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Full text of "Historische Zeitschrift"

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Library 


Historische  Zeitsclirift 

Begründet  von  Heinrich  v.  Sybel 


Unter  Mitwirkung  von 

Paul  Bailleu,  Georg  von  Below,  Otto  Hintze, 

Otto  Krauske,  Max  Lenz,  Eridi  Mardcs,  Sigmund  Riezler, 

Moriz  Ritter,  Karl  Zeumer 

herausgegeben  von 

Friedrich  Meinecke 


Der  ganzen  Reihe   111.  Band 
Dritte  Folge  —  15.  Band 


München  und  Berlin  1913 
Druck  und  Verlag  von  R.  Oldenbourg 


D 
I 


INHALT. 


Aufsätze.  Seite 

Studien  zur  Entwicklung  und  Bedeutung  der  universalgesciiichtlichen  An- 
schauung.   H.     Von  J.  Kaerst 253 

Die  Volkszahl  als  Faktor  und  Gradmesser  der  historischen  Entwicklung.   Von 

Karl  Julius  Beloch 321 

Die  Gesetze  des  Oaius  Gracchus.     Von  Walter  Judeich      473 

Lombardische  Chronisten  des  13.  Jahrhunderts.     Von  Alfred  Dove   ....        1 

Staindel-Funde.     Von  Paul  Lehmann 15 

Gallikanismus  und  episkopalistische  Strömungen  im  deutschen  Katholizismus 
zwischen  Tridentinum  und  Vaticanum.  Studien  zur  Geschichte  der 
Lehre  von  dem  Universalepiskopat  und  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes. 

Von   Fritz  Vigener 495 

Kurfürst  Maximilian  Emanuel  von  Baiern  und  die  schweizerische  Eidge- 
nossenschaft   in    den    Jahren    1702   und  1703.      Von    Gerold    Meyer 

von  Knonau 41 

Zur  Beurteilung  Rankes.     Von  Friedrich  Meinecke 582 

Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.     Von  Karl  Theodor  Heigel  ...     54 
Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  Von  Karl  Alexander  v.  Müller     89 

Miszellen. 

Zur  neuesten  Literatur  über  die  Aufgaben  der  Genealogie.    Von  Fritz  Kern  600 
Die  ältesten  Formen  der  slawischen  Siedlung.     Von  Erich  Missalek    .    .    .  610 
Zu  Noel  Valois,  Le  Pape  et  le  Concile.  (Entgegnung  von  N.  Valois;  Schluß- 
wort von  J.  Hai  1er) 338 

Radowitz  de  se  ipso.     Von  Friedrich  Meinecke 151 


Literaturbericht. 


Seite 

Allgemeines: 

Geschichtsphilosophie       .      137,  615 

Staatslehre 617 

Gesammelte  Schriften  ....  349 
Jahresberichte 141 

Hilfswissenschaften  (Paläographie) .   358 

Mittelalter: 

Fränkische  Immunität  ....  359 
Städtegeschichte  ....  149.  363ff. 
Kirchen-  und  Papstgeschichte 

146.  620ff. 
Ausgehendes  Mittelalter  .    .       374ff. 

Reformationszeit     .    .    .     152.  384.  625 

Gegenreformation  (Jesuiten)    .    .    .   390 

17.  und   18.  Jahrhundert: 

Der  Große   Kurfürst 154 

Der  Deutsche   Reichstag     .    .    .   392 

Aufklärung  (Nicolai) 156 

Napoleonische  Zeit   .    .    .      158.  627 


Seite 

19.  Jahrhundert   (Zollverein;   1848) 

159.  394 
Allgemeine  Verfassungsgeschichte    .   162 

Kirchengeschichte 630.  396 

Deutsche  Landschaften: 

Nürnberger  Buchhandel  ....   397 

Frankfurt  a.  M 635 

Nieder-  und  Mittelrhein  ....   401 

Paderborn 166 

Friesland 168ff. 

Mecklenburg       171.  641 

Brandenburg 173 

Deutschorden 174 

Österreich 176ff. 

Schweiz 179 

Frankreich 182ff. 

England 187 

Spanien 188 

Asien  (Iran;  Juden  in  Arabien)    .   189ff. 
Amerika 195 


IV 


Inhalt. 


Alphabetisches  Verzeichnis  der  besprochenen 
Schriften. 

(Enthält  auch  die  in  den  Aufsätzen  und  den  Notizen  und  Nachrichten  besprochenen 
selbständigen  Schriften.) 


Seite 

Marie  Albrecht,  Mirabeau  und  die 
Erklärung  der  Menschenrechte  .  676 

Allen,  Forum  Conche.  Fuero  de 
Cuenca 188 

An  er,  Der  Aufklärer  Friedrich  Ni- 
colai      156 

Archiv  Cesk^^.     Bd.  28 463 

Aubin,  Die  Verwaltungsorganisa- 
tion des  Fürstbistums  Paderborn 
im  Mittelalter 166 

Recueil  des  Instructions  donnfees  aux 
ambassadeurs  et  ministres  de 
France  depuis  les  trait6s  de  West- 
phalie  jusqu'ä  la  rövolution  fran- 
^aise.  Bd.  18:  Didte  germanique, 
avec  une  introduction  et  des  notes 
par  B.  Auerbach 392 

Bahre,  Handel  und  Verkehr  der 
Deutschen  Hanse  in  Flandern 
während  des  14.  Jahrhunderts  .  371 

Berliner  geschriebene  Zeitungen  aus 
dem  Jahre  1740.  Hrsg.  von  R. 
Wolff 675 

Bernheim,  Staatsbürgerkunde  .    .  409 

de  Berzeviczy,  B6atrice  d'Aragon, 
reine  de  Hongrie 374 

Beschreibung  des  Oberamts  Mün- 
singen   458 

Beschreibung  des  Oberamts   Urach  458 

Beuzart,  Les  h6r6sies  pendant  le 
moyen  äge  et  la  rfeforme  dans  la 
r6gion  de  Douai 429 

Bier  mann,  Aus  Karl  Georgs  Win- 
kelblechs (Karl  Marios)  litera- 
rischem Nachlaß 200 

Bismarck,  Gedanken  und  Erinne- 
rungen. Neue  Ausgabe  von 
Kohl 201 

Blasel,  Geschichte  von  Kirche  und 
Kloster  St.  Adalbert  zu  Breslau  249 

Bloch,  Mecklenburg  zu  Beginn  der 
Freiheitskriege 449 

H.  Boehmer,  Die  Jesuiten.  Eine 
historische  Skizze.     3.  Aufl.   .    .  670 

Bratli,  Philippe  II,  Roi  d'Espagne  438 

Bredt  s.  Carlyle. 

Briefwechsel  der  Brüder  Ambrosius 
und  Thomas  Blaurer  1509 — 1567. 
Herausgegeben  von  der  Badi- 
schen Historischen  Kommission, 
bearbeiet  von   Schieß    .    .    .    .  625 

Briefwechsel  des  Ubbo  Emmius. 
Hrsg.  von  Brugmans  und 
Wächter 170 

Brinkmann,  Wustrau,  Wirtschafts- 
und Verfassungsgeschichte  eines 
brandenburgischen  Rittergutes  .   173 

Brugmans  s.  Briefwechsel. 

Bryce  and  Ward,  International 
Congress  of  Historical  Studies. 
London  1913 407 

Buchegger,  Verfassung  und  Ver- 
waltung der  Stadt  Konstanz  im 
18.  Jahrhundert 457 


Seite 

Carlyle,  Frühe  Könige  von  Nor- 
wegen.   Übersetzt  von  Bredt   .  656 

Ca ron, Manuel  Pratiquepourl'6tude 
de  la  Revolution  Fran^aise    .    .  232 

A.  Cartellieri,  Philipp  II.  August 
und  der  Zusammenbruch  des 
angevinischen  Reiches     ....  657 

O.  Cartellieri,  Beiträge  zur  Ge- 
schichte der  Herzöge  von  Bur- 
gund 427 

Chateaubrun,  Notice  sur  le  Comte 
Stanislas  de  Clermont-Tonnerre    233 

Mc.  Clellan,  Smuggling  in  the  Ame- 
rican Colonies 443 

Clemen  s.  Luther. 

Correspondance  du  comte  de  La 
Forest  (publ.  Grandmaison)  .   236 

Croon,  Die  landständische  Verfas- 
sung von  Schweidnitz-Jauer  .    .   248 

Curschmann,  Die  Landeseinteilung 
Pommerns  im  Mittelalter  und  die 
Verwaltungseinteilung  der  Neu- 
zeit   247 

Daudet,  A  travers  trois  sifecles   .   673 

Deermann,  Ländliche  Siedelungs-, 
Verfassungs-  und  Wirtschafts- 
geschichte des  Venkigaus  und  der 
späteren  Niedergrafschaft  Lingen  459 

Delachenal,    Histoire    de    Charles    V. 
Bd.  1   u.  2 182 

Devrient,  Familienforschung     .    .  600 

Dictionnaire  d'histoire  et  de  g6o- 
graphie  eccl6siastiques.  Lfg.  6 — 8  646 

Dierauer,   Geschichte  der  schwei- 
zerischen     Eidgenossenschaft. 
Bd.  1,  2.  Aufl 455 

Diether,  Leopold  v.  Ranke  als 
Politiker      582 

V.  Dobschütz,  Das  Decretum  Ge- 
lasianum  de  libris  recipiendis  et 
non  recipiendis  in  kritischem 
Text  herausgegeben  und  unter- 
sucht     414 

Dont,  Der  heraldische  Schmuck  der 
Kirche  des  Wiener  Versorgungs- 
heims   648 

Dorfeid,  Untersuchungen  zu  Gott- 
fried Hagens  Reimchronik  der 
Stadt  Köln  nebst  Beiträgen  zur 
mittelripuarischen  Grammatik   .  662 

Dragendorff ,  Westdeutschland  zur 
Römerzeit 207 

Dürrwächter,  Jakob  Gretser  und 
seine  Dramen 671 

V.  Dungern,  Die  Entstehung  der 
Landeshoheit  in  Österreich     .    .    176 

Egelhaaf,  Politische  Jahresüber- 
sicht für  1912 687 

V.  Egloffstein,  Ein  Sohn  des 
Frankenlandes  in  großer  Zeit  .  452 

Enactments  in  Parliament  specially 
concerning  the  Universities  of 
Oxford  and  Cambridge.  Ed.  by 
Shadwell 662 


Inhalt. 


Seite 

Engel,  Repertorium  des  Stadt- 
archivs Colmar.     1.  Lfg 244 

Fayen,  Lettres  de  Jean  XXII. 
Tome   II 218 

Fehling,  Die  europäisciie  Politik 
des  Großen  Kurfürsten  1667  bis 
1688 154 

Fehling  s.  Urkunden. 

H.  Fisher,  Napoleon 678 

V.  Freytag-Loringhoven,  Die 
Führung  in  den  neuesten  Kriegen. 
1.  Heft:  Das  russische  Oberkom- 
mando in  der  europäischen  Tür- 
kei im   Kriege   1877—1878      .    .   241 

Fries,  Lehre  vom  Staat  bei  den 
protestantischen  Gottesgelehrten 
Deutschlands  und  der  Niederlande 
in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts       617 

Fürstenwärther,  Kaiser  Maximi- 
lian von  Mexiko 684 

Gaertner,  Der  Kampf  um  den 
Zollverein  zwischen  Österreich 
und  Preußen  von  1849 — 1853   .   159 

Gallavresi  s.  Manzoni. 

Gedichte  des  Archipoeta,  hrsg.  von 
Manitius 420 

G^rardot,  Die  Optionsfrage  in 
Elsaß-Lothringen 457 

Ghetti,  Storia  politico-nazionale 
d'Italia  della  fine  dell'  impero 
romano  occidentale  fino  ai  nostri 
giorni.     Bd.  3 429 

Götze,  Die  altthüringischen  Funde 
von  Weimar 207 

Gold  mann,  Der  andelang  .    .    .    .417 

Gooß,  österreichische  Staatsver- 
träge.  Fürstentum  Siebenbürgen  178 

Grandmaison  s.  Correspondance. 

Greven,  Die  Anfänge  der  Beginen  620 

Günzel,  österreichische  und  preu- 
ßische Städteverwaltung  in  Schle- 
sien während  der  Zeit  von  1648 
bis  1809,  dargestellt  am  Beispiel 
der  Stadt  Striegau 461 

Hampe,  Ein  ungedruckter  Bericht 
über  das  Konklave  von  1241     .   216 

Härtung,  Karl  V.  und  die  deut- 
schen Reichsstände  von  1546  bis 
1555 384 

Hatzig,  Justus  Moser  als  Staats- 
mann und  Publizist 675 

Hauffen,  Geschichte,  Art  und 
Sprache  des  deutschen  Volks- 
liedes in  Böhmen      462 

Hauß,  Kardinal  Oktavian  Ubaldini, 
ein  Staatsmann  des  13.  Jahr- 
hunderts       424 

Heisenberg,  Der  Philhellenismus 
einst  und  jetzt 409 

Hecker,  Religion  und  Politik  in 
den  letzten  Lebensjahren  Herzog 
Georgs  des  Bärtigen  von  Sachsen  435 

Hennequin,  Zürich,  Massena  en 
Suisse 179 

Hermelink,  Handbuch  der  Kir- 
chengeschichte, Bd.  3:  Reforma- 
tion und  Gegenreformation    .    .  221 

Herre,     Hofmeister,     Stube, 

Quellenkunde  zur  Weltgeschichte  645 

Hofmeister  s.  Herre. 


Seite 

Holder-Egger  s.  Monumenta  Ger- 
maniae. 

Huisman,  La  juridiction  de  la 
municipalit6  Parisienne  de  Saint 
Louis  k  Charles  VII 184 

Innes,  Source  Book  of  English 
History  for  the  use  of  schools  .   199 

Ireland,  Life  of  Sir  Henry  Vane 
the  Younger 187 

Jahn,  Die  Kanzlei  der  Stadt  Zerbst 
bis  zum  Jahre  1500 648 

Jahresberichte  der  Geschichtswissen- 
schaft.    30.  bis  33.  Jahrg.   ...    141 

Jegel,  Die  landständische  Verfassung 
in  den  ehemaligen  Fürstentümern 
Ansbach-Bayreuth 690 

Jörgensen,  Fremmed  Indflydelse 
underden  Danske  Kirkes  tidligste 
Udvikling 655 

— ,  Studier  over  danske  middelalder- 
lige  Bogsamlinger 656 

Johnson,  The  swedish  Settlements 
on  the  Delaware 195 

Jülicher,  Ein  Blatt  aus  der  Ge- 
schichte des  Kampfes  um  die 
Freiheit  der  Geister  im  16.  und 
17.  Jahrhundert 669 

Karmin,  La  question  du  sei  pen- 
dant  la  rfevolution 677 

Käser,  Deutsche  Geschichte  im 
Ausgang  des  Mittelalters  (1438 
bis  1519).     Bd.  2 376 

Katalog  der  Nürnberger  Stadtbiblio- 
thek.    2.  Bd 648 

Kircheisen,  Napoleon   I.  Bd.  1     .    158 

Klaje,  Bilder  aus  Pommern   .    .    .   449 

Klee,  Eines  deutschen  Hauslehrers 
Pilgerschaft  durch  Land  und 
Leben  (1792—1818),  hrsg.  von 
v.  Stachelberg  u.   Stillmach  448 

Kleemann,  Papst  Gregor  VIII.   .  214 

Köhler,  Idee  und  Persönlichkeit 
in  der  Kirchengeschichte    ...    137 

Koepp,  Das  Verhältnis  der  Mehr- 
werttheorien von  Karl  Marx  und 
Thomas  Hodgskin 200 

Kötzschke,  Quellen  zur  Geschichte 
der  ostdeutschen  Kolonisation 
im  12.— 14.  Jahrhundert     ...   657 

Kohl  s.  Bismarck. 

Kossinna,  Die  deutsche  Vorge- 
schichte eine  hervorragend  na- 
tionale Wissenschaft 206 

Krammer,  Quellen  zur  Geschichte 
der  deutschen  Königswahl  und 
des  Kurfürstenkollegs 211 

Krauß,  1805.  Der  Feldzug  von 
Ulm 627 

Kuberka,  über  das  Wesen  der  po- 
litischen Systeme  in  der  Ge- 
schichte   615 

Die  Kultur  der  Gegenwart.  Teil  II, 
Abt,  II,  1:  Allgemeine  Verfas- 
sungs-  und  Verwaltungsgeschichte 
1.  Hälfte 162 

Kurth,  La  cit6  de  Liöge  au  moyen 
äge 363 

Landsberg,  Der  Geist  der  Gesetz- 
gebung in  Deutschland  und 
Preußen  1888—1913 686 


VI 


Inhalt. 


Seite 

Langhäuser,  Das  Militärkirchen- 
wesen im  kurbrandenburgischen 
und  königlich  preußischen  Heere  440 

Latouche,  Histoire  du  comt6  du 
Maine  pendant  le  X»  et  le  XI* 
siecle 212 

Laubert,  Die  schlesische  Landwehr 
im   Befreiungskriege 449 

Lauer,  Robert  1*'  et  Raoul  de  Bour- 
gogne,  rois  de  France      .    .    .    .418 

Le  Lay,  Histoire  de  la  vilie  et  com- 
munaute  de  Pontivy  au  XV 111« 
siecle 184 

Lea,  Geschichte  der  Spanischen  In- 
quisition, deutsch  bearbeitet  von 
Müllendorff.    Bd.  1 667 

Learned,  Guide  to  the  manuscript 
materials  relating  to  American 
history  in  the  German  State 
Archives      410 

Lehr,  La  rfeforme  et  les  6glises  re- 
form^es  dans  le  departement 
actuel  d'Eure-et-Loir 223 

Leitzmann  s.   Luther. 

L e sq u  i e r ,  Les  institutions  militaires 
de  l'Egypte  sous  les  Lagides  par 
Jean 411 

Leszynsky,  Die  Juden  in  Arabien 
zur  Zeit  Mohammeds 192 

Lewin,  Luthers  Stellung  zu  den 
Juden 432 

Liebmann,  Deutsches  Land  und 
Volk  nach  italienischen  Bericht- 
erstattern der  Reformationszeit.   436 

Loersch  und  Schröder,  Urkunden 
zur  Geschichte  des  deutschen 
Privatrechtes.   3.  A.  von  Pereis  209 

Löwe,  Bücherkunde  der  deutschen 
Geschichte.    4.  Aufl 646 

Lucerna,  Die  letzte  Kaiserin  von 
Trapezunt  in  der  südslavischen 
Dichtung 220 

Luckwaldt,    Der  Geist    von   1813  449 

Lundgreen,  Wilhelm  von  Tyrus 
und  der  Templerorden     ....    146 

Luthers  Werke  in  Auswahl,  unter 
Mitwirkung  von  Leitzmann 
hrsg.  von  Giemen.     Bd.  3     .    .   431 

de  Magistris,  Studi  critici  per 
nozze  Neri-Geriazzo 430 

Magruder,  Recent  administration 
in  Virginia 242 

Maier,  Briefe  von  D.  Fr.  Strauß  an 

L.  Georgii 238 

Manitius  s.  Gedichte. 

Mansuy ,  Le  monde  Slave  et  les  clas- 
siques  frangais  aux  XVI"— XVll' 
sifecles 671 

Manzoni,  Carteggio,  a  cura  di 
Sforza  e  Gallavresi 235 

Mathieu,   Histoire  de  Tülle    .    .    .   200 

Mecklenburgisches  Urkundenbuch. 
Bd.  23 171 

Mehring  s.  Steiff. 

Meinecke,  Weltbürgertum  und 
Nationalstaat.    2.  Aufl 582 

A.  Menzel,  Naturrecht  und  Sozio- 
logie      198 

Mollat,  Les  Papes  d'Avignon  (1305 
bis  1378) 621 


Seite 

Monumenta  Germaniae,  Scriptor. 
t.  31  u.  32  (Chronica  fratris 
Salimbene  de  Adam  ed.  Holder- 
Egger) 1 

Müllendorff  s.  Lea. 

A.  V.  Müller,  Luthers  theologische 

Quellen 152 

K-  O.  M  ü  1 1  e  r ,  Die  oberschwäbischen 
Reichsstädte 149 

Nachmanson,  Historische  attische 
Inschriften      649 

Nistor,  Handel  und  Wandel  in  der 
Moldau  bis  zum  Ende  des 
16.  Jahrhunderts 215 

Norbert,  Friedrichs  des  Großen 
Rheinsberger  Jahre 231 

Oldenbourg,  Die  Endter.  Eine 
Nürnberger  Buchhändlerfamilie 
(1590—1740) 397 

Pereire,  Autour  de  Saint-Simon. 
Documents  originaux 681 

Pereis  s.  Loersch. 

Pistorius,  Beiträge  zur  Geschichte 
von  Lesbos  im  4.  Jahrhundert 
V.  Chr 649 

Prutz,  Jacques  Coeur  van  Bourges  219 

Püschel,  Das  Anwachsen  der  deut- 
schen Städte  in  der  Zeit  der  mit- 
telalterlichen    Kolonialbewegung  365 

Rachel,  Handels-,  Zoll-  und  Akzise- 
politik    Brandenburg-Preußens 
bis   1713 229 

Rambaud,  L'assistance  publique  ä 
Poitiers  jusqu'ä  l'an  V    .    .    .    .   666 

Reimers,    Edzard    der    Große    .    .    168 

Rein,    Sir    John    Robert    Seeley    .   201 

Riehl,  Die  deutsche  Arbeit    ...    199 

Rothacker,  Über  die  Möglichkeit 
und  den  Ertrag  einer  genetischen 
Geschichtschreibung  im  Sinne 
K.  Lamprechts 644 

Rupertsberger,  Ebelsberg  Einst 
und   Jetzt 250 

Saulnier,  Le  röle  politique  du  car- 
dinal  de  Bourbon  (Charles  X) 
1523—1590 228 

Schäfer,  Feier  der  Kgl.  Friedrich- 
Wilhelms-Universität  zu  Berlin 
am  9.  Februar  1913 232 

Scheiber,  Die  Septembermorde 
und   Danton 445 

Schieß  s.   Briefwechsel. 

Schiller,  Bürgerschaft  und  Geist- 
lichkeit  in    Goslar   1290—1365  .   218 

Schirren,  Charaktere  und  Mensch- 
heitsprobleme      202 

Schlecht,  Monumentale  Inschriften 
im   Freisinger  Dom 689 

Schlieffen,   Friedrich  der  Große  .   230 

Schöne,  Die  Anfänge  des  Dresdner 
Zeitungswesens  im  18.  Jahrhun- 
dert       460 

Schröder  s.   Loersch. 

Schröter,  Der  Nymphenburger 
Vertrag 440 

Schuster  s.  Jahresberichte. 

Schwartz,  Kaiser  Constantin  und 
die  christliche  Kirche 630 

Schwarz,  Iran  im  Mittelalter  nach 
den  arabischen  Geographen.    II.  189 


Inhalt. 


Vll 


Seite 

Schwarze,  Beiträge  zur  Geschichte 
altrömischer  Agrarprobleme    .    .  205 

Schwemer,  Geschichte  der  Freien 
Stadt  Frankfurt  a.  M.  (1814  bis 
1866).    Bd.  1  u.  2      635 

Seiler,  Der  gemeine  Pfennig  eine 
Vermögensabgabe  vor  500  Jahren  428 

Seton-Watson,The  Southern  Slav 
Question  and  the  Habsburg 
Monarchy 451 

Sforza  s.  Manzoni. 

Shadwell  s.  Enactments. 

Smith,  The  Life  and  Letters  of 
Martin   Luther 431 

V.  Stachelberg  s.  Klee. 

Steiffund  Mehring,  Geschichtliche 
Lieder  und  Sprüche  Württem- 
bergs     458 

Stillmach  s.  Klee. 

Stephan,  Handbuch  der  Kirchen- 
geschichte für  Studierende.  4. 
Die  Neuzeit 396 

Stout,  The  governors  of  Moesia    .   205 

Straub,  Die  Schiffahrt  auf  dem 
Oberrhein  im  Mittelalter     .    .    .   244 

Stube  s.  Herre. 

Tarrasch,  Übergang  des  Fürsten- 
tums Ansbach  an  Bayern  .    .    .   245 

Techen,  Das  älteste  Wismarsche 
Stadtbuch  von  etwa  1250—1272  641 

Th u d i c h  u  m, Geschichte  der  Reichs- 
stadt Rottweil  und  des  kaiser- 
lichen Hofgerichts  daselbst     .    .  244 

Tomagic,  Fundamenta  iuris  publici 
regni  Croatiae 213 

Urkunden  und  Aktenstücke  zur  Ge- 
schichte des  Kurfürsten  Fried- 
rich Wilhelm  von  Brandenburg. 
20.  Bd.:  Auswärtige  Akten  IV 
(Frankreich)  1667—1688.  Hrsg. 
von  Fehling 154 

Del  Vecchio,  11  fenomeno  della 
guerra  e  l'idea  della  pace  ...    198 

Veith,  Cäsar 205 

Veress,  Epistolae  et  acta  Jesuita- 
rum Transylvaniae  temporibus 
principum  Bäthory  (1571 — 1613) 
1 390 


Voigt,  Die  sog.  Ilmenauische  Em- 
pörung von   1768 460 

Voll  heim.  Die  provisorische  Ver- 
waltung am  Nieder-  und  Mittel- 
rhein während  der  Jahre  1814 
bis  1816 401 

Wächter  s.  Briefwechsel. 

Wagner,  Untersuchungen  über  die 
Standesverhältnisse  elsässischer 
Klöster 456 

Wahl,  Die   Ideen  von  1813     ...   680 

Wappler,  Die  Stellung  Kursachsens 
und  des  Landgrafen  Philipp  von 
Hessen  zur  Täuferbewegung  .    .   224 

Ward  s.   Bryce. 

Wegeleben,  Die  Rangordnung  der 
römischen  Centurionen     ....   650 

Weill,  La  France  sous  la  monarchie 
constitutionnelle  (1814 — 1848). 
Nouvelle  edition 681 

Wendt,  Die  Breslauer  Eingemein- 
dungen      695 

Wentzcke,  Kritische  Bibliographie 
der  Flugschriften  zur  deutschen 
Verfassungsfrage  1848 — 1851       .    394 

Werminghoff,  Der  Deutsche  Orden 
und  die  Stände  in  Preußen  bis 
zum  zweiten  Thorner  Frieden  im 
Jahre  1466 694 

Wertheimer,  Der  Herzog  von 
Reichstadt.  2.  A 682 

V.  Westenholz,  Kardinal  Rainer 
von  Viterbo 659 

Wille,  August  Graf  von  Limburg- 
Stirum,  Fürstbischof  von  Speyer  246 

V.  Winterfeld,  Das  kurrheinische 
Bündniswesen 665 

Wirth,  Geschichte  der  Türken  .    .   200 

Wolff  s.   Berliner. 

Zeumer,  Quellensammlung  zur  Ge- 
schichte der  deutschen  Reichs- 
verfassung in  Mittelalter  und 
Neuzeit.    2.  Aufl 418 

Ziesemer,  Das  Ausgabenbuch  des 
Marienburger  Hauskomturs  für 
die   Jahre    1410—1420 174 


Notizen  und  Nachrichten.  seite 

Allgemeines 197.  406.  644 

Alte  Geschichte 203.  411.  649 

Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250.    .    .    .  206.  415.  654 

Späteres  Mittelalter  (1250—1500) 217.  425.  662 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648) 221.  429.  668 

1648-1789 229.  439.  674 

Neuere  Geschichte  seit  1789 232.  444.  676 

Deutsche  Landschaften 244.  455.  689 

Vermischtes 252.  464.  696 

Berichtigung 252 

Berichtigung  und  Erwiderung 472 


Lombardisdie  Chronisten  des  13.  Jahr- 
hunderts. 


Von 

Alfred  Dove. 


Monumenta  Germaniae  Historica.  Scriptorum  Tomus  XXXI  (Han- 
nover, Hahn.  1903,  pag.  I— VIII.  1—776.  4°,  mit  10  Tafeln); 
Tomus  XXXII  =  Cronica  fratris  Salimbene  de  Adam  or- 
dinis  Minorum  edidit  Oswaldus  Holder-Egger.  (1905 
—  1913,  pag.  I— XXXII.  1-755.  4°,  mit  6  Tafeln). 

Am  1.  November  1911  starb  sechzigjährig  Oswald  Holder- 
Egger.  Wieviel  die  Monumenta  Germaniae  an  ihm  verloren 
haben,  bezeugt  der  liebevolle  Nachruf,  den  ihm  Karl  Zeumer 
im  37.  Bande  des  Neuen  Archivs  zum  Gedächtnis  gestiftet 
hat.  Das  Meisterstück  seiner  wissenschaftlichen  Herausgebe- 
kunst, für  das  er  seit  1884  geforscht  und  geschafft,  die  voll- 
ständige Edition  der  Chronik  Fra  Salimbenes  von  Parma, 
des  persönlich  lebendigsten  unter  allen  historischen  Erzählern 
des  Mittelalters,  ist  nun  doch  leider  im  strengen  Sinn  un- 
vollendet geblieben.  Text  und  Noten  zwar  liegen  zur  einen 
Hälfte  seit  1905,  zur  anderen  samt  allen  Registern  seit  1907 
dem  Publikum  vor;  noch  immer  jedoch  stand  die  das  Werk 
einleitende  Vorrede  aus.  Um  sie  an  ihrer  Stelle  knapper 
und  eindringlicher  gestalten  zu  können,  begann  der  Heraus- 
geber, anderenorts  ausführliche  biographische  Darlegungen 
vorauszuschicken  —  da  hat  ihn  mitten  in  dieser  letzten 
Hilfsarbeit  sein  Geschick  ereilt.  Im  Auftrage  der  Zentral- 
direktion der  Monumenta  hat  dann  Bernhard  Schmeidler 
die  fehlende  Praefatio  übersichtlich  abgefaßt,  meist  in  An- 
lehnung an  die  hie  und  da  niedergelegten  Ergebnisse  Holder- 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  1 


2  Alfred  Dove, 

Eggers,  und  so  dem  32.  Bande  der  Scriptores  wohltätig  zum 
sehnlich  erwarteten  Abschluß  verholten.  Wir  begrüßen  ihn 
heute  zugleich  mit  dem  zehn  Jahr  älteren  31.;  denn  beide 
gehören  nach  Plan  und  Ausführung  aufs  engste  zusammen. 
Der  Inhalt  des  31.  Bandes  gruppiert  sich  um  die  Chronik 
Bischof  Sicards  von  Cremona  und  die  Doppelchronik  des 
Notars  zu  Reggio,  Albert  Milioli.  Die  erste  bildete  für  Salim- 
bene  die  vornehmste  Grundlage  der  Anfänge  seines  eigenen 
Werks,  mit  der  anderen  steht  dasselbe  sogar  im  eigentüm- 
lichsten Wechsel  Verhältnis;  beide,  seit  Muratoris  entstellen- 
den Ausgaben  teilweise  bekannt,  erhalten  erst  jetzt  voll- 
kommene kritische  Beleuchtung.  Stellt  ihre  Edition  ge- 
wissermaßen ein  Vorspiel  zu  der  Salimbenes  dar,  so  ver- 
dient übrigens  Sicard  auch  an  sich  unsere  volle  Teilnahme; 
Holder-Egger  verbreitet  sich  über  sein  Leben  auf  38  Quart- 
seiten, auf  19  über  sein  Buch,  die  erste  mittelalterliche 
Weltgeschichte  auf  italienischem  Boden,  von  dürftigen  Papst- 
und  Kaiserkatalogen  abgesehen.  Cremonese  aus  dem  Hause 
Casalaschi  —  ein  Name,  der  vielleicht  Casale  Monferrato 
als  ursprüngliche  Heimat  bezeichnet  — ,  geboren  in  der 
Frühzeit  Barbarossas,  ward  er  1185  Bischof  seiner  Vater- 
stadt und  starb  1215.  Eine  gediegene,  beiderseits  einleuch- 
tende Persönlichkeit,  frommer  Geistlicher  und  staufischer 
Reichspatriot;  als  Bischof  und  Graf  von  Cremona  uner- 
müdlich auf  dessen  Wohl  bedacht,  mag  er  ihm  nun  Reliquien 
und  neue  Heilige  verschaffen,  oder  seine  Rechte  und  An- 
sprüche diplomatisch  verfechten,  Kastelle  zu  seinem  Schutz 
anlegen,  seine  Parteien  als  Schiedsrichter  vergleichen,  seine 
Privilegien  und  Urkunden  in  dem  noch  heute  vorhandenen 
Codex  Sicardi  sammeln  usf.  Die  Päpste,  besonders  Inno- 
zenz III.,  der  ihn  hochschätzte,  haben  ihn  auch  vielfach  zu 
auswärtigen  Geschäften  verwendet,  zumal  solchen  von  ver- 
mittelnder Natur.  Als  Innozenz  sich  gegen  König  Philipp 
kehrte,  nahm  Sicard  1202  zugleich  mit  Markgraf  Bonifaz 
von  Montferrat  das  Kreuz  und  brachte  drei  Jahre  in  Nord- 
syrien, dem  zilizischen  Armenien,  zuletzt  im  eroberten 
griechischen  Reiche  zu,  wiederum  amtlich  mit  kirchlich 
politischen  Aufträgen  betraut.  Er  machte  dabei  am  Bos- 
porus so  viel  Eindruck,  daß  man  ihn  1211   von  Konstan- 


Lombardische  Chronisten  des  13.  Jahrhunderts.  3 

tinopel  aus  zum  Patriarchen  postulierte.  1212  hat  er  noch 
als  apostolischer  Legat  den  jungen  Gegenkönig  Friedrich  IL 
sicher  aus  der  Lombardei  in  die  Alpen  geleitet;  im  folgenden 
Jahre  verfiel  er  in  zunehmende  Krankheit,  die  seinem  prak- 
tischen Wirken  ein  Ziel  setzte.  Er  besaß  eine  namhafte 
Bildung  und  literarisches  Talent.  Ein  sinnreiches,  schwung- 
voll geschriebenes  Lehrbuch  des  Gottesdienstes,  das  er 
Mitrale  nannte,  vermachte  er  seinem  Dom. 

Nach  mythologischen  Versuchen  seiner  Jugend  erkannte 
Sicard  in  reifen  Jahren  die  Aufgabe  einer  kurzen,  zuver- 
lässigen Welthistorie  als  dringend  nötig.  Sie  hat  er  aus 
umfassender  Lektüre  energisch  zusammengedrängt,  nicht 
ohne  stilistische  Gewandtheit  und  einzelne  individuelle  Züge. 
So  vergißt  er  auch  hier  in  dem  unverhältnismäßig  ausge- 
sponnenen Leben  Jesu  nicht  hervorzuheben,  was  er  im  Mi- 
trale näher  mit  edlen  Gründen  belegt:  man  habe  anzunehmen, 
der  Auferstandene  sei  zuerst  der  eigenen  Mutter  erschienen. 
Und  so  bricht  in  dem  leider  lakonischen  Bericht  über  die 
neueste,  selbsterlebte  Zeit  mehr  als  einmal  sein  lebhaftes 
Mitgefühl  aus:  bei  den  großen  Wendungen  im  Schicksal, 
sei  es  Cremonas  oder  des  hochverehrten  Kaisers  Friedrich; 
unverkennbar  auch  der  Blüte  des  Hauses  der  Markgrafen 
von  Montferrat,  vor  allem  den  Heldentaten  Konrads  gegen- 
über. Das  Werk  war  bis  1201,  zur  Gegenwart,  gediehen, 
aber  noch  lückenhaft  und  keineswegs  eigentlich  vollendet, 
als  der  Verfasser  1202  als  Kreuzfahrer  in  den  Orient  ging. 
Allein  sein  Gehilfe  nahm  Abschrift  davon,  der  man  hernach 
einige  fortsetzende  Bemerkungen  des  heimgekehrten  Bi- 
schofs selbst  von  1202 — 1212  sowie  fremde  Zusätze  bis 
1222  hinzufügte.  So  bieten  die  Chronik  die  erhaltenen  Hand- 
schriften, die  beste  in  München,  und  danach  die  sorgfältige 
Ausgabe  Holder-Eggers  dar,  der  indes  die  alte  Geschichte 
bis  zu  dem  Punkte  weggelassen  hat,  wo  einst  Salimbene 
sein  Buch  mit  den  Worten  Sicards  Ptolomeus  Dionisius 
begann.  Das  Merkwürdige  aber  ist,  daß  Salimbene  nicht 
bloß  diese  erste  Auflage  der  Chronik  Sicards  besaß  und  be- 
nutzte, sondern  daneben  eine  zweite,  erweiterte  und  ver- 
besserte, die  der  Bischof  gegen  sein  Ende  im  Ruhestande 
ausarbeitete.     Sie   enthielt,    von   formellen   Verfeinerungen 


4  Alfred  Dove, 

abgesehen,  als  wichtigste  Ergänzung  eine  orientalisch-byzan- 
tinische Geschichte  seit  dem  Anfang  der  Kreuzzüge,  zu  der 
er  die  schriftlichen  Vorlagen  und  die  eigene  Erfahrung  und 
Anschauung  1205  aus  dem  Osten  mitgebracht  hatte.  Ins- 
besondere tritt  hier  erst  Konrad  von  Montferrat  als  rechte 
Heldengestalt  im  einzelnen  hervor,  so  daß  die  durch  Salim- 
bene  erhaltene  Erzählung  Sicards  zu  den  wertvollsten  Quellen 
dieser  Heroengeschichte  gehört.  Sicard  selbst  scheint  auch 
diese  Fassung  seiner  Chronik  nicht  ganz  abgeschlossen  und 
in  Umlauf  gesetzt  zu  haben;  wenigstens  findet  sich  bei 
Salimbene  und  aus  ihm  bei  Albert  Milioli  deren  einzige  Spur, 
indirekt  steht  also  die  Edition  dieser  beiden  auch  im  Dienste 
der  Erkenntnis  Sicards. 

Wir  übergehen  einige  Beigaben  zu  Sicard  —  Annalen 
von  Cremona,  kleine  Papst-  und  Kaiserchroniken  römischen 
Ursprungs,  derengleichen  er  benutzte,  usw.  —  und  wenden 
uns  der  unsäglich  geringeren  Figur  eines  Mannes  zu,  den 
Graf  Ippolito  Malaguzzi-Valeri,  Staatsarchivar  zu  Reggio 
Emilia,  später  zu  Mailand,  paläographisch  als  Autor  der 
Doppelchronik  ermittelt  hat.  Albert  Milioli,  Bürger  von 
Reggio,  geboren  um  1220,  seines  Zeichens  kaiserlicher  Pfalz- 
notar, Kalligraph  und  Miniator  von  Übung,  schon  1247 
gelegentlich  von  der  Kommune  beschäftigt,  ward  seit  der 
guelfischen  Umwälzung  des  Jahres  1265  in  städtischen 
Diensten  mit  umfassenden  schriftlichen  Arbeiten,  Herstellung 
neuer  Statutenbände  und  Urkundenregister,  betraut.  Mitte 
1273,  wie  es  scheint  aus  parteipolitischen  Gründen  entlassen, 
ergab  er  sich  in  dilettantischer  Selbsttäuschung  der  lang- 
wierigen Ausführung  eines  weltgeschichtlichen  Kompendiums 
seit  Christi  Geburt,  des  Liber  de  temporibus  etc.,  das  den 
ersten  größeren,  ursprünglich  allein  beabsichtigten  Teil  des 
später  zur  Doppelchronik  ergänzten  Werkes  bildet.  Holder- 
Egger  klagt,  daß  ihm  unter  allen  Chroniken  seit  dem  8.  Jahr- 
hundert ein  dermaßen  rohes  und  einfältiges,  geist-  und 
kenntnisloses  Buch  nicht  vorgekommen  sei.  Über  sein  un- 
grammatisches Latein  beschwert  sich,  im  Gegensatz  zur 
Sprache  Sicards,  schon  aufs  lebhafteste  Salimbene.  Weit 
schlimmer  noch  ist  Miliolis  blöde  Beschränktheit,  seine  ge- 
dankenlose Unachtsamkeit,  sein  kindisches  Ungeschick  im 


Lombardische  Chronisten  des  13.  Jahrhunderts.  5 

Kompilieren,  von  seinem  historischen  Stumpfsinn  gar  nicht 
erst  zu  reden.  Er  sieht  in  der  Geschichtschreibung  ledigHch 
eine  Art  chronologischer  Registratur,  und  zwar  ist  es  die 
Reihenfolge  der  Päpste,  die  ihm  zum  obersten  Prinzip  der 
Ordnung  dient;  er  braucht  dazu  ein  zu  kanonistischen  Lehr- 
zwecken verfaßtes,  historisch  erbärmliches  Breviar  der 
Papstgeschichte  von  dem  juristischen  Professor  zu  Bologna 
Johannes  de  Deo,  einem  eitlen  Portugiesen.  Holder-Egger 
hat  dessen  bisher  unbekannte  Cronica,  die  bis  auf  Gregor  IX. 
herabreicht,  im  nämlichen  Bande  besonders  herausgegeben 
und  dabei  seinem  Ärger  über  deren  völlige  Nichtigkeit  durch 
einen  hier  schlecht  angebrachten  ironischen  Seitenhieb  auf 
Ottokar  Lorenz  Luft  gemacht. 

Was  nun  Albert  Milioli  in  dies  sein  chronologisches 
Papstregister  an  kirchlich  legendarischem  und  historisch 
fabelhaftem  Stoff  aus  meist  bekannten  Quellen  wüst  zu- 
sammengetragen, hat  Holder-Egger  zwar  geduldig  auf  seine 
Herkunft  untersucht,  dagegen  in  seiner  Ausgabe  mit  Recht 
bis  zur  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  nur  in  Auszügen  mit- 
geteilt. Von  da  an  nämlich  beginnt  der  historisierende  Notar 
mit  der  Überschrift  Memoriale  omnium  potestatum,  consulum 
et  rectorum  civitatis  Reginae  etc.  die  einzig  bedeutende  Unter- 
abteilung seines  monströsen  Werks,  in  welcher  das  univer- 
sale Schema  zwar  durch  die  den  einzelnen  Päpsten  gewid- 
meten Kapitel  fortgeführt  wird,  mehr  und  mehr  aber  die 
nach  der  Beamtenfolge  gegliederte  Geschichte  der  Stadt 
Reggio  das  Übergewicht  erlangt.  Milioli  gründete  diese  auf 
die  offiziellen  städtischen  Annalen,  von  denen  er  während 
seiner  Dienstzeit  auf  dem  Rathause  bis  1273  Abschrift  nahm. 
Ihre  dürftigen  Anfänge  suchte  er  durch  Urkundenauszüge 
aus  dem  Kommunalregister  linkisch  zu  ergänzen;  nach  seiner 
Entlassung  war  ihm  das  Original  nicht  mehr  zugänglich, 
und  er  mußte  von  1273 — 1281  wohl  oder  übel  eine  eigene 
Fortsetzung  versuchen.  Die  echten  Annalen  finden  sich  im 
14.  Jahrhundert  in  dem  zufällig  gerade  bis  1272  zerstörten 
Chronicon  Regiense  Pietros  della  Gazzata  inhaltlich  wieder. 
Wieviel  an  brauchbaren  Nachrichten  vornehmlich  zur  Ge- 
schichte der  lombardischen  Kriege  Friedrichs  II.  ihre  älteren, 
im  Memoriale  potestatum  Miliohs  vorliegenden  Partien  dar- 


6  Alfred  Dove, 

bieten,  ergab  sich  schon  aus  früheren  Ausgaben  seit  Muratori; 
wieviel  deutHcher  nun  aus  der  monumentalen  Edition! 
Ganz  besonderen  Fleiß  verwendet  diese  dabei  auf  Miliolis 
ausgedehnte  Erzählung  über  den  Kampf  um  Damiette  von 
1218 — 1219;  eine  Episode,  der  trotz  ihrer  verwirrend  un- 
geschickten Komposition  zum  Teil  ein  erheblicher,  aus  origi- 
naler Quelle  entspringender  Wert  zukommt.  Um  diesen 
vollkommen  anschaulich  zu  machen,  hat  Holder-Egger  auf 
mehr  als  70  Seiten  eigene  Ausgaben  der  Parallelberichte  des 
Johannes  Codagnello,  Johannes  von  Tolve  und  eines  un- 
genannten Schwaben  zum  kritischen  Vergleiche  beigegeben; 
Röhrichts  Publikationen  zum  fünften  Kreuzzuge  werden 
dadurch  im  einzelnen  wesentlich  übertroffen. 

Während  Albert  Milioli  in  notarieller  Schönschrift,  aber 
mit  geringem  Verstand  an  dem  heute  in  Modena  bewahrten 
stattlichen  Kodex  seines  Zeitbuchs  arbeitete,  führte  ihm 
das  Schicksal  eine  wichtige  Bekanntschaft  zu.  Fra  Salimbene 
von  Parma  ward  1279  nach  vielbewegtem  Leben,  58  jährig, 
in  den  Minoritenkonvent  zu  Reggio  versetzt,  wo  er  sechs 
Jahre  lang  bis  Mitte  1285  weilte.  Was  ihn  in  nahe  Berührung 
mit  Milioli  gebracht,  an  dem  neben  Einfalt  und  Heimatsinn 
kirchliche,  ja  klerikale  Haltung  wohl  bemerkbar  ist,  wer 
will  es  sagen?  Holder-Egger  rät  auf  den  Beichtstuhl. 
Jedenfalls  erregte  dessen  wilde  Geschichtschreiberei  seine 
dringende  Neugier;  hatte  er  doch  selbst  als  fruchtbarer 
Schriftsteller  unter  anderem  mindestens  fünf  sogenannter 
Chroniken  hinter  sich.  Er  entlieh  also  von  Milioli  die  fer- 
tigen Lagen  des  Liber  de  temporibus;  sehr  möglich,  daß 
angesichts  dieses  Corpus  delicti  dem  Selbstgefälligen  erst 
der  Gedanke  kam,  einmal  wieder  zu  zeigen,  wie  man  es 
besser  machen  müsse.  Etwa  1282  begann  er  sein  eigenes 
neues  Werk,  dem  er  bis  zum  Jahre  1212  hauptsächlich 
Sicards  Chronik  in  zweiter  Auflage  zugrunde  legte.  Allein 
schon  seit  1167  —  soweit  es  vorn  überhaupt  erhalten  ist  — 
ist  es  zugleich  mit  zerstreuten  Notizen  aus  Miliolis  Zeitbuch 
durchsetzt,  aus  dessen  Holz  dann  allein  von  1213  an,  wo 
Sicard  aufhört,  der  gewandte  Parmese  das  chronologische 
Spalier  für  die  üppigen  Ranken  seiner  Denkwürdigkeiten 
gezimmert  hat.    Dann  aber  dreht  sich  plötzlich  das  Ver- 


Lombardische  Chronisten  des  13.  Jahrhunderts.  7 

hältnis  um,  der  hurtige  Minorit  überflog  den  schwerfälligen 
Notar:  vom   Jahr   1281    an,   das  er   1284  erreichte,  speist 
vielmehr  Salimbenes  Chronik  fast  ausschließlich  den  über- 
wundenen  Liber  de  temporibus.    Ja  darüber  hinaus  hilft 
der  Meister  dem  Stümper  auch  persönlich  aus  durch  frei- 
gebig für  dessen  Zwecke  komponierte  zeitgenössische  Papst- 
biographien u.  dgl.    Vor  allem  jedoch  fand  nach  rückwärts 
die   reichlichste   Vergeltung  statt:   mit   Freuden   entdeckte 
Milioli  in  Salimbenes  vollendeten  ersten  Bogen  den  Sicard 
und  anderes  ihm  unbekannte  Material.     Er  schöpfte  daraus 
zunächst   zahlreiche   Randbemerkungen   für  sein   Zeitbuch 
und  entschloß  sich  endlich,  diesem,  da  es  an  Raum  hierzu 
gebrach,  einen  förmlichen  Nachtragsband  unter  beständigen 
Rückverweisungen    ergänzend    anzuhängen:     dem    papst- 
chronologisch eingerichteten  Liber  de  temporibus  einen  nach 
Sicards    Methode    weltlich-monarchisch    geordneten    Liber 
cronice  imperatorum  etc.    Diese  Cronica  imperatorum,  die 
zweite   kürzere   Hauptabteilung   der   nunmehrigen   Doppel- 
chronik Albert  Miliolis  ist  nichts  anderes    als  ein  natürlich 
übel  mißhandelter  und  verstümmelter,  zumeist  auf  Sicard 
beruhender  Salimbene.   Sie  gewährt,  zusammen  mit  etlichen 
von   Holder-Egger  gleichfalls  mitgeteilten   Randnoten  zum 
Zeitbuch,  ein  mattes  Bild  von  Salimbenes  bis  1167  verlorenen 
Anfängen  und  schließt  mit  1213,  wo  Milioli  anstatt  Sicards 
sich  selber  als  Leitfaden  benutzt  fand.    Mitte  1285  siedelte 
Fra  Salimbene  von  Reggio  in  das  ein  paar  Stunden  davon 
an  den  Vorhügeln  des  Apennin  gelegene  Landkloster  Monte- 
falcone  über;  er  nahm  seine  Chronik  und  seine  Bücher  mit, 
das  literarische  Kompagniegeschäft  fand  sein  Ende.    Milioli 
trug  noch  Ereignisse  des  Jahres  1285  wieder  selbständig  in 
sein  Zeitbuch  ein;  bald  darauf  wird  er  gestorben  sein.   Von 
1286 — 1290  hat  ein  anderer  Bürger  von  Reggio  eine  gute, 
rein  stadtgeschichtliche  Fortsetzung  dazu  geschrieben. 

Dies  sind  in  leichtem  Umriß  die  Ergebnisse  der  For- 
schung Holder- Eggers  über  Albert  Milioli;  man  sieht,  wieviel 
dadurch  zugleich  für  die  Kenntnis  Salimbenes  gewonnen  ist, 
der  31.  Band  der  Scriptores  offenbart  sich  in  der  Tat  als 
unentbehrliche  Vorarbeit  zum  32.  Bevor  wir  diesen  be- 
trachten, gedenken  wir  indes  noch  kurz  des   Einspruchs, 


8  Alfred  Dove, 

den  Aldo  Cerlini  1908  im  Archivio  Muratoriano  (Nr.  8,  p.  381 
bis  409)  gegen  einen  Teil  der  Ansichten  Holder-Eggers  aus 
rein  paläographischen  Gründen  erhoben  hat.  Die  Sache  ist 
die,  daß  alles  aus  dem  vorderen  Salimbene  Nachgetragene 
—  Randnoten  im  Liber  de  temporibus,  wie  die  ganze  Cronica 
imperatorum  —  eine  andere,  wenn  auch  gleichzeitige  Schrift- 
art aufweist  als  die  elegante  notarielle,  in  der  Milioli  den 
Text  des  Zeitbuches  selbst  —  einschließlich  seiner  auf  Salim- 
bene beruhenden  Fortsetzung  —  verfaßt  hat,  nämlich  nicht 
Urkunden-,  sondern  Bücherschrift.  Holder-Egger  hat  sich 
deshalb  natürlich  anfangs  gesträubt,  für  beide  Hände  den- 
selben Schreiber  anzunehmen,  allein  schließlich  haben  die 
inneren  Gründe  überwogen.  Wer  sich  ernstlich  in  den  Ge- 
samtcharakter der  Doppelchronik  versenkt,  muß  in  all  ihren 
Teilen  denselben  Geist  —  oder  wenn  man  lieber  will,  dieselbe 
Geistlosigkeit  —  der  Behandlung  wiederfinden;  das  Werk 
enthüllt  sich  durchaus  als  Autograph  des  nämlichen  Ver- 
fassers. Daß  er  über  verschiedene  Schriftarten  verfügte,, 
kann  bei  einem  Schreibkünstler  nicht  wundernehmen;  daß- 
er  in  gehäuften  und  gedrängten  Randnoten  oder  bei  geschwin- 
der Kopie,  wie  in  der  Kaiserchronik,  die  kunstlosere  Bücher- 
der  umständlicheren  Urkundenschrift  vorzog,  erklärt  sich 
aus  den  besonderen  Bedingungen.  Es  mag  sein,  daß  nicht 
sämtliche  Schrifttafeln,  die  Holder-Egger  auch  aus  dem  Ar- 
chive zu  Reggio  beibringt  (z.  B.  Tafel  IX),  für  Milioli  be- 
weisen, was  er  uns  damit  dartun  will.  Aber  an  den  ganzen 
Zusammenhang  seiner  tiefgreifenden  kritischen  Erwägung  aller 
inneren  historisch-philologischen  Fragen  rührt  die  genaue 
Buchstabenkunde  des  Herrn  Aldo  Cerlini  mit  keinem  Wort. 
1857  erschien  in  der  Parmeser  Ausgabe  zum  erstenmal, 
noch  unvollständig,  der  Text  der  Chronik  Salimbenes;  er 
führte  sich  ein  als  uno  stupendo  monumento  der  Zeiten,  die 
der  Verfasser  erlebt  und  geschildert  hatte.  Und  unaus- 
löschlich ist  mir  der  wunderbare  Eindruck  geblieben,  den 
vor  50  Jahren  der  frische  Genuß  dieser  köstlichen  Quelle 
in  den  historischen  Übungen  Jaffes  auf  den  Schüler  machte. 
Seitdem  hat  die  weite  Welt  den  gleichen  Zauber  erfahren, 
woran  selbst  die  Lücken  und  Mängel  der  früheren  Edition 
ihren  Anteil  hatten.    Denn  in  der  Abschrift  aus  dem  vati- 


Lombardische  Chronisten  des  13.  Jahrhunderts.  9 

kanischen  Kodex,  auf  die  sie  zurückgeht,  hatte  Monsignore 
Gaetano  Marini  mit  dem  wählerischen  Geschmack  des  aus- 
gehenden 18.  Jahrhunderts  neben  wenigem  Anstößigen  und 
leider  auch  einigem  Lehrreichen  vor  allem  das  Langweilige, 
Lästige,  theologisch  Doktrinäre  unterdrückt,  so  daß  nur 
das  historisch  Anziehende,  memoirenhaft  Unterhaltende  zur 
freien,  durch  keinerlei  Noten  gestörten  Lektüre  übrigblieb. 
Dies  ergötzliche  Lesen  verwandelt  sich  nun  gegenüber  der 
technisch  vollendeten  Ausgabe  Holder-Eggers  in  ein  ernst- 
haftes, angestrengtes,  bisweilen  beschwerliches  Studium. 
Da  ist  zunächst,  um  mit  dem  Äußerlichen  anzufangen,  der 
ganze  handschriftliche  Apparat.  Zwar  Verschiedenheiten  der 
Überlieferung  sind  hier  nirgend  zu  verzeichnen,  denn  es 
handelt  sich  nur  um  das  alleinstehende  Originalmanuskript. 
Aber  dessen  Beschaffenheit  wird  in  Tausenden  von  winzigen 
Anmerkungen  haarklein  dargelegt,  so  daß  man  die  Chronik 
in  den  letzten  Stadien  ihrer  Entstehung  mit  all  ihren  eigent- 
lich unbedeutenden  Änderungen,  allen  Spuren  orthographi- 
scher Flüchtigkeit,  selbst  den  Feder-  und  Tintenwechsel 
nicht  zu  vergessen,  je  nach  Bedarf  vor  Augen  hat.  Glück- 
licherweise ist  die  höhere  philologische  Aufgabe  der  Zerlegung 
des  Werks  in  seine  formalen  Bestandteile  mit  der  gleichen 
Genauigkeit  gelöst.  Salimbene  gehört  nun  einmal  zu  den 
zitatreichsten  Autoren  der  ganzen  Welt.  Unter  anderem 
hat  sein  empfänglicher  Geist  sich  die  halbe  Bibel  in  treuem 
Gedächtnis  angeeignet;  nicht  bloß  ausdrücklich  häuft  er 
ihre  Sprüche  massenhaft,  wo  sich  seine  Darstellung  um  theo- 
logische Beweisführung  dreht;  nein,  seine  ganze  Diktion, 
dies  geschmeidige,  weniger  im  Wortschatz  als  in  der  Syntax 
der  lebendigen  Volkssprache  äußerst  nahestehende  Latein 
ist  von  drastischen  Wendungen,  malerischen  Redensarten 
der  Vulgata  durchtränkt,  und  auch  darauf  macht  Holder- 
Egger  regelmäßig  gewissenhaft  aufmerksam.  Man  braucht 
nicht  erst  zu  sagen,  daß  er  mit  gleicher  Sorgfalt  die  bunte 
Fülle  von  sonstigen  Anführungen  und  Anspielungen  literar- 
historisch hervorhebt  und  erläutert,  mag  es  nun  Kirchen- 
vätern und  anderen  erbaulichen  Schriften  gelten,  oder  der 
düsteren  und  aufregenden,  dem  einstigen  Anhänger  der 
Geheimlehre  Joachims  so  interessanten  Weissagungsliteratur, 


10  Alfred  Dove, 

oder  innigen  Hymnen,  schelmischen  Vagantenliedern,  latei- 
nischen und  italienischen  Spottversen,  Gassenhauern,  Spruch- 
dichtungen usw.  Dieser  Schriftsteller  verlangt  eben  von 
seinem  Herausgeber  eine  höchst  vielseitige  Kennerschaft; 
Holder-Egger  besaß  sie. 

Die  historische  Analyse  war  einfach.  Das  Verhältnis 
zu  den  Grundquellen,  Sicard  und  Albert  Milioli,  stand  fest; 
was  neben  dem  letzteren  noch  an  leicht  kenntlichen  schrift- 
lichen Vorlagen  für  die  Folgezeit  benutzt  ward,  verschwindet 
sowohl  an  Umfang  als  an  Bedeutung  gegen  die  Hauptmasse 
der  Chronik,  die  man  füglich  bezeichnen  darf  als  Denk- 
würdigkeiten eines  lombardischen  Franziskaners  zur  italieni- 
schen und  allgemeinen  Geschichte  des  13.  Jahrhunderts. 
Fra  Salimbene  aus  dem  Hause  di  Adamo  war  hierzu  ganz  der 
Mann.  Von  Herkunft  dem  ritterlichen  Stadtadel  des  staufisch 
gesinnten  Parma  angehörig,  geboren  1221,  trat  er  1238  wider 
Willen  des  Vaters  in  den  neumodischen  Minoritenorden 
und  blieb  ihm  treu,  obwohl  er  eigentlich  als  ausgesproche- 
ner Sanguiniker  wenig  dazu  paßte.  Höher  als  zum  Prediger 
und  Priester  brachte  er  es  darin  nicht,  so  glänzend  seine 
aufnehmende  geistige  Begabung,  seine  vielseitige  Bildung 
an  der  Oberfläche  erscheint,  die  er  freilich  eine  Zeitlang 
durch  phantastisch-joachitische  Neigung  trübte.  Er  kam 
tüchtig  umher,  hat  in  toskanischen  und  lombardischen  Klö- 
stern die  Tage  Friedrichs  H.  durchlebt,  zog  dann  auf  längerer 
Studienreise  mit  offenem  Sinn  durch  Frankreich  und  Burgund, 
wo  er  zu  Lyon  Innozenz  IV.  mit  guter  Botschaft  begrüßte. 
Wieder  daheim,  ward  er  noch  30  Jahre,  besonders  in  der 
Romagna,  hin  und  her  versetzt,  kam  1279  nach  Reggio  und 
1285  nach  Montefalcone,  wo  seine  Spur  im  Sommer  1288 
für  uns  verlischt.  Anschlüssig,  gesprächig,  geschäftig,  be- 
obachtungs-  und  erkundigungsfroh,  hat  er  viel  erlebt  und 
gesehen,  noch  mehr  erfragt  und  gehört,  wozu  ja  der  allgegen- 
wärtige, die  ganze  Städtewelt  überziehende  Bettelorden  die 
reichste  Gelegenheit  darbot.  Bei  Salimbene,  der  innerlich 
doch  ein  verschämter  Stadtjunker  geblieben  war,  kam  zum 
kirchlich-sozialen  Minoritenhorizont  ein  besonderes  weltlich- 
politisches Standesgefühl  anregend  hinzu.  Aus  diesem  Schatz 
von  Überlieferungen  und  Erinnerungen  hat  er  nun  in  der 


Lombardische  Chronisten  des  13.  Jahrhunderts.  11 

vorliegenden  Chronik  vollauf  gespendet,  und  zwar  so,  daß 
ihm  Miliolis  Zeitbuch  fort  und  fort  den  willkommenen  Anlaß 
bietet  zu  unzähligen  Abschweifungen  halb  epischer,  halb 
didaktischer  Natur,  die  mitunter  zu  förmlichen  Abhand- 
lungen oder  fast  selbständigen  Büchern  ausarten;  so  der  15 
vierspaltige  Quartblätter  seines  Manuskripts  umfassende 
magnus  tradatus,  in  dem  er  sein  Gift  über  Ghirardino  Sega- 
lello  und  seine  Apostelbrüder  ausgießt,  oder  der  gar  32  Folien 
starke  liber  de  praelato,  der  das  Leben  und  Wirken  des  Ge- 
neralministers Elias  von  Cortona  darstellt,  um  daran  zu 
zeigen,  wie  der  wahre  kirchliche  Würdenträger  eben  nicht 
sein  soll.  Diese  aufgelöste  Ordnung  seiner  zeitgenössischen 
Geschichtschreibung,  dies  beständige  Ausschwärmen  des  von 
Einfällen  bedrängten,  mitteilungsüchtigen  Geistes,  das 
Salimbene  selber  bisweilen  zu  entschuldigen  strebt,  hängt 
wohl  auch  zusammen  mit  der  unmittelbaren  Bestimmung 
seines  Werks.  Er  schreibt  nicht  für  die  Öffentlichkeit  in  der 
Gegenwart;  bei  der  völligen  Zwanglosigkeit  seiner  Erzäh- 
lungen und  erst  recht  seiner  Urteile  hätte  er  die  notwendige 
Billigung  seiner  Oberen  nie  gefunden.  Er  schrieb  seine  Chro- 
niken zunächst  für  eine  vertraute,  geweckte  Leserin,  seine 
Stiefnichte  Agnes  di  Adamo,  Klarissin  zu  Parma;  um  ihret- 
willen befleißigt  er  sich  stets  eines  einfachen,  verständlichen 
Stils,  ihrem  Wunsche  gehorsam  hat  er  diesmal  die  prächtige 
Episode  über  seine  Familiengeschichte  eingeschoben.  Allein 
zugleich  hat  er  doch  als  echter  Memoirenschreiber  immer  die 
lesende  Nachwelt  deutlich  im  Auge;  daher  ist  seine  sprudelnde 
Methode  unzweifelhaft  schriftstellerisch  bewußt,  mit  Be- 
hagen ließ  er  seiner  virtuosen  Unterhaltungsgabe  frei  die 
Zügel  schießen. 

Dem  überreichen  historischen  Einzelgehalt  der  Chronik 
Salimbenes  wird  Holder-Egger  durch  nahezu  vierthalbtausend 
sachlicher  Anmerkungen  gerecht,  die  zusammen  mit  dem 
vortrefflich  gearbeiteten  Namen-  und  Sachregister  einen 
fast  vollständigen  Kommentar  des  Textes  darstellen.  Ins- 
besondere wird  durch  Vergleichung  seiner  Teile  unterein- 
ander der  mangelnden  Ordnung  häufig  abgeholfen,  aus 
vielfachen  Wiederholungen  und  seltenen  Widersprüchen  die 
Substanz  der  gegebenen  Nachrichten  ausgeschieden.    Wich- 


12  Alfred  Dove, 

tiger  ist  noch,  was  von  außen  hinzukommt.  Die  unerschöpf- 
lichen Mitteilungen  des  Autors  aus  der  persönlichen  Ge- 
schichte seines  Ordens  empfangen  durch  die  umsichtige 
Kunde  des  Herausgebers  ergänzende  Bestätigung;  zu  weiterer 
Orientierung  sind  eigene  Editionen  von  Verzeichnissen  der 
Generalminister  der  Minoriten  und  ihrer  Kardinalprotektoren 
als  Anhang  beigegeben.  Mit  der  gleichen  Sach-  und  Quellen- 
kenntnis beherrscht  Holder-Egger  die  Zeitgeschichte,  zumal 
die  italienische,  überhaupt;  und  er  läßt  sich  die  Mühe  nicht 
verdrießen,  auch  die  entlegensten  Notizen  heranzuziehen, 
durch  welche  die  Angaben  Salimbenes  als  zuverlässig  oder 
doch  wahrscheinlich  bekräftigt  werden.  Und  mit  derselben 
leidenschaftlichen  Wahrheitsliebe,  die  so  dem  Ansehen  des 
Verfassers  tätig  zu  Hilfe  kommt,  verfährt  er  freilich  auch 
umgekehrt.  Er  behandelt  dessen  Aussagen  kritisch  in  einer 
Weise,  die  man  zum  mindesten  als  ein  derbfreundliches 
Federlesen  bezeichnen  muß.  Er  macht  gern  darauf  auf- 
merksam, wo  harmlose  Schwächen,  wie  Eitelkeit,  Ruhm- 
redigkeit, Übereifer  u.  dgl.,  wo  Standesvorurteile  und  ge- 
nossenschaftlicher Eigennutz  des  Minoriten  die  Darstellung 
färben.  Er  ist  unduldsam  gegen  die  geringste  Ausschmückung 
der  Erzählung  durch  wohlgefällig  fortspinnende  Phantasie. 
Nugaris,  f rater  Salimbene!  ruft  er  einmal  (p.  231)  kopf- 
schüttelnd aus,  wie  ein  Dorfschulmeister  bei  der  treuherzigen 
Versicherung  eines  jagdhistorisch  produktiven  Försters.  Was 
soll  man  gar  dazu  sagen,  wenn  er  (p.  558)  ein  Wunder,  das 
Salimbene  berichtet  —  die  göttliche  Wiederherstellung  eines 
in  die  kochende  Suppe  gefallenen  Breviers  — ,  altrationalistisch 
dahin  erklären  zu  müssen  glaubt,  daß  ohne  Zweifel  Fra 
Nichola  die  Reinigung  vollzogen  habe?  Das  geht  doch  zu 
weit;  solche  Anmerkungen  halten  wir  den  Lesern  der  Monu- 
menta  Germaniae  gegenüber  für  entbehrlich. 

Überhaupt  darf  man  wohl  einmal  daran  erinnern  —  und 
Holder-Egger  selbst  würde  es  gewiß  von  Herzen  zugeben  — , 
daß  die  berufsmäßig  peinliche  Einzelkritik  noch  lange 
nicht  zur  richtigen  Schätzung  des  historischen  Werts  einer 
Quelle  führt.  Gerade  darin  besteht  nicht  der  Reiz  allein, 
sondern  auch  der  echte  Gehalt  der  Chronik  Salimbenes, 
daß  sie  nicht  als  ausgeklügeltes  Buch  über  Personen  und 


Lombardische  Chronisten  des  13.  Jahrhunderts.  13 

Zustände  des  Jahrhunderts  zu  uns  spricht,  sondern  als  das 
naive  Bekenntnis  eines  mitten  in  seinem  Strom  dahintrei- 
benden,  von  Wind  und  Wellen  beweglich  umspielten  Menschen. 
Er  ist  nirgends  tief  oder  gar  genial,  aber  jeglicher  Anregung 
offen  und  vom  entschiedensten  Talent  für  bestimmte  Auf- 
fassung und  klare  Darstellung,  trotz  aller  anerzogenen  Be- 
fangenheit. Vor  allem,  er  ist  zwar  recht  leichtgläubig,  aber 
subjektiv  vollkommen  ehrlich;  auch  der  Holder- Egger  und 
nach  ihm  Schmeidler  so  anstößige  Brief  Papst  Urbans  IV. 
an  den  Bischof  von  Ferrara  beruht  ohne  Zweifel  auf  Ordens- 
klatsch und  nicht  auf  freier  Erfindung.  Und  so  leuchtet 
aus  diesem  anscheinend  so  leicht  unterhaltenden  Geplauder 
des  jovialen  Bettelbruders  die  lebendigste  Anschauung  von 
dem  weltgeschichtlichen  Wandel  der  durchlebten  Zeiten 
deutlich  hervor.  Oder  wo  erschiene  das  vergebliche  Ringen 
Friedrichs  II.  um  die  machtvolle  Einigung  Italiens  eigentlich 
gigantischer  als  in  den  Geständnissen  dieses  enttäuschten 
Joachiten,  der  einst  in  dem  Kaiser  geheimnisvoll  den  Anti- 
christ gekommen  wähnte?  Wo  erführe  man  besser  als  in 
seiner  malerischen  Schilderung  die  furchtbare  politische 
Zersetzung  des  übrigbleibenden  städtischen  Eigendaseins? 
Und  wo  endlich  verriete  sich  kindlicher  die  aus  dem  Anblick 
der  doch  so  hohen  bürgerlichen  Kultur  allmählich  empor- 
keimende erste  Liebe  zur  italienischen  Nation?  Es  ist 
jammerschade,  daß  nicht  mehr  von  ihm  erhalten  ist;  wenig- 
stens die  eine,  ältere  und  kürzere  Chronik,  in  der  die  zwölf 
Schandtaten  Friedrichs  II.  beschrieben  waren,  besaß  noch 
Biondo,  wie  Scheffer-Boichorst  erwiesen  hat.  Nicht  minder 
sind  die  schweren  Verluste  zu  beklagen,  die  der  Codex  Vati- 
canus  selbst  erlitten;  zumal  am  Schluß  vermissen  wir  schmerz- 
lich die  Fortsetzung  der  meisterhaften  tagebuchartigen  Auf- 
zeichnungen aus  dem  die  Gebiete  von  Parma,  Reggio  und 
Modena  beherrschenden  Gesichtskreis  von  Montefalcone. 

Gerade  auf  die  letzten  Teile  der  Chronik  Salimbenes 
bezieht  sich  der  einzige  Punkt,  in  dem  Schmeidler  bei  der 
entsagenden  Arbeit  seiner  Praefatio  von  den  Resultaten 
Holder-Eggers  erheblich,  aber,  wie  mir  scheint,  ohne  Not 
und  unglücklich  abgewichen  ist.  Holder-Egger  war  (in  den 
„Historischen   Aufsätzen,    Karl   Zeumer   zum   60.  Geburts- 


14       Alfred  Dove,  Lombardische  Chronisten  des  13.  Jahrh. 

tag  dargebracht")  in  eigener  Untersuchung  zu  dem,  wie  er 
meinte,  sicheren  chronologischen  Ergebnis  gekommen:  Sa- 
limbene  habe  von  Ende  oder  Mitte  1279  bis  etwa  Mitte  1285 
im  Minoritenkonvent  zu  Reggio,  von  da  an  in  Montefalcone 
gelebt.  Schmeidler  widerspricht;  aus  dem  einzigen  Grunde, 
weil  er  sich  nicht  entschließen  kann,  anzunehmen,  ein  Satz 
wie  quia  in  conventu  Regino  habitabam  tunc  temporis  sei  in 
Reggio  und  ein  anderer,  der  an  die  Erwähnung  eines  Vor- 
gangs in  Montefalcone  die  Bemerkung  knüpft:  Et  habi- 
tabam tunc  temporis  ibi,  sei  in  dem  locus  fratrum  Minorum 
de  Monte-falconis  selbst  geschrieben.  Darauf  ist  einfach 
folgendes  zu  entgegnen:  Salimbene  braucht  überaus  häufig 
Verbalformen  der  Vergangenheit  für  die  Gegenwart,  weil  er 
als  Historiker  regelmäßig  an  die  Leser  der  Zukunft  denkt; 
das  einfache  ,, derzeit"  —  tunc  temporis  —  ist  nur  insofern 
mit  einem  Akzent  zu  versehen,  als  damit  die  Gleichzeitigkeit 
der  Anwesenheit  des  Augen-  oder  Ohrenzeugen  betont 
werden  soll.  Alle  Vermutungen,  die  über  andere  Aufenthalte 
des  Verfassers  in  jener  Zeit,  z.  B.  in  Parma,  ausgesprochen 
werden,  sind  hinfällig,  weil  seine  Teilnahme  für  Begeben- 
heiten in  der  Vaterstadt  jederzeit  rege  war,  der  Verkehr  der 
Minoriten  aus  der  Nachbarschaft  niemals  abriß  und  endlich 
auch  eigene  stundenweite  Wanderungen  in  die  Umgegend  sich 
mit  dem  dauernden  Wohnsitz  an  Ort  und  Stelle  wohl  ver- 
tragen. Daher  stimmen  wir  auch  hier  getrost  für  Holder-Egger. 
Über  das  Äußere  der  angezeigten  Ausgabe  ist  wenig  zu 
bemerken.  Von  den  Druckfehlern,  die  dem  berichtigenden 
Blick  entgangen  sind,  stört  nur  einer  empfindlich:  auf  S.  645 
sind  fünfviertel  Zeilen  irrig  wiederholt  —  eine  große  Hochzeit 
in  der  Setzersprache.  Noch  sei  erwähnt,  daß  mit  den  vor- 
liegenden Bänden  auch  die  Abteilung  der  Scriptores  endgültig 
von  dem  alten  Foliodruck  zum  Quartformat  übergegangen 
ist.  Nicht  durchaus  zum  Vorteil,  höchstens  vielleicht  der 
Augenärzte.  Wenigstens  verschwinden  die  Ziffern  der 
historischen  Anmerkungen,  zumal  die  1,  fast  unauffindbar 
im  Text  zwischen  den  Buchstaben  der  philologischen  Noten 
—  oder  um  Salimbene  selbst  von  seiner  neuen  Edition 
erzählen  zu  lassen  (p.  520):  vix  potuit  legi  cum  cristallol 


Staindel-Funde. 

Von 

Paul  Lehmann. 


Als  mir  vor  Jahresfrist  zum  ersten  Male  der  Name 
Johann  Staindel  vor  Augen  kam,  waren  Sie  es,  hochver- 
ehrter Herr  Geheimrat,  der  durch  den  Mund  der  Allgemeinen 
Deutschen  Biographie^)  und  durch  sein  Meisterwerk  der 
Geschichte  Baierns^)  mich  unterrichtete,  wer  Staindel  über- 
haupt gewesen  ist.  Gestatten  Sie,  daß  heute,  wo  wir  Ihren 
70.  Geburtstag  feiern  dürfen,  ich  Ihnen  Neues  von  jenem 
Manne  melde  und  so  für  die  Belehrung  danke. 

Sie  schrieben:  „Johann  Staindl  (Lapillus),  Domherr 
von  Passau,  reiht  sich  durch  sein  ,Chronicon  generale' 
unter  die  letzten  Ausläufer  der  rein  kompilierenden  mittel- 
alterlichen Geschichtschreibung.  Er  schrieb  daran  spätestens 
seit  1486  und  gelangte  von  Erschaffung  der  Welt  bis  zum 
Jahre  1508.  . . .  Neben  dem  überstrahlenden  Ruhme  Aven- 
tins  ist  es  fast  übersehen  worden,  daß  Staindel  für  große 
Zeiträume  des  Mittelalters  die  Geschichtsdarstellung  zuerst 
wieder  den  besten  Quellen  wie  Gregor  von  Tours,  Paulus, 
Regino,  den  Annalen  von  Fulda,  Liutprand,  Widukind, 
Ekkehard  entlehnt  hat.  Daß  er  auch  die  Annalen  von  Nie- 
deraltaich  da,  wo  ihm  ihre  Darstellung  nicht  zu  ausführlich 
erschien,  wörtlich,  nur  verkürzend,  abgeschrieben  hat,  ver- 
schaffte seinem  Werke  erhöhte  Bedeutung,  solange  diese 
wichtige  Quelle  nicht  wieder  aufgefunden  war. . . ." 

1)  Bd.  XXXV,  413. 

2)  Bd.  III,  899  f. 


16  Paul  Lehmann, 

Doch  ist  es  nicht  diese  Chronik  gewesen,  die  mich  an 
Staindel  fesselte,  sondern  ein  Werk,  dessen  Sie  nur  kurz 
gedachten:  seine  1497  verfaßte  Schrift  „De  scriptoribus 
ecclesiasticis" .  Sie  konnten  mir  nicht  so  viel  davon  be- 
richten, wie  ich  zu  wissen  wünschte,  weil  die  Hterargeschicht- 
liche  Arbeit  seit  langem  verschollen,  vielleicht  verloren  war 
und  nur  dürftige  Mitteilungen  gedruckt  vorlagen.  Vor  fast 
200  Jahren,  im  September  1717,  fand  sie  der  rührige  Bene- 
diktiner Bernhard  Pez  in  der  Klosterbibliothek  zu 
Formbach  am  Inn.  Der  Druck  seiner  Reisebeschreibung 
gab  ihm  zweimal^)  Gelegenheit,  seinen  Fund  mit  wenigen 
Worten  zu  besprechen.  Diese  Nachrichten,  von  F.  Oefele^) 
auszugsweise  wiederholt,  sind,  soweit  ich  weiß,  bis  zum  heu- 
tigen Tage  die  einzigen  gewesen,  die  an  die  Öffentlichkeit 
gedrungen  sind. 

Studien  über  den  literargeschichtlichen  Betrieb  imMittel- 
alter^)  ließen  mich  nach  Staindels  Original  suchen,  biblio- 
theksgeschichtliche Erwägungen  wiesen  mir  den  rechten  Weg. 
Im  März  1912  spürte  ich  den  Liber  de  scriptoribus  eccle- 
siasticis  wieder  auf  und  zugleich  mehrere  andere  Quellen,  aus 
•denen  sich  mancherlei  für  Staindels  Geschichte  schöpfen  läßt. 

Pez  hatte  die  Schrift  in  Formbach  gesehen.  Dort  durfte 
ich  sie  natürlich  nicht  suchen,  da  das  Kloster  nicht  mehr 
besteht,  vielmehr  kamen  zuerst  in  Frage*)  die  Kgl.   Hof- 


1)  Thesaurus  anecdotorum  novlssimus  I  (1721),  p.  LIII:  „In 
bibliotheca,  cuius  prope  omnes  Codices  diversis  cladibus  et  casibus 
periere,  notatu  non  indignus  est  Liber  de  scriptoribus  ecclesiasticis 
auctore  Johanne  Lapillo  presbytero  Pataviensi,  cuius  haec  praefatio 

est:  , Flures  fuerunt  ut Vale  1497'.    Incipit  opus:  ,Moyses  Amram 

Judis '  cod.  Chart,  fol."    Er  führt  dann  eine  Stelle  des  Staindel- 

schen  Werkes  über  Reinoldus  Eystettensis  an,  wie  er  schon  vorher 
(p,  XL  II)  den  Botho  von  Prüfening  behandelnden  Artikel  wiederge- 
geben hatte.  Etwas  mehr  bietet  Pez  in  seinem  handschriftlichen  Iti- 
nerar,  das  ich  Herbst  1912  im  Stiftsarchiv  Melk  benutzen  konnte. 

2)  Rerum  Boicarum  Scriptores  I,  418  sq. 

3)  Einen  ersten  Überblick  über  die  literargeschichtlichen  Arbeiten 
des  Mittelalters  habe  ich  in  der  Germanisch-Romanischen  Monats- 
schrift 1912,  S.  569—582  und  617—630  gegeben. 

*)  A,  M,  Scheglmann,  Geschichte  der  Säkularisation  im  rechts- 
rheinischen Bayern  III,  838  ist  für  die  Bibliothekgeschichte  von  Form- 
bach ganz  unzulänglich. 


Staindel-Funde.  17 

und  Staatsbibliothek  in  München  und  die  Kreis- und  Studien- 
bibliothek in  Passau,  wohin  die  Bibliothek  nach  Formbachs 
Säkularisation  verteilt  worden  war.  Die  Codices  Form- 
bacenses  in  München  i)  waren  bald  durchgesehen.  In 
der  Staatsbibliothek  sind  es  die  Handschriften: 

lat.  732  (Teile  von  Staindels  Weltchronik,  saec.XV/XVI). 

1832  (Schriften  des  Formbacher  Abtes  Angelus  Rumpier, 
saec.  XVI  in.). 

6141  (Evangelia,  saec.  X/XI). 

6153  (Codicum  Formbacensium  catalogus  iussu  Maxi- 
miliani  ducis  Bavariae  ab  abbate  Sebastiano  concinnatus, 
1610). 

27  182  (Vitae  abbatum  Formbac.  Perngeri  et  Birntonis, 
saec.  XIV/XV). 

27  183  (Francisci  Langpartner  epitome  vitae  ac  gestorum 
abbatum  Varnbacensium,  1733). 

27  184  (Imagines  abbatum  Varnbacensium,  saec.  XV III). 

Dazu  kommen  einige  Bände  des  Kgl.  Allgemeinen 
Reichsarchivs  in  München^): 

Kloster  Formbach  Lit.  514  und  SVs  (Kollektaneen 
Staindels,  meist  geschichtlichen  Inhalts,  saec.  XV/XVI). 
Schließlich  zwei  Bände  des  Kgl.  Kreisarchivs  zu  München 
mit  Schriften  des  Angelus  Rumpier. 3)  Der  Codex  lat.  732 
und  die  beiden  Bände  des  Reichsarchivs  enthalten  Arbeiten 
Staindels,  und  zwar  von  seiner  eigenen  Hand  geschrieben.*) 
Doch  war  das  von  mir  gesuchte  Werk  nicht  dabei.  Zum 
Glück  hatte  ich  bald  für  die  akademische  Ausgabe  der  mittel- 
alterlichen Bibliothekskataloge  in  P  a  s  s  a  u  zu  arbeiten 
und  konnte,  dank  dem  freundlichen  Entgegenkommen  des 
Herrn  Professors  Andreas  Seider,  die  Bestände  der  Kgl.  Kreis- 


^)  Vgl.  auch  V.  Aretin  in  seinen  Beyträgen  zur  Geschichte  und 
Literatur  V  (1805),  S.  103  f.  u.  111  f. 

2)  Genau  beschrieben  und  behandelt  von  L.  Oblinger  in  der 
Archivalischen  Zeitschrift  XI  (1904),  S.  1—99. 

3)  Vgl.  Oblinger  a.  a.  O.  17  f. 

*)  Von  lat.  732  hatte  bereits  Riezler  gesagt,  daß  er  wohl  auto- 
graph  wäre.  Die  Archivbände  Staindel  zugewiesen  zu  haben,  ist  Ob- 
lingers  Verdienst. 

Historische  Zeitsctirift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  2 


18  Paul  Lehmann, 

und  Studienbibliothek^),  soweit  sie  mich  angingen,  in  Ruhe 
mustern.  Zuerst  durchforschte  ich  die  Handschriften  und 
entdeckte  bald  in  Ms.  9  eine  bis  zum  Jahre  41  v.  Chr.  reichende 
Weltchronik,  mit  denselben  Schriftzügen  geschrieben  wie 
München  lat.  732,  also  ein  Autogramm  Staindels,  und  in 
Ms.  13,  das  den  Quadripartitus  Cyrilli  und  Seneca  de  qua- 
tuor  virtutibus,  saec.  XV,  enthält,  auf  dem  pergamentenen 
Vorsatzblatt  die  alte  Notiz:  D.  Johannes  Staindel,  custos 
ecclesie  Pat.  Um  das  hier  gleich  einzuschalten,  überraschte 
mich  wenige  Wochen  später  derselbe  Eintrag  in  der  Kgl. 
Provinzialbibliothek  zu  A  m  b  e  r  g  in  Ms.  4^  19  (Alphabe- 
tum  divini  amoris,  de  stimulo  amoris,  de  passione  domini, 
Gerson  de  confessione,  speculum  peccatoris,  de  arte  mori- 
endi,  elucidarius  Anselmi  etc.,  saec.  XV). 

Die  übrigen  Passauer  Handschriften  dagegen  boten 
mir  keinen  Hinweis  auf  Staindel  mehr.  Als  ich  dann  aber 
—  mehr  um  die  Zeit  nützlich  zu  verwenden,  als  in  der  Er- 
wartung besonderer  Entdeckungen  —  auch  einige  Inku- 
nabeln hernahm,  traf  ich  manches  Buch,  das  Staindels 
Namen  und  Schrift  barg.  Die  Hoffnung  freilich,  das  literar- 
geschichtliche  Werk  zu  finden,  hätte  ich  trotzdem  bald  be- 
graben, da  es  ja  eine  Handschrift,  nicht  ein  Druck  sein  mußte. 
Des  Abends  im  Gasthause  kam  mir  die  Erleuchtung.  Ich 
sagte  mir:  Ein  so  fleißiger,  bücherliebender  Mann  wie  Staindel 
wird  auch  des  Trithemius  Liber  de  scriptoribus  ecclesiasticis 
besessen  haben.  Vielleicht  ist  des  Passauer  Domherrn 
Handexemplar  erhalten,  vielleicht  gibt  es  durch  Randein- 
träge Kunde  von  seines  Besitzers  bibliographischer  Arbeits- 
weise. —  Am  andern  Morgen  war  es  mein  erstes,  die  Tri- 
themiusinkunabel  vom  Fach  zu  holen  und  darin  nicht  nur 
zahlreiche  handschriftliche  Zusätze  innerhalb  des  gedruckten 
Textes,  sondern  als  Anhang  auch  die  ersehnte  eigene  Schrift 
Staindels  über  Schriftsteller  zu  finden.  Daß  es  sich  wirklich 
um  dasselbe  Buch  handelt,  das  einst  B.  Pez  in  den  Händen 
gehabt  hat,  wird  aus  meiner  Beschreibung  über  allen  Zweifel 
erhoben  werden. 


^)  In  der  Passauer  Ordinariatsbibliothek  ist  Formbacher  Her- 
kunft, meines  Wissens,  nur  eine  Chronik  des  1725  zum  Abte  erwählten 
Clarus  Faßmann. 


Staindel-Funde.  19 

Zuvor  aber  möchte  ich  die  anderen  Frühdrucke  bespre- 
chen, die  mit  Staindel  zusammenhängen.  Ich  erhebe  durch- 
aus nicht  den  Anspruch,  alle  in  Passau  vorhandenen  Drucke 
dieser  Art  gesehen  zu  haben.  Folgende  habe  ich  mir  ge- 
merkt : 

P  a  s  s  a  u  Inc.  39^),  drei  Drucke  enthaltend,  nämlich 
I.  Platinae  Historia  summorum  pontificum,  Nürnberg  1481 
(=  Hain  *13  047);  2.  Chronicon  Urspergense,  1515;  3.  Dio- 
dori  Siculi  Historiae,  Venedig  1481  (=  Hain  6190).  Da  der 
Einband  erst  1711  angefertigt  ist,  braucht  Nr.  2  nichts  mit 
Staindel  zu  tun  zu  haben.  Nr.  1  gehen  22  unbedruckte 
Papierblätter  voraus,  alle  recht  sauber  von  derselben  Hand 
des  ausgehenden  15.  Jahrhunderts  beschrieben,  wie  sich 
zeigen  wird,  der  Staindels.  Davon  bietet  fol.  1 — ITVein  aus- 
führliches alphabetisches  Register  (1483  vollendet)  zu  den 
Papstgeschichten  Piatinas,  fol.  18^ — 19R  ,, Nomina  summo- 
rum pontificum  sibi  invicem  succedentium"  (bis  auf  Paul  II.), 
fol.  19^ — 20V  „Nomina  imperatorum  sive  regum  Roma- 
norum" (bis  auf  Friedrich  III.),  fol.  21«— 22v  Lateinische 
Erzählungen  von  jüdischen  Grausamkeiten.  Das  große 
alphabetische  Register  ist  auf  fol.  IR  durch  folgende  Vorrede 
eingeleitet: 

Ego  Johannes  Staindel  presbiter  operi  Platine  historici 
registrum  inscribere  curavi,  ne  mens  querendo  torpeat  que 
cupida  legendo  antea  fuit.  Liber  enim  is  in  longum  protractus 
nee  capitulis  aut  rubricis  distinctus  plurimaque  tum  ponti- 
ficum tum  imperatorum  aliorumque  virorum  gesta  bellave 
itemque  temporum  incidentia  complectens,  optata  queque  ad 
oculum  faciliter  non  prebet,  nisi  ea  que  quis  querit  sive  nomina 
propria  sive  appellativa  nota  digna  fuerint  in  registro  presenti 
aspiciat.  Mutlos  itaque  in  hoc  tarn  necesse  quam  utiliter  imi- 
latus,  ul  singula  nota  digna  secundum  ordinem  alphabeti  designa- 
verim  et  posl  unumquodque  designalum  numerum  ordinalem 
folii,  deinde  litteram  alphabeti  locum  monstrantem  posuerim, 
quandoque  plures  numeros  aut  litteras  secundum  quod  materia 

^)  Die  genaue  typographische  Bestimmung  hat  Herr  Oberbiblio- 
thekar Dr.  E.  Freys  (München)  vorgenommen.  Seinen  Angaben  folge 
ich.  Zur  Nachprüfung  hat  mir  Dr,  Freys  gütigst  sein  Inventar  der 
Passauer  Inkunabeln  auf  einige  Tage  überlassen. 

2* 


20  Paul  Lehmann, 

pluribus  in  locis  continetur.  Verbi  gracia:  Arrius  hereticus 
invenitur  folio  XVI  littera  -n-,  Anacletus  papa  folio  VI 
litter  is  •  e-  g-  k-,  Agatfio  papa  folio  XXXV  littera  ■  m  -  et 
folio  XXXVI  litter  is  -  a  •  c  •  Et  sie  de  singulis  ut  patet  intuenti. 

Der  Platinadruck  selbst  ist  mit  zahlreichen  Rand- 
bemerkungen Staindels  versehen,  die  zumeist  die  für  das 
Register  bestimmten  Wörter  herausheben.  Ebenso  ist  der 
3.  Teil  (Diodor)  mit  handschriftlichem  Register  und  Rand- 
notizen ausgestattet. 

Inc.  11  enthält  Vincentii  Bellov.  Speculum  historiale, 
<Augsburg>  1474  (=Copinger  III,  6247).  Es  sind  3  Bände: 
Der  erste  hat  fol.  1 — 37R  ein  alphabetisches  Register  von 
Staindels  Hand,  das  die  Schlagwörter  nach  den  beiden  ersten 
Buchstaben  ordnet,  z.  B.  bilden  Abteilungen  für  sich  die 
Wörter,  die  mit  an,  ap,  aq,  ar,  as,  at,  au  beginnen.  Diese 
sorgsame  Arbeit  ist  am  15.  Juli  1489  von  Staindel  beendigt 
worden.  Das  erste  Blatt,  das  wohl  eine  Praefatio  und  den 
Anfang  des  Index  bis  am  trug,  ist  verloren  gegangen.  Fol.  37va 
bis  38VA  folgt  ein  ,,Catalogus  virorum  illustrium  Speculi 
Vincencii  historialis",  schon  1485  von  Staindel  abgeschlossen. 
Auf  zwei  vom  Drucker  freigelassenen  Blättern  zwischen  dem 
Kapitelverzeichnis  und  dem  Prolog  gibt  Staindel  einen 
,,Cathalogus  patriarcharum  Hierosolimorum,  Antiocheno- 
rum"  und  die  „Episcopi  Moguntinenses,  Juvavenses  sive 
Salzburgenses".  Im  Texte  selbst  sind  wiederum  häufig 
handschriftliche  Bemerkungen  zu  finden.  Auch  Bd.  II  u.  III 
haben  alphabetische  Register  und  Randnotizen.  Das  1479 
abgeschlossene  Register  zum  2.  Bande  hat  eine  ähnliche 
Vorbemerkung  Staindels  wie  sein  Piatinaexemplar. 

Inc.  33.  Vincentii  Bellov.  Speculum  doctrinale,  s.  1.  et 
a.  (=Copinger  III,  6242).  Vorn  zwölf  Blätter  mit  Schlag- 
wortregister von  1490  und  ein  Blatt  ,, Nomina  autorum 
cum  libris  suis  in  hoc  volumine  positorum",  beides  von 
Staindel. 

Inc.  38.  Blondus  Flavius,  Roma  instaurata  et  De  ori- 
gine  et  gestis  Venetorum,  Verona  1481  (=  Hain  *3243) 
Hrotsvithae  opera,  Nürnberg  1501,  mit  Register  und  Be- 
merkungen Staindels  zu  Flavius  Blondus.  Auf  dem  letzten 
Blatt  des  ersten  Druckes  von  Staindels  Hand  lat.   Hexa- 


Staindel-Funde.  21 

meter  und  Distichen  ,,De  monte  Aventino,  de  Cosma  et 
Damiano,  ad  Mariani  Minerve,  ad  Mariam  de  febribus". 

Inc.  147.  Solinus,  De  situ  orbis  etc.,  Venedig  1493, 
{=  Hain  *14881)  mit  1499  beendetem  Register. 

Inc.  157.  Paulus  Aemilius  Veron.  De  rebus  gestis  Fran- 
corum,  Paris  s.  a.  (=  Hain  *146)  mit  Randbemerkungen 
Staindels. 

Inc.  30.  Rufini  historica  ecclesiastica,  Mantua  1479 
(=  Hain  *6711).  Vorne  sieben  Blätter  mit  alphabetischem 
Register  vom  Jahre  1484)  und  Randnotizen. 

Die  Vorbemerkung  zum  Register  lautet: 

Registrum  in  ecclesiastice  Historie  librum  ego  Johannes 
Staindel,  sacerdotum  minimus,  ad  laudem  precipue  Dei  omni- 
potentis,  deinde  ad  utilitatem  legentium  conscribere  curavi. 
Cum  enim  plura  utilia  diversis  in  libris  hincinde  dispersa 
videantur  et  vix  aliquis,  nisi  perlectus  aut  hac  historia  imbutus, 
faciliter  invenire  possit  ea  que  velit,  necessarie  ad  quodlibet 
notabile  numerum  triplicem  ordinavi,  ita  ut  primus  deserviat 
libro,  secundus  capitulo  eiusdem  libri,  tercius  vero  folio,  ubi 
illud  assignatur  notabile.  Interdum  plures  numeri  tarn  capi- 
tulorum  quam  foliorum  cum  coniunctione  et  iunguntur  ut 
patebit. 

Auf  den  Rufinusdruck  folgen  schließlich  zehn  Papier- 
blätter mit  einer  Staindelabschrift  des  sog.  Anonymus 
Mellicensis  de  viris  illustribus,  worüber  ich  demnächst  im 
Neuen  Archiv  der  Ges.  f.  ältere  deutsche  Geschichtskunde 
handeln  werde. 

Schon  diese  wenigen  und  wohl  leicht  zu  vermehrenden^) 
Nachrichten  über  die  Bücher,  die  durch  Staindels  Hand 
gegangen  sind,  charakterisieren  den  Mann:  er  liebte  die 
Bücher  nicht  nur,  sondern  las  sie  auch  gründlich  und  bewies 
die  Einsicht,  daß  gute  Register  die  Brauchbarkeit  jedes 
Buches  heben.2)   Auch  ist  es  wohl  kein  Zufall,  daß  ich  vor- 

^)  Es  wäre  gut,  wenn  sich  jemand  die  Mülie  machte,  systematisch 
alle  bis  etwa  1515  erschienenen  Drucke  in  der  Passauer  Bibliothek 
auf  Staindelsche  Notizen  durchzusehen. 

^)  Auch  die  im  Reichsarchiv  zu  München  aufbewahrten  KoUek- 
taneen  (vgl.  oben)  haben  ausführliche  Register.  —  Erst  jetzt,  wo  die 


22  Paul  Lehmann, 

zugsweise  in  geschichtlichen  Werken  seiner  Hand  begegnet 
bin.  Die  Register  und  die  sonstigen  Beigaben  bekunden 
deutlich  das  lebhafte  geschichtliche  Interesse  des  Verfassers 
der  Weltchronik  und  tragen  dazu  bei,  die  Reichhaltigkeit 
dieser  Kompilation  zu  erklären.  Schließlich  äußert  sich 
auch  sein  Sinn  für  Bibliographie  und  Literaturgeschichte  in 
den  oben  beschriebenen  Drucken.  Auf  Grund  der  Specula 
doctrinale  und  historiale  des  Vincenz  von  Beauvais  legte  er 
sich  Listen  der  Schriftsteller  und  ihrer  Werke  an,  dem  Ru- 
finustexte  ließ  er  ein  Büchlein  über  mittelalterliche  Autoren 
folgen,  das  weiteren  Kreisen  erst  im  18.  Jahrhundert  durch 
B.  Pez  (nach  einer  Melker  Hs.)  bekannt  wurde. 

Der  „Catalogus  virorum  ill.  Speculi  Vincentii  hist." 
ist  1485  vollendet  worden,  der  zum  Spec.  doctrinale  wohl 
1490.  Staindels  literarhistorische  Sammelarbeit  begann 
also  bereits  von  Erscheinen  von  Trithemii  Liber  de  scripto- 
ribus  ecclesiasticis  (1494),  fortgesetzt  aber  wurde  sie  in  eng- 
stem Anschluß  an  dieses  schnell  verbreitete  Buch,  das  bei 
allen  Mängeln  die  wirkungsreichste  Literaturkunde  des 
späten  Mittelalters  geworden  ist. 

Das  Exemplar  des  1494  vom  Sponheimer  Abte  Johannes 
Trithemius  veröffentlichten  ,, Liber  de  scriptoribus  eccle- 
siasticis" (=  Hain  *15  613),  das  unserm  Staindel  gehörte, 
ist  die  Inc.  117  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Passau.  Fast  jede 
Seite  verrät,  wie  eifrig  sich  der  Passauer  Domherr  mit  dem 
Werke  beschäftigt  hat.  Vornehmlich  hat  er  Buchtitel  und 
Anfänge  der  Werke  nachgetragen.  Sie  sollen  weiter  unten 
von  mir  bekanntgegeben  werden.  Diese  Ergänzungen  ge- 
nügten dem  fleißigen  Manne  aber  noch  nicht.  Bei  seiner 
ausgedehnten  Lektüre  waren  ihm  verschiedene  christliche 
Schriftsteller  bekannt  geworden,  die  Trithemius  nicht  ge- 
bucht hatte,  und  außerdem  vermißte  er  in  jenem  Buche  die 
antiken  Philosophen  und  Dichter.  Darum  hängte  er  dem 
Drucke  des  Trithemius  auf  fol.  142^ — 179R  seines  Exemplars 


Passauer  Einträge  zur  Vergleichung  herangezogen  werden  können, 
läßt  sich  mit  völliger  Bestimmtheit  sagen,  daß  jene  beiden  Bände 
und  München  lat.  732  Autogramme  Staindels  sind.  Oblinger  (S.  46) 
hatte  im  Reichsarchiv  und  im  Passauer  Ordinariatsarchiv  vergeblich 
nach  anderen  Originalniederschriften  Staindels  gesucht. 


Staindel-Funde.  23 

handschriftlich  eine  „Suppletio  virorum  illustrium"  an,  die 
jene  Lüctcen  ausfüllen  sollte.  Der  Text  beginnt  mit  einem 
alphabetischen  Personenregister  (fol.  142v — 143^),  es  folgt 
nachstehende  kurze  Einleitung,  die  uns  schon  Pez  mitgeteilt 
hatte: 

(7  Johannes  Lapillus  presbiter  Pataviensis  ad  lectorem. 
Plures  fuerunt  (ut  verum  fatear)  qui  multo  labore  viros  eru- 
ditos  et  in  omni  sciencia  illustres,  precipue  ecdesiasticos  scrip- 
tores  in  unum  comportarunt,  quatenus  diversa  eorum  studia  et 
exercicia  nota  fierent  posteris.  Hör  um  secutus  exemplof!),  ali- 
quantes etiam  antiquiores  non  contemnendos  philosophos  et 
poetas  quorum  scripta  et  tempora  invenire  potui  annotavi; 
non  tam  illorum  sequendam  doctrinam  quam  omnium  ingenii 
acumen  esse  mirandum.  Censeo  enim  merito  illos  a  nobis  non 
ignorari,  qui  primariam  omnium  scienciarum  cognitionem 
nobis  tradiderunt.  Licet  plerique  eorum  quos  commemoravimus 
in  fertili  agro  acervum  magnum  messuerint,  ego  tamen  cum 
Ruth.  Moabitide  post  tergum  metentium  spicas  tantum  collegi 
et  parvitati  mee  sufficere  confido,  qui  graviora  ferre  posse 
despero.    Vale  1497. 

Die  dann  mit  fol.  144R  einsetzende  auf  fol.  179^^  ab- 
schließende literarhistorische  Liste  bringt  insgesamt  196 
heidnische  und  christliche  Autoren  von  Moses  bis  Ubertinus 
Pusculus  in  ungefährer  zeitlicher  Folge.  Die  Behandlungs- 
weise  ist  vollkommen  durch  das  Muster  bestimmt,  das  Hiero- 
nymus  geschaffen  hatte,  im  ganzen  Mittelalter  nachwirkte 
und  nur  dadurch  von  Trithemius  erweitert  wurde,  daß  er 
den  Werken  vielfach  die  Anfangswörter  beifügte.  Einen 
vollständigen  Abdruck  des  Staindelschen  Werkes  zu  geben, 
verlohnt  sich  nicht,  da  er  durchweg  aus  Quellen  geschöpft 
hat,  die  auch  uns  noch  fließen.  Ich  kann  mich  darauf  be- 
schränken, die  Namen  der  behandelten  Schriftsteller  in  der 
Reihenfolge,  die  Staindel  beliebt  hat,  zu  nennen  und  kurz 
auf  die  Quelle  zu  verweisen. 

1.  Moyses Jac.  Phil.  Berg. 

2.  Linus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

3.  Orpheus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

4.  Museus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

5.  David Jac.  Phil.  Berg. 


24  Paul  Lehmann, 

6.  Salomon Jac.  Phil.  Berg. 

7.  Homerus Jac.  Phil.  Berg. 

8.  Hesiodus Jac.  Phil.  Berg. 

9.  Arctymus  (=  Archimus) Jac.  Phil.  Berg. 

10.  Cyneton Jac.  Phil,  Berg. 

11.  Eumelus Jac.  Phil.  Berg. 

12.  Thaies Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La, 

13.  Solon Jac.  Phil.  Berg,  u.  Diog.  La. 

14.  Chilo Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

15.  Pittacus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

16.  Blas Jac.  Phil,  Berg.  u.  Diog.  La. 

17.  Cleobulus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

18.  Periander Jac.  Phil.  Berg,  u,  Diog.  La. 

19.  Anacharsis Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La, 

20.  Epimenides Jac.  Phil,  Berg.  u.  Diog.  La 

21.  Pherecydes Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

22.  Xenophanes Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

23.  Pythagoras Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

24.  Democritus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

25.  Heraclitus      Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog,  La. 

26.  Empedocles Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

27.  Epicharmus Jac.  Phil.  Berg,  u.  Diog.  La. 

28.  Archelaus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

29.  Hippocrates Jac.  Phil.  Berg. 

30.  Socrates Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

31.  Tucydides Jac.  Phil.  Berg. 

32.  Eudoxus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

33.  Isocrates Jac.  Phil.  Berg. 

34.  Xenophon      Jac,  Phil,  Berg,  u,  Diog,  La. 

35.  Aeechines Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

36.  Aristippus      Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

37.  Phedon Jac.  Phil,  Berg.  u.  Diog.  La. 

38.  Piaton Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

39.  Euclides Jac,  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

40.  Ecphantus Diog.  La. 

41.  Speusippus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

42.  Xenocrates Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog,  La. 

43.  Protagoras Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

44.  Aristoteles Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

45.  Hermes  Trismeg Jac.  Phil,  Berg, 

46.  Apuleius Jac,  Phil.  Berg. 

47.  Crito Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

48.  Simon  Athen Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

49.  Plotinus Jac.  Phil.  Berg. 

50.  Theophrastus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

51.  Demetrius  Phal Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

52.  Heraclides     Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

53.  Epicurus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 


Staindel-Funde. 


25 


54.  Antisthenes Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

55.  Diogenes Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

56.  Metrodorus Jac.  Phil.  Berg. 

57.  Hermachus Diog.  La. 

58.  Crates Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

59.  Crantor ' Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

60.  Alexinus .  Diog.  La. 

6L  Zeno  stoicus Jac.  Phil.  Berg.  u.  Diog.  La. 

62.  Persaeus Diog.  La. 

63.  Aristo Diog.  La. 

64.  Herillus Diog.  La. 

65.  Dionysius  Dioph Dioph.  La. 

66.  Strato Jac.  Phil.  Berg. 

67.  Cleanthes Diog,  La. 

68.  Chrysippus Diog.  La. 

69.  Stilpo Jac.  Phil.  Berg. 

70.  Glaucon Diog.  La. 

7L  Simmias Diog.  La. 

72.  Cebes Diog.  La. 

73.  Jesu  Sirach Jac.  Ph 

74.  Aristobulus Jac.  Ph 

75.  Archimedes ^  .  Jac.  Ph 

76.  Plautus Jac.  Ph 

77.  Philo      Jac.  Ph 

78.  Terentius Jac.  Ph 

79.  Tullius  Cicero Jac.  Ph 

80.  Diodorus  Sic Jac.  Ph 

8L  Sallustius Jac,  Ph 

82.  Varro      Jac.  Ph 

83.  Aemilius  Macer Jac.  Ph 

84.  Servius  Sulpicius Jac.  Ph 

85.  Virgilius Jac.  Ph 

86.  Horatius Jac.  Ph 

87.  Tiro Jac.  Ph 

88.  Bassus Jac.  Ph 

89.  Strabo Jac.  Ph 

90.  Solinus Jac.  Ph 

91.  Livius Jac.  Ph 

92.  Cornelius  Nepos Jac.  Ph 

93.  Ovidius Jac,  Ph 

94.  Valerius  Maximus Jac.  Ph 

95.  Diodorus  As Jac.  Ph 

96.  Lucanus Jac.  Ph 

97.  Persius Jac.  Ph 

98.  Cornutus Jac.  Ph 

99.  Evax Jac.  Ph 

100.  Quintilianus Jac.  Ph 

101.  Asconius  Pedianus Jac  Ph 


1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
I.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 
1.  Berg. 


26  Paul  Lehmann, 

102.  Dioscorides Jac,  Phil.  Berg. 

103.  Justus Jac.  Phil.  Berg. 

104.  Statius Jac.  Phil.  Berg. 

105.  Martialis Jac.  Phil.  Berg. 

106.  Juvenalis Jac.  Phil.  Berg. 

107.  Stella     Jac.  Phil.  Berg. 

108.  Suetonius      Jac.  Phil.  Berg. 

109.  Plinius Jac.  Phil.  Berg. 

110.  Basilides Jac.  Phil.  Berg. 

111.  Agrippa      Jac.  Phil.  Berg. 

112.  Dion Jac.  Phil.  Berg. 

113.  Plutarchus Jac.  Phil.  Berg. 

114.  Terentius  Scaurus Jac.  Phil.  Berg. 

115.  Polycarpus Jac.  Phil.  Berg. 

116.  Aquila Jac.  Phil.  Berg. 

117.  Taurus  Berythius Jac.  Phil.  Berg. 

118.  GeUius Jac.  Phil.  Berg. 

119.  Julius  Celsus Jac.  Phil.  Berg. 

120.  Ptolomaeus Jac.  Phil.  Berg. 

121.  Galenus     Jac.  Phil.  Berg. 

122.  Pompeius  Trogus Jac.  Phil.  Berg. 

123.  Justinus Jac.  Phil.  Berg. 

124.  Cynicus  (=  Pinetus) Jac.  Phil.  Berg. 

125.  Musanus Jac.  Phil.  Berg. 

126.  Bardesanes Hier. 

127.  Theophilus Hier. 

128.  Bacchyllus Hier. 

129.  Julius  PoUux Jac.  Phil.  Berg. 

130.  Symmachus Hier. 

131.  Porphirius Hier. 

132.  Zeno  Veron Hier. 

133.  Basilius  Anc Hier. 

134.  Donatus  haer Jac.  Phil.  Berg. 

135.  Asterius     Jac.  Phil.  Berg. 

136.  Lucifer Jac.  Phil.  Berg. 

137.  Eusebius  Sardus Jac.  Phil.  Berg. 

138.  Donatus  gram Jac.  Phil.  Berg. 

139.  Gregorius  Laeticus  (=  Baeticus)     .  Hier. 

140.  Attilius  Severus  (=  Aquilius  S.).    .  Hier. 

141.  Cyrillus Hier. 

142.  Philanius  (=  Epiphanius)     ....  Hier. 

143.  Maximus Hier. 

144.  Sophronius Hier. 

145.  Theodorus     Genn. 

146.  Claudianus Jac.  Phil.  Berg. 

147.  Vigilius  Trid Petrus  de  Nat. 

148.  Alexander  Lythos Jac.  Phil.  Berg. 

149.  Baciarius Genn. 


Staindel-Funde.  27 

150.  Atticus Genn. 

151.  Adventius Jac.  Phil.  Berg. 

152.  Victor Genn. 

153.  Johannes  V.  papa Jac.  Phil.  Berg. 

154.  Ado  Vienn Anon.  Prüfen. 

155.  Justus  Vienn Anon.  Prüfen. 

156.  Amalarius .  Sigeb. 

157.  Theodulfus Jac.  Phil.  Berg. 

158.  Walafridus  Strabo Anon.  Prüfen. 

159.  Henricus  (=  Heiricus) Sigeb. 

160.  Regino Anon.  Prüfen. 

161.  Eucherius Anon.  Prüfen. 

162.  Johannes  musicus Anon.  Prüfen. 

163.  Fricholfus Anon.  Prüfen. 

164.  Erbo  Fris Anon.  Prüfen. 

165.  Paulus  Jud Anon.  Prüfen. 

166.  Reinoldus  Eist ?    Vgl.  unten. 

167.  Alpharabius Jac.  Phil.  Berg. 

168.  Ekkebertus Anon.  Prüfen. 

169.  Bernaldus Anon.  Prüfen. 

170.  Johannes  Serapion Jac.  Phil.  Berg. 

171.  Isaac  Benimiram Jac.  Phil.  Berg. 

172.  Rasis Jac.  Phil.  Berg. 

173.  Botto  Prüf Anon.  Prüfen. 

174.  Avicenna Jac.  Phil.  Berg. 

175.  Averroes Jac.  Phil.  Berg. 

176.  Johannes  Mesue      Jac.  Phil.  Berg. 

177.  Johannes  XXI.  papa Schedel. 

178.  Hugo  0.  Praed Jac.  Phil.  Berg. 

179.  Johannes  Baibus Jac.  Phil.  Berg. 

180.  Johannes  Scottus Jac.  Phil.  Berg. 

181.  Johannes  Wiklef     ? 

182.  Jacobus  Magnus Schedel. 

183.  Theodericus  Vrie Vgl.  unten. 

184.  Andreas  Hisp Vgl.  unten. 

185.  Gregorius  de  Alex Jac.  Phil.  Berg. 

186.  Julianus  de  Salem Jac.  Phil.  Berg. 

187.  Johannes  de  Imola Jac.  Phil.  Berg. 

188.  Honofrius  de  Flor Jac.  Phil.  Berg. 

189.  Nicolaus  de  Aquapendente    ....  Jac.  Phil.  Berg. 

190.  Guilhelmus  Bechius Jac.  Phil.  Berg. 

191.  Paulus  Romanus Jac.  Phil.  Berg. 

192.  Paulus  Lulmas Jac.  Phil.  Berg. 

193.  Boninus  Mombretus Jac.  Phil.  Berg. 

194.  Michael  Carr Jac.  Phil.  Berg. 

195.  Marsilius  Ficinus Jac.  Phil.  Berg. 

196.  Ubertinus  Pusculus Jac.  Phil.  Berg 


28  Paul  Lehmann, 

Es  ergibt  sich  aus  dieser  Zusammenstellung,  daß  Staindel 
zu  allermeist  auf  das  ,,Supplementum  chronicarum"  des 
JacobusPhilippusForesta  von  Bergamo  zurück- 
geht, das  ich  in  der  Ausgabe  Brixiae  1485,  benutzt  habe. 
Auf  Jac.  Phil.  Berg,  fußen  die  Artikel  1—39,  41—56,  58, 
59,  61,  66,  69,  73—125,  129,  134—138,  146,  148,  151,  153, 
157,  167,  170—172,  174—176,  178—180,  185—196.  Für  die 
Philosophen  und  Poeten  des  Altertums  ist  bei  Artikel  2 — 4^ 
12—28,  30,  32,  34—44,  47,  48,  50—55,  57—65,  67,  68, 
70 — 72  teils  neben  Jac.  Phil.  Berg,  teils  ausschließlich  die 
Renaissanceübersetzung  der  ßioi  (pilooofpCov  des  Diogenes 
L  a  e  r  t  i  u  s  benutzt  worden.  Einige  ältere  christliche 
Schriftsteller,  Nr.  126—128,  130—133,  139—144  hat  er  auf 
Grund  von  Hieronymus  de  viris  illustribus,  andere, 
Nr.  145,  149,  150,  152,  nach  Gennadius  behandelt,  wenige, 
Nr.  156  u.  159,  nach  Sigeberts  von  Gembloux 
Literaturkatalog.  Dagegen  hat  der  anonyme  L  i  b  e  r  de 
scriptoribus  ecclesiasticis,  den  man  früher 
nach  Melk  benannte,  der  aber  in  Wahrheit  aus  Prüfening 
(ca.  1140)  stammt,  eine  stattliche  Reihe  von  Abschnitten 
geliefert,  nämlich  Nr.  154,  155,  158,  160—165,  168,  169  u.  173. 
Die  Quelle  von  Nr.  147  scheint  das  hagiographische  Sammel- 
werk des  Petrus  de  Natalibus  zu  sein,  die  von 
177  und  182  Hartmann  Schedels  Weltchronik. 

Nur  die  Benutzung  des  Prüfeninger  Büchleins  ist  etwas 
Ungewöhnliches.  Daß  Staindel  eine  —  jetzt  verlorene  — 
Handschrift  kannte,  zeigt  die  obenerwähnte  (S.  21)  Kopie, 
die  er  eigenhändig  in  den  Inkunabelband  30  eingetragen  hat. 
Alle  übrigen  Quellen,  die  ich  nannte,  waren  am  Ende  des 
15.  Jahrhunderts  allgemein  bekannt. 

Bei  vier  Kapiteln  (Nr.  166,  181,  183,  184)  ist  noch  mit 
etwas  Ausführlichkeit  über  die  Grundlagen  zu  sprechen. 
Nr.  183  stützt  sich  auf  die  damals,  als  Staindel  schrieb, 
bereits  erschienene  Druckausgabe  der  Schrift  Dietrich  Vries 
De  consolatione  ecclesiae.i)  Bei  Nr.  184  hat  vielleicht 
Trithemius  Gevatter  gestanden. 


1)  Köln    1484  im   4.  Bande  der   Koelhoff sehen    Gersonausgabe; 
vgl.  H.  Finke  im  Hist.  Jahrbuch  VIII,  454 ff. 


Staindel-Funde. 


29 


T  r  i  t  h  e  m  i  u  s  ,  De  viris  ill. 
O.  S.  Benedicti   II,  cap.  136: 

Andreas  ex  monacfio  nostri  or- 
dinis,  ut  per  se  in  qiiodam  tradatu 
fatetur,  episcopus  Megarensis  et 
Civitatensis  et  deinde  Aiacensis, 
riatione  Hispanus  et  Romanae  curiae 
poenitentiarius,  doctor  in  iure  peri- 
tus  et  divinarum  scripturarum  non 
ignarus,  scripsit  de  poenitentia  lib.  I, 
de  modo  confitendi  tractatum  bre- 
vem, sed  utilem.  Alia  quoque  plura 
edidit,  quae  ad  manus  meas  non 
venerum. 


S  t  ai  n  d  e  1: 

% 
Andreas  nacione  Hispanus,  mo- 
nachus  ordinis  S.  Benedicti,  episco- 
pus Megarensis,  olim  Civitatensis, 
deinde  Aiacensis,  vir  doctissimus  tarn 
in  theologia  quam  in  iure,  scripsit 
ad  Cardinalem  Jordanum  de  Ursi- 
nis,  episcopum  Albanensem,  quod 
prenotavit  ,Lumen  confessorum'  li.  I. 
„Lumen  confessorum  vocatur"  et 
plura  alia.  Floruit  sub  Martino 
quinto  papa. 


Doch  ist  Staindel,  wenn  überhaupt,  nicht  ganz  von 
Trithemius  abhängig,  da  er  das  „Lumen  confessorum''^) 
kennt,  von  dem  der  Sponheimer  Abt  nicht  redet. 

Nr.  181  handelt  über  Wiclif.  Staindels  Worte  beruhen 
schwerlich  auf  Autopsie  der  Werke.  Aber  es  ist  mir  nicht 
gelungen,  seine  Quelle,  vermutlich  eine  Chronik,  zu  ermitteln. 
Der  Text  lautet: 

Johannes  Wiklef  presbiter,  magister  universitatis  Oxo- 
niensis,  plebanus  cuiusdam  parrochie  Cantuariensis  diocesis, 
scripsit  plures  libros  et  tractatus  plenos  erroribus  et  heresi. 
Jnter  quos  sunt: 

Dialogus. 

Trialogus. 

De  incarnacione  verbi  divini. 

De  corpore  Christi  maior  et  minor. 

De  trinitate. 

De  ydeis. 

De  ypotetis. 

Decalogus.  * 

De  universalibus  realibus. 

De  symonia. 

De  fratribus  discolis  et  maus. 

De  probacionibus  propositionum. 

De  attributis. 


^)  Vgl.  J.  F.  V.  Schulte,  Die  Geschichte  der  Quellen  und  Lite- 
ratur des  Kanonischen  Rechts  II,  440. 


30  Paul  Lehmann, 

De  individuacione. 
*    De  materia  et  forma. 

De  dominio  civili. 

Super  evangelia  sermones  per  annutn.  Ex  libris  predictis 
multi  articuli  erronei  et  hereticales  sunt  extracti  atque  Londoniis 
in  Anglia  in  conventu  fratrum  predicatorum  anno  domini 
MCCCLXXX  ab  archiepiscopo  et  XIII  episcopis  ac  XXX 
magistris  in  theologia  sunt  condemnati.  Postea  per  Johannem 
Huss  Boemum  predicti  errores  per  Boemiam  disseminati 
totum  fere  regnum  impleverunt.  Claruit  idem  Wiklef  tempore 
Caroli  quarti  imperatoris. 

Die  an  166.  Stelle  stehenden  Worte  über  Reinold  von 
Eichstätt    hatten    schon    Pez    angezogen.     Staindel    sagt: 

Reinoldus  Eistetensis  episcopus,  inter  pontifices  sui  tem- 
poris  per  Germaniam  clarus,  edidit  historiam  de  S.  Nicoiao 
per  omnes  ecclesias  satis  vulgatam.  Obiit  anno  domini 
DCCCCLXXXVIII. 

Am  ausführlichsten  hat  im  Mittelalter  der  merkwürdige 
Anonymus  Haserensis^)  über  Reginold,  der  von  966 — 988 
(oder  989)  Bischof  von  Eichstätt  war,  gesprochen  und  dabei 
die  hebräischen  und  griechischen  Kenntnisse  des  Mannes, 
sowie  seine  poetisch-musikalische  Tätigkeit  gerühmt.  In 
Sequenzenform  habe  er  ein  griechisch-hebräisch-lateinisches 
Gedicht  auf  den  heiligen  Willibald  verfaßt  und  über  die  Hei- 
ligen Wunnebald,  Blasius  und  Nikolaus  geschrieben.  In- 
primis  historiam  S.  Nicolai  fecit  et  per  hoc  episcopalem  digni- 
tatem  promeruit.  Leider  ist  keiner  dieser  Texte  bisher  wieder 
aufgetaucht.  Im  Jahre  1893  sprach  A.  Dürrwächter,  freilich 
an  entlegenem  Orte,  die  Hoffnung  aus,  die  Historia  S.Nicolai^) 
wäre  noch  erhalten,  und  den  Wunsch,  man  möchte  doch 
einmal  die  Literatur  über  Nikolaus  gründlich  durchforschen, 
und  Reinolds  literarischer  Tätigkeit  überhaupt  nachgehen. 
Eine  derartige  Sondersuntersuchung  ist  nicht  gemacht  worden. 
Doch  zeigt  die  ,,Bibliotheca  hagiographica  latina"  der 
Bollandisten,  daß  sich  schwerlich  einer  der  irgendwie  bekann- 


1)  MG.  SS.  VII,  255  u.  257. 

2)  Sammelblatt  des  Historischen  Vereins  Eichstätt  VII,  124  f. 
Die  Kenntnis  dieses  Aufsatzes  verdanke  ich  einem  freundlichen  Hinweis 
des  Kollegen  L.  Steinberger. 


Staindel-Funde.  31 

ten  Texte  mit  Reinold  in  Verbindung  bringen  läßt.  Auch 
die  Literatur  über  Hymnen  und  Sequenzen  gibt  keine  siclieren 
Anhaltspunl<:te.  Hat  Staindel  die  Nii<olaushistorie  Reinolds 
noch  gekannt?  Ich  glaube  nicht.  Dürrwächters  Mitteilungen 
zeigen,  daß  man  auch  sonst  noch  im  15.  und  16.  Jahrhundert 
von  der  hagiographischen  Schriftstellerei  des  Bischofs  wußte, 
jedoch  wohl  stets  nur  mittelbar,  durch  den  Anonymus  von 
Herrieden  und  von  diesem  abhängige  Texte.  Die  Stellen, 
an  denen  im  Mittelalter  über  Reinold  und  die  Historia 
Nicolai  gesprochen  ist,  lassen  sich  noch  vermehren:  Das 
Auctarium  Garstense  schreibt  zum  Jahre  988 1):  Reinoldus 
musicus  Aichstetensis  episcopus  obiit  (cui  Emgoz  successit), 
qui  historiam  cantus  de  S.  Nicoiao  edidit;  zum  gleichen  Jahre 
melden  die  Annales  S.  Rudberti  Salisburgenses^) :  Reinoldus 
Eistetensis  episcopus  musicus,  qui  sancti  Nikolai  historiam 
edidit,  obiit. 

Da  nun  Staindel  in  seiner  Chronik^)  —  ebenfalls  unter 
dem  Jahre  988  —  sagt:  Reinoldus  Eystetensis  episcopus  qui 
S.  Nicolai  historiam  edidit,  obiit,  hier  also  ganz  wörtlich  den 
Salzburger  Annalen  folgt,  ist  es  höchst  wahrscheinlich, 
daß  er  auch  in  seiner  literarhistorischen  Arbeit  für  Reinold 
keine  andere  Quelle  als  jenes  Annalenwerk  benutzt.  Auf- 
fällig ist  ja  die  Bemerkung,  die  Historia  de  S.  Nicoiao  Rei- 
nolds wäre  über  alle  Kirchen  verbreitet  gewesen.  Doch  kann 
ich  darauf  kein  großes  Gewicht  legen;  vielleicht  hat  Staindel 
einen  der  Texte,  die  am  Nikolaustage  zu  Passau  gehört 
wurden,  mit  Reinold  in  Verbindung  gebracht,  etwa  die 
Hymne*)  ,,Plaudat  laetitia  lux  hodierna".  Ob  aber  mit 
Recht,  läßt  sich  einstweilen  nicht  sagen. 

So  schrumpft  der  unmittelbare  Quellenwert  der  Lite- 
raturgeschichte Staindels  ziemlich  zusammen.  Seine  „Sup- 
pletio"  ist  eine  fleißige  Kompilation  aus  uns  wohlbekannten 
Werken.  In  den  meisten  Fällen  sind  diese  wörtlich  ausge- 
schrieben. Nur  ganz  selten  brauchte  Staindel,  dem  Schema 
des  Trithemius  zuliebe,  Umstellung  vorzunehmen.    Zusätze 

1)  MG.  SS.   IX,  567. 

2)  L.  c.  772. 

')  Oefele,  Rerum  Boic.  SS.   I,  467. 

*)  Analecta  hymnica  medii  aevi  LI,  209  f. 


32  Paul  Lehmann, 

aus  Eigenem  finden  sich  in  der  kurzen  Vita  der  einzelnen 
Autoren  verschwindend  wenig.  Er  fügte  z.  B.  mehrfach 
die  Blütezeit  der  Schriftsteller  zu,  auch  wenn  sie  in  seiner 
Vorlage  nicht  vermerkt  war.  Bei  Ado  z.  B.  schrieb  er  Claruit 
sab  Carolo  Magno  et  Ludovico  imperatoribus,  bei  Justus 
Vienn.  Claruit  sub  Justiniano  secundo  imperatore,  bei  Regino 
Floruit  tempore  Arnulf i  imp.,  bei  Freculf  Claruit  tempore 
Caroli  Grossi  imp.,  bei  Bernaldus  Claruit  tempore  Henrici 
tercii  imp.,  was  alles  beim  Anon.  Prüfen,  fehlt.  Gelegentlich 
schiebt  er  auch  mal  ein  vir  doctissimus  u.  dgl.  ein  und  hängt 
der  Schriftenliste  —  ganz  wie  Trithemius  —  ohne  daß  er 
Glauben  verdiente,  ein  et  alia  an  oder,  wie  bei  Eucherius, 
ein  et  alia  plura  que  circa  nos  minime  apparent  an.  Kritik 
wird  weder  an  der  geschichtlichen  Überlieferung  noch  an 
den  literarischen  Erzeugnissen  der  behandelten  Schrift- 
steller geübt.  Einigen  Wert  haben  von  den  Zutaten  nur  die 
neuen  Buchtitel  und  die  Initien,  die  beigegeben  sind.  Was 
in  der  Hinsicht  geboten  wird,  mag  die  folgende  Zusammen- 
stellung zeigen,  in  der  ich  alle  mit  Textanfängen  versehenen 
Titelvermerke  in  alphabetischer  Folge  der  Schriftsteller 
vereinigt  habe,  die  handschriftlichen  Zusätze  innerhalb  des 
Trithemiusdruckes  wie  die  Stellen  aus  Staindels  eigener 
Kompilation.  Ich  scheide  beide  dadurch  voneinander,  daß 
ich  die  Nachträge  zu  Trithemius  in  runde  Klammern  setze. 

ADO  VIENN.: 

Chronica  abbreviata.     Breves  temporum. 
(ALCUINUS: 

De  proprietate  sermonum.     Inter  pollicere. 

Eplstolarum  ad  diversos.    Venerabili  patri  et  amabili  fratri.) 
(AMBROSIUS: 

De  XLII  mansionibus.     Mansiones. 

In  epistolas  Pauli.     Principia  verum.) 
ANDREAS  HISPANUS: 

Lumen  confessorum.    Lumen  confessorum  vocatur. 
(ANGELOMUS: 

In  genesim.     Eximio  patri  et  floribus.) 
APULEIUS: 

De  vita  et  moribus  Piatonis  li.  I.    Piatoni  habitudo  corporis. 

De  deo  Socratis  li.  I.   Qui  me  voluistis  dicere  ex  tempore. 

De  asino  aureo  li.  I.    At  ego  tibi  sermone  isto. 

De  magia  11.  II.    Certus  equidem  er  am. 


Staindel-Funde.  33 

Floridorum  li.  IUI.     Ut  ferme  religiosis  viantium. 

De  habitudine  mundi  sive  cosmographia  li.  I.  Consideranti  mihi  et. 
(BAPTISTA  MANTUANUS: 

Adolescentia  Baptiste.    Fauste  precor  gelida. 

Vita  Margarite,  Agathe,  Lucie,  Apolonie.    Qui  novus  iste  furor. 

De  patientia:  Quo  ...  oportunis  ac  frequentibus.) 
<BKDA: 

De  tabernaculo.    Locuturi  iuvante  domino  de  figura. 

In  libros  Regum.     Regum  tempora  post  iudices.) 
<BERNARDUS  CLAR.: 

De  XII  gradibus  superbie:  Primus  itaque. 

De  contemptu  mundi  ad  fratrem  Renaldum.    Cartula  nostra  tibi 

mandat. 

De  regimine  familie.    Gracioso  et  felici. 

De  honestate  vite.     Petis  a  me. 

De  passione  domini.    Septies  in  die  laudem  dixi.) 
<BLONDUS  FLAVIUS: 

De  Roma  triumphante.    Quotquot  hadenus  scriptores. 

De  Roma  instaurata,     Urbis  Rome  rerum  domine. 

De  Italia  illustrata.     Italiam  describere  exorsi. 

De  gestis  Venetorum.    Magnum,  Francisce  Foscari.) 
CICERO: 

Paradoxa  ad  Brutum  li.  I.     Animadverti,   Brüte,  sepe  Cato. 

De  officiis  li.  III.    Quanquam  te,  Marce  fili,  annum. 

De  amicitia  li.  I.    Quintus  Mucius  Augur  Scevola. 

Cato  maior  vel  de  senectute  li.  I.    0  Tite,  siquid  ego  adiuto. 

Tusculanarum  questionum  li.  V.    Dum  defensionum  laboribus. 

DIODORUS  SICULUS: 

Historiarum  li.  VI.    Magnas  merito  gratias  rerum. 

DION: 

De  regno  li.  IUI.  Ferunt  aliquando  Thimotheum  mu  .  qui  a 
Gregorio  Tiphernio  tempore  Nicolai  quinti  pape  e  Greco  in  La- 
tinum translati  sunt. 

<DAVID  TEUTONICUS: 

US  oracionis  Opor  . . .  are.)  ^) 

ERBO  FRISINGENSIS: 

Vitam  S.  Emmerami  martyris  li.  I.    In  perpetuum  regnante  do- 
mino.^) 
Vitam  S.  Corbiniani  episcopi  li.  I.   Dum  cupimus  ad  edifica — .*) 


^)  Die  Notizen  sind  zuweilen  durch  Beschneiden  der  Blätter 
verstümmelt.  So  auch  hier.  Es  ist  wohl  der  Traktat  De  oratione  gemeint, 
den  E.  Lempp  in  der  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  XIX  (1899), 
S.  17  f.  u.  24  erwähnt. 

2)  Nach  dem  Initium  die  Fassung  B  der  Vita,  MG.  SS.  rer.  Merov. 
IV,  472  sqq. 

3)  Die  jüngere  Form  der  Vita  =  Bibl.  hag.  lat.  Nr.  1948. 

Historische  Zeitschrift  (Ul.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  3 


34  .  Paul  Lehmann, 

(FULGENTIUS  RUSP.: 

De  Adam  sine  A,  Abel  sine  B:  Principio  rerum  post  quinque.Y) 
GELLIUS: 

De  noctibus  Atticis  li.  XX,     Plutarchus  in  libro. 
(GUILHELMUS  PARIS: 

<De  legDbus  li.  I.     Post  hec: 

<De  tenta)cionibus  et  resistenciis.     Post  hec  ordine: 

<De)  retributionibus  sanctorum.     Post  hec  autem: 

<De  immor)talitate  anime.     Nosse  autem  debes. 

De  sacramentis.     Cum  inter  sapientiales  spiritualesque. 

Summa  virtutum.     Postquam  claruit  ex  ordine. 

Summa  vitiorum.     Aggrediamur  huius  tractatus. 

De  universo.     Scientia  de  universo  dicitur.) 
(HENRICUS  EUTA: 

De  quatuor  notabilibus.     Dico  pro  notabili  illud.) 
(HENRICUS  DE  LANGENSTEIN: 

De  contractibus.     In  sudore  vultus. 

In  exposicionem  misse.    Quam  brevis  fuerit  missa. 

De  quatuor  novissimis.     Memorare  novissima  tua.) 
(HILARIUS: 

In  psalmos.    Diver sas  esse  plurimorum.) 
HORATIUS: 

Carmen  seculare.     Phebe  silvarumque  potens  Diana. 

Sermonum  li.  II.    Qui  fit,  M^cenas,  ut  nemo  quam  sibi  sortem. 

Epistolarum.  li.  II,    Primp  dicte  mihi  summa  dicende  campna. 

Carmen  epodon  li.  I.     Ibis  Liburnis  inter  alia  navium. 

Odarum  carminum  li.  IUI.     Mecenas  atavis  edite  regibus. 

Poetria  li.  I.     Humano  capiti  cervicem  pictor  equinam. 
(HUGO  DE  S.  VICTORE: 

De  conscientia.     Domus  hec  in  qua. 

De  volenti  nubere.    Dum  te. 

De  amore  sponsi  et  sponsae.     Ibi  mihi. 

In  V  libros  Moysi.     Sciendum  quod. 

De  mysteriis  ecclesiae.    Oportet  ut. 

In  Ezechielem.     Muttis  divine. 

Epitoma  Philosophie.     Sepe  nobis.) 
(lACOBUS  DE  IVETERBOG: 

De  animabus  exutis  a  corporibus.     Rogamus  vos,  ne  terreamus.y 
(lOHANNES  DE  DEO: 

De  regulis  penitencialibus.     Venerabili  patri  ac  domino.) 
(lOHANNES  GALLENSIS: 

Compendiloquium  philosophorum.     Cum. 

De  sapientia  sanctorum.     Vani  sunt  ho... 

De  virtutibus  antiquorum.    Quoniam  misericordia.) 


^)  Das  Initium  gehört  in  Wahrheit  zur  Aurora  des  Petrus  Riga,. 


Staindel-Funde.  35 

(lOHANNES  PICUS  MIRANDUL.: 

<De  ente  et>  iino.    Narrabas  mihi  superioribus  diebus, 

<De  hominis  dignitate.     Legi,  patres  colendissime. 

(Epistolae).    Johannes  Picus. 

Adversus  astrologos:  Homerus  (atque)  Cecilius  antiquissimi. 

<De  vera  sup>putacione  temporum. 

Heptaplus.     Movit  emulatio  me  studiorum. 

Apologia.     Apologiam  nostram  dicavi  tibi,  Laurenti. 

<Obiit  Flore)ncie  anno  domini  [1494]  anno  etatis  32.) 
(lORDANES: 

Historiarum  libri.    Maiores  nostri,  ut  refert  Orosius.) 
(ISIDORUS  HISPAL.: 

De  creatione  mundi  et  astrorum  ordinatione.    Domino  et  filio 

Sisebuto. 

De  officiis  ecclesiasticis.     Primum  a  Petro  ecclesia. 

Primiorum  novi  et  veteris  testamenti.    De  libris  novi  ac  veteris 

testamenti.) 
IVSTINUS: 

Epitoma  Trogi  li.  XLIIII.     Cum  multi  ex  Romanis. 
(LEONARDOS  ARETINUS: 

Historia  sui  temporis,    Qiii  per  Italiam  homines  excelluerunt.) 
(LUPOLDUS  DE  BEBENBVRG: 

De   celo   christianae   religionis   veterum   principum    Germaniae. 

Legitur  in  Ecclesiastico. 

De  iuribus  imperii  Romani.    Cum  inter  omnes  principes.) 
MACER: 

Naturas  herbarum  li.  1.    Herbarum  quasdam  didurus  carmina. 
MARTIALIS: 

Epigrammata  li.  I.     Barbara  Pyramidum. 
(NICETAS: 

<De  doctrina)  apostolorum.     Vite  due  sunt. 

<Liber>  ecclesiasticorum  dogmatum.    Credimus  unum  esse  deum.) 
(NICOLAUS  DE  CUSA: 

De  theologicis  complementis.     Perfeceram  proxime. 

Apologia  docte  ignorantie.     Retulit  mihi. 

Coniectura  de  ult<imis  diebus)   Quamquam  universus.) 
(ORIGENES: 

In  Judicum.     Lector  quidem  presentis  lectionis. 

In  ev.  Matthaei.     Interrogatus  Christus  discipulos. 

In  Ezechielem.    Non  omnis  qui  captivus  est  propter  peccata. 

In  principium  Job,    Sicut  celi  luminaria. 

In  cantica  canticorum.    Epithalamion  libellus  id  est  nupti.) 
(OTTO  FRISING.: 

Historiarum.  libri  VIII.    Gestarum  rerum  ab  Adam.) 
OUIDIUS: 

Metamorphorseorum  (!)  id  est  transformationum  li.  XV.    In  nova 

fert  animus. 

3* 


36  Paul  Lehmann, 

De  arte  amandi  li.  III.    Si  quis  in  hoc  artem  populo  non. 
De  remedio  amorls  li.  I.    Pergat  huius  amor  nomen. 
De  sine  titulo  li.  III.    Qui  modo  Nasonis  fueramus. 
Saphos  eiusdem  li.  I.    Nunquid  ubi  aspecta  est  studiosa. 
Invectiva  in  ibin  li.  I.     Tempus  ad  hoc  lustris  mihi  iam. 
Epistolarum  heroidum  li.  I.    Hanc  tua  Penelope  lento. 

(PETRARCHA: 

.  decades  X.  . . .  osticas  nominavit. 
.  virorum  illustrium.     Hie  adolescens. 
.  cribitur  secretum:   . . .  tonito  mihi  quidem. 
.  sapientia  dialogi. .  enit  pauper  quidam. 
.  arum  li.  IV.     or  in  vectioarum. 
.  sine  titulo.    Odiosa  fuerit. 
In  psalmos  penitentiales.    Heu  mihi  misero. 
Historia  Griseldis.     Librum  tuum  quem  nostro  materno. 
De  rebus  memorabilibus.    Sed  mihi  cuncta  versanti. 
PHILO: 

Sapientie  11.  I.     Diligite  iustitiam  qui  iudicatis  terram. 
(breviarium  temporum.    Ab  Adam  usque  ad  diluvium.) 
PLINIUS: 

Naturalis  historia  li.  XXXVII.     Libros  naturalis  historie. 
Epistolarum  li.  VIII.    Frequenter  hortatus  es. 
Panegiricus  Trajano  li.  I.     Bene  ac  sapienter. 
De  viris  illustribus  li.  I.     Proca  rex  Albanorum. 
PLUTARCHUS: 

De  politica  institucione  li.  I.    Plutarchus  Trajano  salutem  dicit. 
De  fortuna  Romanorum  li.  I.   Que  multa  sepenumero. 
De  viris  illustribus  li.  I.    Quem  admodum,  o  Sossie. 
PTOLOMAEUS: 

Cosmographie  li.  VIII.    Cosmographia  designatrix. 

QUINTILIANUS: 

De  institutione  oratoria  li.  XII.    Post  impetratam  studiis. 

(ROSWIDA: 

Comoedias.     Plures  inveniuntur  catholici. 

De  gestis  Ottonum  etc.    Postquam  rex  regum  qui  solus  regnat. 
De  Dionysio.    Dum  factor  summe  medie  rationis  et  ime. 
De  Gongolfo,    O  pie  lucisator  mundi  rerumque  parator. 
De  Pelagio.     Inclyte  Pelagi. 
De  Theophilo.     Postquam  lux  fidei. 
De  Basilio.     Tempore  Basilius  quo. 
De  Agnete.     Virgo  que  vanas. 
(RUPERTUS  DE  LICIO: 

De  timore  iudiciorum  dei.     Vidi  alterum  angelum  volantem. 

STATIUS: 

De  hello  Thebaico  li.  I.    Fraternas  acies. 

De  Achillis  infantia  li.  I.    Magnanimum  Eacidem, 


Staindel-Funde.  37 

SUETONIUS: 

De  duodecim  Cesaribus  li.  XII.     Annum  agens  Cesar  XVI. 

De  viris  illustribus  grammaticis  et  rhetoribus  li.  I.    Grammatica 

Rome  ne  in  usu. 

TERENTIUS: 

Andria.  Sororem  falsa  creditam, 

Eunuchus.    Si  quisquam  est  qui  placere. 

Heutontimerumenon.    Quanquam  hec  inter  nos. 

Adelphis.     Storax  non  rediit  hac  nocte. 

Hechira.     Per  pol  quam  paucos  reperiat. 

Phormio.     Arnims  summus  meus. 
THEODERICUS  VRIE: 

De  consolacione  ecciesie  li.  VIII.     Regi  regum  citra  Christum. 
(THOMAS  DE  KEMPIS: 

De  vita  Gerhardi.     Auxiliante  domino. 

Soliioquium  anime.     .  .tionis  gratia  aliq... 

De  disciplina  claustrali.    Apprehendite  diso ) 

(VINCENTIUS  FERRAR.: 

De  fine  mundi.    Ecce  positus  est  hie  in  ruinam.) 
{MAPHEUS  VEGIUS: 

Disputatio  inter  <solem>  terram  et  aurum.  Cum  decertarent  inter  se. 

De  educatione  liberorum.    Si  tamen  nobis  ingenii  esset. 

Dialogus  Veritatis  et  Philalithis.    Quenam  es  tu  mortalium. 
VIRGILIUS: 

Bucolica  li.  I.     Tityre  tu  patule  recubans  sub. 

Georgica  li.  IUI.    Quid  faciat  letas  segetes. 

Eneidos  li.  XII.     Arma  virumque  cano  Troie  qui  primus. 

Priapea.    Carminis  incompti  lusus  ledure. 

Copa.     Copa  Sirisca  caput  Graia  redimita. 

Est  et  non.     Est  et  non  cuncti  monosillaba  nota. 

Vir  bonus.     Vir  bomis  et  sapiens  qualem  vix. 

De  rosis.  Ver  erat  et  blando  mordentia. 

Culex.     Lusimus,  Octavi,  gracili  modulante. 

Dire.     Battare,  Cyneas  repetamur  carmine. 

Etna.    Etna  mihi  ruptique  cavis  forna. 

Ciris.     Etsi  me  vario  iactatum  laudis. 

Catalecton.     Vere  rosa,  autumno  pomis  esta  te. 

Moretum.    Jam  nox  hybernas  bis  quinque. 

Hortulus.     Adeste  muse  maximi  proles. 

De  vino  et  Venere.    Nee  Veneris  nee  tu  vini. 

De  livore.    Livor  tabificum  malis  venenum. 

De  cantu  Syrenarum.    Sirenas  varios  cantus  Acheloia. 

De  fortuna.    Fortuna  potens  tantum. 

De  Orpheo.     Threicius  quondam  vates. 

De  se  ipso.     Mellifluum  quisquis  Romanum. 

De  etatibus  animalium.     Per  binos  deciesque  novem. 


38  Paul  Lehmann, 

De  ludo.    Sperrte  lucrum,  vexat  mentes. 

De  erumnis  Herculis.     Prima  Cleonei  tolerata  crimina. 

Argumenta  XII  librorum  Eneidum.     Eolus  inmittit  ventos. 

De  musarum  inventis.     Clio  gesta  canens  transactis  tempora. 

De  speculo.     Redditur  effigies  liquida  cernentis. 

De  celestibus  signis.     Primus  adest  Aries  Taurusque. 

De  littera  .  y  .     Littera  Pythagore  discrimine. 

WALAFRIDUS  STRABO: 

Vita  S.  Galli  ad  Gozbertum  abbatem. 

Vieles  davon  war  bereits  gedruckt,  als  Staindel  schrieb, 
so  die  oder  die  meisten  der  unter  Apuleius,  Baptista,  Ber- 
nardus,  Blondus,  Cicero,  Diodor,  Dion,  Guilhelmus,  Horatius, 
Johannes  Picus  Mir.,  Johannes  Gallensis,  Justinus,  Leonardus, 
Lupoldus  de  Bebenburg,  Macer,  Martialis,  Nicolaus  Cusanus, 
Ovidius,  Petrarcha,  Plinius,  Plutarchus,  Statins,  Suetonius, 
Thomas,  Vegius,  Virgilius,  Vrie  undVincentius  verzeichneten 
Werke.  Es  ist  anzunehmen,  daß  Staindel  diese  Titel  zum 
größten  Teil  den  Ausgaben  entnahm,  doch  mag  er  von  man- 
chem Text  auch  Handschriften  gesehen  haben.  Aber  selbst 
von  dieser  Möglichkeit  abgesehen,  ist  die  Zahl  der  ihm  nur 
aus  Manuskripten  bekannten  Schriften  stattlich  genug. 
Sind  auch  keine  Unica  dabei,  so  doch  Verschiedenes,  auf 
das  man  früher  im  Mittelalter  nicht  allzuoft  geachtet  hatte, 
z.  B.  die  Weltchroniken  Ados  und  Ottos  von  Freising  und 
die  Alcuinbriefe.  Das  Incipit  Venerabili  patri  et  amabili 
fratri  zeigt,  daß  er  die  Alcuinüberlieferung  kannte,  die  durch 
Wien  808,  einen  Salzburger  Kodex  des  9.  Jahrhunderts, 
vertreten  ist.i)  Von  anderen  Einzelheiten  möge  an  dieser 
Stelle  Abstand  genommen  und  das  Nähere  dem  überlassen 
werden,  der  nach  sorgfältiger  Rekonstruktion  der  Staindel- 
schen  Bibliothek  alle  von  Staindel  benutzten  Quellen  syste- 
matisch zu  behandeln  unternimmt.  Auf  jeden  Fall  bestätigt 
die  literargeschichtliche  Kompilation  den  Eindruck,  den 
man  von  Staindel  aus  der  Chronik  und  den  Kollektaneen 
bekommen  hat:  daß  er  namentlich  in  der  geschichtlichen 
Literatur  gut  bewandert  gewesen  ist,  ohne  an  Schriften 
anderer  Wissenszweige  achtlos  vorübergegangen  zu  sein. 


1)  Vgl.  MG.  Epp.   IV,  4  u.  253. 


Staindel-Funde.  39 

Zum  Schluß  wäre  noch  ein  Wort  darüber  zu  sagen, 
auf  welchem  Wege  denn  die  Staindelschen  Bücher  auf  uns 
gekommen  sind.  Oblinger  hatte  darauf  hingewiesen,  daß 
die  Chronik  und  die  Kollektaneen  des  Passauer  Domherrn 
über  Formbach  nach  München  gekommen  sind,  und  daß 
ebenfalls  in  Formbach  der  Liber  de  scriptoribus  ecclesiasticis 
von  Pez  gefunden  worden  war.  Er  suchte  das  mit  dem 
regen  literarischen  Austausch  zwischen  Staindel  und  dem 
Formbacher  Abt  Angelus  Rumpier  zu  erklären.  „Vielleicht," 
sagt  er  S.  49,  ,,sind  auf  diesem  Wege"  —  des  freundschaft- 
lichen Verkehrs  —  ,,Staindels  Schriften  in  den  Besitz  des 
Klosters  Formbach  gekommen,  indem  die  Rückgabe  wegen 
des  dazwischen  eingetretenen  Todes  Staindels  nicht  mehr 
möglich  war,  oder  Staindel  mag  sie  bei  seinem  Tode  dem 
befreundeten  Kloster  geschenkt  haben."  Auf  daß  man 
dazu  Stellung  nehmen  kann,  muß  ich  nachtragen,  daß  nicht 
nur  die  vier  Bände,  von  denen  Oblinger  spricht,  sondern 
alle  die  Handschriften  und  Drucke,  die  ich  im  Verlaufe  der 
Abhandlung  mit  Staindel  verknüpfen  konnte,  aus  Form- 
bach stammen.  Sie  tragen  Einbände  mit  eingepreßten 
Initialen  Formbacher  Äbte  des  18.  Jahrhunderts,  und  die 
Handschriften  lassen  sich  sämtlich  im  Formbacher  Manu- 
skriptenkatalog von  1610  (München  lat.  6153)  feststellen. 
Außerdem  scheint  die  Chronik  Staindels  schon  im  16.  Jahr- 
hundert von  Kaspar  Brusch  in  Formbach  gesehen  zu  sein.^) 
Bei  diesem  Tatbestande  kann  ich  nicht  glauben,  daß  die 
Bücher  dank  dem  Verkehr  mit  Rumpier  nach  Formbach 
gekommen  und  beim  Tode  Staindels  ans  Domstift  Passau 
zurückzugeben  vergessen  sind.  Vielmehr  wird  es  sich  um  die 
Privatbibliothek  Staindels  handeln,  die  dieser  dem  Kloster 
zu  Lebzeiten  oder  —  was  wahrscheinlicher  ist  —  letztwillig 
geschenkt  hat.  Die  Worte  Collatione  domini  Johannis  Staindel, 
die  auf  dem  Schnitt  des  Münchener  Codex  lat.  732  stehen, 
heißen  meiner  Meinung^)  nach  nichts  anderes  als:  Geschenkt 
von  Johann  Staindel.  Vielleicht  gelingt  es  jemandem,  darüber 


1)  Vgl.  Oblinger  S.  62  f. 

2)  Oblinger  S.  45  f.   sieht  in   der  Bemerkung  eine  Angabe  der 
Verfasserschaft  Staindels. 


40  Paul  Lehmann,  Staindel-Funde. 

aus  den  Archiven  Auskunft  zu  erteilen.  Dann  wird  sich 
wohl  auch  die  Todeszeit  Staindels  genauer  bestimmen 
lassen.  Während  man  früher  glaubte,  er  habe  das  Jahr 
1510  nicht  erreicht,  zeigte  Oblinger^),  daß  Staindel  noch 
1510  gelebt  haben  muß,  und  es  ist  wohl  möglich,  daß  er  noch 
das  zu  Wien  im  Jahre  1513  erschienen e^)  „Exemplar  inmodum 
accentuandi  secundum  ritum  chori  ecclesie  Pataviensis" 
fertig  in  Händen  gehabt  hat,  an  dessen  Schlüsse  es  heißt: 
Iste  libellus  est  correctus  per  vicarios  chori  et  Johannem 
Staindel,  custodem  ecclesie  Pataviensis. 


1)  A.  a.  O.  S.  87. 

2)  München,  Staatsbibliothek  2°  Liturg.  108. 


Kurfürst  Maximilian  Emanuel  von  Baiern 

und  die  schweizerische  Eidgenossenschaft 

in  den  Jahren  1702  und  1703. 


Von 

Gerold  Meyer  von  Knonau. 


Seit  dem  Jahre  1878  ist  Sigmund  v.  Riezier 
Ehrenmitglied  der  Allgemeinen  Geschichtforschen- 
den Gesellschaft  der  Schweiz.  So  soll  dem  Freunde 
an  dieser  Stelle  aus  einigen  im  Zürcher  Staats- 
archiv liegenden  Dokumenten  die  Beleuchtung 
eines  Punktes  dargeboten  werden,  wo  sich  baie- 
rische  und  eidgenössische  Geschichte  berühren. 
Er  trifft  in  jenen  Teil  der  Geschichte  Baierns, 
über  den  die  historische  Wissenschaft  aus  der 
Weiterführung  des  großen  Werkes  des  heute  ge- 
feierten Geschichtschreibers  neue  reiche  Auf- 
schlüsse erwartet. 

Für  die  Eidgenossenschaft  brachte  schon  gleich  das 
erste  Jahr  des  Spanischen  Erbfolgekrieges  ernsthafte  Be- 
unruhigung. Die  seit  dem  28.  September  1702  in  Baden 
versammelte  außerordentliche  Tagsatzung  war  einbe- 
rufen worden,  weil  verschiedene  Nachrichten  von  der  An- 
näherung fremder  Heere  eingelaufen  waren.  Ganz  be- 
sonders bat  Basel,  wegen  wachsender  Gefährdung  seiner 
Grenzen,  es  möchten  ihm  eidgenössische  Hilfstruppen  ge- 
währt werden,  und  es  wurde  beschlossen,  sowohl  den  ober- 
halb Basels  liegenden  wichtigen  Rheinübergang  bei  Äugst, 
an  der  Grenze  des  kaiserlichen  Gebietes  bei  Rheinfelden, 
als  auch  den  Paß  an  der  Birs,  zunächst  östlich  vor  den 
Thoren  der  Stadt,  decken  zu  helfen,  und  ebenso  wurden 
zwei    Kriegsräte    nach    Basel    abgeordnet,    die    in    Verbin- 


42  Gerold  Meyer  von  Knonau, 

dung  mit  den  dortigen  Offizieren  über  alle  Vorfälle  be- 
raten sollten.  Die  Bedrohung  Basels  wuchs,  als  zwei  Ver- 
letzungen der  Neutralität  in  der  nächsten  Zeit  folgten, 
eine  erste  geringere,  die  Frankreich  Anlaß  zur  Klage  bot, 
und  eine  zweite  von  größerer  Tragweite,  die  Erklärungen 
von  kaiserlicher  Seite  zur  Folge  hatte. 

In  der  Nacht  vom  1.  Oktober  wurden  von  Rhein- 
felden  vier  mit  Steinen  beladene  Schiffe  auf  dem  Strom 
abwärts  gesandt,  die  unter  der  Basler  Rheinbrücke  hin- 
durch den  Weg  nach  Hüningen  verfolgten,  mit  dem 
Zweck,  die  dort  von  den  Franzosen  nach  dem  rechten, 
markgräflich  badischen,  Ufer  errichtete  Schiffbrücke  zu 
zerstören,  was  allerdings  nicht  gelang.  Dessenungeachtet 
geschahen  lebhafte  Verwahrungen  Frankreichs.  Die  darauf 
folgende  Störung,  am  13.  und  14.  Oktober,  ging  nun  aber 
eben  von  der  französischen  Kriegsführung  aus.  Marschall 
Villars  warf  aus  Hüningen  am  Abend  des  ersten  Tages 
vierzig  Fahnen,  wie  in  einem  Basler  Berichte  gezählt 
wurde,  auf  die  im  Strombett  vor  Hüningen  liegende  Insel, 
von  der  sie  am  folgenden  Morgen  auf  das  deutsche  Ufer 
weiterrückten;  am  14.  kam  es  dann  bei  dem  Schlosse 
Friedlingen  zu  einem  heftigen  Zusammenstoß  mit  den 
kaiserlichen  Truppen.  Der  Umstand,  daß  die  südliche 
Spitze  der  beim  Flußübergang  von  den  Franzosen  benutzten 
Insel  zum  Gebiete  von  Basel  zählte  und  daß  in  der  Nacht 
ein  Teil  der  französischen  Truppen,  weil  der  Raum  auf  dem 
französischen  Stück  der  Insel  nicht  genügte,  auf  diesem 
Boden,  der  zur  Schweiz  gehörte,  sich  aufgehalten  hatte, 
mußte  als  ein  Bruch  der  Neutralität  aufgefaßt  werden.  Allein 
es  konnte  bemerkbar  gemacht  werden,  daß  der  eigentliche 
Einbruch  nicht  von  da,  sondern  vom  französischen  nörd- 
lichen Teile  aus  geschehen  sei,  was  denn  auch  der  kaiserliche 
Gesandte  selbst  anerkannte. 

In  der  verlustreichen  Schlacht  bei  Friedlingen  schrieben 
sich  beide  kämpfende  Teile  den  Sieg  zu.  Villars  konnte 
auf  den  Erfolg,  daß  ihm  angesichts  des  Feindes  der  Fluß- 
übergang gelungen  war,  daß  er  deutschen  Boden  betreten, 
sich  auf  diesem  behauptet  hatte,  hinweisen.  Dagegen  ver- 
mochte der  Führer  des  kaiserlichen  Heeres,  Markgraf  Lud- 


Kurf.  Max.  Emanuel  v.  Baiern  u.  d.  Schweiz.  Eidgenossenschaft.    43 

wig  Wilhelm  von  Baden,  ungehindert  aus  seiner  im  Augen- 
blick sehr  gefährdeten  Stellung  abzuziehen,  und  danach 
schnitt  er  durch  geschickte  Bewegungen  dem  Feinde  eine 
weitere  Ausnutzung  seines  Erfolges  ab.  Im  November  ging 
Villars  über  den  Rhein  zum  Bezug  der  Winterquartiere 
in  den  Elsaß  zurück. 

Ganz  vorzüglich  jedoch  war  eine  hauptsächliche  Ab- 
sicht ,  die  dem  Vorstoß  Villars'  zugrunde  gelegt  war, 
durchaus  nicht  zur  Erfüllung  gekommen,  eine  Vereinigung 
der  französischen  Armee  in  Süddeutschland  mit  dem  Auf- 
bruch   des  Kurfürsten  Maximilian  Emanuel  von  Baiern. i) 

Maximilian  Emanuel  hatte  trotz  seines  schon  am  9.  März 
1701  mit  Ludwig  XIV.  geschlossenen  geheimen  Einver- 
ständnisses noch  längere  Zeit  über  den  Ausbruch  des  Krieges 
hinaus  im  Jahre  1702  sich  keiner  der  im  Kampf  stehenden 
Parteien  offen  angeschlossen.  Noch  waren  die  Versuche  von 
Wien  aus  fortgesetzt  worden,  den  Kurfürsten  von  Frank- 
reich abzuziehen,  ihn  in  der  Neutralität  festzuhalten,  und 
ernsthaftere  Anstrengungen  von  Seite  des  Kaisers  Leopold, 
den    Wünschen  Maximilian  Emanuels    entgegenzukommen. 


1)  Die  auf  Maximilian  Emanuel  sich  beziehenden  Dokumente  sind 
in  der  Mappe  A  181  „Bayern"  des  Zürcher  Staatsarchivs  enthalten. 
Für  die  auf  die  Stellung  der  Eidgenossenschaft  in  Betracht  kommen- 
den Fragen  ist  Band  V,  Abteilung  2,  der  „Amtlichen  Sammlung  der 
älteren  eidgenössischen  Abschiede"  (1681 — 1712)  die  Grundlage: 
daneben  P.  Schweizer:  „Geschichte  der  schweizerischen  Neutralität", 
besonders  S.  390  ff.,  und  für  die  Schlacht  von  Friedlingen  eine  Studie 
des  Militärhistorikers  Hans  Wieland  im  Basler  Taschenbuch  von  1856. 
Vergleiche  auch  C.  von  Noorden:  „Europäische  Geschichte  im  18.  Jahr- 
hundert", Band  I,  S.  267  ff.,  wo  nur  eigentümlicherweise  auf  S.  277, 
um  130  Jahre  zu  früh,  von  „Basel-Land"  die  Rede  ist,  auf  S.  278  für 
Villars  nicht  richtig  Neuenburg  als  Stelle  des  Übergangs  über  den 
Rhein  erwähnt  wird.  „Zürcherische  Beziehungen  zur  Reichsstadt 
Lindau"  finden  sich,  nach  den  Materialien  im  Zürcher  Staatsarchiv, 
durch  den  Verfasser  dieser  Abhandlung  in  Heft  XLI  der  ,, Schriften 
des  Vereins  für  Geschichte  des  Bodensees  und  seiner  Umgebung" 
erörtert.  Zur  Angelegenheit  der  Salztraktate  enthält  Band  XVIII 
der  handschriftlichen  Hinterlassenschaft  des  auf  dem  historischen  Felde 
vielfach  tätigen  Zürchers  Johann  Heinrich  Schinz  (vgl.  Neujahrsblatt 
der  Zürcher  Stadtbibliothek  von  1903)  Aufschlüsse. 


44  Gerold  Meyer  von  Knonau, 

hätten  möglicherweise  Erfolg  gehabt.  Allein  tatsächlich  war 
die  Entscheidung  in  München  nur  verzögert  worden,  um  die 
Rüstung  zum  entscheidenden  Schlage  weiterzuführen.  Zu 
allgemeiner  Überraschung  geschah  der  Eintritt  des  Kur- 
fürsten in  die  Kriegsführung. 

Vom  10.  September  1702  ist  die  Ankündigung  des 
Kurfürsten  an  den  schwäbischen  Reichskreis  —  aus  Schloß 
„Leuthenberg",  Lichtenberg  am  Lech  —  erlassen,  in  der  nach 
einigen  einleitenden  Worten  die  Erklärung  folgte:  ,,Nach- 
demme  man  sogar  dahin  gegangen,  daß  man  die  Bayeri- 
sche Craiß-Stände  von  unß  zu  separieren  und  selbige  mit 
mehrmaliger  unßer  alß  Craiß-Obristen  und  außschreiben- 
den  Fürstens  schimpffliche  Umgehung  mit  in  das  Spil  zu 
nehmen,  mithin  auch  nicht  nur  den  Bayerischen  Craiß 
sambt  unßeren  Churfürstenthumb  und  Landen  immer 
näher  in  die  Gefahr  zu  setzen,  sonder  dem  ganz  vermuthen- 
den  Absehen  noch  forderist  unß  noch  mehrers  ynzu- 
schrenken  gesucht,  alß  habend  wir  unß  nunmehr  noth- 
getrungenerweiß  bemüßigt  befunden,  bey  denen  sich  im- 
mer mißlicher  und  gefährlicher  anlassenden  Conjuncturen, 
dem  Uebel  und  der  Gefahr  in  Zeiten  entgegen  zu  gehen 
und  nebend  Herbeybringung  des  allgemeinen  Ruhstandts, 
auch  auff  unßer  und  unßer  von  Gott  anvertrauter  Landen 
Rettung  und  Sicherheit  zugedenkhen,  auch  zu  solchem 
Ende  unßere  Truppen  außruckhen  und  unß  entzwischen 
zu  mehrerer  Bedekhung  unserer  Gränzung  des  Dhonnau 
Paß  zu  Ulm  nur  so  lang  versicheren  lassen,  bis  die  Ge- 
fahr was  mehrers  nachgelassen,  und  man  der  gemein- 
samben  Ruh  und  Sicherheit,  darauff  unser  einziges  Ab- 
sechen  gerichtet,  in  dissen  hierobigen  Reichslanden  noch 
besser  vergewissert  ist.  Wir  habend  dahero  Euch  von 
disem  unserem  Vorhaben  hiemit  die  gezihmende  Eröff- 
nung thun  und  zuvorderist  versichern  wollen,  daß  wir 
weder  gegen  die  Stat  Ulm,  noch  ander  Ständen  die  ge- 
ringste Feindtselligkeit  zu  begehen  oder  ihnen  an  ihren 
Freyheiten  und  Rechten  einigen  Abbruch  zu  thun,  sonder 
sie  vielmehr  dabey  selbst,  wie  wir  es  auch  hiebevor  auf- 
richtig gethan,  zu  beschüzen  und  zu  handthaben  be- 
gehren". 


Kurf.  Max.  Emanuelv.  Baiern  u.  d.  Schweiz.  Eidgenossenschaft.   45 

Allein  schon  zuvor,  am  8.  September,  war  der  Angriff 
auf  die  Reichsstadt  Ulm  geschehen.  Der  Umstand,  daß  das 
Ulmer  Kontingent  zum  größten  Teil  an  der  Belagerung  der 
Festung  Landau  beteiligt  war,  hatte  die  Wehrkraft  der  Stadt, 
deren  der  Kurfürst  so  dringend  bedurfte,  wenn  er  einen 
Vorstoß  westwärts  durchführen  wollte,  sehr  geschwächt; 
die  beste  Gelegenheit  zu  einem  Überfall  war  ausgekund- 
schaftet worden,  und  so  geschah  in  den  Morgenstunden 
des  genannten  Tages  die  Überrumpelung  und,  weil  der 
Rat  auf  jeden  Widerstand  verzichtete,  alsbald  die  Kapitu- 
lation. Am  13.  September  empfing  Maximilian  Emanuel 
selbst  die  Schlüssel  der  Reichsstadt. 

Die  Abschrift  der  verhängnisvollen  Kundgebung  an 
den  schwäbischen  Reichskreis  liegt  im  Zürcher  Archiv, 
und  man  irrt  wohl  kaum,  wenn  man  annimmt,  die  mit 
Zürich  in  vielfachem  Verkehr  stehende,  dem  Gebiete  der 
Eidgenossenschaft  zunächst  liegende  Reichsstadt  Lindau 
habe  an  deren  Vorort  diese  Mitteilung  vermittelt.  Denn 
als  ,, Vormauer  und  Brotkorb  der  Eidgenossenschaft",  wie 
der  Lindauer  Rat  seine  Stadt  in  dem  am  22.  September  an 
die  evangelischen  Orte  der  Eidgenossenschaft  gerichteten 
Schreiben  bezeichnete,  stellte  die  Reichsstadt  am  Bodensee 
das  Ansuchen,  in  den  Schirm  der  Eidgenossenschaft  aufge- 
nommen zu  werden,  einige  Stücke  samt  zugehöriger 
Munition  und  Konstablern,  im  Notfall  eine  Garnison  von 
200  bis  300  Mann  in  eidgenössischen  Kosten  und  eine  Geld- 
unterstützung zu  empfangen. 

Doch  auch  für  die  Tagsatzung  war  die  Aufmerksam- 
keit nicht  bloß,  wie  schon  erwähnt,  auf  die  Deckung  von 
Basel,  sondern  im  weiteren  auf  die  durch  den  Einfall  des 
kurbaierischen  Heeres  möglicherweise  bedrohten  Gebiete 
innerhalb  des  Reiches  gerichtet.  Wie  schon  in  ähnlichen 
früheren  Fällen,  von  Kriegen  in  der  Zeit  Ludwigs  XIV., 
bei  dem  Einfall  in  das  Deutsche  Reich  1688  und  1689,  und 
wieder  in  den  Jahren  1691,  1697,  lag  die  Erwägung  vor, 
über  die  Grenze  der  Eidgenossenschaft  hinaus  die  Neu- 
tralisierung auszudehnen.  Damals  war  von  der  öster- 
reichischen Stadt  Constanz,  von  den  gleichfalls  öster- 
reichischen Waldstädten  am  Rhein  —  Waldshut,  Laufenburg, 


46  Gerold  Meyer  von  Knonau, 

Säckingen,  Rheinfelden  —  samt  dem  auf  dem  linken  Fluß- 
ufer liegenden,  an  die  Gebiete  von  Bern,  Solothurn  und 
Basel  angrenzenden  Frickthal,  sowie  von  einem  auf  zwei 
Stunden  sich  ausdehnenden  Bezirk  des  Deutschen  Reiches, 
soweit  es  an  die  Eidgenossenschaft  stieß,  die  Rede  ge- 
wesen. Aber  es  kam  hierfür  auch  noch  ein  kleinerer  Be- 
zirk auf  der  rechten  Rheinseite  in  Betracht,  für  den  eigen- 
tümliche Verhältnisse  galten.  Drei  Dörfer  der  seit  1698 
dem  fürstlichen  Hause  Schwarzenberg  zustehenden  Land- 
grafschaft Klettgau  —  Hohen-Thengen,  Herdern,  Lien- 
heim  — ,  über  die  jedoch  die  in  der  schweizerischen  ge- 
meinen Herrschaft  Baden  regierenden  eidgenössischen  Orte 
die  Hoheit  ausübten,  standen  dadurch  unter  dem  Schutz 
der  Eidgenossenschaft,  so  daß  in  Zeiten  der  Gefahr 
Schutzwehren  dahin  verlegt  wurden  —  amtlich  wird  von 
,,Salve-Garda-Stühden"  gesprochen  —  und  auch  das  Mann- 
schaftsrecht in  diesen  Ortschaften  im  Namen  der  Eidge- 
nossenschaft von  jenen  Stellen  aus  zur  Ausübung  kam. 
Wie  für  diese  vor  der  Grenze  liegenden  Teile  fremder 
Gebiete,  so  war  auch  für  die  eidgenössischen  Länder  selbst, 
bei  der  Nachricht  von  dem  Übertritt  der  baierischen  Truppen 
auf  den  Boden  des  schwäbischen  Kreises,  lebhafte  Besorgnis 
erweckt.  In  den  Verhandlungen  seiner  seit  dem  28.  Sep- 
tember in  Baden  versammelten  außerordentlichen  Tag- 
satzung kam  zur  Erwähnung,  Bern  habe  auf  diese  Nachricht 
hin  2000  Füsiliers  aufgeboten,  zumal  zum  Schutz  von  Schaff- 
hausen. Denn  eben  auch  in  Schaffhausen  selbst,  das  durch 
seine  vorgeschobene  Lage  in  erster  Linie  gefährdet  erschien, 
war  die  Aufregung  sehr  angewachsen.  Die  baierischen 
Vortruppen  streiften  über  Stockach,  von  wo  das  österreichi- 
sche Oberamt  samt  dem  nach  Constanz  geretteten  Archiv 
entfernt  worden  war,  bis  in  den  Hegau,  und  man  wollte 
wissen,  daß  1500  Reiter  schon  bis  gegen  den  Rhein  hin, 
in  der  Richtung  nach  Waldshut,  vorgeschoben  seien:  so 
sandte  der  Rat  von  Schaffhausen  einen  Offizier  am  20.  Sep- 
tember nach  dem  baierischen  Hauptquartier,  das  bei  Stock- 
ach lag,  ab,  um  über  die  auch  für  die  Schweiz  drohenden 
Bewegungen  Auskunft  zu  erhalten.  In  ähnlicher  Weise  laute- 
ten Berichte  der  in  Basel  anwesenden  Kriegsräte,  die  jetzt 


Kurf.  Max.  Emanuel  v.  Baiern  u.  d.  Schweiz.  Eidgenossenschaft.   47 

in  der  Zahl  von  vier  Vertretern  der  Orte  Zürich,  Bern,  Luzern, 
Freiburg  dorthin  abgeordnet  waren.  Pfullendorf  war  da 
als  der  zumeist  vorgeschobene  baierische  Posten  genannt, 
und  ebenso  mußte  gemeldet  werden,  daß  Schaffhausen, 
eben  in  Befürchtung  eines  Angriffs  von  Seite  des  Kurfürsten, 
zur  eigenen  Sicherung  zu  Stadt  und  Land  seine  nach  Basel 
gesandten  hundert  Mann  zurückbegehre,  zwar  mit  dem 
Versprechen,  sie  wieder  einrücken  zu  lassen,  sobald  die  Ge- 
fahr verschwunden  sein  werde.  Die  Annahme  schien  berech- 
tigt zu  sein,  daß  Maximilian  Emanuel  bei  den  Waldstädten 
am  Rhein  durchbrechen,  sich  mit  Villars  verbinden  wolle, 
und  dieser  selbst  gab  ja  nachher  zu  erkennen,  daß  er  am 
Tage  der  Friedlinger  Schlacht  sehnsüchtig  ostwärts,  nach 
den  Schwarzwälder  Bergen,  die  Blicke  gerichtet  habe,  in 
der  Hoffnung,  die  Fahnen  des  baierischen  Heeres  dort 
in  der  Annäherung  zu  sehen. 

Inzwischen  war  nun  aber  für  die  Eidgenossenschaft 
von  der  entscheidenden  Stelle  selbst,  vom  Kurfürsten  Maxi- 
milian Emanuel,  die  Beruhigung  erfolgt. 

Der  Kurfürst  hatte  nach  der  Festsetzung  in  Ulm  schon 
gleich  am  13.  September  sein  Augenmerk  auf  eine  andere 
ansehnliche  schwäbische  Reichsstadt,  im  Tale  der  Hier 
südlich  aufwärts,  auf  Memmingen,  gerichtet.  Doch  da  zeigte 
sich  zuerst  der  Rat  entschlossener,  als  derjenige  von  Ulm  ge- 
wesen war:  den  baierischen  Truppen  wurde  der  Eintritt  ver- 
weigert, und  Widerstand  wurde  vorbereitet.  So  kam  der 
Kurfürst  selbst  heran  und  lagerte  sich  vor  der  Stadt,  wobei 
er  in  der  nahe  gelegenen  Kartause  Buxheim  sein  Quartier 
nahm.  Der  Rat  ließ  es  sogar  auf  eine  nächtliche  Beschießung 
der  Stadt  ankommen,  und  erst  als  der  kaiserliche  Stadt- 
kommandant selbst  erklärte,  daß  an  einen  Entsatz  nicht  zu 
denken  sei,  geschah  am  1.  Oktober  die  Übergabe.  Der  Kur- 
fürst blieb  noch  länger  in  Buxheim;  denn  vom  9.  des  Monats 
ist  aus  diesem  Kloster  das  Schreiben  an  die  Eidgenossenschaft 
abgefertigt. 

An  Bürgermeister,  Schultheißen,  Landammänner,  Räte 
der  Orte  der  Eidgenossenschaft  ist  die  Kundgebung  gerichtet. 
Sie  beginnt:  ,,Uns  ist  glaubwürdig  hinterbracht,  daß    Ihr 


48  Gerold  Meyer  von  Knonau, 

ob  Uns,  was  Wir  bisher  gegen  dieser  Station  vorgenom- 
men, Ombrage  scliöpfen  sollt.  Wie  Wir  Uns  aber  in 
Unseren  an  die  Kreise,  fränkischen  und  schwäbischen,  in 
öffentlichen  Ausschreiben  explicirt,  wie  zum  Vorgehen 
Wir  bewogen  worden,  ist  Uns  dabei  niemals  beigefallen, 
Eure  Tranquillität  im  geringsten  zu  alterieren,  sonder  Wir 
Unsers  Gedenken  vielmehr  dahin  gerichtet  sind,  die  zwi- 
schen Uns  und  Euch  jeder  Zeit  hergebrachte  gute  Ver- 
ständniß  fortan  aufrichtig  zu  erhalten".  Am  Schluß  wird 
gebeten,  daß,  wie,  trotz  jener  Nachrichten,  die  vollste  Zu- 
sicherung von  Seite  des  Kurfürsten  gegeben  sei,  diese  in 
der  Eidgenossenschaft  mit  Vertrauen  aufgenommen  werden 
möge. 

Zürich  teilte  als  Vorort  den  Inhalt  des  kurfürstlichen 
Schreibens  an  die  einzelnen  Orte  mit,  und  von  diesen  gingen 
in  der  zweiten  Hälfte  des  Monats  Oktober  die  Bestätigungen 
des  Empfanges,  nebst  dem  Wunsche,  daß  dem  Kurfürsten 
der  Dank  in  der  Erwiderung  bezeugt  werde,  nacheinander 
in  Zürich  ein.  Aber  auch  die  neuerdings  auf  den  25.  Ok- 
tober nach  Baden  einberufene  außerordentliche  gemeineid- 
genössische Tagsatzung,  die  abermals  gehalten  wurde,  um 
bei  diesen  gefährlichen  Zeiten  wegen  der  Erhaltung  und 
Beschirmung  des  Vaterlandes  Rat  zu  halten,  befaßte  sich 
mit  der  Angelegenheit.  Es  wurde  beschlossen,  die  Anzeige 
des  Kurfürsten,  daß  er  die  Eidgenossenschaft  nicht  angreifen 
oder  beunruhigen  wolle,  bestens  zu  verdanken  und  damit 
das  Gesuch  zu  verbinden,  daß  —  zu  besserer  Erhaltung 
des  Ruhestandes  und  der  Sicherheit  der  Eidgenossenschaft  — 
auch  deren  Nachbarschaft,  die  Waldstädte  am  Rhein  und 
die  dem  Rhein  und  Bodensee  entlang  liegenden  Städte  und 
Orte,  von  allen  beschwerlichen  Kriegsoperationen  verschont 
bleiben  möchten. 


Nach  der  Schlacht  bei  Friedlingen  hatten  sich  die 
€inander  gegenüberstehenden  feindlichen  Heere  von  Basel 
weiter  entfernt,  so  daß  die  an  den  dortigen  Grenzen  stehen- 
den eidgenössischen  Truppenabteilungen  im  Monat  No- 
vember wieder  abberufen  werden  konnten.     Dagegen  blieb 


Kurf.  Max.  Emanuel  v.  Baiern  u.  d.  Schweiz.  Eidgenossenschaft.   49 

noch  in  das  Jahr  1703  hinein  die  Frage  der  Deckung  der 
Waldstädte  am  Rhein  ein  Gegenstand  von  Verhandlungen 
der  Tagsatzungen,  und  ebenso  stellte  sich  da  eine  Angelegen- 
heit, die  noch  1702  in  ablehnendem  Sinne  behandelt  worden 
war,  in  den  Vordergrund.  Die  nach  der  Eroberung  Kehls 
sich  vollziehende  Vorschiebung  der  französischen  Truppen 
nach  Schwaben  hinein  und  die  Vereinigung  an  der  Donau, 
wie  sie  Villars  mit  dem  Kurfürsten  Maximilian  Emanuel 
gelang,  stellten  eine  Gefährdung  der  schwäbischen  Bodensee- 
gestade in  Aussicht,  und  so  kam  es  zur  Erfüllung  desWunsches, 
der  schon  im  Jahre  zuvor  aus  Lindau  geäußert  worden  war. 
Zürich  und  Bern  legten  nunmehr  wirklich  eine  Besatzung 
in  die  Reichsstadt,  und  als  ihnen  darüber  von  Seite  der 
katholischen  Orte  im  Mai  auf  der  außerordentlichen  Tag- 
satzung zu  Baden  Vorstellungen  gemacht  wurden,  entgeg- 
neten sie,  es  sei  nur  zum  Schirm  und  zur  eigenen  Sicher- 
stellung ,  niemand  zum  Nachteil  ,  geschehen:  der  Bezug 
der  Frucht,  des  Salzes  und  anderer  Waren  sei  so  wichtig, 
daß  eine  feindliche  Besetzung  dieses  unentbehrlichen  Hafen- 
platzes die  Eidgenossenschaft  fast  so  sehr  wie  diesen  selbst 
geschädigt  hätte.  Wie  weit  in  Wirklichkeit  gerade  jetzt 
die  Franzosen  sich  landeinwärts  vom  Bodensee  ausdehnten, 
bewies  der  Umstand,  daß,  eben  im  Mai,  die  Reichsstadt 
Wangen  ihre  Kostbarkeiten  auf  schweizerischen  Boden, 
nach  Rorschach,  brachte. 

Freilich  verlegte  nunmehr  Maximilian  Emanuel  in  der 
Mitte  des  Jahres  seine  kriegerische  Anstrengung  aus  Schwaben 
hinweg  nach  Tirol,  auf  dessen  Boden  er  sich  mit  dem  von 
Süden  kommenden  Heere  Vendomes  zu  vereinigen  gedachte; 
auch  ein  Vormarsch  einer  französisch-baierischen  Armee 
über  den  Arlberg  gegen  den  Bodensee,  nach  Bregenz  und 
Lindau,  wurde  eben  jetzt,  im  Juli,  während  kurzer  Zeit  in 
der  Eidgenossenschaft  befürchtet.  Aber  nach  der  völligen 
Vereitelung  dieses  Kriegszuges  hatte  der  Rückmarsch  aus 
dem  Inntal  nach  Baiern  angetreten  werden  müssen;  da- 
gegen gewann  der  Kurfürst  mit  den  vereinigten  französi- 
schen und  baierischen  Truppen  am  20.  September  an  der 
schwäbischen  Donau,  bei  Höchstädt,  einen  Sieg,  und  er 
ergänzte  diesen  Erfolg  durch  ein  erneuertes  Vordringen  im 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd«  4 


50  Gerold  Meyer  von  Knonau, 

schwäbischen  Kreise.  Nachdem  Augsburg  besetzt  worden 
war,  schien  es  in  den  letzten  Tagen  des  Oktober  bei  Mem- 
mingen zur  Schlacht  kommen  zu  sollen;  doch  statt  dessen 
folgte  am  11.  November  die  Eröffnung  einer  dreitägigen 
Beschießung  der  Reichsstadt  Kempten,  die  mit  der  Über- 
gabe des  Platzes  abschloß. 

Maximilian  Emanuel  befand  sich  schon  wieder  auf  dem 
Rückmarsch  nach  Augsburg,  als  er  am  3.  Dezember,  aus 
Schwabmünchen,  nochmals  ein  Schreiben  an  die  eidgenössi- 
schen Orte  abgehen  ließ.  Er  bezog  sich  dabei  auf  eine  vom 
24.  November  datierte  Mitteilung,  in  der  von  der  Besetzung 
Kemptens  die  Rede  gewesen  war.  Es  sei  daraus  „Appre- 
hension"  geschöpft  worden,  während  nach  den  dort  nieder- 
gelegten Worten  diese  Operation  nur  aus  einer  erheblichen 
„Khriegsraison"  unvermeidlich  hervorgegangen  sei.  Daran 
war  die  Versicherung  angeknüpft,  daß  das  im  Jahre  zuvor 
gegebene  Wort  durchaus  werde  festgehalten  werden,  so  daß 
von  einem  weiteren  Vorrücken  gegen  die  schweizerischen 
Grenzen  keine  Rede  sein  könne.  Eine  weitere  Beifügung 
des  Schreibens  bezog  sich  auf  die  Salzlieferungen  nach  der 
Schweiz  und  auf  das  aus  Memmingen  und  anderen  Orten 
dorthin  gehende  Salzfuhrwerk.  Der  Kurfürst  behandelte 
da  eine  Angelegenheit,  die  allerdings  gerade  jetzt  in  der 
Schweiz  ein  Gegenstand  lauter  Beschwerden  geworden  war. 

Die  Eidgenossenschaft  war  für  den  Bezug  des  Salzes 
auf  ihre  Nachbargebiete  angewiesen,  wobei  ein  Wettbewerb 
vom  Westen  und  vom  Osten,  dort  von  der  Franche  Comt^, 
hier  von  Tirol  und  von  Baiern,  stattfand;  dazu  kam,  daß 
neben  den  Abmachungen  der  Regierungen  der  einzelnen 
eidgenössischen  Orte  Privatmonopolien  von  einzelnen  Unter- 
nehmern standen,  so  daß  vielfach  peinliche  Reibungen  sich 
herausstellten.  Zum  erstenmal  hatte  Zürich,  indem  es  in 
eine  solche  private  Verbindung  eintrat,  im  Jahre  1671  einen 
Exklusivtraktat  mit  Kurbaiern  abgeschlossen,  und  in  per- 
sönlicher Interzession  war  durch  den  Kurfürsten  Ferdinand 
Maria  die  Erleichterung  des  Transportes  zugesichert  worden. 
1675  errichteten  dann  Bern,  Basel  und  Solothurn  einen 
Traktat  um  6000  Faß  Salz  jährlich  mit  Baiern,  ohne  Zürich 
mit   hineinzuziehen;   dieses   rächte  sich   durch   Aufstellung 


Kurf.  Max.  Emanuel  v.  Baiern  u.  d.  Schweiz.  Eidgenossenschaft.   5t 

eines  Traktates  um  13  500  Faß  mit  der  Regierung  in  Inns- 
bruck. Aber  schon  1676  gelang  eine  Verständigung.  Gemein- 
sam mit  Bern,  das  sich  allerdings  später  zuerst  wieder  ab- 
trennte, und  mit  Luzern,  Basel  und  Solothurn  legte  Zürich 
in  einem  Verkommniß  die  beiden  Traktate,  mit  Tirol  und 
mit  Baiern,  zusammen,  so  daß  seit  1677,  wo  das  Ganze 
geordnet  war,  Zürich  die  Direktion  innehatte;  Privatinteressen- 
ten in  Lindau  und  Memmingen  standen  gleichfalls  in  diesem 
Vertrage.  Alljährlich  trafen  sich  in  Aarau  die  Salzdirektoren 
der  einzelnen  beteiligten  Orte  zur  Abrechnung  und  genauen 
Feststellung  der  Maße. 

Aber  seit  dem  Ausbruch  des  Spanischen  Erbfolge- 
krieges, durch  das  feindselige  Verhältnis  zwischen  Kur- 
baiern  und  dem  österreichischen  Tirol  waren  selbstver- 
ständlich Störungen  empfindlicher  Art  eingetreten.  Auf  einer 
Tagsatzung  wurde  nachdrücklich  betont,  wie  sehr  das  Salz 
ein  unentbehrliches  Bedürfnis  sei,  daß  aber,  um  es  zu  be- 
kommen, auch  die  Spedition  zumal  der  schon  bezahlten 
Fuhren  sichergestellt  sein  müsse.  Doch  auch  sonst  war 
schon  durch  den  Einbruch  nach  Tirol  Anlaß  zu  Klagen 
erwachsen.  Auf  der  regelmäßigen  Jahrrechnungstagsatzung 
zu  Baden  war  im  Juli  von  den  eidgenössischen  Kaufleuten 
das  Begehren  vorgebracht  worden,  sowohl  der  Kurfürst 
als  Villars ,  möchten  ersucht  werden,  dafür  zu  sorgen, 
daß  die  in  Botzen  liegenden  oder  auf  der  Straße  befind- 
lichen Waren  geschützt  und  ungehindert  durchgelassen 
werden  möchten.  Danach  jedoch  fand  im  Dezember,  also 
gerade  in  den  Tagen,  in  welchen  Maximilian  Emanuel  sein 
Schreiben  abgehen  ließ,  eben  wegen  der  eingetretenen 
Sperrung  der  Zufuhr  von  Salz  und  Frucht  und  wegen  des 
Handels  aus  dem  Deutschen  Reich,  eine  außerordentliche 
Tagsatzung  in  Baden  statt.  Von  Zürich  wurde  berichtet, 
das  baierische  Salz  sei  ganz  gesperrt,  von  demjenigen  aus 
Tirol  bis  auf  kurze  Zeit  nichts  mehr  eingegangen;  allerdings 
richteten  sich  die  Reklamationen  wegen  des  baierischen 
Salzes  hierbei  an  die  kaiserlichen  Kommandierenden,  die  die 
Transporte  nicht  wollten  durchgehen  lassen,  während  der 
Kurfürst  und  der  französische  General  hinsichtlich  der  Zu- 
fuhr   aus    Tirol    angegangen    werden    sollten.      Daraufhin 


62  Gerold  Meyer  von  Knonau, 

konnte  der  gemeineidgenössischen  Tagsatzung,  die  im  Februar 
1704  zu  Solothurn  versammelt  war,  berichtet  werden,  daß 
nach  einer  Eröffnung  der  Kurfürsten  und  der  baierischen 
Hofkammerkanzlei  das  aus  der  Schweiz  bestellte  Tiroler 
Salz  ungehindert  werde  verabfolgt  werden,  sofern  von  kaiser- 
licher Seite  das  gleiche  mit  dem  Salz  aus  Baiern  geschehe; 
diese  Zusage  wurde  dem  Kurfürsten  auf  das  beste  ver- 
dankt. 

Andernteils  tauchte  für  jene  Gebiete,  gegen  die  Maxi- 
milian Emanuel  im  Herbst  1703  nochmals  vorgerückt  war, 
mit  dem  Dezember  des  Jahres  von  schwäbischer  Seite  ein 
Plan  auf,  der,  gleich  dem  entsprechenden  Vorschlage,  einen 
Teil  von  Savoyen  zu  neutralisieren,  dieser  Solothurner  Tag- 
satzung vorlag.  Der  im  bischöflich  constanzischen  Dienste 
stehende  Obervogt  von  Mersburg  Dilger  gab  die  Anregung, 
ein  ausgedehntes  Gebiet  im  südlichen  Teil  des  schwäbischen 
Reichskreises  neutral  zu  erklären,  dessen  Grenzen  von 
Immenstadt  und  der  Grafschaft  Rothenfels  über  Kempten 
bis  gegen  Riedlingen  an  der  Donau  und  hernach  an  diesem 
Fluß  entlang  bis  nach  Rottweil  am  oberen  Neckar,  weiter 
südwärts  bis  zum  Schweizer  Gebiet  bei  Schaffhausen  sich 
erstrecken  sollten,  mit  der  Bedingung,  daß  diese  Gegenden 
wie  durch  französische  so  durch  kurbaierische  Truppen 
von  allen  Feindseligkeiten  verschont  bleiben  würden.  Mit 
Befriedigung  nahm  die  Tagsatzung  in  dieser  Sache  die 
Erklärung  des  französischen  Gesandten,  die  wohl  eine 
„übernächtige  Reflektion"  verdiene,  entgegen,  daß  der 
König  allerdings  nicht  eine  so  weitgehende  Konzession 
zugeben  wolle,  aber  wenigstens  die  Neutralisierung  eines 
eine  Stunde  breiten  Distrikts  an  Rhein  und  Bodensee  ent- 
lang einräume,  eine  Eröffnung,  die  dann  an  den  Bischof  von 
Constanz,  als  an  den  ausschreibenden  Fürsten  des  schwäbi- 
schen Reichskreises,  weiter  gegeben  wurde. 


Nach  dem  Beginn  des  Jahres  1704  treten  die  Beziehungen 
Maximilian  Emanuels  zur  Eidgenossenschaft  zurück.  Voll- 
ends, als  nach  der  zermalmenden  Niederlage  bei  Höchstädt, 
am   13.  August  des  Jahres,  der  Kurfürst  gezwungen  war, 


Kurf.  Max.  Emanuei  v.  Baiern  u.  d.  Schweiz.  Eidgenossenschaft.    53 

sein  Stammland  zu  verlassen,  im  französischen  Hauptquartier 
in  den  Niederlanden  Zuflucht  zu  suchen,  konnte  von  einer 
Gefährdung  für  die  Schweiz  von  baierischer  Seite  gar  keine 
Rede  mehr  sein.  In  den  sehr  spärlich  werdenden  Verbin- 
dungen mit  Baiern  ist  zunächst  nur  die  in  München  gebliebene 
Kurfürstin-Regentin  erwähnt,  und  nach  der  völligen  Okkupa- 
tion Baierns  durch  die  kaiserliche  Regierung  waren  alle 
bisherigen  Verhältnisse  vollkommen  verändert. 


Das  Haitibacher  Pest  vom  27.  Mai  1832. 

Von 

Karl  Theodor  Heigel. 


,,In  mein  erstes  Semester,"  erzählt  Bismarck  in  den 
»Gedanken  und  Erinnerungen',  „fiel  die  Hambacher  Feier, 
deren  Festgesaiig  mir  in  der  Erinnerung  geblieben  ist,  in 
.mein  drittes  der  Frankfurter  Putsch.  Diese  Erinnerungen 
stießen  mich  ab,  meiner  preußischen  Schulung  widerstrebten 
tumultuarische  Eingriffe  in  die  öffentliche  Ordnung;  ich  kam 
nach  Berlin  mit  weniger  liberaler  Gesinnung  zurück,  als  ich 
es  verlassen  hatte ..."  —  „Heil  den  Deutschen,  die  diesen 
Tag  erlebt  haben!"  schreibt  Johann  Georg  Wirth  nach  dem 
Hambacher  Fest,  „er  wird  als  Geburtstag  der  deutschen 
Nationaleinheit  und  der  europäischen  Gesamtfreiheit  mit 
goldenen  Lettern  in  der  Weltgeschichte  glänzen!"  —  Noch 
niemals,  schreibt  Metternich  am  6.  Juni  1832  an  Apponyi, 
sei  der  Radikalismus  so  nackt  zutage  getreten  als  bei  dem 
Hambacher  Skandal;  jetzt  sei  erwiesen,  daß  die  Propaganda 
Lafayettes  und  seiner  Nachbeter  diesseits  und  jenseits  des 
Rheines  die  Zertrümmerung  alles  Bestehenden  anstrebe. 
Hinwieder  schildert  ein  alter  Burschenschafter,  R.  Keil,  Ham- 
bach  als  Vorfeier  des  Sedantages,  wobei  sich  zum  erstenmal 
das  Verlangen  nach  Einheit  des  deutschen  Vaterlands 
durchgerungen  und  eine  rührende  Verbrüderung  der  Deut- 
schen vollzogen  habe.  Den  einen  ein  Ärgernis,  den  andern 
eine  Torheit!  Den  einen  die  Morgenröte  eines  schönen  Tages, 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  55 

den    andern    eine    von    Frevlerhand    geschürte,    Verderben 
drohende  Feuersbrunst! 

Die  Gegensätze  in  diesen  Urteilen  könnten  kaum  stärker 
sein  und  wären  leicht  noch  durch  viele  andere,  nicht  minder 
widerspruchsvolle  Äußerungen  von  Zeitgenossen  zu  ver- 
mehren. Wenn  es  schon  überhaupt  schwierig  ist,  alle  ein- 
schlägigen Fragen  zu  beantworten,  welche  staatlichen  Zu- 
stände die  revolutionäre  Bewegung  in  den  dreißiger  Jahren 
vorfand,  wie  sich  die  Physiognomie  der  Staaten  unter  Ein- 
wirkung der  Ereignisse  veränderte,  wie  es  mit  der  Frei- 
heitsliebe, dem  Rechtsgefühl,  dem  Staatssinn  der  Zeitge- 
nossen aussah  usw.,  so  ist  es  vollends  unmöglich,  im  engen 
Rahmen  eines  Aufsatzes  überzeugend  darzulegen,  ,,wie  es 
geworden  und  gewesen  ist".  Meine  Aufgabe  ist  leichter. 
Ich  will  im  wesentlichen  nur  zu  richtigem  und  gerechtem 
Verständnis  der  Episode  einen  Beitrag  liefern,  der  zu  den 
Ergebnissen  der  neueren  Forschungen  Muckes,  Schneiders 
u.  a.  eine  Ergänzung  bietet. 

Bei  meinen  Studien  zur  Geschichte  König  Ludwigs  I. 
von  Bayern  hatte  ich  Gelegenheit,  von  den  Akten  des  baye- 
rischen Justizministeriums  über  die  politischen  Prozesse 
der  dreißiger  Jahre  Einsicht  zu  nehmen.  Ich  lernte  nicht 
bloß  die  Berichte  der  Behörden  und  Geheimagenten  kennen, 
sondern  auch  die  Rechtfertigungsschriften  und  Bittgesuche 
der  Angeklagten,  die  nicht  selten  ein  anderes  Gesicht  zeigen 
als  die  für  die  Öffentlichkeit  bestimmten  Schriftstücke, 
ferner  die  von  einzelnen  Richtern  über  ihre  Entscheidungen 
gegebenen  Aufschlüsse,  merkwürdige  Entschuldigungen  der 
Senatsvorstände,  vor  allem  die  Signate  des  Königs,  die  uns 
dessen  persönliche  Ansicht  über  Angeklagte  und  Richter, 
sowie  über  die  zur  Bekämpfung  der  Revolution  einzuschlagen- 
den Wege  enthüllen.  Ich  muß  mich  natürlich  auf  Heraus- 
hebung der  wichtigsten  Züge  beschränken,  doch  läßt  sich 
zur  Herstellung  des  Zusammenhanges  nicht  umgehen,  auch 
schon  Bekanntes  zu  wiederholen.  — 

Die  Julirevolution  hatte  die  Gemüter  in  Deutschland 
lebhaft  erregt.  Der  revolutionäre  Funke  sprang  zuerst 
über  auf  die  preußischen  Rheinlande,  ohne  eine  ernstliche 
Ruhestörung    zu    verursachen.     In    der    Christnacht    1830 


56  Karl  Theodor  Heigel, 

kam  es  in  München  zu  Ausschreitungen,  denen  die  Re- 
gierung wohl  kaum  mit  Recht  gefährliche  Bedeutung  bei- 
maß; die  Folge  war  ein  Systemwechsel  im  Sinn  einer 
Annäherung  an  die  Grundsätze  Metternichs,  gegen  welche 
sich  die  bayerische  Regierung  bisher  beharrlich  ablehnend 
verhalten  hatte.  In  Sachsen  wurde  durch  Volksaufläufe  die 
Verleihung  einer  Verfassung  durchgesetzt.  Revolutionären 
Charakter  nahm  die  Bewegung  nur  in  Kurhessen  und  Braun- 
schweig an,  wo  freilich  auch  die  Mißstände  des  Kleinfürsten- 
tums in  so  schamloser  Weise  hervorgetreten  waren,  daß 
nicht  einmal  von  überzeugten  Anhängern  der  alten  Staats- 
und Standeseinrichtungen  die  Beseitigung  der  unwürdigen 
Sultanate  beklagt  wurde. 

Durch  die  wenigstens  teilweise  glücklichen  Erfolge 
erhielt  sich  trotz  scharfer  polizeilicher  Abwehr  die  Bewe- 
gung, die  sich  von  den  Aufwallungen  nach  den  Freiheits- 
kriegen durch  einen  mehr  internationalen  Charakter  unter- 
schied und  nicht  so  fast  den  Verfassungsstaat,  sondern 
die  republikanische  Staatsform  anstrebte.  Schon  Heine 
hat  diesen  Unterschied  in  seiner  zynischen  Art  charakteri- 
siert. Während  auf  dem  Wartburgfest,  sagt  er  in  der  Schrift 
über  Börne,  nur  die  Vergangenheit  ihren  obskuren  Raben- 
gesang krächzte  und  das  Ideal  des  finstersten  Mittelalters 
mit  Hymnen  feierte,  wurde  auf  dem  Hambacher  Schloßberg 
von  der  modernen  Zeit  ein  Sonnenaufgangslied  gesungen 
und  mit  der  ganzen  Menschheit  Bruderschaft  getrunken; 
während  auf  der  Wartburg  der  beschränkte  Teutonismus 
nichts  Besseres  zu  erfinden  wußte,  als  Bücher  zu  verbrennen, 
hielt  in  der  sonnigen  Pfalz  der  französische  Liberalismus 
eine  trunkene  Bergpredigt.  In  Baden  und  Württemberg 
wurde  von  Rotteck,  Welcker  und  anderen  Führern  des 
Liberalismus  der  konstitutionelle  Standpunkt  festgehalten, 
und  ihnen  diente  auch  Uhlands  Wort  zum  Leitstern,  aller 
Deutschen  erstes  Trachten  müsse  darauf  gerichtet  sein,  daß 
die  blanke,  hochwüchsige  Germania  wieder  aus  der  Grube 
steige. 

Dagegen  wurde  von  den  einflußreichsten  Volkstribunen 
in  der  Pfalz  die  „konstitutionelle  Lüge"  verworfen  und 
,, unbedingte  Volkssouveränität"  gefordert. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  57 

Das  lokale  Moment  spielte  dabei  eine  nicht  unwichtige 
Rolle.^)  Die  Bewohner  der  Pfalz  waren  dem  Herd  der  Juli- 
revolution am  nächsten  und  für  revolutionäre  Ideen  beson- 
ders „disponiert".  Ihr  schönes  Land  war  erst  nach  dem 
Sturze  Napoleons  von  Frankreich  wieder  abgetrennt  und 
dem  Königreich  Bayern  einverleibt  worden.  Gerade  mit 
Rücksicht  auf  den  erregbaren  Volkscharakter  hatte  die  baye- 
rische Regierung  dem  Rheinkreis  eine  gewisse  Sonder- 
stellung eingeräumt.  Verschiedene,  der  Erklärung  der 
Menschen-  und  Bürgerrechte  entnommene  Institutionen  der 
Franzosenzeit  wurden  der  Pfalz  belassen;  nur  hier  gab  es 
öffentliches  Gerichtsverfahren  und  Schwurgerichte,  Tren- 
nung der  Justiz  von  der  Verwaltung,  allgemeine  Gewerbe- 
freiheit, vollkommene  Freiheit  und  Gleichheit  der  Bekennt- 
nisse usw.  Der  ohnehin  mit  starkem  Selbstgefühl  ausge- 
stattete Pfälzer  war  stolz  auf  diese  freiheitlichen  Errungen- 
schaften und  blickte  geringschätzig  auf  die  rückständige 
Art  anderer  Stämme.  Dem  Romanschriftsteller  Hering 
(Wilibald  Alexis)  trat  diese  Auffassung  während  einer 
Rheinreise  häufig  entgegen.  In  Preußen  und  Sachsen,  so 
konnte  er  hören,  wüßten  die  Leute,  weil  es  dort  keine 
Aufklärung  gebe,  nichts  Besseres,  als  auf  das  Feld  zu 
gehen,  im  Schweiß  des  Angesichts  zu  arbeiten  und  sich 
dafür  nur  Schläge  als  Lohn  geben  zu  lassen.  „Schickt 
einen  Sokrates  nach  Rheinbayern,  Vernunft  zu  predigen, 
und  man  steinigt  ihn  als  Finsterling  und  Absolutisten!" 
,,Der  Osten,"  so  heißt  es  in  einer  Zweibrückener  An- 
kündigung von  1831,  , »bietet  nur  Unterdrückung  und 
Seuche,  der  Westen  Freiheit  !"2)  Besonders  die  landsmann- 
schaftliche Vereinigung  mit  dem  „noch  im  Mittelalter 
steckenden"  Altbayern  war  den  aufgeweckteren  und  aufge- 
klärteren Pfälzern  anstößig,  wie  ja  auch  in  den  preußischen 
Rheinlanden  die  Altpreußen  als  Fremde  angesehen  wurden. 
Die  ,,von  drüben"  kommenden  Beamten  waren  unbeliebt 
und  vergalten  die  ihnen  entgegengebrachte  Abneigung  mit 

^)  G.  F.  Kolb,  Statistisch-topographische  Schilderung  von  Rhein- 
bayern (1831).  —  W.  H.  Rieh],  Die  Pfälzer  (1857).  —  Aug.  Becker, 
Die  Pfalz  und  die  Pfälzer  (1858). 

2)  Stern,  Geschichte  Europas  I,  312. 


58  Karl  Theodor  Heigel, 

mürrischer  Strenge.  Die  „bayerische"  Maut  wurde,  obwohl 
die  Zollgesetzgebung  der  Nachbarstaaten  nicht  milder  war, 
als  unerträglicher-  Druck  empfunden.  Die  bayerischen 
Beamten  selbst  sahen  in  der  Einführung  des  Mautsystems 
«ine  Hauptursache  des  Mißvergnügens  der  Bevölkerung. 
„Die  Maut,"  schrieb  der  Präsident  des  Appellationsgerichts 
für  den  Rheinkreis,  v.  Koch,  am  18.  September  1833  an  den 
König,  ,,war  ein  schlimmes  Geschenk  für  diesen  Kreis: 
sie  machte  den  Revolutionsmännern  leichteres  Spiel,  sie  er- 
heischet ein  Heer  von  Zollbeamten,  Gensdarmen  und  Militär, 
deren  Kosten  den  Erlös  derZolleinnahmenweit  übersteigen!"^) 
Die  Aufbürdung  eines  Teiles  der  Staatsschuld  des  rechts- 
rheinischen Bayerns  auf  das  linksrheinische  machte  böses 
Blut.  Viele  Pfälzer  erlitten  Verluste  bei  der  Übernahme  der 
pfälzischen  Forderungen  an  Frankreich  durch  den  bayeri- 
schen Staat.  Die  einheimischen  Beamten  glaubten  sich 
hinter  den  Altbayern  zurückgesetzt.  Der  neue  Schulplan 
wurde  als  Sieg  der  bayerischen  ,, Pfafferei"  empfunden. 2) 
Ein  Schriftsteller  wollte  sogar  die  ganze  ,,Hambachiade" 
auf  die  ,, unnatürliche  Verkoppelung  eines  Landes,  aus 
dessen  Gesellschaftsorganismus  die  mittelalterlich  feudalen 
Elemente  vollkommen  ausgerottet  waren,  mit  einem  Regi- 
ment, das  der  Ausdruck  der  noch  in  Altbayern  herrschenden 
feudalen  Gesellschaft  war"^),  zurückführen.  Das  ist  natür- 
lich nicht  richtig;  immerhin  war,  obwohl  so  viel  von  deutscher 
Einheit  und  Eintracht  die  Rede  war,  die  Stammeseifersucht 
ein  wesentlicher  Faktor.  Die  Pfälzer  dünkten  sich  den 
geistesträgen  ,, Bockbiertrinkern"  überlegen,  die  Bayern 
mutzten  den  „Krischern"  auf,  daß  sie  halbe  Franzosen 
wären  und  ganze  werden  möchten.*)  Der  Vorwurf  war 
nicht  gänzHch  unbegründet.  Das  Franzosentum  spukte 
tatsächlich  noch  in  der  Pfalz,  wenn  auch  zu  unmittelbarem 
Anschluß  an  den  französischen  Staat  wohl  wenig  Geneigtheit 


^)  Akt  des  k.  bayer.  Justizministeriums,  die  gefährdete  öffent- 
liche Ruhe  und  Ordnung  im  Rheinkreise  betr.,  1832 — 1847. 

2)  J.  N.  Miller,  Geschichte  der  neuesten  Ereignisse  in  Rhein- 
bayem  (1833)  6,  14,  23  usw. 

ä)  Wilh.  Herzberg,  Das  Hambacher  Fest,  11. 

*)  Seeger,  Politisch-soziale  Gedichte  von  Heinz  und  Kunz,  77. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  59 

zu  finden  gewesen  wäre.  Auch  von  pfälzischen  Demokraten 
wurde  hingewiesen  auf  die  vom  Westen  drohende  Gefahr, 
auf  die  Eroberungsgier  der  Franzosen,  die  über  die  Rhein- 
lande schon  so  namenloses  Unheil  gebracht  habe.  In  einer 
aus  konservativem  Lager  stammenden  Satire  auf  den  „wein- 
seligen Freiheitsrummel"  von  1832  wird  der  burleske  Gegen- 
satz zwischen  Franzosenschwärmern  und  Franzosenfressern 
innerhalb  der  demokratischen  Konventikei  weidlich  ver- 
spottet, i)  Im  allgemeinen  überwog  aber  zweifellos  die 
kosmopolitische  Strömung.  Zumal  Zweibrücken  war,  wie 
Heine  spottet,  das  „Bethlehem",  wo  Jung-Europa  in  der 
Wiege  lag.  Unter  dem  Einfluß  der  wachsenden  politischen 
Erregtheit  und  vermutlich  nicht  ohne  direkte  Einwirkung 
des  Auslandes  steigerte  sich  allmählich  die  FeindseHgkeit 
gegen  die  Regierung  und  den  Landesherrn.  Unselig  das 
Volk  —  solche  Klagelieder  wurden  täglich  in  der  ,, Tribüne", 
im  „Westboten"  und  in  anderen  demokratischen  Zeitungen 
angestimmt  — ,  das  in  achtunddreißig  Fetzen  Landes, 
deren  viele  nicht  einmal  den  Embryo  eines  Verfassungs- 
lebens haben,  zerrissen  ist,  unselig  die  Provinz,  die  von  einer 
nur  gegen  Kutten  nachgiebigen  Kabinettsregierung  be- 
herrscht wird! 

,,Was  die  Gärung  bis  zum  kochenden  Sud  steigerte" 
(Heine),  war  die  begeisterte  Teilnahme  am  Geschick  der 
Polen,  die  sich  gegen  die  Moskowiterherrschaft  erhoben 
hatten.  Mit  fieberhafter  Aufregung  wurden  die  Nachrichten 
über  den  Kampf  der  Polen,  obwohl  es  sich  im  wesentlichen 
nur  um  eine  Adelsrevolution  handelte,  verfolgt,  und  nach 
dem  Fall  des  ,, letzten  Bollwerkes  gegen  den  Absolutismus" 
fanden  die  Flüchtlinge  besonders  in  den  Rheinlanden  liebe- 
vollste Aufnahme.  Die  Literatur  spiegelt  den  heute  unbe- 
greiflichen Enthusiasmus,  der  damals  auch  den  deutschen 
Kleinbürger  in  jedem  Träger  eines  Schnürrocks  einen  glor- 
reichen Märtyrer  erblicken  ließ  und  in  so  starke  Aufregung 
versetzte,  daß  er  „um  der  Polen  willen  bereit  war,  was 
er  um  seinetwillen  nie  gewagt  hätte:   ein   Revolutiönchen 


^)  Der  deutsche  Mai  auf  Schloß  Hambach,  Fragment  einer  al 
/r«sco-Novelle   (1834). 


60  Karl  Theodor  Heigel, 

ZU  machen"  1^)  — Ähnlich  urteilte  man  in  Regierungskreisen. 
Als  polnische  Offiziere  auf  ihrer  Reise  nach  Frankreich 
um  staatliche  Unterstützung  baten,  beschränkte  sich  König 
Ludwig  auf  lakonische  Ablehnung:  ,,Für  Unterstützung 
von  Fremden  bietet  das  Budget  keine  Mittel  dar,  auch  der 
Reichsreservefonds  nicht.  Verfassungswidrig  wäre  eine  solche 
Anweisung.  Es  ist  befraglichen  Polen  zu  eröffnen,  sie  wür- 
den am  besten  tun,  sich  an  die  französische  Gesandtschaft 
zu  wenden"  (18.  Dezember  1831).  Die  Minister  wollten 
später  überhaupt  keinen  längeren  Aufenthalt  der  Emigranten 
mehr  zulassen,  da  der  Umgang  mit  ihnen  als  gefährliches 
Kontagium  gewirkt  habe.  ,,Den  bewilligten  Durchmärschen 
der  Polen"  schreibt  Minister  v.  Gise,  ,,ist  das  Unheil  einer 
in  das  Volk  übergegangenen  Gärung  zuzuschreiben"  (3.  Ok- 
tober 1832).  Auch  Fürst  Wallerstein  stimmte  für  Ab- 
weisung aller  polnischen  Gesuche,  da  ,,nach  den  über  die 
Umtriebe  der  Flüchtlinge  in  den  aufgebrachten  Schriften 
der  Studenten  niedergelegten  Notizen  jeder  Aufenthalt 
eines  Polen  unrätlich  erscheint"  (8.  November  1832). 2) 
Manche  Aussprüche  von  Volksführern  lassen  die  Auffassung 
der  Minister  auch  begründet  erscheinen.  ,,Ohne  Polens 
Freiheit"  sagt  Wirth,  „keine  deutsche  Freiheit!"  ,,Der 
Gedanke,  daß  Polen  durch  Deutschland  wiederhergestellt 
werden  müsse,  zündete,"  heißt  es  in  dem  vom  Hambacher 
Festausschuß  herausgegebenen  Bericht,  ,,und  dies  könne  nur 
geschehen  durch  Befreiung  und  Wiedervereinigung  Deutsch- 
lands." 

In  die  leidenschaftlich  aufgeregte  Zeit  fielen  nun  die 
Wahlen  zum  bayerischen  Landtag.  Die  Oppositionspartei 
gewann  eine  entschiedene  Mehrheit,  und  diesem  Partei- 
verhältnis entsprach  der  stürmische  Verlauf  der  Verhand- 
lungen. Die  Regierung  antwortete  mit  Gewaltmaßregeln 
zur  Beschränkung  des  freien  Wortes,  wobei  sie  sich  auf 
noch  nicht  aufgehobene  Dekrete  der  Napoleonischen  Zeit 
berufen  konnte. 


1)  Heine,  Ludwig  Börne  (1867)  141. 

2)  Akt  des   k.  bayer.  Just. -Min.,   die   Reise  polnischer  Militärs 
und  Emigranten  durch  Bayern  betr.,  1831 — 1835. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  61 

„Um  die  Presse  gegen  den  Druck  der  Machthaber 
zu  sichern,"  wurde  nun  in  Zweibrücken  der  ,, Preßverein" 
oder  „Vaterlandsverein"  gestiftet. i)  Da  sich  gleichzeitig 
auch  in  Würzburg  ein  Verein  zur  Entschädigung  des  aus 
dem  Staatsdienst  ausgeschiedenen  Abgeordneten  v.  Closen 
bildete,  wurde  in  ministeriellen  Kreisen  angenommen,  daß 
es  sich  um  ein  Doppelunternehmen  handle.  ,, Beide  hatten 
zum  Zweck,  Geld  zur  Disposition  der  Partei  zu  stellen, 
die  Kräfte  zu  versuchen  und  so  viele  Individuen  als  möglich 
durch  Kompromittierung  und  offenen  Bruch  mit  der  Staats- 
regierung unwiderruflich  in  das  Interesse  der  Revolution  zu 
ziehen"  (Seinsheim).  Es  fanden  sich  aber  für  die  Annahme 
einer  geheimen  Verbindung  zwischen  dem  Pfälzer-  und  dem 
Frankenverein  keine  Anhaltspunkte.  Die  Idee  zum  Preß- 
verein stammte  von  Dr.  Wirth,  dem  Herausgeber  der  , »Tri- 
büne". In  einem  Aufsatz  ,, Deutschlands  Pflichten"  setzte 
er  auseinander,  daß  dem  Bund  der  Könige  Bündnisse  der 
Bürger  entgegenzustellen  und  zunächst  alle  Freunde  des 
freien  Gedankens  zur  Unterstützung  der  gesinnungstüchtigen 
Presse  zu  vereinigen  wären.  2)  Als  Hauptzweck  des  Volks- 
bundes bezeichnet  Wirth  selbst  die  Wiederherstellung  Polens 
durch  Deutschland. 3)  Das  Unternehmen  hatte  günstigen 
Erfolg.  G.  H.  Schneider  konnte  aus  den  Akten  nachweisen, 
welch  stattliche  Unterstützungen  allein  von  den  Burschen- 
schaften dem  Verein  zuflössen.  Auch  die  sog.  Deutschpatrio- 
tische Gesellschaft  in  Paris  stand  mit  ihm  in  Verbindung.'*) 
Die  Propaganda  konnte  offen  betrieben  werden,  ,,da  die 
Gerichte  des  Rheinkreises  in  ihrer  damaligen  Komposition 
den  Preßverein  als  erlaubt  bezeichnet  hatten"  (Seinsheim). 

An  der  Spitze  des  Verbands  standen  Wirth,  Sieben- 
pfeiffer,   Schüler,    Geib   und    Savoye.     Dr.    Johann    Georg 


^)  Akt  des  k.  bayer.  Just.-Min.,  die  Verbindungen  des  teutschen 
Preßvereins  betr.  Geschichtliche  Darstellung  des  Preßvereins,  Be- 
richt des  Ministers  Grafen  Seinsheim  an  Minister  v.  Gise. 

2)  Ed.  Bauer,  Geschichte  der  konstitutionellen  und  revolutio- 
nären Bewegungen  im  südlichen  Deutschland  II,  150. 

3)  J.  G.  Wirth,  Die  politisch-reformatorische  Richtung  der  Deut- 
schen im  16.  und  17.  Jahrhundert  (1845)  245. 

*)  G.  H.  Schneider,  Der  Preß-  und  Vaterlandsverein,  72. 


62  Karl  Theodor  Heigel, 

Wirth,  aus  Hof  in  Franken  gebürtig  —  „ein  Mann  von  Ver- 
stand und  Kenntnissen,"  so  wird  er  in  den  Untersuchungs- 
akten bezeichnet,  ,,aber  ein  unklarer,  turbulenter  Kopf"  — , 
hatte  früher  die  gemäßigt-liberale  Zeitschrift  „Inland" 
herausgegeben.  Weil  ihn,  wie  er  in  seinen  Memoiren  er- 
klärt, ,,das  herrschende  System  der  Fiskalität"  zum  Gegner 
der  Regierung  machte,  gründete  er  die  Zeitung  ,,  Deutsche 
Tribüne",  ein  konstitutionelles  Tageblatt  (1.  Juli  1831). 
Ein  halbes  Jahr  später  siedelte  das  Blatt  nach  Hamburg 
über  und  nahm  hier  eine  radikalere  Färbung  an;  der  Bei- 
satz ,,ein  konstitutionelles  Tagblatt"  wurde  fortgelassen,  i) 
Auch  Dr.  Philipp  Siebenpfeiffer  war  Journalist.  Er  hatte 
anfänglich  eine  Stellung  im  Staatsdienst  bekleidet,  war  aber 
nach  den  Julitagen  in  die  erste  Reihe  der  Vorkämpfer  für 
die  freiheitliche  Bewegung  in  der  Pfalz  getreten.  Er  gab  die 
Zeitschrift  „Rheinbayern",  seit  1831  auch  den  ,, West- 
boten" heraus.  Nach  Berichten  von  Hambacher  Fest- 
genossen könnte  man  den  Eindruck  gewinnen,  als  sei  der 
Mann  mit  der  „finsteren  Miene",  mit  dem  ,, schwarzgelben 
Gesicht",  ein  Doktrinär  gewesen;  aus  den  Aussagen  vor 
Gericht  läßt  sich  aber  ersehen,  daß  er  von  allen  Beteiligten 
am  zielbewußtesten  vorging.  Er  war  ein  Schüler  und  Freund 
Rottecks  gewesen.  Nach  der  Julirevolution  trennte  er  sich 
aber  von  dem  Führer  der  Konstitutionellen,  die  er  der 
„Exaltation"  bezichtigte,  „aber  nicht  für  die  Wiedergeburt 
des  deutschen  Volkes,  sondern  für  fürstliche  Windeln". 2) 
Der  Advokat  Schüler  gehörte  im  bayerischen  Landtag  zu 
den  Führern  der  Linken;  dem  Untersuchungsrichter  galt 
er  als  „besonders  gefährlich",  weil  er,  mit  einer  Verwandten 
Lafayettes  vermählt,  in  unmittelbarer  Verbindung  mit  dem 
Bürgergeneral  gestanden  haben  soll.  Auch  sein  Kollege 
Savoye  galt,  weil  er  Verwandte  und  Freunde  in  Paris 
hatte,  für  einen  einflußreichen  Vermittler  zwischen  deutschen 
und  französischen  Freiheitsfreunden. 

,,Wäre    der    , Preßverein*,"    so    versicherte    Dr.  Wirth 
später,  „nur  ein  Jahr  lang  gegen  die  Gewalt  der  Fürsten  zu 

1)  Ed.  Bauer  II,  177. 

*)  K.  V.  Rottecks  Leben,  von  Herrn,   v.  Rotteck ;   Nachgelassene 
Schriften  IV,  385. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  63- 

schützen  gewesen,  so  mußte  aus  ihm  allein  die  durchgreifende 
politische  Reform  Deutschlands  sicher  und  unfehlbar  hervor- 
gehen." Doch  unter  dem  Druck  der  Warnungen  und  Drohun- 
gen Metternichs  wurde  von  den  süddeutschen  Regierungen 
seit  dem  Herbst  1831  gegen  die  freiheitliche  Propaganda 
ernster  eingeschritten.  Der  Generalkommissär  des  Rhein- 
kreises, V.  Stichaner,  wurde  wegen  zu  weit  gehender  Duld- 
samkeit abberufen;  an  seine  Stelle  kam  v.  Andrian-Warburg, 
ein  strenger  Polizeimann.  Durch  Ministerialerlaß  vom  1 .  März 
1832  wurde  die  Teilnahme  am  Preßverein  verboten,  da  ,,die 
Verfassung  den  Staatsbürgern  nicht  das  Recht  einräume,, 
politische  Assoziationen  in  willkürlicher  Weise  einzugehen". 
Die  nach  dem  Karlsbader  Kongreß  eingesetzte  Bundes- 
kommission zur  Beaufsichtigung  der  literarischen  Produktion 
begann  aufs  neue  ihre  Tätigkeit;  der  „Westbote"  und  die 
,, Tribüne"  waren  die  ersten  Opfer.  Wirth  wurde  wegen 
staatsgefährlicher  Aufreizung  verhaftet,  doch  die  Anklage- 
kammer in  Zweibrücken  sprach  ihn  frei.  ,,Es  war  schwer, 
die  Bewegung  im  Rheinkreise  zu  entwurzeln,"  erklärt  der 
ministerielle  Bericht  an  den  König,  ,,weil  daselbst  die  Polizei- 
Strafgewalt  in  den  Händen  der  Gerichte  ruht  und  die  Sache 
unter  dem  Schutze  der  letzteren  einen  hohen  Grad  von 
Konsistenz  und  sehr  weiten  Umfang  erJangt  hatte."  Schon 
kam  es  da  und  dort,  namentlich  bei  Aufpflanzung  von 
Freiheitsbäumen  nach  dem  Vorbild  der  Revolutionszeit^ 
zu  Unruhen.  Bei  Überreichung  eines  Ehrenbechers  an  den 
vom  Landtag  heimgekehrten  Schüler  hielt  der  Gefeierte  — 
„die  Stütze  des  Volkes,  ein  Koloß  an  Geist  und  Charakter" 
nennt  ihn  die  , .Tribüne"  —  eine  heftige  Rede  gegen  das 
eigenmächtige  bayerische  Beamtenregiment.  Geschmack- 
lose Demonstrationen  —  so  wurden  z.  B.  zu  Ehren  der 
gefeierten  Abgeordneten  102  Schüsse  abgefeuert,  während 
gekrönte  Häupter  nur  mit  101  Salven  begrüßt  werden  — 
und  die  leidenschaftlichen  Mahnrufe  der  nach  wie  vor  heim- 
lich vertriebenen  Flugschriften  und  Zeitungen  steigerten 
die  Entfremdung  zwischen  Regierung  und  weiten  Volks- 
kreisen.i)    Am  21.  April  erließ  Wirth  einen  „Aufruf  an  die 

^)  Nauwerk,   Die  Tätigkeit   der  deutschen  Bundesversammlung. 
IV,  38. 


bi  Karl  Theodor  Heigel, 

Volksfreunde",  worin  er  eine  Reform  Deutschlands  zur 
Durchführung  der  Volkssouveränität  und  eine  neue  Organi- 
sation des  Vaterlandsvereins  mit  straffer  Zentralisierung 
forderte.  Wie  in  seiner  späteren  Verteidigungsrede  vor  dem 
Geschworenengericht  bezeichnete  er  auch  hier  schon  offen 
die  Umwandlung  Deutschlands  in  eine  Republik  als  anzu- 
strebendes Ziel,  ,,Der  Zweck  des  Preßvereins  bestand  in 
der  Wiederherstellung  der  deutschen  Nationaleinheit  und 
demokratischen,  also  republikanischen,  Verfassung."  Eine 
Aufforderung  zur  Revolution  habe  er  allerdings  nicht  beab- 
sichtigt: ,,Dem  Volke  selbst  sollte  überlassen  bleiben,  welche 
Mittel  es  zur  wirklichen  Durchführung  solcher  Reform  an- 
wenden wolle."!)  Die  ,, Pariser  Briefe"  Börnes  mit  ihrem 
grimmigen  Spott  über  die  deutschen  ,,Winkeldespötchen" 
und  ihre  speichelleckerischen  Knechte  waren  trotz  strengen 
Verbots  gerade  in  der  Pfalz  weit  verbreitet.  Börne  selbst 
machte  in  Paris  eifrig  Propaganda  für  die  republikanische 
Idee,  und  seine  Schüler,  die  ,, Deutsch- Jakobiner",  versuch- 
ten dann,  wie  Heine  spottet,  mit  apostolischem  Eifer  das  neue 
Evangelium  in  der  Heimat  auszubreiten.  Nicht  minder 
unverblümt  predigte  in  rohester  Sprache  eine  von  Hundt- 
Radowsky  in  Straßburg  herausgegebene  Zeitschrift  „Die 
Geißel"  den  Aufruhr.  Ein  Aufsatz  wandte  sich  mit  dem 
Motto:  ,,Gott  zerschmettere  den  Kopf  der  Fürsten,  die  uns 
feind  sind!"  gegen  den  von  Beelzebub,  Satan  und  Adrame- 
lech  gegründeten  Giftbaum  der  Hl.  Allianz  und  gegen  die 
Sippe  von  Gottes  und  des  Teufels  Gnaden,  die  mit  ihren  Mini- 
stern, Schmarotzern  und  Höflingen  die  Frucht  des  Schweißes 
der  Armen  und  Elenden  verprassen!! 2)  Ein  von  Wilhelm 
Sauerwein  herausgegebenes  ,,ABC-Buch  der  Freiheit"  wählte 
zum  Motto: 

„Eiobobelo!  schlag's  Göckelchen  todt! 

Es  legt  mir  kein  Ei  und  doch  frißt's  mir  mein  Brod!" 

Zum  Bruch  des  Fahneneides  reizte  Pfarrer  Hochdoerfer 
in  einem  „Aufruf  an  die  Soldaten  der  bayerischen  Armee" 


^)  Konzept  der  Verteidigungsrede  Wirths  in  der  Handsehriften- 
sammlung  des  German.  Nationalmuseums  zu  Nürnberg. 

*)  Die  Geißel,  herausg.  von  Hartwig  Hundt- Radowsky,  1.  Heft, 
1832,  51. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  65 

und  noch  unverhohlener  Dr.  Pistor  im  „Lied  eines  bayeri- 
schen Unteroffiziers"  mit  der  angefügten  Nutzanwendung: 
„Sollte  eine  brutale  Gewalt  einen  Kampf  zwischen  Bürgern 
und  Soldaten  herbeiführen,  so  wird  keine  Kugel  der  Bürger 
auf  einen  liberalen  Krieger  gerichtet  sein,  wozu  wir  im  voraus 
alle  Soldaten  mit  Einschluß  der  Unteroffiziere  rech- 
nen. Von  den  Offizieren  werden  unsere  Kugeln  die- 
jenigen suchen,  welche  als  Bürgerfeinde  bekannt  sind."^) 
Diese  Beispiele  mögen  genügen,  um  zu  beweisen,  daß  die 
Abwehr  der  Regierungen  nicht  bloß,  wie  damals  auch  Freunde 
gesetzlicher  Ordnung  klagten,  von  „engherziger  Gewalt- 
politik" diktiert  war. 

Als  Agitationsmittel  zum  Ersatz  für  die  öffentliche  Wirk- 
samkeit der  Presse  wurden  große  Volksversammlungen  ins  Auge 
gefaßt.  Am  27.  Mai  sollte  ,,im  Andenken  an  die  Maiversamm- 
lungen der  Franken  und  an  die  Maiverfassung  der  Polen"  ein 
„Maifest  der  Deutschen"  auf  der  angeblich  von  Kaiser  Hein- 
rich II.  gebauten  Kästenburg  bei  Hambach,  eine  halbe  Stunde 
von  Neustadt  an  der  Hardt  entfernt,  stattfinden.  Ein  von 
Siebenpfeiffer  verfaßter,  von  vierunddreißig  Neustadter 
Bürgern  unterzeichneter  Aufruf  lud  dazu  alle  ein,  welche 
an  „Abschüttelung  äußerer  und  innerer  Gewalt"  ein  Inter- 
esse hätten,  auch  Frauen  und  Jungfrauen,  ,, deren  politische 
Mißachtung  in  der  europäischen  Ordnung  ein  Flecken  ist". 
Das  Fest  wurde  zunächst  vom  Generalkommissär  verboten; 
als  aber  die  Magistrate  von  Neustadt  und  anderen  pfälzi- 
schen Städten,  sowie  der  pfälzische  Landrat  Verwahrung 
einlegten,  wurde  das  Verbot,  ,, nachdem  die  seditiosen 
Ausdrücke  der  Einladung  befriedigend  erläutert  worden 
seien",  zurückgenommen. 2) 

So  strömten  denn  am  27.  Mai  Gäste  aus  allen  Ländern 
deutscher  Zunge,  am  zahlreichsten  natürlich  aus  den  Nachbar- 
gauen, alle  mit  schwarzrotgoldenen  Kokarden  geschmückt, 
in  Neustadt  zusammen.  Auch  viele  Franzosen  und  Polen 
fanden  sich  ein.     Die   Gruppe  der  „Unbedingten"  in  der 


^)  L.  Hoffmann,  Vollständige  Verhandlungen  vor  dem  Kgl. 
bayer.  Appellationsgericht  zu  Landau  am  29.  Juli  1833  usw.  gegen 
Wirth,  Siebenpfeiffer  usw.  (1833)  4,  10. 

2)  Karl  Fischer,  Die  Nation  und  der  Bundestag  (1880)  373. 
Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  5 


66  Karl  Theodor  Heigel, 

deutschen  Burschenschaft,  die  nötigenfalls  auch  durch 
einen  Aufstand  ein  einiges  Deutschland  erkämpfen  wollten, 
war  stark  vertreten. i)  Die  Zahl  aller  Teilnehmer  wird  in 
dem  von  einem  Redaktionskomitee  abgefaßten  Bericht, 
sowie  in  einer  vermutlich  von  F.  Kolb  herrührenden  Be- 
schreibung in  der  Speyerer  Zeitung  auf  25  bis  30  000  ge- 
schätzt, und  damit  stimmen  auch  die  amtlichen  Angaben 
überein. 

Das  Hambacher  Fest  ist  in  Geschichtswerken  aller  Art 
so  häufig  beschrieben  worden,  daß  ich  mich  auf  Feststellung 
strittiger  Einzelheiten  beschränken  darf.  Eine  gleichzeitige 
Schilderung  im  ,, Eilboten"  ist  nur  deshalb  bemerkens- 
wert, weil  jeder  Leser  aus  ihr  den  Eindruck  gewinnen 
müßte,  es  habe  sich  nur  um  ein  weinfröhliches  Gelage 
auf  dem  in  Frühlingspracht  prangenden  Schloßberg  ge- 
handelt.2)  Der  Berichterstatter  hat  „mit  dem  behaglichen 
Gefühl,  sich  unterhalten  zu  haben,  die  mit  Epheu,  Eichen- 
kränzen und  fröhlichen  Menschen  geschmückten  Trümmer  der 
Vorzeit  wieder  verlassen".  Ein  großer  Teil  der  Anwesen- 
den, besonders  das  Landvolk,  ,, durchlebte  fröhlich  den 
Tag  bei  einem  Glas  Wein  und  bei  Gesang  oder  hielt  Umzüge 
mit  Musik  und  Fahnen",  die  anderen  hörten  den  Rednern 
zu,  ,,so  daß  das  Ganze  teils  zu  einem  gemütlichen  Genrebild, 
teils  zu  einem  großartigen  Historiengemälde  Stoff  gegeben 
haben  würde".  ,,Über  die  verschiedenen  Reden,  die  gehalten 
wurden,  will  ich  mich  nicht  besonders  aussprechen,  auch 
waren  die  Meinungen  darüber  geteilt." 

Fast  ebenso  harmlos  beurteilt  der  in  amtlicher  Eigen- 
schaft zum  Besuch  des  Volksfestes  angewiesene  Staats- 
prokurator Rattinger  den  Charakter  der  Feier. 3)  Die  Reden, 
berichtete  er  an  das  Ministerium,  hätten  keinen  Anlaß 
geboten,  einzuschreiten,  denn  wenn  auch  starke  Ausdrücke 
mit  unterliefen,  sei  die  Wirkung  doch  nur  eine  heilsame 
gewesen.  ,, Durch  die  verschiedenen  Reden  ist  der  bessere 
Teil  der  Bürger  von  der  Tendenz  der  sog. Volksfreunde  auf- 


1)  R.  Keil,  Geschichte  des  Jenaischen  Studentenlebens,  538. 

2)  Der  Eilbote  (Landau),  Jahrg.  1831/32,  83. 

3)  Akt   des    k.    bayer.  Just. -Min,,     die    gefährdete    öffentliche 
Ordnung  und  Ruhe  im  Rheinkreise   betr.,  1832. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27,  Mai  1832.  67 

geklärt  worden,  und  allmählich  fangen  sie  an,  in  den  Männern, 
welche  sie  kurz  zuvor  noch  als  die  Verteidiger  ihrer  Rechte 
betrachteten  und  ehrten,  Voiksaufwiegler  zu  sehen,  deren 
Ziel  ist,  allgemeine  Anarchie  und  alle  Schrecken  derselben 
herbeizuführen  und  dadurch  ihre  egoistischen  Absichten  zu 
befriedigen.  Betrachtet  man  das  Fest  aus  diesem  Gesichts- 
punkt, so  kann  man  wohl  behaupten,  daß  es  der  allge- 
meinen Stimmung  des  Volkes  für  Gesetz  und  Ordnung 
sehr  förderlich  gewesen  ist."  ,,Das  ist  doch  stark,"  schrieb 
darauf  Fürst  Wallerstein  an  den  Justizminister  Zu  Rhein, 
„da  müßte  man  am  Ende  den  Veranstaltern  wohl  noch  eine 
Belohnung  zusprechen!  Fast  möchte  man  glauben,  daß 
sich  Herr  Rattinger  den  ,, Doktrinen  und  Neigungen  doch 
nicht  ganz  entfremdet  habe,  die  ihn  früher  mit  Eisenmann 
(dem  designierten  Herzog  in  Schwaben!)  demagogischer 
Umtriebe  wegen  in  Untersuchung  brachten." 

Im  Gegensatz  zum  Vertreter  der  Regierung  nannte 
Wirth  selbst  die  Sprache  der  Redner  „meistens  sehr 
stark",  wie  es  der  grimmige  Schmerz  über  des  Vaterlandes 
Schmach  erklärlich  mache;  seine  eigene  Rede  bezeichnet 
er  als  ,, besonders  hart".i)  ,,Die  Reden  in  Hambach,"  so 
urteilt  ein  sozialistischer  Geschichtschreiber  des  Hambacher 
Festes,  ,,sind  meistens  echte,  rechte  Festreden,  d.  h.  schwung- 
volle Ergüsse  in  oft  stark  übertriebener  Sprache,  die  den 
Anschein  hohler  Phrasenhaftigkeit  erwecken. "2)  „Die  blü- 
hende Außenseite  des  seltsamen  Festes,"  schrieb  unmittel- 
bar nach  der  Feier  Theodor  Mundt,  selbst  einer  der  Führer 
des  „jungen  Deutschland",  „schrumpft  sogleich  zu  einer 
bis  zum  Erschrecken  häßlichen  Fratze  zusammen,  wenn 
man  die  Reden  durchliest . . .,  es  trat  alles  zusammen,  um 
einmal  in  effigie  ein  vollständiges  Bild  zu  geben  von  dem 
gedankenlosen  Liberalismus  in  Deutschland I"^) 

Nach  einer  einleitenden  Ansprache  eines  Dr.  Hepp  aus 
Neustadt  ergriff  Siebenpfeiffer  das  Wort,  d.  h.  er  las  eine 


1)  Wirth,  Die  politisch-reformatorische  Richtung  der  Deutschen 
im  16.  und  17.  Jahrhundert  (1841)  249. 

2)  Herzberg,  163. 

3)  Th.  Mundt,  Die  Einheit  Deutschlands  in  politischer  und  ide- 
eller Entwicklung  (1832)  17. 

5* 


68  Karl  Theodor  Heigel, 

Rede  ab,  die  trotz  der  schwungvollen  Sprache  durch  ihre 
schwulstigen  Übertreibungen  abstoßend  wirkt,  i)  Er  beklagt 
das  Volk  als  das  kriechende  Gewürm,  das  den  Raubtieren, 
den  üppigen  Fürsten  und  Höflingen,  zum  Fräße  diene.  Er 
verwünscht  den  Bundestag,  ,, diesen  politischen  Vatikan, 
aus  welchem  der  Bannstrahl  herabzuckt,  wo  irgendein  freier, 
ein  deutscher  Gedanke  sich  hervorwagt!"  Er  hofft,  daß  bald 
die  Konstitutiönchen  verschwinden  werden,  um  der  vollen, 
ungeschmälerten  Volkssouveränität  Platz  zu  machen.  An 
diesem  Glück  soll  dann  auch  das  deutsche  Weib  vollen  Anteil 
haben,  nicht  mehr  als  dienstpflichtige  Magd,  sondern  als 
freie  Genossin  des  freien  Bürgers.  Gepriesen  der  Tag,  ,,an 
welchem  die  Fürsten  die  bunten  Hermeline  feudalistischer 
Gottstatthalterschaft  mit  der  männlichen  Toga  deutscher 
Nationalwürde  vertauschen  müßten!"  ,,Hoch  lebe  jedes 
Volk,  das  seine  Ketten  bricht  und  mit  uns  den  Bund 
der  Freiheit  schwört:  Vaterland,  Volkshoheit,  Völkerbund 
hoch!" 

Noch  begeisterter  kam  das  Freiheitspathos  in  Dr.  Wirths 
Rede  zum  Ausdruck.  In  eine  1845  veröffentlichte  ,, histo- 
rische Novelle":  Walderode,  worin  Wirth  seinen  eigenen 
Entwicklungsgang  schildert,  ist  auch  eine  Beschreibung 
des  Hambacher  Festes  eingeflochten. 2)  Da  beteuert  er, 
nur  die  Anmaßung  der  französischen  Presse,  die  fort  und  fort 
die  Rheingrenze  fordere,  habe  ihn,  obwohl  er  ,,sehr  ungern 
öffentlich  auftrete",  dazu  gedrängt,  als  Vertreter  nationaler 
Pflichten  das  Wort  zu  ergreifen.  In  der  Tat  warnte  Wirth 
in  seiner  Rede  davor,  im  bevorstehenden  Kampf  von  Frank- 
reich Hilfe  zu  erbitten,  denn  um  den  Preis  der  Abtretung  des 
linken  Rheinufers  dürfe  /auch  die  Freiheit  nicht  erkauft 
werden.  Die  argwöhnischen  Worte  des  gefeierten  Redners 
erregten  starkes  Mißfallen  bei  den  anwesenden  Franzosen, 
und  ein  Journalist  Rey  aus  Straßburg  gab  diesem  Unmut 
Ausdruck,  doch  scheint  die  Angabe  Muckes,  die  Franzosen 


1)  Vorkämpfer  deutscher  Freiheit.  Siebenpfeiffer  auf  dem  Ham- 
bacher Fest  (1910). 

2)  Walderode,  Eine  historische  Novelle  aus  der  neueren  Zeit, 
375.  —  Wirths  „Denkwürdigkeiten  aus  meinem  Leben"  (1844) 
reichen  nur  bis  zum  Jahre  1831. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  69 

hätten  Dr.  Wirth  eine  Forderung  gesendet i),  unbegründet 
zu  sein.  Im  übrigen  erging  sich  Wirth  in  ebenso  leidenschaft- 
Hchen  Angriffen  auf  Staat  und  Gesellschaft  wie  der  Vor- 
redner.'^) Mochte  aber  auch  seine  Sprache,  wie  Theodor 
Mundt  spottet,  an  die  Tiraden  Karl  Moors  erinnern,  so  war 
er  sich  doch  nicht,  wie  andere  Redner,  über  Zweck  und  Ziel 
der  Bewegung  im  unklaren.  Die  souveränen  deutschen 
Staaten  —  dahin  faßt  er  seine  Wünsche  zusammen  —  sollen 
sich  in  einen  Bund  von  Freistaaten  verwandeln.  Die  Her- 
stellung einer  organischen  Nationaleinheit  ist  für  ihn  —  darin 
unterscheidet  er  sich  von  Siebenpfeiffer  —  das  erste  Er- 
fordernis, ,,und  da  die  Einheit  mit  Beibehaltung  der  deutschen 
Fürsten  schlechthin  nicht  zu  erreichen  ist,  stellt  sich  die 
Hinwegräumung  der  Throne  als  das  dringendste  Bedürfnis 
des  Jahrhunderts  dar".  ,,Ohne  Beseitigung  der  deutschen 
Fürstenthrone  gibt  es  kein  Heil  für  unser  Vaterland,  kein 
Heil  für  Europa,  kein  Heil  für  die  Menschheit!"  Mächtig 
begeisternden  Eindruck  auf  die  radikalen  Genossen,  beklem- 
menden auf  die  Anhänger  der  gemäßigten  Richtung,  machte 
der  berühmte  Fluch:  ,,Gibt  es  irgend  Verräter  an  den  Völ- 
kern und  an  dem  gesamten  Menschengeschlechte,  gibt  es 
irgend  Hochverräter,  so  waren  es  die  Könige,  die  um  der 
Eitelkeit,  der  Herrschsucht,  der  Wollust  willen  die  Bevölke- 
rung eines  ganzen  Weltteils  elend  machen!  Fluch,  ewigen 
Fluch  darum  allen  solchen  Verrätern!"  ,,Der  Schweiß  rann 
dem  Redner  vom  Gesicht,"  erzählt  der  Gewährsmann  des 
Pfarrers  Blaul,  dessen  „Träume  und  Schäume  vom  Rhein" 
eine  Schilderung  des  Hambacher  Festes  enthalten,  ,,sein 
Mund  schäumte,  und  mit  einer  dreifachen  Verfluchung 
aller  Tyrannei  endete  seine  Rede".  Der  Beifall  soll  weit  stär- 
ker gewesen  sein  als  nach  den  Ausführungen  Siebenpfeiffers, 


^)  Joh,  Mucke,  Die  politischen  Bewegungen  in  Deutschland  von 
1830  bis  1835  (1875)  I,  150.  —  Eine  Anmerkung  im  offiziellen  Be- 
richt des  Festkomitees  bedauert  den  „vermeintlichen  Angriff  unsres 
feurigen  Wirth  auf  Frankreich"  mit  dem  Zusatz:  „Von  den  wahren 
französischen  Patrioten  wird  er  nicht  übelgenommen  werden  können". 

2)  Reden  von  Siebenpfeiffer  und  Wirth,  gehalten  bei  dem  Na- 
tionalfest der  Deutschen  zu  Hambach.  Ein  Erinnerungsblatt,  ver- 
öffentlicht am  40  jährigen  Geburtstag,  27.  Mai  1872. 


70  Karl  Theodor  Heigel, 

der  ,,nur  verstandesmäßig  und  nüchtern,  ohne  jede  Begeiste- 
rung, nur  bittere  und  beißende  Ironie  geboten"  habe.i) 
Ein  Schwert,  das  der  Privatgelehrte  Funke  als  Gabe  des 
Frankfurter  ,, Vaterlandsvereins"  überreichte,  nahm  Wirth 
mit  den  Worten  entgegen:  ,,Ein  ominöses  Geschenk  in  der 
dermaligen  Zeit!" 

Ein  Poet  verglich  den  Volksmann  mit  Luther: 

„Ein  andrer  Luther  hast  du  heut  geredet 

Zum  deutschen  Volk  mit  Kraft  und  heil'gem  Mut  .  .  . 

Dein  ist  der  Sieg,  du  edler  Glaubensheld!" 2) 

Wirth  war  ein  Vertreter  jener  Richtung,  die  in  trunkenem 
Überschwang  den  Kampf  gegen  die  Fürsten  nur  deshalb 
aufnehmen  wollte,  weil  sie  die  Einigung  der  Deutschen  ver- 
hinderten—  Siebenpfeiffer  gehörte  zu  den  ,, Entschiedenen", 
die  das  Heil  in  der  Wiederbelebung  der  neufränkischen 
Theorien  von  1792  erblickten  und  zum  Umsturz  des  Bestehen- 
den auch  die  Bundesgenossenschaft  der  Nachkommen 
des  ,, armen  Konrad"  zu  gewinnen  trachteten. 

Nach  einer  Mittagspause  ergoß  sich  aufs  neue  der 
Strom  der  Redner.  Teilweise  noch  ungestümer  und  un- 
verblümter, als  es  sich  die  eigentlichen  Choragen  er- 
laubt hatten!  Einige  gaben  zwar  nur  dem  Wunsche  nach 
Erhaltung  und  Ausbildung  der  Verfassung  Ausdruck,  aber 
Pfarrer  Hochdoerfer,  der  Redakteur  des  ,, Hochwächter", 
der  „Rabiateste  von  allen"  (Blaul),  erhob  wilde  Anklage 
gegen  die  ,, Popanze  von  Gottes  Gnaden",  —  Dr.  Pistor 
schilderte  das  Elend  des  Proletariers,  ,,wenn  der  verhun- 
gernde Landmann  mit  seinem  verkrüppelten  Sohne  heim- 
kommt, um  auf  dem  Strohlager  das  verlechzende  Kind 
an  der  vertrockneten  Brust  der  sterbenden  Mutter  zu 
finden*',  —  Dr.  Barth  rühmte  den  heiligen,  gigantischen 
Geist  der  Zeit,  der  mit  erschütterndem  Tritt  über  die 
Erde  schreitet,  vorbei  an  den  Hütten,  an  den  Palästen, 
an  den  Thronen,  —  ,,der  warme  Menschenfreund  jauchzt 


1)  Blaul,  Träume  und  Schäume  vom  Rhein  (1910;    die  Reise- 
bilder stammen  aus  dem  Jahre  1836),  65. 

2)  Handschriftlich  im  Germanischen  Museum  zu  Nürnberg. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  71 

ihm  trunken  entgegen,  der  knirschende  Despositismus 
hüllt  sich  dichter  in  den  blutigen  Purpur,  und  mit  schielen- 
dem, zitterndem  Blick,  mit  ängstlich  stockendem  Herzen 
dem  Schritt  des  erhabenen  Geistes  folgend,  lauert  die  ver- 
schrumpfte Politik!"  Becker  forderte,  daß  sich  das  Volk 
sofort  bewaffne,  denn  nur  bewehrte  Bürger  seien  kompetente 
Richter  über  Laune  und  Willkür.  Advokat  Hailauer  erinnerte 
an  die  Tage,  da  ,,die  heiligen  Scharen  der  verbannten  Polen 
durch  Deutschland  zogen,  und  die  fremde  Erde  sich  be- 
eiferte, den  blutigen  Staub  von  den  Edlen  zu  küssen". 
,,Auch  der  beste  Fürst  ist  ein  Hochverräter!"  ,,Weg  mit  den 
Konstitutionen,  nur  der  Volkswille  herrsche  l"^)  Der  Pole 
Franz  Grzymala  antwortete  mit  einer  Mahnung  zu  gemein- 
samer Bekämpfung  des  Unterdrückungssystems  der  Könige, 
während  sein  Landsmann  Zatwarnicky,  unter  Berufung  auf 
das  traurige  Geschick  seines  Vaterlandes,  vor  jeder  Revo- 
lution sogar  warnte.  Auch  die  Rede  eines  Burschenschafters, 
Brüggemann  aus  Westfalen,  stach  merkwürdig  von  dem  dema- 
gogischen Pathos  der  übrigen  ab;  er  feierte  das  Wartburg- 
fest als  Vorspiel  des  Hambacher  Tages  und  erhoffte  das  Glück 
des  Vaterlands  von  Wiederaufrichtung  von  Festigkeit, 
Innigkeit  und  Keuschheit.  Auch  Adressen  wurden  verlesen, 
von  Deutschen  vom  Niederrhein,  ,, armen  Söhnen  des 
Nordens",  von  Rheinpreußen,  die  ,,als  brave  königliche 
Untertanen  mit  dem  deutschen  Volk  nichts  gemein  haben 
dürfen  und  sich  des  Namens,  Preußen  zu  seyn,  ex  officio 
königlich  freuen  müssen,  aber  doch  instinktmäßig  aufhorchen, 
wenn  sie  den  Namen  nennen  hören,  den  sie  in  der  politischen 
Taufe  empfangen  haben",  von  Konstanzer  Bürgern,  die 
von  Deutschlands  Südgrenze  die  Bruderhand  herüber- 
reichten, vom  polnischen  Nationalkomitee  in  Paris,  von 
den  Amis  du  peuple  in  Straßburg  usw.  2) 

Die  für  das  Fest  bestimmten  Lieder  erheben  wohl  gar 
nicht  Anspruch  auf  poetischen  Wert;  sie  sollten  nur  der 
Tendenz  dienen.    Während  des  Zuges  auf  den  Schloßberg 


*)  A,  Stern   I,  316;   nach  Bericht  des  Ohrenzeugen  Th.  Benfay. 
■^)  Akt  des  k.  bayer.   Just.-Min.,    die  Schrift  Wirths   über  das 
Nationalfest  zu  Hambach  betr. 


72  Karl  Theodor  Heigel, 

sangen   300  Handwerksbursche   ein  von  Siebenpfeiffer  ver- 
faßtes Marschlied: 

„Hinauf,  Patrioten,  zum  Schloß,  zum  Schloß! 

Hoch  flattern  die  deutschen  Farben! 

Es  keimet  die  Saat  und  die  Hoffnung  ist  groß. 

Schon  binden  im  Geiste  wir  Garben. 

Es  reifet  die  Ähre  mit  goldenem  Rand, 

Und  die  goldene  Ernt'  ist  das  Vaterland!" 

Die  Beamten  sprechen  in  ihren  Berichten  von  den 
„fröhHchen  Rundgesängen".  „FröhHch"  ist  aber  z.  B.  der 
„Aufruf"  des  Hamburgers  Scharpff  gerade  nicht  zu  nennen: 

,, Vaterland,  im  Schwerterglanze 

Strahlte  Hoffnung  jugendlich, 

Als  besiegt  der  stolze  Franze 

Fern  aus  deinen  Gauen  wich; 

Seine  Adler  stürzten  nieder, 

In  der  Freiheit  Sonnenblick 

Sproßte  deutsche  Ehre  wieder, 

Deutsche  Kunst  und  Bürgerglück!  — 

Ha,  nur  ein  Traum  war's,  nur  fürstliche  Lüge, 

Daß  sich  der  Sklave  so  williger  füge 

Seiner  Despoten  fluchwürdigem  Bund" 

Die  beliebten  Polenlieder:  ,,Noch  ist  Polen  nicht  ver- 
loren!" und  „In  Warschau  schwuren  Tausend  auf  den 
Knieen!"  wurden  von  Deutschen  und  Polen  gleich  be- 
geistert gesungen. 

Ernstere  Störungen  kamen  nicht  vor.  Ein  Gewitter- 
regen zog  rasch  vorüber.  Während  einer  Rede  wurde  plötz- 
lich Trommelschlag  hörbar;  nun  lief  von  Mund  zu  Munde 
das  Gerücht,  Truppen  seien  von  Landau  her  im  Anmarsch; 
im  ersten  AugenlDlick  schien  eine  Panik  zu  drohen,  doch 
klärte  sich  bald  auf,  daß  der  Schrecken  grundlos  war.  Theo- 
dor Mundt  erzählt,  gegen  Schluß  des  Festes  sei  ein  Teil  der 
Schloßruine  eingestürzt,  und  das  Gerücht,  die  Ruine  sei 
unterminiert  und  werde  in  die  Luft  fliegen,  habe  die  Patrioten- 
schar bewogen,  in  stürmischem  Lauf  den  Schauplatz  ihrer 
Taten  zu  verlassen.  Der  Sachverhalt  war  weit  einfacher. 
Weil  einige  Festgäste  unvorsichtig  auf  der  Ruine  umher- 
kletterten, rollten  ein  paar  Steine  auf  den  Festplatz  —  das 
war  alles!  Auch  die  Behauptung  Treitschkes,  daß  die  Worte 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  73 

der  Redner  in  allgemeiner  Truni<enheit  verhallt  seien^), 
ist  eine  dramatische  Übertreibung.  In  der  von  Pfarrer 
Blaul  mitgeteilten,  den  Festgenossen  abgünstigen  Schilde- 
rung wird  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß  trotz  des  Drän- 
gens und  Lärmens  der  Massen  kein  Akt  der  Roheit  oder 
Unbotmäßigkeit  zu  beanstanden  war.  Auch  der  amtliche 
Bericht  des  Staatsprokurators  Rattinger,  sowie  die  Zeugen- 
aussagen in  der  Landauer  Schwurgerichtsverhandlung  von 
1833  bestätigen,  daß  während  des  Festes  selbst  keine  Ruhe- 
störung vorfiel;  erst  nach  der  Heimkehr  kam  es  in  Neu- 
stadt zu  Tätlichkeiten  zwischen  Bürgern  und  Soldaten,  Der 
k.  Landkommissär  v.  Pöllnitz  glaubte  den  Geschworenen 
sogar  die  Versicherung  geben  zu  können,  es  habe  zwar  auch 
bei  anstößigen  Äußerungen  der  Redner  an  jubelndem  Bei- 
fall nicht  gefehlt,  allein  ,,die  Idee  und  insbesondere  der  aus- 
gesprochene Abscheu  gegen  die  Regenten  ist  in  den  größeren 
Teil  des  Publikums  nicht  eingedrungen". 2) 

Unter  den  Festgästen  befanden  sich  Männer  mit  berühm- 
ten Namen.  Stürmisch  gefeiert  wurde  Börne,  der  sich 
eigens  nach  der  Pfalz  begeben  hatte,  „um  zu  sehen,  ob  die 
Deutschen,  die  niemals  etwas  anderes  hervorbringen  als 
langweilige  Bücher  und  unverdauliche  Gerichte,"  die  ,,nie 
einen  Brutus,  nur  tausend  Nachtwächter  erzeugen",  ,,etwa 
doch  unter  Schlafmütze  und  Schlafrock  heimlich  Helm  und 
Harnisch  trügen".  Als  er  in  Paris  wieder  mit  Heine  zusammen- 
traf, wußte  er,  obwohl  ihm  im  Festgedränge  seine  Uhr  ge- 
stohlen worden  war,  die  Hambacher  Eindrücke  nicht  günstig 
und  glänzend  genug  zu  schildern,  ,,Alle  die  Patrioten, 
die  dort  an  der  Spitze  stehen,  meinten,  m  i  r  hätte  man  die 
vaterländische  Bewegung  zu  verdanken,  die  Andern  wären 
erst  nach  mir  gekommen . .  ."^)  Manches  freilich  habe 
daran  erinnert,  daß  sich  die  hehre  französische  Freiheits- 
idee schwer  mit  deutscher  Art  vertrage.  Siebenpfeiffer 
selbst  habe  ihm  erzählt,  daß  ihm  ein  Bäuerlein  zuraunte: 
„Herr  Siebenpfeiffer,  wenn  Sie  König  sein  wollen  —  wir 
machen  Sie  dazu!" 


0  Treitschke,  Deutsche  Geschichte  im  19.  Jahrhundert   IV,  265. 

2)  L.   Hoffmann,   106, 

3)  Börne,  Briefe  aus  Paris  (1858)  VII. 


74  Karl  Theodor  Heigel, 

Auch  V.  Itzstein,  der  Führer  der  Liberalen  in  der 
badischen  Kammer,  war  mit  mehreren  Kollegen  nach  Ham- 
bach  gekommen.  Er  verließ  aber  nach  Wirths  Rede  das 
Fest,  offenbar  im  Gefühl,  daß  ihm  durch  solche  Mißachtung 
der  geschichtlichen  Entwicklung  der  Boden  unter  den  Füßen 
weggezogen  werde. i)  Rotteck  war  nur  durch  ein  äußeres 
Hindernis  abgehalten  worden,  dem  Feste  beizuwohnen. 
Schon  hatte  der  Reisewagen  vor  dem  Hause  gehalten,  als 
ihm  durch  den  Regierungsdirektor  mitgeteilt  wurde,  daß  den 
badischen  Staatsdienern  die  Teilnahme  am  Fest  unter- 
sagt worden  sei.  Der  Verlauf  der  Feier  erfüllte  den  alten 
Vorkämpfer  des  Liberalismus,  wie  sein  Sohn  mitteilt,  mit 
Betrübnis;  er  mißbilligte  die  Übertreibungen  und  Über- 
griffe einzelner  Redner  und  sah  mit  banger  Ahnung  den 
bösen  Früchten  entgegen:  ,,Man  wird  das  Hambacher  Fest 
benutzen,  wie  einst  die  Tat  Sands l"^)  Weniger  abschreckend 
wirkte  das  Fest  auf  Karl  Mathy.  ,, Wahrscheinlich  erregten 
ihm  viele  geschwollene  Phrasen  Unzufriedenheit,"  sagt 
Gustav  Freytag,  „aber  seinem  jugendlichen  Sinn  bot  doch 
das  Neue  des  Festes,  die  Menschenmenge,  die  Zahl  ansehn- 
licher Häupter  des  Fortschritts,  das  Symbol  deutscher  Ein- 
heit, welches  stolz  von  der  alten  Burgruine  nach  dem  Rhein 
wehte,  große  Gedanken. "3)  Zu  den  gefeiertsten  Gästen 
gehörte   der   blonde   Friese    Hugo    Harring,    dessen   Verse: 

„Deutsches  Volk,  es  ist  das  Schwert, 
Womit  Kraft  sich  männlich  wehrt, 
Das  Schwert  nur  stürzt,  das  weiß  ich, 
Die  Vierunddreißig!"*) 

nicht  gerade  auf  einen  großen  Poeten  und  Politiker  schlie- 
ßen lassen. 

Gustav  Freytag  spricht  auffällig  mild  über  die  Hambachi- 
ade;  er  vertritt  die  Ansicht,  daß  ,,die  Gegenwart  leichter 
geringschätzig  darüber  urteilt,  als  daß  sie  das  Charakteristi- 


^)  Geschichte  der  konstitutionellen  und  revolutionären  Bewegungen 
II,  253. 

2)  Hermann  v.  Rotteck,  Karl  v.  Rottecks  Leben ;  Nachgelassene 
Schriften  IV,  384. 

^)  G.  Freytag,  Karl  Mathy,  54. 

*)  Die  Geißel,  Heft  2,  1  (1832). 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  75 

sehe  daran  würdigt";  ihn  erinnert  „die  gesellige  Berauschung 
der  Deutschen,  ein  besonderes  Phänomen  im  deutschen 
Volksleben,"  an  die  asketische  Verzückung  und  den  Wander- 
drang in  den  Jahren  der  Kreuzzüge.i)  Er  würde  aber  weniger 
duldsam  gesprochen  haben,  wenn  ihm  das  Nachspiel  des 
Festes  auf  der  Schloßruine  bekannt  gewesen  wäre.  In  den 
Beratungen  und  Abmachungen  in  Neustadt  am  Vormittag 
des  28.  Mai  liegt  die  eigentliche  Bedeutung  des  Hambacher 
Maifestes.  Es  sollte  nicht  bei  Singen  und  Reden  sein  Bewen- 
den haben;  es  sollten  Beschlüsse  gefaßt  werden,  in  welche 
Formen  die  freiheitliche  Bewegung  zu  leiten  wäre;  es  sollte 
,,der  Übergang  von  den  Worten  zur  Tat"  gefunden  werden. 
Der  Sozialist  Herzberg  findet  dies  auch  selbstverständlich. 
„Es  wäre  ja  ein  Wunder  gewesen,  wenn  es  so  entschiedene 
Männer  wie  Wirth,  Siebenpfeiffer,  Schüler  usw.  in  Ham- 
bach  bei  schwungvollen  Reden  belassen  und  nicht  vielmehr 
die  gute  Gelegenheit  benutzt  und  auf  praktisches  Handeln 
hingearbeitet  hätten, "2) 

Unbestimmte  Kenntnis  von  diesen  Aktionsplänen  hatte 
man  schon  früher. 

Schon  aus  Börnes  Briefen  aus  Paris  erhellt,  daß  ein 
Losschlagen  beabsichtigt  war.  Am  26.  Februar  1832  meldet 
er,  daß  sich  die  Aktionskomitees  in  Paris  zusammengeschlos- 
sen, daß  der  Advokat  Savoye  aus  Zweibrücken,  einer  der 
Gründer  des  Preßvereins,  in  Paris  eine  Verbrüderung  mit 
den  Pfälzern  eifrig  betrieben,  daß  auch  die  Polen  endlich 
die  große  Sache  nicht  bloß  als  eine  deutsche,  sondern  auch 
als  eine  polnische,  als  europäische  anzusehen  gelernt  hätten. 3) 
Weitere  Anhaltspunkte  bot  Heine  in  seinem  abscheulichen 
Buch  über  Börne,  das  uns  die  harten  Äußerungen  Treitschkes 
über  die  beiden  verlorenen  Söhne  Deutschlands  verständ- 
lich macht  und  verzeihlich  erscheinen  läßt.  Nach  seiner 
Rückkehr  von  Hambach  habe  Börne,  so  erzählt  der  inzwi- 
schen vom  Demokratismus  bekehrte  Heine,  wiederholt 
erklärt,  es  sei  zweifellos  von  den  vielen  dort  anwesenden 
Männern  der  Tat  geplant  gewesen,  das  Signal  zu  einer  all- 

0  G.  Freytag,  55. 
2)  Herzberg,  131. 
8)  Börne,  Briefe  aus  Paris,  11,  121. 


76  Karl  Theodor  Heigel, 

gemeinen  Schilderhebung  zu  geben.  Die  nämliche  Ver- 
sicherung erhielt  Heine  von  Venedey,  der  selbst  dem  be- 
ratenden Ausschuß  angehört  habe;  nur  das  echt  deutsche 
Bedenken  —  ,,o  Schiida,  mein  Vaterland!"  ruft  Heine 
immer  wieder  dazwischen  — ,  ob  die  anwesenden  Patrioten 
,, kompetent"  seien,  die  Revolution  zu  dekretieren,  habe 
den  Ausbruch  verhindert. i) 

Die  Regierungsbeamten  Rattinger  und  Pöllnitz  boten 
in  der  Landauer  Gerichtssitzung  über  die  geheimen  Ab- 
machungen keine  Aufklärung,  weil  sie  nicht  daran  teilge- 
nommen hatten.  Dagegen  wurde  in  der  1839  vom  Frank- 
furter Bundestag  veröffentlichten  „Darlegung  der  Haupt- 
resultate aus  den  wegen  der  revolutionären  Komplotte  der 
neueren  Zeit  in  Teutschland  geführten  Untersuchungen" 
zum  Beweis  für  die  Tatsache,  daß  die  Veranstalter  des 
Hambacher  Festes  „ganz  andere  Dinge  im  Auge  gehabt, 
als  eine  unbestimmte  Aufregung  dem  Zufall  zur  Benutzung 
zu  überweisen",  auf  die  Fortsetzung  der  Aufwieglungsver- 
suche im  Schießhaus  zu  Neustadt  hingewiesen.  Dort  habe 
Siebenpfeiffer  in  einer  Versammlung  von  5  bis  600  Männern 
dazu  aufgefordert,  unverzüglich  nach  Gauen  zusammenzu- 
treten und  Vertrauensmänner  zu  wählen,  die  als  eine  pro- 
visorische Regierung  dem  Bundestag  gegenüberstehen  sollte; 
es  seien  dann  auch  Abgeordnete  gewählt  worden,  darunter 
Itzstein,  Rotteck,  Welcker,  Closen  u.  a.,  die  sich  jedoch 
nicht  sofort  als  Nationalkonvent  konstituiert  hätten,  weil 
teils  gegen  die  Bildung  einer  solchen  Behörde  selbst,  teils 
gegen  die  ,, Kompetenz"  der  Versammlung  Bedenken  erhoben 
worden  seien. 

Genaueres  hat  erst  G.  H.  Schneider  aus  den  Akten 
des  Berliner  Staatsarchivs,  insbesondere  über  die  Verneh- 
mung des  Studenten  Brüggemann,  mitgeteilt. 2)  Am  28.  Mai 
vormittags  fand  im  Schießhaus  zu  Neustadt  eine  Versamm- 
lung statt,  an  welcher  fünf-  bis  sechshundert  Männer  teil- 
nahmen. Siebenpfeiffer  hielt  eine  ungestüme  Rede,  worin 
er,  in  direkter  Anknüpfung  an  die  glorreiche  Erhebung  Frank- 


1)  Heine,  L.  Börne,  156. 

2)  G.  H.  Schneider,  53. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  77 

Teichs  die  Berufung  eines  Nationalkonvents  beantragte. 
Darauf  wurden  Wirth,  Scliüler,  Siebenpfeiffer  und  Hallauer 
für  die  Rheinpfalz,  Closen  für  das  rechtsrheinische  Bayern, 
Lohbauer  für  Schwaben,  Strohmeyer,  Rotteck,  Welcker 
für  Baden,  Jordan  für  Hessen,  Brüggemann,  Cornelius  und 
Rauschenplatt  für  Norddeutschland  gewählt.  Nach  Aus- 
sage des  Bürgermeisters  Hütlin  von  Konstanz  wäre  aber 
vereinbart  worden,  daß  die  Abgeordneten  nicht  zu  irgend- 
einer Tathandlung  schreiten,  sondern  erst  wieder  beraten 
sollten,  was  zu  geschehen  hätte. 

Da  es  im  Schießhaus,  infolge  eines  Zwiespalts  der 
Meinungen  über  den  Preßverein,  zu  Mißhelligkeiten  kam, 
wurde  die  Beratung  von  15  bis  20  Personen  im  Hause 
des  Kaufmanns  Schoppmann  nochmals  aufgenommen.  Auch 
hier  erhoben  Wirth  und  Siebenpfeiffer  Klagen  über  den 
Preßverein,  während  Savoye  ihn  verteidigte.  Der  Burschen- 
schafter Rauschenplatt  wollte  sofort  festgesetzt  wissen, 
an  welchem  Tag  losgeschlagen  werden  sollte,  doch  fand  die 
Kompetenzfrage  auch  im  engeren  Verschwörerkreise  nur 
geteilte  Aufnahme.  Als  Schüler  abstimmen  ließ,  wurde  der 
Antrag  des  Konstanzer  Bürgermeisters  Hütlin,  daß  die 
Deputierten  fortan  als  Repräsentanten  der  deutschen  Nation 
aufzutreten  hätten,  abgelehnt,  der  Antrag  Schülers,  daß  sie 
dazu  nicht  berechtigt  seien,  angenommen.  Auch  feste  Be- 
schlüsse bezüglich  einer  Schilderhebung  scheinen  nicht  ge- 
faßt worden  zu  sein. 

Bei  einer  Suche  in  Siebenpfeiffers  Haus  wurden  später 
(8.  August)  elf  handschriftliche  Exemplare  einer  Denk- 
schrift ,,  Grundzüge  des  deutschen  Reformvereins"  gefunden. 
Darin  war  zunächst  der  Vorschlag  erörtert,  der  alte  Preß- 
verein sollte  durch  einen  tatenlustigeren  ersetzt  werden. 
Man  möge  auch  endlich  die  ,, konstitutionelle  Lüge"  auf- 
geben, die  immer  nur  den  Ministern  die  Schuld  aufbürde; 
nur  die  auf  der  Grundlage  voller  Volkssouveränität  aufge- 
baute republikanische  Staatsreform  sei  anstrebenswert;  in 
diesem  Zeichen  sollten  sich  alle  Völker  brüderlich  zum 
Freiheitskampf  vereinigen.  In  einem  ebenfalls  aufgespürten 
Briefe  des  Burschenschafters  Brüggemann  war  erörtert, 
ob  ein  „Wagestück"   an  irgendeinem  Platz  im  Rheinkreis, 


78  Karl  Theodor  Heigel, 

etwa  in  Heidelberg,  Aussicht  auf  Erfolg  hätte.  Auch  für 
die  Verbindung  der  pfälzischen  Volksmänner  mit  den  fran- 
zösischen Demokraten  fanden  sich  schriftliche  Beweise. i) 

Am  gleichen  Tag  mit  dem  Hambacher  Fest  hatte  sich 
auch  der  Pariser  Preßverein  im  Wald  von  Vincennes  ver- 
sammelt, wobei  General  Lafayette  die  heilige  Allianz  der 
Völker  feierte  und  Charles  de  Lasteyrie  der  Bundesgenossen- 
in  der  Pfalz  gedachte. 2)  Ähnliche  Festlichkeiten  und  Volks- 
versammlungen fanden  in  der  nächsten  Zeit  statt  auf  dem 
Wollenberg  bei  Bergen,  auf  dem  Dreifaltigkeitsberg  bei 
Speichingen,  im  Wilhelmsbad  bei  Hanau  und  an  vielen 
anderen  Orten.  Auch  auf  der  Kästenburg  feierten  noch  wieder- 
holt mit  schwarz-rot-goldenen  Kokarden  geschmückte  Wall- 
fahrer mit  Reden,  Sang  und  Becherklang  den  Anbruch  eines 
glücklicheren  Zeitalters. 

Die  Folgen  der  freiheitlichen  Kundgebungen  waren 
gleich  traurig  für  das  deutsche  Volk  wie  für  die  Regierungen. 

Die  Gegner  des  konstitutionellen  Systems  in  Wien  und 
Berlin  sahen  den  Hambacher  ,, Skandal",  wie  Rotteck 
richtig  vorausgesehen  hatte,  gar  nicht  ungern. 3)  Metternich 
war  eben  daran,  für  den  Kampf  gegen  die  revolutionären 
Geheimbünde,  die  ihm  samt  und  sonders  als  Sprößlinge 
der  Illuminatensekte  galten*),  unter  den  deutschen  Regie- 
rungen Bundesgenossen  zu  werben;  da  kam  ihm  eine  so  kecke 
Kriegserklärung  gegen  Staat  und  Gesellschaft  ganz  gelegen. 
Am  6.  Juni  1832  schrieb  er  an  Apponyi  in  Paris,  jetzt  sei 
einmal  der  nackte  Radikalismus  offen  zutage  getreten,  die 
gleichzeitige  Veranstaltung  des  Hambacher  Festes  und  des 
Banketts  im  Wald  von  Vincennes  unter  Vorsitz  des  ,, Heros 
zweier  Welten"  habe  auch  den  letzten  Zweifel  an  der  Ver- 
schwisterung  der  deutschen  und  französischen  Sektierer 
benommen.    „Noch  nie  hat  die  Propaganda  ihre  Pläne  und 


1)  Ebenda,  82. 

2)  Ebenda,  86. 

^)  Die  Regierungen  Österreichs  und  Preußens  sollen  verkleidete 
Offiziere  von  Mainz  aus  zum  Hambacher  Fest  entsendet  haben 
(K.  Fischer,  Die  Nation  und  der  Bundestag,  378), 

*)  Metternich  an  Apponyi,  24.  Juni  1832;  Aus  Metternichs 
nachgelassenen  Schriften,  V,  358. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  79 

Hoffnungen  auf  schamlosere  Weise  in  der  öffentliclikeit 
gezeigt. "1)  Nun  war  der  Boden  geebnet,  um  für  willige 
Annahme  der  Anträge  auf  Einschränkung  der  ständischen 
Gewalt,  der  Presse  und  des  Vereinsrechts  auch  die  ja  noch 
zögernden  Regierungen  zu  gewinnen.  ,,Das  Hambacher 
Fest,"  schrieb  Metternich  an  den  preußischen  Bundestags- 
gesandten V.  Nagler,  ,,kann,  wenn  es  gut  benutzt  wird, 
das  Fest  der  Guten  werden. "2)  Der  bayerischen  Regierung 
ließ  der  österreichische  Staatskanzler  sein  Bedauern  aus- 
sprechen, daß  die  Abhaltung  eines  solchen  Festes  überhaupt 
geduldet  und  dadurch  von  Bayern  zuerst  dem  revolutionären 
Treiben  ein  legaler  Tummelplatz  eröffnet  worden  sei.  ,,Das 
Übel  ist  nun  aber  geschehen,  und  fern  sei  es  von  mir,  auf 
den  Ursprung  desselben  aus  einem  andern  Grunde  zurückzu- 
kommen, als  um  die  Frage  zu  beantworten,  welchen  Weg 
die  königliche  Regierung  nun  zu  betreten  habe,  um  die 
Pflichten  gegen  die  eminente  Majorität  ihrer  ruhig  und 
treu  gesinnten  Untertanen  und  ihre  Pflichten  gegen  die 
mitverbündeten  Staaten  auf  genügende  Art  zu  erfüllen." 
Es  sei  dringend  geboten,  gegen  die  Schuldigen  dem  Gesetz 
vollen  Lauf  zu  lassen  und  zugleich  durch  Aufstellung  einer 
imposanten  militärischen  Macht  in  Rheinbayern  unter  einem 
cum  derogatione  omnium  instantiarum  eingesetzten  Militär- 
gouverneur die  ernste  Absicht  zu  bekunden,  daß  ähnliche 
revolutionäre  Ausbrüche  nicht  mehr  auf  Duldung  zu  zählen 
hätten. 3) 

Ebenso  ließ  Ancillon  bei  der  bayerischen  Regierung 
anfragen,  was  sie  zur  Steuerung  der  gemeinschädlichen 
Umtriebe  gegen  Wirth  und  Genossen  zu  tun  gedenke.  Der 
spätere  Kabinettsminister  v.  Thile,  der  damals  Witzleben 
im  Kabinett  vertrat,  schrieb  am  21.  Juni  1832  an  General 
Oldwig  von  Natzmer:  ,,Daß  ich  Dir  nur  diese  zwei  Zeilen 
beilege,  bitte  ich  mit  meinem  Tagewerk  zu  entschuldigen; 
es  geht  wild  her  in  der  Welt  und  daher  emsig  in  unserem 

1)  Ebenda,  V,  275. 

2)  Herrn,  v.  Rotteck,  Karl  v.  Rottecks  Leben;  Nachgelassene 
Schriften   IV,  384. 

3)  Metternich  an  Baron  Gise,  8.  Juni  1832;  Aus  Metternichs 
nachgelassenen  Schriften  V,  337. 


80  Karl  Theodor  Heigel, 

Arbeitszimmer.  Daß  Du  in  Preußen  den  alten  Sauerteig 
auf  die  Seite  schlaffst,  ist  höciist  woliltätig.  Wenn  nur  die 
süddeutschen  Regierungen  bei  sich  ebenso  energisch  zu- 
greifen wollten!  Was  von  hier  geschehen  kann,  sie  anzu- 
feuern, geschieht,  und  Hilfe  ist  ihnen  verheißen.  Die  8.  Di- 
vision, das  37.,  38.  und  39.  Regiment  mit  den  k.  Ulanen 
bleiben  oder  ziehen  unter  Borstells  Befehl.  Österreich  bietet 
die  Hand  ebenso  bereitwillig  und  entschieden,  und  so  wird 
es  hoffentlich  gelingen,  aus  der  Hambacher  Versammlung 
noch  die  Früchte  eines  Sieges  für  die  Sache  der  Ordnung 
und  Gesetzlichkeit  zu  ziehen !"i) 

Die  Urteile  der  verschiedenen  Volkskreise  gingen  natür- 
lich weit  auseinander.  Während  die  liberale  Presse  das  glück- 
liche Ereignis  feierte,  wurde  es  von  den  anderen  Organen  ent- 
weder als  wüste  Ausschreitung  beklagt  oder  totgeschwiegen. 
Eine  Flugschrift  ,,Ein  Wort  über  die  neueren  politischen 
Ereignisse  im  kgl.  bayer.  Rheinkreise  von  einem  rhein- 
bayerischen Bürger"  ergeht  sich  in  Verwünschungen  über 
,,die  Parthei  der  Bewegung,  die  der  ordentliche  Bürger  un- 
gern sieht,  und  die  nur  Unordnung  und  Unheil  entstehen 
macht."2)  Der  alte  Montgelas,  seit  seinem  Sturz  im  Jahre 
1817  ein  scharfer,  natürlich  nicht  gerade  unbefangener 
Beobachter  der  Vorgänge  in  Bayern,  erklärt  die  „dumme 
und  traurige"  Hambacher  Episode  teils  aus  dem  unsteten, 
sprunghaften  Charakter  der  bayerischen  Regierungspoli- 
tik, teils  aus  der  Ausnahmsstellung,  die  man  den  heißblütigen 
Pfälzern  unvorsichtigerweise  eingeräumt  habe.^)  Ein  tref- 
fendes Wort  vernehmen  wir  aus  dem  Munde  des  liebens- 
würdigen Prinzen  Johann  von  Sachsen,  des  Bruders  des 
regierenden  Königs.  „Das  Thier  der  Apokalypse,"  schreibt 
er  am  15.  Juni  1832  an  den  mit  ihm  befreundeten  preußi- 
schen Kronprinzen,  ,,das  sich  bis  jetzt  nur  von  fern  in  un- 
serem lieben  Teutschland  rührte,  hat  auf  einmal  sich  sein 


1)  Unter  den  Hohenzollern.    Denkwürdigkeiten  aus  dem  Leben 
des  Generals  Oldwig  von  Natzmer  II,  40. 

2)  Ein  Wort   über   die   neueren   politischen    Ereignisse   im   kgl. 
bayer.  Rheinkreise,  von  einem  rheinbayerischen  Bürger,  5. 

3)  Montgelas  an  Julie  v.  Zerzog,  24.  Juni  1832;  Briefe  des  Grafen 
M.  Montgelas,  herausg.  von  J.  v.  Zerzog,  87. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  81 

Haupt  mit  Namen  der  Lästerung  beschrieben  und  iierrlich 
erhoben.  Mache  nur,  ich  bitte  Dich,  daß  Schwager  Ludwig 
den  Wirth  und  Siebenpfeiffer  beim  Kopf  kriegt,  sonst  wird 
bald  ganz  Deutschland  nach  seinen  sieben  Pfeifen  tanzen. 
Aber  von  der  anderen  Seite  mache  auch,  daß  wir  ein  Deutsch- 
land nach  unserem  Sinn  bekommen,  damit  die  Leute  sich 
nicht  nach  einem  apokalyptischen   Ditto  sehnen. *'i) 

Welche  Stellung  nahm  nun  die  bayerische  Regierung 
gegenüber  der  Umsturzbewegung  in  der  Pfalz  ein? 

Es  wurde  schon  hingewiesen  auf  den  unerlaubt  gut- 
mütigen Bericht  des  Staatsprokurators  Rattinger.^)  ,,Wenn. 
auch  die  königliche  Regierung,"  dahin  faßt  der  Beamte  seine 
Meinung  zusammen,  ,,die  Tendenz  des  Festes  nicht  an- 
erkennen kann,  so  war,  abgesehen  davon,  das  Fest  doch 
«rlaubt  und  die  Aufrechthaltung  der  Ordnung  und  Ruhe 
unter  die  Garantie  der  Polizei  und  Sicherheitsbehörde  der 
Stadt  Neustadt  gestellt."  Ebenso  treuherzig  beteuert  der 
Generalprokurator  Schenkl  die  Bedeutungslosigkeit  des 
,, Redens  und  Singens"  auf  dem  Hambacher  Schloßberg. 
Das  Fest  habe  nur  den  Zweck  verfolgt,  ,,zu  beraten,  wie 
Deutschland  durch  Entfernung  des  österreichischen  und 
preußischen  Einflusses  reformiert  und  die  Bildung  eines 
Gesamt-Deutschlands  ausgesprochen  werden  soll".  Frei- 
lich seien  im  Verlaufe  des  Tages  recht  anstößige  Worte  ge- 
fallen, so  daß  der  Abgeordnete  Schüler  äußerte,  nach  so 
gehaltlosen  und  frechen  Reden  könne  und  möge  er  nicht  mehr 
als  Sprecher  auftreten,  doch  ,,die  beabsichtigte  Störung  der 
öffentlichen  Ruhe  und  Ordnung  ist  nicht  erfolgt,  die  ge- 
fürchteten Plünderungen  und  Anarchien  sind  glücklicher- 
weise unterblieben,  und  die  Einwohner  des  Rheinkreises 
haben  einen  herrlichen  Beweis  ihrer  Abneigung  gegen  Um- 
sturz an  den  Tag  gelegt". 3) 


^)  Briefwechsel  zwischen  König  Johann  von  Sachsen  und  den 
Königen  Friedrich  Wilhelm  IV.  und  Wilhelm  I,  von  Preußen,  her- 
ausgeg.  von  Johann  Georg,  Herzog  zu  Sachsen,  128. 

^)  Akt  des  k.  bayer.  Just.-Min.,  die  gefährdete  öffentliche  Ruhe 
und  Ordnung  im  Rheinkreise  betr.  Bericht  des  Staatsprokurators 
Kattinger  vom  2.  Juni  1832. 

3)  Ebenda.  Bericht  des  Generalprokurators  Schenkl  v.  29.  Mai  1832. 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  6 


82  Karl  Theodor  Heigel, 

Es  wurde  auch  schon  erwähnt,  daß  die  Minister  den 
Rummel  weniger  leicht  nahmen.  Rattinger  und  Schenkl 
erhielten  zunächst  eine  Rüge,  weil  die  Entfaltung  der  deut- 
schen Fahne  zugelassen  und  den  revolutionären  Reden 
nicht  Einhalt  geboten  worden  war.  Sodann  gab  ein  Dekret 
des  Gesamtministeriums  vom  2.  Juni  dem  Unmut  über 
,,die  Ausschreitungen  eines  an  Wahnsinn  grenzenden  Fanatis- 
mus" Ausdruck.  1)  Strengere  Maßnahmen  wurden  erst  nach 
der  Rückkehr  des  Königs  aus  Italien  ergriffen. 

König  Ludwig  war  nicht  von  vornherein  ein  Feind 
einer  freiheitlichen  Staatsentwicklung  und  strebte  keineswegs 
als  Ziel  an,  die  Schatten  der  abgestorbenen  absolutisti- 
schen Monarchie  wieder  zu  beleben.  Er  hatte  am  Bundestag 
gegen  den  Mißbrauch,  den  Metternich  mit  den  Schlagworten 
stabilite  und  conservation  sich  erlaubte,  immer  Widerstand 
geleistet  und  hatte  sich,  obwohl  ihm  ein  starker,  idiokrati- 
scher  Drang  innewohnte,  als  überzeugungstreuer  Anhänger 
des  konstitutionellen  Prinzips  bewährt.  Bayern  war  der 
einzige  deutsche  Staat,  in  dem  bis  1830  die  Burschenschaften 
erlaubt  waren  und  die  Turnplätze  offenstanden.  Auch  einer 
strengeren  Beschränkung  des  Worts  war  der  König  noch 
vor  kurzem  abgeneigt  gewesen.  Er  selbst  verglich  einmal 
einen  Regenten,  der  sich  beikommen  lasse,  die  Presse  eng- 
herzig zu  beschränken,  mit  einem  Toren,  der  aus  dem  Ge- 
setzbuch das  für  ihn  ungünstige  Blatt  herausreiße.  Noch 
am  21.  Dezember  1830  hatte  er  allen  Behörden  seinen 
Willen  kundgegeben,  daß  „dem  Recht  der  freien  Beurtei- 
lung des  amtlichen  Wirkens  der  zum  öffentlichen  Dienst 
berufenen  Personen,  soweit  nicht  dadurch  gesetzliche  Ehren- 
rechte verletzt  werden,  der  gebührende  Schutz  gewährt  und 
jeder  anständigen  Äußerung  der  Meinungen  und  Ansichten 
im  Gebiete  der  inneren  Politik  kein  ungesetzliches  Hin- 
derniß  entgegengestellt  werden  soll".  Dem  Schmerz  über 
den  Verlust  der  nationalen  Einheit  und  dem  Verlangen  nach 
festerem  Verband  der  deutschen  Stämme  hatte  er  selbst  noch 
am  Jahrestag  der  Leipziger  Schlacht  1830  bei  der  Grundstein- 
legung zur  Walhalla  Ausdruck  gegeben.    Doch  durch  die  Un- 

1)  Miller,  149. 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  83 

ruhen  in  München  in  der  Christnacht  1830  geängstigt  und 
durch  den  stürmischen  Verlauf  des  Landtags  im  Frühjahr 
1831  gereizt,  suchte  er  seither  mit  wachsender  Eifersucht  die 
Selbständigkeit  und  Ungeteiltheit  der  Kronrechte  zu  wahren. 
Gegenüber  den  Übergriffen  der  Linken  in  der  Abgeordneten- 
kammer fühlte  er  sich  entschiedener  und  entschlossener  als 
legitimer  Fürst,  dem  nicht  ein  Lafayette  die  Krone  geschenkt 
habe;  er  sah  in  sich  den  Wahrer  des  Rechts  gegenüber  den 
Stürmern,  die,  um  ihr  Vaterland  in  die  wilde  Bewegung 
Frankreichs  hineinzureißen,  die  gesetzmäßige  Entwicklung 
des  Staates  störten.  Die  Absicht,  ernsteren  Gewaltschritten 
vorzubeugen,  ließ  ihn  gerade  in  äußerster  Strenge  gegen  die 
Rädelsführer  eine  wohlwollende  Rücksicht  auf  die  Gesamt- 
heit erblicken.  ,,Wenn  man  gleich  anfangs,"  schreibt  er 
an  Zu  Rhein,  ,,die  glimmenden  Funken  ordentlich  austritt, 
wird  sich  das  Feuer  nicht  beängstigend  weiter  verbreiten." 
„Mit  Ernst  den  Verbrechen  gleich  anfangs  begegnen,"  sig- 
niert er  auf  das  Begnadigungsgesuch  eines  Studenten  Stirner, 
„verhindert  Viele,  sich  ins  Verderben  zu  stürzen;  wäre  das 
heillose  Urteil  im  Jahr  1825  nicht  erfolgt,  so  dürften  nicht 
Wenige  zurückgehalten  worden  sein,  sich  um  ihr  Lebens- 
glück gebracht  und  den  Ihrigen  Gram  bereitet  zu  haben." 
Dem  Drängen  Metternichs  entsprechend,  wurde  jetzt 
zur  Dämpfung  der  Unruhen  eine  starke  Militärmacht  auf- 
geboten. Im  Juni  ging  Marschall  Wrede  als  außerordent- 
licher Hofkommissär  mit  einem  ganzen  Armeekorps  nach 
dem  Rheinkreis.  Hier  hatte  inzwischen  die  Bewegung, 
hauptsächlich  infolge  der  Teuerung,  noch  stürmischeren 
Charakter  angenommen.  An  einzelnen  Plätzen  war  es  zu 
ernsteren  Unruhen,  sogar  zu  schweren  Exzessen  zwischen 
Zivil  und  Militär  gekommen,  der  Geist  der  Widersetzlichkeit 
war  offenbar  im  Wachsen  begriffen.  Die  Abordnung  Wredes 
wurde  von  den  Demokraten  mit  der  Mission  des  Herzogs 
von  Alba  verglichen,  und  „mit  schaudernder  Empfindung 
wurden  die  einer  hohen  Person  in  den  Mund  gelegten  Worte: 
Wenn  Worte  nicht  mehr  helfen,  so  werden  es  Kanonen! 
in    der    Pfalz    nachgesprochen", i)     Obwohl    Wrede    selbst, 


1)  Rotteck,  Weltgeschichte.  11.  Bd.,  627, 

6* 


84  Karl  Theodor  Heigel, 

ganz  und  gar  nicht  im  Geiste  des  hohläugigen  Toledaners, 
in  einer  öffentlichen  Ansprache  die  Versicherung  gab,  daß 
er  mit  seinen  weißen  Haaren  der  erste  sein  würde,  die  Ver- 
fassung gegen  jeden  Unterdrückungsversuch  zu  verteidigen, 
erhielt  sich  die  Aufregung.  König  Ludwig  glaubte  die  Schuld 
vor  allem  auf  die  Lauheit  und  Unzuverlässigkeit  der  pfälzi- 
schen Behörden  schieben  zu  müssen.  ,,Herr  Staatsminister 
Freiherr  von  Zu  Rhein!"  schreibt  er  am  27.  September, 
„Die  Rechtspflege  im  Rheinkreise,  vorzüglich  bei  dem  Appel- 
lationsgericht in  Zweibrücken,  scheint  noch  immer  mehr  zum 
Schutze  der  politischen  Umtriebe,  als  der  Ordnung  und 
Ruhe  zu  wirken.  Nach  der  Allgemeinen  Zeitung  vom 
21.  September  Nr.  265,  S.  1059  wurde  der  Student  Merkle 
von  Freinsheim,  welchen  das  Zuchtpolizeigericht  von  Fran- 
kenthal wegen  Anreizung  zur  Widersetzlichkeit  gegen  die 
bewaffnete  Macht  zu  einem  Jahre  Zuchthaus  verurteilt 
hatte,  von  dem  Appellationsgericht  freigesprochen.  Ich 
kann  mir  unmöglich  denken,  daß  das  Zuchtpolizeigericht 
Verurteilung  und  Strafe  ohne  hinreichende  Gründe  sollte 
ausgesprochen  haben,  da  kaum  von  einem  Gerichte  des  Rhein- 
kreises zu  große  Strenge  gegen  politische  Verbrechen  und 
Vergehen  zu  erwarten  ist.  Ein  anderer  Zeitungsartikel 
fällt  mir  gleichfalls  auf.  Nach  dem  Volksboten  von  Kaisers- 
lautern vom  20.  September  wurde  der  Bürstenfabrikant 
Becker  von  dem  Bezirksgericht  Frankenthal  wegen  direkter 
Aufreizung  zum  Aufruhr,  zur  Bewaffnung,  zum  gewalt- 
samen Widerstand  gegen  die  Staatsregierung  zur  Unter- 
suchung gezogen  und  verhaftet,  von  dem  Kommissär  Molitor 
von  Zweibrücken  aber  schon  nach  einigen  Stunden  wieder 
in  Freiheit  gesetzt.  Auf  wessen  Seite  ist  hier  Recht  und 
Gesetz?  Mir  scheint,  auch  hier  wollte  man  der  Gunst 
des,  wie  der  Artikel  sagt,  gereizten  und  zusammengelaufenen 
Volkes  dienen.  Auch  hierüber  will  ich  die  genaueste  Auf- 
klärung." Königliche  Signate  ähnlichen  Inhalts  sind  in 
enormer  Zahl  in  den  Akten  enthalten.  Über  freisprechende 
Urteile  äußert  sich  der  Monarch  sehr  ungnädig,  die  Gerichte 
in  der  Pfalz  scheinen  ihm  samt  und  sonders  zu  lax  und  lahm 
vorzugehen.  ,,Es  muß  das  Appellationsgericht  des  Rhein- 
kreises," schreibt  er  an  Zu  Rhein,  „so  organisiert  werden, 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  85 

daß  man  auf  die  Mehrheit  mit  Zuverlässigkeit  bauen  kann. 
Auch  der  Generalprokurator  scheint  mir  nicht  die  gehörige 
Tätigkeit  zu  entwickeln,  wenn  er  nicht  gar  selbst  der  Volks- 
gunst huldigt.  Ich  erwarte  die  schleunig^en  und  wohlbe- 
messensten Anträge  zur  Regeneration  dieses  Gerichts." 
Von  der  Absicht  beseelt,  dem  Gesetz  rücksichtslose  Geltung 
zu  verschaffen,  ließ  sich  der  Monarch  selbst  zu  ungesetz- 
lichen Angriffen  auf  die  Unabhängigkeit  des  Richterstandes 
fortreißen.  Immer  wieder  sucht  er  zu  strengerem  Straf- 
verfahren anzufeuern.  „In  dem  Benehmen  des  Bezirks- 
gerichts zu  Frankenthal,"  schreibt  Ludwig  am  18.  September 
1833  an  Zu  Rhein,  ,, finde  ich  nur  einen  neuen  Beweis,  daß 
es  den  Gerichten  an  allem  politischen  Mute  gebricht,  und  daß 
es  desto  dringender  nötig  ist,  mit  aller  Kraft  dieser  Mutlosig- 
keit entgegenzuwirken."  Umsonst  suchte  der  Vorstand  des 
Appellationsgerichts  der  Rheinpfalz,  Koch,  den  König  von 
der  Makellosigkeit  der  Gerichte  zu  überzeugen.  ,,Die  Proku- 
ratoren wendeten  die  Gesetze  an,  wie  sie  bestehen  und  es 
ihre  Pflicht  und  Schuldigkeit  war,  denn  sie  sind  nicht  Ge- 
setzgeber, sondern  Gesetzanwender."  Der  König  bleibt  un- 
geduldig und  ungehalten  über  die  Verschleppung  der  Unter- 
suchungen und  die  ungebührliche  Nachsicht  der  Richter. 
„Ich  finde  noch  immer,"  signiert  er  am  20.  Oktober  1833, 
„daß  die  Strafen  in  sehr  geringem  Maße  ausgesprochen 
werden.  Dies  ist  namentlich  bey  der  wegen  Beleidigung 
einer  Schildwache  erkannten  Strafe  der  Fall.  Militär- 
wachten müssen  geschützt  werden.  Sollte  daher  die  Sache 
nicht  etwa  allzu  geringfügig  gewesen  seyn,  so  ist  die  Beru- 
fung sogleich  einzuleiten,  desgleichen  auch  bey  anderen 
Strafen,  die  dem  Reate  nicht  angemessen  erscheinen.  Auch 
die  Beleidigung  meines  Hofkommissärs  scheint  sehr  gering 
bestraft."  Die  Urteilssprüche  der  Kollegien  werden  vom 
König  einer  strengen  Kritik  unterzogen,  und  er  hält  mit 
seiner  abweichenden  Meinung  nicht  zurück.  ,,Die  in  dem 
Urteil  entwickelte  Ansicht  auf  pag.  22  und  23  des  rück- 
gehenden Akts,  daß  es  nach  dem  Geiste  der  bayerischen 
Verfassung  erlaubt  sey,  öffentliche  Verfügungen  der  Be- 
hörden (denn  auf  solche  wird  diese  Doktrin  angewendet) 
selbst  mit  Leidenschaftlichkeit  und  in  ungeeignetem  Tone 


86  Karl  Theodor  Heigel, 

anzugreifen,  würde  zu  einer  ungemessenen  Frechheit,  wenn 
solche  anerkannt  würde,  führen,  und  wie  läßt  sich  diese 
Behauptung  aus  der  bayerischen  Verfassung,  die  bloß  eine 
Beschwerde  an  die  Stände  außer  den  gewöhnlichen  Mitteln 
kennt,  ableiten?  wie  mit  dem  Artikel  222  des  Code  penal 
vereinigen,  der  nicht  bloß  die  Ehre  der  öffentlichen  Beamten, 
sondern  selbst  ihr  Zartgefühl  {leur  delicatesse)  geschützt 
wissen  will?  Das  Kassationsgesuch  ist  zu  verfolgen  und  die 
Ansicht  der  Gerichtsmitglieder  durch  jedes  gesetzliche 
Mittel  zu  berichtigen."  Es  blieb  aber  nicht  immer  bei  ,, ge- 
setzlichen" Mitteln.  Wirth  konnte  in  seiner  Verteidigungs- 
rede vor  den  Geschworenen  in  Landau  im  August  1833 
darauf  hinweisen,  daß  seit  der  Überhandnähme  der  politi- 
schen Prozesse  sämtliche  Mitglieder  des  pfälzischen  Richter- 
standes versetzt  worden  seien.  Man  kann  doch  nur  mit 
Unmut  aus  den  Akten  ersehen,  daß  gar  nicht  selten  von 
Gerichtsvorständen  die  politische  Gesinnung  einzelner  Senats- 
mitglieder beanstandet  und  umgekehrt  von  Subalternbeamten 
die  Leitung  von  Untersuchungen  verdächtigt  wurde  u.  dgl. 
Kein  Vernünftiger  wird  es  den  Regierungen  verübeln, 
daß  sie  gegen  die  republikanisch-kommunistischen  Umtriebe, 
wie  sie  nach  der  Julirevolution  auch  in  Deutschland  zutage 
traten,  den  Kampf  mit  scharfen  Waffen  aufnahmen.  Sie 
hatten  nicht  bloß  das  Recht,  sondern  die  Pflicht,  die  törichte 
Bewegung  nach  Kräften  zu  unterdrücken.  Doch  die  Regie- 
rungen beschränkten  sich  nicht  auf  Abwehr  der  wirklich 
Schuldigen.  Das  gesetzwidrige  Vorgehen  der  Umstürzler 
und  die  nach  Recht  und  Gesetz  zulässige  Opposition  wurden 
auf  gleiche  Weise  in  Acht  und  Bann  getan.  Die  Verfolgung 
artete  in  unvernünftige  Gewalttat  aus.  Auch  Droysen  ver- 
urteilt das  Vorgehen  bei  jenen  politischen  Prozessen:  ,,So 
übermütige  Herausforderungen,  wie  das  Hambacher  Fest, 
so  hirnverbrannte  Wagnisse,  wie  das  Frankfurter  Attentat, 
rechtfertigen  die  Willkür  der  Anordnungen  des  Bundes- 
tags und  die  oft  empörende  Roheit  ihrer  Ausführung  nicht,  "i) 
Die   Regierungen   erblickten  wieder,   wie   Görres  in  seiner 


^)  Unter  den  HohenzoUern.    Denkwürdigkeiten  aus  dem  Leben 
des  Generals  O.  v.  Natzmer,  II,  8L 


Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832.  87 

1819  erschienenen  Schrift  „Teutschland  und  die  Revolution" 
beklagt  hatte,  ihr  Ideal  in  verknöcherten  Zuständen,  „wo 
jede  Kraft  ein  Mißklang  ist,  jedes  Talent  eine  gefährliche 
Gewalt,  jede  Idee  als  eine  Plage  gilt  und  jede  Erhebung  und 
Begeisterung  als  eine  gefährliche  Narrheit  behandelt  wird". 
Daß  auch  der  ,,  Kampf  der  legitimen  Kraft  gegen  die  un- 
moralische" mit  Übergriffen  und  Übertreibungen  verbunden 
war,  beweist  z.  B.  das  Vorgehen  gegen  den  Redakteur  des 
Bayerischen  Volksblatts,  Dr.  Eisenmann.  Obwohl  die  Aufrufe 
und  Artikel  dieses  Arztes  und  Journalisten  nur  den  freiheit- 
lichen Ausbau  der  Verfassung  forderten  und  gegen  wirkliche 
oder  angebliche  Verletzungen  der  Verfassung  ankämpften  — ^ 
Dr.  Wirth  zählt  ihn  deshalb  zu  den  Lauen,  die  sich  nicht 
dazu  aufraffen  könnten,  die  entschieden  patriotische  Rich- 
tung einzuschlagen!)  — ,  wurde  er  1836  nach  mehrjähriger 
Untersuchungshaft  zur  Festungsstrafe  auf  unbestimmte 
Zeit  und  zur  demütigenden  Abbitte  vor  dem  Bildnis  des 
Königs  verurteilt.  Vom  Gefängnis  aus  bat  er  um  Revision 
seines  Prozesses  durch  unbefangenere  Richter  und  legte 
folgendes  politisches  Glaubensbekenntnis  ab:  ,,Ich  war 
und  bleibe  aus  Gefühl  und  Überzeugung  ein  treuer  Anhänger 
der  konstitutionellen  Monarchie  mit  allen  ihren  Konse- 
quenzen .  . .  Der  König  von  Bayern  ist  nach  meiner  Mei- 
nung berufen,  an  der  Spitze  der  freisinnigen  Bewegung  in 
Teutschland  zu  stehen,  um  ein  einiges,  starkes,  herrliches 
Teutschland  gründen  zu  helfen. "2)  Die  Bitte  wurde  abge- 
schlagen. Eisenmann  mußte  in  strenger  Festungshaft  ver- 
bleiben, erst  der  Sturz  des  Abelschen  Regiments  1847  brachte 
ihm  die  Erlösung.  Im  nächsten  Jahre  wird  Eisenmann 
ins  Frankfurter  Parlament  gewählt.  In  der  Paulskirche 
tritt  der  soeben  erst  aus  fünfzehnjähriger  Kerkerhaft  Be- 
freite mit  Feuereifer  gegen  die  Republik  und  für  treues 
Festhalten  an  den  angestammten  Dynastien  auf.  In  einer 
Flugschrift  ,,  Ideen  zur  teutschen  Reichsverfassung"  mahnt 
er:  ,,Es  ist  leichter,  einen  guten  Staat  zu  stürzen,  als  ihn 

*)  Wirth,  Die  poiitisch-reformatorische  Richtung  der  Deut- 
schen, 263. 

2)  Akt  des  k.  bayer.  Just.-Min.,  Dr.  Eisenmann,  Haussuchung 
und  K.  Stein  von  Altenstein,  Untersuchung  betr.,  1832 — 1848. 


88    Karl  Th.  Heigel,  Das  Hambacher  Fest  vom  27.  Mai  1832. 

ZU  erhalten.  Dieses  Erhalten  aber  wird  durch  das  konstitu- 
tionelle Prinzip  der  Heiligkeit  und  Unverantwortlichkeit 
des  Monarchen  verwirklicht.  Hütet  euch,  dieses  Prinzip 
anzutasten:  nach  seinem  Sturz  folgt  die  Sündflut  der  An- 
archie . . .  Wir  wollen  ein  einiges,  föderatives  Teutschland, 
regiert  in  seinen  einzelnen  Bundesstaaten  durch  die  bisheri- 
gen Monarchen  und  in  seiner  Einheit  durch  ein  Reichs- 
oberhaupt, durch  einen  teutschen  Kaiser."  Die  Würde 
des  Reichsoberhaupts  soll  aber  wechseln  zwischen  den  Mon- 
archen von  Preußen,  Österreich  und  —  Bayern,  denn  auch 
der  Beherrscher  der  rein  deutschen  Stämme  müsse  der 
höchsten   Ehre  teilhaftig  werden  können.  — 

Da  dürfte  doch  wohl  kein  Zweifel  bestehen,  daß  bei 
diesem  politischen  ,, Verbrecher"  Schuld  und  Strafe  nicht  in 
rechtem  und  gerechtem  Verhältnis  gestanden  haben. 


Bismardc  und  Ludwig  II.  im  September 

1870. 


Von 
Karl  Alexander  v.  Müller. 


Vorbemerkung. 

Die  diplomatischen  Vorgänge  beim  Schlußakt  der  deut- 
schen Reichsgründung  sind  in  den  letzten  Jahren  der  Gegen- 
stand mehrfach  wiederholter,  eindringender  Untersuchungen 
gewesen. 1)  Der  Verfasser  des  folgenden  kleinen  Aufsatzes 
würde  es  nicht  unternehmen,  sich  seinerseits  von  neuem 
auf  dies  Streitfeld  zu  stellen,  wenn  nicht  einiges  wertvolle, 


^)  W.  Busch,  Die  Kämpfe  um  Reichsverfassung  und  Kaisertum 
1870/71,  1906;  A.  v.  Ruville,  Bayern  und  die  Wiederaufrichtung  des 
Deutschen  Reiches,  1909;  G.  Küntzel,  Bismarck  und  Bayern  in  der  Zeit 
der  Reichsgründung,  1910;  E.  Brandenburg,  Der  Eintritt  der  Süd- 
deutschen Staaten  in  den  Norddeutschen  Bund,  1910  (zuerst  in  der 
Lenz-Festschrift,  dann  selbständig,  Berlin,  Paetel);  B.  Weicker,  Vom 
Staatenbund  zum  Bundesstaat,  2.  Teil,  1911  (Beil.  z.  Progr.  des  Gymn. 
zu  Aschersleben);  W.  Stolze,  Die  Gründung  des  Deutschen  Reiches 
im  Jahre  1870,  1912;  W.  Busch,  Württemberg  und  Bayern  in  den 
Einheitsverhandlungen  1870,  Hist.  Ztschr.  CIX  (1912);  E.  Branden- 
burg, Die  Verhandlungen  über  die  Gründung  des  Deutschen  Reiches 
1870,  Hist.  Vierteljahrsschrift  XV  (1912).  —  E.  Brandenburg,  Briefe 
und  Aktenstücke  zur  Geschichte  der  Gründung  des  Deutschen  Reiches 
(1870—1871),  1911.  (Dazu  v.  Müller,  Hist.  Ztschr.  CIX,  378ff.)  — 
Vgl.  auch  K.  Jacob,  Bismarck  und  die  Erwerbung  Elsaß-Lothringens 
1870/71,  1905;  P.  Wentzcke,  Zur  Entstehungsgeschichte  des  Reichs- 
landes Elsaß-Lothringen,  Süddeutsche  Monatshefte  VIII  (1911). 


90  Karl  Alexander  v.  Müller, 

bisher  unbekannte  Material^)  ihm  die  Hoffnung  gäbe,  ein 
paar  neue  Züge  in  das  dort  fixierte  Bild  einzeichnen  zu  können. 
Hieraus  ergibt  sich  Ziel  und  Gliederung  des  folgenden  kleinen 
Beitrags.  Er  versucht  in  keiner  Weise,  den  ganzen  Zusammen- 
hang der  Verhandlungen  jener  Monate  oder  eines  bestimmten 
Zeitraums  in  ihnen  noch  einmal  erzählend  darzustellen  oder 
kritisch  zu  beleuchten.  Er  möchte  lediglich  die  eine  neue 
Linie,  die  sein  Material  aufzeigt,  herausheben;  nur  ein  ganz 
kurzer  Endabschnitt  soll  einen  raschen  Ausblick  auf  ein 
paar  allgemeinere  Folgerungen  werfen,  welche  sich  von  ihr 
aus  für  den  Aufbau  des  ganzen  Bildes  vielleicht  ergeben. 

I. 

Ein  Bayer  wird  sich  mit  der  diplomatischen  Geschichte 
unserer  Reichsgründung  nicht  ohne  Schmerz  darüber  beschäf- 
tigen, daß  der  amtliche  Übergang  Altbayerns  ins  neue  Reich, 
inmitten  glorreicher  kriegerischer  Ereignisse,  unter  einem 
schwärmerischen  König,  so  von  Grund  aus  schwunglos  und 
nüchtern  geschah,  der  bayerischen  Regierung  so  mühsam, 
in  langem  und  unklarem  Hin  und  Her,  Schritt  für  Schritt 
hat  abgerungen  werden  müssen.  Dazu  kommt,  daß  die  eigent- 
lich bayerische  Überlieferung  —  aus  sehr  achtbaren  Gründen, 
die  vor  allem  in  der  Person  des  unglücklichen  Monarchen  zu 
suchen  sind  —  bisher  besonders  spärlich  und  lückenhaft 
fließt.  Wie  wenige  unter  den  leitenden  und  einflußreichen 
Männern  treten  uns  bis  jetzt  in  klaren,  scharf  gezeichneten 
Umrissen  entgegen.  Wieviel  treue,  aufopfernde  vaterländische 
Arbeit,  im  Verborgenen  geleistet,  ist  seitdem  nie  mehr  ans 
Licht  gekommen,  wie  mancher  warmherzige  und  kluge  Helfer 
für  Öffentlichkeit  und  Geschichte  so  gut  wie  ganz  in  Ver- 
gessenheit geraten. 

1)  Ich  verdanke  es  der  großen  Liebenswürdigkeit  und  dem  ver- 
ständnisvollen Entgegenkommen  Ihrer  Exzellenz  der  Frau  Gräfin 
E.  v.  Tauffkirchen  und  der  Frau  Baronin  Th.  Riederer  von  Paar, 
geb.  Gräfin  Tauffkirchen,  welche  mir  Einsicht  in  die  hinterlassenen 
Papiere  Sr.  Exz.  des  Herrn  Grafen  Karl  v.  Tauffkirchen  (im  Folgenden 
zit. :  T.  P.)  gewährt  haben.  Sehr  willkommene  Ergänzungen  dazu 
boten  eine  Reihe  von  Mitteilungen  Sr.  Exz.  des  Herrn  Grafen  Hippolyt 
von  Bray-Steinburg.  Für  beides  sei  auch  an  dieser  Stelle  nochmals 
der  wärmste  Dank  ausgesprochen. 


Bismarck  und  Ludwig  11.  im  September  1870.  91 

Unter  diesen  darf  auch  der  altbayerische  Edelmann 
Graf  Karl  v.  Tauffkirchen  eine  ehrenvolle  Stelle  in  An- 
spruch nehmen:  zweimal  in  den  letzten  Jahren  der  Einigung 
hat  er  in  bedeutenden  Momenten  am  Anschluß  Bayerns 
ans  Reich  mitgewirkt.  Es  ist  an  anderem  Ort  versucht  worden, 
über  seine  politischen  Anschauungen  und  über  seine  Tätigkeit 
insbesondere  als  Referent  der  deutschen  Frage  unter  Hohen- 
lohe  (1867)  auf  Grund  seiner  eigenen  Aufzeichnungen  und 
Korrespondenzen  Näheres  zu  berichten. i)  Tatkräftig,  viel- 
seitig, zugleich  ein  leidenschaftlicher  Deutscher  und  ein 
treuer  Bayer,  war  er  in  jenem  unternehmungslustigsten  Halb- 
jahr der  Hohenloheschen  Amtszeit  neben  seinem  Minister 
und  Freund  der  Hauptträger  einer  aktiven  nationalen  Politik 
Bayerns.  Er  scheint  sich  dabei,  wie  es  heißt  als  allzu  preußisch, 
die  Ungnade  des  Königs  zugezogen  zu  haben:  bereits  unmittel- 
bar nach  der  Erneuerung  des  Zollvereins  im  Juni  1867  wurde 
er  als  Gesandter  in  Petersburg  kaltgestellt.^)  Im  November 
1869,  als  das  römische  Konzil  herannahte,  zog  Hohenlohe 
den  klugen  liberalen  Katholiken  auf  den  wichtigeren  Posten 
in  Rom,  und  Tauffkirchens  Konzilsberichte  erweckten  als- 
bald wieder  die  Aufmerksamkeit  und  den  Beifall  Ludwigs  II. 

Da  erhob  sich  unerwartet  im  Juli  1870  der  deutsch- 
französische Konflikt.  Der  lebhafte  Patriot  brannte,  seine 
Arbeitskraft  und  Arbeitslust  wieder  auf  dem  eigentlichen,  ent- 
scheidenden Schauplatz  der  deutschen  Dinge  zu  verwerten; 
er  glaubte,   hier  dem  Vaterland  nützlicher  sein  zu  können 


1)  K.  A.  V.  Müller,  Die  Tauffkirchensche  Mission  nach  Berlin 
und  Wien.  Bayern,  Deutschland  und  Österreich  im  Frühjahr  1867: 
Riezler-Festschrift  1913,  insbes.  Abschnitt  III.  —  Eine  Auswahl  aus 
den  Korrespondenzen  und  Aufzeichnungen  Tauffkirchens  werde  ich 
demnächst  veröffentlichen.  —  Auf  die  Wichtigkeit  dieser  Spur  für  1870, 
die  bisher  nur  Ruville  206  f.,  freilich  ganz  kurz  und  unklar,  angedeutet 
hatte,  habe  ich  bereits  in  der  Hist.  Ztschr.  CIX,  381  f.  hingewiesen; 
aber  auch  der  neueste  Aufsatz  Brandenburgs  hat  sie  nicht  aufgegriffen. 

2)  Denkwürdigkeiten  des  Fürsten  Chi.  zu  Hohenlohe-Schillings- 
fürst  (1907)  I,  247,  auch  255,  329;  Mohl  an  Freydorf  1867,  Mai  22: 
Annalen  des  Deutschen  Reiches  1905,  544  f. —  Zum  Folgenden  Hohen- 
lohe I,  399,  401,  439.  1871  war  Tauffkirchen  auch  Geschäftsträger  des 
Deutschen  Reiches  in  Rom;  vgl.  auch  M.  Busch,  Tagebuchblätter, 
Register;  v.  Poschinger,  Fürst  Bismarck  und  die  Parlamentarier  II, 
159  ff. 


92  Karl  Alexander  v.  Müller,     . 

als  am  Tiber,  wo  das  Konzil  rasch  dem  Ende  zuging.  Schon 
am  2.  Juli  hatte  er  um  einen  zweimonatlichen  Urlaub  ein- 
gegeben. Am  15.,  als  der  Krieg  bereits  unvermeidlich  erschien, 
aber  Bayerns  Haltung  noch  nicht  entschieden  war,  wandte 
er  sich  persönlich  an  den  ihm  befreundeten  Minister  Grafen 
Bray:  er  werde  seinem  König  ,, mit  Aufopferung  dienen,  so- 
lange er  mit  Deutschland  geht,  aber  nicht  länger".  Er  bat 
für  den  Kriegsfall  dringend  um  eine  Stelle,  sei  es  als  General- 
kommissar oder  in  besonderen  Missionen,  sei  es  im  inneren 
Dienst.  Als  dann  der  Befehl  Ludwigs  II.  zur  Mobilmachung 
bekannt  wurde,  ließ  er  zwei  Tage  später  noch  ein  weiteres 
Schreiben  an  den  Kabinettsekretär  Eisenhart  folgen.  ,,lch 
glaube,  daß  in  dieser  Zeit  Energie  in  Bayern  ein  ebenso 
nöthiger  als  gesuchter  Articel  sein  wird,  nöthig  namentlich 
um  die  Partheien  und  die  Winkelpresse  im  Rücken  der  Armee 
niederzuhalten,  nöthig  aber  auch  um  die  Kriegsverwaltung 
zu  unterstützen.  Ich  fühle  mich  physisch  und  moralisch  stark 
genug,  um  jeden  Posten,  den  Seine  Majestät  in  dieser  Rich- 
tung mir  anvertrauen  will,  wenn  nicht  auszufüllen,  doch 
anzunehmen."  Im  äußersten  Fall  wolle  er  sich  wenigstens 
ganz  dem  Verein  zur  Pflege  verwundeter  Krieger  widmen, 
an  dessen  Gründung  er  nicht  unerheblichen  Anteil  gehabt 
habe  und  der  jetzt  gleichfalls  energischer  Leitung  dringend 
bedürfe.  1) 

Noch  ehe  diese  beiden  Briefe  in  München  eintrafen, 
hatte  Ludwig  II.  bereits  den  erbetenen  Urlaub  bewilligt, 
am  19.  fertigte  ihn  das  Ministerium  aus. 2)  Am  3.  August  ver- 
ließ Tauffkirchen  Rom,  wenige  Tage  später  scheint  er  in  der 
bayerischen  Hauptstadt  angekommen  zu  sein. 

Es  waren  die  erregten  Wochen  der  ersten  großen  Schlach- 
ten, in  denen  die  Flut  der  nationalen  Begeisterung  mit  den 
ununterbrochenen  Siegesnachrichten,  deren  eine  kaum  ein- 
getroffen schon  von  der  andern  überholt  wurde,  unaufhaltsam, 
fast  Tag  für  Tag  bis  in  die  kleinsten  Flecken  abgelegener  Berg- 


1)  Tauffkirchen  an  Bray,  Juli  15.  Abschrift  eigenhändig.  T.  P. ; 
Tauffkirchen  an  Eisenhart,  Juli  17.  Entwurf  eigenhändig.  T.  P. —  Eine 
eventuelle  wörtliche  Veröffentlichung  der  hier  verwendeten  Briefe 
und  Aufzeichnungen  behalte  ich  mir  vor. 

2)  Or.  T.  P.    Auf  Grund  einer  kgl.  Entschließung  vom  14.  Juli. 


Bistnarck  und  Ludwig  11.  im  September  1870.  93 

täler  hinaufschlug;  — Wochen  zugleich,  in  denen  der  nieder- 
schmetternd rasche  Gang  des  Krieges  bei  den  Verantwort- 
lichen und  Nachdenksamen  schon  alle  die  Fragen  des  Nachher 
eniportrieb:  Friedensbedingungen  und  Neugestaltung  Deutsch- 
lands. Die  bayerische  Regierung  zwar  schien  sich,  je  drängen- 
der die  Entscheidung  auch  an  sie  heranzutreten  drohte,  nur 
um  so  mehr  in  einer  unbehaglichen  Zugeknöpftheit  zu  ver- 
steifen.i)  Die  Diplomaten  erzählten  sich,  der  österreichische 
Einfluß  sei  am  Promenadeplatz  neuerdings  stark  im  Wachsen; 
man  schien  sich  wieder  auf  das  alte  Vogel-Strauß-Rezept  des 
Abwartens  verlassen  zu  wollen.  Um  so  lebhafter  waren  in 
der  Hauptstadt  die  üblichen  Ministermacher  an  der  Arbeit, 
die  wieder  einmal  bereits  das  Gras  auf  dem  Grab  des  be- 
stehenden Kabinetts  wachsen  hörten.  Die  Deutschgesinnten 
unterhielten  sich  über  die  Folgen  der  Abtretung  des  Elsasses, 
unter  den  Eingeweihten  hörte  man  schon  vom  Kaisertitel 
und  von  einem  großen  Kongreß  aller  deutschen  Fürsten  im 
Feldlager^)  und  begann  seine  Wünsche  vorbereitend  pro- 
grammatisch festzulegen.  3) 

Auch  Tauffkirchen  suchte  sich  schon  unterm  9.  August 
nach  seiner  Weise  in  einem  Programm  über  die  Lage  klar 
zu  werden.^)  Als  Zeugnis  für  die  damals  in  München  um- 
laufenden Gedanken,  als  Meinungsäußerung  eines  deutsch- 
gesinnten bayerischen  Politikers  und  im  Hinblick  auf  seine 


1)  Der  These  Stolzes  (118  f.),  daß  Bayern  „schon  im  August 
eine  Politik  mit  deutschen  Zielen  einschlug",  kann  ich  nicht  zustimmen 
(vgl.  Brandenburg,  Hist.  Vierteljahrsschrift  XV,  513  ff.),  wenn  ich 
gleich  glaube,  daß  man  sich  auch  in  den  Kreisen  der  Regierung 
bereits  im  Laufe  des  August  mit  den  Fragen  des  Nachher  ernstlicher  zu 
beschäftigen  begann.    Vgl.  auch  unten  S.  94  Anm.  I. 

2)  Hohenlohe  II,  19  (Aug.  17),  soviel  ich  sehe,  die  früheste  bis 
jetzt  bekannte  Erwähnung  dieses  Plans.  Dem  Zusammenhang  der 
Notiz  nach  könnte  Stauffenberg  die  Nachricht  aus  Berlin  mitgebracht 
haben.  Er  hatte  damals  auch  einen  Auftrag  der  Königin  Augusta 
an  Ludwig  II.:  H.  Oncken,  R.  v.  Bennigsen  (1910)  II,  173. 

3)  Hohenlohe  II,  17  (Aug.  17)  spricht  mit  Völderndorff  „über 
die  Frage  der  Verfassungsprojekte".  Wir  wissen  bisher  von  zwei  bayeri- 
schen Programmen  aus  dem  August:  1.  dem  im  Folgenden  mitgeteilten 
Tauffkirchenschen;  2.  dem  „Präliminarvertrag"  Marquard  Barths: 
Hohenlohe   II,  23;  dazu  Oncken,  Bennigsen   II,   173  ff.,  auch  181. 

*)  Entwurf  eigenhändig,  datiert,  auf  3   Quartbogen.    T.  P. 


94  Karl  Alexander  v.  Müller, 

kommenden  Missionen  verdient  es  einiges  Interesse.  Was  will 
Bayern  im  Fall  des  Sieges  bei  den  Friedensverhandlungen  mit 
Frankreich,  was  bei  der  Neugestaltung  Deutschlands  er- 
streben? und  wie  kann  es  seine  Absichten  fördern?  Für  die 
Friedensverhandlungen,  meinte  er,  müsse  es  dreierlei  wün- 
schen: Teilnahme  schon  an  den  grundlegenden  Vorbespre- 
chungen^);  bei  der  Kriegskontribution  eine,  wenn  auch  nur 
indirekte  Rücksicht  auf  die  1866  von  Bayern  selbst  ge- 
zahlten 30  Millionen^);  endlich  im  Fall  territorialer  Ab- 
tretungen nicht  so  sehr  einen  Teil  des  Elsasses  als  vielmehr 
die  Kontiguität  mit  der  Rheinpfalz,  die  seit  dem  Rieder  Ver- 
trag so  lange  das  höchste  traditionelle  Ziel  der  bayerischen 
Politik  gewesen  war.  Baden  könnte  dafür  im  Elsaß  ent- 
schädigt werden,  während  eine  Erweiterung  für  Bayern  dort 
nur  eine  Last  und  eine  Gefahr  wäre. 3) 

In  der  schwierigeren  deutschen  Frage  aber  sah  Tauff- 
kirchen  —  da  ein  bedingungsloser  Eintritt  in  den  Nordbund 


1)  Die  amtliche  Bitte  Bayerns  und  Württembergs  um  Zuziehung 
zu  den  Friedensverhandlungen  wurde  Bismarci<  spätestens  am  21.  August 
ausgesprochen:  R.  v.  Friesen,  Erinnerungen  aus  meinem  Leben  III, 
126;  G.  Meyer,  Die  Reichsgründung  und  das  Großherzogtum  Baden 
(1896)  53.  —  Unterm  25.  August  forderte  Bray  Berchem  auf,  über  eine 
etwaige  Einleitung  von  Friedensverhandlungen  zu  berichten;  bei  Ge- 
fahr auf  Verzug  solle  Prinz  Luitpold,  im  Namen  Bayerns,  Teilnahme  ver- 
langen. Mitteil.  d.  Grafen  Bray,  Am  22.  August  hatte  Ludwig  II.  eine 
Beratung  mit  Bray,  Pranckh  und  Braun:  Allgem.  Zeitung  Nr.  237 
vom  25.  Aug.   1870. 

2)  Vgl.  Tauffkirchens  Unterredung  mit  Bismarck  1867,  April  13: 
Müller  a.  a.O.,  Riezler-Festschrift,  Abschnitt  III.  —  Bismarck  hat  1870 
in  der  Tat  daran  gedacht,  die  Kriegskontributionen  von  1866  zurück- 
zubezahlen:  Poschinger,  Fürst  Bismarck  und  die  Parlamentarier  I, 
265,  271,  357;  III,  131. 

^)  Vgl.  dazu  den  Bericht  Mohls  vom  September:  M.  Busch, 
Tagebuchblätter  I,  252;  Brandenburg,  Eintritt  42.  —  Auf  die  kom- 
plizierte Frage  der  Stellung  Ludwigs  II.  und  seines  Ministeriums  zu 
territorialen  Erwerbungen  kann  in  diesem  Zusammenhang  nicht  ein- 
gegangen werden;  vgl.  hierzu  die  erwähnten  Arbeiten  Jacobs  und 
Wentzckes.  Bray  dürfte,  nach  unserer  bisherigen  Kenntnis,  in  diesem 
Zeitpunkt  eher  noch  gegen  als  für  territoriale  Ansprüche  Bayerns  ge- 
wesen sein.  Vgl.  noch  Friesen  III,  129;  M.  Busch  a.  a,  O.  II,  5; 
auch  M.  Doeberl,  Bayern  und  die  Gründung  des  Deutschen  Reiches, 
Beil.  z.  Allgem.  Zeitung  1903,  Nr.  148  S.  26. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  95 

für  den  bayerischen  König,  ohne  sich  selbst  aufzugeben, 
undenkbar  sei  —  drei  MögUchkeiten:  entweder  „Aufhebung 
des  Norddeutschen  Bundes  und  Reconstituirung  Deutsch- 
lands auf  anderer,  mehr  föderalistischer  Basis";  oder  ,, Fort- 
bestehen des  Norddeutschen  Bundes  und  Aufnahme  Bayerns 
in  denselben  unter  Concessionen,  welche  diesen  Eintritt  er- 
möglichen"; oder  schließlich  drittens  ,, Erhaltung  des  Status 
quo".  Diese  letzte  Möglichkeit,  die  anscheinend  das  Pro- 
gramm des  gegenwärtigen  Ministeriums  sei,  bedeute  die 
Fortsetzung  eines  gänzlich  provisorischen,  lästigen  und  un- 
haltbaren, für  Bayern  selbst  höchst  gefährlichen  Zustandes. 
Könnte  sie  nach  einem  siegreichen  nationalen  Krieg  über- 
haupt noch  erhalten  werden?  Lege  sie  dann  nicht  den  Keim 
zu  neuem  Kampf?  Führe  am  Ende  zu  einer  ungünstigeren 
Lösung?  Eine  Berechtigung  hätte  solches  Zuwarten  nur, 
wenn  noch  einmal  mit  einem  Eintritt  Österreichs  in  den 
deutschen  Bund  gerechnet  werden  könnte:  aber  der  wäre 
nur  denkbar  als  Folge  einer  preußischen  Niederlage  oder  eines 
Auseinanderfallens  der  habsburgischen  Monarchie.  Tauff- 
kirchen  sah  in  diesem  ministeriellen  Programm  also  höchstens 
das  „äußerste  pis  aller",  eine  etwaige  Rückzugslinie,  wenn 
alle  anderen  Versuche  gescheitert  wären. 

Ausführlicher  verweilt  er  bei  der  ersten  Möglichkeit. 
Er  stellt  freilich  mit  Nachdruck  voraus,  daß  ein  föderali- 
stisches Deutschland  mit  Beseitigung  des  Norddeutschen 
Bundes  nur  auf  Grund  erheblicher  territorialer  Umwälzungen 
in  Deutschland  möglich  wäre:  die  kleinen  norddeutschen 
Bundesglieder  müßten  Preußen  einverleibt,  Sachsen  zu 
einem  Mittelstaat  von  etwa  fünf  Millionen  vergrößert^), 
Bayern  entsprechend  abgerundet  werden.  Nur  dann  sei  an 
einen  Föderativstaat  mit  gleichberechtigten,  vollsouveränen 
Gliedern  zu  denken,  dessen  Verfassung  etwa  auf  der  Basis 
der  preußischen  Vorschläge  vom  Juni  1866  ruhen  und  der 
dann  nach  dem  alten  Radowitzischen  Plan  eine  Union  mit 


^)  In  der  Unterredung  mit  Bismarck  am  8.  September  führte 
Tauffkirchen  auch  Hessen  als  selbständiges  Glied  des  weiteren  Bundes 
an:  s.  unten  S.  102.  Sachsens  eigene  damalige  Reformwünsche:  Friesen 
III,  127  f.,  141  f.;  vgl.  Brandenburg,  Eintritt  89  ff.  —  Vgl.  ferner 
Friesen  III,  138  ff.,  147. 


%  Karl  Alexander  v.  Müller, 

Österreich  schließen  könnte.  Die  Frage  sei  nur,  ob  Preußen 
ein  solches  Projekt  nicht  schroff  ablehnen  werde.  Es  hätte 
freilich  auch  für  den  Hohenzollernstaat  Vorteile:  eine  erheb- 
liche Vergrößerung  der  Heeresmacht,  eine  wesentliche  Ver- 
einfachung des  sonst  unentwirrbar  komplizierten  Organis- 
mus^);  ,, außerdem  könnte  als  Preis  die  deutsche  Kaiserkrone 
angeboten  werden,  ein  Reitz,  der  nicht  ganz  gering  anzu- 
schlagen ist."2)  Man  müßte  sich  also  zunächst  über  die  Auf- 
nahme solcher  Gedanken  in  Berlin  vergewissern  und  mit 
Sachsen  als  natürlichem  Bundesgenossen  vertraulichst  an- 
knüpfen. ,,Die  außerdeutschen  Mächte  werden  jeden  Vor- 
schlag, welcher  dem  deutschen  Bund  etwas  seines  aggressiven 
Charakters  nimmt,  unterstützen. "3)  Er  skizziert  dann  die 
Grundzüge  einer  solchen  Bundesverfassung,  die  natürlich 
•eine  reine  ,, Vertragsverfassung"  wäre,  mit  erblichem  Kaiser, 
einem  durch  diesen  ernannten  Reichsministerium,  einem 
Staatenhaus  und  einem  deutschen  Parlament.  Die  Bundes- 
angelegenheiten könnten  im  wesentlichen  nach  Kapitel  I— X 
der  norddeutschen  Bundesverfassung  geordnet  werden, 
aber  mit  einer  Reihe  tiefgreifender,  charakteristischer  Ände- 
rungen: z.  B.  neue  Stimmverteilung  im  Staatenhaus;  Aus- 
schußbeteiligung nach  Staaten;  beschränktes  Gesandt- 
schaftsrecht der  Bundesglieder,  Teilnahme  an  Ernennung 
der  Bundesgesandten  und  -beamten;  Sitz  des  Reichstags 
womöglich  in  einer  Stadt,  die  keine  Residenz  ist;  Dezentra- 
lisation im  Eisenbahn-,  Post-  und  Telegraphen-,  beschränkte 
Dezentralisation    auch    im  Kriegswesen;  möglichst  geringes 

1)  Vgl.  unten  S.  114. 

2)  Dieser  Gedanke  —  die  Kaiserkrone  als  bayerisches  Zugeständnis 
an  preußische  Aspirationen  —  geht  bei  Tauffkirchen  nicht  etwa  auf  den 
Kaiserplan  vom  Frühjahr  1870,  von  welchem  in  seinen  Papieren  nie 
die  Rede  ist,  sondern  nachweislich  bereits  auf  den  Januar  1867  zurück, 
wo  Bismarck  die  Kaiseridee  bereits  indirekt  bei  Bayern  anregen  ließ: 
Müller  a.  a.  O.,  Riezler-Festschrift,  Abschnitt  I. 

^)  An  anderer  Stelle  wird  im  Programm  auch  die  Möglichkeit 
eines  europäischen  Kongresses  am  Ende  des  Krieges  erwähnt.  Das 
Selbstbestimmungsrecht  des  deutschen  Volkes  in  inneren  Angelegen- 
heiten schließe  formell  natürlich  jeden  Einfluß  des  Auslandes  aus. 
Tatsächlich  würde  ein  solcher  aber  doch  stattfinden,  und  zwar  in  der 
von  Bayern  anzustrebenden  föderalistischen  Richtung;  also  liege  das 
Zustandekommen  eines  Kongresses  im   Interesse  Bayerns. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  97 

Biindesbudget  im  Frieden^);  schwarz-rot-goldene  Farben; 
Änderung  der  Bundesakte  oder  doch  bestimmter  Grund- 
paragraphen nur  durch  Vertrag. 

Würde  diese  Basis  ganz  abgelehnt,  so  bliebe  als  drittes 
schließlich  noch  der  Vorschlag  einer  , »nationalen  Verbindung 
zwischen  Süddeutschland  und  dem  Norddeutschen  Bund", 
der  ursprünglich  ein  Teil  des  1867  unter  Hohenlohe  ausge- 
arbeiteten Südbundplanes  gewesen  war,  und  den  sein  Autor, 
der  Ministerialrat  Freiherr  v.  Völderndorff,  am  26.  März 
1870  in  der  Allgemeinen  Zeitung  veröffentlicht  hatte.^) 
Wie  weit  dieser  jetzt  noch  ausführbar,  und  ob  er  dann  der 
zweiten  oben  erwähnten  Möglichkeit,  der  eines  modifizierten 
Beitritts  zum  Norddeutschen  Bund,  schon  ganz  gerecht 
sein  würde,  darüber  sagt  das  Programm  nichts  Näheres.^) 
Nach  diesem  selbst  müßte  man  meinen,  daß  das  föderalistische 
Projekt  im  Mittelpunkt  der  Ideen  seines  Verfassers  ge- 
standen habe.  Dies  dürfte  aber  doch  nicht  der  Fall  gewesen 
sein.  Schon  1867  hatte  Tauffkirchen,  als  Heinrich  v.  Gagern 
ihm  damals  einen  verwandten  föderativen  Plan  entwickelte, 
die  große  Unwahrscheinlichkeit  betont,  daß  Bismarck  in 
irgendwelche  Auflockerung  des  Norddeutschen  Bundes  wil- 
ligen werde.*)  Seither  hatte  er  allerdings  drei  Jahre  im 
Ausland  zugebracht,  wir  haben  aber  kein  Anzeichen,  daß 
ihm  eine  föderalistische  Gestaltung  Deutschlands  inzwischen 
wahrscheinlicher  geworden  wäre.^)  Im  Gegenteil  sieht 
man  an  mehreren  der  oben  angeführten  Gedanken  deut- 
lich, wie  sie  noch  unverändert  aus   seiner  vorhergehenden 

^)  Vgl.  hierzu  den  Vorschlag  einer  gesetzmäßigen  Festlegung 
des  normalen  Reichsbudgets  in  der  Denkschrift  des  Großherzogs  von 
Oldenburg:  O.  Lorenz,  Kaiser  Wilhelm  1.  und  die  Begründung  des 
Reichs  1866—1871,  580. 

2)  Jetzt  auch:  Brandenburg,  Aktenstücke  Nr.  1  (dazu  Müller, 
Hist.  Ztschr.  CIX,  381). 

')  Nur  nennt  Tauffkirchen  ausdrücklich  Art.  VII  dieses  Ent- 
wurfs — getrennte  Abstimmung  Süd-  und  Norddeutschlands  im  gemein- 
samen Parlament  —  aussichtslos.    Vgl.  unten   S.  104. 

*)  Tauffkirchen  an  H.  v.  Gagern  1867,  April  20:  s.  Müller  a.  a.  O., 
Riezler-Festschrift,  Abschnitt  IV. 

5)  Aufzeichnung  vom  11.  September  1870  (s.  u.):  „Wie  ich  ver- 
muthete,  stieß  dieser  Plan  bei  Graf  Bismarck  auf  den  alJerbestimmtesten 
Widerspruch." 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  7 


98  Karl  Alexander  v.  Müller, 

Amtszeit  übernommen  sind,  und  dieser  Entwurf  dürfte 
also  eher,  entweder  selbst  unter  dem  augenblicklichen  Ein- 
druck einer  starken  Münchener  Stimmung  entstanden  oder 
vielleicht  auch  nur  auf  eine  solche  berechnet  gewesen  sein.i) 
Aus  Hohenlohes  Tagebuch  wissen  wir,  daß  dieser  Ende 
Juli  bei  einem  Gespräch  mit  dem  preußischen  Kronprinzen 
die  Geneigtheit  herauszuhören  geglaubt  hatte,  den  Nord- 
deutschen Bund  in  mehr  föderativem  Sinn  zu  reformieren. 2) 
Der  ehemalige  bayerische  Minister  selbst  war  freilich  kühl 
und  unterrichtet  genug,  dies  unter  Bismarck  für  völlig  un- 
möglich zu  halten.  Schon  beim  Ausbruch  des  Krieges  meinte 
er,  ein  Sieg  werde  Bayern  wohl  oder  übel  zum  Eintritt  in 
den  Norddeutschen  Bund  zwingen. 3)  Er  und  Völderndorff 
fanden  daher  Tauffkirchens  Projekt  auch  ,, wohlgemeint, 
aber  unpraktisch"  und  hielten  dafür,  ein  bayerisches  Pro- 
gramm müsse  zwar  den  Nichteintritt  in  den  Norddeutschen 
Bund  und  die  Selbständigkeit  Bayerns  an  die  Spitze  stellen, 
dann  aber  die  Ausdehnung  des  Norddeutschen  Bundes  auf 
Gesamtdeutschland  mit  Vorbehalt  einzelner  Rechte  an- 
streben. Sonst  ist  uns  über  die  Wirkung  des  Tauffkirchenschen 
Entwurfs  nichts  bekannt.  Einen  augenblicklichen  Einfluß 
auf  Regierung  oder  Parlamentarier  dürfte  er  nicht  gehabt 
haben. 

Und  auch  Tauffkirchens  weitere,  persönliche  Wünsche 
schienen  sich  zunächst  nicht  zu  erfüllen.  Er  hatte  es  in  seinem 
Programm  als  die  größte  Gefahr  für  Bayern  bezeichnet,  in 
dieser  Zeit  des  Dampfes  und  des  Telegraphen  womöglich  un- 
vorbereitet vor  eine  vollendete  Tatsache  gestellt  zu  werden, 
und  als  bestes,  einziges  Mittel  dagegen  die  Entsendung  eines 
Vertrauensmannes  ins  Hauptquartier  empfohlen:  es  war 
wohl  die  Stelle,  die  er  selbst  am  liebsten  ausgefüllt  hätte.*) 

1)  Daß  ein  solches  föderalistisches  Projekt  der  erste  Plan  der 
bayerischen  Regierung  war,  bestätigte  Graf  Bray  selbst  in  Versailles: 
Friesen  III,  180. 

2)  Hohenlohe  II,  15  (Juli  30),  auch  21.  Zum  Folgenden  auch 
22  f.,  24  f.    Vgl.  auch  Brandenburg,  Eintritt  92. 

3)  Hohenlohe  II,  12  (Juli  20).  Zum  Folgenden  II,  17  (Aug.  17> 
und  23  (Aug.  28). 

*)  Diese  Rolle  erfüllte  in  gewissem  Sinn  Prinz  Luitpold,  Graf 
Berchem  soll  —  ich  weiß  nicht,  ob  schon  in  dieser  Zeit  oder  erst  später 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  99 

Davon  war  jedoch  keine  Rede.  Er  hatte  am  11.  August  eine 
Audienz  beim  König  und  galt  in  München  als  Minister- 
kandidat, ja  sogar  als  kommender  Ministerpräsident. i)  Er 
selbst  war  inzwischen  aber  nur  im  Interesse  des  Vereins  für 
Verwundete  privatim  in  der  Pfalz"^);  und  als  er  am  29.  August 
zum  Präfekten  der  provisorischen  Verwaltung  des  Maas- 
departements in  Bar  le  Duc  ernannt  wurde^),  erhielt  er 
zwar  einen  ganz  allgemeinen  Auftrag,  in  diesem  Amt  auch  die 
bayerischen  Interessen  möglichst  zu  wahren,  aber  keinerlei 
eigentliche  politische  Mission.  Er  sollte  trotzdem  bald,  von 
der  andern  Seite,  die  Gelegenheit  zu  einer  solchen  erhalten. 
Er  trat  sofort  die  Reise  in  die  okkupierten  Gebietsteile 
an,  besprach  sich  in  Nancy  mit  dem  Generalgouverneur  von 
Lothringen,  v.  Bonin,  und  traf  am  3.  September  in  Bar  le  Duc 
ein,  mitten  in  den  unklarsten  Verhältnissen.*)  Schon  am 
4.  machte  er  die  bayerische  Regierung  in  einem  vertraulichen 
Bericht  nachdrücklich  auf  den  wichtigen  Einblick  aufmerk- 
sam, den  die  Einteilung  der  provisorischen  Administration 
in  die  territorialen  Absichten  Bismarcks  eröffne.  Das  General- 
gouvernement des  Elsasses,  zu  dem  erhebliche  Teile  von  Loth- 
ringen geschlagen  worden  seien^),  werde  offenbar  gleich  in 
definitivere  Verwaltung  genommen,  um  es  zu  behalten.     In 

—  fast  täglich  Berichte  nach  München  gesandt  haben.  Mitteil.  d. 
Grafen  Bray.  —  Vgl.  auch  Hohenlohes  Rat  an  Berchem:  Hohenlohe 
II,   14. 

^)  Beilage  zur  Allgem.  Zeitung  Nr.  224  vom  12.  Aug.;  Hohenlohe 
1 1,  23  (Aug.  28). 

2)  Hohenlohe   II,   17  (Aug.  17). 

^)  Gemeinsamer  Erlaß  der  Ministerien  des  Äußern  und  des  Innern 
(Or.  T.  P.)  auf  Grund  kgl.  Befehls  vom  28.  Tauffkirchens  Be- 
gleiter waren  Bezirksamtsassessor  Juch  als  Sekretär  und  Akzessist 
Graf  Yrsch:  Allgem.  Zeitung  Nr.  252  vom  9.  Sept.  1870. 

*)  Aufzeichnung  d.  d.  Ligny,  Sept.  2.  Reinschrift  von  der  Hand 
des  Sekretärs.  T.  P.  —  Bericht  Tauffkirchens  an  Bray,  Bar  le  Duc, 
Sept.  4.    Entwurf  von  der  Hand  des  Sekretärs.  T.  P. 

*)  Das  ganze  Mosel-  und  Teile  des  Meurthedepartements  (die 
Arrondissements  Chateau  Salins  und  Sarrebourg).  In  der  ersten  Unter- 
redung vom  8.  September  bestätigte  Bismarck  Tauffkirchens  Vermutung, 
daß  dies  die  zu  annektierenden  Provinzen  seien.  Es  liege  ihm  daran, 
für  den  Fall  die  Friedensverhandlungen  sich  hinauszögen,  hier  ein 
fait  accompli  zu  schaffen.  Er  habe  Delbrück  berufen,  um  mit  ihm  über 
die  Vorschiebung  der  Zollgrenze  und  die  Berufung  des  Zollparlaments 


100  Karl  Alexander  v.  Müller, 

dem  verkleinerten  Lothringen  dagegen,  wo  er  sich  befand, 
handle  es  sich  bei  der  provisorischen  Administration  anschei- 
nend mehr  um  die  Form  als  um  die  Sache.  Weder  Geld  noch 
Exekutionsmittel,  ja  nicht  einmal  die  notdürftigste  Sicher- 
heitswache seien  ihr  zugewiesen.  Der  Zivilgouverneur  war 
noch  nicht  eingetroffen,  genauere  Instruktionen  waren  nir- 
gends zu  erhalten.  Noch  ehe  er  in  Bar  le  Duc  eingetroffen  war, 
am  Morgen  des  2.  September,  fragte  Tauffkirchen  telegra- 
phisch beim  Bundeskanzler  an,  ob  er  sich  vor  seinem  Amts- 
antritt bei  ihm  melden  dürfe. 

Erst  am  Vormittag  des  7.  erhielt  er  —  durch  Zerstörung 
des  Telegraphen  verspätet  —  drei  dringende  Depeschen  Bis- 
marc ks,  zu  kommen.  1)  Schon  am  8.,  früh  9  Uhr,  traf  er  in 
Reims  ein.  Um  Va^^  Uhr  war  er  beim  Kanzler  und  hatte 
mit  ihm  eine  Unterredung,  die  ohne  Stocken  fast  2V2  Stunden 
dauerte.  2) 

Sie  begann  mit  einer  Besprechung  über  Tauffkirchens 
augenblicklichen  Posten,  den  Bismarck  als  unpassend,  weil 
vollkommen  unbedeutend,  bezeichnete.  Er  plane  jetzt,  über 
die  sämtlichen,  nur  für  Kriegsdauer  besetzten  französischen 
Landesteile  einen  deutschen  Fürsten  als  Statthalter  zu  setzen, 
dem  er  eine  Art  Ministerium  an  die  Seite  geben  wolle,  und  bot 
Tauffkirchen,  unter  der  Bedingung,  daß  Wilhelm  I.  dieses 
ganze,  eben  erst  konzipierte  Projekt  genehmigen  werde,  das 
Amt    eines   Ministers   für   die   äußeren    Beziehungen    an.^) 

Dann  aber  ging  er,  ohne  daß  der  Bayer  den  Gegenstand 
noch  irgendwie  angeregt  hatte,  sofort  selbst  auf  die  deutsche 


zu  beraten:  Aufzeichnung  vom  11.  Sept.  (s.  u.).    Vgl.  dazu  R.  v.  Del- 
brück, Lebenserinnerungen  II,  410  f. 

1)  Sept.  6,  9  Uhr  vorm.:  „Ich  hoffe  einige  Tage  in  Rheims  zu 
bleiben  und  würde  mich  freuen,  Euer  Hochgeboren  hier  zu  sehen." 
—  Sept.  6, 4  Uhr  36  nachm.  Duplikat.  „Dienstlich  sehr  eilig."— Sept.6, 
10  Uhr  45  abends:  „Haben  Sie  mein  Telegramm  von  gestern  (!)  er- 
halten?   Wann  kann  ich  Sie  hier  erwarten?"   3  Orr.  T.  P. 

2)  Wir  besitzen  über  sie  und  das  zweite  Gespräch  am  Nachmittag 
eine  ausführliche  Aufzeichnung  Tauffkirchens  (d.d.  Nancy,  Sept.  11. 
Reinschrift  von  der  Hand  des  Sekretärs  auf  drei  Briefbogen.  T.  P.), 
welche  seinen  kürzeren  späteren  Berichten  vom  14.  (s.  u.)  zugrunde  liegt. 

2)  Hier  folgten  die  in  der  vorvorletzten  Anm.  wiedergegebenen 
Eröffnungen. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  101 

Frage  über.  Welche  Absichten  habe  Bayern  bezüglich  eines 
Territorialanteils  und  bezüglich  seiner  künftigen  Stellung  in 
Deutschland?  Sei  es  geneigt,  in  der  deutschen  Sache  die 
Initiative  zu  ergreifen?  Tauffkirchen  mußte  erwidern,  daß 
er  hierin  weder  einen  Auftrag  noch  auch  eine  offizielle  Kennt- 
nis habe;  er  erklärte  aber  sogleich  seine  Bereitwilligkeit, 
Bismarcks  Mitteilungen  an  seine  Regierung  weiterzugeben, 
und  gab  diesem  Aufschluß,  soweit  er  es  vermochte. 

Seiner  persönlichen  Kenntnis  nach  glaube  er  nicht,  daß 
Bayern  eine  direkte  Einverleibung  annektierter  Gebiete  für 
sich  wünsche^),  die  ihm  eher  eine  Last  als  ein  Machtzuwachs 
wären.  Bismarck  entgegnete,  auch  ihm  scheine  das  geratenste, 
diese  Länder  in  gemeinschaftliches  Eigentum  eines  etwaigen 
deutschen  Bundes,  beziehungsweise  der  verbündeten  Regie- 
rungen zu  nehmen;  er  werde  die  Sache  jedenfalls  nur  in 
völliger  Übereinstimmung  mit  diesen  regeln. 2)  Grenzab- 
rundungen  einzelner  seien  nicht  ausgeschlossen. 3)  Dagegen 
der  hier  und  da  in  Bayern  aufgetauchte  Gedanke  der  Spon- 
heimischen  Erbschaft  —  wir  erinnern  uns,  daß  Tauffkirchen 
selbst  ihn  eben  in  seinem  Programm  vertreten  hatte  — 
würde  nicht  statthaben,  solange  er  Kanzler  sei;  denn  der 
Großherzog  von  Baden  würde  lieber  abdanken  als  einen 
solchen  Tausch  annehmen.*) 

Ganz  getrennt  von  dieser  Angelegenheit  der  Friedensunter- 
handlungen behandelte  der  Kanzler  die  deutsche.  Hier  mußte 
Tauffkirchen  auf  seine  erste  Frage  antworten,  daß  er  keinen 
Anhaltspunkt  für  eine  Initiative  des  gegenwärtigen  baye- 
rischen Ministeriums  habe;  ein  großer  Teil  der  Bevölkerung 
des  Landes  aber  wünsche  allerdings,  aus  dem  augenblicklichen 


1)  S.  oben  S.  94.  —  Vgl.  auch  Friesen  III,  129.  In  dem  Bericht 
an  Bray  vom  14.  September  fehlt  diese  Stelle. 

2)  Vgl.  Bismarck  an  O.  v.  Manteuffel  1870,  Sept.  8:  Poschinger, 
Denkwürdigkeiten  des  Ministerpräsidenten  O.Freiherr v. Manteuffel  III, 
376  f. ;  M.  Busch,  Tagebuchblätter  1, 174  f.  (Sept.  5,  6),  189  f.  (Sept.  12); 
Antwort  auf  die  badische  Denkschrift,  Sept.  12:  Brandenburg,  Akten- 
stücke Nr.  42  und  Baumgarten- Jolly,   Staatsminister  JoUy  176  f. 

3)  Vgl.  hierzu  Jacob  108;  über  die  späteren  Stadien  dieses  Plans 
ebenda  115. 

*)  Vielleicht  bezieht  sich  auf  diese  Ablehnung  die  Nachricht  bei 
L.  V.  Kobell,  König  Ludwig  II,  und  Fürst  Bismarck  im  Jahre  1870,  27. 


102  Karl  Alexander  v.  Müller, 

Provisorium  herauszutreten,  wenn  dabei  die  Stellung  und  die 
Rechte  Bayerns  gewahrt  blieben. i)  Hier  ging  der  bayerische 
Gesandte  sogleich  zu  einem  kleinen  Erkundungsvorstoß 
über.  Er  entwickelte  versuchsweise,  als  einen  ganz  persön- 
lichen Gedanken,  sein  Augustprojekt  ,, eines  wirklichen  und 
lebensfähigen  Föderativstaates":  zwischen  einem  durch  die 
kleinen  norddeutschen  Territorien  vergrößerten  preußischen 
Einheitsstaat,  Sachsen,  Hessen  und  den  süddeutschen 
Staaten.  Aber  Bismarck  widersprach  auf  der  Stelle  mit 
schneidender  Bestimmtheit,  Mute  man  ihm  etwa  zu,  den 
Fürsten  des  Norddeutschen  Bundes  ihre  Rechte  gewaltsam 
zu  entziehen?  Nie,  solange  er  auf  seinem  Platz  stehe,  werde 
die  Verfassung  des  geltenden  Bundes  auf  andere  als  die 
verfassungsmäßige  Weise  geändert  werden.  Allerdings,  er 
wünsche  den  Zusammenschluß  Deutschlands  zu  einem  Bun- 
desstaat —  aber  wenn  er  nur  um  den  Preis  des  Norddeut- 
schen Bundes  zu  haben  wäre,  dessen  Organisation  sich  eben 
in  diesem  Krieg  so  glänzend  bewähre,  dann  lasse  er  ohne 
Schwanken  den  deutschen  Bund  fahren. 

Auf  der  Stelle  aber  führte  er  nun  den  bayerischen  Unter- 
händler zu  anderen  Möglichkeiten  und  Voraussetzungen  der 
Einigung.  Von  der  heftigen  Verstimmung  gegen  Bayern, 
die  in  diesen  Tagen  nach  Sedan  im  Hauptquartier  herrschte, 
und  die  König  Wilhelm  eben  am  selben  8.  September  dem 
Herzog  von  Koburg  gegenüber  mit  bitteren  Worten  aus- 
sprach^),  erscheint  in  Tauffkirchens  Bericht  über  dieses  Ge- 
spräch keine  Spur.  Der  Kanzler  verbarg  zwar  nicht,  daß 
ungünstigere  Strömungen  gegen  Bayern  vorhanden  seien 
und  daß  z.  B.  die  Absicht  des  Militärkabinetts  von  der  seinigen 
wesentlich  abweiche^);  er  selbst  aber  gab  sich  weit  entfernt 
von  der  schroffen  Alternative,  die  Hohenlohe  im  August  die 
wahrscheinlichste  genannt  hatte:  eintreten  oder  draußen  blei- 
ben.^) Es  war  nicht  möglich,  gegen  Bayern  entgegenkommen- 

^)  Ähnlich  Lasker  an  Delbrück,  Sept.  24:  Brandenburg,  Akten- 
stücke Nr.  50. 

2)  Lorenz  333;  M.  Busch,  Tagebuchblätter  I,  200 f.  (Sept.  16 
über  den  Kronprinzen). 

ä)  Dies  erwähnt  Tauffkirchen  in  dem  Bericht  an  Bray,  Sept.  15 
(s.  u.);  vgl.  hierzu  auch  Delbrück   11,  413. 

*)  Hohenlohe   II,  21   (Aug.  20). 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  103 

der  zu  sein  —  und  dieses  Entgegenkommen  zugleich  für  den 
andern  Teil  dringlicher,  anspornender,  nötigender  zu  machen. 
Ein  föderatives  Verhältnis  zwischen  dem  Norddeutschen 
Bund  und  den  übrigen  deutschen  Staaten,  sagte  er,  sei  wohl 
möglich.  Dafür  aber  wäre  zunächst  die  wesentlichste  Vor- 
frage, ob  der  König  von  Bayern  aus  freiem  Antrieb  in  irgend- 
welche Verhandlungen  derart  einzutreten  gesonnen  sei  oder 
nicht.  Er  legte  den  stärksten  Nachdruck  darauf,  die  voll- 
kommene Freiheit  Bayerns  bei  diesem  Entschluß  zu  betonen. i) 
Das  Wort  seines  Königs  und  Herrn^),  sein  eigener  bestimmter 
Wille,  schließlich  die  Verpflichtung  des  Dankes  gegen  Bayern 3) 
seien  hierfür  ebenso  viele  unbedingte  Garantien.  Ja,  noch 
mehr,  eben  in  der  Besorgnis,  irgendeinen  Vorschlag  zu 
machen,  der  trotz  der  besten  Absicht  das  Gefühl  des  Königs 
von  Bayern  beleidigen  könnte,  möchte  er  diesem  die  Initiative 
vorbehalten,  damit  auf  der  Grundlage  der  bayerischen  Vor- 
schläge unterhandelt  werden  könnte.  Aber  allerdings:  diese 
Initiative  müßte  jetzt  bald  ergriffen  werden.  Entweder— oder. 
Wolle  Bayern  nicht,  sehe  es  wirklich  eine  Auflösung  des 
Norddeutschen  Bundes  als  conditio  sine  qua  non  an  und 
wünsche  es  sonst  nur  eine  Fortdauer  des  gegenwärtigen 
Vertragsverhältnisses:  dann  müßte  eben  die  deutsche  Frage 
ohne  Bayern  geregelt  werden.  Württemberg,  Baden  und 
Hessen  würden  dann  mit  einigen  Bedingungen  in  den  Nord- 
deutschen Bund  eintreten  —  ohne  Bayern  selbstverständlich 
mit  sehr  wenig  veränderten  Bedingungen;  Baden  und  Hessen 
seien  hierzu  bestimmt  bereit.  Es  liege  in  der  Natur  der 
Dinge,  daß  dies  mit  der  Zeit  dann  die  bisherigen  Beziehungen 
zu  Bayern  lockern  müßte:  eben  dies  zu  verhindern,  sei  aber 
sein  Trachten. 

Ich  wünsche  daher,  fuhr  er  fort,  daß  der  König  von 
Bayern  meine  Anschauungen  und  Absichten  hierin  vertraulich 


1)  Vgl,  Bismarck  an  Schweinitz  1870,  Juli  23:  E.  v.  Wertheimer, 
Graf  Julius  Andrassy  I,  523  Anm.  Dies  ist  die  bei  Hohenlohe  II,  20 
erwähnte  Depesche,  auf  die  Bismarck  Bray  verwies, 

2)  Bezieht  sich  wohl  auf  den  bei  M,  Busch,  Tagebuchblätter 
II,  115  und  bei  H.  Abeken,  Ein  schlichtes  Leben  in  bewegter  Zeit  *  393 
erwähnten  Brief  Wilhelms   I.  an  Ludwig  II,  vom  4.  August. 

3)  Vgl.  Graf  Otto  von  Bray-Steinburg,  Denkwürdigkeiten  148. 


104  Karl  Alexander  v.  Müller, 

erfahre.  Dieselben  sind  derart,  daß  ich  mich  der  Hoffnung  hin- 
gebe, Seine  Majestät  werde  den  heilsamen  Entschluß 
fassen,  eine  Initiative  in  dieser  Frage  mir  gegenüber  zu  er- 
greifen. Er  wiederholte,  was  er  schon  am  24.  August  dem 
Prinzen  Luitpold  versichert  hatte:  er  sei  bereit,  jeden  Vor- 
schlag bundesmäßiger  Annäherung,  der  keine  Aufhebung 
der  norddeutschen  Bundesverfassung  in  sich  schließe,  im 
Prinzip  anzunehmen.  Falls  schon  in  kürzester  Zeit  hierüber 
Eröffnungen  gemacht  würden,  so  verpflichte  er  sich  über- 
dies, die  Verhandlungen  mit  den  übrigen  süddeutschen 
Staaten  so  lang  auszusetzen,  bis  er  die  bayerischen  Vor- 
schläge besprochen  habe;  sie  würden  dann  der  Verfassung  des 
weiteren  Bundes  zur  wesentlichen  Grundlage  dienen. i) 
Tauffkirchen  führte  beispielsweise  einige  bayerische  Vorbe- 
halte an:  eigene  Festsetzung  des  gesamten  Budgets  (das 
Militär  eingeschlossen)  und  Matrikularbeiträge;  unbedingte 
Militärhoheit  im  Frieden;  eigenes  Post-,  Eisenbahn-  und 
Telegraphenwesen;  eigene  diplomatische  Vertretung  mit  Aus- 
schluß der  Konsulate:  —  Bismarck  erhob  nicht  den  geringsten 
Widerspruch.  Ja,  er  bot  darüber  hinaus  selbst  noch  ein 
weitgehendes  Zugeständnis  an,  das  Tauffkirchen  nach  den 
früheren  Zollvertragsverhandlungen  von  1867  doppelt  un- 
erwartet kam. 2)  Bei  einem  gemeinsamen  Parlament  könnte 
eine  „itio  in  partes"  (wie  er  sagte)  der  süddeutschen  oder  der 
bayerischen  Vertreter  vorbehalten  bleiben;  sprächen  sie  etwa 
mit  zwei  Drittel  oder  drei  Viertel  Majorität  ein  Veto  aus, 
so  sollte  das  betreffende  Gesetz  gar  nicht  oder  nur  für  den 
Norddeutschen  Bund  zur  Geltung  kommen.  Der  Titel 
„Kaiser  von  Deutschland"  oder  „deutscher  Kaiser"  für  den 
Bundesvorsitzenden  wäre  schließlich  ein  Wunsch,  aber  keine 
Bedingung.3) 

1)  Zum  folgenden  Rest  des  Absatzes  ist  der  hier  etwas  ausführ- 
lichere Bericht  Tauffkirchens  an  Bray,   Sept.  14  herangezogen. 

2)  Vgl.  oben  S.  97.  Zum  Folgenden  vgl.  die  Verhandlungen  über 
ein  Veto  auf  den  Münchener  Konferenzen:  Brandenburg,  Aktenstücke 
Nr.  47;  Eintritt  27. 

^)  Vgl.  hierzu  Brandenburg,  Eintritt  45  A.  1.  —  Bismarcks  Ge- 
spräch mit  dem  Kronprinzen,  Sept.  3:  Kaiser  Friedrichs  Tagebücher, 
her.  von  M.  v.  Poschinger  112;  auch  M.  Busch,  Tagebuchblätter  I, 
186  Anm.  (Sept.  11). 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  105 

Er  bat  nun  Tauffkirchen,  diese  Eröffnungen  so  rasch  als 
möglich  seinem  König  zu  überbringen  und  ihm  selbst  über 
ihre  Aufnahme  Nachricht  zu  geben.  Woran  mir  vor  allem 
liegt,  wiederholte  er,  ist,  daß  der  König  erfährt,  daß  seine 
freieste  Selbstbestimmung  geachtet  werden  soll,  und  daß  der 
Norddeutsche  Bund  nur  dann  eine  Initiative  ergreifen  wird, 
wenn  Ludwig  II.  selbst  sie  ausdrücklich  wünscht;  dann  bin 
ich  zu  Vorschlägen  in  der  vertraulichsten  Weise  bereit. 
Aber  ungleich  wünschenswerter  wäre  es,  wenn  der  König 
selbst  sich  dazu  entschlösse.  Nur  ist  jetzt,  schärfte  er  aber- 
mals ein,  ein  sehr  rascher  Entschluß  nötig.  Die  politischen 
Verhältnisse  zwingen  mich,  die  deutsche  Frage  in  der  aller- 
nächsten Zeit  in  die  Hand  zu  nehmen:  hoffentlich  mit  Bayern, 
wenn  dieses  aber  nicht  will,  ohne  Bayern. 

Tauffkirchen  versprach,  diese  Mission  nach  besten 
Kräften  auszuführen.  Er  war  nachmittags  zur  Tafel  beim 
König  und  erfuhr  hier,  daß  dieser  inzwischen  Bismarcks 
Vorschläge  wegen  der  provisorischen  Verwaltung  und  dessen 
Anerbieten  an  Tauffkirchen  gebilligt  habe.^)  Nachher  begab 
er  sich  noch  einmal  zum  Kanzler,  um  sich  zu  verabschieden, 
und  wurde  zu  einem  Spaziergang  eingeladen,  der  sich  wieder 
bis  in  die  Nacht  ausdehnte. 2) 

Man  kennt  aus  vielen  Schilderungen  die  Gespräche  Bis- 
marcks: wie  sie  in  blitzender  Lebendigkeit,  mit  unauf- 
hörlicher Schlagkraft  des  Geistes  und  des  Wortes  unter  den 
Eingebungen  des  Augenblicks  von  Gegenstand  zu  Gegenstand 
springen  und  dabei  doch  im  ganzen  ein  bestimmtes  Ziel 
mit  gewaltigem  Nachdruck  verfolgen.  Er  gab  unterwegs  dem, 
was  er  am  Vormittag  entwickelt,  noch  manche  wichtige  Er- 

^)  Tauffkirchen  sagt  nichts,  daß  der  König  mit  ihm  über  die 
deutsche  Frage  gesprochen  habe.  Dies  war  dieselbe  Tafel,  bei  der 
Wilhelm  I,  sich  gegenüber  dem  Herzog  von  Koburg  so  verstimmt 
über  Bayern  äußerte:  Lorenz  333.  Unmittelbar  vorher  muß,  nach 
dem  Obigen,  Bismarck  beim  König  Vortrag  gehabt  haben.  Man 
wird  also  annehmen  dürfen,  daß  eben  das,  was  er  Wilhelm  I.  über 
sein  Gespräch  mit  Tauffkirchen  mitteilte,  dessen  Verstimmung  noch 
verstärkt  hat.  —  Vgl.  zum  Ganzen  auch  E.  Marcks,  Kaiser  Wil- 
helm l*  336. 

*)  M.  Busch  berichtet  nichts  über  Tauffkirchens  Anwesenheit. 
Am  Abend  sei  großes  Diner  beim  Kanzler  gewesen:   I,  179. 


106  Karl  Alexander  v.  Müller, 

gänzung.  Er  hatte  dort  davon  gesprochen,  die  zu  annek- 
tierenden Länder  sogleich  in  die  deutsche  Zollgrenze  einzu- 
beziehen  und  hierzu  ohne  Verzug  das  Zollparlament  einzu- 
berufen. Nun  erinnerte  er  den  bayerischen  Unterhändler  an 
ein  Gespräch  vom  Juni  1867,  in  welchem  er  ihm  schon  damals 
die  Erweiterung  des  Zollparlaments  als  den  Weg  bezeichnet 
hatte,  um  eine  gesamte  parlamentarische  Vertretung  Deutsch- 
lands anzubahnen,  und  gab  damit  auch  seinem  jetzigen 
Plan  eine  für  Bayern  nachdenkliche  Folie:  stellte  er  nicht  in 
seiner  Hand  ein  Mittel  dar,  nötigenfalls  einen  Druck  auf  die 
der  Einheit  widerstrebenden  Elemente  auszuüben  ?i)  Und 
ganz  gesprächsweise,  im  Vorübergehen,  ließ  er  noch  zwei  der 
stärksten  Drohungen  an  Bayern  heraus.  Als  nämlich  der 
Gesandte  ihn  fragte,  was  er  denjenigen  erwidern  sollte, 
die  behaupteten,  Preußen  werde  durch  die  Ansage,  seiner- 
zeit den  Zollverein  zu  kündigen,  Bayern  eine  Schraube  an- 
setzen, da  entgegnete  er:  ,,Da  hat  es  ja  noch  lange  hin. 
Den  Vertrag,  wie  er  vorliegt,  halten  wir  redlich,  und  bis 
zum  Umfluß  desselben  kann  noch  manches  geschehen. 
Sollte  Bayern  am  Schluß  der  vertragsmäßigen  Frist  zu  dem 
übrigen  Deutschland  vereinzelt  stehen,  dann  allerdings 
glaube  ich,  daß  der  Vertrag  nicht  wird  erneuert  werden." 
Und  in  anderem  Zusammenhang,  von  selber  ausholend, 
eine  ganz  kurze  Bemerkung:  Wenn  eine  Einigung  mit  Bayern 
nicht  zustande  kommt,  wird  das  Interesse  der  Sicherheit 
über  kurz  oder  lang  erfordern,  die  bayerische  Rheinpfalz 
zum  Norddeutschen  Bund  zu  ziehen. 2) 

Auf  der  anderen  Seite  wiederholte  er  auch  sein  weites 
Entgegenkommen.  Er  bestätigte  am  Ende  des  Gesprächs 
ausdrücklich  Tauffkirchens  Zusammenfassung:  daß  er  zwar 
einen  Vertrag,  der  die  Grundlagen  des  Norddeutschen 
Bundes  ändern  würde,  nicht  annehmen  werde,  daß  aber  nicht 
ausgeschlossen  sei,  auf  dem  verfassungsmäßigen  Wege  im 


1)  Daß  dies  in  der  Tat  Bismarcks  Absicht  war,  sagt  ausdrücklich 
sein  Telegramm  an  Delbrück,  Sept.  5:  Delbrück  II,  410. 

2)  In  dem  Bericht  an  Bray,  Sept.  14  erwähnt  Tauffkirchen  von 
dieser  Drohung  nichts.  Auf  die  Entschlüsse  des  Ministeriums  hat 
sie  also  keinen  Einfluß  ausgeübt.  —  Vgl.  hierzu  auch  Brandenburg, 
Eintritt  47. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  107 

Norddeutschen  Bund  diejenigen  Änderungen  herbeizuführen, 
die  sich  für  den  angestrebten  weiteren  Bund  als  nötig  dar- 
stellten und  über  die  er  sich  vorher  mit  Bayern  vertraulich 
verständigt  habe.  Er  ermahnte  nochmals  dringend,  den  Auf- 
trag so  auszuführen,  daß  Ludwig  II.  ihn  als  durchaus  freund- 
schaftlich ansehe,  und  die  vorläufige  Antwort  des  Königs 
so  rasch  als  möglich  mitzuteilen.  Mehr  als  ein  paar  Wochen 
könne  er  unmöglich  mehr  zuwarten,  um  die  von  anderer 
Seite  teils  schon  erfolgten,  teils  angeregten  Anträge  zu 
beantworten.    Damit  wurde  der  Bayer  entlassen. 

Wir  dürfen  annehmen,  daß  Tauffkirchen  alsbald  die 
Reise  nach  München  angetreten  hat.  Wir  wissen,  daß  er  am 
11.  in  Bar  le  Duc  und  Nancy  war^),  am  12.  nachts  oder 
spätestens  am  13.  früh  muß  er  in  München  eingetroffen  sein. 
Noch  unterwegs  zeichnete  er  seine  Notizen  an  die  zwei  Ge- 
spräche mit  Bismarck  auf. 2)  Der  Haupteindruck,  den  er  mit- 
nahm, war  der,  daß  Bayern  nicht  anders  könne,  als  die 
Vorschläge  des  Kanzlers  annehmen  und  schleunigst  die  Ini- 
tiative ergreifen.  Er  stellte  die  Drohungen  zusammen,  die 
dieser  für  den  gegenteiligen  Fall  geäußert  hatte  —  Eintritt 
Hessens,  Badens,  Württembergs  in  den  Norddeutschen 
Bund,  Agitationen  in  Presse  und  Zollparlament,  Kündigung 
des  Zollvereins,  ja  die  Gefährdung  der  Pfalz  —  und  er  zwei- 
felte nicht,  daß  Bismarck  sie  anwenden  und  Bayern  damit 
schließlich  zu  bedingungslosem  Anschluß  zwingen  würde. 
Anderseits  hatte  er  den  Eindruck,  der  Kanzler  wünsche  drin- 
gend die  Einheit  Deutschlands  und  sei  hierfür  zu  den 
größten  Konzessionen  an  Bayern  geneigt.  Es  ist  sehr  bezeich- 
nend für  Bismarcks  Haltung,  daß  alle  Niederschriften  Tauff- 
kirchens  aus  den  folgenden  Tagen  von  den  Ideen  eines  weiteren 
Bundes  ausgehen,  wie  er  selbst  ähnliche  unter  Hohenlohe 
im  Frühjahr  1867  ausgearbeitet  hatte.    Unmittelbar  an  die 

^)  Eigenhändige  Bleistiftnotiz  über  die  Reisedaten;  datierte 
Aufzeichnung  aus  Nancy,  Sept.  1 1 :  T.  P.  Auch  die  Rückreise  von  JVlün- 
chen  ins  Hauptquartier  dauerte  4  Tage:  vom  19.  bis  23.  Sept.  Vgl. 
M.  Busch,  Tagebuchblätter  1,234  Anm.2.  —  Tauffkirchen  wurde  auf  der 
Reise  von  seinem  Sekretär  begleitet.  Ob  er  ein  Telegramm  nach 
München  voraussandte,  wissen  wir  nicht.  Seine  Papiere  enthalten  nichts 
weiter. 

2)  In  Nancy  am  11.  September  s.  oben  S.  100  Anm.  3. 


108  Karl  Alexander  v.  Müller, 

damaligen  Bestrebungen  glaubte  Tauffkirchen  die  Einigung 
noch  jetzt  anknüpfen  zu  können. 

Als  er  jedoch  in  die  bayerische  Hauptstadt  kam,  fand  er 
dort  das  Ministerium  aus  der  Zurückhaltung,  in  der  er  es  vor 
14  Tagen  verlassen  hatte,  schon  bedeutsam  herausgetreten. 
Es  ist  ein  Hauptgegenstand  der  jüngsten  Forschungen  ge- 
wesen, das  ausschlaggebende  Moment  aufzufinden,  welches 
diesen  Umschwung  bewirkt  hat.  Neben  der  unaufhaltsam 
wachsenden  nationalen  Begeisterung  im  Lande,  die  seit  Sedan 
in  einem  großen  Adressensturm  von  Stadt  zu  Stadt  anschwoll 
und  auf  die  auch  die  patriotische  Partei  bereits  begonnen 
hatte,  Rücksicht  zu  nehmen^),  hat  man  auf  eine  späte 
Nachwirkung  von  Berchems  Bericht  vom  24.  August'^),  auf 
die  badische  Denkschrift  vom  31.  August^),  auf  den  Ein- 
druck der  württembergischen  Ministerkonferenzen  vom  7.  bis 
10.  September*)  hingewiesen.  Wer  möchte  das  Gewicht  ein- 
zelner, derart  zusammentreffender  Motive  auf  Grund  eines 
lückenhaften  Materials  scharf  gegeneinander  abwägen.  Hierzu 
wäre  vor  allem  eine  genaue  psychologische  Kenntnis  der  ent- 
scheidenden Personen  nötig.  Zu  den  genannten  Antrieben 
aber  kam  nun  noch  ein  weiterer,  bisher  unbekannter  hinzu, 
und  wir  meinen,  daß  er  vielleicht  am  geeignetsten  war,  einen 
raschen  Entschluß  auszulösen.  Unterm  6.  September  meldete 

1)  Vgl.  das  in  der  Allgem.  Zeitung  Nr.  252  vom  9.  Sept.  wieder- 
gegebene Programm  aus  der  Augsb.  Postzeitung. 

2)  W.  Busch,  Hist.  Ztschr.  CIX,  171.  Gegen  Brandenburgs 
Einwand,  daß  nicht  das  geringste  Anzeichen  für  irgendeine  Wirkung 
dieses  Berichts  in  München  vorliege  (Hist.  Vierteljahrsschrift  XV, 
514 ff.),  spricht  doch  die  Notiz  Hohenlohes   II,  24  (Aug.  29). 

3)  Küntzel  58. 

4)  Brandenburg,  Hist.  Vierteljahrsschrift  XV,  516  ff.  Daß 
diese  in  der  Tat  ein  schwerwiegendes  Moment  waren,  wenn  man  in 
München  von  ihnen  wußte,  scheint  mir  gewiß.  Es  handelt  sich  aber, 
wie  Brandenburg  selbst  S.  518  sagt,  noch  um  einen  positiven  Nachweis, 
daß  dies  letztere  wirklich  der  Fall  war.  —  Die  sächsische  Anregung, 
welche  W.  Busch,  Kämpfe  146  ff.  ursprünglich  in  erster  Linie  heran- 
gezogen hatte,  scheidet  nach  unserer  augenblicklichen  Kenntnis  als 
Ansporn  zu  dem  ersten  Entschluß  zu  Verhandlungen  aus,  weil  sie  nach 
Friesen  III,  136  erst  am  12.  Sept.  Bray  mitgeteilt  wurde:  Brandenburg, 
Hist.  Vierteljahrsschrift  XV,  518  f.  Man  könnte  nur  noch  an  einen 
vorhergehenden  Brief  des  Königs  von  Sachsen  an  Ludwig  II.  denken; 
vgl.  Stolze  108. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  109 

der  bayerische  Gesandte  in  Berlin,  daß  der  Staatsminister 
Delbrück  am  selben  Tag  zur  Vorbereitung  des  Friedenspro- 
gramms ins  Hauptquartier  abgereist  sei  und  daß  vielleicht 
bald  auch  bayerische  Bevollmächtigte  dort  gewünscht 
würden.  Und  unterm  8.  folgte  Telegramm  und  Bericht:  ein 
Antrag  zu  einer  deutschen  Bundesverfassung  stehe  bevor, 
und  die  sächsischen  Vorschläge  seien  wohl  von  Preußen  instru- 
iert.i)  Am  9.  fand  bereits  ein  bayerischer  Ministerrat  statt. 2) 
Am  10.  meldete  der  preußische  Gesandte  aus  München  ins 
Hauptquartier,  der  König  von  Bayern  habe  seine  Minister 
beauftragt,  ein  Programm  für  den  Anschluß  Bayerns  an  den 
Norddeutschen  Bund  auszuarbeiten. 3)  Am  11.  September 
folgte  ein  Erlaß  Brays  an  Berchem  nach  Reims:  die  bayerische 
Regierung  erkenne  die  notwendige  Einwirkung  der  Kriegs- 
ereignisse auf  den  inneren  Ausbau  Deutschlands  vollkommen 
an,  und  sei  bereit,  ihr  auch  bezüglich  Bayerns  innerhalb  der 
Grenzen  der  eigenen  Selbständigkeit  Rechnung  zu  tragen; 
weitere  konkrete  Vorschläge  wurden  noch  nicht  gemacht; 
Berchem  solle  einmal  bei  Bismarck  die  Absichten  der 
preußischen  Regierung  über  diesen  Gegenstand  möglichst 
zu  erkunden  suchen.^)    Am  gleichen  Tage  wurde  auch  eine 


^)  Mitteil.  d.  Grafen  Bray.  Wolier  der  bayer.  Gesandte  seine 
Nachrichten  hatte,  steht  noch  dahin. 

2)  Zuerst  nachgewiesen  von  Ruville  203. 

^)  Weicker  40  f.,  auf  Grund  einer  Mitteilung  des  Auswärtigen 
Amtes.  Im  Hauptquartier  wurde  das  Telegramm  am  11.  präsentiert. 
—  Sein  Wortlaut  legt  die  Annahme  nahe,  daß  der  entscheidende  An- 
stoß vom  König  ausging. 

*)  Mitteil.  d.  Grafen  Bray.  —  Dies  dürfte  gegen  Brandenburgs 
Vermutung  (Eintritt  16  f.)  sprechen,  daß  schon  am  10.  eine  bayer. 
Note  ins  Hauptquartier  abgegangen  sei.  —  Es  entsteht  nun  die  Frage, 
ob  dieser  „Erlaß"  am  12.  schon  im  Hauptquartier  eingetroffen  sein 
konnte,  d.  h.  ob  er  ein  Telegramm  war?  In  diesem  Fall  liegt  es  nahe, 
das  bekannte  Gespräch  Prinz  Luitpolds  mit  Bismarck  am  12.  Sept. 
(M.  Busch,  Tagebuchblätter  I,  190  f.)  damit  in  Verbindung  zu  bringen. 
Der  erste  Satz  der  Inhaltsangabe,  die  Delbrück  II,  413  von  der  am  12. 
eingetroffenen  ,, Mitteilung  aus  München"  gibt,  könnte,  wie  mir  scheint, 
mit  der  obigen,  von  Graf  H.  Bray  gegebenen  Inhaltsangabe  in  Einklang 
gebracht  werden.  Der  zweite  Satz  bezieht  sich  offenbar  auf  die  unten 
noch  zu  erwähnende  telegraphische  Bitte  vom  12.  Sept.  Ob  die  Angabe 
in  Brays  Antrag  vom  12.  (Bray  138),  es  sei  bereits  Anstalt  getroffen, 
daß  die  preuß.  Regierung  über  ihre  Absichten  bezüglich  des  Norddeut- 


110  Karl  Alexander  v.  Müller, 

offiziöse  Nachricht  an  die  Allgemeine  Zeitung  hinausgegeben^ 
die  durch  die  Bestätigung  ernster  ministerieller  Konferenzen 
über  die  deutsche  Verfassungsfrage  die  erregte  öffentliche 
Meinung  beruhigen  und  zugleich  den  auftauchenden  Ge- 
rüchten, daß  Bayern  dem  Norddeutschen  Bund  beitreten 
wolle,  im  Sinn  der  bayerischen  Selbständigkeit  entgegnen 
sollte.  1)  In  dieselben  Tage  fallen  jedenfalls  lebhafte  Er- 
wägungen des  Ministeriums  über  das  zugrundezulegende 
Programm,  und  man  zog  dazu  auch  die  Entwürfe  Außen- 
stehender heran.  Wir  wissen,  daß  der  ,,Präliminarvertrag" 
des  liberalen  Kammerführers  Marquard  Barth,  noch  ehe  er 
mit  den  norddeutschen  Freunden  umgearbeitet  war,  also 
wohl  vor  dem  10.  September,  Bray  auf  seinen  ausdrücklichen 
Wunsch  übergeben  wurde.^)  Und  das  gleiche  war  mit  den 
,, Vorschlägen  zu  einer  deutschen  Bundesverfassung"  der  Fall, 
die  der  Ministerialrat  Freiherr  von  Völderndorff,  Hohenlohes 
Freund  und  frühere  rechte  Hand,  am  12.  September  unter 
seinen  Bekannten  verbreitete. 3)  Am  selben  12.  erklärte  sich 
Graf  Bray  gegenüber  dem  sächsischen  Gesandten,  der  ihm 
den  Erlaß  seiner  Regierung  vom  10.  mitteilte,  mit  allen  darin 


sehen  Bundes  Aufschluß  erteile,  mit  diesem  Auftrag  an  Berchem  schon 
hinreichend  begründet  wird,  oder  ob  sie  noch  eine  weitere  Anfrage 
voraussetzt,  wage  ich  auf  Grund  des  oben  mitgeteilten  Materials  noch 
nicht  zu  entscheiden  (vgl.  Brandenburg,  Aktenstücke  Nr.  30  Anm.  1). 

1)  Allgem.  Zeitung  Nr.  256  vom  13.  Sept.  (München,  11.  Sept.); 
vgl.  W.  Busch,  Hist.  Ztschr.  CIX,  168,  169  Anm. 

2)  Lasker  an  Bamberger,  Nov.  25:  Brandenburg,  Aktenstücke 
Nr.  186;  vgl.  Hohenlohe  II,  23,  25.  In  den  Besprechungen  mit  Lasker 
und  Bennigsen  gingen  aus  diesem  „Präliminarvertrag"  die  sog.  „10 
Punkte"  Laskers  hervor:  Brandenburg,  Aktenstücke  Nr.  31. 

^)  Lithogr.  Vervielfältigung  in  Völderndorffs  Handschrift,  datiert 
Sept.  12.  T.  P.  Im  wesentlichen  übereinstimmend  mit  dem  in  der 
Allgem.  Zeitung  Nr.  260  vom  17.  Sept.  gedruckten  Entwurf  (Bran- 
denburg, Aktenstücke  Nr.  38);  nur  die  Artikeleinteilung  ist  anders 
(XX  Art.  in  24  §§)  und  an  Stelle  des  Art.  VII  (des  Druckes)  stehen  fol- 
gende zwei  im  Druck  weggefallene  §§:  „§  6.  Gegen  den  Beschluß  von 
drey  Viertheilen  der  Stimmen  des  Bundesrathes,  also  gegen  44  Stimmen 
kann  ein  Bundeskrieg  nicht  erklärt  werden.  §  7.  Es  werden  unter  den 
zu  ernennenden  Bundesgesandtschaften  durch  das  Bundespräsidium 
drey  Posten  bezeichnet  werden,  für  welche  die  Vertreter  auf  den  Vor- 
schlag S.  M.  d.  Königs  von  Bayern  ernannt  werden  sollen."  —  Der 
Entwurf   wurde   Bray   mitgeteilt:    Völderndorff,    Vom    Reichskanzler 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  111 

niedergelegten  Gedanken  im  Prinzip  einverstanden:  es  werde 
seiir  schwer  sein,  der  nationalen  Bewegung  keine  Reclinung 
zu  tragen,  und  der  gegenwärtige  Zeitpunkt  sei  der  geeignetste, 
um  an  die  Reorganisation  Deutschlands  zu  gehen.  Es  komme 
daher  zunächst  darauf  an,  zu  wissen,  was  Preußen  eigentlich 
wolle.  „In  den  unveränderten  Nordbund  treten  wir  keines- 
falls ein."  Anders  würde  es  sich  verhalten,  wenn  man  letz- 
teren in  passender  Weise  reformieren,  oder  wenn  der  Nord- 
bund, unter  Beibehaltung  seiner  derzeitigen  Konstitution, 
in  einen  weiteren  Staatenbund  mit  Süddeutschland  treten 
wolle.i)  Auf  dieser  Alternative  ruht  auch  der  unterm  selben 
Datum  gehende  Antrag  Brays  an  den  König,  der  die  Grund- 
lage des  bayerischen  Programms  für  die  kommenden  Ver- 
handlungen festlegte.2)  Und  am  gleichen  12.  lief,  wie  Friesen 
berichtet,  in  Berlin  bereits  die  telegraphische  Münchener 
Bitte  ein,  daß  der  Minister  Delbrück  seine  Rückreise  aus 
Frankreich  über  München  nehmen  möge.^) 

In  diesem  Zeitpunkt  traf  Tauffkirchen  mit  seinem  Auf- 
trag in  der  bayerischen  Hauptstadt  ein.  Soweit  seine  Papiere 
Aufschluß  geben,  scheint  er  sich  sofort  unmittelbar  an  den 
König  gewendet  zu  haben.  Der  eigenhändige  Entwurf  eines 
Nachtrags  zu  den  Aufzeichnungen  vom  11.*)  deutet  darauf  hin, 
daß  er  diese  oder  eine  Abschrift  davon  dem  königlichen 
Kabinett  vorlegte.  Er  beantragte  dazu:  der  König  möge  ihn 
empfangen  und  seinen  Bericht  entgegennehmen;  er  möge 
ihn  sodann  ermächtigen,  durch  die  Chiffre  der  preußischen 
Gesandtschaft  dem  Grafen  Bismarck  telegraphisch  mitzu- 
teilen, daß  seine  Eröffnungen  günstig  aufgenommen  worden 
seien  und  Vorschläge  ehestens  erfolgen  würden.    Diese  Ant- 

Fürsten  v.  Hohenlohe  52  f. ;  vgl.  Küntzel  65  Anm.  3.  —  Vgl.  auch  den 
Leitartikel  „Bayern  und  der  deutsche  Staat"  in  der  Allgem.  Zeitung 
Nr.  272  vom  29.  Sept.  —  Ein  offizieller  Entwurf  der  Regierung  ist 
uns  bis  jetzt  nicht  bekannt  geworden;  vgl.  Oncken,  Bennigsen  II,  182. 

1)  Friesen  III,  135. 

2)  Bray  136  ff.  Die  Angabe  S.  136  läßt  es  unklar,  ob  der  Antrag 
am  12.  von  Bray  entworfen  oder  bereits  von  den  übrigen  Ministern 
nachträglich  angenommen  oder  schon  dem  König  unterbreitet  wurde. 

3)  Friesen  111,  136  (nach  einer  Mitteilung  Thiles  an  den  sächsischen 
Gesandten). 

*)  Undatiert;  1  Briefbogen.    T.  P. 


112  Karl  Alexander  v.  Müller, 

wort  binde  den  Kanzler,  nach  keiner  Seite  zu  unterhan- 
deln, bis  solche  bayerische  Vorschläge,  mit  denen,  wie  er  höre, 
der  Ministerrat  ja  bereits  befaßt  sei,  einträfen.  Er  regte  an, 
ob  der  König  sich  nicht  zu  seiner  eigenen  Information  durch 
Männer,  , »welche  sein  und  des  Landes  Vertrauen  genießen", 
gleichfalls  noch  einen  Vorschlag  ausarbeiten  lassen  wolle, 
und  schlug  hierfür  den  Grafen  Hegnenberg-Dux^)  vor,  dem 
er  in  diesem  Fall  sein  Material  mitteilen  zu  dürfen  bitte. 
Noch  am  13.  September  wurde  Tauffkirchen  vom 
König  in  Berg  empfangen^)  und  sandte  ein  Telegramm  an 
Bismarck.3)  Wir  wissen  aber  weder  vom  Inhalt  des  Ge- 
spräches noch  dem  der  Depesche;  welche  Anträge  er  stellte, 
welchen  Eindruck  er  beim  König  hervorrief,  liegt  noch  im 
Dunkeln.  Erst  am  Tag  darauf  erstattete  er  in  zwei  gekürzten 
Berichten*)  dem  Minister  Meldung  über  seine  Besprechungen 
mit  Bismarck,  ohne  jedoch  ein  Wort  über  seine  Audienz  bei 
Ludwig  II.  beizufügen.  Er  betonte  darin  den  Vorteil,  der  bei 
solchen  Verhandlungen  dem  Verfasser  des  zugrundegelegten 
Planes  zufalle,  und  befürwortete  eine  sofortige  vertrauliche 
Initiative  Bayerns  noch  vor  dem  Beginn  formeller  Ver- 
handlungen durch  Bevollmächtigte.  Auf  Wunsch  des  Mi- 
nisters stellte  er  dann  am  15.  für  diesen  kurz  seine  Ansichten 
über  Form  und  Gegenstand  der  von  Bayern  zu  machenden 
Vorschläge  zusammen.^)  Die  Art  des  Vorgehens,  meinte  er, 
habe  Bismarck  selbst  ziemlich  deutlich  angezeigt.  Sobald  die 
bayerische  Regierung  über  die  Grundzüge  des  anzustrebenden 
Vertrags  mit  sich  im  Reinen  sei,  werde  es  nötig  sein,  sie  mit 

1)  Vgl.  Allgem.  Deutsche  Biographie  XI,  285  ff.;  R.  v.  Mohl, 
Lebenserinnerungen  II,  327;  vgl.  auch  L.  v.  Kobell  4.  —  Wir  haben, 
soviel  ich  sehe,  noch  kein  Zeugnis,  ob  diese  Anregung  genehmigt  und 
ob  ein  Gutachten  Hegnenbergs  eingeliefert  wurde. 

2)  Ludwig  II.  war  (nach  den  Hof  berichten  der  Allgem.  Zeitung) 
am  13.  von  Hohenschwangau  nach  Berg  zurückgekehrt.  Erst  am 
27.  abends  kam  er  nach  München,  am  29.  begab  er  sich  wieder 
nach  Berg. 

3)  Siehe  unten  S.  117  Anm.  3. 

*)  Sept.  14,  Abschrift  von  der  Hand  des  Sekretärs.  T.  P.  Der 
eine  Bericht  betrifft  seine  eigene  Verwendung  in  der  provisor.  Ver- 
waltung in  Frankreich  und  Bismarcks  Annexionsabsichten,  der  andere 
die  deutsche  Frage. 

^)  Entwurf   von  der  Hand  des  Sekretärs,  datiert.    T.  P. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  HS 

dem  Kanzler  vertraulich,  wie  dieser  es  begonnen,  zu  besprechen. 
Dabei  werde  man  wahrscheinlich  zur  Aufstellung  von  Punk- 
tationen gelangen,  die  dann  eine  feste  Grundlage  für  den 
detaillierten  Vertragsentwurf  und  zugleich  eine  Garantie 
gegen  ungünstigere  Strömungen  im  preußischen  Haupt- 
quartier bilden  würden.  Er  führte  an,  was  der  Kanzler  ihm 
in  dieser  Richtung  angedeutet  hatte.  Die  Eifersucht  Württem- 
bergs und  Badens  sei  zu  bekannt  und  erprobt,  als  daß  sie 
sich  in  diesem  Fall  nicht  sogar  bis  zu  Entschlüssen  steigern 
könnte,  die  für  die  eigene  Unabhängigkeit  dieser  Länder 
bedenklich  würden;  die  Reisen  der  Minister  Suckow  und 
Linden  sollten  sicher  Bayern  ,,den  Rang  ablaufen".  Er 
wiederholte,  wie  dringend  notwendig  es  für  Bayern  sei, 
die  von  Bismarck  angebotene  Verhandlungsbasis  nicht  nur 
anzunehmen,  sondern  ohne  allen  Verzug  vertragsmäßig 
festzulegen. 

Dieses  Angebot  selbst  aber  präzisierte  er  dahin,  daß 
es  sich  um  die  Bildung  eines  Deutschen  Bundes  oder  Reiches 
handle,  dessen  eines  und  mächtigstes  Glied  der  Nord- 
deutsche Bund  in  seiner  gegenwärtigen  Gestalt  sei;  dessen 
zweitmächtigstes  Glied,  Bayern,  die  seiner  Rolle  in  der 
Geschichte  und  namentlich  im  gegenwärtigen  Krieg  ent- 
sprechenden Ausnahmsbestimmungen  für  sich  in  Anspruch 
nehmen  könne;  und  dessen  weitere  Glieder  die  übrigen  der- 
malen nicht  zum  Nordbund  gehörigen  Länder  zu  bilden 
hätten. 1)  Die  Verfassung  dieses  neuen  Bundes,  dann  wohl  der 
bedeutendsten  europäischen  Großmacht,  könnte  föderalistisch 
sein,  mit  grundsätzlicher  Gleichberechtigung  aller  Glieder. 
Ihre  staatsrechtliche  Grundlage  wären  die  Prinzipien,  auf 


^)  Es  ist,  wie  man  sieht,  hierin  im  wesentlichen  der  alte  Hohen- 
lohesche  weitere  Bundesplan,  nur  mit  stärkerem  Akzent  auf  der  Vor- 
zugsstellung Bayerns.  Bei  dem  weiteren  Bundesplan  dagegen,  den 
Bray  später  in  Versailles  vertrat  und  auf  den  die  isolierte  bayerische 
Politik  vom  September  an  abzuzielen  scheint,  blieb  nur  Bayern  allein 
als  gleichberechtigtes  Glied  neben  dem  ganzen  übrigen  Deutschland 
bestehen  (vgl.  Brandenburg,  Aktenstücke  Nr.  132.  Hier  liegt  wohl 
auch  der  Anknüpfungspunkt  für  den  „alternierenden  Kaiser").  Das 
erste  war  sozusagen  ein  süddeutscher,  das  zweite  ein  bayerischer  weiterer 
Bundesplan.  Doch  hat  auch  Bray  selbst,  in  Versailles  Friesen  gegen- 
über, den  zweiten  Plan  als  „nicht  glücklich"  bezeichnet:  Friesen  III,  180. 
Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  8 


114  Karl  Alexander  v.  Müller, 

denen  die  Bundesverfassung  von  1815  aufgebaut  werden 
sollte,  aber  in  Wirklichkeit  nicht  aufgebaut  worden  sei^); 
bei  den  Bestimmungen  im  einzelnen  dagegen  könnte  von  der 
norddeutschen  Bundesverfassung  ausgegangen  werden.  Die 
oberste  Leitung  falle  notwendig  dem  König  von  Preußen, 
zugleich  Präsidenten  des  Norddeutschen  Bundes,  zu.  Er 
betonte  auch  hier,  daß  seiner  Meinung  nach  der  Titel 
„Deutscher  Kaiser"  ein  lange  gehegter  Wunsch  Wilhelms  I. 
sei,  und  daß  für  einen  einstimmigen,  freiwilligen  Beschluß 
der  sämtlichen  deutschen  Fürsten,  diesen  Titel  anzutra- 
gen, wesentliche  materielle  Konzessionen  zu  erreichen  sein 
würden. 

In  Tauffkirchens  Nachlaß  sind  noch  verschiedene 
flüchtige  Blätter  aus  diesen  Tagen  erhalten^),  in  denen 
solche  Pläne  nach  der  einen  oder  andern  Seite  näher 
ausgeführt  werden.  Überlegungen,  wie  das  neue  Reich 
dauernd  lebensfähig  gemacht,  d.  h.  vor  der  Agglomeration 
in  den  Nordbund  gesichert  werden  könnte,  indem  diesem 
wesentliche  Teile  der  Kompetenz  genommen  und  auf  das 
Reich  übertragen  würden;  dann  Versuche,  auszuscheiden, 
was  nun  im  einzelnen  nur  für  den  Norddeutschen  Bund,  was 
für  das  Reich  zu  gelten  habe;  Bemühungen,  die  ungeheure 
Kompliziertheit  des  parlamentarischen  Apparates  zu  über- 
sehen, in  welchem  preußische  Provinziallandtage,  Einzel- 
landtage, norddeutscher  Reichstag  und  deutsches  Volkshaus 
nebeneinanderstanden^);  Zusammenstellung  der  besonderen 
Vorrechte  Bayerns;  der  Entwurf  eines  Anschlußvertrags  in 
der  Form  des  Zollvertrages. 


1)  Nämlich  der  Eingang,  die  Art.  2, 3, 11  Abs.  1  u.  2  der  Deutschen 
Bundesakte,  die  Art.  1,  2,  3  u.  5  der  Wiener  Schlußakte, 

2)  Drei  eigenhändige  Aufzeichnungen,  undatiert;  zwei  auf  Brief- 
bogen, einer  auf  Kanzleibogen.  T.  P.  Ihre  etwaige  unmittelbare  Be- 
stimmung ist  nicht  ersichtlich. 

3)  Vgl.  oben  S.  96.  Auch  im  Gespräch  mit  Bismarck  am  8.  Sep- 
tember hatte  Tauffkirchen  ausdrücklich  als  Vorteil  seines  föderativen 
Plans  aufgeführt,  daß  dann  die  Notwendigkeit  des  norddeutschen  Par- 
laments wegfiele;  es  bliebe  dann  nur  mehr  das  preußische  und  das 
deutsche.  Genau  derselbe  Gedanke  schon  in  dem  oben  erwähnten, 
Brief  an  H.  v.  Gagern  1867,  April  20.  —  Vgl.  Fr.  Meinecke,  Welt-^ 
bürgertum  und  Nationalstaat  ^  468  ff.,  bes.  471  ff. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  115 

Wie  weit  diese  Gedanken  —  letzte  überlebte  und  unmög- 
liche Ausläufer  alter  liberaler,  föderativer,  partikularistischer 
Ideen  —  in  ihrem  ganzen  Zusammenhang  oder  in  einzelnen 
Bestandteilen,  in  den  amtlichen  und  außeramtlichen  Be- 
sprechungen und  Entwürfen  dieser  Tage  Einfluß  gewannen, 
wage  ich  mit  dem  gegenwärtigen  Material  noch  nicht  zu  ent- 
scheiden.i)  Zu  Vieles,  noch  kaum  Faßbares,  greift  in  diesen 
Tagen  ineinander,  in  denen  zugleich  die  Minister  und  die 
Abgeordneten,  bayerische  und  norddeutsche,  das  Kabinett 
und  halbamtliche  Unterhändler  und  die  deutschen  Gesandten 
sich  miteinander  bereden. 2)  Man  könnte  vielleicht  eine  Wir- 
kung der  Nachrichten  Tauffkirchens  in  dem  allmählichen  Zu- 
rücktreten des  Projekts,  den  Norddeutschen  Bund  aufzulösen^), 
und  dem  entschiedenen  Überwiegen  der  weiteren  Bundespläne 
im  Ministerium  sehen.  Eine  handschriftliche  Notiz  in  Bennig- 
sens  Papieren  weist  darauf  hin,  daß  er  bei  gemeinsamen 
Beratungen  über  das  Völderndorffsche  Programm  zugegen 
war.^)  Im  wesentlichen  vertrat  freilich  gerade  dies  einen  vom 
Tauffkirchenschen  bereits  durchaus  abweichenden  Stand- 
punkt.  Der  Leitartikel,  der  seinen  Druck  in  der  Allgemeinen 


^)  Es  wäre  der  Gegenstand  einer  eigenen  Untersuchung,  einmal 
die  verschiedenen  bayerischen  Verfassungsentwürfe  jener  Monate 
nach  ihren  Hauptideen,  ihren  theoretischen  und  praktischen  Gesichts- 
punkten näher  zu  vergleichen. 

2)  Am  15.  hatte  Tauffkirchen  auch  noch  eine  mündliche  Unter- 
redung mit  Bray  (Allgem.  Zeitung  Nr.  261  vom  18.  Sept.);  dieser  be- 
sprach sich  am  selben  Tage  auch  mit  Bennigsen  und  Eisenhart:  Oncken, 
Bennigsen  II,  182.  —  Über  den  gegenseitigen  Austausch  der  verschie- 
denen Programme  vgl.  G.  JMeyer  57  ff.,  Oncken,  Bennigsen   II,  183. 

^)  Wie  er  z.  B.  noch  besonders  lebhaft  in  dem  erwähnten  offi- 
ziösen Artikel  vom  11.  sich  ausspricht;  auch  im  Antrag  Brays  vom  12. 
herrscht  er  stark  vor.  Gegen  ihn  wendet  sich  scharf  Völderndorffs 
Leitartikel  in  der  Allgem.  Zeitung  Nr.  260,  mit  einer  Stelle,  die  unmittel- 
bar an  Tauffkirchens  Bericht  anklingt.  —  Auch  in  den  späteren  Terri- 
torialwünschen des  Königs  und  Brays  und  bei  dem  Gedanken,  gegen 
das  Kaiseranerbieten  größere  Konzessionen  zu  erhandeln,  könnten 
Tauffkirchens  Berichte  nachwirken.  —  Verschiedenheit  der  weiteren 
Bundespläne  Brays  von  denen  Tauffkirchens:  s.  oben  S.  113  Anm.  1. 

*)  Oncken,  Bennigsen  II,  182  Anm.  Das  hier  genannte  Akten- 
stück ist,  wie  sich  aus  der  Paragraphenzahl  und  dem  Zitat  S.  183  Anm.  1 
mit  Sicherheit  ergibt,  das  oben  S.  110  Anm,  3  angeführte  Lithogramm 
des  Völderndorffschen  Entwurfs. 

8* 


116  Karl  Alexander  v.  Müller, 

Zeitung  einführte,  enthielt  eine  scharfe  Kritik  des  weiteren 
Bundesplans:  bei  dem  Baden  und  Hessen  sicher  nicht  mittun 
würden;  dessen  konstitutionelle  Maschinerie  unübersehbar 
und  für  Preußen  ganz  unmöglich  wäre;  ja  dem  selbst  die 
innere  Berechtigung  jetzt  einigermaßen  fehle:  denn  warum 
sollten  Baden  und  Württemberg  mehr  Rechte  haben  als 
Sachsen?  Es  waren  ähnliche  Einwände,  wie  Hohenlohe  sie 
am  Ende  des  Monats  aussprach:  die  Idee  des  weiteren  Bundes, 
den  er  selbst  einst  auszuführen  gesucht  habe,  sei  jetzt  voll- 
kommen unpraktisch  und  werde  von  Bismarck  nur  einst- 
weilen geduldet,  um  Bayern  damit  vollständig  zu  isolieren. 
Während  Hohenlohes  erster  Mitarbeiter  und  Referent  von 
den  alten,  damals  verfolgten  Plänen  noch  nicht  lassen  wollte, 
waren  sein  Nachfolger  wie  der  Fürst  selbst  bereits  überzeugt, 
daß  für  Bayern  jetzt  nur  mehr  ein  privilegierter  Beitritt  zum 
Norddeutschen  Bunde  möglich  sei.i) 

Und  so  kamen  auch  Tauffkirchens  Vorschläge  für  die 
Form  der  Verhandlungen  mit  Preußen  zu  spät.  Auch  hier 
können  wir  erst  einige  allgemeine  Züge  erkennen.  Es  scheint, 
daß  der  König,  vielleicht  unter  dem  Eindruck  von  Tauff- 
kirchens Bericht,  am  13.  ein  Handschreiben  an  Bray  erließ, 
das  zu  energischerem  Vorgehen  aufforderte,  und  daß  der 
Minister  daraufhin  ,,die  Geneigtheit  Bayerns  zur  Absendung 
eines  Bevollmächtigten  in  das  preußische  Hauptquartier 
telegraphisch  dorthin  kundgab. "2)  Am  14.  kam  wieder  ein 
Telegramm  von  Perglas  aus  Berlin,  offenbar  eine  Antwort  auf 
die  Bitte  vom  12.:  daß  Delbrück  vom  Hauptquartier  als- 
bald nach  Berlin  zurückkehre  und  von  hier  ohne  Verzug 
nach  München  reisen  werde.   Der  bayerische  Minister  nahm 


^)  Auf  dieser  Basis  hat  auch  Lutz  in  Versailles  von  Anfang  an 
unterhandelt;  vgl.  Brandenburg,  Eintritt  39. 

2)  Eisenhart  an  Tauffkirchen,  Sept.  17  (Or.  T.  R):  „Auf  das 
Ihnen  bekannte  Handschreiben  hat  Graf  Bray  lediglich  die  ,  Geneigtheit 
Bayerns  zur  Absendung  eines  Bevollmächtigten  in  das  preußische  Haupt- 
quartier telegraphisch  dorthin  kundgegeben'."  Die  Stelle  ist  aber  nicht 
eindeutig.  Das  Handschreiben  könnte  auch  vor  dem  13.  liegen  (vgl. 
Wertherns  Telegramm  vom  10.!).  —  Übereinstimmend  eine  Mitteil, 
d.  Grafen  Bray,  wonach  dies  Telegramm  ins  Hauptquartier  wohl 
am  13.  oder  14.  früh,  wahrscheinlich  durch  Vermittlung  des  preuß. 
Gesandten  abgegangen  sei. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  117 

diese  Ankündigung  sofort  (noch  am  14.)  telegraphisch  an: 
es  sei  zwar  bereits  vorher  beschlossen  gewesen,  bayerische 
Bevollmächtigte  ins  Hauptquartier  zu  senden,  jetzt  aber 
werde  man  die  Ankunft  Delbrücks  abwarten,  der  sehr  will- 
kommen sei.^)  Damit  war  das  nächste  Zentrum  der  Verhand- 
lungen nach  München  verlegt,  und  es  mochte  dem  Minister 
nur  angenehm  sein,  dazu  keiner  vertraulichen  Mittelsmänner 
mehr  zu  bedürfen,  deren  er,  wie  die  Dinge  lagen,  doch  nie 
völlig  sicher  sein  konnte. 

Tauffkirchen  selbst  hat  in  diesen  Tagen  weder  den 
König  noch  den  Kabinettsekretär,  der  einige  Tage  in  Mün- 
chen weilte,  mehr  gesehen.  Am  17.  schrieb  dieser  ihm  aus 
Schloß  Berg,  er  habe  seine  Angelegenheit  ,, sowohl  bei  Seiner 
Majestät  als  an  andern  competenten  Orten  angeregt,  aber 
geradezu  erfolglos,  weil  man  entschieden  das  Ein- 
treffen Delbrücks  abwarten  will,  wodurch  die  Sache  aller- 
dings schlimme  Zögerung  erleidet". 2)  Noch  ehe  diese 
Absage  in  Tauffkirchens  Hände  kam,  war  am  Morgen  bereits 
ein  Telegramm  Bismarcks  eingelaufen,  daß  seine  baldige 
Rückkehr  sowohl  wegen  der  Organisation  der  provisorischen 
Verwaltung  als  wegen  politischer  Besprechungen  dringendes 
Bedürfnis  sei.^)    Tauffkirchen  bat  sofort  bei  Bray,  ihm  die 


^)  Mitteil.  d.  Grafen  Bray.  Danach  ergäbe  sich  folgende 
Reihenfolge:  Zuerst  am  12.  Bitte,  daß  Delbrück  nach  München  komme. 
2.  Am  13.  oder  14.  Erklärung,  einen  Bevollmächtigten  ins  Haupt- 
quartier zu  senden.  3.  Am  14.  (später)  Erklärung,  Delbrück  in  München 
zu  erwarten.  Am  15.  reiste  Delbrück  aus  dem  Hauptquartier  ab.  — 
Am  14.  lief  auch  in  Stuttgart  ein  Bericht  aus  München  ein,  daß  die 
bayerische  Regierung  sich  Preußen  gegenüber  zu  Verhandlungen  wegen 
eines  Verfassungsbündnisses  mit  dem  Norddeutschen  Bund  bereit 
erklärt  habe:  Mittnacht,  Rückblicke  84 f.  (Weicker  48  spricht  irrtüm- 
lich von  einer  Mitteilung  der  bayerischen  Regierung  nach  Stuttgart, 
wovon  bei  Mittnacht  nichts  steht.) 

2)  S.  oben  S.  1 16  Anm.  2.  Auf  das  Zitat  im  Text  folgt  unmittelbar 
die  oben  angeführte  Stelle.  Der  Brief  schließt  etwas  dunkel:  ,,Die  ganze 
Sache  stößt  —  subrosa  leider  auf  hoffentlich  zu  beseitigende  Schwie- 
rigkeiten; deshalb  ist  —  gleichfalls  sub  rosa  —  der  erwartete  Vertrags- 
entwurf (Hegnenbergs??)  noch  nicht  ins  Cabinet  gelangt." 

3)  „N.  d.  Gesandten  München.  Meaux  16*  3"  (pr.  17.  Sept.  9.  15). 
Für  Graf  Tauffkirchen.  Telegramm  vom  14.  erhalten.  Nachdem 
Großherzog  von  Mecklenburg  angekommen,  ist  Ew.  Hochgeboren 
baldige   Rückkehr  dringendes  Bedürfniß,  sowohl  wegen  Organisation 


118  Karl  Alexander  v.  Müller, 

förmliche  dienstliche  Genehmigung  zum  Antritt  dieser  Stelle 
zu  erteilen  und  ihn  zugleich  —  er  hatte  wohl  Eisenharts  Schrei- 
ben noch  nicht  empfangen  —  mit  allen  jenen  besonderen  Auf- 
trägen versehen  zu  wollen,  welche  der  König  sich  veranlaßt 
finde,  ihm  bei  dieser  Gelegenheit  durch  den  Minister  anver- 
trauen zu  lassen. 1)  Er  hatte  dann  noch  eine  persönliche  Unter- 
redung mit  Bray,  der  ihm  einen  Brief  an  Bismarck  mitgab. 
Die  telegraphische  Genehmigung  des  Königs  zu  sofortiger 
Amtsübernahme  aber  hatte  keinen  weiteren  Zusatz. 2) 

Am  19.  reiste  der  Gesandte  aus  München  ab^),  war  am  21. 
wieder  in  Bar  le  Duc  und  traf  am  23.  mittags  im  Haupt- 
quartier ein,  das  nun  seit  einigen  Tagen  in  Ferneres,  dem 
Schlosse  Rothschilds,  bei  Paris  lag. 

Er  wurde  sogleich  nach  seiner  Ankunft  vom  Kanzler  zu 
Tisch  geladen*)  und  hatte  dann  von  V26  bis  8  Uhr  auf  einem 
Spaziergang  mit  ihm  wiederum  eine  lange  Unterredung^), 
die  zuerst  noch  einmal  Tauffkirchens  neues  Amt  als  Zivil- 
kommissär in  Reims,  in  der  Hauptsache  aber  wieder  Bayern 
und  die  deutsche  Frage  zum  Inhalt  hatte.  Man  stand  nun  in 
den  Tagen,  in  denen  eben  die  ersten  Friedens-  und  Waffenstill- 
standsverhandlungen mit  Jules  Favre  sich  zerschlagen  hatten. 
Während  derselben  war  der  Kanzler  einige  Zeit  körperlich 
und  geistig  verstimmt  gewesen,  nun  fand  ihn  seine  Um- 
gebung wieder  „viel  menschlicher  und  munterer".^)  Der 
Brief  Brays,  den  er  unterwegs  las,  schien  ihn  zu  befriedigen. 
Auf  den  ausdrückhchen  Wunsch  des  bayerischen  Ministers, 
sagte  er,  habe  Delbrück  sich  bereits  nach  München  begeben, 


der  Verwaltung  als  wegen  politischer  Besprechungen.   Gez.  Bismarck." 
Abschrift.  T.  P. 

1)  Tauffkirchen  an  Bray,  Datum  abgerissen,  Entwurf  von  dritter 
Hand.    T.  P. 

2)  Ludwig  II.  an  Bray,  Sept.  18.    Or.  T.  P. 

3)  In  der  Presse  war  seine  Anwesenheit  fast  unbemerkt  vorüber- 
gegangen; die  Allgem.  Zeitung  (Nr.  260;  vgl.  Nr.  261,  268)  brachte  sie 
mit  den  gleichzeitigen  römischen  Ereignissen  in  Verbindung. 

«)  Vgl.  auch  M.  Busch,  Tagebuchblätter  I,  233  f. 

^)  Zwei  Berichte  Tauffkirchens  an  Bray,  Chateau  Ferneres 
Sept.  24  (1.  die  deutsche  Frage,  2.  seine  Ernennung  zum  Zivilkommissär 
in   Reims  betr.),  Abschrift  von  dritter  Hand.  T.  P. 

«)  M.  Busch,  Tagebuchblätter  I,  219,  233. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  119 

und  gegenwärtig  werde  dort  wohl  schon  verhandelt.  Er 
versicherte,  seine  und  des  Königs  Stimmung  sei  noch  genau 
dieselbe  wie  am  8.  September.  Nach  wie  vor  wünsche  er  vor 
allem,  mit  dem  König  von  Bayern  über  das  Ob  und  Wie 
der  Gründung  eines  Deutschen  Reiches  ins  reine  zu  kommen, 
und  zwar  in  der  freundschaftlichsten,  die  Rechte  Bayerns  in 
jeder  Hinsicht  aufrechterhaltenden  Weise.  Die  hierbei  ge- 
fundene Basis  würden  alle  übrigen  Fürsten  nur  akzeptieren 
können.  Er  blieb  aber  jetzt  nicht  mehr  bei  diesem  bloßen 
Wunsche  stehen,  sondern  schob  die  Angelegenheit  sogleich 
um  einen  Schritt  weiter.  Zum  Zweck  dieser  Vereinigung 
nämlich,  fuhr  er  fort,  beabsichtigt  Wilhelm  I.,  wenn  die 
Münchener  Vorbesprechungen  beendigt  sein  werden,  den 
bayerischen  König  in  einem  eigenhändigen  Brief  zu  sich  ins 
Hauptquartier  nach  Schloß  Fontainebleau  einzuladen,  um 
daselbst  mit  ihm  die  Grundzüge  der  künftigen  deutschen  Ver- 
fassung gründlich  zu  vereinbaren;  menschlicher  Voraussicht 
nach  wird  sich  hieran  ein  gemeinsamer  Einzug  in  Paris  reihen. 
Erst  dann,  wenn  diese  Besprechung  stattgefunden  hat,  oder 
wenn  der  König  von  Preußen  die  Überzeugung  gewinnt, 
daß  sie  nicht  stattfinden  kann,  wird  er  dem  bereits  kund- 
gegebenen Wunsch  der  übrigen  deutschen  Fürsten  und  Ver- 
treter der  freien  Städte,  sich  um  ihn  zu  versammeln,  ent- 
sprechen.i)  —  Es  war  der  alte  Plan  einer  Fürstenzusammen- 
kunft im  Heerlager  vor  dem  Feind,  der  seit  dem  August  er- 
wogen, jetzt  eben,  wie  es  hieß,  durch  das  Anerbieten  der 
Münchener  Verhandlungen  gekreuzt  worden  war^);  und  mit 
ihm  nun,  als  eine  Art  Vorspiel,  verbunden  ein  neues  aus- 
zeichnendes Entgegenkommen  —  und  zugleich  ein  neuer, 
bestimmter  Druck  auf  den  bayerischen  König. 

Es  scheint,  daß  Tauffkirchen  sogleich  auf  die  Schwierig- 
keiten hinwies,  denen  diese  Absicht  bei  der  Menschenscheu 
Ludwigs  H.  begegnen  würde.  Die  Fürstenzusammenkunft, 
betonte  jedenfalls  der  Kanzler,  ist  eine  beschlossene  Sache. 
Vom   König  von   Bayern  hängt  lediglich  ab,  ob  ihr  eine 

1)  Dies  stimmt  also  genau  mit  der  von  Brandenburg,  Eintritt  38 
Anm.  1  geäußerten  Vermutung  überein. 

2)  Bismarck  zu  Suckow,  Sept.  17:  A.  v.  Suckow,  Rückschau, 
her.  V.  W.  Busch  167  f.,  Mittnacht  81  f. 


120  Karl  Alexander  v.  Müller, 

Vorherbesprechung,  wie  sie  seiner  und  seines  Landes  Stellung 
zukommt,  vorangehen  soll  oder  nicht.  Die  Ablehnung  einer 
solchen  direkten  Einladung  wäre  für  Wilhelm  1.  natürlich 
nicht  erwünscht.  Er  ersuchte  Tauffkirchen  daher  sogleich 
um  eine  vertrauliche  Anfrage  am  bayerischen  Hof:  aber 
derart,  daß  er  mögHchst  bald  und  bestimmt  erfahre,  ob  eine 
Annahme  zu  erwarten  oder  ob  mit  Bestimmtheit  eine  Ab- 
sage vorauszusehen  sei. 

Tauffkirchen  bat  hierauf  um  die  Erlaubnis,  ein  Chiffre- 
telegramm an  Bray  aufgeben  zu  dürfen,  und  sandte  am  24. 
morgens  die  Nachricht  nach  München:  ,, König  Wilhelm 
beabsichtigt,  wenn  nicht  Ablehnung  zu  erwarten,  König 
brieflich  einzuladen,  in  Fontainebleau  deutsche  Frage  allein 
mit  ihm  vor  allen  andern  zu  besprechen  und  festzustellen. 
Anerbietung  Kaisertitels  scheint  gewünscht,  dagegen  jede 
Concession,  namentlich  bezüglich  Bewaffnung  und  sonstiger 
Militärverhältnisse,  in  Aussicht.  Bitte  chiffrirte  Antwort 
nach  Reims,  wohin  morgen  abreist  Graf  Tauffkirchen,  Civil- 
commissär  der  westlichen  occupirten  französischen  Pro- 
vinzen, "i) 

In  einem  Bericht  vom  gleichen  Tag  führte  er  diese  An- 
deutungen näher  aus.  Von  der  Kaiseridee  habe  der  Kanzler 
diesmal  zwar  nicht  ausdrücklich  gesprochen,  aber  die  Be- 
rufung der  sämtlichen  deutschen  Fürsten  ins  Hauptquartier 
zeige  die  Absicht  einer  Proklamation  ja  deutlich  genug. 
„Noch  klarer  wurde  mir  im  Verlaufe  des  Gespräches,  daß 
dem  Könige  sehr  viel  daran  liegt,  diesen  Titel,  und  zwar  durch 
Anerbieten,  also  sozusagen  aus  der  Hand  des  Königs  von 
Bayern  zu  empfangen,  und  daß  er  eben  deßhalb  zu  den  weit- 
gehendsten Konzessionen  für  die  Ausnahmsstellung  des 
Königreiches  Bayern  in  diesem  Reiche  als  Gegenleistung 
bereit  ist.  Die  Ansicht,  welche  ich  mir  aus  den  Äußerungen 
des  Grafen  gebildet,  ist  die,  daß  eine  Annahme  dieser  Ein- 
ladung seitens  unseres  Königs  in  der  Dynastie  und  des 
Landes  Interesse  und  zum  Schutze  der  berechtigten  Eigen- 


^)  Entwurf  eigenhändig,  auf  abgerissenem  Briefbogenblatt. 
T.  P.  —  Die  Vermutung  Brandenburgs  (Eintritt  16  Anm.  2),  daß  schon 
vor  Delbrücks  Ankunft  in  München  eine  offizielle  Einladung  dorthin 
ergangen  sei,  dürfte  damit  entfallen. 


Bismarck  und  Ludwig  11.  im  September  1870.  121 

thümlichkeiten  und  der  vollen  inneren  Souveränität  Bayerns 
geradezu  wesentlich  erscheint." 

Um  das  Maß  solcher  Konzessionen  zu  erkunden,  habe  er 
insbesondere  die  Militärverhältnisse  zur  Sprache  gebracht, 
für  die  bei  der  Verstimmung  des  Kriegsministers^)  eine  sichere 
Basis  wohl  am  nötigsten  sei.  Beibehaltung  nicht  nur  der 
Uniform^)  und  des  Kommandos,  sondern  auch  der  selbstän- 
digen Bewaffnung  (Werdergewehre)  habe  Bismarck  ohne 
weiteres  zugegeben.  Zögernder  sei  seine  Antwort  auf  die 
Frage  gewesen,  ob  mit  Rücksicht  auf  die  Stimmung  der 
bayerischen  und  württembergischen  Stände  auch  in  Kon- 
tingent und  militärischer  Präsenz  von  den  in  der  nord- 
deutschen Verfassung  festgelegten  Grundzügen  abgewichen 
werden  könnte:  in  dieser  Hinsicht  wäre  in  einem  Reich, 
dessen  Wehrkraft  nach  außen  eines  der  wesentlichsten 
Momente  seiner  Verfassung  zu  bilden  haben  werde,  doch  wohl 
eine  Gleichheit  notwendig.  Aber  warum  müßten  denn  alle 
Schwierigkeiten  gleich  auf  einmal  gelöst  werden?  Er  sei 
keiner  von  denen,  die  eine  vollständig  fertige  Verfassung  für 
ewige  Zeiten  so  auf  einen  Schlag  in  sechs  Wochen  herstellen. 
Ihm  genüge  es,  eine  Grundlage  zu  schaffen,  fest  genug, 
um  in  10,  20,  in  50  Jahren  ausgebaut  zu  werden.  Wo  sich 
also  zurzeit  ernstliche  Hindernisse  erheben,  könne  man  es 
einstweilen  beim  status  quo  belassen  und  vertragsmäßig  eine 
weitere  Einigung  vorbehalten.  Gerade  in  der  genannten  Frage 
mache  er  sich  vollkommen  anheischig,  „einen  Triller  zu 
machen".^)  Die  bayerische  Militärverwaltung  möge  darüber 
ganz  beruhigt  sein,  es  würde  keine  wesentliche  Änderung 
ohne  volle  Übereinstimmung  in  den  Vertrag  gesetzt  werden. 
Er  wiederhole  noch  einmal,  was  er  Tauffkirchen  schon  früher 
gesagt  habe:  die  Hauptsache  sei,  daß  die  Grundzüge  zwischen 
Bayern  und  Preußen  durch  einen  auf  beiden  Seiten  frei- 
willigen und  beide  Teile  bindenden,  nur  mit  Einwilligung 
beider  Teile  modifizierbaren  Vertrag  zustande  kämen.*) 

^)  Vgl.  Oncken,  Bennigsen   II,  186. 

2)  Dazu  M.  Busch,  Tagebuchblätter  I,  423. 

^)  Vgl.  hierzu  auch  Bismarcks  Entgegenkommen  gegen  Pranckh 
in  Versailles:  Lorenz  350  f.;  Brandenburg,  Eintritt  73  ff . 

*)  In  Tauffkirchens  Bericht  folgt  hierauf  folgender  Abschnitt: 
„Dieser  Vertrag  würde  jedenfalls  dann  gegenüber  dem  gegenwärtigen 


122  Karl  Alexander  v.  Müller, 

Er  verfehlte  zum  Schluß  nicht,  Tauffkirchen  noch  den 
Eindruck  seiner  neulichen  Besprechung  mit  dem  württem- 
bergischen Kriegsminister  v.  Suckow  mitzuteilen.  Die  Ab- 
neigung des  Königs  und  der  Königin  gegen  den  Eintritt  in 
einen  deutschen  Reichsverband  scheine  vollkommen  gehoben, 
ja  die  Aspirationen  Württembergs  gingen  im  wesentlichen 
geradezu  auf  einen  Eintritt  in  den  Norddeutschen  Bund.^) 
Und  auf  die  Antwort  des  Bayern,  daß  Suckow  doch  nur  eine 
Richtung  in  Württemberg  vertrete,  die  im  Lande  viele  und 
bedeutende  Gegner  habe,  versicherte  er,  daß  gerade  der 
Führer  dieser  Gegenpartei,  der  Justizminister  Mittnacht, 
sich  völlig  zur  Notwendigkeit  eines  Zusammenschlusses  ganz 
Deutschlands  unter  einer  Verfassung  bekehrt  habe.  Die 
bayerische  Regierung  würde  sich  eben  jetzt,  wo  Mittnacht 
den  Konferenzen  mit  Delbrück  anwohne,  davon  überzeugen 
können. 

Am  24.  nachmittags  wurde  Tauffkirchen  noch  vom 
König  empfangen;  in  der  Nacht  darauf  begab  er  sich  auf 
seinen  neuen  Posten  nach  Reims. 

Inzwischen  war  der  Erfolg  seiner  zweiten  Botschaft  an 
Ludwig  IL  bereits  entschieden.  Schon  am  23.  September 
hatte  Delbrück  bei  seiner  Audienz  in  Berg  einen  Besuch  des 
Königs  im  Hauptquartier,  in  Versailles,  angeregt,  und  Lud- 
wig IL  hatte  den  Gegenstand  mit  einer  ausweichenden  Rede- 


Zustande  einen  erheblichen  Fortschritt  begründen,  wenn  durch  den- 
selben mittels  wesentlicher  Erweiterungen  der  Befugnisse  des  Zoll- 
bundesraths  und  Zollparlaments  ein  deutsches  Parlament  geschaffen 
würde,  in  welchem  die  eigenthümlichen  Verhältnisse  der  süddeutschen 
Staaten  durch  die  itio  in  partes,  das  Veto  gegen  Neuerungen,  gesichert 
werden  könnten."  Dies  scheint  jedoch  nicht  mehr  Wiedergabe  von 
Äußerungen  Bismarcks,  sondern  eigenes  Raisonnement  Tauffkirchens. 
^)  Auch  am  8.  September  hatte  Bismarck  kurz  über  Württemberg 
gesprochen;  Tauffkirchen  hatte  damals  herauszuhören  gemeint,  daß 
Bismarck  mit  dem  kurz  vorhergegangenen  Ministerwechsel  in  Stutt- 
gart einverstanden  sei,  und  daß  dieser  Wechsel  mit  der  Absicht  zu- 
sammenhänge, eine  Einigung  Württembergs  mit  den  übrigen  deutschen 
Staaten  zustande  zu  bringen.  —  Tauffkirchen  hatte  auf  der  Herreise 
eben  den  württembergischen  Minister  Linden  (damals  Präfekten  in 
Chälons)  getroffen  und  von  ihm  gehört,  daß  Bismarck  im  Gespräch 
mit  ihm  die  deutsche  Frage  gar  nicht  berührt  habe.  —  Neuer  Um- 
schwung in  Württemberg  Anfang  Oktober:  Suckow  171. 


Bismarck  und  Ludwig  11.  im  September  1870.  123 

Wendung  fallen  lassen. i)  Als  nun  am  Tage  darauf  Tauff- 
kirchens  Telegramm  eintraf  und  von  Bray  alsbald  münd- 
lich dringend  befürwortet  wurde^),  scheint  es  auf  ihn  die 
schlimmste  Wirkung  gehabt  zu  haben.  Seine  krankhafte 
Menschenscheu  rief  den  beleidigten  Fürstenstolz  zu  Hilfe, 
daß  man  ihm  anstatt  eines  Prinzen  nur  einen  Minister  ge- 
schickt habe^);  und  auch  Tauffkirchen  gehörte,  soviel  wir 
wissen,  nie  zu  seinen  besonderen  Vertrauten. 

Dieser  selbst  erhielt  auf  seine  Nachricht  von  Bray  nur 
ein  lakonisches  Telegramm  (vom  29,),  daß  die  Antwort 
bereits  Delbrück  gegeben  worden  sei.*)  Er  hatte  jedoch, 
um  sicher  zu  gehen,  das  Konzept  seines  Berichtes  auch  dem 
Flügeladjutanten  des  Königs,  Major  v.  Sauer,  mitgeteilt^), 
und  dieser  gab  ihm  am  5.  Oktober  näheren  Bericht.  Die 
Sachen  stünden  vorläufig  noch  nichts  weniger  als  günstig. 
Speziell  vom  Ministerium  hätte  er  ein  ganz  anderes  Leben 
erwartet.  Die  vorläufigen  Anfragen  Delbrücks  und  Tauff- 
kirchens  hätten  die  Annahme  der  Einladung  sehr  wesentlich 
erschwert;  seiner  Kenntnis  der  Sache  nach  hätte  er  auch  nie 
zu  solchen  geraten.  ,,Hic  Rhodus,  hie  salta!  Dies  ist  das 
einzige  Motto,  unter  welchem  man  unter  unseren  Verhält- 

1)  Delbrück  11,417;  Kobell  26. 

2)  Mitteil.  d.  Grafen  Bray.  Wohl  zwischen  dem  27.  und  29.  Sep- 
tember. Auch  nach  dem  Eintreffen  von  Tauffkirchens  Bericht  habe 
Bray  am  1.  Oktober  aus  Irlbach  einen  schriftlichen  Antrag  auf  An- 
nahme der  Einladung  gestellt.  Das  Gesamtministerium  befürwortete 
sie  in  drei  dringenden  Vorstellungen  an  Ludwig  IL,  Okt.  13  und  16, 
Nov.  12/19. 

^)  Marquardsen  an  Lasker,  Oktober  15:  Brandenburg,  Akten- 
stücke Nr.  79;  vgl.  M.Barth  an  Baumgarten,  September  27:  Oncken, 
Bennigsen  II,  186;  Hohenlohe  11,  24  f. 

*)  „Antwort  ist  bereits  dem  Staatsminister  gegeben  worden. 
Bray."    Or.  T.  P. 

5)  Oder  mitgegeben?  Sauer  hatte  sich  Anfang  September  in 
königlichem  Auftrag  zur  bayerischen  Armee  begeben,  um  die  Ordens- 
dekorationen zu  überbringen  (Allgem.  Zeitung  Nr.  246  vom  3.  Sept.). 
Daß  er  damals  in  Verbindung  mit  Bismarck  getreten,  sagt  der  Brief 
Tauffkirchens  an  Bismarck,  Okt.  1 1  (s.  u.),  in  dem  Tauffkirchen  Sauer 
„eine  meinem  König  nahestehende  Person,  welche  E.  E.  gleichfalls 
ins  Vertrauen  gezogen  haben",  nennt.  Nach  Hohenlohe  11,25  (Sept.  29) 
scheinen  auch  durch  Sauer  noch  besondere  Verhandlungen  gelaufen 
zu  sein.    Vgl.  auch  M,  Busch,  Tagebuchblätter  II,  6. 


124  Karl  Alexander  v.  Müller, 

nissen  etwas  erreicht.  Keine  Vorverhandlung,  sondern  mit 
dem  Einladungsbrief  ankommen,  ohne  ihn  vorher  auch  nur 
anzukündigen,  das  wäre  der  Weg  gewesen,  der  wohl  wahr- 
scheinlich zum  Ziel  geführt  hätte."  Aber  dieser  Weg  stehe 
schließlich  immer  noch  offen.  Wenn  Tauffkirchen  es  für 
dienlich  halte,  möge  er  Bismarck  diese  Überzeugung  Sauers 
mitteilen.  Könne  man  sich  entschließen,  trotz  der  Delbrück 
gemachten  Andeutungen,  die  Einladung  einfach  abgehen 
und  durch  eine  geeignete  Persönlichkeit  übergeben  zu  lassen, 
,,so  hoffe  ich  —  ich  möchte  sagen  mit  Bestimmtheit  —  auf 
günstigen  Erfolg". i) 

Am  II.  Oktober  gab  Tauffkirchen  diesen  Rat  an  Bis- 
marck weiter,  mit  der  Empfehlung,  daß  die  gleiche  Ansicht 
dem  Kanzler  selbst  bei  der  letzten  Besprechung  ja  nicht 
ferngelegen  sei. 2)  Dies  scheint,  nach  dem  uns  vorliegenden 
Material,  in  diesen  Monaten  der  letzte  Schritt  Tauffkirchens 
in  der  deutschen  Frage  gewesen  zu  sein. 3) 


II. 

Von  hier  aus  seien  nun  zum  Schluß  noch  ein  paar  ganz 
kurze  allgemeinere  Ausblicke  auf  den  größeren  Zusammen- 
hang jener  bayerischen   Anschlußverhandlungen   gestattet. 

Je  näher  wir  in  sie  hineinsehen,  um  so  gewaltiger  wächst 
vor  unseren  Augen  die  Arbeit  und  das  Verdienst  Bismarcks. 
In  immer  neuen  Anschlägen  und  Vorbereitungen  taucht  er 
auf,  überall  im  Mittelpunkt,  anspornend,  lenkend,  dämonisch 
überlegen.  Unerschöpflich  ist  der  Reichtum  der  Mittel,  mit 
denen    er  —  scheinbar  ruhig  zuwartend  —  die   zögernde, 


1)  Sauer  an  Tauffkirchen,  Berg,  Okt.  5.    Or.  eigenhändig.  T.  P. 

2)  Tauffkirchen  an  Bismarck,  Reims,  Okt.  11.  Entwurf  eigen- 
händig. T.  P.  —  Unterm  11.  Oktober  berichtet  M.  Busch  (Tagebuch- 
blätter I,  286,  vgl.  300)  von  Gesprächen  an  Bismarcks  Tafel  über  den 
Fürstenkongreß  und  das  ev.  Kommen  Ludwigs  II. 

3)  Er  hatte  am  25.  September  seinen  Posten  in  Reims  angetreten. 
Da  er  mit  den  von  Bismarck  geforderten  Gewaltmaßregeln  in  den 
okkupierten  Provinzen  nicht  einverstanden  war,  kam  er  bald  in  Kon- 
flikt mit  dem  Kanzler,  Er  betrieb  selbst,  schon  im  November,  seine 
Rückberufung,  erhielt  am  9.  Dezember  Urlaub  und  kehrte  Anfang 
1871  nach  Rom  zurück. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  125 

schwankende,  zurückweichende  bayerische  Regierung  von 
allen  Seiten  her  umgibt  und  vorwärtszwingt.  In  der  Kette 
dieser  bald  vorsichtigen,  bald  kühnen,  dieser  konzentrierten 
und  zähen  Antriebe^),  ist  diese  Tauffkirchensche  Mission  ein 
neues,  in  manchem  Betracht  interessantes  Glied.  Der  Anstoß, 
den  sie  Bayern  geben  soll,  ist  stärker  als  die  anderen  aus  diesen 
Wochen:  unmittelbar  an  die  Person  des  bayerischen  Königs 
selbst  richtet  sie  sich.  Ihre  Drohungen  und  ihre  Angebote 
gehen  weiter  als  die,  von  denen  wir  bisher  wußten.  Nicht  nur 
von  einem  Lockern  der  gegenwärtigen  Bande,  vom  Kündigen 
des  Zollvereins  ist  die  Rede,  sondern  von  der  Ablösung  der 
Rheinpfalz,  von  einem  Eingriff  zum  allermindesten  in  den 
inneren  Zusammenhang  des  Königreiches.  Und  nicht  nur 
in  kleinen  Uniforms-  und  Etikettebedenken  kommt  der  Kanz- 
ler entgegen,  sondern  in  einschneidenden  Fragen  des  Militär- 
wesens, der  prinzipiellen  Ausnahmestellung  Bayerns  zeigt  er 
sich  läßlich:  er  spricht  von  der  Möglichkeit  eines  parlamen- 
tarischen Vetos,  er  lehnt  Tauffkirchens  Vorschlag  eines  bloßen 
weiteren  Bundes  in  keiner  Weise  ab.  Wieviel  weiter  geht, 
was  er  hier  unwidersprochen  passieren  läßt,  als  die  gleich- 
zeitigen Zugeständnisse  der  liberalen  Führer  in  München, 
über  die  er  sich  später  so  grimmig  beklagte.  Freilich,  es  sind, 
auch  wenn  er  selbst  sie  ausspricht,  nicht  seine  Vorschläge, 
über  die  hier  geredet  wird:  Bayern,  so  wünscht  er,  soll  bei 
diesen  Verhandlungen  der  vorschlagende  Teil  sein;  nur  zu 
einem  grundsätzlichen  Entgegenkommen  bindet  er  sich; 
im  einzelnen  geht  er  über  ein  gesprächsweises  tolerari  potest 
nicht  hinaus.2)  Indem  er  Bayern  die  volle  Freiheit  des 
Handelns  zusichert,  behält  er  sie  vor  allem  auch  sich  selber 
vor.  Wer  möchte  abschätzen,  zu  welchen  Zugeständnissen 
er  damals  im  Innersten,  wenigstens  für  den  Notfall,  bereit 
gewesen  wäre,  wie  weit  er  auch  in  lockereren  Formen  die 
Gewichte  immer  so  zu  verteilen  gerüstet  war,  daß  die  natür- 
liche Schwere  der  Tatsachen,  die  Gemeinsamkeit  der  Inter- 
essen sich  doch  schließlich  über  kurz  oder  lang  ihr  Recht  ver- 
schafft hätten.    Fürs  erste  lag  ihm  offenbar  vor  allem  daran, 

1)  Vgl.  Küntzel  57. 

2)  So  hat  er  sich  auch  gegenüber  Sachsen,  dessen  Vermittlung 
er  anrief,  über  seine  Forderungen  an  Bayern  nicht  ausgelassen. 


126  Karl  Alexander  v.  Müller, 

den  bayerischen  Standpunkt,  die  Zähigkeit  und  das  eigent- 
liche Zentrum  des  bayerischen  Widerstandes  genau  kennen  zu 
lernen  und  Bayern  zu  einem  ersten  Schritt  zu  bringen,  nach 
dem  ein  endgültiges  Zurück  in  der  nationalen  Begeisterung 
des  Krieges  jedenfalls  sehr  schwer  war.  ,,Vor  allen  Dingen 
erst  rin  ins  Haus.  Alles  andre  findet  sich",  wie  er  im  De- 
zember zu  Wilmowski  sagte. i)  Schon  in  Frankfurt  hatte  er 
die  möglichste  Rücksicht,  ja  eine  gewisse  Pflege  des  baye- 
rischen Selbstgefühls,  eine  Begünstigung  der  bayerischen 
Separatwünsche,  die  den  Wittelsbachischen  Staat  ja  zugleich 
immer  von  seinen  Nachbarn  abtrennten,  als  die  klügste 
Politik  gegenüber  dem  größten  deutschen  Mittelstaat  emp- 
fohlen. Zu  verschiedenen  Zeitpunkten  vor  1870  war  er 
zu  noch  wesentlich  weitergehenden  Zugeständnissen  an  die 
bayerische  Selbständigkeit  bereit  gewesen;  eine  große  und 
entschiedene  bayerische  Politik,  die  sich  seinen  obersten 
Voraussetzungen  anzupassen  verstanden  hätte,  hätte  1870 
wie  1866  von  ihm  viel  erreichen  können. 2)  Den  bayerischen 
Regierungen,  wie  sie  waren,  gegenüber  kam  er  mit  bloßer 
Geduld  aus.  „Wir  wollen  den  Bayern  Zeit  lassen,  daß  sie  sich 
besinnen  können",  hatte  er  1868  einmal  zu  Bluntschli  ge- 
meint.3)  ,,Sie  müssen  inzwischen  an  den  Wänden  herumtasten 
und  nach  einem  Ausweg  suchen,  sie  werden  keinen  finden. 
Dann  werden  sie  sich  schließlich  in  ihr  Schicksal  fügen  . . . 
Es  läßt  sich  alles  friedlich  mit  Bayern  abmachen."  Wir 
wissen  aus  vielen  gleichzeitigen  Äußerungen,  welchen  außer- 
ordentlichen Wert  dieser  furchtbare  Kämpfer  gerade  in  jenen 
Herbst-  und  Wintermonaten  1870  darauf  legte,  die  deutsche 
Einheit  in  der  Tat  friedlich,  ohne  Pression,  ohne  die  nach- 
haltige Verstimmung  eines  harten  Zwanges  zu  vollenden, 
daß  er  den  schließlichen  Beitritt  Bayerns  zu  ,,dem  Wichtig- 


1)  Feldbriefe  1870/71  von  K-  v.  Wilmowski  76  (Dez.  8). 

2)  Daß  Bismarck  von  vornherein  Bayern  eine  Ausnahmsstellung 
(etwa  in  den  dann  festgelegten  Grenzen)  zugedacht  hatte  und  nicht 
erst  durch  unglückliche  Zufälle  im  Lauf  der  Verhandlungen  dazu  ge- 
zwungen wurde,  hat  Brandenburg,  Eintritt  38,  85  f.  mit  vollem  Recht 
nachdrücklich  betont.  Ebenso  daß  hierin  der  Hauptgrund  der  sowohl 
von  Bismarck  wie  Bray  gewünschten  Separatverhandlungen  lag. 

^)  J.  C.  Bluntschli,   Denkwürdiges  aus  meinem  Leben  III,  203. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  127 

sten"  rechnete,  „was  wir  in  diesen  Jahren  erreicht  haben".i) 
Es  hat  zunächst  fast  etwas  Komisches,  wenn  er  jeden  Ge- 
danken eines  Druckes  zu  diesem  Beitritt  mit  demselben  Atem- 
zug bestreitet,  mit  dem  er  ihn  tatsächlich  ausübt-);  aber  im 
letzten  Grunde  spricht  er,  wie  so  häufig,  die  Wahrheit:  denn 
er  droht  hier  mit  dem  Zwang  eigentlich  nur,  um  ihn  nicht 
anwenden  zu  müssen.  Wer  möchte  zweifeln,  daß  auch  bei 
der  geschilderten  Tauffkirchenschen  Sendung  sein  Ziel  nicht 
die  Schädigung  Bayerns  war,  mit  der  er  den  Unterhändler 
zu  erschrecken  suchte,  sondern  im  Gegenteil  dessen  Erhal- 
tung, die  er  eben  damit  zu  sichern  trachtete. 

Die  Wirkungen  dieser  Mission  im  einzelnen  sind  heute 
noch  kaum  festzustellen.  Sie  kreuzen  sich,  wie  oben  aus- 
geführt, mit  denen  anderer,  zum  Teil  früherer  Bismarckischer 
Antriebe.  Als  Tauffkirchen  nach  München  kam,  hatte  die 
bayerische  Regierung  —  wie  wir  meinen,  vor  allem  auf  Grund 
der  Nachrichten  ihres  Berliner  Gesandten  —  den  ersten 
Schritt  bereits  getan.  So  mancher  Punkt  auch  durch  die 
bisherigen  Untersuchungen  aufgehellt  worden  ist,  so  sehen 
wir  doch  in  dem  unruhigen  Projektengetriebe  dieser  Tage, 
gerade  etwa  vom  8.  bis  zum  18.  September,  noch  viel  zu  wenig 
klar,  wissen  zu  wenig  von  den  in  diesem  Augenblick  wirklich 
leitenden  Männern  und  Motiven,  als  daß  wir  die  gegenseitigen 
Überschneidungen  einzelner  Pläne  schon  mit  Sicherheit  be- 
rechnen könnten.^)  Die  bayerischen  Regierungsverhältnisse 
dieser  Jahre  waren  —  und  es  scheint  doch,  daß  die  Forschung 
dies  praktisch  bisher  zu  wenig  berücksichtigt  hat  —  durch 
die  krankhafte  Anlage  eines  edlen  und  begabten  Monarchen 
bereits  ganz  abnorm  und  sehr  verworren;  Verhalten  und 
Leistungen  der  einzelnen  Beteiligten  können  nicht  mit  dem 

1)  Z.  B.  M.  Busch,  Tagebuchbiätter  I,  427,  465,  479,  526;  Hohen- 
lohe  11,47. 

2)  Küntzel  58. 

^)  Sehr  wichtig  wäre  vor  allem  eine  Kenntnis  der  fortlaufenden 
Berichte  Berchems,  s.  oben  S.  98  Anm,  4.  Sie  müßten  wohl  auch 
über  das  seltsame  Projekt  eines  „Soldatenkaisers  über  Deutschland", 
das  Bayern,  wie  Bismarck  erzählte  (M.Busch,  Tagebuchblätter  II,  115), 
nach  Sedan  angeregt  haben  soll  und  für  das  wir  sonst  noch  gar  keinen 
Anhaltspunkt  haben  (außer  etwa  Brandenburg,  Aktenstücke  Nr.  27), 
Aufschluß  geben. 


128  Karl  Alexander  v.  Müller, 

normalen  Maßstab  gemessen  werden,  wo  das  ganze  Räder- 
werk nur  mehr  exzentrisch  zu  arbeiten  vermag.  Besonders 
schwierig  ist  es,  im  ganzen  wie  in  einzelnen  Momenten, 
die  Verteilung  des  Gewichtes  und  des  Verdienstes  zwischen 
König  und  Ministerium  abzugrenzen. i)  Auf  der  einen  Seite 
geben  die  unglückliche  Menschenscheu  und  Entschluß- 
schwierigkeit, die  zeitweilige  politische  Gleichgültigkeit  und 
die  Phantastik  des  Königs  offenbar  den  Ministern  größeren 
Spielraum  und  erhöhte  Selbständigkeit. 2)  Auf  der  anderen 
Seite  hat  Ludwig  II.  das  königliche  Regiment  wieder  stolz 
in  der  Hand,  sieht  scharfsinnig  und  klug  oft  weiter  und  realer 
als  seine  Minister  und  entscheidet  in  den  größten  Augen- 
blicken, nur  von  Vertrauten  seiner  nächsten  Umgebung  be- 
raten, aus  fürstlicher  Machtfülle  selbstherrlich  über  die 
Köpfe  des  Ministeriums  hinweg,  ohne  es  nur  zu  befragen. 
Seine  lebhafte  Bestimmbarkeit  durch  persönliche  Eindrücke, 
verbunden  mit  seiner  Abgeschlossenheit,  begünstigen  ein 
immer  wechselndes  Spiel  von  Intrigen  und  Einflüssen  am 
Hof,  das  natürlich  auch  in  die  Regierung  hinüberwirkt  und 
die  Verhältnisse  oft  schwer  verständlich  macht.  In  diesen 
Septemberwochen  1870  finden  wir  das  Ministerium,  einem, 
wie  es  scheint,  chronischen  bayerischen  Übel  zufolge,  in 
sich  uneins,  mit  ausgeprägtem  Ressortpartikularismus,  nicht 
selten  mit  heftigen  Reibungen  in  seiner  eigenen  Mitte.  Der 
nominelle  Vorsitzende  des  Ministerrates,  Graf  Bray,  ein 
nüchterner,  sehr  vorsichtiger,  langsamer  und  loyaler  diplo- 
matischer Praktiker  alter  Schule,  bereits  63  jährig,  ohne 
die  durchgreifende  Energie,  die  nötige  Einheit  zu  erzwingen, 
zudem  in  der  augenblicklichen  deutschen  Frage  aus  seinen 


1)  Brandenburgs  Gesamturteil  (Eintritt  86  f.),  daß  die  schwersten 
Hindernisse  überall  nur  auf  Seite  der  Dynastien  und  Höfe  gelegen 
waren,  während  die  Minister  sich  alle  ziemlich  bald  über  das  Not- 
wendige und  Erreichbare  einig  geworden  seien,  kommt  mir  für  Bayern 
z.  T,  nicht  zutreffend,  z.  T.  jedenfalls  viel  zu  sehr  simplifiziert  und 
daher  nicht  ausreichend  vor.  Seine  Gegenüberstellung  der  „verant- 
wortlichen Staatsmänner"  und  der  „Herrscher  und  ihrer  unverant- 
wortlichen Ratgeber"  (der  „Hofkamarilla"  88)  =  Licht  und  Schatten 
ist  für  Bayern  sicher  nicht  richtig.  Die  Verteilung  von  Licht  und 
Schatten  ist  hier  viel  komplizierter. 

2)  Vgl.  hierzu  Brandenburg,  Eintritt  71,  81. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  129 

alten  Maßstäben  geworfen,  ohne  eigentlich  positives  Ziel.^) 
Die  Erkenntnis  seiner  Haltung  allein  nützt  noch  nicht  sehr  viel. 
Die  tete  forte  des  Ministeriums,  sein  begabtester,  energischster 
und  ehrgeizigster  Kopf,  der  leitende  bayerische  Minister  der 
nächsten  zwei  Jahrzehnte,  Johannes  Lutz,  sicher  in  vielen 
Dingen  ganz  anderer  Meinung^),  mit  anderen  Zielen  und 
schon  von  sehr  großem  Einfluß.^)  Wir  wissen  aber  noch  so 
wenig  Zusammenhängendes  über  seine  damaligen  Anschau- 
ungen und  Absichten,  daß  wir  zunächst  nur  ein  X  für  ihn 
einstellen  können.  Neben  diesen  beiden  noch  eine  ziemliche 
Stufenleiter  von  Differenzen,  von  dem  Minister  des  Innern, 
Herrn  v.  Braun,  der  für  den  nationalsten  galt,  über  den  ehr- 
lichen Partikularisten  Freiherrn  v.  Pranckh  zum  völlig 
widerstrebenden  Handelsminister  v.  Schlör.  Und  das  ganze 
Ministerium  in  dieser  Zeit  doch  wesentlich  passiv,  zweifellos 
mehr  getrieben  als  treibend,  zeitweise  völlig  von  der  Hand  in 
den  Mund  lebend.  Im  weiteren  Umkreis,  und  eben  in  diesen 
Tagen  in  lebhafterem  Verkehr  mit  dem  ministeriellen  Zen- 
trum, nichtamtliche  Politiker  und  Abgeordnete:  der  Mini- 
sterialrat V.  Völderndorff,  der  Freund  und  Vertraute 
Hohenlohes,  und  wohl  auch  der  Oberregierungsrat  Riedel, 


^)  Vgl.  über  ihn  vor  allem  Küntzel  34  ff. ;  Brandenburg,  Eintritt 
54  ff.,  85  f.,  der  aber  m.  E.  in  der  berechtigten  Tendenz,  Bray  gegen 
ungerechte  Unterschätzung  zu  verteidigen,  wieder  etwas  zu  weit  geht; 
und  den  Artikel  in  der  AUgem.  Deutschen  Biogr.  LV,  680 — 687 
<Müller),  für  welchen  auch  bereits,  wie  hier  nachgetragen  werden 
darf,  einige  Mitteilungen  des  Grafen  Hipp.  Bray  verwendet  werden 
durften. 

2)  Vgl.  Brandenburg,  Eintritt  39,41,51  Anm.  1. 

8)  Ich  habe  schon  früher  (Hist.  Ztschr.  CIX,  382)  versucht,  die 
Aufmerksamkeit  mehr  auf  seine  Rolle,  auch  in  diesen  früheren  Stadien, 
zu  lenken.  Über  sein  Gewicht  in  den  deutschen  Verhandlungen  stimmen 
alle  kompetenten  gleichzeitigen  Beurteiler  überein:  z.  B.  Delbrück  an 
Lasker,  Okt.  18:  Brandenburg,  Aktenstücke  Nr.  83;  Mittnacht  84 
Anm.  3;  Hohenlohe  II,  12;  Marquardsen  an  Lasker,  Sept.  25  und 
Okt.  15:  Brandenburg,  Aktenstücke  Nr.  52,  79;  Stenglein  an  Bennig- 
sen:  Oncken,  Bennigsen  II,  206;  vgl.  auch  Hist.  Ztschr.  CIX,  384; 
M.  Busch,  Tagebuchblätter  II,  6.  —  Durch  Eisenhart  hatte  Lutz 
auch  Einfluß  auf  den  König:  Hohenlohe  II,  12;  Kobell  40.  —  Seine 
bedeutende  Rolle  in  Versailles  haben  Brandenburg,  Eintritt  39  ff., 
und  W.  Busch  (Hist.  Ztschr.  CIX,  177  ff.)  betont.  —  Vgl.  auch 
jMlgem.  Deutsche  Biogr.  LV,  555  ff.  (Bitterauf). 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  9 


130  Karl  Alexander  v.  Müller, 

der  nachmalige  Finanzminister^);  Marquard  Barth  und 
Marquardsen,  Lasker  und  Bennigsen;  sicher  aber  auch  Ver- 
treter der  patriotischen  Partei,  von  denen  wir  augenbhcklich 
noch  nichts  wissen.  Und  zwischen  oder  in  mancher  Hinsicht 
über  allen  diesen,  um  den  einsamen  König,  mit  dauerndem 
oder  vorübergehendem  Einfluß,  oder  wenigstens  unmittelbar 
an  ihn  herankommend,  amtliche  Diener,  persönliche  Ver- 
traute, Ratgeber,  Mittler:  der  Kabinettsekretär  v.  Eisenhart, 
in  diesem  Schicksalsjahr  von  den  größten  Verdiensten  um 
König  und  Land^),  der  Flügeladjutant  v.  Sauer,  der  Oberst- 
stallmeister Graf  Holnstein;  die  Grafen  Tauffkirchen,  Hegnen- 
berg,  Berchem;  der  Kanonikus  Trost. 3)  Unsere  Kenntnis 
reicht  noch  lange  nicht  aus,  die  eigentliche  Struktur  all  dieser 
sich  kreuzenden  Einflüsse,  das  Widerspiel  all  dieser  Kräfte 
sicher  aufzudecken. 

Als  ein  bemerkenswerter  Zug  aber  tritt  nun  schließlich 
in  unserem  kleinen  Beitrag  hervor,  wie  Bismarck  zwar, 
direkt  oder  indirekt,  Fühlung  mit  allen  diesen  Kreisen  hat,, 
alle  kennt  und  auf  alle  einwirkt:  —  vor  allem  aber  sucht 
er  doch  immer  wieder  unmittelbar  an  den  König  selbst  zu 
kommen.  Er  mochte  den  Druck  auf  das  Ministerium  durch 
die  Anregungen  über  Sachsen  und  Berlin  für  genügend  halten 
und  sich,  für  den  Fall,  daß  es  zögerte,  einen  neuen  Weg  sichern 
wollen.  Man  weiß,  daß  er  kein  rechtes  Zutrauen  zu  Brays 
Gesinnung  und  Geschäftsgewandtheit  hatte*),  von  näheren 
Beziehungen  zu  Lutz  ist  uns  aus  dieser  Zeit  bis  jetzt  nichts 
bekannt.  Dagegen  hatte  die  Haltung  des  Königs  vor  dem 
Sturz  Hohenlohes^)  und  dann  beim  Ausbruch  des  Krieges^) 


1)  Vgl.  seinen  Briefwechsel  mit  Lasker  (im  Dezember):  Deutsche 
Revue  XVII.  4.  63 ff.;  im  September  wurde  er  auch  als  mutmaß- 
licher Verfasser  des  Programms  in  der  Allgem.  Zeitung  vom  17.  Sep- 
tember genannt:  Allgem.  Zeitung  Nr.  265  vom  22.  Sept. 

2)  Auch  er  galt  in  eingeweihten  Kreisen  als  möglicher  Verfasser 
des  Völderndorffschen  Entwurfes:  Meyer  60. 

3)  Vgl.  Oncken,  Bennigsen  II,  195,  205. 

*)  Vgl.  M.  Busch,  Tagebuchblätter,  Register,  bes.  I,  207, 251  f.,  477- 

s)  Hohenlohe  I,  439. 

^)  Zur  Haltung  Bayerns  im  Juli  1870  vgl.  jetzt  die  wichtige 
neue  Nachricht  bei  Wertheimer,  Andrassy  1,503:  Bayern  und  Würt- 
temberg hätten  kurz  vor  der  Emser  Depesche  in  Wien  die  Erklärung. 


Bismarck  und  Ludwig  II.  im  September  1870.  131 

Bismarcks  guten  Glauben  von  ihm  nur  steigern  icönnen. 
In  den  unveriiohlensten  Äußerungen,  die  wir  aus  jenen 
Monaten  von  ihm  haben,  den  Tischgesprächen,  die  Moritz 
Busch  aufgezeichnet  hat,  erscheint  Ludwig  IL  mehrmals 
in  dem  schneidenden,  grausamen,  blitzscharf  in  Gründe  und 
Abgründe  leuchtenden  Licht  des  Bismarckischen  Blickes  — 
gewöhnlich  mit  zwei  charakteristischen  Zügen,  die  eine  Be- 
merkung vom  20.  Dezember  einmal  in  einem  Satz  zusammen- 
faßt: „Der  Beste  in  den  obern  Regionen  ist  noch  immer 
der  König,  aber  der  ist,  wie  es  scheint,  kränklich,  phantastisch, 
und  wer  weiß,  was  noch  geschieht."^)  Er  war  sich  anfangs 
offenbar  über  die  jähen  Kontraste  in  diesem  Witteisbacher 
noch  nicht  völlig  klar,  und  dies  war  wohl  nicht  der  letzte 
Grund,  warum  er  mit  den  deutschen  Verhandlungen  zögerte^) 
und  Bayern  zunächst  noch  weiter  entgegenkam,  als  sich  später 
nötig  erwies.  Er  hatte  das  Gefühl,  daß  jener  ihm  nicht  traue, 
und  suchte  ihn  mit  dem  sicheren  Griff  des  Genies  am 
tiefsten  Kern  seines  Wesens  zu  packen:  am  königlichen 
Hoheitsgefühl  des  Herrschers,  an  der  Selbstherrlichkeit  des  ge- 
borenen Souveräns,  an  der  unmittelbaren  Eindrucksfähigkeit 
eines  scharfsinnigen,  großdenkenden,  bestimmbaren  Men- 
schen.3)  Von  jenem  ersten,  so  fein  auf  das  fürstliche  Emp- 
finden Ludwigs  IL  berechneten  Zusatz,  mit  dem  er  die  Mit- 
teilung der  Emser  Depesche  nach  München  begleitete,  bis 
zu  dem  berühmten  psychologischen  Meisterstück  des  Kaiser- 
briefes führt  eine  Reihe  unmittelbarer  Einwirkungen  auf 
den  König,  deren  Folgerichtigkeit  und  Unermüdlichkeit  das 
spätere  unerschütterliche  Vertrauen  des  Mißtrauischen  be- 
greifen lassen.  Am  liebsten  hätte  er  ihn  ins  Lager,  in  seinen 
unmittelbaren  Bannkreis  gezogen.  Dies  ist  ihm  nicht  ge- 
lungen. Aber  wir  sehen,  wie  er  dafür  in  eben  diesen  September- 
abgegeben, daß  der  Krieg  Preußens  mit  Frankreich  für  sie  keine  Ver- 
anlassung biete,  sicli  zu  beteiligen. 

1)  M.  Busch,  Tagebuchblätter  I,  553. 

2)  A.  a.  O.  1,  300  (Okt.  16):  „Es  ist  übrigens  komisch,  daß  sie 
denken,  ich  wünschte  die  Einheit  Deutschlands  nicht.  Die  Sache  geht 
nur  nicht  recht  vorwärts  wegen  der  steten  Tergiversationen  Bayerns 
und  Württembergs,  und  weil  man  nicht  genau  weiß,  wie  der  König 
Ludwig  denkt."    Vgl.  auch   I,  190. 

3)  Vgl.  auch  Küntzel  64. 

9* 


132    K.  A.  V.  Müller,  Bismarck  und  Ludwig  II.  im  Sept.  1870. 

Wochen  Fühlung  mit  seiner  nächsten  Umgebung  gewinnt, 
die  ihm  wenigstens  einen  unmittelbaren  Verkehr  und  Ein- 
blicl<  ermöghcht  —  „dabei  konnte  ich  die  Diplomatie  nicht 
gebrauchen". 1)  Und  wir  sehen,  wie  er  in  diesen  Verhand- 
lungen allmählich  die  Natur  des  Königs,  die  ungewohnten 
Verhältnisse  dieses  Hofes  und  dieser  Regierung  völlig  durch- 
schaut und  sich  ihrer  bemächtigt.  Der  erste  Auftrag  Tauff- 
kirchens  hatte  seine  Absichten  wohl  zum  Teil  erfüllt;  der 
zweite,  die  Einladung,  erwies  sich  als  ein  Fehlgriff.  Aber 
die  Lehre,  die  der  Adjutant  Sauer  ihm  hier  gab  —  nicht 
anzufragen,  der  krankhaften  Schwäche  des  Königs  keine 
Zeit  zur  Unschlüssigkeit  zu  lassen,  ihn  durch  einen  geeigneten 
Mann  unmittelbar  vor  den  großen  Entschluß  zu  setzen  — 
hat  Bismarck  nicht  vergessen:  es  ist  das  Rezept  für  die 
Sendung  Holnsteins  und  des  Kaiserbriefes. 


1)  Poschinger,  Bismarck  und  die  Parlamentarier  III,  212.  Von 
wann  Bismarcks  Beziehungen  zu  Holnstein  datieren,  ist  mir  nicht 
bekannt.  Über  die  „gute  Gesinnung"  der  nächsten  Umgebung  des 
Königs  vgl.  auch  Mohls  Bericht  vom  Ende  September  bei  M.  Busch, 
Tagebuchblätter  1,251;  auch  Delbrück  11,417. 


Miszelle. 


Radowitz  de  se  ipso. 

Von 
Friedrich  Meinedce. 

Die  deutsche  Revolution  von  1848/49  organisch  zu  be- 
kämpfen und  die  Ursachen  künftiger  Revolutionen  zu  beseitigen 
durch  Erfüllung  der  nationalpolitischen  Einheitsbedürfnisse,  war 
der  Grundgedanke  der  Politik,  die  Radowitz  als  Ratgeber  und 
FreundFriedrich  Wilhelms  IV.  im  Frühjahr  1849  einleitete.  Sie 
brach,  wie  man  weiß,  im  Herbste  1850  kläglich  zusammen.  Der 
Geschichte  dieses  denkwürdigen  Unternehmens  und  des  Staats- 
mannes, der  es  leitete,  ist  mein  Buch  über  ,, Radowitz  und  die 
deutsche  Revolution"  gewidmet,  das  etwa  gleichzeitig  mit  diesem 
Hefte  im  Mittlerschen  Verlage  erscheinen  wird.  Aus  den  reichen 
Materialien  des  Radowitzschen  Nachlasses,  der  neben  den  Akten 
der  Berhner  Archive  die  Grundlage  meiner  Darstellung  bildete, 
möchte  ich  ein  bezeichnendes  Schriftstück  hier  mitteilen,  das  in 
nuce  zusammenfaßt,  wie  Radowitz  selbst  über  die  Ursachen 
seines  Mißerfolgs  in  dem  Augenblicke  dachte,  wo  die  Katastrophe 
seiner  Politik  und  seines  Ministeriums  zwar  noch  nicht  einge- 
treten war,  aber  unmittelbar  bevorstand.  Am  27.  Oktober  1850, 
wo  er  diese  Zeilen  schrieb,  weilte  der  Ministerpräsident  Graf 
Brandenburg  eben  noch  in  Warschau  und  erfüllte  sich  dort  mit 
der  Überzeugung,  daß  Radowitz  und  sein  Werk  dem  Widerstände 
Österreichs  und  Rußlands  geopfert  werden  müsse.  Wie  Radowitz 
an  sein  Unternehmen  von  vornherein  mit  der  Ahnung  der  Nieder- 
lage gegangen  ist,  so  bezeugt  auch  dieses  Schriftstück  den  pessi- 
mistischen und  fatalistischen  Grundzug  seiner  Denk-  und  Hand- 


134  Friedrich  Meinecke, 

lungsweise.  Zugleich  zeigt  es  die  scharfsinnige  Selbstzergliederung, 
deren  er  fähig  war,  und  die  freilich  doch  nicht  vermochte,  auch  die 
unbewußten  Tiefen  seines  eigenen  staatsmännischen  Ehrgeizes  sich 
aufzudecken.  Das  Motiv  der  persönlichen  Freundestreue  gegen 
den  König,  das  er  hier  zur  Erklärung  seiner  Fehler  geltend 
macht,  tritt  deswegen  vielleicht  etwas  zu  stark  in  den  Vorder- 
grund. Aber  die  wichtigsten  der  Fäden,  die  in  seinem  tragischen 
Schicksal  zusammenliefen,  wird  man  getreu  wiedergegeben  finden. 

De  se  ipso. 

Wer  in  der  Gegenwart  und  Zukunft  über  mich  und  mein 
Verhalten  reden  will,  der  muß  damit  anfangen,  einzusehen,  daß 
mein  Verhältnis  ein  exzeptionelles  gewesen  ist  und  stets  ist. 
Ich  hänge  mit  Preußen  nicht  bloß  durch  die  Dienstpflicht  zu- 
sammen, sondern  zugleich  durch  das  Band  der  innigsten  Freund- 
schaft seines  Königs.  Ich  kann  und  will  daher  die  Dinge 
nicht  bloß  unter  dem  ersteren  Gesichtspunkte  betrachten,  sondern 
ich  muß  stets  den  zweiten  hinzuziehen.  Dies  ist  mein  Geschick 
und  die  innerste  Erklärung  meiner  Handlungsweise. 

Der  König  ist  die  wunderbarste  Natur,  die  je  auf  einem 
Throne  gesessen  hat.  Er  liebt  die  Freiheit  und  zugleich  den  Ab- 
solutismus, er  will  die  nationale  Einheit  Deutschlands  und  zu- 
gleich die  Bewahrung  des  dynastischen  Partikularismus,  insbe- 
sondere aber  der  Oberherrschaft  des  „durchlauchtigen  Erzhauses". 
Beide  Richtungen  sind  gleich  wahr,  gleich  mächtig  in  ihm;  es  ist 
keine  Halbheit,  kein  Schwanken  in  seiner  Seele,  natürlich 
aber  im  höchsten  Grade  in  seinen  Handlungen.  Beides 
möchte  er  nebeneinander  her  führen,  beides  festhalten  und  ver- 
ehren. 

Ich  meinerseits  bin  durch  die  innere  und  äußere  Entwicklung 
meines  Lebens  aus  einem  ähnlichen  Dualismus  heraus  auf  den 
einen  Pol  desselben  hingewiesen  worden.  Ich  will  die  rechtliche 
Freiheit,  ich  erkenne  ihre  wahre  Verwirklichung  in  der  echt 
ständischen  Regierungsform,  aber  ich  kann  nicht  die  Augen  vor 
der  Gewißheit  verschließen,  daß  der  geschichtliche  Moment,  in 
dem  wir  leben,  auf  die  sog.  konstitutionelle  Form  angewiesen  ist, 
und  daß  es  daher  die  höhere  Aufgabe  bleibt,  aus  dieser  heraus 
in  wahrhaft  historischem  und  organischem  Wege  zu  der  ständischen 
zu  gelangen.    Für  Deutschland  ist  mir  die  Notwendigkeit  wie  die 


Radowitz  de  se  ipso.  135 

heilige  Pflicht  der  Aufrichtung  eines  nationalen  Gemeinwesens 
ganz  unwiderleglich  sicher;  die  entgegenstehenden  Rücksichten 
dagegen  als  gänzlich  unfähig,  hiervon  zu  dispensieren. 

In  diesem  Sinne  habe  ich  daher  dem  Könige  zur  Seite  ge- 
standen; ich  habe  getrachtet,  nach  allen  Kräften  das  Element  der 
freien  Verfassung  in  der  inneren  Frage  und  das  der  nationalen 
Einheit  in  der  deutschen  Frage  bei  ihm  aufrechtzuhalten  und 
gegen  das  entgegengesetzte  zu  vertreten. 

Da  nun  gerade  derselbe  Dualismus  auch  in  der  Zeit  überhaupt 
und  in  Preußen  insbesondere  wirksam  ist,  so  erwuchs  hieraus  die 
Pein,  die  Mühe  und  der  Undank  meiner  Lage. 

Ich  habe  um  des  Gewissens  und  der  Vernunft  willen  der 
kontrerevolutionären  Partei  in  Preußen  entgegentreten  müssen 
und  ihren  Haß  geerntet.  Ich  habe  gegen  das  österreichische  und 
russische  Andringen  und  gegen  die  selbstsüchtige  Bosheit  der 
kleinen  deutschen  Dynastien  gekämpft,  um  der  Pflicht  gegen  die 
Nation  und  gegen  Preußen  selbst  willen. 

Auf  der  anderen  Seite  habe  ich  die  Schmähungen  und  Ver- 
folgungen der  großen,  aus  den  verschiedenartigsten  Schattierungen 
zusammengesetzten  Partei  hinnehmen  müssen,  die  im  Inneren  den 
antimonarchischen  Konstitutionalismus,  in  der  deutschen  Sache 
die  Anwendung  aller  Mittel  zu  dem  gesteckten  Ziele  anstrebt. 
Auch  der  Unverstand,  der  die  Tragweite  seiner  eigenen  Denkweise 
nicht  ahnt,  der  nicht  weiß,  daß  eben  auf  den  Wegen,  in  die  er 
lautschreiend  die  Regierung  drängen  möchte,  die  deutsche  Sache 
ganz  sicher  und  auf  lange  hinaus  zugrunde  gerichtet  würde, 
auch  dieser  hat  die  Haufen  meiner  Feinde  gemehrt. 

Ist  dieses  aber  das  Ende  der  schmerzlichen  Betrachtung? 
Leider  nein.  Denn  auch  den  Weg,  den  ich  selbst  als  den  wahrhaft 
verständigen  und  gerechten  erkenne,  habe  ich  nicht  stetig,  klar 
und  fest  verfolgen  können.  Das  antagonistische  Element  im 
Könige  hat  dies  nie  zugelassen,  und  sich  hieran  anlehnend  ist  bald 
genug  auch  derselbe  Geist  in  dem  Ministerium  mächtig  geworden. 
Ich  habe  nicht  zu  den  rechten  Zielen  die  rechten  Mittel  ergreifen 
dürfen,  ich  habe  nicht  fragen  dürfen,  was  ist  das  beste,  sondern 
mich  nur  zu  oft  damit  begnügen  müssen,  das  minder  Mangelhafte 
anzuwenden.  Dies  ist  mein  tiefstes  Unglück,  es  ist  das  auch  der 
Grund,  weshalb  ich  das  beispiellose  Mißtrauen,  das  sich  an  meinen 
Namen   knüpft,  erklärbar,  ja  gerechtfertigt  finden  muß.      Die 


136  Friedrich  Meinecke,  Radowitz  de  se  ipso. 

Mitwelt  wird  hier  wahrscheinlicii  nie  klar  sehen,  vielleicht  auch 
nicht  die  Nachwelt. 

Allerdings  kann  man  mich  fragen,  weshalb  schiedest  du 
nicht  aus  von  diesem  Treiben,  wenn  das  deiner  Überzeugung  Ent- 
sprechende nicht  geschah?  Hierauf  habe  ich  eben  nur  die  Ant- 
wort, mit  der  ich  oben  begann:  Weil  ich  an  Preußen  nicht  bloß 
durch  den  Dienst,  sondern  auch  durch  jene  wunderbare  Ver- 
kettung mit  der  Person  des  Königs  gebunden  bin.  Ich  habe  mit 
schmerzlicher  Selbstverleugnung  ausharren  und  immer  wieder 
aufs  neue  danach  ringen  müssen,  Übleres  abzuwenden,  die  Ehre 
Preußens,  die  Verpflichtung  gegen  die  deutsche  Nation  soweit 
zu  wahren,  als  es  unter  solchen  Umständen  möglich  war.  Wie 
lange  noch,  das  wird  sich  bald  zeigen,  da  ich  nun  auch  in  die 
äußere  Verpflichtung  getreten  bin.i)  Ich  hatte  dies  gemieden, 
eben  wegen  jener  Doppelbeziehung,  die  mich  zum  Minister  im 
sog.  konstitutionellen  Sinne  eigentlich  unfähig  macht.  Man  hat 
von  mir  verlangt,  daß  ich  jetzt  mit  meiner  Person  bezahle;  dem 
durfte  ich  mich  nicht  entziehen,  nachdem  ich  die  Gegengründe 
dargelegt  hatte.  Nunmehr  wird  der  letzte  Akt  bald  herannahen, 
und  mit  ihm  auch  der  größte  Schmerz  für  den  König  und  mich! 
Eins  nehme  ich  mit:  das  Bewußtsein,  daß  ich  nie  mich  selbst  ge- 
sucht habe. 

27.  Oktober  1850. 


^)  Am  26.  September  1850  hatte  er  das  Ministerium  des  Aus- 
wärtigen übernommen. 


Literaturbericht. 


Idee  und  Persönlichkeit  in  der  Kirchengeschichte.    Von  Walther 
Köhler.    Tübingen,  Mohr.    1910.    VIII  u.  103  S. 

Die  Züricher  Antrittsrede  des  bekannten  Lutherforschers 
behandelt  das  ganz  allgemeine  Problem,  was  überhaupt  Wesen 
und  Aufgabe  der  Geschichte  des  Christentums  sein  könne  und 
sein  müsse.  Indem  diese  Frage  von  den  allgemeinsten  Prinzipien 
der  Geschichtsforschung  überhaupt  aus  behandelt  wird,  ist  die 
feine,  an  geistreichen  Bemerkungen,  vielseitigen  Mitteilungen 
und  ernster  Denkarbeit  reiche  Abhandlung  auch  von  allgemein 
historischer  Bedeutung.  Köhler  neigt  dazu,  die  Aufgabe  der 
Historie  in  der  Weise  Hegels  zu  bestimmen  als  die  Aufgabe, 
eine  durch  den  gesamten  Kausalnexus  des  Einzelgeschehens 
hindurch  sich  entwickelnde  Idee  als  das  Wesen  der  historischen 
Komplexe  anzusehen  und  die  Darstellung  durch  den  Aufweis 
dieser  Idee  zu  organisieren.  Es  ist  ihm  auch  jedenfalls  zuzu- 
gestehen, daß  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie 
und  der  Religion  diese  Auffassung  verhältnismäßig  leicht  durch- 
zuführen ist.  So  ist  ihm  die  sog.  Kirchengeschichte  in  Wahrheit 
Geschichte  des  Christentums  und  diese  wiederum  die  Entwick- 
lungsgeschichte der  „christlichen  Idee",  als  welche  er  in  der 
Weise  Hegels  die  Idee  der  Gottmenschheit  erkennt.  Das  Ganze 
ist  eine  Rückkehr  zu  dem  Programm  der  Tübinger  Schule,  die 
ja  zum  ersten  Male  überhaupt  eine  Gesamtgeschichte  des  Christen- 
tums in  wirklich  historischem  Sinne  geschaffen  und  dazu  sich 
der  Hegeischen  „Idee"  als  des  Mittels  zur  Organisation  des  Stoffes 
bedient  hat.  Wenn  nun  aber  K.  seinem  Problem  die  besondere 
Fassung  einer  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  „Idee  und  Per- 


138  Literaturbericht. 

sönlichkeit"  gegeben  hat,  so  hat  das  darin  seinen  Grund,  daß 
auf  jene  Leistung  der  Tübinger  Schule  der  Gegenschlag  der  heu- 
tigen, in  ihrem  Führer  Adolf  Harnack  verkörperten  Kirchen- 
geschichtschreibung gefolgt  ist,  welche  die  Organisation  des 
christentumsgeschichtlichen  Stoffes  durch  die  in  ihm  sich  ent- 
wickelnde Idee  als  eine  unzutreffende  Rationalisierung  der  Ge- 
schichte empfand,  daher  die  irrationalen  Momente  der  großen 
schöpferischen  Persönlichkeiten  in  den  Vordergrund  stellte  und 
von  deren  unberechenbarem  Auftreten,  ihrem  irrational  hervor- 
tretenden Lebensinhalten,  dem  von  ihnen  ausgehenden  persön- 
lich-suggestiven Einfluß  aus  die  großen  Mächte  und  Ereignisse  der 
Christentumsgeschichte  verstand.  K.  hat  mit  Recht  den  bald 
größeren,  bald  geringeren  Anteil  der  supranaturalen  Dogmatik  an 
solchen  Sätzen  betont  und  dessen  Ausscheidung  verlangt.  Werde 
dieser  ausgeschieden,  dann  werde  es  unumgänglich,  die  Bedeutung 
dieser  Persönlichkeiten  gerade  in  ihrer  konkreten  und  mächtigen 
Verkörperung  von  Ideen  zu  finden.  Es  verschwinde  also  der 
Gegensatz  zwischen  beiden  Begriffen.  Indem  die  Idee  rein  immanent 
aus  dem  geschichtlichen  Stoffe  selbst  erst  zu  gewinnen  ist,  indem 
sie  nur  in  lebendigen  Personen  lebt  und  durch  sie  hindurch  zu 
einzelnen  Heroen  sich  aufgipfelt,  nimmt  sie  den  Begriff  der  Per- 
sönlichkeiten in  sich  auf  und  teilt  mit  ihnen  die  Irrationalität, 
die  Unmöglichkeit  der  vollständigen  Erklärung  ihres  Ursprungs. 
Diese  Erklärung  veriäuft  ins  Metaphysische,  begründet  aber 
keine  formell-supranaturale  Autorität.  Indem  umgekehrt  die 
Bedeutung  der  Persönlichkeiten  in  dem  lebendig  verkörperten 
und  wirksam  gemachten  ideellen  Gehalte  liegt,  werden  diese 
wieder  zu  Organen,  Quellpunkten,  Fortleitern  der  Idee,  die 
eine  überindividuelle  Lebenskraft  und  Eigentendenz  besitzt. 
Mir  scheint  diese  Auflösung  des  Gegensatzes  ganz  richtig,  wenn 
ich  auch  hinzufügen  möchte,  daß  es  schwierig  ist,  die  Idee  des 
Christentums  als  einheitüches  Entwicklungsprinzip  der  christ- 
lichen oder  wenigstens  relativ  christlichen  Kulturwelt  zu  formu- 
lieren. In  Wahrheit  hat  das  noch  niemand  in  einer  historischen 
Darstellung  befriedigend  durchführen  können. 

Diese  Schwierigkeit  weist  auf  den  Einwand  oder  die  Ergän- 
zung hin,  die  ich  zu  K.s  Ausführung  für  meine  Person  machen 
müßte.  Was  K.  gibt,  ist  ein  durch  und  durch  , .ideologisches" 
Prinzip  der  Geschichtsforschung.  Es  ist  etwas  Berechtigtes  daran, 


Allgemeines.  139 

besonders  wo  es  sich  um  eine  so  ideelle  Bewegung  wie  die  christ- 
liche Religion  handelt.  Aber  wie  eine  solche  Ideologie  z.  B.  auf 
dem  politischen  Gebiet  nicht  durchführbar  ist,  so  ist  sie  auch 
auf  dem  religiösen  Gebiete  nur  bedingt  durchführbar.  Die  Kau- 
salität der  Geschichte  ist  da  zu  sehr  als  rein  logisch-ideelle  Ent- 
wicklungstendenz gefaßt  wie  bei  Hegel.  In  Wahrheit  zeigt 
bei  einer  näheren  soziologischen  Beleuchtung  die  Idee  ihre  starke 
Beeinflussung  durch  die  aus  ihr  hervorgehenden  Gemeinschafts- 
bildungen, Organisationen  und  Institutionen.  Es  liegen  in  ihr, 
d.  h.  in  der  christlichen,  verschiedene  Möglichkeiten  solcher  Selbst- 
organisation, sie  haben  rückwirkend  die  Idee  aufs  tiefste  bestimmt. 
Das  Einteilungsprinzip  für  die  Ordnung  der  christlichen  An- 
schauungen liegt  in  erster  Linie  in  den  aus  der  Idee  hervorgehenden 
Gemeinschaftsformen  und  in  deren  Rückwirkung  auf  die  Idee. 
Dazu  kommt  dann  weiter,  daß  der  von  der  religiösen  Idee  be- 
herrschte oder  zu  erobernde  Boden  bereits  mit  den  soziologischen 
Bildungen  des  Staates,  der  Wirtschaft,  der  Familie,  der  Gesell- 
schaft besetzt  ist,  die  der  religiösen  Idee  nur  eine  sehr  bedingte 
Auswirkung  möglich  machen  oder  sie  in  bestimmte  Richtungen 
lenken.  Hier  ergeben  sich  Wechselwirkungen,  die  die  stärkste 
Bedeutung  für  die  wirkliche  Entwicklung  haben  und  die  erst 
im  Zufall  des  Zusammentreffens  ganz  verschiedener,  voneinander 
ursprünglich  unabhängiger  Bildungen  begründet  sind.  Die  ge- 
danklichen Darstellungen  von  Dogma  und  Ethik  sind  dadurch 
natürlich  nicht  ausschließlich,  aber  doch  in  weitem  Umfang  be- 
dingt. Das  rein  Ideologische  und  das  Soziologische  liegen  fort- 
während ineinander,  bald  mehr  mit  dem  Übergewicht  des  einen, 
bald  mehr  mit  dem  des  anderen.  Ich  habe  diesen  verwickelten 
und  jedesmal  von  Fall  zu  Fall  zu  klärenden  Tatbestand  in  meinen 
„Soziallehren"  darzustellen  versucht.  Auch  Harnack  hat  doch 
nicht  bloß  die  Persönlichkeiten,  sondern  vor  allem  die  Institutionen 
gegen  die  bloße  Ideologie  geltend  gemacht,  womit  freilich  nur 
erst  ein  Teil  des  hier  vorliegenden  Problems  in  Arbeit  genommen 
ist.  Damit  aber  ist  etwas  in  die  historischen  Kausalitäten  ein- 
geführt, das  weder  Idee  noch  Persönlichkeit  ist,  sondern  in  dem 
Naturgesetz  der  soziologischen  Selbstgestaltung  alles  Ideellen 
und  in  dem  historischen  Zufall  des  Aufeinanderstoßens  und 
Verschmelzens  dieser  verschiedenen  Bildungen  begründet  ist. 
K.  hat  nun  dieses  soziologische  Element  allerdings  nicht  über- 


140  Literaturbericht. 

sehen,  aber  er  hat  es  in  eine  m.  E.  irrtümliche  Beleuchtung  ge- 
bracht, wenn  er  in  dem  Verhältnis  zwischen  Individuum  und  Gruppe 
oder  Masse,  d.  h.  in  den  dieses  ausdrückenden  soziologischen 
Begriffen,  nur  eine  Umformung  des  alten  Verhältnisses  der  Per- 
sönlichkeit und  Idee  erkennt,  S.  42:  „Deutlich  steckt  hinter 
dem  neuen  Begriff  der  Masse  der  alte  der  Idee."  Nein,  ganz  und 
gar  nicht.  Die  Idee  W.  v.  Humboldts  und  Hegels  ist  ein  seine 
eigene  innere  Dialektik  besitzender  Gedanke,  der  diese  Dialektik 
im  einzelnen  und  in  Massen  entfalten  kann,  der  aber  immer 
einen  in  ihm  enthaltenen  Zwecktrieb  auswirkt.  Die  soziologischen 
Gesetze  dagegen  sind  psychologische  Naturgesetze,  die  aus  der 
Spaltung  der  Seele  in  Eigenleben  und  Wechselbeziehung  folgen 
und  die  mit  dem  ideologischen  Element  die  allerkompHziertesten 
Verhältnisse  eingehen,  die  es  jedesmal  von  Fall  zu  Fall  in  ihrer 
gegenseitigen  Bedingtheit  aufzuhellen  gilt.  Unter  diesen  Um- 
ständen ist  es  aber  dann  kaum  möglich,  für  eine  so  komplizierte 
Erscheinung  wie  das  Christentum  eine  leitende  Idee  zu  finden, 
die  den  ganzen  historischen  Komplex  in  dauernder  organischer 
Entwicklungsnotwendigkeit  umspannte.  Die  „Notwendigkeit  der 
Idee"  findet  nicht  bloß,  wie  auch  K.  sagt,  an  der  „Freiheit"  der 
Persönlichkeit  ihre  Grenze,  sondern  auch  an  den  soziologischen 
Gesetzen  und  an  dem  historischen  Zufall  zusammenstoßender 
verschiedener  Entwicklungslinien  und  Gesamtverhältnisse. 

Schränkt  sich  von  dieser  Seite  her  die  allzu  ideologische 
Auffassung  der  Religionsgeschichte  ein,  so  zeigt  sich  etwas  Ähn- 
liches in  K.s  eigener  Ausführung  über  die  Idee,  die  er  beständig 
mit  historischen  Gesetzen  zusammenfaßt.  So  unterscheidet  er 
„Formalideen"  und  „Materialideen".  Die  Formalideen  sind  ihm 
dauernde  Formen  historischer  Gestaltung,  wie  Drama,  Epos, 
Lyrik,  oder,  auf  dem  Gebiete  der  Religion,  wie  Sakrament, 
Kultus,  Symbol.  Die  Materialideen  sind  die  eine  inhaltliche 
Entwicklungstotalität  hervortreibenden  und  zusammenhalten- 
den geistigen  Triebkräfte.  Allein  nur  das  letztere  ist  Idee  im 
Hegeischen  und  Humboldtschen  Sinne  und  als  solche  sicher- 
lich eine  der  vielen  historischen  Kausalitäten.  Jene  Formal- 
ideen aber  sind  allgemeine,  bei  verschiedenstem  Inhalt  wieder- 
kehrende Formen  oder,  wenn  man  will,  Naturgesetze.  Sie  gehören 
einer  völlig  anderen  Kategorie  historischer  Begriffe  an,  jener 
von  Rickert  so  genannten  Mischkategorie  aus  allgemeiner  und 


Allgemeines.  141 

individualisierender  Begriffsbildung.  Man  darf  beides  durchaus 
nicht  unter  einen  Begriff  bringen;  es  wäre  derselbe  Fehler  wie 
der,  die  überindividuelle  Triebkraft  der  Idee  und  die  soziologi- 
schen Gesetze  der  Gruppenbildung  und  des  Massenlebens  zu 
identifizieren. 

Die  Reihe  der  historischen  Kausalitäten  ist  damit  nicht  zu 
Ende;  aber  davon  ist  hier  nicht  zu  reden,  da  K.  weitere  nicht 
berührt.  Jedenfalls  ergibt  sich  aber  schon  aus  dem  Bisherigen, 
daß  die  Betrachtungsweise  K.s  einseitig  ideologisch  ist  und 
in  dieser  Einseitigkeit  auch  nicht  einmal  auf  dem  Gebiete  der 
Religionsgeschichte  durchgeführt  werden  kann.  Die  Parole 
„Zurück  zu  Hegel"  kann  ich,  wie  alle  ähnlichen  Rückwärtsparolen, 
nicht  für  glücklich  halten.  Wir  sollten  lieber  vorwärts  zu  uns 
selber  kommen,  was  ja  wohl  auch  im  Grunde  K.s  Meinung  ist, 
da  seine  Aufstellungen  von  der  Hegeischen  Metaphysik,  dem 
Untergrund  seiner  Geschichtstheorie,  doch  nicht  allzuviel  stehen 
lassen. 

Heidelberg.  Troeltscfi. 


Jahresberichte  der  Geschichtswissenschaft.  Im  Auftrage  der 
Historischen  Gesellschaft  zu  Berlin  herausgegeben  von 
G.  Schuster.  30.  bis  33.  Jahrg.,  1907-1910.  Jedesmal  vier 
Teile  in  zwei  Bänden.  Berlin,  Weidmannsche  Buchhand- 
lung. 1909—1912.  410,  574,  468,  322;  258,  483,  427,  300;  284, 
566,  461,  253;  275,  586,  369,  351. 

Bis  zu  Jahrg.  1906  ist  über  die  Jahresberichte  der  Geschichts- 
wissenschaft in  Bd.  103  (S.  565  ff.)  der  Hist.  Zeitschr.  berichtet 
worden.  Die  seitdem  erschienenen  Bände  geben  zur  Wieder- 
holung der  früher  ausgesprochenen  Klage  Anlaß,  daß  eine  beträcht- 
liche Zahl  von  Referaten  nicht  geliefert  worden  ist;  anderseits 
ist  auch  von  mancher  interessanten  neuen  Erscheinung  zu  reden. 
Es  spiegelt  sich  in  der  Geschichte  der  „Jahresberichte"  die  all- 
gemeine Entwicklung  der  Geschichtswissenschaft  wieder:  ein 
starker  Ausbau  der  einzelnen  Teile  unserer  Disziplin  und  die 
Schaffung  neuer  Spezialgebiete;  demgegenüber  eine  relative 
Verminderung  der  Publikationen  allgemeinen  Inhalts.  Nicht  eine 
absolute  Verminderung;  manches  neue  Unternehmen,  das  sich  die 
Zusammenfassung  großer   Perioden  oder  Materien  zum  Zweck 


142  Literaturbericht. 

setzt,  tritt  ja  hervor;  wir  i<önnen  sogar  einen  Fortschritt  in  dieser 
Hinsicht  gegenüber  früheren  Jahren  verzeichnen.  Aber  im  ganzen 
ist  doch  der  Ausbau  der  Spezialgebiete  stärker,  fast  verwirrend 
stark.  So  ist  es  denn  z.  B.  charakteristisch,  daß  ein  so  zentrales 
Kapitel  wie  die  griechische  Geschichte  zwar  in  Abteilungen  zer- 
legt, aber  in  der  einen  Abteilung  nur  selten,  in  der  andern  seit 
sehr  langer  Zeit  gar  nicht  bearbeitet  worden  ist,  daß  ferner  die 
Spalten  für  unsere  mittelalterlichen  Kaiser  zurzeit  leer  stehen, 
während  der  Geschichte  der  drei  Hansestädte  seit  dem  Jahrg.  1905 
je  ein  besonderer  Paragraph  gewidmet  und  dieser  regelmäßig  und 
mit  Feuereifer  bearbeitet  wird.  Auch  sonst  (so  bei  der  Kirchen- 
geschichte) bemerkt  man  die  zunehmende  Teilung  der  Arbeit.  Man 
könnte  einen  Widerspruch  zu  unserer  obigen  Bemerkung  darin 
sehen,  daß  die  Spezialgebiete  der  Paläographie  und  Diplomatik  seit 
unendlich  langer  Zeit  unbearbeitet  gebUeben  sind.  Allein  diese 
Spezialgebiete  spalten  sich  allmählich  wieder  in  Unterabteilungen 
(besonders  die  Diplomatik),  so  daß  schon  viel  dazu  gehört,  das 
ganze  Gebiet  zu  beherrschen.  Sodann  Hegen  die  Berichte  über 
Paläographie  und  Diplomatik  in  der  Hand  von  Forschern,  die 
mitten  in  einer  durch  die  mannigfachsten  Anforderungen  an- 
gespannten Arbeit  stehen.  Es  wird  sich  wohl  als  zweckmäßig 
empfehlen,  für  die  Referate  jüngere  Kräfte  heranzuziehen,  wie 
ja  auch  das  Rezensieren  im  Lauf  der  letzten  Jahrzehnte  mehr 
und  mehr  Arbeit  der  Jüngeren  geworden  ist.  Jahrg.  1910  (IV, 
S.  46  ff.)  bringt,  nach  sehr  langer  Wartezeit,  die  angenehme 
Überraschung  eines  Referats  über  Philosophie  und  Methodologie 
der  Geschichte,  von  E.  Bleich.  Die  fehlenden  Jahrgänge  bis 
1908  hat  der  Verf.  nicht  nachgeholt,  sondern  auf  die  in  diesem 
Jahr  erschienene  neue  Auflage  von  Bernheims  Lehrbuch  ver- 
wiesen und  erst  von  da  an  sein  Referat  erstattet.  Dies  Verfahren 
wird  bei  der  Diplomatik  demnächst  gewiß  ähnlich  anzuwenden 
sein.  Beachtung  verdient  es,  daß  in  das  Referat  über  Philosophie 
und  Methodologie  der  Geschichte  einige  Dinge  aus  dem  über  Kultur- 
geschichte übernommen  worden  sind  (s.  Jahrg.  1910,  IV,  S.  56u.64; 
ebenda  S.  56  Z.  2  lies  statt  31  11:31  IV):  nämlich  die  „soziolo- 
gische" Literatur  und  die  über  die  Geschichte  der  neueren  Hi- 
storiographie. Dies  ist  durchaus  zweckmäßig;  künftig  sollte  man 
es  aber  auch  direkt  in  der  Überschrift  des  Referats  zum  Aus- 
druck bringen,  daß  es  die  Entwicklung  der  Historiographie  mit 


Allgemeines.  143 

berücksichtigt,  zumal  die  Beschäftigung  mit  den  historiographi- 
schen  Fragen  eine  fortschreitend  größere  Ausdehnung  annimmt. 
Die  Zusammenstellung  „soziologischer"  Arbeiten  erfolgt  natür- 
lich wesentlich  mit  Rücksicht  auf  das  im  Titel  der  Schriften  vor- 
kommende Wort  „soziologisch".  Eine  besondere  Disziplin  „So- 
ziologie" zu  konstruieren,  ist  ja  ganz  unmöglich;  wir  treiben  alle, 
Philologen,  Theologen,  Juristen,  Nationalökonomen,  Historiker, 
„Soziologie",  und  auch  wer  sich  mit  Kriegsgeschichte  beschäftigt, 
treibt  sie.^)  Was  unter  dem  Titel  „Soziologie"  vorgebracht  wird, 
ist  (falls  es  überhaupt  etwas  ist)  entweder  Geschichtsphilosophie 
oder  andersartige  Philosophie  oder  Nationalökonomie  usw.  Es 
wäre  wünschenswert,  wenn  in  jenem  Referat  die  besondere 
Firma  „Soziologie"  fortfiele  und  die  betreffende  Literatur  unter 
den  speziellen  Kategorien  behandelt  würde. 

Im  Hinblick  auf  den  Umstand,  daß  regelmäßig  so  viele  Re- 
ferate ausbleiben  und  auch  sonst  Unregelmäßigkeiten  in  der 
Berichterstattung  vorkommen,  hat  man  mancherlei  Abänderungs- 
vorschläge für  die  Organisation  der  Jahresberichte  vorgeschlagen 
(vgl.  z.  B.  0.  Kende,  Deutsche  Literaturzeitung  1909,  Sp.  3247  f.; 
1911,  Sp.  2796  f.;  1912,  Sp.  2863  ff.).  Indessen  dürfte  die  Bes- 
serung, wie  auch  oft  im  politischen  Leben,  weniger  durch  die 
Änderung  der  Verfassung  als  durch  die  Wahl  geeigneter  Per- 
sönlichkeiten zu  suchen  sein.  Wenn  man  z.  B.  ein  passendes 
Mittel  der  Abhilfe  darin  gesehen  hat,  daß  Referate  über  bestimmte 
Gebiete  abwechselnd  nur  jedes  zweite  Jahr  gebracht  werden, 
so  kommt  die  Praxis  ja  oft  genug  darauf  hinaus.  Einen  Grundsatz 
daraus  zu  machen,  dürfte  sich  aber  schon  deshalb  nicht  emp- 


')  Als  ich  im  Jahre  1903  in  die  Redaktion  der  Vierteljahr- 
schrift für  „Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte"  eintrat,  hat  mir 
selbstverständlich  der  Titel  „Sozialgeschichte"  Gedanken  gemacht. 
Ich  lege  mir  diesen  Titel  indessen  so  zurecht,  daß  dadurch  über 
das  Gebiet  der  Wirtschaftsgeschichte  hinaus  ein  etwas  weiterer 
Rahmen  gesichert  werden  soll.  Natürlich  aber  erhält  die  Zeit- 
schrift ihren  eigentlichen  Charakter  durch  das  Wort  Wirtschafts- 
geschichte. Im  übrigen  verweise  ich  zur  Frage  der  Soziologie 
auf  meine  Bemerkungen  in  H.  Z.  106,  S.  103  Anm.  1.  Vgl.  dazu 
auch  Vierkandt,  Deutsche  Literaturzeitung  1912,  Nr.  16,  Sp.  1010,. 
der  das  Recht  der  Einzelwissenschaften  gegenüber  den  „sozio- 
logischen Systemen"  betont. 


144  Literaturbericht. 

fehlen,  weil  doch  mancher  Referent  im  nächsten  Jahr  vielleicht 
zu  leisten  verhindert  ist,  was  er  im  ersten  noch  bieten  konnte. 
Noch  weniger  möchten  wir  dem  Vorschlag  beistimmen,  verwandte 
Berichtseinheiten  in  größere  Berichtsabschnitte  zusammenzu- 
ziehen. Sachlich  ließe  sich  ja  einiges  dafür  anführen  (so  die  Ver- 
meidung von  Wiederholungen).  Aber  es  würde  die  Schwierig- 
keiten, Referenten  zu  finden,  erhöhen,  da  sich  nun  einmal  überall 
die  Neigung  der  Beschränkung  auf  ein  engeres  Gebiet  beob- 
achten läßt.  Es  wird  wohl  (was  freilich  eine  nicht  leichte  Auf- 
gabe ist)  nur  übrig  bleiben,  durch  die  Auswahl  der  Persönlich- 
keiten Abhilfe  zu  schaffen,  wobei,  wie  vorhin  angedeutet,  im 
Zweifelsfall  der  jüngeren  Kraft  der  Vorzug  zu  geben  wäre. 

Um  ein  paar  Einzelheiten  zu  berühren,  so  sollte  in  dem 
Referat  über  Italien,  da  der  Text  deutsch  gegeben  wird,  konse- 
quenterweise auch  in  den  Anmerkungen  die  deutsche  Sprache 
angewandt  werden  (vgl.  Jahrg.  1909,  III,  S.  455  ff.).  An  den 
Referaten  „Ottonen  und  Salier"  hat  S.  Hellmann  in  Hist.  Zeitschr. 
105,  S.  564  ff.  Kritik  geübt.  Gar  zu  sehr  mit  lobenden  Prädikaten 
wirft  Spatz  in  seinem  Referat  über  Brandenburg  um  sich  (vgl. 
Jahrg.  1910,  II,  S.  468  ff.),  mitunter  so,  daß  der  Verf.  die  herge- 
stellte Beziehung  abzulehnen  geneigt  sein  kann  (S.  472  bei  Anm.21). 
Den  Jahresberichten  ist  eine  mehr  der  Sache  als  den  Personen 
gewidmete  Darstellung  angemessen.  In  den  Referaten  über  die 
drei  Hansestädte  zeigt  sich,  wie  bemerkt,  viel  schöner  Eifer. 
Aber  das  Referat  über  ein  Buch  zu  einer  eingehenden  Rezension, 
mit  Notierung  kleinerer  Versehen,  zu  erweitern  (so  Ohnesorge, 
Jahrg.  1909,  II,  S.  478  ff.),  ein  solches  Verfahren  halten  wir  nicht 
für  praktisch,  wenn  wir  auch  jede  Art  der  Belehrung  an  sich  be- 
grüßen. Eine  Forderung,  die  wir  schon  früher  aufgestellt  haben 
und  die  inzwischen  von  anderer  Seite  unterstützt  ist,  möchten 
wir  wiederholen,  nämlich  die,  die  Angabe  der  namhafteren  Re- 
zensionen obligatorisch  zu  machen.  Um  nur  ein  Beispiel  heraus- 
zugreifen, wie  sehr  würde  sich  der  Referent  in  Jahrg.  1907,  II, 
S.  40  f.  die  Benutzer  zu  Dank  verpflichtet  haben,  wenn  er  zu  der 
Arbeit  von  Rörig  über  die  Landeshoheit  des  Trierer  Erzbischofs 
die  Rezension  von  Rietschel,  Vierteljahresschrift  f.  Soz.  u.  Wirt- 
schafts-G.  Bd.  5,  S.  335  ff.  notiert  hätte!  Es  steckt  doch  eben 
in  einer  Rezension  oft  ebensoviel  Aufklärung  wie  in  einer  langen 
Abhandlung. 


Allgemeines.  145 

Dem  Referat  über  Philosophie  und  Methodologie  der  Ge- 
schichte, das  nach  langer  Wartezeit  wieder  auftaucht  (Jahrg.  1910, 
IV,  S.  46  ff.),  möchte  ich  einige  Worte  widmen.  Dem  Widerspruch, 
den  der  Ref.  Diethers  Buch  „L.  v.  Ranke  als  Politiker"  entgegen- 
setzt, trete  ich  durchaus  bei,  wie  ja  auch  schon  Meinecke  Wider- 
-spruch  erhoben  hat  (Weltbürgertum  und  Nationalstaat,  2.  Aufl., 
S.  281  Anni.  1).  Der  begabte  Autor  ist  hier  doch  leider  einen  Irr- 
weg gegangen.  Aus  dem  18.  Jahrhundert,  dem  Diether  Ranke 
wesentlich  zuweisen  will,  ist  dieser  m.  E.  gar  nicht  zu  erklären. 
Zu  den  Bemerkungen  des  Ref.  über  Lamprechts  Geschichtsauf- 
fassung ist  jetzt  die  eingehende  Kritik  der  letzteren  von  Brandi, 
Gott.  Gel.  Anz.  1912,  Nr.  11,  S.  652  ff.,  hinzuzunehmen.  Es  ist 
darin  sehr  richtig  auf  den  Kernpunkt  des  ganzen  Streits,  die  Frage 
der  Einheit  der  Kultur,  hingewiesen  und  im  Zusammenhang  damit 
wird  mit  vollem  Recht  der  beschränkte  Wert  der  vergleichenden 
Methode  (S.  662  und  666;  vgl.  dazu  meine  Bemerkungen  in  der 
Histor.  Vierteljahrschrift  1904,  S.  61  f.)  betont.  W.  Goetz  hat 
in  der  „Frankfurter  Zeitung"  1912,  Nr.  97  (7.  April  1912)  bei 
mannigfacher  kritischer  Beanstandung  Lamprecht  doch  den  Titel 
eines  „Bahnbrechers"  im  Hinblick  auf  den  umfassenden  Plan 
seiner  „Deutschen  Geschichte"  zuerkennen  wollen.  Meines  Er- 
achtens  kann  Lamprecht  dieser  Titel  eben  deshalb  nicht  zuerkannt 
werden,  weil  er  das  hier  in  Betracht  kommende  Problem,  das  der 
Stoffabgrenzung,  nicht  gelöst  hat.  Friedjung,  Österreich  von 
1848  bis  1860,  II,  1,  S.  305,  bemerkt,  von  der  Kunst  und  der 
Literatur  bringe  er  bloß  dasjenige  zur  Sprache,  was  mit  dem  Leben 
des  Staats  näher  zusammenhänge.  Dies  Bekenntnis  des  Praktikers 
der  Geschichtsschreibung  sollten  sich  die  Geschichtstheoretiker 
zu  Herzen  nehmen;  und  dabei  ist  Friedjung  geneigt,  den  Rahmen 
seiner  Darstellung  so  weit  wie  möglich  zu  spannen.  Die  Frage,  in 
welchem  Maß  die  verschiedenen  Seiten  der  Kultur  in  der  Dar- 
stellung der  Geschichte  eines  Volks  zu  berücksichtigen  sind, 
ist  eben  von  Lamprecht  noch  nicht  vorbildlich  beantwortet  worden. 
Es  muß  doch  immer  von  neuem  daran  erinnert  werden,  daß  Ge- 
schichtsdarstellung und  Konversationslexikon  sich  in  ihren 
Zwecken  nicht  decken  (vgl.  Hist.  Zeitschr.  106,  S.  96  ff.).  S.  Hell- 
mann hat  in  seinem  Vortrag  „Wie  studiert  man  Geschichte?" 
(Lpz.  1911)  S.  48  von  D.  Schäfers  „Deutscher  Geschichte"  mit 
besonderer   Rücksicht   auf  die   darin   enthaltene   Beschränkurig 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  10 


146  Literaturbericht. 

auf  die  politische  Geschichte  erklärt,  sie  „gibt  kein  wirkHches 
Bild  der  Geschichte  und  bedeutet  einen  Rückschritt".  Diese  Be- 
urteilung hat  schon  F.  Kern,  Deutsche  Literaturzeitung  1912, 
Nr,  29,  Sp.  1801  abgelehnt.  Man  sollte  Geschichtswerke  nie  ein- 
seitig vom  Standpunkt  der  Orthodoxie  der  Methode  aus  beurteilen. 
Aber  ist  denn  die  Methode,  die  Hellmann  für  die  Stoffauswahl 
empfiehlt,  einwandfrei?  Die  Bemerkung  Friedjungs  und  die 
Ausführungen  Brandis  über  die  Frage  der  Einheit  der  Kultur 
sollten  ihn  zu  einer  Erwägung  darüber  veranlassen,  daß  man  von 
den  „Grundlagen  der  staatlichen  Entwicklung"  doch  nicht  mit 
der  Sicherheit  sprechen  darf,  wie  er  es  tut.  Leider  macht  man 
noch  oft  die  Beobachtung,  daß  der  Widerspruch  gegen  die  „po- 
litische" Geschichtschreibung  auf  einen  politischen  oder  besser 
unpolitischen  Parteistandpunkt  zurückgeht  (vgl.  Gott.  Gel.  Aoz. 
1892,  S.  280  ff.). 

Eine  besondere  Erwähnung  verdienen  die  Referate  über  all- 
gemeine deutsche  Verfassungs-  und  Wirtschaftsgeschichte  (zuletzt», 
Jahrg.  1909,  II,  S.  152  ff.,  von  Tuckermann,  über  die  Zeit  seit 
1500,  freilich  erst  für  die  Jahre  1904 — 1905),  da  auf  diesem  Ge- 
biet die  Literatur  wohl  relativ  am  stärksten  gewachsen  ist.  Ver- 
fassungs- und  wirtschaftsgeschichtliche  Arbeiten  werden  natürlich 
auch  noch  in  vielen  anderen  Referaten  erwähnt,  so  in  dem  über 
Kulturgeschichte  und  über  hansische  Geschichte.  Das  letzte 
Referat  über  Verfassungs-  und  Wirtschaftsgeschichte  erfüllt  in 
stärkerm  Maß  die  Forderung  der  Verzeichnung  der  Rezensionen, 
ebenso  das  über  hansische  Geschichte  und  erfreulicherweise  noch 
mehrere  andere. 

Freiburg  i.  B.  G.  v.  Below. 


Wilhelm  von  Tyrus  und  der  Templerorden,  mit  6  Abbildungen,. 
5  Stammtafeln  aus  einer  Tafel  der  nachweisbaren  Templer- 
meister bis  1182.  Von  Prof.  Lic.  Dr.  Friedrich  Lundgreen. 
(Histor.  Studien,  veröffentlicht  von  E.  Ehering.  Heft  97.) 
Berlin,  Ehering.     1911.    199  S. 

Zu  den  kritischen  Untersuchungen,  die  in  der  zweiten  Hälfte 
des  vorigen  Jahrhunderts  Sybel,  Jaffe,  Streit,  Kugler,  Prutz  und 
im  Jahre  1904  auch  Holder- Egger  über  eine  der  bedeutendsten 
geschichtlichen  Arbeiten  des  Mittelalters,  über  die  Historia  rerum 


Mittelalter.  147 

in  partibus  transmarinis  gestarum  des  Erzbischofs  Wilhelm  von 
Tyrus  veröffentlicht  haben,  ist  nunmehr  auch  mit  vollem  Rechte 
obige  Schrift  Lundgreens  zu  zählen.  In  ihr  wird  mit  Umsicht 
und  Geschick  auf  Grund  der  Mitteilungen  Wilhelms  in  seiner 
Historia  und  im  Vergleiche  zu  anderweitigen  Quellen  dessen 
Ansicht  über  den  Templerorden  und  dessen  zu  diesem  eingenom- 
mene Stellung  dargelegt,  die  Art  und  Weise,  wie  und  inwieweit 
er  vorhandenes  Quellenmaterial  zur  Geschichte  dieses  Ordens  in 
seiner  Historia  verwertet  hat,  aufgezeigt  und  efn  Thema  behandelt, 
das  bisher  in  gleich  eingehender  Weise  noch  nicht  zur  Darstellung 
gebracht  worden  ist.  Der  Verfasser  kommt  in  seiner  Unter- 
suchung zu  folgendem  Resultate:  Wilhelms  Bericht  von  der 
Entstehung  des  Ordens  sowie  seine  Nachrichten  über  die  Be- 
teiligung des  Ordens  an  den  Zeitereignissen  bis  zum  Jahre  1182 
seien  lückenhaft,  bisweilen  unklar  und  entstellt  oder  gar  falsch. 
L.  macht  ihm  zum  Vorwurf,  daß  er  fast  nichts  von  der  Ordens- 
regel von  Troyes  und  gar  nichts  von  der  Exemtionsbulle  vom 
17.  Februar  1154  mitteile.  „Hätte  Wilhelm  hinsichtlich  des 
Templerordens  nur  das  zum  tieferen  Verständnis  der  allgemeinen 
Geschichte  unbedingt  Notwendige  geboten,  so  wären  wir  dankbar, 
obgleich  er  noch  viel  mehr  hätte  mitteilen  können.  Aber  am  Ueb- 
sten  würde  Wilhelm  die  Templer  überhaupt  nicht  erwähnt  haben. 
Da  dies  nicht  anging,  gedachte  er,  die  Entstehung  des  Ordens 
mit  wenig  Worten  abzutun.  Er  gibt  die  Frömmigkeit  der  Stifter 
zu  und  erkennt  die  gute  Absicht  des  Ordens  in  dessen  erster  Zeit 
an.  Aber  nur  widerwillig  erwähnt  er  die  Templer  später,  wenn 
sie  zu  loben  sind,  dagegen  verweilt  er  gerne  bei  ihnen,  wenn  er 
sie  verdächtigen  kann,  ohne  sich  selbst  bloßzustellen."  Des  wei- 
teren hat  L.  in  seiner  Untersuchung  als  Gründe  von  Wilhelms 
unfreundlicher  Stellung  zum  Templerorden  folgende  gefunden: 
Nicht  weil  Wilhelm  Häresie  oder  auch  nur  Keime  von  Häresie 
im  Orden  gekannt  hätte,  sondern  weil  ihn  als  Staatsmann  die 
von  weltlicher  Macht  unabhängige  Stellung  des  Ordens  befremdete, 
sodann  weil  ihn  als  Bischof  die  Freiheit  der  Templer  erbitterte, 
weil  der  immer  mehr  auf  Kosten  der  Weltgeistlichkeit  wechselnde 
Reichtum  des  Ordens  Mißstimmung  hervorrief  und  er  mit  seinem 
Zeitgenossen,  dem  Templermeister  Odo  v.  S.  Amand,  in  Feind- 
schaft lebte.  Man  wird  im  allgemeinen  den  von  L.  gefundenen 
Resultaten  die  Zustimmung  nicht  versagen  können:  denn  die 

10* 


148  Literaturbericht. 

Wilhelmsche  Art  ist  es,  unliebsame  Vorkommnisse  nach  eigenem 
Geschmactce  zu  erzählen  und  nach  Belieben  selbst  sichere  Quellen- 
nachrichten zu  übergehen,  wenn  sie  ihm  ungeeignet  erscheinen, 
der  Kreuzfahrer  Ehre  zu  fördern.  Immerhin  aber  ist  nicht  überall, 
wo  L.  ihn  wegen  seiner  lückenhaften  Darstellung  verantwortlich 
macht  in  der  Voraussetzung,  daß  er  mehr  hätte  bieten  können, 
dieser  Vorwurf  sachlich  begründet.  Man  mag  bedauern,  daß  er 
uns  so  wenig  und  so  kurz  nur  über  die  Entstehung  des  Templer- 
ordens Nachricht  gibt,  allein  Wilhelm,  der  erst  in  den  70er  Jahren 
des  12.  Jahrhunderts  schrieb,  hätte  uns  gewiß  mehr  über  die 
Entstehung  des  Ordens  mitgeteilt,  wenn  er  mehreres  in  Erfahrung 
gebracht  haben  würde.  Wie  bedeutungslos  aber  die  Anfänge 
der  Ritterorden  den  Gleichzeitigen  erschienen  sind,  darüber 
mag  uns  z.  B.  Fulcher  belehren.  Fulcher,  der  die  Geschichte 
des  Königreichs  Jerusalem  bis  zum  Jahre  1127  beschrieben 
und  dessen  Erzählung  Wilhelm  von  Tyrus  als  eine  seiner  Haupt- 
quellen für  die  ersten  drei  Jahrzehnte  ausgiebig  benutzt  hat, 
erwähnt  des  ca.  1120  gegründeten  Templerordens  mit  keiner 
Silbe.  Wäre  in  der  Tat  die  Vereinigung  der  angeblich  neun  Grün- 
der des  Ordens  von  besonderer  Bedeutung  gewesen,  so  würde 
Fulcher  hierüber  nicht  geschwiegen  haben;  er  kennt  nur  milites, 
die  im  Dienste  des  Königs  gestanden  sind.  Außerdem  ist  auch 
keine  einzige  Urkunde  vor  dem  Jahre  1126  vorhanden,  die  uns 
über  die  Entstehung  des  Ordens  Genaueres  bieten  könnte.  Die 
Annahme,  daß  Wilhelm  mehr  darüber  gewußt  habe,  als  er  mit- 
teilt, ist  kaum  glaublich;  viel  näher  liegt  es,  anzunehmen,  daß  er 
trotz  seiner  Erkundigungen  mehr  über  die  Entstehung  des  Ordens, 
als  er  in  seiner  Historia  bietet,  überhaupt  nicht  in  Erfahrung 
gebracht  hat.  Darin  aber,  daß  L.  die  Gründung  des  Ordens, 
entgegen  der  Mitteilung  Wilhelms,  der  sie  ins  Jahr  1118  setzt, 
wohl  richtig  im  Jahre  1120  stattgefunden  sein  läßt,  dürfte  er 
vollkommen  recht  haben.  Höchst  wahrscheinlich  hat  u.  E.  zu 
dessen  Gründung  jenes  von  Albert.  Aqu.  XH,  23  mitgeteilte,  so 
traurige  Ereignis  die  nächste  Veranlassung  gegeben,  als  an 
Ostern  1120  eine  große  Schar  Pilger  —  es  sollen  deren  gegen 
700  gewesen  sein  —  auf  dem  Wege  von  Jerusalem  nach  dem 
Jordan  von  Sarazenen  überfallen  und  teils  hingemordet,  teils 
gefangen  weggeschleppt  worden  sind,  welches  Vorkommnis  in 
Jerusalem  große  Bestürzung  hervorrief .  Eine  von  König  Balduin  11. 


Mittelalter.  149 

2iir  Verfolgung  der  Sarazenen  ausgesandte  Rittcrabteilung  erzielte 
keinen  Erfolg.  Gerade  der  Mißstand  des  damals  hervortretenden, 
den  Pilgern  unzureichend  gebotenen  Schutzes  wird  ausschlag- 
gebend zur  Gründung  des  Ordens  gewesen  sein.  Vorgesetzt  ist 
dem  Buche  ein  ausführliches,  30  Seiten  umfassendes  Verzeichnis 
der  über  den  Templerorden  und  über  Wilhelm  von  Tyrus  han- 
delnden Schriften,  in  dem  übrigens  das  vor  5  Jahren  erschienene 
wichtige  Werk  von  Stevenson,  The  crusaders  in  the  east,  nicht 
genannt  wird.  In  Beilagen  liefert  L.  neben  Stammtafeln  der 
Könige  von  Jerusalem  und  einem  Verzeichnis  der  bis  zum  Jahre 
1182  nachweisbaren  Templermeister  noch  eine  Untersuchung; 
Aber  die  nach  ihm  in  Übereinstimmung  mit  Schnürer  ursprüng- 
lich lateinisch  abgefaßte  Templerregel,  worin  er  jedoch  im  Gegen- 
satze zu  Schnürer  zu  erweisen  sucht,  daß  die  spätere  französische 
Fassung  der  Templerregel  keine  auf  Mißverständnissen  beruhende 
einfache  Übersetzung  des  lateinischen  Textes,  sondern  eine 
Weiterbildung  der  Regel  sei,  was  er  in  betreff  des  Verkehrs  der 
Templer  mit  Exkommunizierten,  oder  nach  der  lateinischen 
Fassung  verboten,  nach  der  französischen  aber  gestattet  und 
empfohlen  ist,  des  näheren  begründet.  Die  zur  Veranschaulichung 
der  ehemaligen  Wohnung  der  Templer  der  Schrift  beigegebenen 
Lichtbilder  (el  Aksa-Moschee,  Kubbet  es-Sachra,  Davidsturm, 
Jaffator)  sind  vom  Verfasser  selbst  auf  einer  Palästinareise  an 
Ort  und  Stelle  aufgenommen. 

Bödigheim.  H.  Hagenmeyer.  - 


Die  oberschwäbischen  Reichstädte.  Ihre  Entstehung  und  ältere 
Verfassung.  Von  K.  0.  Muller.  Stuttgart,  W.  Kohlhammer. 
1912.  XX  u.  447  S.  (Darstellungen  aus  der  Württember- 
gischen Geschichte.  Herausg.  von  der  Württ.  Kommission 
für  Landesgeschichte.    8.  Bd.) 

Die  vorliegende  Arbeit,  die  wir  einem  Schüler  Rietschels 
verdanken,  gehört  zweifellos  zu  den  besten  Monographien  über 
die  Entstehung  der  Verfassung  einzelner  Städte.  Müller  vereinigt 
in  erfreulichster  Weise  juristisches  Verständnis  mit  historischer 
Methode  und  Vertiefung  in  den  Quellenstoff.  Seine  Arbeit  hat 
aber  um  so  größeren  Wert,  als  er  eine  Gruppe  von  Städten,  die 
oberschwäbischen  Reichsstädte,  zum  Gegenstand  seiner  Unter- 


150  Literaturbericht. 

suchung  macht  und  so  das,  was  er  über  den  einen  Ort  zu  sagen 
hat,  durch  den  Vergleich  mit  der  übereinstimmenden  oder  ab- 
weichenden Entwicklung  der  andern  Orte  in  helleres  Licht  setzen 
kann.  Die  Städte,  von  denen  er  handelt,  sind:  Ravensburg 
(über  welche  Stadt  am  meisten  zu  sagen  war),  Memmingen,  Kauf- 
beuren,  Überlingen,  Leutkirch,  Pfullendorf,  Buchhorn,  Biberach, 
Isny,  Kempten,  Buchau,  Lindau,  Wangen.  Zeitlich  führt  M. 
die  Entwicklung  bis  zu  den  Zunftkämpfen,  etwa  den  Jahren 
1360 — 1380.  Für  einige  von  jenen  Orten  lagen  bereits  umfang- 
reiche Darstellungen  vor,  so  vor  allem  für  Lindau  (S.  Kellers 
„Patriziat  und  Geschlechterherrschaft"  und  die  in  drei  Bänden 
erschienene,  von  einer  Mehrzahl  von  Autoren  bearbeitete  „Ge- 
schichte der  Stadt  Lindau").  Aber  auch  hier  ist  M.  in  der  Lage, 
noch  Neues  zu  bieten.  Ich  möchte  nun  nicht  über  den  Inhalt 
seines  Buches  referieren,  sondern  im  Anschluß  an  Betrachtungen, 
in  denen  er  die  Ergebnisse  seiner  Untersuchungen  zusammen- 
faßt (S.  404  ff.),  einiges  über  den  Ertrag  bemerken,  den  sein 
Buch  für  die  großen  Fragen  der  Entstehungsgeschichte  der  deut- 
schen Städte  liefert. 

M.  bekennt  sich,  wie  sein  Lehrer  Rietschel,  zur  „Markt- 
rechtstheorie". Ich  habe  indessen  schon  in  meiner  Abhandlung 
„Stadtgemeinde,  Landgemeinde  und  Gilde"  (Vierteljahrschrift  f. 
Sozial-  und  Wirtschaftsgesch.  1909,  S.  414  ff.)  darauf  hinge- 
wiesen, daß  die  Auffassung,  die  Rietschel  vertritt,  nicht  eigent- 
lich die  Marktrechtstheorie  ist,  daß  er  vielmehr  wesentliche  oder 
gar  die  wesentlichsten  Stücke  derselben  preisgibt.  Und  auch  bei 
M.  ist  es  im  Grunde  nur  der  Terminus  Marktrechtstheorie,  was 
er  verteidigt.  Gegenüber  der  reinen  und  unverfälschten  Markt- 
rechtstheorie habe  ich  in  meinem  „Ursprung  der  deutschen 
Stadtverfassung"  (S.  86)  nachgewiesen,  daß  es  „nie  ein  besonderes 
Marktgericht  gegeben  hat".  Ganz  in  Übereinstimmung  damit 
konstatiert  M.  (S.  409):  „Es  gibt  kein  besonderes  Marktgericht." 
Damit  aber  ist  der  Kern  der  Marktrechtstheorie,  welche  die  Ent- 
stehung des  Stadtgerichts  aus  einem  besonderen  Marktgericht 
lehrte,  beseitigt.  Doch  noch  mehr!  M.  zeigt  (S.  37  und  S.  49 
Anm.  4),  daß  das  nahe  bei  Ravensburg  gelegene  Altdorf  („das 
alte  Dorf",  heute  Weingarten)  sich  zu  einem  namhaften  Wirt- 
schaftsmittelpunkt entwickelte,  ohne  ein  formelles  Marktrechts- 
privileg erhalten   zu  haben,  ohne  ein  Marktrechtsort  zu  sein. 


Mittelalter.  151 

Es  kam  eine  Zeitlang  Ravensburg  mindestens  gleich,  übertraf 
diese  Stadt  wahrscheinlich  sogar.  Die  Bewohner  von  Altdorf 
werden  in  staufischer  Zeit  cives,  der  Ort  burgum  genannt.*)  Man 
sieht  also,  daß  das  Marktrecht  die  Sache  nicht  allein  macht. 
Man  könnte  Rietschels  Auffassung  statt  Marktrechtstheorie  fast 
Ummauerungstheorie  nennen,  wie  denn  auch  sein  Schüler  M. 
hervorhebt,  daß  ein  Ort  dadurch  noch  nicht  zur  Stadt  wird, 
daß  er  einen  Markt  erhält,  daß  vielmehr  die  Ummauerung  hinzu- 
kommen müsse  (vgl.  hierzu  M.  S.  147;  Rietschel,  Markt  und  Stadt 
S.  151 ;  auch  Bretholz,  Gesch.  Böhmens  und  Mährens  S.  353). 
Im  übrigen  wird  es  dabei  bleiben,  daß,  wie  ich  dies  stets  betont 
habe,  eine  Reihe  von  Kriterien  bei  dem  Wesen  der  mittelalter- 
lichen Stadt  zu  unterscheiden  ist. 

Meine  Übereinstimmung  mit  M.s  Darstellung  könnte  ich 
noch  an  mehreren  Punkten  verzeichnen,  so  zu  dem  Satz  (S.  409), 
daß  „die  Existenz  der  Fronhof-  und  Lehengerichte  vom  Stadt- 
gericht unberührt  bleibt"  (vgl.  m.  Ursprung  S.  121  f.),  zu  der 
Bemerkung  (S.  412)  über  „die  wohl  keiner  Stadt  fehlende  All- 
mende", zu  der  Unterscheidung  der  Stadt  als  Gemeinde  von 
der  Stadt  als  Gerichtsbezirk  (S,  410).  Wenn  M.  anderseits  geltend 
macht  (S.  410),  daß  die  Stadtgemeinde  „sich  in  ihrer  Organisation 
von  den  Dorfgemeinden  unterscheidet",  so  ist  die  besondere 
Organisation  der  Stadtgemeinde  doch  erst  Produkt  allmählicher 
Entwicklung.  Wenn  er  ferner  den  bekannten  Rietschelschen 
Satz,  daß  die  meisten  Städte  Gründungsstädte,  nicht  nach  und 
nach  aus  Dörfern  erwachsen  sind,  durch  neue  Beispiele  belegt, 
so  liegt  darin  ja  keine  Widerlegung  der  Landgemeindetheorie. 
Der  Kampf  um  diese  kann  im  wesentlichen  nur  so  ausgefochten 
werden,  daß  man  die  Verhältnisse  derjenigen  älteren  Städte 
untersucht,  die  den  Gründungsstädten  als  Muster  gedient  haben. 
Zu  diesen  Problemen  vgl.  neuerdings  den  inhaltreichen  Nachruf 
von  Alfred  Schnitze  auf  Rietschel  in  der  Zeitschr.  der  Savigny- 
Stiftung,  German.  Abt.,  Bd.  33,  S.  VII  ff.  (s.  auch  H.  Z.  110, 
S.  234  ff.). 

Freiburg  i.  B.  G.  v.  Below. 


')  Altdorf  verlor  später  seine  wirtschaftliche  Bedeutung,  wie 
es  scheint,  hauptsächlich  deshalb,  weil  Ravensburg  ihm  in  den 
-Augen  der  höheren  Instanzen  den  Rang  abzulaufen  verstand. 


152  Literaturbericht. 

Luthers  theologische  Quellen.  Seine  Verteidigung  gegen  Denifle 
und  Grisar.  Von  Alphons  Victor  Mfiller.  Gießen,  A.Töpel- 
mann.     1912.    XVI  u.  244  S.    5  M. 

Diese  Schrift  gehört  zu  den  besten  Arbeiten,  die  Denifles 
Lutherwerk  als  Gegenschriften  hervorgerufen  hat.  Und  zwar 
um  deswillen,  weil  hier  der  Aufgabe,  die  durch  Denifle  die  dring- 
lichste der  Lutherforschung  geworden  war,  Luthers  Verhältnis^ 
zum  Mittelalter  zu  bestimmen,  mit  Energie  und  Originalität 
nahegetreten  worden  ist.  Dem  Verfasser,  der  als  ehemaliger 
Dominikaner  über  eine  gute  Schulung  verfügt,  kommt  die  Kenntnis 
der  mittelalterlichen  Fragestellungen  und  der  Theologie  des 
15.  Jahrhunderts  ausgezeichnet  zustatten,  hier  spürt  man,  was 
die  katholische  Wissenschaft  auf  dem  heiklen  Gebiete  der  Luther- 
forschung leisten  könnte  in  der  Herausarbeitung  der  mittelalter- 
lichen theologischen  Umwelt  Luthers,  anstatt,  wie  das  Grisar 
auch  wieder  getan  hat,  ihm  immer  wieder  den  Ketzerprozeß  zu 
machen!  Wenn  ich  von  den  formellen  Schärfen,  die  hier  und  da 
ans  Burschikose  streifen  und  den  Konvertitengroll,  der  zwar  nicht 
vornehm,  aber  wohl  unvermeidlich  ist,  zu  lebhaft  verraten, 
absehe,  so  hätte  M.  dieses  Buch  ebensogut  als  Dominikaner 
schreiben  können  wie  Denifle  das  seinige;  es  ist  nur  hundertmal 
besser  als  dieses.  Der  durch  das  ganze  Werk  sich  hindurch- 
ziehende Grundgedanke  ist  der:  Luther  fußt  auf  einer  im  Augu- 
stinerorden fortlebenden  theologischen  Tradition,  als  deren 
Repräsentant  namentlich  Hervaeus  erscheint,  einer  Tradition, 
die  damals  keineswegs  schon  kirchlicherseits  verworfen  war, 
vielmehr  mitten  im  Kampfe  stand,  sogar  auf  dem  Tridentinum 
noch  ihre  Vertreter  besaß.  Die  von  Denifle  z.  B.  Luther  vor- 
geworfenen Inkommentmäßigkeiten  in  der  Klosterdisziplin  sind, 
historisch  betrachtet,  keine  solchen,  der  Begriff  „Mönchstaufe" 
ist  ein  üblicher  gewesen  und  von  Luther  ganz  richtig  bestimm! 
worden,  ebenso  das  katholische  Lebensideal  oder  die  Formel: 
voveo  regulam  und  die  mönchische  Absolutionsformel.  Luthers 
Ausführungen  über  die  Ehe  entsprechen  der  augustinisch  beein- 
flußten mittelalterlichen  Theologie,  Konkupiszenz  und  Erbsünde 
sind  nicht  erst  durch  Luther  identifiziert  worden,  und  Luther 
hat  hier  Augustin  nicht  gefälscht  (das  hatte  übrigens  schon 
Saltet  gesehen);  endlich  auch  der  berühmte,  von  Denifle  als  der 
eigentliche  Scheidepunkt  zwischen  Luther  und  der  katholischen 


Luther.  15i 

Kirche  gebrandniarkte  Satz:  die  Konkupiszenz  ist  unüberwind- 
lich, läßt  sich  vor  Luther  nachweisen,  namentlich  bei  Pullus 
und  Roland  (Alexander  III.).  In  dieser  Weise  werden  von  M. 
noch  eine  ganze  Reihe  von  theologischen  Begriffen  Luthers  vor- 
geführt und  dabei  auf  der  einen  Seite  Denifle  grobe  Mißverständ- 
nisse Luthers  und  Unrichtigkeiten  nachgewiesen,  auf  der  anderen 
Seite  Luther  als  eine  mittelalterliche  Tradition  wiedergebend 
und  auf  ihr  fußend  gekennzeichnet. 

Das  von  M.  beigebrachte  Material  ist  auf  alle  Fälle  sehr  wert- 
voll und  beleuchtet  manchen  Punkt  der  Lutherschen  Theologie 
neu,  versetzt  der  angeblichen  Denifleschen  Gründlichkeit  einen 
starken  Stoß.  An  sehr  vielen  Stellen  ist  M.  ohne  weiteres  zuzu- 
stimmen. Dennoch  habe  ich  einige  Bedenken:  es  ist  1.  mißlich, 
daß  die  von  M.  namhaft  gemachten  Hauptquellen  der  Luther- 
schen Theologie,  wie  Hervaeus  z.  B.,  m.  W.  niemals  von  ihm 
zitiert  werden.  Wie  ist  das  möglich,  wenn  sie  wirklich  Haupl- 
quelle  gewesen  sind?  In  puncto  servum  arbitrium  sind  sie  es 
(gegen  M.)  sicherlich  nicht  gewesen,  vielmehr  die  Nominalisten, 
speziell  Ockam.  Ist  vielleicht  eine  Schultradition  anzunehmen, 
die,  ohne  die  Meister  zu  nennen,  vorgetragen  wurde?  2.  Leidet 
bei  M.  nicht  Luthers  Originalität?  Und  wenn  nein,  worin  besteht 
sie?  Ist  wirklich  jene  augustinische  Schule  ein  Lutherus  ante 
Lutherum?  Ich  habe  den  Eindruck,  daß  zwar  oft  genug  die 
termini  bei  Luther  und  jenen  Vorgängern  stimmen,  aber  dabei 
doch  nicht  die  ganzen  Systeme,  daß  vielmehr  alte  Formeln  einen 
neuen  Sinn  bei  ihm  gewinnen  und  er,  wie  ja  anderweitig  fest- 
steht, in  dem  Gefühl,  auf  kirchlichem  Boden  zu  stehen,  gerne 
traditionelle  Formeln  akzeptierte,  sie  aber  einseitig  verstand. 
Es  würde  vor  allem  zu  prüfen  sein,  ob  jene  Augustiner  den  Ver- 
dienstbegriff ganz  ausschalten  oder  ihn  nicht  trotz  allen  Redens 
von  der  Gnade  heimlich  wieder  einschmuggeln,  was  Luther 
selbst  nicht  getan  hat.  Endlich  3.  die  Ausführungen  über  Luther 
und  die  „neue  Theologie  der  Lüge"  sind  der  Ergänzung  und  Kor- 
rektur bedürftig.  Luther  ist  doch  ein  Anwalt  der  Notlüge  ge- 
wesen. (Näheres  in  meiner  soeben  erschienenen  Schrift  „Luther 
und  die  Lüge"  im  2.  Teil.) 

Zürich.  W.  Köhler. 


154  Literaturbericht. 

Urkunden  und  Aktenstücke  zur  Geschichte  des  Kurfürsten  Fried- 
rich Wilhelm  von  Brandenburg.  20.  Bd.:  Auswärtige  Akten 
IV  (Frankreich)  1667 — 1688.  Herausgegeben  von  Dr.  Ferdi- 
nand Fehling,  Privatdozent  an  der  Universität  zu  Heidel- 
berg.   Berlin,  Georg  Reimer.    1911.    VI  u.  1304  S. 

Es  ist  nahezu  ein  halbes  Jahrhundert  verflossen,  seitdem 
"Simson  den  ersten  Band  jener  Aktenstücke  veröffentlichte, 
welche  die  Beziehungen  Brandenburgs  zu  Frankreich  in  dem 
Zeitalter  des  Kurfürsten  Friedrich  Wilhelm  von  Brandenburg 
erläutern  sollten.  Simson  hat  in  der  Einleitung  zu  seiner  Pu- 
blikation die  Schwierigkeiten  geschildert,  die  ihm  damals  seitens 
■der  französischen  Archivverwaltung  bei  seinen  Forschungen  be- 
reitet wurden,  und  die  ihn  schließlich  nötigten,  seine  Arbeit  mit 
dem  Jahre  1667  abzubrechen.  Daß  derartige  Bedenken  heute  in 
Paris  nicht  bestehen,  daß  das  französische  Ministerium  der  aus- 
wärtigen Angelegenheiten  wie  dessen  Archivverwaltung  wissen- 
schaftliche Arbeiten  vielmehr  in  liebenswürdigster  Weise  fördern, 
hebt  Fehling,  der  nunmehr  die  Beziehungen  Brandenburgs  und 
Frankreich  in  den  Jahren  1667 — 1688  aktenmäßig  schildert, 
mit  aufrichtigem  Danke  hervor.  Allerdings  wird  man  heute  der 
Veröffentlichung  dieser  Aktenstücke  nicht  jene  hohe  Bedeutung 
zusprechen  können,  die  ihr  zweifelsohne  vor  einem  halben  Jahr- 
hundert beigemessen  worden  wäre.  Denn  in  dieser  langen  Reihe 
von  Jahren  sind  die  betreffenden  Aktenbestände  des  französischen 
Archives  oft  durchforscht  worden;  am  eingehendsten  von  den 
französischen  Forschern  Waddington  und  Pages  sowie  von  den 
deutschen  Historikern  Prutz  und  Fehling.  Auf  die  Bedeutung  der 
Arbeiten  Waddingtons  und  Pages  hat  Ref.  in  dieser  Zeitschrift 
hingewiesen.  Namentlich  das  Werk  des  letzteren  Schriftstellers 
„Le  grand  electeur  et  Louis  XIV.  i66o — 1688'\  auf  den  umfassend- 
sten archivalischen  Studien  aufgebaut  und  den  ganzen  Zeitraum 
der  vorliegenden  Publikation  umfassend,  mindert  die  Bedeutung 
dieser  um  ein  wesentliches.  Die  Berichte  Rebenacs,  weitaus  die 
umfangreichsten  und  interessantesten  der  ganzen  Reihe,  aus 
den  Jahren  1680 — 1688,  sind  überdies  von  Prutz  und  Fehling  in 
umfassenden  Arbeiten  verwertet  worden.  Schließlich  hat  F.  in 
einer  kleinen  aber  wertvollen  Schrift  „Die  europäische  Politik 
des  Großen  Kurfürsten  1667 — 1688"^)  auf  Grundlage  der  nunmehr 

')  Leipzig,  Quelle  &  Meyer.    1910. 


17.  Jahrhundert.  155 

veröffentlichten  Aktenstücke  den  seit  Erdmannsdörffer  oft  ge-? 
führten  Nachweis  dafür  wiederholt,  daß  Friedrich  Wilhelm  in 
erster  Linie  brandenburgischer  Herrscher  war  und  von  diesem 
beschränkten,  aber  sicherlich  notwendig  beschränkten  und  für 
das  von  ihm  beherrschte  Volk  vorteilhaften  Standpunkte  aus 
die  auswärtige  Politik  seines  Staates  geleitet  hat,  F.  hat  daher 
mit  vollem  Rechte  darauf  verzichtet,  in  den  Einleitungen  zu  den 
acht  Abteilungen,  in  die  die  vorliegende  Publikation  zerfällt, 
eine  ausführliche  Darstellung  der  Beziehungen  Brandenburgs 
und  Frankreichs  zu  geben,  und  sich  damit  begnügt,  einige  dem 
Verständnisse  der  mitgeteilten  Akten  dienende  Bemerkungen 
zu  machen.  Bietet  daher,  wie  aus  dem  Gesagten  hervorgeht, 
die  Arbeit  F.s  wenig  Neues  zur  Erkenntnis  der  Richtlinien  der 
kurfürstlichen  Politik  in  den  Jahren  1667 — 1688,  so  entschädigt 
dieselbe  durch  eine  Fülle  wertvoller  Details,  und  zwar  nicht  nur 
über  die  auswärtige  Politik  Friedrich  Wilhelms  sondern  auch  zur 
Charakteristik  des  Kurfürsten  und  seiner  Umgebung.  Für  die  von 
Pagfes  in  einer  interessanten  Sonderschrift  schon  erörterten 
Frage  der  „Gratifikationen",  die  Ludwig  XIV.  im  Interesse  seiner 
auswärtigen  Politik  spendete,  enthält  die  vorliegende  Publikation 
sehr  merkwürdige  Belege  (vgl.  u.  a.  S.  88  f.,  200  ff.,  229  ff.,  897  ff.). 
Nicht  minder  wertvoll  sind  die  zahlreichen  Erörterungen  der  fran- 
zösischen Gesandten  über  die  Differenzen  im  kurfürstlichen 
Hause  (vgl.  insbesondere  S.  399,  475  ff.,  524,  633  a.  a.  0.),  nament- 
lich auch  die  Mitteilungen  Rebenacs  über  seine  und  der  Kur- 
fürstin Bemühungen,  Friedrich  Wilhelm  bei  der  Abfassung  der 
Testamente  zu  beeinflussen  (vgl.  u.  a.  798  ff.).  Ferner  mag  auf 
die  interessanten  Nachrichten  über  den  Tod  des  Markgrafen 
Ludwig  (S.  1213  f.)  verwiesen  werden.  Wenn  Rebenac  unter  dem 
4.  September  1685  (vgl.  S.  1022)  an  Ludwig  XIV.  berichtet, 
daß  der  Wiener  Hof  „propose  meme  un  quartier  de  pays  qu'on 
uppelle  le  Schwiebus",  so  wird  man  an  der  Glaubwürdigkeit  dieser 
Nachricht  zweifeln  dürfen;  jedenfalls  aber  hat  der  kaiserliche 
Gesandte  am  Berliner  Hofe,  Fridag,  damals  diesen  Antrag  nicht 
gestellt.  Daß  übrigens  Rebenac,  zumal  seit  dem  Ende  des  Jahres 
1685,  nicht  mehr  so  gut  über  die  Pläne  des  kurfürstlichen  Hofes 
orientiert  war,  wie  vorher,  ist  schon  von  verschiedenen  Forschern 
betont  worden.  Die  Lektüre  der  vorliegenden  Publikation  be- 
stätigt diese  Anschauung.   Vgl.  u.  a.  seinen  Bericht  d.d.  19.  Febr. 


156  Literaturbericht. 

1686,  S.  1088  ff.,  wo  er  bezüglich  des  bald  darauf  —  22.  März 
1686  —  abgeschlossenen  Geheimvertrages  zwischen  Friedrich 
Wilhelm  und  Leopold  I.  schreibt:  „je  ne  vois  aucun  fondement 
solide  ä  ce  bruit.  II  n'y  a  pas  mime  la  moindre  vraisemblance" . 
Am  23.  März,  nach  erfolgtem  Abschlüsse,  spricht  er  (p.  1094  ff.) 
noch  von  Gerüchten  einer  geplanten  engen  AUianz.  In  der  Edi- 
tionsmethode ist  F.  in  gewissenhaftester  Weise  dem  erprobten 
Beispiele  seiner  Vorgänger  gefolgt. 

Wien.  A.  Pribram. 


Der  Aufklärer  Friedrich  Nicolai.  Von  Karl  Aner.  Gießen,  Alfr. 
Töpelmann.  1912.  (Studien  zur  Geschichte  des  neueren 
Protestantismus,  6.  Heft.)     196  S.    6  M. 

Friedrich  Nicolai,  der  „Typus  der  deutschen  Popularaufklä- 
rung"  des  18.  Jahrhunderts,  ist  für  die  populäre  Ansicht  des  19. 
zum  Typus  des  anmaßlichen  Philisters  geworden.  So  hatten  ihn 
die  Xenien,  so  Fichte  gezeichnet.  Unter  den  schärferen  Linien 
der  Satire  war  das  Urbild  verschwunden.  Nicolai  erwarb  sich  als 
Buchhändler  eine  bedeutende  Übersicht  über  die  Beziehungen  des 
wirtschaftlichen  Lebens  zum  literarischen,  als  Verleger  und 
Herausgeber  eines  kritischen  Journals  verfügte  er  über  die  Fülle 
der  Bibliographie,  als  bürgerlicher  Schriftsteller  erging  er  sich 
in  der  Breite  des  Ausdrucks.  Seine  Welt  war  sauber  gegliederte 
Fläche;  es  fehlte  ihm  die  Empfindung  für  das  Zusammenfassende,^ 
das  zugleich  höher  und  tiefer  führt;  er  bemerkte  gar  nicht  den 
Abstand  seines  geistigen  Vermögens  von  irgendeinem  anderen. 
Im  stehenden  Gleichgewicht  seiner  Bildung  konnte  er  ein  schwe- 
bendes nicht  auffassen.  Wollte  er  also  Gefahren  beschwören 
im  Angesicht  des  Wertherfiebers  oder  der  Ansprüche  des  Fichte- 
schen Idealismus,  so  sah  er  nicht,  daß  Goethe  wie  Fichte  den  Aus- 
gleich ihrer  Schwingungen  durch  ihren  Genius  verbürgten.  Es. 
war  ein  Unrecht,  Nicolai  nur  aus  der  Stimmung  jener  Zusammen- 
stöße zu  betrachten.  Damals  stritt  Resultat  gegen  Problem, 
Gemeinverstand  und  gemeiner  Nutzen  gegen  vordringende  ein- 
same Idee;  jetzt  darf  uns  Nicolai  selbst  Problem  werden,  und 
da  finden  wir  „die  feste  Bestimmtheit  seiner  Naturanlage" 
(Hettner)  mit  ihrer  ,, gesunden  Vernunft"  auf  demselben  Wege, 
den  die  Klassiker  vorauseilend  beschritten  haben.   Es  ist  erstaun- 


18.  Jahrhundert.  157 

lieh,  wie  vielfältig  Nicolai  eine  begrenzte  Menge  verhärteter  Be- 
griffe zur  Kennzeichnung  der  Gegenstände  zu  setzen  weiß  und  wie 
sicher  dieser  Schematismus  den  Reisenden  durch  Deutschland 
zu  fruchtbaren  Beobachtungen  leitet.  Nicolai  kämpfte  um 
solch  kostbaren  Besitz;  er  glaubte  den  Ertrag  der  Wolffschen 
Schule  durch  die  neuen  Fragstellungen  gefährdet,  und  er  täuschte 
sich  nicht.  Wir  sind  bis  heute  nicht  wieder  zu  jener  Gewißheit 
des  Rationalismus  gelangt,  die  alles  Leben  und  alle  Praxis  mit  ge- 
ordneten Gedanken  erfüllt.  Goethe  und  Kant  haben  uns  gelehrt, 
von  diesen  Gedanken  mehr  zu  verlangen,  aber  die  Forderung  eines 
festen  Verhältnisses  der  Breite  zur  Tiefe  bleibt  bestehen.  Es  ging 
Nicolai  um  die  Einheit,  die  er  in  sich  fühlte  und  dem  mühsam  auf- 
strebenden Bürgertum  gewinnen  wollte.  Diese  politische  Wür- 
digung Nicolais  hat  Karl  Aner  weit  gefördert.  Er  schildert  den 
Lebensgang  und  in  der  „theologischen  Gedankenwelt"  die  ethische 
Richtung  Nicolais;  schließlich  erfahren  wir,  wie  der  „Sebaldus 
Nothanker"  ins  Publikum  hinein  gewirkt  hat.  A.  hat  sehr  gründ- 
lich gearbeitet;  über  der  Durchsicht  des  ungedruckten  Brief- 
wechsels auf  der  Königlichen  Bibliothek  ist  ihm  Nicolai  ans 
Herz  gewachsen.  —  Volkstümliche  Aufklärung  hat  als  solche  etwas 
Unpersönliches.  Wenn  wir  den  einzelnen  Aufklärer  von  seiner 
Gemeinde  loslösen,  so  steigern  wir  ihn  durch  die  Absonderung. 
Ein  Nicolai  wird  über  sich  hinaus  vergrößert,  wenn  man  den  Be- 
weggründen seiner  Theologie  nachspürt,  als  handle  es  sich  um 
Lessing.  Auch  bringt  A,  ein  mittelmäßiges  Ingenium  manchmal 
zu  nah  an  höhere  Geister  heran.  Aber  im  ganzen  beschreibt  er 
doch  richtig  Aufklärung  und  Klassizismus  als  einheitlichen 
„Gebirgszug".  —  Historischen  Sinn  freilich  möchten  wir  der 
Aufklärung  nicht  unbedingt  zusprechen.  Hat  auch  Nicolai  in 
den  Untersuchungen  über  den  Templerorden  „Geschichte  um 
ihrer  selbst  willen"  getrieben,  so  ist  doch  „antiquarisch"  noch 
nicht  „historisch",  und  bei  der  Historie  gehört  die  Form  der  Dar- 
stellung zur  Sache.  —  In  jedem  Falle  begreifen  wir  die  Auf- 
klärung jetzt  auch  in  ihren  durchschnittlichen  Vertretern.  Wir 
werden  dieses  Zeitalters  mächtig,  nun  wir  aus  seiner  Schule  ent- 
lassen sind. 

Gießen.  R.  A.  Fritzsche. 


158  Literaturbericht. 

Napoleon  I.    Sein  Leben  und  seine  Zeit.    Von  Friedrich  M.  Kirch- 
eisen.    1.  Bd.    München  und  Leipzig,  Georg  Müller.    1911. 

XII  u.  482  S. 

Der  erste  Band  einer  neuen,  auf  8  bis  10  Bände  berechneten 
Napoleonbiographie!  Der  Verfasser,  der  bekannte  und  verdiente 
Bibliograph,  verfügt  über  eine  Literaturkenntnis  auf  seinem 
Gebiete,  wie  wohl  kaum  ein  anderer  Historiker  diesseits  oder 
jenseits  der  Vogesen.  Er  schreibt  gewandt,  flüssig  und  lebhaft. 
Das  Werk  ist  sehr  gut  ausgestattet  und  geradezu  prachtvoll 
gedruckt;  es  bietet  also  der  Vorzüge  genug.  Freilich  kann  der 
Leser  dieses  ersten  Bandes,  der  nur  bis  zur  Übernahme  des  Kom- 
mandos der  italienischen  Armee  durch  Bonaparte  im  Frühjahr  1796 
führt,  also  mehr  nur  Präliminarien  enthält,  noch  kaum  ein  be- 
stimmtes Urteil  über  die  Aussichten  wagen,  welche  das  ganze 
Werk  bietet.  Doch  sind  dem  Referenten  immerhin  schon  gewisse 
Bedenken  aufgestiegen,  welche  hier  bei  aller  Anerkennung  zur 
Sprache  gebracht  werden  mögen. 

Wie  bei  manchen  anderen  Werken,  die  sich  durch  besondere 
Glätte  und  Gewandtheit  der  Schreibweise  auszeichnen,  scheint 
auch  bei  diesem  die  Gefahr  zu  bestehen,  daß  der  Autor  sich  und 
den  Leser  gelegentlich  über  die  Schwierigkeiten  der  Probleme 
hinwegtäusche.  So  ist  z.  B.  die  Rolle,  die  Napoleon  in  den  kor- 
sischen Wirren  des  Jahres  1793  spielte,  zwar  lebhaft  und  an- 
schaulich geschildert,  man  wird  aber  nicht  behaupten  können^ 
daß  die  für  die  Beurteilung  des  späteren  Kaisers  so  wesent- 
liche Frage,  inwiefern  er  damals  gegen  die  Gesetze  der  Loya- 
lität und  Ehre  verstoßen  und  sein  Vaterland  und  dessen  Helden 
Paoli  im  eigenen  Interesse  oder  dem  der  Partei,  der  er  sich 
angeschlossen  hatte,  verraten  habe,  mit  der  geringsten  Vertie- 
fung behandelt  sei.  Auch  über  eine  andere  heikle  Frage  gleitet 
Kircheisen  eher  hinweg,  als  daß  er  sie  einer  ernstlichen  Prü- 
fung unterzöge:  inwiefern  nämlich  die  Übertragung  des  Kom- 
mandos der  italienischen  Armee  mit  den  Beziehungen  des  Gene- 
rals zu  Josephine  zusammenhängen  dürfte.  „Er  brauchte  keinen 
Beschützer,  keinen  Gönner,  nicht  einmal  Barras"  (S.  470)  — 
dieser  Satz  klingt  zwar  sehr  hübsch,  dürfte  aber  kaum  vor  der 
Kritik  bestehen!  Bei  alledem  wird  der  Leser,  wie  ausdrück- 
lich festgestellt  sei,  doch  nicht  auf  den  Gedanken  kommen, 
daß  Kircheisen,  trotz  größter  Bewunderung  für   seinen  Helden,. 


19.  Jahrhundert.  IS» 

sich  etwa  ausgesprochener  und  bewußter  Parteilichkeit  schuldige 
mache. 

Ebensowenig  wie  die  Verarbeitung  der  Quellen  in  diesem 
Bande  überall  der  Quellen  k  e  n  n  t  n  i  s  des  Verfassers  entspricht, 
ist  die  Kraft  und  Schönheit  der  Sprache  immer  auf  derselben 
Höhe  wie  ihre  Glätte  und  Eleganz.  Es  finden  sich  vielmehr 
hier  und  da  recht  unbedeutende,  ja  leere  Sätze.  S.  343  lesen 
wir  von  Carnot  (der  überhaupt  völlig  ungenügend  charakterisiert 
wird):  „Das  aschfahle,  durch  Pockennarben  entstellte  Gesicht, 
die  große  Nase,  das  hellblonde  Haar  und  die  wasserblauen  Augen 
gaben  ihm  ein  sehr  harmloses  Aussehen."  S.  455  von  Beauharnais: 
„Die  Freiheitsbestrebungen  sagten  ihm  zu,  der  in  Amerika  den 
heilsamen  Einfluß  der  RepubUk  kennen  gelernt  hatte."  Daß 
kleinere  Versehen  im  einzelnen  vorkommen  (Paoli  starb  1807, 
nicht  erst  1815  —  S.  234  An m.),  ist  bei  einem  so  umfassenden 
Werke  unvermeidlich.  Die  zahlreichen  Illustrationen  bringen 
manches  Wertvolle  und  Interessante.  Man  wird  aber  doch  nicht 
sagen  können,  daß  ihre  Auswahl  immer  sehr  glücklich  sei;  von 
den  sechs  Bildern  Maximilian  Robespierres,  die  dem  Bande 
beigegeben  sind,  kann  nur  das  eine  oder  andere  als  leidlich  charak- 
teristisch gelten.  Die  beiden  auf  oder  neben  S.  283  und  S.  460 
reproduzierten  gehören  zu  denjenigen,  welche  die  Eigenart  des 
Tyrannen  am  wenigsten  von  allen  wiedergeben.  (Vgl.  Buffenoir^ 
Les  Portraits  de  Robespierre.   Paris  1910.) 

Tübingen.  Adalbert  Wahl. 

Der  Kampf  um  den  Zollverein  zwischen  Österreich  und  Preußen 
von  1849  bis  1853.  Von  Dr.  Alfred  Gaertner.  (Straßburger 
Beiträge  zur  neueren  Geschichte,  herausg.  von  Professor 
Dr.  Martin  Spahn  in  Straßburg.  4.  Bd.,  1.  u.  2.  Heft.)  Straß- 
burg I.E.,  Herdersche  Buchhandlung.     1911.    346  S. 

Der  Verfasser  hat  für  die  vorliegende  Arbeit  als  erster  die 
einschlägigen  Akten  des  k.  k.  Ministeriums  des  Auswärtigen  be- 
nutzen dürfen.  Gleichzeitig  aber  bewährt  er  sich  als  ein  Schüler 
M.  Spahns,  indem  er  in  ausgiebigster  Weise  auch  die  Zeitungs- 
und Zeitschriftenliteratur  heranzieht.  Zumal  das  damals  führende 
Organ  der  süddeutschen  Mittelstaaten  und  Österreichs,  die  Augs- 
burger Allgemeine  Zeitung,  liefert  ihm  reiche  Ausbeute.  So  er- 
halten wir  eine  nicht  nur  die  schon  ältere,  aus  bayerischen  Akten 


160  Literaturbericht. 

geschöpfte  Darstellung  Webers,  sondern  auch  Zimmermann  und 
Beer,  den  preußischen  und  den  österreichischen  Geschichts- 
schreiber des  Zollvereins,  ergänzende  und  berichtigende  Dar- 
stellung, ein  lückenloses  und  aufschlußreiches  Bild  des  Ringens 
der  beiden  deutschen  Großmächte  auf  wirtschaftspolitischem 
Gebiet,  das  den  Kampf  auf  rein  politischem  begleitet  und 
fortsetzt. 

Wenn  Österreich  in  diesem  letzteren  Kampf  mit  der  01- 
mützer  Punktation  der  vorläufige  Sieg  zufiel,  so  blieb  der  Erfolg 
<Jort,  trotz  wesentlicher  Zugeständnisse  an  Österreich,  im  großen 
und  ganzen  bei  Preußen.  Entgegen  der  ursprünglichen  Absicht 
<les  Handelsministers  Freiherrn  v.  Brück  und  seiner  Helfer, 
„Österreich,  das  Zollvereinsgebiet  und  das  übrige  Deutschland 
zu  einem  einheitlichen  Wirtschaftsgebiet  zusammenzufassen", 
kam  es  bloß  zum  preußisch-österreichischen  Handelsvertrag 
vom  19.  Februar  1853:  Preußen  hatte  seinen  schon  mit  Sprengung 
bedrohten  Zollverein  gerettet  und  ihn  noch  dazu  um  den  bis- 
lierigen  hannoverisch-oldenburgischen  Steuerverein,  bekanntlich 
<Jas  eigentliche  Streitobjekt  der  letzten  Jahre,  vergrößert  und 
versprach  die  Anbahnung  der  vollen  Zolleinigung  mit  Österreich 
nur  in  unbestimmter  Weise  für  das  Jahr  1859.  Zwischen  jenem 
Ausgangs-  und  diesem  Endpunkt  bewegen  sich  in  kaum  überseh- 
barem Auf  und  Ab  die  Entwürfe,  die  Verhandlungen,  die  Kon- 
ferenzen. Als  dritter  Faktor  treten  die  Mittelstaaten  auf,  die 
sich  während  der  Wiener  Konferenz  unter  von  der  Pfordtens 
Führung  zur  Trias  zusammenschlössen,  aber  eine  eigentlich  selb- 
ständige Stellung  in  wirtschaftlicher  Beziehung  so  wenig  wie  in 
politischer  auf  die  Dauer  einzunehmen  imstande  waren:  trotz 
ihrer  politischen  Gegnerschaft  gegen  Preußen  und  trotz  der  mit 
Ausnahme  Sachsens  vorwaltenden  schutzzöllnerischen  Interessen 
ihrer  Industrie  mußten  sie  sich  schließlich  doch  wieder  auf  den 
Boden  des  Zollvereins  begeben. 

Dem  wirtschaftlichen  Kampf  der  beiden  Großmächte  blieb 
aber  selbst  ein  politischer  Grundzug  gewahrt.  Der  Versuch 
Österreichs,  die  Zolleinigung  mit  Preußen  zu  erreichen,  ist  nichts 
anderes  als  eine  Neuauflage  des  dualistischen  Kampfproblems 
in  materiellem  Gewände.  Nicht  nur  Fürst  Schwarzenberg  sondern 
auch  Brück  ist  sich  des  politischen  Zieles,  der  Wahrung  der 
österreichischen  Vorherrschaft,  gar  wohl  bewußt.    (Der  Verfasser 


19.  Jahrhundert.  161 

scheint  mir  freilich  mit  seiner  eigenen  Aussage  S.  118  auf  S.  39, 
wie  auf  S.  339  in  Widerspruch  zu  geraten.)  Der  Unterschied 
zwischen  beiden  besteht  nur  darin,  daß  für  Brück,  den  Begründer 
des  österreichischen  Lloyd,  das  Wirtschaftsproblem  der  eigent- 
liche Ausgangspunkt  war  und  auch  als  solches  fortdauernd  von 
selbständiger  Bedeutung  blieb,  während  es  Schwarzenberg  nur  als 
Mittel  zum  Zweck  in  seinem  rein  politischen  Spiel  benutzte.  Auf 
der  andern  Seite  konnte  Preußen,  so  bedeutsame  kommerzielle 
Vorteile  auch  eine  künftige  Wirtschaftsgemeinschaft  mit  dem  Staate 
versprechen  mochte,  dem  das  aufblühende  Triest  und  Oberitalien 
zugehörte,  dessen  Handel  sich  im  Mittelmeer,  auf  dem  Balkan  und 
in  der  Levante  auszubreiten  begann,  ganz  abgesehen  von  den 
noch  prinzipiell  verschiedenen  Tarifen,  „aus  politischen  Gründen 
vorderhand  mit  Österreich  volkswirtschaftlich  weniger  als  je 
freiwillig  gemeinsame  Sache  machen". 

Gut  kommt  auch  der  Einfluß  des  Auslands  zur  Darstellung: 
Englands,  das  von  vornherein  durch  Brucks  Programm  und  die 
ihm  gespendeten  Lobeshymnen  der  Allgemeinen  Zeitung  er- 
schreckt, seiner  Verwirklichung  entgegenarbeitet;  Rußlands, 
das  im  Gegensatz  hierzu  das  Einvernehmen  der  beiden  deutschen 
Großmächte  betreibt;  des  neuerstehenden  französischen  Kaiser- 
reichs, dessen  Ehrgeiz  sie  zu  gemeinsamer  Frontwendung  nach 
Westen  auffordert.  Wenn  aber  der  Verfasser  schließlich  weit  mehr 
der  Fortentwicklung  der  äußeren  Verhältnisse  die  Schuld  daran 
beimißt,  daß  der  Handelsvertrag  nicht  zur  Zollvereinigung  fort- 
gebildet wurde,  so  möchte  ich  in  gegensätzlicher  Auffassung 
auch  für  die  weiteren  Jahre  auf  den  im  Grunde  fortbestehenden 
und  durch  die  europäischen  Ereignisse  nur  neu  entzündeten 
preußisch-österreichischen  Antagonismus  das  Schwergewicht  legen. 

Nicht  minder  eingehend  werden  die  verschiedenen  Strö- 
mungen in  den  deutschen  Einzelstaaten  geschildert.  Trefflich 
kommen  im  ganzen  Charakter  und  Tendenzen  der  leitenden  Staats- 
männer, so  des  entschlußscheuen  Beust  und  des  fest  und  ehrlich 
beharrenden  Pfordten  zum  Ausdruck.  Nur  Schwarzenberg  er- 
scheint mir  viel  zu  friedliebend  charakterisiert:  in  den  unver- 
öffentlichten Papieren  Pfordtens  wird  berichtet,  daß  es  haupt- 
sächlich Englands  und  Rußlands  Einspruch  gegen  jede  Gebiets- 
verkürzung Preußens  war,  die  Österreich  der  Olmützer  Abkunft 
vor  der  Waffenentscheidung  den  Vorzug  geben  ließen,  und  aus 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  11 


162  Literaturbericht. 

dem  zweiten  Band  von  Friedjungs  „Österreich  von  1848  bis 
1860",  über  den  der  Verfasser  noch  nicht  verfügte,  ersehen  wir, 
wie  Österreich  damals  zum  großen  Kriege  gegen  das  unvorbe- 
reitete Preußen  gerüstet  stand.  Es  war  freilich  die  letzte  Mög- 
lichkeit, Preußen  zurückzudrängen.  Als  dieser  Schicksalsmoment 
ungenutzt  verstrichen  war,  da  war  auch  alles  Mühen  Österreichs 
vergeblich,  mittels  der  Hintertüre  der  Zolleinigung  seine  alte  Vor- 
machtstellung in  Deutschland  neu  zu  erringen,  oder  doch  sie  für 
die  Dauer  zu  behaupten. 

In  der  Schlußbetrachtung  hätte  es  sich  wohl  verlohnt,  die 
Hauptetappen  des  Gesamtkampfes  nochmals  zusammenzufassen, 
da  die  großen  Linien  über  der  mühevollen  Lektüre  der  Einzel- 
heiten doch  allzu  leicht  aus  den  Augen  entschwinden.  Endlich 
darf  der  Rezensent  die  stilistisch  recht  bedenkliche  Formulierung 
in  der  Überschrift  des  zwölften  Abschnitts:  „Die  Unterhand- 
lungen der  Mittelstaaten  untereinander  und  Österreichs  An- 
passung daran"  nicht  ungerügt  lassen. 

Heidelberg.  Karl  Stählin. 

Die  Kultur  der  Gegenwart.  Teil  II,  Abt.  II,  1:  Allgemeine  Ver- 
fassungs-  und  Verwaltungsgeschichte  von  A.  Vierkandt, 
L.  Wenger,  M.  Hartmann,  0.  Franke,  K.  Rathgen,  A.  Ritter 
Luschin  von  Ebengreuth,  0.  Hintze.  1.  Hälfte.  Leipzig- 
Berlin,  B.  G.  Teubner.     19n.    VII  u.  373  S. 

Einem  Werke  gegenüber,  in  dem  die  Verfassung  und  Ver- 
waltung der  primitiven  Völker,  des  Orients  von  den  frühesten 
Zeiten  an  bis  heute,  des  europäischen  Altertums  und  der  Ger- 
manen und  des  Deutschen  Reiches  bis  1806  von  Fachleuten 
behandelt  werden,  darf  ich  nicht  den  Anspruch  erheben,  ein  zu- 
ständiger Beurteiler  zu  sein.  Aber  gerade  weil  ich  dem  Buch  als 
Lernender  unbefangen  gegenübergetreten  bin,  glaube  ich  be- 
rechtigt zu  sein,  mich  über  den  Eindruck  zu  äußern,  den  es  als 
Ganzes,  als  „Allgemeine  Verfassungs-  und  Verwaltungsgeschichte", 
auf  mich  gemacht  hat.  Ich  muß  gestehen,  daß  das  Werk  gerade 
in  dieser  Hinsicht  nicht  befriedigt.  Jedes  Sammelwerk  ist  ja  der 
Gefahr  ausgesetzt,  daß  der  Vorteil  der  größeren  Sachkunde  in 
den  einzelnen  Abschnitten  durch  den  Mangel  an  Einheitlichkeit 
im  Ganzen  aufgewogen  wird,  und  dieser  Gefahr  ist  diese  Verfas- 
sungsgeschichte  infolge   der   unglücklichen   Disposition   erlegen.. 


Allgemeine  Verfassungsgeschichte.  163 

Obwohl  Helmolts  Weltgeschichte  jeden,  der  jemals  die 
geographische  Gruppierung  für  eine  brauchbare  Grundlage 
historischer  Stoffverteilung  gehalten  hat,  von  deren  Unzweck- 
mäßigkeit  vollkommen  hat  überzeugen  können,  ist  in  dem  vor- 
liegenden Werke  doch  wieder  eine  Disposition  nach  geographischen 
Gesichtspunkten  gewählt  worden;  auf  die  von  A.  Vierkandt 
bearbeitete  Einleitung,  die  sich  mit  den  „Anfängen  der  Verfassung 
und  Verwaltung  und  der  Verfassung  und  Verwaltung  der  pri- 
mitiven Völker"  befaßt,  folgt  als  Abschnitt  A  die  orientalische 
Verfassung  und  Verwaltung,  während  der  erst  zur  Hälfte  vor- 
liegende Abschnitt  B  der  europäischen  Verfassung  und  Verwaltung 
gewidmet  ist. 

Diese  Wahl  der  räumlichen  statt  der  zeitlichen  Anordnung  ist 
umso  seltsamer,  als  die  klaffende  Lücke  zwischen  A  I,  wo  L.  Wen- 
ger  die  Verfassung  und  Verwaltung  des  orientalischen  Altertums 
bis  zum  Perserreich  hin  behandelt,  und  A  II,  der  von  M.  Hart- 
mann verfaßten  Bearbeitung  der  islamischen  Verfassung  und 
Verwaltung,  die  Zeit,  in  der  ein  großer  Teil  des  Orients  unter 
europäischer,  makedonisch-hellenistischer  und  römischer  Herr- 
schaft stand,  nach  einer  chronologischen  Darstellung  geradezu 
schreit.  Ich  verkenne  nicht,  daß  die  Abschnitte  A  II  bis  A  IV 
(Islam;  0.  Franke,  China;  K.  Rathgen,  Japan)  chronologisch 
schwer  einzureihen  sind.  Aber  ihr  gegebener  Platz  war  am  Ende 
des  gesamten  Bandes,  hinter  der  Geschichte  der  neueren  Ver- 
fassungs-  und  Verwaltungsgeschichte  Europas,  die  wir  von 
0.  Hintze  noch  zu  erwarten  haben.  Denn  die  moderne  Verfas- 
sungsentwicklung sowohl  der  islamischen  Welt  wie  Japans  und 
Chinas  ist  so  offenkundig  von  der  europäischen  beeinflußt,  daß 
sie  nur  aus  der  Kenntnis  der  europäischen  Verhältnisse  heraus 
verstanden  werden  kann. 

Aber  noch  viel  schwerer  fällt  gegen  die  gewählte  Disposition 
ins  Gewicht,  daß  sie  den  einheitlichen  Gang  der  allgemeinen 
Verfassungs-  und  Verwaltungsgeschichte  unterbricht.  Wenn 
auch  jeder  der  drei  Kulturkreise,  der  des  alten  Orients,  der  grie- 
chisch-römischen Welt  und  der  Germanen,  seine  besondere  Ent- 
wicklung hat,  so  stehen  sie  doch  nicht  bloß  nebeneinander,  sondern 
sie  folgen  aufeinander.  Und  das  wäre  meiner  Ansicht  nach  die 
Hauptaufgabe,  die  eine  allgemeine  Verfassungsgeschichte  zu 
lösen  hätte,  auf  die  aber  in  dem  vorliegenden  Werke  nur  gelegent- 

11* 


164  Literaturbericht. 

lieh  hingewiesen  ist,  zu  zeigen,  worin  das  eigentümliche  Wesen 
jeder  einzelnen  Gruppe  besteht  und  wie  sich  dieses  Wesen  mit 
dem  Erbe  der  vorhergegangenen  Gruppe  zu  einer  neuen  Einheit 
verbindet,  wie  also  im  alten  Orient  ohne  jeden  Einfluß  der  Rassen- 
unterschiede Weltreiche  unter  despotischen  Königen  entstehen, 
wie  dann  der  griechisch-römische  Stadtstaat  in  diese  orientalische 
Welt  hineinwächst  und  von  ihr  nicht  bloß  den  Gedanken  des 
jede  gleichberechtigte  Macht  ausschließenden  Weltreichs  sondern 
auch  die  göttliche  Verehrung  des  Königtums  übernimmt,  zugleich 
aber  durch  die  weitere  Ausgestaltung  der  Verwaltung  einen  Fort- 
schritt der  staatlichen  Entwicklung  über  jene  orientalischen 
Despotien  hinaus  bringt,  wie  endlich  die  Einheitlichkeit  der 
antiken  Kulturwelt  auseinanderbricht,  indem  auf  der  einen  Seite 
die  germanischen  Völker  das  römische  Reich  zerstören  und  auf 
seinem  Boden  neue  Staaten  gründen,  auf  der  andern  aber  die 
islamischen  Völker  eindringen.  Erst  vom  Ende  des  Altertums 
ab  ist  es  berechtigt,  die  europäische  und  die  orientalische  Ver- 
fassungsgeschichte getrennt  zu  betrachten,  denn  bis  in  die  jüngste 
Zeit  hinein  fehlen  alle  Berührungspunkte.  Der  Islam  kennt 
überhaupt  keine  Entwicklung  auf  dem  Gebiete  der  Verfassung 
und  Verwaltung;  aber  die  Frage,  inwiefern  die  Einrichtungen 
des  oströmischen  Reiches  auf  die  islamischen  Staaten  Einfluß 
gehabt  haben,  scheint  mir  doch  mehr  Beachtung  zu  verdienen, 
als  ihr  zuteil  geworden  ist.  Überhaupt  bedaure  ich,  daß  das  byzan- 
tinische Reich  nicht  im  Zusammenhange  behandelt  worden  ist. 
Im  ganzen  aber  herrscht  im  Orient  Stagnation,  der  Fortschritt 
der  Verfassungsgeschichte  liegt  ausschließlich  in  der  germanisch- 
romanischen Staatenwelt.  Mit  dieser  Doppelbezeichnung  ist  schon 
angedeutet,  daß  nicht  bloß  das  germanische  Element  die  Welt 
beherrscht,  sondern  daß  zugleich  die  antike  Kultur  einen  wich- 
tigen Faktor  der  weiteren  Entwicklung  bedeutet;  und  den  dritten 
Faktor  bildet  die  römische  Kirche.  Wie  aus  diesen  Kräften  die 
moderne  Welt  entsteht,  das  erfahren  wir  aus  dem  bis  jetzt 
allein  vorliegenden  Halbband  noch  nicht.  Nur  ein  Teil,  die  früh- 
germanischen Staaten  und  das  römisch-deutsche  Reich,  ist  be- 
handelt worden,  also  gerade  der  Teil  der  Entwicklung,  der  nicht 
zum  modernen  Staat  hingeführt  hat. 

SelbstverständHch   ist   mit   dieser    Skizze   der   allgemeinen 
Verfassungsentwicklung  nicht  der  reiche  Inhalt  des  Buches  er- 


Allgemeine  Verfassungsgeschichte.  165 

schöpft.  Interessant  wäre  auch  ein  Vergleich  der  einzelnen  Ein- 
richtungen, z.  B.  der  Steuer-  und  Heeresverfassung  oder  des 
Beamtenwesens  in  den  verschiedenen  Staaten.  Überhaupt  bin 
ich  mir  durchaus  bewußt,  den  Leistungen  der  einzelnen  Bearbeiter 
mit  meinen  Bemerkungen  keineswegs  gerecht  geworden  zu  sein; 
aber,  wie  gesagt,  ich  fühle  mich  dazu  auch  gar  nicht  imstande. 
Nur  das  möchte  ich  sagen,  daß  der  Eindruck  der  Beiträge  sehr 
günstig  ist;  man  hat  das  Gefühl,  daß  die  Verfasser  ihren  Stoff  be- 
herrschen, als  besonders  instruktiv  darf  ich  wohl  den  Abschnitt 
über  China  von  0.  Franke  hervorheben,  der  uns  eine  historische 
Erklärung  der  „Kultur  der  Gegenwart"  gibt  und  zeigt,  wie  die 
moderne  Entwicklung  Chinas  durch  die  Vergangenheit  belastet 
und  erschwert  wird. 

Ein  Abschnitt  freilich  steht  nicht  auf  der  Höhe  moderner 
Forschung,  der  von  Luschin  von  Ebengreuth  bearbeitete  über  die 
Verfassung  und  Verwaltung  der  Germanen  und  des  deutschen 
Reiches  bis  zum  Jahre  1806.  Hier  finden  sich  nicht  nur  viele 
Fehler  im  einzelnen,  unter  denen  ich  nur  die  regelmäßige  An- 
wendung der  Bezeichnung  ,,  Heiliges  römisches  Reich  deutscher 
Nation"  nenne,  sondern,  was  schlimmer  ist,  es  sind  die  Probleme 
gar  nicht  erkannt.  L.  reiht  Staats-  und  Rechtsaltertümer  an- 
einander, statt  uns  den  geschichtlichen  Verlauf  und  die  treibenden 
Kräfte  verständlich  zu  machen.  Wie  sich  die  Germanen  in  das 
römische  Reich  einschieben  und  es  zersetzen,  wie  sie  aber  zugleich 
die  römische  Kultur  und  die  christliche  Religion  annehmen, 
wie  sie  mit  den  Resten  der  römischen  Bevölkerung  verschmelzen 
und  neue  romanische  Nationen  bilden,  das  sollte  nicht  nur  „neben- 
her erwähnt"  werden  (vgl.  S.  211),  sondern  ist  die  wichtigste 
Frage  der  Verfassungsgeschichte  jener  Übergangszeit.  Auch  das 
Frankenreich  wird  ja  von  dem  Gegensatz  der  römischen  Welt- 
reichsidee, an  der  vor  allem  die  Kirche  festhält,  und  der  germa- 
nischen Staatsauffassung,  die  immer  wieder  in  den  Reichsteilungen 
zum  Ausdruck  kommt,  lange  Zeit  hindurch  beherrscht;  daraus 
entsteht  der  besondere  Zug  nicht  nur  der  neueren  Verfassungs- 
geschichte sondern  der  neueren  Geschichte  überhaupt,  das  System 
von  gleichberechtigten  Staaten,  das  kein  Weltreich  mehr  duldet. 
Ebenso  wenig  befriedigt  die  Darstellung  der  Geschichte  des 
deutschen  Reichs.  Schon  die  Disposition  (L  Entstehen  und  Blüte- 
zeit 887— 1198;  IL  Zeit  der  päpstlichen  Vorherrschaft  1198—1519; 


166  Literaturbericht. 

III.  bis  zum  Untergang  1519 — 1806)  erscheint  mir  verfehlt.  Den 
tiefsten  Einschnitt  möchte  ich  beim  Untergang  der  Staufer  machen. 
Bis  dahin  handelt  die  Reichsgeschichte  vor  allem  vom  Kampf  der 
universalen  Gewalten,  des  Kaisertums  und  des  Papsttums,  erst 
in  zweiter  Linie  von  dem  Verhältnis  der  Zentralgewalt  zum 
Partikularismus  der  Stämme.  Seit  dem  Interregnum  aber  spielt 
die  universale  Politik,  spielt  das  Verhältnis  von  Kaiser  und  Papst 
keine  große  Rolle  mehr,  entscheidend  ist  vielmehr  die  Stellung 
von  Königtum  und  Territorien;  es  handelt  sich,  so  möchte  ich 
sagen,  nicht  mehr  um  das  römische  Reich,  sondern  um  das  Reich 
deutscher  Nation  in  dem  Sinne,  den  A.Werminghoff  und  K.  Zeu- 
mer  vor  einigen  Jahren  festgestellt  haben.  Und  daß  in  der  späteren 
Reichsgeschichte  hinter  all  dem  sattsam  bekannten  Unerfreu- 
lichen und  Absterbenden  doch  zugleich  lebendige  und  zukunfts- 
reiche Kräfte  föderativer  Gestaltung  stecken,  das  hat  L.  auch  nicht 
erkannt.  Ich  will  das  hier  nicht  in  polemischem  Ton  ausführen, 
weil  ich  meine  Ansichten  über  die  spätere  Reichsverfassungs- 
geschichte in  Meisters  Grundriß  der  Geschichtswissenschaft  positiv 
aussprechen  werde,  und  lasse  es  einstweilen  bei  diesem  allgemeinen 
Widerspruch  gegen  L.s  Darstellung  bewenden. 

Halle  (Saale).  Fritz  Härtung. 

Die  Verwaltungsorganisation  des  Fürstbistums  Paderborn  im 
Mittelalter.  Von  Hermann  Aubin.  (Abhandlungen  zur  mitt- 
leren und  neueren  Geschichte,  herausg.  von  Georg  v.  Below. 
Heinrich  Finke,  Friedrich  Meinecke.  Heft  26.)  Berlin  und 
Leipzig,  Dr.  Walther  Rothschild.     1911.    X  u.  152  S. 

In  dem  vorliegenden  tüchtigen  Buche  Aubins  wird  weniger 
eine  Darstellung  der  Verwaltungsorganisation  des  Fürstentums 
Paderborn  im  Mittelalter  denn  eine  Schilderung  der  Anfänge 
des  Territorialstaats  geliefert.  Das  mag  daher  rühren,  daß  der 
Verfasser  in  dem  vorhandenen  archivalischen  und  gedruckten 
Material,  das  er  bis  1500  durchgearbeitet  hat,  nicht  die  Bausteine 
fand,  mit  denen  er  das  Gebäude  einer  umfassenden  Behörden- 
geschichte dieses  geistlichen  Territoriums  zu  errichten  vermochte. 

Ausgehend  von  der  Bedeutung,  welche  die  Verwendung 
von  Ministerialen  als  Beamte  für  den  Ausbau  der  deutschen 
Territorien  gewonnen  hatte,  beginnt  der  Verfasser  seine  Erörte- 
rung mit  einer  Untersuchung  der  Ministerialität  im  Fürstbistum. 


Deutsche  Landschaften.  167 

Bei  der  großen  Gefahr,  die  in  der  Belehnung  von  Ämtern  an  Freie 
nach  der  Ausbildung  der  Erblichkeit  der  Lehen  für  den  Landes- 
herrn gegeben  war,  lag  es  nahe,  der  Entfremdung  solcher  Ämter 
vorzubeugen,  indem  die  Bischöfe  unfreie,  von  ihnen  als  den  Dienst- 
herren abhängige  Ministerialen  seit  Beginn  des  11.  Jahrhunderts 
mit  der  Verwaltung  der  Ämter  beauftragten  und  so  wie  in  anderen 
Territorien  ein  vom  Herrn  unbedingt  abhängiges  Beamtentum 
wie  es  schon  in  der  karolingischen  Zeit  bestand,  wieder  aufs 
neue  geschaffen  haben.  Mit  dem  Beginn  des  12.  Jahrhunderts 
werden  die  Lehen  aber  auch  an  Ministerialen  verliehen,  und  diese 
beginnen  nun,  selbst  ihre  Ämter  als  Lehen  zu  betrachten,  und  die 
Reaktion  trat  in  einer  Feudalisierung  der  Ämter  in  die  Erschei- 
nung. Die  Ministerialen  waren  im  Laufe  des  14.  Jahrhunderts 
in  die  territoriale  Ritterschaft  übergegangen  (S.  35). 

Nach  dieser  Darlegung  der  ständischen  Verhältnisse  wendet 
sich  A.  den  Hofämtern  zu,  indem  er  von  der  zentralistischen 
Verwaltung  durch  den  vicedominus  ausgeht.  Dieser  vicedominus, 
der  in  der  kirchlichen  Verfassung  überhaupt  schon  früher  eine 
große  Rolle  spielt  (vgl.  Rosenthal,  Geschichte  des  Gerichts- 
wesens und  der  Verwaltungsorganisation  Bayerns  I,  S.  275  f.), 
wird  auch  hier  (wie  auch  vereinzelt  in  weltlichen  Territorien, 
z.  B.  Bayern)  Generalstellvertreter  des  Landesherrn.  Er  ver- 
schwindet in  Paderborn  in  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahr- 
hunderts und  die  Hofverwaltung  gleitet  in  die  Hände  der  vier 
Hofämter.  Die  dem  Kämmerer  unterstellte  Kammer  entwickelt 
sich  mit  zunehmender  Geldwirtschaft  zu  einer  Zentralkasse. 
Das  Bild  der  Zentralregierung  zeigt  im  wesentlichen  die  bekann- 
ten Züge. 

Der  Rat  (Kap.  III)  wird  im  Anfang  des  13.  Jahrhunderts 
aus  Hofbeamten  und  anderen  Ministerialen  gebildet.  Jene  treten 
zurück  und  der  Bischof  wählt  seine  Räte  aus  den  nicht  im  Hof- 
dienste tätigen  Rittern.  Eine  Konsolidierung  des  losen  Gefüges 
des  Rates  tritt  erst  (seit  1491)  in  dem  geschworenen  Rat  hervor. 

A.s  Vermutung,  daß  für  die  Ratsorganisation  das  Vorbild 
Kölns  maßgebend  gewesen  und  in  derselben  die  Nachwirkung 
der  Union  mit  Köln  zu  erblicken,  scheint  mir  begründet  zu  sein. 

Daß  der  Rat  nicht  als  höchstes  Gericht  des  Territoriums 
tätig  war  —  ein  Hofgericht  kam  erst  1569  zur  Entstehung  — 
läßt,  wie  der  Verfasser  mit  Recht  betont,  die  Paderborner  Rats- 


168  Literaturbericht. 

Organisation  als  rückständig  gegenüber  anderen  Territorien 
erscheinen. 

Für  die  Kanzlei  bot  sich  nur  dürftiges  Material,  so  daß 
der  Verfasser  eine  anschauliche  Schilderung  der  Kanzleiorga- 
nisation zu  geben  nicht  in  der  Lage  war. 

Größeres  Interesse  bietet  die  Vogtei,  deren  Entwicklung 
das  5.  Kapitel  schildert.  Nach  einer  vorübergehenden  Feudali- 
sierung  der  Vogteien  kommen  die  Vogteirechte  wieder  in  die 
Hand  des  Bischofs  und  bilden  neben  den  Grafenrechten  den 
Kernpunkt  landesherrlicher  Gewalt. 

In  einem  sehr  ausführlichen  Schlußkapitel  (S.  93 — 152)  stellt 
Verfasser  die  Ämterverfassung  dar.  Auch  in  Paderborn  spiegelt 
sich  in  der  Bezirkseinteilung  ein  Stück  der  Geschichte  des  Terri- 
toriums wieder,  indem  auch  hier  größere  Neuerwerbungen  als 
geschlossene  Ämter  angegliedert  werden.  In  einer  lehrreichen 
Darstellung  wird  die  Geschichte  einzelner  Ämter  geschildert, 
wobei  die  finanzielle  Seite  der  Amtsbildung  stark  in  den  Vorder- 
grund rückt. 

Man  wird  von  der  vorliegenden  Arbeit,  deren  Verfasser  sich 
durch  gründliches  Eindringen  in  sein  Quellenmaterial  auszeichnet, 
nicht  behaupten  können,  daß  sie  ein  anschauliches  Bild  eines 
reichgegliederten  Verwaltungsapparats  zeigt.  Das  ist  kein  Vor- 
wurf gegen  den  Verfasser,  denn  das  Material  war,  wie  schon 
im  Eingange  hervorgehoben  worden,  für  eine  Geschichte  des 
Verwaltungsorganismus  nicht  ausreichend.  Aber  das,  was  der 
Verfasser  bietet  —  und  ich  darf  hier  nur  an  die  vortrefflichen 
Ausführungen  über  die  Ausbildung  der  Ämterverfassung  er- 
innern — ,  darf  als  eine  erfreuliche  Bereicherung  unserer  Kenntnis 
der  deutschen  Territorialrechtsgeschichte  bezeichnet  werden. 

Jena.  Eduard  Rosenthal. 

Edzard  der  Große.  Abhandlungen  und  Vorträge  zur  Geschichte 
Ostfrieslands.  Von  Heinrich  Reimers.  13./14.  Heft.  Aurich, 
Dunkmann.     1910.     151  S. 

Die  Grafschaft  Ostfriesland  ist  ein  junges  Staatsgebilde  auf 
althistorischem  Boden.  Erst  in  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 
ist  aus  dem  wüsten  Streit  der  Häuptlingsfamilien  die  Herrschaft 
der  Cirksenas  hervorgegangen.  Der  zweite  Graf  aus  diesem 
Hause  war  Edzard  I.,  dem  längere  Zeit  nach  seinem  Tode  der 


Deutsche  Landschaften.  169 

Beiname  der  „Große"  gegeben  worden  ist.  Pauls  hat  in  seiner 
eingehenden  Anzeige  des  Reimersschen  Buches  in  den  Forsch. 
z.  brand.  u.  preuß.  Geschichte  die  Berechtigung  dieses  Bei- 
namens bezweifelt  —  wenn  man  Edzards  Erfolge  dafür  ent- 
scheidend sein  läßt,  gewiß  mit  Recht.  Aber  im  Vergleich  zu  den 
unbedeutenden  oder  unglücklichen  Gestalten  seiner  Nachfolger 
darf  er  auch  heute  auf  ein  Beiwort  Anspruch  machen,  das  ihn 
über  die  andern  hinaushebt.  Und  eine  Persönlichkeit  von  un- 
verwüstlicher Lebenskraft,  von  ungewöhnlicher  Macht  über 
Menschen,  von  soldatischer  Tüchtigkeit  im  Verein  mit  politischer 
Begabung  ist  dieser  deutsche  Graf,  der  noch  mit  55  Jahren  einen 
nächtlichen  Sturmangriff  auf  die  Friedeburg  unternimmt,  dem 
nicht  nur  seine  Bauern  bis  in  den  Tod  treu  gewesen  sind,  sondern 
den  selbst  seine  Feinde  bewundert  haben,  doch  trotz  aller  poli- 
tischen und  militärischen  Rückschläge  gewesen. 

R.s  Biographie  fußt  auf  gründlicher  Forschung  und  ist 
anziehend  geschrieben.  Die  verdiente  Anerkennung  soll  durch 
die  folgenden  Bemerkungen  nicht  geschmälert  werden.  Die 
Zahlen  des  Landsknechtsheeres  auf  S.  89,  die  auf  S.  92  u.  97 
wiederholt  werden,  scheinen  stark  übertrieben:  vgl.  die  offenbar 
authentischen  Zahlen  auf  S.  111.  Gegenüber  der  Kunst  der 
Menschenbehandlung,  die  dem  Grafen  auf  S.  63  nach  der  Er- 
werbung der  Stadt  Groningen  nachgerühmt  wird,  ist  auf  S.  110 
u.  112  hinzuweisen,  wo  von  einer  Anhänglichkeit  der  Stadt  nichts 
mehr  zu  spüren  ist.  Die  inneren  Zustände  treten  in  der  Dar- 
stellung, abgesehen  von  der  sympathischen  Schilderung  der  Ein- 
führung der  Reformation,  stark  zurück.  Freilich  ist  das  Material 
sehr  dürftig.  Vielleicht  hätte  sich  über  die  Verwaltung  durch 
Zusammenstellung  gelegentlicher  Erwähnungen  von  Drosten, 
z.  B.  S.  51,  56,  und  von  anderen  Beamten  doch  etwas  gewinnen 
lassen.  Auch  über  die  Bedeutung  der  Stände,  die  schon  unter 
Ulrich  I.  nachweisbar  sind  und  so  bald  der  landesherrlichen 
Macht  erfolgreich  entgegentreten  sollten,  war  wohl  einiges  zu 
sagen.  Die  landesherrlichen  Finanzen,  die  unter  den  ersten 
Cirksenas  sich  in  vorzüglicher  Verfassung  befanden,  verdienten 
einmal  eine  zusammenfassende  Behandlung,  die  sich  auch  die 
mühsame  Durchsicht  der  Emder  und  Leerer  Kontraktenprotokolle 
nicht  ersparen  dürfte.  Aus  den  Ämterlagerbüchern  sind  bei  der 
nötigen  Kritik  Rückschlüsse  auf  das  16.  Jahrhundert  wohl  möglich. 


170  Literaturbericht. 

Die  sehr  verwickelte  Frage  der  Echtheit  der  ältesten  Lehn- 
briefe für  Ostfriesland  ist  von  R.  durch  neue  Mitteilungen  aus 
Wien  und  Dresden  erheblich  gefördert  worden.  Ganz  klar  liegen 
die  Dinge  auch  jetzt  noch  nicht.  Für  die  Beurteilung  des  Pri- 
vilegs von  1495  ist  die  Erwähnung  der  von  Maximilian  begrün- 
deten Grafschaft  Bentheim-Steinfurth  in  der  inserierten  Ur- 
kunde vom  Jahre  1454  bedeutungsvoll.  Die  Fälschung  der 
Urkunde  von  1454  kann  erst  nach  der  Verleihung  des  Privilegs 
an  den  ersten  Grafen  von  Bentheim-Steinfurth  erfolgt  sein. 

Berlin.  E.  Kaeber. 

Briefwechsel  des  Ubbo  Emmius.  Herausgegeben  von  Dr.  H.  Brug- 
mans,  Professor  an  der  Universität  von  Amsterdam,  und 
Dr.  F.  Wächter,  Geh.  Archivrat  in  Aurich.  Bd.  1:  1556—1607. 
Aurich,  Dunkmann.     1911.    VII  u.  485  S. 

Der  Größte  des  alten  Friesenvolkes,  wie  die  Vorrede  vor- 
liegender Ausgabe  seiner  Briefe  ihn  nennt  —  Ubbo  Emmius, 
zeigt  sich  in  seiner  Korrespondenz  als  ein  echter  Humanist. 
Zwei  Brennpunkte  kennt  sein  Interesse:  die  res  publica  und  die 
ecclesia.  Beiden  widmet  sich  der  Schulrektor.  Emdens  Kampf 
mit  den  ostfriesischen  Grafen,  der  Kampf  der  Staaten  mit  Spa- 
nien, Groningens  mit  den  Ommelanden  beschäftigen  ihn  und 
seine  Korrespondenten.  Daneben  findet  in  ihm  die  kalvinische 
Orthodoxie,  wie  sie  von  den  Niederlanden  bis  Bremen  ihren 
Freundeskreis  zog,  in  der  Bekämpfung  des  Jorismus  und  in 
Nachrichten  aus  dem  kirchlichen  Leben  (z.  B.  Vorsynode  im 
Haag  1607)  ihren  Vertreter.  Und  wie  hier  im  kirchlichen  Leben 
die  Briefe  (und  die  in  Briefform  abgefaßten  mit  aufgenommenen 
Vorreden)  den  Humanisten  in  der  Praxis  und  zugleich  in  der 
wissenschaftlichen  Betätigung  zeigen,  so  gesellen  sich  bei  ihm 
auch  zur  politischen  Teilnahme  Reflexionen  über  die  Geschichte 
und  die  historische  Verarbeitung  der  Friesengeschichte.  Diese 
Vereinigung  von  Theorie  und  Praxis  in  re  publica  und  in  ecclesia 
kennzeichnet  das  allgemeine  humanistische  Bildungsideal,  unter 
dessen  Stil  Emmius  in  seinem  Briefwechsel  nur  als  Typ,  nicht  als 
Individuum  erscheint.  Auch  in  den  persönlichsten  Briefen  (die 
an  Johann  Witten)  tritt  humanistisches  Pathos,  Redegewandt- 
heit und  Interesse  an  hochgestellter  Bekanntschaft  so  stark  in 
den  Vordergrund,  daß  man  oft  gegen  die  Wahrheit  der  Emp- 


Deutsche  Landschaften.  171 

findung  und  gegen  den  Menschen  Emmius  skeptisch  wird.  So 
liegt  der  Hauptwert  des  Briefwechsels  in  seinem  Zeitungscharakter 
und  in  dem  Kultureindruck,  den  er  gibt.  Heute  sind  die  Tages- 
zeitungen kulturloser,  die  Redakteure  individualisierter,  während 
die  Briefzeitung  des  Humanisten  unindividuell  und  stilvoll, 
persönlich  und  unpersönlich  zugleich  sich  darstellt. 

Vielleicht  ist  die  Edition  von  diesem  Gesichtspunkt  aus 
zu  ausführlich,  wenn  sie  sämtliche  Briefe  im  Wortlaut  bringt. 
Ebenso  hätte  ein  kurzes  Regest  über  den  einzelnen  Briefen  die 
Übersicht  erleichtert.  Man  darf  aber  dem  zweiten  (Schluß-) 
Bande  mit  um  so  größerem  Interesse  entgegensehen,  da  uns 
der  Herausgeber  in  dessen  Vorrede  „die  Bedeutung  des  Ubbo 
Emmius  in  seiner  vielseitigen  Tätigkeit  und  den  Wert  seines 
Briefwechsels"  darlegen  will. 

Marburg.  W.  Sohm. 

Mecklenburgisches  Urkundenbuch.  Herausgegeben  von  dem  Ver- 
ein für  Mecklenburgische  Geschichte  und  Altertumskunde. 
23.  Bd.  1396—1399.  Schwerin,  Baerensprungsche  Hofbuchdr. 
1911.    4".     682  u.  197  S. 

Ein  ganz  besonders  stattlicher  Band  des  großen,  gleichmäßig 
fortschreitenden  Urkundenwerkes  liegt  in  der  bekannten  muster- 
gültigen Ausstattung  vor.  Nur  vier  Jahre  umfaßt  er,  bringt  aber 
aus  diesem  kurzen  Zeiträume  nicht  weniger  als  681  Urkunden 
und  Regesten,  von  denen  473  hier  zum  ersten  Male  gedruckt  sind. 
Freilich  ist  der  Begriff  der  Urkunde  recht  weit  gefaßt;  es  ist 
wohl  nichts  dagegen  einzuwenden,  daß  Inschriften  auf  Grab- 
steinen oder  Glocken  dazu  gerechnet  werden,  ob  aber  die  mannig- 
fachen chronikalischen  Nachrichten  —  es  sind  etwa  20  Nummern 
—  in  die  Sammlung  gehören,  muß  doch  als  zweifelhaft  gelten. 
Man  erkennt  nicht  recht,  ob  das  alle  derartigen  Notizen  aus  dieser 
Zeit,  die  sich  auf  mecklenburgische  Ereignisse  beziehen,  sind 
oder  ob  eine  Auswahl  erfolgt  ist.  Eher  kann  man  sich  damit 
befreunden,  daß  die  in  den  Hanserezessen  veröffentlichten  Ur- 
kunden hier  nochmals,  zum  Teil  in  besserem  Texte,  abgedruckt 
worden  sind.  Von  Bedeutung  ist  es,  daß  die  verschiedenen  Re- 
gisterbände des  Vatikanischen  Archives  in  reichem  Maße  benutzt 
worden  sind;  ich  zähle  nicht  weniger  als  58  Regesten  von  Ur- 


172  Literaturbericht. 

künden,  die  dorther  stammen.  Die  Textgestaltung  und  die  Druck- 
legung, die  Archivrat  Dr.  F.  S  t  u  h  r  besorgt  hat,  sind,  wie 
man  an  dem  Werke  schon  lange  gewöhnt  ist,  musterhaft,  ebenso 
sind  die  Register,  die  vom  Geh.  Archivrat  Dr.  Grotefend 
und  Oberbibliothekar  Dr.  V  o  ß  angefertigt  worden  sind,  über 
jedes  Lob  erhaben.  Jeder,  der  mittelalterliche  Urkunden  beson- 
ders Niederdeutschlands  benutzt,  weiß,  welch  eine  Fülle  von  Stoff 
namentlich  in  dem  Wort-  und  Sachregister  steckt  und  wie  diese 
in  den  einzelnen  Bänden  enthaltenen  Glossare  oft  ein  unentbehr- 
liches Hilfsmittel  für  Worterklärungen  sind. 

Der  Inhalt  der  Urkunden  bezieht  sich  zum  Teil  noch  auf 
die  nordischen  Wirren,  in  die  Mecklenburg  seit  lange  verwickelt 
war;  fällt  doch  in  diese  Zeit  das  persönliche  Eingreifen  des  Herzogs 
Erich,  König  Albrechts  Sohnes,  und  sein  Kampf  um  Stockholm. 
Mehr  noch  treten  uns  die  freundlichen  und  feindlichen  Verhand- 
lungen mit  dem  Deutschen  Orden  entgegen,  dem  ja  1399  die 
Insel  Gotland  überlassen  werden  mußte.  Auch  über  die  Streitig- 
keiten um  das  Erzbistum  Riga  und  das  Bistum  Dorpat  erhalten 
wir,  wenn  auch  nicht  gerade  neue,  doch  nicht  unbedeutende 
Nachrichten.  Vornehmlich  bezieht  sich  der  Inhalt  natürlich 
auf  innere  Verhältnisse,  kirchliche  Verwaltung,  Klosterwesen, 
Ablaß  u.  a.  m.,  sowie  städtische  Einrichtungen  und  Zustände 
im  Gericht  oder  Handelsverkehr.  Eigenartig  sind  die  zahlreichen 
sog.  Zuversichtsbriefe  (litterae  respectus),  die  zum  Teil  mit  Bürg- 
schaften oder  Vollmachten  verknüpft  sind.  Von  besonderem 
kulturhistorischem  Interesse  erscheint  mir  das  Testament  eines 
Pfarrers  zu  Barth  in  Pommern  vom  3.  Juni  1398  (Nr.  13  306), 
das  uns  einen  tiefen  Blick  in  das  wirtschaftliche  und  geistige 
Leben  eines  Klerikers  tun  läßt. 

Das  Mecklenburgische  Urkundenbuch  nähert  sich  in  der 
bisherigen  Form  seinem  Abschlüsse.  Es  sollen  nach  den  Mit- 
teilungen im  neuesten  Jahresberichte  des  Vereins  noch  zwei  Bände 
folgen,  von  denen  Band  XXIV  die  Urkunden  des  Jahres  1400 
und  ein  Siegelheft,  Band  XXV  aber  Nachträge  zu  allen  früheren 
Bänden  enthalten  sollen.  Auch  mit  den  Arbeiten  zu  der  Fort- 
setzung, die  in  einer  Sammlung  von  Regesten  für  das  15.  Jahr- 
hundert folgen  soll,  ist  man  bereits  eifrig  beschäftigt.  Es  ist 
nach  den  bisherigen  Leistungen  zu  hoffen,  daß  alle  diese  Pläne 
in  absehbarer  Zeit  zur  Ausführung  gelangen  werden.    Mecklen- 


Deutsche  Landschaften.  173 

bürg  kann  stolz  sein  auf  dies  Werk,  und  viele  Benutzer  werden 
den  Bearbeitern  für  ihre  Mühe  von  Herzen  dankbar  sein. 
Greifenberg  i.  P.  M.  Wehrmann. 

Wustrau,  Wirtschafts-  und  Verfassungsgeschichte  eines  branden- 
burgischen Rittergutes.  Von  Carl  Brinkmann.  (Staats- 
und sozialwissenschaftliche  Forschungen,  herausg.  von 
Gustav  Schmoller  und  Max  Sering.  Heft  155.)  Leipzig, 
Duncker  &  Humblot.     1911.     163  S.    4  M. 

Gute  Lokalstudien  sind  für  die  ostdeutsche  Agrargeschichte, 
von  der  wir  noch  so  wenig  wissen,  von  großem  Werte.  Sie  er- 
gänzen und  revidieren  unsere  noch  auf  der  Oberfläche  liegenden 
Kenntnisse  über  die  eigentümliche  Entwicklung,  die  dem  deut- 
schen Osten  seine,  von  dem  Westen  so  stark  kontrastierende 
Agrarverfassung  gegeben  hat.  Von  allen  Gutsgeschichten,  die 
ich  kenne,  ist  —  vom  wissenschaftlichen  Standpunkt  aus  be- 
trachtet —  die  Brinkmanns  mit  die  beste.  Sie  gehört  nicht 
zu  jenen  schwächHchen  Dilettantenarbeiten,  die  nur  wieder- 
geben, was  aus  zufällig  gefundenen  Quellen  wahllos  exzerpiert 
worden  ist,  sondern  sie  ist  das  Ergebnis  von  gründlichen  und 
kritischen  Studien  eines  geschulten  und  wohl  bewanderten  Hi- 
storikers. Vielleicht  ist  das  Buch  ein  wenig  zu  streng  sachlich 
und  bewußt  trocken  geschrieben;  von  dem  poetischen  Glänze, 
mit  dem  der  Dichter  Fontane  Zietens  Wustrau  umgeben  hat, 
ist  auch  nicht  ein  schwacher  Schimmer  geblieben. 

Die  Quellen  setzen  erst  spät  ein,  aber  früh  genug,  um  die 
Ausbildung  der  Gutsherrschaft  noch  kennen  zu  lernen.  Die  erste 
Beschreibung  des  Dorfes  aus  dem  Jahre  1491  zeigt  eine  Grund- 
besitzverteilung, die  die  Planmäßigkeit  der  ersten  Anlage  in  der 
Kolonialzeit  noch  deutlich  erkennen  läßt.  In  das  Dorf  teilen 
sich  zwölf  Bauern  und  drei  Ritter  zu  gleichen  Teilen;  den  Bauern 
wie  den  Rittern  gehören  je  24  Hufen.  Die  Ritterhufen  liegen 
mit  den  Bauernhufen  im  Gemenge  und  werden  im  gemeinsamen 
Flurzwange  von  den  Rittern  selber  bewirtschaftet.  Eine  Grund- 
herrschaft der  Ritter  über  die  Bauern  hat  noch  nicht  in  jedem 
Falle  eine  feste  Ausbildung  erfahren.  Erst  als  im  16.  Jahrhundert 
die  Rittergüter  einen  wirtschaftlichen  Aufschwung  nehmen,  den 
die  bäuerlichen  Wirtschaften  nicht  mitzumachen  vermögen, 
geraten  die  Bauern  in  eine  immer  stärker  werdende  Wirtschaft- 


174  Literaturbericht. 

liehe  und  rechtliche  Abhängigkeit  von  den  Gutsherrn.  Doch 
hat  ein  bewußtes  Bauernlegen  weder  jetzt  noch  in  den  folgenden 
drei  Jahrhunderten  stattgefunden;  im  Gegenteil  —  bis  in  das 
18.  Jahrhundert  hinein  zeigten  sich  die  Gutsherrn  bemüht, 
die  Bauernstellen  immer  wieder  zu  besetzen.  Eine  einschneidende 
Wandlung  vollzog  sich  erst  seit  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts. 
Dem  Feldmarschall  v.  Zieten  war  es  gelungen,  alle  drei  Ritter- 
güter des  Dorfes  in  seiner  Hand  zu  vereinigen  und  damit  sich 
die  Unterlage  für  die  Einrichtung  eines  landwirtschaftlichen 
Großbetriebes  zu  schaffen.  Die  unter  ihm  und  seinem  Sohne 
vorgenommene  Separation  und  Regulierung  wurde  in  einer 
die  Bauern  stark  benachteiligenden  Weise  durchgeführt.  Gleich- 
wohl vermochten  sich  die  Bauernwirtschaften  aber  auch  jetzt 
noch  zu  halten,  bis  sie  dann  in  der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts zur  Hälfte  eingingen  und  dem  Rittergute  anfielen. 
Von  seinem  alten  Dorfcharakter  hat  Wustrau  viel  eingebüßt. 
Zu  dem  Zietenschen  Gute,  das  bis  zum  Jahre  1764  nur  ein  mittel- 
großer Hof  neben  andern  ritterlichen  und  bäuerlichen  Höfen 
gewesen  war,  gehören  heute  mehr  als  zwei  Drittel  der  gesamten 
Dorfflur.  Der  alte  Dorfring  besteht  nur  noch  zur  Hälfte;  die 
eine  Seite  wird  von  dem  herrschaftlichen  Parke  eingenommen. 
Berlin-Friedenau.  Skalweit. 

Das  Ausgabenbuch  des  Marienburger  Hauskomturs  für  die  Jahre 
1410—1420.  Mit  Unterstützung  des  Vereins  für  die  Her- 
stellung und  Ausschmückung  der  Marienburg  herausgegeben 
von  Walther  Ziesemer.  Mit  1  Karte,  Plan,  Schriftproben 
und  Wasserzeichen.  Königsberg,  Thomas  &  Oppermann. 
1911.     XXXIII  u.  464  S.     18  M. 

Es  ist  kein  Zufall,  daß  eine  so  wertvolle  Quelle,  wie  das 
Ausgabenbuch  des  Marienburger  Hauskomturs  ist,  gerade  auf 
Veranlassung  des  Vereins  für  die  Herstellung  der  Marienburg 
herausgegeben  worden  ist.  In  noch  höherem  Maße  nämlich  als 
das  unter  Beihilfe  desselben  Vereins  1896  von  Erich  Joachim 
publizierte  Treßlerbuch  bietet  es  gerade  für  die  Baugeschichte 
der  Marienburg  die  schätzbarsten  Nachrichten.  Fällt  doch  die 
Abfassung  des  Ausgabenbuches  gerade  in  die  große  Zeit  des 
Tannenberger  Krieges,  des  ungeheuren  Zusammenbruches  des 
Ordens  und  seiner  Wiederaufrichtung  durch  den  heldenhaften 


Deutsche  Landschaften.  175 

Heinrich  v.  Plauen.  Die  Möglichkeit  dieser  Wiederaufrichtung 
aber  beruhte  auf  der  ruhmvollen  Verteidigung  der  Marienburg, 
die  allerdings  schweren  Schaden  bei  der  Belagerung  erlitten  hatte. 
Von  der  Ausbesserung  dieses  Schadens  und  von  der  darauffol- 
genden großartigen  Erweiterung  und  Verstärkung  des  Ordens- 
haupthauses  weiß  das  Ausgabenbuch  dem  Kundigen  vielerlei  zu 
berichten.  Das  erklärt  sich  aus  der  Stellung  des  Hauskomturs; 
er  hatte  die  Schloßverwaltung  im  besonderen  unter  sich,  er  stellte 
das  Gesinde  und  die  Knechte  an,  er  verwaltete  das  Verkehrs- 
wesen, hatte  für  Fuhrleute  und  Wagenpark  zu  sorgen,  er  hatte 
im  einzelnen  die  für  den  Betrieb  nötigen  Gerätschaften  zu  be- 
schaffen. Ihm  unterstand  aber  auch  das  Bauwesen,  denn  er  war 
es,  der  die  Zimmerleute,  Maurer,  Steinmetzen  und  andere  Arbeiter 
„zu  Werke"  schickte,  d.  h.  ihre  Arbeiten  verteilte,  beaufsichtigte 
und  entlohnte.  Indem  nun  das  Ausgabenbuch  die  einzelnen 
Posten  für  Löhne,  für  Materialbeschaffung,  für  Transportkosten 
usw.  enthält,  gibt  es  Auskünfte  über  außerordentlich  wichtige 
Vorgänge  im  Bauwesen  des  Schlosses.  Freilich  Auskünfte,  die 
der  Sichtung  und  Kritik  von  sachverständiger  Seite  bedürfen. 
So  hat  denn  Steinbrecht,  der  ebenso  meisterhaft  in  den  geschrie- 
benen wie  in  den  steinernen  Urkunden  zu  lesen  versteht,  nicht 
nur  die  Publikation  veranlaßt,  sondern  ihr  auch  einen  vortreff- 
lichen, äußerst  lehrreichen  Exkurs  über  das  Bauwesen  der  Kom- 
turei  Marienburg  in  den  Jahren  1410 — 1420  beigegeben.  Die 
Einleitung  Ziesemers  gibt  Auskunft  über  die  Stellung  des  Haus- 
komturs zu  Marienburg,  sein  Verhältnis  zum  Großkomtur  und 
zum  Treßler,  über  seine  amtliche  Tätigkeit  und  über  die  Anlage 
seines  Ausgabenbuches  und  die  Art  seiner  Führung.  Soweit  es 
möglich  ist,  stellt  er  auch  die  einzelnen  Inhaber  des  Amtes  fest. 
Der  Textabdruck  ist  sorgfältig  und  praktisch,  man  bemerkt  mit 
Vergnügen  die  vortreffliche  philologische  Schulung  des  Heraus- 
gebers, die  sich  auch  schon  in  anderen  Arbeiten  bewährt  hat; 
die  Einrichtung  des  Textes  entspricht  der  beim  Treßlerbuch 
bereits  angewandten  und  erprobten.  Sehr  viel  ausführlicher  als 
in  der  Treßlerbuchausgabe  sind  erfreulicherweise  die  Register, 
was  die  Benutzung  ganz  außerordentlich  erleichtert.  Daß  ein- 
zelne kleine  Versehen  darin  untergelaufen  sind,  wird  niemand, 
der  von  der  Mühseligkeit  und  Schwierigkeit  der  Herstellung 
solcher  Register  einen  Begriff  hat,  dem  Herausgeber  zum  Vor- 


176  Literaturbericht. 

wurf  machen.  Die  meisten  dieser  Irrtümer  hat  Perlbach  schon 
mit  gewohnter  Exaktheit  festgestellt  (Altpreuß.  Monatsschrift  48, 
S.327);  ich  brauche  sie  hier  nicht  zu  wiederholen,  dagegen  möchte 
ich  auf  folgenden  Punkt  aufmerksam  machen:  der  mittelalter- 
liche Adel  kannte  nicht  das  Wörtchen  „von"  als  Adelskennzeichen, 
bei  ihm  bezeichnet  es  immer  nur  Herkunft  oder  Besitz.  Solche 
Namen,  die  weder  einen  Ort  noch  ein  Gut  anzeigen,  sondern 
eben  reine  Familiennamen  sind,  werden  daher  im  Mittelalter 
auch  nie  mit  dem  ,,von"  geziert,  das  wäre  für  das  natürliche 
Sprachempfinden  jener  Zeit,  das  noch  durch  keine  Zeitungen 
verdorben  war,  ganz  unerträglich  gewesen.  Es  empfiehlt  sich 
daher,  um  Sprachwidrigkeiten  zu  vermeiden,  in  Anmerkungen 
und  Registern  zu  mittelalterlichen  Texten  nur  dann  ein  von  vor 
den  Namen  zu  setzen,  wenn  es  sich  auch  im  Text  findet,  also 
nicht  Hermann  von  Gans,  Heinrich  von  Klotz  usw.  Sehr 
nützHch  für  das  Studium  des  Buches  sind  die  Beigaben,  eine 
Karte  des  Gebietes  Marienburg  von  Bernhard  Schmid,  ein  Über- 
sichtsplan der  Marienburg  mit  allen  sicher  festgestellten  mittel- 
alterlichen Ortsbenennungen  von  Steinbrecht  und  die  Schrift- 
proben und  Wasserzeichen  aus  den  beiden  Handschriftenbänden 
des  Danziger  Archives.  Der  preußischen  Geschichtsforschung 
ist  mit  der  Publikation  des  Marienburger  Ausgabenbuches  ein 
wertvoller  Dienst  geleistet,  aber  von  dem  reichen  Schatze  der 
Ordensarchive  harren  noch  viele  ähnliche  Urkunden  von  großem 
Quellenwerte  der  Veröffentlichung;  ich  erinnere  an  das  Marien- 
burger Konventsbuch,  an  die  Sold-  und  Schadenbücher  usw.; 
es  wäre  sehr  zu  wünschen,  wenn  Z.  auch  ihrer  Bearbeitung 
seine  Kraft  widmen  wollte  und  sich  noch  mehr  Männer  fänden, 
die  wie  Steinbrecht  ihre  Autorität  und  Mühe  einsetzten,  um  die 
materielle  Unterlage  für  diese  nicht  billigen  Publikationen  zu 
schaffen.  —  Wie  ich  inzwischen  erfahren  habe,  ist  die  Heraus- 
gabe des  Konventsbuches  durch  Ziesemer  im  Gange. 

Schlobitten.  Krollmann. 

Die  Entstehung  der  Landeshoheit  in  Österreich.  Von  Dr.  Otto 
Frhr.  v.  Dungern.  Wien  und  Leipzig,  Alfr.  Holder.  1910. 
II  u.  197  8. 

Das   Buch   des   Freiherrn   v.  Dungern   darf  eine   mehr  als 
landesgeschichtliche    Bedeutung   beanspruchen,   denn   es   sucht 


Österreich.  177 

auf  einem  neuen  Wege  das  alte  Problem  der  Entstehung  der 
Landeshoheit  in  einem  bestimmten  Territorium  zu  lösen.  Als 
Genealoge  tritt  sein  Verfasser  vom  genealogischen  Standpunkte 
aus  an  seine  Aufgabe  heran. 

V.  D.  lehnt  die  alte  grundherrliche  Theorie  ausdrücklich  ab. 
Er  verwirft  aber  ebenso  die  heute  herrschende  Theorie,  die  die 
Entstehung  der  Landeshoheit  aus  dem  Erwerb  öffentlich-recht- 
licher Hoheitsrechte,  vor  allem  der  Grafengewalt  erklären  will. 
Nach  ihm  erwuchs  die  Landeshoheit  aus  der  durch  planmäßige 
Politik  der  Landesherren  bewirkten  und  von  der  Reichsgewalt 
begünstigten  Überführung  der  Freien  und  Unfreien  in  einen 
neuen  einheitlichen  Untertanenverband. 

Wir  haben  mithin  zwei  Faktoren  in  Betracht  zu  ziehen. 
Auf  der  einen  Seite  das  Reich.  Im  12.  Jahrhundert  ist  die  alte 
einst  wohlgefügte  Dynastenklasse  in  voller  Auflösung  und  Ver- 
wirrung. Die  Staufer  suchen  Ordnung  zu  schaffen,  indem  sie 
die  Kleineren  den  Größeren  aufopfern,  um  in  diesen  brauchbare 
Stützen  ihrer  Politik  zu  gewinnen.  Auf  der  anderen  Seite  stehen 
die  größeren  Dynasten.  Sie  sammeln  „Menschen  nicht  Grund- 
besitz". In  mühsamer  Einzelforschung  —  wie  sie  nur  ein  Genealoge 
vom  Range  v.  D.s  zu  leisten  vermochte  —  wird  darum  versucht, 
die  verschiedenen  Bevölkerungsklassen  im  Österreich  der  Staufer- 
zeit  zu  rekonstruieren.  Als  Resultat  der  Untersuchungen  über 
die  Grafengeschlechter,  die  Familiennamen,  die  Umwandlungen 
der  Amtstitel  in  Familienbezeichnungen  ergeben  sich  drei  Klassen: 
I.  die  Dynasten  oder  Hochfreien,  2.  die  kleinen  freien  Grund- 
besitzer, 3.  die  privatrechtlich  abhängigen  Einwohner,  vor  allem 
die  Ministerialen.  Die  Politik  der  Babenberger  erreichte  es 
—  wie  V.  D.  im  letzten  Kapitel  ausführt  —  die  Dynasten  zu  ver- 
drängen oder  zu  unterwerfen,  die  kleinen  Freien  in  die  Ministe- 
rialität  oder  in  eine  unpolitische  bäuerliche  Existenz  zu  bringen 
und  aus  den  privatrechtlich  abhängigen  Einwohnern  wenigstens 
die  Ministerialen  herauszuheben. 

Der  Referent  ist  geneigt,  in  den  ständegeschichtlichen  Ab- 
schnitten die  wertvollsten  Teile  des  Buches  zu  erblicken.  Ein 
reiches  Tatsachenmaterial  tritt  auch  hier  wieder  wie  in  v.  D.s 
Herrenstand  vorteilhaft  in  Erscheinung  und  befähigt  ihn  mit 
den  Mitteln  der  soviel  von  Dilettanten  gepflegten  aber  von  Fach- 
männern  meist   mißachteten   Genealogie  wertvolle,   wenn  auch 

Historische  Zeitsctirift  (111.  Bd.)  3.  Folge  IS.^Bd.  12 


178  Literaturbericht. 

nicht  durchgängig  neue  Resultate  zu  erzielen.  Gewiß  ist  nicht 
alles,  wie  übrigens  v.  D.  selbst  bemerkt,  gesichert;  aber  auch 
hier  besteht  der  von  A.  Schulte  (Der  Adel  und  die  deutsche 
Kirche  im  Mittelalter  S.  25)  über  des  Verfassers  Herrenstand 
geschriebene  Satz  zu  Recht:  „Wer  wollte  auf  einem  so  großen, 
so  liederlich  bestellten  und  so  lehmigen  Boden  nicht  einmal 
daneben  treten."  Die  These  über  die  Entstehung  der  Landes- 
hoheit scheint  jedoch  dem  Referenten  nicht  erwiesen.  Für  die 
Auffassung  der  staufischen  Reichspolitik  fehlt  einstweilen  noch 
eine  wirklich  quellenmäßige  Begründung.  Daß  die  Landesherren 
Dynasten  aus  ihrer  Stellung  verdrängten  und  Freie  in  die  Mini- 
sterialität  brachten,  ist  eine  schon  beobachtete  Erscheinung,, 
die  aber  schwerlich  zu  v.  D.s  weittragenden  Schlüssen  berechtigen 
dürfte.  Die  Ausdehnung  der  landesherrlichen  Gewalt  knüpfte 
an  die  gräfüche  Gerichtsbarkeit  an,  und  den  vielleicht  wichtigsten 
Wendepunkt  bildete  der  Wegfall  der  königlichen  Bannleihe. 
Freiburg  i.  Br.  Johannes  Lahusen. 

österreichische  Staatsverträge.  Fürstentum  Siebenbürgen  (1526> 
bis  1690).  Bearbeitet  von  Roderid)  Gooß.  Wien,  Holzhausen 
und  Leipzig,  Engelmann.     1911.     XI  u.  974  S. 

Das  vorliegende  Buch  enthält  neben  94  Staatsverträgen,, 
die  der  Zeit  vom  26.  März  1527  bis  1.  Mai  1690  angehören,  die 
Friedensschlüsse  von  Großwardein  vom  24.  Februar  1538 
samt  den  dazugehörigen  Akten  (Nr.  12 — 16,  S.  49 — 85),  von 
Wien  vom  23.  Juni  1606  (Nr.  40—45,  S.  278—367),  Preß- 
b  u  r  g  vom  April  1613  (Nr.  49,  S.  41 1—420),  N  i  k  o  1  s  b  u  r  g 
vom  31.  Dezember  1621  (Nr.  60,  61,  S.  504—562),  Wien  vom 
8.  Mai  1624  (Nr.  65,  S.  591—609),  P  r  e  ß  b  u  r  g  vom  20.  De- 
zember 1626  (Nr.  68,  S.  618—613),  Kaschau  vom  3.  April 
1631  (Nr.  71,  S.  645—658)  und  Linz  vom  16.  Dezember  1645 
(Nr.  74 — 76,  S.  715—805).  Alle  sind  samt  dem  einschlägigen 
Material  mit  ausführlichen  Einleitungen  und  den  nötigen  Lite- 
raturvermerken zum  Abdruck  gebracht.  Die  allgemeineren  Frie- 
densschlüsse von  Adrianopel,  Szöny,  Vasvär  und  Zsitvatorok 
werden  beiläufig  gestreift.  Von  Waffenstillständen  werden  44 
aus  der  Zeit  vom  26.  März  1627  bis  zum  15.  Juni  1662  vorgelegt. 
Die  Arbeit  ist  mit  großer  Sorgfalt  in  Angriff  genommen  und 
durchgeführt  worden;  man  darf  das  trotz  einiger  unterlaufener 


Schweiz.  179 

Auslassungen  und  Versehen  behaupten.  Was  diese  betrifft,  hat 
seinerzeit  Fr.  Schuller  im  26.  Band,  1.  und  3.  Heft,  28.  Band, 
3.  Heft,  und  29.  Band,  3.  Heft  des  Archivs  d.  Ver.  für  sieben- 
bürgische  Landeskunde  230  Nummern  „Urkundliche  Beiträge 
zur  Geschichte  Siebenbürgens  von  der  Schlacht  bei  Mohäcs  bis 
zum  Frieden  von  Großwardein"  aus  dem  k.  u.  k.  Haus-,  Hof- 
und  Staatsarchiv  in  Wien  mitgeteilt,  die  nicht  bloß  Ergänzungen 
zu  den  von  Gooß  publizierten  Materialien,  sondern  in  der  Einleitung 
auch  wichtige  Bemerkungen  über  die  Provenienz  der  Briefe, 
Akten  und  Urkunden  enthalten.  Auf  einzelne  Nummern  dieser 
Sammlung  ist  schon  aus  dem  Grunde  hinzuweisen,  weil  in  ihr 
und  der  vorliegenden  Sammlung  manche  Daten  verschieden  ver- 
merkt sind.  So  hat  Schuller  (Beiträge  XXVI,  251)  das  richtigere 
Datum  für  die  ungarische  Königswahl  Ferdinands  I.  (s.  auch 
Huber,  Gesch.  Österreichs  HI,  556).  Zu  Nr.  11  der  vorliegenden 
Sammlung  sind  aus  jener  Schullers  im  29.  Band  des  Archivs 
die  Nummern  195,  196,  198,  202 — 204  zu  erwähnen.  Mehrere 
sind  für  die  Vorverhandlungen  zum  Frieden  von  Großwardein 
belangreich,  so  namentlich  die  letzte  Nummer,  in  welcher  Fer- 
dinand I.  seinem  Bruder  die  Gründe  mitteilt,  die  beim  Abschluß 
des  Friedens  mit  Johann  Zapolya  maßgebend  gewesen.  Zu 
S.  226,  236  u.  a.  wäre  auf  die  Schrift  von  K.  Reißenberger,  Maria 
Christiana  von  Innerösterreich  im  30.  Heft  der  Mitt.  des  bist. 
Vereins  für  Steiermark  hinzuweisen  gewesen.  Die  Register  sind 
mit  wünschenswerter  Ausführiichkeit  und  Genauigkeit  behandelt. 
Von  Irrtümern  bemerken  wir  im  Sachregister  Szony  637  statt 
638,  Vasvär  647  statt  646. 

Graz.  J.  Loserth. 

Zürich,  Massdna  en  Suisse  messidor  an  VII  —  brumaire  an  VIII 
(juillet-octobre  1799).  Par  le  capitaine  L,  Hennequin  de 
la  section  historique  de  l'Etat-major  de  l'armde.  Publik 
sous  la  direction  de  la  Section  historique  de  l'Etat-major 
de  Varmde.  Paris,  librairie  militaire  Berger-Levraut.  1911. 
559  S.  und  8  Karten. 

Die  Geschichte  des  Feldzugs  von  1799  in  der  Schweiz,  der 
Namen  wie  Suworof,  Erzherzog  Karl,  Hotze,  Mass^na,  Lecourbe, 
Ney,  Soult,  Oudinot,  Molitor  angehören,  ist  Gegenstand  zahl- 
reicher neuerer  Forschungen  geworden.  Zu  dem  grundlegenden 
Werk  des  Russen  Miliutin  kamen,  hauptsächlich  auf  den  öster- 

12* 


180  Literaturbericht. 

reichischen  Akten  fußend,  das  Buch  Angelis  über  Erzherzog  Karl 
als  Feldherrn  und  Heeresorganisator  und  die  aufschlußreichen 
Publikationen  Hermann  Hüffers,  der  unter  anderem  die  oft  wieder- 
holte Sage,  die  österreichischen  Generalstabsoffiziere  hätten 
Suworof  nicht  darüber  aufgeklärt,  daß  die  Gotthardstraße  am 
Urnersee  aufhöre,  und  dadurch  seinen  Zug  über  den  Gotthard 
statt  über  die  Bündnerpässe  verschuldet,  aktenmäßig  widerlegt 
hat.  Auf  schweizerischer  Seite  hat  besonders  Reding-Biberegg 
(Der  Zug  Suworof s  durch  die  Schweiz,  Zürich  1896)  durch  Ver- 
wertung der  in  den  Pariser  Archiven  liegenden  Korrespondenzen 
der  französischen  Generäle  die  früheren  Darstellungen  in  wesent- 
lichen Punkten  berichtigt.  Während  in  der  Sammelschrift  „Vor 
hundert  Jahren"  (Zürich  1899)  Meyer  v.  Knonau  eine  ältere 
Schilderung  der  zweiten  Schlacht  von  Zürich  von  Wilhelm  Meyer 
mit  kritischen  Bemerkungen  und  Ergänzungen  neu  herausgab, 
Oberst  F.  Becker  die  erste  Schlacht  bei  Zürich  darstellte  und 
Zeller-Werdmüller  gleichsam  die  Belege  für  beides  aus  zeitgenös- 
sischen Aufzeichnungen  und  Briefen  beifügte,  veröffentlichte  das 
eidgenössische  Generalstabsbureau  ein  wertvolles  Heft  „Kriegs- 
geschichtliche Studien"  mit  einer  Schilderung  der  Kämpfe  in 
der  Nordostschweiz  bis  zum  Rückzug  Massenas  in  die  Stellung 
bei  Zürich  von  Bühler,  einer  Studie  über  den  Linthübergang 
Soults  von  Galiffe  und  einer  vollständigen  Bibliographie  über 
den  Feldzug.  Reinhold  Günther  widmete  dem  Gebirgskrieg 
Lecourbes  eine  eigene  Schrift.  Die  diplomatische  Tätigkeit, 
die  dem  Krieg  parallellief,  erfuhr  neue  Beleuchtung  durch  eine 
Schrift  Eduard  Rotts  über  Perrochel  und  Massena  sowie  durch 
eine  Arbeit  Felix  Burckhardts  über  die  schweizerische  Emigration, 
die  ein  wenig  bekanntes  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  zweiten 
Koalition  mit  erschöpfender  Gründlichkeit  behandelte.  Auch 
Stricklers  große  „Aktensammlung  aus  der  Zeit  der  Helvetischen 
Republik"  sowie  die  aus  den  Pariser  Archiven  geschöpfte  Samm- 
lung Dunants  über  die  Beziehungen  Frankreichs  zur  helvetischen 
Republik  boten  mancherlei  ergänzende  Züge.  Die  Verflechtung 
des  Feldzugs  mit  den  politischen  Geschicken  der  Schweiz  suchte 
der  Referent  in  dem  1903  erschienenen  ersten  Bande  seiner 
„Geschichte  der  Schweiz  im  19.  Jahrhundert"  darzulegen. 

Seitdem   haben   auch  französische   Forscher  sich   mit  dem 
Gegenstand  beschäftigt.    1904  erschien  ein  Band  von  E.  Gachot 


Schweiz.  181 

über  den  Feldzug  in  Helvetien,  der  aus  bisher  unbenutzten  Quellen 
im  Familienarchiv  des  Enkels  von  Mass^na,  des  Fürsten  von  Eßling, 
schöpfte,  im  übrigen  aber  nichts  weniger  als  einwandfrei  war; 
manche  Partien  des  Buches  sind  wie  aus  bloßem  Gedächtnis 
niedergeschrieben.  1909  gab  Gachot  aus  dem  Eßlingschen  Fa- 
milienarchiv die  Papiere  von  Mar^s,  dem  Generaladjutanten 
Massenas,  heraus,  eine  wirklich  wertvolle  Quelle,  Weitaus  das 
Vorzüglichste  aber,  was  von  französischer  Seite  geleistet  wurde,  ist 
das  letztes  Jahr  unter  den  Auspizien  der  historischen  Sektion 
des  französischen  Generalstabs  veröffentlichte  Buch  von  Haupt- 
mann Hennequin,  von  dem  nur  zu  bedauern  ist,  daß  es 
bloß  die  zweite  Hälfte  des  Feldzugs  vom  Juli  bis  Oktober,  in 
der  allerdings  die  Entscheidungen  gefallen  sind,  behandelt. 
Dafür  hat  der  Verfasser  die  reichen  Schätze  des  französischen 
Kriegsarchivs,  die  Korrespondenz  der  Generäle,  des  Kriegs- 
ministers und  Direktoriums,  die  Wochen-  und  Monatsbulletins 
und  Situationstabellen  der  Divisionen  und  der  Armee  systematisch 
für  seinen  Zweck  durchgearbeitet  und  auch  die  Archive  der 
Familien  Massenas  und  Lecourbes  herangezogen.  Mit  der  ein- 
schlägigen Literatur,  auch  der  deutschen  und  schweizerischen, 
zeigt  er  sich  wohl  vertraut;  nur  wenige  Arbeiten  sind  ihm  ent- 
gangen. Mit  der  Sorgfalt  und  Gründlichkeit  in  der  Quellenbe- 
nutzung verbindet  Hennequin  eine  zutreffende  Kritik  und  steht 
nicht  an,  gewollte  oder  ungewollte  Lücken,  Unwahrscheinlich- 
keiten  und  Übertreibungen  in  den  französischen  Berichten  zu 
signalisieren,  wo  ihm  solche  aufstoßen.  Die  Darstellung  ist 
phrasenlos,  von  erquickender  Sachlichkeit  und  Objektivität; 
man  hat  das  Gefühl,  daß  es  dem  Autor  um  nichts  als  die  hi- 
storische Wahrheit  zu  tun  sei.  Der  trostlose  Zustand  der  fran- 
zösischen Armeeverwaltung,  der  Mass^na  nötigte,  allen  Ver- 
sprechungen und  Verträgen  zuwider  die  ganze  Last  des  Unter- 
halts seiner  Armee  auf  die  „verbündeten"  Helvetier  abzuwälzen, 
das  bedenkliche  Verhältnis  zwischen  Oberbefehlshaber  und 
Kriegsminister,  die  Unwissenheit  des  Direktoriums  über  die 
Bewegungen  und  Kriegspläne  des  Feindes,  sein  fortwährendes 
Schwanken  im  Kriegsplan,  nichts  wird  verhüllt  oder  beschönigt. 
Wie  der  Umsicht  und  Tatkraft  Massenas  und  seiner  Unterführer, 
so  läßt  Hennequin  auch  den  feindlichen  Heerführern  und  ihren 
Truppen  volle  Gerechtigkeit  widerfahren;  selbst  Korssakof  wird 


182  Literaturbericht. 

von  ihm  milder  beurteilt  als  gewöhnlich,  indem  er  für  die  „heroische 
Entschlossenheit",  mit  der  sich  der  russische  Feldherr  durch 
die  siegreichen  Franzosen  aus  dem  eingeschlossenen  Zürich 
einen  Weg  bahnte,  anerkennende  Worte  findet.  Der  Anteil, 
den  die  wenigen  helvetischen  Truppen  an  der  Vereitelung  des 
Aareübergangs  des  Erzherzogs  bei  Döttingen  und  an  der  Zurück- 
weisung Suworofs  bei  Näfels  hatten,  wird  gebührend  gewürdigt. 
Bemerkenswert  ist  auch  die  gute  Kenntnis  des  schweizerischen 
Kriegstheaters,  das  der  Autor  persönlich  besucht  hat.  Der  ein- 
zige topographische  Irrtum,  der  dem  Referenten  aufgefallen  ist, 
bezieht  sich  auf  den  Teischberg  (S.  107),  der  nicht  die  Höhe 
von  Betten,  sondern  die  Felsterrasse  unterhalb  Lax  ist,  in  der 
die  oberste  Talstufe  des  Wallis,  das  Goms,  gegen  das  östliche 
Stück  des  Zehntens  Raron  abfällt.  Auf  alle  Fälle  darf  das  Buch 
Hennequins  als  ein  erfreuliches  Zeugnis  für  den  wissenschaft- 
lichen Geist  bezeichnet  werden,  der  die  historische  Sektion  des 
französischen   Generalstabs  beseelt. 

Zürich.  Wilhelm  Oechsli. 

Histoire  de  Charles  V.  I  (1338— 1358).  U  (1358—1364).  Par  R. 
DelacbenaL  Paris,  A.  Picard  et  fils.  1909.  XXXV  u. 
474  S.    494  S. 

Es  ist  nicht  uninteressant,  zu  beobachten,  daß  zu  der  gleichen 
Zeit,  da  in  Deutschland  ein  scharfer  und  nicht  immer  gerechter 
Krieg  gegen  die  Jahrbücher  der  Deutschen  Geschichte  geführt 
wird  und  man  vielfach  an  Stelle  der  „Katakomben"  unter  Auf- 
gabe des  Prinzips  der  Vollständigkeit  gedrängtere  Darstellungen 
verlangt,  welche  bloß  das  WesentUche  bringen  und  auch  höheren 
literarischen  Anforderungen  genügen,  daß  zu  der  gleichen  Zeit 
in  Frankreich  nach  deutschem  Muster  die  Annales  de  VHistoire 
de  France  ä  Vepoque  Carolingienne  und  jahrbücherartige  Werke 
entstehen. 

Delachenal  geht  mit  der  peinlichen  Gründlichkeit  des  An- 
nalisten vor,  er  zieht  das  gesamte  gedruckte  und  ungedruckte 
Material  heran  und  gibt  eine  schlichte,  fast  stets  chronologische 
Darstellung,  die  allerdings  zuweilen  etwas  trocken  und  ermüdend 
ist.  Die  einzelnen  Kapitel  sind  in  Paragraphen  geteilt.  Die 
beiden  stattlichen  Bände  bringen  nur  die  Vorgeschichte;  wie 
viele  werden   noch   folgen   müssen,   um   die  gesamte  Tätigkeit 


Frankreich.  183 

dieses  Fürsten  zu  würdigen,  der  sein  Land  mit  starker  Hand 
von  dem  Rande  des  Verderbens  gerissen  und  zu  neuer  Blüte 
geführt  hat! 

Bereits  als  Dauphin  —  der  erste  Valois  übrigens,  der  sich 
so  nennen  kann  —  kam  Karl  mit  dem  Manne  in  Berührung, 
der  ihm  Zeitlebens  zu  schaffen  machte:  mit  Karl  von  Navarra, 
der  es  immer  wieder  versuchte,  die  Krone  Frankreichs  den  Valois 
zu  entreißen  und  an  die  Evreux  zu  bringen.  Als  Lieutenant  des 
Königs  in  der  Normandie  wurde  der  junge  Prinz  durch  die  Um- 
triebe des  Erzbösewichts  vortrefflich  in  das  politische  Ränkespiel 
eingeführt.  Bald  bot  sich  die  Gelegenheit  zu  selbständigem 
Handeln,  da  er  durch  die  Gefangennahme  König  Johanns  in  der 
Schlacht  von  Poitiers  an  die  Spitze  der  Regierung  gestellt  wurde. 

Auf  Grund  eingehender  topographischer  Studien  verfolgt 
D.  den  Gang  der  Schlacht  und  legt  dabei  viel  Gewicht  auf  den 
Brief  des  Schwarzen  Prinzen  an  den  Magistrat  von  London: 
Das  befestigte  Lager  der  Engländer,  das  Froissart  den  Engländern 
zuschreibt,  fällt  damit  fort.  Leider  setzt  sich  der  Verfasser  mit 
Delbrück  nicht  auseinander  (s.  auch  einige  Ausstellungen  von 
Tout  in  der  Engl.  Hist.  Review  XXV  (1910),  156  ff.). 

Zunächst  als  königlicher  Lieutenant  für  das  ganze  Reich, 
dann  als  Regent  versuchte  Karl  dem  Vater  das  Reich  unversehrt 
zu  erhalten:  wahrlich  eine  schwere  Aufgabe.  Nicht  nur  galt  es 
stets  den  Krieg  mit  England  im  Auge  zu  behalten,  schwere  innere 
Kämpfe  waren  zu  bestehen:  mit  dem  König  von  Navarra,  mit  den 
Reichsständen,  welche  die  Gelegenheit  für  günstig  hielten,  um  die 
königliche  Prärogative  anzutasten.  Dabei  kein  Geld,  kein  tüch- 
tiges Heer,  keine  zuverlässigen  Beamten,  kein  Anhang  im  Volk. 
Zu  offenem  Widerstände  gegen  die  Reformer  fehlte  es  an  Macht, 
es  hieß  geschickt  lavieren,  ausweichen,  hinziehen.  Karl  zeigte 
sich  in  diesen  Künsten  als  Meister:  Stephan  Marcel  verliert  sein 
Leben,  ohne  etwas  erreicht  zu  haben. 

Währenddessen  liefen  die  langwierigen  Verhandlungen  mit 
England.  Sehr  wichtig  ist  es,  daß  D.  im  British  Museum  Abmachun- 
gen fand  (unter  den  bemerkenswerten  pUces  justificaiives  II, 
S.  402  Nr.  XXIII,  s.  auch  II,  S.  62  ff.  veröffentlicht),  die  im 
Anfang  des  Jahres  1358  von  den  beiden  Königen  getroffen 
wurden.  Erst  als  dieser  erste  Vertrag  von  London  nicht  zustande 
kam,  entschloß  sich  der  „gute"  König,  dem  seine  Freiheit  über 


184  Literaturbericht. 

sein  Reich  ging,  zu  dem  schmachvollen  zweiten  Frieden  von 
London  (24.  März  1359),  der  für  den  Regenten  unannehmbar 
war.  Mißerfolge  zwangen  König  Eduard  zur  Nachgiebigkeit, 
auf  die  Verhandlungen  von  Bretigny  folgte  dann  endlich  der 
Friede  von  Calais.  Vier  Jahre  nach  der  Rückkehr  seines  Vaters 
wurde  der  26  jährige  (nicht  1337,  sondern  1338  geboren)  selbst 
König:  kränklich  (nach  Brächet  Skrofulöse  in  Verbindung  mit 
schleichender  Tuberkulose),  aber  von  größter  Energie.  Petrarca 
lobte  an  dem  Dauphin  den  Spiritus  ardentissimus.  Als  wahrer 
Nachkomme  der  Luxemburger  hatte  Karl  Sinn  für  Prunk  und 
Pracht  und  zeigte  schon  früh  die  größte  Freude  an  Kleinodien; 
ein  Inventar  von  1363  zählt  beinahe  1000  Gegenstände  auf. 
Bereits  als  Dauphin  kaufte  er  dem  Grafen  von  Etampes  das 
Schloß  ab,  das  seine  sorgsame  Hand  zum  weithin  berühmten 
Hotel  Saint  Pol  umgestaltete. 

Dem  bedeutenden  Werke  sind  beigegeben  das  bekannte 
Porträt  König  Johanns  aus  der  BibHotheque  Nationale,  eine  Mi- 
niatur aus  dem  Jahre  1367,  welche  den  Dauphin  darstellt  (Bibl. 
Nat.  fr.  5707)  und  endlich  eine  Karte  für  die  Schlacht  von  Poi- 
tiers.    Mit  Spannung  sieht  man  der  Fortsetzung  entgegen. 

Heidelberg.  Otto  Cartellieri. 

La  juridiction  de  la  municipalitd  Parisienne  de  Saint  Louis  ä 
Charles  VIL  Par  Georges  HuismaD,  (Bibliothkque  d'hi- 
stoire  de  Paris  pubL  sous  les  auspices  du  Service  de  la 
Bibliothkque  et  des  travaux  historiques  de  la  ville.)  Paris, 
Ernest  Leroux.    1912.     XV  u.  261  8. 

Histoire  de  la  ville  et  communautd  de  Pontivy  au  XVIII^  siicle. 
Essai  sur  l' Organisation  municipale  en  Bretagne.  Par 
F.  Le  Lay.  (Le  Bretagne  et  les  Pays  Celtiques,  sdrie  in-8, 
I.)     Paris,  Honord  Champion.    1911.     III  u.  396  S. 

Wir  bringen  hier  zwei  interessante  und  verdienstliche  Ver- 
öffentlichungen zur  Geschichte  der  französischen  Städte  und  ihrer 
Verfassung  zur  Anzeige. 

Unter  den  Städten  Frankreichs  nimmt  Paris  verfassungs- 
geschichtlich eine  ganz  besondere  Stellung  ein.  Die  Magistratur 
ist  hier  hervorgegangen  aus  der  Vorstandschaft  der  wichtigsten 
Gilde,  nämlich  der  den  Namen  „Hanse"  tragenden  Vereinigung 
der  Kaufleute,  die  auf  der  Seine  Handel  trieben.  Der  Prevöt  des 
marchands,  das   Haupt  der  Pariser   Stadtverwaltung,   und  die 


Frankreich.  185 

ihm  zur  Seite  stehenden  vier  Schöffen  (ichevins)  sind  nichts  anderes 
als  der  alte  Privöt  des  marchands  de  l'eau,  der  Vorsitzende  der 
Pariser  Hanse,  mit  seinen  juris  oder  ichevins,  doch  umkleidet 
mit  Funktionen  für  die  gesamte  Bürgerschaft.  Wie  diese  Ent- 
stehungsgeschichte dauernd  deutliche  Spuren  in  den  städtischen 
Organen  und  ihren  Funktionen  zurückließ,  zeigt  in  belehrender 
Weise  das  Buch  von  Huisman  über  die  ältere  Geschichte  der 
städtischen  Gerichtsbarkeit  in  Paris.  Wir  verdanken  seine  Ver- 
öffentlichung dem  Enseignement  d'histoire  de  Paris,  einer  zum 
Zweck  der  Belehrung  gebildeten  (auch  öffentliche  Vorträge  ver- 
anstaltenden) Abteilung  des  großen  und  verdienten  wissenschaft- 
lichen Instituts  der  Stadt  Paris,  das  den  Namen  Bibliotheque  et 
travaux  historiques  de  la  villede  Paris  trägt  und  namentlich  auf  den 
Schultern  von  Marcel  Poete  ruht.  H.,  ein  Schüler  von  Poete, 
beginnt  seine  Untersuchung  mit  der  Zeit  Ludwigs  des  Heiligen, 
in  welcher  zuerst  die  städtische  Beamtenschaft  erscheint  (er 
setzt  S.  21  die  Erlangung  städtischer  Funktionen  durch  die 
Hanse  vielleicht  allzu  genau  auf  „gegen  1260  oder  1261"  an). 
Die  ausführliche  Einleitung  beschäftigt  sich  aber  zurückgreifend 
auch  mit  der  Entstehung  und  Geschichte  der  Hanse  und  ihrer 
Gerichtsbarkeit  sowie  mit  der  weiteren  Geschichte  der  Stadt- 
verfassung durch  ein  Jahrhundert  friedlicher  Entwicklung  und 
durch  die  anschließenden  Stürme  zur  Zeit  Etienne  Marcels  (1357 
bis  1358),  der  Cabochiens  (1413)  und  des  ganzen  Bürgerkriegs 
bis  zur  Thronbesteigung  Karls  Vll.  (1422).  Dann  folgt  ein- 
gehend die  Geschichte  des  sogenannten  Parloir  aux  bourgeois, 
seiner  Organisation  und  seiner  Gerichtsbarkeit  über  Hanse  und 
Stadt.  Das  Parloir  aux  bourgeois  war  ursprünglich  das  Gemeinde- 
haus, in  dem  die  städtische  Magistratur  sich  versammelte.  H.  ge- 
braucht das  Wort  aber  speziell  vom  Stadtgericht,  das  ursprünglich 
aus  dem  Prevöt  des  marchands  und  den  Schöffen,  später  aus 
einem  Lieutenant  und  seinen  Beisitzern  bestand,  obgleich  auch 
ein  im  Jahre  1296  geschaffenes  und  ebenda  tagendes  Kollegium 
von  24  Männern  zur  Unterstützung  des  Prevöt  und  der  Schöffen 
gelegentlich  ebenso  genannt  wird  (das  S.  41  f.  über  dieses  Kol- 
legium Bemerkte  bedarf  überhaupt  der  Ergänzung).  Der  Umfang 
der  städtischen  Gerichtsbarkeit  war  in  Paris  nicht  sehr  groß 
und  läßt  den  Ursprung  aus  der  Korporationsgerichtsbarkeit 
der  Hanse  erkennen.    Es  handelt  sich  dabei  im  wesentlichen  um 


186  Literaturbericht. 

die  Handelsgerichtsbarkeit  auf  der  Seine  und  ihren  Nebenflüssen, 
um  eine  beschränkte  Gerichtsbarkeit  in  Steuersachen  (geflossen 
aus  der  Mitwirkung  der  städtischen  Organe  bei  der  Repartition 
der  Steuern)  sowie  um  die  Gerichtsbarkeit  in  Angelegenheiten 
städtischen  Eigentums.  Da  sich  die  Stadt  im  allgemeinen  in  den 
Grenzen  ihrer  Zuständigkeit  hielt,  hatte  sie  auch  nur  verhältnis- 
mäßig selten  Kompetenzstreitigkeiten  mit  der  Gerichtsbarkeit 
des  königlichen  Privöt  von  Paris  (im  Chätelet),  noch  seltener  mit 
dem  Parlament.  Die  Reste  der  alten  Bestände  des  Stadtarchivs, 
des  Chätelet  und  des  Parlaments  sind  die  archivalischen  Quellen, 
die  H.  mit  erheblichem  Erfolg  für  seine  gründliche  Arbeit  neben 
der  gedruckten  Literatur  herangezogen  hat. 

In  eine  andere  Zeit  und  in  eine  andere  Gegend  führt  uns  das 
Buch  von  Le  Lay.  Es  beschäftigt  sich  mit  der  Stadt  P  o  n  t  i  v  y 
in  der  Bretagne  (heute  Departement  Morbihan)  während  des 
Jahrhunderts  von  1680 — 1789.  Diese  Umgrenzung  geht  äußerlich 
darauf  zurück,  daß  die  ergiebigen  Akten  des  Standesamts  von 
Pontivy  erst  seit  etwa  1680  erhalten  sind.  Sie  entbehrt  aber  auch 
nicht  ganz  der  inneren  Berechtigung;  denn  die  Stadt  hat  im 
18.  Jahrhundert  eine  wichtige,  ihr  Aussehen  verändernde  Um- 
bildung erfahren.  Der  Beginn  einer  städtischen  Verfassung  läßt 
sich  in  Pontivy  bis  ins  16.  Jahrhundert  zurück  verfolgen;  schon 
1570  war  die  Stadt  in  den  Provinzialständen  der  Bretagne  vertre- 
ten. Aber  während  in  der  älteren  Zeit  die  gesamte  Bürgerschaft 
an  der  Verwaltung  teilnahm  und  sie  im  wesentlichen  nach  den 
Wünschen  ihrer  herzoglichen  Seigneurs  aus  dem  Hause  Rohan 
führte,  hat  im  Jahre  1717  die  durch  Tuchhandel  und  Leder- 
industrie reich  gewordene  kaufmännische  Bourgeoisie  es  verstan- 
den, das  Regiment  der  Stadt  vollständig  in  ihre  Hände  zu  bekom- 
men. Diesem  Wandel  und  seinen  Grundlagen,  d.  h.  den  Ver- 
hältnissen und  Verschiebungen  innerhalb  der  Bevölkerung,  geht 
Le  Lay  zunächst  nach,  um  dann  die  Tätigkeit  der  städtischen 
Behörden  sowie  die  Rechte  des  Königs  und  des  Herzogs  von 
Rohan  in  anschaulicher  Weise  zur  Darstellung  zu  bringen  und 
mit  einem  Kapitel  über  die  politische  Rolle  der  Gemeinde  in  den 
bewegten  Jahren  1788 — 1789  zu  schließen.  So  stellt  sein  auf 
archivalischer  Grundlage  ruhendes  Buch  einen  hübschen  Beitrag 
zur  Geschichte  des  Dritten  Standes  in  Frankreich  dar. 

Straßburg  i.  E.  Robert  Holtzmann, 


England.  187 

Life  of  Sir  Henry  Vane  the  Younger  with  a  History  of  the  Events 
of  his  Time.  By  William  W.  Ireland,  London,  Eveleigh 
Nash.     1905.    XVI  u.  513  S. 

Die  vorliegende  Biographie  des  jüngeren  Sir  Henry  Vane 
ist  mit  großer  Liebe  verfaßt,  ja  mit  so  vieler  Liebe,  daß  dem 
Autor  darüber  der  richtige  Maßstab  für  die  Würdigung  seines 
Helden  verloren  gegangen  ist.  Vane  war  ein  Mann  von  tüch- 
tigem Können  und  großer  Arbeitskraft,  ein  echter  Puritaner 
und  ein  echter  Freund  freiheitlicher  Bestrebungen.  Seine  bedeu- 
tendsten Leistungen  liegen  auf  dem  Gebiete  der  Verwaltung, 
insbesondere  der  Marineverwaltung  in  der  Zeit  des  Common- 
wealth. An  dem  großen  Aufschwung  der  englischen  Seemacht 
unter  der  Republik  hat  er  sein  redliches  Verdienst.  Als  einer 
der  führenden  Männer  im  langen  Parlament  hat  er,  bis  zum 
Sturze  desselben  im  Jahre  1653,  an  allen  Fragen  der  inneren 
und  äußeren  Politik  den  lebhaftesten  Anteil  genommen  und 
oft  wichtige  Entscheidungen  herbeigeführt.  Aber  mit  alledem 
wird  man  ihn  schwerlich  als  einen  der  größten  Staatsmänner 
Englands,  wie  der  Verfasser  es  tut,  bezeichnen  können.  Schon 
mit  Hampden  und  Pym  ist  er  nicht  zu  vergleichen.  Der  wahre 
Leiter  der  Geschicke  des  Landes  ist  er  nie  gewesen,  und  da  er 
im  entscheidenden  Augenblicke  es  nicht  vermochte,  eine  Ver- 
ständigung zwischen  dem  ihm  befreundeten  Cromwell  und  dem 
am  Besitze  der  Macht  klebenden  Parlamente  herzustellen,  so 
ist  er  mit  diesem  gefallen.  „Der  Herr  erlöse  mich  von  Sir  Henry 
Vane",  herrscht  Cromwell  ihn  an  und  spricht  damit  seiner  poli- 
tischen Befähigung  das  Urteil. 

Der  Überschätzung  Vanes  entspricht  es  auch,  wenn  der 
Verfasser  an  seinem  Helden  schlechthin  nichts  zu  tadeln  findet, 
weder  an  seinen  Gedanken  noch  an  seinen  Handlungen.  In  Wahr- 
heit ist  doch,  um  nur  soviel  zu  erwähnen,  an  Vanes  Tätigkeit 
in  den  amerikanischen  Kolonien  wie  an  seiner  stark  mystischen 
Religiosität  von  jeher  wohl  mit  Recht  Kritik  geübt  worden. 
So  ist  das  Bild  Sir  Henry  Vanes  einseitig  gezeichnet,  ohne  volles 
Verständnis  der  Zeit.  Das  vorhandene  Quellenmaterial  ist  zwar 
benutzt,  aber  nicht  kritisch  verwertet.  (Die  Darlegung  S.  347 
bis  350  ist  wenig  glücklich.  An  dem  Versuche  der  Mitglieder 
des  langen  Parlaments,  ihre  Sitze  auch  im  folgenden  zu  behalten, 
ist  nicht  zu  zweifeln.    Ihre  Absicht   „to  perpetuate  themselves" 


188  Literaturbericht. 

durfte  Cromwell  in  seinen  späteren  Reden,  Carlyle  Speech  I 
und  III,  wie  eine  notorische  Sache  behandeln.)  Und  die  Resultate 
der  modernen  Wissenschaft  —  er  sagt  es  selbst  in  seiner  Vor- 
rede —  kümmern  den  Verfasser  nicht. 

Freiburg  i.  Br.  W.  Michael. 

Forum  Conche.  Fuero  de  Cuenca.  The  latin  text  of  the  municipat 
charter  and  laws  of  the  city  of  Cuenca,  Spain.  Edited  with 
an  Introduction  and  Critical  Notes  by  George  H.  Allen, 
Ph.  D.  p.  I.  II.  (University  Studies  publ.  by  the  University 
of  Cincinnati,  Ser.  II,  Vol.  V,  No.  4  und  Vol.  VI,  No.  1.) 
Cincinnati,  University  Press.    1909—10.    92  u.  134  S. 

Man  unterscheidet  unter  den  Fueros  eine  ältere  Gruppe 
aus  dem  11.  und  Anfang  des  12.  Jahrhunderts,  deren  Repräsen- 
tanten meist  von  sehr  beschränktem  Umfange  sind,  und  eine 
jüngere  meist  ausführlicher  Gesetze,  die  seit  ca.  1150  entstanden 
sind.  Einer  der  ältesten  Vertreter  der  jüngeren  Gruppe  ist  der 
fuero  von  Cuenca,  dessen  Entstehung  in  die  Zeit  von  der  Geburt 
Ferdinands  des  Heiligen  (1189)  bis  zum  Tode  seines  Vaters  Alfons 
(121 1)  fällt.  Der  Text  desselben  hat  für  eine  ganze  Anzahl  anderer 
fueros,  die  besonders  an  Ortschaften  der  Provinzen  Estremadura 
und  La  Mancha  verliehen  wurden,  als  Vorlage  gedient,  und  die 
Wichtigkeit  seiner  näheren  Untersuchung  ist  wiederholt  aner- 
kannt worden.  Trotzdem  war  seine  Veröffentlichung  über  einen 
stecken  gebliebenen  Versuch  zu  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts 
nicht  hinausgediehen.  Es  ist  daher  eine  sehr  verdienstliche 
Leistung,  daß  Allen  von  dem  wichtigen  Dokumente  jetzt  einen 
kritischen  Text  gegeben  hat,  den  er  auf  der  Überlieferung  einer 
Pariser  und  zweier  Handschriften  des  Escorial  aufbaut,  von 
denen  die  eine  den  für  die  Stadt  Haro  abgeänderten,  sonst  aber 
genau  dem  fuero  von  Cuenca  entsprechenden  Wortlaut  enthält. 
Der  der  Ausgabe  beigegebene  Apparat  beschränkt  sich  vorläufig 
auf  die  Anführung  der  Textvarianten;  eine  eingehende  Würdi- 
gung des  Inhalts,  die  besonders  auch  die  Stellung  des  Dokumentes 
gegenüber  dem  fuero  von  Teruel,  der  vielfach  mit  Unrecht  als 
sein  unmittelbares  Vorbild  angesehen  worden  ist,  darlegen  soll» 
beabsichtigt  der  Verfasser  der  Ausgabe  folgen  zu  lassen. 

Friedenau.  K.  Haebler. 


Asien.  189 

Quellen  und  Forschungen  zur  Erd-  und  Kulturkunde.  Heraus- 
gegeben unter  Mitwirkung  hervorragender  Fachgelehrter 
von  Dr.  R.  Stube.  Bd.  3:  Iran  im  Mittelalter  nach  den 
arabischen  Geographen.  II.  Von  Dr.  Paul  Schwarz,  Pro- 
fessor an  der  Universität  Leipzig.  Leipzig,  Wigand.  1910. 
VIII  u.  67  S. 

Der  verstorbene  große  Arabist  Prof.  M.  J.  de  Goeje  hat  mit 
seiner  Bibliotheca  Geographorum  Arabicorum  ein  monumentales 
Werk  geschaffen,  das  eine  unendliche  Fülle  von  Material  zur  Kennt- 
nis der  muslimischen  Lande  des  Mittelalters  und  zur  Beurteilung 
der  Geographie  und  Geschichte  bei  den  Arabern  bietet.  Zum 
großen  Teile  war  dies  Material  allein  den  Arabisten  zugänglich» 
da  nur  wenige  der  Texte,  die  von  ihm  mit  so  unvergleichlicher 
Akribie  und  Sprach-  und  Sachkenntnis  herausgegeben  wurden, 
auch  übersetzt  worden  sind.  Es  wird  auch  der  Einzelarbeit  vieler 
Forscher  bedürfen,  um  alles  darin  Enthaltene  für  die  nichtorien- 
talischen Geographen  und  Historiker  nutzbar  zu  machen. 

Nun  hat  der  Leipziger  Arabist  P.  Schwarz  sich  die  Aufgabe 
gestellt,  alles  was  uns  die  Araber  in  ihren  Schriften  über  Iran 
überliefert  haben,  zu  verarbeiten  und  systematisch  darzustellen. 
Bereits  in  seiner  Habilitationsschrift  vom  Jahre  1896  hat  er  eine 
Probe  seiner  gründlichen  Arbeitsweise  gegeben.  In  ihr  behandelte 
er  die  nördüchen  Provinzen  der  eigentlichen  Landschaft  Persis. 
Die  vorliegende  Schrift  schließt  sich  direkt  an  ihre  Vorgängerin 
an:  sie  schreitet  weiter  nach  Südosten  vor  und  enthält  die  Be- 
schreibungen der  Provinzen  Ardesir  Hurre  und  Däräbegird,  also 
der  Gegenden,  die  auf  der  Ostseite  (der  persischen  Seite)  des  per- 
sischen Golfes  liegen.  Schw.  hat  sich  natürlich  dabei  nicht  nur 
auf  die  von  de  Goeje  herausgegebenen  Geographen  beschränkt, 
obwohl  diese  ihm  das  Hauptmaterial  lieferten,  sondern  auch  alle 
anderen  erreichbaren  historischen  und  geographischen  Quellen 
herangezogen. 

Es  war  für  mich  unmöglich  und  —  nach  dem  Eindruck, 
den  die  sorgfältige  Arbeitsweise  des  Verf.  macht  —  auch  un- 
nötig, die  Originale  überall  einzusehen  und  die  Übersetzungen  des 
Verf.  auf  ihre  Zuverlässigkeit  hin  zu  prüfen.  Ich  muß  mich  daher 
hier  damit  begnügen,  einen  Einblick  in  den  interessanten  Inhalt 
zu  gewähren. 


190  Literaturbericht. 

Das  Heft  enthält,  wie  gesagt:  I.  Die  Provinz  Ardesir  Hurre 
mit  der  Hauptstadt  Schiraz  (Siräz);  H.  Die  Provinz  Däräbegird 
mit  gleichnamiger  Hauptstadt  (heute  Darab  oder  Kala  Darab). 
In  I  werden  nacheinander  beschrieben:  1.  Siräz;  2,  Gür,  die  alte 
Hauptstadt,  später  Firüzäbäd;  3.  Siräf,  die  alte  Hafenstadt  der 
Provinz,  die  im  Jahre  366/367  der  Higra  durch  ein  großes 
Erdbeben  zerstört  wurde,  deren  Bewohner  durch  den  Handel 
reich  geworden  waren  und  in  der  eine  sehr  laxe  Moral  herrschte, 
wie  das  ja  auch  in  vielen  anderen  Hafenstädten  der  Fall  war 
und  ist;  4.  Tauweg,  eine  größere  Stadt  im  Nordwesten,  die  als 
Tacke  zur  Zeit  Alexanders  des  Großen  genannt  wird ;  5.  weniger 
bedeutende  Bezirke  und  Städte  der  Provinz,  darunter  das  jetzt 
verschollene  Gundigän,  das  zur  Zeit  der  Sasaniden  eine  große 
Rolle  spielte,  da  ein  Wezier  dort  geboren  war,  ferner  das  berüch- 
tigte Seeräubernest  Hisn  Ibn  'Umära  zwischen  Siräf  und  Hormuz, 
dem  zur  Portugiesenzeit  bekannten  Hafen;  6.  die  Inseln  des  Per- 
sischen Meerbusens,  und  zwar  zuerst  die  größeren,  Gazirat  Bani 
Käwän  vor  Hormuz,  Uwäl  {—  Bahrain,  auf  der  arabischen  Seite) 
und  Härak  (im  Norden  auf  der  persischen  Seite),  dann  die  klei- 
neren, unter  denen  besonders  Kis  oder  Kis  zu  nennen  ist,  auf  der 
sich  die  Residenz  des  „Herrschers  dieses  Meeres"  befand;  7.  Kur- 
kum  und  Kärijän,  zwei  Bezirke,  die  von  dem  Geographen  al- 
Mukaddasi  zu  dieser  Provinz  gerechnet  werden.  In  II  steht 
voran  die  Hauptstadt  Däräbegird,  dann  folgt  die  große  Stadt 
Fasä  (=  Pasä);  danach  kommt  noch  eine  Anzahl  von  kleineren 
Bezirken  und  Städten,  von  denen  mehrere  aber  auch  ihre  Be- 
deutung für  Industrie,  Handel  und  Verkehr  haben. 

Die  Beschreibungen  aller  dieser  Bezirke  und  Städte  bieten 
viele  interessante  und  wichtige  Tatsachen  zur  Kultur-  und  Wirt- 
schaftsgeschichte. Das,  wodurch  diese  Gegenden  auch  für  den 
Welthandel  besonders  wichtig  geworden  sind,  steht  natürlich  auch 
hier  voran:  das  Rosenwasser,  die  Perlen,  Fischerei,  die  Teppich- 
weberei und  die  Webstickerei.  Von  mannigfachen  Webereiarbeiten 
hören  wir  bei  der  Beschreibung  von  Siräz  (S.  51),  von  Tauweg 
(S.  67—68),  von  Däräbegird  (S.  94),  von  Fasä  (S.  98),  von  Öahram 
(S.  103);  von  Furg  (S.  107)  und  von  Tärim  (S.  108).  Diese  Pro- 
duktion scheint  meist  schon  im  großen  betrieben  zu  sein;  denn 
bei  der  Erwähnung  der  großen  Zimmerteppiche  von  Gahram 
wird  besonders  bemerkt:  „es  gibt  dort  keine  Manufaktur,  die  dem 


Asien.  191 

Fürsten  und  den  Kaufleuten  gehört".  Rosenwasser  wurde  natür- 
lich besonders  aus  den  „Rosen  von  Schiraz"  gewonnen  (S.  52), 
aber  das  von  Gör  (Firüzäbäd)  und  von  Kuwär  (S.  81)  wurde  noch 
mehr  geschätzt  (S.  58).  Wohlriechende  Essenzen  wurden  auch 
aus  anderen  Blüten  gewonnen:  aus  Jasmin  in  §iräz  (S.  58)  und 
Däräbegird  (S.  94),  aus  Veilchen  und  Teichrosen  in  Öiräz  (S.  58), 
aus  Palmblüten,  Crocus  und  Weidenblüten  in  Gür  (S.  58).  Die 
Perlenfischerei  wurde  betrieben  in  Bahrain  (S.  85),  Härak  (S.  86) 
und  anderen  Inseln  (S.  87 — 88).  Von  all  den  anderen  Erzeug- 
nissen, die  gelegentlich  erwähnt  werden,  sei  hier  besonders  auf 
den  mineralischen  Balsam  (Mümijäj)  hingewiesen,  der  in  Därä- 
begird unter  ganz  besonderen  Vorsichtsmaßregeln  der  Regierung 
gewonnen  wurde  (S.  94 — 97). 

Daß  die  große  Schiffahrtsstraße  durch  den  Persischen  Meer- 
busen ging,  daran  werden  wir  auch  hier  wieder  erinnert,  wenn 
wir  von  den  Chinafahrern  hören,  die  von  Basra  kommen  und  in 
Siräf  vor  Anker  gehen  (S.  61  u.  62)  oder  bei  Härak  (S.  86)  und 
Kis  (S.  89)  halten.  Die  Inseln  und  die  Küsten  sind  bekanntlich 
sehr  heiß  und  haben  ein  recht  ungesundes  Klima:  das  Trink- 
wasser muß  oft  in  Leitungen  herbeigeschafft  oder  in  Zisternen 
aufgefangen  werden:  Wasserleitungen  und  Zisternen  werden 
häufig  erwähnt.  Dort  wo  wenig  Regen  fällt,  aber  Grundwasser 
vorhanden  ist,  gedeiht  natürlich  die  Dattelpalme,  so  u.  a.  in 
Tauweg  (S.  67)  und  auf  Härak  (S.  86).  Es  ist  volkswirtschaftlich 
besonders  interessant,  daß  sich  in  Tauweg  schon  in  vorislamischer 
Zeit  Araber  zur  Dattelkultur  niedergelassen  haben  (S.  67,  Anm.  2). 
Der  höher  gelegene  Teil  der  Provinz  jedoch  hat  ein  kühleres 
Klima  und  deshalb  ist  mehrfach  die  Rede  von  „heißen"  und  von 
„kalten  Landen"  und  von  den  Orten,  die  auf  der  Grenze  liegen 
(S.  98,  S.  107).  Bei  einem  solchen  Orte  kommen  dann  Bäume  des 
kälteren  sowohl  wie  des  heißeren  Klimas  vor,  wie  Nüsse  und 
Orangen  in  Fasä  (S.98) ;  dort  gibt  es  auch  Schnee  sowohl  wie  Datteln. 

Über  Steuern,  Staatsdotationen,  Ärzte  und  Heilmittel, 
Religionen  und  Sekten,  Sprache,  Gebäude  und  Ruinen  erfahren 
wir  allerhand.  Nach  S.  46  war  in  Siräz  die  Grundsteuer  doppelt 
so  hoch  wie  anderswo,  und  die  Weinschenken  und  öffentlichen 
Häuser  hatten  hohe  Abgaben  zu  zahlen;  letzteres  erinnert  an  ähn- 
liche Einrichtungen  im  römischen  und  islamischen  Ägypten. 
In  Öiräz  war  nach  S.  48  auch  ein  staatlich  dotiertes  Hospital  mit 


192  Literaturbericht. 

geschickten  Ärzten.  Von  Heilwasser  hören  wir  auf  S.  53,  58,  70 
und  100.  Das  Heilwasser  von  Siräz  (S.  53)  ist  sogar  von  besonderer 
Wirkung:  „wer  einen  Becher  davon  trinkt,  dem  verschafft  er  einen 
Stuhlgang,  wer  mehr  trinkt,  hat  für  jeden  Becher  einen  Stuhl- 
gang mehr".  Auf  den  Balsam  Mömijäj  ist  bereits  hingewiesen.  — 
In  §iräz  scheint  noch  lange  religiöse  Toleranz  geherrscht  zu 
haben;  die  Zoroastrier  brauchten  kein  besonderes  Kennzeichen 
zu  tragen  (S.  45 — 46).  Feuertempel  werden  genannt  S.  54,  57, 
69,  91.  Von  islamischen  Sekten  werden  die  Ibäditen  in  Läft 
(S.  83)  und  die  Mu'taziliten  in  Gahram  (S.  83)  erwähnt.  Be- 
sonders interessant  ist  die  auch  anderswo  vorkommende  Sage, 
daß  ungewöhnlich  starke  Menschen  von  Dämonen  und  Menschen- 
weibern abstammen  sollen;  so  hier  auf  der  Insel  Gäsak  (S.  89).  — 
Auf  S.  47  heißt  es  von  Siräz:  „Auch  Lehrer  haben  sie,  wären  nur 
nicht  die  Sprachfehler  beim  Studenten  und  Dozenten!"  Das  be- 
zieht sich  natürlich  auf  die  schlechte  Aussprache  des  Arabischen 
durch  die  Perser,  deren  Sprachwerkzeuge  nicht  für  die  anhelantia 
et  stridentia  vocabula  des  Arabischen  gebaut  waren.  —  Ver- 
schiedentlich werden  ältere  und  neuere  Gebäude  beschrieben; 
so  S.  44,  48,  49,  73,  74.  Von  Siräf  wird  berichtet  (S.  60):  „Zum 
Häuserbau  dient  Teakholz  und  Holz,  das  aus  dem  Lande  der 
Zeng  (d.  i.  Ostafrika)  gebracht  wird."  Dazu  macht  Schw.  in 
Anm.  3  darauf  aufmerksam,  daß  noch  im  19.  Jahrhundert  in 
Minab  (d.  i.  eine  Stadt  in  Persien,  nicht  weit  vom  alten  Hormuz) 
Zanzibarholz  verwendet  wurde.  Man  sieht  wiederum,  wie  alt  die 
Beziehungen  zwischen  den  Ländern  am  Persischen  Golf  und 
Ostafrika  sind;  diese  haben  sich  ja  auch  in  dem  arabischen  Dialekt 
von  Oman  und  Zanzibar  ausgeprägt. 

Dem  interessanten  und  verdienstvollen  Unternehmen  sei 
ein  guter  Fortgang  gewünscht.  Zum  Schluß  werden  hoffentlich 
auch  ausführliche  Namens-  und  Sachregister  gegeben  werden. 
Die  einzige  Inkonsequenz  in  der  Transskription  (Belädsori  statt 
Belädori)  kann  dann  auch  noch  ausgeglichen  werden. 

Straßburg  i.  E.  E.  Littmann. 

Die  Juden   in  Arabien  zur  Zeit  Mohammeds.    Von   Rudolf  Les- 
zynsky.    Berlin,  Mayer  &  Müller.     1910.     116  S. 

Das  Verhältnis  des  Propheten  Mohammed  und  seines  Lebens- 
werkes zum  Judentum  ist  ein  äußerst  reizvolles  Thema  für  den 


Asien.  193 

Religionshistoriker,  den  mittelalterlichen  Historiker  und  den 
Orientalisten.  Es  ist  gewissermaßen  eins  der  Vorspiele  zu  dem 
großen  weltgeschichtlichen  Drama,  das  im  7.  Jahrhundert  fast 
die  ganze  damals  bekannte  Welt  erschütterte  und  eine  Um- 
wälzung in  den  Geschicken  der  Völker  hervorrief,  wie  sie  die 
Geschichte  selten  erlebt  hat.  Diese  Umwälzung  knüpft  zunächst 
an  die  Tätigkeit  eines  Mannes  an,  des  Mekkaners  Mohammed, 
des  Sohnes  des  'Abdallah,  aus  dem  Stamme  Koraisch,  eines 
Mannes,  der  den  Anspruch  erhob,  ein  von  Gott  gesandter  Prophet 
zu  sein,  der  zuerst  ein  unbeachteter,  ja  verachteter  Schwärmer 
gewesen  war,  dann  aber  sich  zum  politischen  und  „religiösen" 
Herrscher  seines  ganzen  Vaterlandes  aufgeworfen  hatte.  Die 
Idee  der  Theokratie  und  des  Prophetentums  führt  sofort  in  alt- 
testamentliche  Gedankenkreise.  Aber  es  war  auch  bereits  seit 
langem  erkannt,  daß  eine  große  Menge  der  im  Koran  enthaltenen 
religiösen  Ideen  und  Vorschriften  und  vor  allem  der  dort  entstellt 
wiedergegebenen  alttestamentlichen  Erzählungen  auf  Vermittelung 
des  Judentums  zurückgehen.  Ferner  wußte  man  aus  der  arabischen 
Überiieferung,  daß  es  in  Arabien  große  Judengemeinden  gegeben 
hat,  mit  denen  Mohammed  sich  auseinandersetzen  mußte  und  die 
er  zum  Teil  ausrottete.  Und  so  war  es  natürlich,  daß  man  sich 
durch  die  Untersuchung  des  Verhältnisses  von  Mohammed  zum 
Judentum  wichtige  Aufschlüsse  über  die  Entstehungsgeschichte 
des  Islam  versprach.  Die  sind  in  der  Tat  auch  gegeben  worden 
von  Geigers  Pionierarbeit  „Was  hat  Mohammed  aus  dem  Juden- 
tum aufgenommen?"  an  bis  auf  Wensincks  gründliche  Unter- 
suchung „Mohammed  en  de  Joden  te  Medina"  (Leiden  1908). 
Durch  diese  beiden  Schriften  werden  auch  schon  die  beiden 
Seiten  des  Problems  dargestellt. 

In  der  hier  angezeigten  Schrift  unternimmt  R.  Leszynsky 
eine  neue  Durchprüfung  des  Materials.  Die  Schrift  zerfällt  in 
folgende  Teile.  Einleitung:  Die  Quellen  (S.  1 — 5);  Kap.  1:  Die 
älteste  Zeit,  Abstammung,  Charakter,  Äußeres,  Kulturzustände 
(S.  6 — 33);  Kap.  2:  Mohammed  und  die  Juden  bis  zum  Ausbruche 
des  Krieges  (S.  34 — 59);  Kap.  3:  Die  Vertreibung  der  Juden  aus 
Medina  (S.  60—83);  Kap.  4:  Der  Krieg  um  die  Datteln  (S.84  bis 
100);  Kap.  5:  Die  letzten  Juden  in  Higäz  (S.  101—116). 

Der  Verfasser  beherrscht  das  in  Frage  kommende  Material 
und  setzt  sich  mit  fast  allen  Problemen,  die  damit  zusammen- 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  13 


194  Literaturbericht. 

hängen,  auseinander.  Oft  wird  man  auch  den  von  ihm  selbständig 
oder  im  Anschluß  an  andere  gebotenen  Lösungen  zustimmen 
können.  Doch  er  nimmt  manchmal  viel  zu  stark  Partei  für  die 
Juden,  und  verfällt  in  denselben  Fehler,  den  er  anderen  vorwirft, 
die  das  Christliche  und  Arabische  zu  stark  betont  haben.  Es 
ist  zweifellos,  daß  Mohammed  zunächst  mehr  vom  Judentum  als 
vom  Christentum  entlehnt  hat;  aber  es  geht  doch  nicht  an, 
den  christlichen  Einfluß  fast  ganz  zu  leugnen,  wie  es  der  Verfasser 
in  Kap.  2  tut.  Hier  brauche  ich  nur  auf  Beckers  Christentum  und 
Islam  (Tübingen  1907,  englische  Übersetzung,  London  1909)  hin- 
zuweisen, oder  auch  darauf,  daß  berichtet  wird,  wie  heidnische 
Araber  ihre  christlichen  Ideen  sich  bei  christlichen  Weinhändlern 
in  al-Hira  holten.  Auch  daß  die  verfolgten  Gläubigen  sich  gerade 
zum  christlichen  König  nach  Abessinien  flüchteten,  gibt  zu  denken; 
dort  werden  sie  jedenfalls  ihren  Zusammenhang  mit  dem  Juden- 
tum nicht  haben  merken  lassen  dürfen,  da  in  jenem  Lande  die 
Erinnerung  an  den  Krieg  gegen  den  jüdischen  König  von  Süd- 
arabien noch  lebendig  gewesen  sein  wird  und  da  ja  Christen  und 
Juden  einander  dort  heftig  befehdeten.  Und  wenn  Mohammed 
das  Judentum  wirklich  verstanden  hätte,  so  wäre  er  nie  auf  die 
Idee  verfallen,  die  Juden  bekehren  zu  können. 

In  Kap.  1  stellt  der  Verfasser  alles  zusammen,  was  wir  über 
die  Juden  in  Arabien  vor  dem  Islam  wissen.  Er  betont  mit  Recht, 
daß  sie  tüchtige,  fleißige  Leute  waren,  daß  ihre  Treue  sprich- 
wörtlich war  und  daß  sie  in  vielen  Dingen  den  Arabern  überlegen 
waren.  Unter  den  Zeugnissen  für  diese  Zeit  vermisse  ich  nur 
einen  Hinweis  auf  die  hebräischen  Namen,  die  in  näbatäischen 
Inschriften  vorkommen,  so  besonders  den  Uhrmacher  Nathan 
b.  Manasse,  der  die  Sonnenuhr  in  Hegra  herstellte  (vgl.  Jaussen- 
Savignac,  Mission  arcMologique  en  Arabie,  p.  242,  Nr.  172  &»»),  und 
den  Juden  §ubait  (ib.  p.  150). 

Kap.  4  hätte  eher  die  Überschrift  „Der  Krieg  um  Chaibar" 
tragen  sollen.  Die  grausame  Verletzung  allen  Kriegs-  und  Völker- 
rechts durch  Mohammed,  der  die  Palmen  umhauen  ließ,  wird  ge- 
nügend hervorgehoben;  selbst  seine  Anhänger  nahmen  an  dieser 
Tat  Anstoß.  Die  Datierung  der  in  Kap.  3  und  4  behandelten 
historischen  Dokumente  weicht  zum  Teil  von  der  bisher  üblichen 
ab;  gegen  einzelnes  ist  bereits  von  Wensinck,  meines  Erachtens  mit 
Recht,  Einspruch  erhoben;  vgl.   Islam,   II,  S.  288. 


Amerika.  195 

In  Kap.  5  geht  der  Verfasser  auf  die  Schicksale  der  letzten 
Juden  im  Higäz  ein.  Viel  ist  darüber  nicht  bekannt.  Es  handelt 
sich  hier  besonders  um  ein  in  der  Synagoge  zu  Altkairo  gefundenes 
Dokument,  das  den  Juden  ungeheure  Vorrechte  verleiht  und  das 
im  fünften  Jahre  der  Higra  geschrieben  sein  will.  Gegen  die 
Echtheit  liegen  die  allerstärksten  Bedenken  vor:  der  Verfasser 
will  wenigstens  einen  Teil  der  Echtheit  retten,  indem  er  das  Datum 
als  späteren  Zusatz  ansieht  und  die  Vorrechte  nur  auf  die  Fa- 
milie der  von  Mohammed  geraubten  Jüdin  Safiya  bezieht.  Aber 
auch  dies  läßt  sich  nicht  halten;  ähnliche  „Freibriefe"  sind  un- 
endlich oft  gefälscht  worden,  und  die  späte  Sprache  verrät  sich 
z.  B.  auch  durch  den  Ausdruck  „Ort  der  Wahrheit"  für  „Fried- 
hof". Über  den  eigentlichen  historischen  Kern,  der  dieser  Fäl- 
schung zugrunde  liegt  —  ein  Sendschreiben  Muhammeds  über 
die  Stellung  der  Juden  in  Nordarabien  — ,  hat  Wensinck,  1.  c. 
S.  289  f.,  gehandelt. 

Die  Transskription  arabischer  Namen  ist  sehr  inkonsequent  und 
teilweise  nachlässig;  auch  auf  den  Stil  hätte  mehr  Sorgfalt  ver- 
wendet werden  können.  Druckfehler  sind  mir  hier  und  da  aufgefallen. 

Straßburg  i.  E.  E.  Littmann. 

Amandas  Johnson,  The  swedish  Settlements  on  the  Delaware. 
Thelr  history  and  relatlon  to  the  Indians,  Dutch  and  Eng- 
lish  1638-1664.  2  Bde.  XX  u.  879  S.  University  of  Penn- 
sylvania. D.  Appleton  &  Co.  Agents.  New  York  1911.    6  Doli. 

Man  hat  oft  unserer  deutschen  Geschichtswissenschaft,  be- 
sonders im  Ausland,  den  Vorwurf  allzu  großer  Gründlichkeit 
gemacht,  aber  auch  manche  Erzeugnisse  der  jungen  amerika- 
nischen Geschichtsforschung  lassen  in  dieser  Hinsicht  nichts  zu 
wünschen  übrig.  Der  kleinen  schwedischen  Kolonie  am  Dela- 
ware, die  nur  17  Jahre  bestanden  und  nie  mehr  als  400  Ein- 
wohner gezählt  hat,  widmet  Johnson,  ein  Amerikaner  schwedischer 
Abkunft,  ein  zweibändiges  Werk,  fast  900  Seiten  in  Großoktav. 
Freilich  kann  man  nicht  umhin,  die  Lust  und  Liebe,  mit  der 
der  Verfasser  seinen  Gegenstand  behandelt,  und  insbesondere 
seinen  Spürsinn  zu  bewundern,  mit  dem  er  aus  schwedischen, 
holländischen  und  englischen  Archiven  und  Bibliotheken  jedes 
nur  irgendwie  erreichbare  Aktenstück  oder  Buch  herangezogen 
hat  und  auf  diese  Weise  der  Vollständigkeit  nahegekommen  ist. 

13* 


1%  Literaturbericht. 

Das  Ergebnis  dieses  Fleißes  und  des  Spürsinns  ist  so  eine 
erschöpfende  Geschichte  der  schwedischen  Kolonisation  in  Nord- 
amerika geworden.  Johnson  schildert  zuerst  die  Zustände  Schwe- 
dens im  17.  Jahrhundert,  geht  dann  auf  die  Bildung  von  Han- 
delsgesellschaften im  allgemeinen  und  die  der  neuschwedischen 
Kompagnien  im  besonderen  ein  und  stellt  mit  großer  Breite 
die  Gründung  (1638)  und  die  Schicksale  der  kleinen  schwedischen 
Kolonie  am  Delaware  dar.  Er  disponiert  dabei  derart,  daß  er 
in  jeder  Periode  zuerst  die  Ereignisse,  die  sich  in  Europa  ab- 
spielten, behandelt  und  dann  die  gleichzeitigen  Begebenheiten 
jenseits  des  Ozeans  schildert.  Besondere  Beachtung  verdienen 
die  Kapitel  über  die  sozialen,  wirtschaftlichen  und  kulturellen 
Zustände  Neuschwedens,  zu  deren  Erhellung  Johnson  seine  aus- 
gezeichneten Kenntnisse  der  altschwedischen  Wirtschaft  und 
Kultur  verwertet.  Er  geht  ferner  auf  die  Beziehungen  der  Kolo- 
nisten zu  ihren  Nachbarn,  den  Indianern,  den  Engländern  und 
Holländern  ein  und  zeigt,  wie  die  letzteren  1655  die  Kolonie 
erobert  und  so  dem  Traum  eines  schwedischen  Kolonialreichs 
in  Nordamerika  ein  frühes  Ende  bereitet  haben.  Schließlich 
erzählt  er  noch,  wie  die  Schweden  vergebliche  Versuche  gemacht 
haben,  die  Kolonie  von  den  Holländern  und,  nachdem  Neu- 
schweden mit  Neuniederland  1664  an  England  gekommen  war, 
von  den  Engländern  zurückzubekommen;  die  Schicksale  der 
Kolonie  selbst  hat  Johnson  bis  zur  englischen  Okkupation  1664 
behandelt.  Zu  bedauern  ist,  daß  ein  Ausblick  auf  die  spätere 
Zeit  und  insbesondere  eine  Würdigung  der  Bedeutung  Neu- 
schwedens für  die  werdenden  amerikanischen  Kolonien,  die 
freilich  nicht  sehr  groß  gewesen  ist,  dem  Buche  fehlt.  ^)  Beige- 
geben sind  noch  Biographien  der  wichtigsten  in  der  Geschichte 
Neuschwedens  vorkommenden  Persönlichkeiten,  eine  Anzahl  von 
Aktenstücken  und  eine  sehr  ausführliche  Bibliographie,  Die 
Ausstattung  des  Werkes,  das  mit  Unterstützung  der  Swedish 
Colonial  Society  herausgegeben  und  dem  König  von  Schweden 
zugeeignet  ist,  verdient  alles  Lob.  Paul  Darmstaedter. 


*)  Wie  aus  einem  mir  kürzlich  zugegangenen  Prospekt  her- 
vorgeht, beabsichtigt  Johnson  die  Geschichte  der  schwedischen 
Ansiedlungen  in  Amerika  bis  zur  Gegenwart  fortzuführen. 


Notizen  und  Nachrichten. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  welche  sie  an  dieser 
Stelle  berücksichtigt  wünschen,  uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 

Allgemeines. 

Die  Wandelungen  im  Verhältnis  des  Einzelnen  zur  Gesamtheit, 
die  den  Unterschied  zwischen  Mittelalter  und  Neuzeit  ausmachen, 
fallen  in  den  drei  Gebieten  Wirtschaft,  Staat  und  Weltanschauung 
unter  gemeinsame  Gesichtspunkte.  Die  Gemeinschaftsgliederung  des 
Mittelalters  weicht  auf  allen  Gebieten  vor  der  Ausbildung  neuer  ge- 
sellschaftlicher Organisationen,  die  dem  Individuum  eine  selbständi- 
gere Stellung  geben.  Der  Einzelne  emanzipiert  sich  innerhalb 
der  alten  Verbände  (vom  Grundherrn  zum  Gutsherrn,  vom  Landes- 
herm  zum  absoluten  Fürsten,  von  der  kirchlichen  Legalität  zum 
Probabilismus),  im  Gegensatz  zu  den  alten  Verbänden  mit  dem 
Trieb,  sie  zu  sprengen  (Auflösung  der  mittelalterlichen  Gemeinde- 
und  Gewerbeverfassung,  des  politischen  Ancien  Regime,  der  Zwangs- 
kirche), und  endlich  neben  denselben  (Kommerzialisierung,  Inter- 
nationalisierung, Rationalisierung  der  Welt).  Eine  eigentümlich  mo- 
derne Einschränkung  und  zugleich  Vervollständigung  des  Weltbürger- 
tums, das  sich  aus  allen  jenen  Entwicklungsreihen  ergibt,  ist  die  Ent- 
stehung der  Nation  (im  Gegensatz  zum  „Volk"  ein  neuzeitliches  Ge- 
bilde), die  sich  dem  Individuum  gegenüber  stellvertretend  für  die 
„Welt"  einschiebt,  jedoch  ohne  den  Fortgang  des  Nivellierungspro- 
zesses  aufzuhalten.  Diese  Grundgedanken  sind  mit  seltener  Univer- 
salität und  tiefem  geschichtlichem  Blick  entwickelt  in  F.  T  ö  n  n  i  e  s' 
Vortrag   „Individuum    und    Welt    in    der    Neuzeit"    (Weltwirtschaft- 


198  Notizen  und  Nachrichten. 

liches  Archiv  1,1).  Der  Historiker  würde  den  Entwurf  weniger  ab- 
strakt zusammengedrängt  wünschen:  der  großartigen  Intuition,  der 
Kraft  und  Präzision  der  Gedanken  wird  er  seine  Bewunderung  nicht 
versagen.  Kern. 

Wie  Neukamp  einem  Hauptgegner  des  Naturrechts,  Bergbohm, 
nachgewiesen  hatte,  daß  sein  eigenes  Denksystem  nicht  ohne  natur- 
rechtliche Motive  auskommt  (vgl.  Cathrein,  Recht,  Naturrecht  und 
positives  Recht  2,  220),  so  zeigt  der  Wiener  Staatsrechtler  A.  M  e  n  - 
z  e  1  in  einer  vornehm  ausgestatteten  kleinen  Schrift  (Naturrecht  und 
Soziologie.  Wien  und  Leipzig,  C.  Fromme.  1912.  60  S.)  den  un- 
umgänglichen naturrechtlichen  Einschlag  in  den  soziologischen  Syste- 
men des  19.  Jahrhunderts.  Ob  dieselben  sich  in  einen  Gegensatz  zum 
Naturrecht  stellen  oder  nicht  —  ein  Gegensatz,  der  häufig  gar  nicht 
das  eigentliche  Naturrecht,  sondern  nur  dessen  einseitig  revolutionäre 
Folgerungen  betrifft  — ,  macht  hierin  keinen  Unterschied.  Menzels 
verdienstliche  Schrift,  die  eine  stattliche  Reihe  von  soziologischen 
Systemen  unter  diesem  Gesichtspunkt  mustert,  hätte  noch  gewonnen, 
wenn  sie  weiter  in  die  Geschichte  des  Naturrechts  zurückgegriffen 
hätte:  erst  unter  Berücksichtigung  der  großen  alten  Systeme  läßt 
sich  das  Naturrecht  in  Comte,  Spencer,  Kidd,  Fouille,  Hauriou  usf. 
wirklich  erschöpfen.  Daß  Comte  und  Hauriou  selbst  die  Soziologie 
des  Mittelalters  der  eigenen  in  wesentlichen  Stücken  gleichsetzen 
(Menzel  S.  36  Note  6;  S.  50  Note  4),  könnte  den  Ausgangspunkt  der 
Spezialuntersuchung  bilden.  K. 

Giorgio  Del  Vecchio,  //  fenomeno  della  guerra  e  l'idea  della 
pace.  Seconda  edizione  riveduta  e  accresciuta.  Torino  1911.  (S.-A.  aus 
Rivista  di  diritto  internazionale.  Jahrg.  5,  Heft  1/2.)  99  S.  —  Der 
bekannte  italienische  Rechtsphilosoph  will  in  dieser  kleinen  Schrift, 
die  aus  einer  im  Jahre  1909  gehaltenen  akademischen  Festrede  her- 
vorgewachsen ist,  untersuchen,  ob  und  in  welchem  Sinne  der  Friedens- 
gedanke ein  berechtigtes  Ideal  darstelle.  Die  Weltgeschichte  zeigt 
ihm  den  Friedensgedanken  in  vierfach  verschiedener  Fassung.  Die 
asketische  Fassung,  die  den  Krieg  als  dem  Gesetz  der  Liebe  und 
Brüderlichkeit  widersprechend  verwirft,  findet  er  bei  den  Kirchen- 
vätern, dann  den  Mennoniten  und  Quäkern  und  neuerdings  bei  Tol- 
stoi; sie  ist  unbrauchbar,  weil  sie  ein  nur  juristisch  zu  lösendes  Pro- 
blem zu  einem  moralischen  zu  machen  sucht.  Die  imperialistische 
Fassung  will  durch  Unterwerfung  aller  Völker  unter  die  Gewalt  eines 
Weltreichs  zum  allgemeinen  Frieden  führen,  ein  Gedanke,  der  schon 
bei  Alexander  dem  Großen  anklingt,  dann  aber  vor  allem  im  Mittel- 
alter ein  wichtiges  Element  der  Kaiseridee  ist,  wie  sie  etwa  in  Dantes 
Monarchia  vertreten  wird;  die  Unterschiede  und  Gegensätze  der  Völker 


Allgemeines.  199 

sind  zu  groß,  als  daß  ein  solches  Weltreich,  die  Möglichkeit  seiner 
Bildung  vorausgesetzt,  auf  die  Dauer  den  Frieden  verbürgen  könnte. 
Die  empirisch-politische  Fassung,  als  deren  vornehmste  Vertreter 
Suily  und  der  Abb6  de  Saint-Pierre  mit  ihren  bekannten  Friedens- 
plänen genannt  werden,  glaubt  den  Frieden  durch  Garantieverträge 
unter  den  bestehenden  Regierungen  sichern  zu  können;  sie  beruht 
auf  einer  Verkennung  der  historischen,  zum  Kriege  treibenden  Fak- 
toren. Berechtigt  ist  nur  die  letzte,  die  juristische  Fassung  des  Frie- 
densgedankens; sie  liegt  der  modernen  Entwicklung  des  Völkerrechts 
zu  Grunde,  die  in  immer  weitergehendem  Maße  die  Beziehungen  der 
Staaten  untereinander  rechtlich  bindet  und  durch  die  Schaffung  von 
Schiedsverträgen  und  internationalen  Gerichtshöfen  die  Gerechtigkeit 
im  Leben  der  Völker  auf  friedlichem  Wege  zu  verwirklichen  strebt. 
Die  Verbindung  des  Friedensgedankens  mit  der  Gerechtigkeitsidee,  zu 
der  hier  die  Ansätze  gegeben  sind,  ist  das  dem  Verfasser  vorschwebende 
Ideal.  Er  ist  sich  aber  klar  darüber,  daß  der  Krieg  auf  diesem  Wege 
nicht  ganz  aus  der  Welt  zu  schaffen  ist;  es  wird  immer  Fälle  geben, 
wo  nur  der  Krieg  über  das  Recht  der  Völker  entscheiden  kann.  Die 
unklaren  Schwärmereien  der  Friedensbewegung,  die  in  dem  Frieden 
schlechthin  ein  höchstes  Gut  sieht,  lehnt  Del  Vecchio  mit  erfreulicher 
Entschiedenheit  ab.  Ob  er  aber  wohl  heute  noch  behaupten  möchte, 
daß  „nella  fase  odierna  la  guerra  ha  pressochk  esaurita  la  sua  funzione"? 
Göttingen.  Paul  Lenel. 

„Die  deutsche  Arbeit"  von  W.  H.  R  i  e  h  I  —  das  zuerst  1861 
veröffentlichte  Buch,  das  in  liebevoller  Fühlung  mit  dem  Volksleben 
die  Gedanken  zu  erforschen  weiß,  die  die  Vorstellungswelt  der  Deut- 
schen mit  der  Arbeit  in  allen  ihren  Formen  verknüpft  hat, —  wird 
von  der  Cottaschen  Buchhandlung  in  einer  unveränderten  vierten  Auf- 
lage zu  billigem  Preise  vorgelegt  (X,  269  S.;  1,20  M.,  geb.  1,50  M.). 

Mit  trefflichem  Sinn  für  das  Eindringliche,  Malerische  und  Leben- 
dige geleitet  das  Source  Book  of  English  History  for  the  use  of  schools 
von  Arthur  D.  Innes  (Bd.  1,  597 — 1603.  Cambridge,  University 
Press.  1912.  VIII,  384  S.,  31  Ulustr.,  4^/^  sh.)  den  englischen  Schüler 
durch  die  dramatischen  Begebenheiten  der  vaterländischen  Geschichte. 
Das  ausgezeichnete  Material  der  britischen  Chronistik  ist  mit  wirk- 
lichem Geschick  ausgebeutet,  wenn  auch  für  eine  tiefere  Bildungs- 
stufe als  das  französische  Standardwerk  Paris'  und  Jeanroys,  welches 
den  Schüler  weit  mehr  zu  den  Elementen  historischer  Kritik  hin- 
führt; die  zum  Teil  recht  nichtssagenden  Illustrationen  würden  wir 
missen  können.  Das  Prinzip  Innes',  nicht  die  verschiedenen  Chroni- 
sten als  Persönlichkeiten  vorzuführen,  sondern  die  berühmten  Erelg- 
Jiisse  zu  illustrieren,  ist  für  ein  Schul  quellenbuch  gewiß  am  Platz. 


200  Notizen  und  Nachrichten. 

Ein  kurzer  Auszug  aus  E.  Baluzes  Geschichte  von  Tülle  ist  vorr 
G.  Mathieu  (Paris,  Champion.    1912)  hergestellt  worden. 

Die  populär  gehaltene  „Geschichte  der  Türken"  von 
Dr.  Albrecht  W  i  r  t  h  (Frankhsche  Verlagshandlung,  Stuttgart.  1912> 
gibt  auf  nur  110  Seiten  Auskunft  über  die  Herkunft  und  die  Geschichte 
der  Türken  von  ihrer  Festsetzung  in  Nordkleinasien  und  Europa  bis 
auf  den  heutigen  Tag.  Verfolgt  sie  den  Zweck,  weitere  Kreise  mit 
den  wichtigsten  Kapiteln  der  Geschicke  des  osmanischen  Volkes  be- 
kanntzumachen, so  dürfte  sie  ihn  im  Hinblick  auf  den  knappen  Um- 
fang und  die  gut  geschriebene  Darstellung  auch  erreicht  haben.  Das 
Wesentliche  wird  herausgehoben  und  neben  der  äußeren  Geschichte 
auch  die  innere  Entwicklung  und  Kulturgeschichte  behandelt.  Eine 
Anzahl  von  Abbildungen  erläutert  den  Text,  dessen  hie  und  da  allzu- 
knappe Fassung  freilich  manche  Ungenauigkeiten  im  Gefolge  hat. 
Das  Hauptgewicht  wird  auf  die  neuere  und  neueste  Geschichte  gelegt. 
So  ist  der  Abfall  Griechenlands,  der  Krimkrieg  usw.  verhältnismäßig; 
breit  behandelt,  am  breitesten  die  jüngste  Entwicklung,  die  bis  in 
den  JVlai  1912  geführt  wird.  Loserth. 

Carl  K  0  e  p  p  ,  Das  Verhältnis  der  Mehrwerttheorien  von  Kart 
Marx  und  Thomas  Hodgskin.  Studien  zur  Sozial-,  Wirtschafts-  und 
Verwaltungsgeschichte,  herausg.  von  K.  Grünberg.  6.  Heft.  Wien, 
Konegen.  1911.  Vll,  289  S.  7  M.  —  Das  vorliegende  Buch  bildet 
einen  wertvollen  Beitrag  zur  Entstehungsgeschichte  des  Marxismus. 
Es  handelt  sich  darum,  ob  und  in  welchem  Maße  Marx  in  seinen 
Lehren  vom  Mehrwert  originell  ist,  oder  auf  Hodgskin  aufbaut.  Wäh- 
rend man  bisher,  vor  allem  Brentano,  der  Ansicht  gewesen  war,  daß 
Marx  in  hohem  Maße  von  Hodgskin  abhängig  sei,  daß  er  dessen  Theorie 
zum  Eckstein  seiner  Lehre  gemacht  habe,  kommt  Koepp  zu  dem  Er- 
gebnis, daß  diese  Auffassung  zu  weit  geht,  daß  zwischen  den  Theorien 
beider  nur  Analogien  vorhanden  seien.  Mombert. 

Aus  Karl  Georgs  Winkelblechs  (Karl  Marios)  literarischem  Nach- 
laß. Eingeleitet  und  herausgegeben  von  W.  Ed.  B  i  e  r  m  a  n  n.  Leip- 
zig, A.  Deichert.  1912.  163  S.  3  M.  —  Was  man  mit  Recht  gegen  das 
große  Werk  Biermanns  über  Winkelblech,  von  dem  bis  jetzt  zwei 
umfangreiche  Bände  erschienen  sind,  während  ein  dritter  noch  in 
Aussicht  steht,  eingewendet  hat,  daß  der  Verfasser  die  Bedeutung 
seines  Helden  und  seiner  wissenschaftlichen  Leistungen  weit  über- 
schätzt, gilt  auch  von  dem  vorliegenden  literarischen  Nachlasse.  Mehr 
als  antiquarischer  Wert  ist  diesem  nicht  zuzuerkennen.  Es  ist  psycho- 
logisch begreiflich,  daß  Biermann  hinter  Winkelblech  mehr  sieht  aber 
auch  sucht,  als  es  andere  tun.  Aber  selbst,  wenn  man  dieses  als  mil-^ 
dernden   Umstand  gelten   lassen  will,  so  zeigt  doch  die  vorliegende 


Allgemeines.  201 

Veröffentlichung,  daß  Biermann  zu  sehr  das  Augenmaß  dafür  gefehlt 
hat,  welche  Bedeutung  Winkelblech  in  der  Geschichte  der  wirtschaft- 
lichen und  sozialen  Anschauungen  zukommt. 

Freiburg  i.  Br.  Mombert. 

Die  neue  Großoktavausgabe  der  „Gedanken  und  Er- 
innerungen Bismarck  s",  welche  Horst  Kohl  wieder  im 
Cottaschen  Verlage  veranstaltet  hat,  gibt  den  Text  der  Volksausgabe 
von  1905,  mit  deren  erläuternden  Anmerkungen,  revidiert  und  er- 
weitert; ferner  auch  ist  das  Register  erweitert.  Ein  großer  Mangel 
ist,  daß  nicht  die  Seitenzahlen  der  älteren  Großoktavausgabe,  nach 
denen  man  zu  zitieren  gewohnt  ist,  eingefügt  sind. 

Sir  John  Robert  Seeley.  Eine  Studie  über  den  Historiker.  Mit 
einer  Bibliographie.  Von  Dr.  phil.  Adolf  Rein.  Langensalza,  Her- 
mann Beyer  &  Söhne.  1912.  112  S.  —  Der  Autor  hat  der  vorliegen- 
den Schrift  den  Untertitel  „Eine  Studie  über  den  Historiker"  ge- 
geben. Er  hätte  wohl  besser  gesagt  „über  den  historischen  Denker 
und  Methodiker".  Denn  das  ,, Leben  Steins",  die  einzige  historio- 
graphische  Leistung  Seeleys,  wird  bei  ihm  nur  gelegentlich  erwähnt 
und  nirgends  besprochen,  und  Seeley  wird  ausschließlich  als  Lehrer 
der  Geschichte  und  historisch-politischer  Essayist  und  Theoretiker 
behandelt.  Die  Arbeit  selbst  beruht  auf  gründlicher  Kenntnis  des 
englischen  akademischen  und  literarischen  Lebens  und  der  Schriften 
Seeleys  und  resümiert  die  Ansichten  ihres  Helden  klar,  unparteiisch 
und  mit  sicherem  Blick  für  das  Wesentliche.  Sehr  fein  sind  die  Wur- 
zeln der  imperialistischen  Tendenzen  des  englischen  Historikers  bloß- 
gelegt; ebenso  ist  der  entscheidende,  positive  und  negative  Einfluß 
Macaulays  und  Buckles  durchaus  zutreffend  charakterisiert.  Viel- 
leicht hätten  auch  noch  die  Fäden,  die  von  Seeley  zu  den  gleich- 
zeitigen deutschen  Rankeschülern  wie  Sybel  hinüberlaufen,  und  die 
geistige  Verwandtschaft  mit  diesen,  die  dann  doch  wieder  starke 
Unterschiede  nicht  ausgeschlossen  hat,  behandelt  werden  dürfen, 
ebenso  wie  nicht  hätte  unterlassen  werden  sollen,  das  Verhältnis  der 
auf  politische  Erziehung  künftiger  Staatsmänner  hinzielenden  Lehr- 
tätigkeit Seeleys  zu  der  Geschichtschreibung  Freemans  zu  bestimmen. 
Die  hübsch  abgerundete  Schrift,  die  in  die  vier  Kapitel  ,,Der  Werde- 
gang, der  Historiker,  der  Politiker  und  der  Mensch"  zerfällt,  ist  um 
so  wertvoller,  als  sie  bisher  überhaupt  die  einzige  selbständige  Arbeit 
über  den  englischen  Historiker  darstellt;  von  englischer  Seite  ist  bis- 
her weder  eine  Biographie  Seeleys  herausgegeben,  noch  ihm  ein  eigenes 
Buch  gewidmet  worden.  Dadurch  erweist  sich  auch  die  Bibliographie 
der  Schriften  Seeleys  und  der  Literatur  über  ihn,  die  dem  Werke 
beigegeben  ist,  als  außerordentlich  verdienstlich.    Beigefügt  sei  noch. 


202  Notizen  und  Nachrichten. 

daß  der  Verfasser,  der  Seeley  selbst  nicht  mehr  gekannt  hat,  durch 
Erkundigungen  bei  Zeitgenossen  manche  unpublizierte  Einzelheiten 
über  diesen  erfahren  hat  und  so  auch  von  seinem  Helden  als  Menschen 
•ein  lebendiges  Bild  hat  entwerfen  können.  Fueter. 

Carl  Schirrens  Sohn  läßt  eine  Sammlung  von  Vorträgen 
■des  Verstorbenen  erscheinen  (Charaktere  und  Menschheitsprobleme. 
Kiel,  Mühlau.  1912),  die  neben  dem  Neudruck  von  Universitätsreden 
auch  Unveröffentlichtes  enthält.  Im  Mittelpunkt  des  Interesses  steht 
die  glanzvolle  Rede  über  Patkul  aus  dem  Jahr  1869,  nach  einem 
Stenogramm  im  Besitz  der  Frau  von  Stern-Patkul  zugänglich  ge- 
macht Hat  auch  Schirren  später  die  ideale  Auffassung  seines  da- 
maligen Lieblingshelden  preisgeben  müssen,  so  ist  diese  Rede  doch 
selbst,  wie  der  Herausgeber  richtig  sagt,  „Dokument"  historischer 
Tage.  Auch  sonst  gibt  die  Sammlung  ein  gutes  Bild  von  einer  der 
eigenartigsten  und  packendsten  Rednergestalten  unter  den  deutschen 
Historikern.  Die  Weglassung  der  nicht  druckreifen  Dante-Vorträge 
und  eine  der  markigen  Persönlichkeit  Schirrens  mehr  entsprechende 
Buchausstattung  hätte  den  Gesamteindruck  noch  erhöht.  K. 

In  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  Österreich.  Geschichtsfor- 
schung 34,  1  handelt  H.  Steinacker  (im  Anschluß  an  eine  An- 
zeige der  Habsburger  Regesten  I  durch  K.  Uhlirz  in  den  Göttinger 
gelehrten  Anzeigen,  Mai  1912)  klar  und  verständig  über  Fragen  der 
Regestentechnik.  —  Ebenda  finden  sich  Ausführungen  von  K-  K  o  - 
V  a  c  über  die  nur  aus  der  Neuzeit  bekannte  diplomatische  Geheim- 
schrift der  ehemaligen  Republik  Ragusa. 

Mit  voller  Beherrschung  eines  weitschichtigen,  mit  großem  Fleiß 
gesammelten  Materials  deckt  eine  diplomatische  Untersuchung  von 
M.  M  e  y  h  ö  f  e  r  im  Archiv  für  Urkundenforschung  4,3  die  Zusam- 
menhänge auf,  die  zwischen  den  kaiserlichen  Stiftungsprivilegien  für 
Universitäten  bestehen.  Die  Arbeit  beschränkt  sich  zeitlich  nicht 
auf  das  Mittelalter,  sondern  geht  bis  zum  Schluß  des  18.  Jahr- 
hunderts —  das  letzte  Privileg  ist  die  Errichtung  der  Universität 
Bonn  durch  Joseph  II.  vom  Jahre  1784  — ,  so  daß  im  ganzen  58  Stück 
(20  vor  1500,  38  nachher)  auf  Anordnungs-  und  Inhaltsverwandtschaft 
untersucht  worden  sind.  Was  den  Wert  und  die  Bedeutung  der  kaiser- 
lichen Stiftungsbriefe  anlangt,  so  ergibt  sich,  daß  Papst  und  Kaiser 
das  Recht  der  Privilegierung  einander  nicht  bestritten  haben,  so  daß 
,,oft  Privilegien  beider  Autoritäten  vorlagen.  Aus  dieser  Tatsache 
folgt,  daß  die  kaiserlichen  Urkunden,  die  ihrem  Inhalte  nach  ein  und 
dasselbe  Ziel  verfolgen,  nicht  immer  dieselbe  Bedeutung  für  die  Stif- 
tung eines  Studium  generale  erlangen.  Nur  dort  begründen  sie  eine 
Universität  und  schaffen  den  Rechtsboden  für  ihr  Dasein,  wo  noch 


Alte  Geschichte.  203 

nicht  eine  Privilegierung  durch  die  andere  universale  Autorität  vor- 
angegangen war;  dort,  wo  schon  das  Papsttum  Stiftungsbriefe  erteilt 
hatte,  nahmen  sie  den  Charakter  einer  Bestätigung  an."  Anhangsweise 
folgen  u.  a.  die  Regesten  der  päpstlichen  Stiftungsprivilegien  bis  zum 
Jahre  1507. 

Aus  dem  Inhalt  der  Archivalischen  Zeitschrift  N.  F.  19  (1912) 
sind  an  dieser  Stelle  zu  nennen  der  Schluß  der  schon  öfter  genannten 
Sammlung  von  Theod.  J.  Scherg:  Franconica  aus  dem  Vatikai| 
1464—1492  (vgl.  H.  Z.  105,  418;  106,  643),  der  ein  Orts-  und  Personen- 
verzeichnis für  die  Nummern  aus  der  Zeit  Sixtus'  IV.  und  Inno- 
cenz'  VIII.  beigefügt  ist;  ferner  die  sehr  stoff reiche  Arbeit  von  Aug. 
Sperl:  Geschichte  des  Königlichen  Kreisarchives  Würzburg  1802 
bis  1912,  die  Mitteilung  der  Schriftstücke  über  die  Maßnahmen  des 
Nürnberger  Rats  beim  Verlust  des  Sekretsiegels  im  Jahre  1440 
durch  W.  Fürst,  die  Veröffentlichung  bayerischer  Fischerei-Re- 
gesten durch  Jos.  Demi  und  die  Bemerkungen  von  J.  S  t  r  i  e  - 
dinger  über  die  neue  italienische  Archivordnung  von  1911. 

Neue  Bücher:  Miscellanea  di  studl  storici  in  onore  di  Antonio 
Manno.  2  voll.  ( Torino,  fratelli  Bocca.)  —  R  a  u  e  r ,  Der  deutsche 
Kaiser.  Seine  rechtliche  Stellung  im  alten  und  im  neuen  Reiche. 
(Berlin,  Puttkammer  &  Mühlbrecht.  1,50  M.)  —  Hupp,  Die  Wap- 
pen und  Siegel  der  deutschen  Städte,  Flecken  und  Dörfer.  6.  Heft. 
1.  Heft  des  II.  Bandes:  Königreich  Bayern,  Kreis  Ober-  und  Nieder- 
bayem.  (Frankfurt  a.  M.,  Keller.  30  M.)  —  Kuhn,  Mythologische 
Studien.    2.  (Schluß-)Band.    (Gütersloh,  Bertelsmann.    6  M.) 

Alte  Geschichte. 

In  den  Proceedings  of  the  Society  of  biblical  arcfiaeology  34,  7 
<1912)  und  35,  1  (1913)  setzt  A.  H.  Sayce  seine  Forschungen  über 
ihe  Solution  of  the  Hittite  problem  fort  und  zwar  2.  The  Herakleid  dy- 
nasty  of  Lydia.  3.  The  Midas-city.  4.  The  titles  of  the  Merash  Kings. 
5.  The  name  of  Istar.  Weiter  bespricht  H.  R.  Hall  die  Zeit  des* 
neugefundenen  Königs  Demb-db-taui  Uatfkara  und  Th.  G.  P  i  n  - 
<:  h  e  s ,  The  Sumerians  of  Lagos. 

Unter  den  im  Hermes  48,  2  veröffentlichten  philologischen  Klei- 
nigkeiten von  R.  Reitzenstein  interessiert  uns  hier  nament- 
lich 2:  Das  deutsche  Heldenlied  bei  Tacitus,  wobei  mit  Recht  darauf 
aufmerksam  gemacht  wird,  daß  die  Worte  des  Tacitus  die  Existenz 
wirklicher  Arminius-Lieder  durchaus  nicht  bezeugen.  Weiter  bespricht 
M.  L  e  h  n  e  r  d  t  ein  verschollenes  Werk  des  älteren  Plinius,  näm- 
Jich  das   Buch   über  die    Germanenkriege,   dessen   Vorhandensein  in 


204  Notizen  und  Nachrichten. 

Deutschland  im  15.  und  16.  Jahrhundert  nicht  zweifelhaft  zu  sein 
scheint;  weiter  notieren  wir  Ch.  Blinkenh  er  g  , 'PöSov  Hriarm-, 
U.  Kahrstedt,  Nachlese  auf  griechischen  Schlachtfeldern  und 
L.  Schmidt,  Das  Regnum  Vannianum. 

Im  Philologus  72,  1  interessieren  uns  der  Aufsatz  von  R.  A  s  - 
m  u  s  ,  Zur  Kritik  und  Erklärung  von  Julian  Ep.  3*  u,  35  und  die 
Untersuchung  von  O.  I  m  m  i  s  c  h  ,  Der  erste  platonische  Brief  (mit 
einer  Einleitung  über  den  Zweck  und  einer  Vermutung  über  die  Ent- 
stehung der  platonischen  Briefsammlung). 

In  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Rechtswissenschaft  29, 3 
finden  sich  zwei  Abhandlungen,  welche  für  die  antike  Wirtschafts- 
geschichte von  erheblichem  Interesse  sind.  A.  B  e  r  g  e  r  ,  Woh- 
nungsmiete und  Verwandtes  in  den  gräko-ägyptischen  Papyri  und 
J.  K  0  h  1  e  r  ,  Über  Miet-,  Pacht-  und  Dienstverträge  in  Babyion 
und  Ägypten. 

Die  nach  langer  Pause  erschienene  Ephemeris  epigraplüca  bringt 
zunächst  von  F.  Haverfield  Nachträge  zu  CIL  VII,  welche  die 
in  den  Jahren  1890 — 1911  gefundenen  Inschriften  aus  Großbritan- 
nien umfassen;  dann  veröffentlicht  H.  Dessau  mit  gewohnter 
Sorgfalt  und  Umsicht  geführte  Untersuchungen  über  1.:  De  regina 
Pythodoride  et  de  Pythodoride  juniore;  2.:  Reges  Thraciae  qui  fuerint 
imperante  Augusto. 

In  der  Numismatischen  Zeitschrift  V,  2  (1912)  setzt  zunächst 
R.  Münsterberg  seine  sorgfältigen  Untersuchungen  über  die 
Beamtennamen  auf  griechischen  iVlünzen  fort,  weiter  veröffentlichen 
Arbeiten  M.  C.  S  o  u  t  z  o  ,  Contribution  ä  l'äude  de  l'inegalite  pon- 
derale  des  as  libraux  Romains ;  E.  J.  S  e  1 1  m  a  n  ,  Concerning  a 
suspected  gold  coin  of  Syracuse ;  O.  V  o  e  1 1  e  r  ,  Zu  Gallienus  und 
seiner  Familie;  Fr.  Imhof-Blumer,  Die  Kupferprägung  des 
mithradatischen  Reiches  und  andere  Münzen  des  Pontus  und  Paphla- 
goniens  und  karische  Münzen. 

Ungemein  reich  ist  wieder  das  neueste  Heft  des  Bulletin  de 
correspondance  hellenique  36,  5/2,  Ch.  P  i  c  a  r  d  et  A.  J.  R  e  i  n  a  c[h : 
Voyage  dans  la  Chersonese  et  aux  lies  de  la  mer  de  Tfirace ;  K-  A. 
R  h  0  m  a  i  0  s  :  Teyeariy.nl  k-niyoaqjni ;  A.  Plassart:  Fouilles  de 
Delos  executees  aux  frais  de  M.  le  duc  de  Loubat.  Inscriptions  du 
gymnase  mit  einer  Note  additionnelle  sur  la  liste  des  gymnasiarques 
deliens  von  P.  Roussel;  W.  B.  Dinsmoor:  Studies  of  the  Del- 
pllian  trcuiuries;  N.  D.  Chaviaras:  'Emy^aipnl  KvtSiag  /eoaort'aov^ 
G.  S  e  u  r  e :  Antiquit^s  Thraces  de  la  Propontide.  Collection  Stamoulis 
(meist  aus  dem  alten  Selymbria  und  Umgegend,  reich  an  Inschriften); 
E.  Bourguet:   Monuments  et  inscriptions  de  Delphes.    8.  Le  tresor 


Alte  Geschichte.  205 

de  Corintlie ;  J.  Hatzfeld:  Note  sur  une  inscription  de  Cnide,  worin 
der  Name  des  G.  Julius  Artemidoros,  des  Freundes  von  Caesar,  mit 
hoher  Wahrscheinlichkeit  hergestellt  wird. 

In  der  Revue  de  Philologie  de  litterature  et  d'histoire  anciennes 
30, 3/4  gibt  von  neuem  H.  Brillant  eine  griechische  Inschrift 
aus  Tomi  vom  29.  März  160  n.  Chr.  heraus  und  begleitet  sie  mit  guten 
und  brauchbaren  Anmerkungen,  wobei  besonders  die  Geschichte  die- 
ser Inschrift  merkwürdig  ist. 

Beiträge  zur  Geschichte  altrömischer  Agrarprobleme  (bis  367 
V.  Chr.)  von  Dr.  phil.  Kurt  Schwarze.  Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer. 
1912.  87  S.  2,80  M.  —  Der  Eifer,  mit  dem  der  Verfasser  seine  Pro- 
bleme behandelt,  und  die  Menge  moderner  Literatur,  die  er  zitiert, 
kann  nicht  darüber  hinwegtäuschen,  daß  er  in  Wirklichkeit  zu  unserer 
Erkenntnis  nichts  „beiträgt".  Die  Intention  des  1.  Kapitels,  wo  die 
Landbesitzverhältnisse,  wie  sie  sich  aus  den  römischen  Agrarschrift- 
stellern  ergeben,  zusammengestellt  werden,  war  gut.  In  gleicher  Weise 
hätten  sämtliche  Nachrichten  der  übrigen  republikanischen  Literatur, 
sofern  sie  die  Besitzverhältnisse  zur  Zeit  der  Autoren  erläutern,  ge- 
sammelt werden  können.  Sind  einmal  die  Agrarprobleme  der  durch 
gleichzeitge  Zeugnisse  erhellten  Epoche  klar  erfaßt,  dann  mag  man 
versuchen,  auch  in  das  Dunkel  der  Vorzeit  hineinzuleuchten.  Statt 
dessen  begibt  sich  Schwarze  auf  das  Meer  der  modernen  Hypothesen 
und  sucht  sich  hier  eine  eigene  Meinung  herauszufischen.  Dabei  fehlt 
ihm  aber  das  unentbehrliche  Rüstzeug  des  quellenkritischen  Ver- 
ständnisses, und  so  ist  sein  Unternehmen  von  vornherein  aussichts- 
los: S.  82  will  er  gegen  Niese  das  sextisch-licinische  Staatslandesgesetz 
für  367  retten  und  führt  für  die  Zuverlässigkeit  der  livianischen  Tra- 
dition aus,  Livius  selbst  erwähne  die  lex  Licinia  sonst  noch  einmal, 
ferner  der  audor  de  viris  illustribus  und  Varro!  Zu  diesem  Versagen 
gegenüber  elementaren  Forderungen  wissenschaftlicher  Arbeit  passen 
die  zahlreichen  Druckfehler  und  die  nicht  seltenen  stilistischen  Flüch- 
tigkeiten. M.  Geizer. 

The  governors  of  Moesia  von  Selatie  Edgar  Stout, 
Dissertation  der  Princeton  University.  Princeton  1911.  97  S.  — • 
Die  Namen  sämtlicher  Statthalter,  soweit  möglich  chronologisch  ge- 
ordnet, sämtliche  Zeugnisse  in  extenso,  nach  Stichproben  zu  urteilen 
sorgfältig   gearbeitet. 

Cäsar.  Von  G.  V  e  i  t  h  ,  k.  u.  k.  Hauptmann.  (,, Wissenschaft 
und  Bildung"  Bd.  75.)  Leipzig,  Quelle  &  Meyer.  1912.  Geb.  1,25  M. 
—  Die  Kriege  Cäsars  werden  frisch  und  anschaulich  erzählt.  Was 
aber  der  Verfasser  sonst  noch  ausführt  über  Cäsars  politische  und 
allgemeine  historische  Bedeutung,  ist  bloß  für  das  Studium  moderner 


206  Notizen  und  Nachrichten. 

Heldenverehrung  interessant.  Wer  sich  ernsthaft  über  den  wirk- 
lichen Cäsar  und  seine  Zeit  unterrichten  will,  muß  nachdrücklich 
vor  diesem  Lebensbild  gewarnt  werden.  M.  Geizer. 

Aus  der  Zeitschrift  für  neutestamentliche  Wissenschaft  und  die 
Kunde  des  Urchristentums  14,1  notieren  wir  E,  Preu  sehen: 
Untersuchungen  zur  Apostelgeschichte  1;  H.  Waitz:  Das  Evan- 
gelium der  zwölf  Apostel  II  und  H.  D  u  e  n  s  i  g:  Ein  Stücke  der  ur- 
christlichen Petrusapokalypse  enthaltender  Traktat  der  äthiopischen 
Pseudoklementinischen  Literatur. 

Aus  der  Neuen  kirchlichen  Zeitschrift  24,  2  (1913)  notieren  wir 
Ed.  König:  Das  Alte  Testament  und  die  babylonische  Sprache 
und  Schrift. 

In  der  Revue  de  l'histoire  des  religions  spricht  M.  G  o  g  u  e  1 
über  la  date  et  le  Heu  de  composition  de  Vipitre  aux  Philippiens,  wo- 
für Ephesus  und  das  Jahr  55  mit  guten  Gründen  zu  erweisen  ge- 
sucht wird. 

Im  Expositor  1913,  Februar-März  beschließt  H.  A.  A.  Ken- 
nedy seine  Untersuchungen:  St.  Paul  and  the  Mystery-religions. 
9:  Conclusions.  W.  M.  Ramsay  veröffentlicht  Suggestions  on  the 
history  and  letters  of  St.  Paul.  1 :  The  date  of  the  Galatian  letter  und 
C.  L  a  1 1  e  y  verbreitet  sich  über  Alexander  the  God,  ohne  die  Sache 
wesentlich  zu  fördern.  Weiter  notieren  wir  M.  Jones  The  apostolic 
decrees  in  Acts  XV:  a  compromise  or  a  thriumph?  und  V.  B  a  r  1 1  e  t: 
The  historic  setting  of  the  Pastoral  epistles. 

Neue  Buchen  P  als ,  Storia  critica  dl  Roma  durante  i  primi 
cinque  secoli.  Vol.  I,  parti  I  e  II.  {Roma,  Loescher  e  C.  i8  L.)  — 
S  e  e  b  e  r  g  ,  Die  Synode  von  Antiochien  im  Jahre  324/25.  (Berlin, 
Trowitzsch  &  Sohn.    8,60  M.) 

Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

G.  Kossinna,  Die  deutsche  Vorgeschichte  eine  hervor- 
ragend nationale  Wissenschaft.  (Mannusbibliothek  9.)  100  S.  157  Ab- 
bildungen im  Text.  Würzburg,  Kabitzsch.  5  M.  —  Bekannt  ist,  daß 
Kossinna  der  gewichtigste  Vertreter  der  Theorie  ist,  die  Germanen 
stammten  nicht  aus  dem  asiatischen  Osten,  sondern  aus  Nordeuropa. 
Die  überaus  reiche  Kultur  dieser  Völker  von  ihren  ersten  Anfängen 
über  die  herrlich  entwickelte  Bronzezeit  bis  ins  Ende  der  Latfenezeit 
schildert  Kossinna  aus  eindringlichstem  Wissen  heraus  unter  Beigabe 
vorzüglich  ausgewählter  Abbildungen.  Zum  Schluß  folgt  ein  Kapitel 
über  die  Darstellungen  der  Germanen  in  der  antiken  Kunst,  wobei 
hätte  erwähnt  werden  dürfen,  daß  Schumacher  durch  seinen  Gerfnanen- 


Frühes  Mittelalter.  207 

katalog  des  Römisch-germanischen  Zentralmuseums  eine  solche  Zu- 
sammenfassung erst  möglich  gemacht  hat.  Bedauerlich  und  gänz- 
lich ungerechtfertigt  ist  der  gereizte  Ton,  der  gegen  die  Vertreter  der 
römisch-germanischen  Forschung,  soweit  sie  auf  klassisch-philologi- 
schem Boden  stehen,  angeschlagen  wird.  Jeder  weiß,  daß  gerade  sie 
seit  Jahren  das  erstreben  und  fordern,  was  Kossinna  mit  seinem  Vor- 
trag erreichen  will;  auch  Schumacher,  den  Kossinna  mit  vollem  Recht 
lobt,  ist  ein  solcher  ,, Klassiker",  um  einen  früheren  Ausdruck  von 
Kossinna  zu  gebrauchen.  Daß  im  Rheinland  durchaus  nicht  bloß 
Römerforschung  betrieben  wird,  bei  der  gelegentlich  „auch  für  die 
vor-  und  nachrömischen  Knlturverhältnisse  einiges  abfällt",  weiß 
jeder  oder  könnte  es  wenigstens  wissen,  dem  die  Berichte  der  Röm.- 
germ.  Kommission  und  die  Verhandlungen  der  beiden  großen  Ver- 
bände für  Altertumsforschung  bekannt  sind.  Daß  die  deutsche  Vor- 
geschichte eine  hervorragend  nationale  Wissenschaft  ist,  wurde  in 
diesen  Kreisen  nicht  nur  oftmals  ausgesprochen,  sondern  auch  be- 
tätigt, wenn  auch  ohne  viel  Geräusch,  und  so  wird  man,  freilich  mit 
dem  eben  gemachten  Vorbehalt,  auch  diesem  Leitsatz  des  Verfassers 
zustimmen  und  dem  Vortrag  den  Erfolg  wünschen,  daß  recht  viele 
Mitarbeiter,  aber  auch  reichere  Geldmittel  für  die  germanische  For- 
schung neu  gewonnen  werden  möchten.  Anthes. 

H.  Dragendorff  (Westdeutschland  zur  Römerzeit.  Leipzig,. 
Quelle  &  Meyer.  1912.  1,25  M.)  gibt  einen  wertvollen,  aus  dem  Vollen 
geschöpften  Überblick  über  die  römische  Kultur  im  westlichen  Deutsch- 
land. Trotz  geringen  Umfangs  enthält  das  Büchlein  in  den  sieben 
gut  orientierenden  Abschnitten  über  die  Eroberung  des  Gebiets,  über 
militärische,  städtische  und  ländliche  Siedlung,  Verkehr,  Handwerk,. 
Kunst,  Religion  und  Sprache  mancherlei  förderliche  Hinweise  auch 
auf  Einzelheiten.  A. 

In  reich  ausgestatteter  Veröffentlichung  beschreibt  A.  Götze 
(Die  altthüringischen  Funde  von  Weimar,  5. — 7.  Jahrh.  n.  Chr. 
Berlin,  Wasmuth.  1912)  die  Ausgrabungsergebnisse  auf  dem  großen 
Friedhof  von  Weimar,  auf  dem  gerüstete  Krieger  und  reichgeschmückte 
Frauen  ihre  Ruhestätte  gefunden  haben.  Diese  und  andere  Funde 
beweisen,  daß  Weimar  im  5.  und  6.  Jahrhundert  ein  Hauptsitz  alt- 
thüringischer Kultur  gewesen  ist.  Mit  der  sorgfältigen  Fundbeschrei- 
bung, der  Hervorhebung  zahlreicher  technischen  Einzelheiten  und 
den  ausgezeichneten  Abbildungen  (19  Taf.  und  24  Bilder  im  Text> 
bildet  das  Werk  einen  wertvollen  Beitrag  zur  Kenntnis  der  frühen 
Kultur  Mitteldeutschlands.  A. 

Der  Aufsatz  von  H.  Böhmer  über  das  germanische  Christen- 
tum (Theologische   Studien   und   Kritiken    1913,2,   S.  165— 280)  mit 


208  Notizen  und  Nachrichten. 

der  Fülle  seiner  Aufschlüsse  und  dem  Reichtum  seiner  mit  größter 
Belesenheit  zusammengetragenen  Belege  läßt  sich  kaum  in  seinen  all- 
gemeinsten Umrissen  verdeutlichen.  Es  kommt  dem  Verfasser  darauf 
an,  die  geistige  und  religiöse  Höhenlage  der  Germanen  zu  umschrei- 
ben, zu  einer  Zeit,  wo  das  Christentum  als  Religion  und  als  Ethos, 
als  Kirche,  als  kultisches  Institut  und  als  rechtlich  verfaßte  Anstalt 
zu  ihnen  drang.  Er  will  darlegen,  inwieweit  innerhalb  der  germani- 
schen Volkskirchen,  die  etwa  um  das  Jahr  500  bis  1000  sich  um  die 
römische  Kirche  sammelten,  das  lateinische  Christentum  Wandlungen 
und  Neubildungen  erfuhr,  inwieweit  dies  Christentum  von  den  Ger- 
manen rezipiert  wurde  und  sie  beeinflußte.  Die  Ausführungen  im 
einzelnen  verbinden  nüchterne  Erwägungen  mit  mutiger  Polemik  gegen 
eingewurzelte  Vorstellungen;  sie  rücken  das  aufgeworfene  Problem  in 
rsligionshistorische  Zusammenhänge,  bedienen  sich  zu  seiner  Lösung 
der  ReUgionsvergleichung  und  nehmen  auch  zu  Fragen  Stellung  wie 
z  B.  die  nach  der  Bedeutung  der  ständischen  Gliederung  innerhalb 
der  Kirche  auf  deutschem,  französischem  und  englischem  Boden,  um 
so  die  Tragweite  der  Arbeiten  von  A.  Schulte  auch  für  die  germa- 
nische Frühzeit  fruchtbar  zu  machen.  Vier  Exkurse,  durch  den 
Reichtum  der  Belege  besonders  wertvoll,  gelten  der  Frage  nach  den 
Tempeln  bei  den  Südgermanen,  den  freiständischen  und  freiherrlichen 
Klöstern  und  Stiftern  in  den  germanischen  Reichen,  die  Zulassung 
von  Unfreien  zur  Profeß  und  endlich  dem  Geburtsstand  der  Bischöfe 
und  Erzbischöfe  zumeist  in  England.  Es  wäre  sehr  wünschenswert, 
würde  die  Arbeit  auch  als  Sonderdruck  veröffentlicht  werden,  zumal 
durch  die  Schuld  des  Setzers  der  Druck  in  der  Zeitschrift  etwas  in 
Unordnung  geraten  ist.  A.  Werminghoff. 

In  einem  gedrängten  Überblick  vergegenwärtigt  A.  M.  K  o  e  - 
n  i  g  e  r  die  Geschichte  des  Sendgerichts,  seiner  Zusammensetzung 
und  seines  Verfahrens  bis  zu  seinem  Untergang  im  17.  und  18.  Jahr- 
hundert. Den  Darlegungen  kommt  zugute,  daß  der  Verfasser  in  jedem 
Abschnitte  die  Entwicklung  des  Sends  in  der  Diözese  Bamberg  schil- 
dert, derart,  daß  auf  diese  Weise  die  allgemeinen  Züge  zugleich  in 
dem  Bamberger  Paradigma  sich  widerspiegeln  und  so  verdeutlicht 
werden.  JVlan  wird  in  dem  Abriß  den  Vorläufer  des  noch  ausstehen- 
den zweiten  Bandes  über  „Die  Sendgerichte  in  Deutschland",  denen 
Koenigers  Veröffentlichung  vom  Jahre  1907  galt,  wie  nicht  minder 
die  des  Jahres  1910  mit  den  Quellen  zur  Geschichte  der  Sendgerichte 
in  Deutschland  (70.  Bericht  des  Historischen  Vereins  zu  Bamberg 
1912). 

Von  den  Aufsätzen  des  Neuen  Archivs  38,  1  sind  hier  folgende 
zu   erwähnen :    D.  v.   K  r  a  l  i  k    unterzieht   die   deutschsprachlichen 


Frühes  Mittelalter.  209 

Bestandteile  der  Lex  Baiuvariorum  einer  eingehenden  Untersuchung; 
K.  Strecker  stellt  die  Fragmente  von  Notkers  polymetrischer 
Vita  s.  Galli  in  einer  kritisch  sichtenden  Ausgabe  zusammen,  sind 
doch,  wie  er  am  Eingang  seines  Beitrags  bemerkt,  ,, gerade  1000  Jahre 
verflossen,  seit  in  St.  Gallen  sich  der  zahnlose  Mund  für  immer  schloß 
(!),  der  so  anmutig  zu  plaudern  und  zu  scherzen  wußte  und  durch 
seine  Erzählungen  Kaiser  Karl  III.  tagelang  fesselte".  Überaus  will- 
kommen ist  die  umfangreiche  Abhandlung  von  E.  Caspar  über 
das  Registrum  Gregorii  VII.  mit  der  Fülle  ihrer  Aufschlüsse  über  die 
handschriftliche  Überlieferung,  über  die  Registerführung  unter  Gre- 
gor VII.  und  zum  päpstlichen  Registerwesen  im  früheren  Mittelalter 
überhaupt.  Die  Studie  setzt  sich  auf  Schritt  und  Tritt  mit  den  Er- 
gebnissen der  anregenden  Arbeit  von  W.  Peitz  (Sitzungsberichte  der 
Wiener  Akademie  115,5.  1911)  auseinander,  um  eine  Neuausgabe 
jener  wichtigsten  Quelle  für  die  Geschichte  Gregors  VII.  vorzubereiten. 
Die  in  dieser  Zeitschrift  110,  186  angezeigte  Arbeit  von  O.  Blaul  be- 
spricht E.  Caspar  im  Neuen  Archiv  38,  S.  385f.,  während  A.  Hof- 
meister S.  333  ff.  mit  den  Studien  von  Th.  llgen  (vgl.  109,642) 
sich  auseinandersetzt,  d.  h.  ihre  Ergebnisse  ablehnt. 

Die  ,, Urkunden  zur  Geschichte  des  deutschen  Privatrechtes, 
für  den  Gebrauch  bei  Vorlesungen  und  Übungen  herausgegeben  von 
Hugo  Loersch  und  Richard  Schröder",  die  zuerst  1874  er- 
schienen sind,  können  einen  Platz  in  der  Geschichte  der  deutschen 
Rechtswissenschaft  beanspruchen;  E.  Landsberg  hat  in  seiner  Darstel- 
lung dieser  Geschichte  (S.  898)  mit  Recht  hervorgehoben,  daß  die 
Sammlung  ,, entscheidend  gewirkt  hat  für  die  Verbreitung  der  An- 
schauung, daß  die  Kunde  des  deutschen  Rechts  neben  den  eigent- 
lichen Rechtsquellen  wesentlich  den  Urkunden  zu  entnehmen  ist". 
Daß  sie  nun  auch  wieder  in  der  Gegenwart  als  willkommenes  Hilfs- 
mittel dasteht,  verdankt  sie  der  neuen  Bearbeitung,  der  sie  Leopold 
Pereis  in  Gemeinschaft  mit  Schröder  selbst  unterzogen  hat  (Bonn, 
A.  Marcus  und  E.  Webers  Veriag.  1912.  XXXI 1  u.  250  S.  6  M.). 
Der  Stoff,  in  alter  Weise  chronologisch  geordnet,  aber  durch  eine 
Übersicht  nach  Materien  der  systematischen  Benutzung  erschlossen, 
wurde  zum  Teil  erneuert,  und  die  Texte  vieler  Urkunden  konnten 
nach  neueren  Drucken  in  besserer  Form  gegeben  werden.  Die  Lite- 
raturverweise und  knappen  Erläuterungen  des  Bearbeiters  sind  will- 
kommen, nützlich  ist  auch  trotz  ihrer  gewollten  Unvollständigkeit 
die  früher  fehlende  Wortliste  am  Schlüsse  des  Buches. 

L.  L  e  V  i  1 1  a  i  n  ,  La  succession  d'Austrasie  au   VW  siecle  (Re- 
vue lustorique  1 12,  1913,  S.  62—93)  behandelt  die  an  Wirren  und  Kämp- 
fen reiche  Geschichte  des  Austrasischen  Königtums  von  der  Zeit  an, 
Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  U.  Bd,  14 


^10  Notizen  und  Nachrichten. 

da  Dagobert  I.  dem  Lande  633/34  in  seinem  Sohne  Sigbert  III.  einert 
eigenen  König  gab,  bis  zum  Ende  dieser  Sonderstellung  Austrasiens- 
nach  der  Ermordung  Dagoberts  II.  im  Jahre  679  und  dem  Tode  des 
Hausmeiers  Ebroin,  indem  er  die  zerstreuten  Ausführungen  seiner  Vor- 
gänger mit  Geschick  zusammenfaßt  und  im  besonderen  als  erster  den 
5.  Band  der  Scriptores  verum  Merovingicarum  heranzieht.  Nicht  immer 
geglückt  scheinen  mir  eigene  Vermutungen  des  Verfassers,  so  bei 
den  Ausführungen  über  den  ersten,  im  einzelnen  wenig  bekannten 
Versuch  der  Pippiniden,  die  Merowinger  zu  entthronen  (S.  63  ff.): 
Daß  der  Hausmeier  Grimoald  I.,  der  dies  unternahm,  Urkunden  nach 
dem  jungen  Dagobert  II.  datierte,  so  lange  er  ihm  den  Schein  der 
Herrschaft  ließ,  ist  verständlich;  daß  er  es  tat,  nachdem  er  ihn  hatte 
scheren  lassen,  was  mit  der  Thronentsetzung  gleichbedeutend  war,, 
und  nach  Irland  gesandt  hatte,  ist  so  unwahrscheinlich  wie  nur  mög- 
lich, und  auch  sonst  scheinen  mir  die  Ausführungen  von  Krusch  über 
diese  Vorgänge  vor  den  neuen  Annahmen  entschieden  den  Vorzug 
zu  verdienen.  Die  Folgerungen,  die  Levillain  für  die  Chronologie 
Childerichs  II.  aus  einer  Zeitangabe  in  den  Beschlüssen  des  Konzils 
von  Saint- Jean  de  Losne  c.  11  (MG.  Concilia  1,218)  gezogen  hat 
(S.  73  f.),  fallen  ohne  weiteres  dahin,  da  er  den  von  dem  König  viel- 
leicht gar  nicht  erlebten  Termin  einer  zukünftigen  Synode 
fälschlich  für  die  Zeit  des  beschließenden  Konzils  gehalten  hat.  Der 
Name  des  Metropoliten  Chado  in  einer  Originalurkunde  von  677 
sollte  nicht  in  den  des  Bischofs  Dado  (Audoin)  von  Ronen  verbessert 
werden  (S.  82);  es  ist  der  wohlbekannte  Chado  von  Bourges  (vgL 
Duchesne,  Fastes  episcopaux  de  Vancienne  Gaule  W^,  S.  29  f. ;  MG.^ 
Auct.  ant.  XIII,  493),  und  die  von  Grandidier  „gereinigte"  Gestalt 
einer  falschen  Ebersheimer  Urkunde  (vgl.  H.  Bloch,  Zeitschrift  für 
die  Geschichte  des  Oberrheins  N.  F.  XII,  1897,  S.  477  f.)  sollte  nicht 
mehr  als  echt  benutzt  werden  (S.  92  Anm.  2).  Über  den  Aquitani- 
sehen  Herzog  Lupus  (S.  81  f.  84)  vgl.  SS.  R.  Merov.  V,  486  ff. 

W.  Levison. 
Sehr  willkommen  ist  eine  umfangreiche  Abhandlung  von  Th. 
Hirschfeld  im  Archiv  für  Urkundenforschung  4,  S.  419  ff.  über 
das  Gerichtswesen  der  Stadt  Rom  vom  8.  bis  zum  12.  Jahrhundert 
wesentlich  nach  stadtrömischen  Urkunden.  Sie  befaßt  sich  zunächst 
mit  der  Kriminal-  und  Zivilgerichtsbarkeit  des  Kaisers,  der  welt- 
lichen Gerichtsbarkeit  des  Papstes,  der  Kardinalvikare  und  weltlichen 
Usurpatoren,  weiterhin  mit  den  iudices,  dem  Präfekt  und  dem  Senat. 
Es  kommt  dem  Verfasser  darauf  an,  die  genannten  Personen  als  Vor- 
sitzende von  Gerichten  kennen  zu  lehren,  sie  durch  die  Jahrhunderte 
hindurch  zu  begleiten  und  durch  ihre  gegenseitige  Unterscheidung 
wiederum  eine  Art  von  Systematik  des  stadtrömischen  Gerichtswesens 


Frühes  Mittelalter.  211 

zu  geben.  Die  weiteren  Abschnitte  gelten  der  Kompetenz  der  Ge- 
richte, ihren  Beisitzern  und  sonstigen  Funktionären  wie  z.  B.  den 
fitdices  ordinär ii  und  dativi,  den  Advokaten,  Boten  und  Zeugen.  Fleiß 
und  Umsicht  der  Untersuchung  verdienen  alles  Lob;  daß  nicht  allent- 
halben restlose  Klarheit  erzielt  werden  konnte,  fällt  nicht  dem  Ver- 
fasser, sondern  der  Überlieferung  zur  Last,  nicht  minder  der  Ver- 
fassungsgeschichte der  Stadt  Rom  im  ganzen,  die  nicht  nur  hinsicht- 
lich des  Gerichtswesens  gegenüber  jedem  Versuche  einer  Verdeut- 
lichung sich  mehr  als  spröde  erweist. 

Mario  K  rammer  hat  für  die  Brandenburg- Seeligersche 
„Quellensammlung  zur  deutschen  Geschichte"  die  „Quellen  zur  Ge- 
schichte der  deutschen  Königswahl  und  des  Kurfürstenkollegs"  zu- 
sammengestellt. Die  beiden  Bändchen  sollen  nicht  nur  pädagogischen 
Zwecken  dienen,  sondern  auch  für  die  neuerdings  besonders  lebhafte 
Forschung  über  das  Kurkolleg  ein  bequemes  Hilfsmittel  an  die  Hand 
geben.  Die  Zeit  von  der  Wahl  Konrads  I.  bis  in  das  13.  Jahrhundert 
umfaßt  der  erste,  die  von  Rudolf  bis  Karl  IV.  der  zweite  Band;  ein 
Abdruck  des  größten  Teiles  der  Goldenen  Bulle  macht  den  Schluß. 
Die  Ausgabe  ist  umsichtig  und  sorgfältig.  Für  die  Zeit  bis  Rudolf 
ist  die  erstrebte  Vollständigkeit  einigermaßen  erreicht  (ich  vermerke 
für  eine  neue  Auflage,  daß  in  der  Krönungsordnung  aus  der  ottoni- 
schen  Zeit  die  Stelle,  die  von  der  Salbung  handelt,  nicht  weggelassen 
werden  sollte),  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  schwillt  das  Material 
allzusehr  an,  als  daß  nicht  hätte  ausgewählt  werden  müssen,  und 
man  wird  daher  zuweilen  verschiedener  Meinung  sein  können,  ob 
nicht  auch  dieses  oder  jenes  Stück  Aufnahme  verdient  hätte.  So 
vermißt  man  etwa  zwischen  der  Absetzung  Adolfs  und  der  zweiten 
Wahl  Albrechts  die  Urkunde  über  Albrechts  erste  Wahl,  oder  neben 
der  Bestellung  eines  Boten  an  den  Kölner  Erzbischof  durch  Balduin 
von  Trier  am  18.  November  1314  mindestens  den  Hinweis  darauf, 
daß  auch  der  König  einen  gleichen  Auftrag  erteilte  u.  dgl.  mehr.  Aber, 
wenn  hier  noch  einiges  fehlt,  so  schadet  dies  schon  deshalb  nichts,  weil 
dadurch  die  Gefahr  vermindert  wird,  daß  durch  diese  und  ähnliche 
Hilfsmittel  die  Studierenden  des  Gebrauchs  der  großen  Quellenwerke 
selbst,  vor  allem  der  Bände  der  Monumenta,  allzusehr  entwöhnt  wer- 
den (Leipzig  und  Berlin,  Teubner.    96  u.  160  S.).  £.   Vogt. 

H.  Bloch  untersucht  in  einem  wertvollen  Aufsatz  des  Neuen 
Archivs  38,  1  die  Entstehungsgeschichte  der  Sachsengeschichte  Widu- 
kinds  von  Corvei,  und  es  gelingt  seinem  Scharfblick  folgendes,  wie  uns 
scheint,  gesichertes  Resultat  zu  erzielen.  Widukind  hat  bereits  im 
Winter  957/8  einen  ersten  Entwurf  seines  Werkes  niedergeschrieben; 
dieser  wurde  um  967/8  mit   Rücksicht  auf  die   Prinzessin  Mathilde 

14» 


212  Notizen  und  Nachrichten. 

erweitert  und  ist  in  solcher  Gestalt  allein  auf  uns  gekommen;  erst 
nach  dem  Tode  Ottos  des  Gr.  wurde  ein  kurzer  Schluß  angehängt. 
In  der  für  Mathilde  bestimmten  Form  finden  sich  gegenüber  dem 
ersten  Entwürfe  Zutaten  von  Briefen,  Einzelabschnitte  und  Sätze: 
werden  sie  eben  als  Zutaten  ausgeschaltet,  so  ergibt  sich  die  Gestalt 
des  ersten  Entwurfs  mit  völliger  Bestimmtheit,  derart,  daß  hierdurch 
zugleich  auf  die  Verwandtschaft  und  Wertung  der  Handschriften 
neues  Licht  fällt,  nicht  minder  aber  auf  die  wechselseitigen  Beziehungen 
zwischen  Widukind  und  Hrotsvit  von  Gandersheim.  Ein  letzter  Ab- 
schnitt der  Studie  behandelt  die  Sachsengeschichte  als  Zeugnis  deut- 
schen Lebens  und  Widukinds  Auffassung  vom  Kaisertum;  die  bis- 
herige Beurteilung  z.  B.  seines  Schweigens  über  Ottos  Kaiserkrönung 
erweist  sich  als  der  Korrektur  bedürftig.  An  gleicher  Stelle  sodann 
(S.  297  ff.)  setzt  sich  H.  Bloch  mit  J.  Haller  auseinander,  dessen 
Schrift  über  „Die  Marbacher  Annalen.  Eine  quellenkritische  Unter- 
suchung zur  Geschichtschreibung  der  Stauferzeit"  (Berlin  1912) 
Blochs  Ergebnisse  hinsichtlich  der  Elsässischen  Annalen  der  Staufen- 
zeit  und  seiner  Ausgabe  der  sog.  Marbacher  Annalen  bekämpft  hatte. 
Ihm  gegenüber  glaubt  Bloch  an  seinen  früheren  Resultaten  festhalten 
zu  sollen. 

Robert  Latouche,  Histoire  du  comte  du  Maine  pendant  le 
X^  et  le  XI'  siede.  Avec  un  plan.  (=  Bibliotheque  de  l'Ecole  des 
Hautes  Etudes,  183.  Heft.)  Paris,  Champion,  1910.  VIII,  205  S. 
4,80  M.  —  Mit  dieser  Provinzialgeschichte  will  Latouche  zugleich 
einen  typischen  Fall  für  den  Umwandlungsprozeß  eines  fränkischen 
Gaues  in  das  Regime  feodal  erfassen.  In  beider  Hinsicht,  sowohl  als 
Baustein  für  die  noch  so  lückenhafte  Geschichte  der  französischen 
Lehnsfürstentümer,  wie  als  Beispiel  jenes  Überganges  stellt  die  Ar- 
beit eine  ausgereifte  Anfängerleistung  dar.  Wie  wenig  dankbar  die 
Geschichte  des  kleinen  Landes  an  sich  ist,  zeigen  die  spröden  Ka- 
pitel der  politischen  Erzählung.  Wie  ein  Jahrhundert  später  sich  in 
der  Kunstgeschichte  die  großen  Nachbarprovinzen  um  den  Besitz  von 
Maine  stritten,  so  ruht  auch  das  politische  Schicksal  schon  ganz  frühe 
im  Wettbewerb  der  Nachbarn.  So  verweist  Latouche  den  ausländischen 
Leser  mit  Recht  mehr  auf  die  verfassungsgeschichtlichen  Abschnitte, 
die  bei  Gelegenheit  ,, berühmte  Thesen  illustrieren'"  (III).  Bei  der 
Darstellung  der  Anfänge  des  Lehnswesens  (S.  57)  hat  Latouche  leider 
kein  besonderes  Glück  mit  der  These  gehabt,  die  er  zu  illustrieren 
unternahm:  auf  seine  Autoritäten  hin  (S.  65,68)  setzt  er  den  Ritter 
mit  dem  Gemeinfreien  der  Karlingerzeit  einfach  gleich  und  stützt 
diese  Annahme  durch  den  Trugschluß  einer  Gleichsetzung  (statt  Neben- 
einanderstellung) von  miles  und  liber  homo  (S.  68  Note  5,  6).  Die 
nützliche  Stoffsammlung  zum  Ämterwesen  (S.  70  ff.)  zeigt  Verquickung 


Frühes  Mittelalter.  213 

der  seigneiirialen  Einrichtungen  mit  den  gräflichen.  Die  Bischofs- 
geschichte gibt  ein  bemerkenswertes  Bild  von  Verweltlichung  und 
Reform  im  hohen  Klerus;  ebenso  sind  die  Stadtgeschichte  von  Le  Mans, 
die  über  die  Hälfte  des  Bandes  erfüllenden  Exkurse,  Grafenverzeich- 
nisse, Urkunden  und  das  Register  Lobes  würdig. 

Kiel.  Fritz  Kern. 

W,  L  e  V  i  s  0  n  kann  in  der  English  Historical  Review  27 
(Oktober  1912)  über  einen  bisher  unbekannten,  in  einer  Handschrift 
von  Canterbury  überlieferten,  leider  freilich  fragmentarischen  Text 
jener  Verhandlungen  berichten,  die  im  Jahre  1072  auf  der  Penenden- 
Heide  zwischen  Erzbischof  Lanfrank  von  Canterbury  und  Bischof 
Odo  von  Bayeux  gepflogen  wurden. 

Aus  der  Revue  des  Questions  historiques,  nouv.  ser.  49, 1,  S.  71  ff. 
notieren  wir  die  geschickt  zusammenfassenden  Bemerkungen  von  J. 
de  Ghellinck  über  die  polemische  Literatur  im  Zeitalter  des 
Investiturstreites,  denen  freilich  wesentlich  neue  Gesichtspunkte  in 
der  Würdigung  jener  Streitschriften  fehlen. 

Ungewöhnlich  reichhaltig  ist  die  Ausbeute  an  unbekannten  Ur- 
kunden und  Regesten  zur  Reichsgeschichte  Oberitaliens  vom  11.  bis 
zum  13.  Jahrhundert,  von  der  als  der  Frucht  archivalischer  Studien 
H.  K  a  1  b  f  u  ß  in  den  Quellen  und  Forschungen  aus  italienischen 
Archiven  und  Bibliotheken  15,  1  S.  53  ff.  Bericht  erstatten  kann.  Es 
handelt  sich  um  Dokumente  zur  Geschichte  u.  a.  der  Markgräfin 
Mathilde  von  Tuscien,  des  Herzogs  Weif,  der  Hohenstaufen  und  Ottos  IV. 
bis  zum  Jahre  1231,  die  zugleich  in  die  Organisation  ihrer  Beamtenschaft 
und  in  die  Verwaltung  ihrer  vielartigen  Besitzungen  lehrreiche  Ein- 
blicke erlauben.  In  die  Zeit  Friedrichs  II.  und  Manfreds  versetzen 
die  von  F.  Schneider  an  demselben  Orte (S.  1  ff.)  veröffentlichten 
Beiträge:  ihr  erster  gilt  den  selbständigen  Reichsvikariaten  unter 
Friedrich  II.,  der  zweite  der  Versöhnungspolitik  seines  Sohnes,  die 
durch  die  Beigabe  eines  Gesandtschaftsberichtes  vom  Jahre  1263  ins 
rechte  Licht  gerückt  wird. 

In  der  den  Slawen  eigenen  umständlichen  Art  sucht  Dr.  Nikola 
T  0  m  a  s  i  c  ,  der  frühere  Banus  von  Kroatien,  den  Nachweis  zu  füh- 
ren, daß  die  Verbindung  des  dreieinigen  Königreichs  Kroatien-Slawo- 
nien-Dalmatien  mit  Ungarn  von  König  Kolomann  nicht  durch  kriege- 
rische Eroberung,  sondern  durch  Vertrag  (per  pacta  et  conventa)  her- 
beigeführt worden  sei.  (Temelji  drzavnoga  prava  Hrvatskoga  kraljev- 
stva.  Fundament a  iuris  publici  regni  Croatiae.  Najstarije  doba :  Pacta 
conventa.  Zagreb  (Agram)  1910.  Tisak  kralj.  zemaijske  tiskare.  VIII 
u.  175  S.)  Er  geht  von  einer  angeblich  im  Jahre  1108  von  dem  König 
den  Bürgern  von  Trau  verliehenen  Urkunde  aus  (F^jer,  CD.  Hungariae 


214  Notizen  und  Nachrichten. 

2,  45;  CD.  regni  Croatiae  coli.  T.  Smiciklas  2,  19  Nr.  16),  deren  Fas- 
sung in  den  Urkunden  Geisas  II.  für  Spalato  vom  Jahre  1142  (Fejer 
2,  118;  CD.  regni  Croatiae  2,  49  Nr.  49)  und  Stephans  III.  für  Sebenico 
vom  Jahre  1167  {CD.  regni  Croatiae  2,115  Nr.  108)  wiederkehrt. 
Nach  seiner  Ansicht  sind  von  König  Kolomann  den  dalmatinischen 
Städten  gleichlautende  Urkunden  ausgestellt  worden,  die  auf  einer 
für  ganz  Kroatien  geltenden  Grundlage,  eben  den  pacta  et  conventa, 
beruhen.  Schon  an  diesem  Schluß  wird  man  an  und  für  sich  und  im 
besonderen  mit  Rücksicht  darauf,  daß  es  sich  um  venezianische  Städte 
handeln  würde,  Anstoß  nehmen.  Ist  zudem  die  innere  Echtheit  der 
nicht  im  Original  erhaltenen  Urkunde  ernsten  Bedenken  unterworfen, 
so  ruht  das  ganze  Gebäude  auf  einer  recht  unsicheren  Grundlage. 
In  der  Tat  hat  J.  Karäcsonyi  (Szäzadok  1910;  Vjesnik  Kr.  Hrvatsko- 
Slavonsko-Dalmatinskoga  zemaljskoga  Arkiva  1911;  Revue  de  Hongrie 
7(1911)  lOOff.;  Szäzadok \'d\2;  vgl.  Stefan  Heinlein  in  der  Ung.  Rund- 
schau 1  (1912),  686  ff.  und  D.  Gruber  im  Vjesnik  1911)  sehr  gewichtige 
kritische  Einwendungen  erhoben.  Überdies  kann  die  Art  und  Weise, 
wie  Tomasic  die  Urkunden  zergliedert  und  wie  er  aus  einzelnen  Ab-- 
sätzen  und  Worten  weitgehende  Folgerungen  ableitet,  ebensowenig  als 
zulässig  gelten  wie  die  Verbindung  dieser  schwergerüsteten  Darlegungen 
mit  einem  an  den  Schluß  gestellten  politischen  Programm  in  sieben 
Artikeln  (S.  117).  Das  hat  mit  wissenschaftlicher  Forschung  nichts 
mehr  zu  tun,  erschüttert  das  Vertrauen  in  die  Unbefangenheit  der 
gelehrten  Arbeit  und  dürfte  die  politische  Auseinandersetzung  nicht 
fördern.  Im  übrigen  enthält  die  Untersuchung  manchen  wichtigen 
Beitrag  zur  älteren  Geschichte  Kroatiens  und  Dalmatiens,  so  über 
die  von  den  Stadtbewohnern  zu  leistenden  Abgaben  (S.  9  ff.),  über 
die  Anfänge  des  kroatischen  Königtums  (S.  49  ff.),  über  die  arpädischen 
Könige  Kroatiens  (S.  72  ff.)  und  über  die  Banuswürde  (S.  98  ff.). 
Im  Anhang  sind  die  nach  der  Ansicht  des  Verfassers  für  die  staats- 
rechtlichen Fragen  wichtigen  Urkunden  und  Aufzeichnungen  abge- 
druckt. 

Graz.  K.  Uhlirz. 

In  einer  kleinen  Schrift  würdigt  G.  K  I  e  e  m  a  n  n  den  Ponti- 
fikat  Gregors  VIII.,  der  am  21.  Oktober  1187  gewählt,  am  25.  Ok- 
tober geweiht  wurde  und  schon  am  17.  Dezember  desselben  Jahres 
1187  zu  Pisa  starb.  Die  Aufmerksamkeit  Gregors  war  in  erster  Linie 
auf  das  Zustandekommen  eines  neuen  Kreuzzuges  gerichtet:  diese 
seine  Tätigkeit  nimmt  daher  in  der  vorliegenden  Abhandlung  den 
ersten  Platz  ein,  neben  ihr  Gregors  Beziehungen  zu  Friedrich  I.  und 
Heinrich  VI.,  wie  auch  seine  innerkirchlichen  Maßnahmen.  Die  Studie 
verrät  ansprechenden  Fleiß  in  der  Verwertung  des  urkundlichen  und 


Frühes  Mittelalter.  215 

historiographischen  Materials,  ohne  sich  im  übrigen  durch  allzuviel 
neue  Gesichtspunkte  oder  durch  große  Selbständigkeit  in  der  Beurtei- 
lung des  Papstes  (vgl.  bes.  S.  19  ff.,  50  ff.)  auszuzeichnen.  Nützlich 
ist  unter  den  Anhängen  der  erste  mit  seiner  Übersicht  über  die  von 
P.  Kehr,  aber  noch  nicht  von  Jaff6-Löwenfeld  verzeichneten  Urkun- 
den Gregors,  während  der  vierte  mit  dem  Hinweis  auf  eine  Vorschrift 
des  ehemaligen  Kanzlers  Albert  von  Mora  (des  späteren  Papstes  Gre- 
gor VIII.)  über  die  Anordnung  des  Rhythmus  in  den  päpstlichen 
Bullen  recht  dürftig  ausgefallen  ist  (Papst  Gregor  VIII.  1187.  Bonn, 
A.  Marcus  und  E.  Weber  1912.  62  S. ;  a.  u.  d.  T.:  Jenaer  Historische 
Arbeiten,  hersg.  von  A.  Cartellieri  und  W.  Judeich,  Heft  4).   A.  W. 

H.  Niese  macht  in  den  Nachrichten  der  K.  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  zu  Göttingen,  phil.-hist.  Klasse  1912,4  bisher  un- 
bekannte Materialien  zur  Geschichte  Friedrichs  II.  zugänglich.  Die 
mitgeteilten  Stücke,  Privilegien,  Mandate  u.  a.  m.  aus  der  Zeit  von 
1207  bis  1247  werfen  neues  Licht  auf  die  Geschichte  des  sizilischen 
Königreiches  vor  dem  ersten  Zuge  Friedrichs  II.  nach  Deutschland, 
vor  allem  aber  auf  die  Verwaltung  des  Königreiches  unter  dem  Hohen- 
staufen  selbst,  zumal  in  Fragen  der  Justiz.  Der  Finder  und  Herausgeber 
der  Stücke  hat  sie  insgesamt  in  einer  aufschlußreichen  Einleitung  er- 
läutert; aus  ihr  erheischen  die  Bemerkungen  über  die  Methode  der 
Forschung  besondere  Aufmerksamkeit. 

Unter  dem  Titel  ,, Handel  und  Wandel  in  der  Moldau  bis  zum 
Ende  des  16.  Jahrhunderts"  gibt  J.  Nistor  (Czernowitz  1912,  Uni- 
versitätsbuchhandiung  Pardini)  den  besonderen  Teil  seiner  Untersuchun- 
gen zur  moldauischen  Handels-  und  Wirtschaftsgeschichte,  deren  all- 
gemeiner Teil  ein  Jahr  zuvor  erschienen  war  (s.  H.  Z.  108,  201).  Die 
Methode  der  Untersuchung  und  das  Quellenmaterial  sind  großenteils 
dieselben  wie  früher.  In  acht  Abschnitten  werden  hier  die  handels- 
politischen Verhältnisse  (s.  besonders  den  allgemeinen  Überblick  auf 
S.  11/12),  das  moldauische  Verkehrswesen,  die  Kaufleute  (s.  51,  56 
und  58  über  die  deutschen  Kaufleute,  die  Verdrängung  der  rumäni- 
schen Kaufmannschaft  durch  die  Griechen  und  die  Einschränkung 
der  Handelstätigkeit  der  Juden),  die  Arten  und  die  Technik  des  Waren- 
umsatzes, die  Handelsgerichtsbarkeit,  Maße  und  Gewichte,  endlich 
Handelsgegenstände  und  Warenpreise  behandelt.  Die  einzelnen  Ab- 
schnitte ruhen  auf  einer  sorgsamen  Durchforschung  des  einschlägigen, 
weit  verstreuten  und  größtenteils  noch  ungesichteten  Quellenmate- 
rials und  der  älteren  und  neueren  Literatur,  deren  Verzeichnis  — 
wie  es  sich  in  dem  allgemeinen  Teile  abgedruckt  findet  —  hier  vielfach 
ergänzt  ist.  Am  gelungensten  erscheinen  uns  die  Kapitel  über  das 
Geldwesen  und  über  Maße  und  Gewichte.  J.  Loserth. 

I 


216  Notizen  und  Nachrichten. 

K.  H  a  m  p  e  ,  Ein  ungedruckter  Bericht  über  das  Konklave 
von  1241  im  römischen  Septizonium.  S.-B.  der  Heidelberger  Aka- 
demie. Philol.-hist.  Kl.,  Jahrg.  1913.  1.  Abh.  Heidelberg,  Winter. 
34  S.  1,20  M.)  —  Aus  einer  schon  früher  benutzten  Handschrift  der 
Reimser  Stadtbibliothek  gewährt  Hampe  zwei  Briefe  vom  November 
1241,  die  zur  Zeit  der  Erledigung  des  päpstlichen  Stuhles  nach  dem 
Tode  Coelestins  IV.  (gewählt  25.  Oktober  1241,  gestorben  10.  No- 
vember) zwischen  einer  in  Rom  verbliebenen  Gruppe  von  Kardinälen 
und  der  nach  Anagni  geflüchteten  Mehrheit  gewechselt  wurden.  Der 
kurzen  Aufforderung  jener,  zur  schleunigen  Neuwahl  nach  Rom  zu 
kommen,  folgt  eine  lange  Ablehnung,  begründet  auf  die  furchtbaren 
Leiden,  welche  die  Kardinäle  in  dem  jüngst  verflossenen  Konklave 
dank  der  brutalen  Gewaltmaßregeln  des  einschließenden  römischen 
Senators  Matteo  Orsini  zu  tragen  hatten.  Außerhalb  Roms  wollte 
man  in  Freiheit  wählen!  Die  erinnernde  Schilderung  an  die  zwangs- 
weise Einsperrung ,  an  die  ekelhafte  todbringende  Einzwängimg, 
an  die  Bedrohung  mit  noch  ärgeren  Schrecknissen  für  Leib  und  Seele 
ist  auch  unter  literarischem  Gesichtspunkt  bedeutsam,  inhaltlich  sehr 
wertvoll  zur  Aufklärung  der  Lage  in  kritischen  Jahren  des  Kampfes 
zwischen  Reich  und  Kirche.  Erst  mehr  als  zwanzig  Monate  nach 
dem  Tode  Cölestins  IV.,  am  25.  Juni  1243  ist  der  Kirche  in  Innocenz  IV. 
ein  neues  Haupt  erstanden.  Wenn  aber  von  Hampe  jetzt  die  Haupt- 
schuld für  den  vielbeklagten  Aufschub  nicht  mehr  den  Kardinälen 
bzw.  dem  Kaiser,  sondern  dem  brutalen  Übereifer  des  römischen 
Senators,  durch  den  das  Kollegium  sich  in  wohlbegründeter  Angst 
habe  zersprengen  lassen,  zugewiesen  wird,  so  glaube  ich  ihm  darin 
nur  mit  Einschränkung  folgen  zu  dürfen.  Unerledigt  bleibt  bei  ihm, 
wie  in  dem  eingehenden  Kapitel,  das  E.  von  Westenholz,  seine  Schü- 
lerin, noch  ohne  Kenntnis  des  vorliegenden  Berichts  in  ihrem  Buche 
„Kardinal  Rainer  von  Viterbo"  (1912)  über  die  Sedisvakanz  von 
1241 — 1243"  geschrieben  hat,  die  wichtige  Frage  nach  dem  zeitlichen 
Beginn  des  Konklaves  von  1241.  Es  geht  doch  nicht  an,  mit  dem 
Biographen  Innocenz  IV.  (Nicolaus  de  Carbio)  die  Einschließung  als 
„sofort  nach  Gregors  Tode"  (f  21.  oder  22.  August)  erfolgt  anzusehen. 
Wenn  ich  auch  die  übersehene  Angabe  Rolandins  von  Padua  von 
vierzigtägiger  Zwietracht,  die  auf  Mitte  September  führen  würde, 
ausschalte,  weil  die  Einschließung  nach  Ryccardus  von  S.  Germano 
im  Monat  August  erfolgt  ist,  so  verfließen  doch  eben  nach  seinen  An- 
gaben (M.  G.  SS.  19,  381,  28u.  32)  eine  Reihe  von  Tagen,  bis  außer- 
halb Roms  befindliche  Kardinäle,  insbesondere  Johann  Colonna,  mit 
Erlaubnis  des  Kaisers  herbeigekommen  waren.  Also  die  Kardinäle 
schaffen  nicht  wie  bei  den  drei  letzten  Wahlen  am  Todestage  oder 
an  einem  der  beiden  nächsten  Tage  ein  neues  Oberhaupt,  sie  zögern 


Späteres  Mittelalter.  217 

schon  den  Beginn  der  Wahlhandlung  hin,  vielleicht  eine  Woche  und 
mehr  —  da  geschieht  in  der  hochgespannten  Lage,  die  alle  drei  Fak- 
toren vom  rechten  Wege  abirren  läßt,  aber  auch  bis  zu  gewissem 
Grade  entlastet,  das  Außerordentliche  (Hampe  hat  es  nicht  als  sol- 
ches gekennzeichnet):  ein  weltlicher  Machthaber  schließt  zum  ersten- 
mal die  Kardinäle  ein  (ut  ad  creandum  papam  inviti  procedant,  Ryccar- 
dus  de  S.  G.),  und  so  stark  bleibt  in  den  nächsten  Jahrzehnten  die 
Parteiung,  daß  ohne  Konklaveordnung,  die  erst  1274  Gesetz  wurde, 
die  Einschließung  sich  fast  regelmäßig  wiederholt  —  trotz  der  grau- 
sigen Erinnerungen  an  das  erste  Konklave.  K.  Wenck. 

Neue  Bücher:  A  1  i  v  i  s  a  t  o  s  ,  Die  kirchliche  Gesetzgebung  des 
Kaisers  Justinian  I.  (Berlin,  Trowitzsch  &  Sohn.  5,60  M.)  —  G  ad  - 
do  n  i  eZaccherini,  Chartularium  Imolense.  Vol.  II.  (Rom, 
Bretschneider.  14,40  M.)  —  Hans  Hirsch,  Die  Klosterimmunität 
seit  dem  Investiturstreit.  (Weimar,  Böhlaus  Nachf.  6  M.)  —  Codex 
diplomaticiis  et  epistolaris  regni  Bohemiae  ed.  Gast.  Friedrich. 
Tom.  II.  Inde  ab  a.  MCXCVIII  usque  ad  a.  MCCXXX.  (Prag, 
Rivnäc.  20  M.)  —  Krammer,  Das  Kurfürstenkolleg  von  seinen 
Anfängen  bis  zum  Zusammenschluß  im  Renser  Kurverein  des  Jahres 
1338.  (Weimar,  Boehlau.  10,40  M.)  —  Mayer-Homberg, 
Die  fränkischen  Volksrechte  im  Mittelalter.  1.  Band.  (Weimar,  Böh- 
laus Nachf.  10  M.)  —  Allsho  r  n  ,  Stupor  mundi :  the  life  and  times 
of  Frederick  II.,  emperor  of  the  Romans,  king  of  Sicily  and  Jerusalem, 
J194 — 1230.    (London,  Secker.    16  sh.) 


Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

Mit  einer  Analyse  seiner  umfangreichen  Arbeit  über  Magister 
Heinrich  den  Poeten  in  Würzburg  verbindet  Herm.  G  r  a  u  e  r  t  allerlei 
Hinweise  zur  Kulturgeschichte  und  zur  Organisation  der  Kurie  (Histo- 
risches Jahrbuch  der  Görres-Gesellschaft  33,  4).   | 

Aus  der  Bibliotheque  de  l'ecole  des  chartes  1912,  September- 
Dezember  sind  wiederum  einige  in  unsere  Rubrik  fallende  Beiträge 
namhaft  zu  machen.  H.  Stein  veröffentlicht  das  Testament  des 
Erzbischofs  Peter  von  Palermo  (1283),  aus  dem  sich  u.  a.  ergibt,  daß 
dieser  zur  Zeit  der  Sizilianischen  Vesper  seines  Amtes  waltende  Kir- 
chenfürst von  Geburt  Franzose  (Pierre  de  Sainte-Foi)  gewesen  ist. 
Eine  diplomatische  Abhandlung  von  Fr.  G  a  1  a  b  e  r  t  handelt  nach 
Urkunden  für  Toulouse  über  den  Vermerk  „Cffias  sie  signata"  und 
die  Taxen  in  der  französischen  Kanzlei  des  14.  Jahrhunderts.  G. 
Ritter  teilt  aus  einem  Bande  der  Bibliothek  zu  Rouen  die  Ein- 
träge des  Journal  du  Trisor  royal  von  1423/24,  also  aus  der  Zeit  der 


218  Notizen  und  Nachrichten. 

englischen  Okkupation,  mit.  Endlich  sei  noch  die  Auseinandersetzung 
zwischen  P.  V  i  o  1 1  e  t  und  H.  Fr.  D  e  1  a  b  o  r  d  e  über  die  „En- 
seignements  de  saint  Louis  ä  son  fils"  (vgl.  H.  Z.  110,  191  und  432) 
erwähnt. 

Nachdem  sich  die  Forschung  zu  wiederholten  Malen  eindringend 
mit  dem  Verhältnisse  von  Staat  und  Kirche  in  einzelnen  deutschen 
Territorien  des  späteren  Mittelalters  befaßt  hat,  beleuchtet  E.  Schil- 
ler, Bürgerschaft  und  Geistlichkeit  in  Goslar  1290 — 1365  (Kirchen- 
rechtliche Abhandlungen,  herausg.  von  Ulr.  Stutz,  77.  Heft.  Stutt- 
gart, Ferdinand  Enke.  1912.  XXIV,  228  S.  9  M.)  zum  ersten  Male 
im  Zusammenhang  die  Beziehungen  von  Stadt  und  Kirche  in  einer 
•einzelnen  Reichsstadt.  Seine  klare  und  eindringende  Untersuchung 
führt  im  ganzen  zu  den  gleichen  Resultaten,  wie  sie  jene  Studien  ge- 
zeitigt hatten:  auch  in  Goslar  die  Vorbereitung  des  Landeskirchen- 
werkes der  Reformation  durch  das  Vordringen  der  weltlichen  gegen 
die  geistliche  Gewalt  im  späteren  Mittelalter.  Die  Kirchenpolitik  Gos- 
lars bietet  freilich  kaum  Beispiele  jener  oft  extremen  Entschieden- 
heit, durch  die  so  vielfach  die  Territorialpolitik  charakterisiert  ist; 
■ein  vorsichtiges,  auf  möglichste  Vermeidung  scharfer  Konflikte  gerich- 
tetes Regiment,  das  aber  doch  im  einzelnen  ganz  namhafte  Erfolge 
erzielte.  Besonders  beachtenswert  sind  die  Ausführungen  des  Ver- 
lassers über  die  Provisoren  oder  Prokuratoren,  Ratsvormünder,  durch 
die  der  Rat  die  gesamte  Verwaltung  des  Klosters  Neuwerk  und  in 
geringerem  Maße  auch  anderer  Stifter  und  Klöster  unter  seine  Kon- 
trolle brachte.  Im  übrigen  darf  wohl  auf  die  ausführlichere  Anzeige 
des  Unterzeichneten  in  der  Zeitschr.  d.  Savigny-Stiftung  für  Rechts- 
geschichte, kanon.  Abt.  1913,  verwiesen  werden. 

Graz.  Heinrich  R.  v.  Srbik. 

Lettres  de  Jean  XXII  (1316—1334).  Textes  et  analyses  publ. 
p.  Arnold  Fayen.  Tome  II.  1325—1334.  (Analeda  Vaticano-Bel- 
gica  Vol.  III.)  Paris-Bruxelles-Rome,  Bretschneider-Dewit-Champion 
o.  J.  XI,  980  S.  —  Über  den  zweiten  Band  des  Werkes  ist  nur  zu 
sagen,  daß  er  sich  seinem  H.  Z.  106,  198  f.  besprochenen  Vorgänger 
•würdig  anreiht.  Besonderes  Lob  verdient  wieder  das  über  zweihundert 
Seiten  starke,  gut  und  sorgfältig  gearbeitete  Register.  H.  K. 

In  den  Comptes-rendus  des  Seances  de  VAcademie  des  Inscrip- 
tions  et  Beiles- Lettres  pendant  Vannee  1912,  November  entwirft  P. 
Fournier  ein  kurzes  Lebensbild  des  Dauphins  Humbert  II.  (gest. 
1355),  nach  dessen  Tod  die  wohlvorbereitete  Einziehung  des  Landes 
durch  das  französistne  Königtum  vollzogen  werden  konnte. 

Über  Johannes  Porta  de  Annoniaco  und  sein  Buch  über  die 
Krönung  Kaiser  Karls  IV.,  das  bisher  in  der  gänzlich  unzureichenden 


Späteres  Mittelalter.  .  219 

Ausgabe  von  Höf  ler  benutzt  werden  mußte,  handelt  R.  S  a  1  o  m  o  n 
im  Neuen  Archiv  38,  1.  Der  Aufsatz  bildet  eine  Vorarbeit  für  die 
etwa  gleichzeitig  in  der  Reihe  der  Scriptores  rerum  Germanicariim 
erschienene  Neubearbeitung  des  wichtigen  Quellenwerks,  das  auf 
einer  Sammlung  der  auf  die  Krönungsangelegenheit  bezüglichen  Akten- 
stücke und  dem  Reisetagebuch  Johanns  beruht.  Alle  einschlägigen 
Fragen  werden  mit  Scharfsinn  und  Umsicht  erörtert.  —  Johann 
S  c  h  u  1 1  z  e  gibt  an  der  gleichen  Stelle  einen  kleinen  Beitrag  zur 
Kenntnis  des  Taxwesens  in  der  päpstlichen  Kanzlei  unter  Eugen  IV. 
(nach  einer  Aufzeichnung  des  Martinstifts  zu  Kassel,  jetzt  im  Mar- 
burger Staatsarchiv  befindlich). 

L.  M  i  r  0  t  kommt  mit  einem  nochmaligen  ausführlichen  Ab- 
schnitt im  Mayen  Age  1912,  November-Dezember  mit  seiner  breit 
angelegten  Arbeit:  Le  proch  du  boiteux  d'Orgemont  (vgl.  H.  Z.  106, 
432;  107,  195;  109,  650;  110,  434)  glücklich  zu  Ende.  Er  schildert 
die  Verschwörung  von  1416  und  das  Verfahren  gegen  Nikolaus,  das 
mit  Einkerkerung,  Verlust  aller  Ämter  und  Würden  und  Beschlag- 
nahme der  Güter  endete.  Auch  andere  Mitglieder  der  Familie  sind 
von  der  Rache  der  Armagnacs  ereilt  worden. 

C.  Kamm  veröffentlicht  in  der  Römischen  Quartalschrift  für 
christliche  Altertumskunde  und  für  Kirchengeschichte  26,  4  den  Schluß 
seiner  schon  öfter  (vgl.  H.  Z.  109,  443;  110,  193  u.  434)  genannten 
Arbeit  über  den  Prozeß  gegen  die  „Justificatio  Ducis  Burgundiae*' 
auf  der  Pariser  Synode  1413/14,  indem  er  namentlich  die  Argumente 
der  Gegner  und  Verteidiger  Jean  Petits  genau  wiedergibt.  Am  23.  Fe- 
bruar 1414  hat  die  Synode  ihr  Verdammungsurteil  ausgesprochen, 
doch  hat  der  Herzog  sofort  an  den  Papst  appelliert,  der  die  Ange- 
legenheit an  eine  Kardinalkommission  verwiesen  und  so  die  Verhand- 
lungen zu  Konstanz  vorbereitet  hat. 

G.  Z  a  0  1  i  schildert  in  den  Studi  e  memorie  per  la  storia  deU'uni- 
versitä  di  Bologna  Vol.  III  (1912)  den  Aufschwung,  den  die  Hoch- 
schule in  den  Jahren  1416 — 1420  unter  der  Ägide  Papst  Martins  V. 
genommen  hat.  Besonders  dankenswert  ist  die  Zusammenstellung  des 
Lehrkörpers  während  jener  Zeit  und  der  Abdruck  der  langen  Stif- 
tungsurkunde des  Collegium  Gregor ianum  durch  Papst  Gregor  XI. 
X1372).  —  Auch  die  kurzen  Mitteilungen,  die  Ferd.  Gabotto  an 
der  gleichen  Stelle  über  Angehörige  des  savoyischen  Fürstenhauses 
macht,  die  vom  Ende  des  13.  bis  zur  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  in 
Bologna  studiert  haben,  mögen  hier  noch  angeführt  werden. 

Hans  P  r  u  t  z  ,  Jacques  Coeur  von  Bourges.  Geschichte  eines 
patriotischen  Kaufmanns  aus  dem  15.  Jahrhundert.  Historische  Stu- 
KJien,  Heft  93.    Berlin,  Ebering.    1911.    VIIl  u.  438  S.    7  Tafeln.  — 


220  .      Notizen  und  Nachrichten. 

Einen  stattlichen  Band  legt  uns  Prutz  vor.  Eingehend,  ja  etwas  um- 
ständlich berichtet  er  uns  über  das  Leben  des  merkwürdigen  Mannes, 
der  in  mancher  Beziehung  an  den  großen  Florentiner  Handelsherrn 
gemahnt.  Wir  hören  von  seiner  umfassenden  Tätigkeit  als  Gewerb- 
treibender  und  Kaufmann,  als  Münz-  und  Verwaltungsbeamter,  als 
Diplomat  und  Kriegsmann,  als  Bauherr  und  Kunstfreund.  Ärgerlicher- 
weise zieht  nur  Prutz  die  neue  Literatur  nicht  heran,  ebensowenig 
allgemeinere  Werke  wie  Spezialarbeiten,  so  die  wichtigen  Recherches 
der  Fräulein  Guiraud,  die  doch  Jacques  Cceur  wesentlich  anders  auf- 
faßt (vgl.  Revue  Historique  110,85);  kein  patriotischer  Kaufmann, 
keineswegs  die  ,, Verkörperung  des  hochstrebenden  Bürgertums",  son- 
dern ein  skrupelloser  Unternehmer.  Das  letzte  Wort  bleibt  also  zu 
sagen.  —  Literaturverzeichnis,  Register  und  genaueres  Inhaltsver- 
zeichnis sollten  nicht  fehlen.  Zahlreiche  Druckfehler  sind  stehen  ge- 
blieben. O.  CartelUeri. 

Die  Archivalische  Zeitschrift  N.  F.  19  (1912)  bringt  zwei  kleinere 
Beiträge  zur  Geschichte  des  späteren  Mittelalters  von  Wilh.  Beck. 
Es  handelt  sich  einmal  um  eine  Urkunde  des  Münchener  Hausarchivs 
von  1434,  die  für  die  Kenntnis  der  Beziehungen  Herzog  Heinrichs 
des  Reichen  von  Niederbayern  zu  seinem  Sohn  Ludwig  in  Betracht 
kommt,  während  die  zweite  Arbeit  an  der  Hand  von  Gerichtsver- 
handlungen aus  den  Jahren  1464/65  einen  Zweikampf  zu  Pferd  zu 
schildern  sucht. 

Eine  bisher  ungedruckte  Schilderung  der  Kurie,  die  zugleich 
einen  nicht  unwichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  der  italienischen  Re- 
naissance darstellt,  analysiert  Richard  S  c  h  o  1  z  im  Archiv  für  Kultur- 
geschichte 10,  4.  Als  Verfasser  ergibt  sich  der  Florentiner  Humanist 
Lapo  da  Castiglione  (1405 — 1438),  Schüler  von  Bruni  und  Filelfo,  seit 
1436  Sekretär  der  Kurie,  der  diesen  seinen  „Dialogus  super  excellencia 
et  dignitate  curie  Romane  super  ceteras  policias  et  curias  antiquorum 
et  modernorum  contra  eos  qui  Romanorum  curiam  diffamant"  unmittel- 
bar vor  seinem  Tode  geschrieben  hat.  Die  Schrift  versetzt  uns  in  den 
Kampf  zwischen  dem  Basler  Konzil  und  der  Kurie,  deren  Verteidigung 
sie  bezweckt,  wenngleich  im  Vordergrund  der  ,, Widerstreit  zwischen 
mönchisch-asketischer  und  humanistischer  Weltanschauung"  steht. 
Dem  Verfasser  ist  die  Kurie  ,,die  zur  Führerin  in  der  Renaissance- 
bewegung berufene  Macht  der  Zukunft".  —  Eine  vollständige  Ver- 
öffentlichung des  Textes  wird  demnächst  in  den  Quellen  und  For- 
schungen aus  italienischen  Archiven  und  Bibliotheken  erfolgen. 

Der  „letzten  Kaiserin  von  Trapezunt  in  der  südslavischen  Dich- 
tung" widmet  Camilla  L  u  c  e  r  n  a  eine  kleine  Arbeit.  Es  handelt 
sich   um   die   in   der  serbischen    Heldendichtung  fortlebende   Helena 


Reformation  und  Gegenreformation.  221 

Kaiitaciizena,  die  nach  dem  Untergang  des  Reiches  (1462)  dem  Gatten, 
acht  Söhnen  und  einem  Neffen  als  Opfer  einer  einzigen  Hinrichtung 
ins  Grab  sehen  mußte,  während  sie  selbst  nebst  ihrer  Tochter  ver- 
schont blieb.  Die  Arbeit  sucht  den  Zusammenhang  zwischen  Geschichte 
und  Lied  herzustellen  (Zur  Kunde  der  Balkanhalbinsel.  II.  Quellen 
und  Forschungen,  Heft  4.    Sarajevo  1912.    36  S.). 

Die  Mitteilungen  des  Instituts  für  Österreich.  Geschichtsforschung 
34,  1  bringen  eine  das  spätere  Mittelalter  angehende  Abwehr  von  AI. 
Schulte:  Zur  Geschichte  des  hohen  Adels  gegen  unbegründete 
Angriffe  des  Freiherrn  O.  v.  Dungern.  — •  Von  den  kleineren  Beiträgen 
nennen  wir  noch  Joh.  Lahusen:  Die  Urkunden  über  Freiburgs 
Übergang  an  Österreich  (1368)  und  H.  Wibel:  Neues  zu  Heinrich 
Institoris. 

Mit  einem  Beitrag  zur  Geschichte  der  Juden  in  der  alten  polni- 
schen Hauptstadt  Krakau  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  beginnt 
M.  B  a  1  a  b  a  n  in  der  Monatschrift  für  Geschichte  und  Wissenschaft 
des  Judentums  1913,  Januar-Februar. 

Neue  Bücher:  H  a  u  s  s  ,  Kardinal  Oktavian  Ubaldini,  ein  Staats- 
mann des  13.  Jahrhunderts.  (Heidelberg,  Winter.  3  M.)  —  Zaoli, 
Papa  Martina  V  e  i  bolognesi.  {Bologna,  stab.  poligr.  Emiliano.)  — 
M  at  hew  ,  The  life  and  times  of  Rodrigo  Borgia,  Pope  Alexander  VI. 
{London,  Paul.    i6  sh.) 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648). 

Für  Krügers  „Handbuch  der  Kirchengeschichte"  hat  Heinrich 
H  e  r  m  e  I  i  n  k  als  dritten  Teil  die  „Reformation  und  Gegenrefor- 
mation" (XI 11,  328  S.  Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr.  1911.  4M.,  geb. 
5,60  M.)  bearbeitet,  natürlich  in  der  für  das  ganze  Unternehmen  ange- 
ordneten Form,  im  Text  der  Paragraphen  kurze  Zusammenfassungen 
zu  bieten,  alle  Details  aber  in  umfangreiche  Erläuterungen  zu  ver- 
weisen. Ebenfalls  durch  den  Gesamtplan  bedingt  war  die  zeitliche 
Umgrenzung  1450 — 1689,  also  die  ganze  sog.  Übergangszeit,  die  in 
der  Regel  als  Vorgeschichte  des  vierten  Teiles  der  Kirchengeschichte 
behandelt  wird,  einschließend.  Der  Verfasser  hat  seinen  großen  Stoff 
eingehend  und  selbständig  durchgearbeitet,  er  legt  besonderen  Nach- 
druck darauf,  die  gegenwärtig  schwebenden  Probleme  und  Kontro- 
versen klarzumachen,  ohne  die  eigene  Stellungnahme  zu  verleugnen, 
und  versteht  es  durch  geschickt  ausgewählte  Zitate  gut  zu  charakteri- 
sieren. Neben  dem  Politischen  und  Kirchengeschichtlichen  kommen 
die  allgemeinen  kulturellen  Fragen  nicht  zu  kurz.  So  wird  das  Buch 
seinen  Zweck,  Studierenden  (nicht  nur  Studenten)  ein  Wegweiser  und 


222  Notizen  und  Nachrichten. 

Anreger  zu  sein,  gut  erfüllen  können.  Ein  gewisser  lutherischer  Akzent 
über  dem  Ganzen  macht  sich  vor  allem  in  einem  ungerechten  Urteil 
über  Zwingli  und  die  schweizerische  Reformation  geltend,  und  be- 
dauerlich, auch  durch  die  Entschuldigung  im  Vorwort  nicht  ganz 
gedeckt,  ist  die  Menge  der  Nachträge  und  Druckfehler.  W.  K. 

Das  2.  Heft  der  Revue  historique  1 1 2  bringt  Renaudets 
Aufsatz  über  das  Leben  des  Erasmus  von  1506 — 1517  (vgl.  H.  Z. 
110,  437).  Die  Entwicklung  des  großen  Humanisten  war  im  Jahre 
des  Thesenanschlags  fertig  und  Erasmus  zu  neuen  Kämpfen  nicht 
aufgelegt. 

Aus  dem  ersten  Band  einer  Notarmatrikel  der  römischen  Kurie, 
der  die  Jahre  1507 — 1519  umfaßt,  veröffentlicht  Karl  Heinrich  S  c  h  ä  - 
f  e  r  im  Historischen  Jahrbuch  33, 4  die  auffallend  hohe  Zahl  der 
Namen  deutscher  Notare  (156  von  400).  Die  starke  Vertretung  des 
deutschen  Elements  in  Rom  bei  Beginn  der  Reformation  bedürfte 
einer  näheren  Untersuchung. 

Ein  instruktiver  Vortrag  von  Ernst  D  a  e  n  e  1 1  über  Kolonisation 
und  Kolonialpolitik  der  Spanier,  vornehmlich  in  Nordamerika,  ge- 
langt in  den  Hansischen  Geschichtsblättern  1912,2  zum  Abdruck. 
Er  bietet  ein  vorsichtiges,  einige  Vorurteile  zerstörendes  Bild  von 
der  spanischen  Kolonialverwaltung,  die  sich  in  mancher  Hinsicht 
(namentlich  in  der  Indianerschutzgesetzgebung)  vorteilhaft  von  der- 
jenigen anderer  Völker  unterschied,  und  verfolgt  die  Beziehungen 
zu  den  Franzosen,  Holländern  und  Engländern  sowie  die  Entwicklung 
der  Kolonisation  bis  zum  Abfall  im  19.  Jahrhundert. 

In  Nr.  37  des  Archivs  für  Reformationsgeschichte  (10.  Jahrg.,  1) 
beendet  K.  Pallas  seinen  Aufsatz  über  den  Reformationsversuch 
des  Didymus  in  Eilenburg  1522—1525  (vgl.  H.  Z.  110,666)  durch  den 
Abdruck  von  acht  weiteren  Aktenstücken.  Hans  Becker  gibt  einen 
Beitrag  zur  Lebensgeschichte  des  1529  entlassenen  Zwickauer  Predi- 
gers Paul  Lindenau,  indem  er  einen  Brief  des  Kurprinzen  Johann 
Friedrich  von  Sachsen  über  den  Hergang  bei  dieser  Entlassung  ver- 
öffentlicht (v.  21.  März  1529,  vgl.  Mentz,  Joh,  Fried.  1,41  Anm.  1). 
A.  Scholz  untersucht  das  gegenseitige  Verhältnis  der  Kirchen- 
ordnungen Bugenhagens,  d.  h.  insonderheit  der  drei  großen,  von 
Bugenhagen  1528 — 1531  verfaßten  Ordnungen  von  Braunschweig, 
Hamburg  und  Lübeck,  sowie  einiger  kleineren,  bei  denen  er  wenigstens 
mitgewirkt  hat;  die  Braunschweiger  Ordnung  war  grundlegend  für 
die  späteren,  die  jedoch  keineswegs  nach  der  Schablone  gearbeitet 
sind,  sondern  auf  die  zeitlich  und  örtlich  veränderten  Verhältnisse 
Rücksicht  nehmen.  W.  Friedensburg,  der  im  I.Band  der 
Nuntiaturberichte   die   Akten   über   die  Nuntiaturen  Vergerios  (1533 


Reformation  und  Gegenreformation.  223 

bis  1530)  publiziert  hat,  macht  in  einem  Aufsatz  „Vergeriana"  Mit- 
teilungen aus  ungedruckten  Briefen  Vergerios  1534 — 1550,  die  für 
die  Umstände,  unter  denen  dieser  sich  alimählich  zum  Protestantis- 
mus gewendet  hat,  von  Belang  sind.  Otto  Giemen  druckt  aus  einer 
Wiener,  ehemals  im  Besitz  des  Johann  Fabri  gewesenen  Handschrift 
kirchliche  Reunionsvorschläge,  die  er  dem  Georg  Witzel  zuschreibt,  ab- 
sie  sind  laut  Eingangsvermerk  am  9.  Mai  1540  dem  Schreiber,  den 
Clemen  für  Fabri  hält  (doch  vermißt  man  eine  Untersuchung  der 
Schrift),  übergeben  worden  und  waren  laut  einer  Notiz  am  Schluß 
dem  Kaiser  von  Luther  übersandt  worden  (ob  diese  Notiz  freilich  zu- 
trifft, erscheint  mir  zweifelhaft,  und  eine  Hypothese  über  die  Ge- 
legenheit, bei  der  die  Übersendung  geschah,  halte  ich  für  irrig).  Th. 
Wotschke  schließlich  veröffentlicht  einen  Brief  des  Joh.  Auri- 
faber  an  Albrecht  von  Preußen  (1563),  der  uns  einen  Blick  in  die 
wissenschaftliche  Tätigkeit  des  Schreibers  tun  läßt.  R.  H. 

Von  dem  hessischen  Reformator  Adam  Krafft  (1493 — 1558) 
entwirft  F.  W.  S  c  h  a  e  f  e  r  im  Archiv  f.  Hessische  Gesch.  u.  Alter- 
tumskunde N.  F.  8  eine  aus  archivalischen  Studien  erwachsene  Dar- 
stellung, die  es  zunächst  mit  seiner  Jugend  und  seiner  Tätigkeit  als 
Hofprediger  und  Visitator  der  hessischen  Kirche  bis  1530  zu  tun  hat. 

Die  Fortsetzung  der  Beiträge  zur  Geschichte  der  Reformation 
in  Iglau  von  Ferd.  Schennerin  der  Zeitschr.  des  deutschen  Vereins^ 
f.  d.  Gesch.  Mährens  u.  Schlesiens  16  (vgl.  H.  Z.  108,  697)  betrifft  den 
Sieg  des  Protestantismus  1523 — 1567  sowie  die  Frage  der  Kollatur 
von  St.  Jakob,  einen  Streitfall  aus  der  beginnenden  Gegenreformation. 

Trotz  der  Gründe,  die  im  Vorwort  von  H.  Lehr,  La  riforme 
et  les  eglises  reformees  dans  le  departement  actuel  d'Eure-et-Loir  (1523 
— 1911),  Paris,  Fischbacher.  1912.  VI  u.  595  S.,  angegeben  werden, 
ist  es  kein  glücklicher  Gedanke,  die  Grenzen  eines  heutigen  Departe- 
ments der  Geschichte  reformierter  Kirchen  zugrunde  zu  legen.  Das 
entspricht  zwar  wahrscheinlich  gewissen  praktischen  Bedürfnissen,  be- 
raubt aber  die  Geschichte  der  Gemeinden  bis  zur  Revolution  —  und 
das  ist  doch  die  nach  Inhalt  und  Umfang  weitaus  wichtigere  Zeit  — 
jedes  festen  Haltes  und  selbst  des  gehörigen  Zusammenhanges,  den 
die  alten  staatlichen  und  kirchlichen  Einteilungen  geben.  Es  ist  auch, 
gar  nicht  zu  vermeiden,  daß  eine  Anzahl  wichtiger  Gesichtspunkte 
zur  Beurteilung  des  inneren  Lebens  der  Gemeinden  bei  diesem  Ver- 
fahren keineswegs  genügend  zur  Geltung  kommt.  Nur  wenn  die  Ge- 
schichte einer  Institution  seit  der  Einführung  der  modernen  Departe- 
ments-Einteilung die  weitaus  bedeutendere  wäre,  hinter  der  diejenige 
im  ancien  rigime  beinahe  verschwände,  könnte  ein  solches  Vorgehen 
berechtigt  sein.    Aber  das  wird  bei  der  Geschichte  der  französischen 


224  Notizen  und  Nachrichten. 

protestantischen  Kirchen  wohl  nie  der  Fall  sein.  —  Eines  anderen 
Vorteils  hat  sich  der  Verfasser  dadurch  begeben,  daß  er  die  Landschaft 
und  ihre  Geschichte  fast  ganz  aus  dem  örtlichen  und  geistigen  Zu- 
sammenhang mit  der  allgemeinen  französischen  Geschichte  und  be- 
sonders derjenigen  der  reformierten  Kirchen  herausreißt.  Auch  sonst 
kann  die  besonders  im  Anfang  gar  zu  annalistisch  gehaltene  Dar- 
stellung nicht  immer  befriedigen,  so  hört  man  fast  nichts  über  die 
theologischen  Ansichten  der  Pastoren  und  über  ihre  Schriften,  und 
«ine  apologetische  Tendenz  macht  sich  hin  und  wieder  störend  fühlbar. 
Bemerkenswert  sind  mancherlei  statistische  Angaben,  auch  hebt  sich 
das  Kapitel  über  die  Dragonnaden  vorteilhaft  ab.  A.  Elkan. 

„Die  Stellung  Kursachsens  und  des  Landgrafen  Philipp  von 
Hessen  zur  Täuferbewegung"  behandelt  Paul  W  a  p  p  1  e  r  in  Heft  13 
und  14  der  Reformationsgeschichtlichen  Studien  und  Texte,  herausg. 
von  Jos.  Greving  (XI,  254  S.  Münster,  Aschendorff.  1910.  6,80  M.). 
Benutzt  sind  die  Akten  des  Weimarer,  Dresdener,  Meininger,  Mühl- 
hausener  und  Magdeburger  Archivs  und  dargestellt  die  Konfliktsfälle 
zwischen  der  sächsischen  und  hessischen  Regierung  in  den  von  beiden 
gemeinsam  regierten  Gebieten,  vor  allem  in  Hausbreitenbach,  Mühl- 
hausen, Gemünden,  Berka.  Sachsen  unter  der  Leitung  seiner  Theo- 
logen, deren  Vorkämpfer  Justus  Menius  ist,  wird  in  der  Bestrafung 
der  Täufer  immer  schärfer  und  stellt  sich  ganz  auf  den  Boden  der 
kaiserlichen  Mandate,  während  der  Landgraf  von  Hessen  es  nicht 
über  sich  bringt,  jemanden  um  des  Glaubens  willen  hinrichten  zu 
Jassen,  es  mit  Religionsgesprächen  durch  Bucer  versucht  und  schließ- 
lich, gedrängt,  für  den  äußersten  Fall  der  Hartnäckigkeit  die  Hinrich- 
tung zusagt,  aber  tatsächlich  nicht  ausführt.  So  bietet  Wappler  einen 
wertvollen  Beitrag  zu  der  Frage:  Reformation  und  Ketzerprozeß  und 
hält  auch  diesen  grundsätzlichen  Gesichtspunkt  im  Auge,  wenn  er 
sich,  abgesehen  vom  Texte,  in  besonderem  Exkurse  mit  O.  Ritschi, 
Böhmer,  Hermelink  und  Hunzinger  auseinandersetzt  und  (mit  Recht) 
betont,  daß  Luther  die  Täufer  nicht  nur  als  Aufrührer  bestraft  wissen 
wollte,  sondern  schon  auf  ihre  einfache  Lehrmeinung  hin  die  Todes- 
strafe gesetzt  wünschte;  nur  ist  das  nicht,  wie  Wappler  meint,  unter 
dem  Titel  der  Ketzerei,  sondern  unter  dem  der  Gotteslästerung  ge- 
schehen —  ein  für  die  Weiterentwicklung  bedeutsamer  Unterschied! 
Von  den  mitgeteilten  Aktenstücken  sei  ein  Traktat  Melchior  Rinks 
herausgehoben.  W.  K. 

Ein  neuer  Aufsatz  von  H.  G  r  i  s  a  r  ,  Lutherstimmung  und 
Kritik  (Stimmen  aus  Maria-Laach  1913,3;  vgl.  H.  Z.  110,  665)  sucht 
die  Wendung  von  den  „Schlichen  und  Fehltritten"  in  Luthers  Schrei- 
ben an  Melanchthon  vom  28.  August  1530  ins  rechte  Licht  zu  stellen, 


Reformation  und  Gegenreformation.  225 

mit  dem  Bestreben,  zwischen  einseitigen  Ausnützungen  die  Mitte  zu 
halten. 

Otto  Giemen,  Eine  Erfurter  Teufelsgeschichte  von  1537  (Ar- 
chiv f.  Kulturgesch.  10, 4)  druckt  einen  Bericht  Mechlers  über  die 
Bekehrung  eines  Erfurter  Bürgers,  der  sich  dem  Teufel  verschrieben 
hatte  —  einen  Vorgang,  für  den  sich  auch  Luther  und  Justus  Jonas 
interessiert  haben. 

Die  durch  Franz  J  o  s  t  e  s  angeregte  Münstersche  Dissertation 
von  Hermann  Grutkamp,  Johannes  Holtmann  und  sein  Buch 
„Van  waren  geistliken  levene  eyn  körte  underwijsinge"  (1912)  hat  einen 
heftigen,  der  persönlichen  Spitze  nicht  entbehrenden  Kampf  zwischen 
Jostes  und  Kl.  L  ö  f  f  1  e  r  entfacht.  Löffler  veröffentlichte  im  Literar. 
Handweiser  1912  Nr.  14  eine  ziemlich  ablehnende  Kritik  der  Disser- 
tation, und  in  ähnlichem  Sinne  sprach  sich  auch  L.  Schmitz- 
Kallenberg  aus  (Westfalen  1912).  Dagegen  verteidigt  Jostes  in 
der  Zeitschr.  f.  vaterländ.  Gesch.  u.  Altertumskunde  Westfalens  70,  1 
die  Arbeit  Grutkamps;  eine  Erwiderung  von  Löffler  und  eine  Replik 
von  Jostes  stehen  am  gleichen  Ort.  Es  handelt  sich  in  der  Haupt- 
sache, wenn  wir  von  allem  Beiwerk  absehen,  darum,  daß  Jostes  den 
Einfluß  der  frühreformatorischen  Schriften  auf  den  angesehenen  katho- 
lischen Theologen  Holtmann  zu  Münster  (f  1540)  und  sein  1539/40 
geschriebenes  Buch  vom  geistlichen  Leben  höher  einschätzt  als  Löffler, 
der  die  Beziehungen  zur  Reformation  wohl  allzusehr  einzuengen  sucht. 

—  In  derselben  Nummer  der  zuletzt  genannten  Zeitschrift  bringt 
Löffler  Ergänzungen  und  Verbesserungen  zu  Hamelmanns  Re- 
formationsgeschichte der  Stadt  Höxter  (1533 — 1555),  sowie  Mittei- 
lungen über  die  Anfänge  des  hebräischen  Unterrichts  in  Westfalen. 

R.  H. 
Die  Einziehung  und  Verpfändung  der  Klostergüter  in  Branden- 
burg begegnete  nur  im  Nonnenkloster  Heiligengrabe  (Prignitz),  wo 
die  Äbtissin  Anna  von  Quitzow  die  Unterstützung  des  Landadels 
fand,  heftigem  Widerstand.  Den  erbitterten  Kampf  um  das  Kloster 
(1542 — 1544  und  1549)  schildert  Fritz  Curschmann  in  den  For- 
schungen zur  Brandenburgischen  und  Preußischen  Geschichte  25, 2 
nach  den  bisher  wenig  benutzten  Akten  im  Berliner  Staatsarchiv. 
Der  Aufsatz  bietet  einen  charakteristischen  Beitrag  zur  Reformations- 
und Ständegeschichte  der  Mark. 

Boleslaw  K  u  d  e  1  k  a  schildert  im  „Kwartalnik  hist."  (26, 
S.  13  ff.)  ausführlicher  die  von  Jorga  sehr  knapp  dargestellte  poli- 
tische   Rolle    des    „Herakliden"    Jakob    Despota    (f  1563),    der 

—  ähnlich  wie  später  der  erste  Pseudodemetrius  —  ohne  eigene  Mittel 
ein  Reich  gewann,  aber  bald  ein  Ende  mit  Schrecken  nahm.    Dieser 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  13.  Bd.  15 


226  Notizen  und  Nachrichten. 

griechische  Abenteurer  erlangte  durch  Melanchthon  und  andere  deutsche 
Protestanten  Beziehungen  zu  Albrecht,  dem  Herzog  in  Preußen,  der 
ihm  bis  zuletzt  treue  Freundschaft  bewahrte.  Der  polnische  Magnat 
Johann  Albrecht  Laski,  der  Sohn  des  bekannten  ungarischen  Diplo- 
maten, erwarb  ihm  die  Hilfe  der  polnischen  Dissidenten  und  der  Habs- 
burger; und  so  gelang  es  dem  „Herakliden"  trotz  der  Feindschaft 
des  Polenkönigs  und  des  jungen  Zapolja,  die  Moldau  zu  erobern  (1561) 
und  sogar  die  türkische  Anerkennung  zu  finden.  Da  er  aber  gleich- 
zeitig dem  Sultan  wie  dem  Kaiser  gefällig  scheinen  mußte,  wurde  er 
beiden  verdächtig.  Zudem  lud  er  die  Rache  des  Laski  auf  sich  und 
erregte  durch  reformatorische  Neigungen  das  Mißtrauen  seiner  Bo- 
jaren. So  verlor  er  schließlich  durch  eine  Erhebung  der  Moldauer 
Land  und  Leben;  in  seinen  Sturz  wurde  der  berühmte  litauische 
Magnat  und  Kasakenfürst  Dimitri  Wisniowiecki  mitgerissen. 

E.  Missalek. 
An  die  Eroberung  von  Delmenhorst  durch  den  Grafen  Anton 
von  Oldenburg  1547  schloß  sich  ein  Prozeß,  den  der  Bischof  von  Mün- 
ster, der  bisherige  Herr  von  Delmenhorst,  gegen  Oldenburg  anstrengte, 
und  der  zuerst  (1548)  vor  dem  Reichshofrat,  dann  seit  1549  vor  dem 
Reichskammergericht  geführt  und  erst  1670  (!)  zugunsten  Oldenburgs 
entschieden  wurde.  August  F  r  e  s  e  schildert  die  außerordentlich 
langwierigen  Verhandlungen  im  Jahrbuch  f.  d.  Gesch.  des  Herzog- 
tums Oldenburg  21  auf  Grund  der  umfangreichen  Akten. 

Ein  Aufsatz  von  Jean  B  r  i  c  h  e  t  über  die  Eroberung  der  Drei 
Bistümer  (Metz,  Toul  und  Verdun  durch  Frankreich  1550 — 1559)  in 
den  Marches  de  l'est  4,  19  zeichnet  sich  lediglich  durch  die  chauvini- 
stische Tendenz  aus,  die  ein  integrierender  Bestandteil  dieser  Zeit- 
schrift ist. 

Während  die  Geschichte  des  Protestantismus  in  der  Guyenne 
sonst  erst  um  1560  einsetzt,  vermag  de  France  im  Bulletin  de  la 
soc.  de  Vhist.  du  protestantisme  frang.,  Jan.-Febr.  1913,  ein  Testament 
von  1550  bekanntzumachen,  das  von  einer  für  die  Reformation  ge- 
wonnenen Dame  aus  Montauban  herrührt.  Ebenda  gibt  M.  L  u  t  - 
h  a  r  d  eine  ausführliche  Geschichte  der  Protestanten  in  St.  Andre- 
de-Sangonis  (bei  Gignac,  Dep.  Herault)  1562 — 1873;  andere  Orte  der 
Nieder-Languedoc  sollen  folgen.  J.  P  a  n  n  i  e  r  handelt  über  die 
Protestanten  zu  Bordeaux  1603 — 1605  nach  den  Berichten  des  eng- 
lischen Gesandten  Parry. 

G.  Constant,  von  dem  wir  eine  Reihe  kenntnisreicher  Auf- 
sätze über  Reformation  und  Katholizismus  in  England  haben  (vgl. 
H.  Z.  108,  209  u.  441 ;  109,  448),  handelt  in  der  Revue  historique  112,  1 
über  den  Anfang  der  katholischen  Restauration  Marias  der  Katholi- 


Reformation  und  Gegenreformation.  227 

sehen  1553,  hauptsächlich  auf  Grund  verschiedener  Gesandtschafts- 
berichte. Die  Rückführung  des  Katholizismus  war  leichter  als  die 
Wiederherstellung  der  Obödienz  gegen  Rom,  und  nur  erstere  wurde 
bis  Ende  1553  vollzogen. 

Daß  auch  nach  dem  Vordringen  des  Luthertums  in  Süddeutsch- 
land sich  Reste  von  Anschauungen  und  Bräuchen  der  Zwinglianer 
hier  gehalten  haben,  zeigt  eine  lutherisch-schweizerische  Mischagende 
von  1560,  über  die  H.  W  a  1  d  e  n  m  a  i  e  r  in  der  Monatschrift  für 
Gottesdienst  und  kirchliche  Kunst  18,  3  berichtet.  Sie  galt  in  einigen 
Orten  des  Kraichgaus  (heute  Kreis  Heidelberg). 

In  Ergänzung  seiner  „Akten  und  Korrespondenzen  zur  Geschichte 
der  Gegenreformation  in  Innerösterreich"  handelt  J.  Loserth  in 
den  Mitteil,  des  Instit.  für  österr.  Geschichtsforsch.  34,  1  über  die 
Protokolle  der  Land-  und  Hof  rechte  aus  den  Jahren  1583 — 1601. 

Eine  zusammenfassende  Geschichte  und  Würdigung  der  Uni- 
versität Altdorf  bei  Nürnberg  von  Ewald  Reinhard  im  Histori- 
schen Jahrbuch  33,  4  ist  mit  Dank  zu  begrüßen.  Der  Eröffnung  der 
Universität  1623  war  die  Errichtung  eines  Gymnasiums  (1571 — 1575) 
und  dessen  Ausbau  zu  einer  Akademie  (1578 — 1580)  vorangegangen. 
Im  17.  Jahrhundert  hat  es  die  Universität  und  namentlich  die  medi- 
zinische Fakultät  zu  verhältnismäßiger  Blüte  gebracht,  im  18.  Jahr- 
hundert folgte  der  Niedergang,  1809  wurde  sie  geschlossen,  1818  end- 
gültig aufgehoben.  Auch  über  die  innere  Einrichtung,  die  namhaf- 
teren Professoren,  das  studentische  Leben  gibt   Reinhard  Aufschluß. 

Die  Beziehungen  des  Kardinals  Franz  von  Dietrichstein  zu 
Kaiser  Ferdinand  II.  und  Papst  Urban  VIII.  (1621—1636)  untersucht 
Albert  Rille  in  der  Zeitschr.  des  deutschen  Vereins  f.  d.  Gesch. 
Mährens  und  Schlesiens  16.  Es  handelt  sich  hauptsächlich  um  die 
Bemühungen  des  Kardinals,  Protector  Germaniae  zu  werden.  — 
Ebenda  druckt  J.  Loserth  sieben  Briefe  über  die  Drangsalierung 
Nordmährens  durch  die  Schweden  1646 — 1648  mit  einem  Bericht 
,,Wie  Tampier  in  Mähren  gehaust"  (1619). 

Die  Vorgänge  bei  der  Belagerung  von  La  Rochelle  durch  Lud- 
wig XIII.  und  Richelieu  1627 — 1628  erfahren  neue  Beleuchtung  durch 
eine  Reihe  von  Briefen,  die  Louis  Delavaud  in  den  Archives  histo- 
riques  de  la  Saintonge  et  de  l'Aunis  43  veröffentlicht.  Es  sind  19  Briefe 
des  Staatssekretärs  Ph.  d'Herbault  und  seines  ersten  Direktors  P. 
Ardier  aus  dem  königlichen  Lager  an  den  Marschall  d'Estr^es,  No- 
vember 1627  bis  Juni  1628,  zwei  Briefe  des  Königs  und  einer  des 
Siegelbewahrers  Marillac  an  Richelieu  April  und  Mai  1628,  sowie 
schließlich  noch  ein  Brief  Ardiers  über  den  Tod  Herbaults,  Mai  1629 
(S.   173  ist  das  Jahresdatum  verdruckt).  —  Ed.   Rott  beginnt  in 

15* 


228  Notizen  und  Nachrichten. 

der    Revue   historique    112,2    eine    archivalische    Untersuchung    über 
Richelieu  und  den  Plan  einer  Annexion  der  Stadt  Genf  1631 — 1632. 

Der  3.  Band  der  Studi  e  memorie  per  la  storia  deiraniversitä  di 
Bologna  enthält  einen  instruktiven,  auf  archivalischer  Grundlage  ruhen- 
den Aufsatz  von  Emilio  Costa,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Bolog- 
neser Studiums  im  17.  Jahrhundert.  Wir  sehen,  wie  die  studenti- 
schen Verbände  (Nationen)  leere  Schemen  ohne  Wirksamkeit  werden, 
wie  die  Kurie  es  versteht,  der  Freiheit  des  Senats  schwere  Fesseln 
anzulegen,  und  wie  die  Universität  schlimme  Kämpfe  mit  den  Jesuiten 
und  mit  den  päpstlichen  Legaten  zu  bestehen  hat. 

In  etwas  umständlicher  Weise  schildert  auf  Grund  umfangreicher 
archivalischer  Forschungen  E.  S  a  u  1  n  i  e  r  in  seiner  Studie  „le  röle 
politique  du  cardinal  de  Bourbon  {Charles  X)  1523—1590  (Paris  1912. 
VI  u.  324  S.)  das  Leben  dieses  französischen  Kirchenfürsten,  der 
lediglich  infolge  seiner  nahen  Verwandtschaft  zum  französischen 
Königshause  in  den  inneren  Wirren  des  damaligen  Frankreich  eine 
gewisse  Rolle  gespielt  hat.  Als  —  allerdings  ungekrönter  —  König 
der  Liga  ist  er  im  Mai  1590  als  Gefangener  seines  Neffen,  Heinrich  IV., 
gestorben,  und  dieses  Schicksal  ist  bezeichnend  gewesen  für  sein  ge- 
samtes früheres  politisches  Leben:  er  war  stets  das  Werkzeug  anderer, 
ausgespielt  zu  selbstsüchtigen  Zwecken  von  den  größten  Parteien  des 
Landes;  von  Katharina  Medici,  die  sogar  mit  dem  Plane  umging,  nach 
dem  Tode  Heinrichs  II.  den  Kardinal  zu  heiraten,  wogegen  jedoch 
die  Kurie  Einspruch  erhob;  besonders  aber  von  Heinrich  Guise,  dem 
Führer  der  Liga.  Im  Herzen  lebte  in  ihm  ein  tiefes  dynastisches  Ge- 
fühl, und  nur  seine  große  Anhänglichkeit  an  die  katholische  Kirche 
und  ihren  Glauben,  sein  starker  Abscheu  gegen  den  Protestantismus, 
die  einzigen  Momente,  in  denen  er  sich  stets  treu  geblieben  ist,  haben 
ihn  in  die  Reihen  der  Fronde  getrieben.  Wohl  gefühlt  hat  er  sich  in 
diesen  Kreisen  nicht,  und  er  konnte  das  um  so  weniger,  als  sein  Name 
von  den  Guisen  mißbraucht  wurde,  um  ihrem  Kampf  gegen  Hein- 
rich III.,  um  ihren  landesverräterischen  Verbindungen  mit  dem  König 
von  Spanien  einen  gewissen  legitimistischen  Anschein  zu  geben.  Ir- 
gendwelchen Einfluß  hat  der  Kardinal  niemals  ausgeübt:  es  ist  be- 
zeichnend, daß  er  von  dem  entscheidenden  Manifest  der  Liga  von 
Peronne  vom  März  1585,  das  in  seinem  Namen  ausging,  erst  Kennt- 
nis erlangt  hat,  als  es  längst  durch  den  Druck  verbreitet  war.  In 
seiner  Hilflosigkeit  und  Charakterlosigkeit  bietet  er  mehr  eine  komische 
als  eine  tragische  Figur,  und  man  darf  wohl  die  Frage  aufwerfen,  ob 
es  wirklich  nötig  war,  in  solcher  Umständlichkeit  längst  Bekanntes 
wieder  zu  erzählen,  nur  um  stets  aufs  neue  zu  betonen,  daß  die  Per- 
sönlichkeit des   Kardinals  von  Bourbon  auf  die  Entwicklung  der  so 


1648—1789.  229 

breit  geschilderten  Vorgänge  gar  keinen  Einfluß  ausgeübt  hat.  Sein 
einziges  Verdienst  um  Frankreich  ist  ein  indirektes:  indem  die  Liga 
ihn,  der  als  Gefangener  nichts  leisten  konnte,  zum  König  ausrief,  hielt 
sie  jüngere  und  tatkräftigere  Elemente  von  diesem  Posten  fern,  er- 
leichterte sie  damit  Heinrich  IV.  den  Sieg  über  seinen  inneren  Gegner. 
Halle  a.  S.  Adolf  Hasenclever. 

Neue  Bücher:  Documents  relatifs  au  rkgne  de  Louis  XII  et  ä 
sa  politique  en  Italie  publies  par  Lion  G.  P i  l  i s s  i er.  (Montpel- 
lier, impr.  ginirale  du  Midi.)  —  H  olmqui  st ,  Luther,  Loyola, 
Calvin  i  deras  reformatoriska  genesis.  (Lund,  Gleerup.  2,50  Kr.)  — 
Niederländische  Akten  und  Urkunden  zur  Geschichte  der  Hanse  und 
zur  deutschen  Seegeschichte,  bearb.  von  Rud.  H  ä  p  k  e.  1.  Bd.: 
1531—1557.  (München,  Duncker  &  Humblot.  39,60  M.)  —  Nun- 
tiaturberichte  aus  Deutschland  nebst  ergänzenden  Aktenstücken. 
IV.  Abtlg.  17.  Jahrh.  Die  Prager  Nuntiatur  des  Giovanni  Stefano 
Ferreri  und  die  Wiener  Nuntiatur  des  Giacomo  Serra  (1603 — 1606). 
2.  Hälfte.    Bearb.  von  Arnold  Osk.  Meyer.   (Berlin,  Bath.   22,50  M.) 


1648—1789. 

Es  ist  nicht  möglich,  auf  dem  knappen  Raum  einer  Anzeige  den 
wissenschaftlichen  Ertrag  zu  verzeichnen,  den  die  von  H.  Rachel 
bearbeitete  „Handels-,  Zoll-  und  Akzisepolitik  Brandenburg-Preußens 
bis  1713"  {Acta  Borussica,  Denkmäler  der  preußischen  Staatsver- 
waltung im  18.  Jahrhundert,  herausgegeben  von  der  Kgl.  Akademie 
der  Wissenschaften.  Die  einzelnen  Gebiete  der  Verwaltung:  Han- 
dels-, Zoll-  und  Akzisepolitik,  Bd.  1,  Berlin  1911,  XIX  u.  922  S., 
mit  einer  Karte  des  mittleren  Staatsgebiets)  bringt;  es  sei  daher 
nur  kurz  auf  den  Inhalt  verwiesen.  Das  erste  Buch  behandelt  in 
zwei  Teilen  die  wenig  erfolgreiche  Zoll-  und  Handelspolitik  der  terri- 
torialen Zeit.  Im  zweiten  Buch  wird  die  Zoll-  und  Handelspolitik 
in  den  brandenburgischen  Territorien  von  1640  bis  1713  geschildert; 
hier  werden  die  Versuche  erzählt,  die  neuerworbenen  Gebiete,  soweit 
sie  mit  der  Mark  in  territorialem  Zusammenhang  standen,  dem  alten 
Wirtschaftssystem  einzugliedern  —  doch  sei  auf  die  grundlegende 
Darstellung  der  in  den  meisten  Büchern  über  die  preußische  Han- 
delspolitik vernachlässigten  Handels-  und  Zollgeschichte  in  den  ent- 
legenen ostpreußischen  und  rheinisch-westfälischen  Besitzungen  be- 
sonders aufmerksam  gemacht;  es  handelt  sich  dabei  vor  allem  darum, 
mit  den  alten  Mitteln  der  territorialen  Wirtschaftspolitik  eine  Be- 
lebung des  darniederliegenden  Handels  zumal  auf  den  Wasserstraßen 
zu  erzielen.    Aber  schon  in  diesem  Buche  zeigt  sich  oft,  z.  B.  bei  der 


230  Notizen  und  Nachrichten. 

Geschichte  des  „Neuen  Grabens",  wie  neue  Gesichtspunkte  die  alt- 
territoriale,  wesentlich  noch  vom  städtischen  Interesse  ausgehende 
Wirtschaftspolitik  verdrängen.  Dieses  Neue  beherrscht  dann  das 
dritte  Buch,  das  ,,Die  Elemente  und  Anfänge  gesamtstaatlicher  Wirt- 
schaftspolitik" darstellt.  Die  großen  Umrisse  sind  ja  längst  bekannt, 
der  enge  Zusammenhang  der  gesamtstaatlichen  Machtpolitik  und  ihres 
Geldbedarfs  mit  der  neuen,  Handel  und  Industrie  pflegenden  Wirt- 
schaftspolitik und  die  Bedeutung  der  Akzise  als  des  beide  Interessen 
verbindenden  Gliedes;  trotzdem  ist  die  wohl  abschließende  Unter- 
suchung des  Einzelnen  von  erheblichem  wissenschaftlichen  Interesse, 
weil  sie  uns  einen  viel  tieferen  Einblick  in  die  Schwierigkeiten  des 
Neuen,  in  die  allmähliche  Ausgestaltung  der  Akzise  aus  einer  Steuer- 
quelle zum  Werkzeug  der  Schutzzollpolitik  verschafft.  —  Das  Werk 
baut  sich  vor  allem  auf  umfassendem  Aktenstudium  auf,  gibt 
aber  die  Resultate  der  Forschung  in  einer  trotz  aller  Sprödigkeit 
des  Stoffes  gut  geschriebenen,  von  voller  Beherrschung  des  Stoffes 
zeugenden  Darstellung  wieder.  Wohl  mit  Rücksicht  auf  den  Charakter 
des  Buches  als  einer  Veröffentlichung  der  Akademie  hat  sich  Rachel 
streng  an  die  Form  einer  relatio  ex  actis  gehalten  und  auf  eine  ver- 
gleichende Betrachtung  der  Entwicklung  in  anderen  Ländern  selbst 
da  verzichtet,  wo  sie  nahegelegen  hätte;  dagegen  hat  er  den  engen 
Zusammenhang  zwischen  der  staatlichen  und  der  wirtschaftspolitischen 
Entwicklung  klar  herausgearbeitet.  Sein  Werk  wird  zweifellos  für 
lange  Zeit  maßgebend  für  die  Erforschung  der  gesamten  territorialen 
Wirtschaftsgeschichte  sein.  F.  Härtung. 

Einen  Zug  zum  Charakterbilde  Augusts  des  Starken  liefert 
Stanislaw  P  i  o  t  r  o  w  i  c  z  (Kwart.  hist.  26,  S.  83  ff.).  Er  ver- 
öffentlicht Aufzeichnungen  des  Königs  über  dessen  ernstliche  Be- 
mühungen, „Pohlen  in  Flor  und  in  Ansehung  gegen  seine  Nachbaren 
zu  sehzen",  E.  M. 

Graf  S  c  h  1  i  e  f  f  e  n  t,  Friedrich  der  Große.  Zur  zweihundert- 
jährigen  Wiederkehr  des  Tages  seiner  Geburt.  124  S.  Berlin  1912. 
E,  S.  Mittler  &  Sohn.  —  Der  frühere  Chef  des  preußischen  General- 
stabs, Generalfeldmarschall  Graf  Schlieffen,  gibt  hier  auf  Grund  der 
Arbeiten  der  kriegsgeschichtlichen  Abteilung  des  Großen  General- 
stabs einen  schnellen  Überblick  über  die  drei  schlesischen  Kriege. 
Die  Beschaffenheit  der  Armeen  und  die  damit  in  Zusammenhang 
stehenden  großen  Streitfragen  über  die  friderizianische  Strategie  und 
Taktik  werden  nicht  erörtert,  sondern  nur  der  Verlauf  der  Feldzüge 
und  Schlachten  geschildert.  Hier  verrät  jedes  Wort  den  Fachmann; 
in  der  Anschaulichkeit  der  Darstellung,  der  Knappheit  der  Sprache, 
der  Schärfe  des  Urteils  und  der  Klarheit  der  26  Kartenskizzen  ist 


1648—1789.  231 

diese  Schrift  unübertrefflich  und  mustergültig.  Um  so  mehr  sticht 
davon  die  Erzählung  der  politischen  Ereignisse  an  der  Hand  der 
Carlyleschen  Biographie,  nur  unter  gelegentlicher  Benutzung  des 
Koserschen  Werkes  ab;  so  wird  Friedrich  in  Küstrin  auf  die  Für- 
sprache auswärtiger  Mächte  hin  begnadigt,  die  Berliner  Akademie 
1740  begründet;  der  Tod  Kaiser  Karls  VI.  muß  ausgenützt  werden, 
denn  geht  diese  Gelegenheit  ungenützt  vorüber,  ,,was  soll  einmal 
aus  Preußen,  dem  Protestantismus  und  Deutschland  werden?"  Der 
Nymphenburger  Vertrag  besteht  für  Schlieffen  noch.  ,, Unverkenn- 
bar war  in  diesem  Fürstenbund  (von  1785)  das  Deutschland  unter 
Preußens  Führung  enthalten,  das  ein  Jahrhundert  später  in  die  Er- 
scheinung trat."    Die  Proben  genügen  wohl.  Ziekursch. 

Willy  Norbert,  Friedrichs  des  Großen  Rheinsberger  Jahre. 
VII  u.  232  S.  Vita,  Deutsches  Verlagshaus,  Berlin-Charlottenburg, 
0.  J.  (1911).  Dieses  mit  vielen  Rheinsberger  Abbildungen  geschmückte 
Buch,  das  unter  dem  Zwang  des  Stoffes  halb  und  halb  zu  einer  Jugend- 
geschichte Friedrichs  geworden  ist,  müßte  stark  gepriesen  werden, 
wenn  nicht  Koser  denselben  Stoff  und  das  gleiche  Material  früher 
und  wissenschaftlich  und  künstlerisch  noch  besser  verarbeitet  hätte. 

Ziekursch. 

J.  Th.  Müller  veröffentlicht  in  der*  Zeitschrift  für  Brüder- 
geschichte, Jahrg.  6,  1912,  Heft  2  neue  Berichte  Zinzendorfs  über 
sein  Leben,  seine  Unternehmungen  und  Herrnhuts  Entstehen. 

Neue  Bücher:  Boissonnade,  Histoire  des  pr emiers  essais 
de  relations  economiques  directes  entre  la  France  et  l'Etat  prussien  pen- 
dant  le  rkgne  de  Louis  XIV  (1643 — 1715).  (Paris,  Champion.)  — 
C r  0 q uez  ,  La  Flandre  wallonne  et  les  pays  de  l'intendance  de  Lille 
sous  Louis  XIV.  (Paris,  Champion.  10  fr.)  —  M  alo  ,  Les  Corsaires 
dunkerquois  et  Jean  Bart.     I.    (Paris,  Mercure  de  France.    7,50  fr.) 

—  R  ö  d  d  i  n  g  ,  Pufendorf  als  Historiker  und  Politiker  in  den  „Com- 
mentarii  de  rebus  gestis  Friderici  tertii".  (Halle,  Niemeyer.  3  M.)  — 
Schirren,  Zur  Geschichte  des  nordischen  Krieges.  (Kiel,  Mühlau. 
6  M.)  —  de  P  i  i  p  a  p  e ,  Histoire  des  princes  de  Conde  au  XVIII' 
siMe.  La  fin  d'une  race.  Les  trois  derniers  Conde.  (Paris,  Plon-Nour- 
rit  et  Cie.  7,30  fr.)  —  L  0  e  w  e  ,  Preußens  Staatsverträge  aus  der 
Regierungszeit  König  Friedrich  Wilhelms  I.    (Leipzig,  Hirzel.    22  M.) 

—  Sahrmann,  Die  Frage  der  preußischen  Sukzession  in  Ans- 
bach und  Bayreuth  und  Friedrich  der  Große.  (Bayreuth,  Grau. 
2,50  M.)  —  F  e  n  g  1  e  r  ,  Die  Wirtschaftspolitik  Turgots  und  seiner 
Zeitgenossen  im  Lichte  der  Wirtschaft  des  ancien  rigime.  (Leipzig, 
Deichert  Nachf.    3  M.) 


232  Notizen  und  Nachrichten. 


Neuere  Geschichte  seit  1789. 

Pierre  C  a  r  o  n  ,  Manuel  Pratique  pour  l'etude  de  la  Revolution 
Frangaise.  Paris,  Alph.  Picard.  1912.  XV  u.  294  S.  —  Wir  erhalten 
hiermit  ein  höchst  brauchbares  Hilfsmittel  für  den  Historiker  der 
Revolution.  Besonders  eingehend  (S.  55 — 156)  behandelt  Caron  die 
handschriftlichen  Quellen.  Sehr  willkommen  ist  auch  die 
ausführliche  Konkordanz  des  republikanischen  und  gregorianischen 
Kalenders  (S.  221 — 269).  Auf  der  anderen  Seite  erweckt  doch  diese 
Bibliographie  noch  mehr  als  die  meisten  derartigen  Unternehmungen 
ernste  Bedenken,  von  denen  folgende  wenige  angemerkt  seien:  Der 
Verfasser  ist  ganz  einseitiger  Anhänger  Aulards.  S.  215  wird  Wal- 
Ions  bekannte  Geschichte  des  Revolutionstribunals  „tendenziös  im 
gegenrevolutionären  Sinn"  genannt.  Zu  Aulards  Histoire  Politique 
bemerkt  der  Verfasser  dagegen  (S.  214)  nur:  „es  ist  das  Hauptwerk"; 
aber  —  auch  abgesehen  davon,  daß  dieser  Satz  nur  in  sehr  beschränk- 
tem Sinne  Geltung  hat  —  hat  Caron  wirklich  nicht  gemerkt,  daß 
Aulard  „tendenziös  im  revolutionären  Sinne"  ist?  Sybels  Werk  er- 
scheint nicht  unter  „Allgemeine  Geschichte  der  Revolution",  son- 
dern unter  der  Überschrift  „Handbücher  und  verschiedene  Hilfs- 
mittel" bei  „Diplomatische  Geschichte".  Sybel  sagt  eben  der  Re- 
volution unangenehme  Wahrheiten!  Von  Sorel  werden  nur  fünf 
Bände  zitiert,  weil  Caron  nur  die  Zeit  bis  1799  behandelt.  Dadurch 
wird  jeder  nicht  eingeweihte  Benutzer  irregeführt.  In  hohem  Grade 
unglücklich  ist  (S.  217)  die  Auswahl  der  biographischen  Nachschlage- 
bücher. Wo  bleiben  z.  B.  die  bekannten  Werke  von  Brette  und  Ro- 
binet,  die  beide  sehr  viel  wichtiger  sind  als  die  drei  Bücher,  die  Caron 
zitiert?  Die  außerordentliche  Parteilichkeit  des  Verfassers  zeigt  (S.  217) 
seine  boshafte  Bemerkung  zu  dem  grundlegenden  Werke  von  Stourm 
„Les  finances  de  fanden  regime  et  de  la  revolution".  Er  schreibt: 
„Der  V/crt  dieses  Werkes  liegt  hauptsächlich  in  den  zahlreichen  biblio- 
graphischen Angaben,  die  es  enthält."  Auch  Stourms  Buch  ist  eben 
für  den  Neo-Jacobiner  nicht  angenehm  zu  lesen.  Wahl. 

Der  Artikel  von  JVl.  Marion  über  La  propriete  paysanne  en 
France  ä  la  veille  de  la  Revolution  d'apr^s  un  ouvrage  recent  (Revue 
d'Histoire  Moderne  etc.  17,  6,  Nov.-Dez.  1912)  beschäftigt  sich  teils 
zustimmend,  teils  kritisch  mit  Loutchiskys  neuestem  Werk  über  diesen 
Gegenstand  (1912).  Er  macht  schwere  und  wohl  durchweg  berech- 
tigte methodische  Einwände,  läßt  aber  das  eine  Hauptresultat  L.s 
unangefochten,  wonach  in  zwei  genau  untersuchten  großen  Gebieten  des 
Limousin  der  Bauer  rund  55%  des  Bodens  besaß.  Es  stellt  sich  immer 
mehr  heraus,  daß  des  Unterzeichneten,  allerdings  mit  allen  Vorbehalten 


Neuere  Geschichte.  233 

gemachte  Schätzung,  wonach  der  Bauer  vor  der  Revolution  gegen 
40"/o  des  französischen  Bodens  als  Eigentümer  innegehabt  habe,  den 
überlieferten  Anschauungen  gegenüber  noch  viel  zu  vorsichtig  war. 

Wahl. 

Notice  sur  le  Comte  Stanislas  de  Clermont-Tonnerre  par  le  M  ar  - 
quis  de  Chaieaubrun.  Paris  1912.  87  S.  Clermont-Tonnerre 
(1759 — 1792),  einer  der  Führer  der  „Anglikaner"  in  der  Constituante, 
verdient  eine  eingehende  Darstellung  seiner  politischen  Ansichten 
und  Bemühungen  weit  mehr  als  mancher  ,, Patriot",  dem  dickleibige 
Bücher  gewidmet  worden  sind.  Von  dem  vorliegenden,  gut  gemeinten 
Büchlein  sei  nur  gesagt,  daß  es  diese  erwünschte  Darstellung  nicht 
enthält.  Wahl. 

In  der  Rev.  des  Deux  Mondes  vom  15.  Februar,  1.  März  und 
15.  März  1913  findet  sich  eine  umfangreiche  Publikation  des  Grafen 
von  Haussonville  über  Madame  de  Stael  et  M.  Necker  d'apres 
leur  correspondance  inedite:  I.  Madame  de  Stael  ä  Goppel  pendant 
la  Revolution  et  le  Directoire.  II.  A  la  veille  et  au  lendemain  du  i8 
brumaire.  III.  Avant  l'exil.  Die  Arbeit,  welche  in  der  heutzutage 
in  Frankreich  üblichen  Form  Briefstellen  durch  einen  fortlaufenden 
Text  verbindet,  ist  in  mehrerlei  Hinsicht  interessant. 

K.  A.  V.  M  ü  1 1  e  r  veröffentlicht  im  Archiv  für  Kulturgeschichte 
10,  4  einen  glänzenden  Vortrag  über  den  jungen  Görres,  den  er  im 
September  1912  auf  der  Hauptversammlung  der  deutschen  Gesch. - 
und  Altertumsvereine  in  Würzburg  gehalten  hatte.  Die  Arbeit  zeich- 
net sich  vor  allem  dadurch  aus,  daß  sie  Görres  durchaus  im  Zusam- 
menhang mit  den  Zeitströmungen  behandelt.  Auch  ihre  letzten  Seiten, 
in  denen  der  Versuch  gemacht  wird,  mit  ein  paar  Strichen  die  spä- 
teren erstaunlichen  Entwicklungen  Görres'  zu  skizzieren,  sind  zum 
mindesten  beachtenswert. 

Das  Januarheft  der  Feuilles  d'histoire  enthält  u.  a.  das  Vorwort 
E.  W  e  1  V  e  r  t  s  zu  der  von  ihm  vorbereiteten  Ausgabe  der  Memoiren 
von  Theod.  L  a  m  e  t  h  ,  und  als  weitere  Probe  daraus  die  Schilde- 
rung einer  Audienz  Lameths  bei  dem  Ersten  Konsul,  Napoleon  Bona- 
parte (vgl.  H.  Z.  110,  677).  R.  Guyot  berichtet  über  die  vom  Di- 
rektorium zur  Beobachtung  der  Volksstimmung  im  Faubourg  Antoine 
gehaltenen  „observateurs"  (amüsante  Abrechnungen  über  deren  Aus- 
lagen). Maurer  veröffentlicht  ein  Schreiben  des  Brigadegenerals 
A  m  e  y  an  Napoleon  vom  22.  März  1807,  worin  dieser  sich  über  eine 
Stelle  in  dem  Bulletin  über  die  Schlacht  von  Eylau  beschwert.  Ge- 
neral P  a  1  a  t  (Lehautcourt)  widerlegt  in  scharfer  kritischer  Unter- 
suchung die  Phantasien  Duquets  über  den  heroischen  Widerstand  und 


234  Notizen  und  Nachrichten. 

die  Siegesmöglichkeiten  der  Franzosen  in  der  Schlacht  bei  Beaii- 
mont.  Im  Februarheft  behandelt  Schveitzer  die  Aufnahme  der 
Verfassung  des  Jahres  1 1 1  und  der  Fruktidordekrete  im  Departement 
de  l'Eure.  V  a  u  t  h  i  e  r  veröffentlicht  einen  Institutsbericht  von 
FranQois  de  Neufchäteau  vom  5.  Januar  1800  über  die  Fortschritte 
der  Literatur  und  Künste,  H  u  e  Fortsetzung  und  Schluß  der  Briefe 
des  Dragoneroffiziers  Le  Nourry  aus  dem  Winterfeldzug  1806/7  (vgl. 
H.  Z.  110,  677),  Welvert  drei  Briefe  Huhns,  des  Bastillesiegers 
und  Kommandanten  von  Berlin,  an  den  Sicherheitsausschuß,  an 
Napoleon,  an  Ludwig  XVIII.,  die  ihn  abwechselnd  als  glühenden 
Republikaner,  Bonapartisten  und  Royalisten  zeigen,  und  Kommandant 
Pinet  einige  Familienbriefe  des  Obersten  Langlois  aus  dem  französi- 
schen Lager  vor  Sebastopol.  In  beiden  Heften  wird  die  Veröffent- 
lichung der  Polizeiberichte  Beugnots  (über  Napoleon  auf  Elba,  Murat 
in  Neapel,  Wiener  Kongreß,  bonapartistische  Umtriebe  usw.)  fort- 
gesetzt (12.  November  bis  3.  Dezember  1814). 

Im  Januarheft  (1913)  der  Revue  des  Etudes  Napoleoniennes  sucht 
F.  M  a  s  s  0  n  nachzuweisen,  daß  die  Briefe  von  Pauline,  aus  denen 
ihr  Inzest  mit  Napoleon  in  Elba  gefolgert  wurde,  von  dem  Abbe 
Fleuriel  für  Blacas  gefälscht  sind.  Lanzac  de  Laborie  behandelt 
die  Beziehungen  Napoleons  zu  David,  der  dabei  als  besonders  hab- 
süchtig erscheint.  Der  Oberstleutnant  C  o  t  i  n  erörtert  „la  place  de 
Napoleon  dans  l'histoire  militaire",  indem  er  besonders  die  Neuheit 
der  Operationen  mit  Divisionen  statt  mit  einer  kompakten  Armee 
betont.  E.  Mayer  kritisiert,  namentlich  an  der  Darstellung  der 
Schlacht  von  Belle-Alliance,  die  Unzuverlässigkeit  der  Zitate  Hous- 
sayes  („On  ne  saurait  contester  que  la  documentation  d'H.  Houssaye 
soit  souvent  d'un  litteratur  plutöt  que  d'un  Historien").  Die  Publikation 
des  ,,  Journals"  des  Obersten  B^chaud  (H.  Z.  110,  677)  wird  beendet. 
Das  „Bulletin  historique"  dieses  Heftes  enthält  eine  recht  instruktive 
Zusammenstellung  der  Literatur  der  Jahre  1900 — 1911  zur  Geschichte 
der  Kontinentalsperre. 

F.  Rousseau  veröffentlicht  unter  dem  Titel  „De  Bäle  ä 
Tolentino"  Briefe  von  Azara  an  Godoi  von  1795  bis  1797,  besonders 
über  die  päpstliche  Friedensverhandlung  mit  Saliceti  und  mit  Napo- 
leon Bonaparte  „Vhomme  le  plus  firoce  et  le  plus  atrabilaire  que  la  na- 
ture  ait  produit"  (Revue  des  Quest.  histor.  1913,  1). 

In  der  Revue  histor.  de  la  Revol.  franf.  et  de  l'Empire  (Oktober- 
Dezember  1912)  wird  die  Veröffentlichung  von  Briefen  Marie- 
Karolinens  an  Gallo  fortgesetzt  (20.  Juni  1799  bis  14.  IVlärz 
1800). 


Neuere  Geschichte.  235 

Vi^nots  Abhandlung  „Napoleon  I'^  et  V Imperatrice  Marie- 
Feodoro\vna'\  d'apr^s  les  rapports  et  notes  secräes  de  Savary  et  de  Cau- 
laincourt"  enthält  trotz  der  Ankündigung  im  Inhaltsverzeichnis  „Do- 
cuments  inidits"  lediglich  Auszüge  aus  längst  gedruckten  Berichten 
Savarys  und  Caulaincourts  {La  Revue,  1,  Februar  1913). 

E.  F  a  g  u  e  t  widmet  Chateaubriand  im  Anschluß  an  dessen 
kürzlich  veröffentlichte  Korrespondenz  einen  Artikel  voll  Sympathie 
<„//  impose  —  et  il  platt").    La  Revue,  15.  Dezember  1912. 

Die  neue,  mit  großer  Sorgfalt  bearbeitete  kritische  Gesamtaus- 
gabe der  Werke  M  a  n  z  o  n  i  s  ,  die  bei  Hoepli  in  Mailand  erscheint, 
wird  vervollständigt  durch  eine  stark  vermehrte  Ausgabe  des  Brief- 
wechsels, die  drei  Bände  umfassen  soll.  Erschienen  ist  der  erste  Band : 
Carteggio  di  Alessandro  Manzoni  a  cura  dl  G.  Sforza  e  G.  Gallavresi 
con  12  ritratti  e  2  facsimili  1803 — 1821  (XX,  610  S.).  Manzoni  war 
ein  lässiger  Briefschreiber,  oft  und  oft  klagt  er  sich  selbst  der  Träg- 
heit an,  eine  willkommene  Ergänzung  bilden  daher  die  Briefe  von 
Angehörigen  und  Freunden,  wodurch  die  Sammlung  zu  einer  ergiebigen 
biographischen  Quelle  wird.  Am  mitteilsamsten  war  der  Dichter  gegen 
Fauriel,  den  er  in  Paris  zum  Freund  gewonnen  hatte  und  mit  dem  die 
Intimität  unverändert  fortdauerte,  auch  als  Manzoni  aus  einem  Frei- 
geist und  Religionsspötter  sich  in  einen  gläubigen  Katholiken  ver- 
wandelt hatte.  Über  diese  Umwandlung  ist  viel  geschrieben  worden, 
völlig  aufgehellt  sind  die  Motive  nicht,  der  Dichter  selbst  hat  auch 
gegen  seine  nächsten  Freunde  niemals  darüber  gesprochen  und  auch  im 
Briefwechsel  findet  sich  kein  Aufschluß:  man  steht  auf  einmal  vor  der 
vollendeten  Tatsache.  Sicher  scheint,  daß  weiblicher  Einfluß  stark 
im  Spiele  war.  Das  Bekehrungswerk  wurde  zuerst  an  der  jungen, 
sanftmütigen  Gattin,  die  aus  protestantischer  Familie  war,  ausgeführt 
und  an  der  Mutter,  die,  eine  stolze  Tochter  des  bekannten  Rechtslehrers 
Beccaria,  keine  vorwurfsfreie  Vergangenheit  hatte.  Es  sind  Anzeichen 
dafür  vorhanden,  daß  die  Geistlichen  bei  Manzoni  eine  schwierigere 
Arbeit  hatten,  und  daß  sie,  auch  nachdem  dieser  seinen  Voltaire  an 
den  Kanonikus  Tosi,  den  Beichtvater  der  frommgewordenen  Familie, 
ausgeliefert  hatte,  nicht  ohne  Sorge  waren,  daß  das  Werk  der  gött- 
lichen Gnade  durch  ungünstige  Einflüsse  und  durch  weltliche  Be- 
schäftigungen wieder  gestört  werden  möchte.  Übrigens  waren  es 
jansenistische,  jesuitenfeindliche  Geistliche  und  Laien,  die  zum  Be- 
kehrungswerk halfen,  und  im  ganzen  trägt  die  Frömmigkeit  Manzonis 
einen  milden,  keineswegs  intoleranten  Charakter,  sie  tut  weder  seinem 
Patriotismus  Eintrag  noch  seiner  Neigung  zu  leichtem  Spott  und 
feiner  Ironie.  Der  Vermengung  von  Religion  und  Politik  war  er 
durchaus  abhold,  und  in  einem  Brief  an  jenen  Kanonikus  Tosi  gibt 


236  Notizen  und  Nachrichten. 

er  einmal  einen  Bericht  über  die  kirchlichen  Zustände  in  Frankreich, 
worin  er  den  heißblütigen  Verfechtern  des  politischen  Katholizismus 
geradezu  die  Schuld  für  die  zunehmende  Irreligiosität  zuschreibt. 
Politisches  findet  sich  in  den  Briefen  nicht,  die  Zeitgeschichte  wird 
kaum  je  gestreift.  Das  erklärt  sich  schon  aus  der  in  jenen  Zeiten 
nötigen  Vorsicht,  aber  auch  aus  dem  ängstlich  zurückhaltenden  Cha- 
rakter des  Dichters,  der  eine  krankhafte  Scheu  vor  der  Öffentlich- 
keit hatte.  In  seinen  Dichtungen  und  in  seinen  ästhetischen  An- 
sichten war  er  gleichwohl  ein  kühner  Neuerer.  Der  Meinungsaustausch 
mit  Fauriel  dreht  sich  größtenteils  um  diese  literarischen  Dinge,  um 
den  Kampf  zwischen  Klassizisten  und  Romantikern  und  um  die  Dich- 
tungen, mit  denen  Manzoni  bekanntlich  so  glücklich  war,  die  An- 
erkennung und  warme  Sympathie  Goethes  zu  erwerben.    W.  Lang. 

Band  4  und  5  der  Correspondance  du  comte  de  La  Forest  (publ. 
p.  M.  Geoffroy  de  Grandmaiso  n.  Paris,  A.  Picard  &  fils.  1910/1 1. 
588,  427  S.)  überragen  unzweifelhaft  an  quellenmäßigem  Werte  die 
vorausgegangenen  Bände.  Allerdings  zeigt  sich  der  Briefschreiber 
gegenüber  den  spanischen  Verhältnissen  außerhalb  seines  unmittel- 
baren Gesichtskreises  ebenso  verständnislos  und  mangelhaft  unter- 
richtet als  zuvor,  und  das  schmeichlerische  Bestreben,  seine  Berichte 
so  zu  gestalten,  daß  sie  den  Wünschen  Napoleons  entgegenkommen, 
ist  vielfach  unverkennbar.  Aber  der  Gang  der  Ereignisse  bringt  es  mit 
sich,  daß  für  das  spanische  Königtum  die  Beziehungen  zu  Paris  von 
ausschlaggebender  Bedeutung  werden.  Josephs  Kampf  gegen  Napo- 
leons Absichten  auf  die  Provinzen  nördlich  des  Ebro,  sein  Ringen  mit 
den  militärischen  Führern,  die  sich  mehr  und  mehr  zu  Alleinherr- 
schern in  den  von  ihnen  besetzten  Provinzen  aufwerfen,  und  ihn  schließ- 
lich veranlassen,  nach  Paris  zu  flüchten,  um  mit  seiner  Abdankung 
zu  drohen,  die  Hoffnungen,  die  er  aus  Paris  mitbrachte,  und  die  Ent- 
täuschungen, die  er  durch  den  weiteren  Gang  der  Ereignisse  erfuhr, 
alles  das  ist  in  der  Korrespondenz  in  authentischen  Äußerungen  nieder- 
gelegt, die  nicht  durch  die  Verkennung  fremder  Zustände  und  Eigen- 
art in  ihrem  Werte  beeinträchtigt  werden.  Auch  das  Charakterbild 
Josephs  tritt  vielfach  mit  schärferen  Umrissen  als  in  den  früheren  Bän- 
den hervor.  Besonders  aber  wird  die  Rücksichtslosigkeit  der  napoleoni- 
schen Eroberungspolitik,  die  den  Bruder  fast  immer  gegenüber  den 
Anmaßungen  der  strategischen  Leiter  des  Kampfes  preisgibt,  grell 
beleuchtet.  K.  Haebler. 

Das  Märzheft  1913  der  Preußischen  Jahrbücher  bringt  24  „Briefe 
E.  M.  Arndts,  mitgeteilt  und  erläutert  von  Wilhelm  H  a  n  o  w  (f)". 
Sie  sind  an  Karl  Schildener  (1777 — 1843),  Professor  der  Rechte  in 
Greifswald,  gerichtet  und  stammen  aus  den  Jahren  1809 — 1836,  die 


Neuere  Geschichte.  237 

Mehrzahl  jedoch  aus  der  Zeit  der  Erhebung.  Sie  sind,  wie  wir  das 
von  den  Briefen  Arndts  gewöhnt  sind,  durch  die  Ursprünglichl<eit 
und  Schärfe  des  Urteils  erfrischend. 

Gegen  Ende  1812  sandte  Fürst  Adam  Czartoryski  einen  Ge- 
sandten an  Kaiser  Alexander  mit  Vorschlägen  des  Wiederaufbaues 
Polens  unter  der  Herrschaft  des  Kaisers  oder  eines  seiner  Brüder. 
Dieser  Schritt  des  Fürsten  machte  Metternich  manche  Sorgen,  denn 
die  polnischen  Pläne  Alexanders  waren  der  österreichischen  Regierung 
unbequem.  Infolgedessen  ist  der  Gesandte  des  Fürsten  und  er  selbst 
von  den  österreichischen  Behörden  überwacht  und  behindert  worden; 
insbesondere  ist  sein  Gesandter  Kluczewski  bei  seiner  Rückkehr  aus 
Rußland  in  der  Nähe  von  Brody  wegen  angeblicher  Choleragefahr 
21  Tage  interniert  worden.  Sophie  Ko  lischer  teilt  aus  dem 
Lemberger  Staatshaltereiarchiv  darauf  bezügliches  Material  aus  1813 
mit  {Kwartalnik  Hist.    Lemberg.    Bd.  25,  S.  63  ff)..    /?.  F.  Kaindl. 

Gustav  D  i  c  k  h  u  t  h  beginnt  in  der  Deutschen  Rundschau, 
Märzheft  1913,  eine  Arbeit  über  „1813",  in  der  er  —  in  etwas  ab- 
gerissenem Stil  und  nicht  ohne  Versehen  im  einzelnen  —  einstweilen 
die  Ereignisse  bis  zum  Waffenstillstand  schildert. 

Heute  sind  zwei  wundervolle  akademische  Festreden  zur  Er- 
innerung an  die  Erhebung  Preußens  zu  notieren:  1.  die  Dietrich  Schä- 
fers (in:  Feier  der  Kgl.  Friedrich- Wilhelms-Universität  zu  Berlin 
am  9.  Februar  1913  in  der  Aula  zur  Erinnerung  an  die  Erhebung  der 
deutschen  Nation  im  Jahre  1813.  Berlin  1913,  S.  5—29),  2.  die  Max 
Lehmanns  (gehalten  am  3.  Februar,  Preuß.  Jahrb.  Märzheft 
1913).  Sie  sind  von  charakteristischer  Verschiedenheit.  Während 
die  Schäfers  u.  a.  auch  einen  großartigen  Überblick  über  die  deutsche 
und  preußische  Geschichte  enthält  und  manche  Gegenwartsfrage  in 
ihr  anklingt,  beruht  die  Lehmanns  auf  wuchtiger  Beschränkung  auf 
die  Zeit  der  Erhebung,  der  er  den  größten  und  schönsten  Teil  seiner 
Lebensarbeit  gewidmet  hat. 

Gailly  de  Taurine  schildert  die  wechselvollen  Schicksale 
und  Abenteuer  der  Königin  Hortense  im  Jahre  1815,  ihre  Auswei- 
sungen aus  Frankreich  und  aus  der  Schweiz  und  ihre  Flucht  nach 
Deutschland  {Revue  des  Etud.  Iiistor.    Januar-Februar  1913). 

Die  bisher  unbekannte,  von  J.  A.  F.  Eichhorn  verfaßte  und 
von  Hardenberg  am  8.  Juli  1816  vollzogene  „Instruktion"  für 
d  i  e  am  20.  Juni  eingesetzte  ,,Preußische  Immediatjustiz- 
kommission  für  die  Rheinlande"  samt  einem  Auszug 
aus  dem  interpretierenden  Erlaß  vom  30.  März  1817  hat  E.  Lands- 
berg  in  der  Zeitschr.  f.  Politik  VI,  1  veröffentlicht.    Durch  diesen 


238  Notizen  und  Nachrichten. 

Fund  wird  „ein  staatsrechtliches  Rätsel  gelöst",  nämlich  wie  es  ge- 
kommen ist,  daß  im  Gegensatz  zu  vorher  ergangenen  Verordnungen 
auch  in  den  altpreußischen  Teilen  der  linksrheinischen  Rheinprovinz 
das  altpreußische  Recht  damals  nicht  wieder  eingeführt  worden  ist. 

Pawlowski  (BWlioteka  warszawska.  1910.  4,  S.  285— 311) 
schildert  das  Verhalten  Österreichs  zu  Rußland  1825—1829.  Die 
Spannung  war  infolge  der  türkischen  und  polnischen  Verhältnisse 
nicht  gering.  Erwähnt  sei,  daß  die  bekannte  polenfreundliche  Ge- 
sinnung Österreichs  damals  auch  darin  zum  Ausdruck  kam,  daß  der 
Plan  auftauchte  (wie  schon  1794  und  1809),  aus  Galizien  und  dem 
Fürstentume  Warschau  einen  polnischen  Staat  unter  habsburgischer 
Herrschaft  zu  schaffen.  Die  Förderung  der  Polen  durch  Österreich 
war  ein  Mittel,  auf  Rußland  einen  Druck  auszuüben.     R.  F.  Kaindl. 

Heinrich  Maier,  jetzt  in  Göttingen,  gibt  (1912)  noch  als  Tü- 
binger Dekanatsprogramm  Briefe  bekannt ,  die  D.  Fr.  Strauß 
zwischen  1831  und  1849  an  den  späteren  Prälaten  Ludwig  Georgii 
gerichtet  hat;  in  seiner  Abhandlung  über  Strauß  (An  der  Grenze  der 
Philosophie,  1909)  hat  er  sie  bereits  verwertet,  da  sie  die  Kenntnis 
von  Straußens  philosophisch-theologischer  Entwicklung  fördern.  Er 
begleitet  die  Briefe  mit  dankenswerten  Hinweisen;  darunter  ist  S.  9 
eine  Ausführung  über  die  berufliche  Krisis  von  1835,  S.  26  eine  über 
die  Züricher  Vorgänge;  beidemal  wird  Th.  Ziegler  berichtigt.  Der 
Inhalt  der  Briefe  ist  mannigfaltig,  überwiegend  wissenschaftlich,  doch 
gerade  darin  wieder  recht  persönlich.  Im  September  1837  warnt 
Strauß  davor,  in  einem  Gebiete  wissenschaftlich  aufzutreten,  wo 
hitziger  Streit  herrsche,  oder  gar,  wie  er,  solchen  zu  veranlassen. 
,, Leidenschaft,  der  wir  durch  unsere  Studien  entfliehen  wollen,  kommt 
uns  aus  eben  dem  Gebiete  entgegen,  wo  wir  Stille  des  Geistes  und 
Gemütes  suchten.  .  .  Man  kommt  am  Ende  zu  der  Verkehrung,  daß 
man,  um  den  auf  wissenschaftlichem  Gebiete  verlorenen  Frieden  zu 
finden,  sich  an  das  Leben  klammern  zu  müssen  glaubt."  Das  Be- 
kenntnis vom  April  1842  über  den  Charakter  seiner  Leidenschaft  für 
die  Schebest  mag  bisher  Bekanntes  ergänzen:  zwiespältig  zwischen 
Leidenschaft  und  Klarheit,  sarkastisch-ungläubig  im  Lebensunmut, 
läßt  er  den  Freund  darein  sehen,  wie  er  sich  tragisch  verwickelt.  Bald 
folgt  der  Bericht  von  der  Trauung,  wo  der  befreundete  Geistliche 
,, trefflich  allem  Christlichen  aus  dem  Wege"  ging  (die  Rede  bei  Ziegler 
2, 385)  und  Kauffmann  auf  der  Orgel  aus  der  Zauberflöte  spielte. 
Strauß  „präsentiert"  sich  in  seinen  Briefen  mit  einer  gewissen  Ab- 
sichtlichkeit, wie  Maier  nicht  ohne  einen  launigen  Unterton  feststellt. 
Daß  er  ein  Meister  im  Briefschreiben  gewesen  sei,  liest  man  viel;  als 
„glänzender  Stilist"  wird  er  gerne  gerühmt;  und  in  der  Tat  konnte  er 


Neuere  Geschichte.  239 

mit  vornehmer  Eleganz  und  durchsichtiger  Bestimmtheit,  lebensvoll 
und  in  satten  Farben  darstellen.  Doch  schreibt  derselbe  Mann  auch 
schulmeisterlich  und  ledern,  in  Schriften  und  Briefen.  Eben  diese 
Zweiseitigkeit  kennzeichnet  ihn.  Rapp. 

Ch.  S  c  h  e  f  e  r  ,  dessen  instruktive  Forschungen  zur  Geschichte 
der  französischen  Handels-  und  Kolonialpolitik  in  Afrika  hier  schon 
mehrfach  erwähnt  wurden,  erörtert  auf  archivalischer  Grundlage  die 
Politik  des  Ministeriums  Mole  in  Algier,  die  1837  zu  dem  Vertrage 
von  la  Tafka  mit  Abd-el-Kader  und  zur  Einnahme  von  Constantine 
führte  (Revue  des  Etud.  histor.    Januar-Februar  1913). 

Von  den  Bemühungen  Friedrich  Wilhelms  IV.,  die  aus  der  ohne 
spezielle  Vollmacht  von  dem  Gesandten  H.  v.  Bülow  unterzeich- 
neten Londoner  Konvention  vom  15.  Juli  1840  (in  der  orientalischen 
Frage)  erwachsenen  Verpflichtung  für  Preußen  auf  appui  morale  ein- 
zuschränken —  durch  nachträgliche  aber  zu  spät  gekommene,  und 
von  Palmerston  geheim  gehaltene  Verwahrung  —  hat  A.  Hasen- 
clever  (König  Friedrich  Wilhelm  IV.  und  die  Londoner  Konven- 
tion vom  15.  Juli  1840)  in  den  Forschungen  zur  brandenb.  und  preuß. 
Gesch.  25,  2  gehandelt.  Hasenclever  will  darin  nicht  Schwäche  und 
Unentschlossenheit  der  preußischen  Orientpolitik,  sondern  Fortsetzung 
der  unter  Friedrich  Wilhelm   111.  eingehaltenen  Bahnen  erblicken. 

In  einem  umfassenden  und  gehaltvollen  Aufsatz  (Zeitschr.  f. 
Politik  VI,  1 — 114)  hat  Gustav  Mayer  über  die  Anfänge  des  poli- 
tischen Radikalismus  im  vormärzlichen  Preußen  gehandelt,  auf  Grund 
archivalischer  und  publizistischer  Materialien.  Mayer  versteht  dabei 
unter  Radikalismus  diejenigen  Bestrebungen,  die  an  die  Gedanken 
und  Forderungen  der  französischen  Revolution  anknüpfend  mehr  von 
außen  her  an  den  bestehenden  Zuständen  Kritik  üben,  in  Verbindung 
mit  den  Ideen  Rousseaus  und  der  junghegelianischen  Auslegung  der 
Identitätsphilosophie.  Nicht  die  praktisch-politischen  Bestrebungen, 
sondern  die  Publizistik  der  vierziger  Jahre  in  Ostpreußen  (Hartungsche 
Zeitung),  im  Rheinland  (Rheinische  Zeitung),  in  Berlin  (besonders 
„Die  Freien",  der  Kreis  um  die  Brüder  Bauer)  und  der  Kampf  der 
wechselnden  Zensurpolitik  der  Regierung  gegen  diese  zum  Teil  in 
Kommunismus  und  Anarchismus  auslaufende  Literatur  bilden  den 
wesentlichen  Inhalt  der  Ausführungen,  denen  eine  anonyme,  Stirner 
zugewiesene  Broschüre  und  ein  ungedrucktes  Programm  der  „Freien" 
angehängt  ist. 

Anmutige  „Lebenserinnerungen"  aus  dem  Nachlaß  von  Rochus 
Frhrn.  v.  Liliencron  hat  A.  Bettelheim  in  der  Deutschen 
Rundschau  veröffentlicht.  Anknüpfend  an  die  „Frohen  Jugendtage" 
handeln  sie  vom  Germanistentage  in  Lübeck  1847,  den  Anfängen  der 


240  Notizen  und  Nachrichten. 

Dozententätigkeit  und  der  48  er  Bewegung  in  Bonn,  von  der  Schles- 
wig-Holsteinschen  Frage  (nach  Briefen  der  Braut  aus  Kopenhagen) 
und  schließen  mit  dem  Abgang  Liliencrons  als  Freiwilliger  nach  Hol- 
stein (JVlärzheft  1913). 

Die  Organe  großer  studentischer  Gemeinschaften  wie  der  Bur- 
schenschaft und  des  Vereins  deutscher  Studenten  sind  nicht  nur  als 
Geschichtsquelle  bekannt,  insofern  sie  weitgreifende,  geistige  Be- 
wegungen widerspiegeln,  sondern  setzen  sich  auch  die  Erforschung 
der  Vergangenheit  ihrer  Kreise  zum  Zweck;  die  Burschenschaft  hat 
neuerdings  ein  Unternehmen  zur  Aufklärung  ihrer  Geschichte  in  großem 
Stil  ins  Leben  gerufen.  Hier  mag  darauf  hingewiesen  sein,  daß  das 
Organ  des  Schwarzburgbundes,  die  „Blätter  aus  dem  Schwarzburg- 
bund" (Leipzig,  P.  Eger),  in  der  letzten  Zeit  gleichfalls  Beiträge  zur 
Geschichte  des  studentischen  Lebens  gebracht  hat.  Insbesondere 
weisen  wir  auf  einen  Artikel  von  Th.  B  a  u  e  r  im  3.  Jahrgang,  3.  Heft, 
S.  65  ff.  hin.  Es  wird  darin  in  großen  Zügen  die  Abwendung  der 
Burschenschaft  von  den  christlich-altdeutschen  Ideen  der  Romantik, 
der  „christlich-deutschen  Ausbildung"  geschildert  und  dargelegt,  wie 
eben  deshalb  neue  studentische  Vereinigungen  aufkamen,  die  auf  jene 
Ideen  zurückgriffen.  Bauer  hebt  Veröffentlichungen  von  H.  Grieben 
(z.  B.  die  Novellette  „Schwarz-rot-gold"  in  der  Zeitschrift  „Europa" 
1849)  hervor,  in  denen  an  der  zeitgenössischen  Burschenschaft  im 
Hinblick  auf  ihre  alten  Ideale  Kritik  geübt  wird.  Vgl.  auch  1.  Jahrg. 
2.  u.  3.  Heft,  2,  Jahrg.  1.  u.  2.  Heft,  3.  Jahrg.  2.  u.  4.  Heft. 

G.  V.  Below. 

Der  Beginn  von  Mitteilungen  aus  der  diplomatischen  Tätigkeit 
des  langjährigen  österreichisch-ungarischen  Botschafters  in  Berlin 
(1860—1878)  und  London  (bis  1888)  Graf  Alois  K  a  r  o  1  y  i  (März- 
heft der  Deutschen  Revue)  führt  zunächst  in  die  Krisis  von  1859 
und  Karolyis  ergebnislose  Sendung  nach  Petersburg,  und  enthält  in 
der  Einleitung  einen  Briefwechsel  mit  Bismarck  über  angebliche  Ver- 
stimmung der  deutschen  Politik  gegen  Österreich  1875. 

Wie  selbstverständlich  für  Nikolaus  I.  die  Bevormundung 
Preußens  war  und  in  wie  eigentümlicher  Weise  preußische  Militärs 
sich  über  interne  preußische  Regierungsmaßnahmen  gegenüber  dem 
russischen  Gesandten  äußerten,  zeigt  u.  a.  die  wertvolle  Fortsetzung 
der  Bd.  110,  S.  683  erwähnten  „politischen  Briefe  des  Grafen 
Hugo  zu  Münster  an  Edwin  Manteuffel,  diesmal  aus 
den  Jahren  1852  und  1853"  (Deutsche  Revue,  März  1913).  Im  Zu- 
sammenhang mit  der  ohne  Manteuffels  Wissen  erfolgten  Berufung 
von  Radowitz'  an  die  Spitze  des  Militärerziehungs-  und  Bildungs- 
wesens 1852  steht  der  Brief  Edwin  Manteuffels  an  seinen  Vetter,  den 


Neuere  Geschichte.  241 

Ministerpräsidenten:  den   Rat,  bis  zum  Herbst  1852  die  Zollvereins- 
frage zu  erledigen  und  dann  zurückzutreten. 

E.  V.  Wertheimers  Aufsatz:  „Andrassy  und  Blsmarcks 
Kulturkampf"  (Deutsche  Revue,  Februar  1913)  bietet  ein  Kapitel 
aus  dem  inzwischen  erschienenen  zweiten  Bande  seiner  Andrassy- 
Biographie.  Er  ist  bemerkenswert  einmal  wegen  der  Benutzung  diplo- 
matischer Berichte  aus  dem  Wiener  und  Berliner  Archiv  bis  1875! 
(Berichte  des  deutschen  Botschafters  in  Wien,  General  v.  Schweinitz; 
des  Generalkonsuls  in  Pesth,  v.  Wächter-Gotter;  Weisungen  Bismarcks 
an  Keudell  (1873)  und  an  Schweinitz  (1875);  Andrassys  an  den  österr.- 
ungar.  Botschafter  in  Berlin  Graf  Karolyi  und  dessen  Berichte  an 
Andrassy)  und  sodann  wegen  der  Art,  wie  es  der  habsburgischen 
Politik  gelang,  trotz  politischer  Freundschaft  mit  Italien  und  eigener 
Neuordnung  der  staatlich-kirchlichen  Beziehungen  in  Zisleithanien 
durch  die  Gesetze  von  1874,  denen  die  Bischöfe  wohl  theoretischen 
Protest,  aber  bei  der  Ausführung  keinen  Widerstand  entgegensetzten, 
kirchliche  Übergriffe  in  die  staatliche  Sphäre  fernzuhalten  und  „die 
Autorität  des  Staates  zu  schützen,  ohne  doch  dadurch  die  Monarchie 
den  verheerenden  Stürmen  eines  Kulturkampfes  aussetzen  zu  müssen". 
Bismarcks  Bemühungen  um  internationale  Schritte  gegen  die  Folgen 
der  Infallibilitätserklärung  und  zur  Beeinflussung  der  zu  erwartenden 
Papstwahl  hat  Andrassy  sich  versagt. 

Mit  einer  sehr  hübschen  Persönlichkeitsschilderung  M  i  q  u  e  1  s 
hat  K.  A.  V.  Müller  den  beginnenden  Abdruck  von  Briefen  Mi- 
quels  an  Marquardsen  (Süddeutsche  Monatshefte,  März  1913) 
eingeleitet,  die  zunächst  außer  einem  Schreiben  von  1876  (das  Ver- 
dienst am  Rechenschaftsbericht  der  nationalliberalen  Partei  gebühre 
Wehrenpfennig;  „ich  habe  nur  in  bezug  auf  Anordnung,  Richtung, 
Material  etwas  mitgewirkt"),  Briefe  aus  dem  Jahre  1884  enthalten 
zur  Reorganisation  und  Taktik  der  nationalliberalen  Partei  (d.  i.  Ent- 
wurf des  Heidelberger  Programms  von  Miquel,  die  Schlußredaktion 
von  Marquardsen). 

Frhr.  v.  Freytag-Loringhoven,  Generalmajor  und 
Oberquartiermeister,  Die  Führung  in  den  neuesten  Kriegen,  Operatives 
und  Taktisches.  1.  Heft:  Das  russische  Oberkommando  in  der  euro- 
päischen Türkei  im  Kriege  1877 — 1878.  Mit  7  Skizzen  als  Anlagen 
(Berlin  1912,  E.  S.  Mittler  &  Sohn.  VIll  u.  110  S.).  —  Die  Absicht 
des  bereits  rühmlichst  bekannten  Verfassers  ist  es,  in  einer  Reihe 
von  Schriften  die  wichtigsten  Erscheinungen  der  neuesten  Kriege 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Führung  größerer  wie  kleinerer  Verbände 
zusammenzufassen  und  so  „unmittelbar  der  Ausbildung  für  den  Krieg 
zu  dienen".    Er  wählt  den  russisch-türkischen  Krieg  als  Ausgangs- 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  16 


242  Notizen  und  Nachrichten. 

punkt,  der  mancherlei  im  mandschurischen  Kriege  wiederkehrende 
Züge  auf  russischer  Seite  aufweist.  Als  Hauptquelle  dient  ihm  das 
1908  veröffentlichte  Tagebuch  des  damaligen  Obersten  im  russischen 
Generalstab  v.  Hasenkampf.  Die  großzügige  und  tiefeindringende 
Betrachtungsweise  läßt  uns  mit  lebhaften  Erwartungen  den  weiteren 
Heften  entgegensehen,  von  welchen  eines  den  Gebirgskämpfen  auf 
der  Balkanhalbinsel,  vor  allem  bei  der  Okkupation  Bosniens,  zwei 
weitere  dem  russisch-japanischen  Kriege  mit  vergleichenden  Aus- 
blicken besonders  auf  den  Burenkrieg  und  seine  taktischen  Lehren 
gewidmet  sein  werden. 

Heidelberg.  Karl  Stählin. 

Unter  der  Überschrift  ,,Die  Gewalttaten  im  Balkankriege"  gibt 
L.  Raschdau  einen  auf  eigene  Teilnahme  gegründeten,  auch  poli- 
tisch höchst  interessanten  Bericht  über  die  sog.  Rhodope-Kom- 
m  i  s  s  i  0  n  im  Juli  und  August  1878,  d.  h.  der  Reise  der  internationalen 
Diplomatenkommission,  zur  Feststellung,  ob  die  Greueltaten,  die  eine 
Viertelmillion  Flüchtlinge  in  jenes  Gebirge  getrieben  hatten,  wie  die 
Engländer  behaupteten  und  alle  Aussagen  angaben,  von  den  Russen 
herrührten  oder  von  den  Bulgaren;  Raschdaus  Stellungnahme  für  den 
russischen  Kommissar  sei  gebilligt  und  von  russischer  Seite  auch  an- 
erkannt worden  (Deutsche  Rurrdschau,  März  1913). 

Emil  Albert  S  o  r  e  1  erläutert  aus  Briefen  und  Aufzeichnungen 
seines  Vaters,  wie  aus  dem  Romanschriftsteller  und  Sekretär  Chau- 
dordys  hauptsächlich  durch  Taines  Einwirkung  der  Geschichtspro- 
fessor und  Historiker  wurde  (Revue  des  deux  mondes,  15.  März  1913). 

F.  A.  Magruder,  Recent  administration  in  Virginia.  Johns 
Hopkins  University  Studies  in  historical  and  political  science,  series 
XXX,  I.  Baltimore,  The  Johns  Hopkins  Press.  —  Magruder  bespricht 
in  dieser  lehrreichen  Abhandlung  die  wichtigsten  Verwaltungszweige 
des  Staates  Virginia  und  ihre  Entwicklung  während  des  letzten  Men- 
schenalters. Er  zeigt,  wie  die  Staatstätigkeit  in  dieser  Zeit  zugenom- 
men hat,  eine  Erscheinung,  die  sich  überall  in  den  Vereinigten  Staaten 
beobachten  läßt.  Magruder  knüpft  an  die  Darstellung  der  Geschichte 
der  Verwaltung  eine  Kritik  der  Einrichtungen  des  Staates  und  tritt 
für  weitere  Zentralisation  der  Verwaltung  sowie  für  eine  Kräftigung 
der  Exekutive  ein.  P.  D. 

Das  Märzheft  der  Deutschen  Revue  bringt  den  Schluß  der  Bd.  110, 
S.  688  zuletzt  erwähnten  Briefe  von  G.  Freytag  an  Stosch 
aus  den  Jahren  1891 — 1895:  Persönliches,  aber  auch  publizistische 
Tätigkeit  von  Stosch  (zwar  ohne  genügende  Erläuterung)  und  auch 
politische  Urteile  (sehr  hübsch  über  Bismarcks  Popularität  nach  seiner 
Entlassung)  enthaltend. 


Neuere  Geschichte.  243 

hl  Schmollers  Jahrbuch  für  Gesetzgebung  37  wird  eine  Studie 
von  W.  J.  H  0  1 1  a  e  n  d  e  r  (f)  über  den  „Deutschen  Zolltarif  von 
1902"  abgedruckt,  die  „das  Wichtigste  über  seine  Entstehungsursachen 
und  Gestaltungsbedingungen"  zusammenfassen  will  und  zunächst 
im  1.  Heft  die  parlamentarischen  Kämpfe  um  die  Handelsverträge 
der  Caprivischen  Ära  bis  zum  Abschluß  des  russischen  Handelsver- 
trags und  die  Anfänge  der  agrarischen  Agitation  schildert. 

Der  von  Arnold  H.  Rennebarth  übersetzte  und  einge- 
leitete Aufsatz  von  J.  Alfred  Spender,  dem  Chefredakteur  der 
(liberalen)  Westminster  Review  über  „Die  Grundlagen  der  britischen 
Politik"  (Zeitschr.  f.  Politik,  VI,  1)  bietet  die  wesentlichen  Teile  einer 
Anfang  1911  in  jener  Zeitung  erschienenen  Artikelserie,  die  für  das 
englische  Publikum  bestimmt,  diesem  auch  Deutschlands  Haltung  in 
Stimmung  und  politischer  Stellungnahme  in  den  letzten  Jahren  klar 
zu  machen  sucht.  Hervorzuheben  ist  die  Behauptung,  daß  erst  durch 
Deutschlands  Verhalten  seit  Tanger  (1905)  die  britischen  Abkommen 
mit  Frankreich  und  Rußland,  die  ursprünglich  im  wesentlichen  außer- 
europäische Bedeutung  besessen  hätten,  zu  wichtigen  Faktoren  der 
europäischen  Politik  Englands  gemacht  worden  seien. 

Neue  Bücher:  Bord,  Etudes  sur  la  question  Louis  XVII  (1792 
ö  1795)-  Autour  du  Temple,  II.  III.  (Paris,  Emile-Paul.)  —  La- 
hr 0  ue ,  La  mission  du  conventionnel  Lakanal  dans  la  Dordogne  en 
Van  II  {octobre  1793 — aoät  1794).  {Paris,  Champion.)  —  G  achot , 
1809.  Napoleon  en  Allemagne.  (Paris,  Plon-Nourrit  et  Cie.)  —  Christian 
JVl  e  y  e  r  ,  Der  Feldzug  nach  Rußland  im  Jahre  1812.  (München, 
Klübers  Nachf.  1,50  M.)  —  Kerchnawe  u.  Veltze,  Feld- 
marschall Karl  Fürst  zu  Schwarzenberg,  der  Führer  der  Verbündeten 
in  den  Befreiungskriegen.  (Wien,  Gerlach  <S  Wiedling.  20  M.)  — 
Des  Feldmarschalls  Fürsten  Schwarzenberg  Briefe  an  seine 
Frau  1799 — 1816,  herausg.  von  Joh.  Frdr.  Noväk.  (Wien,  Gerlach 
&  Wiedling.  20  M.)  —  V  i  t  e  n  s  e  ,  Mecklenburg  und  die  Mecklen- 
burger in  der  großen  Zeit  der  deutschen  Befreiungskriege  1813 — 1815. 
(Neubrandenburg,  Nahmmacher.  3,80  M.)  —  Bezzenberger, 
Ostpreußen  in  der  Franzosenzeit.    (Königsberg,  Gräfe  &  Unzer.    6  M.) 

—  B  0  r  r  e  y  ,  La  Francfie-Comti  en  18 14.  (Paris  et  Natjcy,  Berger^ 
Levrault.)  —  List,  Der  Kampf  ums  gute  alte  Recht  (1815—1819), 
nach  seiner  ideen-  und  parteigeschichtlichen  Seite.  (Tübingen,  Mohr. 
6  M.)  —  Otto  H  a  r  n  a  c  k  ,  Wilhelm  v.  Humboldt.  (Berlin,  Hof- 
mann &  Co.  3,60  M.)  —  B  0  ut  ar  d  ,  Lamennais,  sa  vie  et  ses  doctrines. 
III:  Education  de  la  democratie,  1834 — 1854.    (Paris,  Perrin  et  Cie.) 

—  P  f  i  s  t  e  r ,  Aus  den  Berichten  der  preußischen  Gesandten  in  der 
Schweiz  1842—1846.    (Bern,  Wyß.    2,50  M.)  —  K  u  I  e  n  k  a  m  p  f  f , 

16* 


244  Notizen  und  Nachrichten. 

Der  1.  vereinigte  preußische  Landtag  1847  und  die  öffentliche  Mei- 
nung Südwestdeutschlands.  (Berlin,  Rothschild.  3,50  M.)  —  N  i  - 
Castro,  Dal  quarantotto  al  sessanta :  contributo  alla  storia  econo- 
mica,  sociale  e  politica  della  Sicilia  nel  secolo  XIX.  (Milano-Roma- 
Napoli,  Albright,  Segati  e  C.  4,50  L.)  —  Or  s  i ,  Cavour  e  la  forma- 
zione  del  regno  d'Italia.  {Torino,  soc.  tip.  ed.  Nazionale.  3,50  L.)  — 
Charles- Roux,  Alexandre  II,  Gortchakoff  et  Napoleon  III. 
(Paris,  Plon-Nourrit  et  Cie.  8  fr.)  —  Fliegenschmidt,  Deutsch- 
lands Orientpoiitik  im  1.  Reichsjahrzehnt  1870—1880.  (1.  Tl.)  (Ber- 
lin, Puttkammer  &  JVlühlbrecht.  10  M.)  —  Alwrod,  La  Bateille 
du  Mans,  10,  11  et  12  janvier  1871.  {Angers,  Grassin.)  —  S  i  mo  nd  , 
Histoire  de  la  troisieme  Republique  de  i88y  ä  i8g4.  Presidence  de  M. 
Cur  not.    (Paris,  Charles-Lavauzelle.) 


Deutsche  Landschaften. 

Als  zweites  Heft  der  Veröffentlichungen  aus  dem  Stadtarchiv 
Colmar  ist  die  erste  Lieferung  des  Repertoriums  des  Stadtarchivs, 
aufgestellt  von  C,  Engel,  erschienen. 

Eine  Freiburger  Dissertation  von  K-  G.  Straub,  die  in  den 
Schriften  des  Vereins  für  Geschichte  des  Bodensees,  Heft  41  erscheint, 
behandelt  die  Schiffahrt  auf  dem  Oberrhein  im  Mittelalter,  ihre  äußere 
Entwicklung  und  ihre  Organisation  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
Basel  und  infolgedessen  hauptsächlich  auf  Grund  Basler  Urkunden. 

Aus  den  nachgelassenen  Papieren  von  Nebenius  gibt  Willy 
Andreas  die  Grundgedanken  einiger  aus  seinen  Anfängen  stam- 
menden Gutachten  über  die  Prinzipien  der  badischen  Verwaltung 
in  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins,  N.  F.  28,  1  wieder. 

Einige  Briefe  von  Görres,  Ittner,  Malchus,  Rau  und  Schuck- 
mann  an  den  Staatsrechtslehrer  Johann  Ludwig  Klüber,  die  haupt- 
sächlich Angelegenheiten  der  Universität  Heidelberg  besprechen,  teilt 
Karl  O  b  s  e  r  im  Februarheft  der  Mannheimer  Geschichtsblätter  mit. 

In  den  von  ihm  herausgegebenen  „Tübinger  Studien  für  schwä- 
bische und  deutsche  Rechtsgeschichte"  (2.  Bd.,  4.  Heft)  veröffentlicht 
Friedrich  Thudichum  eine  „Geschichte  der  Reichsstadt  Rottweil 
und  des  kaiserlichen  Hofgerichts  daselbst"  (Tübingen,  Laupp.  1911. 
VII  u,  95  S.  2,60  M.).  Bei  Darstellung  der  Stadtgeschichte  beschränkt 
sich  der  Verfasser  fast  ganz  darauf,  Urkundenauszüge  aneinanderzu- 
reihen. Ein  Abschnitt  über  das  Pürschgericht  geht  voran,  ein  inhalt- 
volleres, doch  auch  nicht  klar  durchgearbeitetes  Kapitel  über  das 
kaiserliche  Hofgericht  zu  Rottweil  bildet  den  Schluß. 


Deutsche  Landschaften.  245 

Aus  den  Württembergischen  Vierteljahrsheften  für  Landes- 
geschichte 22,  1  seien  die  Aufsätze  erwähnt  von  Wilhelm  Ohr:  Die 
Entstehung  des  Bauernaufruhrs  vom  armen  Konrad  1524,  von  J.  Z  e  1  - 
1er:  Zur  ältesten  Geschichte  des  Frauenklosters  Höfen  (Buchhorn) 
und  von  O.  Frhrn.  v.  Stotzingen:  Schwäbische  Ritter  und  Edel- 
knechte im  italienischen  Solde  im  14,  Jahrhundert. 

F.  Wintterlin  behandelt  in  den  Württembergischen  Jahr- 
büchern für  Statistik  und  Landeskunde  1912,  1  die  württembergische 
Verfassung  1815 — 1819.  Nach  kurzem  Überblick  über  die  altwürttem- 
bergischen  Zustände,  wie  sie  sich  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  heraus- 
gebildet hatten,  schildert  er  die  Verhandlungen  zwischen  Regierung 
und  Ständen,  die  nach  zweimaliger  Ablehnung  der  königlichen  Ent- 
würfe schließHch  1819  zur  Verleihung  der  Verfassung  führten.  Fünf 
Punkte  waren  es  hauptsächlich,  in  denen  die  Wünsche  der  Parteien 
auseinandergingen.  Sie  betrafen  die  Verantwortlichkeit  der  Minister, 
die  Frage,  ob  Ein-  oder  Zweikammersystem  eingeführt  werden  sollte, 
die  Existenz  eines  permanenten  Kammerausschusses,  den  Umfang  des 
Budgetrechts  und  die  Immunität  der  Abgeordneten.  Die  endgültige 
Verfassung  vom  27.  September  1819  beruht  auf  einem  Kompromiß; 
jede  Partei,  die  Regierung  sowohl  wie  die  Stände,  kam  den  Wünschen 
der  andern  entgegen. 

Im  Archiv  des  Historischen  Vereins  von  Unterfranken  und 
Aschaffenburg  Bd.  54  veröffentlicht  J.  F.  A  b  e  r  t  eine  aus  dem 
Jahre  1779  stammende  Denkschrift  Karl  Theodor  von  Dalbergs  über 
die  Verbesserung  der  Armenpolizei  im  Hochstift  Würzburg,  welche 
die  Grundlage  der  Reform  der  Armenpflege  durch  Fürstbischof  Franz 
Ludwig  von  Erthal  gebildet  hat.  Dasselbe  Heft  bringt  eine  Arbeit 
von  K.  R.  Frhrn.  v.  Thüngen:  Zur  Genealogie  der  Familie  Derer 
von  Thüngen. 

Die  Arbeit  von  F.  Tarrasch  über  den  „Übergang  des  Fürsten- 
tums Ansbach  an  Bayern"  (Historische  Bibliothek,  Bd.  32;  München 
u.  Berlin,  R.  Oldenbourg,  1912,  182  S.)  ergänzt  das  1902  erschienene 
Buch  von  K.  Süßheim  über  Preußens  Politik  in  Ansbach-Bayreuth 
1791—1806  (vgl.  H.  Z.  91,113).  Dieser  hatte  vor  allem  die  Versuche 
Hardenbergs  behandelt,  die  preußische  Macht  in  Franken  auszudehnen; 
Tarrasch  geht  von  den  bayerischen  Akten  aus  und  betrachtet  die  in 
natürlichem  Gegensatz  zu  der  preußischen  Politik  stehenden  baye- 
rischen Bestrebungen,  in  Franken  territorialen  Besitz  zu  erwerben. 
Die  beiden  Arbeiten  ergänzen  sich  auch  insofern,  als  Süßheims  Interesse 
zeitlich  in  den  Jahren  vor  1796,  vor  der  gescheiterten  Annexion  Nürn- 
bergs, liegt  und  immer  mehr  abnimmt,  je  mehr  sich  Preußen  in  Franken 
auf  die  Defensive  beschränkt;  Tarrasch  dagegen  setzt  gerade  mit  dem 


246  Notizen  und  Nachrichten. 

Zurückweichen  Preußens  ein  und  wird  immer  ausführlicher,  je  näher 
Bayern  seinem  Ziele,  der  Annexion  Ansbachs,  kam.  So  ist  sein  Buch, 
obwohl  es  in  der  Hauptsache  ja  nichts  Neues  bringen  konnte,  doch  nicht 
überflüssig.  Von  Einzelheiten  möchte  ich  nur  zwei  hervorheben,  ein- 
mal die  zynische  aber  für  die  ganze  Zeit  charakteristische  Äußerung 
von  Montgelas  über  die  bayerischen  Annexionen  des  Jahres  1806 
(S.  173):  „In  einer  Zeit,  wo  jeder  nehme,  was  er  kriegen  könne,  .  .  . 
könne  man  keine  Rücksichten  nehmen,  sonst  komme  einem  der  raub- 
lustige Nachbar  zuvor";  zweitens  die  Bestätigung,  die  die  Berichte 
des  bayerischen  Gesandten  Bray  aus  Berlin  für  die  zuerst  von  M.  Leh- 
mann aufgestellte  Vermutung  bringen,  daß  Haugwitz  im  November 
1805  eine  geheime  Instruktion  des  Königs  für  seine  Sendung  nach 
Schönbrunn  erhalten  hat  (S.  61  ff.).  F.  Härtung. 

In  die  Zeit  der  schlimmsten  Vielstaaterei  in  Deutschland,  die 
Zeit,  in  welcher  das  System  des  Sichumallesbekümmerns  seitens  der 
Regierungen  seinen  Höhepunkt  erreicht  hat,  führt  uns  die  Monographie 
von  Jakob  Wille  über  August  Graf  von  Limburg-Siirum,  Fürst- 
bischof von  Speyer  (Neujahrsblätter  der  Badischen  Historischen  Kom- 
mission 1913,  Heidelberg,  115  S.).  Unsere  Vorstellung  von  dieser 
Vielregiererei  des  damaligen  Polizeistaats  wird  auch  durch  dieses 
Einzelbeispiel  in  vollem  Maße  bestätigt.  Aber  trotzdem,  welch  über- 
raschend imponierende  und  in  vielen  Beziehungen  überaus  sympa- 
thische Erscheinung  tritt  uns  in  der  Persönlichkeit  dieses  vorletzten 
Fürstbischofs  von  Speyer  entgegen!  Das  hervorstechendste  Merkmal 
dieses  Mannes  ist  die  unglaubliche  Zähigkeit  und  Energie,  mit  der  er 
seinen  Willen  allen  Hemmnissen  gegenüber  durchsetzt.  Dies  zeigt 
sich  schon  in  der  Art,  wie  er  den  Bischofstuhl  besteigt:  mit  dem  ge- 
samten Domkapitel  aufs  heftigste  verfeindet,  weiß  er  es  doch  dahin 
zu  bringen,  daß  er  einstimmig  zum  Fürstbischof  erwählt  wird.  Wenn 
auch  dem  Lande  dies  Ergebnis  der  Wahl  zu  großem  Segen  gereicht  hat. 
So  hat  das  Domkapitel  selbst  sie  doch  zu  büßen  gehabt,  denn  von 
dem  Augenblick  an,  in  dem  der  neue  Herr  die  Zügel  in  die  Hand  ge- 
nommen hat,  wurde  es  vollständig  von  jedem  Einfluß  auf  die  Regierungs- 
tätigkeit ausgeschlossen,  Graf  August  leitete  seinen  Staat  in  denkbar 
autokratischer  Form,  sein  Kabinett  war  die  einzig  entscheidende 
Stelle;  aber,  wie  schon  gesagt,  seinen  Untertanen  schlug  dieses  System 
zum  Heil  aus.  Die  Finanzreform,  die  der  Fürstbischof  durchführte, 
ist  eine  bewundernswerte  und  heilsame  Leistung  gewesen.  Allerdings 
hatten  die  Beamten  unter  diesem  energischen,  dabei  aber  mit  recht 
vielen  Eigenheiten  behafteten  Herrn  kein  leichtes  Leben;  sie  mußten 
darauf  gefaßt  sein,  von  ihm,  wenn  er  es  für  angebracht  hielt  oder  wenn 
sein  Temperament  mit  ihm  durchging,  die  allergröbsten  Beschimpfungen 
einstecken  zu  müssen.    Willes  Darstellung  läßt  uns  die  eindrucksvolle 


Deutsche  Landschaften.  247 

Persönlichkeit  des  Bischofs  klar  vor  Augen  treten;  seine  Regierungs- 
tätigkeit schildert  er  nur  in  größten  Zügen,  er  will  ja  auch  nur  „Mi- 
niaturbilder aus  einem  geistlichen  Staat"  liefern.  Einige  der  Episoden, 
die  er  mitteilt,  sind  aber,  abgesehen  davon,  daß  sie  wundervolle  Schlag- 
lichter auf  den  Mann  und  auf  die  Zeit  werfen,  wahrhaft  köstlich;  sie 
werden  Jedem  Leser  ebensoviel  Freude  bereiten,  wie  sie  offenbar  dem 
Autor  bereitet  haben.  W.  Windelband. 

Die  „Kirchenbücher  aus  den  Regierungsbezirken  Koblenz  und 
Trier"  sind  in  den  Mitteil,  der  preuß.  Archivverw.  Heft  22,  1912,  von 
H.  Reimer  verzeichnet  worden.  Kirchenbücher  wurden  in  diesen 
Gebieten  seit  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  zuerst  von  Protestanten, 
wenig  später  auch  von  Katholiken  geführt.  Als  Endpunkt  für  das 
vorliegende  Verzeichnis  ist  1798,  das  letzte  Jahr  der  ,, alten  Kirchen- 
bücher" gewählt,  die  damals  (nach  dem  französischen  Gesetz  vom 
20.  Sept.  1792)  geschlossen  und  durch  Zivilstandsregister  der  Mairien 
ersetzt  wurden. 

Die  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  Kieler  Stadtgeschichte 
veröffentlichen  in  Heft  27  und  28  eine  von  Wolfgang  v.  Gersdorff 
verfaßte  Geschichte  des  Theaters  in  Kiel  unter  den  Herzogen  zu  Hol- 
stein-Gottorp  (Kiel  1912). 

Die  Hansischen  Geschichtsblätter,  Jahrgang  1912,  Heft  2  ver- 
öffentlichen den  von  Hans  Witte  während  des  Hansischen  Geschichts- 
tages am  28.  Mai  1912  gehaltenen  Vortrag  „Wismar  als  schwedisches 
Pfand  1803—1903". 

Band  12  der  Pommerschen  Jahrbücher,  herausgegeben  vom 
Rügisch-Pommerschen  Geschichtsverein  (1911),  bringt  einen  zu  wei- 
terem Forschen  anregenden  Aufsatz  von  Fritz  Curschmann 
„Die  Landeseinteilung  Pommerns  im  Mittelalter  und  die  Verwal- 
tungseinteilung der  Neuzeit"  (auch  als  besondere  Schrift  erschienen 
Greifswald  1911,  179  S.).  Um  allen  Mißdeutungen  von  vornherein 
vorzubeugen,  betont  der  Verfasser  gleich  eingangs,  daß  der  Gegen- 
stand nicht  in  einem  räumlich  beschränkten  Zeitschriftenaufsatz 
erschöpft  werden  kann.  Es  soll  hier  nur  der  Weg  gewiesen  werden, 
auf  dem  fortschreitend  man  allmählich  zur  ,, kartographischen  Fest- 
legung der  älteren  Landeseinteilung  Pommerns  kommen  kann".  So 
wird  auch  nicht  ganz  Pommern,  sondern  nur  der  westliche  Teil  Hinter- 
pommerns in  den  Rahmen  der  Betrachtung  gezogen,  d.  h.  ungefähr 
der  Regierungsbezirk  Stettin,  soweit  er  rechts  von  Oder  und  Dievenow 
liegt.  Leider  stoßen  die  Forschungen,  von  der  bis  heute  so  gut  wie 
unverändert  beibehaltenen  Kreiseinteilung  der  Jahre  1817/18  rück- 
wärts schreitend,  im  späteren  und  noch  mehr  im  früheren  Mittelalter 
auf  sehr  große  Schwierigkeiten,  die  durch  das  nicht  allzu  reichlich 


248  Notizen  und  Nachrichten. 

überlieferte  Material  an  Grenz-  oder  Besitzbeschreibungen  verursacht 
werden.  Um  so  mehr  ist  die  vom  Verfasser  geleistete  Arbeit  anzuer- 
kennen, die  der  Zusammensetzung  der  einzelnen  Landesteile  bis  ins 
kleinste  nachgeht.  In  dem  größeren  Teil  der  Arbeit,  in  dem  Anhang, 
werden  die  Belege  zu  den  vorhergegangenen  Ausführungen  gegeben, 
Tabellen  und  Urkundenregesten;  eine  sehr  übersichtliche  plastische 
Zusammenstellung  der  ermittelten  Ergebnisse  bietet  zum  Schluß 
die  in  unterscheidenden  Farben  angelegte  Karte  des  behandelten  Ge- 
bietes, die  den  Zustand  der  Verwaltungseinteilung  unmittelbar  vor 
der  Durchführung  der  neuen  Kreiseinteilung  Friedrich  Wilhelms  I. 
von  1724  darstellt. 

Stettin.  0.  Grotefend. 

Die  Beziehungen  des  Nürnberger  Handels  zum  Nordosten  Deutsch- 
lands bilden  das  Thema  zweier  Abhandlungen  Paul  O  s  t  w  a  I  d  s 
und  A.  Till  es  in  den  deutschen  Geschichtsblättern  Bd.  14,  Heft  4. 
„Die  Gewinnung  Nordostdeutschlands  für  den  Nürnberger  Handel" 
setzt  Tille  in  die  zweite  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts.  Erst  verhältnis- 
mäßig spät  ist  Nürnberg  in  den  internationalen  Verkehr  eingetreten. 
Das  Ergebnis  Tilles  wird  bestätigt  durch  Ostwalds  lokal  begrenztere 
Untersuchung  über  die  „Nürnberger  Kaufleute  im  Lande  des  deutschen 
Ordens".  Die  Handelsleute  Nürnbergs  fanden  hier  seit  der  zweiten 
Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  reichen  Absatz  für  ihre  Waren,  namentlich 
Stahlwaren,  bis  ein  Erlaß  des  Hochmeisters  vom  3.  Mai  1448  die 
schädliche,  den  Einheimischen  verhaßte  Konkurrenz  der  Süddeutschen 
beseitigte. 

G.  C  r  0  0  n  ,  Die  landständische  Verfassung  von  Schweidnitz- 
Jauer.  {Codex  diplomaticus  Silesiae,  Bd.  27.)  Breslau,  Ferd.  Hirt.  1912, 
XII  u.  388  S.  —  Die  Geschichte  der  ständischen  Verfassung  in  den 
einzelnen  schlesischen  Fürstentümern  ist  in  Rachfahls  grundlegendem 
Werk  über  die  Gesamtstaatsverwaltung  Schlesiens,  das  sich  unter  ande- 
rem die  Aufgabe  gesetzt  hat,  die  Entwicklung  der  Generalstände  und 
des  Fürstentages  aufzuklären,  nicht  eingehender  erörtert  worden.  Es  ist 
dankenswert,  daß  Croon  begonnen  hat,  diese  Lücke  zu  schließen.  Der 
gut  erhaltene  Bestand  der  Landtagsakten  lenkte  seine  Wahl  auf  die 
Fürstentümer  Schweidnitz-Jauer.  —  Der  darstellende  Teil  seines  Werkes 
geht  aus  von  den  „Vorläufern  der  landständischen  Verfassung  in  Schle- 
sien" und  behandelt  dann  in  vier  Kapiteln  des  zweiten  Buches  die 
landständische  Verfassung,  die  sich  in  Schweidnitz-Jauer  bemerkens- 
werterweise in  vielen  wesentlichen  Zügen  durchaus  in  Übereinstimmung 
mit  der  allgemein-deutschen  Entwicklung  vollzogen  hat,  sobald  einmal 
die  Fundamente  des  Ständestaates  gelegt  waren.  Der  dualistische 
Charakter  des  Ständestaates  trat  auch  in  Schlesien  um  die  Mitte  des 


Deutsche  Landschaften.  249 

14.  Jahrhunderts  klar  hervor.  Wie  nun  aber  im  Kampf  des  Fürsten- 
tums mit  den  Ständen  sich  die  Verfassung  entwickelte,  bleibt  in  Croons 
Darstellimg  ungewiß.  Daß  seine  Arbeit  hier  versagt,  liegt  zum  Teil 
an  der  Vernachlässigung  der  Steuergeschichte,  die  das  Rückgrat  der 
landständischen  Geschichte  bilden  sollte.  Gelegentliche  Bemerkungen 
der  folgenden  Abschnitte  lassen  deutlich  erkennen,  daß  die  ständische 
Verfassung  auch  in  Schweidnitz-Jauer  im  Zusammenhang  mit  der 
Einführung  allgemeiner  Landessteuern  und  den  Anfängen  des  Obrig- 
keitsstaates entstanden  ist.  —  Das  zweite  Kapitel,  das  zu  einer  mehr 
systematischen  Darstellung  übergeht,  setzt  die  Existenz  einer  aus- 
gebildeten landständischen  Verfassung  voraus;  es  behandelt  die  Land- 
standschaft der  einzelnen  Stände  im  16.  und  17.  Jahrhundert.  Von 
nun  an  verknüpft  sich  die  Geschichte  des  Ständewesens  mit  der  all- 
gemeinen Verfassungs-  und  Verwaltungsgeschichte  der  Fürstentümer. 
Im  Kapitel  3  sind  die  Organe  der  Landesherrschaft  und  der  Land- 
stände, in  Kapitel  4  die  einzelnen  Gebiete  der  Verwaltung,  Finanz- 
verwaltung, Gerichtswesen  und  Heereswesen,  behandelt.  Angedeutet 
wenigstens  ist  der  bedeutende  Umfang  der  auf  den  Landtagen  des 
16.  und  17.  Jahrhunderts  entwickelten  Tätigkeit,  die  sich  auch  auf  die 
Landeswohlfahrt  und  Regelung  des  wirtschaftlichen  Lebens,  des  Han- 
dels, Verkehrs  und  Gewerbewesens  erstreckte.  Diese  Seite  der  ständi- 
schen Tätigkeit  sollte  ganz  besonders  beachtet  werden  (vgl.  z.  B. 
M.  Haß,  Die  kurmärkischen  Stände  im  letzten  Drittel  des  16.  Jahr- 
hunderts, 1913,  S.  135  ff.);  denn  es  fehlt  bisher  an  Vorarbeiten,  auf 
denen  sich  eine  umfassendere  Geschichte  der  Entstehung  des  abso- 
luten Staats  und  des  Merkantilismus  aufbauen  könnte.  —  Die  pro- 
vinzialgeschichtliche  Literatur  ist  von  Croon  gewissenhaft  herangezogen 
worden.  Verdienstlich  wie  der  darstellende  Teil  ist  auch  die  sorgfältige 
Publikation  der  Urkunden  und  Akten  (1330—1742,  1809),  der  zum 
Schluß  ein  Namen-  und  Sachregister  beigefügt  ist.       Spangenberg. 

C.  B  1  a  s  e  1  gibt  in  den  Darstell,  u.  Quellen  z.  schles.  Gesch. 
Bd.  17  (Breslau,  Hirt,  1912,  IV  u.  126  S.)  eine  wissenschaftlich  wenig 
ertragreiche  „Geschichte  von  Kirche  und  Kloster  St.  Adalbert  zu 
Breslau".  Ziekursch. 

In  die  Zeit  der  Freiheitskriege  führen  drei  Publikationen  der 
Mitteil,  des  Geschlchts-  und  Altertums-Vereins  zu  Liegnitz,  Heft  4, 
1911/12:  „Lebenserinnerungen  des  Generalleutnants  Carl  v.  Wedel, 
1810 — 1813  (Kurt  T  r  o  e  g  e  r),  „Zeitgenössische  Mitteilungen  über 
die  kriegerischen  Ereignisse  in  Liegnitz  und  Umgebung  während  der 
Zeit  vom  26.  Mai  1813  bis  zur  Schlacht  an  der  Katzbach"  (Heinrich 
V.  N  a  t  z  m  e  r)  und  28  bisher  unveröffentlichte  Briefe  Blüchers  aus 
dem  V.  Heinenschen   Familienarchiv  in   Groß-Wandriß  (1813 — 1815), 


/ 


250  Notizen  und  Nachrichten. 

welche  zum  Teil  die  Erwerbung  und  Ordnung  der  dem  Feldherrn  1814 
mit  seiner  Ernennung  zum  Fürsten  versprochenen  Dotation  betreffen 
und  an  Karl  v.  Heinen,  Blüchers  Generalbevollmächtigten  in  der  Ver- 
waltung seiner  Güter,  gerichtet  sind  (Superintendent  v.  Hase). 

In  allzugroßer  Breite  schildert  Mathias  Rupertsberger  in 
seinem  Buche  „Ebelsberg  Einst  und  Jetzt.  Ein  ortsgeschichtlicher  Ver- 
such" (Linz-Ebelsberg  1912,  Kommissionsverlag  des  katholischen 
Preßvereins  Linz)  die  Geschichte  dieses  alten  oberösterreichischen 
Marktes,  sowie  der  Pfarre  und  des  Schlosses  und  der  Herrschaft  Ebels- 
berg. Der  Verfasser  hat  in  Wiener,  Münchner,  Linzer,  Landshuter, 
St.  Florianer  und  anderen  Archiven  zwar  ein  reichhaltiges  Material 
für  seine  Zwecke  zusammengebracht,  es  aber  nicht  genügend  ver- 
arbeitet, so  daß  das  Buch  eher  eine  Materialiensammlung  zur  Ge- 
schichte des  Marktes  Ebelsberg  als  eine  abgerundete,  lesbare  Geschichte 
desselben  darstellt.  Da  werden  dem  Leser  die  selbstverständlichsten 
Dinge,  wie  z.  B.  „Schnelles  Fahren  verboten"  (Reichsstraße  und  Auto- 
mobilverkehr!) zur  Lektüre  vorgelegt.  Nur  so  konnte  der  Umfang  des 
Buches,  abgesehen  von  den  (übrigens  recht  guten)  Bildern  und  Karten 
auf  462  Seiten  anwachsen.  Der  Abschnitt  über  den  Markt  bringt 
Erläuterungen  über  Name,  Wappen  und  -Bilder,  über  die  Marktord- 
nung) und  die  Märkte  überhaupt  und  die  ganze  äußere  und  innere 
Entwicklung  und  in  gleicher  Weise  werden  Einzelheiten  über  die 
Geschichte  der  Pfarre  und  des  Schlosses  gegeben.  Aus  dem  ersten 
Teile  mögen  die  Abschnitte  „Ebelsberg  im  Bauernkriege"  und  „Ebels- 
berg in  den  Napoleonskriegen",  aus  dem  zweiten  der  Abschnitt  über 
die  Gegenreformation  besonders  hervorgehoben  werden. 

Graz.  J.  Loserth. 

Das  Archiv  für  österreichische  Geschichte,  Bd.  102,  erste  Hälfte, 
Wien  1913,  veröffentlicht  zwei  neue  Abhandlungen  zum  historischen 
Atlas  der  österreichischen  Alpenländer:  „Die  Pfarren  als  Grundlage 
der  politisch-militärischen  Einteilung  der  Steiermark"  (Hans  Pircheg- 
g  e  r)  und  „Geschichte  der  Gerichte  Deutschtirols"  (Otto  Stolz). 
Stolz  behandelt  1.  die  Entwicklung  und  Ausdehnung  der  Grafschaften 
als  Grundlagen  der  späteren  Gerichtseinteilung,  2.  die  Auflösung  der 
Grafschaften  und  die  Entstehung  der  territorialen  Gerichte  Deutsch- 
tirols, 3.  die  Grundzüge  der  Gerichtsverwaltung  vom  13.  bis  18.  Jahr- 
hundert, 4.  besondere  Standes-  und  Realgerichte,  5.  die  Gemeinden 
und  ihr  Verhältnis  zu  den  Gerichten,  6.  die  Viertels-  und  Kreiseinteilung, 
7.  die  Kulturgeographie  der  Grenzbildung  in  Tirol.  Nicht  berücksichtigt 
sind  die  Zentralgerichte  und  das  Gerichtsverfahren. 

Das  kürzlich  vollendete  Werk  Raimund  Friedr.  Kaindls  über 
die  Geschichte  der  Deutschen  in  den  Karpathenländern  (3  Bde.,  Gotha 


Deutsche  Landschaften.  251 

1907 — 1911,  F.  A.  Perthes)  hat  Franz  Ilwof  die  Anregung  geboten, 
die  Leser  der  Preußischen  Jahrbücher  (Bd.  150,  Heft  3,  1912)  in  einem 
zusammenfassenden  Essai  über  die  Forschungsergebnisse  Kaindls  zu 
unterrichten.  Er  schildert  die  Entstehung  der  deutschen  Ansiedlungen, 
die  sich  nördlich  und  südlich  der  Karpathen  von  Galizien  durch  die 
Bukowina,  Ungarn,  Siebenbürgen,  Kroatien  und  Slavonien  bis  nach 
Rumänien  ausgedehnt  haben,  und  verfolgt  deren  Entwicklung  von 
ihrem  Ursprünge  im  8.  Jahrhundert  bis  zur  Gegenwart. 

Neue  Bücher:  O  e  c  h  s  1  i ,  Geschichte  der  Schweiz  im  19.  Jahr- 
hundert. 2.  Bd.  (Leipzig,  Hirzel.  14  M.)  —  Gagliardi,  Doku- 
mente zur  Geschichte  des  Bürgermeisters  Hans  Waldmann.  2.  Bd. 
(Basel,  Basler  Buch-  u.  Antiquariatshandlung.  13,60  M.)  —  B  u  r  c  k  - 
h  a  r  d  t ,  Die  Geschichte  der  Stadt  Basel  von  der  Trennung  des  Kan- 
tons bis  zur  neuen  Bundesverfassung  1833 — 1848.  2.  Tl.  (Basel, 
Helbing  <S  Lichtenhahn.  1 ,40  M.)  —  Württembergische  Archivinventare, 
hrsg.  V.  d.  Württemberg.  Kommission  f.  Landesgeschichte.  Heft  2 — 6. 
{Stuttgart,  Kohlhammer.  5,50  M.)  —  Hohenlohisches  Urkundenbuch 
hrsg.  von  Karl  W  e  1 1  e  r  und  Christian  Belschner.  3.  Bd.  1351 
bis  1375.  (Stuttgart,  Kohlhammer.  15  M.)  —  H  e  1  d  w  e  i  n  ,  Die 
Klöster  Bayerns  am  Ausgange  des  Mittelalters.  (München,  Lindauer. 
4  M.)  —  Monumenta  Boica.  53.  Bd.  Neue  Folge  7.  Bd.  Regensburger 
Urkundenbuch.  1.  Bd.  (München,  Franz.  12  M.)  —  Seh  oll  er, 
Das  Münzwesen  der  Reichsstadt  Nürnberg  im  16.  Jahrhundert,  (Nürn- 
berg, Schräg.  5  M.)  —  Frdr.  Weber,  Geschichte  der  fränkischen 
Reichsdörfer  Gochsheim  und  Sennfeld.  (Schweinfurt,  Stoer.  10  M.) 
—  Günth.  Schmidt,  Das  würzburgische  Herzogtum  und  die  Grafen 
und  Herren  von  Ostfranken  vom  11.  bis  zum  17.  Jahrhundert.  (Wei- 
mar, Boehlau.  4,20  M.)  —  Chroust,  Das  Großherzogtum  Würz- 
burg (1806—1814).  (Würzburg,  Stürtz.  2  M.)  —  Westfälisches  Urkun- 
denbuch. 8.  Bd.  Bearb.  von  Krumbholtz.  (Münster,  Regens- 
J)erg.  7,50  M.)  —  Israel,  Das  Wittenberger  Universitätsarchiv, 
seine  Geschichte  und  seine  Bestände.  (Halle,  Gebauer-Schwetschke. 
4,50  M.)  —  K  r  a  b  b  0  ,  Regesten  der  Markgrafen  von  Brandenburg 
aus  askanischem  Hause.  3.  Lfg.  (München,  Duncker  <S  Humblot. 
4,40  M.)  —  W  ä  s  c  h  k  e  ,  Anhaltische  Geschichte.  2.  Bd.  (Cöthen, 
Schulze.  5  M.)  —  Luschin  v.  Ebengreuth,  Wiener  Münz- 
wesen im  Mittelalter.  (Wien,  Fromme.  5,50  M.)  —  Adf.  A  1 1  m  a  n  n  , 
Geschichte  der  Juden  in  Stadt  und  Land  Salzburg  von  den  frühesten 
Zeiten  bis  auf  die  Gegenwart.    1.  Bd.    (Berlin,  Lamm.    6  M.) 


252  Notizen  und  Nachrichten. 

Vermischtes. 

Für  den  zweiten  Preis  der  v.  Frege-Weltzienstiftung 
hat  die  Kgl.  Sächsische  Kommissionfür  Geschichte 
die  folgende  Aufgabe  gestellt:  „Die  Sequestration  der  Leipziger  Rats- 
verwaltung im  17.  Jahrhundert".  Die  Kommission  wünscht  eine  auf 
die  Quellen  gegründete  Darstellung  der  großen,  von  der  kurfürstlich- 
sächsischen Regierung  angeordneten  Untersuchung  über  das  Schulden- 
wesen und  den  Haushalt  der  Stadt  Leipzig,  die  im  Jahre  1627  zur  Se- 
questration der  gesamten  städtischen  Verwaltung  führte.  Die  Kom- 
mission legt  Wert  auf  eine  Behandlung,  welche  an  dem  Beispiele  Leip- 
zigs sichere  Ergebnisse  zu  einer  vertieften  Auffassung  der  Wirtschafts- 
und Verwaltungsgeschichte  einer  großen  deutschen  Stadt  des  17.  Jahr- 
hunderts bietet.  Bearbeitungen  sind  bis  zum  31.  Dezember  1914 
an  die  Kommission,  Leipzig,  Universitätsstraße  ll/III,  einzusenden. 
Preis  1000  M. 

Am  5.  April  ist  Henry  Simonsfeld  in  München  im 
61.  Lebensjahre  gestorben.  Seine  wissenschaftliche  Arbeit  galt  früher 
vornehmlich  der  Geschichte  Venedigs,  zuletzt  der  Zeit  Kaiser  Fried- 
richs I. 

Zwei  Jahre  nach  Conrad  Varrentrapps  Tode  ist  der 
Gedächtnisrede  v.  d.  Ropps  (H.  Z.  107,  345  ff.)  ein  ausführlicher  und 
liebevoll  eindringender  Nachruf  aus  der  Feder  K.  W  e  n  c  k  s  gefolgt, 
der  insbesondere  darauf  ausgeht,  die  wichtigsten  Arbeiten  Varren- 
trapps nach  der  wissenschaftlichen  und  der  biographischen  Seite  zu 
kennzeichnen. 


Beriditigung. 

In  der  Besprechung  von  Konschel,  Königsberger  Religionsprozeß 
Bd.  110,  S.  597  ist  Z.  9  v.  u.  statt  „Mediziner  Ebel"  zu  lesen:  „Medi- 
ziner Sachs". 


Studien  zur  Entwicklung  und  Bedeutung 
der  universalgeschichtlichen  Anschauung. 


Von 

J.  Kaerst. 


Der  Überblick  über  die  Entwicklung  moderner  ge- 
•schichtlicher  Auffassung,  den  wir  in  unserem  ersten  Auf- 
satze zu  geben  versucht  haben,  hat  gezeigt,  wie  eine  in  die 
Eigenart  des  geschichtlichen  Lebens  sich  immer  mehr  ver- 
tiefende Anschauung  —  bei  aller  intensiven  Arbeit,  die  den 
Einzelinhalten  dieses  geschichtlichen  Lebens  zugewandt 
wurde  —  doch  zugleich  in  einer  universalhistorischen  Idee 
gipfelte.  Es  war  die  Idee  eines  allgemeinen  Zusammen- 
hangs, in  dem  die  historischen  Einzelbildungen  erst  in  le- 
bendiger Wechselwirkung  sich  verflechten  und  in  ihrer 
besonderen  Art  und  Wirksamkeit  gestalten.  Diese  universal- 
historische Ansicht  steht  im  Gegensatze  zur  klassizistischen 
Anschauung.  Der  Klassizismus  sah  die  Geschichte  des 
Altertums  als  eine  völlig  abgeschlossene  Entwicklung  einer 
großen  vergangenen  Kulturperiode  der  Menschheit  an. 
Eine  bestimmte  Nation,  die  in  der  organischen  Entfaltung 
ihres  geschichtlichen  Wesens  zur  klassischen,  für  alle  Zeiten 
vorbildlichen  Repräsentantin  eines  Weltalters  allgemein 
menschlicher  Kulturentwicklung  geworden  ist,  hat  ihr 
Leben  in  politischer  und  kultureller  Beziehung  ausgelebt. 


1)  Vgl.  H.  Z.  106,  S.  473  ff. 
Historische  Zeitsclirift  (til.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  17 


254  J.  Kaerst, 

Mit  dem  inneren  Erlöschen  dieser  Kultur  hat  sich  die  Ge- 
schichte des  Altertums  als  einer  auf  sich  ruhenden  Periode 
der  Menschheitsgeschichte  vollendet. 

Nun  wird  allerdings  heutzutage  der  Klassizismus,, 
wenigstens  in  seiner  ursprünglichen  Form,  auch  in  der 
Altertumswissenschaft  kaum  mehr  aufrechterhalten.  Aber 
er  wirkt  noch  fort  in  der  Ansicht  von  der  Abgeschlossenheit 
der  antiken  Entwicklung,  die  gerade  in  der  neueren  For- 
schung mit  der  größten  Entschiedenheit  vertreten  wird. 
Diese  Ansicht  wird  zum  Teil  auch  noch  durch  Anschauungen,, 
die  auf  dem  Boden  einer  anderen  allgemeinen  Auffassung, 
erwachsen  sind,  gestärkt.  Es  ist  deshalb  unsere  Aufgabe,, 
sie  einer  genaueren  Prüfung  zu  unterziehen. 

Mit  der  Annahme  einer  völligen  Abgeschlos- 
senheit des  Altertums  steht  in  enger  Verbindung  die 
Meinung,  daß  zwischen  der  antiken  und  christlich-mo- 
dernen Geschichte  ein  P  a  r  a  1 1  e  1  i  s  m  u  s  obwalte.  Das 
Altertum  bedeutet  danach  nicht,  wie  es  in  der  herkömm- 
lichen Einteilung  in  Altertum,  Mittelalter  und  Neuzeit 
vorausgesetzt  wird,  einen  Teil  oder  eine  Stufe  einer  allge- 
mein-geschichtlichen Entwicklung,  sondern  ein  gewisser- 
maßen für  sich  bestehendes  Ganzes  neben  oder  gegen- 
über   der  Geschichte   der    christlich-modernen    Menschheit. 

Es  ist  notwendig,  die  einander  entgegengesetzten  An- 
schauungen in  ihrer  vollen  Tragweite  zu  erfassen.  Für  das 
universalgeschichtliche  Denken  Rankes  ist  der  Gesichts- 
punkt einer  Kontinuität  des  geschichtlichen  Lebens 
von  entscheidender  Bedeutung. i)  Der  Idee  der  Kontinuität 
historischer  Entwicklung  steht  der  Gedanke  der  völligen 
Abgeschlossenheit  der  Geschichte  des  Altertums,  die  ihren 
Kreislauf  in  sich  selbst  vollendet  hat,  gegenüber.  In  charak- 
teristischen Äußerungen  moderner  Forscher  tritt  uns  dieser 
Gedanke  in  seiner  vollen  Schärfe  entgegen.  Die  Entwick- 
lung der  Mittelmeervölker  ist  danach  „bisher  in  zwei  paral- 
lelen Perioden  verlaufen."   Im  Altertum  sehen  wir  ,,in  andert- 


1)'  In  diesem  Sinne  spricht  Ranke  (Weltgesch.  IX,  2,  S.  XIII) 
von  der  bewunderungswürdigen  Stetigl<eit  des  allgemeinen  Zusammen- 
hanges. 


Studien  z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  255 

halb  Jahrtausenden  eine  Kultur  den  ganzen  Kreislauf 
ihrer  Entwicklung  durchmachen".  .,Mit  dem  Untergang 
des  Altertums  hebt  die  Entwicklung  von  neuem  an;  sie 
kehrt  wieder  zurück  zu  primitiven  Zuständen,  die  sie  ein- 
mal schon  längst  überwunden  hatte. "^)  In  sehr  scharf  zu- 
gespitzter Formulierung  hat  man  hervorgehoben,  daß  die 
Geschichte  der  christlichen  Welt  nicht  ein  zweiter  und  dritter 
Akt  der  Weltgeschichte  sei,  sondern  „die  Wiederholung  des 
gleichen  großen  Dramas  vom  Menschen". 2) 

Es  läßt  sich  kaum  ein  größerer  Gegensatz  denken,  als 
zwischen  der  soeben  skizzierten  Anschauung  und  den  Ge- 
danken, wie  sie  Ranke,  z.  B.  in  der  tiefsinnigen  Einleitung 
zur  Geschichte  der  Päpste,  über  das  Verhältnis  des  Alter- 
tums zur  folgenden  Entwicklung  ausgesprochen  hat. 3) 
Aus  der  Annahme  einer  im  Kreislaufe  erfolgten  abgeschlos- 
senen Entwicklung  des  Altertums  ergeben  sich  weitere 
Folgerungen  von  allgemeiner  Tragweite.  Der  Auffassung 
von  einem  wesentlich  einmaligen  großen  Prozesse 
geschichtlicher  Entwicklung,  einem  inneren  Zusammenhang 
des  historischen  Gesamtlebens  wird  an  einem  entscheidenden 
Punkte  der  Boden  entzogen.  Es  liegt  dann  der  Schluß 
nahe,  daß  die  geschichtliche  Entwicklung  überhaupt  in 
einer  Reihe  von  solchen  parallelen  Kreisen  verläuft. 


*)  Ich  fasse  hier  die  Ausführungen  von  E.  Meyer  (vor  allem 
in  seinen  Vorträgen  über  die  wirtschaftliche  Entwicklung  des  Alter- 
tums und  über  die  Sklaverei  im  Altertum  =  „Kleine  Schriften"  1910, 
S.  79  ff.  u.  S.  171  ff.;  vgl.  z.  B.  S.  89.  159  f.  175.  188.  212)  und  von 
Wilamowitz  (vornehmlich  in  seiner  Rede  über  Weltperioden  =  Reden 
und  Vorträge  S.  120  ff.)  zusammen.  Die  Darlegungen  von  E.  Bethe 
(in  der  Zeitschrift  „Der  Lotse"  I,  1901)  bewegen  sich  im  wesentlichen 
in  den  Bahnen  der  Auffassung  von  Wilamowitz  und  E.  Meyer.  Der 
Gesichtspunkt  des  Parallelismus  der  antiken  und  mittelalterlich-neu- 
zeitlichen Entwicklung  wird  besonders  stark  von  E.  Meyer  betont. 
Allerdings  sind  ihm  auch  die  Differenzen  zwischen  beiden  Entwick- 
lungen nicht  verborgen  geblieben  (vgl.  z.  B:  Kleine  Schriften  S.  34,  1 ; 
89,  1).  Aber  sie  kommen  doch  gegenüber  jenem  beherrschenden  Ge- 
sichtspunkte des  parallelen  Verlaufes  weniger  zur  Geltung. 

2)  E.  Bethe  a.  a.  O. 

3)  V.  Wilamowitz  hat  auch  selbst  den  Gegensatz  seiner  Auffas- 
sung zu  derjenigen  Rankes  deutlich  hervorgehoben  (vgl.  a.  a.  O.  S.  131  f. 
mit  S.  126). 

17* 


256  J.  Kaerst, 

An  die  Stelle  der  Idee  eines  fortschreitenden  geschichtlichen 
Lebens  tritt  die  eines  allgemeinen  Kreislaufs.^) 

Es  ist  einleuchtend,  daß  für  eine  solche  Auffassung 
die  unter  bestimmten  Voraussetzungen  in  verschiedenen 
Zeitaltern  wiederkehrenden  analogen  Vorgänge  und  Er- 
scheinungen des  gesellschaftlichen,  wirtschaftlichen,  gei- 
stigen Lebens  eine  besondere  Bedeutung  gewinnen.  Die 
typischen  Momente  geschichtlicher  Entwicklung  bilden 
vor  allem  den  Nährboden  für  diese  Anschauung. 2)  Von  dem 
Gesichtspunkte  des  Typischen  aus  hat  man  auch  die  Ein- 
teilung der  Geschichte  im  Altertum,  Mittelalter  und  Neuzeit 
umgedeutet  und  verwandt,  um  gewisse  Gruppen  analoger 
geschichtlicher  Phänomene  unter  gemeinsamen  Begriffen  zu- 
sammenzufassen. Das  Mittelalterliche  bezeichnet  dann  be- 
stimmte Formen  sozialer,  wirtschaftlicher  und  seelischer  Gebun- 
denheit, die  in  verschiedenen  Zeitaltern  uns  entgegentreten.^) 


1)  Diese  Ansicht  wird  ja  auch  in  ihrer  prinzipiellen  Bedeutung 
sowohl  von  Wilamowitz  (in  der  angeführten  Rede  über  Weltperioden) 
wie  von  E.  Meyer  (vgl.  z.  B.  Gesch.  d.  Altertums  I,  1^,  S.  82,  aller- 
dings mit  gewissen,  der  Eigenart  und  Singularität  der  geschichtlichen 
Faktoren  Rechnung  tragenden  Einschränkungen)  ausgesprochen.  Die  von 
Wilamowitz  vertretene  Auffassung  von  einem  Kreislauf  des  geschicht- 
lichen Lebens  hat  anscheinend  eine  ihrer  tiefsten  Wurzeln  in  den 
Vorstellungen  des  Altertums  selbst.  Eben  Wilamowitz  weist  ja  auch 
ausdrücklich  auf  Platens  geschichtsphilosophische  Gedanken  hin  (a.  a. 
O.  S.  133)  und  hebt  besonders  hervor,  daß  , .eigentlich  die  Rückkehr 
zum  Ausgangspunkt  mit  bezeichnet  wird,  wenn  wir  den  Hellenen  das 
Wort  Periode  nachbraüchen"  (a.  a.  O.  S.  132). 

2)  Die  systematische,  prinzipielle  Ausbildung  der  auf  das  Typische 
gerichteten  Anschauung  ist  in  späterem  Zusammenhange  noch  zu  wür- 
digen. Hier  soll  nur  ihre  innere  Verbindung  mit  der  Theorie  paral- 
leler, im  Kreislaufe  erfolgender  Entwicklungen  angedeutet  werden. 
Diese  Theorie  wird  zum  Teil  auch  wieder,  wie  z.  B.  bei  E.  Meyer, 
durch  ein  sicheres  Augenmaß  für  den  individuellen  Verlauf  histori- 
schen Geschehens  in  ihren  Konsequenzen  abgeschwächt.  Die  klassizi- 
stische Anschauung  —  in  ihrer  ursprünglichen  Form  —  steht  natür- 
lich auch  zu  dieser  Theorie  insofern  in  einem  gewissen  Gegensatze, 
als  die  innere  Kraft  des  Klassizismus  in  der  Betrachtung  der  abge- 
schlossenen Entwicklung  des  Altertums  als  einmaliger  besonderer 
Ausprägung  allgemein  menschlichen  Wesens  liegt. 

')  Die  Auffassung,  daß  die  Entwicklung  des  Altertums  sich  in 
bestimmten  Stufen,  die  einen  gewissen  Parallelismus  zu  denen  der 
mittelalterlich-modernen  Welt  darstellten,  vollzogen  habe,  ist  an  sich 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  257 

Der  Begriff  des  Neuzeitlichen  nähert  sich  im   allgemeinen 
dem  Begriff  der  Vollkultur.i) 

Wir  sehen  hier  davon  ab,  daß  die  Bestimmung  und 
Begrenzung  dieser  allgemeinen  geschichtlichen  Entwick- 
lungsperioden eine  schwankende  ist. 2)  Das  darf  jedenfalls 
ohne  weiteres  zugegeben  werden,  daß  die  Zusammenfassung 
verwandter  Erscheinungen  unter  einheitlrchen  Gesichts- 
punkten sich  vielfach  als  fruchtbar  erwiesen  und  dazu  bei- 
getragen hat,  den  Blick  für  das  Charakteristische  einzelner 
geschichtlicher  Entwicklungen  zu  schärfen.  Indessen,  es 
erhebt  sich  jetzt  die  wichtige,  allgemeine  Frage:  Knüpft 
sich  unser  universalhistorisches  Interesse  vor  allem  an  solche 
parallele,  vielleicht  typisch  wiederkehrende  Entwicklungs- 
reihen? Es  ist  ein  zentrales  Problem  historischer  Auffassung, 
vor  das  wir  uns  hiermit  gestellt  finden.  Bedeutet  das  Uni- 
versalhistorische den  Inhalt  oder  die  Form  geschicht- 
lichen Lebens?  Mit  anderen  Worten:  Sind  die  großen  Perio- 
den weltgeschichtlicher  Entwicklung  durch  einen  gemein- 
samen Inhalt  untereinander  verbunden  oder  liegt  das  Ge- 
meinsame nur  in  den  wesentlich  gleichartigen  Formen 
universalgeschichtlichen  Verlaufes?  Diese  Frage  ist  eine 
rein  historische  und  läßt  sich  nur  aus  der  Geschichte  selbst 
beantworten.  Wir  fassen  demgemäß  das  Problem  des  Ver- 
hältnisses, in  dem  die  Geschichte  des  Altertums  zu  unserer 


nicht  neu.  So  hat  H.  Leo,  worauf  vornehmlich  v.  Below  hinge- 
wiesen hat,  in  seinem  Lehrbuch  der  Universalgeschichte  die  Bezeich- 
nung: ,, Altertum"  und  , .Mittelalter"  schon  auf  die  Geschichte  Grie- 
chenlands angewandt,  und  auch  F.  G.  Welcker  spricht,  wie  v.  Wila- 
mowitz,  Staat  und  Gesellsch.  d.  Griechen  S.  29  in  Erinnerung  ge- 
bracht hat,  in  der  Einleitung  zum  2.  Bande  der  griech.  Götterlehre 
(S.  5  f.)  von  einem  griechischen  Mittelalter.  Für  die  moderne  For- 
schung ist  es  aber  charakteristisch,  daß  dieser  Parallelismus  in  weiterem 
Umfange  durchgeführt  und  zur  Grundlage  einer  umfassenden  histori- 
schen Gesamtanschauung  gemacht  wird. 

^)  So  wie  diesen  vor  allem  Vierkandt  in  seinem  Buche  über  Natur- 
völker und  Kulturvölker  zu  bestimmen  versucht  hat.  Vgl.  auch  Bil- 
leter,  Die  Anschauungen  vom  Wesen  des  Griechentums  S.  343  f. 

*)  So  stimmen  z.  B.  in  der  Begrenzung  der  mittelalterlichen 
Periode  E.  Meyer  (vgl.  namentlich  Kl.  Sehr.  S.  99)  und  Poehlmann, 
Aus  Altertum  und  Gegenwart '^  S.  108,  1  (vgl.  auch  Lamprecht,  D. 
Gesch.  III,  S.  4 f.)  nicht  ganz  überein. 


258  J.  Kaerst,       . 

mittelalterlich-modernen  Entwicklung  steht,  genauer  ins 
Auge.  Es  handelt  sich  ja  hier  unzweifelhaft  um  ein  universal- 
geschichtliches Verhältnis  von  entscheidender  Bedeutung, 
aus  dem.  sich  uns  zugleich  auch  weitere  Folgerungen  für  das 
Wesen  des  Universalhistorischen  ergeben  werden. 

Für  diese  Erörterungen  kommen  hauptsächlich  zwei 
einander  wesentlich  entgegengesetzte  Gesichtspunkte  in 
Betracht.  Wir  haben  zunächst  zu  fragen,  ob  sich  eine  Kon- 
tinuität der  Entwicklung  von  der  antiken  zur  mittelalterlich- 
modernen Welt  erkennen  läßt,  und  dann  weiter,  ob  und  in- 
wieweit wir  von  einem  Parallelismus  der  beiden  großen 
geschichtlichen  Entwicklungen  reden  dürfen.  Von  diesen 
beiden  entgegengesetzten  Seiten  aus  versuchen  wir  den 
Gegenstand  unserer  Untersuchung  in  hellere  Beleuchtung 
zu  bringen. 

Wir  sind,  wenn  wir  die  geschichtliche  Bedeutung  des 
Altertums  uns  vor  Augen  stellen,  leicht  geneigt,  uns  vor 
allem,  vielleicht  zu  ausschließlich  an  die  das  eigene  Denken 
befreiende  Macht  des  griechischen  Geistes  zu  erinnern,  an 
jene  Seite  griechischer  Kultur,  die  namentlich  in  den  großen 
Renaissancebewegungen  zu  befruchtender  Wirkung  gelangt 
ist.  Daneben  steht  aber  noch  eine  andere  Seite,  die  für  die 
historische  Betrachtung  nicht  weniger  wichtig  ist.  Es  ist 
eine  gewaltige,  tief  nachwirkende  geistige  Herrschaft, 
die  das  Altertum  in  der  Form  einer  in  sich  geschlossenen 
Welt  ausgeübt  hat.  Die  griechische  Kultur  hat  einen  großen, 
inneren  Weltzusammenhang  ausgebildet,  der  mit  dem  durch 
das  römische  Weltreich  geschaffenen  äußer'eh  Weltzusammen- 
hang eine  solidarische  Verbindung  eingegangen  ist  und  in 
dieser  Verbindung  das  geistige  Leben  der  folgenden  Jahr- 
hunderte beherrscht  und  in  bestimmten  Bahnen  festgehal- 
ten hat. 

Es  ist  bekannt,  welch  ungeheuren  Einfluß  die  Idee 
des  römischen  Weltreiches  in  der  christlichen  Welt  aus- 
geübt hat.  Die  christliche  Welt,  soweit  sie  dem  irdischen 
Leben  angehört,  ist  für  die  mittelalterliche  Anschauung 
mit  der  Idee  und  dem  Bestände  des  römischen  Reiches  ver- 
wachsen. Die  mittelalterliche  Kulturmenschheit  gehört 
einer  umfassenden,  einheitlichen  Organisation  an,  die  noch 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  259 

immer  in  Rom  ihren  Mittelpunkt  hat.  Das  römische  Kaiser- 
tum, das  sich  jetzt  mit  der  deutschen  Nation  verbunden  hat, 
•und  das  römische  Priestertum  bezeichnen  nur  zwei  ver- 
schiedene Seiten  des  nämUchen  organisatorischen  Zusammen- 
hanges, die  weltUche  und  die  geistUche,  zwei  verschiedene 
Aufgaben  und  Ämter  (die  beiden  Schwerter)  der  gleichen, 
•einheitUch  organisierten  Menschheit.  In  diesen  Zusammen- 
hang sind  die  einzelnen  Menschen  unverbrüchlich  eingefügt, 
seinen  verpflichtenden  Ordnungen  unterworfen.  Schon  am 
Ende  des  Altertums  finden  wir  von  christlichen  Kirchen- 
Schriftstellern  die  Auffassung  ausgesprochen,  daß  der  Be- 
stand der  gegenwärtigen  irdischen  Lebensordnung  an  den 
des  römischen  Reiches  geknüpft,  daß  mit  dem  Urtt-ergang 
•dieses  Reiches  zugleich  die  Katastrophe  der  irdischen  Welt 
zu  erwarten  sei.^)  Diese  Vorstellung  wird  durch  die  Deutung 
biblischer  Verkündungen  begründet.  Es  ist  kaum  nötig, 
'darauf  hinzuweisen,  wie  insbesondere  die  Deutung  des  vierten 
■danielischen  Weltreiches  auf  das  römische  Reich  als  die 
letzte  der  großen  Weltmonarchien  Jahrhunderte  lang  Phan- 
tasie und  Gemüt  der  Christenheit  beherrscht  hat.  Indessen 
■würde  diese  Auslegung  kaum  einen  so  nachhaltigen  Ein- 
fluß auf  die  allgemeine  Anschauung  haben  behaupten  können, 
wenn  nicht  die  Idee  des  römischen  Weltreiches  als  ein  un- 
zerstörbares   Erbe    des   Altertums   durch    die   Wirren    und 


1)  Tertull.  apolog.  32.  Lact.  inst.  div.  VII  25.  Vgl.  Doellinger, 
Akad.  Vortr.  III,  S.  106.  Bryce,  Das  heilige  römische  Reich  S.  16. 
350  Anm.  12.  Sehr  charakteristisch  ist  auch  die  Ausführung  eines 
Schriftstellers  des  13.  Jahrhunderts,  des  Jordanus  von  Osnabrück 
"(Ausg.  V.  G.  Waitz,  Abh.  d.  Götting.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  Bd.  14, 
1868,69)  S.  47:  „Item  Dominus  non  solum  honoravit  sed  honorat  Ro- 
jnanum  Imperium  in  hoc,  quod  Romano  imperio  stante  et  durante  non 
veniet  homo  peccati,  filius  proditionis,  Antichristus,  ut  legitur  2  ad  Tfies- 
salonic.  capitulo  2."  Ähnlich  Aeneas  Sylvius  Piccol.  de  ortu  et  autho- 
ritate  imperii  c.  8  (Schard ,  de  jurisdidione  imperii  etc.  p.  314  ff.). 
Bezeichnend  tritt  der  Gedanke,  daß  die  Organisation  der  Welt  im 
wesertflichen  identisch  ist  mit  dem  römischen  Reiche,  an  einer  von 
Troeltsch,  Soziallehren  d.  Christi.  Kirchen  S.  154,  72  angeführten 
Stelle  Augustins,  de  civ.  dei  XVIII,  2  zutage.  —  Über  die  mittel- 
alterliche Idee  des  einheitlichen  staatlichen  und  kirchlichen  Organismus 
im  allgemeinen  ist  vor  allem  die  grundlegende  Darstellung  von  Gierke 
2u  vergleichen,  Deutsches  Genossenschaftsrecht  III,  S.  514  ff. 


260  J.  Kaerst, 

Stürme  der  Völkerwanderung  hindurch  gerettet  worden^ 
wenn  nicht  dieses  Weltreich  als  eine  allem  menschlichen 
Zutun  und  aller  menschlichen  Willkür  entrückte  entschei- 
dende und  letzte  Instanz  irdischer  Weltgestaltung  und  Welt- 
ordnung erschienen  wäre.  Wenn  irgendwo  die  Kontinuität 
geschichtlicher  Entwicklung  erkennbar  ist,  so  ist  sie  es  hier. 
Es  sind  antike  Anschauungen,  antike  Organisationsformen, 
antike  Denk-  und  Weltzusammenhänge,  die  ein  christliches 
Gewand  angelegt  haben,  die  in  der  christlichen  Anschauung 
eigentümlich  ausgeprägt  und  fortgebildet  werden.  Der 
Gedanke  einer  einheitlichen,  in  sich  geschlossenen,  die  ge- 
samte Kulturmenschheit  umfassenden  und  sie  durch  all- 
gemeingültige Ordnung  verpflichtenden  Organisation  geht 
in  seinen  Grundelementen  auf  das  Altertum  zurück. i)  Hier 
hat  zugleich  jener  Gedanke  in  dem  römischen  Weltkultur- 
reich schon  eine  gewisse  tatsächliche  Verwirklichung  ge- 
funden. Die  geistige  Kraft  des  Griechentums  hat  sich  mit 
der  politischen  Kraft  Roms  vereinigt,  den  Bereich  römischer 
Weltherrschaft  zugleich  als  die  zusammenfassende  und  ab- 
schließende Organisation  der  gesamten  Kulturwelt,  der 
Ökumene,  zur  Darstellung  zu  bringen.  Denn  darüber  kann 
doch  kein  Zweifel  sein:  So  gewiß  der  Glaube  an  das  „ewige 
Rom"  aus  den  politischen  Erfolgen  des  römischen  Volkes,, 
dem  Stolz  auf  den  römischen  Namen,  auf  die  Herrlichkeit 
und  Majestät  des  römischen  Staates  als  der  Verkörperung 
höchster  Herrschermacht  hervorgewachsen  ist, 2)  so  stammt 
doch  die  Idee  einer  dieses  Reich  innerlich  zusammenschlie- 
ßenden und  zusammenhaltenden  Kultur  als  einer  allge- 
meinen Menschheitskultur  aus  dem  griechischen  Denken. 3) 


^)  Ich  habe  die  Grundzüge  dieser  Anschauung  und  zugleich  die 
wesentlichen  Momente  der  Entwicklung,  in  der  diese  Idee  sich  verwirk- 
licht, schon  in  meiner  Schrift  ,,Die  antike  Idee  der  Ökumene  in  ihrer 
politischen  und  kulturellen  Bedeutung",  Leipzig  1903,  dargelegt. 

^)  Verg.  Aen.  1,278  f.:  „His  ego  nee  metas  reriim  nee  tempora 
pono ;    Imperium  sine  fine  dedi."    Bryce  a.  a.  O.   S.  15  f. 

^)  Es  ist  wohl  nicht  überflüssig,  zu  bemerken,  daß  diese  Idee 
dem  alten  Orient  noch  durchaus  fremd  ist.  Auch  in  der  am  meisten^ 
fortgeschrittenen  unter  den  altorientalischen  Reichsbildungen,  dem 
Achämenidenreiche,  kann  von  einer  innerlichen  Verbindung  der  Reichs- 
bewohner  als   solcher   durch    eine  universale,    allgemein  menschliche 


Studien  z.  Entwickig. u.  Bedeutg.d.  universalgesch.  Anschauung.  261 

Der  Körper  des  Reiches  ist  römisch,  aber  seine  Seele  ist  im 
tiefsten  Grunde  griechisch.  Es  ist  ebenso  das  äußere  Ziel, 
dem  die  antike  Entwicklung  zustrebt,  wie  die  innere  Kraft 
der  weltaufbauenden  Gedanken  des  Altertums,  daß  eine 
einheitliche  Welt  entsteht,  zusammengehalten  durch  ein  um- 
fassendes, weltbeherrschendes  Gesetz. 

Die  Idee  einer  höchsten  Zusammenfassung  menschlichen 
Gemeinschaftslebens  in  einem  universalen  Reichsorganismus^) 
ist  in  einer  charakteristischen  Richtung  griechischen  Denkens 
tief  begründet.  Zwei  Momente  der  Anschauung  sind  hierfür 
gleich  bezeichnend.  Auf  der  einen  Seite  finden  wir  die  Be- 
gründung der  irdischen  Gemeinschaftsordnungen  durch  die 
Ordnungen  der  allgemeinen  Welt,  die  Anlehnung  mensch- 
licher Gemeinschaft  an  das  Leben  des  großen  kosmischen 
Ganzen.  ,,Alle  menschlichen  Gesetze  nähren  sich  aus  dem 
einen,  göttlichen",  hatte  schon  Heraklit  in  einem  tiefen 
Worte  ausgesprochen. 2)  Ebenso  deutlich  tritt  anderseits 
das  Bestreben  hervor,  das  Gemeinschaftsleben  auf  eine  un- 
bedingt verpflichtende  gesetzliche  Ordnung  aufzubauen. 
Der  Nomos  waltet  als  Herrscher  in  der  Polis  wie  in  der  all- 
gemeinen Welt.=*)  Es  war  für  das  griechische  Denken  ein 
Ideal  menschlicher  Gemeinschaft,  an  dem  man  die  tatsäch- 
lichen universalen  Reichsbildungen  in  ihrem  Werte  maß, 
daß  die  zivilisatorische  Einheit  des  Menschengeschlechtes 
in  einer  einheitlichen  Organisation  unter  der  Herrschaft 
eines  gemeinsamen  Gesetzes  ihren  Ausdruck  finde,  daß  alle 


Kultur  nicht  die  Rede  sein.  Nur  die  Tradition  umfassender  Herrschafts- 
bildungen an  sich  und  die  in  diesen  tatsächlich  erfolgte  Ver- 
mischung verschiedener  Bevölkerungs-  und  Kulturelemente  sind  hier 
von  Bedeutung  gewesen.  Der  Einfluß,  den  später  der  Orient  auf  die 
innere  Ausgestaltung  der  Kultur  des  römischen  Weltreiches  ausgeübt 
hat,  kann  für  den  Zusammenhang  unserer  Erörterung  außer  Betracht 
bleiben. 

^)  „7o  Ttjg  xoiv^s  oixorittvr,i  atofia  ....  avfafftöant'^  spricht  Con- 
stantin  d.  Gr.  bei  Eusebius  v.  Const.  II,  65,  1  in  bezeichnenden 
Worten  als  seine  Absicht  aus. 

2)  Frg.  IHDiels. 

3)  Daß  der  die  allgemeine  Welt  durchwaltende  Nomos  wieder 
in  wesentlichen  Beziehungen  eine  Wiederspiegelung  der  in  der  Polis 
herrschenden  gesetzlichen  Ordnung  darstellt,  darauf  braucht  hier 
nicht  eingegangen  zu  werden. 


262  J.  Kaerst, 

Menschen  „zu  einem  Demos  vereinigt  würden",  einer  ein- 
heitlichen Führung  Untertan  und  zu  einem  einheitUchen 
Leben  verbunden. i)  Durch  die  Anknüpfung  an  das  allwal- 
tende Weltgesetz  wird  der  Nomos  in  seiner  Stellung  als 
höchste  Norm  der  menschlichen  Gemeinschaft  gestärkt  und 
gesteigert.  Alle  irdische  Gemeinschaft  erfüllt  um  so  mehr 
die  Zwecke  wahrhaften  Gemeinschaftslebens,  je  universaler 
sie  ist,  je  mehr  sie  ein  Abbild  der  vernünftigen,  Götter  und 
Menschen  umfassenden  Gemeinschaft  darstellt. 2)  Das  Recht, 
das  Grundlage  und  Norm  dieses  höchsten  menschlichen 
Gemeinschaftslebens  bildet,  gründet  sich  auf  das  in  dem 
Weltganzen  wirksame,  gemeinsame  Gesetz,  unabhängig  von 
aller  Setzung  durch  die  Menschen,  in  seinem  Wesen  unverän- 
derlich und  zu  allen  Zeiten  gleichmäßig  verpflichtend.  Es 
ist  nicht  so  sehr  ein  Ausdruck  der  spezifischen  Lebenszwecke 
menschlicher  Gemeinschaft,  als  ein  Ausfluß  der  allgemeinen 
Weltordnung,  der  auch  die  menschliche  Gemeinschafts- 
ordnung als  ein  fester  und  notwendiger  Bestandteil  eingefügt 
ist.  So  werden  die  höchsten  Normen  des  Rechts  als  Na- 
turrecht begründet,  nicht  als  ein  Erzeugnis  des  ge- 
schichtlichen Lebens  der  Menschheit,  sondern  in  ihrer  un- 
wandelbaren Wahrheit  allem  geschichtlichen  Leben  voraus- 
liegend —  die  ganze  Lehre  eine  der  wirksamsten  und  folgen- 
reichsten Schöpfungen  griechischen  Geistes.^) 

In  dem  römischen  Weltreich  hat  die  Einheit  der  Welt, 
die  in  der  Entwicklung  des  griechischen  Denkens  eine  so 
große  Gewalt  über  das  menschliche  Geistesleben  gewonnen 
hatte,  gewissermaßen  ihren  abschließenden  irdisch-staat- 
lichen Ausdruck  erhalten.  Der  Weltstaat  der  Kaiserzeit 
erscheint  als  die  vollkommenste  Verkörperung  der  einheit- 
lichen Organisation  menschlicher  Kultur.*)    Gerade  in  der 

1)  Vgl.  vor  allem  Plut.  de  Alex.  M.  fort.  1,6.8;  II,  11. 

2)  Vgl.  hierzu  die  in  meiner  Gesch.  d.  hellenist.  Zeitalters  II,  I, 
S.  131,3  angeführten  Belege. 

3)  Vgl.  hierzu  meine  Ausführungen  in  meiner  Gesch.  d.  hellenist. 
Zeitalters  II,  1,  S.  142  ff.  Hier  sind  auch  die  wichtigsten  Belege  für 
diese  Lehre  angeführt. 

*)  Vgl.  hierzu  die  ausführlichere  Darlegung  in  meinen  ,, Studien 
z.  Entwicklung  u.  Begründung  d.  Monarchie  im  Altertum"  (Histor. 
Bibl.  VI)  S.  91ff.;  namentlich  S.  97. 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  263 

Zeit,  in  der  sich  das  römische  Reich  am  bewußtesten  mit  den 
griechischen  Kuiturgedanken  durchdrungen  hat,  das  grie- 
chische Kulturelement  als  Repräsentant  allgemein-mensch- 
lichen vernünftigen  Wesens  die  Seele  dieses  Herrschafts- 
organismus bildet,  in  der  Hadrianisch-Antoninischen  Epoche, 
zeigt  sich  dieser  Charakter  des  römischen  Reiches  als  einer 
auf  sich  selbst  ruhenden,  gegen  alles  barbarische  Wesen  ab- 
geschlossenen universal-menschlichen  Staats-  und  Kultur- 
bildung besonders  deutlich.  Zum  griechischen  Kulturgedanken 
kommt  allerdings  noch  ein  wesentliches  Moment,  das  wir 
bereits  vorher  angedeutet  haben,  hinzu.  Es  ist  die  ungeheuere 
Gewalt  römischer  Herrschaftsmacht,  die  den  römischen 
Staat  zum  wirksamsten  und  eindrucksvollsten  Vertreter 
einer  die  kultivierte  Menschheit  als  solche  zusammenfas- 
senden staatlichen  Organisation  macht. 

Mit  der  Idee  eines  einheitlichen  Reiches  ist  die  einer 
obersten  Gewalt  auf  das  engste  verbunden. i)  Diese 
oberste  Gewalt  erscheint  als  eine  letzte  Instanz  der  mensch- 
lichen Angelegenheiten,  in  ihrer  unbedingt  verpflichtenden 
Kraft  der  bündigste  Ausdruck  der  Einheit  jener  univer- 
salen Staats-  und  Kulturwelt. 

Die  Einheit  des  Reiches  gewann  im  Zeitalter  Kon- 
stantins des  Großen  eine  neue  Begründung  durch  die  Einheit 
der  Religion.  In  genialer  Erkenntnis  der  in  der  christ- 
lichen Kirche  lebendigen  Kräfte  benutzte  Konstantin  die 
Organisation  dieser  Kirche,  um  die  Einheit  des  Reiches  zu 
stärken.  Wir  dürfen  dabei  aber  nicht  vergessen,  daß  Kon- 
stantins Bestrebungen  sich  ursprünglich  anlehnten  an  die 
synkretistische  Idee  einer  einheitlichen  obersten  Gottheit, 
—  eine  Idee,  die  namentlich  seit  der  Severischen  Epoche 
in  mannigfachen  Ausprägungen  im  römischen  Reiche  lebendig 
geworden  war.  Vor  allem  hatte  bereits  Aurelian  einen  sehr 
bemerkenswerten  Versuch  gemacht,  in  dem  Kulte  des  Söl 
invictus  dem  Reiche  eine  mit  der  Person  des  Kaisers  in 
••engstem  Zusammenhange  stehende  religiöse  Einheit  zu 
geben.    Und  vorher  schon  zeigt  der  Kult  des  Kaisers  als 

^)  Dieser  Zusammenhang  gelangt  in  den  Ausführungen  von 
E.  Stengel,  „Den  Kaiser  macht  das  Heer",  Weimar  1910,  nicht  ge- 
nügend zur  Geltung. 


264  J.  Kaerst, 

der  Verkörperung  der  im  römischen  Weltreiche  zusammen- 
gefaßten politischen  und  kulturellen  Einheit  des  Menschen- 
geschlechtes die  universale  Tendenz,  die  gerade  auch  der 
religiösen  Ausprägung  der  Reichseinheit  innewohnte. 

Die  christliche  Kirche  hat  allerdings  aus  ihrem  eigenen 
Wesen  eine  bedeutsame  Verstärkung  der  Einheit  hinzu- 
gebracht. In  dem  paulinischen  Vergleiche  des  Organismus 
der  Christenheit  mit  dem  Leibe  Christi  hat  gerade  in  bezug 
auf  die  christliche  Menschheit  die  Idee  der  Einheit  eine 
charakteristische  Vertiefung  und  Verinnerlichung  gewonnen. 
Es  Jst  eine  Anschauung,  in  der  zugleich  der  eigentümliche 
Wert,  der  den  einzelnen  Christen  als  Gliedern  des  Ganzen 
zukommt,  zu  lebendigem  Ausdruck  gelangt.^)  In  der  wei- 
teren Entwicklung  tritt  die  Einheit  in  ihrer  Begründung  auf 
den  sakramentalen  Charakter  der  kirchlichen  Heilsgemein-^ 
Schaft  und  die  ausschließliche  Wahrheit  der  kirchlichen 
Lehre  immer  beherrschender  hervor. 

Aber,  so  hoch  wir  auch  die  in  der  Kirche  selbst  liegende 
Tendenz  auf  einheitliche  Gestaltung  der  ihrem  Einflüsse 
unterstellten  Welt  einschätzen^),  so  dürfen  wir  doch  nicht 


1)  Sehr  treffend  ist  der  bedeutsame  Charakter  dieser  Anschauung 
von  Gierke,  Deutsches  Genossenschaftsrecht  111,  S.  108  ff.  gewür- 
digt worden. 

2)  Troeltsch,  Soziailehren  der  christlichen  Kirchen  S.  88  Anm.  40 
hat  wohl  im  allgemeinen  darin  recht,  daß  er  das  Zentralisationsbedürfnis 
und  die  Ausschließiichkeit  des  Katholizismus  in  erster  Linie  aus  dem 
Wahrheits-  und  Sakramentsbegriff  ableitet.  Aber  wenn  er  dann  selbst 
betont,  daß  dieses  Zentralisationsbedürfnis  mit  dem  Kaiserreich  nur 
dadurch  zusammenhänge,  ,,daß  eben  das  Kaiserreich  eine  Einheits- 
religion als  sein  Korrelat  forderte",  so  liegt  darin  das  Zugeständnis,, 
daß  die  geschlossene,  einheitliche  Organisation  des  Kaiserreichs  auch 
für  die  katholische  Kirche  ungemein  viel  bedeutete.  Die  Kirche  fand 
eben  in  jener  Einheit  des  Reiches  eine  außerordentlich  wichtige  Vor- 
bedingung für  die  Verwirklichung  ihrer  Einheitstendenzen,  ja  viel- 
leicht sogar  eine  Voraussetzung  für  die  einseitige  Gestaltung  und  kon- 
sequente Ausprägung  dieses  Einheitsbedürfnisses  selbst.  Die  Idee  einer 
in  sich  abgeschlossenen  Welt,  in  deren  allgemeiner  Ordnung  jeder  ein- 
zelne die  von  vornherein  gegebene  Grundlage  seiner  eigenen  Lebens- 
bestimmung hat,  fanden  wir  als  charakteristischen  Grundzug  der  uni- 
versellen geistigen  Tendenzen  und  politisch-kulturellen  Bildungen  des 
ausgehenden  Altertums.  Es  ist  ein  Zug,  der  dem  organisatorischen 
Zusammenhang    und    der   zwangsmäßigen    Einheit    der    katholischen 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  265 

verkennen,  daß  die  Organisation  der  einheitlichen  Kirche 
erst  durch  den  Anschluß  an  das  römische  Reich  zur  Vol- 
lendung gelangt  ist.^)  Erst  als  religiöse  Organisation  der 
im  Altertum  ausgebildeten,  im  römischen  Weltreiche  ver- 
körperten Oekumene  hat  die  Kirche  ihren  ökumenischen, 
für  die  gesamte  Kulturmenschheit  als  solche  verpflichtenden 
Charakter  erhalten.  Die  enge  Verbindung,  in  die  Staat  und 
Kirche  traten,  erreichte  ihren  Gipfel  unter  Gratian  und 
Theodosius  dem  Großen,  indem  jetzt  das  orthodoxe  katho- 
lische Bekenntnis  gewissermaßen  auch  zum  Grundgesetz 
des  römischen  Reiches  erklärt  wurde.  2)  Das  römische  Reich 
wurde  zur  weltlichen  Organisation  der  christlichen  Ökumene. 
So  wurde  im  wesentlichen  schon  die  organisatorische  Einheit 
staatlichen  und  kirchlichen  Lebens,  unter  deren  Herrschaft 
die  mittelalterliche  Entwicklung  steht,  begründet. 

In  diese  Idee  einer  einheitlichen  höchsten  Organisation 
der  Kulturmenschheit  sind  nun  die  barbarischen  Stämme 
der  Germanen  hineingewachsen.  Es  war  ein  ohne  ihr  Zutun 
ausgebildeter  umfassender  Organismus,!  von  dem  sie,  als 
sie  sich  selbst  zu  Herren  eines  Teils  des  römischen  Reiches 
machten,  umfangen  wurden.  Die  Kultur,  in  die  sie  eintraten, 
war  mit  dieser  Organisation  verwachsen.  Insbesondere  ge- 
wann auch  das  Christentum  für  sie  in  der  weiteren  Entwick- 
lung immer  mehr  Beziehung  zur  Idee  des  römischen  Reiches. 
Die  Verbindung,  die  sie   mit  der  katholischen,  durch   das 


Kirche  verwandt  ist.  Dieses  Erbe  des  Altertums  hat  der  Kirche  die 
Ausbildung  ihres  einheitlichen  Herrschaftssystems  jedenfalls  wesent- 
lich erleichtert.  Auch  in  spezifisch  religiöser  Beziehung  hat  sich  ja 
die  Kirche  an  die  besonderen  geistigen  Tendenzen  des  späteren  Alter- 
tums angelehnt.  Die  Verdinglichung  der  Religion,  die  in  dem  sakra- 
mentalen Charakter  der  Kirche  ihren  charakteristischen  Ausdruck 
findet,  hat  ihr  Vorbild  in  dem  magisch-sakramentalen  Wesen,  das 
der  Religion  des  ausgehenden  Altertums,  namentlich  der  synkretisti- 
schen  Mysterienreligion,  ihr  bezeichnendes  Gepräge  verleiht. 

^)  Sehr  entschieden  hat  die  Abhängigkeit  der  einheitlichen  Ge- 
staltung der  Kirche  von  der  ,, Vereinbarung  mit  dem  Kaisertum" 
Ranke  ausgesprochen,  Weltgesch.  111,1,  S.  547.  Über  den  Einfluß 
der  Reichsverfassung  auf  die  Organisation  der  Kirche  vgl.  z.  B.  die 
Ausführungen  von  Sohm,  Kirchenrecht  I,  S.  372  ff.  Harnack,  Texte 
und  Untersuchungen  XIII,  4,  S.  62. 

2)  Cod.  Theod.  XVI,  1.2. 


266  J.  Kaerst, 

römische  Bistum  vertretenen  Form  des  Christentums  ein- 
gingen, bildete  hierfür  eine  wichtige  Voraussetzung. i) 

So  lebt  die  aus  dem  Altertum  überkommene  einheitliche 
Organisation  der  Menschheit  im  Mittelalter  fort,  nur  eben  in 
den  Formen  der  christlichen  Weltkultur,  die  an  die  Stelle 
der  antiken  Kultur  getret-en  ist.  Wohl  ist  es,  etwa  vom 
6.  bis  zum  8.  Jahrhundert,  eine  schmale  Brücke,  wodurch  die 
Kontinuität  der  folgenden  Entwicklung  mit  dem  Altertum 
aufrechterhalten  wird. 2)  Wohl  scheint  es  eine  Zeitlang,  als 
würde  die  Kulturtradition  des  Altertums  völlig  durch  die 
barbarische  Flut  hinweggeschwemmt  werden.  Aber  die 
Verbindung  bleibt  doch  bestehen,  vor  allem  durch  die  rö- 
mische Kirche  selbst  bedingt  und  repräsentiert.  Und  die 
Schriften  einzelner  kirchlicher  Lehrer,  wie  des  Isidorus  von 
Sevilla,  überliefern  der  Folgezeit  einen  enzyklopädischen 
Gesamtauszug  aus  dem  Wissen  und  den  Anschauungen 
des  Altertums  und  legen  so  den  Grund,  auf  dem  sich  dann 
weiter  der  vollere  Zusammenhang  mit  dem  Altertum,  ver- 
stärkt durch  Renaissancebewegungen,  ausgestaltet. 

Der  antike  Einfluß  zeigt  sich  vor  allem  auch  in  der 
ganzen  Richtung  der  geistigen  Auffassung  des  Mittelalters. 
Das  griechische  Denken  hatte  dazu  geführt,  ein  einheitliches, 
zusammenhaltendes  Lebensgesetz  der  Welt  aufzustellen, 
und  alle  praktische  Lebensgestaltung  urrd  Lebensentfaltung 
des  späteren  Altertums  war  einer  umfassenden  Einheit 
dienstbar  geworden.  Die  gleiche  Herrschaft  über  die  An- 
schauung übt  auch  im  Mittelalter  das  Prinzip  der  Einheit  aus. 

Die  stoische  Philosophie  hatte  gelehrt,  daß  die  monar- 
chische Ordnung  der  irdischen  Welt  das  Abbild  der  monar- 
chischen Ordnung  im  Weltall  sei.  Ebenso  betont  Thomas 
von  Aquino,  daß  der  Herrscher  in  seinem  Reiche  sein  solle. 


^)  Allerdings  ist  das  germanische  Element  in  dem  römischen 
Kirchentum  nicht  aufgegangen,  sondern  hat  auch  sein  eigenes  Wesen 
der  kirchlichen  Entwicklung  aufgeprägt.  Vgl.  neuerdings  v.  Schubert, 
Histor.  Bibl.  Bd.  26. 

2)  Ein  Eingehen  auf  die  besonderen  Zusammenhänge,  in  denen 
die  Verhältnisse  der  auf  dem  Boden  des  römischen  Reiches  sich  bilden- 
den germanischen  Staaten  mit  römischen  Institutionen  stehen,  würde 
über  den  Rahmen  dieser  Erörterungen  und  auch  über  meine  Kompetenz 
hinausgehen. 


Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch.Anschauung.  267 

was  die  Seele  im  Leib,  was  Gott  in  der  Welt  sei.  Die  Re- 
gierung des  Staates  hat  ihr  Vorbild  in  der  göttlichen  Re- 
gierung der  Welt.')  Besonders  ausführlich  legt  Dante  in 
der  Schrift  de  monarchia  die  Bedeutung  der  kosmischen 
Einheit  für  das  staatliche  Leben  dar.^)  Die  Einheit  der 
Lebensgestaltung  ist  für  diese  Anschauung  mit  der  inneren 
Seinsnotwendigkeit  der  allgemeinen  Welt  auf  das  engste 
verbunden.  Nur  eine  einheitliche  Welt  kann  die  höchsten 
Aufgaben  irdisch-menschlichen  Zusammenlebens,  die  Auf- 
rtchterhaltung  des  Friedens  und  eines  geordneten  Rechts- 
zustandes, gewährleisten.^)  Die  Theorie  des  staufischen  Welt- 
kaisertums begründet  die  einheitliche  Herrschaftsordnung 
in  der  Welt  auf  die  Einheit  des  göttlichen  Weltregiments. 
Wie  einen  Gott,  so  gibt  es  nur  e  i  n  geistliches  und  e  i  n 
weltliches  Oberhaupt  der  irdischen  Welt.^) 

Und  ebenso  wie  die  Einheit  finden  wir  das  unbedingte 
Walten  des  höchsten  Welt  gesetzes,  das  jetzt  das  Gesetz 
des  christlichen  Gottes  und  mit  seinem  Wesen  im  tiefsten 
Grunde  identisch  ist,  betont.^)  Das  antike  Naturrecht  ver- 
schmilzt mit  dem  christlichen  Gesetze  als  höchste  Norm 
und  Lebensordnung  einer  einheitlichen  Welt. 

Die  Identifikation  von  Naturgesetz  und  göttlichem 
Gesetz  war  christlicherseits  schon  früh,  in  der  Zeit  der  Kir- 


')  Thom.  Aquin.  de  regim.  princ.  I,  12.  13  f.  Der  von  Thomas 
gebrauchte  Vergleich  mit  den  Bienen  zeigt  auch  die  literarische  Ab- 
hängigkeit von  stoischer  Lehre;  vgl.  Senec.  de  dem.  1,19,  2  f.;  Dio 
Chrys.  IV,  63  und  meine  Gesch.  d.  hellenist.  Zeitalters  II,  1,  S.  318,  1. 

2)  Dante  de  monarchia  ed.  Witte  1,8  f.  Ich  habe  die  Stelle 
Hist.  Bibl.  VI,  66  angeführt. 

ä)  Dieser  Gedanke  leuchtet  durch  die  Ausführungen  Dantes 
a.  a,  O.  hindurch  und  wird  in  sehr  charakteristischer  Weise  von  Tho- 
mas von  Aquino  de  reg.  princ.  I,  2  ausgesprochen.  Besonders  be- 
zeichnend ist  es,  wie  hier  Thomas  von  Aquino  den  Nutzen  des  mon- 
archischen Regimentes  darauf  begründet,  daß  das,  was  an  sich  eins 
sei,  auch  die  Einheit  besser  bewirken  könne    als  die  Mehreren. 

*)  Vgl.  den  Ausspruch  Friedrichs  I.  (Const.  imp.  ed.  Weiland 
J,253):  „Cumque  unus  Deus,  unus  papa,  unus  imperator  sufficiai." 
Andere  Belege  der  staufischen  Theorie  des  Weltkaisertums  habe  ich 
Hist.  Bibl.  VI,  S.  105  angeführt. 

^)  Vgl.  Thom.  Aquin.  S.  theol.  11,1.91.93.  71  art.  6.  Gierke, 
Deutsches  Genossenschaftsrecht  III,  S.  610  An m.  256. 


268  J.  Kaerst, 

chen Väter,  erfolgt. i)  Sie  bot  für  die  in  der  Welt  sich  ein- 
richtende, mit  deren  Ordnungen  sich  abfindende  Kirche 
«in  wichtiges  Mittel,  die  Kontinuität  der  christlichen  Lebens- 
ordnung mit  den  bisherigen  Institutionen,  namentlich  im 
staatlich-gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen  Leben,  her- 
zustellen.2)    In  der  Scholastik  kommt  die  Lehre  von  Natur- 


i)  Vgl.  Carlyle,  Mediaeval  political  theory  I,  S.  103  f.  Troeltsch, 
Soziallehren  d.  christl.  Kirchen  S.  159  f.  Anm.  73. 

2)  Sehr  energisch  und  umfassend  hat  diesen  Gesichtspunkt  Troeltsch 
in  seinem  imposanten  Werke  über  die  Soziallehren  der  christlichen 
Kirchen  geltend  gemacht.  Die  große  Bedeutung  seiner  Erörterungen 
läßt  es  aber  als  notwendig  erscheinen,  gegen  die  Darstellung,  die  er 
von  den  Anschauungen  der  Stoa,  insbesondere  über  absolutes  und 
relatives  Naturrecht,  gibt  (vgl.  namentlich  S.  52  ff.  146  ff.;  auch  H.  Z. 
106,  S.  247  ff.)  entschiedene  Bedenken  zu  erheben,  Troeltsch  ist  hier 
wohl  von  den  Ausführungen  A.  J.  Carlyles,  Mediaeval  political  theory  I 
zu  sehr  abhängig  (vgl.  Soziallehren  d.  christl.  Kirchen  S.  163,74). 
Carlyle  hat  die  antike  Anschauung  nicht  genügend  und  zum  Teil  auch 
nicht  zutreffend  charakterisiert,  wie  er  auch  von  der  großen  Ent- 
wicklung der  monarchischen  Idee  im  Altertum  so  gut  wie 
nichts  gibt.  Troeltsch'  Erörterung  über  das  durch  die  Sünde  der 
Menschen  bedingte  relative  Naturrecht  schwebt,  soweit 
das  Altertum  hierfür  als  Grundlage  der  Anschauung  in  Betracht 
kommt,  einigermaßen  in  der  Luft.  Die  Darstellung  A.  J.  Carlyles 
von  der  Lehre  Ciceros  und  Senecas,  auf  die  sich  Troeltsch  besonders 
stützt,  ist  zum  Teil  geradezu  unrichtig.  Cicero  lehrt  nichts  anderes 
als  eine  allgemeine,  in  der  vernünftigen  menschlichen  Natur  begrün- 
dete, wesentlich  gleiche  Möglichkeit  der  Teilnahme  an  der  vernünf- 
tigen Erkenntnis.  Von  einer  ausgeführten  Lehre  über  eine  Gleichheit 
des  Urstandes  kann  bei  ihm  keine  Rede  sein.  Die  vornehmlich  durch 
Panaetios  vertretene  Anschauung,  die  der  Darlegung  Ciceros  in  den 
Büchern  de  legibus  und  de  republica  (vgl.  auch  die  Bücher  de  officiis) 
vor  allem  zugrunde  liegt,  daß  die  staatliche  Gemeinschaft  aus  der 
(sozialen)  Natur  der  Menschen  folge,,  eine  Erfüllung  des  sozialen  Triebes 
selbst  bedeute,  verträgt  sich  schwer  mit  einer  Auffassung,  derzufolge 
das  staatliche  Leben  eine  Folge  und  zugleich  ein  remedium  der  Sünde 
sein  soll.  Die  Ausführungen  Senecas  im  90.  Brief  geben  eine  eigen- 
artige Ausprägung  stoischer  Anschauung  durch  Poseidonios,  eine  Ver- 
bindung der  volkstümlichen  romantischen  Vorstellungen  vom  goldenen 
Zeitalter  mit  dem  Ideal  des  Weisen  wieder  (vgl.  meine  Gesch.  d. 
heilenist.  Zeitalters  II,  1,  S.  199  f.  Hirzel,  äyonqioi  vöfxos  S.  86  ff., 
der  mit  Recht  auch  darauf  hinweist,  daß  nach  Sext.  Empir.  IX,  28 
nur  jüngere  Stoiker  ihr  Ideal  in  einem  goldenen  Zeitalter  wieder- 
gefunden hätten).  Seneca  läßt  ja  auch  deutlich  erkennen,  daß  nach 
«einer  Ansicht  dieses  Leben  in  der  goldenen  Urzeit  nicht  dem  Ideale 


d 


Studien  z. Entwickig.  u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  269 

gesetz  und  Naturrecht  zu  jener  vollen  Ausgestaltung,  in  der 
5ie  die  katholische  Theologie  bis  zum  heutigen  Tage  be- 


eines  wahrhaft  vernunftgemäßen  Lebens  entspreche.  Das  Natur- 
recht  ist  für  die  Stoa  im  allgemeinen  doch  zugleich  im  vollen  Sinne 
Vernunftrecht  und  seine  Verwirklichung  ist  im  wesentlichen  abhängig 
■von  der  vernünftigen  Erkenntnis  des  Weisen.  Ein 
durch  die  Sünde  getrübtes  relatives  Naturrecht  ist  wenigstens  für 
den  Vernunftrigorismus  der  älteren  Stoa  überhaupt  kein  Naturrecht 
4m  wahren  Sinne  des  Wortes.  Später  hat  ja  gewiß  unter  dem  Ein- 
fluß der  Erweichung  dieses  Rigorismus  eine  größere  Akkommodation 
an  das  Bestehende  stattgefunden.  Die  Spannung  zwischen  dem  Ver- 
nunftideal und  der  Welt  der  Tatsächlichkeit  ist  gemildert  worden. 
Aber  daß  auf  stoischer  Grundlage  nun  allgemein  ein  relatives  Natur- 
recht  als  Fundament  für  die  Gestaltung  der  menschlichen  Lebens- 
verhältnisse gelehrt  worden  sei,  davon  kann  keine  Rede  sein.  Auch 
die  Identifikation  des  jus  gentium  der  römischen  Juristen  mit  diesem 
relativen  Naturrecht  (Troeltsch  a.  a.  O.  S.  161  Anm.  73.  163  Anm.  74) 
stößt  auf  gegründete  Bedenken. 

Die  christliche  Lehre  von  einem  durch  die  Sünde  getrübten 
Naturrecht  hängt  mit  dem  Gegensatze  zwischen  der  irdischen,  un- 
vollkommenen und  sündhaften  Welt  und  der  höheren  Welt  zusammen 
—  einem  Gegensatze,  der  jedenfalls  in  dieser  Form  für  die  allgemeine 
Anschauung  der  Stoa  nicht  besteht. 

Es  wird  auch  von  Carlyle  (wie  von  Troeltsch)  nicht  genügend 
gewürdigt,  daß  die  Anerkennung  der  (im  idealen  Sinne  vorhandenen) 
menschlichen  Gleichheit  in  aller  tatsächlichen  Ungleichheit  bei  den 
christlichen  Schriftstellern  wesentlich  verstärkt  wird  durch  den  Hin- 
weis auf  die  Zukunft  des  jenseitigen  Lebens,  in  dem  die  Gleich- 
heit vor  Gott  zur  Geltung  gelangen  wird.  —  Troeltsch  hat  in  seiner 
Betonung  des  Einflusses  des  stoischen  Naturrechtes  auf  die  Ausgestal- 
tung einer  christlichen  Welt  nur  die  eine  Seite  des  Zusammenhanges, 
in  dem  die  folgende  Kulturentwicklung  mit  der  des  Altertums  steht, 
stark  zur  Geltung  gebracht.  Dagegen  den  anderen,  mit  dem  ersten 
nahe  verwandten  Faktor  der  Kontinuität,  nämlich  die  Bedeutung, 
die  der  Idee  der  Ökumene,  der  einheitlichen  Organisation  der  Kultur- 
menschheit in  einem  großen  Weltkulturreiche,  zukommt,  hat  er  nicht 
genügend  zum  Ausdruck  gelangen  lassen.  Nur  wenn  wir  auch  diesem 
zweiten  Momente  gebührende  Beachtung  schenken,  vermögen  wir 
m.  E.  den  bedeutenden  und  nachhaltigen  Einfluß,  den  die  mittelalter- 
liche Idee  des  Corpus  Christiamim  ausgeübt  hat  —  einen  Einfluß, 
der  aus  rein  kirchlichen  Faktoren,  etwa  dem  kirchlichen  Wahrheits- 
und Sakramentsbegriff,  nicht  allein  abgeleitet  werden  kann  —  in 
vollem  Maße  zu  verstehen.  Ganz  verkannt  hat  den  Zusammenhang 
des  mittelalterlichen  Organismus  mit  antiken  Ideen  und  Institutionen 
V.  Eicken,  Gesch.  u.  System  d.  mittelalterl.  Weltanschauung  S.  193 
<eine  Stelle,  auf  die  ich  durch  Voßler,  „Die  göttl.  Komödie"  I,  2,  S.  162 
Historische  Zeitschrift  (111.  Bd  )  3.  Folge  15.  Bd.  18 


270  J.  Kaerst, 

herrscht.!)  Alle  menschlichen  Gesetze,  so  lehrt  Thomas 
von  Aquino,  sind  nur  Ausflüsse  des  allgemeinen  Natur- 
gesetzes, das  zugleich  das  ewige  Gesetz  Gottes  ist.  Sie  be- 
deuten nur  Anwendungen  dieses  an  sich  gleichmäßigen  und! 
feststehenden  Gesetzes  auf  die  besonderen  Verhältnisse. 
Das  ist  nichts  anderes  als  die  ausgeführte  stoische  Lehre  in 
christlichem  Gewände.  Der  große  und  tiefe  Gedanke  einer 
Verankerung  menschlicher  Sittlichkeit  in  einer  umfassen- 
den allgemeinen  Weltordnung  empfängt  hier  ebenso  wie  in 
der  Lehre  des  Altertums  das  einseitige  Gepräge  einer  dem 
vernünftigen  Erkennen  ein  für  allemal  gegebenen  natur- 
gesetzlichen oder  göttlichen  Wahrheit  —  einer  Wahrheit,, 
die  nicht  in  der  Geschichte  erst  ihr  Wesen  entfaltet,  sondern 
in  ihrem  an  sich  gleichbleibenden  allgemeinen  Charakter 
nur  den  einzelnen,  besonderen  Verhältnissen  anzupassen  ist.. 
So  wird  unter  der  Hülle  christlicher  Gedanken  das 
geistige  Erbe  der  Antike  ungeschwächt  festgehalten  und  zum 
Teil  weiter  gestaltet,  wie  die  äußere  Organisation  der  christ- 
lichen Welt  die  antike  Organisation  der  Ökumene  in  eigen- 
tümlicher Weise  fortgebildet  hat.  Wohl  wölbt  sich  über  dem 
Reiche  der  Natur  die  höhere,  christliche  Welt  der  Gnade  und 
Offenbarung,  aber  sie  erhebt  sich  durchaus  auf  dem  Unterbau^ 
dei^  durch  die  geistige  Anschauung  des  Altertums  geschaffen 
worden  ist. 


hingewiesen  bin):  ,,Nur  weil  die  Bekehrung  der  ganzen  Menschheit 
die  Aufgabe  der  Kirche  war,  besaß  das  Kaisertum  ein  göttliches  Recht 
auf  ein  die  ganze  Erde  umschließendes  Machtgebiet.  Die  universale 
Macht  des  Kaisertums  war  auf  die  universale  Sendung  der  Kirche- 
begründet." 

1)  Vgl.  Thom.  Aquin.  S.  theol.  II,  1,90 ff.  Cathrein,  Moral- 
philosophie I,  4,  S.  332  ff.  Cathrein,  Recht,  Naturrecht  und  positives 
Recht,  v.  Hertling,  Kl.  Schriften  S.  168  ff.  Mausbach,  Die  kathol. 
Moral  und  ihre  Gegner,  1911,  S.  125  ff.  Natürlich  ist  durch  das  Zu- 
rückgehen auf  die  göttliche  Offenbarung  immerhin  für  die  katholische 
Lehre  eine  nicht  unwesentlich  andere  Begründung  gegeben,  als  sie 
für  die  antike  Auffassung  bestand.  Auch  ist  hervorzuheben,  daß  der 
Widerstreit  zwischen  vernünftiger  Erkenntnis  des  ewigen  Naturgesetzes 
und  der  heteronomistischen  Bindung  durch  das  göttliche  Gesetz  in 
der  katholischen  Anschauung  durchaus  nicht  ausgeglichen  ist.  (Vgl. 
auch  die  Bemerkungen  v.  W.  Herrmann,  Rom.  u.  evang.  Sittlich- 
keit ^  8.156  ff.,  die  durch  Mausbachs  Ausführungen  nicht  wider- 
legt sind.) 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  271 

Im  Gegensatz  zu  dem  in  der  Antike  wurzelnden  geistigen 
Prinzip  kommen  dann  —  vor  allem  in  den  Strömungen  des 
Nominalismus  —  neue  geistige  Kräfte  und  Tendenzen  empor, 
die  gegenüber  der  Vorherrschaft  des  Intellektualismus  die 
Bedeutung  des  Willens,  gegenüber  der  Herrschaft  des  All- 
gemeinen die  innere  Kraft  des  Besonderen  zur  Geltung 
bringen^)  und  namentlich  in  der  Richtung  auf  das  Irratio- 
nelle, Tatsächlich-individuelle  schon  die  reformatorische 
Auffassung  Luthers  vorbereiten. 

Damit  gelangen  wir  nun  aber  schon  zum  zweiten 
Hauptpunkt  unserer  Erörterung,  zur  Beantwortung  der 
Frage,  ob  die  Entwicklung  unserer  modernen  geschichtlichen 
Welt  sich  als  eine  Parallelentwicklung  zu  derjenigen  des 
Altertums  verstehen  läßt.  Es  ist  die  Eigenart  des  modernen 
historischen  Lebens  gegenüber  dem  des  Altertums,  die  haupt- 
sächlich gegen  die  Annahme  einer  Parallelentwicklung 
spricht.  In  zwei  großen  Gesamterscheinungen  der  Neuzeit 
findet  diese  Eigenart  einen  besonders  deutlichen  Ausdruck. 
Wir  sehen  hier,  daß  neue  Kräfte  geschichtlichen  Lebens  und 
neue  Ziele  geschichtlichen  Handelns  in  den  großen  Prozeß 
der  allgemeinen  Entwicklung  eintreten. 

Es  ist  zunächst  ein  neues  Persönlichkeits- 
ideal, das  die  geistige  und  sittliche  Wesensentfaltung 
des  modernen  Menschen  beherrscht  und  bestimmt.  Und 
weiter  ist  es  eine  neue  Ausgestaltung  nationalen 
Wesens,  die  der  modernen  Menschheit  im  ganzen  neue 
Bahnen  ihres  geschichtlichen  Lebens  gewiesen  hat.^) 

Das  moderne  Persönlichkeitsideal  läßt  sich  gewiß  nicht 
auf  einen  Generalexponenten  bringen,  der  die  verschiedenen 


^)  Vgl.  die  lichtvolle  Darstellung,  die  Windelband  in  seiner  Ge- 
schichte der  Philosophie  von  diesen  Strömungen  gibt.  Die  wesent- 
lichen Momente  dieser  Darstellung  werden  wohl  auch  durch  die  Ein- 
schränkungen, die  Bäumker,  Europäische  Philosophie  des  Mittelalters 
(Kultur  der  Gegenwart  1,  5)  gegenüber  neueren  Auffassungen  für 
nötig  hält,  nicht  berührt. 

'^)  Die  folgende  Darstellung  soll  natürlich  nur  einzelne  Gesichts- 
punkte, die  mir  wichtig  zu  sein  scheinen,  zur  Geltung  bringen.  Eine 
breitere  und  tiefere  Kenntnis  der  neuzeitlichen  geschichtlichen  Kultur 
wird  die  hier  gegebenen  Ausführungen  gewiß  zum  Teil  ergänzen,  zum 
Teil  berichtigen. 

18* 


272  J.  Kaerst, 

Erscheinungen  unserer  neuzeitlichen  Kultur  erklären  könnte. 
Die  Richtungen  der  geistigen  Gesamtkultur  sind  so  mannig- 
faltig, daß  wir  sie  nicht  ohne  Vergewaltigung  unter  die 
Herrschaft  eines  einheitlichen  Prinzips  zu  stellen  vermögen. 
Aber  anderseits  sind  es  doch  bestimmte  Ideen,  die  gerade 
mit  der  inneren  Bewegung  modernen  Geistes,  mit  seinen 
eigentümlichsten  Kräften  auf  das  innigste  verknüpft  sind. 
Sie  treten  in  einzelnen,  schöpferisch  gestaltenden,  neue  Wege 
der  geistigen  Entwicklung  bezeichnenden  Perioden  der  Neu- 
zeit —  ich  nenne  hier  vor  allem  die  Reformation  und  die 
Zeit  des  deutschen  Idealismus  —  besonders  charakteristisch 
und  bestimmend  hervor. 

Die  antike  geistige  Kultur  —  soweit  sich  in  ihr  die  Eigen- 
art des  griechischen  Genius  ausgeprägt  hat  —  zeigt,  bei  allen 
großen  Verschiedenheiten  in  ihren  besonderen  geistigen 
Inhalten,  doch  einen  gewissen  einheitlichen  Grundzug. 
Es  ist  der  Intellektualismus,  der  die  geistige 
Anschauung  vorwiegend  beherrscht,  der  das  sittliche  Handeln 
als  ein  vom  vernünftigen  Erkennen  durchaus  abhängiges 
erscheinen  läßt.  Das  geistige  und  sittliche  Leben  des  Men- 
schen empfängt  seinen  Inhalt  aus  einer  gegebenen  Welt, 
die  der  Mensch  durch  sein  Erkennen  sich  zu  eigen  macht. i) 
Als  das  innerste  Lebensprinzip  dieser  Welt,  das  als  solches 
zugleich  die  höchste  Norm  menschlichen  Handelns  bildet, 
erscheint  in  einer  starken  und  umfassenden  Strömung  an- 
tiken Geisteslebens  das  Gesetz,  in  sich  selbst  fertig  und 
inhaltlich  abgeschlossen.  Dem  fertigen  und 
in  sich  abgeschlossenen  Gesetz  entspricht  eine  im  wesent- 
lichen fertige  Welt.  Eine  Welt,  die  nicht  erst  in  ihrer 
Entwicklung  zur  Erschließung  neuer  Lebenstiefen  führt, 
sondern  in  der  Hauptsache  zur  Selbstdarstellung  des  ein 
für  allemal  gegebenen,  in  sich  selbst  gleichen  -Gesetzes  wird. 


^)  Sehr  gut  wird  die  antike  Anschauung  von  Windelband,  Logos 
I,  S.  194  bezeichnet:  „Es  war  die  Grenze  des  antiken  Bewußtseins 
gewesen,  sich  selber  immer  nur  als  empfangend,  als  einen  Spiegel 
zu  wissen,  dem  der  höchste  wie  geringste  Gegenstand,  die  Idee  wie 
die  Empfindung  einmal  gegeben  werden  müsse."  Vgl.  auch  die  tref- 
fende Charakteristik,  die  Dilthey,  Einl.  in  d.  Geistesw.  I,  S.  236, 
gibt. 


Studien  z. Entwickig. u.  Bedeutg. d. universalgesch.  Anschauung.  273 

Die  Selbstdarstellung  des  allgemeinen  Weltgesetzes  tritt 
uns  dann  in  der  bezeichnendsten  Ausprägung  dieser  ganzen 
Anschauung  als  ein  Kreislauf  entgegen,  der  die  be- 
ständig gleiche  Natur  der  Dinge  in  unaufhörlicher  Wiederkehr 
der  nämlichen  Erscheinungen  zum  Ausdruck  bringt. 

In  der  Erkenntnis  des  allgemeinen  Gesetzes  ist  nach  der 
intellektualistischen  Richtung  des  hellenischen  Denkens 
zugleich  seine  Befolgung  gesetzt.  Der  in  der  Erkenntnis 
gegebene  Lebensinhalt  wirkt  somit  unmittelbar  bestimmend 
für  das  menschliche  Handeln.  Träger  des  sittlichen  Handelns 
ist  dem  entsprechend  im  wesentlichen  der  vernünftig 
erkennende  Teil  des  Menschen.  In  der  Sokratischen 
Begründung  des  guten  Handelns  auf  die  allgemeinen  Begriffe 
kommt  die  Einseitigkeit  des  Intellektualismus  am  entschie- 
densten zur  Geltung.  Darin,  daß  das  Gute  und  Gerechte 
sich  in  seinem  verpflichtenden  Wesen  vor  dem  vernünftigen 
Erkennen  des  Einzelsubjekts  ausweisen  und  rechtfertigen 
muß,  liegt  das  Befreiende  und  Große,  das  für  alle  folgende 
geistige  Entwicklung  Grundlegende,  in  der  ausschließlichen 
Begründung  des  ethischen  Prinzips  auf  die  Erkenntnis 
die  Schranke  der  Sokratischen  Dialektik.  Allerdings  wird 
in  der  weiteren  Entwicklung  des  philosophischen  Denkens 
der  Intellektualismus  des  Sokrates  nicht  unwesentlich  ein- 
geschränkt. Das  seelische  Leben  als  Ganzes  gelangt  in  der 
platonisch-aristotelischen  Philosophie  zu  stärkerer  Geltung, 
und  insbesondere  dürfen  wir  in  der  eigentümlichen  Tätigkeit 
des  bei  Piaton  als  zweiter  Seelenteil  erscheinenden  „Mut- 
artigen", des  d^v/joeiddg,  den  Ausdruck  eines  unter  dem 
Einflüsse  des  Erkennens  stehenden  sittlichen  Stre- 
be n  s  finden. 1)  Weiter  wird  namentlich  von  den  Kynikern 
die  grundlegende  Bedeutung  der  sittlichen  Anstren- 
gung (des  novog)  für  die  Tugendausübung  betont.*) 
Es  sind  somit  hier  sehr  bemerkenswerte  Ansätze  zur  Über- 
windung des  einseitigen  Intellektualismus  erkennbar.  Aber 
sie  ändern  doch  nichts  daran,  daß  im  allgemeinen  die  Er- 


^)  Vgl.  E.  Schwartz,  Charakterköpfe  aus  d.  antiken  Literatur, 
S.  61  f. 

2)  Vgl.  meine  Gesch.  d.  hellenist.  Zeitalters  11,1,  S.  116  f. 


274  J.  Kaerst, 

Kenntnis  als  solche  die  entscheidende  Grundlage  der  grie- 
chischen philosophischen  Ethik  bleibt.^) 

Der  antike  Intellektualismus  offenbart  sich  aber  nicht 
bloß  in  der  Abhängigkeit  von  einem  vernunftgemäß  erkenn- 
baren, in  seinem  Wesen  gleichmäßigen  Inhalte  eines  all- 
gemeinen Begriffes  oder  Gesetzes.  Ist  ein  solches  Allgemeines 
als  unbedingt  gültige  Norm  des  sittlichen  Handelns  der 
vernünftigen  Erkenntnis  nicht  gegeben,  so  zeigt  der  Intellek- 
tualismus ein  ganz  anderes  Gesicht.  In  den  sophistisch- 
skeptischen Richtungen  tritt  uns  ein  völliger  Relati- 
vismus entgegen;  der  das  ethische  Handeln  von  der 
schwankenden  Erkenntnis  möglichkeit  der  Welt 
seitens  der  in  ihrem  besonderen  Wesen  verschiedenen,  in 
ihren  Dispositionen  wechselnden  Individuen  abhängig  macht. 
Von  diesem  Relativismus  aus  zerfällt  dann  das  Ganze  des 
Lebens  —  nicht  bloß  des  menschlichen  Einzellebens,  sondern 
vor  allem  auch  des  geschichtlichen  Gesamtlebens  —  in  ein- 
zelne Inhalte,  die  keinen  rechten  Zusammenhang  unter- 
einander haben.  So  wie  die  Gesamtheit  der  Menschen  in 
einzelne  (isolierte)  Individuen  zerfällt,  die  nur  von  sich, 
ihren  Rechten  und  Interessen,  ihren  besonderen  Vorstellungen 
aus  ihr  Leben  aufbauen.  Mit  der  Begründung  der  Normen 
sittlichen  Handelns  auf  die  Einzelintellekte  ist  dann  zu- 
gleich jener  Utilitarismus  gegeben,  der  an  sich  dem  Intellek- 
tualismus so  verwandt  ist  .und  in  charakteristischer  Weise 
große  Strömungen  antiken  geistigen  Lebens  —  wie  auch 
diesen  verwandte  Strömungen  moderner  geistiger  Kultur  — 
beherrscht. 

In  unserer  modernen  geistigen  Entwicklung  kommt 
—  trotz  langer  Vorherrschaft  der  Aufklärung  —  doch  lebendig 
und  stark  die  Erkenntnis  zum  Durchbruch,  daß  gerade  die 
höchsten  und  innerlichsten  Kräfte  und  Werte  geistig-sitt- 
lichen Lebens  nicht  in  logisch-begriffsmäßiger  Zergliederung 
dargestellt  werden  können,  sondern  daß  sie  —  als  geistiges 
Leben  —  nur  dem  Erleben  selbst  zugänglich  sind. 
Einer  Anschauung,  die  das  Erkennen  zur  allein  oder 
vorwiegend  bestimmenden  Kraft  sittlichen  Handelns  erhebt, 

^)  Es  kommt  dies  auch  im  Ideal  des  Weisen  sehr  deutlich  zum 
Ausdruck. 


Studien  z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  275 

steht  hier  eine  andere  gegenüber,  der  sich  das  innerste  geistige 
Wesen  in  dem  W  o  1 1  e  n  als  der  Grundkraft  und  der  Grund- 
tatsache persönlichen  Lebens  erschließt.  Es  kann  hier  nicht 
im  philosophischen  Sinne  die  Frage  der  Wahrheit  der  einen 
oder  der  anderen  Anschauung  erörtert  werden.  Es  handelt 
sich  vielmehr  um  eine  in  den  Tiefen  unserer  modernen  gei- 
stigen Kultur  wurzelnde  Idee,  die  —  trotz  aller  Gegen- 
strömungen, die  gerade  auch  diese  moderne  Kultur  aufweist 
—  doch  unser  geschichtliches  Bewußtsein  selbst  in  wirk- 
samster Weise  bestimmt.  Der  antiken  Anschauung  von 
•einer  gegebenen  Welt,  die  der  Mensch  in  der  Erkenntnis 
in  sich  aufnimmt,  in  seinem  eigenen  Leben  darstellt  oder 
nachbildet,  steht  die  Idee  einer  Welt  gegenüber,  die  von 
Innen,  aus  dem  geistigen  Wesen  des  Menschen  sich  aufbauen 
soll.  Damit  ist  aber  zugleich  ein  eigentümliches  Persön- 
lichkeitsideal auf  das  engste  verbunden.  Das  gei- 
stige und  sittliche  Leben  erscheint  hier  durchaus  auf  das 
innerliche  Wesen  der  Persönlichkeit  begründet.  Die  sitt- 
liche Aufgabe  gilt  als  eine  immer  von  neuem  aus  den  Tiefen 
persönlichen  Lebens  hervorgehende,  sittliches  Leben  um 
seiner  Innerlichkeit  willen  zugleich  als  ein  eigenartig 
persönlich  bestimmtes.  Die  sittliche  Welt  ist  keine  in  ihren 
Grundzügen  fertige,  die  eine  für  sich  bestehende  gesetzliche 
Ordnung  darstellt,  sondern  sie  ist  eine  mit  den  unendlichen 
Aufgaben  persönlichen  Lebens  und  persönlicher  Vervoll- 
kommnung wachsende. 1) 

Mit  dem  persönlichen  Prinzip  des  sittlichen  Handelns 
ist  zugleich  im  tiefsten  Sinne  das  der  inneren  Freiheit 
gegeben.  Die  Betonung  des  eigenen  persönlichen  Lebens  als 
des  Quellprinzips  wahrhaft  sittlichen  Handelns  bedingt 
die  Anerkennung  des  Rechtes  und  der  inneren  Freiheit  der 
Persönlichkeit  anderer.    Auch   alle  wahrhaft  schöpferische 

^)  Sehr  charakteristisch  zeigt  sich  der  Unterschied  zwischen 
•antiker  und  moderner  Anschauung  in  der  Würdigung  der  Bedeutung 
der  Arbeit.  Für  Piaton  h'egt  der  Wert  der  Arbeit  durchaus  in 
■dem  Objekte,  dem  Werke  selbst,  das  möglichst  vollkommen  zu 
gestalten  ist,  die  moderne  Auffassung  dagegen,  wie  sie  z.  B.  Goethe 
vertritt,  betont  zugleich  und  vor  allem  den  Wert  für  die  Bildung  der 
Persönlichkeit.  Vgl.  meine  Gesch.  d.  heilenist.  Zeitalters 
Jl,  1,  S.  190,3. 

/ 


276  '  J.  Kaerst, 

Gemeinschaft  beruht  auf  der  Selbständigkeit  per- 
sönlichen Wesens.  Persönlichkeit  und  Gemeinschaft  werdeiv 
in  innere  Wechselbeziehung  zueinander  gebracht.  Die: 
Idee  nationalen  Lebens  in  Staat  und  Kultur  wird  mit  den; 
geistigen  Kräften  der  Persönlichkeit  ausgestattet  und  da- 
durch verinnerlicht.i) 

In  dem  neuzeitlichen  Persönlichkeitsideal  ist  ein  Prinzip 
entschiedener  Subjektivität  ausgesprochen.  Es  kanrt 
in  seiner  eigentümlichen  Ausprägung  als  charakteristisch  für 
die  moderne  Entwicklung  angesehen  werden. 2)  Der  Indi- 
vidualismus hellenischer  Kultur  dagegen  ist  von  diesem 
modernen  Persönlichkeitsprinzip  nicht  unwesentlich  ver- 
schieden. Gerade  die  stärksten  Ausprägungen  des  Indi- 
vidualismus in  der  hellenistischen  Periode  zeigen  die  ent- 
schiedene Tendenz,  im  Namen  der  allgemeinen  Vernunft 
oder  der  sittlichen  und  intellektuellen  Überlegenheit,  der 
höheren  Kraft  des  einzelnen  Individuums  eine  Herrschaft 
über  andere  aufzurichten,  das  Individuum  selbst  in  seiner 
Stärke  oder  untrüglichen  Erkenntnis  wieder  zum  Gesetze 
für  andere  werden  zu   lassen. 3)    Auch  die   Freiheit  selbst 


1)  Vgl.   1,  Aufsatz  (H.  Z.  106,  S.  489  ff.  517). 

^)  Es  braucht  wohl  kaum  besonders  hervorgehoben  zu  werden,, 
daß  sowohl  in  der  tatsächlichen  Gestaltung  unserer  modernen  Welt 
wie  in  bedeutenden  Strömungen  der  geistigen  Kultur  zum  Teil  auch 
starke  Bedrohungen  dieses  Persönlichkeitsideals  sich  finden.  Ich  nenne 
hier  die  ungeheure  Ausbildung  der  modernen  Technik  in  Verbindung, 
mit  bestimmten  gesellschaftlichen  Bildungen  und  Tendenzen,  das  Vor- 
herrschen einer  naturwissenschaftlich-biologischen  Anschauung,  die  das 
einzelne  Individuum  nur  in  seiner  Bedingtheit  in  einem  naturgesetz- 
lichen Kausalitätszusammenhange  gelten  läßt.  —  Ebenso  steht  natür- 
lich auf  der  anderen  Seite  die  tatsächliche  Entfaltung  der 
Persönlichkeiten  in  den  großen  Zeiten  antiker  Kultur  nicht  mit  der 
oben  gegebenen  Darstellung  im  Widerspruch. 

3)  Vgl.  meine  Gesch.  d.  hellenist.  Zeitalters  11,1,  S.  115  f.  158. 
166.  Zu  der  an  letzter  Stelle  gegebenen  Erörterung  über  das  Ver- 
hältnis dieses  Individualismus  zu  den  Persönlichkeitswerten  freue 
ich  mich  auf  die  wesentlich  übereinstimmende  Darlegung  von  Misch,. 
Gesch.  d.  Autobiographie  I,  S.  111  hinweisen  zu  können.  Das  Per- 
sönlichkeitsideal der  italienischen  Renaissance  dürfte  übrigens  wohl 
mit  diesem  antiken  Individualismus  stärkere  Verwandtschaft  haben 
als  das  religiöse  Subjektivitätsprinzip  der  Reformation  oder  die  in* 
Zeitalter  des  deutschen  Idealismus  gestaltete  Persönlichkeitsidee. 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  277 

prägt  sich  für  die  antike  Anschauung  vielfach  noch  vor- 
wiegend in  den  Formen  der  Herrschaft  aus.  Oder  sie  nimmt 
die  Gestalt  eines  radikalen  Individualismus  an,  der  das  In- 
dividuum ganz  auf  sich  selbst  stellt,  es  vor  allem  auch  gegen 
die  Anforderungen  und  Einflüsse  des  Gemeinschaftslebens 
abschließt. 

Allerdings  hat  die  griechisch-römische  Stoa  unter  der 
Führung  des  Panaetios  eine  Ethik  ausgebildet,  die  in  weit- 
herziger Weise  der  Mannigfaltigkeit  der  Individualitäten 
gerecht  zu  werden  sucht  und  somit  einen  außerordentlich 
fruchtbaren  Keim  für  lebensvolle  Gestaltung  der  sittlichen 
Ideale  birgt. 

Wenn  diese  Ethik  die  Harmonie  des  ganzen  Lebens  und 
der  einzelnen  Handlungen  nur  auf  der  Grundlage,  die  durch 
die  besondere  Natur  der  Einzelpersönlichkeit  gegeben  ist, 
für  erreichbar  erklärt^),  wenn  sie  das,  was  einem  jeden  am 
meisten  eigen  ist,  als  das  am  meisten  für  ihn  geziemende 
betrachtet  2),  so  werden  wir  dadurch  stark  an  moderne 
Anschauungen  erinnert.  Man  möchte  etwa  versucht  sein, 
die  W.  V.  Humboldtsche  Idee  einer  harmonischen  Vollen- 
dung der  Einzelpersönlichkeit  in  der  ,, Einheit  und  Tiefe'* 
ihres  besonderen  Wesens  oder  das  Schleiermachersche, 
,,daß  jeder  Mensch  auf  eigene  Art  die  Menschheit  darstellen 
soll",  in  der  von  Panaetios  begründeten  Auffassung  im 
wesentlichen  schon  enthalten  zu  finden.  Indessen  dürfen 
wir  auch  den  bedeutsamen  Unterschied  von  dem  modernen 
Persönlichkeitsideal   nicht   übersehen.^)    Wir  können   nicht 

1)  Cic.  de  off.  1, 111. 

^)  CIc.  a.  a.  O.  113:  „id  enim  maxume  quemque  decet,  quod  est 
cujusque  maxume  suum." 

3)  Dies  scheint  mir  doch  in  den  übrigens  sehr  wertvollen  Aus- 
führungen von  Reitzenstein,  Wesen  und  Werden  der  Humanität  im 
Altertum,  1907,  S.  17  einigermaßen  der  Fall  zu  sein.  Zielinski,  Cicero 
im  Wandel  der  Jahrhunderte  2,  hat  in  seiner  ausführlichen  Darstel- 
lung der  ethischen  Grundgedanken  der  griechisch-römischen  Stoa, 
die  er  unter  der  persönlichen  Flagge  Ciceros  ihren  Siegeszug  durch 
die  spätere  Kulturwelt  halten  läßt,  das  Unterscheidende  und  Eigen- 
artige moderner  Kultur  völlig  verkannt  (vgl,  namentlich  S.  88.  89  f. 
252  f.).  Sehr  viel  treffender  ist  m.  E.  die  Beurteilung  der  Auffas- 
sung des  Panaetios  bei  Misch,  Gesch.  d.  Autobiographie  I,  S.  115  f., 
mit  dem  ich  mich  auch  hier  wieder  in  wesentlicher  Übereinstimmung 


278  .  J.  Kaerst, 

verkennen,  daß  der  individualisierende  Charakter  dieser 
antiken  Ethik  doch  im  wesentlichen  nur  objektiv  in 
der  Mannigfaltigkeit  und  Verschiedenheit  der  Einzelnaturen 
begründet  ist.  Er  bedeutet  nicht  sowohl,  daß  das  sittliche 
Handeln  sich  auf  das  individuelle  Leben  der  Persönlichkeit 
als  solcher  aufbauen  soll,  als  vielmehr,  daß  in  der  Verschieden- 
heit der  Einzelnaturen  eine  Schranke  für  die  gleichmäßige 
Durchführung  des  allgemein-verpflichtenden  Gesetzes  ge- 
geben ist.  Er  muß  somit  vor  allem  als  Konzession  an  die 
mannigfaltige  Wirklichkeit  betrachtet  werden. i)  Es  fehlt 
dieser  Anschauung  das  subjektiv-persönliche  Element  des 
modernen  Persönlichkeitsideals,  die  eigentümliche  Ver- 
innerlichung  der  sittlichen  Aufgabe  durch  das  persönliche 
Erleben  des  Subjektes.  Es  bleibt  die  für  die  antike  Ethik 
charakteristische  Begründung  der  Sittlichkeit  auf  die  Er- 
kenntnis des  Naturgemäßen,  nur  daß  zur  allgemeinen  Natur 
die  besondere  ergänzend  hinzutritt.^) 


befinde.  Vgl.  im  übrigen  auch  noch  M.  Wundt,  Gesch.  d.  griech. 
Ethik  II,  S.  373  f. 

^)  Es  genügt,  um  das  Wesen  dieser  Auffassung  deutlich  zu 
machen,  eine  besonders  bezeichnende  Stelle  heranzuziehen.  Cic.  de 
off.  I,  110:  „Sic  enim  est  faciendiim,  ut  contra  iiniversam  naturam  nihil 
contendamus ,  ea  tarnen  conservata  proprium  no  st  r  am  s  e  - 
quamur  ,  ut,  etiamsi  sint  alia  gr  av  i  o  r  a  at  que  mel  ior  a  , 
tarnen  nos  studio  nostra  nostrae  naturae  regula  metiamur ;  neque  enim 
attinet,  naturae  repugnare  nee  quicquam  sequi  quod  ass  e  qui 
no  n  que  as.  Der  Vergleich  mit  den  Rollen  der  Schauspieler  (Cic. 
a.  a.  O.  114)  läßt  ebenfalls  klar  den  zugrundeliegenden  Gedanken  er- 
kennen: Das  besondere  Maß  und  die  besondere  Richtung  der  Kräfte 
und  Anlagen  bedingen  die  Modifizierung  und  mannigfaltige  Ausgestal- 
tung der  sittlichen  Aufgaben  in  der  Praxis  des  Lebens,  die  besondere 
Durchführung  der  verschiedenen  Lebensrollen.  Ein  wertvoller  Ge- 
danke, der  aber  nicht  in  ein  zu  einseitig  modernes  Gewand  gehüllt 
werden  sollte. 

*)  Wir  können  in  dieser  Umbildung  der  stoischen  Anschauung 
durch  Panaetios  doch  zugleich  den  Zusammenhang  mit  der  ursprüng- 
lichen Auffassung  der  Stoa  erkennen.  Es  ist  eine  förmliche  Stufen- 
folge, in  der  sich  die  Anschauung  entwickelt.  Zenon  faßte  die  Tugend 
als  ein  Leben  nach  der  (allgemeinen)  Natur;  Chrysippos  fügte  der 
allgemeinen  die  menschliche  Natur  als  die  besondere  Grundlage  hinzu. 
In  der  Fortbildung  der  Lehre  durch  Panaetios  erfolgte  eine  weitere 
Begründung  auf  die  (besonderen)  menschlichen  Einzelnaturen.  Auch 
die  ursprüngliche  Lehre  der  Stoiker  von  der  Verbreitung  der  allge- 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.untversalgesch.  Anschauung.  279 

Wie  das  Persönlichkeitsideal  selbst  in  bestimmten  mo- 
dernen Tendenzen  eine  andere  Ausprägung  erhalten  hat 
als  in  der  Antike,  so  gilt  dies  auch  von  dem  Verhältnis  der 
Persönlichkeit  zu  den  großen  geschichtlichen  Gemeinschafts- 
welten, die  das  Leben  des  Einzelnen  in  ihre  bestimmende 
und  beherrschende  Einflußsphäre  hineinriehen.  Wir  finden 
in  unserer  modernen  Kultur  auf  der  einen  Seite  in  charak- 
teristischer Ausgestaltung  die  große  Idee  einer  tiefinner- 
lichen Wechselbeziehung  zwischen  den  schöpferischen  Kräften 
und  den  Aufgaben  des  persönlichen  Lebens  und  denen  des 
Gemeinschaftslebens.^)  Anderseits  sehen  wir  als  eine  der 
bezeichnendsten  Idealforderungen  unseres  modernen  — 
ich  möchte  sagen  —  geschichtlichen  Rechtsbewußtseins 
die  einer  prinzipiellen  Wahrung  des  inneren  Rechtes  und  der 
Freiheit  der  Persönlichkeit  gegenüber  der  Staatsgewalt. 2) 
Der  Staat  soll  die  Bürger  nicht  als  „Werkzeuge",  sondern 
als  , .Zwecke"  behandeln.^)  In  der  Aufstellung  allgemeiner 
Menschenrechte  kommt  diese  Idealforderung  zu  einem 
gewiß  einseitigen  aber  doch  zugleich  in  der  Tiefe  modernen 
geistigen  Wesens  begründeten  Ausdruck.*) 

Die  antike  Kultur  bietet  in  dieser  Beziehung  eine  wesent- 
lich andere  Perspektive.  Es  ist  ein  ewiger  Ruhmestitel  des 
Griechentums,  daß  wenigstens  in  der  Zeit  höchster  Blüte 
der  Polis  das  gemeinsame  Gesetz  als  eine  verbindende  Macht 
sittlichen  Gemeinschaftslebens  sich  offenbarte  und  per- 
meinen Weltvernunft  als  Xöyos  aneofianyos  in  den  Einzelbildungen 
scheint  wohl  in  der  Auffassung  des  Panaetios  noch  hindurch. 

1)  Vgl.  d.    I.  Aufs.  (H.  Z.  Bd.  106,  S.  517  ff.). 

2)  Daß  eine  solche  Abgrenzung,  die  ja  auch  nur  durch  den  sou- 
veränen Staat  selbst  erfolgen  kann,  in  den  tatsächlichen  Verhältnissen 
immer  nur  unvollkommen  verwirklicht  werden  wird,  ist  selbstver- 
ständlich. 

^)  Frhr.  v.  Stein,  Staatswissensch.  Betrachtungen  b.  Pertz,  Stein 
n,  S.  448. 

*)  Wir  können  natürlich  für  die  Zwecke  unserer  Betrachtung 
■davon  absehen,  daß  diese  Idee  allgemeiner  Menschenrechte  in  dem 
Zeitalter  der  Aufklärung  und  Revolution  zunächst  ungeschichtliche 
Formen  der  Begründung  und  Ausprägung  fand,  indem  das,  was  in 
Wahrheit  erst  ein  Ergebnis  geschichtlicher  Kulturarbeit  ist,  als  vor- 
geschichtliches Grundrecht  und  Grundvoraussetzung  alles  staatlichen 
Lebens  betrachtet  wurde. 


280  J.  Kaerst, 

sönliche  Lebenskräfte  eines  selbsttätigen  Bürgertums  in 
bewußter  und  freier  Hingabe  an  die  gemeinsamen  Lebens- 
zweci<e  des  Staates  sich  entfalteten.  Aber  dieses  persönliche 
Leben  des  Bürgers  war  doch  so  durchaus  von  dem  Gesamt- 
leben bestimmt,  daß  es  sich  im  wesentlichen  noch  nicht  von 
diesem  als  solchem  unterschied,  noch  nicht  zu  einer  inneren 
Selbständigkeit  gegenüber  dem  Staate  gelangte. i)  Aller- 
dings gilt  dies  nur,  soweit  das  eigentliche  staatliche  Lebens- 
ideal in  voller  Wirksamkeit  steht.  Daneben  und  im  Gegen- 
satze dazu  finden  wir  schon  eine  weitgehende  Emanzipation 
des  Individuums.  Aber  diese  zeigt  sich  in  ihrer  stärksten 
Ausprägung  eben  darin,  daß  das  Individuum  zugleich  dazu 
fortschreitet,  die  Verbindlichkeit  der  staatlichen  Ordnung 
an  sich,  wenigstens  für  die  eigene  Person,  zu  bestreiten. 2) 
Die  Freiheit  erscheint  überhaupt  vorwiegend  entweder  als 
eine  Freiheit,  die  durch  Teilnahme  an  dem  Herrschaft  s- 
rechtdes  Staates  bedingt  wird,  oder  als  eine  Freiheit 
vom  Staate,  wie  sie  uns  vornehmlich  beim  radikalen 
philosophischen  Individualismus  entgegentritt.  Die  Freiheit 
im  Staate  dagegen,  die  auf  der  Freiheit  gerade  auch  der 


1)  Daran  ändert  auch  nichts  die  verhältnismäßig  große  tatsäch- 
liche Freiheit,  die  in  Athen  —  im  Gegensatze  zu  Sparta  —  der  ein- 
zelne Bürger  in  seinem  Privatleben  genoß.  Ich  halte  es  für  unrichtig,, 
wenn  Wilamowitz,  Staat  u.  Gesellschaft  d.  Griechen,  S.  113  es  den 
thukydideischen  Perikles  am  demokratischen  Athen  preisen  läßt,  daß 
jeder  leben  könne,  wie  er  wolle.  Weder  hat  dies  Thukydides  sagen  wollen, 
noch  hat  es  geschichtlich  in  der  großen  Zeit  der  athenischen  Demo- 
kratie gegolten.  Aristoteles  (Pol.  V,  1310a,  32)  führt  allerdings  — 
nach  dem  Vorgange  von  Piaton  de  rep.  VI II,  557b  —  als  Grundsatz 
der  Demokratie  an  xb  ort  nv  ßovkrjjai  ns  notsh'.  Aber  der  hier  ge- 
zeichnete extreme  Individualismus  ist  erst  in  der  Zeit  der  radikalen- 
Demokratie  aufgetreten  und  hat  mit  dem  zusammenfassenden  Geist 
der  Polis,  wie  er  in  den  größten  Leistungen  des  Bürgertums  während 
der  glänzendsten  Periode  des  athenischen  Staatswesens  sich  entfaltete,, 
nichts  zu  tun,  ist  vielmehr  sein  stärkster  Gegensatz. 

2)  Gerade  die  selbständigere  Entwicklung  individuellen  geistigen 
Lebens  führt  auf  griechischem  Boden  im  allgemeinen  und  im  letzter» 
Ergebnis  nicht  zu  einer  Befruchtung  des  geschichtlichen  Gemein- 
schaftslebens durch  die  persönlichen  Kräfte  des  reicher  entfalteten 
Individuums,  sondern  zu  einem  sich  immer  steigernden  inneren  Gegen- 
satze zwischen  Staat  und  Individuum;  vgl.  meine  Gesch.  d.  heilenist. 
Zeitalters  II,  1,  S.  87  ff. 


Studien  z. Entwickig. u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  281 

staatsbürgerlichen  Persönlichkeit  als  sol- 
cher beruht,  ist  nicht  in  vollem  Maße  entwickelt  und  gelangt 
namentlich  nicht  zu  prinzipieller  Anerkennung  seitens  des 
Staates  selbst.  Auch  die  dem  griechischen  Denken  nicht 
fehlende  Idee  einer  ursprünglich  gegebenen  Freiheit  des 
Menschen  hat  nicht  zur  Anerkennung  eines  Rechtes 
des  Individuums  auf  Freiheit,  zur  Aufstellung  eines  per- 
sönlichen Grundrechtes  als  solchen  geführt. i) 

Allerdings  zeigt  sich  nun  gegenüber  der  Emanzipation 
des  Individuums  von  dem  Gemeinschaftsleben  noch  eine 
andere  Richtung  individueller  Entwicklung  in  der  hellenischen 
Kultur.  In  der  Idealphilosophie  hat  die  ethische  Staatsidee 
ihre  volle  Ausgestaltung  gefunden.  Sokrates'  Wirksamkeit 
und  Martyrium  erwiesen  das  höhere  Recht  des  an  sein 
«igenes  Wahrheitsstreben  und  seine  persönliche  Erkenntnis 
des  Wahren  und  Gerechten  gebundenen  Individuums  gegen- 
über der  bestehenden  Ordnung  des  Staates,  das  Recht, 
von  dieser  Wahrheitserkenntnis  aus  eine  neue,  innerlicher 
begründete  Ordnung  zu  vertreten.  Aber  gerade  der  tiefste 
iinter  den  großen  griechischen  Philosophen,  der  dieses  Recht 
in  den  idealen  Gebilden  seines  eigenen  Denkens  zum  Aus- 
druck bringt,  Piaton,  ist  weit  davon  entfernt,  dem  Bürger 
seines  Idealstaates  eine  eigene  Sphäre  persönlicher  Freiheit 
und  Selbständigkeit  gegenüber  dem  gemeinsamen  Leben 
des  Staates  einzuräumen. 2)  Er  nimmt  vielmehr  noch  in 
viel  stärkerem  Maße  als  der  historische  Staat  die  Person  des 
Bürgers  durch  die  gemeinsamen  staatlichen  Aufgaben  und 
Ordnungen  in  Anspruch.  Der  Bürger  ist  für  diese  Anschauung 
im  wesentlichen  nur  ein  Teil  des  Staates.^)  Auf  die  ob- 
jektive Verwirklichung  der  Gerechtigkeit  im  Staate  ist 


1)  Vgl.  meine  Gesch.  d.  hellenist.  Zeitalters  II,  1,  S.  147. 

*)  Es  ist  dies  zum  Teil  in  einem  gewissen  Absolutismus  des  philo- 
sophischen Denkens,  der  auch  in  der  Neuzeit  seine  Analogien  hat, 
begründet,  zum  Teil  aber  und  vor  allem  ist  es  doch  dafür  charakteri- 
stisch, daß  die  Dissonanz  zwischen  persönlicher  Freiheit  und  All- 
gewalt des  Staates  von  dem  auf  dem  Boden  der  Polis  stehenden 
griechischen  Kulturbewußtsein  nicht  so  stark  empfunden  wurde,  wie 
es  uns  Modernen  anzunehmen  nahe  liegt. 

•)  In  gewissem  Sinne  ist  hiervon  nur  der  philosophische  Leiter 
des  Staates  ausgenommen. 

/ 


282  J.  Kaerst, 

das  entscheidende  Interesse  gerichtet.  Die  sokratische 
Philosophie  geht  überhaupt  nicht  darauf  aus,  dem  einzelnen 
Individuum  eine  prinzipielle  Freiheit  in  Sachen  persönlichen 
inneren  Lebens  zu  gewähren,  sondern  es  in  den  neuen  Zu- 
sammenhang einer  von  der  Vernunft  aus  begründeten  Ge- 
meinschaft zu  versetzen,  in  der  es  ein  dem  Wesen  der  Dinge 
entsprechendes  Leben  in  wahrer  Gerechtigkeit  zu  führen 
imstande  wäre.  Sie  bringt  nicht  so  sehr  die  Forderung  eines 
Rechtes  des  Subjektes  auf  eigentümliche  Darstellung 
und  Begründung  eines  Allgemeinen  in  dem  eigenen  Wesen 
zur  Geltung,  als  vielmehr  das  Streben,  ein  hinfällig  gewor- 
denes Objektives  durch  ein  neues,  tiefer  und  fester 
begründetes  Objekt  zu  ersetzen.  Ließen  sich  solche  allge- 
mein gültige  und  verpflichtende  Objekte  nicht  finden,  wie 
es  die  Auffassung  der  Sophistik  war,  so  blieben  dann  eben  nur 
die  empirischen  Gegebenheiten  der  wechselnden  Empfin- 
dungen und  Vorstellungen  der  einzelnen  Individuen  in 
ihrer  Relativität  übrig.  ^) 

Besonders  bezeichnend  tritt  uns  die  in  der  Behandlung 
des  Persönlichkeitsproblems  sich  offenbarende  Verschieden- 
heit antiker  Kultur  von  der  modernen  auf  religiösem 
Gebiet   entgegen. 

Die  Religion  der  griechischen  Polis  trägt  einen  aus- 
gesprochen innerstaatlichen  Charakter.  Die  reli- 
giöse Sphäre  ist  von  der  staatlichen  nicht  geschieden.  Gerade 
diejenige  Periode,  die  wir  als  die  Zeit  der  innerlich  lebendig- 
sten und  freiesten  Entfaltung  staatlichen  Gemeinschafts- 
lebens auf  griechischem  Boden  betrachten  dürfen,  wird  ebenso 
durch  eine  religiöse  Begründung  des  Staates  wie  durch  eine 
staatliche  Ausprägung  der  Religion  charakterisiert.  Die 
religiösen  Pflichten  des  Bürgers  unterscheiden  sich  in  der 
Hauptsache  nicht  von  seinen  bürgerlichen  Pflichten. 

Es  ist  somit  klar,  daß  eine  prinzipielle  Freiheit  der  Reli- 
gion dem  Bürger  als  solchem  nicht  gewährt  wird.  In  den 
tatsächlichen  Verhältnissen  finden  wir  allerdings  eine  ge- 
wisse Freiheit.  Die  gemeinsame  staatliche  Religion  besteht 
vor  allem  im  gemeinsamen  Kultus.    Eine  besondere  religiöse 

^)  Hiervon  ist  schon  in  anderem  Zusammenhange  vorher  (S.  274) 
die  fiede  gewesen. 


Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  283 

Lehrgewalt  existiert  nicht.  In  der  Bildung  der  Vorstellungen 
über  die  Welt  des  Göttlichen  herrscht  —  bei  allem  Gemein- 
samen im  ganzen,  wie  es  durch  den  gemeinschaftlichen 
Charakter  der  Kultur  gegeben  ist  —  im  einzelnen  eine  große 
Mannigfaltigkeit  und  Beweglichkeit.  In  der  Gesamtheit 
griechischen  Geisteslebens  spielt  demzufolge,  wie  es  scheint, 
diese  Freiheit  des  religiösen  Denkens  eine  beherrschende 
Rolle,  und  wir  sind  zunächst  durchaus  berechtigt,  in  ihr 
einen  bemerkenswerten  Grundzug  der  griechischen  Kultur 
zu  erblicken.  Gewiß  offenbart  sich  nun  hierin  vor  allem 
auch  das  für  den  griechischen  Genius  so  bezeichnende  starke 
und  großartige  Vertrauen  auf  die  innere  Kraft  vernunft- 
mäßigen Denkens.  Aber  auf  der  anderen  Seite  ist  es  doch 
wieder  außerordentlich  bedeutsam,  daß  diese  tatsächlich 
in  so  weitem  Umfange  entwickelte  religiöse  Freiheit  nicht 
sowohl  eine  in  dem  innerlichen  Leben  des  Subjektes 
begründete  Freiheit  bedeutet  als  aus  den  im  Objekte 
selbst  gegebenen  Faktoren  abzuleiten  ist.  Die  Unbekannt- 
heit oder  Unerkennbarkeit  des  Gegenstandes  und  die  Kürze 
des  menschlichen  Lebens  bezeichnet  Protagoras  in  seinem 
bekannten  Ausspruche^)  als  die  Gründe,  aus  denen  die  Un- 
möglichkeit, eine  bestimmte  Meinung  über  die  Existenz 
einer  Welt  des  Göttlichen  zu  äußern,  folge.  Dieser  Aus- 
spruch des  Protagoras  darf  als  charakteristisch  für  das  Ver- 
hältnis großer  Strömungen  des  griechischen  Kulturlebens 
zu  den  religiösen  Problemen  gelten. 2)  Aus  der  Schwierigkeit 
der  Erkenntnis  des  Objektes,  aus  der  hierdurch  bedingten 
Vielfältigkeit  der  Meinungen  ergab  sich  dem  unter  der 
Herrschaft  der  Aufklärung  stehenden  griechischen  Kultur- 
bewußtsein die  Bewegungsfreiheit  auf  religiösem  Gebiete. 
Auch  der  Charakter  der  populären  Religion  —  das  Neben- 
einander der  verschiedenen  Objekte  des  Glaubens,  die  Man- 
nigfaltigkeit der  Göttergestalten,  die  als  solche  doch  eben 
nur  bedingte  und  begrenzte  Sphären  der  Wirksamkeit  hatten 
—  war  geeignet,  eine  gewisse  Beweglichkeit  und  Freiheit 
der  religiösen  Vorstellungswelt  zu  fördern. 

')  Frg,  4  Diels. 

')  Vgl.   auch  das  bezeichnende   Fragment  des   Xenophanes  34 
Dicis. 


284  J.  Kaerst, 

Der  griechische  Staat  selbst  vermochte,  so  sehr  er  der 
gemeinschaftlichen  religiösen  Grundlage  bedurfte,  so  wenig 
er  an  sich  das  Recht  des  einzelnen  Staatsbürgers  auf  reli- 
giöse Freiheit  anerkannte,  den  bindenden  Charakter  seiner 
religiösen  Ausgestaltung  gegenüber  der  allgemeinen  Entwick- 
lung des  politischen  Lebens  und  Denkens  nicht  zu  behaupten. 
Diese  führte  immer  mehr  dazu,  sein  partikulares  Recht  auf- 
zulösen. Der  Angriff  auf  die  Gottheiten  des  Staates  hing 
eben  auch  mit  der  veränderten  Stellung  gegenüber  dem 
Staate  selbst,  mit  der  Anfechtung  seiner  unbedingt  ver- 
pflichtenden Bedeutung  durch  das  einzelne  Individuum 
zusammen. 

Es  ist  also,  im  ganzen  genommen,  vornehmlich  die 
Relativität  der  religiösen  Gestalten  und  der  religiösen 
Anschauungen,  die  der  Ausübung  eines  religiösen  Zwanges 
im  Bereiche  griechischen  Kulturbewußtseins  entgegenwirkte. 
Unstreitig  liegt  hierin  ein  wirksames  Element  religiöser 
Freiheit  überhaupt,  ein  Element,  das  auch  in  der  religiösen 
Toleranzbewegung  der  Neuzeit  eine  bedeutsame  Rolle  ge- 
spielt hat. 

Auch  ein  anderer  wichtiger  Faktor  der  modernen  To- 
leranzidee weist  auf  innere  Verwandtschaft,  zugleich  wohl 
auch  tatsächlichen  Zusammenhang  mit  analogen  Gedanken 
antiker,  namentlich  stoischer  Philosophie  hin.  Es  ist  die 
Annahme  eines  allen  besonderen  religiösen  Gestaltungen 
zugrunde  liegenden  allgemein-vernünftigen  Kernes  reli- 
giöser Erkenntnis  als  des  wesentlichen  Inhaltes  aller  wahren 
Religion.^)  Diese  Idee  steht  schon  im  Altertum  neben  der 
Idee  der  Relativität,  die  sich  auf  die  tatsächlichen  Ver- 
schiedenheiten und  den  wechselnden  Charakter  aller  mensch- 
lich-geschichtlichen Bildungen  gründet.  Bereits  in  der  Zeit 
der  Sophistik  finden  wir  in  einer  Lehre,  die  das  Allgemeine 
und  Gleichbleibende  vernünftigen  menschlichen  Wesens 
gegenüber   der   Mannigfaltigkeit   besonderer   Anschauungen 


*)  Vgl.  hierzu  die  bekannten  Ausführungen  von  W.  Dilthey 
im  5.  u.  7.  Bd.  d.  Archivs  f.  Gesch.  d.  Philosophie.  Allerdings  kommt 
die  Autonomie  des  vernünftig  erkennenden  Subjekts  in  der  neuzeit- 
lichen Entwicklung  wohl  noch  zu  stärkerem  Ausdrucke  als  im  Altertum. 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  285 

und  Institutionen  betont^),  die  Ansätze  zu  dieser  Auffassung, 
die  von  der  Stoa  zur  Theorie  einer  allgemeinen  natürlichen 
Religion  ausgebildet  wird. 

Wenn  somit  wichtige  Elemente  moderner  religiöser 
Freiheit  in  der  Gedankenwelt  des  Altertums  wurzeln,  durch 
die  antike  Auffassung  von  der  Rationalität  menschlichen 
Wesens  vorbereitet  sind,  so  schreitet  doch  auch  hier  die 
moderne  Entwicklung  wesentlich  über  die  Antike  hinaus. 
Die  großen  politischen  und  wirtschaftlichen  Notwendigkeiten 
staatlicher  Machtbildungen  üben  auf  die  Durchsetzung 
staatsbürgerlicher  religiöser  Freiheit  in  d.er  Neuzeit  einen 
Einfluß  aus,  zu  dem  sich  in  der  Geschichte  des  Altertums 
keine  Parallele  findet.  Vor  allem  aber  ist  doch  in  der  bisher 
besprochenen  Begründung  religiöser  Freiheit,  wie  sie  uns 
schon  im  Altertum  entgegentritt,  noch  nicht  deren  vollstes 
und  tiefstes  Wesen  enthalten.  Es  handelt  sich  vielmehr  um 
eine  V  e  r  i  n  n  e  rlichung  des  religiösen  Lebens- 
prinzips selbst.  Sie  bedeutet  die  Freiheit,  die  dem  reli- 
giösen Subjekte  als  solchem  zukommt,  die  Selbständigkeit 
seines  persönlichen  religiösen  Lebens. 

Wir  kommen  hiermit  zu  einer  der  tiefsten  und  stärksten 
Wurzeln  des  modernen  Ideals  persönlicher  geistig-sittlicher 
Freiheit  überhaupt.  Wir  können  nicht  dabei  stehen  bleiben, 
die  Bedeutung  der  religiösen  Subjektivität  nur  für  die  eigen- 
artige Ausprägung  der  besonderen  religiösen  Entwicklung 
hervorzuheben.  Eine  Betrachtung,  die  in  die  Einheit  und 
Tiefe  modernen  geschichtlichen  Lebens  einzudringen  sucht, 
wird  eben  auch  den  Gesamtzusammenhang  der  geistigen 
Tendenzen  zu  erfassen  suchen.  Auch  die  befreienden  Ge- 
danken der  Aufklärung  sind  ja  zum  Teil  als  Rationalisierung 
ursprünglicher  religiöser  Ideen  zu  erkennen. 2)  Das  neuzeit- 
liche religiöse  Persönlichkeitsideal,  wie  es  in  der  Reformation 
lebendig  geworden  ist,  wurzelt  nun  aber  in  dem  christlichen 
Persönlichkeitsprinzip.  Diesem  müssen  wir  im  Zusammen- 
hange unserer   Darlegung  eine  kurze   Erörterung  widmen. 


1)  Hippias  bei  Piaton,  Protag.  337.    Xen.  Mem.  IV,  4,  19. 

2)  Ich  stimme  hierin  durchaus  mit  Troeltsch,  H.  Z.  106,  S.  264  f. 
überein. 

Historische  Zeitschrift  (tll.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  19 


286  J.  Kaerst, 

Das  christliche  Persönlichkeitsideal  hat  seine  tiefste  Grund- 
lage in  der  christlichen  Gottesidee,  in  der  sich  ein  höchstes 
Ideal  ethischer  Personalität  verkörpert  zeigt.  Die  antike 
philosophisch-religiöse  Anschauung  gipfelt  in  einer  einheit- 
lichen Welt  und  ihrem  Gesetze,  das  als  höchste  Instanz 
der  Welt  und  als  Inbegriff  der  höchsten  Vollkommenheit  und 
Glückseligkeit  zur  Gottheit  personifiziert  wird.^)  Auch  bei 
Piaton,  der  in  der  sittlichen  Ausprägung  seiner  Gottesidee 
dem  Christentum  besonders  nahe  steht,  ist  doch  die  Idee 
desGuten,  die  ihm  als  die  höchste  Weltpotenz  zur  Gott- 
heit wird,  das  Primäre.  Ganz  anders  im  Christentum.  Die 
christliche  Vorstellung  geht  —  zunächst  in  ihrer  alttesta- 
mentlichen  Vorstufe  —  von  einem  höchst  lebendigen  per- 
sönlichen Wesen,  das  mit  seinem  Willen  alle 
Lebensverhältnisse  durchdringt  und  bestimmt,  aus.  In  der 
Vertiefung  der  religiösen  Anschauung  durch  die  prophetische 
Auffassung  verkörpert  dieses  höchste  persönliche  Wesen 
zugleich  das  Ideal  vollkommener  Reinheit  und  Gerechtigkeit. 
Im  Christentum  selbst  tritt  uns  die  Gottesidee  entgegen  als 
die  Idee  des  Vaters,  von  dem  alle  vollkommene  und  gute 
Gabe  kommt,  als  die  höchste  Personifikation  des  voll- 
kommenen und  guten  Willens.  In  dem  Ver- 
hältnis des  persönlichen  Liebeswillens  Gottes  zu  der  mensch- 
lichen Einzelpersönlichkeit,  in  der  Bedeutung,  die  dieser 
für  die  sittlichen  Zwecke  des  Reiches  Gottes  zukommt, 
ist  für  die  christliche  Anschauung  die  ausschlaggebende 
Wichtigkeit  des  Persönlichkeitsprinzipes  für  das  sittliche 
Wesen  des  Menschen  begründet.  Wie  Gott  als  die  höchste 
und  vollkommenste  Verkörperung  des  guten  Willens  er- 
scheint, so  ist  der  Wille  der  grundlegende  Faktor  mensch- 
lichen Handelns,  die  bestimmende  Kraft  und  der  entscheidende 
Maßstab  sittlichen  Lebens.  Die  sittliche  Aufgabe  ist  eine 
mit  der  Persönlichkeit  selbst  in  die  unendlichen  Tiefen  des 
göttlichen  Liebeswillens  wachsende.  Auch  das  Gemein- 
schaftsleben steht  im  tiefsten  Grunde  im  Zeichen  der  Per- 
sönlichkeit. Denn  wenn  einerseits  die  volle  Betätigung  sitt- 
lichen Wesens  für  die  christliche  Auffassung  nur  in   der 


1)  Vgl.  meine  Gesch.  d.  hellenist.  Zeitalters  11,  1,  S.  233  ff. 


Studien  z.  Entwickig. u. Bedeutg. d.  universalgesch.  Anschauung.  287 

Gemeinschaft  und  für  die  Gemeinschaft  gedacht  werden  kann, 
so  findet  hinwiederum  das  Gemeinschaftsleben  seinen  höch- 
sten und  innerhchsten  Ausdruck  in  der  Weckung  wie  in  der 
Förderung  persönlichen  Lebens. 

Nun  steht  allerdings,  wie  es  scheint,  ein  anderer  Grund- 
zug des  Christentums  dem  Prinzip  religiöser  Freiheit  ent- 
gegen. In  der  christlichen  Religion  wird  Wert  und  Schicksal 
der  Menschenseele  an  das  Verhältnis  zu  einem  Absoluten 
gebunden.  Ist  damit  nicht  die  Begründung  einer  prin- 
zipiellen Intoleranz  gegeben?  Die  Geschichte  der  christ- 
lichen Kirche  bietet  doch  zunächst  eine  starke  Stütze  für 
eine  solche  Auffassung.  Ausschließlicher  Kirchenbegriff 
und  religiöse  Toleranz  stehen  dem  Anschein  nach  in  Wider- 
spruch untereinander.  Verkörpert  sich  nicht  in  der  christ- 
lichen Kirche  vor  allem  das  Interesse  an  der  Seligkeit  des 
Einzelnen  als  einem  durch  gemeinsamen  Heils-  und  Wahr- 
heitsbesitz gewährleisteten  Gut,  viel  mehr  als  das  Interesse 
an  der  freien  Lebensentfaltung  der  einzelnen  Persönlich- 
keit ?i)  Wir  antworten  indessen  mit  der  Gegenfrage:  Dürfen 
wir  es  nicht  gerade  als  ein  Ideal  innerlich-lebendigster  christ- 


^)  Troeltsch  hat  in  seinem  Werke  über  die  Soziallehren  der 
christlichen  Kirchen  gewiß  mit  Recht  das  christlich-individualistische 
Element  innerhalb  des  mittelalterlichen  katholischen  Oesamtorganis- 
mus  betont  (vgl.  namentlich  S.  304  f.  352  ff.).  Aber  das  Individuum 
kommt  hier  doch  im  wesentlichen  als  Glied  eines  Verbandes  zur  Gel- 
tung, wie  es  ja  auch  Troeltsch  in  der  Bedeutung,  die  er  der  organi- 
schen Auffassung  im  Mittelalter  beimißt,  zum  Ausdruck  bringt.  Und 
der  schon  in  ursprünglich  christlichen  Gedanken  wurzelnden,  im  ger- 
manischen Wesen  tief  angelegten  Idee  der  Selbständigkeit  der  Per- 
sönlichkeit steht  die  kirchliche  Gebundenheit  gegenüber,  die  erst  in 
der  späteren  Zeit  des  Mittelalters  durch  subjektivere,  innerlichere  For- 
men der  Frömmigkeit  allmählich  gelockert  wurde.  Religiös  betrachtet 
ist  das  Individuum  das  Objekt  der  kirchlichen  Fürsorge,  nicht 
das  Subjekt  eigener  religiöser  Betätigung.  Und  dazu  stimmt 
durchaus  der  patriarchalische  Zug,  der  durch  die  Gesamtkonstruk- 
tion des  gesellschaftlichen  Organismus  hindurchgeht.  Troeltsch  selbst 
gesteht  ja  auch  zu,  daß  in  dem  Begriff  der  Kirche  der  Individualis- 
mus sich  auf  das  von  der  Kirche  zu  verleihende  Seelenheil  beschränke 
(S.  305).  Die  individualistische  Bewegung,  die  aus  den  sozialen,  gei- 
stigen, religiösen  Kräften  und  Tendenzen  des  späteren  Mittelalters 
erwächst,  bedeutet  eben  schon  die  Anfänge  einer  die  Schranken  des 
Mittelalters  brechenden  Entwicklung. 

19* 


288  J.  Kaerst, 

licher  Anschauung  betrachten,  daß,  wie  alles  Höchste  und 
Innerlichste,  so  auch  die  höchste  Stufe  der  Seligkeit  nur  aus 
dem  freien  Verhältnis  des  Subjektes,  der  selbständigen 
Persönlichkeit  zum  höchsten  Persönlichkeitswillen,  dem  gött- 
lichen, hervorgehen  könne?  Es  ist  doch  auch  kein  Zweifel, 
daß  in  dem  Frömmigkeitsprinzip  der  Reformation,  nament- 
lich dem  Luthers,  die  Subjektivität  als  Grundprinzip  des 
religiösen  Lebens  schon  in  entscheidender  Weise  zum  Durch- 
bruch gelangt  ist.  In  innerer  Freiheit  (,,es  ist  ein  frei  Werk 
um  den  Glauben,  dazu  man  niemand  kann  zwingen")  und 
Selbstverantwortlichkeit  (,,Auch  so  liegt  einem  jeglichen 
sein  eigen  Gefahr  daran,  wie  er  glaubt,  und  muß  für  sich 
selbst  sehen,  daß  er  recht  glaube")  spricht  sich  für  Luther 
die  Kraft  persönlichen  Glaubens  aus.^)    Auch  das  Verhältnis 

1)  Dieser  grundlegenden  geschichtlichen  Bedeutung  Luthers  wird 
die  gewiß  sehr  wertvolle  und  bedeutende  Darstellung,  die  Troeltsch 
in  seinem  Werke  über  die  Soziallehren  der  christlichen  Kirchen  ge- 
geben hat,  wie  mir  scheint,  nicht  in  vollem  Maße  gerecht.  In  Luthers 
Wesen  und  Anschauungen  sind  sehr  verschiedene  Elemente,  die  auch 
in  Troeltsch'  Ausführungen  hervortreten.  Es  fragt  sich,  welche  Elemente 
wir  als  die  für  die  Beurteilung  von  Luthers  geschichtlicher  Stellung 
entscheidenden  anzusehen  haben.  Troeltsch  hat  (vgl.  namentlich  S.  448  ff.) 
die  objektiven  Momente  des  lutherischen  Kirchenbegriffs  sehr  stark 
betont  (vgl.  z.  B.  S.  449:  „An  Stelle  der  hierarchischen  Sakraments- 
kirche tritt  «lie  Schrift-  und  Predigerkirche,  aber  auch  sie  eine  An- 
stalt, den  Gliedern  vorgeordnet  als  ihr  supranaturaler,  von  Gott  ge- 
stifteter und  geleiteter  Produzent",  S.  463:  „Der  katholischen  Fort- 
dauer der  Menschwerdung  im  Priestertum  entspricht  die  protestan- 
tische Fortdauer  in  der  Bibel",  S.  464:  „Die  Gemeinde  ist  nur  das 
Produkt  des  Anstaltskerns,  des  Wortes,  und  nie  der  Produzent  der 
christlichen  Gemeinschaft").  Nun  ist  es  gewiß  richtig,  daß  das  Wort 
für  Luther  etwas  unbedingt  Objektives  ist,  aber  ebenso  gewiß  ist 
doch,  daß  er  die  Wirkung  des  Wortes  durchaus  in  die  Innerlichkeit 
des  Subjekts  verlegt,  von  der  selbständigen  persönlichen  Entscheidung 
des  Glaubenden  abhängig  macht.  Allerdings  hat  Luther  den  Staat 
noch  nicht  von  den  Aufgaben  „christlicher  Zwangskultur"  freigemacht. 
Der  Gedanke  der  Duldung  hat  bei  Luther  ,,noch  einen  engen  Gesichts- 
kreis und  trägt  die  Last  des  Mittelalters  auf  seinem  Rücken"  (Sohm, 
Kirchenrecht  I,  S.  547).  Aber  das  glaubende  Individuum 
wird  auf  sich,  auf  seine  eigene  Verantwortung  get.tellt.  Troeltsch 
hat  mit  Recht  die  Kontinuität  des  Luthertums  wie  des  Altprotestantis- 
mus überhaupt  mit  dem  Mittelalter  betont,  die  starken  Gegensätze 
gegen  die  eigentlich  moderne  Kultur  hervorgehoben.  Er  hat  (sowohl 
in  dem  Werke  über  die  Soziallehren  der  christlichen  Kirchen  wie  in 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch.Anschauung.  289 

zum  Absoluten  kann  für  eine  solche  Auffassung  dem  In- 
dividuum nicht  oktroyiert  werden,  sondern  muß  aus  dem 
inneren  Leben  der  Persönlichkeit  hervorgehen. 


seiner  Darstellung  des  protestantischen  Christentums  und  der  prote- 
stantischen Kirche  in  der  Neuzeit,  Kultur  d.  Gegenwart  1, 4)  eine 
glänzende  Schilderung  des  patriarchalisch-ständischen  Luthertums 
gegeben.  So  sehr  aber  auch  der  Zusammenhang  dieses  Luthertums 
mit  .Anschauungen  Luthers  selbst  hervortritt,  muß  doch  auf  der  anderen 
Seite  Luther  vom  Luthertum  stärker  geschieden  werden,  als  es  bei 
Troeltsch  geschieht,  muß  das  eigentlich  Protestantische,  in  die  Zu- 
kunft Weisende  in  Luthers  Wesen  gegenüber  dem  Katholisierenden 
des  Luthertums  entschieden  hervorgehoben  werden.  Es  ist  weiter 
von  Troeltsch  mit  besonderer  Energie  betont  worden,  daß  die  Aner- 
kennung weltlichen  Berufswirkens  als  eigentlicher  Sphäre  christlichen 
Lebens  durch  Luther  durchaus  noch  nicht  zu  einer  im  modernen  Sinne 
gefaßten  selbständigen  Wertung  weltlichen  Kulturlebens  geführt  habe. 
Dies  ist  durchaus  richtig.  Es  liegt  in  dem  Verhältnis  des  Luthertums 
zur  Welt  noch  etwas  Gedrücktes,  man  möchte  fast  sagen.  Passives. 
Die  positiven  Aufgaben  des  Staates  und  des  weltlichen  Kulturlebens 
entwickeln  sich  unter  dem  einseitigen  Einflüsse  der  Jenseitigkeit  noch 
nicht  zu  voller  Selbständigkeit.  Das  weltliche  Regiment  ist  zum  Teil 
nur  ein  solches,  „das  äußerlich  Frieden  schafft  und  bösen  Werken 
wehrt"  (Luther  v.  weltl.  Obrigkeit),  zum  Teil  wird  es,  wie  von  Me- 
lanchthon  (de  jure  reformandi,  C.  Ref.  III,  242.  245)  durchaus  den  eigent- 
lich religiösen  Lebenszwecken,  ,,iit  Evangelium  propagari  possit"  „ut 
Deus  innotescüt"  dienstbar  gemacht  (vgl.  auch  Basileensis  prior  con- 
fessio  fidei  —  Niemeyer,  Colledio  Confessionum  in  ecdesiis  reformatis 
publicatarum  S.  82  f. — :  „Die  Obrigkeit  soll  all  ihr  Vermögen  dahin 
richten,  daß  bei  ihren  Unterth«nen  der  Name  Gottes  geheiligt,  sein 
Reich  erweitert  ....  werde"  usw.).  In  der  klassischen  Ausprägung 
ständisch-patriarchalischer  Anschauungen  des  Luthertums  bei  V.  von 
Seckendorff  erscheint  das  ,, vergnügliche,  stille  und  friedsame  bürger- 
liche oder  gottselige  Leben"  unter  dem  Schutze  der  Obrigkeit  als 
der  hauptsächliche  Zweck  des  Staates.  Trotzdem  hat  mit  Recht 
Dilthey,  Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil.  V,  S.  365  den  Gedanken  Luthers, 
„daß  die  Sphäre  der  Werke  des  Glaubens  die  weltliche  Gesellschaft» 
und  deren  Ordnung  ist",  einen  der  größten  organisatorischen  Ge- 
danken in  der  Geschichte  genannt  (vgl.  auch  die  beachtenswerten 
Ausführungen  von  Troeltsch  selbst  „Luther  und  die  moderne  Welt" 
in  dem  Sammelwerk  „Das  Christentum"  1908,  Quelle  u.  Meyer,  S.  94  f.). 
Indem  Luther  von  religiösen  Forderungen  aus  die  Herrschaft 
der  Kirche  über  den  Staat  und  das  Kulturleben  bekämpfte  und  ent- 
wurzelte, hat  er  im  tiefsten  Grunde  die  Bahn  dafür  frei  gemacht,  daß 
staatliches  Leben  und  weltliche  Kultur  sich  als  selbständige  Sphäre 
der  Sittlichkeit  entwickeln  konnten.  Die  Innerlichkeit  des  Subjektes, 
die  von  Luther  zum  Prinzip  religiös-sittlichen  Wesens  erhoben  wurde, 


290  .  J.  Kaerst, 

Auch  die  Idee  der  Kirche  selbst  wird  mit  dem  Vor- 
dringen der  protestantischen  Auffassung  immer  mehr  durch 
eine  Anschauung  beeinflußt  und  fortgebildet,  in  der  das 
selbständige  Leben  der  Persönlichkeit  als  ein  für  das  Wesen 
der  Kirche  grundlegendes  Element  zur  Geltung  gelangt. 
Die  Kirche  ist  danach  nicht  vor  allem,  wie  es  in  dem  heils- 
anstaltlichen  Charakter  der  katholischen  Kirche  ausgeprägt 
ist,  die  schon  an  und  für  sich  vollendete  Voraussetzung  der 
religiösen  Lebensgestaltung  und  des  religiösen  Lebens- 
geschickes des  Einzelnen,  sondern  vornehmlich  eine  durch 
persönliche  Kräfte  des  Glaubens  und  sittlichen  Handelns 
sich  immer  von  neuem  verwirklichende  und  weiterbildende 
Gemeinschaft.^) 

Neben  der  Persönlichkeitsidee,  die  bei  aller  vielseitigen 
Ausprägung  der  modernen  geistigen  Kultur,  ja,  trotz  ihrer 
inneren  Gegensätze  jedenfalls  eigentümliche  geistige  Strö- 
mungen des  modernen  Wesens  als  solchen  bezeichnet,  steht 
als  eine  für  die  neuzeitliche  geschichtliche  Entwicklung 
ebenso  charakteristische,  diese  sogar  noch  in  weiterem  Um- 
fange beherrschende  Gesamterscheinung  das  Nebeneinander 
selbständiger  nationaler  Staaten  und  natio- 
naler Kulturen.  Diese  sind,  wie  uns  vornehmlich 
Ranke  gelehrt  hat,  das  Ergebnis  eines  umfassenden,  mannig- 
fach verflochtenen  historischen  Gesamtprozesses.    In  ihnen 


hat  in  ihren  von  innen  heraus  schaffenden  und  gestaltenden  Einfluß 
auch  die  Welt  selbst  hineingezogen.  Diese  Entwicklung  ist  noch  nicht 
in  der  Reformationszeit  erfolgt,  aber  es  ist  damals  der  religiöse 
Grund  hierzu  gelegt  worden. 

Dieses  Prinzip  der  Weltgestaltung  von  innen,  aus  der  Gesin- 
nung des  Subjektes  heraus  bezeichnet  zugleich  einen  wesentlichen 
»Unterschied  moderner  von  antiker  Ethik.  —  Der  Einfluß  der  persön- 
lichen reformatorischen  Tat  Luthers  erstreckt  sich  übrigens  auch  auf 
die  anderen  Richtungen  der  Reformation  (vor  allem  die  independenti- 
stische),  die  viel  unmittelbarer  als  das  Luthertum  auf  die  Durch- 
setzung der  persönlichen  Freiheitsrechte  im  modernen  Leben  ein- 
gewirkt haben, 

^)  Die  allgemeine,  an  sich  gewiß  sehr  lehrreiche  Bestimmung 
des  Wesens  des  Kirchentypus,  die  Troeltsch,  Soziallehren  d.  christl. 
Kirchen,  S.  371  f.  (vgl,  auch  die  schon  angeführten  Erörterungen 
S.  448  ff,)  gibt,  ist  doch,  wie  mir  scheint,  von  vornherein  zu  sehr 
auf  den  katholischen  Kirchentypus  zugeschnitten. 


Studien  z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  291 

spricht  sich  das  geschichtUche  Wesen  der  Neuzeit  vor  allem 
aus.  Das  Altertum  zeigt  ganz  andere  Grundzüge  seiner 
geschichtlichen  Entwicklung.  Auch  ihm  ist  allerdings  die 
Bedeutung  nationalen  Lebens  nicht  fremd  geblieben.  Eine 
Kulturnation  ersten  Ranges  tritt  uns  in  der  griechischen 
entgegen.  Aber  einen  wirklich  nationalen  Staat  im  modernen 
Sinne  hat  die  griechische  wie  die  antike  Entwicklung  über- 
haupt nicht  hervorgebracht.  Die  Verbindung  der  nationalen 
Idee  mit  der  Staatsidee  ist  als  solche  charakteristisch  für 
die  Vertiefung,  die  in  der  Neuzeit  die  Staatsidee  erfahren 
hat.  Die  Idee  der  griechischen  Nationalität  ist  wesentlich 
durch  den  gemeinsamen  Kulturinhalt,  den  diese  Idee  um- 
faßt, begründet.  Sie  hat  in  der  eigentümlichen  Selbständig- 
keit und  Tiefe,  in  der  die  griechische  Kultur  ausgebildet 
worden  ist,  eine  fast  unverwüstliche  Kraft  einflußreichster 
langanhaltender  Wirkung  gewonnen.  Aber  sie  hat  nicht  zur 
Forderung,  noch  weniger  zur  Verwirklichung  einer  auf 
diesen  gemeinsamen  Kulturinhalt  und  das  nationale  Kultur- 
bewußtsein sich  aufbauenden  nationalstaatlichen  Organi- 
sation geführt,  so  etwa,  wie  aus  der  deutschen  nationalen 
Kultur  der  deutsche  nationale  Staat  erwachsen  ist.  In 
politischer  Hinsicht  ist  die  römisch-italische  Entwicklung 
dem  Charakter  nationaler  Bildung  im  Altertum  am  nächsten 
gekommen.  Ein  italisches  Gesamtvolk  mit  gemeinsamer 
politischer  Organisation,  die  den  italischen  Gemeinden  als 
solchen  zukam,  ist  von  Rom  geschaffen  worden.  Aber  ein 
wirklicher  italischer  Nationalstaat  als  dauernde  Zusammen- 
fassung der  geschichtlichen  Kräfte  dieses  italischen  Volkes 
hat  sich  nicht  gebildet.  Er  ist  vielmehr  im  römischen  Welt- 
reich untergegangen,  sowie  vorher  die  Ansätze  zu  einem 
makedonischen  Nationalstaat,  die  in  der  großartigen  poli- 
tischen Schöpfung  Philipps  II.  uns  entgegentreten,  in  der 
Weltherrschaft  Alexanders  des  Großen  untergegangen  sind. 
Noch  weniger  als  die  Entwicklung  der  beiden  klassischen 
Völker  hat  die  Geschichte  des  alten  Orients  unter  dem  Zeichen 
großer  nationaler  Bildungen  —  im  modernen  Sinne  —  ge- 
standen, wenn  es  auch  an  Ansätzen  hierzu  nicht  völlig 
gefehlt  und  die  tiefer  dringende  Forschung  uns  die  Wirk- 
samkeit   ursprünglich    verschiedener    Volksindividualitäten 


292  J.  Kaerst, 

in  dem  scheinbar  einförmigen  Bilde  orientalischer  Herr- 
schaftssysteme deutlicher  kennen  gelehrt  hat.  Von  den  großen 
altorientalischen  Mächten  läßt  wohl  die  ägyptische  uns  am 
meisten  die  gemeinsame  Geschichte  und  Kultur  eines  be- 
stimmten Volkes  erkennen.  Viel  weniger  ist  dies  in  Babylon 
der  Fall.  Der  persische  Staat  erhebt  sich  allerdings  auf  dem 
Boden  einer  gewissen  Gesamtkultur  iranischer  Stämme,  die 
namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Religion  ausgeprägt  ist. 
Aber  von  einem  nationalen  iranischen  Gesamtstaate  kann 
nicht  die  Rede  sein.  Das  persische  Volk  bildet  in  Wahrheit 
nur  einen  herrschenden  Stamm  oder  eine  Gruppe  von  herr- 
schenden Stämmen  innerhalb  des  iranischen  Gesamtvolkes. 
Gewiß  hat  auch  der  allgemeine  Charakter  altorientalischen 
Staatslebens,  das  unbedingte  Vorwiegen  despotischer  Re- 
gierungsform, wesentlich  dazu  beigetragen,  daß  es  so  wenig 
zu  dauernder  selbständiger  und  schöpferischer  Entfaltung 
nationalen  Wesens  gekommen  ist.^) 

Jedenfalls  ist  die  allgemeine  Tendenz,  in  der  das  ge- 
schichtliche Leben  des  Altertums  verläuft,  das  Gesamt- 
ergebnis, mit  dem  die  Entwicklung  des  Altertums  abschließt, 
völlig  klar.  Es  ist  der  größte  Gegensatz  zu  den  vorherrschen- 
den Tendenzen  unseres  modernen  historischen  Lebens. 
Hier  große,  in  sich  zusammengefaßte  nationale  Bildungen, 
dort  die  universalen  Gestaltungen  eines  Weltreichs  und  einer 
Weltkultur,  worin  alle  ursprünglich  selbständigen  Elemente 
politischen  und  kulturellen  Lebens  in  einem  großen  Ver- 
mischungs-  und  Nivellierungsprozesse  untereinander  aus- 
geglichen erscheinen. 

Man  hat  nun  allerdings  gemeint,  einen  wichtigen  Pa- 
rallelismus in  der  antiken  und  modernen  Entwicklung  auf- 
weisen zu  können.  Eine  bestimmte  Periode  des  Altertums, 
die  hellenistische,  scheint  eine  bedeutsame  Analogie  zu  der 
Neuzeit  zu  bieten  und  eben  deshalb  die  Bezeichnung  als 
einer  wesentlich  modernen  zu  verdienen.  Große  Mächte 
stehen  in  dieser  Zeit  in  einem  gewissen  tatsächlichen  Gleich- 
gewicht nebeneinander  und  einander  gegenüber.   Das  System 

0  Von  der  eigenartigen  israelitischen  Entwicklung,  in  der  das 
Volkstum  selbst  vor  allem  durch  die  Jahvereligion  geschaffen  wird, 
sehe  ich  hier  ab. 


Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universa]g6sch. Anschauung.  293 

der  modernen  großen  europäischen  Mächte^)  scheint  hier 
schon  vorgebildet  zu  sein.  Die  Analogie  hat  zunächst  etwas 
Bestechendes.  Indessen  bei  genauerer  Betrachtung  zeigt 
sich  doch  auch  hier  wieder  eine  wesentliche  Verschiedenheit.  2) 
Die  Idee  eines  Systems  von  großen  Mächten  ist  überhaupt 
wohl  der  hellenistischen  Zeit  fremd  geblieben.  Wir  können 
nur  von  einem  Gleichgewichte  der  herrschenden  Persön- 
lichkeiten und  Dynastien  und  damit  allerdings  auch  in 
technischem  Sinne  der  diesen  zur  Verfügung  stehenden 
Machtbildungen  reden.  Das  Recht  der  einzelnen  Macht 
beruht  ja  auch  in  der  Hauptsache  nur  auf  dem  persön- 
lichen Ansprüche  der  Herrscher,  besonders  der  Be- 
gründer der  herrschenden  Dynastien,  auf  das  ihnen  durch 
Eroberung  zugefallene  Land,  die  doqUxi^rog  yiöqu.^)  Es 
sind  persönliche  Herrschaftsbildungen  die  sich  so  —  bei 
wesentlich  gleichen  Machtmitteln  der  Herrscher  —  in  ge- 
wissem Sinne  das  Gleichgewicht  halten,  aber  keine  auf  sich 
selbst  ruhenden  staatlichen  Gebilde,  die  in  der  inneren 
Geschlossenheit  und  Selbständigkeit  ihres  nationalen  Lebens 
ein  festes  Fundament  ihrer  politischen  Verhältnisse  und 
ihrer  Machtbehauptung  haben.*)  So  ist  es  eine  für  die  innere 
Gestaltung  der  hellenistischen  Staatenwelt  sehr  bezeichnende 
Tatsache,  daß  für  die  griechischen  Städte  im  Seleukiden- 
reiche  sich  die  Grundlage  ihrer  politischen  Stellung  weniger 
aus  dem  Reichszusammenhange,  dem  sie  territorial  angehören, 
an  sich  als  aus  dem  Verhältnis,  in  dem  sie  zu  der  Person 
des    Herrschers   und   zu   seiner   Dynastie   stehen,   ergibt.^) 

1)  Vgl.  hierüber  jetzt  v.  Caemmerer  in  der  Festschrift  für  M,  Lenz, 
S.  265  ff. 

*)  Vgl.  hierzu  meine  Bemerkungen,  Gesch.  d.  hellenist.  Zeitalters 
II,  1,  S.  331  und  weiter  die  Ausführungen  von  0.  Hintze,  Histor.  u. 
polit.  Aufsätze  IV,   S.  148  f. 

^)  Auch  in  dieser  Hinsicht  bietet  die  italienische  Renaissance 
in  ihren  staatlichen  Bildungen  wohl  wieder  die  größte  Ähnlichkeit  mit 
dem  Altertum. 

*)  Etwas  anderes  sind  natürlich  die  auf  dem  Boden  griechischer 
Stadtfreiheit  erwachsenen  Staaten,  wie  z.  B.  Rhodos  oder  die  in  ge- 
wissem Sinne  noch  auf  volkstümlichem  Grunde  ruhenden  Machtbil- 
dungen, wie  das  makedonische  Königtum,  zu  beurteilen. 

*)  Allerdings  fehlt  es  auch  nicht  an  Ansätzen  zu  einer  Entwicklung 
des  Reichsgedankens  im  territorialen  Sinne;  aber  es  sind  eben  nur  Ansätze. 


294  J.  Kaerst, 

Gewiß  hat  die  Neuzeit  mit  der  hellenistisclien  Periode  in- 
sofern Ähnlichkeit,  als  auch  in  ihr  die  Macht-  und  Herrschafts- 
zwecke der  Dynastien  vielfach  die  Politik  der  großen  Staaten 
bestimmen.  Aber  das  ist  eben  für  die  moderne  Entwicklung 
im  Unterschiede  von  der  hellenistischen  charakteristisch, 
daß  diese  dynastischen  Bestrebungen  immer  mehr  der  Heraus- 
gestaltung großer  innerer  Lebenstendenzen  und  sachlicher 
Zusammenhänge,  die  durch  das  nationale  Gesamtleben 
repräsentiert  werden,  zum  Teil  dienen,  zum  Teil  weichen 
müssen.  Weiter  ist  es  selbstverständlich,  daß  die  äußeren 
Machtverhältnisse  auch  der  modernen  großen  Staaten  wech- 
selnde und  vielfach  schwankende  sind,  daß  jeder  einzelne 
nur  durch  besondere  Anstrengungen  und  Mittel  der  Macht- 
entfaltung seine  politische  Stellung  und  damit  auch  seine 
nationale  Selbständigkeit  behaupten  kann.  Aber  ebenso- 
wenig kann  auf  der  andern  Seite  bestritten  werden,  daß 
diese  Mächte  große,  geschichtlich  zusammengewachsene 
Ganze  bedeuten,  denen  in  der  eigenartigen  geschichtlichen 
Kraft,  mit  der  sie  ihre  nationalen  Lebenstendenzen  ver- 
wirklichen, eine  gewisse  innere  Notwendigkeit  gesonderten 
und  selbständigen  Bestandes  zukommt.  Es  gehört  gewisser- 
massen  zur  inneren  Konstitution  dieser  modernen  Staaten- 
und  Kulturwelt,  daß  einzelne  selbständige  Mächte  als  wesent- 
lich gleichberechtigte  Glieder  eines  in  sich  zusammenhän- 
genden Gesamtsystems  nebeneinander  stehen,  nicht  bloß 
durch  die  gleichen  Mittel  äußerer  Machtbehauptung,  sondern 
vor  allem  auch  durch  die  eigentümlichen  Kräfte  besonderen 
geschichtlichen  Lebens.^)  Das  moderne  gechichtliche  Kul- 
turbewußtsein gründet  sich  zu  einem  wesentlichen  Teile 
auf  dieses  Nebeneinander  der  großen  nationalen  Staaten 
und  Kulturen.  Es  ist  natürlich  ebenso  ein  Erzeugnis  der 
neuzeitlichen  politischen  Konstellation,  wie  es  wieder  auf 
die  Stärkung  und  Erhaltung  der  modernen  politischen  Ver- 
hältnisse hinwirkt. 

So  verstehen  wir  es,  bei  tieferer  Betrachtung,  daß  die 
großen  Mächte  der  hellenistischen  Periode  das  Endschicksal 


^)  Vgl.  zu  obigem  besonders  Rankes  Abhandlung:  ,,Die  großen 
Mächte",  Werke  Bd.  24. 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch.Anschauung.  295 

der  antiken  Welt,  in  einem  umfassenden  Weltreiciie  aufzu- 
gehen, nicht  abzuwenden  imstande  gewesen  sind.  Sie  haben 
zu  wenig  innere  Konsistenz  zu  gewinnen  vermocht.  Es  fehlt 
ihnen  die  geschichtliche  Tiefe.^)  Und  die  kleineren  Mächte, 
die  das  Erbe  der  griechischen  Polis  vertraten,  haben  nicht 
genügende  politische  Kraft  gezeigt,  um  in  umfassenderen 
Machtbildungen  auf  dem  Boden  ihres  eigenen  Prinzips 
eine  Selbständigkeit  des  ihnen  eigentümlichen  staatlichen 
Lebens  zu  behaupten. 

Allerdings  bringt  nun  die  im  ausgehenden  Altertum 
erfolgende  universale  Zusammenfassung  einer  einheitlichen 
Kulturwelt  in  einem  großen  Weltkulturstaate  eine  für  die 
allgemeine  geschichtliche  Entwicklung  unendlich  bedeut- 
same Idee  zum  Ausdruck.  Es  ist  die  Idee  der  inneren  Zu- 
sammengehörigkeit der  Kulturmenschheit.  Aber  es  ist  doch 
wesentlich,  daß  diese  Idee  im  Altertum  eben  eine  für  dessen 
besondere  Entwicklung  charakteristische  Verwirk- 
lichung findet.  Damit  ist  aber  ein  bedeutsamer  Unterschied 
von  verwandten  Strömungen  modernen  geschichtlichen 
Lebens  gegeben.  Im  Altertum  gipfeln  die  auf  die  Einheit 
menschlicher  Kultur  gerichteten  Bestrebungen  in  einer 
umfassenden  staatlichen  Organisation  und  der  obersten 
Gewalt  eines  einheitlichen  Kulturreiches.  Auch  die  Theorie 
hält  durchaus  an  einem,  wenn  auch  zum  Teil  in  unbestimmten 
Formen  gedachten  Weltstaat  und  seiner  einheitlichen  Leitung 
fest.  Der  kosmopolitische  Universalismus  der  Neuzeit 
kristallisiert  sich  in  der  Idee  eines  Staatenbundes,  der  das 
friedliche  und  gerechte  Nebeneinanderleben  der  verschie- 
denen selbständigen  Glieder  des  gemeinschaftlichen  Systems 
der  Kulturstaaten  ermöglichen  soll. 

Wir  sehen  die  moderne  nationale  Entwicklung  durch 
innere  Beziehungen  mit  dem  Altertum  verknüpft,  aber  zu- 
gleich wieder  durch  eigentümliche,  neue  Kräfte  und  Ten- 
denzen von  diesem  unterschieden  und  geschieden.    Im  Alter- 

^)  Daß  auch  bei  ihnen  zum  Teil  geschichtliche  Traditionen,  wie 
vor  allem  beim  ptolemäischen  Reiche  die  des  alten  ägyptischen  König- 
tums, auch  beim  seleukidischen  Königtum  diejenigen  einer  großen 
vorderasiatischen  Herrschaftsbildung  eine  gewisse  Rolle  gespielt  haben, 
soll  damit  nicht  bestritten  werden. 


296  J.  Kaerst, 

tum  löst  sich  die  Kultur  immer  mehr  von  den  ursprünglichen 
Schranken  der  Nationalität  los.  Sie  gewinnt  als  die  Kultur 
einer  einheitlichen  Kulturmenschheit  einen  universalen  Cha- 
rakter. Die  Idee  der  einheitlichen  Kulturmenschheit  lebt 
im  Mittelalter  fort  und  bildet  sich  weiter  in  der  Idee  einer 
einheitlichen,  durch  bestimmte  Organisationsformen  und 
verpflichtende  Ordnungen  verbundenen  christlichen  Mensch- 
heit. In  dem  universalen  organisatorischen  Zusammen- 
hange, wie  er  zunächst  durch  das  römische  Weltreich,  dann 
durch  christliche  Kirche  und  christliches  Imperium  ver- 
körpert ist,  sind  die  Voraussetzungen  für  unsere  modernen 
vielgestaltige,  aber  zugleich  von  dem  Bewußtsein  eines 
einheitlichen  Kulturzusammenhanges  erfüllte  geschichtliche 
Welt  gegeben.  Ihre  großen  nationalen  Bildungen  haben  sich 
aus  dieser  Einheit  heraus  gestaltet.  Aber  anderseits  setzt 
nun  eben  hier  eine  neue,  anders  geartete  Entwicklung  ein, 
insofern  die  Einheit  des  Kulturzusammenhanges  vorwiegend 
als  eine  innerliche  gefaßt  wird^)  und  ihre  Verwirklichung 
in  der  größeren  Weite  modernen  Lebens  nicht  die  besonderen 
und  eigenartigen  Gestaltungen  nationaler  Kultur  ausschließt, 
sondern  im  Gegenteil  gerade  in  diesen  erst  in  lebensvollster 
Weise  sich  vollzieht. 

Und  dürfen  wir  nun  nicht  in  den  beiden  Erscheinungen, 
die  wir  als  besonders  bezeichnend  für  das  geschichtliche 
Wesen  der  Neuzeit  hinstellten,  einen  gewissen  inneren 
Parallelismus  wahrnehmen?  Auf  der  einen  Seite  das  Per- 
sönlichkeitsideal, das  zur  Anerkennung  des  Nebeneinander 
der  Persönlichkeiten  in  ihrem  selbständigen  Eigenwert, 
der  Schätzung  persönlichen  Lebens  als  der  innerlich  freien 
und  tiefen  Ausprägung  eines  gemeinsamen  geistigen  Welt- 
inhaltes führt.    Auf  der  anderen  Seite  das  Nebeneinander 


1)  Natürlich  prägt  sich  diese  Einheit  auch  in  einer  Reihe  von 
äußeren  Bestrebungen  und  Institutionen  aus;  ich  brauche  hier  nur 
auf  das  moderne  Völkerrecht  und  seine  humanitären  Tendenzen  hin- 
zuweisen. Daß  es  gerade  unter  dem  Einflüsse  der  modernen  Mittel 
der  Technik,  des  dadurch  bedingten  Weltverkehrs,  —  zum  Teil  auch 
einer  bestimmten  Ausprägung  weltbürgerlicher  Humanitätsideen  — 
nicht  an  Tendenzen  mangelt,  die  innere  Kraft  des  besonderen  natio- 
nalen Lebens  durch  internationale  Ausgleichung  und  Nivellierung  ab- 
zuschwächen, möge  auch  kurz  angedeutet  werden. 


Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  297 

der  Nationalitäten  oder  Nationaiindividuen,  die  in  der 
Selbständigkeit  eigentümlichen  Wesens  den  Reichtum  histo- 
rischen Lebens  und  die  Innerlichkeit  und  Freiheit  geistiger 
Kultur  darzustellen  berufen  sind. 

Das  hellenische  Kulturbewußtsein  wird  gerade  in  der 
Zeit  der  glänzendsten  Entfaltung  der  schöpferischen  Kräfte 
der  Kultur  durch  eine  Ausschließlichkeit  charakterisiert, 
die  in  dem  Gegensatze  der  Hellenen  gegen  die  Barbaren 
ihren  sprechendsten  Ausdruck  gefunden  hat.  Dieser  Gegen- 
satz gegen  die  Barbaren  tritt  nun  allerdings  mit  dem  Nieder- 
gange der  griechischen  Polis,  vor  allem  aber  unter  dem 
Einflüsse  der  Idee  des  Allgemein-menschlichen  zurück. 
Indessen  das  Allgemein-menschliche  wird  —  im  Unter- 
schiede von  modernen  Anschauungen  —  weniger  in  der 
Fülle  verschiedener,  in  der  Besonderheit  eigenen  Wesens 
berechtigter  und  wertvoller  Charaktere^),  in  der  Selbständig- 
keit der  einzelnen  Volksindividualitäten  erblickt.  Sondern 
es  wird  vorwiegend  an  einem  bestimmten  Idealinhalte 
menschlich-vernünftigen  Wesens,  als  dessen  Verkörperung 
vor  allem  die  hellenische  Kultur  erscheint,  gemessen.  So 
zeigt  sich  in  der  antiken  Humanitätsidee,  bei  aller  univer- 
salen Ausgestaltung  der  Anschauung,  doch  eine  gewisse 
Ausschließlichkeit  des  Denkens,  die  alle  besonderen  Aus- 
prägungen des  Kulturlebens  der  Herrschaft  des  allgemeinen 
vernünftigen  Gesetzes  unterwerfen  möchte. 2)  Sie  findet  in 
dem  ökumenischen  Charakter  des  einheitlichen  römischen 
Weltreiches  ihre  Parallele. 

Gewiß  ist  es  etwas  Großes,  daß  das  griechische  Volk, 
wohl  zum  ersten  Male  in  der  Geschichte,  zusammenfassend 
sein  eigenes  Wesen  zum  Gegenstande  der  Betrach- 

1)  Vgl.   I  Aufsatz  (H.  Z.  106)  S.  488  f. 

2)  An  sich  ist  dieser  Zug  ja  in  gewissem  Sinne  überhaupt  im 
Wesen  des  Rationalismus  begründet  und  tritt  dementsprechend  auch 
in  der  modernen  Aufklärung  auf.  Aber  er  hat  eben  hier  die  tiefere  Er- 
fassung besonderen  geschichtlichen  Lebens  auf  die  Dauer  nicht  zu 
verhindern  vermocht.  Und  der  Universalismus  Fichtes  und  anderer 
Vertreter  der  deutschen  idealistischen  Bewegung  unterscheidet  sich 
von  dem  hellenischen  Universalismus  doch  wesentlich  durch  die 
Richtung  auf  die  Herausbildung  eines  tieferen  geschichtlichen  National- 
bewußtseins.   Vgl.   I  Aufs.  (H.  Z.  106)  S.  518f. 


298  J.  Kaerst, 

tung  gemacht  hat.  Aber  es  hat  sich  dabei  vornehmhch  als 
einen  Träger  aligemein-menschHchen,  vernünftigen  Wesens 
aufgefaßt.  Seine  Selbstbeurteilung  ist  eine  weniger  ge- 
schichtlich als  rational  begründete. i) 

Es  kann  nicht  die  Aufgabe  dieser  Erörterung  sein,  der 
Mannigfaltigkeit  der  Kräfte  und  Ziele,  von  denen  die  mo- 
derne geschichtliche  Entwicklung  bestimmt  wird,  genauer 
nachzugehen.  Nur  auf  einige  wenige  Momente  soll  noch 
ganz  kurz  hingewiesen  werden. 

Mit  den  großen  nationalen  Bildungen  der  Neuzeit 
stehen  weitere  bedeutsame  Erscheinungen  in  engem  Zu- 
sammenhange. Die  moderne  Volkswirtschaft  als 
Zusammenfassung  der  wirtschaftlichen  Kräfte  und  Aufgaben 
eines  nationalen  Ganzen^),  die  nationalstaatliche 
Souveränitätsidee,  die  überhaupt  erst  in  vollem 
Maße  den  Souveränitätsgedanken  des  modernen  weltlichen 
Staates  zum  Ausdruck  gebracht  hat,  sind  eigentümliche 
Ausprägungen  geschichtlichen  Wesens,  zu  denen  wir  im 
Altertum  keine  volle  Analogie  finden.  Von  der  größten 
Bedeutung  ist  aber  vor  allem  das  in  der  germanisch-christ- 
lichen Welt  ausgebildete  Repräsentativprinzip, 
das  in  einer  dem  Altertum  noch  wesentlich  fremden  Weise 
es  ermöglicht,  die  selbständige  Betätigung  politischen  Lebens 
mit  den  Aufgaben  großer  staatlicher  Machtbildungen  zu 
verbinden. 

Es  braucht  endlich  nur  andeutend  berührt  zu  werden, 
welch  großen  Einfluß  die  in  der  Neuzeit  erfolgte  völlige 
Verschiebung  des  geographischen  Mittelpunktes  des 
geschichtlichen  Lebens,  die  dadurch  bedingte  Erweiterung 
des  Horizontes,  zuletzt  die  auf  den  Mitteln  moderner  Technik 
beruhende  Erschließung  einer  neuen  umfassenden  Welt 
auch  auf  die  inhaltliche  Neugestaltung  geschichtlichen 
Wesens    ausgeübt    haben.      Gegenüber    der    geographisch 


^)  Daß  hierbei  auch  die  Begrenztheit  und  verliältnismäßige 
Jugend  der  geschichtlichen  Erfahrung  des  Altertums  eine  nicht  un- 
wichtige Rolle  spielt,  ist  natürlich  nicht  außer  acht  zu  lassen. 

2)  Vgl.  Schmoller,  Umrisse  und  Untersuchungen  z.  Verfassungs-, 
Verwaltungs-  u.  Wirtschaftsgeschichte,  S.  32  ff.  Bücher,  Entst.  d. 
Volkswirtschaf t3,  S.  157  ff. 


Studien  z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  299 

wesentlich  abgeschlossenen  Welt  der  Mittelmeerkultur  sind 
durch  die  Vorrückung  nach  Westen,  an  die  Küsten  des 
Atlantischen  Ozeans,  ganz  neue  Bedingungen  geschichtlicher 
Bewegung  und  Entwicklung  geschaffen  worden. i) 

Wir  fassen  zusammen:  Es  ist  eine  eigenartige  Gesamt- 
ansicht, die  sich  uns  von  den  großen  Tendenzen  der  Neu- 
zeit gegenüber  dem  Altertum  ergeben  hat.  Die  neuen 
Richtungen  und  Gestaltungen  des  geschichtlichen  Lebens 
gewinnen  ihren  charakteristischen  Ausdruck  in  einem 
eigentümlichen  geschichtlichen  Bewußtsein,  das  sich  von 
der  antiken  Anschauung  wesentlich  unterscheidet.  Für 
diese  fanden  wir  es  bezeichnend,  daß  sie  von  einer  ge- 
gebenen Welt  ausgeht,  in  deren  allgemeines  Gesetz  ohne 
weiteres  auch  das  geschichtliche  Leben  der  Menächen,  als 
Ausfluß  einer  unverbrüchlichen  Ökonomie  der  Natur,  ein- 
gereiht wird.  Der  naturgesetzliche  Verlauf  alles  Geschehens, 
—  so  sahen  wir  weiter  —  wird  vorwiegend  im  Bilde  eines 
allgemeinen  Kreislaufes  betrachtet. 2)  Es  sind  bestimmte 
Grundformen,  in  denen  sich  nach  dieser  Auffassung 
alles  historische  Leben  abspielt,  in  deren  allgemeinem 
Charakter  in  gewissem  Sinne  schon  das  Schicksal  der  histo- 
rischen Einzelbildungen  beschlossen  liegt.  Die  moderne 
Anschauung  dagegen  ist  erfüllt  von  der  Idee  einer  in 
der  Geschichte  sich  entfaltenden  geistigen  Welt.  Das 
historische  Bewußtsein  der  Neuzeit  gründet  sich  auf  den 
Eigenwert  der  Persönlichkeit,  der  Nation,  zuletzt  auch  der 
Menschheit  selbst  als  eines  sich  geschichtlich  entwickelnden, 
nicht  bloß  naturbestimmten  Ganzen.  Das  spezifisch  moderne 
Bewußtsein  der  Neuzeit  prägt  sich  zunächst,  wenn  auch  noch 
in  rationalistischer  Einseitigkeit,  vor  allem  in  dem  Glauben 
an  eine  fortschreitende  geschichtliche  Aufwärtsbewegung  der 
Menschheit   aus.^)     Gegenüber   der   im   Altertum    vorherr- 


^)  Sehr  scharf  und  entschieden  hat  die  Bedeutung  dieses  Momentes 
Ranke  in  der  Einleitung  zur  engl.  Geschichte  hervorgehoben. 

2)  Ich  weise  hier  auch  auf  die  charakteristische  Ansicht  von 
einem  Kreislauf  in  den  mores,  die  bei  Tacitus,  ann.  111,55  ausge- 
sprochen ist,  hin.  In  gewissem  Sinne  ist  diese  Auffassung  schon  durch 
Piaton  vorgebildet. 

3)  Vgl.   I  Aufsatz  (H.  Z.  106),  S.  480  ff. 


300  J.  Kaerst; 

sehenden  Ansicht,  die  —  trotz  einzelner  beachtenswerter 
Ansätze  zu  einer  tieferen  Würdigung  des  GeschichtUchen  — 
vornehmlich  von  der  allgemeinen  Naturbedingtheit  alles 
historischen  Lebens  ausgeht,  erscheint  dieses  in  der  modernen 
Auffassung  in  höherem  Maße  in  eine  Sphäre  der  Selbstän- 
digkeit, ich  möchte  sagen,  der  Eigenbewegung  hinauf- 
gehoben. 

Somit  tritt  uns  das  Verhältnis  der  geschichtlichen 
Kultur  des  Altertums  zu  derjenigen  der  modernen  Welt  als 
ein  außerordentlich  kompliziertes  entgegen.  Einerseits  dürfen 
wir  unstreitig  den  Gesichtspunkt  des  Parallelismus  geltend 
machen.  Die  Vertiefung  und  Verfeinerung  des  Seelen- 
lebens, die  Entfaltung  wissenschaftlichen  Denkens  und  For- 
schens,  die  Ausbildung  technischer  Macht-  und  Genußmittel 
einer  reich  entfalteten  und  vielfach  differenzierten  Kultur 
sind  Erscheinungen,  die  uns  berechtigen,  von  analogen  Ten- 
denzen und  Richtungen  antiker  und  moderner  Entwicklung 
zu  reden.  Aber  ebenso  klar  treten  wieder  die  tiefgehenden 
Unterschiede  hervor,  die  dem  modernen  historischen  Leben 
ein  eigentümliches  Gepräge  gegenüber  dem  des  Altertums 
verleihen.  Und  die  Tatsache  der  Kontinuität,  die  gerade 
beim  Übergang  vom  Altertum  zur  Folgezeit  so  deutlich 
erhellt,  erlaubt  es  nicht,  die  Geschichte  des  Altertums  in 
dem  Maße,  wie  es  die  klassizistische  Auffassung  annahm 
und  wie  es  auch  heutzutage  noch  vielfach  gilt,  als  eine  ab- 
geschlossene zu  betrachten.  Vielmehr  erscheint  die  Antike 
in  wichtigen  Beziehungen  als  der  Lebensgrund,  auf  dem 
große  und  einflußreiche  Entwicklungen  der  Folgezeit  sich 
vorgebildet  haben.  Die  umfassende  Bedeutung  der  auf 
diesem  Grunde  erwachsenen  Ideen  und  Institutionen  läßt 
sich  aber  nur  recht  ermessen,  wenn  wir  sie  in  ihrer  univer- 
salen historischen  Auswirkung  verfolgen. 

So  sehen  wir  nun  aber  gerade  unter  dem  Einflüsse 
universalhistorischer  Betrachtung  das  ausgehende  Altertum 
in  einer  anderen  Perspektive,  als  wenn  wir  es  nur  unter 
dem  Gesichtspunkte  des  Verfalles  und  Zusammenbruches 
eines  in  sich  selbst  abgeschlossenen,  höchst  entwickelten 
Kulturweltalters  auffassen.  Die  antike  Humanitätsidee 
ist  allerdings  erst  in  einer  Zeit  zur  vollen  Entfaltung  ge- 


Studien  z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  301 

kommen,  in  der  die  ursprünglichen,  schöpferisciien  Kräfte 
des  Griechentums  vielfach  schon  zu  versagen  beginnen  und 
ein  Niedergang  der  Freiheit  und  Selbständigkeit  antiker 
Kultur  sich  anzeigt.  Trotzdem  werden  wir  diese  Idee  nicht 
als  ein  Produkt  des  Verfalles  der  antiken  Kultur  bezeichnen 
können.  Sie  ist  vielmehr  ein  kostbares  Vermächtnis,  das  der 
griechische  Genius  aus  der  Tiefe  seines  Wesens  der  Folgezeit 
hinterlassen  hat.  Sie  greift  in  ihrer  Bedeutung  weit  über 
die  Schranken  der  Geschichte  des  Altertums  hinaus.  Und 
die  religiöse  Entwicklung  des  späteren  Altertums,  die  im 
Christentum  gipfelt,  zeigt  inmitten  der  zunehmenden  Müdig- 
keit des  allgemeinen  Kulturlebens  neue  Kräfte  geschicht- 
licher Bewegung,  neue  Ideale  des  geistigen  Lebens,  die  als 
solche  die  Grundlage  unserer  eigenen  historischen  Entwick- 
lung gebildet  haben.  Der  Glaube  an  ein  überweltliches 
Prinzip  hat  neue  Tiefen  des  seelischen  Lebens  erschlossen. i) 
Schon  in  der  platonischen  Philosophie  tritt  uns  die  Schei- 
dung einer  höheren  geistigen  Wirklichkeit  von  der  unmittel- 
bar vorliegenden,  in  der  sinnlich  erfahrbaren  Welt  gegebenen 
Wirklichkeit  entgegen.  2)  Diese  Richtung  der  Anschauung 
ist  nun  aber  zu  stärkerem  Einflüsse  erst  im  ausgehenden 
Altertum  gelangt  und  hat  ihre  volle  geschichtliche  Wirkung 
erst  im  christlichen  Weltalter  gewonnen.  Die  Ideen  des 
Altertums  führen  also  auch  hier  über  die  zeitliche  Grenze 
der  selbständigen  Entwicklung  antiker  Kultur  hinaus. 
In  den  mystischen  Religionen  des  spätem  Altertums  kommen 
gegenüber  dem  reinen  Erkennen  neue  Formen  geistigen 
Erlebens  zur  Geltung,  die,  zunächst  noch  schwärmerisch 
und  ekstatisch,  in  ihrer  späteren  Abklärung  für  die  tiefere 


1)  Dies  ist  im  wesentlichen  wohl,  was  Harnack  das  „Geheim- 
nis der  alten  Geschichte"  nennt.  Vgl.  „Universität  und  Schule", 
Vorträge  auf  der  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner 
zu  Basel  1907,  S.  32  f.  36  f.  =  Harnack,  „Aus  Wissenschaft  und  Leben" 
I,  S.  83  ff.  Vgl.  auch  die  Schlußbemerkungen  von  F.  Cumont  in  der 
Vorrede  zu  seinem  Werke:  „Les  religions  orientales  dans  le  paganisme 
romain",  p.  XXII. 

2)  Piaton  hat  hier  zugleich  ältere  Ideen,  religiöse  der  orphischen 
Bewegung  wie  philosophische,  die  in  der  eleatischen  Lehre  gegeben 
waren,  weitergebildet  und  zu  vollendetem  Ausdruck  in  einer  einheit- 
lichen philosophischen  Weltanschauung  gebracht. 

Historische  Zeitschrift  (111   Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  20 


302  J.  Kaerst, 

Entfaltung  modernen  seelischen  Lebens  Bedeutung  erlangt 
haben. 

Wir  haben  bisher  von  einem  bestimmten  universal- 
historischen Verhältnis  aus  —  demjenigen,  in  dem  die  antike 
Kultur  zu  unserem  eigenen  geschichtlichen  Leben  steht  — 
das  Wesen  des  Universalhistorischen  zu  bestimmen  versucht. 
Wir  müssen  jetzt  das  gewonnene  Ergebnis  noch  weiter 
stützen  und  zum  Abschluß  bringen  mit  Rücksicht  auf  zwei 
wesentliche  Einwendungen,  die  gegen  die  hier  vertretene 
Anschauung  erhoben  werden  können.  Einerseits  ist  es  eine 
andere  allgemeine  Auffassung  des  Universalgeschichtlichen, 
mit  der  wir  uns  auseinanderzusetzen  haben,  anderseits  wird 
das  besondere  Recht  einer  spezifischen,  auf  das  Altertum 
sich  beziehenden  historischen  Wissenschaft,  der  klassischen 
Altertumswissenschaft,  der  universalhistorischen  Betrachtung 
entgegengestellt.  Mit  diesem  besonderen  Rechte  einer 
in  der  tatsächlichen  Entwicklung  zu  starker  Selbständigkeit 
erwachsenen  Wissenschaft  verbindet  sich,  wie  es  scheint, 
noch  ein  allgemeineres  Interesse  der  wissenschaftlichen  For- 
schung, das  in  der  Notwendigkeit  einer  möglichst  allseitigen 
Durcharbeitung  und  Beherrschung  eines  bestimmten  For- 
schungsgebietes liegt. 

Fassen  wir  zunächst  die  Stellung  der  Altertumswissen- 
schaft in  das  Auge. 

Die  Idee  der  Altertumswissenschaft  als  einer  besonderen, 
auf  die  Gesamterforschung  des  klassischen  Altertums  zielenden 
geschichtlichen  Wissenschaft  ist  ein  Erbe,  das  die  klassi- 
zistische Auffassung  der  Folgezeit  hinterlassen  hat.^)  Der 
Anspruch  dieser  Wissenschaft,  einen  in  sich  begrenzten  Zur 
sammenhang  geschichtlicher  Forschung  zu  bilden,  wird 
begründet  durch  die  Einheit  und  Abgeschlossenheit  ihres 
Objektes.  Als  dieses  erscheint  die  in  sich  selbst  abgeschlos- 
sene geschichtliche  Kultur  des  Altertums.  Nur  die  „gemein- 
same Methode"  stellt  dann  die  Verbindung  zwischen  dem 
Forschungsgebiete  des  Altertums  und  den  andern  histori- 
schen Forschungsgebieten  her. 2) 


1)  Vgl.  H.  Z.  106,  S.  499  ff. 

*)  V.  Wilamowitz,  Reden  und  Vorträge,  S.  132;  vgl.  auch  S.  104. 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  303 

Nun  ist  es  gewiß  richtig,  die  Aufgabe  der  Wissenschaft 
durch  das  Objekt  zu  bestimmen.  Aber  das  klassische  Alter- 
tum bildet,  geschichtlich  betrachtet,  kein  in  sich  abgeschlos- 
senes Objekt.  Die  ursprüngliche  Grundlage  der  als  besondere 
Wissenschaft  konstituierten  klassischen  Altertumswissen- 
schaft, die  Vorstellung  von  einer  abgeschlossenen  Entwick- 
lung einer  bestimmten  (der  griechischen)  Nation  oder  zweier 
nahe  verwandter  Nationen  (der  griechischen  und  lateinischen) 
ist  durch  die  Erweiterung  des  historischen  Horizontes  be- 
seitigt. Zunächst  darf  schon  die  Erkenntnis,  daß  auch  die 
griechische  Entwicklung  auf  dem  Boden  einer  älteren,  um- 
fassenden Kultur  sich  herausgebildet  hat,  jetzt  als  Gemein- 
gut der  Forschung  angesehen  werden.  Vor  allem  aber  steht 
die  Geschichte  des  Altertums  in  einem  großen  Zusammen- 
hange mit  der  folgenden  Entwicklung.  Das  Objekt  der  For- 
schung ist  somit  das  geschichtliche  Leben,  das  sich  in  diesem 
universalen  Zusammenhange  entfaltet  hat.  Läßt  sich  die 
Abgeschlossenheit  der  antiken  Entwicklung  nicht  aufrecht- 
erhalten, So  schwindet  eben  zugleich  jene  ,, Einheit  des 
Objektes",  die  v.  Wilamowitz  für  das  alleinige  Recht  einer 
besonderen  Altertumswissenschaft  auf  die  geschichtliche 
Erforschung  des  Altertums  geltend  macht.  Es  tritt  ein  um- 
fassenderes Ganzes  als  Objekt  der  historischen  Forschung 
an  die  Stelle  des  Altertums.  Damit  wird  aber  der  Begriff 
der  klassischen  Altertumswissenschaft  als  einer  selbständigen 
in  sich  begrenzten  und  abgeschlossenen  geschichtlichen 
Wissenschaft  innerlich  aufgehoben. 

Wir  sehen  hier  einen  wesentlichen  Unterschied  der 
eigentlichen  Geschichtswissenschaft  von  der  klassischen 
Philologie.  Die  klassische  Philologie  ist  an  bestimmte 
Sprachen  und  die  sich  darauf  aufbauende  Literatur,  an  die 
Kultur,  die  hierin  ihren  Ausdruck  gefunden  hat,  gebun- 
den. Sie  ist  durch  ihr  Objekt  im  wesentlichen  auf  das 
Altertum  beschränkt,  i)     Die  Geschichtswissenschaft   strebt 


1)  Ganz  läßt  sich  allerdings  diese  Grenze  nicht  innehalten,  wie 
schon  die  mittelalterlich-lateinische  Philologie  beweist.  Das  Fort- 
leben lateinischer  Sprache  im  Mittelalter  (und  darüber  hinaus)  ist 
ja  aber  auch  selbst  wieder  ein  Zeugnis  für  die  Kontinuität  der  all- 
gemeinen geschichtlichen  Entwicklung. 

20* 


304  J.  Kaerst, 

mit  innerer  Notwendigkeit  über  die  Grenze  des  Altertums 
hinaus. 

Die  klassizistische  Auffassung  hat  —  trotz  ihrer  Ein- 
seitigkeit —  der  modernen  Altertumsforschung  eine  große, 
für  die  geschichtlich-wissenschaftliche  Erkenntnis  wichtige 
Aufgabe  gestellt,  die  Aufgabe,  ein  allseitiges  Verständnis  der 
antiken  Gesamtkultur  anzustreben. i)  Die  moderne  Alter- 
tumsforschung hat  dieser  Aufgabe  eine  bewunderungs- 
würdig vielseitige  und  energische  Arbeit  gewidmet.  Ein 
solches  umfassendes  Verständnis  antiker  Kultur  muß  aber 
in  einer  lebendigen  Gesamtanschauung  ihrer  geschicht- 
lichen Stellung  gipfeln.  Diese  läßt  sich  nur  durch  eine  Be- 
trachtung, die  nicht  ihren  Standort  innerhalb  des  Altertums 
selbst  nimmt,  erzielen.  So  wichtig  es  ist,  die  Auffassung, 
die  die  Alten  selbst  von  ihrer  eigenen  Kultur  hatten,  zu  re- 
konstruieren^),  so  kann  doch  die  historische  Forschung 
hierbei  nicht  stehen  bleiben.  Die  Kräfte  und  Werte  antiker 
Kultur  erscheinen  einer  universalhistorischen  Ansicht  viel- 
fach in  anderer  Perspektive  als  den  Alten  selbst.  Die  bedeut- 
samsten Schöpfungen  politischen  wie  geistigen  Lebens,  die 
dem  griechischen  Denken  zum  Teil  in  allgemeiner  ratio- 
naler Begründung  entgegentreten,  gewinnen  erst  in  univer- 
salgeschichtlicher Beleuchtung,  in  der  Beziehung  zu  anderen 
großen  Perioden  historischer  Entwicklung  in  vollem  Maße 
ihre  besondere  geschichtliche  Färbung,  ihren  eigentlich  ge- 
schichtlichen Charakter. 

Auch  die  Auswahl  dessen,  was  als  charakteristisch 
und  bestimmend  zu  gelten  hat  für  geschichtliches  Wesen 
und  Leben,  was  somit  im  eigentlichsten  Sinne  den  Gegen- 
stand historischer  Forschung  bildet,  kann  nur  auf  dem 
Boden  einer  universalhistorischen  Anschauung  erfolgen. 
Hier  scheiden  sich  wieder  Geschichte  und  Philologie.  Wenn 
die    klassische  Philologie  —  nach  der  Äußerung  eines  ihrer 


1)  Vgl.  H.  z;  106,  s.  500. 

2)  Vgl.  H.  Z.  106,  S.  528  ff.  Natürlich  ist  auch  wieder  die  Re- 
konstruktion der  Anschauungen  antiker  Autoren  vielfach  nicht  mög- 
lich ohne  allgemeinere  Kenntnis  der  Probleme  und  Erscheinungen 
geschichtlichen  Lebens. 


Studien  z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  305 

hervorragendsten  Vertreter^)  —  gleichermaßen  ,,die  Par- 
tikel ar  und  die  Entelechie  des  Aristoteles,  die  heiligen 
Grotten  Apollons  und  den  Götzen  Besas,  das  Lied  der  Sappho 
und  die  Predigt  der  heiligen  Thekla,  die  Metrik  Pindars 
und  den  Meßtisch  von  Pompeji,  die  Fratzen  der  Dipylon- 
vasen  und  die  Thermen  Caracallas,  die  Amtsbefugnisse 
der  Schultheißen  von  Abdera  und  die  Taten  des  göttlichen 
Augustus,  die  Kegelschnitte  des  Apollonios  und  die  Astro- 
logie des  Petosiris"  zu  erforschen  hat,  so  gilt  dies  nicht  für 
die  Geschichte.  Der  historische  Erforschungswert  bestimmter 
Erscheinungen  ist  durch  ihre  Bedeutung  für  das  geschicht- 
liche Leben,  im  höchsten  Sinne  für  das  geschichtliche  Ge- 
samtleben, bedingt.2)  Die  sprachlichen,  literarischen,  zum 
Teil  auch  kunstgeschichtlichen  Forschungen  führen  vielfach 
in  besondere  Zusammenhänge  geistig-technischer  Gestal- 
tungen, die  mit  dem  wirklich  geschichtlichen  Leben  nur  in 
einer  mittelbaren  Verbindung  stehen.  Das  eigentlich  Tech- 
nische gehört  bloß  in  beschränktem  Sinne  der  Geschichte  an. 3) 
Wenn  wir  für  die  besonderen  Aufgaben  der  geschicht- 
lichen Erkenntnis  des  Altertums  das  Recht  und  die  Not- 
wendigkeit der  universalhistorischen  Auffassung  und  For- 
schung festhalten  müssen,  so  entspricht  dieses  Ergebnis  zu- 
gleich dem  allgemeinen  Wesen  historischer  Wissenschaft. 
Hier  ist  nun  allerdings  zunächst  ein  gewichtiger  Einwand 
zu  berücksichtigen.  Ist  nicht  in  den  tatsächlichen  Anfor- 
derungen der  wissenschaftlichen  Arbeit  die  Beschränkung 
gegeben?  Wird  nicht  damit  die  universalhistorische  For- 
schung von  vornherein  zu  einer  Utopie?  Zwar  wird  heutzu- 
tage eine  Forschung,  die  wirklich  der  Erkenntnis  dienen  will, 


^)  V.  Wilamowitz,  Reden  und  Vorträge,  S.  105. 

2)  Sehr  treffend  bezeichnet  es  schon  Ranke  als  Aufgabe  der 
modernen  Historiographie,  ,,daß  sie  alle  Elemente  des  Lebens,  die 
zu  der  universalen  Entwicklung  mitwirken,  zusammenzufassen  und 
zur  Anschauung  zu  bringen  sucht"  (Werke  51/52,  S.  580). 

*)  „Bei  der  Geschichte  der  Chemie  liegt  der  Ton  unzweifelhaft 
auf  Chemie,  nicht  auf  Geschichte",  sagt  Treitschke  treffend  (Histor. 
u.  polit.  Aufsätze  IV,  S.  450).  Natürlich  kann  die  Tatsache  einer  weit- 
gehenden technischen  Ausgestaltung  einer  Kultur  für  ihren  allge- 
meinen geschichtlichen  Charakter  große  Bedeutung  erhalten,  wie  es 
z.  B.  mit  der  hellenistischen  und  mit  der  modernen  Kultur  der  Fall  ist. 


306  J.  Kaerst, 

wohl  nicht  mehr  in  der  ausschiießHchen  Beschäftigung  mit 
einem  speziellen  Gebiete  das  non  plus  ultra  aller  Wissen- 
schaftlichkeit erblicken.  Aber  die  Beschränkung  der  For- 
schung scheint  doch,  so  kann  man  meinen,  allein  eine  wirk- 
liche Beherrschung  eines  bestimmten  Forschungsgebietes, 
die  Gewinnung  eines  fruchtbaren  Mittelpunktes  für  die 
Forschungsarbeit  zu  ermöglichen.  Einer  solchen  Beschrän- 
kung der  Forschung  gegenüber  muß  indessen  auf  das  ent- 
schiedenste betont  werden,  was  Ranke  schon  am  Anfange 
seiner  wissenschaftlichen  Tätigkeit  ausgesprochen  hat,  daß 
alle  historische  Forschung  ihrem  Wesen  nach  universal  ist. 
Wohl  besteht  ein  gewisser  Widerstreit  zwischen  den  indi- 
viduellen Kräften  des  Forschers,  dem  technisch-wissenschaft- 
lichen Interesse  der  vollen  Beherrschung  eines  bestimmten 
Stoffgebietes  auf  der  einen  Seite  und  der  universalen  Auf- 
gabe geschichtlicher  Anschauung  anderseits.  Dieser  Wider- 
streit kann  —  bei  der  heutigen  Erweiterung  und  Vertiefung 
der  wissenschaftlichen  Einzelarbeit  —  kaum  noch  in  vollem 
Maße  von  dem  einzelnen  Forscher  sondern  nur  von  dem 
Ganzen  der  Forschung  überwunden  werden.  Aber  über- 
wunden werden  muß  er  um  der  inneren  Kraft  und  Leben- 
digkeit historischer  Auffassung  selbst  willen.  Wenn  alles 
geschichtliche  Leben  sich  darauf  aufbaut,  daß  die  Hand- 
lungen der  Menschen  ein  Kontinuum  bilden,  einen  über  die 
unmittelbare  Naturbasis  und  den  Augenblick  hinausrei- 
chenden Zusammenhang  hervorrufen,  so  wird  der  Charakter 
geschichtlichen  Lebens  in  dem  Maße  gesteigert,  je  tiefer 
dieser  Zusammenhang  begründet  wird,  je  weiter  er  reicht 
und  fortwirkt.  1)  Durch  das  Wesen  historischer  Vorgänge 
und  historischer  Entwicklung  ist  auch  das  Wesen  historischer 
Anschauung    und    Forschung    bedingt,    die    Notwendigkeit 

1)  In  der  Bedeutung,  die  das  Moment  kontinuierlichen  Fort- 
wirkens für  die  Geschichte  hat,  ist  es  auch  begründet,  daß  alle  die- 
jenigen Äußerungen  historischen  Lebens  besonders  wichtig  für  die 
historische  Betrachtung  sind,  in  denen  der  vereinigte  Wille  einer 
Gesamtheit  zur  Geltung  gelangt.  Hierin  liegt  eine  vorzüglich  geschichts- 
bildende Macht  und  Kraft.  Vornehmlich  gilt  dies  vom  Staate. 
Er  ist  ja  diejenige  Organisation,  die  vor  allem  auf  einer  die  einzelnen 
unbedingt  und  dauernd  verbindenden  und  bindenden  Einheit  des 
Wollens  und  Handelns  beruht. 


Studien  z.Eiitwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  307 

einer  möglichst  umfassenden  Ausdehnung  des  Gesichts- 
kreises gegeben.  Der  Gedanke  der  geschichtlichen  Kon- 
tinuität ist  ein  im  tiefsten  Sinne  universalhistorischer  Ge- 
danke. Die  Kontinuität  historischen  Lebens  läßt  sich  nicht 
durch  allgemeine  Vernunftgründe  in  ihrer  inneren  Notwen- 
digkeit beweisen.  Sie  kann  nur  durch  die  historische  Er- 
fahrung selbst  begründet  werden.  Sie  bedeutet,  daß  unser 
eigenes  geschichtliches  Leben  einem  umfassenden,  universalen 
Zusammenhang  eingefügt  ist.^)  In  der  Erkenntnis  dieses 
Zusammenhanges  erscheint  die  Vollendung  und  Krönung 
historischer  Forschung  überhaupt. 2) 

So  ergibt  sich  sowohl  aus  dem  allgemeinen  Charakter 
geschichtlichen  Wesens  wie  vor  allem  den  besonderen  großen 
Zusammenhängen  der  geschichtlichen  Entwicklung  die  Idee 
eines  umfassenden  historischen  Gesamtlebens,  das  als  solches 
den  Gegenstand  historischer  Betrachtung  und  Forschung 
bildet.  Gewiß  soll  der  einzelne  Forscher  nicht  immer  dieses 
letzte  Ziel  der  Forschung  im  Munde  führen.  Aber  es  darf 
ihm  als  höchster  Inhalt  und  stärkste  Kraft  seiner  wissen- 
schaftlichen Arbeit  doch  stets  vor  Augen  stehen.  Die  histo- 
rische Forschung  erhält  durch  die  Beziehung  hierauf  ihren 


^)  Die  innere  Beziehung  zwischen  unserem  eigenen  geschicht- 
lichen Wesen  und  der  Gesamtentwicklung  der  geschichtlichen  Mensch- 
heit hat  Rani<e  schon  in  einem  Briefe  von  1826  an  seinen  Bruder  Hein- 
rich (Lebensnachr.  S.  162)  bestimmt  hervorgehoben.  —  Ich  brauche 
wohl  nicht  ausdrücklich  zu  bemerken,  daß  ich  hier  zunächst  nur  von 
derjenigen  Entwicklung  rede,  mit  der  unsere  eigene  geschichtliche 
Kultur  in  einer  nachweisbaren  Verbindung  steht.  Damit  ist  aber 
nicht  gesagt,  daß  nicht  auch  diejenigen  Kulturkreise,  die  außerhalb 
dieses  engeren  Zusammenhanges  stehen,  für  die  universalgeschicht- 
liche Betrachtung  Bedeutung  gewinnen  könnten.  Je  umfassender  das 
moderne  geschichtliche  Gesamtleben  sich  gestaltet,  je  mehr  es  sich 
über  den  ganzen  Erdball  ausdehnt,  desto  weiter  werden  auch  die 
Aufgaben  der  historischen  Erkenntnis.  Aber  die  nächste  und  größte 
Aufgabe  bleibt  doch  die  immer  vollere  und  tiefere  Erfassung  unseres 
eigenen  geschichtlichen  Wesens. 

^)  Vgl.  auch  die  schönen  Worte  von  R.  Sohm  in  der  Vorrede 
zum  1.  Bd.  seines  Kirchenrechts,  S.  VII.  —  v.  Wilamowitz  aller- 
dings, Reden  und  Vortr.,  S.  132  will  die  zusammenfassende  Betrach- 
tung der  Geschichtsphilosophie  vorbehalten  wissen.  Damit  würde 
die  Einheit  der  wissenschaftlich-geschichtlichen  Anschauung  zer- 
rissen. 


308  J.  Kaerst, 

inneren  Reichtum  und  ihre  Tiefe.  Auch  die  nationale  Ge- 
schichte, wie  sie  aus  der  allgemeinen  Verflechtung  histo- 
rischen Geschehens  hervorgeht,  gewinnt  ihre  innerlich  leben- 
dige Begründung  und  die  Rechtfertigung  ihrer  eigenen, 
selbständigen  Bedeutung  vor  allem  im  Zusammenhange  mit 
jenem  allgemeinen  historischen  Leben.  Dieses  gibt  erst  in 
vollem  Maße  aller  geschichtlichen  Einzelforschung  ihre 
innere  Einheit.  Es  bildet  durch  seinen  gemeinsamen  Inhalt 
das  verknüpfende  Band  zwischen  den  einzelnen  Sonder- 
gebieten geschichtlicher  Wissenschaft. 

Die  bisherige  Darstellung  hat  das  Universalhistorische 
vor  allem  in  einem  gemeinsamen  Inhalte  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  nachzuweisen  versucht.  Damit  ist  die 
früher  aufgeworfene  Frage  nach  dem  Wesen  des  Universal- 
historischen schon  mittelbar  beantwortet.  Es  bedarf  aber 
noch  einer  unmittelbaren  Auseinandersetzung  mit  einer  An- 
schauung, die  das  Wesen  der  universalgeschichtlichen  Vor- 
gänge durch  bestimmte  Formen,  die  für  den  Verlauf 
des  historischen  Geschehens  auf  seinen  einzelnen  Stufen 
charakteristisch  sein  sollen,  bedingt  werden  läßt.  Diese 
Auffassung  steht  mit  einer  starken  Strömung  unserer  gegen- 
wärtigen geistigen  Kultur  in  engem  Zusammenhange.  Sie  ist 
durch  die  Tendenz  bedingt,  in  der  Auffindung  von  Ge- 
setzen das  höchste  Ziel  wissenschaftlicher  Erkenntnis 
zu  erblicken. 1)  Diese  Tendenz  ist  hauptsächlich  von  den 
Voraussetzungen  eines  vorwiegenfl  naturwissenschaftlichen 
Denkens  aus,  zum  Teil  auch  auf  Grund  einseitiger  Beob- 
achtung der  Massenerscheinungen  erwachsen.  Die  Analogien 
naturgesetzlich-biologischer  Entwicklung  dienen  einer  solchen 
Anschauung  als  Grundlage  für  die  Betrachtung  des  histo- 
rischen Lebens.  Das  biogenetische  Grundgesetz  soll  den 
Schlüssel  für  das  Verständnis  auch  der  historischen  Ent- 
wicklung bieten. 2)    Als  „soziologisches   Grundgesetz"  wird 


1)  Auf  die  philosophische  Seite  des  hier  vorliegenden  Problems 
gehe  ich  nicht  ein,  sondern  begnüge  mich,  die  Förderung,  die  in  dieser 
Frage  die  Geschichtswissenschaft  von  der  Philosophie  erfahren  hat, 
dankbar  hervorzuheben. 

-    2)  Vgl,  vor  allem  H.  Schneider,  Entwicklungsgesch.  d.  Mensch- 
heit I,  S.  VII  ff.    Schneider  kündigt  auch  das  Kommen  eines  Darwin 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  309 

das  Prinzip  der  fortschreitenden  Vergesellschaftung,  das 
auf  zunehmender  Anpassung  beruhe,  zum  Grundprinzip 
für  den  historischen  Gesamtverlauf  erhoben. i)  Die  einzelnen 
historischen  Entwicklungsreihen  erscheinen  „als  Einzelfälle 
des  durch  das  Gesetz  der  fortschreitenden  Vergesellschaftung 
aufgestellten  Prinzipes".^)  Was  der  historischen  Forschung 
als  das  Ergebnis  eines  einmaligen  geschichtlichen  Verlaufes, 
besonderer  historischer  Bedingungen  und  Kräfte  erscheint, 
tritt  hier  als  ein  aus  allgemeinen  biologisch-soziologischen 
Gründen  vorauszusetzendes  Gesetz  auf,  das  durch  die  uns 
bekannten  geschichtlichen  Erscheinungen  im  wesentlichen 
nur  illustriert  und  bestätigt  wird.^) 


der  Geschichte  an  (S.  IX).  Breysig,  „Der  Stufenbau  und  die  Gesetze 
der  Weltgeschichte"  S.  121  ist  geneigt,  „der  Gleichläufigkeit  der  seeli- 
schen Entwicklung  des  Einzelnen  und  des  Menschengeschlechtes  in 
der  Geschichte"  „die  Bedeutung  eines  Gesetzes  höherer  Ordnung" 
beizumessen.  Vgl.  auch  die  Bemerkungen  von  Lamprecht,  Abh.  d. 
K.  Sachs.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  57,  1909,  S.  61.  —  Ich  führe  vor 
allem  Stimmen  aus  der  neueren  Literatur  an. 

*)  L.  M.  Hartmann,  „Über  historische  Entwicklung"  1905, 
S.  57  ff. 

2)  Hartmann  a.  a.  O.  S.  62.  O.  Seeck  will  in  seiner  Geschichte 
des  Unterganges  der  antiken  Welt  „an  einem  charakteristischen  Bei- 
spiele in  die  Gesetze  des  historischen  Werdens  und  Vergehens  ein- 
führen". Auch  er  geht  ja  von  einer  vor  allem  naturwissenschaftlich 
begründeten  Anschauung  aus. 

^)  Die  Abhängigkeit  von  den  allgemeinen  biologischen  Voraus- 
setzungen ergibt  sich  für  die  Anschauung  Hartmanns  aus  dessen  eigener 
Darlegung  S.  6  ff.  Hartmann  sucht  die  von  ihm  hervorgehobenen  all- 
gemeinen Tendenzen  historischer  Entwicklung  durch  einen  Überblick 
über  die  staatliche  Entwicklung  im  Altertum  zu  veranschaulichen.  In 
diesem  Überblicke  kommen  aber  die  besonderen  geschichtlichen,  poli- 
tischen wie  geistigen,  Kräfte,  die  die  Einheit  der  antiken  Welt  ge- 
staltet haben,  durchaus  nicht  genügend  zu  ihrem  Rechte.  Hartmann 
spricht  allerdings  auch  von  dem  ,, staatenbildenden  Geist  der  römi- 
schen Bauern",  aber  er  sieht  —  charakteristisch  genug  —  darin  auch 
erst  eine  Anpassung  an  die  geänderten  Verhältnisse 
(S.  76).  Von  dem  in  der  griechischen  Kultur  ausgeprägten  Streben 
nach  einheitlicher,  geistiger  Zusammenfassung  der  Welt,  das  einen 
der  eigentümlichsten  und  wirksamsten  Faktoren  für  die  innere  Begrün- 
dung der  einheitlichen  Kulturwelt  des  Altertums  darstellt,  ist  nicht 
die  Rede.  Sehr  bezeichnend  für  die  Grundauffassung  Hartmanns  ist 
das,  was  er  im  Anschlüsse  an  eine  Bemerkung  von  Harnack,  Mission 
und  Ausbreitung  des  Christentums  S.  108  (=  2.  Aufl.  S.  129)  bemerkt. 


310  J.  Kaerst, 

Das  entscheidende  Interesse,  das  die  historischen  Vor- 
gänge hervorrufen,  knüpft  sich  also  auf  dem  Boden  dieser 
Auffassung  vor  allem  an  die  allgemeinen  Formen  des 
historischen  Verlaufes. i)  Das  Typische  bedingt  danach 
den  eigentlich  wissenschaftlichen  Charakter  geschichtlicher 
Erkenntnis.  Es  entspricht  den  Gesichtspunkten  und  Zielen 
einer  vornehmlich  das  Typische  der  historischen  Erschei- 
nungen aufsuchenden  Forschung,  wenn  man  von  den  kultur- 
geschichtlichen Erkenntnissen  urteilt,  daß  sie  ,, letzten  Endes 
überhaupt  nicht  so  sehr  inhaltreicher,  bildhafter, 
wie  formaler,  evolutionistischer  Natur"  seien. 2)  Als 
die  Aufgabe  einer  entwicklungsgeschichtlichen  Betrachtung 
geschichtlichen  Lebens  wird  es  angesehen,  ,, alles  was  heute 


Harnack  sagt:  „(Das  Evangelium)  vergeistigt  den  unüberwindlichen 
Trieb,  der  den  Menschen  zum  Menschen  zieht,  und  erhebt  die  gesell- 
schaftliche Verbindung  der  Menschen  über  die  Konvention  hinaus 
in  den  Bereich  des  sittlich  Notwendigen."  Hartmann  (S.  78)  erklärt, 
daß  dem  Christentimi  als  sittlich  notwendig  erschien,  was  durch  die 
Organisation  des  römischen  Reiches  vorgebildet  war.  Also  wieder 
die  von  vornherein  alle  geschichtlichen  Erscheinungen  beherrschende 
Anpassung.  Und  gelangt  nicht  eben  auch  im  römischen  Reiche  als 
einem  einheitlichen  Kulturreiche  schon  eine  geschichtliche  geistige 
Kraft  zur  Geltung?  Auch  in  der  Skizze  des  Kapitalismus,  die  Hart- 
mann S.  78  ff.  zum  Erweise  des  allgemeinen  Assoziationsgesetzes  gibt, 
erscheint  der  „sogenannte"  kapitalistische  Geist  nur  als  eine  An- 
passungserscheinung des  menschlichen  Bewußtseins  an  eine  tatsäch- 
liche Entwicklung  (S.  81). 

^)  In  geistvollen  Erörterungen  hat  Hamann  in  seinem  Buche 
über  den  Impressionismus  (1907)  vom  Gesichtspunkte  impressionisti- 
schen Lebens-  und  Kunststils  das  Wesen  und  innere  Gesetz  der  Stil- 
folge in  der  Geschichte  zu  beleuchten  und  danach  die  Aufeinander- 
folge großer  Kulturzeitalter  zu  bestimmen  versucht.  Hier  ist  allerdings 
nicht  das  Besondere  der  geschichtlichen  Erscheinungswelt  in  dem 
Maße  wie  in  anderen,  auf  das  Typische  ausgehenden  Darstellungen 
zugunsten  allgemeiner  Begriffe  verflüchtigt.  Aber  der  impressionisti- 
schen Kultur  ist  doch  zum  Teil  eine  Weite  der  Ausdehnung  gegeben, 
die  kaum  als  zulässig  gelten  kann;  zum  Teil  darf  es  aber  auch  als  zweifel- 
haft angesehen  werden  (z.  B.  in  der  Zeichnung  des  hellenistischen 
Zeitalters),  ob  wirklich  die  Darstellung,  die  Hamann  von  einzelnen 
Kulturzeitaltern  gibt,  den  geschichtlichen  Gesamtcharakter  dieser 
Zeitalter  genügend  zum  Ausdruck  bringt. 

2)  Lamprecht,  Abh.  d.  Kön.  Sachs.  Gesellsch.  d.  Wissensch. 
Bd.  57,  1909,  S.  51. 


Studien  z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  311 

als  spezifisch  national  und  spezifisch  persönlich 
gilt,  so  weit  als  irgend  möglich  in  die  a  1 1  g  e  m  e  i  n  e  Ent- 
wicklung des  Menschen  und  des  einzelnen  Volkes  auf- 
zulösen".i)  Das  heißt  doch:  die  Einzelpersönlichkeit  und  die 
Nation  haben,  wenigstens  für  die  wissenschaftliche  Auf- 
fassung, ihren  eigentlichen  Wert  nicht  in  den  beson- 
deren Inhalten  ihres  Wesens  und  Lebens,  die  als 
solche  für  das  historische  Bewußtsein  eben  zugleich  Zwecke 
in  sich  selbst  bilden,  sondern  soweit  sie  die  entscheidenden 
Typen  allgemeinen  entwicklungsgeschichtlichen  Werdens  der 
Menschheit  darstellen. 

Als  Repräsentanten  typisch-geschichtlicher  Entwick- 
lung erscheinen  einer  solchen  Betrachtungsweise  vor  allem 
die  N  a  t  i  0  n  e  n.  Es  ist  bekannt,  wie  namentlich  Lam- 
precht die  Lehre  vom  typischen  Charakter  der  nationalen 
Entwicklungen  ausgebildet  hat.  ,,Die  Nationen,"  so  sagt 
er^),  ,,sind  als  Exemplare  eines  generellen  nationalen  Typs 
zu  begreifen  mit  regulär  wiederkehrenden  Momenten  der 
Entwicklung."  Der  typische  Verlauf  der  nationalen  Ent- 
wicklungen prägt  die  regelmäßige  Aufeinanderfolge  der  all- 
gemeinen Kulturstufen  oder  Kulturzeitalter  aus.  Die  Grund- 
voraussetzung einer  solchen  universalhistorischen  Betrach- 
tungsweise ist,  wie  Lamprecht  selbst  betont^),  „nationaler 
Verlauf  der  menschlichen  Geschichte  und  normaler  Verlauf 
der  nationalen  Entwicklungen".  Die  Nationen  sind  also 
danach  die  Grundtypen  regulär  wiederkehrender  Ent- 
wicklungsformen.*)  Sie  bezeichnen  dieVoraussctzun- 

1)  H.  Schneider  a.  a.  O.  S.  XV. 

'^)  Zeitschr.  f.  Geschichtswissenschaft,  N.  F.   I,  S.  100. 

3)  „Moderne  Geschichtswissenschaft"  S.  126. 

*)  Wesentlich  in  derselben  Richtung  gehen  auch  schon  die  Äuße- 
rungen Useners,  ,, Philologie  und  Geschichtswissenschaft"  S.  15  f. 
Er  spricht  hier  von  einer  ,,Ergründung  der  allgemeinen  Ge- 
setze, nach  denen  die  einzelnen  Lebensäußerungen  der  Völker 
sich  entwickeln  und  gegenseitig  bedingen",  von  einer  „vom  einzelnen 
zum  allgemeinen  hinstrebenden  Geschichtswissenschaft",  die  sich  be- 
müht, „aus  der  Fülle  tatsächlichen  Wissens  die  Begriffe  abzu- 
leiten". ,, Dieser  allgemeinen,  einheitlich  umfassenden  Wissenschaft 
erscheinen  die  einzelnen  Völkergruppen  und  Völker  nur  als  For- 
men eines  Organismentypus,  dessen  reguläre  Konstitution 
und   Lebensbedingungen  sie  erforscht,  während  ihr  die  individuellen 


312  J.  Kaerst, 

gen  der  geschichtlichen  Entwicklung,  treten  aber  nicht 
als  deren  Ergebnis  auf.  Auch  Ranke  sagt^):  „In  den 
Nationen  selbst  erscheint  die  Geschichte  der  Menschheit." 
Aber  bei  Ranke  erhalten  die  Nationen  erst  ihren  bestimmten 
Inhalt  durch  den  besonderen  Verlauf  und  die  besondere 
Verflechtung  gesamtgeschichtlichen   Lebens. 2) 

Hier  sehen  wir  den  fundamentalen  Gegensatz  der  An- 
schauungen. Indessen  in  der  Auffassung,  daß  die  nationalen 
Bildungen,  wenn  sie  auch  natürlich  in  einer  ursprünglichen 
Volksindividualität  wurzeln,  in  ihrem  besonderen  eigen- 
tümlichen Wesen  Ergebnisse  eines  umfassenden  geschicht- 
lichen Lebens  sind,  ist  eine  Erkenntnis  gegeben,  die  als  eine 
der  großen  Errungenschaften  moderner  historischer  For- 
schung gelten  darf.  Das  wahrhaft  universalhistorische  Ver- 
ständnis geschichtlicher  Vorgänge  hängt  daran,  daß  diese 
vor  allem  durch  Ranke  gewonnene  Erkenntnis  nicht  wieder 
preisgegeben  wird.  Sie  entzieht  einer  Ansicht,  die  im  wesent- 
lichen die  Nationen  nur  als  Typen  historischer  Bildungen 
verwertet,  den  Boden.  Die  Anschauung  vom  lebendigen 
Werden  nationaler  Gestaltungen  unter  dem  Einflüsse  „der 
großen  Abwandlung  der  Begebenheiten"  kann  nicht  ersetzt 
werden  durch  den  Versuch  „den  Typ  des  Völkerwerdens  zu 
entwickeln".^)  Der  Zusammenhang  der  nationalen  Ent- 
wicklungen untereinander  darf  nicht  als  ein  solcher  betrachtet 
werden,  der  wesentlich  auf  dem  Wege  typischerüber- 
tragungen    (Renaissance,    Rezeption    usw.)    vermittelt 


Besonderheiten  derselben  an  sich  gleichgültig  sind  und  nur  als  Kor- 
rektiv wichtig  werden."  ,,Auch  auf  dem  geschichtlichen  Gebiet  be- 
ginnt Wissenschaft  in  der  wahren  Bedeutung  des  Wortes  erst  mit  der 
Erforschung  allgemeiner,  für  die  Menschheit  selbst  gültiger  Gesetze." 
Usener  hat  diese  Methode  der  Forschung  selbst  in  seinen  religions- 
geschichtlichen Untersuchungen  zur  Anwendung  gebracht. 

1)  Weltgesch.  I,  S.  IX. 

2)  Vgl.  die  H.  Z.  106,  S.  526  angeführten  Stellen.  Im  Gegen- 
satze zu  Ranke  hält  Lamprecht  die  —  wenigstens  zunächst  —  iso- 
lierende Betrachtung  der  nationalen  Entwicklungen  für  ein  notwen- 
diges Mittel  wissenschaftlich-historischer  Erkenntnis  (vgl.  z,  B.  Zeit- 
schrift f.  Geschichtswiss.  N.  F.  I,  S.  101.  Abh.  d.  sächs.  Gesellsch. 
d.  Wissensch.  57,  S.  38  ff.). 

3)  Lamprecht,  Die  kulturhistorische  Methode,  S.  44. 


Studien  z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  313 

wird.^)  Der  universalgeschichtliche  Prozeß  ist  nicht  als 
„eine  in  ihrem  Inhalte  freilich  ständig  gesteigerte  Summation 
nationaler  Entwicklungsgeschichten"'^)  anzusehen.  Jede  iso- 
lierende Betrachtung  der  nationalen  Entwicklungen  läuft 
Gefahr,  das  Wesen  des  universalhistorischen  Prozesses, 
die  gegenseitige  Verflechtung  der  historischen  Vorgänge 
und  Entwicklungen,  zu  verkennen.  Auch  das  , »seelische 
Werden"  der  Nationen  wird  ebenso  wie  das  der  Individuen 
wesentlich  bestimmt  und  geformt  durch  das,  was  sie  er- 
leben. Die  Geschichte  selbst  bildet  ihr  inneres  Wesen. ^) 
Die  Erkenntnis,  daß  die  Nationen  nicht  nur  —  in  dem 
ursprünglichen  Kern  ihres  Wesens  —  die  Grundlage  des  all- 
gemeinen geschichtlichen  Lebens  bilden,  sondern  selbst 
wieder  —  in  ihrer  vollen  Ausgestaltung  —  aus  dem  Zu- 
sammenhange dieses  allgemeinen  geschichtlichen  Lebens 
hervorgehen,  ist  zunächst  auf  dem  Gebiete  der  neueren 
Geschichte  zur, Geltung  gelangt.  Indessen  mit  immer  größerer 
Deutlichkeit  sehen  wir,  daß  auch  die  großen  Völker  des 
Altertums,  vor  allem  das  griechische,  aus  umfassenderen 
geschichtlichen  Zusammenhängen  hervorgewachsen  sind. 
Es  ist  nun  dann  aber  die  Eigenart  der  antiken  Entwicklung, 
daß  sie  nicht  in  selbständigen,  nationalen  Staaten  und  Kul- 
turen, sondern  in  einem  Weltstaat  und  einer  Weltkultur 
ihren  Abschluß  gefunden  hat.  Und  umgekehrt  ist  es  der 
eigentümliche  Charakter  eines  einmaligen  universalen  ge- 
schichtlichen Prozesses,  der  das  für  die  Neuzeit  charakte- 
ristische Nebeneinander  der  nationalen  Staaten  und  Kul- 
turen bedingt  hat.  Es  ist  damit  eine  neue  Stufe  univer- 
saler Entwicklung  gegenüber  dem  Altertum  gegeben,  ebenso 


^)  Diese  Lehre  von  den  typischen  Übertragungsformen  spielt  ja 
vor  allem  wieder  bei  Lampreclit  eine  große  Rolle.  Vgl.  z.  B.  „Mo- 
derne Geschichtswissenschaft",  S.  111  ff.  Abh.  d.  sächs.  Gesellsch. 
d.  Wissensch.  57,  S.  36:  „Denn,  was  den  universalgeschichtlichen  Ver- 
lauf recht  eigentlich  bildet,  sind  die  Vorgänge  der  Renaissancen  und 
Rezeptionen." 

2)  Lamprecht,  Ergänzungsbd.  z.  deutschen  Geschichte  I,  S.  458. 

3)  Ich  bemerke  dies  mit  Bezug  auf  eine  Äußerung  von  Lamprecht, 
Ergänzungsbd.  z.  deutschen  Geschichte  11,2,  S.  44.  Natürlich  wird 
die  eigentümliche  Verwertung  der  Erlebnisse  wieder  durch  einen  ur- 
sprünglich gegebenen  besonderen  Charakter  bedingt. 


314  J.  Kaerst, 

wie  der  moderne  Subjektivismus  und  die  moderne  Per- 
sönlichkeitsidee eine  von  der  antiken  Kulturentfaltung 
wesentlich  verschiedene  Stufe  der  geistigen  Gesamtentwick- 
lung bezeichnen. 

Jeder  Versuch  einer  typischen  Erklärung  nationaler 
Entwicklungen  versagt  gegenüber  der  Eigenart  dieses  histo- 
rischen Gesamtprozesses. 

Und  weiter:  Große  weltgeschichtliche  Erscheinungen, 
wie  das  Christentum,  lassen  sich  von  vornherein  nicht  in 
den  Rahmen  nationaler  Entwicklungen  fassen.  Das  Christen- 
tum ist  seinem  Wesen  nach  universal,  wenn  es  sich  auch  in 
besonderen  Ausprägungen  mit  nationalen  Faktoren  ver- 
bunden hat.  Soweit  es  aber  in  einem  besonderen  nationalen 
Leben,  dem  des  jüdischen  Volkes,  wurzelt,  handelt  es  sich 
um  eine  höchst  eigenartige  religiöse  Entwicklung,  der  man 
den  Charakter  des  Typischen  nicht  zuschreiben  kann. 

So  ergibt  es  sich  immer  wieder  von  neuem,  daß  universal- 
historische Erkenntnis  an  einen  gemeinsamen  Inhalt 
geschichtlichen  Lebens,  der  in  großen  Zusammenhängen 
dieses  Lebens  sich  ausprägt,  geknüpft  ist.  In  der  Auffindung 
typischer  Entwicklungsformen  wird  das  Wesen  universaler 
geschichtlicher  Entwicklung  nicht  erfaßt,  wie  ja  überhaupt 
das  Typische  nie  und  nimmer  dazu  dienen  kann,  den  vollen 
Charakter  geschichtlicher  Vorgänge  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Eine  einseitig  auf  die  Herausstellung  des  Typischen  und 
Gesetzmäßigen  hinzielende  Forschung  läuft .  geradezu  Ge- 
fahr, die  geschichtlichen  Erscheinungen  ihres  wertvollsten 
Erkenntnisinhaltes  zu  berauben.  Das  Besondere  der  histo- 
rischen Konstellation,  das  Wirksame  des  bestimmten  histo- 
rischen Ereignisses,  die  Bedeutung  des  persönlichen  Fak- 
tors geschichtlichen  Handelns  sind  eben  unzertrennlich  mit 
dem  Wesen  der  Geschichte  verbunden.  Gerade  die  eigentüm- 
liche Gestaltung  individuellen  Wesens  begründet  oder  ver- 
stärkt oft  in  entscheidendem  Maße  die  schöpferische  und 
tiefer  greifende  historische  Wirksamkeit. 

Es  soll  damit  natürlich  nicht  gesagt  sein,  daß  das  Typische 
für  den  Historiker  keine  Bedeutung  habe.  Selbstverständ- 
lich ist  es,  daß  die  allgemeinen  Grundzüge  des  menschlichen 
Wesens  —  das  ja  allerdings  in  seiner  Totalität  sich  auch  erst 


Studien  z.  Entwickig. u.Bedeutg.d.universalgescli.  Anschauung.  315 

in  der  üeschichte  entfaltet  —  immer  wieder  zu  verwandten 
Bildungen  und  Entwicklungen  führen,  und  daß  bestimmte, 
in  ähnlichen  Gestaltungen  wiederkehrende  Konstellationen 
der  äußeren  Verhältnisse  in  analogen  historischen  Vorgängen 
ihren  Ausdruck  finden.  Morphologische  Betrachtungen  über 
den  Zusammenhang  zwischen  äußerer  Staatenbildung  und. 
Verfassungsentwicklungi),  geographische  über  den  Einfluß 
räumlicher  Bildungen  auf  die  historische,  insbesondere  auch 
die  politische  Entwicklung  sind  für  die  geschichtliche  For- 
schung außerordentlich  fruchtbar.  Die  Mannigfaltigkeit 
des  historischen  Lebens  erhebt  sich  auf  dem  Grunde  allge- 
meiner Entwicklungsfaktoren,  die  wir  in  der  Fülle  des  be- 
sonderen Lebens  wirksam  sehen, 2)  Aber  Allgemeines  und 
Besonderes  sind  in  den  historischen  Erscheinungen  und 
Vorgängen  so  unauflöslich  miteinander  verschmolzen,  daß 
das,  was  im  Leben  verbunden  ist,  auch  in  der  Erkenntnis 
nicht  voneinander  geschieden  werden  kann.  Ein  weiter 
Überblick  über  ein  umfassendes  historisches  Beobachtungs- 
und Anschauungsmaterial,  und  auf  der  so  gewonnenen 
Grundlage  vielseitiger  historischer  Erkenntnismöglichkeiten 
scharfe  Erfassung  des  besonderen,  einmaligen  historischen 
Zusammenhanges  müssen  in  der  Tätigkeit  des  Historikers 
sich  auf  das  engste  vereinen.  Es  muß  aber  auch  auf  das 
entschiedenste  hervorgehoben  werden,  daß  auch  dann, 
wenn  wir  das  Analoge  und  Parallele  geschichtlicher  Vor- 
gänge in  das  Auge  fassen,  unser  wissenschaftliches  Interesse 
sich  nicht  allein  an  bestimmte  Formen  knüpft,  in  denen 

1)  Vgl.  die  lehrreichen  Ausführungen  von  O.  Hintze,  H.  Z.  88, 
S.  1  ff.  ^  Histor.  u.  polit.  Aufsätze  IV,  S.  13  ff. 

2)  Sehr  beachtenswert  sind  auch  die  Beobachtungen  über  den 
Unterschied  von  Naturvölkern  und  Kulturvölkern,  die  Vierkandt  in 
seinem  Buche  über  Naturvölker  und  Kulturvölker  gemacht  hat. 
Solche  Versuche,  über  die  Mannigfaltigkeit  des  historischen  Einzei- 
lebens unter  der  Leitung  allgemeiner  Gesichtspunkte  zu  orientieren, 
können  klärend  und  befruchtend  wirken,  wenn  wir  uns  über  die 
Grenzen  ihrer  Beweiskraft  im  klaren  bleiben  und  aus  ihnen  nicht  Er- 
klärungsprinzipien für  die  Entwicklung  der  geschichtlichen  Welt  machen 
(vgl.  auch  die  Bemerkungen  von  Vierkandt  selbst,  S.  12),  und  wenn 
diese  Versuche  nicht  dazu  führen,  in  solchen  allgemeinen  Begriffen 
das  für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  ausschließlich  Wertvolle  zu 
erblicken. 


316  J.  Kaerst, 

sich  der  Verlauf  analoger  Entwicklungen  vollzieht.  Sondern 
wir  denken  auch  hier  an  den  gemeinsamen  Inhalt  eines 
universalen  historischen  Lebens.  Auch  die  allgemeinen 
Kräfte,  die  unter  analogen  Bedingungen  im  Verlaufe  der 
geschichtlichen  Entwicklung  sich  wirksam  zeigen,  gewinnen 
jhren  eigentlich  historischen  Charakter  erst  in  der  eigen- 
artigen Verflechtung  besonderer  historischer  Zusammen- 
hänge und  in  ihrer  Bedeutung  für  den  eigentümlichen  Auf- 
bau des  geschichtlichen  Gesamtlebens. 

Und  weiter  kann  nicht  bezweifelt  werden,  daß  das 
Typische  sich  in  denjenigen  Perioden  am  stärksten  geltend 
macht,  in  denen  das  geschichtliche  Leben  noch  am  meisten 
gebunden  erscheint.  Es  tritt  dagegen  mehr  zurück,  je  mehr 
der  eigentlich  geschichtliche  Charakter  sich  in  der  größeren 
Kompliziertheit  und  gegenseitigen  Verflochtenheit  histo- 
rischer Begebenheiten  und  Phänomene,  in  der  stärkeren 
Eigentümlichkeit  und  Selbständigkeit  geschichtlichen  Wol- 
lens  und  Handelns  ausprägt.^) 

Rankes  Anschauung  von  einem  ,, historischen  Leben, 
das  sich  fortschreitend  von  einer  Nation  zur  andern,  von 
einem  Völkerkreise  zum  andern  bewegt",  faßt  den  gemein- 
samen Inhalt  dieses  universalen  Lebens  vorwiegend  nach 
seiner  objektiven  Seite.  Ranke  betont  vornehmlich 
die  Wirkungen  und  Kräfte,  die  von  den  geschichtlich  han- 
delnden und  Geschichte  erlebenden  Menschen  ausgehen,  die 
Ideen,  die  von  besonderen  Brennpunkten  geschichtlichen 
Lebens  aus  immer  weitere  Kreise  ihrem  Einflüsse  unter- 
werfen, die  historischen  Bildungen  selbst,  die  in  unaufhör- 
licher gegenseitiger  Wechselwirkung  ihr  eigenes  Leben  mit 
dem  fortschreitenden  allgemeinen  Leben  verbinden.  Man 
kann  aber  diesen  universalen  Zusammenhang  auch  mehr 
nach  der  subjektiven  Seite  hin  betrachten.  Man 
kann  vor  allem  an  den  geschichtlichen  Men- 
schen selbst  als  den  Träger  des  gemeinsamen  geschicht- 
lichen Lebens  denken,  die  Veränderungen,  die  sein  geistiges 
Wesen  im  Verlaufe  der  Weltgeschichte  erfahren  hat,  in  das 


^)  Vgl.   hierzu  auch  die  sehr  treffenden   Bemerkungen  von  O. 
Hintze,  Histor.  u.  polit.  Aufs.   IV,  S.  55  ff. 


Studien  z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch.  Anschauung.  317 

Auge  fassen.  Es  ist  der  große,  schon  von  Herder  gefaßte 
Gedanke  einer  „Geschichte  der  menschlichen  Seele  über- 
haupt in  Zeiten  und  Völkern"^),  auf  den  wir  so  geführt 
werden.  Es  ist  der  Gedanke,  der  wohl  vor  allem  J.  Burck- 
hardt  als  das  höchste  Ziel  geschichtlicher  Erkenntnis  vor- 
geschwebt hat.  Natürlich  ist  von  vornherein  ein  Zusammen- 
hang zwischen  der  mehr  objektiven  und  der  mehr  subjek- 
tiven Seite  der  Betrachtung  vorhanden.  Beide  Seiten  lassen 
sich  überhaupt  nicht  völlig  voneinander  trennen. 2)  Denn 
wie  ließe  sich  ein  gemeinsames  historisches  Leben  denken, 
ohne  daß  wir  zugleich  eine  gewisse  innere  Einheit  der  histo- 
rischen Menschheit  selbst  annähmen?  Wie  vermöchten 
wir  die  Kräfte  und  Werte  menschlicher  Geschichte,  die 
Ideen  und  historischen  Bildungen  in  ihrer  universalen  Ent- 
wicklung zu  verfolgen,  ohne  daß  wir  zugleich  den  Versuch 
machten,  den  Reflex  zu  erfassen,  den  jenes  große  gemeinsame 
Leben  in  der  Seele  der  handelnden  und  erlebenden  Menschen 
selbst  findet?  Allerdings  werden  wir  bei  einem  solchen  Ver- 
suche, zu  einem  seelischen  Verständnis  der  Menschen  ver- 
gangener, uns  fern  liegender  Epochen  vorzudringen,  die 
Schranken  unserer  Erkenntnis  besonders  deutlich  emp- 
finden. 

Wenn  wir  in  unseren  Erörterungen  den  Gedanken  der 
Kontinuität  der  allgemeinen  geschichtlichen  Entwicklung 
als  einen  für  die  universalhistorische  Betrachtungsweise 
besonders  wichtigen  betont  haben,  so  soll  das  natürlich  nicht 
heißen,  daß  diese  Entwicklung  „kontinuierlich  fortschreitend 
in  aufsteigender  Linie"  verlaufen  sei.  Ernsthafte  historische 
Forschung  hat  wohl  kaum  diesen  ,, Wahnglauben"  geteilt.^) 
Die  einseitige  Ausprägung  der  Idee  eines  unbedingten  Fort- 
schrittes der  Menschheit,  der  erst  in  der  Neuzeit  zu  seiner 
vollen  Verwirklichung  gelange,  stammt  aus  der  Aufklärung*), 

1)  Vgl.  H.  Z.  106,  S.  501,  1. 

*)  In  der  berühmten,  schon  erwähnten  Äußerung  Rankes  im  Brief 
an  seinen  Bruder  Heinrich  von  1826  (Lebensnachr.  S.  162)  tritt  auch 
die  subjektive  Seite  klar  hervor. 

3)  Die  Polemik  von  E.  Meyer  (Kl.  Sehr.  S.  88;  vgl.  auch  S.  173  f.) 
und  von  Wilamowitz,  Reden  u.  Vortr.,  S.  132  trifft  nicht  den  Punkt, 
auf  den  es  ankommt. 

*)  Vgl.  H.  Z.  106,  S.  480  ff. 
Historische  Zeitschrift  (111.  BdL)  3.  Folge  15.  Bd.  21 


318  J.  Kaerst, 

die  einem  für  die  allgemeine  historische  Anschauung  wichtigen 
Gedanken  einen  den  Schranken  rationalistischer  Auffassung 
entsprechenden  Ausdruck  verliehen  hat. 

Fortschreitendes  geschichtliches  Leben  bedeutet  nicht, 
daß  das  nächstfolgende  Zeitalter  immer  höher  stehe  als  das 
vorhergehende  —  die  geschichtliche  Erfahrung  würde  einer 
solchen  Auffassung  allzusehr  widersprechen  —  sondern 
daß  ein  Zusammenhang  der  allgemeinen  Entwicklung  statt- 
findet, daß  neue  Aufgaben  und  Kräfte  emporkommen,  die 
sich  doch  zugleich  in  innerer  Beziehung  zu  dem  bisherigen 
geschichtlichen  Leben  entfalten.  Wir  dürfen  die  allgemeine 
historische  Entwicklung  einem  Strom  vergleichen,  der  bis- 
weilen in  sich  selbst  zurückzulaufen  scheint,  in  Wahrheit  aber 
sich  von  seinem  Ursprünge  immer  weiter  entfernt.  So  ist 
auch  die  geschichtliche  Entwicklung  keine  geradlinige. 
Das  Maß  der  geistigen  und  sittlichen  Kraft  ist  verschieden 
in  den  geschichtlichen  Zeitaltern  wie  bei  den  einzelnen  Men- 
schen. Freiheit  und  Notwendigkeit  sind,  wie  schon  Ranke 
betont  hafi),  in  der  Geschichte  unauflöslich  verbunden. 
Neben  der  Einheit  des  allgemeinen  Zusammenhanges  sehen 
wir  die  Mannigfaltigkeit  in  der  Gestaltung  und  Ausprägung 
besonderen    Lebens. 

In  dem  Kampf  des  Neuen  mit  dem  Alten,  in  dem  Gegen- 
sätze, in  dem  neu  emporkommende  Tendenzen  und  Mächte 
zu  den  bisher  herrschenden  stehen,  scheint  es  wohl  bisweilen, 
als  ob  auch  die  größten  Errungenschaften  und  Werte  früherer 
Entwicklung  verschwinden.  Aber  was  einmal  wahrhaft 
lebendig  geworden  ist  im  geistigen  Wesen  des  Menschen, 
erlischt  auch  im  geschichtlichen  Gesamtleben  nicht  völlig, 
wenn  es  auch  immer  neue  Verbindungen  und  mannigfache 
Umbildungen  eingeht. 

Die  Anschauung  von  einem  fortschreitenden  Zusammen- 
hange des  historischen  Gesamtlebens  bedeutet  auch  nicht,, 
daß  nun  etwa  die  besonderen  Epochen  gewissermaßen  me- 
diatisiert^)  würden  zugunsten  jenes  universalen  Zusammen- 
hanges.   Wenn  wir  das  Altertum  als  eine  besondere  Stufe 


1)  Weltgesch.  IX,  2,  S.  XIV. 

2)  Ich  finde  bei  erneutem  Lesen,  daß  bereits  Ranke  diesen  Aus- 
druck gebraucht  hat  (Weltgesch.  IX,  2,  S.  5). 


^ 


Studien  z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung.  319 

allgemeiner  Entwicklung  gegenüber  unserer  modernen  ge- 
schichtlichen Kultur  betrachten,  so  ist  damit  nicht  gesagt, 
daß  das  Altertum  nicht  seinen  besonderen  Wert  und  seine 
besondere  Bedeutung  in  sich  selbst  besäße,  daß  es  etwa 
nur  als  „Vorhalle"  für  die  Geschichte  der  romanischen  und 
germanischen  Nationen  zu  gelten  hätte". i)  Die  Originalität 
und  innere  Größe  antiker  Kultur  können  gewiß  nicht  in 
ein  Trabantenverhältnis  zu  folgenden  Zeitaltern  gebracht 
werden.  Gerade  die  geschichtliche  Ausprägung  der  Humani- 
tätsidee in  unserer  klassischen  Literaturepoche  hat  uns  ge- 
lehrt, die  einzelnen  Zeitalter  als  selbständige,  in  ihrer  Be- 
sonderheit wertvolle  Ausprägungen  allgemein  menschlichen 
Wesens  zu  erfassen. 2)  Niemand  hat  entschiedener  als  Ranke 
die  Selbständigkeit  der  verschiedenen  historischen  Epochen 
betont:  ,, Nichts  ist  ganz  um  des  andern  willen  da;  keines 
geht  ganz  in  der  Realität  des  anderen  auf".^)  Es  ist  dies 
eben  wieder  das  wunderbare  Ineinander  scheinbarer  Gegen- 
sätze in  der  Geschichte,  daß  große  historische  Entwick- 
lungen und  Bildungen  zunächst  ihre  Bedeutung  und  ihren 
Zweck  in  sich  selbst  haben  und  doch  zugleich  auch  zu  Grund- 
lagen eines  umfassenderen  Gesamtlebens  werden  und  damit 
Zwecken  dienen,  die  über  ihr  besonderes  eigenes  Leben  hinaus- 
reichen. 

Die  universalhistorische  Anschauung,  die  in  der    Idee 
eines  gemeinsamen  geschichtlichen   Lebens  der  Menschheit 


1)  Auch  Ranke  hat  dies  nicht  so  angesehen,  wie  E.  Meyer,  Gesch. 
d.  Altert.  II,  S.  32  und  v.  Wilamowitz,  Reden  u.  Vortr,,  S.  132  be- 
haupten. Vgl.  dagegen  auch  Poehlmann,  Aus  Altertum  u.  Gegen- 
wart 2,  S.  300,  1.  Die  Vorträge,  die  Ranke  vor  König  Max  II.  ge- 
halten hat  (Weltgesch.  IX,  2,  S.  1  ff.)  lassen  hierüber  gar  keinen 
Zweifel  aufkommen.  Ranke  geht  sogar  in  der  Gleichschätzung  der 
einzelnen  Generationen  in  bezug  auf  ihren  sittlichen  Charakter  hier, 
wie  mir  scheint,  etwas  zu  weit.  Jedenfalls  hat  er  ausdrücklich  betont 
(S.  8),  daß  „wir  z.  B.  die  moralische  Größe  der  Alten  Welt  gar  nicht 
übertreffen  können".  Wir  dürfen  nur  soviel  sagen,  daß  das  Schwer- 
gewicht von  Rankes  Forschung  und  Auffassung  nicht  gerade  im  Alter- 
tum gelegen  hat. 

2)  Vgl.  Z.  H.  106,   S.  512. 

3)  Weltgesch.  IX,  2  S.  XIV.  Vgl.  auch  Weltgesch.  IX,  2,  S.  10: 
„man  wird  nicht  sagen  dürfen,  daß  ein  Jahrhundert  dem  andern  dienst- 
bar sei". 

21* 

/ 


320    J.  Kaerst,  Studien  zur  Entwicklung  und  Bedeutung  etc. 

gipfelt,  hat  ihren  höchsten  Wert  und  ihre  größte  innere  Kraft 
darin,  daß  sie  die  geschichtlichen  Erscheinungen  im  ganzen 
aus  der  Schranke  der  Relativität  heraushebt.  Denn  es 
handelt  sich  beim  Prozesse  der  universalen  geschichtlichen 
Entwicklung  um  eine  große  innere  Bewegung,  die  bei  allem 
Zeitlich-bedingten  der  besonderen  Phänomene  und  Vorgänge 
in  ihrem  Gesamtverlauf  eine  tief  begründete  Notwendigkeit 
bezeichnet.!)  Es  ist  eine  Notwendigkeit,  die  nicht  vor- 
wiegend formaler  Natur  ist,  sondern  in  dem  Reichtum  und 
der  Tiefe  der  sich  fortentwickelnden  geschichtlichen  Aufgaben 
und  Kräfte  die  innerste  Lebensentfaltung  der  geschichtlichen 
Menschheit  zum  Ausdruck  bringt. 


1)  Die  Hegelsciie  Piiiiosophie  hat  den  Versucii  gemacht,  auf  rein 
spekulativem  Wege  eine  innere  Notwendigkeit  weltgeschichtlicher 
Entwicklung  nachzuweisen.  Trotz  der  einseitigen  dialektisch-kon- 
struktiven Durchführung  des  Versuches,  gegen  die  Ranke  sich  mit 
vollem  Rechte  wandte,  hat  Hegel  doch  das  große  Verdienst,  daß  er 
den  Wert  der  Geschichte  für  die  allgemeinen  Aufgaben  menschlicher 
Erkenntnis  im  Rahmen  eines  umfassenden  Versuches  philosophischer 
Weltauffassung  zur  Geltung  brachte.  Indem  er  die  geschichtliche 
Entwicklung  als  eine  Selbstentfaltung  des  vernünftigen  Weltgeistes 
darstellte,  darauf  ausging,  „diese  reiche  Produktion  der  schöpferischen 
Vernunft  zu  begreifen,  welche  die  Weltgeschichte  ist"  (Philosophie 
der  Geschichte,  S.  20),  gewann  die  Geschichte  einen  unendlich  reichen 
Erkenntnisinhalt.  Der  einseitige  Gegensatz  zwischen  Natur-  oder 
Vernunftrecht  und  historischem  Recht  wurde  in  einer  höheren  Synthese 
aufgehoben,  indem  die  Vernunft  als  vornehmlich  in  der  Geschichte 
wirksam  nachgewiesen  wurde.  —  Ich  hebe  um  so  mehr  hier  dieses 
große  und  unvergängliche  Verdienst  der  Hegeischen  Philosophie  her- 
vor, als  die  in  dem  ersten  Aufsatze  besonders  verfolgten  Gedanken- 
zusammenhänge weniger  Gelegenheit  für  eine  Würdigung  Hegels 
boten. 


Die  Volkszahl  als  Faktor  und  Grad- 
messer der  historischen  Entwicklung. 

Antrittsvorlesung,  gehalten  am  11.  Dezember  1912  in  der  Aula 
der  Universität  Leipzig 

von 

Karl  Julius  Beloch. 


Wenn  wir  uns  heute  von  der  Bedeutung  eines  Staates 
ein  Bild  machen  wollen,  so  fragen  wir  zuerst  nach  der  Zahl 
seiner  Bevölkerung;  denn  davon  hängt  in  letzter  Linie 
die  militärische  Leistungsfähigkeit  ab,  und  weiterhin,  wenn 
auch  nicht  in  demselben  Grade,  die  wirtschaftliche.  Die 
sechs  europäischen  Großmächte  sind  auch  die  bevölkertsten 
Staaten  unseres  Erdteiles.  Natürlich  gilt  das  Gesagte  nur 
für  Staaten,  die  auf  annähernd  gleicher  Kulturhöhe  stehen, 
und,  was  fast  noch  wichtiger  ist,  die  eine  leistungsfähige 
Organisation  haben.  Darum  zählt  der  Staat,  der  von  allen 
die  größte  Bevölkerung  hat,  höher  oder  doch  ebenso  hoch 
als  die  aller  europäischen  Großmächte  zusammen,  heute 
in  der  Weltpolitik  als  aktiver  Faktor  kaum  mit. 

Die  Merkantilisten  hatten  also  ganz  recht,  wenn  sie 
in  einer  Zeit,  als  Europa  noch  eine  verhältnismäßig  dünne 
Bevölkerung  hatte,  die  Vermehrung  der  Volkszahl  für 
eine  der  wesentlichsten  Aufgaben  der  Regierung  ansahen. 
Und  noch  heute  denken  viele  nicht  anders,  und  sehen  in 
der  Abnahme  der  Geburtenzahl,  wie  sie  in  unserer  Zeit  in 
allen  Kulturstaaten  eingetreten  ist,  ein  bedenkliches  Symp- 
tom, ohne  zu  erwägen,  daß  eine  hohe  Volkszahl  nur  dann 


322  Karl  Julius  Beloch, 

eine  Quelle  der  Stärke  bildet,  wenn  sie  zu  der  Ausdehnung 
des  politisch  oder  wirtschaftlich  beherrschten  Gebietes  im 
rechten  Verhältnis  steht. 

Gibt  uns  nun  die  absolute  Höhe  der  Bevölkerung, 
richtig  gewertet,  einen  Gradmesser  für  die  politische  Macht 
eines  Staates,  so  gewährt  die  relative  Höhe  der  Bevöl- 
kerung einen  Gradmesser  für  die  Stufe  der  wirtschaftlichen 
Entwicklung,  die  ein  Land  erreicht  hat.  Sizilien  zählt  heute 
3V2  Millionen,  Sardinien,  bei  fast  gleichem  Flächenraum, 
nicht  ganz  900  000  Einwohner,  also  kaum  V4  d^r  Bevöl- 
kerung der  Schwesterinsel;  obgleich  doch  auch  Sardinien 
ein  von  der  Natur  reich  gesegnetes  Land  ist.  Die  ganze  Ge- 
schichte der  beiden  Inseln  findet  in  diesen  Zahlen  ihren 
charakteristischen  Ausdruck.  Natürlich  dürfen  bei  solchen 
Vergleichen  die  Zahlen  nicht  immer  ohne  weiteres  einander 
gegenübergestellt  werden.  Wenn  z.B.  Bengalen  1911  155  Ein- 
wohner auf  1  qkm  zählte,  das  Deutsche  Reich  nur  120, 
so  wird  niemand  daraus  schließen  wollen,  daß  unser  Reich 
auf  einer  niedrigeren  Stufe  wirtschaftlicher  Entwicklung  steht; 
denn  Bengalens  dichte  Bevölkerung  ist  bedingt  durch  den 
reichen  Alluvialboden  der  Ebene  am  unteren  Ganges  und 
das  subtropische  oder  tropische  Klima.  Nehmen  wir  die 
Ebene  an  der  Mündung  unseres  großen  deutschen  Stromes 
zum  Vergleich,  so  wird  das  Verhältnis  schon  anders:  Holland 
hat  reichlich  dieselbe  (180),  Belgien  eine  beträchtlich  höhere 
Volksdichtigkeit  (255)  als  Bengalen.  Einen  noch  besseren 
Gradmesser  gibt  die  Höhe  der  städtischen  Bevölkerung, 
da  hier  die  industrielle  und  kommerzielle  Entwicklung  gegen- 
über der  landwirtschaftlichen  Produktion  zum  reinsten 
Ausdruck  kommt:  Bengalen  hatte  1911  bei  einer  Bevöl- 
kerung von  86  Millionen  nur  zwei  Städte  von  mehr  als 
100  000  Einwohnern,  das  Deutsche  Reich  (1890)  bei  nur 
65  Millionen  Einwohnern  48.  Und  da  es  viel  leichter  ist, 
von  der  städtischen,  namentlich  der  großstädtischen  Be- 
völkerung vergangener  Zeiten  eine  Anschauung  zu  ge- 
winnen, als  von  der  Volksdichte  ganzer  Länder,  so  ist  diese 
Erkenntnis  für  die  Geschichte  von  hoher  Bedeutung. 


Die  Volkszahl  als  Faktor  u.  Gradmesser  der  bist.  Entwicklung.   323 

Nun  sollte  man  meinen,  daß  bei  dieser  Sachlage  die 
Historiker  es  als  eine  ihrer  hauptsächlichsten  Aufgaben  be- 
trachtet haben  würden,  die  Bevölkerungsverhältnisse  ver- 
gangener Geschichtsperioden  nach  allen  Richtungen  hin 
zu  erforschen.  Um  so  mehr,  als  bereits  die  Staatenkunde, 
oder  wie  man  damals  sagte,  Statistik  des  18.  Jahrhun- 
derts den  Weg  gewiesen  hatte,  trotz  der  unvollkommenen 
Hilfsmittel,  die  dieser  Zeit  zu  Gebote  standen.  Es  ist  ja 
auch  vieles  in  dieser  Richtung  geschehen;  meist  aber  werden 
in  unseren  historischen  Darstellungen  die  Bevölkerungs- 
verhältnisse vollständig  ignoriert,  oder,  was  noch  viel  schlim- 
mer ist,  in  ungenügender,  nur  zu  oft  auch  in  unwissenschaft- 
licher Weise  behandelt.  Das  gilt  selbst  für  Zeiten,  für  die 
uns  ein  so  reiches  Material  vorliegt,  wie  für  die  Geschichte 
der  beiden  letzten  Jahrhunderte.  Und  doch  könnte  und 
müßte  die  Geschichte  dieser  beiden  Jahrhunderte  auf  stati- 
stischer Grundlage  geschrieben  werden.  Sie  würde  dann 
vielleicht  weniger  lesbar  sein,  aber  die  Zeit,  wo  die  Ge- 
schichte als  ein  Teil  der  schönen  Literatur  galt,  ist  doch  wohl 
vorüber. 

Selbst  da,  wo  man  es  am  wenigsten  erwarten  sollte, 
in  der  Kriegsgeschichte,  treffen  wir  oft  die  gleiche  Nicht- 
achtung der  statistischen  Forschung.  Wie  ist  es  überhaupt 
möglich,  sich  vom  Verlauf  einer  Schlacht  ein  richtiges  Bild 
zu  machen,  ohne  eine  klare  Anschauung  der  Stärke  der 
kämpfenden  Heere?  Aber  die  zu  gewinnen,  daran  hat, 
wenigstens  für  das  Altertum  und  das  Mittelalter,  bis  vor 
wenigen  Jahren  kaum  jemand  gedacht.  Erst  Hans  Delbrück 
hat  hier  Wandel  zu  schaffen  begonnen,  und  die  fundamentale 
Bedeutung  der  Heeresstärken  in  das  rechte  Licht  gesetzt. 

Haben  die  Historiker  sich  um  diese  Dinge  bisher  im 
ganzen  recht  wenig  gekümmert,  so  haben  es  die  Statistiker 
nicht  besser  gemacht.  In  diesen  Kreisen  herrscht  meist  der 
Glaube,  daß  es  Volkszählungen,  die  diesen  Namen  verdienen, 
vor  dem  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  überhaupt  nicht 
gegeben  habe,  und  daß  alle  älteren  Angaben  folglich  wissen- 
schaftlich unbrauchbar  wären,  und  der  Aufmerksamkeit 
eines  Statistikers  unwürdig.  Dieser  Glaube  gründet  sich 
darauf,  daß  in  Frankreich  und  England  die  ersten  Volkszäh- 


324  Karl  Julius  Beloch, 

lungen  im  Jahre  1801  gehalten  worden  sind.  Aber  in  einer 
Reihe  deutscher  und  italienischer  Staaten  sind  schon  im 
18.  Jahrhundert  Zählungen  vorgenommen  worden,  die 
hinter  diesen  ersten  französischen  und  englischen  Zählungen 
an  Genauigkeit  jedenfalls  nicht  zurückstehen,  sie  vielleicht 
auch  noch  übertreffen.  Und  bereits  im  16.,  ja  selbst  im 
15.  Jahrhundert  hat  es  in  Italien  Zählungen  gegeben,  die 
sich  die  Ermittlung  der  Gesamtbevölkerung  zur  Aufgabe 
stellten,  sogar  mit  namentlicher  Verzeichnung  aller  einzelnen 
Personen  und  mit  Angabe  ihres  Alters.  Diese  Erhebungen 
sind  allerdings  damals  statistisch  nur  sehr  ungenügend  ver- 
arbeitet worden,  aber  das  Rohmaterial  liegt  zum  guten  Teil 
noch  heute  in  den  Archiven.  Meist  freilich  haben  wir  aus 
dieser  Zeit  und  dem  Mittelalter  nur  Aufnahmen  der  Zahl 
der  Feuerstellen.  Wohl  die  älteste  Urkunde  dieser  Art  ist 
das  Domesday-book  Wilhelms  des  Eroberers  von  1083  bis 
1086.  Dann  beginnt,  wenn  wir  rückwärts  schreiten,  eine 
tausendjährige  Nacht  bis  hinauf  zu  dem  Census  des  Claudius 
im  Jahre  49  n.  Chr.,  eine  Nacht,  die  durch  keine,  auch  nur 
einigermaßen  vertrauenswürdige  Angaben  über  bevölke- 
rungsstatistische Verhältnisse  erhellt  wird;  wir  können  für 
diese  Zeit  nur  auf  indirektem  Wege  zu  einer  Anschauung 
dieser  Verhältnisse  gelangen,  die  dann  freilich  nur  die  groben 
Umrisse  erfassen  kann.  Für  die  Blütezeit  der  antiken  Kultur 
vom  5.  Jahrhundert  vor  unserer  Zeitrechnung  bis  zur  Mitte 
des  1.  Jahrhunderts  n.  Chr.  steht  uns  dann  wieder  eine 
Anzahl  offizieller  Angaben  zu  Gebote,  unter  denen  die 
Ergebnisse  des  römischen  Census  die  wichtigste  Stelle  ein- 
nehmen. Von  diesen  Aufnahmen  ausgehend,  ist  es  mit  Heran- 
ziehung einer  Reihe  anderer  Hilfsmittel  möglich,  zu  einer 
allgemeinen  Anschauung  der  Bevölkerungsverhältnisse  des 
Altertums  zu  gelangen,  die  ja  freilich  im  einzelnen  sehr  viel 
zu  wünschen,  auch  der  Fehlergrenze  einen  verhältnismäßig 
weiten  Spielraum  läßt.  Aber  die  Bevölkerungsgeschichte 
kann  nun  einmal  der  konkreten  Zahlen  nicht  entbehren, 
und  auch  approximalive  Zahlen  sind  sehr  viel  besser  als  die 
allgemeinen  Phrasen,  mit  denen  der  Agnostizismus  auf  diesem 
Gebiete  uns  abspeisen  möchte.  Denn  dieser  Agnostizismus 
ist  ja  nichts  weiter  als  eine  wissenschaftliche  Feigheit.    Er 


Die  Volkszahl  als  Faktor  u.  Gradmesser  der  hist.  Entwicklung.   325 

beweist  zudem  nur,  daß,  wer  diesen  Standpunkt  einnimmt, 
über  das  Problem  nicht  tiefer  nachgedacht  hat.  Denn  die  Höhe 
der  Bevölkerung  eines  Landes  zu  einer  gegebenen  Zeit  ist  ja 
nichts  weiter  als  das  Produkt  historischer  und  wirtschaft- 
licher Faktoren;  und  wo  die  Faktoren  bekannt  sind,  läßt 
das  Produkt  sich  berechnen.  Die  so  gewonnenen  Resultate 
stehen  viel  sicherer,  als  so  manches,  was  uns  auf  Grund  der 
Überlieferung  in  unseren  Geschichtswerken  erzählt  wird. 
Und  jedenfalls  sind  sie  von  fundamentaler  Bedeutung  als 
Kriterium  zur  Prüfung  und  Wertung  dieser  Überlieferung. 

Unter  diesen  Faktoren  ist  nun  einer,  den  wir  innerhalb 
einer  minimalen  Fehlergrenze  mit  voller  objektiver  Sicher- 
heit zu  bestimmen  vermögen,  und  gerade  einer  der  wichtig- 
sten, um  nicht  zu  sagen,  der  wichtigste  von  allen,  oder  doch 
wenigstens  der,  von  dem  in  letzter  Linie  alles  übrige  ab- 
hängt. Ich  meine  den  Flächenraum.  Länder  von  annähernd 
gleichem  Klima,  gleicher  Bodenbeschaffenheit  und  gleicher 
Kulturstufe  müssen  annähernd  die  gleiche  Volksdichte 
haben,  sofern  es  sich  nicht  um  junge  Kolonialgebiete  handelt, 
oder  sonst  äußere  Störungen  wirksam  sind. 

Nun  können  wir  auf  unseren  historischen  Karten  die 
Grenzen  der  Staaten  und  der  Verwaltungsbezirke  in  die 
sie  zerfielen,  für  die  meisten  Geschichtsperioden  mit  an- 
nähernder Genauigkeit  einzeichnen;  wir  können  die  so  um- 
grenzten Gebiete  also  auch  mit  dem  Planimeter  ausmessen, 
und  der  historischen  Bevölkerungsstatistik  damit  die  ob- 
jektive Grundlage  geben,  auf  der  sie  sich  aufbauen  muß.  Es 
gereicht  der  historischen  Wissenschaft,  oder  besser  gesagt, 
es  gereicht  der  historischen  Geographie  nicht  zur  Ehre,  daß 
das  bisher  in  so  ungenügendem  Maße  geschehen  ist.  Gibt 
es  doch,  meines  Wissens,  nicht  einmal  eine  zuverlässige 
Arealstatistik  der  Territorien  des  alten  Deutschen  Reiches, 
auch  nur  für  die  Zeit  unmittelbar  vor  der  französischen 
Revolution.  Allerdings,  wir  besitzen  ja  eine  wissenschaft- 
lichen Anforderungen  genügende  Arealstatistik  selbst  für 
unsere  Zeit  erst  seit  einigen  Jahrzehnten;  erst  Behm  und 
Wagner  haben  sie  begründet,  Strelbitzky  hat  sie  für  Europa 
zuerst  systematisch  durchgeführt,  bis  sich  dann  end- 
lich   auch    die   amtlichen    Stellen    der  Sache  angenommen 


/ 


326  Karl  Julius  Beloch, 

haben.  Möglich  geworden  ist  diese  Arealstatistik  freilich 
erst  durch  die  Erfindung  des  Planimeters;  aber  das  Plani- 
meter  ist  bis  jetzt  noch  kaum  in  den  Dienst  der  historischen 
Forschung  getreten.  Grundbedingung  für  solche  Berech- 
nungen sind  allerdings  zuverlässige  historische  Karten  in 
hinreichend  großem  Maßstabe,  und  daran  fehlt  es  uns  leider 
nur  zu  sehr.  Aber  das  bessere  ist  der  Feind  des  guten;  und 
wenn  wir  warten  wollten,  bis  uns  die  historische  Geographie 
solche  Karten  für  ganz  Europa,  oder  auch  nur  für  Deutschland 
gegeben  haben  wird,  müßten  wir  für  unsere  Lebzeiten  auf 
eine  historische  Arealstatistik  verzichten.  Mögen  nun  auch 
endgültige  Resultate  vielfach  noch  nicht  zu  gewinnen  sein, 
so  können  wir  doch  schon  jetzt  zu  Annäherungswerten  ge- 
langen, die  für  den  Zweck  der  historischen  Statistik  durchaus 
genügen.  Das  ist  die  nächste  Aufgabe,  die  uns  gestellt  ist; 
ihre  Lösung  fordert  gewiß  große  Entsagung,  aber  nur  ent- 
sagungsvolle Arbeit  fördert  die  Wissenschaft. 

Dabei  sollen  wir  uns  aber  keineswegs  auf  die  Staaten 
oder  Provinzen  beschränken,  sondern  ebensosehr  die  Städte  in 
Betracht  ziehen,  denn  überall  da,  wo  Zahlen  für  die  städtische 
Bevölkerung  fehlen,  also  für  das  höhere  Mittelalter,  wie  zum 
größten  Teil  auch  für  das  Altertum,  bildet  die  Ausdehnung 
des  bebauten,  oder  doch  von  der  Mauer  eingeschlossenen 
Flächenraumes  das  einzige  objektive  Kriterium,  an  dem 
wir  die  Bedeutung  einer  Stadt  messen  können.  Und  auch 
wo  Bevölkerungszahlen  überliefert  sind,  bildet  die  Kenntnis 
des  Flächenraumes  ein  sehr  wichtiges  Korrektiv.  Nur  auf 
diesem  Wege  haben  z.  B.  die  übertriebenen  Schätzungen  der 
Bevölkerung  des  kaiserlichen  Roms  auf  ihr  richtiges  Maß 
zurückgeführt  werden  können.  Daß  die  so  gewonnenen 
Zahlen  nicht  kritiklos  nebeneinander  gestellt  werden  dürfen, 
so  wenig  wie  irgendwelche  anderen  statistischen  Zahlen, 
bedarf  keiner  Bemerkung. 

Überall  aber  brauchen  wir  auf  bevölkerungsgeschicht- 
lichem Gebiete  extensive  Arbeit.  Untersuchungen  über  die 
Bevölkerung  einzelner  Städte  sind  ja  sehr  dankenswert, 
aber  solange  sie  isoliert  bleiben,  helfen  sie  uns  nicht  viel 
weiter.  Was  nutzt  es,  die  Bevölkerung  Basels  oder  Frank- 
furts oder  Nürnbergs  im  späteren  Mittelalter  zu  kennen, 


Die  Volkszahi  als  Faktor  u.  Gradmesser  der  hist.  Entwicklung.   327 

wenn  wir  von  der  Bevölkerung  der  übrigen  größeren  Städte 
Deutschlands  und  Europas  aus  dieser  Zeit  nichts  wissen? 
Ganz  abgesehen  davon,  daß  nur  ein  reiches  Material  uns  in 
den  Stand  setzt,  an  unseren  Quellen  Kritik  zu  üben.  Und 
natürlich  müssen  wir  hier  wie  überall  in  der  Wissenschaft, 
vom  Bekannten  zum  Unbekannten  fortschreiten,  also  nicht 
den  Stier  bei  den  Hörnern  packen  und  gleich  ins  Mittelalter 
hineinspringen,  sondern  von  unserer  Zeit  aus  rückwärts 
gehen,  bis  wir  das  Mittelalter  erreicht  haben.  Für  das 
Altertum  ist  das  etwas  anderes;  da  haben  wir  einen  Bruch 
der  Kontinuität,  über  den  keine  Brücke  hinüberführt. 
Und  darum  muß  das  Altertum  gesondert  behandelt  werden. 


Doch  genug  und  übergenug  von  der  Methode;  kommen 
wir  zu  den  Sachen, 

Ein  großer  Feldherr  hat  gesagt,  daß  es  die  starken 
Bataillone  sind,  die  im  Kriege  den  Ausschlag  geben.  Und 
die  starken  Bataillone  sind  es,  denen  Rom  zuerst  die  Herr- 
schaft über  Italien,  dann  die  Weltherrschaft  zu  danken 
gehabt  hat.  Gewiß  waren  die  Römer  gute  Soldaten,  aber 
das  waren  die  Völker,  mit  denen  sie  zu  kämpfen  hatten, 
zum  großen  Teile  nicht  minder.  Wenn  Rom  die  stamm- 
verwandten Latinerstädte  seiner  Oberhoheit  unterworfen 
hat,  so  ist  klar,  daß  der  Grund  nur  darin  liegen  kann,  daß 
Rom  die  bei  weitem  größte  Stadt  in  Latium  war,  was 
durch  seine  Lage  an  dem  schiffbaren  Flusse  bedingt  war, 
die  es  zum  natürlichen  Emporium  der  Landschaft  machte. 
In  dem  Kampfe  mit  Samnium  hat  den  Ausschlag  gegeben, 
daß  Capua  und  Arpi  auf  die  römische  Seite  traten;  so  hatten 
die  Römer  die  Überlegenheit  der  Zahl,  und  daran  hat  sich 
die  Kraft  der  Samniten  gebrochen,  die  an  kriegerischer 
Tüchtigkeit  den  Römern  nicht  nachstanden,  sie  vielleicht 
auch  noch  übertrafen.  So  wurden  die  Römer  die  Herren 
Italiens.  Ihr  Ruhm  bleibt  es,  dem  eroberten  Lande  eine 
feste  Organisation  gegeben  zu  haben,  die  allen  Stürmen 
getrotzt  hat,  die  den  Völkern  Italiens  die  Unabhängigkeit 
in  ihren  inneren  Angelegenheiten  ließ  und  doch  ihre  ganze 
Wehrkraft   dem   führenden    Staate   zur   Verfügung   stellte. 


328  Karl  Julius  Beloch, 

Rom  konnte  infolgedessen  jetzt  Heere  aufstellen,  so  zahl- 
reich, wie  kein  anderer  Staat  dieser  Zeit  es  vermochte. 
Schon  Pyrrhos  soll  gesagt  haben,  er  kämpfe  mit  der  1er- 
näischen  Hydra;  sein  militärisches  Genie  wie  später  das 
Genie  Hannibals  war  gegen  diese  überlegene  Zahl  machtlos, 
so  schlecht  die  römischen  Heere  auch  in  der  Regel  geführt 
wurden.  Der  Sieg  über  Hannibal  machte  Rom  dann  zur 
Herrin  am  ganzen  Westen  des  Mittelmeeres.  Wohl  war  der 
hellenische  Osten  auch  jetzt  noch  an  Volkszahl  weit  über- 
legen, von  der  wirtschaftlichen  wie  intellektuellen  Über- 
legenheit ganz  abgesehen;  aber  er  war  in  eine  Reihe  von 
Staaten  zersplittert,  die  nur  ihre  Sonderinteressen  im  Auge 
hatten,  und  zu  deren  Förderung  stets  bereit  waren,  gegen 
die  eigenen  Stammesgenossen  mit  den  Fremden  in  Bund 
zu  treten.  So  wurde  die  griechische  Welt  den  Römern  zur 
leichten  Beute.  Und  unter  der  Fremdherrschaft  sind  dann  die 
Griechen  tiefer  und  tiefer  gesunken,  bis  sie  schließlich  zu 
Byzantinern  geworden  sind,  ihren  eigenen  Namen  vergessen, 
und  den  Namen  ihrer  römischen  Herren  angenommen  haben. 
Es  ist  die  ergreifendste  Tragödie  der  ganzen  Weltgeschichte, 
wie  dieses  Volk,  dem  wir  das  beste  in  unserer  Kultur  zu 
danken  haben,  durch  eigene  Schuld  zugrunde  gegangen  ist, 
weil  es  die  nationale  Einheit,  als  es  sie  endlich  errungen 
hatte,  nicht  festzuhalten  vermocht  hat. 

Wenn  in  Griechenland  Sparta  und  Athen  die  Führung 
gehabt  haben,  so  verdanken  sie  das  dem  Umstände,  daß 
sie  unter  all  den  zahllosen  Kleinstaaten,  in  welche  die 
Nation  zersplittert  war,  die  stärkste  Bevölkerung  hatten. 
Aber  diese  Stellung  ging  verloren  in  dem  Augenblick,  als 
Makedonien  in  den  Kreis  der  griechischen  Kulturstaaten 
einzutreten  begann;  denn  Makedonien  war  viel  bevölkerter 
und  schon  darum  militärisch  leistungsfähiger  als  Athen  oder 
Sparta.  Und  als  die  griechischen  Kleinstaaten  dann  endlich 
begannen,  zu  größeren  Staatsbildungen,  den  y.oivä,  sich  zu- 
sammenzuschließen, waren  auch  die  bedeutendsten  darunter, 
der  ätolische  wie  der  achäische  Bundesstaat,  Makedonien 
an  Zahl  der  Bevölkerung  noch  immer  nicht  gewachsen,  und 
so  ist  die  makedonische  Vorherrschaft  bestehen  geblieben, 
bis  Griechenland  durch  die  römischen  Waffen  „befreit"  wurde. 


Die  Volkszahl  als  Faktor  u.  Gradmesser  der  hist.  Entwicklung.  329 

Wie  Makedonien  den  griechischien  Kleinstaaten  an 
Bevölkerung  überlegen  war,  so  war  es,  und  in  noch  viel 
höherem  Maße,  das  Perserreich  Griechenland  gegenüber, 
auch  als  dieses  durch  Philipp  geeinigt  worden  war.  Das 
Reich,  das  Alexander  erbte,  hat  vielleicht  nur  den  zehnten 
Teil  der  Bevölkerung  des  Perserreiches  gehabt,  jedenfalls 
nicht  viel  mehr,  und  doch  hat  das  Perserreich  dem  Angriff 
Alexanders  nicht  zu  widerstehen  vermocht.  Es  war  damals 
allerdings  morsch  und  verrottet.  Aber  schon  anderthalb 
Jahrhunderte  früher,  als  das  Reich  noch  jugendfrisch  war, 
hat  seine  Offensivkraft,  der  die  großen  Monarchien  des 
Ostens  erlegen  waren,  auch  das  halbgriechische  Lydien 
und  das  von  griechischen  Söldnern  verteidigte  Ägypten,  an 
der  Koalition  einer  Anzahl  griechischer  Kleinstaaten  sich 
gebrochen.  Den  Zeitgenossen  schien  es  ein  Wunder,  und  sie 
erkannten  darin  das  sichtbare  Walten  der  Gottheit.  Aber  es 
kommt  eben  im  Kriege  nicht  auf  die  Volkszahl  an  sich  an, 
sondern  auf  die  militärische  Leistungsfähigkeit;  und  die 
war  durch  die  ungeheure  Ausdehnung  des  Perserreiches  sehr 
beeinträchtigt.  Auch  hatten  von  all  den  zahllosen  Kon- 
tingenten, welche  der  Perserkönig  zu  den  Waffen  rufen 
konnte,  nur  die  iranischen  Truppen  wirklich  militärischen 
Wert.  Und  hier  wieder  war  es  die  Reiterei,  der  die  Perser 
ihre  Siege  zu  danken  gehabt  hatten.  Diese  Waffe  war  aber 
in  dem  gebirgigen  Griechenland  kaum  zu  verwerten,  und  die 
persische  Infanterie  kam  der  griechischen  weder  an  Bewaff- 
nung, noch  an  taktischer  Ausbildung  gleich.  So  mußte 
Xerxes'  Zug  scheitern.  Der  Sieg  und  der  Abfall  loniens, 
den  er  zur  Folge  hatte,  gab  den  Griechen  dann  auch  die  un- 
bedingte Überlegenheit  zur  See,  und  damit  war  jede  Mög- 
lichkeit eines  neuen  persischen  Angriffs  auf  Griechenland 
abgeschnitten.  Aber  auch  die  Griechen  konnten  bei  ihrem 
Mangel  an  Reiterei  an  eine  Offensive  in  das  Innere  des 
Perserreiches  nicht  denken.  Erst  als  Philipp  eine  der  per- 
sischen an  Qualität  überlegene  Reiterei  geschaffen  hatte, 
ist  die  Eroberung  Asiens  gelungen.  Und  weil  die  Römer  eine 
solche  Reiterei  nicht  besessen  haben,  haben  sie  gegen  die 
Parther  nichts  auszurichten  vermocht,  trotzdem  das  Par- 
therreich nicht  die  Hälfte  der  Ausdehnung  des  Perserreiches 


330  Karl  Julius  Beloch, 

hatte,  und  die  Römer  über  unendlich  größere  Machtmittel 
verfügten  als  der  Staat  Philipps. 

Doch  wenden  wir  uns  jetzt  zur  Betrachtung  von  Zeiten, 
die  uns  näher  liegen.  Wenn  Frankreich  von  der  Zeit  der 
Kreuzzüge  bis  fast  in  unsere  Zeit  hinein  mit  verhältnis- 
mäßig kurzen  Unterbrechungen  das  geistige  und  politische 
Übergewicht  in  Europa  behauptet  hat,  so  liegt  der  Grund 
in  der  Hauptsache  darin,  daß  es  das  bevölkertste  Land 
unseres  Erdteils  war.  Es  zählte  am  Anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts nach  offiziellen,  und,  soviel  wir  sehen,  im  ganzen 
glaubwürdigen  Angaben  innerhalb  seiner  damaligen  Grenzen 
etwa  3  Millionen  Feuerstellen  oder  12 — 15  Millionen  Ein- 
wohner, was  für  den  heutigen  Umfang  etwa  15 — 19  Millionen 
ergeben  würde,  unter  der  Annahme,  daß  die  noch  nicht 
zum  Reiche  gehörenden  Gebietsteile  die  gleiche  Volksdichte 
hatten  wie  dieses.  England,  das  heut  Frankreich  an  Be- 
völkerung annähernd  gleich  kommt,  hatte  höchstens  3  Mil- 
lionen Einwohner;  wir  verstehen,  warum  die  englische 
Herrschaft  in  Frankreich  nicht  von  Dauer  sein  konnte. 
Italien  mag  damals  etwa  10  Millionen  Einwohner  gezählt 
haben,  die  Pyrenäenhalbinsel  etwa  6  Millionen  oder  doch 
wenig  mehr.  Die  Bevölkerung  Deutschlands  in  seinen  da- 
maligen Grenzen,  von  Oberitalien,  das  ja  nur  noch  nominell 
zum  Reiche  gehörte,  natürlich  abgesehen,  mag  der  Bevöl- 
kerung des  Königreichs  Frankreich  immerhin  etwa  gleich- 
gekommen sein;  aber  bei  seiner  heillosen  Zersplitterung 
kam  das  Reich  als  Machtfaktor  kaum  mehr  in  Betracht. 
Und  als  dann  Spanien  um  die  Wende  vom  15.  zum  16.  Jahr- 
hundert seine  nationale  Einheit  gewonnen,  den  Süden 
Italiens,  Mailand,  die  Freigrafschaft  Burgund,  die  Nieder- 
lande seiner  Herrschaft  unterworfen  hatte,  auch  da  stand 
Frankreich  der  Monarchie  Karls  V.  und  Philipps  11.  an 
Bevölkerung  annähernd  gleich,  denn  es  zählte  mindestens 
15  Millionen  Einwohner,  während  Spanien  7 — 8,  die  italieni- 
schen Besitzungen  etwa  6,  die  Niederlande  etwa  3  Millionen, 
die  Freigrafschaft  etwa  V2  Million  Einwohner  hatten,  zu- 
sammen also  17  Millionen.  Das  türkische  Reich  mag  etwa 
dieselbe  Bevölkerung  gehabt  haben.  Das  waren  damals  die 
drei  einzigen  wirklichen  Großmächte;  dann  folgten  im  wei- 


Die  Volkszahl  als  Faktor  u.  Gradmesser  der  bist.  Entwicklung.   331 

ten  Abstände  Polen  und  die  kaiserlichen  Erblande  mit  je  7, 
England  mit  etwa  6  Millionen;  sonst,  wenn  wir  von  Ruß- 
land absehen,  das  in  der  europäischen  Politik  noch 
nicht  mitzählte,  nur  Kleinstaaten.  Als  dann  Spanien  und 
die  Türkei  in  Verfall  kamen,  und  ihre  militärische  Lei- 
stungsfähigkeit zum  großen  Teil  einbüßten,  blieb  Frankreich 
die  einzige  Großmacht.  Beim  Ausbruch  des  Spanischen  Erb- 
folgekrieges war  es  mit  etwa  20  Millionen  Einwohnern  der 
Koalition  der  Gegner  gewachsen,  denn  Großbritannien  mit 
Irland  und  die  kaiserlichen  Erblande  mit  Ungarn  zählten 
etwa  je  9,  die  Republik  der  Niederlande  IV2  Millionen.  Und 
dabei  standen  Ludwig  XIV.  am  Anfang  des  Krieges  auch 
die  Hilfsquellen  der  spanischen  Monarchie  zu  Gebote,  die 
noch  immer  etwa  15  Millionen  Einwohner  zählte.  Noch 
beim  Ausbruch  der  großen  Revolution  war  Frankreich  mit 
nahe  an  30  Millionen  Einwohnern  der  bevölkertste  Staat 
Europas,  dann  folgten  Rußland  mit  26,  Österreich  mit  24, 
Großbritannien  und  Irland  mit  15,  Preußen  mit  6  Millionen. 

Aber  nicht  bloß  die  politische  Geltung  der  Nationen  hängt 
von  der  Völkszahl  ab;  nur  ein  numerisch  starkes  Volk 
kann  ein  führendes  Kulturvolk  werden.  Auf  die  absolute 
Höhe  der  Volkszahl  kommt  es  dabei  nicht  an;  nur  auf  das 
Verhältnis  zu  den  anderen  Völkern.  Die  Griechen  mochten 
zur  Zeit  der  höchsten  Blüte  ihrer  Kultur,  vor  der  Eroberung 
Asiens,  ein  Volk  von  etwa  8  Millionen  sein,  jedenfalls  nicht 
viel  zahlreicher,  nach  unseren  Begriffen  also  ein  kleines 
Volk;  aber  es  gab  kein  zweites  Volk  am  Mittelmeer,  das 
ebenso  zahlreich  oder  zahlreicher  gewesen  wäre.  Dagegen 
war  die  lateinische  Sprache  im  wesentlichen  auf  Mittel- 
italien beschränkt,  noch  zu  einer  Zeit,  als  Rom  bereits  die 
Weltherrschaft  gewonnen  hatte.  In  der  Gracchenzeit  ist 
lateinisch,  hoch  gerechnet,  von  kaum  2  Millionen  Menschen 
gesprochen  worden.  Wohl  aber  sprach  man  griechisch  am 
ganzen  Osten  des  Mittelmeeres.  Infolgedessen  war  Griechisch 
noch  immer  die  Weltsprache.  Graeca  leguntur  in  Omnibus 
fere  gentibus,  Latina  suis  finibus,  exiguis  sane,  continentur^ 
sagt  noch  Cicero  {pro  Arch.  10,  23). 

Das  änderte  sich,  als  der  ganze  Westen  des  Reiches 
und  die  Donauländer  sich  latinisiert  hatten;  seit  die  Gebiete 


/ 


332  Karl  Julius  Beloch, 

beider  Sprachen  die  gleiche  Ausdehnung  hatten,  trat  das 
Lateinische  dem  Griechischen  als  Weltsprache  zur  Seite,  die 
Griechen  lernten  jetzt  lateinisch,  schrieben  es  auch  wohl, 
wie  früher  die  Römer  griechisch. 

Während  des  ganzen  Mittelalters  und  der  Renaissance- 
zeit und  bis  an  den  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  ist  die 
Kultur  Europas  überwiegend  romanisch  gewesen.  Das  be- 
ruht freilich  zunächst  auf  historischen  Gründen,  waren  doch 
die  romanischen  Völker  die  direkten  Erben  der  römischen 
Kultur.  Aber  dies  Übergewicht  hätte  sich  nicht  so  lange 
erhalten  können,  wenn  es  sich  nicht  auf  das  Übergewicht 
der  Volkszahl  gestützt  hätte.  Um  den  Anfang  des  14.  Jahr- 
hunderts mag  es  in  Europa  mehr  als  30  Millionen  Romanen 
gegeben  haben,  gegenüber  noch  nicht  20  Millionen  Ger- 
manen; für  die  Slaven  wage  ich  eine  bestimmte  Ziffer  nicht 
auszusprechen,  es  ist  aber  kaum  zweifelhaft,  daß  sie  damals 
zur  Zeit  der  Tartarenherrschaft  in  Rußland  die  Germanen 
an  Zahl  bei  weitem  nicht  erreicht  haben.  Die  Romanen 
standen  also  damals  zu  den  Germanen  annähernd  wie  2:1, 
zu  den  Slaven  vielleicht  wie  3:1.  Die  Hälfte  der  Bevöl- 
kerung von  Europa  war  romanisch.  Ein  Viertel  Jahrtausend 
später,  um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts,  war  die  Zahl 
der  Romanen  auf  etwa  40  Millionen  gestiegen,  die  der  Ger- 
manen auf  etwa  27  Millionen,  die  Slaven  können  auch  jetzt 
die  Germanen  an  Zahl  nicht  erreicht  haben.  Das  Verhältnis 
zwischen  Romanen  und  Germanen  war  wie  3  :  2,  Romanen 
und  Slaven  vielleicht  wie  2:1.  Und  wieder  nach  einem 
Viertel  Jahrtausend,  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  standen 
neben  60  Millionen  Romanen  54  Millionen  Germanen,  und 
nahe  an  50  Millionen  Slaven;  noch  immer  behaupten  die 
Romanen  die  erste  Stelle,  aber  die  drei  Hauptsprachstämme 
Europas  stehen  sich  untereinander  bereits  annähernd  gleich. 
Jetzt,  nach  weiteren  100  Jahren,  hat  die  Reihenfolge  be- 
kanntlich sich  umgekehrt:  am  Anfang  dieses  Jahrhunderts 
standen  130  Millionen  Slaven  neben  124  Millionen  Ger- 
manen und  96  Millionen  Romanen,  oder,  wenn  wir  die 
Rumänen  einrechnen,  die  oben,  als  noch  außerhalb  der  ro- 
manischen Kultur  stehend,  nicht  berücksichtigt  sind,  106  Mil- 
lionen. 


Die  Volkszahl  als  Faktor  u.  Gradmesser  der  hist.  Entwicklung.   333 

Diese  Verschiebung  beruht  auf  der  Tendenz  der  Be- 
völkerung, überall  im  Verhältnis  zur  Fläche  soweit  als  mög- 
lich das  gleiche  Niveau  zu  erreichen;  dazu  kommt  für  das 
letzte  Jahrhundert  die  industrielle  Entwicklung  Englands 
und  Deutschlands.  Infolgedessen  hat  der  Schwerpunkt  der 
Bevölkerung,  der  im  Mittelalter  im  SW.  Europas  lag,  sich  seit- 
dem immer  mehr  nach  NO.  verschoben.  Und  diese  Ver- 
schiebung wird  aller  Voraussicht  nach  weiter  gehen,  das 
numerische  Übergewicht  der  Slaven  wird  immer  größer 
werden,  wenn  die  geographische  Verteilung  der  europäischen 
Rassen  die  heutige  bleibt. 

Das  Bild  würde  aber  unvollständig  bleiben,  wollten  wir 
uns  auf  Europa  beschränken.  Bis  zum  18.  Jahrhundert 
allerdings  waren  die  von  Europäern  besiedelten  Kolonial- 
länder in  anderen  Erdteilen  so  schwach  bevölkert,  daß  sie 
als  Machtfaktoren  nur  wirtschaftlich,  sonst  aber  noch  kaum 
ins  Gewicht  fielen;  zählten  doch  die  Vereinigten  Staaten  noch 
im  Jahre  1800  nicht  mehr  als  5  Millionen  Bewohner.  Australien 
war  damals  noch  gar  nicht,  das  Kapland  nur  dünn  besiedelt; 
die  spanischen  Kolonien  in  Amerika  zählten  allerdings 
14 — 15  Millionen  Bewohner,  darunter  aber  nur  etwa  3  Mil- 
lionen rein  europäischer  Abstammung,  die  übrigen  waren 
Mestizen,  Indianer  und  Neger.  Dagegen  lebten  um  die 
Wende  zum  20.  Jahrhundert  in  Amerika  etwa  80  Millionen 
germanisch  und  gegen  60  Millionen  romanisch  redende 
Menschen,  in  Australien,  Neuseeland,  Südafrika  etwa  5  Mil- 
lionen Menschen  germanischer  Abkunft,  in  Sibirien  und  am 
Kaukasus  etwa  8  Millionen  Menschen  russischen  Stammes. 
Das  macht  für  die  ganze  Erde  210  Millionen  germanischer, 
165  Millionen  romanischer,  140  Millionen  slavischer  Sprache. 
Diese  Ausbreitung  jenseits  des  Ozeans  ist  allerdings  fast 
ausschließlich  zwei  Völkern  zugute  gekommen.  Während 
im  16.  Jahrhundert  auf  der  Erde  nur  etwa  5  Millionen  Men- 
schen englisch,  etwa  8  Millionen  spanisch  redeten,  umfaßte 
das  englische  Sprachgebiet  im  Jahre  1900  etwa  125  Mil- 
lionen, das  spanische  etwa  60  Millionen.  Es  ist  das  eine  Ent- 
wicklung, die  in  der  Geschichte  wohl  nur  ein  Analogon  findet, 
in  der  Ausbreitung  der  lateinischen  Sprache  in  der  Zeit 
vom  4.  Jahrhundert  vor  bis  zum  4.  Jahrhundert  nach  un- 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  22 


334  Karl  Julius  Beloch, 

serer  Zeitrechnung.  Um  350  n.  Chr.,  am  Vorabend  der  Sam- 
nitenkriege,  mag  kaum  V2  Million  Menschen  lateinisch 
gesprochen  haben;  in  Constantins  Zeit  mögen  es  40  Mil- 
lionen gewesen  sein,  wobei  allerdings  nicht  zu  vergessen  ist, 
daß  die  unteren  Schichten  der  Bevölkerung  in  den  Provinzen, 
die  hier  eingerechnet  sind,  vielfach  nur  oberflächlich  oder  auch 
noch  gar  nicht  latinisiert  waren.  Die  Griechen  dagegen  haben 
es  nach  der  Eroberung  des  Orients  nur  vermocht,  die  Städte 
zu  hellenisieren;  die  Landbevölkerung  hielt,  mit  Ausnahme 
eines  Teiles  von  Kleinasien,  an  ihrer  alten  Sprache  fest, 
und  so  sind  die  griechischen  Bewohner  der  Städte  schließ- 
lich von  der  Landbevölkerung  absorbiert  worden,  wie  es 
den  Bürgern  so  vieler  deutschen  Städte  im  slavischen  Osten 
ergangen  ist. 

* 

Werfen  wir  zum  Schluß  noch  einen  Blick  auf  die 
städtische  Entwicklung,  als  dem  besten  Gradmesser  für  die 
Intensität  der  Kultur.  Die  europäische  Kultur  ist  von  Kreta 
ausgegangen;  schon  um  die  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  vor 
unserer  Zeitrechnung  bestanden  hier  Städte  von  einiger 
Bedeutung,  während  es  sonst  in  Europa  nur  Herrenburgen 
und  Dörfer  gab.  Die  Griechen  traten  die  Erbschaft  dieser 
Kultur  an;  als  sie  zum  meerbeherrschenden  Volke  geworden 
waren,  begannen  auch  bei  ihnen  die  Städte  sich  zu  entwickeln, 
doch  haben  auch  die  größten  griechischen  Städte  im  6.  Jahr- 
hundert, Milet,  Korinth,  Sybaris,  kaum  über  20  bis 
30  000  Einwohner  gezählt.  Der  wirtschaftliche  Aufschwung, 
der  infolge  der  Perserkriege  eintrat,  hatte  dann  auch  ein 
Anwachsen  der  städtischen  Bevölkerung  zur  Folge;  Athen 
und  Syrakus  mögen  um  die  Zeit  des  Peloponnesischen  Krieges 
gegen  100  000  Einwohner  gezählt  haben.  Die  Eroberung 
Asiens  brachte  einen  weiteren  Aufschwung;  jetzt  wuchsen 
im  Osten  Städte  empor,  die  auch  nach  unseren  Begriffen 
als  Großstädte  gelten  würden,  wie  Alexandreia  in  Ägypten 
und  Seleukeia  am  Tigris,  die  im  1.  Jahrhundert  vor  unserer 
Zeitrechnung  V2  Million  Bewohner  gezählt  haben  mögen, 
und  Antiocheia  am  Orontes,  das  diesen  beiden  freilich  nicht 
gleichkam,  aber  doch  einige  Hunderttausend  Bewohner  gehabt 


Die  Volkszahl  als  Faktor  u.  Gradmesser  der  hist.  Entwicklung.   335 

hat.  Das  griechische  Mutterland  freilich,  das  jetzt  wirt- 
schaftlich zu  sinken  begann,  nahm  an  dieser  Entwicklung 
keinen  Anteil;  Korinth,  das  „Auge  von  Hellas"  wurde 
zudem  von  den  Römern  zerstört,  ebenso  im  mithradatischen 
Krieg  der  Peiräeus;  auch  die  Blüte  der  großen  Städte 
des  Westens,  griechischer  wie  nichtgriechischer,  Syrakus, 
Tarent,  Capua,  wurden  durch  die  römische  Eroberung  ge- 
brochen. Karthago,  die  Königin  der  Städte  am  westlichen 
Mittelmeer,  teilte  das  Schicksal  Korinths.  Auf  diesen  Trüm- 
mern wuchs  Rom  zu  einer  Großstadt  empor,  wie  die  Welt 
oder  wenigstens  unsere  westliche  Kulturwelt  sie  noch  nicht 
gesehen  hatte  und  auch  bis  zum  19.  Jahrhundert  nicht 
wieder  sehen  sollte,  mit  einer  Bevölkerung,  die  im  1.  und 
2.  Jahrhundert  der  Kaiserzeit  eine  Million  erreicht,  vielleicht 
auch  noch  etwas  überstiegen  hat.  Aber  dieser  Blüte  fehlte 
die  wirtschaftliche  Grundlage;  sie  beruhte  ausschließlich 
auf  dem  Umstände,  daß  Rom  die  Hauptstadt  des  Reiches 
war,  und  auf  den  Getreideverteilungen  an  den  städtischen 
Pöbel;  und  darum  ist  ein  jäher  Verfall  eingetreten,  sobald 
die  Hauptstadt  verlegt  wurde,  und  bald  darauf  das  Reich 
zusammenbrach.  Seit  dem  6.  Jahrhundert  ist  Rom  eine 
Mittelstadt,  bis  es  in  unseren  Tagen  noch  einmal  zur  Groß- 
stadt geworden  ist,  aus  ähnlichen  Ursachen  wie  die,  denen 
es  seine  erste  Blütezeit  zu  verdanken  hatte.  Während  des 
ersten  halben  Jahrtausends  des  Mittelalters  ist  dann  das  von 
Constantin  am  Bosporos  begründete  Neu-Rom  die  einzige 
Großstadt  Europas  geblieben;  es  folgten,  in  weitem  Abstände, 
die  beiden  arabischen  Hauptstädte  Cordoba  und  Palermo. 
Dann  ist,  mit  der  Erstarkung  des  französischen  Königtums 
Paris  zur  Großstadt  emporgewachsen;  es  zählte  am  Anfang 
des  14.  Jahrhunderts  etwa  100  000  Einwohner.  Ebenso  be- 
völkert war  damals  Venedig,  die  größte  Handelsstadt  Italiens, 
und  Mailand  wird  nicht  viel  kleiner  gewesen  sein.  Das  waren 
in  dieser  Zeit,  nach  Konstantinopel,  die  größten  Städte 
Europas.  Ob  Florenz  damals  wirklich  90  000  Einwohner 
gezählt  hat,  wie  berichtet  wird,  mag  dahingestellt  bleiben; 
Städte  von  40 — 50  000  Einwohnern  gab  es  aber  in  Europa 
bereits  eine  ganze  Reihe,  außer  Florenz  Köln,  Brügge, 
Gent,  London,  Barcelona,  Genua,  Verona,  Padua,  Bologna, 

22* 


336  Karl  Julius  Beloch, 

Palermo,  vielleicht  auch  Neapel  und  Prag.  Wie  man  sieht, 
stand  Italien,  seiner  wirtschaftlichen  Bedeutung  entspre- 
chend, oben  an;  es  zählte  allein  so  viele  große  Städte,  wie 
das  übrige  Europa  zusammen.  Im  15.  Jahrhundert  hat  das 
Bild  sich  nicht  wesentlich  verändert.  Erst  das  16.  Jahr- 
hundert brachte  einen  neuen,  glänzenden  Aufschwung; 
Europa  zählte,  um  1600,  von  Konstantinopel  und  vielleicht 
Moskau  abgesehen,  12  Städte  mit  über  100  000  Einwohnern, 
von  denen  London,  Paris,  Neapel  mit  je  einer  Viertel  Million 
die  erste  Stelle  einnehmen;  dann  folgten  Lissabon,  Mailand, 
Venedig  mit  je  etwa  200  000,  Sevilla,  Palermo,  Antwerpen, 
Amsterdam,  Rom,  Genua  mit  etwa  je  100  000.  Die  Hälfte 
dieser  Großstädte  kam  auch  jetzt  auf  Italien.  Ein  Jahr- 
hundert später  hatten  London  und  Paris  die  halbe  Million 
erreicht  oder  überschritten,  Amsterdam  hatte  etwa  200  000 
Einwohner,  in  Deutschland  war  Wien  mit  130000  Einwohnern 
in  die  Reihe  der  Großstädte  eingetreten,  und  Hamburg 
näherte  sich  bereits  der  Zahl  von  100  000  Einwohnern. 
Auch  die  Hauptstadt  Spaniens,  Madrid,  war  mit  125  000  Ein- 
wohnern zur  Großstadt  geworden.  Dagegen  spricht  sich 
der  wirtschaftliche  Verfall  Italiens  in  dem  Sinken  seiner 
Großstädte  aus;  nur  Neapel  und  Palermo  behaupteten 
annähernd  ihre  frühere  Bevölkerung.  Rom  war  sogar  auf 
140  000  Einwohner  gestiegen;  ein  Zeichen,  daß  die  viel- 
geschmähte päpstliche  Herrschaft  doch  nicht  so  schlecht 
gewesen  sein  kann.  Der  Verfall  Portugals  spricht  sich  In 
dem  Sinken  von  Lissabon  aus,  das  kaum  noch  die  Hälfte 
der  Bevölkerung  zählte,  die  es  ein  Jahrhundert  früher  ge- 
habt hatte. 

Mit  dem  18.  Jahrhundert  setzt  dann  in  ganz  Europa 
jene  rasche  Zunahme  der  Bevölkerung  ein,  die  in  keiner 
früheren  Periode  ihre  Parallele  findet,  und  die  noch  in 
unserer  Zeit  andauert.  Die  Folge  war  eine  starke  Vermehrung 
der  Zahl  der  Städte  mit  mehr  als  100000  Einwohnern,  die 
im  Laufe  des  Jahrhunderts  von  14  auf  22  stieg,  und  ihrer 
Bevölkerung,  die  sich  von  etwa  3  Millionen  auf  über  5  Mil- 
lionen vermehrte.  London  näherte  sich  bereits  der  Zahl  von 
1  Million  Einwohnern,  Paris  war  dagegen  ziemlich  stationär 
geblieben  und  hatte  die  halbe  Million  noch  nicht  weit  über- 


Die  Volkszahl  als  Faktor  u.  Gradmesser  der  bist.  Entwicklung.   337 

schritten,  Neapel,  das  nach  der  Befreiung  von  der  spanischen 
Herrschaft  einen  glänzenden  Aufschwung  genommen  hatte, 
war  nicht  mehr  weit  von  der  halben  Million  entfernt.  Dann 
folgten  in  weitem  Abstände  Moskau,  Petersburg,  Wien 
und  Amsterdam,  die,  mit  einer  Viertelmillion  Einwohnern 
oder  wenig  darunter,  einander  fast  gleich  standen.  Im 
Laufe  des  19.  Jahrhunderts  ist  dann  die  Zahl  der  Städte  mit 
über  100  000  Einwohnern  in  Europa  von  22  auf  149  ge- 
stiegen, mit  zusammen  48  Millionen  Einwohnern.  Vielleicht 
nirgends  wieder  findet  der  Kulturfortschritt,  den  das  letzte 
Jahrhundert  gebracht  hat,  einen  so  charakteristischen 
Ausdruck. 


Nur  durch  ziffermäßige  Erfassung  konnten  diese  Ver- 
hältnisse zur  konkreten  Anschauung  gebracht,  die  Ent- 
wicklung, die  sich  darin  ausspricht,  in  objektiver  Weise 
gewertet  werden.  Und  dasselbe  gilt  von  allen  oder  doch  den 
meisten  anderen  Zweigen  des  Staats-  und  Wirtschaftslebens. 
Selbst  die  geistigen  Strömungen  sind  in  viel  höherem  Maße 
der  statistischen  Behandlung  zugänglich  als  die  meinen, 
die  in  der  Geschichte  nichts  anderes  sehen,  als  ein  Bündel 
Heldenbiographien.  Freilich,  bis  zur  Erreichung  dieser 
Ziele  ist  noch  ein  weiter  Weg.  Aber  erst  wenn  dieser  Weg 
durchmessen  sein  wird,  soweit  es  die  uns  zu  Gebote  stehenden 
Mittel  gestatten,  kann  die  Geschichte  das  werden,  was  sie 
heute  noch  nicht  ist,  wenigstens  noch  nicht  im  vollen  Sinne 
des  Wortes,  was  sie  aber  werden  muß,  eine  Wissenschaft. 


Miszelle. 


Zu  Noel  Valois,  Le  Pape  et  le  Concile.^) 

I. 
Entgegnung  von  N.  Valois. 

Hochgeehrter  Herr! 

Wenn  die  Leser  der  Hist.  Zeitschrift,  wie  ich  fürchte, 
die  Ratschläge  des  Herrn  Haller  befolgen,  werden  sie  vielleicht 
mein  Buch  Le  Pape  et  le  Concile  nur  öffnen,  um  die  darin  ent- 
haltenen Anmerkungen  zu  Rate  zu  ziehen,  in  denen,  wie  der  ge- 
lehrte Herr  Professor  anerkennt  (Bd.  1 10,  347),  verschiedenes  Neues 
und  „manch  wertvoller  Aufschluß"  sich  befinden,  aber  dieselben 
werden  sich  hüten,  den  Text  selbst,  der  wahrscheinlich  viel  un- 
nützes Geschwätz  enthält,  zu  lesen.  Und  nun  bin  ich  dadurch 
in  eine  sehr  peinliche  Lage  geraten:  denn  ich  kann  wohl  kaum 
hoffen,  daß  Ihre  Leser  sich  selbst  von  der  Richtigkeit  seiner 
Vorwürfe  überzeugen  werden.  Damit  sie  dennoch  Kenntnis 
nehmen  können  von  der  Art,  in  der  H.  die  historische  Kritik 
versteht,   folgen    hier   als  Beispiel    einige   seiner  Bemerkungen. 

S.  348  wirft  er  mir  vor,  daß  ich  Karl  VII.  zu  der  Zusammen- 
kunft von  Bourges  1438  im  Anfang  und  nicht  Ende  des  Monats 
August  habe  ankommen  lassen;  ich  habe  aber  da  (II,  230  2.  Zeile), 


1)  Wir  haben  von  unserem  Grundsatze,  Entgegnungen  auf  Rezen- 
sionen, die  über  den  Rahmen  des  §  11  des  Preßgesetzes  hinausgehen, 
abzulehnen,  im  vorliegenden  Falle  eine  Ausnahme  gemacht,  um  einem 
Ausländer  Gelegenheit  zu  geben,  in  unserer  Zeitschrift  sich  gegen 
eine  besonders  scharfe  Kritik  zu  verteidigen.  Die  Redaktion. 


1 


Entgegnung  von  N.  Valois.  339 

WO  ich  von  Karl  VII.  spreche,  wörthch  geschrieben:  //  ne  par- 
vint  ä  Bourges  qu'ä  la  fin  du  mois  d'aout.^) 

S.  352  gibt  er  den  Lesern  zu  verstehen,  daß  „ich  mich  wohl- 
weislich gehütet  habe",  einen  von  ihm  im  Concil.  Basil.  1,  435 
veröffentlichten  Text  zu  erwähnen,  der  augenscheinlich  sehr 
kompromittierend  für  mich  wäre:  aber  gerade  diesen  Text  habe 
ich  erwähnt  (11,  33  Anm.  2),  indem  ich  auf  die  genannte  Seite 
verwies.2) 

S.  342:  Ich  hätte  auch  ein  im  Jahre  1435  von  Cesarini  an  den 
Papst  gerichtetes  Schreiben  vollständig  übergangen.  Ich  habe 
es  jedoch  zitiert  und  erläutert  I,  395!  Es  ist  übrigens  nicht  so 
aufzufassen  wie  H.  annimmt,  und  enthält  in  der  Hauptsache 
nur  eine  flüchtige  Hindeutung  auf  den  für  das  Annatenverbot 
versprochenen  Ersatz  {Concil.  Basil.  I,  388). 

S.  348:  Ich  hätte  Unrecht  gehabt  zu  sagen  (I,  183  Anm.  4), 
daß  das  Konzil  in  seiner  Antwort  vom  3.  September  1432  als 
Beispiel  früherer  Papstabsetzungen  nur  Liberius  und  Anastasius 
aufgeführt  habe.  Dies  ist  doch  die  Wahrheit!^)  Die  Väter  führen 
—  weiter  unten  —  die  Fälle  von  Johann  XII.  und  von  Bene- 
dikt IX.  nur  da  an,  wo  die  Rede  ist  von  den  Obedienzent- 
ziehungen.*) 

Wenn  ich  schrieb  (II,  43):  Des  prelats  frangais  tels  que 
l'archeveque  de  Lyon  se  joignirent  au  cardinal  Aleman  pour  re- 
commander  la  Solution  avignonnaise,  sollte  mir  nicht  die  Anwen- 
dung einer  einschränkenden  Formel  vorgeworfen  werden,  denn 
es  ist  wahr,  daß  nicht  alle  französischen  Prälaten  das  Wort 
ergriffen  haben,  um  diese  Lösung  zu  empfehlen.  H.s  Bemer- 
kung (S.  352  Anm.  1)  —  „wenn  das  nicht  verdrehen  heißt,  so 
heißt  es  doch  vertuschen"  —  ist  hier  ganz  und  gar  nicht  am 
Platze. 


^)  Die  2.  von  H.  nicht  verstandene  Anmerkung  —  weit  davon 
entfernt,  ein  Widerspruch  zu  sein  —  bestätigt  im  Gegenteil  diese 
Behauptung. 

")  Ebenso  habe  ich  die  Antwort  auf  die  Verlegung  nach  Ferrara 
aufgeführt  (II,  115),  deren  Erwähnung  mir  H.  vorwirft  (S.  344) 
überhaupt  vergessen  zu  haben. 

')  „Qui  non  audierunt  Ecclesiam  fuerunt  habiti  ut  ethnici  et  publi- 
cani,  ut  legitur  de  Anastasio  et  Liberia"  (Mon.  Concil.    II,  244). 

*)   Ibid.  245. 


340  Zu  Noel  Valois,  Le  Pape  et  le  Concile. 

S.  348  ist  er  erstaunt,  daß  ich  den  Verfasser  des  Guberna- 
culum  conciliorum  unter  den  Wiener  Theologen  suche!  Weiß 
er  denn  nicht,  was  Schulte  (Gesch.  d.  Quellen  u.  Literatur  d. 
canon.  Rechts  II,  439)  schon  festgestellt  hat,  und  was  ich  mit 
neuen  Beweisen  bestätigen  könnte,  nämlich  daß  der  Spanier 
Andreas  von  Escobar  die  Würde  eines  Doktors  der  Theologie  in 
Wien  erwarb? 

S.  350  behauptet  er  kühn,  daß  Eugen  IV.,  als  er  gezwungen 
war,  gleichzeitig  mit  den  Bullen  In  arcano  und  Inscrutabilis, 
die  angebliche  Bulle  Dem  novit  zu  widerrufen,  nichts  tat,  um  zu 
zeigen,  daß  er  nicht  der  Verfasser  der  letzteren  war.  Ohne  hier 
von  der  nicht  mißzuverstehenden  Weise  zu  sprechen,  in  welcher 
der  Papst  die  Urheberschaft  der  qu.  Bulle  in  Abrede  stellte, 
und  welche  von  den  Legaten^)  und  dem  venezianischen  Gesandten 
bestätigt  wird^),  genügt  es  mir,  wenn  ich  den  Text  selbst  des 
Widerrufs  der  Bulle  den  Lesern  unterbreite:  „Duas  nostras  liU 
teras  pridem  in  palacio  apostolico  promulgatas,  nam  tercias  .  .  ., 
que  dicuntur  incipere  D  e  us  novit,  cum  a  nobis  aut  de  scitu 
nostro  nunquam  emanaverint,  licet  superfluum  videatur  quod  non 
exstat  revocare,  tarnen  quia  petiium  est,  et  ad  cautelam  .  .  . ,  cas- 
samus"  (Mon.  Concil.  II,  565).  Man  sieht,  mit  welcher  Unge- 
niertheit H.  die  beweiskräftigsten  Texte  verschwinden  läßt:  in 
Wirklichkeit  geschah  gerade  das  Gegenteil  von  dem,  was  er 
behauptet. 

S.  348  macht  er  mir  zum  Vorwurf,  daß  ich  den  berühmten 
Erzbischof  von  Tarent,  welcher,  wie  er  sagt,  ein  Orsini  von  Taglia- 
cozzo  ist,  beharrlich  „Johann  Berardi"  nenne.^)  Ich  bedauere, 
konstatieren  zu  müssen,  daß  hier  H.  einem  alten,  seit  langer 
Zeit  wiederholten  Irrtum  verfällt.*)    Dieser  Prälat  gehört  nicht 


1)   Ibid.  561. 

^)  „Andreas  [Donatol  volebat  esse  commemoratum  quod,  audito 
de  bulla  illa  D  e  us  novit,  papa  ammirabatur  quomodo  id  sibi 
imponeretur,  quia  nunquam  illam  fecisset,  ymo  imposuerat  ut  sua  ex 
parte  rogaret  atque  requireret,  quod  et  ipse  Andreas  requirebat,  ut  contra 
auctorem  dicte  bulle  procederetur"  (ibid.  563). 

3)  Ich  habe  ihn  auch  „Berardi  de  Tagliacozzo"  genannt  (I, 
178;    II,  388). 

*)  Siehe  Ciaconius  II,  902;  Moroni,  Dizionario  stor.-eccl. 
LXXII,  227. 


Entgegnung  von  N.  Valois.  MI 

zur  Familie  Orsini,  und  sein  wirklicher  Name,  so  wie  er  uns  be- 
sonders durch  den  Brief  Martin  V.  vom  20.  Oktober  1421  über- 
liefert ist,  ist  wohl  derjenige,  den  ich  wiedergegeben  habe,  näm- 
lich „Johann  Berardi  von  Tagliacozzo".*) 

S.  349  ist  H.  das  Opfer  einer  wirklich  merkwürdigen  Hal- 
luzination: er  glaubt  auf  S.  243  meines  2.  Bandes  zu  lesen,  daß 
ich  den  Bischof  von  Zengg  im  Jahre  1439  sterben  lasse,  und  daß 
ich  ihm  eine  rührende  Abschiedsrede  auf  dem  Totenbette  in  den 
Mund  gelegt  habe,  die  in  Wirklichkeit  der  Bischof  von  Lübeck 
gehalten  hat,  die  auch  nur  bei  diesem  einen  Sinn  hat.  Jedoch 
weder  auf  dieser  243.  Seite,  noch  auf  irgendeiner  anderen  meiner 
2  Bände  findet  sich  etwas  Derartiges.  Ich  stelle  H.  anheim,  in 
meinem  ganzen  Werke  eine  einzige  Stelle  zu  finden,  welche  den 
falschen  Angaben,  die  er  mir  zuschreibt,  auch  nur  ähnelt!  Ich 
habe  den  Tod  des  Bischofs  von  Zengg  (S.  243  Anm.  1)  nur  er- 
wähnt, um  Juan  von  Segovia  zu  widerlegen,  der  ihn  gegen  das 
Jahr  1439  verlegt.  Ich  habe  weder  eine  Anspielung  auf  das 
„Totenbett",  noch  auf  die  „rührende  Abschiedsrede"  gemacht! 
In  dem  interessanten  Briefe  der  ungarischen  Prälaten  und  Ba- 
rone, den  ich  S.  243  Anm.  2  veröffentlicht  habe,  handelt  es  sich 
nur  um  die  im  kaiserlichen  Lager  vom  Bischof  von  Lübeck,  Ab- 
gesandten des  Konzils,  gehaltenen  Reden  und  um  die  Widerlegung 
seiner  Argumente  durch  den  Bevollmächtigten  des  Papstes,  den 
Bischof  von  Zengg,  Dieser  lateinische  Text  ist  ganz  deutlich, 
ebenso  wie  die  Anmerkungen,  die  ich  in  meiner  Mutter- 
sprache hinzugefügt  habe.  H.  beherrscht  Latein  und  Französisch 
wohl  zur  Genüge,  und  ich  verzichte  deshalb  darauf,  zu  erfahren, 
was  in  seinem  Geiste  vorgegangen  ist. 

Gleichwohl  kann  ich  ein  noch  merkwürdigeres  Phänomen 
zitieren.  H.s  Wunsch,  mich  auf  Fehlern  zu  ertappen,  ist  so  groß, 
daß  er  nicht  zögert,  einen  Text,  den  er  selbst  veröffentlicht  hat, 
zu  ändern.  Er  hat  1901  einen  Brief  von  Eugen  IV.  von  1436, 
datiert  septimo  kal.  martii,  veröffentlicht;  er  übersah,  daß  das 
Jahr  1436  ein  Schaltjahr  war  und  hatte  ihn  aus  Unachtsamkeit 
mit  dem  Datum  vom  23.  Februar  versehen  (Quellen  u.  Forsch, 
aus  Italien.  Archiven  II,  185).  Als  ich  nun  diesen  Brief  meiner- 
seits anführte  (II,   13),  habe  ich  ihn  natürlich  richtig  datiert, 


^)  Eubel,  Hierar  eh.  cath.   I,  499. 


342  Zu  Noel  Valois,  Le  Pape  et  le  Concile. 

nämlich  vom  24.  Februar.  H.  sollte  sich  darein  finden,  für  einmal 
sich  geirrt  zu  haben  ?  Aber  er  zieht  vor,  septimo  in  sexto  zu  ver- 
wandeln (S.  347),  und  das  erlaubt  ihm  dann,  sich  über  meine 
Unwissenheit,  die  mich  den  6  kl.  martii  eines  Schaltjahres  mit 
24.  Februar  hat  übersetzen  lassen,  lustig  zu  machen?  Dieser 
Zug  ist  so  reizend,  daß  es  sich  verlohnt,  ihn  hier  wiederzugeben: 
„Er  hat  vergessen,  was  er  doch  auf  der  Ecole  des  chartes  einmal 
gelernt  haben  wird,  wie  die  Märzkaienden  im  Schaltjahr  (1436) 
umzurechnen  sind."  Wollen  Sie  im  übrigen  bemerken,  daß  H. 
vergebens  den  Glauben  zu  erwecken  sucht,  daß  der  24.  eine 
Schwierigkeit  schaffe,  weil  der  in  Frage  stehende  Brief  dem 
Cosimo  Medici  einen  Auftrag  gibt,  den  dieser  am  23.  ausgeführt 
hätte?  Dieser  Einwurf  beweist,  daß  H.  die  Texte,  die  er  veröffent- 
licht, ohne  die  nötige  Sorgfalt  auslegt.  Denn  es  war  in  der  Tat 
am  23.,  daß  Cosimo  gewisse  Verpflichtungen  gegenüber  dem 
Vertreter  des  Papstes  übernimmt;  aber  was  ihm  der  Papst  am 
24.  befiehlt,  ist,  sich  den  Bevollmächtigten  des  Königs  Rene  zu 
verpflichten,  und  dieser  Schwur  wurde  erst  4  Tage  später,  am  28., 
geleistet.  In  allem,  was  vorhergeht  —  wohlbemerkt  —  ziehe  ich 
H.s  guten  Glauben  nicht  in  Zweifel,  aber  Sie  werden  mir  er- 
lauben, es  lächerlich  zu  finden,  wenn  er  sich,  den  andern  For- 
schern gegenüber,  der  Ausdrücke  wie  „Blindheit,  Übereilung, 
Flüchtigkeit,  falsche  Interpretation",  in  etwas  sehr  freigebiger 
Weise  bedient. 

Daß  ich  unter  diesen  Umständen  auf  eine  weitere  Diskussion 
mit  H.  verzichte,  wird  man  begreiflich  finden.  Wenn  ich  mehrere 
seiner  Kritiken  schon  im  voraus  beantwortet  habe^),  so  bleiben 
noch  viele  andere,  die  ich  mit  Leichtigkeit  widerlegen  könnte, 
allerdings  in  Ausführungen,  die  hier  nicht  wiederzugeben  wären, 
ohne  die  Gastfreundschaft  der  Zeitschrift  zu  mißbrauchen. 
Es  liegt  mir  auch  daran,  festzustellen,  daß  ich  keineswegs  beab- 
sichtige, alle  die  Ansichten,  die  er  mir  zuschreibt,  abzustreiten. 
Diejenigen,  die  mich  —  nach  ihm  —  für  einen  systematischen 

^)  Es  ist  ebenso  überflüssig,  daß  ich  von  neuem  versuche,  ihm 
verstehen  zu  geben,  was  ich  unter  triomphe  de  la  papauti  ver- 
stehe, ein  Triumph,  den  niemand  in  Abrede  stellt,  außer  H.,  von 
dem  ich  aber  klar  und  deutlich  hervorgehoben  habe,  was  er  Un- 
vollständiges,  in  gewissem  Maße  Illusorisches  (II,  359.  364.  369), 
selbst  in  mancher  Hinsicht   Gefahrvolles  (II,  363)  an  sich  hat. 


Entgegnung  von  N.  Valois.  343 

Verteidiger  des  römischen  Pontifs  und  für  einen  hartnäckigen 
Gegner  des  Konzils  von  Basel  halten,  würden  sich  schwer  täu- 
schen. An  vielen  Stellen  habe  ich  von  dem  Eigensinn  (I,  97,  149), 
der  Blindheit  (I,  133),  der  Ungeschicklichkeit  Eugen  IV.  (I, 
189;  II,  306),  seinen  skandalösen  Ernennungen  (I,  109,  124,  167; 
II,  87 — 96,  273,  319),  den  Übertreibungen  seines  Ausbeutungs- 
systems (I,  376),  seiner  manchmal  grausamen  Strenge  (II,  4, 
85,  319),  seiner  Ungerechtigkeit  gegenüber  dem  Konzil  (II,  19), 
seinem  Widerstand  gegen  Reformen  (II,  27)  gesprochen.  Ich  habe 
selbst  ein  gegen  ihn  und  die  weltliche  Macht  des  Papstes  gerich- 
tetes, besonders  heftiges  Schreiben  (11,97 — 103)  bekanntgegeben. 
Anderseits  habe  ich  aber  auch  der  Selbstlosigkeit,  dem  oft  hero- 
ischen Mute  und  dem  guten  Glauben  der  Väter  von  Basel  meine 
Anerkennung  nicht  versagt  (II,  124,  160,  165,  177,  178,  357); 
aber  selbst  daraus  macht  mir  H.  fast  einen  Vorwurf  (S.  345). 
Indessen  habe  ich  mich  doch  nicht  verpflichtet  geglaubt,  mit 
geschlossenen  Augen  alle  Handlungen  der  Väter  zu  bewundern, 
wie  er,  und  z.  B.  bin  ich  überzeugt,  daß  alle  unparteiischen  Leser 
das  Urteil,  das  ich  über  ihr  beklagenswertes  Handeln  in  der 
Angelegenheit  der  Vereinigung  der  griechischen  Kirche  gefällt 
habe,  ohne  weiteres  unterschreiben  würden,  ein  Urteil,  das  übri- 
gens nicht  strenger  ist  als  das  ihres  Chefs  Cesarini. 

Meine  Arbeiten  geben,  seit  einigen  Jahren  schon,  Herrn 
Dr.  H.  reichlich  Beschäftigung:  vor  der  Besprechung  meines 
Buches  Le  Pape  et  le  Concile  in  der  Zeitschrift  hat  er  dem 
gleichen  Werk  einen  Artikel  in  der  Theologischen  Li- 
teraturzeitung gewidmet,  und  zuvor  veröffentlichte  er 
in  dieser  Zeitschrift  einen  Artikel  von  52  Seiten  über  meine 
Histoire  de  la  Pragmatique  Sandion  de  Bourges,  zwei  Artikel, 
welche  beide  dasselbe  Gepräge  des  gleichen  Wohlwollens  tragen. 
Es  steht  ihm  frei,  diese  Angriffe  fortzusetzen.  Sollten  sich  aber 
nicht  einige  Freunde  finden,  die  ihm  zu  verstehen  gäben,  daß  er 
bei  dieser  Art  von  gewaltsamer  Polemik  viel  von  den  Eigen- 
schaften verliert,  die  man  bei  dem  Autor  des  Concilium  Basi- 
liense  gern  lobt,  wie  Scharfblick,  Kritikfähigkeit  und  Genauig- 
keit, und  um  ihm  den  Rat  zu  geben,  nicht  öffentlich  eine  der- 
artig tiefe  Geringschätzung  denjenigen  entgegenzubringen,  welche 
sich  das  gleiche  Thema  zu  Vorwurf  genommen  haben?  Es  wird 
nicht  an  böswilligen  Gegnern  fehlen,  die  daraus  schließen,  daß 


S44  Zu  Noel  Valois,  Le  Pape  et  le  Concile. 

er  gewisse  Abschnitte  der  Gescliiclite  als  ein  reserviertes  Jagd- 
gebiet betrachtet,  das  niemand  außer  ihm  betreten  darf. 

Empfangen  Sie,  bitte,  geehrter  Herr,  die  Versicherung  meiner 
Hochachtung. 

Paris,  den  17.  März  1913.  Noel  Valois. 


II. 
Sdilußwort  von  J.  Haller. 

Auf  die  höchst  schmeichelhafte  Meinung,  die  Herr  Valois 
über  die  Leser  der  Historischen  Zeitschrift  äußert,  werden  diese 
selbst  die  richtige  Antwort  wissen.  Zu  den  Vorwürfen  aber, 
mit  denen  meine  Kritik  entkräftet  werden  soll,  muß  ich  folgendes 
bemerken. 

1.  Pape  et  Concile  II,  230  steht  im  Text  allerdings,  daß 
Karl  VII.  erst  Ende  August  in  Bourges  ankam.  Dagegen  wird 
in  der  zugehörigen  Anmerkung  eine  Urkunde  des  Königs,  „date 
de  Bourges,  le  6  aoüt  1440",  als  bemerkenswert  (a  remarquer) 
zitiert,  ohne  jede  Erklärung.  Hierauf  bezieht  sich  meine  Bemer- 
kung: gerade  die  Form  des  Ausfertigungsbefehls  beweise,  daß 
der  König  abwesend. 

2.  Die  aufschlußreiche  Denkschrift,  die  ignoriert  zu  haben 
ich  V.  vorwerfe,  ist  von  ihm  allerdings  einmal  in  drei  Zeilen  (!) 
zitiert  worden,  aber  nicht  dort,  wo  sie  hingehört,  nämlich  bei 
der  Krisis  Ende  1436,  sondern  vorgreifend  zu  den  Verhandlungen 
im  Sommer  1436,  und  zudem  —  nur  in  einer  Fußnote!  In  der 
Darstellung  wird  kein  Gebrauch  von  ihr  gemacht.  Das  ist  eben 
die  Methode,  die  ich  hinlänglich  gekennzeichnet  zu  haben  glaube: 
was  einem  nicht  paßt,  sei  es  noch  so  interessant,  setzt  man  in  die 
Anmerkungen,  wo  es  von  den  meisten  übersehen  wird  und  kein 
Unheil  stiftet.  Wird  einem  dann  vorgehalten,  daß  man  unbe- 
queme Wahrheiten  unterdrücke,  so  wirft  man  sich  in  die  Brust: 
„Ich  hab's  zitiert!" 

3.  Den  nächsten  Vorwurf  kann  V.  nur  erheben,  indem  er 
meine  Worte  unrichtig  wiedergibt.    Ich  habe  nicht  behauptet, 


Schlußwort  von  J.  Haller.  345 

V.  habe  das  Schreiben  Cesarinis  vollständig  übergangen; 
ich  spreche  vielmehr  von  seinem  Programm  der  Ver- 
ständigung. Von  diesem  sagt  V.  in  der  Tat  nichts.  An  der 
Stelle,  auf  die  er  sich  zur  Entschuldigung  beruft,  gibt  er  den 
Inhalt  des  5  Vi  große  Seiten  langen  Aktenstücks  in  vollen  7  Yz  Zeilen 
wieder  —  von  „Erläuterung"  ist  keine  Rede  —  und  überdies 
falsch.  Die  „flüchtige  Hindeutung"  auf  den  Ersatz  für  die  An- 
naten  besteht  in  einer  beredten,  8  Zeilen  langen  Vorstellung, 
daß  es  für  Papst  und  Kardinäle  vorteilhafter  wäre,  eine  von  der 
ganzen  Kirche  gebotene  Entschädigung  anzunehmen,  da  dann 
der  bisherige  Widerspruch  gegen  die  Abgaben  verstummen 
müßte.  Ich  denke,  das  Argument  verdiente  doch  wohl  Er- 
wähnung. Statt  dessen  faßt  V.  die  Meinung  des  Legaten  in 
die  Worte  zusammen:  „//  lui  conseilla  de  eider  presque  sur 
tous  les  points",  und  nennt  unter  diesen  Punkten  ausdrücklich 
auch  la  question  des  annates.  Danach  sollte  man  glauben, 
Cesarini  habe  dem  Papste  zugemutet,  auf  die  vom  Konzil 
verbotenen  Annaten  einfach  zu  verzichten.  Bin  ich  da  nicht  im 
Recht,  zu  sagen,  V.  habe  das  Programm  der  Verständigung 
übergangen? 

4.  Ich  bin  in  Verlegenheit,  wie  ich  den  nächsten  Vorwurf 
beurteilen  soll.  „Die  Wahrheit"  ist,  daß  das  Konzil  an  den  von 
V.  angezogenen  zwei  Stellen  ersichtlich  keinen  Unterschied 
zwischen  Absetzung  und  Obedienzentziehung  macht.  Es  zitiert 
an  der  ersten  als  Beispiele  der  Absetzung  Liberius  und  Anastasius, 
an  der  zweiten  als  solche  der  Obedienzentziehung  wiederum 
Anastasius  und  Liberius  neben  fünf  andern,  worunter  auch 
Johann  XXIII.  Das  „distinguo",  mit  dem  V.  sich  auszureden 
sucht,  ist  denn  doch  gar  zu  dünn. 

5.  Es  ist  natürlich  richtig,  daß  in  der  Debatte  „nicht 
alle  französischen  Prälaten  das  Wort  ergriffen  haben",  folglich 
auch  nicht  alle  Avignon  empfohlen  haben  können.  Aber  — 
und  darauf  allein  kommt  es  an  —  gestimmt  haben  sie  alle 
für  Avignon,  wie  ich  schon  1895  nachwies  und  V.  noch  heute  — 
verschweigt. 

6.  Andreas  von  Escobar  hat  allerdings  1393  in  Wien  den 
Doktorat  der  Theologie  erhalten.  Aber  darf  er  darum  in  den  drei- 
ßiger Jahren  des  folgenden  Jahrhunderts,  wo  er  ständig  an  der 


346  Zu  Noel  Valois,  Le  Pape  et  le  Concile. 

Kurie  lebt,  „un  docteur  en  theologie  de  l'universiti  de  Vienne" 
heißen?  Wer  findet  ihn  unter  dieser  Adresse?  Und  seit  wann 
kennt  V.  seinen  Namen?  Pape  et  Concile  I,  92  und  398  kannte 
er  ihn  noch  nicht,  sonst  hätte  er  ihn  wohl  genannt.  Wenn  er  nun- 
mehr den  Anschein  erwecken  will,  ihn  schon  damals  im  Auge 
gehabt  zu  haben,  so  überlasse  ich  andern,  diese  Art  der  Polemik 
zu  beurteilen. 

7.  Bezüglich  der  Bulle  Deus  novit  hat  V.  meine  Worte  wieder- 
um unrichtig  wiedergegeben.  Ich  habe  keineswegs  behauptet, 
daß  Eugen  IV.  „nichts  tat,  um  zu  zeigen,  daß  er  nicht  der  Ver- 
fasser" war,  sondern:  „Der  Papst  erklärt  nicht  etwa,  das  Mach- 
werk gehe  ihn  nichts  an,  sondern  er  fügt  sich  und  revoziert  Wort 
für  Wort,  was  ein  Subalterner  auf  seinen  Namen  gefälscht  haben 
soll."  Das  entspricht  genau  den  Tatsachen.  Gewiß  hat  Eugen 
selbst  und  durch  andere  die  Echtheit  der  Bulle  bestritten,  aber 
er  hat  sie  trotzdem  anerkennen  müssen,  indem  er  sie  kassierte. 
Es  gehört  ein  starkes  Maß  von  Kritiklosigkeit  dazu,  in  den  offi- 
ziellen und  offiziösen  Ableugnungen  ,,die  beweiskräftigsten 
Texte"  zu  erblicken,  die  ich  mit  „Ungeniertheit"  „verschwinden 
lasse".  Statt  solche  billige  Phrasen  zu  brauchen,  hätte  V.  lieber 
den  Versuch  machen  sollen,  meine  positiven  Beweise  für  die 
Echtheit  der  Bulle  zu  entkräften. 

8.  Für  die  überlieferte  Annahme,  daß  der  Erzbischof  von 
Tarent  ein  Orsini  war,  habe  ich  bestimmte  Anhaltspunkte.  Dem 
steht  auch  keineswegs  entgegen,  daß  Martin  V.  ihn  Johannes 
Berardi  nennt.  Wäre  Berardi  sein  Geschlechtsname,  so  müßte 
er  hier  „Johannes  de  Berardis"  heißen.  Sein  Vater  hieß  eben 
Berardus.  Gerade  so  gut  könnte  man  behaupten,  Kaiser  Niko- 
laus 11.  sei  kein  Romanow,  denn  er  heiße  Nikolai  Alexandro- 
witsch. 

9.  Bezüglich  des  Bischofs  von  Zengg  habe  ich  V.  zum  Teil 
unrecht  getan,  indem  ich  übersah,  daß  er  selbst  die  chronolo- 
gischen Bedenken  anführt,  die  es  unmöglich  machen,  die  Er- 
zählung Segovias  vom  Tode  und  letzten  Bekenntnis  zur  Sache 
des  Konzils  auf  den  Bischof  von  Zengg  zu  beziehen.  Nur  hätte 
er  diese  Beziehung  überhaupt  nicht  vornehmen  dürfen;  denn 
Segovia  spricht  vom  Bischof  von  Lübeck.  Das  Behagen,  mit 
dem   V.  dieses   mein   Versehen   auszubeuten   sucht,   gönne   ich 


Schlußwort  von  J.  Haller.  347 

ihm  um  so  h'eber,  da  es  zu  der  Wichtigkeit  der  Sache  in 
umgekehrtem  Verhältnis  steht.  Was  der  Brief  der  ungarischen 
Prälaten  und  Barone  damit  zu  tun  haben  soll,  ist  mir  uner- 
findlich. 

10.  Mit  Staunen  —  wäre  ich  Franzose,  so  würde  ich  sagen: 
mit  Beschämung  —  muß  ich  feststellen,  daß  Herr  Noel  Valois, 
Mitglied  der  Akademie,  Ehrenmitglied  des  Nationalarchivs  und 
ehemaliges  Mitglied  der  Ecole  des  Charles,  wirklich  noch  immer 
nicht  weiß,  wie  im  Schaltjahr  die  Märzkaienden  umzurechnen 
sind.  Der  Fall  ist  humoristisch.  Die  Urkunde  trägt  nämlich 
das  Datum  7.  kl.  Martii,  uimI  das  ist  nun  einmal  der  23.  Februar, 
im  Schaltjahr  wie  in  jedem  andern  Jahr.  Wer  das  nicht  weiß, 
der  lerne  es;  streiten  kann  man  darüber  nicht.  Ich  habe  allerdings 
in  der  Hist.  Zeitschr.  110,  347  aus  Versehen  „6.  kl."  geschrieben 
(oder  den  Druckfehler  übersehen).  Wäre  dies  das  wirkliche 
Datum  der  Urkunde,  so  hätte  V.  recht  und  ich  unrecht.  Ich 
habe  also  zum  Vorteil  meines  Gegners  „geändert",  und  er  — 
hat  es  nicht  einmal  gemerkt!  Die  Leser  mögen  urteilen,  wer 
und  was  hier  „lächerlich"  ist. 

Dies  sind  die  Dinge,  durch  deren  Aufdeckung  V.  meinem 
Urteil  den  Kredit  entziehen  wollte.  Einen  Punkt  ausgenommen, 
hat  er  in  allen  Stücken  unrecht.  Aber  selbst  wenn  er  ebensosehr 
recht  hätte,  wie  er  unrecht  hat,  es  würde  sich  doch  nur  um  Neben- 
sachen handeln,  und  um  verhältnismäßig  wenige.  Von  den  wirk- 
lich großen  Fehlern,  die  ich  ihm  nachwies,  hat  er  geschwiegen, 
von  den  schweren  Vorwürfen,  die  ich  gegen  seine  Methode  erheben 
mußte,  hat  er  keinen  einzigen  auch  nur  versucht  zu  entkräften. 
Oder  meint  er  vielleicht,  es  genüge,  um  ein  unbefangener  Ge- 
schichtschreiber zu  heißen,  daß  man  ein  paar  Fehler  des  Papstes 
erwähne  und  den  persönlichen  Tugenden  der  Konzilsleute  einiges 
Lob  spende?  Durch  dieses  Verfahren  lassen  wir  uns  nicht  mehr 
täuschen;  es  ist  zu  verbraucht.  Wenn  V.  aber  mir  nachsagt, 
ich  „bewundere  mit  geschlossenen  Augen  alle  Handlungen  der 
Väter"  (des  Konzils),  so  fordere  ich  ihn  auf,  in  meinen  Schriften 
eine  einzige  Zeile  nachzuweisen,  die  von  blinder  Bewunderung 
des  Konzils  zeugte.  Bis  ihm  dieser  Nachweis  gelungen  ist,  darf 
ich  seine  Bemerkung  für  eine  völlig  haltlose  Insinuation  erklären; 
wie  ich  es  auch  unter  meiner  Würde  finde,  auf  die  Verdächtigungen 


348  Schlußwort  von  J.  Haller. 

zu  erwidern,  mit  denen  er  seine  Entgegnung  zu  schließen  den 
eigentümlichen  Mut  besitzt.  Mit  den  Erzeugnissen  seiner  Feder 
brauche  ich  mich  künftig  allerdings  nicht  mehr  zu  befassen. 
Mein  Zweck  war,  seine  Arbeiten  deutschen  Lesern  zu  zeigen, 
wie  sie  sind.  Diesen  Zweck  glaube  ich  erreicht  zu  haben, 
und  was  etwa  noch  fehlte,  hat  er  selbst  durch  die  Art  seiner 
Erwiderung  ergänzt.  Ich  darf  also  wohl  für  immer  von  ihnen 
Abschied  nehmen. 

H  a  1 1  e  r. 


Literaturbericht. 


Kleine  historische  Schriften.  Von  Max  Lenz.  München  und  Berlin, 
R.  Oldenbourg.    1910.    VIII  u.  608  S. 

Studien  und  Versuche  zur  neueren  Geschichte.  Max  Lenz  ge- 
widmet von  Freunden  und  Schülern.  Berlin^  Gebr.  Paetel. 
1910.    480  S. 

Man  wird  es  meinen  mühe-  und  entsagungsvollen  biblio- 
graphischen Arbeiten  der  letzten  Jahre  zugute  halten,  daß  ich 
diese  längst  fällige  Anzeige  mit  so  großer  Verspätung  abfertige. 
Vor  mir  selbst  habe  ich  mich  in  dieser  Zeit  der  Beklemmung, 
eine  lastende  Verpflichtung  nicht  rechtzeitig  abtragen  zu  können, 
mit  der  Gewißheit  rechtfertigen  dürfen,  daß  die  beiden  hier  zu 
besprechenden  Bücher,  unabhängig  von  jedem  rühmenden  Wort, 
ihren  Weg  gehen  würden,  wie  sie  denn  inzwischen  auch  von  der 
Kritik  mit  ungeteiltem  Beifall  aufgenommen  worden  sind. 

Max  Lenz'  Schriften  sind  für  einen  weiteren  Leserkreis  be- 
stimmt. Eine  Reihe  von  ihnen  ist  bereits  in  den  „Ausgewählten 
Vorträgen  und  Aufsätzen",  die  den  Band  18  der  von  Arnold 
Reimann  herausgegebenen  deutschen  Bücherei  bilden  und  in 
drei  starken  Auflagen  verbreitet  sind,  erschienen,  doch  ist  es  zu 
begrüßen,  daß  sich  der  Verfasser  entschlossen  hat,  31  seiner 
allgemeinen  Stoffen  gewidmeten  Schriften  in  dem  vorliegenden 
umfassenderen  und  teureren  Werke  einem  größeren  Publikum 
zugänglich  zu  machen,  und  man  möchte  nur  bedauern,  daß 
in  Rücksicht  auf  den  Raum  von  dem  Gesichtspunkt  der  Voll- 
ständigkeit abgesehen  worden  ist. 

Die  Sammlung  der  so  vereinigten  Vorträge  und  Aufsätze 
stellt  das   Ergebnis  von  35  Jahren  ernster  Forscherarbeit  dar. 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  23 


350  Literaturbericht. 

Sie  sind  den  wichtigsten  Problemen  neuerer  geschichtlicher  Ent- 
wicklung gewidmet,  und  die  drei  hervorragenden  Arbeitsgebiete 
L.s  kommen  auch  in  diesen  Essays  klar  zum  Ausdruck.  Sie 
setzen  sich  aus  einer  reformationsgeschichtlichen  Gruppe,  einer 
mit  der  französischen  Revolution  und  der  napoleonischen  Epoche 
sich  beschäftigenden  Reihe  und  schließlich  einer  die  Zeit  der 
Reichsgründung  behandelnden  Abteilung  zusammen,  für  die  alle 
bekanntlich  L.  je  eine  grundlegende  Biographie  geliefert  hat. 
Des  Verfassers  wissenschaftliche  Art  ist  rühmlichst  bekannt. 
In  den  Fachkreisen  schätzt  man  ihn  als  den  erfolgreichsten 
Fortführer  Rankescher  Geschichtsauffassung  und  Geschichts- 
schreibung, und  mit  größter  Absicht  ist  der  aufschlußreiche, 
den  wissenschaftlichen  Charakter  feinsinnig  analysierende  Aufsatz 
über  Leopold  Ranke  an  die  Spitze  der  Sammlung  gestellt:  eine 
sympathische  Huldigung  für  den  großen  Lehrmeister  der  jüngeren 
deutschen  Geschichtsforscher.  Mit  ihm  teilt  L.  den  weiten 
universalen  Blick,  die  strenge  kritische  Methode,  den  Sinn  für 
staatliche  Entwicklung  in  der  ganzen  Mannigfaltigkeit  ihrer 
Äußerungen.  Dagegen  erinnerte  die  glänzende  Diktion,  die 
lebensprühende  Darstellung,  der  nationale  Schwung,  die  uns  in 
jeder  der  Schriften  entgegentreten,  mehr  an  Treitschke,  dem 
gleichfalls  nicht  ohne  Absicht  ein  schöner  Beitrag  gewidmet 
ist,  und  so  hat  Otto  Hintze  durchaus  recht,  wenn  er  L.  als  eine 
Synthese  von  Ranke  und  Treitschke  bezeichnet,  wenn  auch  der,, 
zumal  aus  den  Aufsätzen  der  ersten  Gruppe  sprechende,  prote- 
stantische Klang  seiner  Art  einen  höchst  eigenen  persönlichen 
Stempel  gibt.  In  der  Tat  tritt  uns  in  diesem  Bande  überall 
die  volle  Eigenart  einer  durch  und  durch  selbständigen,  starken 
und  warmherzigen  Persönlichkeit  entgegen,  die  ebenso  durch  die 
echte  und  tiefgrabende  Forschungsarbeit  wie  durch  deren  hoch- 
stehende künstlerische  Gestaltung  wirkt.  Eindrucksvoller  noch 
als  das  bisher  möglich  war,  erweist  sich  L.  in  diesem  Sammelbande 
als  einer  der  glänzendsten  Essayisten,  die  die  deutsche  geschichts- 
wissenschaftliche Schule  hervorgebracht  hat. 

Am  ursprünglichsten  erscheint  mir  L.  in  dem  erstgenannten 
Kreise.  Von  dem  kleinen  Gutenberg-Aufsatz  und  der  kraft- 
vollen Zurückweisung  des  in  verfälschendem  Gewände  einher-^ 
schreitenden  Werkes  Janssens  an  bis  zu  den  inhaltsvollen  Auf- 
sätzen über  „Humanismus  und  Reformation"  und  „Geschichts- 


Allgemeines.  351 

Schreibung  und  Geschichtsforschung  in  Elsaß  zur  Zeit  der  Refor- 
mation", die  für  die  Kenntnis  vom  Wesen  der  Reformation 
gesicherte  Ergebnisse  niederlegen,  bis  zu  der  Reihe  wohlabgerun- 
deter biographischer  Beiträge,  die  uns  die  großen  Gestalten 
jener  Zeit  vor  Augen  führen,  bis  schließlich  zu  dem  völlig  vor- 
urteilsfreien Aufsatz  über  „Gustav  Adolf  dem  Befreier"  spricht  der 
Verfasser  in  aller  Unmittelbarkeit  zu  uns,  mehr  instinktiv  wohl 
als  absichtsvoll  in  den  Worten  schlichter  und  treuer  Begeisterung 
seinen  Gegenstand  plastisch  hinstellend  und  bearbeitend.  Einen 
anderen,  mehr  reflektierenden  Charakter  scheinen  mir  die  Bei- 
träge der  beiden  folgenden  Abteilungen  zu  besitzen,  die  fast 
ausnahmslos  in  späteren  Jahren  entstanden  sind.  Es  sind  die 
Leistungen  des  aus  seinem  ersten  Arbeitsgebiete  heraustreten- 
den, sich  zu  universellerer  Betrachtung  entwickelnden  Forschers, 
der  den  ganzen  Umkreis  geschichtlicher  Entwicklung  in  seine 
Betrachtung  zieht,  ein  wenig  freilich  —  wie  mir  scheint  —  auf 
Kosten  des  engen  Verhältnisses  zum  Leser.  Wie  durch  ein  schönes 
Eingangstor  treten  wir  mit  den  beiden  gehaltvollen  Aufsätzen 
„Nationalität  und  Religion"  und  „Wie  entstehen  Revolutionen?" 
in  diesen  späteren  Arbeitsbereich  des  Verfassers.  Während  Auf- 
sätze wie  „Napoleon  I.  und  Preußen"  und  „Die  Bedeutung  der  See- 
beherrschung für  die  Politik  Napoleons"  sich  der  Napoleon- 
biographie anschließen,  vertritt  der  große  Aufsatz  „Die  franzö- 
sische Revolution  und  die  Kirche",  dem  man  ohne  Übertreibung 
grundlegende  Bedeutung  zuerkennen  darf,  allein  die  ausgedehntere 
Forschungsarbeit  L.s  zur  Geschichte  der  Revolutionszeit,  und 
man  muß  es  bedauern,  daß  er  sich  nicht  zur  Aufnahme  weiterer 
Aufsätze  hat  entschließen  können.  Dagegen  umfaßt  des  Ver- 
fassers dritter  Forschungsbereich  zur  Geschichte  der  Reichs- 
gründung nahezu  die  ganze  zweite  Hälfte  des  Buches.  Den 
Übergang  bildet  der  klassische  Beitrag  „1848".  Seinen  Haupt- 
inhalt machen  die  biographischen  und  analysierenden  Aufsätze 
über  die  großen  handelnden  Persönlichkeiten  wie  Bismarck,. 
Wilhelm  L  und  Friedrich  III.  und  ihre  Geschichtsschreiber  wie 
Treitschke  und  Rößler  aus,  während  sich  die  anschließenden 
Aufsätze  über  „Das  russische  Problem",  „Jahrhundertswende 
vor  hundert  Jahren  und  jetzt"  und  „Ein  Blick  in  das  preußische 
Jahrhundert"  in  weiter  Umschau  den  großen  Problemen  der 
jüngsten  Vergangenheit  zuwenden,  die  dem  Verfasser  aus  seinem 

23* 

/ 


352  Literaturbericht. 

Werke  über  „Die  großen  Mächte"  erwachsen  sind,  Sie  vollends 
zeigen,  wie  auch  der  Schlußaufsatz  über  „Die  Stellung  der  histori- 
schen Wissenschaften  in  der  Gegenwart",  den  auf  höchster  Warte 
stehenden,  durchaus  universellen  Gelehrten,  und  man  möchte 
der  Hoffnung  Ausdruck  geben,  daß  dieses  Werk  voll  reichster 
Anregung  und  Belehrung  eine  recht  weite  Verbreitung  unter  dem 
gebildeten  Publikum  finde.  Es  kann,  wahrhaft  missionierend, 
dazu  beitragen,  in  weiteren  Kreisen  den  historischen  Sinn  wieder 
zu  wecken,  der  uns  bitter  not  tut.  Wenn  es  gestattet  ist  noch  einen 
Wunsch  auszusprechen,  so  ist  es  der,  daß  bei  einer  neuen  Auf- 
lage angegeben  werden  möchte,  wo  die  Aufsätze  früher  schon 
einmal  erschienen  sind,  wie  denn  auch  die  mitgeteilten  Jahres- 
zahlen nicht  erkennen  lassen,  ob  sie  der  Zeit  der  Entstehung  oder 
der  Veröffentlichung  gelten. 

Einem  neuen  Brauche  folgend  haben  Freunde  und  Schüler 
L.s  ihrem  60  jährigen  Lehrer  und  Freunde  ihre  Huldigung  dar- 
bringen wollen,  aber  die  so  entstandene  Festschrift  hat  nicht  den 
üblichen  Charakter.  Nicht  eine  große  Zahl  von  verhältnismäßig 
bedeutungslosen  Beiträgen,  die  bei  dieser  passenden  Gelegen- 
heit bequem  untergebracht  werden  konnten,  tritt  uns  entgegen, 
sondern  nur  acht  Aufsätze  von  wissenschaftlichem  Werte,  die 
zugleich  den  wissenschaftlichen  Charakter  der  Geber  kennt- 
lich machen,  wurden  der  Ehre  gewürdigt,  diese  Festgabe  zu  bil- 
den, wenn  das  auch  den  Nachteil  zur  Folge  hat,  daß  sich  die  große 
Schar  der  aus  L.s  Schule  entsprossenen  jungen  Historikergene- 
ration nicht  erkennen  läßt.  Nicht  Quantität  sondern  Qualität 
war  das  Leitmotiv,  und  angesichts  mancher  unerfreulichen  Er- 
scheinung in  dem  immer  weiter  werdenden  Kreise  moderner 
Festschriften  wird  man  diesem  Gesichtspunkte  die  freudige  Zu- 
stimmung nicht  versagen. 

Dem  befreundeten  Fachgenossen  auf  dem  Gebiete  der  Re- 
formationsgeschichte widmet  Theodor  Briger  seinen  Auf- 
satz über  „Die  Gliederung  der  95  Thesen  Luthers",  eine  alte 
Streitfrage  spezielleren  Charakters  damit  zum  Abschluß  führend. 
Es  gelingt  ihm,  eine  feste  Anordnung  nachzuweisen,  und  man 
wird  sich  den  Ergebnissen  seiner  auf  der  vollen  Kenntnis  der 
Zeit  beruhenden  scharfsinnigen  Untersuchung  anschließen.  Die 
Gliederung  in  5  Gruppen,  von  denen  die  vierte  sich  wieder  in 
vier    Untergruppen    scheiden    läßt,    erscheint    tatsächlich    klar, 


Allgemeines.  353 

und  der  von  B.  scharf  betonte  praktische  Gesichtspunkt  für  die 
Anlage  der  „Fundamentalartikel"  des  Protestantismus  gibt  für 
alles  die  Stütze.  —  Im  Gegensatz  zu  dieser  Einzeluntersuchung, 
die  begrifflich  freilich  überall  in  die  Weite  führt,  ist  der  Aufsatz 
Felix  Rachfahls  der  großangelegte  Überblick  über  einen 
große  Zeiträume  umspannenden  Gegenstand;  er  behandelt 
„die  holländische  See-  und  Handelsmacht  vor  und  nach  dem 
Ausbruche  des  niederländischen  Aufstandes".  Aus  seiner  Be- 
schäftigung mit  der  großen  Gestalt  Wilhelms  von  Oranien  heraus 
vermag  der  Verfasser,  dank  seiner  hervorragenden  Fähigkeit, 
einen  weitschichtigen  Stoff  zu  durchdringen  und  zu  meistern, 
ein  plastisches  Bild  von  dem  gewaltigen  Aufschwung  der  wirt- 
schaftlichen Macht  Althollands  zu  entwerfen.  Mit  warmem  Anteil 
für  das  heldenhafte  Wirken  des  Handelsvolkes  und  mit  sicherem 
Blick  für  die  treibenden  Kräfte  verfolgt  er  die  Entwicklung  seit 
der  Zeit  der  burgundischen  Herrschaft,  und  in  der  kenntnisreichen 
Darlegung  und  der  gedankenreichen  Betrachtung  werden  wert- 
volle Ergebnisse  gewonnen.  Rückhaltlos  wird  man  sich  der 
Feststellung  anschließen,  daß  die  Entstehung  und  auch  schon  die 
erste  Blüte  der  holländischen  See-  und  Handelsgeltung  bereits 
in  die  Zeit  vor  dem  Ausbruche  des  niederländischen  Aufstände? 
fallen,  und  auch  die  interessante  Frage  nach  den  Gründen  weiterer 
Steigerung  der  wirtschaftlichen  Entfaltung  während  der  Freiheits- 
kämpfe selbst  scheint  mir  ebenso  überzeugend  wie  erschöpfend 
beantwortet.  In  einer  Schlußbetrachtung  wird  über  das  eigent- 
liche Thema  hinaus  die  spätere  Entwicklung  kurz  skizziert,  wer- 
den das  Wesen  und  die  Form  dieser  Handelstätigkeit  in  der 
Zeit  ihrer  Blüte  charakterisiert,  wird  der  dem  Zusammenbruch 
der  Hanse  analoge  Niedergang  der  holländischen  Seemacht- 
stellung begründet.  —  In  dem  folgenden  Beitragt)  unternimmt  es 
Paul  Haake,  von  der  schillernden  Persönlichkeit  des 
Generalfeldmarschalls  Hans  Adam  von  Schöning  ein  bio- 
graphisch getreues  Bild  zu  zeichnen.  Im  Anschluß  an  seine  For- 
schungen über  August  den  Starken  hat  der  Verfasser  reiches 
neues  Material  herbeischaffen  können,  das  ein  sehr  viel  helleres 
Licht  über  die  umstrittene  Gestalt  Schönings  verbreitet,  wenn 
auch    die  Unauffindbarkeit  seiner  Papiere  selbst  noch  fühlbare 


')  Auch  als  Sonderdruck. 


354  Literaturbericht. 

Lücken  läßt  und  manchem  Zweifel  Raum  gibt.  Es  tritt  uns  dieser 
merkwürdige  Mann  so  in  seinen  guten  wie  in  seinen  schlechten 
Zügen  greifbar  entgegen,  halb  ein  Condottiere,  halb  ein  Offizier 
im  modernen  Sinne;  auf  der  einen  Seite  ein  eigenen  ehrgeizigen 
Zielen  nachstrebender  „Mietling  Ludwigs  XIV.",  wie  ihn  auch 
Haake  trotz  stärkerer  Hervorhebung  günstiger  Eigenschaften 
nennen  muß,  auf  der  anderen  Seite  ein  General,  der  geschickt  und 
eifrig  die  Interessen  seines  Fürsten  vertritt.  Die  allgemein- 
geschichtliche Bedeutung  der  Persönlichkeit  kommt  in  dem 
leider  allzu  ausführlich  geratenen  Aufsatz,  der  ^/4  des  gesamten 
Buches  füllt,  klar  zum  Ausdruck,  und  mit  richtigem  Urteil  weiß 
der  Verfasser  zu  scheiden  zwischen  dem,  was  Schöning  individuell 
zu  eigen  ist  und  dem,  was  der  Zeit  überhaupt  zugehört.  —  Aus  dem 
Brandenburg  des  Großen  Kurfürsten  führt  uns  Wilhelm  Stolze 
in  das  Preußen  Friedrich  Wilhelms  I.  und  Friedrichs  des 
Großen.  „Zwei  preußische  Oberpräsidenten  in  Rheinland-West- 
falen im  18.  Jahrhundert.  (Friedrich  Wilhelm  v.  Borcke  und 
Karl  Freiherr  vom  Stein.)  Ein  Versuch"  nennt  sich  sein  Beitrag; 
er  scheint  mir  durchaus  gelungen,  wenn  man  davon  absieht, 
daß  er  im  Grunde  nur  Borcke^)  gewidmet  ist,  während  Stein 
lediglich  im  Sinne  des  Ausblicks  auf  die  weitere  innere  Entwick- 
lung der  westlichen  Gebiete  Preußens  mehr  anhangmäßig  be- 
handelt wird.  Auch  Borcke  ist  eine  einigermaßen  schillernde 
Persönlichkeit,  aber  es  ist  unzweifelhaft  St.s  Verdienst,  auf  Grund 
der  von  ihm  erschlossenen  neuen  Quellen  der  Acta  Borussica  den 
bösen  Ruf,  den  die  Kabinettsorder  von  1738  dem  Namen  Borcke 
verschaffte,  als  unberechtigt  nachgewiesen  zu  haben.  Aller- 
dings hat  er  nicht  vermocht,  ein  wirkHch  plastisches  Bild  des 
Oberpräsidenten  und  seiner  Wirksamkeit  zu  zeichnen;  das  ver- 
bietet das  dürftige  Material.  Aber  in  den  Umrissen  läßt  sich  die 
Gestalt  dieses  altpreußischen  Beamten  wohl  erkennen,  und  in 
der  umfassenden  Verwaltungstätigkeit  Borckes,  der  mehrere 
Jahre  in  selbständigster  Stellung  an  der  Spitze  der  westfälisch- 
rheinischen Provinzen  stand,  bis  er  durch  eine  mächtige  Opposition 
verdrängt  wurde,  tritt  uns  eindrucksvoll  vor  Augen,  welche 
Verdienste  um  die  Ausgestaltung  des  preußischen  Staatswesens 

*)  Ich  fürchte  nicht  als  kleinlicher  Kritiker  beanstandet  zu 
werden,  wenn  ich  auf  die  Auffälligkeit  hinweise,  daß  neben  der 
häufigeren  Schreibweise  Borcke  auch  Borck  stehen  geblieben  ist. 


Allgemeines.  355 

den  Helfern  und  Dienern  der  Könige  zukommen.  In  dem  Schluß- 
ausblick auf  Steins  Oberpräsidialtätigkeit  hat  Stolze  den  Ver- 
such gemacht,  die  Kontinuität  der  inneren  Politik  im  preußischen 
Westen  darzulegen  und  zu  erweisen,  daß  Steins  Wirken  eng  an 
Borckes  Tätigkeit  anschloß.  Es  ist  zuzugeben,  daß  hier  manche 
gute  Beobachtung  ausgesprochen  wird,  aber  es  muß  für  diese 
Zusammenhänge  noch  weitere  Detailarbeit  geleistet  werden, 
ehe  man  zu  sicheren  Ergebnissen  gelangen  kann.  —  Auf  ganz 
anders  gearteten  Boden,  wenn  auch  der  gleichen  Zeit,  geleitet 
uns  Hermann  v,  Caemnierer  mit  seinem  Aufsatz 
über   „Rankes  »große  Mächte'  und  die  Geschichtschreibung  des 

18.  Jahrhunderts".  Verständnisvoll  auf  das  Interessengebiet 
des  gefeierten  Lehrers  eingehend,  hat  er  sich  zur  Aufgabe  gemacht, 
Rankes  Meisterwerk,  für  das  Max  L.  die  Fortführung  über  das 

19.  Jahrhundert  geliefert  hat,  in  seinen  Beziehungen  zur  politi- 
schen Geschichtschreibung  des  18.  Jahrhunderts  zu  untersuchen 
und  das  Besondere  der  Stellung  Rankes  klarzulegen.  Nach  Form 
wie  Inhalt  ist  die  Studie  gleich  bedeutend,  und  man  wird  ihre 
Ergebnisse  als  dauernden  Gewinn  für  die  Geschichtschreibung 
und  Geschichtsauffassung  zur  Kenntnis  nehmen.  Caemmerer 
weist  überzeugend^  nach,  wie  Ranke  über  die  französische  Revo- 
lution auf  die  Ideen  des  18.  Jahrhunderts  zurückgreift.  Die 
Richtung  Schmauß,  Achenwall,  Ancillon,  Heeren  verfolgend, 
zeigt  er  die  folgerichtige  Ausgestaltung  der  Grundanschauungen, 
wie  sie  in  Rankes  klassischer  Programmschrift  niedergelegt 
sind,  die  das  Gesetz  der  Selbsterhaltung  als  das  Bestimmende 
für  das  Staatenleben  ansehen,  die  die  innere  Politik  der 
äußern  unterordnen,  die  deshalb  auf  die  Beziehungen  der 
Staaten  untereinander,  d.  h.  das  Staatensystem,  das  Schwer- 
gewicht legen.  Aber  ebenso  klar  wie  diese  Einwirkung  der 
politischen  Historie  des  18.  Jahrhunderts  auf  Rankes  Anschau- 
ungswelt tritt  uns  in  der  vortrefflichen  Untersuchung  auch 
seine  Besonderheit  entgegen.  Statt  der  mechanischen  blutlosen 
Theorie  jener  Göttinger  nunmehr  der  in  der  unmittelbaren 
Anschauung  des  staatlichen  Lebens  in  seiner  ganzen  Mannig- 
faltigkeit begründete  kraftvolle  Begriff  von  der  Einheit  des 
Staates  und  der  Nation,  die  Erkenntnis  von  den  mächtig 
wirkenden  Tendenzen  des  Nationalitätsprinzips.  Man  möchte 
der  Hoffnung  Ausdruck  geben,  daß  der  Verfasser  diese  wert- 


356  Literaturbericht. 

vollen  und  ergebnisreichen  Studien  fortführe  und  erweitere.  — 
Wieder  einen  spezielleren  Charakter  besitzt  die  kleine  Studie 
Hans  Delbrücks  über  „Die  Frage  der  polnischen  Krone 
und  die  Vernichtung  Preußens  in  Tilsit",  aber  auch  sie  bringt 
die  Forschung  in  einem  umstrittenen  Einzelproblem,  zu  dem 
sich  auch  L.  seinerzeit  geäußert  hatte,  ein  gut  Stück  weiter. 
In  sorgfältiger  und  scharfsinniger  Untersuchung  legt  der  Ver- 
fasser dar,  wie  Zar  Alexander  zwar,  entgegen  den  Abmachungen 
mit  König  Friedrich  Wilhelm,  gesonderte  Verhandlungen  mit 
Napoleon  einleitete,  aber  innerhalb  derselben  immer  wieder  für 
die  Erhaltung  Preußens  eintrat  und  durch  diese  Stellungnahme 
Napoleons  Ziele  erheblich  einschränkte.  Schrittweise  mußte 
dieser  von  seinem  Plane  der  Beseitigung  und  Aufteilung  Preußens 
unter  Frankreich  und  Rußland  und  der  Übertragung  der  polnischen 
Krone  an  den  Zaren  zurückgehen,  und  geringfügige  Abtretungen 
preußisch-polnischen  Gebietes  an  Rußland  und  des  Königs  von 
Sachsen  Ausstattung  mit  der  polnischen  Krone  waren  die  Gegen- 
äußerungen der  von-  Alexander  geforderten  Erhaltung  eines 
rechtselbischen  Preußens,  das  für  Rußland  als  Pufferstaat  un- 
entbehrlich war.  Der  interessante  und  verwickelte  Hergang 
dieser  in  steter  Wechselwirkung  stehenden  diplomatischen  Ver- 
handlungen kommt  in  dem  Aufsatz,  der  übrigens  auf  die  Heran- 
ziehung ungedruckten  Quellenmaterials  verzichtet,  deutlich  zum 
Ausdruck.  —  Einen  ähnlich  gearteten  Gegenstand  behandelt 
Erich  Brandenberg  in  seinem  Beitrag  über  den  „Ein- 
tritt der  süddeutschen  Staaten  in  den  norddeutschen  Bund".  In 
seiner  klaren,  sachlichen  Art  geht  der  Verfasser  den  außerordent- 
lich schwer  zu  überblickenden  Verhandlungen  nach,  die  zwischen 
Preußen  einerseits  und  den  süddeutschen  Staaten  anderseits 
nach  der  Schlacht  bei  Sedan  angeknüpft  wurden  und  Ende 
November  1870  zum  Abschluß  führten.  Soweit  die  bisher  zu- 
gänglichen Quellen  es  zulassen,  stellt  Brandenberg  mit  scharfem 
kritischem  Blick  den  Verlauf  im  einzelnen  klar,  und  ich  stehe  nicht 
an,  ihm  im  ganzen  mit  seinem  vielfach  von  Busch,  weniger  von 
Küntzel,  abweichenden  Urteil  recht  zu  geben. i)    Auf  Einzelheiten 

*)  Von  der  seitdem  zwischen  ihm  und  Wilhelm  Stolze  ent- 
brannten Polemik  ist  hier  nicht  zu  sprechen;  doch  habe  ich  mit 
der  obigen  Erklärung  zugleich  meinen  Standpunkt  auch  hierfür 
zum  Ausdruck  gebracht. 


Allgemeines.  357 

darf  ich  mich  nicht  einlassen.  Die  wichtigste  Förderung  erfährt 
unsere  Kenntnis  und  Auffassung  von  dem  Verhalten  Bayerns 
und  Württembergs  bzw.  ihrer  handelnden  Vertreter.  Nament- 
lich Graf  Bray  erscheint  in  einem  ganz  neuen  Licht:  es  dürfte  durch 
Brandenburg  erwiesen  sein,  daß  man  ihn  nicht  als  einen  unfähigen 
Diplomaten  ansehen  darf,  wenn  man  auch  an  dem  allzu  günstigen 
Urteil  einige  Abstriche  wird  vornehmen  müssen.  Auch  die  enge, 
wechselseitige  Kausalität  der  Vorgänge  in  Bayern  und  Württem- 
berg tritt  uns  deutlich  vor  Augen,  und  so  weit  das  möglich  ist, 
fällt  helles  Licht  auf  die  vielfach  störenden  Pläne  und  Handlungen 
der  Hofkreise.  Daß  solche  Untersuchungen  infolge  der  stetigen 
Erschließung  neuer  Quellen  der  Gefahr  unterliegen,  schnell  zu 
veralten,  ist  unzweifelhaft,  doch  sind  sie  im  wissenschaftlichen 
Sinne  deshalb  nicht  weniger  wertvoll.  In  der  selbständigen 
Publikation  seines  Aufsatzes  (Berlin,  Gebr.  Paetel,  1910)  hat 
Brandenberg  noch  den,  kurz  nach  Abschluß  der  Festschrift  er- 
schienenen 3.  Band  der  Friesen-Erinnerungen  hineinarbeiten 
können,  die  in  der  Hauptsache  seine  Darstellung  nur  stützten, 
aber  in  den  Einzelheiten  mancherlei  ergänzten  und  genauere 
Angaben  ermöglichten.  Diesem  Sonderdruck  ist  auch  ein  wich- 
tiger Anhang  beigegeben  worden,  der  die  Pläne  einer  Änderung 
der  Bundesverfassung  während  der  Verhandlung  über  die  Reichs- 
gründung behandelt.  —  Dem  Aufsatz  Hermann  Onckens 
über  „Amerika  und  die  großen  Mächte",  der  den  Schluß  der 
Festschrift  bildet,  erkenne  ich  den  originalsten  Wert  zu.  Diese 
„Studie  über  die  Epochen  des  amerikanischen  Imperialismus" 
stellt  sich  in  engste  Beziehung  zu  dem  gefeierten  Lehrer.  Sie  ver- 
folgt für  das  nordamerikanische  Staatengebilde  das  gleiche  Ziel, 
dem  L.  in  seinen  „Großen  Mächten"  für  die  europäischen  Staaten 
nachgegangen  war,  nämlich  den  Rankeschen  Grundgedanken 
von  der  unter  dem  Machtgesichtspunkt  stehenden  staatlichen 
Entwicklung  auch  für  den  Großstaat  des  transatlantischen 
Kontinents  als  geltend  nachzuweisen.  Der  Beweis  ist  gelungen, 
und  es  ist  von  großem  Reize,  den  Darlegungen,  die  das  Problem 
im  großen  anpacken  und  zugleich  wertvolle  Einzelforschung 
leisten,  zu  folgen.  In  der  Tat  erscheint  von  der  ältesten  Zeit 
selbständiger  amerikanischer  Geschichte  an  der  Machtgedanke 
bestimmend,  wenn  er  auch  aus  den  religiösen  und  sozialen  Voraus- 
setzungen des  jungen  Kolonialreiches  heraus  zunächst  mit  pazifi- 


358  Literaturbericht. 

stischen  Idealen  verquickt  ist,  und  bald  tritt  die  Eroberung  des 
Erdteils  als  das  Leitmotiv  klar  hervor.  Von  Epoche  zu  Epoche 
nehmen  diese  Machttendenzen  festere  Formen  an.  Trotz  der 
völlig  anders  gearteten  Daseinsbedingungen  und  der  ganz  einzig- 
artigen geographischen  Lage  folgt  das  nordamerikanische  Staats- 
wesen den  Bahnen  der  alten  europäischen  Mächte,  und  in  den 
Gedanken  der  Staatsmänner,  eines  Jefferson  und  Monroe,  eines 
Clay  und  Seward  und  schließlich  eines  Roosevelt  äußert  sich  schla- 
gend das  folgerichtige  Weiterwachsen  jenes  Machtgedankens, 
vom  Fernhalten  europäischer  Kolonisation  und  Intervention 
der  älteren  Zeit  über  die  klug  begrenzte  Kontinentalpolitik  der 
60  er  bis  90  er  Jahre  zur  imperialistischen  Weltpolitik  der  jüngsten 
Vergangenheit  und  Gegenwart.  In  scharfer  Scheidung  werden 
die  einzelnen  Epochen  dieser  Entwicklung  herausgearbeitet, 
und  in  einer  geradezu  mustergültigen  Anschaulichkeit  tritt  uns 
das   Ganze   dieser   Entwicklung  eindrucksvoll   vor  Augen. i) 

So  stellt  sich  die  L.-Festschrift  mit  ihren  acht  selbständigen 
Beiträgen  als  eine  höchst  erfreuliche  Gabe  dar,  nicht  nur  für  den 
Gelehrten,  dem  sie  gewidmet  ist,  sondern  auch  für  den  allgemeinen 
Kreis  der  Wissenschaft.  Möchten  ihr  bei  den  zahlreichen  kommen- 
den Gelegenheiten  recht  viel  gleichwertige  Nachfolger  erwachsen! 

Leipzig.  Herre. 


Atlas  der  Nederlandsche  Palaeographie  bewerkt  door  H,  Britg- 
mans  en  O.  Oppermann,  's  Gravenhage,  A.  de  Jager. 
1910.    28  Tafeln  mit  Vorrede  und  Transskriptionen. 

Die  Herausgeber  haben  sich  als  Ziel  gesetzt,  die  bezeichnend- 
sten Proben  auf  dem  Gebiet  der  gesamten  niederländischen 
Paläographie  vorzuführen.  Die  Auswahl  ist  mit  Geschick  getroffen, 
insofern  wirklich  die  verschiedenartigsten  Erzeugnisse  der  wichtig- 
sten in  Betracht  kommenden  Kanzleien  nebst  einer  kleineren 
Anzahl  von  Reproduktionen  aus  Handschriften  literarischen 
Inhalts  Aufnahme  gefunden  haben.    Zeitlich  reichen  die  Proben 


>)  Daß  Oncken  Gelegenheit  fand,  auf  die  unbesonnenen  An- 
griffe, die  der  Friedensapostel  Alfred  H.  Fried  im  Anschluß  an 
diesen  Aufsatz  gegen  ihn  gerichtet  hatte,  mit  einer  wirklich  herz- 
erquickenden Deutlichkeit  zu  antworten,  ist  bereits  in  dieser  Zeit- 
schrift Bd.  107,  S.  459  erwähnt. 


Mittelalter.  359 

von  ca.  1100  bis  1692;  daß  sie  nicht  mit  dem  Ausgang  des  Mittel- 
alters abbrechen,  sondern  auch  der  Paläographie  der  Neuzeit 
ihren  Tribut  darbringen,  ist  besonders  erfreulich. 

Die  Entzifferung  weist  nicht  bei  allen  Tafeln  die  peinliche 
Genauigkeit  auf,  die  einer  in  erster  Linie  für  Anfänger  bestimmten 
Sammlung  eigen  sein  sollte.  Zum  guten  Teil  mögen  die  gering- 
fügigeren Abweichungen  dem  Setzer  zur  Last  fallen  und  von  den 
Herausgebern  bei  der  Korrektur  übersehen  worden  sein  —  es 
kommen  aber  auch  gröbere  Verstöße  vor,  die  auf  diese  Weise  nicht 
erklärt  werden  können.  So  wenn  auf  Tafel  XIII  b  die  durch- 
strichene  Stelle  zwischen  Z.  13  u.  14  aufgelöst  wird  „et  post  apo- 
stolicarum"  statt  „et  post  ipsarum",  wenn  in  der  in  der  Nähe 
stehenden  Randnotiz  „refertas"  gelesen  ist  statt  „insertas",  in 
Z.  6  V.  u.  „cautative"  statt  „caritative"  u.  a.  m.  —  Und  der  Text 
auf  Tafel  XV 1 1  a  gewinnt  einen  ganz  anderen  Sinn,  oder  überhaupt 
erst  einen  Sinn,  wenn  man  die  Schriftzüge  sorgfältiger  zu  erfassen 
bemüht  ist.  Schon  die  Auflösung  der  Siglen  in  Z.  2  dürfte  nicht 
richtig  und  statt  „universis  etc.  sfingulis]  in  dfominoj  sfalutemj'* 
zu  lesen  sein  „universis  etc.  sfalutemj  in  dfominoj  sfempiternamj". 
Z.  5  am  Ende  steht  deutlich  „patiatur''  statt  „patietur",  Z.  1 1  lies 
„licentiare  et  dimittere  denegabit  et  refugieV  statt  „libere  habere 
et  dimittere  denegabit  et  insurgerf"  (sie!),  Z.  14  „patrem  et  mini- 
stram"  statt  „priorem  et  monasterii";  Z.  19  „pecuniaria"  statt 
„pertinacia" ;  Z.  18  „districte  precipientes  mandetis"  statt  „discrete 
preceptis  etcetera  mandatis";  Z.  19  „requirimus'*  statt  „ingerimus''; 
Z.  23  „ut  premittitur  postulatum"  statt  „ut  permittitur  postulatur"; 
in  der  letzten  Zeile  ist  „licentient"  ausgelassen.  Das  sind  Mängel, 
die  einer  zweiten  Auflage,  deren  sich  das  Werk  ohne  Zweifel  in 
absehbarer  Zeit  erfreuen  wird,  unbedingt  verschwinden  müssen. 

Straßburg  i.  E.  Hans  Kaiser. 

L'immunitd  franque  par  Maurice  KroelL    Paris,  Arthur  RouS' 
seau.    1910.    XXIII  u.  363  S.    6  Fr. 

Die  Frage  nach  der  rechtlichen  Beschaffenheit  und  Ent- 
wicklung der  Immunität  ist  für  die  deutsche  Geschichte  ebenso 
wichtig  wie  für  die  französische;  ein  neues  französisches  Werk 
über  diesen  Gegenstand,  welches,  wie  das  bei  dem  Buch  von 
Kroell  zutrifft,  mit  voller  Beherrschung  des  Stoffes  eine  ausführ- 
liche und  übersichtliche  Darstellung  verbindet,  kommt  also  auch 


360  Literaturbericht. 

der  deutschen  Forschung  zugute,  und  zwar  auch  dann,  wenn  es 
an  vielen  Stellen  keine  neuen  Ergebnisse,  sondern  nur  eine  neue 
Zusammenfassung  des  schon  Bekannten  bietet.  Freilich  liegen 
die  seit  dem  Erscheinen  des  Seeligerschen  Buches  im  Vorder- 
grund stehenden  Seiten  der  Frage,  die  für  die  deutsche  Geschichte 
von  besonderer  Bedeutung  sind,  die  Stellung  freier  und  unfreier 
von  der  Immunitätsherrschaft  in  verschiedener  Weise  abhängen- 
der Hintersassen,  die  mannigfache. Abstufung  der  Gerichtshoheit, 
schließlich  das  Verhältnis  der  Immunität  zu  der  später  an  den- 
selben Stellen  sich  bildenden  Landeshoheit,  dem  französischen 
Forscher  etwas  ferne,  so  daß  man  von  ihm  keine  wesentliche 
Förderung  dieser  Forschungsaufgaben  erwarten  darf.  K.  hat 
überhaupt  die  Entwicklung  nach  dem  9.  Jahrhundert  am  rasche- 
sten abgetan,  indem  er  ihr  nur  den  kurzen  Schlußabschnitt 
widmet,  der  vorwiegend  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Verfalls 
gefaßt,  mehr  auf  die  französischen  als  auf  die  gleichzeitigen  deut- 
schen Verhältnisse  Rücksicht  nimmt.  Viel  eingehender  erörtert 
der  Verfasser  die  ältere  Geschichte  der  Immunität,  also  zunächst 
die  Rechtstellung  der  Domänen  in  der  römischen  Kaiserzeit, 
dann  die  einschlägigen  Verhältnisse  unter  den  Merowingern  und 
den  Beherrschern  des  karolingischen  Gesamtreiches. 

Sehr  zu  beachten  sind  K.s  Ausführungen  über  die  Anfänge 
der  merowingischen  Immunität.  Er  widerspricht  entschieden 
der  von  Waitz  vertretenen  Ansicht  von  einem  finanziellen  Ur- 
sprung (S.  71,  117,  wobei  man  allerdings  den  Hinweis  auf  die 
in  gleicher  Richtung  zielenden  Beobachtungen  von  Seeliger, 
Soziale  und  politische  Bedeutung  der  Grundherrschaft  S.  77  f. 
vermißt)  und  will,  obwohl  er  die  in  den  formulae  Andegavenses 
überlieferten  Gerichtsurkunden  dem  Beginn  des  6.  Jahrhunderts 
zuzuschreiben  geneigt  ist  (S.  34  f.,  viel  vorsichtiger  urteilt  Brunner, 
Deutsche  Rechtsgeschichte  1,  2.  Aufl.,  578),  dennoch  zwischen 
den  auf  Steuern  und  Gerichtsbarkeit  bezüglichen  Befreiungen 
der  spätrömischen  Grundbesitzer  und  der  seit  614  durch  mero- 
wingische  Gesetze  und  Urkunden  bezeugten  Immunität  keinen 
engeren  Zusammenhang  anerkennen.  Auf  den  Staatsgütern  habe 
sich  die  schon  den  Domänen  der  römischen  Kaiser  zustehende 
Befreiung  von  der  ordentlichen  Verwaltungstätigkeit  fortgepflanzt; 
daß  sie  auch  auf  die  Güter  von  Privaten  übertragen  wird,  das  ist 
nach   K.  eine  Neuerung  des  ausgehenden  6.  und  des  7.  Jahr- 


Mittelalter.  36t 

Hunderts  und  In  der  Hauptsache  eine  Gegenwirkung  der  allzu 
strammen  Wirtschaft,  welche  die  fränkischen  Grafen  übten. 
Sieht  also  K.  hier  einen  viel  schärferen  Einschnitt  in  der  Ent- 
wicklung, als  man  ihn  sonst  annahm,  so  hat  er  auch  den  Unter- 
schied zwischen  merowingischer  und  karolingischer  Immunität 
kräftig  herausgearbeitet.  Jene  wird  von  ihm  als  Zerstörung  der 
staatlichen  Gewalt,  diese  als  ein  Wiederaufbauen  und  als  ein 
wichtiges  Glied  in  den  Verwaltungseinrichtungen  Karls  d.  Gr. 
geschildert.  In  der  Betonung  des  geistlichen  Charakters  der 
karolingischen  Immunität  ist  der  Verfasser  vielleicht  etwas  zu 
weit  gegangen  (das  S.  161  angeführte  Immunitätsdiplom  für  Heimo 
stammt  nicht  aus  dem  10.  Jahrhundert,  sondern  vom  Jahr  888), 
auch  nimmt  es  wunder,  die  Befreiung  vom  Heerdienste  nahezu 
auf  eine  Stufe  mit  anderen  Wirkungen  der  Immunität  gestellt 
zu  sehen.  Die  unklaren  Ausdrücke,  deren  sich  die  Kanzlei  Lud- 
wigs des  Fr.  in  dem  zugunsten  von  Korvey  an  den  Königsboten 
Bischof  Baderad  gerichteten  Befehlschreiben  bediente,  machen 
es  allerdings  zweifelhaft,  ob  dieses  Kloster  ein  besonderes  jetzt 
verlorenes  Privileg  über  Heerdienstbefreiung  besaß,  wie  nicht 
bloß  Mühlbacher  und  Lechner  (im  Verzeichnis  der  verlorenen 
Urkunden  zu  den  Karolingerregesten  Nr.  256),  sondern  auch 
schon  Roth,  Feudalität  S.  236  und  Sickel,  Beiträge  V,  365, 
Acta  Karol.  2,  364  annahmen,  oder  ob  es  diese  Vergünstigung 
auf  Grund  eines  reinen  Immunitätsdiploms  beanspruchen  konnte, 
wie  K.  S.  186  meint  (gegen  die  Annahme  des  deperditum  ist 
auch  Stengel,  Immunität  1,  672).  Mag  man  nun  zu  der  einen 
oder  zu  der  andern  Ansicht  neigen,  keineswegs  wird  doch  aus 
jener  Unklarheit  oder  aus  dem  öfteren  Zusammentreffen  von 
Immunität  und  Heerdienstbefreiung  auf  eine  weitergehende 
Vermengung  der  beiden  Arten  von  Privilegierung  zu  schließen 
sein.  Wenn  übrigens  der  Verfasser  auf  Grund  der  Notitia  de 
servitio  monasteriorum  annimmt,  daß  in  der  Folge  nur  etwa  ein 
Drittel  der  Klöster  zum  Heerdienst  verpflichtet  blieb,  alle  übrigen 
davon  befreit  gewesen  seien,  so  leidet  die  Zuverlässigkeit  dieser 
Schätzung  sehr  durch  die  ihm  entgangenen  Ausführungen  von 
Puckert  (Berichte  der  Kgl.  sächsischen  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften 42.  Bd.,  1890,  46  ff.),  nach  denen  mit  stärkeren  Ent- 
stellungen der  verlorenen  echten  Liste  gerechnet  werden  muß, 
als  sie  K.  S.  184  in  Betracht  zieht. 


362  Literaturbericht. 

Das  vielerörterte  Immunitätsdiplom  Karls  des  Gr.  für  Metz, 
in  welchem  die  Heerpflicht  der  auf  Kirchengut  wohnenden  Freien 
ausdrücklich  erwähnt  wird,  findet  an  dem  Verfasser  einen  ent- 
schiedenen Verteidiger  seiner  Echtheit,  und  gewiß  mit  Recht, 
nur  darin  irrt  der  französische  Forscher,  daß  er  S.  202  die  Annahme 
eines  an  zwei  verschiedenen  Orten  übereinstimmend  auftauchen- 
den falschen  Wortlautes  für  ausgeschlossen  hält;  deutsche  Diplo- 
matiker  sind  leider  schon  einigemale  auf  Urkunden  gestoßen, 
die  sich  nur  durch  die  mehreren  Empfängern  dienende  Tätig- 
keit desselben  Fälschers  erklären  läßt;  vgl.  dazu  Tangl  in  den 
Nachträgen  zu  Mon.  Germ.  Dipl.  Karolinorum  1,  563,  Stein- 
acker in  den  Mitt.  des  Instituts  32,  399  und  Breßlau,  Hand- 
buch der  Urkundenlehre  1  ^,  42.  Im  ganzen  hat  der  Verfasser 
die  diplomatische  Literatur,  die  sich  auf  die  Immunitäts- 
diplome bezieht,  sorgfältig  benutzt;  einen  Fall,  in  dem  er  es 
unterließ,  hat  Rietschel  in  der  Zeitschr.  f.  Rechtsgesch.  45,  478 
bemerkt;  übersehen  ist  S.  207  die  Interpolation  von  Reg.  1554, 
auf  die  es  aber  hier  nicht  ankommt.  Was  S.  282  ff.  über 
die  Fassung  der  karolingischen  Immunitätsdiplome  gesagt 
wird,  berührt  sich  enge  mit  Sickel,  Beitr.  V,  dabei  ist  jedoch 
aus  der  richtigen  Beobachtung  Sickels  (a.  a.  0.  329),  daß  in 
der  Verbotsklausel  karolingischer  Immunitätsdiplome  in  der 
Regel  „eine  detaillierte  Aufzählung  der  betreffenden  Beamten 
noch  nicht  stattfindet",  bei  K.  S.  284  die  unrichtige  An- 
sicht geworden,  daß  ein  ausnahmsweises  Vorkommen  solcher 
Aufzählung  ein  sicheres  Anzeichen  von  Fälschung  wäre,  und 
daß  echte  Diplome  erst  im  10.  Jahrhundert  diese  Erscheinung 
aufwiesen;  Stengels  Werk,  das  K.  noch  nicht  benutzen  konnte, 
gibt  nach  seiner  ganzen  Anlage  über  diesen  Punkt  (1,  449  ff .), 
wie  auch  sonst  über  die  Fassung,  viel  genauere  Angaben,  und  wenn 
es  erst  zum  zweiten  Bande  gediehen  sein  wird,  dürfte  es  gerade 
über  diejenigen  Fragen  der  späteren  Entwicklung  der  Immunität, 
die  K.  am  kürzesten  behandelt  hat,  den  genauesten  Aufschluß 
gewähren.  Wer  aber  über  die  Entstehung  dieses  Rechtsverhält- 
nisses und  seine  Fortbildung  bis  auf  Karl  d.  Gr.  sich  unter- 
richten will,  der  wird  immer  mit  großem  Nutzen  zu  dem  Buche 
von  K.  greifen. 

Innsbruck.  W.  Erben. 


Mittelalter.  363 

La  cit^  de  Li^ge  au  moyen-äge.  Par  G.  Kurtb,  Bruxelles,  A. 
Dewit.  LUge,  D.  Cormaux  et  L.  Demarteau.  1909  und  1910. 
3  Bde.    LXXI  u.  322,  VIll  u.  345,  VII  u.  417  S.    15  Fr. 

In  drei  stattlichen,  fesselnd  geschriebenen  Bänden  legt  uns 
Kurth  die  Ergebnisse  seiner  mehrjährigen  Studien  vor,  über 
welche  uns  schon  einzelne  Aufsätze  unterrichtet  hatten  {Notger 
de  Liege  et  la  civilisation  au  X'  siede.  —  Les  origines  de  la  com- 
mune de  Lüge  usw.). —  Gern  läßt  man  sich  von  K.  die  wechselvollen 
Ereignisse  der  Geschichte  Lüttichs  vorführen.  Schon  am  Ende 
des  11.  Jahrhunderts  arbeitet  die  Stadt  des  hl.  Lambert  auf  ein 
bestimmtes  Ziel  hin:  das  gesamte  städtische  Gebiet  soll  der 
Gerichtsbarkeit  ihres  Magistrates,  die  gesamte  Bevölkerung 
dem  gemeinen  Rechte  unterworfen  werden.  Keine  leichte  Auf- 
gabe, wenn  man  die  große  Zahl  der  in  Lüttich  lebenden  Kleriker 
in  Betracht  zieht;  K.  schätzt  die  Zahl  der  Kanoniker,  Mönche, 
Weltgeistlichen,  Kleriker  jeden  Grades  auf  1200  bis  1500.  Noch 
Petrarca  schreibt :  vidi  Leodium  insignem  clero  locum.  Es  nimmt 
nicht  wunder,  daß  die  Lütticher  andauernd  in  wirtschaftliche 
und  politische  Kämpfe  verwickelt  sind.  Bald  heißt  es,  den  „Na- 
tionalfeind", den  Herzog  von  Brabant,  zu  bekriegen,  bald  handelt 
es  sich  um  Streitigkeiten  im  Innern.  Die  Patrizier  liegen  sich  mit 
den  Plebejern  in  den  Haaren,  oder  man  findet  die  Lütticher 
Schulter  an  Schulter  mit  dem  Fürstbischof,  so,  wenn  es  gilt, 
auch  von  dem  Klerus  und  dem  Kapitel  die  indirekten  Steuern 
{la  fermeti)  zu  erhalten,  um  die  erforderlichen  Mittel  für  die 
neue  mehr  Raum  bietende  Stadtmauer  aufzubringen.  Oder  die 
Lütticher  stehen  auf  selten  des  Kapitels,  wenn  der  Fürstbischof 
seine  Machtbefugnisse  erweitern  will. 

Unter  den  Fürstbischöfen  treten  uns  interessante  Persönlich- 
keiten entgegen.  Fremde  sind  es  in  der  Regel,  die  ihre  Unter- 
tanen in  Art  und  Unart  nicht  zu  erkennen  vermögen,  und  häufig 
kein  anderes  Hilfsmittel  in  Stunden  der  Gefahr  wissen,  als  fremde 
Söldner  herbeizurufen.  Eine  Ausnahme  macht  Albert  van 
Cuyck  (1194 — 1200).  Das  Privileg  von  1196  verschafft  ihm  eine 
solche  Popularität,  daß  bei  dem  Besuche  Ottos  IV.  in  Lüttich 
dem  flüchtigen  Bischöfe  und  nicht  dem  anwesenden  König  ge- 
horcht wird.  Johann  von  Eppes  (1229 — 1238)  sieht  sich  einer 
gefährlichen  Koalition  gegenüber:  zum  erstenmal  verbünden 
sich  die  Lütticher  mit  den  anderen  Städten  des  Fürstentums. 


364  Literaturbericht. 

Deutlich  zeigt  sich  das  Bestreben  Lüttichs,  eine  freie  Reichsstadt 
zu  werden;  doch  König  Heinrich  VI L  unterstützt  nur  eine  Zeit- 
lang den  Plan.  Mit  Heinrich  von  Geldern  (1247 — 1274)  kommt  der 
unwürdigste  Bischof  von  allen  zur  Regierung.  Ein  roher  und  grober 
Kriegsmann,  der  in  seiner  Sinnenlust  die  Nonnenklöster  nicht  ver- 
schont, der  nach  seiner  Absetzung  das  Leben  eines  Wegelagerers 
und  Strauchdiebes  führt  und  aus  dem  Hinterhalt  seinen  fried- 
lichen Nachfolger  feig  ermordet.  Der  Name  Johanns  von  Flan- 
dern (1281 — 1291)  lebt  ruhmvoll  in  drei  hervorragenden  Werken 
fort:  die  paix  des  clercs  (1287  zwischen  dem  Kapitel  und  der 
Bürgerschaft  geschlossen),  die  loi  muee  (die  Gesetzesreform  von 
1287)  und  die  Synodalstatuten  von  dem  Jahre  1288,  eine  Art  von 
Corpus  iuris  für  den  Gebrauch  der  Lütticher  Kleriker,  legen  das 
beste  Zeugnis  ab  von  seiner  politischen  und  juristischen  Be- 
gabung. Adolf  von  der  Mark  (1313 — 1344)  entfesselt  neue  Stürme: 
dem  fürstlichen  Absolutismus,  wie  er  ihn  vertritt,  stellen  die 
Lütticher  den  städtischen  Absolutismus  gegenüber.  Unter 
Johann  von  Baiern  (1389 — 1417)  stoßen  die  beiden  nach  Will- 
kürherrschaft strebenden  Gewalten  hart  aufeinander.  Johann 
„ohne  Gnade"  siegt.  Aber  um  welchen  Preis!  Im  Grunde  erleidet 
auch  er  eine  Niederlage,  auch  er  muß  sich  vor  den  Siegern  von 
Othee,  vor  Johann  von  Burgund  und  Wilhelm  von  Holland, 
demütigen.  K.  meint  allerdings,  daß  die  Tragödie  von  Othee 
mit  einer  Komödie  endigte,  daß  sich  der  Elekt  nur  zum  Schein 
unterwarf,  aber  ich  kann  mich  nicht  davon  überzeugen.  [Vgl.  jetzt 
auch  F.  Schneider,  Herzog  Johann  von  Baiern  S.  61.]  —  Schon 
der  Baier  muß  später  Zugeständnisse  machen;  sein  Nachfolger 
Johann  von  Walenrode  (1418—1419)  stellt  die  städtischen  Frei- 
heiten wieder  her,  und  auch  Johann  von  Heinsberg  (1419 — 1455) 
läßt  sie  bestehen.  Erst  unter  Ludwig  von  Bourbon  (1455 — 1482) 
kommt  es  zu  neuem  Konflikt.  Unfähig  wie  kaum  ein  anderer, 
muß  er  sich  von  seinem  eigenen  Klerus  recht  kräftig  die  Wahrheit 
sagen  lassen.  Die  Demagogen  feiern  Orgien.  Und  was  sogar  die 
ganz  verrannten  Hedrois  zur  Zeit  Johanns  von  Baiern  nicht  ge- 
wagt haben,  tun  jetzt  die  wilden  Draufgänger:  sie  ernennen 
selbst  geistliche  Würdenträger.  In  seiner  Bulle  vom  23.  Dezember 
1465  spricht  Papst  Paul  II.  über  die  Lütticher  „nicht  nur  das 
Urteil  der  römischen  Kirche,  sondern  auch  das  der  Geschichte 
aus"  (III,  226).     Das  Strafgericht  vollzieht  Karl  der  Kühne, 


Mrttelalter.  365 

der  gern  die  alte  begehrliche  Politik  der  Brabanter  fortsetzt. 
Vergeblich  versucht  der  Legat  Onofrio,  dem  ein  energischer  Ver- 
teidiger in  K.  entsteht,  einen  Frieden  mit  dem  Burgunder  herbei- 
zuführen: in  dem  Entscheidungskampfe  geht  die  Stadt  zugrunde. 

Ich  weise  in  dem  bedeutsamen  Werke  noch  besonders  auf 
Kapitel  XVI  und  XV 11  hin,  die  sich  mit  dem  wirtschaftlichen, 
religiösen  und  geistigen  Leben  in  Lüttich  beschäftigen;  auf  die 
Exkurse,  so  auf  den  Exkurs  über  den  Namen  der  Hedrois,  auf  den 
Exkurs  über  den  Lütticher  Ursprung  der  Beguinen:  Lambert  der 
Stammler  sucht  die  „Frauenfrage"  in  Lüttich  zu  lösen,  indem 
er  den  Witwen  sowie  den  Frauen  ohne  Beruf  und  Mittel  bei  der 
Kirche  des  hl.  Christoph  ein  Asyl  eröffnet,  nach  dessen  Muster 
bald  andere  gegründet  werden.  Die  interessante  Einleitung  handelt 
von  den  Kommunen  im  Mittelalter:  La  civilisation  moderne  s'est 
ilaboree  au  cours  des  siicles  dans  trois  centres  successifs.  Ce  furent 
les  monasteres  pendant  le  haut  moyen-äge;  pendant  le  bas  moyen-äge 
ce  furent  les  communes;  depuis  la  Renaissance  ce  sont  les  Etats. 

Heidelberg.  Otto  Cartellieri. 

Das  Anwachsen  der  deutschen  Städte  in  der  Zeit  der  mittelalter- 
lichen Kolonialbewegung.  Von  Alfred  Pfisdiel.  Mit  15  Stadt- 
plänen. (Abhandlungen  zur  Verkehrs-  und  Seegeschichte. 
Im  Auftrage  des  Hansischen  Geschichtsvereins  herausge- 
geben von  Dietrich  Schäfer.  Bd.  4.)  Berlin,  Karl  Curtius. 
1910.    XII  u.  214  S.    7,50  M. 

Alle  Versuche,  uns  die  staatlichen,  gesellschaftlichen  und 
wirtschaftlichen  Zustände  des  Mittelalters  vorstellbar  und  ver- 
ständlich zu  machen,  haben  mit  einer  großen  Schwierigkeit  zu 
kämpfen.  Es  fehlt  uns  an  Angaben  über  die  Größenverhältnisse, 
die  den  Aufbau  der  mittelalterlichen  Gesellschaftskörper  be- 
herrschen. Die  Geschichte  des  deutschen  Volkes  glauben  wir 
zu  kennen.  Aber  über  die  Geschichte  der  deutschen  Bevölkerung 
wissen  wir  bis  zum  17.  Jahrhundert  nur  sehr  wenig.  Daß  ohne 
die  Hilfsmittel  der  Statistik  von  Staat,  Gesellschaft  und  Wirt- 
schaft der  Gegenwart  eine  klare  Vorstellung  nicht  zu  erlangen 
wäre,  leuchtet  ohne  weiteres  ein.  Für  das  Mittelalter  hingegen 
kennt  der  Geschichtsforscher  die  Entwicklung  der  Bevölkerungs- 
ziffer auch  nicht  einmal  in  ihren  gröbsten  Umrissen.  Einzelne 
Vermutungen,   die   darüber  angestellt   worden   sind,   schweben 

Hittoriscbe  Zeitachrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  24 


366  Literaturbericht. 

mehr  oder  weniger  in  der  Luft.  Brauchbare  Ergebnisse  haben 
bisher  nur  die  Untersuchungen  geliefert,  die  seit  dem  von  Karl 
Hegel  gegebenen  Beispiel  über  die  Einwohnerzahl  einzelner 
mittelalterlicher  Städte  angestellt  worden  sind.  Sie  haben  uns 
die  überraschende  Kleinheit  der  deutschen  Stadt  des  Mittel- 
alters kennen  gelehrt.  Von  einer  anderen  Seite  packt  jetzt  das 
bevölkerungsgeschichtliche  Problem  der  deutschen  Vergangen- 
heit ein  Schüler  Dietrich  Schäfers,  A.  Püschel,  an.  Auch  sein 
Interesse  ist  auf  die  Erforschung  der  Größenverhältnisse  der 
älteren  deutschen  Städte  gerichtet.  Aber  er  fragt  nicht  nach 
ihrer  Volksmenge,  sondern  nach  ihrer  räumlichen  Ausdehnung. 
Neben  das  ältere,  von  Hegel  aufgeworfene  Problem  wird  damit 
ein  neues  gestellt,  und  auch  hier  wieder  ist  das  Ergebnis  ein 
überraschendes. 

Verfasser  geht  von  der  Wahrnehmung  aus,  daß  die  im  12. 
und  13.  Jahrhundert  gegründeten  deutschen  Kolonialstädte  in 
schnellem  Wachstum  meist  schon  am  Ausgang  des  13,  Jahr- 
hunderts, spätestens  aber  im  14.  den  Umfang  erreichen,  den  sie 
dann  bis  in  das  19.  Jahrhundert  hinein  behalten.  Das  war  im 
einzelnen  wohl  schon  bekannt.  P.s  Verdienst  ist  es,  diese  Tat- 
sache zuerst  als  eine  Massenerscheinung  erfaßt  zu  haben.  Er 
stellt  ihr  die  andere  Tatsache  zur  Seite,  daß  auch  die  älteren 
Städte  Westdeutschlands,  die  z.  T.  bis  in  die  Römerzeit  zurück- 
reichen, in  ihrer  langsameren  Entwicklung  um  dieselbe  Zeit  wie 
die  Kolonialstädte  ihre  größte  Ausdehnung  erreichen.  Die  Zeit 
vom  Ausgang  des  13.  bis  etwa  zur  Mitte  des  14.  Jahrhunderts 
erscheint  damit  als  ein  erster  großer  Wendepunkt  in  der  räum- 
lichen Entwicklung  der  deutschen  Städte.  Diejenigen  Städte, 
bei  denen  dies  nicht  zutrifft,  wie  etwa  Hamburg,  Berlin,  Dresden 
u.a.,  haben  sich  unter  Ausnahmebedingungen  entwickelt. 

Den  Beweis  erbringt  P.  dadurch,  daß  er  die  Baugeschichte 
von  15  wichtigeren  deutschen  Städten  auf  die  Frage  hin  unter- 
sucht, wann  zuerst  eine  jede  von  ihnen  die  Bebauungsgrenze 
erreicht,  mit  der  sie  in  das  19.  Jahrhundert  eintritt.  Der  Zug 
der  Stadtmauer  mit  ihren  Toren  und  mit  den  Straßen  und  Kirchen 
in  ihrer  Nähe  dienen  dabei  als  Marksteine.  Als  Quellen  werden 
neben  vereinzelten  chronikalischen  Nächrichten  die  topogra- 
phischen Angaben  der  Urkunden  und  älteren  Stadtbücher  heran- 
gezogen.   In  einigen  Fällen  wurde  die  Arbeit  durch  die  bereits 


Mittelalter.  367 

vorhandenen  lokalgeschichtlich-topographischen  Untersuchungen 
erleichtert.  Zumeist  aber  sah  sich  der  Verfasser  ausschließlich 
auf  die  Quellen  selbst  angewiesen.  Seine  Forschung  liefert  daher 
auch  für  die  Lokalgeschichte  wertvolle  Beiträge.  Namentlich 
für  Augsburg  wird  der  Grund  zu  einer  kritischen  Baugeschichte 
der  Stadt  hier  erst  gelegt. 

An  die  Untersuchung  der  räumlichen  Entwicklung  knüpft 
eine  durch  mühsame  Planmessungen  gewonnene  Berechnung  des 
Flächeninhaltes  der  Städte  an.  Auch  das  führt  zu  interessanten 
Ergebnissen.  Als  die  bei  weitem  umfangreichste  Stadt  lernen  wir 
Köln  mit  einem  Flächeninhalt  von  397  ha  kennen.  Auch  Straß- 
burg mit  193  und  Augsburg  mit  178  ha  überragen  das  gewöhn- 
liche Maß  noch  um  ein  beträchtliches.  Das  Durchschnittsmaß 
für  den  Flächeninhalt  der  mittelalterlichen  Großstadt  läßt  sich 
auf  etwa  100 — 130  ha  ansetzen.  In  diese  Größenklasse  gehören 
Städte  wie  Nürnberg,  Frankfurt,  Erfurt,  Breslau,  Braunschweig, 
Magdeburg,  Lübeck,  Regensburg.  Auffällig  klein  erscheinen  die 
Kolonialstädte  im  Ostseegebiet:  Rostock  mit  68,  Wismar  mit  58, 
Stralsund  mit  45  ha.  Recht  anschaulich  treten  diese  Größenver- 
hältnisse auf  den  15  Stadtplänen  hervor,  die  der  Verfasser  selbst 
nach  den  verschiedensten  Vorlagen  auf  den  einheitlichen  Maß- 
stab von  1:10  000  zurückgeführt  hat.  Sie  geben  naturgemäß  nicht 
alle  Einzelheiten  genau  wieder,  reichen  aber  aus,  die  Flächen- 
inhalte der  dargestellten  Städte  miteinander  vergleichbar  zu 
machen  und  die  im  Text  gegebenen  topographischen  Nachweise 
zu  verdeutlichen.  Wer  selbst  einmal  sich  in  solchen  Planzeich- 
nungen versucht  hat,  wird  dankbar  anerkennen,  welch  opfer- 
volle Arbeitsleistung  gerade  auch  in  diesen  Beilagen  steckt. 

So  liegt  uns  die  räumliche  Entwicklung  der  mittelalterhchen 
Städte  dank  der  verständnisvollen  Bemühungen  des  Verfassers 
in  der  Hauptsache  klar  vor  Augen.  Wie  ist  es  nun  aber  zu  erklären, 
daß  sie  so  früh  schon  zum  Stillstand  kommt?  Sie  bricht  in  der 
zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  ab;  und  das  ist  um  so  auf- 
fälHger,  als  das  Wachstum  der  deutschen  Städte  damals  noch 
keineswegs  seinen  Höhepunkt  erreicht  hatte.  Dieser  Wider- 
spruch tritt  in  P.s  Darstellung  nicht  recht  hervor.  Es  wird  da 
die  Zeit  des  12.  bis  14.  Jahrhunderts  als  eine  Periode  städtischen 
Wachstums  mit  der  Gegenwartsentwicklung  in  Parallele  gestellt 
und  die  dazwischen  liegenden  vier  bis  fünf  Jahrhunderte  als  eine 

24* 


368  Literaturbericht. 

Zeit  des  Stillstandes  genannt.  Das  ist  aber  irrig.  Die  deutschen 
Städte  sind  auch  noch  im  15.  und  noch  bis  tief  in  das  16.  Jahr- 
hundert hinein  (z.  T.  sogar  sehr  stark)  gewachsen.  Die  Einwohner- 
schaft Nürnbergs  z.  B.  hat  sich,  soweit  wir  sehen  können,  in 
dieser  späten  Zeit  noch  nahezu  verdoppelt.  Abgeschlossen  war 
seit  dem  14,  Jahrhundert  nur  die  räumliche  Entwicklung.  Die 
Stadtbevölkerung  beginnt  m.  a.  W.  seit  dem  14.  Jahrhundert 
sich  innerhalb  des  vorhandenen  Mauerringes  dichter  zusammen- 
zudrängen, während  sie  bisher  die  Stadtbefestigung  ihrer  wach- 
senden Zahl  entsprechend  von  Zeit  zu  Zeit  weiter  hinausgeschoben 
hatte.  Schon  Eberstadt  hat  gelegentlich  einmal  auf  diese  auf- 
fällige Erscheinung  hingewiesen.  Er  meint:  Der  Gebrauch  des 
Schießpulvers  und  der  Artillerie,  der  seit  dem  14.  Jahrhundert 
aufkam,  habe  an  die  städtischen  Befestigungsbauten  so  große 
Anforderungen  gestellt,  daß  die  Bürgerschaft  sich  genötigt  sah, 
von  einer  weiteren  Ausdehnung  des  Stadtumfanges  abzusehen, 
um  die  vorhandene  Befestigungslinie  desto  stärker  ausbauen  zu 
können.  Ohne  Eberstadts  Ausführungen  zu  kennen,  weist  P. 
doch  schon  ganz  treffend  auf  die  Tatsache  hin,  an  der  sie  scheitern 
müssen.  Er  zeigt,  daß  es  keineswegs  äußere  Umstände  waren, 
die  der  weiteren  Ausdehnung  der  Städte  ein  Ziel  setzten,  sondern 
daß  seit  dem  14.  Jahrhundert  ihr  Expansionsbedürfnis  selbst 
zu  erlöschen  scheint;  denn  die  letzten  Erweiterungsgebiete,  die 
noch  im  13.  oder  14.  Jahrhundert  in  die  Stadtbefestigung  ein- 
bezogen wurden,  weisen  fast  durchweg  eine  weit  geringere  Auf- 
teilung, Bebauung  des  Grundes  und  Bodens  auf,  als  der  Kern 
der  Stadt.  P.  scheint  daraus  auf  ein  Stocken  der  Bautätigkeit  in  der 
Stadt  schließen  zu  wollen.  Davon  kann  aber  nicht  die  Rede  sein. 
Die  Bautätigkeit  ist  gerade  im  15.  und  16.  Jahrhundert  lebhafter 
denn  je.  Aber  sie  erstreckt  sich  nicht  gleichmäßig  über  alle  Teile 
des  ummauerten  Stadtbodens,  sondern  sie  konzentriert  sich  auf 
die  innere  Stadt.  Hier  verschwinden  jetzt  die  großen  Höfe  und 
Gärten,  die  etwa  noch  vorhanden  waren.  Hier  wachsen  die 
Häuser  bis  zu  drei  und  vier  Stockwerken  in  die  Höhe,  während 
in  der  äußeren  Stadt  (nach  der  Ringmauer  zu)  die  Straßen  nur 
mit  niedrigen  Einfamilienhäusern  eingefaßt  sind,  zwischen  denen 
sich  weite  Garten-  und  Feldgrundstücke  ausdehnen.  So  be- 
deutet der  Wendepunkt,  den  P.  für  das  14.  Jahrhundert  in  der 
Bauentwicklung  der  deutschen  Städte  nachgewiesen  hat,  nichts 


Mittelalter.  369 

anderes,  als  daß  an  die  Stelle  der  bisherigen  Stadterweiterung 
eine  steigende  Konzentration  der  Bebauung  tritt.  Mir  scheint 
dieser  merkwürdige  Wechsel  auf  eine  Veränderung  in  der  wirt- 
schaftlichen Struktur  der  Stadt  hinzuweisen.  Wir  wissen,  daß 
die  Städte  im  früheren  Mittelalter  noch  ein  ausgesprochen  agra- 
risches Gepräge  tragen.  So  klein  sie  waren,  so  waren  sie  doch 
weiträumig  angelegt,  um  Garten-  und  Ackerbau  auch  innerhalb 
der  Mauer  zu  ermöglichen.  Je  mehr  dann  Handel  und  Gewerbe 
sich  entfalteten,  um  so  lästiger  mußte  diese  Weitläufigkeit  im 
Verkehr  empfunden  werden.  Um  den  Verkehr  zu  erleichtern 
und  möglichst  vielen  Gewerbetreibenden  rege  Teilnahme  am 
Handel  und  Wandel  zu  ermöglichen,  fängt  man  daher  an,  jeden 
Winkel  in  der  inneren  Stadt  als  Baustelle  auszunützen  und  Stock- 
werk auf  Stockwerk  zu  türmen.  In  Mainz  läßt  sich  diese  Ent- 
wicklung schon  bis  in  den  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  zurück- 
verfolgen. Otto  von  Freising  {Gesta  Friderici  imp.  1,  13,  MG. 
Schulausgabe,  2.  Aufl.,  S.  23)  berichtet  zum  Jahr  1117  auf  Grund 
eigener  Anschauung,  daß  innerhalb  der  Ringmauer  dort  die 
Gegend  am  Rhein  dicht  bewohnt  sei,  während  die  anderen  Teile 
dem  Weinbau  und  anderen  Nutzungen  dienten.  Und  in  Köln 
zeigt  der  Stadtplan  des  Merkator,  daß  selbst  das  Gebiet,  das 
um  1150  bereits  in  die  Stadtbefestigung  einbezogen  wurde,  im 
Jahre  1571  noch  nicht  voll  bebaut  war.  Das  durch  die  Stadt- 
erweiterung von  1300  gewonnene  Gelände  vollends  sehen  wir 
selbst  am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  noch  ganz  mit  Gärten 
und  Feldern  erfüllt;  nur  die  Hauptstraßen  sind  hier  mit  Häusern 
besetzt,  während  in  der  inneren  Stadt  schon  der  Prospekt  von 
1531  das  dreistöckige  Haus  als  die  vorherrschende  Bebauungsart 
erkennen  läßt.  (H.  Keussen,  Topographie  der  Stadt  Köln  im 
Mittelalter,  Bonn  1910.) 

Gerade  diese  Bauentwicklung  von  Mainz  und  Köln  scheint 
darauf  hinzuweisen,  daß  es  bei  den  mittelalterlichen  Stadterwei- 
terungen zum  Teil  wenigstens  nicht  so  sehr  auf  die  Gewinnung 
neuer  Baustellen,  als  auf  die  Einbeziehung  der  die  Stadt  um- 
gebenden bürgerlich-ländlichen  Betriebe  abgesehen  war.  Viel- 
leicht läßt  sich  das  Aufhören  der  Stadterweiterungen  im  15.  Jahr- 
hundert in  manchen  Fällen  damit  erklären,  daß  durch  die  ge- 
werbliche Entwicklung  der  Stadt  die  landwirtschaftlichen  Inter- 
essen innerhalb  der  Bürgerschaft  mehr  in  den  Hintergrund  ge- 


370  Literaturbericht. 

drängt  wurden.  In  anderen  Fällen  aber  waren  gewiß  auch  andere 
Erwägungen  maßgebend.  Wenigstens  sehen  wir  so  manche 
Stadt  auch  im  späteren  Mittelalter  noch  um  den  Schutz  der 
bürgerlich-ländlichen  Betriebe  in  ihrer  nächsten  Umgebung 
besorgt.  Als  Nürnberg  1449  mit  Markgraf  Albrecht  von  Bran- 
denburg in  Krieg  geriet,  ließ  der  Rat  zum  Schutz  der  nächsten 
Umgebung  in  weitem  Bogen  um  die  Stadt  herum  eine  Landwehr 
anlegen,  die  den  Umfang  der  Stadtmauer  etwa  um  das  Doppelte 
oder  Dreifache  übertraf.  Man  sieht  daraus,  wie  entsprechend 
der  wachsenden  Bevölkerungsziffer  auch  die  agrarischen  Inter- 
essen der  Bürgerschaft  vor  den  Stadttoren  (trotz  der  gewerb- 
lichen Entwicklung)  immer  noch  im  Zunehmen  begriffen  waren. 
Man  erkennt  aber  sofort  auch,  daß  es  der  Stadt  militärisch  nicht 
mehr  möglich  war,  dieses  erweiterte  Vorland  nach  dem  Muster 
früherer  Zeiten  in  den  Mauerring  einzubeziehen.  Das  Geld  dazu 
wäre  vielleicht  noch  zu  beschaffen  gewesen.  Größer  wären  schon 
die  rechtlichen  Schwierigkeiten  gewesen,  die  sich  in  dieser  spä- 
teren Zeit  einer  so  ausgiebigen  Stadterweiterung  entgegengestellt 
hätten.  Entscheidend  aber  war  wohl,  daß  die  militärische  Kraft 
der  Bürgerschaft  zur  Verteidigung  einer  so  langgestreckten 
Mauerlinie  nicht  ausgereicht  haben  würde.  So  begnügte  man  sich, 
das  Vorland  mit  einer  Landwehr  zu  schützen.  In  den  Landwehren, 
die  wir  seit  dem  15.  Jahrhundert  bei  einer  ganzen  Anzahl  von 
Städten  auftauchen  sehen,  hätten  wir  also  in  gewissem  Sinne 
die   Fortsetzung  der  älteren    Stadterweiterungen   zu   erblicken. 

Es  ließen  sich  noch  mancherlei  Fragen  und  Betrachtungen 
an  das  Ergebnis  der  P.schen  Untersuchung  anknüpfen.  Sie  ist 
geeignet,  auf  mehr  als  ein  Problem  der  deutschen  Städtegeschichte 
ein  neues  Licht  zu  werfen.  Es  würde  hier  zu  weit  führen,  darauf 
einzugehen.  Daß  der  Verfasser  selbst  sich  auf  seine  Feststellungen 
beschränkt  hat,  ohne  den  Versuch  zu  machen,  das  Festgestellte 
in  seinem  ursächlichen  Zusammenhang  zu  erklären,  ist  nur  zu 
billigen.  Im  Rahmen  einer  topographisch-statistischen  Arbeit 
war  für  eine  solche  Aufgabe  kein  Platz.  Aber  ein  Hinweis  auf 
die  grundlegenden  neuen  Fragen,  die  sich  für  die  Städtegeschichte 
aus  dem  Buche  ergeben,  schien  mir  hier  um  so  mehr  angezeigt, 
als  erst  dadurch  die  weittragende  Bedeutung  sichtbar  wird,  die 
der  scheinbar  so  trockenen  Untersuchung  innewohnt. 

Prag.  Paul  Sander. 


Mittelalter.  371 

Handel  und  Verkehr  der  Deutschen  Hanse  in  Flandern  während 
des  14.  Jahrhunderts.  Von  Dr.  phil.  Koarad  Bahre.  Leip- 
zig, Duncker  &  Humblot.     1911.     198  S. 

Was  der  Verfasser  behandelt,  ist  in  der  Hauptsache  die 
rechtliche  Stellung  der  Deutschen  in  Flandern.  Die  wirtschaft- 
liche Seite  tritt  hinter  den  rechtlichen  Gesichtspunkten  in  der 
Darstellung  in  den  Hintergrund.  Nur  das  Kapitel  über  den 
hansischen  Warenhandel  in  Flandern,  welches  aber  im  wesent- 
lichen lediglich  eine  Zusammenstellung  der  in  Flandern  von  den 
Deutschen  eingeführten  und  ausgeführten  Warenarten  unter 
möglichster  Angabe  ihrer  Herkunft  enthält,  geht  in  dieser  Be- 
ziehung weiter.  Der  erste  Teil,  der  die  Überschrift  trägt:  „Flandern 
und  sein  Verhältnis  zur  Deutschen  Hanse",  behandelt  die  Ent- 
wicklung der  politischen  Verhältnisse  Flanderns,  den  Erwerb  der 
Privilegien  der  Deutschen  in  Flandern  und  die  Wandlungen, 
welche  das  Verhältnis  der  Deutschen  zu  Flandern  und  Brügge 
bis  zum  Ende  des  14.  Jahrhunderts  durchmachte.  Der  zweite, 
„Verkehr  und  Rechtstellung  der  Deutschen  Hanse  in  Flandern" 
überschriebene  Teil,  der  etwa  drei  Viertel  der  Arbeit  umfaßt, 
beschäftigt  sich,  wenn  wir  von  der  schon  erwähnten  Zusammen- 
stellung der  ein-  und  ausgeführten  Warenarten  absehen,  mit 
der  rechtlichen  Stellung  des  Einzelnen  in  Flandern  in  bezug 
auf  Aufenthalt,  Grundbesitz,  Handel,  Rechtspflege,  Strandrecht, 
Erbrecht,  Stapelpflicht,  Zölle  und  Abgaben,  Münzgesetzgebung 
und  Hafenordnung. 

Die  in  der  Arbeit  gebotene  Zusammentragung  und  Bearbei- 
tung des  Materials  über  die  rechtlichen  Verhältnisse  der  Deut- 
schen in  Flandern  ist  eine  dankenswerte  Leistung,  die  zur  Klärung 
der  auf  diesem  Gebiete  zu  beantwortenden  Fragen  entschieden 
beitragen  wird,  wenn  auch  die  Forschung  in  manchen  Einzel- 
heiten das  von  dem  Verfasser  entworfene  Bild  vielleicht  noch 
umgestalten  dürfte.  Nicht  ohne  Interesse  sind  u.  a.  die  Dar- 
legungen des  Verfassers  darüber  (S.  82),  wie  Flandern  und  Brügge 
sich  der  Aufgabe  unterzogen,  bei  Beraubungen  von  Kauffahrern, 
die  sich  auf  dem  Wege  nach  Flandern  wenn  auch  außerhalb  des 
flandrischen  Gebietes  befanden,  sich  der  Ansprüche  der  Beraubten 
anzunehmen;  das  gleiche  gilt  von  dem  Rechtssatze,  daß  der 
Beraubte,  wenn  ihm  in  dem  fremden  Lande,  in  dem  sich  der 
Räuber  oder  das  geraubte  Gut  befanden,  sein  Recht  verweigert 


372  Literaturbericht. 

worden  war,  in  Flandern  den  Anspruch  erheben  konnte,  daß, 
wenn  der  Räuber  oder  das  geraubte  Gut  dorthin  kamen,  seinem 
Rechte  dort  Genüge  geschehe  und  der  Räuber  angehalten  und 
in  Haft  genommen,  das  geraubte  Gut  aber  ihm  zurückerstattet 
werde.  Wenn  B.  meint  (S.  85),  derjenige,  der  das  geraubte  Gut 
gutgläubig  erworben  habe  und  der  es  trotzdem  habe  herausgeben 
müssen,  habe  von  den  vlämischen  Städten  Entschädigung  fordern 
können,  weil  sie  die  unentgeltliche  Herausgabe  des  Gutes  von 
ihm  nicht  hätten  verlangen  können,  und  hieran  weitere  Schlüsse 
knüpft,  so  düte  er  z.  B.  hierin  irren.  Der  Rechtssatz,  daß  geraubtes 
Gut  ohne  Entschädigung  herauszugeben  ist,  hatte  im  mittelalter- 
lichen Rechte,  welches  in  dieser  Beziehung  von  anderen  Auffassun- 
gen ausging  als  wir  heute,  allgemeinere  Geltung;  derjenige,  dem 
geraubtes  Gut  genommen  wurde,  mußte  sich  wegen  seines  Schadens 
an  denjenigen  halten,  von  dem  er  das  Gut  erworben  hatte  und 
der  ihm  dafür  einzustehen  hatte,  daß  das  verkaufte  Gut  nicht 
etwa  geraubtes  war.  Auch  die  Vorstellung  (S.  89),  daß  das  ge- 
raubte Gut  selten  nach  Flandern  gekommen  sein  werde,  dürfte 
kaum  zutreffend  sein;  denn  wenn  auch  zwar  der  Räuber  viel- 
fach Bedenken  getragen  haben  mag,  mit  dem  Gute  selbst  nach 
Flandern  zu  kommen,  so  doch  nicht  der  dritte  gutgläubige  Er- 
werber des  Gutes.  Gerade  deshalb,  weil  Flandern  der  große 
Markt  war,  auf  den  von  allen  Seiten  die  Waren  zusammenström- 
ten, weil  sie  dort  am  leichtesten  Absatz  fanden,  dürften  die 
Deutschen  hier  auf  diese  Bestimmungen  Gewicht  gelegt  haben. 
Bei  der  Darstellung  des  Gästerechtes  schließt  B.  sich  der  von 
Stein  aufgestellten  Theorie  an,  nach  welcher  in  Brügge,  dem 
Platze,  wo  schon  am  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  nach  dem 
Gedichte  Wilhelms  des  Bretagners  die  Waren  von  allen  Teilen 
der  Welt  zusammenflössen,  um  von  dort  wieder  nach  allen  Seiten 
hin  hinauszugehen,  im  13.  Jahrhundert  ein  den  Fremden  feind- 
liches Gästerecht  bestanden  haben  soll,  das  den  Handel  der 
Fremden  untereinander  verbot.  Tatsächlich  ist  uns  weder  ein 
solches  Verbot  selbst  noch  eine  Nachricht  über  sein  Bestehen 
oder  seine  Aufhebung  in  Brügge  erhalten.  Aus  dem  Jahre  1304 
ist  eine  Urkunde  vorhanden,  nach  welcher  den  Fremden  der 
Detailhandel  mit  Spezereien  untereinander  untersagt  wurde;  zu- 
treffend bemerkt  B.  (S.  58),  hieraus  gehe  hervor,  daß  der  Groß- 
handel damals  den  Fremden  untereinander  erlaubt  gewesen  sei. 


Mittelalter.  373 

Die  auch  von  B.  wieder  aufgenommene  Hypothese  Steins,  daß 
in  Brügge,  dem  Platze,  der  mehr  als  irgendein  anderer  Ursache 
hatte,  den  Fremden  ihren  Handel  zu  erleichtern,  um  sie  dorthin 
zu  ziehen  und  die  Welthandelsstellung  Brügges  zu  stärken,  ein 
fremdenfeindliches  Verbot  des  Handels  der  Gäste  untereinander 
bestanden  hätte,  gründet  sich  darauf,  daß  bei  der  Verlegung 
des  Stapels  der  Deutschen  von  Brügge  nach  Aardenburg  die 
deutschen  Städte  ihre  Zustimmung  zur  Verlegung  des  Stapels 
nach  diesem  Platze  damit  begründen,  daß  Aardenburg  die  Frei- 
heit des  Handels  mit  Fremden  den  Deutschen  zugestanden  habe. 
Hieraus  läßt  sich  aber  keineswegs  ohne  weiteres  folgern,  daß 
dieses  Recht  den  Deutschen  in  Brügge  nicht  zugestanden  habe; 
die  Erklärung  kann  vielmehr  darin  liegen,  daß  in  Aardenburg 
bis  dahin  der  Handel  Fremder  untereinander  verboten  war  und 
die  Deutschen  ihre  Zustimmung  für  die  Wahl  dieses  Platzes  bei 
Verlegung  des  Stapels  erst  gaben,  als  diese  in  Aardenburg  be- 
stehende Beschränkung  aufgehoben  war.  Dafür,  daß  diese  Er- 
klärung die  richtige  und  die  Kombination  Steins,  gegen  welche 
auch  die  Wahrscheinlichkeit  spricht,  nicht  zutreffend  ist,  spricht 
deutlich  auch  die  Tatsache,  daß  uns  eine  Zusammenstellung  der 
Forderungen  der  Deutschen,  an  die  sie  die  Zurückverlegung  des 
Stapels  nach  Brügge  knüpften  (Hans.  Urkundenbuch  I,  n.  891), 
erhalten  ist,  in  welcher  von  einer  Aufhebung  eines  in  Brügge 
bestehenden  Verbotes  des  Fremdenhandels  überhaupt  gar  keine 
Rede  ist,  was  unverständlich  wäre,  wenn  dies  der  hauptsächlichste 
Beschwerdepunkt  der  Deutschen  gewesen  wäre.  Im  Gegensatze 
zu  dieser  Frage,  in  welcher  die  Forschung  bei  weiterer  Nach- 
prüfung zu  anderen  Ergebnissen  als  die  Arbeit  B.s  gelangen 
dürfte,  sind  z.  B.  durchaus  zutreffend  die  Ausführungen  B.s 
über  die  Entstehung  des  Stapels  am  Swin.  Aus  einem  den  da- 
maligen Verkehrsverhältnissen  entsprungenen  Bedürfnisse  heraus 
hatte  sich  der  tatsächliche  Zustand  ausgebildet,  daß  die  Waren 
nach  Brügge  und  gewissen  Nebenorten  Brügges  am  Swin  ge- 
bracht wurden;  erst  im  Laufe  der  Zeit  erhielt  diese  tatsächliche 
Ordnung  der  Dinge,  zu  deren  Aufrechterhaltung  Sluis  gegenüber 
die  Brügger  zu  den  Waffen  griffen,  einerseits  ihre  rechtliche 
Sanktion  durch  Graf  Ludwig  1323  und  wurde  damit  zu  einem 
verbrieften  Rechte  Brügges,  inhaltlich  dessen  kein  anderer  flan- 
drischer Ort  mehr  diesen  Stapel  fortan  haben  durfte.    Auf  der 


374  Literaturbericht. 

anderen  Seite  erwuchs  für  die  Deutsclien  aus  der  dem  Verkehrs- 
bedürfnisse entspringenden  Gewohnheit,  ihre  Waren  im  Westen 
nach  Brügge  zu  bringen,  schließlich  die  autonome  hansische 
Vorschrift,  welche  die  Deutschen  verpflichtete,  in  Brügge  und 
dessen  Hafenplätzen  ihren  Stapel  zu  halten,  eine  Verpflichtung, 
die  schließlich  dann  die  Hanse  auch  wiederum  Brügge  gegen- 
über übernahm.  —  Für  die  weitere  Forschung  auf  dem  von  B. 
behandelten  Gebiete  wird  die  Arbeit  jedenfalls  eine  gute  Grund- 
lage bilden.  G.  A.  Kiesselbach. 

Albert  de  Berzeviczy,  Bäatrice  d' Aragon,  reine  de  Hongrie 
(1417—1508).  2  vol.  Paris,  Champion.  1911/12.  (Biblio- 
theque  hongroise,  III  et  IV.  XlII  u.  267,  295  S.  u.  3  Stamm- 
tafeln. 

Das  vorliegende  Werk  enthält  nicht,  wie  man  nach  seinem 
Titel  meinen  könnte,  eine  biographische  Skizze  dieser  hervor- 
ragenden Tochter  Ferdinands  I.,  Königs  von  Neapel  aus  dem 
Hause  Aragon,  die  1476  die  Gemahlin  des  ungarischen  Königs 
Matthias  Corvinus  wurde,  sondern  gibt  auf  Grund  umfassender 
Studien  in  ungarischen,  italienischen,  französischen,  deutschen 
und  österreichischen  Archiven  und  der  zeitgenössischen  historischen 
Literatur  eine  kritisch  gehaltene  und  dabei  fesselnd  geschriebene 
Darstellung  der  ungarischen  Geschichte  im  Zeitalter  der  Re- 
naissance, in  deren  Mittelpunkt  diese  Königin  steht,  die  während 
der  wichtigsten  Regierungsperiode  des  Königs  Matthias  die  vor- 
nehmste Trägerin  der  neuen  Ideen  in  Ungarn  wurde  und  auch 
das  politische  Leben  daselbst  stark  beeinflußte.  Das  erste  von  den 
sechs  Büchern  des  Gesamtwerkes  {Les  annees  d'enfance  et  de 
jeunesse)  schildert  nicht  nur  die  Jugendzeit  Beatricens,  ihre  Er- 
ziehung im  Sinne  der  Renaissance,  ihre  Beschäftigung  mit  der 
Literatur  und  Kunst,  das  Leben  und  Treiben  am  Hofe,  sondern 
bringt  einen  förmlichen  Abriß  der  Geschichte  Neapels  in  dieser 
ereignisvollen  Zeit,  der  Kämpfe  Ferdinands  um  den  Thron 
und  der  politischen  Beziehungen  zu  den  italienischen  Staaten, 
von  denen  die  zu  Ferrara  einen  breiten  Raum  einnehmen.  Das 
zweite  Buch  {Les  noces)  behandelt  die  Hochzeit  der  Prinzessin 
und  ihre  Aufnahme  in  Ungarn,  worauf  dann  im  dritten  (Compagne 
de  regne)  der  Einfluß  dargestellt  wird,  den  sie  auf  den  König  aus- 
übte.     Bedeutender  noch  sind  die  folgenden  drei   Bücher  des 


Mittelalter.  375 

zweiten  Bandes.  Das  vierte  der  ganzen  Reihe  {Antagonisme 
latent)  enthält  den  tiefen  Gegensatz  zwischen  den  Aspirationen 
der  Königin,  die  schon  vor  dem  Tode  ihres  Gemahls  für  ihre 
Nachfolge  arbeitet,  und  den  Absichten  des  Königs,  der  sie  seinem 
natürlichen  Sohn  Johannes  zuwenden  will.  Mehr  als  im  ersten 
Bande  wird  hier  ein  trefflicher  Einblick  in  das  geboten,  was  man 
die  italienische  Renaissance  in  Ungarn  nennt,  man  sieht  das  Ein- 
dringen des  italienischen  Elements  in  die  wichtigsten  Stellen 
in  Staat  und  Kirche,  vor  allem  der  Verwandten  der  Königin, 
von  denen  der  erst  sechs  Jahre  alte  Hippolyt  Erzbischof  von 
Gran  wird,  man  lernt  den  Antagonismus  des  ungarischen  Adels 
kennen,  der  den  Hof  schon  deswegen  meidet,  weil  er  mit  den 
Fremden  in  ihrer  Sprache  nicht  verkehren  kann.  Es  ist  ein 
italienisches  Hofleben  der  Renaissancezeit,  das  hier  in  allen  seinen 
Einzelheiten  zur  Darstellung  gelangt.  So  werden  die  fremden 
Einflüsse  nicht  nur  in  literarischen  und  künstlerischen  Dingen 
sondern  auch  in  bezug  auf  die  Lebensweise,  selbst  auf  das  Speisen 
und  Wohnen  betont,  die  so  stark  sind,  daß  diese  Ferraresen 
Ungarn  als  ihr  zweites  Vaterland  betrachten.  Wird  die  Opposition 
gegen  diese  italienische  Herrschaft  in  Ungarn  auch  mehr  nach  der 
gesellschaftlichen  als  nach  der  politischen  Seite  hin  gewürdigt, 
so  ist  das,  was  z.  B.  über  die  Persönlichkeit  und  Wirksamkeit 
des  Franziskaners  Pelbart  von  Temesvar  gesagt  wird,  immerhin 
bezeichnend  genug.  Zugleich  bieten  die  Korrespondenzen,  die 
zwischen  Ungarn,  Ferrara  und  Neapel  gewechselt  werden,  wich- 
tigen Stoff  auch  für  die  allgemeine  Geschichte  jener  Zeit.  Neben 
der  Schilderung  dieser  italienischen  Invasion  ist  es  die  Person 
und  das  Wesen  des  Königs,  das  der  Verf.  mit  sicherer  Hand 
zeichnet,  ohne  das  Buch  mit  zu  viel  Einzelheiten  zu  belasten. 
Von  besonderem  Interesse  ist  es,  zu  sehen,  wie  der  König  von  den 
für  das  Land  und  das  Volk  verderblichen  Aspirationen  seiner 
Gemahlin  spricht  und  ihre  geringe  Beliebtheit  im  Lande  her- 
vorhebt: „Wenn  die  Intriguen  der  Königin  nicht  aufhören, 
könnte  sich  das  Ärgste  ereignen,  was  weder  ihren  noch  seinen 
eigenen  Wünschen  entspräche,  daß  die  Ungarn  nach  des  Königs 
Tode  Friedrich  HI.  wählen  könnten."  Ergreifend  ist  das  Ende 
des  Königs,  nicht  minder  ergreifend  auch  die  Tragik  geschildert, 
wie  die  Königin  um  ihre  zweite  Ehe  mit  Wladislaw  von  Böhmen 
betrogen  wird.    Die  beiden  letzten  Bücher  behandeln  die  Wirren 


376  Literaturbericht. 

nach  dem  Tode  des  Matthias,  die  anfänglichen  Erfolge  der  Kö- 
niginwitwe über  den  Prinzen  Johann,  die  Scheinheirat  mit 
Wladislaw,  die  Enttäuschungen  Beatricens  und  ihr  i<lägliches 
Ende.  Sieht  man  von  einzelnen  Wiederholungen,  die  beseitigt 
werden  konnten,  und  von  mehreren  Druckfehlern  ab,  so  wird  man 
an  dem  schönen  Werke  keine  besonderen  Ausstellungen  zu  machen 
haben.  Es  kann  als  ein  wertvoller  Beitrag  zur  Geschichte  Ungarns 
im  Zeitalter  der  Renaissance  und  zu  dieser  selbst  bezeichnet 
werden. 

Graz.  J.  Losertfi. 

Deutsche  Geschichte  im  Ausgang  des  Mittelalters  (1438—1519) 
2.  Bd.:  Deutsche  Geschichte  zur  Zeit  Maximilians  I.  (1486 
bis  1519).  Von  Kurt  Käser.  (Bibliothek  deutscher  Ge- 
schichte, herausgegeben  von  H.  v.  Zwiedineck-Südenhorst.) 
Stuttgart  und  Berlin,  Cotta  Nachfolger.     1912.     X  u.  527  S. 

Daß  Käser  seine  Aufgabe  besser  gelöst  hat  als  V.  v.  Kraus 
im  ersten  Bande  (vgl.  Bd.  99,  S.  183  ff.),  wird  man  ihm  ohne 
weiteres  zuerkennen,  aber  daß  er  sie  ganz  oder  auch  nur  halb- 
wegs befriedigend  gelöst  habe,  kann  ich  nicht  finden.  Schon  die 
Gliederung  und  Anordnung  des  Stoffes  —  in  der  sich  dieser  Band 
übrigens  vorteilhaft  von  seinem  Vorgänger  unterscheidet  — 
kann  Bedenken  erregen.  Da  wird  im  ersten  Kapitel  „Das  Reich 
und  Maximilians  auswärtige  Politik"  behandelt,  im  zweiten 
folgen  „Verluste  des  Reiches  im  Südwesten  und  Nordosten, 
Bildung  einer  österreichischen  Großmacht".  Wie  denn?  Ist  das 
etwa  nicht  auswärtige  Politik?  Ein  drittes  Kapitel  bringt  „Die 
Reichsreform  unter  Maximilian"  und  „Die  Rezeption  des  rö- 
mischen Rechts".  Was  aber  haben  diese  beiden  Dinge  mit- 
einander zu  tun?  Die  Rezeption  gehört  doch  eher  ins  vierte 
Kapitel:  „Der  deutsche  Territorialstaat  um  1500."  Man  freut 
sich  wohl  schon,  dieser  Überschrift  überhaupt  zu  begegnen, 
aber  die  Untertitel  verraten  doch  wieder  manche  Unklarheit. 
,, Wiedergeburt  des  territorialen  Staatslebens  im  15.  Jahrhundert", 
—  das  ist  gewiß  nicht  richtig.  K.  will  doch  nicht  behaupten, 
das  territoriale  Staatsleben  sei  im  14.  Jahrhundert  erstorben 
gewesen,  daß  es  im  15.  „wiedergeboren"  werden  mußte?  Es 
entwickelt  sich  ja  in  ungebrochener  Linie  vom  12.  und  13.  bis  zu 
seiner  Vollendung  im  17.  Jahrhundert.    Was  gemeint  ist,  sieht 


Mittelalter.  377 

man  erst  bei  der  Lektüre,  nämlich  der  Abschluß  der  Terri- 
torienbildung. Ferner:  „Landesherrschaft  und  Kirche", 
„Gesteigerte  Wirksamkeit  der  territorialen  Staatsgewalten", 
„Verwaltungsreformen"  — ,  das  ist  doch  alles  eher,  als  eine  be- 
griffliche Ordnung  der  Dinge.  Das  letzte  Kapitel  endlich  bringt 
einen  „Überblick  (warum  nur  das?)  über  die  wirtschaftlichen 
und  sozialen  Strömungen  (warum  nur  „Strömungen",  nicht 
„Zustände"?)  in  Deutschland  am  Vorabend  der  Reformation". 
Solch  ein  Hinausdeuten  aus  dem  eigenen  Rahmen  ist  zum  min- 
desten stilwidrig,  es  würde  für  das  1.  Kapitel  einer  Geschichte 
der  Reformationszeit  passen,  nicht  für  das  letzte  der  vorausgehen- 
den Zeit.  Ebenso  die  beiden  Untertitel:  „Umriß  (!)  einer  Vor- 
geschichte des  Bauernkrieges"  und  „Vorläufer  des  Bauern- 
krieges". Abgesehen  davon,  daß  diese  Unterscheidung  nicht 
recht  einleuchtet,  welch  ein  Einfall  ist  es  doch,  ein  Buch 
mit  einer  „Vorgeschichte"  und  „Vorläufern"  zu  schließen!  An 
diesem  Fehler  leiden  keineswegs  nur  die  Überschriften,  er  ver- 
dirbt die  ganze  Darstellung,  Sie  ist  durchaus  —  ich  möchte 
sagen  —  anachronistisch  gesehen,  aus  dem  Gesichtspunkt  der 
Folgezeit,  nicht  für  sich  selbst  betrachtet,  wie  es  dem  Ge- 
schichtschreiber ziemt.  Beständig  erscheinen  die  Dinge  auf 
das  bezogen,  was  später  kommen  soll,  die  ganze  Zeit  ist  nur 
das  Vorspiel  der  nachfolgenden.  Entsprechend  lautet  das 
Schlußwort:  „Die  alten  Formen  sind  überlebt,  und  jubelnd  grüßt 
Deutschland  ihren  Zerstörer".  Das  ist  doch  wirklich  gar  nicht 
richtig.  Was  in  Deutschland  um  1520  bestand,  waren  ja  nicht 
mehr  „alte  Formen",  sondern  neue,  zum  Teil  erst  ganz  neuerdings 
gebildete.  „Zerstört"  hat  der  Mann,  auf  den  K.s  Schlußwort 
prophetisch  hinweist,  nur  eine  einzige  alte  Form,  und  auch  sie 
schon  im  Zerfallen,  die  römische  Gesamtkirche  (ihre  „Zerstörung" 
hat  bekanntlich  gerade  zu  ihrer  Wiederherstellung  geführt, 
wenn  auch  in  beschränktem  Umfang,  so  dafür  in  viel  größerer 
Festigkeit).  Alles  andere  ist  bestehen  geblieben,  wie  es  war.  Und 
sogar  auf  dem  Gebiet  der  Kirche  stehen  die  positiven  Neuschöp- 
fungen der  folgenden  Zeit  durchaus  auf  dem  Boden  dessen, 
was  das  ausgehende  Mittelalter  geschaffen  hat.  Das  hat  auch  K. 
richtig  hervorgehoben,  wenn  auch  mit  nicht  gerade  glücklichem 
Ausdruck:  „Als  Luther . . .  wiewohl  widerstrebend,  die  geistliche 
Obrigkeit  in  die  Hand  der  Fürsten  legte,  wahrte  er  die  Kontinuität 


378  Literaturbericht. 

der  historischen  Entwicklung."  Es  sollte  eher  heißen:  „unterwarf 
er  sich  dem  geschichtlich  schon  Gewordenen  und  Bestehenden." 
Die  einzelnen  Abschnitte  sind  nicht  von  gleichem  Wert, 
am  wenigsten  gelungen  die  beiden  ersten  Kapitel,  die  von  den 
Beziehungen  zum  Ausland  handeln.  Man  merkt  bald,  daß  der 
Verf.  hier  nicht  allzu  viel  Quellenstudien  gemacht  hat.^)  In  der 
Kenntnis  der  Tatsachen  ist  er  ganz  von  Ulmann  abhängig,  dem  er 
gleichwohl  in  der  Auffassung  widerspricht.  Für  ihn  ist  Maximilian 
immer  noch  der  getreue  Eckart  der  deutschen  Nation,  der  in  un- 
ermüdlicher, tätiger  Sorge  den  Gefahren  entgegentritt,  die  dem 
Reiche  vom  „Erbfeind",  d.  h.  Frankreich,  drohen,  der  aber  in 
diesem  löblichen  Bemühen  von  den  ,, kaltsinnigen",  „selbst- 
süchtigen" usw.  Fürsten  schnöde  im  Stich  gelassen  wird.  Es  ist 
fast  beschämend,  dieser  gründlich  unhistorischen  und  unkritischen 
Vorstellung  unter  wissenschaftlich  gebildeten  Historikern  immer 
wieder  zu  begegnen.  Die  Phrase  vom  „Erbfeind"  sollten  wir  doch 
ein  für  alle  Male  den  Zeitungen  et  fiuic  generi  omni  überlassen. 
Überdies  ist  nichts  falscher  als  die  Meinung,  Frankreich  und 
Deutschland  seien  vor  dem  Entstehen  der  burgundisch-öster- 
reichischen  Weltmacht  dauernd  Feinde  gewesen.  K.  behauptet 
es  zwar,  aber  er  beweist  damit  nur,  daß  er  die  Geschichte  des 
Mittelalters  nicht  kennt.  Er  sagt,  schon  im  10.  Jahrhundert  habe 
Frankreich  nach  der  Rheingrenze  gestrebt.  Entsetzlich!  Schon 
im  10.  Jahrhundert!  Damit  kann  man  die  Kinder  schrecken; 
ernsthafte  Männer  und  —  Historiker  werden  fragen,  was  Frank- 
reich denn  zwischen  dem  10.  Jahrhundert  und  dem  Ende  des  15. 
dem  Deutschen  Reich  zu  Leide  getan  hat.  Und  die  Antwort  muß 
lauten:  herzlich  wenig.  Der  wirkliche  Feind  Deutschlands,  aber 
auch  zugleich  Frankreichs,  ist  im  15.  Jahrhundert  Burgund, 
und  sein  Erbe  ist  —  Habsburg.  So  hat  denn  auch  erst  die  Bil- 
dung der  habsburgischen  Weltmacht  die  Erbfeindschaft  zwischen 
Frankreich  und  dem  Deutschen  Reich  geschaffen;  sie  ist  wirklich 
eine  „Erbfeindschaft",  wenn  auch  in  anderm  Sinne,  als  man  ge- 
meinhin sagt.  Und  bekanntlich  hat  die  Entstehung  der  habs- 
burgischen Weltmacht  dem  Reiche  größere  Verluste  gebracht 
als  alle  welsche  Bosheit  in  den  vorausgehenden  Jahrhunderten: 

^)  Wie  konnte  er  nur  S.  145  f.  in  Livland  den  schon  1237  auf- 
gelösten Sehwertbrüderorden  an  Stelle  des  Deutschordens  bestehen 
lassen. 


Mittelalter.  379 

sie  hat  ihm  den  Besitz  des  „burgundischen  Kreises",  darunter 
auch  Hollands,  gekostet.  Das  Urteil  K.s  über  Maximilians  aus- 
wärtige Politik,  die  er  für  höchst  patriotisch  und  opfermutig 
erklärt,  fällt  schon  in  sich  zusammen,  wenn  man  es  nur  auf  seine 
Quellen  prüft.  Es  sind  ausschließlich  die  eigenen  offiziellen 
Äußerungen  des  Kaisers,  seine  Reden  und  Flugschriften.  Von 
ihrem  Echo,  den  Deklamationen  der  vom  Kaiser  beeinflußten 
Humanisten,  will  ich  lieber  nicht  sprechen,  obwohl  man  neuer- 
dings den  Geschmack  gehabt  hat,  ausgerechnet  diese  Herren 
—  Antiquare,  Poeten  und  Journalisten  nach  heutigen  Begriffen  — 
für  die  wahrhaft  berufenen  Richter  in  Sachen  der  hohen  Politik 
zu  erklären  (Fritz  Härtung,  Geschichte  des  fränkischen  Kreises  I, 
75:  „es  war  doch  ein  Zeichen  von  gesunder  Erfassung  der  Ver- 
hältnisse, daß  gerade  die  Entdecker  der  deutschen  Geschichte, 
die  Humanisten,  treu  zu  Maximilian  standen").  Es  ist  bezeich- 
nend, daß  K.  in  den  ganzen  zwei  Kapiteln  von  170  Seiten  von 
Maximilian  keine  anderen  als  öffentliche  Kundgebungen  zitiert. 
Das  richtete  sich  selbst,  auch  wenn  wir  nicht  genug  vertrauliche 
Äußerungen  und  Handlungen  von  ihm  besäßen,  die  genau  das 
Gegenteil  beweisen.  Was  würde  K.  wohl  von  einem  englischen 
Geschichtschreiber  halten,  der  die  englische  Weltpolitik  von  heute 
lediglich  nach  den  Reden  der  Minister  und  den  Leitartikeln 
der  „Times",  oder  von  einem  katholischen,  der  Innozenz  HI. 
ausschließlich  nach  seinen  eigenen  Worten  beurteilte?  Übrigens 
widerlegt  K.  sich  selbst,  wo  er  auf  die  östlichen  Dinge  und  den 
Wiener  Vertrag  von  1516  zu  sprechen  kommt.  Da  kann  auch  er 
nicht  leugnen,  wenn  er  es  auch  zu  beschönigen  sucht,  daß  Maxi- 
milian wirkliche  Interessen  und  Rechte  des  Reiches  und  der 
Nation  —  Preußen!  —  seinen  eigenen  dynastischen  Zukunfts- 
hoffnungen geopfert  hat.  Woraus  ihm  ein  Historiker,  der  nicht 
mit  Forderungen  und  Maßstäben  unserer  Zeit  arbeitet,  natürlich 
keinen  Vorwurf  machen  darf.  K.s  Darstellung  ist  ja  inzwischen 
auch  in  einer  Weise  zurückgewiesen  worden,  von  der  man  hoffen 
möchte,  daß  sie  endgültig  wirken  möchte:  zuerst  durch  Ulmann 
mit  der  Ruhe  überlegener  Sachkenntnis  (in  dieser  Zeitschrift 
Bd.  107,  S.  473  ff.),  dann  ganz  neuerdings  durch  Andreas  Walther 
in  äußerst  fein  durchdachten  und  anregenden  Ausführungen  (Mit- 
teilungen des  Instituts  für  österr.  Geschichtsforschung,  Bd.  33). 
Man  wird  darüber  jetzt  wohl  zur  Tagesordnung  schreiten  können. 


380  Literaturbericht. 

Entschieden  besser  ist  das  Kapitel  über  die  Reichsreform 
geraten.  Es  sucht  im  Urteil  über  Kaiser  und  Fürsten  zu  ver- 
mitteln und  nach  Möglichkeit  beiden  Teilen  gerecht  zu  werden. 
Den  Schlüssel  zu  dieser  Frage  hätte  K.  freilich  erst  gefunden,  wenn 
er  vorgezogen  hätte,  die  Reichsreform  nicht  für  sich  abgetrennt, 
sondern,  wie  es  sich  gebührt,  im  Zusammenhang  der  ganzen  Politik 
Maximilians  darzustellen.  Da  hätte  er  nicht  nur  den  Fehler  ver- 
mieden, die  Reformgesetze  von  1495,  die  er  erst  im  3.  Kapitel 
erzählt,  schon  im  2.  Kapitel  als  bekannt  vorauszusetzen  (als 
Ursache  für  den  Schweizerkrieg);  es  wäre  ihm  dann  wohl  auch 
klar  geworden,  daß  dieser  Kampf  um  die  Reichsverfassung  ja 
nur  das  Komplement  der  maximilianischen  Auslandspolitik 
bildet.  Ich  möchte  sagen:  die  Fürsten  drehen  an  einem  Strick, 
mit  dem  sie  den  König  zu  fesseln  hoffen,  und  der  König  sucht 
mit  demselben  Strick  die  Fürsten  vor  den  Wagen  seiner  Welt- 
politik zu  spannen.  Die  schulbuchmäßige  Einteilung  in  „Äußeres" 
und  „Inneres"  sollte  man  übrigens  in  wirklichen  Darstellungen 
endlich  fahren  lassen.  Es  gibt  keine  auswärtige  Politik  ohne  Rück- 
sicht auf  die  innere,  und  umgekehrt.  Immer  wird  die  eine  erst 
durch  die  andere  verständlich. 

In  den  folgenden  Kapiteln,  die  von  den  Territorialstaaten 
und  wirtschaftlichen  Zuständen  handeln,  liegt  der  Schwerpunkt 
des  Buches  und  sein  Verdienst.  Vermißt  man  auch  hier  das  Neue, 
das  eigene  Forschung  hätte  bringen  können,  so  ist  doch  schon 
der  Versuch  einer  Zusammenfassung  des  Bekannten  auf  diesem 
vernachlässigten  Gebiete  fast  als  eine  Tat  dankbar  zu  begrüßen, 
um  so  mehr,  da  der  Verf.  sich  mit  den  neueren  Forschungen 
in  erfreulichem  Maße  vertraut  zeigt.  Mit  allen  Zusammenfas- 
sungen dieser  Art  teilt  seine  Darstellung  den  Fehler  großer  Un- 
gleichheit. Wo  die  Literatur  reichhaltig  ist,  da  ist  auch  K.s  Dar- 
stellung ausführlich,  und  das  manchmal  nur  zu  sehr;  wie  denn 
Ökonomie  und  perspektivisches  Maß  überhaupt  nicht  seine  starke 
Seite  sind.  Man  lese  z.  B.  die  weitläufige  Erzählung  der  doch 
höchst  krähwinkligen  Halleschen  Streitigkeiten  S.  335  ff.;  auch 
die  Verwaltungsordnung  Maximilians  ist  auf  S.  407 — 424  in  einer 
Breite  entwickelt,  die  ganz  aus  den  Verhältnissen  der  Gesamtdar- 
stellung herausfällt.  Beiläufig:  wie  K.  es  möglich  macht,  die 
Kontroverse  über  dieses  Thema  zwischen  Adler  und  Walther  für 
unerheblich  zu  erklären,  ist  wohl  nicht  nur  mir  schlechthin  un- 


Mittelalter.  381 

verständlich.  Wo  es  dagegen  an  Vorarbeiten  fehlt,  da  wird  auch 
K.s  Schilderung  dürftig,  oder  sie  versagt  wohl  ganz.  So  ist  z.  B. 
von  dem  Leben  in  den  geistlichen  Territorien  überhaupt 
mit  keinem  Wort  die  Rede.  Am  meisten  hätte  ich  an  dem  Ab- 
schnitt über  die  landeskirchlichen  Verhältnisse  auszusetzen. 
Abgesehen  davon,  daß  K.  in  der  Literatur  das  Beste  entgangen 
ist,  die  klassische  Abhandlung  von  Max  Lehmann  über  Staat 
und  Kirche  in  Schlesien,  scheint  er  mir  hier  doch  allzu  sehr  aus 
zweiter  Hand  zu  schöpfen.  Eigenes  Quellenstudium  hätte  ihn 
wohl  vor  solchen  Irrtümern  bewahrt,  wie  er  sie  S.  354  in  den  Be- 
merkungen über  die  Vogtei  begeht,  und  S.  355,  wo  er  von  „Landes- 
herren" der  westdeutschen  Bischöfe  spricht,  da  diese  doch  alle 
selbst  Reichsfürsten  und  Landesherren  sind.  S.  369  beneidet  er 
„die  großen  Staaten  Westeuropas,  selbst  das  eifrig  katholische 
Spanien",  die  „ihre  Untertanen  besser  vor  den  Finanzkünsten 
Roms  zu  bewahren"  wußten.  Mit  solchen  allgemeinen  Urteilen 
kann  man  nicht  vorsichtig  genug  sein.  So  glaube  ich  z.  B.  be- 
weisen zu  können,  daß  der  Griechenablaß  von  1439  dem  Papst 
nirgends  so  viel  eingebracht  hat  wie  in  England.  Die  Wahrheit 
ist  wohl,  daß  die  deutschen  Fürsten  einen  römischen  Ablaß 
immer  gern  sahen,  weil  sie  immer  dabei  profitieren  konnten. 
Wenn  das  in  den  westlichen  Nachbarländern  anders  war,  so  lag 
das  daran,  daß  dort  die  doppelte  Besteuerung  des  Klerus,  für  den 
Papst  und  für  den  König,  schon  feste  Formen  angenommen  hatte, 
die  man  in  Deutschland  noch  suchte.  Überhaupt  kann  ich  nicht 
finden,  daß  K.  für  die  Darstellung  der  Beziehungen  zwischen 
Staat  und  Kirche  den  Grundton  richtig  getroffen  hat.  Durch 
alles,  was  er  darüber  sagt,  geht  ein  innerer  Widerspruch.  Auf  der 
einen  Seite  beklagt  er  den  armen  Staat,  dem  es  nicht  gelingen  will, 
die  angemaßte  Sonderstellung  der  Kirche  zu  brechen,  auf  der 
andern  erzählt  er  von  lauter  Dingen,  die  das  Gegenteil  bedeuten: 
daß  die  Geistlichen  Steuern  zahlen,  Eingriffe  und  Beschränkungen 
in  geistliche  Gerichte  dulden,  ihre  Pfründen  dem  Landesherrn 
ausliefern  und  sogar  in  rein  sakralen  Dingen  fürstliche  Befehle 
hinnehmen  müssen.  Wie  die  Dinge  in  Wirklichkeit  lagen,  ist  doch 
gar  nicht  zu  verkennen.  Die  historische  und  wohlverbriefte  Vor- 
zugsstellung des  Klerus  im  Staat,  die  libertas  ecclesiastica,  ist 
um  1500  schon  auf  der  ganzen  Linie  zurückgedrängt,  durchbrochen, 
vielfach  bereits  vom  Staat  erobert.    Daß  das  Kirchengut  auch  in 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  25 


382  Literaturbericht. 

dieser  Zeit  noch  unaufhörlich  gewachsen  sei,  „durch  Kauf, 
fromme  Stiftung  (gibt  es  auch  unfromme  Stiftungen?),  Ver- 
erbung (?)  und  Verlehnung  (??)",  wie  S.  350  gesagt  wird,  das 
sollte  der  Verf.  einmal  beweisen.  Ich  fürchte,  dabei  käme  er  in 
Verlegenheit.  Auch  die  Unveräußerlichkeit  des  Kirchengutes,  von 
der  er  in  diesem  Zusammenhang  spricht,  und  die  Entziehung 
der  Güter  der  toten  Hand  aus  dem  wirtschaftlichen  Verkehr 
hat  in  der  Praxis  nie  bestanden.  Sie  ist  ein  Märchengespenst,  das 
sich  allerdings  am  hellen  Tage  herumtreiben  kann,  weil  die  dar- 
stellenden Historiker  es  verschmähen,  einmal  eines  der  vielen 
klösterlichen  oder  stiftischen  Urkundenbücher  daraufhin  anzu- 
sehen. S.  305  wird  behauptet,  um  1500  seien  „Unteilbarkeit  und 
Primogenitur  dem  deutschen  Staatsrecht  endgültig  errungen" 
gewesen.  Die  Vorliebe  für  starke  Worte  hat  den  Verf.  vergessen 
lassen,  daß  Hessen  und  Baden  noch  im  16.  Jahrhundert,  die 
weifischen  Lande  noch  im  17.  geteilt  worden  sind.  Ganz  kritiklos 
ist  S.  377  die  sogenannte  Reformation  Kaiser  Sigmunds  ver- 
wertet. Aus  den  Träumereien  dieses  einen  Querkopfes  darf  man 
unmöglich  schließen,  schon  um  1440  seien  „die  niederen  Kleriker 
und  die  graduierten  Theologen  (!)  entschlossen"  gewesen,  „den 
Beistand  des  Kaisers  und  der  weltlichen  Fürsten  anzurufen" 
zur  Reform  der  Kirche  gegen  die  Prälaten.  Das  ist  ihnen  nicht 
eingefallen.  Und  nun  soll  sogar  Papst  Pius  II.  der  gleichen  Mei- 
nung gewesen  sein!  Da  muß  K.  —  er  gibt  keinen  Beleg  an  — 
irgendeine  Äußerung  arg  mißverstanden  haben. 

Doch  ich  will  mich  nicht  in  Einzelheiten  verlieren,  in  denen 
man  bei  einem  Buche  dieser  Art  natürlich  des  Unrichtigen 
immer  genug  entdecken  kann.  Schwerer  scheint  mir  ein  anderer 
Mangel  zu  wiegen:  es  fehlt  der  Darstellung  durchweg  an  Anschau- 
lichkeit. Daran  ist  wohl  schon  der  Stil  des  Verf.  ein  wenig 
schuld.  Sein  Stil  ist  unruhig,  fährt  hin  und  her,  macht  zu  viel 
Worte,  übertreibt  leicht  im  Ausdruck  und  läßt  die  Hauptpunkte 
nicht  deutlich  hervortreten.  Wo  Licht  und  Schatten  nicht  verteilt 
sind,  gibt  es  kein  plastisches  Bild.  Dann  bewegt  sich  der  Verf. 
auch  da,  wo  er  von  konkreten  Dingen  spricht,  gern  in  Allgemein- 
heiten, wie:  „die  Landesherren  liebten  es",  „es  gab  unter  den 
Fürsten  viele"  u.  dgl.  „Man"  ist  das  Subjekt  nur  zu  vieler  Sätze. 
So  etwas  mordet  die  Anschauung.  Ist  es  schon  eine  merk- 
würdige Probe  der  Erzählungskunst,  daß  S.  142  der  Schweizer- 


Mittelalter.  383 

krieg  mit  vielen  Worten  berichtet  wird,  ohne  daß  ein  einziger 
Schlachtort  —  nicht  einmal  Dornach!  —  genannt  würde^),  so 
sind  die  Schilderungen  vollends  farblos  ausgefallen.  Wie  gern 
gäbe  man  viele  Seiten  dieser  gewiß  fleißigen,  oft  recht  mühe- 
vollen Zusammenstellungen,  denen,  mögen  sie  noch  so  richtig 
sein,  doch  jedes  Leben  fehlt,  —  wie  gern  gäbe  man  sie  hin  für 
ein  paar  abgerundete,  wenn  schon  kurze,  so  doch  lebendige 
Charakterbilder.  So  spricht  der  Verf.  viel  von  „den  Fürsten",  die 
ihren  Beruf  in  einer  bisher  nicht  gekannten,  höheren,  manchmal 
fast  religiös  puritanischen  Weise  erfaßten.  Wenn  er  uns  nun 
doch  einen  oder  zwei  dieser  fürstlichen  Landesväter  in  ganzer  Figur 
vorführte,  etwa  Friedrich  den  Weisen  oder  seinen  Vetter  Georg 
von  Sachsen  oder  Christoph  von  Baden!  Den  letzten  läßt  er  mehr- 
mals auftreten,  aber  nie  gönnt  er  ihm  eine  ganze  Szene  für  sich 
allein.  Georg  von  Sachsen  kommt  so  gut  wie  gar  nicht  vor  und 
Friedrich  nur  gelegentlich  der  Reichsreform.  Täusche  ich  mich, 
wenn  ich  diesen  Mangel  darauf  zurückführe,  daß  der  Verf. 
die  neuere  Literatur  besser  kennt  als  die  Quellen?  An  einem 
klassischen  Vorbild  hätte  es  ihm  nicht  gefehlt.  Erdmanns- 
dörffer  in  seiner  Deutschen  Geschichte  nach  dem  Westfälischen 
Frieden  hatte  eine  ganz  ähnliche  Aufgabe  zu  lösen,  und  wie  hat 
er  sie  gelöst! 

Ich  habe  viele  Ausstellungen  gemacht  und  möchte  zum  Schluß 
selbst  für  mildernde  Umstände  eintreten.  Das  Buch  war  schwer 
zu  schreiben,  weil  es  in  gewissem  Sinne  das  erste  seiner  Art  ist. 
Ein  Nachfolger  wird  es  leichter  haben,  schon  weil  inzwischen 
unsere  Kenntnis  Fortschritte  gemacht  haben  wird.  Vielleicht  wird 
dieser  Nachfolger  es  auch  schon  als  das  Natürliche  ansehen, 
daß  man  zuerst  Deutschland  und  sein  verworrenes  inneres  Staats- 
leben schildert,  und  dann  von  diesem  krausen  Hintergrund  das 
Bild  der  Großmachtspolitik  des  Kaisers  sich  abheben  läßt.  Das 
hätte  nun  freilich  schon  K.  tun  können  —  wie  es  bereits  Erd- 
mannsdörffer  getan  hat  — ,  wenn  er  sich  von  dem  leidigen  Schul- 
buchschema losgemacht  hätte,  wo  zuerst  Kriege,  Verträge  und 
Diplomatie  kommen  und  dann  „das  Innere"  nachhinkt,  eigent- 

*)  Dafür  muß  man  sich  folgende  Wendungen  gefallen  lassen: 
„In  Tirol  herrschte  erhöhter  Groll  .  .  .  und  wie  mit  Naturgewalt 
entladet  sich  jetzt  die  kochende  Gärung:  bald  lodert  das  Kriegs- 
feuer von  den    Quellen  der  Etsch  bis  zum   Sundgau  hinab." 

25* 


384  Literaturbericht. 

lieh  doch  nur,  weil  vor  200  Jahren  die  „Staatengeschichte"  eine 
Hilfswissenschaft  des  internationalen  Staatsrechts  war.  Aus  der 
richtigen  Anordnung,  wonach  das  Gegebene,  Dauernde  voran- 
zustehen, dann  das  Werdende,  Neue  zu  folgen  hat,  würde  sich 
auch  das  richtige  Urteil  über  Menschen  und  Dinge  von  selbst 
ergeben.  Wir  würden  dann  nicht  mehr  in  Gefahr  sein,  in  jenen 
patriotisch  erregten  Klageton  zu  verfallen,  den  auch  K.  in  der 
ersten  Hälfte  seines  Buches  durchweg  und  in  der  zweiten  immer 
noch  allzu  oft  hören  läßt,  wo  es  sich  doch  nur  noch  darum 
handelt,  zu  verstehen,  was  längst  nicht  mehr  zu  ändern  ist.  Man 
soll  Klio  nie  zwingen,  händeringend  und  haareraufend  hinter 
den  Ereignissen  herzulaufen.  Das  heißt  die  Muse  erniedrigen. 
Gießen.  Malier. 


Karl  V.  und  die  deutschen  Reichsstände  von  1546  bis  1555.  Von 
Fritz  Härtung.  (Histor.  Studien  herausg.  von  Rieh.  Fester. 
Heft  1.)    Halle,  Niemeyer.     1910.    176  S. 

In  sieben  Kapiteln  mit  den  Überschriften:  „Die  Vorgeschichte 
des  Schmalkaldischen  Kriegs;  der  Schmalkaldische  Krieg  und 
Karls  V.  Versuch  einer  monarchischen  Reichsreform ;  Rückgang 
der  kaiserlichen  Macht;  Moritz  von  Sachsen  und  die  Fürsten- 
revolution; der  Passauische  Vertrag;  die  Zeit  des  Heidelberger 
Bundes"  und  „der  Reichstag  zu  Augsburg  im  Jahre  1555" 
unternimmt  Härtung  den  Versuch,  das  Jahrzehnt  1546 — 1555 
einmal  monographisch  vom  verfassungsgeschichtlichen  Stand- 
punkt aus  zu  untersuchen  und  darzustellen.  Zweifellos  ist  diese 
Aufgabe  sehr  dankbar,  und  es  hätte  daher  der  Rechtfertigung 
im  Vorwort  gar  nicht  bedurft,  denn  der  Reformationshistoriker, 
der  wirklich  nur  über  diese  Jahre  rasch  hinweggeht,  weil  er  darin 
„den  trüben  Ausgang  der  glänzend  begonnenen  Reformations- 
zeit" erblickt,  darf  von  vornherein  wenig  Anspruch  auf  den 
Glauben  an  seine  Objektivität  erheben. 

Gerade  in  dem  Aufspüren  der  Ursachen  für  den  so  ganz 
anderen  Ausgang  der  deutschen  Reformation,  als  ihn  die  Zeit- 
genossen selbst  erhofft  oder  gefürchtet  hatten,  muß  für  jeden 
unparteiischen  Historiker,  der  in  die  Tiefe  alles  geschichtlichen 
Geschehens  dringen  will,  ein  hoher  Reiz  liegen.  Gelingt  es  ihm, 
die  vielverschlungenen  Fäden  zu  entwirren  und  zwanglos  so  zu 


16.  Jahrhundert.  385 

ordnen,  daß  jeder  Leser  von  der  Richtigkeit  seiner  Folgerungen 
überzeugt  ist,  so  hat  er  für  die  ganze  Geschichtsforschung  eine 
größere  Tat  geleistet,  als  wenn  er  noch  so  farbenprächtig  nur 
die  günstigen  Anfänge  oder  die  ersten  Höhepunkte  der  Entwick- 
lung schildert.  H.  hat  sich  wie  gesagt  diese  Aufgabe  für  das 
enger  begrenzte  Gebiet  der  deutschen  Verfassungsgeschichte  in 
den  Jahren  1546 — 1555  gesteckt,  und  ich  glaube,  daß  niemand 
seine  Ausführungen  ohne  lebhaftes  Interesse  und  starke  An- 
regung lesen  wird,  aber  die  Frage,  ob  damit  für  längere  Zeit  das 
letzte  Wort  über  diese  ganze  Epoche  gesprochen  worden  ist, 
muß  ich  doch  verneinen. 

Den  Grund  hierfür  sehe  ich  nicht  etwa  in  einem  Mangel 
an  Darstellungsvermögen,  das  im  Gegenteil  meist  recht  an- 
sprechend zutage  tritt,  sondern  durchaus  in  der  Natur  des  von  H. 
nur  oder  vollkommen  überwiegend  benutzten  Quellenmateriales. 
Es  ist  aus  praktischen  Gründen  zwar  ohne  weiteres  verständlich, 
daß  H.  sich  in  der  Hauptsache  nur  auf  das  gedruckte  Material 
beschränkt  hat,  aber  ohne  „den  Wert  historischer  Arbeiten  nur 
nach  dem  Umfang  der  neu  erschlossenen  Quellen"  zu  bemessen,. 
darf  doch  in  diesem  Falle  nicht  verkannt  werden,  wie  infolge 
dieser  Beschränkung  sein  Urteil  durch  die  völlige  Erschließung 
der  schon  in  Angriff  genommenen  wichtigen  neuen  Quellen 
sofort  in  sehr  wesentlichen  Punkten  korrigiert  werden  wird. 
Sowohl  die  noch  außenstehenden  Bände  der  Politischen  Kor- 
respondenz des  Kurfürsten  Moritz  von  Sachsen,  als  die  der- 
jenigen König  Ferdinands  I.  werden  schon  das  wirkliche  Macht- 
verhältnis der  deutschen  Fürsten  zu  Karl  V.  vielfach  in  einem 
anderen  Lichte  als  bisher  erscheinen  lassen,  aber  noch  weit  mehr 
Einfluß  dürften  sie  auf  eine  Vertiefung  unserer  Anschauung  von 
den  maßgebenden  Persönlichkeiten  selbst  ausüben. 

Zum  Teil  spürt  man  diese  ja  schon  jetzt  aus  der  Wertung 
des  bisher  von  Druffel,  Brandi,  Winckelmann,  Ernst  und  Mentz 
veröffentlichten  Materials  heraus,  aber  noch  drängen  sich  immer 
wieder  Zweifel  dazwischen,  die  in  der  alteingewurzelten  Auf- 
fassung von  dem  Weltmachtskaiser  Karl  V.  begründet  sind. 
In  diesem  Ringen  zwischen  alter  und  neuer  Beurteilung  — 
dort  nach  den  alten  Geschichtswerken,  hier  nach  den  neuen 
Aktenpublikationen  —  hat  H.  noch  keine  klare  Stellung  gewinnen 
können,   und  so  erscheint  sein   Urteil  gerade  über  die  beiden 


386  Literaturbericht. 

Hauptpersonen  seiner  Epoche,  über  Karl  V.  und  Moritz  von 
Sachsen,  vielfach  zwiespältig.  Bei  Karl  V.  tritt  das  nicht  nur 
gleich  in  dem  allgemeinen  Urteil  über  ihn  hervor  (S.  5 — 9), 
sondern  fast  noch  mehr  in  der  späteren  Darstellung  der  einzelnen 
Verhandlungen  zwischen  den  deutschen  Fürsten  und  ihm,  wo 
dann  eben  weit  mehr  als  früher  die  bessere  Kenntnis  aus  den 
veröffentlichten  Akten  H.  zum  Umbiegen  manches  eigenen 
früheren  Urteiles  zwingt. 

Richtig  erscheint  mir  die  Beobachtung,  daß  Karl  V.  „die 
persönliche  Größe  und  Genialität"  fehlt  (S.  7),  und  weiter  die 
Hervorhebung  seiner  „Scheu  vor  raschen  Entschlüssen"  und 
„seiner  oft  abstoßenden  Härte  und  Maßlosigkeit  in  der  Aus- 
nutzung seiner  Erfolge",  aber  das  stimmt  nur  alles  nicht  mit 
der  kurz  vorher  (S.  5  f.)  gegebenen  Schilderung  überein,  wo  Karl 
„eine  durch  und  durch  politische  Natur"  genannt  wird  und  wo 
ihm  mit  19  Jahren  schon  der  Gedanke  eines  Titanen  untergelegt 
wird,  der  kurzerhand  die  ganze  Welt  für  sich  beansprucht  und 
zwei  Jahre  später  auch  schon  das  Programm  seines  weiteren 
Lebens  aufstellt,  um  nun  „die  ganze  Energie  seines  unbeug- 
samen Geistes"  an  dessen  Ausführung  zu  setzen.  Bezüglich  der 
Deutung  solcher  frühen  Erlasse  für  die  eigene  Auffassung  Karls 
müssen  wir  doch  wohl  vorsichtiger  sein  —  wie  z.  B.  auch  Baum- 
garten an  dieser  Stelle  die  Möglichkeit  von  fremden  Einflüssen 
durchaus  offen  läßt  — ,  wenn  wir  später  sehen  müssen  (aus  den 
Papiers  d'itat),  wie  abhängig  der  Kaiser  noch  1547  selbst  in 
seinen  militärischen  Entschlüssen  ist,  obwohl  doch  sonst  gerade 
seine  Tüchtigkeit  als  Feldherr  von  den  romanischen  Zeitgenossen 
über  alle  Maßen  gelobt  wird.  Die  starke  Betonung  von  den 
Pflichten  des  Glaubens  in  der  Denkschrift  von  1519  weist  mit 
Sicherheit  auf  geistliche  Mitarbeiter  hin  und  auch  „die  großen 
Dinge  gegen  die  Ungläubigen"  sind  Ziele,  die  damit  vollkommen 
im  Einklang  stehen.  Und  ganz  ähnlich  widersprechen  sich  die 
Schilderungen  des  Herrschers  durch  H.  auf  S.  12  und  S.  102, 
von  wo  an  überhaupt  für  die  letzten  Jahre  von  Karls  Regierung  — 
eben  auf  Grund  des  unbestreitbaren  Eindrucks  aus  den  veröffent- 
lichten Akten  —  die  Unschlüssigkeit  seines  Wesens,  die  doch 
mit  „einer  durch  und  durch  politischen  Natur"  unvereinbar  ist, 
richtig  immer  schärfer  hervorgehoben  wird.  Ich  meine  aber, 
wenn  man  die  Unschlüssigkeit  von  Anfang  an  als  den  Grundzug 


16.  Jahrhundert.  387 

im  Charakter  des  Habsburgers  ansieht,  wie  sie  sich  als  natür* 
liehe  Folge  des  steten  Mißverhältnisses  zwischen  großen,  ihm 
von  Fremden  vorgetragenen  Ideen  und  seinen  eigenen  viel  ge- 
ringeren geistigen  Angriffsmitteln  darstellt,  so  erklären  sich  in 
fast  allen  Fällen  am  ungezwungensten  die  ununterbrochenen 
Schwankungen,  die  nun  doch  einmal  seine  ganze  Herrschertätigkeit 
durchziehen,  bis  er  sich  endlich  zu  dem  für  ihn  einzig  befreienden 
Entschluß  durchringt,  abzudanken  und  damit  endgültig  die 
seinem  Wesen  immer  fremde  Last  der  Entscheidung  von  sich 
abzuwälzen. 

Nur  allmählich  allerdings,  auf  dem  Wege  strengster  Akten- 
kritik in  bezug  auf  alle  einzelnen  Urheber  und  Formengeber 
jeder  wichtigen  Kundgebung  aus  der  kaiserlichen  Kanzlei  werden 
wir  volle  Aufklärung  über  die  eigene  Arbeitsleistung  des  Kaisers 
und  über  den  Anteil  seiner  Räte  erwarten  dürfen,  aber  sie  scheint 
mir,  wenigstens  für  die  letzten  Jahre  seiner  Regierung,  eben 
durchaus  in  der  hier  angedeuteten  Richtung  zu  liegen.  Bei 
Urteilen  von  Zeitgenossen  wird  dagegen  stets  die  persönliche 
Stellung  zum  Kaiser  mehr  oder  weniger  stark  mitsprechen,  und 
sie  können  darum  stets  nur  mit  äußerster  Vorsicht  zur  Charak- 
terisierung des  Habsburgers  gebraucht  werden,  wie  das  ja  auch 
sein  neuester  Biograph  grundsätzlich  anzuerkennen  scheint.^) 
Ebenso  sagen  natürlich  Wahlsprüche  (S.  6,  85)  wenig  für  die 
tatsächliche  Bedeutung  eines  Mannes,  denn  nur  zu  gern  posiert 
einer  dabei  mit  Gedanken,  die  ihm  zuerst  bei  andern  imponiert 
haben  und  mit  denen  er  nun  selbst  imponieren  will.  Es  soll 
natürlich  nicht  geleugnet  werden,  daß  Karl  V.  sich  trotzdem 
gern  in  hohen  Gedanken  gefiel  und  auch  zähe  immer  wieder 
darauf  zurückkam,  aber  das  ist  ja  sehr  häufig  der  Fall  bei  Men- 
schen, die  sich  zu  Taten  nicht  entschließen  können,  und  wider- 
spricht also  gar  nicht  dem  unbefriedigenden  Gesamteindruck, 
den  wir  von  des  Kaisers  persönlichem  Wirken  nach  den  Akten 
überall  empfangen  und  den  schließlich  auch  der  Ausgang  aller 
seiner  Politik  und  seines  ganzen  Lebens  hinterläßt.    Denn  zieht 


»)  Andreas  Walther,  Die  Anfänge  Karls  V.  (1911)  S.  1  und 
202  f.  Freilich  verfällt  dann  Walther  doch  in  diesen  Fehler  und 
widerspricht  sich  dadurch  selbst  auch  im  Urteil  über  den  Jungen 
Fürsten.    S.  207  und  210! 


388  Literaturbericht. 

man  wirklich  die  Summe  seines  Lebens,  so  fallen  einem  doch 
unwillkürlich  die  Worte  Grillparzers  ein: 

„Das  ist  der  Fluch  von  unserm  edlen  Haus: 
Auf  halben  Wegen  und  zu  halber  Tat 
Mit  halben  Mitteln  zauderhaft  zu  streben." 

Und  wie  in  der  Charakteristik  Karls  V.,  so  scheint  mir  H. 
auch  in  der  Beurteilung  des  Kurfürsten  Moritz  noch  lange  nicht 
das  Richtige  getroffen  zu  haben.  Während  er  den  Habsburger 
zu  überschätzen  geneigt  ist,  sieht  er  in  dem  Wettiner  nur  den 
Vertreter  einer  „rein  territorialen  und  partikularistischen" 
Politik,  wie  sie  etwa  ähnlich  ein  Albrecht  Achilles  im  15.  Jahr- 
hundert gepflegt  hat  (S.  62,  79).  Dabei  fehlt  es  nun  freilich 
abermals  nicht  an  wesentlichen  inneren  Widersprüchen,  aber 
sich  im  einzelnen  mit  ihnen  auseinanderzusetzen,  würde  eine 
neue,  aktenmäßig  begründete  und  mindestens  ebenso  eingehende 
Darstellung  der  ganzen  Verhältnisse  wie  bei  H.  bedingen,  und 
so  sollen  nur  einige  wenige  Punkte  herausgegriffen  werden.  So 
ist  es  ganz  gewiß,  daß  Moritz  bei  seiner  Erhebung  gegen  den 
Kaiser  schon  von  Anfang  an  die  Herstellung  eines  allgemeinen 
Religionsfriedens  für  das  ganze  Reich  im  Sinne  hatte  (S.  69 
u.  81)  und  nicht  nur  für  sein  eigenes  Land  sorgen  wollte  (S.  78). 
Die  Verhandlungen  in  Linz  bildeten  gewissermaßen  nur  den 
Prüfstein  für  ihn,  ob  die  deutschen  Habsburger  überhaupt  für 
dieses  Programm  zu  gewinnen  sein  würden  und  ob  der  Kaiser 
schon  durch  die  bisherigen  Erfolge  der  Kriegsfürsten  mürbe 
genug  zu  seiner  Einwilligung  geworden  sei.  Als  er  hier  erkannte, 
daß  wohl  das  erstere,  aber  noch  nicht  das  letztere  der  Fall  war, 
zwang  der  Kurfürst  in  raschem  Vorstoß  den  widerstrebenden 
Herrscher  zur  Flucht  aus  der  Hauptstadt  Tirols,  um  ihm  damit 
die  militärische  Hauptzuzugsstraße  aus  Italien  her  zu  ver- 
schließen und  ihn  so  weit  von  den  deutschen  Grenzen  abzudrängen, 
daß  ihm  ein  plötzliches  Erscheinen  im  Reiche  schlechterdings 
unmöglich  gemacht  wurde.  Weil  Moritz  aber  dabei  gar  nicht  die 
Absicht  hatte,  „denschweren  Vogel"  zu  fangen,  für  den  er  sowieso 
keinen  Käfig"  hatte^),  so  konnte  sein  Zug  auch  gar  nicht  dieses 
Ziel  verfehlen  (S.  84),  wie  er  denn  im  Gegenteil  nach  der  Erstür- 


')  V.  Langenn:  Moritz  von  Sachsen  1,  468,  529. 


16.  Jahrhundert.  389 

mung  der  Ehrenberger  Klause  dem  König  Ferdinand  zu  offen- 
barer Warnung  seinen  Einzug  in  Innsbruck  für  zwei  Tage  später 
ausdrücklich  ankündigte.  Die  folgenden  Verhandlungen  in 
Passau  zeigten  auch,  daß  ihm  die  notwendige  Schwächung  der 
kaiserlichen  Stellung  wohl  gelungen  war,  denn  —  nach  H.s 
eigenen  Worten  —  „fast  alles,  was  er  gefordert  hatte,  hatte  er 
auch  durchgesetzt"  (S.  99,  113  f.),  obwohl  er  angeblich  vorher 
die  Neutralen  nur  dadurch  gewonnen  und  festgehalten  haben 
sollte,  daß  er  „seine  Forderungen  herabsetzte"  und  „daß  er 
immer  weiter  nachgab"  (S.  86).  Eine  besonders  herbe  Kritik 
übt  ferner  H.  des  öfteren  an  der  Neigung  von  Moritz,  „unverein- 
bare Pläne  zugleich  zu  verfolgen  und  immer  auf  beiden  Achseln 
zu  tragen"  (S.  63,  112),  ein  Vorwurf,  den  ich  in  dieser  Schärfe 
durchaus  nicht  anerkennen  kann,  den  aber  erst  die  Veröffent- 
lichung der  gesamten  politischen  Korrespondenz  des  Wettiners 
wirksam  entkräften  wird.  Solche  scharfe  Formulierungen  be- 
gegnen aber  überhaupt  mehrfach  bei  H,,  wie  z.  B.  auch  Mark- 
graf Albrecht  Alcibiades  bei  ihm  eigentlich  nur  als  fürstlicher 
Strauchdieb  erscheint,  obwohl  dieser  doch  fraglos  niemals  so 
treue  Freunde  und  begeisterte  Diener  gefunden  hätte,  wenn  sein 
ganzes  Wesen  so  alles  höheren  Schwunges  wirklich  bar  gewesen 
wäre. 

Noch  mehr  als  bei  der  Schilderung  von  Persönlichkeiten 
tritt  dieses  Bestreben,  möglichst  scharf  zu  pointieren,  bei  der 
Darstellung  der  politischen  Verhandlungen  hervor,  obwohl  auch 
hier  H.  bei  allem  Bemühen,  der  Weisheit  letzten  Schluß  zu  geben, 
doch  nie  ganz  aus  gewissen  Widersprüchen  und«  Beschränkungen 
seines  Materials  herauskommen  kann.  Besonders  die  Ausein- 
andersetzungen über  den  kaiserlichen  Bundesplan  von  1547/48 
verknüpfen  infolgedessen  hinsichtlich  der  Stellung  der  einzelnen 
Stände  zum  ganzen  Projekte  mehrfach  Späteres  mit  Früherem 
und  geben  dadurch  ein  in  manchen  Beziehungen  sachlich  un- 
richtiges Bild,  ebenso  wie  sie  das  tatsächliche  Ende  der  Bundes- 
bestrebungen mit  dem  28.  Februar  1548  zu  plötzlich  annehmen, 
da  diese  nur  vorläufig  in  den  Abmachungen  über  den  allgemeinen 
Landfrieden  untergehen,  um  doch  sogleich  mit  fast  denselben 
Gründen  für  und  wider  einen  förmlichen  Bundesabschluß  noch 
1552  und  die  folgenden  Jahre  wiederum  aufzutauchen.  Ihre 
grundsätzliche    Bedeutung    für    die    Verfassungsgeschichte    des 


390  Literaturbericht. 

Reiches  ist  also  mit  dem  endgültigen  Abtun  bei  H.  (S.  40)  noch 
lange  nicht  erschöpft,  eine  Tatsache,  die  auch  bei  ihm  an  anderer 
Stelle  später  (S.  141  u.  143)  gelegentlich  noch  einmal  durch- 
blickt, ohne  aber  in  ihrem  inneren  Zusammenhange  mit  den 
früheren  Vorgängen  verfolgt  zu  werden.  Nicht  minder  werden 
die  Verhandlungen  zu  Linz  und  Passau  noch  eine  andere  Be- 
leuchtung erfahren,  wenn  erst  einmal  aus  dem  gesamten  Akten- 
material die  persönliche  Gesinnung  der  verhandelnden  Fürsten 
und  der  Einfluß  ihrer  Räte  vollkommen  klargelegt  werden 
können. 

Selbstverständlich  wollen  diese  Einwände  der  allgemeinen 
Verdienstlichkeit  von  H.s  fleißiger  Arbeit  keinen  Abtrag  tun, 
denn  wir  können  eben  nur  hoffen,  zu  weiterer  Klarheit  vorzu- 
dringen, wenn  wir  von  schon  erreichten  einzelnen  Höhepunkten 
aus  immer  wieder  den  Blick  auf  das  Ganze  richten.  In  diesem 
Sinne  aber  füllt  das  Buch  von  H.  eine  empfindliche  Lücke  aus, 
denn  es  ersetzt  uns  die  ungeschrieben  gebliebenen  Einleitungen 
zu  den  großen  Aktenveröffentlichungen  von  Druffel  und  Brandi 
und  gibt  uns  mit  dieser  vorläufigen  Zusammenfassung  wieder 
reiche  Anregung  zu  weiterer  Forschung. 

Dresden.  0.  A.  Hecker. 


Epistolae  et  acta  Jesuitarum  Transylvaniae  temporibus  principum 
Bdthory  (1571—1613).  Collegit  et  edidit  Dr.  Andreas 
Veress,  Volumen  primum  (Fontes  rerum  Transylvanicarum 
[Erdilyi  törtdnelmi  forrdsokj  tarn,  l.)  In  Kommission  bei 
Alfred  Holder,  Wien  und  Leipzig.     1911.    XVI  u.  325  S. 

Mit  dem  vorliegenden  Buche  wird  eine  Reihe  von  Geschichts- 
quellen eröffnet,  die  von  hervorragender  Bedeutung  für  die 
Geschichte  Siebenbürgens  in  den  Zeiten  des  Hauses  Bäthory 
und  seine  Beziehungen  zu  den  benachbarten  Ländern  und  Völkern 
sind.  Nicht  bloß  die  streng  kirchUchen  und  kirchenpolitischen 
Verhältnisse,  wie  sie  mit  der  Einführung  des  Jesuitenordens  in 
Siebenbürgen  und  der  Errichtung  des  Klausenburger  Jesuiten- 
kollegiums gegeben  sind,  nicht  bloß  die  inneren  Zustände  des 
Ordens,  seine  Anfechtungen  und  Erfolge  inmitten  einer  ihm  feind- 
lichen Bevölkerung  treten  in  einer  großen  Zahl  dieser  Jesuiten- 
briefe hell  hervor,  auch  für  die  allgemeine  politische  Geschichte 


Gegenreformation.  391 

jener  Zeiten  und  vornehmlich  auch  für  die  Kulturzustände  in 
Siebenbürgen,  Ungarn  und  Polen  finden  sich  hier  die  wertvollsten 
Materialien.  Wenn  die  folgenden  Bände  ebenso  stoffreich  sein 
sollten,  wie  der  vorliegende,  so  darf  die  siebenbürgische  Geschichte 
auf  eine  reiche  Ausbeute  hoffen.  Das  ganze  Unternehmen  ist  in 
großartigem  Maßstab  entworfen.  Es  soll  nicht  weniger  als  50  Bände 
fassen  und  eine  Art  Ergänzung  der  von  der  kaiseriichen  Akademie 
in  Wien  herausgegebenen  Fontes  rerum  Austriacarum  bilden. 
Die  Materialien  hat  in  20  jähriger  Arbeit  Andreas  Veress,  dem 
man  bereits  die  Ausgaben  der  Epistolae  et  acta  P.  Alfonsi  Car- 
rillii  S.  J.  (1591—1618),  Budapest  1906,  dann  der  Epistolae  et 
acta  Generalis  Georgii  Basta  (1597—1607),  Budapest  1909,  und 
der  Relationes  nuntiorum  Apostolicorum  in  Transsilvaniam 
missorum  a  demente  VIII  (1592—1600),  Budapest  1909,  dankt, 
in  den  öffentlichen  und  verschiedenen  Privatarchiven  Ungarns, 
Österreichs,  Deutschlands,  Italiens,  Rußlands  u.  a.  gesammelt. 
Die  ersten  drei  Bände  sollen  die  oben  vermerkten  Jesuitenbriefe 
füllen,  daran  schließen  sich  Regesten  aus  Familienarchiven, 
das  Epistolarium  P.  Alfonsi  Carrillii,  Teile  der  Annuae  Litterae 
Societatisjesu,  das  Epistolarium  des  Kardinals  Andreas  Bäthory  usw. 
Von  den  Jesuitenbriefen  liegt  der  erste  Band  mit  Briefen  von 
1571 — 1583  vor.  Es  sind  etwas  über  100  Nummern,  verschieden 
an  Umfang,  doch  alle  bedeutsam :  Schreiben  Pius'  V.,  Gregors  XIII. 
Briefe  von  und  an  die  Jesuitengenerale  Mercurian  Eberhard  und 
Aquaviva,  von  und  an  Stephan  und  Christoph  Bäthory,  Briefe 
des  Nuntius  Caligari,  der  Provinzialen  Campani,  Maggio  usw. 
Auf  das  Jahr  1571  entfallen  3,  auf  1572  2,  je  4  auf  1574—1577, 
1  Stück  auf  1578,  10  auf  1579,  19  auf  1580,  25  auf  1581,  12  auf 
1582  und  24  auf  1583.  Von  höchstem  Wert  sind  die  an  Aquaviva 
gerichteten  Briefe.  Sie  geben  getreulich  die  Zustände  wieder, 
wie  sie  in  diesen  Jesuitenkreisen  herrschen,  berichten  nicht  bloß 
Dinge,  die  für  die  Jesuiten  erfreulich  sind,  sondern  schildern 
auch  die  Fehler  einzelner  auf  wichtigen  Posten  stehender  Je- 
suiten: ihren  Hochmut,  ihre  Unverträglichkeit,  Streitsucht  usw. 
Es  ist  nicht  anders,  als  wir  es  seinerzeit  für  das  Grazer  Kollegium 
nachzuweisen  in  der  Lage  waren.  Da  gibt  es  Schmeicheleien 
bis  zur  Würdelosigkeit  für  den  General,  offenkundige  Über- 
treibungen oder  Unwahrheiten;  wir  hören  aus  jesuitischen  Federn, 
wie  sich  die  Jesuiten  in  alles  und  jedes  mischen  usw.   Interessant 


392  Literaturbericht. 

ist  die  Schilderung  der  Zustände  in  Siebenbürgen  und  vornehm- 
lich auch  in  Polen,  wo  die  Behandlung  der  Untertanen  in  einen 
Gegensatz  zu  der  in  Siebenbürgen  gestellt  wird.  Die  Ausgabe 
ist,  soweit  man  sieht,  gewissenhaft  gemacht,  die  Wiedergabe 
der  Texte  im  Drucke,  wie  man  den  beigegebenen  Proben  ent- 
nimmt, eine  korrekte.  Zu  bedauern  ist  dagegen,  daß  alle  kri- 
tischen und  sachlichen  Anmerkungen,  Inhaltsangaben,  Notizen 
über  die  Provenienz  und  Überlieferung  der  einzelnen  Nummern, 
Hinweise  auf  einige  Drucke  und  Literaturvermerke  ausschließlich 
in  magyarischer  Sprache  geschrieben  sind. 

Graz.  J.  Loserth. 

Recueil  des  Instructions  donnies  aux  ambassadeurs  et  minist  res 
de  France  depuis  les  traitis  de  Westphalie  jusqu'ä  la  re'vo- 
lution  franpaise,  publik  sous  les  auspices  de  la  commission 
des  archives  diplomatiques  au  ministere  des  affaires  etran- 
geres.  Bd.  18:  Diete  germanique,  avec  une  introduction  et 
des  notes  par  B.  Auerbach.  Paris,F.  Alcan.  1912.  XCVIII 
u.  400  S.    20  Fr. 

Die  Art  dieser  Sammlung,  die  nur  die  den  neu  ernannten 
Gesandten  zur  Einführung  in  ihre  Aufgabe  erteilten  allgemeinen 
Instruktionen,  nicht  die  besonderen  Weisungen  oder  gar  die  Be- 
richte der  Gesandten  enthält,  scheint  mir  für  die  Einzelfor- 
schung wenig  zweckmäßig  zu  sein;  daher  lasse  ich  mich  gar 
nicht  auf  die  Frage  ein,  inwiefern  unsere  Kenntnisse  über  einzelne 
Punkte  der  deutsch-französichen  Beziehungen,  etwa  den  Rhein- 
bund des  Jahres  1658  oder  die  Reunionspolitik,  erweitert  oder 
umgestaltet  werden.  Der  Wert  der  vorliegenden  Zusammen- 
stellung von  17  Instruktionen  aus  den  Jahren  1653 — 1792  besteht 
vielmehr  darin,  daß  sie  den  Gang  der  französischen  Politik  gegen- 
über dem  Reiche  in  großen  Zügen  widerspiegelt.  Die  ersten 
Instruktionen  stehen  noch  unter  der  Einwirkung  des  Dreißig- 
jährigen Krieges;  Frankreich  fühlt  sich  als  Schützer  der  deutschen 
Libertät,  es  versucht,  als  Reichsstand  in  den  Reichstag  einzu- 
dringen, um  hier  dem  Haus  Habsburg  Abbruch  zu  tun,  es  führt 
die  Opposition  gegen  das  Kaisertum.  Sehr  bald  aber  ändert 
sich  durch  die  aggressive  Politik  Ludwigs  XIV.  die  Aufgabe  der 
französischen  Gesandten  am  Reichstage.  Der  Grundgedanke 
der  französischen  Politik  bleibt  natürlich  der  gleiche,  zu  ver- 


17.— 18.  Jahrhundert.  393 

hindern,  daß  der  Kaiser  die  gesamten  Kräfte  des  Reiches  gegen 
Frankreich  einige.  Aber  die  Mittel  ändern  sich.  Seitdem  die 
Masse  der  Reichsstände  die  Gefährlichkeit  Frankreichs  erkannt 
hat,  kann  Frankreich  nicht  mehr  daran  denken,  als  Reichsstand 
zugelassen  zu  werden;  seither  beruft  es  sich  auf  die  Garantie 
des  Westfälischen  Friedens.  Auch  das  ist  nicht  mehr  möglich, 
eine  große  Partei  zu  gewinnen  und  das  Reich  gegen  den  Kaiser 
zu  organisieren.  Vielmehr  sind  die  französischen  Gesandten  in 
die  Defensive  gedrängt,  müssen  die  Haltung  ihres  Königs  recht- 
fertigen und  entschuldigen  und  mühsam  die  einzelnen  Stände 
soweit  bearbeiten,  daß  sie  auf  dem  Reichstage  Beschlüsse,  die 
sich  gegen  Frankreich  richteten,  verhinderten.  Das  ist  natürlich 
in  erster  Linie  Aufgabe  der  besonderen  Gesandten,  die  Frank- 
reich bei  den  wichtigeren  Ständen  unterhielt;  aber  auch  die 
Gesandten  am  Reichstage  können  hier,  zumal  bei  der  unbehol- 
fenen Reichstagsverfassung,  allerhand  tun  (vgl.  z.  B.  S.  77). 

Die  Politik  Ludwigs  XIV.  endet  mit  völliger  Zerstörung  der 
alten  Stellung  Frankreichs  in  Deutschland;  das  kommt  in  der 
Instruktion  für  den  Grafen  de  Gergy,  den  ersten  Gesandten 
Frankreichs  nach  dem  Spanischen  Erbfolgekrieg,  deutlich  zum 
Ausdruck.  Ihm  wird  die  Aufgabe  zugewiesen,  das  Vertrauen  der 
Stände  auf  die  Vertragstreue  und  Friedensliebe  Frankreichs 
durch  unbedingte  Zurückhaltung  in  allen  politischen  und  kon- 
fessionellen Fragen  wieder  herzustellen;  im  nordischen  Kriege, 
so  sehr  er  auch  durch  die  Gefährdung  Schwedens,  des  Mitgaranten 
des  Westfälischen  Friedens,  Frankreich  berührt,  in  der  Angelegen- 
heit der  Ryswicker  Klausel,  auf  die  Ludwig  XIV.  besonderen 
Wert  gelegt  hatte,  überall  bleibt  Frankreich  neutral,  läßt  die 
Nächstbeteiligten  ihre  Sache  allein  ausfechten.  Und  diese  Zurück- 
haltung, die  sich  gern  als  die  Politik  des  „juste  milieu",  des  Ab- 
wartens,  des  Balancierens  zwischen  Kaiser  und  Reich  ausgab, 
bleibt  der  ganzen  Folgezeit  eigentümlich;  das  Bündnis  mit 
Österreich  ändert  daran  nichts,  im  Gegenteil,  es  befestigt  sie, 
weil  Frankreich  neben  dem  Bündnis  seine  Verbindungen  im 
Reiche  nicht  aufgeben  wollte.  Damit  hatte  es  freilich  kein  Glück, 
der  Einfluß  Frankreichs  im  Reiche  schwindet  gegen  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  unaufhaltsam;  an  seiner  Stelle  ist  das  Preußen 
Friedrichs  des  Großen,  des  Fürstenbundes,  der  Schützer  der 
deutschen  Libertät  geworden.    Das  wird  auch  aus  den  letzten 


394  Literaturbericht. 

Instruktionen  klar;  sie  sind  weniger  Anweisungen  für  die  Be- 
handlung der  Reichspolitik  als  historische  Darstellungen  des 
entschwundenen  Einflusses  Frankreichs  auf  Deutschland.  Die 
letzte  der  mitgeteilten  Instruktionen,  die  von  1792,  hat  eigentlich 
nur  Kuriositätswert.  Sie  zeigt  die  Illusionen  des  girondistischen 
Ministeriums,  das  zu  Beginn  des  Jahres  1792  den  deutschen 
Reichstag  als  eine  „association  libre",  als  den  geeigneten  Ver- 
mittler zwischen  dem  neuen  freien  Frankreich  und  der  deutschen 
Nation  auffaßte.  Aber  auch  aus  dieser  phrasenreichen  Instruktion 
tritt  der  Grundzug  der  Reichspolitik  Frankreichs  zutage,  das 
Streben,  die  deutschen  Mittel-  und  Kleinstaaten  als  ein  Gegen- 
gewicht gegen  die  Großmacht  Österreich  um  sich  zu  vereinigen; 
die  Verbindung  der  Rheinbundspolitik  des  ancien  rigime  mit 
der  Napoleons  ist  unverkennbar. 

Der  Herausgeber  hat  es  leider  versäumt,  die  Kontinuität 
der  Entwicklung  im  Druck  dadurch  hervorzuheben,  daß  er  wört- 
lich sich  wiederholende  Stellen  irgendwie  kenntlich  machte. 
Einige  Anläufe  hat  er  zwar  genommen,  z.  B.  in  Nr.  XIII  (S.  255) 
und  in  den  Nummern  XVI  und  XVII,  die  zum  größten  Teil 
aus  Nr.  XV  abgeschrieben  sind.  Aber  selbst  in  diesen  Nummern 
hat  er  nicht  alle  übernommenen  Stellen  angemerkt  (vgl.  S.  187, 
226,  298  usw.) ;  auch  die  der  Zeit  entsprechend  sehr  ausführlichen 
Anweisungen  über  das  Zeremoniell  sind  in  der  Regel  ohne  jeden 
Hinweis  auf  die  Wiederholungen  wörtlich  mitgeteilt. 

Halle  (Saale).  F.  Hortung. 


Kritische  Bibliographie  der  Flugschriften  zur  deutschen  Verfas- 
sungsfrage 1848—1851.  Von  Paul  Wentzdce.  Halle  a.  S., 
Max  Niemeyer.     1911.   XXI  u.  313  S. 

Wer  sich  darstellerisch  mit  der  deutschen  Revolution  1848/49 
befaßt,  dem  bietet  die  Verwertung  der  Flugschriften  große  Schwie- 
rigkeit. Der  Inhalt  dieser  Erzeugnisse  rührt  häufig  an  die  wich- 
tigsten Fragen  der  Zeitgeschichte  in  origineller  Weise  —  das 
Schicksal  hat  sie  aber  zu  dem  Ephemeren  und  Ephemersten 
gesellt,  so  daß  sie  noch  glücklich  zu  preisen  sind,  wenn  sie  in 
einem  staubigen  Gefach  oder  Kasten  der  öffentlichen  Institute 
bescheiden    am    Leben    bleiben    durften.      Hier    mußte   einmal 


19.  Jahrhundert.  395 

ein  Hilfsorgan  entstehen,  das  dem  Forscher  überhaupt  zeigte, 
womit  er  zu  rechnen  hat,  wo  einzusetzen  ist. 

Paul  Wentzcke  hat  sich  der  mühseligen  Aufgabe  unterzogen, 
dieses  Hilfsorgan  zu  schaffen  in  dem  vorliegenden  Buche.  Er  nennt 
es  eine  Bibliographie;  das  Attribut  „kritisch"  hebt  aber  die 
Arbeit  über  das  Registrierende  hinaus.  8000  Broschüren  hat  er 
durchzusehen  gehabt,  unter  Abrechnung  der  Dubletten  5000; 
1000  Nummern  enthält  seine  Zusammenstellung.  Alle  diese 
Nummern  behandeln  die  eine  große  herrschende  Frage  der 
Zeit,  die  der  deutschen  Verfassungsgestaltung.  W.  hat  durch 
sorgfältige  und  übersichtliche  Disponierung  Ordnung  in  den 
Widerstreit  der  Gesichtspunkte  und  Interessen  gebracht;  also 
etwa:  Von  Anfang  März  bis  zur  Berliner  Revolution;  Unterab- 
schnitte: Rückblick  auf  die  Tätigkeit  des  Bundestages.  Über  die 
Umgestaltung  des  Bundestages.  Von  der  Erneuerung  Deutsch- 
lands. Mit  dem  chronologischen  ist  das  geographische  und  partei- 
politische Einteilungsprinzip  kombiniert.  Jede  der  Schriften  ist, 
abgesehen  von  den  bibliographischen  Notizen,  begleitet  von  einem 
Resümee  in  Schlagworten.  Manchmal  wünschte  man  diese 
Resümees  ausführlicher,  wenn  die  Neugier  durch  eine  Besonder- 
heit des  Ausgangspunktes  oder  Stiles  gereizt  ist;  aber  W.  will 
ja  nicht  Lektüre  ersetzen,  sondern  zur  Lektüre  anleiten.  Es 
ist  ein  Lob,  wenn  man  sagt,  daß  diese  Bibliographie  aber  schon 
selbst  eindrucksvoll  wie  eine  Lektüre  wirkt. 

Mit  Recht  hat  W.  die  Broschüren,  die  sich  mit  den 
sozialen  und  wirtschaftspolitischen  Fragen  beschäftigen,  außer 
acht  gelassen,  nur  so  konnte  er  etwas  Konzentriertes  zustande 
bringen.  Das  scheint  mir  der  ausschlaggebende  Grund  zu  sein 
—  und  nicht  der  Umstand,  daß  für  die  sozialen  Probleme  die 
Epoche  1848/51  nur  eine  Übergangszeit  darstellt.  Für  die  politi- 
schen etwa  nicht?  Ich  möchte  den  Wunsch  aussprechen,  daß 
wir  eine  ähnliche  Bibliographie  für  die  anderen  Broschüren  er- 
hielten; es  wäre  da  aber  früher,  schon  vor  der  Notzeit,  etwa 
1845/46,  der  Anfangspunkt  zu  nehmen. 

W.s  fleißiges  und  nützliches  Hilfsmittel,  das  Friedrich 
Meinecke  gewidmet  ist,  wurde  gedruckt  mit  Unterstützung 
der  Straßburger  Cunitz-Stiftung. 

Freiburg  i.  Er.  Veit  Valentin. 


396  Literaturbericht. 

Handbuch  der  Kirchengeschichte  für  Studierende,  in  Verbindung 
mit  Gerhard  Ficker,  Heinrich  Hermelink,  Erwin  Preuschen, 
Horst  Stephan  herausgegeben  von  Gustav  Krüger.  4.  Teil: 
Die  Neuzeit.  Bearbeitet  von  Lic.  Horst  Stephan,  Privat- 
dozent der  Theologie  in  Marburg.  Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr. 
1909.     XII  u.  300  S.     5  M. 

Das  Buch  bildet  den  zuerst  erschienenen  vierten  Teil  des 
mittlerweile  fertiggestellten  Krügerschen  Handbuchs  der  Kirchen- 
geschichte. Es  behandelt  insbesondere  „die  Neuzeit".  Der  Autor 
ist  sich  der  Schwierigkeit  des  Unternehmens  bewußt.  Denn  das 
„Gebiet"  der  „neueren  Kirchengeschichte"  hat,  wie  er  selbst 
sagt,  „weniger  streng  wissenschaftliche  Vorarbeiten  und  mehr 
komplizierte  Zusammenhänge  aufzuweisen,  steht  auch  natur- 
gemäß mehr  unter  dem  Bann  der  Subjektivität  als  irgendein 
anderes".    Um  so  dankenswerter  ist  das,  was  geboten  wird. 

Das  Ganze  zerfällt  in  zwei  Hauptteile,  indem  zwei  Perioden, 
eine  solche  der  „Inneren  Umbildung  und  äußeren  Auflösung" 
und  eine  solche  der  ,, Äußeren  und  inneren  Neubildung"  unter- 
schieden werden.  Als  Ausgangspunkt  hat  der  Verfasser  nicht, 
wie  vielfach  üblich,  das  Jahr  1648,  sondern  mit  Loofs  1689  ge- 
wählt. Den  Einschnitt  macht  er  nicht  bei  der  französischen 
Revolution  (1789),  auch  nicht,  wie  Loofs  und  Arnold  (-Wein- 
garten), bei  dem  Jahre  1806,  sondern  bei  1814.  Dargestellt  wird 
in  jedem  der  beiden  Teile  nach  einem  kurzen  Hinweis  auf  die 
„allgemeinen  Grundlagen  und  Einwirkungen"  der  Protestantis- 
mus, zunächst  der  deutsche  und  dann  der  außerdeutsche,  und 
der  römische  Katholizismus.  Dagegen  bleibt  der  griechische 
Katholizismus,  abgesehen  von  einzelnen  Exkursen,  aus  Gründen, 
die  sich  durchaus  hören  lassen  können,  im  wesentlichen  unberück- 
sichtigt, und  die  Schilderung  desselben  wird  der  Disziplin  der 
Symbolik  vorbehalten.  Die  Abschnitte,  die  es  mit  Amerika  zu 
tun  haben,  sind  von  Professor  Rauschenbusch  in  Rochester, 
diejenigen,  die  sich  auf  die  Entwicklung  von  Predigt,  Kirchen- 
lied, Agende  u.  a.  beziehen,  von  Privatdozent  Lic.  Günther  in 
Marburg  bearbeitet  worden.  Sie  sind  verhältnismäßig  umfang- 
reich ausgefallen,  ohne  jedoch  die  Symmetrie  empfindlich  zu 
stören. 

Charakteristisch  ist  für  das  Werk  das  bereits  in  der  Anlage 
hervortretende  doppelte  Bestreben,  einmal  die  geistigen  Zusammen- 


Kirchengeschichtc.  397 

hänge  und  die  ausschlaggebenden  Gesichtspunkte  kurz  zu  kenn- 
zeichnen und  dann  die  so  in  großen  Umrissen  skizzierten  Bilder 
durch  eine  Fülle  von  Einzelheiten  anschaulich  zu  gestalten. 
Niemals  aber  wirkt  die  wahrhaft  erstaunliche  Stoffmenge  er- 
drückend; vielmehr  erweist  sie  sich  als  vortrefflich  geeignet  zu 
selbständigem  Nachdenken  über  die  treibenden  Ideen  in  der 
Geschichte  anzuregen.  Nicht  ganz  leicht  war  es  gerade  bei  der 
Behandlung  der  Neuzeit,  ohne  Verleugnung  des  eigenen  Standorts 
den  verschiedenen  Richtungen  des  kirchlichen  und  theologischen 
Lebens  gerecht  zu  werden.  Indem  der  Autor  mehr  ihre  Leistungen 
als  ihre  Einseitigkeiten  herauszukehren  sich  bemühte,  hat  er  die 
Aufgabe  in  vorbildlicher  Weise  gelöst,  und  man  wird  kaum  den 
Eindruck  haben,  daß  „die  Plastik  der  Darstellung"  darunter 
stark  gelitten  hätte.  Auch  die  besonnene  Beurteilung  der  aktu- 
ellen und  viel  erörterten  Frage  nach  der  Bedeutung  der  Refor- 
mation für  den  neueren  Protestantismus  beruht  augenscheinlich 
auf  sorgfältiger,  das  Für  und  Wider  kritisch  prüfenden  Erwä- 
gungen und  ist  nach  der  Überzeugung  des  Unterzeichneten  richtig. 
Das  Buch  dürfte  seinen  Zweck,  „in  erster  Linie  Vorlesungen 
zum  Anhalt"  zu  dienen,  durchaus  erfüllen.  Man  gehe  zur  Prob^ 
einmal  etwa  den  Abschnitt  über  die  Aufklärung  durch. 

Wenn  ich  einen  vereinzelten  Wunsch  äußern  dürfte,  so  wäre 
es  der,  daß  bei  der  Besprechung  des  Pietismus  die  Ethik  dieser 
Richtung  etwas  ausführlicher  charakterisiert  worden  wäre;  denn 
sie  hat  stark  nachgewirkt  bis  in  die  Gegenwart  hinein.  Zum 
Schluß,  auf  die  Gefahr  hin,  des  Krokylegmus  bezichtigt  zu 
werden,  noch  eine  Frage:  Stammt  die  Iglesia  Espanola  aus  dem 
Jahre  1881  oder,  wie  bei  Loofs  steht,  1880? 

Straßburg  i.  E.  E.  W.  Mayer. 

Die  Endter.  Eine  Nürnberger  Buchhändlerfamilie  (1590 — 1740). 
Monographische  Studie  von  Friedrich  Oldenbourg.  Mit 
8  Porträtbildern.  München  und  Berlin,  R.  Oldenbourg.  1911. 
116  S. 

Durch  die  Familie  Endter  ist  Nürnberg  im  17.  Jahrhundert 
der  Ruhm  eines  hervorragenden  Buchhandelsplatzes,  den  es  einst 
den  Kobergern  verdankt  hatte,  zurückerobert  worden.  Wenn  die 
Stadt,  wie  Goldfriedrich  in  seiner  Geschichte  des  deutschen  Buch- 
handels gezeigt  hat,  in  diesem  1618  noch  an  zwölfter,  1730  aber 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  26 


398  Literaturbericht. 

an  zweiter  Stelle  stand,  hatte  sie  diesen  Aufschwung  vornehmlich 
der  rührigen  Tätigkeit  der  Endterschen  Buchhändlerdynastie 
zu  danken.  Mit  Recht  stellt  der  Verfasser  das  ökonomische  und 
handelsgeschichtliche  Interesse  seines  Stoffes  in  den  Vorder- 
grund, ohne  darüber  das  Biographische  zu  vernachlässigen; 
nur  auf  dessen  erschöpfende  Behandlung  hat  er  verzichtet,  da 
sie  jahrelange,  weit  über  Deutschland  hinaus  erstreckte  Studien 
erfordert  hätte. 

Der  erste,  biographische  Teil  beginnt  mit  Georg  Endter  d.  Ä., 
der,  1562  geboren,  von  Haus  aus  Buchbinder,  1590  ein  Verlags- 
geschäft begründete.  Ein  reines  Verlegertum  kannte  man  noch 
nicht.  Ursprünglich  war  der  Buchdrucker  als  erster  berechtigt, 
nicht  nur  das  Verlagsgeschäft  zu  betreiben  sondern  auch  für  den 
Absatz  der  Bücher  zu  sorgen ;  in  der  letzteren  Arbeit  aber  wurde 
er  bald  zum  größten  Teil  vom  Buchbinder  abgelöst.  Hatte  schon 
Georg  Endter  d.  Ä.,  wie  die  prächtige  Tracht  seines  schönen  Bild- 
nisses verrät,  es  zu  behäbigem  Wohlstand  gebracht,  so  verdankten 
dann  die  Endter  seinem  zweiten  Sohne  Wolfgang  d.  Ä.  (1593  bis 
1659)  den  Ehrenplatz  in  der  Geschichte  des  Buchhandels.  Wolf- 
gang hat  wieder  Schriftgießer  nach  Nürnberg  gebracht,  hat  die 
Papierfabrikation  gefördert,  war  im  Besitze  von  drei  Druckereien 
und  als  Verieger  wie  Sortimenter  gleich  tätig.  Seine  Leichen- 
predigt rühmt  ihn  als  einen  wegen  seines  Handels  vornehmen  und 
berühmten  Mann,  der  seinesgleichen  in  Deutschland  nicht  viele 
gehabt  habe.  Seine  Erhebung  in  den  Adelstand  durch  Kaiser 
Ferdinand  III.  (1651)  wurde  von  den  eifersüchtigen  Nürnberger 
Patriziern  nicht  anerkannt.  Bemerkenswert  ist,  daß  der  größte 
Aufschwung  des  Geschäftes  in  die  Zeiten  des  Dreißigjährigen 
Krieges  fällt.  Damals  hielt  die  Familie  noch  zusammen,  und  eben 
diesem  Zusammenhalt  verdankten  die  Endter  zu  gutem  Teil 
ihre  dominierende  Stellung  im  Buchhandel.  Schon  in  den  Sechziger 
Jahren  des  17.  Jahrhunderts  aber  erscheinen  die  ersten  Anzeichen 
einer  Abwärtsbewegung  und  im  folgenden  Jahrhundert  drängte 
die  zunehmende  Zersplitterung  der  Familie  die  Endterschen  Ge- 
schäfte auf  das  Durchschnittsniveau  herab. 

Im  zweiten  Teile  werden  die  einzelnen  Zweige  dieser  Ge- 
schäfte besprochen,  wir  verfolgen  die  Endter  als  Drucker,  als 
Buchbinder,  Papierfabrikanten  und  Papierhändler,  als  Verleger 
und   Sortimenter,   sowie   Bedeutung  und    Inhalt  ihres  Verlags. 


Deutsche  Landschaften.  999 

Als  dessen  Grundstock  erscheinen  die  auf  die  ursprüngliche  Ver- 
lagstätigkeit zurückgehenden,  für  einen  Buchbinder  und  Sorti- 
menter gangbartsten  Artikel:  Bibel,  Kalender,  Erbauungsliteratur. 
Vornehmlich  durch  Bibelausgaben  (die  berühmteste  die  Wei- 
marer oder  Kurfürstenbibel)  und  Erbauungsliteratur  (darunter 
die  bekanntesten  Schriften  dieser  Art,  wie  Spangenbergs  Postille, 
Amds  wahres  Christentum  und  Paradiesgärtlein)  gewannen  die 
Endter  ihre  Bedeutung  als  Buchhändlerdynastie.  Während  die 
Linie  Wolfgangs  sich  besonders  auf  die  protestantische  Erbauungs- 
literatur warf,  betrieb  die  Linie  Georgs  d.  J.,  trotz  der  Schwierig- 
keiten, welche  die  unduldsame  Verfolgung  des  Rates  bereitete, 
vor  allem  die  Ausgabe  katholischer  Werke  —  in  dem  streng 
lutherischen  Nürnberg  eine  überraschende  Erscheinung,  für  die 
in  katholischen  Ländern  wohl  kein  Gegenstück  nachzuweisen  sein 
wird.  Auf  die  Buchhändlervergangenheit  der  Endter  weist  auch 
ihr  ansehnlicher  Verlag  von  Volksbüchern,  wie  Eulenspiegel, 
Genoveva,  De  vita  Fausti,  zurück,  der  dem  Unterhaltungsbedürfnis 
breiter  Volksschichten  entgegenkam. 

Gegen  die  Schäden  des  Nachdrucks,  soweit  sie  davon  betroffen 
wurden,  führten  die  Endter  einen  eifrigen  Kampf.  Auf  der  andern 
Seite  wurden  sie  aber  selbst  häufig  wegen  Nachdrucks  verklagt 
und  ist  unbestreitbar,  daß  sie  ihre  Geschäfte  mit  großer  Rück- 
sichtslosigkeit gegen  die  Rechte  anderer  betrieben.  Und  zwar 
weniger  durch  eigentlichen  Nachdruck,  als  dadurch,  daß  sie  sich 
in  den  Besitz  günstiger  Privilegien  setzten,  die  vorher  anderen 
verliehen  worden  waren.  Sehr  oft  schreckten  die  verarmten  recht- 
mäßigen Verleger  vor  den  Kosten  zurück,  welche  die  Erneuerung 
eines  Privilegs  mit  sich  brachte. 

Ein  interessantes  Kapitel  bilden  die  Reibungen  mit  der 
Zensur.  Sie  entsprangen  teils  aus  dem  Verlag  katholischer  Bücher, 
teils  aus  der  Herausgabe  einer  Zeitung.  Die  Anfänge  periodischen 
Zeitungsdruckes  durch  die  Endter  fallen  in  die  Jahre  1662  bis 
1664,  aber  erst  1693  erwarb  Balthasar  Joachim  ein  kaiserliches 
Privileg  für  einen  „Teutschen  ordinari-  und  extraordinari  Frie- 
dens- und  Kriegskurier"  (gewöhnlich  „Der  Postillon",  1725  „Der 
schnelle  Postillon"  genannt).  Noch  mehr  Schwierigkeiten  als  die 
Zensur  bereitete  dem  Zeitungswesen  die  kleinliche  Ängstlichkeit 
des  Rates,  dem  der  Zensor  nicht  weit  genug  gehen  konnte.  Der 
Rat  wachte  auch  darüber,  daß  die  Zeitungen  nicht  an  Umfang 

26« 


400  Literaturbericht, 

zunähmen,  verlangte,  auch  bei  ihrer  äußeren  Ausstattung  mit- 
zusprechen. Als  sein  offizielles  Organ  hat  er  die  Zeitung  selten 
benutzt. 

Als  Sortimenter  verstanden  es  die  Endter  trotz  der  schweren 
Zeiten  die  literarischen  Erzeugnisse  der  Zeit  weit  durch  die  Länder 
und  in  abgelegene  Orte  zu  tragen.  Mit  großen  Geldopfern,  mit 
Einsatz  von  Tatkraft,  ja  persönlicher  Tapferkeit,  wurden  die 
Hemmnisse  überwunden.  Süddeutschland  und  die  österreichischen 
Erblande,  mit  Einschluß  Schlesiens,  waren  die  Hauptabsatz- 
gebiete der  Endter,  doch  führten  sie  ihre  Geschäftsreisen  auch 
nach  Paris,  Genf,  Holland,  Livland  und  Schweden.  An  den  grö- 
ßeren Plätzen  hatten  sie  Niederlagen,  auch  besondere  Vertreter. 
Von  den  Endterschen  Sortimentskatalogen  sind  nur  wenige  er- 
halten. Während  der  von  1639  im  ganzen  nur  81  Werke  aufführt, 
nennt  der  für  das  Münchener  Meßlager  1670  hergestellte  nicht 
weniger  als  3427.  Weitaus  am  stärksten  vertreten  sind  hier  die 
Fächer  der  Theologie,  Jurisprudenz,  philosophische,  historische, 
politische,  endlich  medizinische  und  chemische  Bücher.  Weit 
größer  war  selbstverständlich  der  Bestand  des  Nürnberger  Lagers. 
Der  theologische  Katalog  von  1686  allein  enthält  7870  Titel, 
fast  genau  zur  Hälfte  lateinische,  zur  Hälfte  deutsche  Werke. 
Dem  Kommissionsbuchhandel  (Lieferung  auf  Kondition)  hat  sich 
erst  Wolfgang  Moritz  (seit  ca.  1690)  gewidmet. 

Aus  dem  dritten  Teil:  Die  Endter  und  der  Buchhandel  des 
17.  Jahrhunderts,  sei  das  Problem  einer  in  Frankfurt  a.  M.  einzu- 
führenden Büchertaxe  hervorgehoben.  1656  wandten  sich  die 
Endter  gegen  die  von  kaiserlicher  Seite  geplante  Einführung 
einer  Taxe,  d.  h.  der  obrigkeitlichen  Preisfixierung  für  Bücher 
bestimmten  Formates,  besonders  aus  dem  einleuchtenden  Grunde, 
weil  die  Herstellungskosten  von  so  verschiedener  Höhe  seien. 
Später  aber  wurde  der  Gedanke  aus  dem  Kreise  der  Buchhändler 
im  engeren  Sinne  wieder  belebt,  welche  durch  eine  Taxe  die 
Konkurrenz  der  Buchbinder,  Drucker,  Kupferstecher  usw.  zu 
beschränken  hofften,  und  nun  finden  wir  die  Endter  als  Wort- 
führer dieser  Tendenz.  Ihre  Eingabe  an  den  Kaiser  von  1669 
richtete  sich  besonders  gegen  den  Buchhandel  der  Buchdrucker, 
die  in  ihrer  Hauptaufgabe  genügende  Beschäftigung  und  Ver- 
dienst fänden,  und  —  wie  man  sieht,  verstanden  die  Endter  den 
Mantel  nach  dem  Wind  zu  drehen—  auch  der  Buchbinder,  deren 


Deutsche  Landschaften.  401 

Buchhandel  nur  an  Orten  zulässig  sein  sollte,  wo  kein  rechter 
Buchhändler  ansässig  sei.  Drittens  wandte  sich  die  Eingabe  gegen 
die  Konkurrenz  der  Kunsthändler,  Kupferstecher,  Formenschnei- 
der usw.,  die  für  die  Endter  um  so  mißlicher  war,  da  sie  selbst 
viele  illustrierte  Werke  verlegten,  und  viertens  gegen  die  von 
den  Geistlichen  beider  Konfessionen  ausgehende.  Der  Frankfurter 
Rat  aber  erklärte  sich  energisch  gegen  die  nach  dem  Monopol 
strebenden  Endter,  und  wiewohl  ihre  Denkschrift  mit  den  An- 
schauungen der  Reichsregierung  übereinstimmte,  errangen  sie  nur 
mäßigen  Erfolg.  Die  Büchertaxfrage,  worin  Johann  Andreas 
Endter  das  treibende  Element  war,  verschwand  von  der  Bild- 
fläche, ohne  Spuren  zu  hinterlassen. 

In  den  Anlagen  folgen  Stammbäume,  die  Endter  in  den  Meß- 
katalogen, Brief  (d.  h.  Eingabe)  und  Bericht  der  Endter  an  den 
Kaiser  (beide  undatiert,  Angaben  über  die  Datierung  finden  sich 
zwar  im  darstellenden  Teil,  S.  87  f.,  wären  aber  auch  bei  den 
Texten  erwünscht),  endlich  ihr  kaiserliches  Zeitungsprivileg 
und  der  Vertrag  zwischen  Balthasar  Joachim  und  Johann  Daniel 
von  1717.  Die  Quellen  für  das  Ganze  haben  neben  einer  nicht  sehr 
ausgedehnten  Literatur  die  Archive  von  Nürnberg,  Leipzig, 
Frankfurt  und  Wien  geboten.  Streng  methodisch,  durch  Gründ- 
lichkeit, Sauberkeit  und  einsichtsvolle  Hervorhebung  des  Wesent- 
lichen ausgezeichnet,  darf  die  Schrift  Oldenbourgs  als  wertvoller 
Beitrag  zur  Aufhellung  eines  noch  wenig  bebauten  Gebietes 
deutscher  Kulturgeschichte  begrüßt  werden. 

München.  S.  Riezler. 

Die  provisorische  Verwaltung  am  Nieder-  und  Mittelrhein  während 
der  Jahre  1814— 1816.  Von  Fritz  Vollheim.  Bonn,  Hanstein. 
1912.    IV  u.  256  S. 

Als  ein  neuer  Versuch,  mehr  Licht  über  die  Anfänge  der 
preußischen  Herrschaft  am  Rhein  zu  verbreiten,  wird  Vollheims 
Arbeit  Beifall  finden.  Die  drei  schwerfälligen,  aber  unentbehr- 
lichen Werke  Neigebaurs  (V.  schreibt  hartnäckig  Neigebauer) 
verdienten  schon  lange  eine  Modernisierung  und  Ergänzung. 
Darum  hat  sich  V.  mit  Erfolg  bemüht.  Die  Ergänzungen  stam- 
men vornehmlich  aus  dem  Amtsblatte  der  provisorischen  Ver- 
waltungen. Ferner  ist  das  Gouvernementsarchiv  in  Düsseldorf 
(Sektion  1,  2,  4)  und   die  Korrespondenz   mit  der  Zentrale  im 


402  Literaturbericht. 

Berliner  Geheimen  Staatsarchiv  (Repositur  74  und  92)  partien- 
weise herangezogen  worden.  Jedoch  wird  eine  gleichmäßige  Ver- 
wertung dieser  Akten  nicht  angestrebt;  denn  wichtige  verwal- 
tungsgeschichtliche Kapitel  der  Arbeit,  wie  die  über  Gerichts- 
verfassung, Schul-  und  Kirchenwesen,  Handel  und  Industrie  u.  a. 
beruhen  fast  nur  auf  gedrucktem  Material.  Auch  hat  V.  davon 
abgesehen,  die  Lokalakten  neben  den  Zentralakten  zu  verwerten. 
Am  wichtigsten  wären  die  Archive  der  sog.  Gouvernements- 
kommissariate gewesen,  d.  h.  der  ehemaligen  französischen  Prä- 
fekturen.  Aber  auch  die  Stadtarchive  könnten  hier  noch  viel 
liefern.  Außerordentlich  umfangreich  sind  z.  B.  die  einschlägigen 
Bestände  im  Stadtarchiv  Köln,  deren  Verzeichnung  freilich 
noch  aussteht.  Wertvolles  Material  findet  sich  ferner  im  Archiv 
des  Oberbergamts  Bonn,  das  dem  Verfasser  allerdings  nichts 
bieten  konnte,  weil  er  ohne  rechten  Grund  das  Berg-  und  Hütten- 
wesen mit  Stillschweigen  übergeht.  Ähnliches  würde  von  den 
Archiven  der  Regierungen  gelten.  Die  Beschränkung  auf  gewisse 
Teile  der  Zentralakten  hat  auch  sonst  die  nachteilige  Folge, 
daß  die  erheblichen  lokalen  Verschiedenheiten  in  dem  verwaltungs- 
geschichtlichen Bilde  doch  nicht  genügend  hervortreten.  Im  üb- 
rigen aber  ist  einer  Erstlingsarbeit  aus  einer  solchen  Beschränkung 
in  der  Aktenbenutzung  dann  kein  Vorwurf  zu  machen,  wenn  der 
Leser  über  den  Gesamtumfang  der  archivalischen  Grundlage, 
was  ohne  besonderen  Arbeitsaufwand  geschehen  kann,  irgendwo 
unterrichtet  wird.  Das  zu  tun,  hat  der  Verfasser  versäumt, 
wenn  er  auch  mit  Recht  erklärt:  „Das  entrollte  Bild  ist  nur  mit 
groben  Strichen  gezeichnet".  Noch  weniger  befriedigend  ist  die 
Benutzung  der  Literatur.  Einerseits  erscheinen  im  Literatur- 
verzeichnisse ein  Reihe  von  Arbeiten  die  gar  nicht  verwertet 
werden.  Anderseits  fehlen  einige  wichtige  neuere  Werke.  Für 
die  Zollverhältnisse  kann  man  nach  den  grundlegenden  Arbeiten 
von  Charles  Schmidt,  Schwann,  Zeyß,  Lindner  S.  50  Anm.  2 
nicht  mehr  nur  auf  den  zur  Tendenz  neigenden  Bockenheimer 
verweisen.  Schmidt  fehlt  sogar  im  Literaturverzeichnis.  Lindner 
ist  möglicherweise  zu  spät  erschienen.  Dagegen  ist  zu  rügen, 
daß  V.  für  die  Grenzgeschichte  Schulteis'  vortreffliche  Erläute- 
rungen zu  den  einschlägigen  Karten  des  Historischen  Atlasses 
der  Rheinprovinz  sowie  diese  selbst  beiseite  läßt.  Auch  hätte 
sich  den  Beiträgen  der  rheinischen  Geschichtszeitschriften,  von 


Deutsche  Landschaften.  403 

denen  ebenfalls  nicht  die  Rede  ist,  noch  einiges  Weitere  ent- 
nehmen lassen.  Dagegen  hat  V.  Urteile  aus  der  späteren 
preußischen  Zeit  zu  stark  herangezogen,  während  er  wieder 
der  Rühlschen  Publikation  keine  Bedeutung  beizulegen  scheint. 
Die  verdienstliche  Broschüre  Koppes  ist  nicht  1826,  sondern 
1815  herausgekommen.  Besonders  die  französische  Zeit  erscheint 
in  der  späteren  Literatur  nicht  immer  in  richtigem  Lichte.  Der 
Verfasser  warnt  S.  151  Anm.  2  mit  Recht  davor,  den  Urteilen 
der  neuen  Verwaltung  über  die  französische  allzuviel  Glauben  zu 
schenken.  Er  selbst  aber  hat  diese  Warnung  bisweilen  über- 
sehen und  jene  Urteile  sich  dann  doch  in  etwa  zu  eigen  gemacht, 
wenn  er  z.  B.  S.  91  Amn.  2,  für  die  französische  Korruption  ein- 
fach Benzenberg  und  P.  Kaufmann  zitiert,  am  auffallendsten 
Seite  166  bei  der  französischen  Gensdarmerie,  die  nach  allge- 
meinem Urteil  vielmehr  zu  den  besten  Einrichtungen  der  Fremd- 
herrschaft zählt.  Dagegen  ist  das  Urteil  über  die  französische 
Konskription  wieder  zu  günstig  (S.  133  Anm.  1). 

Gleichwohl  ist  die  allgemeine  Tendenz  der  vorliegenden 
Arbeit  durchaus  zu  billigen.  Sie  ist  nämlich  eine  warm  geschrie- 
bene Apologie  des  Generalgouverneurs  Sack  und  trifft  damit  im 
allgemeinen,  einige  Superlative  und  vorschnelle  Urteile  abge- 
rechnet, ohne  Zweifel  das  Richtige.  Ein  Hauptruhmestitel  der 
preußischen  Verwaltung  auch  am  Rhein,  nämlich  die  Gerechtig- 
keit, wird  durch  den  Verfasser  an  manchem  neuen  und  treffenden 
Beispiele  deutlich  gemacht.  Vor  allem  wird  nachgewiesen,  daß 
die  kenntnislose  Kritik,  die  das  Ministerium  an  Sacks  Verwaltung 
geübt  hat  und  hat  üben  lassen,  durchaus  unberechtigt  ist.  Es 
ist  für  sie  selbst  beschämend,  wie  die  Zentrale  in  entscheidenden 
Fragen  schließlich  zurückweichen,  ihr  Unrecht  eingestehen  und 
dem  schwer  gekränkten  ersten  erfolgreichen  Vertreter  preußischen 
Wesens  am  Rhein  eine  glänzende  Rechtfertigung  ausstellen  muß, 
so  bei  der  Kassenverwaltung  (48  f.),  beim  militärischen  Lieferungs- 
wesen (92,  vgl.  97  ff.),  bei  der  Verwendung  der  Liebesgaben  für 
das  Heer  (126),  bei  der  Forstverwaltung  (199  f.)  und  sonst.  Mit 
Bedauern  erfährt  man,  daß  sich  Max  von  Schenkendorf  unter 
den  leichtfertigen  gouvernementalen  Kritikern  besonders  hervor- 
tut. Demgegenüber  hat  V.  die  schon  von  seinen  Vorgängern 
gegebenen  Nachweise  für  die  außerordentlichen  Erfolge  Sacks, 
ebenso  aber  auch  für  die  patriotische  Opferwilligkeit  des  Rhein- 


404  Literaturbericht. 

landes,  dem  Sack  sympathisch  gewesen  sein  muß,  in  mancher 
Beziehung  und  durchaus  richtig  verstärkt.  Wahrscheinlich  würde 
das  noch  besser  gelingen,  wenn  Sacks  Verwaltung  später  einmal 
allseitiger  und  gleichmäßiger  behandelt  würde,  als  es  hier  mög- 
lich gewesen  ist.  Es  ist  ja  nicht  unberechtigt,  daß  etwa  ein  Drittel 
des  Buches  den  militärischen  Angelegenheiten  gewidmet  ist, 
zu  denen  am  besten  doch  auch  die  bei  der  Polizei  untergebrachten 
Abschnitte  über  die  beiden  Formen  der  Milizen  gerechnet  würden. 
Aber  der  Verfasser  verdirbt  die  Ökonomie  seiner  Arbeit  hier 
und  sonst  durch  eine  allzugroße  Vorliebe  für  verwaltungstech- 
nische Äußerlichkeiten,  Selbstverständlichkeiten  und  Bagatellen. 
Für  das  Mißverhältnis  einzelner  Teile  untereinander  könnte  man 
sonderbare  Beispiele  anführen.  So  ist  das  Kapitel  über  die 
Truppenverpflegung  fast  doppelt  so  groß  als  das  über  Handel  und 
Industrie  zusammengenommen.  Von  Gewerbe  und  Landwirt- 
schaft, von  der  Stellung  zu  den  französischen  bureaux  des  hospices 
et  de  bienfaisance,  auch  von  der  Presse  ist  kaum  die  Rede.  Un- 
glücklich ist  auch  die  Gliederung  des  Militärkapitels,  wenn  die 
dinglichen  den  persönlichen  Fragen  vorangestellt  werden.  Warum 
die  Zölle  (das  Wort  Douanerie,  S.  50,  gibt  es  nicht)  zum  Teil 
unter  den  Steuern  behandelt  werden,  versteht  man  nicht.  Über- 
haupt ist  dem  Verfasser  eine  wirkliche  geistige  Durchdringung 
seines  Stoffes  nicht  recht  gelungen. i)  So  ist  die  Schilderung 
der  im  wesentlichen  beibehaltenen  französischen  Verwaltungs- 
organisation rein  äußerlich.  Über  ihren  allgemeinen  Geist  wird 
ebensowenig  etwas  gesagt  wie  über  ihr  Verhältnis  zur  preußischen. 
Der  Leser  kann  sich  deshalb  auch  kein  rechtes  Urteil  darüber  bilden, 
was  es  zu  bedeuten  hat,  daß  die  französischen  Ordnungen  zunächst 
fast  gar  nicht  angetastet  werden.  Auch  die  ähnliche,  für  die 
rheinische  Verwaltungsgeschichte  vielfach  entscheidende  Stellung 
der  provisorischen  Verwaltung  zur  französischen  Mairie-  (Bürger- 
meisterei-) Verfassung  wird  nicht  grundsätzlich  erörtert  (30). 
Sogar  der  technische  Ausdruck  „Samtgemeinde"  wird  bei  Bespre- 
chung der  Anwendung  des  Kommunalgesetzes  von  1802  ver- 
mieden (34).     Eine  über  das  Äußerliche  hinausstrebende  Verwal- 

0  Stilistische  Entgleisungen,  wie  S.  100  von  Sack:...  „daß 
er  ehrenvoll  aus  dieser  Zeit .. .,  nicht  gerade  gewürzt  durch  an- 
erkennende Worte,  hervorgegangen  ist",  begegnen  auch  sonst 
bisweilen. 


Deutsche  Landschaften.  405 

tungsgeschichte  kann  aber  ohne  bestimmte  verwaltungsrecht- 
liche Begriffe  nicht  auskommen.  Auch  sonst  vermißt  man  die 
begriffliche  Durchdringung,  die  an  die  Stelle  der  äußerlichen 
Beschreibung  treten  müßte.  So  fehlt  beispielsweise  in  dem 
Schulkapitel  der  entscheidende,  den  Gegensatz  Preußens  zu 
Frankreich  erst  wirklich  erklärende  Begriff  des  Neuhumanismus. 
Anderseits  ist  es  eine  außerordentliche  Übertreibung,  wenn  es 
von  Napoleon  S.  38  heißt:  „der  bei  seinen  militärischen  Nei- 
gungen (!)  ein  Verächter  jeder  wissenschaftlichen  Bildung  sein 
mußte  und  war"  (!).  Dürftig  ist,  was  sich  zum  Teil  auch  auf 
diesen  Grund  zurückführen  läßt,  das  Schlußkapitel  über  die 
„Stimmung  der  Bevölkerung".  Auch  kritisch  ist  es  zum  Teil 
unbefriedigend.  Die  Scheu  des  Verfassers  vor  dem  Begrifflichen 
ist  auch  wohl  dadurch  verstärkt  worden,  daß  vergleichende 
Blicke  auf  andere  Gebiete  und  Zeiten  fast  ganz  vermieden  werden. 
Die  französische  Zeit  scheint  der  Verfasser  hauptsächlich  auch 
nur  aus  den  preußischen  Quellen  zu  kennen. 

Trotz  dieser  und  anderer  Bedenken  wird  die  Arbeit  zur  Ein- 
führung in  das  Studium  der  preußischen  Anfänge  am  Rhein  gute 
Dienste  leisten.  Hätte  sie  ein  Register,  so  würde  man  sie  auch  als 
bequemes  Nachschlagebuch  bezeichnen  können.  Ihre  Herstel- 
lung hat  viel  Fleiß  und  Entsagung  gekostet.  Daran  hat  es  der 
Verfasser  nicht  fehlen  lassen.  Das  ist  zum  Schlüsse  besonders 
anzuerkennen.  Über  das  einzelne  kann  hier  nicht  mehr  gesprochen 
werden. 

Bonn.  J.  Hashagen. 


Notizen  und  Nachrichten. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  welche  sie  an  dieser 
Stelle  berücksichtigt  wünschen,   uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 

Allgemeines. 

Unter  dem  Namen  „N  e  a  p  o  li  s"  erscheint  im  Verlage  von 
Perrella  &  Co.  zu  Neapel  eine  „Rivista  di  archeologia,  epigrafia  e  numis- 
matica".  Die  Herausgeber,  V.  Macchioro  und  L.  Correra, 
möchten  mit  dieser  Zeitschrift,  die  in  Vierteljahrsheften  von  über 
100  Seiten  mit  Tafeln  und  Textabbildungen  ausgegeben  wird  (jährlich 
15  Franken,  im  Ausland  20),  insbesondere  der  Forschung  über  Süd- 
italien eine  Sammelstätte  bieten.  Das  im  April  veröffentlichte  erste 
Heft  enthält  mehrere  Aufsätze  (in  italienischer,  deutscher  und  fran- 
zösischer Sprache)  und  zahlreiche  Bücherbesprechungen. 

Als  neue  Zeitschrift,  die  sich  die  Vermittlung  der  Kulturwerte 
Asiens  an  weitere  Kreise  des  deutschen  Volkes  zum  Ziel  setzt,  führt 
sich  ein  „Geist  des  Ostens,  Monatsschrift  zur  Asi- 
atenkunde" (München,  Verlag  des  Ostens).  Die  bisher  vorliegenden 
Hefte  enthalten  hauptsächlich  Beiträge  von  Auslandsdeutschen,  unter 
ihnen  wohlbekannte  Namen. 

Aus  Logos  4,  1  notieren  wir  E.  Troeltsch,  Logos  und  Mythos 
in  Theologie  und  Religionsphilosophie  und  F.  Burschell,  Über 
Johann  Georg  Hamann. 

In  der  Revue  de  Synthkse  Historique  (35,  2)  beendet  A.  R  e  i  n  a  c  h 
seine  Studie  „Atthis.  Les  origines  de  l'Etat  athenien".  Richard  M. 
Meyer  setzt  seine  Arbeit  über  „Le  mouvement  moral  vers  1840"  fort. 
Von  A.  T  c  h  e  s  k  i  s*  beginnt  zu  erscheinen  „La  Philosophie  sociale 
de  Pierre  Lavroff".  Über  den  Namen  von  „L'ile-de-France"  handelt 
M.  Bloch. 


Allgemeines.  407 

R.  Michels  veröffentlicht  (Archiv  f.  Sozialwiss.  u.  Sozialpol. 
36,  1  und  2)  Studien  „Zur  historischen  Analyse  des  Patriotismus". 

Die  „Questioni  storiografiche"  Benedetto  C  r  o  c  e  s  {Atti  deU'Ac- 
cademia  Pontaniana  Bd.  43)  behandeln  „La  positivitä  della  storia", 
„L'  umanitä  della  storia",  „La  storia  della  natura  e  la  storia"  und  ver- 
schiedene methodologische  Fragen. 

Wenn  Fueters  „Geschichte  der  neueren  Historiographie"  dem 
Rat  der  zahlreichen  wertvollen  Kritiken  hätte  folgen  können,  die  jetzt 
als  Beweis  ihrer  anregenden  Kraft  erscheinen,  so  hätte  sie  vielleicht 
manches  gewonnen,  aber  auch  den  frischen  Subjektivismus  verloren, 
der  ihr  in  Verbindung  mit  andern  Vorzügen  das  hohe  Lob  ihrer  Kri- 
tiker eingetragen  hat.  Wäre  z.  B.  die  von  vielen  Seiten,  vor  allem 
aber  durch  B.  C  r  o  c  e  („Von  der  Geschichte  der  Geschichte",  Intern. 
Monatsschr.  7,  April  1913)  verworfene  enge  Begrenzung  des  Themas 
fortgefallen  und  mit  der  Berücksichtigung  der  Geschichtsphilosophie 
zugleich  eine  stärkere  organische  Verknüpfung  der  einzelnen  Abschnitte 
erreicht  worden,  so  wäre  doch  der  echt  empirische  Charakter  des  Buches, 
sein  Eingehen  auf  das  Irrationale  des  geistigen  Verlaufs  dadurch  bedroht 
worden.  Mag  es  für  den  Geschichts  Philosophen  einen  „pessi- 
mistischen" Zug  bedeuten,  wenn  die  Geschichte  einer  Wissenschaft  in 
Zickzacksprüngen  des  Genies  verläuft,  statt  in  Ideen-Stammbäumen 
und  dialektischem  Fortschritt:  der  Historiker,  der  sich  in  Fueter 
instinktiv  gegen  jede  Theodizee  der  Geschichte  gewehrt  hat,  konnte 
der  Gefahr  willkürlicher  Logisierung  nicht  grundsätzlich  genug  aus- 
weichen. Daher  auch  der  (im  einzelnen  freilich  oft  befremdlich,  wie 
das  Ausbrechen  von  Zähnen  eines  Zahnrads  wirkende)  radikale  Aus- 
schluß der  Geschichtsphilosophie  aus  dem  prächtigen  Werk.  Selbstän- 
dige Anregungen  geben  die  Kritiken  von  J.  Hashagen  (Westd. 
Zeitschr.  f.  Gesch.  u.  Kunst  31,  3  —  ein  auch  durch  seinen  sonstigen 
Inhalt  bemerkenswerter  Artikel)  —  und  P.  Joachimsen  (Histor. 
Viertel jahrsschr.  April  1913),  sowie  vor  allem  das  neue  Buch  von 
G  0  0  c  h  ,  auf  das  zurückzukommen  sein  wird.  F.  K. 

In  einem  besonderen  Heft  ist  die  Begrüßungsrede  erschienen, 
welche  James  B  r  y  c  e  ,  der  durch  seine  Pflichten  als  Botschafter  in 
Amerika  festgehaltene  Vorsitzende  des  Internationalen  Historiker- 
kongresses in  London,  an  die  Teilnehmer  zu  richten  gedachte,  zusammen 
mit  den  einleitenden  und  abschließenden  Bemerkungen  von  A.  W.  Ward, 
der  an  seiner  Stelle  den  Vorsitz  führte.  Bryce  gibt  einen  geistvollen 
Überblick  über  die  Entwicklung,  insbesondere  die  Erweiterung  der 
historischen  Wissenschaften  während  des  letzten  Menschenalters.  Er 
sieht  sie  in  der  Heranziehung  der  Wirtschaftsgeschichte,  in  den  Schil- 
derungen, die  man  heute  von  der  Lage  der  Massen  zu  geben  versucht, 


409  Notizen  und  Nachrichten. 

in  der  Erschließung  neuer  Forschungsgebiete,  wie  des  Studiums  der 
Urgeschichte  des  Menschen,  der  Kultur  des  ältesten  Orients,  nicht 
zum  wenigsten  auch  des  Lebens  der  Naturvölker  mit  der  Nutzanwendung 
auf  die  Ursprünge  menschlicher  Kultur.  Aber  nun  meint  er,  ist  auch 
kein  Augenblick  zu  verlieren.  Die  Welt  schließt  sich  sichtlich  zu  einem 
Ganzen  zusammen.  Die  schwachen  Völker  und  Volksstämme  verschwin- 
den und  mit  ihnen  die  Vielheit  der  Sprachen,  der  Religionen',  der  Sitten. 
Zuletzt  mahnt  Bryce  die  Versammlung,  eingedenk  zu  sein,  daß  das 
gemeinsame  Suchen  nach  der  Wahrheit  es  sei,  was  sie  vereinigt  habe. 
Aber  die  Historiker  wissen  es  auch  am  besten,  daß  unter  den  Nationen 
im  Lauf  der  Zeiten  die  Mißverständnisse  nicht  ausbleiben,  sie  wissen 
—  ein  wunderbares  Geständnis  im  Munde  eines  Staatsmannes  — 
wie  wenige  der  Kriege,  die  die  Menschheit  geführt  habe,  notwendige 
Kriege  gewesen  seien.  Und  darum:  „Sind  nicht  wir  als  Jünger  der 
Historie  mehr  als  andere  berufen,  unser  Bestes  zu  versuchen,  um  jede 
Quelle  des  Haders  zwischen  den  Völkern  versiegen  zu  machen?"  — • 
Dem  fügt  nun  Ward  noch  anderes  hinzu,  das  für  den  Aufschwung, 
den  die  historischen  Studien  genommen,  wesentlich  sei.  Er  spricht 
von  der  Eröffnung  der  Archive,  von  der  systematischen  Veröffent- 
lichung von  Quellenmaterialien.  Er  nennt  die  Bereicherung  des  akade- 
mischen Geschichtsunterrichts,  besonders  durch  das  System  der  histo- 
rischen Seminare.  Er  erwähnt  die  Begründung  und  die  steigende 
Bedeutung  der  Fachzeitschriften  auf  dem  Gebiete  der  Geschichts- 
wissenschaft und  nennt  dabei  unsere  historische  Zeitschrift  an  erster 
Stelle.  (International  Congress  of  Historical  Studies.  London  1913. 
President ial  Address  by  J.  Bryce  and  A.  W.  Ward.    Oxford.) 

W.  Michael. 

In  der  Festschrift  des  akademischen  Historikerklubs  zur  Erinne- 
rung an  dessen  40.  Stiftungsfest  veröffentlicht  Wilhelm  Erben 
„Streifzüge  durch  die  Geschichte  des  historischen  Seminars  in  Inns- 
bruck". Wir  erfahren  u.  a.,  daß  erst  1871  H.  v.  Zeißberg  in  Verbindung 
mit  A.  Huber  das  Innsbrucker  historische  Seminar  ins  Leben  gerufen 
hat,  während  J.  Ficker  sich  dem  förmlichen  Seminarbetriebe  fernhielt. 

Wertvoll  sind  die  „Methodischen  Fragen  zum  Historischen  Atlas", 
die  G.  H.  M  ü  1 1  e  r  in  der  „Zeitschrift  des  Histor.  Vereins  für  Nieder- 
sachsen" (1913,  1)  aufwirft,  um  anläßlich  der  Vorbereitung  des  „Histo- 
rischen Atlas  von  Niedersachsen"  die  Erfahrungen  der  vier  älteren 
historisch-geographischen  Provinzialatlanten  Deutschlands  und  der 
Grundkarten-Unternehmung  zu  sichten. 

B.  Harms  leitet  das  von  ihm  begründete  „Weltwirtschaftliche 
Archiv"  (1,  1,  Januar  1913,  Jena,  Fischer)  durch  eine  Darlegung  seiner 
Neueinteilung  der  Nationalökonomie  ein  („Weltwirtschaft  und  Welt- 


Allgemeines.  409 

Wirtschaftslehre"),  die  sich  vielfach  gegen  die  historisch-politische  Rich- 
tung kehrt. 

Im  „Orientalischen  Archiv"  3,  3  behandelt  P.  Kahle  „Das 
islamitische  Schattentheater  in  Ägypten",  R.  v.  Lichtenberg 
,, Antikes  in  den  Gebräuchen  des  heutigen  Orients". 

Von  Aufsätzen  zur  Geschichte  Asiens  notieren  wir  C.  H.  Becker, 
Zur  Geschichte  des  islamischen  Kultus  (Der  Islam  3,  4);  J.  J  e  a  n  n  i  n  , 
Le  chant  liturgique  Syrien  (Journal  Asiatique  19,  2,  3);  A.  C.  M  o  u  I  e  , 
Marco  Polos  Sinjumatu  (T'oung  Pao  13,3);  M.  Granet,  Coutumes 
matrimoniales  de  la  Chine  antique  (T'oung  Pao  13,4);  B.  Laufe  r 
und  P.  Pelliot  über  den  Namen  „China"  (T'oung  Pao  13,  5). 

Warme  Sympathie  für  das  heutige  Griechenland  bestimmt  den 
Ton  des  Vortrags  von  A.  Heisenberg,  „Der  Philhellenismus 
einst  und  jetzt"  (München,  C.  H.  Beck). 

Otto  H  i  n  t  z  e  („Machtpolitik  und  Regierungsverfassung", 
Internat.  Monatsschr.  7,  9)  sucht  „den  Zusammenhang  auf,  der  zwischen 
der  besonderen  Weltstellung  und  den  Aufgaben  der  auswärtigen  Politik 
einerseits  und  den  inneren  Verfassungs-  und  Verwaltungseinrichtungen 
anderseits  besteht".  So  findet  die  Struktur  der  englischen  und  der 
kontinentalen  Verfassungen  eine  großzügige  Würdigung  unter  diesem 
bestimmten  Gesichtspunkt. 

Die  kleine  „Staatsbürgerkunde"  Ernst  Bernheims  (Wissen- 
schaft und  Bildung  Bd.  115,  Leipzig,  Quelle  <S  Meyer)  stellt  sich  als 
treffliches  Mittel  dar,  weitere  Kreise  in  das  Wesen  der  modernen  Ver- 
fassungen einzuführen,  als  deren  Typen  die  Revolutionsverfassung 
von  1791,  die  Charte  von  1814,  die  belgische  und  die  preußische  Ver- 
fassung gewählt  werden.  —  S.  89,  2  b.  muß  es  wohl  statt  „Amtsent- 
hebung" ,, Amtsbekleidung"  heißen. 

Die  kulturgeschichtliche  Auffassung  Richard  Wagners,  die 
Adolf  R  a  p  p  („Die  Erscheinung  Richard  Wagners  im  Geistesleben", 
Archiv  für  Kulturgeschichte  II,  1)  vorträgt,  sucht  feinsinnig  das  Problem 
nach  den  verschiedensten  Seiten  hin  zu  vertiefen. 

Im  Bulletino  delV  Istituto  storico  Italiano  33  ist  der  zweite  Teil 
der  nützlichen  Arbeit  von  L.  Schiaparelli:  Tachigrafia  sillabica 
neue  carte  italiane  nebst  guten  Abbildungen  veröffentlicht  (vgl.  H.  Z. 
107,  176). 

Über  Merseburger  Kaiendarien  vom  10.  bis  16.  Jahrhundert, 
deren  älteste  auch  für  die  allgemeine  Geschichte  von  Bedeutung  sind, 
handelt  eingehend  0.  Rademacher  in  der  Thüringisch-sächsischen 
Zeitschrift  für  Geschichte  und  Kunst  2,  2.  Die  Kalender  aus  dem 
16.  Jahrhundert,   die   teilweise   noch  weiter  fortgesetzt  sind,   haben 


410  Notizen  und  Nachrichten. 

ihren  ursprünglichen  Charakter  so  gut  wie  ganz  eingebüßt  und  sind 
eher  als  Rechenbücher  anzusprechen. 

Anknüpfend  an  den  Plan,  gleichzeitig  mit  dem  Neubau  des  Geh. 
Staatsarchivs  zu  Berlin  ein  Reichsarchiv  zu  begründen,  erinnert  ein 
anspruchsloser  kleiner  Aufsatz  von  P.  W  e  n  t  z  c  k  e  an  die  Versuche 
des  alten  deutschen  Reichs,  ein  selbständiges  Archiv  zu  schaffen  (Die 
Orenzboten  1913,  Nr.  14). 

Marion  Dexter  L  e  a  r  n  e  d  ,  Guide  to  the  manuscript  materials 
relating  to  American  history  in  the  Ger  man  State  Archives.  Washington, 
Carnegie  Institution  1912.  VII,  352  S.  —  Das  Carnegie- Institut  in 
Washington  hat  es  sich  zur  Aufgabe  gemacht,  in  europäischen  Archiven 
Nachforschungen  anzustellen  nach  Quellenmaterial,  das  für  die  Ge- 
schichte Amerikas  von  Bedeutung  sein  könnte.  Learned  legt  in  einem 
stattlichen  Bande  die  Ergebnisse  seiner  in  einer  großen  Anzahl  von  deut- 
schen Archiven  angestellten  Untersuchungen  vor.  Er  hat  bei  sämtlichen 
Staatsarchiven,  einigen  Kommunalarchiven,  dem  fürstlich  Wiedschen 
Archiv  zu  Neuwied,  und  dem  Archiv  der  Herrnhuter  Nachforschungen 
veranstaltet,  zum  Teil  allerdings  mit  negativem  Erfolg.  Er  hat  fest- 
gestellt, daß  die  deutschen  Archive  nach  drei  Richtungen  für  die 
amerikanische  Geschichte  in  Betracht  kommen:  1.  für  die  Geschichte 
aer  Auswanderung  seit  dem  18.  Jahrhundert  (für  die  ältere  Auswan- 
derung namentlich  die  süddeutschen  Archive);  2.  für  die  Geschichte 
der  während  des  Unabhängigkeitskrieges  in  Amerika  verwendeten 
deutschen  Truppenteile  (vor  allem  die  Archive  in  Wolfenbüttel,  Mar- 
burg und  Bamberg);  3.  für  die  Geschichte  der  Handelsbeziehungen 
(besonders  Berlin,  Hamburg  und  Bremen).  Die  Brauchbarkeit  des 
Buches,  das  natürlich  in  erster  Linie  für  Amerikaner  bestimmt  ist, 
wird  erhöht  durch  Angaben  über  die  Organisation  und  Benutzungs- 
ordnung der  betreffenden  Archive.  P.  D. 

Die  J.  J.  Lentnersche  Hofbuchhandlung  in  München  eröffnet 
eine  größere  Folge  von  Lagerkatalogen  mit  einer  Auswahl  von  Werken 
des  15.  bis  19.  Jahrhunderts,  deren  868  Nummern  den  Titel  „Rara 
et  Curiosa"  vollauf  rechtfertigen.  Dem  Interesse  des  Historikers  mögen 
vor  allem  die  Rubriken  Ablaß,  Almanache,  Bibliographie,  Duell,  Eisen- 
bahn, Embleme,  England  empfohlen  werden.  Die  Ausstattung  mit 
Kunstdrucktafeln  und  Wiedergaben  alter  Holzschnitte  geht  über  das 
bei  Antiquariatskatalogen  gewohnte  Maß  weit  hinaus.     Alfred  Götze. 

Neue  Bücher:  Ehrlich,  Wie  ist  Geschichte  als  Wissenschaft 
möglich?  (Berlin-Wilmersdorf,  Basch  &  Co.  2,50  M.)  —  K  u  b  e  r  k  a  , 
Über  das  Wesen  der  politischen  Systeme  in  der  Geschichte.  (Heidel- 
berg, Winter.  2,40  M.)  —  F  r  am  ar  i  n  o  d  ei  M  al  at  est  a  ,  La 
societä  e  lo  stato.  (Torino,  Unionetipografico-editrice.  8  L.)  — A.  Wirth, 


Alte  Geschichte.  411 

Der  Gang  der  Weltgeschichte.  (Gotha,  Perthes.  9  M.)  —  Feist, 
Kultur,  Ausbreitung  und  Herkunft  der  Indogermanen.  (Berlin,  Weid- 
mann. 13  M.)  —  Steinhausen,  Geschichte  der  deutschen  Kultur. 
2.,  neubearb.  u.  verm.  Aufl.  1.  Bd.  (Leipzig,  Bibliograph.  Institut. 
10  M.)  —  Kern,  Preußische  Geschichte.  Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 
4M.)  —  G  uir  i  n  Songeon,  Histoire  de  la  Bulgarie  depuis  les  ori- 
gines  jusqü'ä  nos  jours,  485 — 1913.  (Paris,  Nouvelle  Libr.  nationale, 
5  Fr.)  —  L  u  f  f  t ,  Geschichte  Südamerikas.  1 1.  Das  portugies.  Süd- 
amerika (Brasilien).  (Leipzig,  Göschen.  0,90  M.)  —  Posse,  Die 
Siegel  der  deutschen  Kaiser  und  Könige  von  751  —  1806.  IIL  IV. 
(Dresden,  Verlag  der  v.  Baensch-Stiftung.     120  M.) 

Alte  Geschichte. 

Übersichtlich  und  brauchbar  ist  das  Bulletin  critique  des  religions 
de  Vigypte  igo8  et  190g,  welches  J.  C  a  p  a  r  t  in  Revue  de  l'histoire 
des  religions  67,  1  (1913)  veröffentlicht. 

Wichtig  für  ägyptische  Chronologie  und  Geschichte  ist  der  Auf- 
satz von  F.  Legge:  New  ligfit  on  sequence-dating,  welcher  sich  gegen 
Flinders  Petrie  wendet  in  Proceedings  of  the  Society  of  biblical  arcfiaeo- 
logy  35,  3-  Ebendort  veröffentlicht  C.  G.  Pinches:  Notes  upon 
the  early  Sumerian  month-names  und  H.  Thompson:  Demotic  tax- 
receipts,  eine  willkommene  Ergänzung  zu  Wilckens  Ostraka. 

Aus  Proceedings  of  the  Society  of  biblical  archaeology  35,  2  notieren 
wir  A.  H.  S  a  y  c  e :  Notes  on  the  Hittite  inscriptions  and  mythology: 
the  rock  sculptures  of  Boghaz-Keui  und  L.  W.  King:  Studies  on  some 
rock-sculptures  and  rock-inscriptiones  of  Western  Asia. 

Les  institutions  militaires  de  VEgypte  sous  les  Lagides  par  Jean 
Lesquier.  Paris,  Leroux  1911.  XVIIl  u.  381  S.  —  Dieses  Buch 
ist  allen,  welche  die  Struktur  des  Ptolemäerreiches  verstehen  wollen, 
aufs  angelegentlichste  zu  empfehlen.  Das  wichtigste  Ergebnis  ist  das, 
daß  (im  Gegensatz  zum  Römerreich)  in  Friedenszeit  neben  der  Gen- 
darmerie nur  eine  geringe  Zahl  stehender  Truppen  vorhanden  war 
als  Garde  und  zur  Bewachung  der  festen  Plätze,  daß  aber  für  den 
Krieg  eine  große  Armee  mobilisiert  werden  konnte,  die  sich  aus  drei 
Elementen  zusammensetzte,  den  Regulären,  den  Söldnern  und  den 
Eingeborenen.  Die  Regulären  sind  Griechen,  vornehmlich  Makedonen. 
Im  Jahre  217  belief  sich  ihre  Infanterie  auf  25  000  Mann.  Die  Regie- 
rung versicherte  sich  dieser  Mannschaften,  indem  sie  ihnen  Grundbesitz 
in  Ägypten  anwies,  auf  welchem  die  Verpflichtung  zum  Militärdienst 
lastete.  Sie  stellte  also  den  pharaonischen  /m/t^o*,  die  sie  beibehielt, 
einen   ähnlich   organisierten   erblichen   hellenischen    Kriegerstand   der 


412  Notizen  und  Nachrichten. 

Kleruchen  zur  Seite.  Die  Entwicklung  ging  dahin,  daß  sich  die  Hel- 
lenen und  Ägypter  der  Armee  einander  immer  mehr  anglichen.  Neben 
der  Darstellung  der  militärischen  Organisation  nimmt  darum  die  Be- 
sprechung der  mit  ihr  aufs  engste  zusammenhängenden  eigentümlichen 
Agrarverhältnisse  einen  breiten  Raum  ein. 

Freiburg  i.  B.  ,  M.  Geizer. 

Die  Zeitschrift  des  Deutschen  Palästina- Vereins  36,  2  bringt  von 
R.  Hartmann  wichtige  Materialien  zur  historischen  Topographie 
der  Palästina  Tertia  und  behandelt  zuvörderst:  Das  Straßennetz  auf 
Grund  der  Peutingerschen  Tafel. 

Im  Rheinischen  Museum  68,  2  veröffentlicht  Fr.  R  ü  h  1  lesens- 
werte Randglossen  zu  den  Hellenika  von  Oxyrhynchos,  dann  behandelt 
Th.  Lenschau  den  Staatsstreich  der  Vierhundert  in  dem  Sinne, 
die  Berichte  bei  Thukydides  und  Aristoteles  zu  vereinen,  und  A.  Klotz 
untersucht  die  Bedeutung  des  Namens  Hellespont  bei  den  Geographen. 

Mit  gewohnter  Regelmäßigkeit  ist  wieder  der  Bericht  über  die 
Arbeiten  zu  Pergamon,  und  zwar  für  die  Jahre  1910 — 1911  erschienen. 
Darin  berichtet  W.  Dörpfeld  über  die  Bauwerke,  A.  I  p  p  e  1  über 
die  Inschriften  und  Einzelfunde,  P.  Schazmann  und  G.  Darier 
über  eine  Untersuchung  auf  dem  Kaleh  Agili  191 1  und  S.  Loeschcke 
über  Sigillata-Töpfereien  in  Tschandarli.  Mitteilungen  des  k.  deutschen 
archäol.  Instituts,  Athenische  Abtlg.  37,  314.  Im  jüngst  erschienenen 
Heft  (38,  1)  finden  sich  folgende  Arbeiten  P.  Corssen:  Die  erythrä- 
ische  Sibylle;  J.  N.  Giannopulos:  lolkos;  P.  D.  Rediades: 
Noch  einmal  Psyttaleia;  E.  Fabricius:  Inschrift  aus  Kapatzedes 
(wahrscheinlich  dem  alten  Elaia,  sehr  wichtig  für  die  Zeit  des  Über- 
gangs des  pergamenischen  Reichs  in  den  Besitz  der  Römer);  Z.  A.  Hat- 
zi d  a  k  i  s  :  Kretische  Gräber;  B.  L  a  u  m  :  Eianyoryele  auf  Samos 
und  K.  Müller:  Tiryns.  Vorbericht  über  die  Grabungen  1905 — 1912. 

In  den  Milanges  d'archiologie  et  d'historie  32,  4/5  finden  sich 
Aufsätze  von  L.  Duchesne  über  L'empereur  Anastase  et  sa  poli- 
tique  religieuse,  von  Ch.  A  v  e  z  o  u  und  Ch.  P  i  c  a  r  d  über  La  nicro- 
pole  de  Tfiessalonique  und  von  R.  M  a  s  s  i  g  1  i :  Sur  Vorigine  de  la  col- 
lection  canonique  dite  Hadriana  augmentee. 

In  der  Revue  archiologique  1913,  Januar-April  setzt  G.  Seure 
seine  wiederholt  schon  besprochene  Arbeit  Archiologie  Thrace.  Docu- 
ments  inidits  ou  peu  connus  fort,  dann  gibt  S.  R  e  i  n  a  c  h  einen  will- 
kommenen Beitrag  zur  Erklärung  der  Mainzer  Juppitersäule  und 
Seh.  V.  Sahakian  veröffentlicht  eine  griechische  Inschrift  aus 
dem  Pontes,  welche  trotz  Th.  Reinachs  Zusatznote  noch  nicht  völlig 
erklärt  zu  sein  scheint.  Weiter  notieren  wir  L.  Delaruelle:  Les 
sources  d'oeuvres  plastiques  dans  la  revue  des  Mros  au  livre  VI  de  rEniide; 


Alte  Geschichte.  413 

R.  L  a  n  t  i  e  r:  La  ville  romaine  de  Lillebonne  (alt  Juliobona,  die  Haupt- 
stadt der  Caletes)  und  G.  A  n  c  e  y.Questions  mythiques.  1 :  La  naissance 
d'AlMne,  2:  Arks-Aiäks. 

Eine  sehr  interessante  Inschrift  eines  Soldaten,  der  in  einem 
Partherkriege  (wohl  dem  des  Septimius  Severus)  vor  Seleucia  in  Baby- 
lonien  die  militärischen  Ehrenzeichen  empfing,  veröffentlicht  A.  Mör- 
l  i  n  in  Comptes  rendus  de  l'Acadimie  des  Inscript.  1913,  Januar- Februar. 
Ebendort  handelt  B  a  y  a  r  d  sur  une  inscription  chräienne  et  sur  des 
passages  de  Saint  Cyprien. 

Aus  der  Revue  historique  1913,  Mai- Juni  notieren  wir  L.  Homo, 
L'empereur  Gallien  et  la  crise  de  l'empire  Romain  au  Ille  sikcle  und 
Ch.  L  6  c  r  i  V  a  i  n :  Antiquitis  latines.    Publications  itrangtres. 

In  der  Revue  de  Philologie,  de  littirature  et  d'fiistoire  anciennes 
37,  1  handelt  Ph.  F  a  b  i  a  über  L'ambassade  d'Othon  aux  Vitelliens 
und  Ch.  P  i  c  a  r  d  bespricht  les  inscriptions  du  thiätre  d'EpMse  et  le 
culte  d' Artemis  Ephesia. 

Im  American  Journal  of  arcfiaeology  17,  1  (1913)  veröffentlichen 
W.  H.  B  u  c  k  I  e  r  und  D.  M.  Robinson  interessante  Inschriften 
aus  Sardeis  (darunter  in  besserer  Lesung  von  neuem  die  bekannten 
Verse  des  Acholius)  und  W.  B.  Dinsmoor,  Attic  building  accounts.  1 : 
The  Parthenon,  das  sind  sorgfältige  Untersuchungen,  an  denen  kein 
Forscher  vorübergehen  darf. 

Die  Atti  della  r.  Accademia  delle  Scienze  di  Torino,  classe  di  scienze 
morali,  storiche  e  filologiche  48,  1/10  bringen  Arbeiten  von  G.  P  a  s  - 
q  u  a  1  i :  Per  la  storia  del  culto  di  Andania  (im  Anschluß  an  eine  neue 
von  Vollgraff  im  Bulletin  de  corr.  hell.  1909,  175  herausgegebene  In- 
schrift, worin  ein  Orakel  ne^i  rag  &vaias  xal  Tiöv  fivaTf}Qiu)v  erwähnt 
wird);  A.  Taccone:  Per  la  data  e  Vesegesi  delV  Olimpica  VI  di 
Pindaro  und  G.  DeSanctis,  Note  di  epigrafia  romana,  und  zwar 
1.  La  orazione  funebre  di  Turia,  2.  Ancora  della  tavola  d'Eraclea; 
A.  Ferrabino:  Le  guerre^i  Attalo  I  contro  i  Galati  e  Antioco  Jerace-, 
G.  Corradi:  Gli  strateghi  di  Pergamo;  A.  Ferrabino:  Curione 
in  Africa  49  a.  C. 

In  den  Rendiconti  della  r.  Accademia  dei  Lincei,  classe  di  scienze 
morali,  storiche  e  filologiche  1912,  5 — 10  finden  sich  Arbeiten  von 
V.  Costanzi:  //  luogo  di  origine  del  concetto  di  autoctonia  e  di  preel- 
lenicitä  attribuito  ai  Pelasgi;  L.  A.  Milani:  La  fibula  Corsini  e  il 
templum  coeleste  degli  Etruschi;  G.  Patroni:  Questioni  vascolari. 
A  proposito  di  recenti  scritti  intorno  alle  antiche  ceramiche  deW  Italia 
Meridionale  und  A.  B  a  r  t  0  I  i :  Ultime  vicende  e  transformazioni 
xristiane  della  Basilica  Emilia. 

HUtorische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  27 


414  Notizen  und  Nachrichten. 

Aus  den  Notizie  degli  scavi  1912,  7/8  notieren  wir  E.  Ghis- 
1  a  n  z  0  n  i  und  G.  M  a  n  c  i  n  i :  Roma.  Nuove  scoperte  nellä  cittä  e 
nel  suburbio;  D.  Vaglieri:  Ostia.  Scavi  nelle  tombe.  Ricerche  nel 
portico  sul  decumano.  Scavi  nella  via  dei  Vigili  presso  la  Caserma  e 
presso  il  Tempio  di  Vulcano ;  M.  Della  Corte:  Pompei.  Conti- 
nuazione  dello  scavo  di  via  delV  Abbondanza  durante  il  mese  di  luglio 
agosto  igi2 ;  P.  O  r  s  i :  Siracusa.    Scoperte  in  Ortygia. 

In  der  Zeitschrift  für  neutestamentiiche  Wissenschaft  und  die 
Kunde  des  Urchristentums  14,  2  notieren  wir  H.  W  a  i  t  z:  Das  Evan- 
gelium der  zwölf  Apostel  (Ebionitenevangelium)  (Schluß)  und  den  för- 
dersamen  Aufsatz  von  Chr.  Bugge:  Zum  Essäerproblem. 

In  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Theologie  55,  2  liest  man 
sehr  lesenswerte  Auseinandersetzungen  von  H.  Lietzmann:  Zur 
altchristlichen  Verfassungsgeschichte. 

Aus  Expositor  1913,  Juni  notieren  wir  W.  A.  Curtis:  „Raise 
the  stone:  Cleave  the  wood.  A  Study  of  an  Oxyrhynchos  logion  und 
J.  S  k  i  n  n  e  r:  The  divine  names  in  Genesis.  3:  Recensians  of  the  Sep- 
tuagint. 

Aus  Neue  kirchliche  Zeitschrift  24,  6  notieren  wir  Dräsecke: 
Eustathios  und  Michael  Akominatos,  wodurch  man  einen  guten  Ein- 
blick in  die  Beziehungen  der  Theologen  des  12.  Jahrhunderts  zuein- 
ander gewinnt. 

E.  V.  Dobschütz,  Das  Decretum  Gelasianum  de  libris  reci- 
piendis  et  non  recipiendis  in  kritischem  Text  herausgegeben  und  unter- 
sucht. Texte  und  Untersuchungen  (herausg.  von  A.  Harnack  und 
C.  Schmidt).  XXXVIII,  4.  Leipzig  1912.  —  E.  v.  Dobschütz  hat  sich 
in  höchst  dankenswerter  Weise  der  großen  Mühe  unterzogen,  uns  eine 
kritische  Ausgabe  des  sog.  Decretum  Gelasianum  zu  schenken,  die  den 
Namen  einer  abschließenden  verdient.  Mag  das  Ergebnis  der  Unter- 
suchung, die  er  mit  der  Edition  verbindet,  noch  einer  weiteren  Ver- 
feinerung fähig  sein  —  Verfasser  selbst  hält  das  für  wohl  möglich  — , 
an  dem  Text  wird  auch  durch  neue  Zeugen  schwerlich  etwa  Wesent- 
liches geändert  werden.  Zu  seiner  Herstellung  hat  v.  Dobschütz  ein 
reiches  Material  herangezogen.  Er  gruppiert  die  Handschriften  nach 
dem  Hauptprinzip  der  Zurückführung  des  Dekretes  auf  Damasus, 
Gelasius  oder  Hormisdas.  So  gelingt  es  ihm,  die  recht  komplizierten 
Textverhältnisse  übersichtlich  vorzuführen.  Drei  Sonderformen,  die 
sich  in  den  Apparat  nicht  fügen,  werden  für  sich  abgedruckt.  An  die 
Wiedergabe  des  Textes  schließen  sich  Ausführungen  „zur  äußeren  Form",, 
die  auch  methodisch  sehr  lehrreich  sind.  Die  „Untersuchung"  handelt 
zunächst  von  der  Überlieferung,  gibt  dann  Beiträge  zur  Sacherklärung 
und  geht  endlich  auf  die  Frage  nach  dem  Ursprung  des  alten  Schrift- 


Frühes  Mittelalter.  415 

Stücks  ein.  Hier  verficht  v.  Dobschütz  gegenüber  den  bisher  beliebten 
Auffassungen  mit  guten  Gründen  die  Überzeugung,  daß  keiner  der 
genannten  Päpste  Verfasser  des  Dekrets  oder  an  seiner  Entstehung 
beteiligt  gewesen  ist.  Vielmehr  ist  es  als  eine  Privatarbeit  aus  der 
ersten  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts  anzusehen.  Seine  Heimat  ist  das 
Abendland,  wahrscheinlich  Italien. 

Breslau.  Walter  Bauer. 

In  dem  von  Schiele  und  Zschamack  herausgegebenen  Hand- 
wörterbuch „Die  Religion  in  Geschichte  und  Gegenwart"  Bd.  4, 
Sp.  1131  —  1163  hat  A.  Werminghoff  jetzt  den  vielen  kleinen 
Papstbiographien  einen  inhaltvollen  Artikel  über  das  Papsttum  im 
Altertum  und  Mittelalter  folgen  lassen,  der  in  knapper  Zusammen- 
fassung des  Wesentlichen  zugleich  der  äußeren  und  der  inneren  Ge- 
schichte des  Papsttums  nachgeht. 

[Neue  Bücher :  S  t  r  e  h  I  und  S  o  1 1  a  u  ,  Grundriß  der  alten  Ge- 
schichte und  Quellenkunde.  2.  verm.  u.  verb.  Aufl.  1.  Bd.  (Breslau, 
Marcus.  6,40  M.)  —  B  e  1  o  c  h  ,  Griechische  Geschichte.  2.,  neu- 
gestaltete Aufl.  1.  Bd.,  2.  Abtlg.  (Straßburg,  Trübner.  8  M.)  — 
Baumgarten,  Poland,  Wagner,  Die  hellenische  Kultur.  3.,  stark- 
vermehrte Aufl.  (Leipzig,  B.  G.  Teubner.  10  M.,  geb.  12,50  M.)  — 
P  0  r  a  1 1  a  ,  Prosopographie  der  Lakedaimonier  bis  auf  die  Zeit  Ale- 
xanders des  Großen.  (Breslau,  Max  &  Co.  6  M.)  —  San  Nicolö, 
Ägyptisches  Vereinswesen  zur  Zeit  der  Ptolemäer  und  Römer.  1.  Bd. 
(München,  Beck.  7  M.)  —  M  e  1 1  z  e  r  ,  Geschichte  der  Karthager. 
3.  (Schluß-)Bd.  V.  Ulr.  Kahrstedt.  (Berlin,  Weidmann.  20  M.)  — 
Hugo  Koch,  Konstantin  der  Große  und  das  Christentum.  (München, 
Mörike.     1,20  M.) 

Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

K.  Schumacher  veröffentlicht  im  Korrespondenzblatt  des 
Gesamtvereins  1913, 5  den  Jahresbericht  des  Römisch-Germanischen 
Zentralmuseums  zu  Mainz  für  das  Rechnungsjahr  vom  1.  April  1912 
bis  1.  April  1913. 

Das  Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins  61,  3/4  bringt  die 
Vorträge  zum  Abdruck,  die  während  der  Würzburger  Tagung  des 
südwestdeutschen  Verbandes  von  Altertumsvereinen  im  September 
1912  gehalten  wurden.  Wir  notieren  hier  allein,  um  nicht  alle  Themen 
nennen  zu  müssen,  den  Bericht  von  G.  A  n  t  h  e  s  über  die  archäo- 
logische Tätigkeit  der  Verbandsvereine  während  der  Jahre  1911  und 
1912,  die  Vorträge  von  Forrer  über  neue  archäologische  Unter- 
suchungen im  Elsaß  und  von  P.  G  ö  ß  1  e  r  über  neue  Untersuchungen 

27* 


416  Notizen  und  Nachrichten. 

und  Ergebnisse  zur  Geschichte  der  römischen  Okkupation  von  Süd- 
westdeutschland. Die  übrigen  Referate  sind  ausgesprochen  lokalge- 
schichtücher  Natur  und  gelten  Gegenständen  aus  prähistorischer, 
römischer  und  germanischer  Zeit,  derart  daß  man  ihren  Spuren  später 
wieder  in  der  Museographie  der  Westdeutschen  Zeitschrift,  den  Fund- 
berichten aus  Schwaben  und  anderwärts  begegnen  wird. 

Der  reiche  Inhalt  der  Prähistorischen  Zeitschrift  5,  1/2  läßt 
hier  nur  diejenigen  Beiträge  verzeichnen,  die  sich  auf  Einzelheiten 
der  Vorgeschichte  Deutschlands  beziehen.  Genannt  seien  die  Aufsätze 
und  Fundberichte  von  K.  S.  Gutmann  (Die  neolithische  Bergfeste 
von  Oltingen),  Th.  H  a  r  s  t  e  r  (Das  bajuwarische  Reihengräberfeld 
bei  Kelheim)  und  H.  Müller-Brauel  (Drei  bronzezeitliche  Hügel- 
gräber im  Kreise  Stade;  Ein  bronzezeitlicher  Hügel  mit  sächsischer 
Nachbestattung  bei  Anderlingen).  Unter  den  kleineren  Mitteilungen 
mögen  die  von  B  ä  r  t  h  o  I  d  (Die  Spiral-Mäanderkultur  in  Sachsen- 
Thüringen)  und  P.  Q  u  e  n  t  e  (Der  Urnenfriedhof  von  Techow)  erwähnt 
werden.  Allen  Studien  sind  zahlreiche  Abbildungen  beigegeben,  die 
auch  dort  noch  wirken,  wo  die  genaueste  Beschreibung  dem  der  Prä- 
historie Fernerstehenden  nicht  vollen  Aufschluß  zu  gewähren  im- 
stande ist. 

H.  N  ö  t  h  e  schildert  in  kurzen  Zügen  die  Ergebnisse  der  Aus- 
grabungen in  Oberraden,  gestützt  vornehmlich  auf  einen  Vortrag  von 
Baum,  der  über  jenes  Thema  sich  auf  der  Dortmunder  Tagung  des 
Vereins  für  Vorgeschichte  im  August  1912  verbreitete;  Histor.  Viertel- 
jahrschrift 1913,  S.  243  ff. 

K.  R  e  g  I  i  n  g  s  Beschreibung  eines  größeren  Fundes  römischer 
Denare  bei  Fröndenberg  im  Ruhrgebiet  verdient  um  ihres  Anhangs 
willen  besondere  Hervorhebung.  In  ihm  sind  die  bisher  zutage  ge- 
tretenen römischen  Münzschätze  im  freien  Germanien  verzeichnet, 
wie  der  Verfasser  bemerkt,  ohne  jeden  Anspruch  auf  selbst  nur  an- 
nähernde Vollständigkeit,  gleichwohl  dankenswert  durch  die  über- 
sichtliche Anordnung  und  die  Heranziehung  weitzerstreuter  Literatur; 
Zeitschrift  für  Numismatik  29,  3/4,  S.  189  ff. 

O.  Roßbachs  Aufsatz  in  den  Neuen  Jahrbüchern  für  das 
klassische  Altertum  usw.,  1.  Abt.  XXXI,  4,  S.  269 ff.,  stellt  sich  als 
ein  erfreulicher  Beitrag  zur  Ikonographie  germanischer  Könige  der 
Völkerwanderungszeit  dar.  Er  behandelt  die  Persönlichkeiten  und 
die  äußere  Erscheinung  des  Ostgoten  Theoderich  d.  Gr.  (f  526)  und 
des  Westgoten  Theoderich  II.  (453 — 466),  derart,  daß  die  Berichte 
über  sie  wie  bildliche  Darstellungen  —  von  Theoderich  d.  Gr.  auf 
einer  wertvollen  Goldmünze  —  zu  ihrem  Rechte  gelangen.    Die  Schil- 


Frühes  Mittelalter.  417 

derung  der  Westgoten  durch  Apollinaris  Sidonius  liegt  derjenigen 
Friedrichs  1.  (1152—1190)  durch  Rahewin  {Gesta  Friderici  IV  c.  86 
ed.  B.  von  Simson  p.  342  sqq.)  zugrunde  —  Roßbach  will  damit  Be- 
kanntes nicht  noch  einmal  sagen,  sondern  gegen  ihre  Verwertung 
durch  M.  Kemmerich  ankämpfen,  der  erklärt  hatte,  daß  sie  an  Wert 
nicht  das  geringste  durch  den  Nachweis  verlöre,  daß  „manche  Aus- 
drücke Einhard  und  Sidonius  Apollonius  (!)  entnommen  sind".  Die 
sklavische  Abhängigkeit  Rahewins  von  seiner  Vorlage  wird  durch 
den  Paralleldruck  noch  deutlicher  als  durch  die  entsprechenden  An- 
merkungen in  der  angeführten  Ausgabe. 

Im  111.  Heft  der  Untersuchungen  zur  Staats-  und  Rechtsge- 
schichte, herausgegeben  von  O.  v.  Gierke,  behandelt  Emil  G  o  1  d  - 
mann  das  and^/ong-Problem.  In  einer  Anzahl  von  Urkunden  (vom 
Anfang  des  8.  bis  gegen  Ende  des  11.  Jahrhunderts)  kommt  der  ande- 
lang  als  rechtliches  Wahrzeichen  bei  der  Grundstückübereignung  vor,, 
ohne  daß  klare  Anhaltspunkte  dafür  gegeben  sind,  was  andelang  eigent- 
lich bedeute,  ohne  daß  einer  der  bisherigen  Deutungsversuche  allge- 
meinen Anklang  gefunden  hätte.  Mit  dem  ganzen,  schweren  Rüstzeug 
rechtsgeschichtlicher  sprachgeschichtlicher  und  volkskundlicher  For- 
schung untersucht  Goldmann  ausführlich  und  sorgfältig  die  Frage 
von  neuem  und  stellt  als  Ergebnis  die  Gleichung  andelang  =  Kessel- 
haken auf;  eine  Erklärung,  die  schon  Malbrancus  versucht  hatte. 
In  der  Sache  ist  dagegen  kaum  ein  Bedenken  einzuwenden.  Der  sprach- 
liche Beweis,  der  das  Wort  auf  romanische  Quelle  zurückführen  möchte, 
ist  wohl  noch  nicht  endgültig.  Vgl.  Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung 
für  Rechtsgeschichte,  germanistische  Abteilung  1912,  S.  599 — 602. 
Vielleicht  wäre  ergänzend  darauf  hinzuweisen,  daß  der  Kesselhaken 
auch  kngehaeke  hieß.  (Schiller-Lübben,  Mittelniederdeutsches  Wörter- 
buch II,  177;  vgl.  lenge  3.  Bedeutung  ebenda  II,  664.)    v.  Künßberg. 

Der  kleine  Aufsatz  von  Paul  Sander  „Über  die  Wirtschafts- 
entwicklung der  Karolingerzeit"  (Schmollers  Jahrbuch  für  Gesetz- 
gebung usw.  37,  1)  enthält  eine  durch  ihre  selbständigen  Beobachtungen 
wertvolle  Besprechung  des  Buches  von  Dopsch. 

In  einer  Studie  über  „Einhard,  Rudolf,  Meginhard.  Ein  Beitrag 
zur  Frage  der  Annales  Fuldenses"  (Histor.  Jahrbuch  1913,  S.  40  ff.) 
bekämpft  S.  H  e  1 1  m  a  n  n  zunächst  einige  Bedenken,  die  M.  Jansen 
gegen  seine  Ergebnisse  zur  Frage  nach  der  Entstehungsgeschichte 
der  Annales  Fuldenses  geäußert  hatte  (a.  a.  O.  1912,  S.  101  ff.,  vgl. 
mit  Neuem  Archiv  33,  S.  697  ff.,  34,  S.  15  ff.,  37,  S.  53  ff.).  Daran 
schließen  sich  neue  Argumente,  die  Hellmanns  Hypothese  stützen 
sollen,  daß  jenes  Annalenwerk  nicht  von  drei  einander  ablösenden 
Verfassern  herrühre,  sondern  nur  von  einem  einzigen,  in  Mainz  lebenden 


418  Notizen  und  Nachrichten. 

Autor,  der  ihm  vorliegende  ältere  Arbeiten  zusammengeschweißt  habe; 
im  Südosten  des  Reiches  habe  ein  ebenfalls  unbekannter  Autor  sie  bis 
mindestens  dem  Jahre  901  oder  902  fortgeführt,  nachdem  von  ihm 
die  Karl  III.  feindliche  Darstellung  der  Jahre  882—887  durch  eine 
diesem  Karolinger  günstigere  ersetzt  worden  sei.  F.  Kurzes  Polemik 
(a.  a.  O.  36,  S.  345  ff.,  37,  S.  778  ff.)  wird  von  Hellmann  nicht  noch 
einmal  bekämpft,  da  er  gegen  sie  bereits  (a.  a.  O.  37,  S.  53  ff.)  in  die 
Schranken  getreten  war. 

Ph.  Lauer,  Robert  I'^  et  Raoul  de  Bourgogne,  rois  de  France 
(g23 — g36)  Annales  de  VHistoire  de  France  a  l'epoque  Carolingienne. 
Bibliothtque  de  VEcole  des  Hautes  Etudes.  Sciences  historiques  et  philo- 
logiques  i88'  fascicule.  Paris,  Champion  1910,  IV,  115  S.  —  Der  sach- 
kundige Herausgeber  des  Flodoard  füllt  mit  diesem  Buche  die  Lücke 
aus,  die  in  den  Annales  de  VHistoire  de  France  zwischen  den  Werken 
über  Karl  den  Einfältigen  und  Ludwig  dem  Überseeischen  vorhanden 
war.  Über  Robert  ist  nicht  viel  zu  berichten,  seine  Laufbahn  nahm 
ein  zu  jähes  Ende.  Rudolf  trat  zunächst  als  Usurpator  auf,  aber  dank 
seiner  trefflichen  kriegerischen  und  politischen  Gaben  verstand  er  es, 
sich  durchzusetzen.  Gingen  damals  der  französischen  Herrschaft 
Lothringen  und  die  Provence  verloren,  so  war  es  wahrlich  nicht  die 
Schuld  des  Königs,  sondern  die  des  unbotmäßigen  Vasallen  Herbert 
von  Vermandois,  der  mit  seinem  andauernden  Widerstände  die  Politik 
Rudolfs  stets  und  ständig  durchkreuzte.  O.  Cartellieri. 

Man  darf  es  als  erfreuliches  Zeichen  der  Gesundheit  unseres 
akademischen  Geschichtsunterrichtes  begrüßen,  daß  die  von  K.  Z  e  u  - 
m  e  r  bearbeitete  Quellensammlung  zur  Geschichte  der  Deutschen 
Reichsverfassung  in  JVIittelalter  und  Neuzeit  (vgl.  H.  Z.  94  [1905], 
S.  474)  in  wesentlich  bereicherter  neuer  Auflage  erscheinen  kann 
(Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr  [P.  Siebeck],  1913,  XVIII,  562  S.).  Über 
die  Anlage  des  Buches,  das  sich  auch  als  bloße  Urkundensammlung 
dank  dem  sicheren  Takte  des  Bearbeiters  zu  einem  Werke  von  selb- 
ständiger wissenschaftlicher  Bedeutung  erhebt,  braucht  hier  nichts 
mehr  gesagt  zu  werden.  Die  neu  aufgenommenen  35  Nummern,  von 
denen  5  an  die  Stelle  von  6  ausgeschiedenen  getreten  sind,  gehören 
zu  Vierfünfteln  der  mittelalterlichen  Abteilung  an;  bei  einer  der  wert- 
vollsten, der  Urkunde  über  die  Verkündigung  der  Wahl  König  Richards 
(Nr.  77),  ist  leider  die  Druckstelle  des  zur  Beurteilung  der  Urkunde 
wichtigen  Zeumerschen  Aufsatzes  falsch  angegeben  (H.  Z.  94  [1905] 
muß  es  heißen).  Im  Register  ist  S.  556  unter  „Bitten,  erste"  84  statt  74 
zu  lesen.  Daß  die  beiden  fast  genau  gleich  starken  Teile  des  Buches 
auch  getrennt  abgegeben  werden,  ist  namentlich  für  den  Seminar- 
betrieb eine  große  Erleichterung. 


Frühes  Mittelalter.  419 

Die  Abhandlung  von  L.  K.  G  o  e  t  z  über  die  Frage  nach  dem 
Umfang  der  kirchlichen  Gerichtsbarkeit  im  vormongolischen  Rußland 
(Zeitschrift  für  osteuropäische  Geschichte  3,  3  S.  327  ff.)  prüft  die 
Bestimmungen  dreier,  freilich  nicht  insgesamt  für  echt  erklärter  Kirchen- 
gesetze, des  Statuts  von  Vladimir  (980 — 1015),  des  Statuts  von  Jaroslav 
(1019 — 1054)  und  des  Dekrets  von  Rotislav  Mstislavic  von  Smolensk 
aus  dem  Jahre  1150.  Es  scheint,  als  würde  bei  den  Lesern  des  Auf- 
satzes zu  viel  Kenntnis  altrussischer  Kirchengeschichte  vorausgesetzt, 
derart  daß  infolge  geringer  Rücksichtnahme  auf  solches  Nichtwissen 
die  Studie  selbst  ihres  Eindrucks  sich  berauben  möchte;  über  ihre 
Ergebnisse  zu  urteilen  steht  uns  nicht  zu.  In  derselben  Zeitschrift 
(S,  365  ff.)  unterzieht  M.  V.  B  r  e  c  k  e  v  i  c  das  Privileg  des  Papstes 
Innozenz  II.  für  den  Bischof  Adalbert  von  Wollin  aus  dem  Jahre  1140 
einer  eingehenden  Prüfung.  Indem  er  sie  im  Gegensatz  zu  A.  Hauck 
für  echt  erklärt,  bemüht  er  sich  zugleich,  ihre  Bestimmungen  im  ein- 
zelnen zu  erläutern,  die  insgesamt  einen  Versuch  des  Bischofs  dar- 
stellen sollen,  „seine  Besitzungen  und  Rechte  für  alle  Fälle  durch 
weitergehende  Ausdrücke  zu  bezeichnen,  als  es  in  der  Tat  notwendig 
war".  Ganz  geklärt  und  behoben  sind  alle  Bedenken  aber  keineswegs, 
zumal  eine  diplomatische  Prüfung  der  Urkunde  selbst  unterblieben  ist. 

In  den  Göttingischen  Gelehrten  Anzeigen  1913,  5  unterzieht 
A.  Brackmann  das  Werk  von  G.  Schreiber  über  Kurie  und  Kloster 
im  12.  Jahrhundert  (Stuttgart  1910)  einer  eindringlichen  Würdigung 
hinsichtlich  seiner  Methode  und  seiner  Ergebnisse:  sie  meldet  nicht 
unwesentliche  Bedenken  an,  ohne  deshalb  das  Verdienst  Schreibers 
mindern  zu  wollen.  Brackmanns  Darlegungen  über  den  päpstlichen 
Schutz,  die  Zinszahlung,  die  Exemtion,  die  bischöflichen  Jurisdiktions- 
rechte verdienen  ernste  Beachtung,  da  sie  die  Schwierigkeiten  der 
Untersuchung  neu  ans  Licht  stellen.  Auch  Schreiber  war  sich  ihrer 
bewußt,  nur  daß  der  von  ihm  gewählte  Ausgangs-  und  Schlußpunkt 
seiner  Untersuchungen  ihm  das  Bild  der  Entwicklung  weniger  viel- 
gestaltig erscheinen  ließen,  als  es  in  lokaler  Differenzierung  tatsächlich 
war.  Gerade  diese  betont  Brackmann  mit  vollem  Recht,  um  damit 
erneut  auf  die  Notwendigkeit  weiterer  eindringender  Studien  auf 
diesem  Gebiete  hinzuweisen. 

P.  Kehr  legt  in  einer  7.  Reihe  von  Nachträgen  zu  den  Papst- 
urkunden Italiens  (vgl.  110,  655)  den  Text  von  nicht  weniger  als 
41  Papst-  und  Legatenurkunden  aus  den  Jahren  1102 — 1194  vor, 
deren  Auffindung  den  Nachforschungen  von  H.  Kalbfuß  gelang,  als 
dieser  die  Archive  und  Bibliotheken  der  Lombardei  einer  ergänzenden 
Durchprüfung  unterzog.  Namentlich  reich  an  Überlieferungsformen 
waren  die  Sammlungen  von  Brescia  und  Bergamo;  sie  lieferten  Ma- 


420  Notizen  und  Nachrichten. 

terialien  aus  Fonds,  „von  denen  wir  bisher  entweder  gar  nichts  oder 
nur  sehr  wenig  besaßen".  Der  Inhalt  der  mitgeteilten,  überwiegend 
echten  Stücke  bezieht  sich  auf  italienische  Einzelkirchen  und  Einzel- 
klöster, ihre  Rechte  und  Besitzungen.  Besonders  wichtig  erscheint 
ein  Brief  Alexanders  III.  vom  Jahre  1167  an  Konsuln  und  Volk  von 
Brescia:  diese  erhalten  den  päpstlichen  Dank  für  ihre  Anstrengungen 
zugunsten  der  Kirche  und  ihrer  Freiheit  und  werden  ermahnt,  darin 
auszuharren;  alle  aber,  welche  dem  Tyrannen  Friedrich  und  seinen 
Anhängern  durch  Treueid  verbunden  sind,  werden  von  diesem  ent- 
bunden. Ob  auch  andere  Stücke  sich  für  die  politische  Geschichte 
verwerten  lassen,  kann  hier  dahingestellt  bleiben:  genug,  daß  ihre 
Texte  neue  Beiträge  liefern  zur  Erkenntnis  des  von  den  Päpsten  ge- 
schaffenen Ordens-  und  Klosterrechts,  dessen  Vielseitigkeit  immer 
wieder  die  Blicke  auf  sich  zieht  (Nachrichten  der  K.  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  zu  Göttingen,  phil.-hist.  Klasse  1912,  4  S.  414  ff.). 

Die  scharfsinnig  durchgeführte  Untersuchung  von  B.  Schmeid- 
1  e  r  über  den  Briefwechsel  zwischen  Abälard  und  Heloise  (Archiv  für 
Kulturgeschichte  11,  1  S.  1  ff.)  kommt  zu  folgenden  überraschenden 
Ergebnissen:  unzweifelhaft  echt  ist  die  ihn  eröffnende  Historia  calami- 
tatum;  die  übrigen  sieben  Briefe  stellen  sich  dank  vornehmlich  durch- 
gängiger stilistischer  Eigentümlichkeiten  als  das  Werk  Abälards  allein 
dar,  der  freilich  in  ihm  echte,  von  Heloise  herrührende  Briefe  benutzt 
haben  mag.  „Der  Briefwechsel  ist  nichts  als  die  Fortsetzung  der  Historia 
calamitatum,  eine  Selbstdarstellung  des  Romans  von  Abälards  Leben 
in  Briefform."  Der  Überzeugungskraft  von  Schmeidlers  Argumenten 
wird  man  sich  kaum  entziehen  können,  während  die  von  ihm  ange- 
deutete scharfe  Verurteilung  von  Abälards  Charakter  allzuhart  dünkt. 

Aus  der  Zeitschrift  für  Deutsches  Altertum  54,  1  S.  61  ff.  no- 
tieren wir  die  ansprechenden  Bemerkungen  von  E.  Michaelis 
zum  Ludus  de  Antichristo,  dem  mit  Recht  jegliche  politische  Spitze 
abgesprochen  wird.  Die  Entstehung  des  Spiels  wird  mit  behutsamer 
Vorsicht  in  die  Zeit  „nicht  allzuweit  von  der  Wirksamkeit  des  hl.  Bern- 
hard in  Deutschland"  verlegt,  wenn  nicht  gar  in  die  Zeit  vor  die  un- 
glückliche Wendung  des  zweiten  Kreuzzuges.  Auf  die  neue  Ausgabe 
des  Ludus  durch  F.  Wilhelm  in  den  „Münchener  Texten"  (Heft  1, 
München  o.  J.)  konnte  Michaelis  nur  in  nachträglichen  Bemerkungen 
eingehen. 

Im  6.  Hefte  der  von  F.  Wilhelm  herausgegebenen  „Münchener 
Texte"  legt  M.  M  a  n  i  t  i  u  s  eine  neue  Edition  der  Gedichte  des 
Archipoeta  vor,  deren  Übersetzung  durch  B.  Schmeidler  vor  einem 
Jahre  hier  angeführt  werden  konnte  (109,  643).  Ohne  über  die  philo- 
logischen Verdienste  der  Arbeit  urteilen  zu  dürfen,  wird  folgendes  zu 


Frühes  Mittelalter.  421 

bemerken  sein.  Manitius  würdigt  in  der  Einleitung  zunächst  die  Per- 
sönlichkeit und  die  Lebensumstände  des  Dichters,  charakterisiert  als- 
dann die  Überlieferungen  seiner  Werke  und  bietet  schließlich  für  diese 
einen  von  kritischen  Noten  und  Erläuterungen  begleitenden  Text, 
der  namentlich  für  die  Zwecke  von  Übungen  sich  eignen  möchte.  Die 
Kommentierung  der  Gedichte  bemüht  sich  vornehmlich,  den  sprach- 
lichen Vorlagen  des  Erzpoeten  in  der  Bibel  und  der  antiken  Literatur 
nachzugehen.  Seine  Abhängigkeit  von  ihnen  erscheint  dem  Heraus- 
geber als  „recht  stark"  und  „zeigt  auch  an  diesem  Beispiel,  auf  welcher 
Grundlage  die  Dichter  des  12.  Jahrhunderts  ihre  Poesien  verfertigten" 
(S.  14).  Man  bedauert,  daß  Manitius  es  unterlassen  hat,  eine  Konkor- 
danz der  älteren  Ausgaben  mit  der  eigenen  beizufügen,  zumal  er  selbst 
„die  Reihenfolge  der  Gedichte  nach  der  wahrscheinlichen  chrono- 
logischen Folge"  gab,  also  von  der  Edition  z.  B.  von  Wilhelm  Grimm 
oftmals  abgewichen  ist  (Die  Gedichte  des  Archipoeta.  München,  G. 
D.  W.  Callwey  1913.  65  S.). 

P.  F  e  d  e  1  e  stellt  aus  dem  Urkundenbestand  von  S.  Maria 
in  Via  Lata  eine  Reihe  von  Dokumenten  zusammen,  die  über  die  Ge- 
schichte des  stadtrömischen  Senats  im  12.  Jahrhundert  neues  Licht 
zu  verbreiten  geeignet  sind;  Archivio  della  R.Societä  Romana  di  Storia 
Palria  34,  3/4  S.  351  ff. 

Einen  merkwürdigen  Versuch  zur  Geschichte  des  s  i  z  i  1  i  s  c  h  - 
unteritalischen  Lehnrechtes  unternimmt  ein  Aufsatz  von 
Roberto  Palmarocchi,  Sul  feudo  Normanno  (Studi  storici  XX, 
349  ff.).  Der  Verfasser  versucht  den  Nachweis,  daß  nicht,  wie  man 
bisher  annahm,  das  fränkische  Lehnrecht  (mit  Primogeniturerbfolge), 
sondern  das  langobardische  (mit  Teilbarkeit)  im  Königreich  vorge- 
waltet habe,  daß  nur  „einige  Personen"  nach  fränkischem  Recht  gelebt 
hätten.  Erst  ganz  spät  sei  das  den  Feudataren  (angeblich)  günstigere 
fränkische  Recht  das  herrschende  geworden,  denn  erstens  könne  von 
einer  Übertragung  der  fränkischen  Primogeniturerbfolge  durch  die  Er- 
oberer des  wegen  keine  Rede  sein,  weil  es  in  der  Normandie  damals 
noch  nicht  rezipiert  gewesen  sei,  zweitens  seien  viele  Langobarden 
im  Heere  der  normannischen  Führer  gewesen,  und  drittens  habe  das 
(angebliche)  normannische  Prinzip  der  Anpassung  zur  Annahme  des 
im  eroberten  Lande  heimischen  Rechtes,  also  des  langobardischen,  ge- 
führt. Der  kühne  Versuch  des  Verfassers  ist  meines  Erachtens  kaum 
diskutabel.  Es  wird  nur  mit  allgemeinem  Räsonnement  und  ohne 
die  notwendige  Kenntnis  von  Urkunden  und  Rechtsquellen  gearbeitet. 
Die  Konstitution  König  Rogers  für  Kalabrien  von  1150,  die  der  Ver- 
fasser S.  370  für  das  Lehnerbrecht  heranzieht,  bezieht  sich  nicht  auf 
dieses,  sondern  auf  die  Erbfolge  in  freiem  Eigen.    Was  Ficker  und 


422  Notizen  und  Nachrichten. 

Brunner  über  das  anglonormannische  Erbrecht  geschrieben  haben,  ist 
dem  Verfasser  nicht  bel<annt.  Wenn  wir  nun  auch  nicht  mit  Bestimmt- 
heit sagen  können,  daß  in  den  neu  errichteten  sizilisch-unteritalischen 
Lehen  der  ältesten  Zeit  das  Primogeniturprinzip  von  vornherein  ge- 
herrscht habe,  so  beweisen  doch  schon  die  N  a  m  e  n  der  ältesten  Lehns- 
träger, daß  sie  überwiegend  französischer  Herkunft  waren.  Die  ältesten 
erreichbaren  lehnrechtlichen  Bestimmungen  zeigen  ausschließlich  nor- 
mannischen und  sonstigen  französischen  Einfluß.  Die  verabsäumte 
Einsicht  in  den  Catalogus  Baronum  hätte  dem  Verfasser  eine  Vorstel- 
lung von  der  quantitativen  Verteilung  zwischen  Lehen  fränkischen 
und  Lehen  langobardischen  Rechtes  innerhalb  der  festländischen  Teile 
des  Reiches  vermittelt.  Niese. 

Wir  notieren  aus  den  Göttingischen  Gelehrten  Anzeigen  1913,  4 
die  Anzeige  des  Buches  von  H.  Bloch  (Die  staufischen  Kaiserwahlen 
und  die  Entstehung  des  Kurfürstentums.  Leipzig  1911)  durch  G. 
H  u  s  a  k.  Ihr  Verfasser  lehnt  nach  eingehender  Darlegung  der  Her- 
gänge bei  der  Wahl  des  Jahres  1198  Blochs  Ausführungen  ab.  ,,Wir 
sehen  bei  der  Doppelwahl  electio  regis  und  electio  imperatoris  alter- 
nierend verwendet,  ohne  daß  es  gelungen  wäre,  ein  System  in  die 
Anwendung  der  beiden  Termini  bringen  zu  können.  Von  der  weifisch- 
päpstlichen  wie  von  der  staufischen  Partei  finden  wir  die  beiden  Be- 
zeichnungen gelegentlich  gebraucht.  Zwischen  regnum  und  Imperium 
wird  überhaupt  nicht  unterschieden,  d.  h.  Imperium  gilt  nicht  als 
Gebiet  und  Herrschaft  des  nur  kaiserlichen  Regierenden,  sondern  be- 
zeichnet die  hinteriassene  Herrschaft  des  verstorbenen  Kaisers.  Auch 
der  Papst  spricht  von  Imperium  in  demselben  Sinn  wie  die  weifischen 
und  staufischen  Fürsten.  Betreffs  der  von  Bloch  konstatierten  Wand- 
lung in  den  offiziellen  staatstheoretischen  Anschauungen  des  Papstes 
versuchten  wir  an  der  Hand  der  in  Frage  kommenden  Titel  zu  zeigen, 
daß  hierüber  keine  Meinungsverschiedenheit  zwischen  den  Deutschen 
und  dem  Papste  nachzuweisen  ist.  Die  aktuellen  Meinungsverschieden- 
heiten liegen  vor  allem  auf  dem  politischen  Gebiete.  Die  theoretischen 
Auseinandersetzungen  der  päpstlichen  Briefe  haben  daher  meist  einen 
sehr  realpolitischen  Hintergrund  und  sind  infolge  dieser  ihrer  Bedingt- 
heit nicht  ohne  innere  Widersprüche.  Festzuhalten  ist  eben,  daß  die 
Streitfrage  sich  um  die  Person,  nicht  um  den  Titel  dreht,  und  um  den 
vom  Papste  als  idoneus  erachteten  Kandidaten  durchzubringen,  wird 
alles  ins  Treffen  geführt,  was  rechtlich  für  ihn  sprechen  kann,  wobei 
gelegentlich  andere  rechtliche  Momente  vergewaltigt  werden.  Die  vom 
Papste  gefundene  Bezeichnung  rex  in  imperatorem  postmodum  promo- 
vendus  gibt  glücklich  den  begrifflichen  Inhalt  der  von  den  Fürsten 
gewählten  Person  wieder.    Dieser  Ausdruck  ist  inhaltlich  gleich  mit 


Frühes  Mittelalter.  423 

rex  in  imperatorern  electus;  mit  diesem  Titel  wird  Otto  von  Innozenz 
oft,  aber  nicht  immer  bezeichnet."  Husacks  Anzeige  erschöpft  nicht 
den  Gesamtinhalt  des  Werkes  von  Bloch,  bedeutet  aber  einen  scharfen 
Vorstoß  gegen  die  erste  Reihe  seiner  Ausführungen  (vgl.  auch  H.  K  a  1  b  - 
f  u  ß  in  der  Deutschen  Literaturzeitung  1913,  Nr.  16).  Nicht  vergessen 
sei  die  Anzeige  von  W.  Hauthalers  Salzburger  Urkundenbuch  I  (Salz- 
burg 1910)  durch  E.  Schröder. 

Roman  Grodecki  beschäftigt  sich  im  Kwart.  hist.  XXVI 
(S.  433 — 475)  mit  den  Verhältnissen  des  herzoglichen  Landes  bei  Treb- 
nitz  vor  der  Stiftung  des  dortigen  Klosters.  Das  praedium  Trebnicense 
der  Urkunde  von  1203  ist  etwas  anderes  als  die  ipsa  Trebnica  des  Di- 
ploms von  1204  (Haeusler  „Urkundensammlung  etc."  Nr.  9  u.  10); 
es  umfaßt  außer  dieser  noch  sechs  Nachbardörfer  und  war  ursprüng- 
lich wohl  im  Besitze  des  Peter  Wlast.  Der  Herzog  erwarb  eigens  zur 
Bestiftung  desTrebnitzer  Klosters  noch  mehrere  Orte  in  der  Nähe  seines 
Praediums.  Diese  Dörfer  überkam  er  zumeist  menschenleer;  daher 
war  es  nötig,  aus  anderen  Orten  Hörige  dorthin  zu  überweisen.  In  den 
Trebnitzer  Dörfern  finden  wir  teils  hospites,  teils  Handwerker  und 
Diener.  Subdapifer  wird  mit  coquus  gleichgesetzt.  Die  , .Zeitschrift  des 
Vereins  für  Geschichte  und  Altertum  Schlesiens"  wird  sich  mit  Gro- 
deckis  Arbeit  eingehender  befassen.  E.  Missalek. 

In  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins  N.  F.  28,  I 
wertet  H.  Flamm  den  Fund  eines  neuen  Blattes  des  Rotulus  San- 
petrinus,  das  im  Freiburger  Stadtarchiv  zutage  trat.  Wohl  hatte 
schon  Schannat  im  Jahre  1723  fünf  Berichte  über  Schenkungen  an 
das  Schwarzwaldkloster  veröffentlicht,  das  von  H.  Flamm  entdeckte 
Stück  erscheint  als  das  Original  eines  dieser  Berichte,  so  daß  es  sich 
lohnte,  es  neu  herauszugeben  und  zugleich  sachgemäß  zu  erläutern. 
Um  1200  geschrieben  erweitert  es  die  Kenntnis  vom  Güterbesitz  jener 
Abtei. 

Anknüpfend  an  Friedrichs  II.  Instruktion  für  einen  Admiral 
Nicolinus  Spinola  vom  Jahre  1239  entwirft  W.  Cohn  in  der  Fest- 
schrift für  Alfred  Hillebrandt  (Halle  a.  S.  1913,  S.  12  ff.)  ein  Bild  von 
den  Amtsbefugnissen  des  Admirals  unter  jenem  Hohenstaufen,  dessen 
Verständnis  für  Seefahrt  und  Seegeltung  er  überaus  hochstellt.  Zur 
Einleitung  mag  bemerkt  werden,  daß  bereits  unter  Otto  111.  ein  Flotten- 
präfekt  begegnet  (vgl.  Gregorovius,  Geschichte  der  Stadt  Rom  III*, 
S.  455). 

In  der  Histor.  Vierteljahrschrift  1913,  2  S.  161  ff.  wird  der  Ent- 
wurf eines  Vortrags  über  spanische  Geschichte  im  Mittelalter  zum 
Abdruck  gebracht,  den  G.  C  a  r  o  kurz  vor  seinem  frühen  Tode  fixierte. 
Auch  der  Torso  läßt  erkennen,  mit  welcher  Energie  der  Verstorbene 


424  Notizen  und  Nachrichten. 

sich  den  ihm  ferner  liegenden  Stoff  aneignete,  zugleich  sein  Geschick, 
mit  der  Darlegung  spanischer  Wirtschafts-  und  Verfassungsverhält- 
nisse Vergleiche  mit  denen  anderer  Länder  zu  verbinden.  Man  bedauert 
lebhaft,  daß  es  dem  Verfasser  nicht  beschieden  war,  den  geplanten 
Vortrag  zu  einer  eindringenden  Studie  auszugestalten. 

Albert  Hauß,  Kardinal  Oktavian  Ubaldini,  ein 
Staatsmann  des  13.  Jahrhunderts.  (Heidelberger  Ab- 
handlungen zur  mittleren  und  neueren  Geschichte.  Heft  35.  VIII  u. 
114  S.  Heidelberg,  Winter.  3  M.)  —  So  reizvoll  die  problematische 
Gestalt  dieses  Ghibellinenfreundes  und  großen  Lebenskünstlers  in  den 
unterhaltsamen  Erzählungen  Salimbenes  sich  ausnimmt,  so  sehr  Dantes 
Interesse  für  „den  Kardinal",  den  er  neben  Friedrich  II.  unter  die 
Ketzer  versetzt,  unsere  Wißbegierde  erregt,  im  Grunde  eignet  sich 
seine  Persönlichkeit  mehr  für  eine  episodische  Darstellung,  für  eine 
geistvolle  Charakteristik,  wie  sie  Davidsohn  (Geschichte  von  Florenz  II, 
1  S.  327  f.)  geboten  hat,  als  für  eine  Biographie,  die  mit  recht  gleich- 
gültigen urkundlichen  Daten  zu  behaften  war  und  kein  stärkeres  Inter- 
esse für  den  Helden  aufkommen  läßt,  der  „der  letzte  war,  sich  politisch 
irgendwie  festzulegen",  der  trotz  aller  intellektuellen  Begabung  weder 
als  Feldherr  noch  als  Diplomat  erhebliche  Erfolge  errungen  hat,  weil 
er  versäumte,  sich  voll  einzusetzen,  dem  vor  allem  daran  gelegen  war, 
Macht  und  Einfluß  seines  Hauses,  eines  Florenz  benachbarten  Herren- 
geschlechts, zu  fördern,  und  selbst  ein  reiches  und  prächtiges  Dasein 
zu  führen.  Hauß  hat  sich  durchaus  nicht  über  die  mangelnde  Größe 
des  Mannes  getäuscht,  er  folgte  einer  Anregung  Winkelmanns  (H.  Z.  68, 
170),  aber  er  bekundet  wiederholt,  daß  nicht  die  Taten  des  Kirchen- 
fürsten unter  fünf  Päpsten  in  28  Jahren  Oktavians  Bedeutung  aus- 
machen, sondern  seine  Denkweise,  die  nach  Art  des  Renaissance- 
menschen das  Sachliche  hinter  dem  rein  Persönlichen  zurückstelle. 
Nur  ist,  was  wir  von  seinem  Denken  und  Fühlen  wissen,  doch  wieder 
nicht  reich  genug,  um  die  eingehende  Behandlung  voll  zu  lohnen. 
Aber  dem  Verfasser  gebührt  Dank  für  seine  sorgfältige  Arbeit.  Sie 
stellt  seiner  Fähigkeit  zu  kritischer  Würdigung  und  geschmackvoller 
Darstellung  ein  gutes  Zeugnis  aus  und  hat  über  den  biographischen 
Rahmen  hinaus  den  Wert,  uns  die  Eigenart  der  Päpste  Innozenz  IV. 
bis  Gregor  X.  unter  eigentümlichem  Gesichtswinkel  —  in  ihrem  Ver- 
hältnis zu  einem  Kardinal,  der  sich  durchaus  nicht  der  antistaufischen 
Schablone  einordnete,  zu  beleuchten.  Der  Tadel,  den  Innozenz  IV. 
ihm  1249  ausspricht  (Levi  ep.  III  p.  271),  hätte  S.  25  schärfer  zum 
Ausdruck  kommen  müssen,  die  Namensform  hätte  ,,Ottaviano"  sein 
sollen.    Die  Knappheit  der  Zitate  geht  bisweilen  entschieden  zu  weit. 

K.  Wenck. 


Späteres  Mittelalter.  425 

Neue  Bücher:  Ludw.  Schmidt,  Geschichtie  der  deutschen 
Stämme  bis  zum  Ausgange  der  Völkerwanderung.  II.  Abtlg.,  2.  Buch. 
(Berlin,  Weidmann.  4  M.)  —  Acta  et  diplomata  res  Albaniae  mediae 
aetatis  illustrantia.  CoUegerunt  et  digesserunt  Ludovicus  deThalloczy, 
Constantinus  J  er  ic  ek  et  Emiliarxus  de  S  u  f  f  l  av.  Vol.  I.  (Wien, 
Holzhausen.  20  M.)  —  P  i  er  q  u  i  n  ,  Histoire  politique  de  la  monarchie 
anglo-saxonne  (44g — 1066).  (Paris,  Picard  et  fils.)  —  Reynaud, 
Les  origines  de  Vinfluence  fran^aise  en  Allemagne  (g^o — 11 50).  T.  i*^. 
(Paris,  Champion.)  —  Walt.  Franke,  Romuald  v.  Camaldoli  und 
seine  Reformtätigkeit  zur  Zeit  Ottos  III.    (Berlin,  Ebering.    6,80  M.) 

—  Francke,  Barbarossas  Angaben  über  das  Gerichtsverfahren 
gegen  Heinrich  den  Löwen.  (Hannover,  Helwing.  1,50  M.)  —  K  1  e  e  - 
mann  ,  Papst  Gregor  VIII.  (1187).    (Bonn,  Marcus  &  Weber.   2  M.) 

—  S  c  h  a  u  b  ,  Studien  zur  Geschichte  der  Sklaverei  im  Frühmittel- 
alter.   (Berlin,  Rothschild.  3,50  M.) 

Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

Fr.  E  h  r  1  e  beginnt  in  der  Zeitschrift  für  katholische  Theologie 
1913,  2  eine  längere  Abhandlung  über  den  in  zwei  Phasen  verlaufenden 
Kampf  um  die  Lehre  des  Thomas  von  Aquino  in  den  ersten  50  Jahren 
nach  seinem  Tod.  Der  vorliegende  erste  Artikel  bemüht  sich  für  eine 
Behandlung  des  an  das  Correctorium  des  Franziskaners  Wilhelm  de  la 
Mare  (entstanden  vor  1283,  wahrscheinlich  Ende  1277  oder  1278) 
anknüpfenden  Streites  eine  brauchbare  Grundlage  zu  schaffen,  indem 
er  die  in  Betracht  kommenden,  fast  durchweg  anonym  überlieferten 
Handschriften  zusammenstellt  und  untersucht. 

Joh.  L  a  h  u  s  e  n  unternimmt  in  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte 
des  Oberrheins  N.  F.  28,  2  den  Nachweis,  daß  das  Überlinger  Stadt- 
recht nicht  vor  Ende  1298  begonnen  (worauf  schon  K.  O.  Müller  in 
seiner  Arbeit  über  die  oberschwäbischen  Reichsstädte  hingewiesen  hatte) 
und  daß  es  mit  der  Verfassungsänderung  König  Albrechts  in  Verbin- 
dung zu  bringen  ist. 

Über  ein  von  Karl  von  Anjou  für  den  Monat  April  des  Jahres  1302 
nach  Cesena  berufenes  „Parlament"  macht  eine  Miszelle  von  Rob. 
Davidsohn  im  Archivio  storico  Italiano  1912,  disp.  4  nähere  An- 
gaben. —  Aus  dem  gleichen  Hefte  ist  noch  ein  erster  Abschnitt  der 
Arbeit  von  L.  Chiappelli:  Ricerche  di  storia  letterar ia  del  diritto 
zu  erwähnen,  in  dem  die  Sammelhandschrift  Ashburnham  1798  der 
Mediceo-Laurenziana  zu  Florenz  genau  beschrieben  und  in  ihren  ein- 
zelnen Bestandteilen  vorgeführt  wird.  Sie  bietet  in  der  Tat  ein  gutes 
Bild  vom   Stande  der  deutschen  juristischen  Wissenschaft  im  aus- 


426  Notizen  und  Nachrichten. 


italienischen     m 

I 


gehenden  Mittelalter,  wie  sie  sich  unter  dem  Einfluß  der  it 
Rechtsschulen  entwickelt  hatte. 

Über  den  wenig  erfreulichen  Empfang,  dessen  sich  im  Jahre  1304 
der  päpstliche  Nuntius  Gerard  v.  Pecorara,  Kanonikus  zu  Reims, 
mit  seinen  Geldforderungen  in  England  zu  versehen  hatte,  gibt  sein 
im  Vatikanischen  Archiv  erhaltener  Bericht  Aufschluß,  der  von  W. 
E.  L  u  n  t  nach  einer  im  Record  Office  befindlichen  modernen  Abschrift 
zum  Abdruck  gebracht  wird  (The English  historial  Review  1913,  April). 

G.  Lizerand:  Les  dipositions  du  grand  maitre  Jacques  de 
Molay  au  proces  des  Templiers  (1307 — 1314)  behandelt  im  MoyenAge 
1913,  JWärz-April  Einzelfragen  aus  dem  Verhör  Molays,  namentlich  im 
Anschluß  an  die  kleine  Veröffentlichung  von  P.  Viollet:  Les  inter- 
rogatoires  de  Jean  de  Molay  (Paris  1909).  Die  Beurteilung  der  Persön- 
lichkeit gipfelt  in  dem  Satz:  „Molay . . .  n'etait  qu'un  pauvre  et  brave 
homme." 

Als  Beitrag  zur  italienischen  Rechtsgeschichte  sei  aus  dem  Archivio 
della  R.  Societä  Romana  35,  fasc.  3 — 4  die  Veröffentlichung  von  J. 
Schuster  verzeichnet :  Un  protocollo  di  notar  Pietro  di  Gregor io 
neir  archivio  di  Farfa.  Die  zum  Abdruck  gebrachten  28  Nummern 
entstammen  sämtlich  dem  Jahre  1344. 

Vornehmlich  auf  Grund  ragusischer  Quellen,  die  bisher  ganz 
unbenutzt  geblieben  sind,  handelt  Graf  L.  de  Voinovitsch  in 
der  Revue  des  questions  historiques  1913,  April  über  das  Schicksal 
der  angiovinischen  Parteigänger,  die  bei  der  Unternehmung  gegen 
Karl  von  Durazzo  zu  Anfang  des  Jahres  1384  von  Streitkräften  der 
Republik  Ragusa  gefangen  genommen  wurden  und  14  Monate  in  die- 
sem Zustand  verbleiben  mußten. 

Im  43.  und  44.  Jahresbericht  des  Historischen  Vereins  zu  Bran- 
denburg a.  H.  hat  O.  T  s  c  h  i  r  c  h  die  märkische  Chronik  des  Stadt- 
schreibers Engelbert  Wusterwitz  (1388 — 1420)  neu  herausgegeben,  die 
gleichzeitig  auch  als  Sonderdruck  erschienen  ist. 

Über  die  rein  lokalgeschichtliche  Bedeutung  geht  stellenweise 
hinaus  die  Zusammenstellung  der  Frankfurter  Judennamen  bis  zum 
Jahre  1400  und  ihre  Erklärung  durch  L.  Krakauer  (Archiv  für 
Frankfurts  Geschichte  und  Kunst  3.  Folge  11). 

Zu  den  der  Geschichte  der  deutschen  Dominikaner  im  späteren 
Mittelalter  geltenden  Forschungen  von  H.  Finke  und  E.  Förstemann 
liefert  in  der  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  34,  1  Fr.  B  ü  n  g  e  r 
eine  willkommene  Ergänzung,  indem  er  das  Bruchstück  eines  Berichts 
über  die  Verhandlungen  eines  Dominikaner-Provinzialkapitels  zu 
Luckau  (1400)  zum  Abdruck  bringt.  Namentlich  auf  die  biographischen 
Nachweise  ist  viel  Mühe  und  Sorgfalt  verwandt  worden. 


I 


Späteres  Mittelalter.  427 

Otto  C  a  r  t  e  1 1  i  e  r  i  setzt  in  den  Sitzungsberichten  der  Heidel- 
berger Akademie  der  Wissenschaften,  philos. -historische  Klasse  Jahr- 
gang 1913,  2.  Abhandlung,  seine  H.  Z.  110,  192  erwähnten  Beiträge 
zur  Geschichte  der  Herzöge  von  Burgund  fort,  indem  er  aus  dem  De- 
partementalarchiv  zu  Lille,  der  Pariser  Nationalbibliothek  und  dem 
Wiener  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchiv  eine  Reihe  von  Schriftstücken 
zum  Abdruck  bringt  und  in  den  geschichtlichen  Zusammenhang  ein- 
ordnet, die  aus  dem  Zeitraum  vom  Herbst  1414  bis  zum  Frühjahr  1415 
stammen  und  eine  hübsche  Ergänzung  zu  der  Veröffentlichung  von 
Jules  Finot  (La  paix  d'Arras,  1906)  abgeben. 

Über  den  wenig  bedeutenden  Abt  Sigmund  Pirchan  von  Hohen- 
furt,  der  1441  von  Felix  V.  zum  Bischof  von  Salona  ernannt  wurde 
und  in  dieser  Würde  nach  seinem  Frieden  mit  der  römischen  Kurie 
bis  zu  seinem  Tode  (1472)  verblieben  ist,  handelt  ein  Aufsatz  von 
Val.  Schmidt  in  den  Studien  und  Mitteilungen  zur  Geschichte 
des  Benediktinerordens  und  seiner  Zweige  N.  F.  2  (1912),  643  ff.  Daß 
die  Arbeit  einen  Beitrag  zur  Geschichte  des  Basler  Konzils  darstelle, 
wie  der  Untertitel  sagt,  kann  nach  den  dürftigen  Nachrichten,  die 
in  dieser  Hinsicht  beigebracht  werden,  nicht  zugegeben  werden. 

Beachtenswertes  Quellenmaterial  zur  Geschichte  der  Beziehungen 
zwischen  Venedig  und  Mailand  in  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahr- 
hunderts enthält  die  Arbeit  von  L.  de  Thaloczy:  Frammenti 
relativi  alla  storia  dei  paesi  situati  aU'Adria  (Archeografo  Triestino  35). 

In  den  Anfang  der  siebziger  Jahre  des  15.  Jahrhunderts  führt 
die  mancherlei  ungedruckte  Materialien  verwertende  Darstellung  von 
L.  F  u  m  i :  La  sfida  del  duca  Galeazzo  Maria  a  Bartolomeo  Colleoni 
(Archivio  storico  Lombardo  serie  quarta,  anno  39,  fasc.  36). 

Die  Histor.  Vierteljahrschrift  16,  2  bringt  den  Schluß  der  H.  Z. 
1 10,  662  erwähnten  Arbeit  von  Fritz  Härtung  über  die  Reichsreform 
von  1485 — 1495,  der  sich  mit  dem  Reichstag  von  Worms  (1495)  be- 
schäftigt. Eingehend  wird  dargelegt,  wie  die  Reichsreform  im  Sinne 
Bertholds  von  Mainz  am  Widerstand  des  Königs  sowohl  als  der  Ter- 
ritorien scheitern  mußte,  wie  weder  der  Partikularismus  der  Stände 
niedergerungen  noch  das  Königtum  dauernd  dem  Reich  untergeordnet 
werden  konnte.  Diesem  unbestreitbaren  Mißerfolg  gegenüber  darf  aber 
der  Versuch  der  Reform,  die  Vereinigung  der  Reichsstände  zum  Träger 
des  Reichs  zu  machen,  in  seiner  Wirkung  nicht  unterschätzt  werden: 
,,Die  Reichsreform  . . .  hat  vielmehr  eine  dauernde  Belebung  des  Reichs- 
gedankens zur  Folge  gehabt.  Das  Interesse  der  Stände  am  Reich  und 
ihr  Anteil  an  seiner  Regierung  ist  gewachsen,  seitdem  der  Reichstag 
eine  wirksame  Verkörperung  der  ständischen  Organisation  bildete, 
seitdem  seine  Bedeutung  immer  mehr  zunahm  und  er  ein  gleichberech- 


428  ^  Notizen  und  Nachrichten. 

tigter  Faktor  neben  dem  König  wurde.    Auch  der  ewige  Landfrie^ 
und  das  Kammergericht  waren  Errungenschaften,  die  sich  das  Reich 
auf  die  Dauer  nicht  mehr  hat  entreißen  lassen." 

Im  neuesten  Hefte  der  „Frankfurter  Zeitgemäßen  Broschüren" 
32,  7  (Hamm,  Beer  und  Thiemann  1913)  hat  G.  Seiler  unter  dem 
Titel  „Der  gemeine  Pfennig  eine  Vermögensabgabe  vor  500  Jahren" 
zusammengestellt  was  sich  über  die  Geschichte  dieser  Reichssteuer, 
ihre  Erhebung  und  Verwendung  wie  endlich  über  ihren  praktischen 
Erfolg  bei  nicht  allzuweit  reichender  Benutzung  von  Sammlungen 
wie  z.  B.  den  Deutschen  Reichstagsakten,  der  Neuen  und  vollstän- 
digeren Sammlung  der  Reichsabschiede,  von  Darstellungen  wie  z.  B, 
F.  V.  Bezolds  Werk  über  Sigmund  und  die  Reichskriege  gegen  die 
Hussiten  zusammentragen  ließ.  Dem  Verfasser  ist  entgangen,  daß 
sich  wertvolle  Materialien  über  den  gemeinen  Pfennig  vom  Jahre  1495 
im  Frankfurter  Stadtarchiv  erhalten  haben  (vgl.  R.  Jung  im  Korre- 
spondenzblatt des  Gesamtvereins  1909,  Sp.  328  ff,),  weiterhin  welche 
Vorgeschichte  die  Heranziehung  des  gesamten  Klerus  zur  Reichsab- 
gabe hat.  Es  fehlt  nicht  an  Unrichtigkeiten,  wie  denn  z.  B.  auf  S.  263 
übersehen  ist,  daß  neben  dem  Heer  für  den  täglichen  Krieg  —  dieses 
sollte  durch  die  Leistungen  der  in  der  Matrikel  von  1422  Aufgezählten 
auf  die  Beine  gebracht  werden  —  noch  ein  zweites,  viel  stärkeres  Heer 
zum  Entsatz  der  Feste  Karlstein  aufgeboten  wurde.  Die  Verwertung 
der  neueren  Literatur  zur  Steuergeschichte  ist  ebenfalls  nicht  aus- 
reichend, zumal  da  der  Hinweis  auf  das  Buch  von  K.  H.  Lang  aus 
dem  Jahre  1793  nicht  vergessen  läßt,  daß  seitdem  u.  a.  die  Arbeiten 
von  K.  Zeumer,  J.  Weizsäcker  und  A.  Wagner  unsere  Kenntnis  der 
Steuergeschichte  erheblich  gefördert  und  erweitert  haben.  Auch  die 
Leipziger  Dissertation  von  J.  Sieber  über  das  Reichsmatrikelwesen 
(1910)  hätte  dem  Verfasser  gute  Dienste  getan.  So  wird  eine  neue 
Arbeit  über  den  gemeinen  Pfennig  nicht  unnötig  erscheinen;  vgl.  dazu 
Meisters  Grundriß  H,  6  (2.  Aufl.),  S.  60  Anm.  L  A.  W. 

Neue  Bücher:  Fritz  B  a  e  r ,  Studien  zur  Geschichte  der  Juden 
im  Königreich  Aragonien  während  des  13.  und  14.  Jahrhunderts. 
(Berlin,  Ehering.  6  M.)  —  R  o  h  d  e  ,  Der  Kampf  um  Sizilien  in  den 
Jahren  1291—1302.  (Beriin,  Rothschild.  5,50  M.)  —  Mittelalter- 
liche Studien  L  Bd.,  l.  Heft:  Kern,  Humana  Civilitas  (Staat, 
Kirche  und  Kultur).  Eine  Dante-Untersuchung.  (Leipzig,  Koehler. 
7,50  M.)  —  C  aggese ,  Firenze  dalla  decadenza  di  Roma  al  risorgi- 
mento  d'  Italia,  II:  dal  prior ato  di  Dante  alla  caduta  della  repubblica. 
(Firenze,  succ.  B.  Seeber  e  F.  Lumachi.  6  L.)  —  Statuti  di  Perugia 
deW  anno  MCCCXLII.  Vol.  I,  libri  i  e  2,  a  cura  di  G.  Degli 
Azzi.  (Roma,  Loescher  e  C.  14  L.) 


I 


Reformation  und  Gegenreformation.  429 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648). 

Ohne  ganz  genügende  Kenntnis  und  Ausnutzung  neuerer  Lite- 
ratur erzählt  B  e  u  z  a  r  t  äußerst  ausführlich  die  einzelnen  Ereignisse 
der  Reformationsbewegung  in  der  Gegend  von  Douai,  Arras  und  dem 
„Pays  de  l'Alleu".  Die  an  sich  dankenswerte  Archivforschung  hat 
wesentliches  Neues  nicht  zu  bringen  vermocht.  Vorher  berichtet  Beu- 
zart  auf  100  Seiten  über  die  mittelalterlichen  Ketzer  dieser  Gegenden 
und  macht  dabei  einen  etwas  gar  zu  weit  gehenden  Gebrauch  von 
Büchern  Bossuets,  Bayles,  Fleurys  und  ähnlicher  Autoren.  Auf  die 
interessanten,  hauptsächlich  durch  Pirenne  aufgeworfenen  Fragen 
über  die  Verbindung  wirtschaftlicher  und  religiöser  Bewegungen,  die 
ja  gerade  in  diesen  flämischen  Gegenden  eine  so  große  Rolle  spielt, 
ist  Beuzart  leider  nicht  näher  eingegangen  (Paul  B  e  u  z  a  r  t ,  Les  fii- 
risies  pendant  le  moyen  äge  et  la  rijorme  jusqü'ä  la  mort  de  Philippe  II, 
1598^  dans  la  rigion  de  Douai,  d' Arras  et  au  Pays  de  l'Alleu.  Paris, 
Champion,  1912.    XI  u.  576  S.    15  Fr.).  A.  Elkan. 

Domenico  Ghetti:  Storia  politico-nazionale  d' Italia  dalla  fine 
deir  impero  romano  occidentale  fino  ai  nostri  giorni.  Volume  ierzo: 
Etä  delle  preponderanze  straniere  deW  anno  1492  al  1814.  Roma,  Er- 
manno  Loescher  &  Co.,  1910.  670  S.  —  Es  lohnt  sich  in  keiner  Weise 
mit  näheren  Worten  auf  das  Buch  einzugehen,  das  man  am  besten  als 
ein  geistloses  Sammelsurium  geschichtlicher  Nachrichten  für  die  Jahre 
1492 — 1814  mit  besonderer  Berücksichtigung  Italiens  bezeichnen  kann. 
Vergebens  sucht  man  nach  irgendwelchen  Gesichtspunkten,  nach  Be- 
mühungen, die  Darstellung  innerlich  zu  verknüpfen.  Die  Begeben- 
heiten werden  in  peinlichst  beobachtetem  chronologischem  Weiter- 
schreiten schematisch  aufgezählt  und  in  unerträglicher  annalistischer 
Dürre  aneinandergereiht,  wobei  Ungenauigkeiten  und  Unrichtigkeiten 
in  Fülle  unterlaufen.  Jeder  Staat  kommt  an  die  Reihe,  wenn  in  seinem 
Bereich  etwas  passiert  ist,  was  der  Erwähnung  wert  erscheint,  und  das 
ist  erstaunlich  viel.  So  wirbeln  die  Ereignisse  wie  Kraut  und  Rüben 
durcheinander:  Schlachten,  Herrschervermählungen,  Papstwahlen, 
Bündnisse,  Eheskandale,  Hungersnöte,  Friedensschlüsse,  Thron- 
wechsel usw.,  und  wenn  es  dem  Verfasser  gefällt,  muß  neben  der  italie- 
nischen auch  die  französische  und  spanische  Geschichte  zu  diesem 
Frikassee  „politisch-nationaler  Geschichte"  herhalten.  Man  begreift 
nicht,  daß  ein  solches  Buch  heute  noch  geschrieben,  und  noch  weniger, 
daß  es  in  einem  angesehenen  Verlag  gedruckt  werden  konnte.  Aber 
das  schon  jetzt  rostbraune  holzhaltige  Papier,  von  dem  in  zehn  Jahren 
wenig  mehr  übrig  geblieben  sein  dürfte,  sichert  dem  Verlag  mildernde 
Umstände  und  läßt  auf  mancherlei  schließen. 

Leipzig.  Herre. 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  28 


43Q  Notizen  und  Nachrichten. 

Zwei  interessante  Flugschriften  aus  der  Zeit  Maximilians  I., 
die  Theodor  L  o  r  e  n  t  z  e  n  in  den  Neuen  Heidelberger  Jahrbüchern 
17,  2  bespricht  und  druckt,  stammen  von  dem  unter  dem  Pseudonym 
Heinz  von  Beschwinden  gehenden  Tiroler  Dichter  kaiserlicher  Gesin- 
nung und  betreffen  den  Schweizer-  oder  Schwabenkrieg  von  1499 
(von  dieser  Reimchronik  hatte  Golther  im  Anzeiger  f.  Schweiz.  Gesch. 
N.  F.  6  nur  Bruchstücke  veröffentlichen  können)  und  den  Landshuter 
Erbfolgekrieg  von  1504. 

Während  der  Kämpfe  Venedigs  gegen  die  Liga  von  Cambrai 
gelang  es  der  Republik,  den  Markgrafen  Francesco  II.  Gonzaga  von 
Mantua  gefangen  zu  nehmen  (1509).  Mit  dieser  Gefangenschaft  und 
den  ersten  Versuchen  zu  seiner  Befreiung  beschäftigt  sich  Roberto 
C  e  s  s  i  im  Nuovo  archivio  Veneto  89.  —  Der  Aufsatz  von  A.  L  u  z  i  o 
über  Isabella  von  Este  und  Julius  II.  1510—1513  (vgl.  H.  Z.  110,  663) 
wird  im  Archivio  storico  Lombardo  4.  Serie,  36  (Jahrg.  39)  mit  zahl- 
reichen urkundlichen  Beilagen  zu  Ende  geführt. 

Die  Studi  critici  per  nozze  Neri-Gariazzo  (Turin,  3.  Februar  1912), 
eine  der  italienischen  Hochzeits-Festschriften,  die  in  anderen  Ländern 
bisher  glücklicherweise  keine  Nachahmung  gefunden  haben,  enthalten 
einen  Aufsatz  von  Carlo  Pio  de  Magistris  mit  Akten  über  Alda 
Manuzia,  die  Tochter  des  1515  gestorbenen  venezianischen  Buchdruckers 
und  Gelehrten  Aldo  Manuzio,  u.  a.  über  ihre  Hochzeit  (1529)  und  ihre 
Familie. 

Wie  neulich  von  Luther  (vgl.  H.  Z.  110,  196),  so  entwirft  Im- 
bart  de  la  Tour  Jetzt  auch  ein  Bild  von  Erasmus  (Revue  des  deux 
mondes  vom  15.  Mai  1913),  dem  er  innerlich  näher  steht,  und  der  sehr 
von  ihm  gepriesen  wird.  Die  fesselnde,  oft  faszinierende  Darstellung 
fordert  gelegentlich  gleichfalls  zum  Widerspruch  heraus,  so  hinsichtlich 
einer  allzu  schematischen  Durchführung  des  Gegensatzes  zwischen 
Renaissance  und  Reformation;  so  auch,  wenn  Erasmus  das  Haupt- 
verdienst daran,  daß  Frankreich  katholisch  geblieben  sei,  zugemessen 
wird. 

Im  März-April-Heft  des  Bulletin  de  la  soc.  de  Vhist.  du  prote- 
stantisme  frangais  (1913)  verneint  John  Vienot  die  Frage,  ob  es 
in  Frankreich  schon  vor  Luther  eine  Reformation  gegeben  habe  (Le- 
f^vre  gehöre  auf  eine  Stufe  mit  Erasmus).  P.  Beuzart  macht  Mit- 
teilungen über  Simon  Liebaert,  der  1544  an  der  Berufung  des  Refor- 
mators Pierre  Brully  von  Straßburg  nach  Tournai  beteiligt  war,  dafür 
von  der  spanischen  Regierung  des  Landes  verwiesen  und  erst  1578 
durch  den  Generalstatthalter  Erzherzog  Matthias  zurückgerufen 
wurde.  M.  Luthard  gibt  als  Fortsetzung  der  oben  S.  226  erwähnten 
Aufsätze  eine  Geschichte  des  Protestantismus  in  Canet  (Dep.  H^rault) 


Reformation  und  Gegenreformation.  431 

1607 — 1873;  G.  Lavergne  handelt  über  ein  Inventar  von  1673 
aus  Issigeac  (D6p.  Dordogne),  das  für  die  Geschichte  des  Protestantismus 
in  P^rigord  wertvoll  ist;  J.  Meyhoffer  bespricht  das  Buch  von 
B  e  u  z  a  r  t  über  die  Häretiker  in  der  Gegend  von  Douai,  Arras  und 
dem  pays  de  l'Alleu  (1912). 

Wir  freuen  uns,  bereits  wieder  einen  Band  der  schönen  Clemen- 
schen Studenten-Lutherausgabe  (vgl.  H.  Z.  110,  439)  anzeigen  zu 
können:  Luthers  Werke  in  Auswahl,  unter  Mitwirkung  von  A.  L  e  i  t  z  - 
mann  herausgeg.  von  Otto  Giemen,  3.  Bd.,  Bonn,  A.  JVlarcus 
und  E.  Weber,  1913,  VII  u.  516  S.,  geb.  5  M.  Er  umfaßt  neun  Schriften 
der  Jahre  1524 — 1528  und  entspricht  in  Grundsätzen  und  Zuverlässig- 
keit des  Drucks  den  früheren  Bänden.  Fast  drei  Viertel  des  Umfangs 
werden  durch  die  beiden  Schriften  De  servo  arbitrio  und  „Vom  Abend- 
mahl Christi"  eingenommen.  Doch  kann  man  ihre  ungekürzte  Auf- 
nahme nur  billigen,  zumal  der  an  sich  naheliegende  Gedanke  einer 
Beschneidung  des  Bekenntnisses  vom  Abendmahl  leicht  als  apolo- 
getische Absicht  mißdeutet  worden  wäre.  Auf  die  beiden  Korrekturen, 
die  Luther  am  Schluß  bringt  (S.  515  f.),  hätte  wohl  im  Text  an  den 
betreffenden  Stellen  verwiesen  werden  können.  Außerdem  enthält 
der  Band  die  Schrift  „Von  Kaufshandlung  und  Wucher",  die  drei 
Schriften  über  die  Bauern  (1525),  die  Deutsche  Messe,  das  Taufbüchlein 
und  die  Schrift  „Ob  Kriegsleute  auch  in  seligem  Stande  sein  können". 
Der  Schlußband,  für  den  sich  auch  eine  einheitliche  Zusammenstellung 
der  Siglen  empfehlen  dürfte,  wird  hoffentlich  bald  erscheinen.    R.  H. 

Eine  selbständige  Leistung  bedeutet  die  Lutherbiographie  von 
Preserved  Smith  (The  Life  and  Letters  of  Martin  Luther,  XIV  u. 
490  S.,  Boston  and  New  York,  Houghton  Mifflin  Company,  1911,  8  sh.), 
dessen  Arbeit  über  Luthers  Tischreden  ihn  bereits  als  tüchtigen  Forscher 
bekannt  gemacht  hatte.  Neue  Bahnen  schlägt  zwar  das  neue  Werk 
nicht  ein,  aber  das  Quellenmaterial  ist  sorgsam  durchgearbeitet.  Ver- 
fasser läßt  mit  Vorliebe  die  Quellen  selbst  reden  und  hat  die  im  Titel 
erwähnten  Letters  in  großer  Fülle  in  Übersetzung  in  den  Text  einge- 
schaltet. So  präsentiert  sich  das  Ganze  sehr  gut;  gerne  zieht  Smith 
historische  Vergleiche,  z.  B. :  //  is  a  matter  of  course  that  St.  Francis 
of  Assisi  should  save  a  hare  from  the  trap,  but  it  is  almost  surprising 
that  Luther  should  do  the  same  (nämlich  bei  der  Jagd  auf  der  Wartburg), 
und  das  mit  feinem  Humor  geschriebene  Kapitel  über  Katharina 
v.  Bora  sagt  treffend:  without  marked  spirituality  she  was  a  Martha 
busied  with  many  things  rather  than  a  Mary,  sitting  in  devotion  of  his 
master's  feet.  Wie  der  umfangreiche  bibliographische  Anhang  zeigt,  ist 
Smith,  der  längere  Zeit  auf  der  Berliner  Kgl.  Bibliothek  arbeitete, 
mit  der  neuesten  Lutherforschung  wohlbekannt,  er  hat  sie  nur  nicht 

28* 


432  Notizen  und  Nachrichten. 

allenthalben  genügend  ausgenützt,  z.  B.  Kalkoffs  Forschungen  zu 
Luthers  römischem  Prozeß  oder  die  Untersuchungen  zu  den  Anfängen 
Lutherscher  Theologie.  Der  Theologe  Luther  kommt  überhaupt  bei 
Smith  etwas  zu  kurz,  aber  im  übrigen  werden  nicht  nur  englische  Leser, 
die,  wie  eine  Besprechung  im  American  Journal  of  theology  sagte,  eine 
derartige  Biographie  Luthers  in  ihrer  Sprache  bisher  nicht  besaßen, 
an  dem  Buche  ihre  Freude  haben,  sondern  auch  die  deutsche  Luther- 
forschung wird  Smith  danken.  Die  beigebenen  Bilder  sind  gut,  nur 
wäre  für  Philipp  von  Hessen  ein  besseres  Porträt  am  Platze  gewesen. 
A  Son  of  thunder  calling  down  fire  from  heaven,  a  Titan  hurling  Pelion 
upon  Ossa  against  the  hostile  gods  —  das  ist  Smiths  Motto  für  Luther, 
und  darin  hat  er  recht.  W.  K. 

Das  schon  viel  behandelte  Thema:  Luther  und  die  Juden  hat  eine 
sorgfältige  Neubearbeitung  gefunden  durch  Reinhold  L  e  w  i  n  (Luthers 
Stellung  zu  den  Juden.  Neue  Studien  zur  Geschichte  der  Theologie 
und  Kirche,  herausg.  von  N.  Bonwetsch  und  R.  Seeberg,  Nr.  10, 
XVI  u.  110  S.  Berlin  1911,  Trowitzsch  &  Sohn.  4,40  M.).  Das  Material 
wird  in  bisher  nicht  erreichter  Vollständigkeit  vorgeführt.  Kap.  1 
handelt  von  Luthers  Stellung  zu  den  Juden  vor  1521.  Was  der  Refor- 
mator hier  vorträgt,  ist  Bücherweisheit,  die  Juden  werden  beurteilt 
nach  den  Prophezeiungen  der  Bibel,  die  Leute,  über  die  er  urteilt,  und 
die  Bücher,  die  er  kritisiert,  kennt  er  tatsächlich  gar  nicht;  die  ganze 
Judenfrage  behandelt  er  theokratisch.  Nun  läßt  Lewin  eine  Wendung 
eintreten  durch  den  Besuch  zweier  Juden  in  Luthers  Herberge  auf 
dem  Wormser  Reichstage,  von  dem  Kaspar  Sturm  berichtet.  Lewin 
macht  anschaulich,  daß  in  Judenkreisen  an  Luthers  Auftreten  messi- 
anische  Erwartungen  sich  knüpften.  Luther  aber  seinerseits  hofft  jetzt 
auf  die  Juden,  redet  einer  freundlichen  Behandlung  das  Wort  und  glaubt 
an  Israels  Bekehrung.  Literarischer  Ausdruck  dieser  Stimmung  ist 
die  Schrift:  „daß  Jesus  Christus  ein  geborener  Jude  sei"  (1523);  mit 
der  Bibel  in  der  Hand  will  er  den  Juden  die  Messianität  Jesu  erschließen. 
Das  Buch  hat  unter  seinen  Freunden  Erfolg,  nicht  aber  bei  denen, 
auf  die  es  abzweckte,  die  aufsteigende  Linie  in  Luthers  Stellung  zu 
den  Juden  geht  also  wieder  zurück,  unangenehme  persönliche  Erfah- 
rungen kommen  hinzu,  man  spielt  u.  a.  jüdische  Kommentationen 
gegen  seine  Bibelübersetzung  aus,  die  Bewegung  der  sog.  Sabbater 
verstimmt  ihn,  so  bescheidet  er  den  Judenanwalt  Josel  von  Rosheim 
abschlägig,  schreibt  wider  die  Sabbater  und  schließlich  seine  scharfen 
Schriften  „von  den  Juden  und  ihren  Lügen"  und  „vom  Schem  Ham- 
phoras",  er  hat  die  Juden  jetzt  völlig  preisgegeben ;  vier  Tage  vor  seinem 
Tode  erscheint  in  diesem  Sinne  seine  „Vermahnung  wider  die  Juden". 
—  Diese  verschiedenen  Stadien  der  Entwicklung  waren  auch  früher 


Reformation  und  Gegenreformation.  433 

bekannt,  fraglich  ist  nur,  ob  die  Motivierung  bei  Lewin  alientlialben 
die  richtige  ist.  Z.  B.  scheint  mir  das  Wormser  Erlebnis  überschätzt, 
und  die  Wandlung  der  Stimmung  mußte  in  den  größeren  Zusammen- 
hang der  Stellungnahme  Luthers  zu  Andersgläubigen  überhaupt 
gebracht  werden;  sein  Verhalten  gegen  die  Ketzer  z.  B.  unterlag  dem 
gleichen  Wechsel.  W.  K. 

Die  „Beiträge  zur  Lutherforschung",  welche  Otto  Giemen 
in  der  Zeitschr.  f.  Kirchengesch.  34,  1  veröffentlicht,  enthalten:  \.  einen 
Brief  Luthers  an  G.  Didymus  in  Torgau  1526  (ohne  größere  Bedeutung); 

2.  ein  Schreiben  von  N.  Hausmann  1532  über  den  Regierungswechsel 
in  Sachsen  und  die  Vertrautheit  des  neuen  Kurfürsten  mit  Luther; 

3.  ein  Schreiben  G.  Brücks  1536  mit  Nachrichten  über  die  damalige 
Spannung  zwischen  Luther  und  Melanchthon ;  4.  ein  Schreiben  über 
den  Ungarnkrieg  1541  (von  einem  Verfasser,  der  darüber  auch  aa 
Luther  berichtet  hat);  5.  Luthers  Fluch  über  Leipzig  und  Segen  über 
Halle  1546  (vgl.  Theolog.  Studien  u.  Kritiken  1899,  S.  267)  in  neuer 
Überlieferung. 

Die  katholische  Lutherforschung  schließt  sich  zurzeit  besonders 
an  das  Werk  von  H.  Grisar  an.  G  r  i  s  a  r  selbst  verteidigt  sich  im 
Hist.  Jahrbuch  34,  1  gegen  die  Schrift  von  Walther  Köhler,  Luther 
und  die  Lüge,  1912  (Schriften  des  Vereins  f.  Reformationsgeschichte 
Nr.  109/1 10),  scheint  mir  aber  in  der  Erörterung  dieses  schwierigen,  mit 
vorgefaßten  Meinungen  und  fertigen  ethischen  Werturteilen  für  den 
Historiker  noch  lange  nicht  erledigten  Problems  durchaus  nicht  glück- 
lich zu  sein.  Luther  hat,  wenn  auch  mit  ganz  unverkennbarer  Zurück- 
haltung, die  Ansicht  vertreten,  daß  die  Notlüge  erlaubt  sei,  und  jeder 
Historiker  hat  die  Pflicht,  hier  einmal  zunächst  in  Ernst  und  Ruhe 
zu  fragen,  wie  Luther  dazu  gekommen  ist,  aus  welchen  Quellen  er 
schöpfte,  was  er  aus  sich  selbst  hinzutat,  und  was  für  Beweggründe 
ihn  leiteten.  Daß  hier  Köhler  die  Aufgabe  des  Historikers  tiefer  und 
besser  erfüllt  hat  als  Grisar,  der  alsbald  mit  dem  Strick  bei  der  Hand 
ist,  mehrfach  über  Luthers  „neue  Lügentheologie"  und  „Lügenrein- 
kultur" sich  ereifert  und  den  Gegnern  ziemlich  unverblümt  den  Vor- 
wurf macht,  daß  sie  hier  wider  besseres  Wissen  bemänteln,  kann  keinem 
Zweifel  unterliegen.  Die  Erlaubtheit  der  Notlüge  ist  ferner  eine  ernste 
ethische  Frage.  Und  auch  ethische  Fragen  löst  man  nicht  mit  ethischer 
Entrüstung,  da  diese  eine  Petitio  principii  einschließt.  Mag  man  sich 
in  der  Sache  nun  so  oder  so  entscheiden,  so  sollte  doch  darüber  Ein- 
vernehmen herrschen,  daß  derjenige,  welcher  vor  seinem  Gewissen 
nach  ernster  Prüfung  einmal  eine  Notlüge  für  erlaubt  hält,  dadurch 
allein  noch  nicht  das  Recht  auf  den  Namen  einer  wahrhaften  und  sitt- 
lichen Persönlichkeit  verwirkt  hat.    Und  was  uns  Grisar  als  Beispiele 


434  Notizen  und  Nachrichten. 

häufiger,  fast  gewohnheitsmäßiger  Lügerei  Luthers  auftischt,  das  ist 
einfach  lächerlich.  Einen  Hauptbestandteil  nehmen  da  z.  B.  die  zornigen 
und  gewiß  einseitigen,  häufig  auch  durchaus  unrichtigen  Ansichten 
Luthers  über  die  katholische  Kirche,  ihre  Lehren  und  Einrichtungen 
ein!  Wer  hier  seine  subjektive  Ehrlichkeit  anzweifelt,  erweist  sich 
wirklich  nicht  als  geeigneten  Biographen  des  Reformators.  —  Gestützt 
auf  Grisar,  behandelt  der  Jesuit  Matthias  Reichmann  in  den 
Stimmen  aus  Maria-Laach  84,  5  das  Thema  „Luther  als  Kasuist". 
Freilich  in  einer  merkwürdig  zwiespältigen  Weise,  sofern  die  Kasuistik 
zwar  sehr  gerühmt,  Luther  aber,  der  gleichfalls  Kasuist  gewesen  sei, 
sehr  getadelt  wird.  Er  trieb  eben  eine  falsche  Kasuistik  und  gelangte 
durch  sie  „in  die  flachste  Niederung".  Daß  Luther  vielfach  Ratschläge 
in  praktischen  Gewissensfällen  erteilt  hat,  ist  ja  gewiß  richtig.  Aber 
mit  dieser  Feststellung  sind  die  tieferen  Fragen  des  Einflusses  der  Recht- 
fertigungslehre auf  die  Gestaltung  der  Ethik  noch  nicht  beantwortet, 
ja  kaum  berührt.  Wie  es  mit  der  Kompetenz  Reichmanns  auf  diesem 
Gebiet  bestellt  ist,  läßt  sich  aus  der  köstlichen  Bemerkung  erschließen, 
daß  die  spätere  protestantische  Theologie  durch  das  Fallenlassen  der 
Kasuistik  „alle  persönliche  Seelsorge"  aufgegeben  habe.  —  Im  Katholik 
93,  3  schließlich  beantwortet  Martin  Grabmann  die  Frage,  ob  Luther 
die  Frühscholastik  gekannt  habe,  mit  einem  Nein,  das  er  gegen  das 
Buch  von  Alphons  Viktor  Müller  (Luthers  theologische  Quellen,  1912) 
verteidigt.  Die  Art  seiner  Beweisführung  läßt  wohl  noch  einige  Wünsche 
offen.  Aber  gegen  das  Müllersche  Buch  habe  ich  allerdings  auch  schwere 
Bedenken,  und  ich  glaube  nicht,  daß  bei  Luther  von  einer  wirklichen 
Kenntnis  der  Frühscholastik  geredet  werden  kann.  R.  H, 

Gegen  Köhler  (vgl.  H.  Z.  1 10,  197)  will  Hermann  B  a  r  g  e  in  den 
Theolog.  Studien  u.  Kritiken  1913,  3  daran  festhalten,  daß  die  Witten- 
berger Beutelordnung  nicht  schon  im  November  1521  in  Kraft  gewesen 
sei,  sondern  zeitlich  zur  Stadtordnung  vom  Januar  1522  gehöre  (vgl. 
H.  Z.  101,  443  f.).  —  Ebenda  bespricht  Edmund  Schmidt  einige 
Evangeliensummarien  der  Reformationszeit,  die  zu  Unrecht  Luther 
zugeschrieben  worden  sind. 

Mit  den  Diplomaten  des  Königs  Franz  I.  von  Frankreich  will 
sich  V.  L.  B  0  u  r  r  i  1 1  y  in  einer  größeren  Serie  von  Artikeln  beschäf- 
tigen. Er  macht  in  der  Revue  historique  113,  1  den  Anfang  mit  Antonio 
Rincon,  dem  langjährigen  Agenten  des  Königs  in  der  orientalischen 
Politik  (1522 — 1541),  und  gibt  hier  einige  Ergänzungen  zu  dem  Buch 
von  J.  Ursu  über  die  orientalische  Politik  Franz'  I.,  1908.  (Der  bis 
1528  reichende  Artikel  betrifft  die  Verhandlungen  mit  Ungarn  und 
Polen.) 


Reformation  und  Gegenreformation.  435 

In  Nr.  38  des  Arcliivs  für  Reformationsgeschichte  (10.  Jahrg.,  2) 
beginnt  G.  Bessert  mit  dem  sehr  dankenswerten  Versuch  einer 
neuen  Darstellung  des  Lebens  und  der  Gedanken  des  Augustin  Bader 
von  Augsburg  und  seiner  Genossen,  nach  den  Akten  des  Prozesses 
von  1530.  Bader,  aus  täuferischen  Kreisen  hervorgegangen,  ist  ein  merk- 
würdiger Vorläufer  des  Jan  van  Leyden,  Er  trat  seit  1528  in  einem 
kleinen,  aber  über  ganz  Süddeutschland  verbreiteten  Kreis  von  Gleich- 
gestimmten als  Prophet  und  Gründer  eines  neuen  Gottesreiches  auf; 
zum  Messias  und  König  proklamierte  er  ein  Söhnlein,  das  ihm  1529 
als  fünftes  Kind  geboren  wurde.  —  Ebenda  setzt  W.  Köhler  seinen 
Aufsatz  „Brentiana  und  andere  Reformatoria"  fort  (vgl.  H.  Z.  109, 
445)  mit  einer  Reihe  neuer  Akten  über  Brenz  und  seinen  Kreis.  Wir 
heben  hervor:  Gutachten  von  Brenz  über  die  Machtbefugnisse  des 
Schwäbischen  Bundes  (1527)  und  die  Türkengefahr  (1529—1530), 
sowie  ein  eherechtliches  Gutachten  von  Melanchthon. 

„Religion  und  Politik  in  den  letzten  Lebensjahren  Herzog  Georgs 
des  Bärtigen  von  Sachsen"  schildert  O.  A.  H  e  c  k  e  r  in  einem 
knappen,  gut  geschriebenen  Buch  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  1912, 
128  S.).  Der  Schwerpunkt  seiner  Darstellung  ruht  aber  nicht  auf  Georg, 
obwohl  diesem  eine  vielleicht  allzu  konstruierte,  aber  von  Verständnis 
für  die  Eigenart  der  Persönlichkeit  zeugende  und  den  üblichen  einseitig 
lutherischen  Standpunkt  der  Beurteilung  vermeidende  Charakteristik 
zuteil  wird,  sondern  auf  dem  Wirken  Georgs  von  Carlowitz,  Auch  hier 
arbeitet  Hecker  reichlich  mit  Konstruktionen  und  Vermutungen,  aber 
sein  Grundgedanke  erscheint  mir  glücklich  und  anregend.  Er  unter- 
sucht die  Grundlagen  der  von  Carlowitz  betriebenen  Vermittelungs- 
politik  und  findet  sie  in  der  humanistischen  Bildung  der  damaligen 
Räte,  in  deren  Beziehungen  zu  Erasmus,  der  Carlowitzens  Schwager, 
dem  sächsichen  Rat  Julius  Pflugk,  eine  Schrift  über  eine  Vermittelung 
im  Kirchenstreit  {de  amabili  ecclesiae  concordiä)  gewidmet  hat,  eine 
Schrift,  in  welcher  Mängel  in  der  Kirche  zwar  zugestanden,  aber  eine 
Reform  durch  die  Spaltung  der  Kirche,  eine  „unordentliche  Empörung", 
abgelehnt  werden.  Ganz  ähnlich  war  Carlowitzens  Absicht;  er  hoffte 
durch  Beseitigung  der  offenkundigen  Gebrechen  in  der  Kirche  eine 
Versöhnung  zwischen  den  Katholiken  und  Protestanten  anbahnen  zu 
können.  Einen  Erfolg  hat  er  mit  seinen  wohlgemeinten  Bestrebungen 
freilich  nicht  erzielt;  beide  Parteien,  Herzog  Georg  sowohlwie  Kur- 
fürst Johann  Friedrich  und  sein  Kanzler  Brück,  haben  den  Gedanken' 
der  Vermittelung,  der  ihnen  wie  eine  Verleugnung  der  eigenen  Grund- 
sätze erscheinen  mochte,  von  sich  gewiesen. 

Halle  (Saale).  F.  Hortung, 


436  Notizen  und  Nachrichten. 

Zu  den  Berichten  über  Luthers  Tod  ergreift  Wilh.  W  a  1 1  h  e  r 
in  der  Histor.  Vierteljahrschrift  16,  2  nochmals  das  Wort,  um  gegen 
Strieder  (vgl.  H.  Z.  110,  200)  daran  festzuhalten,  daß  der  Bericht  des 
Anonymus  (in  Strieders  Ausgabe  Nr.  11),  der  auch  den  Briefen  des 
Hans  Georg  von  Mansfeld  und  des  Andreas  Münzer  beigegeben  ist 
(ebd.  Nr.  10,  12),  von  dem  Stadtschreiber  Hans  Albrecht  herrühre 
und  die  originale,  zuverlässige  Darstellung  eines  Augenzeugen  sei. 
Eine  genaue  handschriftliche  Untersuchung  wäre  sehr  erwünscht. 

Dr.  Hans  L  i  e  b  m  a  n  n  ,  Deutsches  Land  und  Volk  nach  italieni- 
schen Berichterstattern  der  Reformationszeit  (Histor.  Studien  81). 
Berlin,  Ehering  1910,  241  S.  —  Die  vorliegende  Abhandlung  liefert 
einen  Beitrag  zu  dem  großen  Kapitel:  „Die  Deutschen  im  Urteil  des 
Auslandes".  Wenn  unser  Volk  es  allezeit  geliebt  hat,  sich  in  fremden 
Ländern  umzusehen,  so  ist  dem  von  selten  der  letzteren  nicht  voll 
entsprochen  worden;  der  Deutsche  hat  mehr  das  Ausland  aufgesucht 
als  dieses  ihn.  Doch  hat  es  natürlich  nie  ganz  an  fremden  Beobachtern 
unseres  Landes  und  Volkes  gefehlt;  im  besonderen  hat  die  Epoche 
des  Kaisertums  Karls  V.  mit  dem  alle  Verhältnisse  aufrüttelnden 
innern  Umschwung  die  Aufmerksamkeit  des  Auslandes  lebhaft  auf 
sich  gezogen.  So  hat  L  i  e  b  m  a  n  n  für  diese  Epoche  eine  ansehnliche 
Schar  von  Berichterstattern  allein  aus  Italien  zusammenbringen  können, 
deren  Zahl  sich  durch  Zurückgreifen  auf  die  Archive  auch  noch  hätte 
vergrößern  lassen.  Voran  stehen  die  Gesandten,  die  offiziellen  Bericht- 
erstatter; aber  auch  an  privaten  Beobachtern  fehlt  es  nicht,  und  Ver- 
fasser urteilt,  daß  ihre  Nachrichten  im  allgemeinen  sowohl  unbefangener 
als  reichhaltiger  seien.  —  Die  ersten  Abschnitte  behandeln  die  Bericht- 
erstatter, die  weiteren  die  Berichte,  und  zwar  geschieden,  je  nachdem 
sie  sich  auf  das  deutsche  Land  oder  das  deutsche  Volk  beziehen;  das 
„Land"  wird  nach  den  Hauptlandschaften  (Süd-,  Südwest-,  Nordwest- 
und  Norddeutschland),  das  „Volk"  nach  seinen  Ständen  (Fürsten 
und  Adel,  Geistliche  und  Gelehrte,  Städte  und  Bürgertum,  Bauern, 
Soldaten,  endlich  „die  deutsche  Frau")  betrachtet.  Zum  Schluß  faßt 
Liebmann  die  Ergebnisse  zusammen:  unter  dem  Einfluß  der  Renais- 
sance hat  sich  der  Wirklichkeitssinn  der  Italiener  gehoben  und  geschärft, 
so  daß  sie  im  allgemeinen  gut  beobachten  und  das  Beobachtete  richtig 
wiedergeben;  andererseits  hat  die  Renaissance  mit  ihrem  Zurückgreifen 
auf  die  große  Vorzeit  die  Eigenliebe  der  Italiener  erhöht  und  es  ihnen 
dadurch  erschwert,  ihrer  Vorurteile,  vor  allem  den  Deutschen  gegenüber, 
Herr  zu  werden;  ein  tieferes  Verständnis  der  Vorgänge  in  Deutschland 
dürfen  wir  daher  bei  ihnen  nicht  zu  finden  erwarten,  am  wenigsten  In 
bezug  auf  die  kirchlichen  Dinge.  Freilich  darf  nicht  verkannt  werden, 
daß  in  jener  Epoche  der  Umwandlung  Deutschland   dem  Ausländer 


Reformation  und  Gegenreformation.  437 

leicht  das  Bild  der  Unsicherheit  und  Zerfahrenheit  darbieten  konnte. 
Die  fleißige  Abhandlung  ist  übersichtlich  angelegt  und  durchgeführt; 
freilich  hätte  der  Ertrag  größer  sein  können,  wenn  Verfasser  in  den 
Berichten  seiner  Gewährsmänner  zwischen  Wichtigem  und  Unwich- 
tigem schärfer  geschieden,  vor  allem  aber  festgestellt  hätte,  wo  und 
inwieweit  jene  Angaben  eine  Bereicherung  unseres  Wissens  von  dem 
damaligen  Deutschland  darstellen.  Allerdings  wären  dazu  eingehendere 
Untersuchungen  anzustellen  gewesen,  die  wohl  nicht  im  Plan  dieser 
Erstlingsarbeit  lagen.  Friedensburg. 

Über  die  ersten  Verhandlungen  und  Ereignisse,  die  sich  an  die 
Erhebung  Cosimos  I.  zum  Großherzog  von  Toskana  (1569)  schlössen, 
geben  14  Berichte  des  französischen  Gesandten  aus  Rom  vom  Dezember 
1569  bis  Juli  1570  allerhand  Aufschluß.  Carlo  Pio  de  Magistris, 
der  sie  schon  in  seinen  Questioni  di  precedenza  tra  Savoia  e  Toscana 
durante  il  regno  di  Emanuele  Filiberto  (1912)  benutzt  hat,  veröffentlicht 
sie  jetzt  im  Wortlaut  in  der  Miscellanea  di  Studi  storici  in  onore  di 
A.  Manno  (Torino,  Opes  1912),  zugleich  als  erwünschte  Ergänzung  zu 
der  bekannten  Arbeit  von  V.  Bibl  (Archiv  f.  österr.  Gesch.  103). 

Einen  Bericht  über  die  Reise  des  Thomas  Stukeley  nach  Spanien 
und  Portugal  1578  veröffentlicht  Z.  N.  B  r  o  o  k  e  in  der  English  hist. 
Review  28,  Nr.  110  aus  der  Vatikanischen  Bibliothek.  Stukeley  war 
von  Gregor  XIII.  nach  Irland  gesandt  worden,  um  hier  die  Erhebung 
gegen  Elisabeth  zu  unterstützen,  ist  aber  nicht  so  weit  gekommen. 

Seit  1911  erscheinen  die  Akten  der  beiden  Germanischen  Nationen 
der  Universität  Padua;  die  Akten  der  Legisten-Nation  werden  von 
Biagio  Brugi  herausgegeben  (1.  Bd.,  1545 — 1601),  diejenigen  der 
Artisten-Nation  von  Antonio  Favaro  (2  Bde.,  1553 — 1615).  Die 
Durchsicht  dieser  Akten  hat  Emilio  Costa  zu  einem  Aufsatz  über 
die  beiden  Germanischen  Nationen  in  Padua  veranlaßt  (Archivio  storico 
Italiano  5.  Serie,  50,  4).  Er  hebt  u.  a.  hervor:  den  turbulenten  Geist 
der  Studenten,  denen  die  Republik  Venedig  das  Waffentragen  verbot, 
die  Konflikte  mit  dem  Bischof  (wegen  der  zahlreichen  evangelischen 
Deutschen)  und  mit  der  Stadt  Padua  (wegen  Festhaltens  an  der  Auto- 
nomie), den  Besuch  der  Vorlesungen,  der  viel  zu  wünschen  übrig 
ließ,  u.  a.  m. 

Die  Kämpfe  in  den  Dauphinealpen  von  1588 — 1747  zwischen 
Frankreich  und  Savoyen  erfahren  eine  zusammenfassende  Würdigung 
durch  D.  M.  V  a  u  g  h  a  n  in  der  English  hist.  Review  28,  Nr.  110.  Es 
handelte  sich  hier  namentlich  um  Saluzzo,  Pignerolo  und  die  wichtigen 
Alpenpässe,  wobei  es  den  Herzogen  von  Savoyen  übrigens  oft  in  erster 
Linie  darauf  ankam,  durch  den  Kampf  gegen  die  Bourbonen  sich  die 


438  Notizen  und  Nächrichten. 

Habsburger  zu  verpflichten,  um  neue  Erwerbungen  in  Italien  zu 
machen. 

Aus  Gutachten  von  Jesuiten  zu  Beginn  der  „katholischen  General- 
reformation" in  Böhmen  1620 — 1621,  d.  h.  zur  Zeit  der  Gewaltpolitik 
Ferdinands  II.  nach  der  Schlacht  am  Weißen  Berge,  macht  Alois 
K  r  o  e  ß  im  Histor.  Jahrbuch  34,  1  einige  Mitteilungen,  die  ihrem 
Zweck,  die  Jesuiten  von  den  Gewalttaten  zu  entlasten,  freilich  nicht 
gerecht  werden  können, 

Charles  Bratli:  Philippe  II,  Roi  d'Espagne.  Etüde  sur  sa 
vie  et  son  caractire.  Nouvelle  Edition,  revue  et  augmentee  par  l'auteur. 
Avec  une  preface  du  comte  Baguenault  de  Puchesse.  Ouvrage  orne 
de  6  gravures  et  un  fac-simile.  Paris,  Honore  Champion,  1912.  300  S.  — 
Das  1909  erschienene  dänische  Originalwerk  habe  ich  im  107.  Bande 
(S.  633 — 635)  dieser  Zeitschrift  angezeigt.  Die  vorliegende  französische 
Ausgabe,  die  (französischem  Brauche  entsprechend)  mit  einem  Vor- 
wort des  Historikers  der  letzten  Valois  versehen  ist,  stellt  eine  nahezu 
unveränderte  Übersetzung  des  dänischen  Textes  dar.  Die  Revision 
und  Vermehrung  beschränkt  sich  nahezu  völlig  auf  den  bibliographischen 
Apparat,  aber  auch  hier  nichts  wesentlich  umgestaltend.  Daß  es  sich 
lohnen  würde,  das  namentlich  in  seinen  bibliographischen  Teilen  wert- 
volle Buch  in  eine  der  großen  Kultursprachen  zu  übersetzen,  habe 
ich  seinerzeit  ausgesprochen.  Es  ist  zu  begrüßen,  daß  die  Ergebnisse 
eines  anerkennenswerten  Sammeleifers  nunmehr  weiter  zugängig  ge- 
inacht  sind.  Zumal  in  Spanien  selbst,  wo  die  Literatur  germanischer 
Sprachen  fast  völlig  unbekannt  ist,  kann  diese  neue  französische  Aus- 
gabe mannigfachen  Nutzen  bringen. 

Leipzig.  Herre. 

Die  Kämpfe  im  Dauphine  während  des  ersten  Hugenottenkriegs 
(1562 — 1563)  bilden  den  Hauptinhalt  des  Beginns  einer  Biographie 
über  den  Baron  Des  Adrets  (Fran^ois  de  Beaumont,  1512 — 1586) 
von  Pierre  de  Vaissiere  {Rev.  des  questions  hist.  93,  Nr.  186).  Des 
Adrets  stand  damals  auf  Seiten  der  Reformierten,  aber  ohne  innerliche 
Überzeugung,  so  daß  er  sich  später  leicht  zum  Katholizismus  zurückfand. 

Die  auswärtige  Politik  Richelieus  in  den  Jahren  1629 — 1638 
erfährt  einige  neue  Beleuchtung  durch  einen  Aufsatz  von  Ed.  R  o  1 1 
über  Rohan  und  Richelieu  (Revue  d'hist.  diplomatique  27,  2).  Es  handelt 
sich  um  die  wechselnden  Beziehungen  des  Kardinals  zu  Herzog  Hein- 
rich von  Rohan,  dem  bekannten  Hugenottenführer,  namentlich  um 
Rohans  Wirksamkeit  in  Venedig,  der  Schweiz,  dem  Veltlin  und  im  Drei- 
ßigjährigen Krieg.  —  Desselben  Verfassers  Untersuchung  über  die  von 
Richelieu  im  Verein  mit  Viktor  Amadeus  I.  von  Savoyen  geplante  Unter- 
werfung von  Genf  1631—1632  (vgl.  oben  S.  227  f.)  wird  in  der  Revue 


I 


1648—1789.  439 

historique  113,  1  zu  Ende  geführt.    Die  Stadt  ist  nicht  zum  wenigsten 
durch  Gustav  Adolfs  Landung  in  Deutschland  gerettet  worden. 

Nach  dem  französischen  Thronwechsel  von  1643  machte  sich 
das  Bedürfnis  geltend,  die  bestehenden  englisch-französischen  Friedens- 
verträge zu  erneuern.  Das  geschah  1644  zu  Ruel  durch  Abschluß 
eines  eidlichen  Bündnisses  zwischen  Karl  1.,  Ludwig  XIV.  und  der 
Regentin  Anna.  Der  bisher  unbekannte  Vertrag  wird  von  Dorothy 
A.  B  i  g  b  y  in  der  English  hist.  Review  28,  Nr.  110  gedruckt. 

Zur  Frage  der  Wirkungen  des  Dreißigjährigen  Krieges  auf  den 
Volkswohlstand  ist  eine  kleine,  aber  sorgfältige  und  zwischen  den 
Extremen,  wie  mir  scheint,  die  richtige  Mitte  haltende  Untersuchung 
von  Naumann,  Die  Pfortaschen  Amtsdörfer  und  der  Dreißigjährige 
Krieg  (Naumburg  a.  S.  1912,  39  S.,  Sonderabdruck  aus  dem  Naum- 
burger Tageblatt)  zu  beachten.  Auch  Naumann  hält  sich  von  Über- 
treibungen fern,  stellt  aber  bei  den  17  einst  dem  Kloster  Pforta  ge- 
hörigen Dörfern  doch  sehr  große  Schädigungen  an  Menschen  und 
Gut  fest.  R.  H. 

Neue  Bücher :  R  o  1  o  f  f ,  Geschichte  der  europäischen  Koloni- 
sation seit  der  Entdeckung  Amerikas.  (Heilbronn,  Salzer.  3  M.)  — 
Vadianische  Briefsammlung,  VII.  Ergänzungsband.  (Nachträge  aus 
den  Jahren  1513—1550.)  (St.  Gallen,  Fehr.  16  M.)  —  Pocquet, 
Histoire  de  Bretagne.  La  Bretagne  province.  T.  5  (151 5 — 1715)-  (Ren- 
nes,  Plihon  et  Hommay.)  —  K  a  1  k  0  f  f ,  Die  Entstehung  des  Wormser 
Edikts.  (Leipzig,  Heinsius  Nachf.  7,50  M.)  —  Aug.  Lang,  Zwingli 
und  Calvin.  (Bielefeld,  Velhagen  &  Klasing.  4  M.)  —  v.  Pastor, 
Geschichte  der  Päpste  seit  dem  Ausgang  des  Mittelalters.  6.  Bd.  (1550 
bis  1559).  (Freiburg  i.  B.,  Herder.  11  M.)  —  Codex  diplomaticus  ord. 
E.  S.  Augustini  Papiae,  cura  Rod.  M  a  i 0  c  ch  i  et  Naz.  C  as  a  c  c  a. 
Vol.  IV  (1367 — 1620).  (Papiae,  ex  off.  typ.  Rossetti.)  —  Karl  Hahn, 
Die  kirchlichen  Reformbestrebungen  des  Straßburger  Bischofs  Jo- 
hann von  Manderscheid  (1569—1592).    (Straßburg,  Trübner.   6,50  M.) 

—  Fouqueray,  Histoire  de  la  compagnie  de  Jisus  en  France,  des 
origines  ä  la  suppression.    T.  2  (1575 — 1604).    (Paris,  Picard  et  fils.) 

—  Denis,  Le  cardinal  Richelieu  et  la  riforme  des  monastires  bini- 
dictins.    (Paris,  Champion.) 

1648—1789. 

In  seinem  Aufsatz  über  ,,Die  politischen  Testamente  der  Hohen- 
zollern"  gibt  F.  Härtung  eine  zusammenfassende  Behandlung  des 
Gegenstandes,  indem  er  die  bekannten  Testamente  des  großen  Kur- 
fürsten, Friedrich  Wilhelms  I.  und  Friedrichs  des  Großen  als  Ganzes 


440  Notizen  und  Nachrichten. 

zu  nehmen  versucht.  Er  findet  in  jedem  eine  besondere  Stufe  der 
Staatsentwici<lung  repräsentiert  und  meint,  die  Epochen  der  absoluten 
Monarchie  in  ihnen  wiederfinden  zu  i<önnen.  Unter  dem  großen  Kur- 
fürsten ist  es  die  Verschmelzung  der  einzelnen  Territorien  zum  Ein- 
heitsstaat, unter  Friedrich  Wilhelm  I.  das  Durchdringen  eines  grund- 
sätzlichen Absolutismus,  den  der  Verfasser  mit  dem  Königtum  Lud- 
wigs XIV.  vergleicht,  unter  Friedrich  dem  Großen  die  Anerkennung 
des  Staatsinteresses,  das  König  und  Volk  gleichmäßig  umfaßt,  also 
der  auf  geklärte.  Despotismus,  aber  auch  (mit  dem  zweiten  Testament 
von  1768)  das  letzte  Stadium  der  alten  Staatsanschauung  mit  seiner 
Geringschätzung  der  moralischen  Kräfte  des  Volkes  (Forsch,  z.  brand. 
u.  preuß.  Gesch.  25,  2).  W.  Michael. 

R.  S  t  ö  1  z  1  e  gibt  Mitteilungen  aus  einer  Schrift  über  Schul- 
reform im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts.  Ihre  Bedeutung  liegt  be- 
sonders in  dem  Einblick,  den  sie  in  den  Schulbetrieb  dieser  Zeit  ge- 
währt (Ein  Arzt  als  Schulreformer  vor  200  Jahren.  Zeitschr.  f.  Gesch. 
der  Erziehung  und  des  Unterrichts,  2.  Jahrg.  2.  Heft.    1912). 

Julius  Langhäuser,  Das  Militärkirchenwesen 
im  kurbrandenburgischen  und  königlich  preußi- 
schen Heere,  Seine  Entwickelung  und  derzeitige  Gestalt.  Straß- 
burger Diss.  P.  Müller,  Metz,  1912.  XVI  u.  271  S.  —  Langhäuser 
schildert  klar  und  eingehend,  aber  viel  mehr  vom  kirchenrechtlichen 
als  vom  historischen  Standpunkt  aus  die  Entwicklung  der  evangelischen 
Militärseelsorge  seit  den  Tagen  des  Großen  Kurfürsten  und  der  katho- 
lischen seit  Friedrich  Wilhelm  I.  bis  zur  Gegenwart.  Für  den  Historiker 
dürfte  der  zweite  Teil  ungleich  lehrreicher  sein,  weil  er  zeigt,  wie  es 
bis  zur  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  und  darüber  hinaus  dem  preußischen 
Staat  bitter  schwer  geworden  ist,  den  Katholiken  auf  diesem  Gebiete 
auch  nur  halbwegs  Gleichberechtigung  zu  gewähren.        Ziekursch. 

Nach  meist  ungedruckten  Briefen  des  Kronprinzen  Friedrich 
an  seinen  Vater,  seine  Geschwister  u.  a.  stellt  Hans  Droysen  in 
den  Forsch,  z.  brand.  u.  preuß.  Gesch.  25,  2  (1913)  einen  Tageskalender 
Friedrichs  vom  26.  Februar  1732  bis  zur  Thronbesteigung  am  31.  Mai 

1740  zusammen. 

Im  selben  Heft  gibt  G.  R  o  1  o  f  f  eine  Darstellung  der  Reichs- 
politik Friedrichs  des  Großen  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  schlesi- 
schen  Kriege,  wobei  es  sich  insbesondere  um  eine  Erklärung  des  be- 
rühmten Assoziationsprojekts  von  1743  handelt.  W.  M. 

Die  Frage  nach  den  französisch-bayerischen  Vereinbarungen  von 

1741  hat  eine  neue  Bearbeitung  gefunden  in  der  Königsberger  Disser- 
tation von  G.  A.  Schröter,  Der  Nymphenburger  Vertrag  (Ber- 
lin 1911).  Der  Verfasser  schließt  sich  dem  von  mir  (H.  Z.  103,  S.  302  ff.) 


1648—1789.  441 

gebrachten  Nachweis  an,  daß  die  französisch-bayerischen  Verein- 
barungen doch  schon  auf  die  Zeit  der  Anwesenheit  Belleisles  in  Nym- 
phenburg (18.  Mai  bis  8.  Juni)  zurückgehen,  und  daß  zum  mindesten 
der  für  Bayern  wichtigste  Punkt,  die  Erlangung  bedeutend  erhöhter 
Subsidien,  schon  damals  geregelt  worden  war.  Den  bekannten  Ver- 
tragstext sucht  der  Verfasser  als  die  Fälschung  eines  Mannes  zu  er- 
weisen, der  sich  Einblick  in  die  Korrespondenzen  französischer  Diplo- 
maten zu  verschaffen  in  der  Lage  war;  eine  dankenswerte  Zusammen- 
stellungen der  Punkte,  in  denen  der  Vertragstext  mit  wirklich  statt- 
gehabten Erörterungen,  die  aktenmäßig  zu  belegen  sind,  mehr  oder 
minder  übereinstimmt,  enthält  viel  Brauchbares.  Über  die  Person 
des  „Fälschers"  will  Verfasser  „Gewißheit"  erlangt  haben  durch  Ver- 
wertung dreier  Briefe  Lord  Hyndfords,  wonach  dieser  am  23.  August 
eine  Abschrift  des  Vertragstextes  von  einem  Angestellten  aus  Va- 
lorys  Kanzlei  erhalten  hat,  in  welchem  diplomatischen  Spion  wir  den 
„Fälscher"  des  Vertrages  erkennen  müßten.  Beide,  in  ähnlicher,  wenn 
auch  nicht  in  gleich  ausführlicher  Weise  schon  früher  aufgetretenen 
Hypothesen,  können  jedoch  auch  jetzt  nur  mit  vielen  Bedenken  in 
Erwägung  gezogen  werden.  Ist  einmal  die  genannte  Identifikation 
auch  nicht  als  unmöglich  von  der  Hand  zu  weisen,  so  sind  wir  von 
einer  wirklichen  Gewißheit  gleichwohl  noch  weit  entfernt;  fehlt 
doch  vor  allem  der  Nachweis,  daß  die  Veröffentlichung  des  Vertrags- 
textes von  London  aus  oder  von  Hyndford  oder  etwa  von  dem  ,, Fäl- 
scher" selbst  erfolgt  sei,  und  sind  doch  noch  Möglichkeiten  gegeben, 
daß  die  Fabrizierung  des  Textes  in  anderer  Weise  und  an  anderen 
Orten  zustandegekommen  sei,  und  daß  der  über  mancherlei  Bezie- 
hungen verfügende  Spion  sein  Exemplar  selbst  von  anderer  Seite  er- 
halten habe.  Mehrere  Angaben  in  dem  Vertragstexte  widerstreben 
der  versuchten  Identifikation.  Den  von  Schröter  (S.  108)  aufgeführten 
Daten,  die  der  Fälscher  den  Papieren  Valorys  entnommen  haben  soll, 
könnte  man  eine  Anzahl  anderer  gegenüberstellen,  bei  denen  dies 
kaum  der  Fall  gewesen  sein  kann.  Ferner  wußte  nach  dem  Schrei- 
ben Harringtons  vom  30.  August  (S.  111  A.  3)  der  Spion  sicher  nichts 
von  dem  Abschluß  einer  französisch-preußischen  Allianz,  während  auf 
S.  47  seine  Kenntnis  auch  der  Ratifikationsdaten  zur  Beseitigung 
eines  Bedenkens  herhalten  muß.  Die  Papiere  Valorys  enthielten  ganz 
andere  Subsidienziffern  als  in  dem  Vertragstexte  erscheinen  (die  Er- 
klärung auf  S.  53  muß  hier  auf  einmal  Flüchtigkeit  des  Fälschers  an- 
nehmen). Von  den  Eroberungsabsichten  Frankreichs  in  Deutschland 
steht  in  dem  bekanntgewordenen  Briefwechsel  Belleisles  mit 
Valory  kein  Wort;  es  geht  nicht  an,  mit  der  durch  nichts  gestützten 
Behauptung  zu  operieren,  die  entscheidende  Nachricht  müsse  in  uns 
nicht   bekannten    Briefen    Belleisles    gestanden   haben   (S.   80).     Daß 


442  Notizen  und  Nachrichten. 

das  Schreiben  Belleisles  an  Amelot  vom  11.  Juni  auch  ins  Berliner 
Gesandtschaftsarchiv  gelangte  (S.  53  f.),  ist  eine  ebenso  zu  charakteri- 
sierende Vermutung.  Auch  ist  nicht  ohne  weiteres  klar,  weshalb  der 
Spion  nun  auch  seinen  neuen  Auftraggeber  mit  einer  mühsamen  Er- 
dichtung düpiert  haben  sollte;  hätte  ja  doch  die  Mitteilung  aller  Korre- 
spondenzen, in  die  er  (der  Hypothese  zufolge)  Einblick  gehabt  haben 
muß,  für  den  englischen  Gesandten  einen  keineswegs  geringeren  Wert 
gehabt.  In  jedem  Falle  bleibt  die  wichtigste  Frage  noch  unerledigt, 
was  der  Fälscher  aus  eigener  Erfindung  hinzugetan  haben  mag,  und 
aus  welchen  Quellen  insbesondere  die  für  Karl  Albert  am  meisten 
belastenden  Bestimmungen,  nämlich  die  des  3.  Separat-Artikels, 
in  das  „Machwerk"  hineingekommen  sein  werden.  In  diesem  Punkte 
sind  wir  aber  durch  die  vorliegende  Studie  nicht  viel  weiter  geführt 
worden.  Ohne  eingehende  Nachforschungen  in  London  und  Paris 
ist  dies  auch  nicht  zu  erwarten.  —  Der  Nachweis,  daß  es  im  letzten 
Absatz  des  Vertragstextes  in  der  ältesten  bekannt  gewordenen  Ver- 
sion Rois  et  Princes  geheißen  hat,  beseitigt  endgültig  einen  alten,  schon 
von  Ranke  zurückgewiesenen  Einwand.  —  Daß  in  Nymphenburg  nur 
Pourparlers  gehalten  worden  seien  (S.  57,  90,  91)  widerspricht  dem 
von  den  bayerischen  Staatsmännern  später  gebrauchten  Ausdruck  le 
traiti  de  Nymphenbourg ;  Schröter  scheint  jedoch  seine  irrtümliche 
Auffassung  im  Fortgange  seiner  Arbeit  selbst  berichtigt  zu  haben 
(vgl.  S.  100).  —  Daß  Frankreich  schon  1741  als  kriegführende  Macht 
im  völkerrechtlichen  Sinne  in  den  Krieg  eingetreten  sei,  ist  falsch 
(vgl.  meine  Ausführungen  in  der  Festgabe  f.  H.  Grauert,  Freiburg 
1910).  —  Die  S.  35  genannte  Subsidie  von  1  Mill.  Lire  ist  identisch 
mit  der  S.  30  erwähnten.  —  Im  Jahre  1741  brauchte  man  nicht  zu 
den  Eingeweihten  zu  gehören,  um  über  Bayerns  mißliche  finanzielle 
Lage  unterrichtet  zu  sein  (S.  54).  —  Auch  in  einer  Erstlingsarbeit 
sollte  ein  peinlich  genauer  Nachweis  der  (sich  stellenweise  bis  auf  den 
Wortlaut  erstreckenden)  Abhängigkeit  des  Verfassers  von  seinen  Vor- 
gängern nicht  vermißt  werden  dürfen.  v.  Karg-Bebenburg. 

Die  Abhandlung  von  Th.  v.  Karg-Bebenburg  über  Karl  VII. 
und  die  Konvention  von  Nieder-Schönfeld  versucht  die  Haltung  des 
Kaisers  in  den  kritischen  Wochen,  die  dem  Abschluß  der  Kapitulation 
vorangingen,  verständlich  zu  machen  (Aus  der  Festgabe  für  Herm. 
Grauert.    Freiburg,  Herder.    1910). 

Der  Aufsatz  von  Baron  S.  A.  K  o  r  f  f  über  die  Geschichte  des 
russischen  Senats  (Zeitschr.  für  osteurop.  Gesch.  3,  3)  gibt  eine  aus- 
führliche Würdigung  der  amtlichen  „Geschichte  des  dirigierenden 
Senats",  die  1911  zur  Zweihundertjahrfeier  dieser  Behörde  veröffent- 
licht wurde.    Das  in  fünf  Bänden  erschienene  Werk,  meint   Korff, 


I 


1648—1789.  443 

stelle  eine  bedeutende  Bereicherung  der  russischen  historischen  Literatur 
dar,  leide  aber  an  einer  gewissen  Buntscheckigkeit,  die  durch  die  große 
Zahl  der  Mitarbeiter  und  die  Verschiedenheit  ihrer  Ansichten  und 
Arbeitsmethoden  bedingt  sei. 

H.  W.  V.  T  e  m  p  e  r  I  e  y  veröffentlicht  eine  wertvolle  Studie 
über  die  Entwicklung  des  Privy  Council  und  des  Kabinetts  in  England 
bis  zum  Jahre  1783.  Er  will  zeigen,  wie  das  Kabinett  an  die  Stelle 
des  Privy  Council  getreten  ist.  In  bezug  auf  die  fernere  Geschichte 
des  Kabinetts  bis  1783  macht  er  dann,  etwas  zu  schematisch,  einen 
strengen  Unterschied  zwischen  dem  äußeren  und  dem  inneren  Kabinett. 
Er  geht  dabei  von  der  Beobachtung  aus,  daß  schon  unter  den  beiden 
ersten  Georgen  gewöhnlich  nur  eine  kleinere  Zahl  der  Kabinettsmit- 
glieder an  den  Sitzungen  teilnimmt.  Aber  diese  engeren  Zirkel  sind, 
wie  ich  an  anderer  Stelle  ausführlicher  darzulegen  beabsichtige,  noch 
in  Walpoles  Zeit  nicht  abgeschlossen,  und  die  Bildung  kleinerer  regie- 
render Gruppen,  in  denen  über  die  Politik  des  Landes  entschieden 
wird,  fällt  auch  nicht  immer  mit  dem  hier  beschriebenen  inneren 
Kabinett  zusammen.  So  scheint  mir  denn  auch  die  Anschauung, 
daß  der  König  immer  in  der  Lage  gewesen  sei,  von  dem  inneren  an 
das  äußere  Kabinett  zu  appellieren  und  diese  Praxis  auch  gelegent- 
lich befolgt  habe,  wenigstens  für  Walpoles  Zeit  noch  nicht  den  Tat- 
sachen zu  entsprechen  (Inner  and  Outer  Cabinet  and  Privy  Council, 
1679—1783.  Engl.  hist.  Review,  Oct.  1912.  Dazu  vergleiche  ferner:  H. 
W.  V.  Temperley,  Documents  illustrative  of  tfie  Powers  of  the  Privy 
Council  in  the  Seventeenth  Century,    ibid.  Jan.  1913).       W.  Michael. 

William  S.  Mc.  C  I  e  1 1  a  n ,  Smuggling  in  the  American  Colonies 
at  the  outbreak  of  the  Revolution  with  special  reference  to  the  West  Indies 
trade.  New  York,  Moffat.Yard  &  Co.,  1912,  XX  und  105  S.  1  Dollar. 
—  Die  Abhandlung,  eine  Preisarbeit  von  Williams  College,  sucht  unter 
sorgfältiger  Benutzung  der  Literatur  zu  zeigen,  daß  diejenigen  Ge- 
setze Englands,  die  den  Import  europäischer  Produkte  betrafen,  von 
der  Bevölkerung  der  amerikanischen  Kolonien  nur  in  geringem  Um- 
fang verletzt  wurden,  und  daß  auch  ohne  einschränkende  Gesetze 
die  Kolonisten  den  überwiegenden  Teil  ihres  industriellen  Bedarfs 
von  England  bezogen  hätten.  Dagegen  wurde  die  Melasseakte  von 
1733,  die  den  für  Neuengland  absolut  notwendigen  Handel  mit  den 
französischen  Zuckerinseln  unterbinden  sollte,  fortdauernd  umgangen, 
und  der  in  der  Zuckerakte  von  1764  unternommene  Versuch,  aus  dem 
westindischen  Handel  der  Kolonien  Einnahmen  zu  erzielen  und  zu- 
gleich die  Befolgung  des  Gesetzes  zu  erzwingen,  trug  dazu  bei,  unter 
den  Amerikanern  jene  Stimmung  vorzubereiten,  die  schließlich  im 
Verein  mit  vielen  anderen  Ursachen  zur  Revolution  und  zur  Unab- 
hängigkeit der  Kolonien  geführt  hat.  P.  D. 


444  Notizen  und  Nachrichten. 

In  geistvoller  und  fördernder  Weise  referiert  Paul  S  a  k  m  a  n  n 
im  „Archiv  f.  d.  Studium  der  neueren  Sprachen",  April  1913,  über 
„Das  Rousseauproblem  und  seine  neuesten  Lösungen".  Besprochen 
werden  namentlich  die  Aufsätze  des  Sammelheftes  der  Revue  de  meta- 
physique  et  de  morale  vom  Mai  1912  (von  Boutroux,  Hoff  ding  usw.) 
und  die  Schriften  von  Görland,  Champion,  Wasmuth  und  Bouvier. 
In  Bouviers  Buche  über  Rousseau  (Genf  1912)  sieht  Sakmann  ein 
klassisches  Meisterwerk.  Sakmann,  der  selbst  kürzlich  ein  Buch  über 
Rousseau  (als  5.  Band  der  „Großen  Erzieher",  Berlin,  Reuther  &  Reich- 
hard)  veröffentlicht  hat,  ist  der  Ansicht,  daß  das  crtoyen- Ideal  des 
Contrat  social  etwas  mehr  Anempfundenes  darstelle,  während  der 
mystisch-pantheistische  Naturglaube  den  tiefsten  Punkt  in  Rousseaus 
Seele  darstelle.  Man  sieht  aus  seinem  Referate,  wie  sehr  sich  wohl 
die  Rousseauforschung  schon  verfeinert,  aber  mit  wie  schwierigen 
Problemen  sie  fortgesetzt  zu  kämpfen  hat. 

Neue  Bücher:  F  ab  i  us  ,  Het  leven  van  Willem  III  (1650 — 1702). 
(Alkmaar,  Gebr.  Kluitman.  2,40  Fl.)  —  Lettres  du  ducde  B  0  ur  go  gn  e 
au  roi  d'Espagne  Philippe  V  et  d  la  reine,  publikes  par  A.  Baudrillart 
et  L.  Lecestre.  T.  j*»"  (1701 — iyo8).  (Paris,  Laurens.)  —  Levati, 
I  dogi  di  Genova  dal  1721  al  1746  e  vita  genovese  negli  stessi  anni.  (Genova, 
Tip.  della  Gioventii.)  —  österreichische  Staatsverträge.  England 
Bearbeitet  von  Alfr.  Francis  P  r  i  b  r  a  m.  2.  Bd.:  1749  bis  Oktober 
1813  (nebst  einem  Anhang  bis  April  1847).  (Wien,  Holzhausen.  30  M.) 
—  V.  Janson,  Hans  Karl  v.  Winterfeldt,  des  Großen  Königs  General- 
stabschef. (Beriin,  Stilke.  9  M.)  —  Die  K  r  i  e  g  e  Friedrichs  des  Großen. 
III.  Teil:  Der  Siebenjährige  Krieg.  12.  Bd.:  Landeshut  und  Liegnitz. 
(Beriin,  Mittler  &  Sohn.    13,50  M.) 

Neuere  Geschichte  seit  1789. 

Im  Februarheft  1913  der  Rivolution  Franqaise  findet  sich  ein 
besonnener  Artikel  A  u  1  a  r  d  s  über  la  fiodaliti  sous  Louis  XVI.  Er 
kommt  zu  dem  doppelten  Ergebnis:  1.  daß  in  mancher  Hinsicht  nach- 
weislich die  Last  der  „fiodaliti"  unter  Ludwig  XVI.  leichter  wurde, 
2.  daß  es  trotz  Sagnac  u.  a.  n  i  c  h  t  zu  beweisen  sei,  daß  sie  in  anderer 
Hinsicht  drückender  geworden  sei.  B  a  r  r  e  y  bespricht,  auf  Grund 
nicht  eben  ertragreicher  Briefe  eines  Bürgers  von  Havre,  les  ilections 
ä  la  Convention  dans  la  Seine- Infir teure.  L  0  u  b  e  t  beginnt  eine 
Abhandlung  über  le  Gouvernement  Toulousain  du  duc  d'Angouleme 
apris  les  cent  jours,  die  er  im  Aprilheft  beendigt.  U.  a.  widerlegt  er  die 
Legende,  wonach  die  Ultraroyalisten  damals  daran  gedacht  haben 
sollten,  den  Süden  von  Frankreich  loszureißen.  —  Im  Märzheft  schildert 
D  e  s  t  r  a  y  ,  leider  allzu  knapp,  un  village  de  mainmortables  bourgui- 


Neuere  Geschichte.  445 

gnons  au  i8*  siicle  (erstes  Viertel).  A  u  I  a  r  d  sucht  die  Bedeutung 
der  „Nacht  des  4.  August"  abzuschwächen  („coup  de  thiätre'\  „con- 
tagion  sentimentale").  —  Im  Aprilheft  zeigt  E,  Champion  in  einem 
„provinces  et  dipartements"  überschriebenen  Artikel  abermals,  daß 
die  Departements  nicht  ohne  alle  Rücksicht  auf  die  natürliche  Zusam- 
mengehörigkeit der  Gebiete  gebildet  wurden.  Simon  I  s  t  r  i  a  erzählt 
la  vie  de  Philibert  Buchot  —  eine  der  üblichen  Apologien  eines  Blut- 
menschen. L  a  b  r  0  u  e  steuert  einen  instruktiven  Aufsatz  über  les 
origines  mesmiriennes  du  club  jacobin  de  Berger ac  bei,  in  dem  er  zeigt, 
daß  über  zwei  Drittel  der  Mitglieder  einer  mesmerianischen  Gesellschaft 
in  den  Jakobinerklub  eintraten.  —  Im  Maiheft  schildert  Douarche 
la  grand'  peur  ä  Bourgoin  en  lySg.  Es  zeigten  sich  hier  dieselben  Er- 
scheinungen wie  anderswo;  so  fanden  sich  z.  B.  auch  hier  bei  den 
Bauern  gedruckte  Zettel  mit  den  Worten:  le  rot  ordonne  de  brüler  tous 
les  chäteaux.  Der  umfangreiche  Artikel  von  D  u  b  r  e  u  i  1  über  le  Roux 
de  Cheff  du  Bois  et  Taupin  ist  eine  ausführliche  Besprechung  von  Le- 
nötre,  Bleus,  Blancs  et  Rouges. 

Edwin  S  c  h  e  i  b  e  r  ,  Die  Septembermorde  und  Danton.  Leipzig 
1912,  80  S.  (Leipziger  Histor.  Abhandlungen,  hersg.  v.  Brandenburg, 
Seeliger,  Wilcken.  Heft  27.)  —  Diese  in  hohem  Grade  beachtenswerte 
Anfängerarbeit  untersucht  L  die  Politik  der  jungen  Pariser  Kom- 
mune vom  18.  August  1792  bis  zu  den  Septembermorden,  Sie  weist 
überzeugend  nach,  daß  die  Stadtregierung  kalten  Bluts  die  Greuel- 
taten organisiert  hat,  um  die  Legislative  zu  überbieten  und  die  Bevöl- 
kerung von  Paris  für  sich  zu  gewinnen.  Es  handelt  sich  also  nicht  um 
einen  spontanen  Racheakt  der  Pariser  Bevölkerung.  Aulards  An- 
sichten werden  siegreich  widerlegt.  Bei  der  Verfolgung  der  Taktik 
der  Kommune  zeigt  der  Verfasser  eine  Fähigkeit,  ungeblendet  durch 
alle  Phrasen,  die  wahren  grausigen  Zwecke  zu  erkennen,  welche  einem 
Machiavell  Ehre  gemacht  hätte.  Daß  dabei  auch  viel  Motiven kon- 
struktion  mit  unterlaufen  muß,  ist  selbstverständlich;  aber  diese 
Konstruktionen  haben  die  größte  innere  Wahrscheinlichkeit  für  sich. 
Die  Auffassung  Robespierres  als  großen  Taktikers  wird  S.  27  und  41  in 
erfreulicher  Weise  bestätigt.  —  2,  Weniger  überzeugend  sind  die  Re- 
sultate der  Untersuchungen  des  Verfassers  über  Dantons  Verhältnis 
zu  den  Septembermorden:  Danton  hat  von  dem  geplanten  Massen- 
mord vorher  nichts  gewußt;  seine  Politik  erklärt  sich  daraus,  daß  er 
sich  über  den  Parteien  halten  wollte;  er  hat  später  behauptet,  die 
Septembermorde  gefördert,  ja  geleitet  zu  haben,  nur  um  sich  neben 
der  Kommune  in  der  Gunst  der  öffentlichen  Meinung  festzusetzen. 
Neben  dieser  Konstruktion  sind,  wie  man  ohne  weiteres  einsieht, 
auch  noch  andere  berechtigt.  —  Auch  diese  tüchtige  Arbeit  ist  nicht 
^anz  frei  von  den  Mängeln,  welche  Dissertationen  anzuhaften  pflegen. 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  29 


446  Notizen  und  Nachrichten. 

Die  Schreibweise,  die  im  ganzen  zu  loben  ist,  wird  gelegentlich  dunkel, 
ja  unverständlich.  In  der  Bibliographie  und  in  den  Zitaten  ist  die  er- 
wünschte Korrektheit  keineswegs  erzielt.  Die  Einleitung,  die  im 
Gegensatz  zu  den  übrigen  Kapiteln,  nicht  aus  den  Quellen  gearbeitet 
ist,  enthält  manchen  schiefen  oder  längst  widerlegten  Satz,  so  z.  B. 
den,  daß  Ludwig  XVI.  bei  seiner  Flucht  „den  stolzen  Bau  der  absoluten 
Monarchie  mit  Hilfe  der  befreundeten  europäischen  Souveräne  wieder 
aufrichten"  wollte.  Im  ganzen  aber  ist  die  Arbeit  wieder  einmal  ein 
erfreulicher  Beleg  für  die  Tatsache,  daß  der  deutsche  Historiker  der 
Revolution,  so  sehr  er  bei  der  Quellen-  und  Literaturbenutzung  gegen- 
über dem  französischen  Fachgenossen  benachteiligt  ist,  allein  schon 
vermöge  seiner  Unbefangenheit  über  jenen  hinauszukommen  vermag. 
Die  französische  Kritik  wird  nun  freilich,  sofern  sie  es  nicht  vorzieht, 
das  Werkchen  totzuschweigen,  dem  Verfasser  Unvollständigkeit  der 
Literaturbenutzung  vorwerfen.  Er  wird  sich  damit  trösten  können, 
daß  er  die  wichtigste  Literatur  in  der  Tat  herangezogen  hat  und  daß 
jeder  Einsichtige  sich  heute  darüber  klar  ist,  daß  die  „Vollständigkeit 
der  Literaturbenutzung"  auf  dem  Gebiet  der  neueren  Geschichte, 
und  nun  gar  dem  der  Revolutionsgeschichte,  zum  fast  völligen  Auf- 
hören der  Produktion  führen  müßte.  Wahl. 

Im  Märzheft  der  Feuilles  d'histoire  veröffentlicht   C  h  u  q  u  e  t 
einige  Analekten   zur   Geschichte   des   Revolutionskrieges  von    1794, 

V  0  V  a  r  d  Mitteilungen  über  die  Auszeichnungen  nach  der  Weg- 
nahme des  englischen  Kriegsschiffes  „Swiftsure"  (1801)  und  die  spä- 
teren Schicksale  der  Ausgezeichneten.  W  e  1  v  e  r  t  ergänzt  die  Ver- 
öffentlichung der  Polizeiberichte  über  Elba  durch  eine  Denkschrift 
Beugnots  vom  Oktober  1815  über  die  Bewachung  Elbas,  worin  er  sich 
—  als  damaliger  Marineminister  —  gegen  die  ihm  wegen  der  Ent- 
weichung Napoleons  gemachten  Vorwürfe  verteidigt.  Die  Briefe  des 
Obersten  Langlois  über  die  Belagerung  Sebastopols  (16.  Dezember 
1855  bis  15.  Januar  1856,  vgl.  auch  H.  Z.  111,  234)  wenden  sich  scharf 
gegen  den  Prinzen  Napoleon  wie  gegen  Saint-Arnaud  und  Canrobert 
und  rühmen  Pelissier  und  Bourbaki.    Im  Aprilheft  veröffentlicht  B  i  o  - 

V  e  s  unter  dem  Titel  „Paris  en  i8oo"  das  Schreiben  eines  Engländers 
Edwards  an  Lord  Grenville,  worin  der  blühende  Zustand  Frankreichs, 
die  Sehnsucht  der  Bevölkerung  nach  Frieden,  die  Begeisterung  für 
Napoleon,  das  Erlöschen  der  revolutionären  Erinnerungen  usw.  ge- 
schildert werden.  Im  Anschluß  an  Beugnots  Polizeiberichte  wird  noch 
ein  Schreiben  des  Kommandanten  der  französischen  Fregatte  „La 
Fleur-de-Lys",  Chevalier  de  Garat,  vom  I.März  1815  publiziert, 
der  nach  Mitteilungen  von  Campbell  über  die  Entweichung  Napoleons 
von  Elba  berichtet.  Die  weiteren  Briefe  des  Obersten  Langlois 
(15.  Januar  bis  7.  März  1856)  erzählen  arge  Erpressungen  des  Mar-^ 


Neuere  Geschichte.  447 

Schalls  St.-Arnaud  und  seiner  Frau  gegen  den  Sultan.  General  P  a  1  a  t 
(Lehautcourt)  kritisiert  überlegen  das  neue  (1912)  Werk  Duquets 
über  die  Tage  vom  7.  bis  30.  August  1870  und  dessen  Verteidigung 
der  strategischen  Entwürfe  Palikaos.  W  e  1  v  e  r  t  gibt  einen  Nekrolog 
E.  Dejeans,  des  am  20.  Januar  d.  J.  verstorbenen  Direktors  des  Na- 
tionalarchivs in  Paris. 

Auf  ungedruckten  Briefen  beruht  die  Arbeit  von  G.  du  B  o  s  c  q 
de  Beaumont  und  M.  B  e  r  n  o  s  über  „Die  Herzogin  von  Orleans 
und  Mm.  de  Genlis"  {Rev.  des  Deux  Mondes,  1.  u.  15.  April  1913). 
Es  geht  aus  ihnen  zur  Evidenz  hervor,  daß  die  Genlis  in  der  Tat  die 
Geliebte  des  Herzogs  war.  Die  Herzogin  erscheint  sehr  sympathisch 
und  groß  denkend. 

Die  Fortsetzung  der  Briefe  Azaras  ist  recht  interessant  {Revue 
des  Quest.  hist.  1913,  2:  „De  Bäle  ä  Tolentino";  vgl.  H.  Z.  111,  234). 
Azara  kritisiert  scharf  die  päpstliche  und  die  neapolitanische  Politik. 
Er  erörtert  die  Beseitigung  der  weltlichen  Macht  des  Papstes  und 
empfiehlt  seinem  Minister,  die  damalige  Krisis  zur  Abschüttelung  des 
päpstlichen  Joches  zu  benutzen.  Über  Napoleon  Bonaparte  urteilt 
er  (17.  Oktober  1796):  „//  n'y  a  pas  eu  de  giniral  qui  ait  abusi  de  la 
victoire  que  ce  Bonaparte...  S'il  lui  survient  le  moindre  ichec,  les  pierres 
elles-memes  se  dresseraient  contre  lui." 

E.  Angot  erörtert  (Revue  des  Quest.  hist.  1913,  2)  die  persön- 
lichen Beziehungen  zwischen  Talleyrand  und  Hauterive  und  veröffent- 
licht Proben  aus  ihrem  Briefwechsel.  Beachtenswert  ist  ein  Schreiben 
Talleyrands  vom  13.  Dezember  1806,  der  sich  gegen  die  ausschwei- 
fenden territorialen  Umgestaltungspläne  Hauterives  wendet  („L'Em- 
pereur  ne  veut  ni  ne  doit  etre  exciti  par  nous  ä  un  Systeme  de  grandeur 
indijinie,  dont  je  regarde  comme  un  de  mes  premiers  devoirs  envers  lui 
de  chercher  ä  mar  quer  les  limites").  Andere  der  hier  abgedruckten 
Briefe  finden  sich  schon  bei  Bailleu,  Preußen  und  Frankreich  II, 
S.  602  ff. 

E.  Gabor  y  (Revue  de  Paris,  15.  April  1913)  schildert  den 
Aufenthalt  Napoleons  in  der  Vendee  und  in  Nantes  im  August  1808. 
Selbst  die  Geistlichkeit  der  Vendee  wußte  damals  noch  nichts  von  der 
schon  im  Februar  erfolgten  Besetzung  Roms  durch  die  Franzosen, 
so  daß  Napoleon  als  Wiederhersteller  des  religiösen  Friedens  freund- 
lich empfangen  wurde. 

Ch.  Schmidt  schildert  nach  archivalischen  Quellen  Gent  als 
Hauptstadt  des  Scheidedepartements  unter  französischer  Herrschaft, 
das  Aufblühen  der  Spinnereien  und  Webereien,  die  Wirksamkeit  des 
Präfekten  Faypoult  de  Maisoncelle  usf.  (Revue  de  Paris,  1.  Mai). 

29* 


448  Notizen  und  Nachrichten. 

„Eines  deutschen  Hauslehrers  Pilgerschaft  durch  Land  und 
Leben  (1792—1818)"  von  Ch.  C.  L.  Klee  haben  O.  M.  v.  S  tack  hei - 
b  e  r  g  und  Fr.  S  t  i  11  m  a  c  h  neu  herausgegeben.  (Reval  1913.)  — 
Die  Erinnerungen  sind  für  den  Historiker  durch  eine  lebendige  Schil- 
derung des  Brandes  von  Moskau  1812  recht  interessant.  Der  damalige 
Rektor  der  lutherischen  Gemeindeschule  Klee  flieht  erst  beim  Ausbruch 
des  Brandes  aus  der  Stadt,  kehrt  aber  gleich  zurück  und  hat  dann 
mit  seiner  großen  Familie  bis  zum  Abzüge  der  Franzosen  die  ärgsten 
Mühsale  zu  erdulden.  An  Lebensmitteln  fehlt  es  den  Franzosen  trotz 
des  Brandes  nicht,  da  sie  an  bedürftige  Einwohner  viel  abgeben  können, 
dafür  haben  diese  sehr  unter  den  plündernden  Rheinbündlern  und  — 
Russen  selbst  zu  leiden,  während  die  Franzosen  bessere  Mannszucht 
wahren.  Die  Darstellung  ist  lebendig  und  durch  viele  Details  belebt, 
erweckt  auch  durchaus  den  Eindruck  der  Objektivität  und  Zuver- 
lässigkeit. Pantenius. 

R  e  m  u  z  a  t  behandelt  (La  Revue,  15.  April  1913)  nach  gedruckten 
schwedischen  und  einigen  ungedruckten  französischen  Quellen  die 
gesellschaftliche  Rolle  der  Frau  v.  Stael  in  Stockholm  1812  und  ihre 
damaligen  Beziehungen  zu  Kronprinz  Charles- Jean  (Bernadotte). 

G.  Stenger  skizziert  höchst  wohlwollend  das  Leben  und 
Wirken  des  Herzogs  von  Persigny,  hauptsächlich  im  Anschluß  an 
dessen  Memoiren  (Revue  nouvelle,  15.  März  und  1.  April  1913). 

Aus  den  Preußischen  Jahrb.,  April  1913,  notieren  wir  einen 
Aufsatz  von  H.  Scholz  über  „Fichte  und  Napoleon",  der  indessen 
auf  die  Entwicklung  der  Gedanken  Fichtes  über  Napoleon  nicht  eingeht. 

Aus  der  Zeitschr.  für  osteurop.  Gesch.  3,  3  notieren  wir:  B  o  - 
r  0  z  d  i  n  ,  Jubiläumsliteratur  über  d.  J.  1812,  und  v.  W  r  a  n  g  e  1 1 , 
Jubiläumsliteratur  über  den  Feldzug  in  Kurland  1812. 

Aus  dem  Militärwochenblatt  1912,  Beiheft  11/12  ist  ein  Vortrag 
von  Hoeniger  zu  notieren :  „Die  politische  Lage  Europas  vor  Be- 
ginn der  Befreiungskriege",  dessen  Mittelpunkt  zwei  Archivfunde 
bilden:  1.  eine  von  dem  Danziger  Residenten  in  Paris  herrührende 
Wiedergabe  der  Rede,  die  Napoleon  am  24,  März  1811  der  Deputation 
der  Pariser  Handels-  und  Gewerbekammer  hielt  (über  den  Kampf 
gegen  England)  und  2.  eine  aus  dem  Grunerschen  Nachlaß  stammende 
recht  interessante  Denkschrift  über  die  Stellung  der  Kontinentalstaaten 
im  September  1811. 

Dem  Kunstwart  26,  15  hat  Fr.  M  e  i  n  e  c  k  e  eine  knappe  Studie 
über  „Stein  und  die  Erhebung  von  1813"  ^liefert. 

G.  D  i  c  k  h  u  t  h  setzt  seine  von  uns  (vgl.  H.  Z.  111,  237)  schon 
erwähnte  Arbeit  über  1813  im  April-,  Mai-  und  Juniheft  1913  der 
Deutschen  Rundschau  fort,  um  sie  im  Juliheft  zu  beendigen. 


Neuere  Geschichte.  449 

Gedankenreich,  wie  immer,  sind  die  zwei  Studien  des  Gen.- 
Feldm.  v.  d.  Goltz  über  „1813.  Die  Generalprobe  von  Großgörschen 
am  2.  Mai  1813"  und  „Bautzen,  die  Schlacht  der  Enttäuschungen 
am  20.  und  21.  Mai  1813"  (Deutsche  Revue,  Mai-  und  Juniheft  1913). 

Die  Leistungen  der  „schlesischen  Landwehr  im  Befreiungskriege" 
behandelt  ein  Vortrag  von  Manfred  L  a  u  b  e  r  t  (Breslau,  Nischkowsky, 
20  S.).  Das  Thema  könnte  wohl  noch  eindringender  untersucht  werden, 
als  es  hier  auf  Grund  der  gedruckten  Literatur  geschehen  ist,  doch 
dürfte  das  im  ganzen  günstige  und  die  Schattenseiten  dabei  nicht  über- 
gehende Gesamturteil  des  Verfassers  wohl  recht  behalten.  Bei  den 
Bemerkungen  über  das  Gefecht  von  Hagelberg  S.  12  vermißt  man 
Stellungnahme  zu  Wiehrs  Untersuchung.  Af. 

Th.  Bitterauf  zeigt  in  einer  ausführlichen  Arbeit,  daß  in 
Altbayem  die  nationale  und  franzosenfeindliche  Richtung  der  öffent- 
lichen Meinung,  abgesehen  vom  Adel  und  Klerus,  vor  dem  Vertrag 
von  Ried  recht  schwach  vertreten  war.  Das  stimmt  durchaus  zu  un- 
seren bisherigen  Vorstellungen.  Anders  lag  die  Sache  in  den  neu  er- 
worbenen, vornehmlich  den  früher  preußischen  Landesteilen.  (Zur  Ge- 
schichte der  öffentlichen  Meinung  im  Königreich  Bayern  im  Jahre  1813 
bis  zum  Abschluß  des  Vertrages  von  Ried,  Arch.  f.  Kulturgesch.  11,1.) 

Der  Redaktion  sind  wieder  drei  Festreden  zur  Erinnerung  an 
1813  zugegangen.  Sehr  anschaulich  und  reich  an  charakteristischen 
Einzelheiten  ist  die  Fr.  L  u  c  k  w  a  1  d  t  s.  Der  Geist  von  1813.  Fest- 
rede zum  10.  März  1913,  gehalten  an  der  Kgl.  Technischen  Hochschule 
in  Danzig,  Danzig  1913,  25  S.  Die  zwei  übrigen  behandeln  in  fördernder 
Weise  die  Erhebung  in  einzelnen  deutschen  Landschaften:  Hermann 
Bloch,  Mecklenburg  zu  Beginn  der  Freiheitskriege.  Rede  gehalten 
in  der  Aula  der  Universität  am  28.  Februar  1913  bei  der  akademischen 
Feier  zur  Erinnerung  an  die  Befreiungskriege,  Rostock  1913,  36  S. 
Hermann  Klaje,  Bilder  aus  Pommern.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte 
d.  J.  1813.  Rede  zur  Feier  des  Geburtstages  S.  M.  d.  Kaisers  gehalten 
am  26.  Januar  1913  (S.  A.  a.  d.  Jahresbericht  des  Dom-  und  Real- 
gymnasiums zu  Kolberg  1913,  8  S.).  Die  letztere  Rede  beruht  auf 
Archivstudien,  deren  Resultate  durchaus  beachtenswert  sind.    Wahl. 

Als  ,, Bausteine  zu  einer  Biographie  des  Bischofs  J.  M.  S  a  i  1  e  r" 
veröffentlicht  A.  D  ö  b  e  r  1  in  den  Hist.  Pol.  Blättern  151,  10  u.  11 
zwei  Aufsätze:  1.  über  Sailers  Stellung  zu  Felders  Literaturzeitung, 
einem  Organ  der  Konföderierten  1814 — 1818,  mit  deren  konfessionell 
schroffer  Politik  er  nicht  immer  einverstanden  war;  2.  Sailers  Be- 
mühungen für  Pflege  katholischen  Lebens,  namentlich  auch  bei  Be- 
rufungen für  die  neue  Universität  München  (Auszüge  aus  Briefen 
an  den  Minister  v.  Schenk). 


450  Notizen  und  Nachrichten. 

E.  D  e  j  e  a  n  ,  der  kürzlich  verstorbene  Direktor  des  Pariser 
Nationalarchivs  (vgl.  oben  S.  447),  der  ein  Buch  über  die  Herzogin 
.von  Berry  und  die  europäischen  Monarchien"  vorbereitet  hat,  erzählt 
unter  dem  Titel  „La  derniire  ambassade  de  Chateaubriand"  die  zwei- 
malige Reise  Chateaubriands  nach  Prag  im  Jahre  1833  an  den  Hof 
Karls  X.  und  seine  vergeblichen  Bemühungen,  die  Herzogin  von  Berry 
nach  ihrer  heimlichen  Vermählung  mit  ihrer  Familie  zu  versöhnen 
und  den  alten  König  zur  Abdankung  und  zur  Proklamierung  der  Ma- 
jorennität  des  Herzogs  von  Bordeaux  zu  bestimmen.  Die  auf  reichem 
archivalischen  Material  beruhende  Abhandlung  ist  zugleich  ein  guter 
Beitrag  zur  Kritik  der  Memoires  d'outre-tombe  (Revue  de  Paris,  15.  Mai 
und  1.  Juni). 

Lady  Blennerhassett  schildert  nach  dem  zweiten  Bande 
von  Monypennys  Biographie  D Israelis  parlamentarische  Entwick- 
von  1837—1846  (Deutsche  Rundschau,  April  1913). 

Von  den  mutmaßlichen  Folgen  des  Thronwechsels  in  Preußen 
1840  in  kirchlicher  Hinsicht  handelt  eine  wohl  mit  Sicherheit  Jarcke 
zuzuweisende,  von  A.  Hasenclever  veröffentlichte  „österreichische 
Denkschrift"  aus  dem  Juni  1840  (Z.  f.  Kirchengesch.  34,  1).  An  eine 
baldige  Konversion  Friedrich  Wilhelms  IV.  glaubt  der  Verfasser  nicht, 
aber  an  Kampf  gegen  den  Rationalismus;  und  wenn  die  Beschwerden 
der  Katholiken  im  Westen  nicht  abgestellt  würden,  sei  zu  erwarten, 
daß  diese  mit  der  liberalen  Opposition  vereint  für  eine  Konstitution 
kämpfen  würden.  Sehr  gut  ist  am  Anfang  die  Charakterisierung  von 
Friedrich  Wilhelms  des  Dritten  Regierungstendenz.  Übrigens  macht 
das  Aktenstück  in  der  vorliegenden  Form  doch  den  Eindruck  eines 
Fragments.  K.  J. 

Gustav  Mayers  Mitteilungen  über  „den  Untergang  der  deutsch- 
französischen Jahrbücher  und  den  Pariser  Vorwärts"  (Grünbergs 
Archiv  f.  Gesch.  d.  Sozialismus  111,3)  bieten  einen  interessanten  Beitrag 
zur  preußischen  Zensurpolitik  der  vierziger  Jahre. 

April-  und  Maiheft  der  Deutschen  Rundschau  1913  bringen  zu- 
nächst einen  Abschluß  der  S.  239  erwähnten  Lebenserinnerungen  von 
Rochus  Frhrn.  v.  Liliencron:  die  Beteiligung  an  der  Schleswig- 
holsteinischen Erhebung,  vornehmlich  als  Graf  Reventlows  Sekretär, 
dann  die  Begründung  des  eigenen  Heims  und  die  Jahre  der  Lehrtätig- 
keit erst  in  Kiel  und  —  hier  unhaltbar  —  in  Jena. 

In  der  Deutschen  Revue  (April  bis  Juni  1913)  wird  die  S.  240 
2uletzt  erwähnte  Veröffentlichung  der  politischen  Briefe  des  Grafen 
Hugo  V.  Münster  an  Edwin  v.  Manteuffel  (vgl.  S.  240)  bis  zu  Münsters 
Abberufung  aus  Petersburg  (September  1856)  unter  Ausfüllung  von 
Lücken  durch  Abdruck  von  Angaben  in  Leopold  v.   Gerlachs  Tage- 


Neuere  Geschichte.  451 

büchern  zu  Ende  geführt.  In  ihrer  Gesamtheit  sind  diese  Briefe  eine 
außerordentlich  wertvolle  Quelle  für  die  preußisch-russischen  Be- 
ziehungen und  die  preußische  Politik  während  des  Krimkriegs. 

Unter  dem  Titel  „An  der  Wiege  des  Königreichs  Rumänien" 
sind  in  den  Grenzboten  1913,  Nr.  8,  17,  18  beachtenswerte  „Berichte 
des  preußischen  Spezialgesandten  Frhrn.  v.  Richthofen  an  Friedrich 
Wilhelm  IV."  von  1857  über  die  poHtischen  Zustände  in  den  Donau- 
fürstentümern und  das  Verhalten  der  Mächtekommissare  erschienen. 

Die  Fortsetzung  der  S.  240  erwähnten  Mitteilungen  aus  der 
diplomatischen  Tätigkeit  des  Grafen  Karolyi  reicht  in  den  nächsten 
Heften  der  Deutschen  Revue  (April- Juni  1913)  bis  zu  den  Monarchen- 
begegnungen in  Baden,  Teplitz  und  Warschau  1860.  Der  Herausgeber, 
Frhr.  v.  Hengelmüller,  orientiert  uns  über  die  wichtigsten 
Momente  der  österreichischen  Politik  und  die  Beziehungen  zu  Preußen. 

In  einem  Schlußwort  zu  „Bismarck  und  Lassalle"  (Preuß.  Jahrbb. 
1913,  April)  weist  H.  O  n  c  k  e  n  die  Polemik  der  Kreuzzeitung  gegen 
seine  Ausführungen  über  Bismarcks  Oktroyierungspläne  für  das 
spätere  Reichstagswahlrecht  in  der  Konfliktszeit  (vgl.  H.  Z.  108,  454) 
mit  Recht  zurück,  namentlich  auch  unter  Berufung  auf  den  H.  Z. 
110,  459  erwähnten  Brief  Lassalles  an  M.  Heß;  anschließend  betont 
Oncken  die  Unmöglichkeit  einer  Systematik  von  Lassalles  Lehre,  wie 
sie  Rosenbaum  unlängst  versucht  hat. 

Der  Anfang  der  im  Juniheft  der  Deutschen  Revue  beginnenden 
Mitteilungen  „Aus  dem  Leben  des  Oberpräsidenten  (von  Posen) 
C,  V.  Hörn  1863 — 1869"  betrifft  vornehmlich  dessen  ebenso  besonnene 
wie  energische  Haltung  im  Polenaufstand  von  1863. 

R.  W.  Seton-Watson,  The  Southern  Slav  Question  and 
the  Habsburg  Monarchy.  London,  Constable  &  Co.  1911.  463  S. —  Seit 
einigen  Jahren  erregen  die  Schriften  von  Scotus  Viator  (ein  Deckname 
für  den  Verfasser  des  obigen  Buches)  in  der  politischen  Welt  großes 
Aufsehen.  Der  Verfasser  der  Schriften  über  die  Bevölkerungsprobleme 
in  Ungarn  (1908),  die  Korruption  und  Reform  in  Ungarn  (1911),  die 
politische  Persekution  in  Ungarn  (1908)  und  noch  anderer  Gelegen- 
heitsschriften schildert  in  allen  den  beispiellosen  Druck  auf  politischem 
Gebiete,  der  auf  den  nichtmagyarischen  Völkerschaften  Ungarns  lastet. 
Wir  wollen  es  ununtersucht  lassen,  ob  es  der  Wahrheit  entspricht, 
was  magyarische  und  ihnen  nahestehende  österreichische  Blätter 
behaupten,  daß  Seton-Watson  im  englischen  Interesse  im  Sinne  des 
Trialismus  arbeitet,  insofern  als  England  bei  den  Kroaten  einen  sehr 
guten  Stützpunkt  für  seine  gegen  den  Dreibund  gerichtete  Politik  zu 
finden  glaubt.  Tatsache  ist,  daß  das  vorliegende  Buch,  das  übrigens 
auf   einer  sehr  genauen  Kenntnis  der  einschlägigen  historischen,  poli- 


452  Notizen  und  Nachrichten. 

tischen  und  geographisch-statistischen  Literatur  beruht,  den  magyari- 
schen Drucl<  auf  jeder  Seite  scharf  hervortreten  läßt.  Sieht  man  davon 
ab,  so  findet  sich  in  den  14  Kapiteln,  die  es  enthält,  eine  gute  Zusammen- 
stellung der  einzelnen  Phasen  dessen,  was  man  die  kroatische  Frage 
in  Ungarn  nennen  kann,  und  werden  insbesondere  die  politischen  Er- 
eignisse der  letzten  Jahrzehnte  in  Ungarn  und  Kroatien  eingehender 
kritischer  Würdigung  unterzogen.  Dem  Buche  sind  17  Beilagen  an- 
gefügt, aus  denen  wir  die  Urkunde  über  die  Wahl  Ferdinands  I.  zum 
König  von  Kroatien  (1527),  Kroatien  und  die  pragmatische  Sanktion, 
die  Adresse  der  kroatischen  Stände  an  den  König  vom  Juni  1898, 
den  ungaro-kroatischen  Kompromiß  von  1868  und,  was  ein  allgemeineres 
Interesse  bietet,  die  Korrespondenz  des  Bischofs  Straßmayer  mit  Glad- 
stone  herausheben.  Dem  Buche  sind  ferner  noch  eine  ausreichende 
Bibliographie  über  die  einschlägigen  Fragen  und  eine  Karte  über  die 
ethnographischen  Verhältnisse  der  Südslaven  beigegeben. 

Graz.  J.  Loserth. 

Das  Aprilheft  der  Deutschen  Revue  1913  bringt  sehr  hübsche 
„JVlexikanische  Briefe"  von  Kurd  v.  Schloezer  aus  den  Anfängen 
seiner  Gesandtentätigkeit  (1869). 

Als  7.  Heft  der  Neujahrsblätter  der  Gesellschaft  für  fränkische 
Geschichte  (Würzburg,  A.  Stürtz  &  Co.  1912,  97  S.)  hat  H.  Frhr. 
V.  Egloffstein  unter  dem  Titel:  Ein  Sohn  des  Frankenlandes  in 
großer  Zeit  Kriegsbriefe  seines  Vaters  an  seine  Mutter  aus  den  Jahren 
1870/71  herausgegeben.  Oberst  Frhr.  v.  Egloffstein  hat  als  persönlicher 
Adjutant  des  Herzogs  von  Meiningen  in  dessen  Begleitung  den  größten 
Teil  des  Feldzugs  bei  der  22.  („eisernen",  s.  S.  52  über  das  erste  Vor- 
kommen des  bekannten  Beinamens  in  einem  Briefe  der  Gattin  des 
Briefschreibers)  Division,  erst  von  Mitte  Dezember  ab  in  Versailles 
mitgemacht  und  in  freiwilliger  Ordonnanztätigkeit  bei  Weißenburg, 
Wörth,  Sedan  und  im  Loirefeldzug  sich  verdienstlich  im  Kampfe  be- 
tätigen können.  Die  lebendig,  im  Drange  des  Augenblicks,  oft  in  un- 
vollständigen Sätzen  geschriebenen  Briefe  gewähren  naturgemäß  so 
gut  wie  keine  neuen  Aufschlüsse  über  Heerführung  und  Diplomatie, 
sie  führen  aber  in  trefflicher  Anschaulichkeit  ebenso  in  Schlachten- 
lärm und  Kriegsleben  hinein  wie  sie  zugleich  ein  Dokument  mensch- 
lichen und  echt  kriegerischen  Empfindens  und  Erlebens  sind.  Sie 
verdienen  unter  den  zahllosen  Veröffentlichungen  von  Kriegsbriefen 
einen  bevorzugten  Platz.  K.  Jacob. 

E.  0 1 1  i  V  i  e  r  beginnt  eine  ausführliche  Darstellung  der  Schlachten 
um  Metz  mit  einer  Erzählung  des  Kampfes  vom  14.  August,  wobei 
er  Bazaine  verteidigt  und  die  späteren  Mißerfolge  der  Unzulänglichkeit 
der  Korpsführer  am   15.  August  zuschreibt.    Die  Deutschen  charak- 


Neuere  Geschichte.  453 

terisiert  er  als  „indomptables  du  haut  en  bas  de  Vichelle,  depuis  le  giniral 
jusqu'au  soldat,  animis  du  disir  furieux  de  vaincre",  spricht  aber  ander- 
seits wegen  des  selbständigen  und  befehlswidrigen  Vorgehens  einzelner 
Führer  von  der  „armie  indisciplinie  des  Allemands"  {Revue  des  deux 
mondes,  1.  Juni  1913). 

Der  Abschluß  der  zuletzt  H.  Z.  1 10,  687  erwähnten  Studien  von 
G.  Bapst  über  das  französische  Oberkommando  in  der  Schlacht  von 
Gravelotte-St.  Privat  (Deutsche  Revue  1913,  April  und  Mai)  übt 
in  detaillierter  Einzelschilderung  herbste  Kritik  an  dem  Verhalten 
Bazaines  während  der  Schlacht  selbst. 

In  der  Histor.  Vierteljahrschrift  16,  2  wendet  sich  W.  Stolze 
in  sehr  entschiedener  Weise  gegen  die  von  E.  Brandenburg  ebenda 
Bd.  15  an  seinem  Werke  über  die  Gründung  des  Deutschen  Reichs 
1870/71  geübte  Kritik,  die  H.  Z.  HO,  460  erwähnt  ist.  Er  beschränkt 
sich  dabei  in  der  Hauptsache  auf  zwei  Punkte:  die  Bedeutung  der 
Einwirkungen  der  europäischen  Politik  und  den  Kaiserplan  vom 
Frühjahr  1870.  M.  E.  ist  es  Stolze  nicht  gelungen,  in  irgendeinem 
wesentlichen  Punkte  Brandenburgs  Einwendungen  zu  entkräften,  so 
daß  Brandenburg  in  einem  Schlußwort  seine  Stellung  durchaus  auf- 
recht erhalten  kann;  insbesondere  auch  den  Vorwurf  methodischer 
Unzulänglichkeit  in  der  Quellenkritik  zum  Kaiserplan.  Vgl.  dazu  auch 
die  auf  Brandenburgs  Kritik  verweisende,  ablehnende  Besprechung 
von  Stolzes  Buch  in  der  Zeitschr.  f.  d.  Gesch.  d.  Oberrheins  28,  2  von 
Th.  Bitterauf.  K.  J. 

Chantriot  behandelt  in  der  „occupation  allemande  de  la 
Meurthe"  (Revue  de  Paris,  1.  Mai  1913)  hauptsächlich  die  Tätigkeit 
des  deutschen  Präfekten  Graf  Renard,  die  er  als  eine  Mischung  von 
Härte  und  Gutmütigkeit  charakterisiert.  Seine  Darstellung  zeigt, 
daß  im  ganzen  alles  sich  sehr  ruhig  abwickelte. 

Der  Schluß  der  bekannten  Studien  G  o  y  a  u  s  über  „Bismarck 
und  die  Kirche"  betrifft  den  Friedensschluß  mit  Leo  XIII.  durch  die 
zweimalige  Revision  der  Maigesetze,  die  Septennatsfrage  und  „le  lende- 
main  du  Culturkampf"  (1886—1890,  Besuch  Kaiser  Wilhelms  II.  im 
Vatikan).  Die  Darstellung  mündet  aus  in  eine  Verherrlichung  des 
„kleinen  Weifen"  Windhorst  und  der  Macht  und  Größe  der  katho- 
lischen Kirche  (Revue  des  deux  Mondes,  1.  Januar  und  1.  Februar  1913). 

Unter  der  Überschrift  „Diplomatenerziehung"  (Grenzboten 
1913,  13)  bietet  G.  Cleinow  einige  allgemeine  Bemerkungen  über 
Bismarcks  Verhalten  zum  diplomatischen  Nachwuchs  und  sodann 
interessante  Details  über  die  Anfänge  der  Laufbahn  des  verstorbenen 
Staatssekretärs  v.  Kiderlen-Wächter. 


454  Notizen  und  Nachrichten. 

April-  und  Maiheft  1913  der  Süddeutschen  Monatshefte  bringen 
den  Rest  der  S.  241  angeführten  Briefe  Miquels  an  Marquardsen  bis 
1897  mit  mancherlei  sehr  charakteristischen  und  zum  Teil  erheblichen 
Äußerungen  Miquels  über  Bismarck,  die  Innern  Politik-  und  Partei- 
anschauungen. 

Ein  Aufsatz  in  der  Revue  de  Paris  (1.  April  1913)  behandelt  die 
Reise  der  Kaiserin  Friedrich  nach  Paris  (Februar  1891)  als  den  ernstesten 
deutsch-französischen  Zwischenfall  seit  dem  Pariser  Frieden,  der  den 
Aussöhnungsversuchen  ein  Ende  gemacht  und  die  französisch-russische 
Verständigung  gefördert  habe. 

Die  Fortsetzung  des  S.  243  erwähnten  Aufsatzes  von  J.  W.  H  o  1  - 
1  a  e  n  d  e  r  (f)  (Schmollers  Jahrbuch  37,  2)  schildert  das  Vordringen 
der  agrarischen  Bewegung  1894 — 1897,  die  Vorbereitungen  zur  Reform 
des  Zolltarifs  seit  Posadowskys  Andeutungen  (Januar  1897),  die  Agi- 
tation für  die  Erhöhung  der  Getreidezölle  und  das  Einsetzen  einer 
Gegenbewegung  1900  bis  zur  Veröffentlichung  des  neuen  Entwurfs 
(Sommer  1901). 

Über  die  Entwicklung  der  „sozialistischen  Bewegung  in  Nor- 
wegen" besonders  seit  den  80er  Jahren  aus  der  Arbeiterbewegung 
heraus  und  im  Verhältnis  zur  Gewerkschaftsbewegung  berichtet  (mit 
deutlichen  sozialistischen  Sympathien)  Edv.  Bull  in  Grünbergs 
Archiv  f.  Gesch.  d,  Sozialismus  III,  3. 

Neue  Bücher:  Cahen  ei  Guyot ,  L'oeuvre  legislative  de  la  Rivo- 
lution.  (Paris,  Alcan.  y  fr.) —  Liesenfeld,  Klemens  Wenzeslaus,  der 
letzte  Kurfürst  von  Trier,  seine  Landstände  und  die  französische  Revo- 
lution (1789— 1794).  (Trier,  Lintz.  9 M.)— Wo Ifg.  Kraus,  Die  Strategie 
des  Erzherzogs  Karl  im  Jahre  1796  m.  besond.  Berücksicht.  der  Schlacht 
bei  Würzburg.  (Berlin,  Nauck.  1,50  M.)  —  Erzherzog  Karl,  der  Feld- 
herr und  seine  Armee,  hrsg.  von  Wilh.  John.  (Wien,  Hof-  u.  Staats- 
druckerei. 385  M.)  —  G  0  0  c  h  ,  Hisfory  and  historians  in  the  nine- 
teenth  Century.  (London,  Longmans,  Green  &  Co.  io,6  sh.)  —  Berichte 
aus  der  Berliner  Franzosenzeit  1807 — 1809.  Nach  den  Akten  des  Berliner 
geheimen  Staatsarchivs  und  des  Pariser  Kriegsarchivs  hrsg.  v.  H.  G  r  a  - 
n  i  e  r.  (Leipzig,  Hirzel.  20  M.)  —  Des  Generals  Neidhardt  v.  Gnei- 
senau  Briefe  1809 — 1815.  Gesammelt  u.  hrsg.  von  Jul.  v.  Pflugk- 
H  a  r  1 1  u  n  g.  (Gotha,  Perthes.  3,60  M.)  —  v.  P  f  1  u  g  k  -  H  a  r  t  - 
t  u  n  g.  Das  Befreiungsjahr  1813.  (Berlin,  Union  Zweigniederlassung. 
16  M.)  —  Friedrich,  Die  Kämpfe  an  der  sächsisch-böhmischen 
Grenze  im  Herbst  1813.  (Dresden,  Köhler.  3,80  M.)  —  Fabry, 
Etudes  sur  les  Operations  de  l'Empereur,  5  au  21  septembre  1813.  (Paris, 
Chapelot  et  Cie.)  —  Fournier,  Die  Geheimpolizei  auf  dem  Wiener 
Kongreß,  (Wien,  Tempsky.   12  M.)  —  Eckhardt,  Die  Grundrechte 


Deutsche  Landschaften.  455 

vom  Wiener  Kongreß  bis  zur  Gegenwart.    (Breslau,  Marcus.    6,40  M.) 

—  Comte  Rudolphe  A  p  p  o  n  y  i ,  Vingt-cinq  ans  ä  Paris  (1826 — 1850). 
Journal  publii  par  E.  Daudet.  I.  1826 — 1830.  (Paris,  Plon-Nourrit 
et  Cie.  y,5o  fr.)  —  Le  Marchand,  L'Europe  et  la  conquete  d' Alger, 
d'aprts  les  documents  originaux  tiris  des  archives  de  l'Etat.  (Paris, 
Perrin  et  Cie.)  —  Schiemann,  Geschichte  Rußlands  unter  Kaiser 
Nikolaus  I.  3.  Bd.  (Berlin,  Reimer.  12  M.)  —  Hemmerle,  Die 
Rheinländer  und  die  preußische  Verfassungsfrage  auf  dem  ersten  ver- 
einigten Landtag  (1847).  (Bonn,  Marcus  &  Weber.  6  M.)  —  Mei- 
necke, Radowitz  und  die  deutsche  Revolution.  (Berlin,  Mittler. 
10  M.)  —  Wassermann,  Les  clubs  de  Barrts  et  de  Blanqui  en 
1848.  (Paris,  Cornily  et  Cie.  7  fr.)  —  Desjoyeaux,  La  fusion 
monarchique,  1848 — 1873,  d'aprks  des  sources  inidites.  (Paris,  Plon- 
Nourrit  et  Cie.  y,5o  fr.)  —  T r  i s  al ,  L'annexion  de  la  Savoie  ä  la 
France  (1848 — 1860).  (Paris,  Plon-Nourrit  et  Cie.  7,50  fr.)  —  Graf 
Segur-Cabanac,  Kaiser  Ferdinand  L  (V.)  der  Gütige  in  Prag. 
(Brunn,  Irrgang.  10  M.)  —  C l av e au  ,  Souvenirs  politiques  et  parle- 
mentaires  d'un  temoin.  I:  1865 — i8jo.  (Paris,  Plon-Nourrit  et  Cie. 
7.50  fr.)  —  Fester,  Neue  Beiträge  zur  Geschichte  der  hohenzoUern- 
schen  Thronkandidatur  in  Spanien.  (Leipzig,  Teubner.  5  M.)  — 
Hesselbarth,  Drei  psychologische  Fragen  zur  spanischen  Thron- 
kandidatur Leopolds  von  Hohenzollern.    (Leipzig,  Teubner,    3,60  M.) 

—  Louis  Thomas,  Documents  sur  la  guerre  et  la  commune,  i8yo — i8yi. 
T.  !*'■.  (Paris,  Les  Marches  de  l'Est.  5  fr.)  —  Fabricius,  Besangon- 
Pontarlier.  Die  Operationen  des  Generals  v.  Manteuffel  gegen  den 
Rückzug  des  französ.  Ostheers  vom  21.  1.  1871  ab.  I.  Tl.,  2.  Buch. 
(Oldenburg,  Stalling.  8  M.)  —  G  0  y  au  ,  Bismarck  et  Viglise.  Le 
Culturkampf.  T.  3.  4.  (Paris,  Perrin  et  Cie.)  —  v.  Wertheimer, 
Graf  Julius  Andrassy,  sein  Leben  und  seine  Zeit.  2.  u.  3.  Bd.  (Stutt- 
gart, Deutsche  Verlagsanstalt.  20  M.)  —  F  ar  n  et  i ,  La  pace  di  Lo- 
sanna. (Napoli,  Casella.  1,50  L.)  —  Alfr,  Meyer,  Der  Balkankrieg 
1912/13.    1.  Tl.    (Berlin,  Vossische  Buchh.    2  M.) 

Deutsche  Landschaften. 

Dierauer,  dessen  70.  Geburtstag  am  20.  März  1912  unter 
allgemeiner  freudiger  Beteiligung  gefeiert  wurde,  hat  die  Genugtuung, 
daß  B  a  n  d  1  seiner  in  dieser  Zeitschrift,  Bd.  65,  S.  547  u.  548,  zum 
ersten  Male  zur  Anzeige  gebrachten  Geschichte  der  schwei- 
zerischen Eidgenossenschaft  in  zweiter  Auflage 
(Gotha,  R.  A.  Perthes.  XXI  u.  517  S.)  noch  vor  Schluß  des  Jahres 
ausgegeben  worden  ist;  dieser  bis  1415  reichende  Band  ist  gegenüber 
der  ersten  Auflage  im  Textteil   um  55  Seiten  stärker  geworden  und 


456  Notizen  und  Nachrichten. 

enthält  nun  auch  schon  in  erwünschter  Weise  das  Orts-  und  Personen- 
register. Daß  die  ganze  in  dem  seit  Erscheinen  der  ersten  Form 
verflossenen  Vierteljahrhundert  zutage  getretene  Literatur  in  den 
Anmerkungen  nachgetragen  und  nach  deren  Ergebnissen  der  Text, 
wo  sich  das  als  notwendig  herausstellte,  abgeändert  ist,  versteht  sich 
bei  der  schon  längst  bekannten  Gewissenhaftigkeit  des  Autors  von 
selbst.  Auch  die  Polemik  ist,  wo  das  notwendig  erscheint,  ganz  vor- 
trefflich gehandhabt.  So  weist  n.  157  auf  S.  174  den  Versuch 
Schollenbergers,  „so  ziemlich  alle  Ergebnisse  der  kritischen  Forschung 
mit  überlegener  Gebärde  umzustoßen  und  die  Erzählungen  Tschudis, 
die  von  „Amts  wegen  in  die  amtlichen  und  auch  in  die  obligatori- 
schen Schulbücher  wieder  aufgenommen  werden"  sollten,  zu  histo- 
risch unanfechtbaren,  eben  in  die  Zeit  des  Königs  Albrecht  „passen- 
den Quellenstücken  zu  erheben",  in  der  besten  Weise  zurück.  Da- 
gegen kann  gegen  S.  146,  n.  102  noch  bemerkt  werden,  daß  die 
auch  von  P.  Sidler  in  seinem  dort  notierten  Werke  (S.  167  u.  168) 
hervorgehobene  und  aus  Schwyz  stammende  Lokalangabe  „am  Mor- 
garten  ze  Scheffstetten  uff  dem  Sattel"  doch  sehr  nachdrücklich 
gegen  die  Ansetzung  auf  Zuger  Boden,  wo  jetzt  ein  Denkmal  steht, 
spricht.  M.  v.  K. 

Im  Anzeiger  für  Schweizerische  Geschichte  1913,  3  veröffentlicht 
A.  I  n  h  e  1  d  e  r  einen  zeitgenössischen  Bericht  über  das  Gefecht  von 
Andelfingen,  das  am  25.  Mai  1799  zwischen  Österreichern  und  Fran- 
zosen stattfand. 

Über  die  Beziehungen  der  Familie  von  Salis  zum  Kloster  St.  Gallen 
veröffentlicht  P.  Nikolaus  v.  S  a  1  i  s  -  S  o  g  1  i  o  O.  S.  B.  in  den  Stu- 
dien und  Mitteilungen  zur  Geschichte  des  Benediktinerordens,  N.  F.  II, 
zwei  Arbeiten,  von  denen  besonders  die  zweite  Beachtung  verdient. 
Sie  behandelt  die  erfolglosen  Bemühungen  um  die  Wiederherstellung 
der   im    Gefolge   der  Französischen  Revolution   aufgehobenen   Abtei. 

Georg  Wagner,  Untersuchungen  über  die  Standesverhältnisse 
elsässischer  Klöster  (in  Beiträgen  zur  Landes-  und  Volkeskunde  von 
Elsaß- Lothringen  XLI).  Straßburg,  Heitz,  1911.  87  S.  —  Die  Studie 
Wagners  schließt  sich  eng  an  Schultes  Buch  „Der  Adel  und  die  deutsche 
Kirche"  (vgl.  H.  Z.  109,  194)  an.  Sie  beschäftigt  sich  mit  dem  Bene- 
diktinerkloster Murbach  und  den  beiden  Kanonissenstiftern  am  Odilien- 
berg,  Hohenburg  und  Niedermünster,  und  betrachtet  die  Verhältnisse 
ihrer  Dienstmannen  und  den  Geburtsstand  der  Klosterinsassen.  Dabei 
ergibt  sich,  daß  Murbach  sowohl  als  Hohenburg-Niedermünster  eine 
Ausnahme  von  der  durch  Schulte  festgestellten  Norm  bilden,  indem 
sie,  wenngleich  reichsfürstlich,  doch  ihren  Konvent  dem  Dienstadel 
nicht  verschlossen   haben.     Die   Untersuchung  ist  gewandt  geführt. 


Deutsche  Landschaften.  457 

fesselt  den  Leser  auch  durch  Heranziehen  bisher  noch  unveröffentlichten 
Materials  und  durch  interessante  Ausblicke  auf  die  politische  und  Wirt- 
schaftsgeschichte. Im  einzelnen  scheint  Wagner  seine  Behauptungen 
nicht  immer  ausreichend  fundiert  zu  haben.  So  genügen  für  die  Liste 
der  Murbacher  Dienstmannen  aus  der  Zeit,  da  in  den  Urkunden  neben 
dem  Namen  der  Titel  ministerialis  zu  fehlen  pflegt  (S.  15),  die  ange- 
führten Belegstellen  nicht,  um  alle  Angaben  zu  rechtfertigen.  So 
bleiben  in  der  Anmerkung  über  die  Herkunft  der  berühmten  Äbtissin 
Herrad  (S.  78)  zwei  für  die  Genealogie  der  Landsberger  wichtige  Doku- 
mente (Straßburger  Urkundenbuch  4,  1,  8  Nr.  12  und  Annales  de  l' Est 
6,  104  Nr.  8)  unbeachtet.  —  Diese  Mängel  der  Arbeit  würde  man  dem 
Verfasser  gern  nachsehen,  hätte  er  nicht  sich  mehr  als  nötig  als  Zensor 
seiner  Vorgänger  geriert  und  an  Werken  wie  Redlichs  Rudolf  von  Habs- 
burg eine  wenig  begründete  Kritik  geübt. 

Straßburg  i.  E.  Alfred  Hessel. 

Als  44.  Heft  der  Beiträge  zur  Landes-  und  Volkskunde  von 
Elsaß-Lothringen  ist  eine  völkerrechtliche  Studie  von  A.  Gerardot 
über  die  Optionsfrage  in  Elsaß-Lothringen  erschienen. 

In  überaus  klaren  und  scharfsinnig  durchgeführten  Untersuchun- 
gen ,,Zur  Textgeschichte  der  Freiburger  Stadtrechtsaufzeichnungen" 
(Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins  N.  F.  28,  Heft  2) 
kommt  Alfred  Schultze  zu  dem  Ergebnis,  daß  der  Stadtrodel 
zwischen  1218  und  1248,  wahrscheinlich  zwischen  1235  und  1245  ent- 
standen sei,  während  die  Freiburger  Vorlage  des  Bremgarter  Textes 
sicher  der  Zeit  vor  1244,  wahrscheinlich  der  Zeit  zwischen  1218 
und   1225  angehöre. 

Aus  dem  sonstigen  Inhalt  dieses  Heftes  der  Zeitschrift  für  die 
Geschichte  des  Oberrheins  seien  hervorgehoben  der  Aufsatz  von  S.  Hell- 
mann über  die  sog.  ,, Weingartener"  Annalen,  deren  Entstehung 
er  nach  Konstanz  verlegt,  und  die  Arbeiten  von  P.  Wentzcke 
und  H.  Kunze  über  die  Beteiligung  Erwin  v.  Steinbachs  am  Bau 
des  Straßburger  Münsters. 

Eine  Heidelberger  Dissertation  von  K.  Buchegger  (Berlin 
1912,  236  S.)  behandelt  die  Verfassung  und  Verwaltung  der  Stadt 
Konstanz  im  18.  Jahrhundert  unter  besonderer  Berücksichtigung  der 
Tätigkeit  des  Stadthauptmanns  Franz  v.  Blanc. 

In  der  Alemannia  41,  1  macht  B.  Schwarz  Mitteilungen  über 
einen  Hexenprozeß  im  Kraichgau  im  Jahre  1563  auf  Grund  von  Akten 
des  Gemmingischen  Familienarchivs. 

Württemberg  hat  in  der  großen  Sammlung  seiner  Oberamts- 
beschreibungen längst  einen  wertvollen  Besitz.  Etwas  höchst  Bedeut- 
sames für  die  Wissenschaft  schaffen  aber  nun  die  Neuauflagen,  die 


458  Notizen  und  Nachrichten. 

das  Statistische  Landesamt  jetzt  unternimmt  (Verlag  von  Kohlhammer, 
Stuttgart),  und  zwar  gilt  dies  gerade  für  den  geschichtlichen  Teil, 
der  uns  hier  vor  dem  übrigen  angeht  und  den  Viktor  Ernst  bear- 
beitet. Es  ist  eine  vielseitige  Arbeit  ab  ovo  namentlich  aus  archivali- 
schen  Quellen,  die  bisher  unbenutzt  waren;  für  eine  künftige  Landes- 
geschichte eine  ausgezeichnete  Grundlage.  1909  ist  Urach  (762  S., 
dazu  Register,  Tabellen,  Karten  und  viel  photographische  Bilder), 
1912  Münsingen  (ebenso,  im  ganzen  937  S.)  erschienen,  also  ein  zu- 
sammenhängendes Stück  Alb  mit  Vorland;  gegenwärtig  wird  Tett- 
nang  (Bodenseegegend)  vorbereitet.  Sachlich  und  methodisch  sind 
schon  die  Abschnitte  über  Siedelung,  Markungsgrenzen  und  Hundert- 
schaften (dies  namentlich  im  Band  über  Münsingen!),  Geschichte  der 
kirchlichen  Versorgung  (Zusammenhang  mit  den  politischen  Grenzen!) 
interessant.  Dann  folgen  über  eine  hellere  Zeit  Forschungen  über 
Grundbesitz,  herrschaftliche  Einkünfte,  Behandlung  des  Gemeinde- 
und  Privateigentums  durch  die  Herrschaft,  über  herrschaftliche  Ämter, 
Abgaben  und  Dienste  der  Untertanen  und  Eigenleute,  Umfang  der 
Zinslehen  und  des  bäuerlichen  Eigens,  Dorfverfassung  mit  der  Stellung 
des  Maierhofes,  die  Seidner  in  der  Gemeinde  usf.  In  Altwürttemberg 
ist  der  Landesherr  weitaus  der  größte  Grundherr;  nächst  ihm  kommen 
Klöster  und  Kirchen;  adeliger  Besitz  ist  früh  aufgegangen.  Wichtig 
waren  vor  den  wirtembergischen  Grafen  die  von  Achalm  und  Urach. 
Die  von  Achalm  gaben  ihren  Besitz  in  der  Zeit  der  großen  Benediktiner- 
reform größtenteils  dem  Kloster  Zwiefalten,  das  ihre  Gründung  ist; 
es  nimmt  in  dem  Band  über  Münsingen  eine  wichtige  Stelle  ein.  Die 
Uracher  verbanden  sich  durch  Heirat  mit  den  Zähringern ;  daher  stam- 
men die  Fürstenberg.  Der  Band  über  Urach  enthält  noch  einen  be- 
merkenswerten wirtschaftsgeschichtlichen  Abschnitt,  besonders  über 
Getreidebau  und  Allmenden;  sodann  wird  der  Niedergang  der  Bevöl- 
kerung im  Dreißigjährigen  Krieg  und  ihr  Steigen  danach  statistisch 
gefaßt;  die  der  Landgemeinden  zusammengerechnet  hat  erst  1780 
die  Zahl  wieder  erreicht,  die  sie  vor  der  Schlacht  bei  Nördlingen  hatte; 
die  Stadt  hat  rascher  zugenommen;  die  Zuwandernden  kamen  auch 
hier  meistens  aus  der  Schweiz  und  österreichischen  Ländern.  Wichtig 
ist  endlich  im  Uracher  Band  ein  Abschnitt  über  die  Stellung  des  Volkes 
zum  Staat.  —  Das  Prähistorische  in  beiden  Bänden  hat  Peter  G  ö  ß  1  e  r 
verfaßt.  Rapp. 

Von  der  Sammlung  „Geschichtliche  Lieder  und  Sprüche  Württem- 
bergs" von  S  t  e  i  f  f  und  M  e  h  r  i  n  g  (vgl.  H.  Z.  90,  378)  ist  jetzt  das 
Schlußheft  erschienen  (das  Ganze:  1115  S.,  bei  Kohlhammer  in  Stutt- 
gart). Es  enthält  die  48er  Zeit,  dann  hauptsächlich  noch  1870.  Der 
eigentliche  Wert  liegt  in  den  eingehenden  Erläuterungen  und  Fuß- 
noten der  Herausgeber. 


Deutsche  Landschaften.  459 

Zu  einem  in  letzter  Zeit  recht  häufig  behandelten  Thema  äußert 
sich  H.  S  t  ä  b  1  e  r  ,  indem  er  in  den  Württembergischen  Vierteljahrs- 
heften für  Landesgeschichte  N,  F.  22,  2  eine  zusammenfassende  Arbeit 
über  die  Geschichte  Eßlingens  bis  zur  Mitte  des  13.  Jahrhunderts, 
also  bis  zum  Beginn  der  eigentlichen  reichsstädtischen  Geschichte  gibt. 

Im  Archiv  für  Frankfurter  Geschichte  und  Kunst,  Dritte  Folge, 
Bd.  11,  1913  behandelt  Siegfr.  Sieber  nach  Beschreibungen,  Krö- 
nungsdiarien, Programmen,  Wahl-  und  Krönungsakten  des  Frank- 
furter und  Augsburger  Stadtarchivs  die  „Volksbelustigungen  bei 
Kaiserkrönungen"  in  der  Zeit  von  1442  bis  1792,  und  zwar  1.  die  Quellen, 
2.  die  Schauplätze  und  Zustände,  d.  i.  die  Umwelt,  in  der  sich  die  Krö- 
nungen abgespielt  haben  (Aufwand  der  Stadt,  Geschenke  an  Kaiser 
und  Fürsten,  Vorbereitungen  für  die  Krönung,  Fremdenbesuch,  Ein- 
quartierungen, Preisverhältnisse  u.  dgl.  m.),  3.  Aufzüge,  Feste  und  Be- 
lustigungen während  der  Wahl-  und  Krönungszeit,  4.  den  Krönungs- 
tag (Krönungs-  und  Hochzeitsbräuche,  Krönungsmahl).  Die  Zahl  der 
Aufzüge,  Feierlichkeiten  und  Lustbarkeiten  nahm  von  Krönung  zu 
Krönung  zu.  Die  Kaiserkrönungen  übten  merklichen  Einfluß  auf  die 
Entwicklung  von  Sitte,  Mode  und  Stil  und  lassen  den  Einfluß  spanischer, 
französischer  und  englischer  Moden  und  Stilarten  erkennen,  —  Weitere 
Beiträge  behandeln  „das  erste  Auftreten  der  Jesuiten  in  Frankfurt  a.  M. 
1560 — 1567"  und  „die  Niederlegung  der  Festungswerke  in  Frank- 
furt a.  M.  1802 — 1807",  die  das  wichtigste  kommunale  Unternehmen 
am  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  gewesen  ist  (Rud.  Jung),  ferner 
„Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400"  (J.  Kra- 
kauer) und  „Das  Meisterbuch  der  Frankfurter  Goldschmiede  im  Mittel- 
alter 1223—1556"  (Alexander  D  i  e  t  z). 

Die  gediegene  Abhandlung  Justus  Hashagens  „Zur  Geschichte 
der  Eisenindustrie  vornehmlich  in  der  nordwestlichen  Eifel"  (Sonder- 
abdruck aus  der  Eifelfestschrift,  1913,  S.  269—294)  beruht  haupt- 
sächlich auf  Aktenmaterial  der  Staatsarchive  zu  Düsseldorf  und  Wetz- 
lar und  des  Oberbergamtes  in  Bonn.  Ausgehend  von  der  Bodenständig- 
keit und  dem  Alter  der  Eisenindustrie,  ihrer  Leistungsfähigkeit  in  der 
ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  schildert  H.  im  ersten  Abschnitt 
die  Eisenindustrie  von  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  bis  zum  Aus- 
gang des  alten  Reiches  (Produktionsfaktoren,  Arbeiterschaft,  öffent- 
liche Verhältnisse,  privatwirtschaftliche  Verhältnisse  der  Hütten- 
meisterfamilien), im  zweiten  und  dritten  Abschnitt  die  Eisenindustrie 
unter  französischer  und  preußischer  Herrschaft. 

Die  Schrift  J.  B.  Deermanns  „Ländliche  Siedelungs-,  Ver- 
fassungs-  und  Wirtschaftsgeschichte  des  Venkigaus  und  der  späteren 
Niedergrafschaft    Lingen    bis    zum    Ausgang    des    16.  Jahrhunderts" 


460  Notizen  und  Nachrichten. 

(Forsch,  z,  Gesch.  Niedersachsens  Bd.  4,  Heft  2 — 3),  Hannover,  E.  Geibel 
1912,  179  S.,  enthält  eine  recht  gründliche,  von  lebendigem  Heimat- 
sinn zeugende  Schilderung  aller  wesentlichen  Formen  des  ländlichen 
Lebens  im  Venkigau  (wo  auch  die  geistlichen  Grundherrschaften  Cor- 
vey  und  Werden  begütert  waren).  Sie  führt  über  die  Periode  der  Groß- 
grundherrschaft, der  Villikationsverfassung  und  ihres  Verfalls  hinau 
bis  in  die  Zeit,  in  der  die  Staatsgewalt  wachsenden  Einfluß  auf  die  Rege- 
lung der  ländlichen  Verhältnisse  zu  gewinnen  sucht.  Den  breitesten 
Raum  nehmen  die  Verhältnisse  des  16.  Jahrhunderts  in  Anspruch 
(meist  nach  Quellen  aus  der  Zeit  von  1549 — 1597):  die  wirtschaftliche, 
soziale,  rechtliche  Lage  der  Freien  und  Eigenhörigen,  die  Verfassung 
der  beiden  ländlichen  Organisationsformen  Bauerschaft  und  Marken- 
genossenschaft, die  Umwandlung  der  JVlarkengenossenschaft  in  eine 
Servitutgemeinschaft  seit  Erwerbung  des  vollen  Obereigentums  an  den 
Marken  durch  die  Staatsgewalt,  endlich  auch  die  Staats-  und  Gerichts- 
verfassung der  Niedergrafschaft  Lingen  zur  Zeit  der  entstehenden 
Landeshoheit.  Die  Einwirkung  der  Rezeption  des  römischen  Rechts 
auf  Organisation  und  Zuständigkeit  der  Markengerichtsbarkeit  ist 
leider  nur  gestreift  worden  (vgl.  S.  156,  157).  Sp. 

Die  kleine  Schrift  von  Julius  Voigt  „Die  sog.  Ilmenauische 
Empörung  von  1768",  Xenien-Verlag  zu  Leipzig,  1912,  63  S.,  führt 
in  die  vorgoethische  Zeit.  Sie  schildert  die  durch  absolutes  Willkür- 
regiment veranlaßten  Bürgerunruhen  (1768)  und  die  ihnen  unmittelbar 
folgenden  Wirren,  welche  Goethe  später  zu  beseitigen  suchte. 

Die  in  K.  Büchers  Seminar  entstandene  Arbeit  Walter  Schönes 
über  „Die  Anfänge  des  Dresdner  Zeitungswesens  im  18.  Jahrhundert" 
(Mitteil,  des  Ver.  für  Gesch.  Dresdens,  Heft  23),  Dresden  1912,  126  S., 
gliedert  sich  in  drei  Abschnitte:  1.  Allgemeines,  2.  die  Dresdner  Zei- 
tungen und  Journale,  3.  das  Dresdner  Intelligenzwesen.  Sie  versucht 
vor  allem  die  Preisgeschichte  des  Anzeigewesens  zu  ergründen.  Das 
Ergebnis  über  die  Entstehung  der  Annoncenpreise  und  die  Grundsätze 
der  Preisbildung  wird  auf  S.  102  ff.  zusammengefaßt.  Die  wirtschaft- 
liche Grundlage  der  Zeitungen  ist  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  die 
Einnahme  aus  dem  Verkauf  der  Blätter  (Abonnement),  erst  im  Laufe 
des  19.  Jahrhunderts  das  Inseratengeschäft  gewesen. 

Die  von  Hans  Beschorner  im  Neuen  Archiv  für  sächsische 
Geschichte  und  Altertumskunde  Bd.  34,  Heft  1  und  2,  1913,  veröffent- 
lichten Beiträge  zur  Lebensgeschichte  des  Balthasar  Permoser  (f  20.  Fe- 
bruar 1732)  sind  als  Vorarbeit  für  eine  umfassendere  Biographie  ge- 
dacht. Permoser,  der  Hofbildhauer  Augusts  des  Starken,  ist  einer  der 
bedeutendsten  und  kraftvollsten  Vertreter  der  deutschen  Barock- 
plastik gewesen. 


I 


Deutsche  Landschaften.  46 

Der  über  ganz  Europa  ausgespannte  „Nachrichtendienst  und 
Reiseverkehr  des  deutschen  Ordens  um  1400"  wird  in  der  Altpreußischen 
Monatsschrift  Bd.  50,  Heft  2,  1913,  von  Paul  Babendererde 
dargestellt.  Der  Botendienst  des  deutschen  Ordens  stand  dem  wohl- 
geordneten Nachrichtenverkehr  der  Hanse,  ja  selbst  der  päpstlichen 
Kurie  ebenbürtig  zur  Seite.  —  M.  Emmelmann  schildert  ebendas. 
die  Teilnahme  Karls  IV.  an  der  Schlichtung  der  Streitigkeiten,  des 
Deutschordens  (1369 — 1374)  mit  dem  Bischof  von  Ermeland  und 
(bis  1366)  mit  dem  Erzbischof  von  Riga.  —  Die  „Kriegsberichte 
von  1812"  (A.  V.  S  c  h  o  e  n  a  i  c  h)  enthalten  Korrespondenzen  von 
Schön  und  Auerswald  an  Hardenberg  und  einen  Brief  Auerswalds  an 
Schön. 

Gerhard  G  ü  n  z  e  I  vergleicht  in  den  Darstellungen  u.  Quellen 
z.  schles.  Gesch.  Bd.  14  (Breslau,  F.  Hirt,  1911)  die  „österreichische 
und  preußische  Städteverwaltung  in  Schlesien  während  der  Zeit  von 
1648—1809,  dargestellt  am  Beispiel  der  Stadt  Striegau"  (VIII  u. 
130  S.)  und  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  österreichische  Re- 
gierung sich  um  das  Wohlergehen  der  Städte  nicht  kümmerte,  während 
die  preußische  bei  allen  guten  Absichten  keine  nennenswerten  Resul- 
tate erzielte.  Die  Schrift  gewährt  viele  lehrreiche  Einblicke  in  die  Ver- 
waltungsart, das  Wirtschaftsleben,  die  Zunftverhältnisse  und  den 
sozialen  Aufbau  der  Bevölkerung  einer  ostelbischen  Provinzialstadt 
im  17.  und  18.  Jahrhundert;  ich  verweise  nur  auf  die  bisher  nicht  ge- 
nügend betonte  Tatsache,  die  sich  in  Striegau  und  anderwärts  fest- 
stellen läßt,  daß  die  Handwerker  der  meisten  preußischen  Städte 
noch  im  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  vielfach  zugleich  Kramerei 
und  vor  allem  Landwirtschaft  trieben  und  aus  letzterer  ihre  Haupt- 
einnahmen zogen.  Zu  beachten  sind  auch  die  Ausführungen  S.  90  ff. 
über  die  unglaubliche  Art  des  Zustandekommens  der  preußischen  Sta- 
tistik gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  Ziekursch. 

In  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische  Geschichts- 
forsch.  Bd.  34,  Heft  1,  1913,  erörtert  Joh.  Loser  th  die  in  seiner 
Ausgabe  der  Akten  und  Korrespondenzen  zur  Geschichte  der  Gegen- 
reformation veröffentlichten  „Protokolle  der  Land-  und  Hofrechte 
aus  den  Jahren  1583 — 1601"  als  Quelle  zur  Geschichte  der  Gegen- 
reformation in   Innerösterreich  und  erläutert  wichtigere  Aktenstücke. 

Wenngleich  die  Abhandlung  Emanuel  Ottos  „Reformation 
und  Gegenreformation  in  der  Steiermark"  (Zeitschrift  des  histor.  Ver. 
für  Steiermark,  1913,  Jahrg.  11,  Heft  1  u.  2)  wenig  Neues  bietet  und 
sich  in  der  Hauptsache  von  Loserthschen  Forschungsergebnissen  ab- 
hängig zeigt,  ist  sie  doch  als  erster  Versuch  einer  Zusammenfassung 
willkommen.  Die  Rekatholisierung  war  in  der  Oststeiermark  bis  zur 
Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  30 


462  Notizen  und  Nachrichten. 

Mitte  des  17.  Jahrhunderts  vollendet.  —  Joh.  L  o  s  e  r  t  h  publiziert 
ebendas.  Schriftstücke  zur  kirchlichen  Bewegung  in  Steiermark  wäh- 
rend des  16.  und  17.  Jahrhunderts  (1572,  1599,  1624,  1628,  1630)  und 
zur  Geschichte  der  Wiedertäufer  daselbst  in  den  Jahren  1529,  1530, 
1531,  1534.  —  Herrn.  Niebour  verzeichnet  Namen  und  Lebens- 
verhältnisse der  nach  der  Frankfurter  Nationalversammlung  (1848) 
entsendeten  Abgeordneten  Steiermarks. 

Adolf  Häuften,  Geschichte,  Art  und  Sprache  des  deutschen 
Volksliedes  in  Böhmen.  Wiss.  Beihefte  zur  Zeitschrift  des  allgem. 
deutschen  Sprachvereins  5.  Reihe,  Heft  35.  Berlin  1912.  32  S.  — 
Der  Festvortrag,  mit  dem  Hauff en  zu  Pfingsten  1912  den  Sprach- 
verein bei  seiner  17.  Hauptversammlung  in  Reichenberg  begrüßt  hat, 
erscheint  hier  im  Druck  erweitert  und  um  die  notwendigen  Nachweise 
vermehrt.  Auf  einen  historischen  Rückblick  über  das  Leben  des  deut- 
schen Lieds  im  deutschböhmischen  Volksmund  und  eine  Umschau 
über  den  Anteil  Böhmens  an  der  Volksliedforschung  folgen  als  Kern- 
stück des  Vortrags  Aufschlüsse  über  den  Stand  der  Sammlungen  für 
das  ministerielle  Unternehmen  „Das  Volkslied  in  Österreich"  in  einer 
Fülle,  wie  nur  Häuften  sie  geben  konnte,  banach  liegen,  neben  einem 
gedruckten  Bestand  von  2200  Liedern,  in  der  nahezu  abgeschlossenen 
handschriftlichen  Sammlung  in  Prag  über  12  000  Lieder  und  Sprüche 
und  etwa  3000  Singweisen  vor.  Als  Hruschka  und  Toischer  1891  in 
ihren  Deutschen  Volksliedern  in  Böhmen  2000  Lieder  veröffentlichten, 
gab  es  nur  eine  Stimme  der  Bewunderung  für  diese  Reichtümer,  und 
man  hielt  die  Bescheidenheit  der  Herausgeber  für  übertrieben,  die  ihre 
Sammlung  nicht  für  abschließend  hielten.  Nun  uns  eine  sechsmal 
größere  Fülle  in  gewisse  Aussicht  gestellt  ist,  rückt  Deutschböhmen 
unstreitig  an  die  erste  Stelle  im  deutschen  Volksgesang:  eine  glückliche 
Bodengestaltung,  ein  freundliches  Klima,  die  Siedelungsverhältnisse 
und  der  lebhafte  Verkehr,  eine  bewegte  geschichtliche  Vergangenheit 
und  die  stark  ausgeprägte  Heimatliebe  des  begabten  deutschböhmischen 
Stammes,  verstärkt  durch  den  langen  Kampf  mit  einem  zähen  Gegner, 
haben  eine  Sangeslust  großgezogen,  die  sich  in  einem  unvergleichlichen 
Reichtum  volkstümlicher  Dichtung  ausprägt.  Häuften  scheidet  die 
gemeindeutschen  von  den  bodenständigen  Elementen  dieses  Volks- 
gesangs, die  Kunstlieder  im  Volksmund  von  dem  volksentsprossenen 
Liedergut,  und  bietet  zum  Schluß  feinsinnige  Bemerkungen  über  die 
Abgrenzung  von  Schriftsprache  und  Mundart  in  den  deutschen  Volks- 
liedern Böhmens. 

Freiburg  i.  B.  Alfred  Götze. 

Der  28.  Band  des  Archiv  cesky  (Prag  1912  in  Kommission 
von  Bursik  <S  Kohont)  enthält  die  Fortsetzung  der  in  dieser  Zeit- 
schrift 105,  469  bereits  angezeigten  Zprdvy  o  statech  a  prech  venkovs^ 


Deutsche  Landschaften.  463 

kych  z  archivu  mesta  Prahy,  L — Z,  d.  h.  Berichte  über  auswärtige 
Besitzungen  und  Streitigkeiten  (Besitzveränderungen  außerhalb  Prags, 
die  in  Prager  Stadtbüchern  vermeri<t.  werden)  aus  dem  Archiv  der 
Stadt  Prag.  Der  vorliegende  Band  verzeichnet  den  Rest  der  Plätze 
in  alphabetischer  Reihenfolge  (L — Z)  mit  reichlichen  Nachträgen; 
einige  der  häufiger  genannten  Orte  sind:  Laun  (6  Nummern),  Malesice 
(19),  Melnik  (6),  Michle  (6),  Mvdrany  (19),  Nusle  (39),  Nimburg  (6), 
Olsany  (48),  Opocno  (9),  Pankrac  (28),  Podol  (65),  Podvini  (16),  Prerow 
bei  Böhmisch-Brod  (7),  Strasnice  (47),  Sesovice  (50),  Unhost  (115), 
Vesec  (19),  Vrsovice  (14),  Vysocany  (22),  Vysehrad  (22),  Zbraslaw 
(Königsaal  mit  20  Nummern),  Zlichov  (59)  und  2atec  (Saaz  mit  der 
ansehnlichen  Zahl  von  310  Nummern).  Auch  hier  sind  es  Kauf-  und 
Tauschverträge,  Schuldscheine  und  sonstige  Materialien  zur  Wirtschafts- 
geschichte, das  meiste  in  tschechischer  Sprache.  Sie  reichen  noch  in 
die  Zeiten  Karls  IV.,  einzelnes  selbst  in  die  König  Johanns  und  Premysl 
Ottokars  II.  zurück.  Hier  und  da  bietet  ein  Stück  wegen  der  Datierung 
ein  Interesse,  so  ist  ein  Launer  Stück  nach  dem  Tage  des  hl.  Magisters 
Johannes  Huß  datiert.  J.  L. 

Im  Histor.  Jahrb.  der  Görres-Gesellschaft  Bd.  34,  Heft  1,  1913, 
veröffentlicht  AI.  Kroeß  ein  „Gutachten  der  Jesuiten  am  Beginne  der 
katholischen  Generalreformation  in  Böhmen". 

Neue  Bücher:  Jörin,  Der  Kanton  Oberiand  1798—1803. 
(Zürich,  Gebr.  Leemann  <&  Co,  4,50  M.)  —  Monumenta  boica.  48.  Bd. 
I.  Tl.  Neue  Folge.  II.  Bd.  1.  Tl.  Die  Urbare  des  Burggrafentums  Nürn- 
berg unter  dem  Gebirge.   Nachtrag  bis  1500.   (München,  Franz.   8  M.) 

—  R  i  e  z  1  e  r  ,  Geschichte  Bayerns.  7.  Bd.  Von  1651—1704.  (Gotha, 
Perthes.  15  M.) — Riezler- Festschrift.  Beiträge  zur  bayer.  Geschichte, 
hrsg.  von  Karl  Alex.  v.  M  ü  1 1  e  r.  (Gotha,  Perthes.  10  M.)  —  L  e  n  e  I  , 
Badens  Rechtsverwaltung  und  Rechtsverfassung  unter  Markgraf  Karl 
Friedrich  1738— 1803.  (Karlsruhe,  Braun.  5,40  M.)  —  A  n  d  r  e  a  s  , 
Geschichte  der  badischen  Verwaltungsorganisation  und  Verfassung  in 
den  Jahren  1802— 1818.    1.  Bd.    (Leipzig,   Quelle  &  Meyer.    12,40  M.) 

—  Hattemer,  Entwicklungsgeschichte  Hessen-Darmstadts.  1.  Tl. 
(Darmstadt,  Bergstraßen  2  M.)  —  Herrmann,  Inventare  der 
evangelischen  Pfarrarchive  im  Großherzogtum  Hessen.  1.  Hälfte. 
(Darmstadt,  Staatsverlag.  6  M.)  —  Aufmwasser,  Sozialstati- 
stische Studien  zur  Geschichte  von  Wesel  im  14.  u.  15.  Jahrhundert. 
(Münster,  Coppenrath.  1,50  M.)  —  Lethmate,  Die  Bevölkerung 
Münsters  i.  W.  in  der  2.  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts.  (Münster,  Coppen- 
rath. 1,50  M.)  —  Walter  v.  Boetticher,  Geschichte  des  ober- 
lausitzischen  Adels  und  seiner  Güter,  1635 — 1815.  2.  Bd.  (Göriitz, 
Verlagsanstalt  Görlitzer  Nachrichten.    20  M.) 

30» 


61  Notizen  und  Nachrichten. 


Vermischtes. 


Der  Internationale  Kongreß  für  historische 
Wissenschaften,  der  vom  3.  bis  zum  9.  April  dieses  Jahres 
in  London  tagte,  bot  den  Teilnehmern  eine  reiche  Fülle  von  An- 
regungen ebensowohl  durch  die  dort  geleistete  Arbeit  wie  durch 
den  Verkehr  mit  der  großen  Zahl  gelehrter  Fachgenossen  aus  aller 
Herren  Länder,  An  der  Spitze  des  vorbereitenden  wie  des  leitenden 
Ausschusses  stand  A.  W.  W  a  r  d  ,  der  Master  of  Peterhouse,  Cambridge, 
neben  dem  die  Professoren  Prothero,  Vinogradoff,  Gol- 
1  a  n  c  z  und  Whitney  sich  in  die  schwierige  Führung  der  Ge- 
schäfte teilten.  Die  Zahl  der  Mitglieder  soll  sich  auf  etwa  1200  belaufen 
haben,  darunter  natürlich  die  britischen  Historiker  am  zahlreichsten, 
nächst  ihnen  die  Deutschen  und  Amerikaner  durch  eine  stattliche 
Anzahl  und  bedeutende  Namen  vertreten,  verhältnismäßig  wenige 
Franzosen,  dagegen  in  bemerkenswerter  Zahl  auch  Russen,  Skandinavier 
und  andere  Nationalitäten.  Die  Mehrzahl  der  Vorträge  ward  in  eng- 
lischer Sprache  gehalten,  besonders  diejenigen,  welche  die  Geschichte 
Großbritanniens  betrafen,  auch  wenn  die  Redner  selbst  nicht  Engländer 
waren.  Freilich  haben  auch  manche  Vortragende  nur  ihr  Thema  unter 
einem  englischen  Titel  angekündigt  und  dann  gleichwohl  deutsch  oder 
französisch  gesprochen. 

An  Stelle  des  abwesenden  B  r  y  c  e  führte  Ward  den  Vorsitz 
auf  dem  Kongresse,  den  er  in  allgemeiner  Sitzung  eröffnete  und  schloß. 
Es  war  dankenswert,  daß  er  die  Rede,  welche  B  r  y  c  e  zur  Eröffnung 
hatte  sprechen  wollen,  der  Versammlung  nicht  vorenthielt  und  sie 
durch  seine  eigenen  einleitenden  und  abschließenden  Bemerkungen 
bereicherte  (s.  oben  S.  407). 

Die  vom  Kongresse  geleistete  Arbeit  war  schon  dem  Umfange 
nach  ungeheuer.  Man  denke  nur:  in  mehr  als  200  Vorträgen  wurden 
die  verschiedensten  Gebiete  des  historischen  Wissens  berührt.  Was 
der  einzelne  Teilnehmer  außerhalb  der  Sektion,  der  er  sich  angeschlossen 
hatte,  von  diesem  gewaltigen  Stoff  noch  aufzunehmen  vermochte, 
war  freilich  in  der  Regel  nicht  allzuviel.  Die  Hauptschwierigkeit  lag 
hier  in  dem  Umstand,  daß  die  Sektionen  in  oft  weit  voneinander  ent- 
fernten Teilen  Londons  untergebracht  waren.  Und  wenn  auch  die 
Tageszeitungen,  besonders  die  Times,  den  Verlauf  des  Kongresses 
mit  ihren  Berichten  und  Artikeln  begleiteten,  so  wird  doch  ein  klarer 
Überblick  über  den  Inhalt  der  Vorträge  erst  dann  zu  gewinnen  sein, 
wenn  der  geplante  Band  erschienen  ist,  der  die  sämtlichen  „abstrads"^ 
umfassen  soll.  Einstweilen  gelangten  nämlich  diese  kurzen  Auszüge, 
da  sie  erst  vor  jedem  Vortrage  an  Ort  und  Stelle  verteilt  wurden,  nur 
den  jedesmaligen  Zuhörern  in  die  Hände.    Das  vortreffliche  Prinzip 


Vermischtes.  46!^ 

der  „abstrads"  könnte  sich  noch  nützlicher  erweisen  —  und  hier  erp 
iauben  wir  uns  den  Veranstaltern  des  nächsten  Kongresses  einen  Wink 
zu  geben  — ,  wenn  die  Auszüge  der  bereits  gehaltenen  Vorträge  täglich 
auf  den  Bureaus  zur  Verteilung  gelangten.  Aus  alledem  ergibt  sich 
zugleich,  daß  der  Referent,  so  sehr  ihm  auch  Kürze  zur  Pflicht  ge- 
macht ist,  sich  mit  seinen  Bemerkungen  nicht  auf  die  von  ihm  selbst 
gehörten  Vorträge  beschränken  darf. 

Ausführlich  wurde  fast  in  allen  Sektionen,  oft  in  einleitenden 
Ansprachen  der  Vorsitzenden,  über  die  Methode,  die  Aufgaben,  den 
Arbeitsstoff  der  verschiedenen  Disziplinen  gesprochen.  So  wurden  die 
Verhandlungen  der  mittelalterlichen  wie  der  neugeschichtlichen  Sekr 
tion  durch  Vorträge  von  T  o  u  t  und  F  i  r  t  h  eingeleitet,  in  denen 
die  Redner  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Studien  in  mittlerer 
und  neuerer  Geschichte  in  England  berichteten.  Beide  wiesen  auf  die 
Schwierigkeiten  hin,  die  der  Heranbildung  einer  Schule  von  Historikern 
im  Wege  stehen.  F  i  r  t  h  fand  diese  Schwierigkeiten  besonders  in 
den  Mängeln  des  Unterrichts  in  den  Schulen  und  auf  den  Universitäten 
—  den  alten  wie  den  neuen.  „Was  wir  brauchen,"  sagte  er,  „ist  eine 
Reform  des  historischen  Unterrichts  an  den  Universitäten."  Er  tadelte 
auch  die  Vorbereitung  der  Archivbeamten,  welche  auf  Grund  des 
gewöhnlichen  Examens  für  den  Verwaltungsdienst  angestellt  werden» 
ohne  daß  besondere  Kenntnisse  in  Paläographie,  Diplomatik  usw. 
gefordert  werden  oder,  wo  sie  vorhanden  sind,  eine  schnellere  Beförde- 
rung herbeiführen.  Und  endlich  fand  er,  daß  die  Leitung  der  in  so 
großem  Umfange  erfolgenden  Quelleneditionen  ausschließlicher  als  bis- 
her in  der  Hand  geschulter  Historiker  liegen  sollte. 

In  der  Subsektion  für  See-  und  Kriegsgeschichte  {Naval  and 
Military  History)  war  geradezu  die  Mehrzahl  aller  Vorträge  dem  Wesen^ 
der  Arbeitsweise,  dem  Quellenstoff  und  —  bezeichnenderweise  — : 
dem  Nutzen  dieser  Disziplin  gewidmet.  In  einer  der  Sitzungen  führte 
Prinz  Battenberg,  der  erste  Lord  des  Flottenamts,  persönlich 
den  Vorsitz,  um,  wie  er  sagte,  das  Interesse  der  Admiralität  an  den 
hier  gepflogenen  Verhandlungen  darzutun,  um  zu  zeigen,  wie  unent- 
behrlich das  Studium  der  Seekriegsgeschichte  zur  Vorbereitung  für 
den  Dienst  in  der  Marine  sei.  Aber  schon  er  wies  auch  auf  die  Mängel 
der  bisherigen  Methoden  hin.  überhaupt  herrscht  in  diesen  Kreisen 
die  Anschauung,  daß  in  der  Erforschung  der  Seekriegsgeschichte  kaum 
erst  ein  Anfang  gemacht  sei.  Das  war  auch  der  eigentliche  Sinn  eines 
Vortrages,  den  J.  K.  L  a  u  g  h  t  o  n  ,  der  Nestor  unter  den  englischen 
Marinehistorikern,  der  Begründer  der  Navy  Records  Society,  in  dieser 
Abteilung  hielt.  Und  Themata  wie  ,, Marinegeschichte  und  die  Not- 
wendigkeit einer  Katalogisierung  ihrer  Quellen"  (Leutnant  A.  D  e  w  a  r), 
„Die  Bedeutung  der  Marinegeschichte  für  den  Dienst  zur  See"  (Kapitän 

30** 


466  Notizen  und  Nachrichten. 

i..  R  i  c  h  m  0  n  d),*„  Quellen  zur  Marinegeschichte  in  der  Bibliothek 
der  Admiralität"  (A.  G.  Perrin)  fanden  fast  noch  mehr  Beachtung 
als  die  Vorträge  anerkannter  Autoritäten  der  Seekriegsgeschichte  wie 
C  0  r  b  e  1 1  und  T  a  n  n  e  r. 

Die  in  den  Sektionen  geleistete  Arbeit  ist,  wie  gesagt,  einstweilen 
noch  schwer  zu  übersehen.  Mit  Hinzurechnung  mehrerer  Subsektionen, 
die  aber  meistens  auch  von  den  übrigen  getrennt  ihre  Sitzungen  hiel- 
ten, waren  nicht  weniger  als  16  solcher  Abteilungen  eingerichtet  worden. 
Von  der  neueren  Geschichte  waren  Kolonialgeschichte  sowie  See-  und 
Kriegsgeschichte  abgetrennt  worden.  Die  kulturgeschichtliche  Sektion 
bestand  aus  vier  Unterabteilungen,  in  denen  Philosophie,  Sprache 
und  Literatur,  Kunstgeschichte  nebst  Architektur  und  Musik,  die 
exakten  Wissenschaften  und  die  Medizin  (von  ihrer  historischen  Seite 
betrachtet),  Soziales  und  Erziehungswesen  vertreten  waren.  Die  in 
der  neugeschichtlichen  und  der  rechtshistorischen  Sektion  gehaltenen 
Vorträge  werden  als  Sitzungsberichte  erscheinen. 

Von  den  Vorträgen  mögen  zunächst  wenigstens  die  in  den  all- 
gemeinen Sitzungen  gehaltenen  rasch  erwähnt  werden.  Die  Reihe 
derselben  wurde  eröffnet  durch  B  e  r  n  h  e  i  m  (Die  historische  Inter- 
pretation aus  den  Zeitanschauungen).  P  i  r  e  n  n  e  sprach  über  die 
sozialgeschichtlichen  Phasen  des  Kapitalismus  vom  12.  bis  zum  19.  Jahr- 
hundert, G  i  e  r  k  e  „Zur  Geschichte  des  Majoritätsprinzips".  W  h  i  t  - 
well  begründete  mit  wenigen  Worten  den  Vorschlag,  ein  neues  Wör- 
terbuch der  mittelalterlichen  Latinität  in  Angriff  zu  nehmen.  In  der 
zweiten  allgemeinen  Sitzung  gab  Eduard  Meyer  (Alte  Geschichte 
und  historische  Forschung  während  des  letzten  Menschenalters)  einen 
Überblick  über  die  wunderbaren  Fortschritte,  die  das  Studium  der 
klassischen  und  orientalischen  Nationen  in  den  letzten  Jahrzehnten 
gemacht  hat.  Lappo-Danilewski  behandelte  die  Entwick- 
lung des  Staatsgedankens  in  Rußland  von  der  Zeit  der  Unruhen  des 
17.  bis  zu  den  Reformen  des  18.  Jahrhunderts.  Lamprecht  sprach 
über  „Jüngste  geistige  Strömungen  in  Deutschland",  und  endlich 
versuchte  J  o  r  g  a  (Bukarest)  eine  neue  Auffassung  der  mittelalter- 
lichen Geschichte  zu  begründen. 

Aus  der  Zahl  der  in  der  Sektion  für  mittelalterliche^)  Geschichte 
gehaltenen  Vorträge  nennen  wir  von  solchen,  die  rein  politische  Stoffe 
behandelten:  A.  Cartellieri,  Philipp  August  und  der  Zusammen- 
bruch des  angevinischen  Reiches;  J.  E.  Lloyd,  Der  Einfluß  von 
Wales  auf  die  englische  Politik  von  1066 — 1282.  Die  erörterten  ver- 
fassungsgeschichtlichen  Probleme  (F.    Liebermann,   Die   Volks- 


1)  Hier  folge  ich  den  mir  gütigst  zur  Verfügung  gestellten  Mit- 
teilungen des  Herrn  Professor  Bloch  (Rostock). 


Vermischtes.  467 

Versammlung  bei  den  Angelsachsen;  Haskins,  Die  Verwaltung 
der  Normandie  unter  Heinrich  II.;  Goddard  H.  Orpen,  Der  Ein- 
fluß der  normannischen  Eroberung  auf  Irland  von  1169 — 1333)  regten 
ebenso  zu  universalgeschichtlicher  Vergleichung  an  wie  die  Vorträge 
über  das  Städtewesen  von  J.  H.  Round,  der  die  Theorie  von  dem 
Einfluß  der  Garnison  auf  die  Ausbildung  des  städtischen  mittel- 
alterlichen Rechts  zurückwies,  Ch.  B  6  m  o  n  t  (Die  städtische  Ent- 
wickelung  in  Guyenne),  H.  P  i  r  e  n  n  e  (Der  Handel  und  die  Stadt- 
wirtschaft vom  11.  bis  zum  13.  Jahrhundert  —  eine  Weiterführung 
seines  in  der  allgemeinen  Sitzung  gehaltenen  geistreichen  Vortrages). 
Zu  geistesgeschichtlicher  Betrachtung  leiteten  hinüber  die  Vorträge 
von  N.  Boubnov  („Die  Legende  vom  Papst  Silvester  II.", 
quellenkritisch  beleuchtet,  ausmündend  in  eine  Geschichte  der 
Wissenschaft  im  10.  Jahrhundert),  H.  B  1  o  c  h  (Kaisertum  und  Papst- 
tum im  13.  Jahrhundert)  und  R.  Volpe  (Die  Kirche  in  den  lom- 
bardischen Städten  des  13.  Jahrhunderts);  tief  in  dieses  Gebiet  hinein 
führten  G.  G.  C  o  u  1 1  o  n  (Die  Klosterschulen  des  Mittelalters)  sowie 
die  gehaltvollen  Darlegungen  von  R.  Davidsohn  (Die  Frühzeit 
der  Florentiner   Kultur)  und   F.    Kern  (Dantes   Gesellschaftslehre). 

Von  neugeschichtlichen  Vorträgen,  die  innerhalb  und  außerhalb 
der  Sektion  gehalten  wurden,  seien  noch  erwähnt  die  rein  politischen 
Themata:  A.  Stille  (Karl  XII.  und  seine  Beziehungen  zu  West- 
europa), P.  J.  B  I  0  k  („England  und  Holland  1800—1813",  behandelt 
den  Gedanken  der  englischen  Regierung,  aus  dem  mit  Belgien  vereinigten 
Holland  eine  starke  Grenzwacht  gegen  Frankreich  zu  schaffen),  Holland 
Rose  (Napoleons  Pläne  für  den  Herbstfeldzug  von  1813),  C.  K. 
Webster  (Die  britische  Politik  und  das  Kongreßsystem  1815—1822), 
Schiemann  (England  und  Rußland  1853 — 1854)  und  J  a  m  e  s  o  n 
(Die  territoriale  Entwicklung  der  Vereinigten  Staaten).  Vornehmlich 
verfassungsgeschichtliche  Fragen  behandelten  die  Vorträge  von  W. 
Michael  (Robert  Walpole  und  das  Aufkommen  der  Parteiregierung 
in  England),  H.  M  a  r  c  z  a  I  i  (Graf  Szechenyi  und  England),  J.  Red- 
lich (österreichische  Verwaltungsmethoden)  und  R.  H  ü  b  n  e  r  („Ein 
Verfassungsentwurf  im  Frankfurter  Parlament",  gab  Mitteilungen  aus 
dem  Nachlaß  Droysens  über  die  Verhandlungen  der  17  Vertrauens- 
männer). Kolonialgeschichtlich  interessant  waren  die  Vorträge  von 
H.  W.  V.  T  e  m  p  e  r  I  e  y  (Probleme  der  britischen  Kolonialpolitik 
im  18.  Jahrhundert)  und  C.  P.  L  u  c  a  s  (Historische  Probleme  in  West- 
indien). Die  kirchengeschichtliche  Seite  der  englischen  Revolution  be- 
handelte A.  O.  Meyer  („Karl  I.  und  Rom",  erscheint  in  der 
American  hist.  Review). 

Wenn  wir  sodann,  ohne  lange  abzuwägen,  aus  den  übrigen  Sek- 
tionen noch  einige  Vorträge  hervorheben  dürfen,  so  seien  es  diejenigen 


468  Notizen  und  Nachrichten. 

von  Ed.  Meyer  (Darstellung  fremder  Volksstämme  auf  ägyptischen 
Denkmälern),  v.  Wilamowitz-Möllendorf  (Die  Athena  von 
llion),  O.  S  e  e  c  k  (Der  letzte  Waffengang  des  römischen  Heidentums), 
O.  L  e  n  e  1  (Zur  Entwicklungsgeschichte  des  römischen  Testaments), 
A.  D  0  p  s  c  h  (Die  Geldwirtschaft  der  Karolingerzeit),  D.  Schäfer 
(Die  Sundzölle  als  eine  Quelle  der  internationalen  Geschichte),  K. 
Lamprecht  (Die  Organisation  des  höheren  historischen  Studiums), 

F.  Keutgen  (Ziel  und  Zweck   des  Kolonialinstituts   in  Hamburg), 

G.  P.  G  0  0  c  h  (Der  Lehrstuhl  der  neueren  Geschichte  an  der  Uni- 
versität Cambridge). 

Natürlich  ist  aber  mit  der  Aufzählung  der  Vorträge,  von  denen 
doch  niemand  mehr  als  ein  bescheidenes  Maß  genießen  konnte,  nur 
ein  Teil  der  Anregungen  genannt,  die  der  Kongreß  den  Besuchern 
bot.  Höchst  erfreulich  gestaltete  sich  der  persönliche  Verkehr  mit 
den  Fachgenossen,  mit  denen  man  bei  so  vielen  geselligen  Veranstal- 
tungen zwanglos  verkehrte.  Der  in  den  Tischreden  oft  anklingende 
Gedanke  der  einigenden  Kraft  der  Wissenschaft  beherrschte  die  all- 
gemeine Stimmung.  Auch  die  oft  gerühmte  englische  Gastfreundschaft 
zeigte  sich  in  schönstem  Lichte.  Der  König,  durch  Trauer  verhindert, 
die  fremden  Gäste  persönlich  zu  empfangen,  ließ  sie  in  seinem  Namen 
im  Schlosse  zu  Windsor  begrüßen.  Die  Regierung  gab  ein  glänzendes 
Mahl  im  Hotel  Cecil.  Lord  M  o  r  1  e  y  insbesondere,  auch  durch  wissen- 
schaftliche Interessen  der  Welt  der  Historiker  nahestehend,  begrüßte 
einen  Kreis  auswärtiger  Gäste  in  Oxford.  Die  Führungen  durch  das 
Parlament,  das  Record  Office,  durch  die  Sammlungen  waren  von  hohem 
Interesse.  Auch  eine  Reihe  von  Privatpalästen,  wie  Lansdowne  House 
und  Bridgewater  House,  wurden  freundlich  geöffnet,  um  den  gelehrten 
Besuchern  des  Kongresses  ihre  sonst  so  ängstlich  gehüteten  Schätze 
zu  offenbaren.  Die  Klubs  und  die  Häuser  der  englischen  Fachgenossen 
taten  sich  gastlich  auf.  Und  endlich  war  nach  dem  Schlüsse  des  Kon- 
gresses je  eine  Anzahl  der  auswärtigen  Teilnehmer  nach  Oxford  und 
Cambridge  geladen  worden.  In  den  alten  gotischen  Hallen  der  Colleges, 
in  denen  sonst  die  „Undergraduates"  zu  tafeln  pflegen,  wurden  nun 
die  aus  aller  Welt  herbeigeströmten  Geschichtsbeflissenen  gastlich 
empfangen.  So  wohl  gefiel  es  den  Fremden  in  dieser  klassischen  Um- 
gebung, daß  manche  schon,  undankbar  scherzend,  die  Frage  aufwarfen, 
warum  man  nicht  lieber  den  Kongreß  an  eine  dieser  ehrwürdigen 
Stätten  der  Wissenschaft  verlegt  habe,  als  in  den  Trubel  der  Weltstadt. 
Der  nächste  Kongreß  soll  in  Petersburg  tagen,  und  die  in  London 
anwesenden  russischen  Fachgenossen  taten  das  Ihrige,  um  mit  dem 
Hinweis  auf  jegliches  Entgegenkommen  der  russischen  Regierung  den 
westeuropäischen  Historikern  den  Entschluß  zur  weiten  Reise  in  das 
Zarenreich  zu  erleichtern.  V^.  Michael. 


\ 


Vermisohtes.  469 

Die  13.  Tagung  desVerbandesdeutscherHistoriker 
wird  vom  16.  bis  20.  September  1913  zu  Wien  stattfinden.  Vorträge 
hat)en  angemeldet:  A.  Bauer-  Graz,  M.  Dreger-  Wien,  A.  C  a  r  - 
t  e  II  i  e  r  i  -  Jena,  H.  Friedjung-  Wien,  J.  Hansen-  Köln,  H. 
Hirsch-  Wien,  F.  Kern-  Kiel,  J.  L  u  1  v  6  s  -  Hannover,  H. 
Schlitter-  Wien,  H.  Steinacker-  Innsbruck,  J.  Uebers- 
b  e  r  g  e  r  -  Wien.  Gleichzeitig  tagt  die  Konferenz  landes- 
geschichtlicher Publikationsinstitute,  deren  erste 
Sitzung  für  den  17.  September  bestimmt  ist.  Das  endgiltige  Programm 
wird  zu  Anfang  Juli  ausgegeben  werden. 

Aus  dem  Jahresbericht  über  die  Herausgabe  der  Monument  a 
Germaniae  historica  erwähnen  wir,  daß  im  Berichtsjahre 
1912/13  erschienen  sind:  Teil  3  des  32.  Bandes  der  Scriptores;  in  der 
Reihe  der  Scriptores  rerum  Germanicarum  die  von  S  i  m  s  o  n  besorgte 
3.  Ausgabe  der  Gesta  Friderici  Ottos  von  Freising  und  Rahewins,  die 
Chronik  Ottos  von  S.  Biasien  (Hofmeister)  und  der  Liber  de 
coronatione  Karoli  IV.  des  Johannes  Porta  (Salomon);  Neues 
Archiv  37,  3  und  38,  1.  —  Der  6.  Band  der  Scriptores  rerum  Mero- 
vingicarum  (Krusch  und  Levison)  ist  im  Drucke  fast  vollendet,  der 
Druck  des  7.  und  letzten  Bandes  soll  sich  sogleich  anschließen.  Für 
die  Abteilung  Scriptores  hat  ihr  neuer  Leiter  B  r  e  ß  1  a  u  einen  Arbeits- 
plan vorgelegt.  Eine  Nachlese  zu  den  Quellen  der  Zeit  der  sächsischen 
und  salischen  Kaiser  soll  die  2.  Hälfte  des  30.  (Schluß-)  Bandes  der 
Folioreihe  bringen,  der  Ligurinus  und  andere  Werke  der  staufischen 
Zeit  werden  den  33.  Band  (Quartreihe)  füllen.  Sehr  erfreulich  ist  es, 
daß  zunächst  vor  allem  eine  Anzahl  wichtiger  Chroniken  der  deutschen 
Geschichte  des  14.  Jahrhunderts  in  der  Reihe  der  Scriptores  rerum 
Germanicarum  erscheinen  sollen,  und  ein  alter  Wunsch  vieler  Fach- 
genossen, der  auch  in  dieser  Zeitschrift  schon  wiederholt  ausgesprochen 
worden  ist,  geht  damit  in  Erfüllung,  daß  auf  Breßlaus  Antrag  beschlossen 
wurde,  die  Einleitungen  zu  den  Bänden  der  Scriptores  rerum  Germani- 
carum fortan  in  deutscher  Sprache  abfassen  zu  lassen;  doch  hat  man 
die  dem  Bereiche  der  Auetores  antiquissimi  und  (leider)  auch  die  der 
Scriptores  rerum  Merovingicarum  zugehörigen  Schriftsteller  ausge- 
nommen. In  der  Abteilung  Constitutiones  et  acta  publica  ist  das  Namen- 
register des  5.  Bandes  (S  c  h  w  a  1  m)  gedruckt,  das  Sach-  und  Wort- 
register (Salomon)  nahezu  druckfertig;  der  Druck  des  8.  Bandes 
mußte  unterbrochen  werden,  doch  ist  bereits  das  Namenregister  dieses 
Bandes  durch  Salomon,  das  Sachregister  durch  den  neuen  Mit- 
arbeiter Dr.  S  t  ä  b  I  e  r  für  den  Druck  vorbereitet.  Für  die  Trac- 
tatus  selecti  de  iure  imperii  saec.  XIII.  et  XIV.  hat  an  Ottos  Stelle 
R.  Scholz  den  Marsilius  von  Padua  übernommen.    In  der  Abteilung 


470  Notizen  und  Nachrichten. 

Diplomata  saec.  XI  soll  der  Band,  der  die  Urkunden  Heinrichs  III. 
enthält  (B  r  e  ß  1  a  u  und  W  i  b  e  1)  im  nächsten  Jahre  unter  die  Presse 
kommen.  Für  die  Abteilung  Epistolae  ist  zunächst  das  Registrum 
Gregors  VII.  und  das  Registrum  super  negotio  imperii  Innocenz  III. 
in  Aussicht  genommen. 

Über  die  54.  Plenarversammlung  der  Historischen  Kom- 
missionbei  der  K.  Bayer.  Akademie  der  Wissen- 
schaften entnehmen  wir  dem  Berichte  des  Sekretariats  folgendes: 
Seit  der  letzten  Plenarversammlung  sind  erschienen:  Allgemeine 
Deutsche  Biographie,  Registerband,  bearbeitet  von  G  e  r  1  i  c  h  in 
München,  mit  Nachwort  von  Alfred  Dove,  56.  und  Schluß- 
band des  Werkes;  Geschichte  der  Wissenschaften:  Gerland, 
Geschichte  der  Physik,  erster  Teil;  Briefe  und  Akten  zur  Geschichte 
des  16,  Jahrhunderts,  6.  Bd.,  Beiträge  zur  Geschichte  Herzog  Al- 
brechts V.  und  der  sog.  Adelsverschwörung  von  1563,  bearbeitet  von 
Walter  Goetz  und  L,  Theobald;  ein  anastatischer  Neudruck 
von  Schmellers  Bayerischem  Wörterbuch.  —  Im  Drucke  befinden 
sich:  Quellen  und  Erörterungen,  N.  F.,  Abt.  Chroniken,  3.  Bd.:  Die 
Werke  Veit  Arnpecks,  herausgegeben  von  L  e  i  d  i  n  g  e  r;  Deutsche 
Reichstagsakten,  13.  Bd.,  2.  Hälfte,  bearbeitet  von  Beckmann; 
Deutsche  Reichstagsakten,  15.  Bd.,  2.  Hälfte,  bearbeitet  von  Herre; 
der  dritte  Band  der  mit  Unterstützung  der  Kommission  von  H  a  r  t  - 
mann  herausgegebenen  Historischen  Volkslieder  und  Zeitgedichte. 
—  Mit  der  Herausgabe  der  Celtisbriefe  wird  Prof.  Joachimsen, 
mit  Herausgabe  der  Traditionen  des  Hochstiftes  Regensburg  und 
des  Klosters  St.  Emmeram  Dr.  Joseph  Widemann  in  München 
betraut. —  Für  die  Supplemente  der  älterenReihederReichs- 
tagsakten  war  nach  Bericht  des  Leiters,  Prof.  Q  u  i  d  d  e  in  Mün- 
chen, Dr.  Baucknerin  München  tätig,  der  sich  auch  mit  den  Kor- 
rekturen der  laufenden  Bände  und  mit  Durcharbeitung  der  Bände  1 
und  2  nach  dem  Weizsäckerschen  Handexemplare  beschäftigte,  (Es 
wäre,  wie  wir  meinen,  sehr  erfreulich,  wenn  diese  vielberufenen 
Supplemente  endlich  in  das  Licht  der  Öffentlichkeit  treten  wollten.)  — 
Für  den  2.  Band  der  von  Goetz  geleiteten  Abteilung:  Briefe 
und  Akten  zur  Geschichte  der  Dreißigjährigen 
Kriegs  in  den  Zeiten  des  vorwaltenden  Einflusses  der  Witteis- 
bacher N.  F.  2,  Abteilung  (1625  und  folgende  Jahre)  wird  Goetz 
IV2  Jahre,  Dr,  Endres  das  weitere  bearbeiten.  K.  Mayr  wird 
im  September  mit  dem  Drucke  des  ersten  Bandes  der  Neuen  Folge, 
1.  Abteilung  (1618 — 1619)  beginnen  können.  —  Für  die  p  u  b  1  i  z  i  s  t  i  - 
sehen  Schriften  zur  Reichsgeschichte  wird  der 
Traktat  de  regia  ac  papaii  potestate  von  Ludovico  de  Strassoldo  (1413) 


Vermischtes.  471 

durch  Dr.  H  ö  s  1  in  München,  der  Traktat  de  potestate  paparum  et 
imperatorum  von  Piero  del  Monte  (1433)  durch  Dr.  Zellfelder 
in  Erlangen,  der  Traktat  Monarchia  von  Antonio  de  Roselli  durch  den 
Leiter  des  Unternehmens,  Beckmann,  bearbeitet.  Von  den  Re- 
formtraktaten ist  das  Avisamentum  pro  reformatione  imperii  von  Z  e  1 1  - 
f  e  1  d  e  r  fertiggestellt,  der  Traktat  des  Heinrich  Toke  über  die  Reform 
der  Kirche  und  des  Reiches  (1430)  wird  von  Beckmann  kommen- 
tiert, der  Vorschlag  des  Bischofs  Schele  (1434)  ist  von  H  a  1 1  e  r  druck- 
fertig gemacht,  der  weitere  Traktat  von  1442  über  Reichs-  und  Kirchen- 
reform gleichfalls  bereits  erledigt.  Wegen  Übernahme  der  Reformation 
K.  Sigmunds  schweben  Verhandlungen.  —  Die  Beschlußfassung  über 
das  im  vorigen  Jahre  ins  Auge  gefaßte,  unter  Leitung  Beckmanns 
auszuführende  Porträtwerk  zur  deutschen  Geschichte 
im  Mittelalter  wurde  ausgesetzt.  —  Auf  Antrag  v.  B  e  1  o  w  s 
erklärte  sich  die  Kommission  grundsätzlich  mit  zwei  neuen,  wirtschafts- 
geschichtlichen Publikationen  einverstanden:  1.  einer  Edition  der  süd- 
deutschen Handlungsbücher  aus  dem  ausgehenden  Mittel- 
alter und  dem  16.  Jahrhundert;  2.  einer  Edition  der  mittelalterlichen 
deutschen  Zolltarife.  Strieder  in  Leipzig  wird  unter  Leitung 
V.  B  e  1  o  w  s  ein  Verzeichnis  der  süddeutschen  Handlungsbücher  ab- 
fassen und  der  nächsten  Plenarversammlung  vorlegen.  —  Wir  be- 
merken schließlich  noch,  daß  die  bisherigen  außerordentlichen  Mit- 
glieder der  Kommission,  E.  Brandenburg  und  Walter  G  o  e  t  z , 
zu  ordentlichen  Mitgliedern  ernannt  worden  sind. 

Aus  dem  Jahresbericht  der  R.  Deputazione  Toscana  di  storia 
patria  für  1912  (Archivio  storico  Italiano  ser.  V,  t.  50)  erwähnen  wir, 
daß  der  Codice  diplomatico  aretino  im  Drucke  bis  zum  47.  Bogen  fort- 
geschritten ist,  und  daß  nach  dem  Vorschlage  Del  Vecchios  künftig 
zum  Archivio  storico  Italiano  Ergänzungsbände  erscheinen  sollen,  die 
Monographien  zur  Geschichte  Toskanas  und  insbesondere  zur  floren- 
tinischen  Geschichte  bringen  werden. 

Der  oben  S.  252  erwähnte  Nachruf  K.  W  e  n  c  k  s  auf  Varren- 
trapp  ist  im  2.  Hefte  des  16.  Jahrgangs  der  Historischen  Vierteljahr- 
schrift erschienen. 


472 


Notizen  und  Nachrichten. 


Berichtigung. 

A.  Wahl  hat  meine  Arbeit  über  die  Erklärung  der  Menschen" 
und  Bürgerrechte  von  1789  in  dieser  Zeitschrift  110,  S.  592  ff.  einer 
Kritik  unterzogen,  die  mich  zu  folgender  Berichtigung  nötigt.  Wahl 
stellt  den  Satz:  „Da  hatte  es  derZufall  gewollt,  daß  . .  . 
(Lafayette)  die  erste  Erklärung  der  M.  R.  im  amerikanischen  Sinne 
einreichte,"  als  einen  Verlegenheitssatz  hin,  der  so  recht  beweise, 
daß  ich  eine  verlorene  Stellung  zu  verteidigen  suche.  Meine  Darstel- 
lung wird  für  den  Leser  in  ein  falsches  Licht  gerückt,  wenn  Wahl  die 
wesentliche  Tatsache  unerwähnt  läßt,  daß  bereits  einen  Monat  vor 
Lafayette  Deputierte  Vorschläge  zur  Deklaration  einbringen  wollten 
und  nur  durch  Hereinziehen  anderer  Gegenstände  in  die  Debatte 
daran  verhindert  wurden.  Weiterhin  findet  Wahl  es  „förmlich  wunder- 
lich", daß  ich  auf  den  äußerst  lehrreichen,  systematischen  Vergleich 
der  fertigen  Urkunde  mit  den  E.  d.  M.  der  amerikanischen  Einzel- 
staaten verzichtet  habe.  Meine  Konkordanz  der  fertigen  französischen 
Erklärung  mit  den  amerikanischen  (S.  224 — 229),  die,  wie  ich  glaube, 
der  Jellinekschen  an  Reichhaltigkeit  nicht  nachsteht,  scheint  Wahl 
entgangen  zu  sein.  W.  Rees. 


Erwiderung. 


Zum  ersten  Punkt  der  obigen  „Berichtigung"  habe  ich  meiner 
Besprechung  nichts  hinzuzufügen.  Zum  zweiten  bemerke  ich,  daß  Rees 
auf  S.  224 — 229  —  wo  nicht  einmal  ein  einziger  französischer  Artikel, 
geschweige  denn  alle!,  in  seinem  vollen  Wortlaut  mit  dem  entsprechen- 
den amerikanischen  Material  in  Parallele  gesetzt  wird,  wo  also  sogar 
die  Grundlage  einer  fruchtbaren  Vergleichung  fehlt  —  den  erwünsch- 
ten „systematischen  Vergleich"  eben  nicht  bietet.  Wahl. 


f/i 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus* 


Von 

Walther  Judeich. 


Für  die  Geschichte  der  Gracchen  ist  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten viel  geschehen.  Die  Überlieferung,  der  Verlauf, 
<jer  Geist  der  gracchischen  Reform  sind  in  wesentlichen 
Punkten  geklärt.  Aber  das  große  Problem  in  seiner  ein- 
schneidenden weitreichenden  Bedeutung,  die  beiden  großen 
Männer,  haben  ihre  Anziehungskraft  darum  nicht  verloren. 
Und  von  dem  feineren  psychologischen  Verständnis  ganz 
abgesehen,  bleibt  auch  rein  tatsächlich  noch  vieles  ungewiß 
und  doch  wissenswert,  namentlich  für  Gaius  Gracchus, 
dessen  längere  und  umfassendere  Tätigkeit  im  Verhältnis 
nicht  so  gut  überliefert  ist  als  die  des  Tiberius. 

Auch  die  Modernen  haben  Tiberius  Gracchus  im  ganzen 
vor  Gaius  bevorzugt;  noch  jüngst  hat  Robert  Pöhlmann 
rseine  Persönlichkeit  mit  feinsinnigem  Verständnis  gewürdigt 
<S.-B.  Akademie  d.  W.  München  1907,  443  ff .  =  Aus  Alter- 
tum und  Gegenwart,  N.  F.  1911,  118  ff.).  Mit  Gaius  befaßte 
sich  nach  Callegaris  bravem,  aber  nicht  tief  genug  gehendem 
und  zu  stark  reflektierendem  Buche  zuletzt  E.  Kornemann^) 


*)  Ettore  Callegari,  La  legislazione  sociale  di  Cajo  Gracco  Padova 
1896;  Kornemann,  Klio,  1.  Beiheft,  1903,  Zur  Geschichte  der  Gracchen- 
zeit.  Vgl.  besonders  S.  42  ff.  S.  außerdem  W.  Warde  Fowler,  Notes 
on  Gaius  Gracchus,  Engiish  historical  Review  XX,  1905,  209  ff.  und 
K.  Prodinger,  Das  Tribunat  des  C.  Gracchus,  Progr.  Gottschee  1908. 
A.  H.  J.  Greenidge,  A  history  of  Rome  133—104,  London  1906,  bringt 
Jiur  eine  allgemeine  Würdigung.  Die  Arbeit  von  E.  Felsberg,  Die 
Historische  Zeitschrift  (111.  BdJ  3.  Folge  15.  Bd.  31 


474  Walther  Judeich, 

und  im  Anschluß  an  ihn  W.  Warde  Fowler.  Kornemann' 
hat  durchaus  richtig  erkannt,  daß  neben  der  Quellenfrage 
ein  wirkliches  Verständnis  von  C.  Gracchus'  Gesetzgebung 
nur  möglich  wird  durch  die  richtige  zeitliche  Verteilung 
der  einzelnen  Gesetze  zunächst  auf  Gaius'  zwei  Tribunate, 
und  nach  dieser  Richtung  hin  die  ganze  Frage  gefördert. 
Mit  Recht  hat  er  darauf  hingewiesen,  daß  innerhalb  des 
zweiten  Tribunates  nur  ganz  wenig  Raum  bleibt  für  eine 
gesetzgeberische  Tätigkeit,  weil  Gaius  als  Kolonialtriumvir 
für  Carthago-Iunonia  70  Tage  von  Rom  abwesend  war 
und  schon  geraume  Zeit  vor  den  Tribunenwahlen  im  Hoch- 
sommer 122  zurückkehrte  (Plut.  C.  Gr.  11,  2.  12).  Nach 
seiner  Heimkehr  war  er  nicht  mehr  imstande,  den  während 
seiner  Abwesenheit  erschütterten  Einfluß  auf  das  Volk 
zurückzugewinnen.  Im  zweiten  Tribunat  setzt  auch  bereits 
die  Reaktion  der  Optimatenpartei  ein.  Der  Schwerpunkt 
von  C.  Gracchus'  Gesetzgebung  muß  danach  im  ersten  Tri- 
bunat liegen. 

Dieses  Ergebnis  bietet  uns  eine  wichtige  Handhabe  zur 
Beurteilung  der  Überlieferung,  die  eben  Gaius'  Tätigkeit 
verschieden  verteilt. 

Wie  Kornemann  a.  a.  0.  42,  K.  W.  Nitzschs  Anregungen 
folgend,  bereits  bemerkt  hat,  stehen  sich  hier  Appian  auf 
der  einen  und  Plutarch  mit  der  livianischen  Tradition  und 
Velleius  auf  der  anderen  Seite  gegenüber.  Appian  verlegt 
die  wichtigsten  Gesetze  in  das  zweite  Tribunat,  die  andere 
Gruppe  in  das  erste;  sie  muß  also  hier  vorgezogen  werden.^)» 

Brüder  Gracchus,  Gel.  Abhandlungen  der  Univ.  Jurjew,  Dorpat  1910 
(russisch)  kann  ich  ihrer  Sprache  wegen  nicht  selbständig  beurteilen.. 
1)  Die  überaus  schwierige  Frage  des  Verhältnisses  der  einzelnen 
Berichte  über  die  gracchische  Bewegung  und  ihrer  Ursprünge  soll  hier 
nicht  aufgerollt,  sondern  nur  eben  gestreift  werden.  E.  Meyers  ein- 
dringende „Untersuchungen  zur  Geschichte  der  Gracchen"  in  der 
Festschrift  z.  zweihundertjährigen  Jubiläum  von  Halle-Wittenberg 
1894  haben  für  die  Quellenverhältnisse  neuen  Grund  gelegt,  werden 
aber  im  einzelnen  zu  ergänzen  und  zu  verändern  sein.  Bereits  E. 
Schwartz,  G.  G.  A.  1896,  792  ff.  ist  mit  Erfolg  in  dieser  Richtung 
vorgegangen,  aber  seinen  Versuch,  der  ganzen  Überlieferung  den 
historischen  Boden  zu  entziehen,  halte  ich  nicht  für  geglückt;  Poehl- 
mann  a.  a.  O.  hat  ihn  mit  guten  Gründen  bekämpft.  Auf  der  anderen 
Seite  scheint  mir  auch  die  bestimmte  Vermutung  Kornemanns  a.  a.  O.^ 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus.  475 

Aber  um  zu  einer  wirklichen  Vorstellung  von  C.  Gracchus' 
Reformplan  zu  gelangen,  ist  es  nötig,  innerhalb  der  zweiten 
Gruppe  Reihenfolge  und  Inhalt  der  einzelnen  Gesetze  zu 
prüfen. 

Im  ganzen  kennen  wir,  wie  die  nachfolgende  Zusammen- 
stellung lehrt,  annähernd  17  Anträge;  eine  genaue  Angabe 
ist  von  vornherein  deshalb  unmöglich,  weil  sich  nicht  un- 
mittelbar entscheiden  läßt,  ob  einzelne  Gesetze  mehrmals 
eingebracht  sind  und  scheinbar  verschiedene  Anträge  zu- 
sammenfallen.i) 

1.  Gesetz:  ne  de  capite  dvis  Romani  iniussu  populi  iu- 
dicaretur  etc.  (unten  S.  480  f.). 

2.  Antrag,  daß  der  durch  Volksbeschluß  seines  Amtes 
Entsetzte  von  der  Bekleidung  anderer  Ämter  ausgeschlossen 
sei;  zurückgezogen  (S.  481). 

3. — 7.  Lex  agraria,  lex  militaris,  lex  de  iooipr](fia  so- 
ciorum,  lex  frumentaria,  lex  iudiciaria  (S.  480  ff.,  491  ff.). 

8.  Lex  de  provincia  Asia  a  censoribus  locanda  (S.  482  f.). 

9.  Gesetz  über  neue  Zölle  (S.  483,  1). 

10. — 12.  Lex  de  horreis,  lex  de  coloniis  deducendis,  lex 
Viaria  (S.  483). 

13.  Lex  de  provinciis  consularibus  (S.  484). 

14.  15.  Antrag  auf  Entsendung  von  Bürgerkolonien 
nach  Kapua  und  Tarent;  Antrag  auf  Bürgerrechtsverleihung 
an  die  Latiner  (S.  485). 

16.  Antrag  auf  Bürgerrechtsverleihung  an  alle  Bundes- 
genossen (S.  488). 

17.  Antrag  auf  Abänderung  der  Stimmordnung  in  den 
Zenturiatkomitien  (S.  489). 


die  livianische  Tradition  auf  C.  Fannius'  Annalen  zurückzuführen,  zu 
kühn;  sie  hält  einer  näheren  Prüfung  nicht  stand.  Meyer  kann  ich 
u.  a.  nicht  beistimmen  in  seiner  Leugnung  der  Möglichkeit  irgend- 
welcher poseidonischer  Einflüsse  bei  Appian  (S.  83,  2).  Andeutungen 
über  eine  besondere  Gruppierung  der  Quellen  bietet  auch  Cichorius 
bei  E.  Drzezga,  Die  röm.  Bundesgenossenpolitik  von  den  Gracchen 
bis  zum  Ausbruch  des  Bundesgenossenkrieges,  Diss.  Breslau  1907,  8  f. 
*)  Eine  Übersicht  über  die  Hauptgesetze  nach  den  verschiedenen 
Überlieferungen  hat  bereits  Nitzsch,  Gracchen  444,  gegeben.  Vgl. 
Lange,  Röm.  Alterth.  II  1,30 ff.,  Callegari  a.  a.  0. 52  ff.,  72  ff.  Doch  fehlt 
eine  vollständige  Zusammenstellung. 

31* 


476  Walther  Judeich, 

Immerhin  muß  zwischen  einer  Anzahl  dieser  Gesetze 
ein  engerer  Zusammenhang  bestanden  haben,  denn  es  werden 
uns  Bruchstücke  ganz  verschiedenen  Inhalts  einer  später 
veröffentlichten  Rede,  die  er  über  die  „beantragten  Gesetze" 
gehalten  hat,  überliefert.  Er  hat  also  allem  Anschein  nach 
mehrere  Bestimmungen  zu  einem  Gesetzesstrauß  vereinigt 
und  die  Abstimmung  en  bloc  beantragt. i) 

Wann  tat  er  das,  und  welche  Gesetze  gehörten  zu  dem 
Strauße?  Man  hat  diese  Frage  bisher  verschieden  beant- 
wortet. Die  Mehrheit  der  Forscher  neigt  zu  der  Ansicht, 
daß  die  oratio  de  legibus  promulgatis  in  Gracchus'  zweites 
Tribunat  gehöre  und  bringt  sie  unmittelbar  oder  still- 
schweigend in  Verbindung  mit  Plutarchs  Angabe  (C.  Gr. 
12,  1),  Gracchus  habe  nach  seiner  Rückkehr  aus  Afrika 
im  Jahre  122  „die  übrigen  Gesetze  vorgelegt,  um  sie  zur 
Abstimmung  bringen  zu  lassen".  Eine  Minderheit  verlegt 
sie  ohne  weitere  Begründung  in  das  erste  Tribunat.^)    Und 


^)  Gell.  X  3,  2  legebamus  adeo  nuper  o  r  at  i  o  nem  Gracchi  d  e 
legibus  promulgatis,  vgl.  IX  14,  16  C.  Gracchus  de  le- 
gibus promulgatis,  Schol.  Bobiensia  z.  Cic.  pro  Sulla  26  (S.  14, 
15  Hildebrandt)  et  hie,  quantum  mea  opinio  est,  imitatus  est  C.  Gracchum  ; 
sie  enim  et  ille  de  legibus  promulgatis,  Festus  S.  201  M.  C. 
Gracchus  de  legibus  a  s e  promulgatis.  —  Wann  die  in  der 
älteren  republikanischen  Zeit  nicht  ungewöhnliche  Enbloc-Abstim- 
mung  (per  saturam)  über  verschiedene  Gesetze  abgeschafft  worden 
ist,  läßt  sich  nicht  sagen.  Die  erste  Spur  dafür  findet  sich  in  dem 
Repetundengesetz  des  Acilius  vom  J.  122  (§  72,  vgl.  Mommsen,  St.  R. 
III  336,  5  und  unten  S.  487).  So  besteht  nicht  der  geringste  Grund, 
die  Möglichkeit  für  C.  Gracchus'  Gesetzgebung  zu  leugnen.  Ja  viel- 
leicht hat  gerade  diese  Gesetzgebung  Veranlassung  zur  Abschaffung 
gegeben,  als  sich  122  die  Nobilität  zum  Gegenangriff  gegen  C.  Gracchus 
aufraffte,  und  auch  das  aus  Gracchus'  Kreise  stammende  acilische 
Gesetz  mußte  damit  rechnen.  Daß  in  dem  Exzerpt  Diodors  XXXIV,  27 
anscheinend  von  einer  besonderen  Abstimmung  über  das  Richtergesetz 
die  Rede  ist,  bildet  keinen  ernsthaften  Anstoß,  denn  dort  wird  nur 
ein  geflügeltes  Wort  des  Gracchus  (s.  unten  S.  482, 1)  willkürlich  und 
anekdotenhaft  von  dem  Exzerptor  eingekleidet.  Die  Enbloc-Abstim- 
mung  scheint  vielmehr  ein  einheitlicher  Zug  der  gracchischen  Politik 
gewesen  zu  sein.  Es  ist  wohl  kein  Zufall,  daß  wir  bei  C.  Gracchus  so  oft 
von  Gesetzantragsgruppen  und  seltener  von  einzelnen  Gesetzen  hören. 

2)  Für  122  vgl.  Nitzsch,  Gracchen  398 ff.;  C.  Neumann,  Gesch. 
Roms  während  des  Verfalles  d.  Republik  251  f. ;  Herzog,  Rom.  Staats- 
verf.  I464A.;  Callegari  a.  a.  O.  133f;  Kornemann  a.  a.  O.  50  f.    Für 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus.  477 

dahin  verweisen  sie  in  der  Tat  die  ziemlich  umfangreichen 
Fragmente. 

Schon  das  von  Meyer  mit  Recht  an  den  Anfang  gestellte 
deutet  auf  den  erst  in  sein  Amt  eintretenden  und  nicht 
auf  den  sich  zur  letzten  Entscheidung  rüstenden  Tribunen: 
„Wenn  ich  zu  Euch  hätte  sprechen  und  von  Euch  hätte 
fordern  wollen,  Ihr  möget  mir  gestatten,  in  Ruhe  zu  bleiben, 
da  ich  aus  vornehmstem  Geschlechte  stamme,  da  ich  meinen 
Bruder  um  Eueretwillen  verloren  habe,  da  ich  und  mein 
Knabe  die  einzigen  Überlebenden  seien  vom  Hause  des 
P.  Africanus  und  Tiberius  Gracchus,  auf  daß  unsere  Familie 
nicht  mit  der  Wurzel  ausgerottet  würde  —  ich  weiß  nicht, 
ob  ich  das  mit  Euerem  Willen  von  Euch  erreicht  hätte" 
(Schol.  Bob.  u.  0.). 

Ein  anderes  Bruchstück  läßt  sich  am  wahrscheinlich- 
sten auf  das  nach  allgemeiner  Überlieferung  ganz  in  die 
Anfänge  der  gracchischen  Reform  gehörende  Getreide- 
gesetz beziehen.  Gracchus  widerlegt  da  die  Auffassung, 
daß  er  nur  die  Ansprüche  der  niederen  Bevölkerung  steigern 
wolle:  „Man  sagt,  das  solle  des  Luxus  wegen  eingeführt 
werden."  ,,Das  ist  nicht  Luxus,  was  für  des  Lebens  Not- 
durft beschafft  wird."  Es  wäre  denkbar,  daß  damit  auch 
in  Zusammenhang  stünden  die  dunklen  Worte:  „Was  für 
uns  einzig  als  Schaustück  herangebracht  wird,  das  dient 
ihnen  gerade  zum  Gebrauch",  doch  bleibt  hier  die  Beziehung 
ganz  ungewiß.^) 


123  H.  Meyer,  Oratorum  Rom.  Fragm.S  1842,  234,  J.  Soergel  de 
Tiberio  et  Gaio  Gracchis  III,  Progr.  Erlangen  1866,  18  f.  und  Lange, 
Rom.  Altert.  IIP  34,  der  aber  unrichtig  von  einer  Sammlung  von 
Reden,  die  den  Titel  orationes  de  legibus  promulgaüs  geführt  habe, 
spricht;  die  Anführungen  erwähnen  immer  nur  die  eine  Rede. 

')  Gell.  IX  14,  16  ea  luxurii  causa  aiunt  institui.  et  ibidem  infra 
wriptum  est:  non  est  ea  luxuries,  quae  necessario  parentur  vitae  causa. 
Vgl.  Fest.,  S.  201  M.  ostentum,  quo  nunc  utimur  interdum  prodigit 
vice,  quin  participaliter  quoque  dici  solitum  sit,  non  dubium  facit  etiam 
C.  Gracchus  de  legibus  a  se  promulgatis,  quom  a\t :  quod  unum  nobis 
in  ostentum,  ipsis  in  usum  adportatur.  Meyer  238  faßt  die  Stelle  in 
anderem  Sinne,  er  denkt  an  einen  Gegensatz  zwischen  Plebejern  (d.  h. 
wohl  Volkspartei),  die  nur  den  Schaugenuß,  und  Patriziern  (d.  h. 
wohl  Senatspartei),  die  den  wirklichen  Nutzen  von  irgendeiner  Maß- 
regel hätten. 


478  Walther  Judeich, 

Der  bedeutendste  Rest  der  Rede  handelt  von  der  grau- 
samen Willkür  römischer  Beamten  gegenüber  angesehenen 
Männern  in  Teanum  Sidicinum,  Ferentinum,  Venusia  und 
von  der  Furcht  vor  solchen  Übergriffen  in  Cales  (Gell.*  X,  3). 
Die  hier  erwähnten  Städte  besaßen  in  gracchischer  Zeit 
sämtlich  latinisches  Recht,  und  gerade  das  hat  wohl  den 
Hauptgrund  abgegeben,  Gracchus'  große  Programmrede 
in  das  zweite  Tribunat  zu  verlegen,  in  dem  er  sich  nachweis- 
lich gerade  mit  den  Latinern  und  deren  Stellung  zur  römischen 
Bürgerschaft  befaßt  hat  (s.  unt.),  aber  zwingend  ist  dieser 
Grund  in  keiner  Weise.  Im  Gegenteil,  Kornemanns  zunächst 
bestechende  Auffassung,  daß  das  zu  Gracchus'  Anträgen 
aus  dem  Anfang  des  Jahres  122  gehörende  Gesetz  über 
Verleihung  des  Bürgerrechts  an  die  Latiner  (Plut.  C.  Gr. 
8,  3;  App.  b.  c.  1,  23)  nur  auf  Gleichstellung  im  Stimmrecht 
{iooipr](pia)  zu  deuten  sei,  erweist  sich  bei  genauerem  Zu- 
sehen als  nicht  stichhaltig.  Durchaus  richtig  scheidet  Korne- 
mann  45  im  Gegensatz  zu  der  herrschenden  Ansicht  ein 
Latinergesetz  und  ein  Bundesgenossengesetz  bzw.  mehrere 
Bundesgenossengesetze  des  C.  Gracchus  (s.  unten)  und 
meint,  daß  nur  dem  Latinergesetz  der  Konkurrenzantrag 
des  senatsfreundlichen  Tribunen  des  Jahres  122,  Livius 
Drusus,  die  Latiner  im  Felde  vor  der  Prügelstrafe  zu  schützen, 
gegenübergestellt  werden  könne,  aber  der  von  Kornemann 
angenommene  Inhalt  des  gracchischen  Gesetzes,  wie  die 
Wertung  und  die  Zeitfolge,  beruhen  nur  auf  Vermutung 
und  finden  in  der  Überlieferung  keine  Stütze.  Bei  dem 
Latinergesetz  ist  von  Verleihung  des  Vollbürgerrechts  die 
Rede,  bei  dem  von  Plutarch  (C.  Gr.  5,  1)  in  das  erste  Tribunat 
des  Gracchus'  verlegten  Bundesgenossengesetz  —  wie  sich 
erweisen  wird,  dem  ersten  Bundesgenossengesetz  —  von 
der  Stimmrechtsverleihung  an  alle  Italiker.*)  Das  Latiner- 
gesetz bedeutete  also  inhaltlich  einen  Fortschritt  in  Gracchus' 
Forderungen.  Daß  Gaius  Gracchus  schon  am  Beginn  seines 
Amtes  sich  der  Bundesgenossen  annahm,  hat  nichts  Wunder- 

1)  Darauf  spielen  auch  die  Worte  bei  Plutarch  9,2  an:  in  Si  6 
fiii'  (Gracchus)  rols  ylarivois  iao\^t;^ini'  StSoii  iXvnei;  die  Latiner  allein 
werden  genannt,  weil  in  dem  zweiten  Gesetz  nur  von  den  Latinern 
die  Rede  war. 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus.  47<> 

bares,  nachdem,  wie  glaubwürdig  überliefert  wird,  bereits 
sein  Bruder  Tiberius  die  Verleihung  des  Bürgerrechts  an 
alle  Italiker  geplant  hatte  (Vell.  II,  2,  2),  und  im  Jahre  125 
der  Konsul  Fulvius  den  Gedanken  wieder  aufgenommen 
hatte  (Val.  Max.  IX,  5,  1 ;  App.  I,  21).  Daß  sein  Antrag  an- 
genommen wurde,  wird  durch  die  Zusammenstellung  mit 
den  anderen  sicher  zu  Gesetzen  erhobenen  Anträgen  bei 
Plutarch  a.  a.  0.  sehr  wahrscheinlich.  Die  Annahme  erhält 
schließlich  eine  unmittelbare  Bestätigung  durch  die  im  Jahre 
122  vom  Konsul  C.  Fannius  auf  Drängen  der  Optimatenpartei 
verfügte  Ausweisung  aller  Nichtbürger  aus  Rom,  gerade  als 
über  das  zweite  Bundesgenossengesetz  abgestimmt  werden 
sollte,  mindestens  war  diese  innerlich  viel  besser  begründet.*) 
Man  fürchtete  wohl  eben  nicht  nur  den  Druck  der  anwesenden 
Massen  der  Bundesgenossen  auf  die  Bürger,  sondern  auch 
die  Ausübung  des  ihnen,  sowohl  den  Latinern  wie  den  anderen 
Italikern,  bereits  verliehenen  Stimmrechts. 

Als  nahezu  sicheres  Ergebnis  der  bisherigen  Betrachtung 
von  C.  Gracchus'  Gesetzen  kann  man  nach  alledem  hinstellen, 
daß  Gracchus  seine  Rede  de  legibus  promulgatis  im  Beginn 
seines  ersten  Tribunats  hielt,  und  daß  zu  den  von  ihm  vor- 
gebrachten Anträgen  das  Getreidegesetz  und  ein  Bundes- 
genossengesetz gehörten.  Weiter  läßt  sich  schließen,  daß, 
wenn  in  einem  Teil  der  Überlieferung,  der  plutarchisch- 
livianischen  (S.  474),  bestimmte  Gruppen  von  Gesetzen  aus 
dem  Beginn  von  Gracchus'  erstem  Tribunat  genannt  werden, 
wie  namentlich  bei  Livius  per.  60  lex  frumentaria,  lex  agraria 
und  lex  iudiciaria  und  bei  Plutarch  C.  Gr.  5  lex  agraria, 
lex  militaris,  lex  de  sociis,  lex  frumentaria,  lex  iudiciaria^), 
gerade  diese  die  leges  promulgatae  gebildet  haben,  auf  denen 


')  Plut.  C.  Gr.   12,   12,  App.   1123,  vgl.  unten  S.  488. 

2)  Nicht  so  klar  liegt  die  Ausscheidung  einer  bestimmten  Ge- 
setzesgruppe bei  Velieius  116,2,  wo  die  wichtigsten  Gesetze  aus  Grac- 
chus' ganzem  ersten  Tribunat  vereinigt  sind.  Mit  Appians  rhetorisch 
zugespitzter,  willkürlicher  Gruppierung  ist  überhaupt  nichts  anzu- 
fangen. Man  braucht  ihr  nicht  einmal  mit  E.  Meyer  95,  4  die  Ehre 
anzutun  mit  der  Annahme,  daß  Appian,  wenn  er  alle  gracchischen 
Gesetze  außer  dem  Getreidegesetz  in  das  zweite  Tribunat  verlegt, 
Tribunenwahl  (im  Sommer)  und  Tribunenantritt  (10.  Dezember)  ver- 
wechselt habe. 


4§0  VValther  Judeich, 

Gracchus  seine  Reform  aufbauen  wollte.  In  der  Tat  bilden 
diese  Gesetze  innerlich  und  politisch  eine  Einheit.  Sie  sind 
meisterlich  so  zusammengefügt,  daß  alle  Parteien,  außer 
der  herrschenden  Optimatenpartei,  darin  auf  ihre  Rechnung 
kamen  und  dafür  interessiert  werden  mußten.  Das  Acker- 
gesetz, das  Tiberius  Gracchus'  Gesetz  in  der  erweiterten 
Form  wiederherstellte,  und  das  Militärgesetz,  das  Einkleidung 
von  Staats  wegen  verfügte,  jeden  Abzug  vom  Sold  dafür 
verbot  und  die  Einziehung  zum  Kriegsdienst  vor  dem  17.  Jahre 
untersagte,  waren  für  die  ländliche  Plebs  bestimmt.  Das 
Getreidegesetz  mit  der  Festsetzung  eines  sehr  mäßigen 
Vorzugspreises,  zu  dem  dem  Volk  aus  den  Staatsmagazinen 
Getreide  geliefert  werden  sollte,  galt  für  die  städtische 
Plebs,  das  Richtergesetz  mit  der  Einführung  von  Ritter- 
geschworenen neben  den  bisher  allmächtigen  Senatsgeschwo- 
renen (S.  491  ff.)  für  die  Ritter,  das  Bundesgenossengesetz  für 
alle  Bundesgenossen  einschließlich  der  schon  im  beschränkten 
Maße  mitstimmenden  Latiner.  Und  wenn  man  über  die 
Gesetze  nicht  einzeln,  sondern  als  ein  Ganzes  abstimmen 
ließ,  war  die  beste  Aussicht,  daß  sie  angenommen  wurden; 
sie  sind  auch  angenommen  worden. 

Mit  dieser  Erkenntnis  ist  eine  feste  Grundlage  gewonnen 
für  die  Beurteilung  von  Gaius  Gracchus'  gesamter  gesetz- 
geberischer Tätigkeit,  über  die  die  Meinungen  bisher  so 
schwankten  und  schwanken  mußten,  weil  eine  rein  sachliche 
oder  psychologische  Betrachtung  ohne  jede  Stütze  in  einer 
bestimmten  Überlieferung  immer  problematisch  bleiben  muß. 
Plutarch  hat  sich  im  ganzen  wie  im  einzelnen  als  der  beste 
Führer  erwiesen,  ihm  müssen  wir  zunächst  auch  weiter  folgen, 
und  die  Probe  auf  seine  Führung  wird  sein,  ob  sich  zwischen 
der  Folge  der  Gesetze,  wie  er  sie  überliefert,  ein  innerer 
Zusammenhang  ergibt. 

Plutarch  C.  Gr.  4,  1.  2  verlegt  vor  die  Gruppe  der  „leg^s 
promulgatae"  an  den  Anfang  von  Gracchus'  Tribunat  zwei 
Anträge  persönlicher  Art.  Einer  richtete  sich  gegen  M.  Oc- 
tavius,  den  Kollegen  und  politischen  Gegner  seines  Bruders 
Tiberius,  dem  dieser  durch  Volksbeschluß  das  Tribunat 
hatte  aberkennen  lassen.  Der  Antrag  verbot  die  Bekleidung 
eines  neuen  Amtes  für  jeden,  den  das  Volk  seines  Amtes 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus.  481 

entsetzt  hatte.  Gracchus  soll  ihn  dann  seiner  Mutter  Cor- 
nelia zuliebe  haben  fallen  lassen. i)  Der  zweite  Antrag  traf 
P.  Popillius  Lacnas,  den  Konsul  des  Jahres  132,  der  die 
Verfolgung  der  Anhänger  des  Tiberius  Gracchus  geleitet 
hatte:  Wer  einen  Bürger  ohne  Urteilsspruch  verbannt  hätte, 
sollte  dem  Volksgericht  und  selbst  der  Verbannung  verfallen. 2) 

Niemand  hat  m.  W.  diese  Gesetze  und  die  Zeit  ihrer 
Beantragung  bezweifelt.  Sie  leiten  C.  Gracchus'  Vorgehen 
sehr  verständlich  ein.  An  den  Bruder  knüpft  er  an.  Die 
Gültigkeit  auch  der  ungewöhnlichen  und  als  ungesetzmäßig 
angefochtenen  Maßregel  der  Entsetzung  des  M.  Octavius 
will  er  für  immer  festlegen,  das  Verfahren  der  siegreichen 
Gegenpartei  als  widergesetzlich  brandmarken.  Unmittelbar 
damit  verknüpft  sich  die  Vorführung  der  Stärke  der  gracchi- 
schen  Partei  und  der  absoluten  Gewalt  des  Volkswillens,  die 
Erhöhung  der  eigenen  Popularität. 

Auf  diesem  Boden  baut  Gaius  weiter  für  die  Wieder- 
aufnahme von  des  Bruders  Werk  in  den  „leges  promulgatae'' . 
Nicht  nur  die  verschiedenen  für  die  Unterstützung  der  grac- 
chischen  Pläne  wichtigen  Parteien  sind  bei  ihnen  berück- 
sichtigt, sondern  auch  die  sämtlichen  Gesetzesgedanken  des 
Tiberius  Gracchus,  von  denen  wir  Kunde  haben.  Abgesehen 
von  dem  Angel-  und  Kernpunkt  der  gracchischen  Reform 
der  lex  agraria,  die  durch  allerhand  Zusätze,  namentlich 
durch  die  Aberkennung  der  richterlichen  Gewalt  der  Acker- 
triumviren  im  Jahre  129  unwirksam  gemacht  war  und  in 
alter  Kraft  wiederhergestellt  werden  mußte,  hatte  auch 
Tiberius  eine  lex  de  sociis  geplant  (S.  479),  dazu  eine  lex 
militaris,  eine  lex  iudiciaria.^)  Gaius  läßt  sich  nur  bei  der 
Wiederaufnahme  der  Anträge  von  dem  politisch  Erreichbaren 
leiten.  Er  hatte  gelernt.  Neu  ist  allein  seine  lex  frumen- 
taria,  deren  demagogische  Tendenz  klar  zutage  liegt.    Gaius 


1)  Plut.  C.  Gr.  4,  1.2.  Vgl.  Diod.  XXX IV  25,  2,  der  von  einer 
Verbannung  des  Octavius  redet;  vielleicht  liegt  da  eine  Verwechslung 
oder  falsche  Verknüpfung  mit  Gracchus'  zweitem  Antrag  vor  (s.  u,). 

")  Plut.  a.  a.  O.  Cic.  pro  Rab.  perd.  12.  de  domo  82,  vgl.  Lange, 
R.  A.   I1P31. 

3)  Plut.  Ti.  Gr.  16,  1.  Dio  frgm.  83,  7  B.  Macrob.  Sat.  III  14,  6. 
Vell.  112,2. 


482  Walther  Judeich, 

ist  davor  nicht  zurückgeschreckt,  zunächst  wohl,  weil  ihm 
der  Zweck,  die  Durchbringung  seiner  anderen  Gesetze,  das 
Mittel  heiligte,  dann  aber  aus  einer  gewissen  Kampfesfreude 
und  dem  Haß  gegen  die  herrschende  Senatspartei,  den  auch 
das  bekannte  geflügelte  Wort,  wahrscheinlich  über  sein 
Richtergesetz,  widerspiegelt:  „Ich  habe  Dolche  auf  den 
Markt  geworfen,  mit  denen  sich  die  Feinde  selbst  zerfleischen 
mögen."!) 

Für  die  Deckung  der  durch  die  lex  frumentaria  ent- 
stehenden großen  Kosten  scheint  aber  Gaius  wenigstens 
wieder  auf  einen  schon  von  seinem  Bruder  betretenen  Weg 
zurückgekommen  zu  sein,  auf  die  Verwertung  der  attalischen 
Erbschaft,  deren  Barmittel  eben  Tiberius  bereits  für  die 
Ausstattung  der  durch  sein  Ackergesetz  geschaffenen  Klein- 
bauerngüter hatte  verwenden  lassen,  deren  Landgebiet  er 
dem  Senat  entzogen  und  der  Verfügung  des  Volkes  über- 
wiesen hatte. 2)  Gaius  zog  mit  seinem  Antrag,  die  Provinz 
Asia  künftig  durch  die  Zensoren  zu  verpachten,  nur  die 
Konsequenz  dieses  Vorgehens^),  und  als  Zweck  der  dadurch 
geschaffenen  Lex  Sempronia  wird  ausdrücklich  die  Ver- 
pflegung der  Massen  angegeben  (Flor.  II,  3,  2  Rossb.). 
Das  Getreidegesetz  war  auch  das  einzige  Gesetz  der  „leges 
promulgatae",  das  größere  Mittel  erforderte. 

Ob  etwa  die  lex  de  provincia  Asia  selbst  zu  dem  Ge- 
setzesstrauß des  Gaius  Gracchus  gehörte  (Lange  III^,  31), 
ist  nicht  festzustellen,  aber  durch  nichts  gefordert,  wenn  wir 
Plutarchs  Aufzählung  der  Gesetze  (C.  Gr.  5,  1.2)  unmittel- 


1)  Cic.  de  leg.  1 1 1  20.  C.  vero  Gracchus  ruinis  et  iis  sicis,  qiias  ipse 
se  proiecisse  in  forum  dixit,  quibus  digladiarentur  inter  se  cives,  tionne 
omnem  rei  publicae  statum  deturbavit?  Cicero  sagt  cives;  den  wirklichen 
Wortlaut  dürfen  wir  wohl  dem  anderen  Wort  entnehmen,  das  ver- 
mutlich auch  auf  die  lex  iudiciaria  geht:  „Das  Schwert  sitzt  den 
Feinden  (txd-Qols)  an  der  Kehle,  wie  auch  über  das  andere  das 
Schicksal  befindet,  ich  bin's  zufrieden."  Diod.  XXXVI  27.  Vgl.^end- 
lich  Diod.  XXXVII  9:  „Ich  werde  das  Schwert  nicht  von  mir  lassen, 
das  ich  den  Senatsleuten  von  der  Seite  gerissen  habe." 

2)  Plut.  T.  Gr.  14,  1.  2,  Gros.  V  8,  4  (Aur.  Vict.)  de  vir.  illustr.  64,  5. 
Vgl.  Val.  Max.   1112,17. 

3)  Cic.  Verr.  III  12,  vgl.  ad  Att.  I  17,  9.  App.  b.  c.  V  4.  SchoL 
Bob.  z.  pro  Plancio  31,  S.  133,5,  Hildebr.    Lex  agr.  82. 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus.  4S3 

bar  gelten  lassen,  sogar  ausgeschlossen.  Wahrscheinlich  han- 
delt es  sich  bei  dem  Gesetz  nur  um  den  Ausbau  der  in  den 
leges  promulgatae  begründeten  großen  Reform,  und  in  ihm 
waren  außer  dem  Hauptpunkt  auch  weitere  Bestimmungen 
für  die  finanzielle  Ausnutzung  der  Provinz  getroffen. i) 
Ein  solcher  Ausbau  ist  auch  in  den  anderen  Bestimmungen, 
die  Plutarch  weiterhin  aus  Gaius'  erstem  Tribunatsjahre 
überliefert,  deutlich  erkennbar.  So  bildete  die  Anlage  der 
großen  Getreidespeicher,  der  fiorrea  Sempronia,  eine  un- 
mittelbare Ergänzung  der  lex  frumentaria  (Fest.  p.  290, 
M.  Flut.  C.  Gr.  6,  3).  Und  die  Befugnis  der  wieder  mit  der 
alten  Macht  ausgestatteten  Ackertriumvirn  wurde  durch 
das  Recht  der  Koloniegründung  und  des  Wegebaues  er- 
weitert.2)  Plutarch  behauptet  zwar,  daß  Gracchus  sich  dabei 


1)  Daß  die  lex  de  provincia  Asia  nicht  unmittelbar  mit  der  lex 
jrumentaria  verbunden  war,  wird  schon  durch  den  heftigen  Wider- 
spruch und  die  Klage  der  Optimaten  nahegelegt,  daß  man  die  Staats- 
kasse durch  die  Getreidespenden  erschöpfe  (Cic.  pro  Sest.  103,  de  off. 
1 1  72,  Tusc,  I II  48  f.).  Auf  dieses  Gesetz  über  Asien  hat  man  schon 
längst  richtig  die  Angabe  des  Velleius  II  6,  3,  daß  Gracchus  neue  Zölle 
■eingeführt  habe,  bezogen  und  in  der  von  Gracchus  bekämpften  lex 
Aufeia,  in  der  von  Vermehrung  der  Steuern  und  von  der  Rücksicht 
auf  die  Könige  Nikomedes  von  Bithynien  und  Mithradates  von  Pontus 
die  Rede  war  (Gell.  XI  10),  ein  Gegenstück  zu  dem  griechischen  An- 
trage erkennt.  Vielleicht  handelte  es  sich  bei  Gracchus  um  die  Er- 
richtung einer  besonderen  Zollgrenze  zwischen  der  asiatischen  Pro- 
vinz und  den  benachbarten  Königreichen.  In  glänzender  Weise  hatte 
übrigens  Gracchus  auch  für  dieses  Gesetz  wieder  verschiedene  Parteien 
gleichzeitig  zu  interessieren  gewußt,  die  hauptstädtische  Plebs  wie 
die  bei  der  Verpachtung  Asiens  beteiligte  Ritterpartei,  ohne  daß  man 
■es  deshalb  als  Kampfgesetz  zu  betrachten  und  mit  dem  Richtergesetz 
ohne  weiteres  zu  verknüpfen  braucht,  wie  Kornemann  a.  a.  O.  48 
vorschlägt. 

2)  Plut.  C.  Gr.  6,  3.  7,  vgl.  App.  I  23.  Appian  verlegt  dieses  Ge- 
setz in  das  zweite  Tribunat,  offenbar  weil  er  fälschlich  das  allgemeine 
Recht  der  Koloniegründung  mit  den  auf  Grund  dieses  Rechtes  von 
Gracchus  in  seinem  zweiten  Tribunat  wirklich  beantragten  Kolonien 
•(s.  unten)  zusammenwarf.  Dieser  Fehler  ist  auch  von  den  Neueren 
nachgemacht  worden,  z.B.  von  Lange  III- 37,  der  überdies  ohne 
Grimd  aus  Plutarch  erschließt,  daß  es  sich  hier  nicht  um  tribunicische 
Gesetze,  sondern  um  von  Gracchus  veranlaßte  Senatsbeschlüsse  han- 
dele. Bei  Plutarch  ist  aber  scharf  zu  trennen  zwischen  einem  wirklich 
<lurch   Gracchus  beeinflußten   Senatsbeschluß,  der  einem  spanischen 


484  Walther  Judeich, 

immer  wieder  als  vollziehenden  Beamten  für  die  einzelnen 
Aufgaben  besonders  habe  wählen  lassen,  aber  hier  spricht 
aus  ihm  wohl  die  Gracchus  feindliche  Quelle  (Poseidonios?). 
Es  ist  gegen  Recht  und  Brauch  der  Zeit,  einen  einzelnen 
mit  so  weitgehenden  außerordentlichen  Befugnissen  zu  be-^ 
trauen,  auch  das  Ackergesetz  vollzogen  Triumvirn,  und 
anderseits  stehen  die  Befugnisse  in  so  enger  Beziehung  zu 
dem  Ackergesetz,  daß  sie  folgerichtig  nur  von  den  Triumvirn 
übernommen  werden  konnten.  Die  „monarchische  Gewalt",, 
die  die  Gegner  Gracchus  vorwarfen^),  konnte  dieser  trotzdem 
ausüben,  denn  er  war  eben  die  Seele  und  das  Haupt  des. 
Ackertriumvirn-  wie  des  Volkstribunenkollegiums.  Er  be- 
schied die  Menge  von  Unterbeamten,  die  bei  seinen  viel- 
seitigen Aufgaben  beteiligt  waren.  In  dieser  vielbewunderten 
und  vielgehaßten  Machtstellung  hat  er  auch  über  die  Be- 
setzung des  Konsulats  für  das  Jahr  122  verfügt  und  selbst 
das  Tribunat  wieder  erhalten.  Damals  stand  C.  Gracchus^ 
auf  seiner  Höhe. 

In  diese  Höhe  fällt  vermutlich  noch  ein  zeitlos  überliefertes. 
Gesetz  —  Plutarch  schweigt  davon  — ,  das  bis  an  das  Ende 
der  Republik  hin  maßgebend  geblieben  ist,  die  lex  Sempronia 
de  provinciis  consularibus.^)  Sie  befreite  die  amtierenden 
Konsuln  von  der  Gunst  des  Senats  dadurch,  daß  sie  die 
Bestimmung  der  konsularischen  Provinzen  schon  vor  der 
Wahl  des  künftigen  Inhabers  anordnete.  Man  möchte  sie 
deshalb  am  liebsten  in  Verbindung  bringen  mit  der  durch 
Gracchus  begünstigten  Wahl  des  Konsuls  für  122,  C.  Fannius 
(Plut.  C.  Gr.  8,  2). 

Auf  die  Machthöhe  folgt  im  zweiten  Tribunatsjahr 
ein  jäher  Sturz.  Anscheinend  hat  Gracchus  in  diesem  Jahre 
überhaupt  kein  Gesetz  mehr  durchgebracht.  Und  die  Ge- 
setzesanträge,' die  wir  kennen  lernen,  atmen  einen  ganz 
anderen  Geist  als  wie  die  ersten.  Es  fehlt  jene  sorgsame 
Verknüpfung  verschiedener  Interessen,  jenes  staatsmännische 


Statthalter  die  rückhaltlose  Ausbeutung  seiner  Provinz  untersagte 
(c.  6,  2),  und  den  in  Anknüpfung  daran  aufgezählten  neuen  gracchi- 
schen  Gesetzen  (6,  3). 

1)  Plut.  C.  Gr.  6,1.    Diod.  XXXIV  25,  1.    Vell.   116,4. 
'     *)  Cic.  de  prov.  cons.  3.    de  domo  24.    Sali.  lug.  27,  3. 


Die  Gesetze  des  Qaius  Gracchus.  485 

Verständnis,  jene  Kampfesfreude,  die  die  früiieren  Gesetze 
auszeichnet.  Die  neuen  Anträge  weisen  tatsächlich  den 
Charakter  auf,  mit  dem  sie  uns  Piutarch  überliefert,  den 
Charakter  von  Augenbhcksschöpfungen,  um  die  einmal 
errungene  Popularität  zu  behaupten.  Auch  tritt  Gracchus' 
Persönlichkeit  in  dem  zweiten  Tribunat  lange  nicht  so  be- 
herrschend hervor  wie  im  ersten.  Die  Freunde  handeln  mit 
ihm  und  für  ihn,  Rubrius,  M.  Acilius  Glabrio,  M.  Fulvius 
Flaccus.  Sie  bringen  wichtige  Gesetze  durch,  während  im 
«rsten  Tribunat,  soweit  unsere  Kenntnis  reicht,  Gracchus 
allein  Antragsteller  war,  und  beeinflussen  teilweise  Gracchus' 
Politik. 

Piutarch  (8,  3)  nennt  als  erste  Vorschläge  von  Gaius 
Oracchus  selbst  die  Gründung  von  Bürgerkolonien  in  Tarent 
und  Kapua,  und  die  volle  Bürgerrechtsverleihung  an  die 
Latiner.  Beide  Anträge  bilden  nur  die  Weiterführung  von 
Plänen,  deren  Verwirklichung  Gracchus  bereits  mit  seinen 
früheren  Gesetzen  in  Angriff  genommen  hatte,  aber  sie  sind 
in  ihrer  Wirkung  viel  beschränkter  als  diese  und  vorwiegend 
■für  eine  Bevölkerungsgruppe  berechnet,  an  deren  Unter- 
stützung Gracchus  besonders  lag,  für  den  guten  Mittelstand 
bei  Bürgern  und  Bundesgenossen.  Es  wird  ausdrücklich 
überliefert  (Plut.  C.  Gr.  9,  2),  daß  Gracchus  beabsichtigt 
habe,  die  ,, feinsten"  Bürger  (rotg  x«?££<7räToi;g  twv  noli- 
xMv)  in  die  Kolonie  zu  entsenden,  d.  h.  besonders 
brauchbare  und  tüchtige  Elemente,  die  in  den  alten  Kultur- 
mittelpunkten das  alte  wahrhafte  Römertum  heimisch 
machen  sollten. i)  Dieselben  Elemente  empfingen  auch  durch 
die  meist  wohlhabenden  und  seit  so  langer  Zeit  eng  mit 
Rom  verbundenen  Latiner  eine  wertvolle  Verstärkung. 

Gegen  beide  Anträge  erhob  im  Auftrage  des  Senats 
der  optimatisch  gesinnte  Mittribun  des  Gracchus,  M,  Livius 

^)  Für  den  an  sich  hübschen  Gedanken  Kornemanns  a,  a.  O.  49, 
daß  Gracchus  bei  den  Koioniegründungen  gerade  in  Tarent  und  Kapua 
(und  später  Karthago)  in  erster  Linie  Handelsinteresse  und  eine  Be- 
günstigung der  Ritter  veranlaßt  habe,  läßt  sich  weder  aus  den 
Quellen  noch  aus  der  allgemeinen  Lage  eine  ausreichende  Begründung 
geben.  Gracchus  wählte  als  Kolonie  Kapua  und  Tarent  zunächst 
wohl,  weil  dieses  Gebiet  verfügbar  und  für  den  Anbau  besonders 
lockend  war. 


486  Walther  Judeich, 

Drusus,  Einspruch,  zugleich  suchte  er  durch  andere  Gesetze 
Gracchus  in  der  Volksfreundlichkeit  zu  übertrumpfen  und 
die  Massen  zu  sich  herüberzuziehen.  Er  beantragte,  viel- 
leicht nach  gracchischem  Muster  auch  en  bloc,  statt  zwei 
Kolonien  zwölf  mit  je  3000  Kolonisten  der  ärmsten  Be- 
völkerung, Befreiung  der  durch  die  Ackertriumvirn  ver- 
sorgten Bauern  von  ihrer  Pacht  an  den  Staat,  und  Schutz 
der  im  Heer  dienenden  Latiner  vor  Prügelstrafe.  Dabei 
lehnte  er  ganz  im  Gegensatz  zu  Gracchus  alle  mit  seinen 
Vorschlägen  verbundenen  Ämter  und  Würden  ab.  So  fielen 
Gracchus'  Anträge,  die  des  Livius  Drusus  wurden  Gesetz.  i> 
Die  italischen  Kolonien,  von  deren  Gründung  wir  in  dieser 
Zeit  hören,  Scolacium-Minervium  und  Tarentum-Neptunia, 
gehen  auf  Drusus'  und  nicht  auf  Gracchus'  Anweisungen 
zurück.  2) 


1)  Plut.  C.  Gr.  8,  4—10,  1,  App.  I  23  (Vict.)  de  vir.  illustr.  65,  3. 
Ein  Einspruch  des  Gracchus  gegen  Livius'  Gesetze,  wie  ihn  Lange 
IIP  45  annimmt,  ist  weder  überliefert  noch  an  sich  wahrscheinHch. 
Ebensowenig  läßt  sich  nachweisen,  daß,  wie  man  gelegentlich  ver- 
mutet hat,  die  Anträge  des  Livius  erst  in  die  Zeit  von  Gracchus'  Ab- 
wesenheit in  Karthago  gefallen  sind. 

2)  Liv.  per.  60.  Vell.  I  15,  4,  der  freilich  die  Gründung  in  das 
Jahr  123  verlegt,  ebenso  wie  Eutrop  IV  21  und  Orosius  V  12,  2  die 
Kolonisation  Karthagos  durch  Gracchus  in  diesem  Jahre  ansetzen. 
Hier  liegt  zweifellos  ein  Irrtum  vor.  Der  herrschenden  Ansicht,  daß 
man  zwischen  Beschluß  (123)  und  Ausführung  (122)  zu  scheiden  habe, 
kann  ich  mich  nicht  anschließen.  Ganz  abgesehen  von  dem  Wider- 
spruch gegen  die  erzählenden  Berichte,  die  eben  Livius'  Vorgehen 
erst  durch  Gracchus'  Vorgehen  während  seines  zweiten  Tribunats 
hervorgerufen  sein  lassen,  ist  nach  den  sorgfältigen  Feststellungen 
Mommsens  über  das  Trinundinum  (St.  R.  III  376,  2)  eine  Abstimmung 
über  einen  mit  dem  Antritt  der  Tribunen  am  10.  Dez.  gestellten  An- 
trag bis  zum  31.  Dez.  gar  nicht  mehr  möglich.  Noch  klarer  liegt  der 
Irrtum  bei  Karthago  zutage.  —  Nissen,  Ital.  Landesk.  II  705,  4  glaubt 
zwar,  daß  in  Kapua  wenigstens  mit  den  Vermessungen  für  die  grac- 
chische  Kolonie  begonnen  worden  sei,  und  Cicero  de  leg.  agr.  11,81 
irre,  wenn  er  behaupte,  der  ager  Campanus  sei  unter  den  Gracchen 
nicht  aufgeteilt  worden,  aber  seine  Meinung  läßt  sich  nicht  halten. 
Der  Stein  CIL  X  3861  ^  Dessau  ILS  I  24,  ein  Grenzstein  der  Acker- 
triumvirn Gracchus,  Appius  Claudius,  P.  Licinius,  auf  den  er  sich 
beruft,  stammt  aus  dem  Jahre  132  und  hat  mit  der  Kolonie  Kapua 
unmittelbar  nichts  zu  tim.  Vgl.  auch  Kubitschek  b.  Pauly-Wissowa 
III  1441  f. 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus.  487 

Der  Gegenstoß  der  gracchischen  Partei  gegen  die  livia- 
nischen  Gesetze  bildete  einmal  wahrscheinlich  die  Lex 
Rubria  zur  Aussendung  einer  Kolonie  nach  Karthago,  die 
Plutarch  (10,2)  gerade  im  Anschluß  an  Livius' Wirksamkeit 
berichtet  und  später  die  lex  Acilia  repetundarum.^)  Die 
zweite  setzt  die  erste  voraus  (§  22),  aus  beiden  spricht  auch 
derselbe  Geist,  und  zwar  gerade  die  Form  gracchischer 
Politik,  die  wir  auch  sonst  in  jener  Zeit  besonders  ausge- 
prägt finden,  die  Begünstigung  der  Bundesgenossen,  in  denen 
Gracchus,  da  seine  alte  Parteigruppe  ihm  zum  Teil  ent- 
fremdet war,  jetzt  wachsend  seine  Stütze  sucht.  Angeblich 
hat  Gracchus  als  Vorstand  der  Koloniegründungskommission 
beabsichtigt,  ohne  weiteres  Bundesgenossen  als  Bürger- 
kolonisten in  Karthago  aufzunehmen. 2)  Und  in  dem  acilischen 
Gesetz  wird  den  erfolgreichen  Angebern,  sofern  sie  nicht 
Bürger  sind,  das  Bürgerrecht,  und  den  Latinern  unter  ihnen, 
die  das  Bürgerrecht  ablehnen,  die  Provokation  an  das 
Volk  wie  den  Bürgern  zugesichert  (§  76  ff.).  Den  gleichen 
Gedanken  der  Zulassung  der  Provokation  für  Nichtbürger 
hatte  auch  M.  Fulvius  Flaccus  als  Konsul  im  Jahre  125 
verfochten,  derselbe  Flaccus,  der  damals  Gracchus'  treuester 
und  tätigster  Genosse  war,  und  dem  man  gerade  damals 
die  heimliche  Aufstachelung  der  Bundesgenossen  vorwarf.  3) 
In  der  nächstfolgenden  Zeit  ist  für  Acilius'  Gesetz  kein 
Platz  mehr. 

Über  zwei  Monate  blieb  Gracchus  von  Rom  fern,  um 
die  neue  karthagische  Kolonie  einzurichten.  Die  lange  Ab- 
wesenheit wurde  für  ihn  zum  Verhängnis.  Die  Gegner  hatten 
ihren  ersten  Sieg  auszunutzen  verstanden,  der  Abfall  in  den 


»)  über  die  1.  Rubria  vgl.  außer  Plutarch  die  S.  486  Anm.  2 
angeführten  Stellen,  über  die  erhaltene  I.  Acilia  CIL.  I  198  =  Bruns^ 
fontes*  55  ff.,  Cic.  in  Verr.  act.  I  51  f.,  M.  Ziegler,  fasti  tribunorum 
plebis  133—70,  Progr.  Ulm  1903,  6. 

*)  App.  1 24,  wo  allerdings  diese  Absicht  dem  Gracchus  und 
Fulvius  Flaccus,  der  hier  als  Begleiter  des  Gracchus  nach  Afrika  er- 
scheint, erst  für  die  Zeit  der  Rückkehr  von  Karthago  zugeschrieben 
wird.  Die  Darstellung  ist  nicht  ganz  klar,  Appian  hat  anscheinend 
stark  verkürzt.  Sicher  steht  der  Plan  mit  Flaccus'  Agitation  bei  den 
Bundesgenossen  in  Beziehung  (s.  Anm.  2). 

')  Val.  Max.  1X5,  1  vgl.  App.  121;  34,  Plut.  C.  Gr.  10,3;  11,  2. 


488  Walther  Judeich, 

eigenen  Reihen  hatte  weitere  Fortschritte  gemacht.  Gracchus 
war,  als  er  heimkehrte,  machtlos  dagegen  und  suchte  zu- 
nächst nur  Anschluß  bei  den  Ärmsten  unter  der  haupt- 
städtischen Plebs,  dann  brachte  er  die  übrigen  Gesetzes- 
anträge ein  (Plut.  C.  Gr.  12,  1).  Welche  waren  das?  Die 
erzählende  Überlieferung  führt  sie  nicht  besonders  auf, 
namentlich  schweigt  auch  Plutarch.  Dennoch  kann  darüber 
kein  Zweifel  sein.  Zwei  Anträge  von  der  früher  gegebenen 
Übersicht  sind  nur  noch  übrig,  und  eben  sie  passen  mit  ihrem 
Inhalt  gerade  in  diese  Zeit,  ein  Bundesgenossengesetz,  das 
anscheinend  für  alle  Bundesgenossen  das  Bürgerrecht  ver- 
langte, und  ein  Gesetz  zur  Reform  der  Abstimmung  in  den 
Zenturiatkomitien,  in  denen  die  einzelnen  Zenturien  künftig 
nicht  mehr  nach  der  alten  „servianischen  Ordnung",  sondern 
nach  Loswahl  ihre  Stimme  abgeben  sollten. 

Daß  Gracchus  in  der  Mitte  seines  zweiten  Tribunats 
kurz  vor  den  Neuwahlen  ein  Bundesgenossengesetz  einge- 
bracht hat,  ist  gesichert  durch  die  Nachricht,  daß  der  Konsul 
122  C.  Fannius  eine  Rede  de  sociis  et  de  nomine  Latino  gegen 
Gracchus  gehalten  habe^),  und  durch  die  außerordentliche 
Maßregel  des  Senats,  daß  er  durch  den  Konsul  allen  Bundes- 
genossen den  Aufenthalt  in  Rom  für  die  Abstimmungstage 
verbieten  ließ,  anscheinend  eine  willkürliche  Wiederaufnahme 
des  inzwischen  abgeschafften  und  seinerzeit  von  Gracchus 
bekämpften  Gesetzes  des  M.  Junius  Pennus  vom  Jahre  126. 2) 
Daß  Gracchus'  Gesetz  verschieden  war  von  seinem  Latiner- 
gesetz  am  Beginn  des  zweiten  Tribunats,  läßt  sich  aus  der 
Erwähnung  der  „Bundesgenossen"  neben  den  Latinern, 
wie  aus  dem  Gang  von  Plutarchs  Erzählung  entnehmen, 
ist  auch  von  Kornemann  (49  f.)  schon  hervorgehoben  worden, 
nur  den  Inhalt  wird  man  anders  zu  fassen  haben,  als  es  Korne- 
mann tut.  Inhaltlich  werden  uns  nicht  nur  zwei,  sondern 
drei  Bundesgenossengesetze  überliefert:  gleiches  Stimmrecht 
mit  den  römischen  Bürgern  für  alle  Bundesgenossen,  Ver- 


1)  Cic.  Brut.  99.  Daß  die  Rede  aus  Fannius'  Konsulat  122  stammt, 
ist  zweifellos,  denn  vorher  war  Fannius  noch  Gracchus'  Freund  (Plut. 
C.  Gr.  8,  2,  3). 

2)  Vgl.  oben  S.  479  über  das  Gesetz  des  lunius  Pennus  Lange, 
R.  A.   1112  26,29. 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus.  489 

leihung  des  Bürgerrechts  an  die  Latiner,  Verleihung  des  Bür- 
gerrechts an  alle  Bundesgenossen.  Und  unabhängig  davon 
fordern  drei  auch  die  Berichte  über  Gracchus'  Tätigkeit, 
voran  wieder  der  Plutarchs,  wenngleich  er  auf  den  letzten 
Gesetzesantrag  nur  eben  anspielt.^)  Immer  steigend  in  seinen 
Forderungen  hat  Gracchus  die  Frage  angegriffen. 

Der  Antrag  auf  Veränderung  der  Stimmordnung  in 
den  Zenturiatkomitien  ist  undatiert,  nur  eine  einzige  Stelle 
<Ps.-Sall.  de  rep.  II,  8,  1)  berichtet  davon,  aber  er  gehört 
zu  den  Anträgen,  die  nicht  Gesetz  geworden  sind  (Mommsen, 
St.  R.  III,  294),  und  kam  in  gleicher  Weise  den  ärmeren 
Bürgern  wie  den  bundesgenössischen  Neubürgern  zugute, 
aber  eben  nur  diesen.  Gracchus  hat  vielleicht  hier  noch 
einmal  versucht,  die  Interessen  mehrerer  Parteigruppen 
einheitlich  zusammenzufassen,  wenngleich  er  damals  seine 
alte  Praxis  der  Enbloc-Abstimmung  wahrscheinlich  nicht 
mehr  verwenden  konnte  (S.  476).  Ob  neben  diesen  beiden 
Anträgen  von  Gracchus  auch  noch  andere  eingebracht 
wurden,  läßt  sich  nicht  sagen,  nötig  ist  es  nicht.  Jedenfalls 
ist  Gracchus  auch  dieses  Mal  wieder  gescheitert,  und  diese 
Niederlage  hat  weiterhin  zur  Beseitigung  der  meisten  seiner 
Gesetze  und  zur  Katastrophe  geführt. 

Die  plutarchische  Überlieferung  gibt  nach  alledem 
Zusammen  mit  den  anderen  Quellen  ein  klares  einheitliches 
Bild  von  Gracchus'  Gesetzeswerk.  Und  damit  gelangen  wir 
auch  zu  einer  tieferen  und  sichereren   Kenntnis  der  viel- 


^)  Die  genaue  Fassung  des  letzten  Antrages  läßt  sich  nicht  fest- 
stellen. Nur  auf  ihn  paßt  streng  genommen  Velleius'  Angabe  116,2, 
Gracchus  habe  versucht,  allen  Itallkern  das  Bürgerrecht  zu  verleihen 
und  Italien  bis  beinahe  zu  den  Alpen  auszudehnen.  In  den  erhal- 
tenen spärlichen  Fragmenten  von  Fannius'  Gegenrede  (H.  Meyer, 
Orat.  Rom.  Fragm.  200  f.)  werden  Drohungen  des  Gracchus  erwähnt. 
Außerdem  wird  von  der  Konkurrenz  gesprochen,  die  die  alten  Voll- 
bürger von  den  latinischen  Neubürgern  zu  fürchten  hätten.  Damit 
ist  aber  nicht  gesagt,  daß  Gracchus'  Antrag  nur  die  Latiner  und  ihr 
Bürgerrecht  betraf.  Auch  wenn  für  alle  Bundesgenossen  das  Bürger- 
recht gefordert  war,  konnte  die  Stellung  der  Latiner  besonders  erörtert 
werden.  Möglich  aber,  daß  Gracchus  in  der  Tat  nur  für  die  Latiner 
volles  Bürgerrecht,  für  die  übrigen  Italiker  Latinerrecht  neben  dem 
schon  bewilligten  gleichen  Stimmrecht  verlangte.  Jedenfalls  ging  er 
über  seine  früheren  Anträge  hinaus. 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  32 


490  Walther  Judeich, 

umstrittenen  Persönlichkeit  und  ihrer  Motive.    Auch  ohne 
daß  er  eine  bestimmte  Folge  von  Gaius  Gracchus'  Gesetzen 
geben  wollte  und  konnte,  hat  Th.Mommsen  (R.G.  IP,113ff.> 
schon  vollkommen  richtig  erkannt,  daß  bei  Gracchus'  Tätig- 
keit  ein   wohlüberlegter   umfassender    Plan   vorliegt,   aber 
unrichtig  ist  sein   Gedanke,   daß   Gracchus'   Plan   in   dem 
Sturz    der    Demokratie,    in    der    Schöpfung    eines    unum- 
schränkten  Volkstribunats  auf   Lebenszeit  gegipfelt   habe; 
er  findet  wohl  heute  auch  keine  Vertretung  mehr.   Nur  zum 
Teil  richtig  ist  freilich  auch   K.  W.   Nitzschs  Vermutung 
(Gracchen  397),   daß   das  Ziel   der  gesamten  gracchischen 
Reform  die  Neuschöpfung  eines  römischen  Bauernstandes 
aus  den  Bundesgenossen  gewesen  sei.  Die  in  der  gracchischen 
Zeit  schwebende  Bundesgenossenfrage  ist  wohl  ein  wichtiger 
Bestandteil  von  Gracchus'  Politik,  ein  Mittel  für  ihre  Durch- 
führung, aber  niemals  der  Endzweck  gewesen.    Dieser  End- 
zweck bildet  vielmehr  die  Wiederherstellung  und  Vollendung 
von  dem  Werke  seines  Bruders,  dessen  reine  Ziele  er  kannte^ 
dessen  tragisches  Ende  ihn  tief  erbittert  hatte,  mit  vollem 
Recht.   Nicht  die  „Revolutionspartei",  sondern  der  äußerste 
rechte  Flügel  der  regierenden  Adelspartei  hatte  ohne  Grund 
zuerst  zur  brutalen  Gewalt  gegriffen.    So  hat  der  Gedanke 
der  Rache  für  den  ermordeten  Bruder  in  dem  leidenschaft- 
lichen, tatkräftigen  und  glänzend  begabten  Mann  von  vorn- 
herein tief  Wurzel  geschlagen,   er  bricht  zeitweise  lebhaft 
und  unmittelbar  durch,  aber  auch  er  ist  nie  allein  maß- 
gebend.   Der  so  sorgfältig  zusammengefügte  Bau  der  ersten 
großen  Gesetzesgruppe  umschließt  sozusagen  alles,  was  der 
Bruder  gewollt  hatte,  im  Kern  die  Hebung  der  ländlichen 
Plebs,  das  andere  ist  Beiwerk.  Daß  Gaius  wie  schon  Tiberius 
im  weiteren  die  Idee  vorgeschwebt  hat,  aus  den  Italikern 
diese  Plebs  zu  stärken  und  zu  ergänzen,  ist  wahrscheinlich, 
schon  die  ergreifenden,  mit  Unrecht  verdächtigten  Worte 
in  Tiberius'  großer  Eingangsrede  (Plut.  Ti.  Gr.  9,  4.  5)  deuten 
darauf  hin.   Doch  der  letzte  entscheidende  Antrag,  der  allen 
Bundesgenossen    das    Bürgerrecht    verleihen    soll,    ist    fast 
mehr  in  Gracchus'  eigenem  Interesse  gestellt,  der  eine  neue 
Stütze  sucht,  als  in  dem  der  Italiker.    Sein  stolzes  Wort, 
daß  er  den  durch  die  außerordentliche  Verfügung  des  Senats 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus.  491 

von  Rom  ausgeschlossenen  Bundesgenossen  zu  Hilfe  kommen 
werde,  hat  er  nicht  gehalten  (Plut.  C.  Gr.  12,  2).  Er  hatte 
dazu  auch  kein  wirkliches  Recht.  Die  schwere  seelische 
Enttäuschung,  daß  Gaius  sich  am  Ende  gerade  von  denen 
verlassen  sah,  denen  seines  Bruders  wie  seine  eigene  Lebens- 
arbeit gegolten  hatte,  von  der  bürgerlichen  Kleinbauern- 
schaft, hat  wohl  bei  ihm  zuerst  die  unpolitische  Schroffheit 
und  Willkür  ausgelöst,  dann  die  Teilnahmslosigkeit  und 
Entmutigung,  von  der  wir  in  seiner  letzten  Zeit  hören. 
Lange  bevor  die  Katastrophe  eintrat,  war  er  ein  gebrochener 
Mann.  Trotz  der  Verschiedenheit  von  seinem  Bruder,  der 
siegenden  und  zwingenden  Kraft  seines  Wesens,  der  Kampfes- 
lust, der  staatsmännischen  Begabung,  der  Herrscherfreude 
und  Herrscherbegabung  ist  Gaius  Gracchus  doch  wie  Tiberius 
ein  Reformator  geblieben,  der  verzichtete  und  verzweifelte, 
als  er  mit  gesetzlichen  Mitteln  nichts  mehr  erreichen  konnte. 
Für  die  Revolution  war  er,  war  die  Zeit  noch  nicht  reif. 


Anhang. 
C.  Gracchus'  Bichtergeeetz. 

Die  herrschende,  besonders  von  Th.  Mommsen  begründete 
Meinung  läßt  C.  Gracchus  zwei  Richtergesetze  einbringen,  ein 
milderes  aus  dem  ersten  Tribunat,  das  eine  aus  Senatoren  und 
Rittern  gebildete  Geschworenenschaft  schuf,  und  ein  schärferes, 
das  die  Gerichte  vollkommen  den  Rittern  auslieferte.^)  In  der 
Tat  wird  der  Inhalt  des  gracchischen  Gesetzes  bald  in  der  einen, 
bald  in  der  anderen  Form  angegeben,  aber  das  Gewicht  der  beiden 
Überlieferungsgruppen  ist  sehr  verschieden. 2)   Außerdem  kennen 


»)  Zeitschr.  f.  d.  Altertumswissenschaft  I,  1843,  817  ff.  =  Ges. 
Schriften  III,  1907,  343 ff.,  vgl.  Staatsr.  III  529 f.  Lange,  R.  A. 
III  38 f.    Kubier  u.  Pauly-W.  VI  289 f. 

*)  Auf  der  einen  Seite  stehen  wieder  Plutarch  C.  Gr.  5,  comp.  2,  1 
und  Livius  per.  60,  d.  h.  eben  die  livianische  ÜberUeferung,  auf  der 
anderen  Appian  122  und  Diodor  XXXIV  25  in  stark  rhetorisch  ge- 
färbten Überblicken  über  Gracchus'  Gesetzestätigkeit,  d.  h.  wohl 
Poseidonios,  und  eine  Anzahl  allgemeiner  Anspielungen,  Vell.  II  6,4. 
Varro  de  vita  pop.  Rom.  b.  Non.  p.  454.  Plin.  n.  h.  XXXIII  34.  Tac. 
XII  60.   Flor.   115,3. 

32* 


492  Walther  Judeich, 

beide  nur  ein  Richtergesetz,  Und  es  könnte  sich  höchstens  darum 
handeln,  ob  dieses  Gesetz  im  ersten  oder  im  zweiten  Tribunat 
eingebracht  worden  ist.  Die  besten  Gewährsmänner  geben  das 
erste  Tribunat  an,  und  im  ersten  Tribunat  ist  nach  dem,  was 
früher  festgestellt  worden  ist,  eigentlich  auch  nur  Raum  für 
das  Gesetz.  So  scheint  die  Entscheidung  ganz  leicht.  Aber 
es  bleiben  doch  noch  Schwierigkeiten  für  den  Inhalt  wie  für 
die  Zeit  des  Gesetzes.  Einmal  scheint  aus  dem  29.  Fragment 
von  Ciceros  erster  Rede  pro  Cornelio  vom  Jahre  65  hervorzugehen, 
daß  zuerst  nach  der  lex  Plautia  aus  dem  Jahre  89  Senatoren  und 
römische  Ritter  zusammen  Geschworene  gewesen  sind,  und  ferner 
sind  in  dem  wahrscheinlich  122  eingebrachten  erhaltenen  Repe- 
tundengesetz  des  Acilius  (S.  487)  unter  der  dabei  urteilenden 
Richtergruppe  von  450  Geschworenen  die  Senatoren  ausdrücklich 
ausgeschlossen.^)  Um  diese  scheinbaren  Widersprüche  zu  be- 
seitigen, müssen  wir  die  von  Mommsen  a.  a.  0.  eingehend  er- 
örterten Richtergesetze  von  der  gracchischen  Zeit  bis  in  den 
Anfang  des  1.  Jahrhunderts  n.  Chr.  kurz  überblicken. 

Zuerst  soll  Tiberius  Gracchus  133  geplant  haben,  den  Senats- 
geschworenen die  gleiche  Zahl  von  Rittergeschworenen  an  die 
Seite  zu  stellen  (Plut.  Ti.  Gr.  16,  1),  oder  nach  anderer  Über- 
lieferung (Dio  Fr.  83,  7  B.)  die  Gerichte  den  Rittern  überwiesen 
haben.  Es  folgte  C.  Gracchus.  Nach  ihm  brachte  106  der  Konsul 
Servilius  Caepio  die  Geschworenengerichte  tatsächlich  an  Ritter 
und  Senat  (Obesq.  41  Cassiod.  chron.  z.  d.  J.)  oder  er  gab,  wie 
Tacitus  Ann.  XII,  60  meldet,  im  Gegensatz  zu  Gracchus  dem 
Senat  die  Gerichte  zurück.  Im  Jahre  91  beantragte  der  Tribun 
M.  Livius  Drusus  wieder,  die  300  Senatoren  durch  300  in  den 
Senat  aufzunehmende  Rittergeschworene  zu  verstärken. 2)  Schließ- 
lich verfügte  die  lex  Plautia  des  Tribunen  für  89,  M.  Plautius 
Silvanus,  da  der  Einfluß  der  Ritter  in  den  Gerichten  überwog, 
daß  jährlich  von  jeder  Tribus  15  Geschworene  (zusammen  525) 
zu  wählen  seien. 


1)  Cic.  pro  Com.  I,  Frgm.  29  memoria  teneo,  cum  primum  senatores 
cum  equitibus  Romanis  lege  Plotia  iudicarent  etc.,  vgl.  Ascon.  p.  79 
z.  d.  St.  In  der  lex  Acilia  ist  wiederholt  von  den  450  Geschworenen 
und  ihrer  Qualifikation  die  Rede  (§  12,  16,  22),  die  Stellen  stützen 
sich  in  der  Lesung  gegenseitig. 

')  App.  b.  c.  135,  vgl.  Liv.  per.  71.  Dagegen  sprechen  Velleius 
II  13,2  und  (Aur.  Victor)  de  vir.  illustr.  66,4,  vgl.  Asconius  z.  Cic. 
pro  Scauro,  p.  19  Kiessl.  wieder  von  einer  Überweisung  der  Gerichte 
an  den  Senat. 


Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus.  493 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ergibt  sich  zunächst  eine  Be- 
stätigung der  Ansicht,  daß,  wenn  uns  das  Gesetz  des  C.  Gracchus 
in  verschiedenen  Fassungen  überliefert  wird,  wir  deshalb  nicht 
an  zwei  Gesetze  zu  denken  brauchen.  Die  gleiche  Verschiedenheit 
der  Nachrichten  liegt  auch  bei  Ti.  Gracchus  und  Servilius  Caepio 
vor,  die  sicher  nur  ein  Gesetz  beantragt  haben.  Ferner  findet 
sich  der  Gedanke  von  C.  Gracchus'  Gesetz,  die  Geschworenen 
aus  Senatoren  und  Rittern  zu  mischen  bzw.  eine  Anzahl  Ritter 
für  den  Zweck  in  den  Senat  aufzunehmen,  mehrfach  wieder  und 
gewinnt  damit  an  innerer  Wahrscheinlichkeit.  Endlich  müssen, 
nach  den  Gegenanträgen  der  Folgezeit  zu  schließen,  in  dem 
gracchischen  Gesetz  tatsächlich  die  Ritter  die  Oberhand  gehabt 
haben.  Daß  sie  aber  deshalb  allein  Geschworene  waren,  ist  da- 
durch nicht  gefordert  und  braucht  auch  nicht  aus  Ciceros  Äuße- 
rung in  der  cornelischen  Rede  und  den  nichtsenatorischen 
Geschworenen  des  acilischen  Gesetzes  gefolgert  zu  werden.  Bei 
Cicero  liegt  eine  gelegentliche  Anspielung  vor,  die  kaum  den 
Anspruch  erhebt,  den  Termin  in  dem  Wechsel  der  Geschworenen 
authentisch  festzulegen  —  Asconius'  Erklärung  bietet  keinen 
Gegenbeweis—,  ganz  abgesehen  davon,  daß  Cicero  sich  auch  geirrt 
haben  kann.  Keinesfalls  dürfen  wir  die  Nachricht  pressen.  Und 
-bei  dem  acilischen  Gesetz  handelt  es  sich  eben  um  ein  besonderes 
Gesetz,  das  auch  besondere  Bestimmungen  über  die  Zusammen- 
setzung der  Geschworenenschaft  treffen  konnte.  Wenn  man 
bei  den  Erpressungsklagen  die  Senatoren,  die  Statthalterkandi- 
daten, ausschloß,  war  das  nur  zu  verständlich.  Wir  haben  viel- 
mehr eine  Nachricht,  die  die  Forderungen,  welche  wir  an  das 
gracchische  Gesetz  zu  stellen  haben,  unmittelbar  erfüllt  in  Livius' 
Angabe  {per.  60),  daß  600  Ritter  in  den  Senat  aufgenommen  und 
mit  den  300  Senatoren  die  Geschworenenschaft  bilden  sollten. 
Allerdings  gibt  Plutarch  (C.  Gr.  5,  2),  der  im  Grunde  wieder 
durchaus  mit  Livius  zusammenstimmt,  etwas  andere  Zahlen, 
300  Ritter  und  300  Senatoren,  aber  seine  Angabe  ist  später  und 
nicht  ursprünglich,  außerdem  liegt  es  außerordentlich  nahe, 
bei  diesen  Zahlen  an  eine  Verwechslung  mit  Ti.  Gracchus  ge- 
plantem Gesetz  und  Livius  Drusus'  Antrag  zu  denken.  Die  be- 
sondere Zahl  der  Periochae  des  Livius  hat  schon  von  vornherein 
mehr  für  sich.  Die  livianische  Nachricht  geht  auch  gut  zusammen 
mit  dem  acilischen  Gesetz,  denn,  wenn  eine  Geschworenenschaft 
von  600  nicht  senatorischen  Mitgliedern  bestand,  ließ  sich  daraus 
sehr   gut   ein    Kollegium   von   450   Geschworenen   auswählen.^) 

^)  Ob  die  600  Rittergeschworenen  wirklich  Senatoren  werden 
sollten,  oder  ob  sie  nur  für  die  Gerichte  mit  den  Senatoren  gleich- 


494         Walther  Judeich,  Die  Gesetze  des  Gaius  Gracchus. 


C.  Gracchus  hat  also  in  seinem  ersten  großen  Gesetzesstrauß 
wirklich  sein  Richtergesetz  gebracht  und  darin  den  Rittern  eine 
überragende  Stellung  eingeräumt,  ohne  die  Senatoren  auszu- 
schließen. Die  optimatische  Überlieferung  konnte  deshalb  ganz 
gut  von  einer  Auslieferung  der  Gerichte  an  die  Ritter  sprechen, 
um  so  mehr,  als  in  dem  acilischen  Repetundengesetz,  das  im 
Verlauf  von  Gracchus'  zweitem  Tribunat  während  seines  Ringens 
mit  der  Nobilität  durchging,  für  den  besonderen  Fall  tatsächlich 
den  Senatoren  die  Beteiligung  unmöglich  gemacht  wurde  (S.  492). 
Die  Verschärfung  paßt  gerade  in  diese  Kampfzeit.  Die  gracchische 
und  acilische  Geschworenenordnung  hat  dann  wohl  bestanden, 
bis  das  servilische  Gesetz,  vorübergehend  wenigstens,  wieder 
eine  gleichmäßige  Verteilung  senatorischer  und  ritterlicher  Ge- 
schworener anordnete.  Eine  wirkliche  Rückgabe  der  Gerichte 
an  den  Senat  erfolgte  aber  erst  durch  Sulla, 


berechtigt  zusammenwirken  sollten,  läßt  sich  nicht  sicher  entscheiden. 
Wahrscheinlicher  ist  die  zweite  Möglichkeit,  da  die  Rittergeschworenen 
gegenüber  den  Senatsgeschworenen  damals  wie  später  als  eine  beson- 
dere Gruppe  angesehen  worden  sind.  Auch  versteht  man  nur  so  die 
an  sich  nicht  anzuzweifelnde  Nachricht,  daß  C.  Gracchus  die  Aus- 
wahl der  Rittergeschworenen  übertragen  wurde.  Sie  wurden  also 
nicht  als  Senatoren  gerechnet.  Aus  welchem  Kreis  diese  Rittergeschwo- 
renen genommen  wurden,  ob  aus  der  alten  Staatsritterschaft  oder  aus 
dem  neu  emporstrebenden  Ritterstand,  läßt  sich  ebenfalls  nicht  mit 
voller  Sicherheit  feststellen;  von  vornherein  möchte  man  das  letztere 
annehmen. 


Gallikanismus  und  episkopalistische 

Strömungen  im  deutschen  Katholizismus 

zwischen  Tridentinum  und  Vaticanum. 

Studien  zur  Geschichte  der  Lehre  von  dem  Universalepiskopat 
und  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes.^) 

Von 
Fritz  Vigener. 


Der  Historiker  wird  es  tief  begründet  finden,  daß  ein 
zentraler  Punkt  des  katholischen  Kirchenwesens  erst  in 
der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  dogmatisch  ge- 
sichert worden  ist.  Da,  wo  das  System  des  Glaubens  und  das 
der  Organisation  sich  durchdringen,  wo  das  Dogma  vom 
unfehlbaren  Lehramt  der  Kirche  zusammentrifft  mit  dem 
Prinzip  der  monarchischen  Verfassung,  wo  höchste  Glaubens- 
autorität und  höchste  Jurisdiktionsgewalt  sich  begegnen, 
da  waren  Aufgaben  gegeben,  an  denen  zuerst  Jahrhunderte 
vorübergingen  und  dann  Generationen  sich  abmühten,  bis 
die  der  staatlichen  Bevormundung  entrückte  Kirche  den 
dogmatischen  Abschluß  vollziehen  und,  was  mehr  heißt, 
auch  ertragen  konnte. 

')  Dieser  Vortrag,  der  am  6.  Februar  1913  in  der  Kultur- 
wissenschaftlichen Gesellschaft  zu  Freiburg  i.  Br.  gehalten  wurde,  ist 
für  den  Druck  an  einzelnen  Stellen  erweitert;  dagegen  sind  einige 
einleitende  und  abschließende  Bemerkungen,  die  an  Studien  über 
Ketteier  und  das  Vatikanische  Konzil  anknüpften,  hier  weggelassen, 
um  an  anderem  Orte  in  größerem  Zusammenhange  verwertet  zu 
-werden. 


4%  Fritz  Vigener, 

Die  Idee  der  kirchlichen  Unfehlbarkeit  ist  so  alt 
wie  die  Kirche.  Die  Kirche  als  Rechtsordnung,  wie  sie  sich 
aus  dem  Urchristentum  entwickelt  hat^),  ist  die  einzige  Ver- 
mittlerin der  Glaubenswahrheiten;  sie  hütet  den  Schatz, 
göttlicher  Offenbarung,  sie  bietet  ihn  den  Gläubigen  dar,, 
sie  genießt  als  die  gottgesetzte  Trägerin  der  Wahrheit  den 
Beistand  Gottes,  der  sie  vor  Irrtum  schützt.  Der  Anspruch 
auf  die  Unfehlbarkeit  in  der  Auslegung  der  Glaubenslehre 
ist  also  mit  der  Kirche  begriffsmäßig  verbunden.  Die  Kirche 
aber,  die  wir  geschichtlich  zuerst  fassen  können,  ist  nicht 
Papstkirche,  sondern  Bischofskirche.  Die  Erhebung  des. 
römischen  Primates,  die  Anerkennung  des  Primats  durch 
den  Episkopat,  die  Verdichtung  des  primatus  honoris  zu 
einem  primatus  jurisdictionis  ist  das  Ergebnis  einer  in  den. 
Hauptstufen  erkennbaren  geschichtlichen  Entwicklung.  Den 
letzten,  förmlichen  Abschluß  hat  gewiß  erst  das  Vaticanum 
gebracht.  Tatsächlich  aber  hatte  das  Papsttum  bereits  auf 
der  Höhe  des  Mittelalters  die  monarchische  Stellung  er- 
reicht.   Man  darf  das  ein  Werk  der  päpstlichen  Politik 

1)  Daß  die  älteste  Christenheit  nur  den  religiösen  Begriff  der 
Kirche  kannte,  das  hat  auch  Adolf  Harnack,  obwohl  er  an  seiner 
Anschauung  von  dem  Dasein  einer  körperschaftlichen,  rechtlichen 
Ortsgemeindeverfassung  im  Urchristentum  festhält,  seinem  Gegner 
Rud.  Sohm  zugestanden.  Sohms  Darlegungen  über  den  grundsätz- 
lichen Unterschied  zwischen  Urchristentum  und  Katholizismus  (zu- 
erst in  den  Abh.  der  philol.-histor.  Klasse  der  Sachs,  Gesellsch.  der 
Wissensch.  27  [1909],  Heft  3),  die  in  einzelnen  Punkten  von  Scheel 
(Theol.  Studien  u.  Kritiken  85  [1912],  S.  403  f.)  durch  neue  Zeugnisse- 
und  Erwägungen  gestützt  worden  sind  (vgl.  jetzt  die  2.,  als  selbständige 
Schrift  1912  veröffentlichte  Auflage  von  Sohms  „Wesen  und  Ur- 
sprung des  Katholizismus"),  bleiben  bestehen,  auch  wenn  der  Histo- 
riker mit  Ed.  Schwartz  (Histor.  Zeitschr.  104  [1910],  609  ff.,  bes. 
611  f.)  bemerken  wird,  daß  der  Gegensatz  zwischen  Religion  und  Recht 
von  dem  Juristen  Sohm  „aufs  äußerste  zugespitzt"  ist.  Vgl.  ferner 
Lietzmann  in  der  Zeitschr.  f.  Wissenschaft!.  Theologie  55  (1913)^. 
Heft  2  und  Scheel  in  der  Dt.  Literaturzeitung  1913,  Nr.  26.  Der 
mehr  dialektisch-apologetische  als  quellenmäßig-kritische  Aufsatz  von 
P.  A.  Leder  in  der  Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschichte- 
32,  Kanonist.  Abteilung  1  (1911),  S.  276  ff.  („Das  Problem  der  Ent- 
stehung des  Katholizismus.  Kritische  Äußerungen  zu  Harnack  und 
Sohm")  ist  von  einem  katholisch-kirchlichen  Triumphgefühl  erfüllt, 
das  als  Herzensbedürfnis  begreiflich,  aber  sachlich  unbegründet  und 
für  die  Wissenschaft  belanglos  ist. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  497 

nennen  —  aber  nur  dann,  wenn  man  unter  Politik  nicht  ledig- 
lich die  Ausnutzung  und  Überwindung  fremder,  weltlich-poli- 
tischer Mächte  begreift,  sondern  zugleich  auch  die  Nieder- 
haltung innerkirchlicher  Widerstände  durch  die  Ausbildung 
und  Anwendung  eines  päpstlichen  Kirchenrechts.  Schon 
die  ersten  großen  kirchenpolitischen  Erfolge  der  Päpste 
im  Abendland  sind  nicht  nur  juristisch  gerechtfertigt,  son- 
dern gutenteils  auch  juristisch  vorbereitet;  die  päpstlichen 
Dekretalen  oder  gar  Pseudoisidor  allein  stellen  gewiß 
nicht  d  i  e  Grundlage  der  kirchlichen  .  .achtentfaltung  des 
Papsttums  dar,  aber  doch  eine  Grundstütze,  die  ihre  Kraft 
im  Mittelalter  glänzend  bewährt  und  ihre  Tragfähigkeit  nie 
verloren  hat.  Das  Dekretalenrecht,  wie  es  seit  dem  12.  Jahr- 
hundert ausgebaut  worden  ist,  spiegelt  das  hierarchische 
Kirchensystem  in  einheitlicher  Auffassung  juristisch  wieder 
und  es  sollte  zugleich  diesem  System  die  letzte  Vollendung 
geben.  Übrigens  hat  bereits  Gregor  VII.  der  papalistischen 
Auffassung  programmatische  Prägung  verliehen,  nicht  in 
einer  der  christlichen  Welt  gewidmeten  Kathedralentschei- 
dung, aber  in  einer  Aufzeichnung,  die  seine  Gedanken  in  der 
Form  bindender  Lehrsätze  darbot.  In  dem  Dictatus  papae^) 
ist  die  Idee  von  der  monarchischen,  unbeschränkten  Gewalt 
des  römischen  Bischofs  mit  absoluter  Gewißheit  als  ver- 
pflichtende Wahrheit  hingestellt,  aber  auch  mit  deutlicher 
Kampfrichtung  gegen  widerstrebende  Elemente,  deren  Macht 
nicht    überwunden    ist.^)     Bedeutsam  vor  allem,    daß    die 

')  Die  mit  unverdientem  Beifall  aufgenommene  Hypothese,  daß 
der  Kardinal  Deusdedit  der  Verfasser  des  Dictatus  papae  sei  —  E. 
Hirsch,  Die  rechtliche  Stellung  der  römischen  Kurie  und  des  Papstes 
nach  Kardinal  Deusdedit:  Archiv  f.  kathol.  Kirchenrecht  88  (1908), 
S.  599  Anm.  2,  601  u.  ö.  läßt  sie  einfach  als  Tatsache  gelten  — ,  ist 
ein  für  allemal  erledigt,  seitdem  das  Registrum  Gregors  VII.  als  das 
ursprüngliche  Kanzleiregister  erkannt  ist.  Vgl.  darüber  W.  M.  Peitz, 
S.  j. :  Das  Originalregister  Gregors  VII.  (Sitzungsberichte  der  Wiener 
Akademie,  philos.-hist.  Klasse  165,  5.  Abhandig.,  1911;  S.  265  ff.  über 
den  Dictatus);  Blaul  im  Archiv  für  Urkundenforscliung  4  (1912), 
S.  132  ff.;  Caspar  im  Neuen  Archiv  der  Gesellschaft  für  ältere  dt.  Ge- 
schichtskunde 38  (1913),  S.  143  ff.  (S.  204  eine  kurze  Bemerkung  über 
den  Dictatus). 

2)  Der  Dictatus  papae  (Registr.  Gregorii,  II  55  a;  Jaffe,  Biblio- 
theca  rer.   Germ.  2,  S.  174  ff.)   ist  bequem  zu   benutzen   in    Mirbts 


498  Fritz  Vigener, 

beiden  Gedanken,  die  mit  einer  streng  monarchischen  Ver- 
fassung der  Kirche  unmittelbar  gegeben  sind,  die  Idee  der 
Unfehlbarkeit  des  römischen  Stuhles  und  die  Idee  des  all- 
gemeinen Bischoftums,  des  päpstlichen  Universalepisko- 
pates, sich  in  diesem  bestimmtesten  aller  Bekenntnisse 
Gregors  VII.  nachweisen  lassen. i) 

Auch  die  Meinung,  daß  das  allgemeine  Konzil  den 
Papst  in  seiner  Gewalt  beengen  und  sich  als  übergeordnete 
Macht  hinstellen  könne,  sah  Gregor  VII.  als  erledigt  an. 2) 
Tatsächlich  ist  ja  die  kirchliche  Rechtsentwicklung  vom 
11.  bis  zum  14.  Jahrhundert  und  nicht  weniger  die,  durch 
die  Scholastik  auch  geistig  neu  gerechtfertigte,  reale  Gel- 
tung des  Papsttums  in  der  Kirche  eben  durch  die  Superiorität 
des  Papsttums  über  den  gesamten  Episkopat  gekennzeichnet. 
Man  darf  wohl  sagen,  daß  die  Konzilien  des  12.  und  13.  Jahr- 
hunderts und  selbst  noch  das  von  Vienne  an  und  für  sich  so 
gut  wie  das  vatikanische  und  gewiß  eifriger  als  dieses  zu 
einer  Dogmatisierung  des  Universalepiskopates  und  der  Un- 
fehlbarkeit des  Papstes  grundsätzlich  bereit  gewesen  wären. 
Aber  die  Frage  wurde  nicht  aufgeworfen,  weil  sie  gar  nicht 
als  eine  der  Lösung  bedürftige  Frage  empfunden  worden 
ist.  Daß  eine  Verschiedenheit  der  Auffassung  über  die 
Stellung  des  Papstes  in  der  Kirche  vorhanden  war,  ist  dann 
freilich  noch  im  14.  Jahrhundert  der  Kurie  deutlich  genug 
offenbart  worden,  und  nicht  nur  durch  literarische  Polemik. 
In  der  konziliaren  Idee,  die  vorher  höchstens  als  politische 

Quellen  zur  Geschichte  des  Papsttums  und  des  röm.  Katholiz.,  2.  A., 
S.  113,  Nr.  201  (3.  A.,  1911,  Nr,  255)  oder  in  Bernheims  Quellen  zur 
Gesch.  des  Investiturstreites  (in  der  von  Brandenburg  und  Seeliger 
hg.  Quellensammlung),  Heft  1  (1907),  S.  47.  Den  übersichtlichsten 
Druck  bietet  jetzt  (Sommer  1913)  K.  Brandi,  Urkunden  und  Akten 
für  akademische  Übungen  zusammengestellt  (S.  44,  Nr.  29). 

^)  Dictatus  §  22:  Quod  Romana  ecclesia  numquam  erravit  nee 
in  perpetuum,  scriptura  testante,  errabit.  Vgl.  §  19,  23  und  26.  — 
§  2,  3,  7  (Quod  Uli  soli  licet  pro  temporis  necessitate  novas  leges  con- 
dere  ....).  —  Vgl.  auch  Gregors  Brief  von  1080  (Registr.  VIII,  1; 
Jaffe,  Bibl.  2,  425):  in  qua  [in  sancta  Romana  ecclesia]  nullus  unquam 
haereticus  praefuisse  dinoscitur,  nee  unquam  praeficiendum  praesertim 
Domino  promittente  confidimus. 

^)  Dictatus  §  16:  Quod  nulla  synodus  absque  praeeepto  eius  debet, 
generalis  vocari.    Vgl.  §  3  und  25. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  499 

Waffe  gelegentlich  eine  wenig  wirksame  Rolle  gespielt 
hatte,  hat  sich  jetzt  die  Gegenbewegung  recht  greifbar 
geäußert.  Das  Schisma  hat  den  Schleier  zerrissen,  der 
die  Einheitlichkeit  des  Kirchenbegriffs  vortäuschte.  Mit 
Recht  hat  J.  Haller*)  nachdrücklich  darauf  hingewiesen, 
daß  es  sich  in  den  kirchlichen  Kämpfen  der  Zeit  des  großen 
Schismas  um  zwei  einander  ausschließende  Anschauungen 
vom  Wesen  der  Kirche  handelte.  Die  Gedanken,  die  nie 
völlig  untergegangen,  aber  zu  Boden  gedrückt  waren,  er- 
hoben sich  in  den  Kämpfen  um  die  Wiederherstellung  der 
Kircheneinheit;  die  Lehre  von  der  Superiorität  des  all- 
gemeinen Konzils  schloß  sowohl  die  absolute  Regierungs- 
gewalt des  Papstes  in  der  Kirche  als  auch  die  lehramtliche 
Unfehlbarkeit  des  ex  cathedra  entscheidenden  Papstes  aus. 
Soweit  der  Konziliarismus  eine  förmliche  Veränderung  der 
Kirchenverfassung  durchsetzen  wollte,  ist  er  durch  das 
Papsttum  überwunden  worden.  Die  praktischen  Fol- 
gerungen aus  der  konziliaren  Theorie  hat  die  Kurie  ab- 
gewehrt; der  damals  hervorgetriebenen  Doktrinen  aber 
ist  sie  erst  auf  dem  vatikanischen  Konzil  Herr  geworden. 
Dem  papalen  Kirchenbegriff  stand  nicht  mehr  lediglich 
eine  ,,konziliare"  Theorie,  sondern  vielmehr  eine  anders 
geartete,  ernsthaft  und  einheitlich  aufgefaßte  Idee  vom 
katholischen  Kirchentum  selbständig  und  mit  dem  Anspruch 
auf  Richtigkeit  und  Gültigkeit  gegenüber;  sie  lief  letzten 
Endes  darauf  hinaus,  dem  Episkopat  eine  Mitwirkung  bei 
der  Regierung  der  Kirche  grundsätzlich  zu  wahren  und  ihm 
seinen  unbedingten  und  für  unentbehrlich  geltenden  Anteil 
an  dem  unfehlbaren  Lehramt  zu  sichern.  In  Deutschland 
hat  allerdings  die  große  Glaubensspaltung  mit  ihren  staats- 
und  kirchenpolitischen  Folgen  diese  episkopalistische  Bewe- 
gung im  Katholizismus  zurückgedrängt,  fast  vernichtet. 2)    Im 

^)  Papsttum  und  Kirchenreform  1  (1903),  S.  333. 

^)  Eine  scheue  Zurückhaltung  vor  der  Wiederholung  des  bestimmt 
formulierten  Konstanzer  Satzes  von  der  Überordnung  des  allgemeinen 
Konzils  über  den  Papst  zeigt  sich  übrigens  schon  in  der  Mainzer  Akzep- 
tation  von  1439;  vgl.  Werminghoff,  Nationalkirchliche  Bestrebungen 
im  deutschen  Mittelalter  (1910),  S.  44  ff.  In  ähnlicher  Rücksicht  auf 
taktische  Bedürfnisse  hat  später  auch  Wimpheling  in  einem  Gut- 
achten die  große  grundsätzliche  Frage  bei  Seite  geschoben,  indem  er 


500  Fritz  Vigener, 

Leben  wie  in  der  Literatur.  Die  Kämpfe  der  Reformations- 
zeit greifen  auf  beiden  Seiten  zu  tief,  als  daß  der  Streit  über 
das  Verhältnis  von  Primat  und  Episkopat,  von  Papsttum 
und  unfehlbarer  Kirche  mehr  als  nur  nebenbei  hätte  hervor- 
treten können.  1)  Von  Interesse  ist  es  immerhin,  zu  sehen, 
daß  und  wie  die  protestantische  Polemik  die  Frage  nach  der 
Stellung  der  Bischöfe  zum  Papste  aufgegriffen  hat.  Ihre 
Tendenz  im  Kampfe  wider  die  lehrende  Kirche  des  Katholi- 
zismus ist  keineswegs  einhellig.  Die  protestantische  Auf- 
fassung von  Papsttum  und  Episkopat  ist  widerspruchsvoll 
und  wechselnd  selbst  bei  den  einzelnen,  wie  sich  z.  B.  an 
Luther  zeigen  ließe.^)  Das  liegt  keineswegs  bloß  an  einer  Un- 
klarheit in  der  Erfassung  katholischer  Glaubensprinzipien, 
noch  ist  es  lediglich  in  polemischer  Absicht  begründet.  Es 
ist  vielmehr  das  Ungeklärte,  Unausgeglichene,  Umstrittene 
in  der  katholischen  Anschauung  selbst,  das  sich  hier  äußert. 
Der  Anspruch  des  Papstes  war  gewiß,  wie  Luther  einmal  sagt 3)^ 
der,  daß  er  Herr  und  Richter  sein  solle  über  das  Concilium. 
Aber  die  Frage  nach  der  Superiorität  von  Papst  oder  Konzil 
war  weder  durch   eine  allgemein   anerkannte   dogmatische 


aus  der  französischen  pragmatischen  Sanktion  u.  a.  das  Dekret  „De 
concüiorum  generalium  audoritate"  ausschied;  vgl.  B.  Gebhardt,  Die 
Gravamina  der  dt.  Nation  gegen  den  römischen  Hof,  2.  A.,  1895, 
S.  80. 

^)  In  Italien  breitet  sich  die  katholische  Polemik,  wie  sich  aus 
der  Volksart  und  aus  der  weit  geringeren  Wucht  des  Widerstandes 
der  Gegner  erklärt,  in  ihren  literarischen  Äußerungen  auch  gern  auf 
den  Streit  der  Meinungen  über  die  Unfehlbarkeit  und  den  Universal- 
episkopat des  Papstes  aus.  Die  meisten,  die  in  Italien  Luther  be- 
kämpfen, vertreten  die  kurialistische  Doktrin.  Aber  nicht  alle.  Der 
Franziskaner  Thomas  Illyricus  z,  B.  sagte  vom  Papste:  Ad  ipsum  so- 
lum  pertinent  omnes  causae  maiores  de  ecclesia,  excepto  tarnen  .  .  . 
quod  non  potest  aliquid  decidere  in  causa  fidei  sine  concilio  .  .  .  quia 
papa  potest  errare  in  fide,  sed  non  tota  ecclesia.  Vgl.  Lauchert,  Die 
ital.  literarischen  Gegner  Luthers  (1912;  Erläuterungen  und  Ergän- 
zungen zu  Janssen  8)  S.  247. 

2)  Die  Stellen  sind  aus  dem  Sachregister  der  Erlanger  Ausgabe,, 
Bd.  67  (1857),  S.  68  ff.  leicht  zusammenzubringen. 

^)  In  der  Schrift  (von  1545)  „Wider  das  Papsttum  zu  Rom,  vom 
Teufel  gestiftet"  (Erianger  Ausg.  26,  Frankf.  1885,  S.  134  f.);  in  der 
von  Buchhorn,  Kawerau  u.  a.  hg.  deutschen  Volksausgabe,  3.  Aufl.,. 
Bd.  4  (1905),  S.  130. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  501 

Entscheidung^)  förmlich  gelöst,  noch  in  der  Auffassung  der 
Gläubigen  endgültig  erledigt. 

Auch  das  Tridentinum  hat  hier  nicht  durch- 
gegriffen. Dieses  Konzil  ist,  wie  kein  anderes  in  der  abend- 
ländischen Kirche,  zugleich  Reformsynode  und  konstitutives 
Lehrkonzil  gewesen  —  mit  der  Absicht  und  dem  Ergebnis, 
die  katholische  Glaubenslehre  abzugrenzen  gegen  fremde 
Gedanken,  insbesondere  gegen  die  feindlichen  Ideen  des 
Protestantismus.  Aber  auch  diese,  mit  ihrer  Arbeitsleistung 
die  ganze  künftige  Entwicklung  des  Katholizismus  bestim- 
mende Vertretung  der  restaurierten  und  romanisierten  Welt- 
kirche hat  die  tief  bedeutungsvolle  Frage  nach  dem  Charakter 
der  Kirchenverfassung  und  den  Trägern  der  Lehrgewalt 
und  der  Unfehlbarkeit,  d.  h.  in  concreto:  nach  der  Stellung 
der  Bischöfe  zum  Papst,  der  apostolischen  Bischofsgemein- 
schaft zum  Nachfolger  Petri  nicht  in  ihrem  ganzen  Inhalte 
anzufassen  gewagt.  Die  Politik,  die  der  weltlichen  und  die 
der  geistlichen  Gewalten,  die  in  so  mannigfacher  Weise  das 
Tridentinum  und  wahrlich  nicht  nur  seinen  äußeren  Verlauf 
beeinflußt  hat^),  ist  auch  hier  nicht  ohne  Wirkung  geblieben. 
Aber  durchaus  entscheidend  sind  doch  die  innerkirchlichen 
Strömungen;  aus  ihnen  erklärt  sich  die  Tatsache,  daß  die 
Streitfrage  über  das  Verhältnis  bischöflicher  und  päpstlicher 
Jurisdiktion,  über  die  Begründung  bischöflicher  und  päpst- 


^)  Die  Bulle  „Execrabilis" ,  die  Pius  II.  1459  ausgehen  ließ  (Aus- 
zug: Mirbt,  Quellen  der  Gesch.  d.  Papsttums,  2.  Aufl.  Nr.  263,  3.  Aufl. 
Nr.  329;  deutsche  Übersetzung  bei  Pastor,  Gesch.  der  Päpste,  Bd.  2 
(3. — 4.  A.,  1904),  S.  80),  um  die  Appellationen  vom  Papst  an  das  Kon- 
zil mit  der  Exkommunikation  zu  belegen,  kann  natürlich  so  wenig  als 
solche  gelten  wie  spätere  päpstliche  Verfügungen  dieser  Art.  Daß  nicht 
„nonnulli,  spiritu  rebellionis  imbuti",  wie  die  Bulle  behauptet,  diese 
vom  Papst  verdammte  Anschauung  vertraten,  lehrt  die  Geschichte. 
Selbst  Pastor  (a.  a.  0.  S.  79)  meint,  daß  die  Appellation  damals  „viel- 
fach" als  zulässig  gegolten  habe,  fügt  freilich  sogleich  die  über  die 
Befugnisse  des  Historikers  hinausgehende  Bemerkung  hinzu,  daß 
„man  sich  des  Widerspruches  zwischen  der  falschen  Konzilstheorie 
und  der  göttlichen  Rechte  des  Papsttums  gar  nicht  bewußt"  ge- 
wesen sei. 

»)  Vgl.  dazu  etwa  Paul  Herre,  Papsttum  und  Papstwahl  im 
Zeitalter  Philipps  II.  (1907),  4.  Kapitel,  besonders  S.  69  ff. 


502  Fritz  Vigener, 

lieber  Lehrbefugnis  gerade  von  römiscber  Seite  nur  zagbaft 
angegriffen  1)  und  auf  beiden  Seiten  nur  theoretisch  erörtert 
worden  ist.  Einzelne  Konzilsväter  haben  den  ganzen  Auf- 
wand biblischer  Beweise  und  theologischer  Begründung  ent- 
faltet; aber  neben  einem  entschlossenen  Episkopalismus^) 
vertrat  der  durchgebildete  Kurialismus  mit  allen  seinen 
Folgerungen  und  Forderungen,  in  der  gleichen  Methode  und 
mit  denselben  Mitteln,  seine  Sache.^)  Eben  dieses  Nebeneinan- 

1)  Vgl.  S.  504  Anm.  1. 

2)  Der  Bischof  von  Lugos  in  Spanien  sagte  in  seiner  Rede  vom 
3.  Dez.  1562  „episcopos  iure  divino  immediate  a  Christo  institutos, 
sed  per  Romanum  pontificem,  non  tantum  quoad  potestatem  ordinis, 
sed  etiam  iurisdictionis,  cum  a  Deo  constituti  sint  ad  regendam  et 
gubernandam  ecclesiam".  (Concilium  Tridentinum  ...  II;  Diariorum 
pars  II  colieg S.  Merkte  [1911],  S.  753 f.)  —  Ein  anderer  spani- 
scher Bischof  erklärte  am  3.  Dez,  1562,  daß  die  Bischöfe  unmittelbar 
von  Christus  eingesetzt  seien  „quoad  omnimodam  potestatem"  und 
daß  „ut  Petrus  nullam  dedit  apostolis  potestatem,  sie  nee  pontifex 
Romanus  episcopis  quoad  regendam  ecclesiam";  die  Beweise  für  seine 
eindrucksvollen  Darlegungen  {„confirmans  suam  sententiam  .  .  .  docte 
et  eloquentissime"  sagt  selbst  sein  Gegner,  der  uns  berichtende  Bi- 
schof von  Verdun)  entnahm  er  den  älteren  kirchlichen  Schriftstellern 
mit  der  interessanten  Bemerkung  „nolle  se  credere  doctoribus,  qui  a 
divo  Bernardo  liucusque  scripserunt,  nisi  quatenus  consentiant  prio- 
ribus".  Concil.  Trident.  2,  S.  756.  —  Auch  der  Bischof  von  Amiens 
(oder  der  von  Saintes?,  vgl.  a.  a.  O.  766,  Anm.  5)  verteidigte  die  apo- 
stolische Gewalt  der  Bischöfe;  sie  hätten  „a  Deo  immediate  authori- 
tatem  quandam  supremam",  und  zwar  „plenissimam,  universalissimam 
et  a  papa  solo  non  valentem  coarctari,  eo  quod  sit  apostolica  actu  par 
papali"  und  die  Nachfolger  der  Apostel  könnten  vom  Papste  nicht 
genötigt  werden  „extra,  praeter,  contra  aut  supra  canones,  sed  a  sola 
ecclesia  Ulis  superiori,  cuius  est  moderari,  laxare  et  limitare  ipsorum 
potestatis  exercitium  ei  soll  subditum"  (a.  a.  O.  768,  Z.  2  ff.).  —  Der 
Bischof  von  Metz  wandte  sich  scharf  gegen  die  papalistische  Lehre 
(a.  a.  O.):  Kirche  und  Konzil  stehen  über  dem  Papste;  bei  Konzilien, 
die  Glaubensfragen  behandeln,  müssen  Laien  zugegen  sein(!);  der  Papst 
besitze  nicht  die  plenitudo  potestatis;  „Quod  dicitur  ecclesia  errare 
non  posse,  intelligendum  est  de  tota  ecclesia  Christi".  —  Der  Bischof 
von  Le  Mans  am  6.  Dez.  1562:  nullam  esse  differentiam  et  dissimili- 
tudinem  inter  apostolos  et  episcopos  et  quod  omnino  etiam  quoad  omni- 
modam iurisdictionem  episcopi  sunt  a  Christo  instituti. 

8)  Die  päpstliche  Auffassung  (vgl.  dazu  S.  504  Anm.  1)  in  der  Frage 
nach  dem  Ursprünge  der  bischöflichen  Jurisdiktion  sprach  z.  B.  der 
Bischof  von  Salamanca  in  seinem  Votum  vom  30.  November  1562 
aus  (Concilium  Trident.  2,  662  f.),  u.  a.  so  (S.  663,  Z.  23  ff.):  (Itaque) 


Gallikanismus  u.episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  503 

der  der  sich  ausschließenden  Meinungen  unter  Bischöfen  und 
Theologen,  die  im  Glaubenseifer  und  in  einhelliger  Abwehr 
alles  Kirchenfeindlichen  einander  zu  übertreffen  suchten, 
hat  das  Konzil  wie  die  Kurie  über  die  Unmöglichkeit  einer 
Entscheidung  belehrt. i)  Die  päpstlichen  Konzilslegaten  sahen 
sich  dem  vordringenden  Episkopalismus  gegenüber  auf  die 
Verteidigung  angewiesen.  Es  kennzeichnet  ihre  beengte 
Lage  und  zugleich  die  mehr  schlaue  als  ehrliche  Taktik, 
mit  der  sie  sich  den  Fesseln  zu  entwinden  suchten,  daß  sie 

quantitm  ad  ordinem  liabemiis  episcopatum  a  Christo  per  summunt 
pontificeni  tanquam  per  supremum  eius  vicarium  atque  ministrum. 
Quantum  vero  attinet  ad  iurisdictionem,  illam  habemus  a  summo  pon- 
tifice,  cui  plena  et  suprema  potestas  et  iurisdictio  tributa  est,  ut 
nie  tanquam  summus  pastor  provincias  distribueret  et  inferiores  pa- 
stores  in  Ulis  collocaret.  —  Der  Bischof  von  Leiria  erklärte  am  24.  No- 
vember 1562  kurz  und  bestimmt:  Nullus  dicat  episcopos  apostolis 
successisse,  cum  multum  eis  desit  iurisdidionis  et  potestatis,  qua  do- 
natos fuisse  apostolos  constat.  Potest  tarnen  dici  episcopos  succes- 
sisse apostolis,  sed  per  similitudinem  tantum.  Neque  enim  negari 
potest  episcopos  iure  divino  esse  institutos,  cum  ordo  sit  ex  Deo,  sed 
non  praejiciuntur  ecclesiis  nisi  mediante  papa,  a  quo  liabent  iurisdic- 
tionem, ut  in  eadem  vinea  Christi  simul  cum  eo  laborant  (a.  a.  O. 
S.  738  f.).  —  Man  vergleiche  damit  die  vorige  Anmerkung,  nament- 
lich (am  Schlüsse)  die  Erklärung  des  Bischofs  von  Le  Mans. 

^)  Daß  die  Frage  über  die  Ableitung  der  bischöflichen  Jurisdik- 
tion weder  durch  das  Tridentinum  noch  auch  durch  das  Vaticanum 
förmlich  entschieden  worden  ist,  haben  auch  gut  kurialistisch  gesinnte 
Theologen  mit  fühlbarer  Genugtuung  festgestellt,  z.  B.  J.  Hergen- 
röther,  Kathol.  Kirche  und  christlicher  Staat  2  (1872),  S.  908.  Vgl. 
auch  S.  505  Anm.  1.  Man  vergißt  dabei,  daß  mit  der  Dogmatisierung 
des  päpstlichen  Universalepiskopates  die  Streitfrage  ihre  alte  Bedeu- 
tung verloren  hat.  Übrigens  ist  in  dem  Prooemium  zu  „Pastor  aeter- 
nus"  die  päpstliche  Auffassung  wenn  nicht  dogmatisiert,  so  doch  de- 
klariert, und  neuerdings  behandeln  Kurialisten  reinster  Prägung  die 
Frage  so,  als  sei  sie  in?  päpstlichen  Sinne  dogmatisch  entschieden. 
Man  lese,  was  E.  Commer,  Die  Kirche  in  ihrem  Wesen  und  Leben 
dargestellt  I  (Vom  Wesen  der  Kirche),  Wien  1904,  S.  156  ff.  über 
„Die  Vollgewalt  des  Papstes"  zu  sagen  weiß.  Hier  bleibt  für  die  Bi- 
schöfe von  eigener  Gewalt  nichts  übrig.  Vgl.  z.  B.  S.  178:  „Die  Kirche 
hat  keine  innere  Macht  aus  sich  selbst,  um  sich  zu  erhalten.  Der 
Papst  ist  . . .  nicht  bloß  die  höchste  Spitze  der  Kirche,  sondern  auch 
ihr  tiefster  Grund. . .";  nach  S.  184  sind  Papst  und  Kirche  eins,  nach 
S.  183  „ist  der  Papst  in  seiner  Würde  gleichsam  ein  zweiter  Christus" 
und  mit  Gott-Vater  ,,hat  der  Papst  wegen  seiner  Machtfülle  eine  be- 
sondere Ähnlichkeit". 


504  Fritz  Vigener, 

im  Herbst  1562  im  Einverständnis  mit  der  Kurie  die  be- 
denkliche Lehre  „institutionem  episcoporum  esse  iuris  di- 
vinV*  durch  allerlei  andere  Darlegungen  in  den  Kanones 
und  in  der  Einleitung  unschädlich  zu  machen  entschlossen 
waren. 1)  Der  Satz  war  gefährlich,  weil  er  seinem  vollen  Inhalt 
nach  den  Anspruch  auf  den  päpstlichen  Universalepiskopat 
ausschloß  und  die  Aussicht  auf  künftige  kirchliche  Anerken- 
nung des  kurialen  Papstbegriffes  zu  verdunkeln  drohte. 2) 
Für  den,  der  vom  Tridentinum  zum  Vaticanum  hinblickt, 
ist  die  Beobachtung  wertvoll,  daß  der  konsequente  Kurialis- 
mus  auch  die  Auffassung  zahlreicher  Bischöfe  beherrschte. 
Vielleicht  die  Hälfte  der  Konzilsväter  wäre  bereit  gewesen, 

^)  In  dem  Briefe  der  Konzilslegaten  an  den  Kardinal  Borromäus 
vom  19.  Oktober  1562  heißt  es  (Jacobi  Lainez  .  .  .  Disputationes  Tri- 
dentinae  .  .  .  edidit  .  .  .  H.  Grisar  I  (1886),  S.  414):  Per  qiiel,  che  si 
pud  fin  hora  vedere,  i  voti  che  vogliono  che  si  dichiari,  i  nst  ituci  o  - 
nem  episcoporum  esse  juris  div  i  ni ,  se  non  sono  supe- 
riori  o  pari  a  gli  altri,  manco  di  cosi  poco,  che  non  si  potria  senza  grave 
scandalo  lasciare  di  far  questa  dechiarazione.  Ma  saremo  domani  insieme 
e  vederemo  di  mettere  parole  tali  cosi  nella  prefatione  come  nei  canoni,  che 
questa  dechiarazione  non  ci  farä  alcun  nocumento.  —  Dazu  die  Antwort 
des  Borromäus,  Rom,  29.  Olctober  1562  (in  Trient  am  4.  Nov.  ange- 
kommen), a.  a.  O.  S.  423  (Regest  und  Auszug):  Wenn  im  Konzil  er- 
klärt werde,  die  Einsetzung  der  Bischöfe  sei  göttlichen  Rechtes,  so 
müsse  zugefügt  werden,  daß  das  nur  vom  ordo  nicht  von  der  jurisdictio 
gelte.  „Sua  S^^  ha  ancora  inteso  per  la  postscritta  de'  ig .  .  il  dubbio, 
che  havevano  di  non  poter  lasciar  di  declarare,  institutionem  episcopa- 
tus  esse  juris  divini.  Nel  che  non  voglio  mancare  di  ricordare  (se 
bene  so,  non  essere  bisogno)  che  quando  cid  s'habbi  pure  a  jare,  s'in- 
tenda  solamente  quo  ad  or  di  ne  m;  essende  troppo  chiaro  cosa,  che 
quo  ad  j  ur  i  sdi  et  i  o  nem  i  vescovi  l'hanno  da  summo  pontijice, 
et  che  in  la  detta  declaratione,  tanto  nella  prejatione,  quanto  nei  canoni 
si  mettano  anco  paroli  tali  (come  Lor  dicono,  che  jaranno),  che  non 
p  0  ssano  in  temp  o  alcun  o  generare  p  r  egi  udi  c  i  o 
ne  tirar  consequenze  pernitiose  a  questa  s  ant  a 
se  de. 

2)  Vgl.  die  (von  mir)  gesperrten  Worte  der  vorigen  Anmerkungen. 
—  Die  extremen  Papalisten  des  späteren  Mittelalters  hatten  im  Kampfe 
gegen  die  konziliare  Bewegung  die  Frage  nach  der  Stellung  der  Bi- 
schöfe in  einem  Sinne  behandelt  und  erledigt,  den  die  Kurie  selbst 
offen  kaum  zu  vertreten  wagte.  So  außer  Augustinus  Triumphus  und 
Alvarus  Pelagius  namentlich  Torquemada  (Turrecremata);  vgl.  Pastor, 
Oesch.  d.  Päpste  1*,  390  ff.  (dessen  Auffassung  allerdings,  man  be- 
achte S.  392  Anm.  1,  manchen  Bedenken  unterliegt). 


Gallikanismus  u.episk. Strömungen  im  dtsch.Katholizismus  etc.  505 

auf  den  Satz  von  der  göttlichen  Verleihung  der  bischöflichen 
Gewalt  zu  verzichten.  Und  es  gab  Bischöfe,  die  in  der  Ab- 
lehnung episkopalistisch-gallikanischer  Gedanken  weder  den 
Jesuiten^)  noch  den  Legaten  etwas  nachgaben.  Wäre  ihre 
zahlenmäßige  und  persönliche  Überlegenheit  stärker  ge- 
wesen 2),  so  hätte  man  die  Lehre  von  der  gottgesetzten  bischöf- 
lichen Jurisdiktion  verworfen,  und  dem  Episkopalismus 
wären  noch  schwerere  Wunden  geschlagen  worden.  So  aber 
kam  es  anders.  Das  Tridentinum  hat  zwar  dem  Papste  die 
Möglichkeit  gelassen,  deutbare  Dekrete  in  seinem  Sinne  aus- 
zulegen, aber  an  der  in  Rom  festgehaltenen  und  auch 
anderwärts  gepflegten  Lehre  von  der  Unfehlbarkeit  des 
Papstes  hat  es  vorübergehen  müssen,  und  auch  die  Dogma- 
tisierung  des  päpstlichen  Universalepiskopats  durfte  man 
nicht  wagen,  da  die  Welt  weder  kirchlich  noch  politisch 
vorbereitet  war,  das  Dogma  aufzunehmen. 

Um  so  mehr  haben  die,  denen  diese  Lehren  als  offenbarte 
Wahrheit  oder  als  notwendige  Folgerung  aus  der  Kirchen- 
lehre galten  oder  wenigstens  nützlich  für  den  Zusammenhalt 
des  Katholizismus  erschienen,  nach  dem  Konzil  ihre  Kräfte 
und  Mittel  eingesetzt,  um  der  kurialistischen  Doktrin  in 
Kirche  und  Volk  neuen  Boden  zu  gewinnen.  Die  nachtri- 
dentinische  Theologie  hat  ihre  Gelehrsamkeit,  ihren  Scharf- 
sinn, ihre  Kunst  der  Auslegung  und  Formulierung  mit  Vor- 
liebe eben  jener  Doktrin  zugewandt,  die  man  zu  Trient  in 
kein  Dekret  hat  hineinbringen  können.  Noch  vor  Abschluß 
des  Konzils  hat  der  Dominikaner  Melchior  Canus  in  seinen 


*)  Lainez  hat  noch  beim  Abschluß  der  Debatten  die  kurialistischen 
Grundsätze  über  die  Stellung  des  Episkopates,  von  denen  die  Kurie 
selbst  unter  dem  Druck  der  Verhältnisse  abgehen  mußte,  in  ihrer 
von  aller  Diplomatie  unangekränkelten  Reinheit  vertreten  (Disputa- 
tiones  a.  a.  O.  S.  •38  ff.).  Beachtenswert  ist,  daß  Lainez  lehrt  (Quae- 
stio  II,  cap.  3  seiner  zu  einer  Abhandlung  erweiterten  Konzilsrede, 
a.  a.  O.  S.  77  ff.),  die  Apostel  hätten  ihre  Jurisdiktion  nicht  un- 
mittelbar von  Christus,  sondern  von  Petrus,  dem  Christus  die  ganze 
Regierungsgewalt  übertragen  habe.  Wenn  Grisar,  S.  *51,  dazu  bemerkt 
„hodie  merito  contraria  doctrina  invaluit",  so  würde  doch  z.  B.  Com- 
mer  (vgl.  S.  503  Anm.  1)  mindestens  dem  „merito"  seine  Anerken- 
nung versagen.  Vgl.  etwa  noch  die  1911  veröffentlichte  Schrift 
•des  römischen  Priesters  Cappello,  De  curia  Romana  1,  S.  8. 

')  Vgl.  dazu  den  Brief  der  Konzilslegaten,  vorige  Seite  Anm.  1. 

Historische  Zeits.U.i:;  all.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  33 


506  Fritz  Vigener, 

„Loci  theologici''  zwar  die  Unfehlbarkeit  der  Kirche  voran- 
gestellt und  sie  darauf  gegründet,  daß  Christus  das  Haupt 
und  der  Herr  der  Kirche  sei^);  auch  hat  er  in  seinen  Dar- 
legungen über  die  Konzilien  nicht  nur  deren  Dekreten,  son- 
dern auch  den  für  die  ganze  Kirche  gegebenen  päpstlichen 
Glaubensentscheidungen  die  Unfehlbarkeit  eben  darum  zu- 
gesprochen, weil  die  gesamte  Kirche  die  Gabe  der  Irrtums- 
losigkeit  besitze. 2)  Aber  Canus  hat  doch  ein  ganzes  Buch 
seines  Werkes  überschrieben  „De  ecclesiae  Romanae  auc- 
toritate'';  er  vertritt  hier  den  päpstlichen  Universalepi- 
skopat und  stellt  die  persönliche  Unfehlbarkeit  des  Papstes 
in  Glaubensentscheidungen  als  theologisch  gesicherte  Lehre 
hin. 3)  Canus  hat  wie  anderwärts  so  auch  in  Deutschland  die 
kirchlich-scholastische  Dogmatik  und  die  praktische  Auf- 
fassung, die  der  Klerus  sich  von  der  Kirchenverfassung 
bildete,  vielfach  beeinflußt.  Gerade  in  Deutschland  ist 
freilich  sein  Einfluß  durch  die  Geltung  anderer  überwunden 
worden,   und   namentlich   der  erste  deutsch-niederländische 


I 


^)  Fratris  Melchioris  Cani  .  .  .  Locorum  theologicorum  libri  XI 1 
[zuerst  1562,  von  mir  benutzt  in  der  zu  Padua,  typis  seminarii,  1734 
gedrucl<ten  Ausgabe  der  Opera],  lib.  IV,  cap.  4  (S.  118  ff.):  •  •  •  Ecde- 
siam  in  fide  errare  non  posse,  sie  a  fidelibus  accipiendum  est,  ut  quic- 
quid  ecclesia  tanquam  fidei  dogma  tenet,  verum  Sit,  nee  quicquam 
falsum,  quod  illa  aut  credit,  auf  docet  esse  credendum.  Cum  enim 
Corpus  Christi  sit,  ut  ad  Ephesios  docet  Apostolus,  a  suo  certe  capite 
movetur  ac  regitur.  Ecclesiae  igitur  error  ad  Christum  auctorem  re- 
feretur.    Nullo  itaque  pacta  errare  in  fide  potest. 

2)  A.  a.  O.  lib.  V:  De  auctoritate  conciliorum.  Vgl.  besonders 
S.  166,  Spalte  1:  Certitudo  quippe  Fidei  judicibus  a  Deo  constitutis 
non  propter  ecclesias  privatas  promissa  et  concessa  est,  quae  singulae 
errare  possunt,  sed  propter  ecclesiam  universalem,  quae  errare  non  po- 
test. Itaque  summorum  pontificum  conciliorumque  doctrina,  si  toti 
ecclesiae  proponatur,  si  cum  obligatione  etiam  credendi  proponatur, 
tum  vero  de  fidei  causa  Judicium  est  .  .  . 

3)  A.  a.  O.  lib.  VI:  De  ecclesiae  Romanae  auctoritate.  Vgl.  be- 
sonders Kapitel  3,  das  beweisen  will,  daß  Petrus  von  Christus  als 
„pastor  ecclesiae  universalis"  [vgl.  oben  S.  502  Anm.  3  „summus  pastor"] 
eingesetzt  worden  sei  und  die  Unfehlbarkeit  in  Glaubensentscheidungen 
erhalten  habe,  ferner  Kapitel  4  „In  quo  ostenditur,  quod  Romanus 
episcopus  nie  sit,  qui  Petro  et  in  fidei  firmitate  et  in  componendis  reli- 
gionis  controversiis  divino  jure  succedat",  Kapitel  7  (Rationibus  Theo- 
logiae  probat,  R.  Pontificum  in  fidei  controversiis  finiendis  errare  non 
posse),  dazu  Kapitel  8. 


Gallikanistnus  u.episk.  Strömungen  im  dtsch.Katholizismusetc.  507 

Jesuit,  Petrus  C  a  n  i  s  i  u  s  ,  hat  viel  mehr  in  die  Breite 
gewirkt. 

Canisius  hat  den  tridentinischen  Streit  über  das  Ver- 
hältnis von  Papsttum  und  Episkopat  aufrichtig  beklagt.*) 
Aber  er  bekannte  sich  doch  zu  der  Ansicht,  daß  die  Bischöfe 
ihre  Jurisdiktion  lediglich  durch  päpstliche  Vermittlung 
erhielten^),  und  der  päpstliche  Universalepiskopat  ist  von 
ihm  nie  in  Zweifel  gezogen  worden. 3)  in  seinen  Katechismen, 
die  für  das  katholische  Deutschland  eine  ähnliche  Bedeu- 
tung beanspruchen  wie  Luthers  Katechismus  für  das  pro- 
testantische und  ihre  Geltung  bis  in  die  Zeit  der  Aufklärung, 
in  geringerem  Maße  noch  darüber  hinaus  behaupteten,  in 
seinem  großen  wie  in  seinem  kleinen  Katechismus  hat  Cani- 
sius die  Lehre  von  der  die  ganze  Kirche  umspannenden  un- 
mittelbaren päpstlichen  Gewalt  als  einen  selbstverständlichen 
Bestandteil  des  Begriffes  Kirche  aufgefaßt  und  die  kirch- 
lichen Entscheidungen  der  Päpste  neben  den  Konzilsbeschlüs- 
sen und  der  Tradition  zu  den  gottgewollten  Zeugnissen  der 
Wahrheit  gerechnet.*)  Die  Frage,  ob  erst  die  Zustimmung 
der  Kirche  einer  päpstlichen  Glaubensentscheidung  Unab- 
änderlichkeit verleihe,  hat  er  nicht  berührt.  Er  hätte  sie 
gewiß  verneint.^)  Aber  daß  er  die  Lehre  von  der  Unfehlbar- 
keit des  Papstes  nicht  gebracht  hat,  sie  also  vom  katecheti- 
schen Unterricht  ferngehalten  wissen  wollte,  ist  für  die  kluge 


^)  Beati  Petri  Canisii,  S.  J.  Epistulae  et  acta  colleg.  .  .  .  Otto 
Braunsberger,   III  (1561,  1562),  Freiburg  1901,  S.  XXIV f. 

*)  Von  der  Ansicht  des  Lainez  (vgl.  S.  505  Anm.  1),  daß  die  Bi- 
schöfe ihre  Jurisdiktion  „pontifice  mediante"  besäßen,  sagt  er:  „mihi 
non  displicet",  Brief  vom  7.  November  1562  (a.  a.  O.  S.  527). 

')  Der  Papst  wird  von  ihm  z,  B.  in  einem  Briefe  vom  10.  Sept. 
1546  (Epistulae  I,  S.  218)  als  der  „episcopus  universalis''  der  Kirche 
bezeiciinet. 

*)  Vgl.  Braunsberger,  Plus  V.  und  die  deutschen  Katholiken  (1912) 
S.  85. 

')  Etwas  zu  einseitig  antiinfallibilistisch  beurteilt  Joh.  Friedrich, 
Gesch.  des  Vatikan.  Konzils  1,  508  f.  (der  freilich  die  oben  angeführten 
Zeugnisse  nicht  kannte)  den  Canisius.  Die  Meinung  Theobalds  (Neue 
kirchl.  Zeitschrift  23  (1912),  S.  882),  daß  Canisius  „im  Gegensatz 
zu  seinem  Orden"  dem  Episkopalismus  ,,den  Vorzug  gegeben  zu 
haben"  scheine,  ist  nicht  begründet,  wie  sich  aus  einer  Nachprüfung 
der  von  Theobald  zitierten  Briefstellen  ergibt. 

33* 


508  Fritz  Vigener, 

Mäßigung  des  Mannes  bezeichnend,  der  seiner  Kirciie  den 
inneren  Frieden  zu  wahren  wünschte,  um  ihre  Machtregungen 
gegen  die  äußeren  Feinde  nicht  einen  Augenbhck  zu  hemmen. 
Der  canisische  Katechismus  unterläßt  es  mit  Bedacht, 
dem  Dogma  von  der  kirchlichen  Unfehlbarkeit  die 
Schulmeinung  von  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  bei- 
zugesellen.i)  Gleiches,  und  das  ist  noch  wichtiger,  kann  man 
von  einem  „Katechismus"  feststellen,  der  mehr  ist  als  ein 
Katechismus  im  landläufigen  Sinne.  Der  „Catechismus 
Romanus'^  der  unmittelbar  aus  den  tridentinischen  Reform- 
bestrebungen entsprangt),  ist  ja  kein  Kinderkatechismus 
und  kein  Schulbuch,  sondern  eine  mit  höchster  Autorität 
umkleidete,  für  die  Belehrung  der  Seelsorger  bestimmte 
Darlegung  der  katholischen  Glaubenslehren,  ein  römisches 
Lehrbuch  der  Dogmatik,  das  dem  kirchentreuen  Pfarrer, 
der  sich  unterrichten  wollte,  zunächst  zur  Hand  lag.  Auch 
hier  ist  die  Unfehlbarkeitsdoktrin  weggeblieben. 3) 

Diese  offizielle  kirchliche  Korrektheit  schloß  die  offi- 
ziöse  Begünstigung   der   Lehre   nicht   aus.     Ihre  Vertreter 


^)  Vgl.  Friedrich  a.  a.  O.,  aber  auch  Braunsberger  a.  a.  0.  — 
Auch  die  deutschen  Jesuitengymnasien  legten  dem  Unterrichte  den 
kleinen  und  den  großen  lateinischen  Canisius  zugrunde.  Vgl.  B.  Duhr, 
Gesch.  der  Jesuiten  in  den  Ländern  deutscher  Zunge  2  I  (1913), 
S.  501  f. 

2)  Catechismus  ex  decreto  Concilii  Trid.  ad  parochos  Pii  V.  Pont. 
max.  iussu  editus.  Romae  1566.  In  Deutschland  ist  er  bald  (so  1567 
in  Köln)  und  immer  wieder  gedruckt  worden. 

*)  Auch  der  päpstliche  Universalepiskopat  ist  in  dem  Catechismus 
Romanus  nicht  in  aller  Form  ausgesprochen.  Wenn  es  I  10  §  11  vom 
Papste  heißt  „de  quo  fuit  üla  omnium  patrum  ratio  et  sententia  con- 
sentiens,  hoc  visibile  caput  ad  unitatem  ecclesiae  constituendam  et 
conservandam  necessarium  fuisse",  so  wird  hier  doch  keineswegs  ,,die 
päpstliche  Autokratie  als  Glaubensartikel  gelehrt"  (so  Harnack,  Dogmen- 
geschichte [Grundriß],  4.  Aufl.  [1905],  S.  400).  Deutlicher  neigen  die 
Erklärungen  117  §25  der  Lehre  vom  Universalepiskopat  zu,  aber  sie 
ist  doch  selbst  in  den  Worten  „summum  in  eo  dignitatis  gradum  et 
iurisdictionis  amplitudinem,  non  quidem  ullis  synodicis  aut  aliis  hu- 
manis  constitutionibus,  sed  divinitus  datam  agnoscit"  nicht  förmlich 
ausgesprochen.  (Die  deutsche  Übersetzung  von  1576  gibt,  S.  476f., 
„iurisdictionis  amplitudinem"  durch  „vollmechtige  Verwaltung"  wie- 
der.) Diese  und  die  vorher  genannte  Stelle  auch  bei  Mirbt,  Quellen 
zur  Gesch.  des  Papsttums,  2.  Aufl.,  Nr.  333,  S.  263  (3.  A.,  Nr.  401). 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.Katholizismus  etc.  509 

durften  immer  auf  das  Verständnis  der  Kurie,  leicht  auch  auf 
den  Beifall  der  Fürsten  rechnen,  denen  die  katholisch- 
kirchliche Sache  völlig  zur  eigenen  geworden  war.  Nach 
dem  Tridentinum  haben  in  Deutschland  die  Herzöge  von 
Baiern  neben  den  Habsburgern  und  zeitweise  weit  mehr  als 
diese  bei  der  Wiederaufrichtung  des  Katholizismus  die  beste 
Arbeit  geleistet  oder  gefördert.  Dem  jesuitenfreundlichsten 
unter  den  Witteisbachern,  Herzog  Wilhelm  V.,  dem  From- 
men^),  hat  ein  dem  Jesuitenorden  angehöriger  Theologie- 
professor zu  Ingolstadt  im  Jahre  1585  das  Werk  widmen 
dürfen^),  das  die  Doktrin  von  dem  Universalepiskopat  und 
der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  mit  einer  in  Deutschland 
damals  und  dann  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  unerhörten 
Zuversicht  der  theologischen  Beweisführung,  mit  der  größten 
Bestimmtheit  in  der  Fassung  der  Ergebnisse  und  mit  den 
entschlossensten  Folgerungen  verkündete.  Diese  Analysis^ 
fidei  catholicae  des  Gregor  von  Valentia  bleibt 
nicht  dabei  stehen,  die  Entscheidungen  des  Papstes,  die  für 
die  ganze  Kirche  bestimmt  sind,  als  schlechthin  verbindlich 
und  in  sich  unfehlbar  zu  erklären. 3)  Sie  läßt  die  Unfehl- 
barkeit der  Kirche  und  der  allgemeinen  Konzilien  in  der 
Unfehlbarkeit  des  Papstes  geradezu  aufgehen.  Der  Gedanke, 
den  einst  Thomas  von  Aquino  in  einer  Jugendschrift  ge- 
legentlich hingeworfen  hatte*),  erscheint  hier  wieder  und  auf 
die  Spitze  getrieben.  Nicht  die  Irrtumslosigkeit  der  Kirche, 
sondern  die  des  Papstes  ist  grundlegend;  der  Kirche  darf 
man  Unfehlbarkeit  zusprechen,  weil  ihr  Haupt  unfehlbar 
ist,  und  die  Unfehlbarkeit  der  Konzilsentscheidungen  ruht 
nicht  auf  der  göttlichen  Konstitution  der  allgemeinen  Kirche, 


1)  über  ihn  vgl.  S.  Riezler,  Gesch.  Baiems  4  (1899),  625—680. 
Riezler  zeigt,  daß  Wilhelm,  der  gerade  von  einem  Jesuiten  „als  Vor- 
bild vollkommener  Tugend"  gefeiert  wurde,  in  allen  Lebensäußerungen 
durch  den  katholischen  Gedanken  beherrscht  war. 

2)  Die  epistola  dedicatoria  ist  datiert :  Ingolstadii,  30.  Martii  a.  d. 
1585.  —  Ich  benutze  die  „Analysis"  des  Gregor  von  Valentia  in  der 
Originalausgabe  (Ingolstadii  1585).  Exemplar  in  der  an  theologischen 
Schriften  reichen  Freiburger  Universitätsbibliothek. 

3)  Analysis2\\  ff.  —  Vgl.  über  einzelne  Stellen  den  Index secundus. 
*)  Thomas  v.  Aquino,  Kommentar  zu  den  Sentenzen  des  Lom- 
barden 1.  IV,  dist.  209,  1,  nr.  3.'  Vgl.  „Katholik"  1871,  I,  S.  566  f. 


510  Fritz  Vigener, 

sondern  auf  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes.  Es  gibt  nur  eine 
Unfehlbarkeit,  die  päpstliche,  die  sich  in  verschiedenen 
Formen  äußert;  es  liegt  in  des  Papstes  Hand,  ob  er  durch  das 
Werkzeug  einer  ökumenischen  Synode  oder  für  sich  seine 
untrügliche  Lehrgewalt  wirken  lassen  will.^)  So  wird  in 
diesem  Buche  das  Dogma  von  der  Doktrin  abhängig  gemacht; 
das  Vaticanum  ist  nicht  nur  vorweggenommen,  sondern  im 
voraus  überboten.  Was  Gregor  von  Valentia  hier  nicht  etwa 
als  neue  Lehre  oder  Schulmeinung,  sondern  als  die  einfache 
Analyse  des  katholischen  Glaubens  vortrug,  hat  er,  der 
spanische  Jesuit,  als  deutscher  Universitätsprofessor  natürlich 
auch  seine  Schüler  gelehrt.  Und  seine  Ordensgenossen,  die 
eben  im  letzten  Drittel  des  16.  Jahrhunderts  die  katholischen 
Staaten  Deutschlands  mit  ihren  Kollegien  und  Unterrichts- 
anstalten überzogen,  werden  das  Hauptwerk  ihres  gefeierten 
Ordensgenossen  gern  statt  der  zaghafteren  Deduktionen  des 
Dominikaners  Melchior  Canus  empfohlen  haben. 2)  Überdies 
konnten  sie  bald  auch  den  Schriften  ihres  einflußreichsten 
Theologen,  des  Kardinals  Bellarmino^),  ähnliche  Gedanken 
in  einer  etwas  behutsameren  und  darum  für  bestimmbare 
Geister  noch  wirkungsvolleren  Formulierung  entnehmen.*) 
Der  Siegeszug  der  Gegenreformation  in  Deutschland 
ist  zugleich  ein  Triumph  der  papalistischen  Theologie  ge- 


1)  Die  entscheidende  Stelle  S.  404  f. 

2)  Bei  Duhr  a.  a.  O.  (vgl.  S.  508  Anm.  1)  finde  ich  freilich 
nichts  darüber;  hier  heißt  es  nur,  daß  in  den  Jesuitengymnasien  die 
Kontroversen  nach  dem  Handbuch  des  P.  Coster  behandelt  worden 
seien. 

3)  Eine  reichliche  Auswahl  aus  Bellarmin  bietet  Mirbt,  Quellen 
zur  Gesch.  d.  Papsttums,  2.  A.,  S.  268  ff. 

*)  Sehr  hübsch  hat  Agrippa  d'Aubigne  das  Besondere  der  Schriften 
Bellarmins  getroffen,  wenn  er  in  seiner  Selbstbiographie  (zum  Jahre 
1586)  über  den  Eindruck,  den  ihm  Bellarmin  machte,  folgendes  sagt: 
//  [Agrippa]  embrassa  la  methode  et  la  force  de  ce  livre,  &  prent  goust 
ä  la  candeur  apparente  de  laquelle  les  lieux  adversaires  sont  cites  par 
cest  autheur  .  .  .  S'estant  pourtant  mis  ä  une  curieuse  analyse  .  .  . 
ü  s'affermit  plus  que  jamais  en  sa  Religion  .  .  .  (Oeuvres  completes 
.  .  .  publ.  .  .  .  par  E.  Reaume  et  F.  de  Caussadi  1(1873),  S.  59;  vgl. 
auch  s,  Brief  von  1616,  ebenda  S.  474.)  Ähnliches  konnte  mancher 
Gegner  der  papalen  Unfehlbarkeitslehre  nach  der  Lektüre  Bellarmins 
von  sich  sagen. 


Oallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  51 1 

"wesen,  der  die  episkopalistisch-konziliare  und  die  gemäßigt- 
episkopalistische  Auffassung  in  der  Literatur  verblassen 
machte.  Und  wenn  die  Kraft  des  restaurierten  Katholizismus 
außer  in  der  Rekatholisierung  von  Ländern  und  Menschen- 
massen sich  auch  in  der  überzeugenden  oder  überredenden 
Bekehrung  des  Einzelnen  zeigt,  so  kann  man  in  dem  Glau- 
bensbegriff gelehrter  Konvertiten  der  deutschen  Gegen- 
reformation die  Spuren,  Einwirkungen  und  selbst  Weiter- 
bildungen der  Doktrinen  nachtridentinischer  Theologen 
aufdecken.  Für  den  Marburger  Juristen  Helfrich  Ulrich 
H  u  n  ri  i  u  s  gehörte  die  Idee  von  dem  Universalepiskopat 
und  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  zu  den  ,, unumstößlichen 
und  unwiderleglichen  Beweisgründen",  die  ihn  veranlaßten, 
,,der  lutherischen  Ketzerei  zu  entsagen  und  den  katholischen 
Glauben  zu  bekennen".^)  Dieser  Professor,  der  als  reifer  Mann 
1630  katholisch  geworden  war^),  wird  weniger  dadurch  charak- 
terisiert, daß  er  die  päpstliche  Unfehlbarkeitslehre  als  gemein- 
gültigen Grundsatz  aufnahm^),  sondern  ganz  besonders  durch 
die  Art  und  Weise,  wie  er  die  Stellung  des  Episkopates  ver- 
stand. Er  schreibt  allein  dem  hl.  Petrus  eine  ordentliche 
und  darum  vererbliche  Machtfülle  zu;  die  Gewalt  der  übrigen 
Apostel  sei  von  der  des  Petrus  abgeleitet,  sei  übertragen, 
außerordentlich   und   darum   mit   ihrem   Tode   erloschen.*) 


^)  Invicta  prorsus  et  indissolubilia  duodecim  argumenta,  quibus  con- 

victus  atque  constrictus,  relictä  Lutheranä  Sectd,  catholicam  profitetur 

fidem    Helfricus   Ulricus   Hunnius   (Heidelbergae    1631,     2.  A.    1632; 

deutsch  1634.   Beide  Auflagen  in  der  Universitätsbibliothek  zu  Gießen. 

Ich  zitiere  nach  der  ersten  Ausgabe). 

*)  Vgl.  Andr.  Räß,  Die  Convertiten  seit  der  Reformation  nach 
ihrem  Leben  und  aus  ihren  Schriften  dargestellt,  Bd.  5  (1867),  S.329  ff.; 
Joh.  Fr.  V.  Schulte,  Gesch.  der  Quellen  und  Liter,  d.  röm.  Rechtes  3  I, 
S.  137  f.;  Joh.  Werner,  Gesch.  der  apologet.  und  polem.  Literatur  der 
■Christi.  Theologie  4  (1865),   S.  732. 

*)  Vgl.  Argumentum  IM.:  de  certitudine  et  infallibilitate  ludicis 
controversiarum  (S.  9 — 14).  Er  gibt  (mit  den  meisten  Theologen)  zu 
(S.  13),  der  Papst  als  Privatperson  könne  „errare  et  in  haeresin  inci- 
dere",  aber  „i  cathedra,  ut  Pontifex,  et  controversiarum  fidei  judex, 
äefiniendo  errare,  vel  errorem  aliquem,  ä  tota  ecclesia  sequendum,  prae- 
scribere  non  potest". 

*)  Argumentum  IV.,  insbesondere  S.  25.  —  Vgl.  dazu  oben  S.  502 
Anm.  3. 


512  Fritz  Vigener, 

Hier  war  die  Rücksicht  auf  Schrift  und  Tradition  in  gleicher 
Kühnheit  ausgeschaltet  und  mit  juristischer  Freude  an  durch- 
greifender Begriffsbildung  ein  System  hingestellt,  in  dem, 
im  Geiste  der  spätmittelalterlichen  Papaltheorie,  die  ganze 
Machtfülle  auf  den  Papst  vereinigt  und  den  Bischöfen,  mit 
dem  Anschein  biblischer  Begründung,  der  Platz  päpstlicher 
Delegierter  zugewiesen  war.  Den  Männern,  die  von  der 
evangelischen  Rechtfertigungslehre  zum  katholischen  Kir-^ 
chentum  flüchteten,  war  begreiflicherweise  die  Idee  des 
unfehlbaren  Papsttums  als  einfacher  und  fester  Halt  in  ganz 
besonderem  Maße  willkommen, i)  Darum  eben  hat  der 
Kirchenbegriff  solcher  Konvertiten  zu  viel  von  ihrer  per- 
sönlichen Geistesentwicklung  mitbekommen,  als  daß  ihre 
Vorstellungen  einfach  als  Zeugnisse  gemeinkatholischer  Auf- 
fassung angesehen  werden  könnten.  Man  möchte  von  Kon-^ 
vertitendogmatik  sprechen. 

Das  aber  darf  man  feststellen:  die  Siege  der  Gegen ~ 
reformation  wurden  vorbereitet,  begleitet,  ausgenutzt 
durch  jene  Theologen,  denen  der  päpstliche  Universalepi- 
skopat die  gottgeordnete  Krönung  der  Kirchenverfassung^ 
die  päpstliche  Unfehlbarkeit  aber  Grundlage  der  katholischen 
Lehrverkündigung  und  Abschluß  des  katholischen  Glaubens- 
systems war.  Mit  der  Kraft,  der  Angriffslust  und  den  Er- 
folgen der  nachtridentinischen  Kirche  wuchs  die  Zuversicht 
der  lehrenden  und  schreibenden  Vorkämpfer  des  monarchi- 
schen Kirchenbegriffs;  sie  stieg  um  so  höher,  als  ihnen  eben- 
bürtige Gegner  nicht  im  Wege  standen.  Das  gilt  jedenfalls 
für  Deutschland,  wo  neben  den  Ordensgelehrten,  namentlich 
Jesuiten  fremder  Nationalität,  eine  bodenständige  Theologie 
von  Bedeutung  noch  nicht  aufkommen  wollte.  In  Deutschland 
ist  der  bischöflich-landesfürstliche  Widerstand  gegen  den 
Papst  damals  stärker  gewesen  als  der  literarische.  Die 
Opposition  der  rheinischen  Erzbischöfe  ist  schon  im  16.  Jahr- 
hundert lebendig  geworden  und  seitdem  nie  mehr  ganz  er- 


1)  So  erklärt  auch  Peter  Guiffart,  Doktor  der  Arzneikunde  zu 
Rouen,  der  1653  vom  Kalvinismus  zum  Katholizismus  übertrat,  den 
Papst  ganz  einfach  darum  für  unfehlbar,  „weil  er  der  Leiter  der  Kirche 
Gottes  ist"  (Räß  a.  a.  O.,  Bd.  7  [1868],  S.  44  ff.,  S.  60). 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  51$ 

loschen;  indem  sie  die  päpstliche  Dispensationsgewalt  von 
ihren  Diözesen  abwehrten,  verwarfen  sie  zugleich  den  päpst- 
lichen Universalepiskopat.  Vollends  seit  dem  Ende  des 
Dreißigjährigen  Krieges  lagen  die  Voraussetzungen  für  den 
Kurialismus  nicht  mehr  so  günstig  wie  vordem.  Die  Ent- 
spannung der  großenteils  konfessionell  begründeten  oder  ge- 
nährten politischen  Gegensätze  unter  den  deutschen  Terri- 
torialherren hat  nicht  nur  engere  Verbindungen  zwischen 
katholischen  und  protestantischen  Fürsten  ermöglicht,  sie 
hat  auch  dem  geistigen  Leben  in  einzelnen  katholischen 
Ländern  und  gerade  in  geistlichen  Staaten  freiere  Regungen 
gestattet.  Indessen  hat  die  geistig-literarische  Reaktion  gegen 
den  Kurialismus  in  Deutschland  erst  im  18.  Jahrhundert 
selbständige  Bedeutung  gewonnen,  zunächst  wesentlich  unter 
französischem  Einfluß. 

In  Frankreich  war  die  katholische  Kirche  nur  vorüber- 
gehend erschüttert  worden,  ihren  eigenen  Bildungsreichtum 
hatten  fremde  Elemente  nicht  in  seinem  Wesen  verändert, 
ihre  Überlieferung  war  wohl  an  einzelnen  Stellen  durchbrochen^ 
als  Ganzes  aber  unzerstört.  In  dem  klassischen  Lande  des 
Gallikanismus  ist  die  gallikanische  Doktrin  seit  dem 
15.  Jahrhundert  nie  mehr  verdunkelt  worden,  und  ihre  Ver- 
teidiger sind  weder  in  den  Religionskriegen  des  16.  Jahr- 
hunderts ausgestorben,  noch  haben  sie  in  den  erbitterten 
kirchlichen  Kämpfen  um  Jansenismus  und  Quietismus 
ihre  Bedeutung  verloren.  Der  französische  Gallikanismus 
des  17.  Jahrhunderts  ist  seinem  Kerne  nach  nichts  anderes 
als  der  des  15.,  und  seine  grundlegenden  Gedanken  sind  weder 
von  der  papstfeindlichen  Politik  der  französischen  Regierung 
geschaffen,  noch  durch  deren  romfreundliche  Wendung  ver- 
nichtet worden.  Das  allerdings  ist  festzustellen,  daß  auch 
hier  Theorie  und  Wirklichkeit  sich  nicht  völlig  decken.  Der 
Gallikanismus  als  Kirchenbegriff  war  eindeutig  und  einheit- 
lich, aber  der  Gallikanismus  der  Individuen  war  es  nicht. 
Die  gallikanische  Bewegung,  wie  sie  lebendig  in  der  Ge- 
schichte dasteht,  weist  mannigfache  Verschiedenheiten  auf 
nach  der  positiven  und  nach  der  negativen  Seite,  in  der  Aus- 
deutung des  Eigenen,  wie  in  der  Abwehr  des  Fremden.  Der 
Satz,  daß  der  Papst  nicht  über  dem  allgemeinen  Konzile 


514  Fritz  Vigener, 

stehe,  ist  in  allen  gallikanischen  Lehrschriften  enthalten. 
Pierre  Pithou^)  hat  ihn  in  seine  offiziöse  Aufstellung  der 
gallikanischen  Freiheiten  (1594)  aufgenommen^),  und  der 
zweite  der  Vier  Artikel  von  1682  hat  die  in  Konstanz  dekre- 
tierte Überordnung  des  allgemeinen  Konzils  über  den  Papst 
als  unabänderlichen  Glaubenssatz  von  neuem  verkündet^), 
obwohl  er  durch  die  Kurie  wieder  und  wieder  verdammt 
worden  war.*)  Die  Lehre,  daß  nicht  im  Papste,  sondern  in 
der  allgemeinen  Synode  die  letzte  und  höchste  Gewalt  der 
Kirche  liege,  gehörte  also  zum  System  des  Gallikanismus. 
Aber  sie  gehörte  nicht  notwendig  zum  lebendigen  Glaubens- 
system eines  gallikanisch  gesinnten  Katholiken.^)  Nicht 
allen,  die  sich  Gallikaner  nannten,  galt  die  schroffe  konziliare 
Theorie  des  15.  Jahrhunderts  als  grundlegende  Idee  der 
Kirchenverfassung. 

Aber  so  groß  die  Unterschiede  der  Auffassung  und  die 
Abtönungen  gewesen  sein  mögen,  die  Verwerfung  der  roma- 
nistischen Infallibilitätstheorie  gehörte  schlechthin  zum  Wesen 
des  Gallikanismus.  Darin  kamen  alle  Gallikaner  überein,  daß 
eine  Entscheidung  des  Papstes  über  Fragen  des  Glaubens  und 
der  Sitte  erst  durch  die  ausdrückliche  oder  stillschweigende 
Zustimmung  der  Kirche,  des  Episkopates,  den  Charakter  der 
Unwiderruflichkeit  erhalte,  daß  eben  erst  dieser  consensus 
ecclesiae  ihr  die  Unfehlbarkeit  verleihe.  Dieser  kirchliche  Epi- 


^)  Es  verschlägt  nichts,  wenn  J.  de  Maistre  in  seiner  Inquisitoren- 
manier einmal  das  Rechte  getroffen  hat,  indem  er  den  ehemals  kal- 
vinistischen  Generalprokurator  „demi- Protestant"  nennt  {De  VEglise 
Gallicane,  1.  II,  eh.  14,  zu  Anfang;  Ausgabe  von  1852,  S.  309). 

2)  Les  libertez  de  l'iglise  gallicane  §  40  (vgl.  §  5),  auch  in  Mirbts 
Quellen  zur  Gesch.  des  Papsttums  (2.  Aufl.,  Nr.  347;  3.  Aufl.,  Nr.  419) 
—  Die  Gedanken  Edmond  Richers  (vgl.  J.  Fr.  v.  Schulte,  Gesch.  d. 
Quellen  d.  kanon.  Rechts  3  I,  573  ff.)  sind  radikaler. 

8)  Declaratio  cleri  Gallicani  de  ecclesiastica  potestate  §  2  (gleich- 
falls bei  Mirbt). 

*)  So  zuletzt  implicite  durch  Urbans  VIII.  Konstitution  „Pasto- 
ralis Romani  pontificis"  von  1627  in  der  endgültigen  Fassung  der 
Bulle  „In  coena  domini"  §  2  (Mirbt  a.  a.  O.  2.  Aufl.,  S.  281,  3.  A.  S.  283). 

^)  Man  beachte  übrigens,  daß  Pithou  (§  40)  ausdrücklich  zugibt 
„que  ...  les  conciles  generaux  ne  se  doivent  assembler  ni  tenir  sans 
le  pape  clavenonerrante...et  qu'il  ne  s'y  doive  rien  conclure 
ny  arrester  sans  luy  et  sans  son  autfiorite". 


Gallikanismus  u.episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  515 

skopalismus  war  keineswegs  auf  den  französischen  Episkopat 
beschränkt;  er  beherrschte  die  Auffassung  aller  der  Bischöfe, 
die  ihren  Anteil  an  der  Wahrung  des  depositum  fidei  in  Bibel 
und  Tradition  nicht  weniger  gut  gegründet  fanden  als  die 
Rechte  des  Nachfolgers  Petri  und  die  sich  ihren  Anteil  sichern 
wollten.  Daß  es  keine  unbedeutende  Minderheit  war,  die  so 
dachte,  wußten  die  Päpste  des  17.  Jahrhunderts  gut  genug, 
auch  ohne  so  unmittelbar  darüber  belehrt  zu  sein,  wie  einst 
Pius  IV.  durch  die  Vorgänge  in  Trient.  Aber  die  Vertreter 
der  päpstlichen  Unfehlbarkeitslehre  taten  recht  daran, 
gerade  den  gemäßigten  Gallikanismus,  dessen  Macht  in  seiner 
Ausdehnung  lag,  ohne  Unterlaß  zu  bekämpfen.  Unter  Ma- 
zarins  Regiment  —  das  gewiß  den  Gallikanismus  nicht  drückte, 
aber  dem  Jesuitismus  freie  Bahn  ließ  und  ihm  den  Janse- 
nismus opferte  —  ist  in  dem  Kirchenkrieg  gegen  Port  Royal 
die  papalistische  Theorie  auch  in  Frankreich  kräftig  auf- 
getreten. Eine  französische  Verteidigungsschrift  des  Papst- 
rechtes, die  der  Verdammung  jansenistischer  Sätze  durch 
Innozenz  X.  rasch  nachgefolgt  ist  (1658),  gab  der  Doktrin 
die  einfachste  Formulierung,  indem  sie  den  Papst  die  Regel 
des  Glaubens  nannte,  den  unbedingten  und  einzigen  Rich- 
ter, i)  Gegen  derartige  Lehren  wandte  sich  die  Sorbonne, 
wandten  sich  die  Bischöfe,  deren  gottgesetzte,  selbständige 
Stellung  in  der  Kirche  eine  geistliche  Versammlung  von 
1665/66  aufrecht  erhielt.  Das  Recht  des  Papstes,  in 
Glaubensfragen  Entscheidungen  zu  geben,  haben  die  gal- 
likanischen  Bischöfe  im  Reiche  Ludwigs  XIV.  nicht  an- 
gefochten. Aber  sie  wollten  auch  um  keinen  Preis  die  Be- 
dingungen und  Schranken  beseitigt  sehen,  die  ihnen  in  der 
kirchlichen  Überlieferung  aufgestellt  zu  sein  schienen.  Der 
letzte  und  kürzeste  der  Vier  Artikel  von  1682,  der  Satz,  der 
am  wenigsten  von  politischen  Nebenabsichten  angekränkelt 
war,  erklärte  in  maßvoller  Bestimmtheit,  daß  in  Glau- 
bensfragen dem  Papste  die  erste  Stelle  gebühre,  daß  seine 
Entscheidungen  sich  auf  alle  Kirchen  erstreckten,  daß  seinem 
Urteil  aber  erst  durch  Beistimmung  der  Kirche  die  Unwider- 


^)  Vgl.   Ranke,   Französische   Geschichte  3  (Werke   10),   S.  248 
und  (zum  folgenden)  249  ff. 


516  Fritz  Vigener, 

ruflichkeit  zuteil  werde.^)  In  der  Bekämpfung  dieses  kirch- 
lich-korrekten, selbstsicheren  und  doch  zurückhaltenden 
Gallikanismus  gingen  die  Theoretiker  des  Papalsystems  so 
weit,  daß  sie  seiner  gewaltsamen  Unterdrückung  das  Wort 
redeten.  So  tat  es  Erzbischof  Rocaberti  von  Valencia  in 
seinem  Werke  „D£  Romani  Pontificis  infallibilitate"  (1691/94). 
Er  hat  die  Schrift  Papst  Innocenz  XII.  gewidmet,  also  dem 
Papste,  der  den  Triumph  erlebte,  die  Verpflichtung  auf  die 
Vier  Artikel  von  der  französischen  Regierung  preisgegeben 
zu  sehen. 2)  Aber  der  Gallikanismus  war  viel  zu  stark,  als  daß 
die  Kurie  mit  Aussicht  auf  Erfolg  den  Versuch  hätte  machen 
können,  ihn  zu  überwinden.  Die  politisch  begründete  Aussöh- 
nung Ludwigs  XIV.  mit  Rom  (1693)  war  ohne  Frage  ein  schwerer 
Schlag  für  die  gallikanische  Kirche.  Aber  der  gemeinsame 
Besitz  der  verschiedenen  gallikanischen  Strömungen,  jener 
Kirchenbegriff,  der  nur  die  Gemeinschaft  der  lehrenden 
Kirche,  Papst  und  Episkopat  zusammengenommen,  als  Träger 
der  Unfehlbarkeit,  als  letzten  zuständigen  Interpret  der 
Glaubenslehre  faßte,  er  blieb  unzerstört  und  wurde  in  seiner 
kirchHchen  Bedeutung  jetzt,  da  er  von  den  Interessen  der 
Staatspolitik  losgelöst  erschien,  nur  noch  freier  und  tiefer 
gewürdigt. 

Der  Papst  für  sich  hatte  die  Vier  Artikel  unterschiedslos 
zensuriert.  Der  vierte  Satz,  der  die  unwiderrufliche  Gültig- 
keit päpstlicher  Glaubensentscheidungen  von  der  Zustim- 
mung der  Kirche  abhängig  machte,  wird  der  Kurie  schwerlich 
sympathischer  gewesen  sein  als  der  zweite  mit  seiner  Er- 
neuerung des  Konziliarismus.  Die  Lehre  von  der  Über- 
ordnung des  allgemeinen  Konzils  war  allerdings  die  durch- 
greifendere und  ihrem  Inhalt  nach  am  schärfsten  gegen  die 
päpstliche  Suprematie  gekehrt.   Aber  sie  konnte  den  Papst 


1)  In  fidei  quoqiie  quaestionibus  praecipuas  summi  pontificis 
esse  partes,  eiusque  decreta  ad  omnes  et  singulas  ecclesias  pertinere, 
nee  tarnen  irreformabile  esse  iudicium,  nisi  ecclesiae  consensus  acces- 
serit. 

2)  Auch  seine  große  Sammlung  papalistischer  Schriftsteller  (Biblio- 
teca  maxima  pontificia,  in  qua  authores  melioris  notae  qui  hadenus 
pro  sancta  Romana  Sede  tum  theologick,  tum  canonici  scripserunty 
fere  omnes  continentur.  20  Bände  in  Fol.  und  1  Registerband,  Romae 
1698—99)  hatte  Rocaberti  Innozenz  XII.  gewidmet. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  517 

kühl  lassen,  solange  der  Gedanke  an  eine  ökumenische 
Synode  im  Stile  der  Versammlungen  von  Konstanz  und 
Basel  höchstens  in  den  Träumen  einiger  Ideologen  Raum 
hatte.  Man  darf  also  das  Paradoxon  wagen:  die  gefähr- 
lichere Doktrin  war  damals  die  erträglichere. 

Auch  für  die  führenden  Gallikaner  selbst  steht  nicht 
die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Papst  und  Konzil, 
sondern  die  nach  dem  Träger  der  Unfehlbarkeit  im  Mittel- 
punkt der  Erörterungen.  1)  Der  große  Bossuet  hat  den  Um- 
stand, daß  die  Doktrin  von  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes 
niemals  zur  Kirchenlehre  erhoben  war,  geschickt  als  Deckung 
gegen  die  Anhänger  der  Doktrin  benutzt.^)  Er  läßt  die  Ironie 
der  Tatsache  für  sich  selbst  sprechen,  daß  im  17.  Jahrhundert 
des  Daseins  der  Kirche  rechtgläubige,  fromme  Männer  über 
jene  Infallibilität  sehr  verschiedene  Meinung  hegten. 2)    Da 


^)  Natürlich  ist  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Papst  und 
Konzil  nicht  immer  übergangen  worden.  Auch  Bossuet  zeigt  gelegent- 
lich in  der  Abwehr  der  kurialistischen  Deduktionen,  daß  seiner  Mei- 
nung nach  die  Frage  nicht  im  päpstlich-absolutistischen  Sinne  ent- 
schieden werden  dürfe.  Vgl.  seine  Histoire  des  variations  des  iglises 
protestantes,  livre  15  (Oeuvres  [s.  die  folgende  Anm.],  Bd.  3,  S.  490), 
auch  in  der  „Defensio  declarationis  cleri  Gallicani").  (Oeuvres  12, 
S.  365:  eo  sensu  [Petrum]  repraesentasse  Ecclesiam,  quod  ejus  vim 
omnem  potestatemque,  ut  insitam  sibi  praesentemque  concludet,  quod 
toncilio  universali  est  proprium,  non  sanctus  quisquam,  non  AugU' 
stinus,  non  alius  e  sanctis  Patribus  cogitabat.) 

*)  Namentlich  in  der  Schrift  „Defensio  declarationis  cleri  Galli- 
cani  de  ecclesiastica  potestate"  mit  der  Einleitung  „Gallia  orthodoxa 
sive  vindiciae  scholae  Parisiensis  totiusque  cleri  Gallicani  adver sus 
nonnullos  {Oeuvres  compläes  de  Bossuet  .  .  .  par  une  sociäe  d'eccli- 
siastiques  (Bar-Le-Duc  1870),  Bd.  12,  S.  3 — 492).  Die  Defensio 
ist  1683/85  verfaßt,  1695/96  überarbeitet,  von  der  dritten  Bearbeitung 
1700/1702  ist  keine  Abschrift  erhalten  (vgl.  a.  a.  O.  S.  VII  f.,  über- 
nommen aus  der  Vorbemerkung  zum  21.  Band  der  von  Lachat  be- 
sorgten Ausgabe  der  Oeuvres  [1865],  S.  I).  Im  Drucke  ist  das  Werk 
zum  erstenmal  1745  erschienen.  Es  ist  wohl  lediglich  der  von  der 
Politik  eingegebene  Wille  des  Königs  gewesen,  der  Bossuet  bestimmte, 
das  Werk,  in  dem  er  die  Fülle  eigener  Arbeit  und  eigener  Gedanken 
niedergelegt  hatte  und  das  ihn  immer  wieder  anzog,  ungedruckt  zu 
lassen. 

«)  Vgl.  den  Schlußabschnitt  der  „Praevia  et  theologica  Dissertatio" 
zur  Gallia  orthodoxa,  besonders  S.  51,  Spalte  2  (in  der  Ausgabe 
von   Lachat,   Bd.  21,   S.  128):    Gerte  in  Ecclesiae  catholicae  septimo 


518  Fritz  Vigener, 

diese  Doktrin  niemals  dogmatisch  definiert  worden  sei, 
könne  sie  nicht  zum  Notwendigen  in  der  Kirche  gehören. 
Und  das  ist  ihm  ein  Gewinn  der  Kirche.  Wenn  die  Ge- 
schichte lehre,  daß  mehr  als  einmal  Päpste  in  ihrer  dogmati- 
schen Entscheidung  geirrt  hätten,  so  seien  diese  Irrtümer 
der  Päpste  doch  weder  dem  Glauben,  noch  der  Kirche, 
noch  dem  apostolischen  Stuhle  schädlich  gewesen. i)  Bossuet 
ist  also  der  Meinung,  daß  die  Doktrin  die  geschichtliche 
Belastungsprobe  nicht  aushalten  könne.  Und  darum  sähe 
er,  obwohl  ihm  der  "gegenwärtige  Zustand  der  Bewegungs- 
freiheit durchaus  erträglich  scheint^),  dem  begehrlichen 
Drängen  der  entschlossenen  Papalisten  gern  einen  Riegel 
vorgeschoben.  Den  gemäßigtesten  seiner  kirchlichen  Pro- 
grammsätze von  1682,  der  weit  über  die  gallikanische  Kirche 
hinaus  und  ganz  unabhängig  von  ihren  sonstigen  Lehren 
ausgebreitet  war,  möchte  er  zum  Dogma  erhoben  wissen: 
Päpstliche  Entscheidung  wird  nur  durch  den  consensus 
ecclesiae  unabänderlich,  vollgiltig,  unfehlbar. 3) 

Dieser  Grundgedanke  des  papsttreuen  Gallikanismus, 
der  freilich  immer  wieder  auch  zur  Lehre  von  der  Supre- 
matie des  Konzils  zurückleiten  konnte,  blieb  der  dogma- 
tischen  Arbeit   der   nächsten    Generationen   lebendig.     Die 


decimo  saeculo  vivimus,  necdum  de  illa  infallibilitate  inter  orthodoxos 
piosque  constitit :  atque  ut  Constantiensem  ac  Basiliensem  synodos 
omittemus,  viri  sancti  doctique  ei  restiterunt.  Et  quidem  adversus 
illos  privati  multi  multa  inclamarunt  et  incautas  censuras  profuderunt  ; 
Ecclesia  catholica  et  Roma  ipsa  nihil  egit,  quo  nostri  vel  leviter  nota- 
rentur ;  trecentique  anni  sunt,  ex  quo  de  illa  controversia  innoxie  di- 
sputatur.  An  Ecclesia,  ut  tuta  tranquillaque  esset,  nostram  aetatem, 
ac  prope  jam  elapsum  septimum  decimum  saeculum  exspectabat? 

1)  Defensio  declarationis  lib.  IX,  cap.  32  und  33,  S.  395  f.,  Aus- 
gabe V.  Lachat,  Bd.  22,  S.  223  ff. 

2)  Vgl.  die  in  der  vorletzten  Anmerkung  angeführte  Stelle  und 
deren  Fortsetzung. 

3)  Vgl.  das  Corollarium  zur  Gallia  orthodoxa  {„Quod  doärina 
nostra  primatus  Romanus  non  obscuratur,  sed  illustratur  et  confir- 
matur;  S.  477—494),  S.  484  f.,  besonders  485  (=  Oeuvres,  hg.  v. 
Lachat,  Bd.  22,  S.  437):  „.  .  .  pontificium  decretum  non  haberi  pro 
irreformabili  neque  ultimum  robur  esse  consecutum,  nisi  Ecclesiae 
consensus  accesserit.  Quo  dogmate  constituto,  tota  infallibilitatis  quae- 
stio  speculativas  inter  vanasque  quaestiones  habeatur". 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  519 

Befehdung  des  Jansenismus,  die  nach  Bossuet  auch  viele 
jüngere  Verfechter  des  GalHkanismus  als  kirchliche  Pflicht 
ansahen,  hat  den  Gallikanern  die  Energie  der  Vertretung 
und  die  Schärfe  der  Ausprägung  ihrer  Grundanschauung 
nicht  genommen.^)  Dafür  sorgten  schon  die  immer  erneuten 
Angriffe  französischer  Papalisten,  die,  weil  durch  Roms 
Gunst  getragen,  auch  dann  noch  ernst  zu  nehmen  waren, 
wenn  sie  ans  Komische  streiften;  wie  denn  etwa  der  lothrin- 
gische Benediktiner  Petitdidier^)  im  Alter  sich  einredete, 
in  der  Jugend  dem  päpstlichen  Stuhle  die  Geltung  in  der 
ganzen  Christenheit  erschrieben  zu  haben  und  jetzt  seinem 
neuen  Ziele,  der  allgemeinen  Anerkennung  der  päpstlichen 
Unfehlbarkeit,  nahe  zu  sein. 3)  Gerade  im  18.  Jahrhundert 
übte  der  Gallikanismus,  der  sich  in  Frankreich  der  Gegner 


*)  Auch  Tournely,  der  die  (jansenistische)  Appellation  von  der 
Bulle  „Unigenitus"  an  ein  allgemeines  Konzil  (1717)  oder  vielmehr 
die  Art  und  Weise  dieser  Appellation  verurteilt,  hält  an  der  Superio- 
rität  des  Konzils  fest  und  an  der  Anschauung,  daß  päpstliche  Ent- 
scheidungen erst  durch  die  Zustimmung  der  Kirche  den  Charakter 
der  Unfehlbarkeit  erhalten.  Vgl.  Jos.  Hild,  Honore  Tournely  und 
seine  Stellung  zum  Jansenismus  (Freiburger  Theolog.  Studien,  hg. 
v.  Hoberg  und  Pfeilschifter,  5.  Heft,  1911)  S.  135  f.  (wo  diese  Anschau- 
ung als  ,, Krankheit"  gekennzeichnet  wird!). 

2)  Vgl.  über  ihn  v.  Schulte,  Geschichte  der  Quellen  ....  31, 
S.  635  f. 

^)  Dom  Mathieu  Petitdidier,  Tratte  theologique  sur  Vautorite  et 
l'infaillibilili  des  papes  {Luxembourg  1724).  In  dem  Widmungsbriefe 
an  Innozenz  XI II.  sagt  er  in  seinem  betulichen  Eifer:  ,,//  y  a  plus 
de  trente  ans,  qu'icrivant  contre  le  Docteur  du  Piu,  j'ai  eu  Vhonneur 
de  soutenir  l'unite  de  la  Chaire  Apostolique  dans  tout  le  monde  chre- 
tien.  Aujourd'hui  je  travaüle  ä  faire  recorjnaltre  par  tous  les  Catho- 
liques  VAutoriti  des  Souverains  Pontifes  et  lern  infaillibilite  en  ma- 
tihe  de  Foi.  Lern  Autoriti  en  ce  que  ces  matidres  leur  ont  toujours 
ete  raportees,  et  leur  Infaillibiliti  en  ce  que,  les  dicisions  qü'ils  en 
ont  adresse  ä  toute  l'Eglise,  ont  eti  de  tout  tems  regardies  comme  des 
Oracles,  qu'il  n'a  Jamals  ete  permis  de  revoquer  en  doute."  —  Auf 
Geheiß  Papst  Benedikts  XII 1.  wurde  die  Schrift  ins  Italienische  über- 
setzt (diese  im  Titel  der  lateinischen  genannte  ital.  Übersetzung  kennt 
V.  Schulte  a.  a.  O.  nicht),  dann  erschien  in  Augsburg  1727  „in  Ger- 
manorum  theologorum  gratiam"  die  vom  P.  Gallus  Cartier  (über  ihn 
vgl.  V.  Schulte  a.  a.  O.  220)  im  Kloster  Ettenheimmünster  im  Breis- 
gau besorgte  lateinische  Übertragung  (Exemplar  in  Freiburg).  Von 
Cartier  eine  ähnlich  gerichtete  selbständige  Schrift  1738. 


520  Fritz  Vigener, 

siegreich  erwehrte,  seine  mächtige  Wirkung  auch  in  Deutsch- 
1  a  n  d  aus,  indem  er  sich  mit  dem  praktischen  Episkopalis- 
mus deutscher  Kirchenfürsten  verband. 

In  Deutschland  war  der  Boden  damals  geistig-theologisch 
noch  wenig,  kirchlich-politisch  sehr  gut  vorbereitet.  Der  prak- 
tische Episkopalismus  ist  hier  älter  als  der  theoretische.  Der 
Streit  um  die  Quinquennalfakultäten^)  ist  zugleich  Streit  zwi- 
schen Episkopalismus  und  Papalismus,  Kampf  gegen  die  all- 
gemeine und  souveräne  Jurisdiktion  des  Papstes.  Der  heute 
längst  durchgesetzte  Satz  des  Kirchenrechts,  daß  nur  der  Papst 
von  allen  kirchlichen  Gesetzen,  vom  jus  commune  dispen- 
sieren könne,  ist  ein  langsam  und  ungleichmäßig  gewach- 
senes Produkt  der  Geschichte.  Bis  tief  ins  12.  Jahrhundert 
hinein  ist  es  bischöfliche  oder  ist  es  Metropolitansache, 
allgemeine  Dispense  und  Absolutionen  zu  erteilen.  Als  dann, 
besonders  seit  Innocenz  111.,  die  Kurie  öfters  um  Dispense 
angegangen  wurde,  war  der  Papst  sich  seiner  Recht  schöpfenden 
Macht  bewußt  genug,  um  kraft  eigenen  Rechtes  sich  Dis- 
pensbefugnisse vorzubehalten.  Von  einem  allgemeinen  und 
bleibenden  Siege  des  Papalsystems  kann  doch  auch  hier  nicht 
die  Rede  sein.  Übrigens  hat  erst  das  nachtridentinische 
Papsttum  eine  dauernde  Ordnung  zu  geben  gewußt  und  sie 
auch  in  Deutschland  einzuführen  unternommen.  Darüber 
ist  es  seit  dem  16.  Jahrhundert  immer  wieder  zu  Konflikten 
gekommen.  Deutsche  Bischöfe,  die  rheinischen  Erzbischöfe 
zumal,  beanspruchten  die  Dispensgewalt  ohne  päpstliche 
Vollmacht,  kraft  eigenen  Rechtes.  Sie  pflegten  von  sich 
aus  auch  vom  gemeinen  Recht  Befreiung  zu  gewähren.  Im 
Sinne  des  Papstes  war  das  Usurpation,  und  um  seine  Be- 
fugnis wenigstens  grundsätzlich  zu  sichern,  hat  der  Papst 
—  zuerst  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts^)  —  durch 
zeitlich  beschränkte  päpstliche  Vollmachten  den  Bischöfen 
<Jas  gewährt,  was  sie  meist  tatsächlich  ohne  Rücksicht  auf 
Rom  bereits  übten.^)  Da  aber  die  Bischöfe,  und  insbesondere 


1)  Vgl.  die  inhaltvolle  Darstellung  von  Leo  Mergentheim,  Die 
Quinquennalfakultäten  pro  foro  externo  1908  (Kirchenrechtl.  Ab- 
handlungen, hg.  V.  Stutz,  52./55.  Heft). 

2)  Vgl.  JVlergentheim  1,   S.  20. 

3)  Mergentheim  1,  S,  223;  2,  S.  87  f.,  122  u.  ö. 


Oallikanismus  n.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  521 

die  geistlichen  Kurfürsten  im  18.  Jahrhundert,  immer 
wieder  über  diese  Fakultäten  hinweg  und  auch  ohne  päpst- 
liche Verleihung  dispensierten  und  grundsätzlich  an  ihrer 
eigenen  üispensationsgewalt  festhielten,  so  blieb  der  Gegen- 
satz bestehen. 

Der  Druck  dieses  eingewurzelten  Episkopalismus  hat 
in  Deutschland  schon  vor  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
den  anders  Gerichteten,  die  früher  so  einflußreich  waren, 
auch  die  literarische  Wirkung  erschwert. i)  Noch  ehe  Hont- 
heim  dem  Episkopalismus  sein  großes  Lehrsystem  geschenkt 
hatte,  erhoben  sich  einzelne  Kanonisten  gegen  den  Kurialismus, 
versuchten  andere  zwischen  den  sich  ausschließenden  Vor- 
stellungen zu  vermitteln. 2)    Noch  1761  suchte  Martin  Ger- 

*)  Von  deutschen  Verteidigern  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit 
und  des  päpstlichen  Universalepiskopates  in  der  1,  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts wüßte  ich  außer  Cartier  (s.  S.  519  Anm.  3)  nur  den 
baierischen  Jesuiten  Vitus  Pichler  (f  1736;  v.  Schulte  163  f.)  zu 
nennen;  von  ihm  erschien  in  Augsburg  1709:  Papatus  nunquam  er- 
rans  in  proponendis  fidei  articulis,  hoc  est :  Romanus  Pontifex,  Jesu 
Christo  in  terris  vicarius,  divi  Petri  successor,  universalis  ecclesiae 
pastor  et  rector,  judex  controversiarum  ad  fidem  et  mores  pertinen- 
tium  auctoritate  summus ,  potestate  maximus  ,  sententia  i  nf  al  - 
l  i  b  i  i  i  s  propugnatus  et  in  lucem  datus  a  P.  Vito  Pichler  S.  J.  — 
Die  Worte  „Judex''  und  „infallibilis"  sind  durch  fetten  Druck  und 
Sperrung  hervorgehoben,  der  ganze  Titel  gibt  gleichsam  im  voraus 
das  Vaticanum  in  nuce. 

2)  Bemerkenswert  z.  B.,  daß  1751  in  Augsburg  ein  ungenannter 
Benediktiner  das  auf  Veranlassung  des  französischen  Klerus  von  dem 
Jesuiten  Bougeant  verf.  Religionshandbuch  deutsch  („Vollkommene 
Erklärung  der  christl.  Lehre")  herausgab.  Hier  heißt  zwar,  wie  natür- 
lich, Petrus  Haupt  der  allgemeinen  Kirche  (S.  153,  dabei  ein  in  seiner 
Absichtlichkeit  leicht  zu  durchschauender  Hinweis  auf  Bossuets  rom- 
freundliche Anrede  bei  der  Klerikerversammlung  von  1681),  die  römische 
Kirche  Sitz  der  Einigkeit  der  allgemeinen  Kirche  (vgl.  S.  151  f.),  auch 
sagt  der  Verfasser  (S.  170)  mit  Berufung  auf  das  Konzil  von  Florenz  sogar, 
der  Papst  habe  „wegen  seiner  höchsten  Würde  alle  Völle  des  Gewalts" 
[im  geistlichen  Regiment],  aber  der  consensus  ecclesie  gilt  doch  auch 
hier  als  geboten  (vgl.  S.  173  ff.;  S.  178  in  etwas  behutsamer  Fassung: 
Die  Bischöfe  haben  Unfehlbarkeit,  soweit  sie  die  Kirche  im  Konzil 
oder  zerstreut  vorstellen,  „und  einen  vom  Papst  in  Glaubens-Sachen 
ergangenen  Spruch  annehmen").  —  Eine  neue,  (auch  in  den  Seiten- 
zahlen) gleichlautende  Ausgabe  erschien  Augsburg  1780  mit  P.  Franz 
Neumayrs  Christenlehre  (Exempl.  beider  Ausgaben  in  Freiburg).  Die 
Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  34 


522  Fritz  Vigener, 

bert  von  St.  Blasien,  der  auf  seinen  Reisen  die  kirchlichen 
Gegensätze  kennen  gelernt  hatte  und  die  Zerrissenheit 
schmerzlich  empfand,  einem  Ausgleich  vorzuarbeiten.  Aber 
diese  tiefen  Gegensätze  ließen  auf  beiden  Seiten  nur  den 
Entschiedenen,  Scharfen,  Durchgreifenden  Geltung  und 
Einfluß.  Die  friedsame  geistliche  Gelehrtennatur  Gerberts 
vermochte  nicht  durchzudringen.  Auch  zeigt  sein  Buch^ 
daß  seine  Vermittlung  doch  mehr  in  kurialistischem  Sinne 
gedacht  war.  Er  nennt  sein  Werk  „De  communione  potestatis 
ecclesiasticae  inter  summos  ecclesiae  principes,  pontificem 
et  episcopos".^)  Der  Titel,  der  den  Papst  und  die  Bischöfe 
zusammenfaßt  als  die  höchsten  Kirchenfürsten,  klingt  so 
episkopalistisch,  daß  ein  Kurialist  reinster  Prägung  ihn 
niemals  gewählt  hätte.  Aus  der  Darstellung  selbst,  die 
neben  den  Zeugnissen  der  kirchlichen  Tradition  und  der 
Geschichte  gern  auch  allgemeinen  Erwägungen,  selbst  treu-^ 
herzigen  Ermahnungen  Raum  läßt,  sind  die  entscheidenden 
Gedanken  nicht  leicht  herauszuholen.  Die  Abwehr  des  aus- 
gesprochenen päpstlichen  Absolutismus^),  die  Duldung  einer 


I 


„Religio  prudentum''  dieses  Jesuiten  Neumayr  war  das  „verführerisch 
geschriebene"  Buch,  das  dem  jungen  Laukhard  die  Wahrheit  der  katho- 
lischen Kirche  dartun  sollte.  Vgl.  Laukhards  Leben  und  Schicksale 
1.  Abteilung  (1791),  Kapitel  6  (vgl.  auch  Kapitel  32). 

1)  Typis  princ.  monast.  S.  Blasii  1761  (640  S.,  Inhaltsverzeichnis, 
Index  rerum). 

2)  Sogleich  in  der  Praefatio  heißt  es  (S.  II f.):  „Peculiariter  autem 
Petro  pascendae  sunt  commissae  oves,  non  soli,  alioquin  frustra  cae- 
teri  apostoli  essent  electi  et  in  omnem  terram  ad  colligendum  domini- 
cum  gregem  missi,  quem  hadenus  eorum  successores  cum  Petri  succes- 
soribus  mutuo  ac  communiter  pascunt  .  .  ."  Einem  Ausspruch  des  hl. 
Ambrosius  folgt  dann  die  Bemerkung  „Est  haec  ipsissima  communio 
potestatis  ecclesiasticae  juxta  ecclesiastici  regiminis  formam  a  Christo 
institutam  atque  retentam  semper  in  ecclesia".  .  .  Dazu  S.  74  „aber- 
rant,  qui  Papae  auctoritatem  tuantur  contra  totam  ecclesiam,  ordi- 
nemque  hierarchicum  in  ejusmodi  rebus,  quae  ipsum  ecclesiae  funda- 
mentum  attinenV.  S.  75  wird  den  Bischöfen  das  Widerstandsrecht  zu- 
gesprochen, wenn  der  Papst  etwas  bestimmt  „quod  non  tenderet  ad 
ecclesiarum  sibi  concreditarum  aedificationem,  canones,  statuta  ac 
consuetudines  laudabiliter  receptas",  und  Gerbert  führt  zustimmend 
die  Mahnung  Bernhards  von  Clairvaux  an,  daß  der  Papst  erwägen 
solle,  „Romanam  ecclesiam  .  .  .  ecclesiarum  matrem  esse,  non  dornt- 
nam:  te  vero  non  dominum  episcoporum,  sed  unum  ex  ipsis". 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  523 

ganz  gallikanisch  gedachten  Vorstellung  Bossuets^)  könnte 
die  Meinung  erwecken,  daß  der  Titel  tatsächlich  die  Tendenz 
des  Buches  widerspiegle.  Allein  wir  finden  nicht  nur  den 
Gedanken  an  die  Zulässigkeit  der  Appellation  von  dem 
Papst  an  das  allgemeine  Konzil  als  zwecklos  und  schädlich 
verworfen^),  vor  allem  ist  gerade  jene  kurialistische  Lehre, 
in  deren  Ablehnung  die  Gallikaner  jeglicher  Schattierung 
sich  einig  waren,  die  Unfehlbarkeit  des  ex  cathedra  spre- 
chenden Papstes  von  Gerbert  anerkannt  worden.^) 

Im  Jahre  1761  hat  Gerbert  diese  ruhige  und  würdige 
Schrift  veröffentlicht;  1763  erschien,  nicht  als  Antwort  ge- 
dacht, und  doch  eine  Antwort  das  weltbewegende  Werk, 
das  Johannes  Nikolaus  von  H  o  n  t  h  e  i  m  unter  dem  Namen 
Justinus  Febronius  geschrieben  hat.  In  den  Kämpfen 
um  Febronius,  in  dem  siegreichen  literarischen  und  kirChen- 
politischen  Vordringen  des  Febronianismus  ist  Gerberts  gut- 
gemeinte Schrift  rasch  vergessen  worden. 

Hontheim*)  stellt  als  sein  letztes  Ziel  und  eigentlich 
leitenden  Gedanken  die  Wiedervereinigung  der  Konfessionen 
hin.*)   In  diesem  Ideal  wird  er  in  der  Tat  die  höchste  Recht- 


*)  S.  121  verweist  Gerbert  auf  die  oben  S.  518  Anm.  3  angeführte 
Stelle  Bossuets,  aber  er  bemerkt  dazu,  daß  Rom  eben  als  centrum  uni- 
tatis  untrennbar  mit  der  Kirche  verbunden  sei  und  nichts  lehre,  was 
„absonum  a  credulitate  ecclesiae"  sei. 

2)  S.  585  ff. 

3)  Vgl.  besonders  S.  177  . .  .  non  omne  id  quod  Romanus  Pontifex 
ut  privata  persona  dicit,  pro  irrefragabili  habetur ;  sed  quando  pasto- 
rale  munus  suum  exercens  ex  cathedra  loqui  dicitur.  Femer  S.  183 
(mit  Bellarmin,  gegen  die  Gallikaner),  184  f.  u.  ö. 

*)  Eine  befriedigende  Biographie  fehlt.  Eine  nützliche  Übersicht 
über  „Die  kirchenrechtlichen  Ideen  des  Febronius"  bietet  die  Würz- 
burger Jurist.  Dissertation  von  F.  Stümper  (1908;  mit  einer  Über- 
sicht über  die  Literatur);  durch  diese  reichhaltigen  und  objektiven 
Zusammenstellungen,  die  freilich  nur  eine  äußerliche  Ordnung  des 
Stoffes  bieten,  ist  die  Zitatenauswahl  in  Röschs  Aufsatz  über  „Das 
Kirchenrecht  im  Zeitalter  der  Aufklärung"  im  Archiv  für  kathol. 
Kirchenrecht  83  (1903),  446  ff.,  620  ff.  überholt. 

^)  Schon  der  Titel  seines  Werkes  drückt  das  aus:  „De  statu  eccle- 
siae et  legitima  potestate  Romani  pontificis  über  singularis  ad  reuniendos 
dissidentes  in  religione  christianos  compositus  über  singularis."  Vgl. 
femer  die  Vorreden,  sowie  auch  Kap,  111,  §  11,  Nr.  7,  S.  184,  wo 
er  nochmals  betont,  daß  er  nicht  nur  schreibe  „ut  tandem  apericmtnr 

34* 


524  Fritz  Vigener, 

fertigung  seiner  Idee  gesehen  haben. i)  Aber  die  Durch- 
führung seines  Systems  ist  doch  von  diesem  Ideal  nicht  weiter 
berührt.  Mochte  die  christliche  Union  erreichbar  sein  oder 
nicht,  die  Frage  nach  der  Stellung  des  Papstes  in  der  Kirche 
war  für  die  Kirche,  so  wie  sie  dastand,  von  höchster  Be- 
deutung. Schon  die  realistische  Erfassung  der  eigenen  Zeit 
mußte  den  Trierer  Weihbischof  auf  dieses  zentrale  Problem 
führen.  Überhaupt  darf  man  über  den  geistigen  Wurzeln 
des  Febronianismus,  über  den  Anregungen,  die  Hontheim 
aus  den  gallikanischen  Gedanken  und  dem  Studium  der 
Geschichte  zog,  die  sehr  bedeutenden  Einwirkungen  deut- 
scher Kirchenverhältnisse,  jener  deutsch-episkopalistischen^ 
Kirchenpolitik  nicht  übersehen. 2)  Der  Febronius  ist  dabei 
auch  als  historisch-gelehrte  Arbeit  ernst  zu  nehmen;  in 
Deutschland  ist  bis  auf  den  Janus  hin  ein  ähnliches  Werk 
von  gleicher  Bedeutung  nicht  erschienen.  An  selbständiger 
Gelehrsamkeit  ist  Döllinger  dem  Prälaten  des  18.  Jahr- 
hunderts gewiß  weitaus  überlegen.  Aber  dieser  hat  doch, 
wenn  er  auch  nicht  allzu  tief  gräbt,  mehr  als  bloß  eine 
bequeme  Kompilation  geliefert.  Seine  Ideen  berühren  sich 
mit  der  Gedankenwelt  des  Gallikanismus.  Bereits  in  seiner 
Jugend  hatte  er  als  Schüler  van  Espens  in  Löwen  gallika- 
nische  Anregungen  aufgegenommen ;  in  dem  reifen  Manne 
wurden  sie  durch  die  Veröffentlichung  der  „Gallia  orthodoxa'' 
Bossuets  (1745)^)  neu  belebt.  Den  päpstlichen  Primat  zwei- 
felt Hontheim  nicht  an*),  wohl  aber  verwirft  er  die  mon- 


oculi  Curialisiarum  Romanorum" ,  sondern  auch  „pro  reunione  aliarum 
Ecclesiarum  cum  unicä  verä". 

1)  Der  billige  Spott  neuerer  und  neuester  Kurialisten  reicht  nicht 
aus,  das  Gegenteil  zu  beweisen. 

2)  Von  Mergentheim  a.  a.  O.  1, 30  ff.  (s.  S.  520  Anm.  1)  und  Hist.- 
polit.  Blätter  139  (1907),  180  ff.  mit  Recht  betont.  Nur  hat  M.  unter 
dem  Einfluß  der  überaus  engen  und  unkritischen  Schrift  Brücks 
über  die  rationalistischen  Bestrebungen  im  kathol.  Deutschland  (1865) 
die  protestantisch-aufklärerischen  Einwirkungen  auf  Febronius  über- 
schätzt. 

3)  Vgl.  oben  S.  517  Anm.  2. 

«)  Vgl.  De  statu  ecdesiae  Cap.  II,  §2.  Er  bekennt  sich  (S.  75) 
zu  dem  Satze  des  hl.  Augustinus  „ideo  unus  pro  omnibus,  quia  unitas 
in  Omnibus". 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  525 

archische  Gebieterstellung  über  den  Bischöfen^)  und  die  Un- 
fehlbarkeit^),  die  der  Papalismus  für  den  Papst  beansprucht. 
Der  Papst  ist  der  Erste  in  der  Kirche,  aber  er  bleibt  der  Ge- 
samtkirche untergeordnet;  von  ihr,  die  die  oberste  Schlüssel- 
gewalt innehat,  leiten  sich  seine  Rechte  her,  er  ist  an  die 
Kanones  gebunden,  dem  allgemeinen  Konzil  unterworfen.^) 
Der  Primat,  wie  er  in  Rom  gefaßt  wird,  deckt  sich  nach 
Hontheims  Meinung  nicht  mit  dem  von  Christus  gestifteten.*) 

')  Vgl.  über  die  Stellung  der  Bischöfe,  insbesondere  ihre  selbstän- 
dige, gottgegebene  Jurisdiktion  a.  a.  O.  Cap.  VII  „De  authoritate 
episcoporum  ex  iure  divino".  Hier  kommt  Hontheim  (§  1  S.  442)  zu 
dem  Ergebnis:  omnes  Episcopos  in  sua  institutione,  praeveniendo 
emnem  humanam  ordinationem,  esse  in  potestate  et  authoritate  gu- 
oernandi  Ecdesiam  aequales,  non  tantum  quoad  ea,  quae  Ordinis 
bunt,  sed  et  quae  Jurisdictionis,  in  quantum  haec  ad  salutem  populi 
st  rectum  Spirituale  Ecclesiae  regimen  spedant.  —  Auch  die  triden- 
tinischen  Verhandlungen  (s.  oben  S.  501  ff.)  berührt  Hontheim  VII, 
§2  (S.  446  ff.).  —  Zu  beachten  sind  noch  die  bei  Stümper  189  ff. 
abgedruckten  Nachträge  zu  Cap.  VII,  §  5,  die  Hontheim  in  sein  Hand- 
exemplar des  „Justimis  Febronius  abbreviatus  et  emendatus"  (1777) 
eingetragen  hat. 

2)  Vgl.  Cap.  VI,  §  8,  Nr.  7  (S.  339):  Dum  Pontifex  aliquod  dögma 
definit,  Episcoporum  est,  hanc  definitionem  cum  Verbo  Dei  scripta  et 
tradito  conferre,  ad  dispiciendum,  an  huic  illa  sit  per  omnia  conformis. 
Femer  Cap.  II,  §8,  besonders  S.  104  über  das  „jus  contradicendi" 
und  Cap.  IV,  §  2,  S.  189  ff.,  auch  die  noch  mehr  dem  gemäßigt- 
gallikanischen  Standpunkte  Bossuets  sich  nähernden  Bemerkungen 
Cap.  II,  §4,  S.  86  und  Cap.  VI,  §8,  Nr.  7,  S.  339:  Si  episcopi  od 
summi  Pontificis  sententiam  etiam  tacite  accedant  .  .  .  causa  finita  est. 

^)  Cap.  I,  §  6:  Christus  habe  der  ganzen  Kirche  die  Schlüsselgewalt 
übertragen  in  der  Weise  (S.  22)  „ut  illa  per  eos[!]  Ministros  pro  sua 
cujusque  portione,  ac  inter  lios  per  summum  Pontificem  exerceatur". 
Der  Papst  ist  der  „Primarius"  unter  ihnen,  aber  auch  seine  Gewalt 
ist  der  der  ganzen  Kirche  unterworfen.  Vgl.  bes.  S.  26:  Cum  itaque 
Ecclesia  ipsa  principaliter  et  r  ad  i  c  a  l  it  er  obtineat  pote- 
statem  clavium,  quae  ab  illa  in  omnes  ejus  Ministros,  ipsümque  sum- 
mum Pontificem,  derivatur,  et  singulis  quibusque  pro  sua  portione  com- 
municatur,  hinc  sequitur,  Ecdesiam  j  uxt  a  p  r  o  p  r  i  am  s  u  am 
dispensationem,  id  est  C  ano  ne  regi ;  Conciliorum 
(quippe  quae  totam  Ecdesiam  repraesentant)  authoritatem  superiorem 
esse  illä  cujusque  M  i  ni  str  i ,  etiam  summi  ...  Über  das 
Allgemeine  Konzil  überhaupt  vgl.  Cap.  VI,  S.  281  ff. 

*)  Cap.  III  ff.,  vgl.  Stümper  48  ff.,  auch  Hontheims  handschrift- 
lichen Nachtrag  zu  Cap.  III,  §8  De  juribus  primatus  aut  falsis  auf 
controversis  bei  Stümper,  S.  183  ff.  (vgl.  oben  Anm.  1). 


526  Fritz  Vigener, 

Die  Päpste  haben  dank  der  Gunst  der  Verhältnisse  allerlei 
Rechte  gewonnen,  die  Bischöfe  solche  eingebüßt.  Durch  diese 
Scheidung  ursprünglicher  und  hinzuerworbener  Primatial- 
rechte  wird  Febronius  zu  der  Forderung  gebracht,  daß  die 
Bischöfe  ihre  apostolische  Vollgewalt  wiedererlangen  müßten, 
soweit  sie  ihnen  genommen  wurde.  Das  klingt  nicht  nur 
wie  eine  Rechtfertigung  des  Widerstandes  deutscher  Bischöfe 
gegen  den  Papst,  sondern  sollte  es  auch  tatsächlich  sein.  An 
diesem  Punkte  läßt  sich  jene  lebendige  Quelle  für  Hont- 
heims  System  am  besten  erkennen.  Zugleich  versteht  man, 
daß  dieses  System  auf  die  kirchenpolitischen  Tendenzen  der 
deutschen  Erzbischöfe  wiederum  zurückwirken  mußte.  Hont- 
heims  großartiger  Versuch^)  einer  einheitlich  episkopalisti- 
schen  Konzeption  der  Kirchenverfassung  hat  dem  praktischen 
Episkopalismus,  der  zum  Emser  Kongreß  führte,  die  er- 
wünschte theoretische  Grundlegung  und  prinzipielle  Recht- 
fertigung geboten. 2)  Die  Josefinisten  in  Österreich  und  die 
Kirchenpolitiker  anderer  Staaten  haben  gleichfalls  die  ihnen 
gemäßen  febronianischen  Gedanken  herausgegriffen,  um  die 
eigene  Praxis  zu  stützen.  Vor  allem  aber  hat,  den  Be- 
mühungen der  Kurie  zum  Trotz,  Febronius  nebst  seinen 
Ablegern  die  Auffassung  des  Klerus  und  der  gebildeten 
katholischen  Laien,  mindestens  der  Gelehrten  und  Beamten, 
in  den  deutschen  Staaten  stark  beeinflußt. 

Man  hat  den  Febronianismus  das  Kirchenrecht  der 
Aufklärung  genannt.  Ganz  richtig.  Aber  die  Aufklärung 
selbst  mit  ihren  rationalistisch-unkatholischen  Gedanken  hat 
in  Kanonistik  und  Theologie  Bewegungen  entfesselt,  die 
über   die  Lehren  des  Febronius^)    und  über  die  Absichten 


1)  Man  muß  sagen  „Versuch",  denn  die  Lücken  und  Widersprüche 
(z.  B.  Bischofsrechte  —  Rechte  der  Gesamtheit  der  Gläubigen!)  des 
febronianischen  Systems  sind  unverkennbar. 

2)  Die  Kirchenpolitik  der  deutschen  Erzbischöfe  ist  hier  nicht 
zu  erörtern.  Wenn  in  dem  Kölner  Brevier  von  1780  Stellen,  die  der 
Autorität  des  Petrus  und  seiner  Nachfolger  zu  viel  Gewicht  zu  geben 
schienen,  ausgemerzt  waren  (S.  Bäumer,  Gesch.  des  Breviers,  1895, 
S.  541),  so  darf  auch  das  als  eine  Wirkung  des  Febronius  gefaßt  werden. 

')  Blau  (s.  S.  528)  hat  sich  gerade  die  kritische  Auseinandersetzung 
mit  den  geschichtlichen  Darlegungen  und  kirchlichen  Folgerungen  Hont- 
heims  besonders  angelegen  sein  lassen. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  527 

des  Episkopalisinus  hinausgriffen  und  auch  vor  den  fest- 
stehenden und  grundlegenden  Dogmen  der  katholischen 
Kirche  nicht  Halt  machten.  Es  kennzeichnet  diese  Theo- 
logie der  Aufklärung,  daß  in  ihr  die  Bemühung  um  ver- 
tiefte Erkenntnis  und  der  besinnliche  Ernst  geschicht- 
licher Arbeit  (den  man  bei  Hontheim  so  gut  findet  wie 
bei  Bossuet)  zurücktritt  hinter  die  vernunftgemäße  Be- 
trachtung und  die  nüchterne  Abschätzung  der  meßbaren 
Nützlichkeit  des  Kirchlichen  für  die  zu  belehrende  Mensch- 
heit. Rationalisierung  des  Irrationalen,  Auflösung  aller 
„vernunftwidrigen"  Elemente  in  Kirchenlehre  und  Kirchen- 
verfassung, in  Kult  und  Disziplin,  das  war  das  Ideal,  dessen 
Erfüllung  nur  vom  guten  Willen  abhängig  schien.  Der 
sokratische  Gedanke  der  Lehrbarkeit  der  Tugend  bewegt  den 
Drang  nach  dem  Besitz  des  Wissens  und  den  Wunsch,  alles 
Gegebene  durch  Erkenntnis  zu  läutern.  Für  den  aufkläreri- 
schen Radikalismus  war  der  kirchliche  Gegensatz  zwischen 
Episkopalismus  und  Papalismus  erst  in  zweiter  Linie  von 
Bedeutung,  denn  ihm  waren  Voraussetzungen,  die  auch 
den  entschlossensten  Episkopalisten  heilig  waren,  proble- 
matisch oder  vernunftwidrig  und  unhaltbar.  Ein  Theolog 
aus  dem  Kreise  Karl  Eugens  von  Württemberg,  der  Stutt- 
garter Hofkaplan  Werkmeister,  hat  nicht  mehr  die  Frage 
nach  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit,  sondern  die  nach 
der  Unfehlbarkeit  der  Kirche  gestellt  und  verneint.^) 
Er  verwirft  den  Gedanken  der  Unfehlbarkeit  als  ungöttlich 
und  menschenunwürdig.  Die  Unfehlbarkeit  ist  nicht  von  Gott, 
denn  die  notwendige  Folge  der  Unfehlbarkeit  ist  Unwissen- 
heit; die  Unfehlbarkeit  , »hindert  die  Entwicklung  der  Ver- 
nunft und  die  Verbreitung  reeller  Kenntnisse". 2)  Die  typische 

*)  Thomas  Freykirch;  oder  freymüthige  Untersuchungen  über 
die  Unfehlbarkeit  der  kathoh'schen  Kirche  von  einem  katholischen 
Gottesgelehrten.  1.  Bd.,  Frankfurt  und  Leipzig,  1792,  LXIV  und 
394  S.  Auf  dem  Widmungsblatte:  Dem  Papste,  den  Erz-  und  Bi- 
schöfen vorzüglich  allen  Gottesgelehrten  des  katholischen  Deutschlands. 
Alea  jacta  est!  —  Vgl.  Sägmüller,  Die  kirchliche  Aufklärung  am  Hofe 
Karl  Eugens  v.  Württemberg  (1906),  S.  20ff.  (Dazu:  Merkle,  Die 
kathol.  Beurteilung  des  Aufklärungszeitaiters,  1909). 

*)  Freykirch,  358  f.  (359  oben),  in  der  Zusammenfassung,  die 
nochmals  zeigen  soll,  daß  „die  Rechte  der  menschlichen  Natur,  die 


528  Fritz  Vigener, 

Argumentation  des  unbedingten  Vernunftbewußtseins!  Nicht 
i^irchliche  Gedanken  bestimmen,  nicht  geschichtUche  Tat- 
sachen sollen  beweisen^),  sondern  die  Deduktionen  der 
„Vernunft";  nicht  dogmatische  und  verfassungsrechtliche 
Bedenken  bilden  das  letzte  Hindernis  für  die  Lehre  von  der 
kirchlichen  Unfehlbarkeit,  sondern  rationalistisch-erziehungs- 
politische Erwägungen. 

Schon  ein  Jahr  vor  Werkmeister  hat  der  Mainzer  Priester 
Felix  Anton  Blau,  der  sich  willig  dem  revolutionären 
Frankreich  hingab,  eine  „Kritische  Geschichte  der  kirch- 
lichen Unfehlbarkeit"  veröffentlicht^),  auch  er,  ohne  seinen 
Namen  zu  nennen.  Das  Werk  wollte,  wie  der  Titel  ver- 
kündete, „zur  Beförderung  einer  freien  Prüfung  des  Katholi- 
cismus"  beitragen^)  und  so  mit  der  Reform,  die  Blau  und  seine 
Mainzer  Mitarbeiter  bisher  auf  den  Kultus  beschränkt  hatten, 
an  dem  Innersten  der  kirchlichen  Glaubenslehre  ansetzen. 
Blau  ist  nicht  ganz  abstrakt  in  seiner  Begründung;  er  sucht 
dem  reinen  Vernunftstreben  doch  ein  wenig  geschichtliche 
Erdenschwere  beizugeben;  er  bemüht  sich  ernsthaft  um 
eine  Kritik  der  biblischen  und  theologischen  Beweisquellen 
der  Unfehlbarkeitslehre,  er  will  sie  an  der  geschichtlichen 
Wirklichkeit  prüfen.  Aber  der  Vernunftbeweis  steht  auch  bei 
ihm  in  Ehren,  und  sein  Radikalismus  wird  durch  die  ge- 
schichtliche Betrachtung  nicht  gemildert.  Was  Blaus  Werk 
kennzeichnet,  ist  nicht  die  Verneinung  des  Papalismus, 
sondern   die   Verneinung   des   katholischen    Kirchenbegriffs 


I 


Bestimmung  und  die  natürliche  Anlage  unseres  Verstandes"  „sich 
mit  einem  unfehlbaren  Richter,  wie  ihn  die  römische  Kirche  auf- 
stellt, unmöglich  vereinigen  lassen". 

^)  Natürlich  fehlt  es  nicht  an  geschichtlichen  Erörterungen,  aber 
nicht  die  historisch-dogmatische  Untersuchung  der  Lehre  von  der 
kirchlichen  Unfehlbarkeit,  sondern  deren  vernunftgemäße  Prüfung  ist 
das  alles  beherrschende  Bestreben  Werkmeisters. 

*)  Frankfurt  am  Main,  bei  Phil.  Wilh.  Eichenberg,  1791.  XVII t 
u.  598  S.  kl.  8".  Als  Motto  auf  dem  Titelblatt  (aus  Lactantius,  Div. 
Jnstit.,  V  19):  Nihil  est  tarn  voluntarium  quam  religio,  in  qua  si  ani- 
mus  sacrificantis  aversus  est,  iam  sublata,  iam  nulla  est. 

^)  Vgl.  auch  die  Erklärung  im  Vorwort,  daß  er  das  Buch  ge- 
schrieben habe,  um  sich  und  andere  Theologen  in  den  Stand  zu  setzen, 
das  katholische  System  gründlich  zu  prüfen. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  529 

und  der  katholischen  Glaubensquellen.  Sieht  man  nur  nach 
der  negativen  Seite,  so  stellt  sich  dieser  katholische  Priester 
nüchtern  und  kühl  auf  den  Standpunkt,  den  einst  Luther  im 
heißen  Kampfe  gegen  das  überkommene  Kirchentum  nicht 
ohne  schmerzliches  Ringen  gewonnen  hatte;  nach  dem 
Papste  sollte  auch  das  Konzil  stürzen.  Die  Unfehlbarkeit 
der  ökumenischen  Synode  und  der  allgemeinen  Kirche  ver- 
werfen, hieß  aber  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  nicht  weniger 
als  am  Beginn  des  16.  die  katholische  Kirche  selbst  auf- 
geben.^) 

Dieser  unkirchliche  Radikalismus  bedeutete  für  den 
kirchlichen  Episkopalismus  so  gut  eine  Gefahr,  wie  auf 
der  anderen  Seite  der  extreme  Kurialismus  die  Fortschritte 
der  geduldigen  Arbeit  des  gemäßigten  Papalismus  hemmte. 
Zwischen  der  gegen  die  Unfehlbarkeit  der  Kirche  gerichteten 
Anschauung  Blaus  und  seiner  zahlreichen  Gesinnungsver- 
wandten und  dem  gegen  den  Absolutismus  und  die  Un- 
fehlbarkeit des  Papstes  ankämpfenden  Gallikanismus  und 
Episkopalismus  selbst  hätte  es  zu  schweren  Zusammen- 
stößen kommen  müssen,  wenn  nicht  der  theoretische  Radi- 
kalismus der  kirchlichen  Aufklärung  in  dem  angewandten 
Radikalismus  der  Revolution  untergegangen  wäre. 

Aber  das  ist  ja  die  geringste  Wirkung  der  französischen 
Revolution  auf  den  deutschen  Katholizismus;  Revolution 
und  Reaktion  zusammen  haben  ihm  fast  alles  genommen, 
was  seine  Besonderheit  ausmachte.  Auch  in  Frankreich  hat 
die  Revolution  zur  Säkularisation  geführt;  sie  bedeutete 
eine  große  Schädigung  der  Kirche  und  eine  Minderung 
ihrer  Macht  und  hat  mannigfache  Folgen  für  ihre  Organi- 
sation und  für  ihr  geistiges  Leben  gehabt,  aber  die  fran- 
zösische Kirche  hatte  nicht  so  viel  zu  verlieren  und  hat  nicht 
so  viel  verloren  wie  die  deutsche. 


^)  Da  manche  die  Konsequenzen  Blaus  nicht  erkannten,  andere 
sie  nicht  anerkannten,  aber  doch  viele  Prämissen  gelten  ließen,  so 
konnte  das  Buch  weit  in  die  Kreise  hinein  wirken,  die  kirchlich-katho- 
lisch sein  wollten  und  waren.  In  Dillingen  und  in  Würzburg  studierte 
man  es,  und  der  vierzigjährige  Professor  Sailer,  der  spätere  Regens- 
burger  Bischof,  hat  es  empfohlen.  Vgl.  Stölzle,  J.  M.  Sailer  und  seine 
JVlaßregelung  an  der  Universität  Dillingen  (1910)  S.  57. 


530  Fritz  Vigener, 

Das  politische  und  wirtschaftliciie,  das  geistige  und 
kirchliche  Dasein,  wie  es  der  Katholizismus  Deutschlands 
in  eigentümlichen  Formen  entwickelt  hatte,  wurde  durch 
die  Säkularisation  zerrissen :  Stifte  und  Klöster, 
alte  katholische  Geistesstätten  und  bequeme,  dem  katholi- 
schen Adel  deutscher  Nation  unentbehrlich  gewordene  Ver- 
sorgungsanstalten, die  katholischen  Stiftungen  und  Uni- 
versitäten, die  Domkapitel  und  die  Bistümer  waren  zer- 
stört, die  geistliche  Staatenwelt  mit  ihrer  kirchlichen  Kultur 
zerschlagen,  die  konfessionelle  Geschlossenheit  —  von  innen 
her  schon  angefressen,  aber  noch  eine  einheitliche  Macht  — 
war  aufgehoben;  kurzum:  die  geschichtliche  Kirche  Deutsch- 
lands in  all  ihrer  reichen  geistlich-weltlichen  Gestaltung  war 
wie  vom  Erdboden  verschwunden.  Freilich,  diese  Säku- 
larisation mit  allen  ihren  Folgen,  dieser  furchtbarste  Schlag, 
der  die  historische  deutsche  Kirche  treffen  konnte,  ist 
letzten  Endes  ein  unendlicher  Gewinn  für  die  unnationale, 
übernationale  allgemeine  Kirche  gewesen.  Die  Säkularisa- 
tion erst  ermöglichte  schließlich  die  vollkommene  Verkirch- 
lichung  der  deutschen  Kirche,  ihre  Entweltlichung  in  einem 
höheren  Sinne,  eine  nie  vorher  erreichte  Freiheit  von  der 
Welt  und  Freiheit  für  die  Welt  im  Geiste  der  allge- 
meinen Kirche.  Die  geistlichen  Staatengebilde  mit  ihrer 
politischen  Bindung  kirchlicher  Interessen  hatten  die  Aus- 
gestaltung der  kirchlichen  Gemeinschaft  zu  streng  und 
straff  zentralisierter  kirchlicher  Einheit  verhindert.  Erst 
nach  dem  Verlust  ihrer  politischen  Stellung  konnte  die 
katholische  Kirche  Deutschlands  nach  und  nach  als  dienen- 
des Glied  ohne  Vorbehalt  und  ohne  Rücksicht  dem  kirch- 
lichen Ganzen  angeschlossen  werden;  der  moderne  Staat 
hat  nur  kurze  Zeit  im  Wege  gestanden.  Der  Sinn  für  die 
Möglichkeit  dieser  Entwicklung  wurde  bei  der  kirchlichen 
Zentrale  zum  begehrenden  Willen,  sobald  sie  sich  aus  dem 
Drucke  des  revolutionären  in  die  Gemeinschaft  des  re- 
staurierten Europas  versetzt  sah. 

Auch  der  Papst  hat  die  Säkularisation  verurteilt.  Ja 
er  hat  von  dem  Wiener  Kongreß  geradezu  die  Wiederher- 
stellung des  heiligen  römischen  Reichs  deutscher  Nation, 
die   Wiederaufrichtung   der   gesamten   geistlichen    Staaten- 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katliolizismus  etc.  531 

weit  gefordert.^)  Das  war  natürlich  nur  jene  grundsatzvolle 
theoretische  Entschlossenheit,  die  man  sich  bei  einer  aus- 
sichtslosen Sache  ohne  Schaden  gestatten  darf. 

In  Deutschland  aber  haben  die,  denen  eine  verhältnis- 
mäßige Selbständigkeit  und  Sonderstellung  der  deutschen 
Kirche  innerhalb  der  allgemeinen  Kirche  als  Ideal  erschien, 
es  schmerzlich  empfunden  2),  daß  nicht  so  sehr  durch  die 
Säkularisation  an  sich  als  vielmehr  durch  die  Art  ihrer 
Vollziehung  und  ihre  Hinüberleitung  von  dem  politischen 
auf  das  geistlich-kirchliche  Gebiet  auch  den  bescheidensten 
national-kirchlichen  Hoffnungen  von  vornherein  die  Errei- 
chung des  Zieles  sehr  erschwert  war.  Man  hatte  die  Säku- 
larisation so  gründlich  vollzogen,  daß  mit  dem  Besitz  des 
Fürsten  in  dem  Bischof  regelmäßig  auch  der  Besitz 
für  den  Bischof  als  geistliche  Person  verschwand;  man 
machte  ,,den  Fürsten  und  den  Kirchenprälaten  zugleich 
zum  Pensionär".^)  Dabei  war  in  manchen  Domkapiteln 
der  kirchliche  Zusammenhalt  zerrissen,  sobald  die  Kapitel 


1)  Vgl.  Klüber,  Akten  des  Wiener  Kongresses,  Bd.  4,  S.  319  ff. 
und  Bd.  6,  S.  437  ff .  (bes.  441);  Klüber,  Übersicht  der  diplomat. 
Verhandlungen,  3.  Abteiig.,  1816,  S.  473  ff.  Dazu  die  päpstliche  AIlo- 
kution  im  geheimen  Konsistorium  vom  4.  Sept.  1815  bei  Klüber, 
Akten  4,  S.  312  ff.  (317  f.). 

ä)  Vgl.  zum  folgenden  den  Aufsatz  „Dermalige  Lage  der  deut- 
schen katholischen  Kirche"  im  1.  Heft  der  (Tübinger)  Theolog.  Quartal- 
schrift 1819.  —  Vgl.  dazu  die  Denkschrift  der  kathol.  „Oratoren" 
auf  dem  Wiener  Kongreß  (ihre  Namen  bei  Klüber,  Akten  6,  S.  611) 
vom  30.  Okt.  1814  (Klüber,  Akten  1,  Heft  2,  S.  28ff.),  ihre  Bemer- 
kungen vom  Mai  1815  (Klüber,  Akten  4,  290  ff.,  Nr.  27  und  295  ff., 
Nr.  28),  sowie  ihre  Denkschrift  vom  1.  März  1815  über  Zuziehung  von 
Vertretern  der  deutschen  Kirche  zur  Beratung  der  die  katholische 
Kirche  berührenden  deutschen  Angelegenheiten  (Klüber,  Akten  2, 
255  ff.,  Nr.  21;  vgl.  auch  Klüber,  Übersicht  S.  418  ff.)  und  die  Denk- 
schriften und  Vorschläge  Wessenbergs  vom  November  1814  (Klüber, 
Akten  4,  S.  299  ff. ;  Übersicht  S.  434  ff.),  femer  etwa  noch  den  Auf- 
satz von  Görres  ,,Die  katholische  Kirche  in  den  zu  einer  neuen  Orga- 
nisation derselben  vereinigten  Staaten  Deutschlands"  im  „Katholik" 
18  (1825),  237—301,  über  die  ersten  Konkordatskämpfe,  die  febro- 
tiianischen  Gedanken  und  die  Bemühungen  Wessenbergs  auch 
A.  Fr.  Ludwig,  Weihbischof  Zirkel  von  Würzburg  2  (1906),  Kap.  34 
<S.  382  ff.). 

3)  Quartalschrift  a.  a.  O.  S.  94. 


532  Fritz  Vigener, 

aufhörten,  Landstände  eines  geistlichen  Territoriums  zu 
sein^);  es  gab  der  Domherren  genug,  die  keinen  lebendigen 
Begriff  davon  hatten,  daß  sie  einer  vom  Sein  oder  Nicht- 
sein des  geistlichen  Staates  unabhängigen  geistlichen 
Körperschaft,  der  priesterlichen  Gemeinschaft  ihrer  Dom- 
kirche angehörten.  So  rächte  sich  an  der  deutschen  Kirche 
selbst  ihre  innere  Säkularisation  in  dem  Augenblick,  da 
sich  die  äußere  vollzog.  Dazu  kam  dann,  daß  die  meisten 
Bistümer  infolge  der  Revolution  und  Säkularisation  erledigt 
waren;  in  allen  ehemaligen  Reichslanden  ließen  sich  im 
Jahre  1818  noch  drei  Bischöfe  finden.  Die  Kirche  Deutsch- 
lands war  also  auch  als  geistliche  Genossenschaft  ihrer 
Ordnung  und  ihrer  Leitung  beraubt.  Sie  rückte  damit  als 
solche  fast  von  selbst  in  einem  Sinne,  wie  nie  zuvor,  un- 
mittelbar unter  die  päpstliche  Gewalt;  der  Papst  erschien,, 
was  ein  kirchlicher  Zeitgenosse  befremdet  bemerkt,  beinahe 
wie  „der  episcopus  universalis  von  Deutschland". 2) 

Neben  den  noch  vorwaltenden,  in  sich  freilich  vielfach, 
abgestuften  episkopalistisch-nationalkirchlichen  Bestrebungen 
waren  die  Tendenzen,  die  man  sich  gewöhnt  hat,  ultramon- 
tane zu  nennen,  im  Flusse;  aber  sie  waren  damals  noch  nicht 
zusammengefaßt,  noch  nicht  gleichmäßig  von  unten  ge- 
nährt und  von  oben  geleitet  und  darum  nicht  von  jener 
Richtung  gebenden  Gewalt  wie  ein  Menschenalter  später. 
Daß  sie  überhaupt  vorhanden  waren^),  erleichterte  der  Kurie 


^)  Vgl.  die  bitteren  Worte  über  die  „Mietlinge"  in  der  TheoL 
Quartalschrift  1819,  S.  332. 

2)  Quartalschrift  a.  a.  O.  S.  94.  —  Dazu  die  (in  der  Quartalschrift 
a.a.O.  102 ff.)  mit  Beifall  besprochene  Schrift  von  Fridolin  Huber, 
Wessenberg  und  das  päpstliche  Breve,  nebst  einem  Anhange  über  Kir- 
chengewalt, bischöfl.  und  päpstl.  Rechte  (1817).  Hier  sind  z.  B.  ganz 
nach  Hontheims  Vorbild  einzelne  Primatrechte  als  nicht  „wesentlich" 
und  darum  entbehrlich  bezeichnet,  und  dem  Papste  wird  vorge-^ 
halten,  daß  er  sich  „zum  Monarchen  über  die  Bischöfe  der  gesamten 
kathol.  Kirche"  aufwerfe  (S.  69). 

3)  Vgl.  etwa  die  in  der  Theol.  Quartalschrift  1819,  S.  73  ff.  be^ 
sprochene  Schrift  „Der  Pabst  im  Verhältniß  zum  Katholicismus" 
(Luzern  1817)  und  die  von  Fr.  W.  Carove,  Alleinseligmachende  Kirche 
(s.  unten  S.  549  Anm.  3)  1,16  ff.  bekämpfte  Schrift  von  Thomas 
Ziegler  (Bischof  von  Tyniez,  vorher  Theologieprofessor  in  Wien),  Das 
kathol.    Glaubensprinzip  (Wien    1823).      Über  Frey  s.   unten    S.  55a 


Oallikanismus  u.  episk. Strömungen  im  dtsch. Katholizismus  etc.  533 

den  Weg;  entscheidend  aber  wirkte  nicht  die  Gesinnung 
der  geistlichen,  sondern  der  Wille  der  weltlichen  Mächte 
Deutschlands,  die  Haltung  der  Regierungen. 

Den  meisten  deutschen  Staaten  war  die  kirchliche 
Einheit  schon  darum  nicht  erwünscht,  weil  man  die  poli- 
tische möglichst  sanft  gefaßt  wissen  wollte.  Der  Gedanke 
eines  gemeindeutschen  Konkordates  mit  der  Kurie  ist  nicht 
nur  in  den  Kreisen  Dalbergs  und  Wessenbergs  mit  innerlicher 
Hingabe  und  äußerem  Eifer  gepflegt  worden.  Aber  gerade 
den  größeren  deutschen  Staaten  erschien  die  Zusammen- 
fassung der  Bistümer  zu  einer  deutschen  Kirche  unter 
einem  Primas,  dieser  in  Rom  gefürchtete  deutsch-kirch- 
liche Zentralisationsgedanke,  politisch  zu  bedenklich,  als 
daß  die  weit  verbreiteten  und  gut  begründeten  Sympathien 
für  seinen  kirchenpolitischen  Inhalt^)  ihn  hätten  retten 
können. 2)  Es  wurde  zur  Sache  der  einzelnen  Regierungen, 
ihr  Verhältnis  zur  katholischen  Kirche  und  zu  Rom  zu 
regeln.  Die  Fürsten  meinten,  von  Rom  weniger  als  von 
einer  starken  deutschen  Kirche  befürchten  zu  müssen.  Sie 
haben  die  beweglichen  Klagen  über  ihre  Abhängigkeit  von 


Anm.  2.  Auch  Weihbischof  Zirkel  ist  zuletzt  bei  einem  ziemlich  stark 
papalistisch  gefärbten  Kirchenbegriff  angelangt;  vgl.  Ludwig  2,  482  f., 
ebenda  I  (1904),  144  ff.  u.  ö.  über  die  ganz  anders  gearteten  früheren 
Anschauungen  Zirkels. 

^)  Von  ihnen  war  z.  B.  auch  Görres  berührt,  und  noch  1825  hatte 
er  sie  nicht  völlig  abgestreift,  wie  einzelne  Äußerungen  in  dem  oben 
S.  531  Anm.  2  genannten  Aufsatze  „Die  katholische  Kirche  in  den 
zu  einer  neuen  Organisation  derselben  vereinigten  Staaten  Deutsch- 
lands" zeigen. 

2)  Immerhin  wurde  wenigstens  der  Gedanke  gemeinsamer  Ver- 
handlungen der  deutschen  Regierungen  mit  Rom  lange  und  ernsthaft 
erwogen.  Auf  dem  Kongreß  hat  z.  B.  Hessen-Darmstadt  der  katho- 
lischen Kirche  Deutschlands  „eine  ihre  Rechte  sichernde  Verfassung" 
verbürgt  wissen  wollen  (vgl.  Klüber,  Akten  2,366;  Übersicht  444), 
und  in  Preußen  war  es  auch  nach  der  Wiener  Schlußakte  noch  nicht 
ausgemacht,  ob  die  Regierung  das  Verhältnis  zum  Papste  „in  Absicht 
der  rheinischen  Provinzen"  allein  und  für  sich  zu  regeln  suchen  oder 
ob  sie  etwaigen  „allgemeinen  Vorschlägen,  die  man 
in  Deutschland  machen  wird,  beitreten"  werde  (Brief  Hum- 
boldts, Paris  13.  Sept.  1815;  Wilhelm  und  Caroline  v.  H.  in  ihren 
Briefen  5  [1912],  S.  68). 


534  Fritz  Vigener, 

Rom^)  gelassen  hingenommen.  Sie  ließen  den  Freunden 
des  deutschen  Sonderkirchenrechts  zum  Trotz  das  papale 
Kirchenrecht  als  allgemeine  Verhandlungsgrundlage  gelten 
—  um  so  lieber,  da  sie  es  im  einzelnen  mit  ihrem  weltlichen 
Territorialprinzip  zu  durchbrechen  wußten.  Die  staatliche 
Bevormundung  ist  schon  damals  von  vielen  Priestern  und 
eifervollen  Laien  als  unwürdig  empfunden,  auch  wohl  offen 
bekämpft  worden.  Aber  schon  die  politischen  Verhältnisse 
schlössen  einen  organisierten,  durchgreifenden,  erfolgreichen 
Widerstand  aus.  Gewiß  konnte  und  mußte  Rom  als  ein 
„Gegengewicht  gegen  den  Staatsabsolutismus"^)  erscheinen. 
Aber  der  Staatsabsolutismus  war  nicht  bloß  der  überlegene 
Teil;  auch  die  inneren  Kräfte  des  deutschen  Katholizis- 
mus entbehrten  noch  der  Sammlung  und  Schulung  im 
römischen  Sinne.  Die  neuen  Bischöfe  waren  in  ihrer  Mehr- 
heit mit  den  Dingen  zufrieden;  die  vorwaltende  Stimmung 
des  Klerus  in  großen  deutschen  Gebieten,  namentlich  in 
Oberdeutschland^)  war  keineswegs  eingenommen  gegen  das 
Staatskirchentum,  die  Geistlichkeit  war  von  sehr  geringer 
tätiger  Sympathie  für  die  römischen  Absichten  einer  stär- 
keren Zentralisation  erfüllt,  zugleich  nicht  selten  beherrscht 
durch  den  Drang  nach  vereinfachender  und  modernisieren- 


1)  Theol.  Quartalschrift  1819,  S.  94  f.  —  Der  Verfasser  verdirbt 
sich  übrigens  selbst  das  Konzept,  wenn  er  in  einem  und  demselben 
Atem  auch  hervorhebt,  daß  „der  eigentliche  Landesbischof"  ganz 
anders  als  „ein  substituierter  Generalvikar"  für  seinen  Sprengel  sorgen 
könne,  „besonders  wenn  es  darauf  ankommt,  die  Kirchenfreiheit  gegen 
die  Beschränkung  der  Landesregierung  zu  be- 
haupten". Interessant  ist  aber  auf  der  anderen  Seite,  daß  er  mit 
Resignation  und  zugleich  mit  der  Zuversicht  des  Propheten  bemerkt, 
der  Gelehrte  erkenne  „die  Täuschungen  und  Verführungen  der  Politik, 
die  um  gewisser  Nebenzwecke  willen  nicht  berücksichtigt,  was  der 
ganzen  Nation  nottut.  Woraus  am  Ende  eine  feinere,  sich  conse- 
quente  Politik  jenseits  der  Berge  allein  ihre  bestimmten  Vorteile 
zieht". 

^)  Stutz,  Kirchenrecht,  in  Holtzendorffs  Realenzyklopädie,  6.  Auf- 
lage, Bd.  2,  S.  876. 

^)  Vgl.  zum  folgenden  z,  B.  die  in  ihren  sachlichen  Mitteilungen 
nützliche  Schrift  von  A,  Rösch,  Das  religiöse  Leben  in  Hohenzollern 
unter  dem  Einfluß  des  Wessenbergianismus  1800—1850  (2.  Vereins- 
gabe der  Görresgesellschaft  für  1908). 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  535 

der  Reform  von  Kultus^)  und  Disziplin  und  selbst  nach 
Anteilnahme  an  der  Diözesanregierung.  Grundsätze  der 
Aufklärung  berührten  noch  die  religiösen  Gedanken,  die 
kirchlichen  und  kirchenpolitischen  Anschauungen  bildeten 
sich  teilweise  noch  unter  Einwirkung  des  Febronianismus'^) 
und  der  josefinischen  Praxis,  Wessenberg  beeinflußte  den 
oberdeutschen  Klerus  mit  seiner  Persönlichkeit  und  seinen 
Schriften  auch  dann  noch,  als  er  kirchlich  mattgesetzt  war» 
Die  katholische  Theologie  selbst,  die  sich  rasch  von  den 
Fesseln  der  Aufklärung  löste,  hat  sich  deren  Anregungen 
nicht  ganz  entzogen  und  sich  der  befruchtenden  Berührung 
mit  der  aufsteigenden  protestantischen  Theologie  keines- 
wegs verschlossen. 3)  Der  Absage  an  die  Aufklärung  ent- 
spricht nicht  nur  eine  Vertiefung  der  religiösen  Gedanken, 
eine  verinnerlichte  Erfassung  der  katholischen  Glaubens- 
schätze, sondern  zugleich  eine  Vertiefung  der  geschichtlichen 
Einsicht;  dieses  historische  Verständnis  hat  auch  die  in  voll- 
kommenster Bewußtheit  katholisch-kirchlich  empfindenden 
Theologen  fast  durchweg  davon  abgehalten,  kurialistische 
Doktrinen  als  katholische  Glaubenswahrheiten  aufzunehmen 
und  mit  den  Extremen  des  Febronianismus  auch  den  kirch- 
lich-gemäßigten Episkopalismus  zu  verwerfen.    Die  Gegen- 


^)  Noch  kurz  vor  der  Februarrevolution  hören  wir  z.  B.,  daß 
in  Baden  gerade  die  ä  1 1  e  r  e  n  Priester  sich  vielfach  abgeneigt  zeigten 
gegen  Bittgänge,  Exorzismen,  allzu  eifrigen  Heiligenkult  („Katholik" 
1848,  S.  7;  5.  Januar). 

*)  Vgl.  z.  B.  für  das  Bistum  Würzburg  (um  1813)  Ludwig,  Weih- 
bischof Zirkel  2,  268;  der  febronianisch  gesinnte  Klerus  hatte  hier 
das  Übergewicht. 

3)  Man  sehe  etwa,  wie  der  junge  Möhler  auf  seiner  Reise  1822/23 
die  Begegnung  mit  den  großen  protestantischen  Theologen  feiert  und 
wieviel  er  sich  von  der  geistigen  Fühlung  mit  ihnen  verspricht.  In 
einem  Briefe  an  einen  ihm  verwandten  Rottenburger  Domkapituiar 
schrieb  er  damals  z.  B.:  „Neander  erfaßt  alles  in  der  tiefsten  Tiefe. 
Unvergeßlich  werden  mir  Neanders  Vorlesungen  sein;  entscheidenden 
Einfluß  werden  sie  auf  meine  kirchenhistorischen  Arbeiten  haben". 
Vgl.  Kihns  Lebensbild  Möhlers  in  den  von  Raich  (1889)  hg.  Ergän- 
zungen zu  Möhlers  Symbolik  S.  VII  f.  —  Die  Einwirkung  der  pro- 
testantischen gelehrten  Arbeit  und  protestantischer  Anschauung  auf 
die  katholische  vorvatikanische  Theologie  verdiente  eine  eigene  Unter- 
suchung. 


536  Fritz  Vigener, 

bewegung  fehlte  schon  im  ersten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts 
nicht,  und  sie  stand  auf  langsam  ansteigender  Bahn.  Aber 
diese  papalistische  Strömung  im  deutschen  Katholizismus 
war  noch  wesentlich  aus  fremden  Quellen  gespeist,  sie  wagte 
zuerst  nur  zögernd  sich  ihre  Bahn  zu  suchen,  sie  wurde  noch 
überall  gehemmt;  und  nicht  nur  durch  die  Abwehr  über- 
legener Widersacher,  auch  durch  die  eigene  Unsicherheit 
und  Bedenklichkeit  ihrer  deutschen  Anhänger  war  sie  ein- 
geschränkt. Beides  zeigt  sich  in  der  Art,  wie  die  von  außen 
kommenden  Anregungen  und  Anstöße  aufgenommen  worden 
sind. 

Die  gewaltige  und  schließlich  erfolgreiche  literarische 
Propaganda  für  die  Lehre  von  dem  Universalepiskopat  und 
der  Unfehlbarkeit  des  Papstes,  die  im  ersten  Drittel  des 
19.  Jahrhunderts  noch  wenig,  im  zweiten  ganz  allgemein 
den  Katholizismus  der  gesamten  Welt  beschäftigt  hat,  ist  im 
großen  Stile  eingeleitet  worden  durch  einen  Mann,  der  weder 
Priester  noch  Theolog  noch  Kanonist  war.  Aber  der  sar- 
dinische Gesandte  am  Petersburger  Hofe,  Graf  Joseph 
de  Maistre,  der  in  seiner  anders  gearteten  Jugend  um 
das  Freimaurertum  seiner  Heimat  und  des  südlichen  Frank- 
reichs sich  verdient  gemacht  hatte^),  verstand  es,  aus  Kirche 
und  Theologie,  aus  Religion  und  Recht  gerade  so  viel 
herauszuholen,  als  sich  mit  romantisch -absolutistischen 
politischen  Gedanken  zu  der  Einheit  eines  Systems 
zusammenfügen  ließ^);  und  dieses  System  wußte  er  in  das 
berückende  Gewand  einer  glänzenden  französischen  Diktion 
zu  kleiden.  De  Maistre  möchte  die  absolutistischen  Ten- 
denzen der  legitimistischen  Regierungen  zusammmenfassen 
und  hinleiten  zu   dem   alle  irdische   Souveränität  begrün- 


^)  Die  Nachweise  in  der  Schrift  von  Vermale,  La  Franc-Magott- 
nerie  Savoisienne  ä  Vepoque  revolutionnaire  (1912).  Vgl.  Wahls  Notiz, 
Histor.  Zeitschrift  110  (1913),  211.  —  De  Maistres  Familie  stammt 
aus  Frankreich;  vgl.  J.  Mandoul,  J.  de  M.  et  la  politique  de  la  maison 
de  Savoie  {TMse;  Paris  1899)  S.  8  und  19. 

2)  Daß  de  Maistre,  dessen  Bedeutung  eben  in  der  Art  liegt,  wie 
er  bestimmte  Gedanken  darzubieten  weiß,  von  anderen  abhängig  ist 
und  gelegentlich  unkritische  oder  tendenziöse  Darstellungen  unkritisch 
und  tendenziös  ausschreibt,  hat  C.  Latreille,  Joseph  de  Maistre  et  la 
Papaute  (1906)  an  einzelnen  Beispielen  gezeigt. 


Oallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dt$ch.  Katholizismus  etc.  537 

<lenden  päpstlichen  Absolutismus.  Der  schlechthin  absolute 
Souverän  ist  Gott  selbst,  darum  eben  kann  sich  diese  gött- 
liche Souveränität  unmittelbar  einzig  in  dem  Stellvertreter 
Gottes  sichtbar  darstellen.  Das  ist  logische  Forderung  und 
zugleich  Ergebnis  der  Geschichte.^)  Auf  dem  Papste  ruht 
der  Gedanke  der  Souveränität,  er  ist  der  Schützer  der  Völker 
zugleich  und  die  Stütze  der  Herrscher,  die  Angel  der  Welt. 
Die  Heilsamkeit,  ja  Notwendigkeit  des  höchsten,  des  päpst- 
lichen Absolutismus  darzutun,  schrieb  de  Maistre  sein  Buch 
„Du  Pape'\  das  er  1819  unter  dem  alles  sagenden  Motto 
^g  ÄotQcevog  eaTi'i  ausgehen  ließ.  2) 

Die  absolutistische  Stellung  des  Papstes  in  der  K  i  r  c  h  e 
hat  de  Maistre  nicht  lediglich  als  Konsequenz  dieser  Sou- 
veränität in  der  Welt  gefordert,  er  hat  sie  vielmehr  un- 
mittelbar aus  Begriff  und  Wesen  der  Kirche  selbst  gefolgert, 
sie  logisch  und  historisch  zu  begründen  gesucht.  Als  Syste- 
matiker des  kirchlich-päpstlichen  Absolutismus  fühlte  er 
sich,  obwohl  er  es  nicht  liebte,  Abhängigkeit  von  einem 
Fremden  zuzugeben,  wie  der  wahre  Vollender  Burkescher 
Gedanken;  wenn  gegen  Burke  der  Vorwurf  erhoben  worden 
war,  er  führe  auf  dem  Wege  der  politischen  zur  religiösen 
Unfehlbarkeit,  so  ist  de  Maistre  den  Weg  bewußt  bis 
ans  letzte  Ende  gegangen. 3)  Der  Papst  ist  der  große 
Demiurgos  der  gesamten  Gesittung;  seine  kulturbringende 
Wirksamkeit  ist  ohne  Schranken,  sofern  ihr  nicht  Blind- 
heit und  Böswilligkeit  der  Fürsten  entgegentritt.*)  Auch 
in  der  Kirche  könnten  seiner  segenvollen  Souveränität 
Fesseln  angelegt  werden  durch  allerlei  Nebengewalten. 
Darum  ist  jeglicher  Konziliarismus  verwerflich.  De  Maistre 
verrät  es  als  sein  persönliches  Gefühl,  daß  er  für  die 
Konzile  nichts,  für  den   Papst  alles  übrig  habe.    Da  man 


^)  Wie  er  selbst  sein  Papstbuch  beurteilt  wissen  wollte,  zeigt 
ein  Brief  vom  3.  April  1820  (in  der  in  der  folgenden  Anm.  genannten 
Ausgabe  S.  XI),  in  dem  es  z.  B.  heißt:  Sans  contredit,  on  n'a  pas  com- 
pris  mon  livre  encore,  car  il  n'est  ni  gallican,  ni  ultramontain ;  il  n'est 
que  logique  et  historique. 

^)  Ich  benutze  die  9.  Auflage,  Lyon  1851  (=  Oeuvres,  Bd.  3). 

')  Reflexions  sur  le  protestantisme ;  Latreille  74. 

*)  Du  Pape,  1.  III,  chap.  2,  Anfang,  S.  298. 
Historische  Zeitschrift  (III.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  35 


538  Fritz  Vigener, 

nun  einmal  —  er  findet  es  in  seiner  Diplomaten-Non~ 
chalance  lächerlich  genug  —  sogar  den  Konzilsdekreten  an 
und  für  sich  Gesetzeskraft  zugemessen  und  in  dem  allge- 
meinen Konzil  das  letzte  Mittel  gesehen  hat,  die  Einheit 
der  Kirche  zu  erhalten,  so  konnte  de  Maistre  der  Frage  über 
das  Verhältnis  von  Papst  und  Konzil  nicht  ausweichen. i) 
Er  gönnt  ihr  einige  geschichtliche  Streifzüge,  aber  sie  ist 
für  ihn  in  der  Gegenwart  tatsächlich  erledigt:  für  die  Jugend 
der  Christenheit  waren  die  Konzile  geschaffen,  jetzt  ist  die 
Welt  zu  groß  für  sie. 2)  Wozu  überhaupt  ein  allgemeines 
Konzil;  schafft  doch  die  päpstliche  Souveränität,  der  Natur 
gleich,  nichts  vergebens.^)  Nur  der  päpstliche  Absolutismus 
verbürgt  die  Durchführung  der  Aufgaben,  die  der  Kirche 
in  der  Welt  gestellt  sind.  Die  persönliche  lehramtliche  Un- 
fehlbarkeit des  Papstes  ist  aber  dieser  Souveränität  notwendig 
innewohnend,  wahre  Souveränität  ist  ihrem  Wesen  nach 
unfehlbar,  Souveränität  und  Infallibilität  sind  gleichbedeu- 
tende Worte.^)  Wer  diese  Souveränitäts-Unfehlbarkeit  nicht 
anerkennt,  gehört  in  Wahrheit  nicht  zur  Kirche,  ist  Feind 
der  Einheit  und  des  Christentums.^)  Daher  bei  de  Maistre 
die  grundsätzliche  Abweisung  aller  gallikanischen  Gedanken. 
Der  Polemik  gegen  den  Gallikanismus,  die  zuerst  in 
dem  „Pape''  selbst  eine  Stätte  hatte  finden  sollen^),  hat  er 
1821  ein  besonderes  Werk  gewidmet')  —  eine  Schrift,  viel- 

1)  Latreille  170  ff.  —  Vgl.  noch  Du  Pape  1,2  (S.  26). 

2)  £)u  papg  i^  4^  ani  £ntje  (S.  41). 

^)  Du  Pape  (II,  15)  S.  276  Anm.  1:  La  souverainete  est  comme 
la  nature,  eile  ne  fait  rien  en  vain.  Pourquoi  un  concile  oecumenique, 
qußnd  le  pilori  suffit?  —  Dialektische  Apercus  über,  d.  h.  gegen  das 
aligemeine  Konzil  schon  in  dem  unten  S.  539  Anm.  4  genannten  Briete, 
S.  193  f. 

*)  Du  Pape  1,19,  S.  147  f.,  dazu  das  Vorwort  zur  2.  Auflage 
(1820),  ebenda  S.  XXXV II,  wo  er  meint,  daß  selbst  die  theologische 
Bestreitung  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  niemals  zur  Anerkennung 
des  Rechtes  einer  Appellation  von  der  Entscheidung  des  päpstlichen 
Stuhles  führen  könne. 

«)  Du  Pape  I,  1,  S.  17  und  25  f.  (Suprematie  ist  gleich  Unfehl- 
barkeit). 

«)  Vgl.  das  Vorwort  zur  2.  Auflage  von  „Du  Pape"  S.  XXXVIII  f. 

')  De  Viglise  gallicane  dans  son  rapport  avec  le  souverain  pon- 
tife,  pour  servir  de  suite  ä  l'ouvrage  intitule :  Du  Pape.  —  Oeuvres,^ 
Bd.  4  (1852). 


Gallikanismusu.episk.  Strömungen  im  dtsch. Katholizismus  etc.  539 

leicht  noch  willkürlicher  als  die  ,,Vom  Papste",  gelehrt 
scheinende  Plaudereien  eines  gewandten  Causeurs,  aber 
geschrieben  mit  entschlossenem  Hindrängen  auf  die  prak- 
tischen Konsequenzen  und  in  der  faktischen  Wirkung  klug 
berechnet.  Die  gallikanische  Erklärung  von  1682  ist  ihm 
über  alle  Maßen  vernunftwidrig^),  der  dritte  Artikel  von 
der  Superiorität  des  Konzils  eine  kindische  Theorie^),  und 
den  letzten  Satz,  der  den  consensus  ecclesiae  fordert,  über- 
schüttet er  vollends  mit  seinem  Spotte.^)  Der  fingerfertige 
Diplomat  entkleidet  den  Gallikanismus  nicht  nur  jedes 
Sinnes  und  Verdienstes,  er  entzieht  ihm  zugleich  seine 
Menschen.  De  Maistre  hatte  sich  im  „Pape*'  in  der  Kunst, 
mit  Quellenzeugnissen  umzugehen,  genügend  geübt;  so  ist  es 
ihm  ein  leichtes,  zu  zeigen,  daß  Bossuet  mit  den  Vier  Ar- 
tikeln nichts  zu  schaffen  habe,  der  gallikanische  Bischof  in 
Wahrheit  gar  kein  Gallikaner  sei.^)  Seine  Absicht  bei  dieser 
Geschichtsverrenkung  ist  durchsichtig  genug.  Hat  Bossuet 
die  Vier  Artikel  im  Grunde  seines  Herzens  verachtet^),  so 
folgen  die   Gallikaner  des  19.  Jahrhunderts  eben  nur  dem 

1)  De  l'eglise  gallicane,  1.  II,  eh.  4,  S.  148.  —  Schon  1811  hatte 
er  in  einem  Briefe  die  Vier  Artikel  „le  plus  miprisable  chiffon  de  l'hi- 
stoire  ecclesiastique"  genannt  (Joseph  de  Maistre  et  Blacas,  lern  cor^ 
respondance  inidite  et  l'histoire  de  lern  amitie  .  .  .  par  Emest  Daudet, 
Paris  1«08,  S.  126;  vgl.  ebenda  S.  143  f.,  146  ff.). 

2)  II,  4,  S.  144. 

3)  S.  146  f. 

*)  II,  8  („Ce  qu'il  faut  penser  de  Vautorite  de  Bossuet  invoquee 
en  faveur  des  quatre  articles),  S.  191  ff.  Man  sehe  besonders  die  alles 
umbiegende  Auslegung  Bossuetscher  Äußerungen  S.  201,  man  ver- 
gleiche die  Bemerkung  (S.  208),  daß  Bossuet  in  der  Verteidigung 
der  Deklaration  „la  maniere  protestante"  anwende  mit  der  derselben, 
von  Bossuet  ungedruckt  hinterlassenen  „Difence  de  la  dedaration" 
(vgl.  oben  S.  517  Anm.  2)  geltenden  Sentenz  (11,9,  S.  216):  „tout  ce 
qu'on  komme  icrit  n'est  pas  avoui  par  lui".  Vor  allem  ist  zu  be- 
achten, daß  De  Maistre  immer  wieder  behauptet,  die  gallikanische 
Auffassung  sei  von  Bossuet  selbst  verworfen  worden  (s.  besonders 
II,  16,  S.  342  „proscrit",  auch  die  folgende  Anmerkung).  Mit  den 
Versuchen,  Bossuet  von  den  Vier  Artikeln  zu  lösen,  hat  de  Maistre 
gleichfalls  schon  1812  in  seinen  Briefen  an  Blacas  (s,  oben  Anm.  1) 
begonnen,  s.  den  Brief  vom  20.  September  1812  a.a.O.  S.  190 f., 
vgl.  auch  S.  265. 

*)  II,  8,  S.  200:  //  est  certain  qu'il  miprisait  dans  le  fand  de  son 
coeur  les  quatre  articles  proprements  dits. 

35* 


540  Fritz  Vigener, 

großen  Gallikaner  des  17.,  wenn  sie  sich  reuig  dem  absolu- 
tistischen und  unfehlbaren  Papsttum  zuwenden;  der  glück- 
lich entdeckte  echte,  innere  Bossuet  und  der  entdeckende, 
lehrende  de  Maistre  sollen  zur  überzeugenden  Einheit  werden. 
Das  ist  die  alles  rechtfertigende  Hoffnung,  in  der  er  sich 
zuletzt  unmittelbar  mahnend  und  werbend  an  den  fran- 
zösischen Klerus  wendet. i)  Die  Kirche  Frankreichs  stehe 
seinem  Herzen  am  nächsten  —  die  Kirche,  wie  sie  unter 
dem  beseligenden  Einfluß  seiner  Doktrin  werden  soll,  um 
dann  auch  jenseits  der  französischen  Grenze  zu  bekehren 
und  zu  erobern. 

Mit  Deutschland  hat  de  Maistre  nie  nähere  geistige 
Fühlung  gewonnen;  deutsch  konnte  er  nur  mühsam  mit 
fremder  Hilfe  lesen,  die  deutsche  Philosophie  blieb  ihm  fern, 
Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft  war  ihm  ein  Buch  mit 
lächerlichem  Titel,  und  mehr  als  den  Titel  kannte  er  nicht. 
Auch  dem  deutschen  Katholizismus  ist  er  nicht  enger  ver- 
bunden. Aber  er  hat  doch  in  der  Zeit,  da  er  an  seinem  Buch 
vom  Papste  arbeitete^),  sich  darum  bemüht,  der  „bonne 
dodrine''  auch  in  Deutschland  Gehör  zu  verschaffen.  Frei- 
lich, daß  er  sich  an  einen  Mann  wandte  wie  Friedrich  Leo- 
pold Stolberg^),  dem  ein  überspannter  Papalismus  ganz 
fern  lag,  bezeugt  sein  geringes  Verständnis  für  deutsches 
Wesen.  Den  legitimistischen  Theoretikern  und  Praktikern 
der  Heiligen  Allianz  mochte  „Du  Pape''  aus  der  Seele  ge- 
schrieben sein.  Aber  dieses  Buch  mit  seiner  geistreichen 
oder  geistreichelnden  Beredsamkeit,  seiner  dreisten  Dialek- 
tik, in  dem  die  Wissenschaftlichkeit  nur  noch  im  Zustand 
der  Verflüchtigung  zu  finden  und  die  Erkenntnisbilder 
vielfach  verschoben  waren,  diese  Schrift  mit  ihrem  bis  ins 
Lächerliche  überspannten  Drang  zur  Vernichtung  alles  Pro- 


1)  Vgl,  das  17.  Kapitel  des  2.  Buches:  Adresse  au  clerge  fran- 
(ais,  et  diclaration  de  l'auteur,  S.  352 — 358. 

2)  1817.  Aber  bereits  in  einem  Briefe  vom  Jalire  1814  hat  de 
Maistre  einen  Grundgedanken  des  Buches,  die  Anschauung,  daß  Papst 
und  Christenheit  eins  und  dasselbe  seien,  ausgesprochen.  Vgl,  La- 
treille  8f, 

3)  Brief  von  1817,  vgl,  J.  Friedrich,  Gesch.  des  Vatikan.  Konzils 
1,  S.  187  Anm.  4.    S.  auch  unten  S.  552, 


Gallikanismusu.episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  541 

testantischen^),  mit  ihren  schnöden  Bemerkungen  über  die 
Reformation  und  die  Personen  Luthers  und  Calvins^),  das 
war  kein  Buch  für  jene  deutschen  Katholiken,  die  sich 
ehrlich  sehnten,  wieder  ruhige  kirchliche  Zustände  in  der 
Heimat  zu  sehen,  für  die  Theologen,  die  sich  ernsthaft  be- 
mühten, die  gemeinkatholischen  Gedanken  zu  pflegen, 
ohne  die  besonderen  Überlieferungen  der  deutschen  Bildung 
preiszugeben.^)  Es  ist  eine  heute  herrschende,  aber  nicht 
haltbare  Vorstellung,  daß  de  Maistre  auf  den  deutschen 
Katholizismus  jener  Tage  eine  bedeutende  oder  gar  entschei- 
dende Wirkung  im  Sinne  der  kurialistischen  Doktrinen  aus- 
geübt habe.^)  Seine  Programmschriften  haben  in  kirch- 
lichen Kreisen  Deutschlands  nur  wenig  Widerhall  geweckt.^) 


^)  Vgl.  namentlich  die  Conclusion  des  „Pape"  (§  9),  S.  469: 
Pour  ritablir  une  religion  et  une  morale  en  Europe ;  poiir  donner  ä 
la  veriti  les  forces,  qu'exigent  les  conquetes  qu'elle  midite ;  pour  raf- 
fermir  surtout  le  trdne  des  souverains,  et  calmer  doucement  cette 
Fermentation  ginerale  des  esprits  qui  nous  menace  des  plus  grands 
malheurs,  un  präiminaire  indispensable  est  d'effacer  du  dictionnaire 
europien  ce  mot  fatal,  Protestantisme. 

*)  Ebenda  (Conclusion  §  13)  S.  473:  Luther  p  ar  ait ;  Calvin 
le  SU  it.  Dans  un  acds  de  frenisie  dont  le  gerne  humain  n'avait  pas 
vu  d'exemple,  et  dont  la  suite  immMiate  fut  un  carnage  de  trente  ans, 
ces  deux  hommes  de  neant,  avec  Vorgueil  des  cabarets,  publihent  l  a 
r  e  f  0  r  me  de  l'  Egl  i  s  e ;  et  le  fanatisme  des  sectaires,  l'acri- 
monie  plebeienne,  et  en  effet  ils  la  reform^rent,  mais  sans  savoir  ce  qu'ils 
disaient,  ni  ce  qu'ils  faisaient 

3)  Es  verdient  bemerkt  zu  werden,  daß  noch  ein  in  allen  Fragen 
des  geistigen  Lebens  völlig  klerikalisierter  Mann  wie  der  Wiener  Kar- 
dinal-Erzbischof  Rauscher  de  Maistre  kennzeichnet  als  einen  Laien, 
der  ein  mehr  bestechendes  als  zuverlässiges  Talent  besessen  habe  und 
in  der  Theologie  weniger  bewandert  gewesen  sei.  Freilich  gab  Rauscher 
dieses  Urteil  auf  dem  Vatikanischen  Konzil  ab  (Mai  1870)  im  Kampfe 
gegen  die  papalistische  Unfehlbarkeitsdoktrin  (Th.  Granderath,  S.  J., 
Geschichte  des  Vatikan.  Konzils,  Bd.  3,  1906,  S.  173). 

*)  Selbst  für  Frankreich  darf  seine  Wirkung  nicht  so  maßlos  hoch 
angeschlagen  werden,  wie  von  Friedrich  a.  a.  O.  105  geschieht.  Einige 
Einschränkungen  z.  B.  bei  Latreille  245.  Vgl.  auch  die  Bemerkung 
in  dem  übrigens  stark  panegyrischen  und  befangenen  Buche  von  M. 
de  Lescure,  Le  comte  J.  de  Af.  et  sa  famille  (1892)  S.  383. 

•)  Nicht  nur  die  oben  Anm.  2  mitgeteilte  Stelle,  die  auch 
im  „Katholik"  (vgl.  dazu  die  folgende  Seite)  Bd.  7,  S.  306  in 
wörtlicher  Übersetzung  wiedergegeben  ist,  macht  es  begreiflich,  daß 


542  Fritz  Vigener, 

Unter ,  den  politischen  Romantikern  fand  de  Maistre  am 
ehesten  gleichgestimmte  oder  sich  gleich  stimmende  Seelen. 
So  in  Friedrich  Schlegel.^)  Schlegel  hatte  sich  vor  seiner 
Wiener  Zeit  bereits  in  eine  romantische  Universalidee  hinein- 
gelebt.2)  Sie  erhielt  ihren  eigentlichen  Inhalt  durch  den 
Gedanken  an  ein  universales  Kaisertum,  aber  dieses  Kaiser- 
tum sollte  religiös  begründet  sein,  also  in  der  Praxis  mit  der 
universalen  Kirche  verbunden  und  das  heißt  doch  wohl,  ihr 
untergeordnet  sein.  Auch  durch  Novalis  sind,  wie  Friedrich 
Meinecke  gezeigt  hat^),  Gedanken  de  Maistres  vorweg- 
genommen; aus  einem  idealisierten  Bild  des  Mittelalters, 
aus  der  Sympathie  für  mittelalterlichen  Universalismus 
erhob  sich  in  Novalis  die  Idee  eines  kirchlichen  Kosmo- 
politismus, eines  über  die  irdische  Sphäre  hinaustretenden 
europäischen  Gemeinschaftsstaat.es.  Schlegel,  der  durch 
innere  Entwicklung  Katholik  geworden  war,  konnte  auch 
die  rein  kirchlichen  Gedanken  de  Maistres  willig  aufneh- 
men. Ihm  persönlich  allerdings  war  der,  wie  er  meinte, 
überzeugende  Nachweis  der  inneren  Notwendigkeit  und 
des  geschichtlichen  Daseins  der  Kircheneinheit  —  also  das 
mehr  politisch  Wirksame  im  Leben  der  Kirche  —  das  Wich- 
tigste an  dem  Papstbuche.  Aber  sein  Interesse  für  das 
Ganze  bekundete  er  durch  den  Wunsch  nach  einer  Über- 
setzung. Das  Verlangen  wurde  sogleich  erfüllt:  1822  lag  das 
Papstbuch  in  deutscher  Sprache  vor,  das  Werk  des  jungen 
katholischen  Juristen  Moritz  Lieber  und  des  frommen  Bonner 
Physiologen  Windischmann*)  —  ein  bezeichnendes  Beispiel 


gerade  eine  1823  in  Mainz  veröffentliclite  polemische  Sclirift  gegen  das 
Reformationsgedächtnis  (s.  Schnütgen,  Das  Elsaß  und  die  Erneuerung 
des  kathol.  Lebens  in  Deutschland  von  1814  — 1848  [Teildruck  als 
Straßburger  phijos.  Dissert.  1908;  jetzt,  Frühjahr  1913,  vollständig] 
S.  26)  auf  de  Maistres  Papstbuch  verwies. 

1)  Vgl.  Friedrich,  Gesch.  d.  vatik.  Konzils  1,  187  f. 

2)  Meinecke,  Weltbürgertum  und  Nationalstaat,  2.  Aufl.,  S.  84  ff. 

3)  A,  a.  O.  S.  68  ff.  (besonders  71). 

*)  M.  Lieber  (geb.  1790)  in  Kamberg,  der  Vater  des  bekannten 
Parlamentariers,  war  Windischmanns  Schwiegersohn;  einiges  über  ihn 
z.  B.  bei  G.  Goyau,  L'Allemagne  religieuse,  le  Catholicisme  (s.  das 
Register,  Bd.  4  [1909],  S.  409).  Über  K.  J.  H.  Windischmann  ebenda, 
ferner  Ferd.  Walter,  Aus  meinem  Leben  (1865),  S.  310  ff.;  von  O.  Pfülf 


<3allikantsnius  u.episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  543 

für  die  auch  sonst  zu  beobachtende  Erscheinung,  daß  bei 
den  ersten  Versuchen  einer  stärkeren  Ronianisierung  der  ka- 
tholischen Kirche  Deutschlands  die  Laien  bereits  in  hervor- 
ragendem Maße  beteiligt  sind.  Für  unsere  Untersuchungen 
hier  handelt  es  sich  um  die  Feststellung,  welche  Aufnahme 
die  kirchlich-katholischen  Kreise  und  die  Theologen  Deutsch- 
lands dem  Buche  und  seiner  papalistischen  Kirchenlehre  be- 
reitet haben.  Wir  können  erwähnen,  daß  der  zweiundzwanzig- 
jährige  Theolog  Heinrich  Klee,  der  damals  noch  vor  der 
Priesterweihe  stand,  bald  aber  als  ausgezeichneter  Dogmatiker 
gefeiert  wurde,  die  „Eglise  gallicane"  für  sich  verdeutscht 
erscheinen  ließ^),  noch  ehe  die  Liebersche  Übersetzung  der 
Werke  de  Maistres  die  Schrift  brachte. 2)  Viel  wichtiger 
war  doch,  daß  die  popularisierende  katholisch-theologische 
Zeitschrift,  die  weit  in  die  breiten  Massen  des  Klerus  und 
in  die  kirchlich  gesinnte  gebildete  Laienschicht  eindrangt), 
die  Darlegungen  de  Maistres  in  breiten  Auszügen  ihrem 
Publikum  dargeboten  hat.  Es  ist  der  noch  heute,  mit  wenig 
geändertem  Charakter  bestehende  ,,Katholik**  —  eine 
Mainzer  Gründung. 

In  Mainz  standen  die  Überlieferungen  der  erzstifti- 
schen  Zeit  mit  ihrer  durch  Aufklärung  und  Gallikanismus, 
Febronianismus  und  nationalkirchliche  Gedanken  wesent- 
lich bestimmten  Richtung  innerlich  unvermittelt  neben 
aufsteigenden  neukatholischen  Tendenzen.  Die  fromme, 
entschlossen  kirchliche,  zugleich  milde  und  vornehme  Per- 


S.  J.  (Katholisch.  Kirchenlexikon,  hg.  v.  Wetzer  u.  Weite,  2.  Aufh, 
12  [1901],  1696),  wird  Windischmann  „ein  entschiedener,  in  jeder  Hin- 
sicht ausgezeichneter  Katholik"  genannt.  Über  seinen  Anteil  an  der 
deutschen  Ausgabe  de  Maistres  vgl.  seinen  Brief  an  Görres  vom 
17.  März  1825  (Görres,  Briefe,  hg.  v.  Binder,  Bd.  3  [=  Gesammelte 
Schriften,  Bd.  9],  S.  156). 

»)  Friedrich  1,  188.  Über  Klee  vgl.  z.  B.  den  Artikel  von  Hein- 
rich im  Kathol.  Kirchenlexikon  7  (1891),  743  ff.  und  Goyau,  L'AIU- 
magne  religieuse,  le  Catholicisme  (s.  das  Register,  Bd.  4,  S.  408).  Eine 
knappe,  liebevolle  Charakteristik  Klees  gibt  Ferd.  Walter,  Aus  mei- 
nem Leben    S.  316. 

^)  Über  diese  berichtete  der  „Katholik"  (s.  unten  S.  548)  im 
10.  Bande  (1823),  S.  75—94. 

^)  Vgl.  dazu  die  Notizen  bei  Schnütgen  27  f. 


544  Fritz  Vigener, 

sönlichkeit  des  von  Napoleon  ernannten  Bischofs  Colmar^) 
hat  den  ersten  Äußerungen  dieser  Gegensätze  viel  von 
ihrer  Schärfe  zu  nehmen  vermocht;  der  Zwiespalt  selbst  war 
nicht  überwunden.  Gerade  Colmar.hat  dem  Scholastizismus 
in  Theologie  und  Philosophie,  dem  das  aufgeklärte  Mainz 
für  immer  entwachsen  zu  sein  wähnte,  durch  die  Gründung 
seines  Priesterseminars  eine  Feste  errichtet,  von  der  aus 
bedeutende  Vertreter  eines  jeder  Vermischung  mit  aufkläre- 
rischen und  gallikanischen  Gedanken  abholden  Katholizis- 
mus in  die  Praxis  der  Kirche  und  in  die  Praxis  der  literari- 
schen Polemik  hineingesandt  werden  konnten. 2)  Freilich 
das  1805^)  gegründete  Mainzer  Seminar  war  zunächst,  wie 
jedes  französische  Priesterseminar,  durch  seine  vom  Kaiser 
bestätigten  Satzungen  auf  die  Deklaration  von  1682  ver- 
pflichtet; jeder  Professor  mußte  sich  zu  den  gallikanischen 
Vier  Artikeln  schriftlich  bekennen  und  geloben,  seine  Lehre 
nach  ihnen  zu  richten.*)  Erst  der  Sturz  Napoleons  hat  das 
kirchliche  Leben  in  Mainz  dieser  vom  Staate  angelegten 
dogmatischen  Fessel  entzogen.  Das  Großherzogtum 
Hessen,  dem  Mainz  zufiel,  verfügte  nicht  über  kirchen- 
politische Erfahrungen,  und  am  allerwenigsten  brachte  dieser 
Staat,  der  eben  zuerst  Ländergebiete  mit  starker  katholischer 
Bevölkerung  erhalten  hatte,  ein  Lehrsystem  mit,  das  nach 
Art  der  gallikanischen  Artikel  oder  des  Febronianismus 
deutscher  katholischer  Staaten  Priestererziehung  und  dog- 


^)  Über  ihn  das  freilich  ziemlich  oberflächliche  Buch  von  Jos. 
Wirth,  Monseign.  Colmar,  evique  de  Mayence  (1760 — 1818),  1906^ 
ferner  Schnütgen  S.  4  ff.,  Bergsträßer,  Studien  zur  Vorgeschichte  der 
Zentrumspartei  116  ff.,  F.  Usinger,  Das  Bistum  Mainz  unter  französi- 
scher Herrschaft  (1912),  Gustav  Krüger,  Der  Mainzer  Kreis  und  die 
kathol.  Bewegung:  Preuß.  Jahrbücher  148  (1912),  395  ff. 

ä)  Vgl.  Colmars  Brief  vom  24.  Juli   1818  bei  Bergsträßer  243  f. 

')  Vgl.  Usinger  60  (nicht  1803,  wie  Krüger  396). 

*)  Vgl.  Jos.  Guerber,  Bruno  Franz  Liebermann  (1880)  S.  215  ff. 
und  die  von  Usinger  59  f.  mitgeteilten  Bestimmungen.  In  den  bis- 
herigen Darstellungen  sind  die  ersten  Jahre  des  Mainzer  Seminars 
nicht  richtig  beurteilt  oder  ganz  übersehen  worden.  Es  ist  doch  lehr- 
reich, daß  der  Jesuitenschüler  Liebermann  (s.  S.  545  und  551)  die  Vier 
Artikel  unterschrieben  und  nach  ihnen  zu  lehren  versprochen  hat. 
Welche  Rücksicht  auf  die  gallikanische  Tradition  voiinöten  war,  er- 
gibt sich  auch  aus  Guerber,  Liebermann  S.  301  f. 


Gallikanismus  u.episk.Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  545 

matisclie  Unterweisung  in  bestimmter  Richtung  festgelegt 
hätte.  So  hat,  was  man  zu  übersehen  pflegt,  erst  der  deutsche 
„PoUzeistaat"  die  spezifische  Entwici^lung  des  Mainzer 
Seminars  ermögUcht,  um  ihm  dann  freilich  nach  einem 
halben  Menschenalter  ein  Ende  zu  bereiten.  Es  entspricht 
dem  Wechsel  der  politischen  Verhältnisse,  daß  Colmars 
elsässischer  Landesgenosse  Liebermann,  den  der  Bischof 
von  Anfang  an  zum  Leiter  des  Seminars  bestellt  hatte,  erst 
im  Jahre  1814  dazu  übergingt),  statt  des  Kirchenrechts 
Dogmatik  zu  lehren.  Jetzt  durfte  er  das  Gegenteil  dessen 
verkünden,  was  er  beim  Antritt  seines  Amtes  zu  lehren  ver- 
sprochen hatte.  Dem  gallikanischen  Artikel  von  der  Superiori- 
tät  des  Konzils  konnte  er  die  Lehre  vom  Universalepiskopat 
des  Papstes  entgegenhalten,  und,  statt  mit  Bossuet  die  Gel- 
tung päpstlicher  Lehrentscheidungen  von  der  Zustimmung 
der  Kirche  abhängig  zu  machen,  wagte  er  es,  die  Doktrin 
von  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit,  gegen  die  er  selbst  doch 
seine  ernstlichen  Zweifel  hegte^),  den  künftigen  Priestern 
vorzutragen. 3)  Aus  Liebermanns  Seminar  sind  die  beiden 
Priester  hervorgegangen,  die  im  Jahre  1821  den  „Katholik" 
gründeten,  Andreas  Räß,  selbst  Philosophielehrer  am  Seminar, 
und  Johannes  Weis,  beide  später  als  Bischöfe  ganz  im  Geiste 
ihres  alten  Seminars  tätig. 

Der  Katholik  ist  die  Monatschrift,  die  sich  seitdem  am 
meisten  bemüht  hat,  dem  deutschen  Klerus  und  den  gebil- 
deten Laien  Deutschlands  die  ihnen  fast  fremd  gewordene 
streng  kirchlich-römische  Anschauung  aller  Dinge  und 
namentlich  der  Kirche  selbst  wieder  in  die  Seele  zu  senken. 
Das  Programm  der  Zeitschrift  macht  die  bewußte  Abwendung 
von  den  Aufklärungsideen  deutlich,  zeigt  aber  bei  allem 
Spotte  über  ,, unser  hochgepriesenes  menschentümliches  Zeit- 
alter" zugleich,  daß  man  es  verstand,  sich  nach  außen  zur 
Rechtfertigung  dieser  neuen  literarischen  Kampfesrüstung 
eben    auf   die   Toleranzgedanken    der   Aufklärung    zu    be- 


0  Krüger  S.  398. 
»)  Vgl.  unten  S.  551. 

3)  Das  bezeugt  Guerber  S.  304  ausdrücklich,  doch  vgl.  auch  ebenda 
S,303  und  namentlich  217. 


546  Fritz  Vigener, 

rufen.^)  Die  Zeitschrift  wollte  kein  Gelehrtenblatt  sein,  aber 
sie  wollte  die  Theologie,  wie  das  Mainzer  Seminar  sie  faßte, 
propagieren  und  popularisieren,  um  der  vorherrschenden 
Theologie  der  Aufklärung  und  des  Febronianismus  ein 
Gegengewicht  zu  bieten.  Dabei  war  es  eine  wohl  verstandene 
Pflicht  der  Klugheit,  nicht  trotzig  begehrend  mit  der  ganzen 
Wucht  der  orthodox-theologischen  Waffen  hervorzutreten. 
Wenn  man  die  innere  Hingabe  des  sog.  Mainzer  Kreises 
an  den  Kurialismus  feststellt,  so  muß  man  zugleich  bemerken, 
daß  die  Leitung  des  „Katholik"  es  im  ganzen  trefflich  ver- 
standen hat,  bestimmten  Übertreibungen  papalistischer 
Doktrinen  aus  dem  Wege  zu  gehen,  ohne  sich  in  dem  Wesent- 
lichen irgend  etwas  zu  vergeben,  und  meist  auch  durch  das 
Verbindliche  einer  maßvollen  Form  dem  sachlich  Entschei- 
denden größere  Wirkung  zu  sichern.  Diese  Berechnung  ist 
der  Zeitschrift  auch  in  der  Begeisterung  für  de  Maistre 
nicht  ganz  verloren  gegangen.  Der  „Katholik"  hat  die 
deutsche  Ausgabe  des  Papstbuches  sogleich  lebhaft  begrüßt 
und  viele  Seiten  mit  Auszügen  aus  de  Maistre  gefüllt^) — 
für  die  Leser  der  Zeitschrift  damals,  da  ihr  Görres  seine 
schneidige  und  biegsame  Feder  noch  nicht  zur  Verfügung 
gestellt  hatte,  auch  literarisch  ein  ungewohnter  und  ver- 
lockender Genuß.  Der  Verfasser  des  Aufsatzes  gibt  sich  den 
Gedanken  de  Maistres  ganz  gefangen.  Was  de  Maistre 
vorträgt,  sei  es  selbst  die  Lehre  vom  Recht  des  Papstes, 
die  Untertanen  ihres  Treueides  zu  entbinden^),  es  wird  mit 
ehrerbietiger  Zustimmung  aufgenommen.  Um  so  mehr 
bedeutet  es,  daß  der  ,, Katholik"  sich  in  einem  Punkte  sorglich 
salviert  hat.  Er  läßt  den  Satz  gelten,  daß  die  Einheit  der 
Lehr«  eine  monarchische  Regierungsform  der  Kirche  erfor- 
dere, aber  die  Behauptung,  daß  die  Lehre  von  der  päpst- 

1)  „Katholik",  Bd.  1,  Heft  1  (1821),  Vorwort  S.  III.  Die  Ver- 
teidigung der  Kirche  soll  (S.  V)  im  „Geist  der  Liebe  und  Sanftmut, 
der  Bescheidenheit  und  des  hohen  Ernstes"  geschehen.  Dabei  wird 
bereits  im  T.Bande  (1823)  in  einem  „Lehrgedicht"  mit  dem  Titel 
„Das  Pabstthum  zu  Rom,  von  Christus  gestiftet"  Luther  „der  tolle 
Mönch"  genannt  (S.  21).    Vgl.  auch  oben  S.  541  Anm.  5. 

2)  „Katholik"  7  (1823),  S.  179—210  und  284—308. 

3)  A.  a.  O.  S.  199.  Vgl.  auch  S.  293  (aus  „Du  Pape",  Buch  3, 
Kap.  4). 


Oailikanismus  u.episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  547 

liehen  Infallibilität  zum  gegebenen  Glaubenssystem  gehöre, 
macht  er  sich  nicht  zu  eigen;  die  Unfehlbarkeit  des  Papstes 
sei  nicht  Lehre  der  Kirche,  könne  also  geglaubt  werden 
oder  nicht,  je  nach  der  subjektiven  Einsicht  der  Gründe 
dafür  oder  dawider,  nur  die  Unfehlbarkeit  der  lehrenden 
Kirche  sei  Dogma. i)  Diese  Zurückhaltung  ist  nicht  schon 
erklärt,  wenn  man  feststellt,  daß  sie  dem  tatsächlichen 
Stand  des  Dogmas  in  korrekter  Weise  gerecht  wird;  denn 
wie  jetzt  de  Maistre,  so  hatten  vorher  viele  andere,  Ordens- 
niänner  und  Priester,  die  nahe  Fühlung  mit  der  Kurie  hatten, 
Theologen,  die  man  Kirchenväter  der  Neuzeit  nennen  darf, 
über  das  definierte  Dogma  hinausgegriffen  und  die  Unfehl- 
barkeitsdoktrin als  verpflichtendes  Stück  der  Glaubenslehre 
angesprochen.  Diese  so  sehr  gewissenhafte  Zurückhaltung 
an  einem  Punkte,  wo  nach  kurialer  Auffassung  weniger 
Loyalität  lobwürdiger  gewesen  wäre,  ist  doch  vor  allem 
als  höchst  berechtigte  Taktik  gegenüber  der  deutschen 
Wirklichkeit  einzuschätzen.  Die  Männer,  die  im  „Katholik" 
weniger  Kenntnisse  verbreiten,  als  Anschauungen  beein- 
flussen und  durch  Belehrung  erziehen  wollten,  wußten  sehr 
^enau,  daß  die  Wegebereiter  der  geschlossen  kurialistischen 
Kirchenansicht  in  Deutschland  den  Spaten  tiefer  ansetzen 
müßten.  Die  Unfehlbarkeitslehre  konnte  und  sollte  den 
letzten  Abschluß  geben,  vorher  galt  es  doch,  erst  einmal  nur 
dem,  was  man  in  Rom  längst  zu  dem  Selbstverständlichen 
und  Feststehenden  rechnete,  die  allgemeine  Anerkennung 
der  deutschen  Priester  und  Theologen  zu  erwirken.  Wo  der 
jurisdiktioneile  Primat  des  Papstes  noch  bestritten  und  die 
Superiorität  des  allgemeinen  Konzils  noch  festgehalten  wurde 
von  Theologen,  die  jede  Verdächtigung  ihrer  Kirchlichkeit 
mit  innerlichem  Rechte  hätten  zurückweisen  können,  da 
mußte  man  mit  der  Propaganda  für  die  Infallibilitätsdoktrin 
behutsam  an  sich  halten.  Solange  die  Neuordnung  der 
deutschen  Kirche  noch  nicht  völlig  durchgeführt  war,  mußte 
man  in  den  Kreisen,  die  der  ,,  Katholik"  vertrat,  nicht  nur 


*)  A.  a.  O.  S.  190  in  der  Anmerkung  steht  diese  einschränkende 
Bemerkung  zu  dem  von  der  „faktischen  Unfehlbarkeit"  des  Papstes 
-handelnden  15.  Kapitel  des  1.  Buches  von  „Du  Pape";  Bergsträßer 
119  f.  ist  zu  berichtigen. 


5t48  Fritz  Vigener, 

gallikanische  Theorien  fürchten,  sondern  selbst  gaUikanisch- 
febronianische  Praxis.    Solche  Besorgnisse  sprechen  deutlich 
schon  aus  einer  Apostrophe,  die  im  ersten  Hefte  des  „Katlio-^ 
lik"  an  den  künftig  zu  bestellenden  Mainzer  Bischof  gerich- 
tet war^),  und  aus  der  Besprechung  der  deutschen  Über- 
setzung von    de  Maistres   Schrift    über    die   Gallikanische 
Kirche. 2)    In  einem  programmatischen  Aufsatze  aber,  den 
die  Zeitschrift  im  Jahre  1825  über  die  unsicheren  Verhält- AI 
nisse    in    der    oberrheinischen     Kirchenprovinz    veröffent-  "' 
lichte^),  meldet  sich  der  Episkopalismus  als  kirchenpolitische 
Realität  ganz  unmittelbar  an.    Hier  wird  einfach  zugegeben,, 
daß  es  noch  unentschieden  sei,  ob  das  Episkopal-  oder  das- 


^)  „Die  Religion  an  den  aufzustellenden  Bischof"  („Katholik"  l 
[1821],  S.  81—98,  anonym,  wie  alle  diese  Aufsätze).  Hier  heißt  es  S.  87: 
„Überzeugt,  daß  du  einsehen  wirst,  der  Pabst  sey  nicht  nur  Bischof 
in  Rom,  sondern  der  wahre  Nachfolger  des  hl.  Petrus,  leg'  ich  in  ge- 
drängter Kürze  die  Gründe  vor,  die  beweisen,  daß  der  Pabst  dieser 
Nachfolger  wirklich  sei  —  nicht  für  dich,  sondern  für  diejenigen,  *die 
sich  Febronianer  nennen,  und  den  Pabst  den  ersten  unter  seines 
Gleichen  gelten  lassen."  Daß  der  Verfasser  natürlich  gerade  die  Er-^ 
Hebung  eines  febronianisch  gesinnten  Bischofs  fürchtete,  braucht  nicht 
erst  gesagt  zu  werden.  Das  oben  S.  546  Anm.  1  genannte  „Lehr- 
gedicht" fordert  zum  Gebet  auf,  daß  Gott  „H  i  r  t  e  n"  sende,  „nicht  j 
stumme  Hunde,  die  nicht  bellen  können"  [=  Jesaias  56,  10].  Der  erst 
1830  eingesetzte  Mainzer  Bischof,  Domdekan  Burg  von  Freiburg,  hat 
den  Erwartungen  dieses  Mahners  jedenfalls  nicht  entsprochen. 

2) ,, Katholik"  (Bd.  10  Straßburg  1823;  damals  hg.  von  G.  Scheib- 
lein) S.  75 — 94,  besonders  S.  77  f.,  wo  sich  die  beachtenswerten  Worte 
finden:  Das  Ganze  wird  dem  denkenden  katholischen  Leser  mehr  als 
einen  Anlaß  zu  besorgungsvollen  Seitenblicken  auf  die  in  Deutschland 
herrschenden  ähnlichen  Erscheinungen  und  Denkarten  in  Hinsicht 
der  Grundsätze  geben,  welchen  ein  so  großer  Teil  deutscher 
Katholiken  zugetan  ist,  und  welche  gerade  jetzt  erst  recht  ernst  er- 
wogen zu  werden  verdienen.  Man  würde  sich  sehr  irren,  wenn  man 
glauben  wollte,  wir  wären  von  den  Grundsätzen  der  gallikanischen 
Kirche  unangesteckt  geblieben;  fabula  narratur  de  te  mutaio  nomine. 
....  Man  wird  gewiß  erkennen,  daß  der  Einfluß,  welchen  diese 
Grundsätze  auch  auf  uns  hatten,  und  annoch  in  Rück- 
sicht der  Begriffe  vom  römischen  Stuhle  unter 
uns    haben,    nur    zu    groß    war."     (Von    mir   gesperrt.) 

3)  „Die  religiösen  Verhältnisse  der  Katholiken  Deutschlands  — 
und  was  sind  die  protestantischen  Landesherren  ihren  katholischen 
Untertanen  in  Bezug  auf  ihre  Religionsverhältnisse  schuldig":  „Katho- 
lik" 15  (1825),  S.  129—176. 


Gallikanlsmus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  549 

Papalsysteni  dein  Wohl  der  deutschen  Kirche  am  zuver» 
sichtlichsten  entspreche.^)  Auch  dieser,  persönlich  dem  aus- 
schließlich papalen  Kirchenrecht  zugekehrte  Schriftsteller 
glaubt  der  deutschen  Kirche  das  Zugeständnis  schuldig  zu 
sein,  daß  bei  der  endgültigen  Feststellung  der  Rechtsver- 
hältnisse zwischen  Papst  und  Episkopat  die  Bischöfe  geradeso 
gut  herangezogen  werden  müßten  wie  der  Papst. 2)  Gewiß, 
die  Not  des  Augenblicks  hat  hier  die  Feder  führen  helfen, 
aber  daß  auch  der  „Katholik"  genötigt  war,  mindestens 
scheinbar  einer  Vermittlung  das  Wort  zu  reden,  bekundet 
eine  gebotene  Rücksicht  auf  den  Episkopalismus  und  be- 
zeugt so  dessen  lebendige  Kraft. 

Wir  sind  indessen  nicht  dazu  verurteilt,  lediglich  an 
der  Haltung  der  Gegner  die  nachwirkende  Macht  des  Fe- 
bronianismus,  das  selbstsichere  Fortleben  des  kirchlichen 
Episkopalismus  und  die  Stärke  des  Widerstandes  gegen  die 
Infallibilitätsdoktrin  mühsam  abzumessen.  Wir  haben  posi- 
tive Zeugnisse  genug.  Abzusehen  ist  dabei  von  dem  Radi- 
kalismus, der  mit  seiner  Anfechtung  des  päpstlichen  Pri- 
mates überhaupt,  mit  seiner  Bestreitung  selbst  der  Unfehl- 
barkeit des  allgemeinen  Konzils  und  der  allgemeinen  Kirche 
sich  außerhalb  des  Kreises  aufstellt,  der  um  das  Dogma 
zu  ziehen  ist.=^)  Vielmehr  darf  die  Untersuchung  nur  da  ein- 
setzen, wo  nicht  allein  die  Gesinnung,  sondern  auch  die 
Lehranschauung  korrekt-katholisch  ist,  wo  gewollte  und  tat- 
sächliche Kirchlichkeit  zusammentreffen.  Man  wird  zu  dem 
Ergebnis  kommen,  daß  die  papale  Unfehlbarkeitsdoktrin  in 
Deutschland  damals  in  den  Büchern,  die  sich  durchzusetzen 


^)  S,  175,  besonders  die  Anmerkung. 

2)  S.  175  Anm.,  vgl.  auch  S.  149. 

^)  Darum  bleibt  hier  z.  B.  unberücksichtigt  die  übrigens  sehr 
interessante  Schrift,  die  F.  W.  Carove  1826/7  unter  dem  Titel  „Über 
-allein  seligmachende  Kirche"  in  2  Bänden  veröffentlicht  hat.  Einige 
Notizen  über  Carove  bietet  J.  Fr.  v.  Schulte,  Gesch.  der  Quellen  des 
canon.  Rechts  3  I,  S.  342;  eine  kleine  Mitteilung  auch  bei  Paul  Vogel, 
Beiträge  zur  Geschichte  des  Kölner  Kirchenstreites  (1913)  S.  52.  — 
Da  Grauert  in  seiner  Schrift  über  Görres  in  Straßburg  (Görresgeseil- 
schaft,  3.  Vereinsschrift  für  1910)  S.  46  Anm.  3  berichtet,  daß  er 
Caroves  Werk  in  München  vergebens  gesucht  habe,  bemerke  ich, 
daß  die  Freiburger  Universitätsbibliothek  es  besitzt. 


550  Fritz  Vigener, 

vermochten,  einer  nahezu  allgemeinen  Ablehnung  begegnet. i)(| 
Aus  der  für  die  Theologen  bestimmten  Literatur  genügen; 
zum  Beweise  zwei  Beispiele,  da  sie  der  Schicht  entstammen, 
die  man  später  ultramontan  genannt  hat.  Der  Bonner 
Kanonist  Ferdinand  Walter  erledigte  1822  in  seinem  Lehr- 
buch des  Kirchenrechts,  das  der  ,, Katholik"  aufs  wärmst( 
empfohlen    hat  2),    die    Doktrin    der    Unfehlbarkeit  des  ei 


^)  Eine  immerhin  beachtenswerte  Ausnahme  ist  der  Bambergerij 
Kirchenrechtsprofessor  Franz  Andreas  Frey  (f  1829),  wenn  auch  von' 
einer  starken  Wirkung  seines  Auftretens  nichts  zu  spüren  ist.  Sein 
„Allgemeines  Religions-,  Kirchen-  und  Kirchenstaatsrecht",  das  er 
1808  anonym  veröffentlichte  (Neue  [Titel-JAuflage  als  „neue  Ausgabe" 
mit  dem  Namen,  Kitzingen  1822)  verrät  in  der  Vorrede  schon  deut- 
lich seine  Sympathien  für  die  kurialistische  Kirchenauffassung;  er 
wendet  sich  scharf  gegen  die  Febronianer  und  klagt,  daß  diese  „jüngere 
Partei,  die  nun  der  Mehrzahl  nach  über  die  ältere  hervorragt,  in  ihren 
Forderungen  dermalen  die  Schranken  weit  zu  überschreiten  wagt". 
In  seinem  „Kritischen  Kommentar  über  das  Kirchenrecht,  frei  be- 
arbeitet nach  Anton  Michl's  Kirchenrecht  für  Katholiken  und  Prote- 
stanten", Teil  2  (1818;  2.,  unveränderte  Auflage  1823)  hat  er  es  ganz 
klar  ausgesprochen,  daß  seiner  Überzeugung  nach  die  Superiorität  des 
Papstes  über  das  allgemeine  Konzil  wie  auch  die  Unfehlbarkeit  päpst- 
licher Entscheidungen  in  Glaubensfragen  zu  dem  Wesentlichen  des 
kirchlichen  Lehrsystems  gehören.  J.  F.  v.  Schultes  Bemerkung  (Gesch. 
der  Quellen,  3  I,  307),  Frey  vertrete  „das  Episkopalsystem  mit  einer 
kleinen  Neigung  nach  Rom"  ist  durchaus  irreführend;  man  vgl.  Frey, 
Koinmentar  2  §  112  ff.,  namentlich  S.  201,  204,  208,  211  (hier  sogar 
die  freilich  ganz  verkehrte  Behauptung,  daß  zu  Trient  die  Unfehl- 
barkeitslehre „dekretiert"  worden  sei).  Vorsichtig  und  zurückhaltend 
in  der  Form  ist  Frey  allerdings.  Übrigens  zeigt  die  ganze  Art,  wie 
er  in  den  Darlegungen  über  „Streitige  Rechte  des  Papstes"  die  Gründe 
ifür  und  wider  vorträgt  und  bespricht,  seine  innere  Parteinahme  für 
Rom;  das  um  so  mehr,  als  die  von  ihm  zugrunde  gelegte  Arbeit 
Michls  (München  1809)  sich  in  ausgesprochener  Weise  (vgl.  hier  nament- 
lich §  25  S.  80  f.)  gegen  die  Überordnung  des  Papstes  über  das  all- 
gemeine Konzil  und  gegen  die  päpstliche  Unfehlbarkeit  wendet. 
Wenn  F.  Walter  (s.  oben)  schon  in  der  ersten  Auflage  seines  Kirchen- 
rechts in  einer  Note  auf  die  Zusammenstellung  der  Gründe  und 
Gegengründe  bei  Frey  verweist,  so  offenbarte  sich  auch  darin  (s.  die 
übernächste  Anmerkung)  sein  noch  verhüllter  und  ihm  selbst  vielleicht 
unbewußter  Drang  von  der  episkopalistischen  zur  kurialistischen  Seite. 

2)  „Katholik"  10  (1823),  205—223  über  die  1823  veröffentlichte 
2.  Auflage.  Das  Lob  „musterhafter  Consequenz  und  Unparteilichkeit" 
hat  immerhin  etwas  zu  bedeuten  im  Munde  eines  Kritikers,  der  (S.  212> 
zu  Walters  Darlegungen  über  Papal-  und  Episkopalsystem  bemerkt: 


Gallikanismus  u.episk. Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  551 

cathedra  entscheidenden  Papstes  in  einer  kurzen  Note  mit 
der  Bemerkung,  derartiges  habe  man  früher  behauptet; 
in  Wahrheit  besitze  der  Papst  nicht  die  Gabe  der  Unfehl- 
barkeit,^) Eine  gewichtigere  Stimme  als  dem  Laienkano- 
nisten  kommt  dem  gefeierten  Priestererzieher  und  Dog- 
matiker  Liebermann  zu,  dem  ersten  Leiter  des  Mainzer 
Seminars.  Liebermanns  vielbenutztes  Hauptwerk,  die  „//z- 
stitutiones  theologicae'\  sind  im  ganzen  durchaus  in  scho- 
lastisch-römischem Geiste  gehalten,  unter  scharfer  Ableh- 
nung alles  Sondertums.  Aber  in  dem  zweiten  Bande,  den 
er  1820  veröffentlichte,  ist  nicht  nur  die  Lehre  von  der  Un- 
fehlbarkeit des  Papstes  als  kontrovers  und  die  der  gesamten 
Kirche  als  die  allein  feststehende  bezeichnet;  hier  wird  viel- 
mehr geradezu  der  vierte  gallikanische  Artikel  als  die 
katholische  Lehre  verkündet.^) 


Hierüber  verdient  besonders  de  Maistres  Werk  „Vom  Papste"  nach- 
gelesen zu  werden. 

*)  Ferd.  Walter,  Lehrbuch  des  Kirchenrechts  mit  Berücksichtigung 
der  neuesten  Verhältnisse  (Bonn  1822),  S.  26.  Walter  bemerkt  noch^ 
die  Unfehlbarkeit  werde  „von  den  meisten  Theologen,  Liebermann,. 
Bossuet,  Riegger  usw.  [diese  Reihenfolge!]  auf  ein  allgemeines  Conci- 
lium  ausgedehnt",  andere  wollten  sie  dem  Konzil  nur  dann  zugestehen, 
„wenn  dessen  Entscheidungen  von  der  gesamten  Kirche  angenom- 
men worden  seien".  In  den  papalistischen  Kirchenbegriff,  von  dem 
sein  Buch  zuerst  nur  vereinzelte  Spuren  aufwies  (vgl.  den  Schluß  der 
vorletzten  Anmerkung,  dazu  das  Urteil  der  Theolog.  Quartalschrift 
bei  Friedrich,  Gesch.  d.  vatik.  Konzils  1,  S.  199  Anm.  1),  hat  sich 
Walter  mit  dem  Wechsel  der  Zeiten  immer  besser  hineingefunden; 
für  die  Beurteilung  seines  Kirchenrechtes  ist  diese  Tatsache  so  wichtig» 
daß  man  bedauert,  sie  in  den  sonst  ziemlich  eingehenden  Bemerkungen 
von  Landsberg,  Gesch.  der  dt.  Rechtswissenschaft  3  II  (1910),  Text 
S.  332  ff.,  Noten  S.  152  ff.  nicht  berücksichtigt  zu  finden.  —  In  der 
8.  Auflage  (1839)  hat  Walter  die  soeben  angeführten  Darlegungen 
einfach  weggelassen  und  statt  dessen  erklärt,  das  allgemeine  Konzil 
und  der  Papst  seien  mit  der  Unfehlbarkeit  ausgestattet,  bei  geteilter 
Meinung  komme  „es  auf  den  Beitritt  des  römischen  Stuhles  an" 
(S.  332).  Vgl.  auch  J.  Fr.  Schultes  Anzeige  der  14.  Auflage  im  Theo- 
logischen Literaturblatt  (herausg.  v.  Reusch)  1872,  Nr.  14  (besonders 
Spalte  335). 

2)  Fr.  Leop.  Br.  Liebermann,  Institutiones  theologicae  2  (Mogun- 
tiae  1820),  S.  622:  Ex  principiis  fidei  catholicis  certum  est,  summum 
Pontificem  in  dijudicandis  fidei  controversiis  praecipuas  partes  habere^ 
ejusque  Judicium,  si  ecclesiae  consensus  accesserit,  esse  irreformabile. 


5öi  Fritz  Vigener, 

Blickt  man  auf  die  Kreise,  in  denen  sich  die  innerlicli- 
mystische  und  zugleich  streng  kirchliche  Frömmigkeit  am 
leuchtendsten  darstellt,  in  Niederdeutschland  die  mün- 
sterische Gemeinschaft,  in  Oberdeutschland  Sailer  und  seine 
Freunde,  so  findet  man,  daß  sie  von  ihrem  Kirchenbegriff 
in  gleicher  Weise  den  päpstlichen  Absolutismus  und  die 
Doktrin  von  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  fernhielten.  ^. 
Diesen,  mit  strenger  Kirchlichkeit  gepaarten,  gemäßigt  epi-  ^| 
skopalistischen  Standpunkt  vertrat  etwa  Bernhard  Heinrich 
Overberg,  der  als  bedeutendster  Bildner  des  münsterlän- 
dischen  Lehrerstandes  fast  ein  Menschenalter  lang  und  noch 
unter  preußischer  Herrschaft  in  Kirche  und  Schule  weithin 
gewirkt  hat;  es  war  das  Urteil  des  „Katholik",  das  das 
Religionsbuch  dieses  ,, gewandten  und  vom  inneren  Leben  der 
Religion  tief  durchdrungenen  Katecheten"  als  das  beste 
bezeichnete.!)  Friedrich  Leopold  Stolberg,  als  Konvertit 
auch  einer  der  Schüler  Overbergs,  hat  in  seiner  „Geschichte 
der  Religion  Jesu  Christi"  die  Vorstellung,  daß  die  Ver- 
fassung der  Kirche  despotisch  sei  und  der  Willkür  des  sicht- 
baren Oberhauptes  Raum  lasse,  geradezu  mit  dem  Hinweis 
auf  die  Einrichtung  des  allgemeinen  Konzils  für  irrig  er- 
klärt^)  —  eine  deutliche  Abfertigung  de  Maistres.^)  Mit 
ruhiger  Sicherheit  konnte  er  sagen:  „Jeder  wohl  unterrichtete 

(Vgl.  dazu  oben  S.  516  mit  Anm.  1.)  An  autem  ante  Ecclesiae  con- 
sensum  infallibile  sit,  libere  et  salva  fide  inter  Catholicos  controver- 
titur,  —  S.  625:  Ergo  infallibilitas  Romani  Pontificis  urgeri  non  po- 
test  contra  Haereticos ;  neque  adhiberi  ad  stabüiendam  fidem  catho 
licam.  —  S.  575:  .  .  .  Respondemus,  neminem  esse  inter  Catholicos 
qui  non  sciat,  supremam  potestatem  judicandi  in  rebus  fidei  in  ecclesia 
docente  seu  in  corpore  pastorum  residere.  Vgl.  ferner  S.  576,  588, 
595  f.  _  Im  „Katholik"  12  (1824),  S.  42  wurden  die  drei  ersten  Bände 
der  Institutionen  als  „Meisterwerk"  begrüßt. 

1)  „Katholik"  20  (1826),  S.  340;  vgl.  auch  Bd.  21,  S.  242—245. 
Es  kennzeichnet  den  Unterschied  der  Zeiten,  wenn  streng  kirchliche 
Beurteiler  von  heutzutage  finden,  Overberg  wende  sich  mehr  an  den 
„natürlichen  Menschen"  als  an  den  getauften  Christen  (Thalhofer, 
Die  Entwicklung  des  kathol.  Katechismus  in  Deutschland  von  Cani- 
sius  bis  Deharbe,  1899,  S.  141). 

2)  Fr.  L.  Graf  zu  Stolberg,  Gesch.  der  Religion  Jesu  Christi  [Ori- 
ginal-Ausg.,  Hamburg  1806/18],  Neue  Ausgabe,  Bd.  5  (Wren  1817), 
S.  515;  Bd.  10,  S.  136  ff.  und  444. 

3)  Vgl.  dazu  oben  S.  538. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  553 

Katholik  weiß  es,  daß  unsere  Glaubenslehre  nicht  dem 
Papste,  sondern  nur  der  großen  Mehrheit  der  mit  dem 
Nachfolger  des  Apostels  übereinstimmenden  Bischöfe  die 
Unfehlbarkeit  beilegt/'^) 

S  a  i  1  e  r ,  der  in  jüngeren  Jahren  selbst  für  Blaus 
rationalistische  und  ultra-febronianische  Gedanken  noch 
Sympathie  zeigte^),  hat  als  Bischof  von  Regensburg  keine 
andere  Anschauung  gewonnen,  als  sie  ihn  auf  dem  Lands- 
huter  Katheder  erfüllte  und  mit  den  münsterischen  Katho- 
liken aufs  innigste  verband.  Ganz  im  Geiste  Sailers  hat  noch 
später  sein  bedeutendster  Jünger,  Melchior  Diepenbrock, 
in  dessen  Seele  die  Überlieferung  der  münsterländischen 
Heimat  sich  mit  Sailers  Gedanken  verschmolz,  den  einseitigen 
Romanismus  ebenso  abgelehnt  wie  jenen  radikalen  Febro- 
nianismus,  der  dem  Papste  nur  den  Ehrenprimat  lassen 
wollte;  in  dem  vermittelnden,  durch  den  Papst  abgeschlos- 
senen, nicht  aber  im  Papste  aufgehenden  Episkopalsystem 
sah  Diepenbrock  das  wahrhaft  Katholische.^) 

Daß  in  der  ungeordneten  und  theologisch  ungeklärten 
Gedankenwelt  mancher  kirchlich-begeisterter  Laien  die  Vor- 
stellung von  dem  Primat  und  die  von  der  Unfehlbarkeit 
des  Papstes  in  eins  zusammenflössen  und  ihnen  so  die 
Unfehlbarkeitsdoktrin  wie  von  selbst  zum  grundlegenden 
Dogma  werden   konnte,   ist   nachweisbar*)   und  begreiflich. 


^)  Bd.  10,  S.  444.  —  Vgl.  auch  das  Register  zu  Stolberg,  bear- 
beitet von  Jos.  Moritz,  Prof.  der  Kirchengeschichte  und  des  Kirchen- 
rechts zu  Dillingen,  Bd.  2  (1825),  S.  382  und  die  von  Friedrich,  Gesch. 
des  vatik.  Konzils  1,  S.  187  Anm.  4  (S.  188)  angeführte  Äußerung 
Stolbergs  gegen  „die  falsche  Behauptung,  daß  wir  Katholiken  den 
Papst  für  unfehlbar  halten". 

*)  Vgl.  oben  S.  529  Anm.  1. 

')  Diepenbrock  an  J.  K.  Passavant,  22.  Juni  1840,  „Briefe  von 
Sailer,  Diepenbrock  und  Passavant"  (1860)  S.  113;  vgl.  Passavants 
Briefe,  ebenda  S.  80  f.  u.  94  f.,  auch  Reinkens,  Diepenbrock  S.  482. 
Der  Frankfurter  Arzt  Passavant  war  übrigens  nicht,  wie  Friedrich, 
Gesch.  des  vat.  Konzils  1,219  meint  (ebenso  offenbar  Schnabel,  Der 
Zusammenschluß  des  polit.  Katholizismus,  1910,  S.  65),  Katholik, 
sondern  Protestant. 

*)  Von  einem  sehr  lehrreichen  Beispiel,  das  der  deutsche  Maler 
Koch  in  Rom  (um  1829)  bietet,  erzählt  Beda  Weber,  Charakterbilder 
(1853)  S.  157  ff. 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  36 


554  Fritz  Vigener, 

Aber  die  Theologen  haben  diese  Verschiebung  damals  ebenso 
gut  zurückgewiesen,  wie  es  Stolberg  getan  hat,  und  wenn 
man  ihr  bei  protestantischen  Gelehrten  begegnete,  dann 
glaubte  man  sie  zu  den  unredlichen  Mitteln  gehässiger 
Polemik  zählen  zu  dürfen.  So  hat  es  der  ,, Katholik"  1826 
getan!)  —  damals  war  kein  geringerer  als  Liebermann  der 
Redakteur  und  Görres  neben  ihm  tätig  —  und  nicht  anders 
1827,  als  Liebermanns  Mainzer  Schüler  Weis  die  Zeitschrift 
herausgab^);  der  Münchener  Philosoph  Baader  aber  konnte 
noch  später  theologischen  Beifalls  gewiß  sein,  als  er  es  Hegel 
entrüstet  vorhielt,  daß  er  Katholizismus  und  Glaube  an 
päpstliche  Unfehlbarkeit  gleichsetze.^) 

Vor  allem  hat  das  große  Organ  der  aufblühenden 
Tübinger  katholischen  Fakultät,  die  Theologische 
Quartalschrift  (auch  sie  besteht  noch  heute,  doch 
ist  sie  anders  geartet  als  damals),  mit  der  Aufdeckung 
solcher  polemischer  Entgleisungen  die  positive  Begründung 
der  Lehre  von  der  Unfehlbarkeit  der  Kirche  verbunden, 
um    sie  nicht   allein    gegen  irgendeinen  Protestanten,    der 


1)  „Katholik"  21  (1826),  S.  243  f.  in  der  Besprechung  von  Over- 
bergs  Religionshandbuch.  „Bei  der  Lehre  von  der  Unfehlbarkeit  der 
Kirche  sei  auch  —  was  die  gelehrten  Protestanten 
immer  nicht  zu  wissen  sich  anstellen  —  wohl  be- 
merkt, daß  nicht  jeder  Bischof  für  sich  unfehlbar  sei,  daß  es  auch 
keine  Glaubenslehre  sei,  daß  der  Papst  unfehlbar  sei,  sondern  die 
übereinstimmende  Erklärung  sämtlicher  Bischöfe  (d.  i.  der  Mehrzahl 
derselben)  unter  dem  Oberhaupte  ist  unfehlbar."  —  Vgl.  auch  S.  547 
Anm.  1. 

2)  „Katholik"  26  (1827),  S.  15.  Hier  wird  der  protestantisch  ge- 
wordene Fürst  Salm-Salm  hart  angefahren,  weil  er  von  der  Un- 
fehlbarkeit des  Papstes  redet  —  „ein  schon  hundertmal  widerlegter 
lügenhafter  Vorwurf".  —  In  ähnlicher  Heftigkeit  äußert  sich  um  die- 
selbe Zeit  Rothensee;  vgl.  Friedrich  1,531. 

3)  Fr.  Baaders  Sämtliche  Werke,  hg.  v.  Franz  Hoffmann,  Bd.  5, 
S.  396  Anm.  1.  —  Unter  den  Historikern  um  die  Jahrhundertmitte  hat 
gerade  der  von  Hegel  stark  beeinflußte  Gervinus  den  „Statthalter  Christi" 
als  „mit  Gottes  Willkür  und  Unfehlbarkeit  ausgestattet"  angesehen 
(Einleitung  in  die  Geschichte  des  19.  Jahrh.,  1852;  in  der  4.  Auflage 
[1864]  S.  33).  Später  sind  freilich  solche  Stimmen  als  „protestan- 
tische Zeugen  der  Wahrheit"  von  katholischen  Apologeten  ebenso 
eifrig  gelobt  und  gesammelt  worden,  wie  sie  vordem  gescholten  und 
abgelehnt  wurden. 


Gallikanismus  u.  episk. Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  555 

dem  Katholizismus  Lehren  andichte,  „die  nie  von  ihm 
gelehrt  worden"  seien '),  sondern  auch  wider  die  Vor- 
kämpfer der  Papaldoktrin  selber  als  die  allein  gültige 
zu  verteidigen.  Die  Quartalschrift,  die  von  Hirscher  und 
drei  anderen  Tübinger  Theologen^)  seit  1819  herausgegeben 
wurde,  wollte  der  Wissenschaft  und  der  kirchlichen  Gegen- 
wart zugleich  ihre  Aufmerksamkeit  schenken.  Wie  in  Würt- 
temberg überhaupt  eine  Durchdringung  der  von  der  Auf- 
klärung überkommenen,  an  der  deutschen  Philosophie 
genährten  Grundsätze  selbständiger  Forschung  mit  dem 
Glaubensgehalt  eines  kirchHchen  Katholizismus  sich  sehr 
früh  und  kräftig  vollzogen  hat,  so  ist  die  Quartalschrift 
insbesondere  der  Ausdruck  einer  nach  wissenschaftlicher 
Erkenntnis  strebenden  und  zugleich  um  die  Einheit  und 
Reinheit  der  Kirche  ehrlich  bemühten  Richtung  im  deutschen 
Katholizisnms,  einer  weiten  und  wechselnden  und  doch  in 
der  Tübinger  Fakultät  zusammengefaßten  theologisch-kirch- 
lichen Gemeinschaft.  Die  Quartalschrift  machte  nicht  die 
überredende  Unterweisung  sondern  die  belehrende  Unter- 
suchung zu  ihrem  Ideal.  Die  Herausgeber  sprachen  es  aus^), 
daß  sie,  von  aller  Parteisucht  und  Parteinahme  entfernt, 
überall  nur  der  Wahrheit  huldigen  und  ihr  die  Huldigung 
ihrer  Leser  verschaffen  wollten,  und  sie  faßten  die  geforderte 
Wahrheit  in  einem  Sinne,  daß  sie  dabei  die  Freiheit  der  Mit- 
arbeiter verkünden  konnten.*)  In  der  Lehre  ihrer  Kirche 
sahen  natürlich  auch  sie  die  heilige  Schranke  für  die  eigene 
Meinung.  Aber  den  Grundsatz  der  Überlas  in  dubiis  hat  die 
Zeitschrift  auf  lange  hinaus  und  ganz  besonders  in  den  ersten 
Jahren  mit  einer  recht  bewußten  Weitherzigkeit  festgehalten, 


1)  Theolog.  Quartalschrift  1819,  S.  712. 

2)  Gratz,  Drey,  Herbst. 

3)  Theol.  Quartalschrift,  Vorwort  zum  1.  Heft  (1819),  S.  6. 
Ebenda  zu  dem  oben  folgenden. 

*)  Wohl  nur  in  dieser  katholisch-theologischen  Zeitschrift  war 
ein  Satz  möglich,  wie  er  sich  im  Jahrgang  1824,  S.  589,  findet: 
„Jede  Kirche  entstehet,  erhält  und  erweitert  sich  . . .  durch  die  freie, 
religiöse  Überzeugung  ihrer  Glieder".  Man  versteht  es,  daß  selbst 
F.  W.  Carov6  in  seiner  oben  S.  549  Anm.  3  genannten  Schrift  1, 
S.  84  Anm.  2  zu  dieser  „in  wahrhaft  reformierendem  Sinne"  gehal- 
tenen Äußerung  seine  Zustimmung  gab. 

36* 


556  Fritz  Vigener, 

die  auch  den  letzten  Wogen  des  entschlossenen  Febronianis- 
mus  nicht  die  Bahn  versperren  mochte.  Der  deutsch- j 
kirchliche  Standpunkt  ist  hier  in  der  Zeit,  da  über  das  Schick- 
sal der  deutschen  Kirche  beraten  wurde,  nachdrücklich  und] 
ausschließlich  vertreten  worden.  Keine  Sorge  hat  die  Tü-j 
binger  Theologen  und  ihre  Freunde  stärker  bewegt  als  die  vor 
einer  Überspannung  der  Befugnisse  der  kirchlichen  Zentral-' 
gewalt,  vor  einem  lastenden  päpstlichen  Summepiskopat 
über  das  deutsche  Kirchenwesen,  dessen  Freiheit  als  uraltes 
geschichtliches  Recht  um  so  williger  gefeiert  wurde,  weil 
sie  für  den  Augenblick  fast  vernichtet  und  für  die  Dauer 
bedroht  war.  Den  Streit  Wessenbergs  mit  Rom  wollte  die 
Quartalschrift  gewürdigt  wissen  als  eine  Kirchenangelegen- 
heit der  deutschen  Nation^);  mit  gutem  Grunde,  denn  hier 
war  in  der  Tat  die  grundsätzliche  Frage  berührt,  ob  das 
aus  dem  18.  Jahrhundert  überlieferte  deutsche  oder  das 
gemeine  papale  Kirchenrecht  gelten  sollte.  Die  Zeitschrift 
mahnte,  daß  keiner  sich  an  seiner  Nation  versündigen  möchte 
und  die  Fesseln  wieder  schmieden  helfe,  die  die  Voreltern 
mit  großer  Mühe  zerbrochen  hätten.  Ein  Mitarbeiter  schrieb 
Anfang  Februar  1819  in  gemäßigter  Stimmung  und  behut- 
samer Haltung  kritische  Glossen  über  Entstehung  und  In- 
halt  des   baierischen    Konkordates. 2)      Er   bekennt^)   ohne 


1)  Theologische  Quartalschrift,  Jahrgang  1819,  S.  299,  auch 
S.  311  die  Berufung  auf  das  deutsche  Kirchenrecht.  Vgl.  ferner  Nie- 
buhrs  „Schreiben  eines  Protestanten  an  einen  Katholiken"  (Nachgelas- 
sene Schriften  B.  G,  Niebuhrs  nichtphilologischen  Inhalts,  1842, 
S.  501 — 518),  das,  wie  der  Herausgeber  bemerkt,  „anscheinend  1818 
geschrieben"  ist.  Auch  hier  geht  das  Urteil  des  Katholiken  dahin 
(S.  503  f.),  daß  die  Wessenbergische  Sache  „wenn  irgend  eine,  Ge- 
samtangelegenheit Deutschlands"  sei  (S.  504  oben).  Niebuhr  wendet 
sich  in  kühler  Überlegung  gegen  den  Gedanken,  daß  man  in  der 
Hoffnung  auf  eine  Wiedervereinigung  mit  den  Protestanten  eine  katho- 
lische deutsche  Nationalkirche  gründen  könne.  Aber  auch  er,  der  die 
Kurie  so  vorurteilslos  beurteilte  wie  wenige,  muß  zugeben  (S.  51 1  f.), 
daß  Rom  die  Bedürfnisse  des  katholischen  Deutschlands  „verkennt 
und  nicht  begreifen  kann",  und  „unnatürlich"  sei  es,  „daß  Italiäner 
eine  geistige  Herrschaft  über  Deutschland  ausüben". 

2)  A.  a.  O.  S.  300—329.  —  Die  Zeit  der  Abfassung  ergibt  sich 
aus  S.  327. 

3)  Ebenda  S.  317  f. 


Gallikanismus  u.  episk. Strömungen  im  dtsch. Katholizismus  etc.  557 

Vorbehalt  seine  Überzeugung  von  der  Notwendigkeit  einer 
obersten  und  zentralen  Gewalt,  er  verwirft  jedes  Streben 
nach  der  haltungslosen  Vielheit  unabhängiger  National- 
kirchen und  Patriarchate,  er  hat  Verständnis  für  die  auf- 
saugende Anziehungskraft  der  Zentrale  und  würdigt  selbst 
den  die  Einheit  erhaltenden  Drang  der  Päpste  zur  Allein- 
gewalt in  der  Kirche.  Aber  der  Idee  einer  reinen  Monarchie 
will  er  doch  den  gesunderen  und  bewährten  Gedanken  der 
beschränkten  Monarchie  in  der  Kirche  nicht  opfern.  Er 
bestreitet  dem  Papste  das  Recht,  ,,die  Kanones  einer  großen 
Nationalkirche  eigenmächtig  ohne  ihr  Mitwissen  und  Mit- 
wirken abzuändern".  Eine  beliebige  Verfügung  über  die 
Rechte  der  Kirchen  bedinge  eine  schlechthin  monarchische 
Stellung;  sie  aber  gilt  ihm  für  unvereinbar  mit  dem  Wesen 
der  Kirche.  Das  sind  Gedanken,  die  schon  vorher  Fridolin 
Huber  unter  dem  Beifalle  der  Tübinger  Quartalschrift  mit 
noch  energischeren   Folgerungen  vorgetragen  hatte. i) 

Durch  das  blendende  Gefunkel  der  Deduktionen  de 
Maistres  konnten  die  Tübinger  Theologen  am  allerwenigsten 
über  die  Willkürlichkeit  und  das  Gefährliche  dieser  Laien- 
predigten hinweggetäuscht  werden.  In  der  Quartalschrift^) 
wurden  die  Auseinandersetzungen  des  Papstbuches  als 
alberne  Deklamationen  eines  Dilettanten  zurückgewiesen, 
und  der  Infallibilitätstheorie  hielt  man  entgegen,  daß  das 
„erhabene  Prärogativ  der  Untrüglichkeit"  nach  der  Kirchen- 
lehre nicht  dem  Papste,  sondern  ,,der  Gesamtheit  der  vom 
hl.  Geist  gesetzten  Kirchenhirten  versprochen  und  gegeben" 
sei.  Die  Abwehr  richtet  sich  in  gleicher  Weise  wie  gegen  die 
Unfehlbarkeitslehre  und  noch  schärfer  auch  gegen  die  ab- 
solutistische Ausdeutung  des  Primates,  gegen  die  von  de 
Maistre  auf  die  Spitze  getriebene  Lehre  von  der  schranken- 
losen Monarchengewalt  des  Papstes;  sie  gilt  dem  Kritiker 
für  so  abgeschmackt,  daß  es  ihm  als  Beleidigung  der  Leser 


1)  Vgl.  oben  S.  532  Anm.  2. 

2)  Jahrg.  1822,  Heft  4,  S.  677  ff.,  besonders  S.  684.  Die  wich- 
tigsten Sätze  (doch  mit  falscher  Angabe  der  Druckstelle)  schon  bei 
Heinr.  Schmid,  Gesch.  der  kath.  Kirche  Deutschlands  von  der  Mitte 
des  18.  Jahrunderts  bis  in  die  Gegenwart  (1874)  S.  330 f.;  vgl.  auch 
Friedrich,  Gesch.  des  vatik.  Konzils  1,  190  f. 


558  Fritz  Vigener, 

erschiene,  wenn  man  sich  mit  diesen  „man  darf  wohl  sagen 
unkatholischen  Behauptungen"  ernstlich  auseinandersetzen 
wollte.  So  wird  in  der  angesehensten  Zeitschrift  der  wissen- 
schaftlichen deutschen  Theologie  nicht  nur  die  Abweisung 
der  Unfehlbarkeitsdoktrin  sondern  auch  das  Beharren  auf 
der  Lehre  von  der  Superiorität  des  allgemeinen  Konzils 
als  katholische   Glaubenspflicht  genommen. 

Die  Frage  über  das  Verhältnis  von  Papst  und  Konzil 
war  für  die  Kurie  gefährlich,  solange  sie  im  Sinne  des  Kon- 
ziliarismus  beantwortet  werden  durfte  und  gar  noch  in  der 
Praxis  beantwortet  werden  konnte.  In  Deutschland  hat  die 
Haltung  einiger  protestantischer  Regierungen  episkopa- 
listische  Hoffnungen  auch  in  dieser  Richtung  länger  wach 
gehalten.  In  der  Zeit  der  Zwistigkeiten  und  kühler  Feind- 
schaft zwischen  Rom  und  den  oberdeutschen  Staaten  in 
den  ersten  Anfängen  der  oberrheinischen  Kirchenprovinz 
gab  es  noch  Augenblicke,  da  nicht  nur  die  Enthusiasten 
des  idealisierten  ,,altteutschen"  Kirchentums  sich  der 
Erwartung  hingaben,  daß  die  Regierungen  den  Widerstand 
episkopalistischer  Gedanken  gegen  den  römischen  absoluten 
Universalismus  ausnützen  und  so  auch  dem  Episkopalismus 
selbst  eine  besser  gesicherte  Geltung  in  der  deutschen  Kirche 
verschaffen  möchten. 

Aber  auch  damals,  da  eine  Abgrenzung  zwischen  päpst- 
licher und  bischöflicher  Macht  in  einem  mehr  episkopalisti- 
schen  Sinne  noch  zu  den  Möglichkeiten  gehörte^),  war  die 
Scheu  vor  der  Propaganda  für  die  Lehre  von  der  Überord- 
nung der  ökumenischen  Synode  über  den  Papst  selbst  bei 
den  Gegnern  des  Papalismus  verbreitet. 

Die  wenigsten  wagten  doch  die  Notwendigkeit  päpst- 
licher Anerkennung  der  allgemeinen  Synode,  päpstlicher 
Bestätigung  der  Konzilsbeschlüsse  zu  bestreiten.  Mit  diesem 
Zugeständnis  konnte  der  Streit  um  die  Superiorität  leicht 
als  erledigt  gelten,  und  in  dieser  Auffassung  trafen  mit  den 
intransigenten  und  den  gemäßigten  Kurialisten  manche 
gallikanisch  Gerichtete  zusammen.  Die  lässig  hingeworfene 
Bemerkung   de  Maistres  ,,Wenn  es  kein  allgemeines  Konzil 


^)  Vgl.  oben  S.  547  ff. 


Gallikanismus  u.  episk. Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  559 

ohne  den  Papst  geben  kann,  wozu  die  lächerliche  Frage,  ob 
es  über  dem  Papste  stehe  oder  unter  ihm?"^),  sie  war  klug 
ausgesonnen,  denn  sie  konnte  den  Gegnern  peinlich  werden. 
Der  „Katholik"  nahm  das  Argument  mit  Beifall  auf 2), 
und  kurz  zuvor  hat  Ferdinand  Walter^)  die  Frage,  ob  der 
Papst  einem  allgemeinen  Konzil  unterworfen  sei,  umgangen, 
indem  er  sie  schon  in  ihrer  Fassung  für  nichtig  erklärte, 
eben  weil  ein  allgemeines  Konzil  ohne  das  Oberhaupt  der 
Kirche  nicht  gedacht  werden  könne.  Aber  auch  ein  Mann 
wie  Anton  Günther  lehnte  damals  die  ganze  Fragestellung 
ab;  ein  feindlicher  Gegensatz  zwischen  dem  Papst  als  Träger 
der  Zentralgewalt  und  dem  gesamten  Lehrkörper  auf  einem 
Konzil  erscheint  ihm  als  unmöglich,  weil  gleichbedeutend 
mit  Zerstörung  des  kirchlichen  Organismus.*)  Dieser  öster- 
reichische Priester,  der  später  über  seinen  Spekulationen 
die  Beschäftigung  mit  diesen  brennenden  Problemen  ver- 
nachlässigt hat^),  glaubte  damals  sogar  in  dem,  doch  weniger 
der  kampfdurchwühlten  Geschichte  und  der  wirren  Wirklich- 
keit des  Tages  als  vielmehr  dem  innerlich  geschauten  Ideale 
angepaßten  Gedanken  harmonischer  Einheitlichkeit  des  voll- 
endeten Organismus  der  Kirche  den  rechten  Standpunkt 
gefunden  zu  haben,  um  „über  die  ebenso  grob  angefochtene 
als  plump  verteidigte  Infallibilität  der  Zentralgewalt  in  der 
Kirche  ein  vermittelndes  Wort  zu  sagen".*)  Setzt  man  seine 
etwas  hoch  gehobenen  Worte,  in  denen  er  diese  Vermittlung 
geben  will,  auf  den  platten  Erdboden,  so  bleibt  von  ihnen 
nichts  anderes  zurück  als  die  Anerkennung  der  päpstlichen 
Unfehlbarkeit  im  Lehr-  und  im  Richteramte  zugleich.  Gün- 
ther hat  die  praktischen  Konsequenzen  seiner  Gedanken 
sich  selbst  schwerlich  klar  gemacht.  Gerade  weil  ihm  die 
Vorstellung  von   der  unzerstörbaren  Einheit  zwischen  Epi- 

»)  Du  Pape,  1.  II,  eh.  15,  S.  276. 

*)  „Kathohk"  7  (1823),  186. 

')  In  der  1.  Ausgabe  seines  „Kirchenrechts"  S.  42.  Vgl.  aber 
.auch  oben  S.  550  f. 

*)  So  spricht  sich  Günther  in  einer  Rezension  von  1822  aus. 
Peter  Knoodt,  Anton  Günther  (1781—1863),  eine  Biographie  (1881)  1, 
S.  239  f. 

")  Doch  vgl.  seinen  Brief  von  1851  bei  Knoodt  2,  88  f. 

•)  Knoodt  1,  S.  239  f. 


560  Fritz  Vigener, 

skopat  und  Primat  in  unreflektierter  Ursprünglichkeit  leben- 
dig war,  ist  ihm  die  Scheidung  zwischen  kirchlicher  und 
päpstlicher  Unfehlbarkeit,  die  zugespitzte  Frage,  ob  eine 
päpstliche  Lehrentscheidung  aus  sich  heraus  oder  erst  aus  der 
Zustimmung  der  Kirche  die  Kraft  der  Unfehlbarkeit  gewinne, 
nicht  so  deutlich  geworden^)  wie  den  mehr  kritischen  oder 
mehr  historisch  geschulten  Theologen. 

Die  Auseinandersetzungen  Günthers  zeigen,  daß  in  der 
förmlichen  Preisgabe  der  Lehre  von  der  Überordnung  des 
allgemeinen  Konzils  eine  Gefahr  für  den  kirchlichen  Epi- 
skopalismus gelegen  hätte.  Das  konnte  den  Vertretern  des 
gallikanischen  Kirchenbegriffs,  die  den  Universalepiskopat 
und  die  lehramtliche  Unfehlbarkeit  des  Papstes  verwarfen, 
nicht  entgehen,  und  die  Erkenntnis  war  stark  genug,  um 
eine  Hinwendung  zu  der  römischen  Anschauung  über  die 
Stellung  des  Papstes  zum  Konzil  zurückzuhalten.  Aber 
sie  hatten  zugleich  Bedenken,  eine  so  heikle  und  dazu  bei 
rein  theoretischer  Behandlung  noch  unfruchtbare  Frage 
in  schroffer  Betonung  hervorzukehren.  Der  konziliare  Ge- 
danke ging  nicht  unter,  er  wurde  nicht  als  erledigt  oder 
überwunden  preisgegeben;  aber  wie  in  stiller  Vereinbarung 
suchte  man  ihn  in  der  Ruhe  seiner  ehrwürdigen  Geschichte 
zu  belassen.  Der  Gallikanismus  der  V  i  e  r  Artikel  wurde  so 
in  der  literarischen  Praxis  des  19.  Jahrhunderts  so  ziemlich 
in  einen  Gallikanismus  des  vierten  Artikels  einge- 
schränkt. Unter  Abweisung  der  Doktrinen  von  dem  Monar- 
chismus und  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  versuchte  darum 
die  mächtig  aufstrebende  deutsche  Theologie  gerade  die 
in  der  Verbindung  von  Episkopat  und  Primat  beruhende 
Einheit  .der  Kirche  als  solche  zu  begreifen.  Niemand  hat 
sie  tiefer  und    in   glücklicherer  Verschmelzung   innerlicher 


^)  Auch  in  der  weniger  papalistiscli  l<lingenden  Rezension  von 
1818  bei  Knoodt  1,240  heißt  es  doch  nur:  „In  den  organischen  Ver- 
bindungen des  Primats,  als  des  Hauptes,  mit  dem  Lehrkörper  ist  der 
Träger  desselben  unfehlbar  in  Sachen  des  Glaubens  und  umgekehrt 
jener  unfehlbar  nur  in  und  mit  dem  Primatträger.  Objectivirt  er- 
scheint diese  Verbindung  in  allgemeinen  Koncilien.  Diese  Unfehl- 
barkeit behauptet  die  lehrende  Kirche  nicht  aus  sich  und  durch  sich^ 
sondern  durch  den  Geist  Gottes,  dessen  Organ  sie  ist." 


Gallikanismus  u.  episk. Strömungen  im  dtsch. Katholizismus  etc.  561 

und  historischer  Anschauung  gefaßt  als  der  am  reinsten 
religiös  gestimmte  unter  den  großen  katholischen  Theologen 
des  19.  Jahrhunderts,  als  Adam  M  ö  h  1  c  r.^) 

Dem  jungen  Möhler  erschien  die  Einheit  der  Kirche  als 
das  Prinzip  des  Katholizismus.  2)  Das  Wesen  des  Christen- 
tums, das  die  Lehrbegriffe  und  Dogmen  nach  außen  darzu- 
stellen haben,  ist  ihm  ein  inneres  Leben,  die  Kirche  die  real 
gewordene  Versöhnung  der  Menschen  durch  Christus  mit 
Gott. 3)  Möhler  sucht  das  Bild  der  Kirche  aus  dem  Geiste  der 
ersten  Kirchenväter  zu  gewinnen.  Ihre  Verfassung  begreift 
er  als  bischöflich  in  ihrer  Grundlegung;  mit  Cyprian  ist  ihm 
Einheit  des  Episkopates  und  Einheit  der  Kirche  gleichbedeu- 
tend.^) Aber  Episkopat  soll  Primat  nicht  ausschließen. 
Der  Gedanke,  daß  einzig  und  allein  in  der  gleichgearteten 
Einheit  des  Episkopates  der  ideale  Zusammenschluß  aller 
Teile  zum  Ganzen,  die  von  der  Idee  der  Kirche  geforderte 
organische  Einheit  gegeben,  daß  die  Notwendigkeit  des  Pri- 
mats also  zu  verneinen  sei,  dieser  überepiskopalistische  Ge- 
danke hat  den  jungen  Möhler,  der  mit  fast  verzehrendem 
Erkenntnisdrang  der  Überlieferung  die  Wahrheit  selber  ab- 
zuringen suchte,  zunächst  in  seinen  Bann  gezogen.  Aber 
er  hat  den  Gedanken  aufgegeben,  noch  ehe  er  ihn  nach  außen 
vertreten  hätte.^)  Aus  der  Bibel,  aus  der  Geschichte,  aus  der 


*)  Neuere  Literatur  über  Möhler  verzeichnet  M[ulert]  in  dem  von 
Schiele  und  Zscharnack  hg.  Handwörterbuch  „Die  Religion  in  Ge- 
schichte und  Gegenwart"  4  (1913),  Sp.  426.  Aus  der  älteren  Literatur 
vgl.  Kuhns  Nachruf  in  der  Theolog.  Quartalschrift  1838,  S.  576 ff.; 
s.  auch  oben  S.  535  Anm.  3. 

*)  Die  Einheit  in  der  Kirche  oder  das  Princip  des  Katholicismus, 
dargestellt  im  Geiste  der  Kirchenväter  der  drei  ersten  Jahrhunderte. 
Von  Johann  Adam  Möhler,  Privatdozent  bei  der  katholisch-theologi- 
schen Fakultät  zu  Tübingen.    Tübingen  1825. 

«)  Einheit  der  Kirche  S.  46  (vgl.  S.  42)  und  S.  248. 

*)  Einheit  der  Kirche  S.  246,  vgl.  S.  257  f.  —  Der  wenig  jüngere, 
aber  stärker  auf  die  spekulative  Theologie  als  auf  die  Kirchen-  und 
Dogmengeschichte  gerichtete  Staudenmaier  vertrat  ähnliche  Gedanken, 
doch  schon  mit  einem  unbewußten  Hindrängen  zu  der  strengen  Idee 
des  päpstlichen  Universalepiskopates,  wie  gelegentliche  Äußerungen 
(Fr.  Lauchert,  Franz  Anton  Staudenmaier,  1901,  S.  90  und  203) 
zeigen. 

^)  Darüber  sein  eigenes  Bekenntnis:    Einheit  der  Kirche  S.  260. 


562  Fritz  Vigener, 

zusammengreifenden  Betrachtung  der  Kirchenverfassung 
offenbarte  sich  ihm  die  Notwendigkeit  des  Primates.  Es 
gehörte  die  ganze  spel<ulative  Kraft  dieses  Geistes  und  zu- 
gleich ein  gutes  Maß  hegelischer  Dialektik^)  dazu,  um  den 
Gedanken  des  Primates  und  den  Gedanken  des  die  Kirchen- 
verfassung bestimmenden  Episkopates  widerspruchslos  in  eins 
zusammenzufassen.  Die  Einheit  der  Kirche  stelle  sich  in  der 
Gesamtheit  der  Bischöfe  dar,  aber  der  Papst  sei  der  person- 
gewordene Reflex  dieser  Einheit.  So  gewiß  die  Einrichtung 
des  Episkopates  von  Christus  stamme,  so  gewiß,  meint 
Möhler,  sei  der  Primat  des  Petrus  geschichtliche  Tatsache; 
der  kirchliche  Zentralpunkt  sei  in  der  apostolischen  Zeit 
„vorgezeichnet". 2)  Durch  den  großen  Grundgedanken,  daß 
Christentum  inneres  Leben  sei^),  wird  Möhler  davor  bewahrt*), 
dem  geschichtlichen  Hervortreten  einer  kirchlichen  Einheits- 
form Absolutheit,  Allgemeingültigkeit  zuzusprechen.  Die 
Liebe  zu  seiner  Kirche  und  sein  historischer  Sinn  strömen 
zusammen,  wenn  er  gerade  in  dem  Reichtum  und  in  der 
Biegsamkeit  der  kirchlichen  Einheitsformen  die  Stärke  der 
Kirche  sieht,  die  sich  in  ihrer  Verfassung  eben  den  großen 
Linien  des  Lebens  anzupassen  vermag. 


^)  Die  Frage  nach  dem  Einflüsse  Hegels  auf  Möhler  kann  hier 
nicht  behandelt  werden.  Mittelbare  Einwirkung  mindestens  ist  nicht 
zu  bezweifeln.  Die  katholische  Theologie  im  zweiten  Drittel  des 
19.  Jahrh.  hat  die  Bekämpfung  Hegels  (vgl.  etwa  Staudenmaiers 
,, Darstellung  und  Kritik  des  Hegeischen  Systems";  1844)  gewiß  nicht 
zuletzt  eben  darum  als  Bedürfnis  empfunden,  weil  sie  selbst  sich  der 
Macht  des  hegelischen  Geistes  nicht  völlig  zu  entziehen  vermochte. 
Auch  hier  wäre  eine  umfassende  Untersuchung  lohnend, 

2)  Einheit  der  Kirche  S.  262. 

3)  Einheit  S.  46. 

<)  Zum  folgenden:  Einheit  S.  272 ff.  —  Vgl.  auch  S.  271:  „Zwei 
Extreme  im  kirchlichen  Leben  sind  aber  möglich,  und  beide  heißen 
Egoismus,  sie  sind:  wenn  ein  jeder,  oder  wenn  einer  alles 
sein  will;  im  letzten  Falle  wird  das  Band  der  Einheit  so  eng  und  die 
Liebe  so  warm,  daß  man  sich  des  Erstickens  nicht  erwehren  kann; 
im  ersteren  fällt  alles  so  auseinander,  und  es  wird  so  kalt,  daß  man 
erfriert;  der  eine  Egoismus  erzeugt  den  anderen."  —  Möhler  trifft 
hier  mit  der  ganzen  Überlegenheit  seines  Charakters  und  seines  Wis- 
sens den  „Pape"  de  Maistres,  den  auch  nur  zu  nennen  er  offenbar 
unter  seiner  Würde  gehalten  hat. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch. Katholizismus  etc.  563 

Diese  Gedanken,  die  den  kurialistischen  Kirchenbegriff^) 
überhaupt  und  die  päpstliche  Unfehlbarkeitsdoktrin  insbeson- 
dere ausschlössen,  hat  Möhler  in  seinem  Buche  „Die  Einheit 
in  der  Kirche"  1825  entwickelt.^)  Auch  in  seiner  berühmten 
Symbolik  (1832)  hat  er  nur  die  eine  Lehre  von  der  Unfehl- 
barkeit des  mit  dem  Papste  vereinigten  Episkopates  vor- 
getragen. Die  Hunderte  von  Theologen,  die  in  den  andert- 
halb Jahrzehnten  seiner  Tübinger  und  Münchener  Lehr- 
tätigkeit seine  Schüler  waren^),  hat  Möhler,  auch  hier  der 
einsichtsvolle  Historiker,  über  die  relative,  die  geschichtliche 
Berechtigung  des  Episkopal-  und  des  Papalsystems,  über  die 
zeitweilige  praktische  Nützlichkeit  des  einen  wie  des  andern 
belehrt;  aber  er  hat  zugleich  erklärt,  daß  jedes  dieser  Systeme, 
absolut  aufgefaßt,  irrig  sei.'*)   Mit  seinem  klassischen  Haupt- 


^)  Die  „steif  mittelalterliche"  Auffassung,  sagt  Möhler  (S.  277). 

2)  Ein  leises  Bangen  vor  diesem  Buche,  das  über  das  gewohnte 
Maß  hinaus  zugleich  reich,  fromm  und  frei  war,  erfaßte  freilich  die  geist- 
lichen Kreise  des  „Katholik".  Bezeichnend,  daß  Möhler  (erst  am 
23.  Februar  1827!)  den  nicht  theologischen,  doch  gleichfalls  von  den 
Gedanken  des  kirchlichen  Episkopalismus  berührten  Görres  bat,  sein 
Buch  im  ,, Katholik"  zu  besprechen  (Görres,  Briefe  3  [=  Gesammelte 
Schriften  9],  S.  291).  Übrigens  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß 
Möhler  selbst  später  von  seiner  Schrift  urteilte:  ,,Es  ist  die  Arbeit 
einer  begeisterten  Jugend,  die  es  mit  Gott,  Kirche  und  Welt  redlich 
meinte;  aber  manches,  was  darin  steht,  könnte  ich  jetzt  nicht  mehr 
vertreten;  es  ist  nicht  alles  gehörig  verdaut  und  bündig  dargestellt" 
(Beda  Weber,  Charakterbilder,  1853,  S.  6). 

')  Über  die  große  Wirkung  der  Vorlesungen  Möhlers  vgl.  die 
Zeugnisse  bei  Kihn  (s.  oben  S.  535  Anm.  3)  S.  XXXI  ff. 

*)  Möhler,  Kirchengeschichte,  nach  s.  Vorlesungen  hg.  v.  P. 
Gams  2  (1868),  S.  505.  —  Die  ganze  Stelle  bei  Friedrich,  Gesch.  d. 
vatik.  Konzils  1,  528  f.  —  Es  ist  sehr  lehrreich,  zu  sehen,  daß  Karl 
Hase  in  der  Jugendschrift  ,,Vom  Streite  der  Kirche",  die  er  1827 
unter  der  Maske  eines  Staatsmannes  „an  den  christlichen  Adel  deut- 
scher Nation"  richtete  (Vorwort:  Rom  [!],  am  Tage  der  Verkündigung 
1826),  verwandte  Gedanken  vertrat.  Er  erklärte  (Gesammelte  Werke 
10  [1892],  S.  62),  daß  Unfehlbarkeit  der  Kirche  nicht  Unfehlbarkeit 
des  Papstes  sei,  wandte  sich  aber  „gegen  die  Überspannung  einiger 
Episkopalisten".  „Die  Kraft  des  Katholizismus  ruht  in  seiner  Ein- 
heit, die  Einheit  aber  wird  äußerlich  realisiert  durch  das  Anschließen 
aller  Glieder  an  das  gemeinsame  Oberhaupt  der  Kirche"  (S.  63).  Die 
Kirche  sei  (S.  68)  ihrer  Verfassung  nach  eine  konstitutionelle  Mon- 
archie. 


564  Fritz  Vigener, 

werke  ist  Möhler  der  Lehrer  einer  ganzen  Generation  ge- 
worden; auch  geistliche  Führer  des  auflebenden  politischen 
Katholizismus  —  für  die  die  verinnerlichte  Religiosität 
Möhlers  nicht  mehr  die  ausschließende  Bedeutung  hatte  — 
haben  in  der  Auffassung  des  Kirchenbegriffes  und  des  Un- 
fehlbarkeitsgedankens die  Fühlung  mit  ihm  bewahrt.^) 
Die  Symbolik,  dieser  „geistesmächtige  Angriff  auf  die  pro- 
testantische Kirche"2),  hat  mit  der  zwar  gelehrten  und  vor- 
nehmen, aber  scharf  eingreifenden  Polemik  den  Konfessionalis- 
mus stärken  wollen  und  mächtig  gestärkt;  darum  eben  ist  es 
von  hoher  Bedeutung,  daß  Möhlers  Apologie  des  Katholizis- 
mus keine  Apologie  des  Kurialismus  gewesen  ist,  daß  nicht 
auch  er  für  die  Ausgestaltung  des  Bildes  der  Kirche  in  den 
Seelen  der  Geistlichen  und  der  gebildeten  Laien  jene  Farben 
hergegeben  hat,  die  seit  Jahrhunderten  durch  papalistische 
Dogmatiker  und  von  neuem  durch  den  absolutistischen 
Theoretiker  de  Maistre  als  unentbehrlich  waren  angepriesen 
worden. 

Möhler  erlebte  noch  den  heftigen  Anfang  der  konfes- 
sionellen Kämpfe,  die  sich  an  den  Kölner  Kirchenstreit  von 
1837  anschlössen.  Die  Haltung  der  Ultra  war  nicht  ganz 
nach  seinem  Sinn;  die  bedenkliche  Spannung  zwischen  dem 
Ethos  der  Religion  und  der  derben  Praxis  hat  seine  zarte 
Natur  tief  empfunden.  3)  Dennoch  mußte  er  sich  des  gehobenen 
kirchlichen  Bewußtseins  freuen,  das  den  Athanasiuskampf 
durchströmte^),  und  er  durfte  sich  sagen,  daß  in  seiner 
Symbolik  eine  der  literarischen  Wurzeln  dieser  neuen  Kräfte 

1)  Das  gilt  namentlich  für  Ketteier,  der  von  früh  an  Möhlers 
Werke  schätzte. 

2)  Karl  Hase  im  Vorwort  (Rom,  im  Mai  1862)  zu  der  L  Aufl. 
seines  Handbuchs  der  protestantischen  Polemik  gegen  die  römisch- 
katholische Kirche  (=  Werke  9  [1890],  S.  V).  Der  gewaltige  Anstoß, 
den  die  „Symbolik"  der  halbentschlummerten  Polemik  und  Apo- 
logetik gegeben  hat,  ist  bereits  von  W.  H.  Riehl  im  Jahre  1850  (Land 
und  Leute  IX,  2.  Kapitel:  Die  neue  Macht  der  Kirche;  5.  Aufl.,  1861, 
S.  454)  richtig  erkannt  worden. 

^)  Vgl.  seine,  von  taktischen  Erwägungen  doch  nur  leicht  berührten 
Äußerungen  über  „diesen  furchtbaren  Zusammenstoß  der  Extreme" 
bei  Beda  Weber,  Charakterbilder  S.  9. 

*)  Es  sei  daran  erinnert,  daß  er  gemeinsam  mit  Döllinger,  v.  Moy 
und  Phillips   das  kanonistische  Gutachten  ausgearbeitet  und  unter- 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  565 

ruhe.  Auch  jetzt  war  es  nicht  so,  daß  die  Gegner  preußischer 
KirchenpoUtik  und  staatUcher  Mitregierung  im  geistlichen 
Wesen  schlechthin  auch  die  Eiferer  für  das  Papalsystem 
gewesen  wären. ^)  Die  Verschiedenheit  der  Auffassung  der 
innerkirchlichen  Frage  bedingte  keine  Spaltung  in  der 
äußeren  kirchenpolitischen  Aktion;  und  die  Gemeinschaft 
des  Kampfes  für  das  e  i  n  e  Ideal  der  Kirchenfreiheit  konnte 
andererseits  die  weit  auseinander  gehenden  Gedanken  über 
das  höchste  Kirchenregiment  und  über  die  Unfehlbarkeits- 
lehre nicht  einfach  zusammenführen.  Aber  allerdings, 
der  Kampf  gegen  den  Staat  ist  der  Ausbreitung  der  päpst- 
lichen Doktrinen  förderlich  gewesen.  Je  mehr  solch  ein 
Kampf  wie  der  preußische  Kirchenstreit  zwischen  protestan- 
tischer Regierung  und  katholischem  Kirchenhaupt  selbst 
sich  abspielte  und  der  Papst  die  Gläubigen  gegen  den  Staats- 
absolutismus erfolgreich  deckte,  desto  enger  fühlten  sich  alle 
entschlossenen  Katholiken  dem  römischen  Stuhle  ver- 
bunden; manche  dem  Kurialismus  im  Wege  stehende  Hin- 
dernisse, Schwierigkeiten,  die  in  der  Stimmung  und  Ge- 
sinnung lagen,  konnten,  je  nach  dem  Maße  der  Anpassungs- 
fähigkeit des  Einzelnen,  in  der  gemeinschaftlichen  Phalanx 
erleichtert  oder  aus  dem  Wege  geräumt  werden. 

Aber  stärker  haben  in  diesem  Sinne  schon  damals  die 
innerkirchlichen  Kämpfe  und  Verschiebungen  gewirkt.  Der 
Pontifikatswechsel  von  1831  brachte  die  zentralistische 
und  intransigente  Richtung,  die  schon  Leo  XII.  einge- 
schlagen hatte,  mit  gedoppelter  Kraft  in  die  Leitung  der 
Kirche  zurück.  Gregor  XVI.  hat  den  Abschluß  von  Dogma 
und  Verfassung,  den  das  Vaticanum  dann  bringen  sollte, 
in  seinen  Gedanken  bereits  vollzogen,  und  seine  Enzyklika 
„Mirari  vos"^)  von  1832  hat  tatsäschlich  ganz  unmittelbar 
der  Enzyklika  von  1864  und  dem  Syllabus  vorgearbeitet. 
Sie  enthielt  auch  den  Urteilsspruch  gegen  Lamennais,  der 
vordem  mit  glühender  Begeisterung  die  die  Kirche  tragende 

zeichnet  hat  (12.  Dezember  1837),  das  Görres  in  seinen  Athanasius 
(2.  Aufl.,  1838,  S.  65—75)  aufnahm. 

1)  Man  denke  etwa  nur  an  Görres  selbst. 

»)  Sie  ist  damals  z.  B.  im  „Katholik'*  46  (1832),  S.  173—195 
abgedruckt  worden. 


566  Fritz  Vigener, 


^ 


Kraft  des  unfehlbaren  Papstes  gepriesen  und  den  Galli- 
kanismus  bekämpft  hatte.  Für  die  Geschichte  der  Ge- 
danken, die  wir  hier  verfolgen,  hat  die  Verdammung  des  den 
gallikanischen  Strömungen  fernstehenden  französischen  katho- 
lisch-sozialen Demokratismus  indessen  viel  weniger  zu  be- 
deuten als  das  kirchliche  Urteil  gegen  den  deutschen  Her- 
mesianismus.  Auch  der  Hermesianismus  als  Lehrsystem 
steht  an  sich  außer  Zusammenhang  mit  dem  Streit  um  das 
Wesen  des  höchsten  Kirchenregimentes  und  den  Träger  der 
Unfehlbarkeit;  von  dem  Boden  einer  Lehre,  die  die  Rationali- 
sierung des  Offenbarungsglaubens  zu  geben  suchte,  war  der- 
artigen Doktrinen  gegenüber  eine  Entscheidung  nach  beiden 
Seiten  möglich.  Nicht  der  Hermesianismus  war  antikuriali- 
stisch,  wohl  aber  waren  es  die  Hermesianer.  Die  wirkungs- 
reichsten Freunde  des  Hermes  und  seiner  Lehre  fühlten  sich 
in  lebendiger  Verbindung  mit  der  gemäßigt  episkopalistischen 
deutsch-theologischen  und  deutsch-kanonistischen  Überlie- 
ferung, die  dem  Romanismus  keinen  Raum  ließ.  Der  Bonner 
Theolog  Achterfeld  unterließ  es  nicht,  in  seinem  „Lehrbuch 
der  christkatholischen  Glaubens-  und  Sittenlehre"  (1825)^) 
die  dogmatische  Tatsache  einzuprägen,  daß  n  u  r  die  Gemein- 
schaft der  Bischöfe  und  des  Papstes  den  Träger  der  lehramt- 
lichen Unfehlbarkeit  darstelle.  In  ähnlicher  Weise  erschien 
dem  Kanonisten  Clemens  August  v.  Droste- Hülshoff 2)  die 
Auffassung,  daß  der  Papst  für  sich  nicht  unfehlbar  sei,  ganz 
im  Sinne  Bossuets^),  als  „zu  erweisende  Glaubenslehre"; 
er  lebte  der  Zuversicht,  daß  ein  allgemeines  Konzil,  wenn  es 
sich  je  darüber  aussprechen  werde,  nur  diesen  negativen 
Satz  erklären  könne.*)    Die  durch  Gregor  XVI.  1835  aus- 


1)  Das  Buch  hatte  sich  auch  des  Beifalls  des  „Katholik"  zu  er- 
freuen. Vgl.  „Katholik"  20  (1826),  S.  340  und  nochmals  21  (1826), 
242—245.  —  Im  Jahre  1834  gab  Achterfeld  den  l.Tell  der  „Christkathol. 
Theologie"  von  Hermes  heraus,  der  1835  vom  Papste  verdammt  wurde. 

2)  Über  ihn  v.  Schulte,  Gesch.  der  Quellen  3  I,  346  ff.  (biogra- 
phische Notizen)  und  (tiefer  dringend)  E.  Landsberg,  Gesch.  der 
Rechtswissenschaft,  3.  Abteiig.,  2.  Halbband  (1910),  Text  S.  183  ff. 
und  Noten  S.  91  f. 

3)  Vgl.  oben  S.  517  f. 

*)  C.  A.  V.  Droste-Hülshoff,  Grundsätze  des  gemeinen  Kirchen- 
rechtes  der   Katholiken  und  Evangelischen,   wie   sie   in   Deutschland 


Gallikanismus  u.episk. Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  567 

gesprochene  Verurteilung  des  Hermesianismus  traf  alle  die^ 
die  jene  leichte  Fühlung,  wie  sie  zwischen  katholischer  Theo- 
logie und  deutscher  Philosophie  immerhin  möglich  war, 
gewahrt  wissen  wollten.  Die  Ausrottung  hermesianischer 
Anschauungen  im  Klerus  ist  nur  sehr  langsam  gelungen, 
aber  die  Mattsetzung  hermesianischer  Professoren,  besonders 
in  Bonn,  war  verknüpft  mit  einer  Begünstigung  solcher 
Theologen,  die  dem  Kurialismus  und  seiner  Infallibilitäts- 
doktrin  an  bisher  verschlossenen  Stätten  eine  Vertretung 
und  Einfluß  sicherten.^) 

In  der  Geschichte  der  Unfehlbarkeitsdoktrin  kommt  aber 
Gregor  XVI.  noch  eine  ganz  unmittelbare  Bedeutung  zu. 
Als  er  noch  römischer  Kamaldulensermönch  war,  hat  er,  der 
dreiunddreißigjährige  Mauro  Cappellari,  im  Jahre  179& 
ein  geschickt  gezimmertes  Buch  veröffentlicht,  in  dem  er 
den  Triumph  des  hl.  Stuhles  und  der  Kirche  über  die 
,, Neuerer"  mit  deren  eigenen  Waffen  erkämpft  zu  haben 
glaubte.2)  Cappellari  hat  viel  von  älteren  Kurialisten  über- 
nommen, und  seine  Beweisführung  läßt  sich  durch  logi- 
sche Bedenken  und  geschichtliche  Tatsachen  nicht  immer 
beeinflussen,  aber  er  versteht  es,  die  Zeugnisse  aus  Bibel,. 

gelten,  2.  Bd.,  I.Abteilung  (1830),  S.  305.  Vgl.  auch  S.  304,  306,  ferner 
153  f.,  wo  er  die  Lehre  von  der  Superiorität  des  Papstes  über  das  all- 
gemeine Konzil  ablehnt  mit  der  Bemerkung,  daß  es  „auch"  deutsche 
Theologen  und  Kanonisten  gebe,  die  die  Lehre  von  der  päpstlichen 
Unfehlbarkeit  verteidigten. 

')  So  schon  seit  1830  H.  Klee  (s.  oben  S.  543  Anm.  1),  der  vorher 
am  Mainzer  Seminar  gelehrt  hatte  und  1838  als  Nachfolger  Möhlers 
nach  München  ging.  Klee  vertrat  in  seiner  „Katholischen  Dogmatik" 
1  (1835),  S.  210  ff.  die  Lehre  von  der  „Infallibilität  des  Primats"  mit 
sichtlicher  Sympathie,  aber  doch  mit  Zurückhaltung.  Vgl.  Friedrich, 
Gesch.  d.  vat.  Konzils  1,  536  f. 

*)  //  Trionfo  della  santa  Sede  e  della  chiesa  contro  gli  assalti  det 
Novatori  combattuti  e  respinti  colle  stesse  loro  armi.  Ich  benutze  die 
unten  S.  571  f.  besprochene  Ausgabe  ...  (.  .  .  opera  di  D.  Mauro 
Cappellari,  monaco  Camaldolese,  ora  Gregorio  XVI)  von  1837.  Vene- 
zia,  Battaggia.  XLVI  u.  548  S.  —  J.  Fr.  v.  Schulte,  der  so  manchem 
trüben  Lichte  einen  Platz  in  seiner  Geschichte  der  kanonistischen 
Literatur  eingeräumt  hat,  hat  Cappellari  ganz  übergangen.  Desgleichen 
fehlt  er  bei  Gla,  Repertorium  der  katholisch-theologischen  Literatur 
1  II  (1904).  Bei  Friedrich,  Gesch.  des  vat.  Konzils  1  findet  sich  nur 
eine  kurze  Bemerkung  (S.  191  und,  fast  gleichlautend,  535). 


668  Fritz  Vigener, 

Tradition  und  Geschichte  wirkungsvoll  zu  gruppieren  und 
in  seinem  Sinne  mit  dem  Anspruch  auf  alleinige  Geltung; 
zu  deuten,  und  im  ganzen  ist  er  in  seinen  Folgerungen 
so  bestimmt  und  klar,  wie  in  seinen  Behauptungen,  er] 
schreibt  statt  in  steifem  Latein  in  einem  etwas  gemes- 
senen, doch  gut  lesbaren  Italienisch,  nicht  ohne  seinem  von 
der  Muttersprache  begünstigten  Drang  zum  Rhetorischen  _. 
zur  rechten  Zeit  nachzugeben.  Die  Schrift  ist  stärker  als  f  | 
der  Titel  erwarten  läßt,  ja  mit  fast  ausschließlicher  Kon- 
zentrierung auf  die  Frage  nach  der  Stellung  des  Papstes 
in  der  Kirche  gerichtet.  Der  Gedanke,  den  zwei  Jahrzehnte 
später  de  Maistre  mit  glücklicherer  Pose  und  in  besser  ge- 
wählter Stunde  in  die  Welt  geworfen  hat,  ist  hier,  unberührt 
von  politischen  Absichten  und  ohne  politische  Begründung, 
als  kirchliche  Gewißheit  verkündet.  Der  monarchische 
Charakter  des  Papsttums  bedingt  die  päpstliche  Unfehlbar- 
keit; weil  der  Papst  wahrer  Alleinherrscher  in  der  Kirche 
ist,  darum  ist  er  unfehlbar,  i)  Der  Begründung  dieser  Un- 
fehlbarkeitsdoktrin ist  der  weitaus  größte  Teil  des  Werkes 
gewidmet.  Die  Lehre,  die  den  Papst  der  allgemeinen  Kirche 
untergeordnet  sein  läßt,  weiß  Cappellari  leicht  zu  widerlegen; 
nicht  der  Kirche,  sondern  vielmehr  dem  Petrus  und  das  heißt 
dem  Papste  hat  Christus  die  Gewalt  übergeben. 2)  Auch  die 
Bekämpfung  jener  außerhalb  kurialistischer  Kreise  vor- 
herrschenden Anschauung,  daß  wohl  die  Unfehlbarkeit 
der  Kirche  feststehe,  nicht  aber  die  des  Papstes,  hat  er  sich 
nicht  allzuviel  Mühe  kosten  lassen. 3)  Die  schwierige  Frage 
nach  dem  Verhältnis  der  kirchlichen  und  päpstlichen  Un- 
fehlbarkeit läßt  er  dadurch  erledigt  sein,  daß  er  die  päpstliche 
Unfehlbarkeit  aus  der  Stellung  des  Papstes  in  der  Kirche 
folgert;  der  Papst  ist  unfehlbar,  weil  er  Haupt  und  Grundlage 
der  unfehlbaren  Kirche  ist.^)  Die  Verträglichkeit  der  kon- 
ziliaren  und  der  papalen  Infallibilität  weiß  er  in  ebenso  über- 


1)  Vgl.  den  „Discorso  preliminare  sulla  immutabilitä  del  governo 
äella  chiesa"  (S.  3—110),  besonders  S.  109  f. 

2)  Trionto,  Kap.  7,  §  4,  S.  247  f. 

3)  Vgl.  Kap.  8,  S.  251  ff. 

*)  S.  252:  .  .  .   dicendosi  appunto  il  papa  infallibile,  perchi  t 
costüuito  capo  e  fondamento  deW infallibile  chiesa. 


Oallikanismus  u.  episk. Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  569 

zeugten  Sprache  zu  beweisen^),  wie  die  in  der  Geschichte 
begründeten  Einwendungen  gegen  die  Unfehlbarkeitslehre  zu 
widerlegen. 2)  Den  hihalt,  die  Grenzen,  die  Bedingungen 
dieser  Unfehlbarkeit  sucht  Cappellari  dann  im  Gefühle  theo- 
logischer Besonnenheit  genau  zu  bestimmen  und  den  Zwei- 
felnden über  die  Bedenken  der  Gallikaner  und  gesinnungsver- 
wandter „novatori"  hinwegzuhelfen. 3)  Auch  er  gehört  zu 
jenen  Vertretern  der  Doktrin,  die  bei  aller  Bestimmtheit 
Maß  zu  halten  wissen,  und  durch  die  Wahrung  einer  ver- 
bindlichen Form  in  der  Polemik  sich  den  Weg  zu  den  Herzen 
'der  Andersdenkenden  frei  halten  möchten. 

Aber  die  gewaltigen  Begebenheiten  des  napoleonischen 
Zeitalters  waren  weder  in  ihrem  politischen  Inhalte  noch  in 
ihren  kirchlichen  Folgen  dem  Buche  günstig.  Die  ersten 
Jahre  der  Restauration  hätten  ihm  vielleicht  verspätete 
Anerkennung  gebracht,  wenn  nicht  die  leicht  redende  Zunge 
de  Maistres  verwandte  Gedanken  vorgetragen  hätte  —  in 
schmiegsam  sich  einschmeichelnder  Form  und  in  lockender 

1)  Vgl.  namentlich  Kap.  15,  §  7,  S.  324  f. 

*)  Vgl.  S.  326  ff.  insbesondere  Kap.  16  (das  5.  allgemeine 
Konzil  bestätige  tatsächlich  die  Unfehlbarkeit  des  Papstes,  und  die 
Honoriussache  könne  nichts  gegen  sie  beweisen)  und  Kap.  19  (die 
Opposition  gegen  die  Päpste  besage  nichts  gegen  die  Irreformabilität 
ihrer  Entscheidungen). 

')  Vgl.  Kap.  23  ff.;  Im  23.  Kapitel  u.  a.  „Beweise"  gegen  die, 
die  den  consensus  ecclesiae  für  erforderlich  halten.  —  Im  24.  Kapitel 
„si  dimostra  legittima  nel  romano  pontefice  la  distinzione  di  persona 
privata,  e  di  pastor  della  Chiesa ;  e  si  accennano  alcune  regole,  onde 
conoscere  quando  abbia  veramente  ex  cathedra  definito.  —  Im 
25.  Kapitel  {L'effetto  delle  scomuniche  imposte  dai  romani  pontefici 
non  dipende  dall'espresso  consenso  della  Chiesa,  ma  dall'estrinseca  loro 
ejficacia,  e  quindi  esso  pure  dimostra  infallibili  i  pontefici)  ist  nament- 
lich §  17  (S.  466  f.)  zu  beachten.  —  Aus  dem  26.  Kapitel,  wo  „si  sciol- 
gono  alcune  difficoltä  dalla  ragione  contro  la  pontificia  infallibilitä", 
ist  einmal  hervorzuheben,  daß  Cappellari  hier  (S.  471)  gewissenhaft 
und  bescheiden  „dalle  nostre  teorie"  spricht,  dann  aber  auch  eine 
hübsche  und  lehrreiche  Auseinandersetzung  zu  erwähnen.  Christus 
habe,  sagt  er,  der  Kirche  versprochen,  sie  solle  nie  in  Irrtum  fallen, 
er  werde  sie  immer  mit  seinem  himmlischen  Lichte  erleuchten  — 
„ma  non  determind  in  queste  semplici ,  assolute  e  generali  promesse 
il  modo,  in  cui  le  verrebbe  proposta  la  dottrina,  se  per  una  costante 
rivelazione  o  ispirazione,  owero  per  l'organo  ed  il  ministero  di  san  Pietro 
t  dei  suoi  successori". 

Historische  Zeitschrift  (Ml.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  37 


570  Fritz  Vigener, 

Verbindung  mit  gern  gehörten  politisch -absolutistischen 
Lehren.  Als  Kardinal  konnte  Cappellari  zwar  in  der  Stille' 
seiner  Zensortätigkeit  seinen  Einfluß  auf  kanonistisch- 
theologische  Lehrbücher  im  Sinne  eines  strengen  Kurialis- 
mus  geltend  machen^),  dem  eigenen  Buche  aber  vermochte 
er  nicht  neues  Leben  zu  schenken.  Erst  als  er  Papst  ge- 
worden, wirbt  seine  Stellung  dem  Werke  Wirkung  und  Ruhm. 
Jetzt  redet  nicht  mehr  Pater  Mauro  aus  dem  Buche;  die 
Worte  des  Mönches  werden  Worte  des  Papstes.  Gregor  XV  L 
hat  seine  Jugendschrift  von  neuem  herausgegeben,  um  sie 
mit  dem  Gewichte  seiner  höchsten  Autorität  für  die  ihm 
heiligen  Ideen  arbeiten  zu  lassen.  Der  „Trionfo  della  Santa 
sede"  soll  nicht  auf  Italien  beschränkt  bleiben.  Hier  war 
der  geringste  Bekehrungseifer  von  nöten.  Es  galt  vor  allem, 
dem  Buche  das  Land  zu  erschließen,  das  in  besonderem  Maße, 
mehr  noch  als  Frankreich,  der  Vorbereitung  auf  das  künftige 
Dogma  bedürftig  war.  Im  zweiten  Pontifikatsjahre  Gre- 
gors XVI.  ist  die  neue  italienische  Ausgabe  erschienen, 
noch  im  gleichen  Jahre  wurde  die  deutsche  Ausgabe  bear- 
beitet, die  1833  in  Augsburg  ans  Licht  kam.  Ob  sie  von  Rom 
geradezu  veranlaßt  worden  ist,  bleibt  fraglich;  in  der  Tat- 
sache, daß  der  Verfasser  Papst  geworden  war,  daß  der  Papst 
sein  Werk  liebte  und  ihm  Wirkung  wünschte,  lag  Anregung 
genug.  Jedenfalls  ist  diese  Augsburger  Übersetzung  ,,mit 
allerhöchster  Genehmigung  Sr.  päpstlichen  Heilig- 
keit" veranstaltet  worden. 2)  Dieser  besonderen  Gutheißung 
konnte  sich  eine  andere  Verdeutschung,  die  gleichzeitig  er- 

^)  So  gegenüber  Liebermanns  Dogmatik  (vgl,  dazu  oben  S.  551), 
s.  den  in  der  Revue  catholique  d'Alsace  1903,  S.  264  abgedruckten 
Brief  von  Räß  vom  2.  Juni  1831  (z.  T.  wiederholt  bei  Goyau,  L'AUe- 
magne  relig.,  Le  Catholic.  2,  18  Anm.  5). 

2)  P.  JVlauro  Cappellari  (jetzt  regierender  Pabst  Gregor  XVI.), 
Triumph  des  hl.  Stuhls  und  der  Kirche  über  die  Angriffe  der,  mit 
ihren  eigenen  Waffen  bekämpften  und  geschlagenen  Neuerer.  Nach 
der  3.,  ganz  neu  bearbeiteten  Ausgabe  des  Originals  (Venedig  1832) 
aus  dem  Italienischen  übersetzt  und  für  Deutschland  bearbeitet  von 
mehreren  gelehrten  Geistlichen.  Mit  allerhöchster  Genehmigung  Sr. 
päpstlichen  Heiligkeit  veranstaltete  Ausgabe.  Augsburg,  Kollmann. 
1833.  —  Über  den  Verleger  Kollmann  und  insbesondere  zur  Kenn- 
zeichnung seiner  moralischen  Qualitäten  ist  die  oben  S.  549  Anm.  3 
genannte  Schrift  Vogels  S.  21  f.  zu  vergleichen. 


I 


Gallikanismus  u.episk.  Strömungen  im  dtsch. Katholizismus  etc.  571 

schien,  nicht  rühmen.^)  Aber  die  zwiefache  Bemühung,  dieses 
päpsthche  Lehrbuch  des  kuriaUstischen  Systems  in  Deutsch- 
land heimisch  zu  machen,  blieb  immer  erfreulich.  Denn  das 
Buch  war  in  Deutschland  unbekannt.  Die  Besprechung 
im  „Katholik"^)  mit  der  Empfehlung  „des  alle  Theologen 
in  höchstem  Grade  interessierenden  Werkes"  bezeugt  das. 
Sie  beweist  noch  etwas  anderes,  und  das  ist  wichtiger;  sie 
beweist,  daß  die  deutschen  Freunde  der  Unfehlbarkeits- 
doktrin den  ungeheuren  Vorteil,  der  mit  der  Erhebung  des 
kurialistischen,  infallibilistischen  Theologen  auf  den  Stuhl 
Petri  sich  ihnen  darbot,  nach  Kräften  auszunützen  suchten. 
Der  Rezensent  faßte  mit  guter  Witterung  das  als  die  Absicht 
des  Buches,  ,,die  Gegner  der  Lehre  von  der  Unfehlbarkeit 
des  Papstes  in  Glaubenssachen  aus  ihren  eigenen  Grund- 
sätzen zu  widerlegen,  d.  h,  sie  zurAnerkennung 
der  hierarchischen  Monarchie  oder  zur 
Verwerfung  der  Kirche  zu  nötigen".^)  Dieser 
Satz  war  in  seiner  verdammenden  Bestimmtheit  mehr  in 
kluger  Rücksicht  auf  Rom  als  in  weiser  Erwägung  deutscher 
Verhältnisse  geschrieben.  Für  Deutschland  war  er  damals 
noch  unerhört  und  undurchführbar.  Aber  das  zum  Papst- 
buch gewordene  Mönchsbuch  sollte  eben  helfen,  hier  Wandel 
zu  schaffen.  Von  der  einen  deutschen  Übersetzung  erschien 
1841  eine  zweite  Auflage,  und  schon  vier  Jahre  zuvor 
war  den  deutschen  Theologen  das  Werk  noch  einmal  in 
der  Originalsprache  dargeboten  worden.  Der  1837  in  Vene- 
dig, also  in  österreichischem  Gebiete,  veröffentlichte  Neu- 
druck*), wurde  von  dem  Verleger,  einem  päpstlichen  Vize- 
konsul, dem  Bamberger  Erzbischof  Joseph  Maria  Freiherrn 
von  Fraunberg  zugeeignet.  Die  Widmung  rühmt  nicht 
nur  die  ,, wahrhaft    bewundernswerte"  Verehrung  des  Erz- 

^)  Da  diese  bei  Schlosser  in  Augsburg  verlegte  Übersetzung 
(„nach  der  neuesten  Ausgabe  vom  Jahre  1832  zum  erstenmal  aus 
dem  Italienischen  übersetzt")  überdies  manche  Verstöße  gegen  die 
übliche  theologische  Ausdrucksweise  aufwies,  hat  ihr  der  „Katholik" 
(vgl.  die  folgende  Anmerkung)  wenig  Beifall  gespendet.  '  Aber  gerade 
diese  Übersetzung  erschien  1841  in  2.  Auflage. 

»)  „Katholik"  47  (1833),  S.  246 f.;  54  (1834),  S.  115 f. 
'■      ,  »)  „Katholik"  47,  S.  246. 

*)  Vgl.  oben  S.  567  Anm.  2. 

37» 


572  Fritz  Vigener, 

bischofs  für  den  Papst,  sie  konnte  dem  deutschen  Prä- 
laten zugleich  für  die  Gewinnung  zahlreicher  Bezieher  des 
Buches  danken,  was  dem  Buchhändler  schließlich  auch  eher 
anstand.  Also:  unter  den  Augen  des  Bischofs  von  AugSr 
burgi)  waren  die  deutschen  Übersetzungen  erschienen,  und 
der  Erzbischof  von  Bamberg  bemühte  sich,  dem  Werke 
Käufer  und  Leser  zu  verschaffen.  So  bot  das  katholische 
Baiern  die  Stützpunkte  für  den  erhofften  Siegeszug  —  das 
Land,  das  durch  sein  Konkordat  in  besondere  Verbindung  mit 
Rom  getreten  war  und  eben  im  Jahre  1837  in  dem  Mini- 
sterium AbeP)  eine  Regierung  erhielt,  mit  der,  trotz  ihren 
staatskirchlichen  Ansprüchen,  selbst  Gregor  XVI.  einiger- 
maßen zufrieden  sein  konnte. 

Um  die  Propagierung  der  Gedanken  Gregors  hat  sich 
aber  vor  allem  der  „Katholik"  verdient  gemacht.  Der 
„Katholik"  stand  Priestern  und  Laien  offen;  diese  Zeit- 
schrift, in  der  Görres  manchen  aufrüttelnden  Weckruf 
hatte  vernehmen  lassen,  die  sich  von  geschulten  Theo- 
logen und  geschickten  Polemikern  ihre  in  Lehre,  Mahnung 
und  Abwehr  stets  kirchlich-erzieherischen  Aufsätze  schrei- 
ben ließ,  hatte  ihr  breites  Publikum.  Noch  wenige  Jahre 
zuvor  wollte  auch  der  „Katholik"  die  Lehre  von  der  Unfehl- 
barkeit des  Papstes  nur  als  Doktrin  gelten  lassen.  Unter 
dem  Pontifikate  Gregors  XVI.  wurde   das  anders.^)     Wie 


1)  Daß  Bischof  Riegg  oder  sein  Nachfolger  Richarz  (seit  1837) 
persönlich  dem  Kurialismus  hold  gewesen  sei,  soll  damit  nicht  ge- 
sagt sein.  Aber  die  iViacht  der  Kurie  beginnt  sich  eben  jetzt  auch 
darin  zu  äußern,  daß  die  Bischöfe  Lehren  und  Lehrer  dulden  müs- 
sen, deren  Gedanken  nicht  mit  ihrer  Überzeugung  übereinstimmen. 
Vollends  unter  Pius  IX,  wurde  den  Bischöfen  von  der  Not  ihrer  Lage 
die  Taktik  eingegeben,  an  den  kurialistischen  Kirchenbegriff  Zuge- 
ständnisse zu  machen  und  die  Propaganda  für  die  päpstliche  Unfehl- 
barkeitsdoktrin zu  dulden,  um  so,  als  scheinbare  Bekenner,  die 
Überflüssigkeit  einer  Dogmatisierung  der  Lehre  vom  Universalepisko- 
pat und  von  der  Unfehlbarkeit  des  Papstes  augenscheinlich  zu  machen. 
Das  ist  wenigstens  ein  Zug  neben  anderen,  wie  ich  an  Kettelers 
Haltung  zu  zeigen  gedenke. 

2)  Vgl.  dazu  auch  unten  S.  579  Anm.  4. 

^)  Der  Anfang  oder  Übergang  zeigt  sich  schon  in  der  Übersetzung 
von  Muzzarellis  Darlegungen,  „Katholik"  44  (1832);  Fortsetzung  60 
(1836). 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  573 

gebannt  durch  den  Wink  von  Rom,  scheinen  die  unge- 
nannten Mitarbeiter  der  Zeitschrift  ihre  deutsche  Um- 
gebung und  die  einst  beachteten  theologischen  Einwendungen 
vergessen  zu  haben;  die  von  Deutschland  fast  allgemein 
abgelehnte  oder  nur  als  Theorie  geduldete  Doktrin 
wurde  von  ihnen  nun,  da  der  Papst  selbst  sie  darbot,  einem 
jeden  empfohlen,  dem  es  um  eine  gründliche  Kenntnis  der 
Lehren  seiner  Kirche  zu  tun  sei.^)  Bei  ihrem  eigentlichen 
Leserkreis  durfte  die  Zeitschrift  damals  wohl  schon  eine  ver- 
wandte Überzeugung  voraussetzen  oder  doch  die  Bereit- 
schaft, sich  im  Sinne  Gregors  XVI.  belehren  zu  lassen.  Im 
ganzen  aber  hat  der  ,, Katholik"  mit  seinen  schroff  aus- 
geprägten gregorianischen  Forderungen  der  Zeit  vorgegriffen. 
Die  deutsch-gallikanische  Überlieferung  war  noch  zu  mächtige 
die  Kräfte  der  kirchlich-wissenschaftlichen  Theologie,  wie 
sie  etwa  in  Möhler  und  Hirscher,  in  Döllinger  und  Kuhn 
lebten,  strömten  noch  zu  frisch  und  ungehemmt,  die  Not-^ 
wendigkeit  einheitlichen  Widerstandes  des  gesamten  kirch- 
lichen Katholizismus  gegen  Protestantismus,  Liberalismus 
und  Staatsabsolutismus  wurde  durch  die  Begebenheiten 
selbst  mit  zu  deutlicher  Sprache  gepredigt,  als  daß  man 
in  dem  vom  ,, Katholik"  ganz  richtig  erfaßten  Sinne  Gre- 
gors XVI.  hätte  durchgreifen  und  schon  damals  Bekenntnis 
zum  Katholizismus  und  Bekenntnis  zur  Lehre  von  der 
Unfehlbarkeit  des  Papstes  hätte  gleichsetzen  können. 

Im  Vordringen  waren  die  deutschen  Freunde  der  Dok- 
trin auch  so,  ohne  alle  Frage;  in  Schrifttum  und  Unterricht 
wurde  die  Lehre  ausgebreitet. 2)    Gregor  XVI.,  der  als  Kar- 


»)  „Katholik"  54  (1834),  S.  115  f.;  im  gleichen  Sinne  ist  dann 
im  56.  und  57.  Bande  (vgl.  besonders  57,  S.  85)  der  zurückhaltendere 
Roscovany  besprochen  und  im  60.  Bande  Muzzarellis  Erörterung  (s. 
die  vorige  Anm.)  zu  Ende  geführt. 

*)  Nach  J.  Friedrichs  Mitteilung  (Ignaz  v.  Döllinger  2  (1899), 
S.  66  ff.)  wurde  noch  1841  dem  Moraltheologen  Kaiser  in  München  seine 
Professur  genommen,  well  er  die  Infalllbllltät  als  Kirchenlehre  vor- 
trug." Aber  um  dieselbe  Zelt  hat  doch  Windischmann  sie  ungestört 
propagiert  (s.  unten  S.  576),  und  nicht  er  allein.  Gerade  aus  diesen 
Jahren,  da  er  als  Theologieprofessor  in  Freising  wirkte,  schreibt  der 
treu  und  eifrig  kirchlich  gesinnte  Magnus  J  0  c  h  a  m  in  seinen  „Me- 
moiren eines  Obskuranten"  (hg.  von  M.  Sattler,  1896)  S.  508:  „Auch 


674  Fritz  Vigener, 

dinal  der  Dogmatik  Liebermanns  den  Mangel  hinreichender 
Anpassung  an  die  kurialistischen  Anschauungen  vorgeworfen 
hatte!),  erlebte  die  Genugtuung,  auch  in  Deutschland  eini 
theologisches  Lehrbuch  eingeführt  zu  sehen,  das  sich  durch' 
sein  rein  römisches  Gepräge  und  zugleich  durch  eine  zu- 
nächst verwirrende  und  vielleicht  gerade  darum  Erfolg 
verheißende  scholastische  Dialektik  auszeichnete.  Es  sind 
die  theologischen  Vorlesungen,  die  der  Jesuit  Giovanni 
P  e  r  r  0  n  e  als  Professor  am  Collegium  Romanum  gehalten 
und  als  Buch  herausgegeben  hatte.  Der  Verfasser  selbst, 
der  ja  unter  den  Augen  Gregors  XVI.  lebte,  hat  sich  um 
die  Einbürgerung  seines  Werkes  in  Deutschland  bemüht, 
indem  er  der  1842/43  in  neun  Bänden  veröffentlichten 
Wiener  Ausgabe,  der  die  zweite  römische  zugrunde  lag, 
einige  Zusätze  gab.  2)  Perrone  verknüpft  mit  dem  Dogma 
von  der  Unfehlbarkeit  der  Kirche  die  Doktrin  von  der  Un- 
fehlbarkeit des  Papstes,  für  die  er  gleichfalls  die  dogmatische 
Geltung  einer  verpflichtenden  Glaubenslehre  beansprucht. 
Er  übernimmt  nicht  alle  Maßlosigkeiten  mittelalterlicher  und 
neuerer  Theoretiker.  Er  scheidet  sich  von  ihnen  schon 
darin,  daß  er  die  Kirche  als  Quelle  der  Unfehlbarkeit  des 
Papstes    ansieht;   a  sola  audoritate  ecclesiae   schöpft    der 


die  maßlose  Hervorhebung  der  Unfehlbarkeit 
des  Papstes  von  diesen  überfrommen  Menschen ,  als  wäre 
dies  das  erste  und  allerwichtigste  Dogma,  war  mir  sehr  zuwider,  weil 
ich  gar  kein  Verständnis  für  diese  Doktrin  gewonnen  hatte,  und  weil 
mir  diese  Leute  auch  gar  nicht  sagen  konnten,  was  denn  der  Inhalt 
dieser  Unfehlbarkeit  sei.  Ich  hörte  nur  immer  von  dem  ex  cathedra 
Sprechen  des  Papstes;  aber  was  dies  sei,  war  mir  ganz  und  gar  nicht 
klar.  Ich  ließ  auch  diese  Sache,  wie  so  manches  andere,  als  Adiaphoron 
liegen,  bis  die  kirchliche  Entscheidung  kam."  Daß  diese  drei  Sätze, 
die  nach  dem  Vaticanum  geschrieben  wurden,  auch  in  anderem 
Sinne,  als  wir  sie  hier  zu  verwerten  haben,  ein  historisches  Zeugnis 
sind,  braucht  nicht  erst  gesagt  zu  werden. 

1)  S.  oben  S.  570  Anm.  1. 

2)  Praelectiones  theologicae  quas  in  collegio  Romano  soc.  Jesu 
habebat  Ja.  Perrone.  Editio  post  secundam  Romanam  .  .  .  ab  ipso 
audore  locupletata.  9  Bände.  Wien  1842/43.  —  Ich  bemerke,  daß 
der  von  kräftigem  Protestantenhaß  erfüllte  „Kontroverskatechismus" 
Perrones  erst  1860  deutsch  erschienen  ist. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  575 

Papst  wie  das  allgemeine  Konzil. i)  Auch  läßt  Perrone  die 
Anschauung  von  der  eigenen  Jurisdiktion  der  Bischöfe 
gelten. 2)  Er  lehrt  aber  doch  den  päpstlichen  Universalepi- 
skopat bis  in  seine  letzten  Konsequenzen.  Das  Wesen  des 
Primats  ist  ihm  die  bischöfliche  Gewalt  des  Papstes 
über  die  Gesamtheit  der  Gläubigen,  auch  über  die  Bischöfe^); 
die  Einheit  der  Kirche  sieht  er  nicht  mehr  letzten  Endes 
—  wie  es  der  Deutsche  Möhler  getan  —  in  der  großen  Ge- 
meinschaft der  im  Papste  geeinten  Bischöfe,  sondern  in 
dem  Papste  allein  gegeben  und  gesichert.*)  Mit  besonderem 
Eifer  versucht  Perrone  den  Gallikanismus  aller  Grade  zu 
widerlegen;  dabei  zeigt  er  die,  für  einen  Eroberungszug  in 
Deutschland  doppelt  berechtigte  Mäßigung,  daß  er  selbst 
die  Lehre  von  der  Superiorität  des  Konzils  nicht  ausdrücklich 
als  verwerflich  bezeichnet,  sondern  nur  unter  anderen,  gün- 


1)  Praelectiones,  Bd.  2,  1.  Abteilung,  S.  200,  §  421,  vgl.  S.  201, 
§422,  auch  schon  Bd.  1,  S.  149  ff.,  bes.  155  ff.  (159  §26,  163  §41). 
Darum  stellt  Perrone  in  seinem  Werke  überhaupt  den  Artikel  „De 
tcclesiae  infallibilitate"  den  Darlegungen  „De  Romano  Pontifice" 
voran. 

2)  A.  a.  O.  S.  307,  §  616  läßt  er  den  Einwand  erheben  „Semel 
episcopatii  romani  pontificis  constituto  episcopi  evaderent  totidem 
ejusdem  vicarii  et  ministri,  quod  esset  evertere  ecclesiasticam  hierar- 
chiam  divinitus  institutam",  um  dann  (§617  ff.,  S.  307  ff.)  die  Wider- 
legung zu  versuchen.  Er  sagt  hier  §  619,  S.  308  ausdrücklich,  daß 
die  Bischöfe  ihre  Diözesen  „non  precaria  autoritate,  sed  proprio  et 
ordinär ia"  leiten  (regunt).  Dazu  aber  die  nächste  Anmerkung!  Zwei- 
deutig und  unbestimmt  zeigte  sich  Perrone  auch  früher;  vgl.  Friedrich, 
Gesch.  des  vatik.  Konzils  1,  S.  345  und  561  Anm.  2. 

3)  Vgl.  die  Propositio  S.  300:  Primatus  audoritas  .  .  .  auctoritas 
£St  episcopalis ,  quae  omnes  compleäitur  Christi  fideles  etiam  epi- 
scopos.  Dazu  ebenda  §  603:  Auctoritas  episcopalis  consistit  in  m- 
mediata  et  ordinaria  potestate  pascendi,  regendi  et  guberriandi  gregem 
sibi  commissum.  Die  Einwendungen  §  608,  S.  303  f.  (besonders  zu  be- 
achten sind  Nr.  3  und  namentlich  Nr.  4!)  sucht  Perrone  S.  304  ff. 
zu  widerlegen.  Vgl.  ferner  S.  308 ff.  über  die  Propositio  II:  Romartus 
pontifex  vi  sui  primatus  suprema  auctoritate  gaudet  in  omnes  episco- 
pos  etiam  in  generali  synodo  collectos.  Siehe  auch  die  in  der  nächsten 
Anm.  angeführte  Stelle. 

*)  Vgl.  §606,  S.  303:  ergo  quemadmodum  unitas  ecclesiae  parti- 
cularis  ab  episcopi  supremi  et  universalis  unitate  perpendet  unitas 
ecclesiae  ipsius  universae.  Aus  dieser  Voraussetzung,  die  als  Beweis 
gilt,  werden  dann  §626,  S.  311  „logische"  Folgerungen  gezogen. 


576  Fritz  Vigener, 

stigeren  Meinungen  auch  die  Bellarmins  widergibt,  der  sie  für 
beinahe  häretisch  erklärt  hatte.^)  Perrone  kann  getrost 
in  der  Verwerfung  mild  sein,  da  er  in  der  Lehre  streng  ist. 
In  dem  Kapitel  „De  Romani  Pontifkis  primatus  dotibus" 
ihat  er  in  nüchterner  Bestimmtheit  die  Lehre  von  der  Un- 
fehlbarkeit des  Papstes  fast  genau  in  der  Weise  vorgetragen, 
wie  sie  später  dogmatisiert  worden  ist.^) 

Deutsche  Theologieprofessoren  kurialistischer  Richtung 
haben  sogleich  ihren  Schülern  diese  Dogmatik  als  d  a  s^ 
Lehrbuch  schlechthin  empfohlen.  Freilich  waren  solche 
Theologen  noch  nicht  in  der  Überzahl  und  sie  standen  am 
manchen  Universitäten  mit  ihrer  Meinung  fast  isoliert. 
Aber  es  ist  doch  nur  ein  Beispiel  aus  täglicher  Übung,  wenn 
man  sieht,  wie  der  Dogmatiker  Windischmann  in  München 
dem  jungen  Ketteier  die  Abneigung  gegen  Perrone  auszu- 
treiben versteht^);  es  war  der  Wunsch  dieser  Lehrer,  daß  die 
künftigen  Priester  selbst  die  ganz  orthodoxe,  aber  gerade  in 
der  Entwicklung  der  Unfehlbarkeitslehre  noch  schüchterne 
Dogmatik  Klees*)  gegen  die  robusten  Selbstverständlich- 
keiten  Perrones  eintauschten.^) 

Auf  dem  Gebiete  der  Dogmatik  blieben  den  deutschen 
Verfechtern  der  Doktrin  die  fremden  Helfer  noch  lange 
unentbehrlich.  Dagegen  hat  am  Ausgange  des  Pontifikates 
Gregors  XVI.  ein  Deutscher  ein  großes  kanonistisches  Werk 
geschrieben,  dessen  treuliche  Hingabe  an  das  Papalsystem 
nicht  zu  übertreffen  war.   Denn  das  darf  man  sagen  von  dem 

1)  §  624,  S.  310  (mit  Anm.  3). 

2)  §731,  S.  358  (vgl.  §725  ff.);  die  von  ihm  „bewiesene"  Pro^ 
positio  lautet:  Romanus  pontifex  ex  cathedra  def intens  in  rebus  fidei 
et  morum  infallibilis  est,  ejusque  dogmatica  decreta,  etiam  antequanf 
accedat  ecclesiae  consensus  sunt  prorsus  irreformabilia. 

8)  Vgl.  Pfülf,  Bischof  V.  Ketteier  (1899)  1,  S.  101. 

*)  Vgl.  oben  S.  567  Anm.  1. 

')  In  Eichstätt  hat  der  sich  zum  Priestertum  vorbereitende  Ket- 
teier noch  Klees  Dogmatik  studiert  (Kettelers  Briefe,  hg.  v.  Raich, 
1879,  S.  98).  Dem  fast  krankhaft  ängstlichen  Windischmann  genügte 
Klee  nicht;  vgl.  seine  Äußerung  in  einem  späteren  Briefe  an  Ketteier 
(ebenda  S.  225).  Ketteier  freilich  hat,  wie  sich  zum  Schrecken  vieler 
zeigen  sollte,  mehr  aus  den  von  Perrone  aufgenommenen  Einwen- 
dungen gegen  die  papalistische  Theorie  gelernt  als  aus  der  Lehre  und 
den  Widerlegungsversuchen  des  römischen  Dogmatikers  selbst. 


I 


Gallikanismus  u.  episk. Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  577 

Kirchenrecht  von  George  Phillips,  das  bei  aller  Gelehr- 
samkeit nicht  selten  aufhört,  ein  wissenschaftliches  Hand- 
buch zu  sein,  um  ein  Buch  de  Propaganda  oboedientia  zu 
werden. 

In  Phillips  verbinden  sich  die  heiße  Hingabe  des  Kon- 
vertiten an  das  neue  Ideal  und  die  romantische  Geschichts- 
und Staatsanschauung  mit  der  Befähigung  zu  konsequenter 
juristischer  Konstruktion.  Das  Studium  des  Kirchenrechts 
war  einst  dem  jungen  Protestanten  zur  Vorschule  des  Katho- 
lizismus geworden*);  jetzt  konnte  er  mit  seinem  kanoni- 
stischen  System  zugleich  seiner  Wissenschaft  und  seiner 
Kirche  danken.  Mindestens  so  stark  wie  der  Wunsch,  die 
Kirche  aus  ihrer  Vergangenheit  heraus  zu  verteidigen,, 
lebte  in  ihm  der  Drang,  die  Gegenwart  zu  beeinflussen,  um 
die  Zukunft  der  Kirche  mit  zu  bestimmen.  Er  sucht  die 
ganze  Kirche  von  dem  zentralen  Punkt,  den  er  im  Papsttum 
gegeben  sieht,  nicht  so  geistig-religiös  als  vielmehr  juristisch- 
verfassungsmäßig zu  begreifen  und  begreifen  zu  lehren. 
Er  erkennt  es  als  die  schwache  Stelle  ihres  Verfassungslebens^ 
daß  der  päpstliche  Universalepiskopat  bestritten  werden 
konnte,  und  es  ist  ihm  schmerzlich,  daß  die  päpstliche  Unfehl- 
barkeit gerade  in  Deutschland  nur  als  Schulmeinung  Gel- 
tung hatte,  nur  im  Programm  bestimmter  Gruppen  und  im 
naiven  Glauben  dunkler  Schichten  lebte.  In  Phillips  selbst 
hat  sich  der  Begriff  der  Kirche  nicht  mit  einem  Male 
zu  der  absolutistischen  Geschlossenheit  erhoben,  in  der 
sein  Kirchenrecht  ihn  bietet.  Auch  Phillips  hat  sich  von  der 
Zeitströmung  tragen  lassen,  die  tatsächlichen  Siege  des  päpst- 
lichen Absolutismus,  die  deutschen  Erfolge  der  Kirchen- 
politik Gregors  XVI.,  die  Vertretung  und  Begünstigung  der 
Unfehlbarkeitslehre  durch  den  Papst  selbst  haben  ihn 
sicherlich  nicht  allein   bestimmt,  wohl   aber  ermutigt,   die 


^)  In  seinem  Nachruf  auf  Jarcke  sagte  Phillips  (Vermischte  Schrif- 
ten 2  [1856],  S.  606):  Jarckes  geist-  und  glaubensvolle  Worte  über  die 
Wahrheit  der  katholischen  Kirche  . . .  wurden  durch  den  Hauch  der 
göttlichen  Gnade  in  mein  Herz  . . .  geweht,  während  zuvordurch 
Studium  der  Geschichte  und  des  Kirchenrechts 
mein  Verstand  für  jene  Wahrheit  empfänglich 
gemacht  worden  war. 


578  Fritz  Vigener, 

papale  Doktrin  in  ihrer  schärfsten  Fassung  zu  lehren. i) 
Seine  Darstellung  der  Deutschen  Geschichte  vom  Jahre  1834 
zeigt  seinen  Kirchenbegriff  bei  unverkennbarer  Hinneigung 
zum  Papalsystem  doch  so  weit  durch  historische  Erwägung 
berührt,  daß  er  die  Kirche  als  Republik  mit  monarchisch- 
aristokratischer Verfassung  bezeichnet. 2)  In  seinem  Kir- 
chenrecht aber  bekennt  er  sich  zu  dem  päpstlichen  Absolutis- 
mus in  Jurisdiktion  und  Lehrverkündigung;  er  beruft  sich 
auf  die  Bulle  „Unam  sanctam",  wenn  er  erklärt,  daß  alle 
Mitglieder  der  Kirche  dem  Oberhirtenamte  des  Papstes 
,, übergeben"  und  weder  die  Bischöfe  noch  die  weltlichen 
Fürsten  davon  ausgenommen  seien. 3)  Die  Unfehlbarkeit 
des  kirchlichen  Lehramtes  ist  ihm  im  Grund  nichts  anderes 
als  päpstliche  Unfehlbarkeit.  Das  zu  behaupten,  hat  der 
Jesuit  Perrone  nicht  gewagt;  selbst  Cappellari  gründete  nicht 
geradezu  die  kirchliche  Unfehlbarkeit  auf  die  des  Papstes. 
Phillips  aber  tut  es,  wie  es  dritthalb  Jahrhunderte  zuvor, 
gleichfalls  in  Baiern,  Gregorius  von  Valentia  getan  hatte. 
Ihm  ist  der  Papst  nicht  mehr  lediglich  Träger  der  kirch- 
lichen Unfehlbarkeit,  sondern  vielmehr  ihr  Quell;  auf 
seiner  Unfehlbarkeit  beruht,  da  sie  auf  ihm  steht,  die  der 


1)  Ich  erinnere  daran,  daß  der  1  ^2  Jahrzehnte  zuvor  gallikanisch 
gerichtete  Ferd.  Walter  gleichfalls  unter  dem  Pontifikate  Gregors  XVI. 
nach  dem  Kölner  Kirchenstreite  seine  Hinwendung  zu  einem  ziemlich 
eindeutig  kurialistischen  Kirchenbegriff  bekundete.  Vgl.  oben  S.  551 
Anm,  1. 

2)  Deutsche  Geschichte  von  George  Phillips,  2.  Band  (Berlin 
1834),  S.  215  mit  der  Anmerkung.  Hier  heißt  es  u.  a. :  Die  Leitung, 
Führung  und  Regierung  (der  Menschen,  um  sie  leichter  zur  Seligkeit 
zu  führen)  „wird  vorzugsweise  ausgeübt  von  den  Bischöfen,  welche 
daher  vor  allen  anderen  Mitgliedern  der  Kirche  einen  ausgezeichneten 
und  höheren  Rang  haben;  sie  bilden  daher  in  der  Kirche  ein  aristo- 
kratisches Element.  Aber  alle  Bischöfe  stehen  wiederum,  samt  der 
ganzen  Christenheit,  unter  Einem  Oberhaupt,  dem  Pabste,  welchem 
die  höchste  Leitung  und  Regierung  der  Kirche  zusteht,  und  eben 
hierin  liegt  das  monarchische  Element." 

3)  Phillips,  Kirchenrecht  2  (1846),  S.  173.  Vgl.  S.  171  ff.  übejr 
den  kanonischen  Gehorsam  und  S,  199  ff.  über  die  Pflicht  der  Bi- 
schöfe, die  limirM  apcstolorum  zu  besuchen;  daß  er  auf  jene  „bisher 
wenig  erörterte  Lehre"  und  auf  diese  „wichtige"  Pflicht  näher  ein- 
ging, hat  er  sich,  wie  das  Vorwort  zeigt,  als  besonderes  Verdienst  an- 
gerechnet. 


Gallikanismus  u.  episk.  Strömungen  im  dtsch.  Katholizismus  etc.  579 

Kirche.*)  So  erscheint  Phillips  wie  ein  deutscher  de  Maistre: 
dieselbe  Idee  des  päpstlichen  Absolutismus  in  der  Kirche, 
dieselbe  Gleichsetzung  von  Kirche  und  Papst,  nur  daß 
Phillips  durch  juristische  und  kirchlich-verfassungsrechtliche 
Einsicht  und  Erwägungen,  nicht  durch  politisch-absoluti- 
stische Ideen  bestimmt  wird,  und  daß  das  leicht  bewegliche 
und  gewandte  wälsche  Wesen  in  die  wuchtigere,  tiefer  grei- 
fende, gelehrtere,  schwerfälligere  deutsche  Art  umgesetzt 
ist.  Sie  zeigt  sich  zuletzt  auch  darin,  daß  Phillips  erklärt^), 
seine  Darlegungen  über  die  Unfehlbarkeit  des  Papstes  ent- 
hielten nur  eine  auf  den  gewichtigsten  Gründen  ruhende 
Meinung,  nicht  einen  formulierten  kirchlichen  Glaubenssatz. 
Diese  etwas  kleinlaut  klingende  Bemerkung  war  indes  ein 
unschädlicher  Vorbehalt,  ja  im  Sinne  des  Verfassers  auch  ein 
Ansporn  zur  Lösung  der  offenen  und  doch  in  der  Meinung 
der  Kurie  und  der  Kurialisten  längst  entschiedenen  Frage. ^) 
Phillips  hat  länger  als  ein  Jahrzehnt  eine  juristische 
Professur  in  München  innegehabt;  so  konnten  er  und  der 
Theolog  Windischmann  einander  in  die  Hände  arbeiten.  Der 
Einfluß  seiner  weltgewandten  und  eindrucksvollen  Persönlich- 
keit ging  weit  über  den  akademischen  Lehrbetrieb  hinaus.*) 
Im  Görreskreise^)  hatte  Phillips  etwas  zu  bedeuten,  und  als 
Mitherausgeber  der  Historisch-Politischen  Blätter  konnte  er 

^)  Ebenda  312.  —  Vgl.  314 f.:  Päpstliche  Entscheidung  ist  ebenso 
wahr,  wie  jene,  die  Petrus  gab,  ebenso  kräftig,  ebenso  gültig;  sie  ist 
es  durch  sich  selbst  und  braucht  . . .  nicht  erst  durch  die  Kirche  oder 
den  Episkopat  bestätigt  zu  werden,  . . .  Nicht  die  Kirche  also  gibt 
dem  Papste  Gewißheit,  sondern  sie  empfängt  sie  von  ihm,  denn  sie 
steht  auf  ihm  als  auf  dem  Fundament,  nicht  er  auf  ihr."  Wie  andere 
Infallibilisten  stützt  sich  Phillips  z.  T.  auf  Ballerini;  Ballerinis  „Vin- 
diciae"  gegen  Febronius  sind  im  folgenden  Jahre  (1847)  neu  heraus- 
gegeben worden  (v.  Schulte,  Gesch.  der  Quellen  3  I,  517). 

2)  S.  340. 

»)  Phillips  erwartete  diese  Lösung  wohl  durch  eine  Erklärung 
des  Papstes  selbst.  Sonst  wäre  es  wenigstens  recht  unklug  von  ihm, 
zu  sagen  (a.  a.  O.  S.  260  Anm.  26),  in  Glaubenssachen  könne  die 
Majorität  eines  ökumenischen  Konzils  über  nichts  entscheiden.  1870 
dachte  er  freilich  über  diese  „Majorität"  anders. 

*)  Auch  die  baierische  Regierung,  d.  h,  Abel,  war  seinen  Einwir- 
kungen zugänglich.  Vgl.  das  Urteil  Diepenbrocks  bei  Reinkens,  Die- 
penbrock  S.  357. 

»)  Vgl.  Bergsträßer  im  Oberbayer.  Archiv  56  (1912). 


580  Fritz  VJgener, 

$eine  Gedanken  einem  großen,  lernbegierigen  und  leitungs- 
bedürftigen Publikum  zuführen.  Die  besonderen  Aufgaben 
der  Zeitschrift,  der  übrigens  Görres,  nicht  Phillips  das 
Beste  gab,  forderten  freilich  zunächst  mehr  die  Befehdung 
Preußens  und  der  Protestanten  als  die  Behandlung  der  großen 
innerkirchlichen  Fragen.  Aber  indem  die  Historisch-Poli- 
tischen Blätter  die  Kampfesstimmung  des  dem  Kurialismus 
so  überaus  günstigen  Kölner  Kirchenstreites  wachhielten, 
indem  sie  die  katholische  Kirche  als  die  gottgesetzte  These, 
die  Reformation  als  die  gottzugelassene  Antithese  hin- 
stellten^),  haben  sie  jenen  kraftbewußten  und  angriffslustigen 
Katholizismus  mächtig  gefördert,  der  sich  unmittelbar  auf 
die  Kurie  stützte  und  dessen  Bekenner  schon  darum  geneigt 
waren,  auch  die  kurialistischen  Doktrinen  gutzuheißen  und 
zu  vertreten. 

Das  alles,  unmittelbar  oder  mittelbar,  ist  die  Wirkung 
des  Pontifikates  Gregors  XVI.  Die  ersten  bedeutenden  An- 
sätze einer  erfolgreichen  Propagierung  des  geschlossen  papa- 
listischen  Kirchenbegriffs  haben  sich  im  damaligen  Deutsch- 
land also  nicht  so  unter  französischem,  wie  vielmehr  italieni- 
schem, römischem,  päpstlichem  Einfluß  vollzogen.  Daß  die 
katholische  Bewegung  Deutschlands  auch  schon  im  ersten 
Drittel  des  19.  Jahrhunderts  dem  französischen  Vorbild 
viel  verdankt,  ist  unbestreitbar.  Aber,  wenn  schon  die  um- 
bildende Kraft  der  kirchlichen  Gedanken  de  Maistres,  des 
jungen  Lamennais  und  Lacordaires  im  allgemeinen  neuer- 
dings wohl  zu  hoch  angeschlagen  worden  ist,  so  darf  die 
Bedeutung  ihrer  Einwirkung  bei  einer  Betrachtung  der 
Fragen,  die  uns  hier  beschäftigen,  vollends  nicht  überschätzt 
werden.  Vielmehr  ist  nicht  allein  unter  Gregor  XVI., 
sondern  ganz  wesentlich  auch  durch  ihn  Bresche  gelegt 
worden  in  den  Wall,  der  die  Theologie  Deutschlands  in  Lite- 
ratur und  Lehre  fast  völlig  von  den  konsequent  kurialisti- 
schen Doktrinen  abgeschlossen  hatte.  Noch  in  den  zwanziger 
Jahren  konnten  in  Deutschland  führende  Geister  des  streng- 
gläubigen Katholizismus  erklären,  die  Anschauung  von  der 
Unfehlbarkeit  des  Papstes  habe  mit  der  Kirchenlehre  nichts 


I 


1)  Historisch-politische  Blätter  2  (1838),  S.  418  f.,  428. 


Gallikanismus  u.episk.  Strömungen  im  dtsch.Katholizismus  etc.  581 

ZU  tun.^)  Solche  scharf  abweisende  Stimmen  sind  in  diesem 
Lager  nicht  mehr  laut  geworden,  seitdem  der  Papst  selbst 
sich,  und  doch  nicht  nur  mit  seiner  theologischen 
Autorität,  für  die  Lehre  eingesetzt  hatte.  Gewiß,  auch  in- 
mitten seiner  kirchenpolitischen  Siege  hat  es  Gregor  XV  L 
nicht  vermocht,  die  Macht  der  gegnerischen  Überlieferung 
zu  überwältigen;  aber  sie  ist  eingeschränkt  worden,  die 
Polemik  gegen  die  Doktrin  wird  gedämpft,  fast  verstummt 
sie;  die  deutschen  Vorkämpfer  der  Lehre  dürfen  kühner 
ihr  Haupt  erheben,  da  ihre  Anschauung  sich  deckt  mit  der 
ausgesprochenen  Gesinnung  des  Papstes.  So  erscheinen  die 
Erfolge  Gregors  XV  L  auch  hier  als  die  Grundlage  der  ent- 
scheidenden Erfolge  Pius  IX.;  er  hat  ganz  unmittelbar  d  e  m 
vorgearbeitet,  was  dem  Pontifikate  seines  Nachfolgers  den 
eigentlichen  kirchlichen  Inhalt  geben  sollte.  Freilich,  es 
bedurfte  noch  der  geduldigen  Arbeit  eines  halben  Menschen- 
alters, es  mußten  sich  jene  von  der  Februarrevolution  aus- 
gehenden Wandlungen  vollziehen,  die  niemand  rascher  und 
geschickter  genutzt  hat  als  die  katholische  Kirche,  ehe 
Pius  IX.  auch  den  stillen,  aber  tiefgegründeten  Widerstand 
im  Episkopat  überwinden  konnte.  Erst  die  vatikanische 
Konstitution  „Pastor  aeternus"  hat  der  inneren  Kirchen- 
politik der  Päpste  den  krönenden  Abschluß  verliehen.  Aber 
das  Vaticanum  bezeichnet  nicht  nur  den  glänzendsten 
Triumph  des  lebenden  Pius;  es  ist  zugleich  ein  Sieg  des 
toten  Gregor. 

>)  Vgl.  oben  S.  549  ff. 


Zur  Beurteilung  Rankes. 

Von 

Friedrich  Meinecke. 


Leopold  V.  Ranke  als  Politiker.  Historisch -psychologische  Studie 
über  das  Verhältnis  des  reinen  Historikers  zur  praktischen 
Politik.  Von  Otto  Diether.  Leipzig,  Duncker  <S  Humblot. 
19n.    XV  u.  615  S. 

Weltbürgertum  und  Nationalstaat.  Studien  zur  Genesis  des  deut- 
schen Nationalstaats.  Von  Friedrich  Meinecke.  2.  Aufl. 
München  und  Berlin,  R.  Oldenbourg.     VllI  u.  515  S. 

Ranke  hat  immer  noch  nicht  aufgehört,  der  große,  ja 
rfer  größte  Lehrer  unserer  Wissenschaft  zu  sein,  aber  er 
beginnt  daneben  etwas  ganz  Neues  zu  werden,  ein  großes 
geistesgeschichtliches  Phänomen,  das  wir  aus  geschichtlicher 
Distanz  und  mit  geschichtlichen  Erkenntnismitteln  zu  be- 
greifen versuchen.  Das  beanspruchte  schon  Lamprecht  vor 
1/4  Jahrzehnten  zu  leisten,  als  er  den  Methodenstreit  gegen 
die  sogenannten  Jungrankianer  führte  und  sie  als  Epigonen 
eines  großen,  aber  veralteten  und  überwundenen  Meisterscha- 
rakterisieren  zu  können  glaubte.  Sein  Versuch  mußte  schei- 
tern, weil  er  nicht  vom  reinen  Erkenntnisbedürfnis,  sondern 
von  dem  praktischen  Bedürfnis,  sich  selbst  auf  den  Stuhl 
des  Meisters  zu  setzen,  ausging.  Dem  Verfasser  des  oben- 
genannten Buches  über  Ranke  liegen  solche  Velleitäten  fern. 
Er  ist  ein  Anfänger,  dessen  Buch  nur  seine  erweiterte  Disser- 
tation bildet.  Er  ist  ein  sehr  begabter  Vertreter  der  aller- 
jüngsten    Generation   deutscher    Historiker,    die   eben   erst 


Zur  Beurteilung  Rankes.  583 

in  unsere  Arbeitsgemeinschaft  eintritt,  und  da  die  Älteren 
es  sich  nie  verdrießen  lassen  dürfen,  die  eben  keimenden 
Regungen  der  Selbständigkeit  in  ihrem  Nachwüchse  zu 
beobachten,  so  hat  es  einen  eigenen  Reiz,  dieselben  Waffen, 
die  Diether  gegen  Ranke  kehrt,  auch  gegen  ihn  zu  kehren, 
sein  Buch  so  historisch  wie  möglich  zu  nehmen  und  als 
Produkt  des  20.  Jahrhunderts  und  der  jüngsten  Jugend  zu 
begreifen.  Daß  es  auch  in  seiner  Form  an  gewöhnlichen 
Jugendfehlern  leidet,  überflüssig  breit  geraten  und  nicht 
immer  wählerisch  in  Sprache  und  Ausdrucksmitteln  ist, 
wollen  wir  nur  nebenher  anmerken.  Es  hat  dafür  auch  alle 
Vorzüge  jugendlicher  Vitalität,  energischen  Ringens  nach 
neuer  und  tieferer  Anschauung  und  freudigen  Schwelgens 
in  ihr.  ,,Man  liebt",  um  mit  Ranke  zu  sprechen,  ,, Jugend- 
lichkeit und  Frische,  selbst  wenn  sie  mit  einigen  Mängeln 
verbunden  ist." 

Inwieweit  nun  auch  das,  was  uns  an  dem  Inhalte  des 
Buches  nicht  gefällt,  auf  bloße  Jugendlichkeit  oder  auf 
modernste  Denkweise  zurückzuführen  ist,  läßt  sich  heute 
noch  nicht  übersehen.  Ich  neige  zu  der  Meinung,  daß 
Diether,  von  dem  wir  noch  etwas  erhoffen  dürfen,  in  10  oder 
20  Jahren  vieles  anders  auffassen  wird.  Aber  der  Grund- 
fehler, den  ich  ihm  vorwerfen  möchte,  hat  charakteristische 
Analogien  auf  anderen  Gebieten  moderner  Literatur-,  Kunst- 
und  Kulturbetrachtung,  wie  sie  sich  heutzutage  in  den 
Revuen  und  Feuilletons  der  Ästheten  und  der  sog.  Kultur- 
politiker regt  und  nunmehr,  wie  es  scheint,  Einlaß  in  die 
Wissenschaft  sucht.  Man  trifft  hier  auf  eine  starke  Neigung, 
große  Kulturerscheinungen  zu  stilisieren  und  auf  über- 
raschende und  einheitliche  Formeln  zu  bringen.  Zwar  pflegt 
man  dabei  ursprünglich  auszugehen  von  einer  oft  bohrenden 
Analyse  ihrer  besonderen  Einzelzüge,  von  einer  beinahe 
ungeduldigen  Durchwühlung  und  Zerfaserung  ihres  kom- 
plizierten Inhaltes,  aber  die  Ungeduld  treibt  dann  auch  zu 
raschen  Resultaten,  zu  starken,  übertreibenden  Umrissen, 
die  den  verwickelten  Inhalt  wieder  zu  packender  und  ein- 
heitlichster Anschauung  bringen  sollen,  und  zur  Ignorierung 
dessen,  was  den  einmal  gewonnenen  Eindruck  stören  könnte. 
Man  versucht  das  Bedürfnis  der  Analyse  und  der  Synthese 


584  Friedrich  Meinecke, 

geradezu  krampfhaft  miteinander  zu  vereinigen.  Wer  sicii 
etwa  an  Friedrich  Naumanns  Art  erinnert,  historische  Dinge 
zu  begreifen  und  zu  malen,  weiß,  was  ich  meine.  Alle 
Fähigkeiten  und  Schwächen,  alle  Leiden  und  Wünsche 
unserer  aufgewühlten  Zeit  mit  ihrer  Unrast  und  ihrem 
Lebensdrange,  ihrem  Hin  und  Her  zwischen  breitester  Ex- 
pansion und  straffster  Zusammendrängung,  spiegeln  sich 
in  dieser  Methode.  Die  reinere  und  ruhigere  Wissenschaft 
Avird  sich  sagen  müssen,  daß  auch  sie,  da  sie  von  dem  Leben 
ihrer  Zeit  nicht  losgelöst  sich  denken  kann,  bis  zu  gewissem 
Grade  hineingerissen  werden  kann  in  diese  Strömung;  sie 
wird  vielleicht  sogar  manchen  neuen  Erkenntnisgewinn  von 
ihr  zu  erwarten  haben;  aber  sie  muß  sich  hüten,  sich  ihr 
zu  weit  hinzugeben,  weil  die  Gefahr  einer  vorschnellen  Ver- 
gewaltigung der  Dinge  hier  allerwegen  lauert. 

Mit  dem  Dietherschen  Buche  mich  auseinanderzusetzen, 
habe  ich  deswegen  noch  eine  besondere  Veranlassung,  weil 
sich  der  Verfasser  auch  mit  meinem  Buche,  das  in  seinen 
Gegenständen  streckenweise  mit  dem  seinen  zusammentrifft, 
in  der  Vorrede  auseinandersetzt.  Trotz  der  freundlichen 
Anerkennung,  die  er  mir  zollt,  läßt  er  doch  erkennen,  daß 
die  von  ihm  gezeichnete  Entwicklungsreihe  ihm  wesentlicher 
und  wichtiger  zu  sein  scheint,  wie  die  von  mir  gezeichnete. 
Während  ich  mich  —  so  meint  er  —  mit  dem  Wechsel  ge- 
danklicher Gebilde  beschäftige,  wolle  er  an  dem  Beispiele 
Rankes  und  der  Zeiten,  in  die  Rankes  Leben  hineinragt, 
den  Wandel  im  Unterbewußtsein  der  Generationen  auf- 
weisen, den  „Übergang  von  reiner  Denker-  und  Dichter- 
leidenschaft zu  absolutem  politischen  Wollen".  Während 
ich  Ranke  und  Bismarck  in  einem  Kapitel  zusammenfasse 
als  diejenigen,  die  das  universalistische  Gespinst  der  poli- 
tischen Romantik,  der  Restaurationszeit  durchbrachen  und 
die  autonome  Realpolitik  des  modernen  Nationalstaates 
zur  Geltung  brachten,  sieht  er  von  seinem  Standpunkte 
aus  Ranke  und  Bismarck  eher  als  Gegenfüßler  wie  als  Geistes- 
genossen an.  ,,Denn  während  der  eine  sein  politisches  Wollen 
von  den  Bedürfnissen  reinster  Erkenntnisleidenschaft  ab- 
leitet und  tragen  läßt,  schreibt  bei  dem  anderen  gerade 
umgekehrt  die  titanische  politische  Leidenschaft  der  histo- 


Zur  Beurteilung;  Rankes.  585 

risch-politischen  Einsicht  ihre  Art  und  ihren  Umfang  vor." 
Ich  muß  ihm  zunächst  entgegenhalten,  daß  ich  keineswegs 
nur  den  Wechsel  gedanklicher  Gebilde  und  die  Auswirkung 
intellektueller  Kräfte  darstellen  wollte.  Wenn  Diether 
meint,  daß  die  Welt  der  ,, esoterischen  Ideen"  eingeengt, 
umgestaltet  und  beherrscht  werde  von  einer  anderen  Welt, 
die  ich  ignoriert  habe,  von  der  Welt  der  „oft  dunklen  Mächte 
des  Empfindens  und  Wollens"  — ,  so  antworte  ich,  daß  ich 
unter  ,,  Ideen"  eben  mehr  verstehe,  als  Diether  annimmt. 
Historische  Ideen  sind  nicht  bloße  Gedanken,  sind  in  erster 
Linie  vielmehr  Tendenzen,  an  denen  die  Bedürfnisse  des 
Willens  und  Gefühls  im  Grunde  mehr  Anteil  haben  als  der 
Intellekt.  Und  der  ganze  Befreiungs-  und  Reinigungsprozeß 
der  nationalen  Ideen,  den  ich  zu  zeigen  versuchte,  bedeutet 
ja  gerade  eine  allmähliche  Erstarkung  der  politischen  und 
nationalen  Energien  zu  dem  Ergebnis  hin,  daß  die  volle 
Selbstbestimmung  des  nationalen  Staatswillens  errungen 
wird.  Das  Mißverständnis  Diethers  rührt  daher,  daß  ich 
diesen  gewaltigen  Umbildungsprozeß  lediglich  auf  dem 
schmalen  Gratwege  verfolge,  den  die  Tendenzen  der  großen 
politischen  Denker  Deutschlands  darstellen,  und  daß  ich, 
mit  erlaubter  Abbreviatur,  meist  nur  von  ihren  ,, Gedanken" 
spreche.  Was  ich  in  Wahrheit  darstellen  wollte,  ist  die  all- 
mähliche Wandlung  und  Erneuerung  des  Lebensblutes  in 
diesen  Gedanken,  überhaupt  ihr  Zusammenhang  mit  Leben 
und  Persönlichkeit. 

Aber  Diether  meint  ferner,  daß  ich  der  Massenbewegung 
zu  wenig  Aufmerksamkeit  geschenkt  habe.  „Wenn  auch 
die  plumpe  Öffentlichkeit",  sagt  er  S.  VIII,  „für  die  Fort- 
bildung der  rein  geistigen  Ideen  direkt  nur  wenig  leistet,  so 
bringt  sie  doch,  indem  sie  sich  in  immer  tieferen  Schichten 
mit  politischem  Wollen,  mit  politischer  Massenenergie  in 
Ihren  verschiedenen  Erscheinungsformen  erfüllt,  historische 
Wirkungen  von  ganz  gewaltiger  Art  hervor.  Dieses  neue 
liberale  und  nationale  Massenwollen  stellt  dem  19.  Jahr- 
hundert überhaupt  erst  seine  eigentümlichen  politischen 
Aufgaben,  mit  welchen  sich  jene  Denkergehirne  theoretisch 
abmühen."  Kollektive  und  individuelle  Faktoren  des  Ge- 
■schehens  gegeneinander  abzugrenzen,  wird  in  exakter  Weise 

Historische  Zeitschrift  (Hl.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  38 


"586  Friedrich  Meinecke, 

niemals  möglich  sein,  wird  immer  nur  eine  Saclie  des  histo- 
Tischen  Taktes,  der  gesamten  Bildung  und  Lebenserfahrung,, 
der  jeweiligen  Entwicklungsstufe,  auf  der  die  Persönlichkeit 
des  Forschers  steht,  sein.  Ich  bekenne  gern,  daß  ich  heute 
die  Bedeutung  der  kollektiven  Mächte  höher  zu  schätzen 
geneigt  bin  als  vor  20  Jahren,  —  insbesondere  ihre  kausale 
Bedeutung.  Von  der  ungeheuren  Masse  des  durch  Ursache 
und  Wirkung  miteinander  verknüpften  menschheitlichen 
Geschehens  ist  aber  nur  ein  kleiner  Teil  historisch  wertvoll^ 
und  innerhalb  dieses  kleinen  Ausschnittes,  den  wir  allein 
zu  untersuchen,  zu  verstehen  und  darzustellen  bemüht  sind,, 
können  die  individuellen  Faktoren  einen  verhältnismäßig 
hohen  Erkenntniswert  beanspruchen.  Ich  habe  das,  was 
Diether  „theoretische  Bemühungen  der  Denkergehirne" 
nennt,  vor  allem  deswegen  herausgehoben  und  der  Betrach- 
tung unterworfen,  weil  ich  in  diesen  Ideen  der  geistigen. 
Führer  der  Nation  allerdings  einen  unvergleichlich  hohen, 
Kulturwert  sehe,  der  unter  allen  Umständen  anzuerkennen 
ist,  ganz  unabhängig  zunächst  von  der  Frage,  wie  er  kausal 
entstanden  ist,  ob  mehr  durch  Eigenleistung  der  einzelnen,, 
ob  mehr  durch  Zusammenwirken  vieler,  —  ganz  unabhängig 
ferner  auch  von  der  weiteren  Frage,  in  welchem  Umfange 
diese  Ideen  ihrerseits  kausal  weiter  gewirkt  haben.  In  den 
ehernen  Kausalzusammenhang  reiht  sich  das  Größte  wie  das 
Kleinste  im  Leben  ein,  aber  das  Größte  gehört  zugleich  noch 
einem  anderen  Zusammenhange  an,  eben  dem  der  großen 
Kulturwerte,  deren  Betrachtung  und  Würdigung  uns  von 
der  Qual  der  bitteren  Erkenntnis  erlöst,  daß  auch  alles 
geistige  Geschehen  eingespannt  ist  in  den  Mechanismus  des. 
allgemeinen  Naturverlaufes. 

Ich  meine  aber  weiter,  daß  innerhalb  des  nach  Wert- 
gesichtspunkten abgesteckten  Arbeitsgebietes  der  Geschichte 
den  individuellen  Faktoren  auch  eine  verhältnismäßig  große 
kausale  Bedeutung  zukommt.  Im  vorliegenden  Falle  kann 
ich  also  der  apodiktischen  Fassung  Diethers,  daß  erst  das 
neue  Massenwollen  dem  deutschen  19.  Jahrhundert  seine 
eigentümlichen  politischen  Aufgaben  gestellt  habe,  nicht 
ohne  Einschränkung  zustimmen.  Diese  „eigentümlichen  poli-^ 
tischen  Aufgaben"  sind  vielmehr  erwachsen  aus  einem  sehr 


Zur  Beurteilung  Rankes.  587 

komplizierten  Zusammenwirken  von  Massenregung,  Be- 
dürfnis der  Staaten  und  Leistung  der  einzelnen.  Selbst  wenn 
man  annähme,  daß  auch  der  Inhalt  der  neuen  Aufgaben 
wesentlich  schon  bestimmt  würde  durch  die  Lebensregungen 
in  den  breiteren  Schichten  der  Nation,  so  ist  doch  ihre  geistige 
Klärung,  ihre  wirksamste  Vertretung  und  ihre  praktische 
Durchführung  in  der  Regel  das  Werk  einzelner  bedeutender 
Individuen.  Ich  bin  aber  geneigt,  in  diesem  Falle  ihrer 
Leistung  noch  mehr  zuzuschreiben.  Was  Fichte  und  die 
Romantiker  in  der  Zeit  der  Befreiungskriege,  was  Hegel, 
Ranke  und  Bismarck  in  der  Übergangszeit  von  der  Speku- 
lation zum  Realismus  auch  zum  Inhalte  der  politischen  und 
nationalen  Ideale  des  deutschen  Volkes  beigetragen  haben,, 
ist  ganz  gewaltig.  Dabei  weiß  ich  sehr  wohl  und  habe  es 
auch  betont  (S.  271),  daß  die  hochgelegenen  Quellen  dieser 
Ideale  zum  breiten  Strome  nur  werden  können  durch  die 
unzähligen  konvergierenden  Zuflüsse  aus  den  verschiedenen 
Schichten  des  Volkslebens.  Die  Untersuchung  dieser  Massen- 
strömungen ist  eine  große  und  wichtige  Aufgabe  für  sich, 
an  der  jetzt  von  vielen  Seiten  mit  Eifer  und  Erfolg  gearbeitet 
wird.  Aber  es  ist  bezeichnend  und  rechtfertigt  zugleich  meine 
Methode,  daß  die  instruktivsten  Einzelarbeiten  dieser  Art^) 
in  der  Regel  anknüpfen  an  bestimmte  einzelne  Persönlich- 
keiten und  Kreise.  Überall,  wo  man  in  den  Grund  und 
Ursprung  der  Massenbewegungen  einzudringen  versucht  — 
und  welche  Epoche  böte  dafür  reichere  Möglichkeiten  als 
das  19.  Jahrhundert  — ,  stößt  man  nicht  nur  auf  die  Wir- 
kungen vorhandener  Zustände,  Einrichtungen  und  Über- 
lieferungen, sondern  auch  auf  die  belebenden  Impulse  ein- 
zelner Persönlichkeiten.  Der  Begriff  der  ,, Massenbewegung" 
und  der  „kollektiven  Kräfte",  mit  dem  wir  zu  operieren 
pflegen,  ist  ja  wissenschaftlich  unentbehrlich,  um  die  großen 
Einheiten  zu  bezeichnen,  die  aus  dem  Konflux  unzähliger 
Einzelkräfte  entstehen,  aber  ist  bei  Licht  besehen,  doch 
zugleich  auch  nur  eine  Abbreviatur,  die  den  Ursprung  dieser 
Einheiten  nur  summarisch  zum  Ausdruck  bringt  und  deshalb 

*)  Ich  verweise  z.  B.  auf  die  kürzlich  erschienene  vorzügliche 
Untersuchung  G.  Mayers  über  den  vormärzlichen  Radikalismus  in 
Preußen;  Zeitschrift  für  Politik  VI,  1, 

38* 


588  Friedrich  Meinecke, 

leicht  zu  mißbräuchlicher  Anwendung  führt.  Innerster  Kern 
alles  geschichtlichen  Lebens  ist  und  bleibt,  wenn  man  dies 
Wort  Rankes  im  Sinne  moderner  Erfahrungen  interpretiert, 
„lebend  Leben  des  Individuums", 

Zu  diesen  modernen  Erfahrungen  gehört  insbesonders 
auch  die  genauere  Würdigung  dessen,  was  Diether  das 
,, Unterbewußtsein",  die  Sphäre  der  dunklen  triebartigen 
Willens-  und  Gefühlsregungen  nennt,  und  die  erste  Auf- 
gabe seines  Buches  ist,  das  Unterbewußtsein  Rankes  in  seinem 
Werden  und  seiner  Eigenart  zu  erklären.  Ranke  wurzelt, 
so  ist  seine  Hauptthese,  durchaus  im  Boden  des  deutschen 
18.  Jahrhunderts,  des  „intellektualistischen"  Geisteslebens 
„autonomer"  Denker  und  Dichter.  Ich  vermisse  zunächst 
eine  genaue  Inhaltsbestimmung  des  vom  Verfasser  bis  zum 
Überdruß  gebrauchten  Schlagwortes  „autonom".  Bald 
scheint  es  die  einseitige  Herrschaft  des  Intellektes  und  die 
Fernhaltung  trübender  Leidenschaften  und  Willensregungen 
aus  der  reinen  Sphäre  des  intellektuellen  Schaffens  bezeichnen 
zu  sollen,  bald  den  souveränen  Individualismus,  der  sich 
seitab  vom  Staate  hält.  Diese  Unklarheit  und  Zwiespältig- 
keit der  Bedeutung  zieht  sich  durch  das  ganze  Buch  und 
trübt  nicht  selten  auch  die  einzelnen  Urteile  des  Verfassers. 
Vorwiegend  aber  wird  das  „intellektualistische  18.  Jahr- 
hundert" gegen  das  ,,voluntaristische  19.  Jahrhundert"  aus- 
gespielt, und  Ranke  wird,  wie  gesagt,  in  das  erstere  verwiesen. 
Der  „Intellektuelle",  heißt  es  in  mannigfachen  Variationen, 
erschrickt  vor  dem  neuen  Zeitgeiste  mit  seinen  Massen- 
leidenschaften; die  wahre  Eigenart  des  Jahrhunderts  bleibt 
ihm  ewig  fremd.  Es  ist  etwas  Richtiges  daran,  aber  es  ist 
ungebührlich  übertrieben.  Es  ist  ganz  richtig,  daß  Ranke, 
als  er  in  der  Historisch-politischen  Zeitschrift  den  Kampf 
gegen  die  Tagestheorien  des  Liberalismus  und  der  Volks- 
souveränität führte,  das  „Gewand  für  den  Körper  hielt" 
und  die  populären  Gewalten,  die  hinter  jenen  Theorien  standen, 
nicht  voll  würdigte.  Schon  Dove  hat  mit  unvergleichlicher 
Feinheit  den  schwachen  Zug  in  der  Rankeschen  Geschicht- 
schreibung charakterisiert:  „Diese  mächtigen  Ströme  seiner 
Historie  münden  nicht  selten  wie  der  Rhein,  weil  er  Bedenken 
trug,  sie  voll  und  frei  ins  politische  Gewoge  der  modernen 


Zur  Beurteilung  Rankes.  589 

Folgezeit  zu  ergießen."  Daß  Ranke  keine  politische  Leiden- 
schaft hatte,  ist  eine  Binsenwahrheit.  Aber  kann  poHtische 
Leidenschaftslosigkeit  und  reiner,  um  mit  Diether  zu  spre- 
chen, ,, autonomer"  Erkenntnisdrang  hier  nur  aus  den  Nach- 
wirkungen des  deutschen  18.  Jahrhunderts  erklärt  werden? 
Vita  contemplativa  und  vita  activa  sind  zeitlose  Gegensätze 
menschlicher  Geistesart  überhaupt.  Sie  können  zugleich 
auch  einen  zeitgeschichtlich  bestimmten  Charakter  annehmen, 
und  ich  leugne  natürlich  keinen  Augenblick,  daß  die  besondere 
geistige  Welt  des  deutschen  Idealismus,  aus  der  Ranke 
hervorging,  kontemplativ  im  höchsten  Sinne  war.  Ich  leugne 
ebensowenig,  daß  Ranke  ihre  Spuren  allenthalben  an  sich 
trug,  aber  man  soll  dieses  Urteil  nicht  übertreiben  und  nicht 
übersehen,  daß  beschauliche  Denkernaturen  auch  in  be- 
wegteren Zeiten  sich  entwickeln  können.  Burckhardt, 
Justi  und  Dilthey  wuchsen  auf,  umbrandet  vom  Wogen- 
schlage des  19.  Jahrhunderts,  und  haben  doch  ihre  stille 
Insel  in  ihm  gefunden,  von  der  aus  sie  auch  das  Schauspiel 
der  Stürme  ihrer  Zeit  in  sich  aufnahmen.  Es  kann  Ranke- 
naturen zu  jeder  Zeit  geben  —  so  wie  es  sog.  ,, Renaissance- 
menschen" zu  jeder  Zeit  geben  kann.  Die  Sucht  zu  histo- 
rischen Etikettierungen,  die  der  Erforschung  des  Verhält- 
nisses von  Mittelalter  und  Renaissance  gefährlich  geworden 
ist,  hat  auch  die  Dietherschen  Auffassungen  geschädigt. 
Er  hätte  unseres  Erachtens  sich  bei  jedem  einzelnen  Zuge, 
den  er  an  Ranke  charakterisiert,  fragen  müssen,  ob  er  zeit- 
geschichtlichen oder  individuellen,  persönlichen  Ursprunges 
ist.  Wenn  man  beides  auch  nicht  immer  scheiden  kann,  so 
hätte  allein  schon  die  Fragestellung  ihn  behutsamer  stimmen 
müssen. 

Das  voreilige  Abstempeln  und  Etikettieren  gehört  zu 
jenen  modernen  Zeitfehlern,  von  denen  ich  oben  sprach. 
Es  trübt  nicht  nur  den  Blick  für  das  wunderbare  Neben- 
einander von  Zeitlosem,  ewig  Menschlichem,  zu  allen  Zeiten 
Möglichem  und  von  zeitgeschichtlich  Bestimmtem  in  der 
Geschichte,  sondern  es  schwächt  auch  das  Verständnis 
für  die  leisen  kontinuierlichen  Abwandlungen  dessen,  was 
zeitgeschichtlich  bestimmt  ist.  Diether  tut  eine  große  Kluft 
-auf  zwischen  dem  18.  und  dem  19.  Jahrhundert,  er  schweifet 


590  Friedrich  Meinecke, 

förmlich  in  dem  Anblick  dieser  Kluft,  wo  drüben  die  reine 
Stille  des  Denker-  und  Dichterlebens  und  hüben  das  leiden- 
schaftliche Drängen  der  Massen  und  der  Tatmenschen  er- 
scheint. Er  ignoriert  ja  nicht  ganz  die  Verbindungsglieder 
beider  Epochen  und  läßt  sie  auch  bei  Ranke  hier  und  da 
hervortreten,  aber  nicht  mit  dem  Nachdrucke,  den  man 
wünschen  müßte.  Denn  die  Keime  dessen,  was  man  als  eigen- 
tümlich für  den  Geist  des  19.  Jahrhunderts  ansieht,  liegen 
bereits  massenhaft  ausgestreut  im  deutschen  Idealismus 
und  in  der  deutschen  Romantik.  Die  Aufstellung  der  neuen 
ethischen,  politischen  und  nationalen  Ideale  zu  Beginn  des 
Jahrhunderts  und  in  den  Jahren  der  Befreiungskämpfe 
und  ihre  Anwendung  auf  den  preußischen  Staat  ist  nichts 
anderes  als  der  erste  Akt  des  modernen  Realismus  und 
Voluntarismus  in  Deutschland.  Fichte,  Adam  Müller, 
Wilhelm  v.  Humboldt,  so  verschieden  unter  sich  geartet, 
sind  einig  darin,  daß  die  Wissenschaft  nicht  in  reiner  Selbst- 
genügsamkeit verharren  dürfe,  sondern  das  Leben  ergreifen 
und  gestalten  müsse.  Sie  sind  zugleich  diejenigen  Denker, 
deren  Arbeit,  wie  ich  an  einem  einzelnen  Probleme  zu  zeigen 
versucht  habe,  die  unmittelbare  Vorstufe  der  Rankeschen 
Geschichtsauffassung  bildet.  Es  ist  ein  Mangel  des  Diether- 
schen  Buches,  daß  er  diese  Fäden  zwischen  18.  und  19.  Jahr- 
hundert nicht  genügend  beachtet  hat. 

Der  neue  politische  „Tatmensch"  also  war  schon  vor 
Ranke  in  voller  Entwicklung  und  wurde  nicht  nur  von 
den  Denkern  postuliert,  sondern  von  den  Reformern  Preußens 
in  großer  Weise  realisiert.  Reaktion  und  Restauration 
haben  diese  Entwicklung  dann  allerdings  wieder  aufgehalten. 
Zugleich  wurden  die  Geister  der  Tiefe,  die  in  der  französischen 
Revolution  an  das  Licht  gedrängt  hatten,  gebändigt,  die 
Massenbewegungen  niedergehalten  und  alle  alten  aristo- 
kratischen Gewalten  in  Staat  und  Gesellschaft  wieder  zur 
Geltung  gebracht.  Diesen  quietistischen  und  aristokratischen 
Duft  der  Restaurationszeit  hat  Ranke  mit  Behagen  in  sich 
eingeatmet.  Seine  persönliche  Lebensstimmung  und  seine 
eigenen- politischen  Wünsche  behielten  zeitlebens  die  Spuren 
ihres  Geistes.  Daß  dies  auch  von  seiner  Geschichtschreibung 
bis  zu  gewissem  Grade  gilt,  ist  niemals  verkannt  worden. 


Zur  Beurteilung  Rankes.  59t 

Sie  beleuchtet  vorzugsweise  die  Höhen  des  Staatslebens 
und  der  Gesellschaft,  —  nicht  nur,  weil  die  diplomatischen 
und  literarischen  Quellen,  die  er  bevorzugte,  dies  schon 
taten,  sondern  er  bevorzugte  diese  Quellen  wesentlich  auch 
deswegen,  weil  es  ihn  innerlich  immer  hinzog  zu  eben  diesen 
Höhen.  „There  is  a  tendency",  sagt  der  Engländer  Gooch  in 
seinem  eben  erschienenen  Buche  über  die  Geschichtschreibung 
des  19.  Jahrhunderts  (S.  101)  ganz  richtig,  „/o  survey  events 
too  mucfi  from  the  Windows  of  the  council-cliamber,  to  neglect 
ilic  masses,  to  overlook  the  pressure  of  economic  forces."  Nun 
^ber  ist  diese  aristokratisch  sich  abschließende  Welt  der 
'Restaurationszeit,  die  Ranke  umfangen  hielt,  keineswegs 
nur  Restauration  des  18.  Jahrhunderts,  sondern  eine  be- 
sondere Welt  für  sich,  in  der  auch  die  neuen  stärkeren  Im- 
pulse der  Revolutions-  und  Erhebungszeit,  wenn  auch  ge- 
dämpft, weiterlebten.  Das  Wesen  dieser  Zeit  ist  also  eine 
fortwährende  geistige  Auseinandersetzung  und  Wechsel- 
wirkung zwischen  dem,  was  Diether  den  Intellektualismus 
des  18.  Jahrhunderts  und  den  Voluntarismus  des  19.  Jahr- 
hunderts nennt.  Und  obwohl  nun  Diether  im  einzelnen  keines- 
wegs blind  ist  für  diese  Wechselwirkung,  macht  er  sich 
doch  grundsätzlich  nicht  klar,  daß  Ranke  nur  vom  Boden 
dieser  Übergangsepoche,  aber  nicht  von  dem  des  reinen 
18.  Jahrhunderts  aus  zu  verstehen  ist.  Weil  er  ihn 
gewaltsam  in  dieses  zurückzudrängen  versucht,  muß  er  sich 
fortwährend  abmühen,  die  Regungen  des  neuen  Jahrhunderts 
in  ihm  umzudeuten  und  abzuschwächen. 

Er  zitiert  selbst  (S.  233)  Rankes  Wort  über  Capefigues 
Auffassung  der  Bartholomäusnacht:  „Wir  sind  jetzt  geneigter, 
die  Dinge  überhaupt  von  unbewußten  Antrieben  herzuleiten, 
als  von  Absicht  und  vorbedachter  Leitung.  Es  ist  der  Tribut, 
den  wir  unserem  Jahrhundert  zahlen,  wo  die  populären  Be- 
wegungen so  oft  die  Oberhand  behalten  haben."  Aber  er 
verwertet  dieses  Wort  und  die  ihr  vorhergehende  Ausein- 
andersetzung nicht.  Sie  zeigt,  daß  Ranke  grundsätzlich 
bereit  und  imstande  war,  die  Bedeutung  der  Massenbewe- 
gungen anzuerkennen,  und  nur  vor  ihrer  Übertreibung 
warnte:  „Es  ist  gewiß  falsch,  die  Ereignisse  jener  Zeit  allein 
von  Politik  und  dem  Einfluß  der  Persönlichkeiten  herzu- 


592  Friedrich  Meinecke, 

leiten:  die  geistlichen  Antriebe  hatten  noch  eine  eigentüm- 
liche, ihnen  innewohnende  Kraft.  Aber  ebenso  falsch  ist  es> 
diesen  eine  absolute  Herrschaft  zuzuschreiben,  die  Ursachen 
der  Ereignisse  allein  in  der  Meinung  zu  suchen."  Auch  heute 
würde  man  nicht  wesentlich  anders  urteilen  dürfen.  Man 
lese  ferner  Rankes  von  Diether  S.  227  zitierte,  im  Jahre  1834 
geschriebene  Apotheose  des  ,,  Genius  des  Occidentes": 
i,der  die  Völker  zu  geordneten  Armeen  umschafft,  der  die 
Straßen  zieht,  die  Kanäle  gräbt,  alle  Meere  mit  Flotten  be- 
deckt und  in  sein  Eigentum  verwandelt,  die  entfernten  Kon- 
tinente mit  Kolonien  erfüllt,  der  die  Gebiete  des  Wissens 
eingenommen  und  sie  mit  immer  frischer  Arbeit  erneuert", 
—  ist  sie  nicht  zugleich  auch  ein  glänzendes  Bild  der  expan- 
siven Energie  des  19.  Jahrhunderts?  Diether  (S.  248)  gibt 
wohl  auch  zu,  daß  Ranke  den  Wert  politischen  Massenbewußt- 
seins kenne,  aber  seine  „moralische  Energie"  sei  nicht  ein 
leidenschaftliches,  vorwärtstreibendes  Willens-Agens  im  poli- 
tischen Individuum,  sondern  ein  ,, geheimnisvolles,  trans- 
zendentales Etwas,  das  nur  dann  wirksam  wird,  wenn  sich 
Regierende  wie  Untertanen  ihm  gegenüber  in  leidenschafts- 
loser Rezeptivität  verhalten."  Wiederum  eine  unzulässige 
Übertreibung.  Man  nehme  doch  nur  das  ,, Politische  Ge- 
spräch" Rankes  von  1836  zur  Hand.  Die  ,, moralische 
Energie",  die  er  dort  vom  Staatsbürger  verlangt,  soll  dahin 
führen,  daß  „die  Zwangspflicht  sich  zur  Selbsttätigkeit,  das 
Gebot  zur  Freiheit  erhebe".  Diether  selbst  muß  einräumen, 
daß  Ranke  hier  eine  Politisierung  des  Individuums  fordert. 
Wenn  Ranke  seine  politische  Willensforderung  in  vergeistigter 
Sprache  aussprach,  so  gibt  das  noch  kein  Recht  dazu,  sie 
in  das  „Transzendentale"  —  wir  wollen  über  den  irrigen 
Gebrauch  dieses  philosophischen  Begriffs  nicht  mit  dem 
Verfasser  rechten  —  umzudeuten.  Ich  würde  es  geradezu 
für  einen  Verfall  und  für  eine  Unfähigkeit  historischen  Ver- 
stehens  halten,  wenn  man  in  den  Vergeistigungen  der  Ranke- 
schen Ideen  nicht  mehr  den  vollen  Pulsschlag  des  ganzen 
Lebens  spüren  könnte.  Jeder  Kenner  Rankes  weiß,  daß  die 
„moralischen  Energien",  die  er  in  der  Geschichte  aufsucht 
und  darstellt,  nicht  nur  höhere  geistige  Werte,  sondern  auch 
Anspannung  aller  menschlichen    Kräfte  für  sie  umfassen. 


Zur  Beurteilung  Rankes.  593 

„Die  Erforschung  der  Geschichte",  sagt  Ranke  in  seinem 
Aufsatz  über  die  Kammer  von  1815  (S.  W.  49/50,  S.  176), 
„hat  es  mit  Dingen,  die  nicht  leicht  anzufassen,  mit  den 
moralischen  Kräften  und  ihrem  verwickelten,  verborgenen 
Getriebe  zu  tun,"  Das  ist  das  unzweideutige  Bekenntnis 
zu  einer  realistischen,  das  ganze  Spiel  der  geschichtlichen 
Willenskräfte  erfassenden  Geschichtsbetrachtung  und  zu- 
gleich die  unzweideutige  Erkenntnis  ihrer  komplizierten  Ver- 
wurzelungen. Was  Ranke  hier  im  Auge  hat,  umfaßt  auch 
schon  alles  das,  was  Diether  unter  der  „Sphäre  des  Unter- 
bewußtseins" versteht.  Wenn  Ranke  bescheiden  hinzufügt, 
daß  es  der  Forschung  nur  selten  gelinge,  dieses  Dunkel  zu 
erhellen,  so  hat  auch  die  moderne  Wissenschaft  trotz  ihrer 
verfeinerten  Methode  in  der  Analyse  komplexer  und  ,, unter- 
bewußter" Vorgänge  alle  Veranlassung  zu  ähnlicher  Be- 
scheidenheit. Den  Weg  zu  dieser  analytischen  Methode  hat 
gerade  Ranke  schon  gebahnt.  ,,Wäre  es  möglich,"  heißt 
es  in  demselben  Aufsatze  S.  194,  „die  politischen  Parteien 
durch  eine  geistige  Anatomie  bis  in  ihre  geheimsten  Bestand- 
teile zu  zerlegen,  so  würde  man,  glaube  ich,  auf  ein  irrationales 
Element  stoßen."  Damit  leitet  er  über  zu  einer  Charakteri- 
sierung der  blinden  zerstörenden  Leidenschaften,  die  sowohl 
in  der  revolutionären  Bewegung  von  1789,  wie  in  der  royali- 
stischen  Gegenbewegung  des  „weißen  Schreckens"  von 
1815  sich  auswirkten.  Diether,  S.  194,  bemerkt  dazu:  ,,Als 
eigentliche  materia  peccans  erkennt  er  auch  hier  wieder  das 
unheimliche  x,  das  er  sich  immer  erst  auf  Umwegen  kon- 
struieren   muß:    die   politische    Leidenschaft,    zunächst   die 

der  Parteien Dieser  ,, dunkle  vernunftlose  Antrieb'* 

verschuldet  die  Greuel  des  weißen  Schreckens,  er  ist  über- 
haupt der  Quell  alles  politischen  Unheils  im  Staate,  möge 
dieser  eine  Form  haben,  welche  er  wolle."  Wieder  übertreibt 
er  etwas  an  sich  Richtiges.  Wohl  läßt  Ranke  seine  eigene 
politische  Empfindung,  die  den  Exaltados  von  hüben  wie  von 
drüben  gleich  abhold  war,  hier  deutlich  durchschimmern, 
aber  als  Historiker  sieht  er  ihrem  Treiben  scharf  in  das  Auge, 
und  es  kann  gar  keine  Rede  davon  sein,  daß  er  sich  dieses 
„unheimliche  X"  immer  erst  auf  Umwegen  konstruieren 
müsse.   Richtig  ist  auch,  was  Diether  des  weiteren  ausführt. 


594  Friedrich  Meinecke, 

daß  Ranke  seine  Aufmerksamkeit  lieber  den  Bewegungen 
der  Staaten  im  ganzen  als  denen  der  Parteien  widmet.  Aber 
falsch  ist  es,  dies  in  erster  Linie  aus  einer  politischen  Ab- 
neigung Rankes  gegen  die  „subalternen  Egoismen"  der 
Parteien  zu  erklären.  Gewiß  soll  diese  Abneigung  nicht 
geleugnet  werden,  aber  sie  ist  hier  nicht  Ursache,  sondern 
Wirkung  von  etwas  anderem.  Das  primäre  Motiv  ist  viel- 
mehr jener  große  und  fruchtbare  Grundgedanke  der  Ranke- 
schen Geschichtsbetrachtung,  daß  die  zentralen  Träger  der 
politischen  Geschichte  die  Staatsindividualitäten  sind.  Natür- 
lich kennt  auch  Diether  diesen  Gedanken,  aber  er  muß  ihn, 
um  seine  These  von  Rankes  Intellektualismus  und  Fremd- 
heit im  voluntaristischen  19.  Jahrhundert  zu  retten,  um- 
deuten und  verschleiern.  Er  nennt  das  Rankesche  Staats- 
individuum „etwas  geheimnisvoll";  er  meint,  daß  Ranke, 
indem  er  das  Werden  und  Vergehen  der  „großen  Mächte" 
immer  mehr  in  den  Vordergrund  gestellt  habe,  sich  zu  „sub- 
limen Höhen",  hoch  über  alles  poHtische  Parteibedürfnis 
hinaus,  erhoben  habe.  Nun, ,, geheimnisvoll"  ist  das  Rankesche 
Staatsindividuum  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  wie  jede 
andere  historische  Individualität,  vom  einzelnen  Individuum 
angefangen,  und  das  irrationale  Element  in  den  Partei- 
gebilden hat  ja  gerade  Ranke,  wie  wir  eben  hörten,  hervor- 
gehoben. Aber  vielleicht  meint  Diether,  daß  das  „Geheimnis- 
volle" des  Rankeschen  Staatsindividuums  nicht  etwa  irra- 
tionaler, sondern  sagen  wir  einmal  überrationaler,  mystischer, 
transzendenter  Art  sei.  Dann  müßten  wir  ihm  erst  recht 
widersprechen.  Die  Rankeschen  Staatsindividuen  sind  zuerst 
und  vor  allen  Dingen  sehr  reale  und  gewaltige,  immerdar 
wirkende  und  schaffende  Komplexe  von  Energien,  und  Diether 
hat  gar  nicht  erkannt,  daß  Ranke,  indem  er  das  Willens- 
leben der  großen  Mächte  und  Staatspersönlichkeiten  zur 
unvergleichlichen,  nie  vorher  gebotenen  Anschauung  brachte, 
einer  der  größten  Führer  und  Bahnbrecher  des  modernen 
voluntaristischen  Geistes  geworden  ist  —  als  Erkennender 
und  Zeigender  natürlich  nur,  nicht  als  Handelnder.  Ein 
Erkennender  muß,  —  und  mag  seine  Aufmerksamkeit  auch 
den  triebartigsten  Kräften  und  dem  untersten  ,, Unter- 
bewußtsein" zugekehrt  sein  — ,  immer  in  gewissem  Sinne  auf 


Zur  Beurteilung  Rankes.  595 

„sublimen  Höhen"  wandeln,  wenn  er  seiner  Aufgabe  ganz 
gerecht  werden  will.  Wenn  Ranke  nicht  die  Lebenstriebe 
•der  Parteien  und  der  Massen,  sondern  die  Lebenstriebe 
der  Staaten  sich  zu  seinem  Objekte  wählte,  so  spricht  sich 
in  erster  Linie  darin  das  Werturteil  aus,  daß  diese  eben 
geschichtlich  mehr  bedeuten  als  jene.  Aber  ist  dieses  Urteil 
etwa  falsch?  Wohl  sind  die  politischen  Parteien  und  die 
wirtschaftlichen,  sozialen  und  geistigen  Massenbewegungen 
innerhalb  der  Staaten  seit  Rankes  Zeit  immer  stärker,  auch 
für  die  Staaten  selbst  immer  wichtiger  geworden,  —  aber 
sie  haben  dadurch  die  Bedeutung  des  Staatsganzen  nicht 
herabgedrückt,  sondern  eher  noch  gesteigert.  Allen  An- 
sprüchen der  Parteien,  allen  Fluktuationen  der  Massen  gegen- 
über macht  sich  immer  wieder  das  geltend,  was  man  heute 
<iie  „Staatsnotwendigkeit"  nennt  und  im  Rankeschen  Sinne 
den  Lebenstrieb  der  individuellen  Staatspersönlichkeit  nennen 
kann;  und  gerade,  wenn  sie  zur  Herrschaft  im  Staate  gelangen, 
■müssen  die  Parteien  in  gewissem  Grade  aufhören,  Parteien 
zu  sein,  und  anfangen,  dienende  Organe  des  Staates  und 
seiner  geschichtlichen  Überlieferungen  zu  werden.  Jakobiner 
als  Minister,  hat  schon  Mirabeau  gesagt,  sind  keine  Jako- 
hinerminister  mehr.  Und  wenn  auch  der  Ausgleich  zwischen 
Massenleben  und  Staatsleben  immer  schwieriger  wird  und 
die  Gefahren  für  den  Staat  dabei  immer  größer  werden,  so 
wächst  doch  dem  Staate,  der  ihrer  Herr  wird,  auch  neue 
Kraft  zu,  weil  seine  Wurzeln  nun  tiefer  in  das  Erdreich  der 
Nation  gehen  und  seine  Daseinskämpfe  von  Millionen,  statt 
wie  früher  von  Zehn-  und  Hunderttausenden  ausgekämpft 
werden.  Es  ist  nun  ganz  richtig,  daß  Ranke,  umgeben  von 
den  halkyonischen  Zuständen  der  Restauration,  das  volle 
Bild  dieser  gewaltigen  Wechselwirkung  zwischen  Macht 
und  Masse  noch  nicht  hatte  und  schon  deswegen  in  ein 
stärkeres  Interesse  für  das  moderne  Massenleben  nicht  mehr 
hineinwachsen  konnte.  Dafür  hat  er  in  anderer  Hinsicht 
die  Schranken  jener  halkyonischen  Zeit  durchbrochen,  indem 
er  —  ich  darf  hier  an  die  Ausführungen  meines  Buches 
erinnern  —  den  Gedanken  der  unbedingten  staatlichen 
Selbstbestimmung  und  der  realistischen  Machtpolitik  in 
seiner    Geschichtsbetrachtung    wieder    zu    Ehren    brachte 


5%  Friedrich  Meinecke, 

gegenüber    allen    ideologischen    Dogmen    von    rechts    und 
links. 

Freilich  sagt  Diether  (S.  248f.):  „Dieser  Rankesche 
„Kampf"  ist  in  Wahrheit  nur  ein  von  den  „großen  Mächten" 
aufgeführtes  Schauspiel,  angeschaut  mit  den  Augen  des. 
fütellektuellen,  empfunden  mit  seinen  Erkenntnisnerven: 
ein  historisches  Gesetz,  aber  keine  aktive  Willensforderung. 
Dieses  Rankesche  Kampfprinzip  trägt  für  die  Praxis  höch- 
stens defensiven  Charakter."  Die  Farben  zu  diesem  Bilde 
machen  den  Eindruck,  dem  modernen  Ästhetentum  ent- 
nommen zu  sein.  Aber  vor  allem  muß  man  geltend  machen, 
daß  Fragen,  die  man  an  den  Historiker  Ranke  stellt,  nicht 
von  vornherein  mit  solchen  vermischt  werden  dürfen,  die 
an  den  Politiker  in  ihm  zu  stellen  sind.  Rankes  Geschicht- 
schreibung ist  grundsätzlich  rein  kontemplativ.  Gooch 
sagt  mit  Recht,  daß  der  erste  der  Dienste,  den  er  der  Historie 
erwies,  darin  bestand,  to  divorce  the  study  of  the  past  from 
the  passions  of  the  present.  Deshalb  darf  man  von  seiner 
Geschichtschreibung  auch  keine  aktive  Willensforderung 
verlangen.  Genau  ebenso  grundsätzlich  kontemplativ  will 
aber  auch  die  moderne  Geschichtswissenschaft  sein.  Sie 
erklärt  den  Historiker  von  stärkerem  politischen  Tempera- 
ment zwar  nicht  für  unfähig  zu  reiner  historischer  Erkenntnis- 
arbeit, denn  sie  würde  sich  damit  eines  Teiles  ihrer  Wurzel- 
säfte berauben.  Aber  sie  fordert  von  ihm  eine  stetige  strenge 
Selbstprüfung,  ob  die  eigenen  Willensforderungen,  die  ihn 
erfüllen,  nicht  etwa  das  Bild  der  Vergangenheit  trüben. . 
Da  nun  Ranke  dieses  stärkere  politische  Temperament 
nicht  besaß,  so  hat  er  es  als  Historiker  allerdings  leicht 
gehabt,  sich  der  Politik  zu  erwehren;  dafür  aber  hat  er  als 
Politiker  zu  wenig  von  seiner  eigenen  Historie  gelernt  und 
hat  das  Kampfprinzip,  das  er  als  Grunderfahrung  des  ge- 
schichtlichen Staatenlebens  verkündete,  da,  wo  er  zu  handeln 
hatte,  nicht  immer  mit  derjenigen  stählernen  Energie  ver- 
wirklicht, die  er  in  seiner  Geschichtschreibung  so  großartig 
zur  Anschauung  brachte.  Seine  eigene  Praxis  war  also- 
meinethalben,  um  Diethers  Ausdruck  zu  gebrauchen,  „de-^ 
fensiv";  aber  sein  „Kampfprinzip"  war  es  durchaus  nicht. 
Hätte   sich    Diether   auf   die   Aufgabe   beschränkt,    diesen 


Zur  Beurteilung;  Rankes.  597 

Dualismus  des  Rankeschen  Wesens  lierauszuarbeiten,  so 
würden  wir  ihm  rückhaltlos  zustimmen.  Statt  dessen  ver- 
wischt er  ihn  durch  seine  unklare  und  zweideutige  Formu- 
lierung, die  den  Charakter  dieses  Kampfprinzips  und  damit 
auch  die  geistige  Empfänglichkeit  Rankes  für  die  volun- 
taristische  Seite  des  geschichtlichen  Lebens  abschwächt. 

In  den  späteren  Partien  des  Buches  ist  es  Diether  viel 
besser  gelungen,  die  historische  und  die  politische  Seite  des 
Rankeschen  Wesens  auseinander  zu  halten.  Die  Darstellung 
seiner  politischen  Betätigung  unter  Friedrich  Wilhelm  IV. 
ist  zum  Teil  vorzüglich.  Hier  tritt  es  auch  ganz  klar  und 
unwiderleglich  hervor,  daß  die  konservativen  Ideologien, 
die  Ranke  in  seiner  Geschichtsauffassung  überwunden  hatte, 
seine  politische  Praxis  noch  leise  mit  lenken  konnten.  Des- 
wegen konnte  er  sich  so  heimisch  fühlen  im  Kreise  Friedrich 
Wilhelms  IV.,  deswegen  konnte  er  auch  später,  als  er  über 
ihn  historisch  zu  urteilen  hatte,  sich  nicht  ganz  von  dem 
Banne  befreien,  der  seine  politischen  und  persönlichen 
Empfindungen  über  ihn  beherrschte.  Anderseits  war  er 
doch  auch  wieder  in  den  Jahren  1848/50  in  entscheidenden 
Momenten  imstande,  die  Prinzipien  der  Machtpolitik,  die 
€r  als  Denker  verkündigte,  auch  für  die  Praxis  zu  fordern. 
In  der  großartigsten  Weise  hat  er  im  September  1850  inmitten 
der  schwächlichen  Schwankungen  der  Unionspolitik  aus- 
geführt, daß  die  preußische  Politik,  wenn  sie  die  Verbindung 
mit  revolutionären  Elementen  nicht  gescheut  hätte,  zwar 
sich  größten  Gefahren  ausgesetzt  haben  würde,  —  „^ber 
Kühnheit  und  Macht  überwinden  alles".  Was  er  in  der 
damaligen  Situation  dann  forderte,  berührt  sich  aufs  engste 
mit  den  Ansätzen  zu  einer  großpreußisch-konservativen 
Realpolitik,  die  ich  in  meinem  Buche  über  Radowitz  dar- 
zustellen versucht  habe. 

Als  dann  Bismarcks  Erscheinung  aufstieg,  als  er  das 
Kampfprinzip  des  Staates,  das  Ranke  in  der  Geschichte 
nachgewiesen  hatte,  zu  neuer  Geltung  brachte  und  den 
Geist  der  „großen  Mächte"  Rankes  in  sich  inkarnierte 
und  potenzierte,  gingen  in  Ranke  freilich  der  Historiker  und 
der -Politiker  wieder  auseinander.  Diether  zeigt,  daß  Ranke 
über  Bismarck  eine  Art  von  doppelter  Buchführung  trieb 


598  Friedrich  Meinecke, 

Seine  persönlichen  Äußerungen  über  Bismarck,  die  er  zu 
seinem  Amanuensis  Wiedemann  in  den  siebziger  Jahren  tat,, 
klingen  sehr  viel  schärfer  und  ablehnender  als  seine  Tage- 
buchaufzeichnungen, in  denen  er  an  Bismarck  doch  immer 
wieder  seine  alte  Kunst  des  historischen  Verstehens  übte. 
Man  darf  überhaupt  wohl  sagen,  daß  Ranke  als  historischer 
Denker  sehr  viel  größer  war  wie  als  Mensch  und  daß  seine 
politischen  Schwächen  zum  Teil  auf  menschliche  Schwächen 
zurückgingen  —  ähnlich  wie  bei  Gentz.  Ähnlich  wie  dieser 
fühlte  er  sich  am  wohlsten  in  einer  weichlichen  Anlehnung  an 
die  Aristokratie.  Wenn  es  nicht  auch  zu  den  zeitlosen  und 
immer  wiederkehrenden  Erscheinungen  im  Gelehrtenleben 
gehörte,  daß  Mensch  und  Denker  auseinanderfallen  können 
und  daß  über  der  mächtigen  Entwicklung  des  Geistes  das 
Menschlich-Persönliche  oft  zurückbleibt,  so  wäre  man  fast 
versucht  zu  sagen,  daß  diese  Spaltung  von  Mensch  und 
Denker  in  Ranke  mehr  in  das  19.  als  in  das  18.  Jahrhundert 
weist.  Der  klassische  Idealismus  des  18.  Jahrhunderts  ver- 
einigte grundsätzlich  und  praktisch  großes  Denkertum 
und  große,  reiche  und  harmonische  Menschlichkeit.  Das 
19.  Jahrhundert  aber,  das  Jahrhundert  der  Arbeitsteilung, 
machte  den  Menschen  nur  zu  leicht  zur  Funktion  und  zwang 
ihn,  mehr  mit  dem  zu  zahlen,  was  er  leistete,  als  mit  dem, 
was  er  war.  Aber  lassen  wir  es,  wie  gesagt,  dahingestellt, 
ob  Ranke  auch  in  diesem  Wesenszuge  dem  neuen  Jahrhundert 
seinen  Tribut  gezollt  hat.  Mag  man  nun  zugeben,  daß  er 
uns  nicht  das  sein  kann,  was  uns  Goethe,  Schiller  und 
Wilhelm  v.  Humboldt  bedeuten,  so  muß  man  doch  sofort 
geltend  machen,  daß  menschliche  Größe  auch  in  der  Kraft 
liegt,  mit  der  Ranke  sich  über  sich  selbst  hinaus  erhoben  hat. 
Alle  Hüllen  und  Fesseln  streifte  er  ab,  wenn  er  in  das  Heiligtum 
der  Historie  trat.  Das  ist  der  tiefere  Sinn  seines  Wortes, 
daß  er  sein  Selbst  auslöschen  wolle. 

So  war  und  blieb  er  imstande,  als  historischer  Denker 
die  Energie  des  neuen  Jahrhunderts  zu  befruchten  und 
die  ideologischen  Nachwirkungen  des  18.  Jahrhunderts  zu 
tiberwinden,  und  als  einer  dieser  Überwinder  und  Herauf- 
führer einer  neuen  geistigen  Epoche  lebt  er  für  uns  und  in 
der  Geschichte  weiter.    Wohl  jeder  Überwinder  einer  alten 


Zur  Beurteilung  Rankes.  599 

Z^it  aber  trägt  noch  ein  Stück  von  ihr  in  sich.  Indem  wir 
die  Übertreibungen  des  Dietherschen  Buches  zurüci^weisen, 
eri<ennen  wir  sein  Verdienst,  auf  diesen  Rest  des  Alten 
und  überhaupt  auf  jeglichen  Erdenrest  in  Rankes  Wesen 
die  Aufmerksamkeit  gerichtet  zu  haben,  bereitwillig  an. 
Wir  schließen  mit  den  Worten,  in  denen  Ranke  selbst  gegen 
seinen  Bruder  Heinrich  am  28.  November  1874  den  Dualis- 
mus in  sich  zwischen  18.  und  19.  Jahrhundert  und  die  Über- 
windung dieses  Dualismus  durch  die  Anerkennung  der 
neuen  Zeitgewalten  berührte:  ,,Auch  du  bist,  wie  ich,  noch 
ein  Geschöpf  des  vorigen  Jahrhunderts,  und  wie  weit  sind 
wir  nun  in  dem  neunzehnten  vorgerückt!  Es  ist  ein  bedeu- 
tender Teil  der  Weltgeschichte,  was  wir  seitdem  erlebt; 
höchst  unerwartet  die  Wendung,  welche  die  Dinge  gerade 
in  den  letzten  Jahren  genommen  haben.  Es  könnte 
scheinen,  als  müßtenwir  sie  unsererÜber- 
zeugung  und  Natur  nach  verwerfen.  Doch 
sei  das  fern  e!" 


Miszellen. 


Zur  neuesten  Literatur  über  die  Aufgaben 
der  Genealogie. 

Von  ^  

Fritz  Kern. 

Familienforschung.  Von  E.  Devrient.  Leipzig,  Teubner.  191!. 
134  S.    (Aus  Natur  und  Geisteswelt    Bd.  350.) 

Genealogie  und  Familienforschung  als  Hilfswissenschaft  der  Ge- 
schichte. Von  A.  Hofmeister.  (Histor.  Vierteljahrschrift 
herausgegeben  von  G.  Seeliger,  Bd.  15.  Leipzig,  Teubner. 
1912.    S.  457—492.) 

Die  Versuchung  für  natürlich  begrenzte  Forschungsgebiete, 
sich  durch  die  Annexion  fremder  Wissenschaftsdomänen  künst- 
lich zu  erweitern,  ist  an  der  übrigens  verdienstlichen  Darstellung 
der  Genealogie  aus  der  Feder  des  Archivars  der  Zentralstelle  für 
deutsche  Personen-  und  Familiengeschichte  auch  nicht  vorüber- 
gegangen. Der  alte  Gatterer  hatte  der  Genealogie  noch  den 
Charakter  „einer  eigentlichen  Wissenschaft"  aberkannt.  Aber 
die  „Familienforschung"  der  Schule  Ottokar  Lorenz',  die  Devrient 
am  Leipziger  universalgeschichtlichen  Institut  vorgetragen  hat, 
greift  nach  dem  Höchsten.  So  groß  Devrients  Achtung 
für  das  18.  Jahrhundert,  das  goldene  Zeitalter  seiner  Wissen- 
schaft, ist  (S.  15),  so  sehr  hebt  sich  doch  seine  Definition  von 
der  bescheidenen  Gatterers  ab.  Genealogie  ist  nach  ihm  nichts 
weniger  als  „die  Lehre  von  den  Abstammungsverhältnissen  der 
Individuen  und  den  daraus  sich  ergebenden  biologischen  und 
rechtlichen  Beziehungen".   Nach  dem  Wortstamm  ist  eine  solche 


Zur  neuesten  Literatur  Über  die  Aufgaben  der  Genealogie.    601 

Begriffsbestimmung  von  ytvtakoyla  möglich.  Ob  sie  eine  zu- 
lässige wissenschaftliche  Fragestellung  in  sich  birgt,  in  einem  Fach, 
dessen  Belagerung  durch  Dilettanten  dem  Verfasser  wohl  bewußt 
ist  (S.  16  und  sehr  charakteristisch  aus  guter  Amtserfahrung 
S.  61,  66,  84),  muß  erst  untersucht  werden. 

Zunächst  tritt  nun  das  methodische  Bedenken  in  den  Ka- 
piteln wenig  hervor,  die  sich  mit  der  Familien  geschichts- 
forschung,  mit  ihrem  Material  (Kap.  II  „Quellen  und  Hilfsmittel"), 
mit  der  Ausrüstung  des  Familiengeschichtsforschers  (Kap.  III 
„Hilfswissenschaften  und  Kritik";  man  kann  aber  nicht  eigent- 
lich „Kultur-  und  Rechtsgeschichte",  „Biologie"  usw.  Hilfswissen- 
schaften der  Genealogie  nennen)  und  (IV.  Kap.)  endlich  mit 
der  „Darstellung  der  Ergebnisse"  beschäftigen.  Die  bündige  und 
praktische  Weise,  mit  der  Devrient  hier  den  Familiengeschichts- 
forscher mit  allem  Handwerkszeug  versieht  und  ihm  die  Wege 
weist,  ist  ihrer  Anerkennung  sicher  und  zeigt  den  Fachmann 
im  Mittelpunkt  seiner  Tätigkeit.  Meine  Ausstellungen  sind  hier 
nebensächlicher  Art.  Zu  Eckehard  von  Aura  sollte  Breßlaus 
Untersuchung  nicht  unberegt  bleiben  (S.  8).  Daß  unsere  deutsche 
Schrift  beiläufig  wieder  einmal  fälschlich  als  „entartende  Mönchs- 
schrift" (S.  62)  geschmäht  wird,  ist  verzeihlicher,  wenn  man 
beachtet,  daß  der  Verfasser  dies  vor  dem  Erscheinen  von  Brandis 
schönem  Buch  über  „Unsere  Schrift"  geschrieben  hat.  Hervor- 
zuheben Ist  die  manchem  Historiker  nützliche  kurze  Geschichte 
der  Eigennamen  (S.  45).  Bei  Urkundenlehre  und  Paläographie 
hätte  eine  Erwähnung  der  neueren  Hauptwerke  neben  der  Ver- 
weisung auf  Heydenreich  wohl  dem  Leser  gedient. 

Nun  aber  versetzt  uns  da,  wo  mit  der  „Darstellung  ihrer 
Ergebnisse"  die  Genealogie  am  Ende  scheint,  das  V.  Kapitel 
plötzlich  in  die  „Probleme  der  Vererbungslehre".  Wir  sind  heute 
schon  empfindlicher  gegen  die  einst  beliebte  „Synthese"  natur- 
wissenschaftlicher und  historischer  Absichten  geworden,  als  noch 
zur  Zeit,  da  Ottokar  Lorenz  schrieb.  Wenn  schon  der  Meister 
auf  starken  Widerspruch  stieß,  so  hätte  der  Schüler  nicht 
mehr  so  leichthin  an  das  „Gefühl"  appellieren  dürfen  (S.  84), 
„daß  es  jetzt  an  der  Zeit  sei,  das  Allgemeine  wieder  ins  Auge 
zu  fassen". 

Es  ist  durchaus  richtig,  wenn  sich  die  Genealogie  die  Auf- 
gabe setzt  (S.   16),  „Stoff  für  die  empirische  Begründung  der 

Historische  Zeitschrift  (IM.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  39 


602  Fritz  Kern, 

Anthropologie  und  Medizin"  zu  liefern,  und  wir  können  es  An- 
thropologen und  Medizinern  überlassen,  ob  ihnen  das  auf  familien- 
historischem  Weg  gewonnene  Material  für  ihre  Methoden  brauch- 
bar scheint  oder  nicht.  Aber  in  Wirklichkeit  geht  Devrient  auf 
nichts  andres  aus  als  die  Umdrehung  dieses  Grundsatzes,  d.  h. 
auf  die  Übernahme  anthropologischen  und  medizinischen  Stoffes 
zur  empirischen  Begründung  der  „neuen"  Genealogie.  Nichts 
andres  bedeutet  es,  wenn  den  biologischen  Theorien  über  Zeugung 
und  Befruchtung  viele  Seiten  eingeräumt  werden,  deren  Richtig- 
keit der  Referent  nicht  nachprüfen  kann,  deren  Überflüssigkeit, 
ja  Schädlichkeit  an  dieser  Stelle  er  aber  konstatieren  muß  in 
Übereinstimmung  mit  dem  Verfasser  selbst,  der  vorsichtiger  als 
Lorenz  zuweilen  doch  die  Unmöglichkeit  ahnt,  aus  solchen  bio- 
logischen Allgemeingesetzen  (richtiger  „Hypothesen",  denn  um 
mehr  handelt  es  sich  in  den  Vererbungstheorien  noch  nicht) 
irgend  etwas  für  den  singulären  Fall  einer  geschichtlichen  Anlagen- 
vererbung abzuleiten.  (Vgl.  schon  S.  87,  wo  sehr  vernünftig 
Lorenz'  dilettantische  Schematisierung  des  Befruchtungsvorgangs 
abgelehnt  wird.)  Dann  muß  man  aber  folgerichtig  sein  und  nicht 
den  Schein  erwecken,  als  ob  die  Genealogie  „die  biologischen" 
Beziehungen  der  „Abstammungsverhältnisse"  lehren,  der  Natur , 
in  ihre  Geheimnisse  zu  blicken  vermöchte!  ^ 

Soweit  die  genealogische  Forschung  der  Naturwissenschaft 
Material  zubereiten  will,  wie  es  Devrient  in  seiner  Abhandlung 
über  die  sechs  ersten  Geschlechtsfolgen  der  ernestinischen  Wet- 
tiner  versucht  hat,  soweit  sie  also  ganz  unbeeinflußt  von  irgend- 
welchen biologischen  Theorien  auf  dem  schlichten  Weg  normaler 
historischer  Methode  Vererbung  von  Eigenschaften  feststellt 
—  häufig  wird  das  ja  möglich  sein,  wenn  auch  sichere  Schlüsse 
viel  seltener  sind  als  Wahrscheinlichkeitsschlüsse i)  — ,  so  ist 
das  gewiß  eine  ihrer  interessantesten  Seiten,  die  schon  einen 
Herodot  anzog  und  die  das  19.  Jahrhundert  mit  Recht  betont 


>)  Besonders  bei  den  seelischen  Eigenschaften  kann  das 
Mißtrauen  gegen  Vererbungsbehauptungen  nicht  groß  genug  sein,, 
was  Devrient  selbst  einmal  durch  den  Hinweis  auf  die  ganz  un- 
biologischen Momente  zum  Ausdruck  bringt  (S.  121),  welche  bei 
der  Beharrlichkeit  gewisser  Eigenschaften  in  einem  Familien- 
oder Lebenskreis  mitspielen.  Trotzdem  zeigt  er  das  kritische 
Mißtrauen  nicht  überall  in  erwünschtem  Maße. 


Zur  neuesten  Literatur  über  die  Aufgaben  der  Genealogie.    603 

hat.  Aber  wohin  anders  soll  es  führen,  als  zu  geschmackloser 
Spielerei,  wenn  die  Genealogie  selbst  mit  den  problematischen 
„Gesetzmäßigkeiten"  der  Vererbung  spielt?    Eine  Probe'): 

„Man  kann  wohl  sagen,  daß  bei  Bismarck  die  geistigen 
Anlagen  seiner  mütterlichen  Ahnen  stark  hervortreten ;  bei  seinen 
Geschwistern  wird  sich  dies  nicht  behaupten  lassen,  und  man 
wird  nach  dem  Gesamtergebnis  der  Bismarck- 
M e nkenschen  Ehe  die  beiden  Typen  als  gleich  mächtig 
erkennen  müssen,  wobei  Ottos  Schwester  Malwine  als  Misch- 
form (!)  zwischen  den  beiden  überlebenden  Brüdern  gelten  kann. 
Würde  (!)  Otto  v.  Bismarck  die  Tochter  einer  ähnlichen  Ver- 
bindung verschiedenartiger  Verwandtschaftskreise  heimgeführt 
haben,  so  hätten  wir  vielleicht  (!)  Gelegenheit,  bei  seinen  Kindern 
die  Merkmale  der  v.  Bismarck  und  der  Menken  einzeln  hervor- 
treten zu  sehen.  Bekanntlich  ist  das  nicht  der  Fall  und  es  ent- 
spricht wieder  der  Wahrscheinlichkeit,  daß  die  Verbindung 
Bismarck-Puttkamer  die  Menkenschen  Merkmale  zurücktreten 
läßt"  (S.  108). 

Zuchtwahlbetrachtungen  derart  mögen  den  Naturwissenschaft- 
ler interessieren,  obwohl  ich  daran  zweifle,  nicht  nur  wegen  des 
sog.  „Gesamtergebnisses",  das  doch  in  jeder  Familie  von  der 
zufälligen  Zahl  zur  Reife  gelangter  Kinder  abhängt,  sondern  auch 
wegen  der  wenig  umgrenzten  Beschaffenheit  „Menkenscher 
Merkmale".  Aber  immerhin  mag  es  den  Biologen  interessieren^): 

*)  Man  vergleiche  mit  dem  folgenden  die  Behandlung  der- 
selben Frage  in  E.  Marcks'  Bismarck  I  (1909),  die  Devrient  vor- 
bildlich darüber  hätte  belehren  müssen,  bis  wohin  Kritik  und 
Takt  den  Historiker  auf  diesem  Gebiet  gehen  lassen.  Aber  selbst 
«in  Buch  wie  Heycks  Bismarck  (Bielefeld  1898)  8  f.  hatte  schon 
wesentlich  die  Gr6nze  bezeichnet,  die  auch  der  biologische 
Genealoge  nicht  ungestraft  überschreitet. 

*)  Ich  bin  selbstverständlich  weit  davon  entfernt,  den  bio- 
logischen Wert  der  Erforschung  göistiger  Vererbung  und  die 
Hilfsarbeit  der  Genealogie  hierbei  anzufechten.  Es  ist  nur 
die  alte,  wie  man  meinen  sollte,  überwundene  Verwechslung  der 
Geschichte  mit  Gesetzeswissenschaften,  welche  bei  D.  das  schiefe 
Bestreben  weckt,  aus  allgemeinen  Gesetzen  irgend  etwas  für  den 
Einzelfall  folgern  zu  wollen.  Welches  praktische  Unheil  daraus 
erwächst  in  einem  Buch,  das  vorwiegend  für  historische  Dilet- 
tanten bestimmt  ist,  dürfte  einleuchten. 

39* 


604  Fritz  Kern, 

Genealogie,  Geschichte  überhaupt,  ist  das  nicht  mehr!  Es  ist 
einer  der  peinlichsten  Irrwege,  den  die  Suche  nach  der  „Erklärung" 
des  Genies  nur  irgend  einschlagen  kann.  Die  nächste  Frage, 
die  der  neugierige  Genealog  dieses  Stils  stellen  wird,  ist  dann 
wohl,  wie  viele  „Blutseinheiten",  „Qualitätsreinheiten",  welche 
„Reduktionsteilungen  der  Chromatinmassen"  bei  der  Zeugung 
eintreten  mußten,  damit  von  den  neun  Kindern  des  Sattlers 
J.  G.  Kant  gerade  das  vierte  die  Kritik  der  reinen  Vernunft 
schrieb.  Und  der  Schritt  ist  für  den  „Familienforscher"  nicht 
mehr  groß,  in  der  solchergestalt  vertieften  Genealogie  den  Stein 
der  Weisen  zu  suchen,  der  auch  die  Vorherbestimmung  künftiger 
Genies  erlaubt.  Vollzogen  hat  diesen  Schritt  bereits  A.  Reib- 
mayr.  Die  Entwicklungsgeschichte  des  Talentes  und  Genies, 
Bd.  1;  Die  Züchtung  des  invididuellen  Talentes  und  Genies 
in  Familien  und  Kasten  (München  1908).  Wird  es  dieser  Kunde 
an  Adepten  nicht  fehlen,  so  ist  ihr  zugleich  der  höchste  Rang 
versprochen,  denn  „die  wissenschaftliche  Genealogie  erscheint 
gerade  als  der  gegebene  Boden  für  eine  Verständigung  zwischen 
den  verschiedenen  geschichtsphilosophischen  Richtungen"  (S.  121)! 
Diese  Homunkuluswissenschaft  war  nicht  nur  deshalb  so 
eingehend  zu  beleuchten,  weil  Lamprechts  Institut  dieser  Genea- 
logie, wie  Devrients  Vorwort  rühmt,  „zuerst  wieder  einen  Platz 
im  akademischen  Lehrbetrieb  einräumt",  oder  auch,  weil  der 
Psychiater  Sommer  auf  die  Familienforschung  den  Plan  eines 
„zugleich  natur-  und  geisteswissenschaftlichen"  Reichsinstituts 
gründet  (vgl.  H.  Z.  109,  630),  sondern  weil  hier  die  Vermischung 
historischer  und  naturwissenschaftlicher  Methoden  und  Ziele  in 
einer  so  blühenden  Gestalt  als  jugendfrische  Wissenschaft  auftritt, 
wie  man  es  dem  gealterten  Materialismus  unsrer  Epoche  kaum 
mehr  zutrauen  würde.  Und  auch  aus  dem  Grunde  muß  dagegen 
Front  gemacht  werden,  weil  Devrient,  wie  noch  einmal  lebhaft 
betont  sei,  als  Familien geschichts forscher  so  tüchtige  und 
methodisch  richtige  Grundsätze  zeigt,  daß  man  ihm  die  Rück- 
kehr von  den  gefährlichen  Seiten  der  „Familienforschung" 
zu  der  soliden  Selbsterkenntnis  der  Gattererschen  Genealogie*) 

*)  „Man  erzählt  und  beweist  in  ihr  wie  in  der  gesamten 
Historie.  Die  Genealogie  hat  also  Materie  und  Form  mit  der 
Historie  gemein:  sie  ist  ein  Teil  der  Geschichte  selbst."  J.  Chr. 
Gatterer,  Abriß  der  Genealogie  (Göttingen  1788)  §  3. 


Zur  neuesten  Literatur  über  die  Aufgaben  der  Genealogie.    605 

aufrichtig  wünschen  möchte.  Hoffen  wir,  daß  er  die  angekündigte 
Untersuchung  über  „die  Einflüsse  der  mütterlichen  Keimzellen" 
auf  die  „ernestinischen  Heldenbrüder  aus  dem  Dreißigjährigen 
Krieg"  (S.  93)  als  Archivar  und  nicht  als  Arzt  führt.  — 

Vorstehende  Kritik  des  Devrientschen  Buches  war  bereits 
geschrieben,  als  Adolf  Hofmeisters  Berliner  Probevorlesung  im 
Druck  erschien,  die  das  Beste  ist,  was  neuerdings  über  „Genealogie 
und  Familienforschung  als  Hilfswissenschaft  der  Geschichte" 
gesagt  wurde.*)  Lange  hatte  die  Historie  zu  den  regsamen  Be- 
strebungen der  neueren  Berufsgenealogen,  Biologen,  Soziologen  usf. 
auf  diesem  Gebiet  geschwiegen.  Um  so  erfreulicher  ist  es,  daß  mit 
Hofmeister  der  Genealogie  wieder  ein  akademischer  Vertreter 
von  ausgebreiteten  Kenntnissen  und  klarer  Kritik  erstand,  der 
zugleich  allgemeiner  Historiker  ist  und,  wie  schon  der  Titel  der 
einleitenden  Vorlesung  ankündigt,  die  Genealogie  im  alten  Sinn 
als  Hilfsdisziplin  der  Geschichte  behandelt  wissen  will.  Ablehnung 
und  positive  Förderung  schuldet  der  Historiker  dem  augenblick- 
lichen Programm  der  Genealogie  zu  gleichen  Teilen.  Beides  gibt 
Hofmeister,  und  ich  freue  mich,  im  Mißtrauen  gegen  manche 
Punkte  dieses  Programms  mit  ihm  übereinzustimmen,  wenn  er 
auch  sein  Urteil  über  Devrient  allzusehr  durch  die  Blume  sagt 
(S.  467  Note  1). 

Auch  für  Hofmeister  ist  das  Biologische  ein  nicht  mehr 
verlierbarer  Bestandteil  der  Genealogie  geworden,  und  er  tadelt 
an  Bernheim  und  den  Arbeiten  seiner  Schule  „die  völlige  Aus- 
scheidung" dieses  Gesichtspunktes  (S.  485).  Wie  sich  Hofmeister 
die  Einordnung  und  Verwerturfg  desselben  denkt,  betonen  mit 
erfreulicher  Deutlichkeit  die  Worte:  „Die  Genealogie  wird  .  .  . 
niemals  anders  als  mit  historischen  Methoden  arbeiten  .... 
können"  (S.  464).  Bezüglich  der  biologischen  und  soziologischen 
Aufgaben  der  Familienforschung  urteilt  Hofmeister:  „Noch  ist 
ganz  dunkel,  ob  sich  alle  die  hochgespannten  Erwartungen  er- 
füllen werden,  die  man  heute  auf  sie  setzt"  (S.  465).   Hofmeister 


')  Klarer  wäre  wohl  „Genealogie  =  Familienforschung" : 
oder  will  Hofmeister  mit  dem  letzteren  Namen  die  biologisch- 
soziologischen Strömungen  insbesondere  bezeichnen  und  relativ 
verselbständigen?  Größere  Entschiedenheit  gegenüber  diesen 
Grundfragen  wäre  dem  Vortrag  da  und  dort  zu  wünschen. 


606  Fritz  Kern, 

hätte  nur  noch  mehr  unterscheiden  sollen,  wieweit  schon  hei 
die  endgültige  Unlösbarkeit  der  von  Nichthistorikern  der  Genea- 
logie gestellten  Aufgaben  erhellt,  und  wieweit  eine  Lösung  zwar 
in  ferner  Zukunft  liegt,  aber  doch  grundsätzlich  möglich  erscheint. 
Noch  mehr  als  es  S.  467  Note  1  geschieht,  hätte  vor  der  Anwen- 
dung sog.  biologischer  Gesetze  durch  den  Historiker  gewarnt 
werden  können;  da  liegen  doch  nicht  nur  „schwere  praktische 
Bedenken  der  Anwendbarkeit",  sondern,  wie  die  kritischen 
Biologen  selbst  betonen,  überhaupt  noch  keine  von  Nichtnatur- 
wissenschaftlem  einfach  übernehmbaren  Theorien  vor. 

Was  nun  die  positiven  Leistungen  auf  echthistorischem 
Gebiet  betrifft,  so  sieht  Hofmeister  natürlich  von  geschichts- 
philosophischen  Theoremen  im  Sinn  Ottokar  Lorenz'  ab  (S.  466) ; 
an  scharfsinnig  und  kenntnisreich  gewählten  Beispielen  zeigt  er 
aber  etwa  folgendes:  L  Gerade  im  frühen  Mittelalter  hat  die 
Genealogie  noch  wichtige  universalhistorische  Aufgaben,  weil 
die  Spärlichkeit  der  historischen  Nachrichten  überhaupt  einer 
verhältnismäßigen  Fülle  bisher  ungenügend  durchforschter  ge- 
nealogischer Notizen  gegenübersteht  (S,  469  ff.).  2.  Außer  den 
vielen  einzelnen  Aufschlüssen  soll  nach  Hofmeister  die  genea- 
logische Bearbeitung  dieser  Zeiträume  den  allgemeinen  Gewinn 
bieten,  die  internationalen  Beziehungen  der  regierenden  Schichten 
überhaupt  erst  richtig  einschätzen  zu  lassen  (S.  471  ff.).  3.  Die 
Kontinuität  der  Familien  und  Menschengruppen  durch  lange 
Zeiträume  zu  verfolgen,  hat  zwar  häufig  nur  soziologischen  Wert, 
es  gibt  aber  auch  Fälle  von  individuellem  historischem  Interesse 
(S.  475  ff.,  besonders  S.  477  Z.  3  ff.).  Dabei  stimmt  Hofmeister 
dem -Urteil  Brachets  zu,  daß  die  bürgerliche  Familienforschung 
wegen  der  Art  der  Überlieferung  nicht  auf  dieselbe  wissenschaft- 
liche Höhe  gebracht  werden  könne,  wie  die  der  adeligen  urtd 
besonders  die  der  regierenden  Familien  (S.  481):  „Damit  wird 
ganz  richtig  die  heute  so  enthusiastisch  betriebene  Vererbungs- 
geschichte des  künstlerischen  oder  wissenschaftlichen  Talents, 
sc  offenbar  die  Tatsachen  der  Vererbung  häufig  sind,  als  wenig 
hoffnungsreich  gekennzeichnet,  sofern  es  sich  um  Erkenntnisse 
grundlegender  und  prinzipieller  Art  handelt," 

Die  Forderungen  und  Vorschläge  hinsichtlich  der  Herstellung 
wissenschaftlich  genügender  Stammtafeln  und  Ahnentafeln 
(S.  486  ff.)  verdienen  größere  Beachtung  als  diese  Dinge,  gemein- 


Zur  neuesten  Literatur  über  die  Aufgaben  der  Genealogie.    607 

hin  finden:  Es  ist  unberechenbar,  wie  viel  exakter  wir  z.  B,  Terri- 
torialgeschichte  des  späteren  Mittelalters,  aber  auch  internationale 
Geschichte  desselben  Zeitraums  schreiben  könnten,  wenn  uns 
die  familiären  Beziehungen  der  großen  und  kleinen  Dynasten 
stets  durchsichtig  wären.  Oft  würde  sich,  namentlich  dort  wo 
unsere  Kenntnis  nicht  auf  Geschichtschreibern,  sondern  Ur- 
kunden beruht,  eine  verwickelte,  schwer  zu  verstehende  politische 
Situation  durch  den  Nachweis  genealogischer  Fäden  blitzartig 
erhellen;  unsere  heutigen  Stammtafeln  machen  den  Nachweis 
solcher  Beziehungen,  wo  nicht  ein  Familienhistoriograph  wie  der 
alte  Duchesne  zu  Hilfe  kommt,  zur  zeitraubenden  Sonderarbeit. 
Auch  die  von  E.  Brandenburg  betonte  Wichtigkeit  (vgl.  S.  487) 
der  Ahnen  tafel  für  die  Beurteilung  der  Persönlichkeiten  wird 
niemand  in  Abrede  ziehen:  wenn  auch  exakte  Feststellungen  in 
dem  Sinn,  wie  es  Devrient  bei  Bismarck  versucht,  abzulehnen 
sind,  so  wird  die  Ahnentafel  auf  alle  Fälle  als  heuristisches  Hilfs- 
mittel anregend  auf  die  Charakterforschung  wirken.  Hofmeister 
betont  aber,  daß  Stamm  tafeln  ein  dringenderes  Bedürfnis  sind 
als  Ahnentafeln. 

Von  einer  leisen  Überschätzung  dessen,  was  die  Genealogie 
der  Universalgeschichte  beisteuern  könne,  scheint  mir  aber  auch 
Hofmeister  nicht  frei:  dort  nämlich,  wo  er  für  das  frühere  Mittel- 
alter universalgeschichtliche  Entdeckungen  mit  Hilfe  der  Genea- 
logie erhofft.  Er  schreibt  (S.  470):  „Es  gilt  vielfach  das  frühere 
Mittelalter  für  eine  Zeit,  in  der  die  einzelnen  Staaten  ein  Sonder- 
dasein führten  und  nur  gelegentlich  in  Berührung  miteinander 
traten.  Wer  die  genealogischen  Beziehungen  der  führenden  Fa- 
milien kennt,  wird  schwerlich  an  dieser  Anschauung  festhalten." 
Dem  möchte  ich  entgegenhalten:  Wir  haben  ja  nicht  nur  mittelr 
bare  Quellen  für  die  Beziehungen  der  Staaten,  wie  z.  B.  die  Ge- 
nealogie oder  die  Handelsgeschichte,  sondern  auch  ganz  direkte. 
Es  genügt,  an  die  Berichte  der  Gesandten  Ottos  I.  zu  erinnern 
oder  etwa  auch  an  den  Reisebericht  des  derselben  Zeit  angehörigen 
Ibn  Jaqub.  Was  ein  Liutprand  von  Cremona,  ein  Johann  von 
Gorze  sagen,  gibt  uns  eben  den  tatsächlichen  Gegensatz  des 
früheren  Mittelalters  zum  späteren,  mit  dem  Einschnitt  der 
Kreuzzüge.  Eine  solche  innerliche  Entferntheit  und  auch  äußer- 
lich eine  so  geringe  Vertrautheit  der  Höfe  miteinander,  wie  sie 
alle  Berichte  dieser  Zeit  atmen,  wird  durch  keine  internationalen 


608  Fritz  Kern, 

Ebenbürtigkeitsehen  verändert  oder  verringert.  Man  ist  heute 
nur  zu  sehr  geneigt,  diesen  Zustand  des  früheren  Mittelalters 
wegretuschieren  zu  wollen,  wo  man  Spuren  internationaler  Be- 
ziehungen findet.  Ich  möchte  für  die  ganz  erstaunlich  große  Ent- 
fremdung benachbarter  Völker  im  10.  und  11.  Jahrhundert 
doch  auch  auf  das  Urteil  der  Völker  selbst,  z.  B.  der  Franzosen 
über  die  Deutschen,  hinweisen. i)  Was  für  Ost-  und  Westfranzien 
gilt,  trifft  auch  auf  das  Verhältnis  von  Germanen  und  freien 
Slawen,  Oströmern  und  Sarazenen  usf.  zu.  Nie  war  der  euro- 
päische Völkerkreis  loser  verknüpft.  Einseitige  Schlüsse  aus  den 
internationalen  Heiraten  allein  sind  gefährlich.  Zeitlich  nahe- 
liegende Anschauung  dafür,  wie  sehr  genealogische  Beziehungen 
ihren  historischen  Wert  erst  aus  der  allgemeinen  Geschichte  emp- 
fangen, bieten  z.  B.  die  Verschwägerungen  Rußlands  mit  süd- 
deutschen Mittelstaaten,  die  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahr- 
hunderts ein  Faktor  der  innerdeutschen  PoHtik  gewesen  sind 
(Württemberg),  Ende  des  Jahrhunderts  (Hessen)  aber  darin  nichts 
mehr  bedeuten  konnten.  Im  frühen  Mittelalter  nun  haben  inter- 
nationale Verschwägerungen  im  allgemeinen  wenig  bedeutet.  Das 
europäische  politische  System  des  10.  und  11.  Jahrhunderts  ist  ein 
wesentlich  inner  nationales:  so  ist  die  Genealogie  des  deutschen 
Hochadels,  ebenso  des  französischen  usf.,  voller  politischer  Motive 
und  Aufschlüsse.  Anders  sind  im  Durchschnitt  die  internatio- 
nalen Heiraten  der  Herrscherhäuser  jener  Zeiten  zu  beurteilen. 
Man  freute  sich,  standesgemäße  und  politisch  gefahrlose,  weil: 
indifferente  Ehen  schließen  zu  können,  an  deren  Möglichkeit  es 
bekanntlich  Karl  dem  Großen  für  seine  Töchter  noch  gefehlt 
hatte.  Nicht  der  Beziehungsreichtum  zwischen  zwei  Staaten,, 
sondern  eher  die  Beziehungsarmut  scheint  also  häufig  die  Ver- 
schwägerung zu  erklären.  Auch  der  Gedanke,  die  Inzucht  zu 
vermeiden,  trieb,  durch  die  kanonische  Ehegesetzgebung  künst- 
lich gesteigert,  zu  fernen  Verbindungen.    Politische  Beziehungen 


*)  Vgl.  meinen  Aufsatz  »Der  mittelalterliche  Deutsche  in 
französischer  Ansicht"  in  Bd.  108  dies.  Zeitschrift  und  W.  Remppis^ 
Die  Vorstellungen  von  Deutschland  im  altfranzösischen  Helden- 
epos und  Roman  (34.  Beiheft  zur  Zeitschr.  für.  rem.  Phil.  1911),. 
dazu  meine  Kritik  in  der  „Zeitschr.  für  franz.  Sprache  und  Lite- 
ratur 1912,  S.  6. 


Zur  neuesten  Literatur  über  die  Aufgaben  der  Genealogie.    609 

jSchufen   wohl   Heiraten;  aber   nicht   überall,   wo   Heiraten   zu- 
stande kamen,  bestanden  wirkliche  politische  Beziehungen. 

Dieser  Zustand  verschwindet  langsam.  Seit  dem  13.  Jahrhun- 
dert vor  allem  wächst  sich  die  europäische  Staatenwelt  allmählich 
in  den  Zustand  der  Staaten  f  a  m  i  1  i  e  hinein,  d.  h.  ein  eng  ver- 
flochtenes System  der  Interessen  überspinnt  die  Länder;  etwas 
wie  ein  europäisches  Gleichgewicht  entsteht.  Seit  dieser  Zeit 
wurde  der  Typus  der  internationalen  Heiratsverhandlungen,  die 
mit  der  Politik  begannen  und  endeten,  wohl  häufiger  als  der 
unpolitische  Typus:  in  Herrschern,  die  wie  Karl  von  Anjou  und 
Eduard  I.  von  England  für  dies  Aufkommen  des  europäischen 
Gleichgewichts  bezeichnend  sind,  hat  auch  die  Heiratspolitik 
vorbildliche  Meister  gefunden.  Auch  ihr  deutscher  Zeitgenosse, 
der  Begründer  von  Habsburgs  Größe,  versuchte  sich  auf  diesem 
Gebiet.i)  Tu  felix  Austria  nubel  Bei  Rudolf  von  Habsburg  über- 
trägt das  Landesherrentum  auch  hierin  auf  die  Weltpolitik,  was 
es  in  der  Territorialpolitik  längst  geübt  hatte. 2)  Fortan  sind 
heiratsfähige  Prinzen  und  Prinzessinnen,  im  Notfalle  sogar  Kinder 
und  nicht  selten  sogar  noch  ungeborene,  als  Versatzstück  auf 
der  politischen  Bühne  fast  unentbehrlich;  sie  dienen  als  Pfänder 
oder  Beglaubigungsmittel  für  die  völkerrechtliche  fides.  Die 
Beurteilung,  ob  eine  Ehe  zur  politischen  oder  unpolitischen  Gat- 
tung gehört,  bedingt  also  erst  ihren  geschichtlichen  Wert:  die 
Genealogie  des  früheren  Mittelalters  wird  deshalb,  wenn  ausge- 
baut, zwar  schätzbare,  doch  kaum  grundlegende  Züge  in  das  be- 
stehende politische  Bild  hereintragen  können. 


')  Vgl.  meine  „Analekten"  I  und  III,  Mitteil.  d.  Instituts  für 
österr.  Gesch.  30.  31. 

')  Ein  Virtuos  der  Heiratspolitik,  der  gleichzeitig,  aber  ganz 
anders,  aus  dem  Territorialen  ins  Internationale  hinauswächst, 
ist  Otto  IV.  von  Burgund  (Kern,  Die  Anfänge  der  französischen 
Ausdehnungspolitik,  1910,  146  ff.). 


610  Erich  Missalek, 

Die  ältesten  Formen  der  slawischen  Siedlung. 

Von 
Erich  Missalek. 

Bisher  fand  man  stets  in  Darstellungen  der  ostdeutschen 
Kolonisation  die  Meinung  vertreten,  daß  die  slawische  Siedlungs- 
weise das  Runddorf,  der  Rundling,  gewesen  sei,  daß  die  deutschen 
Bauern  hingegen  das  Straßendorf  (Reihendorf)  nach  dem  Osten 
gebracht  hätten. 

Diese  Ansicht  wird  sich  kaum  halten  können,  seit  der  pol- 
nische Historiker  Oswald  B  a  1  z  e  r  sie  zum  Ausgangspunkt 
einer  eingehenden  Untersuchung  gemacht  hat,  die  im  24.  Bande 
des  „Kwartalnik  historyczny"  (S.  359 — 406)  erschienen  ist.^) 

Er  stellt  daselbst  fest,  daß  der  Rundling  bei  den  Russen  und 
Südslawen  völlig  ungebräuchlich,  im  eigentlichen  Polen  recht 
selten,  in  Pommern,  Schlesien,  Ostböhmen  keineswegs  vorherr- 
schend ist;  daß  seine  Domäne  sich  auf  das  alte  Polabenland, 
auf  Mecklenburg,  die  Mark,  auf  die  Lausitz  und  Westböhmen 
beschränkt.  Sehr  viel  häufiger  ist  bei  den  Slawen  das  Straßen- 
dorf, bei  Südslawen  und  Russen  die  ausschließliche  Dorfgestalt, 
die  aber  auch  in  den  westlichen  Slawenländcrn  stark  vertreten  ist. 
Dieses  gemeinslawische  Reihendorf  unterscheidet  sich  freilich 
von  dem  der  deutschen  Kolonisten  durch  die  weniger  regelmäßige 
Lage  der  Äcker.  Eine  Urkunde  von  1378,  die  Wladyslaw  von 
Oppeln,  der  langjährige  Verweser  der  polnischen  Kleinrussen- 
lande, ausstellt,  sagt:  „.  .  .  agri  (sc.  des  slawischen  Dorfes)  .  .  . 
non  in  una  linea  secundum  ius  Tewtunicum  annexivum,  sed  secun- 
dum  Rutenorum  consuetudinem  sparsim  et  particulatim  sunt 
distincti.'' 

Es  fehlt  auch  nicht  an  Mischtypen.  Aber  das  Reihendorf 
ist  in  allen  Slawensitzen  vertreten,  in  den  ältesten  sogar  aus- 
schHeßlich;  der  Rundling  nur  in  den  erst  später  von  Slawen 
besiedelten  nordwestlichen  Landen.  Das  Straßendorf  ist  gemein- 
slawisch, ist  älter.    Das  Runddorf  ist  eine  spätere  partikuläre 


')  Kutrzeba  in  der  3.  Auflage  seines  „Grundrisses  der  polni- 
schen Verfassungsgeschichte"  (Deutsche  Übersetzung,  Berlin  1912) 
nennt  diese  Abhandlung  zwar  (S.  240),  verwertet  sie  aber  nicht 
(S.  6,  35). 


Die  ältesten  Formen  der  slawischen  Siedlung.  611 

Schöpfung  jener  westlichen  Stämme,  die  durch  einen  jahrhunderte- 
lang unterbrochenen  Krieg  mit  den  benachbarten  Deutschen 
dazu  veranlaßt  wurden.  Es  ist  gewissermaßen  ein  befestigtes 
Dorf:  die  Häuser  dicht  aneinandergedrängt,  zu  einer  Kreis-  oder 
besser  Hufeisenform  verbunden,  die  Türen  nur  auf  der  Innen- 
seite dieses  Häuserringes,  ringsherum  Gärten  und  Felder,  in  der 
Mitte  die  Viehplätze;  ins  ganze  Dorf  führt  nur  ein  Zugang. 
Balzer  erörtert  weiter  die  Frage,  ob  es  nicht  noch  eine  ältere 
Siedlungsform  bei  den  Slawen  gebe  als  das  Reihendorf.  Prokop 
(De  hello  Goth.  III,  14)  sagt  von  den  ihm  bekannten  Südslawen: 

„o/xorff/   öt  (f  xuXvßaig  oixtquic  (V<ffrx;ji'ij^t<tVo/  noXhö  (.iiv  un  uX- 

AjjXfy»'.'*  Daraus  läßt  sich  nur  auf  Einzelhöfe  schließen.  Solche 
muß  es  auch  noch  in  späterer  Zeit  beiden  Polen  in  größerer 
Zahl  gegeben  haben.  Balzer  erinnert  an  Dorfnamen  „u  Kwiatka, 
u  Sobka"  (bei  Kwiatek,  bei  Sobek),  die  sich  nur  so  erklären 
lassen,  daß  diese  Dörfer  aus  Einzelhöfen  hervorgegangen  sind. 
Auch  die  Namen  auf  -öw,  owa,  -owo  (z.  B.  Dalechöw,  Kozlowa, 
Gorzkowo)  brauchen  keineswegs  immer  auf  einen  Edelmann 
hinzudeuten,  der  das  Dorf  begründet  hat,  sondern  sind  oft  durch 
Entstehung  aus  einem  Einzelgehöft  zu  erklären.  Die  Urkunde 
(Cod.  dipi.  Mai.  Pol.  I,  Nr.  7),  in  der  1136  Innozenz  II.  den  Besitz 
des  Gnesener  Erzbistums  bestätigt,  erwähnt  eine  „villa  .  .  . 
quam  tenuit  olim  Stan  arator  episcopi".  Wir  lernen  in  den  Diplomen 
des  12.  und  13.  Jahrhunderts  auch  eine  ganze  Anzahl  von  Sied- 
lungen kennen,  die  gewissermaßen  noch  in  der  Entwicklung 
zum  Dorfe  begriffen  sind.  Von  27  Siedlungen,  die  1105  den  Bene- 
diktinern von  Tyniec  gehören,  sind  7  Einzelhöfe,  6  Doppelhöfe, 
.4  haben  drei,  8  haben  vier,  1  hat  sechs  und  1  sieben  Wirtschaften. 
Auf  solches  Entstehen  weisen  auch  hin  die  patronymischen  Dorf- 
namen auf  -ice:  Kwiatkowice  ist  das  Dorf  des  Kwiatek  und  der 
Seinen.  (Ich  füge  hinzu,  daß  in  der  Urkunde  von  1136  im  Kra- 
kauischen  erwähnt  wird  „Jurevici  cum  villa  eorum".) 

Aus  alledem  ergibt  sich  für  die  älteren  slawischen  Dörfer 
eine  ziemlich  geringe  Ausdehnung,  die  besonders  ins  Auge  fiel, 
wenn  daneben  ein  deutsches  Dorf  entstand;  dieses  hieß  dann 
z.  B.  Groß-Breßnitz,  während  das  ältere  als  Klein-Breßnitz 
oder  Wendisch-Breßnitz  bezeichnet  wurde. 

In  welcher  Weise  konnte  aus  dem  Einzelhof  ein  Dorf  ent- 
stehen? 


612  Erich  Missalek, 

Balzer  beantwortet  das  auf  Grund  südslawischer  Verhä! 
nisse.  Dort  wohnen  in  einem  Hauswesen  öfters  Großfamilien  von 
15—30,  40  Köpfen  beisammen.  Langt  der  Raum  nicht  mehr  zu, 
so  werden  Nebenhäuser  errichtet,  die  zwar  mit  dem  Mutterhause 
schließlich  eine  kreisähnliche  Figur  bilden,  aber  sich  bei  alledem 
vom  Rundling  lebhaft  unterscheiden.  Zudem  werden  sie  meist 
nur  im  Sommer  bewohnt.  Das  alte  Haus  bleibt  der  eigentliche 
Sitz  der  Sippe.  Wenn  aber  bei  weiterem  Anwachsen  der  Groß- 
familie dieser  Zustand  nicht  mehr  haltbar  ist,  so  entstehen  aller- 
dings neue  Sippenhäuser  selbständig  für  sich,  und  diese  werden 
in  der  FrontHnie  des  älteren  Haupthauses  erbaut.  So  erwachsen 
aus  dem  Einzelhofe  Straßendörfer. 

Das  Runddorf  hingegen  kann  nicht  allmählich  entstanden 
sein.  Wenn  der  Häuserring  nicht  von  vornherein  geschlossen  war, 
so  verfehlte  ja  die  ganze  Anlage  ihren  militärischen  Zweck,  der 
allein  ihre  Kompliziertheit  und  Unbequemlichkeit  verstehen  läßt. 

Die  Entstehung  des  Straßendorfes  ist  also  gleichlaufend  mit 
der  Abspaltung  jüngerer  Großfamilien  und  dementsprechend  der 
fortschreitenden  Teilung  des  Landeigens.  Eine  Urkunde  aus  der 
ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  gibt  ein  Beispiel:  „Sups/ 
autem,  per  se  volens  habere  domicilium,  divisit  se  a  fratribus  et  accepit 
quartam  partem  fiaereditatis pro  se"  (Buch  von  Andrzejow).  Es  wohn- 
ten also  in  einem  solchen  Dorfe  schließlich  mehrere  Großfamilien 
nebeneinander,  jede  von  ihrem  Vorstande  geleitet.  Nach  dessen 
Namen  werden  sie  in  den  Urkunden  bezeichnet,  mit  dem  Zusätze 
„cum  fratribus,  cum  filiis  et  fratribus,  cum  sociis,  cum  cognatione". 
(In  der  großen  Schenkung  für  Mogilno  [Cod.  dipl.M.  Pol.  I,  Nr.  3] 
finde  ich  „cum  tota  consanguinitate  sua".)  So  dürften  denn  im 
allgemeinen  in  früheren  Zeiten  die  meisten  Dorfgenossen  von 
gemeinsamen  Vorfahren  abstammen.  Das  erklärt  wohl  die  Exi- 
stenz eines  Dorfhäuptlings,  den  das  Elbinger  Buch  (13.  Jahr- 
hundert) als  ,,Staroste  im  Dorfe",  den  die  auf  polabische  und 
lausitzer  Zustände  bezüglichen  Urkunden  als  „starasse,  senior" 
bezeichnen.  In  Steiermark  nannte  man  ihn  „zupan"  (ein  Wort 
von  sehr  verschiedener  Bedeutung).  Er  hatte  die  Leitung  der 
gemeinsamen  agrarischen  Angelegenheiten  und  eine  gewisse 
Jurisdiktion,  wobei  ihn  die  einzelnen  Hausvorstände  unterstützten. 
Da  vor  der  deutschen  Kolonisation  von  der  Bildung  wirkHcher 
dörflicher    Gemeindekorporationen    noch    nicht    die    Rede   sein 


Die  ältesten  Formen  der  slawischen  Siedlung.  613 

kann,  so  muß  wohl  das  historische  Entstehen  des  Dorfes  aus 
einem  Hause  die  Existenz  jenes  Dorfhäuptlings  ermöglicht 
haben;  dieser  muß  zunächst  der  Vorstand  der  ältesten  Wirtschaft 
gewesen  sein.  Tatsächlich  war  auch  bei  Polaben  und  Lausitzern 
vielfach  das  Amt  des  Dorfstarosten  in  einer  Familie  erblich. 
(In  Böhmen  sind  daraus  „nobiles"  geworden;  vgl.  Lippert  „Sozial- 
geschichte Böhmens"  [Wien  1896]  S.  201  f.,  250  ff .) 

In  einem  Vertrage,  den  der  deutsche  Ritterorden  1255  mit 
dem  Bischöfe  von  Kulm  abschließt,  erhalten  innerhalb  der  bischöf- 
lichen Dörfer  gewisse  Befugnisse  für  die  ganze  Gemeinde:  „Scul- 
tetus  vel  starosta  et  cum  eis  aliqui  senior  es  villae."  Dieses  „vel" 
faßt  Balzer  hier  im  disjunktiven  Sinne  auf;  der  Schultheiß  sei 
in  den  Dörfern  deutschen  Rechtes  dasselbe  wie  der  Starost  in 
den  polnischen.  Daran  knüpft  nun  der  polnische  Gelehrte  eine 
Hypothese,  die  doch  vielleicht  ein  wenig  von  seinem  nationalen 
Empfinden  beeinflußt  ist.    Er  sagt  folgendes: 

„Bekanntlich  hat  die  Kolonisation  zu  deutschem  Recht  bei 
uns  zwei  Typen  von  Siedlungsorganisationen  geschaffen,  Stadt 
und  Dorf,  beide  gestützt  auf  das  Prinzip  der  Selbstverwaltung, 
einer  weiteren  in  den  Städten,  einer  sehr  viel  engeren  in  den  Dörfern. 
Im  gleichzeitigen  Deutschland  besaßen  nur  die  Städte  eine  Selbst- 
verwaltung. Eine  solche  gab  es  nicht  in  den  dörflichen  Nieder- 
lassungen zu  jener  Zeit:  Die  deutschen  Dorfbeamten,  wie  sie 
auch  hießen,  Schulze,  Meier,  Schaffer  usw.,  waren  im  Grunde 
nur  Beamte  des  Herrn.  Im  Gegensatze  zu  diesen  Verhältnissen 
in  Deutschland  selbst  besitzt  das  Dorf  deutschen  Rechtes  in  Polen 
eine  gewisse  Selbstverwaltung  mit  einem  Schultheißen  an  der 
Spitze.  Auf  diesen  charakteristischen  Unterschied  zwischen  der 
Dorfverfassung  in  Deutschland  und  Polen  wurde  schon  früher 
einmal  in  der  deutschen  Wissenschaft  selbst  die  Aufmerksamkeit 
gelenkt,  und  zwar  von  sehr  gewichtiger  Seite.  Woher  nahm 
man  sie  in  Polen,  wenn  es  eine  solche  in  Deutschland  nicht  gab? 
Meines  Erachtens  liegt  hier  d  i  e  Annahme  am  nächsten,  daß 
man  die  Organisation  und  Stellung  des  Schultheißenamtes  in 
den  polnischen  Niederlassungen  deutschen  Rechtes,  soweit  es 
möglich  war,  auf  das  früher  vorhandene  Vorbild  des  polnischen 
Dorfstarosten  stützte." 

Ich  glaube,  diese  Hypothese  ist  doch  etwas  gesucht.  Zu- 
nächst sind  unsere  Nachrichten  über  die  Bedeutung  des  Dorf- 


614   Erich  Missaiek,  Die  ältesten  Formen  der  slawischen  Siedlung. 

Starosten  und  seiner  „setiiores"  recht  kümmerlich.  Die  oben 
zitierte  Urkunde  von  1255  stammt  aus  einer  Zeit,  wo  die  deutschen 
Rechtsbegriffe  auch  auf  die  Nichtdeutschen  schon  großen  Einfluß 
ausübten.  Warum  soll  denn  im  Kulmerlande  das  Verhältnis 
zwischen  „starosta"  und  „scuMus"  nicht  umgekehrt  gewesen  sein  ? 
Balzers  Theorie  von  der  Selbstverwaltung  der  polnischen  Dörfer 
stützt  sich  unverkennbar  auf  Analogien  mit  den  Zuständen 
anderer  Slawenstämme,  z.  B.  der  Czechen.  Aber  die  böhmischen 
„seniores"  sind  den  deutschen  Schöffen  völlig  unähnlich.  Balzer 
übertreibt  auch,  wenn  er  später  behauptet,  daß  der  Ausdruck 
„Schultheiß"  in  Deutschland  „etwas  anderes"  bedeute  als  in  den 
Kolonistendörfern.  Hier  wie  dort  ist  er  doch  der  „grundherriiche 
Beamte"  und  gleichzeitig  der  „Richter".  Es  geht  doch  nicht  an, 
etwa  den  Schultheißen  des  Kolonistendorfes  als  Kommunal- 
beamten aufzufassen.  Scultetus  ist  der  Lokator  schon,  bevor 
die  Gemeinde  überhaupt  vorhanden  ist.  Das  geht  aus  dem  Wort- 
laute solcher  Privilegien  doch  klar  hervor:  „  . .  .  contulimus 
plenam  potestatem  Hermanno  sculteto  locandi  civitatem  liberam 
in  Costozyn  iure  theutonico"  (Cod.  dipl.  Maj.  Pol.  I,  296).  Auch 
wird  man  nicht  behaupten  können,  daß  den  Deutschen  im  13.  Jahr- 
hundert die  dörfliche  Selbstverwaltung  etwas  völlig  Unbekanntes 
gewesen  sei.  Zum  mindesten  war  doch  allenthalben  die  Erinnerung 
daran,  daß  in  früheren  Zeiten  die  freien  Bauern  gemeinsam 
gewisse  Angelegenheiten  ihres  Dorfes  verhandelten,  weit  einfluß- 
reicher als  etwa  die  Kenntnis  von  dem  slawischen  Dorfstarosten 
und  seinen  Seniores. 


Literaturbericht. 


über  das  Wesen  der  politischen  Systeme  in  der  Geschichte.   Vofr 
Dr.  Felix  Kuberka.    Heidelberg,  Carl  Winter.    1913.    92  S. 

Der  politische  Historiker  muß  jeden  auf  ernstem  und  tieferem 
Denken  beruhenden  Versuch,  seiner  Wissenschaft  einen  syste- 
matischeren Charakter  zu  geben,  zugleich  begrüßen  und  fürchten. 
Denn  die  Objekte  des  geschichtlichen  Lebens,  die  er  darzustellen 
hat,  haben  wohl  eine  der  systematischen  Behandlung  zugängliche 
Seite  und  können  durch  sie  aufs  interessanteste  beleuchtet,  aber 
nie  so  umfassend  und  reich  beleuchtet  werden,  wie  es  unser  histo- 
risches Bedürfnis  verlangt.  Bisher  sind  diese  systematisierenden 
Bestrebungen  vorzugsweise  von  kollektivistischer  und  soziolo- 
gischer Grundlage  ausgegangen.  Wir  sind  ihnen  dankbar  für 
das,  was  sie  uns  zu  geben  vermochten,  aber  wir  haben  uns  nicht 
veranlaßt  gefühlt,  uns  ihnen  ganz  zu  ergeben  und  unsere  eigene 
Flagge  zu  streichen.  In  der  vorliegenden,  höchst  anregenden 
und  gedankenreichen  Schrift  wird  nun  der  Versuch  gemacht,, 
vom  Boden  der  politischen  Geschichte  selbst  aus  ihr  einen  höheren 
Grad  von  Begrifflichkeit  zu  geben,  als  sie  bisher  hatte  und  sie 
dadurch  vor  dem  Vorwurfe  Lamprechts  zu  schützen,  daß  sie  zu 
sehr  im  Persönlichen  stecken  bleibe.  Als  grundlegende  Kate- 
gorie sowohl  des  historischen  Geschehens  wie  des  historischen 
Denkens  bezeichnet  K.  das  ,, politische  System",  das  ungefähr  mit 
dem  zusammenfällt,  was  Jellinek  die  „ungeschriebene  Verfassung" 
eines  Staates  oder  einer  Machtorganisation  nannte:  zweckmäßige 
Zusammenfassung,  Organisierung  und  Zentralisierung  von  aus- 
einanderstrebenden geistigen,  sozialen  und  wirtschaftlichen  Kräften 
zu  größerer  und  dauernderer  Macht.  Ein  solches  zentralistisches 
System  schuf  etwa  Otto  I.  durch  die  Eingliederung  der  deutschen 


616  Literaturbericht. 

Kirche  in  die  Zwecke  der  Monarchie,  und  „groß"  im  historischen 
Sinne  ist  derjenige  zu  nennen,  der  aus  den  vorhandenen  Materi- 
alien der  Zeit  ein  großes  System  von  Wirksamkeit  und  Dauer  zu 
organisieren  vermag.  Überhaupt  sei  an  den  „poHtischen  Syste- 
men" der  Wert  der  historischen  Persönlichkeiten  zu  prüfen. 
Es  wird  weiter  das  Verhältnis  dieser  Systeme  zu  den  Ideen  einer- 
seits, den  ökonomischen  Faktoren  anderseits  auseinandergesetzt, 
€S  werden  die  Systeme  klassifiziert  und  die  Wechselwirkungen 
gleichzeitig  nebeneinander  bestehender  Systeme  untersucht; 
die  letzten  Abschnitte  erörtern  die  methodische  Bedeutung  der 
Systeme  und  das  Verhältnis  der  systematischen  Geschichts- 
auffassung zur  Ideenlehre  Rankes. 

Grundstürzend  sind  die  Anregungen  des  Verfassers  nicht. 
Die  Historiker  haben  tatsächlich  doch  schon  in  großem  Umfange 
mit  der  Kategorie  des  „politischen  Systems"  gearbeitet.  Die 
Systeme  Karls  V.,  Friedrichs  des  Großen,  Napoleons,  Bismarcks 
sind  für  uns  anschauliche  und  wohlbekannte  Zusammen- 
hänge. Wenn  man  sie,  wie  es  der  Verfasser  wünscht,  noch  stärker 
in  den  Vordergrund  schieben  und  um  sie  herum  alles  historische 
Geschehen  gruppieren  und  die  Weltgeschichte  als  ein  Nach- 
und  Nebeneinander  der  großen  politischen  Systeme  konstru- 
ieren wollte,  so  würde  zweifellos  ein  nicht  nur  architektonisch 
gegliedertes,  sondern  auch  höchst  lehrreiches  Bild  entstehen. 
Aber  es  wäre  doch  nur  ein  Einteilungsprinzip  neben  anderen 
ebenso  möglichen  und  berechtigten,  und  es  dürfte  nicht  den 
Anspruch  erheben,  das  beste  oder  gar  das  alleingültige  Prinzip 
für  Auswahl,  Bewertung  und  Gliederung  des  geschichtlichen 
Stoffes  zu  sein.  Es  steht  damit  ähnlich  wie  mit  dem  bekannten 
Aper9u  Rankes,  daß  man  auch  einmal  die  Geschichte  nach  Gene- 
rationen einzuteilen  und  darzustellen  vermöchte.  Wir  wären 
dankbar,  wenn  es  einmal  mit  der  nötigen  wissenschaftlichen 
Kraft  geschähe,  aber  wir  möchten  uns  dafür  bedanken,  wenn 
die  ganze  Geschichtschreibung  auf  diese  Linie  einschwenken 
wollte.  So  hat  auch  der  Lamprechtsche  Versuch,  den  geschicht- 
lichen Stoff  nach  psychologisch  bestimmten  Zeitaltern  einzuteilen, 
seine  gute  Berechtigung,  aber  keine  Alleinberechtigung.  Was  nun 
die  „politischen  Systeme"  betrifft,  so  erwachsen  sie  doch  immer 
nur  auf  dem  Boden  bestimmter  Staaten  und  Nationen  oder  be- 
stimmter Kulturgemeinschaften;  sie  erfüllen  deren  Bedürfnisse 


I 


Allgemeines.  617 

und  sind  Mittel  zum  Zweck  ihres  Daseins.  Staaten,  Nationen 
und  Kulturgemeinschaften  sind  und  bleiben  die  konkretesten 
und  realsten  Wesenheiten  der  Geschichte  und  geben  darum 
auch  immer  die  ersten  und  natürlichsten  Einteilungsgründe. 
Innerhalb  ihres  Rahmens  darf  man  auch  den  „politischen  Syste- 
men" einen  bevorzugten  Platz  anweisen,  aber  doch  nur  so,  daß 
daneben  auch  die  inhaltlichen  Mächte  des  Lebens,  die  Ideen, 
die  sozialen  und  wirtschaftlichen  Kräfte  zur  vollen  Anschauung 
gebracht  werden.  Das  ist  im  Grunde  auch  die  Meinung  des  Ver- 
fassers. Er  will  mit  seiner  Empfehlung  der  „politischen  Systeme" 
keiner  farblosen  Schematik  das  Wort  reden,  sondern  nur  ein 
geeignetes  Gefäß  bieten,  um  die  bunte  Fülle  des  historischen 
Lebens  aufzunehmen. 

Ah  den  einzelnen  Urteilen  des  Verfassers  wäre  manches 
auszusetzen.  Wenn  er  sagt,  die  Geschichte  kenne  kein  größeres 
Gesetz  als  die  Abwandlung  und  den  Wechsel  der  zentralistischen 
(systemschaffenden)  und  partikularistischen  (systemzersetzenden) 
Perioden,  so  verfällt  er  damit  schon  etwas  dem  von  ihm  doch 
nicht  beabsichtigten  Schematisieren.  An  der  historischen  Größe 
des  Großen  Kurfürsten  zweifelt  er  deswegen,  weil  er  sich  zu  sehr 
in  die  Abhängigkeit  von  Frankreich  begeben  habe.  Aber  diese 
Abhängigkeit  von  Frankreich,  über  deren  realpolitische  Zweck- 
mäßigkeit und  Notwendigkeit  man  wohl  diskutieren  kann,  be- 
rührt in  keiner  Weise  die  vom  Kurfürsten  im  Inneren  seines 
Staates  geschaffenen  Organisationen  der  Macht,  die  ein  wirkliches 
und  dauerndes  „politisches  System"  im  Sinne  des  Verfassers 
bildeten.  Daß  das  „politische  System"  Friedrichs  des  Großen 
im  wesentlichen  bis  1806  bestanden  habe,  ist  nur  mit  starker 
Einschränkung  richtig,  denn  die  eigentliche  Sprungfeder  dieses 
Systems,  der  Machtgedanke,  entartete  und  versagte  nach  dem 
Tode  des  Königs. 

Freiburg  i.  B.  Fr.  Meinecke. 

Lehre  vom  Staat  bei  den  protestantischen  Gottesgelehrten 
Deutschlands  und  der  Niederlande  in  der  zweiten  Hälfte 
des  17.  Jahrhunderts.  Von  Dr.  Friedrich  Fries.  Berlin, 
Ehering.    1912.     173  S. 

Das  Buch  gibt  eine  sehr  eingehende  Materialsammlung, 
ausreichend  freilich  nur  bei  den  lutherischen  Theologen;  von  den 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.;Bd.  40 


618  Literaturbericht. 

Reformierten  sind  nur  ein  paar  Niederländer,  außerdem  der 
Arminianer  Limborcii  und  der  lutherisch  beeinflußte  deutsche 
Reformierte  Wendelin  herangezogen.  Das  gibt  kein  Bild  von  der 
reformierten  Ethik,  wie  der  Verfasser  der  reformierten  Geistes- 
art überhaupt  nicht  viel  Beachtung  schenkt,  sondern  lieber  das 
ihr  mit  den  lutherischen  Theologen  Gemeinsame  heraushebt.  In 
der  Darstellung  und  Auffassung  erweist  sich  der  Verfasser  als  durch 
Röscher  bestimmt,  d.  h.  als  ein  Freund  der  lutherischen  Ethik, 
der  aber  ihre  Befangenheit  in  der  scholastischen  Überlieferung 
und  ihre  wesentHche  dogmatische  Gebundenheit,  ihre  Fremd- 
heit gegen  die  eigentlich  politische  Lebenskenntnis  und  gegen 
alle  Hauptzüge  des  modernen  Staatsbegriffes  nicht  verbirgt. 
Sein  Ergebnis  ist:  die  lutherische  Staatsethik  ist  einfache  Fort- 
setzung und  protestantische  Modifizierung  der  scholastischen 
Theorien,  ganz  und  gar  ideologisch  gedacht  als  ethisch-dog- 
matische Anforderung  an  Bürger  und  politische  Gewalten,  dem 
Zuge  der  Zeit  zum  Absolutismus  eng  verwandt,  aller  Demokratie 
feindselig,  die  herrschende  Gewalt  verherrlichend,  gegen  Ver- 
fassungs-  und  Organisationsprobleme  indifferent,  den  Staat 
überhaupt  nur  als  Stand  innerhalb  der  staatlich-kirchlichen 
Lebenseinheit  der  christlichen  Gesellschaft  behandelnd,  die 
herrschende  Gewalt  als  von  Gott  eingesetzt  betrachtend,  Ent- 
stehung und  Wesen  des  Staates  wesentlich  utilitarisch  auffas- 
send, gegen  die  Bedeutung  der  wirtschaftlichen  und  sozialen 
Unterlagen  des  Staates  gänzlich  blind.  Es  fehlt  ihnen  über- 
haupt noch  ein  besonderes  Wort  für  den  Staat.  Er  ist  coetus 
hominum,  allenfalls  res  publica;  Status  politicus  bezeichnet  nur 
den  Stand  und  Beruf  der  Obrigkeiten  innerhalb  der  Christen- 
heit. Der  profane  Sprachgebrauch  der  Zeit  ist  also  bei  ihnen 
noch  nicht  durchgesetzt.  Ihre  Beweisführung  ist  gemischt  aus 
biblisch-alttestamentlichen,  naturrechtlichen  und  positiv-recht- 
lichen Begründungen,  vor  allem  berufen  sie  sich  auf  die  patriar- 
chalische Gewalt  des  Hausvaters  und  auf  die  Entstehung  des  Staates 
aus  der  Familie.  Von  der  konkreten  Beschaffenheit  des  sie  um- 
gebenden Staates  nehmen  sie  wenig  Notiz;  die  profanen  Autoren 
beachten  sie  wenig  und  nehmen  aus  ihnen  nur  den  Souveränitäts- 
begriff heraus.  Jeden  Gedanken  bürgerlicher  Gleichheit  und 
Rechtsgleichheit  bekämpfen  sie  bis  zur  Verteidigung  der  Sklaverei. 
Ihre  Ethik  ist  absolut  patriarchalisch.  Den  Krieg  und  das  Bündnis- 


Allgemeines.  619 

recht  kennen  sie  nur  zu  Zwecken  der  Verteidigung,  ein  Wider- 
standsrecht nur,  soweit  das  positive  Recht  die  etwaigen  Mit- 
teilhaber der  Gewalt  dazu  berechtigt.  Gegenüber  dem  Steuer- 
druck ermahnen  sie  zur  Geduld  und  pünktlichen  Bezahlung, 
die  Fürsten  fordern  sie  zu  gerechter  Milde  auf.  Das  Strafrecht 
leiten  sie  von  Gott  her  als  ein  dem  vicarius  Dei  zustehendes  Recht, 
das  Zivilrecht  sehen  sie  als  im  Sündenstande  berechtigt  an  und 
rechtfertigen  auch  den  Eid  als  unentbehrliches  Mittel  dieser  Justiz. 
Kurz,  es  ist  eine  sehr  kindliche  Vorstellung  von  der  Obrigkeit, 
deren  Wesen  es  ist,  gerechte  Gesetze  zu  geben,  die  Untertanen 
christlich  zu  behandeln  und  für  Ruhe  und  Gedeihen  zu  sorgen. 
Der  Untertan  wird  wesentlich  zum  Gehorsam  ermahnt,  auch 
gegen  gottlose  Fürsten.  Gegenüber  der  radikalen  Durchsetzung 
christlicher  Gesellschaftsideale  in  den  Sekten  wird  die  Scheidung 
zwischen  Privatmoral  und  staatlicher  Berufsmoral  betont,  welch 
letztere  unter  den  Bedingungen  des  Sündenstandes  anderen 
Gesichtspunkten  unterliegt  als  die  privat-persönliche.  Inter- 
essant ist  die  Bemerkung  verschiedener  Dogmatiker,  daß  auch 
ohne  Sündenfall  ein  patriarchalisches  Herrschaftsverhältnis  wie 
in  der  Familie  so  auch  in  der  politischen  Gemeinschaft  einge- 
treten wäre.  So  ferne  liegt  dem  Luthertum  der  Gedanke  an  die 
freie  selbstverantwortliche  Persönlichkeit.  Es  ist  geradezu  der 
Gedanke,  den  sie  überall  von  der  politischen  Ethik  grundsätz- 
lich auszuschließen  suchen,  während  sie  auf  religiösem  Gebiet 
die  Gleichheit  zugeben,  freilich  nicht  die  Freiheit.  Die  Folge 
der  Gleichheit  aller  vor  Gott  ist  vor  allem  das  Recht,  auch  Fürsten 
und  Vornehme  moralisch  durch  die  Prediger  zu  tadeln  und  das 
Recht  des  Nominal-Elenchus,  das  ohne  Ansehen  der  Person  soll 
gebraucht  werden  dürfen.  Von  Rechtsstaat,  Nationalstaat,^ 
Vaterlandsgefühl  ist  nicht  die  Rede;  auch  nicht  vom  Kultur-^ 
Staat,  da  alle  Unterrichtspolitik  im  Dienste  der  Kirche  steht. 
Es  ist  vielmehr  die  von  der  weltlichen  Obrigkeit  im  Dienste  des 
Evangeliums  geleitete  christliche  Gesellschaft,  wo  nichts  Welt- 
liches einen  Zweck  in  sich  selber  trägt.  Alles  Weltliche  dient 
der  Kirche,  für  die  ja  auch  die  Bewahrung  und  Aufrechterhal- 
tung der  physischen  Existenz  der  Menschen  weltliche  Voraus- 
setzung ist. 

Auffallend    ist  die  Ähnlichkeit  dieser  Staatslehre  mit  dem 
Augustin   vorschwebenden  Ideal.     Sie  sieht  aus  wie  eine  Kor- 

40* 


620  Literaturbericht. 

rektur  des  Thomismus  aus  dem  Augustinismus.  Jedenfalls  isl 
es  eine  rein  papierene  Konstruktion  aus  der  Welt  der  Bücher, 
von  geringer  Berührung  mit  dem  politischen  Leben.  Leider 
ist  der  Verfasser  beiden  Fragen  nicht  näher  nachgegangen. 

Bei  den  Reformierten  stellt  der  Verfasser  den  gleichen  Zug 
zum  Patriarchalismus  und  zur  ständischen  Ungleichheit  fest. 
Im  übrigen  konstatiert  er  hier  eine  stärkere  Lösung  und  Ver- 
selbständigung des  Staatsbegriffes  gegenüber  der  Theologie  und 
eine  größere  praktisch-politische  Schulung  und  Einsicht  der 
Theologen. 

Schade  ist,  daß  der  Verfasser  diese  Ansichten  nicht  aus  denen 
der  gleichzeitigen  Juristen  und  Kameralisten  beleuchtet  hat. 
Erst  so  ergäbe  sich  ein  Bild  von  dem  politisch-ethischen  Denken 
jener  konfessionellen  Territorien.  Erst  bei  ihnen  kommen  die 
religiösen  Voraussetzungen  in  Kontakt  mit  dem  realen  Leben. 
Die  Theologen  sind  zu  sehr  unpraktische  Ideologen,  sie  geben 
im  Grunde  nur  allgemeine  moralische  Betrachtungen  und  diese 
im  konventionellen    Stil  uralter  theologischer  Überlieferung. 

Heidelberg.  Troeltsch. 

Die  Anfänge  der  Beginen.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Volks- 
frömmigkeit und  des  Ordenswesens  im  Hochmittelalter  [so!]. 
Von  Dr.  Joseph  Greven,  Kaplan  an  St.  Paul  in  Düssel- 
dorf. (=  Vorreformatorische  Forschungen  Bd.  8.)  Mün- 
ster i.  W.,  Aschendorff.    1912.    XV  u.  227  S.    5,50  M. 

Das  vom  Verfasser  behandelte  Problem  ist  eines  der  schwie- 
rigsten der  mittelalterlichen  Kirchengeschichte;  es  hat  immer 
wieder  die  Forscher  angelockt  und  zu  den  verschiedenartigsten 
Lösungsversuchen  Anlaß  gegeben.  Ich  selbst  glaubte  bei  der 
von  mir  in  der  Realenzyklopädie  für  protestantische  Theologie 
und  Kirche  IP,  S.  516f.  und  XI,  S.  225  ff.  gegebenen  Über- 
sicht über  den  derzeitigen  Stand  der  Forschung  die  Stiftung 
der  Beginenvereinigungen  durch  den  Priester  Lambert  le  Bfegue 
als  endgültig  erwiesen  bezeichnen  zu  dürfen.  Der  Verfasser  hat 
erfreulicherweise  von  neuem  den  Spaten  angesetzt  und  die  Früh- 
geschichte des  Beginenwesens  auf  Grundlage  einer  außerordent- 
lich ausgebreiteten  Benutzung  und  Kritik  des  weitschichtigen, 
ziemlich  schwer  erreichbaren  Quellenmaterials  zum  Gegenstand 
einer  eindringenden   Forschung  gemacht.    Diese   kommt   zum 


Mittelalter.  621 

Ergebnis,  daß  nicht  schon  Lambert,  als  er  um  die  Mitte  des 
12.  Jahrhunderts  im  Kampfe  mit  weiten  Kreisen  des  Lütticher 
Klerus  stand,  den  Anstoß  zur  Bildung  der  Beginengenossen- 
schaften  gegeben  hat,  sondern  erst  die  starke  religiöse  Bewegung, 
die  sich  zu  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  im  Lütticher  Sprengel 
bemerkbar  machte.  Wenn  man  nun  aber  doch  schon  damals 
die  von  jener  religiösen  Bewegung  erfaßten  Lütticher  Frauen 
als  „Beginen"  nach  dem  Namen  des  Lambert  le  B^gue  (f  1177) 
bezeichnete,  so  erklärt  dies  Greven  damit,  daß  der  Name  „Be- 
gine"  schon  in  jener  Zeit  schlechthin  die  Bedeutung  „Ketzerin'^ 
angenommen  hatte  und  deshalb  von  den  Lütticher  Klerikern 
den  von  ihnen  angefeindeten  frommen  Frauen  und  Mädchen 
ohne  Beziehung  auf  die  Person  Lamberts  von  Lüttich  beigelegt 
wurde.  Diese  neue  Hypothese  hat  sicherlich  viel  für  sich,  wenn 
sie  auch  nicht  alle  Schwierigkeiten  beseitigt.  Sehr  dankenswert 
sind  auch  des  Verfassers  Nachweise  der  allmählichen  Entwick- 
lung des  Beginenwesens  zu  einer  eigenen  neuen  Genossenschaft 
und  die  Darlegung  der  geschichtlichen  Voraussetzungen,  die  die 
Entwicklung  jener  eigenartigen  weiblichen  Frömmigkeit  ermög- 
licht haben.  Die  Arbeit  ist  ein  Muster  sorgfältiger  und  vor- 
sichtiger Forschung  und  macht  ihrem  Verfasser,  einem  Schüler 
von  H.  Schrörs,  alle  Ehre. 

Gießen.  Herman  Haupt. 


Les  Papes  d'Avignon  (1305—1378).  Par  G.  Mollat,  (Bibliotheque 
de  l'enseignement  de  l'histoire  eccle'siastique.)  Paris,  Le- 
coffre.    1912.    XV  u.  423  S.    3,50  Fr. 

In  mehr  als  einer  Richtung  erhält  man  bei  diesem  Buch  er- 
freuliche Eindrücke.  Erfreulich  ist  zunächst  schon  der  Eifer 
und  Erfolg,  mit  dem  die  Studien  über  das  spätere  Mittel- 
alter neuerdings  betrieben  werden.  Als  ich  vor  10  Jahren 
den  ersten  Versuch  einer  zusammenfassenden  Schilderung  des 
Papsttums  von  Avignon  unternahm,  befand  ich  mich  meistens 
auf  unbebautem  Boden.  Wie  anders  das  heute  ist,  davon 
zeugt  in  diesem  Buche  schon  die  reiche,  ja  überreiche  Biblio- 
graphie, der  man  nur  etwas  mehr  Gleichmäßigkeit  und  strengere 
Ordnung  wünschen  möchte.  Wie  darf  z.  B.  in  dem  Kapitel 
über  die  päpstliche  Kanzlei  der  Hinweis  auf  Breßlaus  Handbuch 


622  Literaturbericht. 

der  Urkundenlehre  fehlen?  Davon  zeugt  aber  noch  mehr  der 
hihalt  selbst.  In  der  klaren,  immer  präzisen  Sprache,  die  der 
Vorzug  der  französischen  Wissenschaft  ist,  erhält  man  hier  ein 
wohlabgerundetes,  im  ganzen  vollständiges  und  anschauliches 
Bild  von  der  Geschichte  des  französischen  Papsttums,  von  seiner 
kirchlichen  Wirksamkeit  (1.  Buch),  seinen  politischen  Bestre- 
bungen" (2.  Buch),  seiner  Organisation  und  Verwaltung  (3.  Buch). 
Die  Darstellung  ist  zum  größeren  Teil  Zusammenfassung  fremder 
Arbeiten  und  als  solche  schon  sehr  willkommen,  bietet  aber 
an  manchen  Stellen  auch  mehr.  Mit  Quellen  und  Literatur  ist 
der  Verfasser  im  allgemeinen  sehr  gut  vertraut,  zahlreiche  Kapitel 
beruhen  offenbar  auf  gründlichen  eigenen  Studien.  Obwohl 
ein  Handbuch  für  Studium  und  Unterricht,  enthält  das  Buch 
doch  manche  Seite,  die  als  künstlerische  Darstellung  auch  hohen 
Ansprüchen  genügt.  Die  Geschichte  des  Templerprozesses, 
die  Rückkehr  Gregors  XL  sind  besonders  gelungen.  Anderes 
freilich  ist  nicht  ganz  auf  der  Höhe,  am  wenigsten  das,  was  von 
den  Beziehungen  zu  Deutschland  handelt.  Hier  weist  sogar  die 
Bibliographie  starke  Lücken  auf.  Bei  Ludwig  dem  Baiern 
vermißt  man  den  Hinweis  auf  Riezlers  Geschichte  Baierns,  wie 
auch  auf  wichtige  Spezialuntersuchungen,  wie  die  von  Friedens- 
burg, Sievers,  Priesack.  Auch  die  Darstellung  ist  an  dieser  Stelle 
weniger  klar,  zum  Teil  geradezu  schief  und  unrichtig.  Die  Ver- 
handlungen Ludwigs  mit  der  Kurie  scheinen  mir  durchaus  nicht 
zutreffend  wiedergegeben,  das  noch  immer  ungelöste  Problem 
der  Prokuratorien  ist  zu  obenhin  behandelt  (weder  die  ältere 
Untersuchung  von  Rohrmann  noch  die  neueste  von  Zeumer 
werden  erwähnt),  das  päpstliche  Reichsvikariat  wird  gar  nicht 
besprochen.  Vollends  was  über  Karl  IV.  gesagt  wird  —  genau 
zwei  Seiten!  —  ist  ganz  ungenügend,  abgesehen  davon,  daß  der 
Verfasser  auch  hier  die  neuesten  Studien  über  die  Goldene  Bulle, 
voran  die  Monographie  von  Zeumer,  nicht  zu  kennen  scheint. 
Die  Flüchtigkeit  fällt  hier  um  so  mehr  auf,  weil  der  Verfasser 
anderswo  des  Guten  eher  zu  viel  tut.  So  sind  die  Abschnitte 
über  den  Prozeß  des  Bischofs  von  Cahors  unter  Johann  XXII. 
und  über  die  Ordensreformen  Benedikts  XI L  entschieden  zu  breit 
ausgeführt.  Auf  Einzelheiten  möchte  ich  nicht  zu  viel  eingehen; 
aber  die  Darstellung,  die  von  der  Politik  Benedikts  XII.  gegen- 
über Frankreich  gegeben  wird  —  sie  ist  sehr  abhängig  von  dem 


Mittelalter.  t)23 

schlechten  Buche  von  Deprez,  Les  präiminaires  de  la  guerre  de 
Cent  ans  (1902)  —  kann  man  doch  nicht  ohne  Verwahrung  hin- 
gehen lassen.  Daß  Philipp  der  Schöne  durch  den  Ausgang  des 
Templerprozesses  „grausam  enttäuscht"  worden  sei  (S.  249), 
wird  auch  schwerlich  jemand  glauben.  Bekam  er  doch  für  die 
Herausgabe  der  Templergüter,  die  er  6  Jahre  lang  für  sich  genutzt 
hatte,  von  den  Johannitern  noch  200  000  Livres  ausbezahlt. 
Daß  sich  hinter  dem  „comte  Lando"  und  „Bongard"  (S.  151,  155) 
zwei  deutsche  Kondottieren,  Lutz  von  Landau  und  Manschen 
Baumgarten  verbergen,  werden  nicht  alle  Leser  erraten. 

Die  stärksten  Bedenken  dürfte  die  Anordnung  des  Stoffes 
hervorrufen.  Er  ist  über  die  ganze  Periode  von  Klemens  V. 
bis  Gregor  XL  (1305 — 1378)  in  die  drei  oben  bezeichneten  Gruppen 
eingeteilt,  was  man  allenfalls  verstehen  könnte.  Das  2.  Buch,  das 
die  Politik  der  Päpste  gegenüber  weltlichen  Mächten  darstellt, 
gliedert  sich  wiederum  in  5  Kapitel,  die  der  Reihe  nach  die  Be- 
ziehungen zu  Italien,  Deutschland,  Frankreich,  England,  Spanien 
behandeln,  jedes  ebenfalls  über  den  ganzen  Zeitraum  hinweg. 
Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  dabei  die  Einheit  der  einzelnen  Papst- 
regierungen ebensowenig  zur  Geltung  kommt  wie  der  Gegensatz, 
•der  zwischen  einigen  von  ihnen  (Benedikt  X 1 1.  gegen  Johann  XX  IL, 
Klemens  VI.  gegen  Benedikt  XII.)  besteht.  Der  Verfasser  mag 
2u  seiner  Disposition  durch  den  Zweck  seines  Buches  geführt 
worden  sein.  Aber  mir  scheint,  dieser  Zweck  hätte  auch  bei 
«iner  mehr  dem  Stoff  angepaßten  Ordnung  nicht  unbedingt  zu 
leiden  brauchen.  Daß  die  italienische  Politik  von  der  deutschen 
getrennt  wird,  ist  unter  keinen  Umständen  zu  rechtfertigen. 
Das  zeigt  schon  der  Titel  des  2.  Kapitels:  la  Papauti  et  l' Empire. 
Was  wäre  denn  das  Empire,  wenn  nicht  die  deutsche  Herrschaft 
in  Italien?  So  wirkt  auch  der  Römerzug  Ludwigs  des  Baiern, 
von  dem  Zusammenhang  der  italienischen  Dinge  abgelöst,  gar 
nicht  verständlich.  Ebenso  verliert  der  ganze  Pontifikat  Gre- 
gors XL  seinen  eigentümlichen  Charakter,  weil  die  Politik  dieses 
Papstes,  vor  allem  die  Rückkehr  nach  Rom,  nur  aus  dem  Zu- 
sammenhang seiner  Beziehungen  zu  Frankreich  auf  der  einen, 
England  und  Deutschland  auf  der  andern,  den  italienischen 
Staaten  auf  der  dritten  Seite  zu  begreifen  ist.  Diesen  Zusammen- 
hang herzustellen  überläßt  der  Verfasser  dem  Leser  —  ein  Fehler, 
der  gerade  bei  einem  Handbuch  für  Studierende  bedenklich  ist. 


624  Literaturbericht. 

Der  Verfasser  verwahrt  sich  im  Vorwort  gegen  jede  Tendenz^ 
und  man  wird  ihm  die  ernste  Absicht,  rein  sachlich  zu  erzählen 
und  zu  urteilen,  gern  glauben.  Nichtsdestoweniger  ist  es  un- 
verkennbar, daß  er  manche  Personen  und  Dinge  günstiger  be- 
urteilt als  sie  verdienen.  Johann  XXII.  ist  sicher  nicht  der 
Gemütsmensch  gewesen,  Klemens  VI.  nicht  der  Biedermann,, 
die  der  Verfasser  uns  vorführt.  Klemens  V.  war  auch  nicht  weich' 
und  versöhnlich,  sondern  eher  böse  und  schwach.  Auch  die 
Schilderung  Gregors  XI.  (S.  122)  mutet  etwas  offiziös  rosenfarbig^ 
an.  Der  Bericht  über  das  Ende  Johanns  XXII.  ist  sogar  ein- 
fach der  offizielle,  mit  dem  man  nach  dem  Tode  des  Papstes,, 
der  unter  der  Anklage  der  Ketzerei  gestorben  war,  die  Welt  zu 
beruhigen  und  zu  täuschen  suchte.  Ist  der  Verfasser  hier  zu  milde,, 
so  hat  er  für  anderes  nicht  das  Verständnis,  das  man  wohl  er- 
warten dürfte.  Dies  gilt  von  seiner  Schilderung  des  Armuts- 
streits. Der  letzte  Grund  der  Feindschaft  zwischen  Johann  XX IL 
und  den  Minoriten  scheint  ihm  nicht  klar  geworden  zu  sein,, 
wie  er  denn  die  tiefe  Bedeutung  des  religiösen  Armutsideals 
offenbar  nicht  erfaßt  hat.  Daß  die  avignonesischen  Päpste 
nur  ihr  eigenes  Interesse  verfolgten,  wenn  sie  Frankreich  dienten 
(S.  266),  wird  man  außerhalb  Frankreichs  nicht  leicht  glauben. 
Das  Interesse  der  Gesamtkirche  ist  jedenfalls  darüber  zu  kurz  ge- 
kommen, daß  ihr  Oberhaupt  nicht  mehr  unabhängig  unter  den 
Großmächten,  geschweige  denn  über  ihnen  dastand.  Der  Ver- 
fasser scheint  selbst  zu  fühlen,  daß  dieser  Punkt  nach  Recht- 
fertigung verlangt.  Würde  er  sonst  wohl  seine  Darstellung, 
statt  mit  einem  Ausblick,  mit  einem  richtigen  Plaidoyer  schließen,, 
das  man  doch  nur  als  Ausdruck  seiner  subjektiven  Ansicht  gelten 
lassen  kann?  Denn  daß  die  französischen  Päpste  von  dem  Vor- 
wurf der  Dienstbarkeit  gegen  Frankreich  reingewaschen  seien,, 
abgesehen  von  einigen  Einzelfragen  und  einzelnen  Personen 
wie  Klemens  V.  und  Benedikt  XII.,  bei  denen  „allein  der  Tadel 
noch  verdient  scheinen  kann"  (S.  400:  ce  reproche  peut  seule- 
ment  encore  sembler  mirite),  —  das  ist  doch  einfach  nicht  richtig. 
Ebenso  wenig  richtig  wie  die  Behauptung  (S.  401),  die  Avignonesen 
hätten  sämtlich  die  Rückkehr  nach  Rom  erstrebt.  Von  Bene- 
dikt XII.  bis  Innozenz  VI.  (1335—1362)  ist  davon  schlechter- 
dings keine  Rede.  Da  scheint  der  Verfasser  doch  nicht 
nur,  da  hat  er  wirklich  nicht  vermocht,  sich  die  erforderliche 


Reformation.  625 

Unbefangenheit  des  Urteils  zu  erwerben,  die  die  Dinge  sieht, 
wie  sie  sind,  nicht  wie  wir  wünschten,  daß  sie  wären. 

Trotz  der  gerügten  Mängel  bleibt  das  Buch  höchst  nützhch 
und  verdienstvoll.  Wer  es  als  Kenner  zur  Hand  nimmt,  wird 
immer  noch  viel  daraus  lernen  können,  und  wer  erst  in  das  Studium 
des  14.  Jahrhunderts  einzudringen  wünscht,  dem  wird  es  über- 
all ein  bequemer,  meist  ein  guter,  mitunter  ein  ausgezeichneter 
Führer  sein.  Es  gibt  vielleicht  zu  denken,  daß  in  Frankreich 
solche  Bücher  für  Unterricht  und  Studium  geschrieben  werden, 
und  daß  es  geistliche  Kreise  sind,  die  sich  vornehmlich  darum 
bemühen.  Geschichtliche  Lehrbücher  von  dem  Range  des  hier 
besprochenen  wünschten  wir  in  Deutschland  wohl  mehr  zu  be- 
sitzen. 

Gießen.  Malier. 

Briefwechsel  der  Brüder  Ambrosius  und  Thomas  Blaurer  1509  bis 
1567.  Herausgegeben  von  der  Badischen  Historischen  Kom- 
mission (Bd.  3:  in  Verbindung  mit  dem  Zwingli-Verein  zu 
Zürich),  bearb.  von  Traugott  Schieß.  3  Bde.  XLVIII,  884; 
XVII,  914;    XX,  936  S.    Freiburg,   Fehsenfeid.     1908—1912. 

Die  Anregung  zu  dieser  zu  glücklichem  Abschluß  gekom- 
menen großen  Publikation  kam  von  der  Herausgabe  der  Vadiani- 
schen  Briefsammlung  her;  die  gleichen  Bände,  denen  jene  wert- 
volle Korrespondenz  entnommen  war,  bargen  noch  Kostbareres, 
den  größten  Teil  des  Briefwechsels  der  beiden  Konstanzer  Refor- 
matoren Ambrosius  und  Thomas  Blarer  (über  die  Schreibweise 
Blaurer  oder  Blarer  hat  sich  eine  kleine  Debatte  zwischen  Schieß 
und  den  Württembergern,  vorab  Bessert  und  Keidel,  erhoben; 
Seh,  dürfte  im  Unrecht  sein;  vgl.  das  abschließende  Votum  von 
Keidel  in  den  Blättern  für  württemb.  Kirchengeschichte  191 1).  Die 
Badische  Historische  Kommission  als  die  zunächst  berufene  nahm 
die  Sache  in  die  Hand;  der  Kirchenhistoriker  Hans  v.  Schubert 
überwachte  den  Druck.  Man  wollte  sich  zuerst  auf  die  Jahre  1509 
bis  1548  beschränken,  da  damals  infolge  des  Konstanzer  Sturmes 
die  Gebrüder  Blarer  die  Vaterstadt  verlassen  mußten,  doch  ge- 
lang nach  Abschluß  des  zweiten,  schon  mit  einem  Register  ver- 
sehenen Bandes  dank  der  Unterstützung  durch  den  Zwingli-Verein 
in  Zürich,  der  mit  Recht  die  Publikation  als  eine,  wenn  ich  so 
sagen  soll,  halb  schweizerische  Aufgabe  ansah,  den   Endpunkt 


^26  Literaturbericht. 

bis  zum  Tode  der  beiden  Brüder  hinauszuschieben.  So  haben  wir 
ein  vollendetes  Ganzes  vor  uns.  Um  den  Umfang,  der  schon  jetzt 
sehr  erheblich  ist,  nicht  allzu  stark  werden  zu  lassen,  sind  weniger 
bedeutsame  Stücke  in  Regest  gegeben.  Das  hat,  wie  namentlich 
Kolde  in  den  Beiträgen  zur  bayerischen  Kirchengeschichte 
hervorhob,  seine  Nachteile,  man  kann  in  die  Lage  kommen, 
gerade  auch  für  solche  Stücke  —  ein  Maßstab,  der  untrüglich 
wäre,  was  denn  weniger  bedeutsam  ist,  existiert  ja  nicht  —  den 
Wortlaut  zu  benötigen,  aber  man  muß  anerkennen,  daß  Seh. 
sehr  gewissenhaft  die  Auszüge  anfertigte.  Viel  schmerzlicher 
berührt  die  Knappheit  der  Anmerkungen;  sie  sind  zwar  weit  aus- 
führlicher als  die  der  Vadianischen  Briefsammlung,  die  den 
Suchenden  fast  völlig  im  Stich  läßt,  aber  sie  lassen  doch  noch 
zu  viel  unerklärt.  Mir  scheint  hier  die  von  Egli  in  der  Zwingli- 
Korrespondenz  gebotene  Gründlichkeit,  die  seine  Nachfolger, 
Finsler  und  der  Unterzeichnete,  tunlichst  weiterzuführen  sich  be- 
mühen, vorbildlich  zu  sein,  so  schwierig  sie  auch  ist.  Ein  gut  er- 
läuterter Brief  liest  sich  ganz  anders!  Daß  die  Literaturangaben 
oft  mit  veraltetem  Materiale  arbeiten,  hängt  wohl  mit  dem  kleinen 
Bestände  an  neuerer  Literatur  in  der  S.  Galler  Vadiana,  wo 
Seh.  arbeitete,  zusammen.  Da  diese  wichtige  Fundgrube  in  der 
Regel  übersehen  wird,  darf  ich  hier  wohl  darauf  hinweisen,  daß 
Johannes  Ficker  im  2.  Bande  seiner  mit  0.  Winckelmann  heraus- 
gegebenen Handschriftenproben  eine  Fülle  von  biographischem 
Material  zur  Geschichte  der  Straßburger  Reformation  mühsam 
zusammengetragen  hat;  es  ist  Seh.  entgangen. 

Einzelheiten  oder  gar  Ergänzungen  und  Korrekturen  zu  der 
Edition  aufzuführen,  ist  innerhalb  der  hier  gesetzten  Raum- 
schranken unmöglich.  Die  Blarer-Korrespondenz  erstreckt  sich 
so  ziemlich  auf  alles,  was  in  den  betreffenden  Zeitraum  hinein- 
fällt, bald  in  kurzen  Bemerkungen,  bald  in  längeren  Ausführungen; 
die  guten  Einleitungen  von  Seh.  und  die  Inhaltsangaben  über  den 
Briefen  erleichtern  die  Orientierung.  Für  die  älteste  Periode  sind 
die  Stimmungsbilder  aus  der  Blarerschen  Familie  und  dem 
Wittenberger  Melanchthonkreise  charakteristisch,  sowie  die  Wand- 
lung des  Ambrosius  Blarer  vom  Mönche  zum  Anfänger  der  Refor- 
mation. Dann  folgt  die  Reformationseinführung  in  Konstanz, 
die  Verbindung  mit  Zürich  und  Bern.  Gegen  Ende  des  Jahres 
1528  beginnt  die  auswärtige  reformatorische  Tätigkeit  des  Am- 


Napoleonische  Zeit.  627 

brosius  Blarer,  hinter  dem  der  Konstanzer  Bruder  Thomas 
zurücktritt;  er  wirkt  in  Memmingen,  Bischofszeil,  Herisau  u.  a. 
Der  Lutheraner  vollzieht  allmählich  eine  Hinneigung  zu  Zwingli, 
ohne  doch  ganz  den  lutherischen  Ausgangspunkt  vergessen  zu 
können.  Beweis  dafür  ist  die  Abendmahlskontroverse,  für  deren 
Verständnis  die  vorliegende  Publikation  wertvollstes  Material 
bietet;  es  sei  nur  daran  erinnert,  daß  H.  v.  Schuberts  neue  Dar- 
stellung der  Marburger  Disputation  sich  zum  guten  Teil  auf  der 
Blarer-Korrespondenz  aufbaut.  Seine  Stellungnahme  im  Abend- 
mahlsstreit hat  Blarer  auch  den  Ruf  nach  Württemberg  ver- 
schafft, doch  ergaben  sich  bekanntlich  gerade  hier  die  größten 
Schwierigkeiten,  man  gewinnt  aber  aus  den  Briefen  allen  Respekt 
vor  Blarers  Wirksamkeit  als  Organisator  an  der  Tübinger  Uni- 
versität und  im  Lande.  Seit  1538  ist  Blarer  wieder  daheim  in 
Konstanz;  das  gibt  Gelegenheit,  in  der  Korrespondenz  wie  in 
einem  Zeitspiegel  die  reformatorische  und  allgemeine  Politik 
beobachten  zu  können.  Der  Zusammenbruch  der  Konstanzer 
Reformation  1548  eröffnet  die  letzte  Periode  in  Blarers  Leben, 
die  ihn  wesentlich  auf  schweizerischem  Boden  zeigt. 

Es  sind  in  Summa  2938  Briefe,  die  Seh.  mitteilt.  Man  kann 
wohl  sagen,  daß  die  gesamte  deutsche  Reformationsgeschichte 
durch  sie  eine  neue  und  helle  Beleuchtung  erfährt.  Gute  Register 
ermöglichen  eine  rasche  Ausnutzung.  Aufmerksam  gemacht  sei 
noch  auf  die  Briefe  Bucers  an  Margaretha  Blarer,  die  die  edle 
Schwester  der  beiden  Reformatoren  näher  kennen  lehren.  — 
Unmittelbar  nach  Abschluß  dieser  großen  Arbeit  hat  der  Züricher 
Zwingli-Verein  Seh.  mit  der  Herausgabe  der  Bullinger-Korrespon- 
denz  beauftragt.  Er  ist  dazu  der  geeignetste,  und  seine  Wahl  die 
wohlverdiente  Anerkennung  seiner  Ausgabe  der  Blarer-Korre- 
spondenz. 

Zürich.  H^.  Köhler. 


1805.  Der  Feldzug  von  Ulm.  Von  KrauB,  k.  u.  k.  Generalmajor. 
Mit  32  Beilagen,  darunter  24  Skizzen.  Wien,  Seidel  &  Sohn. 
1912.    594  S. 

Der  Feldzug  von  Ulm  ist  ein  ungemein  interessanter  Feldzug. 
Nur  wenige  kleinere  Gefechte  fanden  statt.  Ohne"  Schlacht 
wurde  der  Feldzug  von  dem  „Schlachtenkaiser"  entschieden,  und 


628  Literaturbericht. 

zwar  so  gründlich,  wie  kaum  ein  anderer  Feldzug.  Zum  erstenmal 
stand  Napoleon,  der  bisher  nur  kleinere  Armeen  ins  Feld  geführt 
hatte,  an  der  Spitze  einer  Heeresmacht  von  über  200  000  Mann. 
Man  hat  daher  mit  Recht  in  diesem  Feldzuge  den  Beginn  des 
modernen  großen  Krieges  erblickt.  Die  Verpflegung  solcher 
Massen  und  die  rückwärtigen  Verbindungen  erforderten  daher 
eine  ganz  andere  Vorsorge,  als  man  bisher  gewohnt  war.  Die  ein- 
gehenden Maßnahmen  Napoleons  für  die  Verpflegung  und  die 
Einrichtung  seiner  Etappenlinie  sind  äußerst  interessant  und 
vom  Verfasser  sorgfältig  bearbeitet.  Wir  machen  besonders 
auf  diese  lehrreichen  Abschnitte  aufmerksam.  Mit  dem  Schlag- 
wort: „Vom  Lande  leben",  kam  man  nicht  mehr  durch,  mehrfach 
wurde  die  Rücksicht  auf  die  Verpflegung  bestimmend  für  die 
Operationen. 

Die  äußerst  sorgfältige,  gründliche  und  ausführliche  Be- 
arbeitung des  Feldzugs  durch  Generalmajor  Krauß  beruht  einer- 
seits auf  dem  französischen  Quellenwerk  von  Alombert  et  Colin, 
La  campagne  de  1805  en  Allemagne,  anderseits  auf  der  dem  Ver- 
fasser zugestandenen  Benutzung  der  Akten  des  k.  u.  k.  Kriegs- 
archivs. Sie  sind  nach  Angabe  des  Verfassers  zwar  nicht  lückenlos, 
bieten  aber  doch  einen  genügenden  Einblick  in  die  Ereignisse 
und  deren  Veranlassung.  So  konnte  zum  erstenmal  eine  auf  den 
Kriegsarchiven  beider  Parteien  beruhende  Darstellung  der  Er- 
eignisse geboten  werden,  die  geeignet  ist,  als  Grundlage  für  das 
kriegsgeschichtliche  Studium  dieses  Feldzuges  zu  dienen.  Es 
zeigte  sich  dabei  hier,  wie  auch  in  anderen  ähnlichen  Fällen, 
daß  man  bisher  über  manche  Begebenheiten,  Absichten  und 
Entschlüsse  der  Führer  ungenügend  unterrichtet  war  und  sie 
daher  auch  irrtümlich  beurteilt  hat.  Ein  Punkt  verdient  in  dieser 
Beziehung  besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Die  nach  den 
Originalbefehlen  gegebene  Darstellung  läßt  erkennen,  daß  die 
bisherige  Auffassung,  Napoleon  habe  bei  Beginn  des  Rhein- 
überganges durch  die  Korps  Lannes  und  Murat  im  Schwarzwald 
demonstrieren  lassen,  um,  gedeckt  und  gesichert  durch  diese 
Demonstration,  mit  der  Hauptkraft  den  Schwarzwald  zu  um- 
gehen, unrichtig  ist.  Man  hat  diese  Verwendung  des  Kavallerie- 
korps bisher  als  ein  großartiges  Beispiel  der  Verschleierung  hin- 
gestellt. Tatsächlich  hat  Napoleon  im  Schwarzwald  gar  nicht 
demonstrieren   wollen.    Eine  solche  Demonstration   hätte  doch 


Napoleonische  Zeit.  629 

auch  erfordert,  daß  Lannes  und  Murat  durch  den  Schwarz- 
wald hindurch  etwa  bis  an  den  oberen  Neckar  vorgegangen 
wären  und  sich  dort  erst  in  Richtung  auf  Stuttgart  dem  An- 
marsch der  Hauptkräfte  angeschlossen  hätten.  Auch  das  längere 
Verweilen  der  Korps  Lannes  und  Murat  bei  Rastatt  und  Straß- 
burg war  nicht  beabsichtigt  gewesen  und  hatte  besondere  Gründe, 
war  aber  geeignet,  beim  Gegner  den  Anschein  zu  erwecken,  als 
sei   der  französische   Marsch   durch   den   Schwarzwald   geplant. 

Sehr  eingehend  bearbeitet  und  auf  österreichischer  Seite 
sehr  scharf  beurteilt  sind  die  inneren  Zustände  der  Armee  und 
der  Dienstbetrieb  im  Felde.  Dieser  Abschnitt  ist  sehr  lehrreich. 
Auffallend  ist,  wie  ungleich  zu  den  verschiedenen  Zeiten  die 
Führer  über  den  Gegner  unterrichtet  waren.  Manchmal  lagen 
überraschend  genaue  und  zutreffende  Nachrichten  vor,  die  man 
aber  fast  alle  nicht  der  aufklärenden  Tätigkeit  der  Kavallerie, 
sondern  Kundschaftern  und  Aussagen  von  Landleuten  verdankte. 
Zu  anderen  Zeiten  war  man  wieder  völlig  im  dunkeln,  wenn  die 
genannten  Quellen  versagten.  Es  lag  dies  auf  französischer 
Seite  an  der  Verwendung  der  Kavallerie.  Auch  hierüber  hat  K. 
sehr  eingehende  und  lehrreiche  Untersuchungen  angestellt.  Die 
schwere  Kavallerie  war  zur  Aufklärung  wenig  geeignet  und  wurde 
auch,  wie  schon  ihr  Name  „Reservekavallerie"  andeutet,  für  den 
Kampf  zusammengehalten.  Die  eigentliche  Aufklärungskavallerie, 
aus  der  leichten  Kavallerie  bestehend,  war  auf  die  Armeekorps 
verteilt  und  diente  infolgedessen  mehr  den  beschränkteren  Zwecken 
der  Korpsführer  als  den  weiter  gesteckten  Zielen  des  Armee- 
führers. Den  Kavalleriemassen  Murats  mußte  wiederholt  zur 
Aufklärung  leichte  Kavallerie  zugeteilt  werden,  die  den  Armee- 
korps entnommen  wurde. 

In  sehr  günstigem  Lichte  erscheint  der  nominelle  Führer 
der  österreichischen  Armee,  Erzherzog  Ferdinand.  Es  ist  auf- 
fallend, welches  klare,  natürliche  und  einfache  militärische  Urteil 
der  24  jährige  Erzherzog  gegenüber  den  phantastischen  Plänen 
Macks  hatte.  Daß  ein  Mann  wie  Mack  es  verstanden  hatte,  die 
maßgebenden  Kreise  so  für  sich  zu  gewinnen,  daß  ihm  neben 
dem  Erzherzog  der  tatsächliche  Oberbefehl  übertragen  wurde, 
erscheint  kaum  begreiflich.  Nachdem  man  nunmehr  auf  Grund 
des  Kriegsarchivs  über  alle  Vorgänge  genau  unterrichtet  ist, 
muß  das  Urteil  über  ihn  noch  vernichtender  ausfallen  als  bisher. 


630  Literaturbericht. 

Das  vorliegende  Buch  ist  ein  gediegenes,  gründliches,  militär- 
wissenschaftliches Werk,  dem  wegen  seiner  quellenmäßigen  Unter- 
lage sowohl  wie  wegen  der  an  die  Schilderung  der  Ereignisse 
angeknüpften  freimütigen  kritischen  Betrachtungen  ein  beson- 
<lerer  Wert  beizulegen  ist.  Sehr  übersichtliche  Skizzen  erleichtern 
das  Studium.  x. 


Kaiser  Konstantin  und  die  christliche  Kirche.  Von  Eduard  Sdiwartz. 
Leipzig,  Teubner.     1913.   VII  u.  171  S.    3  M. 

Das  Büchlein,  das  Ed.  Schwartz  diesmal  aus  seinen  Frank- 
"Tfurter  Hochstiftvorträgen  gestaltet  hat,  faßt  die  tiefgrabenden 
kirchengeschichtlichen  Forschungen  seiner  letzten  Jahre  im  runden 
Bilde  zusammen.  Es  glänzt  durch  dieselben  Eigenschaften  wie 
seine  Vorgänger:  überall  Selbstgedachtes,  persönlich  Empfundenes 
und  dazu  eine  seltene  Kunst,  bei  knappster  Fassung  doch  an- 
schaulich zu  reden.  Demgegenüber  ist  der  Berichterstatter  in 
mißlicher  Lage.  Es  ist  schlechthin  unmöglich,  den  Inhalt  so 
wiederzugeben,  daß  der  Leser  den  ganzen  Reichtum  der  ge- 
botenen Anregungen  empfände.  Ich  muß  mich  begnügen,  die 
Grundlinien  hervorzuheben  und  dabei  das  Wichtigste  der  neu 
vorgetragenen  Auffassungen  anzudeuten. 

Um  den  geschichtlichen  Hintergrund  zu  gewinnen,  schildert 
Ed.  Schwartz  zunächst  das  Kaisertum  und  die  christliche  Kirche, 
so  wie  Konstantin  sie  beides  vorfand.  Beim  Kaisertum  ist  Seh. 
vor  allem  bemüht,  den  Unterschied  zwischen  Diokletians  und 
Konstantins  Monarchie  scharf  ins  Licht  zu  setzen.  Er  betont 
nachdrücklich  die  rückwärts  gewandten  Züge  in  Diokletians 
Schöpfung:  Diokletian  faßt  seine  Stellung  noch  als  ein  Amt, 
während  Konstantin  von  Anfang  an  auf  das  erbliche  Kaisertum 
losstrebt. 

Auf  selten  der  christlichen  Kirche  gilt  es  in  erster  Linie, 
die  Geschichte  und  die  Bedeutung  ihrer  Verfassung  zu  ver- 
stehen. Seh.  läßt  sie  von  zwei,  aus  dem  Judentum  her  über- 
nommenen Glaubensgedanken  ausgehen:  dem  Gedanken  des 
Volkes  Gottes  und  des  geistlichen  Charisma.  Indem  er  neben 
dem  für  gewöhnlich  allein  genannten  zweiten  die  Vorstellung 
vom  Volke  Gottes  betont,  gewinnt  er  die  Möglichkeit,  auch 
das  Ältestenamt   und   damit  zugleich   die   Spannung  zwischen 


Kirchengeschichtc.  631 

Geineingeist  und  persönlicher  Begabung  in  einfachster  Weise 
abzuleiten,  (Man  beachte  auch  die  feine  Benierl<ung  über  den 
Diakonat  S.  22.)  Seh.  zeigt  dann,  unter  welchen  Einflüssen 
die  Glaubensgedanken  sich  in  Rechtsformen  wandelten:  der 
monarchische  Episkopat  bildete  den  vorläufigen  Abschluß.  Auf- 
gefallen ist  mir  dabei  nur,  daß  Seh.  den  Einschnitt,  den  der 
erste  Klemensbrief  anzeigt,  nicht  erwähnt,  und  daß  er  den  mon- 
archischen Episkopat  in  Rom  erst  in  der  Zeit  des  Kaisers 
Marcus  aufkommen  läßt,  vgl.  dagegen  Justin  apol.  I  65,  3.  5; 
67,  5.  —  Der  monarchische  Episkopat  bedeutet  innerhalb  der 
Gesamtheit  der  Kirche  die  Selbständigkeit  des  einen  Bischofs, 
gegenüber  dem  andern.  Aber  die  Kirche  fällt  darum  doch 
nicht  in  Ortsgemeinden  auseinander.  Der  Gedanke  des  Volkes 
Gottes  als  des  Ursprünglichen  und  Übergreifenden,  dem- 
gegenüber sich  die  einzelnen  Gemeinden  nur  wie  Erscheinungs- 
formen verhalten,  bleibt  in  der  Kirche  lebendig.  Er  erweist 
sich  als  eine  Macht  nach  Innen  und  nach  Außen.  Aber  die 
Einheit,  die  dadurch  hergestellt  wird,  ist  nur  eine  geistige,, 
eine  sittliche.  Eine  rechtliche  Ausgestaltung  dieser  Seite  des 
Kirchenbegriffs  hat  vor  Konstantin  nicht  stattgefunden. 

Auch  in  der  Auffassung  der  Verfolgungen  geht  Seh.  seine 
eigenen  Wege.  Er  stimmt  mit  M.  Heinze  darin  überein,  daß 
das  Vorgehen  der  Statthalter  gegen  das  Christentum  eine 
rechtliche  Grundlage  in  einem  (verlorenen)  Kaiseredikt  oder 
Senatskonsult  gehabt  haben  müsse,  das  die  Zugehörigkeit  zur 
christlichen  Kirche  für  ein  kapitales  Verbrechen  erklärte.  Ich 
bin  hier  noch  nicht  völlig  überzeugt.  Aber  soviel  haben 
Heinze  und  Schwartz  jedenfalls  bewiesen,  daß  die  Frage  nicht 
mehr  als  durch  Mommsen  erledigt  gelten  darf. 

Absichtlich  hat  Seh.  das  Unfertige  der  Verhältnisse  in 
Staat  und  Kirche  unterstrichen,  um  damit  von  vornherein 
deutlich  zu  machen,  daß  die  Lösung,  die  Konstantin  fand,  nicht 
einfach  am  Wege  lag.  Was  Konstantin  unternahm,  war  ein 
Wagnis,  das  nur  einem  bedeutenden,  seiner  selbst  sichern  Menschen 
gelingen  konnte.  Um  Staat  und  Kirche  so  in  Beziehung  zu 
setzen  wie  er  es  getan  hat,  mußte  er  beide  erst  umbilden. 

Das  ursprünglich  Treibende  bei  Konstantin  findet  Seh, 
in  seinem  Streben  nach  Weltherrschaft.  „Sein  ganzes  Handeln 
von  306  an  ist  nur  verständlich,  wenn  er  von  Anfang  an  danach. 


632  Literaturbericht. 

trachtete,  an  Stelle  der  diokletianischen  Tetras  die  Universal- 
monarchie zu  setzen."  Aber  sehr  früh  müsse  bei  Konstantin 
der  Gedanke  hinzugetreten  sein,  „daß  es  seinen  weltumfassenden 
Plänen  förderlich  sei,  ein  Verhältnis  zur  christlichen  Kirche  zu 
gewinnen".  Seh.  erinnert  an  die  Eindrücke,  die  sich  dem  jungen 
Konstantin  in  Nikomedien  bezüglich  der  sittlichen  Macht  der 
•christlichen  Kirche  aufdrängen  mußten.  Schon  das  Toleranz- 
edikt des  Galerius  möchte  er  auf  einen  von  Konstantin  geübten 
Druck  zurückführen.  Jedenfalls  habe  er  sich  bereits  vor  der 
Schlacht  am  Ponte  Molle  als  Katechumene  mit  der  Kirche  ver- 
bunden (vgl.  dazu  Götting.  Nachrichten  1904).  Das  beweise  die 
geradezu  herausfordernde  Art,  in  der  er  seinen  Sieg  über  Maxentius 
als  einen  Sieg  des  Christengottes  darstellte,  obwohl  Maxentius 
die  Kirche  in  Ruhe  gelassen  hatte  und  das  Heidentum  gerade 
in  Rom  die  festesten  Wurzeln  besaß.  Ein  Christ  war  er  trotz- 
dem nicht,  sagt  Seh.  etwas  schroff;  aber  er  schreibt  ihm  doch 
einen  ehrlichen,  vom  Christentum  her  beeinflußten  Glauben  zu. 
Er  erklärt  es  für  eine  abgeschmackte  Vorstellung,  daß  Kon- 
stantin ein  scheinheiliger  Heuchler  gewesen  sei.  Die  Überzeu- 
gung, der  Konstantin  selbst  häufig  Ausdruck  gab,  daß  er  Werk- 
zeug Gottes  und  Vollstrecker  seines  Willens  sei,  habe  ihn  tat- 
sächlich beseelt. 

Danach  bemißt  sich  das  Urteil  über  Konstantins  Kirchen- 
politik. Seh,  setzt  sich  nicht  erst  lang  mit  der  Meinung  ausein- 
ander, als  ob  ihr  letztes  Ziel  die  Herstellung  eines  Mischmaschs 
aus  Heidentum  und  Christentum  gewesen  wäre.  Die  Gesetzgebung 
Konstantins  zeigt  ihm  deutlich,  wie  er  seit  313  darauf  ausging, 
der  Kirche  eine  Vorzugsstellung  zu  verschaffen,  und  ihr  zulieb 
überlieferte  Ordnungen  rücksichtslos  niederriß.  Aber  es  war 
nicht  Konstantins  Absicht,  sich  die  Kirche  über  den  Kopf  wachsen 
2ü  lassen.  Er  hat,  indem  er  sich  ihrer  annahm,  auch  in  ihre 
inneren  Angelegenheiten  eingegriffen,  und  zwar  so,  daß  er  immer 
die  oberste  Entscheidung  in  der  Hand  behielt.  Das  veranschau- 
licht Seh.  am  donatistischen  und  am  arianischen  Streit. 

Auf  den  letzteren  möchte  ich  etwas  näher  eingehen,  weil  Seh. 

gerade  hier  besonders  viel  Neues  bringt.    Er  zeigt  zuerst,  wie  im 

arianischen   Streit  eine  kirchliche  Verfassungsfrage  mit  einem 

theologischen  Gegensatz  sich  kreuzte.     Dann  holt  er  weit  aus, 

^     um  die  Lehrfrage  zu  beleuchten.    Ein  glänzender  Überblick  über 


Kirchengeschichte.  633 

das  System  des  Origenes  hebt  scharf  den  Punkt  hervor,  an  den 
der  Streit  anknüpfte.  Bei  Origenes  ist  die  christliche  Schätzung 
der  geschichtlichen  Offenbarung  geglichen  mit  der  platonischen 
Lehre  vom  abgestuften  göttlichen  Sein  und  mit  platonischer 
„Mystik":  der  Sohn  selbständiges  Wesen  gegenüber  dem  Vater, 
„Gott"  für  alles,  was  unter  ihm  und  durch  ihn  ist,  und  doch  nicht 
das  höchste  Ziel  des  religiösen  Strebens,  das  nur  in  Gott  selbst 
ausruhen  will.  Die  bischöflichen  Schüler  des  Origenes  haben 
die  ganze  Kühnheit  dieser  Gotteslehre,  namentlich  die  auf  Plato 
zurückgehende  Mystik,  nicht  aufgenommen,  aber  doch  zäh  an 
der  Trennung  des  Vaters  und  des  Sohnes  in  zwei  selbständige 
Wesen  festgehalten.  Damit  kommen  sie  jedoch  in  Gegensatz  zu 
einer  in  der  Gemeinde  lebendigen  Stimmung,  die  Vater  und 
Sohn  auf  eine  Stufe  zu  setzen  strebte.  Das  tritt  in  dem  Fall 
des  Dionysius  von  Alexandrien  deutlich  zutage.  Dort  taucht 
auch  schon  das  Schlagwort  ofAoovaiog  auf,  das  später  die  große 
Rolle  spielte.  Seh.  betont,  durchaus  überzeugend,  daß  dieses 
Schlagwort  an  sich  ein  doppeltes  Gesicht  hat,  daß  die  Gegner  des 
Dionysius  es  in  einem  andern  Sinn  gebrauchen  als  wenn  etwa 
TertuUian  von  una  substantia  des  Vaters  und  des  Sohnes  redet. 
„Die  Gegner  des  Dionys  von  Alexandrien  fordern  das  Bekenntnis 
zur  Homousie  des  Sohnes  mit  dem  Vater,  um  die  These  von  der 
Inferiorität  des  Sohnes  auszuschließen",  während  bei  TertuUian 
die  una  substantia  und  die  Unterordnung  des  Sohnes  nebenein- 
ander stehen.  Dionys  ist  vor  seinem  Namensbruder  in  Rom 
einen  Schritt  zurückgewichen,  aber  seine  Anschauung  wird  in 
verschärfter  Fassung  von  Lucian  und  Arius  aufgenommen.  Seh. 
stellt  ein  Kolumbusei  auf,  wenn  er  die  Christologie  des  Arius 
eng  an  die  des  Dionysius  anknüpft.  Dadurch  ist  mit  einem 
Schlag  erklärt,  warum  die  Stichworte  hfxoovoiog,  rgflg  vnoaTÖaetg 
sofort  bei  Beginn  des  Streites  wieder  aufleben.  Ob  man  aber 
Arius  eine  „weiche  Künstlernatur"  nennen  darf?  Weich,  ge- 
wiß; aber  einen  Künstler  würde  ich  ihn  trotz  oder  vielmehr 
wegen  seiner  Thaleia  nicht  heißen.  Die  daneben  bei  Seh.  sich 
findende  Kennzeichnung,  daß  Arius  im  Vergleich  mit  Origenes 
„Rationalist"  ist,  scheint  mir  zutreffender.  —  Über  die  erste  An- 
zettelung des  arianischen  Streits  denke  ich  etwas  anders  als  Seh. 
Ich  vermag  hier  meinem  alten  Epiphanius  nicht  soviel  Glauben  zu 
schenken,  wie  er.     Die  Erzählung  des  Epiphanius  von  gewissen 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  41 


634  Literaturbericht. 

Beziehungen  zwischen  Melitius  und  Arius  erscheint  mir  nur  als 
einer  seiner  gewohnten  Versuche,  etwas  wie  eine  diado/jj  der  Ketzer 
herzustellen.  Aber  außerordentlich  lebendig  führt  Seh.  dann  die 
Entwicklung  des  großen  Streits  vor.  Der  von  ihm  aufgefundene 
Brief  der  Synode  von  Antiochien  wirft  auch  auf  die  Vorgänge 
in  Nizäa  ein  ganz  neues  Licht.  Nur  zustimmen  kann  ich  auch, 
wenn  er  die  Dinge  so  schildert,  daß  in  Nizäa  wohl  das  Stichwort 
ofxoovGiog,  aber  nicht  eine  bestimmte  Deutung  festgelegt  wurde. 
Dadurch  wird  der  nachfolgende  Kampf,  soweit  er  unter  Kon- 
stantin noch  fortdauert,  erst  wirklich  verständlich. 

Während  Seh.  diese  Vorgänge  im  einzelnen  erzählt,  hat  er 
die  großen  Gesichtspunkte  nicht  aus  dem  Auge  verloren.  Er 
erinnert  den  Leser  immer  wieder  daran,  daß  Konstantin  es  ist, 
der  die  Fäden  in  der  Hand  hält.  Und  höchst  eindrücklich  stellt 
er  fest,  daß,  was  der  Kaiser  in  der  Kirche  und  für  die  Kirche  tat, 
eine  tiefgreifende  Umgestaltung  ihres  ganzen  Wesens  bedeutete. 
Die  „Katholizität"  der  Kirche  war  bis  dahin  ein  Glaubensgedanke 
gewesen,  eine  sittliche  Forderung,  die  man  mit  geistlichen 
Mitteln  durchzusetzen  suchte;  jetzt  wird  sie  in  Form  des  Rechts 
verwirklicht.  Der  Kaiser  schafft  sie,  indem  er  die  großen 
Synoden  beruft,  bestätigt  und  auf  ihre  Beschlüsse  Einfluß  übt. 
Und  dieselben  Bischöfe,  die  vorher  dem  Staat  so  tapfer  wider- 
strebt hatten,  jubeln  jetzt  dem  Kaiser  zu,  der  die  Kirche  ihrer 
Freiheit  beraubt. 

Am  Schluß  des  Büchleins  steht  noch  ein  Wort,  das  mich  zum 
Widerspruch  herausfordert.  Seh.  sagt:  „seinem  eigenen  Reich 
hat  dieser  Bund  (zwischen  Thron  und  Altar)  kein  inneres  Leben 
zugeführt".  Ich  kann  mir  denken,  welche  Tatsachen  Seh.  da- 
bei im  Auge  hat,  aber  ich  möchte  ihm  doch  die  Frage  entgegen- 
halten: hätte  das  byzantinische  Reich  wohl  bis  1453  sich  be- 
hauptet, wenn  es  nicht  christlich  geworden  wäre?  Woraus 
schöpfte  es  die  Kräfte  zu  seinem  heldenhaften  Widerstand? 
Aus  dem  Staatsgedanken  Konstantins  gewiß  nicht;  wohl  aber 
aus  dem  christlichen  Glauben,  den  er  mit  dem  Staatsgedanken 
verbunden  hat. 

Berlin.  K.  Holl. 


Deutsche  Landschaften.  635 

Geschichte  der  Freien  Stadt  Frankfurt  a.  M.  (1814-1866).  Von 
Richard  Schwemer.  1.  Bd.  XVI  u.407  S.  2.  Bd.  XIV  u.  772  S. 
Frankfurt  a  M.,  Joseph  Baer  &  Co.     1910  u.  1912. 

Die  wissenschaftlichen  Bestrebungen  in  Frankfurt  a.  M., 
die  in  früheren  Jahren  durch  das  Senckenbergianum,  den  Verein 
für  Geschichte  und  Altertumskunde  und  das  Freie  Deutsche 
Hochstift  allein  gepflegt  und  gefördert  worden  sind,  haben  infolge 
der  Gründung  der  Akademie  für  Sozial-  und  Handelswissenschaften 
einen  starken  Impuls  erhalten.  Was  früher  von  einzelnen  For- 
schern und  von  Freunden  gelehrter  Studien  für  die  breite  Ober- 
schicht einer  ungewöhnlich  bildungseifrigen  Bürgerschaft  ge- 
leistet wurde,  das  wird  nun  in  mehr  fachlichem  Geiste  für  einen 
engeren,  allerdings  noch  keineswegs  wirklich  akademischen 
Kreis  erstrebt.  Auch  die  historischen  Wissenschaften  sind  in  diese 
neue  Richtung  gelenkt  worden.  Die  historische  Kommission 
der  Stadt  Frankfurt  hat  eine  Anzahl  gelehrter  Studien  angeregt; 
die  stattlichste  Aufgabe  hat  sie  bisher  Richard  Schwemer  gestellt 
—  nämlich  die,  eine  Geschichte  der  Freien  Stadt  Frankfurt 
(1814 — 1866)  zu  schreiben.  Die  zwei  ersten  Bände  dieses  Werkes 
liegen  vor,  breitrandig  und  sorgfältig  gedruckt,  gediegen  ausge- 
stattet; der  dritte  ist  im  Laufe  des  Jahres  1913   zu  erwarten. 

Seh.  hat  sich  das  Ziel  gesetzt,  eine  vorzugsweise  poli- 
tische Geschichte  zu  geben.  Die  Entstehung  der  Frei- 
heit, die  Kämpfe  um  die  Erhaltung  der  Freiheit,  der  Verlust 
der  Freiheit  —  die  Schicksale  des  staatlichen  Frankfurt  also  — 
das  ist  sein  Hauptstoff.  Man  könnte  wohl  diese  starke  Betonung 
des  Politischen  einseitig  finden;  je  beschränkter  ein 
staatliches  Gebilde  an  Ausdehnung  ist,  desto  unwichtiger  werden 
ja  seine  politischen  Erlebnisse  für  die  Kulturwissenschaft.  Die 
Spannungen  und  Leidenschaften  der  Staatsgeschäfte  werden  durch 
die  Kleinheit  der  Objekte  entwertet.  Nicht  die  Leistung,  sondern 
der  Zusammenhang  gibt  hier  die  Geltung. 

Umgekehrt  ist  das  Verhältnis  bei  geistes-  und  wirtschafts- 
geschichtlichen Problemen.  Monumentalen  Staatsgeschicken 
gegenüber  vermögen  sie  sich  nicht  zu  behaupten,  erst  durch 
das  Detail  werden  sie  ergiebig.  In  einem  kleinen  Gemeinwesen, 
wie  es  das  alte  Frankfurt  war,  sind  gerade  diese  Kräfte  außer- 
ordentlich individuell  geprägt  gewesen;  von  ihnen  kann  der  Ge- 
schichtschreiber sein  Bestes  sagen.    Man  könnte  sich  also  denken, 

41* 


-636  Literaturbericht. 

daß  der  Frankfurter  Historiograph  seine  Aufgabe  tiefer  erfaßt 
haben  dürfte,  wenn  er  sich  eine  Schilderung  des  Kulturganzen 
und  seiner  Entwicklung  zum  Problem  gestellt  hätte.  Die  Frage 
ist  prinzipiell.  Seh.  folgt  dem  Drang  seiner  Begabung  für 
die  Reibungen  und  Verwicklungen  diplomatischer  Aktionen 
und  setzt,  in  der  Art  Sybels  etwa,  neben  den  Hauptstoff,  das 
Politische,  ergänzend  die  andern  Gebiete. 

Das  Geistesgeschichtliche  ist  dabei  entschieden  zu  kurz  ge- 
kommen. Über  das  Frankfurter  Theater  findet  sich  nichts  als 
eine  allgemein  absprechende  Bemerkung;  Malß  und  seine  Hampel- 
manniaden,  etwas  für  das  Frankfurter  Volkstum  doch  ungemein 
Charakteristisches,  sind  unerwähnt  geblieben.  Etwas  anderes: 
die  einzige  europäische  Intelligenz,  die  Frankfurt  damals  besaß, 
Ludwig  Börne,  mußte  in  einer  Geschichte  der  Freien  Stadt  nicht 
so  dürftig  abgemacht  werden,  wie  es  hier  geschieht  (II,  21, 
22).  Es  hängt  das  wohl  mit  Sch.s  allgemeiner  Antipathie  gegen 
das  „Demokratische"  zusammen.  So  bezeichnet  er  auch  die 
Attentäter  von  1833  mit  dem  Polizistenwort  „Rebellen".  Kein 
Heutiger  wird  sich  mit  den  Schwärmern  von  damals  identi- 
fizieren wollen;  aber  warum  so  wenig  Humor  und  warum  so 
wenig  Respekt  vor  der  edeln  Courage  unserer  Großväter?  Seh. 
liebt  sogar  das  Wort  „demokratisch"  nicht,  und  er  gibt  ihm  in 
romantisierender  Umdeutung  die  Nuance  „volkstümlich"  (I,  15 
u.  54).  Warum  sich  das  Wort  aneignen,  wenn  man  die  Sache 
nicht  mag?  Oder  verwechselt  er  wirklich  Verfassungsform 
und  Staatswille?  Auch  ist  es  sicher  nicht  richtig  und  wider- 
spricht den  neuesten  Forschungen  über  die  Rheinbundszeit,  den 
deutschtümelnden  Geist  von  1814  einfach  als  „den  guten"  zu 
bezeichnen  und  die  Anhänger  Dalbergs  als  Französlinge  zu  ver- 
dammen. Ein  wenig  absolutistische  Zucht  hat  den  Leuten  am 
Main  und  Rhein  sehr  gut  getan,  und  sie  ist  manchmal  mehr 
friderizianisch  als  napoleonisch  gewesen. 

Schwemers  Feder  ist  von  seinen  früheren  Arbeiten  als  leicht- 
flüssig und  elegant  in  Erinnerung.  Die  große  Gewandtheit  macht 
die  Dinge  häufig  etwas  glatt;  Bildlichkeiten  wie  das  „Karten- 
haus" oder  die  „Krummstabslande"  wirken  konventionell.  Auch 
die  Häufung  der  Schillerzitate  ist  mißlich. 

Wieviel  kräftige  Prägungen  stehen  aber  dagegen:  Schwemer 
nennt    Stein    den    Staatsmann   der    deutschen  Sehnsucht,    er 


Deutsche  Landschaften.  637 

spricht  von  einer  Probemobilmachung  der  deutschen  Einheits- 
idee u.  a.  m. 

Ich  habe  hier  nicht  verschwiegen,  daß  mir  Gesamtauffassung 
und  Grundanlage  des  Werkes  diskutabel  erscheinen,  es  bleibt 
darum  selbstverständlich  eine  höchst  beachtenswerte,  ja  unge- 
wöhnliche Leistung.  Seh.  bringt  zunächst  schon  so  viel  neues 
Material,  daß  allein  dadurch  alles,  was  es  bisher  an  Studien 
über  diese  Epoche  gibt,  zur  Vorarbeit  wird.  Die  neuen  Archi- 
valien stammen,  abgesehen  vom  Frankfurter  Stadtarchiv,  aus 
den  Staatsarchiven  in  Berlin  und  Wien  sowie  aus  dem  Staats- 
archiv in  Bremen.  Bremen  hat  den  Nachlaß  seines  Bürger- 
meisters Smidt  gespendet,  der  mehr  als  je  ein  Frankfurter  mit 
Bundestags-  und  mit  andern  Staats-  oder  stadtpolitischen  Fragen 
vertraut  war. 

Kleinere  Ergänzungen  boten  dann  noch  die  Archive  Wies- 
baden, München,  Karlsruhe  u.  a.,  sowie  London,  Paris  und 
Petersburg.  Viele  Frankfurter  Familien  stellten  Papiere  zu 
Verfügung.  Ein  sehr  anschauliches  Material  also,  das  nun  in 
vielen  Punkten  ein  völlig  neues  Bild  der  Ereignisse  bietet. 

Dankenswerterweise  gibt  Seh.  einen  fast  ganz  anmer- 
kungsfreien Text,  stellt  die  Nachweise  am  Schluß  zusammen 
und  ergänzt  die  Darstellung  in  der  üblichen  Art  durch  „Beilagen", 
wortgetreu  abgedruckte  Urkunden.  So  ist  es  dem  Forscher  er- 
leichtert, sich  über  einzelnes  genauer  zu  informieren.  Im  ganzen 
hat  man  aber  leider  den  Eindruck,  daß  die  Freude  am  Fund 
den  Verfasser  häufig  zur  Breite  verführt  hat;  der  zweite  Band  ist 
ja  zur  Unhandlichkeit  angeschwollen.  Eine  geschicktere  Stoff- 
verteilung (II,  Abschnitt  2  und  3  etwa  noch  zu  I)  hätte  da  ge- 
holfen; und  warum  konnten  nicht  die  gewiß  interessanten  baye- 
rischen Großmachtsaspirationen  in  einem  Aufsatz  ,in  einer  Fach- 
zeitschrift abgehandelt  und  in  der  Darstellung  knapper  erledigt 
werden?  —  Wiederholt  scheint  das  Gesagte  nicht  dem  Problem, 
sondern  dem  Material  entwachsen,  und  das  gibt  dem  Werk  etwas 
Langatmiges.  Wenn  das  schon  einem  Gelehrten  auffällt,  der 
Frankfurter  ist,  wie  soll  es  da  den  ungelehrten  Frankfurtern  oder 
den  Gelehrten  gehen,  die  —  nach  der  altfrankfurter  Terminologie  — 
Ausländer  sind? 

,,Die  Wiederherstellung  der  Frankfurter  Freiheit"  —  das 
ist   der  erste   Gegenstand   von  Sch.s  Werk.    Es  gibt   1814  in 


638  Literaturbericht. 

der  Stadt  eine  Partei  „Alt-Frankfurt  sans  pfirase",  als  deren 
Sprecher  sich  die  Bürgerkapitäne,  „Volkstribunen",  gewisser- 
maßen unter  der  geschickten  Regie  Feyerleins  aufwerfen;  also 
auch  hier  erhebt  sich  das  ancien  regime:  von  der  alten  Verfassung 
reichsstädtischen  Andenkens  nach  vorwärts,  nicht  von  dem 
revolutionär  Gewordenen  nach  rückwärts  soll  reformiert  wer- 
den. In  Wien,  wo  Frankfurts  Schicksal  sehr  unwichtig  erscheint, 
muß  es  sich  entscheiden;  Bayern  will  süddeutsche  Großmacht 
werden,  durch  das  Mainland  und  die  Mainstadt  die  Pfalz  mit 
dem  Stammgebiet  vereinigen  (Seh.  veröffentlicht  dazu  eine 
sehr  instruktive  Karte  aus  dem  bayerischen  Geheimen  Staats- 
archiv); Stein  ist  der  eigentliche  Freund  und  Retter  Frankfurts 

—  für  ihn  ist  die  freie  Stadt  Garantie  seines  Bundesstaates. 
Die  Frankfurter  Selbständigkeitsfrage  verknüpft  sich  besonders 
noch  dadurch  mit  den  großen  Fragen  des  Kongresses,  daß  Bayern 
sich   zu   den    Gegnern   der  preußisch-russischen   Allianz  gesellt 

—  so  daß  dann  das  Kleinste  vom  Größten  und  umgekehrt  ab- 
hängig sein  mußte;  Frankfurt  erhielt  endlich  die  Freiheit  als 
Geschenk  von  Österreichs  Gnaden  (Metternichs  douceur  aus 
Frankfurter  Staatsmitteln  betrug  10  000  Dukaten).  Es  wird 
frei,  weil  es  Bundeshauptstadt  wird  —  Bund  und  Freiheit  gehören 
zusammen.     Das  eine  lebt  vom  Blut  des  andern. 

Der  Bundestag  wird  eröffnet  —  bloß  durch  ein  Diner  —  denn 
über  die  Gottesdienste  können  sich  katholische  und  protestanti- 
sche Großmacht  nicht  einig  werden.  Eine  neue  Welt  kommt 
damit  nach  Frankfurt;  es  wird  eine  Diplomatenstadt  und  ist 
doch  keine  Residenz;  die  Diplomaten  ziehen  allerlei  Leute  nach 
sich:  Friedrich  Schlegel  zum  Beispiel  wirkt  als  österreichischer 
Presseagent.  Denkwürdig  ist,  daß  die  echten  Alt-Frankfurter 
den  Bundestag  zunächst  gar  nicht  gemocht  haben,  und  daß  auch 
weiterhin  eine  gewisse  Spannung  zwischen  Bundestag  und  Bundes- 
stadt bestand.  Die  Lokalgewalten  waren  eben  durch  diese 
deutsche  Behörde  in  Schatten  gestellt;  anderseits  war  diese  Be- 
hörde in  ihrem  Schicksal  von  den  Maßregeln  der  Lokalgewalten 
abhängig. 

Den  altfrankfurter  Stil,  der  in  den  Konstitutions-Ergänzungs- 
akten  nun  seinen  verfassungsmäßigen  Ausdruck  erhält,  charak- 
terisiert Seh.  äußerst  treffend:  man  schätzt  sein  Vermögen 
selbst   ein,    Falschangaben   werden   nicht   als  Meineid   verfolgt. 


Deutsche  Landschaften.  63*9 

alles  was  mehr  als  12000  Gulden  besitzt,  bezahlt  einfach  die  „große 
Schätzung",  der  Frankfurter  Bürger  wird  von  seinem  väter- 
lichen Senat  als  ein  Mustermensch  behandelt,  der  keiner  „bru- 
talen" Polizeigewalt  bedarf,  der  unter  schlechtem  Gesinde  und 
anderen  minderwertigen  Auswärtigen  leidet,  und  deshalb  geschützt 
werden  muß,  der  seine  Vaterstadt  selbst  verteidigt,  indem  er 
entweder  selbst  auf  die  Wache  zieht  (wie  es  sogar  Rothschild 
in  revolutionären  Zeiten  einmal  tat)  oder,  wenn  der  Wind  sachter 
weht,  einen  Wachtaler  bezahlt.  Dieser  souveräne  Bürger  von 
Frankfurt  ist  wirklich  —  wie  es  Seh.  tut  —  den  mediatisierten 
Fürsten  in  seiner  Ausnahmestellung  zu  vergleichen.  Er  hat  seine 
Rechte,  niemand  darf  dran  rühren:  die  Konstabier  —  die  bürger- 
liche Artillerie  —  hatten  immer  bei  Paraden  den  Ehrenplatz  auf 
der  rechten  Seite.  Ihr  Hauptmann  treibt  es  bis  zur  schwersten 
Insubordination,  um  diesen  Anspruch  durchzusetzen.  Und  wie 
milde  wird  er  dafür  bestraft!  Überhaupt:  der  Senat  glaubt  nicht 
an  Verbrechen  seiner  Bürger.  Wenn  etwas  passiert,  so  behauptet 
er,  es  seien  Auswärtige  gewesen;  und  wenn  es  doch  wahr  ist, 
dann  ergreift  ihn  eine  rührende  Betrübnis. 

Eine  der  besten  Stellen  in  Sch.s  Buch  ist  der  Vergleich 
des  altfrankfurter  Gemeinwesens  mit  einer  Erwerbsgenossen- 
schaft. Die  Bürger  sind  in  der  Tat  die  „Nationalsubstanz", 
ihr  Wohl,  ihre  Nahrung,  der  Flor  ihrer  Handlung  wird  mit  allen 
Mitteln  beschützt;  für  die  ärmeren  sorgen  Stiftungen  und  Sti- 
pendien; wer  Bürger  werden  will,  muß  Vermögen  nachweisen 
und  erhebliche  Gebühren  zahlen;  wer  abziehen  will,  muß  einen 
Teil  des  Vermögens  als  Abzugsgeld  zurücklassen.  Das  persön- 
liche Vermögen  ist  demnach  nicht  in  dem  Sinne  volleigen  wie 
anderwärts. 

Der  Senat  will  gar  nicht,  wie  Seh.  interessant  nachweist, 
daß  die  wohlhabenden  Bürger  durch  Vermietung  von  Grund- 
stücken an  Fremde  sich  hohe  Einnahmen  verschaffen;  das  würde 
gerade  die  ärmeren  Bürger  schädigen  —  infolge  der  Wertsteigerung 
—  und  so  das  Wohl  der  Gesamtheit  gefährden.  Es  liegt  zweifel- 
los darin  etwas  Großes,  in  diesem  Zusammenhalten  der  einen 
Bürgerfamilie,  und  der  Stolz  des  Alt-Frankfurters,  der  die  Her- 
gelaufenen von  auswärts  so  ärgerte  und  heute  noch  ärgert,  hat 
seine  tiefen  starken  Wurzeln.  Frankfurt  mit  seinem  Bundes- 
tag, seinem  patriarchalisch  wirkenden  Senat,  der  eine  Art  my- 


640  Literaturbericht.  aJHH^^H 

stisches  Wesen  war,  das  alles  tat  und  alles  wußte  —  wenn  es 
wollte,  ein  Wesen,  in  dem  der  einzelne  Beamte  aufging:  dieses 
Frankfurt  mit  seinen  zünftigen  Handwerkern  und  dem  welt- 
umspannenden Handel  war  in  der  Tat,  wie  Smidt  schreibt, 
„die  Hauptstadt  von  Deutschland",  das  „deutsche  Paris". 

Seit  der  Entstehung  des  preußischen  Zollvereins  war  diese 
alte  königliche  Position  der  Stadt  unhaltbar.  Frankfurt  ist 
die  typische  Kaufmannsmetropole,  industriefeindlich,  inter- 
national, kosmopolitisch  durch  und  durch.  Die  preußische  Maut, 
industriefördernd,  zwängt  Frankfurt  mit  ihren  Schranken  von 
allen  Seiten  ein.  Frankfurt  —  unter  der  geistigen  Leitung  des 
Bürgermeisters  Thomas,  dessen  Gestalt  und  Wirken  Seh.  vorzüg- 
lich herausgearbeitet  hat  —  Frankfurt  vereinigt  seine  Mitinter- 
essenten zur  Abwehr  im  mitteldeutschen  Handelsverein,  hinter 
dem  der  Gedanke  des  „reinen"  mittleren  Deutschland  bedeutsam 
steht;  es  schließt  endlich  den  Handelsvertrag  mit  England. 
Seine  politische  Freiheit  ist  der  Exponent  der  merkantilen:  Frank- 
furt wird  um  seiner  Selbstbestimmung  willen  zum  Eingangshafen 
für  England  und  zum  Schmuggeldepot.  Der  Frankfurter  Adler 
erhält  seinen  Platz  in  der  Londoner  Börse  unter  den  Wappen  der 
schiffahrenden  Nationen. 

Die  Peripetie  erfolgt  aber  schnell.  Der  Frankfurter  Wachen- 
sturm von  1833  führt  zur  politischen  Demütigung  des  Staates 
Frankfurt  —  er  muß  sich  Bundesmilitär  zum  Schutz  des  Bundes- 
tags gefallen  lassen;  und  aus  der  Wirtschaftskrise  hilft  nur  der 
Eintritt  in  den  preußischen  Zollverein.  Frankfurt  muß  sich  in 
Berlin  sagen  lassen,  daß  einem  kleinen  Mann  kein  großer  Rat 
paßt;  die  Statistiken,  die  Bürgermeister  von  Guaita  mitbringt, 
werden  von  den  preußischen  Beamten  belächelt.  Es  ist  nicht  mehr 
möglich,  daß  eine  deutsche  Stadt  eine  englische  Faktorei  bleibt 
—  Frankfurt  wird  in  die  nationale  Lebensgemeinschaft  hinein- 
gezogen. 

Das  ist  eine  kurze  Skizze  des  zum  großen  Teil  stofflich 
Neuen,  das  Seh.  mitteilt;  originell  und  überzeugend  ist  auch 
die  Verknüpfung  und  Würdigung  dieses  Neuen. 

Wenn  ich  dem  Verfasser  gegenüber  zum  Schluß  einen  Wunsch 
aussprechen  darf,  den  er  vielleicht  noch  beim  dritten  Band  berück- 
sichtigen könnte,  so  wäre  es  dieser:  wenn  man  Frankfurts  Ge- 
schichte schreibt,  so  ist  es  kaum  ein  Unglück,  wenn  man  kein 


Deutsche  Landschaften.  641 

echter  Frankfurter  ist;  gerade  daraus  entwickelt  sich  vielleicht 
ein  gewisser  unbefangener  Überblick,  der  dem  allzusehr  Einge- 
wachsenen versagt  bleibt.  Aber  muß  der  Ton  des  Historiographen 
deshalb  so  gereizt  sein?  Wir  Frankfurter  haben  eine  Menge 
schlechter  Eigenschaften  —  Eitelkeit,  Dünkel  usw.  Müssen  wir 
deshalb  von  der  Geschichte  so  feierlich  koramiert  werden  ?  Schwe- 
mer  versteht  unsere  Art  ganz  gut,  wie  er  bewiesen  hat:  möchte 
er  uns  doch  etwas  liebevoller  behandeln,  so  daß  dies  Werk  eines 
Frankfurter  Oberlehrers,  das  die  neue  Universität  empfangen  soll^ 
selbst  ganz  ein  Stück  von  uns  sei  und  so  wahrhaft  zeige,  was  wir 
sein  konnten  und  was  wir  sind. 

Freiburg  i.  Br.  Veit  Valentin. 

Das  älteste  Wismarsche  Stadtbuch  von  etwa  1250  bis  1272.  Im 
Auftrage  der  Seestadt  Wismar  herausgegeben  von  F.  Tedien 
als  Festschrift  für  die  Jahresversammlung  des  Hansischen 
Geschichtsvereins  und  des  Vereins  für  niederdeutsche 
Sprachforschung  Pfingsten  1912.  Wismar,  Hinstorffsche 
Verlagsbuchhandlung.     1912.    XX  u.  169  S. 

Wismar  gehört  zu  den  Städten,  bei  denen  sich  die  Entwicklung 
des  Stadtbuchwesens  gut  überblicken  läßt:  zuerst  ein  Stadtbuch 
umfassender  Natur,  welches  Eintragungen  privatrechtlichen 
Inhalts  und  öffentlich-rechtlicher  Natur  enthält,  dann  Speziali- 
sierungen. Diese  setzen  mit  dem  Anfang  des  14.  Jahrhunderts 
ein.  Der  Name  Stadtbuch  bleibt  dem  Buch,  in  dem  die  Ver- 
äußerungen und  Auflassungen  der  Grundstücke  verzeichnet 
werden,  während  das  die  Verpfändungen,  Schuldanerkennungen, 
Bürgschaften  u.  dgl.  umfassende  zuerst  das  „Kleine  Stadtbuch", 
nachher  „Zeugebuch"  benannt  wird.  In  der  vorliegenden  Edition 
erhalten  wir  nun  das  älteste  Stadtbuch  von  Wismar,  welches 
allein  schon  um  seines  Alters  willen  die  Aufmerksamkeit  verdient. 
Es  gehört  zu  den  ältesten  deutschen  Stadtbüchern  überhaupt; 
aus  ganz  Deutschland  gehen  nur  Lübeck  und  Hamburg  (dies 
bloß  um  wenige  Jahre)  voran,  wenn  man  die  Kölner  Schreins- 
urkunden und  -karten,  die  Metzer  Bannrollen  und  vielleicht 
noch  eine  Aufzeichnung  verwandter  Art  nicht  mitrechnet.  Und 
als  eine  frühe  Aufzeichnung  ist  unser  Denkmal  ferner  in  dem 
Sinn  zu  bezeichnen,  daß  es  bereits  20  bis  25  Jahre  nach  der  Be- 
gründung der  Stadt  hervortritt.    Hierbei  ist  natürlich  zu  berück- 


642  Literaturbericht. 

sichtigen,  daß  man  in  Wismar  von  dem  Beispiel  anderer  Städte 
Nutzen  gezogen  haben  wird.  Der  Inhalt  ist,  wie  schon  bemerkt, 
mannigfaltig  und,  wie  wir  hinzufügen,  unsystematisch  bunt. 
Es  findet  sich  alles  mögliche,  was  nur  die  Bürger  im  Stadtbuch 
zu  größerer  Sicherheit  verzeichnet  zu  sehen  wünschten  und  woran 
sie  die  Schreibgebühr  von  einem  Schilling  wenden  wollten  (S. 
XIV):  von  den  üblichen  Akten  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit 
bis  zur  Aufnahme  in  eine  geistliche  Bruderschaft  (S.  91,  Nr.  1145). 
Interessant  sind  die  Eintragungen,  die  aus  Anlaß  der  Kreuzzüge 
und  der  Wallfahrten  gemacht  werden  (vgl.  S.  160  und  168  f.). 
Man  soUte  einmal  aus  den  Stadtbüchern  und  den  Einzelurkunden 
die  Nachrichten  über  Verpfändungen,  die  ein  Kreuzfahrer  vor- 
nimmt, und  derartiges  mehr  zusammenstellen.  Wenn  man  der 
einseitigen  Theorie  vom  wirtschaftlichen  Ursprung  der  Kreuz- 
2üge  Beachtung  schenken  will,  so  dürften  solche  Quellen  beson- 
ders heranzuziehen  sein.  Wie  schon  bemerkt,  enthält  das  vor- 
liegende Stadtbuch  neben  den  privatrechtlichen  Aufzeichnungen 
auch  solche  öffentlich-rechtlicher  Natur,  Diese,  bemerkenswerte 
Äußerungen  der  Tätigkeit  des  Stadtrats,  waren  schon  (namentlich 
durch  das  Mecklenb.  Urkundenbuch)  bekannt  geworden;  sie  im 
überlief  erten  Zusammenhang  zu  sehen  hat  aber  immer  seinen  Wert. 
Eine  Erscheinung,  die  wieder  einmal  den  Versuch,  geradlinige 
Entwicklungen  zu  zeichnen,  zunichte  macht,  kommt  in  der  Tat- 
sache zum  Ausdruck,  daß  unsere  Aufzeichnung  deutsch  beginnt 
und  lateinisch  bis  zum  Schluß  fortgesetzt  wird.  Um  auf  den  In- 
halt etwas  einzugehen,  so  lockt  die  große  Zahl  überlieferter 
Namen  (mit  Herkunftsbezeichnungen)  dazu,  den  Kreis  der 
Einwanderer,  die  mehr  oder  weniger  die  Bürgerschaft  von  Wismar 
begründet  haben,  zu  ermitteln.  Wir  wollen  aber  nicht  unter- 
lassen, für  solche  Versuche  auf  die  wichtigen  kritischen  Gesichts- 
punkte hinzuweisen,  die  Keußen  in  dieser  Beziehung  aufgestellt 
hat  (Korrespondenzblatt  der  westdeutschen  Zeitschr.  1893, 
Sp.  57  f.).  Beachtenswert  ist,  daß  Handwerker  häufig  als 
Grundbesitzer  erwähnt  werden.  Es  mag  dies  ausdrücklich  kon- 
statiert werden,  da  die  Tatsache  für  das  13.  Jahrhundert  bezweifelt 
worden  ist  (s.  hierzu  meinen  Ursprung  der  deutschen  Stadt- 
verfassung, S.  46  f.).  In  dem  servus  Bernardi  institoris  S.  40 
(Nr.  616)  haben  wir  zweifellos  nicht  einen  Unfreien,  sondern 
einen  Handlungsgehilfen  zu  sehen.     Dagegen  haben  wir    S.  82 


Deutsche  Landschaften.  643 

<Nr.  1109)  die  Regelung  der  Nachlaßverhältnisse  eines  in  der  Stadt 
gestorbenen  Unfreien  (s.  m.  Ursprung  S.  109).  Leider  ist  das 
Sachregister  nicht  ganz  vollständig,  was  man  doppelt  bei  einem 
solchen  Meister  in  der  Herstellung  von  Sachregistern  wie  Techen 
bedauert.  Vielleicht  wäre  es  nützlich  gewesen,  die  Personen, 
die  den  Beinamen  Slavus  tragen,  zusammenzustellen  (s.  Nr,  938 
und  1131c,  S.  89);  er  dürfte  doch  wohl  kaum  Familienname 
sein.  Zum  Schluß  sei  auf  einige  Textänderungen  hingewiesen, 
die  A.  Hofmeister  im  Neuen  Archiv  38,  S.  369  vorschlägt. 
Frei  bürg  i.  B.  G.  v.  Below. 


Notizen  und  Nachrichten. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  welche  sie  an  dieser 
Stelle  berücksichtigt  wünschen,   uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 

Allgemeines. 

Erich  Rothacker,  Über  die  Möglichkeit  und  den  Er- 
trag einer  genetischen  Geschichtschreibung  im  Sinne  K.  Lamp- 
rechts. (Beiträge  zur  Kultur-  und  Universalgeschichte,  Heft  20. 
Leipzig,  Voigtländer.  1912.  VIII,  u.  163  S.  5,80  M.)  —  R.  geht 
von  einer  zweifachen  Anwendung  des  Verbums  „entwickeln"  aus: 
einmal  im  transitiven  Sinn,  „sich  entwickeln",  wobei  es  sich  um  die 
inneren  Zustandsänderungen  eines  Subjekts  handelt,  und  ferner  im 
transitiven  Sinn.  Wenn  z.  B.  geschildert  wird,  wie  ein  Tisch  entsteht, 
könnte  man  dies  natürlich  auch  genetisch  nennen.  „Entwicklung"  wird 
definiert  als  „der  aktive  Vorgang  der  Zustandsänderung  lebendiger 
Subjekte"  (S.  11),  mit  dem  Ziele  des  Wachstums,  d.  h.  Erhöhung  der 
Vitalität,  die  in  vielen,  meßbaren  und  gesetzmäßig  bestimmbaren 
Stufen  ständig  erfolgt.  Wir  haben  ein  vitales  und  ein  anschauliches 
oder  symptomatisches  Sein  von  Entwicklungen  zu  trennen.  Auf  der 
einseitigen  Bevorzugung  von  diesem  letzteren  beruht  die  „dramatische" 
Geschichtsauffassung,  eine  Beschreibung  von  gegebenen  Aktionen,  aber 
genetisch  nur  im  transitiven  Sinn;  von  einer  „echten"  Entwicklung  ist 
keine  Rede,  nur  von  einer  „Entstehung"  (S.  20  f.,  S.  30).  Die  Frage, 
ob  solche  echten  Entwicklungen  der  Geschichtschreibung  zugänglich 
sind,  bejaht  R.  unbedingt.  Der  Gang  einer  solchen  wird  nach  ihm 
dargestellt  durch  die  Kulturzeitalter  oder  völkerpsychischen  Stufen. 
Durch  den  kontinuierlichen  Bedeutungswandel  der  geistigen  Phäno- 
mene (z.  B.  der  Gottesvorstellung  in  verschiedenen  Zeiten)  im  Zusam- 
menhang mit  dem  Begabungswandel  hält  er  es  für  erwiesen,  daß  von 


Allgemeines.  645 

«iner  Konstanz  der  menschlichen  Begabung  keine  Rede  sein  kann, 
daß  diese  vielmehr  einer  Entwicklung  unterworfen  ist,  die  „ein  bio- 
logischer Prozeß  von  übersehbarer  Gesetzmäßigkeit"  ist  [!]  (S.  99). 
Im  letzten  Abschnitt  (IN.)  behandelt  R.  den  Ertrag  der  genetischen 
Methode  für  die  Geschichtschreibung.  Taten  oder  Handlungen  sind 
Symptome  einer  Entwicklung  von  Zuständen  und  werden  bei  der 
Darstellung  ausgewählt  ,,nach  dem  Maße  sich  steigernder  Zustände, 
die  in  ihnen  zur  Erscheinung  kommen"  (S.  143).  —  Den  im  einzelnen 
scharfsinnig  ausgeführten  Thesen  R.s,  deren  Lektüre  des  öfteren  leider 
durch  sinnstörende  Druckfehler  (sowie  Ungenauigkeiten  im  Literatur- 
verzeichnis) beeinträchtigt  wird,  kann  man  schwerlich  beitreten.  Es 
handelt  sich  letzten  Grundes  wiederum  um  einen  Versuch,  wie  in  der 
Naturwissenschaft  so  auch  in  der  Geschichtswissenschaft  Gesetze  auf- 
zustellen. Daß  der  Gesetzesbegriff  der  Naturwissenschaft  hier  keine 
Anwendung  finden  darf,  ist  in  dem  Streite  um  Lamprechts  Theorien 
so  oft  und  eingehend  nachgewiesen  worden,  daß  eine  Wiederholung 
der  Argumente  überflüssig  ist.  Die  Geschichtswissenschaft  hat  es  mit 
Individuen  zu  tun,  die  gerade  in  dem  unbegreiflich  und  einzigartig  sind, 
was  sie  voneinander  unterscheidet.  Soll  sie  darum  auf  eine  „echte" 
genetische  Darstellung  verzichten?  Keineswegs.  Abgesehen  von  an- 
deren Beispielen  ist  die  Biographie  ein  solches,  wie  auch  R.  betont. 
Außer  dem  Zusammenhang  von  Ursache  und  Wirkung  jedoch  beob- 
achten wir  noch  das  Verhältnis  zwischen  Zweck  und  Mittel.  Den  Zweck- 
begriff hat  aber  R.  beinahe  ganz  außer  acht  gelassen,  trotzdem  er 
doch  für  den  Entwicklungsbegriff  von  wesentlicher  Bedeutung  ist. 
Hier  versagen  eben  die  Entwicklungsgesetze.  Ein  Subjekt  kann 
aus  gegebenen  Bedingungen  eine  Folge  ziehen,  aber  m  u  ß  es  nicht: 
das  ist  gerade  das  Wesen  der  historischen  Kausalität. 

Altona.  Otto  Hell. 

Bemerkenswerte  Studien  über  die  Anfänge  des  Vaterlandsgefühls 
in  der  Neuzeit  beginnen  im  Archiv  für  Sozialwissenschaft  und  Sozial- 
polit  k  36,  1  zu  erscheinen  (R.  Michels,  Zur  historischen  Analyse 
des  Patriotismus  1). 

Es  ist  sehr  zu  begrüßen,  daß  Paul  H  e  r  r  e  neben  der  Neuaus- 
gabe der  Dahlmann-Waitzschen  Quellenkunde  (vgl.  H.  Z.  110,  601) 
auch  die  Wünsche  derer  befriedigen  will,  die  eine  summarische,  das 
Wichtigste  auswählende  Bibliographie  in  der  Art  der  ersten  Auflagen 
des  Dahlmann-Waitz  verlangen,  und  noch  dankenswerter  war  es,  daß 
«er  diesen  Plan  erweiterte  zu  einer  „Quellenkunde  zur  Weltgeschichte", 
die  er  in  Verbindung  mit  Adolf  Hofmeister  und  Rudolf  Stube 
1910  im  Dieterichschen  Verlage  hat  erscheinen  lassen.  Nach  häufigem 
Oebrauche  dürfen  wir  sagen,  daß  das  kühne  Unternehmen  in  der  Haupt- 


646  Notizen  und  Nachrichten. 

Sache  gelungen  ist.  Die  Anlage  entspricht  dem  großen  Dahlmann- 
Waitz.  Von  den  319  Seiten  fallen  S.  1 — 48  auf  den  allgemeinen  Teil^ 
S.  48— S2  auf  das  Altertum,  S.  83—170  auf  das  Mittelalter,  S.  170 
bis  319  auf  die  Neuzeit.  Das  Handbuch  wird  bei  neuen  Auflagen  nicht 
wesentlich  an  Umfang  zunehmen  dürfen,  wenn  es  nicht  in  eine  gefähr- 
liche Konkurrenz  mit  den  nationalen  Einzelbibliographien  treten  soll, 
Sie  kann  diese  nicht  überflüssig  machen  wollen,  sondern  muß  sich 
neben  ihnen  behaupten  durch  die  Kunst  der  Auswahl.  Sie  wird  ihre 
besten  Dienste  dem  leisten,  der  sich  neben  seinem  speziellen  Arbeits- 
gebiete Sinn  und  Zeit  zu  wahren  weiß  für  allgemeingeschichtliche 
Interessen  und  für  diese  und  jene  ihm  aufstoßende  Frage  rasch  nach 
den  besten  Hilfsmitteln  verlangt.  Für  Studenten  und  Mittelschullehrer 
wird  sie  zugleich  einen  gewissen  Ersatz  für  den  teuren  Dahlmann-Waitz^ 
bieten.  Wir  beschränken  unsere  Wünsche  für  Aufnahme  noch  fehlen- 
der Werke  auf  ein  Mindestmaß.  Zu  Nr.  2515  müßten  die  letzte  Aus- 
gabe der  Schriften  Machiavells,  die  Burdsche  Ausgabe  des  Principe 
und  die  Tommasinische  Machiavellbiographie  gefügt  werden.  Legrelles 
großes  Werk  über  die  französische  Diplomatie  und  die  spanische  Erb- 
folgefrage durfte  nicht  fehlen.  Zu  Nr.  2876  wäre  nicht  Schefers,  son- 
dern Bourgeois'  Ausgabe  der  Spanheimschen  Relation  de  la  com  de 
France  zu  nennen  gewesen.  Die  Schriften  des  Duc  de  Broglie  über 
das  Zeitalter  Friedrichs  des  Großen  konnten  wohl  auch  aufgeführt 
werden.  Die  Arbeit  Th.  Ludwigs  über  die  deutschen  Reichsstände  im 
Elsaß  und  den  Ausbruch  der  Revolutionskriege  vermißt  man  ungern. 
Zu  Nr.  3191  (Th.  v.  Schön)  durfte  M.  Lehmanns  Knesebeck  und  Schön 
nicht  vergessen  werden.  Auch  Hayms  Buch  über  W.  v.  Humboldt 
muß  genannt  werden.  M. 

Von  V.  Lowes  „Bücherkunde"  liegt  eine  4.,  wesentlich  um- 
gearbeitete Auflage  vor  (Altenburg,  Rade,  1913),  die  mit  ihren  meist 
treffenden  kurzen  Charakteristiken,  unter  denen  man  auch  die  neuste 
Literatur  findet,  dem  Studenten  neben  Dahlmann-Waitz  gute  Dienste 
tun  wird.  Der  wunde  Punkt  ist  nach  wie  vor  der  (nicht  einmal  folge- 
richtig durchgeführte)  Ausschluß  der  Quellen.  Es  fällt  schwer,  eine 
„Bücherkunde  der  deutschen  Geschichte"  zu  empfehlen,  in  der  das 
Wort  „Monumenta  Germaniae"  nicht  vorkommt. 

Wir  konnten  wiederholt,  zuletzt  110,  171  f.  auf  das  rüstige  Fort- 
schreiten des  Dictionnaire  d'histoire  et  de  giographie  eccUsiastiques  auf- 
merksam machen;  heute  liegen  drei  neue  Lieferungen  6 — 8  vor,  von 
denen  die  erste  (bis  Albus  Tr actus  reichend)  den  ersten  Band  des  gan- 
zen Nachschlagewerkes  abschließt,  die  beiden  anderen  den  zweiten 
bis  zum  Stichwort  Alphonse  de  Carthagene  führen.  Um  den  Inhalt 
der  Lieferungen  zu  veranschaulichen,  genügt  es,  an  die  mehr  als  120  Ar- 


Allgemeines.  647 

tikel  „Alexander"  zu  erinnern,  darunter  natürlich  über  die  Päpste 
dieses  Namens,  bei  denen  freilich  die  für  Alexander  I.  bis  V.  beige- 
fügten, ganz  jungen  Porträts  recht  eigenartig  sich  ausnehmen:  solange 
wir  einer  kritischen  Ikonographie  der  Päpste  entbehren,  sollte  man 
selbst  nicht  einmal  die  Kupferstiche  oder  Holzschnitte  des  17.  Jahr- 
hunderts (die  Bilder  sind  dem  Bullarium  Romanum  ed.  Cherubinus  I, 
Rom  1638,  entnommen)  für  die  Päpste  des  Mittelalters  wiederholen.  Wir 
verweisen  zugleich  auf  den  umfangreichen  Abschnitt  über  Alexandria 
(Sp.  289 — 369)  von  J.  F  a  i  v  r  e,  der  ein  früher  geäußertes  Bedenken 
über  die  Aufnahme  solcher  fast  buchförmiger  Abrisse  erneut  wach 
werden  läßt.  In  die  Übersicht  über  die  kirchliche  Entwicklung  Deutsch- 
lands (11,  Sp.  494 — 591)  haben  sich  drei  Gelehrte  geteilt:  P.  R  i  c  h  a  r  d 
behandelt  die  Zeit  bis  zum  Jahre  1448,  J.  P  a  q  u  i  e  r  bis  zum  Jahre 
1648,  P.  Richard  wiederum  die  Periode  bis  zum  Untergang  des 
alten  Reiches  und  endlich  G.  G  o  y  a  u  die  Entwicklung  der  deutschen 
Kirchendinge  bis  an  die  Schwelle  der  Gegenwart.  Es  ist  lehrreich, 
diese  Abschnitte  insgesamt  mit  denen  von  K.  Jakob,  W.  Köhler  und 
H.  Hoffmann  in  der  „Religion  in  Geschichte  und  Gegenwart"  I, 
Sp.  2062 — 2128,  zu  vergleichen.  Erfüllt  von  mehr  Detail  erweisen  sich 
die  der  französischen  Gelehrten,  während  die  deutschen  mehr  die  all- 
gemeinen Tendenzen  der  Entwicklung  herausgearbeitet  haben.  Wohl- 
tuend berührt  im  „Dictionnaire"  das  offensichtliche  Streben  nach 
Unparteilichkeit,  für  das  unter  anderem  das  Urteil  über  Janßen  (Sp.  541) 
bezeichnend  ist.  Für  das  deutsche  Mittelalter  bot  natürlich  A.  Haucks 
Kirchengeschichte  die  Grundlage,  so  daß  die  Zeit  von  1347 — 1448, 
die  er  noch  nicht  dargestellt  hat,  im  Vergleich  zu  den  voraufgehenden 
Perioden  etwas  knapp  geschildert  worden  ist,  während  die  hier  ange- 
fügte Literaturübersicht  nicht  ohne  Fehler  ist.  Alles  in  allem  aber 
ist  der  Artikel  dankenswert,  nicht  zuletzt  wegen  der  Karten,  die  den 
Stand  der  kirchlichen  Einteilung  Deutschlands  am  Ende  des  Mittel- 
alters und  in  der  Gegenwart  veranschaulichen,  wenigstens  soweit  die 
katholische  Kirche  in  Betracht  kommt;  eine  dritte  Karte  läßt  den 
Territorialbestand  ums  Jahr  1648  mit  besonderer  Hervorhebung  der 
geistlichen  Reichsfürstentümer  erkennen.  Man  mag  fragen,  ob  diese 
Karten  genügen,  wird  sich  aber  zugleich  daran  erinnern,  daß  die  Ein- 
zelartikel über  Bistümer  jeweils  deren  Karten  bringen.  Bis  jetzt  ist 
im  „Dictionnaire"  noch  kein  deutsches  Bistum  behandelt;  sollte  es 
dazu  kommen,  so  wird  vielleicht  zu  erwägen  sein,  ob  nicht  jede  Diözese 
zwei  Kartenbilder  erhalten  muß,  um  durch  sie  den  früheren  und  den 
jetzigen  Stand  zu  verdeutlichen.  So  nützlich  die  Karten  bei  Heussi 
und  Mulert  in  dem  verdienstvollen  „Atlas  zur  Kirchengeschichte" 
auch  sind  (n.  VIII  A.  B.,  XII  C),  sie  gewähren  bei  ihrer  natürlichen 
Kleinheit  nur  Umrißlinien  und  sind  überdies  in  verschiedenen  Maß- 


^48  Notizen  und  Nachrichten. 

Stäben  gehalten.  Wie  dem  immer  sei,  durch  unsere  Anregung  möchten 
wir  das  Interesse  am  „Didionnaire"  bekunden,  der  im  erfreulichen 
Gegensatz  zu  deutschen  Nachschlagewerken  gerade  der  kirchlichen 
Geographie  sein  Augenmerk  zugekehrt  hat.  Wer  weiß,  wie  sehr  sie 
in  deutschen  Darstellungen  der  historischen  Geographie  vernachlässigt 
wird,  glaubt  versichern  zu  können,  daß  auf  diesem  Gebiete  noch  viel  zu 
tun  ist:  mit  der  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  Gau-  und  Diözesan- 
grenzen  allein  sind  nicht  zugleich  alle  weiteren  aufgeworfen,  geschweige 
denn  erledigt.  A.  W. 

Von  dem  „KatalogderNürnbergerStadtbiblio- 
t  h  e  k,  herausgegeben  im  Auftrage  des  Stadtmagistrats",  ist  der 
2.  Band  (Abteilung  I:  Geschichte,  2.  Teil:  Alte  Geschichte;  mittlere 
und  neuere  Geschichte  im  allgemeinen)  soeben  erschienen  (Nürnberg, 
Sebald,  1913,  VI  u.  399  S.).  Die  Sammlung  ist  reich  an  älteren  Drucken; 
die  Kulturgeschichte  ist  stark  vertreten,  besonders  zahlreich  ist 
die  Literatur  über  die  Geschichte  der  Juden  in  Altertum,  Mittelalter 
und  Neuzeit.  Der  Band  ist  wie  der  erste  von  dem  (auf  dem  Titelblatt 
nicht  genannten!)  Kustos  an  der  Stadtbibliothek,  E.  Reicke, 
bearbeitet. 

Weitere  Bemerkungen  über  die  Herstellung  von  Regesten,  die 
sich  stellenweise  sehr  ins  einzelne  verlieren,  macht  K-  U  h  1  i  r  z  gegen 
H.  Steinacker  in  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  Österreich. 
Geschichtsforschung  34,  2  (vgl.  oben  S.  202);  letzterer  hat  nur  ganz 
kurz  geantwortet. 

Eine  von  Heldmann  angeregte  Hallische  Dissertation  von  Paul 
Jahn:  Die  Kanzlei  der  Stadt  Zerbst  bis  zum  Jahre  1500  (Teildruck 
1913;  VII,  55  S.)  enthält  Angaben  über  die  Wirksamkeit  und  Stellung 
der  Stadtschreiber,  Kanzleierzeugnisse  und  Kanzleibetrieb  und  ein 
paar  kurze  Bemerkungen  über  die  Kanzleisprache. 

H.  O  m  0  n  t  verzeichnet  in  der  Bibliotheque  de  l'Ecole  des  cfiar- 
tes  1913,  Januar-April  die  Zugänge  der  Handschriftenabteilung  in  der 
Pariser  Nationalbibliothek  während  der  Jahre  1911  und  1912,  darunter 
wieder  zahlreiche  Handschriften  geschichtlichen  Inhalts. 

In  seiner  Schrift:  Der  heraldische  Schmuck  der  Kirche  des  Wiener 
Versorgungsheims  hat  Dr.  Jakob  D  o  n  t  die  Wappen  der  Stadt  Wien, 
die  Bezirkswappen  und  die  Wappen  der  Genossenschaften  abgebildet 
und  mit  Unterstützung  des  städtischen  Archivars  G.  A.  R  e  s  s  e  1  er- 
läutert. Dem  letzteren  ist  auch  der  für  den  Historiker  wichtigere  An- 
hang zu  verdanken,  in  dem  die  Siegel  der  ehemaligen  Wiener  Vor- 
städte und  Vorortgemeinden  der  Öffentlichkeit  zugänglich  gemacht 
und  beschrieben  werden  (Wien,  Gerlach  &  Wiedling,  o.  J.  32  und 
XXVIII  Seiten  mit  26  Tafeln). 


Alte  Geschichte.  649 

Neue  Bücher:  Grundriß  der  Geschichtswissenschaft.  Herausge- 
geben von  Aloys  Meister.  I.  Reihe.  Abteilung  IVa.  Forst- 
B  a  1 1  a  g  li  a  ,  Genealogie.  (Leipzig,  Teubner.  1,80  M.)  —  K  a  i  n  d  f , 
Geschichte  und  Volkskunde.  (Czernowitz,  Pardini.  2  M.)  —  Chat- 
terton-Hill, Individuum  und  Staat.  (Tübingen,  Mohr.  5  M.) 
—  R  e  i  n  ,  Sir  John  Robert  Seeley.  Eine  Studie  über  den  Historiker. 
(Langensalza,  Beyer  &  Söhne.  2,40  M.)  —  Hatschek,  Englische 
Verfassungsgeschichte  bis  zum  Regierungsantritt  der  Königin  Viktoria. 
(München,  Oldenbourg.    18  M.) 

Alte  Geschichte. 

Historische  attische  Inschriften,  ausgewählt  und  erklärt  von 
Ernst  Nachmanson,  Privatdozent  in  Upsala.  Kleine  Texte 
für  Vorlesungen  und  Übungen,  herausgegeben  von  Hans  Lietzmann. 
Heft  110.  Bonn,  Marcus  <S  Weber.  1913.  82  S.  2,20  M.  —  Mit  der 
Bearbeitung  dieses  Heftes  hat  sich  der  Verfasser  ein  außerordentliches 
Verdienst  erworben,  denn  so  unerläßlich  das  Studium  der  Inschriften 
für  den  heutigen  Betrieb  der  alten  Geschichte  ist,  so  gab  es  bisher  doch 
keine  Sammlung,  deren  Preis  der  Kauffähigkeit  eines  Studenten  ent- 
sprochen hätte.  Das  Werk  könnte  nach  Auswahl  der  Texte  und  Form 
und  Inhalt  der  erklärenden  Anmerkungen  nicht  besser  angelegt  sein. 
Vielleicht  nimmt  der  Verfasser  später  auch  noch  die  Inschriften  Dittenb. 
syll.  33  und  101  auf,  die  interessant  sind  für  die  Geschichte  der  atti- 
schen Seebünde.  Für  eine  2.  Auflage  notiere  ich  noch  einige  kleine 
Versehen.  Bei  Nr.  39  könnte  wohl  als  Jahrzahl  337/6  angegeben  wer- 
den. In  der  Überschrift  von  54  muß  es  heißen  „für  Bithys,  Feldherrn 
.  .  ."  statt ,, Feldherr",  Anmerkung  56,  13  ,, Köhler  vermutet,  es  sei .  .  ." 
statt  „ist".  Anmerkung  86  „Baetica"  statt  „Baetia".  Anmerkung  87 
„Todesjahr  des  Arcadius"  statt  „Claudius".  M.  Geizer. 

Unter  dem  Titel  „Beiträge  zur  Geschichte  von  Lesbos  im  vierten 
Jahrhundert  v.  Chr."  stellt  Hans  Pistoriusim5.  Heft  der  Jenaer 
historischen  Arbeiten  (Bonn,  A.  Marcus  und  E.  Weber.  1913)  alles 
zusammen,  was  wir  von  der  politischen  Geschichte  der  Insel  in  dieser 
Zeit  wissen.  Die  Arbeit  ist  verdienstlich,  wenn  wir  auch  nicht  viel 
neues  daraus  lernen,  was  ja  bei  einem  solchen  Thema  kaum  zu  er- 
warten war.  Aus  den  Einzeluntersuchungen,  die  im  Anfang  gegeben 
werden,  mag  der  Exkurs  ,,Zur  Epigraphik  von  Lesbos"  hervorgehoben 
werden;  hier  wird  der  Versuch  gemacht,  aus  den  Buchstabenformen 
und  dem  Dialekt  Kriterien  für  eine  chronologische  Anordnung  zu 
gewinnen;  da  dem  Verfasser  aber  ,, weder  Originale  noch  Abklatsche 
zu  Gebote  standen"  (S.  139),  haben  die  Ergebnisse  nur  sehr  relativen 
Wert.  Beloch. 

HUtoriscbe  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  42 


650  Notizen  und  Nachrichten. 

In  der  Revue  de  Vhistoire  des  religions  1913,  Mai -Juni  setzt 
zunächst  J.  L  d  v  y  seine  Studie  über  Sarapis  fort.  Dann  veröffent- 
licht Ad.  R  e  i  n  a  c  h  eine  lesenswerte  Arbeit :  L'origine  des  Amazones. 
A  propos  d'une  explication  nouvelle  de  la  legende  amazonienne,  nämlich 
des  neuen  Buches  von  W.  Leonhardt:  Hettiter  und  Amazonen.  Aber 
Reinach  erweitert  die  Leonhardtsche  These  und  man  wird  ihm  wohl 
beistimmen  in  seinem  Urteil:  „Aussi  bien,  les  Amazones  devenaient- 
elles  comme  le  Symbole  de  toutes  les  peuplades  hostiles  qui  s'agitaient 
sur  les  confins  septentrionaux  du  monde  grec,  du  Caucase  ä  l'Adriatique. 

Lehrreich  ist  der  Aufsatz  von  Ad.  Rein  ach:  Noe  Sangariou, 
etude  sur  le  diluge  en  Phrygie  et  le  syncritisme  judio-phrygien  in  Revue 
des  itudes  juives  1913,  April. 

Aus  Hermes  48, 3  notieren  wir  A.  Rosenberg:  Studien 
zur  Entstehung  der  Plebs,  und  zwar  1.  sacrosanctus.  2.  Der  Rechts- 
ursprung des  Tribunats.  3.  Die  lex  Icilia  de  Aventino ;  E.  v.  S  t  e  r  n: 
Solon  und  Peisistratos;  W.  Heraeus:  Lateinische  Gedichte  auf 
Inschriften;  St.  Braßloff:  Die  rechtliche  Bedeutung  der  Inaugu- 
ration beim  Flaminat  und  R.  M.  M  e  y  e  r:  Tacitus  und  die  Arminius- 
lieder. 

Die  Rangordnung  der  römischen  Centurionen,  Berliner  Disser- 
tation von  Theodor  Wegeleben.  Berlin,  W.  Weber.  1913.  — 
Diese  klar  geschriebene,  scharfsinnige  Abhandlung  macht  der  höchst 
sonderbaren,  aber  bisher  allgemein  akzeptierten  Hypothese  von  der 
Rangverschiedenheit  der  60  Centurionen  einer  Legion,  welche  für  die 
höchste  Stelle  des  primipilus  normalerweise  ein  60faches  Avancement 
voraussetzte,  ein  Ende.  Statt  ihrer  gelingt  es  dem  Verfasser,  eine 
Ranggleichheit  der  Hauptleute  in  der  2. — 10.  Kohorte  glaubhaft  zu 
machen.  Ihnen  stehen  gegenüber  die  6  Centurionen  der  1000  Mann 
starken  1.  Kohorte.  Von  ihnen  sind  die  höchsten  der  primus  pilus 
mit  Kommando  über  400,  der  (primus)  princeps  über  200  und  der 
(primus)  hastatus,  der  bloß  100  Mann  kommandiert,  wie  die  anderen 
Hauptleute. 

Freiburg  i.  B.  M.  Geizer. 

Aus  den  Sitzungsberichten  der  Kgl.  Preuß.  Akademie  1913, 
36/37  notieren  wir  E.  Meyer:  Untersuchungen  zur  Geschichte  des 
zweiten  Punischen  Krieges  und  C.  Schuchhardt:  Westeuropa 
als  alter  Kulturkreis. 

In  den  Neuen  Jahrbüchern  für  das  klassische  Altertum  16,6/7 
behandelt  R.  Reitzenstein  die  Areopagrede  des  Paulus,  der 
gegen  Harnack  sich  wendet  und  klar  und  eindringlich  dessen  Schwä- 
chen aufdeckt.    Weiter  notieren  wir  G.  H  erbig:  Die  nächsten  Auf- 


Alte  Geschichte.  651 

gaben  der  etruskischen  Archäologie;  A.  Schulten:  Martials  spani- 
sche Gedichte;  J.  Dräseke:  Der  Übergang  der  Osmanen  nach 
Europa  im  14.  Jahrhundert  und  H.  Lanier:  Die  Arbeiten  in  Per- 
gamon  1910—1911. 

Im  Rheinischen  Museum  68,  3  behandeln  J.  M  e  s  k :  Antiochos 
und  Stratonike,  um  die  Überlieferung  dieser  Geschichte  aufzuhellen 
und  alte  novellistische  Züge  darin  aufzuzeigen,  dann  U.  K  a  h  r  - 
s  t  e  d  t:  Die  Martyrerakten  von  Lugudunum  177  (Euseb.  h.  e.  V,  1  ff.); 
weiter  ist  anzuführen  der  Aufsatz  von  St.  Braßloff:  Zur  Lehre 
von  den  Freilassungen  in  der  römischen  Kaiserzeit;  M.  L.  Strack: 
In  Sachen  Abderas,  der  sich  gegen  Wilamowitz'  Angriffe  wehrt  und 
E.   Hohl:  Tacitus  und  der  jüngere  Plinius. 

Wertvoll  und  bedeutsam  ist  die  Untersuchung  Br.  Keils: 
Ein  Xoyoi  avornrtxof,  worin  das  35  Stück  in  der  Sammlung  der  Julian- 
briefe als  ein  Empfehlungsschreiben,  welches  von  den  Führern  einer 
Gesandtschaft  bei  der  Ankunft  dem  Prokonsul  überreicht  wurde, 
nachgewiesen  wird.  Er  gehört  in  die  2.  Hälfte  des  1.  Jahrhunderts 
n.  Chr. 

Aus  der  Byzantinischen  Zeitschrift  22,  1/2  notieren  wir  D,  S  e  r  - 
ruys:  Les  Canons  d'Eusebe,  d'Annianos  et  d'Andronicos  d' apres  EUe 
de  Nisibe ;  M.  J  u  g  i  e :  Abraham  d'Ephese  et  ses  ecrits ;  L.  C  a  n  t  a  - 
r  e  1 1  i :  L''Ena^xo^  Aiyvnrov  nei  papiri  di  Theadelphia ;  Ch.  S  a  u  - 
m  a  g  n  e :  Etüde  siir  la  propriite  ecclesiastique  ä  Carthage  d' apres  les 
nouvelles  36  et  37  de  Justinien ;  Ch.  D  i  e  h  1:  Catherine  ou  Theodor a? 
R.  Grosse:  Das  römisch-byzantinische  Marschlager  vom  4.  bis 
10.  Jahrhundert;  L.  Br^hier:  A  propos  de  la  question  „Orient  ou 
Byzance"? 

Im  Philologus  72,2  handelt  W.  F.  Otto  über:  Die  Luperci 
und  die  Feier  der  Luperealien,  der  die  neuerdings  von  Deubner  stam- 
mende und  von  Wissowa  aufgenommene  Erklärung:  „Wolfsabwehrer" 
mit  Recht  verwirft  und  lupercus  als  , .wolfsähnlich"  erklärt.  Weiter 
ist  beachtenswert  E,  v.  Druffel:  Papyrologisches.  1.:  Zu  Pap. 
Grenf.  111;  2.:  Zum  Hermiasprozeß;  Fr.  Görres:  Die  Religions- 
politik des  Kaisers  Licinius.  Beiträge  zur  Kritik  der  Quellen  des 
diokletianisch-konstantinischen  Zeitalters. 

In  der  Revue  des  questions  historiques  1913,  Juli  veröffentlicht 
Th.  de  Launay  eine  Studie  über  La  campagne  de  Sabinus  en  Nor- 
mandie  (56  ans  a.  J.  C.)  und  M.  Besnier  eine  ausgezeichnete  Chro- 
nique  d'histoire  ancienne  grecque  et  romaine. 

In  Mimoires  de  la  Sociiti  nationale  des  Antiquaires  de  France 
1912  ist  eine  Abhandlung  von  R.  Mowat:  Les  conspirateurs  et  les 

42* 


652  Notizen  und  Nachrichten. 

pretendants  nan  reconnus  par  le  Senat  depuis.  Jules  Cesar  jusqiF 
malus  Augustus. 

In  der  Revue  historique  1913,  Juli-August  gibt  J.  To  utain 
einen  vortrefflichen  Überblick  über  die  Antiquitis  romaines.  Dann 
behandelt  L.  Homo:  L'empereur  Gallien  et  la  crise  de  l'empire  Ro- 
main au  III*  sikcle. 

In  den  Comptes  rendus  de  VAcademie  des  inscriptions  et  belles- 
lettres  1913,  JVlärz— April  veröffentlicht  A.  Merlin:  Decouvertes  ä 
Utique,  darunter  höchst  wichtige  Inschriften,  vor  allem  eine  aus  repu- 
blikanischer Zeit  dem  quaestor  Q.  Numerius  Q.  F.  Rufus  gesetzt  von 
den  Stipendiarii  der  pagi  Muxsi,  Gususi  und  Zeuget.  Weiter  berichten 
Capitan,  Peyrony  und  Bouyssonie  unter  dem  Titel : 
l'art  des  cavernes  über  die  neuesten  Entdeckungen  und  Funde  in  der 
Dordogne. 

Im  American  Journal  of  archaeology  1913,  April-Juni  veröffent- 
lichen D.  iVl.  Robinson:  inscriptions  from  the  Cyrenaica  und 
W.  B.  D  i  n  s  m  0  r:  Attic  building  accounts.  2:  The  Erechtheum.  Den 
Schluß  des  Heftes  bilden  die  oft  angezeigten,  trefflichen  Archaeological 
discussions.  Summaries  of  original  articles  cfiiefly  in  current  publica- 
tions  von  W.  N.  Bates. 

Aus  The  Journal  of  hellenic  studies  33, 1  notieren  wir  M.  O.  B. 
C  a  s  p  a  r  i :  On  the  revolution  of  the  four  hundred  at  Athens ;  T,  W. 
Allen:  Lives  of  Homer;  M.  N.Tod:  Three  greek  numeral  Systems; 
A.  W.  Gomme:  The  legend  of  Cadmus  and  the  logographi ;  W.  M. 
C  a  1  d  e  r:  Corpus  inscriptionum  neo-phrygiarum.  II ;  P.  G  a  r  d  - 
ner:  Note  on  the  coinage  of  the  Jonian  revolt;  G.  Dickins:  The 
growth  of  Spartan  policy.    A  reply  (gegen  Grundy). 

Das  Bullettino  della  Commissione  archeologica  comunale  di  Roma 
40,4  ist  reich  an  Aufsätzen  und  Mitteilungen.  O.  Marucchi: 
/  monumenti  Egizl  ed  i  monumenti  Cristiani  recentementi  sistemati 
nel  museo  Capitolino.  Part.  2:  Collezione  cristiana  (reich  an  Inschriften, 
deren  Mitteilung  höchst  willkommen  ist);  G.  Schneider-Gra- 
z  i  0  s  i :  Vn  monumento  quasi  ignorato  nella  regione  prima  (betrifft 
eine  Inschrift  aus  Velletri,  welche  vortrefflich  erklärt  wird);  E.  G  a  1 1  i: 
Avanzi  di  acquedotti  romane  scoperti  presso  Porta  Maggiore ;  L.  C  a  n  - 
t  a  r  e  1 1  i :  Gli  utricularii  und  Scoperti  archeologiche  in  Italia  e  neue 
antiche  provincie  Romane ;  U.  A  n  t  o  n  e  1 1  i :  //  culto  di  Mitra  neue 
coorti  pretorie  und  G.  G  a  1 1  i :  Notizie  di  recenti  trovamenti  di  anti- 
chitä  in  Roma  e  nel  suburbio. 

Das  Nuovo  Bullettino  di  archeologia  cristiana  19,1 — 4  ist  der 
16.  Zentenarfeier  Constantins  und  dem  50  jährigen  Bestehen  der  durch 


Alte  Geschichte.  653 

Giovani  Battista  de  Rossi  gegründeten  Zeitschrift  gewidmet  und  ent- 
hält eine  große  Menge  vortrefflicher  Aufsätze,  von  denen  wir  hier 
folgende  hervorheben :  G.  B.  D  e  R  o  s  s  i :  Una  questione  suU'arco 
trionfale  dedicato  a  Costantino  und  L'iscrizione  delVarco  irionfale  di 
Costantino ;  L.  Duchesne:  Constantin  et  Maxence ;  R.  P  a  r  i  - 
b  e  n  i :  SulVorigine  del  nome  cristiano ;  A.  M  o  n  a  c  i :  La  campagna 
di  Costantino  in  Italia  nel  312 ;  C.  S  a  n  t  u  c  c  i :  L'editto  di  Milano 
nei  riguardi  del  diritto ;  Schneider  Graziosi  (G.),  //  labaro 
Costantiniano  e  la  risurrezione  di  Lazzaro  sopra  due  marmi  del  cimi- 
ttro  di  Priscilla ;  A.  S  i  I  v  a  g  n  i :  //  titolo  Costantiniano  di  Equizio  ; 
F.  H  e  r  m  a  n  i  n :  La  leggenda  di  Costantino  imperatore  nella  cfiiesa 
di  S.  Silvestro  a  Tivoli. 

Aus  demselben  Anlaß  bringt  auch  die  Revue  des  deux  Mondes 
1913,  15.  Juli  einen  Artikel  von  R.  P  i  c  h  0  n:  La  liberti  de  consciente 
dans  Vancienne  Rome  ä  propos  du  seixieme  anniversaire  de  l'idit  de 
Milan. 

Die  !-^(>;fa«oAoy«x»;  'E^fis^ie  1912,  3/4  ist  ungemein  reich  an 
Berichten  und  Mitteilungen,  wovon  wir  hier  nur  erwähnen  können 
A.  E r  ayye  ?.  iS  t]  e:  Ex  t^s  MvKr]VMv  yeojfierQixrjs  rsxponöXeios ;  K. 
K ovQOvvKiizr;  s:  To  iv  yivxoaov^  Miyaqov  rrj^  JeanoivTjS ;  ^.  Be^- 
aatirjs:  Mvrifieia  tiöv  voriioy  jiqotioSwv  rr,s  yixooTiökeaig ;  V.  XaT^t- 
Sdxte:  Tvliaoe  Mncoixr;  und  von  Ad.  Wilhelm  die  trefflichen  Er- 
klärungen und  Herstellungen  euboischer  und  athenischer  Inschriften, 
während  A.  Arvanitopullos  seine  Herstellungen  thessalischer 
Inschriften  mitteilt. 

Neue  Bücher :  G  e  m  o  1 1 ,  Israeliten  und  Hyksos.  Der  histor. 
Kern  der  Sage  vom  Aufenthalte  Israels  in  Ägypten,  (Leipzig,  Hin- 
richs.  6  M.)  —  Die  antiken  Münzen  Mysiens.  Bearb.  von  Hans  v. 
Fritze.  1.  Abtlg.  (Berlin,  Reimer.  32  M.)  —  H ands  ,  Italo-greek 
coins  of  Southern  Italy.  (London,  Spink  and  son.)  —  Rosenberg, 
Der  Staat  der  alten  Italiker.  Untersuchungen  über  die  ursprüng- 
liche Verfassung  der  Latiner,  Osker  und  Etrusker.  (Berlin,  Weid- 
mann. 4  M.)  —  Holmes,  Cäsars  Feldzüge  in  Gallien  und  Britan- 
nien. Übersetzung  und  Bearbeitung  von  Wilh.  Schott,  nach  dessen 
Tode  zu  Ende  geführt  von  Fei.  Rosenberg.    (Leipzig,  Teubner.    9  M.) 

—  S  0  m  i  gl  i  di  S.  D  et  ale  ,  Costantino  il  grande  e  il  problema  po- 
litico-religioso  al  principio  del  secolo  IV  {2y4 — 337).  (Firenze,  Razzo- 
lini.  2  L.)  —  B  en  igni ,  Storia  sociale  della  chiesa.  Vol.  IL  (Da 
Costantino  alla  caduta  delVimpero  romano),  tomo  I.   (Milano,  Vallardi.) 

—  S  e  e  c  k ,  Geschichte  des  Untergangs  der  antiken  Welt.  5.  Bd. 
(Berlin,  Siemenroth.    6  M.) 


654  Notizen  und  Nachrichten. 

Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

Aus  den  neuen  Heften  des  Römisch-germanischen  Korrespon- 
denzblattes 5  N.  6  und  6  N.  J — 3  notieren  wir  im  AnschUiß  an  die 
Reihenfolge  der  einzelnen  Hefte  folgende  Beiträge.  Chr.  H  r.  e  1  s  e  n 
wertet  Boissards  Metzer  Inschriftensammlung  und  den  Grabstein  eines 
römischen  Bierbrauers,  E.  Wagner  schildert  eine  römische  Nieder- 
lassung bei  Eckartsbrunn  im  Amte  Engen,  P.  G  o  e  ß  1  e  r  drei  rö- 
mische Votivsteine  im  württembergischen  Gingen  am  Fils.  E.  Rit- 
terling liefert  Beiträge  zum  Germanenkrieg  der  Jahre  39 — 41  n. 
Chr.  Geb.,  W.  Bremer  befaßt  sich  mit  steinzeitlichen  Ansiedlungen 
bei  Eberstadt  im  Kreise  Gießen,  St.  K  a  h  mit  drei  Gigantenreiter- 
gruppen in  Haueneberstein  bei  Baden-Baden.  Über  einige  frührömische 
Fibelformen  handelt  E.  Krüger,  über  steinzeitliche  und  Latfene- 
wohnanlagen  bei  Heilbronn  A.  S  c  h  1  i  z  ,  während  K.  H  ä  h  n  I  e 
über  die  Ausgrabungen  zu  Haltern  im  Jahre  1912  berichtet  und 
K  ö  r  b  e  r  neue  Inschriften  aus  Weißenau  bei  Mainz  mitteilen  kann. 
Im  letzten  der  hier  zu  wertenden  Hefte  (6  N.  3)  nimmt  J.  B.  K  e  u  n  e 
zu  Hülsens  Ausführungen  über  Boissards  Metzer  Inschriftensammlung 
Stellung;  von  den  kleineren  Notizen  über  neue  Funde  und  Ausgra- 
bungen sei  allein  die  von  P.  Reinecke  über  solche  zu  Kempten 
im  Jahre  1912  verzeichnet.  An  den  weiteren  Inhalt  der  Hefte,  vor 
allem  an  die  Berichte  über  Verbands-  und  Vereinstagungen  mit  ihrer 
Wiedergabe  einzelner  Vorträge  u.  a.  m.  kann  hier  nur  erinnert  werden. 

Im  9.  Sammelblatt  des  Historischen  Vereins  Freising  (1912)  han- 
delt K.  H  0  I  z  h  e  y  über  prähistorische  Gräber  in  der  Freisinger  Ge- 
gend; J.  Schlecht  teilt  aus  einer  Münchener  Handschrift  zwei 
Urkunden  des  Bischofs  Konrad  I.  von  Freising  mit,  die  wohl  den 
Jahren  1248  oder  1249  angehören  und  mittelbar  mit  dem  Kampfe 
zwischen  Friedrich  II.  und  Innocenz  IV.  zusammenhängen. 

In  seiner  Studie  „Ancient  Rome  and  Ireland"  in  der  English 
Hist.  Review  XXVIII,  S.  1— 12  bekämpft  F.  Haverfield  Zim- 
mers Annahme  eines  „lebhaften"  Handels  der  Iren  mit  dem  Römer- 
reich  für  die  Zeit  von  50 — 350  n.  Chr.  und  stellt  dabei  die  spärlichen 
Funde  von  römischen  Münzen  u.  a.  in  Irland  zusammen.  Die  Ver- 
teilung der  Fundorte  veranschaulicht  eine  Karte.  Danach  hatten  die 
mittelalterlichen  Seefahrten  vom  Frankenreich  nach  der  irischen  West- 
küste in  der  Römerzeit  keine  Vorgänger.  A.  H. 

Anknüpfend  an  die  Arbeiten  von  K.  H.  Schäfer  und  A.  Ludwig 
geht  im  Archiv  für  katholisches  Kirchenrecht  93,  2  F.  G  i  1 1  m  a  n  n 
dem  Problem  nach,  welche  Stellung  die  frühscholastischen  Theologen 
und  Kanonisten  zur  Frage  der  Diakonissen  und  zur  Möglichkeit  der 
Ordination  von  weiblichen  Klerikern  überhaupt  einnahmen. 


Frühes  Mittelalter.  655 

Das  jüngst  ausgegebene  Heft  des  Neuen  Archivs  38,  2  enthält 
eine  große  Zahl  umfangreicherer  und  kleinerer  Studien,  die  hier  we- 
nigstens erwähnt  werden  sollen.  Vorangestellt  sei  der  Hinweis  auf 
zwei  Übersichten  von  Handschriften,  die  eine  von  W.  L  e  v  i  s  o  n 
über  Codices  des  Museum  Meermanno-Westreenianum  im  Haag,  die 
andere  von  F.  W.  E.  Roth  über  Handschriften  in  der  Bibliothek 
des  Priesterseminars  zu  Mainz.  A.  Hofmeister  handelt  über 
eine  Handschrift  der  Sächsischen  Weltchronik,  P.  Lehmann  über 
neue  Textzeugen  des  Prüfeninger  Liber  de  viris  illustribus  {Anony- 
mus Mellicensis).  Zur  Quellenkunde  haben  S.  H  e  1 1  m  a  n  n  (zu 
den  Gesta  Treverorum)  und  K.  U  h  I  i  r  z  (Das  Admonter  Bruchstück 
einer  Abschrift  der  Melker  Annalen)  beigesteuert,  vor  allem  aber 
zwei  Aufsätze  aus  dem  Nachlaß  von  O.  Holder-Egger  zur 
Kritik  minoritischer  Geschichtsquellen  und  zur  Lebensgeschichte  des 
Bruders  Salimbene  de  Adam,  der  letzterwähnte  ein  Bruchstück,  das 
den  Tod  des  Verfassers  erneut  beklagen  läßt  (vgl.  108,  424).  H. 
B  r  e  ß  I  a  u  teilt  eine  gefälschte  Urkunde  Karls  des  Großen  für  das 
Bistum  Torcello  mit,  F.  Güterbock  untersucht  ein  echtes  und 
ein  unechtes  Privileg  Friedrichs  I.  für  Kloster  Neuburg  im  Elsaß, 
um  sich  über  beide  mit  J.  Haller  auseinanderzusetzen.  J.  B  a  c  h  - 
mann  sucht  die  Zeit  zweier  Briefe  im  Codex  Udalrici  näher  zu  be- 
stimmen, während  D.  von  K  r  a  1  i  k  seine  Studie  über  die  deutschen 
Bestandteile  der  Lex  Baiuvariorum  (vgl.  111,  208  f.)  um  einen  zweiten 
Teil  vermehrt. 

M.  J  u  s  s  e  I  i  n  schlägt  in  der  Bibliotheque  de  Vecole  des  chartes 
74,  1/2  S.  67  ff.  für  eine  Reihe  von  tironischen  Noten  in  merowingi- 
schen  Königsurkunden  neue  Lesungen  vor,  die  zugleich  Einblick  in 
das  Getriebe  der  Kanzlei,  vor  allem  in  die  Art  und  Weise  gewähren 
möchten,  wie  Befehle  an  Kanzleibeamte  gegeben  und  von  diesen  zum 
Ausdruck  gebracht  wurden.  Jusselin  findet  in  mehreren  Urkunden 
die  Note  per  anolum  (anolo)  und  deutet  sie  darauf,  daß  sie  auf  Be- 
fehle aufmerksam  mache,  die  durch  ein  mit  dem  Ring  besiegeltes 
Schriftstück  des  Befehlsgebers  übermittelt  worden  seien,  nicht  aber 
mündlich. 

E.  Jörge  nsen,  Fremmed  Indflydelse  ander  den  Danske 
Kirkes  tidligste  Udvikling.  Kgl.  Danske  Videnskabs  Selskabs  Skrifter 
I.  /?.  Histor.  og  Filos.  Afdel.  F.  2.  Kopenhagen  1908.  123  S.  — 
Die  Abhandlung  ist  das  Ergebnis  einer  von  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  Kopenhagen  gestellten  Preisaufgabe,  zu  ermitteln,  von  wel- 
chem Volk  die  älteste  dänische  Kirche  beeinflußt  worden  ist  in  ihrer 
inneren  Entwicklung  (Organisation,  Verwaltung,  Gesetze,  Sprache 
Liturgie).     Verfasserin  untersucht    den  Zeitraum  dänischer  Kirchen 


t)56  Notizen  und  Nachrichten. 

geschichte  vom  9.  bis  zur  Mitte  des  13.  Jahrhunderts,  bis  die  Ein- 
tracht zwischen  Kirche  und  Königtum  für  lange  zerreißt.  Ein  Ein- 
schnitt liegt  etwa  bei  1050  und  ergibt  sich  durch  den  Sturz  der  däni- 
schen Herrschaft  in  England  und  die  Organisation  der  dänischen 
Kirche  unter  König  Svend  Estridson.  In  der  ersten  Periode  hat  sich 
angelsächsischer  Einfluß  in  beherrschender  Weise  geltend  gemacht 
für  die  Ausbildung  der  Liturgie  in  Dänemark,  In  der  zweiten  Periode 
ist  das  Bild  der  in  die  dänische  Kirchenentwicklung  hineinspielenden 
fremden  Einflüsse  mannigfaltiger.  Jetzt  überwiegt  der  deutsche  den 
angelsächsischen  Einfluß.  Die  angelsächsische  Kirche  ist  im  Ab- 
sterben. Auch  französische  und  römische  Einflüsse  beginnen  sich  zu 
zeigen.  —  Im  einzelnen  behandelt  Verfasserin  unter  scharfsinniger  und 
umfassender  Verwertung  der  Quellen  die  Ernennung  der  Bischöfe^ 
die  Organisation  des  Klerus,  die  kirchliche  Gesetzgebung  und  Straf- 
gewalt, die  Entwicklung  der  Liturgie,  den  Heiligenkalender  und  die 
Kirchensprache,  in  der  besonders  starke  angelsächsische  Einflüsse 
nachgewiesen  werden. 

Kiel.  Daenell. 

Über  mittelalterliches  Bücherwesen  in  Dänemark  (einschließl. 
Schonen)  hat  Dr.  Ellen  Jörgensen  eine  gründliche  Untersuchung 
veröffentlicht.  Es  werden  der  Reihe  nach  behandelt:  Bücher  für  den 
Gebrauch  der  Domkirchen,  Bibliotheken  der  Bischöfe  und  Kanoniker^ 
Schulbücher,  Klosterbibliotheken,  Bücher,  die  bei  Kirchen  und  Geist- 
lichen rings  im  Lande  verbreitet  waren,  endlich  solche  im  Besitz  von 
Laien  (Studier  over  danske  middelalderlige  Bogsamlinger,  S.-A.  aus 
Dansk  Historisk  Tidsskrift  8.  R.  IV.   1912.  67  S).  V^.   V. 

Thomas  C  a  r  1  y  1  e  ,  Frühe  Könige  von  Norwegen.  Übersetzt 
von  Peter  Bredt.  Göttingen,  Vandenhoek  &  Ruprecht.  1911.  155  S. 
—  Die  Early  Kings  of  Norway  waren  Carlyles  letzte  historische  Ar- 
beit, und  man  versteht,  daß  er,  nach  Froude,  mit  ihr  wenig  zufrieden 
war.  In  der  Tat  bietet  sie  kaum  mehr  als  einen  kurzen  Auszug  aus 
Snorres  norwegischen  Königsgeschichten,  freilich  gesehen  durch  Car- 
lylesches  Temperament.  Aber  Carlyles  Absicht  ging  wohl  auch  nicht 
weiter  als  die  alten  geliebten  nordischen  Gestalten  seinen  Landsleuten 
nahezubringen,  und  denselben  Zweck  mag  für  uns  auch  diese  deutsche 
Ausgabe  noch  erfüllen,  solange  die  so  wünschenswerte  deutsche  Über- 
setzung der  Heimskringla  fehlt.  Die  Übersetzung  liest  sich  gut,  nur 
mit  dem  schrecklichen  „Olaf  dem  Untersetzten"  kann  man  sich  schwer 
befreunde^,  mag  es  auch  das  Thick-set  or  Stout-built  des  englischen 
Originals  buchstäblich  wiedergeben.  Walther  Vogel. 

W.  Erben  gelangt  in  seinen  gründlichen  Untersuchungen  zur 
Lebensgeschichte  des  Erzbischofs  Gebhard  von  Salzburg  (f  1088)  zu 


Frühes  Mittelalter.  657^ 

folgenden,  auch  für  die  Geschichte  des  Deutschen  Reiches  unter  Hein- 
rich III.  und  Heinrich  IV.  nicht  unwichtigen  Ergebnissen:  Gebhard 
hat  unter  Heinrich  111.  nicht  die  Stelle  des  Erzkaplans  erlangt;  im 
Jahre  1074  weilte  er  als  Vertrauensmann  Heinrichs  IV.  am  Kaiser- 
hofe von  Byzanz;  im  Jahre  1071  wurde  er  von  Papst  Alexander  II. 
durch  ein  besonderes  Mandat  für  die  Verhandlungen  der  Mainzer 
Synode  mit  der  päpstlichen  Stellvertretung  betraut,  nicht  aber  mit 
einer  Legation  über  alle  Kirchen  des  Deutschen  Reiches.  Erben  neigt 
dazu  anzunehmen,  daß  Gebhards  Bezeichnungen  als  Erzkaplan  und 
als  Legat  für  Deutschland,  wie  sie  erst  im  ausgehenden  12.  Jahrhundert 
entgegentreten,  mit  Bestrebungen  zusammenhängen,  die  am  Salzburger 
Hofe  in  den  Zeiten  nach  dem  Frieden  von  Venedig  auftauchen  mochten 
(Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  Salzburger  Landeskunde  53.  1913). 
In  der  von  Brandenburg  und  Seeliger  herausgegebenen  „Quellen- 
sammlung zur  deutschen  Geschichte"  bietet  Rudolf  Kötzschke 
eine  reichhaltige  und  lehrreiche  Zusammenstellung  von  „Quellen  zur 
Geschichte  der  ostdeutschen  Kolonisation  im  12. — 14.  Jahrhundert" 
(Leipzig-Berlin,  Teubner.  1912.  142  S.  mit  4  Flurkarten.  2  M.). 
Auch  die  Urkunden  über  deutsche  Stadtgründungen  im  slawischen 
Osten  sind  in  ausgiebiger  Weise  berücksichtigt  worden. 

An  die  Publikation  der  bisher  unbeachteten  Aufzeichnung  de*^ 
,,Debita  Willelmi  Cade",  d.  h.  der  von  ihm  ausgeliehenen  Summen, 
Von  etwa  1 165 — 1 166  knüpft  H.  Jenkinson  in  der  English  Hist. 
Review  XXV III,  S.  209  ff.  lehrreiche  Bemerkungen  über  diese  Per- 
sönlichkeit, die  er  als  den  ersten  christlichen  Finanzmann  großen  Stils 
charakterisiert,  und  über  die  Finanzgebarung  der  ersten  Jahre  Hein- 
richs II.  Er  vermutet,  daß  Cade,  dessen  Geldgeschäfte  mit  der  Krone 
auch  in  den  Pipe-Rolls  Heinrichs  II.  zu  verfolgen  sind,  aus  Flandern 
stammte  und  um  1166  starb.  A.  H. 

Unter  dem  Titel  „Philipp  II.  August  und  der  Zusammenbruch 
des  angevinischen  Reiches"  veröffentlicht  A.  Cartellieri  seinen 
zu  London  gehaltenen  Vortrag,  der  in  gedrängter  Kürze  den  Inhalt 
des  demnächst  erscheinenden  vierten  Bandes  seines  Werkes  über  den 
König  von  Frankreich  wiedergibt.  Die  Herausarbeitung  der  entschei- 
denden Ereignisse  und  die  Abschätzung  internationaler  Politik  um 
die  Wende  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  sind  wohl  gelungen,  immerhin 
wird  zu  einem  abschließenden  Urteil  die  ausführlichere  Darstellung 
abzuwarten  sein  (Leipzig,  Dyk.  1913.    16  S.). 

E.  Michael  behandelt  in  der  Zeitschrift  für  katholische  Theo- 
logie 1913,  3  S.  689  ff.  „zwei  staatsrechtliche  Fragen  des  hohen 
Mittelalters",  die  durch  neuere  Arbeiten  wieder  an  Interesse  gewonnen 
Raben;  einmal   Papst    Innocenz   III.   und  die  „Kaiserwahl",  sodann 


658  Notizen  und  Nachrichten. 

das  Verhältnis  der  Nürnberger  Wahl   Friedrichs    II.  im  Jahre   1211 
zu  seiner  Frankfurter  Wahl  im  Jahre  1212. 

F.  Baethgen  unterwirft  die  Nachrichten  über  die  Exkommu- 
nikation Philipps  von  Schwaben  einer  erneuten  Prüfung.  Im  Gegen- 
satz zu  A.  Hauck  (Berichte  der  sächsischen  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften 1904,  S.  137  ff.)  vertritt  er  die  Meinung,  daß  eine  allgemeine 
Bannsentenz  Cölestins  III.  den  Hohenstaufen  unter  die  detentores  et 
invasores  patrimonii  b.  Petri  subsumiert,  Philipp  von  Schwaben  aber 
jene  Subsumtion  nicht  anerkannt,  sich  selbst  also  nicht  als  gebannt 
betrachtet  habe;  bat  er  aber  1 197  oder  1 198  um  Absolution  und  erkannte 
er  damit  den  Bann  an,  „so  hatte  er  in  den  unaufgeklärten  Verhältnissen 
nach  Heinrichs  VI.  Tode  vielleicht  es  für  angezeigt  gehalten,  der  Kurie 
einen  Schritt  entgegenzukommen.  Im  Jahre  1206  hatte  er  dazu  keinen 
Grund;  Innocenz'  sophistisches  Ausnutzen  der  Bannsentenz  mochte 
ihn  gereizt  haben,  vor  allem  aber  hatte  seine  politische  Position  sich 
entscheidend  verschoben.  In  diesem  Augenblick  war  er  der  Sieger, 
der  sich  auf  den  schroffen  Rechtsstandpunkt  stellen  konnte  und  der 
sich  nicht  mehr  veranlaßt  sah  zu  einem  Zugeständnis,  das  die  Zähig- 
keit der  Kurie  im  weiteren  Verlauf  der  Unterhandlungen  ihm  doch 
abgerungen  zu  haben  scheint".  Auch  die  Würdigung  von  Innocenz' 
Verhalten  weicht  von  der  durch  A.  Hauck  ab,  dessen  Verurteilung 
der  Nachrichten  in  den  päpstlichen  Schreiben  Baethgen  bekämpft 
(Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische  Geschichtsforschung 
34,  2). 

In  den  Quellen  und  Forschungen  aus  italienischen  Archiven  und 
Bibliotheken  15,2  veröffentlicht  H.  Kalbfuß  eine  zweite  Reihe 
von  Urkunden  und  Regesten  zur  Reichsgeschichte  Oberitaliens.  Es 
ist  schwer,  von  dem  reichen  Inhalt  der  gebotenen  Stücke  eine  klare 
Vorstellung  zu  geben:  hier  muß  die  Bemerkung  genügen,  daß  die 
meisten  der  mitgeteilten  Stücke  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhun- 
derts angehören,  also  vor  allem  zur  Geschichte  Friedrichs  II.  und 
seiner  Zeit  Beiträge  liefern.  Der  Herausgeber  hat  sich  bei  der  Durch- 
forschung der  Archive  und  Sammlungen  nicht  darauf  beschränkt,  nur 
Kaiserurkunden  zu  suchen  und  zu  finden.  Indem  er  auch  den  Urkunden 
u.  a.  kaiserlicher  Legaten,  Richter  usw.  nachging,  gelang  eine  Aus- 
beute, die  als  wichtige  Bereicherung  des  Materials  gerade  für  Fried- 
richs II.  Verwaltungstätigkeit  begrüßt  werden  darf  (vgl.  111,  215). 
Angefügt  sei  der  Hinweis  auf  die  Veröffentlichung  von  E.  Sthamer 
am  gleichen  Orte,  einer  Urkunde  nämlich  vom  Jahre  1259,  die  für 
die  Geschichte  des  Kastells  Rocca  S.  Agata  von  Interesse  ist. 

Eine  scharfsinnige  Untersuchung  von  H.  Niese  über  die  Re^ 
gister  Friedrichs    II.  (Archiv  für  Urkundenforschung  5,  1)  legt  dar^ 


Frühes  Mittelalter.  659 

daß  man  General-  und  Spezialregister  zu  scheiden  habe,  und  lehrt 
den  Inhalt  ihrer  Eintragungen  kennen.  Ein  glücklicher  "Fund  im  Ar- 
chiv zu  Neapel  ergab  bisher  unbekannte  Urkunden  Friedrichs  II. 
aus  den  Jahren  1239  und  1240,  derart  daß  ihre  Übernahme  in  ein 
Transsumpt  vom  Jahre  1332  die  fortdauernde  Verwertung  der  Re- 
gister Friedrichs.  1 1.  auch  unter  seinen  Nachfolgern  offenbarte  (s.  auch 
III,  215). 

Im  Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins  1913,6/7  findet  sich 
das  Referat  eines  lehrreichen  und  aufschlußvollen  Vortrages  von 
K.  H.  Schäfer  über  die  deutschen  Ritter  in  Italien  und  ihre  Kirche 
in  Verona.  Er  erwuchs  aus  dem  Buche  des  Redners  über  ,, Deutsche 
Ritter  und  Edelknechte  in  Italien  während  des  14.  Jahrhunderts"  (Pa- 
derborn 1912);  vgl.  die  Anzeige  von  H.  Niese  in  dieser  Zeitschrift 
109,  647  ff.  Seine  Ausführungen  hätten  aber  auch  an  die  Bemerkungen 
von  K.  W.  Nitzsch  (Geschichte  des  deutschen  Volkes  III,  1885,  S.  201  ff., 
230  ff.)  erinnern  müssen,  in  denen  das  Ausströmen  adeliger  Kräfte  aus 
Deutschland  gerade  während  des  endenden  13.  und  beginnenden 
14.  Jahrhunderts  in  den  Zusammenhang  der  ständischen  Entwicklung 
jener  Zeit  überhaupt  gestellt  ist,  so  weit  wir  sehen  zum  ersten  Male, 
derart  daß  Schäfers  Ergebnisse  zu  ihnen  eine  wertvolle  Ergänzung 
und  weitere  Erläuterung  bieten. 

R.  Hoenigers  Betrachtungen  über  das  Erstehen  des  deut- 
schen Volkstums  und  seine  Verbreitung  im  Mittelalter  wollen  die 
Frage  beantworten,  „wie  aus  dem  räumlich  unsicher  begrenzten  Ge- 
samtbereich urzeitlich-germanischen  Wesens  ein  deutsches  Volkstum 
sich  ausgeschieden  hat,  welchen  Wohnraum  es  bis  zum  Ausgang  des 
Mittelalters  gewann  und  in  welchem  Umfange  über  die  deutschen 
Grenzen  hinaus  eine  deutsche  Einflußnahme  auf  fremdvölkische  Außen- 
lande erfolgte".  Man  folgt  den  im  ganzen  geschickten  Darlegungen 
nicht  ohne  Interesse,  wird  aber  doch  wesentlich  neue  Gedanken  ver- 
missen, für  deren  Ausbreitung  vielleicht  in  einer  an  gebildete  Leser 
im  allgemeinen  sich  wendende  Zeitschrift  (Internationale  Monatschrift 
1913,  10  S.  1221  ff.)  nicht  Raum  gegeben  werden  mochte. 

Elisabeth  v.  Westenholz,  Kardinal  Rainer  von  Viterbo. 
(Heidelberger  Abhandlungen  z.  mittl.  u.  neuer.  Gesch.  34.  Heft.) 
VIII  u.  207  S.  Heidelberg,  Winter.  1912.  5,40  M.  —  Wenn  es  zu 
voller  Würdigung  der  kurialen  Politik  des  13.  Jahrhunderts  dringend 
erwünscht  ist,  aus  der  langen  Reihe  ausgeprägter  hierarchischer  Ge- 
stalten, die  als  Kardinäle  neben  dem  Papst,  bisweilen  auch  als  die 
eigentlichen  Leiter  und  selbst  im  Gegensatz  zu  ihm  einen  bedeutungs- 
vollen Einfluß  geübt  haben,  die  hervorragendsten  in  Einzeldarstel- 
lungen kennen  zu  lernen,  so  verdient  diesen  Vorzug  zweifellos  Rainer 


660  Notizen  und  Nachrichten. 

von  Viterbo,  Kardinal  von  1215 — 1250,  d.  h.  unter  vier  Päpsten,  zu 
deren  jedem  Rainer  eine  nach  ihrer  Eigenart  versciiiedene  Stellung 
eingenommen  hat.  Nicht  als  ob  er  wegen  neuer  Gedanken  zu  den 
führenden  Geistern  zu  zählen  und  etwa  deshalb  die  Angabe  seiner 
Amtsjahre  auf  dem  Titel  überflüssig  gewesen  wäre,  sondern  weil  in 
ihm  der  von  der  Kirche  gegen  das  Kaisertum  Friedrichs  II.  geführte 
Kampf  den  leidenschaftlichsten  Vertreter  gefunden  hat.  Seine  Denk- 
weise erkennen  wir  aus  einer  Reihe  von  Schriften,  die  Hampe  1908 
als  von  einem  Kanzlisten  Rainers  für  das  Lyoner  Konzil  von  1245 
verfaßt  nachgewiesen  hat.  In  lodernder  Feindseligkeit  und  zugleich 
in  empörender  Unwahrhaftigkeit  stehen  sie  unvergleichlich  da.  Es 
ist  wertvoll,  sie  in  das  Lebensbild  Rainers,  der  schon  in  Zeiten  fried- 
lichen Einvernehmens  zwischen  Kurie  und  Kaisertum,  in  den  Jahren 
1222  und  1234,  ohne  Schuld  des  Kaisers  sich  voll  Haß  gegen  ihn  ge- 
sogen hatte,  eingeordnet  und  ihr  die  Handlungsweise  gegenübergestellt 
zu  sehen,  die  der  Kardinal  in  den  eigentlichen  Kampf  jähren  1244  ff. 
entfaltete,  als  er  zur  Vertretung  des  Papstes,  zur  Führung  des  Schwertes 
wider  Friedrich  1 1.  in  Italien  zurückblieb,  während  Innocenz  IV.  nach 
Lyon  zog.  Nach  vier  Jahren  war  der  Papst  müde  des  ungestümen 
Draufgängers,  der  die  vorsichtig  lavierende  päpstliche  Politik  zu  mei- 
stern unternahm,  ihr  mit  Tat  und  Wort  seinen  unbändigen  Trieb  zur 
Vernichtung  des  Kaisers  auferlegen  wollte  —  Innocenz  ließ  ihn  und 
andere  ältere  Kardinäle  fallen  zugunsten  neuer  gefügiger  Werkzeuge. 
Rainer  hat  den  Sturz  nur  um  reichlich  ein  Jahr  überlebt.  Im  Ver- 
gleich mit  der  Zeit  Innocenz'  IV.  sind  die  vorausgegangenen  Jahr- 
zehnte von  viel  geringerem  Interesse  —  unter  Honorius  III.  stand 
Kardinal  Hugo  in  erster  Linie,  und  dann  führte  dieser  selbst  als  Gre- 
gor IX.  ein  so  starkes  Regiment,  daß  insbesondere  für  den  Gesin- 
nungsgenossen zu  besonderem  Hervortreten  kein  Anlaß  gegeben  war. 
Die  Zeichnung  Rainers  wirkt  überzeugend,  v.  W.  hat  selbst  tempera- 
mentvoll den  wenig  anziehenden  Charakter  treu  erfaßt  und  in  schöner 
Form  dargestellt,  sie  hatte  u.  a.  Arbeiten  von  Winkelmann,  Roden- 
berg,  Hampe,  Gräfe,  Pinzi  und  Signorelli  (2  Geschichten  Viterbos) 
zu  verwerten,  sie  hat  in  eingehenden  Anmerkungen  und  Exkursen 
manche  kleinere  kritische  Frage  besonders  chronologischer  Art  ge- 
fördert. Bisweilen  ist  sie  zu  eifrig  einer  naheliegenden  Vorstellung 
gefolgt.  Sie  würde  über  Kardinal  Hugos  Verhältnis  zu  Franz  von 
Assisi,  dem  auch  Rainer  aufrichtige  Ergebenheit,  auch  in  Rede  und 
Versen,  gezollt  hat,  viel  günstiger  geurteilt  haben  (als  S.  31),  wenn 
ihr  das  1911  erschienene  Buch  E.  Brems  (s.  H.  Z.  109,221)  vorge- 
legen hätte,  aber  das  Vorwort  datiert  vom  Herbst  1910  und  nichts 
weist  darauf  hin,  daß  v.  W.  bis  zum  Erscheinen  ihres  Buches  im  Früh- 
jahr 1912  noch  irgendetwas  geändert  habe.    v.  W.  tut  Gregor   IX. 


Frühes  Mittelalter.  66^ 

buchstäblich  unrecht,  wenn  sie  S.  37  sagt,  er  habe  seine  Regierung 
in  Rom  mit  Ketzerbränden  begonnen,  diese  erfolgten,  als  Gregor  im 
Dezember  1230  nach  Rom  zurückgekehrt  war,  aber  schon  vom  Ok- 
tober 1227  ab  hatte  er  dort  ein  halbes  Jahr  residiert.  Bezüglich  der 
pseudojoachimitischen  Kommentare  zu  Jeremias  und  Jesaias  hat 
sich  V.  W.  (S.  41  und  131),  was  die  Datierung  und  die  weifische  An- 
schauung betrifft  (sie  schreibt  vielmehr:  „von  einem  kommenden 
Kaiser  die  Rettung  hofften"),  aus  der  angeführten  guten  Abhandlung 
von  Karl  Friderich  schlecht  unterrichtet.  Betreffs  des  Konklave 
von  1241  (Kapitel  3)  verweise  ich  auf  meine  Besprechung  der  nach- 
gefolgten Abhandlung  Hampes  oben  S.  216.  Die  Verweisungen  sind 
bisweilen  zu  kurz,  entbehren  manchmal  der  Seitenzahlen  oder  geben 
unrichtige  Zahlen,  manchmal  längst  veraltete  Quellenausgaben.  Aber 
das  sind  Jugendsünden,  die  den  Wert  des  Buches  nicht  eigentlich  an- 
tasten. Drei  Urkunden  aus  dem  Archiv  zu  Viterbo  bzw.  der  Vatika- 
nischen Bibliothek  und  ein  Verzeichnis  der  Orts-  und  Personennamen 
am  Schluß  seien  erwähnt.  K.  Wenck. 

Neue  Bücher :  Stuhlfath,  Gregor  I.,  der  Große.  Sein  Leben 
bis  zu  seiner  Wahl  zum  Papste  nebst  einer  Untersuchung  der  ältesten 
Viten.  (Heidelberg,  Winter.  3  M.)  —  Liebermann,  The  national 
assembly  in  the  Anglo-Saxon  period.  (Halle,  Niemeyer.  2,50  M.)  — 
Kurze,  Die  karolingischen  Annalen  bis  zum  Tode  Einhards.  (Leip- 
zig, Fock.  1  M.)  —  D  0  p  s  c  h  ,  Die  Wirtschaftsentwicklung  der 
Karolingerzeit,  vornehmlich  in  Deutschland.  2.  Tl.  (Weimar,  Böhlaus 
Nachf.  9  M.)  —  Liber  Largitorius  vel  notarius  monasterii  Pharphensis, 
a  cura  di  Giuseppe  Zucchetti.  Vol.  I.  (Roma,  Loescher  e  Co. 
12,80  M.)  —  S  aga  X  La  ndo  l  f  us  ,  Historia,  a  cura  di  A.  Crivel- 
lucci.  {Roma,  tip.  del  Senato.  28  L.)  —  Le  carte  del  monastero  di  s. 
Maria  in  Firenze  (Badia).  Vol.  I  (sec.  X,  XI)  edito  da  L.  Schia- 
p  ar  eil  i.  (Roma,  Loescher  e  Co.  15  L.)  —  T  h  e  1  o  e  ,  Die  Ketzer- 
verfolgungen im  11.  und  12.  Jahrhundert.  (Berlin,  Rothschild.  5,40  M.) 
—  Haupt,  Nachrichten  über  Wizelin,  den  Apostel  der  Wagern. 
(Tübingen,  Laupp.  2,40  M.)  —  Kowalski,  Die  deutschen  Köni- 
ginnen und  Kaiserinnen  von  Konrad  III.  bis  zum  Ende  des  Inter- 
regnums. (Weimar,  Böhlaus  Nachf.  3,20  M.)  —  Heinr.  Zimmer- 
mann, Die  päpstliche  Legation  in  der  1.  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts. 
(Paderborn,  Schöningh.  12  M.)  —  Frz.  Becker,  Das  Königtum 
der  Thronfolger  im  Deutschen  Reich  des  Mittelalters.  (Weimar,  Böh- 
laus Nachf.  4,60  M.)  —  Gli  antichi  Vescovi  d'Italia  dalle  origini  al 
1300.  La  Lombardia,  parte  I :  Milano,  per  cura  di  F.  S  avi  0.  (Firenze, 
libr.  ed.  Florentina.    20  L.) 


662  Notizen  und  Nachrichten. 

Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

Enactments  in  Parliament  specially  concerning  the  Universities  of 
Oxford  and  Cambridge  the  Colleges  and  Halls  therein  and  the  Colleges 
of  Winchester  Eton  and  Westminster.  Edited  by  Lionel  Lancelot  S had- 
w  e  1 1  M.  A.  of  New  College  Oxford  Barr ister-at- Law.  4  Bde.  Oxford 
Clarendon  Press  1912,  XXXIX  u.  360,  407,  420  u.  384  S.  —  Den  An- 
stoß zu  der  vorliegenden  Sammlung  alier  sich  auf  die  beiden  alten 
englischen  Universitäten  beziehenden  Parlamentsbeschlüsse  gaben  prak- 
tische Erwägungen.  Die  im  Jahre  1869  von  Dr.  Griff iths  herausge- 
gebenen „Enactments  in  Parliament  specially  concerning  the  Universities 
of  Oxford  and  Cambridge"  waren  seit  einiger  Zeit  so  gut  wie  vergriffen, 
und  die  seither  getroffenen  Verfügungen  über  die  Universitäten  waren 
nirgends  zusammengestellt.  Die  Delegierten  der  Clarendon  Press  lei- 
teten daher  eine  neue  Ausgabe  in  die  Wege.  Doch  hielten  sie  und  der 
Herausgeber  sich  nicht  an  den  Plan  der  von  Qriffiths  besorgten  Samm- 
lung, griffen  vielmehr  weit  über  diese  hinaus  und  brachten  so  ein  Werk 
zustande,  das  auch  für  den  Historiker  von  großer  Bedeutung  ist.  Wäh- 
rend der  frühere  Herausgeber  nur  Akte  zum  Abdruck  brachte,  die  noch 
in  Kraft  standen,  publiziert  Shadwell  alle  Akte,  die  sich  auf  die  beiden 
Universitäten  beziehen,  ohne  Rücksicht  darauf,  daß  viele  von  ihnen 
später  aufgehoben  wurden.  Außerdem  sind  die  Grenzen  des  aufzu- 
nehmenden im  aligemeinen  weiter  gesteckt  worden  als  in  der  alten 
Sammlung;  so  ist  z.  B.  auch  die  ganze  Gesetzgebung  über  die  mit  den 
Universitäten  in  Oxford  und  Cambridge  in  engem  Zusammenhange 
stehenden  Colleges  von  Winchester,  Eton  und  Westminster  hinein- 
bezogen worden.  Außerdem  kommen  noch  die  seit  1869  erlassenen 
Dekrete  hinzu,  die  fast  einen  ganzen  Band  ausfüllen  und  bis  zum  Jahre 
1910  führen.  Soweit  nicht  offizielle  Drucke  vorlagen,  sind  für  die  Her- 
stellung des  Textes  die  Originale  zu  Rat  gezogen  worden.  Von  den 
Akten  sind  nur  die  Teile  vollständig  mitgeteilt,  die  sich  direkt  auf  die 
Universitäten  beziehen,  die  übrigen  Abschnitte  sind  in  der  Regel  in 
einem  kurzen  Regest  resümiert.  Auch  die  neuen  Anmerkungen  tragen, 
so  knapp  sie  gehalten  sind,  dem  veränderten  Charakter  der  Sammlung 
Rechnung;  sie  suchen  auch  den  Benutzern  entgegenzukommen,  die 
den  Stoff  vom  historischen  Standpunkt  aus  betrachten.  Ein  sorgfältig 
gearbeitetes  Sach-  und  Personenregister  ist  beigegeben.  So  ist  das  der 
Clarendon  Press  zu  verdankende  Werk  denn  auch  für  den  Historiker  zu 
einer  außerordentlich  wertvollen  JVtaterialsammlung  geworden.    Fueter. 

Untersuchungen  zu  Gottfried  Hagens  Reimchronik  der  Stadt 
Köln  nebst  Beiträgen  zur  mittelripuarischen  Grammatik  von  Ernst 
D  0  r  f  e  I  d,  (Germanist.  Abhandlungen  herausgegeben  von  Fr.  Vogt. 
Heft  40.)    Breslau,  M.  u.  H.  Marcus.  1912.   XII  u.  320  S.    10,80  M. 


Späteres  Mittelalter.  663 

—  Diese  umfangreiche  und  gründliche  Arbeit  geht  die  Leser  der  Hi- 
storischen Zeitschrift  nur  in  ihrem  ersten  Drittel  (S.  1 — 94)  näher  an; 
die  weiteren  Teile  behandein  die  mittelripuarische  Sprache  des  Autors, 
seine  Metrik,  schließlich  Syntax  und  Stil.  Die  Reimchronik  des  köl- 
nischen Stadtschreibers  Gottfried  Hagen,  an  deren  vom  Verfasser 
selbst  gebotener  Datierung  auf  das  Jahr  1270  Dorfeid  S.  90  Anm. 
gegen  Cardauns  festhält,  liegt  uns  vollständig  nur  in  einer  Frankfurter 
Papierhandschrift  (F)  des  15.  Jahrhunderts  vor,  nach  der  sie  E.  v.  Groote 
(1834)  sehr  zuverlässig  herausgegeben  hat.  Ein  später  aufgetauchtes 
Pergamentblatt  aus  Düsseldorf  (D),  das  der  Zeit  um  1300  zugeschrieben 
wird,  hat  den  letzten  Herausgeber  C.  Schröder  (in  den  Chroniken  der 
deutschen  Städte  Bd.  12,  1875)  zu  unberechtigtem  Mißtrauen  gegen  die 
gute  sprachliche  Form  von  F  verführt  und  auch  sonst  zu  allerlei  Will- 
kürlichkeiten verleitet,  während  er  tiefergreifende  Mängel  der  Über- 
lieferung nicht  erkannt  oder  doch  falsch  beurteilt  hat.  Dorfeid  ver- 
sucht den  Nachweis,  daß  der  Fortgang  der  Erzählung,  in  der  Schröder 
mehrfach  Lücken  ansetzte,  vor  allem  durch  drei  alte  Blattversetzungen 
gestört  ist,  deren  richtige  Erkenntnis  die  Annahme  von  Lücken  ein- 
schränkt. Diese  Verwirrung  muß  schon  sehr  früh  eingetreten  sein, 
denn  sie  wird  geteilt  von  der  Koelhoffschen  Chronik,  welche  Hagens 
Werk  umständlich  benutzt,  ja  in  einem  Falle  ist  sie  bereits  durch 
das  Fragment  D  bezeugt.  Mir  hat  die  Beweisführung  Dorfeids  nament- 
lich im  ersten  Falle  eingeleuchtet,  und  auch  die  Erklärung  des  Vorgangs 
kann  man  sich  aneignen:  daß  das  Werk  anfangs  öfter  aus  dem  Original 
vorgelesen  wurde  und  dabei  solchen  Eingriffen  leichter  ausgesetzt  war, 
während  später,  nachdem  die  Blattfolge  gestört  war,  die  Überlieferung 
nur  durch  Abschreiber  erfolgte,  welche  für  Leser  arbeiteten;  diese 
beiden  Instanzen  kamen  der  Zerrüttung  des  Textes  weniger  leicht 
auf  die  Spur,  als  etwa  der  Vorleser  und  seine  Zuhörer.  Nur  freilich 
erscheint  mir  die  Vorstellung  von  dem  mechanischen  Prozeß,  welche 
Dorfeid  entwickelt,  wenig  wahrscheinlich:  zweimal  soll  ein  Doppel- 
blatt im  Falz  durchgerissen  sein  (S.  16,  27)  —  bei  einer  Pergamenthand- 
schrift ist  das  doch  nicht  gut  ohne  Anwendung  der  Schere  möglich; 
und  da  Dorfeid  überdies  nicht  um  die  Verschiebung  von  Einzelblättern 
herumkommt,  Ist  es  doch  wohl  wahrscheinlicher,  daß  der  Originaltext 
eben  auf  solchen  fixiert  war.  Es  muß  übrigens  ein  sehr  zierliches  Ta- 
schenbuchformat gewesen  sein.  ■ —  So  treu  die  Handschrift  F  das  sprach- 
liche Gewand  der  200  Jahre  altern  Dichtung  überliefert  hat,  dem  Text- 
kritiker gibt  sie  doch  im  einzelnen  recht  viel  zu  tun:  den  meisten  der 
auf  S.  34 — 78  gebotenen  Emendationen  wird  man  unbedenklich  zu- 
stimmen können.  Schließlich  tritt  Dorfeid  den  Beweis  an,  daß  der 
Text  in  F  aus  reimtechnischen  Rücksichten  überarbeitet  worden  sei 
(S.  78 — 94);  auch  dies  wird  man  anerkennen  müssen.    Edward  Schröder. 


664  Notizen  und  Nachrichten. 

Aus  der  Ztschr,  f.  d.  Gesch.  d.  Oberrheins  N.  F.  28,  3  sind  hier 
folgende  Arbeiten  zu  erwähnen.  H.  Kaiser  berichtet  über  eiae 
neue  Überlieferung  des  namentlich  für  die  Wirtschaftsgeschichte  wich- 
tigen Liber  possessionum  Edelins  von  Weißenburg,  die  —  bruchstück- 
artig nur  erhalten  —  in  einem  der  letzten  Jahrzehnte  des  13.  Jahrhun- 
derts von  demselben  Schreiber  hergestellt  ist  wie  die  von  J.  C.  Zeuß 
zum  Abdruck  gebrachte.  Chr.  R  o  d  e  r  gibt  nach  Grabsteinen  und 
nach  Urkunden  aus  der  Zeit  von  1349 — 1376  Nachrichten  zur  Geschichte 
der  Juden  in  Überlingen  während  des  späteren  Mittelalters,  A.  Krie- 
ger veröffentlicht  unbekannte  Berichte  über  das  Lütticher  Abenteuer 
des  zum  mamburnus  von  Stadt  und  Bistum  erwählten  Markgrafen 
Markus  von  Baden  und  seines  Bruders  Karl  (1465),  und  K.  S  t  e  n  z  e  1 
gibt  in  seinem  übrigens  auch  in  kulturgeschichtlicher  Hinsicht  be- 
merkenswerten Aufsatz  über  den  Franckschen  Handel  einen  lehrreichen 
Beitrag  zu  den  Beziehungen  zwischen  Stadlf  und  Bistum  Straßburg 
am  Ausgang  des  15.  Jahrhunderts. 

M,  V  y  s  t  y  d  veröffentlicht  in  den  Mitteilungen  des  Instituts 
für  Österreich.  Geschichtsforschung  34,  2  eine  umfangreiche  quellen- 
kritische Untersuchung,  die  Seemüllers  Ansicht  von  der  Benutzung 
der  Königsaaler  Chronik  durch  den  steierischen  Reimchronisten  einer 
gründlichen  Nachprüfung  unterzieht.  Wie  schon  J.  Loserth  in  dieser 
Zeitschrift  74,  286  ff.  kommt  auch  Vystyd  zu  dem  Ergebnis,  daß  von 
einer  solchen  Benutzung  nicht  die  Rede  sein  kann,  daß  gewisse  Über- 
einstimmungen sich  vielmehr  durch  die  Annahme  einer  gemeinsamen 
Vorlage  zwanglos  erklären  lassen.  Die  Entstehung  dieser  nicht  bekannt 
gewordenen  Vorlage  würde  in  den  Zeitraum  von  etwa  1290 — 1297  zu 
setzen  sein. 

P.  Thomas  veröffentlicht  in  der  Revue  du  Nord  1913,  Mai 
aus  den  im  Departemental-Archiv  zu  Lille  bewahrten  Akten  der  Rech- 
nungskammer lehrreiche  Zusammenstellungen  über  die  Zeitdauer,  die 
für  die  Beförderung  von  Postsachen  aus  französischen  und  belgischen 
Städten  nach  Lille  im  14.- Jahrhundert  erforderlich  war. 

In  der  Bibliotheque  de  VEcole  des  chartes  1913,  Januar-April  be- 
ginnt Jules  V  i  a  r  d  mit  einer  Zusammenstellung  des  Itinerars  für 
König  Philipp  VI.  von  Frankreich  (bisher  1328—1337). 

Gewissermaßen  als  Beilage  zu  dem  im  vorigen  Band  dieser  Zeit- 
schrift S.  473  ff.  erschienenen  Aufsatz  über  den  Hochmeister  des  Deut- 
schen Ordens  und  das  Reich  bis  zum  Jahre  1525  veröffentlicht  A. 
Werminghoff  im  Archiv  für  Urkundenforschung  5,  1  eine  kleine 
Untersuchung  über  Überlieferung,  Form  und  Inhalt  der  Urkunden 
Ludwigs  des  Bayern  für  den  Hochmeister  Dietrich  von  Altenburg 
vom  Jahre  1337.    Dieselben  bestehen  aus  einem  Entwurf  auf  einem 


Späteres  Mittelalter.  665 

Pergamentblatt  mit  dem  Siegel  des  Hochmeisters  und  des  Herzogs 
von  Bayern  und  aus  einer  Prunkausfertigung,  die  vielfach,  aber  —  wie 
Werminghoff  nach  dem  Vorgang  anderer  Forscher  nachweist  —  zu 
Unrecht  als  Fälschung  verdächtigt  worden  ist.  Der  von  einem  Kanzlei- 
beamten des  Ordens  aufgesetzte  Entwurf,  der  die  Billigung  des  Kaisers 
gefunden  hat,  ist  der  Reinschrift  zugrunde  gelegt  worden  und  mit 
ihr  in  das  Archiv  des  Ordens  gewandert:  alle  Stilwidrigkeiten  der  letz- 
teren erklären  sich  aus  der  Tatsache,  daß  eben  eine  Empfänger- 
ausfertigung vorliegt,  an  der  in  der  Reichskanzlei  nichts  geändert 
worden  ist. 

Trotz  mancher  Druckfehler,  Ungleichmäßigkeiten  und  anderer 
Versehen  ist  eine  Arbeit,  in  der  Luise  v.  W  i  n  t  e  r  f  e  1  d  die  Entwick- 
lung des  kurrheinischen  Bündniswesens  von  den  Anfängen  bis  zu  den 
festgefügten  Landfriedensbündnissen  vorführt  (1386  auch  handels- 
politische Einheit),  mit  Anerkennung  zu  erwähnen.  Von  den  Exkursen 
ist  Nr.  2  hervorzuheben,  der  die  Unterschiede  zwischen  den  beiden 
1338  an  Papst  Benedikt  XII.  gerichteten  kurfürstlichen  Schreiben 
aus  einer  im  Kurkolleg  herrschenden  Meinungsverschiedenheit  hin- 
sichtlich der  im  Anschluß  an  die  Renser  Beschlüsse  der  Kurie  zu  unter- 
breitenden Forderungen  erklärt  wissen  will  (Die  kurrheinischen  Bünd- 
nisse bis  zum  Jahre  1386,  Ein  Beitrag  zum  Bündniswesen  des  aus- 
gehenden Mittelalters.    Berlin,  Weidmann  1912,  VI  u.  123  S.). 

Über  drei  Zweifler  am  Kausalprinzip  aus  dem  14.  Jahrhundert, 
Peter  von  Ailly,  Nikolaus  von  Autricuria  und  Wilhelm  Occam,  handelt 
G.  M.  M  a  n  s  e  r  O.  P.  im  Jahrbuch  für  Philosophie  und  spekulative 
Theologie  27,  3  u.  4. 

Im  Gegensatz  zu  den  vor  einem  Jahrzehnt  von  Kehrmann  ge- 
wonnenen Ergebnissen  lenkt  H.  E.  R  o  h  d  e  in  einer  Untersuchung 
über  Verfasser  und  Entstehungszeit  der  sog.  Capita  agendorum  im  ganzen 
wieder  zu  der  alten,  von  Tschackert  und  Finke  vertretenen  Meinung 
zurück.  Nach  seinen  Ausführungen  sind  die  Capita  in  der  uns  vor- 
liegenden Form  von  Peter  von  Ailly  für  das  Konstanzer  Konzil  zu- 
sammengestellte Reformvorschläge,  in  denen  eigene  Gedanken  des 
Bearbeiters  mit  einem  Teil  eines  Gutachtens  der  Pariser  Hochschule 
und  eines  Gersonschen  Traktates  Anfang  1414  verschmolzen  worden 
sind  (Zeitschrift  für  Kirchengeschichte  34,  2). 

Paul  Joachimsen  bespricht  in  den  Blättern  für  das  Gym- 
nasial-Schulwesen  1913,  5  u.  6  die  Bedeutung  des  antiken  Elements 
für  die  Staatsauffassung  der  Renaissance:  „Die  Antike  hat  der  Renais- 
sance zwar  nicht  ihre  Staatsidee  gegeben,  das  konnte  sie  nicht  in  einem 
Gemeinwesen,  das  christlich  und  feudal  organisiert  war,  wohl  aber 
den  Staatsbegriff  als  solche  n." 

Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  43 


666  Notizen  und  Nachrichten. 

Jos.  Schnitzer  handelt  in  den  Beiträgen  zur  bayerischen 
Kirchengeschichte  19,  5  über  die  Wirkung  Savonarolas  auf  den  Nürn- 
berger Humanisten  Hartmann  Schedel,  der  als  Verfasser  einer  Welt- 
chronik bekannt  ist.  Wie  zwei  von  Schedel  selbst  angelegte  Sammel- 
bände der  Münchener  Staatsbibliothek  erweisen,  hat  er  —  vielleicht 
durch  Vermittlung  seines  Landsmanns  Lorenz  Behaim  —  mancherlei 
Schriften  Savonarolas  und  noch  mehr  Schriften  über  ihn  erworben 
bzw.  abgeschrieben. 

Zwei  deutsche  Berichte  aus  Rom  (1492  und  1504)  bringt  in  einem 
Sonderdruck  aus  der  Kirchengeschichtlichen  Festgabe  für  Anton 
de  Waal  Jos.  Schlecht  zum  Abdruck  (Rom,  Armani  <S  Stein.  1913. 
19  S.).  Es  handelt  sich  um  JVlitteilungen  eines  ungenannten,  vielleicht 
dem  bayerischen  Adel  angehörigen  Pfründenanwärters  über  die  An- 
fänge Papst  Alexanders  VL,  vier  Wochen  nach  dessen  Krönung  nieder- 
geschrieben, und  um  den  Wortlaut  des  über  Asquino  von  Colloredo, 
den  von  den  Borja  gedungenen  Mörder  des  Kardinals  Michiel,  ver- 
hängten und  auf  dem  Petersplatz  öffentlich  verkündigten  Urteils  aus 
dem  Nachlaß  des  Regensburger  Stiftsherrn  Leonhard  Cantzler. 

Wir  erwähnen  noch  kurz  einige  Beiträge  zur  italienischen  Ge- 
schichte des  15.  Jahrhunderts.  Aus  dem  Arcfiivio  storico  Lombardo 
Serie  quarta,  anno  40,  fasc.  37  die  umfangreiche,  noch  nicht  abgeschlos- 
sene Arbeit  von  G.  B  i  s  c  a  r  o:  //  banco  Filippo  Borromei  e  compagni 
di  Londra  (1436 — 1439)  sowie  L.  F  u  m  i:  L'atteggiamento  di  Francesco 
Sforza  verso  Sigismondo  Malatesta  in  una  sua  Istruzione  del  1462,  con 
particolari  sulla  morte  violenta  della  figlia  Polissena  (Abdruck  und 
Erläuterung).  Ferner  aus  dem  Archivio  storico  per  le  province  Napole- 
tane  38,  2  P,  G  e  n  t  i  1  e :  Finanze  e  Parlamenti  nel  Regno  di  Napoli 
dal  1450  al  1457;  aus  dem  Nuovo  Arcfiivio  Veneto  1913,  Januar-März 
A.  de  P  e  1  e  g  r  i  n  i :  Note  e  documenti  sulle  incursioni  turchesche  in 
Friüli  al  cader e  del  secolo  XV. 

Die  Monatsschrift  für  Geschichte  und  Wissenschaft  des  Juden- 
tums 1913,  März-April  bringt  den  Schluß  des  Beitrags  von  M.  B  a  1  a  - 
b  a  n  zur  Geschichte  der  Krakauer  Juden  am  Ausgang  des  Mittelalters. 

Pierre  R  a  m  b  a  u  d  ,  L'assistance  publique  ä  Poitiers  jusqu'ä 
Van  V.  Bd.  1.  Paris,  Champion  1912.  663  S.  —  Rambaud  hat  es  unter- 
nommen, eine  Geschichte  des  Armenwesens  der  Stadt  Poitiers  von 
den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Jahre  V  zu  schreiben.  Der  1.  Band  schil- 
dert die  Armenfürsorge  im  Mittelalter  sowie  die  verschiedenen  Stif- 
tungen, die  ihr  dienten,  die  Organisation  eines  besonderen  Armen- 
amtes, des  „Bureau  de  la  Communauti  des  pauvres",  genannt  (nach 
den  am  Sonntag  abgehaltenen  Sitzungen)  „la  Dominieale",  im  16.  Jahr- 
hundert, sowie  den  Kampf  gegen  Bettelei  und  Landstreicherei  bis  zum 


Späteres  Mittelalter.  667 

Ausgang  des  18.  Jahrhunderts.  Der  2.  Band  des  vorwiegend  den  Lokal- 
historiker oder  den  Spezialisten  interessierenden  Werkes  soll  die  Für- 
sorge für  Kinder  und  Kranke  behandeln.  P.  D. 

Geschichte  der  Spanischen  Inquisition  von  Henry  Charles  L  e  a  , 
deutsch  bearbeitet  von  Prosper  Müllendorf  f.  Bd.  1,  Leipzig, 
Dyksche  Buchhandlung.  XXVI  u.  575  S.  15  M.  —  Von  der  meister- 
haften „History  of  the  Inquisition  of  Spain"  (4  Bde.  New  York,  Macmil- 
lan  Company.  1906  ff.)  wird  in  dem  vorliegenden  Werke  nicht  eine 
wortgetreue  Übertragung  geboten,  sondern  eine  Bearbeitung,  die  den 
Inhalt  der  englischen  Ausgabe,  etwa  um  ein  Drittel  gekürzt,  wiedergibt. 
Der  Verfasser  selbst  hat  dem  Übersetzer  Müllendorff  die  volle  Verant- 
wortung für  seine  Bearbeitung  überlassen,  unter  der  ausdrücklichen 
Vorschrift,  daß  der  deutschen  Ausgabe  der  „Geist  der  Mäßigung  und 
UnVoreingenommenheit"  erhalten  bleibe.  Ausgedehntere  Kürzungen 
des  englischen  Textes  sind  namentlich  in  den  Abschnitten  über  die 
allgemeine  Landesgeschichte  Spaniens  vorgenommen  worden,  sodann 
in  den  Kapiteln,  die  die  Geschichte  der  Juden  und  des  Mystizismus 
behandeln.  Die  Quellen-  und  Literaturangaben  des  Originals  sind 
nur  zum  kleinsten  Teile  übernommen;  die  im  Anhange  der  englischen 
Ausgabe  abgedruckten  spanischen  und  lateinischen  Texte  sind  gleich- 
falls weggefallen  und  nur  in  Fußnoten  mit  Hinweisen  auf  das  Original 
erwähnt  worden.  Das  Geleitwort  des  Herausgebers  enthält  eine  an- 
sprechende Darstellung  von  Leas  Lebensgang  und  eine  zutreffende 
Würdigung  seiner  wissenschaftlichen  Bedeutung;  es  wäre  zu  wünschen 
gewesen,  daß  hier  auch  auf  die  neuesten  Angriffe,  die  Leas  Werke 
von  katholischer  Seite  erfahren  haben,  hingewiesen  worden  wäre. 
Der  Bearbeiter  hat  sich  selbst  die  Schwierigkeiten,  die  mit  der  von 
ihm  gewagten  Kürzung  seiner  Vorlage  verbunden  sind,  nicht  verhehlt. 
Bei  allem  Bemühen  des  Bearbeiters,  sich  getreu  an  den  Sinn  der  Vor- 
lage zu  halten,  ließ  sich  bei  seinem  Verfahren  doch  Willkür  und  Ent- 
stellung des  Originals  nicht  vollständig  ausschließen.  Wenn  nun  aber 
doch  einmal  Leas  bedeutsames  Werk  nur  in  dieser  gekürzten  Form 
zur  Kenntnis  eines  weiteren  deutschen  Leserkreises  gebracht  werden 
konnte,  so  werden  wir  dem  Bearbeiter  für  sein  Unternehmen  trotz 
aller  Bedenken  aufrichtig  dankbar  sein  dürfen.  Die  wissenschaftliche 
Forschung  wird  sich  selbstverständlich  nach  wie  vor  ausschließlich 
an  die  englische  Ausgabe  halten  müssen. 

Gießen.  Herman  Haupt. 

Neue  Bücher:  M  esser  i ,  Enzo  re.  (Genova,  Formlggini.  i  L.) 
—  Regesto  di  s.  Leonardo  di  Siponto,  a  cura  di  F.  Camobreco. 
(Roma,  Loescher  e  C.  14  L.)  —  Statuti  dei  laghi  di  Como  e  di  Lugano 
del  sec.  XIV.    Vol.  /.,  a  cura  di  E.  Anderion  i.   (Roma,  Loescher 

43* 


•668  Notizen  und  Nachrichten. 

e  C.  14  L.)  —  Statuto  di  Forli  deW  anno  1359,  con  le  modificazioni 
del  1373,  a  cura  di  E.  R  i  n  ald  i.  (Roma,  Loescfier  e  C.  16  L.)  — 
Quelques  pieces  relatives  ä  la  vie  de  Louis  I,  duc  d' Orleans  et  de  Valen- 
tine Visconti,  sa  femme,  publiees  par  F.  M.  Gr  av  es.  (Paris,  Cham- 
pion,) 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500 — 164S). 

Die  „Raeteis"  des  Simon  Lemnius  (f  1550),  ein  lateinisches  Hel- 
dengedicht über  den  Schwabenkrieg  von  1499,  wird  im  42.  Jahresber. 
der  Hist.-antiqu.  Gesellsch.  von  Graubünden  durch  Janett  Michel 
auf  ihre  Quellen  untersucht. 

Gegen  das  Buch  von  Georg  Schuhmann,  Die  Berner  Jetzer- 
tragödie (1912),  nach  dem  die  vier  1509  in  Bern  verbrannten  Dominikaner 
völlig  unschuldig  gewesen  sein  sollen,  nimmt  R.  Steck,  der  Heraus- 
geber der  Prozeßakten,  Stellung  in  der  Schweizerischen  Theologischen 
Zeitschrift  30,  4. 

In  Nr.  39  des  Archivs  für  Reformationsgeschichte  (10.  Jahrg.,  3) 
setzt  zunächst  G.  Bossert  seine  interessante  Darstellung  der  Schick- 
sale des  Propheten  Augustin  Bader  und  seiner  Genossen  fort  (vgl. 
oben  S.  435).  Otto  Winkelmann,  der  eine  ausführliche  Würdi- 
gung der  Nürnberger  Armenordnung  von  1522  vorbereitet,  untersucht 
das  Verhältnis  der  verschiedenen  Drucke  und  gibt  eine  kritische  Aus- 
gabe von  ihr;  die  späteren  Ordnungen  von  Kitzingen  (1523),  Regens- 
burg (1523)  und  Ypern  (1525)  werden  erläutert  und  sollen  gleichfalls 
noch  gedruckt  werden.  G.  Kawerau  teilt  aus  dem  Nachlaß  von 
Nikolaus  Müller  einen  Brief  Melanchthons  vom  Juli  1524  mit, 
der  für  das  damalige  kühl-reservierte  Verhältnis  Melanchthons  zu 
Luther  charakteristisch  ist.  Walther  Müller  gibt  einen  Brief  Luthers 
an  Johann  Friedrich  den  Großmütigen  vom  Juli  1545  bekannt  (in 
Angelegenheit  der  Berufung  Mediers  nach  Braunschweig).  E.  Kling- 
n  e  r  schließlich,  der  in  der  Palaestra  56  über  Luther  und  den  deutschen 
Volksaberglauben  gehandelt  hat,  macht  einige  Bemerkungen  gegen 
Grisars  unzulängliche  Auffassung  vom  Aberglauben  Luthers  (Dämono- 
logie und  Hexenwesen). 

Eine  zutreffende  Charakteristik  des  G  r  i  s  a  r  sehen  Lutherwerks 
gibt  Karl  B  a  u  e  r  ,  "  ein  Schüler  Hausraths,  in  einem  Aufsatz 
„Luther  in  jesuitischer  Beleuchtung"  (Protestantische  Monatshefte 
17,  6  u.  7).  Nicht  nur  die  mangelhafte  Methode,  sondern  das  ganze 
Milieu,  der  Gedankenkreis,  auf  dem  sich  Grisars  Biographie  auf- 
baut, wird  hier  recht  anschaulich  gemacht.  Die  willkürliche  Quellen- 
benutzung bei  Grisar  ist  danach  „im  Grunde  nichts  anders  als  die 


Reformation  und  Gegenreformation.  669^ 

Übertragung  des  jesuitischen  Probabilismus  vom  ethischen  auf  das 
historische  und  biographische  Gebiet".  R.  H. 

Aus  dem  Nachlaß  von  Nii<olaus  Müller  veröffentlicht  G. 
Kawerau  in  den  Theologischen  Studien  und  Kritiken  1913,  4  einen 
Aufsatz  „Lutherana"  mit  Briefen  von,  an  und  über  Luther  1515 — 1541 
(sie  betreffen  unter  anderem  Luthers  Stellung  zur  Türkenhilfe  1538, 
ein  Eheurteil  1539  usw.). 

Luthers  letzte  Predigt  (über  Mat  11,  25  ff.)  ist  nach  Georg 
B  u  c  h  w  a  1  d  in  der  Zeitschr.  f.  Kirchengesch.  34,  2  wohl  am  15.  Fe- 
bruar 1546  (Montag)  gehalten  worden. 

G.  A  r  n  d  t  handelt  in  der  Monatschrift  f.  Gottesdienst  u.  kirchl. 
Kunst  18,  7  über  die  Entwicklung  der  evangelischen  Gottesdienstord- 
nung im  Bistum  Halberstadt  während  des  16.  Jahrhunderts. 

Mit  der  Tätigkeit  Siegmund  Augusts,  des  letzten  Jagelionen, 
vor  seiner  Thronbesteigung  in  Polen  (1548),  insonderheit  mit  seiner 
Regierung  als  Großfürst-Regent  von  Litauen  (1544 — 1548),  beschäf- 
tigt sich  ein  polnisches  Buch  von  L.  Kolankowski  (1913),  über 
das  J.  Paczkowski  in  der  Zeitschr.  f.  osteuropäische  Gesch.  3,  4 
ausführliche  Mitteilungen  macht.  Es  beruht  danach  auf  eindringenden 
Studien  und  ist  namentlich  wichtig  für  die  Grenzverhandlungen  mit 
den  Nachbarstaaten  (Moskau,  Livland,  Preußen,  Polen,  Walachei, 
Tataren),  für  die  Finanz-  und  Hufenreform  sowie  für  die  persönliche 
Geschichte  Siegmund  Augusts. 

In  Ergänzung  der  im  „Concilium  Tridentinum"  gedruckten  Akten 
bespricht  St.  E  h  s  e  s  in  der  Römischen  Quartalschrift  27,  1  zwei 
Vota  von  Seripando  und  Salmeron  über  die  Rechtfertigungsfrage 
(5.  Juni  und  16.  Okt.  1546)  und  beginnt  mit  ihrer  Veröffentlichung. 
Auch  spricht  er  über  die  Voten  des  Isidor  Clarius  in  der  gleichen 
Sache  und  verbessert  dabei  die  Angaben  von  J.  Hefner,  Voten  vom 
Trienter  Konzil  (1912). 

Einen  recht  interessanten  Beitrag  zu  dem  Gelehrtenkrieg  zwischen 
Protestanten  und  Katholiken  gibt  Adolf  J  ü  1  i  c  h  e  r  ,  Ein  Blatt  aus 
der  Geschichte  des  Kampfes  um  die  Freiheit  der  Geister  im  16.  und 
17.  Jahrhundert  (Festschrift  der  Universität  Marburg  für  die  Philo- 
logenversammlung 1913).  Es  handelt  sich  um  den  angeblichen  Brief 
des  Johannes  Chrysostomus  an  einen  Mönch  Caesarius,  den  zuerst 
Petrus  Martyr  Vermigli  1549  als  ein  Zeugnis  gegen  die  katholische 
Transsubstantiationslehre  herangezogen  hat,  und  der  lange  eine  be- 
sonders heftig  umstrittene  patristische  Quelle  war,  bis  er  ums  Jahr 
1700  allgemein  als  eine  Fälschung  erkannt  wurde  (sie  stammt  aus  der 
Mitte  des  5.  Jahrhunderts). 


670  Notizen  und  Nachrichten.  4^^^I^H 

Die  Jesuiten.  Eine  historische  Slcizze  von  H.  B  o  e  h  m  e  r.  (Aus 
Natur  und  Geisteswelt,  49.  Bändchen.)  3.,  verm.  u.  verb.  Aufl.  B. 
G.  Teubner,  Leipzig  u.  Berlin  1913.  VI  u.  174  S.  geb.  1,25  M.  —  Boehmers 
instruktives  Jesuitenbüchlein,  das  wir  H.  Z.  102,  206  f.  angezeigt 
haben,  liegt  bereits  in  3.  Auflage  vor  (die  1.  erschien  1904),  ein  Er- 
folg, über  den  man  sich  angesichts  der  gediegenen,  sich  auch  in  der 
Neubearbeitung  bewährenden  Arbeitsleistung  nur  freuen  kann.  Das 
viel  behandelte  Thema  wird  hier  mit  einem  guten  historischen  Blick 
betrachtet;  Vorwürfe  wegen  angeblicher  Voreingenommenheit  für  den 
Orden  halten  wir  für  ungerechtfertigt.  R.  H. 

Die  Hinrichtung  Johann  Sylvans  in  Heidelberg  1572,  über  die 
wir  vor  zwei  Jahren  auf  eine  Aktensammlung  von  Rott  verweisen 
konnten  (H.Z.  107,437),  erfährt  neue  Beleuchtung  durch  einen  Bericht, 
den  Anton  Dürrwaechterinder  Zeitschr.  f.  Kirchengesch.  34,  2 
druckt  und  bespricht.  Danach  wäre  Sylvan  keineswegs  bußfertig  ge- 
storben. 

Ein  Aufsatz  von  J.  Loserth,  Zur  kirchlichen  Bewegung  in 
Steiermark  (Zeitschr.  des  Hist.  Vereins  f.  Steiermark  10,  3 — 4)  ent- 
hält: 1.  Zwei  Briefe  an  den  Propst  von  Seckau  1572  und  1599,  in 
denen  sich  Höhepunkt  und  Niedergang  der  Reformation  spiegeln; 
2.  aktenmäßige  Mitteilungen  über  die  Frage  der  Errichtung  eines  Bis- 
tums in  Graz  1611—1630. 

Das  Mai- Juni-Heft  des  Bulletin  de  la  soc.  de  l'hist.  du  protestan- 
tisme  frangais  (1913)  enthält  einen  Aufsatz  von  R.  Reuß  über  F. 
Beaucaire  de  Peguillon  und  seine  Schrift  „Rerum  Gallicarum  commen- 
tarii  1461 — 1380"  (vgl.  Hauser,  Les  sources  de  l'hist.  de  France  1,  27 
nr.  22)  sowie  eine  Untersuchung  von  E.  LeParquier  über  den  refor- 
mierten Kult  in  der  Landschaft  Caux  (Normandie)  nach  dem  Frieden 
von  Amboise  1563. 

Jean  du  Houssay,  Seigneur  de  La  Borde,  ein  Navarrese  und  Ver- 
trauter König  Heinrichs  IV.  von  Frankreich,  der  ihn  mit  verschie- 
denen Missionen  betraut  hat,  berichtet  darüber  in  Memoiren,  von 
denen  Pierre  de  Vaissifere  im  Annuaire-bulletin  de  la  soc.  de  l'hist. 
de  France  1912,  4  Bruchstücke  (1588—1594)  herausgibt. 

Die  päpstliche  Politik  in  der  Preußischen  und  in  der  Jülich- 
Klevischen  Frage,  d.  h.  der  vergebliche  Versuch  der  Kurie,  die  Fest- 
setzung Brandenburgs  in  Preußen  und  am  Rhein  zu  hintertreiben, 
wird  von  Philipp  Hiltebrandt  in  den  Quellen  und  Forschungen 
aus  italienischen  Archiven  und  Bibliotheken  14,  2  u.  15,  2  auf  Grund 
der  vatikanischen  Akten,  insonderheit  der  auch  noch  fürs  17.  Jahr- 
hundert wichtigen  Nuntiaturberichte,  einer  ausführlichen  und  ergeb- 
nisreichen  Untersuchung  unterzogen.    Der  Abschnitt  über  Preußen, 


Reformation  und  Gegenreformation.  671 

■der  die  ganze  Periode  von  1525 — 1660  ins  Auge  faßt,  entliält  wichtige 
Ergänzungen  zu  dem  bel<annten  Buch  von  Vota  (1911).  Der  Ab- 
schnitt über  Jülich-Kleve  (1609 — 1610)  beschäftigt  sich  namentlich 
mit  den  Bemühungen  Roms,  einen  Konflikt  zwischen  Frankreich 
und  Spanien  zu  verhindern,  und  bewertet  die  Aussichten  des  Plans 
einer  Familienverbindung  zwischen  den  beiden  Häusern  ernster,  als 
das  sonst  meist  geschieht. 

Dürrwächter,  Anton,  Jakob  Gretser  und  seine  Dramen. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Jesuitendramas  in  Deutschland  (Er- 
läuterungen und  Ergänzungen  zu  Janssens  Geschichte  des  deutschen 
Volkes  9,  1  u.  2).  Freiburg  i.  B.,  Herder  1912.  VII,  218  S.  5,40  M. 
—  Jakob  Gretser  S.  J.  (1562—1625),  der  Athleta  Christi,  in  unsern 
Bibliotheken  mit  etwa  150  polemischen  Schriften  gegen  die  Reforma- 
toren vertreten,  die  Herders  Konversations-Lexikon  „allzu  derb" 
nennen  muß,  war  als  früher  Vorfechter  des  Jesuitendramas  bekannt, 
schon  seit  Dürrwächter  1898  seine  Comoedia  prima  de  regno  humani- 
tatis  als  Regensburger  Schulprogramm  herausgegeben  hatte.  Er  läßt 
jetzt  die  Comoedia  secunda  von  1590  nach  der  Münchener  Handschrift 
folgen  und  leitet  sie  ein  mit  einer  umfassenden  und  gelehrten  Darstel- 
lung von  Gretsers  dramatischer  Tätigkeit,  die  sich  bemüht,  aus  der 
Tradition  und  Gleichmacherei  dieses  ordensmäßigen  Schultheaters,  das 
den  Ton  nie  auf  das  Persönliche  gelegt  hat,  den  Anteil  einer  wenn  nicht 
erfreulichen  und  kultivierten,  so  doch  kraftvollen  und  vielseitigen 
Persönlichkeit  herauszuarbeiten. 

Freiburg  i.  B.  Alfred  Götze. 

Abel  JVl  a  n  s  u  y  ,  Le  monde  Slave  et  les  classiques  frangais  aux 
XVI'— XVII'  siicles.  Pr^face  de  Ch.  D  i  e  h  1.  Paris  1912.  Honore 
Champion,  ^diteur.  493  S.  —  Es  handelt  sich  in  diesem  Buche,  über 
dessen  Inhalt  die  von  Charles  Diehl  geschriebene  Vorrede  gut  orien- 
tiert, nicht,  wie  man  nach  dem  Titel  erwarten  würde,  um  die  slawische 
Welt  als  solche,  sondern  nur  um  das  Königreich  Polen.  Selbst  Ruß- 
land betrifft  nur  der  letzte  Abschnitt  „La  Russie  et  la  littirature  fran- 
gaise  du  XVII'  sitcle  (S.  423 — 476),  der  manches  kulturgeschichtlich 
Belangreiche  bietet.  Im  ersten  Abschnitt  „Rabelais  et  les  Slaves" 
(S.  9 — 26)  finden  sich  beachtenswerte  geographische  Exkurse,  im  zwei- 
ten „Montaigne^'  (S.  27 — 42)  vornehmlich  Schilderungen  polnischer 
Sitten,  im  dritten  (S.  43 — 62)  „Un  Ronsardisant  oublie  Jean  Kocha- 
nowski"  (Verfasser  polnischer  und  lateinischer  Gedichte)  Materialien 
zur  französischen  und  polnischen  Literaturgeschichte  und  zur  Ge- 
schichte des  Humanismus,  im  vierten  „Henri  /**"  de  Valois  roi  de  Po- 
logne  et  ses  chroniqueurs  classiques"  (S.  63 — 92)  wertvolle  Angaben 
über  die  Werke  von  Blaise  de  Montluc,  Brantome  und  Bossuet,  soweit 


672  Notizen  und  Nachrichten. 

sie  polnische  Verhältnisse  berühren.  Der  fünfte  Abschnitt  „Les  Sobieski 
en  France"  (S.  95 — 129),  der  wertvollste  des  ganzen  Buches,  schildert 
die  Anwesenheit  Jacques  Sobieskis,  dessen  Journal  de  voyage  erhalten 
ist,  in  Paris,  wo  er  das  tragische  Ende  Heinrichs  IV.  erlebte  und  der 
Exekution  Ravaillacs  beiwohnte,  dann  die  spätere  Länderreise  der 
beiden  Söhne  Sobieskis,  Markus  und  Johannes  und  ihrer  Gouverneure 
Orchowski  und  Gawarecki;  der  folgende  Abschnitt  (S.  132 — 162) 
„Madame  de  Motteville  et  Marie-Louise  de  Gonzague  reine  de  Pologne" 
(Gemahlin  Wladislaws  IV.)  enthält  neben  manchen  politischen  No- 
tizen viel  Klatsch.  Im  siebenten  Kapitel,  Saint-Amant  et  Marie  Louise 
de  Gonzague  (S.  163 — 202)  werden  Gedichte  Saint- Amants,  der  eine 
Reise  nach  Polen  unternommen  hatte,  erläutert.  Die  folgenden  vier 
Abschnitte,  Variation  ä  Varsovie  et  ä  Reims  au  XV 11^  siede  et  Cyrano 
de  Bergerac  (S.  203—229),  La  question  Pascal  en  Pologne  (S.  232—290), 
Une  reine  de  Pologne  janseniste  et  les  Provinciales  (S.  291 — 309)  und 
La  Fontaine  et  Sobieski  (S.  311 — 329)  enthalten  unwesentliche  Dinge, 
zum  Teil  solche,  die  nicht  zur  Sache  gehören  und  mit  Polen  nichts  zu 
tun  haben.  In  dem  Abschnitt  Racine  Historien  et  Sobieski  (S.  331 — 359) 
—  der  Titel  Saint  Simon  et  Sobieski  wäre  entsprechender  —  wird  die 
Politik  Frankreichs  Polen  gegenüber  dargelegt.  Von  den  beiden  letzten 
Kapiteln  „Andri  Morsztyn  et  Marysienka"  (S.  361 — 396)  und  „Bossuet 
gallican  et  Videe  de  riunion"  enthält  nur  der  zweite  wichtigere  Ausfüh- 
rungen, die  für  die  Stellung  Bossuets  zu  den  Protestanten  bezeichnend 
sind.  Im  ganzen  und  großen  ist  die  Lektüre  des  Buches,  das  einzelnes 
nicht  selten  auch  geringfügiges  mit  einer  unglaublichen  Weitschweifig- 
keit (s.  die  Bemerkungen  über  Cyrano  de  Bergerac  S.  438 — 444,  über 
Racine,  über  Corneilles  Attila  und  über  Regnard)  behandelt  und  oft 
ein  Durcheinander  von  politischen,  literarischen  und  wissenschaft- 
lichen Dingen  bietet,  eine  recht  unerquickliche.  J.  Loserth. 

KordubaJVliron  schildert  in  der  Zeitschr.  f.  osteurop.  Gesch. 
(1912,  S.  367  ff.)  die  Anfänge  des  ukrainischen  Kosaken- 
t  u  m  s.  Er  sucht  in  der  Kosakenzeit  gewissermaßen  eine  Heldenperiode 
des  kleinrussischen  Volkes.  Demgegenüber  erinnert  Rawita-Gaw- 
ronski  (Kwart.  hist.  XXVI,  S.  521  ff.)  daran,  daß  am  Ende  des 
16.  Jahrhunderts  die  Kosaken  sich  nicht  aus  der  Landbevölkerung 
rekrutierten,  sondern  aus  Vagabunden;  den  Rest  bildeten  Polen, 
Armenier,  Weißrussen  und  sogar  Tataren.  Auch  Hrusevski  nennt  die 
Kosaken  ein  „Gesindel".  C.  Missalek. 

Im  41.  Jahresber.  der  Hist.-antiqu.  Gesellsch.  von  Graubünden 
veröffentlicht  Ph.  Z  i  n  s  I  i  Nachträge  zu  seiner  Ausgabe  der  Poli- 
tischen Gedichte  aus  der  Zeit  der  Bündner  Wirren  1603 — 1639  (vgl. 
H.  Z.  107,  671). 


1648—1789.  673 

Zur  Geschichte  der  Hexenprozesse  verzeichnen  wir  einen  Aufsatz 
von  Joseph  Schneid,  Das  Rechtsverfahren  wider  die  Hexen  zu 
Wemding  (Oberbayerisches  Archiv  f.  vaterländ.  Gesch.  57).  Die  Pro- 
zesse spielten  in  den  Jahren  1609 — 1610  und  1628 — 1631  und  for- 
derten 49  Opfer. 

Das  2.  Heft  des  Historischen  Jahrbuchs  34  bringt  den  Schluß 
der  Mitteilungen  von  Alois  K  r  o  e  ß  aus  Gutachten  der  Jesuiten  am 
Beginne  der  „katholischen  Generalreformation"  in  Böhmen  (1621); 
vgl.  oben  S.  438. 

Neue  Bücher:  W  a  1 1  h  e  r  ,  Die  Ursprünge  der  deutschen  Behör- 
den-Organisation im  Zeitalter  Maximilians  I.  (Stuttgart,  Kohlhammer. 
2,40  M.)  —  Pasolini,  Adriano  VI.  (Roma,  Loescher.  lo  L.)  — 
Inventare  hansischer  Archive  des  16.  Jahrhunderts.  3.  Bd.  Danziger 
Archiv  1531 — 1591.  Bearbeitet  von  Paul  S  i  m  s  o  n.  (München, 
Duncker  &  Humblot.  57  M.)  —  Visconti,  La  pubblica  amministra- 
zione  nello  stato  milanese  durante  il  predominio  straniero  (1541 — 1796). 
(Roma,  Athenaeum.  9  L.)  —  Lazzar  i ,  Le  ultime  Ire  duchesse  dt 
Ferrara  e  la  carte  estense  a'tempi  di  Torquato  Tasso.  (Firenze,  Rassegna 
nazionale.  8  L.)  —  Grabinski,  Wie  ist  Luther  gestorben?  (Pader- 
born, Junfermann.  2  M.)  —  P  i  r  e  n  n  e  ,  Geschichte  Belgiens.  Deutsche 
Übersetzung  von  Fritz  Arnheim.  4.  Bd.  (1567 — 1648).  (Gotha,  Perthes. 
16  M.)  —  Greg.  Richter,  Die  Schriften  Georg  Witzeis,  bibliogra- 
phisch bearbeitet.    (Fulda,  Aktiendruckerei.    4,50  M.) 

1648—1789. 

Ernest  Daudet:  A  travers  trois  siecles.  (Etudes  d'oeuvres  et 
propos  d' Historien.)  Paris,  Hachette  et  Cie.  1911.  VII  und  281  S. 
3,50  Fr.  —  Ein  liebenswürdiges  französisches  Buch,  das  keine  wissen- 
schaftlichen Ansprüche  stellt,  aber  unterhält  und  unterrichtet.  Es  ist 
eine  gefällige  Sammlung  von  eleganten  Essaybesprechungen,  die  sich 
mit  wichtigeren  Neuerscheinungen  zur  (vorwiegend  französischen)  Ge- 
schichte der  letzten  drei  Jahrhunderte  beschäftigen,  und  die  den  Laien 
in  die  Werke  bzw.  in  ihren  geschichtlichen  Umkreis  einführen  wollen. 
Demgemäß  behandeln  sie  lediglich  Erscheinungen,  für  die  ein  weiterer 
historisch  gebildeter  Kreis  Interesse  hat,  also  Brief-  und  Memoiren- 
publikationen oder  Verarbeitungen  solcher  Quellen.  Für  alles  ist  ein 
kulturgeschichtlicher  Gesichtspunkt  bestimmend  und  innerhalb  des- 
selben die  Freude  an  der  interessanten  Persönlichkeit.  Sieben  Aufsätze 
sind  der  Zeit  der  Bourbonen  gewidmet.  Die  Herrscher  selbst  werden 
lebendig  vor  uns  hingestellt,  daneben  ihre  Diener,  wie  ein  Concini  und 
ein  Marschall  von  Luxemburg,  vor  allem  aber  die  Frauen,  die  Königinnen 
und  Prinzessinnen  wie  auch  die  Maitressen;  ohne  jede  Sensation,  in- 


674  Notizen  und  Nachrichten. 

dessen  mit  einer  unverkennbaren  Neigung  zum  Amüsanten.  Am  wich- 
tigsten ist  die  zweite  Gruppe  von  8  Essays,  die  sich  auf  den  Neuerschei- 
nungen zur  Geschichte  der  Revolution  und  Napoleons  I.  aufbaut.  Sie 
verläßt  den  rein  französischen  Bereich,  wendet  sich  auch  nach  Spanien, 
Rußland  und  Deutschland,  für  diese  Zusammenhänge  wieder  ganz 
Persönlichkeitsdarstellung.  Aber  das  Hauptinteresse  haftet  doch  an 
der  überragenden  Gestalt  Bonapartes,  der  im  Stile  Vandals,  Massons, 
Houssayes  national-französisch  aufgefaßt  wird.  Die  letzte  Gruppe  be- 
handelt in  6  Aufsätzen  Persönlichkeiten  des  19.  Jahrhunderts,  am  aus- 
führlichsten Metternich,  dem  Daudet  selbst  mit  seinem  Buche  über 
die  Gräfin  Lieven  eine  geschichtliche  Arbeit  gewidmet  hat,  weiter 
Talleyrand,  Guizot  und  wiederum  drei  Frauen,  die  in  eigenen  Memoiren 
über  ihr  Leben  berichtet  haben:  die  Gräfin  de  Boigne,  die  Herzogin 
von  Dino  und  die  Fürstin  von  Sayn-Wittgenstein.  Die  Frau  steht 
überhaupt  im  Vordergrunde  der  Schilderungen:  eine  bezeichnende 
Äußerung  des  französischen  Charakters  des  Buches. 

Leipzig.  Herre. 

Aus  der  Revue  d'histoire  diplomatique  27*  annee  1913  notieren 
wir  die  Aufsätze  des  Grafen  von  Fourbin  über  die  zweite  Mission  von 
Toussaint  de  Forbin  in  Polen  (1680/81)  und  von  L.  de  Laigue  über 
den  Grafen  von  Froullay  als  französischen  Botschafter  in  Venedig 
(1733 — 1743).  Beide  sind  nach  den  Akten  des  Auswärtigen  Ministeriums 
gearbeitet. 

E.  R.  Turner  behandelt  in  der  English  Historical  Review  110 
(April  1913)  die  Peerage  Bill  von  1719.  Es  ist  dasselbe  Thema,  mit 
dem  sich  vor  wenigen  Jahren  K.  Güterbock,  angeregt  durch  die  modernen 
verfassungsrechtlichen  Kämpfe  in  England,  befaßt  hat,  dessen  Arbeit 
Turner  übrigens  nicht  zu  kennen  scheint  (vgl.  H.  Z.  107,  S.  675).  Dieses 
Mal  wird  der  1719  gemachte  Versuch,  das  zur  königlichen  Prärogative 
gehörige  Recht  der  Ernennung  neuer  Peers  auf  dem  Wege  der  Gesetz- 
gebung abzuschaffen  und  damit  einen  künftigen  Pairsschub  unmöglich 
zu  machen,  richtig  im  Rahmen  der  Parteipolitik  und  der  Tagesereig- 
nisse der  Zeit  gewürdigt;  in  der  Tat  ist  er  nur  in  diesem  Zusammen- 
hang verständlich.  Die  Spaltung  der  Whigpartei,  die  Opposition 
Robert  Walpoles,  das  Zerwürfnis  innerhalb  der  königlichen  Familie 
sind  die  entscheidenden  Umstände.  Der  Verfasser  hat  (neben  wenigen 
handschriftlichen  Quellen)  in  großer  Vollständigkeit  das  gedruckte 
Material  benutzt,  wobei  die  ausgedehnte  Heranziehung  der  Pamphlet- 
literatur besonders  verdienstlich  erscheint.  Er  ist  dadurch  in  der  Lage, 
den  in  der  Presse  geführten  Kampf,  dessen  Argumente  in  den  par- 
lamentarischen Debatten  wiederkehren,  ausführlich  zu  schildern.  Da- 
für werden  diese  Debatten  etwas  kurz  abgemacht.  W.  Michael. 


1648—1789.  675 

Berliner  geschriebene  Zeitungen  aus  dem 
Jahre  1740.  Der  Regierungsanfang  Friedrichs  des  Großen.  Heraus- 
gegeben von  R.  W  0  1  f  f.  (Schriften  d.  Vereins  f.  d.  Geschichte  Berlins, 
Heft  44.)  Berlin,  Mittler.  1912.  XXVIII  u.  171  S.  —  Diese  50  Be- 
richte zweier  Agenten  gingen  an  die  Äbtissin  von  Quedlinburg,  die  sich 
für  den  Regierungswechsel  in  Preußen  interessierte,  weil  ihr  Stift 
unter  preußischer  Schutzherrschaft  stand  und  unter  diesem  Druck 
stark  litt.  Die  Berichte  enthalten  eine  Fülle  von  Einzelnachrichten 
meist  recht  äußerlicher  Art;  zusammen  mit  ähnlichen,  schon  veröffent- 
lichten Notizen  beleuchten  sie  die  Wirkung  der  Maßnahmen  Friedrichs 
in  seinem  ersten  Regierungsjahre  auf  die  Stimmung  der  Berliner  Be- 
völkerung. Ziekursch. 

Nach  einer  englischen  Publikation  aus  dem  Jahre  1772  behandelt 
L.  V  i  1 1  a  r  i  die  Geschichte  der  russischen  Flottenexpedition  ins 
Ägäische  Meer  während  des  ersten  Türkenkrieges  unter  Katharina  II. 
(Una  spedizione  russa  nelV  Egeo  al  tempo  di  Caterina  II.  Archivio  stör, 
ital.  Ser.  V.   Tom.  L.  igij). 

Justus  Moser  als  Staatsmann  und  Publizist.  Von  Otto  H  a  t  z  i  g. 
(Quellen  und  Darstellungen  zur  Geschichte  Niedersachsens,  Bd.  XXVII.) 
Hannover  und  Leipzig,  Hahn,  1909.  X  u.  200  S.  —  In  der  Würdigung 
des  großen  Osnabrücker  Patrioten,  der  das  politische  Denken  in  Deutsch- 
land so  unvergleichlich  befruchtet  hat,  bedeutet  die  Hatzigsche  Schrift 
eine  wichtige  Etappe.  Sie  unternimmt  es  zum  ersten  Male,  die  prak- 
tische Verwaltungstätigkeit  Mosers  auf  Grund  der  Osnabrücker  Archi- 
valien eingehend  zu  untersuchen  und  ihren  engen  Zusammenhang 
mit  seiner  Publizistik  und  seinen  bekannten  sozialen  und  politischen 
Theorien  zu  zeigen.  „Moser  bleibt  letzthin",  so  schließt  die  Schrift, 
„auch  als  betrachtender  Schriftsteller  Verwaltungsmann."  Daß  dem 
so  war,  konnte  man  schon  aus  dem  praktischen  Geiste  seiner  Theorien 
folgern,  aber  die  Anschauung  seines  Schaffens  auf  dem  Gebiete  der 
bäuerlichen  und  gewerblichen  Verhältnisse  erhält  man  erst  jetzt. 
Leider  ist  die  Form,  in  der  Hatzig  seine  gründliche  Forschung  bietet, 
sehr  ungenießbar.  Er  versteht  es  nicht,  die  Zustände,  Einrichtungen 
und  Verwaltungsmaßregeln,  die  er  bespricht,  klar  und  durchsichtig 
zu  schildern  und  setzt  beim  Leser  zu  große  Vertrautheit  mit  den  ver- 
wickelten Verhältnissen  und  der  lokalen  Terminologie  voraus.      M. 

In  seinem  Aufsatz  „Zur  Geschichte  der  Bischofswahlen  in  den 
deutschen  Reichsstiftern  unter  Joseph  II."  behandelt  E.  Guglia 
nach  den  Akten  des  Wiener  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchivs  das  Ver- 
halten des  Kaiserhofs  bei  den  Bischofswahlen  des  Jahrzehnts  von 
1780 — 1790.  Neben  dem  stets  ausgesprochenen  Grundsatz,  die  Wahl- 
freiheit nicht  zu  stören,  stehen  die  Bestrebungen,  die  Wahl  auf  einen 


676  Notizen  und  Nachrichten. 

dem  österreichischen  Interesse  wohlgesinnten  Bewerber  zu  lenken. 
Nicht  immer  mit  Erfolg:  die  ausführlich  erzählte  Bischofswahl  in 
Eichstätt  endete  mit  dem  Scheitern  des  österreichischen  Kandidaten. 
Persönlich  sprach  sich  sodann  Kaiser  Joseph  1788  für  eine  freie  kano- 
nische Wahl  aus,  ohne  „den  Domkapiteln  durch  Anempfehlungen 
beschwerlich"  fallen  zu  wollen  (Mitteil.  d.  Inst.  f.  österr.  Geschichts- 
forsch.  34,  2).  W.  M. 

A.  G  i  r  a  r  d  veröffentlicht  Dokumente  über  eine  gescheiterte 
französisch-spanische  Verhandlung,  die  im  Jahre  1782  den  Absatz  der 
französischen  Leinenfabrikate  in  den  Reichen  der  spanischen  Krone 
sichern  sollte  (Une  negociation  commerciale  entre  la  France  et  l'Espagne 
en  iy82.    Revue  hist.  CXI,  II). 

Neue  Buchen  Karttunen,  Les  nonciatures  apostoliques  per- 
manentes de  1650  ä  1800.  (Roma,  Bretschneider.)  —  Bertolini, 
II  settecento  e  il  primo  regno  d'Italia.  (Milano,  Fratelli  Treves.)  — 
Übersberger,  Rußlands  Orientpolitik  in  den  letzten  zwei  Jahr- 
hunderten. 1.  Bd.  (Stuttgart,  Deutsche  Verlags-Anstalt.  7  M.)  — 
La  guerre  de  succession  d'Autriche.  Campagne  de  1744  dans  les  Pays- 
Bas,  Operations  militaires  sur  le  Rhin  et  sur  le  Main  en  1745,  par  le 
major  Z***.  (Paris-Nancy,  Imhaus  et  Chapelot.)  —  M  i  r  b  t ,  Geschichte 
der  katholischen  Kirche  von  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  bis  zum 
vatikanischen  Konzil.  (Berlin,  Göschen.  90  Pf.)  —  K  0  h  u  t ,  Friedrich 
der  Große.  (Breslau,  Markgraf.  2,50  M.)  —  Archives  ou  correspon- 
dance  inedite  de  la  maison  d'Orange-Nassau.  V  sirie,  publice  par  F. 
J.  L.  Krämer.    IL  ijjg — 1782.    (Leyden,  Sijthoff.    6,75  FL) 

Neuere  Geschichte  seit  1789. 

Der  Artikel  Emile  F  a  g  u  e  t  s  in  der  Rev.  des  Deux  Mondes 
vom  1.  Juni  1913  „Sur  Mirabeau"  ist  eine  ausführliche  Anzeige  der 
Biographie  Mirabeaus  aus  der  Feder  des  Ministers  Louis  Barthou. 

Mirabeau  und  die  Erklärung  der  Menschenrechte  von  Marie 
Albrecht,  Marburger  Inauguraldissertation  1911,  VII  u.  116  S. 
—  Diese  tüchtige  Dissertation  macht  den  Versuch,  eine  neue  Er- 
klärung für  die  widerspruchsvolle  Haltung  zu  finden,  die  Mirabeau 
dem  Gedanken  einer  Rechteerklärung  gegenüber  einnahm.  Sie 
kommt  zu  beachtenswerten  Ergebnissen:  Mirabeau  hat  niemals  ,,die 
Erklärung  der  Menschenrechte  wegen  ihres  revolutionären  Charakters 
bekämpft".  Wenn  er  den  Gedanken  fallen  ließ,  so  geschah  es  aus 
taktischen  Gründen.  „Er  hat  in  diesem  Zeitraum  die  revolutionären 
Kräfte  weit  mehr  angetrieben  als  gehemmt."  Die  Arbeit  schließt 
mit    einer   feinen    Modifikation    eines    Wortes   von    Erdmannsdörffer 


Neuere  Geschichte.  677 

■(leider  druckt  die  Verfasserin  den  ehrwürdigen  Namen  falsch!):  Hatte 
dieser  gemeint:  „Der  Staatsmann,  der  Mirabeau  war,  und  der  Demagog, 
der  er  sein  mußte,  lagen  in  dauerndem  Kampf",  so  will  Frl.  Albrecht 
statt  dessen  sagen:  „Der  Demagog,  der  er  war,  und  der  Staatsmann, 
der  er  wurde,  lagen  in  dauerndem  Kampf."  —  Hoffentlich  trägt  auch 
diese  Arbeit  dazu  bei,  die  Mirabeau-Legende  —  eine  der  seltsamsten 
aller  Legenden  über  die  Revolutionszeit  —  zu  zerstören  Wie  konnten 
doch  so  viele  Generationen  von  Historikern  der  Ansicht  sein,  dieser 
feige  und  in  jeder  Hinsicht  bankerotte  Demagog,  der  immer  nur  von 
rein  persönlichen  Motiven  geleitet  war,  und  der  um  des  Beifallsklatschens 
willen  hundertmal  anders  sprach,  als  er  sich  vorgenommen,  hätte, 
wenn  er  am  Leben  geblieben  wäre,  der  Revolution  eine  andere  Wen- 
dung gegeben!  —  Mancherlei  in  Frl.  Albrechts  Arbeit  ist  anfechtbar; 
so  z.  B.  S.  37  die  nicht  glückliche  und  in  keiner  Weise  in  die  Tiefe 
gehende  Polemik  gegen  Jellinek.  Wahl. 

Otto  Karmin,  La  question  du  sei  pendant  la  revolution  (Biblio- 
iheque  de  la  Revolution  et  de  V Empire,  nouvelle  serie  I)  (Paris,  Champion. 
1912.  184,  LXXXVIII  S.)  behandelt  an  der  Hand  eines  weitschich- 
tigen, aber  nicht  hinreichend  verarbeiteten  Aktenmaterials  die  Mil- 
derung und  endliche  Aufhebung  der  verhaßten  Salzsteuer  (gabelle) 
durch  die  Nationalversammlung.  Im  Text  selbst  sowie  im  Anhang 
sind  eine  große  Anzahl  von  Aktenstücken  abgedruckt.  P.  D. 

In  den  Feuilles  d'histoire  (Mai-  und  Junihefte)  veröffentlicht 
A.  Chuquet  einige  Kapitel  aus  der  für  die  Sammlung  Figures  du 
Passi  vorbereiteten  Biographie  von  Dumouriez  unter  dem 
Titel  „Dumouriez  gineral  et  ministre"  (Bemühungen  von  Dumouriez, 
durch  Bayern  und  Pfalz-Zweibrücken  die  preußisch-österreichische 
Allianz  von  1792  zu  brechen).  E.  Welvert  behandelt  nach  archi- 
valischen  Quellen  die  Mission  Lakanals  auf  dem  linken  Rheinufer 
(1799)  und  kritisiert  scharf  dessen  schädliche  Wirksamkeit,  die  haupt- 
sächlich von  den  Mainzer  Patrioten  beeinflußt  wurde.  Als  Ergänzung 
.zu  dem  früher  publizierten  Tagebuch  während  der  Belagerung  Genuas 
(s.  H.  Z.  109,  667  und  110,  210)  wird  der  Abdruck  eines  ähnlichen 
Tagebuchs  begonnen,  das  sich  heftig  gegen  Massena  wendet.  Chuquet 
veröffentlicht  Bemerkungen  Napoleons  zu  Auszügen  aus  englischen 
Zeitungen  sowie  zwei  Schreiben  des  Herzogs  von  Valentinois,  Fürsten 
Honore  V.  von  Monaco,  über  die  Landung  Napoleons  im  Golf  Juan 
1815  und  sein  Zusammentreffen  mit  dem  Kaiser.  D  u  r  i  e  u  x  erörtert 
•  den  Konflikt  des  Bischofs  Moritz  Broglie  von  Gent  mit  der  Kaiser- 
.  liehen  Regierung.  D  e  j  o  b  beginnt  Mitteilungen  über  die  Reden  bei 
Preisverteilungen  unter  dem  dritten  Kaiserreich.  Die  Veröffentlichung 
der  Briefe  des  Obersten  Langlois  aus  der  Krim  (18.  März 
^bis  12.  Mai  1856)  wird  beendet  (vgl.  H.  Z.  111,234  und  446). 


678  Notizen  und  Nachrichten. 

Napoleon  by  Herbert  Fisher,  M.  A.,  F.  B.  A.  Londoir 
1913.  256  S.  K1.-8".  1  sh.  {Home  University  Library  of  Modern 
Knowledge  B.  61.)  —  Dieses  Büchlein  des  in  Deutschland  viel  zu 
wenig  bekannten,  vielseitigen  und  geistreichen  Historikers  ist  warm 
zu  empfehlen.  Es  beruht  auf  eindringender  Kenntnis,  ist  anschaulich 
und  lebendig  geschrieben  und  stark  und  doch  maßvoll  im  Urteil. 
Gewiß  wird  man  in  manchen  Dingen  anderer  Ansicht  sein  als  Fisher, 
und  hier  und  da  ein  Versehen  finden,  aber  alles  in  allem  haben  wir 
in  seinem  kleinen  Buch  die  schlechthin  beste  unter  den  knappen 
Zusammenfassungen  von  Napoleons  Leben  vor  uns.  Wahl. 

Im  Märzheft  der  Revue  des  Etudes  Napoleoniennes  erörtert  der 
Herausgeber  E.  D  r  i  a  u  1 1  die  Quellen  zur  napoleonischen  Geschichte 
im  Dipot  des  Affaires  ärangeres  und  macht  Vorschläge  zu  archiva- 
lischen  Publikationen.  C.  Woensky  behandelt  die  Freilassung  und 
Heimsendung  der  russischen  Gefangenen  durch  Napoleon  im  Jahre 
1800.  H.  R  0  1 1  i  n  gibt  archivalische  Beiträge  zur  Vorgeschichte  von 
Trafalgar  und  zum  Selbstmorde  des  Admirals  Villeneuve  {„VAmiral 
Villeneuve  et  Napolion").  Aus  der  Zeitschrift  „Le  voleur"  (1843)  wird 
die  hübsche  Schilderung  eines  Festes  bei  Madame  R^camier  (1802) 
von  Graf  A.  de  la  Garde-Chambonas,  dem  Verfasser  der 
Fäes  et  Souvenirs  du  congrts  de  Vienne,  abgedruckt.  R.  L  e  v  y  be- 
spricht die  neueren  Veröffentlichungen  zur  inneren  Geschichte  Frank- 
reichs unter  dem  ersten  und  zweiten  Kaiserreich,  N.  J  o  r  g  a  rumä- 
nische Publikationen  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Geschichte  der  fran- 
zösischen Politik  unter  Napoleon  1.  und  Napoleon  III.  Im  Maiheft 
erinnert  Marmottan  an  eine  von  dem  Baron  de  Verneilh  1810 
bis  1814  zusammengestellte  und  im  Druck  erschiedene  Sammlung 
von  Vorarbeiten  für  einen  „Code  rural".  L.  J,  Thomas  gibt  einen 
Beitrag  zur  Geschichte  der  öffentlichen  Meinung  unter  dem  ersten 
Kaiserreich,  indem  er  auf  den  Umschwung  der  Stimmung  in  Mont- 
pellier gegen  Napoleon  1811  hinweist,  der  teils  infolge  der  kirchen- 
politischen Verwicklungen,  teils  infolge  der  strengeren  Durchführung 
der  Konskription  eintrat.  Interessant  sind  die  Erörterungen  von 
G.  W  e  i  1 1  über  die  einflußreiche  Wirksamkeit  hervorragender  Schüler 
und  Anhänger  St.-Simons  und  des  Pore  Enfantin  unter  Napoleon  III. 
M.  Handelsman,  der  ein  Werk  über  die  Diplomaten  Napoleons 
in  Warschau  vorbereitet,  veröffentlicht  den  Schlußbericht  des  Resi- 
denten Serra  über  seine  Wirksamkeit  in  Warschau  von  1808  bis  1811, 
eine  arge  Selbstverherrlichung.  Beachtenswert  ist  eine  Übersicht  über 
die  neuere  Literatur  zur  Geschichte  des  napoleonischen  Korsika  von 
L.  Villa  t.  G.  Vauthier  publiziert  einige  Daten  über  die  Kosten 
der  Toiletten  Marie-Louisens.  Durch  beide  Hefte  geht  eine  längere 
Abhandlung  des  Obersten  G  r  o  u  a  r  d  ,  des  Verfassers  der  „Critique- 


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Neuere  Geschichte.  679 

de  la  campagne  de  1815*'  (1904),  in  der  er  sich  mit  den  neueren  Dar- 
stellungen des  Feldzugs  von  1815,  besonders  mit  derjenigen  des  ita- 
lienischen Generals  A.  Pollio  in  ,,Waterloo"  kritisch  auseinandersetzt. 
Er  erörtert  dabei  hauptsächlich  die  Märsche  des  Korps  Erlon. 

R.  Steig  veröffentlicht  im  Juliheft  1913  der  Deutschen 
Revue  u.  d.  T.  „Aus  der  preußischen  Unglückszeit"  patriotische  Ver- 
suche und  Vorschläge  von  Achim  v.  Arnim  aus  der  Zeit  unmittel- 
bar vor  und  nach  dem  Zusammenbruch.  Sie  enthalten  auch  einiges 
Phantastische,  sind  aber  —  besonders  gilt  das  von  dem  schönen, 
machtvollen  „Aufruf  an  die  Pommern  und  Märker"  vom  Dezember 
1806  —  ein  Zeugnis  dafür,  daß  einige  Feuerseelen  sich  aufrecht  erhielten 
und  unmittelbar  nach  der  Katastrophe  schon  den  Gedanken  der  Be- 
kämpfung der  Franzosen  durch  Freikorps  und  Volkserhebung  ergriffen. 

In  den  Forschungen  zur  brandenburgischen  und  preußischen 
Geschichte  25,  2  u.  26,  1  liefert  Felix  R  a  c  h  f  a  h  1  sehr  umfangreiche 
—  vielleicht  auch  etwas  breite  —  „Kritische  Studien  zur  Schlacht 
von  Dennewitz"  u.  d.  T.  „Bernadotte  und  Bülow  vor  Wittenberg". 
Er  kommt  in  umsichtiger  und  scharfsinniger  Untersuchung  zwar  nicht 
in  allem,  wohl  aber  im  wesentlichen  zur  Ablehnung  der  Rettungen 
Bernadottes  durch  Wiehr  und  andere  und  faßt  sein  Urteil  zum  Schluß 
in  folgende  Worte  zusammen:  „Die  Schuld  Bernadottes  ist  nicht  so 
groß,  wie  seine  Feinde  behaupten,  und  sein  Verdienst  besteht  ander- 
seits nur  in  der  Phantasie  seiner  Verteidiger".  —  In  dem  letztgenannten 
Heft  veröffentlicht  ferner  H.  G  r  a  n  i  e  r  eine  Anzahl  sehr  hübscher 
Briefe  Blüchers  an  verschiedene  Adressaten  aus  den  Jahren  1798  bis 
1819.  Sie  zeigen  den  Marschall  Vorwärts  mehrfach  in  dem  Kampfe, 
in  dem  er  am  wenigsten  Ruhm  erntete:  in  dem  Kampf  mit  seinen  Fi- 
nanzen. Von  einer  Anzahl  von  Adressaten  liegen  auch  die  Antworten 
vor.  Ernst  W  i  1  m  a  n  n  s  veröffentlicht  aus  dem  Lübecker  Staats- 
archiv einige  recht  farbige  „Berichte  vom  Rastadter  Kongreß".  In 
dem  anonymen  Verfasser  vermutet  Wilmanns  einen  Kanzleibeamten 
irgendeines  geistlichen  Fürsten.  G  r  a  n  i  e  r  liefert  zwei  kleine  Akten- 
beiträge „Aus  der  Berliner  Franzosenzeit":  I.  „Die  Kurierverbindung 
zwischen  Berlin  und  Memel  während  der  Franzosenzeit  1807".  2.  „Ein 
.Exzeß'  zu  Brandenburg  a.  H.  gegen  französische  Truppen  im  Jahre 
1809".  R  i  e  ß  veröffentlicht  aus  dem  British  Museum  die  Dokumente, 
die  Scharnhorst  im  März  1813  zur  Erlangung  englischer  Hilfe  ver- 
faßte. Sehr  interessant  ist  der  kleine  Aufsatz  Pflugk-Hart- 
t  u  n  g  s  über  „den  Aufruf  An  mein  Volk  und  An  mein  Kriegsheer 
1813".  Er  zeigt  die  Mitarbeit  Hardenbergs  an  beiden  im  einzelnen 
auf  und  weist  auf  die  —  wertvolle  —  Mitwirkung  des  Königs  an  letz- 
terem hin.    Hübsch  ist  schließlich  der  knappe  Nachweis  M  e  u  s  e  1  s , 


680  Notizen  und  Nachrichten. 

daß  „die  angeblich  von  Niebuhr  verfaßten  (zwei)  Aufsätze  ,Von  dem 
Wesen  des  Kriegs'  (1813)"  in  Wirklichkeit  von  dem  „Erzreaktionär" 
Marwitz  stammen. 

Infolge  des  Friedens  von  1809  hatte  Österreich  einen  bedeutenden 
Teil  Galiziens  (die  Kreise  von  Zomoszsz  und  Westgalizien)  an  das  Her- 
zogtum Warschau  und  den  Tarnopoler  Kreis  an  Rußland  verloren. 
Es  galt  nun  die  Reste  Galiziens  vor  dem  Einflüsse  des  polnischen 
Herzogtums  zu  schützen.  M  e  j  b  a  u  m  ,  Rzady  austryackie  w  Ga- 
licyi  pomiedzy  wojna  roku  i8og  a  1812  {Biblioteka  warszawska  1910. 
4.  S.  21 — 29)  zeigt,  daß  die  österreichischen  Behörden  starke  Zweifel 
hegten,  daß  Galizien  jemals  eine  treue  österreichische  Provinz  wer- 
den könnte.  Die  galizischen  Polen  hatten  schon  früher  die  Wieder- 
herstellung Polens  ersehnt.  Durch  die  Errichtung  des  Herzogtums 
Warschau  ist  dieser  Wunsch  noch  mehr  entflammt  worden.  Die  Be- 
hörden versuchten  daher  den  Einfluß  des  Herzogtums  möglichst  herab- 
zumindern, den  Verkehr  zwischen  ihm  und  Galizien  zu  unterbinden, 
ferner  wurde  schon  damals  betont,  daß  die  Förderung  der  untertänigen 
Bauern  und  der  griechisch-katholischen  (also  ruthenischen)  Geistlich- 
keit wirksame  Mittel  gegen  die  Revolutionsgelüste  der  Polen  wären. 

R.  F.  Kaindl. 

Unter  dem  Titel  „Les  effectifs  de  la  grande  armee  pour  la  cam- 
pagne  de  Russie"  (Revue  des  Etudes  hist.,  JV\ai-Juni)  veröffentlicht  V  i  1  - 
latte  des  Prugnes  aus  dem  Kriegsarchiv  und  dem  National- 
archiv in  Paris  die  Stärkezahlen  der  ,, Großen  Armee"  1812,  die  er 
auf  590  687  JVIann  (ohne  Schwarzenbergs  Korps)  mit  157  878  Pfer- 
den berechnet. 

Die  Festrede,  die  Fr.  M  e  i  n  e  c  k  e  zur  Jahrhundertfeier  der 
deutschen  Erhebung  und  zur  Kaiserfeier  am  14.  Juni  1913  in  der 
Aula  der  Universität  Freiburg  i.  B.  gehalten  hat,  ist  in  der  Zeitschrift 
Logos  4,  2  erschienen. 

Ad.  Wahl,  der  hier  die  Reden  zur  Erinnerung  an  1813  tref- 
fend charakterisiert  hat,  bezeichnet  in  einer  Tübinger  Festrede  zum 
Regierungs Jubiläum  (Tübingen,  Mohr.  1913.  30  S.),  in  der  er  den 
preußischen  Charakter  der  Erhebung  stark  unterstreicht,  über  „Die 
Ideen  von  1813"  diese  als  „national  und  christlich";  „Deutschheit 
und  Gott  war  die  Parole".  In  diesen  Ideen  wie  in  den  Taten  war 
das  Volk  einig  und  dieser  wundervolle  Einmut  diente  „einem  Ziele": 
der  Befreiung  des  Vaterlandes  von  fremder  Tyrannei.  Eine  „innere 
Befreiung"  als  Ziel  lehnt  Wahl  ebenso  ab  wie  die  Zurückführung  der 
Steinschen  Reformideen  auf  das  Vorbild  der  französischen  Revo- 
lution. Auch  sonst,  wie  man  es  bei  Wahl  gewöhnt  ist,  polemisiert 
er  gern  gegen  „Legenden". 


Neuere  Geschichte.  681 

Einen*  vortrefflichen  knappen  Überblick  über  die  militärischen 
Ereignisse  vom  Ende  des  Waffenstillstandes  bis  in  den  September 
1813  bietet  von  der  Goltz  im  Augustheft  1913  der  Deutschen 
Revue.  Der  Aufsatz  ist  betitelt:  „Blüchers  Aufstieg";  Blücher  wird 
mit  Recht  als  „Heerführer  großen  Stils  auf  taktischem  Gebiet"  be- 
zeichnet. 

„Drei  Briefe  von  und  über  Gneisenau"  aus  den  Jahren  1813 
bis  1826  werden  im  Juliheft  1913  der  Preuß.  Jahrbücher  veröffent- 
licht. Sie  sind  an  Werner  von  Haxthausen  gerichtet.  Vor  allem  der 
zweite,  verstümmelte,  dessen  Schreiber  der  Graf  Münster  ist  (Datum: 
Aug.  oder  Sept.  1815)  und  der  von  gigantischen  Plänen  Gneisenaus 
berichtet,  verdient  sorgfältige  Prüfung.  Auch  der  dritte,  vom  7.  No- 
vember 1826,  in  dem  Gneisenau  die  französische  Revolution  das  „Hur- 
kind der  Reformation"  nennt,  ist  charakteristisch  und  interessant. 

Im  Juliheft  1913  der  Deutschen  Rundschau  beginnt  H.  Frhr. 
v.  Egloffstein  eine  durchaus  auf  ungedrucktem  Material  be- 
ruhende Arbeit  über  „Carl  August  während  des  Krieges  von  1813", 
welche  die  verzweifelt  schwierige  Lage  des  kleinen  Sachsen-Weimar 
recht  anschaulich  macht. 

Georges  W  e  i  1 1 ,  professeur  ä  l' Universite  de  Caen,  La  France 
sous  la  monarchie  constitutionnelle  (1814 — 1848).  Nouvelle  Mition  revue 
et  corrigie.  Paris,  Alcan.  1912.  II.  311  S.  —  Eine  vielfach  verbes- 
serte Auflage  des  im  Jahr  1902  zuerst  erschiedenen  Werkchens,  das 
in  knappem  Rahmen  einen  Abriß  der  französischen  Geschichte  unter 
der  Regierung  der  letzten  Bourbonen  und  des  Julikönigtums  darbietet. 
Die  eigentliche  politische  Geschichte  ist  sehr  kurz  gefaßt,  denn  Lud- 
wig XVIII.  und  Karl  X.  sind  zusammen  kaum  vierzig  Seiten  gewid- 
met; ebensoviel,  ungefähr,  wird  Ludwig  Philipp  zuteil,  wobei  noch 
zu  bemerken  ist,  daß  die  Verhältnisse  Frankreichs  nach  außen, 
von  1814  bis  1848,  kaum  berührt  werden.  Was  der  Weillschen  Ar- 
beit ihren  Wert  gibt,  sind  ihre  kulturgeschichtlichen  Ausführungen. 
Die  fünf  letzten  Kapitel  des  Buches  (III.  Die  französische  Gesellschaft. 
IV.  Die  religiöse  Bewegung.  V.  Literatur,  Kunst  und  Wissenschaft. 
VI.  Die  ökonomische  Bewegung.  VII.  Soziale  Theorien)  umfassen 
mehr  als  zwei  Drittel  des  Buches,  und  da  G.  Weill  ein  Sozialpolitiker 
von  Fach  ist,  so  bieten  sie  eine  für  das  große  Publikum  berechnete, 
recht  brauchbare  Übersicht  über  die  inneren  Zustände  Frankreichs 
in  dieser  Periode  seiner  geschichtlichen  Entwicklung  dar.  R. 

Alfred  P  e  r  e  i  r  e  ,  Autour  de  Saint-Simon.   Documents  originaux. 
{Saint-Simon,  Auguste  Comte  et  les  deux  lettres  dites  „anonymes",  Saint- 
Simon  et  l'entente  cordiale,  un  sicritaire  inconnu  de  Saint-Simon,  Saint- 
Simon  et  les  freres  Pereire).    Paris  1912.    237  S.  —  Ein  Nachkomme 
Historische  Zeitschrift  (lil.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  44 


682  Notizen  und  Nachrichten. 

eines  der  Begründer  des  Cridit  mobilier  veröffentlicht  und  erläutert 
hier  einige  für  die  Biographie  des  berühmten  französischen  Sozial- 
philosophen interessante  Dokumente,  die  sich  im  Besitz  seiner  Fa- 
n-ilie  befinden  und  die  er  vorher  schon  in  Zeitschriften  und  Zeitungen 
hat  abdrucken  lassen.  Er  glaubt,  den  bisher  nicht  genau  festgestellten 
Zeitpunkt,  wo  Comte  die  für  sein  Denken  so  folgenreiche  Bekannt- 
schaft mit  Saint-Simon  machte,  in  den  Mai  1817  verlegen  zu  können 
und  bringt  für  die  Anfänge  ihrer  Arbeitsgemeinschaft  einige  erwünschte 
Details  bei.  Die  Aufzeichnungen  eines  anonymen  Sekretärs  des  gräf- 
lichen Sozialisten  enthalten  neue  und  präzise  Angaben  über  Saint- 
Simons  äußere  Erscheinung  und  seine  Lebens-  und  Arbeitsweise,  die 
um  so  beachtenswerter  sind,  als  sie  aus  erster  Quelle  stammen.  Ein 
Aufsatz  des  Herausgebers  über  Saint-Simon  und  die  Brüder  Pereire 
ist  insofern  nicht  ohne  Wert,  als  er  erkennen  läßt,  auf  wie  eigentüm- 
liche Weise  sich  in  der  Epoche  des  Frühkapitalismus  die  sozialistischen 
und  kapitalistischen  Bestrebungen  noch  vermengen  konnten. 

Zehlendorf.  Gustav  Mayer. 

Das  Lebensbild  des  Herzogs  von  Reichstadt  von  Eduard  W  e  r  t  - 
heimer  liegt  in  einer  neuen  Auflage  vor  (Stuttgart,  Cotta.  1913). 
Sie  ist  ein  fast  unveränderter  Wiederabdruck  dieser  vor  zehn  Jahren 
erschienenen  erschöpfenden  und  unparteiischen  Biographie  des  un- 
glücklichen Kaisersohns.    (Vgl.  H.  Z.  Bd.  92,  S.  303.)  H^.  L. 

Die  aktenmäßigen  JVlitteilungen  von  A.  v.  Wiedemann- 
W  a  r  n  h  e  i  m  über  Prozeß  und  Behandlung  der  als  Carbonari  1821 
verurteilten  Italiener,  besonders  des  Grafen  Canonici  aus  Ferrara  auf 
dem  Kastell  zu  Laibach  1822—1824  (JVlitt.  d.  Inst.  f.  österr.  Geschichts- 
forschung 34,  2)  illustrieren  aufs  neue  den  Geist  des  damaligen  öster- 
reichischen Regimes. 

Auch  in  der  Skizze  „der  österreichischen  und  russischen  Orient- 
politik 1820—1825",  die  Ernst  iVlolden,  zum  Teil  mit  Benutzung 
von  Wiener  Archivalien,  in  der  österr.  Rundschau  35,  4  gegeben  hat, 
tritt  die  entscheidende  Bedeutung  Cannings  als  eigentlichen  Urhebers 
des  russisch-englischen  Bündnisses  hervor. 

Über  den  Tod  des  Herzogs  von  Berry  (1820)  veröffentlicht  L  a  u  - 
r  e  n  t  i  e  im  Correspondant  vom  10.  Februar  ds.  J.  Aufzeichnungen 
des  Herzogs  von  Angouleme,  dessen  sonstige  JVlemoiren  leider  ver- 
nichtet sind. 

Von  Chateaubriand  publiziert  Thomas  weitere  diplo- 
matische, meist  eigenhändige  Schreiben  vom  6.  Juni  1823  bis  zum 
13.  April  1824  an  Vill^le  und  andere,  größtenteils  auf  Spanien  be- 
züglich.   (Revue  nouvelle  vom  1.  Juli;  vgl.  H.  Z.  110,457.) 


Neuere  Geschichte.  683 

In  der  Revue  des  deux  mondes  (1.  und  15.  Mai  und  1.  Juni)  wird 
die  Veröffentlichung  der  Tagebücher  Apponyis  fortgesetzt, 
deren  erster  Teil  jetzt  bei  Plön  erschienen  ist.  Die  neuen  Kapitel 
betreffen  die  Anfänge  der  Julimonarchie,  die  Unruhen  in  Paris,  die 
Cholera  und  ihre  Verwüstungen,  die  Vermählung  der  Prinzessin  Louise, 
Tochter  Ludwig  Philipps,  mit  dem  König  von  Belgien  u.  a.  (Vgl.  H.  Z. 
110,  457,  458  und  den  Artikel  von  Lanzac  de  Laborie  im  Correspondant, 
10.  Febr.  ds.  J.) 

Th.  Schiemanns  Vortrag  auf  dem  internationalen  Histo- 
riker-Kongreß in  London  über  die  „Russisch-englischen  Beziehungen 
unter  Kaiser  Nicolaus  I."  ist  in  der  Zeitschrift  f.  osteurop.  Gesch.  III,  4 
abgedruckt.  Er  behandelt  hauptsächlich  die  durch  den  für  Nicolaus 
dauernden,  für  England  vorübergehenden  Gegensatz  zu  Louis  Phi- 
lipps Politik  (1839 — 1844)  herbeigeführte,  von  Rußland  im  entschei- 
denden iVlomente  nicht  ausgenutzte  Annäherung  beider  Mächte. 

Aus  dem  Nachlaß  des  einflußreichen  russischen  Gesandten  in 
Berlin  und  Wien  (1839/50  und  1850/4)  P.  v.  Meyendorff  hat  O. 
Hoetzsch  (Zeitschr.  f.  osteurop.  Gesch.  111,4)  „Aktenstücke  zur 
polnischen  Geschichte  1846  (Krakauer  Frage:  Korrespondenzen  von 
Metternich,  Paskiewitsch,  Canitz)  und  1861"  (sehr  lehrreiche  Denk- 
schrift des  Senators  Krusenstern  gegen  die  polnischen  Autonomie- 
bestrebungen, an  deren  Ende  als  Ziel  nur  die  Wiederherstellung  Po- 
lens stehe)  veröffentlicht. 

In  der  Revolution  de  1848  (Mai- Juni)  behandelt  Ph.  M  0  r  ^  r  e 
unter  dem  Titel  „UArüge  avant  le  rigime  dimocratique"  hauptsäch- 
lich die  Lage  der  Bergleute  von  Ranci6,  die  trotz  aller  politischen 
Umwälzungen  bis  zum  Jahre  1893  fast  unverändert  geblieben  ist. 
C  a  1  m  e  1 1  e  schildert  nach  Archivalien  das  Treiben  der  Carbonari 
und  anderer  geheimer  Gesellschaften  von  1821  bis  1830  und  die 
großen  Erfolge  ihrer  Propaganda. 

Eine  ausführliche  und  inhaltreiche  Besprechung  von  H.  Schmidts 
in  Rußland  preisgekröntem  Buch  über  die  polnische  Revolution  von 
1848,  auf  das  wir  zurückkommen  werden,  hat  M.  Laubert  in  den 
Götting.  Gel.  Anz.  1813,  Juli,  S.  381—421  gegeben;  er  rügt  mit  Recht 
die  unzureichende  und  einseitige  Literaturbenutzung  und  die  ten- 
denziöse Grundlage  des  Werkes,  die  er  richtig  charakterisiert  als  den 
Standpunkt  Mieroslawskis  und  der  polnischen  Demokratie.  —  Über 
die  Entwicklung  des  Posener  Distriktskommissariats  hat  M.  L  a  u  - 
b  e  r  t  in  der  Zeitschr.  d.  Hist.  Gesellschaft  d.  Provinz  Posen  27  ge- 
handelt. 

In  einer  beachtenswerten  Besprechung  der  neuen  Auflage  von 
Meineckes    Weltbürgertum    und    Nationalstaat    (Deutsche    Lit.- 

44* 


684  Notizen  und  Nachrichten. 

Zeitung  1913,  Nr.  31)  nimmt  G.  Küntzel  zunächst  in  vermitteln- 
dem Sinne  Stellung  zu  der  nun  abgemilderten  Kontroverse  Ulmann- 
Meinecke  über  Steins  Haltung  zum  deutschen  Nationalstaat  und 
gibt  sodann  aus  eigenen  Pfizerstudien  Ergänzungen  bezüglich  Pfizers 
wechselnder  Vorstellung  vom  Probleme  einer  preußischen  Konsti- 
tution in  ihrem  Verhältnis  zur  nationalen  Einheit.  —  Anschließend 
mag  auf  den  Aufsatz  von  R.  Vonschott,  Preußen-Deutschland 
und  die  Grundrechte  (Hist.  Pol.  Blätter  152,  1  u.  2)  hingewiesen  sein, 
um  der  hier  vertretenen  Anschauung  willen,  daß  nur  vom  Stand- 
punkt der  (korrekten)  katholischen  Rechtsphilosophie  aus  eine  rich- 
tige Würdigung  der  Grundrechte  möglich  sei. 

In  der  Frankf.  Ztg.  1913,  Nr.  176  vom  27.  Juni  veröffentlicht 
A.  Herr  mann  („K.  Marx  und  F.  Lassalle",  2  Denkschriften  aus  den 
Jahren  1848  und  1867  [muß  heißen  1861])  die  von  Marx  1848  und 
Lassalle  für  ihn  1861  an  den  Minister  des  Innern  gerichteten  Eingaben 
um  Wiederaufnahme  ins  preußische  Staatsbürgerrecht  nebst  den  ab- 
lehnenden Bescheiden  und  eigenen  Erläuterungen. 

Kaiser  Maximilian  von  Mexiko.  Die  letzten  Monate  seiner  Re- 
gierung und  sein  Tod.  Nach  eigenen  Erlebnissen  aufgezeichnet  von 
J.  N.  Freiherrn  v.  Fürstenwärther,  Burgsasse  zu  Odenbach, 
kaiserlich  mexikanischem  Kapitän.  Bearbeitet  von  Major  Alois  V  e  1 1  z  e. 
Wien  1910.  Verlag  von  L.  W.  Seidel  &  Sohn.  VII,  182  S.  —  Die 
Veröffentlichung  der  Fürstenwärtherschen  Aufzeichnungen  ist  in  erster 
Linie  ein  Akt  der  Pietät  gegen  einen  Offizier,  der  als  begeisterter  Ver- 
ehrer des  Erzherzog-Kaisers  ihm  nach  Mexiko  gefolgt  war,  und  sein 
Schicksal  bis  zur  Gefangennahme  geteilt  hat.  Was  der  Veröffent- 
lichung einen  gewissen  Wert  verleiht,  sind  tagebuchförmige  Aufzeich- 
nungen über  die  Vorgänge  in  und  um  Queretaro  während  der  Ein- 
schließung, die  der  Verfasser  unmittelbar  darauf  während  seiner  Ge- 
fangenschaft geordnet  und  überarbeitet  hat.  Obwohl  der  Verfasser 
der  näheren  Umgebung  Maximilians  angehört  hat,  so  ist  ihm  doch 
ein  tieferer  Einblick  in  die  politischen  Vorgänge  nicht  verstattet  ge- 
wesen. Er  berichtet  über  das,  was  er  in  der  Front  gesehen  und  gehört 
hat.  Dabei  macht  ihn  die  Anhänglichkeit  an  Maximilian  in  hohem 
Grade  ungerecht  gegen  die  Republikaner  und  blind  für  vieles,  was 
in  den  eigenen  Reihen  geschah.  Immerhin  sind  einige  Urteile  über 
den  Erzherzog- Kaiser  und  manche  Persönlichkeiten,  die  eine  Rolle 
in  der  Tragödie  von  Queretaro  gespielt  haben,  nicht  ganz  ohne  Wert. 
Die  topographischen  Skizzen,  die  dem  Buche  beigegeben  sind,  ver- 
danken ihren  Ursprung  wohl  dem  Umstände,  daß  Maximilian  sich 
mit  dem  Plane  getragen  hat,  eine  Geschichte  seiner  Kämpfe  in  Mexiko 
zu  schreiben  und  den  Verfasser  mit  der  Sammlung  von  Material  dazu 


Neuere  Geschichte.  655 

betraut  hatte.  Ihr  strategischer  Wert  ist  freilich  vielfach  ein  recht 
mäßiger,  wie  denn  auch  die  Bemühungen,  diese  regellosen  Kämpfe 
nach  der  Art  eines  Generalstabswerkes  zu  behandeln,  in  der  Haupt- 
sache verfehlt  sind.  Sympathisch  berührt  aber  die  loyale  Anhänglich- 
keit, die  der  österreichische  Offizier  dem  Sprößling  seines  angestammten 
Herrscherhauses  widmet.  K.  Haebler. 

Sehr  charakteristische  Briefe  Edwin  v.  Manteuffels  an  den 
ältesten  Sohn  Hans-Karl  (geb.  1846)  als  älterem  Schüler  und  jungen 
Offizier  (von  1860 — 1868)  mit  gelegentlichen  Einflechtungen  politi- 
scher Bemerkungen  finden  sich  im  August  1913  der  Deutschen  Revue. 

Die  Fortsetzung  der  Mitteilungen  des  Frhrn.  v.  H  e  n  g  e  1  - 
m  ü  1 1  e  r  aus  den  Papieren  des  Grafen  K  a  r  o  1  y  i  (s.  S.  451)  zeigen, 
natürlich  in  österreichischer  Beleuchtung,  die  zunehmende  Verschär- 
fung der  Beziehungen  zwischen  Österreich  und  Preußen  in  der  deut- 
schen Frage  von  den  bisher  fast  unbekannten,  von  Sybel  kaum  ge- 
streiften, gescheiterten  Allianzverhandlungen  Anfang  1860  bis  zu  den 
gereizten  Verhandlungen  über  die  Beustschen  Reformvorschläge  An- 
fang 1862  (Deutsche  Revue,  Juli  und  August  1913). 

Die  Fortsetzung  der  S.  451  erwähnten  Mitteilungen  aus  dem 
Leben  des  Oberpräsidenten  (v.  Posen  1863/69)  C.  v.  H  o  r  n  (Deutsche 
Revue,  Juli  und  August  1913)  berühren  die  verschiedenen  Seiten 
seiner  umfassenden,  sorgfältigen  und  verständnisvollen  Tätigkeit,  ins- 
besondere für  Wirtschaftsleben,  Kirche  und  Schule  und  gegenüber 
den  Polen. 

L.  R  i  e  ß  hat  eine  noch  unveröffentlichte  Emser  Depesche 
König  Wilhelms  I.  vom  11.  Juli  1870  7  h  50  N  an  den  Kronprinzen 
(aus  Privatbesitz  in  Berlin)  in  den  Forschungen  z,  brandenb.  und 
preuß.  Gesch.  26,  1  mitgeteilt.  Der  Text  lautet:  „Dein  Raisonnement 
ist  vollkommen  richtig.  Das  preußische  Gouvernement  ist  ganz  un- 
beteiligt u.  ich  nur  als  Familien-Haupt.  Dennoch  will  man  in 
Paris  dies  nicht  verstehen  und  macht  Preußen  responsable  für 
spanische  Kandidatur.  Diese  Logik  ist  allerdings  neu.  Stünd- 
lich steigert  sich  der  Ernst  der  Lage.  Keine  Nachricht  v.  Leopold, 
der  e.  Alpenreise  macht  .  .  ."  Die  Folgerungen  freilich,  die  Rieß  aus 
diesem  Telegramm  ziehen  zu  sollen  glaubt:  Schon  am  11.  Juli  ist 
die  gefährliche  Friedensliebe  des  Königs,  die  nur  vorübergehend  für 
den  10.  Juli  zutrifft,  und  der  Einfluß  Augustas  überwunden,  eben 
vornehmlich  durch  das  Schreiben  (oder  Telegramm  des  Kronprinzen), 
das  wahrscheinlich  von  Bismarck  veranlaßt  ist;  nur  in  die  Tage  des 
9. — 11.  Juli  paßt  die  wiederholte  Drohung  Bismarcks  mit  Amtsnieder- 
legung —  diese  Folgerungen  finden  doch  auch  in  Rieß'  Argumenta- 
tionen   keine    genügende    Begründung.     Übrigens    verwechselt    Rieß 


686  Notizen  und  Nachrichten.  ^^^^^H 

S.  208  den  Pariser  Botschafter  v.  Werther  mit  dem  damaligen  Mün- 
chener, früher  Madrider  Gesandten  v.  Werthern.  K.  J. 

Ohne  daß  an  dieser  Stelle  ein  näheres  Eingehen  möglich  wäre, 
sei  auf  die  Studie  von  J.  F.  Kleindinst  über  die  deutschen 
Kriegsanleihen  in  den  Jahren  1870/1  (Annalen  des  Deutschen  Reiches 
1913,  Nr.  4,  6,  7)  hingewiesen. 

E.  O  11  i  V  i  e  r  setzt  die  Darstellung  der  Kämpfe  um  Metz  fort 
{Revue  des  deux  mondes,  15.  Juni,  1.  u.  15.  Juli  1913).  Er  rühmt  für 
den  16.  August  verdientermaßen  Konstantin  v.  Alvensleben,  tadelt 
Ladmirault,  rechtfertigt  dabei  Bazaine  (doch  „mehr  Soldat  als  Ge- 
neral"), dem  man  schlecht  gehorcht  habe.  Am  18.,  wo  Frossard  und 
Leboeuf  sich  ausgezeichnet  hätten,  sei  er  ganz  unzulänglich  gewesen. 
Ollivier  schließt  mit  einer  Gesamtwürdigung  Bazaines,  die  nicht  un- 
zutreffend erscheint.  Im  übrigen  operiert  er  mit  vielen  „Wenn  und 
Aber",  benutzt  gern  die  ruhmredigen  Aufzeichnungen  Garcins,  des 
Generalstabschefs  von  Cissey  (vgl.  H.  Z.  1 10, 220)  und  zitiert  zur 
Beurteilung  von  Gravelotte-St.-Privat  selbst  Joh.  Scherr  als  Zeugen. 

Sehr  dankenswert  sind  die  Mitteilungen,  die  aus  zwei  umfang- 
reichen, in  der  Russkaja  Stanica  1912  u.  1913  erschienenen  Aufzeich- 
nungen höherer  russischer  Militärs  zur  Geschichte  des  russisch-türki- 
schen Krieges  und  des  Berliner  Kongresses  in  der  Zeitschr.  f.  osteur. 
Gesch.  111,  4)  gemacht  werden:  von  General  Bobrizow,  der 
die  Serben  in  den  Krieg  treiben  sollte,  und  von  General  A  n  u  9  i  n  , 
der  als  militärischer  Berater  dem  Kongreß  anwohnte.  Dieser  gesteht 
die  Unzulänglichkeit  der  russischen  Vertretung  auf  dem  Kongreß, 
besonders  die  Unfähigkeit  Gortschakows,  offen  zu;  beide  stimmen 
darin  überein,  daß  Bismarck  ehrlich  und  soweit  möglich  für  die  Inter- 
essen Rußlands  eingetreten  ist  und  bestätigen  damit  Bismarcks  eigene 
Angaben. 

Die  handelspolitischen  Beziehungen  Österreich-Ungarns  zur 
Türkei  (in  geschichtlichem  Abriß)  sind  von  O.  Hecht  behandelt; 
der  wirtschaftlichen  Entwicklung  Bulgariens  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten sind  die  Aufsätze  von  W.  K.  Weiß-Bartenstein 
und  von  J.  Raudnitz  gewidmet:  sämtlich  in  der  (österr.)  Zeitschr. 
f.  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung  22. 

Eine  Anzahl  interessanter  „Briefe  von  Colmar  Frhrn.  v.  d. 
G  0  1 1  z  aus  seiner  türkischen  Zeit"  —  von  1884  bis  1894  reichend  — 
an  einen  ungenannten  Freund  —  ist  in  der  Frankf.  Ztg.  1913  Nr.  181 
vom  8.  Juli  veröffentlicht. 

Mit  großer  Kraft  bringt  E.  Landsberg  in  seiner  Bonner  Fest- 
rede den  „Geist  der  Gesetzgebung  in  Deutschland  und  Preußen  1888 


Neuere  Geschichte.  687 

bis  1913"  zur  Anschauung  (Bonn,  Fr.  Cohen.  23  S.).  Die  Grenze 
zweier  Epochen  sieht  er  —  übereinstimmend  mit  vielen  Beobachtungen 
auf  anderen  Gebieten  —  in  den  Jahren  zwischen  1887  und  1890.  Jen- 
seits liegt  der  erste  Entwurf  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches,  beherrscht 
von  den  Ausläufern  der  spekulativen  Zeit,  von  harmonisierender  und 
konstruktiver  Systematik,  diesseits,  beginnend  mit  der  endgültigen 
Form  des  Gesetzbuches,  aber  noch  stärker  sich  ausprägend  in  den 
folgenden  Gesetzen,  ein  neuer  drängender  und  stoßender  Geist  der 
Zweckmäßigkeit  und  „der  technisch  und  naturrechtlich  unbegrenzten 
Möglichkeiten". 

Im  3.  Hefte  des  37.  Jahrgangs  von  Schmollers  Jahrbuch  wird 
die  zuletzt  S.  454  erwähnte  Abhandlung  von  J.  W.  H  o  1 1  a  e  n  d  e  r  (f) 
über  den  deutschen  Zolltarif  von  1902  mit  einer  übersichtlichen  Schil- 
derung des  Ganges  der  Beratungen  in  Kommission  und  Plenum  des 
Reichstags  zu  Ende  geführt.  M.  E.  ist  Hollaender  der  Grundlage 
der  Obstruktion  —  der  es  auf  Herbeiführung  von  Neuwahlen  unter 
der  Tarifparole,  nicht  ohne  innere  Berechtigung,  ankam  —  nicht  ge- 
recht geworden.  Im  übrigen  ist  subjektive  Stellungnahme  und  Ein- 
gehen auf  die  divergierenden  Strömungen  der  Parteien  augenschein- 
lich mit  Absicht  möglichst  vermieden,  ebenso  wie  die  Erörterung  der 
staatsrechtlichen  Fragen,  die  sich  über  das  Vorgehen  der  Kompromiß- 
mehrheit erheben.  Zum  Schluß  vermißt  man  doch  Angaben  über  die 
Parteigruppierungen  bei  den  entscheidenden  Abstimmungen.   K.  J. 

Eine  ausgezeichnete,  auf  eigene  Beobachtungen  bei  einer  For- 
schungsreise 1912  gestützte  Studie  von  O.  Hoetzsch  über  Rus- 
sisch-Turkestan  und  die  Tendenzen  (und  Mittel)  der  heutigen  russi- 
schen Kolonialpolitik  enthalten  Heft  2  und  3  von  Schmollers  Jahr- 
buch Bd.  37  (1913),  mit  reicher  Verwertung  der  russischen  Literatur; 
es  muß  genügen  zu  betonen,  daß  wirtschaftspolitisch  die  Förderung 
der  Baumwollkultur  im  Vordergrunde  steht  und  daß  mit  Recht  nach 
den  verschiedensten  Seiten  die  Bedeutung  des  Chiwaeroberers  und 
ersten  Generalgouverneurs,  des  Generals  von  Kaufmann,  immer  wie- 
der hervorgehoben  wird. 

Wir  notieren  die  „Politische  Jahresübersicht  für  1912"  von 
G.  Egelhaaf  (Stuttgart,  Krabbe.  143  S.  Urk.  2,25),  der  seit 
fünf  Jahren  diese  kurz  gehaltene  Zeitchronik  herausgibt. 

Neue  Bücher :  Kircheisen,  Napoleons  Feldzug  in  Italien 
und  Österreich  1796—1797.  (München,  Müller.  8  M.)  —  P  f  I  ü  g  e  r  , 
Koalitions-Politik.  Metternich  und  Friedrich  v.  Gentz  1804 — 1806. 
1.  Tl.  (Hamburg,  Rademacher.  2,50  M.)  —  Walther  Vogel,  Die 
Hansestädte  und  die  Kontinentalsperre.  (München,  Duncker  &  Hum- 
blot.    1  M.)  —  Correspondance  inedite  de  Napoleon  /**■  conservie 


688  Notizen  und  Nachrichten. 

aux  archives  de  la  guerre.  Publiie  par  E.  Picard  et  L.  Tuetey.  T.  3 
{i8og — 1810).  (Paris,  Charles-Lavauzelle.  18  fr.)  —  Lettres  et  docu- 
ments  pour  servir  ä  Vhistoire  de  Joachim  Murat.  VII:  Royaume  de 
Naples.  (Paris,  Plon-Nourrit  et  Cie.  7,30  fr.)  —  Joh.  Frdr.  Hoff, 
Die  Mediatisiertenfrage  in  den  Jahren  1813 — 1815.  (Berlin,  Rothschild. 
4  M.)  —  Kriege  unter  der  Regierung  des  Kaisers  Franz.  Befreiungs- 
krieg 1813  und  1814.  1.  Bd.  Bearb.  von  Osk.  C  r  i  s  t  e.  (Wien,  Seidel 
<S  Sohn.  5M.)  —  S  ando  na  ,  II  regno  lombardo  veneto,  18 14 — 185g. 
(Milano,  Cogliati.  8,50  L.)  —  S  ar  d  i ,  Lucca  e  il  suo  ducato  dal  18 14 
al  185g.  (Firenze,  Passegna  nazionale.  2,50  L.)  —  Briefe  von  und  an 
Friedrich  v.  Gentz.  Herausgegeben  von  Frdr.  Carl  Wittichen  f 
und  Ernst  S  a  1  z  e  r.  III.  Bd.:  Schriftwechsel  mit  Metternich,  2.  Tl. 
(JVIünchen,  Oldenbourg.  9,50  M.)  —  Souvenirs  du  comte  de  M  0  nt  b  e  l 
ministre  de  Charles  X  (1787 — 1831),  publiis  par  Guy  de  Montbel.  (Paris, 
Plon-Nourrit  et  Cie.  7,50  fr.)  —  Karl  B  a  c  h  e  m  ,  Josef  Bachern. 
2.  Bd.  1848—1860.  (Köln,  Bachern.  6  JVl.)  —  Nicastro,  Dal 
quarantotto  cd  sessanta:  contributo  alla  storia  economica,  sociale  e  poli- 
tica  della  Sicilia  nel  secolo  XIX.  (Milano- Roma-Napoli,  Albrighi,  Se- 
gati e  C.  4,50  L.)  —  S  0  Im  i ,  Mazzini  e  Gioberti.  (Milano-Roma- 
Napoli,  Albrighi-Segati  e  C.  5  L.)  —  Carteggio  politico  di  L.  G.  De 
C  ambr  ay  D  igny  ,  aprile-novembre  185g.  (Milano,  Fratelli  Treves. 
jo  L.)  —  M  a  u  g  e  t ,  Kaiserin  Eugenie  und  ihr  Hof.  Deutsch  von 
Emma  Weber-Brugmann.  (Halle,  Thamm.  4  M.)  —  Briefe,  Akten- 
stücke und  Regesten  zur  Geschichte  der  hohenzollernschen  Thron- 
kandidatur in  Spanien.  Herausgegeben  von  Rieh.  Fester.  Heft  1, 
2.  (Leipzig,  Teubner.  4,40  M.)  —  F  r  i  t  s  c  h  ,  1870/71.  (Bonn,  Marcus 
<S  Weber.  4  M.)  —  Ollivier,  L'empire  libiral.  Tome  16.  (Paris, 
Garnier  frires.  3,50  fr.)  —  B  ap  st ,  Le  marichal  Canrobert.  T.  6 : 
(Bataille  de  Saint- Privat.)  (Paris,  Plon-Nourrit  et  Cie.  7,50  fr.)  — 
Lano  ir ,  Le  marechal  Bazaine  et  la  capitulation  de  Metz,  i^^  vol. 
(Antibes,  impr.  Roux.  7  fr.)  —  F  a  b  r  i  c  i  u  s  ,  Besan^on-Pontarlier. 
Die  Operationen  des  Generals  v.  JVIanteuffel  gegen  den  Rückzug  des 
französischen  Ostheeres  vom  21.  I,  1871  ab.  II.  Tl.  3.  Buch.  (Olden- 
burg, Stalling.  7  M.)  —  Gust.  Freytags  Briefe  an  Albrecht  v. 
Stosch.  Herausgegeben  und  erläutert  von  Hans  F.  Helmolt.  (Stutt- 
gart, Deutsche  Verlagsanstalt.  7,50  M.)  —  Rachfahl,  Kaiser 
und  Reich.  1888—1913.  (Berlin,  Vossische  Buchh.  4,50  JVl.)  — 
Curt  Frhr.  v.  JVlaltzahn,  Der  Seekrieg  zwischen  Rußland  und 
Japan  1904—1905.  2.  Bd.  (Berlin,  Mittler  &  Sohn.  9  M.)  —  v.  dem 
Borne,  Der  italienisch-türkische  Krieg.  2.  (Schluß-)  Tl.  (Olden- 
burg, Stalling.    2,50  M.) 


Deutsche  Landschaften.  689 

Deutsche  Landschaften. 

Über  den  Frankschen  Handel,  einen  Zusammenstoß  zwischen 
Stadt  und  Bistum  Straßburg  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts,  berichtet 
K.  S  t  e  n  z  e  1  in  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins 
N.  F.  28,  3.  Oswald  Frank  war  ein  Abenteurer,  der  es  fertig  brachte, 
zur  Rache  für  die  Konfiskation  seiner  Habe  durch  einen  bischöflichen 
Vogt  längere  Zeit  die  bischöflichen  Untertanen  durch  fortwährende 
Brandstiftungen  in  Atem  zu  halten.  Ermöglicht  wurde  ihm  das  nur, 
indem  er  das  schlechte  Verhältnis  zwischen  Bischof  und  Stadt  geschickt 
ausnutzte.  Schließlich  kam  es  über  seine  Person  zu  einem  ernsten 
Konflikt  zwischen  dem  Rat  und  dem  Bischof.  In  demselben  Heft  gibt 
K.  H  0  f  m  a  n  n  die  Zusammenstellung  der  badischen  Geschichts- 
literatur des  Jahres  1912. 

Das  Neue  Archiv  für  die  Geschichte  der  Stadt  Heidelberg  10,'4 
bringt  den  Schluß  der  Arbeit  von  W.  D  o  n  at  über  die  Heidelberger 
Apotheken  (als  Separatdruck  ist  das  Ganze  schon  vor  einiger  Zeit 
erschienen).  In  demselben  Heft  setzt  B.  Schwarz  seine  Publikation 
der  Korrespondenz  des  schwedischen  Oberamtmanns  zu  Amorbach, 
Johann  Christian  von  Gemmingen,  aus  den  Jahren  1632,  1633  und 
1634  fort. 

Aus  dem  Inhalt  der  Neuen  Heidelberger  Jahrbücher  17,  2  er- 
wähnen wir  den  Beitrag  von  C,  Hörn  über  Joh.  Sylvan  und  die  An- 
fänge des  Heidelberger  Antitrinitarismus  und  die  Veröffentlichung 
zweier  Flugschriften  aus  der  Zeit  Maximilians  I.  durch  Th.  L  o  r  e  n  t  - 
zen:  einer  Reimchronik  über  den  Schwabenkrieg  1499  und  eines 
Gedichts  über  die  Landshuter  Fehde  1504,  die  beide  von  Haintz  von 
Bechwinden  verfaßt  sind. 

Den  Beginn  einer  Arbeit  über  die  Geschichte  der  Vorstädte 
Münchens  von  Th.  Wilmersdoerffer  bringt  das  Ober  bayerische 
Archiv  für  vaterländische  Geschichte  58,  1  u.  2.  Dieser  erste  Teil 
beschäftigt  sich  mit  der  Geschichte  von  Neuberghausen. 

Jos.  Schlecht  setzt  im  9.  Sammelblatt  des  Historischen  Ver- 
eins Freising  seine  dankenswerte  Veröffentlichung  der  , .Monumentalen 
Inschriften  im  Freisinger  Dom"  fort.  Die  Arbeit  ist  auch  (als  5.  Heft 
der  „Inschriften")  gesondert  erschienen  (Freising  1913,  34  S.). 

Im  Archiv  für  Kulturgeschichte  11,  2  erscheint  ein  Vortrag 
von  Seb.  M  e  r  k  1  e  über  Würzburg  im  Zeitalter  der  Aufklärung.  Merkle 
gibt  in  großen  Zügen  einen  Überblick  über  die  Tätigkeit  der  beiden 
Fürstbischöfe  Adam  Friedrich  von  Seinsheim  und  Franz  Ludwig  von 
Erthal.  Beide  waren  ehrlich  bemüht,  ihre  Untertanen  auf  sozialem 
und  kulturellem  Gebiet  zu  heben.    Besonders  eingehend  wird  ihre  Be- 


690  Notizen  und  Nachrichten. 

deutung  für  das  kirchliche  Leben  des  Bistums  geschildert.  Es  ent- 
spricht nur  der  historischen  Gerechtigkeit,  wenn  in  Merkles  Darstel- 
lung die  Persönlichkeit  und  die  Verdienste  Franz  Ludwigs  von  Erthal 
im  hellsten  Lichte  erscheinen. 

O.  Kreuzer  berichtet  im  Jahrbuch  1912  des  Historischen 
Vereins  für  die  Pflege  der  Geschichte  des  ehemaligen  Fürstbistums 
Bamberg  über  einen  Preßkonflikt,  welchen  der  Romantiker  F.  G. 
Wetzel  als  Redakteur  des  „Fränkischen  Merkur"  im  Jahre  1815  mit 
der  sachsen-koburgischen  und  der  bayerischen  Regierung  auszufechten 
hatte.  Hier  sei  deshalb  darauf  hingewiesen,  da  der  Fall  ein  gutes  Bei- 
spiel für  die  Handhabung  der  Preßzensur  in  Bayern  unter  Montgelas 
bildet.  Aus  dem  übrigen  Inhalt  sei  die  Zusammenstellung  der  neuen 
Literatur  zur  Bamberger  Geschichte  durch  A.  Dürrwaechter  er- 
wähnt. 

Trotz  umfassender  Kenntnis  der  einschlägigen  Quellen  und 
Literatur  ist  es  A.  J  e  g  e  1  in  seiner  Arbeit  über  „Die  landständische 
Verfassung  in  den  ehemaligen  Fürstentümern  Ansbach-Bayreuth"  (S.-A. 
des  Archivs  für  Geschichte  u.  Altertumskunde  von  Oberfranken,  Bd.  25, 
1912, 159  S.)  nicht  gelungen,  eine  befriedigende  Darstellung  des  Themas 
zu  geben.  Er  baut  die  landständische  Verfassung  seiner  Territorien 
nicht  selbständig  auf  und  vergleicht  sie  dann  mit  der  anderer  Länder, 
sondern  er  will  sie  aus  den  Vergleichen  aufbauen.  Schon  in  der  Dis- 
position seiner  Arbeit  begeht  er  den  grundlegenden  Fehler,  die  Disposition 
der  Einleitung  zu  G.  v.  Belows  Landtagsakten  mit  Ausnahme  eines 
Kapitels  wörtlich  nachzuahmen.  Dabei  hat  er  übersehen,  daß  diese 
Einleitung  gar  keine  „land  ständische  Verfassung"  ist,  sondern 
eine  „Darstellung  der  L  a  n  d  t  a  g  s  Verfassung  von  Jülich-Berg  1400 
bis  1538",  für  die  eine  große  Vorarbeit,  eben  die  „landständische" 
Verfassung  von  Jülich-Berg,  die  ganz  anders  disponiert  war,  vorlag. 
Wie  wenig  tief  er  in  den  Geist  der  landständischen  Verfassung  einge- 
drungen ist,  beweist  er  gleich  am  Anfang  seiner  Arbeit  durch  die  Be- 
hauptung, es  sei  ein  Widerspruch,  daß  der  Adel  landsässig  war  und 
doch  die  Vereinbarungen  über  seine  Rechte  und  Pflichten  „auf  dem 
Fuß  der  Gleichberechtigung"  mit  seinen  Fürsten  schloß.  Bildete  doch 
gerade  diese  Gleichberechtigung  des  Landesherrn  und  des  durch  die 
Stände  vertretenen  Landes  die  Grundlage  des  ständischen  Territorial- 
staats. Es  ist  begreiflich,  daß  durch  dieses  mangelnde  Verständnis 
und  durch  die  Kopie  der  Disposition  am  falschen  Ort  der  Wert  von 
Jegels  Arbeit  erheblich  vermindert  wird.  Dies  ist  um  so  mehr  zu  be- 
dauern, als  Ansbach  und  Bayreuth  zu  den  wenigen  Territorien  ge- 
hörten, in  denen  die  Bauern  auf  den  Landtagen  erschienen,  und  die 
Entwicklung  der  ständischen  Verhältnisse  auch  sonst  manches  Be- 
merkenswerte aufweist.    Waren  doch  seit  dem   16.   Jahrhundert  die 


Deutsche  Landschaften.  691 

Städte  mit  der  Bauernschaft  die  einzige  ständische  Vertretung,  da  die 
Ritterschaft  sich  im  Streben  nach  Reichsunmittelbarkeit  ihren  Pflich- 
ten als  Landstand  entzog  und  die  Prälaten  infolge  der  Reformation 
ausschieden.  Da  Jegel  aber  nur  pragmatisch  die  Tatsachen  aneinander 
reiht,  erfährt  man  nur  wenig  über  den  Zusammenhang  der  Ereignisse 
untereinander.  So  hörte  man  z.  B.  gern  mehr  über  das  Ausscheiden 
der  Prälatenkurie  und  über  die  Bauernschaft  als  landständische  Ver- 
tretung. Jegel  hat  aber  den  Nutzen  seiner  Arbeit  noch  mehr  durch 
die  unglückliche  Idee  zerstört,  „auf  Anmerkungen  im  landläufigen 
Sinn  Verzicht  zu  leisten".  Die  1118  an  das  Ende  des  Buchs  gesetzten 
Akten-  und  Literaturzitate  (für  104  Seiten!)  bringen  vielleicht  den 
Gewinn,  daß  jemand  anders  zu  einer  geschickteren  Bearbeitung  der 
landständischen  Geschichte  von  Ansbach-Bayreuth  angeregt  wird, 
vielleicht  auch,  soweit  es  lohnt,  die  Akten  selbst  veröffentlicht. 

H.  Goldschmidt. 

In  der  Westdeutschen  Zeitschr.  für  Gesch.  und  Kunst,  Jahrg.  31, 
Heft  4,  1912  handelt  Herm.  Thimme  über  „Den  Handel  Kölns 
am  Ende  des  16,  Jahrhunderts",  auf  Grund  reichhaltigen  Aktenmate- 
rials, auch  auswärtiger  Archive,  über  die  fremdländischen  Bestandteile 
des  Kölner  Kaufmannsstandes,  deren  Einwanderung  Köln  um  die 
Wende  des  16.  Jahrhunderts,  einen  ganz  internationalen  Charakter 
verlieh,  1.  die  Portugiesen,  2.  die  Italiener,  3.  die  Niederländer  und 
ihren  Handel  nach  Italien  und  Spanien.  Den  Verfall  des  Kölner  Han- 
dels am  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  führt  Thimme  zum  Teil  auf  die 
engherzige  Politik  und  mangelndes  Verständnis  der  Kölner  Stadtver- 
waltung zurück. 

Die  von  Hans  Goldschmidt  in  der  Zeitschrift  des  bergischen 
Geschichtsvereins,  Bd.  46,  1913  gelieferten  Nachträge  zu  den  Landtags- 
akten Jülich-Bergs  (Bd.  1  u.  2)  enthalten  77  Aktenstücke  aus  der 
Zeit  von  1499—1589. 

Die  auf  fleißigem  Quellenstudium  beruhende  Abhandlung  Wil- 
helm Meiers:  „Die  clevischen  Städte  unter  brandenburgisch-preußi- 
scher Herrschaft  im  17.  und  18.  Jahrhundert"  (Festschrift  des  städt. 
Gymnasiums  an  der  Klosterstraße  zu  Düsseldorf,  1913,  S.  145 — 196), 
schildert  den  Rückgang  der  städtischen  Autonomie  und  des  bürger- 
lichen Wohlstandes,  die  Versuche  zur  Einführung  landesherrlicher 
indirekter  Steuern,  die  Einschränkung  der  Selbstverwaltung  durch 
das  absolutistische  Regiment.  Sie  könnte  auch  als  Beitrag  zur  Zoll- 
und  Akzisepolitik  der  Hohenzollern  bezeichnet  werden.  Dankenswert, 
aber  ergänzungsbedürftig  sind  die  Angaben  über  Friedrich  Wilhelms  I. 
und  Friedrichs  des  Großen  Bemühungen  zur  Begründung  einer  leist- 
ungsfähigen einheimischen  Industrie  in  den  Stadtgemeinden  Cleves. 


692  Notizen  und  Nachrichten. 

Mit  den  Anfängen  einer  territorialen  Wirtschaftspolitik  in  Hessen 
beschäftigt  sich  Joh.  Schultzes  Abhandlung  „Zur  Getreidepolitik 
in  Hessen  unter  Landgraf  Philipp  dem  Großmütigen  (1518 — 1567)" 
(Vierteljahrschrift  f.  Sozial-  und  Wirtschaftsgesch.  1913,  Bd.  II,  Heft  1 
und  2).  Der  Landgraf  hat  die  Einrichtung  von  Kornmagazinen  als 
wirksames  JVlittel  zur  Bekämpfung  von  Teuerungen  und  JVlißernten 
verwendet. 

In  den  Deutschen  Geschichtsblättern,  Bd.  14,  Heft 9,  I9I3  schreibt 
Herm.  S  c  h  e  1  e  n  z  über  die  Wohlfahrtsbestrebungen  in  Hessen  vom 
16.  bis  zum  18.  Jahrhundert. 

In  den  Mitteil,  des  Ver.  für  Gesch.  und  Landeskunde  von  Osna- 
brück, Bd.  36,  1912  behandelt  Ed.  Donnerberg  den  Besitz  des 
von  Benno  II.  im  11.  Jahrhundert  gegründeten,  1802  aufgehobenen 
Klosters  Iburg,  des  reichsten  Klosters  im  Hochstift  Osnabrück.  Im 
Mittelpunkt  seines  Interesses  stehen  die  Entwicklung  und  Verwaltung 
des  Güterbesitzes,  weniger  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse.  A.  W  e  n  - 
z  e  1 ,  „Die  Grundherrschaft  des  ehemaligen  Benediktinerinnenklosters 
Herzebrock  in  Westfalen",  stellt  sich  dagegen  die  Aufgabe,  ein  möglichst 
zusammenhängendes  Bild  der  wirtschaftlichen  Entwicklung  des  Klo- 
sters zu  geben. 

Die  Hansischen  Geschichtsblätter,  Jahrg.  1913,  Heft  1  gewähren 
reichhaltige  Belehrung  und  Anregung:  W.  Draeger  untersucht 
„das  alte  lübische  Stadtrecht  und  seine  Quellen".  Das  lübische  Recht 
setzte  sich  zusammen  aus  originellen  Satzungen  Lübecks,  2.  aus  einigen 
in  den  deutschen  Städten  allgemein  gültigen  Rechtsgrundsätzen, 
3,  aus  Rechtsbestimmungen  einzelner  Städte,  auch  des  um  1120  ent- 
standenen Soester  Rechts,  dessen  Einfluß  auf  die  lübische  Rechtsbil- 
dung jedoch  bisher  überschätzt  worden  ist.  —  Der  Beitrag  P.  Wegners 
über  „Die  mittelalterliche  Flußschiffahrt  im  Wesergebiet"  ergänzt  mit 
seinen  eingehenden  Ausführungen  über  die  Weserzölle  und  Stapel- 
plätze für  das  Wesergebiet  die  bekannten  Arbeiten  Sommerlads,  Hum- 
mels,  Weißenborns  über  die  Rhein-,  Main-  und  Elbzölle.  —  K.  H  o  y  e  r 
behandelt  „Das  Bremer  Brauereigewerbe",  das  im  13.  und  14.  Jahr- 
hundert seine  Blüte  erreichte,  im  15.  Jahrhundert  aber  von  einem 
Exportgewerbe  zu  einem  freilich  immer  noch  ansehnlichen  Stadt- 
gewerbe herabsank.  —  Rud.  H  ä  p  k  e ,  „Friesen  und  Sachsen  im  Ost- 
seeverkehr des  13.  Jahrhunderts",  weist  auf  die  Rivalitäten  beider 
Stämme  im  Seeverkehr  hin.  Die  friesische  Ostseefahrt  machte  zu 
Beginn  der  achtziger  Jahre  des  13.  Jahrhunderts  so  große  Fortschritte, 
daß  Lübeck  sich  beunruhigt  und  benachteiligt  fühlte.  Die  Lübecker 
und  ihre  sächsischen  Stammesgenossen  im  Westen  setzten  es  daher 
durch,  daß  Friesen  und  Flandrern  die  Fahrt  auf  der  Ostsee  nach  Got- 


Deutsche  Landschaften.  693 

!and,  den  Goten  umgekehrt  die  Befahrung  der  Westsee  untersagt 
wurde.  —  W.  Stein,  „Die  Hansestädte",  stellt  sich  die  nach  dem 
heutigen  Stande  der  Quellenpublikation  aussichtsvolle  Aufgabe,  zu 
ermitteln,  welche  Städte  der  deutschen  Hansa  angehört  haben.  Ein 
erster,  „Überlieferung  und  Grundfragen"  betitelter  Abschnitt  seiner 
Untersuchung,  die  mit  dem  Jahre  1358,  dem  Jahre  der  ersten  Er- 
wähnung deutscher  „Hansestädte"  einsetzt,  stellt  die  Frage  1.  nach 
den  Wesensmerkmalen  einer  Hansestadt  und  2.  nach  dem  Ver- 
hältnis der  großen  und  kleinen  Hansestädte  zur  Hanse.  Das  ent- 
scheidende Kriterium  für  das  Wesen  einer  Hansestadt  sieht  Stein 
(in  Übereinstimmung  mit  früheren  Erklärungsversuchen)  in  ihrer 
Zulassung  zu  den  auswärtigen  Niederlassungen.  „Die  deutsche  Hanse 
war  und  blieb  ihrem  Wesen  nach  in  erster  Linie  eine  Rechtsgemein- 
5Chaft  in  ihren  auswärtigen  Privilegien"  (S.  277);  „es  genügt  der 
Gebrauch  der  Privilegien,  um  eine  Stadt  hansisch  zu  machen" 
(S.  287).  Die  erhaltenen  Verzeichnisse  (von  Hansestädten),  deren 
Stein  vom  Jahre  1407  an  mehr  als  15  anführt,  sind  meist  nicht  voll- 
ständig und  ebensowenig  durchweg  zuverlässig.  Ein  Bild  vom  An- 
wachsen der  Zahl  der  Hansestädte  und  später  von  ihrer  Abnahme 
kann  daher  nur  mit  Hilfe  der  Einzelzeugnisse  gewonnen  werden.  Der 
zweite  noch  ausstehende  Abschnitt  soll  ,,die  einzelnen  Hansestädte 
jn  bestimmter  Ordnung  und  Gruppierung  samt  den  über  ihre  Eigen- 
schaft als  Hansestädte  vorliegenden  Nachrichten  vor  Augen  führen". 

Im  43.  und  44.  Jahresbericht  des  Histor.  Ver.  zu  Brandenburg 
a.  H.,  der  zur  HohenzoUernfeier  1912  erschienen,  wird  die  märkische 
Chronik  des  Brandenburgers  Engelbert  Wusterwitz  von  O.Tschirch 
und  das  Volkslied  des  Niklas  Upschlacht  auf  Markgraf  Friedrich  I. 
und  seinen  Sieg  über  die  Quitzows  1414  von  W.  Specht  nach  der 
wiederaufgefundenen  Handschrift  (in  der  von  der  Hagenschen  Biblio- 
thek zu  Hohennauen)  herausgegeben.  Die  Anmerkungen  zum  mittel- 
niederdeutschen Text  des  Volksliedes  sowie  die  Übertragung  ins  Hoch- 
deutsche rühren  von  O.  Tschirch  her.  Herm.  K  r  a  b  b  o  ,  „Die  Teilung 
der  Mark  durch  die  Markgrafen  Johann  I.  und  Otto  III.",  scheidet 
vier  Teilungsepochen  (1258 — 1266);  er  sucht  zu  ermitteln,  was  in  den 
einzelnen  Verträgen  aufgeteilt  worden  und  wie  die  Mark  nach  Durch- 
führung aller  Teilungen  ausgesehen  hat. 

Die  Abhandlung  Ad.  S  t  ö  1  z  e  1  s  über  den  vermeintlichen  „Schöp- 
penstuhl  zu  Jüterbog  im  17.  Jahrhundert"  in  den  Geschichtsblättern 
für  Stadt  und  Land  Magdeburg,  Jahrg.  48,  1913,  Heft  1  enthält  lehr- 
reiche Ausführungen  über  das  Gerichtswesen  und  die  Verbreitung  der 
gelehrten  Rechtsprechung  im  17.  Jahrhundert.  —  Wilhelm  Brink- 
w  e  r  t  h  ,  „Beiträge  zur  Geschichte  der  Reorganisation  des   Städte- 


694  Notizen  und  Nachrichten. 

Wesens  in  der  Kurmark  Brandenburg  und  im  Herzogtum  Magdeburg 
in  den  Jahren  1680 — 1713",  wendet  sich  gegen  Schmollers  Ansicht 
von  dem  „systemlosen  Charakter  und  der  geringen  Bedeutung"  der 
damaligen  reorganisatorischen  Eingriffe  in  die  städtische  Verwaltung, 
und  sucht  durch  aktenmäßige  Darstellung  der  Revisionen  und  Regle- 
mentierung städtischer  Verwaltung  in  der  Mittelmark,  Altmark  und 
im  Herzogtum  Magdeburg  für  die  Zeit  des  großen  Kurfürsten  und 
Friedrichs  I.  den  Nachweis  planvoller,  ziemlich  umfassender  städtischer 
Reformen  zu  liefern.  —  Ad.  Müller  behandelt  ebendaselbst  nach  den 
(seit  1407)  erhaltenen  Rechnungsbüchern  über  den  städtischen  Haus- 
halt die  Einnahmen  und  Ausgaben  der  Stadt  Groß-Salze. 

Die  unter  dem  Pseudonym  Vota  erschienene,  anspruchsvolle,, 
aber  unkritische  Schrift,  „Untergang  des  Ordensstaates  Preußen  und 
die  Entstehung  der  preußischen  Königswürde",  wird  in  den  For- 
schungen zur  brand.  und  preuß.  Geschichte,  Bd.  26,  1913  von  A. 
Seraphim  einer  eingehenden  Würdigung  unterzogen,  welche  Ten- 
denz und  Fehler  des  Werkes  vornehmlich  an  der  Zeit  des  Untergangs 
der  Ordensherrschaft  und  der  Begründung  des  preußischen  Herzogtum? 
nachzuweisen  sucht.  —  Ad.  Hofmeisters  „Analekten  zur  ältere» 
brandenburgischen  Geschichte"  verwerten  Bestände  des  Woldegker 
Rats-  und  Pfarrarchivs.  —  Herm.  v.  Caemmerer  sucht  mit  scharf- 
sinnigen Argumenten  gegen  Kotelmann  und  Schapper  die  Glaubwürdig- 
keit einer  Angabe  Albrecht  Achills  (aus  dem  Jahre  1485)  über  die  Höhe 
seiner  Jahreseinnahme  aus  der  Mark  Brandenburg  zu  stützen. 

Die  wichtige  Periode  der  preußischen  Deutschordensgeschichte 
vom  ersten  bis  zum  zweiten  Thorner  Frieden  ist  in  aller  Breite  in 
Joh.  Voigts  umfassendem,  inzwischen  aber  veraltetem  Werk  (Bd.  7 
u.  8,  1836,  38)  dargestellt  worden.  Eine  übersichtüche,  die  Ergeb- 
nisse neuerer  Forschung  in  ansprechender  Form  zusammenfassende 
Darstellung,  wie  sieA.  Werminghoff  „Der  Deutsche  Orden  und 
die  Stände  in  Preußen  bis  zum  zweiten  Thorner  Frieden  im  Jahre 
1466",  für  die  Pfingstblätter  des  Hansischen  Geschichtsvereins 
(Blatt  VIII,  1912,85  8.)  geschrieben  hat,  wird  daher  einen  dank- 
baren Leserkreis  finden.  Sie  schildert  in  drei  Kapiteln  1.  den  Staat 
des  Deutschen  Ordens  zur  Zeit  seiner  Blüte,  2.  Landesherrschaft  und 
Stände  bis  1440,  3.  die  Zeit  von  der  Gründung  des  Bundes  (1440) 
bis  zum  Thorner  Frieden  (1466). 

Die  Mitteilungen  der  literar.  Gesellschaft  Masovia,  Heft  18,  1913 
veröffentlichen  Materialien  zur  Geschichte  der  Reformierten  in  Alt- 
preußen und  im  Ermlande  (Ernst  M  a  c  h  h  o  1  z)  und  einen  Beitrag 
Joh.  H  0  e  1  g  e  s  zur  Geschichte  des  Deutschordensstaates,  „Das 
Culmer  Domkapitel  zu  Culmsee  im  Mittelalter". 


Deutsche  Landschaften.  695 

Die  Abhandlung  Walter  P  a  a  p  s  ,  „Kloster  Belbuck  um  die 
Wende  des  16.  Jahrhunderts"  (Baltische  Studien,  N.  F.  Bd.  16,  1912), 
berücksichtigt  hauptsächlich  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  des 
Klosters,  seine  Umwandlung  in  ein  herzogliches  Amt  und  die  Ver- 
fassung des  aus  Klosterdörfern  gebildeten  Amtes.  Sie  bietet  einen 
willkommenen  Beitrag  zur  Kirchen-  und  Wirtschaftspolitik  der  für 
Pommerns  Entwicklung  sehr  bedeutsamen  Regierungszeit  Bogislaws  X. 
(f  1523),  wenn  auch  die  allgemeinen  Gesichtspunkte  nicht  genügend 
hervorgehoben  sind.  —  „Die  Kolonisationstätigkeit  des  Prinzen  Moritz 
von  Anhalt-Dessau  in  Pommern  1747 — 1754"  hat,  wie  Hans  Hesse 
ausführt,  vornehmlich  Pfälzer,  Württemberger,  Mecklenburger  und 
Deutschpolen  nach  Pommern  geführt.  —  Franz  Weber  veröffent- 
licht ebendaselbst  ein  Verzeichnis  der  auf  der  Stadtbibliothek  zu 
Stettin  befindlichen  Drucke  von  1500 — 1550. 

Das  von  R.  G  e  i  g  e  s  in  der  Zeitschr.  für  Brüdergesch.,  Jahrg.  VII, 
1913,  Heft  1  entworfene  Lebensbild  Joh.  Konr.  Comojes  (f  1767) 
führt  in  die  Anfänge  der  herrnhutischen  Gemeinschaftspflege  in  Würt- 
temberg. —  J.  Th.  Müller  veröffentlicht  ebendaselbst  ein  Verzeich- 
nis der  in  der  Bibliothek  des  Unitätsarchivs  zu  Herrenhut  in  13  Bän- 
den aufbewahrten,  für  die  Geschichte  der  böhmischen  Brüder  (1460 
bis  1589)  wertvollen  Acta  unitatis  fratrum  (der  sog.  Lissaer  Folianten). 

H.  W  e  n  d  t ,  Die  Breslauer  Eingemeindungen.  (Mitteilungen 
aus  d.  Stadtarchiv  u.  d.  Stadtbibliothek,  Heft  11.)  Breslau,  E.  Mor- 
genstern. 1912.  V  u.  99  S.  u.  3  Karten.  —  Seit  frühen  Zeiten  um- 
gab die  Stadt  Breslau  ein  Kranz  von  meist  geistlichen  Grundherren 
gehörenden  und  bald  dichtbevölkerten  Vorstädten;  die  Folge  waren 
dauernde,  oft  schwere  Streitigkeiten  über  die  Anlage  von  Festungs- 
werken, die  Gerichtsbarkeit,  die  Polizei,  vor  allem  niemals  abreißende, 
auch  von  der  altpreußischen  Verwaltung  nicht  unterdrückte  Kämpfe 
zwischen  den  städtischen  Zünftlern  und  den  vorstädtischen  Pfuschern. 
Die  Vereinigung  von  Stadt  und  Vorstädten  bei  Einführung  der  Städte- 
ordnung von  1808  bereitete  deshalb  hier  besonders  große,  erst  nach 
vielen  Jahren  völlig  überwundene  Schwierigkeiten.  Im  weiteren  Ver- 
lauf des  19.  Jahrhunderts  ist  die  Geschichte  der  Breslauer  Eingemein- 
dungen charakterisiert  durch  eine  kurzsichtige  PoHtik  der  Sparsamkeit 
auf  Seiten  der  Stadt  bis  in  die  sechziger  Jahre  und  durch  den  nur  mit 
rasch  wachsenden  Opfern  auszuschaltenden  Widerstand  des  Land- 
kreises an  der  Wende  des  19.  zum  20.  Jahrhundert.  Durch  die  Be- 
handlung dieser  Probleme  besitzt  das  Buch  eine  über  den  lokalen 
Interessenkreis  weit  hinausgehende  Bedeutung.  Ziekursch. 

Neue  Bücher:  D  i  e  r  a  u  e  r  ,  Geschichte  der  schweizerischen 
Eidgenossenschaft.    1.  u.  2.  Bd.    2.  Aufl.    (Gotha,  Perthes.    20  M.) 


696  Notizen  und  Nachrichten. 

—  Württembergische  Landtagsaiiten.  I.  Reihe.  1.  Bd.:  1498 — 1515. 
Bearbeitet  von  Wilh.  Ohr  und  Erich  Koben  (Stuttgart,  Kohl- 
hammer. 5  M.)  —  Frz.  Schneider,  Geschichte  der  Universität 
Heidelberg  im  1.  Jahrzehnt  nach  der  Reorganisation  durch  Karl  Friedrich 
(1803—1813).  (Heidelberg,  Winter.  9,20  M.)  —  Regesten  der  Erz- 
bischöfe von  Mainz  von  1289—1396.  14.  Lfg.  1.  Abtlg.  Bearbeitet 
von  Ernst  Vogt.  Bogen  61—73.  (Leipzig,  Veit  &  Co.  6,50  M.)  — 
Quellen  und  Forschungen  zur  Hessischen  Geschichte  I:  Die  Mainzer 
Dompropstei  im  14.  Jahrhundert,  Aufzeichnungen  über  ihre  Besitzun- 
gen, Rechte  und  Pflichten  aus  den  Jahren  1364 — 1367,  bearbeitet 
von  V  i  g  e  n  e  r.  (Darmstadt,  Großh,  hessischer  Staatsverlag.  6  M.)  — 
Netz,  Geschichte  der  Stadt  Wetzlar.   (Wetzlar,  Waldschmidt.  3  M.) 

—  Die  Münzen  und  Medaillen  von  Köln.  2.  Bd.  Bearbeitet  von  Alfr. 
N  0  ß.  (Köln  a.  Rh.,  Stadt  Köln.  30  M.)  —  Die  Akten  der  Visitation 
des  Bistums  Münster  aus  der  Zeit  Johanns  v.  Hoya  (1571 — 1573). 
Herausgegeben  und  erläutert  von  Wilh.  Eberh.  Schwarz.  (Münster, 
Theissing.  9M.)  —  Rothert,  Kirchengeschichte  der  Grafschaft 
Mark.  (Gütersloh,  Bertelsmann.  5  M.)  —  M  ö  r  i  n  g  ,  Die  Wohlfahrts- 
politik des  Hamburger  Rates  im  Mittelalter.  (Berlin,  Rothschild.  6  M.) 

—  Arnecke,  Die  Hijdesheimer  Stadtschreiber  bis  zu  den  ersten 
Anfängen  des  Syndikats  und  Sekretariats  1217 — 1443.  (Marburg, 
Spieß.  6,50  M.)  —  Fahlbusch,  Die  Finanzverwaltung  der  Stadt 
Braunschweig  seit  dem  großen  Aufstand  im  Jahre  1374  bis  zum  Jahre 
1425.  (Breslau,  Marcus.  6,80  M.)  —  Vollmer,  Die  Wollweberei 
und  der  Gewandschnitt  in  der  Stadt  Braunschweig  bis  zum  Jahre  1671. 
(Wolfenbüttel,  Zwißler.  3  M.)  —  M  u  t  k  e  ,  Helmstedt  im  Mittelalter. 
(Wolfenbüttel,  Zwißler.  3  M.)  —  I  s  e  1  e  r  ,  Die  Entwicklung  eines 
öffentlichen  politischen  Lebens  in  Kurhessen  in  der  Zeit  von  1815 — 1848. 
(Berlin,  Ehering.  3  M.)  —  Urkunden  zur  Caminer  Bistumsgeschichte, 
auf  Grund  der  avignonesischen  Supplikenregister  herausgegeben  von 
Arth.  M  0  t  z  k  i.  (Stettin,  Saunier.  2  M.)  —  v.  Bulmerincq, 
Kämmerei-Register  der  Stadt  Riga  1348—1361  und  1405—1474.  2.  Bd. 
(München,   Duncker  &  Humblot.    17,20  M.) 

Vermischtes. 

Im  Interesse  der  von  der  Historischen  Kommission  bei  der  Kgl. 
Bayer.  Akademie  der  Wissenschaften  beschlossenen  Verzeichnung 
der  ungedruckten  süddeutschen  Handlungs  bücher  und 
verwandten  Akten  des  Mittelalters  und  des  16.  Jahrhunderts  bitten 
G.  V.  B  e  I  0  w  und  J.  S  t  r  i  e  d  e  r  die  Freunde  der  deutschen  Wirt- 
schafts- und  Handelsgeschichte,  möglichst  genaue  Angaben  über  ihnen 
bekannte   oder   aufstoßende   Handelspapiere   der  genannten   Art   an 


Vermischtes.  697 

Herrn  Privatdozenten  Dr.  Strieder,  Leipzig-Goiilis,  Kleiststr.  9, 
gelangen  zu  lassen.  Die  gesuchten  Archivalien  finden  sich  oft  als 
Beilagen  zu  Gerichtsakten. 

Aus  dem  (32.)  Jahresbericht  der  Gesellschaftfür  Rhei- 
nische Geschichtskunde  über  das  Jahr  1912  ist  hier  fol- 
gendes anzumerken.  Erschienen  ist:  Geschichtlicher  Atlas  der  Rhein- 
provinz. Erläuterungen,  5.  Bd.:  Die  beiden  Karten  der  kirchlichen 
Organisation,  1450  und  1610,  von  W.  Fabricius.  2.  Hälfte.  Die 
Trierer  und  Mainzer  Kirchenprovinz.  Die  protestantische  Kirchen- 
verfassung. Ferner  wurde  von  der  Kommission  für  die  Denkmäler- 
statistik der  Rheinprovinz  aus  Mitteln  des  Rheinischen  Provinzial- 
verbandes  veröffentlicht:  Die  Kunstdenkmäler  der  Kreise  Aachen-Land 
und  Eupen,  bearbeitet  von  R  e  i  n  e  r  s.  Noch  in  diesem  Jahre  wird 
erscheinen  der  1.  Band  der  von  Au  bin  bearbeiteten  Kölner  Weis- 
tümer;  der  2.  Band  soll  im  nächsten  Jahre  unter  die  Presse  kommen. 
Die  von  Kötzschke  herausgegebenen  Werdener  Urbare  sollen  zu 
Ende  dieses  Jahres  im  Druck  vollendet  sein.  Von  den  Jülich-Bergischen 
Landtagsakten  steht  der  von  Goldschmidt  bearbeitete  Schluß- 
band der  1.  Reihe  im  Beginn  der  Drucklegung,  von  Band  1  der  2.  Reihe 
(1624 — 1653),  den  Küch  bearbeitet,  sind  24  Bogen  gedruckt.  Von 
dem  Geschichtlichen  Atlas  der  Rheinprovinz  ist  der  Text  des  6.  Er- 
läuterungsbandes (der  vordere  Nahegau  mit  Kreuznach)  fertig  gedruckt. 
Der  Druckabschluß  des  Textbandes  der  Romanischen  Wandmalereien 
(Giemen)  steht  nahe  bevor,  desgleichen  das  Erscheinen  des  von 
T  h  i  m  m  e  besorgten  7.  (Schluß-)Bandes  von  Sauerlands  Vatika- 
nischen Urkunden  und  Regesten  zur  Geschichte  der  Rheinlande  und 
Teil  2  des  2.  Bandes  der  Jülich-Bergischen  Kirchenpolitik  am  Ausgang 
des  Mittelalters  und  in  der  Reformationszeit  (Redlich).  K  u  s  k  e  s 
Quellen  zur  Geschichte  des  Kölner  Handels  und  Verkehrs  bis  zum 
Jahre  1500  sollen  1914  erscheinen,  die  Fortführung  dieses  Werkes  bis 
zum  Jahre  1650  hat  T  h  i  m  m  e  übernommen.  Mit  der  Bearbeitung 
von  Quellen  zur  Geschichte  der  Aufklärung  am  Rhein  im  18.  Jahr- 
hundert ist  Dr.  B  e  y  e  r  h  a  u  s  in  Bonn  unter  v.  Bezolds  Leitung 
beauftragt  worden,  Gutachten  und  verwandte  Aktenstücke  über  die 
Tätigkeit  der  Immediat-Justiz-Kommission  für  die  preußischen  Rhein- 
provinzen, 1816—1818,  wird  E.  Landsberg  bearbeiten.  Dem 
Jahresbericht  ist  von  der  durch  K  r  u  d  e  w  i  g  bearbeiteten  Übersicht 
über  den  Inhalt  der  kleineren  Archive  der  Rheinprovinz  das  3.  Helt 
des  4.  Bandes,  das  den  Kreis  Wittlich  enthält,  beigegeben. 

Die  Württembergische  Kommission  für  Lan- 
desgeschichte hat,  wie  ihre  Mitteilungen  berichten,  1912  ver- 
öffentlicht: Rapp,  Urkundenbuch  der  Stadt  Stuttgart;  Geschichte 
Historische  Zeitschrift  (111.  Bd.)  3.  Folge  15.  Bd.  45 


698  Notizen  und  Nachrichten. 

des  humanistischen  Schulwesens  I;  Steiff-iVlehring,  Geschicht- 
ilche  Lieder  und  Sprüche  (Schluß);  Binder-Ebner,  Münzen- 
und  JMedaillenkunde  II,  1;  Schnurre-Niebour,  Die  württem- 
bergischen Abgeordneten  zur  Frankfurter  Nationalversammlung; 
Wülk-Funk,  Die  Kirchenpolitik  der  Grafen  von  Württemberg; 
Archivinventare  2  (Ravensburg  —  Saulgau),  3  (Künzelsau),  4  (Back- 
nang—  Besigheim  —  Cannstatt),  5  (JVlergentheim),  6  (JVlarbach);  von 
Rauch,  Heilbronner  Urkundenbuch  II;  Ohr-Kober,  Württ. 
Landtagsakten  I,  1,  Im  Druck  sind:  Hauber,  Heiligkreuztaler 
Urkundenbuch  II;  Günter,  Briefe  und  Akten  Gerwig  Blarers  I; 
Merkle,  Entwicklung  des  Rottweiler  Herrschaftsgebiets;  Archiv- 
inventare 7  (JVIaulbronn  —  Brackenheim).  Druckfertig  sind:  Wint- 
terlin,  Ländliche  Rechtsquellen  II;  v.  Rauch,  Heilbronner 
Urkundenbuch  III;  M  ü  1 1  e  r  ,  Oberschwäbische  Stadtrechte  I;  Archiv- 
inventare: Gerabronn,  Ellwangen,  Neresheim,  Vaihingen,  Tübingen, 
Rottenburg,  Balingen,  Calw,  Freudenstadt,  Oberndorf,  Spaichingen, 
Waldsee,  Laupheim,  Tettnang,  Wangen,  Biberach.  In  Aussicht  ge- 
nommen sind:  Ernst,  Briefwechsel  des  Herzogs  Christoph  V  und  VI; 
Schäfer,  Minoriten  in  Württemberg;  List,  Politische  Korrespon- 
denz des  Königs  Friedrich;  Geschichte  des  württembergischen  Volks- 
schulwesens. Neu  beschlossen  wurde:  AI  brecht.  Die  Triaspolitik 
des  Freiherrn  v.  Wangenheim;  Hutter,  Das  Herrschaftsgebiet  des 
Klosters  Ellwangen;  Z  e  1 1  e  r  ,  Verzeichnis  der  Kirchenheiligen  Würt- 
tembergs mit  Angabe  des  ersten  Vorkommens;  P  i  s  c  h  e  k  ,  Die  würt- 
tembergischen Lagerbücher  des  14.  Jahrhunderts. 

Von  den  Unternehmungen  der  Historischen  Kommis- 
sion für  Hessen  und  Waldeck  stehen  die  1.  Lieferung  des 
Fuldaer  Urkundenbuchs  (Stengel)  und  der  2.  Band  der  Chroniken 
von  Hessen  und  Waldeck,  der  die  Klüppelsche  Chronik  (J  ü  r  g  e  s), 
die  Aufzeichnungen  von  Trygophorus  (L  e  i  ß)  und  die  Flechtorfer 
Chronik  (D  e  r  s  c  h)  enthält,  unmittelbar  vor  der  Ausgabe.  Von  den 
Klosterarchiven  ist  sowohl  der  von  Huyskens  bearbeitete  Band 
über  die  Werraklöster  wie  der  von  S  c  h  u  1 1  z  e  bearbeitete  über 
die  Kasseler  Klöster  bald  zu  erwarten,  desgleichen  von  den  Quellen 
zur  Rechts-  und  Verfassungsgeschichte  der  hessischen  Städte  der  von 
K  ü  c  h  vorbereitete  Band  über  Marburg.  Die  Arbeiten  für  das  Orts- 
lexikon hat  Reimer  wieder  aufgenomrnen. 

Die  Historische  Kommission  für  das  Groß- 
herzogtum Hessen  hat  ihre  5.  Hauptversammlung  am  14.  Juni 
1913  zu  Wimpfen  a.  N.  abgehalten.  Aus  der  Kommission  ausgeschieden 
sind  Haller  und  A.  B.  Schmidt,  neu  eingetreten  sind  Hübner,  Vogt 
und  Voltz.  Von  Glöckners  Bearbeitung  des  Codex  Laureshamensis 


Vermischtes.  699 

soll  ein  erster  (Text-)  Band  mit  Einleitung,  Anmerkungen  und  Re- 
gistern 1914  erscheinen,  desgleichen  der  von  Veit  bearbeitete  1.  Band 
der  Mainzer  Domkapitelprotokolle  (1450 — 1514),  dem  sich  der  1.  Halb- 
band des  von  Herrmann  bearbeiteten  2.  Bandes  sogleich  anschließen 
soll.  Das  1.  Heft  der  von  Haupt  herausgegebenen  Hessischen  Bio- 
graphien ist  erschienen,  das  2.  Heft  im  Drucke  fast  vollendet.  Das 
von  D  i  e  t  e  r  i  c  h  und  Esselborn  bearbeitete  Repertorium  der 
hessischen  Verordnungen  wird  gleichfalls  wohl  noch  in  diesem  Jahre 
beendet  werden.  Von  dem  historischen  Kartenwerk  der  Länder  am 
Mittelrhein,  zu  dem  sich  mit  der  Hessischen  Kommission  die  Kom- 
missionen von  Hessen  und  Waldeck,  Nassau  und  Frankfurt  und  die 
Gesellschaft  für  fränkische  Geschichte  zusammengetan  haben,  ist  die 
erste,  die  territorialen  Verhältnisse  von  1792  darstellende  Karte 
(1:250  000),  bearbeitet  von  Strecker,  im  nächsten  Jahre  zu  er- 
warten. Die  Herausgabe  der  historischen  Grundkarten  des  Groß- 
herzogtums Hessen  ist  von  der  Kommission  beschlossen  worden;  die 
Blätter  sollen  bis  zum  1.  April  vorliegen.  Von  den  Quellen  und  For- 
schungen zur  hessischen  Geschichte  liegt  der  1.  Band  (Vi  gen  er, 
Die  Mainzer  Dompropstei  im  14.  Jahrhundert;  Aufzeichnungen  über 
ihre  Besitzungen,  Rechte  und  Pflichten  aus  den  Jahren  1364 — 1367) 
vor,  als  2.  Band  werden  noch  1913  erscheinen  die  von  Bergsträßer 
herauszugebenden  „Lebenserinnerungen  des  hessischen  Staatsmanns 
Reinhard  Eigenbrodt  aus  den  Tagen  des  Frankfurter  und  Erfurter 
Parlaments  und  der  preußischen  Union  1848 — 1860",  als  3.  Band  wird 
voraussichtlich  Anfang  1914  erscheinen:  Stimming,  Die  Ent- 
stehung des  weltlichen  Territoriums  des  Mainzer  Erzbistums. 

Aus  dem  Bericht  der  Historischen  Landeskom- 
mission für  Steiermark  über  die  Jahre  1908 — 1912  teilen 
wir  folgendes  mit.  Veröffentlicht  wurden  in  der  Reihe  der  „Forschun- 
gen": V.  Mensi,  Geschichte  der  direkten  Steuern  in  Steiermark  bis 
zum  Regierungsantritte  Maria  Theresias.  I  und  U;  Meli,  Beiträge 
zur  Geschichte  der  steirischen  Privaturkunde.  1.  Die  Zeit  der  Tradi- 
tionsbücher. 2.  Die  Besieglung  der  Privaturkunde  und  deren  recht- 
liche Bedeutung;  W  a  1 1  n  e  r  ,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Fischerei- 
wesens in  Steiermark  I;  Loserth,  Das  Kirchengut  in  Steiermark 
im  16.  und  17.  Jahrhundert.  Ferner  in  den  „Veröffentlichungen": 
Meli  und  Thiel,  Die  Urbare  und  urbarialen  Aufzeichnungen  des 
landesfürstlichen  Kammergutes  in  Steiermark;  Loserth,  Das  Archiv 
des  Hauses  Stubenberg  (Supplement).  Das  Archiv  Gutenberg;  Thiel, 
Zur  Geschichte  des  steiermärkischen  Statthaltereiarchivs.  Die  Be- 
arbeitung des  3.  Bandes  der  „Geschichte  der  direkten  Steuern  in 
Steiermark  bis  zum  Regierungsantritte  Maria  Theresias"  durch 
V.  Mensi   dürfte  voraussichtlich    bis  Ende  des  Jahres   1913   abge- 

45* 


700  Notizen  und  Nachrichten. 

schlössen  werden.  Auch  die  von  Meli  und  Pirchegger  heraus- 
zugebende Sammlung  der  „Steirischen  Landgerichts-  und  Burgfrieds- 
beschreibungen" soll  1913  erscheinen,  als  Heft  28  der  „Veröffent- 
lichungen". Thiel,  „Regesten  zur  Geschichte  des  landesfürstlichen 
Behördenwesens  in  Steiermark",  1.  Teil,  liegt  druckfertig  vor,  des- 
gleichen W  a  1 1  n  e  r  ,  „Beiträge  zur  Geschichte  des  Fischereiwesens 
in  der  Steiermark",  2.  Teil  „Das  Gebiet  der  Mur".  Durch  Dr.  Viktor 
Ritter  v.  G  e  r  a  m  b  wurden  46  größere  Herrschafts-  und  Familien- 
archive geordnet  und  inventarisiert. 

Georg  E  r  1  e  r  in  Münster  (geb.  1850)  ist  am  30.  Juni  gestorben. 
Wir  erinnern  an  seine  verdienstvollen  Schriften  über  Dietrich  von 
Nieheim  und  an  seine  Bearbeitung  der  Matrikeln  der  Universitäten 
Leipzig  und  Königsberg. 


D 
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H7A 

Bd. 111 


Historische  Zeitschrilt 


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