presque toüjo 
dans ses Biens de Russie, oü il n'y a rien de reglé pour les Audiances 
tres peu de chose pour ce qui regarde le rang ot la.dignite de I’ Ambasaade 
de sorte qu’il doit se rendre le moins pesant qu'il pourra au Roy, evit 
de luy demander de trop frequentes Audiances et de se rendre difficile dı 
des choses, qui ne sont point essentielles pour I’honneur de son Caracte 
Et comme toutes les affaires principales passent par la Reine, avec laque« 
il trouvera toute la facilitd, qu’il peut desirer, de s’expliquer & toute heu 
il ne doit rien oublier pour entrer dans sa confiance, luy faisant bien e 
noitre, que Ses ordres sont d’agir dans un entier concert avec Elle, com 
Reine francoise et bien intentionnee pour ce qui regarde le Roy et 
France. Si nötre Cour est entrde dans le Projet, que j' ay envoydet que 
Reine soit veritablement engagde, les choses couleront de source et Mo: 





*) Baluze war franzöfifher Gefäftöträger, ver nad Bethunes Abreife in Polen zurückbi 
“, Alles Branzöfifpe, was hier vorkommt, IR unverändert nad ver Schreibung der Dri 
nale abgedrudt. 
ee) Prinz Jacob, ver ältehe Sohn des Könige Johann Sobieski. 





Polniſche Wirthſchaft und franzöfifche Diplomatie 2c. 413 


L’Ambassadeur trouvera tout ais®. Mais si l’on ne faisoit rien pour la Reine 
de Pologne, il auroit & combattre les m&mes difficultez que j’ai eprouvdes 
pendant dix huit ans. 

Comme les Chanceliers et autres Ministres de Pologne n'entrent soubs 
ce Regne-cy dans aucune affaire secreto et etrangere, Mons. 1’ Ambas- 
sadeur ne Confiera qu’au Roy et à la Reine seuls ce qu’il aura & traitter 
de particulier avec eux, et il pourroit se conteuter d’asseurer en general 
tous les Senateurs et principaux Seigneurs de Pologne de l’interest, que 
le Roy prendra toujours à la conservation de tout le Ruyaume et de leur 
Liberte, except ceux, avec lesquels je marqueray cy apres qu’il pourra 
sexpliquer plus au fond selon les mesures que j’ai prises avec eux. 


Mons. le Cardinal Radziovsky *) @tant Primat du Royaume de Pologne, 
proche Parent du Roy, et homme par luy de grande authoritde, Mons. le 
Vidame Dennewal le doit menager par preference à tous les autres. L’ Ami- 
tie, qu’il a pour moy, l’a fait entrer dans les Interests de la France dans 
un temps, que la Maison d’Austriche luy faisoit de grandes avances pour 
l’engager. Il a pris hautement mes Interests contre Ics Ministres de I’ Em- 
pereur et m’a promis en partant, qu’il demeureroit bon Francois, se decla- 
rant, qu’il ne vouloit point recevoir de pension, mais qu’au cas que Sa 
Maj. luy donnast quelque marque de son estime, comme une croix de 
Diamants, qu’il se ferait honneur de porter. Comme il a este fait mention 
de cette Croix dans mes lettres interceptees, que Ms. l’Electeur de Brande- 
bourg a rendues publiques en Pologne, il seroit selon moy du service du Roy 
de luy faire un pareil present et d’&tablir sur l’amitid et la fermetd du 
dit Cardinal les principaux interests que la France peut avoir pour le 
present et pour l’avenir en Pologne. 


Mons, le Palatin de Russie, Grand General des Armees de Pologne 
est fort puissant tant par l’Armee dont il dispose en partie, que par le 
Palatin de Posnanie, son gendre et plusieurs Amis et Parens, qu’il a 
dans la Republique. C’est un homme fort politique, lequel a beaucoup 
d’ambition et qui menage tout pour venir & ses fin. Cependant je luy 
dois la Justice de t&emoigner, que je l’ay toujours trouvé Frangois d’incli- 
nation, et il m’en a confirmd cette asseurance en partant. Et Ms. le Vid. 
Dennewal doit agir avec luy sur ce pied l&. Il est fort bien wrcc ia 
Reine, mais comme il est un peu suspect au Roy, il ne faut'pas que le 
commerce, que Ms. P Ambassadeur ausa avog"luy, eolate trom. ’ _ * 


Er ., -. Ey 





©) Er ſelbſt ſhreibt ſich Radzielowekl. Er war Erzbiſthof von Gaefen. 
Hiſtoriſche Zeitſchrift L Bam. 97 


414 Karl Guſtav Helbig, 


La Maison de Messieurs de Sapia (Sapieha), plus puissante en bi 
et qui a presentement plus d’authoritdE ot de moyens de servir qu’auc 
autre cn Pologne, a pour Chef le Palatin de Vilna, Grand General 
Arnıdes de Lithuanie, et le Grand Thresorier de Lithuanie, son Frere. 


Le Grand General est un seigneur genereux, bien intentionned p 
la France, disposant entierement de l’ Armee de Lithuanie, oü il est eg 
ment craint pour le bien et le mal qu’il peut faire, et aime par 
excossive liberalite. Son scul defaut est qu’il se laisse quelquefois t 
gouverner par le Grand Thresorier, son Frerc, homme qui a trop 
veües et d’interests differents, pour quo l'on s’en puisse asseurer. N 
comme le dit Grand General a marid celui de ses Fils qu’ il aime le mi 
& la Princessc de Radzewil, ma fille, j'ay pris des mesures avant ı 
depart avcc ma dite Fille, et avec mon Gendre, pour lequel j’ay obt 
la dignitd do Senateur et la charge de Marsschal de Lithuanie, que 
crois assez bonne pour maintenir le dit Grand General dans les inter 
de France. Et j'ay gagnd, pour le seconder, l' Abbe Bernis, qui goure 
depuis long temps l’esprit du Grand General, auquel j'ay donnd 4000 fra 
monnoye de Pologne, et luy ay fait esperer, si mon sucCesseur Btoıt cont 
de ses services, qu’on luy feroit payer chaque annde une pareille som 

Le Grand Thresorier de Lithuanic est un homme fin, double, int 
oessé , toujours cn commerce avec la Cour de Vienne, avec le Brandebou 
avoc le Prince Charles de Neubourg et avec tous ceux, qui sont contrai 
& la Cour de Pologne. 11 conserve pourtant de grandes mesures et un co 
merce secret avec la Reine, et il n’a pas laisse de se montrer bon Franc 
en plusieurs occasions, et depuis l’alliance que j'ay prise avec le Gra 
General, son Frere, il s’cst declard de vouloir 8’ attacher sinceremeni 
la France. Il faut faire semblant de le croire de bonne foy et 3’ 
asseurer, 8’il ost possible: car c'est Phomme le plus capable de serı 
lequel a mille moyens pour le faire, ct qui n’epargne rien pour reus 
dans tout ce qu’ il entreprend. 


Le Palatin de Posnanie est un fort bon sujet et a marqud depı 
deux anndes beaucoup de zele pour les Interests de France U a gra 
credit en Grande Pologne, et plusicurg Nonces s’attachent & luy dans 
grandes diettes. Mais il faut le menager secretement; car ätant toujoı 
opposd aux intentions de la Cour, on observe extremement ceux qui 
en commerce avec luy. Et comme le dit Palatin est ötroitement uny ay 
le Palatin de Russie, son Beau-ptre, tant que le dit Palatin sera dans | 
interests de France, on pourra s’asseuror par luy du dit Palatin de Pı 





Polniſche Wirthſchaft und franzöflfche Diplomatie sc. 415 


nanic, lcquel m’est en partie redevable de la dignitd de General de Grande 
Pologne, qu’ il vient d’ obtenir. 

I,a Maison de Loubomirsky serait extremement considerable en Po- 
logne, si elle &toit bien unie; mais le Grand Mareschal de la Couronne ne 
peut se detacher des Interests de l’Empereur, ayant le comtd de Spiche 
enclavd dans la Hongrie Imperialle.e Le Grand Escuyor de la Couronne, 
un des plus puissans Seigneurs en Biens, qui soit en Pologne, est homme 
sans aucune application: do sorte que le Mareschal de la Couronne Lou- 
bomirsky et ses deux Freres Olstinsky et Casiminsky ont reuny en leurs 
personnes tous les Amis et le credit de octte puissante Maison, ayant 
beaucoup de crcance dans Il’ Armde, et do la popularite avec la Noblesse, 
do sorte qu’on doit particulierement menager le dit Mareschal et scs dits 
freres; car outre lo Credit qu’ils ont dans la Republique, co sont les sculs 
Seigneurs de Pologne, qui sont en estat par leur credit et sous leur nom 
de faire passer un Corps des troupes Polonnaises partout, ou le service du 
Roy le demandoroit, ainsy que l’experience l’a fait voir lorsque le dit 
Mareschal a fait entrer avec moy des Troupes de Hongrie au secours des 
Mecontents selon un Traitd conclu et ratifid par le Roy, lequel a donne 
long temps au dit Mareschal unc pension de 5000 Escusn. Mais ayant en 
suite conduit luy m&äme un secours & l’Empereur, on a cessd de luy payer 
la dite Pension, ce qui ne l’a pas empesch‘ de demeurer bon Frangois, 
dont il a donne des marques en toutes occasions, surtout dans le com- 
mencement de la derniere compagne, ou Mons. le Prince de Pologne 
et les Ministres de l’Empereur firent tous leurs efforts pour l’engager & 
prendre le commandement de 6000 hommes et joindre I’ Armde de Veterans 
en Transylvanie, ce qui m’obligea par le conseil de Mons. le Cardinal 
Radziovsky, de lui promettre 3000 Escus de Pension l’engageant de servir 
le Roy avec ses Freres et ses Amis dans toutes les diettes, et de passer 
avec dcs Troupes partout ou le service de Ba Majest6 le requereroit, et 
c’est le seul engagement que j’ay pris en Pologne soubs le bon plaisir 
de Sa Majest6 dont Mons. Dennewal connoistra Putilité ot les avantager 
qu’on peut tirer en Pologne de l’engagement du dit Mareschal. 


Le Palatin do Kiovie est un tres galant homme, bien intentionnd pour 
la France et m’a promis d’entretenir une bonne correspondanpe avoo caluy 
qui me succederoit. 

Le Palatine de Pomeranie, grand Threserier de Pramg, est I 
Diette et d’authorit6 dans la Republigue et fera an Luis 
Dennewal pourra desirer de luy. 


416 Kari Guten Helbig, 


Le Palatin de Plosky est homme de peu d’authoritd; mais comm 
est gendre du Palatin de Russie et fait gloire d’&tre bon Francois, 
merite qu’on ait de la consideration pour luy. . 

Le Palatin de Masvvie me doit en partie son Palatinat, qui est 
des plus considerables de Pologne, ayant toujours 20 Nonces qui depend 
de luy. 11 est mon Amy particulier, et le Starosta Ostrosky son fr 
tres bon sujet, et qui a grand credit aupres de luy et dans le Palatiı 
m’a promis de donner tous ses Amis & Mons. P Ambassadeur. 


Entre les Evesques celuy de Cracovie, ancien serviteur de la Re 
Louise est tres bon Francois et d’une dependance entitre de Mons. 
Cardinal Radziovsky. 

L’Archevöque de Leopol est humme de bien, bon Polonnois, mai: 
ne va pas aux Dicttes et se mesle peu d'’affaires. 

L’Evesque de Varsovio n'a point de credit et s’il en avoit, il 
naturellement cppose à la France. 

L’Evesque de Cujavie a creance aupres de la Noblesse: mais c'est 
homme si vain et si inconstant, qu’on ne peut prendre des mesu 
solides avec luy. 

L’Evesque de Posnanie est Austrichien declare, pretendant se fa 
Cardinal par la protection de l’Empereur, et on se doit attendre qu’il ı 
a rien, quil nc mette en usage pour nuire & un Ministre de Fran 


L’Evesque de Premysly, Grand Chancelier de la Couronne, a pris aı 
moy toute sorte d’engagements de servir la France. 

L’Evesque de Kiovie, nommé à l’Evesche de Plotsky, est homme 
Pologne le plus actif et le plus capable d’affaire. Il est tres bien aı 
le Roy et la Reine dont il est Chancelier. Il a conserv6 avec moy u 
etroite amitid, et je l’ay ongagé & la continuer pour celuy qui viendr 
& ma place Et il faut que Mons. Dennewal s’attache & s’en faire 
Amy particulier, car par luy il pourra entrer dans la confiance de 
Reine et savoir tout ce qui se passe de plus particulier dans la Cour 
dans la Republique. 

J'ay laissé plusieurs Amis dans lcs Palatinats, qui somt souve 
Nonces et ont beaucoup de creance aupres des principaux Seigneurs 
de la Noblessce, dont le Sieur de Baluze informera Mons. le Videme Denn 
wall et les mettra en commerco avec luy, pour s’en servir dans 1 
oooasions. 

La forme du Gouvernement de Pologne demandant, qu’on mena; 
egalement la Cour et la Republique, Mons. Dennewal doit eviter autaı 





Polniſche Wirthſchaft und franzofiſche Dipfomatie ꝛc. 417 


qu’il pourra selon moy de se rendre suspect de partialitéé entre les deux 
partis toujours opposez de l’ Authorit€E Royale et de la Republique. 

Rien n’ötant plus dangereux que de s’exposer & l’aviditd des Polon- 
nois, Ms. l' Ambassadeur doit eviter de leur donner lieu de former des 
pretensions sur luy; car il se trouvera assez -de personnes, qui luy feront 
des propositions de toute nature, pour tAcher par lA de se rendre necos- 
saires ct de tirer de l’argent de lay. Il doit surtout se tenir extremement 
reservé sur toutes les propositions que l'on lui pourroit faire de porter 
la couronne & un Prince Francois dans la prochaine Election; car n’y 
ayant nul secret en Pologne, il se perdroit avec la Cour, s’il luy revenoit, 
qu’il fust en commerce avec quelqu' un & cet egard. Le Prince Charles 
de Neubourg est le plus dangereux Concurrent & la Couronne, se declarant 
deja Candidat, et ayant de grands biens en Pologne et en Lithuanie, par 
lesquels il peut gagner et la Republique et les principaux particuliers, et 
c’est luy qu’il faut tascher d’abattre cn le rendant suspect & la Repu- 
blique excitant toute la jalousie de la maison Royale contre luy, et peut- 
estre le temps viendra-t-il, que cette Cour sera forcde, pour luy donner 
l’exclusion, de recourir & un Prince Francois: mais rien ne seroit 
plus dangereux, que de se laisser entamer avant ls temps sur une affaire 
si delicate. 

J’ay ecrit & tous les Amis, que j’ay marquds cy-dessus, les priant 
instamment de vouloir prendre la m&me confiance & Mons. le Vidame Den- 
newal, qu’ils ont-ele pour moy. Et lorsqu’il sera arrivd en Pologne, il 
me fera scavoir s' il luy plaist, & quoy je pourrois ötre utile pour le 
Succdes de sa Negotiation. A Stockholm ce 30 Janvier 1692. 





La Copie de la lettre, que Son Excellence 

Monseigneur le Marquis de Bethune a ecrite 

& Mons. le Vidame Dennewal en möme temps, 

qu’il envoyoit l’information oy - dessus. 
Monsieur. 

L'estime que jo fais de Vötre personne et 1’ Amiti6 qui a toujours 
estd entre nos maisons, m'a fait voir avec un extreme plaisir le choix 
que sa Majest6 a fait de Vous pour son Ambassadenr en Pologne, ei 
comme je dois m’interesser aussy sinoerement su SUO00S de Votre Neso- 
tistion par rapport au service du Roy que par-l’&treätip: Ha 
avec la Cour de Pologne, Vous vonles bien que je: 
que la Cour m’a ordonnde de Iaisser entre les mi 





418 Karl Gufeo Helbig, 


oalte IAttro particuliore, que j' deris pour Vous seul et dans une ent 
conflance. 

I,a Cour of Vous passez est la plus orageuse et la plus soubconne 
qui noit en Europe, ot la pluspart des Seigneurs Polonois, aree lesgı 
Voun avex & traitter, sont les hommes les plus intereossez, 
plun logernot les moins socrets qui soient dans lo monde. 


Le Roy ent un des princes de ce Siecle les plus &clair&s, mais au 
In plan difeils h determiner, et tous ceux qui I’ approchent sont gag 
do Ian Cour de Vienne; par do petites pensions et le Pere Vota Jesuite 
rogolt doublement de T'Empereur et de l’Electeur de Brandebourg. 
Roy ernint et evite autant les affairen que la Reine est active et aim 
nen mesler, Ella tient de plus & present un grand party attache à FE 
de „orte, Monsieur, q’uil faut plaire & cetto Princesse et la gagner pour 
In norvien du Boy au fanne. 

1’ Ingratitude do non fils le Prince et la manvaiss conduite des 
nlatren de U’ Empereur l'ont engagée dans un retour sincere vers la Fraı 
at ni ntro Cour fainoit prosentemont quolque chose en sa faveur, on 
porterolt, par la roconnoissanco ot par la conflance qu’ on Iuy margquer 
k entror de bonne foy dans co qu’on desireroit d’Elle; mais j’ apprehe 
aven rninon, que, mi Von luy tdmoigne de la defiance, ne luy accord 
lan meindren gracen qu’A lextremite, Elle ne se rende plus diffc 
Et Jo Ininna A Vötro prudenco, quand vous aurcz connu Ces veritez 
pres, d’en bien informer la Cour. 


11 ent bon que Vous noyez advorty que Leurs Maj Tolonnaises, 
voyant rapelld d'anprea d’Ellen, avoient concu de grande deflance, se figur 
que la France na vouloit pax agir de bonne foy avec Elles, puisqu’ 
rotiroit leur Benufrere pour envoyer un autre Ministro: mais je crois av 
dinnipd con injnates noubeons par lo Traittd que j’ai proposd de bor 
foy; de manidre que «il vient A se conclure, ainsi que j'espere, les t 
vernon que j'ay dprouvdos, et qui devoient & craindre pour Vous, ser 
on partie surmontdon. 

Pour a’inninuer dans la confianco necossaire avec la Reine, il fi 
luy fairo conneitro que l'on desire quo toutes les affaires passent par . 
mains, et quo l'on no veut prendro de liaison particuliere que suivant . 
conseils ot avco ccux de la Republique, qu’ Elle oroit enticrement dans | 
interests, ovitant surtout d’avoir commerce avec ceux pour lesquels E 
marque une avorsion declarde, cette Princesso étant naturellement jaloı 
et defiante, desirant quo ceux qui s’attachent à Elle, ne se partageassı 





Polniſche Wirthſchaft und franzöfiihe Diplomatie ꝛc. 419 


point; et comme Elle est dangereuse Ennemie, Elle est aussy la meillcure 
Amic du monde, quand Elle a une fois conca bonne opinion ct de l’estime 
pour quelqu’'un. Et comme on luy peut parler à touto heure d’affaircs, 
on les avance extremement, quand Elle les veut appuyer, dtant dgalement 
active ct liberale ct n'cpargnant rien pour faire roussir les choscs qu’Elle 
ontreprend. Et mon malheur a &te, Monsicur, qu’Ello fust toſtjours opi- 
niastre à obtenir le Duchd pour Mons. Darquien son Pero sans conditions: 
co que l'on n'a voulu luy accorder qu’en consequence d’un Traittd et môme 
apres qu’il auroit estd execut6 dans tous ses points de sorte que s’offen- 
sant du peu de consideration que l'on avoit pour Elle et de la defiance 
que l’on luy marquoit, il m’a estd impossible de l’engager plütost A prendro 
une solide liaison avcc la France, et je souhaiterois de tout mon cocur 
pour le bien du service et pour vötre satisfaction particuliero, quo la 
chose püt-ätre bien-tost conclüc. 


Apres la Reyne, menages, Monsieur, le Card. Radziovsky. Je l’ay 
fait entrer dans les Interests de la France par l'amitid qu’il a veritable- 
ment pour moy. C’est un hommo glorieux de 1a belle gloire, bon Polo- 
nois, et qui est persuadd que liinterest de son pais veut qu’il conserve 
Yamitid de la France. Son credit est grand presentement à la Cour et a 
la Republique, mais s’il arrivoit un Interregne, auquel il faut de necessit6 
tofljours penser, il seroit l’Arbitre d’une future Election. Il est formelle- 
ment oppose au Prince do Neubourg et n’est pas trop favorable au Prince 
Jacquos: mais on doit conter, qu‘il appuyeroit le Prince Alexandre U 
a son Mareschal Lobinsky et sa femme qui ont beaucoup de credit auprös 
de luy. Le Roy a donné 1000 Escus & leur fils en France, qui ont fait 
le meilleur effet du monde, et Mons. de Baluse peut Vous menager le mary 
ot la femme, 


Je me remettray du reste & l’Information que le dit Sieur de Ba- 
luze remettra entre vos mains. Jusques & Votre arrivde je disposeray la 
Cour de Pologne et tous mes amis & Vous bien reoevoir. Passez par 
Vötre prudence sur les premieres petites traverses; soyes tout Ambassa- 
deur dans ce qui sera essentiel au caractere, dans les petites choses 
evites de paroitre difficile. Menages l’amitid de Mons. d’Arquien pour 
plaire & la Reine, car de plus dans la verit6 on n'a jamais vü un meil- 
leur, Francois et recevez cette lettre, Monsieur, comme une marque de 
Tamitid et de la Binoerite, avec laquelle je suis ete.. Deißtonkholm es B0m° 
Janvier 1693, 








420 Karl Guflav Helbig, - 


Mir fegen noch ein anderes biplomatiihes Actenſtück Kicker, melde 
ſelben Zufammenhange angehört, ein Schreiben des Cardinal Forbin im 
Worbin war mit den Berbäftniffen in Polen genau befannt und von Ron 
unermüdlich im Intereſſe Frankreiche thätig 

de Rome 1. 23. d’Aoust 

J'ay appris Monsieur par une lettre de la Reyne du 23. deJ 
que Vontre Exo. estoit arrivdee a Dantzik et qu’elle n'’en avoit e 
point donnd de part, je la crois apresent a la Cour, ou j'espere 
sora antinfait d'elle, et comme j'ay une estime partieuliere pour Vostn 
sonne et que je n’ay point d’autre veüe en ce monde que ce gni 
roghrder le service du Roy nostre Maistre, je crois estre dans Tooblig 
de vous dire mes sentimens sur ce pays la ou j'ay estd si long temj 

Jo crois que co que vous avez de plus important a menager c’*e 
menager la conflance de la Reyne de Pologne, qui a un entier eredi 
pres du Roy de Pologne son mary et qui seule est son ministre et ch: 
des aflalros prineipales. Comme elle a beaucoup d’esprit et d’adresse 
ne s'otvrira pas farilement a vous sur ses sentimens jusqu'a ce qu’el) 
pris de In conflance en vons, qu'il faut acquerir par beaucoup de‘ 
plaisance et beaucoup de douceur, car toute sorte de manieres un peu 
hautos alieneroient entierement son esprit, qui est un peu fier, et je» 
quo Madamo vostre femme vous sera de beancoup de secours, si elle 
avoir assex de manieres insinuantes, comme je ne'n doute pas. 

Jo suis aussy persundd que vous vivrdes en grand commerce d’aı 
avoo Mr. le marg. d’Arquien, qui est le meilleur frangois que jaye ja 
eonnu et qui vous sera d'un grand secours pour vous bien establir | 
loaprit do la Reyne de P. Quand au Roy de Pologne, c'est le meil 
Prince du monde quand on le scait prendre comme il fat. La meill 
maniore, o'ost d/ugir avec luy avec beaucoup d’ouverture et de since 
le bien convainore de l’amitie et de l'estime que le Roy notre Mj, a | 
luy; rien n'est plüs capable de vous donner sa confiance, mäis sur to 
choses il faut bannir la morgue d’Ambassadeur et s’establir tout d’un o 
comme un eourtisan aisd sans ceremonie et qui ne Tuy domne aucune ı 
trainte, car c'est la chose du monde qui luy plaist le plus que de 
faire part de toutes les nouvelles et curiositez qui peuvent Venir & vo 
connaissance. j 

Il faut gagner autant que vous le pourrez tous les frangois qui ı 
aupres de la Reyne de P. et principalement Md, Lestreux qui est ] 
aupres d’elle, il y a deux secretaires aupres du Roy de Pologne, l’un s 








Polniſche Wirthſchaft und franzöftfche Diplomatie zc. 421 


pelle Sarnowski, bon homme que vous pourrez menager facilement, et l’autre 
Eislien, qui moyennant quelque petit. present pecuniaire vous advertira de 
tout ce qui viendra a sa conno’ssance, bien entendu qu’il ne luy faudra 
rien decouvrir de vos affalres particulieres, car nos ennenfis en seroient 
aussitost advertis. 

Le meilleur amy qu'ait la France et un des plus honnestes hommes 
que je connoisse en c& Pays la, c'est le Card. Radziovski. Vous pourrez 
facilement attirer son amitie, et il vous sera d’un sccours infini, mais il 
faut que ce soit Mr. de Bethune, dont il est amy intime, qui vous le donne, 
aussy bien que Mr. le Castelan de Cracovie, dont le fils doit epouser sa 
fille, qui est aussy un veritable*) d’homme, et ils sont l’un et l’autre mes 
amis particuliers. Et vous pouvez compter quo si Mr. de Bethune n’es- 
arit et n’'agit de bonne foy pour vous, vous n'auroz ny la Reync de Po- 
logne ny ancun de ces Moesieurs la. Il faut que Vous louiez sa conduite 
et son zele, qui dailleurs le merite par lcs bons services qu’il rend sans 
cesse. Je crois que vous avez deja lid un commerce d’amitid avec luy et 
que vous l’informiez regulierement de ce qui se passe en Pologne, afın que 
de son coste il vous puisse rendre de bons offices en 6crivant favorable- 
ment sur vostre sujet a ses amis. Il faut que vous agissiez avec beau- 
coup de circonspection à l’egard du Nonce **), car, comme vous verrez, il 
n’est pas bien a la Cour. 

L’ennemy le plus capital que nous ayons a la cour, c'est l’Evesque 
de Posnanie qu’il ne faut pas irriter, mais il ne faut pas le craindre et 
prendre garde d’entrer avec luy dans aucune confiance particuliere, car s'il 
la recherchoit, ce ne serait quo pour vous tromper, et cela vous ruinerait 
aupres de la Reyne qui n’en est pas satisfaite. 

Pour lc prince Jacquez, il est entierement a l’Empereur, Je ne scay 
s’il ouvre assez les yeux pour connoistre combicen cela est dloigned de ses veri- 
tables interests, car rien n’est plus capable de faire plaisir a la Reyne.... 

J’appergus dans ce moment par une lettre de Mr. de Baluze les bonnes 
dispositions ou se trouve la Reyne, qui me donnent une joye extreme et 
dont je suis persuadd que vous ne manquerez pas de profiter. 

Je Vous prie d’estre persuadd qu’en attendant de vos nouvelles je 
suis avec beaucoup de passion, Monsieur, entierement a vous. 

Le Cardl. de Janson Forbin, 





*) Unleſerliche Danbfäsift. 
=) St. Green, ver * 





— 


re — 





422 Karl Guſtav Helbig, 


4) Der Gehalt, welchen damals ein franzöfifcher Geſandter erhielt 1 
monatlich 1000 sous (ein den wohl 20 — 25 Silbergrofgen). Zur Mi 
fung von Equipage (Pferde, Wagen, Möbeln, Eilberzeng 20.) erbieft eine 
mwöhnli 12 — 14,000 eus. (Aus einem Briefe bes Oheims bes Gele 
an Polignac in biefigem Ardive.) 

5) ®al. Histoire du Cardinal de Polignae I, 17 &. 


6) Durch Balnze, bes franzöfiihen Sefretärs, Vermilllung wurde in War 
für Polignac bie Wohnung gemiethet, bie b'Esneval gehabt hatte. Der £ 
befiger hatte ben Miether fehr gern genommen, „ben, ine ein 
Geſandter da wohne”, meinte er, „werbe bie Wohnung 10 Jahren in 
fern Stanbe fein, als nad) einem einzigen Lanbtage, wenn „fie von Polen 
wohnt würbel" — — 

7) Polignac behauptete einmal, ber König Sobiesfi gebe nicht 10) 
Franfen, wenn er feinem Sohne bie Krone erhalten fünne. 

8) Es kommt manches vor, mas auf ein fehr vertraufiches Werbä 
bes. Abbe Polignac mit ber Königin hindeutet. So bemühte ſich bie] 
ſehr, bie Papiere Polignac’s zu belommen, um zu jebn, ob fie b 
nicht bie Korrefponben; besjelben mit einer Frau von Bielinsla finden 
von ber fie im eiferfüchtigen Haffe glaubte, daß fie während ber Mirbeien 
bes Prinzen von Conti bei Danzig mit Polignac in vertraulicherem Berbift 
geftanben babe, 

9) Nach ber gewöhnlichen Erzählung fol Priebenbowsli in Dresben 
wefen fein unb ben Kurfürſten zur Werbung um bie polnifhe Krone veran 
haben. Mein Bericht ftiltt fih auf gleichzeitige banbihriftlihe Memoiren 
anbere unbenutte Aeten bes Dresbner Archivs, 

10) Flemming fanb ben Kurfürften in Baben im Balfin mit Damen 
benb umb erhielt auch daſelbſt bie erfte Audienz. Erft als ihm Flemming 
geflüftert Hatte, was ihn zu ihm führe, verließ ber Kurfürft das Bab und | 
bem Oberſten allein Gelegenheit zur ausführlicherem Bericht, 

11) Im Klemmings Rechnungen finden ſich manche ſeltſame Pollen, } 
2000 Species file einen, guten Freund, 108 Species file den Jeſuiten b 
Biſchof von Cujavien, 75 Species für deſſen Leute, 8 Species für etliche aı 
Ebelleute, bie ben Proebenbomsti Dienfte geleiftet batten. Fiur bie Reiſe 
Dresden über Berlin, Danzig nad Warſchau hatte Flemming 1030 Spei 
angeſetzt, file Aufenthalt und Zehrung in Warfchau auf 2 Monate 2220 € 
cies, für Wein befonders 1906 Species — benn Flemming mußte gebi 
tractiren, 

12) Der Kurfürft fa im einem mit Teppichen und Laub geſchmüd 











Bolnifche Wirthſchaft und franzfifche Diplomatie ꝛc. 423 


np Schuppen auf einem Throne in blauem, mit Gelb geflidtem Node, Knöpfe, 

N Echnallen, Degen bligten von Diamanten. Nach ber Cour Tieß ber König feine 

” Neiter befiliren. Ein entzüdter Pole verglich fie mit Riefen und bie Pferbe 

n mit Elephanten. Auch die fromme Haltung bes Königs bei ber Beichte und 
Communion, welche ber König Auguft ben Deputirten zur Schau flellte, machte 
auf die Polen großen Eindrud. 

13) Flemming und Przebendowski Hagten fehr, daß fich bei diefen Verhand⸗ 
Iungen fein angefehener Mann der ſächſiſchen Partei in Warfchau fehen ließ. 
Obgleich fie fo viel Gelb und Beneficien erhalten hätten, fo verfäumten fie doch 
das Interefie ihres Königs bei einer fo wichtigen Angelegenheit. Gerade fo 
machten e8 bie franzäfiih gefinnten Polen fpäter mit Conti. Es fonnte fi 
niemand auf fie verlaſſen. 

14) Bei diefer Gelegenheit erfährt man, daß die Einnahme der Danziger 
Zölle damals jährlich 30,000 Thaler beitrug. Anguſt wies nämlich die Königin 
darauf an, doch es ließ fich wegen anderer Bebürfniffe, bie bamit gebedt wer- 
den mußten, nicht ausführen. 

15) Die von Polignac ?74,. Yuli abgefertigte Nachricht von der Wahl 
bes Prinzen von Eonti fam ?/4,. Auguft nach Paris und gleid) baranf die Meldung 
von der Wahl bes Kurfürften Auguf. Man vgl. darüber und über die Stim- 
mung bes Berfailler Hofes Memoires et Journal du Marg. de Dangeau 
Vol. IV. 1697 zum 23. Januar, 12. Juli und zum November. 








IV. 
Klopſtod und der Markgraf Karl Zriebrich von Babaı 





Mit Benütung ungebrudter Quellen. 
Von 
David Friedrich Strauß. 


Der Kampf gegen die franzöſiſche Fremdherrſchaft, weicher 
bald 50 Jahren auf Deutſchlands Schlachtfelvern ausgefochten wı 
war vor 100 Jahren auf bem Felde ver Yiteratur begonnen we 
Und ter Waffengang würde nicht fo glüdlih für uns abgela 
fein, wenn nicht der Sieg im geiftigen Befreiungskampfe vorange 
gen wäre. Die Lorbeern unferer Feldherren find Schößlinge ter 
beern unferer Dichter gewefen. Denn woher Tonnte dieſem zerhac 
gebundenen, verfommenen Körper, der im vorigen Jahrhundert 
deutſche Volk vorftellte, die Beſinnung auf feine Einigfeit, das Ge 
jeiner Kraft, das Bewußtſein feines Geiftes fommen, als aus fi 
Sprache, feiner Literatur? 

Bon ven politifchen und Bildungs -Mittelpuntten Deutfchlo 
war gerabe ber beteutenpfte um dic Mitte des Jahrhunderts d 
Friedrich II. zum ſtärkſten Poften ver franzöfifchen Geiftesoccupa 
gemacht werten, ter es chen galt ein Ende zu machen. Es mu 
fih alfo vie hierauf gerichteten Beftrebungen nach einem anbern 
gerplage umſehen. 

Daß zulett das Heine Weimar diefer Punkt geworten ift, wo 
beutfche Literatur und Geijtesbildung, gegenüber ber franzöfifchen | 
franzöfirenven, ihr Lager auffchlug, it befannt. Aber verfchie! 





Klopſtock und der Markgraf Karl Friedrich von Baben. 425 


Berfuche mit andern Orten waren vorangegangen. Gleich ver Noahs⸗ 
:aube hatte der deutfche Geiſt, ehe er in ver von fremder Eultur über- 
ſchwemmten Heimath wieber feften Boden fand, mehrmals unverrich: 
teter Dinge in die Arche zurückkehren müſſen. Einmal wurden von 
Wien aus große Erwartungen erregt: aber e8 waren leere Worte ge= 
weſen. Auch an Eleinern teutfchen Höfen regte fich, zunächft neben 
ber Herrjchaft der franzöfifchen, das Intereſſe für die einheimifche Li- 
teratur. Der Herzog von Braunfchweig ftellte mehrere der Männer, 
welche als Herausgeber der fogenannten Bremifchen Beiträge an ver 
wiege ver jungen deutfchen Dichtung gejtanten hatten, an feinem Ca— 
relinum an und erwies ihnen auch perfünliche Gunft: Leffing freilich 
blieb unbeliebt auf der Seite ftehen. Die Landgräfin Caroline von 
Darmſtadt ſammelte Klopftods Oben: während ihr Gemahl das welt- 
berühnite große Erercierhaus baute. Der Markgraf Karl Friedrich von 
Baden berief den Dichter des Meſſias zu fich; aber dieſem gefiel es 
in bie Länge nicht am Karlsruher Hofe. 

Ueber dieſe Berufung Klopſtocks, feinen Aufenthalt an und feinen 
Abgang von dem Hofe Karl Friedrichs, ift bis jegt nur fehr wenig 
belannt, jelbjt Irriges verbreitet. Uns fegen handſchriftliche Quellen, 
durch wohlwollende Hand uns aufgefchloffen *), in den Stand, den er- 
ften urkundlichen Bericht darüber zu geben. 


Karl Friedrich von Buben trat die Regierung an, als Klopſtock 
noch auf der hoben Schule war (1746), und ftarb fechs Jahre nach 
Schillers Tode (1811); feine Regierungszeit erftredte fi von dem 
Fahre nach Friedrichs zweiten fchlefifchen Kriege bis in die Vorbe— 
reitungen zu Napoleons Zug gegen Rußland hinein. Er war, als er 
Klopſtock zu fich berief, noch ein Heiner Fürſt. Und noch Heiner hatte 
er angefangen. Nur tie eine Hälfte des altbapifchen Landes, bie 
Markgrafſchaft Baden-Durlach, war urfprünglich fein Erbtheil gewe- 
fen: erft durch das Ausfterben ver Linie Baden-Baden im Jahre 1771 
wear ihm auch diefe Hälfte zugefallen. Und doch betrug auch fo fein 

*) Durd ben Freiherrn E. von Uerküll, Großherzog. babifhen Kammer . 
bern und Oberforftrath in Karlsruhe, ver fich Leine Mühe verbrießen ließ, 
in Archiven und bei Privatperfonen nach Urkunden zu forfchen, Die bem 

A ich, ſein Abınten. 





426 David Friedrich Strauß, 


Gebiet nur etwa ein Viertheil feines nachmaligen und bes eigen 
Großherzogthums. Uber Karl Friedrich war recht eigentlich der Krecht, 
ber im Geringen treu ift und darum über Vieles gefekt wirb. OS 
das Scherzwort wirklich von ihm berrührt ober nicht, das er Aber ih 
und feinen Würtembergiſchen Nachbar, ven wohlbefannten Herzeg 
Karl, gejprochen Haben foll, daß der Eine Alles thue, fein Laub zu 
Grunde zu richten, ver Andere, das feinige emporzubringen, und Sel- 
ner von Beiden feinen Zweck erreiche: treffend ift e8 auf jeden Fall, 
mit Ausnahme des letzten Zufages in feiner Beziehung auf Baden; 
denn Karl Friedrich brachte e8 wirklich in Flor. Seine Verwaltung 
war eine wahre Mufterwirtbfchaft. Das väterliche Regiment, deſſen 
Name fo oft mißbraucht wird, bei ihm war es eine Wahrfeit, und zu _ 
feiner Zeit, d. 5. vor der Krifis, die den Schluß des alten und ven 
Anfang des neuen Jahrhunderts bezeichnet — und nur fo lange konnte 
er fich als Regent felbftjtänpig bewegen — war e8 auch noch am 
Plage. Wenn er heute lebte, würde ein Karl Friebrih am | 
wiffen, daß, eriwachfene Söhne noch wie Kinder behandeln zu Bang 
nichtS weniger als väterlich wäre. Karl Friedrich hob bie Leibeigess 
haft in feinen Landen auf, gewährte Freizügigfeit, bemühte ſich, die 
Landwirtbfchaft zu heben, orbnete den Staatshaushult, forgte für "Wie 
Schulen, und in feinen Erlaffen fuchte er mit dem Befehl wo möglich 
auch freundliche Belehrung feiner Unterthanen zu verbinden. 

Bei feinen Beftrebungen, den Wohljtand feines Landes zu meh— 
ven, waren ihm die Schriften der franzöfifchen Phyſiokraten von be- 
fonverem Intereſſe. Auf einer Reife nah Paris im J. 1771 machte 
er die Belanntfchaft des Marquis von Mirabeau, des fogenannten 
ami des hommes, und Duponts. Der Legtere hielt’ fich zwei Jahre 
fpäter eine Zeit lang in Karlsruhe auf, und wünfchte dem Markgra⸗ 
fen zu ſeinem Geburtstage in einem Gedichte Glüd. Darauf antwor⸗ 
tete ihm Karl Friedrich in reimloſen veutfchen Verszeilen unter Anbern: 

Wenn vaterländifche Töne 

Durch den Mund 

Zugendhafter Fremdlinge erklingen, 
Gefühl der Menfchheit auszudrücken: 
So freuet fi mein teutjches Herz. 
Mit alten Bardenliedern 





Mopftod und ber Markgraf Karl Friebrich von Baben. 427 


Sangen Tuiskons Söhne 

FR Don Treibeit, mit teutſchem Blut 

23 Zu theuer nicht erfauft u. |. f. *). 

PR wir hieraus, daß der Markgraf mit Klopſtocks Oben vertraut 
war, fo willen wir aus andern Proben, daß ihm die Entwidlung ber 
beutfchen Literatur, und Hand in Hund mit ihr der veutjchen Natio⸗ 
nalitãt, am Herzen lag. Noch fpäter, zur Zeit des Fürftenbundes, 
teug er fih mit dem Gedanken „durch eine nähere Verbindung ber 
aufgeflärteiten Gelehrten Deutjchlands unter ven Aufpicien ber einzel« 
nen Negenten auf ben Gemeingeift ihrer Völker hinzuwirken,“ und 
Server fchrieb auf feine Veranlafjung eine Denkfchrift über die Er- 
richtung eines patriotifchen Inſtituts für den Allgemeingeift Deutſch⸗ 
lando **), 

ALS Herber im Sommer 1770 auf der Reife mit feinem Holftein- 
Eutinifchen Prinzen in Karlsruhe war, Tonnte er bemerken, wie ihn 
ber Markgraf in der Hofgefellfchaft orbentlich aufſuchte, um fich mit 

m über bie großen Angelegenheiten von Fortſchritt und Menſchen⸗ 
Wohl zu beiprechen. Er nennt ven Markgrafen von Baden ven erften 
Bürften, ven er ganz ohne Fürftenmiene gefunden, ven beften, ber 
vielleicht in Deutfchland lebe ***), 


Was aber insbefondere Klopftoc betrifft, fo war er dem Mark⸗ 
grafen nicht blos als vaterländifcher, fondern auch als religiöfer Dich- 
ter werth. Mit feiner praftifchen Tüchtigkeit und Regſamkeit verband 
nämlich Karl Friebrich aufrichtige Frömmigkeit; ja ſelbſt von einem 
Ichwärmerifchen Anhauche war fein übrigens heller und geſunder Geift 
nicht ganz frei. Lavatern, der ihm feine Phyſiognomik zueigkete, hat 
er zum Legationsrath ernannt, und Yung-Stilling ift der Freund ſei⸗ 
ner alten Tage gewejen. In den fechsziger Jahren Hatte der Mark⸗ 
graf den Lübecker Böckmann als Profeffor der Mathematif und Phyſik 
an das Karloruher Gymnaſium berufen, 1773 venfelben zum Kirchen⸗ 
vath ernannt. Böckmann war ein guter Vorlefer und ein Verehrer 








*) &. von Drais, Geſchichte ber Regierung und Bildung von Baden un- 
ter Karl Friedrich, II. Bd. Beil. Nro. UL ©. 7. 
**) Herder's fänmtliche Werke, XXVIII, &. 608 fi 
... S. Herbers Lechensbilb, 


428 David Friedrich Strauß, 


ber Stlopftoc’fchen Dichtung: er Tas dem Markgrafen bisweilen aus 
ber Meſſiade vor, Gefpräche über das Gepicht und den Dichter knüpf⸗ 
ten fih daran, und fo kam es, daß Böckmann ven Auftrag erbielt, 
Klopftod mit dem Charakter und Gehalt eines markgräflicden Hof 
raths nach Karlsruhe einzularten. Es war im Sommer 1774. 

Bon 1751 bis 1770 Hatte Klopftod befanntlih in Kopenhagen 
mit einem Gehalte von 400 Thalern, den ihm der König Friedrich V. 
von Dünemarf auf die Empfehlung feines Minifters Bernftorf ause 
gefeßt hatte, feit 1763 mit dem Titel eines Legationsraths, gelebt. 
AS im September 1770 das Minifterium Bernftorf durch Struenfee 
geftürzt wurde, hatte fich der Dichter mit feinem gefallenen Gönner 
in Hamburg niedergelaffen. Erjt fchien es, als follte ihn fein Gehalt 
geftrichen werben; einen Abzug erlitt er fchon länger, und ficher war 
er bejjelben für die Zukunft keineswegs. Die Ausfichten nach Wien, 
bie ihm eine Zeit lang fo lockend erfchienen waren, hatten fich zer- 
fhlagen. Der Verſuch, den er fo eben mit feiner Gelehrtenrepubtit 
gemacht hatte, durch die Herausgabe Fünftiger Werfe auf Subfeription 
feine Eriftenz zu fichern, hatte Nachreden zur Folge gehabt, vie eine 
Wiederholung bejfelben nicht väthlich machten. So kam ihm ver Muf 
nach Karlsruhe ganz erwünfcht, und er bedingte fich in feiner Antwort 
an Böckmann nur aus, nicht gerade bejtändig daſelbſt ſich aufhalten 
zu müfjen. Darauf fehrieb ver Markgraf felbft an ihn, vrüdte feine 
Freude aus, ihn bald perfänlich fennen zu lernen, und „den Dichter 
ber Religion und des Vaterlandes in feinen: Lande zu haben«. Den 
„uneingeſchränkten Aufenthalt“ gefteht er ihm zu; „bie Freiheit, fchreibt 
er, iſt das eveljte Recht des Menſchen, und von den Wiljenfchaften 
ganz unzertrennlich.“ *) 


Im September 1774 reifte nun Klopſtock über Göttingen, wo er 
um Michaelis bei feinen begeijterten jungen Verehrern, ven Mitgliebern 
des nachmals fogenaunten Göttinger Dichterbundes einfprach, über 
Kaffel und Frankfurt, wo er das Göthe'ſche Hans befuchte, feinem 
neuen Beftimmungseorte zu. Wittlerweile fertigte der Markgraf feine 
Beitallung als Hofrath, mit einer fehr anftändigen Beſoldung, aus. 





*) Karlsruhe, den 3. Auguft 1774. Abgebrudt in der Karlsruher Zeitung, 
Jahrgang 1844, Nr. 841, S. 1747. 





Klopſtock und ber Markgraf Karl Friedrich von Baden. 429 


8 er angefommen war, wurben ihm die Reiſekoſten vergütet, und 
ı Weihnachten machte ihm der Fürjt ein Fäßchen alten Markgräfler 
Beines zum Gefchenf. *) 


1 





*), Wir ſetzen Diefe, dem badiſchen Landesarchiv entnommenen, bisher unge⸗ 
drudten Erlaffe, als Documente zur deutſchen Kiteraturgefchichte, in extenso 
bieber. 

I. 
Carl Friedrich von Gottes Gnaden ꝛc. ꝛc. 
Unfern Gruß, Edle, Hochgelehrte, Liebe, Getreue!. 


Wir haben gnädigſt beichloffen, den Königl. Dän. Legationsrath Friebr. 
Gottlieb Klopftod unter dem Hofraths⸗Charakter und Rang, und mit nach» 
ftehender, vom 23. d. laufenden. Monats und Jahres anfangenden Bejol- 
bung, ale: 

in Sb . 2 2 20200 .0528 fl. 

Dintl . 2 2 0 2 00. 24 Malter, 

Roggen. 2.2.12 „ 

Gerſte .. . 3, 

Wein .. .... 20 Ohm erſter Claſſe, 
in unſere Dienſte zu nehmen, und eröfnen Euch ſolches zur Verfügung 
dieſer Bejoldungs » Abgabe in jenen Yürftlihen Gnaben, womit Wir Euch 
ſtets gewogen verbleiben. 

Gegeben Carlsruhe, den 3. Oltober 1774. 

C. 5 M. z. Baben. 
v. Zahn. vdt. Meier. 
ad cameram. 

Zum Vollzug des Ob. an die Landſchreiberei Carlsruhe und bie Amte- 
felleret Durlach. 7. Ott. 1774. 


II. 
Carl Friedrih x. 


Da Bir Uns entichloffen haben, Unferem Hofrath Klopftod bie wegen 
feiner Auhero Reife gehabte Unkoften mit vierzig neuen Louisd'ors vergli- 
ten zu laffen, jo habt Ihr die Behörde zu beren Auszalung anzuweiſen. 
Imaſen Wir Uns verfehen und Euch in Gnaden gewogen bleiben. 

Gegeben Carlsruhe, ven 28. November 1774. 

kben. 


(Sontraf. unb Ib 
Pißerifge Zeitſchrift 


430 Dasib Friedrich Strauß, 


Auch perſönlich wurde Klopſtock von dem Markgrafen auf das 
Freundlichſte aufgenommen und behandelt. In Karlsruhe wohnte er 
in dem Haufe des Kirchenraths Böckmann; in Raſtatt, wo ber Hof 
fich zu Zeiten aufbielt, warb ihm ein Zimmer im Erdgeſchoſſe bes 
Schloſſes jelbjt eingeräumt.*) An beiden Orten bejuchte ihn ver 
Markgraf häufig auf feinem Zimmer und unterhielt fih Stunvdenlang 
mit ihm, wobei der Dichter in Schlafrod und Nachtmüge bleiben und 
e8 fich in jeder Art bequem machen durfte. Seinen Tiſch Hatte er 
an der fogenannten Marfchallstafel, und bier müffen wir eines Ge 
rüchts erwähnen, da® noch immer einiger Geltung genießt, obwohl es 
jo, mie e8 gewöhnlich lautet, eine bloße Fabel ift. Es Heißt nämlich, 
an die Marſchallstafel fich gewiefen zu fehen, Habe ver ‘Dichter des 
Meſſias fo übel genommen, daß er fich gar nicht gefegt, fonvdern mit 
einer Berbeugung wieder entfernt habe; ja auch fein unerwartet früb- 
zeitiger und plöglicher Aufbruch von Karleruhe wird mit dem Ver: 
druß hierüber in Verbindung gebracht. **) 





IH. 
Extractus fürftl. Rent-Sanımer- Protecelli d.d. 30. Dec. 1774. Gra- 
tialia. — Iſt eine miindliche Anzeige praesidii ill: daß Serenissimus 


bem Hofrat Klopſtock dahier 5 Ohm 1766r Wein Sulzburger Gewächß 
als ein Prejent gnädigft zugebacht haben. 

Conclusum: 
fiat decretum in deßen &emäsheit an bie Burgrogtey Badenweiler ꝛc. 


*) „Klopſtock logirte (find Die Worte einer bald öfter anzuführenden Dent- 
ihrift Über feinen Aufenthalt in Baden) au rez de chaussde, linfer Hand 
wenn man aufm inwendigen großen Schloßplaß ftebt,; nahe Bei ibm Hr. 
v. Edelsheim, die Hofdamen, und vornen hinaus andre Cavafiere. Weber 
ihm gnädigſte Herrichaften. ” 

**) S. das Journal von und für Deutichland, 1785, XI, ©. 498. 1786, 
V, S. 412. Tb. Mundt, in Knebels Leben, vor beffen Titerarifchen 
Nachlaß und Briefwechſel, I, S. xxv, mit fo fchnöden Bemerkungen über 
Klopftod, wie fie ein deutſcher Schriftiteller dieſer Epigonengeit Über einen 
ber Väter unfrer Dichtung ſich nicht erlauben follte. In noch unwürdi— 
gerem Tone freilich Spricht Danzel gelegentlih von Dem Dichter des 
Meifias, |. Leflings Leben und Werte, I, S. 207. 437. 493. 





Klopſtock und ber Markgraf Karl Friedrich von Baden. 431 


Diefes Gerlicht zu wiberlegen, hat, wie es fcheint in den achtzi- 
ger Jahren, ein Mann, der um bie Zeit von Klopſtocks Anweſenheit 
. eine Stelle an dem marfgräflichen Hofe befleivete, und beffen Namen 
wir zwar fennen, aber zu nennen nicht ermächtigt find, eine eigene 
Denkſchrift aufgeſetzt, vie abfchriftlich vor uns liegt. Er erzählt, wie 
er, mit Klopſtock ſchon von einer frühern Begegnung in Braunfchtweig 
ber befannt, ihn am erften Abend nach feiner Ankunft mit an bie 
Marfchallstafel genommen, neben ſich gefegt, und ihm über Perſonen 
und Gebräuche Auskunft gegeben habe. Auch in ter Folge habe Klop⸗ 
ſtock ſtets ohne Arges an dieſer Tafel gefpeist, zu welcher außer dem 
Dichter und dem Verfaſſer ver Denkfchrift nur Cavaliere Zutritt ges 
habt haben. In Karlsruhe fei übervieß diefe Tafel im gleichen Zim⸗ 
mer mit ver fürftlichen gewefen; wogegen in Naftatt Herrfchaft und 
Cavaliere in zwei verfchievenen Zimmern gefpeist haben. Dagegen 
nahm man den Staffee gemeinfchaftlih, und war wohl auch Abends 
zu Aſſemblee und Spiel wieder mit ven YFürftlichfeiten zuſammen. 
Das Alles ift ven Umftänden und Zeitverhältniffen jo durchaus an⸗ 
gemefjen, daß wir bie Wahrheit diefer Darftellung nicht verfennen 
Tönen, und die Entftehung jenes Gerüchte theild aus ben Bedürfniß, 
für Klopſtocks fehnelle Abreife einen Grund zu finden, theild aus dem 
eben damals auflommenven Wiverwillen gegen höfiſche Etikette erfläs 
ren müſſen. 

Wie human und vorurtheilsfrei ver Markgraf, bei aller unver- 
meiblihen Rüdficht auf Hoffitte, dennoch war, erhellt aus folgender 
Geſchichte, die fi während und aus Anlaß von Klopſtocks Anweſen⸗ 
heit zutrug. Daß der Dichter des Meffias in Karlsruhe angekommen 
fei, vernahm unter Audern auch ver ſchwäbiſche Seume, ver Xiterat 
Afſprung in Ulm. Raſch trat er die Wallfahrt an, und legte die 
18 Meilen zu Fuß zurüd. Er war bezaubert von Klopjtods leutſe⸗ 
ligem, einfachem Weſen, und hochbeglückt, daß er bie fünf Tage feines 
Aufenthalts alle Zeit, die ver Dichter nicht am Hofe zubringen mußte, 
um ihn fein durfte. Den Markgrafen aber, der von ter Sache hörte, 
erfreute der ehrliche Klopſtocksenthuſiasmus bes Wand⸗rors. Er ließ 
ihn zu fich rufen, und nachbem er fich &uferit nters 
halten, fagte er ihm, wenn er auf 
hören wolle, fo möge er & 








David Heinrich 


Kleivung, in der er feine Fußreiſe 
beginnt, der Hof iſt in Gala verf ſteht da. 
fieht er fi von einem Hofmann in bebenklicher Weife figizt u 
ſchon gefaßt, von diefem wegen feines, unhochzeitlichen Gewande 
die Thüre gewieſen zu werben: ba bemerlt ber Martgraf, wa 
vorbereitet. Schnell winkt er einem feiner Prinzen, ber alsbe 
Affprung tritt und ihn durch eine freundliche Anſprache ehrlich ma 

Auch Frievrih Heinrih Jacobi fam um jene Zeit nah f 
ruhe und fand fich von Mlopftod in hohem Grabe angezogen. #4 
Klopftock, ſchrieb er unmittelbar nachher an Sophie von Ta Nod 
für mich ein Ideal ächter menfchlicher Größe» Won jeber, bei 
er gegen Wieland, fei ihm Klopſtock in ſeinen Schriften als ein | 
derbarer Geijt erfchienen, ven er gewünfcht habe, einmal unmitt 
betrachten zu fünmen. Nun babe er ihn gejeben, winb in 
einen Menfchen erkannt, den er lieben und hochachten müffe. 
ſtlopſtock feinerfeits gewann Jacobi lieb, begleitete ihn bei feiner | 
reife bis Mannheim, blieb hier noch ſechs Tage mit ihm zufam 
und verſprach, ihn im nächſten Frühjahre in Düffeldorf zu Befuchen 

In Göthe's Dichtung und Wahrheit Iefen wir, dab am 
auf jener Schweizerreife, die er im Gefellfchaft der beiven Stolt 
und ihres Begleiters, des Grafen Hangwig, machte, nach Karls 
gekommen, und hier mit Klopftod, den er auf feiner Hinzeife in Fi 
furt befucht hatte, wieder zufammengetroffen jei. Er erzäblt, 
Klopſtock feine alte fittliche Herrfchaft über die ihn jo Hoch wereh 
ben Schüler gar anftändig ausgeübt, wie er ſelbſt ſich derſelben w 
unteriworfen, ımd fo, mit den Andern nach Hof gekommen, ſich 
einen Neuling ganz leivlich möge betragen haben. Er fpricht au 
bem von einigem befondern Unterredungen mit Klop i 
ber SFreumblichkeit, die diefer ihm erwiefen, auf feine Seite | 
und Bertrauen erwedt, und ihn veranlaßt haben, dem Altmeifter 
neneften Scenen feines Fauſt mitzutheilen, die Klopſtock freum 


y . 
rs 


*, Afſprung an Denis, Um 15. Robbr. 1774 Im Denis 
Nadlaf, U. S. 183 f. C. F. Eramer, Klopftod, in Fragmenten 
Briefen Kom Tellow an Eliſa, S. 198 f. | 

*.) 5.9. Jacobi’s amserlefener Briefwedhiel, I, S.203 f. 205 5. 21 















— 








Mopfiod und der Markgraf Karl Friedrich von Baben. 433 


aufzunehmen gefchienen. ®) Aber feltfam! um die Zeit, als Böthe 
auf feiner Schweizerreife wach Karlsruhe kam, ja fchon, als er biefe 
Reiſe antrat, war Klopjtod Längit wieder in Hamburg zurüd. Bet 
feiner Zurückkunft fand er die Stolbergd noch in Hamburg, ehe fie 
ih nach Frankfurt anfmachten, wo fie dann Göthe zum Mitreifen 
bewogen. Und auf jener Rüdreife nah Hamburg (auf die wir erft 
. fpäter zu reten fommen) war Klopftod am 30. März 1775 zum 
| zweitenmal bei Göthe in Fraukfurt gewefen. Am 29. April waren 
die Stolbergs noch immer nicht von Hamburg abgereist. Erſt zu 
Ente des Mai kann Göthe mit ihnen nach Karlsruhe gekommen fein; 
am 4. Juni war er bei feiner -Schweiter in Emmendingen auf dem 
Wege nad) Schaffhaujen. **) Es ift alfo Göthe wohl ohne allen Zwei⸗ 
fel mit den Stolberge am Hofe zu Karlsruhe gewefen, auch mögen 
fih die jungen Genies auch deßwegen fo leivlich aufgeführt haben, 
weil ihnen die Stätte, wo noch kurz zuvor Klopſtock geweilt hatte, 
heilig war, ver alfo auch aus der Ferne feine fittliche Macht über fie 
ausübte: aber anwefend war er damals in Karlsruhe nicht. Ebenfo 
fönnen bie vertraulichen Unterhaltungen mit Klopftod und die Mit- 





*) Göthe's Werke in 40 Bänden, Bd. XXII, ©. 342 f. 


**) Diefe Data find zufammengeftellt ans ben Briefen von Johann Heinrich 
Voß, beransgegeben von Ahr. Voß, I, S. 266—269. Briefe Göthe’s 
an Herder, herausgegeben v. H. Dünter und F. ©. Herder, ©. 52. 
Göthe's und Knebel's Briefwechſel, I, S. 7. Im die Chronologie 
biefer Dinge bat Guhrauer, indem er fie zu berichtigen meinte, durch 
einen leichtfinnigen Griff noch mehr Berwirrung gebradt. Er fett näm⸗ 
lich die erften Briefe Göthe's an Knebel, und damit das erfte Zufammen- 
treffen beider Männer, ftatt, wie man bis bahin that, in ben December, 
in ben Februar des Jahres 1774 (S. 5. Anm... Da nun aber Knebel, 
biernah am 13. Febr. 1764, feiner Schwefter die Weifung gibt, einen 
Brief für ihn unter ber Adreffe: An Herrn Legationsrath Klopftod in 
Karlsruhe, einzufchlieflen, fo müßte diefer fehen zu Anfang 1774 in Karle- 
ruhe gewejen fein, wo er noch nicht einmal die Einlabung dahin hatte, 
Und nun, wie meint man, daß fid) das Räthſel Id? Das Wort Xbr. 
bes Manuferipts, das offenbar December heißt, hat Guhvamer Februar ge- 
lefen! I 


are, 





454 David driebtich Strauß Xx 


theilung von Scenen aus Fauſt am denſtlben nicht in Karlsruhe 
dern müſſen bei Klopſtocks Durchreiſe durch Frankfurt ſtattgefu 
haben, Und da Göthe in einem gleichzeitigen Briefe Hagt, er | 
Klopſtock bei deſſen Beſuch auf der Rückreiſe, der Verwirrung we 
in die ihn feine Liebe zu Lili damals gefegt, nicht recht genießen | 
sten, *) fo ift e8 ohne Zweifel auf ver Hinreife gewefen. Die 
dächtnißtäuſchung ift groß, doch nicht die einzige im ihrer Url 
Gothe's Dichtung und Wahrheit, auch bei ver Entfermumg ber | 
und ber Menge der bazwifchenliegenden Erlebniſſe feineswegs 
greiflich. 

Aber die beiden Weimar'ſchen Prinzen, Karl Auguſt uno fi 
ftantin, mit ihrem Begleiter Anebel, die Göthe in Frauffurt fe 
gelernt hatte, trafen, als fie zu Ende 1774 nad Karlsruhe faı 
Ktlopſtock noch hier an. Den Prinzen Karl Auguſt far allerbi 
auch Göthe im Sommer darauf in Karlsruhe; allein dich war 
zweiter Befuch des Prinzen vafelbft, ver ven Zweck hatte, fein 2 
[öbnif mit der Darmftädtifchen Prinzeffin Luiſe ins Reine zu bein 
Dei jemem erjtern fanden der Markgraf und Snebel gegenfeitig gre 
Behagen an einander; über den Eindrud aber, ben Kepſtock auf 
gemacht, fchrieb Knebel an Göthe, wie diefer bezeugt, "herrliche or 
bie uns leider verloren find. **) An Karl Auguſt und Yinife me 
Klopftod einen Antheil, ber fih anderthalb Fahre ſpäter in dem 
kannten Ermahnungsbrief an Göthe feltfam genug Außert. 

Sollen wir nun des Nüheren berichten, wie ſich der Dichter 
Meffias in feiner neuen Stellung benommen, welde Figur er 
Karlsruher Hofe gemacht habe, fo ſcheint uns in der Dentjch 
unfres Hofgelehrten eine reichhaltige Quelle zu fliegen. Er beſchr 
uns, wie Klopſtock gekleidet und frifirt gewefen, ſchildert uns die 
nialifche Unordnung feines Zimmers, zeigt ums die Umfchläge ) 
Goldpapier, in bie feine fchriftlichen Sachen gewidel® Tagen, Täßt ı 
zufeben, wie er unbaß am Ofen figend, feine Pfeife raucht unbe 
Schaͤlchen Thee mit Eigelb trinkt, verräth uns das Pflafter, das 

r 4 





+, Göthe's und Anebel’s Briefwediel, I, S. 7. 
**) Gothe's Briefe an Knebel 1, S. 6. Mundt, Knebel's Leben, 
deſſen Nachlaß, I, S. XXV. 


u 





Klopftod und ber Markgraf Karl Friebrich von Baden. 435 


aus einer wunberlichen Griffe auf die Fußfohlen zu legen pflegte, gibt 
ung von feiner Unterhaltung, von feinen Liebhabereien, und befonvers 
don feinen Schwachheiten ausführliche Nachricht. In dem alfem ift 
gewiß viel Wahres, auch ift das Meifte mit dem, was wir fonfts 
ber von Klopftod wiffen, wohl zu vereinigen: und dennoch, weil dem 
Berfaffer die Fähigkeit oder der Wille fehlt, viefen Kleinigkeiten und 
wohl auch Stleinlichfeiten bie Größe des Mannes als Folie unterzu- 
legen, fo gibt feine Schilverung für fich genommen, von biefem einen 
ganz falfchen Begriff. Er hat feinen Mann nicht blos mit den Augen 
des Kammerdieners, fonderu, was fchlimmer ift, mit benen bes neidi⸗ 
fhen Höflings angeſehen. Wir wollen uns über den Charakter bes 
Berfaffers an fich kein Urtheil erlauben, wir fprechen nur von dem 
Bilde, das feine Dentfchrift uns von ihm gibt; ift doch mancher 
Mann beſſer als was er fchreibt, wie mancher freilich auch fchlechter ift. 

Sleih von vorne herein ijt er Bitterböfe auf den Kirchenrath 
Böckmann, deſſen Betriebe er Klopſtocks Berufung zufchreibt: oder 
vielmehr, er iſt auf Böckniann ſchon deßwegen böje, weil ver Auswär⸗ 
tige, rer Lübecker, fich als beutfcher Vorlefer „bei Serenissimo in- 
finuirta Hatte Als deutſcher DVorlefer aus dem guten Grunde, 
weil er feine andern Sprachen verftanden babe; er, der Verfaſſer, 
und der Marfgräfliche Bibliothefar hätten wohl auch noch in andern 
Sprachen Iefen können, doch haben fie das Fürftenvorleferamt für 
feine fo wünfchenswürbige Sache gehalten, um fich darum zu ftreiten. 
Nun kommt Klopftod und erhält für nichts und wieder nichts eine 
Befoldung von 800—900 fl.; der Landesfürſt zeichnet den Fremden 
vor ven Einheimifchen aus; Klopftod erweist dem Berfaffer ver Denk⸗ 
ſchrift nicht die Rückſichten, die diefer erwartete, hält ſich für fich oder 
zu dem gleichfall® fcheel angefehenen Böckmann; endlich reist er un- 
verfehens ab und wirft auf den Karlsruher Hof ven Schein, als wäre 
da dem Dichter nicht nach Würden begegnet worven; ja hinterher 
heißt es gar noch, er babe fich durch die Verweifung an die Mars 
ſchallstafel gefränft gefühlt, viefelbe Tafel, an welcher als einzige 
bürgerliche Ausnahıne figen zu dürfen, der Verfaffer fich zur höchiten 
Ehre rechnet! 

Hienad wird man Alles begreifen, und mm bügfen wir auch ge- 
troft einige der Schilverumg eilen, 








456 Ä David Frichih Etrauß 


ohne Furcht, dadurch Klopſtakaerwürdiges Bild zu entſtellen, be 
der Leſer uun das Licht hat, in welchem er dieſelben betrachten mu, 
Veberbieß wird jeder Zug, den unſer Ungenaunter macht, uns dent⸗ 
licher zeigen, welchen Zeichner wir vor -und haben, befoubers wen 
wie ihn felbft in feinem beutfch-franzöftfehen Hofjargen reben Iaffen. 
Und das foll er gleich hei ver Schilderung von ver äußern Erfde 
"nung des Dichters. „Sein Aufzug, fagt er, war fehr armfelig, ein 
abgejchabenes braunes Röckchen, boutonne partont, zuweilen ein ned 
mehr abgetragene® rothes, und wenn er gala muchte, in weißgranes 
mit goldenen Musquetaireborten; feine Perugue war alt unb.äbe 
accomobirt, und immer war fo was an feinem Anzuge, Bas man 
Mangel an Neinlichleit nennen mußte.« Dierüber wollen wir mit 
unfrem Gewährsmanne nicht ftreiten. 

Bon Klopſtocks gejelligem Benehmen berichtet Goͤthe, es ſul era 
und abgemeſſen geweſen, ohne ſteif zu fein, feine Unterhaltung beſtimmt 
und angenehm, feine Gegenwart habe etwas von der eines Diplome 
ten gehabt. *) Auch Fr. H. Sacobi, bekanntlich felbft eine Diploma» 
tiſche Perfönlichkeit, fchilvert ihn als einen feinen Weltmann, nım um 
fa viel zu populär, als er felbft, Jacobi, e8 zu wenig fei. **) Und 
wir begreifen dieſe Eigenfchaften des Dichters, da wir wiffen, daß er 
in Kopenhagen und zulegt in Hamburg eine Reihe von Jahren in 
dem feinariftofratifchen Haufe des Grafen Bernſtorf gelebt Hatte. 
Rah dem Verſe unferer Denkjchrift wäre Klopftod im Gegentheil 
„faute d’Education et faute d’usage du monde, ein Kartnädiger 
Rechthaber, ein grammatifalifcher, immer auf Einer Feier daherleiern⸗ 
ber Demonjtrator und Pebant,n feine Unterhaltung unerträglich mo 
noton und langweilig gewejen. Wobei übrigens unfer Dann doch fo 
billig ift, zu geftehen, am liebſten habe Ktlopftod gar nicht geſprochen 
und mit ihm und feinesgleichen lieber Schach fpielen als ſich unten 
balten wollen! 

Führen wir ben Dichter in einer beftimmten Scene vor, wab 
laſſen auch hier unfern Gewährsmann reden. „Während feines Hier 
ſeins, erzählt er, erfchien an einem jchönen Morgen ber Chevalier 





*) Gäthe’s Werke in 40 Bänden, XXI, ©. 228. XXII, G. 252. 
*) 8. 9. Iacobi’s anserlefener BVriefwechſel, I, &. 205. 








Klopſtock und ber Markgraf Karl Friebrich von Baben. 437 


Gluck mit feiner Frau und Niece ; fte waren an mich von Rath Riedel aus 
Wien addreſſirt, und durch mich dem Hofe annoncirt. Zween Abende 
nach einander regalirten fie ven Hof, wo aber außer ein paar Cavas 
lieren, Klopftoden und mir Niemand abmittirt wurde, mit ihrer gött« 
lichen Muſik. Der Alte fang und fpielte recht con amore manche 
von ihm in Muſik gefegte Stelle aus ver Meſſiade, Die Frau accom⸗ 
pagnirte ihn in cin paar andern Etüdchen, und die liebenswürbige 
Niece fang miehreremale das Liedchen (von Klopjtod) „Ich bin cin 
deutſches Mädchen,“*) bis zum Bezaubern; Klopſtock ftand immer in 
einer Ede over ſammelte Weyhrauch, wovon er fehr karg an 
biefe Lente was ausfpendete; fie gingen mit fürftlichen veichen Präs 
fenten begnadigt von uns nach Paris. Als fie nach Verlauf einiger 
Zeit von bort zurüdfamen, lud fie, fowie fie ankamen, der Minifter 
ven Edelsheim zu fi zur Mittagstafel, und ließ mir fagen, ich 
möchte auch kommen; ich fonnte nicht cher erfiheinen, als bis die Tafel 
beinahe zu Ende war; als ich Fam, hieß mich der Miniſter zwifchen 
ber Ville. Gluck und Hrn. v. M., dem jegigen Hofinarfchall, Platz 
nehmen. Sie fommen chen recht, fagte das holde Mädchen, und Sie 
follen zwifchen Herrn Klopſtock und mir entfcheiven. — Et de quoi 
s’agit-il? fragte ich. — Ob die franzöfifche Nation eine liebenswür⸗ 
bige Nation fei over nicht; das Lebte will Klopſtock durchaus behaup⸗ 
ten, und nicht nachgeben, ohngeachtet Herr v. P. bier — er faß zu 
ihrer Rechten — und Herr v. Di. ihm widerfprechen. — Et vous 
Madcmoiselle? fragte ih. — Ad, ich kann Ihnen nicht genug ſa⸗ 
gen, wie ich von ganz Paris, vom Höchften bis zum Niecbrigften, fetirt 
und nit Onabenbezeugungen, Zuvorkommungen und Bräfenten über: 
häuft worden bin. — Die Frage ift alfo eutjchieden, war meine Ant» 
wort; wer bie Nation fennen gelernt hat, findet fie mit Ihnen und 
uns liebenswürdig, und das ijt fie, malgré la haine du Nord; 
mag fie verachten, wer fie nicht kennt, er ift gejtraft genug. — Das 





*) Dit Bezichung hierauf jchrieb Gluck, ale Nanette bald darnach geftorben 
war, am 10. Mai 1776 an Klopfied: „Ihr deutſches Mädchen, 
das auf Ihren Beifall, auf Ihre Freunbichaft fo ſtolz war, if nicht mehr.“ 
S. Klopſtocks fünmt. Baken ” ” Schmidlin, 
Stuttgart 1839. Wh. I, © 





438 Davib Friebrich Strauß, 


Märchen ſtand auf, küßte mich auf beide Baden: lieber X., ſagte fie, 
Sie find mein Mann; auf Klopſtock warf fie einen Blick well Mitle- 
den; Alle applautirten, und ich machte Klopftoden ein Schnipecen: 
Apprenez, cher poödte, fügte ich zu ifm, & mieux juger les na- 
tions et & faire le complaisant vis-4-vis le sexe. O, das backe 
ich wohl! war feine ganze Antwort, und er blieb hartnädig nach wie 
vor.“ — Alſo Klopſtock Hätte feine wohlerwogene und mit feiner 
ganzen Perſönlichkeit und gefchichtlichen Stellung verwachjene Anficht 
von dem franzöfiichen Volkscharakter aufgeben follen, weil eine fo eben 
aus Paris mit Prüfenten und Huldigungen aller Art zurückkehrende 
Sängerin die Nation höchft liebenswürdig fand! 

Ebenso luſtig in ihrer Urt ift eine andere Gefchichte, die unfere 
Denkfchrift aufbewahrt hat. Bekanntlich war ver Dichter des Meſſiae 
in alfen Leibesübungen wohl erfahren, ein gewandter Reiter, Schlitt 
Schuhläufer und Springer, tem auf feinen Spaziergängen nicht leicht 
ein Graben zu breit, ein Zaun ober eine Hede zu hoch war. Er 
ging er eines Tags von Naftatt aus nach ter Tafel mit unjerem Ge 
währsmann und einem Hefcanalier nach dem benachbarten Luftfchleite 
Fuverite. Sie fchlugen den Fußpfad ein, ver fie an einen Graben 
führte. Ueber den Graben waren fonft Bretter gelegt, jett fehlten fie; 
die Brücke lag in einiger Entfernung. Ich fpringe hinüber, fagte ver 
Gavalier, ter gleihfall® ein erprobter Springer war. Wir fpringen 
Ihnen nad), rief Klopſtock. N’en faisons rien, detournons nous 
et passons le pont, ermahnte ver Hofgelehrte. Ci, warım bas? 
fragte Klopſtock. Parceque nous risquons et nous donnerons un 
ridicule, si tant en est, que nous dchapperons sans nous casser 
une jambe ou la cuissc. Ad, man muß nicht jo furchtfam fein, 
ermuthigte Der Dichter, fpringen Cie immer voran, Herr von M.! 
Der Herr von M. fprang glüclich hinüber; doch das jenfeitige Ufer 
war glatt und fteil; er glitfchte und verſank bis über bie Knie in ben 
Schlamm des Grabens. Mühfam wand er fi herans, „tout grot- 
teux,“ fagt unfer Berichterftatter, und feine weißen ſeidenen Strümpfe 
und feine zierlichen Beinkleiver waren nicht nur etwa couleur de bon, 
fentern boue tout pure.u Nun bequemte ſich Klopfted doch, über 
pie Brüde zu gehen, man beſchaute vie zum Glück menfchenleere Fa 

ssite, trat hierauf den Rückweg an; aber „um nicht das Gpectalel 





Klopſtock und ber Markgraf Karl Briebrich von Baben. 439 


ber Stabt und des Hofes zu werben, erzählt ver Hofgelehrte, mußten 
wir außer ber Stabt verweilen, bi® bie bidfinftere Nacht einbrach, 
und wir unter ihrer Hülle unbemerkt nach Haufe fchleichen und M. 
fih unfleiven konnte Ich mache hier Feine weitern Anmerkungen, 
fegt er hinzu, fie ergeben fich wohl von felbft.u Wir machen gleich» 
falls Feine. 

Die Vollendung des Meſſias im Jahre 1773 hatte dieſes Gedicht 
bamals in nenen Schwung gebradt. Schubart las e8 auf tem Cons 
certfaale zu Augsburg vor einer zahlreichen Zuhörerfchaft vor; auch 
in München hatte er während feines Aufenthalts tafelbft, für das 
Gedicht Propaganda gemadt. So äußerte mım eines Zuges in ber 
Taftenzeit 1775 ver Churfürft von Bayern, ver gute Max Joſeph, 
mit dem britthalb Fahre fpäter der bayerifche Zweig ber Wittelsba- 
cher abitarb, ten Wunſch, ſich aus dem Meſſias vorlefen zu Laffen. 
Unerachtet zu diefem Zwecke die (allein vollftändige) Octavausgabe 
ebenfo vienlich gewefen wäre, jo meinten doch die Hofleute, auch nur 
zum Vorleſen für einen fo hohen Herrn wäre die (niemals vollendete) 
Kopenhagener Quartausgabe anjtändiger; aber die war im bortigen 
Buchhandel nicht zu haben. Alfo wandte fih ver franzöfifche Lega— 
tionsfecretär in München au feinen Bekannten, ben Verf. unferer 
Denkfchrift, mit ver Anfrage, ob nicht, da jeßt der Dichter in Carls⸗ 
ruhe gegenwärtig fei, durch dieſen ein Exemplar jener hoffühigen Aus« 
gabe zu befemmen fein möchte? Der Markgraf, wie er von ber 
Sache hörte, war gleich bereit, das fchönfte Exemplar feiner Hofbib- 
liothek dem Churfürften zu verehren, und unfer Verf. follte es an ben 
Legationsfecretär fchiden. Allein Klopftod wollte die Sache felbft in 
die Hand nehmen, und von Hamburg aus ein Exemplar nach Mün⸗ 
chen ſchickeu laſſen. ‘Der Hofgelehrte, der ſich jenen Auftrag ungern 
entzogen fab, wandte die Gefahr des Verzuges cin: erhalte der Chur⸗ 
fürft das Buch nicht noch während ver Yaften, fo fei jtark zu bezwei⸗ 
fein, ob ex unter ven Zerftreuungen ber Ofterzeit noch dazu kommen 
werde, fich daraus vorlefen zu laſſen und für fein Seelenheil Nuten 
zu ziehen. Auf den Markgrafen machte dieſe Bemerkung Einprud; 
Klopftod, ver ohne Zweifel dachte, wenn es folche Eile babe, thue es 
einftweilen die Octavausgabe anch ne. Als fpä- 
ter nach feiner Abreife u 


y 





440 David Friedrich Gtrauf, et + 


Werthe von 12 Dufaten, von München aus im Einfchluß an ba 
Berf. ver Denkſchrift anlangte, und biefer für bas ihm emigangen 
Präfent gar noch Porto zu bezahlen hatte: da war für ihn bie Hab 
gier des Meffinspichters eine ausgemachte Sache. 

Als bei der Berufüng nad Karlsruhe Klopſtock meinen mie 
ſchränkten Aufenthalts verlangte, hatte ihm der Markgraf geantwen 
tet, einen folchen „werde er bei ihm jeverzeit haben.» Schon ans bem 
Beifage, daß er ihn bei ihm haben folle, erhellt, daß die Meinum 
nicht war, er könne auch anbersivo feinen Roh nehmen. Dem 
Markgrafen war 08 ja barımm zu thun, „ven Sänger ver: Religion 
und des Vaterlandes in feinem Lande, um feine Perfon "zu- Haben. 
So hatte es auch Klopftock felbft verftanden; denn auf einer Mittbei- 
fung von ihm beruht es, wenn Voß einem Freunde bericht, "jener 
habe ten Ruf des Markgrafen von Baden „mit dem Veringe; u 
er zuweilen feine Freunde befuchen bürfe, angenommen.“ Er wollte 
alfo in feiner nenen Stellung nur diefelbe Freiheit haben, die er and 
in Kopenhagen genoſſen hatte, von wo er auch oft Monate und balke 
Sahre, einmal fogar Jahr und Tag, in Deutfchland abweſend gewe⸗ 
fen war. So hatte er num gleich für den näcdjten Mai im Sims, 
erft in Düffelvorf den neugewonnenen Freund Jacobi zu beſuchen, 
dann die alten Freunde in Hamburg wieberzufehen. Wie lange er 
ba zu bleiben, wie früh over fpät auf feinen Poften zurückzukehren 
gedachte, bleibt dunkel. Dem Erfolge nad aber ſcheint es, bie Er- 
fahrungen des Winters haben ihn auf den Gedanken gebracht, fein 
Verhältnig allmählig in ver Art umzufehren, daß er, in Hamburg 
wohnhaft, nur bejuchsweife zuweilen in's Badiſche läme. Mum traf 
im März unvermuthet fein Bruder Carl Chriftoph, der feit 1766 
dänischer Legationsfecretär in Madrid gemwefen war (er fam fpäter in 
gleicher Eigenfchaft nach dem Haag) in Raftatt ein, und dieß beweg 
ben Dichter, bie Reife nach Hamburg, die er im Mai ohnehin, aber 
alfein, gemacht haben würde, nun Lieber in Begleitung feines Brudert 
etwa® früher anzutreten. 





Boß an Brüdner, Göttingen 15. Auguft 1774. Briefe von Zap, —2* 
of, 1, ©. 178. 











Klopftod und ber Markgraf Karl Friebri von Baben. 441 


Breilih war die Art, wie er fich verabfchichete, etwas 
jonderbar. Er verabjchiedete fich nämlich. gar nicht. Der Bruder 
war freundlich bei Hofe empfangen worden, hatte gleichfall® an ver 
Marfchallstafel gefpeist; nad) ver Abenptafel waren beide Brüder noch) 
mit Dr Xeuchfenring, der auch hier zum Vorfchein kommt, dem Verf. 
ber Denkfehrift und dem Hofcavalier, der beim Sprung über ben 
Graben fo übel weggefommen war, auf dem Zimmer des Dichters 
in munterem Geſpräch bis tief in die Nucht beiſammen; man ge- 
dachte fih am andern Morgen beim Frühſtück wieder zu ſehen, wo 
bie Flaſche ächten fpanifchen Weins genoffen werben follte, vie der 
Legationsfecretär fich anheifchig gemacht hatte, zum Beſten zu geben, 
und die der Hofcavalier, wie unfer Gewährsinann fich ausdrückt, be= 
reits „in Gedanken ſavonrirte.“ Aber am anvern Morgen über: 
rafchte fie die Nachricht, daß die Brüder fchon vor 7 Uhr weggefah- 
ren feien. Bor Tafel, da fie noch nicht wiedererfchienen waren, ragte 
der Markgraf mit bejorgter Miene bei allen Hofleuten herum, ob 
feiner etwas von Klopſtock wilfe? ob ihm vielleicht etwas Unange— 
nehmes begegnet, etwa Jemand grob gegen ihn geweſen fei? und vie 
Berjicherungen des Gegentheils, die er erhielt, fchienen ihn fo wenig 
zu beruhigen, al® der Scherz des Hofgelehrten über das ihnen ent— 
gangene Frühſtück zu ergötzen. Der Tag verging, die Klopſtocks ka— 
nen nicht. Des andern Morgens verlautete, fie feien in Karlsruhe 
gewejen. Man fchrieb dahin und erfuhr, daß fie an Klopſtock's Quar- 
tier im Böckmann'ſchen Haufe vorgefahren, ausgejtiegen und, nachdem 
fie etliche Sachen zu fich in ven Wagen genommen, wieder abgefah- 
ren feien; Böckmann hatte gemeint, nach Naftatt zurüd. Später er: 
fuhr man denn, daß jie durch Frankfurt gefomnten ſeien (30. März). 
Endlich nach drei Wochen traf ein kurzes Schreiben des Dichters ein: 
er babe fich bereven laffen, mit feinem Bruder nach Hamburg zurüd- 
zureifen; Abfchiev zu nehmen, würde ihm zu empfindlich gefallen fein, 
Daß Klopftocd ven Abſchied in ver Negel zu umgehen juchte, wifjen 
wir auch fonft. Das Abſchiednehmen ift ein abgejchmadtes Ding, 
pflegte er zu fagen, ober auch, was in feinem Munde baffelbe bes 
beutete: das Abfchiepnehmen hat Gottſched erfunden*). Der Hof 





2) C. 5. Cramer, Klopſtock, Gr und über ihn, II, S. 445 fi, Ze 


442 








der „Herr Hofrath AMe⸗⸗ das al cin gain er. vergeſſer 
ſollen *). 


2* 





S. 476 f. Anm. age, iun Taſchenbuch Mitriie, Zahırg. AU 
©. 352, Mattpifjsw's Erinnerungen:I, &.7302, “ 
*), (Aus dem babiſchen Landesarchiv.) 
Uuterthärigftes Promeme c 

Da der Hr. Hofrath Klopfſtock von — 5· vorhero biefe 
nigen Medicamenta, welche Er aus fürſtl. Hef-Apothele empfangen, ſcel 
diger maſen abzurichten, fo wolte demnach hochfürſtl. Reut Tamer⸗Tele 
gium unterthänigſt bitten, dieſen Betrag mit .7 -fl. 8 Fru., wie beifiegen 
ber fpecificierter Conto ausweiſet, ihme an. jeiner een u a 
ber Hofapotbede belüffern zu laffeı. le 1% 

Carlsruhe 19. Dec. 1775. —— Baer, 





Here Hoffrath Klopſtock beliebe für erhaltene Medicamente Folgendet: 
1774 | 


[nn 


Nov. 27. 8 Dofes Bulver . , ; ; ; R 16, 
Brechſafft 10. 

Dec. 10. 8 Doſes Pulver. d. 19. 25 — 16 7 6 
12. Pulver und Species zur Tiſane 52 

22. 3 Doſes Pulver und Laxiertranck. 46, 


1715. 
Jan. 2. 8 Doſes Pulver. db. 10. 19. 27. repet. 4 16 er 175.4 
Saden zum Alant Wein db. 10. 20. repet. P % 
6. Bilafler ’ i . . . : - 13 
25. China Pulver ü F - . . Tea 5 
Feb. 2, Sachen zum Mlant Wein . . . . 13 
Mart. 11. Beymenthee und Rhabarbara . ; : K 





Summa 7flL 8 
Baer. 


pv. fürftl. Hoffapothede. 





Verfügung auf ben Antrag bes Hofapothefers Bär auf Abzug zes 


Tf. 8 an Klopftods Befolbung zu Dedung einer umbezalt - gebfichenm 


Arzneirehnung: er habe fih an Kirchenrath Böckmann gu -menbe 
ben bie Befolbung bezalt werde. 22. Dee. 1778: . 


u %, 
apothefer in Karlsruhe meinte aber doch, bei ihm wenigſtens hätte 





| 








Hopftod und der Markgraf Karl Sriebri von Baben. 443 


Nun war diefer Abjchied von Karlsruhe wohl auch jet noch 
nicht gerade anf immer gemeint. Klopftod ließ feinen Wein und 
etlihe Möbeln im Böckmann'ſchen Haufe ftehen, obwohl er feine 
Zimmer von Oſtern an aufgab. Aus einem Briefe Bode's an Böck⸗ 
mann vom Sommer 1777 fehen wir, daß Klopftod das Jahr vorber 
eine Reife nach Karlsruhe im Sinne gehabt hatte, bie aber nicht zu 
Stande kam. Indeſſen verfichert er Böckmann, e8 fei ihm ein Ver- 
gnügen, fich oft an Karlsruhe zu erinnern, und beruft fich dafür auf 
das Zeugniß feiner Freunde. Angelegentlich erkundigt er fich wieder: 
holt nach dem Befinden der Mitglieder de8 marfgräflichen Haufes*). 
Des Markgrafen vor Allen gedachte er mit Liebe und Hochachtung, 
und machte ihn zum Gegenftand feiner Geſpräche. Cr vünfe fich 
nicht ein höheres Wefen wie bie meilten feiner Collegen; er wäre 
ald Privatmann werth, ein Fürſt zu fein. Seine redliche Sorge für 
das Wohl der Unterthanen, feine feltene, faſt ängftlihe Wahrhaftig- 
feit, feine Unzugänglichkeit für Schmeichelei wußte Klopftod zu rüh— 
men. „Sch verfichere Sie, pflegte er wohl zu jagen, und fagte damit 
in der That mehr als e8 fcheint, der Markgraf von Baden ift ein 
Mann, mit dem man etwas fprechen kann“ **), 

Auch einzelner anderer Männer, wie des Bibliothefar Molter 
und vorzüglich des trefflichen Geheimenraths von Edelsheim, gedachte 
Klopftod mit Anhänglichkeit, und mit Böckmann blieb er ſchon da⸗ 
durch in Verbindung, daß er diefem ven Auftrag gegeben batte, feine 
Naturalbefoldung für ihn zu Geld zu machen. Aber im Ganzen 
icheint doch ein Kreis, wie Klopftod ihn wünfchte und in Hamburg 
fih fchon gebildet hatte, ihm in Karlsruhe gefehlt zu haben, und 
wenn die Hofleute ter Mehrzahl nach dem Berfaffer der vielange- 
führten ‘Deukjchrift glichen, fo ift wohl zu begreifen, daß ver Dichter 
fich unter ihnen nicht heimiſch fühlen Fonnte. Mochte er daher viels 
leicht auch Anfangs im Sinne haben, einmal wieder eine Zeit lang 
nach Karlöruhe zu geben: je mehr er, nach Hamburg zurüdgelehrt, 
+) Aus handfchriftfihen Briefen im Befig des Hrn. Dr. Enil Bödmann 

in Heidelberg: Bode an Böckmann, Borftel 22. Juni 1777. Klop⸗ 
Rod an Nädmann, Hamburg 14. Oct. 1775 und 21. Auguft 1776. 
nd ©. 191. 








444 David Friedrich Strauß, 


ſich wieder im feine dortigen Verhältniſſe einlebte, deſto mehr verging 
ihm die Luſt dazu. Sonderbar! auch Göthe war ſpäter in Weimar 
einigemale nahe daran, auf- und davonzugehen; auch ihm machte 
böfifcher Neid feinen Aufenthalt bisweilen peiulichs und doch bie 
er. Wir fennen verjchtebene Fäden, bie ihır bielten; wer ftärfite wer 
aber doch immer das Verhältniß zu feinem fürjtlichen Freunde. Sa 
Gefühlen und Anfichten, Beftrebungen und Lebensgewohnheiten far- 
den fich beide ungertrennlich verwachlen. Ein Verhältniß biefer Ar 
nun fand zwiſchen Klopftod und dem Markzrafen nicht ftatt. Be 
all feiner Gediegenbeit als Menſch und als Landesvater mar bed 
Karl Friedrich Feine poetifche Natur wie Karl Auguft. Freilich anch 
Klopſtock nicht der friſche, bewegliche, der lebendigen Wirklichkeit ge 
öffnete umd fich bequemenve Göthe. Dazu kam, daß Göthe als Ser 
undzwanzigjähriger einem achtzehnjährigen Prinzen zur Seite trat: 
während Klopftod als Fünfziger an den Hof eines Fürſten ſich be 
rufen ſah, der ſchon 28 Jahre regiert hatte. Und, daß wir nidte 
verjchweigen: ganz Anrecht bat der Verf. ver Denkjchrift wicht, wenz 
er fagt, Klopſtock hätte in feiner laufe zu Hamburg unter feinen 
Epeichelledern bleiben follen. Cin Kreis von Verehrern und Ber 
ehrerinnen bajelbft hatte bereits angefangen, ven Dichter zu ver: 
hätjcheln. 

Während nun aber die Leute von der Art unferes Dentichrift: 
ftellere, welche ven Dichter, fo lange er da war, über alle Berge ge 
wünfcht hatten, jett ihm fein „ſchändliches Weggehen“ zum Verbre 
chen machten, blieb ihm der edle Karl Friedrich mit unverminderter 
Huld zugethan. Nicht nur, daß er dem Abgeygangenen fein Gehalt 
werer entzog noch jchmälerte. Er ließ ihn, menn ſich Gelegenheit 
bot, jeiner fortdauernden Gewogenbeit verſichern*). Auch Klopftod 
jeinerfeit8 rief jich dem Markgrafen von Zeit zu Zeit in's Andenken 
zurüd. In einer Ode: Fürjtenlob, ans dem Jahre 1775, Die mithin 
freilich auch noch in Baden ſelbſt gevichtet ſein könnte, gedenkt er feiner 
mit der Wendung, vie ſchmeichelnden Dichter, welche durch Berpötte 
rung unwürdiger Fürſten bie Dichtkunſt entweiht haben, tragen die 
Schuld, daß, ſagt er, 


9) S. den oben angeführten Brief von Bode an Böckmann. 











Klopſtock und der Markgraf Karl Friedrich von Baben. 445 


me... baß ich mit zitternder Hand 

Die Saite von Daniens Friedrich rührte, 

Sie werde von Babens Friedrich rühren 

Mit zitternder Hand.“ 
Als er fih im Sommer 1776 bewogen fand, das fchon erwähnte 
Ermahnungsjchreiben an Göthe wegen feiner und bes Herzogs Ver 
bensweife zu erlafien, theilte er es, fammt Göthe's Antwort und fei- 
nem Schlußworte, vem Markgrafen unter dem Siegel des Geheim⸗ 
niffes mit*). Gewiffe Leute verachten es ihm aber ſehr, daß er 
nicht mit einem eigentlichen Lobgedichte fich einftellte. „Klopſtock's 
Empfindſaukeit muß groß fein, Tpottet ver Verf. ver Denkſchrift, denn 
por lauter Gefühl für ven Fürften, Das Land, feinen Hof und uns 
alle fchtweigt feine Diufe noch immer, und die Ove: Badens Fürft 
oder Karlsruhe, muß einft fchön werben, zumal wenn ber gute 
rothe Markgräfler Wein, ven ihm ber Fürft ftatt Beſoldungswein 
zapfen ließ, einmal recht wirken wird." Im Herlit 1786 machte 
ver Markgraf mit zweien feiner Prinzen und dem Herrn v. Edels⸗ 
heim von Pormont aus einen Ausflug nach Hamburg, wo jie Klop- 
ſtock befuchten, der jeinerjeits nicht mebr nah Süddeutſchland Fam. 

Sechszehn Jahre vergehen von da an, daß wir von bem Ver—⸗ 

fchre Klopſtock's mit dem badifchen Hofe nichts mehr erfahren. Es 
war Die Zeit, während welcher durch die franzöfiiche Revolution und 
bie aus ihr bervorgegangenen Erfchütterungen jo manche Bande ge- 
lodert wurden. Auch Karl Friedrich war in die Bewegung binein- 
gezogen worden, aus ber er mit vermehrten Länderbeſitz hervorging. 
Seine Enkelin, 1793 tem Großfürften Aleranver vermählt, theilte 
jegt mit dieſem den rufjifchen Kaiferthron. Für Aleranvder war Klop⸗ 
ftod, nad deſſen erften Negentenhanplungen, von einer ungemeinen 
Begeifterung ergriffen worden. Er fah in ihm ven Fürſten bes Frie⸗ 
bens und der Menfchlichkeit, und alle jene Ideale, teren Verwirkli⸗ 
dung er von ber franzöfifchen evolution vergebens gehofft hatte, er⸗ 
wartete er num durch den jungen ruffifchen Selbftherrfcher in's Leben 
eingeführt zu fehen. In einer Ode hatte er ihn als denjenigen be- 
fungen, welcher den durch ben macebonifchen Groberer gejhänbeten 





*) Klopkod an Bödmann, 21. Ung. 1776 
diſteriſqe Zeitfärift L vand. 


ww: 
PR * 


2 


446 David Friedrich Strauß, 


Namen Alexander wierer zu Ehren bringen werde. Es wur bes Di 
ters letzte Täuſchung; die Enttäufchung zu erleben, blieb ihm erjſpa 
Seine Kräfte ſchwanden, er ging feiner Auflöfung entgegen. 7 
Durchreife einer babifchen Prinzeffin durch Hamburg (vielleicht k 
Erbpringeffin auf ver Rückkehr ans Schweden, we ein Unfall ihr d 
Gemahl geraubt hatte) gab ihm Anlaß, noch einmal an ren Ma 
grafen zu fchreiben. 

„Ich bin, fchrieb er denfelben am 10. Nobember 1802, feit ve 
Anfange des May's bald Frank bald kränklich geweſen, kurz, ich mer 
daß ich Das letzte Jahr vor dem achtzigften erreicht Habe. Die mı 
Befinden hat denn leider gemacht, daß ich die vortreffliche Techt 
von Ew. Hochfürftlichen Durchlaucht nicht gefehen Habe. Aber mei 
Frau*) hat Sie gefehen, und gegen biefe hat Sie fich fo lieben 
würdig betragen, daß ich mein Nichtfehen beinahe vergeſſen konn 
Ich bin fo glüdlich geweien, weranlaffen zu Können, daß ber Kaij 
von Rußland, ven ich liebe, mir für bie Ode (die ich Beifege) He 
Geſchenk gemacht hat, wie verſchiedne Gelehrte und Künftler von if 
erhalten Haben. Denn Er bat gefehn, daß jene Ode folche Abficht 
nicht Hatte, fondern daß fie allein durch Tiebende Verehrung entfta 
ben war. Bor einiger Zeit befuchte mich der ruffihe Oberkamme 
herr, und e8 war mir fein Feines Vergnügen, daß er tie eben ang 
kommenen, ſehr getroffenen Gypsabbildungen des Kaiſers und Cein 
Gemahlin bey mir fand, und ich nun fo gute Gelegenheit Hatte, vı 
Ihm und von Ihr recht nach Herzensluft zu fprechen.“ 


Sofort legt Klopſtock dem Markgrafen feinen Wunſch, durch Ve 
mittlung des ruſſiſchen Geſandten griechiiche Manuferipte „aus d 
großfultanifchen Polterkammer⸗ zu Lefommen, an's Herz, wobei 
auch eines gejcheiterten Verſuchs, burch Fürfpradhe von Wien aı 
etwas von ben berfulanifchen Handſchriften zu erhalten, Erwähnur 
thut, und fährt dann fort: „Ew. Durchlaucht vermuthen gewiß vı 
mir, ohne daß ich es Ihnen füge, daß mir Ihr weifes Betragen bi 





*) Mopftod’8 zweite Frau, Johanna Elifabeth, geb. Dimpfel, vertittmi 
von Winthem, eine Nichte feiner 1758 werfiorbenen Meta, mit ber 
fih noch in hohem Alter, 1791, verheirathet hatte. 





Klopftod und der Markgraf Karl Friebrich won Baden. 447 


Ihren Befinehmungen nicht wenig Freude mache; aber erlauben Sie 
mir gleichwohl, daß ich e8 Ahnen fage. — Mein vortrefflicher Arzt, 
ber zugleich mein Freund ift*), befucht mich feit dem Anfang des 
Mays beinah alle Tage; allein wegen ber biefigen Theurung faft 
aller Sachen, vie ſchon lange gedauert hat und noch fortbauert, bin 
ich nicht im Stande, mich gegen ihn, ver e8 doch bevarf, erfenntlich 
zu bezeigen. Dieß drüdt mich; aber nach meiner Denfart drückt es 
mich auch, gegen Ew. Durchlaucht hiervon Erwähnung zu thun. Ich 
überlaffe mich indeß mit Ruhe Ihrer edlen Art zu verfahren. Ew. 
Durchlaucht wiffen, mit welcher Verehrung und Liebe ich immer war 
und ſeyn werde — Der Ihrige, Klopfted.« **) 

Der Markgraf antwortete am 18. December freundlich theilneh⸗ 
mend; in der Hanbfchriftenfache bebauerte er, nichts thun zu können; 
für den Arzt aber fügte er 10 Louisd'or bei. Ein Vierteljahr nach- 
her gab Klopſtock's Bruder Victor Ludwig, ber mit dem. Xitel eines 
batifchen Commerzienraths als Herausgeber der Hamburgifchen Aoreß- 
Comptoir⸗Nachrichten in Hamburg lebte, dem Markgrafen Nachricht 
bon den am 14. März 1803 erfolgten Ableben des Dichters. Er 
batte noch felbft dem gütigen Fürſten danken wollen; aber feine raſch 
zunehmende Schwäche hatte e8 verhindert. „In feiner Krankheit, 
fehreibt der Bruder an den Markgrafen, hatte er eine fehr heitere und 
frohe Stunde: Diefe war, wie ihm einer feiner Freunde Em. ‘Durch: 
laucht Erklärung: Meine Antwort auf die Dankfagung des Landes 
nach Aufhebung ber Leibeigenjchaft, 1783***), brachte. Er kannte fie 
“noch nicht; Thränen ver Freude, der innigften Rührung über dieſes 
Denkmal tes vortrefflichften Fürften ‘Deutfchlands, rolleten auf bes 
Greiſes Wangen herab. Er ließ mich mit Eile holen, empfahl mir 
bie Belanntmachung in meinem Sntelligenzblatt, und freute fich, fie 
barin zu lefen. Welche frohe Augenblicke es ihm machte, das Blatt 





2) Als Klopſtock's Aerzte, die zugleich feine Freunde waren, nennt 5. I. 2. 
Meyer (Skizzen zu einem Gemälde von Hamburg V, ©. 129) Heife 
und Reimarus. Wahrſcheinlich ift oben ber Erftere gemeint. 

**) Aus dem babilhen Laubesarchiv. Unſers Wiffene bis jeit nirgenbe ge- 
druckt. 

ees) S. das Altenſtück bei v. Droie, II, ©. ! 








⸗ “ 


448 u I Dayib griedtich Strauß i 


feinen Freunden Iu geben und von bem vortrefflichen Fürften u 
chen zu jprechen; davon bin ich oft Zeuge geweſen, Wie es | 
wurde, daß Ew. Hochfürftlichen Durchlaucht Staaten mit jo 
tauſend Menfchen vergrößert worden, fo befebte ihn ber Gebaui 
fo viele Menfchen glüclicher wurden, mit der lebhafteſten Fı 
Das hiedurch aufgefrifchte Bild feines fürftlichen Wohltbäter 
in die Träume des fterbenden Dichters übergegangen, Einmal, 
Erwachen aus einem erquidenden Schlummer, erzählte ex, ven | 
grafen von Baden im einem Schloffaale von en I 
gefehen zu haben *#), 

Karl Friedrich ließ die Tovesaungeigelhiigt — 
werben, ſchrieb er am 25, März dem Cemmerzenratt mad) ı 
Ihrem feligen Bruder gewidmeten Freunbfchaft und 
meſſen, welches aufrichtige Beileid Ihre mir unter dem 15. 
d. J. gemachte Anzeige feines Ablebens in mir erregte. Imme 
mir deſſen Andenken ſchätzbar jein«**), — 
nicht: fo wenig als Klopftock's Wort über ben Markgrafen, er j 
Mann, mit dem fich etwas fprechen laffe, jo geflinigen Hatte, | 
waren fich menfchlich nahe gefommen, und da ift Schägung, we 
bleibt, mehr wertb als Bewimderung. Friedrich der Große, ma 
er feinen Boltaive eine Zeit lang bei ſich gehabt Hatte, fuhr 
fort, ihn zu bewundern, aber ſchätzbar kann ihm der Mann mic 
blieben fein. 











5.598 Meyer,a. a. O. 6. 134. 
**) Die Briefe, gleihfalls ungebrudt, aus bem badiſchen Lan desarchiv. 








IV. 
Der Berfaflungslampf Islands gegen Dänemark. 


Bon 


Konrad Maurer. _ 
I. 


Der Beginn des Isländiſch⸗Däniſchen Verfaffungsftreites ift auf 
ben Zeitpunkt zurüdzuführen, in welchem Dänemark zuerft feine bes 
rathenten Provinzialftände erhält. Seit ver Erlaffung des Königs⸗ 
gejeges war in Dänemark die abfolute Monarchie feftgeftanvden. Für 
Island war dieſes Geſetz allerdings eben fo wenig vechtsgiltig ge 
worden als für die Herzogthümer; aber hier wie bort war unter 
deſſen Einfluß wenigftens de facto abfolutiftifch genug regiert worden. 
Wenn der Schleswig Holfteinifche Yandtag, ohne daß doch je eine 
Aufhebung ber Yandesverfaffung erfolgt wäre, feit dem Sabre 1712 
nicht mehr berufen wurde, fo war auf Island vie gefeßgebende Ges 
walt des Alldings allmälig in Vergeffenheit gerathen, und bie völlige 
Abſchaffung diefer Verfammlung im Jahre 1800 Hatte kaum noch ir- 
gend welche politifche Bedeutung gehabt. Als nun aber im Gefolge 
ber Yulirevolution für die Herzogthümer ſowohl als für das König- 
reich Landtage, wenn auch mit ſehr bejchränkten Befugniſſen, einges 
führt wurden, mußten nothwenbig die bisher unklaren und halbwegs 
dem Gebächtniffe entfchwundenen Rechtsverhältniſſe ver nicht bänifchen 
und doch dem Dänenkönige untergebenen Lande in ein ſchärferes Licht 
gefegt werben. 

Unter dem 11. Febru⸗ Friedrich VI. bie 


450 Konrad Maurer, 


Dänische fowohl als Die Deutfche Kanzlei angewiefen, für die Her 
zogthümer und für Dänemarf einen auf die Einführung berathenver 
Provinzialftände begründeten Verfaffungsentwurf vorzulegen. Durch 
Verordnung. vom 28. Mai 1831 wurden fobann bie allgemeinen - 
Grundzüge feftgeftellt, welche für vie Einrichtung der Provinzialftände. 
in Dänemark maßgebend fein follten; für bie Inſeldänen und für bie 
Jütländer follte danach je ein eigener Landtag begrüntet, ber erftere 
aber auch von Island mit 3 Abgeordneten befchicdt werben. Zur Bes 
rathung des Verfaffungsentwurfes wurde durch Verfügung vom 23, 
März 1832 eine Commiffion nicvergefegt, in welche zur Vertretung 
Islands der frühere Stiftamtmann Graf Moltfe und ver geheime 
Arhivar Finn Magnüsſon berufen wurven; zugleich erging an vie 
Amtleute in Island ver Auftrag, nach vorgängiger Berathung niit 
ben verftändigften Leuten im Lande, Beninten wie Nichtbeamten, über 
bie zweckmäßigſte Organifation der Wahleinrichtungen ein Gutachten 
zu erftatten. Dur Verordnung vom 15. Mai 1834 erfolgte endlich 
bie wirkliche Einführung der Provinzialftände in Dänemark, wobei bie 
Betheiligung Islands an dem Lanttage der Inſeldänen feftgebalten 
wurde, boch fo, daß das Land biefen nur mit 2 Abgeordneten befchi- 
den follte, während ein Dritter den Färöern zugewiefen wurde, 
welche man Anfangs völlig vergefjen hatte. 

Bereits die Bekanntmachung ber oberften Gruntzüge des neuen 
Verfaſſungswerkes hatte inzwifchen lebhafte Erörterungen über beren 
Zweckmäßigkeit hervorgerufen, und es konnte nicht fehlen, daß babei 
gelegentlih auch auf die Stellung ein Blick geworfen wurde, welche 
den Isländern in ber zu ſchaffenden Reichsorganiſation zugebacht 
war. Bon dänifcher Seite fogar wurde mehrfach hervorgehoben, wie 
wenig biefe Stellung den eigenthämlichen Zuftänden und der gefchicht- 
lihen Entwidlung der Inſel entfpreche; dem Isländer vollends mußte 
das gleiche Bedenken noch weit entfchievener aufjteigen, und zugleich 
eine ganze Reihe von Thatſachen fich varbieten, welche einer Verwirk- 
lihung des BVerfafjungsprojectes foweit feine Heimat in Frage war 
fich bindernd in den Weg ftellten. In ver Literatur verfocht zumal 
ber für fein Vaterland viel zu früh verftorbene Baldvin Einarsſon 
vor dem Dänifchen ſowohl als vor den Isländiſchen Publikum tref- 
fend die Nothwendigkeit einer felbjtftänpigeren Stellung ber Inſel, 





Der Berfaffungslampf Islands gegen Dänemark. 451 


und zumal der Einführung eines eigenen Isländiſchen Landtages ; ') 
aber auch vie zur Berichterjtattung aufgeforberten Beamten wußten 
feine auch nur einigermaßen paſſende Wahlorbnung vorzufchlagen, 
und in der zur Berathung des Verfajfungsentwurfes niebergefeßten 
Commiſſion wurde von den Vertretern Islands gleichfalls geltend ges 
macht, daß ber Inſel nur durch die Gewährung eines felbftftändigen 
Landtages geholfen werben könne. Bei der Publication der Verfaffung 
von 1834 mußte der König, weil es unmdglich erfchien Wahlen für 
Island zu Stande zu bringen, ſich entjchließen „für dieſes Malu von 
dem Wuhlrechte des Landes völlig abzufehen, und wie beiden zu beffen 
Vertretung beftimmten Dinner felbft zu ernennen! — Unter folchen 
Umſtänden begann bald aud auf Ysland felbft eine Bewegung gegen 
bie wibernatürlihe Verfaſſung, welche der Inſel octropirt werben 
wollte. Von dem Amtmanne Bjarni Thorarenjen und dem Shifel- 
manne Paul Melſted eifrig gefördert, cireulirten in allen 3 Aemtern 
des Landes Petitionen um bie Errichtung eined beſondern Landtages 
für Island, und die Adreſſe ver Südländer wenigftens ging im Jahre 
1837 mit zahlreichen und ſchwer wiegenden Unterjchriften bedeckt nach 
Kopenhagen ab. Gegen biefe mannigfachen Anfechtungen feines Ver⸗ 
faſſungswerkes konnte der König, obwohl einer freiern Geftaltung ber 
politifchen Zuftände Nichts weniger als geneigt, doch nicht völlig 
taub bleiben; aber freilich war vie Abhülfe, welche er den Beſchwer⸗ 
den Islands angebeihen zu laffen fich entfchloß, eine in jeber Bezieh⸗ 
ung ungenügende. Durch Verfügung vom 22. Auguft 1838 wurbe 
nämlich eine Commifjion aus 10 höheren Beamten ver Inſel gebilbet, 
welche jedes zweite Jahr an dem Hauptorte, Reykjavik, zufammentreten, 
und für das Land wichtige Angelegenheiten in Berathung ziehen follte. 
Eine Vertretung der Intereſſen Islands wurde fomit allerdings bes 
ſchafft; allein diefe war zufolge der geringen Anzahl der Commiſſions⸗ 
mitglieber, ihrer Eigenſchaft als Beamter, enblicy ihrer Ernennung 
durch den König in durchaus unfelbitftändiger Weife zufanmengefegt, 
und mußten überbieß deren Arbeiten, foweit folche auf die Gefetge- 





1) Om de danske Provindsialständer med specielt Hensyn paa Island; vgl. 
Dansk Literaturtidende, 1832, nr. 27—8; ferner Armann d alpingi, 
1882, 13-66. — 





452 Konrab Maurer, 


bung des Landes ſich bezogen, jeberzeit erft noch bem Propvinciallans 
tage der Inſeldäͤnen zur Verhandlung und Abſtimmung vergeleg 
werben! 

Sünftiger geftalteten fich die Ausfichten für Jsland, als Frie 
drich VI. ftarb (3. December 1839). An vie Thronbefteigung feines 
Nachfolgers, Chriftians VIII, nüpften fih in Dänemark felbft de 
fühnften Hoffnungen einer Aufbefferung der Verfaffungszuftände, m 
in mancherlei Glückwunſchadreſſen fanden viefelben ihren mehr eder 
minder unumwundenen Ausdruck. Auch die in Kopenhagen anweſenden 
Isländer überreichten Namens ihres Vaterlandes eine folche, und er⸗ 
baten fich für dieſes neben einer Reihe anderer Verbefferungen auf 
bie Einführung eines felbftftändigen Yaubtages. Aber auch noch ven 
einer anderen und weit gewichtigeren Seite her war inzwifchen ber 
gleihe Wunfch aufgefprochen worben. Gleich bei ihrem erfien Zw 
fammentritt war der Commiffion zu Repkjavif neben einer‘ Reihe aw 
derer Punkte auch die Frage zur Berathung vorgelegt worben, iie 
eine geeignete Einrichtung ver Wahlgefege für das Land Island zu 
treffen fei, joweit basfelbe für fich Abgeorbnete zum Landtag für 
Seeland und eine Reihe anderer Bezirke zu wählen habe, und wie 
man überbieß bezüglich ver Tragung ber Koſten zu verfahren hake, 
welche aus der Wahl und dem Site ver Abgeorpnieten auf bein Land⸗ 
tage fich ergeben. Die Commiſſion, über deren Verhandlungen ein 
überfichtlicher Bericht gebruct wurde, ') hielt ſich zwar nicht für be 
rechtigt, radicale Berfaffungsveränderungen zu beantragen, und legte 
demgemäß wirklich einen Wahlgefegentwurf vor, welcher fo weit nur 
irgend möglich mit dem bänifchen Wahlgefege übereinftimmend gehal- 
ten war; fie erklärte aber zugleich, daß jener Entwurf ihre nur ale 
ber relativ befte erfcheine, an und für fich aber durchaus Nichts Lange, 
— daß eine Beichidung der Verſammlung zu Rocsfilde dem Lande 
lediglich eine neue Laſt aufbürbe, aber keinerlei Vortheil verfpreche, 
ba Bei der Verfchiedenheit der Zuftände Dänemarks und Islands ge 
beihliche Verhandlungen nicht zu erwarten feien, — daß fomit jener 
Landtag für Island nicht ald ein Gnadengeſchenk anzufehen, und wes 








) Tidindi fra nefndarfundum Islonzkra embettismanna { Reykjavik, 
&rin 1839 og 1841; herausgegeben von borsteinn Jönsson, 1842. 





Der Berfaflungslampf lands gegen Dänemarf. 453 


ber geeignet fei auf bie Belebung des bortigen Volksgeiſtes förderlich 
einzumwirfen, noch auch ver Regierung über die Lage und bie Berürf- 
niffe der Inſel verläßige Aufklärung zu verfchaffen. Demgemäß hält 
die Commiſſion dafür, daß es unter gegebenen Umftänden um wenig- 
ſtens vergeblihe Koften zu erfparen am Ende noch am Beften fei, 
wenn auf vie Wahl ber Vertreter Islands nach wie vor völlig ver- 
zichtet, und deren Ernennung dem Könige felbft anheimgeftellt werbe; 
die Kanzlei ſowohl als die Rentekammer in Kopenhagen erklärten fich 
mit dieſem für Die Lage ver Dinge höchſt charakteriftiichen Gutachten 
im Wefentlichen einverftanden. — Diefe von den verfchiedenften Sei« 
ten übereinftimmend einlaufenden Wünfche und Bedenken blieben in 
ber That nicht ohne Erfolg. Den Isländern ohnehin freundlich ges 
finnt, erließ Chriftian VIII unterm 20. Mai 1840 ein Reſcript, 
durch welches bie Kanzlei angewiefen wurde der Commiſſion zu Reb- 
kijavik bei ihrem nächiten Zujammentritt die Frage vorzulegen, ob 

nicht die Einführung eines berathenden Landtages auf Island ſelbſt, 
gebilvet aus gewählten Abgeorbneten fowie einigen vom Könige zu er- 
nennenden Mitglievern, zweckmäßig erfcheine, im Bejahungsfalfe follte 
dann tie Commiſſion über den Zeitpunkt der Situngen und bie per 
riodifche Wiederfcehr der Verfummlung, deren Gompetenz viefelbe wie 
bie der übrigen Provinziallandtage fein follte, fowie über die Aufbrin- 
gung der durch fie erwachſenden Koſten berathen, und insbefonbere 
auch darüber fi) ausfprechen, „ob e8 nicht am Richtigſten fei, ven 
Landtag Allding zu nennen und ihn auf Pfngvellir abzuhalten gleich 
wie das alte Allting, und ihn nach deſſen Borbilde einzurichten fo= 
weit vieß gefchehen Fönne.» Kaum war dieſe Verfügung erlaffen, jo 
votirten auch bereits die in Kopenhagen anweſenden Isländer dein 
Könige eine in den wärmften Ausdrücken abgefaßte Dankadreſſe; ver 
Stand aber ber Verfaflungefrage für Island war durch fie mit einem 
Male ein völlig anderer geworben. 

Wenn e8 überhaupt noch eines Beweiſes bafür bepurfte, daß ver 
Verfaffungszuftand wie ihn König Friedrich VI. gefchaffen hatte für 
Island ein abfolut unleivlicher fei, fo waren die Verhandlungen, zu 
welchen vie zulegt angeführte Verfügung den Anftoß gab, ganz bazu 
angetban benfelben zu liefern. Die Beamtencommiffion zu Reyljavik, 


454 Konrad Manrer, 


welche am 5. Juli 1841 zufammentratt, ') bezeugte zwar fofort bei 
ver erften Verhandlung der Trage die allfeitige Ueberzeugung von ber 
Nothwendigkeit eines befonderen Landtags für Island, votirte dem 
Könige ven Dank des Landes für die in Ausficht geftellte Einführung 
eines folchen, indem fie zugleich um ſchleunigſte Verwirklichung dieſer 
Abficht bat, nahm endlich auch mit Freuden den Vorfchlag an, bie 
neu zu begründende Verſammlung Allding zu nennen, Aber die Com⸗ 
miſſion hielt auf der anderen Seite dafür, weil die Kompetenz bes 
neuen Alldings biefelbe fein folle wie die der übrigen Provincialland- 
tage, müße auch deſſen Organifation eine viefer letzteren möglichft 
ähnliche fein; fie glaubte demnach von den Einrichtungen ber bäni- 
ſchen Provinzialverfammlungen höchftens infoweit abweichen zu bürfen, 
als dieß Die eigenthümlichen Zuftände Islands abfolıt forderten, wenn 
auch dadurch bie größte Verfchievenheit von der in dem Nefcripte im 
Bezug genommenen Berfaffung des früheren Allvinges bebingt fei. 
Deingemäß entfchieb fich nicht nur die Mehrheit, was gute Gründe für 
fih Hatte, gegen die Wahl ver alten Dingftätte als Verfammlungsort 
und für Reykjavik, fondern man trat auch in anderen und wichtigeren 
Fragen ven nationalen und liberalen Wünfchen und Forderungen 
fohroff in den Weg, um nur in möglichft flanifcher Weife an das 
vorliegende dänische Mufter fich anfchließen und überhaupt dem Dänen⸗ 
thume fich dienftbar erweifen zu können. So wurde 5. B. zwar bie 
Zahl der zu wählenden Abgeoroneten auf 20 gefegt, wozu dann noch 
4 bis 6 vom Könige zu ernennende Meitglieder kommen follten, vie 
Wahlberechtigung aber an ein beftimmtes Kataſtermaß von Grundbeſitz 
geknüpft, welcher zu Eigen oder zu Leibrecht an Gütern des Königs 
ober öffentlichen Stiftungen gehen follte, obwohl man fich ver Schwie- 
rigfeiten recht wohl bewußt war, welche die Aufftellung eine® berarti- 
gen Cenfus zur Folge haben mußte; fo wurde ferner zwar befchloffen, 
baß alle Verhandlungen und Protokolle des Allvings in Isländiſcher 
Sprache zu führen feien, daneben aber dennoch den dieſer Sprache 
nicht Mächtigen der Gebrauch der Dünifchen verftattet, und ber Vor⸗ 
figende angewiefen, ſolchenfalls für gehörige Verbolfmetfchung ver Ne 





1) Vergleiche hinfichtlich ihrer Verhandlungen ben in ber vorigen Anmerkung 
angeführten Bericht. 





Der Berfaffungslampf Islands gegen Dänemarl. 455 


ben zu forgen. U. vgl. m. Wie leichtfertig man bei der Abfaffung bes 
Entwurfes zu Werke gegangen war, zeigt am Beften die Thatſache, 
baß bereit8 wenige Wochen nach deſſen Entftehung ber Referent ver 
Commiſſion felbft, Kammerrathd Paul Wielften, einen auf völlig andere 
Grundlagen, nämlich auf das Prinzip der inbirecten ftatt ber birecten 
Wahlen und eine fehr erhebliche Ausdehnung ber Wahlberechtigung 
gebauten Vorſchlag an die oberjte Behörde einreichte, eine Anzahl an⸗ 
derer Commifjionsmitgliever venfelben in vielen Stüden fachgemäß 
fand, und der Stiftsamtmann in dem Berichte, mit welchem er den⸗ 
jelben einfanbte, zwar nicht für venfelben, wohl aber für bie völlige 
Freigebung mindeſtens der Wählbarkeit fich erklärte). Die bänifche 
Kanzlei jelbit bezeichnete al8 wünfchenswerth, daß der Commiſſions⸗ 
Entwurf in manchen Beziehungen den Verhältniffen des Landes beßer 
angepaßt wäre;« dennoch aber wurde berfelbe von ihr, nach vorgän⸗ 
gigem Einvernehmen mit der Rentefammer, mit geringfügigen Aen⸗ 
derungen begutachtet! — Der fo zur Welt gefommene Entwurf eines 
Verfaffungsgefeges für Island Hatte aber noch ein weiteres Stadium 
zu durchlaufen, ehe es ihm beſchieden mar gefegliche Kraft und Gel⸗ 
tung zu erlangen, und auch dieſe zweite Periove feiner Entſtehungs⸗ 
gefchichte bietet ihre charakteriftifchen Erfcheinungen. Bereits in feinen 
früheren Eigungsperioren hatte ver zu Noesfilve tagende Landtag der 
Inſeldänen wiederholt Veranlaffung gefunden, mit Isländiſchen Fra- 
gen sich zu bejchäftigen, und gerabe verartige Verhandlungen hatten 
recht deutlich gezeigt, wie durchaus thöricht Die Verweiſung der Inſel 
an eine bänifche Provincialverſammlung ſei. Im Jahre 1838 Hatte 
eine aus Island cingetroffene Petition cine Diskufjion über die Zus 
ftände des dortigen Handels veranlaßt, im Jahre 1840 der Antrag 
eines der Vertreter Islands, des Etatsrathes Grimur Jönsson, eine 
Berbandlung über das Steueriefen ver Inſel angeregt; beivemale er- 
Härten zahlreiche Mitglieder ter Verſammlung, erklärte allenfalls jogar 
der königl. Commiſſär unumwunden die eigene Lnfähtgfeit über Js⸗ 
ländiſche Angelegenheiten zu urtheilen, während in einer Reihe ande- 





') Jener Vorſchlag und biefer Einfenbungsbericht finb ale Bellane VI. nud 
VII. in ben gleich anzuführenben Frettir, 1842. 
gebrudt. 








456 Konrab Maurer, 


rer, minder tief eingreifender Fälle die Verſammlung ſich einfach 
das Gutachten ver beiden Vertreter Islands als der einzig Sad 
ftändigen verwarf, oder auch auf die vorhergegangenen Verhandlu 
der Gommiffion zu Reykjavik. ') Schon vorher hatte fich hiermad 
volliten Maße bewahrheitet, was Baldvin Einarsfon von Anfang 
vorbergefagt hatte, daß nämlich in Isländiſchen Fragen zu Roes 
entweder die wenigen Bertreter Islands allein entfcheiden, oder 

die ver Zahl nach fo ſehr überwiegenden Dänifchen Abgeorbneten 

fie aburtheilen würden wie der Blinde über die Farbe; an dem Lı 
tage aber des Jahres 1842, welcher über die für Joland nen zu 
gründende BVerfaffung fein Gutachten abzugeben berufen war, m 
begreiflich diefe Thatfache in einem nur noch ſchärferen Lichte ber 
treten *). Bei der Berathung eines Gejegentwurfes über bie Be 
dung der Vogelbrutjtätten auf Ysland, bei einer anderen über 
Project zur Aufbefferung der Einfünfte ver Ioländiſchen Geiſtlich 
zeigte fich zunächjt wieder die von allen Seiten zugejtandene Unfä 
feit der VBerfammlung zur Verhandlung bevartiger Fragen; ihren 
pfel aber erreichte die Verwirrung bei den Debatten über ven 
wurf des Berfaffungsgefeges für Island, welchen vie Negierung 
fentlich auf Grund ver von der Commiffion zu Reykjavik gemar 
Borjchläge vorlegte ’). Die Mehrheit felbit in dem zur Begutacht 
viefes Entwinfes nievergefegten Ausfchuffe wollte auf Grund 
offen erflärten Unfähigteit ver Verſammlung über ſolche Fragen 





) Sclagend ift zumal Die Aeuferung Oerſteds als kbnigl. Commiffäre 
fegentlich der Berbanblumgen Über bie Steuerfrage: „biefer Berfamm 
wie fie bier ift fehlt Alles, um über einen folden Entwurf urtheile 
Lönnen;“ tgl. Frettir frä Fulltrüapinginu i Hröarskeldu, vwidvikj, 
mälefntur Islendinga, gefnar üt af nokkrum Islendingum; Kopenhe 
1840, ©. 67; 

?) Die auf Island bezüglichen Verhandlungen find ins Isländiſche übe 
herausgegeben worden unter dem Xitel: Frettir fr& Fulltrüabin; 
Hröarskeldu 1842, vidvikjandi mälefnum Islendinga, gefnar ü 
nokkrum Islendingum; Kopenhagen, 1843. 


2) Der Entwurf ſteht a. a. D., S. 64—87 gebrudt, feine Motive chi 
&,62—64 mb ©. 87— 108. 





Der Berfaffungslampf Islands gegen Dänemark. 457 


entjcheiden, bie Regierungsvorlage einfach angenommen, und deren ein- 
gehendere Prüfung leriglih dem auf Grund verjelben einzuberufenven 
Isländiſchen Landtage vorbehalten wiſſen. Die Minderheit des Aus- 
ſchuſſes, aus ven beiden Vertretern Islands beftehend, wagt zivar, 
offenbar erlahmt burch ihre trojtlofe Iſolirung in ber Verſammlung 
und an jeben gefunden Erfolge verzweifeln, ebenfalls Feine tiefer 
gehende Umpgeftaltung des Entwurfes, verfucht aber wenigftens, wenn 
auch unter Beibehaltung ver einmal angenommenen Grundzüge, einige 
Erweiterung ver Wahlberechtigung zu erreichen. Einen ungleich fchär- 
fer einfchneidenden Angriff auf die Regierungsvorlage unternimmt da— 
gegen böchft unerwartet ein Dänifcher Abgeorpneter, ver Advokat 
Balthaſar Chriftenfen von Kopenhagen; offenbar benügt und uuter- 
ftügt von der Berfammlung nicht angehörigen Isländern, fervert er 
nach einer vernichtenden Kritik des Verfahrens der Commiſſion zu 
. Reykjavik, eine erhebliche Vermehrung ver Zahl ver Abgeorbneten, 
Erweiterung der Wahlberechtigung, Wahl der altherfümmlichen Diug⸗ 
ftätte al8 Ort ver Verſammlung, ausfchlieglichen Gebrauch der Lan- 
desſprache bei den Verhandlungen des Allvings, endlich volle Deffent- 
lichleit feiner Sigungen. Der Einbrud feiner ebenfo warmen, als 
ſcharfſinnig motivirten Rede ift zunächſt ein völlig verwirrender. 
Während die Vorfchläge des Redners bei einzelnen Abgeordneten ent⸗ 
ſchiedene Billigung finden, betheuern andere nur vie vollftäntige Un— 
fähigkeit der Verfanmlung, über folcdhe Fragen zu entfcheiden; ver 
fünigl. Commiſſär tritt ten beantragten Amendements entgegen, jeboch 
nicht ohme feine Zweifel an ver Urtheilsfähigfeit der Verſammlung 
auszuſprechen und offen zuzugeftehen, daß er felber, fo viele Yslän- 
diſche Sachen ihm auch fchon durch die Hände gegangen feien, doc) 
feineswegs eine beftimmte Weberzeuguug über die vorliegenden Fragen 
auszufprechen fich getraue; bie beiden Vertreter Islandsé find offenbar 
überrafcht dureh vie ihnen felbft zu Fühn erfcheinende Vertretung ver 
Intereſſen ihrer Heimat, und ſehen ſich genöthigt mit den meijten ver 
geftellten Anträge ſich principiell einverftanden zu erklären, während 
fie Doch um die eigene Confequenz zu vetten denſelben ſchließlich ent⸗ 
gegentreten. Die Zwifchenzeit aber, welche zwifchen ber erften und 
zweiten Berathung des Gegenftanves lag, gab ned 
weiteren, hoͤchſt charakteriftifchen Vorgange Raum. 


458 Konrab Maurer, 


drucke, welchen die Nebe und vie Anträge Chriftenfens bervorgenfe 
hatten, hatten fih 27 in Kopenhagen anmwefenbe Jeéländer zu ein 
Berathung über die Angelegenheiten ihrer Heimat verfammelt. Ci 
Dankjagungsfchreiben an ven genannten Abgeorbneten wurbe von if 
nen votirt, fowie ein weiteres Echreiben an bie beiden Bertreter ber 
Inſel am Landtage; ') in beiven Schriftftüden Heben vie Abſender 
eingehend diejenigen Punkte hervor, in welchen ihnen bie Regierung 
vorlage einer Aenberung zu bedürfen jcheint: ihre Wünſche ftinmen 
im Ganzen mit den Anträgen Chriftenfens überein, nur baß fie ie 
Entſcheidung über den Verfammlungsort des Alldings ausgeſetzt, un 
eine wiel weiter reichende Ausvehnung ter Wahlberechtigung gewiht 
wijfen wollen, nämlich völlige Freigebung der Wählbarkeit und %e 
gründung des Wahlrechtes auf das zehntbare Vermögen überhaupt 
ftatt anf den bloßen Grundbeſitz. Niemand hatte den Leuten zu fol 
heim Auftreten Vollmacht gegeben, Wenige fannten ihre Namen, um 
felbft wenn bekannt konnten die Namen einer Ueberzahl von jungen 
Stuventen nicht ſchwer wiegen; dennoch war die Wirkung ihres 
Schrittes feine geringe. Schon in der Rede bes Referenten, Grimur 
Jousſon, macht fi bei der Schlußberathung der Eindruck entſchieden 
geltend, welchen die inzwijchen eingelaufenen Schreiben geäußert hat 
ten; weit fchwanfender noch als früher tritt er den Anträgen Chri—⸗ 
ftenfeng entgegen, wiewehl auch jett noch die früheren Worfchläge 
ber Ausfchußminderheit im Wefentlichen von ihm feitgehalten werben. 
Weit entjchiedener noch tritt in der Haltung bed zweiten Ver—⸗ 
treters der Isländer hervor, wie jehr berfelbe in dem Briefe feiner 
27 Landsleute die mahnende Stimme der Heimat erfannte; Finn 
Magnusſon erklärt nunmehr gerade heraus feine volle Zuftimmung 
zu ben ſämmtlichen von Chriftenfen eingebrachten Anträgen. Auf an- 
bere Abgeorbnete wirft dagegen das Auftreten ver 27 Yslänber und 
ber Werth, welcher vemjelben beigelegt werben will, vielfach entgegen- 
gefett, und von Kollegen fowohl als von dem kgl. Commilfär müßen 
bie beiden Vertreter Islands die fpikigften Bemerkungen hinnehmen 
darüber, daß fie jegt für Amendements fich erklären, welche zu ftelfen 





3) Beide Schreiben find als Beilage J u. II a. a. O., ©. 219 — 23, 
und 223 —25 gebrudt. 





Der Berfaffungstampf gelands gegen Dänemark. 459 


ihnen doch felber nie eingefallen fei, daß fie einem einfachen Privat- 
briefe fo großen Einfluß auf ihre Haltung —— 









ſtimmung wird ſchließlich primär ber Antrag angen 
Regierungsentwurf Iwar Güftigfeit erlangen fell? jet 
riſch, nämlich fo, daß das auf⸗Grund deſſelben gewählt 
denſelben neuerdings zu p | ii 
welcher venfelben Grundgedanfen in etwas milderer Form verfolgt; 
nur fubedentuell erklärt fih die VBerfammlung für Ehriftenfen’s An- 
träge bezüglich der Deffentlichkeit der Alldingsverhandlungen und bes 
ausjchlieflichen Gebranches ver isländifchen Sprache bei venfelben, 
und fowohl der Antrag ver Ausſchußminderheit auf Erweiterung ver 
Wahlberechtigung als Chriſtenſen's Vorfchlag, die Zahl der Allvings- 
leute zw vermehren, wird völlig verworfen: 

Fine die abfolute Unfähigkeit einer faft ausfchließlich däniſchen 
Berfammlung, über isländifche Angelegenheiten fachgemäß zu verhan— 
bein und zu entfcheiden, gibt diefe Discuffion des Alldingsgeſetzes Wie 
bemerkt ein vwollgültiges Zeugnifz daß aber deren Ergebniß vom 18- 
(ändijchen Standpunkt aus betrachtet gar Manches zu wünſchen übrig 
ließ, ift bievon die nothwendige Folge, und ebem darum aud fehr 
erflärlich, daß noch mehrfache Verſuche gemacht wurden, um beim 
Stönige eine ben Verhältniſſen des Landes entjprechende Umgeſtaltung 
des Geſetzentwurfes zu erreichen. Unter dem 18. Januar 1843 Tief 
eine Anzahl von 63 Pächtern aus dem Oſten der Inſel ein Schrei- 
ben an ven Abgeorbneten Chriftenfen abgeben '), in welchem fie bem- 
felben nicht nur ihren Dank für fein bisheriges Auftreten, fondern 
auch eine Reihe von Wünfchen bezüglich ber Lanbesverfaffung aus- 
ſprachen, mit ver Bitte, diefelben dem Könige und feiner Regierung 
borzutragem. Unter dem 25. Februar deſſelben Jahres wandten ſich 
ferner bie in ‚Kopenhagen anwefenden Isländer, an ihrer Spitze bie 
er Inſel am Roeslilder Yandtage, mit einer Adreſſe 
an ben König, in welcher fie demſelben für bie Verwilligung einer 
befonderen Landesvertretung banken, zugleich aber auch um eine Reihe 
von Abänderungen in dem vorliegenden Geſetzentwurfe bitten; zugleich 
wenden fich - Männer mit einem zweiten Gefuche an ven Kron- 


1) Gedrut als Beilage V, a, a. O., ©. 234 — 














460 Konrad Maurer, 


prinzen, theilen ihm vie an ben König gerichtete Adreſſe mit, 
bitten ihn, dieſelbe zu unterftügen ). Trotz aller viefer Geger 
ftellungen wurde inbejfen turch die unterm 8. März 1843 erla 
„Verordnung über Die Stiftung einer eigenen berathenben Verſa 
lung für Island, welche Allding genannt werben foll«, ver fri 
Geſetzentwurf in allen wefentlichen Punkten unverändert zum & 
erhoben. Auf den 1. Yuli 1844 wurde das erfte Allbing fofort 
berufen, diefe Einberufung jedoch wenig fpäter auf das folgente 3 
18-45, verfcheben. 

So unvollkommen übrigens das neue Verfaffungsgefeg in po 
ſcher Hinficht fein mochte, fo erhebliche Anftände zumal die Anı 
dung ver in bemfelben enthaltenen Wahlordnung bieten mußte *), 
wenig darf doch andererſeits verlannt werben, welchen großen $ 
Schritt tafjelbe in nationaler Bezichung bezeichnet. Die Unteroren 
Islands unter den Provinciallanptag ber Inſeldänen war nunn 
gelöft, eine eigene Landesvertretung war für vie Inſel gefchaffen, 
ren rechtliche Stellung genau biefelbe war, wie bie der Landtage 
Schleswig und Holjtein, von Jütland und den bänifchen Inſeln; 
Gebrauch ver däniſchen Sprache bei den Allvingeverhanblungen | 
wenigftens nur dem königlichen Gommiffäre geftattet, und tiefem ü 
bieß zur Pflicht gemacht, für bie Ucberfegung feiner Vorträge 
Isländiſche Sorge zu tragen. Cine austrüdliche Anerkennung 
Selbſtſtändigkeit Jolands konnte allerdings in dem Gefege nicht 
funten werben, da auch das unzweifelhaft einheitliche Dänemart di 
zwei Provinciallandtage vertreten war; aber es widerſprach doch 

1) Beide Eingaben find gebrudt als Beilage III u. IV, a. 0a. D,6 | 
— 32 und &. 232 — 33, 

2) Als ein einzelnes Beiſpiel folder Auſtände mag erwähnt werden, baf 
einem ber Wahlbezirle, ben Vestmannacyjar, eine Abgeorbnetenwahl 
Grund ber gefetlihen Beſtimmungen abfolut nicht möglih war; r 
batte überſehen, daß biefe Injeln ihrem vollen Umfange nad Fönigf. © 
mäne und überbieß ber fonft üblichen Kataftrirung bes Grundbeſitzes n 
unterftellt find. In Bolge diefes Umftandes fonnte bis zum Jahr 18 
fein Bertreter bes boch fortwährend ale folder bezeichneten Wahlbezi 
am Allding erſcheinen! 





Der Berfaffungsfampf Jelande gegen Dänemarl. 461 


nigftens bie neue Verfaſſung jener zu beanfpruchenten Selbitftändig: 
feit nicht, und fie bot überdies einen Stützpunkt, von welchem aus 
Diefelbe fich zu pofltiver Anerkennung bringen laffen mochte. Saum 
weniger erheblich als diefer unntittelbare Gewinn ift aber ber mittel- 
bare, welchen der mehrjührige Kampf um bie Verfaffung und veren 
enblihe Verwilligung durch die Erwedung und Stärkung des poli- 
tifchnationalen Voltsbewußtfeins den Isländern einbrachte. Bereits 
das Bisherige wird gezeigt haben, wie lebhaftes Intereſſe das Reſcript 
vom 20. Mai 1840 bei diefen erregte; Farer wirb aber diefe That: 
fache hervortreten, wenn man einen Blick auf die Literatur wirft, 
welche feit deſſen Erfcheinen der Verfaffungsfrage eine ganz ungewöhn- 
lich lebhafte Theilnahme zumandte. Deutlich läßt fich erkennen, wie die 
eröffnete Ausficht auf eine ſelbſtſtändige Volfsvertretung mit einem 
Schlage das ſchlummernde Nationalgefühl wedt; nicht minder deutlich 
ftelit fich freilich zugleich auch heraus, wie unklar zunächit noch die 
Borjtellungen find über Das, was eine folche eigentlicy bedeute, wie 
unausgegohren die Anfichten über die Art, wie fie zwedinäßig einzu- 
richten fei. Abgefchieven von allen Welthändeln und allem Weltver- 
fchr war land lediglich durch feine ältere Literatur zu höherer 
Bedeutung gelangt; feit ihrer Vereinigung mit Norwegen, fpäter mit 
Dänemark war die Inſel nur ein wenig beachtetes Nebenland größerer 
Neiche geweſen, hatte dieſelbe aller liebevollen Pflege ver eigenen'Bolts- 
thümlichkeit entbehrt, und ſchwer genug ben Drud fortwährener, 
wenn auch nicht gerade Mißhandlung, fo doch Vernachläßigung Sei- 
tens ihrer eigenen Regierung empfunden. Für den höheren Unter- 
richt beftand ferner im Lande feit langer Zeit nım bie einzige Latein» 
fchule, und alle bier zu gewinnenve Bildung war fomit nothwenbig 
eine ausfchließlich philologifche; aber auch ver Theolog, ver Furift, 
der Arzt, welcher an ver Kopenhagener Hochfchule feine Fachſtudien 
betrieb, vermochte von ben öffentlichen Zuftänden feiner Heimath und 
beren biftorifcher Entwidlung feine tiefere Einficht zu erlangen, da 
iSländifches Recht und isländiſche Geſchichte, Statiftil, politifche Delo- 
nomie der Inſel u. vgl. m. bis auf den heutigen Tag ven den daͤni⸗ 
ſchen Brofefforen in ihren Vorträgen wie in ihren Lehrbüchern gar 
nicht, ober doch nur fehr beiläufig, ungenügenn unb einf 

zu werben pflegen. Da überbieß bie Regiern 

Diſtoriſche Zeitſchrift L Baud. 


462 Konrab Maurer, 


bungen über tie Zuftände des Landes, feweit folhe überhaupt gemacht 
wurden, nicht ter Deffentlichleit zu übergeben pflegte, und bei ver 
Armuth res Landes, fowie dem bejchräntten Bereiche Der Landesſprache 
auch vie Piteratur num fehr mangelhaft für die Specialfächer zu for- 
gen im Stande war, mußte felbjt für ben, welcher ausnahmsweiſe 
das Bedürfniß fühlte, fich weiter zu unterrichten, das Gewinnen bef- 
ferer ftaatäwiffenfchaftlicher Kentniffe gar fehr erichwert werben. Es 
begreift fih, daß unter folchen Umftänven ver Blid des Volles im 
Ganzen wie feiner gewedteren und gebilbeteren Angehörigen insbe 
fonvere vorzugsweife der glänzenden Zeit bes alten Freiſtaates zuge 
wendet blieb, mit deren trefflichen Literaturprotucten ſich Hoch und 
Nieder noch immer befchäftigt, daß ber Patriotismus deſſelben einen 
vorherrichend literarijch » antiquarifchen Anftrich erhielt, daß endlich 
eine Abhilfe gegenüber ven unbefriedigenden Zuftänden ber Gegenwart 
zunächſt immer nur in einer Rückkehr zu den Zuftinden ber Vorzeit 
und ven Formen der alten Verfajjung gefucht wurde. Nun Baite ber 
König felbit in feinem Reſcripte die Zufage ertheilt, daß foweit mög- 
lid, auf vie Einrichtung des früheren Alldings zurüdgegangen werben 
follte, und damit jenen philolegifch -antiguarifchen Neigungen einen 
beftimmten Anhaltspunkt geboten; um fo weniger iſt ed zu verwun- 
bern, wenn biefelben mehr als mit einer ernithaften Prüfung der ge- 
gebenen Zuftände fich vertragen wollte, ſich bemerklich machten. Schon 
in den Berathungen ver Beamtencommiffion zu Reyljavik trat neben 
jener bebauerlichen Abhängigkeit von ver däniſchen Gefetgebung in 
allen praftifchen Punkten jene archäclogijche Spielerei mit ven Aeußer⸗ 
lichkeiten ber älteren Verfafjung hin und wierer zu Tage, und auf 
beu mit den isländischen Verhältnifjen nicht genauer Vertrauten muß 
ber Ernft einen eigenthümlichen Eindruck machen, mit welchem 
bie Frage verhandelt wird, ob das zukünftige Allting in Repkjanft 
oder auf Pingvellir zu tagen babe, währen zugleich die wichtigften 
Beitimmungen über vejjen Organifation und Zufammenfegung in leicht⸗ 
fertigfter Weife nach däniſchem Muſter zugeftugt werben. In weit 
ertremerer Weife tritt aber die gleiche Richtung in einer Schrift des 
Sera Tomas Saemundsfon hervor, eines ber talentvolliten und wiſ⸗ 
jenfchaftlich gebilvetften Männer des neueren Islands). Mit Be 


1) Seine Schrift Um alping if abgebrudt in: Pbrjär Ritgjördir, kostadar 
og ütgjefnar af 17. Islendingum; Kopenhagen, 1841 6. 73-106, 








Der Berfaffungstampf Islands gegen Dänemarf. 463 


geifterung hält er an dem Gedanken feft, daß es fich mm nichts An- 
beres als um bie einfache Wieverberftellung ber Verfaſſung bes 11. 
und 12. Jahrhunderts handle, und vie Verlegung ver neuen Volks⸗ 
vertretung an bie alte Dingftätte gilt ihm als fo wefentlich, daß er 
deren lieber ganz entbehren, als viejelbe an einem andern Orte fich 
verfammeln fehen will; baß der Kern- und Ausgangspunkt jener alten 
Berfaffung in ver arijtofratifch «monarchifch geftalteten Godenwürde 
liege, vie er boch wieder aufleben laſſen werer will noch kann, und 
daß jomit troß alles Feftbaltens an Weußerlichkeiten ber neue Zuftand 
doch nothwendig ein principiell anderer werben müffe als ver frühere, 
fommt ihm dabei in alle Weite nicht in den Sinn! Weit mehr ale 
über einzelne verartige Extravaganzen darf man fich aber in Berüd: 
fihtigung der oben erörterten Umſtände über die Thatfache wundern, 
daß troß ihres Lähmenven und trübenden Einflußes dennoch von An 
fang an einzelne Männer fich finden, welche bei ebenfo warmen Ge⸗ 
fühl für vie Freiheit und Volksthümlichkeit ihres Landes mit Harem 
Blick und praftifchem DVerftänpniffe die VBebürfniffe und Möglichkeiten 
des Augenblickes erwägen, welche bei allem Mangel an Uebung in 
ber Behandlung juriftifcher und politifcher Fragen doch von Anfang 
an nit richtigem Inſtinkte biejenigen Punkte aufzugreifen wiffen, 
welche für eine verftändige Löſung der vorliegenden Verwicklungen 
die entjcheidenden find. Wie früher Baldvin Einarsfon, fo tritt jekt 
zumal Joͤn Sigurbefon als befonnener Vertreter ver Intereſſen feiner 
Heimat auf, und bereits feine erften Aufjäge über bie öffentlichen An- 
gelegenheiten Islands geben, wenn fie auch noch bei Weitem nicht die⸗ 
jelbe ruhige Herrfchaft über ven Stoff verrathen wie feine fpäteren 
Arbeiten, von feinem gefunden Blicke ein glänzendes Zeugniß. Zwei 
Aufſätze über das isländifche Allping in einer eben jegt zur Vertre⸗ 
tung der nationalen Intereſſen neu begründeten Zeitfchrift ') enthalten 
bereits tim MWefentlichen vie Gefammtheit verjenigen Forderungen, 
weiche fpäter unter geänderten Umftänvden in etwas fchärferer Aus⸗ 
prägung zum Programm ver volksthümlichen Partei in Jéland er- 
hoben wurben: eine felbftjtäubige Volksvertretung und Befeitigung je 
ber Unterordnung berfelben unter einen bänifchen Landtag, felbititän- 





1) Ny felagsrit, 1841, ©.-59- - 


464 Konrab Maurer, 


digere Stellung ver oberften Regierungsbehörden ver Inſel und Auf 
bebung der Competenz tes oberften Gerichtshofes in Dänemark in 
allen islänvifchen Nechtsfachen, entlich möglichft ausgedehnter Ancheil 
des Volkes an den politifchen Rechten. Sie heben ferner beftimmt 
hervor, wie nur allzulange die eigenthimliche Nationalität ber JE 
länder durch das aufgerrungene dänische Weſen beeinträchtigt worben 
fei, und wie man vor Alleın die bänifchen Anfchauungen in ber ge- 
fammten Regierung des Landes, die Dänische Amtsfprache u. dgl. zu 
befeitigen babe; fie bezeugen aber auch das fefte Vertrauen des Ver⸗ 
faffers auf die Zufunft feines Baterlannes und deſſen Hare Einficht 
in die Nothwenbigleit eigener ernftefter Anftrengungen, um biefe zu 
fihern, und rügen mit ſcharfen Worten den Unverſtand, welcher euch 
Nachäffen ihrer Aeußerlichkeiten auf die Höhe der großen Vorzeit ſich 
emporfchwingen zu können hoffe. — Epäter gab der Gefegentwurf, 
welchen tie Beamtencommiffion zu Reykjavik verfaßt hatte, gaben fer- 
ner die Verhandlungen am Landtage zu Roeskilde der literarifchen 
Polemik feitere Anhaltspunkte. Zuerft unterzeg ein Artikel in ver 
bänifchen Zeitung, "Kiöbenhapnspoften«, die Thätigfeit jener Com—⸗ 
miffion einer fcharfen Kritif '); dann tritt in der Berlingſte Tidende 
Paul Melſted mit einem ausführlichen Auffage gegen die Anträge des 
Abgeordneten Chriftenfen und für feine eigenen Vorfchläge in vie Schran- 
fen ?); eine geharnifchte Erwiderung brachte fofort Fädrelandet ?), in 
welcher bie Zhätigleit fowohl ver Beamtencommifjion überhaupt als 
auch Melſted's insbeſondere in erbittertiter Weife gegeißelt wird; im 
der Berlingffe Tidende fucht ein fich felbft als Däne bezeichnender 
Berfaffer Melſted in Schuß zu nehmen’), worauf dann in Fädrer 
landet der frühere Angreifer nochmals antwortet’). Etwas fpäter 





1) Nogle Bemärkninger meb Henfyn til det islanbfle Althing, in Kiäben- 
baonspoften, 1842, Nr.238 — 89. 

2) In'e Feländifche überfegt ſteht der Aufſatz gebrudt in ben Fjdrir battir 
um alping, og önnur mälefni Islendinga, gefnir dt af Magnüsi Eirfkasyni 
og dörum Islendingum, Kopenhagen, 1848, &. 1-28. 

3) In'e Isländifche überfegt, ebenda S. 29 — bl. 

4) Ebenda, S. 52 — 64. 

5) Ebenda, S. 65 — 86. 





Der Berfaffungelampf lands gegen Dänemarf. 465 


bringt die isländifche Zeitfchrift Fiölnir einen Aufſatz über vie AL- 
dingsfrage'), deſſen Verfaſſer fich durchaus auf die Seite der Angrei- 
fenben ftellt, und wenn auch in der Form bei Weiten gemefjener und 
feiner, doch über Sachen wie Perfonen darum um nichts weniger 
ſcharf und fchneidend urtheilt; unmittelbar praftifche Tendenzen ver- 
folgene, fermulirt ver Aufſatz eine Reihe beftimmter Forderungen im 
Intereſſe nationaler Selbitftänpigfeit und politifcher Freiheit, und for- 
dert Das isländiſche Volt auf, fich mit maffenhaften Petitionen in 
diefem Sinne an das Allting bei feinem erjten Zufammentritte zu 
wenden. In einer etwas ausführlicheren Schrift unterftellt wieder 
Paul Melſted die meiſten bisher ermähnten Auffüge ſammt einigen 
weiteren bieher bezüglichen Schriftftüden einer einläplichen Kritik, in- 
dem er zugleich feine eigene Thätigfeit in ver Verfaffungsfache zu 
rechtfertigen fucht ). Endlich wären allenfalls noch zwei Briefe über 
das Allbing von Yon Sigurdsſon zu nennen, deren erjterer in männ⸗ 
lichen Fräftigen Worten gegen vie Zrägheit und faule Hoffnungslofig« 
keit derjenigen ankämpft, welche, weil nicht fofort Alles auf den erften 
Anlauf nah ihren Wünfchen ging, lieber die Hänve ganz in ben 
Schooß legen wollen, veren zweiter dagegen aus Anlaß eines Gerüch- 
te8 von einer bevorftehenden gegentheiligen Petition die Forderung ber 
Deffentlichleit der Alltingsverhandlungen berevt in Schu nimmt °). 
Am 1. Inli 1845 wurde das neubegründete Allding eröffnet ’). 
Es Stand zu erwarten, daß die lebhafte Aufregung, welche die Ver- 
faffungsfrage bereits vor deſſen Zufammentritt hervorgerufen batte, 
auch in den Debatten ber Verſammlung felbft fich wiberfpiegeln würbe, 
und in ver That boten 17 Petitionen, welche aus nahezu allen Thei⸗ 
len des Landes fowie von einer Anzahl von Isländern in Kopenhagen 
eingereicht worben waren, biezu ben paſſendſten Anlaß. Aber gleich 





1) Fjölnir, 1844, ©. 110-136. 

2) Nyar sthugasomdir vid nokkrar ritgjördir um alpingismäliö, samdar 
af Päli Melsted; Reykjavik 1845. 

8) Ny felagsrit, 1845, ©. 81— 9. 

4) Deffen Protofolle finb veröffentlicht unter bem Titel: Tidindi fi -Tinei 
jslendinga 1845; Reykjavik, 1845. ir 
Berhanblungen fiehe in den Ny fhlsg 








466 Konrab Maurer; 


beim Beginne der Sitzungen hatte der fol. Commiffär ein Fol. € 
ben verlefen, dahin gehend, daß ber König fich nicht veranlaßt 
anf blos proviforifche Geltung des Allvingsgefeges einzugehen cd 
Allding auch nur zu einer fofortigen Prüfung beffelben aufzufo 
daß es dagegen dieſem freigeftellt bleibe, nad Ablauf einer gen 
ven Zeitfrift diejenigen Beränverungen vorzufchlagen, welche di 
fahrung etwa als wünſchenswerth erweifen werbe. Der, aller 
mit Rüdjicht auf vie Entjtehungegefhichte tes Alldinggeſetzes 
gerechtfertigte, Verſuch vie im biefem weber ausdrücklich gef 
noch ausbrüclich ausgefchloffene Deffentlichkeit der Berhandlunge 
fort zum Beſchluße zu erheben, jcheiterte an dem gemeinfamen U 
ſtande des Fal. Commiſſärs und des PVorfigenden der Berſamn 
Die Erlaffung einer Adreſſe, welche dem Könige den Dank des 
bes für die verwilligte Verfaffung, zugleich aber aud die Wi 
deffelben in Bezug auf deren weitere Entwidlung ausfprechen 
wurde allerdings befchloffen; aber ber von dem hiezu miebergej 
Ausſchuße vorgelegte und von ver Berfammlung angenommene 
wurf einer folchen bejchränfte fich auf eine nur beiläufige und 
allgemein gehaltene Anvdentung folcher Wünſche. Enplich wurde 
auch ein Ausfchng zur Begutachtung der eingelaufenen Petitione 
Berfaffungsänderungen gewählt; ver Gegenftand fand inbeffen 
dießmal nicht feine Erledigung, fei es nun, daß die Kürze ver % 
zeit und die Meberhäufung ver VBerfammlung mit fonftigen Berath 
gegenftänten für eine Verhandlung veffelben feinen Raum gemi 
oder daß die vom fal. Commiffäre zu erfennen gegebene Hoffn 
loſigkeit jedes derartigen Verfuches, ſowie die Verſchiedenheit der 
fihten, welche fih in ven Petitionen zumal bezüglich bes Prin 
ber birecten oder inbirecten Wahlen ausſprach, die Yuft zu ernfi 
rem Angreifen benommen hatte, — Wenn hiernach die erfte Sit 
periode des Alldings, wie tief diefelbe auch in anderen Beziehmgen 
griffen haben mag, für die Fortbildung der Yandesverfaffung ziemlich 
Bedeutung blieb, jo gilt ein wefentlich Anderes von deſſen ziveiter 
fammlung, weldhe am 1. Juli 1847 eröffnet wınde), "Wiet 
war eine beträchtliche Zahl von Petitionen um Abtinderung bes 


— — — — 


1) Tidindi frä alpingi Islendinga 1847; Reykjavik, 1847. 





Der Berfaffungslampf Islands gegen Dänemark. 467 


bingsgefeßes eingefommen, wiederum zu deren Begutachtung ein Aus- 
ſchuß niedergefegt worten; dießmal aber fanden bie einfchlägigen Fra- 
gen auch hier eingehende Erörterung und fehließliche Erledigung. Die 
Punkte, um welche bie Debatte fich vorzugsweife drehte, waren babei 
wefentlich dieſelben, welche bereits gelegentlich früherer Befprechungen 
des Geſetzes am PBrovinciallanttage ver Inſeldänen fowohl als in 
per Literatur als die beftimmenden bervorgetreten waren: bie weitere 
Ausdehnung alfo des Wahlrechtes ſowohl ald der Wahlfähigfeit, das 
Princip ber directen oder indirecten Wahl, die Vermehrung der Zahl 
der Abgeordneten, die Deffentlichkeit der Verhantlungen endlich und 
ber ausfchliegliche Gebrauch ver Landesſprache bei venfelben; eine Reihe 
untergeorpneter Fragen, zumal auch bezüglich der von ven Abgeorbne« 
ten zu beanfpruchenden Diäten und Neifegebühren, fowie bezüglich der 
Aufbringung ver durch das Alleing veranlaßten Koften, ſchließt fich 
an jene politifch bedeutſameren Streitpunfte an. Es ift bier nicht 
am Orte, bie mit großer Gewiffenhaftigfeit und Umficht gepflogenen 
Verhandlungen im Einzelnen zu verfolgen, oder auch nur auf bie 
grünblichen Erörterungen einzugehen, mit welchen Jon Sigurpefon 
als Referent des Ausfchußes deſſen Abänderungsvorſchläge begleitete 
und vertheibigte. Es genügt die Bemerkung, vaß fchließlich zwar bie 
beantragte Vermehrung der Abgeorpnetenzahl, wie es fcheint vorwie- 
gend aus pecuniären Rückſichten, abgelehnt, dagegen aber bie Beſeiti⸗ 
gung jebes Cenſus als Vorbedingung des Wahlrechtes fowohl als der 
Wählbarkeit, das Princip der indirecten Wahl und zwar in der Art, 
daß auf je fünf Urwähler ein Wahlınann kommen follte, enblich die Oef⸗ 
fentlichfeit der Alldingsverhandlungen und ber ausfchliegliche Gebrauch 
ber isländiſchen Sprache bei benfelben angenommen, und bie Abjen- 
dung einer Petition an ben König um Reviſion des Alldingsgeſetzes 
und Dorlage eines unter Zugrumbelegung dieſer Grundſätze auszuar⸗ 
beitenben neuen Entwurfes an das nächte Allping befchloßen wurde. 

Saum recht begonnen, wurde aber die ruhige Weiterentwiclung 
der Lanbeöverfaffung bereitS wieder unterbrochen. Am 20. Januar 
1848 ftarb König Chriſtian VII. Genährt durch die mit fteigernber 
Erbitterung purchgefochtenen Kämpfe mit ven Herzogthümern war ſchon 
feit geraumer Zeit die politifch » nationale Sim 


bebentlich hoch gegangen. In ben legten 


468 Konrab Maurer, 


tes Königs hatten die Stimmführer ter „Tiberalen” Partei in 
penhagen bereits offen tarüber berathen, wie man deſſen Nachit 
fofert mit Arreffen um Gewährung einer freieren Verfafſung zu 
ftürmen babe. Zwei Tage nach feinem Ableben erfchien vie kefa 
Brochure von Schouw und Glaufen, weldhe das Programm ver Ci 
däniſchen Partei in aller Schärfe formulirte, und vie bürgerlichen ( 
legien ter Hauptftabt trugen mit Tftentation dieſelbe Etimmunz 
Schau. Unter felhen Umpftänten ſah König Friedrich VII ka 
beim Antritte feiner Regierung zu entfchiedenen Conceffionen ſich 
nöthigt; ſchon im feiner Thronbefteigungepreffamatien ſprach er 
Abficht aus, feinen Yanden eine freiere Berfaffung zu gewähren, 
wenige Tage jpäter, am 28. Yanuar, erließ er in ber That 
„Reſcript wegen Einführung einer Verfalfung«. Bereits Chriftian \ 
hatte, geträngt zugleich tuxrch die immer heftiger werbente Stimm 
in Dänemark und durch Die ftreng felbftftändige Haltung ver veutj 
Herzogthümer, in tem Projecte einer Gefanmtftaatsverfafjung Ab 
gefucht, und dic Vorarbeiten für eine ſolche ganz im Stillen betre 
laſſen; jetzt fellte ver Verfuch gemacht werben, denfelben Weg ı 
zu betreten. Demgemäß verhieß das bezeichnete Refcript vie Ein 
rung einer gemeinfamen Volfsvertretung für Dänemarf und Ed 
wig Holſtein, welcher in Steuer» und Finanzſachen, fowie hinſich 
der gemeinfamen Geſetzgebung befchliegende Stimme, und über 
das freie Petitionsreht in Bezug auf alle gemeinfamen Angeleger 
ten zuſtehen follte. Zugleich wird die Zuficherung ertheilt, daß 
ber beſtehenden provincialftäinbifchen Verfaffung, an ber beftehen 
Berbintung Schleswigs mit Heljtein, an der Verfaffung Lauenbi 
und an den Beziehungen der beiten legteren Herzogthümer zum & 
ſchen Bunde durch die neue Organifation nichts geändert werben f 
Endlich wurde noch versprochen, daß das Verfaſſungsproject erf 
nen Männern zur Begutachtung vorgelegt werten folle, ehe bemfel 
gefegliche Kraft verlichen werte, und wurden über deren Wahl 

Einberufung nähere Beſtimmungen gegeben, — Es kann Bier naı 
lich weder die Zweckmäßigkeit ver hiernach projectirten Gefammtfta« 
verfaffung von einem allgemeineren Gefichtspunfte aus geprüft, ı 
auch ber erkitterte Widerftand gefchildert werben, welcher derſel 
in Dänemark ſowohl als in den Herzogthümern entgegengejeßt win 








Der Berfaffungslampf Jolands gegen Dänemark. 469 


dagegen ift wenigftens ein Bli auf vie Wirkungen zu werfen, welche 
fie hinſichtlich Island's äußern mußte, fowie auf bie Beurtheilung, 
welche fie von isläntifcher Seite aus erfuhr. Island's war in dem 
Nefeript vom 28. Januar mit feinem Worte Erwähnung gefchehen ; 
welches fellte nun deſſen Stellung in und zu dem halbwegs conftitu- 
tionelfen Gefammtftaate fein? Als eine von dänischen Proconfuln zu 
verwaltende Colonie ließ fich die Infel denn doch nicht behandeln; dem 
wiberfprach allzu offenbar deren geſammte Gejchichte fowohl als auch 
deren berzeitiger Verfaſſungszuſtand. Vielleicht genachte man das Land 
einfach al8 einen Diltrict von Dänemark zu behandeln, wie etwa 
Bühnen oder Laaland oder Bornhelm ein folcher find; unter ver Herr- 
fchaft des Abfolutismus hatte fich ja bereits in der That tiefe Aufs 
faffung oft genug geltend gemacht. Aber dann mußten isländifche 
Deputirte neben den deutſchen und däniſchen zum Neichstage kommen, 
und war neben ver tänifchen und beutfchen auch die isländiſche Sprache 
bei vejfen Verhandlungen als gleichberechtigt zuzulaffen; in formeller 
wie in materieller Beziehung wären fomit für vie Inſel dieſelben 
Schwierigkeiten neu gefchaffen worven, welche fich früher ſchon aus de⸗ 
ren Betheiligung an dem Provinciallandtage der Inſeldänen ergeben 
hatten, und übertieß fehlen der Stönig, indem er land in feinem 


organijatorifchen Reſcripte unberüdfichtigt ließ, eine Derartige Rege⸗ 


lung feiner Beziehungen zu tem Geſammtſtaate ausgefchloffen zu ha⸗ 
ben. So blieb demnach nichts übrig als die Annahme, daß der In⸗ 
fel jtillfchtweigend ganz ebenfo wie dieß für Lauenburg mit Haren Wor⸗ 
ten ausgefprochen worden war eine Stellung außerhalb des Gefammt- 
ftaate8 und neben vemfelben angewieſen werben follte, und es ver- 
ftand fih von felbft, daß unter biefer Vorauséſetzung eine ben 
neuen Verhältniſſen entfprechende Erweiterung der Befugniſſe ihres 
Alldings, fowie eine Umgeftaltung des Organismus ihrer Verwal⸗ 
tungsbehörben eintreten mußte. Geuau biefe Confequenzen zieht benn 
auch der isländiſche Verfaffer eines unmittelbar nad ber Veröffent- 
lichung jenes Reſcriptes gefchriebenen vortrefflichen Auffates '). Ge⸗ 
ftütt auf bie Gefchichte des Landes, welche lebiglich eine Perſonal⸗ 
union zwifcden Yölanb und Dänemark beftehend Tenne, fowie auf bie 





. 1) Hugrekjatil Islendinga, in den Ny filagezit, 184 


manga. 


E. . 


En 


470 Konureb Maurer, 


praltifche Unmöglichkeit, die ferne Inſel irgendwie vernünftig ven 
penhagen aus zu regieren, fortert er tabei ver Allem bie Erweite 
bes Alldings zu einer wahrhaft conftitutionellen Verfammlung, jeı 
aber tie Bildung einer oberjten Regierungsbehörte im Pante ji 
und tie Cinvichtung einer isländiſchen Kanzlei in Kopenhagen, t 
beren Vermittlung jene mit bem Könige verfehre; um aber bie 
ziehungen Islande zu Dänemark wollents zu ordnen, muß ver X 
das jeparate Budget der Inſel und beren Beitragsquote zu ven 
gemeinen Reichslaften feitgeftellt werben, was am Beften durch 
zu gleichen Theilen aus Feländern und Dänen zufaınmengefekte € 
miffien geſchehen würde, unter Vorbehalt der Genehmigung i 
Beſchlüße, einerfeits durch den König und anbererjeits durch 
Allding. 

Die in dem Reſeripte vom 28. Januar ſei es nun verheißene 
angedrohte Geſammtſtaatoverfaſſung trat indeſſen niemals in that 
liche Wirkſamkeit; vielmehr gab wenige Wochen nach vefjen Erlafl 
die Februarrevolution ben Gefchiden des Reiches eine völlig an 
Wendung. Man weiß, wie durch bie aufregenden Nachrichten 
Paris ver ohnehin ſchon in feinen Grundfeſten erfchütterte täni 
Staat in die krampfhafteſten Zudungen verfegt wurde, wie ter ji 
längft unterwühlte und in ſich haltloſe Abfelutismus vor dem rı 
Iutienären Drängen ter von ben Cafine Männern fanatifirten Haı 
ftart mit einem Krache zuſammenbrach, wie mit feigen Aufgeben 
kaum erſt gefchaffenen Verfaffungsgruntlagen und offener Verhöhn 
alles Rechts bereits am 24. März vie Selbitftänbigfeit Holſteins 
bie Einverleibung Schleswigs in das Königreich Dänemark als 
Tofung Des neuen Tages officiell verfünbet wurte. Es war natürl 
taß bie zunächſt bedrohten Herzogthümer gegenüber biefem BVBerju 
ihre verbrieften Rechte der Yaune einer revolutionären Partei in | 
penhagen zum Opfer zu bringen, fofert zu ven Waffen griffen, wel 
allein nch Edug und Hilfe gewähren zu können fchienen, nacht 
dee Könige Perfon in tie Hände bes bänifchen Aufruhrs gefat 
war; micht minder natürlich aber auch, daß auch ter Geländer, | 
wohl durch jene Vorgänge birect nicht berührt, und fogar durch ı 
in Ausficht geftellte höhere Maß pelitifcher Freiheit angelodt, r 
ver krankhaften Leberreizung des Rationalgefühls in Dänemaxk, ı 





Der Berfaflungslampf Jslands gegen Dänemarf. 471 


bier herrſchenden völligen Mißachtuug der Anfprüche anderer Natio- 
nalitäten und Reichstheile, für die eigene Selbitftänvigfeit zu fürchten 
begann. Auch diefer Stimmung verlieh der Verfaſſer des zulekt an- 
geführten Auffates ihren Austrud, indem er in einem unmittelbar 
unter dem Eindrucke der Ereigniffe gefchriebenen Nachtrage ') hervor: 


: hebt, daß Island zwar dem vänifchen Könige, aber keineswegs jedem 


einzelnen Miniſterium gehulvigt habe, welches etwa bie wechjelnbe 
Vollöftimmung in Dänemark zum Regiment berufen möge, und baß 
der Inſel fein Maß politifcher Freiheitsrechte nügen möge, wenn ihr 
nicht zugleich ihre nationale Selbftftändigfeit gewährleiftet werbe. ‘Die 
ſelbſtſtändige Nationalität, die entfernte Lage, vie eigenthümliche Bes 
fhaffenheit ver Volks⸗ und Landes» Zuftänte fordere eine geſonderte 
Regierung ver Inſel und ftehe einer Vertheiluug ihrer Angelegenheiten 
unter bie verfchievenen Portefenilles ver dänischen Minister im Wege, 
welche überbieß zur Folge haben würde, daß bei jeden Conflicte is⸗ 
läntifcher Intereſſen mit vänifchen unfehlbar bie erſteren würden wei⸗ 
chen müffen, ta dem tänifchen Miniſter natürlich die däniſchen Ange⸗ 
legenheiten weit wichtiger feien, und Island nie auf die Beſetzung der 
Minifterien ven geringjten Einfluß gewinnen könne. Endlich verlangt 
ber Berfaffer, auf vie unmittelbar vorliegende Frage übergehend, mit 
allen Nachorude, daß bei ven Berathungen über die in Aussicht 
ftehente neue Verfaſſung Island durch eigene Abgeordnete vertreten 
werde, und wünfjcht, daß feine Landsleute durch Petitionen und wenn 
nöthig Berfammlungen von Notablen in biefem Sinne fih ausſpre⸗ 
chen und wirken möchten. 

Das Mißtrauen in die neue Wendung ver Dinge, welches in 
biefem Auffage fich unverhohlen ausfprach, follte in ver That bereits 
in der nächiten Zeit gerechtfertigt werben ). Durch eine Pro- 
Hamation vom 4. April 1848 nahm ver König das Reſcript vom 
28. Januar zurüd, löfte vie auf Grund veffelben gebilvete Commiſſion 
auf, und berief ftatt beren die Provinciallanttage ver Inſeldänen, von 





1) A. a. O. ©. 19- 4. 
2) Cine Ueberfiht über ben Gang ber Dinge gewährt ein Aufſat 
narhagi Islands, in ben Ny felagerit, 1849, @. 9 bu 68. 


—nn - 


472 Konrag Maurer, 


Hütland und Schleswig zur Berathung über ein Wahlgeſfetz ein 
rund deſſen eine conftituirenre Verfanmlung für das game : 
mit Ausnahme von Helftein und Yauenburg, gewählt werten 
Nach dem von ber Regierung felbjt ausgearbeiteten Entwinrfe i 
aber 145 Abgeordnete für Dänemark und Schleswig gemäblt ur 
weitere vom Nönige ernannt werden; unter dieſen letzteren jeli 
Vertreter für Joͤland und einer für bie Fürder fein, une veri 
ber König Die erftern ſoweit möglich aus der Zahl der Allvings 
ner zu wählen. — Wie man fih Seitens ter Regierung bie zu 
tige Stellung Idlands zu dem neuen däniſchen Reiche tachte, 
fich ans dieſen Vorgängen nicht mit Beſtimmtheit entnehmen, m 
mag ſeyn, daß jelbit in ven höchſten Kreijen hierüber keineewege 
liges Einverſtändniß herrſchte; fo viel aber fteht unzmeifelbaft 
daß bereits durch jene verbereitenden Schritte das fchreientite Ur 
gegen Die Inſel begangen war. Wie die Schleswiger, Jütländer 
Inſeldänen, fo hatten auch die Isländer ihre befonvere, in aner 
ter Wirkſamkeit ſtehende Volfävertretung, und tie Competenz 

Alldings war der Competenz jener andern Landtage austrüdlich 9 
geftellt; hielt man demnach, um von ver beſtehenden zu ver nı 
begründenden Verfaſſung einen formell vechtegültigen Uebergan 
bahnen, bie Vorlage des Geſetzes, kraft deſſen die conjtituirente 

fanımlung gewählt werden fellte, jenen Landtagen gegenüber für ı 
wendig, fo mußte ver gleiche Grund auch deſſen Vorlage an dat 
ländiſche Allding nöthig machen; von tiefer aber fah die Proklam 
vom 4 April völlig ab. Ferner, wenn nad dem Regierung: 
wurfe für Dänemärk und Schleswig neben 42 vom Mönig ernar 
145 aus freier Wahl bervergegangene Abgeordnete in der conji 
renden Verfammlung ſitzen jollten, war es bie offenbarfte Lingered 
feit, Die Vertretung Jolando und ter Färöer ausſchließlich von 
Willkür der Regierung abhängig zu ftellen. Ganz abgeſehen alſo 
ver vicl tiefer greifenten Frage, ob es überhaupt rechtlich erlaubt 
zwectmäßig war, bie Yölänter (und Schleswiger) zu einer wefen 
aus Dänen zufammengefegten und ſomit auch von bänifchen Interı 
und Anſchauungen beberrfchten Verſammlung hinzuzuziehen, lag f 
in ber Art, wie biefe ihre Heranziehung bewerfitelligt werben we 
bie gröbfte und formelljte Rechtsverletzung. Und dennoch machte 





Der Berfaffungslampf Islands gegen Dänemark. 413 


y das dänifche Volk unbedingt zum Mitſchuldigen feiner Regierung. ‘Der 
Schleswig'ſche Landtag Tonnte des Krieges wegen nicht zufammen- 
‚ treten, in der Verfammlung zu Roeskilde aber gab die Island und 


den Färdern angethane Unbill nicht einmal zu einer Debatte Veran- 
laſſung, und in Wiborg, wo biefer Punkt durch einen gebornen Je⸗ 
länder, den Kanzleirath Jon Finfen, zur Sprache gebracht wurde, 
lehnte der Landtag die auf ihm bezüglichen Anträge fogar durch aus- 
drüdlichen Beichluß ab! Von den beiden vänifchen Provincialland- 
tagen angenommen, wurde der Regierungsentwurf unterm 7. Yuli 
1848 als Geſetz publicirt. 

Sobald die erfie Nachricht von ven in Dänemark eingetretenen 
politifchen Veränderungen Island erreichte, erfannte man begreiflich 
auch dort die Nothwenbigleit, daß das Volk feine Stimme erhebe. 
Nach mehrfach vergeblich unternommenen Schritten trat enplich am 
11. Juli zunächſt eine Anzahl von Notabilitäten aus Rehykjavik 
und den zunächjt gelegenen Bezirken an erjterem Ort zuſammen. 
Man kam dahin überein, daß zwar eine Betheiligung Islands an der 
dänischen Reichsverſammlung wünfchenswerth fei, aber von ven 5 ver 
Inſel zugeftandenen Vertretern minbejtens 4 ebenfo frei von dem Volke 
gewählt werben müßten, wie bieß für Dänemark und Echleswig 
zugeſtanden worden fei, und erließ fofort eine in dieſem Sinne abge 
faßte Petition an bie Regierung '). Aber ein fo gar zahmes Bittgefuch 
fonnte die minder abhängigen over tiefer blickenden Männer nicht be- 
friebigen, und ziemlich verbreitet war bie Ueberzeugung, daß ganz ab⸗ 
gefehen von ber an dem Lande begangenen formellen NRechtöverlegung 
eine Theilnahme vefjelben an ver Kopenhagener Berfammlung in feinem 
Valle dem Rechte und den Intereſſen ver Inſel zu genügen vermöge. 
Aus der Arnesiysla ging unter ſolchen Umftänden eine mit zahlreichen 
Unterfchriften bededte Betition ab, welche eine frei zu wählende und 
in Ioland ſelbſt abzuhaltende gefeggebeude Verſammlung begehrte; eine 
andere ähnlichen Inhalts ſandte der Borgarfjördur ab; weitaus am 
Erheblichften aber war die Wirkung, welche eine zu Pfngvellir abge» 





1) gl. ben Aufſat Um hlattöku Jalands { rikisfandi Dana eptjr To=ı 


brat 4. Apr. seinastl. in ber Beitfgrift Roykjerikurpostuif 
14548. -.£ u . . 


4714 Konrab Maurer, 


faßte Petition äußerte.) Auf Betrieb zumal bes Allbingemannes 
Jon Gudmundsſon war nämlich auf den 5. Anguſt eine Zuſammen⸗ 
funft an ber alten Dingftätte des Landes anberaumt worben. Zufülfige 
Gründe, zum Theil auch der Mangel an Gewöhnung an ein verarti- 
ges Auftreten, hatten die VBerfammlung allerdings minder zahlreich 
befuchen laffen als erwartet worben war; indeſſen waren immerhin 
19 beveutende Männer aus allen 3 Aemtern des Landes erfchienen, 
und von ihnen war eine Betition entworfen worden, welche al8 ver 
Ausprucd ver Ueberzeugung aller national gefinnten Männer im Lane 
betrachtet werden darf. Es erfennt aber dieſes Schriftftüd in feinem 
Eingange das von dem Könige gegebene Berfprechen einer freieren 
Berfafjung dankbar an, meint jevoch, daß tiefe Verheißung für Is— 
land nur durch eine Tiberalere Zufammenfegung des Alldings und eine 
namhafte Erweiterung feiner Rechte erfüllt werden könne. Es hebt 
hervor, taß eine Vertretung ver Inſel durch fünf, noch dazu nicht vom 
Volfe gewählte Männer in der Reicheverfammlung unmöglich eine ge- 
nügende Garantie zu bieten vermäge für vie Wahrung ihrer Nechte 
und Intereſſen, und folgert hieraus, daß diejenigen Beſchlüſſe ver 
Neichsverfammlung, welche unmittelbar und insbefendere Island be= 
treffen, einer nach eben fo freien Grundſätzen, wie folche für Dänemark 
zugejtanden wurden, gewählten Isländiſchen Verſammlung vorgelegt 
werven müßten. Sie bittet enblich erſtens um eine gefonberte Volks⸗ 
vertretung für Island „auf gleich freier Gruntlage rubend und mit 
benjelben Gerechtſamen ausgeftattet, wie ſolcher unſere Brüder in Dä— 
nemarf zu genießen erhalten werben“; zweitens aber darım, „baß 
Island verftattet werde, nach einem freien Wahlgefege Abgeoronete 
zu wählen, um im Lande felbjt über biejenigen Punkte in ver für das 
Dänenreih beabfichtigten Verfaffung zu berathen, welche unmittelbar 
Island betreffen, und namentlich über diejenigen, welche fich auf vie 
Geſtaltung unferes Vollspinges beziehen, ehe viefelben von Ew. Maje- 
ftät beftätigt werven.u Die Petition circulirte im ganzen Lande, und 





1) Ueber deren Entftehungsgefhichte vgl. den Bericht, welhen Fon Gudmunds⸗ 
fon unter dem Titel: Fundur & pingvelli 5. Augüst 1848 in Reyk- 
javikurposturinn, 1848, ©. 170—172, abftattete. 





Der Berfaffungslampf Islands gegen Dänemark. 4715 


y Aus ben verfchiebenften Bezirken liefen nach und nach 18 gleichlautenbe 


Exemplare berfelben, mit 1940 Unterfchriften bedeckt ein, währen zu⸗ 


y gleich auch noch einige andere in der Sache übereinftimmenve, in ber 
’ Form aber etwas milder gefaßte Gefuche eingingen. 


| 
! 


Die Petition von Reykjavik fowohl als von Pingvellir fandte ver 
Stiftamtmann, Rofenörn, mit einem Berichte ein, welcher die Stint- 
mung bes Landes vortrefflich fchilvert, und zugleich über das gegen daſſelbe 
einzubaltende Verfahren die verftändigften NRathfchläge gibt. Er bes 
merft zunächſt, daß die Nachrichten aus ‘Dänemark zwar allerdings 
auch in Island eine lebhafte Aufregung hervorgerufen haben, daß aber 
dennoch die Stimmung im Lande eine lohale fei. An ven Vorteilen, 
welche Dänemark von den Veränderungen in feiner Berfaffuug fich 
verjpreche, erwarte man auf Island Antheil zu nehmen; zugleich aber 
fei trog ber Stleinheit des Volkes deſſen Nationalität eine feit und 
fcharf au&geprägte, und es fei demnach natürlich, daß man ſich damit 
nicht zufrieden gebe, wenn bie neue Reichöverfafjung ohne alle Mitwirkung 
des Alldings zu Stande gebracht, und überdies die Vertretung Islands 
in der Reichöverfammlung nicht eben jo wie die Vertretung Däne- 
marks vorwiegend durch freie Volkswahl bejtellt werke. Die defini⸗ 
tive Regelung der Stellung Islands betreffend werde man fich kaum 
weigern, an einem Reichstage Antheil zu nehmen, welcher die allge⸗ 
meinen Angelegenheiten des gefammten Reichs zu verhandeln habe, 
wenn nur bie befonteren Angelegenheiten der Inſel einem zwedmäßig 
organifirten Allding überlaffen, und zugleich bei ver Reorganifation 
der oberften Staatsbehörden bie Intereſſen einer felbftftäntigen Ne- 
gierung Islands gehörig gewahrt würben. Für ven Wugenblid aber 
möge der König eine beftimmte Erklärung tarüber abgeben, daß er 
bie Ernennung der Vertreter Islands in der Neichöverfammlung nur 
darum fich vorbehalten habe, weil bie Zeitverhältnijfe deren rafchefte 
Einberufung erforberten, und überdieß für eine glüdliche Wahl der zu 
ernennenden Serge tragen. Wünſchenswerth fei ferner, daß bie 
Regierung über die freiere Geftaltung bes Allvings, ſowie die Reorgani⸗ 
fation der Isländiſchen Verwaltung und deren Verhältniß zu ben 
oberften Neichsbehörden mit Perfonen ſich benehme, welche eine® bes 
fonveren Vertrauens in Island genießen. Abfolut nothwendig * 
lich, daß mit Rüdficht auf die Vorgänge in Daͤnemark ai 


476 Konrab Maurer, 


ding die Deffentlichkeit feiner Verhandlungen zugeitanden, und daß für 
deſſen nächften Zufummentritt ein geborner Isländer zum Töniglichen 
Sommiffär ernannt werde. — Dieſes ebenſo verftänpige als eindring- 
liche Gutachten des oberften Beamten der Inſel machte in Kopenha- 
hagen Einprud. Unterm 23. September 1848 erging ein königliches 
Schreiben an den Stiftamtmann, ') welches nicht nur austrüdlich er- 
Härte, daß die königliche Ernennung der Vertreter IJslands im ber 
Neichsverfammlung lediglich durch die Unverfchiebbarfeit diefer Ber: 
fammlung und die Kürze ver in Mitte liegenden Zeit bebingt fei, fon» 
dern überdieß die ungleich wichtigere Zuficherung ertheilt: „fo ijt es 
doch nicht unfere Abficht, daß die Hauptbeftimmungen, welche nöthig 
werden möchten um bie Stellung Islands im Reiche nach des Landes 
eigenthümlicher Beſchaffenheit gefeglich feftzuftellen, völlig und gänzlich 
Geſetzeskraft erlangen follen, ehe die Isländer ihre Anficht über die⸗ 
felben in einer Verjunnmlung ausgefprochen haben werben, welche fie 
im Lande felbjt halten, und foll das in dieſer Beziehung Nöthige dem 
Alldinge bei deſſen nächſtem geſetzlichen Zuſammentritte vorgelegt wer: 
den.“ Gleichzeitig wurde ein geborner Isländer, der ſchon mehrfach 
erwähnte Juſtizrath und Syſſelmann Paul Melſted (jetzt Amtmann 
im Weſtlande) für das nächſte Allding zum Regierungs-Commiſſär er- 
nannt und zu vorbereitenden Beiprechungen mit dem Staatsminifterium 
für das folgende Frühjahr nach Kopenhagen berufen. Wenig fpäter, 
am 12. Oftober, erfolgte nachdem die Wahlen zur Reichsverſammlung 
auf den 5. Oftober anberaumt werben waren, die Ernennung der fünf 
Vertreter Islands durch den König, und da unter den Ernannten vie 
beiden Allvingsleute Yon Sigurdsfon und Joͤn Gudmundsfon, die ent- 
fhiebenften Verfechter der Volfsthüntlichkeit und Selbftftäntigfeit ihrer 
Heimath, fich befanden mochte auch ihre Ernennung als eine Conceffion 
betrachtet werben. Endlich fuchte man jet auch vie höhere Verwal: 
tung der Inſel in einer zweckmäßigeren Weife zu organifiren. Schen 
zu Anfang des Jahres hatte ſich der Minifterrath mit den Angelegen- 
beiten Islands befaßt gehabt. Von einer Seite war dabei ber 
Vorſchlag gemacht worden, daß ver Inſel ihr Allving entzogen, dage— 





1) Deffen Tert fie in ben Ny fllagsrit, ang. Ort, S. 41—42. 





Der Berfeffungsfampf Ielands gegen Dänemarl. 477 


gen an bem bänifchen Neichstage ein ber Vollkszahl entfprechenver 
Antheil eingeräumt werten möge; die Angelegenheiten des Landes 
follten dabei gemeinfam mit ven bänifchen birect unter bie verfchievenen 
Minifterien vertheilt, auf ver Inſel felbft aber eine gemeinfame Lan⸗ 
besregierung bejtellt und dieſer lediglich ein einheimifcher Amtsrath an 
die Seite geſetzt werden. Dem gegenüber war aber von anderer Seite 
angeregt worden, daß es wohl zweckmäßiger ſei, die Isländiſchen An⸗ 
gelegenheiten an eine beſondere, von einem Isländer zu leitende 
Kanzlei zu weiſen, ſodann aber von deren Chef je nach dem Reſſort 
ber verſchiedenen däniſchen Miniſter dieſen jedesmal Vortrag erftatten 
zu laſſen. “Der letztere Vorſchlag war durchgedrungen, indem nıan 
mittelft veffelben die dänifche Oberleitung aller Isländiſchen Angeles 
genheiten mit dem unbeftreitbar bilfigen Verlangen ver Isländer ver 
einigen zu können meinte, daß biefe von fachverftändigen Händen ges 
führt werden möchten; zur wirklichen Ausführung der Sache wurde 
aber erft jett gefchritten. Die fämmtlichen Isländiſchen Angelegen- 
heiten wurben zufammen mit ben Färdifchen und Grönfändifchen durch 
Föniglihe Reſolution vom 10. November 1848 in zwei Bureaus ver- 
einigt, einem Erpebitionscomptoir, welches die eigentlichen Regierungs⸗ 
ſachen und alle Ausfertigungen, uud einem Reviſionscomptoir, welches 
bie Rechnungsfachen behandeln follte; über die beiven Bureaus aber 
wurbe ein gemeinfamer ‘Director gefett, welcher, obwohl zunächft dem 
Diinifter des Innern untergeben, doch jederzeit demjenigen Minifter 
Bortrag erjtatten follte, zu deſſen Competenz bie betreffende Sache 
ihrer Natur nach gehörte. Zum Director wurbe Brynjülfur Pdturs- 
son, zum Vorſtande des Erpebitionscomptoit® Oddgeirr Stephensen 
ernannt, und felbft vie Schreiberftellen in dem leßteren Bureau wur⸗ 
den größtentheild mit gebornen Isländern befegt. Biel war für Is⸗ 
fand durch dieſe Neuerung freilich nicht gewonnen. In die Oberlei⸗ 
tung ver Yländifchen Verwaltung mehr Einheit und Sachkenntniß 
zu bringen, war biejelbe allerdings geeignet; aber ganz Anderes und 
ungleich Wichtigered mußte geänbert werben, wenn ven Wünfchen 
und Intereſſen der Inſel bie ihnen gebührende Rechnung getragen 
werben follte. Wollte in Dänemark ein wahrhaft conjtitutionelles 
Syſtem vurchgeführt werben, fo mußte diefes auch auf Island feine 


Wirkungen erftreden. Die bisherige Verfaffung der Inſel ungeändert 
Hiforifhe Zeitſchrift 1. Bann. Zu 


478 Kourab Maurer, 


laſſen, hieß tiefe ganz von ven ‚Schwankungen des däniſchen Conftitus 
tionalisnus abhängig niachen, und mit Recht mochte Dem ber Jslän⸗ 
ber entgegenhalten: „dem Volk in Dünemark haben wir nie gehul⸗ 
bigt; wenn demnach der Abfolutisnus abgefchafft und die Regierung 
dem Bolf in die Hand gegeben wirt, fo haben wir gleiches Recht mit 
den Dänen anzufprechen, und nicht geringeres.“ ') Steine beifere Zu- 
funft verfprach dein Lande der von der Regierung eingefchlagene Weg, 
das Herbeiziehen nämlich der Feländer zu dem KReichötage der Dänen, 
und die dem centfprechenve Ueberweijung der Isländiſchen Angelegen- 
heiten an die einzelnen tänifchen Minijterien. Die Entfernung ver 
Inſel von Dänemark, ihre durchaus eigenthünlichen Zuftände, mehr 
noch die jelbftjtändige Nationalität ihrer Bewohner, welche in ber Ver⸗ 
willigung eines befonderen Landtages fo eben erjt eine äußere Gewähr 
erlangt hatte, ftand ihrer Behandlung als eines Theiles von Däne⸗ 
mark entjchieven im Wege. Zupen hatten bereits bie Verhandlungen 
zu Roeskilde gezeigt, was bei einer Beſchickung einer überwiegend aus 
Dänen beftehenten Berjammlung durch cin paar vereinzelte Vertreter 
Islande herauskommen könne, und was für die Yreiheit der Abgeord⸗ 
netenwahl von großer Bedeutung war, nicht einmal die Gleichberech⸗ 
tigung der Isländiſchen Sprache neben ver Dünifchen ließ fich in 
einer folcyen aufrecht halten. Ebenfo war Har, daß in der Executive 
das Intereſſe Islands jederzeit ven Dänifchen weichen, die Miniſter⸗ 
verantwortlichfeit für Island lediglich ein trügeriicher Schein bleiben 
mußte, wenn bie Leitung der Isländiſchen Angelegenheiten mit ber ber 
Dänifchen in einer Hand vereinigt, wenn ferner nicht einer auf Is⸗ 
land zu baltenden, vein Zsländifchen Verſammlung der Beruf über: 
tragen werben follte jene DBerantwortlichfeit zu vealijiren. Die Ein- 
führung ber neuen Isländiſchen Kanzlei, fo erhebliche Vortheile die— 
felbe in rein gefchäftlicher Beziehung gewährte, mußte gerade in ver 
legteren Beziehung ſich ſogar poſitiv fchäblich erweifen, indem nunmehr 
gar Niemand vorhanden war, der für irgend welche Regierungshandlung 
verantwortlich gemacht werben fonnte: der Minijter konnte Dieß nicht, weil 
feine Entſcheidungen durch ven Bortrag eines von ihn zumeift unabhängi- 





') Avarp til Islendioga, in ben Ny felagsrit 1849 ©. 5. 





Der Berfafjungslampf Jelands gegen Dänemarl. 4719 


gen, und durch feine Stelle als fachverftänvig qualifizirten Beamten 
bedingt war, der Chef aber der Isländiſchen Kanzlei ebenfo wenig, 
weil er zwar vorzutragen, aber nicht® zu entſcheiden hatte. So blieb 
temnach, wenn man überhaupt Island nach wie vor von Dänemark 
aus regieren wollte, nur ber einzige Ausweg offen, dem Alldinge bie 
Bedeutung einer conftitutionellen Berfammlung unverfürzt einzuräumen, 
dem PVorftande aber der Ysläntifchen Kanzlei in Kopenhagen, gleich- 
viel übrigens, wie deſſen Verhältniß zu den oberjten Behörden auf ber 
Inſel felbft geregelt werden mochte, tie volle Stellung eines verant- 
wortlichen Minifters anzuweifen, und venfelben fonit ven für Däne— 
mark beftellten Miniftern an bie Seite zu ſetzen, nicht unterzuorbnen. 
Diefen Weg einzufchlagen war man aber in Dänemark theils zu un« 
entfchloffen, theil® auch zu befangen in ver eigenen nationalen Selbit- 
gefälligteit. 

Diefelbe Unficherheit und Halbheit des Auftretens, welche fich 
in den bisherigen Schritten der Regierung ausfprach, bezeichnete aber 
auch deren Haltung in ver Neichsverfammlung, foweit die Stellung 
lands in Frage war. Auf den 23. Oftober 1848 wurbe die Ver⸗ 
fammlung einberufen. Gleich bei ihrer Eröffnung äußerte fi) der 
Minifterpräfivent, Graf Moltfe, über das Verfaſſungsprojekt ver Re⸗ 
gierung, und fprach ſich insbefondere auch über die eigenthümliche 
Stellung aus, welche in dieſem Island ſowohl als dem Herzogthune 
Schleswig zugebacht war; feine Erklärungen waren aber in Bezug 
auf beide Lande lediglich formeller Natur. Hinſichtlich Schleswigs 
wurde erklärt, es verftehe fich von felbit, daß alle diejenigen Punkte, 
welche ver Selbftftändigkeit des Herzogthums grundgefegliche Gewähr 
verleihen follten, nicht zum Beſchluſſe erhoben werben könnten ehe der 
Frieden gefchloffen fet, und nur in einer mit ven Schleswigern zu 
baltenten Verfammlung; bezüglich Islands aber lauten die Worte 
nes Grafen: biejenigen Einrichtungen, welche dem eigenthümflichen 
Zuſtande Islands entjprechen und auf ihn fpeciell ſich beziehen, können 
erft geordnet werben, nachdem eine Isländiſche Verfammlung über 
biefelben gehört worven ift.u Tags darauf Icgte der Yuftizminifter 
ben Entwurf eines „Grundgeſetzes für das Königreich Dänemark und 
Schleswig, fowie den Entwurf eines Wahlgeſetzes vor; in dem ers 
fteren wird Islands nicht mit einem Worte gedacht, in dem zweiten 


a1 


4850 Konrad Maurer, 


bagegen beſtimmt, daß die Inſel zum Volksding 5, zum Landédinge 
aber 2 Abgeordnete zu wählen habe, während auf Dänemark 114 und 
39, auf Schleswig 31 und 11, endlich auf bie Färder bier wie bort 
je ein Abgeordneter treffen. — Als ein Bezirk von Dänemark alfo 
follte Island behandelt, und höchſtens mit Rüdjicht auf feine eigen- 
thümliche Yage und Landesbeſchaffenheit ein etwas höheres Maß pro- 
vinzieller Selbftftändigfeit demfelben gewährt werden; von einer Adh- 
tung ter felbitjtändigen Nationalität der Inſel, von einer Anerkennung 
ihrer rechtlih und gejchichtlich begründeten ftaatlihen Unabhängigfeit 
ift dagegen feine Rede. Nicht minder zeigte ver erſte Blick, vaß ber 
Gefegentwurf eine Reihe von Beſtimmungen enthielt, welche für Dä- 
nemark zwedinäßig oder abfolut nothwendig erjchienen, während deren 
Anwendung auf Island kaum thunlich oder felbit vellfommen unmög- 
lih war; ') es zeigte fich den mit den Verhältnilfen beiver Länder 
einigerinaßen Bertrauten, daß eine für beide gleichmäßig paſſende Ver: 
faffung zu entwerfen ein Ding der Unmöglichkeit fei. ‘Demgemäß, 
und in VBerädfichtigung ver im Neferipte vom 23. September ertbeil- 
ten und vom Minifterium neuerdings wieerholten Zufiherung, daß 
eine Isländiſche Verſammlung über die Verfaffungsfrage gehört wer 
ven folle, fchien e8 ben Vertretern Islands in der Reichsverſammlung 
am Geratbenften, durch ftete Betonung jener Zufage ihrem Lande bie 
Hände frei zu halten, im Uebrigen aber lediglich fo zu ftimmen, wie 
fie e8 im Intereſſe Dänemarks am Beſten fünden, und nur mit aller 
Kraft auf die Befeitigung derjenigen Beſtimmungen im Wahlgefege zu 
dringen, welche eine Betheiligung der Inſel an dem Dänifchen Reiche 





9 Hiefle nur ein Beifpiel. In $. 27 beflimmt das Grundgeſetz: „Der 
König kann entweber den ganzen Neichetag ober eine feiner Abtheilungen 
auflöjen; wird nur eines ber Dinge aufgelöst, follen die Verſammlungen 
bes andern Dinge ausgefet werben bis ber ganze Reichstag wicber ver- 
fammelt werben fann. Dieß fol geſchehen in einer Frift von 2 Monaten 
nach der Auflöfung.“ Will fich die däniſche Regierung verpflichten, inner- 
halb zweier Monate den Befehl zur Neuwahl nad Island zu fchiden, die 
Wahlausſchreiben von Reykjavik bis zum Vopnafjürdur vertheilen und bie 
Wahlen abhalten zu Taffen, endlich die Neugewählten noch rechtzeitig zu ber 
Eröffnung des Reichstages nach Kopenhagen zu befördern? 





Der Berfaffungslampf Islands gegen Dänemarf. 481 


tage ausfprachen. Wirklich gelang es denſelben, vie Beſtimmung ver 
von Island zu fendenben Deputirten, ganz wie dieß hinſichtlich Schles⸗ 
wigs und den Färöern gefchah, aus dem Entwurfe zu befeitigen, und 
8. 18 fomohl als 8. 37 des Wahlgeſetzes behält vemgemäß binfichtlich 
aller dreier Lande vie näheren Beſtimmungen einer fpäteren Zeit vor. 
Ueberbieß hatte ver zur Begutachtung des Verfaſſungsentwurfes nie- 
bergefegte Ansfchuß, in welchem der Isländer Brynjülfur Petursson 
faß, auf deffen Anregung beantragt, daß die im Reſcripte vom 23. 
September zu Gunften der Inſel gegebenen Zufage cbenfo wie ein 
gleichartiger Vorbehalt zu Gunften Schleswige bei der Publication 
des Gefetes ausprüdlich ausgefprochen werten möge, und wenn biefer 
Vorfchlag zivar in ver VBerfammlung in Bezug auf beide Lande durch» 
fiel, fo geſchah dieß doch, wie ſich aus ven Verhandlungen ergibt, ’) 
nicht darum, weil man etwa beiden Landen das echt der eigenen 
Selbſtbeſtimmung zu verkürzen beabfichtigt hätte, fonvern nur darum, 
weil man in ben von der Wegierung ertbeilten Zuficherungen 
bereitd eine vollfommen genügende Garantie ihrer Nechte gegeben 
glaubte. So wurde denn, von ber Verfanunlung wenig mobificirt, 
unterm 5. Juni 1849 das Grundgefeß, und unterm 16. Juni 1849 
das Wahlgeſetz von Könige fanctionirt. Bei der Publication bes er- 
fteren fand die Regierung für gut in den Eingangsworten jenen Vor⸗ 
behalt in Bezug auf Schleswig auszufprechen, hinſichtlich Yelande 
Dagegen mit Etillfehweigen zu übergeben; ein Bräjubiz zum Nachtheile 
der Inſel ließ fich inzwifchen auch daraus nicht entnehmen, denn 
einmal wurbe bie früher ertheilte Zuficherung nicht zurüdgenommen, 
ſodann aber auch das Grundgefeg in Island nicht publicirt, wie doch 
hätte gefchehen müjfen, wenn man baffelbe als ein auch für bie Inſel 
gültiges Geje Hätte betrachten wollen. Es war bemnach nur eine 
weitere Anconfequenz, wenn man troßdem in bie Beitallung ber vom 
Könige ernannten Isländiſchen Beamten fortan die Verpflichtung auf 





1) Beretning om Forbanblingerne paa Rigsbagen Bd. II, S. 2729 und folg.; 
fiehe zumal Tſchernings Erflärung: „mas Ieland betrifft, glaube ich nicht 
daß ber Antrag nöthig ift; denn das was in dem Antrage gejagt üft, ift 
Island in folder Weife zugefichert, daß man darüber wohl niemals einen 
Zweifel erheben Tann.” 


482 Konrab Maurer, 


"des Neiches Grundgefegs aufnahm; in ven Beftallungen aller an- 
deren Beamten blieb denn auch, der rechtlichen Sachlage völlig ent- 
ſprechend, dieſe Verpflichtung nach wie vor weg. 

Es begreift ich, daß während aller dieſer Vorgänge die alfges 
meine Aufmerkfanfeit des Volfes fortwährend den Berfaffungsfragen 
zugewandt, daß tie allgemeine Stimmung im Lande immer noch eine 
ziemlich erregte blieb. Ein Zeugniß für jene Aufinerffamfeit, einen 
Ausdruck für dieſe Stimmung gewährte aber zumächft die politifche 
Litteratur. Auf Island felbft traten fich in dieſer die verſchiedenen 
Standpunkte jchroff genug gegenüber. In einer im Sinne ter Res 
gierung gehaltenen und ven einem Beamten, dem damaligen Aſſeſſor, 
jegigen Präſidenten des Obergerichte®, pöordur Jönassen, rebigirten 
Zeitfchrift wird die Däniſche Auffaffung wenigſtens annähernd ver- 
treten.) An der Bereinigung mit Dänemark folle feitgehalten werben, 
und hierans die Theilnahme der Isländer an tem däniſchen NeichE- 
tage wenigftens infoweit als biefer über Jutereffen des ganzen Reiches _ 
zu verhandeln habe, von felber fließen; vagegen müffe das Jeländiſche 
Volfsting durch Webereintunft mit den Isländern allein georonet 
werben, und ven Vertretern ber Inſel liege ob dafür zu forgen, daß 
bie Grenzen der ihnen zugewiefenen Angelegenheiten fo weit als mög⸗ 
ih geftedt würben. Ebenſo müfje die Regierung des Landes feiner 
neuen Verfaſſung entfprechend eingerichtet werben; weiter zu gehen 
und bie Stellung Islands zu Dänemark auf cine bloße Perſonalunion 
zu reduciren, fei ein boffuungslofes und für das Land nicht einmal 
wünfchenswerthes Unternehmen. Cine Geſammtſtaatsverfaſſung alſo 
neben befonberen Verfaſſungen für bie einzelnen Reichslande iſt es, 
was als zu verfelgende® Ziel Hingejtellt werben will; freilich ſelbſt 
biefes mehr, als man in Dänemark zu verwilligen gefonnen war, 
Ganz anders Iautet die Stimme einer von Sära Sveinbjörn Hall- 
grimsson, bermalen Beiftlichen zu Münkapvers, zur Vertretung bes 
natienalen Standpunktes neu begründeten Zeitung. In einer Reihe 
von Artileln ”) wird bier die Bedeutung ber Verfammlung erörtert, 


— — — — 


1) vergl. den Aufſatz: Litid eitt um Islenzk mülefni, in Reykjaı fkurpost- 
urinn, 1849 ©, 33 —42. 





Der Berfaſſungokampf Islands gegen Dänemarf. 483 


welcher nach dem Refcripte vom 23. September die auf Island bes 
züglichen Punkte ver Reichverfaffung vorgelegt werten follten; es wird 
babei die Frage verhandelt, wie ferne diefe Vorlage an das Allding 
felbjt erfolgen könnte, oder auch cine Octropirung des Dünifchen Wahl⸗ 
gejeßes felbft zu billigen wäre, um eine liberalere Verfanmlung ohne 
allzu großen Zeitverluft zu jenem Zwecke zufammenzubringen. Es 
wird in anderen Artikeln’) tie Frage befprochen, ob allenfalls fogar 
unabhängig von einer Negierungevorlage am nächften Allvinge eine 
Verhandlung über die Verfaffungsfrage zweckmäßig fei, und wird bei 
biefer Gelegenheit auch wohl der Anſpruch Islands auf eine vollkom⸗ 
men felbftftändige Verfaffung und Verwaltung verfochten. “Der alte 
Vertrag wird abgebrudt, ”) durch welchen Island feinerzeit fich der 
Korwegifchen Krone unterwarf, und aus biefem das Necht des Landes 
auf größtindglichte Selbftftänbigfeit tebucirt. U. dgl. m. In Düne 
markt hatte inzwifchen ver berühinte Nechtsgelehrte Orſtedt über ven 
neuen Verfaſſungsentwurf gejchrieben, und unumwunden erflärt: „IJs⸗ 
land unter dieſe neue Verfaffung zu begreifen, würde gewiß in feiner 
Weife mit dem Vortheile dieſes Landes fich vereinigen laffen, und 
überbieß tem Reichstage nicht geringe Verlegenheit verurfachen zu 
nicht minder waren die in Kopenhagen wohnhaften Isländer für bas 
Recht ihrer Heimath thätig gewefen. In Dänifchen Zeitungen hatten 
fie gelegentlich tie Sache Jélands geführt; daneben aber brachten von 
ihnen herausgegebene Isländiſche Zeitfchriften umfaſſendere Beſpre⸗ 
chungen ber Berfaffungsfrage, und zwar durchaus im nationalen Sinne, 
Wirkſam wurden in tiefer Richtung zumal die im Jahre 1841 nen- 
begründeten „neuen Gefellfchaftsfchriften,u in welchen bie einzelnen 
bezüglich ver öffentlichen Zuftände ver Inſel fich ergebenben ragen 
betaillivt behandelt wurden; bier zu erwähnen ift, neben dem bereits 
gelegentlich in Bezug genommenen „Aufruf an bie Feländer,» ?) ein 
einläßlicher Auffag „über den Verfaffungszuftand Fslands,u der aller- 
bings ebenfalls bereits nach anderer Seite hin anzuführen war.“) In 





1) Ebenda, 1849, S. 51—52; ferner 61—62. 
2) Ebenda, S. 69—70. 


’) Avarp til Islendinga. in Ny lelagsrit, 1849, S. 1- 8. 
*) Um stjörnırhagi Islands, ebenda, S. 9—68. 





dem letzteren wird einerfeits eine gefchichtlihe Darlegung ber auf bie 
gslandiſche Verfaffung bezüglichen Ereigniffe vomAnfange bes Jahres 
1848 bis zu deſſen Ende gegeben, ſodann aber eine Reihe litterariſcher 
Aeußerungen über die Verfaſſungsfrage beſprochen und kritiſirt. In 
dieſem zweiten Abſchnitte erklärt ſich der Verfaſſer zunächſt beſtimmt 
für das Verfahren, welches die Regierung neuerdings in der formellen 
Behandlung der Trage eingeſchlagen habe.) Man lege mit Recht 
weder dem Allding felbjt den Verfajlungsentwurf vor, denn zu deſſen 
Beratbung fei daſſelbe vom Volfe nicht gewählt werben, noch oftropire 
man ein Wahlgeſetz, um auf deſſen Grund eine neue Verſammlung 
zufammenzutreten zu laffen, denn dieß wäre vollkommen ungefeglich, 
vielmehr lege man einen für eine außerortentliche Verſammlung be- 
rechneten Wahlgefegentwurf dem Alldinge vor, und laffe dann jene 
das Verſanmlungsgeſetz berathen; vamit halte man einen durchaus 
legalen Weg ein, und verfahre Island gegenüber ebenjo wie gegenüber 
Dänemark, nur müfje man freilich dort wie bier der neu zu berufen- 
ben Berfammlung befchlieffende, nicht nur berathende Stimme ein- 
räumen, fo daß das Verfaffungsgefeß nur durch ihre Uebereinkunft mit 
tem Könige zu Stande komme. In der Suche felbit aber wird fos 
bann in fehr draſtiſcher Weife auseinanvergefegt, auf welche unüber« 
winbliche Schwierigleiten eine Betbeiligung Isländiſcher Abgeordneter 
am Reichstage zu Kopenhagen ftoße, und wie wenig eine folche ven 
Intereſſen der Inſel förverlich fei; es wird die Unmöglichkeit darge— 
than, bie Competenz eines von Island aus befchidten Reichstages 
bon ber Competenz tes Alldinges abzufcheiven, und beifpielsweife auf 
bie Beſteuerung, die Zollgefeßgebung und dgl. hingewieſen; endlich 
wird auch nachgewiefen, daß fich die Verwaltung ver Inſel neben einer 
Betbeiligung derſelben am Dänifchen Reichstage unmöglich in zweck⸗ 
mäßiger Weife organifiven laſſe. Am Schluße formulirt dann noch 
ver Verfaſſer mit möglichjter Schärfe diejenigen Punkte, welche ihm 





') Anfangs ſcheint man fi in Dänemark Über das einzuhaltende Verfahren 
nicht ganz Mar geweſen zu fein, und war zumal von manden Seiten ge⸗ 
wünſcht worden, daß der Verfaſſungsentwurf bereits dem nächſten Alldinge 
vorgelegt werden möge. Jedenfalls ſtand indeſſen bereits frühzeitig im 
Jahre 1849 die Abſicht feſt, den oben bezeichneten Weg zu betreten. 





Der Berfaffungsfampf Islands gegen Dänemark. | 485 


umerläßlich fcheinen, wenn Island überhaupt zu feinem Rechte gelangen 
fol. Er fordert aber vor Allem die Verlegung ber oberjten Landes⸗ 
regierung in das Land felbft, und zwar folle diefelbe aus minveftens 
3 Männern beftehen; tem Alldinge folle die Ueberwachung biefer Be- 
hoͤrde, und zumal bie Aufficht über die Einnahmen und Ausgaben bes 
Landes ganz wie dem Dänijchen Reichétage bezüglich Dänemarks zu- 
kommen. Bezüglich der Gefeßgebung, und femit auch ber Beſteuerung 
und des Handelsweſens müſſe das Allding befchliegende Stinnme er- 
halten, vorbehaltlich natürlich der Zuſtimmung des Königs. Eine 
Betheiligung Islands am Dänifchen Reichstage ſei durch die Gleich— 
berechtigung ſeines Alldings neben dieſem bereits ausgeſchloſſen; da⸗ 
gegen aber bedürfe man zur Vertretung ver Inſel in allgemeinen Reichs⸗ 
angelegenheiten ſewohl als in den fpeciell Jsländiſchen Fragen welche 
eine Entſcheidung des Königs erfordern eines verantwortlichen Bevoll⸗ 
mächtigten, welcher foweit allgemeine ReichSangelegenbeiten zu verhan⸗ 
bein feien, im Minifterrathe Ei und Stimme haben müſſe. Zu 
allgemeinen Einrichtungen, aus welchen e8 Nuten ziehe, habe Island 
natürlich auch einen feinem Vermögen entfprechenven Koftenbeitrag zu 
feiften, zu der Givillifte alfo, zu ben Koſten ver vipfomatifchen Ver⸗ 
tretung, und etwa auch zu benen ver Flotte. Jedenfalls fei die Er: 
laffung einer beſonderen Berfaffung für Island nothwendig, welche 
zugleich tie Stellung ver Inſel im Gefammtreiche und deren innere 
Organifation fejtftelle; das Verfprecyen einer folchen fcheine aber auch 
in dem Refcripte vom 23. September 1848 enthalten zu fein. ‘Den- 
felben Standpunkt wie ver eben befprochene vertritt aber auch ein an⸗ 
derer fehr gut gefchricbener Auffag in einer von Gfsli Brynjälfson 
und Jön Pördarson redigirten Zeitfchrift. ') Der Verfaſſer fucht 
aus der Gefchichte nachzumweifen, daß die Beziehungen Islands zu 
Dänemark ſich auf das Beſtehen einer Perſonalunion befchränfen, 
welche Teineswegs willführlich und einfeitig in eine Realunion könne 
verwandelt werden; daß ferner eine engere Verbindung beider Lande - 
immer nur eine wibernatürliche und unzweckmäßige fein würbe, und 
auf den Grundſatz ber gleichen Berechtigung nimmermehr begründet 
werben könne oder wolle; baß enblich keinerlei Grund für die Inſel 





1) Alping a5 -sumari; .| 


486 Konrad Maurer, 


vorhanden fei, einem dänischen Kammerregimente fich zu unterwerfen. 
An der Perfonalunion alſo feftzubalten, dem Allding eine dem däni⸗ 
ſchen Reichstage völlig gleiche Stellung zu fichern, endlich im Lande 
felbft eine eigene, dem Allding verantwortliche Regierung zu beftellen, 
welche durch einen Bevollmächtigten in Kopenhagen unmittelbar in 
Verbindung mit dem Könige ftehe, pas fet vie erjte Aufgabe ver 
Volfsvertretung; eine zweite liege ſodann in ver Reorganifation bes 
Alldings felbft auf Grund felbftftändiger Volksthümlichkeit und polis 
tifcher Sleichberechtigung Aller, vie zumal in freiefter Geftaltung ver 
Wahlorpnung fi zu äußern habe. Beſtimmte Vorjchläge, welche in 
biefer Beziehung, dann binfichtlich ver Verlegung ver Verſammlung 
nach ber alten Dingftätte gemacht werben, können bier übergangen 
werben. 

Aber auch auf ganz anderem als Literarifchem Wege hatte fich bie 
Stimmung des isländiſchen Volkes Luft zu machen gewußt. Im Weft- 
ande wurden Zufammenfünfte an den alten Dingftätten zu Kolla- 
bädir im Porskafjördur und zu P6rsnes verabrevet, und jene auf ben 
18., viefe auf den 22. Juni 1849 feftgejegt '); auch tie Norbländer 
bereiteten füffelweife zu haltende Zufammenfünfte ver, und im Süp- 
lande wurden folche wenigſtens bin und wieder gehalten. Zugleich 
faßte man eine weitere, zu Pfingvellir zu haltende, und aus dem gan- 
zen Lande zu beſchickende Verſammlung in's Auge, und auch dieſe fanb 
am 28—29. Juni wirklich ftatt *); etwa 180 Männer famen hier zu- 
fammen, faft alle Wahlbezirfe waren vertreten, unb unter dem Bor- 
fite des zum Präfidenten gewählten Profeffors Ptur Petursfon, des 
befannten Kirchenhiſtorikers ver Inſel, wurde fofort zu einer förmli⸗ 
chen Berathung über die Angelegenheiten des Landes gefchritten. Dan 
begann mit ver Verlefung und vorläufigen Befprechung ber eingelan- 
fenen Petitionen; man befchloß ſodann, weil das Allding lediglich eine 
tm nächſten Jahre zu haltende Verfammlung vorzubereiten und mit 

"ver -Verfaffungsfrage nicht felbft fich zu befchäftigen habe, Feine auf 





1) Ueber die Gefchichte biefer Zufammenkünfte vgl. zumal die Zeitfchrift Gestur 
Vestfiröingur, 1850, &.32 —39, fowie etwa pjodolfr, 1849, &. 90—91. 


2) Einen Bericht über biefelbe fiehe im Ppjsöslfr, 1849, ©. 74— 76, 





Der Berfaffungsfampf Islands gegen Dänemarf, 487 


biefe Ießtere fich beziehenve Petition zu entwerfen; man befchloß enb- 
lich, während eine Reihe anderer tbeild von den Verſammlungen zu 
börsnes und Kollabüdir, theild von einzelnen Syſſeln, theils auch 
blos von einzelnen Privatleuten eingereichten Petitionen kürzer abge⸗ 
than wurden, einen weiteren Ausſchuß nieberzufegen, um über bie 


Zweckmäßigkeit eines Gefuches um Vorlage von Nachweijen über das 


— 


Budget des Landes zu berichten. Von beiden Ausſchüßen wurde Be- 
richt erſtattet, und in beiden Beziehungen die Erlaſſung von Petitio⸗ 
nen an das kommende Allding beſchleſſen; die Hauptgrundzüge des 
gewünſchten Wahlgeſetzes wurden dabei in der hierauf bezüglichen Pe— 
tition ') bereits beſtimmt ausgeſprochen. Als ſolche figuriren aber vie 
Zahl von 48 Abgeordneten, deren 42 gewählt werben ſollten; Beibe⸗ 
baltung der bisherigen Wahlbezirfe, Doch fo, daß von venfelben je 
nach ihrer verjchiedenen Volfezahl 1—3 Abgeorpnete zu wählen feien; 
birecte Wahl, aber dennoch fehr geringe Befchränfung des Wahlrechtes 
wie der Wählbarfeit. Cine Reihe anderer, auf den Wahlmobus be- 
zägliher Punkte mag hier als vergleicheweife geringfügig übergangen 
werben, wie denn überhaupt weniger ver Inhalt der beiden Peti⸗ 
tionen, als vielmehr die gefammte Haltung ber Verſammlung von 
Gewicht ift, und der Umſtand, daß tiefelbe troß aller Hinvernifje, 
welche die weiten Entfernungen und üblen Wege entgegenftellten, den⸗ 
noch fo zahlreich befucht wurde. 


Inzwifchen war die Zeit herangerüdt, in welcher nach gefetlicher 
Vorschrift das Allding fich zu verfanmeln hatte. ‘Die Abgeordneten 
trafen rechtzeitig ein; aber ver E. Gommiffür war noch nicht ange 
kommen, und fo mußte fi) der Stiftgamtmann Roſenörn dazu ver- 
ftehen, an dem hiezu beftimmten Tage, ven 2. Juli 1849, die Ber: 
fammlung zu eröffnen und überhaupt bis auf Weiteres die Function 
des Commiffärs auf eigene Verantwortung bin zu übernehmen ?). 
Zum Vorſitzenden wurbe fofort, bezeichnend genug für die Stimmung 
der Dingleute, Icon Sigurdsſon gewählt; aber auch er war noch 
nicht von Kopenhagen hergefommen, und ter Vicepräſident, der treff- 





1) Die Petition ſelbſt flepe in Albfngistföindi, 1849, &. 119 His 122. 
2) Tidindi fr& albingi Im 210. 


488 | Konrad RNaurer, 


liche Propft Sera Hannes Stephenfen, mußte fomit bis auf Wei- 
teres den Vorſitz übernehmen. Aber auch die Verhandlungen felbft 
bezüglich deren von Anfang an mit Zuftimmung des Stiftamtmannes 
unter Berufung auf ven Vorgang Dünemarkd die Zulaſſung ver 
Deffentlichkeit beichloffen wurde, erlitten durch vie Ungunft des Wet- 
ters, welches das Schiff tes k. Commiſſärs den Hafen nicht erreichen 
ließ, fehr erhebliche Störungen. Die wichtigite Aufgabe ber Ber- 
famınlung war entfchieren die, das Wahlgeſetz zu berathen, auf deſſen 
Grund fofort vie zur Verhandlung ver Berfaffungsfrage berufene 
Verſammlung gewählt werben follte. Den Regierungsentiwurf aber 
eben tiefes Wahlgeſetzes, welcher doch der Natur ver Sache nach bei 
viefen Verhandlungen zu Grunde zu legen war, follte Melſted erft 
mitbringen, und Niemand hatte von veifen Inhalt auch nur irgend 
welche verläßige Kunde; dazu follte die Verſammlung nach 8. 39 
des Allvingegejeges wenn nicht ausnahmsweiſe durch befonvern kgl. 
Befehl eine Verlängerung angeorbnet würde, nur 4 Wochen währen, 
und es blieb demnach jelbft für ven Fall, vaß ver k. Commiffär noch 
vor Ablauf diefer Frift eintreffen follte, ſehr fraglich, ob e8 noch mög⸗ 
lich jein werde, den von ihm vorzulegenden Entwurf einer gejchäfts- 
oronungsmäßigen Ausſchußberathung und zweimaligen Verhandlung 
in ber Verſammlung felbft zu unterjtellen. Unter ſolchen Umſtänden 
legte enblich der VBicepräfivent, da Commiffär und Entwurf noch im- 
mer ausftändig waren, am 12. Yuli jech8 auf das neue Wahlgeſetz 
bezügliche Petitionen, darunter bie von pingvellir vor, und beantragte, 
damit doch in biefer Richtung Etwas gethan werte, vie Wahl eines 
Ausfchußes zu ihrer Begutachtung. “Der Antrag wurde angenommen, 
und als Referent des vemgemäß nievergefegten Ausfchußes legte Ion 
Gudmundseſon am 27. Juli einen in 22 88. ausgearbeiteten Wahlge⸗ 
feßentwurf vor ’), welcher neben einer erheblichen Erhöhung ber Ab- 
georonetenzahl, Beibehaltung der bisherigen Wahlbezirfe, aber mit 
gleicher Vertretung derſelben, directe Wahl und freiefte Geftaltung 
des Wahlrechtes ſowohl als der Wählbarkeit feftfett; zugleich wurbe 
bie Grlaffung einer Petition an den König beantragt, dahin gebent, 





1) Den Entwurf findet man a. a. O., &. 559 bie 563, 





Der Berfaffungstampf Islands gegen Dänemark. 489 


1 daß beſagtem Entwurfe die kgl. Sanction ertheilt und das hiernach 


zerlaſſene Wahlgeſetz bereits im Herbſte nach Island geſchickt werben 


; möge, — daß die vom Könige zu ernennenvden Mitglieder der DVer- 
. fammlung fo frühzeitig ernannt werden möchten, daß man bereits vor 
dem Beginne ver Volkswahl deren Namen in Island kennen könne, 
— endlich daß die Verſammlung auf den 15. Juli 1850 einberufen 
werben möge. Am 28. Juli folgte die allgemeine Debatte, erft am 
29. aber, alfo nach deren Schluß kam endlich Juſtizrath Melſted fo- 
wohl als Ion Sigurösfon an, nachdem Sturm und Unwetter fie nahezu 
8 Wochen lang auf der See herumgetrieben und damit das alte is⸗ 
laͤndiſche Sprichwort wahr gemacht hatten: „der König will jegeln, 
aber der Wind Hat zu entfcheiven!" Auch jekt noch fehien das un- 
gefüge Benehmen bes kgl. Commiſſärs, welcher fofortige Siftirung 
ber begonnenen Berathung und Wiverbeginn berjelben auf Grund der 
Regierungsvorlage begehrte, und zugleich auf eigene Verantivortung 
bin den Abgeorpneten eine Erſtreckung der Dingzeit um weitere 14 
Tage zumuthete, vie Erledigung der Sache zu geführben; mit großer 
Mehrheit wies die Verſammlung dieſe Zumuthung zurüd, ſchritt an 
demjelben Tage noch zur zweiten Berathung des Ausfchußentiwurfes 
and nahm diefen ſammt ver denfelben begleitenden Petition mit un- 
bedeutenden Mobificationen an!). Doch kam hinterher noch in Folge 
gegenjeitiger Nachgiebigkeit in der Art eine Verftändigung zu Stanve, 
daß die Dingleute zu einer Verlängerung ver Verfammlungszeit um 
T—8 Zage fich berbeiließen; neuerdings wurde ein Ausſchuß über 
die Wahlgeſetzfrage niebergefegt, und auf Grund des Regierungsent- 
wurfes eine weitere Verhandlung über viejelbe eröffnet. Materiell 
war indeſſen hiemit wenig gethan. In fehr erheblichen Punkten wich 
der Regierungsentwurf von ven Grundfägen ab, auf welchen ber be- 
reits zum Beſchluße erhobene Entwurf des früheren Ausſchuſſes be- 
rubte °); er ftatuirt 3. B. eine geringere Abgeorpnetenzahl, ungleiche 
Vertretung ver Wahlbezirke, indirecte Wahl u. dgl. Die Anficht ver 
Verſammlung über biefe Trage hatte fich natürlich nicht innerhalb 





1) Die Petition fiehe a. a. DO, ©. 709 bis 714. 
”) Der Entwurf flieht a. a. O., Anhang, ©. 26 bie 31. 


x 





490 Nonrad Maurer, 


weniger Tage geändert; in ven neuen Ausſchuß waren von berfelben 
mit einer einzigen Ausnahme wieder viejelben Männer gewählt wor⸗ 
ben wie früher, und wiederum trat als deſſen Referent Jon Gud⸗ 
mundsfon auf. ‘Dengemäß lautete der Antrag des Ausſchußes eiu- 
fach auf Verwerfung des KRegierungsentwurfed, und auch von ben 
übrigen Dingleuten mochte Niemand um biefen fih annehmen, 
mit alleiniger Ausnahme des Profeffors Petur Pötursfon, welcher 
als Erfapmann neu eingetreten und fomit bei ven früheren Ver— 
banplungen noch nicht betheiligt gewejen war. Seine Anträge fan- 
den indeffen, obwohl jie lediglich dahin zielten, die Regierungsoorlage 
unter Beibehaltung ihrer Form im Sinne ver früheren Beſchlüße ab- 
zuändern, feinen Anklang; ein einziges ber geitellten Amenvements, 
auf vie immerhin untergeoronete Frage der Erfagwahlen bezüglich, 
wurde als ein gejonverter eventueller Antrag angenommen, im Webri- 
gen aber ver Kegierungsentwurf mit Stimmenmehrheit abgelehnt, 
und eine in dieſem Sinne vom Ausſchuße verfaßte Betition an ven 
König gebilligt ')., Unmittelbar nachdem dieſes Ergebniß erzielt war, 
gieng die Verſammlung am 8. Auguft 1849 auseinander. 

Mau hatte von verjchiedenen Seiten ber befürchtet, daß bie 
ſelbſtſtändige Haltung der Verſammlung bei ver Verhandlung des 
Wahlgeſetzes in Kopenhagen Anftoß geben, und daß das von ihr in 
Borjchlag gebrachte Gejek die Sanction des Königs nimmermehr er- 
langen werde. Die Befürchtung erwies jich als grundlos. Bereits 
unterm 23. September 1849 erhielt dad vom Allving entivorfene 
Geſetzproject, troß feiner von der Regierungsvorlage fo ſehr abwei⸗ 
chenden Grundzüge, im Wefentlichen unverändert bie kgl. Genehmi- 
gung’); gleichzeitig ınit denn Wahlgefege kam ferner noch im Herbſte 
bie Nachricht nach Island, daß der König die 6 von ihm zu beftim- 
menden Mlitgliever der neuen Berjammlung bereits ernannt, und daß 
er jowohl die durchaus liberale Haltung des Stiftamtmannes als bie 
von dem k. Commiſſäre eigenmächtig verfügte Verlängerung der Ding- 
zeit ausbrüdlich gebilligt babe. Unter ſolchen Umſtänden bereitete 





1) Siehe biefelbe a. a. O., S. 938 bis 944. 
2) Das Wahlgeſetz ift abgebrudt in Lanztidindi, ©. 19 bis 21. 





Der Berfaffungelampf Itlande gegen Dänemarf. 401 


man ſich alles Ernſtes zur Vornahme der Wahlen vor. Die beiden 
im Lande erſcheinenden Zeitungen brachten Aufrufe an die Wähler, 
und benützten dieſe Gelegenheit über ihre Anſicht hinſichtlich der Ver⸗ 
faſſungsfrage ſelbſt ſich auszuſprechen. In einzelnen Wahlbezirken 
wurde ſogar ſchon eine Vorwahl verſucht, oder doch ernſthafter über 
die Candidaten verhandelt, welche etwa da und dort aufzuſtellen wä⸗ 
ven. Auf Ende Mai 1850 wurden ſodann die Wahlen von der Re- 
gierung anberaumt, und viefelben fanden um biefe Zeit wirklich ftatt. 
Alles war jomit bereit, vie vielbefprochene Verfammlung im Yuli 
eröffnet zu fehen; da traf unverſehens die Nachricht ein, daß der 
König durch Patent vom 16. Mai diefelbe erft auf ven 4. Juli 1851 ein⸗ 
berufen habe ’). Zur Rechtfertigung dieſer auffallenven Verzögerung 
berief ſich die Regierung theils auf die Nothwenpigfeit einer gründ- 
lichen Vorbereitung ter an die Verfammlung zu bringenden Vorlagen 
theils auf die Unzwedmäßigfeit einer Ordnung ver Beziehungen Js⸗ 
land's zum Gejammtreiche, jo lange noch die Stellung anderer Theile 
biefe® legteren nicht geregelt fei; in dieſer letzteren Rückſicht war of» 
fenbar das entjcheivende Moment gelegen, mit andern Worten: bie 
Entjcheivung über die Stellung Schleswigs zu ‘Dänemark follte auch 
für Island maßgebend fein! 

Eine gewiffe Gleichheit in der Stellung golande und der beut- 
ſchen Herzogthümer,, insbefondere Schleswigs, ließ fich in der That 
nicht verfennen. Beiderſeits wurde ftantliche Selbſtſtändigkeit und 
bie bloße Perfonalunion als Grundlage der Beziehungen zu MDänes 


mark beanfprucht, oder vielmehr als zu Recht beſtehend verfochten, 


beiverjeitd das gejchichtlich begründete Recht den revolutionären Neues 
rungsgelüften in Kopenhagen gegenübergeftellt; Schlesisig ſowohl wie 
Island (Holfteind Beziehungen zum veutjchen Bunde ließen auf die⸗ 
fe8 die gleiche Tendenz nicht ausdehnen) follte dagegen nach dem 
Plane der dänischen Umfturzregierung in Dänemarf incorporirt, beis 
ben Landen höchſtens noch ein beſchränktes Maß provincieller Selbit- 
jtändigfeit belaffen werben. Die Herzogthümer hatte die Kopenha⸗ 
gener Mürzrevolution unter die Waffen getrieben, Island mußte, arın 





1) Lanztidindi, &. 82; vgl. ©. 100. 


DU} 
“ 


42 _ Konrab Naurer x. 


und jchwach bewölfert, mit geiftigen Mitteln feinen Kampf zu führen 
juchen; ver Erfolg aber auf der einen Seite mußte, wie er auch fal- 
len mochte, auch für die andere mehr over minder beftimmeno wirken. 
So lange demnach in den Herzogthümern das Kriegsglüd ſchwaukte, 
batte man von bänijcher Seite her auch die Isländer gewähren laf- 

fen; ſeitdem aber ber rufjifche Abfolutismus zu Gunften der päni- 

ihen Demokratie die Wagfchale nieverzubrüden begann, fieng man 

auch Island gegenüber an, ftrengere Saiten aufzuziehen, un zwar 
um jo mehr, je mehr man zu fürchten hatte, daß eine Nachgiebigkeit 

gegen die Inſel als Präcedenzfall für die Herzogthümer benügt wer: 

den möchte. In den Friedenspräliminarien, welche am 10. Zuli 1849 

zu Berlin unterzeichnet worden waren, hatte Preußen bereit® im We⸗ 

ſentlichen die Herzogthümer füllen lajfen, und wenn zwar bie beutfche 

Gentralgewalt auf der dort feitgeftellten Grundlage zu verhandeln ver- 

weigerte, fo ließ doch ver Umftant, daß dennoch mit der Füß- 

rung ver Triedensunterhandlungen Preußen beauftragt blieb, und 
mehr noch der Gang dieſer Unterhandlungen felbft ven Schluß zu, 

daß deren Ergebniß ein für Dänemark vortheilhaftes fein werke. 

Man mußte erwarten, daß eine den Isländern gewährte, jelbitftän- 

dige Verfaſſung als eine weitere Stüte für bie ohnehin bereits er- 

bobenen Forderungen hinſichtlich Schleswig's geltend gemacht werten 

würbe, und es war nicht zu hoffen, daß ein auf andere Grundlagen 

gebauter Entwurf in einer isländiſchen Vollsvertretung durchgefeßt 

werben könne; dagegen ließ fich annehmen, daß bei der Lahmheit 

Deutichlands die Rechte der Herzogthümer mit Hülfe ver fremden 

Mächte fih würden brechen laffen, und daß dann auch Island fich 

geſchmeidiger zeigen oder leichter niederhalten laffen werde. Schlimm- 

jten Falls mochte wenigstens ein Verluft an Rechten auf ver armen, 

fernen Injel weit minder erheblich ericheinen, wenn er nur nicht einen 
gleichen Berluft gegenüber diefen jo nahe liegenden und fo reichen Her- 
zogthümern in feinem Gefolge hatte. 








VI. 


Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur des Jahres 1858. 
GFortſetzung.) 





6. Jeautſche Zypecialgeſchichte. 
Schwaben und Oberrhein. 
Archiv für die Geſchichte des Bisthbums Augsburg. Herausg. 


v. Domlapitular Ant. Steichele. 2. Bd. 1. u. 2. Heft. Augsburg, Schmid. 
©. 1—288. 8. 


Darin findet fich neben andern Beiträgen ein Aufjag von dem 
Herausgeber über Fr. Joh. Franks Augsburger Annalen, 1430—1462, 
und ein zweiter von Bader, vertraulicher Briefwechſel des Cardinals Otte 
Truchſeß von Waldburg, Biſchofs vun Augsburg, mit Herzog Albrecht Y. | 
von Bayern, 1560—1569. | 


Biffart, M., Oberlieutenant, Geſchichte ver Württembergifchen 
Befte Hohenafperg und ihrer merfwürbigfien Gefangenen. Mit. 5 Holz- 
Ihnitten. Stuttgart, G. Köhler, VII, 181 ©. 

Aus diefer an fich unbedeutenden Schrift ift allenfalls ber Abſchnitt 
„Hohenaſperg während der elfmonatlichen Belagerung im 30jährigen Kriege“ 
(1634—35) auf S. 27—63 bemerkenswerth, indem hier die Feſtung 
eine anjehnlihe Rolle in ven Kämpfen zwijchen ven Schweden und ven 
Kaiferlichen fpieltee Ueber Hohenafperg als Staatsgefängniß und feine 
merfwürbigften Gefangenen erfahren wir kaum etwas Neues. Die ur- 
tundlichen Beilagen enthalten vornehmlich Anorpnungen für die Bejatungs- 
mannjchaft aus verjchievenen Zeiten. 

Hiſtoriſche Zeitſchrift L Band, 32 


494 Ueberſicht ber Hiftorifchen Literatur 


Shreiber, Heinrih, Dr., Geſchichte der Stabt Freiburg im 
Breisgau IV. Theil. Bon dem breißigjährigen Krieg bie zum Uebergang 
der Stadt an das großherzeglidhe Haus Baben. Yreiburg, bei Bangler. VUl, 
440 ©. 8. 


Der letzte Band tes verbienitwollen Wertes erhält eine beſondere Be⸗ 
deutung durch die wichtige Rolle, welche Freiburg in ver Kriegsgeſchichte 
Des 17. und 18. Jahrhunderts fpielt, wo die Stadt, viermal von jchme- 
difchen und weimarijchen Truppen (1632, 34, 38, 48), einmal ven ven 
Bayern (1644) und dreimal von ven Franzoſen (1677, 1713, 1744) be 
lagert, an ven Leiden des breigigjährigen Krieges und der Raubzüge 
Ludwigs XIV. ten reichlichſten Antheil hatte. Indem ter Verfafler die 
Erlebniſſe Freiburgs geſchickt mit ten allgemeinen Gange der Dinge in 
Berbindung zu bringen weiß, fteht ein großer Theil deſſen, was er na- 
mentlih aus Tagebüchern und Rathsprotokollen zur Geſchichte ver Start 
Neues beibringt, in unmittelbarer Beziehung zur allgemeinen Gejchichte jener 
Zeit. Reich an intereffantem Tetail und buch Die genaue Kenntniß ter 
Oertlichkeit anſchaulich Targeftellt find namentlih vie Belagerung ven 
1644 durch die bayeriſche Reichsarmee unter Mercy, mit ven blutigen 
Schlachten, welche viefer unmittelbar darauf den Tranzofen unter Turenne 
und Enghien lieferte (S. 120 ff.): ferner die Einnahme der Start durch 
ven franzöfiihen Marſchall Crequi (1677), wo ter öſterreichiſche Com- 
mandant Schüß den Verräther gefpielt zu haben ſcheint (S. 190 ff.); 
dann Die tapjere Vertheidigung gegen Billard (1713) (S. 240 ff.) und 
endlich die lette Belagerung durch vie franzöfiiche Uebermacht unter Coigny 
(1744), wo Ludwig XV. (melcher ſich an dem furchtbaren Schanfpiele 
weidete) an dem Commandanten Danıig wortbrüdig wurde (S. 283 ff.). 
Die Schlacht von 1644 und tie beiten legten Belagerungen werben burd 
beigegebene Pläne erläutert. 


Auch abgejehen von der Darftellung ver Itriegsereigniffe bietet das 
Bud) manches von allgemeinen Intereffe var; je iſt z. B. merkwürdig, 
was ter Verfaſſer (S. 1 fi, % 15, 22 ff.) über das Verhalten ver 
Jeſuiten gegenüber den Schweden und ihren Verbündeten, über den Eins 
fluß des Frater Michael bei dem Churfürften Maximilian (S. 155 ff.) 
über den Beſuch Kaiſer Joſeph's 1. im Jahre 1777 (S. 361 ff.) und 
deſſen Einfluß auf eine freie Bewegung in dem ftäntiihen und Univer⸗ 





* bes Jahres 1858. 495 


Eitätsleben, ſowie über die nach feinen Tode auch bier eintretenve Reac⸗ 
Son erzählt. 

Daß übrigens während ver letsten Jahrhunderte, unter jo ungünſtigen 
uswärtigen Berhältniffen, vie Entwidlung des materiellen wie geiftigen 
‚Rebens ter Stadt weniger bebeutjam erſcheint und demnach and) in dem 
vorhegenven Buche vor ver Darftellung der äußern Schickſale zurüdtritt, 
braucht kaum hervorgehoben zu werben. K. 


Zeitſchrift für bie Geſchichte des DOberrheine. Herausgg. 
von bem Landesardhive in Karlsruhe durch den Director deſſelben 5.3 Mone. 
9. u. 10. Band. 1. Heft. Karlsruhe, Braun. 516 u. 123 S. 8. 

Enthält Urkunden zur Gefchichte mehrerer Klöfter und Dynaſteufa— 
milien, dann einen Aufſatz des Herausgebers über tie Rheinſchiffahrt 
vom 13. bis zum 16. Jahrhuudert, über die Volkswirthſchaft im 14. 
bis 16. Yahrhunvert, Beiträge zur Gejchichte von Worms u. X. 





Mittelrhein. 


Lehmann, J. G., Urkundliche Befhichte der Burgen und VBerg- 
f&löffer in den ehemaligen Gauen, Graffchaften und Herrſchaſten ber baveri- 
[hen Pfalz. Ein Beitrag zur grünblichen Vaterlandekunde. 2. Lig. Kaifers- 
lautern, Meuth. S. 177 — 376. 8. 


Eimon, G., Die Geſchichte der Dynaflen und Grafen zu Er- 
bach und ihres Landes. Mit 2 Karten, 2 Holzfchnitt , 3 Stanımtaf. und 
bem Erbachiichen Urkundenbuche. Brankfurt. XII, 486; Urkundend. 307 ©. 8, 

Die Herbeibringung und Ausbeutung eines feit dem 13. Jahrhun— 
dert ziemlich veich fliegenden urkuundlichen Materials verleiht dem vorlie- 
genden Werke feinen Hauptwerth und verdient um jo mehr Anerkennung, 
als der Verf. kein Hiftorifer von Fach iſt. Nur hätten wir gewünjcht, daß neben 
bem urkundlichen Stoff auch die einfchlägige Geſchichtſchreibung etwas mehr be- 
rüdfichtigt werten wäre. - - Die Yantesgefchichte und die Geſchichte des Gra⸗ 
fenhaujes wird getrennt, was manche Vortheile, aber aud) viele Nachtheile 
mit ſich bringt; wenigftens fchreiben wir den zu topographijchen Charakter des 
erften und den zu biographifchen bes zweiten Theiles, jowie ven Umftand, 
daß ver Zufammenhang beib- iR, dieſer Ein- 





ud hen 
.) Tu 





4% Ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur 


theilung zur Laft, welche außerdem viele Wiederholungen veranlafte. 
Tas Redteverhältnig Der Erbacher zum Reihe und ihr Lebens 
hältniß zur Pfalz iſt richtig ygewärkigt, das allmälige Aumab 
ihres Gebietes Har dargelegt. — Ein beſonders auffällige Reſul 
für Die nähere Keunzeichnung ber ſocialen Zuſtäude Deutſchlands n 
dem 36jährigen Kriege liefert, in Berbindmig mit ven in ter Le 
besgejchichte gegebenen Einzeldaten, bie Darſtellung S. 422 ff. — I 
der Mediatiſirung hätte die Erbachiſche Geſchichte abgefchleifen wer 
Tünnen, jedenfalls aber mußte hier, was nicht gejchehen ijt, ein Hau 
abſchnitt gejegt werden. — Einige Bedenken mag des Verfaſſers Neizu 
zu Hypotheſen erregen. Sehr gewagt eriheinen ung wenigſtens Ber 
thungen wie die: daß Die Frauken ven freien, die Alamannen den ı 
freien Stand im Odenwalde gebilvet (S. 23,24); daß Die Erbader u 
Die Breuberger alte fränfiihe Hänptlingefanilien gewejen (S. 137 fi 
oder Die Folgerungen, welde aus den Vorkommen des Namens Gerh; 
im 8. Yahrhuntert gezogen werten. Yu Auffaſſung und Darſtellu 
bie im Allgemeinen dem Gegenſtande entjpreden, läßt ſich ver Berf. : 
weilen von zu großer Vorliebe für die Dynaſtenfamilie leiten. — T 
Urkundenbuch gewährt una für Das fpätere Mittelalter eine Ueberfi 
über ten Beſitzſtand in einem großen Theile des Odenwaldes; Die Rec 
geidjichte wird durch einige neu mitgetheilte Weisthümer bereichert u 
and über Verhältniſſe der allgemeinen beutihen Geſchichte erhalten ı 


nähere Angaben. — Tie beigegebenen Karten erläutern die interejjan 
topographiſchen Mittheiluugen, wobei wir nur jür die arte der Ge 
etwas mehr Ausführlichkeit wünſchen möchten. Th. K. 


Arnd, Karl, Geihichte der Provinz Hanau und ber untern Ma 
gegend. Mit 2 Karten Hanau, Friedrich König. X, 614 ©. 8, 

Iſt ver Gedanke, die Geſchichte einer Provinz zu jchreiben, die e 
dor wenigen Decennien aus den ungleichartigiten Theilen zuſammengeſe 
wurde, an jich ſchon fein glüdlicher, ſo bleibt in dem vorliegend 
Falle die Ausführung auch noch weit hinter dem Erreichbaren zurück. T 
Herr Verfaſſer, ein bejahrter Waſſer-, Strafen» und Landbaunieiſte 
hat es freilich an Fleiß nicht fehlen laſſen und namentlich der Topogr 
phie und Statiſtik eine beſondere Aufmerkſamkeit zugewandt; aber ı 
eigentlich geſchichtliche Darſtellung, eine hie und da mit ſeichten Betrac 





des Jahres 1858. 497 


tungen untermifchte, im Ganzen zufammenhanglofe Aufzählung ver Schid- 
fale ver untern Maingegend mit ihren Städten, Dörfern und Herren, 
ift wiflenfchaftlih von feinem Werth. Einzelne Angaben find, zumal 
wenn fie fih auf die allgemeine veutiche Geſchichte beziehen, irrig, andere 
ſchlecht beglaubigt; Quellen werden überall nicht genannt. Zuverläſſiger 
und brauchbarer mag der ftatiftiiche Theil des Buches fein, aber viefer 
gehört mehr der Gegenwart ald der Geſchichte an. 


& 


Wiſſenſchaftlich bedeutender ift die Heine Schrift: 

Thudichum, Friedr., Dr., Geſchichte des freien Gerichte Reigen 
in ber Wetterau. Gießen, Rider'fhe Buchhandlung. 96 ©. 8. 

Hier verfolgt ein gründlicher Forſcher die Geſchichte eines einzelnen 
Gerichts bis in alle aus den Urkunden zu ermittelnde Details und liefert 
ſowohl Heine Beiträge zur veutfchen Hechtsgefchichte im Allgemeinen 
als auch zur Specialgefchichte der Wetterau; feine Unterfuchungen betreffen 
unter andern neben dem reichSunmittelbaren, vom Landesherrn unabhängi« 
gen Gericht zu Kaichen und den ihm unterworfenen Dorfgerichten, die alte 
Grafſchaft Kaichen, die Stellung der Grafen, die Reichsburg Friedberg, 
ihr Verhältniß zur Stadt Frievberg, das Verhältniß der letztern zum 
freien Gericht, die Entftehimg der Hoheitsrechte verjelben über ven 
Kaicher Gerichtsbezirk. K. 


Baldemar dv. PBeterweil, Beihreibung ber kaifer!. Stadt Frank. 
furt a. M. ans dem XIV. Jahrhundert. Urfchrift, Ueberſetzung und Erläute- 
rungen berausg. von Dr. 8. H. Euler. Franffuri a. M., Gauerlänber. 
608 8. 


Genth, Adolf, Dr., Kulturgefhichte der Stadt Shwalbah. Mit 
6 lith. Anſichten. VII, 268 ©. 8, 


Rheinifher Antiguarius, benfwürbiger und nützlicher, welcher bie 
widhtigfien unb angenehmften geographifchen, biftorifchen und politifchen Dent- 
würbigfeiten des ganzen Rheinſtroms, von feinem Ausfluße in das Meer bis 
zu feinem Uriprunge darſtellt. Bon einem Nachforfcher in hiftorifchen Dingen 
(Ch. v. Stramberg). Mittelrhein. Der II. Abth. 7 Bd. und 8.8p. I.ıu. 
2. Mg. Coblenz, Berlag von R. 3. Hergt. 804 u. 320. ©. 8. 


Der vorliegende Band behandelt in der befannten Art des „Antiquarius“ 
das linke Rheinufer von St. Goar bis Oberwefel mit allevem, was ir» 


498 Ueberficht der Hiftorifchen ‚Literatur 


gendwie, wohl oder übel, mit der Geſchichte jener Gegend in Verbindung 
zu bringen ift. So verdankt z. B. vie katholiſche Kirde in St. Goar 
ihren Urjprung dem Religionswechſel des Yandgrafen Ernft von Heflen- 
Rheinfels; daher erhalten wir deſſen Selbtbefenntniffe aus dem Jahre 
1669 auf S. 149—181. Ein Sohn ver Stadt St. Goar ift der be 
fannte Kanzler von Albini; feine Geſchichte mit einem Stüd des Ro- 
mans „bie Niubiften in Mainz” von König füllt 33 Seiten. ‘Die Ge 
ſchichte des Geſchlechtes Schönberg bei Oberweſel aber nimmt über 100 
Seiten ein, wovon die Hälfte der englifchen Geſchichte angehört; denn 
Hans Meinhard von Schönberg heirathete im 9. 1615 Anna Sutton, 
die Tochter eines Yord Dudley, und bei diefer Gelegenheit hören wir viel 
von Johann Dudley und Johanna Gray, von Robert Dudley u. |. mw. 
Im Jahre 1620 wurde Bacharach durch eine fpanifhe Armee unter 
Spinela occupirt: daher die Gefchichte der Spinola auf einigen 80 Sei- 
ten. Endlich unter ven faiferlihen Commiſſarien zur Unterfuhung eines 
Streites zwiſchen dem Erzbiſchof Jakob von Trier und den Schöffen bes 
weltlichen Gerichts zu Obermejel (im Jahre 1454) befand ſich ver Biſchof 
Aeneas von Siena (Aeneas Syloins Piccolomini, als Papft Pins IN: 
biefer Umſtand veranlakt Herrn v. Stramberg, auf ein paarhundert 
Ceiten die Geſchichte ver Piccolomini zu erzählen, wovon ein anſehnliches 
Stüd (S. 93—139 des 8. Dre.) auf „Euriolus und Pucretia“ kommt; 
denn für ven rheinischen Antiquarius hat eine ſolche Schrift des geiftli- 
hen Herrn „vie größte Wichtigkeit”, ala „ein Bud von unſchätz barem 
Werth für die Sittengefhichte (Italiens), für die Kenntniß des menſch⸗ 
lichen Herzens“, K. 

Marz, J., Geſchichte des Erzftifts Trier vou ben älteften Zeiten 
bis zum 9. 1816. Erſte Abth.: 1. u. 2. Bd. Trier, Link, 1858, 59. XV, 
544; XV, 508 ©. 8. 

Der Verfaſſer hat weder neues Material herbeigebracht, noch auch 
das Vorhandene kritiſch geſichte. An Stelle einer eingehenveren Kritik 
und Charakteriftit der Quellen erhalten wir eine ziemlich ungeordnete Auf: 
zählung der benügten Quellenwerke und Bearbeitungen. Ebenſo fehlt es 
an einer genügenvden SDurcharbeitung und Ölieverung des Stoffes. Die 
Trennung ber allgemeinen Gefchichte des Trierer Landes von ber fpeciel- 
fen, ift, wenn fie auch principiell zu vechtfertigen wäre, zu wenig conje- 
quent durchgeführt, was in Verbindung mit ber breiten und häufig um- 





= bes Jahres 1858. 499 


rkeorbneten, wenn auch ganz fließenden Darſtellung des Verfaſſers zu un- 
nähligen, theils wörtlichen Wiererholungen Anlaß gibt. — In der 
Behandlung des Details ift zu wenig Geſchichte gegeben, zu jehr von ven 
Zuſtänden ausgegangen, wie fie zu Ende des beutfchen Reiches ſich vor- 
janden; Wachsthum, Blüthe und Verfall des Churſtaats treten uns nicht 
vor Augen. Tie verhältnißmäßige Türftigfeit ver über das Mittelalter 
gegebenen Nachrichten fontraftirt ſeltſam mit ver Weitjchweifigkeit in ven 
einleitenten Kapiteln zu einzelnen Gruppen ber Erzählung, einer Reihe 
von breiten Auseinanderſetzungen, die mit der Gefchichte von Trier ledig⸗ 
lich nichts zu thun haben; ich vermeije hiebei auf bie langen Crörte- 
rungen über das Niederlaſſungsweſen, Das Hexenweſen, das Armenweſen 
und das Schulweſen. Die neuere deutſche hiftorijche Literatur ift dem 
Verfaſſer nicht hinreichend befaumt, was beſonders fühlbar wird, wenn 
er Ereigniffe der allgemein deutſchen Geſchichte in voller Breite erzäflt. 
Inden er von Thegan ſpricht, zeigt er fid) fegar niit ven Monum. Germ. 
unbekannt. Zum Theil mit dieſer Unkenntniß der neueren Forſchungen 
in Zuſammenhang ſtehen mehrere offenbare Irrthümer, die ſich der Ver— 
faſſer zu Schulden kommen läßt: je wird I, 77 noch Zülpich als Ort 
der Schlacht zwiſchen Chlodovech und ven Alamannen genannt, I, 353 
Kaiſer Tito IV. ala ein Wittelsbacher bezeichnet, I, 27 im 3. 1024 
eine bleibente Bereinigung Trierd mit dem deutſchen Reiche angeſetzt, 
1, 415 beim 3. 1179 von Papft Innocenz XI. gefprohen! Ferner ift 
es eine völlig unbegrindete, mit übel angebrachter Heftigfeit gegen Wyt- 
tenbady (1, 79) vertheitigte Anficht, daß die Herzöge niemals Biſchofs— 
ftühle befett hätten; auch wiſſen wir nicht, worauf fi) die Behauptung 
ftägt, daß das Trier’iche Vand im Mittelalter der franzöſiſchen Rechts— 
entwicklung theilhaftig geweſen jei. — Eine ver wichtigsten Aufgaben feiner 
Geſchichte hat ver Verfaſſer völlig verfannt, inven er die Streitigkeiten 
ver Stadt Trier mit ihrem Erzbijcdofe mit der Parteilichkeit eines An- 
walts tes Yebteren barjtellt, jo daß auf ihm nicht minder die Neuerung 
Bezug haben fünnte, welche I, 400 über Kyriander angeführt wird. — 
Als intereffantere Theile des Buches nennen wir die Detailberichte über 
die Landſtände, vie Kapitel über Koblenz und das Zunftweien, vie Mit- 
theilungen über bie Verhältniſſe ver Unfreien, und die liber die Stodgüter 
in ber Eifel, wenn aleich auch hier an eine völlige Ausbeutung des rei- 


hen Stoffet Th. K. 


500 Ueberficht ber Hiftorifchen Literatur 
Niederrhein. 


Lacomıblet, Theod. Joſ, Dr., Arhiv-R Bibliothelar, Urfundenbud 
für die Gefchichte bes Niederrheins ober bes Erzftifts Cöln, ber Fürftenthitmer 
Jülich und Verg, Geldern, Meurs, Cleve uud Mark, und der Reicheſtädte Eiten, 
Efien und Werden. Aus den Quellen in dem fönigl. Prov⸗Archiv zu Düffel- 
dorf und in ben Kirhen- und Stadtardfiven ber Provinz, vollſtändig und 
erläutert, mit 20 Regiftern 2c. 4. Bd. (2. Hälfte: Die Urkunden von 1501 
bis zum Erlöſchen des Zülich-Eleve’ichen Haufes im Mannsftamme (1609), bie 
Nachleſe u Regifter enth.) Düffeldorf, Schaub in Comm XXV, ©. u. ©. 
607 —846. 


Fahne, A, Geſchichte der Grafen, jehigen Fürſten v. Salm- Reif. 
ferſcheid, nebft Genealogie derjenigen Bamilien, aus denen fie ihre Frauen 
genommen. Mit vielen Anfichten, Wappen, Eiegeln und Münztafeln. 2. Bp.: 
Urkundenbuch. U. u. d. T.: Codex diplomaticus Salmo-Reifferscheidanus. Cöfn. 
Heberle. XVI, 345 ©. fol. 


Verbeck, Henr. Hub., De Reinaldi comitis Gelriae rebus gestis, Part. 1. 
Dissertatio historica. Mitnfter, Theiffing. 11, 116 ©. 8.' 


Mering, 3. €. Frhr. v, Dr., Geſchichte der Burgen, Xittergüter, 
Adteien und Klöfter in ben Rheinfanden und ben Provinzen Yülich, Eleve, Berg 
und Weftphalen, nad ardivariichen und andern authentifchen Quellen gefammelt 
unb bearbeitet. 11. Heft mit einem Generaftegifter über alle 11 Hefte. Cäln, 
HSeberle VI, 135 ©. 8. 





Weftphalen. 


Zeitfhrift für vaterländifhe Geſchichte und Alterthumskunde. 
Hsgg. von dem Berein für Geſchichte und Alterthumskunde Weſtphalens, durch 
befien Directoren Dr. W. E. Giefers und Dr. B. Hölſcher. 19. Bb. ober 
neue Folge 9. 8b. Münfter, Regensberg. 389 ©. 8. 


Enthält u. a. Abhandlungen von Geisberg, vie Behme, eine 
Unterfuhung über Namen und Weſen des Gerichts; von Berger, über 
bie Münfterifchen Erbämter und Seiberg, Wilhelm von Sürftenberg, 
Heermeifter des deutſchen Ordens in Piefland, eine fleißige Arbeit, vie 
auch bejonders abgedruckt ift. 


—*— Dortmund von Dethmar Mülher und u r 9 


* 
ALIELp 





dem 16. und 17. Sahrhunbert, 

Wigand, Paul, Dr., Deutwürdige Beiträge er Beihißte unb 
en aus weftphälifchen Quellen gefammelt und als ein en. 
ten” Werfen für Geſchichte Weſtphalens. Perzel. X, 







= 
. Der ae, Forſcher auf dem 

ſchichte hat hier eine Nachleje feiner langi 

Lungen vn r bie ein —4 









ie Schiejs —— di mamentüch 

gen Krieg, ferner das Gevenfbud der Stadt Hörter 
deutſcher Städte und ihrer Rechte im Mittel: 
alter“, worin über Fehden, Wehr und Nüftung, über Gilden und Zünfte, 
über Gericht und Recht, über Lehensverhältniſſe der Stadt n. — 
von Corvey, Über innere Verfaſſung und Verwaltung zahlreiche Ark 
und Statute gröftentheil® aus dem 14. Jahrhundert enthalten 
ſchließen fich einige ſchiedsrichterliche Urtheile und Weisthilmer, 
Beiträge zur Sittengeſchichte. 

Perger, Ludwig, Dr, Otto vom Rittberg 
(1301 — 1308). Nach größtentheils bisher ung zruckten 

gensberg. VI, 88 S. 8. * 

Das fleihige Schriftchen gründet ſich größtentheils auf P 
die den Streit des Biſchofs Otto mit dem —** —5— 
von Cöln, welcher dieſem beitrat, behandeln. Es findet ſich male 
her für die damaligen Zuftände des Landes harakteriftiihe Zug. KK. 


— J 



















502 Ueberficht ber Hiftorifchen Literatur 


Tahne, U, Sefhichte der wefphälifhen Geſchlechter unter 
befonderer Berüdfihtigung ihrer Weberfiebelung nah Breußen, Curland unb 
Liefland. Mit fat 1200 Wappen unb mehr als 1800 Familien. Köln, He 
berie, 432 ©. fol. 


Mittheilungen bes hiftorifhen Vereins zu Osnabrüd. 5. Bd. Tone 
brück, Meindere. XVI, 347 ©. 8. 

Enthält außer einer Abhandlung Stüves: topographiihe Bemerkun⸗ 
gen über die Feldmark der Stadt Osnabrück, namentlich urfundliche Nach⸗ 
richten über Dynaſtengeſchlechter. 





Niederſachſen. 


Lüntzel, H. A., Geſchichte der Diöcefe und Stadt Hildesheim. 
Herausg. aus deſſen Nachlaſſe. Hildesheim, Gerſtenberg, 1858. 2 Bde. XI, 
543 676. B. 

Vielfältige Studien auf dem Gebiete der niederſächſiſchen Geſchichte 
haben den Verfaſſer zu dem vorliegenden Werke vorbereitet. Sein ſchon 
1850 erfolgter Tod verhinderte aber leider die letzte Durcharbeitung und 
Vollendung des Manuſcripts, ein Uebelſtand, der durch die Herausgeber 
nur in geringem Maße beſeitigt worden iſt und ſich beſonders in der 
Mangelhaftigkeit und Undeutlichkeit ver Citate kundgibt. So fehlen z. B. 
I, 143 für die dem Biſch. Bernward ertheilten Urkunden K. Otto's IH, 
die Citate, deren wenigſte bei Böhmer ſtehen; es wird ſpäter (1, 177) 
ohne jede nähere Angabe von einem ſummiariſchen Verzeichniß ver für 
Bernward ausgeftellten Urkunden geſprochen; II, 249 findet ſich fein Citat 
für die pbftl. Urkunde von 7. März 1195, vie ih auch bei Jaffé nicht 
gefunden habe, u. dgl. mehr. Widerſprüche ſind an manchen Urten ftehen 
geblieben; 3. B. in ber Nachricht über ven Nachlaß ter Geldbußen 
durch Bifchof Udo I, 273 a. Aufg. u. I, 297 a. Schluß. 

Der Umſtand, daß die Refultate aller jeit 1850 gepflogenen For: 
ihungen unbenügt bleiben mußten, bewirkte, daß einige Theile des Buches 
antiquirt ericheinen; namentlich fällt fort, was den unächten fasti Corbej. 
entnommen ift; bie Erörterung über bie beiden vitae Godehardi ift durch 
bie zum Behuf ver Ausgabe in ven Monum. angeftellten Forſchungen und 
beren Reſultate beinahe überflüßig geworden. Ueber die für biefe Frage 





bes Jahres 1858. - 503 


wichtigen Pebensverhältniffe Wolfhers war der Verfaſſer noch nicht im 
Klaren. 

Sehen wir hierven ab, fo bilden eine genaue und meift kritifche 
Quellenforſchung, ein auch für weitere Verhältniſſe geübter hiftorifcher 
Blick, ein richtiges Verſtändniß ver gejellihaftlichen und politifhen Zus 
ftände die Yichtjeiten von Lüntzel's Buch. Nur etwas mehr Schärfe und 
Entſchiedenheit hätten wir der Kritik an manden Stellen gewünſcht: bie 
Löſung ftreitiger Fragen (3. B. Über die Gründungsgeſchichten ver eriten 
Klöfter) wird oft faum verſucht; mandes Zweifelhafte over Unerwieſene 
wäre beſſer ganz fortgeblieben. — Tas 10. und 11. Yahrhundert — 
für Hildesheim eine Zeit verhäftnigmärig reichhaltiger Nachrichten und 
großer Begebenheiten — hat Yüntel mit Vorliebe behandelt, Biſch. Bernwards 
bedentende Perfünlichkeit an der Hand Thangmars jchön gezeichnet, mit 
berfelben Bewunderung freilich, wie fie die Schrift von Bernward's Lehrer 
athmet, deſſen unmittelbare Kenntniß der Thatſachen und deſſen hohe Bil- 
dung uns doch nicht dürfen vergeſſen laſſen, daß er in vielen Dingen 
Bernward's Anwalt war. Indem der Verf. Thangmar zu unbedingt 
auch in der Auffaſſung folgt, gelingt es ihm nicht, die ganze Bedeutung 
des ſog. Gandersheimer Streites zu enthüllen. Dieſes Ereigniß birgt in 
ſeinem Verlaufe zu deutlich hervortretende politiſche Momente, ſteht mit 
der geſammten Yage des Reichs in zu enger Verbindung, als daß ver 
Conflikt als ein rein kirchlicher oder perſönlicher durfte gefaßt werden. 
Wie der Verf. Bernward's Stellung zu K. Otto III. nicht in allen ihren 
Beziehungen zu erkennen vermag, ſo bleibt ihm des Biſchofs Verhalten bei 
Heinrichs II. Thronbeſteigung ein Räthſel, und nur ungerne läßt er Thiet⸗ 
mar's wohlverbürgte Nachricht über dasſelbe gelten. — Städte und Stifter 
der Diöceſe ſind ziemlich eingehend behandelt. In Goslar's Geſchichte 
hätten ſich die Spuren des erwachenden Bürgerthums früh hinauf verfolgen 
laſſen, wenn das freilich erſt unlängſt von Waitz als echt erwieſene Carmen 
de bello Saxonico benützt worden wäre. Nach deſſen Angaben wäre 
auch das I, 383 über den Handwerkerſtand Geſagte zu berichtigen geweſen. 
Reich ift das vorliegende Wert an den interejlanteften Mittheilungen über 
das Rechts- und Verfaffungsleben nicht minder, wie über die focialen 
Verhältniſſe. Beſonders vie dankenswerthe lleberfiht über das Grund: 
eigenthum ver geiftlichen Kürperjchaften, das I, 391, 92 über ven Am 
bergau Mitgetheilte, den Bertrag über die Niederlaffung ver Flamänder 


504 | ueberſicht ber hifterifchen Literatur 


(I, 395 ff.), wo leider das Citat der betreffenden Urkunde fehlt, möchten 
wir hervorheben. Der Abfchnitt über die Nechtöverhäftniffe im 12. und 
ber erften Hälfte des 13. Jahrhunderts gewinnt durch die treffliche Ver⸗ 
werthung des urfundlihen Stoffes eine erhöhte Bedeutung. Tiefe Blicke 
in bie Lebensverhäftniffe der Zeit und des Landes gewähren uns die zahl- 
reichen Landfriedensbündniſſe, befonvers ver Landfrieve von Bodenwerder 
aus d. I. 1391 (I, 359) und ver von 1408 (II. 382 ff.), auch der 
1410 zu Hannover ansgefochtene KRechtsftreit (IT, 389). — Ber leste 
Abfchnitt, ver vie Jahre 1246— 1503 umfaßt, liegt uns nicht in verjel- 
ben vollſtändigen Ausarbeitung vor, wie die früheren, namentlich vermiffen 
wir für dieſe Periode eine gejonderte Behandlung ver Stäbtegefchichten, 
ſowie die Scilverung ver Rechts- und Gefellichaftsverhältniffe, veren 
wichtigfte äußere Erfcheinungen in ver Geld. ver Biſchöfe mitgetheilt 
werden. ine Starte von Hilvesheim im Mittelalter würde die topogra- 
phiſchen Mittheilungen leichter verſtändlich gemacht haben. Th. K. 


Harlaud, H. L., Geſchichte ber Stadt Einbed, nebſt geichichtlichen 
Nachrichten über die Stadt und ehemalige Grafſchaft Daſſel, die um Einbeck lie⸗ 
genden Dörfer, Kirchen, Kapellen ꝛc. 2. Bd. 5. u. 6. Heft. Einbeck, Ehlere. 
S. 257 — 384. 8. 


Mooyer, Eruſt Froͤr,, Die vormalige Grafſchaft Shaumburg 
in ihrer kirchlichen Eintheilung. Bückeburg, Wolper. 68 S. 8. 


Heiſe, Otto, Amtm, Die Freien im hannoverſchen Lande Ilten. 
Nach den Quellen. (Abdruck aus ber Zeitſchrift d. hiſtor. Ber. f. Nieberſach⸗ 
ſen.) Hannover, Hahn. V!, 87 S. 8. 


Hodenberg, W., d., Die Diöcefe Bremen und deren Gaue in Each—⸗ 
fen und Friesland. Nebſt einer Tidcefan- und Gaukarte. XXXIX, 246 S. 
2. Thl. Die Bremer Gaue in Sachſen und Friesland nebſt 1 Karte. 
Celle, Rapaun-Rarloma. XI, 139 ©. 4. 

Ein bemerfenswerther Beitrag zur mittelalterlichen Geographie und 
Geſchichte, der mit auferortentlihen Fleiß zufanmengetragen iſt. Als 
Hauptquellen dienten dem Berfaffer das Stader Copiar, ein Copialbuch 
des Bremer» Domcapitel® aus dem 15. Yahrhundert, und das Vörder 
Regiſter (abgetrudt als 1. u. 2. Beitrag zu den Geſchichtsquellen herausgg. 
v. Hodenberg, Cöln, 1856), fewie zahlreihe Urkunden und amtliche Auf- 
zeichnungen aus den Archiven zu State und Hannover. Im 1. Thl. 





bes Jahres 1868. - 605 


wird die firchliche Geftaltung ver Diöcefe Bremen (Archidiakonate, Prä— 
pofituren, Obedienzen u. |. w.), im zweiten die politifche (Die von Karl 
bem Großen der Diözeſe Bremen beigelegten Gaue und Länder) behantelt. 
Beilage V giebt ein Verzeichniß ver Biſchöfe und Erzbiſchöfe, der Ardi- 
biafonen u. ſ. w. Beilage VI ein alphabetiſches Regifter der im lm: 
fange der alten Diöceje bis zum Jahre 1852 erbauten Kirchen, Kapellen 
und Klöſter. 


Kopp, Onno, Geſchichte Offrieslaubs unter preußicher Regierung 
bis zur Abtretung an Hannover. Bon 1744—1815. Geſchichte Oſtfrieslands 
Mm. Bd.) Hannover, Rümpfer. 571 S. 


Ein intereffantes mit großer Friſche gejchriebened Buch, das feinen 
Stoff theils älteren Werfen, namentlih Wiarda's ausführlicher Ge⸗ 
ſchichte Oſtfriesland's, theils ojtfriefiichen Archiven verdankt und nament- 
(ih in ven Abjchnitten über die innern Zuftände, über Handel und 
Schiffahrt, über andere volkswirthſchaftliche und cufturhiftorifche Verhält⸗ 
niffe von Sachkenntniß und großen Berftänpnig für die eigenthümliche 
Art des Volks und feine Angelegenheiten zeugt. Weniger kann und bie 
politiſche Färbung der Schrift, der bis zur Erkitterung gereizte Ton, 
in welden ver Verfaſſer ftet3 von Preußen jpricht, befriedigen. Aller: 
bings war die preußiiche Herrſchaft für Titfriesland nicht jo ſegensreich, 
als fie hätte werden können, und ein Mann, ter bie Intereſſen feines 
Volks mit fo fräftiger Geſinnung und einem jo jtark ausgeprägten Hei⸗ 
mathsgefühl, wie unſer Autor, vertritt, darf es namentlich bei Friedrich II. 
tabeln, daß er weder den Freiheiten des Landes, uch jeinen materiellen 
und geijtigen Intereſſen eine beſondere Pflege zumanpte. Aber jollen wir 
beshalb an ver Größe Friedrich's zweifeln (S. 187), weil jein Begriff 
vom mionarchiſchen Regiment vielfad im Conflict trat mit der Art des 
Oſtfrieſiſchen Volks und mit jeiner Geſchichte; oder weil ihm, ber einen 
großen Theil ſeines Lebens im Yager und auf dem Schlachtfelde zubrachte, 
bie Bedeutung von Flotte und Küjtenbefeftigung entging? Und was joll 
bei Friedrich 11. die Phrafe, Daß die Grüße der Könige nicht immer Das 
Glück ver Völker jei? (S. 187). — Wenn ferner aud) Die Regierung 
Friedrich Wilhelm I. für Oſtfriesland nicht erſprießlich war; wenn das 
Volk, nad) dem Ausbruch per jr öligen Revolution unter der gewaltthi- 
als ein Stüd des Na— 





506 ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur 


poleoniſchen Reiches unter dem Druck eines fremden Eroberers zu ſeufzen, 
und wenn endlich das Land, das ſich zur Zeit ver Befreiungskriege wie- 
der mit rührender Anhänglichleit an Preußen anfchloß,_gegen feinen Willen 
einem andern Staatskörper eingefügt wurbe, jo find dies Vorgänge, die 
man beflagen Tann, über die aber ver Hiftorifer nicht in ſolchem Tone 
aburtheilen fol, ohne ven Zeitverhältniffen, unter welchen Preußen an 
Oſtfriesland fündigte, Rechnung zu tragen. Außervem ift e8 zu bebauern, 
daß e8 Herrn Klopp nicht vergönnt war, über manche ragen neben ven 
einheimifchen Archiven aud die Alten des preußiihen Minifteriums zu 
Rathe zu ziehen. K. 


Dittmer, G. W., Dr., Kanzleifecretär, Die Reichsvögte der freien 
Stadt Lübeck während bes 13. und 14. Jahrh., und ber ihnen verlichene 
Reichszins. Kübel, Dittmer. 26 S. 8. 


Deede, Craft, Dr., Brof. und Bibliothelar, Die Hohverräther zu 
Lübed im Jahre 1384. Lübeck, Asichenfelbtt. 50 ©. 8. 

Die Lübeck'ſche Verſchwörung von 1384, an deren Spige Heinrich 
Paiernoftermater ftand, wird gewöhnlich nad) dem theils fagenhaften, 
theils unvollftändigen Bericht des Korner erzählt. Herr Deede zieht alle 
vorhandenen Quellen, darunter gleichzeitige gerichtliche Aufzeichnungen ſo⸗ 
wie ein bald nachher gejchriebenes Fragment, in ven Kreis feiner linter- 
fuchungen und fommt durch eine fcharfe Prüfung der verſchiedenen Be- 
richte über den Hergang des Complotts und über die Perſonen der Ber- 
ſchwornen un Einzelnen vielfah zu neuen Rejultaten. Im Allgemeinen 
aber wird mit großer Beftimmtheit ver Gegenſatz betont, in welchen jenes 
Complott zu gleichzeitigen Bewegungen in andern Städten fteht; es war 
nicht ein Kampf unterprüdter Zünfte gegen übernüthige Geſchlechter, ſon⸗ 
bern ein frevelhafter Angriff eines Böjewichts und jeiner Genoſſen auf 
eine „weile und kräftige Regierung“. K. 


Waitz, G., Weber eine bisher unbelannte Handichrift des Hermannus 
Korner. In den Nachrichten von ber ©. X. Univerfitäit und ber k. Gefell- 
haft d. Wiff. zu Göttingen 1859. N. 5. ©. 57 fi. 

Es wird hier zum erften Male auf eine in der Marienkirche zu 
Danzig neuerdings aufgefundene wichtige Handſchrift des Korner binge- 
wiejen und beren hohe Bedeutung für bie Kritik des Tertes von Korner's 
Chronik kurz erörtert. 





bes Jahres 1858. 607 


Zeitſchrift für Lübeck ſche Geſchichte und Alterthumstunde. 2. Heft. 
Lübeck, Asichenfelbt. S. 129 — 162. 8. 

Daraus ift hervorzuheben: Waitzz, Streitigfeiten und Verhandlungen 
Lübecks mit König Iohann von Dänemark, Pauli, über bie urfprüng- 
liche Bedeutung der Wette, 


Waitz, Georg, Eine ungedrudte Tebensbefhreibung bes 
Herzogs Knud Laward von Schleswig. Mit einem Facſimile. (Aus 
bem 8. Bande ber Abhandlungen der königl. Geſellſchaft der Wiſſenſchaften zu 
Göttingen.) Göttingen, Verlag der Dieterihfhen Buchhandlung. 42 ©. 4. 

Dieje von Hrn. Prof. Waitz herausgegebene bisher ganz unbefannte 
Lebensbejchreibung ift einem von Dr. Potthaft in der Bibliothek des 
Baron von Richthofen zu Leszezyn aufgefundenen Cover entnommen, 
ber auſſerdem eine Reihe liturgijcher Stüde enthält, die auf bie Gefchichte 
des Herzogs Knud Laward (zu Anfang des 12. Jahrh.) Bezug haben 
und großentheils nebſt ver in 8 Lectionen getheilten vita in ber vorlie- 
genden Schrift abgevrudt find (S. 21—42). Die Einleitung (S. 1—20) 
verbreitet fih mit "jener ausgezeichneten Gelehrjamteit und fcharffinnigen 
Kritit, welche dem Herausgeber eigen find, über vie Abfaſſungszeit (wahr- 
Iheinlih in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts), fowie über Inhalt und 
Bedeutung der vita und deren Berhältnig zu andern Quellen, insbeſon⸗ 
dere zu Saro, der aus jener geichöpft hat; das wichtige Rejultat aber ift 
(S.16), daß das vorliegende Werl, bie Arbeit eines wohlunterrichteten Man- 
nes, nicht allein große Bedeutung erhält durch die ganz neuen Nachrich⸗ 
ten über das Leben und Wirken jenes merkwürdigen Herzogs von Schles- 
wig, jendern noch mehr dadurch, daß hier zum erſtenmale ein zuver⸗ 
läſſiges Hilfsmittel für die Kritik des Saxo und für „die Prüfung ſeines 
ganzen hiſtoriographiſchen Verfahrens“, das ſich freilich willkührlich genug 
zeigt, geboten wird. K. 


Nordbalbingifhe Studien. Neues Archiv der Schleswig-Holftein- 
Zauenburgifchen Geſellſchaft für vaterländifche Gejchichte.e Neue Ausgabe ohne 
bie Beilagen zum Hanbfcriften-Berzeihniß. 6 Bde. Kiel, Alad. Buchh. 8. 


Natjen, H-, Dr., Bibliothelar Prof, Berzgeihniß der Handſchriften 
der Kieler Univerfitätsbibliothet, welche bie Herzogthümer Schleswig und Holftein 
betreffen. 2 Bde. (Sep: Ausgabe aus ben norbalbingifchen Studien) Kiel, 
Akademiſche Buchh. XLIII, 740 ©. 8. 


508 Ueberficht der Hiflorifchen Literatur 


Urlundbenfammlung ber Schleswig-Holftein-Lauenburgifchen Gefell- 
Schaft (Schluß). Kiel, Alabem. Buchhandl. in Comm. III, 581—678. 8. 


Urlundenbud zur Geſchichte ber Holftein-Rauenburgifhen Angelegenheit 
am beutjchen Bunde in den Jahren 1851 bis 1858. Franffurt a. M. Auffarth. 
IX, 140 ©. 8. 





Brandenburg, Preußen, Pommern. 


Rütjes, H. Dr., Sefhichte des brandenburg-preußifhen Staa⸗ 
tes von ben Äfteften Zeiten bis auf unfere Tage, mit befonberer Berüdficti- 
gung ber beutfchen und confefftonellen Politik deſſelben. Schaffhauſen, Hurter, 
1858 und 1859. 806 S. in 6 Lieferungen. 8. 

„Wahrheitsdurſt und Vaterlandsliebe⸗ find die Triebfedern, die Hrn. 
Rütjes bei dem vorliegenden Werke feiteten; Damberger, Philipps und 
Görres gelten ihm als diejenigen Hiftorifer , welche (neben Voigt, Riedel 
und Leo) die banfenswertheften Vorarbeiten zur preußifchen Gefchichte geliefert 
haben ; vie Lehnin'ſche Weiffagung endlich ift ihm dasjenige Doenment, Das unter 
den Beilagen zur nenern Geſchichte neben der Wiener Schlußakte und ver preu⸗ 
ßiſchen Verſaſſungsurkunde mitgetheilt und oft citirt zu werben verdient. 
Außer der eigentlich preußiſchen Geſchichte werden auch fern liegende Per— 
fonen und Ereigniffe von unferm Autor ausführlid beleuchtet, indem es 
gift, tief eingemurzelte, bis auf die jüngfte Jetztzeit fortdauernde Vorur⸗ 
theile und gefchichtlihe Unwahrbeiten gründlich zu berichtigen⸗ — fo in 
der Gejchichte der Reformation und des ZOjährigen Krieges, wo nament: 
lich dem König Guſtav Adolf mit „feiner ganzen Impertinenz eines aus» 
geſchämten Demokraten der richtige Pla angerwiefen und ein langes Pob- 
lied auf feine verfannte Tochter Chriftine gefungen wird. Cine noch weit» 
läufigere Berichtigung erfährt die Geſchichte der franzöfifchen Revolution. 

K. 


Gottſchall, Preußiſche Geſchichte. 2 Bde. 2. Aufl. Berlin, Ehle. 
X, 655 S. 8. 


Kletke, Karl, Quellenkunde der Geſchichte des preuß. Staates. 1. Abth. 
A. u. d. T.: Die Duellenfrififteller zur Geichichte bes preuß. Staats, nad 
ihrem Inhalt und Werth dargeflellt. Berlin, Schröder. 614 © 8, 





bes Jahres 1858, 509 


La Barre Duparcg, Ed. de, Prof, Histoire militaire de la Prusse avant 
1756, ou introduction & la guerre de sept-ans. Paris, (Berlin, F. Echneiber). 
XV, 3716. 8. 


Stephan, H., Poſtrath, Geſchichte ber preußifhen Bor von ihrem 
Urfprunge bis‘ anf die Begenwart. Nach amtl. Quellen. Berlin, Deder. XV, 
816 ©. 


Förfter, Fr., Dr., Preußens Helden im Krieg unb Frieden. 
122. — 130. fg. (4. Abih. Neuere und neueſte Geſchichte. 88. — 96. Lig.). 
Berlin, Hempel. XVII, &. 801 — 1131. 4, 


Warten leben, Julius Graf v., Dr., Königl. Preuß. Stabtgerichtsrath, 
Nachrichten von dem Gejchleht ber Srafen v. Wartensleben. 1. Thl. 
Urkundenbuch, anbei ein Titelkupfer, 16 Ahnentafeln und 2 Stammbäume. 
XXXI, 388 ©. IL Thl. Biographiſche Nachrichten. Mit einem Zitelblatt 
und I Familien-Portraite. 321 ©. und Anhang 81 ©. III. Thl. Gtamm- 
baum. Berlin, Albert Raud und Comp. 


Geisheim, B., Die Hohenzollern am heiligen Grabe au Jern- 
falem, insbefondere bie Pilgerfahrt der Markgrafen Johann und Albrecht von 


Brandenburg im Jahre 1435. Aus ben Quellen bearbeitet. Berlin, Befler. 
11, 254 © 8. 


Niedel’8 Codex diplomaticus Brandenburgensis. Sammlung 
ber Urkunden, Chronilen und fonftigen Geſchichtsquellen für die Gefch. der Mark 
Brandenburg und ihrer Regenten. Fortgeſetzt auf Beranftaltung bed Bereins 
für Geld. der Marl Brandenburg. Des 2. Haupttheiles ober der Urkunben- 
ſammlung für bie Geſch. ber auswärtigen Berhältniffe ſechſter Band Berlin, 
®. Reimer. 531 © 4. 

Der vorliegende 6. Band des 2. Haupttheiles vom cod. brandbg. 
enthält 426 Urkunden, von denen ein großer Theil dem 16. Jahrhundert 
angehört. Es find nämlich aus diefem 249 Diplome, währenn aus dem 
12. Jahrhundert nur eins, aus dem 13. 35, aus dem 14. 100, und aus 
bem 15. 41 berühren. Nahe an 300 Urkunden werben hier das erfte 
Mal bekannt gemacht, von denen die größere Hälfte allein das churmär⸗ 
kiſche Lehnscopialbuch darbot. Da es fih um Beziehungen ver Mark 
und ihrer Regenten zu andern beutfchen und außerdeutſchen Yanden han- 
beit, fo ergiebt fi eine große Mannigfaltigleit des Inhalts, welche es 
unmöglih macht, in bem bier zugemeflenen Inappen Raum einen auch nur 

Diſtoriſche Zeitſchrift L Band. 33 





510 Ueberſicht ber hiſtor iſchen Literatur 


amähernd genauen Bericht zu erſtatten. Wir  befchränfen mei tik 
darauf, einige der wichtigern, früher ungebrudten Urfunten ;z sem 
babei vie Jahreszahl und die mit ver Mark Brandenburg in dam 
tretenden Mächte anzugeben. Beziehungen zum - Reid: 13%, IN 
£05, 1517, 1519, 1521, 1530, 1541, 1547 (Ro. 2265, 2310, 3: 
2470, 2492, 2499, 2508, 2528, 2529, 2575, 2585), zum Bi. 
mens VII: 1530 (2532), zum Erzb. Albr. v. Mainz: 1513, I 
1518, 1521, 1533 (2452, 2454, 2481, 2503, 2538, % 
zum Erzb. Herm. v. Cöln: 1502 (2385), zum Hochmeiſter Albrekt « 
Preußen: 1517, 1523 (2473—6, 2514 und 2515), zu Pommern: 1» 
1520, 1529 (2370, 2496, 2524—6), zu Schleſien: 15067, Ixi 
1546, 1549 (2401—6, 2533, 2554, 2559, 2581, 2588), zu Ir 
ſchweig: 1520, 1524, 1530 (2495, 2517, 2527), zu Jülich: 1 
1553 (2471, 2600), zu Dagveburg: 1537, 1538, 1547 (2552, 6. 
83, 85), zu Hamburg: 1518, 1538 (2483—4 vgl. 2501 —2, 3%. 
und enblih zu Dänemart: 1523, 1529, 1553 (2501, 2512, 2% 
2590). Al ı 
v. Mülverſtedt, G. A. , k. Provinzial⸗Archivar der Provinz Eadi, vi: ! 
ältere Verfaffung der Lanbffände in ber Mark Branbenbs;; | 
vornehmlid im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin, R. Kühn: XII, 287 €: 
Diefe Schrift ift durch einen Beſchluß des Brandenburgijc-uite: 
laufigifchen Provinzial-Landtage von J. 1854 veranlaßt worven. Tr 
Verfaſſer derjelben wurde mit Ordnung des ftündifchen Archives unt xx 
Abfaſſung eines die Geſchichte ver Stände betreffenden Werkes beauftrag 
Es iſt zu bedauern, daß äußere Umſtände (Vorrede S. VII) ihn verhü 
dert haben, eine eigentliche Geſchichte der Landſtände in der Mil 
Brandenburg zu ſchreiben, daß er ſich vielmehr auf eine Darſtellung de 
Berfaffung und Wirkſamkeit ver Stände vornehmlih im 16. und 17. Jake 
hundert befhränfen zu müſſen glaubte. Co erhalten wir ein hiſtoriſde 
Bruchſtück ohne Anfang und Ente, welches vielfah mehr ein bloß antigw 
riſches Intereſſe des Liebhabers für diefe Dinge, als das wiffenfchaftlik 
bes Hiſtorikers zu befriedigen geeignet ift. Von dem letzteren Standpuch 
aus wünfchen wir zu willen, wie und unter welchen befonveren Beringer 
gen Die landſtändiſche Verfaſſung in einem Territerium entftanden ift, welche 
Umftänve zu ihrer Befeftigung und Ausbildung beigetragen, welche Urſache⸗ 
een Berfall und Untergang herbeigeführt haben. Zur WBeantwertug 












i des Jahres 1858. 511 


dieſer Tragen aber erhält man in ver Einleitung ver vorliegenden Schrift 
nur fehr dürftige und faft nur gelegentlihe und durchaus Feine neuen 
Andeutungen. 

Der Berfalfer bat ein von dem verftorbenen Meinifter von Kamptz 
vorgezeichnetes Schema benügt und win biefen Rahmen die Geftult des 
märkiihen Ständethums« hineingezeichnet. Herr von Kamp war ein 
gründlicher Kenner des deutſchen Ständewefens und fein Rahmen ift als ſolcher 
gut genug; aber ver Fehler liegt darin, daß es eben nur ein Nahmen ift, 
gleih gut fir jedes Bild einer älteren Ständeverfaffung zu gebrauchen. 
Die Eigenthümlichfeit des einzelnen Bildes kommt darin zu wenig zu ihren 
Rechte. Und wie unbequem war es für ven Darfteller, und ift es num 
für den Pefer feiner Schrift, in jedem einzelnen Kapitel, ſei es daß von 
der Zuſammenſetzung und der Eintheilung ter Landſtände, von teren Ber- 
fammlungen, oder von ten verfchievenen Angelegenheiten landſtändiſcher 
Theilnahme nad) einander gehandelt wird, gleidjam immer wieder von 
vorne anfangen zu müſſen, weil der Gegenftand inuner aufs neue die hi⸗ 
ſtoriſch entwickelnde Berentung verlangte! — 

Sehen wir ab von ter verkehrten Anlage des Buches, fo ift vie hier 
gegebene umfaffente Darftellung der märfifchen Stänpeverfaffung ſchon bes- 
halb dankenswerth, weil es bisher noch an einer ſolchen fehlte. Sie ift es 
aber auch deshalb, weil der Berfafjer feinen Gegenftand mit guter Sad)- 
kenntniß und mit fleißiger Benugung der vorhandenen gebrudten Materi⸗ 
alien und der einfchlagenden Branvenburgifchen PLitteratur behandelt hat. 

Die ausgezeichneten Arbeiten G. W. von Raumers, von Pancizolles 
und Riedels (die Mark Brandenburg im Jahre 1250) dienten ihm dabei 
zur ficheren Grundlage Weniger genligend ift dagegen feine Kenntniß 
bon der landſtändiſchen Berfaffung in anderen beutjchen Ländern, welche 
faft nur dem veralteten Werke Struve's, Discurs u. |. w. 1741, verdankt zu 
fein ſcheint. Beſſer hätte man fi taher gewiſſer allgemeiner Urtheile 
enthalten und auch tie Polemik gegen 8. Fr. Eichhorn unterlaſſen 
(S. 272 ff.), in deſſen deutſcher Staats- und Nechtögefchichte allerdiugs 
keine bejondere Vorliebe für das altlandſtändiſche Wefen, aber dabei eine 
ſehr reſpectable Kenntniß deſſelben fichtbar ift, und deſſen hier bekämpfte 
Sätze über das Verhalten der Landesherren und Stände bei Herſtellung 
des neueren Militärweſens in völlig mißverſtändlicher Weiſe aus ihrem 
Zuſammenhang herausgeriſſen ſind. Wenr 


512 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur 


feines Werkes ausführt, warum die Landesherren feit vem 16. Jahrhun⸗ 
dert ihre Lehensmannſchaft wenig mehr zum Kriegsdienſt hätten brauchen 
fönnen und deshalb vorgezogen hätten, fich die Mittel zum Unterhalt von 
Sölpnern zu verfchaffen, fo fieht man nicht ab, wie der Berfafler dazu 
fommt, fih mit vielem Eifer zum Bertheidiger des großen Churfärften als 
Gründers eines ftehenven Heeres aufzuwerfen; und wenn jener fortfährt, 
daß ſolche Mittel fich vielleicht würden gefunden haben, wenn die Ritter⸗ 
haft ihre angemaßte Steuerfreiheit (wovon $. 547 gehandelt ift) Hätte 
aufgeben wollen, fo ift die Gegenbemerkung (S. 275), daß die Ritterjchaft, 
welche ihre Steuerfreiheit auf Grund ihrer Verpflichtung zum Lehnvienft 
und bewilligter Privilegien behauptet, ſich dazu erboten habe, zur Leis 
ftung des Lehndienftes aufzufisen — ebenfo wenig zutreffend, da gerame 
bavon bie Rede ift, wie eben dieſer unbrauchbare und darum nicht mehr 
verlangte Dienft durch einen branchbareren zu erfegen gewefen wäre. 
C. H. 


Fidicin, E., die Territorien der Mark Brandenburg oder Ge 
dichte der einzelnen Kreife, Städte, Nittergüter und Dörfer in berfelben ale 
Fortſetzung des Landbuchs Kaifer Carls IV. 1. und 2. Thl. Berlin, 1857 — 58. 
Buttentag, 4. 

Inhalt: 1. Geſchichte des Kreifes Teltow und der in benifelben be: 
fegenen Städte, Nittergüter, Dörfer ꝛc. — Geſchichte des Kreifes Nieder: 
Barnim ꝛc. — XLII, 305 ©. — 2. Gefhichte der Stadt Potsdam. 
Der Oberbarnim’sche Kreis. XXXI, 271 ©. 


Hirſch, Theodor, Dr., Hanbels- und Gewerbegeſchichte Danzige 
unter der Herrſchaft des deutſchen Ordens. Cine von der fürſtlich Jablonowski⸗ 
ſchen Geſellſchaft gekrönte Preisſchrift. Leipzig, Hirzel. XII, 344 ©. Kol. 

Eine überrafchende Fülle urkundlichen Materials ift hier mit echt wif- 
ſenſchaftlichen Geifte zu einem Werte verarbeitet worden, das, über das 
locale Interefje weit hinausreichend, gleidy wichtig ift für die politifche und 
Rechtsgeſchichte, wie für die Geſchichte des Handels und der Gewerbe. 
Denn ausgehend von den politifchen Verhättniffen Danzigs unter der Herr- 
haft des deutſchen Ordens ſchildert ver Verfaſſer in eingehender Weife 
den über Deutfchland, Polen und Rußland, Scandinavien, England und 
Schottland, Frankreich, Spanien und Portugal ansgevehnten Handel ver 
Stadt. Während wir hier urkundliche Beiträge für die allgemeine Gefchichte 





bes Jahres 1858. 513 


bes 14. u. 15. Jahrhunderts finden, geben die Unterfuchungen über das Lauf: 
männische Leben, über Münzen, Waaren und deren Preife, über Schiffahrt 
und Rhederei reiche Belehrung in handelswiſſenſchaftlichen und nationalöfo- 
nomiſchen ragen; mit ber Darftellung des Gewerbes aber lernen wir zus 
gleich die Zunftwerfaffung genauer kennen. 

In allen diefen Richtungen verbreiten ſich auch die mitgetheilten Ori⸗ 
ginalurfunven, von denen ich bloß die Beiträge zur Geſchichte des Wis⸗ 
by’ichen Seerechtes, 2 Briefe des Danziger Rathes über die Friedens- 
verträge don Wordingborg und Calmar (1435 und 1436), wo es fid 
um ten Sundzoll handelt, den Vertrag zwiſchen dem König von Caſtilien 
und der beutfchen Hanſe (1443) und die Danziger Artushoforbnung von 
1421 bervorhebe K. 


Zeitfchr ift für die Geſchichte und Alterthumskunde Ermlanbe. Im 
Namen des hiſtor. Vereins für Ermland herausgg. vom Domcapitul. Dr. Eich⸗ 
born. 1. Heft. gr. 8. (®b. 1 &. 1 — 200). Mit Monumenta Historiae 
Warmiensis. I. Abth Codex diplomaticus Warmiensis, oder Regeften und Urfun- 
den zur Geſchichte Ermlands. Eeſamnmielt und auf Beraufaffung des hiſtoriſchen 
Vereins herantgg. vom Domvicar &. BP Wöolky und Archivar J. M Gaage. 
1. Lief. Regesta &. 1-32 u. Diplomatica S. 1—192. Mainz. Kirchheim. 8. 


Cramer, Reinh., Kreisgerightebirettor, Geſchicht e ber Lande Lauen⸗ 
burg und Bütow. 2 Theile. Mit 3 Zeichnungen in Steinbr ud. Königs: 
berg. XII, 815 ©. 8. 


Zietlow, E. ©. H., Superint., das Prämonftratenfer-Klofter 
auf der Inſel Uſedom von feiner Gründung um das Jahr 1150 bis zu 
feiner Aufpebung im Jahre 1535. (Eine faft durchgängig aus Urkunden ges 
ſchöpfte gefchichtl. Darftellung; zugleich ein Beitrag zur Geſchichte Bommerns 
in ber mittelalterlihen Zeit.) Mit Siegelzeihnungen und einer Karte ber Inſel 
Wedom. 1. Abth. Anclam, Diege. VI, S. 1—146. 8. 


Feabricius, ©. G., Dr., Bürgermeifter, Urkunden zur Geſchichte 
bes Fürfenthumes Rügen unter ben eingebornen Fürften, herausgg. und 
mit erfäuternden Abhandlungen über die Entwidlung ber rügenſchen Zuftänbe 
in ben einzelnen Zeitabfchnitten. 4. Bd. (3. Heft der Urkunden von 1303— 
1325). 1. Abth.: 1303—1310. Berlin, Schneider. XI, 121 ©. .4. 





614 Ueberſicht ber Hiftorifchen Literatur. 
Oberfadfen. 


Lindan, M. B., Geſchichte der Haupt- und Reſidenzſtadt Dresben vom 
der frfheften bie auf bie gegenwärtige Zeit. 1. Bd. 6. Heft. Dresden, Kunke. 
©. 401-480 8. 


Srauftadt, Pfr. Alb, die Wahlſtadt von Keufhberg Kin Ib 
ſchnitt aus ber Vorgeſchichte des Hochftifts Merfeburg. Leipzig, Weigel. 316. 8. 


Kindfher, Fr, Urkundenfammlung zur Geihichte von Anhalt. Ein⸗ 
leitung: Peter Beckers Zerbſter Chronik zum erften Male herausgg. Deffam, 
Baumgarten. V, 186 ©. 4. 


An den Abdruck der Zerbiter Chronik (von der 2. Hälfte bes 13. 
Jahrh. bis zum Jahre 1445; Beder ftarb 1457) ſchließen ſich in ver 
2. Hälfte ver Schrift fehr eingehende und werthvolle Crläuterungen zur 
Geſchichte ver Stadt mit zahlreichen in den Tert aufgenommenen Drigi- 
nalurfunden und dem Leben Peter Beckers. 


Sofmeifter, Georg Eberhardt, Genealogie des Hanſes Wettin von 
der älteften bie zur neneften Zeit, in allen feinen Haupt- und Nebenfinien mit 
kurzen biftorifhen Anmerkungen. Nebft einer gencalogifchen Ueberficht der alten 
Herzöge von Suchen bis zum Jahre 1423 und ber alten Landgrafen von 
Thüringen bis zum Jahre 1247. Ronneburg, Hofwmeifter'ihe Buchhandlung. 
vi, ©. und 16 Tafeln in gr. Bol. 





Thüringen und Heſſen. | 


Zeiſchrift bes Vereins für thüringifche Geſchichte und Alterthumskunde. 
8. Bd. 2. n. 3. Heft. Jena, $romman. IV, 85-236 ©. 8. 

Enthält Ergänzungen zum Chronicum Sampetrinum für ben Zeitraum 
von 1270— 1330 von Grünhagen, eine aud beſonders abgedruckte 
VBorlefung von Ortloff über die Hausbergsburgen bei Jena, die Fort⸗ 
fegung der Eifenacher Rathsfaſten von 1352 — 1500 von Rein, Bei- 
träge zur Geſchichte der Adels- und Herrengefchlechter Thüringens u. U. 


Ereigniffe im Großherzogthum Sach fen- Altenburg wührenb des 
Kriegsjahres 1757 (Abgebrudt aus der Zeitung für Stabt und Land). Alten- 
burg, Pierer, IV, 118 ©. 8 





bes Jahres 1858. b15 


Schwarz, 3. €. E., Dr, Das erfie Jahrzehnd der Univerfität 
Yena. Denkichrift zu ihrer dritten Säcularfeier. Iene, Yromman. IX, 145 S. 8. 

Bon allen Schriften, welche durch die breihundertjährige Stiftungss 
feier ter Univerfität Jena hervorgerufen werben find, ift bie genannte 
unzweifelhaft vie bedeutendſte und allein von wiſſenſchaftlichem und blei- 
bendem Werth. Das Werk ver Brüder Keil über die Geſchichte ber 
Jenaer Studentenihaft kann ſchon darum auf eine folhe Anerkennung 
feinen Anſpruch machen, weil die Berjaffer unterlaffen haben, die Quelle, 
die bei einer joldyen Arbeit, wenn ſie erſchöpfend fein follte, durchaus nicht 
umgangen werben durfte, nämlich das ernejtiniiche Communal-Archiv in 
Weimar zu benugen, das, wie Referent aus eigener Erfahrung verfichern 
fann, gerade auch für Diefes Thema das reichfte und zuverläfligite Ma 
terial enthält. Die Schrift des Jak. Schwarz in Iena dagegen zeichnet 
fi) eben durch ihre ſolide urkundliche Grundlage aus, indem fie im wes 
fentlihen auf den Materialien des gedachten Archivs aufgebaut ijt, und 
erichöpft ihren Gegenſtand vollſtändig. Wwgl. 


Johann Friedrich's des Großmiüthigen Stabtorbnung für Jena. 
Zur Feier der Enthällung des ehernen Stanbbildes des Ehurfürften auf bem 
Markte zu Jena am 15 Auguft 1858 zum erften Male herausgegeben Namens 
des Vorſtandes des Vereins für thüringifhe Geſchichte und Alterthumskunde 
von A. L. 3. Michelſen. Jena, $romman. 11, 90 ©. 4. 


Zeitfhrift des Vereins für heſſiſche Geſchichte und Landes⸗ 
funde. 7. Bd. 3. u. 4. Heft. Kaffel, Il, 193—384 ©, 8, 

Darin ift bemerfenswerth eine kleine Arbeit von Landau, die Stabt 
Waldkappel. (S. 240 bi8 309), die unter dem Titel: Geſchichte und 
Beſchreibung der Stadt Waldkappel in Churheflen auch befonvers erfchie- 
nen ift (Kaffel, Böhme). 


Nommel, Chriftoph v. Sefhichte von Heffen. 10. Bd. A. u. d. T.: 
Geſchichte von Helfen feit dem weſtphäl. Frieden bis jest. 1. Bd. 1. Tiefrg. 
Kaffel, Wigaub. XVII, 160 8. 8. 


Pröhle, Heinrich, Dr., Die Fremdherrſcchaft. Mittheilungen ans ber 
Geſchichte des chemal. Königreichs Weſtphalen. Borgelefen am 13. Behr. 1858 
im Verein für wiſſenſchaftliche Vorträge zu Berlin. Leipzig, ©. Mayer. 30 ©. 8. 





516 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur 


Franken. 

Neue Beiträge zur Geſchichte des deutſchen Alterthums. Herantgg. 
von dem Hennebergiichen alterthumeforſchenden Bereiu durch Georg Brädner, 
Prof. Erſte Lieferung. Meiningen, Brüdner und Renner. X, 327 ©. 8. 

Mit Auffägen von 3. Voigt in Königsberg: Graf Otto v. Han- 
neberg und die Botenlaube bei Kiffingen, von Brüdner: die Patronats- 
verhältnifje der Stadt Meiningen, und Grimmenthal als Walfahrtsert 
und Hofpital — dieſe letztere Arbeit mit zahlreihen Urkunden. 


Archiv für Geſchicht e und Alterthumskunde von Oberfranten. Hreg. 
von E. v. Hagn. 7. Bd. 2. Heft. Bayreuth, Gran. 
Mit kleinen Beiträgen zur Dynaſtengeſchichte von Holle. 


Stilffried, Rudolph Frhr. v. und Dr. Trangott Märler, Monumenta 
zollerana. Urfundenbuh zur Geſchichte des Haufes Hohenzollern. Bierter 
Band. Urkunden der fräntifchen Linie 1363 bie 1378. Berlin. In Sommil- 
fion bei Ernft und Korn (Gropins’fhe Buch⸗ und Kunſthandlung). 439 ©, 
in gr. 4. 

Bon den 395 einen Zeitraum von nur 16 Jahren umfaffenden Ur- 
funden, welche ver 4. Bd. dieſes Prachtwerkes enthält, betrifft eine Heine 
Zahl die Brüder, Gemahlin und Töchter Burggraf Albrecht des Schönen, 
die Meiften erläutern die Geſch. Friedrich V. Man fieht bier im Ein- 
zelnen (was Droyfen Geſch. d. pr. Polit. 1, 187 im Allgem. ohne nähere 
Nachweiſe anveutet), wie diefer kluge und Träftige Yürft für die Erweite— 
vung feiner Macht forgte. Zahlreiche Dörfer, Schlöffer und Städte bringt 
er bald durch Kauf, bald durch Belehnung an fi. Seine Schweiter, vie 
Herzogin Margaretha von Baiern, verpfändet ihm ihr Leibgebing (364) 
feine Töchter, Elifabeth und Beatrir, verzichten auf ihr Erbe und werben 
dafür entſchädigt, ebenfo die Töchter Albrecht's, Margaret von Meifien 
und Anna von Pommern (242—3, 248, 254, 258, 267). Ganz befon- 
ders warb Friedrich die Begünftigung durch Kaiſer Karl IV und beffen 
ftete Geldbedürftigkeit nüglih. Bald am Eingange dieſes Bandes fteht 
bie goldene Bulle von 1363, durch welche der Kaifer den Reichsfürſten⸗ 
ftand und die Rechte der Burggrafen von Nürnberg auf's Neue beftätigt. 
Noch in demſelben Jahre erklärt er die burggräfl. Lehen in Defterreid 
für Neichslehen (14). Bald ertheilt er dem Burggrafen Zölle (20, 38, 
71, 221) jchenft oder verpfändet ihm Burgen und Städte (199, 303, 
323), bald erledigte Reichslehen oder die Anwartichaft auf heimfallende 





Ki des Jahres 1358. 517 


(35, 40, 71, 384). 1367 giebt er ihm für die Landvogtei im Elſaß, 
Mi die wir ihn thätig handhaben fehen (4, 11, 26, 39, 98), bie in Ober- 
Eu ſchwaben (107 vgl. 184). Ein anvermal erlaubt er ihm, eine Stadt zu 
R gründen (160 d. fpätere Neuftadt am Culm) ober Goldgulden zu fchla- 
F gen (193). Gegen tas aufblühenve, nad) größerer Unabhängigfeit ſtrebende 
= Nürnberg fteht Carl chenfalls dem Burggrafen zur Eeite, er verleiht ihm 
. die Reichsburg und die Indenſtener daſelbſt auf Lebenszeit, verpfändet ihm 
E Scultheißenamt und Zoll (72, 58) und mehrt ven reicheftäptifchen Ueber: 
‚ griffen (341— 2). Außerdem fuchte er das Haus Zollern durch Familien⸗ 
- verbindungen noch mehr an ſich zu Fetten. Die Verlobung feines Sohnes 

Wenzel mit Friedrich's ältefter Tochter Eliſabeth, die fpäter Ruprecht von 

der Pfalz ehelichte (85), warb zwar wieder gelöst (70), doch verabretete 

der Kaiſer 1368 mit tem Burggrafen ein Ehebündniß zwifchen ihren in 
den näcjten 5 Jahren zu erhoffenten Kindern (130—5), und wenn auch 
die an demſelben Tage vollzogene Verlobung der Burggräfin Katharina 
mit Karl's Cohn Siegismund 1375 rüdgängig wurde, fo fam doch in 
eben viefem Jahre die Verbindung Johann's (III.) mit Karl's Tochter 

Margaretha zu Stande (129, 311, 310). Betreffen die zulegt an⸗ 

geführten Urkunden (aud) Nr. 92 — 3, 116, 308 — 9, 345, 352 find 

dahin zu rechnen) die Beziehungen Friedrich V. zu feinem Kaifer, fo er: 

Örtert eine Reihe anderer fein Berhältnig zu den Reichsſtänden, zwiſchen 

welchen er, wenn fie in Zwieſpalt find, vermittelt (383, 182, 152, 334), 

mit denen er Bündniſſe (287), Verträge (36, 288, 302) oder Münzcon- 

ventionen abſchließt (331) oder gemeinfame Beftimmungen zum Beſten 
des Landfriedens trifft (136, 172, 211, 355, 591). Und aud) in bie 

Bermaltung feiner Territorien können wir ihn folgen, wie er die Erbfolge 

ordnet (188), als Lehnsherr fchaltet (12, 47, 50, 62, 105, 170, 226, 

284, 368— 74), für Spitäler (6, 292—3) und Klöfter forgt (13, 175 

— 176, 200, 229, 273, 317. 19. 21, 30, 33), ten Städten Steuern 

erläßt (223, 289, 307), die Juden ſchützt (mas feinen Einnahmen fehr zu 

Gute fam — 202, 212. 34. 40. 41. 50. 63. 74. 79) und den armen 

Leuten Holzgeredhtigkeit ertheilt (10). Mit nicht minderem Intereſſe end: 

fich erfüllt es, wenn man audy noch erfährt, wie viel der fparfanıe Fürft 

den Kaufleuten für Specereien, Tuch, Sammt, Goldbrokat und Seide ſchul⸗ 
det (173, 2145, 271) oder welchen Allord er mit feinen Gauswirthen 

in Regeneburg und Bamb fehließt (244, 





520 neberficht bee hiſtoriſchen Literatur 


kirchlichen und wohlthätigen Stiftungen der Wittelsbachiſchen Fürſten (axi 
ber geiſtlichen Fürſten aus dem Wittelsbachiſchen Haufe) von ver frik 
ften Zeit bis zum Tode des Könige Mar I, häufig. mit ven Werten de 
Stiftungsurkunden felbft, die ver Berfaffer in großer Anzahl aus hieñge 
und auswärtigen Archiven zuſammengebracht hat. Wir hätten mır je 
wünſcht, daß wenigftens die wichtigften jener Inftitute etwas eingehente 
behandelt und auch vie allgemeinen Creigniffe, welche auf deren Geſchide 
von beſonderm Einfluße waren, nachbrüdliher gewürdigt worden wire 
Ter 2. Theil (S. 147 — 251) gibt eine chronologiſche, mit Aut 
zuſammengeſtellte Ueberſicht aller einzelnen Stiftungen in Form von X 
geften ver Stiftungsurkunden, wobei auch alle nicht mit beſondern SH 
tungen verkimtenen CS chenfungen aufgeführt werden, Die nachweisbar ver 
Wittelsbachiſchen Fürften zu Gunſten der Kirche oder für wohlthitz 
Amede gemacht worden find. Dieſes mehr ald taufend Nummern :i 
lende Berzeihniß weist manche handidriftlihe Notiz auf, vie unjer de 
tereffe verdient, fo 3. ®. wenn wir ©. 245 leſen, daß Marian Ama dJe— 
jepha von Ungarn, Gemahlin des Churprinzen Johann Wilhelm, im} 
1687 vierzigtanjend Gulden zur Einführung te® Ordens der Zejıriten = 
ver Churpfalz, dann zehntaufenn Gulden für die Miffionäre der Jeintte 
in Jülich und Berg beftinnit. K. 


Höfler, Edmund, Hauptmann, Der Feldzug vom Fahre 1809: 
Deutſchland und Tyrol mit befonderer Beziehung auf die Taltik. Mir Benikus; 
neuer bayeriiher Quellen. Mit einer Ueberſichtslarte und einem Detailrlart. 
Augsburg, Riegerihe Buchhandlung. X, 273 ©. 8. 

Wir ftellen dieſe beachtenswerthe Schrift zur bayeriſchen Geſchidu 
weil es vorzugsweiſe die Ihätigfeit der bayerijhen Truppen ift, vie ke 
in Detail dargeftellt wird, und außerdem der Schauplag der friegertjke 
Vorgänge wenigftens theilweife Bayern war. Der Verfafler, welcher auft 
amtlichen Aktenſtücken handſchriftliche und mündliche Mittheilungen man: 
cher dabei betheiligten Offiziere benutzen konnte, hat ſeine Schrift vorzuge 
weiſe für jüngere Offiziere beſtimmt, um an praktiſchen Beiſpielen ti 
Lehren ver Taktik zu entwickeln. Die politiſchen Verhältniſſe wurden ans 
geſchloſſen. K 














bes Jahres 1858. b21 
Die öfterreibifhen Stammlande. 


Büdinger, Mar, Defterreihifhe Geſchichte bis zum Ausgange bes 
breizehnten Jahrhunderts. Leipzig, Teubner. I. ®b. V, 503 ©. 8. 

Es ift allgemein anerkannt, daß dieſes Werf zu den bedeutendſten 
Erſcheinungen der neuern öſterreichiſchen Gejchichtstitteratur zählt, wodurch 
dem Bedürfniſſe einer öſterreichiſchen Geſchichte, das bei dem großen 
Reichthum neu erjchleffener Quellen und ven offenfundigen Mängeln ver 
bisherigen unmethodiſchen Yeiftungen ſchon längft gefühlt wurde, in fehr 
willkommener Weije Genüge geſchieht. -Der Plan, ven ver Verfaſſer 
einichlägt, ift von dem feiner Vorgänger weſentlich verſchieden. Er faßt 
ben Begriff einer öfterreichijchen Geſchichte nicht als eine Zufanmenftellung 
der einzelnen Provinzialgefhichten des Staates noch ale eine Gejchichte 
des allmählig wachſenden Territoriums, fondern als eine Darjtellung der 
einzelnen Volks⸗ und Staatszuſtände, Die auf dieſem Boden ſich entwideln, 
fi gegenfeitig bedingen und wirfjame Keime fpäterer Geftaltungen wer 
den. Der erfte Band umfapt nur das erfte Buch ver Geſchichte von ven 
erften Anfängen ver bifteriichen Kunde bis ins 12. Jahrhundert. Die 
vier Gapitel des Buches (Gründungen — Völkerwanderung — fränfiiche 
Herrſchaft — Uebermacht des deutſchen Reiche) theilen ſich wierer in eins 
zelne Abjchnitte. Die Gründungen (das 1. Capitel) umfaßt die Gejchichte 
der römijchen Eroberung, eine Skizze der römiſchen Gultur und die Ges 
Ihichte der erjten Berbreitung des Chriſtenthums in römiſcher Zeit. Der 
Untergang der Römerherrihaft, das Neid, der Avaren und Baiern unter 
Bolksherzegen werden in gejonderten Abjchnitten im 2. Gapitel dargeftellt. 
Im 3. Gapitel „fränkiſche Herrihaft” finden wir eine überaus tüchtige 
Darftelung ter baieriſchen Verhältniſſe jeit der Eroberung durch die 
Franken; dem innern Zujtand der Yiteratur und Neichöverwaltung find 
bie zwei folgenden Abfchnitte gewidmet; auch die Geſchichte des Verſuchs 
ſlaviſcher Staatenbildung und der Nieverlaffung der Ungarn ift hier aus- 
führlid behandelt. Die Gejchichte Bayerns, Böhmens, Ungarns und der 
Gründung der Mark Oeſtreich, des eigentlihen Stammlandes, bilden 
wieder vier Abfchnitte des Schlußcapitels (Uebermacht des deutſchen Reichs). 
Bier kürzere jehr anziehende Crörterungen von ragen, welche durch bie 
neuere fritiiche Forſchung angeregt find (Über ven Namen Wien, über bie 
Herkunft der Bayern, über das Aſchheimer Concil und über die Urs 
Hunde des Biſchofs Piligrim) bilden als Excurſe eine ſehr willfonmene Beigabe. 





522 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur 


Wie das Werk dem Inhalt nah auf ver Höhe ver Bifferier 
fteht, jo enjpridyt and) jeine Form den Anforberungen, welche man ker 
an die beſſeren Geſchichtsbücher ftellt; die Darftelung ift leicht mr x 
wandt, und nur an einigen Stellen vielleiht weniger einfach, als ent: 
ftrenge Kritik vom hiſtoriſchen Stile verlangt. 

Endlih muß nod) ein Verdienſt hervorgehoben werten, deſſen Bra 
tung mit Rüdjiht auf Oeſterreich nit genug auerkannt werten lam: 
es ift das vie bejondere Brauchbarkeit des Buches für Linterrichtäzwekt 
Dit welden höchſt mittelmäßigen Hilfsmitteln (chronologiſchen Umnſe. 
in welchen Dürftigkeit mit der Unrichtigkeit des Inhaltes wetteiferte 
mußte man ſich auf öſterreichiſchen Schulen bisher behelfen! Spät lanc 


— — — — 


— — 


bie Ergebniſſe der neueſten Forſchung über allgemeine oder auch öſtera 


chiſche Geſchichte in die gebrauchten Compilationen, und mancher Yere 
konnte ſich ſelbſt bei dem redlichſten Streben ungemein ſchwer über te 
Standpunkt der Fragen unterrichten! Der Verfaſſer hat in feinem Yızk 
durch die Mare und bündige Anführung jeiner Hilfsmittel einen zuiar: 
mengebrängten Ueberblid über Quellen und Yiteratur gegeben. Tie Me 
thode und das Verfahren bei Fritiihen geſchichtlichen Unterſuchungen tre 
zwar niemals ftörend doch lehrreih und erfeunbar dem Veſer entgegm 
Dieß Alles kann in weiteren Kreijen zu cigenen hifterifchen Studien übe 
öfterreichiiche Geſchichte anregen, dieſe auf die rihtige Bahn leiten, um 
vor Allen auf die Auömerzung zahlreicher quellenlofer Mährchen une m 
auf viefem Boden jo lange heimischen Fälſchungen fegenvoll binwirtan 
Rr. 


Tome, W. W., Profeffor, Handbuh der dfterreihifhen Gr 
ſchichte. Aus dem Böhmiſchen überfegt von dem Verfaſſer. 1 TH. Fry. 
Tempsty. VII, 550 ©. 8. 


Shmit, Ritter v. Travera, Karl, Dr., Bibliographie zur Gefdidt: 
bes öfterreihifgen Kaiferftaats. 1. Abth 2. Bd.: Bibliographie pe 
Geſchichte Defterreihs unter Karl V. uud Berbinand I Wien, Geibel, VIL 
156 ©. 38. 


Fontes rerum Austriacarum, Deſtereichiſche Geſchichts queller 
Herausg. von ber Hifter. Commiſſion ber k. Alademie d. Wiffenfchaften in Wie 
2. Abth Diplomataria et acta 17. 8b. A. u. db. T.: Üctenfäde zur Ge 
Hihte Franz Rakoczys und feiner Verbindungen mit bes Wusiagbe,. Uns Is 





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bes Jahres 1858. 623 


Papieren Joh. Mich. Klement's, feines Agenten in Preußen, England, Holland 
und bei dem Utrechter Eongreffe. 1703 — 1715. 2. Bd. Nebſt einem Nady- 
trage zum erftien Bande (1703 — 1726). Herausg. v. Sof. Fiebler. Wien, 
Gerold. XL, 6756© 8. 


Monumenta Habsburgieca. Sammlung von Actenftiiden und Briefen zur 
Geſchichte des Hauſes Habsburg in dem Zeitraume von 1473 bis 1576. Hegg. 
von der hiſtor Commiffion der kaiſerl. Akademie der Wiſſenſchaften zu Wicı. 
1. Abth. U. u. d. T.: Altenftüde und Briefe zur Gefchichte des Haufes Habs⸗ 
burg im Zeitalter Maximilians I. Aus Archiven und Bibliothefen gefamntelt 
und mitgetheilt von Joſ. Chmel 3. Bb. Wien, Gerold. LII, 799 © 8. 


Notizenblatt. Beilage zum Ardiv für Knnde öſterreichiſcher Geſchichts⸗ 
quellen. Herausgg. von der hiſtor. Commiffien der kaiſ. Akademie ber Wiffen- 
fchaften in Wien. 8. Jahrg 1858. 24 Nrm. Ebend. 8. 


Karajan, Th. G. v., Bericht über die Thätigkeit ber hiſtoriſchen 
Commiſſion ber faiferl. Akademie der Wiffenfchaften während bes alademifchen 
Bermaltungsjahres 1856 auf 1857 vorgetragen in ber Claffenfigung vom 12. 
Mai 1858. Ebend, 16 ©. 8. 


Chmel, Joſ., Studien zur Gefhichte des 13. Jahrhunderts. (Aus 
ben Sitzungsberichten 1858 der E. Alab. d. Wiffenfh. Wien, Gerold's Sohn, 
5668 8. 


— — die öferreidifhen Freiheitsbriefe. (2. Artikel). Aus ben 
Eitzungeberichten 1858 der f. Alad d. Wiffenih. Ebend. 38 ©. 8. 


— — Beiträge zur Geſchichte König Ladislhaus des Nachge⸗ 
borenen. Habsburgifhe Ereurfe VI 2 Abth (Aus den Sihungeberichten 1857 
d. f. Akad. d. Wiſſenſch.) Ebend. 54 ©. 8. 


Birk, E., Dr., Leonore von Portugal, Gemahlin Kaiſer Friedrich III 
(1434—1467). Gin Vortrag, gehalten in ber feierlichen Sitzung der kaiſerl. 
Akademie der Wiffenfchaften am 31. Mai 1858. Wien, Gerold's Sohn. 36 S. 8. 


Lorenz, Ottolar, Defterreid's Stellung in Deutfhlanb während 
ber 1. Hälfte des 3Ojährigen Krieges. Ein Vortrag. Wien, Gerold’ Sohn. 32 ©. 8. 


Walewski, Anton v., Profeffor ber Weltgefhichte an ber Jagellomifkäm 
Univerfitit, Befchichte ber heil. Ligue und Leopelb ? 
im Gleichgewichteſyſtem bes Weftens durch ben fdtwebl| 





624 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur . 


Krieg bis zur Berwidlung ber orientalifhen Brage burg Auguſt U) 16 
— 1700. 1. Theil, 2. Abihl. Ueberſicht der Geſchichte bes helleniſchen Ih 
reihe, der älteften Unirerſalmonarchie, Weberfidht der Geſchichte ber öferrarr 
[hen Länder unter den Römern ꝛc. Kralau, in Commiffion bei Eerold zz 
Sohn in Bien. V, 451 S. 8. 

Ein harmloſer Galimathias, welder vie öfterreichijche Geſchichte mi 
ber katholiſchen, die katholiſche mit der Weltgeſchichte irentifizirt un % 
die Schickſale des öſterreichiſchen Staiferftantes bis zu Den Tagen tx 
Schöpfung zurüdverfelgt. Im 2. Bde. (der Einleitung zur Geſchicht 
Leopold's) werden die „frommen Könige“ Philipp und Aleranter wc: 
Macedonien ala die älteften Monarchen des Oſtreichs (Borfahren Yeorek’ 
des Großen) behandelt; wie denn alle „Öroßen aller Zeiten: Cäix. 
Octavian, Conftantin, Carl, Otto I, Rubolf I, Mar I, Carl V, im 
naud II, Leopold ꝛc. eine Epoche jowohl in der faiferlichen als audı > 
der öftreichifchen Gejchichte bilden.“ 


Nicht minder überrafchend jind die Betrachtungen, in denen jic te 
Autor über moderne Verhältuiffe ergeht, wenn er 3. B. Oeſterreich tr» 





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Pand nennt, „wo bie Autorität fefter ale anderswo, Daher vie Freibe 


beinahe unbegrenzt it”, „we man Das für jeden Staat wichtigſte Fe 
hältniß, das des Gehorſams gegen ten Papft am richtigften aufge 
hat“; „wo im Concordate (das fid) nicht auf einmal entwickeln kent 
Waffen verborgen liegen, weldye Die Toleranz und ben Liberalismus, iätt 
wenn er fih durch den Harniſch ver Heuchelei ſchützt, ins Herz tren: 
müſſen“. k. 


Arneth, Alfred, Prinz Eugen von Savoyen. Nach ben hantidr“ 
lihen Quellen der kaiſerlichen Archive. 3 Bde Mit Porträts und Stiıx 
plänen. Wien, typogr.⸗lit -artift. Anftalt. XIII, 494; VII, 537; IX, 619° 

Die lange vernachläſſigte Geſchichte des Prinzen Eugen bat enduc 
in Arneth einen Bearbeiter gefunden, der das reiche Leben und die glaãr 
zende Wirkſamkeit des großen Mannes in würdiger, den Anforderun 
ber Wiſſenſchaft vollkommen genügender Weiſe dargeſtellt hat. Zus 
Wert, gleich ansgezeichnet durch eine unmfaſſende gewiſſenhafte Forſchunz 
wie durch eine klare Anordnung und eine edle anziehende Doarftellu;, 
bildet eine der hervorragendſten biographiſchen Yeiftungen 
Zeit, vie ſich aus der Lebensbeſchreibung des Helden zu 








- 


des Jahres 1858. 525 


Defterreih8 und feiner freundlichen und feinvlichen Beziehungen zu ven 
europäiſchen Mächten während eines halben Jahrhunderts erweitert. 


Es ift nicht möglih, in wenig Worten auch nur die Hauptpunfte 
anzudenten, die durch Arneth's reiches Duellenmaterial neu aufgeklärt, 
fefter begründet oder anfchaulicher dargelegt werben find. Mögen wir 
Eugen als Soldaten und Feldherrn auf feiner Helvenlaufbahn von dem 
Eintritt in das öfterreihiiche Heer (1685) und dem erſten großen Siege 
"bei Zenta über Höchſtädt, Turin, Oudenarde — bis zu dein glänzenden 
Tage von Belgrad begleiten; oder mögen wir die raftlofe Thätigfeit ver- 
folgen, welche er als Leiter des öfterreichifchen Kriegsweſens im Allge— 
meinen, als der erfte Staatsmann und der funvigfte Diplomat im Dienfte 
dreier Herricher entfaltete: fo finden wir überall Neues und Intereſſantes 
in reicher Yülle dargelegt. — Wenden wir uns aber von der Perjünlich- 
feit unſeres Helven zu einer eingehenveren Betrachtung der Menſchen und 
Dinge, die ihn umgaben over mit denen er in Beziehung trat, fo müſſen 
wir e8 dem Berfaffer hoch anrechnen, daß er und an der Hand anthen- 
tifcher Documente einen Einblid in die innere Regierungsgeſchichte Defter- 
reichs gewährt. Die Kaifer und ihr Hof, ver Einfluß ter fremden Diplo- 
matie und der einheimifchen Coterien, der Zuftand der verjchiedenen 
Zweige ver Verwaltung, namentlidy die traditionell ſchlechte Finanzwirth— 
fhaft, werben bier in mannigfadyer Weife beleuchtet, und Grörterungen 
wie die über die Regierung Leopold I. (Bd. I, ©. 188—207), Joſephs I. 
(1, ©. 399; 1, ©. 95 ff.), über das Regiment und den Hof Karls VI 
(U, 272, 340; IM, 29, 81 ff.) dürften zu den verdienſtlichſten Partien 
von Arneths Werke gehören. 


Auch unfere Kenntniß der auswärtigen Berhältniffe Defterreiche, 
der theilweije durch Eugen vermittelten Beziehungen zu anderen Mächten, 
wird beſonders durch die außerordentlich zahlreichen von Eugen felbft 
berrührenden Schriftftüde, — wogegen die bisher unter feinem Namen 
betannten Schriften als unächt nachgewiefen werben, I, 443 ff. — viel 
fach gefördert; fo gibt 3. B. der II. Band S. 196 — 217 einen höchſt 
intereffanten Bericht über eine Reife Eugens nad) Eugland (1712) und 
feinen Verkehr mit den engl. Miniſtern, ©. 314—338 eine betaillirte 

Ihte Ser Maftatter Friedensverhandlungen, während ver IN. Bo. 

[ bes Sfterreichifchen Hofes und namentlich Eugens 
34 








524 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur = 


Krieg bis zur Verwicklung ber orientaliihen Frage durch Auguſt II) 
— 1700. 1, Theil, 2. Abihl. Ueberſicht ber Geſchichte des helleniſch 
reichs, der älteften Univerfalmonardie, MWeberficht ber Geſchichte ber äjlı 
hen Länder unter den Nömern x, Sralau, in Commilfion bei @erc 
Echn in Wien. V, 451 S. 8 

Ein barmlofer Galimathias, welder die öfterreihiihe Seſchich 
ver latholiſchen, vie katholiſche mit der Weltgeſchichte iventifizirt ı 
die Schickſale des öſterreichiſchen Kaiſerſtaates bis zu Den Tage 
Schöpfung zurüdverfolg. Im 2. Bde. (ver Einleitung zur Ge) 
Leopold's) werden die „frommen Könige“ ‚Philipp. und Mleranbe 
Macevonien ald die älteften Monarchen des Oftreihs (Borfahren Yeo 
des Großen) behandelt; wie denn alle „Großen aller Zeiten: I 
Dctavian, Conftantin, Carl, Otto I, Rudolf I, Mar I, Earl V, | 
nand U, Leopold ꝛc. eine Epoche jowohl in ver kaiſerlichen als a 
der Sftreichiichen Geſchichte bilden.“ 

Nicht minder überrafchend find die Betrachtungen, in denen fü 
Autor fiber moderne Verhältniſſe ergeht, wenn er z. B. Defterreidh 
and nennt, „wo die Aırtorität fefter als anderswo, daher vie # 
beinahe unbegrenzt ift“, „we man bas für jeven Staat wichtigjte 
hältniß, das des Gehorſams gegen den Papft am richtigften anf) 
hat“; „wo im Goncorvate (das ſich nicht auf einmal entwickeln 
Waffen verborgen liegen, welche die Toleranz und den Yiberalismus, 
wenn er ſich durch den Harnijch der Heuchelei ſchützt, ins Herz I 
milien”. 


Arneth, Alfred, Prinz Eugen von Savoyen. Nah ben hanb 
lihen Quellen ber faiferlichen Archive. 3 Bde. Mit Porträts unb St 
plänen. Wien, tupogr..lit.-artift. Unftalt. XII, 494; VII, 537; IX, 619 

Die lange vernadyläffigte Geſchichte des Prinzen Eugen hat & 
in Arneth einen Bearbeiter gefunden, der das reiche Yeben und bie 
zende Wirkfamfeit des großen Mannes in wilrbiger, ben Anforber 
der Wilfenfchaft volllommen- genügender Weiſe dargeſtellt bat, 
Werk, gleid) ausgezeichnet durch eine umfaſſende gewiſſenhafte Worf 
wie buch eine Mare Anoronung und eine edle anziehende Darftel 
bildet eine ber hervorragenditen biographiſchen Yeiftungen "ber ne 
Zeit, die ſich aus der Pebensbejchreibung des Helden zu einer Gel 


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des Jahres 1858. 525 


Defterreih8 und feiner freunvlichen und feintlichen Beziehungen zu ven 
europäifhen Mächten während eines halben Jahrhunderts erweitert. 


Es ift nicht möglich, in wenig Worten auch nur die Hauptpunkte 
anzudeuten, die durch Arneth's reiches Duellenmaterial nen aufgeklärt, 
fefter begründet oder anfchaulicher dargelegt worden find. Mögen wir 
Eugen als Soldaten und Feldherrn auf ſeiner Heldenlaufbahn von dem 
Eintritt in das öſterreichiſche Heer (1685) und dem erſten großen Siege 
bei Zenta über Höchſtädt, Turin, Oudenarde — bis zu dem glänzenden 
Tage von Belgrad begleiten; over mögen wir bie raſtloſe Thätigkeit ver- 
folgen, welche er als Leiter des öfterreichifchen Kriegsweſens im Allge— 
meinen, als der erfte Staatsmann und ver kundigſte Diplomat im Dienfte 
dreier Herricher entfaltete: jo finden wir überall Neues und Interefjantes 
in reicher Fülle dargelegt. — Wenden wir und aber von der Perjünlich- 
feit unferes Helven zu einer eingehenveren Betrachtung der Menſchen und 
Dinge, die ihn umgaben oder mit denen er in Beziehung trat, fo mäffen 
wir e8 dem Berfaffer body anrechnen, daß er und an der Hand authen- 
tifcher Documente einen Einblid in die innere Regierungsgejchichte Defter- 
reih8 gewährt. Die Kaifer und ihr Hof, ver Einfluß ver fremden Diplo- 
matie und der einheimijchen Goterien, der Zuftand der verſchiedenen 
Zweige ver Verwaltung, namtentlid, die traditionell jchlechte Finanzwirth— 
haft, werden hier in mannigfacher Weife beleuchtet, und Crörterungen 
wie die über die Regierung Leopold I. (Bd. I S. 188— 207), Joſephs I. 
(I, ©. 399; I, ©. 95 ff.), Über das Regiment und den Hof Karls VI. 
(II, 272, 340; IM, 29, 81 ff.) dürften zu den verbienftlichiten Partien 
von Arneths Werke gehören. 


Auch unfere Kenntniß der auswärtigen Berhältniffe Defterreichg, 
der theilweije durch Eugen vermittelten Beziehungen zu anderen Mächten, 
wird beſonders durch die außerorventlic zahlreichen von Eugen jelbft 
berrührenden Schriftftüde, — mogegen die bisher unter feinem Namen 
befannten Schriften als unächt nachgewiefen werben, I, 443 ff. — viel 
fach gefördert; fo gibt 3. B. der II. Band ©. 196 — 217 einen höchſt 
intereffanten Bericht über eine Reife Eugens nad) England (1712) und 
feinen Verkehr mit ven engl Miniſtern, S. 314—338 eine betaillirte 
Geſchichte der Raftatter Friedensverhandlungen, während der I. Bd. 
über das Verhältniß des Bfterreichifchen Hofes und namentlich Eugene 

Hikseifäe Zeitfärift 1. Band. 34 


€ 





b26 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur 


felbft zu Friedrich Wilhelm I. von Preußen mandes Interefjante ımt 
Neue bietet (3. B. ©. 194 ff, ©. 252 fi, ©. 383 ff.). 

Eine früher wenig beachtete Seite in Eugens Yeben ift endlich tie 
Förderung, welde Kunft und Wiffenfhaft von ihm empfingen; auf ©. 
60-77 des II. Bobs. werben hierüber genauere Mittheilungern gemadıt. 
Bor allem aber wird Eugen als Menſch zum erften Male Durch feinen 
Biographen in das rechte Licht geftellt; ein Verein von fo glänzen- 
den Eigenihaften wie ver große Feldherr und Staatsmann fie beſaß. 
tritt erft dann Kar vor Augen, wenn wir ihn in den verjchievenften Rich 
tungen thätig und wirkſam ſehen; felten aber find jo hervorragende Ei— 
genjchaften von „einem Charakter getragen werben, bejjen wollendete Kein: 
beit und fittliche Größe auch nicht ver leijefte Flecken trübt.“ K. 


Bergmann, Zof., Leibnitz als Reichchofrath in Wien und beffen 
Beloldung (Mit I Beilagen). — Ueber ben kaiſerlichen Reichshofrath nebft dem 
Berzeihniß der Reichehofraths- Präfidenten von 1559 — 1806. Aus den Sigung® 
berichten (1858) ber k. Alabemie d. Wiffenfh. Wien, Gerold's Sohn. 31 ©. 8. 


Rolf, Adam, Aus dem Hofleben Maria Thereſia's. Nach ten 
Memoiren des Fürften Joſeph Khevenhüller. Erſte und zweite Auflage. Wien, 
Gerold's Sohn. XII, 395 ©. 

Die Kaiferin, ihre Familie und ihr Hof werten hier nad) ven täg— 
lichen Aufzeichnungen des Oberhofmarihalls Schevenhüller, deſſen Journal 
nicht weniger als 5 Quartbände umfaßt, in anziehenter Weiſe geſchil— 
dert. Das Bud Wolf's ift ein werthvoller Beitrag weniger für tie 
Kenntniß ter Politif und der großen Tagesereigniffe jener Zeit, als für 
die Charafteriftit Maria Iherefia’s, die überall im günftigften Lichte er- 
ſcheint, ſowie für die ihres Gemahls und ihrer Kinder, namentlich Je— 
ſeph's II, über deſſen Jugend und erftes Auftreten amı Hof und im öf— 
fentlichen Leben mancherlei Notizen mitgetheilt werten. 

Die 2. Auflage hat eine wichtige Zugabe erhalten in ven Briefen 
der Kaiſerin an ihren Schwiegerſohn, ven Herzog Albert von Sadjen- 
Zeichen, Statthalter von Ungarn (1765—75). K. 


Neumann, Leopold, Dr. et Profess., Recueil des traitds et conventions 
conclus par l’Autriche avec les puissances &trangeres, depuis 1703 jusqu’ 
& nos jours. T. IV. Leipzig, Brockhaus. 778. 8. 


Der Band umfaßt 99 Aktenftäde, vom März 1822 bie zum 1 





bes Jahres 1858. 527 


vember 1846. Der bei weitem größere Theil war bereits in ältere 
Siplomatiihe Sammlungen, nanentlicd in die von Martens und Murhard, 
aufgenonmen; die übrigen, einige zwanzig, waren theild in Geſetzſamm⸗ 
lungen zerjtreut, theils werben jie jett zum erften Mal nach ven in Ar: 
chiven nievergelegten Originalen ober beglaubigten Copien publicirt. Zu 
dieſen lebteren gehören außer ein paar Poftverträgen: ver Vertrag mit 
Parma über das Garniſonsrecht zu Piacenza vom 14. März 1822, mit 
beınjelben über das Recht der Penfionnaire der beiden Staaten, ihre 
Penfionen in dem einen ober andern Staate zu genießen, vom 9. 
November 1822; mit dem Königreich beider Sicilien über die Dccu> 
pationstoften vom 24. April 1823; mit Sardinien Über vie Liquidation 
der Rückſtände aus den Jahren 1814—1816, vom 17. Juli 1825; mit 
Rußland vom 4.März 1825 über die Liquidation der activa und passiva 
des ehemaligen Herzogthums Warſchau; mit Parma vom 3. Sept. 1825 
über die gemeinfame Erhebung ver Po-Zölle; mit ber frein Stabt 
Brankfurt vom 12. Oktober 1827 über die Auseinanderjeßung der Cen⸗ 
trallaften des erlojchenen Großherzogthums Frankfurt; mit den Niever- 
landen vom 5. März 1828 zur definitiven Regelung verjchievener gegen- 
feitiger Reclamationen; mit Rußland vom 29. April 1828 zur Regelung 
der Controverjen hinſichtlich der in Defterreich gelegenen Güter des Kra⸗ 
fau’ihen und Polniſchen Klerus und umgelehrt; vom 28. Yuni 1829 
nit Rußland über die Örenzjonderung zwifchen dem öfterreichiidyen Ga⸗ 
lizien und ver Bukowina einerjeit8 und dem Ruſſiſchen Polen und Bef- 
farabien andererjeitd; Vertrag mit Tosfana vom 12. Oltober 1829 über 
die Auslieferung der Dejerteure; mit dem heil. Stuhle von 2. März 1838 
zur Untervrüdung des Schleihhanveld auf dan Po; mit Bayern vom 
19. Dechr. 1843 zur Ausgleichung der gegenjeitigen Stiftungsforderungen; 
vom 10. Sept. 1845 mit Rußland Erneuerung der Grenze zwifchen Ga⸗ 
lien und Polen. K. 


Clanſewitz, €. v., General, der Feldzug von 1796 in Italien. 
Die Feldzüge von 1799 in Italien und der Schweiz. 2. Aufl. 7—12. Liefg. 
(Hinterlaffene Werke über Krieg und Kriegführung 19—24. Liefg.). Berlin, 
Dümmler. 2. Bd. ©. 289—463 und 8. Bd. XI, S.1—339. 8. 


Der k. & öferreihifhe Belbmarfhall Graf Radetzky. ine 
h den eigenen Dictaten unb ber Korreſpondenz bes Feld⸗ 
34* 





528 Ueberficht der hiftorifchen Literatur 


marſchalle. Bon einem öfterreihifhen Beteranen. Etuttgart und Augsburg, 3 
G. Cotta’icher Berlag. 440 ©. 8. 

In eingehender und durch die Verehrung des Verfaſſers für ben 
verewigten Feldmarſchall warmer ‘Darftellungsweife ſchildert uns Das vor- 
liegende Werk die äußeren Lebensjchicdjale des Grafen Radetzky. Die po- 
litiſchen Leiden und militärijchen Freuden, welche im Laufe von mehr als 
90 Jahren unter dem Scepter von fünf Kaiſern das Leben tiefes be 
deutenden Mannes mit reicher und mannigfaltiger Abwechslung erfüllten, 
die Würden und Ehrenzeichen wie die Kränfungen, welche ihn währent 
einer 74jährigen Dienftzeit im Taijerlichen Heere zu Theil wurden, — bie 
Stürme und Schlachten, Kriegsrathsjigungen und Konferenzen, tenen er 
in fiebzehn Feldzügen, immer tapfer und Hug, umfichtig und beharrlich, 
tühn und doch milde, anmwohnte, — kurz all’ Jenes, was ſich auf ven 
Solvaten, den Feldherrn bezieht, finden wir in dem Buche auf's Aus- 
führlichfte erzählt; über den Meufchen, feinen innern Lebensgang, jeine 
geiftige und Charafterentwidlung ſuchen wir darin jedoch vergeblich nad 
Aufſchlüſſen. Und doch ift bis jegt gerade hievon heinahe Nichts be 
kannt, und wären deßhalb Aufflärungen hierüber, von größern lejenven 
Publikum wie vom Geſchichtsforſcher, gleich dankbar aufgenonnnen wer: 
den. Soll denn der Lebenslauf eines alten Soldaten und Feldherrn nichte 
Anderes umfaſſen als den umunterbrodyenen eintönigen Pendelſchlag ven 
„des Dienſtes ewig gleichgeftellter Uhr?“ Welches lebentige und doch 
darum nicht minder wahre Bild hat Droyfen in feinen Leben Pert’s 
zu fchaffen gewußt? 

Bon neuen, bisher unbelannten kriegsgeſchichtlichen Begebenheiten 
bringt dieſes Werf einige Details über die Schlaht von Marengo 
(S. 49), über das zu fpäte Erjcheinen des Erzherzogs Ichann auf dem 
Schlachtfelde von Wagram (S. 84 und 89), über ven Zuftand der öfter: 
reichtjchen Armee beim Ausbruche des Strieged von 1812 (S. 115), über 
bie abwartende Stellung des Kaiſerſtaates im Juni 1813 (S. 140), 
über die Page ber großen Armee in Böhmen nah den Schlachten von 
Dresden und Kulm (S. 212— 221), über ven Zwielpalt unter den Ge— 
neralen der Verbündeten im Feldzuge von 1815 (S. 275), über vie 
friedliche Kurzjichtigkeit des Wiener Kabinetes im December 1847 und 
Anfangs 1848 (S. 317 — 350), endlich über deſſen Bereitwilligleit vor 

' Siegen bei Sommacampagna und Cuſtozza ganz Stalin bis am Lie 

) abzutreten (S. 369). LH _ 





bes Jahres 1858. 529 


Denkſchriften militärifch- politifhen Inhalts ans dem hand» 
ſchriftlichen Nachlaß des k. k. öſterreichiſchen Feldmarſchalls Grafen Radetzky. 
Stuttgart und Augsburg, Cotta. 552 ©. 8. 

Einen ungleich höhern Werth ald die eben befprochene biographifche 
Skizze befiten vie vorliegenden, aus der eigenen ever des verftorbenen 
Feldherrn gefloffenen Deukjchriften. In einer Reihe von 66, aus ben 
Yahren 1809 — 1834 ſtammenden Auffügen des verſchiedenartigſten In⸗ 
halts — Memoiren, Entwürfe, Inftruftionen, Operationspläne, Organi⸗ 
fationsvorfchläge 2c. — tritt uns hier ver lebendig ſchaffende und gleidy- 
zeitig nüchtern refleftirenve Geift des berühmten Todten in präcijem und 
Haren Ausprude entgegen. 

Ein Theil dieſer Aufſätze Bietet zwar ausfchlieglich nur dem Solda⸗ 
ten vom Fache eine ergiebige Duelle der Belehrung, indem in ihnen eine 
Fülle von geiftreichen Ideen über rein militärifche Gegenftänve, als: Her- 
anbilvung und Einrichtung des Generalftabes, vie Zmwedmäßigfeit von 
Frievenslagern, Heeresorganifation und Verwaltung, Anlage von Yeltun- . 
gen u. f. w. zu praktiſch ausführbaren, und im öfterreichifchen Heere 
ſpäter zum Theil auch wirklich ausgeführten Vorjchlägen verarbeitet ift. 
Aber an einer beträchtlichen Zahl dieſer Denkſchriften mag fi) and ver 
Hiftoriter erfreuen, und dieß um fo mehr, als fie, einen Einblid in die 
politiſche Auffaffung der in Oeſterreich maßgebenden Kreife, vornehmlich 
während ver Jahre 1813 bis 1815, geftattend, theilweije eine Ergänzung 
der Lücken ermöglichen, welche für die Gefchichtsforfchung durch die leider 
noch immer beftehenve, halb vornehme, halb mißtrauifche Unzugänglichkeit 
der faiferlihen Haus-, Staats- und Kriegs» Archive unvermeidlich her- 
porgerufen werden mußten. 

Namentlich find in dieſer Beziehung zu erwähnen: ein Memoire vom 
Juni 1813 (S. 127— 140); ein Operationsentwurf d. d. Töplitz den 
5. September 1813 (S. 167); ein Memoire über den Krieg von 1813 
d.d. Zöplit den 1. Oftober 1813 (S. 203); ein Memoire d.d. Haupt⸗ 
quartier Hünfelo d. 31. Oltober 1813 (S. 225); dann vier Memoires 
vom November 1813 (S. 231— 281); ein Operationsentwurf für 1815 
d. d. Wien den 24. März 1815 (©. 311); eine militärifche Betrach⸗ 
tung der Tage Oeftreihs vom Iamuar 1828 (S. 423); endlich ein Auf- 
fa Aber die Nothwendigleit eines feiten Lagers bei Mailand vom Jahre 
see 1. .. L. H. 





580 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur 


Grüll, Sie öfterreihifche Armee in ben Jahren. | 
f. f. Feldalten und anderen meift officiellen Quellen bee 











Bien, Gerold's Sohn. S. 1296, 8 . — 
Inkey dv. Pallin, Oberſt, Meine Rüderinneru 
1948 u. 1849. Wien, May 26 8 _ 





Györnig, E., Defterreiche Neugefaltung 1848 — 1858 . 
X, 728 ©. 8. P 


hy rn 

Hermann, 9, Handbuch ber Geſchichte bes & 

Kärntben im Bereinigung mit ben öſterreichiſchen Fürſtent 

buch ber Geſchichte des Herzogthums Kärntben. IL Abth.) 3. 2 Re N 

Kärnthens vom Jahre 1835 —1857 oder der neueſten Zeit. 2. Sf. * 
furt, Kern. 223 S. 8. 

· 


Meiller, Andr. v., Dr, Auszüge aus bisher ungebrudten Meere 
Benedittinerklöfter St. Peter in Salzburg und Admont in Steiern 
ber Propftei St. Andrä am ber Zraifen in Oeſterreich unter ber 


"dem XIX. Band des Archivs für Kunde öſterreich Gefhichtequellen 
Dien, Gerold's Sohn. XI, 202 S. 8. 1 
— c—— 
Jäger, Alb., Dr., die Fehde der Brüder BVigiline und 
hard Grabner gegen den Herzog Sigmund von Tirol. (Aus ben 
ſchriften d. f. Alad. b. uena zu Wien) Wien, — — 
69 S. A 4 


— 
rn 
Gindely, Anton, Dr., Geſchichte ber Ertheilung bes böhm 
Majeftätsbriefes von 1609. Prag, Carl Bellmann's | 
Die Bereutung, welche die von Kaiſer Rudelph U den S 
BDöhmens im Jahre 1609 gegebene Urkunde fir dieſes 
ihren mittelbaren Folgen aucd für ganz Deutjchland hatte, vera 
Verfaſſer, die Gedichte der Ertheilung derjelben aus ver Mitte 
Gauptwerkes: der Geſchichte der böhmijchen Brüder, heras * eeife 
abgeſondert erſcheinen zu laſſen. 
Gindely gibt in der Einleitung eine überſichtliche — | 
wicklung der von Huf; begonnenen religiöfen Neform bis zu dem & 
welcher der Ertheilung des Majeftätsbriefes unmittelbar voraus gin 





Bögmen, Mähren, Cchlefien. 
















4 
3— 
= 








des Jahres 1858. 531 


Man fieht daraus, daß die Böhmen immer beftrebt waren, ihrer Kirche 
einen nationalen Charakter zu geben. Zuerft waren es die bekannten 
Compactaten, dann aber, als dieſe nicht mehr dem Inhalt jener refor- 
matorischen Lehren entiprachen, welche turc Luthers Einfluß in Böhmen 
verbreitet wurden, die ſogenannte böhmijche Confejfion, welche vie na= 
ttonale Kirche regel jollte. 

Die Reformation in Böhmen war zugleid) der Boten, auf welchem 
die Stände die Prärogative der Krone befünpften, und ihre eigene Macht 
zu erweitern und zu befeftigen fuchten. Nicht immer ift dies gelungen. 
Nad der Befiegung des Aufftanves vom 9. 1547 durch Kaifer Ferdi⸗ 
nand I war ver ſtolze Geift ver Landherren gebemüthigt; die Verfaſſung 
erlitt zu Gunften der Rechte des Monarchen einige bleibende Aenderungen. 
Gegen Kaifer Marimilian IT mochten fie nicht auftreten. Er war ein 
Herriher nad) ihrem Sinn, nur der Erſte unter Seiviesgleihen. Er 
durfte fie mit halben Zuficherungen über Religionsfreiheit hinhalten, allein 
die böhmiſche Confeſſion fanktionirte er nicht. Rudolph IT, eine träge, 
zaghafte Natur, wollte nicht handeln, feinen offenen, feften Entſchluß faf- 
ien, aus Furcht, daß die Folgen deflelben ihn zwingen könnten, ven Kreis 
beſchaulicher Ruhe zu verlaffen, und auf das Feld thätigen Wirkens hin- 
auszutreten. Um fo rühriger wer die fpanijch -römifche Partei an fei- 
nem Hofe. 

Eine Coterie katholiſcher Cavaliere im Beſitze ber einflußreichften 
Aemter, war entſchloſſen, die Gegenreformation aud in Böhmen durch⸗ 
zuführen. Die Republicirung des Wladislaw'ſchen Mandate gegen bie 
Pikharden, die — wenn auch nicht graufamen, doch häufigen Berfolgum- 
gen der Proteftanten (melche die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung 
bildeten), waren ihr Werl. Sie fürberte die Intereſſen der Jeſuiten, 

und war in ver Wahl ver Mittel zur Erreihung ihrer Zwede felten ver: 
legen. Rudolph liebte diefe Coterie nicht, aber dafiir haßte er vie pros 
teftantifchen Stänve, weil diefe ihn aus dem geliebten Sofiego aufſchreck⸗ 
ten. Er begann thätig zu werben, um ſich Ruhe zu verichaffen. Die 
von feiner Regierung zu dieſem Ende unternommenen Schritte verlegten 
nicht allein die Berfaffung Böhmens, ſondern auch die der andern Länder. 

Als fih nun die Wirkungen dieſer Regierungsart zeigten und eine 
Berbindung zwiſchen Ungern, Defterreih und Mähren entſtand, welche 
uw Zwei hatte, die alten Rechte, vie Gewiflensfreiheit aufrecht zu er 


532 VUeberſicht ber hiſtoriſchen Literatur 


haften und ben Kaifer durch den Erzherzog zu erfegen, glaubten bie 
Stände Böhmens, es fei jet der rechte Augenblid gefommen, um von 
Rudolph, deſſen Krone bedroht war, bie erjehnte Beftätigung ver böhmi- 
chen Gonfefjion zu erpreffen. Um dieſen Preis wollten vie Stände ihm 
ihren Beiſtand verkaufen. Nach einigert Schwanfen weist ver Kaiſer 
das Begehren fir jept ab, er gibt nur allgemeine Zuficherungen Nie- 
manden um der Neligion willen zu verfolgen, und vertröftet die Stände 
auf ven zu Martini einzuberufenden Landtag, auf welchem nur die Ke- 
(igionsfragen allein erörtert werden follen. 

Der Nationalftol; der Böhmen, der Haß gegen die Fremden, ſelbſt 
wenn durch fie Vortheile für das Land in Ausfiht ſtanden, war ftärter 
ald ver Drang nad) Neligionsfreiheit. Hätten die Böhmen gegen ven 
Kaijer einen Zwang ausgeübt, — er wäre entflohen und hätte Mathias 
das Reich überlaffen; aber dann hätten fie die politiiche Reform, vie Ge⸗ 
willensfreiheit ven Sremblingen danken müſſen. Daher wiejen fie Das An- 
ſinnen der unirten Yänver zurüd, Rudolph blieb König und Mathias 
zog ſich, mit der Erpectanz auf die böhmifche Krone abgefunden, im Juli 
1608 zurüd, ‘Der Yandtag aber wurde nicht zu Martini d. J., ſondern 
erft anı 28. Yänner 1609 zu Prag eröffnet. 

Rudolph und feine fatholifchen Räthe waren nicht gewillt, den Stän- 
ben Zugeftänpniffe zu machen. Mean verlangte vie unbedingte Annahme 
des Katholifchen Glaubens, nur der Laienkelch wurde geftattet. 

Mit diefer Antwort waren bie Stände höchſt unzufrieven, nach häu⸗ 
figem Schriftwechſel mit Rudolph wurte ver Yandtag aufgelöst. Es or: 
ganifirte fid) unter Wenzel von Budowa, einem Glied ver Brüderunität 
und Führer der Bewegung, ein Afterlandtag im Monat April zu 
Prag, auf welchem beichloffen wurde, befreundvete Fürften um Inter⸗ 
vention für die gerechte Sache zu bitten, und bie Mittel eines bewaffne⸗ 
ten Widerftandes in Ueberlegung zu ziehen. Das veranlafte den Kaiſer 
abermals einen Landtag einzuberufen, der fid) auch nur mit der Religions⸗ 
frage beichäftigen follte. 

Sp verjammelten fi) die Stände noch einmal am 25. Mai, ver- 
faften den Entwurf des berühmten Majeſtätsbriefes; darin follte ven 
Proteftanten geftattet werden: daß jeder feinen Glauben frei befennen, 
daß neue Kirchen erbaut werden bürfen; daß bie Univerfität und das 
Confiftorium der Leitung der proteftantiichen Stände übergeben werben. 





bes Jahres 1858, 533 


Der Kaifer Ichnte die Genehmigung dieſes Entwurfes entjchieden ab. 
Sofort faßten die Stände, die an ben Churfürften ven Sachſen und 
den Unirten im Reich einen feften Rückhalt fanden, und auch mit dem 
König von Ungarn in Verbindung traten, den Entſchluß, Gewalt zu ge- 
brauchen, bis endlich Rudolf, and Beſorgniß die Herrihaft zu verlieren, 
das verhängnißvolle Document unterzeichnete. Nur ein einziges Wort 
hatte er an tem ſtändiſchen Entwurfe geändert, ftatt evangelijche 
Stände, wurde Die Beeihnung „sub utraque“ ſubſtituirt. Auch die 
Vergleichsnrkunde zwifchen den proteftantifchen und ven katholiſchen Stän- 
den wurde ansgefertigt. Sie war widtig, weil fie ten Majeſtätsbrief 
erläuterte. Außerdem jollten noch, ehe die geworbenen Truppen entlaffen 
würden, anvere materielle .Bürgjchaften von Kaifer gewährt werben. Die 
wejentlichen verjelben waren: das Schug- und Trutzbündniß mit ben 
ichlefijchen Ständen, tie Anmeftie und vie Aufftelung proteftantijcher 
Defenſoren, welde mit außerordeutlichen Vollmachten vwerfehen, über vie 
neuen Errungenichaften zu wachen Hatten. Als Rudolf Anftand nahm, 
viefe Punkte zu bewilligen, erklärten die Proteftanten in feierlicher Weiſe 
viejelben dennoch aufrecht halten zu wollen. Rudolf mußte fich auch die⸗ 
jem fügen und zur Verſtümmlung ver königlichen Prärogative felbft beitragen. 
Die Vehren von der Souveränität des Landtages, von bewaffneten Wis 
derftante wurden in das Staatsrecht Böhmens thatſächlich aufgenommen. 
Tas Recht ver Initiative in ver Geſetzgebung, ein Theil der exrecutiven 
Gewalt, tas Kecht, die Kronbeantten anzullagen, wurde von den Stän- 
ben erjt durch die Kämpfe um den Majejtätsbrief errungen und ausgeübt. 

Ein Rückblick auf dieſen Theil der böhmijchen Gejchichte zeigt, daß 
es jich im jenen Kämpfen doch eigentlich nur um politifche Dinge hans 
belt. Wie wenig der wahre chriftliche Geiſt von einer großen Zahl ver 
Stände begriffen war, lehrt ihr Verhalten gegen die Bruder-Unität; man 
wollte fie ausſchließen von den Mitgenuße jener Rechte, die fie doch jelbft 
nit erringen half. Den Ständen war 8 eigentlih nur um die Herr: 
ihaft zu thun, in ver politifhen und in ver firchlihen Welt. Mit vem 
Schluſſe des J. 1609 hatten fie dieſen Zwed erreicht, eine ariftokratifche 
Oligarchie war begründet. Es kam Alles darauf an, welden Gebrauch 
fie von der Herrſchaft machen würden; daß es fein gemäßigter, fein weifer 
war, zeigten bie unfeligen Yolgen der Anwendung bes Majeftätsbriefes. 

Das uns vorliegende Bud) beweist, daß Gindelh in ber Behar 





534 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur 


lung des Stoffes bedeutende Fortſchritte gemacht hat; er ift jetzt Her 
defjelben geworben, und geftaltet ihn zu plaftiichen, lebensvollen Bildern 
Es ift Fein geringes Verdienſt, daß Gindely gebiegene handſchriftliche 
Quellen benitt hat, welche bisher nicht befannt waren, und bie ihn in 
ben Stand fetten, neue Anſchauungen zu gewinnen. Es muß beſonders 
bie in ber Note 105 gemachte Erörterung über den Begriff ber f. Güte 
hervorgehoben werben. Davon hängt die richtige Lößung Des Streites 
ab, zwiſchen ven Proteftanten einerjeitd und dem Erzbiihof von Prag 
und dem Abt von Braunau anderfeits, eined Streites, welcher, wie be: 
fannt, im Jahre 1618 den Anlap zum Ausbruche der Revolution gab. 
Wir müſſen ven Ergebnijfe der Unterfuhung Gindely's völlig beipflich— 
ten, wonach zwijchen föniglihem Gut und geiftlichen Gut ein theoreti- 
ſcher und praftifcher Unterſchied beſtand, welcher in ver berühmten Ur: 
kunde d. J. 1609 nicht geltend gemacht wurde. Hätte man Daher bie 
Abjicht gehabt, den Proteftanten die Berechtigung: auch auf geiftlichen 
Territorien Kirchen zu erbauen, im Majeſtätsbriefe zuzujprechen, fo wäre 
dieſelbe — bei dem Beſtande jenes Unterſchiedes, darin ohne Zweifel ber: 
vorgehoben worden, was jedoch nicht gejchehen iſt. Der geiftlihe Grund— 
herr wurde vielmehr unter die weltlihen fatholifchen Grundherren ein: 
gereiht. 

Gindely unternimmt gegenwärtig eine wiſſenſchaftliche Reiſe: irren 
wir nicht, fo befindet er fi in München, um nad) Quellen für vie Ge: 
ſchichte des böhmiſchen Aufſtandes, vie fid als IM. Theil der „Geſchichte 
Böhmens und Mährens im Zeltalter ver Reformation” — anſchließen 
ſoll, zu forſchen. Wir können den lebhaften Wunſch nicht zurüdhalten, 
daß dieſer IM. Theil bald erſcheine. Dem Fleiße und Scharfblide Gin- 
dely's wird es gewiß gelingen, neue Aufichlitfie über die Gejchichte einer 
Zeit zu geben, die biäher nur Lüdenhaft behandelt wurde, und welche für 
die Geftaltung Oeſtreichs von beftinnmendem Einfluße war. v. C. 


Sclöner, Ludwig, Dr., Die Aufhebung des kaiſerlichen Tabats 
monopols in ben böhmischen Landen im Jahre 1736. Breslau, Joſeph Mar 
und Comp. 40 ©. gr. 8. (Abgebr. aus ber Zeitfchr. des Bereins für Geſch. 
u. Alterth. Schlefiens Bd. II Heft 1.) 


Im I. 1702 führte Kaijer Leopold I das Tabaksmonopol in al’ 
einen „Erblönigreihen und Landen“ ein. In den böhmiſchen Panden 





bes Jahres 1858. 535 


dv. h. Böhmen mit Eger und Glatz, Schlefien und Mähren, erwies es 
fi) als fehr drückend und erregte allmälig eine ſehr große Unzufrieden- 
heit, in Folge deren die Stände ben Kaifer im I. 1735 um die Aufhe— 
bung des Monopols angihgen. Obwohl dies rund abgeichlagen ward, 
erneuerten beſonders die Schleier, deren Yand durch eine Ueberſchwem⸗ 
mung furchtbar gelitten, das Geſuch wiederum im Jahre 1736, und als 
Yeopold nun erklärte, er könne das Regale jo Ichlechterkings nicht fahren 
laffen, fchlug der Oberft-Burggraf von Böhmen, Schaffgotſch, eine Ab» 
löfung des Monopols durd die Stände vor. Eine folhe ward aud 
wirffich nach vielfachen Verhandlungen u. A. mit dem damaligen Pächter 
(appaltatos, arrendatos) ver Gefälle, Diego d'Aguilas, einem ſpaniſchen 
Juden, durch einen im December 1736 feitgeftellten und im Ian. 1737 
beftätigten Vertrag genehmigt, wonad) tie Reluitionsſumme 450,000 Gul- 
den betrug. Der Berf. hat die bezüglichen Borgänge nad den urkund⸗ 
Iihen Schäten des jchlef. Prov.- Arch. zu Breslau beſonders nach den 
Türftentagsacten und kaiſerl. Reſcripten fehr forgfältig dargeftellt. 
A.C. 

Bericht Über das mähr. ſtänd. Landes archiv, bem hochlöblichen 
mähr. fänd. Landesausſchuße erftattet von P. R. v. Chlumedy, Archivs⸗ 
diretor, und Dr. 3. Ehytil, Archivar. Für das Jahr 1857. Brünn, 
108 © 8. 

Die Schrift legt ein erfreuliches Zeugnig ab von dem Eifer und 
dem glüdlihen Erfolg, womit man fih in Mähren feit Iahren ver 
Sammlung und Durchforſchung der Quellen zur Geſchichte des Landes 
zugewandt bat. Bor Allen Boczek, Palady, Chityl, Dudik und Chlu- 
medy haben das geringe archivaliſche Material, pas ſich früher in Mäh⸗ 
ren vorfand, in fo bebeutender Weife vermehrt, daß das jetige Archiv 
nahe an 30,000 Stüd Urkunden, Urkunden-Copien und Manufcripten 
umfaßt. Die vorliegenden Blätter geben eine nähere Beichreibung tiefer 
reihen Schätze und zeigen, wie biefelben zweckmäßig vermehrt und aus- 
gebeutet werden Fünnen. K. 


Codex diplomaticus et epistolaris Moraviae. Urhmben- 
ſammlung zur Geſchichte Mährens im Auftrage bes Mährifchen Landesausſchufſes 
herausgeg. von P. Ritter v. Chlumecky und red. von Joſ Chytil. VIL®. 
(1334 — 1349). 1. Abth. Brünn, Ritfh u. Große. 1— 440. 4. 

Enthält 600 zum großen Theil bisher ungebrudter umb wichtiger 





536 Ueberficht ber hiftorifchen Literatur 


Urkunden von 1334—45; wir werden nach Bollendung des 7. Bds. and 
führlicher darauf zurückkommen. 


Schriften der hiftorifch-ftatififhen Section ber f. f. mähr. 
ſchleſ. Gefellfchaft des Aderbaues, der Natur- und Landeskunde. Redigirt 
vom Finanzratd Chrn. d’Elvert. 11. Bd. Brünn, Nitf und Große. 
382 9. 8. 

Enthält die Gefchichte ver Heil- und Humanitätsanftalten in Mäh— 
ren und Defterr. Schlefien von Chrn. d'Elvert. 


Dimüter Sammel-Ehronif. Zufammengeftellt von Dr. B. Dudit. 
(Abzug aus den Schriften ber hifl.-ftat. Sektion in Brünn) Wien, Eerold's 
Sohn. 61 ©. , 


Zum Säcular-Gedädtniß v. 1758. Der Feldzug in Mähren ober 
die Belagerung und ber Entfag von Olmütk. Nad Quellen und anderen Schrif⸗ 
ten zufammengeftellt und bearb. von ©. v. St. Mit 2 lith. Plänen. Franl⸗ 
furt a. M., Eauerländer. VII, 263 © 8. 


Bor hundert Jahren! Erinnerung an Olmüb und feine ruhmvellen 
Bertheidiger. Ein Beitrag zur vaterländifchen Kriegegeſchichte Wien, Gerold's 
Sohn. IV, 10068 8. 


Archiv für Geſchichte des Bisthume Breslau. Herausg. von A. 
Kaſtner. 1. Bd.: Beiträge zur Gefchichte des Bisthums von 1500 — 1655. 
Meiffe, Graveur. XIV, 314 © 8. 


Zeitſchrift des Bereins für Gefhicdhte und Altertbum Scie- 
fiens. Namens des Vereins herausg. von Dr. Rich. Röpell. 2. Br. 
1. Heft. Breslau, Dar. S. 1—208. 8. 

Enthält außer der oben befprochenen Arbeit von Oelsner Beiträge 
von Wattenbad, Abriß der Geſchichte des Kloſters Czarnowanz, und 
von Röpell: Geſchichtliche Darſtellung der von dem Comité general des 
Depart. von Breslau und Oberfchlefien geführten Geſchäfte. 


Potthaſt, Ang. Dr. pbil., Gefhichte der ehemaligen Eiftercien- 
ferabtei Rauben in Oberfälefien. Feſtgabe zur fechsten Gäcularfeier 
ihrer Gründung. Mit einem Stahlftih u. einer Karte. Leobſchütz, Verlag von 
Rudolf Bauer. VII, 308 ©. 8. 

Herr Botthaft, bekannt durch feine mühjame, in Oöttingen gekrönte 

beitung der Chronik Heinrichs dv. Herford, begegnet und hier auf dem 





bes Jahres 1858, 637 


Gebiete der fchlefiichen Geſchichte Wer da weiß, wieviel troß Stenzels 
ausgezeichneter Peiftungen und des vegjamen Eifers des jchlefiichen Ge⸗ 
ſchichts⸗ und Alterthums⸗-Vereines hier noch zu thun ift, wird es dem 
Berfaffer Dank wiſſen, daß er feinen Aufenthalt in Rauden benützt hat, 
eine Gefchichte des gleichnamigen, von Herzog Wladislaus von Oppeln 
um die Mitte des 13. Jahrhunderts (denn daß die Gründung grade 
1258 ftattfand, geht aus der Urkunde von dieſem Jahre doch nicht her⸗ 
vor) gejtifteten Klofters zn jchreiben. Als Hauptquelle dienten dem Ber. 
faffer die von dem Abt Andreas Emanuel 1653 gejchriebenen Ann. mo- 
nast. raudensis, welche nur ein Copialbuch bilden, dann die im Rathhaus 
zu Sleiwig und in der herzogl. Kammer zu Ratibor befindlichen Diplome, 
auch fonnte verjelbe bereits die Aushängebogen des von Wattenbad) her⸗ 
auszugebenven Cod. dipl. Siles. t. 2. benugen, in welchem die raudner 
Urkunden bis zum Jahre 1500 enthalten find. An ältern annaliftiichen 
Aufzeichnungen fehlt es diefem, wie ben meiften oberjchlefiichen Klöſtern. 
Der Bericht von der Gründung zeigt fi) als eine (wie und dünkt, ziem⸗ 
lid) fpäte) Sage. — Nach einer Furzen Einleitung über die Borzeit Schles 
fiend bis ins 13. Jahrhundert und die Schidjale des Ciſtercienſerordens 
im Allgemeinen erzählt ver Berfafler bis S. 140 die Gejchichte ver 
raudener Aebte bis 1810. Diejelbe ift ziemlich dürftig und für vie Zeis 
ten, wo die Geſchichte der Klöſter am wichtigften ift, nämlid das Mittel- 
alter, am dürftigften (fie umfaßt nur 12 ©.); um fo mehr erfahren wir 
vom 17. und 18. Jahrhundert und ſehen auch an der Gejchichte dieſer 
Stiftung die allgemeine Thatſache beftätigt, wie ſich die geiftlichen In⸗ 
ftitute der Art als ſolche vollftändig überlebten. Die Leiden, welche ber 
Z0jährige Krieg, die Kämpfe um Schlefien und zuletzt die napoleonifche 
Zeit mit fi bradten, hat auch unfer Kloſter ftark empfunden (S. 78, 
107, 116, 133). Vom 8. Yebr. 1807 bis 17. DH. 1808 haben ihm 
die Franzoſen an-LVieferungen u. |. mw. 43,881 Thlr. Koften verurjadt. 
— Bei weiten intereffanter ift die innere Geſchichte des Stifte (S. 140 
— 265). Sie ift namentlih Über die Entwidlung der materiellen 
(denn von geiftigen Beftrebungen ift kaum die Rede, wenn man die Grün- 
dung einer lateinischen Schule 1744 ausnimmt) Cultur Schlefiens im 17. 
und beſonders im 18. Jahrhundert lehrreih. Die raudener Mönche waren 
damals äußert betriebfam und jo vielfeitig wie kaum heute unfre Actien- 
gejellichaften. Sie machten Gelvgeichäfte (S. 250). bandelten mit Wein 


4 


638  Meberficht der hißtoriſchen „Literature 


(192) und fetten eine Menge inbuftrieller Unternehmungen ins Beat 
Sie errichteten Eifen- und Glashütten, Kupferhämmer, Pottafchefienereien, 
brauten Bier ꝛc. ꝛc. — Inſtructiv ift auch umd zeigt aufs Neue, meld’ 
guten Taujch die Katholiten Schlefiens hei dem Uebergange aus ver öfter: 
reihifchen an die preuß. Herrihaft gemacht, die Zuſammenſtellung ver 
zahlreichen faiferlihen Anleihen, Türkenſteuern und Oelverpreijungen, ven 
denen das Klofter von 1689 — 1739 betroffen warb (241 — 45 vgl. 39 
md 41). — Den Schluß des Werfes bildet die Gefchichte Raudens jeit 
ber Aufhebung des Stiftes, — Der Standpunkt des Berfaffers ift jtreng 
katholiſch. Er ift zwar unpartheiiſch genug, die Regierung fchlechter Achte 
(3. B. Martin II. S. 38) als foldhe zu fennzeichnen, er bedauert aud 
(191), daß das Stift der Trunkſucht duch vermehrte Branntweinpre- 
duction bedeutenden Vorſchub leiftete, freilich — fegt er bald hinzu — 
habe e8 vie Folgen viejes Laſters nicht in ihrem ganzen Umfange gekanm 
(warum nicht?). Ueberraſchend ift e8 (5. 47) zu hören, welches vie 
Folgen „ver fälihlih Reformation genannten Religionsſpaltung“ waren: 
„Rohheit, Härte, Gejeßlofigfeit und Barbarei verbreiteten ſich unter alle 
Stände, Zrunffucht, Sottesläfterung und Unzuht nahmen überhand. In 
bie Gemüther drang der Geift des Aufruhrs und der Unabhängigfeit.. .*(!) 
Einen äußerſt komiſchen Eindruck macht es wenn der Verfaſſer (S. 136) 
bei Gelegenheit der Klöſteraufhebung in die Worte ausbricht: „Mit Recht 
laſſen ſich auf dieſe Verhältniſſe die Klagworte auwenden, welche in einer 
ehrwürdigen Verſammlung von Biſchöfen faſt 1000 Jahre früher unter 
Ludwig dem Frommen verlauteten: die heidniſchen Kriegsknechte hatten es 
nicht gewagt, Chriſti Gewand zu zerreiſſen, die chriſtlichen Könige aber 
ſcheueten ſich nicht, das Eigenthum der Kirche, der Gläubigen Opfer, der 
Armen Vermögen (die Einnahme des Kloſters Rauden betrug im 
letzten Jahre 37,836 Rthlr.!) und der Seelen Löſegeld zu plündern und 
es unter ſich und die Genoſſen ihres Raubes zu vertheilen.“ — Die 
Diction iſt mitunter ſchwülſtig. A. C. 





des Jahres 1858. 539 
7. Be Schweiz. 


1. Allgemeines. 


Unter diefer Rubrik find neben Kopp's Werken, das ſchon um erften 
Hefte dieſer Zeitfchrift beſprochen iſt, nur einige wenige Schriften anzu= 
führen; wir nennen folgende: 


Morin, M. A., Precis de l’histoire politique de la Suisse depuis 
l'origine de la confederation jusqu’ & nos jours, Geneve, Cherbuliez 1856 
— 1858. 3 Vol. 8. In deutſcher (wermehrter) Ueberfegung von Theodor 
Bed. Leipzig, Weber. 

Ein kurzes Handbuch der Schweizergefhichte, das in den ältern, in 
gebrängter Kürze behandelten Perioden fih wejentih an Bluntſchli's 
ſchweizeriſches Bundesrecht anfchliegt, und die neuern, vorzugsweiſe aus: 
geführten Creigniffe von 1815, 1830, 1848, zulegt die Neuenburger 
Trage in einfachen und gemäßigten Geiſte beipriht. Das Staatsrecht⸗ 
fiche ift (wie ſchon der Titel andeutet) durchaus vorwiegend, 


Dagnet, A., Die Geſchichte des Schweizervolkes für die Echulen 
ber deutfhen Echweiz bearbeitet von 8. 3. Aebi, Profeffor. Erfter Theil Lu⸗ 
zern, Kaiſer. 1. 8b 8. 

Die von Alexander Daguet in Freiburg anno 1850—1853 heraus» 
gegebene Histoire de la nation suisse erſcheint bier in deutſcher Bearbei⸗ 
tung (nicht bloß Ueberjegung); der vorliegende erfte Theil reicht bis zum 
Schluffe des XV. Jahrhunderts. Die Einfachheit, Klarheit und Peben« 
digkeit des Originald, namentlih aud in manchen fittengefchichtlichen 
Zügen, finden fid) in der Umarbeitung wieder; überbieß ift dieſe in Be- 
rihtigung von Flüchtigfeiten und Irrthümern des Originals zu loben. 
Die Entftehung ver Eidgenoffenjchaft wird (wie bet Daguet) nad Tſchudi 
und Müller erzählt und nur in einigen Noten auf abweichende Refultate 
neuerer Forſchungen hingewieſen. Es Tiefe ſich fragen, ob dieß für ein 
Schulbuch — das als foldhes möglichſt pofitiv fein und nur ein Feſt⸗ 
gegebnes enthalten follte — gerade die richtige Wahl ſei. Vielleicht hätte 
der Bearbeiter beſſer gethan, jeinem im Vorworte geäußertert Gedanken 
nachzufolgen und an die Stelle der traditionellen Darftellung eine Fritifch 
baltbare zu jegen; er wäre dazu vollkommen ausgerüftet geweſen. Aber 
vielleicht ift der richtige Zeitpunkt zu einer ſolchen Veränderung in popu⸗ 
lären Büchern noch nicht gekommen. Wir male Acht mit 


In AH I 33% urhe « far "76 


540 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur 


ihn rechten. Möge bald ver zweite Theil folgen und derſelbe namentlich 
auch in dem confejlionell ruhigen und billigen Sinne, ver Daguets Buch 
auszeichnet, dieſem Originale gleihen. Es wird dieß ein neues Verdienſt 
auch des Herrn Bearbeiters bilden. 


Archiv für [hweizerifhe Geſchichte. Zwölfter Band. Zürich, 
Höhr. 8. 
Diefer Band einer Sammlung, welde die allgemeine geſchichtsfer— 
ſchende Gejellihaft ver Schweiz herausgibt, enthält theils Arbeiten, theile 
Materialien zur ſchweizeriſchen Geſchiche. ine Abhandlung von Hagen 
beſpricht Die politiichen Verhältniffe zur Zeit ber Sempacherſchlacht und 
die Verbindungen zwijchen ver Eitgenoffeufhaft und dem großen deutſchen 
Städtebunde. ine Mittheilung der Herren Dr. Bachofen und Dr. 2. 
Stehlin in Bafel gibt intereffante Aufichlüffe zur ſchweizeriſchen Geſchichte 
des XVII. Jahrhunderts aus Hanpfchriften des British Museum in Ponten. 
Unter dem übrigen Inhalte des Bandes ragt dur) Bereutung und ge- 
genwärtige3 Intereſſe hervor die vom Staatejchreiber von Stürler in Bern 
mitgetheilte und beleuchtete Original-Eorrefpondenz des General 
Brune, Oberbefehlshaber der fränkiihen Invafionsarmee in der Schweiz 
im Jahr 1798, — ein gefügiges Werkeug, woburd das Directorium 
in Baris (und General Bonaparte unter der Hand) die alte Eidgenoſſen— 
ſchaft über ven Haufen warfen. 


Depeches des ambassadeurs milanais sur les. campagnes de Charles 
le Hardi en 1474 — 1477. Tublies par Mr. Fr. de Gingins- Lasarra. 
Tome I]. et II. Geneve, Cherbulier. 

Eine Sammlung ehr intereffanter gleichzeitiger Actenftüde zur Ge: 
ſchichte Karls des Kühnen, insbeſondere aud feiner Schweizerkriege. Der 
Herausgeber hat zahlreiche und fehr werthvolle Bemerkungen beigefügt. 


Mülinen, Egbert Friedr v., Helvetia sacra oder Reihenfolge der kirch⸗ 
lichen Obern und Oberinnen in ben ſchweizeriſchen Bisthümern, Collegiatftiften 
und K löftern. Erſter Theil. Bern, Hünerwabel. Atlasformat. 

Eine mit ungemeinem Fleiße und großer Sorgfalt angelegte Hiftorijche 
Statiftif der ehemaligen und noch beftehenven katholiſch-kirchlichen Organe 
und Inftitute in der Schweiz, angelnüpft an die Namen ihrer Vorſteher. 
Sie ift für die Geſchichte ver katholiſchen Kirche in der Schweiz ein 
höchſt werthvolles Hülfsmittel und in diejen Zweige vollftänpiger und 





bes Jahres 1858. „567 


hat er das Archiv vielfach benugt und mit blindem Glauben an ihre Echt: 
heit zahreiche Urkunden angelſächſiſcher Könige und römischer Päpſte mit- 
getheilt, die, wie aus Kenible's und Jaffe's refpectiven Forſchungen fchla- 
gend hervorgeht, fuft durchweg falſch find. Es ift beſonders interefjant in 
Betreff älterer Bullen ſchon früh ein Schwanken der Päpſte wahrzunehmen, 
je nachdem fie fich dem Klofter oder ver Kathedrale zuncigen. Dem Heraus: 
geber gebührt vafjelbe Lob wie dem vorigen. 

“ Eulogium (Historiarum sive Temporis) etc. ed F. S. Haydon, Esaq. 
B. A. vol. I. Der erfte Band einer Weltchronik, die won .einer Hand bis 
zum Sabre 1366 berabgeführt ift und in der Folge auch nod) einige Fort⸗— 
feßungen erhalten hat. Nur ver letzte Theil aus der zweiten Hälfte des 
vierzehnten Jahrhunderts bürfte als Original gelten, Das von Herausgeber 
einem Mönde aus Malmesbury zugefchrieben wird. Derjelbe zeigt große 
Belefenheit, fchöpft aus ven apofryphen Evangelien, aus manchen auswärs 
tigen Zeitbüchern, geographifchen Notizen; ſtützt fich aber doch am liebſten 
auf pas bekannte Bolychronicon feines Landsmannes Higden. Der Her: 
ausgeber ergeht ſich in den Fritifchen Auseinanberfegungen feiner Einleitung 
füft zu breit, bat jid aber mit Erfolg namentlich der Chronologie zuger 
wanbt, deren Syſtem auch wohl bei ven früheren Abtheilungen ded Werkes 
von Bedeutung fein mag. 

Memoriales Londonienses cd. by H. T. Riley. Esq. M. A, Barrister- 
at-Law. Vol. I liefert zum erjten Male vollftändige DMeittheilungen aus 
ben noch kaum befannten, aber gewiß unſchätzbaren Archive der City von 
London. Das crfte Stüd, ef ftarter Band von 1000 Seiten, enthält 
den im Jahre 1419 verfaßten Liber Albus, das Werk des damaligen 
Stadtſchreibers John Carpenter. Es finden fi darin alle möglihen Do» 
cumente verzeichnet, wie fie die Verfaſſung, Verwaltung, das Marktredht, 
die Polizei, das öffentliche und Privatleben ver alten Statt, ihre Bezich- 
ungen zur Krone und zum Auslande betreffen. Sie wurden faft durch⸗ 
weg in der Periode von Eduard J. bis auf Richard I. erlaffen und Be⸗ 


hufs häufiger Benugung und Beziehung vegiftrirt. ine umerfchöpflidere - _ 


Fundgrube über die verfchiedenartigften Angelegenheiten des mittelalterlicyen 
Londous läßt ſich kaum denken. Der Antigquar und der Nationalötonom, 
ver Cultur⸗ wie ber Pitteraturhiftorifer, ein jeder wird bier feine Broden 
finden, ſobald er nur zulangt. Man Könnte faft die Gebäude und Straßen . 
wieder malen, das Brod baden, Fleiſch und Gefäget;:feit bieten fehen. 
Diſtoriſche Zeitſchrift L Bam. 


658 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur 


Die Bolizeiorpnungen führen tief in das an mehr als einer Stelle klaſſiſch 
gewordene Wirthshausleben ein, nicht minder in das vornehmſte wie in das 
niedrigfte Treiben einer Weltſtadt. Dann wieder an den Quais bie 
Früchte eines großartigen überjeeifhen Handels und in beftimmten Straßen 
die wohlhäbige Induſtrie einflußreicher Gildegenoſſen. Es ift unmöglich 
in fo wenigen Zeilen den Reichtfum dieſes Bandes zu würdigen; wir fie 
nen nur Herrn R. Dank wiffen für die vortrefflihe Introduction, bie 
unter folhen Schäten die Bahn weist, und für die Gewiſſeuhaftigkeit, mit 
welder er ven Text, der mitunter in dem fchwierigen Franzöſiſch gefchrie 
ben, wie e8 im wierzehnten Jahrhundert in London noch üblich war, zu 
gänglich gemacht. 

Chronicon Monasterii de Abingdon, Ed. by the Rev. J. Stevenson, 
M. A. Zwei Bände. Hier haben wir bie Chronik eines der bedeutendſten 
alten Beneiftinerflöfter Englands, wie fie nad) einander unter Sachen 
und Normannen etwa von 675 bis 1189 fortgeführt if. Wir verbanten 
ihr manche nicht unwichtige Ergänzung zu ven Zeitbühern ber englifchen 
Geſchichte. Sie enthält indeß ihren vorzüglihen Werth durch den Einblid, 
den fie uns in. das Eulturleben ber früheren Beneviftiner thun läßt. Die Abtei 
wächst um Segen ver benachbarten Landſchaft auf, entwidelt die reihen Schäße 
des heimathlichen Bodens und ftreut den erften Samen geiftiger Bildung aus. 
Das geiftliche und ungeiftliche Leben ver Mönche erfcheint bier noch in 
feiner urfprünglichen Frifche; das Verhältniß zu den weltlichen und fpiritwellen 
Oberen, zu Handel und Gewerbe, die frühften Berührungen des Fanori- 
ſchen mit dem feudalen Rechte, Alles mit einander erhält hier neue Aufklärung. 
Die Handſchrift war bereits befannt durch die Menge echter angeljächfifcher 
Urkunden, die fie aufbewahrte, und venen 3. M. Kemble die michtigfte 
Zugabe zu feiner großen Sammlung verdankte. Es ift kaum nöthig hin- 
zuzufügen, daß der al® Herausgeber Beda's und mancher norbenglifchen 
und fchottiihen Chronik auch im Auslande rühmlichft befannte Herr Ste 
venfon feine Aufgabe mit gewohnter Meiſterſchaft gelöst Hat und in feiner 
Abhandlung den Lefer gleichſam umherführt, als ginge er an der Hand 
eines angelſächſiſchen Benebiftiners. 


Monumenta Franoiscang, scil.: 1. Thomas de Ecclesion de adventu 
Frairum Minorum in Angliane, 2. Adae de Marisco Epistolae, 3. Re- 
gistrum Fratrum Minorum Londoniae, ed. J. S. Brewer, M. A. Dies ift 





\ 


bes Jahres 1858, 559 


ohne Frage der beveutendfte Band ter ganzen Eammlung. Er umfaßt 
wieder drei Stüde: 1) eine fehr inhaltreihe Geſchichte des Ordens in 
England während der erften fünf und zwanzig Jahre feines Beſtehens, 
2) die unvergleichliche Brieffanmlung des gelehrten Adam vou Marſch 
ber in ber Mitte des breizehnten Jahrhunderts in Orford großartig als 
Profeffor wirkte und mit den beveutendften Perjonen feiner Zeit, dem 
Biſchofe Sroftefte, Roger Bacon, dem großen Grafen Simon von Mont⸗ 
fort und vielen anderen in enger Beziehung ftand. Schreiber dieſes hat 
im 3. Bande der Euglifchen Gedichte bereits auf das unendlich ſchwierig 
zu benügende Manufeript und die Wille des Stoffes hingewieſen, den es 
in Bezug auf die Univerſitätsgeſchichte und vie ſcholaſtiſche Wiſſenſchaft 
berg. Der Drud entfaltet dann auch einen Reichthum, ter nicht nur 
England, jondern aud Frankreich und felbit Deutſchland zu Statten kommt. 
3) Eine Specialgeſchichte der Minoriten in London nebſt einer Reihe 
werthvoller Beilagen. Der Herausgeber gehört gegenwärtig nicht nur zu 
ben erſten Gejchichtsforfchern feiner Heimath, ſondern hat in ver Einleitung 
auch ein wahres Mufter geliefert, wie man feinen Stoff bemältigen und 
das Wiffenswertbe flüffig machen fol. Sie iſt in einen fo treffliden 
Stile abgefaßt, wie man ihn nur hie und da in England ſchreibt. Bon 
den Bettelorden haben ſich hier großartig nur die Frauziskaner entwidelt, 
während die Dominicaner eine weit untergeorbnetere Rolle als in Frankreich, 
Spanien oder am Rheine fpielen. Urſprünglich treiben fie, praltiſch wie 
ige Stifter, innere Miffion auf vertraulihem Fuße mit den unteren Klaf- 
fen der Bevölkerung. Dann erobern fie ſich die Univprfität ; Die großen 
engliichen ©elehrten des ſpäteren Mittelalters Roger Bacon, Duns Scotus 
und Occham find ſämmtlich Minoriten. Wir bebauern allein, daß Herr 
B. nur die Ticht- und nicht die Schattenfeite diefer merkwürdigen Wirkjamfeit 
gezeichnet und nicht an Chaucer's Hand und Wiclif's Beifpiel die Noth- 
wenbigfeit des Rückſchlags ausgeführt, weldyer ver kurzen Blüthe folgen 
mußte. Wir freuen uns aber, daß verjelbe geiftreiche Mann eine Heraus« 
gabe der noch inebirten Werke Roger Bacon's, jenes mittelalterlihen Aris 
ftotele8, unternommen bat. 

Memorials of Henry the Fifih ed. by C. A. Cole, Esq. ‘Drei kurze 
Schriften von geringer biftorifcher Bedeutung in Vergleich zu den vielen 
wertvollen Büchern über ben pr Aunggabe it ſchwach. 

NMemorials of king Ha Molosatis 


560 Ueberfiht der hiſtoriſchen Literatur 


de Vita Regis Henrici VII Historia etc. ed. by J. Gairdner, Esq. Dieſer 
höchſt inhaltreiche Band ftreift beinahe in die Geſchichte der neueren Zeit 
hinüber. Die Biographie und bie Annalen Heinrich's VII, obgleich 
unvollendet, von einem Manne, der lange am Hofe lebte, Hatten längſt 
verdient, gebrudt zu werben, zumal da fie, freilich nicht citirt, theilweiſe 
der berühmten Schrift Ford Bacon’8 zu Grunde liegen. Bon welder 
Wichtigkeit eine Eritifhe Prüfung war nur.ein Beiſpiel. Es heißt in dem 
von Bacon verfaßten Leben, ver König fei nad ver Schlacht bei Bo 
worth in Rondon eingezogen: covertly meaning belike in a horso- cilter 
or close chariot. Das ift bis auf die neueften Zeiten nachgefchrieben 
worden. Ranke, in den Roman. und German. Geſchichten, und Schreiber 
diefes, Engl. Geſch. V, laſſen ihn im zugemachten Wagen einziehen. Die 
Handſchrift Bernard Anpre’s liest aber laetanter und nicht latenter. 
Wir fchmweigen von ähnlichen Punkten, deren "Aufklärung in vie dunkle 
Politik des Königs oft einen tiefen Blick gewährt, machen aber noch be: 
ſonders auf die ſchätzenswerthe Beilage aufmerkſam. Da finden ſich: Your: 
nale von Oefandtfchaften nad) Spanien, Portugal, der Bretagne aus dem 
Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, franzöſiſch gefchrieben; merkwürdige 
Inftructionen und Berichte einer Geſandtſchaft, die Heinrich VII im 9. 
1505 an Ferdinand den Katholifchen abfertigte, und die zum Theil ſchon 
den Reim zu der zukünftigen öſterreichiſch-engliſchen Politif enthalten, eng» 
Lich gefchrieben; eine Reihe fpanifcher Schreiben Ferdinand's und Iſabel⸗ 
la's an ihren Geſandten in England. Her ©. bat in jeder Beziehung 
Tüchtiges geleiftet. 

The Buik of the Cronicles of Scotland ed. by W. B. Turnbull, Esq. 
of Lincoln’s Inn, Barrister-at-Law. Dies ift eine poetiſche Uebertragung 
ber einft zu Anfang des ſechszehnten Jahrhunderts in Schottland fehr ge 
(hätten Nationalgefchichte des Hector Boecius, die im Jahre 1527 kaum 
erſchienen war, als ſchon verſchiedene Weberfegungen in ven jchottifchen 
Dialect unternommen wurden. ‘Die profaifche war längft gedruckt, vie dich— 
terifche fchreibt der Herausgeber mit vielem fritifchen Geihid einem Wil- 
liam Stewart zu, über beffen Leben und Wirken er das Nöthigfte zufam- 
menftellte. Er bat wahrfcheinlih auf den Wunſch der Königin Marga— 
retha Tudor zur Belchrung ihres jungen Sohnes Jacob's V geichrieben. 
Hält fi die Erzählung auch vorzüglih an dem Faden ver Hiftorie des 
Boecius, fo fließt doch auch viel Eigenthümliches unter. Der Werth aber 





bes Yahres 1858. > 561 


ift vielmehr philologifch als hiſtoriſch, indem er hauptſächlich in der eigen» 
thümlihen Spradye, einem nationalen Humor und dem Reichthume kräf⸗ 
tiger, volfsthümlicher Redensarten beruht, zu deren paflenber Bearbeitung 
niemand geeigneter war als ein durch Ähnliche Leiftungen längſt befannter 
Schotte. 
Dies find die bisher erfchienenen Werke, aus deren Zuſammenſtel⸗ 
lung die am Eingange gemachten Bemerkungen gerechtfertigt werben. Das 
Streben, etwas Gutes zu liefern, ift unverkennbar und erhält fi auch 
in ven bereit8 angefünbigten neuen Bänden. Bon großer Bedeutung für 
alle enropäifchen Geſchichtsſtudien wird namentlich fein: Hardy’s Descriptive 
Catalogue of Manuscripts relativs tho te early History of Great Britain. 
Reinhold Pauli. 


Wavrin, J. de, seigneur du Forestel, Anciennes croniques d’An- 
gleterre. Choix de chapitres inddits annotes et publies pour la societe de 
l’histoire de France, par Dupont. Tome I. Paris, Renouard. III, 342 ©. 8. 


Abbot, Jac., History of king Richard II of England. New- 
York. 348 ©. 8. 


Büdinger, Mar, König Riharb II von England. Ein Vertrag. 
Bien, Gerold's Sohn. 37 ©. 8. 


Tudors and Stuarts.. By a Descendant of the Plantagenets. 
Vo!, I. Tudors. London. 8. 


Froud, ames Anthony, M. A., ‚History of England from the 
fall of Wolsey to the death of Elisabeth. London, W. Parker, 
West:-Strand. 

Die beiden erften Bände find bereit8 1856, der britte und vierte in die⸗ 
fem Jahre erjchienen. Die Gefchichte reiht nun bis zum Tode Heinrich VIEL 

Mr. Froud madıt fein Hehl daraus, daß Heinrich VII. fein Held ohne 
Flecken und ohne Tadel ift, den feine Gejchichte Englands verherrlichen foll. 
In einem einleitenden Kapitel von 80 Seiten ftellt er ven bamtaligen 
focialen Zuftand als nahehin vollkommen dar, wenn e8 nur feinen Papſt 
gegeben und vie neue Zeit den alten Feudalismus nicht fchon ſtark be⸗ 
droht hätte. Die Begründung viefer geivagten Behanptwra- nbeflen - 
ungewöhnlich ſchwach. Sie verräth ul 
Mangel an Urtheil. Der Ram g 


562 Ueberſicht ber hiftorifchen Literatur 


Beifpiele anzuführen. Der Autor erzählt uns (S. 3) daß vor dem obe- 
flächlihen Cenfus zur Zeit ver Armada feine Nachrichten über bie Zahl 
ver Bevölferung in England vorhanten fin. Die Subsidy-Rolls aus 
dem 51. Jahre Eruard IM. (1377) (abgebrudt in der Archaeologia 
3. VII S. 337 ff.) enthalten aber ein fo genaues Volfsverzeichniß, wie 
es nur eine geloberürftige Regierung von ihren Steuerpflichtigen machen 
faın. Mr. Froud fcheint fie nicht zu fennen. — Heinrich VIII. ver: 
fchärfte ben Arbeitszwang gegen Die untern Klaflen zu einer ımerträglichen 
Härte. „Seht“, ruft unfer Autor aus, „fo haften unfere Borfahren 
die Faulheit“. Heinrich VII. in ver erften Hälfte feiner Negierung, als 
fein Hof ver Sammelplatz aller Nichtsthuer und falichen Spieler in Eu- 
ropa war (Vergl. Hal), ein Haffer der Faulheit! — Die Darftellung 
des focialen Zuftandes können wir als verfehlt aufgeben. Glücklicherweiſe 
fteht fie mit ver folgenden Geſchichte in keinen Zuſammenhange. 

Der Auter nämlich, ver [hen früher ein Werk über das Buch von 
Job geſchrieben, wendet jid) auch jet wieder ausſchließlich der Religion 
zu. Die ſogenannte Geſchichte Englands wird nicht eigentlich eine Ge: 
ſchichte der Reformation, ſondern eine Erzählung vieler Gejchichten , vie 
mit der Losſagung vom Papſte im Zufammenhange flehen und viejelbe 
zum Theil erklären ſollen. — Juſtiniani, der venetianishe Gefantte in 
London, ſchickt Berichte an ven Togen und ven Rath, die fonft gar feine 
politifche Nachrichten enthalten, fordern nur mit übertriebenem Lobe des 
jungen Königs angefült find (er rechnete wahrfheinlih darauf, daß 
diefe Briefe, wie das oft geihah, von Wolfey erbrochen und dann mit 
vielen Entſchuldigungen des, Verſehens“ zurüdgegeben würden). Ferner: bie 
erfte engliſche Bibelausgabe von Coverdale enthält einen Titelfupferftich, auf 
den Gott und ber König in familiäre Nähe gebracht find und Gott 
fagt: „Ich habe einen Mann nach meinem Herzen gefunden, ver mei- 
nen Willen ausführen ſoll;“ viefer Stih ift von einem Vorworte voll 
niebriger Schmeichelei begleitet. Ulprian Julwell endlich fchrieb feinen 
Flower of Jame, bie Heinrich nahehin zu einem Gott machte. Dieje 
und ähnliche Stellen vertheilt Dir. Froud duch fein Bud, um ven 
Leſer von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, daß Heinrich fein gewöhn⸗ 
licher Sterblicher, ſondern ein höheres Weſen war. Darf ein folder 
König nad den Regeln gewöhnlicher Moral beurtheilt werden ? Gewiß 
nicht. Wenn er die Ehe bricht und mit Lady Tailbois einen Sohn er- 





bes Jahres 1858. 563 


zeugt, den er an ven Hof nimmt und zum Herzog von Richmond macht, 
jo ruft unjer Autor aus: „Es it fein Feines Verdienſt, daß er nicht 
mehr als eine Maitreife gehabt Hat!" Heinrich erklärt, daß Katharina 
von Arragen nicht fein rechtmäſſiges Weib, ſondern feine Concubine ges 
wefen iſt. „Welche Gewiſſenhaftigkeit! Seit ver König Zweifel über vie 
Gejeglichkeit gefühlt, hat er feine Opfer gejchent, ſich davon [08 zu ma⸗ 
hen.” Und was ift der Beweis für viefe Gewilfenhaftigfeit? „Heinrich 
ſelbſt hat es gejagt. PVerftellung war ihm vor allen Dingen fremd.“ 
Die Zeitgenoffen — ſiehe unter Anderen Foze ven Marttrologiften — er- 
zählen uns kleine Proben von ter Offenheit Heinrihs VIII. „Gute 
Nacht, Käthchen, gute Nacht, mein Pieb,“ jagte er eines Abends zu feiner 
ſechſten rau, Katharina Parr, während Wriotesley mit dem Anklageakte 
gegen fie hinter feinen Stühle ſtand. Kaum hatte fein „Lieb“ das 
Zinmer verlaffen, als er das Papier unterjchrieb, Das einen Todesur⸗ 
theile gleidy Fam. Unjer Autor macht es ſich leicht und erklärt ſolche 
Erzählungen für Faber. — Sir Thomas Moore und Biſchof Fiſcher 
werben hingerichtet, weil jie ihren Glauben nicht abſchwören. „Sie jind 
wie brave Soldaten auf tem Schlachtfelre geftorben.” Kann mau es 
einem Öenerale verargen, daß er feine Feinde ſchlägt? — Lady Bulwer 
wird verbrannt. „Das Schidjal (nicht Heinrich) verlangte jeine Opfer 
zu verjchlingen. ” 

Ein ſolches Buch ift feine Geſchichte und der Schreiber kein Hifto- 
rifer. Sehen wir davon ab, fo finden wir mandes zu loben. Die Dar- 
ftelung ift leicht und gefällig. Freilich fällt fie nicht felten in ben ge- 
wöhnlichen Novellen-Stil. Mr. Freud hat die Akten im Rolls-Court und in dem 
State papers Office fleißig eingejchen. Er hat manche intereffante That- 
ſachen daraus geſchöpft. Einige, obgleih nur wenige, waren noc nicht 
bekannt. Sie tragen dazu bei, der fo oft erzählten Geſchichte ver religiöfen . 
Bewegung unter Heinrich VIII. eine lebendige, lebensfriſche Farbe zu geben. 
Ter Leſer hat oft die handelnden Perſonen vor ſich. Solche Scenen, wie 
z. B. NS. 236 im Bierhaufe von Windamar, mo der Troß des Volkes 
ber Geſetze des Königs fpottet und einen armen Torfmuflfanten zwingen 
will verpönte Lieder zu fingen, find nicht ohne Bedeutung. Unſer Autor 
malt fie vortreifi* abte bleibt, daß Mr. Froud eine viel 
zu hohe Meh trefflichfeit feines Helden 
bat, ale 3 'heit ben Charakter 


564 Meberficht der hiflorifchen Literatur 


deflelben zu gefährben. Der Lejer mit nur gewöhnlichem Urtheile invejicn 
wird fchwerlich irre geführt werben, und die Wirkung des Buches iſt eime 
ganz andere, ald ver Autor hier beabfichtigt. Bergearoth. 


Thomas, F. S., Historical Notes relative to the History of 
England from the Accession of Henry VIII to the death of Anne, 1509 
— 1714. 3 vols. London. 8. 


Calendar of English state papers, relating to Scotland from 
the reign of Henry VII to the accession of James I (1509— 1603). With 
the state papers relating to Mary Anne of Scotland during her detention in 
England. Ed. by M. J. Thorpe. Cbendf. 2 vols. 1101 ©. 8. 


Calendar of English state papers, domestic series, of the 
reigns of Edward VI, Mary, Elizabeth. Ed. by R. Lemon. London, Longman. 8, 


Calendar of state papers, domestic series, of the reign of Ja- 
mes I 1611—1633. Ed. by Marie Anne Everett Green. Ebendſ. 2 vols. 
708 nu. 600 ©. 8. 


Calendar of state papers, domestic series of the reign of Char- 
les I. 1625, 1626. Ed. by John Bruce. Übendf. XII, 676 S. 8, 


Die „Calendars of state papers“ find furze Kegiiter oder chrone- 
logiſch geordnete Inhaltsverzeihniffe ven vielen Tauſenden von Original- 
bocumenten, nicht allein von Etaatöfchriften in unferm Sinn des Wortes, 
jondern von Schriftſtücken aller Art, die, oft zufällig, ihren Weg in das 
"state paper oflice gefunden haben; es find Berichte, Proflamationen, Cor: 
tejpondenzen ver hödjften Staatsbeamten, vie vielfachſten Mittheilungen 
an die Negierungsbehörben, Petitionen an ven König ober feinen Rath, 
böchfte Entjchliegungen in Staats- und Hausangelegenheiten, daneben 
aber auch Papiere und Correjpontenzen von hervorragenden Perſonen 
ohne ein öffentliches Anıt — kurz die verjchiedenften Urkunden, officielle 
und private, die auf die KRegierungsgefhichte Englands Bezug haben. 

Wenn die Ueberſichten dieſer state papers auch nicht jo zweckmäßig 
angelegt und jorgfältig turchgearbeitet find, wie 3. B. unſere Reichsrege⸗ 
ften, fo bilven fie immerhin ein wichtiges Hülfsmittel für das Studium 
ber englifchen Gejchichte, indem wenigftens in einzelnen Fällen die In— 
haltsangaben ausführlich genug find, um die Einficht in die Documente 
ſelbſt zu erſetzen. 





bes Jahres 1858, 565 


Bogaerts, Felix, Lord Strafford. Eene episode uit de laatste jaren 
der regering van Karel I, koning van Engeland. Rotterdam, v. Belle. IV, 
319 ©. 8. 


Menard, Theophile, Histoire de la revolution do 1668 en Angle- 
terre. 2. edit. Tours, Manu et C. 2839 ©. 8. 


Merle, b’Unbigne, Oliver Cromwell. Aus dem Sranzöfiichen über- 

tragen von Dr. Karl Theotor Pabſt Weimar, Bählau. XX. 867 8 8. 

. Tas Buch, welches 1847. in englifcher, 1848 in erweiterter franzöſ. 
Ausgabe erſchien, behandelt vorwiegend die religidfe Seite in dein Leben 
Cromwel’s. Es ift eine hie und ta etwas jalbungsvolle „Ehrenrettung“ 
des‘ Protectors, geftügt auf vie von Carlyle verüffentlichten Briefe und. 
Reden; von biejen find mande wörtlich mitgetheilt. Was ver Verfaſſer 
ſelbſt hinzugethan hat, iſt wiffenfchaftlic nicht ſehr erheblich. 

Sanford, J. L., Studies and illustrations of the Great Re- 
bellion. 1 Vol. London, John W. Parker and son. 

Forster, D, Historical and biographical ossays. 2 Vol. 
London, John Murray. 

Mir. Sanford hat ſich vie Great Rebellion zu feinem Gegenſtande 
gewählt, wie in officieller Sprache noch immer die Revolution genannt 
wird, die Karl den Grften auf's Blutgerüſt brachte und Oliver Cromwell 
zum Proteftor der Republik machte. 

Unfer Intereffe wird im einem nicht geringen Grade angeregt, wenn 
wir gleid zu Anfang hören, daß unfer Autor über 300 entweder noch 
gar nicht oder doch unvollftändig gedruckte Briefe von Oliver Cromwell 
gefammelt hat. Wo find fie aber? Der Band enthält fie nicht. Unfer Autor 
bat fie Carlyle gegeben, ver einige in feinem Werke über ven Proteftor 
abgebrudt hat. Und was ift aus den Übrigen geworben? Abgedruckt 
find fie niht, und wir müſſen und damit begnügen, was Mr. Sanferd 
in feiner Weife darans erzählt, und darauf verzichten, Cromwell felbft zu 
hören. Seine Weife ift nun keineswegs intereffant. Der Styl hat etwas Peb- 
Iofes. Tas Leſen jeder Seite wird zu einer Arbeit. Aber ver Inhalt? 
Wunderbare Sachen werden und in ver That beridtet. So lejen wir 
glei S. 5, daß unter ven Tubors die königliche Macht vollkommen 
abfolut und das Volk vollfommen frei war. Wie ift pas möglich? Wir 
fuhen nad der Löfung dieſes Räthſels eben fo vergeblich als nad den 
300 Briefen. 


566 ueberficht der hiſtoriſchen Literatur 


Die Stuarts werden von Mr. Sanford nicht hinter dergleichen un⸗ 
losbare Räthſel verftedt. Sie werden ſchonungslos blosgeſtellt. Der 
Top von Maria könnte etwas Tragiſches haben, wenn fie nicht aus aber⸗ 
gläubiicher Vorliebe fiir eine Religion geftorben wäre, bie ihr bereitwillig 
einen Vollmachtsbrief für ihre weltlichen Gelüfte gegeben (S. 41). 

Der Reft ver allgemein hiſtoriſchen Einleitung ift aus Hallimell, 
Clarendon und Hallam's Constitutional history nicht eben fehr gejchidt 
zufammengejeßt. Endlich nad) 150 Seiten fchweren Lejens kommen wir 
zu Cromwell felbft; aber auch bier giebt ver VBerfaffer nichts als Notizen, 
YAırmerkungen und Citate, die außer ihrem Zuſammenhange keinen großen Werth 
haben und die durch die gewöhnlichſten Gemeinfäge verbunden find. Manche 
der Gitate mögen neu fein. Der Autor bat viele Manufcripte des Bri- 
tish Museum gelejen. ‘Die meiften Leſer bürften es aber vorziehen, fi 
burch alle bie citirten Handſchriften ſelbſt hindurch zu arbeiten, als ven 
einen Band von Mr. Sanford gründlich durchzuſtudieren. 

Da Mr. Sanferd aud unter anderm erzählt, daß er fich zum vollſtän⸗ 
digen Meifter von D' Ewes Journal gemacht hat, jo könnte man ihm feine 
befiere Beſchäftigung vorſchlagen, als dasſelbe ohne Abkürzungen und ohne 
Zufäge herauszugeben. Sir Simonds D’Ewes, Baronet, war nämlich 
lange in der gelehrten Welt als Sammler, Briefihreiber und beſonders als 
genauer Beobachter von Anjtand und Kenner aller Präcedenzfälle bekannt. 
Er war ein pünktliher Pevant. Dabei ſaß er aber im Langen-Barliament 
unmittelbar neben dem Spreder und ftimmte gewöhnlihd mit Pym und 
Hampden. Nur wenn dieſe Partei ihm zu weit zu gehen ſchien — in 
ſehr jeltenen Fällen — entfernte er fi für eine halbe Stunde aus dem 
Sitzungsſaale. Diefer Sir Simonds hat nun die Debatten jenes vent- 
würdigen Parliaments friſch wie fie geiprochen aufgezeihnet. Sie füllen 
fünf ſtarke Foliobände und tragen neben mehreren anderen auch den Titel 
„A Journal of the Parliament, begun Novbr. 3., Sunday, Anno Domini 
1640. Sie reihen bis 1645. Diefes unfhägbare Document befindet 
fich in der Harleyaniſchen Manufcriptenfammlung (162 inel. bis 166 incl.), 
die jegt dem Britifchen Muſeum einverleibt iſt. Bis vor kurzer Zeit ift 
es ganz unbeachtet geblieben. Erſt vor etwa 2 Jahren ift es, man könnte 
jagen, entvedt worben. Es ift ſchwer zu leſen. Die Schrift ift ſchlecht. 
Gewöhnlih ift es auf ganze Bogen gejchrieben. Dann fommen aber 
abgeriffene Feten Papier bazwifchen, Heine Blätter, wahrſcheinlich bie er- 





bes Jahres 1858. j 567 


ften beften, die dein Schreiber noch während der Debatten zur Hand ges 
fommen. Um bie Schwierigkeiten zu erhöhen, ift die jeßige Anordnung 
ganz ohne Verftand, je daß eine Debatte oft in brei ober vier Bände 
gebimben if. Die Herausgabe dieſes Journals würde von größerem 
Merthe fein, ala eine ganze Bibliothek, angefült mit Hector Boecius 
Geſchichte in Reime gebracht oder Lebensbeſchreibungen aus dem 15. Jahr⸗ 
hundert über Edward dem Bekenner in lateiniſchen Verſen gefchrieben. 

Die Historical and biographical essays von John Forfter 
entfhädigen ven Leſer für die Mühe, die er an Mr. Sanford vers 
ſchwendet. 

Der erſte Aufſatz: „The debats on the Grand Remonstrance 
1641“ beginnt damit, daß er ben engliſchen Hiſtorikern unverzeihliche 
Nachläßigkeit vorwirft. Es iſt unbegreiflih, fagt er, daß nit Einer 
von ihnen ſich bewogen gefühlt, nachzufehen, was die fogenannte „Schmäh- 
ſchrift“ war, von der Glarendon erzählt, daß fie die Anhänger des Kö⸗ 
nigs in ſolche Wuth und Tollheit verjett. Alle Andern haben ſich damit 
begnügt, was Clarendon darüber auf zehn Seiten gejagt. — Der Bor: 
wurf ift begründet. Wir haben nur einen Hiftorifer davon auszunehmen. 
Das ift Rapin Thoyras, der, obgleich Franzoſe, durch die Ueberſetzung 
von Zindal einen banernden Plap in ber englijchen Literatur gefun- 
ven hat. 

Mr. Zorfter fucht in der „remonstrapce‘“ die authentijchfte und 
glaubwürdigſte Darftellung der Unbilden, welche alle Klaſſen des 
englijchen Volles jeit der Thronbefteigung Karl's des Erften erduldet. Er 
findet darin die Rechtfertigung der Revolution. Wir unferer Seits kön⸗ 
nen aber die Anſicht des Autors über die Bedeutung dieſes Aktenftüdes 
nicht theilen. Um unjere Zweifel zu begründen, nriffen wir vie damalige 
politifhe Page kurz recapitulieren. Wir können darin größtentheils Mr. 
Forſter ſelbſt folgen. 

Im Herbſte 1641 war Strafford auf dem Blutgerüſte gefallen, 
Laud war Gefangener im Tower, Finch und Windebank waren auf der 
Flucht, das Schiffsgeld war als ungeſetzlich verdammt, vie Richter, 
bie ihre Zuſtimmung dazu gegeben, waren im Anflagezuftand, einer 
von ihnen, Berlley, war von feinem Hichterftuhle in's Gefäng- 
niß gefchleppt, die PBarliamente waren für breijährig erklärt, feine 
Borberungen durften mehr an das Boll ohne parliamentarifhe Einwilli⸗ 





568 ueberſicht ber hiſtoriſchen Literatur 


gung gemadyt werden, ber fogenannte Gerichtshof der Zinngruben (Han- 
nary-Court), der von York, die Stern-Stammer und die High-Commission 
waren abgeihafft — welche weitere Forderungen fonnten in ber con» 
fitutionellen Monarchie noch gemacht werben? Uub doch war vie Page 
unbefriedigend. Wer fonnte baran zweifeln, daß ver König und jeine 
Partei, ſobald das Volk ſich wieder beruhigt, alle Zugeſtändniſſe für er- 
zwungen erflären und an ven Gegnern Race nehmen würde? Der Künig 
fing bereit8 an, populär zu werden. In Schottland war eine Art Frie— 
ben im Gange. Im Hauptjige der Patrioten, in ver City von Ponten, 
war Gournay, ein Anhänger des Königs, zum Lord- Mayor gemählt 
und glänzende TFeftlichkeiten wurben zum Empfange Seiner Majeſtät ver: 
bereitet. Im Haufe der Lords fonnte das Haus der Öemeinen auf feine 
Unterftügung fernerer Beſchränkungen der Töniglihen Macht mehr reb- 
nen. Die Conftitutionellen, Lord Falkland, Hype (Clarenvon) 2c. maren 
auf dem Wege, in's königliche Lager überzugehen. Die Page für vie 
Partei Pym, Hampden, Cronwell und vie übrigen PBatrioten war nie: 
mals fritiicher geweſen als jetzt. 

Unter ſolchen Umſtänden ſich mit einer „authentiſchen Darſtellung“ 
der Unbilden zu begnügen, wäre gleichbedentend mit Abtreten und Teſta—⸗ 
mentmachen geweſen. So etwas konnte der Partei Pym-Hamppden nicht 
einen Augenblick in den Sinn kommen. Das Unbefriedigende der Lage 
beſtand, wie bemerkt, hauptſächlich darin, daß die Conceſſionen an das 
Parliament fo leicht zurückgenommen werben fonnten. Es kam alſo tar: 
anf an, an die Stelle des Parlaments oder eigentlih Des Hauſes ver 
Communen das Bolt ſelbſt zu ſetzen. Die Grand Remonstrance ging 
daher auch nicht vom PBarliamente, jondern nur von Haufe Ter Com— 
munen aus. Sie war zwar aud an ven König, hauptſächlich aber 
an das Volk gerichtet. Ihre Veröffentlihung durd ven Drud war ven 
Anfang an beabjihtigt. Der ganze Streit wurde jemit ein ganz an: 
derer. Neue Parteien und neue Richter waren aufgetreten. Die natür: 
liche Folge davon war, daß Die bisherigen Verhandlungen zwifchen Kar: 
ltament und Regierung ihren Werth verloren und Die Sache von An: 
fang an begonnen werden mußte. Ohne auf die Abftellung der oben 
aufgeführten Uebelſtände Rüdjicht zu nehmen, ging daher die „Remonstrance* 

den Regierungsantritt ven Carl I zurüd und zählte in 206 Bara- 

ben,. vie 14 Folioſeiten in Ruſhworth füllen, Alles auf, was dem 





bes Jahres 1858. . 669 


Könige zur Laſt gelegt werben konnte. Der parliamentarifhe Weg war 
fomit verlaffen ımb vie Revolution war durch bie „Remonstrance‘‘ ges 
ſchaffen und erklärt. 

Legen wir hienach der „Grand Remonstrance“ eine größere Wichtig 
feit bei als Der. Forfter, fo ift e8 von der andern Seite von felbft ver- 
ſtändlich, daß Pym, Hampden und ihre Anhänger fid, in dem Drange und 
der Aufregung des riefigen Kampfes nicht die Zeit nehmen konnten, das 
Betragen des Königs ruhig und unparteufch abzumägen. Um nur ein 
Beifpiel anzuführen, in Ireland war der furditbare Aufftand ausgebro> 
hen, in dem eine große Zahl Broteftanten graujenhaft ungebracht wurde. 
England war mit Abſcheu und Rache erfüllt. ‘Die Grand remonstrance 
unterlieg es nicht, wie man es erwarten fonnte, die künigliche Partei zu 
beichuldigen, dieſen Aufftand veranlaft zu haben. Wird man darauf 
bin dieſe Beſchuldigung für erwiefen halten können? Yorjter führt May 
als Gewährsmann dafür an. Die Bürgichaft ift aber nichts werth. 
Day ift eben fo unzuverläßig als die Remonstrance. Ein Schriftiteller, 
ber vorher die Geſchichte Heinrih IM und Edward IH in Verſen gejchries 
ben, ver jelbjt ein ftrenger Anhänger des Parliaments war, und dann 
1647 feine Gejchichte des Parliaments auf „Befehl“ fchrieb, konnte jchwer- 
lich eine unabhängige Meinung haben und gegen feine Partei und jeine 
Meifter jchreiben. Aber abgejehen hievon, übernimmt ver jchlechte Bürge 
nicht einmal die Bürgſchaft. Er ergeht fih in der Beſchreibung ver 
Gräueljcenen, ohne auch nur einen Sceinbeweis für die Mitſchuld der 
königlichen Partei vorzubringen, ja ohne fie direct zu behaupten. 

Nachdem wir die Verfchievenheit unjerer Auffaflung mehr angeveutet 
als begründet haben, können wir unjerem Autor die größefte Anerfen- 
nung nicht verfagen. Er bat reihlidh aus Sir Simonds D’Ewes Yours 
nal geihöpft. Die wichtigen Verhandlungen des November und Der 
ceınber 1641 famen duch ihn zum erſten Male an den Tag. Die Dar- 
ftellung ver Debatten, wie 5. B. der von Montag den 22. November, 
bie ununterbrochen von 10 Uhr des Morgens bis 2 Uhr Nachts dauerte, 
ift über alle Maßen feilelnd. Auf ver Füniglihen Seite waren viele Alte 
und Kränklihe, vie nit länger Stand halten konnten und nad Haufe 
ſchlichen. Pym hatte alle feine Anhänger bis zum legten Augenblide 
um fid, und voch ging die Remonstrance nur mit 159 gegen 148 Stim⸗ 
men durch. 


Aka !_ 








570 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literalur 


Abgeſehen von ihrem unmittelbaren Intereſſe hat Die Arbeit 
einen hohen Werth dadurch, daß fie den alten Schlenpriam im 
ſchichtſchreibung angreift. Die Grand Remonstrance ift nicht ber 
Punkt, in dem Männer von großem Mamen, einer nad) dem ande 
vieler Zuverſicht und oft mit großem Scharfſinne Saden befpred 
fie im Grunde nicht kennen, Wo die Documente eriftiren, barf 
gewifienhafte Geſchichtsforſcher nicht damit begnügen, nur Die gl 
gen Ehromilenfchreiber und Hiftorifer zu leſen. Er bat auch Die 
Urkunden zu fehen. Wenn das gejchieht, wird die bisherige trad 
Geſchichte Englands beveutende Aenderungen erfahren, 

Der zweite Aufſatz im demjelben Bande: The Plantagene 
the Tudors, ijt von geringerem Werthe, ald ber - vorhergehen 
ift eine weitere Ausführung jener Stelle bei Edm. Burke, in ver &i 
„Die engliſche Freiheit hat ihren Stammbaum und ihre Borfahre 
bat ihre Devije und ihr Wappenſchild. Sie hat ihre Ahnenbilde 
monumtentalen Injchriften, ihre Documente, Beweisftüde und Titel 
Autor zeigt fi auch bier als vollfonmenen Herrn der Sprad 
bat ferner eine gute allgemeine Kenntniß der engliſchen Geſchich 
vermeidet alle gröberen Fehler. Er macht feinen Berfud, wie #9 
fay gethan hat, Thomas Becket oder in moderner Schreibart Beg 
einen Sadhjen- Märtyrer binzuftellen, er bemüht ſich nicht, € 
Yangton fein Verdienſt zu jchmälern, weil er Erzbiſchof geweſen 
— das braucht kaum bemerft zu werden — ein viel zu gebilveter 
um in foldye vulgäre Irrtbimer zu fallen, wie Mr. Sanford, 3 
geht nirgend von dem alt betretenen und gewohnten Xege ab, € 
nichts Neues, weil er nicht tiefer gegangen als fein Borgärtger, 

Der Reſt ves erjten und ber zweite Band ift mit keitifchen 
ſätzen angefüllt, die früher in der Edindurgh und Quarterly Revi 
jchtenen waren. Die Crommell- Yiteratur von Guizot, Daniel ti 
Richard Stuls, Charles Churdill und Sammel Foots, bie vier I 
Schriftſteller des vorigen Jahrhunderts, bilden den Gegenftand 
fritifchen Aufjäge. 


Pepys' (Secretary to the admirality in the reigns of Charles 
James II) diary and correspondance. 6 ed. 4 vols. With a life a 
tes by Lord Braybrooke. London, Bohn, 8, 








bes Jahres 1858. 81 


Macaulay, The history of England from the Accession of Ja- 
mes II. Vol. I-VIL New edition. London. 12; 


Browne, J. H., Lives of the prime ministers of England, 
from the restauration to the present time. Vol. I. London, Newby. 370 ©, 


Townend, William, the descendents of the Stuarts. An un- 
ehronicled page in England’s history. London, Longman. XVIII, 304 ©. 8, 


Mahon, Lord, History of England, from the peace of Utrecht 
to the peace of Versailles, 1713—1783. 5. edit. London, Murray. 7 vols. 


The letters of Horace Walpole, Earl of Oxford. Edit. by 
Cunningham. New first chronologically arranged. Vol. I—X. 1857 
— 1858. London, Bentley. 8. 


Russel, John, Lord, Tbe life and times of Charles James 
Fox. Vol. I. London, R. Bentley. 8. 

Lord John ift feit 45 Jahren auf dem politifhen Schauplag. Faſt 
eben fo lange ift er als Schriftiteller befannt. Die Titel ver Literarijchen 
Productionen, nicht der Ruſſels im Allgemeinen — die find endlos —, 
ſondern unferes Lord John KRuffell, Bruders des Dufe of Bedford, füllen 
im Katologe des Brittiihen Muſeums nicht weniger als — 29 Yolios 
ſeiten. Es find Schriften aller Art. Im Jahre 1824 gab ver edle 
Lord die „Memoires of Ihe affairs of Europe from the peace of Utrecht“ 
und 1853 bie „Memorials and correspondence of C. J. Fox“ heraus, 
Das neue Werk ſchließt fi) dieſen Memorials jo genau an, daß bie 
erjten Seiten in beiden Büchern faft wörtlich übereinftinmen. 

Bir find dem Autor dankbar, daß er uns nicht lange in ver Kin⸗ 
ber- und Schulftube aufhält. Auf zehn Seiten werden wir von der Wiege 
durch Eton, Oxford, Fraukreich und Italien bis zur PBarlamentswahl in 
Midhurſt geführt. Wir jehen ven jungen Charles lateiniſche Verſe ma⸗ 
hen, wir jehen ihn, nachdem er fhon in Paris und Spaa eine Art Rolle 
in der Geſellſchaft gejpielt, in der Schule ausgepeiticht werden, wir hören, 
daß er auf ver Univerſität fleißig Mathematik ftubirt und dann den alten 
Boltaire in Ferney beſucht. A 

In den politiichen Theile wird uns ber Hof von Georg II, und 
Georg 11. vorgeführt, die verfchievenen Parteien, die drei Minifterien 
während des amerifanifchen Krieges von Lord North, Rodingham und 





672 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur. 


Shelburne, Washington und die Amerikaner, das Parlament wit Chatham, 
Burke, Townshend, Richmond und Charles James For. Der erfte Band 
reicht bis zum Friedensſchluſſe von 1783. Wenn ver Führer einer großen 
oder wenigftens einft großen Partei, ein Mann, der jo oft das Staat 
ruder in der Hand gehabt, Gefchichte fchreibt und fi einen Staatsmann 
feiner eigenen Partei zum Helden erwählt, jo tarf der Leſer etwas 
Beſſeres als das ganz Gewöhnliche erwarten. Er darf hoffen, etwas 
über die Zwede, Mittel und Ausfichten viefer Partei zu erfahren. Solche 
Erwartungen werten inveflen durch den worliegenden Band nicht erfüllt. 
Der geichichtliche Theil ift ans befannten Büchern, die er alle jarft 
nenmt, zufanmengejtellt, wie Stedman’s American war, Spark’s Life of 
Washington, die Parliamentary History, Lord Mahou und aus des Autere 
eigener Correspondence of Fox. Der anefrotenhafte Theil, ver am An: 
fange fehr überwiegt, it von Walpole Kodingham u. A. ge 
nommen. Als Ormamentirung dienen Citate ans Cicero, Dante, Alfieri 
und engliſchen Dichtern. Eigenes gibt der Autor faſt nirgend. Von ter 
andern Seite dürfen wir es nicht ımerwähnt laffen, daß ver Auter mit 
Ausnahme einer einzigen Stelle, wo er ſich (S. 124) ziemlich ungejhidt 
in Betrachtungen über die Menjchenrechte ergeht, mit einen gewiflen Takt 
auftritt, over vielmehr fidy hinter der Scene hält. Der Fehler des Buchee 
find nicht Irrwege, fondern Gedanfenarmuth. Bth. 


Massey, W,, A History of England, during the Reigm of George 
the Third. Vol. II. 1770-1780. London. 480 © 8. 


Macknight, Thomas, History of the lifo and times of Ed- 
mund Burke. 2 Vols. London. 1060 ©. 8. 


Supplementary Despatches and memoranda of Field Marshal 
Arthur Duke of Wellington. India 1797—1805. Edited by his son, 
the Duke of Wellington. Vol I, II (1797— 1804). London. 600, 640 ©. 8. 


Brialmont, Alexis, Capitain of the staff of the Belgian Army, The 
life of the duke of Wellington. From the French, with ememdations 
and additions, byB. G. Gleig, M. A., Chaiptain General ete. London. Vol 
1u2. 106 8 

„Eine mit dem Geiſte außerordentlicher Unpartheilichleit unternom- 
nene und in den militärifchen Ausführungen mit einer ausgezeichneten 





des Jahres 1858. - 578 


Kenntniß der Grundſätze und bes Details der militärifchen Wiflenfchaft 
ausgeführte Schrift. — Als das Werk eined Fremden, über einen durch⸗ 
ans engliihen Segenftand, und überfegt und herausg. mit ber größten 
Sorgfalt eines worgeichrittenen englifchen Schriftftellers hat die Bublica- 
tion mehr als einen Anſpruch, beachtet zu werben.” So urtheilt über 
das uns nicht vorliegende Werk das „Athenäum“. 


Memoires of the Court of George IV. 1820-1830. From original 
family documents. By the Duke of Buckingham and Chandos K. G. 
2 Vol. London. 8. 

Der Herzog von Buckingham und Chandos, Ritter des Hofen- 
band - Ordens, veröffentlicht bie Briefe, die er felbft von feinen 
Freunden erhalten. Manche der betheiligten Perfonen leben noch, wie 
der Herzog ſelbſt. Der Stoff, vie Maitreſſenwirthſchaft Georg's IV. 
und ver feandalöfe Chejcheivungs - Prozeß gegen die Königin Caroline, 
ift zum Wenigften ein fehr „delikates“ Thema. Beſonders nad eng» 
Iifchen Begriffen ift ein foldes Verfahren ein reiner Zreubrud. Aber 
„His Grace“ ift arın, und in feiner, wie wir übrigens hören, unverjchuls 
deten Armut — ift er von allen Freunden verlafien. Iſt er da ge‘ 
bunden, Rüdfichten zu nehmen? 

Die beiden Bände find voll pilanter Briefe. Sie liefern einen 
werthoollen Beitrag zu ber englifchen Gefchichte jener Zeit, von ver Ford 
Brougham fagt, daß er, Canning, und ich glaube Huskiffon, die einzigen 
anftändigen Leute in England waren, die eine Stellung hatten. Bth. 


Tighe, R. R. J. E. Davis, Annals of Windsor; being a history 
of the castle und town; with some account of Eton and places adjacent. 
With numerous illustrations by Fairholt and others etc. London, Long- 
man. 4. 


Jeffrey, Alex., The history and antiquities of Roxburgshire 
and adjacent districts. 2 vols. London, Hope. 8. 


Lindsay, Lord, Lives of the Lindsays: a memoir of the houses 
of Crawford and Balcarras, With extracts from the official correspondence 
of Alexander, sixth Earl of Ba'carras, during the Maroon war; and per- 
sonal narratives by his brothers. 2.edit, London, Murray. 8 vols. 1500 8, 

Diſtoriſche Zeitfärift L Band. 37 


674 Ueberficht ber hiftorifchen eiteratur bes Jahres 1858. 


'Ingledew, 0.J. Dawison, The History and Antiquities of Norık 
Allerton, in the Country of York. London, Bell. 8. 


Tanswell, J., The History and Antiquities of Lambetk 
Londun, Pickton. 8. 





Maccallum, Duncan, The History of the ancient Scots, in3 
parts. Edinburgh, Houlston. 250 ©. 12. 


Hunter, William King, History of the Priory of Coldingham, frum 
the earliest date to the present time; compiled from the most autheniäc 
authors, ancient and modern. Edinburgh. 104 S. 4, 


Strickland, Agnes, Lives of the Queens of Scotland and Ey 
lish Princesses connected with the Royal Succession of Great Britain. Vol 
VII. Londun. 510 © 8. 


Chambors, Robert, Domcstic annals of Scottland from the m- 
formation to the revolution. Edinburgh and London. 2 vols. 10508. 8. 


Dargaud, J. M, Histoire de Marie Stuart. 2. ddition. Paris, 
La Hachette et C. V, 418 © 18 





Moore, Thomas, Esq., The History“of Ireland from the earliest 
Kings of that Realm down to its last Chiefs. 2 vols. New-York. 348 S. 12. 


Kildare, The Earls of Kildare and their Ancestors, from 
1057 to 1773. 3 edit. Dublin. 340 ©. 8. 


Maddun, Richard, The United Irishmen, their Lives and Ti- 
mes; with several additional Memoirs and authentic Documents heretofore 


unpublished;; the whole ınatter newly arranged and revised. IJ. series. 2. 
edit. Dublin. 600 ©. 8, 


Marmion, Anthony, The ancient and modern history of the 
maritime ports of Ireland. 3. edit. London, Simpkin. 665€ 8. 








Berihtigungen und Nachträge zum 1. Heit. 


©. 114 3. 12 fi. geiſtlichen 1. chriſtlichen; S. 116 3. 2 v. u. ft. Haupt⸗ 
Käbten I. Hauptflätten; S. 117 3. 2 flatt Zeiten I. Juden; ©. 117 3.5. 
im Einklange 1. in Einklang; S. 117 3. 8 fl. ungläubige 1. neugläubige; 
©. 118 3. 2 v. u. ft. Fortwirlung I. Fortbilbung. Werner: ©. 131 
3.4 v. o. fl. Wilden I. Wilen; ©. 134 3. 5 v. u. fl. Goldgeſchenke 1. Selb» 


geihente; ©. 137 3.6 v. u. fi. Wyhou I. Wyhon; 8. 138 3. 10 v. u. 
fl. tuben 1. buben. Hinzuzufügen ift hier übrigens, daß biefes Wort fi in 
allen flaviihen Sprachen, und in ber altſſloweniſchen Pfalmenüberfegiug in ber 
Form bonbinu findet. — ©. 189 3 6». o. fl. Tanıbür l. Tabür; ©. 140 
3. 10 v. o. fl. ſtehn I. file; S. 144 3. 21 u. 23m. o., fowie S. 146 
3. 6 v. o. fl. Idiſlaw I. Zdiſlaw. 

Zu 5. 152: Was unter dem tympanum bellicum, von welchem Bincentius 
fpricht, zu verftehen fei, gebt unzweifelhaft aus einer Stelle in Aſchbach's Geſchichte 
ber Almoraviden (11, 58) hervor, auf welde der Hr. Verf. mich freundlich auf- 
merkſam gemadıt hat; aus der Kriegsorbnung Abdelmumen's (um 1150) wird 
nämlich dort angeführt, daß das Zeichen zum Aufbruche bes Heeres am Mors 
gen „in brei Schlägen auf einer ungehenern Trommel beftand, bie fünfzehn 
Ellen im Umfang hatte. Da fie aus fehr Mangreihem Holze gemacht war, fo 
fonnte man ben Schall, wenn bie Trommel hochgeftellt war, bei beiter wind» 
fillem Wetter eine halbe Zagreife (?) weit hören.” in ähnliches Inſtrumeut 
hatte offenbar der Böhmenkönig im Triente fennen gelernt und brachte es vor 
Mailand zur Anwendung, während fpäter Aehnliches nicht mehr bei feinen Feld⸗ 
zügen vorfommt. Wohl zu unterfheiden von dieſem tympanım find übrigens 
die Tabüre und Hörner, unter deren Klang der König nach dem Berichte Na» 
gewin's (gesta Friderici III, 34) den bebdrängten Gefährten zu Hilfe 308: 
ipse cum electis militibus et tibicinis et tympanistris praeire. — Nostri, 
ubi ex sono tubarum et tyınpanorum amici regis adventum cognovere — 
resistere. Es ift ein genau analoger Fall zu ber oben (5. 139) angeführten 
Stelle aus Landgraf Ludwig's Kreuzfahrt. 

Ueber bie Kriegszeichen der Böhmen im elften und zmölften Jahrhundert 
werde ich an einem anderen Orte Weiteres bringen, bier mag nur, ba man 
fih in Prag für bie Trommeelfrage fo fehr zu interejfiren ſcheint, zweierlei be- 
merkt werden: Wenn ein Gegner bei der Beichreibung won Bretislaw II. Em- 
pfang in Prag (Cosmas II, 49) Trommeln gefunden zu haben glaubte, jo war 
er in einem fonberbaren Irrthum; fen ber Zufammenhang, daß der Fürſt 
„von froben in ben Straßen aufgeflellten Reigen von Mädchen und Jünglingen 
empfangen fei modulantium tibiis et timpanis” hätte ih aufmerkfan machen 





576 Ueberſicht ber Hiftorifchen Literatur bee Jahres 1858. 


follen, daß hier von Flöten und Tambourins bie Nebe ift, deren Gebrauch bei 
feftlihen Gelegenheiten ich ausdrücklich (S. 139) ale „oft genug” vorkommend 
erwähnt habe. Meine Bermuthung, daß Trommeln in ber That bei eurcrii- 
hen Heeren (und zwar zunähft bei Schweizern und Landéknechten) erſt in ver 
zweiten Hälfte bes fünfzehnten Jahrhunderts aufgelommen feien, wirb durch 
eine Rotiz, welde mir ein Freund mittheilt, weiter begrüubet. In ber Chronil 
von Jean Molinet (Rap. 84) wird nämlich bei Gelegenheit ber Kimpie in 
Hohburgund im 3. 1477 erwähnt: les Allemans (Schweizer) estans en Dök 
— — firent sonner leurs gros tambourins et sortirent de la ville. Tanı 
etwas fpäter: les Allemans perseverent en leur gqueste, toujours montans 
sur la muraille au son de leurs tambourins.“ Der Gebrauch biefer Initru- 
mente war bamals, wie man fieht, noch fehr ungewöhnlich. — Cine bezeichnen 
Stelle, wie ſehr man im Mittelalter rauſchende Inftrumente als Eigenthümlich 
feit muhammedaniſcher Kriegführung betrachtete, Nehe zum Schluß. Eie if ans 
einer Meberarbeitung von Tagebüchern bes Kreuzzuges Kaifer Friederichs 1: 
Turcorum phalanges in quodam colle secus viam, qua nostri erant transi- 
turi conveniunt, suo more belli incitamenta, buceinarum et tympanornn 
sonitu inchoantes (Exped. Frider. ap. Canis. antiq. lectt. III, b. 517). 
M. Büdinger. 


Bon Herrn Bibliothefar Hanka aus Prag ift der Redaction Hinfichtlich der 
ven Hrn. Büdinger bei Gelegenheit der Königinhofer Handſchrift beſprochenen 
„Prophetia Libusse“ eine Erklärung zugegangen, die der Hr. Einfenber „unter 
Bezugnahme auf das k. bayeriſche Preßgeſetz“ in das vorliegende Heft ber Zei: 
fhrift aufgenemmen wiffen will. Wir fehen uns nicht veranlaft, dieſer Aufer 
berung zu entfprechen, indem thatſächliche Berichtigungen, auf welche allein kaa 
f. bayerifche Preßgefet ſich bezieht, in jener Erffärung fih nicht finden; was 
fie aber an Imvectiven gegen Hrn. Büdinger enthält, bat Hr Hanfa in ähr 
licher Faſſung Thon längſt an einem andern Orte genügend zur allgemeinen 
Kenntniß gebracht, wie denn die Erffärungen in ber Augeb. Allg. Zeitung im 
Wefentlihen nur eine Wiederholung von bem find, was uns vorliegt. 

Uebrigens bemerken wir, baß wir über die Sache felbft, als Entgegnung 
auf Hrn. Büdingers Aufſatz, im rächften Heft eine Abhandlung ven Seren Pa 
lady bringen werben, während Herr Büdinger feinerfeits auf anonyme Augriffe 
bereits in einer fo eben erihienenen Schrift: Die Königinhofer Hand— 
ſchrift und ihr neuefter Bertheidiger. (Eine Entgegnung Wien, Ge- 
rold's Sohn. 25 S. 8.) nachdrucksvoll geantwortet hat. 





TrudvondDr C. Wolf und Sohn. 





bes Jahres 1858. 541 


zuverläfliger, als Alles bisherige. Dieſer erfte Theil umfaßt die ſchwei⸗ 
zeriichen Bisthümer, Kollegiatftifte und Klöfter der ältern Mönchsorden, 
deren Geſchichte in den kurzen Biographien ihrer Vorfteher im Wbrifie 
gegeben wird. Ein zweiter Theil fol die Männerklöfter ver neuern 
Orden, die geiftlihen Ritterorden und die Frauenklöſter umfaffen. 


Wolf, Rudolf, Dr., Brofeffor der Aftronomie in Zürih. Biographien 
zur Kulturgefhidte ver Schweiz. Erfter Cyelus. Zuürich, Orell Füßli 
unb Comp. 8. 

Enthält zwanzig Biographien folder Schweizer (auch eine Schwei⸗ 
zerin iſt unter dieſer Zahl begriffen), die fich durch wiffenjchaftliche Lei⸗ 
ftungen im Gebiet der Mathematit und ver Naturwiffenichaften ausge- 
zeichnet haben, von Ölarean und Konrad Geßner an (bdeffen wohlgetrof- 
fenes Bildniß beigegeben ift) bis auf die Jetztzeit. Höchſt forgfältig, 
nach eignen gründlichen Forſchungen bearbeitet, viele neue Aufſchlüſſe ent- 
baltend und fehr angenehm gejchrieben. 


Hottinger, J. J., Dr., Profeffor, das Wiedererwachen ber wij- 
fenfhaftlihden Beftrebungen in ber Schweiz mährenb ber Mebiationd« 
und der Reflaurationeperiode. Cinlabungsfhrift der Hochſchule Zürich zur 
Geier des Stiftungstages den 29. April 1858. Zürid, Höhr. 

Eine ſchöne Feſtarbeit des verdienten greifen Verfaſſers. 


Aus dem Kulturgebiete vorhiftorifcher Zeit ift höchſt bemertenswerth : 

Reller, Ferd., Dr., Die (Celtifchen) Pfahlbauten. Zweiter Bericht in 
ben Mittheilungen ber antiquarifchen Gefellfhaft in Zürich. Banb XII. Heft 8. 
Zürih in Comm. bei Meyer unb Zeller. 4. —_y— 


u. Schriften, betzeffend die innere Schweiz. 
(Die 4 Baldflätte und Zug. Die fogenannten 5 Drte.) 


Segeſſer, Auton Philipp w., Rechtsgeſchichte der Stabt unb 
Republik Luzern Des vierten Bandes zweite unb britte Lieferung. (Sechs⸗ 
zehntes Bud). Luzern, Räber. 8. 

Ein durch die grünblichfte wiſſenſchaftliche Forſchung ausgezeichnetes 
Werk ijt bier durch die Behandlung der Periove von 1520—1798 und 
einen „Blid auf die Geſtaltungen ver Neuzeit“ bis 1847 als „Schluß“ 
zu Ende geführt. Die Reichhaltigfeit und Genauigkeit der Forſchung und 
Darftellung kann nur erfreuen. Gegen ven abfoluten Standpunkt der 

HiRorifge Zeitſchrift L Bam. 35 


ARE 
Ar % 








542 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur 


Anſchauung aber in kirchlicher Beziehung, und deſſen Conjsquenz 
fürs Stantlidye ließen ſich wohl gegründete Einwendungen erheben 
es freilich ausführlihen Eingehens auf das beveutende Werk bedür 


Liebenan, Herm. v., Dr., Neujabreblaft aus ber Urfo 
Förderung der Eidgenoffenfchaft burch des Haujes Habsburg innere Verb 
Luzern, Kailer. 8. > 

Der Berfafler, in Anſchauung und Darftellung aus der Schu 
Kopp, beipricht hier die Verhältniffe der Walpftätte vom Jahr 12 
nach Abſchluß der erften 25 Yahre des XIV. Jahrhunderis Un 
und Gründlichkeit urkundlicher Nachweiſe und Details ift die ( 
jehr reich ; aber mehr fir den Kemmer lehrreich, als für ven gewöh 
Leſer, der eines Üüberfichtlichern in beftimmten und größern Zügen ge 
Bildes bedarf, ımı zu einem Berſtändniß jener Zeit zu gelangen. 


Wyß, Georg d,, Dr., über die Geſchichte der brei Pänber 
Schwyz; und Unterwalben in ben Jahren 1212—1315. Mfabe 
Vortrag auf dem Nathhaufe Zürich. Zürich, Meyer und Zeller. 8. 

Der Verfaffer giebt eine zunächſt fir einen mehr populären 
berechnete MWeberfiht über die im neuerer Zeit jo viel beſprochene 
beftrittenen Anfänge der Schweizer Eivgenoffenihaft, Man erfennt ü 
felbftjtändige Studien und ein Streben nad. unbefangener Auffaffın 
Verhältniſſe; im vielen Punkten ftimmen vie bier entwidelten An 
mit dem liberein, was ich anderswo ala Kejultate eigener Unterſuch 
angegeben babe. Neu ift der VBerfud, ©. 25, die Bogtei der Habst 
in Schwyz zu erflären: fie als eine Abzwingung von der Yanbgra| 
Zürich zu betrachten, „Vogtei geheißen, weil es feine eigenthümliche 
bial-Öbrafjichaft war, der Name der Yandgrafihaft aber dem ander 
Hauptbeil der alten Grafichaft Zürichgau verblieben war“ — eine Mei 
die ſchwerlich auf Beifall Anfprud machen kann, da eine Bogtei 
auf einem andern Rechtsgrunde ruht als geäfliches Recht. Duter 
ift außerdem eine Mittheilung über den bisher unbefannten Tert 
Yuftingerd Berner Chronik: ver Verfaſſer legt eim bedeutendes G 
darauf, daß Diefer eine Erhebung von Schwyz und Unterwalden 
Habsburg (-Vaufenburg), unterftügt von Uri, ſchon in das Yabr 
fett und ſucht diefe Angabe durch andere Nadyrichten uno Umſtäm 
ſtützen. 








bes Jahres 1858. 643 


m Wenig früher hat venfelben Gegenſtand auch C. Hagen behandelt in 
B einer zu Bern gehaltenen Rede, die unter dem Titel gedruckt ift: die Politik 
& der Kaiſer Rudolf von Habsburg und Albreht I. und die Entftehung 
der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft. Frankfurt a. M. 1857. 55 ©. 8. 
Sie gehört nicht in den Kreis der Schriften, deren furze Beſprechung fid) 
biefe Jahrbücher zur Aufgabe geftellt haben, und fo will ich mich mit 
der Bemerkung begnügen, daß ich mid) mit den den Verfaſſer eigenthiüm- 
lichen Anfichten meiften® nicht befreunden und die ganze Behandlung ver 
Sache nicht eben loben kann. Die Uebereinftimmung mit Wyß iſt aud) 
nicht fo groß, wie biefer in der Vorrede angibt, jedenfalls wird jemand, 
ber fid) über den jegigen Stand der Frage belehren will, bei dieſem eine 
ungleich beffere Auskunft als bei feinem Herm Collegen finden. G.W. 


Gejhihtsfreund Mittheilungen bes hiftorifhen Vereins ber fünf 
Orte. Bierzehnter Band. Einfiedeln, Benziger. 8. 

Meift lokal⸗kirchliche und archäologijche Unterjuchungen enthaltend; eine 
Urkunvenlefe aus Obwalden (1148—1512) ift wegen der nody weniger 
betannten Berhältniffe dieſes Ländchens nicht ohne Intereffe. 


11. Seflide und nordöſtliche Schweiz. 


Wyß, ©. v., Dr, Geſchichte der Abtei Zürich. (Mittheilungen ber 
antiquarifchen Gefellihaft in Züri. Achter Band). Zürid. In Commiffion 
bei Meyer und Zeller. 4. (16 Bogen Tert und Zufäke; 64 Bogen urkund⸗ 
lihe Beilagen: 10 Kupfer- und 2 Siegeltafeln). 

Im Jahr 1858 ift diefe, ſchon 1851 begonnene, dann längere Zeit 
hindurch unterbrodyene Publikation endlich abgejchloffen worven. Sie ent- 
hält die Gejchichte der Reichsabtei Züri — für die ältefte Zeit zugleich 
Stadtgeſchichte — bis zur Aufhebung des Stiftes durch die Reformation 
im Jahre 1524. 


Mohr, Conradin v., Archiv für bie Geſchichte der Republik 
Sraubündten. 27. Het. Züri. In Com. bei Meyer und Zeller, und 
28. Heft. Chur. Prabella. 8. 

Vortjegung der ſchon von dem Vater des Herausgebers begonnenen 
verbienftlihen Sammlung. Enthält die Denkwürdigkeiten (Schluß) des 
Marihalls Ulyſſes von Salis (F 1674), biftoriihe Schriften von 9. 
W. von Salis-Seewis und die Yortjegung der Codex diplomaticus Rhaetine, 

35% 





644 Ueberfiht der hiſtoriſchen Literatur 


Kronen, Gersid Meyer v. und Selsmen Bögelin, Zürder Te- 
ſcheubuch auf das Jahr 1858. Züri, Orell Füßli und Comp. 12. 

Bon hiftorifchen Intereſſe find bier beſonders eine Arbeit über ven 
Aufſtand Zürichs gegen die Helvetit im Jahre 1802 von Wilhelm Meter, 
und Auszüge aus Pellikans (ungedrudter Latein.) Chronik, verdeutſcht von 
©. Bögelin. 


Beftalozzi, Q, Bullinger, Heinrih, Leben unb ausgewählte 
Schriften. Nah handſchriftlichen und gleichzeitigen Quellen. Gfberfelb, 
Friederichs. 8. 

Eine ebenjo gründliche als anſprechende Biographie des ausgezeid: 
neten Mannes, der Zwingli's Nachfolger in Zürih war, defſſen Warte 
gerade im Momente der größten Gefahr aufrecht erhielt und währent 
mehr ald 40 Yahren bie Seele der Zürdherifchen Kirche bildete, vie m 
ihm recht eigentlicdy einen „Kirchenpater“ verehrt. Die Wirkſamleit, tie 
feine große Perfönlichleit auch in Verbindungen mit ben übrigen yrete 
ftantifhen Kirchen, des Feſtlandes und Englands, in mannigfacher Werk 
entfaltete, hat feinen Namen in ver Reformationsgefchichte allgemein be 
kannt gemadt. Auch als Verfaſſer einer trefflihen Geſchichte Züriche 
und der Eidgenofjenfchaft ift er ven Schweizern werth. Das vorliegente 
Bud) enthält die erfte volljtändige und zuverläſſige Schilderung Bullingers. 

—y— 
IV. Weſtliche und romaniſche Schweiz. 


Monumens de I!’ histoire de l’ancien dvöche de Bale par J. Trounil- 
lat. Tome troisitme. Porrentruy. V. Michel. 1853. 8. 


Der dritte Band eines umfangreichen, ſehr verdienſtlichen 
Urkundenwerkes, umfafiend bie Jahre 1300—1350 zur Geſchichte ve# 
Bisthums Baſel. Mit gleichem Fleiße bearbeitet, wie ſchon früher vie 
beiden erften Bände, 


Memoires et documens publids par la socidt6 d’histoire de la Suisse 
romande Tome XVI: Essai sur la feodalite, introduction au droit feodal 


du pays de Vaud par Edouard Secretan. Lausanne, G. Bridel 1858 et 
1859. 8. 


Eine Darftellung des Lehensſtaates und Lehenrechtes, mit vorzüglicher 
Berüdfihtigung der Wand. Die durchgehende Bergleihung allemannifcher 





bes Jahres 1858. 545 


und burgundifcher Zuftände und Verhältniſſe gibt dem Buche vorzüglichen 
Werth. 
“% 
Mem. et documens etc. Tome XV. Les fiefs nobles de la baronnie 
de Cossonay. Etude f6odale par M. 8. de Chassitre. Lausanne, G. Bridel. 
1858 et 1859. 8. 


Öleihfam ein ausgeführtes Beiſpiel im Einzelnen von demjenigen, 
was der vorgenannte Band im allgemeinen Zügen barftellt. Gründliche 
Geſchichte und Beichreibung der wichtigen waadländiſchen Freiherrſchaft 
Coſſonay. 


Wurſtenberger, L. Peter ber zweite, Graf von Savoyen, Rarlkgraf 
in Htalien, fein Hans und feine Lande. Bierter Theil. Urkunden. Bern, 
Staͤmpfli und Züri, Schultheß. 8. | 

Enthält die gefammelten urkundlichen Belege zu der grünblichen Ge- 
ihichte des Grafen Peter, der zur Machterweiterung des Savohyiſchen 
Haufes fo Vieles beigetragen bat, namentlich aber die Waad bemfelben 
gewann und bis zur Aare fein Fürſtenthum ausgevehnt haben würde, 
wern nicht Graf Rudolf von Habsburg ihm, wie nachmals als König 
Peters Nachfolgern, bier fiegreich entgegengetreten wäre. —y— 


7 





8. Großbritannien und Irland. 


Knight, Charles, The popularhistory ofEngland; and illustrated 
history of Society and government from the earliest period to our own 
times. Vol. IV. London. 509 S. 8. 

Bon dem Dürgerkriege unter der Regierung Carl I. (1642) bis 
zu dem Anfang ver Regierung Wilhelms (1692). 


Banli, Reinhold, Geſchichte von England. 5. Band. (Inu ber Samm⸗ 
ung: Geſchichte der europ. Staaten, herandgg. von Heeren und Udert.) Gotha. 
XXVI, 710 © 8. 

Der vorliegende Band umfaßt vie Gefchichte Englands von ber 
Thronbeſteigung des vierten Heinrichs im J. 1399 bis zum Tode bes 





546 Ueberfiht ber hiſtoriſchen Literatur 


fiebenten im J. 1509: eben bie Zeiten ber Umbildung zum mobernen 
Staatsweſen. Das Material bot hier ungleich größere Schwierigfeiten, 
als in dem früheren Bande, für welchen ungebrudte Quellen, namentlid 
in den Archiven ded Tower, dem Verfaſſer die Entvedung ber inneren 
Geſchichte Englands von ber Zeit Edwards I. bis zur Abfegung Richard II. 
erft ermöglichten. Während des Kampfes zwifchen ven Häufern Laucaſter 
und York dagegen verftummte nicht nur die Dichtung, fondern auch vie 
hiftorifchen Aufzeichnungen aller Art wurden immer mehr von Yeiren- 
ſchaften getrübt und immer dürftiger; bie Parteien, welche nach einanver 
zur Herrichaft gelangten, hatten überdies nicht nur fein Intereſſe für 
Aufbewahrung des urfundlichen Stoffes, fondern modten, wie bas in 
neuerer Zeit auch in Frankreich gefchehen -fein foll, eher auf eine Vernich⸗ 
tung von Aftenftüden Bedacht nehmen, deren VBorhandenjein fie compro- 
mittiren konnte. 

In der That war denn aud tie Nachlefe von ungebrudtem Stoffe, 
welche dem Verfaſſer blieb, verhältnißmäßig unergiebig. Durch dieſen 
Umſtand iſt aber die Beurtheilung einer ſo bedeutenden Leiſtung wie die 
vorliegende für den Referenten nicht ſonderlich erleichtert worden, obwehl 
man das bei einem Werke, deſſen Material größtentheils gedruckt iſt, er: 
warten jollte Denn durch das Paulifhe Wert wire man erſt redt 
belehrt, wie mangelhaft felbft einige der größten Bibliothefen des deutſchen 
Bundesgebietes mit den wichtigſten Quellenwerken für vie engliſche Ge 
ſchichte des fünfzehnten Jahrhunderts verjehen find. Es ift unmöglic, 
irgend eine Partie dieſer Geſchichte zu voller Befriedigung anderwärts ale 
mit Hülfe ver in England zu Gebote ſtehenden Mittel zu bearbeiten. 

Es kann nicht meine Abficht fein, hier einen Auszug aus einem 
Werke zu geben, das, wenn irgend eines, als ein ſicherer Ratbgeber für 
bie Zeit, die es behandelt, betrachtet werden darf. Man kann fagen, daß 
feine Seite einer menſchlichen Thätigkeit, wie fie diefe Periode Englands 
bietet, hier vernadyläffigt ift und daß eine Kritik des Details, wie in ven 
beiten früheren Bänden, fo auch bier turchgeht, welche für den Kenner 
in erfrenlichfter Weife gegen das abfticht, was die englifhen Gefchichts: 
werfe über dieſe Zeit Bieten, von denen kein einziges, aud) da8 von Man- 
hen jo gepriefene Yingards nicht, den Anforverungen auch nur entfernt 
zu genügen vermag, welche vie heutige deutſche Geſchichtsforſchung fteilt. 

Wie aber tie nüchterne Prüfung ver gleichzeitigen Zengniffe ven 





bes Jahres 1858. 547 


Berfafler für das Einzelne leitet, jo kommt fie ihm auch für die Auſchau⸗ 
ung des Ganzen auf das Beſte zu Statten, man kann fagen, Daß für 
die Charaktere ver hervorragendften Perfönlichkeiten bier zuerft unbefangene 
Bilder entworfen worden find. 

Einzelne Abfchnitte, wie der Krieg Heinrichs V. in Frankreich im 
Jahre 1415, oder die Anfänge Edward IV. — denn die Schreibung 
Eduard ſollte man doch heutzutage nicht mehr gebrauchen — gereichen 
unferer hiſtoriſcher Piteratur auch von Seiten der Darftellung zu befon- 
derer Zierde. Sehr wohlgeordnet, überſichtlich und inhaltreih ift am 
Schluffe die Schilderung der Entwicklung der imern Zuftände Englands 
im fünfzehnten Jahrhundert, ver Nachweis, welcher als Reſultat aus dem 
ganzen Bande gezogen wird, wie aus ber Zerſetzung und Umbildung 
während der furchtbarften Kämpfe das neue England und feine Freiheit 
erwuchs. „Mitten im wilteften Kampfe” jagt der Verf. (©. 660 ff.) 
„trotz des Verkommens ver Stände, der Mutblofigkeit der Geifter in 
einer zerftörenden Zeit ift doch der Rechtöbegriff in beſtändigem Wachs⸗ 
thum geblieben, fo daß ihm vie verfchievenartigften Fürften, wie Edward IV., 
Richard IM., Heinrih VII. um die Wette huldigten“. 


Wir dürfen nad der Vorrede die Fortjegung des trefflichen Wertes 
bis zum Ausgange der Familie der Tudors im nächſten Bande erwarten 
und fehen derſelben mit Freude entgegen. | M. B. 


Pictorial history of England: bieng a history of the people 
as well as a history of the kingdom. Illustrated with many hun- 
dred wood engravings. New edit. revised and extended. Vol. 6. London, 
Chambers. 8. 


Buckle, Henry Thom., History of Civilissation in England. 
Second edition. Vol. I. London, Parker et Son. 854 ©. 8, 


Creasy, . 3. The rise and progress of the English Con- 
stitution. 4 th. edition, revised, with additions. London, Bentley. 
406 ©. 8. | 


Barnes, Will., Notes on Ancient Britain and the Britons. 
London, J. BR. Smith. 170 © 12. 


Morgan, J. P.. England under the Roman Occupation. Lon- 
don. 8. 


‘ 


548 Ueberficht der hiſtoriſchen Literatur 


Die Geſetze ber Angelfahfen. In ber Urſprache mit Ueberfeung, 
Erläuterung und einem antiquarifchen Gloſſar, herautgegeben von Dr. Rein- 
bold Schmid, Prof. der Rechte zu Bern, zweite völlig umgearbeitete Auflage. 
Leipzig, 5. A. Brochhaus. LXXXIV, 680 ©. 8. 


Bon der im Jahre 1832 erſchienenen erften Ausgabe durchaus ver: 
jchieben, enthält viefes Wert auf S.XV— LXXXI einläßliche quellen- und 
literargefchichtl. Unterfuchungen über die angelſächſ. Rechtsventmäler ; auf 
©. 2—520 den Tert diefer Denkmäler felbft ſammt deutſcher und joweit 
ſolche erhalten ift, altlateinifcher Ueberfegung, auch einigen kritifchen und 
exegetifhen Anmerkungen; endlich auf S. 523 — 680 das antiguuarifche 
Gloſſar. Diefes letztere zumal enthält einen wahren Schas fleißig ges 
fammelten und fcharffinnig verarbeiteten Materials, das nicht allein dem 
Yuriften zu Gute kommt; denn aud der Hiftorifer wird aus ven gebie- 
genen Erörterungen 3.8. über Friede, Fehde, Rechtsbürgſchaft und vieles 
Andere reihe Belehrung ſchöpfen. 


The Wholo Works of King Alfred the Great, with Pre- 
liminary Essays illustrative of the History, Arts etc. of the Ninth Century. 
2 volle London. 8. 


Thierey,A., Histoire de la conquäte de l’Angleterre par les 
Normands, des ses causes et de ses suites jusqu’ & nos jours en Angle- 
terre, en Fcosse, en Hollande et sur le Continent. Nouvelle edition, revue 
et corrigee. Paris, Furne et Co. 2 Vol. VIII, 1064 p. 8. 


Unter dem Titel: Rerum Britannicarum Medii Aevi Scrip- 
tores, or Chronicles and Memorials of great Britain and 
Ireland during the Middle Ages, published by the authority 
of Her Majesty's treasury, under the direction of the Master 
ofthe Rolls 
erfcheint feit anderthalb Yahren in England einmal wieder ein Unterneh⸗ 
men, das e8 fi) zur Aufgabe macht mit Unterftügung der Regierung bis- 
her ungetrudte Quellen der vaterländiſchen Gefchichte zu veröffentlichen. 
Es ift befannt, wie bie Becord Commission die einft die Herausgabe 
großer Maſſen von Staatsurkunden, Geſchichtswerken und allem möglichen 
biftorifchen Material zunächft des Mittelalters in Angriff genommen, in 
ben dreißiger Jahren in Folge eines Parlamenssbefchluffes aufgelöft 
wurde. Die Veranlaſſung war, daß die verjchiedenen Theilnehmer fi in 





bes Jahres 1858. 649 


ärgerlicher Weife mit einander überworfen hatten, inbem einige von ihnen 
nur darum bemüht geweſen fich eine bequeme und wo möglich niemald en⸗ 
dende einträgliche Arbeit zu verſchaffen. So waren allerdings ganz uns 
glaublihe Summen aus dem öffentlichen Säckel geflofien, bis die ehren» 
wertben Abgeortneten es nicht länger vor dem Lande verantworten konn⸗ 
ten, Jahr aus Jahr ein denfelben hoben Sat für Sammlungen von Do— 
cumenten und Chronifen auszuwerfen, von denen nur ber kleinſte Theil 
verfprochener Maflen im Drude erſchien. Dan weiß, daß nachträglich, 
erft eine Reihe von Jahren nah Wuflöfung der Commiffion, im Sabre 
1848 der erfte und einzige Yolioband von Gefchichtichreibern veröffentlicht 
wurde, der die angeljähhfifche Periode nmfaßte und jevesmal, wo bie eins 
zelnen Worte über das Jahr 1066 binausreihen, unbarmberzig bei ber 
Eroberung abbridt. Er ift alfo ein Torſo geblieben, ziemlich trüdfeliger 
Art, zumal wenn man bebenft, wie viele taufende — man fagt 20,000 fl. — 
er allein gekoftet hat. Nach einer fo böfen Erfahrung fcheiterten lange 
Zeit alle Verfuche die Regierung und das Parlament zu einer ähnlichen 
Unterftägung zu vermögen. 

Nun war aber au in England inzwiſchen ein neuer, frifcher Sinn 
für ſyſtematiſchere Erforfhung der Vergangenheit erwacht, die politifche 
und efflefiaftifche Hiftorie, wor allen aber das Studium der Verfaſſungs⸗ 
Geſchichte verlangten ganz anders wie bisher burcdhgearbeitet zu werben. 
Zu dem Zwede war e8 unumgänglich nöthig den Zutritt zu den Quellen, 
die dort leicht ergiebiger al® irgend anderswo fließen bürften, zu öffnen 
oder bequemer zu machen. Wie viele Chronifen, Biographien, Briefe 
ſchlummerten noch unbenugt in ihren pergamentenen und papierenen Sär- 
gen, bald in großartigen öffentlihen Sammlungen aufgeftapelt, bald unter 
Staub und Spinneweb in fat gänzlich verfchollenen Erkerwinkeln alter 
Kapitalhäufer und Coronialfchlöjler. Wie ſchwierig war noch oft der Weg 
zu den ehrwürdigen Stellen ver Schaglammer und der Staatskanzlei, 
wie lagen die Räume des State Paper oflice, wenige Auserwählte ab- 
gerechnet, in der Regel unter ven Siegeln der Staatsfecretaire verfchloffen. 
Glücklicherweiſe hat die mächtige Stimme ter öffentlihen Meinung in ben 
legten zwanzig Jahren ſchon mandye thörichte Schranke umgeblafen; jetzt 
fallen fie immer zahlreicher, feitvem man ven Nuten des freien Zutritts 
zu fo vielem unfhägbaren Material kennen gelernt. Allein wenn berge 


ſtalt auch die ängſtliche Furchtſamleit des Beamtenthums Schritt für 


550 Ueberſicht der hiſtoriſchen Literatur 


Schritt hat weichen müäflen, fo durfte man ſich darum noch keineswegs ei⸗ 
ner pecuniären Beihilfe von Seiten ver Behörven getröften. Im ven 
Staatsurfunden mochte nun, wer Luft hatte, nachforfchen; war doch ber 
Zudrang hier nicht fo gewaltig, und war doch ehedem fchon Allerlei ge 
drudt worden. Aber die mittelalterlihen Hiftorien, wie Biele8 war va 
noch unedirt, wie mandyer Drud faum zu gebrauchen. Es iſt fehr bezeich- 
nend, wie ftarf ſich das große Intereſſe an dieſen Stoffen gerade unmit⸗ 
telbar nach Auflöfung der Record Commission zu äußern begann. Die 
England eigenthümlichen Büchergefellichaften, wie die Camden Society und 
bie ſchottiſchen Maitland, Boxburghe, Bannatyne und Abbotsford Clubs enthalten 
in den dreißiger und vierziger Jahren manchen bemerlenswerthen und oft 
trefflich bearbeiteten Abdruck, der, wenn ein nationale® Corpus, wie tie 
Monumenta Germaniae Historica vorhanden geweſen, bort feine Stelle ge- 
finden haben würbe. Um biefelbe Zeit entftand dann, von einer Anzahl 
meift fehr tüchtiger Männer begründet, die English Historical Society nad 
dem Mufter der von Guizot befürberten Societe de l’histoire de France. 
Dean edirte in bequemer Yorm, in der Regel verftändig und lobenswerth, 
eine Reihe von Autoren und Schriften, von denen manche freilich früher 
ſchon gedruckt geweſen, vie aber trotzdem gern gefehen waren. Allein es 
fehlte die Einheit des Plans und der Leitung, da die Werke feinen wei: 
teren Zufammenhang unter einander hatten und nur der einzelne Heraus: 
geber dem: wiffenfchaftlihen Bublicum gegenüber verantwortlih war. Auch 
war die Abnahme nicht gefichert und leiver wie bei ähnlichen früheren 
Unternehmungen bie finanzielle Verwaltung wieder fchlecht georbnet. So 
löfte fih die Geſellſchaft auf und fchlug ihren Druckvorrath unter dem 
Preife 108. Hier und da drudte nun wohl noch nad alter Weife ein 
reiher Edelmann ein hiftorifches Werk auf feine Koften; im Ganzen aber 
war man in England beinahe unproductiv, während eben in Deutfchland, 
Frankreich, Italien, überall dur nationale Kräfte geförbert, großartige 
Ergebniffe zu Stande kamen. 

Wurde nun auch diefe wenig ehrenvolle Bergleihung in England 
felbft an einflußreicher Stelle bitter empfunden, fo fam es doch eine Weile 
nicht einmal zu einem neuen Verſuche. Der von competenter Seite ge⸗ 
machte Antrag, doch wenigftens ven einen Bund Gefchichtfchreiber wieder 
aufzunehmen und aus dem maflenhaft vorhandenen, zum Theil ſchon vor- 
bereiteten Material fortzufeßen, mwurbe, wie wir zu willen glauben, nicht 





bes Jahres 1858. 515 


ohne Beifall aufgenommen; aber nicht etwa die Zaghaftigkeit, das Haus 
der Gemeinen un neue Mittel anzugeben, fondern böswillige, faft rad 
füchtige Ränke, die noch an die alten Borgänge anknüpfen, baben ihn zu 
Schanden gemadt. Es war umfonft, daß die erften Gefchichtfchreiber ver 
Gegenwart, vor allen Macaulay, ein dringend empfehlendes Gutachten ab» 
gaben, daß felbft auswärtige Gelehrte fi) um die Förderung bemühten, 
umfonft fogar, daß die Schagfanmer den Plan befürmortete. 

So ftand es wieverum einige Jahre hoffnungslos, bis der gegen» 
wärtige Master of the Rolls, Sir Jobn Romilly, nad) den alten Beftim« 
mungen feines Amts zugleich Borfigender eines Zweige des Kanzleigerichts« 
bof8 und Borftand fünmtliher Staatsarchive, zu Anfang 1857 fih mit 
- einem Borfchlage an die Schaglammer wandte, der ihm von ſachkundigen 
Männern behufs der Herausgabe der die Zeit von Julius Cäſar bis auf 
Heinrih VII. umfafienden nationalen Geſchichtsdenkmäler gemacht worden 
war. Die Grundzüge waren die folgenven. Die Sammlung foll feine 
einheitliche fein upd ohne dhrenologifche Reihenfolge. Die einzelnen Werke 
follen zu ihrer vollftändigen Herausgabe einzelnen dazu befugten Gelehrten 
übertragen werden, zunächſt wo möglich inedita, bei denen der Text fri- 
tifch durch forgfältige Gollation der Handſchriften feftzuftellen if. Es wird 
verlangt, daß alle benugten Manuferipte näher nad Alter und Werth 
bezeichnet, daß Alles, was fich über Leben und Zeitalter des Verfaſſers, 
über feine Chronologie und Glaubwürdigkeit fagen laſſe, beigebracht werbe. 
Noten werten nur zugelaffen, fo weit fte wegen Teftftellung des Textes 
erforterlic) find. Es wird das Octavformat gewählt. Die Werke werben 
einzeln veröffentlicht, und übernimmt jeber Herausgeber ausſchließlich bie 
Berantwortlichfeit für das feine. “Der Master of the Rolls aber mählt bie 
Herausgeber unter der Sanction der Schatzkammer. Wenige Wochen fpä> 
ter ſchon erflärte fich die letstere mit biefem Entwurfe einverftanden, indem 
fie nur Weniges zur Präcifirung desſelben hinzuzufügen hatte. 

Wie wir hören, wurden nun alsbald 3000 2. jährlich ausgeworfen 
als Honorar für die Mitarbeiter, denen die erftaunlich hohe Summe von 
8, in einigen Fällen fogar 10 2. für ven Bogen zugefihert wird. “Der 
Drud und feine Koften, der Einband und die übrige Ausflattung der 
Werke find ganz unabhängig hiervon der Staatsofficin überwiefen. Nach 
dem man noch einige kurze Gejchäftsregeln entworfen um doch etwas 
Gleichförmigkeit in ven Werken zu erzielen, woraus wir namentlich vie 


562 neberſicht ber hiſtoriſchen Literatur 


Forderung gewiſſenhafter Indices und ver beſonders für das Angelfädh- 
fiſche, Altfranzöfifhe, Walliſiſche und Iriſche unerläßlichen Gloſſaren, fo 
wie genaue Befolgung der urfprünglichen Orthographie hervorheben möch⸗ 
ten, begab man fi an’ Werk und fürderte ſchon nach Verlauf eines 
Jahres die erften Refultate an's Licht. 

Ueber die Ausführung ftcht nunmehr dem ſachverſtändigen Publicum 
im Auslande fo gut wie in England felber ein Urtheil zu. Zunächſt be» 
klagt Schreiber dieſes, auch nachdem feine Aeußerungen im Vorworte zum 
fünften Bande ver Engliſchen Geſchichte in Saturday Rewiew vom Sep 
tember 1858 heftig angegriffen worden, doch eben fo ernſtlich wie zuvor, 
baß, da die Regierung doch einmal wieder die Sache in die Hand genom- 
men, feine fefte Oberleitung entweder in einer Perfon oder commiflarifch 
beliebt worben iſt. Es fehlt bei diefen Unternehmungen in England noch 
fehr empfindlih an der Difeiplin, die man fi im Branfreich Durch bie 
Wirkſamkeit der Ecole des chartes, in Deutfchland darch die Berbindung 
ver Geſellſchaft für ältere deutſche Geſchichtskunde mit, der Herausgabe 
der Monumenta verfchafft hat. Immer wierer beginnt man von unten 
auf und verwirft gewaltige Maffen ſchätzenswerther Vorarbeiten, vie fehr 
gut zur Örundlage eines foftematifhen Planes hätten dienen können. Die 
Haft zu drucken und zu eviren ift zu groß, vie Zahl der Herausgeber zu 
bedeutend, die Garantie für ihre Tüchtigkeit nicht immer genügend, fo daß 
fofort die Anklage auf Dilettantismus erhoben werden muß. Werfe man 
doch nicht ein: Wenn wir wie Bouquet und Perk von Jahrhundert zu 
Jahrhundert langfam fortfchreiten wollten, fo würden wir eine Neiße 
wichtiger Autoren und Documente niemals geprudt fehen; darum lieber 
fchlecht ebirt al8 gar nicht! Soll die Nation zu folden Zweden beträcht- 
lihe Summen hergeben, follte nicht vielmehr, wie die Schatzkammer aus 
prüdlich bemerkt, ein Werk von hoher nationaler Bedeutung — for the 
accomplishment of this important national subject — zur Ausführung 
fommen, indem man wohl weiß, wie weit man in ber Rivalität mit an⸗ 
bern Ländern zurüdgeblieben? Gäbe es eine Oberleitung mit Generalre⸗ 
pertorien und einer Abfchriftenfammlung aud für die noch nicht in Angriff 
genommenen Zeiträume, fo würde der einzelne Gelehrte, ver dieſes ober 
jenes Schriftftüc zu benugen wünfchte, gewiß leicht und genügend Auskunft 
erhalten können. Nein, wieverholen wir es, ein Corpus feiner mittelalter 
lichen Gefchichtfchreiber unter fachlundiger Oberleitung wäre Englands wür⸗ 





des Jahres 1858. 553 


dig gewefen. Materialien, jo reich und fo bequem zur Hand wie nirgend 
anderswo, bedeutende Vorarbeiten, die Erbſchaft der Record Commission, 
würden die Ausführung ungemein beſchleunigt haben. Die Gelegenheit ift 
leiver abermals, und wir fürdjten, zum Testen Male verfän 
Statt deſſen hat man im Grunde nur denſelben Plan wieder 
men, ben die Societ# de l’histoire de France und die English hi 
society befolgt, ohne allen Zufammenhang, ohne fefte Reihenfolge, mit ven 
einzigen Unterſchiede, daß ver Staat die Mittel hergibt und ein hoher 
Staatöbeamter die Mitarbeiter bezeichnet, ohne jedoch felber für die Site 
ihver Leiſtungen verantwortlich zu fein. Friede unter den Mitarbeitern 
wird allerdings erzielt, indem fie ja nichts mit einander ober mit einen 
Vorgeſetzten zu ſchaffen haben. Aber es wird ſich zeigen, ob die Wahl 
und Behandlung ver Gegenftände das Publicum ftets gleichmäßig befrie— 
digen werben, ob nicht bei wiederholten Klagen das Haus der Gemeinen 
wie ehedem feine Bewilligung, die meit mehr als jene 3000 fl. beträfe, 
zurüdziehen wird mit dem Bemerken, das Land fünne fie beſſer gebrauchen 
als um einige Fiteraten zu füttern, deren unglückliche Madwerke doch Nie- 
mand fauft und liest. Der Verlauf ift abzuwarten, und wir wollen u 
nicht unterfangen ihn worauszufagen, 






Auf der andern Seite find wir aber gewiß die legten den Nupen zu 
verfennen, der, fo unvollfommen die Anlage fein mag, ſchon jegt von bem 
Unternehmen geftiftet wird, Der Eifer des Master’s of the Rolls und 
einiger bewährten Männer, die zum Theil vergeblich für die Befolgung 
eined anderen Syſtems geftritten, jo wie die Energie, mit welder man in 
achtzehn Monaten ſchon fünfzehn Bände veröffentlicht hat, finb im der 
That über alles Lob erhaben, Auch die Ausjtattung der Werfe, Drud, 
Papier, Einband, die Beigabe vortreffliher Facſimiles find fo ausgezeich 
net, wie man es nur in England gewohnt if. Dazu ein von der Behörde 
dem Berleger geſetzter höchſt mäßiger Preis, da ja der Staat bezahlt und 
nicht verbienen will: eim jeder Band foftet nur 8 Sh. 6 Pe. (2 Thlr. 
25 Sgr.), er mag 200 oder 1000 Seiten ftark fein. Endlich ift das 
Format, Großoctav, für den Arbeitstiſch beſonders bequem. — Es mag 
nun hier eine Angabe und furze Beurtheilung ver einzelnen Werke folgen, 
fo meit fie erjchienen find. Den Reigen eröffnen ein paar Arbeiten, bie, 
wenn noch viele ähnliche Mißgriffe bei der Wahl des Gegenftandes und 


554 Ueberficht der hiftorifchen Literatur 


feines Behandlers gefchehen wären, das Ganze von vorne herein mit Ber: 
derben hätten bedrohen müſſen! 

The Chronicle of England by John Capgrave ed. by the Rev. F.C, 
Hingeston, M. A. of Exeter College, Oxford. Es ıft das Werf eines 
Auguftinerbruders des fünfzehnten Jahrhunderts, Das, ſelbſt wo es gleichzeitig, 
nur geringen unmittelbaren Werth bat, und deſſen Bedeutung cher in tem 
Engliſch feiner Zeit ald in dem Inhalt zu fuchen if. Die Ausgabe nach 
zwei Handſchriften ift über alle Begriffe unkritiſch und befunvet große Un: 
befauntjchaft mit Manufceripten wie mit dem älteren vaterländiſchen Di- 
alekte. Herr H. bat Einleitung, Appendix, Inder und Gloſſen mit allen 
möglichen Ueberflüſſigkeiten ausgeftattet, die oft geradezu kindiſch ſind. Bon 
den vielen argen Berftöjfen nur zwei. ©. 56 heißt es: Judas Macabeus 
eonquered the lond of Inde. Das ift nicht allein verlefen für Jude, 
ſondern im Inter ſteht buchſtäblich: India conquered by Judas M. Und 
das deutet ein Oxforder grabuirter Geiftliher! S. 173 fteht im Tert: 
Walace ..... . mad al the cuntre rebel to Edward the kyng, und in ber 
Rubrik am Rande: Rebellion of Wallace in favour of the English king. 
Derfelbe Gelehrte hat ein anderes Werk deffelben Autors herauszugeben 
gewagt: 

Johannis Capgraeve Liber de Illustribus Henricis, eher eine Puncgyri: 
ſche als hiſtoriſche Schrift, die in drei Abtheilungen zuerft die deutſchen 
Kaifer des Namens Heinrich vom erften bis zum fechöten in elenden Aus- 
jügen aus Martinus Polonus und Gottfried von Viterbo behandelt, dann 
vollftändiger und bisweilen nicht uneben vie englifchen Heinriche, gleichfalls 
vom erften bis zum fechöten, und fchließlih andere Männer, vie denfelben 
Namen trugen und dein Verfaſſer bemerfenswerth erfchienen. Die Leiſtung 
bes Herausgebers ift hier eben fo nichtewürbig als beim altenglifchen Texte. 
Er legt das fchledytere Danufeript zu Grunde und läßt Tert und Fac⸗ 
fimile vol der ärgften Schnitzer. Aber noch mehr. Er unterfteht ſich, 
ganz unbefugt und auf eigene Hand eine englifche Weberfegung dieſes 
Buches herauszugeben; und da findet fid) der Vers, der von ber tempo⸗ 
rären Beifegung Kaiſer Heinrichs IV. zu St. Afra handelt: Affra Capella 
fecit, quae patris ossa tulit folgendermaffen übertragen: A she-goat’s 
skin received his fathers bones, Ein Ziegenfell empfing des Vaters 
Sebeine. Hätte es doch auch auf immer Herrn H's editoriſche Machwerke 


empfangen ! 





bes Jahres 1858. bb5 


Fasciculi Zizaniorum Magistri Johannis Wiclif cum tritico, ascribed 
to Thomas Netter of Walden etc. ed. by the Rev. W. W. Shirley, M.A. 
Tutor and late fellow of Wadham College, Oxford. &8 ift dies eine 
Driginalfammlung der Thefen und Streitfchriften aus der großen Eon 
troverfe, weldye der Neformator einft zu Oxford mit dem Carmeliter John 
Cuningham führte, und wie fie nad) feinem Tode noch von einigen feiner 
Schüler fortgefegt wurde. inzelne vürftige hiftorifche Notizen verbinden 
bie einzelnen Stüde. Es fragt ſich doch fehr, ob diefer theologische Gegen⸗ 
ftand überhaupt in die Sammlung gehört; nach unferem Dafürhalten ift 
es vielmehr eine alte Phrafe der Univerfität Oxford die Werfe eines ihrer 
größten Lehrer, den fie noch immer als Hereſiarchen zu betrachten fcheint, 
möglichft Fritifh und vollftändig herauszugeben. Allein Herr ©. bat nun 
einmal übernommen fih im Namen ver Alma Mater auszulaffen. Ohne 
fi unwürbige Ziegenböde wie fein Univerſitätsgenoſſe zu Schulden kom⸗ 
men zu laſſen, hat er doch in der ausführlichen Einleitung über die vielen 
ftreitigen Punkte im Leben, in der Lehre und der geſammten Wirkſamkeit 
Wiclif's mit einer Vornehmheit und Verachtung gegen jehr gewichtige Au- 
toritäten abgeurtheilt, vie ihm bereit8 einen fehr verdienten Tadel zugezos 
gen bat. Er bat weber die bewährten Echriften des Dr. Baughan, ver 
zu feinem Ungtüd ein Diffenter ift, nod eine Reihe gediegener Werke 
deutſcher Profefioren über den Gegenftand jemals gründlich ftubirt und 
nimmt fih dennoch heraus, fie in einem ähnlichen Zone zu behanveln, 
wie ihn die Bettelmönde zu Oxford im vierzehnten Jahrhundert gegen 
Wiclif angefchlagen. in vernichtenter Artikel im Britisch Quarterly Re- 
view vom Dftober 1858 ſtammte zweifeldohne aus der Weder des Dr. 
Baughan felber. — Es ift ein wahres Glüd für das ganze Unternehmen, 
daß fo arge Verſtöße feiner Orforder Deitarbeiter noch zeitig Durch treff- 
liche Arbeiten einiger Gelehrten aus Cambridge, freilih zum Beten dieſer 
Univerfität, aufgewogen worben find. 

Lives of Edward the Confessor. 1. La Estoire de Seint Aedward 
le Rei. 2. Vita beati Edvardi Regis et Confessoris. 3. Vita Aeduuardi 
Regis qui apud Westmonasterium requiescit. Ed. by H. R. Luard M. A. 
Fellow and assistant tutor of Trinity College, Cambridge, — drei ver: 
ſchiedene Stüde, die venfelben Gegenftand behandeln. Das erfte, ein fehr 
ſchätzenswerthes altfranzöjiiches Epos, rührt wahrfcheinlich von einem Mönche 
ber Abtei zu Weftminfter ber, ift im Jahre 1245 gefchrieben und ver 





656 Ueberficht ber hiſtoriſchen Literatur 





Königin Heinrichs TI., Eleonore von Provence, zugeeignet. Die Driginal- 
bandfchrift ift mit ſehr werthuollen Miniaturen geziert. Der Stoff ift den 
Büchern des Aelred von Rievaulx entnonmen, die ſich wieder auf die bekannte 
von Osbern verfaßte Biographie des heiligen Königs ſtützen. Doch treffen wir 
auch. auf Eigenthümliches, 3. DB. über die beiden wilden Söhne Knut des 
Großen, die nady einander in England berrfchten. Gloſſen und Uebr- 
fegung bezeugen die Meiſterhand eines wirklichen gelehrten Herausgebers. 
Das zweite Stüd, eine gekürzte lateinifche BVerfification deſſelben Aelred, 
gehört erft dem fünfzehnten Jahrhundert an. Das dritte eine lateiniſche 
Biographie in Profa, dünkt uns das wichtigfte des ganzen Bandes zu fein. 
Der anonyme Berfafler, ſchon von Osbern benutzt und fpäterhin bier mt 
ba angezogen, ift ein Zeitgenoſſe des letten Sachſenkönigs und ver Erobe— 
rung Englands durch die Normannen. Er bat für die Königin Editha, 
alfo noch vor ihrem im Jahre 1074 erfolgten Tode, gefchrieben. Trotz 
dem gibt er fi) feine Mühe vie unbeilvolle Schwäche des armen Königs: 
zu verbergen. Durch und durch Sachſe, hegt er eine große Verehrung 
für den Earl godwine und deſſen Defcendenz und zollt ihnen gerechtes 
Lob, wonach wir nicht nur in den normännifchen Hiftorien, fontern ſelbſt 
in neueren Werfen vergeblich fuchen müſſen. Das Buch enthält eine große 
Menge wichtiger Züge der hervorragenden - Perfönlichleiten und muß tee 
halb als cine echte Zugabe zu unferer Kunde ver Zeit gelten. Es ıft 
nach der einzigen fehr verberbten Handſchrift mit klaſſiſcher Gewiſſenhaftig⸗ 
feit herausgegeben. 

Historia Monasterii S. Augustini Cantuariensis, by Thomas of Eim- 
ham etc. ed. by C. Herdwich, M. A. Fellow of St. Catharines Hall, Cem- 
bridge. in umfaſſendes Zeitbuch des Mutterkloſters des katholiſchen Eng⸗ 
lands, jenes Stiftes, das während des ganzen Mittelalter8 mitder Kathedralkirche 
am felben Orte in erbitterter Nebenbublerichaft lebte, feitven e8 ten Mönchen 
der leteren gelungen, die Beftattung der Erzbifchöfe vom Gottesader St. 
Auguſtin's zu fich herüber zu ziehen. Immer wieber bei großen unt flei- 
nen Anläfien finden wir den Abt des Kloſters mit dem Primas von ganz 
England in Hader. Die Päpfte ftellen ſich pfiffig bald zu diefem, bald zu 
jenem, tie englifchen Könige haften faſt durchweg zur Kathedrale. Frühe 
ſchon bat e8 ähnliche Zeitbücher von St. Auguftın gegeben, dod bat jih 
nur eines erhalten, ehe Elmham unter Heinrich V. nad einem großartigen 
Plane und aus reihen Materialien feine Kloſterchronik. abfaßte. Bor allem