Univ.of
fi:l''M^
Library
Historische Zeitsclirift
Begründet von Heinrich v. Sybel
Unter Mitwirkung von
Paul Bailleu, Georg von Below, Otto Hintze,
Otto Krauske, Max Lenz, Eridi Mardcs, Sigmund Riezler,
Moriz Ritter, Karl Zeumer
herausgegeben von
Friedrich Meinecke
Der ganzen Reihe 111. Band
Dritte Folge — 15. Band
München und Berlin 1913
Druck und Verlag von R. Oldenbourg
D
I
INHALT.
Aufsätze. Seite
Studien zur Entwicklung und Bedeutung der universalgesciiichtlichen An-
schauung. H. Von J. Kaerst 253
Die Volkszahl als Faktor und Gradmesser der historischen Entwicklung. Von
Karl Julius Beloch 321
Die Gesetze des Oaius Gracchus. Von Walter Judeich 473
Lombardische Chronisten des 13. Jahrhunderts. Von Alfred Dove .... 1
Staindel-Funde. Von Paul Lehmann 15
Gallikanismus und episkopalistische Strömungen im deutschen Katholizismus
zwischen Tridentinum und Vaticanum. Studien zur Geschichte der
Lehre von dem Universalepiskopat und der Unfehlbarkeit des Papstes.
Von Fritz Vigener 495
Kurfürst Maximilian Emanuel von Baiern und die schweizerische Eidge-
nossenschaft in den Jahren 1702 und 1703. Von Gerold Meyer
von Knonau 41
Zur Beurteilung Rankes. Von Friedrich Meinecke 582
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. Von Karl Theodor Heigel ... 54
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. Von Karl Alexander v. Müller 89
Miszellen.
Zur neuesten Literatur über die Aufgaben der Genealogie. Von Fritz Kern 600
Die ältesten Formen der slawischen Siedlung. Von Erich Missalek . . . 610
Zu Noel Valois, Le Pape et le Concile. (Entgegnung von N. Valois; Schluß-
wort von J. Hai 1er) 338
Radowitz de se ipso. Von Friedrich Meinecke 151
Literaturbericht.
Seite
Allgemeines:
Geschichtsphilosophie . 137, 615
Staatslehre 617
Gesammelte Schriften .... 349
Jahresberichte 141
Hilfswissenschaften (Paläographie) . 358
Mittelalter:
Fränkische Immunität .... 359
Städtegeschichte .... 149. 363ff.
Kirchen- und Papstgeschichte
146. 620ff.
Ausgehendes Mittelalter . . 374ff.
Reformationszeit . . . 152. 384. 625
Gegenreformation (Jesuiten) . . . 390
17. und 18. Jahrhundert:
Der Große Kurfürst 154
Der Deutsche Reichstag . . . 392
Aufklärung (Nicolai) 156
Napoleonische Zeit . . . 158. 627
Seite
19. Jahrhundert (Zollverein; 1848)
159. 394
Allgemeine Verfassungsgeschichte . 162
Kirchengeschichte 630. 396
Deutsche Landschaften:
Nürnberger Buchhandel .... 397
Frankfurt a. M 635
Nieder- und Mittelrhein .... 401
Paderborn 166
Friesland 168ff.
Mecklenburg 171. 641
Brandenburg 173
Deutschorden 174
Österreich 176ff.
Schweiz 179
Frankreich 182ff.
England 187
Spanien 188
Asien (Iran; Juden in Arabien) . 189ff.
Amerika 195
IV
Inhalt.
Alphabetisches Verzeichnis der besprochenen
Schriften.
(Enthält auch die in den Aufsätzen und den Notizen und Nachrichten besprochenen
selbständigen Schriften.)
Seite
Marie Albrecht, Mirabeau und die
Erklärung der Menschenrechte . 676
Allen, Forum Conche. Fuero de
Cuenca 188
An er, Der Aufklärer Friedrich Ni-
colai 156
Archiv Cesk^^. Bd. 28 463
Aubin, Die Verwaltungsorganisa-
tion des Fürstbistums Paderborn
im Mittelalter 166
Recueil des Instructions donnfees aux
ambassadeurs et ministres de
France depuis les trait6s de West-
phalie jusqu'ä la rövolution fran-
^aise. Bd. 18: Didte germanique,
avec une introduction et des notes
par B. Auerbach 392
Bahre, Handel und Verkehr der
Deutschen Hanse in Flandern
während des 14. Jahrhunderts . 371
Berliner geschriebene Zeitungen aus
dem Jahre 1740. Hrsg. von R.
Wolff 675
Bernheim, Staatsbürgerkunde . . 409
de Berzeviczy, B6atrice d'Aragon,
reine de Hongrie 374
Beschreibung des Oberamts Mün-
singen 458
Beschreibung des Oberamts Urach 458
Beuzart, Les h6r6sies pendant le
moyen äge et la rfeforme dans la
r6gion de Douai 429
Bier mann, Aus Karl Georgs Win-
kelblechs (Karl Marios) litera-
rischem Nachlaß 200
Bismarck, Gedanken und Erinne-
rungen. Neue Ausgabe von
Kohl 201
Blasel, Geschichte von Kirche und
Kloster St. Adalbert zu Breslau 249
Bloch, Mecklenburg zu Beginn der
Freiheitskriege 449
H. Boehmer, Die Jesuiten. Eine
historische Skizze. 3. Aufl. . . 670
Bratli, Philippe II, Roi d'Espagne 438
Bredt s. Carlyle.
Briefwechsel der Brüder Ambrosius
und Thomas Blaurer 1509 — 1567.
Herausgegeben von der Badi-
schen Historischen Kommission,
bearbeiet von Schieß . . . . 625
Briefwechsel des Ubbo Emmius.
Hrsg. von Brugmans und
Wächter 170
Brinkmann, Wustrau, Wirtschafts-
und Verfassungsgeschichte eines
brandenburgischen Rittergutes . 173
Brugmans s. Briefwechsel.
Bryce and Ward, International
Congress of Historical Studies.
London 1913 407
Buchegger, Verfassung und Ver-
waltung der Stadt Konstanz im
18. Jahrhundert 457
Seite
Carlyle, Frühe Könige von Nor-
wegen. Übersetzt von Bredt . 656
Ca ron, Manuel Pratiquepourl'6tude
de la Revolution Fran^aise . . 232
A. Cartellieri, Philipp II. August
und der Zusammenbruch des
angevinischen Reiches .... 657
O. Cartellieri, Beiträge zur Ge-
schichte der Herzöge von Bur-
gund 427
Chateaubrun, Notice sur le Comte
Stanislas de Clermont-Tonnerre 233
Mc. Clellan, Smuggling in the Ame-
rican Colonies 443
Clemen s. Luther.
Correspondance du comte de La
Forest (publ. Grandmaison) . 236
Croon, Die landständische Verfas-
sung von Schweidnitz-Jauer . . 248
Curschmann, Die Landeseinteilung
Pommerns im Mittelalter und die
Verwaltungseinteilung der Neu-
zeit 247
Daudet, A travers trois sifecles . 673
Deermann, Ländliche Siedelungs-,
Verfassungs- und Wirtschafts-
geschichte des Venkigaus und der
späteren Niedergrafschaft Lingen 459
Delachenal, Histoire de Charles V.
Bd. 1 u. 2 182
Devrient, Familienforschung . . 600
Dictionnaire d'histoire et de g6o-
graphie eccl6siastiques. Lfg. 6 — 8 646
Dierauer, Geschichte der schwei-
zerischen Eidgenossenschaft.
Bd. 1, 2. Aufl 455
Diether, Leopold v. Ranke als
Politiker 582
V. Dobschütz, Das Decretum Ge-
lasianum de libris recipiendis et
non recipiendis in kritischem
Text herausgegeben und unter-
sucht 414
Dont, Der heraldische Schmuck der
Kirche des Wiener Versorgungs-
heims 648
Dorfeid, Untersuchungen zu Gott-
fried Hagens Reimchronik der
Stadt Köln nebst Beiträgen zur
mittelripuarischen Grammatik . 662
Dragendorff , Westdeutschland zur
Römerzeit 207
Dürrwächter, Jakob Gretser und
seine Dramen 671
V. Dungern, Die Entstehung der
Landeshoheit in Österreich . . 176
Egelhaaf, Politische Jahresüber-
sicht für 1912 687
V. Egloffstein, Ein Sohn des
Frankenlandes in großer Zeit . 452
Enactments in Parliament specially
concerning the Universities of
Oxford and Cambridge. Ed. by
Shadwell 662
Inhalt.
Seite
Engel, Repertorium des Stadt-
archivs Colmar. 1. Lfg 244
Fayen, Lettres de Jean XXII.
Tome II 218
Fehling, Die europäisciie Politik
des Großen Kurfürsten 1667 bis
1688 154
Fehling s. Urkunden.
H. Fisher, Napoleon 678
V. Freytag-Loringhoven, Die
Führung in den neuesten Kriegen.
1. Heft: Das russische Oberkom-
mando in der europäischen Tür-
kei im Kriege 1877—1878 . . 241
Fries, Lehre vom Staat bei den
protestantischen Gottesgelehrten
Deutschlands und der Niederlande
in der zweiten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts 617
Fürstenwärther, Kaiser Maximi-
lian von Mexiko 684
Gaertner, Der Kampf um den
Zollverein zwischen Österreich
und Preußen von 1849 — 1853 . 159
Gallavresi s. Manzoni.
Gedichte des Archipoeta, hrsg. von
Manitius 420
G^rardot, Die Optionsfrage in
Elsaß-Lothringen 457
Ghetti, Storia politico-nazionale
d'Italia della fine dell' impero
romano occidentale fino ai nostri
giorni. Bd. 3 429
Götze, Die altthüringischen Funde
von Weimar 207
Gold mann, Der andelang . . . .417
Gooß, österreichische Staatsver-
träge. Fürstentum Siebenbürgen 178
Grandmaison s. Correspondance.
Greven, Die Anfänge der Beginen 620
Günzel, österreichische und preu-
ßische Städteverwaltung in Schle-
sien während der Zeit von 1648
bis 1809, dargestellt am Beispiel
der Stadt Striegau 461
Hampe, Ein ungedruckter Bericht
über das Konklave von 1241 . 216
Härtung, Karl V. und die deut-
schen Reichsstände von 1546 bis
1555 384
Hatzig, Justus Moser als Staats-
mann und Publizist 675
Hauffen, Geschichte, Art und
Sprache des deutschen Volks-
liedes in Böhmen 462
Hauß, Kardinal Oktavian Ubaldini,
ein Staatsmann des 13. Jahr-
hunderts 424
Heisenberg, Der Philhellenismus
einst und jetzt 409
Hecker, Religion und Politik in
den letzten Lebensjahren Herzog
Georgs des Bärtigen von Sachsen 435
Hennequin, Zürich, Massena en
Suisse 179
Hermelink, Handbuch der Kir-
chengeschichte, Bd. 3: Reforma-
tion und Gegenreformation . . 221
Herre, Hofmeister, Stube,
Quellenkunde zur Weltgeschichte 645
Hofmeister s. Herre.
Seite
Holder-Egger s. Monumenta Ger-
maniae.
Huisman, La juridiction de la
municipalit6 Parisienne de Saint
Louis k Charles VII 184
Innes, Source Book of English
History for the use of schools . 199
Ireland, Life of Sir Henry Vane
the Younger 187
Jahn, Die Kanzlei der Stadt Zerbst
bis zum Jahre 1500 648
Jahresberichte der Geschichtswissen-
schaft. 30. bis 33. Jahrg. ... 141
Jegel, Die landständische Verfassung
in den ehemaligen Fürstentümern
Ansbach-Bayreuth 690
Jörgensen, Fremmed Indflydelse
underden Danske Kirkes tidligste
Udvikling 655
— , Studier over danske middelalder-
lige Bogsamlinger 656
Johnson, The swedish Settlements
on the Delaware 195
Jülicher, Ein Blatt aus der Ge-
schichte des Kampfes um die
Freiheit der Geister im 16. und
17. Jahrhundert 669
Karmin, La question du sei pen-
dant la rfevolution 677
Käser, Deutsche Geschichte im
Ausgang des Mittelalters (1438
bis 1519). Bd. 2 376
Katalog der Nürnberger Stadtbiblio-
thek. 2. Bd 648
Kircheisen, Napoleon I. Bd. 1 . 158
Klaje, Bilder aus Pommern . . . 449
Klee, Eines deutschen Hauslehrers
Pilgerschaft durch Land und
Leben (1792—1818), hrsg. von
v. Stachelberg u. Stillmach 448
Kleemann, Papst Gregor VIII. . 214
Köhler, Idee und Persönlichkeit
in der Kirchengeschichte ... 137
Koepp, Das Verhältnis der Mehr-
werttheorien von Karl Marx und
Thomas Hodgskin 200
Kötzschke, Quellen zur Geschichte
der ostdeutschen Kolonisation
im 12.— 14. Jahrhundert ... 657
Kohl s. Bismarck.
Kossinna, Die deutsche Vorge-
schichte eine hervorragend na-
tionale Wissenschaft 206
Krammer, Quellen zur Geschichte
der deutschen Königswahl und
des Kurfürstenkollegs 211
Krauß, 1805. Der Feldzug von
Ulm 627
Kuberka, über das Wesen der po-
litischen Systeme in der Ge-
schichte 615
Die Kultur der Gegenwart. Teil II,
Abt, II, 1: Allgemeine Verfas-
sungs- und Verwaltungsgeschichte
1. Hälfte 162
Kurth, La cit6 de Liöge au moyen
äge 363
Landsberg, Der Geist der Gesetz-
gebung in Deutschland und
Preußen 1888—1913 686
VI
Inhalt.
Seite
Langhäuser, Das Militärkirchen-
wesen im kurbrandenburgischen
und königlich preußischen Heere 440
Latouche, Histoire du comt6 du
Maine pendant le X» et le XI*
siecle 212
Laubert, Die schlesische Landwehr
im Befreiungskriege 449
Lauer, Robert 1*' et Raoul de Bour-
gogne, rois de France . . . .418
Le Lay, Histoire de la vilie et com-
munaute de Pontivy au XV 111«
siecle 184
Lea, Geschichte der Spanischen In-
quisition, deutsch bearbeitet von
Müllendorff. Bd. 1 667
Learned, Guide to the manuscript
materials relating to American
history in the German State
Archives 410
Lehr, La rfeforme et les 6glises re-
form^es dans le departement
actuel d'Eure-et-Loir 223
Leitzmann s. Luther.
L e sq u i e r , Les institutions militaires
de l'Egypte sous les Lagides par
Jean 411
Leszynsky, Die Juden in Arabien
zur Zeit Mohammeds 192
Lewin, Luthers Stellung zu den
Juden 432
Liebmann, Deutsches Land und
Volk nach italienischen Bericht-
erstattern der Reformationszeit. 436
Loersch und Schröder, Urkunden
zur Geschichte des deutschen
Privatrechtes. 3. A. von Pereis 209
Löwe, Bücherkunde der deutschen
Geschichte. 4. Aufl 646
Lucerna, Die letzte Kaiserin von
Trapezunt in der südslavischen
Dichtung 220
Luckwaldt, Der Geist von 1813 449
Lundgreen, Wilhelm von Tyrus
und der Templerorden .... 146
Luthers Werke in Auswahl, unter
Mitwirkung von Leitzmann
hrsg. von Giemen. Bd. 3 . . 431
de Magistris, Studi critici per
nozze Neri-Geriazzo 430
Magruder, Recent administration
in Virginia 242
Maier, Briefe von D. Fr. Strauß an
L. Georgii 238
Manitius s. Gedichte.
Mansuy , Le monde Slave et les clas-
siques frangais aux XVI"— XVll'
sifecles 671
Manzoni, Carteggio, a cura di
Sforza e Gallavresi 235
Mathieu, Histoire de Tülle . . . 200
Mecklenburgisches Urkundenbuch.
Bd. 23 171
Mehring s. Steiff.
Meinecke, Weltbürgertum und
Nationalstaat. 2. Aufl 582
A. Menzel, Naturrecht und Sozio-
logie 198
Mollat, Les Papes d'Avignon (1305
bis 1378) 621
Seite
Monumenta Germaniae, Scriptor.
t. 31 u. 32 (Chronica fratris
Salimbene de Adam ed. Holder-
Egger) 1
Müllendorff s. Lea.
A. V. Müller, Luthers theologische
Quellen 152
K- O. M ü 1 1 e r , Die oberschwäbischen
Reichsstädte 149
Nachmanson, Historische attische
Inschriften 649
Nistor, Handel und Wandel in der
Moldau bis zum Ende des
16. Jahrhunderts 215
Norbert, Friedrichs des Großen
Rheinsberger Jahre 231
Oldenbourg, Die Endter. Eine
Nürnberger Buchhändlerfamilie
(1590—1740) 397
Pereire, Autour de Saint-Simon.
Documents originaux 681
Pereis s. Loersch.
Pistorius, Beiträge zur Geschichte
von Lesbos im 4. Jahrhundert
V. Chr 649
Prutz, Jacques Coeur van Bourges 219
Püschel, Das Anwachsen der deut-
schen Städte in der Zeit der mit-
telalterlichen Kolonialbewegung 365
Rachel, Handels-, Zoll- und Akzise-
politik Brandenburg-Preußens
bis 1713 229
Rambaud, L'assistance publique ä
Poitiers jusqu'ä l'an V . . . . 666
Reimers, Edzard der Große . . 168
Rein, Sir John Robert Seeley . 201
Riehl, Die deutsche Arbeit ... 199
Rothacker, Über die Möglichkeit
und den Ertrag einer genetischen
Geschichtschreibung im Sinne
K. Lamprechts 644
Rupertsberger, Ebelsberg Einst
und Jetzt 250
Saulnier, Le röle politique du car-
dinal de Bourbon (Charles X)
1523—1590 228
Schäfer, Feier der Kgl. Friedrich-
Wilhelms-Universität zu Berlin
am 9. Februar 1913 232
Scheiber, Die Septembermorde
und Danton 445
Schieß s. Briefwechsel.
Schiller, Bürgerschaft und Geist-
lichkeit in Goslar 1290—1365 . 218
Schirren, Charaktere und Mensch-
heitsprobleme 202
Schlecht, Monumentale Inschriften
im Freisinger Dom 689
Schlieffen, Friedrich der Große . 230
Schöne, Die Anfänge des Dresdner
Zeitungswesens im 18. Jahrhun-
dert 460
Schröder s. Loersch.
Schröter, Der Nymphenburger
Vertrag 440
Schuster s. Jahresberichte.
Schwartz, Kaiser Constantin und
die christliche Kirche 630
Schwarz, Iran im Mittelalter nach
den arabischen Geographen. II. 189
Inhalt.
Vll
Seite
Schwarze, Beiträge zur Geschichte
altrömischer Agrarprobleme . . 205
Schwemer, Geschichte der Freien
Stadt Frankfurt a. M. (1814 bis
1866). Bd. 1 u. 2 635
Seiler, Der gemeine Pfennig eine
Vermögensabgabe vor 500 Jahren 428
Seton-Watson,The Southern Slav
Question and the Habsburg
Monarchy 451
Sforza s. Manzoni.
Shadwell s. Enactments.
Smith, The Life and Letters of
Martin Luther 431
V. Stachelberg s. Klee.
Steiffund Mehring, Geschichtliche
Lieder und Sprüche Württem-
bergs 458
Stillmach s. Klee.
Stephan, Handbuch der Kirchen-
geschichte für Studierende. 4.
Die Neuzeit 396
Stout, The governors of Moesia . 205
Straub, Die Schiffahrt auf dem
Oberrhein im Mittelalter . . . 244
Stube s. Herre.
Tarrasch, Übergang des Fürsten-
tums Ansbach an Bayern . . . 245
Techen, Das älteste Wismarsche
Stadtbuch von etwa 1250—1272 641
Th u d i c h u m, Geschichte der Reichs-
stadt Rottweil und des kaiser-
lichen Hofgerichts daselbst . . 244
Tomagic, Fundamenta iuris publici
regni Croatiae 213
Urkunden und Aktenstücke zur Ge-
schichte des Kurfürsten Fried-
rich Wilhelm von Brandenburg.
20. Bd.: Auswärtige Akten IV
(Frankreich) 1667—1688. Hrsg.
von Fehling 154
Del Vecchio, 11 fenomeno della
guerra e l'idea della pace ... 198
Veith, Cäsar 205
Veress, Epistolae et acta Jesuita-
rum Transylvaniae temporibus
principum Bäthory (1571 — 1613)
1 390
Voigt, Die sog. Ilmenauische Em-
pörung von 1768 460
Voll heim. Die provisorische Ver-
waltung am Nieder- und Mittel-
rhein während der Jahre 1814
bis 1816 401
Wächter s. Briefwechsel.
Wagner, Untersuchungen über die
Standesverhältnisse elsässischer
Klöster 456
Wahl, Die Ideen von 1813 ... 680
Wappler, Die Stellung Kursachsens
und des Landgrafen Philipp von
Hessen zur Täuferbewegung . . 224
Ward s. Bryce.
Wegeleben, Die Rangordnung der
römischen Centurionen .... 650
Weill, La France sous la monarchie
constitutionnelle (1814 — 1848).
Nouvelle edition 681
Wendt, Die Breslauer Eingemein-
dungen 695
Wentzcke, Kritische Bibliographie
der Flugschriften zur deutschen
Verfassungsfrage 1848 — 1851 . 394
Werminghoff, Der Deutsche Orden
und die Stände in Preußen bis
zum zweiten Thorner Frieden im
Jahre 1466 694
Wertheimer, Der Herzog von
Reichstadt. 2. A 682
V. Westenholz, Kardinal Rainer
von Viterbo 659
Wille, August Graf von Limburg-
Stirum, Fürstbischof von Speyer 246
V. Winterfeld, Das kurrheinische
Bündniswesen 665
Wirth, Geschichte der Türken . . 200
Wolff s. Berliner.
Zeumer, Quellensammlung zur Ge-
schichte der deutschen Reichs-
verfassung in Mittelalter und
Neuzeit. 2. Aufl 418
Ziesemer, Das Ausgabenbuch des
Marienburger Hauskomturs für
die Jahre 1410—1420 174
Notizen und Nachrichten. seite
Allgemeines 197. 406. 644
Alte Geschichte 203. 411. 649
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250. . . . 206. 415. 654
Späteres Mittelalter (1250—1500) 217. 425. 662
Reformation und Gegenreformation (1500—1648) 221. 429. 668
1648-1789 229. 439. 674
Neuere Geschichte seit 1789 232. 444. 676
Deutsche Landschaften 244. 455. 689
Vermischtes 252. 464. 696
Berichtigung 252
Berichtigung und Erwiderung 472
Lombardisdie Chronisten des 13. Jahr-
hunderts.
Von
Alfred Dove.
Monumenta Germaniae Historica. Scriptorum Tomus XXXI (Han-
nover, Hahn. 1903, pag. I— VIII. 1—776. 4°, mit 10 Tafeln);
Tomus XXXII = Cronica fratris Salimbene de Adam or-
dinis Minorum edidit Oswaldus Holder-Egger. (1905
— 1913, pag. I— XXXII. 1-755. 4°, mit 6 Tafeln).
Am 1. November 1911 starb sechzigjährig Oswald Holder-
Egger. Wieviel die Monumenta Germaniae an ihm verloren
haben, bezeugt der liebevolle Nachruf, den ihm Karl Zeumer
im 37. Bande des Neuen Archivs zum Gedächtnis gestiftet
hat. Das Meisterstück seiner wissenschaftlichen Herausgebe-
kunst, für das er seit 1884 geforscht und geschafft, die voll-
ständige Edition der Chronik Fra Salimbenes von Parma,
des persönlich lebendigsten unter allen historischen Erzählern
des Mittelalters, ist nun doch leider im strengen Sinn un-
vollendet geblieben. Text und Noten zwar liegen zur einen
Hälfte seit 1905, zur anderen samt allen Registern seit 1907
dem Publikum vor; noch immer jedoch stand die das Werk
einleitende Vorrede aus. Um sie an ihrer Stelle knapper
und eindringlicher gestalten zu können, begann der Heraus-
geber, anderenorts ausführliche biographische Darlegungen
vorauszuschicken — da hat ihn mitten in dieser letzten
Hilfsarbeit sein Geschick ereilt. Im Auftrage der Zentral-
direktion der Monumenta hat dann Bernhard Schmeidler
die fehlende Praefatio übersichtlich abgefaßt, meist in An-
lehnung an die hie und da niedergelegten Ergebnisse Holder-
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 1
2 Alfred Dove,
Eggers, und so dem 32. Bande der Scriptores wohltätig zum
sehnlich erwarteten Abschluß verholten. Wir begrüßen ihn
heute zugleich mit dem zehn Jahr älteren 31.; denn beide
gehören nach Plan und Ausführung aufs engste zusammen.
Der Inhalt des 31. Bandes gruppiert sich um die Chronik
Bischof Sicards von Cremona und die Doppelchronik des
Notars zu Reggio, Albert Milioli. Die erste bildete für Salim-
bene die vornehmste Grundlage der Anfänge seines eigenen
Werks, mit der anderen steht dasselbe sogar im eigentüm-
lichsten Wechsel Verhältnis; beide, seit Muratoris entstellen-
den Ausgaben teilweise bekannt, erhalten erst jetzt voll-
kommene kritische Beleuchtung. Stellt ihre Edition ge-
wissermaßen ein Vorspiel zu der Salimbenes dar, so ver-
dient übrigens Sicard auch an sich unsere volle Teilnahme;
Holder-Egger verbreitet sich über sein Leben auf 38 Quart-
seiten, auf 19 über sein Buch, die erste mittelalterliche
Weltgeschichte auf italienischem Boden, von dürftigen Papst-
und Kaiserkatalogen abgesehen. Cremonese aus dem Hause
Casalaschi — ein Name, der vielleicht Casale Monferrato
als ursprüngliche Heimat bezeichnet — , geboren in der
Frühzeit Barbarossas, ward er 1185 Bischof seiner Vater-
stadt und starb 1215. Eine gediegene, beiderseits einleuch-
tende Persönlichkeit, frommer Geistlicher und staufischer
Reichspatriot; als Bischof und Graf von Cremona uner-
müdlich auf dessen Wohl bedacht, mag er ihm nun Reliquien
und neue Heilige verschaffen, oder seine Rechte und An-
sprüche diplomatisch verfechten, Kastelle zu seinem Schutz
anlegen, seine Parteien als Schiedsrichter vergleichen, seine
Privilegien und Urkunden in dem noch heute vorhandenen
Codex Sicardi sammeln usf. Die Päpste, besonders Inno-
zenz III., der ihn hochschätzte, haben ihn auch vielfach zu
auswärtigen Geschäften verwendet, zumal solchen von ver-
mittelnder Natur. Als Innozenz sich gegen König Philipp
kehrte, nahm Sicard 1202 zugleich mit Markgraf Bonifaz
von Montferrat das Kreuz und brachte drei Jahre in Nord-
syrien, dem zilizischen Armenien, zuletzt im eroberten
griechischen Reiche zu, wiederum amtlich mit kirchlich
politischen Aufträgen betraut. Er machte dabei am Bos-
porus so viel Eindruck, daß man ihn 1211 von Konstan-
Lombardische Chronisten des 13. Jahrhunderts. 3
tinopel aus zum Patriarchen postulierte. 1212 hat er noch
als apostolischer Legat den jungen Gegenkönig Friedrich IL
sicher aus der Lombardei in die Alpen geleitet; im folgenden
Jahre verfiel er in zunehmende Krankheit, die seinem prak-
tischen Wirken ein Ziel setzte. Er besaß eine namhafte
Bildung und literarisches Talent. Ein sinnreiches, schwung-
voll geschriebenes Lehrbuch des Gottesdienstes, das er
Mitrale nannte, vermachte er seinem Dom.
Nach mythologischen Versuchen seiner Jugend erkannte
Sicard in reifen Jahren die Aufgabe einer kurzen, zuver-
lässigen Welthistorie als dringend nötig. Sie hat er aus
umfassender Lektüre energisch zusammengedrängt, nicht
ohne stilistische Gewandtheit und einzelne individuelle Züge.
So vergißt er auch hier in dem unverhältnismäßig ausge-
sponnenen Leben Jesu nicht hervorzuheben, was er im Mi-
trale näher mit edlen Gründen belegt: man habe anzunehmen,
der Auferstandene sei zuerst der eigenen Mutter erschienen.
Und so bricht in dem leider lakonischen Bericht über die
neueste, selbsterlebte Zeit mehr als einmal sein lebhaftes
Mitgefühl aus: bei den großen Wendungen im Schicksal,
sei es Cremonas oder des hochverehrten Kaisers Friedrich;
unverkennbar auch der Blüte des Hauses der Markgrafen
von Montferrat, vor allem den Heldentaten Konrads gegen-
über. Das Werk war bis 1201, zur Gegenwart, gediehen,
aber noch lückenhaft und keineswegs eigentlich vollendet,
als der Verfasser 1202 als Kreuzfahrer in den Orient ging.
Allein sein Gehilfe nahm Abschrift davon, der man hernach
einige fortsetzende Bemerkungen des heimgekehrten Bi-
schofs selbst von 1202 — 1212 sowie fremde Zusätze bis
1222 hinzufügte. So bieten die Chronik die erhaltenen Hand-
schriften, die beste in München, und danach die sorgfältige
Ausgabe Holder-Eggers dar, der indes die alte Geschichte
bis zu dem Punkte weggelassen hat, wo einst Salimbene
sein Buch mit den Worten Sicards Ptolomeus Dionisius
begann. Das Merkwürdige aber ist, daß Salimbene nicht
bloß diese erste Auflage der Chronik Sicards besaß und be-
nutzte, sondern daneben eine zweite, erweiterte und ver-
besserte, die der Bischof gegen sein Ende im Ruhestande
ausarbeitete. Sie enthielt, von formellen Verfeinerungen
4 Alfred Dove,
abgesehen, als wichtigste Ergänzung eine orientalisch-byzan-
tinische Geschichte seit dem Anfang der Kreuzzüge, zu der
er die schriftlichen Vorlagen und die eigene Erfahrung und
Anschauung 1205 aus dem Osten mitgebracht hatte. Ins-
besondere tritt hier erst Konrad von Montferrat als rechte
Heldengestalt im einzelnen hervor, so daß die durch Salim-
bene erhaltene Erzählung Sicards zu den wertvollsten Quellen
dieser Heroengeschichte gehört. Sicard selbst scheint auch
diese Fassung seiner Chronik nicht ganz abgeschlossen und
in Umlauf gesetzt zu haben; wenigstens findet sich bei
Salimbene und aus ihm bei Albert Milioli deren einzige Spur,
indirekt steht also die Edition dieser beiden auch im Dienste
der Erkenntnis Sicards.
Wir übergehen einige Beigaben zu Sicard — Annalen
von Cremona, kleine Papst- und Kaiserchroniken römischen
Ursprungs, derengleichen er benutzte, usw. — und wenden
uns der unsäglich geringeren Figur eines Mannes zu, den
Graf Ippolito Malaguzzi-Valeri, Staatsarchivar zu Reggio
Emilia, später zu Mailand, paläographisch als Autor der
Doppelchronik ermittelt hat. Albert Milioli, Bürger von
Reggio, geboren um 1220, seines Zeichens kaiserlicher Pfalz-
notar, Kalligraph und Miniator von Übung, schon 1247
gelegentlich von der Kommune beschäftigt, ward seit der
guelfischen Umwälzung des Jahres 1265 in städtischen
Diensten mit umfassenden schriftlichen Arbeiten, Herstellung
neuer Statutenbände und Urkundenregister, betraut. Mitte
1273, wie es scheint aus parteipolitischen Gründen entlassen,
ergab er sich in dilettantischer Selbsttäuschung der lang-
wierigen Ausführung eines weltgeschichtlichen Kompendiums
seit Christi Geburt, des Liber de temporibus etc., das den
ersten größeren, ursprünglich allein beabsichtigten Teil des
später zur Doppelchronik ergänzten Werkes bildet. Holder-
Egger klagt, daß ihm unter allen Chroniken seit dem 8. Jahr-
hundert ein dermaßen rohes und einfältiges, geist- und
kenntnisloses Buch nicht vorgekommen sei. Über sein un-
grammatisches Latein beschwert sich, im Gegensatz zur
Sprache Sicards, schon aufs lebhafteste Salimbene. Weit
schlimmer noch ist Miliolis blöde Beschränktheit, seine ge-
dankenlose Unachtsamkeit, sein kindisches Ungeschick im
Lombardische Chronisten des 13. Jahrhunderts. 5
Kompilieren, von seinem historischen Stumpfsinn gar nicht
erst zu reden. Er sieht in der Geschichtschreibung ledigHch
eine Art chronologischer Registratur, und zwar ist es die
Reihenfolge der Päpste, die ihm zum obersten Prinzip der
Ordnung dient; er braucht dazu ein zu kanonistischen Lehr-
zwecken verfaßtes, historisch erbärmliches Breviar der
Papstgeschichte von dem juristischen Professor zu Bologna
Johannes de Deo, einem eitlen Portugiesen. Holder-Egger
hat dessen bisher unbekannte Cronica, die bis auf Gregor IX.
herabreicht, im nämlichen Bande besonders herausgegeben
und dabei seinem Ärger über deren völlige Nichtigkeit durch
einen hier schlecht angebrachten ironischen Seitenhieb auf
Ottokar Lorenz Luft gemacht.
Was nun Albert Milioli in dies sein chronologisches
Papstregister an kirchlich legendarischem und historisch
fabelhaftem Stoff aus meist bekannten Quellen wüst zu-
sammengetragen, hat Holder-Egger zwar geduldig auf seine
Herkunft untersucht, dagegen in seiner Ausgabe mit Recht
bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts nur in Auszügen mit-
geteilt. Von da an nämlich beginnt der historisierende Notar
mit der Überschrift Memoriale omnium potestatum, consulum
et rectorum civitatis Reginae etc. die einzig bedeutende Unter-
abteilung seines monströsen Werks, in welcher das univer-
sale Schema zwar durch die den einzelnen Päpsten gewid-
meten Kapitel fortgeführt wird, mehr und mehr aber die
nach der Beamtenfolge gegliederte Geschichte der Stadt
Reggio das Übergewicht erlangt. Milioli gründete diese auf
die offiziellen städtischen Annalen, von denen er während
seiner Dienstzeit auf dem Rathause bis 1273 Abschrift nahm.
Ihre dürftigen Anfänge suchte er durch Urkundenauszüge
aus dem Kommunalregister linkisch zu ergänzen; nach seiner
Entlassung war ihm das Original nicht mehr zugänglich,
und er mußte von 1273 — 1281 wohl oder übel eine eigene
Fortsetzung versuchen. Die echten Annalen finden sich im
14. Jahrhundert in dem zufällig gerade bis 1272 zerstörten
Chronicon Regiense Pietros della Gazzata inhaltlich wieder.
Wieviel an brauchbaren Nachrichten vornehmlich zur Ge-
schichte der lombardischen Kriege Friedrichs II. ihre älteren,
im Memoriale potestatum Miliohs vorliegenden Partien dar-
6 Alfred Dove,
bieten, ergab sich schon aus früheren Ausgaben seit Muratori;
wieviel deutHcher nun aus der monumentalen Edition!
Ganz besonderen Fleiß verwendet diese dabei auf Miliolis
ausgedehnte Erzählung über den Kampf um Damiette von
1218 — 1219; eine Episode, der trotz ihrer verwirrend un-
geschickten Komposition zum Teil ein erheblicher, aus origi-
naler Quelle entspringender Wert zukommt. Um diesen
vollkommen anschaulich zu machen, hat Holder-Egger auf
mehr als 70 Seiten eigene Ausgaben der Parallelberichte des
Johannes Codagnello, Johannes von Tolve und eines un-
genannten Schwaben zum kritischen Vergleiche beigegeben;
Röhrichts Publikationen zum fünften Kreuzzuge werden
dadurch im einzelnen wesentlich übertroffen.
Während Albert Milioli in notarieller Schönschrift, aber
mit geringem Verstand an dem heute in Modena bewahrten
stattlichen Kodex seines Zeitbuchs arbeitete, führte ihm
das Schicksal eine wichtige Bekanntschaft zu. Fra Salimbene
von Parma ward 1279 nach vielbewegtem Leben, 58 jährig,
in den Minoritenkonvent zu Reggio versetzt, wo er sechs
Jahre lang bis Mitte 1285 weilte. Was ihn in nahe Berührung
mit Milioli gebracht, an dem neben Einfalt und Heimatsinn
kirchliche, ja klerikale Haltung wohl bemerkbar ist, wer
will es sagen? Holder-Egger rät auf den Beichtstuhl.
Jedenfalls erregte dessen wilde Geschichtschreiberei seine
dringende Neugier; hatte er doch selbst als fruchtbarer
Schriftsteller unter anderem mindestens fünf sogenannter
Chroniken hinter sich. Er entlieh also von Milioli die fer-
tigen Lagen des Liber de temporibus; sehr möglich, daß
angesichts dieses Corpus delicti dem Selbstgefälligen erst
der Gedanke kam, einmal wieder zu zeigen, wie man es
besser machen müsse. Etwa 1282 begann er sein eigenes
neues Werk, dem er bis zum Jahre 1212 hauptsächlich
Sicards Chronik in zweiter Auflage zugrunde legte. Allein
schon seit 1167 — soweit es vorn überhaupt erhalten ist —
ist es zugleich mit zerstreuten Notizen aus Miliolis Zeitbuch
durchsetzt, aus dessen Holz dann allein von 1213 an, wo
Sicard aufhört, der gewandte Parmese das chronologische
Spalier für die üppigen Ranken seiner Denkwürdigkeiten
gezimmert hat. Dann aber dreht sich plötzlich das Ver-
Lombardische Chronisten des 13. Jahrhunderts. 7
hältnis um, der hurtige Minorit überflog den schwerfälligen
Notar: vom Jahr 1281 an, das er 1284 erreichte, speist
vielmehr Salimbenes Chronik fast ausschließlich den über-
wundenen Liber de temporibus. Ja darüber hinaus hilft
der Meister dem Stümper auch persönlich aus durch frei-
gebig für dessen Zwecke komponierte zeitgenössische Papst-
biographien u. dgl. Vor allem jedoch fand nach rückwärts
die reichlichste Vergeltung statt: mit Freuden entdeckte
Milioli in Salimbenes vollendeten ersten Bogen den Sicard
und anderes ihm unbekannte Material. Er schöpfte daraus
zunächst zahlreiche Randbemerkungen für sein Zeitbuch
und entschloß sich endlich, diesem, da es an Raum hierzu
gebrach, einen förmlichen Nachtragsband unter beständigen
Rückverweisungen ergänzend anzuhängen: dem papst-
chronologisch eingerichteten Liber de temporibus einen nach
Sicards Methode weltlich-monarchisch geordneten Liber
cronice imperatorum etc. Diese Cronica imperatorum, die
zweite kürzere Hauptabteilung der nunmehrigen Doppel-
chronik Albert Miliolis ist nichts anderes als ein natürlich
übel mißhandelter und verstümmelter, zumeist auf Sicard
beruhender Salimbene. Sie gewährt, zusammen mit etlichen
von Holder-Egger gleichfalls mitgeteilten Randnoten zum
Zeitbuch, ein mattes Bild von Salimbenes bis 1167 verlorenen
Anfängen und schließt mit 1213, wo Milioli anstatt Sicards
sich selber als Leitfaden benutzt fand. Mitte 1285 siedelte
Fra Salimbene von Reggio in das ein paar Stunden davon
an den Vorhügeln des Apennin gelegene Landkloster Monte-
falcone über; er nahm seine Chronik und seine Bücher mit,
das literarische Kompagniegeschäft fand sein Ende. Milioli
trug noch Ereignisse des Jahres 1285 wieder selbständig in
sein Zeitbuch ein; bald darauf wird er gestorben sein. Von
1286 — 1290 hat ein anderer Bürger von Reggio eine gute,
rein stadtgeschichtliche Fortsetzung dazu geschrieben.
Dies sind in leichtem Umriß die Ergebnisse der For-
schung Holder- Eggers über Albert Milioli; man sieht, wieviel
dadurch zugleich für die Kenntnis Salimbenes gewonnen ist,
der 31. Band der Scriptores offenbart sich in der Tat als
unentbehrliche Vorarbeit zum 32. Bevor wir diesen be-
trachten, gedenken wir indes noch kurz des Einspruchs,
8 Alfred Dove,
den Aldo Cerlini 1908 im Archivio Muratoriano (Nr. 8, p. 381
bis 409) gegen einen Teil der Ansichten Holder-Eggers aus
rein paläographischen Gründen erhoben hat. Die Sache ist
die, daß alles aus dem vorderen Salimbene Nachgetragene
— Randnoten im Liber de temporibus, wie die ganze Cronica
imperatorum — eine andere, wenn auch gleichzeitige Schrift-
art aufweist als die elegante notarielle, in der Milioli den
Text des Zeitbuches selbst — einschließlich seiner auf Salim-
bene beruhenden Fortsetzung — verfaßt hat, nämlich nicht
Urkunden-, sondern Bücherschrift. Holder-Egger hat sich
deshalb natürlich anfangs gesträubt, für beide Hände den-
selben Schreiber anzunehmen, allein schließlich haben die
inneren Gründe überwogen. Wer sich ernstlich in den Ge-
samtcharakter der Doppelchronik versenkt, muß in all ihren
Teilen denselben Geist — oder wenn man lieber will, dieselbe
Geistlosigkeit — der Behandlung wiederfinden; das Werk
enthüllt sich durchaus als Autograph des nämlichen Ver-
fassers. Daß er über verschiedene Schriftarten verfügte,,
kann bei einem Schreibkünstler nicht wundernehmen; daß-
er in gehäuften und gedrängten Randnoten oder bei geschwin-
der Kopie, wie in der Kaiserchronik, die kunstlosere Bücher-
der umständlicheren Urkundenschrift vorzog, erklärt sich
aus den besonderen Bedingungen. Es mag sein, daß nicht
sämtliche Schrifttafeln, die Holder-Egger auch aus dem Ar-
chive zu Reggio beibringt (z. B. Tafel IX), für Milioli be-
weisen, was er uns damit dartun will. Aber an den ganzen
Zusammenhang seiner tiefgreifenden kritischen Erwägung aller
inneren historisch-philologischen Fragen rührt die genaue
Buchstabenkunde des Herrn Aldo Cerlini mit keinem Wort.
1857 erschien in der Parmeser Ausgabe zum erstenmal,
noch unvollständig, der Text der Chronik Salimbenes; er
führte sich ein als uno stupendo monumento der Zeiten, die
der Verfasser erlebt und geschildert hatte. Und unaus-
löschlich ist mir der wunderbare Eindruck geblieben, den
vor 50 Jahren der frische Genuß dieser köstlichen Quelle
in den historischen Übungen Jaffes auf den Schüler machte.
Seitdem hat die weite Welt den gleichen Zauber erfahren,
woran selbst die Lücken und Mängel der früheren Edition
ihren Anteil hatten. Denn in der Abschrift aus dem vati-
Lombardische Chronisten des 13. Jahrhunderts. 9
kanischen Kodex, auf die sie zurückgeht, hatte Monsignore
Gaetano Marini mit dem wählerischen Geschmack des aus-
gehenden 18. Jahrhunderts neben wenigem Anstößigen und
leider auch einigem Lehrreichen vor allem das Langweilige,
Lästige, theologisch Doktrinäre unterdrückt, so daß nur
das historisch Anziehende, memoirenhaft Unterhaltende zur
freien, durch keinerlei Noten gestörten Lektüre übrigblieb.
Dies ergötzliche Lesen verwandelt sich nun gegenüber der
technisch vollendeten Ausgabe Holder-Eggers in ein ernst-
haftes, angestrengtes, bisweilen beschwerliches Studium.
Da ist zunächst, um mit dem Äußerlichen anzufangen, der
ganze handschriftliche Apparat. Zwar Verschiedenheiten der
Überlieferung sind hier nirgend zu verzeichnen, denn es
handelt sich nur um das alleinstehende Originalmanuskript.
Aber dessen Beschaffenheit wird in Tausenden von winzigen
Anmerkungen haarklein dargelegt, so daß man die Chronik
in den letzten Stadien ihrer Entstehung mit all ihren eigent-
lich unbedeutenden Änderungen, allen Spuren orthographi-
scher Flüchtigkeit, selbst den Feder- und Tintenwechsel
nicht zu vergessen, je nach Bedarf vor Augen hat. Glück-
licherweise ist die höhere philologische Aufgabe der Zerlegung
des Werks in seine formalen Bestandteile mit der gleichen
Genauigkeit gelöst. Salimbene gehört nun einmal zu den
zitatreichsten Autoren der ganzen Welt. Unter anderem
hat sein empfänglicher Geist sich die halbe Bibel in treuem
Gedächtnis angeeignet; nicht bloß ausdrücklich häuft er
ihre Sprüche massenhaft, wo sich seine Darstellung um theo-
logische Beweisführung dreht; nein, seine ganze Diktion,
dies geschmeidige, weniger im Wortschatz als in der Syntax
der lebendigen Volkssprache äußerst nahestehende Latein
ist von drastischen Wendungen, malerischen Redensarten
der Vulgata durchtränkt, und auch darauf macht Holder-
Egger regelmäßig gewissenhaft aufmerksam. Man braucht
nicht erst zu sagen, daß er mit gleicher Sorgfalt die bunte
Fülle von sonstigen Anführungen und Anspielungen literar-
historisch hervorhebt und erläutert, mag es nun Kirchen-
vätern und anderen erbaulichen Schriften gelten, oder der
düsteren und aufregenden, dem einstigen Anhänger der
Geheimlehre Joachims so interessanten Weissagungsliteratur,
10 Alfred Dove,
oder innigen Hymnen, schelmischen Vagantenliedern, latei-
nischen und italienischen Spottversen, Gassenhauern, Spruch-
dichtungen usw. Dieser Schriftsteller verlangt eben von
seinem Herausgeber eine höchst vielseitige Kennerschaft;
Holder-Egger besaß sie.
Die historische Analyse war einfach. Das Verhältnis
zu den Grundquellen, Sicard und Albert Milioli, stand fest;
was neben dem letzteren noch an leicht kenntlichen schrift-
lichen Vorlagen für die Folgezeit benutzt ward, verschwindet
sowohl an Umfang als an Bedeutung gegen die Hauptmasse
der Chronik, die man füglich bezeichnen darf als Denk-
würdigkeiten eines lombardischen Franziskaners zur italieni-
schen und allgemeinen Geschichte des 13. Jahrhunderts.
Fra Salimbene aus dem Hause di Adamo war hierzu ganz der
Mann. Von Herkunft dem ritterlichen Stadtadel des staufisch
gesinnten Parma angehörig, geboren 1221, trat er 1238 wider
Willen des Vaters in den neumodischen Minoritenorden
und blieb ihm treu, obwohl er eigentlich als ausgesproche-
ner Sanguiniker wenig dazu paßte. Höher als zum Prediger
und Priester brachte er es darin nicht, so glänzend seine
aufnehmende geistige Begabung, seine vielseitige Bildung
an der Oberfläche erscheint, die er freilich eine Zeitlang
durch phantastisch-joachitische Neigung trübte. Er kam
tüchtig umher, hat in toskanischen und lombardischen Klö-
stern die Tage Friedrichs H. durchlebt, zog dann auf längerer
Studienreise mit offenem Sinn durch Frankreich und Burgund,
wo er zu Lyon Innozenz IV. mit guter Botschaft begrüßte.
Wieder daheim, ward er noch 30 Jahre, besonders in der
Romagna, hin und her versetzt, kam 1279 nach Reggio und
1285 nach Montefalcone, wo seine Spur im Sommer 1288
für uns verlischt. Anschlüssig, gesprächig, geschäftig, be-
obachtungs- und erkundigungsfroh, hat er viel erlebt und
gesehen, noch mehr erfragt und gehört, wozu ja der allgegen-
wärtige, die ganze Städtewelt überziehende Bettelorden die
reichste Gelegenheit darbot. Bei Salimbene, der innerlich
doch ein verschämter Stadtjunker geblieben war, kam zum
kirchlich-sozialen Minoritenhorizont ein besonderes weltlich-
politisches Standesgefühl anregend hinzu. Aus diesem Schatz
von Überlieferungen und Erinnerungen hat er nun in der
Lombardische Chronisten des 13. Jahrhunderts. 11
vorliegenden Chronik vollauf gespendet, und zwar so, daß
ihm Miliolis Zeitbuch fort und fort den willkommenen Anlaß
bietet zu unzähligen Abschweifungen halb epischer, halb
didaktischer Natur, die mitunter zu förmlichen Abhand-
lungen oder fast selbständigen Büchern ausarten; so der 15
vierspaltige Quartblätter seines Manuskripts umfassende
magnus tradatus, in dem er sein Gift über Ghirardino Sega-
lello und seine Apostelbrüder ausgießt, oder der gar 32 Folien
starke liber de praelato, der das Leben und Wirken des Ge-
neralministers Elias von Cortona darstellt, um daran zu
zeigen, wie der wahre kirchliche Würdenträger eben nicht
sein soll. Diese aufgelöste Ordnung seiner zeitgenössischen
Geschichtschreibung, dies beständige Ausschwärmen des von
Einfällen bedrängten, mitteilungsüchtigen Geistes, das
Salimbene selber bisweilen zu entschuldigen strebt, hängt
wohl auch zusammen mit der unmittelbaren Bestimmung
seines Werks. Er schreibt nicht für die Öffentlichkeit in der
Gegenwart; bei der völligen Zwanglosigkeit seiner Erzäh-
lungen und erst recht seiner Urteile hätte er die notwendige
Billigung seiner Oberen nie gefunden. Er schrieb seine Chro-
niken zunächst für eine vertraute, geweckte Leserin, seine
Stiefnichte Agnes di Adamo, Klarissin zu Parma; um ihret-
willen befleißigt er sich stets eines einfachen, verständlichen
Stils, ihrem Wunsche gehorsam hat er diesmal die prächtige
Episode über seine Familiengeschichte eingeschoben. Allein
zugleich hat er doch als echter Memoirenschreiber immer die
lesende Nachwelt deutlich im Auge; daher ist seine sprudelnde
Methode unzweifelhaft schriftstellerisch bewußt, mit Be-
hagen ließ er seiner virtuosen Unterhaltungsgabe frei die
Zügel schießen.
Dem überreichen historischen Einzelgehalt der Chronik
Salimbenes wird Holder-Egger durch nahezu vierthalbtausend
sachlicher Anmerkungen gerecht, die zusammen mit dem
vortrefflich gearbeiteten Namen- und Sachregister einen
fast vollständigen Kommentar des Textes darstellen. Ins-
besondere wird durch Vergleichung seiner Teile unterein-
ander der mangelnden Ordnung häufig abgeholfen, aus
vielfachen Wiederholungen und seltenen Widersprüchen die
Substanz der gegebenen Nachrichten ausgeschieden. Wich-
12 Alfred Dove,
tiger ist noch, was von außen hinzukommt. Die unerschöpf-
lichen Mitteilungen des Autors aus der persönlichen Ge-
schichte seines Ordens empfangen durch die umsichtige
Kunde des Herausgebers ergänzende Bestätigung; zu weiterer
Orientierung sind eigene Editionen von Verzeichnissen der
Generalminister der Minoriten und ihrer Kardinalprotektoren
als Anhang beigegeben. Mit der gleichen Sach- und Quellen-
kenntnis beherrscht Holder-Egger die Zeitgeschichte, zumal
die italienische, überhaupt; und er läßt sich die Mühe nicht
verdrießen, auch die entlegensten Notizen heranzuziehen,
durch welche die Angaben Salimbenes als zuverlässig oder
doch wahrscheinlich bekräftigt werden. Und mit derselben
leidenschaftlichen Wahrheitsliebe, die so dem Ansehen des
Verfassers tätig zu Hilfe kommt, verfährt er freilich auch
umgekehrt. Er behandelt dessen Aussagen kritisch in einer
Weise, die man zum mindesten als ein derbfreundliches
Federlesen bezeichnen muß. Er macht gern darauf auf-
merksam, wo harmlose Schwächen, wie Eitelkeit, Ruhm-
redigkeit, Übereifer u. dgl., wo Standesvorurteile und ge-
nossenschaftlicher Eigennutz des Minoriten die Darstellung
färben. Er ist unduldsam gegen die geringste Ausschmückung
der Erzählung durch wohlgefällig fortspinnende Phantasie.
Nugaris, f rater Salimbene! ruft er einmal (p. 231) kopf-
schüttelnd aus, wie ein Dorfschulmeister bei der treuherzigen
Versicherung eines jagdhistorisch produktiven Försters. Was
soll man gar dazu sagen, wenn er (p. 558) ein Wunder, das
Salimbene berichtet — die göttliche Wiederherstellung eines
in die kochende Suppe gefallenen Breviers — , altrationalistisch
dahin erklären zu müssen glaubt, daß ohne Zweifel Fra
Nichola die Reinigung vollzogen habe? Das geht doch zu
weit; solche Anmerkungen halten wir den Lesern der Monu-
menta Germaniae gegenüber für entbehrlich.
Überhaupt darf man wohl einmal daran erinnern — und
Holder-Egger selbst würde es gewiß von Herzen zugeben — ,
daß die berufsmäßig peinliche Einzelkritik noch lange
nicht zur richtigen Schätzung des historischen Werts einer
Quelle führt. Gerade darin besteht nicht der Reiz allein,
sondern auch der echte Gehalt der Chronik Salimbenes,
daß sie nicht als ausgeklügeltes Buch über Personen und
Lombardische Chronisten des 13. Jahrhunderts. 13
Zustände des Jahrhunderts zu uns spricht, sondern als das
naive Bekenntnis eines mitten in seinem Strom dahintrei-
benden, von Wind und Wellen beweglich umspielten Menschen.
Er ist nirgends tief oder gar genial, aber jeglicher Anregung
offen und vom entschiedensten Talent für bestimmte Auf-
fassung und klare Darstellung, trotz aller anerzogenen Be-
fangenheit. Vor allem, er ist zwar recht leichtgläubig, aber
subjektiv vollkommen ehrlich; auch der Holder- Egger und
nach ihm Schmeidler so anstößige Brief Papst Urbans IV.
an den Bischof von Ferrara beruht ohne Zweifel auf Ordens-
klatsch und nicht auf freier Erfindung. Und so leuchtet
aus diesem anscheinend so leicht unterhaltenden Geplauder
des jovialen Bettelbruders die lebendigste Anschauung von
dem weltgeschichtlichen Wandel der durchlebten Zeiten
deutlich hervor. Oder wo erschiene das vergebliche Ringen
Friedrichs II. um die machtvolle Einigung Italiens eigentlich
gigantischer als in den Geständnissen dieses enttäuschten
Joachiten, der einst in dem Kaiser geheimnisvoll den Anti-
christ gekommen wähnte? Wo erführe man besser als in
seiner malerischen Schilderung die furchtbare politische
Zersetzung des übrigbleibenden städtischen Eigendaseins?
Und wo endlich verriete sich kindlicher die aus dem Anblick
der doch so hohen bürgerlichen Kultur allmählich empor-
keimende erste Liebe zur italienischen Nation? Es ist
jammerschade, daß nicht mehr von ihm erhalten ist; wenig-
stens die eine, ältere und kürzere Chronik, in der die zwölf
Schandtaten Friedrichs II. beschrieben waren, besaß noch
Biondo, wie Scheffer-Boichorst erwiesen hat. Nicht minder
sind die schweren Verluste zu beklagen, die der Codex Vati-
canus selbst erlitten; zumal am Schluß vermissen wir schmerz-
lich die Fortsetzung der meisterhaften tagebuchartigen Auf-
zeichnungen aus dem die Gebiete von Parma, Reggio und
Modena beherrschenden Gesichtskreis von Montefalcone.
Gerade auf die letzten Teile der Chronik Salimbenes
bezieht sich der einzige Punkt, in dem Schmeidler bei der
entsagenden Arbeit seiner Praefatio von den Resultaten
Holder-Eggers erheblich, aber, wie mir scheint, ohne Not
und unglücklich abgewichen ist. Holder-Egger war (in den
„Historischen Aufsätzen, Karl Zeumer zum 60. Geburts-
14 Alfred Dove, Lombardische Chronisten des 13. Jahrh.
tag dargebracht") in eigener Untersuchung zu dem, wie er
meinte, sicheren chronologischen Ergebnis gekommen: Sa-
limbene habe von Ende oder Mitte 1279 bis etwa Mitte 1285
im Minoritenkonvent zu Reggio, von da an in Montefalcone
gelebt. Schmeidler widerspricht; aus dem einzigen Grunde,
weil er sich nicht entschließen kann, anzunehmen, ein Satz
wie quia in conventu Regino habitabam tunc temporis sei in
Reggio und ein anderer, der an die Erwähnung eines Vor-
gangs in Montefalcone die Bemerkung knüpft: Et habi-
tabam tunc temporis ibi, sei in dem locus fratrum Minorum
de Monte-falconis selbst geschrieben. Darauf ist einfach
folgendes zu entgegnen: Salimbene braucht überaus häufig
Verbalformen der Vergangenheit für die Gegenwart, weil er
als Historiker regelmäßig an die Leser der Zukunft denkt;
das einfache ,, derzeit" — tunc temporis — ist nur insofern
mit einem Akzent zu versehen, als damit die Gleichzeitigkeit
der Anwesenheit des Augen- oder Ohrenzeugen betont
werden soll. Alle Vermutungen, die über andere Aufenthalte
des Verfassers in jener Zeit, z. B. in Parma, ausgesprochen
werden, sind hinfällig, weil seine Teilnahme für Begeben-
heiten in der Vaterstadt jederzeit rege war, der Verkehr der
Minoriten aus der Nachbarschaft niemals abriß und endlich
auch eigene stundenweite Wanderungen in die Umgegend sich
mit dem dauernden Wohnsitz an Ort und Stelle wohl ver-
tragen. Daher stimmen wir auch hier getrost für Holder-Egger.
Über das Äußere der angezeigten Ausgabe ist wenig zu
bemerken. Von den Druckfehlern, die dem berichtigenden
Blick entgangen sind, stört nur einer empfindlich: auf S. 645
sind fünfviertel Zeilen irrig wiederholt — eine große Hochzeit
in der Setzersprache. Noch sei erwähnt, daß mit den vor-
liegenden Bänden auch die Abteilung der Scriptores endgültig
von dem alten Foliodruck zum Quartformat übergegangen
ist. Nicht durchaus zum Vorteil, höchstens vielleicht der
Augenärzte. Wenigstens verschwinden die Ziffern der
historischen Anmerkungen, zumal die 1, fast unauffindbar
im Text zwischen den Buchstaben der philologischen Noten
— oder um Salimbene selbst von seiner neuen Edition
erzählen zu lassen (p. 520): vix potuit legi cum cristallol
Staindel-Funde.
Von
Paul Lehmann.
Als mir vor Jahresfrist zum ersten Male der Name
Johann Staindel vor Augen kam, waren Sie es, hochver-
ehrter Herr Geheimrat, der durch den Mund der Allgemeinen
Deutschen Biographie^) und durch sein Meisterwerk der
Geschichte Baierns^) mich unterrichtete, wer Staindel über-
haupt gewesen ist. Gestatten Sie, daß heute, wo wir Ihren
70. Geburtstag feiern dürfen, ich Ihnen Neues von jenem
Manne melde und so für die Belehrung danke.
Sie schrieben: „Johann Staindl (Lapillus), Domherr
von Passau, reiht sich durch sein ,Chronicon generale'
unter die letzten Ausläufer der rein kompilierenden mittel-
alterlichen Geschichtschreibung. Er schrieb daran spätestens
seit 1486 und gelangte von Erschaffung der Welt bis zum
Jahre 1508. . . . Neben dem überstrahlenden Ruhme Aven-
tins ist es fast übersehen worden, daß Staindel für große
Zeiträume des Mittelalters die Geschichtsdarstellung zuerst
wieder den besten Quellen wie Gregor von Tours, Paulus,
Regino, den Annalen von Fulda, Liutprand, Widukind,
Ekkehard entlehnt hat. Daß er auch die Annalen von Nie-
deraltaich da, wo ihm ihre Darstellung nicht zu ausführlich
erschien, wörtlich, nur verkürzend, abgeschrieben hat, ver-
schaffte seinem Werke erhöhte Bedeutung, solange diese
wichtige Quelle nicht wieder aufgefunden war. . . ."
1) Bd. XXXV, 413.
2) Bd. III, 899 f.
16 Paul Lehmann,
Doch ist es nicht diese Chronik gewesen, die mich an
Staindel fesselte, sondern ein Werk, dessen Sie nur kurz
gedachten: seine 1497 verfaßte Schrift „De scriptoribus
ecclesiasticis" . Sie konnten mir nicht so viel davon be-
richten, wie ich zu wissen wünschte, weil die Hterargeschicht-
liche Arbeit seit langem verschollen, vielleicht verloren war
und nur dürftige Mitteilungen gedruckt vorlagen. Vor fast
200 Jahren, im September 1717, fand sie der rührige Bene-
diktiner Bernhard Pez in der Klosterbibliothek zu
Formbach am Inn. Der Druck seiner Reisebeschreibung
gab ihm zweimal^) Gelegenheit, seinen Fund mit wenigen
Worten zu besprechen. Diese Nachrichten, von F. Oefele^)
auszugsweise wiederholt, sind, soweit ich weiß, bis zum heu-
tigen Tage die einzigen gewesen, die an die Öffentlichkeit
gedrungen sind.
Studien über den literargeschichtlichen Betrieb imMittel-
alter^) ließen mich nach Staindels Original suchen, biblio-
theksgeschichtliche Erwägungen wiesen mir den rechten Weg.
Im März 1912 spürte ich den Liber de scriptoribus eccle-
siasticis wieder auf und zugleich mehrere andere Quellen, aus
•denen sich mancherlei für Staindels Geschichte schöpfen läßt.
Pez hatte die Schrift in Formbach gesehen. Dort durfte
ich sie natürlich nicht suchen, da das Kloster nicht mehr
besteht, vielmehr kamen zuerst in Frage*) die Kgl. Hof-
1) Thesaurus anecdotorum novlssimus I (1721), p. LIII: „In
bibliotheca, cuius prope omnes Codices diversis cladibus et casibus
periere, notatu non indignus est Liber de scriptoribus ecclesiasticis
auctore Johanne Lapillo presbytero Pataviensi, cuius haec praefatio
est: , Flures fuerunt ut Vale 1497'. Incipit opus: ,Moyses Amram
Judis ' cod. Chart, fol." Er führt dann eine Stelle des Staindel-
schen Werkes über Reinoldus Eystettensis an, wie er schon vorher
(p, XL II) den Botho von Prüfening behandelnden Artikel wiederge-
geben hatte. Etwas mehr bietet Pez in seinem handschriftlichen Iti-
nerar, das ich Herbst 1912 im Stiftsarchiv Melk benutzen konnte.
2) Rerum Boicarum Scriptores I, 418 sq.
3) Einen ersten Überblick über die literargeschichtlichen Arbeiten
des Mittelalters habe ich in der Germanisch-Romanischen Monats-
schrift 1912, S. 569—582 und 617—630 gegeben.
*) A, M, Scheglmann, Geschichte der Säkularisation im rechts-
rheinischen Bayern III, 838 ist für die Bibliothekgeschichte von Form-
bach ganz unzulänglich.
Staindel-Funde. 17
und Staatsbibliothek in München und die Kreis- und Studien-
bibliothek in Passau, wohin die Bibliothek nach Formbachs
Säkularisation verteilt worden war. Die Codices Form-
bacenses in München i) waren bald durchgesehen. In
der Staatsbibliothek sind es die Handschriften:
lat. 732 (Teile von Staindels Weltchronik, saec.XV/XVI).
1832 (Schriften des Formbacher Abtes Angelus Rumpier,
saec. XVI in.).
6141 (Evangelia, saec. X/XI).
6153 (Codicum Formbacensium catalogus iussu Maxi-
miliani ducis Bavariae ab abbate Sebastiano concinnatus,
1610).
27 182 (Vitae abbatum Formbac. Perngeri et Birntonis,
saec. XIV/XV).
27 183 (Francisci Langpartner epitome vitae ac gestorum
abbatum Varnbacensium, 1733).
27 184 (Imagines abbatum Varnbacensium, saec. XV III).
Dazu kommen einige Bände des Kgl. Allgemeinen
Reichsarchivs in München^):
Kloster Formbach Lit. 514 und SVs (Kollektaneen
Staindels, meist geschichtlichen Inhalts, saec. XV/XVI).
Schließlich zwei Bände des Kgl. Kreisarchivs zu München
mit Schriften des Angelus Rumpier. 3) Der Codex lat. 732
und die beiden Bände des Reichsarchivs enthalten Arbeiten
Staindels, und zwar von seiner eigenen Hand geschrieben.*)
Doch war das von mir gesuchte Werk nicht dabei. Zum
Glück hatte ich bald für die akademische Ausgabe der mittel-
alterlichen Bibliothekskataloge in P a s s a u zu arbeiten
und konnte, dank dem freundlichen Entgegenkommen des
Herrn Professors Andreas Seider, die Bestände der Kgl. Kreis-
^) Vgl. auch V. Aretin in seinen Beyträgen zur Geschichte und
Literatur V (1805), S. 103 f. u. 111 f.
2) Genau beschrieben und behandelt von L. Oblinger in der
Archivalischen Zeitschrift XI (1904), S. 1—99.
3) Vgl. Oblinger a. a. O. 17 f.
*) Von lat. 732 hatte bereits Riezler gesagt, daß er wohl auto-
graph wäre. Die Archivbände Staindel zugewiesen zu haben, ist Ob-
lingers Verdienst.
Historische Zeitsctirift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 2
18 Paul Lehmann,
und Studienbibliothek^), soweit sie mich angingen, in Ruhe
mustern. Zuerst durchforschte ich die Handschriften und
entdeckte bald in Ms. 9 eine bis zum Jahre 41 v. Chr. reichende
Weltchronik, mit denselben Schriftzügen geschrieben wie
München lat. 732, also ein Autogramm Staindels, und in
Ms. 13, das den Quadripartitus Cyrilli und Seneca de qua-
tuor virtutibus, saec. XV, enthält, auf dem pergamentenen
Vorsatzblatt die alte Notiz: D. Johannes Staindel, custos
ecclesie Pat. Um das hier gleich einzuschalten, überraschte
mich wenige Wochen später derselbe Eintrag in der Kgl.
Provinzialbibliothek zu A m b e r g in Ms. 4^ 19 (Alphabe-
tum divini amoris, de stimulo amoris, de passione domini,
Gerson de confessione, speculum peccatoris, de arte mori-
endi, elucidarius Anselmi etc., saec. XV).
Die übrigen Passauer Handschriften dagegen boten
mir keinen Hinweis auf Staindel mehr. Als ich dann aber
— mehr um die Zeit nützlich zu verwenden, als in der Er-
wartung besonderer Entdeckungen — auch einige Inku-
nabeln hernahm, traf ich manches Buch, das Staindels
Namen und Schrift barg. Die Hoffnung freilich, das literar-
geschichtliche Werk zu finden, hätte ich trotzdem bald be-
graben, da es ja eine Handschrift, nicht ein Druck sein mußte.
Des Abends im Gasthause kam mir die Erleuchtung. Ich
sagte mir: Ein so fleißiger, bücherliebender Mann wie Staindel
wird auch des Trithemius Liber de scriptoribus ecclesiasticis
besessen haben. Vielleicht ist des Passauer Domherrn
Handexemplar erhalten, vielleicht gibt es durch Randein-
träge Kunde von seines Besitzers bibliographischer Arbeits-
weise. — Am andern Morgen war es mein erstes, die Tri-
themiusinkunabel vom Fach zu holen und darin nicht nur
zahlreiche handschriftliche Zusätze innerhalb des gedruckten
Textes, sondern als Anhang auch die ersehnte eigene Schrift
Staindels über Schriftsteller zu finden. Daß es sich wirklich
um dasselbe Buch handelt, das einst B. Pez in den Händen
gehabt hat, wird aus meiner Beschreibung über allen Zweifel
erhoben werden.
^) In der Passauer Ordinariatsbibliothek ist Formbacher Her-
kunft, meines Wissens, nur eine Chronik des 1725 zum Abte erwählten
Clarus Faßmann.
Staindel-Funde. 19
Zuvor aber möchte ich die anderen Frühdrucke bespre-
chen, die mit Staindel zusammenhängen. Ich erhebe durch-
aus nicht den Anspruch, alle in Passau vorhandenen Drucke
dieser Art gesehen zu haben. Folgende habe ich mir ge-
merkt :
P a s s a u Inc. 39^), drei Drucke enthaltend, nämlich
I. Platinae Historia summorum pontificum, Nürnberg 1481
(= Hain *13 047); 2. Chronicon Urspergense, 1515; 3. Dio-
dori Siculi Historiae, Venedig 1481 (= Hain 6190). Da der
Einband erst 1711 angefertigt ist, braucht Nr. 2 nichts mit
Staindel zu tun zu haben. Nr. 1 gehen 22 unbedruckte
Papierblätter voraus, alle recht sauber von derselben Hand
des ausgehenden 15. Jahrhunderts beschrieben, wie sich
zeigen wird, der Staindels. Davon bietet fol. 1 — ITVein aus-
führliches alphabetisches Register (1483 vollendet) zu den
Papstgeschichten Piatinas, fol. 18^ — 19R ,, Nomina summo-
rum pontificum sibi invicem succedentium" (bis auf Paul II.),
fol. 19^ — 20V „Nomina imperatorum sive regum Roma-
norum" (bis auf Friedrich III.), fol. 21«— 22v Lateinische
Erzählungen von jüdischen Grausamkeiten. Das große
alphabetische Register ist auf fol. IR durch folgende Vorrede
eingeleitet:
Ego Johannes Staindel presbiter operi Platine historici
registrum inscribere curavi, ne mens querendo torpeat que
cupida legendo antea fuit. Liber enim is in longum protractus
nee capitulis aut rubricis distinctus plurimaque tum ponti-
ficum tum imperatorum aliorumque virorum gesta bellave
itemque temporum incidentia complectens, optata queque ad
oculum faciliter non prebet, nisi ea que quis querit sive nomina
propria sive appellativa nota digna fuerint in registro presenti
aspiciat. Mutlos itaque in hoc tarn necesse quam utiliter imi-
latus, ul singula nota digna secundum ordinem alphabeti designa-
verim et posl unumquodque designalum numerum ordinalem
folii, deinde litteram alphabeti locum monstrantem posuerim,
quandoque plures numeros aut litteras secundum quod materia
^) Die genaue typographische Bestimmung hat Herr Oberbiblio-
thekar Dr. E. Freys (München) vorgenommen. Seinen Angaben folge
ich. Zur Nachprüfung hat mir Dr, Freys gütigst sein Inventar der
Passauer Inkunabeln auf einige Tage überlassen.
2*
20 Paul Lehmann,
pluribus in locis continetur. Verbi gracia: Arrius hereticus
invenitur folio XVI littera -n-, Anacletus papa folio VI
litter is • e- g- k-, Agatfio papa folio XXXV littera ■ m - et
folio XXXVI litter is - a • c • Et sie de singulis ut patet intuenti.
Der Platinadruck selbst ist mit zahlreichen Rand-
bemerkungen Staindels versehen, die zumeist die für das
Register bestimmten Wörter herausheben. Ebenso ist der
3. Teil (Diodor) mit handschriftlichem Register und Rand-
notizen ausgestattet.
Inc. 11 enthält Vincentii Bellov. Speculum historiale,
<Augsburg> 1474 (=Copinger III, 6247). Es sind 3 Bände:
Der erste hat fol. 1 — 37R ein alphabetisches Register von
Staindels Hand, das die Schlagwörter nach den beiden ersten
Buchstaben ordnet, z. B. bilden Abteilungen für sich die
Wörter, die mit an, ap, aq, ar, as, at, au beginnen. Diese
sorgsame Arbeit ist am 15. Juli 1489 von Staindel beendigt
worden. Das erste Blatt, das wohl eine Praefatio und den
Anfang des Index bis am trug, ist verloren gegangen. Fol. 37va
bis 38VA folgt ein ,,Catalogus virorum illustrium Speculi
Vincencii historialis", schon 1485 von Staindel abgeschlossen.
Auf zwei vom Drucker freigelassenen Blättern zwischen dem
Kapitelverzeichnis und dem Prolog gibt Staindel einen
,,Cathalogus patriarcharum Hierosolimorum, Antiocheno-
rum" und die „Episcopi Moguntinenses, Juvavenses sive
Salzburgenses". Im Texte selbst sind wiederum häufig
handschriftliche Bemerkungen zu finden. Auch Bd. II u. III
haben alphabetische Register und Randnotizen. Das 1479
abgeschlossene Register zum 2. Bande hat eine ähnliche
Vorbemerkung Staindels wie sein Piatinaexemplar.
Inc. 33. Vincentii Bellov. Speculum doctrinale, s. 1. et
a. (=Copinger III, 6242). Vorn zwölf Blätter mit Schlag-
wortregister von 1490 und ein Blatt ,, Nomina autorum
cum libris suis in hoc volumine positorum", beides von
Staindel.
Inc. 38. Blondus Flavius, Roma instaurata et De ori-
gine et gestis Venetorum, Verona 1481 (= Hain *3243)
Hrotsvithae opera, Nürnberg 1501, mit Register und Be-
merkungen Staindels zu Flavius Blondus. Auf dem letzten
Blatt des ersten Druckes von Staindels Hand lat. Hexa-
Staindel-Funde. 21
meter und Distichen ,,De monte Aventino, de Cosma et
Damiano, ad Mariani Minerve, ad Mariam de febribus".
Inc. 147. Solinus, De situ orbis etc., Venedig 1493,
{= Hain *14881) mit 1499 beendetem Register.
Inc. 157. Paulus Aemilius Veron. De rebus gestis Fran-
corum, Paris s. a. (= Hain *146) mit Randbemerkungen
Staindels.
Inc. 30. Rufini historica ecclesiastica, Mantua 1479
(= Hain *6711). Vorne sieben Blätter mit alphabetischem
Register vom Jahre 1484) und Randnotizen.
Die Vorbemerkung zum Register lautet:
Registrum in ecclesiastice Historie librum ego Johannes
Staindel, sacerdotum minimus, ad laudem precipue Dei omni-
potentis, deinde ad utilitatem legentium conscribere curavi.
Cum enim plura utilia diversis in libris hincinde dispersa
videantur et vix aliquis, nisi perlectus aut hac historia imbutus,
faciliter invenire possit ea que velit, necessarie ad quodlibet
notabile numerum triplicem ordinavi, ita ut primus deserviat
libro, secundus capitulo eiusdem libri, tercius vero folio, ubi
illud assignatur notabile. Interdum plures numeri tarn capi-
tulorum quam foliorum cum coniunctione et iunguntur ut
patebit.
Auf den Rufinusdruck folgen schließlich zehn Papier-
blätter mit einer Staindelabschrift des sog. Anonymus
Mellicensis de viris illustribus, worüber ich demnächst im
Neuen Archiv der Ges. f. ältere deutsche Geschichtskunde
handeln werde.
Schon diese wenigen und wohl leicht zu vermehrenden^)
Nachrichten über die Bücher, die durch Staindels Hand
gegangen sind, charakterisieren den Mann: er liebte die
Bücher nicht nur, sondern las sie auch gründlich und bewies
die Einsicht, daß gute Register die Brauchbarkeit jedes
Buches heben.2) Auch ist es wohl kein Zufall, daß ich vor-
^) Es wäre gut, wenn sich jemand die Mülie machte, systematisch
alle bis etwa 1515 erschienenen Drucke in der Passauer Bibliothek
auf Staindelsche Notizen durchzusehen.
^) Auch die im Reichsarchiv zu München aufbewahrten KoUek-
taneen (vgl. oben) haben ausführliche Register. — Erst jetzt, wo die
22 Paul Lehmann,
zugsweise in geschichtlichen Werken seiner Hand begegnet
bin. Die Register und die sonstigen Beigaben bekunden
deutlich das lebhafte geschichtliche Interesse des Verfassers
der Weltchronik und tragen dazu bei, die Reichhaltigkeit
dieser Kompilation zu erklären. Schließlich äußert sich
auch sein Sinn für Bibliographie und Literaturgeschichte in
den oben beschriebenen Drucken. Auf Grund der Specula
doctrinale und historiale des Vincenz von Beauvais legte er
sich Listen der Schriftsteller und ihrer Werke an, dem Ru-
finustexte ließ er ein Büchlein über mittelalterliche Autoren
folgen, das weiteren Kreisen erst im 18. Jahrhundert durch
B. Pez (nach einer Melker Hs.) bekannt wurde.
Der „Catalogus virorum ill. Speculi Vincentii hist."
ist 1485 vollendet worden, der zum Spec. doctrinale wohl
1490. Staindels literarhistorische Sammelarbeit begann
also bereits von Erscheinen von Trithemii Liber de scripto-
ribus ecclesiasticis (1494), fortgesetzt aber wurde sie in eng-
stem Anschluß an dieses schnell verbreitete Buch, das bei
allen Mängeln die wirkungsreichste Literaturkunde des
späten Mittelalters geworden ist.
Das Exemplar des 1494 vom Sponheimer Abte Johannes
Trithemius veröffentlichten ,, Liber de scriptoribus eccle-
siasticis" (= Hain *15 613), das unserm Staindel gehörte,
ist die Inc. 117 der Kgl. Bibliothek zu Passau. Fast jede
Seite verrät, wie eifrig sich der Passauer Domherr mit dem
Werke beschäftigt hat. Vornehmlich hat er Buchtitel und
Anfänge der Werke nachgetragen. Sie sollen weiter unten
von mir bekanntgegeben werden. Diese Ergänzungen ge-
nügten dem fleißigen Manne aber noch nicht. Bei seiner
ausgedehnten Lektüre waren ihm verschiedene christliche
Schriftsteller bekannt geworden, die Trithemius nicht ge-
bucht hatte, und außerdem vermißte er in jenem Buche die
antiken Philosophen und Dichter. Darum hängte er dem
Drucke des Trithemius auf fol. 142^ — 179R seines Exemplars
Passauer Einträge zur Vergleichung herangezogen werden können,
läßt sich mit völliger Bestimmtheit sagen, daß jene beiden Bände
und München lat. 732 Autogramme Staindels sind. Oblinger (S. 46)
hatte im Reichsarchiv und im Passauer Ordinariatsarchiv vergeblich
nach anderen Originalniederschriften Staindels gesucht.
Staindel-Funde. 23
handschriftlich eine „Suppletio virorum illustrium" an, die
jene Lüctcen ausfüllen sollte. Der Text beginnt mit einem
alphabetischen Personenregister (fol. 142v — 143^), es folgt
nachstehende kurze Einleitung, die uns schon Pez mitgeteilt
hatte:
(7 Johannes Lapillus presbiter Pataviensis ad lectorem.
Plures fuerunt (ut verum fatear) qui multo labore viros eru-
ditos et in omni sciencia illustres, precipue ecdesiasticos scrip-
tores in unum comportarunt, quatenus diversa eorum studia et
exercicia nota fierent posteris. Hör um secutus exemplof!), ali-
quantes etiam antiquiores non contemnendos philosophos et
poetas quorum scripta et tempora invenire potui annotavi;
non tam illorum sequendam doctrinam quam omnium ingenii
acumen esse mirandum. Censeo enim merito illos a nobis non
ignorari, qui primariam omnium scienciarum cognitionem
nobis tradiderunt. Licet plerique eorum quos commemoravimus
in fertili agro acervum magnum messuerint, ego tamen cum
Ruth. Moabitide post tergum metentium spicas tantum collegi
et parvitati mee sufficere confido, qui graviora ferre posse
despero. Vale 1497.
Die dann mit fol. 144R einsetzende auf fol. 179^^ ab-
schließende literarhistorische Liste bringt insgesamt 196
heidnische und christliche Autoren von Moses bis Ubertinus
Pusculus in ungefährer zeitlicher Folge. Die Behandlungs-
weise ist vollkommen durch das Muster bestimmt, das Hiero-
nymus geschaffen hatte, im ganzen Mittelalter nachwirkte
und nur dadurch von Trithemius erweitert wurde, daß er
den Werken vielfach die Anfangswörter beifügte. Einen
vollständigen Abdruck des Staindelschen Werkes zu geben,
verlohnt sich nicht, da er durchweg aus Quellen geschöpft
hat, die auch uns noch fließen. Ich kann mich darauf be-
schränken, die Namen der behandelten Schriftsteller in der
Reihenfolge, die Staindel beliebt hat, zu nennen und kurz
auf die Quelle zu verweisen.
1. Moyses Jac. Phil. Berg.
2. Linus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
3. Orpheus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
4. Museus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
5. David Jac. Phil. Berg.
24 Paul Lehmann,
6. Salomon Jac. Phil. Berg.
7. Homerus Jac. Phil. Berg.
8. Hesiodus Jac. Phil. Berg.
9. Arctymus (= Archimus) Jac. Phil. Berg.
10. Cyneton Jac. Phil, Berg.
11. Eumelus Jac. Phil. Berg.
12. Thaies Jac. Phil. Berg. u. Diog. La,
13. Solon Jac. Phil. Berg, u. Diog. La.
14. Chilo Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
15. Pittacus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
16. Blas Jac. Phil, Berg. u. Diog. La.
17. Cleobulus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
18. Periander Jac. Phil. Berg, u, Diog. La.
19. Anacharsis Jac. Phil. Berg. u. Diog. La,
20. Epimenides Jac. Phil, Berg. u. Diog. La
21. Pherecydes Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
22. Xenophanes Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
23. Pythagoras Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
24. Democritus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
25. Heraclitus Jac. Phil. Berg. u. Diog, La.
26. Empedocles Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
27. Epicharmus Jac. Phil. Berg, u. Diog. La.
28. Archelaus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
29. Hippocrates Jac. Phil. Berg.
30. Socrates Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
31. Tucydides Jac. Phil. Berg.
32. Eudoxus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
33. Isocrates Jac. Phil. Berg.
34. Xenophon Jac, Phil, Berg, u, Diog, La.
35. Aeechines Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
36. Aristippus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
37. Phedon Jac. Phil, Berg. u. Diog. La.
38. Piaton Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
39. Euclides Jac, Phil. Berg. u. Diog. La.
40. Ecphantus Diog. La.
41. Speusippus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
42. Xenocrates Jac. Phil. Berg. u. Diog, La.
43. Protagoras Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
44. Aristoteles Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
45. Hermes Trismeg Jac. Phil, Berg,
46. Apuleius Jac, Phil. Berg.
47. Crito Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
48. Simon Athen Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
49. Plotinus Jac. Phil. Berg.
50. Theophrastus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
51. Demetrius Phal Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
52. Heraclides Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
53. Epicurus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
Staindel-Funde.
25
54. Antisthenes Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
55. Diogenes Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
56. Metrodorus Jac. Phil. Berg.
57. Hermachus Diog. La.
58. Crates Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
59. Crantor ' Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
60. Alexinus . Diog. La.
6L Zeno stoicus Jac. Phil. Berg. u. Diog. La.
62. Persaeus Diog. La.
63. Aristo Diog. La.
64. Herillus Diog. La.
65. Dionysius Dioph Dioph. La.
66. Strato Jac. Phil. Berg.
67. Cleanthes Diog, La.
68. Chrysippus Diog. La.
69. Stilpo Jac. Phil. Berg.
70. Glaucon Diog. La.
7L Simmias Diog. La.
72. Cebes Diog. La.
73. Jesu Sirach Jac. Ph
74. Aristobulus Jac. Ph
75. Archimedes ^ . Jac. Ph
76. Plautus Jac. Ph
77. Philo Jac. Ph
78. Terentius Jac. Ph
79. Tullius Cicero Jac. Ph
80. Diodorus Sic Jac. Ph
8L Sallustius Jac, Ph
82. Varro Jac. Ph
83. Aemilius Macer Jac. Ph
84. Servius Sulpicius Jac. Ph
85. Virgilius Jac. Ph
86. Horatius Jac. Ph
87. Tiro Jac. Ph
88. Bassus Jac. Ph
89. Strabo Jac. Ph
90. Solinus Jac. Ph
91. Livius Jac. Ph
92. Cornelius Nepos Jac. Ph
93. Ovidius Jac, Ph
94. Valerius Maximus Jac. Ph
95. Diodorus As Jac. Ph
96. Lucanus Jac. Ph
97. Persius Jac. Ph
98. Cornutus Jac. Ph
99. Evax Jac. Ph
100. Quintilianus Jac. Ph
101. Asconius Pedianus Jac Ph
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
I. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
1. Berg.
26 Paul Lehmann,
102. Dioscorides Jac, Phil. Berg.
103. Justus Jac. Phil. Berg.
104. Statius Jac. Phil. Berg.
105. Martialis Jac. Phil. Berg.
106. Juvenalis Jac. Phil. Berg.
107. Stella Jac. Phil. Berg.
108. Suetonius Jac. Phil. Berg.
109. Plinius Jac. Phil. Berg.
110. Basilides Jac. Phil. Berg.
111. Agrippa Jac. Phil. Berg.
112. Dion Jac. Phil. Berg.
113. Plutarchus Jac. Phil. Berg.
114. Terentius Scaurus Jac. Phil. Berg.
115. Polycarpus Jac. Phil. Berg.
116. Aquila Jac. Phil. Berg.
117. Taurus Berythius Jac. Phil. Berg.
118. GeUius Jac. Phil. Berg.
119. Julius Celsus Jac. Phil. Berg.
120. Ptolomaeus Jac. Phil. Berg.
121. Galenus Jac. Phil. Berg.
122. Pompeius Trogus Jac. Phil. Berg.
123. Justinus Jac. Phil. Berg.
124. Cynicus (= Pinetus) Jac. Phil. Berg.
125. Musanus Jac. Phil. Berg.
126. Bardesanes Hier.
127. Theophilus Hier.
128. Bacchyllus Hier.
129. Julius PoUux Jac. Phil. Berg.
130. Symmachus Hier.
131. Porphirius Hier.
132. Zeno Veron Hier.
133. Basilius Anc Hier.
134. Donatus haer Jac. Phil. Berg.
135. Asterius Jac. Phil. Berg.
136. Lucifer Jac. Phil. Berg.
137. Eusebius Sardus Jac. Phil. Berg.
138. Donatus gram Jac. Phil. Berg.
139. Gregorius Laeticus (= Baeticus) . Hier.
140. Attilius Severus (= Aquilius S.). . Hier.
141. Cyrillus Hier.
142. Philanius (= Epiphanius) .... Hier.
143. Maximus Hier.
144. Sophronius Hier.
145. Theodorus Genn.
146. Claudianus Jac. Phil. Berg.
147. Vigilius Trid Petrus de Nat.
148. Alexander Lythos Jac. Phil. Berg.
149. Baciarius Genn.
Staindel-Funde. 27
150. Atticus Genn.
151. Adventius Jac. Phil. Berg.
152. Victor Genn.
153. Johannes V. papa Jac. Phil. Berg.
154. Ado Vienn Anon. Prüfen.
155. Justus Vienn Anon. Prüfen.
156. Amalarius . Sigeb.
157. Theodulfus Jac. Phil. Berg.
158. Walafridus Strabo Anon. Prüfen.
159. Henricus (= Heiricus) Sigeb.
160. Regino Anon. Prüfen.
161. Eucherius Anon. Prüfen.
162. Johannes musicus Anon. Prüfen.
163. Fricholfus Anon. Prüfen.
164. Erbo Fris Anon. Prüfen.
165. Paulus Jud Anon. Prüfen.
166. Reinoldus Eist ? Vgl. unten.
167. Alpharabius Jac. Phil. Berg.
168. Ekkebertus Anon. Prüfen.
169. Bernaldus Anon. Prüfen.
170. Johannes Serapion Jac. Phil. Berg.
171. Isaac Benimiram Jac. Phil. Berg.
172. Rasis Jac. Phil. Berg.
173. Botto Prüf Anon. Prüfen.
174. Avicenna Jac. Phil. Berg.
175. Averroes Jac. Phil. Berg.
176. Johannes Mesue Jac. Phil. Berg.
177. Johannes XXI. papa Schedel.
178. Hugo 0. Praed Jac. Phil. Berg.
179. Johannes Baibus Jac. Phil. Berg.
180. Johannes Scottus Jac. Phil. Berg.
181. Johannes Wiklef ?
182. Jacobus Magnus Schedel.
183. Theodericus Vrie Vgl. unten.
184. Andreas Hisp Vgl. unten.
185. Gregorius de Alex Jac. Phil. Berg.
186. Julianus de Salem Jac. Phil. Berg.
187. Johannes de Imola Jac. Phil. Berg.
188. Honofrius de Flor Jac. Phil. Berg.
189. Nicolaus de Aquapendente .... Jac. Phil. Berg.
190. Guilhelmus Bechius Jac. Phil. Berg.
191. Paulus Romanus Jac. Phil. Berg.
192. Paulus Lulmas Jac. Phil. Berg.
193. Boninus Mombretus Jac. Phil. Berg.
194. Michael Carr Jac. Phil. Berg.
195. Marsilius Ficinus Jac. Phil. Berg.
196. Ubertinus Pusculus Jac. Phil. Berg
28 Paul Lehmann,
Es ergibt sich aus dieser Zusammenstellung, daß Staindel
zu allermeist auf das ,,Supplementum chronicarum" des
JacobusPhilippusForesta von Bergamo zurück-
geht, das ich in der Ausgabe Brixiae 1485, benutzt habe.
Auf Jac. Phil. Berg, fußen die Artikel 1—39, 41—56, 58,
59, 61, 66, 69, 73—125, 129, 134—138, 146, 148, 151, 153,
157, 167, 170—172, 174—176, 178—180, 185—196. Für die
Philosophen und Poeten des Altertums ist bei Artikel 2 — 4^
12—28, 30, 32, 34—44, 47, 48, 50—55, 57—65, 67, 68,
70 — 72 teils neben Jac. Phil. Berg, teils ausschließlich die
Renaissanceübersetzung der ßioi (pilooofpCov des Diogenes
L a e r t i u s benutzt worden. Einige ältere christliche
Schriftsteller, Nr. 126—128, 130—133, 139—144 hat er auf
Grund von Hieronymus de viris illustribus, andere,
Nr. 145, 149, 150, 152, nach Gennadius behandelt, wenige,
Nr. 156 u. 159, nach Sigeberts von Gembloux
Literaturkatalog. Dagegen hat der anonyme L i b e r de
scriptoribus ecclesiasticis, den man früher
nach Melk benannte, der aber in Wahrheit aus Prüfening
(ca. 1140) stammt, eine stattliche Reihe von Abschnitten
geliefert, nämlich Nr. 154, 155, 158, 160—165, 168, 169 u. 173.
Die Quelle von Nr. 147 scheint das hagiographische Sammel-
werk des Petrus de Natalibus zu sein, die von
177 und 182 Hartmann Schedels Weltchronik.
Nur die Benutzung des Prüfeninger Büchleins ist etwas
Ungewöhnliches. Daß Staindel eine — jetzt verlorene —
Handschrift kannte, zeigt die obenerwähnte (S. 21) Kopie,
die er eigenhändig in den Inkunabelband 30 eingetragen hat.
Alle übrigen Quellen, die ich nannte, waren am Ende des
15. Jahrhunderts allgemein bekannt.
Bei vier Kapiteln (Nr. 166, 181, 183, 184) ist noch mit
etwas Ausführlichkeit über die Grundlagen zu sprechen.
Nr. 183 stützt sich auf die damals, als Staindel schrieb,
bereits erschienene Druckausgabe der Schrift Dietrich Vries
De consolatione ecclesiae.i) Bei Nr. 184 hat vielleicht
Trithemius Gevatter gestanden.
1) Köln 1484 im 4. Bande der Koelhoff sehen Gersonausgabe;
vgl. H. Finke im Hist. Jahrbuch VIII, 454 ff.
Staindel-Funde.
29
T r i t h e m i u s , De viris ill.
O. S. Benedicti II, cap. 136:
Andreas ex monacfio nostri or-
dinis, ut per se in qiiodam tradatu
fatetur, episcopus Megarensis et
Civitatensis et deinde Aiacensis,
riatione Hispanus et Romanae curiae
poenitentiarius, doctor in iure peri-
tus et divinarum scripturarum non
ignarus, scripsit de poenitentia lib. I,
de modo confitendi tractatum bre-
vem, sed utilem. Alia quoque plura
edidit, quae ad manus meas non
venerum.
S t ai n d e 1:
%
Andreas nacione Hispanus, mo-
nachus ordinis S. Benedicti, episco-
pus Megarensis, olim Civitatensis,
deinde Aiacensis, vir doctissimus tarn
in theologia quam in iure, scripsit
ad Cardinalem Jordanum de Ursi-
nis, episcopum Albanensem, quod
prenotavit ,Lumen confessorum' li. I.
„Lumen confessorum vocatur" et
plura alia. Floruit sub Martino
quinto papa.
Doch ist Staindel, wenn überhaupt, nicht ganz von
Trithemius abhängig, da er das „Lumen confessorum''^)
kennt, von dem der Sponheimer Abt nicht redet.
Nr. 181 handelt über Wiclif. Staindels Worte beruhen
schwerlich auf Autopsie der Werke. Aber es ist mir nicht
gelungen, seine Quelle, vermutlich eine Chronik, zu ermitteln.
Der Text lautet:
Johannes Wiklef presbiter, magister universitatis Oxo-
niensis, plebanus cuiusdam parrochie Cantuariensis diocesis,
scripsit plures libros et tractatus plenos erroribus et heresi.
Jnter quos sunt:
Dialogus.
Trialogus.
De incarnacione verbi divini.
De corpore Christi maior et minor.
De trinitate.
De ydeis.
De ypotetis.
Decalogus. *
De universalibus realibus.
De symonia.
De fratribus discolis et maus.
De probacionibus propositionum.
De attributis.
^) Vgl. J. F. V. Schulte, Die Geschichte der Quellen und Lite-
ratur des Kanonischen Rechts II, 440.
30 Paul Lehmann,
De individuacione.
* De materia et forma.
De dominio civili.
Super evangelia sermones per annutn. Ex libris predictis
multi articuli erronei et hereticales sunt extracti atque Londoniis
in Anglia in conventu fratrum predicatorum anno domini
MCCCLXXX ab archiepiscopo et XIII episcopis ac XXX
magistris in theologia sunt condemnati. Postea per Johannem
Huss Boemum predicti errores per Boemiam disseminati
totum fere regnum impleverunt. Claruit idem Wiklef tempore
Caroli quarti imperatoris.
Die an 166. Stelle stehenden Worte über Reinold von
Eichstätt hatten schon Pez angezogen. Staindel sagt:
Reinoldus Eistetensis episcopus, inter pontifices sui tem-
poris per Germaniam clarus, edidit historiam de S. Nicoiao
per omnes ecclesias satis vulgatam. Obiit anno domini
DCCCCLXXXVIII.
Am ausführlichsten hat im Mittelalter der merkwürdige
Anonymus Haserensis^) über Reginold, der von 966 — 988
(oder 989) Bischof von Eichstätt war, gesprochen und dabei
die hebräischen und griechischen Kenntnisse des Mannes,
sowie seine poetisch-musikalische Tätigkeit gerühmt. In
Sequenzenform habe er ein griechisch-hebräisch-lateinisches
Gedicht auf den heiligen Willibald verfaßt und über die Hei-
ligen Wunnebald, Blasius und Nikolaus geschrieben. In-
primis historiam S. Nicolai fecit et per hoc episcopalem digni-
tatem promeruit. Leider ist keiner dieser Texte bisher wieder
aufgetaucht. Im Jahre 1893 sprach A. Dürrwächter, freilich
an entlegenem Orte, die Hoffnung aus, die Historia S.Nicolai^)
wäre noch erhalten, und den Wunsch, man möchte doch
einmal die Literatur über Nikolaus gründlich durchforschen,
und Reinolds literarischer Tätigkeit überhaupt nachgehen.
Eine derartige Sondersuntersuchung ist nicht gemacht worden.
Doch zeigt die ,,Bibliotheca hagiographica latina" der
Bollandisten, daß sich schwerlich einer der irgendwie bekann-
1) MG. SS. VII, 255 u. 257.
2) Sammelblatt des Historischen Vereins Eichstätt VII, 124 f.
Die Kenntnis dieses Aufsatzes verdanke ich einem freundlichen Hinweis
des Kollegen L. Steinberger.
Staindel-Funde. 31
ten Texte mit Reinold in Verbindung bringen läßt. Auch
die Literatur über Hymnen und Sequenzen gibt keine siclieren
Anhaltspunl<:te. Hat Staindel die Nii<olaushistorie Reinolds
noch gekannt? Ich glaube nicht. Dürrwächters Mitteilungen
zeigen, daß man auch sonst noch im 15. und 16. Jahrhundert
von der hagiographischen Schriftstellerei des Bischofs wußte,
jedoch wohl stets nur mittelbar, durch den Anonymus von
Herrieden und von diesem abhängige Texte. Die Stellen,
an denen im Mittelalter über Reinold und die Historia
Nicolai gesprochen ist, lassen sich noch vermehren: Das
Auctarium Garstense schreibt zum Jahre 988 1): Reinoldus
musicus Aichstetensis episcopus obiit (cui Emgoz successit),
qui historiam cantus de S. Nicoiao edidit; zum gleichen Jahre
melden die Annales S. Rudberti Salisburgenses^) : Reinoldus
Eistetensis episcopus musicus, qui sancti Nikolai historiam
edidit, obiit.
Da nun Staindel in seiner Chronik^) — ebenfalls unter
dem Jahre 988 — sagt: Reinoldus Eystetensis episcopus qui
S. Nicolai historiam edidit, obiit, hier also ganz wörtlich den
Salzburger Annalen folgt, ist es höchst wahrscheinlich,
daß er auch in seiner literarhistorischen Arbeit für Reinold
keine andere Quelle als jenes Annalenwerk benutzt. Auf-
fällig ist ja die Bemerkung, die Historia de S. Nicoiao Rei-
nolds wäre über alle Kirchen verbreitet gewesen. Doch kann
ich darauf kein großes Gewicht legen; vielleicht hat Staindel
einen der Texte, die am Nikolaustage zu Passau gehört
wurden, mit Reinold in Verbindung gebracht, etwa die
Hymne*) ,,Plaudat laetitia lux hodierna". Ob aber mit
Recht, läßt sich einstweilen nicht sagen.
So schrumpft der unmittelbare Quellenwert der Lite-
raturgeschichte Staindels ziemlich zusammen. Seine „Sup-
pletio" ist eine fleißige Kompilation aus uns wohlbekannten
Werken. In den meisten Fällen sind diese wörtlich ausge-
schrieben. Nur ganz selten brauchte Staindel, dem Schema
des Trithemius zuliebe, Umstellung vorzunehmen. Zusätze
1) MG. SS. IX, 567.
2) L. c. 772.
') Oefele, Rerum Boic. SS. I, 467.
*) Analecta hymnica medii aevi LI, 209 f.
32 Paul Lehmann,
aus Eigenem finden sich in der kurzen Vita der einzelnen
Autoren verschwindend wenig. Er fügte z. B. mehrfach
die Blütezeit der Schriftsteller zu, auch wenn sie in seiner
Vorlage nicht vermerkt war. Bei Ado z. B. schrieb er Claruit
sab Carolo Magno et Ludovico imperatoribus, bei Justus
Vienn. Claruit sub Justiniano secundo imperatore, bei Regino
Floruit tempore Arnulf i imp., bei Freculf Claruit tempore
Caroli Grossi imp., bei Bernaldus Claruit tempore Henrici
tercii imp., was alles beim Anon. Prüfen, fehlt. Gelegentlich
schiebt er auch mal ein vir doctissimus u. dgl. ein und hängt
der Schriftenliste — ganz wie Trithemius — ohne daß er
Glauben verdiente, ein et alia an oder, wie bei Eucherius,
ein et alia plura que circa nos minime apparent an. Kritik
wird weder an der geschichtlichen Überlieferung noch an
den literarischen Erzeugnissen der behandelten Schrift-
steller geübt. Einigen Wert haben von den Zutaten nur die
neuen Buchtitel und die Initien, die beigegeben sind. Was
in der Hinsicht geboten wird, mag die folgende Zusammen-
stellung zeigen, in der ich alle mit Textanfängen versehenen
Titelvermerke in alphabetischer Folge der Schriftsteller
vereinigt habe, die handschriftlichen Zusätze innerhalb des
Trithemiusdruckes wie die Stellen aus Staindels eigener
Kompilation. Ich scheide beide dadurch voneinander, daß
ich die Nachträge zu Trithemius in runde Klammern setze.
ADO VIENN.:
Chronica abbreviata. Breves temporum.
(ALCUINUS:
De proprietate sermonum. Inter pollicere.
Eplstolarum ad diversos. Venerabili patri et amabili fratri.)
(AMBROSIUS:
De XLII mansionibus. Mansiones.
In epistolas Pauli. Principia verum.)
ANDREAS HISPANUS:
Lumen confessorum. Lumen confessorum vocatur.
(ANGELOMUS:
In genesim. Eximio patri et floribus.)
APULEIUS:
De vita et moribus Piatonis li. I. Piatoni habitudo corporis.
De deo Socratis li. I. Qui me voluistis dicere ex tempore.
De asino aureo li. I. At ego tibi sermone isto.
De magia 11. II. Certus equidem er am.
Staindel-Funde. 33
Floridorum li. IUI. Ut ferme religiosis viantium.
De habitudine mundi sive cosmographia li. I. Consideranti mihi et.
(BAPTISTA MANTUANUS:
Adolescentia Baptiste. Fauste precor gelida.
Vita Margarite, Agathe, Lucie, Apolonie. Qui novus iste furor.
De patientia: Quo ... oportunis ac frequentibus.)
<BKDA:
De tabernaculo. Locuturi iuvante domino de figura.
In libros Regum. Regum tempora post iudices.)
<BERNARDUS CLAR.:
De XII gradibus superbie: Primus itaque.
De contemptu mundi ad fratrem Renaldum. Cartula nostra tibi
mandat.
De regimine familie. Gracioso et felici.
De honestate vite. Petis a me.
De passione domini. Septies in die laudem dixi.)
<BLONDUS FLAVIUS:
De Roma triumphante. Quotquot hadenus scriptores.
De Roma instaurata, Urbis Rome rerum domine.
De Italia illustrata. Italiam describere exorsi.
De gestis Venetorum. Magnum, Francisce Foscari.)
CICERO:
Paradoxa ad Brutum li. I. Animadverti, Brüte, sepe Cato.
De officiis li. III. Quanquam te, Marce fili, annum.
De amicitia li. I. Quintus Mucius Augur Scevola.
Cato maior vel de senectute li. I. 0 Tite, siquid ego adiuto.
Tusculanarum questionum li. V. Dum defensionum laboribus.
DIODORUS SICULUS:
Historiarum li. VI. Magnas merito gratias rerum.
DION:
De regno li. IUI. Ferunt aliquando Thimotheum mu . qui a
Gregorio Tiphernio tempore Nicolai quinti pape e Greco in La-
tinum translati sunt.
<DAVID TEUTONICUS:
US oracionis Opor . . . are.) ^)
ERBO FRISINGENSIS:
Vitam S. Emmerami martyris li. I. In perpetuum regnante do-
mino.^)
Vitam S. Corbiniani episcopi li. I. Dum cupimus ad edifica — .*)
^) Die Notizen sind zuweilen durch Beschneiden der Blätter
verstümmelt. So auch hier. Es ist wohl der Traktat De oratione gemeint,
den E. Lempp in der Zeitschrift für Kirchengeschichte XIX (1899),
S. 17 f. u. 24 erwähnt.
2) Nach dem Initium die Fassung B der Vita, MG. SS. rer. Merov.
IV, 472 sqq.
3) Die jüngere Form der Vita = Bibl. hag. lat. Nr. 1948.
Historische Zeitschrift (Ul. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 3
34 . Paul Lehmann,
(FULGENTIUS RUSP.:
De Adam sine A, Abel sine B: Principio rerum post quinque.Y)
GELLIUS:
De noctibus Atticis li. XX, Plutarchus in libro.
(GUILHELMUS PARIS:
<De legDbus li. I. Post hec:
<De tenta)cionibus et resistenciis. Post hec ordine:
<De) retributionibus sanctorum. Post hec autem:
<De immor)talitate anime. Nosse autem debes.
De sacramentis. Cum inter sapientiales spiritualesque.
Summa virtutum. Postquam claruit ex ordine.
Summa vitiorum. Aggrediamur huius tractatus.
De universo. Scientia de universo dicitur.)
(HENRICUS EUTA:
De quatuor notabilibus. Dico pro notabili illud.)
(HENRICUS DE LANGENSTEIN:
De contractibus. In sudore vultus.
In exposicionem misse. Quam brevis fuerit missa.
De quatuor novissimis. Memorare novissima tua.)
(HILARIUS:
In psalmos. Diver sas esse plurimorum.)
HORATIUS:
Carmen seculare. Phebe silvarumque potens Diana.
Sermonum li. II. Qui fit, M^cenas, ut nemo quam sibi sortem.
Epistolarum. li. II, Primp dicte mihi summa dicende campna.
Carmen epodon li. I. Ibis Liburnis inter alia navium.
Odarum carminum li. IUI. Mecenas atavis edite regibus.
Poetria li. I. Humano capiti cervicem pictor equinam.
(HUGO DE S. VICTORE:
De conscientia. Domus hec in qua.
De volenti nubere. Dum te.
De amore sponsi et sponsae. Ibi mihi.
In V libros Moysi. Sciendum quod.
De mysteriis ecclesiae. Oportet ut.
In Ezechielem. Muttis divine.
Epitoma Philosophie. Sepe nobis.)
(lACOBUS DE IVETERBOG:
De animabus exutis a corporibus. Rogamus vos, ne terreamus.y
(lOHANNES DE DEO:
De regulis penitencialibus. Venerabili patri ac domino.)
(lOHANNES GALLENSIS:
Compendiloquium philosophorum. Cum.
De sapientia sanctorum. Vani sunt ho...
De virtutibus antiquorum. Quoniam misericordia.)
^) Das Initium gehört in Wahrheit zur Aurora des Petrus Riga,.
Staindel-Funde. 35
(lOHANNES PICUS MIRANDUL.:
<De ente et> iino. Narrabas mihi superioribus diebus,
<De hominis dignitate. Legi, patres colendissime.
(Epistolae). Johannes Picus.
Adversus astrologos: Homerus (atque) Cecilius antiquissimi.
<De vera sup>putacione temporum.
Heptaplus. Movit emulatio me studiorum.
Apologia. Apologiam nostram dicavi tibi, Laurenti.
<Obiit Flore)ncie anno domini [1494] anno etatis 32.)
(lORDANES:
Historiarum libri. Maiores nostri, ut refert Orosius.)
(ISIDORUS HISPAL.:
De creatione mundi et astrorum ordinatione. Domino et filio
Sisebuto.
De officiis ecclesiasticis. Primum a Petro ecclesia.
Primiorum novi et veteris testamenti. De libris novi ac veteris
testamenti.)
IVSTINUS:
Epitoma Trogi li. XLIIII. Cum multi ex Romanis.
(LEONARDOS ARETINUS:
Historia sui temporis, Qiii per Italiam homines excelluerunt.)
(LUPOLDUS DE BEBENBVRG:
De celo christianae religionis veterum principum Germaniae.
Legitur in Ecclesiastico.
De iuribus imperii Romani. Cum inter omnes principes.)
MACER:
Naturas herbarum li. 1. Herbarum quasdam didurus carmina.
MARTIALIS:
Epigrammata li. I. Barbara Pyramidum.
(NICETAS:
<De doctrina) apostolorum. Vite due sunt.
<Liber> ecclesiasticorum dogmatum. Credimus unum esse deum.)
(NICOLAUS DE CUSA:
De theologicis complementis. Perfeceram proxime.
Apologia docte ignorantie. Retulit mihi.
Coniectura de ult<imis diebus) Quamquam universus.)
(ORIGENES:
In Judicum. Lector quidem presentis lectionis.
In ev. Matthaei. Interrogatus Christus discipulos.
In Ezechielem. Non omnis qui captivus est propter peccata.
In principium Job, Sicut celi luminaria.
In cantica canticorum. Epithalamion libellus id est nupti.)
(OTTO FRISING.:
Historiarum. libri VIII. Gestarum rerum ab Adam.)
OUIDIUS:
Metamorphorseorum (!) id est transformationum li. XV. In nova
fert animus.
3*
36 Paul Lehmann,
De arte amandi li. III. Si quis in hoc artem populo non.
De remedio amorls li. I. Pergat huius amor nomen.
De sine titulo li. III. Qui modo Nasonis fueramus.
Saphos eiusdem li. I. Nunquid ubi aspecta est studiosa.
Invectiva in ibin li. I. Tempus ad hoc lustris mihi iam.
Epistolarum heroidum li. I. Hanc tua Penelope lento.
(PETRARCHA:
. decades X. . . . osticas nominavit.
. virorum illustrium. Hie adolescens.
. cribitur secretum: . . . tonito mihi quidem.
. sapientia dialogi. . enit pauper quidam.
. arum li. IV. or in vectioarum.
. sine titulo. Odiosa fuerit.
In psalmos penitentiales. Heu mihi misero.
Historia Griseldis. Librum tuum quem nostro materno.
De rebus memorabilibus. Sed mihi cuncta versanti.
PHILO:
Sapientie 11. I. Diligite iustitiam qui iudicatis terram.
(breviarium temporum. Ab Adam usque ad diluvium.)
PLINIUS:
Naturalis historia li. XXXVII. Libros naturalis historie.
Epistolarum li. VIII. Frequenter hortatus es.
Panegiricus Trajano li. I. Bene ac sapienter.
De viris illustribus li. I. Proca rex Albanorum.
PLUTARCHUS:
De politica institucione li. I. Plutarchus Trajano salutem dicit.
De fortuna Romanorum li. I. Que multa sepenumero.
De viris illustribus li. I. Quem admodum, o Sossie.
PTOLOMAEUS:
Cosmographie li. VIII. Cosmographia designatrix.
QUINTILIANUS:
De institutione oratoria li. XII. Post impetratam studiis.
(ROSWIDA:
Comoedias. Plures inveniuntur catholici.
De gestis Ottonum etc. Postquam rex regum qui solus regnat.
De Dionysio. Dum factor summe medie rationis et ime.
De Gongolfo, O pie lucisator mundi rerumque parator.
De Pelagio. Inclyte Pelagi.
De Theophilo. Postquam lux fidei.
De Basilio. Tempore Basilius quo.
De Agnete. Virgo que vanas.
(RUPERTUS DE LICIO:
De timore iudiciorum dei. Vidi alterum angelum volantem.
STATIUS:
De hello Thebaico li. I. Fraternas acies.
De Achillis infantia li. I. Magnanimum Eacidem,
Staindel-Funde. 37
SUETONIUS:
De duodecim Cesaribus li. XII. Annum agens Cesar XVI.
De viris illustribus grammaticis et rhetoribus li. I. Grammatica
Rome ne in usu.
TERENTIUS:
Andria. Sororem falsa creditam,
Eunuchus. Si quisquam est qui placere.
Heutontimerumenon. Quanquam hec inter nos.
Adelphis. Storax non rediit hac nocte.
Hechira. Per pol quam paucos reperiat.
Phormio. Arnims summus meus.
THEODERICUS VRIE:
De consolacione ecciesie li. VIII. Regi regum citra Christum.
(THOMAS DE KEMPIS:
De vita Gerhardi. Auxiliante domino.
Soliioquium anime. . .tionis gratia aliq...
De disciplina claustrali. Apprehendite diso )
(VINCENTIUS FERRAR.:
De fine mundi. Ecce positus est hie in ruinam.)
{MAPHEUS VEGIUS:
Disputatio inter <solem> terram et aurum. Cum decertarent inter se.
De educatione liberorum. Si tamen nobis ingenii esset.
Dialogus Veritatis et Philalithis. Quenam es tu mortalium.
VIRGILIUS:
Bucolica li. I. Tityre tu patule recubans sub.
Georgica li. IUI. Quid faciat letas segetes.
Eneidos li. XII. Arma virumque cano Troie qui primus.
Priapea. Carminis incompti lusus ledure.
Copa. Copa Sirisca caput Graia redimita.
Est et non. Est et non cuncti monosillaba nota.
Vir bonus. Vir bomis et sapiens qualem vix.
De rosis. Ver erat et blando mordentia.
Culex. Lusimus, Octavi, gracili modulante.
Dire. Battare, Cyneas repetamur carmine.
Etna. Etna mihi ruptique cavis forna.
Ciris. Etsi me vario iactatum laudis.
Catalecton. Vere rosa, autumno pomis esta te.
Moretum. Jam nox hybernas bis quinque.
Hortulus. Adeste muse maximi proles.
De vino et Venere. Nee Veneris nee tu vini.
De livore. Livor tabificum malis venenum.
De cantu Syrenarum. Sirenas varios cantus Acheloia.
De fortuna. Fortuna potens tantum.
De Orpheo. Threicius quondam vates.
De se ipso. Mellifluum quisquis Romanum.
De etatibus animalium. Per binos deciesque novem.
38 Paul Lehmann,
De ludo. Sperrte lucrum, vexat mentes.
De erumnis Herculis. Prima Cleonei tolerata crimina.
Argumenta XII librorum Eneidum. Eolus inmittit ventos.
De musarum inventis. Clio gesta canens transactis tempora.
De speculo. Redditur effigies liquida cernentis.
De celestibus signis. Primus adest Aries Taurusque.
De littera . y . Littera Pythagore discrimine.
WALAFRIDUS STRABO:
Vita S. Galli ad Gozbertum abbatem.
Vieles davon war bereits gedruckt, als Staindel schrieb,
so die oder die meisten der unter Apuleius, Baptista, Ber-
nardus, Blondus, Cicero, Diodor, Dion, Guilhelmus, Horatius,
Johannes Picus Mir., Johannes Gallensis, Justinus, Leonardus,
Lupoldus de Bebenburg, Macer, Martialis, Nicolaus Cusanus,
Ovidius, Petrarcha, Plinius, Plutarchus, Statins, Suetonius,
Thomas, Vegius, Virgilius, Vrie undVincentius verzeichneten
Werke. Es ist anzunehmen, daß Staindel diese Titel zum
größten Teil den Ausgaben entnahm, doch mag er von man-
chem Text auch Handschriften gesehen haben. Aber selbst
von dieser Möglichkeit abgesehen, ist die Zahl der ihm nur
aus Manuskripten bekannten Schriften stattlich genug.
Sind auch keine Unica dabei, so doch Verschiedenes, auf
das man früher im Mittelalter nicht allzuoft geachtet hatte,
z. B. die Weltchroniken Ados und Ottos von Freising und
die Alcuinbriefe. Das Incipit Venerabili patri et amabili
fratri zeigt, daß er die Alcuinüberlieferung kannte, die durch
Wien 808, einen Salzburger Kodex des 9. Jahrhunderts,
vertreten ist.i) Von anderen Einzelheiten möge an dieser
Stelle Abstand genommen und das Nähere dem überlassen
werden, der nach sorgfältiger Rekonstruktion der Staindel-
schen Bibliothek alle von Staindel benutzten Quellen syste-
matisch zu behandeln unternimmt. Auf jeden Fall bestätigt
die literargeschichtliche Kompilation den Eindruck, den
man von Staindel aus der Chronik und den Kollektaneen
bekommen hat: daß er namentlich in der geschichtlichen
Literatur gut bewandert gewesen ist, ohne an Schriften
anderer Wissenszweige achtlos vorübergegangen zu sein.
1) Vgl. MG. Epp. IV, 4 u. 253.
Staindel-Funde. 39
Zum Schluß wäre noch ein Wort darüber zu sagen,
auf welchem Wege denn die Staindelschen Bücher auf uns
gekommen sind. Oblinger hatte darauf hingewiesen, daß
die Chronik und die Kollektaneen des Passauer Domherrn
über Formbach nach München gekommen sind, und daß
ebenfalls in Formbach der Liber de scriptoribus ecclesiasticis
von Pez gefunden worden war. Er suchte das mit dem
regen literarischen Austausch zwischen Staindel und dem
Formbacher Abt Angelus Rumpier zu erklären. „Vielleicht,"
sagt er S. 49, ,,sind auf diesem Wege" — des freundschaft-
lichen Verkehrs — ,,Staindels Schriften in den Besitz des
Klosters Formbach gekommen, indem die Rückgabe wegen
des dazwischen eingetretenen Todes Staindels nicht mehr
möglich war, oder Staindel mag sie bei seinem Tode dem
befreundeten Kloster geschenkt haben." Auf daß man
dazu Stellung nehmen kann, muß ich nachtragen, daß nicht
nur die vier Bände, von denen Oblinger spricht, sondern
alle die Handschriften und Drucke, die ich im Verlaufe der
Abhandlung mit Staindel verknüpfen konnte, aus Form-
bach stammen. Sie tragen Einbände mit eingepreßten
Initialen Formbacher Äbte des 18. Jahrhunderts, und die
Handschriften lassen sich sämtlich im Formbacher Manu-
skriptenkatalog von 1610 (München lat. 6153) feststellen.
Außerdem scheint die Chronik Staindels schon im 16. Jahr-
hundert von Kaspar Brusch in Formbach gesehen zu sein.^)
Bei diesem Tatbestande kann ich nicht glauben, daß die
Bücher dank dem Verkehr mit Rumpier nach Formbach
gekommen und beim Tode Staindels ans Domstift Passau
zurückzugeben vergessen sind. Vielmehr wird es sich um die
Privatbibliothek Staindels handeln, die dieser dem Kloster
zu Lebzeiten oder — was wahrscheinlicher ist — letztwillig
geschenkt hat. Die Worte Collatione domini Johannis Staindel,
die auf dem Schnitt des Münchener Codex lat. 732 stehen,
heißen meiner Meinung^) nach nichts anderes als: Geschenkt
von Johann Staindel. Vielleicht gelingt es jemandem, darüber
1) Vgl. Oblinger S. 62 f.
2) Oblinger S. 45 f. sieht in der Bemerkung eine Angabe der
Verfasserschaft Staindels.
40 Paul Lehmann, Staindel-Funde.
aus den Archiven Auskunft zu erteilen. Dann wird sich
wohl auch die Todeszeit Staindels genauer bestimmen
lassen. Während man früher glaubte, er habe das Jahr
1510 nicht erreicht, zeigte Oblinger^), daß Staindel noch
1510 gelebt haben muß, und es ist wohl möglich, daß er noch
das zu Wien im Jahre 1513 erschienen e^) „Exemplar inmodum
accentuandi secundum ritum chori ecclesie Pataviensis"
fertig in Händen gehabt hat, an dessen Schlüsse es heißt:
Iste libellus est correctus per vicarios chori et Johannem
Staindel, custodem ecclesie Pataviensis.
1) A. a. O. S. 87.
2) München, Staatsbibliothek 2° Liturg. 108.
Kurfürst Maximilian Emanuel von Baiern
und die schweizerische Eidgenossenschaft
in den Jahren 1702 und 1703.
Von
Gerold Meyer von Knonau.
Seit dem Jahre 1878 ist Sigmund v. Riezier
Ehrenmitglied der Allgemeinen Geschichtforschen-
den Gesellschaft der Schweiz. So soll dem Freunde
an dieser Stelle aus einigen im Zürcher Staats-
archiv liegenden Dokumenten die Beleuchtung
eines Punktes dargeboten werden, wo sich baie-
rische und eidgenössische Geschichte berühren.
Er trifft in jenen Teil der Geschichte Baierns,
über den die historische Wissenschaft aus der
Weiterführung des großen Werkes des heute ge-
feierten Geschichtschreibers neue reiche Auf-
schlüsse erwartet.
Für die Eidgenossenschaft brachte schon gleich das
erste Jahr des Spanischen Erbfolgekrieges ernsthafte Be-
unruhigung. Die seit dem 28. September 1702 in Baden
versammelte außerordentliche Tagsatzung war einbe-
rufen worden, weil verschiedene Nachrichten von der An-
näherung fremder Heere eingelaufen waren. Ganz be-
sonders bat Basel, wegen wachsender Gefährdung seiner
Grenzen, es möchten ihm eidgenössische Hilfstruppen ge-
währt werden, und es wurde beschlossen, sowohl den ober-
halb Basels liegenden wichtigen Rheinübergang bei Äugst,
an der Grenze des kaiserlichen Gebietes bei Rheinfelden,
als auch den Paß an der Birs, zunächst östlich vor den
Thoren der Stadt, decken zu helfen, und ebenso wurden
zwei Kriegsräte nach Basel abgeordnet, die in Verbin-
42 Gerold Meyer von Knonau,
dung mit den dortigen Offizieren über alle Vorfälle be-
raten sollten. Die Bedrohung Basels wuchs, als zwei Ver-
letzungen der Neutralität in der nächsten Zeit folgten,
eine erste geringere, die Frankreich Anlaß zur Klage bot,
und eine zweite von größerer Tragweite, die Erklärungen
von kaiserlicher Seite zur Folge hatte.
In der Nacht vom 1. Oktober wurden von Rhein-
felden vier mit Steinen beladene Schiffe auf dem Strom
abwärts gesandt, die unter der Basler Rheinbrücke hin-
durch den Weg nach Hüningen verfolgten, mit dem
Zweck, die dort von den Franzosen nach dem rechten,
markgräflich badischen, Ufer errichtete Schiffbrücke zu
zerstören, was allerdings nicht gelang. Dessenungeachtet
geschahen lebhafte Verwahrungen Frankreichs. Die darauf
folgende Störung, am 13. und 14. Oktober, ging nun aber
eben von der französischen Kriegsführung aus. Marschall
Villars warf aus Hüningen am Abend des ersten Tages
vierzig Fahnen, wie in einem Basler Berichte gezählt
wurde, auf die im Strombett vor Hüningen liegende Insel,
von der sie am folgenden Morgen auf das deutsche Ufer
weiterrückten; am 14. kam es dann bei dem Schlosse
Friedlingen zu einem heftigen Zusammenstoß mit den
kaiserlichen Truppen. Der Umstand, daß die südliche
Spitze der beim Flußübergang von den Franzosen benutzten
Insel zum Gebiete von Basel zählte und daß in der Nacht
ein Teil der französischen Truppen, weil der Raum auf dem
französischen Stück der Insel nicht genügte, auf diesem
Boden, der zur Schweiz gehörte, sich aufgehalten hatte,
mußte als ein Bruch der Neutralität aufgefaßt werden. Allein
es konnte bemerkbar gemacht werden, daß der eigentliche
Einbruch nicht von da, sondern vom französischen nörd-
lichen Teile aus geschehen sei, was denn auch der kaiserliche
Gesandte selbst anerkannte.
In der verlustreichen Schlacht bei Friedlingen schrieben
sich beide kämpfende Teile den Sieg zu. Villars konnte
auf den Erfolg, daß ihm angesichts des Feindes der Fluß-
übergang gelungen war, daß er deutschen Boden betreten,
sich auf diesem behauptet hatte, hinweisen. Dagegen ver-
mochte der Führer des kaiserlichen Heeres, Markgraf Lud-
Kurf. Max. Emanuel v. Baiern u. d. Schweiz. Eidgenossenschaft. 43
wig Wilhelm von Baden, ungehindert aus seiner im Augen-
blick sehr gefährdeten Stellung abzuziehen, und danach
schnitt er durch geschickte Bewegungen dem Feinde eine
weitere Ausnutzung seines Erfolges ab. Im November ging
Villars über den Rhein zum Bezug der Winterquartiere
in den Elsaß zurück.
Ganz vorzüglich jedoch war eine hauptsächliche Ab-
sicht , die dem Vorstoß Villars' zugrunde gelegt war,
durchaus nicht zur Erfüllung gekommen, eine Vereinigung
der französischen Armee in Süddeutschland mit dem Auf-
bruch des Kurfürsten Maximilian Emanuel von Baiern. i)
Maximilian Emanuel hatte trotz seines schon am 9. März
1701 mit Ludwig XIV. geschlossenen geheimen Einver-
ständnisses noch längere Zeit über den Ausbruch des Krieges
hinaus im Jahre 1702 sich keiner der im Kampf stehenden
Parteien offen angeschlossen. Noch waren die Versuche von
Wien aus fortgesetzt worden, den Kurfürsten von Frank-
reich abzuziehen, ihn in der Neutralität festzuhalten, und
ernsthaftere Anstrengungen von Seite des Kaisers Leopold,
den Wünschen Maximilian Emanuels entgegenzukommen.
1) Die auf Maximilian Emanuel sich beziehenden Dokumente sind
in der Mappe A 181 „Bayern" des Zürcher Staatsarchivs enthalten.
Für die auf die Stellung der Eidgenossenschaft in Betracht kommen-
den Fragen ist Band V, Abteilung 2, der „Amtlichen Sammlung der
älteren eidgenössischen Abschiede" (1681 — 1712) die Grundlage:
daneben P. Schweizer: „Geschichte der schweizerischen Neutralität",
besonders S. 390 ff., und für die Schlacht von Friedlingen eine Studie
des Militärhistorikers Hans Wieland im Basler Taschenbuch von 1856.
Vergleiche auch C. von Noorden: „Europäische Geschichte im 18. Jahr-
hundert", Band I, S. 267 ff., wo nur eigentümlicherweise auf S. 277,
um 130 Jahre zu früh, von „Basel-Land" die Rede ist, auf S. 278 für
Villars nicht richtig Neuenburg als Stelle des Übergangs über den
Rhein erwähnt wird. „Zürcherische Beziehungen zur Reichsstadt
Lindau" finden sich, nach den Materialien im Zürcher Staatsarchiv,
durch den Verfasser dieser Abhandlung in Heft XLI der ,, Schriften
des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung"
erörtert. Zur Angelegenheit der Salztraktate enthält Band XVIII
der handschriftlichen Hinterlassenschaft des auf dem historischen Felde
vielfach tätigen Zürchers Johann Heinrich Schinz (vgl. Neujahrsblatt
der Zürcher Stadtbibliothek von 1903) Aufschlüsse.
44 Gerold Meyer von Knonau,
hätten möglicherweise Erfolg gehabt. Allein tatsächlich war
die Entscheidung in München nur verzögert worden, um die
Rüstung zum entscheidenden Schlage weiterzuführen. Zu
allgemeiner Überraschung geschah der Eintritt des Kur-
fürsten in die Kriegsführung.
Vom 10. September 1702 ist die Ankündigung des
Kurfürsten an den schwäbischen Reichskreis — aus Schloß
„Leuthenberg", Lichtenberg am Lech — erlassen, in der nach
einigen einleitenden Worten die Erklärung folgte: ,,Nach-
demme man sogar dahin gegangen, daß man die Bayeri-
sche Craiß-Stände von unß zu separieren und selbige mit
mehrmaliger unßer alß Craiß-Obristen und außschreiben-
den Fürstens schimpffliche Umgehung mit in das Spil zu
nehmen, mithin auch nicht nur den Bayerischen Craiß
sambt unßeren Churfürstenthumb und Landen immer
näher in die Gefahr zu setzen, sonder dem ganz vermuthen-
den Absehen noch forderist unß noch mehrers ynzu-
schrenken gesucht, alß habend wir unß nunmehr noth-
getrungenerweiß bemüßigt befunden, bey denen sich im-
mer mißlicher und gefährlicher anlassenden Conjuncturen,
dem Uebel und der Gefahr in Zeiten entgegen zu gehen
und nebend Herbeybringung des allgemeinen Ruhstandts,
auch auff unßer und unßer von Gott anvertrauter Landen
Rettung und Sicherheit zugedenkhen, auch zu solchem
Ende unßere Truppen außruckhen und unß entzwischen
zu mehrerer Bedekhung unserer Gränzung des Dhonnau
Paß zu Ulm nur so lang versicheren lassen, bis die Ge-
fahr was mehrers nachgelassen, und man der gemein-
samben Ruh und Sicherheit, darauff unser einziges Ab-
sechen gerichtet, in dissen hierobigen Reichslanden noch
besser vergewissert ist. Wir habend dahero Euch von
disem unserem Vorhaben hiemit die gezihmende Eröff-
nung thun und zuvorderist versichern wollen, daß wir
weder gegen die Stat Ulm, noch ander Ständen die ge-
ringste Feindtselligkeit zu begehen oder ihnen an ihren
Freyheiten und Rechten einigen Abbruch zu thun, sonder
sie vielmehr dabey selbst, wie wir es auch hiebevor auf-
richtig gethan, zu beschüzen und zu handthaben be-
gehren".
Kurf. Max. Emanuelv. Baiern u. d. Schweiz. Eidgenossenschaft. 45
Allein schon zuvor, am 8. September, war der Angriff
auf die Reichsstadt Ulm geschehen. Der Umstand, daß das
Ulmer Kontingent zum größten Teil an der Belagerung der
Festung Landau beteiligt war, hatte die Wehrkraft der Stadt,
deren der Kurfürst so dringend bedurfte, wenn er einen
Vorstoß westwärts durchführen wollte, sehr geschwächt;
die beste Gelegenheit zu einem Überfall war ausgekund-
schaftet worden, und so geschah in den Morgenstunden
des genannten Tages die Überrumpelung und, weil der
Rat auf jeden Widerstand verzichtete, alsbald die Kapitu-
lation. Am 13. September empfing Maximilian Emanuel
selbst die Schlüssel der Reichsstadt.
Die Abschrift der verhängnisvollen Kundgebung an
den schwäbischen Reichskreis liegt im Zürcher Archiv,
und man irrt wohl kaum, wenn man annimmt, die mit
Zürich in vielfachem Verkehr stehende, dem Gebiete der
Eidgenossenschaft zunächst liegende Reichsstadt Lindau
habe an deren Vorort diese Mitteilung vermittelt. Denn
als ,, Vormauer und Brotkorb der Eidgenossenschaft", wie
der Lindauer Rat seine Stadt in dem am 22. September an
die evangelischen Orte der Eidgenossenschaft gerichteten
Schreiben bezeichnete, stellte die Reichsstadt am Bodensee
das Ansuchen, in den Schirm der Eidgenossenschaft aufge-
nommen zu werden, einige Stücke samt zugehöriger
Munition und Konstablern, im Notfall eine Garnison von
200 bis 300 Mann in eidgenössischen Kosten und eine Geld-
unterstützung zu empfangen.
Doch auch für die Tagsatzung war die Aufmerksam-
keit nicht bloß, wie schon erwähnt, auf die Deckung von
Basel, sondern im weiteren auf die durch den Einfall des
kurbaierischen Heeres möglicherweise bedrohten Gebiete
innerhalb des Reiches gerichtet. Wie schon in ähnlichen
früheren Fällen, von Kriegen in der Zeit Ludwigs XIV.,
bei dem Einfall in das Deutsche Reich 1688 und 1689, und
wieder in den Jahren 1691, 1697, lag die Erwägung vor,
über die Grenze der Eidgenossenschaft hinaus die Neu-
tralisierung auszudehnen. Damals war von der öster-
reichischen Stadt Constanz, von den gleichfalls öster-
reichischen Waldstädten am Rhein — Waldshut, Laufenburg,
46 Gerold Meyer von Knonau,
Säckingen, Rheinfelden — samt dem auf dem linken Fluß-
ufer liegenden, an die Gebiete von Bern, Solothurn und
Basel angrenzenden Frickthal, sowie von einem auf zwei
Stunden sich ausdehnenden Bezirk des Deutschen Reiches,
soweit es an die Eidgenossenschaft stieß, die Rede ge-
wesen. Aber es kam hierfür auch noch ein kleinerer Be-
zirk auf der rechten Rheinseite in Betracht, für den eigen-
tümliche Verhältnisse galten. Drei Dörfer der seit 1698
dem fürstlichen Hause Schwarzenberg zustehenden Land-
grafschaft Klettgau — Hohen-Thengen, Herdern, Lien-
heim — , über die jedoch die in der schweizerischen ge-
meinen Herrschaft Baden regierenden eidgenössischen Orte
die Hoheit ausübten, standen dadurch unter dem Schutz
der Eidgenossenschaft, so daß in Zeiten der Gefahr
Schutzwehren dahin verlegt wurden — amtlich wird von
,,Salve-Garda-Stühden" gesprochen — und auch das Mann-
schaftsrecht in diesen Ortschaften im Namen der Eidge-
nossenschaft von jenen Stellen aus zur Ausübung kam.
Wie für diese vor der Grenze liegenden Teile fremder
Gebiete, so war auch für die eidgenössischen Länder selbst,
bei der Nachricht von dem Übertritt der baierischen Truppen
auf den Boden des schwäbischen Kreises, lebhafte Besorgnis
erweckt. In den Verhandlungen seiner seit dem 28. Sep-
tember in Baden versammelten außerordentlichen Tag-
satzung kam zur Erwähnung, Bern habe auf diese Nachricht
hin 2000 Füsiliers aufgeboten, zumal zum Schutz von Schaff-
hausen. Denn eben auch in Schaffhausen selbst, das durch
seine vorgeschobene Lage in erster Linie gefährdet erschien,
war die Aufregung sehr angewachsen. Die baierischen
Vortruppen streiften über Stockach, von wo das österreichi-
sche Oberamt samt dem nach Constanz geretteten Archiv
entfernt worden war, bis in den Hegau, und man wollte
wissen, daß 1500 Reiter schon bis gegen den Rhein hin,
in der Richtung nach Waldshut, vorgeschoben seien: so
sandte der Rat von Schaffhausen einen Offizier am 20. Sep-
tember nach dem baierischen Hauptquartier, das bei Stock-
ach lag, ab, um über die auch für die Schweiz drohenden
Bewegungen Auskunft zu erhalten. In ähnlicher Weise laute-
ten Berichte der in Basel anwesenden Kriegsräte, die jetzt
Kurf. Max. Emanuel v. Baiern u. d. Schweiz. Eidgenossenschaft. 47
in der Zahl von vier Vertretern der Orte Zürich, Bern, Luzern,
Freiburg dorthin abgeordnet waren. Pfullendorf war da
als der zumeist vorgeschobene baierische Posten genannt,
und ebenso mußte gemeldet werden, daß Schaffhausen,
eben in Befürchtung eines Angriffs von Seite des Kurfürsten,
zur eigenen Sicherung zu Stadt und Land seine nach Basel
gesandten hundert Mann zurückbegehre, zwar mit dem
Versprechen, sie wieder einrücken zu lassen, sobald die Ge-
fahr verschwunden sein werde. Die Annahme schien berech-
tigt zu sein, daß Maximilian Emanuel bei den Waldstädten
am Rhein durchbrechen, sich mit Villars verbinden wolle,
und dieser selbst gab ja nachher zu erkennen, daß er am
Tage der Friedlinger Schlacht sehnsüchtig ostwärts, nach
den Schwarzwälder Bergen, die Blicke gerichtet habe, in
der Hoffnung, die Fahnen des baierischen Heeres dort
in der Annäherung zu sehen.
Inzwischen war nun aber für die Eidgenossenschaft
von der entscheidenden Stelle selbst, vom Kurfürsten Maxi-
milian Emanuel, die Beruhigung erfolgt.
Der Kurfürst hatte nach der Festsetzung in Ulm schon
gleich am 13. September sein Augenmerk auf eine andere
ansehnliche schwäbische Reichsstadt, im Tale der Hier
südlich aufwärts, auf Memmingen, gerichtet. Doch da zeigte
sich zuerst der Rat entschlossener, als derjenige von Ulm ge-
wesen war: den baierischen Truppen wurde der Eintritt ver-
weigert, und Widerstand wurde vorbereitet. So kam der
Kurfürst selbst heran und lagerte sich vor der Stadt, wobei
er in der nahe gelegenen Kartause Buxheim sein Quartier
nahm. Der Rat ließ es sogar auf eine nächtliche Beschießung
der Stadt ankommen, und erst als der kaiserliche Stadt-
kommandant selbst erklärte, daß an einen Entsatz nicht zu
denken sei, geschah am 1. Oktober die Übergabe. Der Kur-
fürst blieb noch länger in Buxheim; denn vom 9. des Monats
ist aus diesem Kloster das Schreiben an die Eidgenossenschaft
abgefertigt.
An Bürgermeister, Schultheißen, Landammänner, Räte
der Orte der Eidgenossenschaft ist die Kundgebung gerichtet.
Sie beginnt: ,,Uns ist glaubwürdig hinterbracht, daß Ihr
48 Gerold Meyer von Knonau,
ob Uns, was Wir bisher gegen dieser Station vorgenom-
men, Ombrage scliöpfen sollt. Wie Wir Uns aber in
Unseren an die Kreise, fränkischen und schwäbischen, in
öffentlichen Ausschreiben explicirt, wie zum Vorgehen
Wir bewogen worden, ist Uns dabei niemals beigefallen,
Eure Tranquillität im geringsten zu alterieren, sonder Wir
Unsers Gedenken vielmehr dahin gerichtet sind, die zwi-
schen Uns und Euch jeder Zeit hergebrachte gute Ver-
ständniß fortan aufrichtig zu erhalten". Am Schluß wird
gebeten, daß, wie, trotz jener Nachrichten, die vollste Zu-
sicherung von Seite des Kurfürsten gegeben sei, diese in
der Eidgenossenschaft mit Vertrauen aufgenommen werden
möge.
Zürich teilte als Vorort den Inhalt des kurfürstlichen
Schreibens an die einzelnen Orte mit, und von diesen gingen
in der zweiten Hälfte des Monats Oktober die Bestätigungen
des Empfanges, nebst dem Wunsche, daß dem Kurfürsten
der Dank in der Erwiderung bezeugt werde, nacheinander
in Zürich ein. Aber auch die neuerdings auf den 25. Ok-
tober nach Baden einberufene außerordentliche gemeineid-
genössische Tagsatzung, die abermals gehalten wurde, um
bei diesen gefährlichen Zeiten wegen der Erhaltung und
Beschirmung des Vaterlandes Rat zu halten, befaßte sich
mit der Angelegenheit. Es wurde beschlossen, die Anzeige
des Kurfürsten, daß er die Eidgenossenschaft nicht angreifen
oder beunruhigen wolle, bestens zu verdanken und damit
das Gesuch zu verbinden, daß — zu besserer Erhaltung
des Ruhestandes und der Sicherheit der Eidgenossenschaft —
auch deren Nachbarschaft, die Waldstädte am Rhein und
die dem Rhein und Bodensee entlang liegenden Städte und
Orte, von allen beschwerlichen Kriegsoperationen verschont
bleiben möchten.
Nach der Schlacht bei Friedlingen hatten sich die
€inander gegenüberstehenden feindlichen Heere von Basel
weiter entfernt, so daß die an den dortigen Grenzen stehen-
den eidgenössischen Truppenabteilungen im Monat No-
vember wieder abberufen werden konnten. Dagegen blieb
Kurf. Max. Emanuel v. Baiern u. d. Schweiz. Eidgenossenschaft. 49
noch in das Jahr 1703 hinein die Frage der Deckung der
Waldstädte am Rhein ein Gegenstand von Verhandlungen
der Tagsatzungen, und ebenso stellte sich da eine Angelegen-
heit, die noch 1702 in ablehnendem Sinne behandelt worden
war, in den Vordergrund. Die nach der Eroberung Kehls
sich vollziehende Vorschiebung der französischen Truppen
nach Schwaben hinein und die Vereinigung an der Donau,
wie sie Villars mit dem Kurfürsten Maximilian Emanuel
gelang, stellten eine Gefährdung der schwäbischen Bodensee-
gestade in Aussicht, und so kam es zur Erfüllung desWunsches,
der schon im Jahre zuvor aus Lindau geäußert worden war.
Zürich und Bern legten nunmehr wirklich eine Besatzung
in die Reichsstadt, und als ihnen darüber von Seite der
katholischen Orte im Mai auf der außerordentlichen Tag-
satzung zu Baden Vorstellungen gemacht wurden, entgeg-
neten sie, es sei nur zum Schirm und zur eigenen Sicher-
stellung , niemand zum Nachteil , geschehen: der Bezug
der Frucht, des Salzes und anderer Waren sei so wichtig,
daß eine feindliche Besetzung dieses unentbehrlichen Hafen-
platzes die Eidgenossenschaft fast so sehr wie diesen selbst
geschädigt hätte. Wie weit in Wirklichkeit gerade jetzt
die Franzosen sich landeinwärts vom Bodensee ausdehnten,
bewies der Umstand, daß, eben im Mai, die Reichsstadt
Wangen ihre Kostbarkeiten auf schweizerischen Boden,
nach Rorschach, brachte.
Freilich verlegte nunmehr Maximilian Emanuel in der
Mitte des Jahres seine kriegerische Anstrengung aus Schwaben
hinweg nach Tirol, auf dessen Boden er sich mit dem von
Süden kommenden Heere Vendomes zu vereinigen gedachte;
auch ein Vormarsch einer französisch-baierischen Armee
über den Arlberg gegen den Bodensee, nach Bregenz und
Lindau, wurde eben jetzt, im Juli, während kurzer Zeit in
der Eidgenossenschaft befürchtet. Aber nach der völligen
Vereitelung dieses Kriegszuges hatte der Rückmarsch aus
dem Inntal nach Baiern angetreten werden müssen; da-
gegen gewann der Kurfürst mit den vereinigten französi-
schen und baierischen Truppen am 20. September an der
schwäbischen Donau, bei Höchstädt, einen Sieg, und er
ergänzte diesen Erfolg durch ein erneuertes Vordringen im
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd« 4
50 Gerold Meyer von Knonau,
schwäbischen Kreise. Nachdem Augsburg besetzt worden
war, schien es in den letzten Tagen des Oktober bei Mem-
mingen zur Schlacht kommen zu sollen; doch statt dessen
folgte am 11. November die Eröffnung einer dreitägigen
Beschießung der Reichsstadt Kempten, die mit der Über-
gabe des Platzes abschloß.
Maximilian Emanuel befand sich schon wieder auf dem
Rückmarsch nach Augsburg, als er am 3. Dezember, aus
Schwabmünchen, nochmals ein Schreiben an die eidgenössi-
schen Orte abgehen ließ. Er bezog sich dabei auf eine vom
24. November datierte Mitteilung, in der von der Besetzung
Kemptens die Rede gewesen war. Es sei daraus „Appre-
hension" geschöpft worden, während nach den dort nieder-
gelegten Worten diese Operation nur aus einer erheblichen
„Khriegsraison" unvermeidlich hervorgegangen sei. Daran
war die Versicherung angeknüpft, daß das im Jahre zuvor
gegebene Wort durchaus werde festgehalten werden, so daß
von einem weiteren Vorrücken gegen die schweizerischen
Grenzen keine Rede sein könne. Eine weitere Beifügung
des Schreibens bezog sich auf die Salzlieferungen nach der
Schweiz und auf das aus Memmingen und anderen Orten
dorthin gehende Salzfuhrwerk. Der Kurfürst behandelte
da eine Angelegenheit, die allerdings gerade jetzt in der
Schweiz ein Gegenstand lauter Beschwerden geworden war.
Die Eidgenossenschaft war für den Bezug des Salzes
auf ihre Nachbargebiete angewiesen, wobei ein Wettbewerb
vom Westen und vom Osten, dort von der Franche Comt^,
hier von Tirol und von Baiern, stattfand; dazu kam, daß
neben den Abmachungen der Regierungen der einzelnen
eidgenössischen Orte Privatmonopolien von einzelnen Unter-
nehmern standen, so daß vielfach peinliche Reibungen sich
herausstellten. Zum erstenmal hatte Zürich, indem es in
eine solche private Verbindung eintrat, im Jahre 1671 einen
Exklusivtraktat mit Kurbaiern abgeschlossen, und in per-
sönlicher Interzession war durch den Kurfürsten Ferdinand
Maria die Erleichterung des Transportes zugesichert worden.
1675 errichteten dann Bern, Basel und Solothurn einen
Traktat um 6000 Faß Salz jährlich mit Baiern, ohne Zürich
mit hineinzuziehen; dieses rächte sich durch Aufstellung
Kurf. Max. Emanuel v. Baiern u. d. Schweiz. Eidgenossenschaft. 5t
eines Traktates um 13 500 Faß mit der Regierung in Inns-
bruck. Aber schon 1676 gelang eine Verständigung. Gemein-
sam mit Bern, das sich allerdings später zuerst wieder ab-
trennte, und mit Luzern, Basel und Solothurn legte Zürich
in einem Verkommniß die beiden Traktate, mit Tirol und
mit Baiern, zusammen, so daß seit 1677, wo das Ganze
geordnet war, Zürich die Direktion innehatte; Privatinteressen-
ten in Lindau und Memmingen standen gleichfalls in diesem
Vertrage. Alljährlich trafen sich in Aarau die Salzdirektoren
der einzelnen beteiligten Orte zur Abrechnung und genauen
Feststellung der Maße.
Aber seit dem Ausbruch des Spanischen Erbfolge-
krieges, durch das feindselige Verhältnis zwischen Kur-
baiern und dem österreichischen Tirol waren selbstver-
ständlich Störungen empfindlicher Art eingetreten. Auf einer
Tagsatzung wurde nachdrücklich betont, wie sehr das Salz
ein unentbehrliches Bedürfnis sei, daß aber, um es zu be-
kommen, auch die Spedition zumal der schon bezahlten
Fuhren sichergestellt sein müsse. Doch auch sonst war
schon durch den Einbruch nach Tirol Anlaß zu Klagen
erwachsen. Auf der regelmäßigen Jahrrechnungstagsatzung
zu Baden war im Juli von den eidgenössischen Kaufleuten
das Begehren vorgebracht worden, sowohl der Kurfürst
als Villars , möchten ersucht werden, dafür zu sorgen,
daß die in Botzen liegenden oder auf der Straße befind-
lichen Waren geschützt und ungehindert durchgelassen
werden möchten. Danach jedoch fand im Dezember, also
gerade in den Tagen, in welchen Maximilian Emanuel sein
Schreiben abgehen ließ, eben wegen der eingetretenen
Sperrung der Zufuhr von Salz und Frucht und wegen des
Handels aus dem Deutschen Reich, eine außerordentliche
Tagsatzung in Baden statt. Von Zürich wurde berichtet,
das baierische Salz sei ganz gesperrt, von demjenigen aus
Tirol bis auf kurze Zeit nichts mehr eingegangen; allerdings
richteten sich die Reklamationen wegen des baierischen
Salzes hierbei an die kaiserlichen Kommandierenden, die die
Transporte nicht wollten durchgehen lassen, während der
Kurfürst und der französische General hinsichtlich der Zu-
fuhr aus Tirol angegangen werden sollten. Daraufhin
62 Gerold Meyer von Knonau,
konnte der gemeineidgenössischen Tagsatzung, die im Februar
1704 zu Solothurn versammelt war, berichtet werden, daß
nach einer Eröffnung der Kurfürsten und der baierischen
Hofkammerkanzlei das aus der Schweiz bestellte Tiroler
Salz ungehindert werde verabfolgt werden, sofern von kaiser-
licher Seite das gleiche mit dem Salz aus Baiern geschehe;
diese Zusage wurde dem Kurfürsten auf das beste ver-
dankt.
Andernteils tauchte für jene Gebiete, gegen die Maxi-
milian Emanuel im Herbst 1703 nochmals vorgerückt war,
mit dem Dezember des Jahres von schwäbischer Seite ein
Plan auf, der, gleich dem entsprechenden Vorschlage, einen
Teil von Savoyen zu neutralisieren, dieser Solothurner Tag-
satzung vorlag. Der im bischöflich constanzischen Dienste
stehende Obervogt von Mersburg Dilger gab die Anregung,
ein ausgedehntes Gebiet im südlichen Teil des schwäbischen
Reichskreises neutral zu erklären, dessen Grenzen von
Immenstadt und der Grafschaft Rothenfels über Kempten
bis gegen Riedlingen an der Donau und hernach an diesem
Fluß entlang bis nach Rottweil am oberen Neckar, weiter
südwärts bis zum Schweizer Gebiet bei Schaffhausen sich
erstrecken sollten, mit der Bedingung, daß diese Gegenden
wie durch französische so durch kurbaierische Truppen
von allen Feindseligkeiten verschont bleiben würden. Mit
Befriedigung nahm die Tagsatzung in dieser Sache die
Erklärung des französischen Gesandten, die wohl eine
„übernächtige Reflektion" verdiene, entgegen, daß der
König allerdings nicht eine so weitgehende Konzession
zugeben wolle, aber wenigstens die Neutralisierung eines
eine Stunde breiten Distrikts an Rhein und Bodensee ent-
lang einräume, eine Eröffnung, die dann an den Bischof von
Constanz, als an den ausschreibenden Fürsten des schwäbi-
schen Reichskreises, weiter gegeben wurde.
Nach dem Beginn des Jahres 1704 treten die Beziehungen
Maximilian Emanuels zur Eidgenossenschaft zurück. Voll-
ends, als nach der zermalmenden Niederlage bei Höchstädt,
am 13. August des Jahres, der Kurfürst gezwungen war,
Kurf. Max. Emanuei v. Baiern u. d. Schweiz. Eidgenossenschaft. 53
sein Stammland zu verlassen, im französischen Hauptquartier
in den Niederlanden Zuflucht zu suchen, konnte von einer
Gefährdung für die Schweiz von baierischer Seite gar keine
Rede mehr sein. In den sehr spärlich werdenden Verbin-
dungen mit Baiern ist zunächst nur die in München gebliebene
Kurfürstin-Regentin erwähnt, und nach der völligen Okkupa-
tion Baierns durch die kaiserliche Regierung waren alle
bisherigen Verhältnisse vollkommen verändert.
Das Haitibacher Pest vom 27. Mai 1832.
Von
Karl Theodor Heigel.
,,In mein erstes Semester," erzählt Bismarck in den
»Gedanken und Erinnerungen', „fiel die Hambacher Feier,
deren Festgesaiig mir in der Erinnerung geblieben ist, in
.mein drittes der Frankfurter Putsch. Diese Erinnerungen
stießen mich ab, meiner preußischen Schulung widerstrebten
tumultuarische Eingriffe in die öffentliche Ordnung; ich kam
nach Berlin mit weniger liberaler Gesinnung zurück, als ich
es verlassen hatte ..." — „Heil den Deutschen, die diesen
Tag erlebt haben!" schreibt Johann Georg Wirth nach dem
Hambacher Fest, „er wird als Geburtstag der deutschen
Nationaleinheit und der europäischen Gesamtfreiheit mit
goldenen Lettern in der Weltgeschichte glänzen!" — Noch
niemals, schreibt Metternich am 6. Juni 1832 an Apponyi,
sei der Radikalismus so nackt zutage getreten als bei dem
Hambacher Skandal; jetzt sei erwiesen, daß die Propaganda
Lafayettes und seiner Nachbeter diesseits und jenseits des
Rheines die Zertrümmerung alles Bestehenden anstrebe.
Hinwieder schildert ein alter Burschenschafter, R. Keil, Ham-
bach als Vorfeier des Sedantages, wobei sich zum erstenmal
das Verlangen nach Einheit des deutschen Vaterlands
durchgerungen und eine rührende Verbrüderung der Deut-
schen vollzogen habe. Den einen ein Ärgernis, den andern
eine Torheit! Den einen die Morgenröte eines schönen Tages,
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 55
den andern eine von Frevlerhand geschürte, Verderben
drohende Feuersbrunst!
Die Gegensätze in diesen Urteilen könnten kaum stärker
sein und wären leicht noch durch viele andere, nicht minder
widerspruchsvolle Äußerungen von Zeitgenossen zu ver-
mehren. Wenn es schon überhaupt schwierig ist, alle ein-
schlägigen Fragen zu beantworten, welche staatlichen Zu-
stände die revolutionäre Bewegung in den dreißiger Jahren
vorfand, wie sich die Physiognomie der Staaten unter Ein-
wirkung der Ereignisse veränderte, wie es mit der Frei-
heitsliebe, dem Rechtsgefühl, dem Staatssinn der Zeitge-
nossen aussah usw., so ist es vollends unmöglich, im engen
Rahmen eines Aufsatzes überzeugend darzulegen, ,,wie es
geworden und gewesen ist". Meine Aufgabe ist leichter.
Ich will im wesentlichen nur zu richtigem und gerechtem
Verständnis der Episode einen Beitrag liefern, der zu den
Ergebnissen der neueren Forschungen Muckes, Schneiders
u. a. eine Ergänzung bietet.
Bei meinen Studien zur Geschichte König Ludwigs I.
von Bayern hatte ich Gelegenheit, von den Akten des baye-
rischen Justizministeriums über die politischen Prozesse
der dreißiger Jahre Einsicht zu nehmen. Ich lernte nicht
bloß die Berichte der Behörden und Geheimagenten kennen,
sondern auch die Rechtfertigungsschriften und Bittgesuche
der Angeklagten, die nicht selten ein anderes Gesicht zeigen
als die für die Öffentlichkeit bestimmten Schriftstücke,
ferner die von einzelnen Richtern über ihre Entscheidungen
gegebenen Aufschlüsse, merkwürdige Entschuldigungen der
Senatsvorstände, vor allem die Signate des Königs, die uns
dessen persönliche Ansicht über Angeklagte und Richter,
sowie über die zur Bekämpfung der Revolution einzuschlagen-
den Wege enthüllen. Ich muß mich natürlich auf Heraus-
hebung der wichtigsten Züge beschränken, doch läßt sich
zur Herstellung des Zusammenhanges nicht umgehen, auch
schon Bekanntes zu wiederholen. —
Die Julirevolution hatte die Gemüter in Deutschland
lebhaft erregt. Der revolutionäre Funke sprang zuerst
über auf die preußischen Rheinlande, ohne eine ernstliche
Ruhestörung zu verursachen. In der Christnacht 1830
56 Karl Theodor Heigel,
kam es in München zu Ausschreitungen, denen die Re-
gierung wohl kaum mit Recht gefährliche Bedeutung bei-
maß; die Folge war ein Systemwechsel im Sinn einer
Annäherung an die Grundsätze Metternichs, gegen welche
sich die bayerische Regierung bisher beharrlich ablehnend
verhalten hatte. In Sachsen wurde durch Volksaufläufe die
Verleihung einer Verfassung durchgesetzt. Revolutionären
Charakter nahm die Bewegung nur in Kurhessen und Braun-
schweig an, wo freilich auch die Mißstände des Kleinfürsten-
tums in so schamloser Weise hervorgetreten waren, daß
nicht einmal von überzeugten Anhängern der alten Staats-
und Standeseinrichtungen die Beseitigung der unwürdigen
Sultanate beklagt wurde.
Durch die wenigstens teilweise glücklichen Erfolge
erhielt sich trotz scharfer polizeilicher Abwehr die Bewe-
gung, die sich von den Aufwallungen nach den Freiheits-
kriegen durch einen mehr internationalen Charakter unter-
schied und nicht so fast den Verfassungsstaat, sondern
die republikanische Staatsform anstrebte. Schon Heine
hat diesen Unterschied in seiner zynischen Art charakteri-
siert. Während auf dem Wartburgfest, sagt er in der Schrift
über Börne, nur die Vergangenheit ihren obskuren Raben-
gesang krächzte und das Ideal des finstersten Mittelalters
mit Hymnen feierte, wurde auf dem Hambacher Schloßberg
von der modernen Zeit ein Sonnenaufgangslied gesungen
und mit der ganzen Menschheit Bruderschaft getrunken;
während auf der Wartburg der beschränkte Teutonismus
nichts Besseres zu erfinden wußte, als Bücher zu verbrennen,
hielt in der sonnigen Pfalz der französische Liberalismus
eine trunkene Bergpredigt. In Baden und Württemberg
wurde von Rotteck, Welcker und anderen Führern des
Liberalismus der konstitutionelle Standpunkt festgehalten,
und ihnen diente auch Uhlands Wort zum Leitstern, aller
Deutschen erstes Trachten müsse darauf gerichtet sein, daß
die blanke, hochwüchsige Germania wieder aus der Grube
steige.
Dagegen wurde von den einflußreichsten Volkstribunen
in der Pfalz die „konstitutionelle Lüge" verworfen und
,, unbedingte Volkssouveränität" gefordert.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 57
Das lokale Moment spielte dabei eine nicht unwichtige
Rolle.^) Die Bewohner der Pfalz waren dem Herd der Juli-
revolution am nächsten und für revolutionäre Ideen beson-
ders „disponiert". Ihr schönes Land war erst nach dem
Sturze Napoleons von Frankreich wieder abgetrennt und
dem Königreich Bayern einverleibt worden. Gerade mit
Rücksicht auf den erregbaren Volkscharakter hatte die baye-
rische Regierung dem Rheinkreis eine gewisse Sonder-
stellung eingeräumt. Verschiedene, der Erklärung der
Menschen- und Bürgerrechte entnommene Institutionen der
Franzosenzeit wurden der Pfalz belassen; nur hier gab es
öffentliches Gerichtsverfahren und Schwurgerichte, Tren-
nung der Justiz von der Verwaltung, allgemeine Gewerbe-
freiheit, vollkommene Freiheit und Gleichheit der Bekennt-
nisse usw. Der ohnehin mit starkem Selbstgefühl ausge-
stattete Pfälzer war stolz auf diese freiheitlichen Errungen-
schaften und blickte geringschätzig auf die rückständige
Art anderer Stämme. Dem Romanschriftsteller Hering
(Wilibald Alexis) trat diese Auffassung während einer
Rheinreise häufig entgegen. In Preußen und Sachsen, so
konnte er hören, wüßten die Leute, weil es dort keine
Aufklärung gebe, nichts Besseres, als auf das Feld zu
gehen, im Schweiß des Angesichts zu arbeiten und sich
dafür nur Schläge als Lohn geben zu lassen. „Schickt
einen Sokrates nach Rheinbayern, Vernunft zu predigen,
und man steinigt ihn als Finsterling und Absolutisten!"
,,Der Osten," so heißt es in einer Zweibrückener An-
kündigung von 1831, , »bietet nur Unterdrückung und
Seuche, der Westen Freiheit !"2) Besonders die landsmann-
schaftliche Vereinigung mit dem „noch im Mittelalter
steckenden" Altbayern war den aufgeweckteren und aufge-
klärteren Pfälzern anstößig, wie ja auch in den preußischen
Rheinlanden die Altpreußen als Fremde angesehen wurden.
Die ,,von drüben" kommenden Beamten waren unbeliebt
und vergalten die ihnen entgegengebrachte Abneigung mit
^) G. F. Kolb, Statistisch-topographische Schilderung von Rhein-
bayern (1831). — W. H. Rieh], Die Pfälzer (1857). — Aug. Becker,
Die Pfalz und die Pfälzer (1858).
2) Stern, Geschichte Europas I, 312.
58 Karl Theodor Heigel,
mürrischer Strenge. Die „bayerische" Maut wurde, obwohl
die Zollgesetzgebung der Nachbarstaaten nicht milder war,
als unerträglicher- Druck empfunden. Die bayerischen
Beamten selbst sahen in der Einführung des Mautsystems
«ine Hauptursache des Mißvergnügens der Bevölkerung.
„Die Maut," schrieb der Präsident des Appellationsgerichts
für den Rheinkreis, v. Koch, am 18. September 1833 an den
König, ,,war ein schlimmes Geschenk für diesen Kreis:
sie machte den Revolutionsmännern leichteres Spiel, sie er-
heischet ein Heer von Zollbeamten, Gensdarmen und Militär,
deren Kosten den Erlös derZolleinnahmenweit übersteigen!"^)
Die Aufbürdung eines Teiles der Staatsschuld des rechts-
rheinischen Bayerns auf das linksrheinische machte böses
Blut. Viele Pfälzer erlitten Verluste bei der Übernahme der
pfälzischen Forderungen an Frankreich durch den bayeri-
schen Staat. Die einheimischen Beamten glaubten sich
hinter den Altbayern zurückgesetzt. Der neue Schulplan
wurde als Sieg der bayerischen ,, Pfafferei" empfunden. 2)
Ein Schriftsteller wollte sogar die ganze ,,Hambachiade"
auf die ,, unnatürliche Verkoppelung eines Landes, aus
dessen Gesellschaftsorganismus die mittelalterlich feudalen
Elemente vollkommen ausgerottet waren, mit einem Regi-
ment, das der Ausdruck der noch in Altbayern herrschenden
feudalen Gesellschaft war"^), zurückführen. Das ist natür-
lich nicht richtig; immerhin war, obwohl so viel von deutscher
Einheit und Eintracht die Rede war, die Stammeseifersucht
ein wesentlicher Faktor. Die Pfälzer dünkten sich den
geistesträgen ,, Bockbiertrinkern" überlegen, die Bayern
mutzten den „Krischern" auf, daß sie halbe Franzosen
wären und ganze werden möchten.*) Der Vorwurf war
nicht gänzHch unbegründet. Das Franzosentum spukte
tatsächlich noch in der Pfalz, wenn auch zu unmittelbarem
Anschluß an den französischen Staat wohl wenig Geneigtheit
^) Akt des k. bayer. Justizministeriums, die gefährdete öffent-
liche Ruhe und Ordnung im Rheinkreise betr., 1832 — 1847.
2) J. N. Miller, Geschichte der neuesten Ereignisse in Rhein-
bayem (1833) 6, 14, 23 usw.
ä) Wilh. Herzberg, Das Hambacher Fest, 11.
*) Seeger, Politisch-soziale Gedichte von Heinz und Kunz, 77.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 59
zu finden gewesen wäre. Auch von pfälzischen Demokraten
wurde hingewiesen auf die vom Westen drohende Gefahr,
auf die Eroberungsgier der Franzosen, die über die Rhein-
lande schon so namenloses Unheil gebracht habe. In einer
aus konservativem Lager stammenden Satire auf den „wein-
seligen Freiheitsrummel" von 1832 wird der burleske Gegen-
satz zwischen Franzosenschwärmern und Franzosenfressern
innerhalb der demokratischen Konventikei weidlich ver-
spottet, i) Im allgemeinen überwog aber zweifellos die
kosmopolitische Strömung. Zumal Zweibrücken war, wie
Heine spottet, das „Bethlehem", wo Jung-Europa in der
Wiege lag. Unter dem Einfluß der wachsenden politischen
Erregtheit und vermutlich nicht ohne direkte Einwirkung
des Auslandes steigerte sich allmählich die FeindseHgkeit
gegen die Regierung und den Landesherrn. Unselig das
Volk — solche Klagelieder wurden täglich in der ,, Tribüne",
im „Westboten" und in anderen demokratischen Zeitungen
angestimmt — , das in achtunddreißig Fetzen Landes,
deren viele nicht einmal den Embryo eines Verfassungs-
lebens haben, zerrissen ist, unselig die Provinz, die von einer
nur gegen Kutten nachgiebigen Kabinettsregierung be-
herrscht wird!
,,Was die Gärung bis zum kochenden Sud steigerte"
(Heine), war die begeisterte Teilnahme am Geschick der
Polen, die sich gegen die Moskowiterherrschaft erhoben
hatten. Mit fieberhafter Aufregung wurden die Nachrichten
über den Kampf der Polen, obwohl es sich im wesentlichen
nur um eine Adelsrevolution handelte, verfolgt, und nach
dem Fall des ,, letzten Bollwerkes gegen den Absolutismus"
fanden die Flüchtlinge besonders in den Rheinlanden liebe-
vollste Aufnahme. Die Literatur spiegelt den heute unbe-
greiflichen Enthusiasmus, der damals auch den deutschen
Kleinbürger in jedem Träger eines Schnürrocks einen glor-
reichen Märtyrer erblicken ließ und in so starke Aufregung
versetzte, daß er „um der Polen willen bereit war, was
er um seinetwillen nie gewagt hätte: ein Revolutiönchen
^) Der deutsche Mai auf Schloß Hambach, Fragment einer al
/r«sco-Novelle (1834).
60 Karl Theodor Heigel,
ZU machen" 1^) — Ähnlich urteilte man in Regierungskreisen.
Als polnische Offiziere auf ihrer Reise nach Frankreich
um staatliche Unterstützung baten, beschränkte sich König
Ludwig auf lakonische Ablehnung: ,,Für Unterstützung
von Fremden bietet das Budget keine Mittel dar, auch der
Reichsreservefonds nicht. Verfassungswidrig wäre eine solche
Anweisung. Es ist befraglichen Polen zu eröffnen, sie wür-
den am besten tun, sich an die französische Gesandtschaft
zu wenden" (18. Dezember 1831). Die Minister wollten
später überhaupt keinen längeren Aufenthalt der Emigranten
mehr zulassen, da der Umgang mit ihnen als gefährliches
Kontagium gewirkt habe. ,,Den bewilligten Durchmärschen
der Polen" schreibt Minister v. Gise, ,,ist das Unheil einer
in das Volk übergegangenen Gärung zuzuschreiben" (3. Ok-
tober 1832). Auch Fürst Wallerstein stimmte für Ab-
weisung aller polnischen Gesuche, da ,,nach den über die
Umtriebe der Flüchtlinge in den aufgebrachten Schriften
der Studenten niedergelegten Notizen jeder Aufenthalt
eines Polen unrätlich erscheint" (8. November 1832). 2)
Manche Aussprüche von Volksführern lassen die Auffassung
der Minister auch begründet erscheinen. ,,Ohne Polens
Freiheit" sagt Wirth, „keine deutsche Freiheit!" ,,Der
Gedanke, daß Polen durch Deutschland wiederhergestellt
werden müsse, zündete," heißt es in dem vom Hambacher
Festausschuß herausgegebenen Bericht, ,,und dies könne nur
geschehen durch Befreiung und Wiedervereinigung Deutsch-
lands."
In die leidenschaftlich aufgeregte Zeit fielen nun die
Wahlen zum bayerischen Landtag. Die Oppositionspartei
gewann eine entschiedene Mehrheit, und diesem Partei-
verhältnis entsprach der stürmische Verlauf der Verhand-
lungen. Die Regierung antwortete mit Gewaltmaßregeln
zur Beschränkung des freien Wortes, wobei sie sich auf
noch nicht aufgehobene Dekrete der Napoleonischen Zeit
berufen konnte.
1) Heine, Ludwig Börne (1867) 141.
2) Akt des k. bayer. Just. -Min., die Reise polnischer Militärs
und Emigranten durch Bayern betr., 1831 — 1835.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 61
„Um die Presse gegen den Druck der Machthaber
zu sichern," wurde nun in Zweibrücken der ,, Preßverein"
oder „Vaterlandsverein" gestiftet. i) Da sich gleichzeitig
auch in Würzburg ein Verein zur Entschädigung des aus
dem Staatsdienst ausgeschiedenen Abgeordneten v. Closen
bildete, wurde in ministeriellen Kreisen angenommen, daß
es sich um ein Doppelunternehmen handle. ,, Beide hatten
zum Zweck, Geld zur Disposition der Partei zu stellen,
die Kräfte zu versuchen und so viele Individuen als möglich
durch Kompromittierung und offenen Bruch mit der Staats-
regierung unwiderruflich in das Interesse der Revolution zu
ziehen" (Seinsheim). Es fanden sich aber für die Annahme
einer geheimen Verbindung zwischen dem Pfälzer- und dem
Frankenverein keine Anhaltspunkte. Die Idee zum Preß-
verein stammte von Dr. Wirth, dem Herausgeber der , »Tri-
büne". In einem Aufsatz ,, Deutschlands Pflichten" setzte
er auseinander, daß dem Bund der Könige Bündnisse der
Bürger entgegenzustellen und zunächst alle Freunde des
freien Gedankens zur Unterstützung der gesinnungstüchtigen
Presse zu vereinigen wären. 2) Als Hauptzweck des Volks-
bundes bezeichnet Wirth selbst die Wiederherstellung Polens
durch Deutschland. 3) Das Unternehmen hatte günstigen
Erfolg. G. H. Schneider konnte aus den Akten nachweisen,
welch stattliche Unterstützungen allein von den Burschen-
schaften dem Verein zuflössen. Auch die sog. Deutschpatrio-
tische Gesellschaft in Paris stand mit ihm in Verbindung.'*)
Die Propaganda konnte offen betrieben werden, ,,da die
Gerichte des Rheinkreises in ihrer damaligen Komposition
den Preßverein als erlaubt bezeichnet hatten" (Seinsheim).
An der Spitze des Verbands standen Wirth, Sieben-
pfeiffer, Schüler, Geib und Savoye. Dr. Johann Georg
^) Akt des k. bayer. Just.-Min., die Verbindungen des teutschen
Preßvereins betr. Geschichtliche Darstellung des Preßvereins, Be-
richt des Ministers Grafen Seinsheim an Minister v. Gise.
2) Ed. Bauer, Geschichte der konstitutionellen und revolutio-
nären Bewegungen im südlichen Deutschland II, 150.
3) J. G. Wirth, Die politisch-reformatorische Richtung der Deut-
schen im 16. und 17. Jahrhundert (1845) 245.
*) G. H. Schneider, Der Preß- und Vaterlandsverein, 72.
62 Karl Theodor Heigel,
Wirth, aus Hof in Franken gebürtig — „ein Mann von Ver-
stand und Kenntnissen," so wird er in den Untersuchungs-
akten bezeichnet, ,,aber ein unklarer, turbulenter Kopf" — ,
hatte früher die gemäßigt-liberale Zeitschrift „Inland"
herausgegeben. Weil ihn, wie er in seinen Memoiren er-
klärt, ,,das herrschende System der Fiskalität" zum Gegner
der Regierung machte, gründete er die Zeitung ,, Deutsche
Tribüne", ein konstitutionelles Tageblatt (1. Juli 1831).
Ein halbes Jahr später siedelte das Blatt nach Hamburg
über und nahm hier eine radikalere Färbung an; der Bei-
satz ,,ein konstitutionelles Tagblatt" wurde fortgelassen, i)
Auch Dr. Philipp Siebenpfeiffer war Journalist. Er hatte
anfänglich eine Stellung im Staatsdienst bekleidet, war aber
nach den Julitagen in die erste Reihe der Vorkämpfer für
die freiheitliche Bewegung in der Pfalz getreten. Er gab die
Zeitschrift „Rheinbayern", seit 1831 auch den ,, West-
boten" heraus. Nach Berichten von Hambacher Fest-
genossen könnte man den Eindruck gewinnen, als sei der
Mann mit der „finsteren Miene", mit dem ,, schwarzgelben
Gesicht", ein Doktrinär gewesen; aus den Aussagen vor
Gericht läßt sich aber ersehen, daß er von allen Beteiligten
am zielbewußtesten vorging. Er war ein Schüler und Freund
Rottecks gewesen. Nach der Julirevolution trennte er sich
aber von dem Führer der Konstitutionellen, die er der
„Exaltation" bezichtigte, „aber nicht für die Wiedergeburt
des deutschen Volkes, sondern für fürstliche Windeln". 2)
Der Advokat Schüler gehörte im bayerischen Landtag zu
den Führern der Linken; dem Untersuchungsrichter galt
er als „besonders gefährlich", weil er, mit einer Verwandten
Lafayettes vermählt, in unmittelbarer Verbindung mit dem
Bürgergeneral gestanden haben soll. Auch sein Kollege
Savoye galt, weil er Verwandte und Freunde in Paris
hatte, für einen einflußreichen Vermittler zwischen deutschen
und französischen Freiheitsfreunden.
,,Wäre der , Preßverein*," so versicherte Dr. Wirth
später, „nur ein Jahr lang gegen die Gewalt der Fürsten zu
1) Ed. Bauer II, 177.
*) K. V. Rottecks Leben, von Herrn, v. Rotteck ; Nachgelassene
Schriften IV, 385.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 63-
schützen gewesen, so mußte aus ihm allein die durchgreifende
politische Reform Deutschlands sicher und unfehlbar hervor-
gehen." Doch unter dem Druck der Warnungen und Drohun-
gen Metternichs wurde von den süddeutschen Regierungen
seit dem Herbst 1831 gegen die freiheitliche Propaganda
ernster eingeschritten. Der Generalkommissär des Rhein-
kreises, V. Stichaner, wurde wegen zu weit gehender Duld-
samkeit abberufen; an seine Stelle kam v. Andrian-Warburg,
ein strenger Polizeimann. Durch Ministerialerlaß vom 1 . März
1832 wurde die Teilnahme am Preßverein verboten, da ,,die
Verfassung den Staatsbürgern nicht das Recht einräume,,
politische Assoziationen in willkürlicher Weise einzugehen".
Die nach dem Karlsbader Kongreß eingesetzte Bundes-
kommission zur Beaufsichtigung der literarischen Produktion
begann aufs neue ihre Tätigkeit; der „Westbote" und die
,, Tribüne" waren die ersten Opfer. Wirth wurde wegen
staatsgefährlicher Aufreizung verhaftet, doch die Anklage-
kammer in Zweibrücken sprach ihn frei. ,,Es war schwer,
die Bewegung im Rheinkreise zu entwurzeln," erklärt der
ministerielle Bericht an den König, ,,weil daselbst die Polizei-
Strafgewalt in den Händen der Gerichte ruht und die Sache
unter dem Schutze der letzteren einen hohen Grad von
Konsistenz und sehr weiten Umfang erJangt hatte." Schon
kam es da und dort, namentlich bei Aufpflanzung von
Freiheitsbäumen nach dem Vorbild der Revolutionszeit^
zu Unruhen. Bei Überreichung eines Ehrenbechers an den
vom Landtag heimgekehrten Schüler hielt der Gefeierte —
„die Stütze des Volkes, ein Koloß an Geist und Charakter"
nennt ihn die , .Tribüne" — eine heftige Rede gegen das
eigenmächtige bayerische Beamtenregiment. Geschmack-
lose Demonstrationen — so wurden z. B. zu Ehren der
gefeierten Abgeordneten 102 Schüsse abgefeuert, während
gekrönte Häupter nur mit 101 Salven begrüßt werden —
und die leidenschaftlichen Mahnrufe der nach wie vor heim-
lich vertriebenen Flugschriften und Zeitungen steigerten
die Entfremdung zwischen Regierung und weiten Volks-
kreisen.i) Am 21. April erließ Wirth einen „Aufruf an die
^) Nauwerk, Die Tätigkeit der deutschen Bundesversammlung.
IV, 38.
bi Karl Theodor Heigel,
Volksfreunde", worin er eine Reform Deutschlands zur
Durchführung der Volkssouveränität und eine neue Organi-
sation des Vaterlandsvereins mit straffer Zentralisierung
forderte. Wie in seiner späteren Verteidigungsrede vor dem
Geschworenengericht bezeichnete er auch hier schon offen
die Umwandlung Deutschlands in eine Republik als anzu-
strebendes Ziel, ,,Der Zweck des Preßvereins bestand in
der Wiederherstellung der deutschen Nationaleinheit und
demokratischen, also republikanischen, Verfassung." Eine
Aufforderung zur Revolution habe er allerdings nicht beab-
sichtigt: ,,Dem Volke selbst sollte überlassen bleiben, welche
Mittel es zur wirklichen Durchführung solcher Reform an-
wenden wolle."!) Die ,, Pariser Briefe" Börnes mit ihrem
grimmigen Spott über die deutschen ,,Winkeldespötchen"
und ihre speichelleckerischen Knechte waren trotz strengen
Verbots gerade in der Pfalz weit verbreitet. Börne selbst
machte in Paris eifrig Propaganda für die republikanische
Idee, und seine Schüler, die ,, Deutsch- Jakobiner", versuch-
ten dann, wie Heine spottet, mit apostolischem Eifer das neue
Evangelium in der Heimat auszubreiten. Nicht minder
unverblümt predigte in rohester Sprache eine von Hundt-
Radowsky in Straßburg herausgegebene Zeitschrift „Die
Geißel" den Aufruhr. Ein Aufsatz wandte sich mit dem
Motto: ,,Gott zerschmettere den Kopf der Fürsten, die uns
feind sind!" gegen den von Beelzebub, Satan und Adrame-
lech gegründeten Giftbaum der Hl. Allianz und gegen die
Sippe von Gottes und des Teufels Gnaden, die mit ihren Mini-
stern, Schmarotzern und Höflingen die Frucht des Schweißes
der Armen und Elenden verprassen!! 2) Ein von Wilhelm
Sauerwein herausgegebenes ,,ABC-Buch der Freiheit" wählte
zum Motto:
„Eiobobelo! schlag's Göckelchen todt!
Es legt mir kein Ei und doch frißt's mir mein Brod!"
Zum Bruch des Fahneneides reizte Pfarrer Hochdoerfer
in einem „Aufruf an die Soldaten der bayerischen Armee"
^) Konzept der Verteidigungsrede Wirths in der Handsehriften-
sammlung des German. Nationalmuseums zu Nürnberg.
*) Die Geißel, herausg. von Hartwig Hundt- Radowsky, 1. Heft,
1832, 51.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 65
und noch unverhohlener Dr. Pistor im „Lied eines bayeri-
schen Unteroffiziers" mit der angefügten Nutzanwendung:
„Sollte eine brutale Gewalt einen Kampf zwischen Bürgern
und Soldaten herbeiführen, so wird keine Kugel der Bürger
auf einen liberalen Krieger gerichtet sein, wozu wir im voraus
alle Soldaten mit Einschluß der Unteroffiziere rech-
nen. Von den Offizieren werden unsere Kugeln die-
jenigen suchen, welche als Bürgerfeinde bekannt sind."^)
Diese Beispiele mögen genügen, um zu beweisen, daß die
Abwehr der Regierungen nicht bloß, wie damals auch Freunde
gesetzlicher Ordnung klagten, von „engherziger Gewalt-
politik" diktiert war.
Als Agitationsmittel zum Ersatz für die öffentliche Wirk-
samkeit der Presse wurden große Volksversammlungen ins Auge
gefaßt. Am 27. Mai sollte ,,im Andenken an die Maiversamm-
lungen der Franken und an die Maiverfassung der Polen" ein
„Maifest der Deutschen" auf der angeblich von Kaiser Hein-
rich II. gebauten Kästenburg bei Hambach, eine halbe Stunde
von Neustadt an der Hardt entfernt, stattfinden. Ein von
Siebenpfeiffer verfaßter, von vierunddreißig Neustadter
Bürgern unterzeichneter Aufruf lud dazu alle ein, welche
an „Abschüttelung äußerer und innerer Gewalt" ein Inter-
esse hätten, auch Frauen und Jungfrauen, ,, deren politische
Mißachtung in der europäischen Ordnung ein Flecken ist".
Das Fest wurde zunächst vom Generalkommissär verboten;
als aber die Magistrate von Neustadt und anderen pfälzi-
schen Städten, sowie der pfälzische Landrat Verwahrung
einlegten, wurde das Verbot, ,, nachdem die seditiosen
Ausdrücke der Einladung befriedigend erläutert worden
seien", zurückgenommen. 2)
So strömten denn am 27. Mai Gäste aus allen Ländern
deutscher Zunge, am zahlreichsten natürlich aus den Nachbar-
gauen, alle mit schwarzrotgoldenen Kokarden geschmückt,
in Neustadt zusammen. Auch viele Franzosen und Polen
fanden sich ein. Die Gruppe der „Unbedingten" in der
^) L. Hoffmann, Vollständige Verhandlungen vor dem Kgl.
bayer. Appellationsgericht zu Landau am 29. Juli 1833 usw. gegen
Wirth, Siebenpfeiffer usw. (1833) 4, 10.
2) Karl Fischer, Die Nation und der Bundestag (1880) 373.
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 5
66 Karl Theodor Heigel,
deutschen Burschenschaft, die nötigenfalls auch durch
einen Aufstand ein einiges Deutschland erkämpfen wollten,
war stark vertreten. i) Die Zahl aller Teilnehmer wird in
dem von einem Redaktionskomitee abgefaßten Bericht,
sowie in einer vermutlich von F. Kolb herrührenden Be-
schreibung in der Speyerer Zeitung auf 25 bis 30 000 ge-
schätzt, und damit stimmen auch die amtlichen Angaben
überein.
Das Hambacher Fest ist in Geschichtswerken aller Art
so häufig beschrieben worden, daß ich mich auf Feststellung
strittiger Einzelheiten beschränken darf. Eine gleichzeitige
Schilderung im ,, Eilboten" ist nur deshalb bemerkens-
wert, weil jeder Leser aus ihr den Eindruck gewinnen
müßte, es habe sich nur um ein weinfröhliches Gelage
auf dem in Frühlingspracht prangenden Schloßberg ge-
handelt.2) Der Berichterstatter hat „mit dem behaglichen
Gefühl, sich unterhalten zu haben, die mit Epheu, Eichen-
kränzen und fröhlichen Menschen geschmückten Trümmer der
Vorzeit wieder verlassen". Ein großer Teil der Anwesen-
den, besonders das Landvolk, ,, durchlebte fröhlich den
Tag bei einem Glas Wein und bei Gesang oder hielt Umzüge
mit Musik und Fahnen", die anderen hörten den Rednern
zu, ,,so daß das Ganze teils zu einem gemütlichen Genrebild,
teils zu einem großartigen Historiengemälde Stoff gegeben
haben würde". ,,Über die verschiedenen Reden, die gehalten
wurden, will ich mich nicht besonders aussprechen, auch
waren die Meinungen darüber geteilt."
Fast ebenso harmlos beurteilt der in amtlicher Eigen-
schaft zum Besuch des Volksfestes angewiesene Staats-
prokurator Rattinger den Charakter der Feier. 3) Die Reden,
berichtete er an das Ministerium, hätten keinen Anlaß
geboten, einzuschreiten, denn wenn auch starke Ausdrücke
mit unterliefen, sei die Wirkung doch nur eine heilsame
gewesen. ,, Durch die verschiedenen Reden ist der bessere
Teil der Bürger von der Tendenz der sog. Volksfreunde auf-
1) R. Keil, Geschichte des Jenaischen Studentenlebens, 538.
2) Der Eilbote (Landau), Jahrg. 1831/32, 83.
3) Akt des k. bayer. Just. -Min,, die gefährdete öffentliche
Ordnung und Ruhe im Rheinkreise betr., 1832.
Das Hambacher Fest vom 27, Mai 1832. 67
geklärt worden, und allmählich fangen sie an, in den Männern,
welche sie kurz zuvor noch als die Verteidiger ihrer Rechte
betrachteten und ehrten, Voiksaufwiegler zu sehen, deren
Ziel ist, allgemeine Anarchie und alle Schrecken derselben
herbeizuführen und dadurch ihre egoistischen Absichten zu
befriedigen. Betrachtet man das Fest aus diesem Gesichts-
punkt, so kann man wohl behaupten, daß es der allge-
meinen Stimmung des Volkes für Gesetz und Ordnung
sehr förderlich gewesen ist." ,,Das ist doch stark," schrieb
darauf Fürst Wallerstein an den Justizminister Zu Rhein,
„da müßte man am Ende den Veranstaltern wohl noch eine
Belohnung zusprechen! Fast möchte man glauben, daß
sich Herr Rattinger den ,, Doktrinen und Neigungen doch
nicht ganz entfremdet habe, die ihn früher mit Eisenmann
(dem designierten Herzog in Schwaben!) demagogischer
Umtriebe wegen in Untersuchung brachten."
Im Gegensatz zum Vertreter der Regierung nannte
Wirth selbst die Sprache der Redner „meistens sehr
stark", wie es der grimmige Schmerz über des Vaterlandes
Schmach erklärlich mache; seine eigene Rede bezeichnet
er als ,, besonders hart".i) ,,Die Reden in Hambach," so
urteilt ein sozialistischer Geschichtschreiber des Hambacher
Festes, ,,sind meistens echte, rechte Festreden, d. h. schwung-
volle Ergüsse in oft stark übertriebener Sprache, die den
Anschein hohler Phrasenhaftigkeit erwecken. "2) „Die blü-
hende Außenseite des seltsamen Festes," schrieb unmittel-
bar nach der Feier Theodor Mundt, selbst einer der Führer
des „jungen Deutschland", „schrumpft sogleich zu einer
bis zum Erschrecken häßlichen Fratze zusammen, wenn
man die Reden durchliest . . ., es trat alles zusammen, um
einmal in effigie ein vollständiges Bild zu geben von dem
gedankenlosen Liberalismus in Deutschland I"^)
Nach einer einleitenden Ansprache eines Dr. Hepp aus
Neustadt ergriff Siebenpfeiffer das Wort, d. h. er las eine
1) Wirth, Die politisch-reformatorische Richtung der Deutschen
im 16. und 17. Jahrhundert (1841) 249.
2) Herzberg, 163.
3) Th. Mundt, Die Einheit Deutschlands in politischer und ide-
eller Entwicklung (1832) 17.
5*
68 Karl Theodor Heigel,
Rede ab, die trotz der schwungvollen Sprache durch ihre
schwulstigen Übertreibungen abstoßend wirkt, i) Er beklagt
das Volk als das kriechende Gewürm, das den Raubtieren,
den üppigen Fürsten und Höflingen, zum Fräße diene. Er
verwünscht den Bundestag, ,, diesen politischen Vatikan,
aus welchem der Bannstrahl herabzuckt, wo irgendein freier,
ein deutscher Gedanke sich hervorwagt!" Er hofft, daß bald
die Konstitutiönchen verschwinden werden, um der vollen,
ungeschmälerten Volkssouveränität Platz zu machen. An
diesem Glück soll dann auch das deutsche Weib vollen Anteil
haben, nicht mehr als dienstpflichtige Magd, sondern als
freie Genossin des freien Bürgers. Gepriesen der Tag, ,,an
welchem die Fürsten die bunten Hermeline feudalistischer
Gottstatthalterschaft mit der männlichen Toga deutscher
Nationalwürde vertauschen müßten!" ,,Hoch lebe jedes
Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund
der Freiheit schwört: Vaterland, Volkshoheit, Völkerbund
hoch!"
Noch begeisterter kam das Freiheitspathos in Dr. Wirths
Rede zum Ausdruck. In eine 1845 veröffentlichte ,, histo-
rische Novelle": Walderode, worin Wirth seinen eigenen
Entwicklungsgang schildert, ist auch eine Beschreibung
des Hambacher Festes eingeflochten. 2) Da beteuert er,
nur die Anmaßung der französischen Presse, die fort und fort
die Rheingrenze fordere, habe ihn, obwohl er ,,sehr ungern
öffentlich auftrete", dazu gedrängt, als Vertreter nationaler
Pflichten das Wort zu ergreifen. In der Tat warnte Wirth
in seiner Rede davor, im bevorstehenden Kampf von Frank-
reich Hilfe zu erbitten, denn um den Preis der Abtretung des
linken Rheinufers dürfe /auch die Freiheit nicht erkauft
werden. Die argwöhnischen Worte des gefeierten Redners
erregten starkes Mißfallen bei den anwesenden Franzosen,
und ein Journalist Rey aus Straßburg gab diesem Unmut
Ausdruck, doch scheint die Angabe Muckes, die Franzosen
1) Vorkämpfer deutscher Freiheit. Siebenpfeiffer auf dem Ham-
bacher Fest (1910).
2) Walderode, Eine historische Novelle aus der neueren Zeit,
375. — Wirths „Denkwürdigkeiten aus meinem Leben" (1844)
reichen nur bis zum Jahre 1831.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 69
hätten Dr. Wirth eine Forderung gesendet i), unbegründet
zu sein. Im übrigen erging sich Wirth in ebenso leidenschaft-
Hchen Angriffen auf Staat und Gesellschaft wie der Vor-
redner.'^) Mochte aber auch seine Sprache, wie Theodor
Mundt spottet, an die Tiraden Karl Moors erinnern, so war
er sich doch nicht, wie andere Redner, über Zweck und Ziel
der Bewegung im unklaren. Die souveränen deutschen
Staaten — dahin faßt er seine Wünsche zusammen — sollen
sich in einen Bund von Freistaaten verwandeln. Die Her-
stellung einer organischen Nationaleinheit ist für ihn — darin
unterscheidet er sich von Siebenpfeiffer — das erste Er-
fordernis, ,,und da die Einheit mit Beibehaltung der deutschen
Fürsten schlechthin nicht zu erreichen ist, stellt sich die
Hinwegräumung der Throne als das dringendste Bedürfnis
des Jahrhunderts dar". ,,Ohne Beseitigung der deutschen
Fürstenthrone gibt es kein Heil für unser Vaterland, kein
Heil für Europa, kein Heil für die Menschheit!" Mächtig
begeisternden Eindruck auf die radikalen Genossen, beklem-
menden auf die Anhänger der gemäßigten Richtung, machte
der berühmte Fluch: ,,Gibt es irgend Verräter an den Völ-
kern und an dem gesamten Menschengeschlechte, gibt es
irgend Hochverräter, so waren es die Könige, die um der
Eitelkeit, der Herrschsucht, der Wollust willen die Bevölke-
rung eines ganzen Weltteils elend machen! Fluch, ewigen
Fluch darum allen solchen Verrätern!" ,,Der Schweiß rann
dem Redner vom Gesicht," erzählt der Gewährsmann des
Pfarrers Blaul, dessen „Träume und Schäume vom Rhein"
eine Schilderung des Hambacher Festes enthalten, ,,sein
Mund schäumte, und mit einer dreifachen Verfluchung
aller Tyrannei endete seine Rede". Der Beifall soll weit stär-
ker gewesen sein als nach den Ausführungen Siebenpfeiffers,
^) Joh, Mucke, Die politischen Bewegungen in Deutschland von
1830 bis 1835 (1875) I, 150. — Eine Anmerkung im offiziellen Be-
richt des Festkomitees bedauert den „vermeintlichen Angriff unsres
feurigen Wirth auf Frankreich" mit dem Zusatz: „Von den wahren
französischen Patrioten wird er nicht übelgenommen werden können".
2) Reden von Siebenpfeiffer und Wirth, gehalten bei dem Na-
tionalfest der Deutschen zu Hambach. Ein Erinnerungsblatt, ver-
öffentlicht am 40 jährigen Geburtstag, 27. Mai 1872.
70 Karl Theodor Heigel,
der ,,nur verstandesmäßig und nüchtern, ohne jede Begeiste-
rung, nur bittere und beißende Ironie geboten" habe.i)
Ein Schwert, das der Privatgelehrte Funke als Gabe des
Frankfurter ,, Vaterlandsvereins" überreichte, nahm Wirth
mit den Worten entgegen: ,,Ein ominöses Geschenk in der
dermaligen Zeit!"
Ein Poet verglich den Volksmann mit Luther:
„Ein andrer Luther hast du heut geredet
Zum deutschen Volk mit Kraft und heil'gem Mut . . .
Dein ist der Sieg, du edler Glaubensheld!" 2)
Wirth war ein Vertreter jener Richtung, die in trunkenem
Überschwang den Kampf gegen die Fürsten nur deshalb
aufnehmen wollte, weil sie die Einigung der Deutschen ver-
hinderten— Siebenpfeiffer gehörte zu den ,, Entschiedenen",
die das Heil in der Wiederbelebung der neufränkischen
Theorien von 1792 erblickten und zum Umsturz des Bestehen-
den auch die Bundesgenossenschaft der Nachkommen
des ,, armen Konrad" zu gewinnen trachteten.
Nach einer Mittagspause ergoß sich aufs neue der
Strom der Redner. Teilweise noch ungestümer und un-
verblümter, als es sich die eigentlichen Choragen er-
laubt hatten! Einige gaben zwar nur dem Wunsche nach
Erhaltung und Ausbildung der Verfassung Ausdruck, aber
Pfarrer Hochdoerfer, der Redakteur des ,, Hochwächter",
der „Rabiateste von allen" (Blaul), erhob wilde Anklage
gegen die ,, Popanze von Gottes Gnaden", — Dr. Pistor
schilderte das Elend des Proletariers, ,,wenn der verhun-
gernde Landmann mit seinem verkrüppelten Sohne heim-
kommt, um auf dem Strohlager das verlechzende Kind
an der vertrockneten Brust der sterbenden Mutter zu
finden*', — Dr. Barth rühmte den heiligen, gigantischen
Geist der Zeit, der mit erschütterndem Tritt über die
Erde schreitet, vorbei an den Hütten, an den Palästen,
an den Thronen, — ,,der warme Menschenfreund jauchzt
1) Blaul, Träume und Schäume vom Rhein (1910; die Reise-
bilder stammen aus dem Jahre 1836), 65.
2) Handschriftlich im Germanischen Museum zu Nürnberg.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 71
ihm trunken entgegen, der knirschende Despositismus
hüllt sich dichter in den blutigen Purpur, und mit schielen-
dem, zitterndem Blick, mit ängstlich stockendem Herzen
dem Schritt des erhabenen Geistes folgend, lauert die ver-
schrumpfte Politik!" Becker forderte, daß sich das Volk
sofort bewaffne, denn nur bewehrte Bürger seien kompetente
Richter über Laune und Willkür. Advokat Hailauer erinnerte
an die Tage, da ,,die heiligen Scharen der verbannten Polen
durch Deutschland zogen, und die fremde Erde sich be-
eiferte, den blutigen Staub von den Edlen zu küssen".
,,Auch der beste Fürst ist ein Hochverräter!" ,,Weg mit den
Konstitutionen, nur der Volkswille herrsche l"^) Der Pole
Franz Grzymala antwortete mit einer Mahnung zu gemein-
samer Bekämpfung des Unterdrückungssystems der Könige,
während sein Landsmann Zatwarnicky, unter Berufung auf
das traurige Geschick seines Vaterlandes, vor jeder Revo-
lution sogar warnte. Auch die Rede eines Burschenschafters,
Brüggemann aus Westfalen, stach merkwürdig von dem dema-
gogischen Pathos der übrigen ab; er feierte das Wartburg-
fest als Vorspiel des Hambacher Tages und erhoffte das Glück
des Vaterlands von Wiederaufrichtung von Festigkeit,
Innigkeit und Keuschheit. Auch Adressen wurden verlesen,
von Deutschen vom Niederrhein, ,, armen Söhnen des
Nordens", von Rheinpreußen, die ,,als brave königliche
Untertanen mit dem deutschen Volk nichts gemein haben
dürfen und sich des Namens, Preußen zu seyn, ex officio
königlich freuen müssen, aber doch instinktmäßig aufhorchen,
wenn sie den Namen nennen hören, den sie in der politischen
Taufe empfangen haben", von Konstanzer Bürgern, die
von Deutschlands Südgrenze die Bruderhand herüber-
reichten, vom polnischen Nationalkomitee in Paris, von
den Amis du peuple in Straßburg usw. 2)
Die für das Fest bestimmten Lieder erheben wohl gar
nicht Anspruch auf poetischen Wert; sie sollten nur der
Tendenz dienen. Während des Zuges auf den Schloßberg
*) A, Stern I, 316; nach Bericht des Ohrenzeugen Th. Benfay.
■^) Akt des k. bayer. Just.-Min., die Schrift Wirths über das
Nationalfest zu Hambach betr.
72 Karl Theodor Heigel,
sangen 300 Handwerksbursche ein von Siebenpfeiffer ver-
faßtes Marschlied:
„Hinauf, Patrioten, zum Schloß, zum Schloß!
Hoch flattern die deutschen Farben!
Es keimet die Saat und die Hoffnung ist groß.
Schon binden im Geiste wir Garben.
Es reifet die Ähre mit goldenem Rand,
Und die goldene Ernt' ist das Vaterland!"
Die Beamten sprechen in ihren Berichten von den
„fröhHchen Rundgesängen". „FröhHch" ist aber z. B. der
„Aufruf" des Hamburgers Scharpff gerade nicht zu nennen:
,, Vaterland, im Schwerterglanze
Strahlte Hoffnung jugendlich,
Als besiegt der stolze Franze
Fern aus deinen Gauen wich;
Seine Adler stürzten nieder,
In der Freiheit Sonnenblick
Sproßte deutsche Ehre wieder,
Deutsche Kunst und Bürgerglück! —
Ha, nur ein Traum war's, nur fürstliche Lüge,
Daß sich der Sklave so williger füge
Seiner Despoten fluchwürdigem Bund"
Die beliebten Polenlieder: ,,Noch ist Polen nicht ver-
loren!" und „In Warschau schwuren Tausend auf den
Knieen!" wurden von Deutschen und Polen gleich be-
geistert gesungen.
Ernstere Störungen kamen nicht vor. Ein Gewitter-
regen zog rasch vorüber. Während einer Rede wurde plötz-
lich Trommelschlag hörbar; nun lief von Mund zu Munde
das Gerücht, Truppen seien von Landau her im Anmarsch;
im ersten AugenlDlick schien eine Panik zu drohen, doch
klärte sich bald auf, daß der Schrecken grundlos war. Theo-
dor Mundt erzählt, gegen Schluß des Festes sei ein Teil der
Schloßruine eingestürzt, und das Gerücht, die Ruine sei
unterminiert und werde in die Luft fliegen, habe die Patrioten-
schar bewogen, in stürmischem Lauf den Schauplatz ihrer
Taten zu verlassen. Der Sachverhalt war weit einfacher.
Weil einige Festgäste unvorsichtig auf der Ruine umher-
kletterten, rollten ein paar Steine auf den Festplatz — das
war alles! Auch die Behauptung Treitschkes, daß die Worte
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 73
der Redner in allgemeiner Truni<enheit verhallt seien^),
ist eine dramatische Übertreibung. In der von Pfarrer
Blaul mitgeteilten, den Festgenossen abgünstigen Schilde-
rung wird ausdrücklich hervorgehoben, daß trotz des Drän-
gens und Lärmens der Massen kein Akt der Roheit oder
Unbotmäßigkeit zu beanstanden war. Auch der amtliche
Bericht des Staatsprokurators Rattinger, sowie die Zeugen-
aussagen in der Landauer Schwurgerichtsverhandlung von
1833 bestätigen, daß während des Festes selbst keine Ruhe-
störung vorfiel; erst nach der Heimkehr kam es in Neu-
stadt zu Tätlichkeiten zwischen Bürgern und Soldaten, Der
k. Landkommissär v. Pöllnitz glaubte den Geschworenen
sogar die Versicherung geben zu können, es habe zwar auch
bei anstößigen Äußerungen der Redner an jubelndem Bei-
fall nicht gefehlt, allein ,,die Idee und insbesondere der aus-
gesprochene Abscheu gegen die Regenten ist in den größeren
Teil des Publikums nicht eingedrungen". 2)
Unter den Festgästen befanden sich Männer mit berühm-
ten Namen. Stürmisch gefeiert wurde Börne, der sich
eigens nach der Pfalz begeben hatte, „um zu sehen, ob die
Deutschen, die niemals etwas anderes hervorbringen als
langweilige Bücher und unverdauliche Gerichte," die ,,nie
einen Brutus, nur tausend Nachtwächter erzeugen", ,,etwa
doch unter Schlafmütze und Schlafrock heimlich Helm und
Harnisch trügen". Als er in Paris wieder mit Heine zusammen-
traf, wußte er, obwohl ihm im Festgedränge seine Uhr ge-
stohlen worden war, die Hambacher Eindrücke nicht günstig
und glänzend genug zu schildern, ,,Alle die Patrioten,
die dort an der Spitze stehen, meinten, m i r hätte man die
vaterländische Bewegung zu verdanken, die Andern wären
erst nach mir gekommen . . ."^) Manches freilich habe
daran erinnert, daß sich die hehre französische Freiheits-
idee schwer mit deutscher Art vertrage. Siebenpfeiffer
selbst habe ihm erzählt, daß ihm ein Bäuerlein zuraunte:
„Herr Siebenpfeiffer, wenn Sie König sein wollen — wir
machen Sie dazu!"
0 Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert IV, 265.
2) L. Hoffmann, 106,
3) Börne, Briefe aus Paris (1858) VII.
74 Karl Theodor Heigel,
Auch V. Itzstein, der Führer der Liberalen in der
badischen Kammer, war mit mehreren Kollegen nach Ham-
bach gekommen. Er verließ aber nach Wirths Rede das
Fest, offenbar im Gefühl, daß ihm durch solche Mißachtung
der geschichtlichen Entwicklung der Boden unter den Füßen
weggezogen werde. i) Rotteck war nur durch ein äußeres
Hindernis abgehalten worden, dem Feste beizuwohnen.
Schon hatte der Reisewagen vor dem Hause gehalten, als
ihm durch den Regierungsdirektor mitgeteilt wurde, daß den
badischen Staatsdienern die Teilnahme am Fest unter-
sagt worden sei. Der Verlauf der Feier erfüllte den alten
Vorkämpfer des Liberalismus, wie sein Sohn mitteilt, mit
Betrübnis; er mißbilligte die Übertreibungen und Über-
griffe einzelner Redner und sah mit banger Ahnung den
bösen Früchten entgegen: ,,Man wird das Hambacher Fest
benutzen, wie einst die Tat Sands l"^) Weniger abschreckend
wirkte das Fest auf Karl Mathy. ,, Wahrscheinlich erregten
ihm viele geschwollene Phrasen Unzufriedenheit," sagt
Gustav Freytag, „aber seinem jugendlichen Sinn bot doch
das Neue des Festes, die Menschenmenge, die Zahl ansehn-
licher Häupter des Fortschritts, das Symbol deutscher Ein-
heit, welches stolz von der alten Burgruine nach dem Rhein
wehte, große Gedanken. "3) Zu den gefeiertsten Gästen
gehörte der blonde Friese Hugo Harring, dessen Verse:
„Deutsches Volk, es ist das Schwert,
Womit Kraft sich männlich wehrt,
Das Schwert nur stürzt, das weiß ich,
Die Vierunddreißig!"*)
nicht gerade auf einen großen Poeten und Politiker schlie-
ßen lassen.
Gustav Freytag spricht auffällig mild über die Hambachi-
ade; er vertritt die Ansicht, daß ,,die Gegenwart leichter
geringschätzig darüber urteilt, als daß sie das Charakteristi-
^) Geschichte der konstitutionellen und revolutionären Bewegungen
II, 253.
2) Hermann v. Rotteck, Karl v. Rottecks Leben ; Nachgelassene
Schriften IV, 384.
^) G. Freytag, Karl Mathy, 54.
*) Die Geißel, Heft 2, 1 (1832).
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 75
sehe daran würdigt"; ihn erinnert „die gesellige Berauschung
der Deutschen, ein besonderes Phänomen im deutschen
Volksleben," an die asketische Verzückung und den Wander-
drang in den Jahren der Kreuzzüge.i) Er würde aber weniger
duldsam gesprochen haben, wenn ihm das Nachspiel des
Festes auf der Schloßruine bekannt gewesen wäre. In den
Beratungen und Abmachungen in Neustadt am Vormittag
des 28. Mai liegt die eigentliche Bedeutung des Hambacher
Maifestes. Es sollte nicht bei Singen und Reden sein Bewen-
den haben; es sollten Beschlüsse gefaßt werden, in welche
Formen die freiheitliche Bewegung zu leiten wäre; es sollte
,,der Übergang von den Worten zur Tat" gefunden werden.
Der Sozialist Herzberg findet dies auch selbstverständlich.
„Es wäre ja ein Wunder gewesen, wenn es so entschiedene
Männer wie Wirth, Siebenpfeiffer, Schüler usw. in Ham-
bach bei schwungvollen Reden belassen und nicht vielmehr
die gute Gelegenheit benutzt und auf praktisches Handeln
hingearbeitet hätten, "2)
Unbestimmte Kenntnis von diesen Aktionsplänen hatte
man schon früher.
Schon aus Börnes Briefen aus Paris erhellt, daß ein
Losschlagen beabsichtigt war. Am 26. Februar 1832 meldet
er, daß sich die Aktionskomitees in Paris zusammengeschlos-
sen, daß der Advokat Savoye aus Zweibrücken, einer der
Gründer des Preßvereins, in Paris eine Verbrüderung mit
den Pfälzern eifrig betrieben, daß auch die Polen endlich
die große Sache nicht bloß als eine deutsche, sondern auch
als eine polnische, als europäische anzusehen gelernt hätten. 3)
Weitere Anhaltspunkte bot Heine in seinem abscheulichen
Buch über Börne, das uns die harten Äußerungen Treitschkes
über die beiden verlorenen Söhne Deutschlands verständ-
lich macht und verzeihlich erscheinen läßt. Nach seiner
Rückkehr von Hambach habe Börne, so erzählt der inzwi-
schen vom Demokratismus bekehrte Heine, wiederholt
erklärt, es sei zweifellos von den vielen dort anwesenden
Männern der Tat geplant gewesen, das Signal zu einer all-
0 G. Freytag, 55.
2) Herzberg, 131.
8) Börne, Briefe aus Paris, 11, 121.
76 Karl Theodor Heigel,
gemeinen Schilderhebung zu geben. Die nämliche Ver-
sicherung erhielt Heine von Venedey, der selbst dem be-
ratenden Ausschuß angehört habe; nur das echt deutsche
Bedenken — ,,o Schiida, mein Vaterland!" ruft Heine
immer wieder dazwischen — , ob die anwesenden Patrioten
,, kompetent" seien, die Revolution zu dekretieren, habe
den Ausbruch verhindert. i)
Die Regierungsbeamten Rattinger und Pöllnitz boten
in der Landauer Gerichtssitzung über die geheimen Ab-
machungen keine Aufklärung, weil sie nicht daran teilge-
nommen hatten. Dagegen wurde in der 1839 vom Frank-
furter Bundestag veröffentlichten „Darlegung der Haupt-
resultate aus den wegen der revolutionären Komplotte der
neueren Zeit in Teutschland geführten Untersuchungen"
zum Beweis für die Tatsache, daß die Veranstalter des
Hambacher Festes „ganz andere Dinge im Auge gehabt,
als eine unbestimmte Aufregung dem Zufall zur Benutzung
zu überweisen", auf die Fortsetzung der Aufwieglungsver-
suche im Schießhaus zu Neustadt hingewiesen. Dort habe
Siebenpfeiffer in einer Versammlung von 5 bis 600 Männern
dazu aufgefordert, unverzüglich nach Gauen zusammenzu-
treten und Vertrauensmänner zu wählen, die als eine pro-
visorische Regierung dem Bundestag gegenüberstehen sollte;
es seien dann auch Abgeordnete gewählt worden, darunter
Itzstein, Rotteck, Welcker, Closen u. a., die sich jedoch
nicht sofort als Nationalkonvent konstituiert hätten, weil
teils gegen die Bildung einer solchen Behörde selbst, teils
gegen die ,, Kompetenz" der Versammlung Bedenken erhoben
worden seien.
Genaueres hat erst G. H. Schneider aus den Akten
des Berliner Staatsarchivs, insbesondere über die Verneh-
mung des Studenten Brüggemann, mitgeteilt. 2) Am 28. Mai
vormittags fand im Schießhaus zu Neustadt eine Versamm-
lung statt, an welcher fünf- bis sechshundert Männer teil-
nahmen. Siebenpfeiffer hielt eine ungestüme Rede, worin
er, in direkter Anknüpfung an die glorreiche Erhebung Frank-
1) Heine, L. Börne, 156.
2) G. H. Schneider, 53.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 77
Teichs die Berufung eines Nationalkonvents beantragte.
Darauf wurden Wirth, Scliüler, Siebenpfeiffer und Hallauer
für die Rheinpfalz, Closen für das rechtsrheinische Bayern,
Lohbauer für Schwaben, Strohmeyer, Rotteck, Welcker
für Baden, Jordan für Hessen, Brüggemann, Cornelius und
Rauschenplatt für Norddeutschland gewählt. Nach Aus-
sage des Bürgermeisters Hütlin von Konstanz wäre aber
vereinbart worden, daß die Abgeordneten nicht zu irgend-
einer Tathandlung schreiten, sondern erst wieder beraten
sollten, was zu geschehen hätte.
Da es im Schießhaus, infolge eines Zwiespalts der
Meinungen über den Preßverein, zu Mißhelligkeiten kam,
wurde die Beratung von 15 bis 20 Personen im Hause
des Kaufmanns Schoppmann nochmals aufgenommen. Auch
hier erhoben Wirth und Siebenpfeiffer Klagen über den
Preßverein, während Savoye ihn verteidigte. Der Burschen-
schafter Rauschenplatt wollte sofort festgesetzt wissen,
an welchem Tag losgeschlagen werden sollte, doch fand die
Kompetenzfrage auch im engeren Verschwörerkreise nur
geteilte Aufnahme. Als Schüler abstimmen ließ, wurde der
Antrag des Konstanzer Bürgermeisters Hütlin, daß die
Deputierten fortan als Repräsentanten der deutschen Nation
aufzutreten hätten, abgelehnt, der Antrag Schülers, daß sie
dazu nicht berechtigt seien, angenommen. Auch feste Be-
schlüsse bezüglich einer Schilderhebung scheinen nicht ge-
faßt worden zu sein.
Bei einer Suche in Siebenpfeiffers Haus wurden später
(8. August) elf handschriftliche Exemplare einer Denk-
schrift ,, Grundzüge des deutschen Reformvereins" gefunden.
Darin war zunächst der Vorschlag erörtert, der alte Preß-
verein sollte durch einen tatenlustigeren ersetzt werden.
Man möge auch endlich die ,, konstitutionelle Lüge" auf-
geben, die immer nur den Ministern die Schuld aufbürde;
nur die auf der Grundlage voller Volkssouveränität aufge-
baute republikanische Staatsreform sei anstrebenswert; in
diesem Zeichen sollten sich alle Völker brüderlich zum
Freiheitskampf vereinigen. In einem ebenfalls aufgespürten
Briefe des Burschenschafters Brüggemann war erörtert,
ob ein „Wagestück" an irgendeinem Platz im Rheinkreis,
78 Karl Theodor Heigel,
etwa in Heidelberg, Aussicht auf Erfolg hätte. Auch für
die Verbindung der pfälzischen Volksmänner mit den fran-
zösischen Demokraten fanden sich schriftliche Beweise. i)
Am gleichen Tag mit dem Hambacher Fest hatte sich
auch der Pariser Preßverein im Wald von Vincennes ver-
sammelt, wobei General Lafayette die heilige Allianz der
Völker feierte und Charles de Lasteyrie der Bundesgenossen-
in der Pfalz gedachte. 2) Ähnliche Festlichkeiten und Volks-
versammlungen fanden in der nächsten Zeit statt auf dem
Wollenberg bei Bergen, auf dem Dreifaltigkeitsberg bei
Speichingen, im Wilhelmsbad bei Hanau und an vielen
anderen Orten. Auch auf der Kästenburg feierten noch wieder-
holt mit schwarz-rot-goldenen Kokarden geschmückte Wall-
fahrer mit Reden, Sang und Becherklang den Anbruch eines
glücklicheren Zeitalters.
Die Folgen der freiheitlichen Kundgebungen waren
gleich traurig für das deutsche Volk wie für die Regierungen.
Die Gegner des konstitutionellen Systems in Wien und
Berlin sahen den Hambacher ,, Skandal", wie Rotteck
richtig vorausgesehen hatte, gar nicht ungern. 3) Metternich
war eben daran, für den Kampf gegen die revolutionären
Geheimbünde, die ihm samt und sonders als Sprößlinge
der Illuminatensekte galten*), unter den deutschen Regie-
rungen Bundesgenossen zu werben; da kam ihm eine so kecke
Kriegserklärung gegen Staat und Gesellschaft ganz gelegen.
Am 6. Juni 1832 schrieb er an Apponyi in Paris, jetzt sei
einmal der nackte Radikalismus offen zutage getreten, die
gleichzeitige Veranstaltung des Hambacher Festes und des
Banketts im Wald von Vincennes unter Vorsitz des ,, Heros
zweier Welten" habe auch den letzten Zweifel an der Ver-
schwisterung der deutschen und französischen Sektierer
benommen. „Noch nie hat die Propaganda ihre Pläne und
1) Ebenda, 82.
2) Ebenda, 86.
^) Die Regierungen Österreichs und Preußens sollen verkleidete
Offiziere von Mainz aus zum Hambacher Fest entsendet haben
(K. Fischer, Die Nation und der Bundestag, 378),
*) Metternich an Apponyi, 24. Juni 1832; Aus Metternichs
nachgelassenen Schriften, V, 358.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 79
Hoffnungen auf schamlosere Weise in der öffentliclikeit
gezeigt. "1) Nun war der Boden geebnet, um für willige
Annahme der Anträge auf Einschränkung der ständischen
Gewalt, der Presse und des Vereinsrechts auch die ja noch
zögernden Regierungen zu gewinnen. ,,Das Hambacher
Fest," schrieb Metternich an den preußischen Bundestags-
gesandten V. Nagler, ,,kann, wenn es gut benutzt wird,
das Fest der Guten werden. "2) Der bayerischen Regierung
ließ der österreichische Staatskanzler sein Bedauern aus-
sprechen, daß die Abhaltung eines solchen Festes überhaupt
geduldet und dadurch von Bayern zuerst dem revolutionären
Treiben ein legaler Tummelplatz eröffnet worden sei. ,,Das
Übel ist nun aber geschehen, und fern sei es von mir, auf
den Ursprung desselben aus einem andern Grunde zurückzu-
kommen, als um die Frage zu beantworten, welchen Weg
die königliche Regierung nun zu betreten habe, um die
Pflichten gegen die eminente Majorität ihrer ruhig und
treu gesinnten Untertanen und ihre Pflichten gegen die
mitverbündeten Staaten auf genügende Art zu erfüllen."
Es sei dringend geboten, gegen die Schuldigen dem Gesetz
vollen Lauf zu lassen und zugleich durch Aufstellung einer
imposanten militärischen Macht in Rheinbayern unter einem
cum derogatione omnium instantiarum eingesetzten Militär-
gouverneur die ernste Absicht zu bekunden, daß ähnliche
revolutionäre Ausbrüche nicht mehr auf Duldung zu zählen
hätten. 3)
Ebenso ließ Ancillon bei der bayerischen Regierung
anfragen, was sie zur Steuerung der gemeinschädlichen
Umtriebe gegen Wirth und Genossen zu tun gedenke. Der
spätere Kabinettsminister v. Thile, der damals Witzleben
im Kabinett vertrat, schrieb am 21. Juni 1832 an General
Oldwig von Natzmer: ,,Daß ich Dir nur diese zwei Zeilen
beilege, bitte ich mit meinem Tagewerk zu entschuldigen;
es geht wild her in der Welt und daher emsig in unserem
1) Ebenda, V, 275.
2) Herrn, v. Rotteck, Karl v. Rottecks Leben; Nachgelassene
Schriften IV, 384.
3) Metternich an Baron Gise, 8. Juni 1832; Aus Metternichs
nachgelassenen Schriften V, 337.
80 Karl Theodor Heigel,
Arbeitszimmer. Daß Du in Preußen den alten Sauerteig
auf die Seite schlaffst, ist höciist woliltätig. Wenn nur die
süddeutschen Regierungen bei sich ebenso energisch zu-
greifen wollten! Was von hier geschehen kann, sie anzu-
feuern, geschieht, und Hilfe ist ihnen verheißen. Die 8. Di-
vision, das 37., 38. und 39. Regiment mit den k. Ulanen
bleiben oder ziehen unter Borstells Befehl. Österreich bietet
die Hand ebenso bereitwillig und entschieden, und so wird
es hoffentlich gelingen, aus der Hambacher Versammlung
noch die Früchte eines Sieges für die Sache der Ordnung
und Gesetzlichkeit zu ziehen !"i)
Die Urteile der verschiedenen Volkskreise gingen natür-
lich weit auseinander. Während die liberale Presse das glück-
liche Ereignis feierte, wurde es von den anderen Organen ent-
weder als wüste Ausschreitung beklagt oder totgeschwiegen.
Eine Flugschrift ,,Ein Wort über die neueren politischen
Ereignisse im kgl. bayer. Rheinkreise von einem rhein-
bayerischen Bürger" ergeht sich in Verwünschungen über
,,die Parthei der Bewegung, die der ordentliche Bürger un-
gern sieht, und die nur Unordnung und Unheil entstehen
macht."2) Der alte Montgelas, seit seinem Sturz im Jahre
1817 ein scharfer, natürlich nicht gerade unbefangener
Beobachter der Vorgänge in Bayern, erklärt die „dumme
und traurige" Hambacher Episode teils aus dem unsteten,
sprunghaften Charakter der bayerischen Regierungspoli-
tik, teils aus der Ausnahmsstellung, die man den heißblütigen
Pfälzern unvorsichtigerweise eingeräumt habe.^) Ein tref-
fendes Wort vernehmen wir aus dem Munde des liebens-
würdigen Prinzen Johann von Sachsen, des Bruders des
regierenden Königs. „Das Thier der Apokalypse," schreibt
er am 15. Juni 1832 an den mit ihm befreundeten preußi-
schen Kronprinzen, ,,das sich bis jetzt nur von fern in un-
serem lieben Teutschland rührte, hat auf einmal sich sein
1) Unter den Hohenzollern. Denkwürdigkeiten aus dem Leben
des Generals Oldwig von Natzmer II, 40.
2) Ein Wort über die neueren politischen Ereignisse im kgl.
bayer. Rheinkreise, von einem rheinbayerischen Bürger, 5.
3) Montgelas an Julie v. Zerzog, 24. Juni 1832; Briefe des Grafen
M. Montgelas, herausg. von J. v. Zerzog, 87.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 81
Haupt mit Namen der Lästerung beschrieben und iierrlich
erhoben. Mache nur, ich bitte Dich, daß Schwager Ludwig
den Wirth und Siebenpfeiffer beim Kopf kriegt, sonst wird
bald ganz Deutschland nach seinen sieben Pfeifen tanzen.
Aber von der anderen Seite mache auch, daß wir ein Deutsch-
land nach unserem Sinn bekommen, damit die Leute sich
nicht nach einem apokalyptischen Ditto sehnen. *'i)
Welche Stellung nahm nun die bayerische Regierung
gegenüber der Umsturzbewegung in der Pfalz ein?
Es wurde schon hingewiesen auf den unerlaubt gut-
mütigen Bericht des Staatsprokurators Rattinger.^) ,,Wenn.
auch die königliche Regierung," dahin faßt der Beamte seine
Meinung zusammen, ,,die Tendenz des Festes nicht an-
erkennen kann, so war, abgesehen davon, das Fest doch
«rlaubt und die Aufrechthaltung der Ordnung und Ruhe
unter die Garantie der Polizei und Sicherheitsbehörde der
Stadt Neustadt gestellt." Ebenso treuherzig beteuert der
Generalprokurator Schenkl die Bedeutungslosigkeit des
,, Redens und Singens" auf dem Hambacher Schloßberg.
Das Fest habe nur den Zweck verfolgt, ,,zu beraten, wie
Deutschland durch Entfernung des österreichischen und
preußischen Einflusses reformiert und die Bildung eines
Gesamt-Deutschlands ausgesprochen werden soll". Frei-
lich seien im Verlaufe des Tages recht anstößige Worte ge-
fallen, so daß der Abgeordnete Schüler äußerte, nach so
gehaltlosen und frechen Reden könne und möge er nicht mehr
als Sprecher auftreten, doch ,,die beabsichtigte Störung der
öffentlichen Ruhe und Ordnung ist nicht erfolgt, die ge-
fürchteten Plünderungen und Anarchien sind glücklicher-
weise unterblieben, und die Einwohner des Rheinkreises
haben einen herrlichen Beweis ihrer Abneigung gegen Um-
sturz an den Tag gelegt". 3)
^) Briefwechsel zwischen König Johann von Sachsen und den
Königen Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I, von Preußen, her-
ausgeg. von Johann Georg, Herzog zu Sachsen, 128.
^) Akt des k. bayer. Just.-Min., die gefährdete öffentliche Ruhe
und Ordnung im Rheinkreise betr. Bericht des Staatsprokurators
Kattinger vom 2. Juni 1832.
3) Ebenda. Bericht des Generalprokurators Schenkl v. 29. Mai 1832.
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 6
82 Karl Theodor Heigel,
Es wurde auch schon erwähnt, daß die Minister den
Rummel weniger leicht nahmen. Rattinger und Schenkl
erhielten zunächst eine Rüge, weil die Entfaltung der deut-
schen Fahne zugelassen und den revolutionären Reden
nicht Einhalt geboten worden war. Sodann gab ein Dekret
des Gesamtministeriums vom 2. Juni dem Unmut über
,,die Ausschreitungen eines an Wahnsinn grenzenden Fanatis-
mus" Ausdruck. 1) Strengere Maßnahmen wurden erst nach
der Rückkehr des Königs aus Italien ergriffen.
König Ludwig war nicht von vornherein ein Feind
einer freiheitlichen Staatsentwicklung und strebte keineswegs
als Ziel an, die Schatten der abgestorbenen absolutisti-
schen Monarchie wieder zu beleben. Er hatte am Bundestag
gegen den Mißbrauch, den Metternich mit den Schlagworten
stabilite und conservation sich erlaubte, immer Widerstand
geleistet und hatte sich, obwohl ihm ein starker, idiokrati-
scher Drang innewohnte, als überzeugungstreuer Anhänger
des konstitutionellen Prinzips bewährt. Bayern war der
einzige deutsche Staat, in dem bis 1830 die Burschenschaften
erlaubt waren und die Turnplätze offenstanden. Auch einer
strengeren Beschränkung des Worts war der König noch
vor kurzem abgeneigt gewesen. Er selbst verglich einmal
einen Regenten, der sich beikommen lasse, die Presse eng-
herzig zu beschränken, mit einem Toren, der aus dem Ge-
setzbuch das für ihn ungünstige Blatt herausreiße. Noch
am 21. Dezember 1830 hatte er allen Behörden seinen
Willen kundgegeben, daß „dem Recht der freien Beurtei-
lung des amtlichen Wirkens der zum öffentlichen Dienst
berufenen Personen, soweit nicht dadurch gesetzliche Ehren-
rechte verletzt werden, der gebührende Schutz gewährt und
jeder anständigen Äußerung der Meinungen und Ansichten
im Gebiete der inneren Politik kein ungesetzliches Hin-
derniß entgegengestellt werden soll". Dem Schmerz über
den Verlust der nationalen Einheit und dem Verlangen nach
festerem Verband der deutschen Stämme hatte er selbst noch
am Jahrestag der Leipziger Schlacht 1830 bei der Grundstein-
legung zur Walhalla Ausdruck gegeben. Doch durch die Un-
1) Miller, 149.
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 83
ruhen in München in der Christnacht 1830 geängstigt und
durch den stürmischen Verlauf des Landtags im Frühjahr
1831 gereizt, suchte er seither mit wachsender Eifersucht die
Selbständigkeit und Ungeteiltheit der Kronrechte zu wahren.
Gegenüber den Übergriffen der Linken in der Abgeordneten-
kammer fühlte er sich entschiedener und entschlossener als
legitimer Fürst, dem nicht ein Lafayette die Krone geschenkt
habe; er sah in sich den Wahrer des Rechts gegenüber den
Stürmern, die, um ihr Vaterland in die wilde Bewegung
Frankreichs hineinzureißen, die gesetzmäßige Entwicklung
des Staates störten. Die Absicht, ernsteren Gewaltschritten
vorzubeugen, ließ ihn gerade in äußerster Strenge gegen die
Rädelsführer eine wohlwollende Rücksicht auf die Gesamt-
heit erblicken. ,,Wenn man gleich anfangs," schreibt er
an Zu Rhein, ,,die glimmenden Funken ordentlich austritt,
wird sich das Feuer nicht beängstigend weiter verbreiten."
„Mit Ernst den Verbrechen gleich anfangs begegnen," sig-
niert er auf das Begnadigungsgesuch eines Studenten Stirner,
„verhindert Viele, sich ins Verderben zu stürzen; wäre das
heillose Urteil im Jahr 1825 nicht erfolgt, so dürften nicht
Wenige zurückgehalten worden sein, sich um ihr Lebens-
glück gebracht und den Ihrigen Gram bereitet zu haben."
Dem Drängen Metternichs entsprechend, wurde jetzt
zur Dämpfung der Unruhen eine starke Militärmacht auf-
geboten. Im Juni ging Marschall Wrede als außerordent-
licher Hofkommissär mit einem ganzen Armeekorps nach
dem Rheinkreis. Hier hatte inzwischen die Bewegung,
hauptsächlich infolge der Teuerung, noch stürmischeren
Charakter angenommen. An einzelnen Plätzen war es zu
ernsteren Unruhen, sogar zu schweren Exzessen zwischen
Zivil und Militär gekommen, der Geist der Widersetzlichkeit
war offenbar im Wachsen begriffen. Die Abordnung Wredes
wurde von den Demokraten mit der Mission des Herzogs
von Alba verglichen, und „mit schaudernder Empfindung
wurden die einer hohen Person in den Mund gelegten Worte:
Wenn Worte nicht mehr helfen, so werden es Kanonen!
in der Pfalz nachgesprochen", i) Obwohl Wrede selbst,
1) Rotteck, Weltgeschichte. 11. Bd., 627,
6*
84 Karl Theodor Heigel,
ganz und gar nicht im Geiste des hohläugigen Toledaners,
in einer öffentlichen Ansprache die Versicherung gab, daß
er mit seinen weißen Haaren der erste sein würde, die Ver-
fassung gegen jeden Unterdrückungsversuch zu verteidigen,
erhielt sich die Aufregung. König Ludwig glaubte die Schuld
vor allem auf die Lauheit und Unzuverlässigkeit der pfälzi-
schen Behörden schieben zu müssen. ,,Herr Staatsminister
Freiherr von Zu Rhein!" schreibt er am 27. September,
„Die Rechtspflege im Rheinkreise, vorzüglich bei dem Appel-
lationsgericht in Zweibrücken, scheint noch immer mehr zum
Schutze der politischen Umtriebe, als der Ordnung und
Ruhe zu wirken. Nach der Allgemeinen Zeitung vom
21. September Nr. 265, S. 1059 wurde der Student Merkle
von Freinsheim, welchen das Zuchtpolizeigericht von Fran-
kenthal wegen Anreizung zur Widersetzlichkeit gegen die
bewaffnete Macht zu einem Jahre Zuchthaus verurteilt
hatte, von dem Appellationsgericht freigesprochen. Ich
kann mir unmöglich denken, daß das Zuchtpolizeigericht
Verurteilung und Strafe ohne hinreichende Gründe sollte
ausgesprochen haben, da kaum von einem Gerichte des Rhein-
kreises zu große Strenge gegen politische Verbrechen und
Vergehen zu erwarten ist. Ein anderer Zeitungsartikel
fällt mir gleichfalls auf. Nach dem Volksboten von Kaisers-
lautern vom 20. September wurde der Bürstenfabrikant
Becker von dem Bezirksgericht Frankenthal wegen direkter
Aufreizung zum Aufruhr, zur Bewaffnung, zum gewalt-
samen Widerstand gegen die Staatsregierung zur Unter-
suchung gezogen und verhaftet, von dem Kommissär Molitor
von Zweibrücken aber schon nach einigen Stunden wieder
in Freiheit gesetzt. Auf wessen Seite ist hier Recht und
Gesetz? Mir scheint, auch hier wollte man der Gunst
des, wie der Artikel sagt, gereizten und zusammengelaufenen
Volkes dienen. Auch hierüber will ich die genaueste Auf-
klärung." Königliche Signate ähnlichen Inhalts sind in
enormer Zahl in den Akten enthalten. Über freisprechende
Urteile äußert sich der Monarch sehr ungnädig, die Gerichte
in der Pfalz scheinen ihm samt und sonders zu lax und lahm
vorzugehen. ,,Es muß das Appellationsgericht des Rhein-
kreises," schreibt er an Zu Rhein, „so organisiert werden,
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 85
daß man auf die Mehrheit mit Zuverlässigkeit bauen kann.
Auch der Generalprokurator scheint mir nicht die gehörige
Tätigkeit zu entwickeln, wenn er nicht gar selbst der Volks-
gunst huldigt. Ich erwarte die schleunig^en und wohlbe-
messensten Anträge zur Regeneration dieses Gerichts."
Von der Absicht beseelt, dem Gesetz rücksichtslose Geltung
zu verschaffen, ließ sich der Monarch selbst zu ungesetz-
lichen Angriffen auf die Unabhängigkeit des Richterstandes
fortreißen. Immer wieder sucht er zu strengerem Straf-
verfahren anzufeuern. „In dem Benehmen des Bezirks-
gerichts zu Frankenthal," schreibt Ludwig am 18. September
1833 an Zu Rhein, ,, finde ich nur einen neuen Beweis, daß
es den Gerichten an allem politischen Mute gebricht, und daß
es desto dringender nötig ist, mit aller Kraft dieser Mutlosig-
keit entgegenzuwirken." Umsonst suchte der Vorstand des
Appellationsgerichts der Rheinpfalz, Koch, den König von
der Makellosigkeit der Gerichte zu überzeugen. ,,Die Proku-
ratoren wendeten die Gesetze an, wie sie bestehen und es
ihre Pflicht und Schuldigkeit war, denn sie sind nicht Ge-
setzgeber, sondern Gesetzanwender." Der König bleibt un-
geduldig und ungehalten über die Verschleppung der Unter-
suchungen und die ungebührliche Nachsicht der Richter.
„Ich finde noch immer," signiert er am 20. Oktober 1833,
„daß die Strafen in sehr geringem Maße ausgesprochen
werden. Dies ist namentlich bey der wegen Beleidigung
einer Schildwache erkannten Strafe der Fall. Militär-
wachten müssen geschützt werden. Sollte daher die Sache
nicht etwa allzu geringfügig gewesen seyn, so ist die Beru-
fung sogleich einzuleiten, desgleichen auch bey anderen
Strafen, die dem Reate nicht angemessen erscheinen. Auch
die Beleidigung meines Hofkommissärs scheint sehr gering
bestraft." Die Urteilssprüche der Kollegien werden vom
König einer strengen Kritik unterzogen, und er hält mit
seiner abweichenden Meinung nicht zurück. ,,Die in dem
Urteil entwickelte Ansicht auf pag. 22 und 23 des rück-
gehenden Akts, daß es nach dem Geiste der bayerischen
Verfassung erlaubt sey, öffentliche Verfügungen der Be-
hörden (denn auf solche wird diese Doktrin angewendet)
selbst mit Leidenschaftlichkeit und in ungeeignetem Tone
86 Karl Theodor Heigel,
anzugreifen, würde zu einer ungemessenen Frechheit, wenn
solche anerkannt würde, führen, und wie läßt sich diese
Behauptung aus der bayerischen Verfassung, die bloß eine
Beschwerde an die Stände außer den gewöhnlichen Mitteln
kennt, ableiten? wie mit dem Artikel 222 des Code penal
vereinigen, der nicht bloß die Ehre der öffentlichen Beamten,
sondern selbst ihr Zartgefühl {leur delicatesse) geschützt
wissen will? Das Kassationsgesuch ist zu verfolgen und die
Ansicht der Gerichtsmitglieder durch jedes gesetzliche
Mittel zu berichtigen." Es blieb aber nicht immer bei ,, ge-
setzlichen" Mitteln. Wirth konnte in seiner Verteidigungs-
rede vor den Geschworenen in Landau im August 1833
darauf hinweisen, daß seit der Überhandnähme der politi-
schen Prozesse sämtliche Mitglieder des pfälzischen Richter-
standes versetzt worden seien. Man kann doch nur mit
Unmut aus den Akten ersehen, daß gar nicht selten von
Gerichtsvorständen die politische Gesinnung einzelner Senats-
mitglieder beanstandet und umgekehrt von Subalternbeamten
die Leitung von Untersuchungen verdächtigt wurde u. dgl.
Kein Vernünftiger wird es den Regierungen verübeln,
daß sie gegen die republikanisch-kommunistischen Umtriebe,
wie sie nach der Julirevolution auch in Deutschland zutage
traten, den Kampf mit scharfen Waffen aufnahmen. Sie
hatten nicht bloß das Recht, sondern die Pflicht, die törichte
Bewegung nach Kräften zu unterdrücken. Doch die Regie-
rungen beschränkten sich nicht auf Abwehr der wirklich
Schuldigen. Das gesetzwidrige Vorgehen der Umstürzler
und die nach Recht und Gesetz zulässige Opposition wurden
auf gleiche Weise in Acht und Bann getan. Die Verfolgung
artete in unvernünftige Gewalttat aus. Auch Droysen ver-
urteilt das Vorgehen bei jenen politischen Prozessen: ,,So
übermütige Herausforderungen, wie das Hambacher Fest,
so hirnverbrannte Wagnisse, wie das Frankfurter Attentat,
rechtfertigen die Willkür der Anordnungen des Bundes-
tags und die oft empörende Roheit ihrer Ausführung nicht, "i)
Die Regierungen erblickten wieder, wie Görres in seiner
^) Unter den HohenzoUern. Denkwürdigkeiten aus dem Leben
des Generals O. v. Natzmer, II, 8L
Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832. 87
1819 erschienenen Schrift „Teutschland und die Revolution"
beklagt hatte, ihr Ideal in verknöcherten Zuständen, „wo
jede Kraft ein Mißklang ist, jedes Talent eine gefährliche
Gewalt, jede Idee als eine Plage gilt und jede Erhebung und
Begeisterung als eine gefährliche Narrheit behandelt wird".
Daß auch der ,, Kampf der legitimen Kraft gegen die un-
moralische" mit Übergriffen und Übertreibungen verbunden
war, beweist z. B. das Vorgehen gegen den Redakteur des
Bayerischen Volksblatts, Dr. Eisenmann. Obwohl die Aufrufe
und Artikel dieses Arztes und Journalisten nur den freiheit-
lichen Ausbau der Verfassung forderten und gegen wirkliche
oder angebliche Verletzungen der Verfassung ankämpften — ^
Dr. Wirth zählt ihn deshalb zu den Lauen, die sich nicht
dazu aufraffen könnten, die entschieden patriotische Rich-
tung einzuschlagen!) — , wurde er 1836 nach mehrjähriger
Untersuchungshaft zur Festungsstrafe auf unbestimmte
Zeit und zur demütigenden Abbitte vor dem Bildnis des
Königs verurteilt. Vom Gefängnis aus bat er um Revision
seines Prozesses durch unbefangenere Richter und legte
folgendes politisches Glaubensbekenntnis ab: ,,Ich war
und bleibe aus Gefühl und Überzeugung ein treuer Anhänger
der konstitutionellen Monarchie mit allen ihren Konse-
quenzen . . . Der König von Bayern ist nach meiner Mei-
nung berufen, an der Spitze der freisinnigen Bewegung in
Teutschland zu stehen, um ein einiges, starkes, herrliches
Teutschland gründen zu helfen. "2) Die Bitte wurde abge-
schlagen. Eisenmann mußte in strenger Festungshaft ver-
bleiben, erst der Sturz des Abelschen Regiments 1847 brachte
ihm die Erlösung. Im nächsten Jahre wird Eisenmann
ins Frankfurter Parlament gewählt. In der Paulskirche
tritt der soeben erst aus fünfzehnjähriger Kerkerhaft Be-
freite mit Feuereifer gegen die Republik und für treues
Festhalten an den angestammten Dynastien auf. In einer
Flugschrift ,, Ideen zur teutschen Reichsverfassung" mahnt
er: ,,Es ist leichter, einen guten Staat zu stürzen, als ihn
*) Wirth, Die poiitisch-reformatorische Richtung der Deut-
schen, 263.
2) Akt des k. bayer. Just.-Min., Dr. Eisenmann, Haussuchung
und K. Stein von Altenstein, Untersuchung betr., 1832 — 1848.
88 Karl Th. Heigel, Das Hambacher Fest vom 27. Mai 1832.
ZU erhalten. Dieses Erhalten aber wird durch das konstitu-
tionelle Prinzip der Heiligkeit und Unverantwortlichkeit
des Monarchen verwirklicht. Hütet euch, dieses Prinzip
anzutasten: nach seinem Sturz folgt die Sündflut der An-
archie . . . Wir wollen ein einiges, föderatives Teutschland,
regiert in seinen einzelnen Bundesstaaten durch die bisheri-
gen Monarchen und in seiner Einheit durch ein Reichs-
oberhaupt, durch einen teutschen Kaiser." Die Würde
des Reichsoberhaupts soll aber wechseln zwischen den Mon-
archen von Preußen, Österreich und — Bayern, denn auch
der Beherrscher der rein deutschen Stämme müsse der
höchsten Ehre teilhaftig werden können. —
Da dürfte doch wohl kein Zweifel bestehen, daß bei
diesem politischen ,, Verbrecher" Schuld und Strafe nicht in
rechtem und gerechtem Verhältnis gestanden haben.
Bismardc und Ludwig II. im September
1870.
Von
Karl Alexander v. Müller.
Vorbemerkung.
Die diplomatischen Vorgänge beim Schlußakt der deut-
schen Reichsgründung sind in den letzten Jahren der Gegen-
stand mehrfach wiederholter, eindringender Untersuchungen
gewesen. 1) Der Verfasser des folgenden kleinen Aufsatzes
würde es nicht unternehmen, sich seinerseits von neuem
auf dies Streitfeld zu stellen, wenn nicht einiges wertvolle,
^) W. Busch, Die Kämpfe um Reichsverfassung und Kaisertum
1870/71, 1906; A. v. Ruville, Bayern und die Wiederaufrichtung des
Deutschen Reiches, 1909; G. Küntzel, Bismarck und Bayern in der Zeit
der Reichsgründung, 1910; E. Brandenburg, Der Eintritt der Süd-
deutschen Staaten in den Norddeutschen Bund, 1910 (zuerst in der
Lenz-Festschrift, dann selbständig, Berlin, Paetel); B. Weicker, Vom
Staatenbund zum Bundesstaat, 2. Teil, 1911 (Beil. z. Progr. des Gymn.
zu Aschersleben); W. Stolze, Die Gründung des Deutschen Reiches
im Jahre 1870, 1912; W. Busch, Württemberg und Bayern in den
Einheitsverhandlungen 1870, Hist. Ztschr. CIX (1912); E. Branden-
burg, Die Verhandlungen über die Gründung des Deutschen Reiches
1870, Hist. Vierteljahrsschrift XV (1912). — E. Brandenburg, Briefe
und Aktenstücke zur Geschichte der Gründung des Deutschen Reiches
(1870—1871), 1911. (Dazu v. Müller, Hist. Ztschr. CIX, 378ff.) —
Vgl. auch K. Jacob, Bismarck und die Erwerbung Elsaß-Lothringens
1870/71, 1905; P. Wentzcke, Zur Entstehungsgeschichte des Reichs-
landes Elsaß-Lothringen, Süddeutsche Monatshefte VIII (1911).
90 Karl Alexander v. Müller,
bisher unbekannte Material^) ihm die Hoffnung gäbe, ein
paar neue Züge in das dort fixierte Bild einzeichnen zu können.
Hieraus ergibt sich Ziel und Gliederung des folgenden kleinen
Beitrags. Er versucht in keiner Weise, den ganzen Zusammen-
hang der Verhandlungen jener Monate oder eines bestimmten
Zeitraums in ihnen noch einmal erzählend darzustellen oder
kritisch zu beleuchten. Er möchte lediglich die eine neue
Linie, die sein Material aufzeigt, herausheben; nur ein ganz
kurzer Endabschnitt soll einen raschen Ausblick auf ein
paar allgemeinere Folgerungen werfen, welche sich von ihr
aus für den Aufbau des ganzen Bildes vielleicht ergeben.
I.
Ein Bayer wird sich mit der diplomatischen Geschichte
unserer Reichsgründung nicht ohne Schmerz darüber beschäf-
tigen, daß der amtliche Übergang Altbayerns ins neue Reich,
inmitten glorreicher kriegerischer Ereignisse, unter einem
schwärmerischen König, so von Grund aus schwunglos und
nüchtern geschah, der bayerischen Regierung so mühsam,
in langem und unklarem Hin und Her, Schritt für Schritt
hat abgerungen werden müssen. Dazu kommt, daß die eigent-
lich bayerische Überlieferung — aus sehr achtbaren Gründen,
die vor allem in der Person des unglücklichen Monarchen zu
suchen sind — bisher besonders spärlich und lückenhaft
fließt. Wie wenige unter den leitenden und einflußreichen
Männern treten uns bis jetzt in klaren, scharf gezeichneten
Umrissen entgegen. Wieviel treue, aufopfernde vaterländische
Arbeit, im Verborgenen geleistet, ist seitdem nie mehr ans
Licht gekommen, wie mancher warmherzige und kluge Helfer
für Öffentlichkeit und Geschichte so gut wie ganz in Ver-
gessenheit geraten.
1) Ich verdanke es der großen Liebenswürdigkeit und dem ver-
ständnisvollen Entgegenkommen Ihrer Exzellenz der Frau Gräfin
E. v. Tauffkirchen und der Frau Baronin Th. Riederer von Paar,
geb. Gräfin Tauffkirchen, welche mir Einsicht in die hinterlassenen
Papiere Sr. Exz. des Herrn Grafen Karl v. Tauffkirchen (im Folgenden
zit. : T. P.) gewährt haben. Sehr willkommene Ergänzungen dazu
boten eine Reihe von Mitteilungen Sr. Exz. des Herrn Grafen Hippolyt
von Bray-Steinburg. Für beides sei auch an dieser Stelle nochmals
der wärmste Dank ausgesprochen.
Bismarck und Ludwig 11. im September 1870. 91
Unter diesen darf auch der altbayerische Edelmann
Graf Karl v. Tauffkirchen eine ehrenvolle Stelle in An-
spruch nehmen: zweimal in den letzten Jahren der Einigung
hat er in bedeutenden Momenten am Anschluß Bayerns
ans Reich mitgewirkt. Es ist an anderem Ort versucht worden,
über seine politischen Anschauungen und über seine Tätigkeit
insbesondere als Referent der deutschen Frage unter Hohen-
lohe (1867) auf Grund seiner eigenen Aufzeichnungen und
Korrespondenzen Näheres zu berichten. i) Tatkräftig, viel-
seitig, zugleich ein leidenschaftlicher Deutscher und ein
treuer Bayer, war er in jenem unternehmungslustigsten Halb-
jahr der Hohenloheschen Amtszeit neben seinem Minister
und Freund der Hauptträger einer aktiven nationalen Politik
Bayerns. Er scheint sich dabei, wie es heißt als allzu preußisch,
die Ungnade des Königs zugezogen zu haben: bereits unmittel-
bar nach der Erneuerung des Zollvereins im Juni 1867 wurde
er als Gesandter in Petersburg kaltgestellt.^) Im November
1869, als das römische Konzil herannahte, zog Hohenlohe
den klugen liberalen Katholiken auf den wichtigeren Posten
in Rom, und Tauffkirchens Konzilsberichte erweckten als-
bald wieder die Aufmerksamkeit und den Beifall Ludwigs II.
Da erhob sich unerwartet im Juli 1870 der deutsch-
französische Konflikt. Der lebhafte Patriot brannte, seine
Arbeitskraft und Arbeitslust wieder auf dem eigentlichen, ent-
scheidenden Schauplatz der deutschen Dinge zu verwerten;
er glaubte, hier dem Vaterland nützlicher sein zu können
1) K. A. V. Müller, Die Tauffkirchensche Mission nach Berlin
und Wien. Bayern, Deutschland und Österreich im Frühjahr 1867:
Riezler-Festschrift 1913, insbes. Abschnitt III. — Eine Auswahl aus
den Korrespondenzen und Aufzeichnungen Tauffkirchens werde ich
demnächst veröffentlichen. — Auf die Wichtigkeit dieser Spur für 1870,
die bisher nur Ruville 206 f., freilich ganz kurz und unklar, angedeutet
hatte, habe ich bereits in der Hist. Ztschr. CIX, 381 f. hingewiesen;
aber auch der neueste Aufsatz Brandenburgs hat sie nicht aufgegriffen.
2) Denkwürdigkeiten des Fürsten Chi. zu Hohenlohe-Schillings-
fürst (1907) I, 247, auch 255, 329; Mohl an Freydorf 1867, Mai 22:
Annalen des Deutschen Reiches 1905, 544 f. — Zum Folgenden Hohen-
lohe I, 399, 401, 439. 1871 war Tauffkirchen auch Geschäftsträger des
Deutschen Reiches in Rom; vgl. auch M. Busch, Tagebuchblätter,
Register; v. Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier II,
159 ff.
92 Karl Alexander v. Müller, .
als am Tiber, wo das Konzil rasch dem Ende zuging. Schon
am 2. Juli hatte er um einen zweimonatlichen Urlaub ein-
gegeben. Am 15., als der Krieg bereits unvermeidlich erschien,
aber Bayerns Haltung noch nicht entschieden war, wandte
er sich persönlich an den ihm befreundeten Minister Grafen
Bray: er werde seinem König ,, mit Aufopferung dienen, so-
lange er mit Deutschland geht, aber nicht länger". Er bat
für den Kriegsfall dringend um eine Stelle, sei es als General-
kommissar oder in besonderen Missionen, sei es im inneren
Dienst. Als dann der Befehl Ludwigs II. zur Mobilmachung
bekannt wurde, ließ er zwei Tage später noch ein weiteres
Schreiben an den Kabinettsekretär Eisenhart folgen. ,,lch
glaube, daß in dieser Zeit Energie in Bayern ein ebenso
nöthiger als gesuchter Articel sein wird, nöthig namentlich
um die Partheien und die Winkelpresse im Rücken der Armee
niederzuhalten, nöthig aber auch um die Kriegsverwaltung
zu unterstützen. Ich fühle mich physisch und moralisch stark
genug, um jeden Posten, den Seine Majestät in dieser Rich-
tung mir anvertrauen will, wenn nicht auszufüllen, doch
anzunehmen." Im äußersten Fall wolle er sich wenigstens
ganz dem Verein zur Pflege verwundeter Krieger widmen,
an dessen Gründung er nicht unerheblichen Anteil gehabt
habe und der jetzt gleichfalls energischer Leitung dringend
bedürfe. 1)
Noch ehe diese beiden Briefe in München eintrafen,
hatte Ludwig II. bereits den erbetenen Urlaub bewilligt,
am 19. fertigte ihn das Ministerium aus. 2) Am 3. August ver-
ließ Tauffkirchen Rom, wenige Tage später scheint er in der
bayerischen Hauptstadt angekommen zu sein.
Es waren die erregten Wochen der ersten großen Schlach-
ten, in denen die Flut der nationalen Begeisterung mit den
ununterbrochenen Siegesnachrichten, deren eine kaum ein-
getroffen schon von der andern überholt wurde, unaufhaltsam,
fast Tag für Tag bis in die kleinsten Flecken abgelegener Berg-
1) Tauffkirchen an Bray, Juli 15. Abschrift eigenhändig. T. P. ;
Tauffkirchen an Eisenhart, Juli 17. Entwurf eigenhändig. T. P. — Eine
eventuelle wörtliche Veröffentlichung der hier verwendeten Briefe
und Aufzeichnungen behalte ich mir vor.
2) Or. T. P. Auf Grund einer kgl. Entschließung vom 14. Juli.
Bistnarck und Ludwig 11. im September 1870. 93
täler hinaufschlug; — Wochen zugleich, in denen der nieder-
schmetternd rasche Gang des Krieges bei den Verantwort-
lichen und Nachdenksamen schon alle die Fragen des Nachher
eniportrieb: Friedensbedingungen und Neugestaltung Deutsch-
lands. Die bayerische Regierung zwar schien sich, je drängen-
der die Entscheidung auch an sie heranzutreten drohte, nur
um so mehr in einer unbehaglichen Zugeknöpftheit zu ver-
steifen.i) Die Diplomaten erzählten sich, der österreichische
Einfluß sei am Promenadeplatz neuerdings stark im Wachsen;
man schien sich wieder auf das alte Vogel-Strauß-Rezept des
Abwartens verlassen zu wollen. Um so lebhafter waren in
der Hauptstadt die üblichen Ministermacher an der Arbeit,
die wieder einmal bereits das Gras auf dem Grab des be-
stehenden Kabinetts wachsen hörten. Die Deutschgesinnten
unterhielten sich über die Folgen der Abtretung des Elsasses,
unter den Eingeweihten hörte man schon vom Kaisertitel
und von einem großen Kongreß aller deutschen Fürsten im
Feldlager^) und begann seine Wünsche vorbereitend pro-
grammatisch festzulegen. 3)
Auch Tauffkirchen suchte sich schon unterm 9. August
nach seiner Weise in einem Programm über die Lage klar
zu werden.^) Als Zeugnis für die damals in München um-
laufenden Gedanken, als Meinungsäußerung eines deutsch-
gesinnten bayerischen Politikers und im Hinblick auf seine
1) Der These Stolzes (118 f.), daß Bayern „schon im August
eine Politik mit deutschen Zielen einschlug", kann ich nicht zustimmen
(vgl. Brandenburg, Hist. Vierteljahrsschrift XV, 513 ff.), wenn ich
gleich glaube, daß man sich auch in den Kreisen der Regierung
bereits im Laufe des August mit den Fragen des Nachher ernstlicher zu
beschäftigen begann. Vgl. auch unten S. 94 Anm. I.
2) Hohenlohe II, 19 (Aug. 17), soviel ich sehe, die früheste bis
jetzt bekannte Erwähnung dieses Plans. Dem Zusammenhang der
Notiz nach könnte Stauffenberg die Nachricht aus Berlin mitgebracht
haben. Er hatte damals auch einen Auftrag der Königin Augusta
an Ludwig II.: H. Oncken, R. v. Bennigsen (1910) II, 173.
3) Hohenlohe II, 17 (Aug. 17) spricht mit Völderndorff „über
die Frage der Verfassungsprojekte". Wir wissen bisher von zwei bayeri-
schen Programmen aus dem August: 1. dem im Folgenden mitgeteilten
Tauffkirchenschen; 2. dem „Präliminarvertrag" Marquard Barths:
Hohenlohe II, 23; dazu Oncken, Bennigsen II, 173 ff., auch 181.
*) Entwurf eigenhändig, datiert, auf 3 Quartbogen. T. P.
94 Karl Alexander v. Müller,
kommenden Missionen verdient es einiges Interesse. Was will
Bayern im Fall des Sieges bei den Friedensverhandlungen mit
Frankreich, was bei der Neugestaltung Deutschlands er-
streben? und wie kann es seine Absichten fördern? Für die
Friedensverhandlungen, meinte er, müsse es dreierlei wün-
schen: Teilnahme schon an den grundlegenden Vorbespre-
chungen^); bei der Kriegskontribution eine, wenn auch nur
indirekte Rücksicht auf die 1866 von Bayern selbst ge-
zahlten 30 Millionen^); endlich im Fall territorialer Ab-
tretungen nicht so sehr einen Teil des Elsasses als vielmehr
die Kontiguität mit der Rheinpfalz, die seit dem Rieder Ver-
trag so lange das höchste traditionelle Ziel der bayerischen
Politik gewesen war. Baden könnte dafür im Elsaß ent-
schädigt werden, während eine Erweiterung für Bayern dort
nur eine Last und eine Gefahr wäre. 3)
In der schwierigeren deutschen Frage aber sah Tauff-
kirchen — da ein bedingungsloser Eintritt in den Nordbund
1) Die amtliche Bitte Bayerns und Württembergs um Zuziehung
zu den Friedensverhandlungen wurde Bismarci< spätestens am 21. August
ausgesprochen: R. v. Friesen, Erinnerungen aus meinem Leben III,
126; G. Meyer, Die Reichsgründung und das Großherzogtum Baden
(1896) 53. — Unterm 25. August forderte Bray Berchem auf, über eine
etwaige Einleitung von Friedensverhandlungen zu berichten; bei Ge-
fahr auf Verzug solle Prinz Luitpold, im Namen Bayerns, Teilnahme ver-
langen. Mitteil. d. Grafen Bray, Am 22. August hatte Ludwig II. eine
Beratung mit Bray, Pranckh und Braun: Allgem. Zeitung Nr. 237
vom 25. Aug. 1870.
2) Vgl. Tauffkirchens Unterredung mit Bismarck 1867, April 13:
Müller a. a.O., Riezler-Festschrift, Abschnitt III. — Bismarck hat 1870
in der Tat daran gedacht, die Kriegskontributionen von 1866 zurück-
zubezahlen: Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier I,
265, 271, 357; III, 131.
^) Vgl. dazu den Bericht Mohls vom September: M. Busch,
Tagebuchblätter I, 252; Brandenburg, Eintritt 42. — Auf die kom-
plizierte Frage der Stellung Ludwigs II. und seines Ministeriums zu
territorialen Erwerbungen kann in diesem Zusammenhang nicht ein-
gegangen werden; vgl. hierzu die erwähnten Arbeiten Jacobs und
Wentzckes. Bray dürfte, nach unserer bisherigen Kenntnis, in diesem
Zeitpunkt eher noch gegen als für territoriale Ansprüche Bayerns ge-
wesen sein. Vgl. noch Friesen III, 129; M. Busch a. a, O. II, 5;
auch M. Doeberl, Bayern und die Gründung des Deutschen Reiches,
Beil. z. Allgem. Zeitung 1903, Nr. 148 S. 26.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 95
für den bayerischen König, ohne sich selbst aufzugeben,
undenkbar sei — drei MögUchkeiten: entweder „Aufhebung
des Norddeutschen Bundes und Reconstituirung Deutsch-
lands auf anderer, mehr föderalistischer Basis"; oder ,, Fort-
bestehen des Norddeutschen Bundes und Aufnahme Bayerns
in denselben unter Concessionen, welche diesen Eintritt er-
möglichen"; oder schließlich drittens ,, Erhaltung des Status
quo". Diese letzte Möglichkeit, die anscheinend das Pro-
gramm des gegenwärtigen Ministeriums sei, bedeute die
Fortsetzung eines gänzlich provisorischen, lästigen und un-
haltbaren, für Bayern selbst höchst gefährlichen Zustandes.
Könnte sie nach einem siegreichen nationalen Krieg über-
haupt noch erhalten werden? Lege sie dann nicht den Keim
zu neuem Kampf? Führe am Ende zu einer ungünstigeren
Lösung? Eine Berechtigung hätte solches Zuwarten nur,
wenn noch einmal mit einem Eintritt Österreichs in den
deutschen Bund gerechnet werden könnte: aber der wäre
nur denkbar als Folge einer preußischen Niederlage oder eines
Auseinanderfallens der habsburgischen Monarchie. Tauff-
kirchen sah in diesem ministeriellen Programm also höchstens
das „äußerste pis aller", eine etwaige Rückzugslinie, wenn
alle anderen Versuche gescheitert wären.
Ausführlicher verweilt er bei der ersten Möglichkeit.
Er stellt freilich mit Nachdruck voraus, daß ein föderali-
stisches Deutschland mit Beseitigung des Norddeutschen
Bundes nur auf Grund erheblicher territorialer Umwälzungen
in Deutschland möglich wäre: die kleinen norddeutschen
Bundesglieder müßten Preußen einverleibt, Sachsen zu
einem Mittelstaat von etwa fünf Millionen vergrößert^),
Bayern entsprechend abgerundet werden. Nur dann sei an
einen Föderativstaat mit gleichberechtigten, vollsouveränen
Gliedern zu denken, dessen Verfassung etwa auf der Basis
der preußischen Vorschläge vom Juni 1866 ruhen und der
dann nach dem alten Radowitzischen Plan eine Union mit
^) In der Unterredung mit Bismarck am 8. September führte
Tauffkirchen auch Hessen als selbständiges Glied des weiteren Bundes
an: s. unten S. 102. Sachsens eigene damalige Reformwünsche: Friesen
III, 127 f., 141 f.; vgl. Brandenburg, Eintritt 89 ff. — Vgl. ferner
Friesen III, 138 ff., 147.
% Karl Alexander v. Müller,
Österreich schließen könnte. Die Frage sei nur, ob Preußen
ein solches Projekt nicht schroff ablehnen werde. Es hätte
freilich auch für den Hohenzollernstaat Vorteile: eine erheb-
liche Vergrößerung der Heeresmacht, eine wesentliche Ver-
einfachung des sonst unentwirrbar komplizierten Organis-
mus^); ,, außerdem könnte als Preis die deutsche Kaiserkrone
angeboten werden, ein Reitz, der nicht ganz gering anzu-
schlagen ist."2) Man müßte sich also zunächst über die Auf-
nahme solcher Gedanken in Berlin vergewissern und mit
Sachsen als natürlichem Bundesgenossen vertraulichst an-
knüpfen. ,,Die außerdeutschen Mächte werden jeden Vor-
schlag, welcher dem deutschen Bund etwas seines aggressiven
Charakters nimmt, unterstützen. "3) Er skizziert dann die
Grundzüge einer solchen Bundesverfassung, die natürlich
•eine reine ,, Vertragsverfassung" wäre, mit erblichem Kaiser,
einem durch diesen ernannten Reichsministerium, einem
Staatenhaus und einem deutschen Parlament. Die Bundes-
angelegenheiten könnten im wesentlichen nach Kapitel I— X
der norddeutschen Bundesverfassung geordnet werden,
aber mit einer Reihe tiefgreifender, charakteristischer Ände-
rungen: z. B. neue Stimmverteilung im Staatenhaus; Aus-
schußbeteiligung nach Staaten; beschränktes Gesandt-
schaftsrecht der Bundesglieder, Teilnahme an Ernennung
der Bundesgesandten und -beamten; Sitz des Reichstags
womöglich in einer Stadt, die keine Residenz ist; Dezentra-
lisation im Eisenbahn-, Post- und Telegraphen-, beschränkte
Dezentralisation auch im Kriegswesen; möglichst geringes
1) Vgl. unten S. 114.
2) Dieser Gedanke — die Kaiserkrone als bayerisches Zugeständnis
an preußische Aspirationen — geht bei Tauffkirchen nicht etwa auf den
Kaiserplan vom Frühjahr 1870, von welchem in seinen Papieren nie
die Rede ist, sondern nachweislich bereits auf den Januar 1867 zurück,
wo Bismarck die Kaiseridee bereits indirekt bei Bayern anregen ließ:
Müller a. a. O., Riezler-Festschrift, Abschnitt I.
^) An anderer Stelle wird im Programm auch die Möglichkeit
eines europäischen Kongresses am Ende des Krieges erwähnt. Das
Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes in inneren Angelegen-
heiten schließe formell natürlich jeden Einfluß des Auslandes aus.
Tatsächlich würde ein solcher aber doch stattfinden, und zwar in der
von Bayern anzustrebenden föderalistischen Richtung; also liege das
Zustandekommen eines Kongresses im Interesse Bayerns.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 97
Biindesbudget im Frieden^); schwarz-rot-goldene Farben;
Änderung der Bundesakte oder doch bestimmter Grund-
paragraphen nur durch Vertrag.
Würde diese Basis ganz abgelehnt, so bliebe als drittes
schließlich noch der Vorschlag einer , »nationalen Verbindung
zwischen Süddeutschland und dem Norddeutschen Bund",
der ursprünglich ein Teil des 1867 unter Hohenlohe ausge-
arbeiteten Südbundplanes gewesen war, und den sein Autor,
der Ministerialrat Freiherr v. Völderndorff, am 26. März
1870 in der Allgemeinen Zeitung veröffentlicht hatte.^)
Wie weit dieser jetzt noch ausführbar, und ob er dann der
zweiten oben erwähnten Möglichkeit, der eines modifizierten
Beitritts zum Norddeutschen Bund, schon ganz gerecht
sein würde, darüber sagt das Programm nichts Näheres.^)
Nach diesem selbst müßte man meinen, daß das föderalistische
Projekt im Mittelpunkt der Ideen seines Verfassers ge-
standen habe. Dies dürfte aber doch nicht der Fall gewesen
sein. Schon 1867 hatte Tauffkirchen, als Heinrich v. Gagern
ihm damals einen verwandten föderativen Plan entwickelte,
die große Unwahrscheinlichkeit betont, daß Bismarck in
irgendwelche Auflockerung des Norddeutschen Bundes wil-
ligen werde.*) Seither hatte er allerdings drei Jahre im
Ausland zugebracht, wir haben aber kein Anzeichen, daß
ihm eine föderalistische Gestaltung Deutschlands inzwischen
wahrscheinlicher geworden wäre.^) Im Gegenteil sieht
man an mehreren der oben angeführten Gedanken deut-
lich, wie sie noch unverändert aus seiner vorhergehenden
^) Vgl. hierzu den Vorschlag einer gesetzmäßigen Festlegung
des normalen Reichsbudgets in der Denkschrift des Großherzogs von
Oldenburg: O. Lorenz, Kaiser Wilhelm 1. und die Begründung des
Reichs 1866—1871, 580.
2) Jetzt auch: Brandenburg, Aktenstücke Nr. 1 (dazu Müller,
Hist. Ztschr. CIX, 381).
') Nur nennt Tauffkirchen ausdrücklich Art. VII dieses Ent-
wurfs — getrennte Abstimmung Süd- und Norddeutschlands im gemein-
samen Parlament — aussichtslos. Vgl. unten S. 104.
*) Tauffkirchen an H. v. Gagern 1867, April 20: s. Müller a. a. O.,
Riezler-Festschrift, Abschnitt IV.
5) Aufzeichnung vom 11. September 1870 (s. u.): „Wie ich ver-
muthete, stieß dieser Plan bei Graf Bismarck auf den alJerbestimmtesten
Widerspruch."
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 7
98 Karl Alexander v. Müller,
Amtszeit übernommen sind, und dieser Entwurf dürfte
also eher, entweder selbst unter dem augenblicklichen Ein-
druck einer starken Münchener Stimmung entstanden oder
vielleicht auch nur auf eine solche berechnet gewesen sein.i)
Aus Hohenlohes Tagebuch wissen wir, daß dieser Ende
Juli bei einem Gespräch mit dem preußischen Kronprinzen
die Geneigtheit herauszuhören geglaubt hatte, den Nord-
deutschen Bund in mehr föderativem Sinn zu reformieren. 2)
Der ehemalige bayerische Minister selbst war freilich kühl
und unterrichtet genug, dies unter Bismarck für völlig un-
möglich zu halten. Schon beim Ausbruch des Krieges meinte
er, ein Sieg werde Bayern wohl oder übel zum Eintritt in
den Norddeutschen Bund zwingen. 3) Er und Völderndorff
fanden daher Tauffkirchens Projekt auch ,, wohlgemeint,
aber unpraktisch" und hielten dafür, ein bayerisches Pro-
gramm müsse zwar den Nichteintritt in den Norddeutschen
Bund und die Selbständigkeit Bayerns an die Spitze stellen,
dann aber die Ausdehnung des Norddeutschen Bundes auf
Gesamtdeutschland mit Vorbehalt einzelner Rechte an-
streben. Sonst ist uns über die Wirkung des Tauffkirchenschen
Entwurfs nichts bekannt. Einen augenblicklichen Einfluß
auf Regierung oder Parlamentarier dürfte er nicht gehabt
haben.
Und auch Tauffkirchens weitere, persönliche Wünsche
schienen sich zunächst nicht zu erfüllen. Er hatte es in seinem
Programm als die größte Gefahr für Bayern bezeichnet, in
dieser Zeit des Dampfes und des Telegraphen womöglich un-
vorbereitet vor eine vollendete Tatsache gestellt zu werden,
und als bestes, einziges Mittel dagegen die Entsendung eines
Vertrauensmannes ins Hauptquartier empfohlen: es war
wohl die Stelle, die er selbst am liebsten ausgefüllt hätte.*)
1) Daß ein solches föderalistisches Projekt der erste Plan der
bayerischen Regierung war, bestätigte Graf Bray selbst in Versailles:
Friesen III, 180.
2) Hohenlohe II, 15 (Juli 30), auch 21. Zum Folgenden auch
22 f., 24 f. Vgl. auch Brandenburg, Eintritt 92.
3) Hohenlohe II, 12 (Juli 20). Zum Folgenden II, 17 (Aug. 17>
und 23 (Aug. 28).
*) Diese Rolle erfüllte in gewissem Sinn Prinz Luitpold, Graf
Berchem soll — ich weiß nicht, ob schon in dieser Zeit oder erst später
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 99
Davon war jedoch keine Rede. Er hatte am 11. August eine
Audienz beim König und galt in München als Minister-
kandidat, ja sogar als kommender Ministerpräsident. i) Er
selbst war inzwischen aber nur im Interesse des Vereins für
Verwundete privatim in der Pfalz"^); und als er am 29. August
zum Präfekten der provisorischen Verwaltung des Maas-
departements in Bar le Duc ernannt wurde^), erhielt er
zwar einen ganz allgemeinen Auftrag, in diesem Amt auch die
bayerischen Interessen möglichst zu wahren, aber keinerlei
eigentliche politische Mission. Er sollte trotzdem bald, von
der andern Seite, die Gelegenheit zu einer solchen erhalten.
Er trat sofort die Reise in die okkupierten Gebietsteile
an, besprach sich in Nancy mit dem Generalgouverneur von
Lothringen, v. Bonin, und traf am 3. September in Bar le Duc
ein, mitten in den unklarsten Verhältnissen.*) Schon am
4. machte er die bayerische Regierung in einem vertraulichen
Bericht nachdrücklich auf den wichtigen Einblick aufmerk-
sam, den die Einteilung der provisorischen Administration
in die territorialen Absichten Bismarcks eröffne. Das General-
gouvernement des Elsasses, zu dem erhebliche Teile von Loth-
ringen geschlagen worden seien^), werde offenbar gleich in
definitivere Verwaltung genommen, um es zu behalten. In
— fast täglich Berichte nach München gesandt haben. Mitteil. d.
Grafen Bray. — Vgl. auch Hohenlohes Rat an Berchem: Hohenlohe
II, 14.
^) Beilage zur Allgem. Zeitung Nr. 224 vom 12. Aug.; Hohenlohe
1 1, 23 (Aug. 28).
2) Hohenlohe II, 17 (Aug. 17).
^) Gemeinsamer Erlaß der Ministerien des Äußern und des Innern
(Or. T. P.) auf Grund kgl. Befehls vom 28. Tauffkirchens Be-
gleiter waren Bezirksamtsassessor Juch als Sekretär und Akzessist
Graf Yrsch: Allgem. Zeitung Nr. 252 vom 9. Sept. 1870.
*) Aufzeichnung d. d. Ligny, Sept. 2. Reinschrift von der Hand
des Sekretärs. T. P. — Bericht Tauffkirchens an Bray, Bar le Duc,
Sept. 4. Entwurf von der Hand des Sekretärs. T. P.
*) Das ganze Mosel- und Teile des Meurthedepartements (die
Arrondissements Chateau Salins und Sarrebourg). In der ersten Unter-
redung vom 8. September bestätigte Bismarck Tauffkirchens Vermutung,
daß dies die zu annektierenden Provinzen seien. Es liege ihm daran,
für den Fall die Friedensverhandlungen sich hinauszögen, hier ein
fait accompli zu schaffen. Er habe Delbrück berufen, um mit ihm über
die Vorschiebung der Zollgrenze und die Berufung des Zollparlaments
100 Karl Alexander v. Müller,
dem verkleinerten Lothringen dagegen, wo er sich befand,
handle es sich bei der provisorischen Administration anschei-
nend mehr um die Form als um die Sache. Weder Geld noch
Exekutionsmittel, ja nicht einmal die notdürftigste Sicher-
heitswache seien ihr zugewiesen. Der Zivilgouverneur war
noch nicht eingetroffen, genauere Instruktionen waren nir-
gends zu erhalten. Noch ehe er in Bar le Duc eingetroffen war,
am Morgen des 2. September, fragte Tauffkirchen telegra-
phisch beim Bundeskanzler an, ob er sich vor seinem Amts-
antritt bei ihm melden dürfe.
Erst am Vormittag des 7. erhielt er — durch Zerstörung
des Telegraphen verspätet — drei dringende Depeschen Bis-
marc ks, zu kommen. 1) Schon am 8., früh 9 Uhr, traf er in
Reims ein. Um Va^^ Uhr war er beim Kanzler und hatte
mit ihm eine Unterredung, die ohne Stocken fast 2V2 Stunden
dauerte. 2)
Sie begann mit einer Besprechung über Tauffkirchens
augenblicklichen Posten, den Bismarck als unpassend, weil
vollkommen unbedeutend, bezeichnete. Er plane jetzt, über
die sämtlichen, nur für Kriegsdauer besetzten französischen
Landesteile einen deutschen Fürsten als Statthalter zu setzen,
dem er eine Art Ministerium an die Seite geben wolle, und bot
Tauffkirchen, unter der Bedingung, daß Wilhelm I. dieses
ganze, eben erst konzipierte Projekt genehmigen werde, das
Amt eines Ministers für die äußeren Beziehungen an.^)
Dann aber ging er, ohne daß der Bayer den Gegenstand
noch irgendwie angeregt hatte, sofort selbst auf die deutsche
zu beraten: Aufzeichnung vom 11. Sept. (s. u.). Vgl. dazu R. v. Del-
brück, Lebenserinnerungen II, 410 f.
1) Sept. 6, 9 Uhr vorm.: „Ich hoffe einige Tage in Rheims zu
bleiben und würde mich freuen, Euer Hochgeboren hier zu sehen."
— Sept. 6, 4 Uhr 36 nachm. Duplikat. „Dienstlich sehr eilig."— Sept.6,
10 Uhr 45 abends: „Haben Sie mein Telegramm von gestern (!) er-
halten? Wann kann ich Sie hier erwarten?" 3 Orr. T. P.
2) Wir besitzen über sie und das zweite Gespräch am Nachmittag
eine ausführliche Aufzeichnung Tauffkirchens (d.d. Nancy, Sept. 11.
Reinschrift von der Hand des Sekretärs auf drei Briefbogen. T. P.),
welche seinen kürzeren späteren Berichten vom 14. (s. u.) zugrunde liegt.
2) Hier folgten die in der vorvorletzten Anm. wiedergegebenen
Eröffnungen.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 101
Frage über. Welche Absichten habe Bayern bezüglich eines
Territorialanteils und bezüglich seiner künftigen Stellung in
Deutschland? Sei es geneigt, in der deutschen Sache die
Initiative zu ergreifen? Tauffkirchen mußte erwidern, daß
er hierin weder einen Auftrag noch auch eine offizielle Kennt-
nis habe; er erklärte aber sogleich seine Bereitwilligkeit,
Bismarcks Mitteilungen an seine Regierung weiterzugeben,
und gab diesem Aufschluß, soweit er es vermochte.
Seiner persönlichen Kenntnis nach glaube er nicht, daß
Bayern eine direkte Einverleibung annektierter Gebiete für
sich wünsche^), die ihm eher eine Last als ein Machtzuwachs
wären. Bismarck entgegnete, auch ihm scheine das geratenste,
diese Länder in gemeinschaftliches Eigentum eines etwaigen
deutschen Bundes, beziehungsweise der verbündeten Regie-
rungen zu nehmen; er werde die Sache jedenfalls nur in
völliger Übereinstimmung mit diesen regeln. 2) Grenzab-
rundungen einzelner seien nicht ausgeschlossen. 3) Dagegen
der hier und da in Bayern aufgetauchte Gedanke der Spon-
heimischen Erbschaft — wir erinnern uns, daß Tauffkirchen
selbst ihn eben in seinem Programm vertreten hatte —
würde nicht statthaben, solange er Kanzler sei; denn der
Großherzog von Baden würde lieber abdanken als einen
solchen Tausch annehmen.*)
Ganz getrennt von dieser Angelegenheit der Friedensunter-
handlungen behandelte der Kanzler die deutsche. Hier mußte
Tauffkirchen auf seine erste Frage antworten, daß er keinen
Anhaltspunkt für eine Initiative des gegenwärtigen baye-
rischen Ministeriums habe; ein großer Teil der Bevölkerung
des Landes aber wünsche allerdings, aus dem augenblicklichen
1) S. oben S. 94. — Vgl. auch Friesen III, 129. In dem Bericht
an Bray vom 14. September fehlt diese Stelle.
2) Vgl. Bismarck an O. v. Manteuffel 1870, Sept. 8: Poschinger,
Denkwürdigkeiten des Ministerpräsidenten O.Freiherr v. Manteuffel III,
376 f. ; M. Busch, Tagebuchblätter 1, 174 f. (Sept. 5, 6), 189 f. (Sept. 12);
Antwort auf die badische Denkschrift, Sept. 12: Brandenburg, Akten-
stücke Nr. 42 und Baumgarten- Jolly, Staatsminister JoUy 176 f.
3) Vgl. hierzu Jacob 108; über die späteren Stadien dieses Plans
ebenda 115.
*) Vielleicht bezieht sich auf diese Ablehnung die Nachricht bei
L. V. Kobell, König Ludwig II, und Fürst Bismarck im Jahre 1870, 27.
102 Karl Alexander v. Müller,
Provisorium herauszutreten, wenn dabei die Stellung und die
Rechte Bayerns gewahrt blieben. i) Hier ging der bayerische
Gesandte sogleich zu einem kleinen Erkundungsvorstoß
über. Er entwickelte versuchsweise, als einen ganz persön-
lichen Gedanken, sein Augustprojekt ,, eines wirklichen und
lebensfähigen Föderativstaates": zwischen einem durch die
kleinen norddeutschen Territorien vergrößerten preußischen
Einheitsstaat, Sachsen, Hessen und den süddeutschen
Staaten. Aber Bismarck widersprach auf der Stelle mit
schneidender Bestimmtheit, Mute man ihm etwa zu, den
Fürsten des Norddeutschen Bundes ihre Rechte gewaltsam
zu entziehen? Nie, solange er auf seinem Platz stehe, werde
die Verfassung des geltenden Bundes auf andere als die
verfassungsmäßige Weise geändert werden. Allerdings, er
wünsche den Zusammenschluß Deutschlands zu einem Bun-
desstaat — aber wenn er nur um den Preis des Norddeut-
schen Bundes zu haben wäre, dessen Organisation sich eben
in diesem Krieg so glänzend bewähre, dann lasse er ohne
Schwanken den deutschen Bund fahren.
Auf der Stelle aber führte er nun den bayerischen Unter-
händler zu anderen Möglichkeiten und Voraussetzungen der
Einigung. Von der heftigen Verstimmung gegen Bayern,
die in diesen Tagen nach Sedan im Hauptquartier herrschte,
und die König Wilhelm eben am selben 8. September dem
Herzog von Koburg gegenüber mit bitteren Worten aus-
sprach^), erscheint in Tauffkirchens Bericht über dieses Ge-
spräch keine Spur. Der Kanzler verbarg zwar nicht, daß
ungünstigere Strömungen gegen Bayern vorhanden seien
und daß z. B. die Absicht des Militärkabinetts von der seinigen
wesentlich abweiche^); er selbst aber gab sich weit entfernt
von der schroffen Alternative, die Hohenlohe im August die
wahrscheinlichste genannt hatte: eintreten oder draußen blei-
ben.^) Es war nicht möglich, gegen Bayern entgegenkommen-
^) Ähnlich Lasker an Delbrück, Sept. 24: Brandenburg, Akten-
stücke Nr. 50.
2) Lorenz 333; M. Busch, Tagebuchblätter I, 200 f. (Sept. 16
über den Kronprinzen).
ä) Dies erwähnt Tauffkirchen in dem Bericht an Bray, Sept. 15
(s. u.); vgl. hierzu auch Delbrück 11, 413.
*) Hohenlohe II, 21 (Aug. 20).
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 103
der zu sein — und dieses Entgegenkommen zugleich für den
andern Teil dringlicher, anspornender, nötigender zu machen.
Ein föderatives Verhältnis zwischen dem Norddeutschen
Bund und den übrigen deutschen Staaten, sagte er, sei wohl
möglich. Dafür aber wäre zunächst die wesentlichste Vor-
frage, ob der König von Bayern aus freiem Antrieb in irgend-
welche Verhandlungen derart einzutreten gesonnen sei oder
nicht. Er legte den stärksten Nachdruck darauf, die voll-
kommene Freiheit Bayerns bei diesem Entschluß zu betonen. i)
Das Wort seines Königs und Herrn^), sein eigener bestimmter
Wille, schließlich die Verpflichtung des Dankes gegen Bayern 3)
seien hierfür ebenso viele unbedingte Garantien. Ja, noch
mehr, eben in der Besorgnis, irgendeinen Vorschlag zu
machen, der trotz der besten Absicht das Gefühl des Königs
von Bayern beleidigen könnte, möchte er diesem die Initiative
vorbehalten, damit auf der Grundlage der bayerischen Vor-
schläge unterhandelt werden könnte. Aber allerdings: diese
Initiative müßte jetzt bald ergriffen werden. Entweder— oder.
Wolle Bayern nicht, sehe es wirklich eine Auflösung des
Norddeutschen Bundes als conditio sine qua non an und
wünsche es sonst nur eine Fortdauer des gegenwärtigen
Vertragsverhältnisses: dann müßte eben die deutsche Frage
ohne Bayern geregelt werden. Württemberg, Baden und
Hessen würden dann mit einigen Bedingungen in den Nord-
deutschen Bund eintreten — ohne Bayern selbstverständlich
mit sehr wenig veränderten Bedingungen; Baden und Hessen
seien hierzu bestimmt bereit. Es liege in der Natur der
Dinge, daß dies mit der Zeit dann die bisherigen Beziehungen
zu Bayern lockern müßte: eben dies zu verhindern, sei aber
sein Trachten.
Ich wünsche daher, fuhr er fort, daß der König von
Bayern meine Anschauungen und Absichten hierin vertraulich
1) Vgl, Bismarck an Schweinitz 1870, Juli 23: E. v. Wertheimer,
Graf Julius Andrassy I, 523 Anm. Dies ist die bei Hohenlohe II, 20
erwähnte Depesche, auf die Bismarck Bray verwies,
2) Bezieht sich wohl auf den bei M, Busch, Tagebuchblätter
II, 115 und bei H. Abeken, Ein schlichtes Leben in bewegter Zeit * 393
erwähnten Brief Wilhelms I. an Ludwig II, vom 4. August.
3) Vgl. Graf Otto von Bray-Steinburg, Denkwürdigkeiten 148.
104 Karl Alexander v. Müller,
erfahre. Dieselben sind derart, daß ich mich der Hoffnung hin-
gebe, Seine Majestät werde den heilsamen Entschluß
fassen, eine Initiative in dieser Frage mir gegenüber zu er-
greifen. Er wiederholte, was er schon am 24. August dem
Prinzen Luitpold versichert hatte: er sei bereit, jeden Vor-
schlag bundesmäßiger Annäherung, der keine Aufhebung
der norddeutschen Bundesverfassung in sich schließe, im
Prinzip anzunehmen. Falls schon in kürzester Zeit hierüber
Eröffnungen gemacht würden, so verpflichte er sich über-
dies, die Verhandlungen mit den übrigen süddeutschen
Staaten so lang auszusetzen, bis er die bayerischen Vor-
schläge besprochen habe; sie würden dann der Verfassung des
weiteren Bundes zur wesentlichen Grundlage dienen. i)
Tauffkirchen führte beispielsweise einige bayerische Vorbe-
halte an: eigene Festsetzung des gesamten Budgets (das
Militär eingeschlossen) und Matrikularbeiträge; unbedingte
Militärhoheit im Frieden; eigenes Post-, Eisenbahn- und
Telegraphenwesen; eigene diplomatische Vertretung mit Aus-
schluß der Konsulate: — Bismarck erhob nicht den geringsten
Widerspruch. Ja, er bot darüber hinaus selbst noch ein
weitgehendes Zugeständnis an, das Tauffkirchen nach den
früheren Zollvertragsverhandlungen von 1867 doppelt un-
erwartet kam. 2) Bei einem gemeinsamen Parlament könnte
eine „itio in partes" (wie er sagte) der süddeutschen oder der
bayerischen Vertreter vorbehalten bleiben; sprächen sie etwa
mit zwei Drittel oder drei Viertel Majorität ein Veto aus,
so sollte das betreffende Gesetz gar nicht oder nur für den
Norddeutschen Bund zur Geltung kommen. Der Titel
„Kaiser von Deutschland" oder „deutscher Kaiser" für den
Bundesvorsitzenden wäre schließlich ein Wunsch, aber keine
Bedingung.3)
1) Zum folgenden Rest des Absatzes ist der hier etwas ausführ-
lichere Bericht Tauffkirchens an Bray, Sept. 14 herangezogen.
2) Vgl. oben S. 97. Zum Folgenden vgl. die Verhandlungen über
ein Veto auf den Münchener Konferenzen: Brandenburg, Aktenstücke
Nr. 47; Eintritt 27.
^) Vgl. hierzu Brandenburg, Eintritt 45 A. 1. — Bismarcks Ge-
spräch mit dem Kronprinzen, Sept. 3: Kaiser Friedrichs Tagebücher,
her. von M. v. Poschinger 112; auch M. Busch, Tagebuchblätter I,
186 Anm. (Sept. 11).
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 105
Er bat nun Tauffkirchen, diese Eröffnungen so rasch als
möglich seinem König zu überbringen und ihm selbst über
ihre Aufnahme Nachricht zu geben. Woran mir vor allem
liegt, wiederholte er, ist, daß der König erfährt, daß seine
freieste Selbstbestimmung geachtet werden soll, und daß der
Norddeutsche Bund nur dann eine Initiative ergreifen wird,
wenn Ludwig II. selbst sie ausdrücklich wünscht; dann bin
ich zu Vorschlägen in der vertraulichsten Weise bereit.
Aber ungleich wünschenswerter wäre es, wenn der König
selbst sich dazu entschlösse. Nur ist jetzt, schärfte er aber-
mals ein, ein sehr rascher Entschluß nötig. Die politischen
Verhältnisse zwingen mich, die deutsche Frage in der aller-
nächsten Zeit in die Hand zu nehmen: hoffentlich mit Bayern,
wenn dieses aber nicht will, ohne Bayern.
Tauffkirchen versprach, diese Mission nach besten
Kräften auszuführen. Er war nachmittags zur Tafel beim
König und erfuhr hier, daß dieser inzwischen Bismarcks
Vorschläge wegen der provisorischen Verwaltung und dessen
Anerbieten an Tauffkirchen gebilligt habe.^) Nachher begab
er sich noch einmal zum Kanzler, um sich zu verabschieden,
und wurde zu einem Spaziergang eingeladen, der sich wieder
bis in die Nacht ausdehnte. 2)
Man kennt aus vielen Schilderungen die Gespräche Bis-
marcks: wie sie in blitzender Lebendigkeit, mit unauf-
hörlicher Schlagkraft des Geistes und des Wortes unter den
Eingebungen des Augenblicks von Gegenstand zu Gegenstand
springen und dabei doch im ganzen ein bestimmtes Ziel
mit gewaltigem Nachdruck verfolgen. Er gab unterwegs dem,
was er am Vormittag entwickelt, noch manche wichtige Er-
^) Tauffkirchen sagt nichts, daß der König mit ihm über die
deutsche Frage gesprochen habe. Dies war dieselbe Tafel, bei der
Wilhelm I, sich gegenüber dem Herzog von Koburg so verstimmt
über Bayern äußerte: Lorenz 333. Unmittelbar vorher muß, nach
dem Obigen, Bismarck beim König Vortrag gehabt haben. Man
wird also annehmen dürfen, daß eben das, was er Wilhelm I. über
sein Gespräch mit Tauffkirchen mitteilte, dessen Verstimmung noch
verstärkt hat. — Vgl. zum Ganzen auch E. Marcks, Kaiser Wil-
helm l* 336.
*) M. Busch berichtet nichts über Tauffkirchens Anwesenheit.
Am Abend sei großes Diner beim Kanzler gewesen: I, 179.
106 Karl Alexander v. Müller,
gänzung. Er hatte dort davon gesprochen, die zu annek-
tierenden Länder sogleich in die deutsche Zollgrenze einzu-
beziehen und hierzu ohne Verzug das Zollparlament einzu-
berufen. Nun erinnerte er den bayerischen Unterhändler an
ein Gespräch vom Juni 1867, in welchem er ihm schon damals
die Erweiterung des Zollparlaments als den Weg bezeichnet
hatte, um eine gesamte parlamentarische Vertretung Deutsch-
lands anzubahnen, und gab damit auch seinem jetzigen
Plan eine für Bayern nachdenkliche Folie: stellte er nicht in
seiner Hand ein Mittel dar, nötigenfalls einen Druck auf die
der Einheit widerstrebenden Elemente auszuüben ?i) Und
ganz gesprächsweise, im Vorübergehen, ließ er noch zwei der
stärksten Drohungen an Bayern heraus. Als nämlich der
Gesandte ihn fragte, was er denjenigen erwidern sollte,
die behaupteten, Preußen werde durch die Ansage, seiner-
zeit den Zollverein zu kündigen, Bayern eine Schraube an-
setzen, da entgegnete er: ,,Da hat es ja noch lange hin.
Den Vertrag, wie er vorliegt, halten wir redlich, und bis
zum Umfluß desselben kann noch manches geschehen.
Sollte Bayern am Schluß der vertragsmäßigen Frist zu dem
übrigen Deutschland vereinzelt stehen, dann allerdings
glaube ich, daß der Vertrag nicht wird erneuert werden."
Und in anderem Zusammenhang, von selber ausholend,
eine ganz kurze Bemerkung: Wenn eine Einigung mit Bayern
nicht zustande kommt, wird das Interesse der Sicherheit
über kurz oder lang erfordern, die bayerische Rheinpfalz
zum Norddeutschen Bund zu ziehen. 2)
Auf der anderen Seite wiederholte er auch sein weites
Entgegenkommen. Er bestätigte am Ende des Gesprächs
ausdrücklich Tauffkirchens Zusammenfassung: daß er zwar
einen Vertrag, der die Grundlagen des Norddeutschen
Bundes ändern würde, nicht annehmen werde, daß aber nicht
ausgeschlossen sei, auf dem verfassungsmäßigen Wege im
1) Daß dies in der Tat Bismarcks Absicht war, sagt ausdrücklich
sein Telegramm an Delbrück, Sept. 5: Delbrück II, 410.
2) In dem Bericht an Bray, Sept. 14 erwähnt Tauffkirchen von
dieser Drohung nichts. Auf die Entschlüsse des Ministeriums hat
sie also keinen Einfluß ausgeübt. — Vgl. hierzu auch Brandenburg,
Eintritt 47.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 107
Norddeutschen Bund diejenigen Änderungen herbeizuführen,
die sich für den angestrebten weiteren Bund als nötig dar-
stellten und über die er sich vorher mit Bayern vertraulich
verständigt habe. Er ermahnte nochmals dringend, den Auf-
trag so auszuführen, daß Ludwig II. ihn als durchaus freund-
schaftlich ansehe, und die vorläufige Antwort des Königs
so rasch als möglich mitzuteilen. Mehr als ein paar Wochen
könne er unmöglich mehr zuwarten, um die von anderer
Seite teils schon erfolgten, teils angeregten Anträge zu
beantworten. Damit wurde der Bayer entlassen.
Wir dürfen annehmen, daß Tauffkirchen alsbald die
Reise nach München angetreten hat. Wir wissen, daß er am
11. in Bar le Duc und Nancy war^), am 12. nachts oder
spätestens am 13. früh muß er in München eingetroffen sein.
Noch unterwegs zeichnete er seine Notizen an die zwei Ge-
spräche mit Bismarck auf. 2) Der Haupteindruck, den er mit-
nahm, war der, daß Bayern nicht anders könne, als die
Vorschläge des Kanzlers annehmen und schleunigst die Ini-
tiative ergreifen. Er stellte die Drohungen zusammen, die
dieser für den gegenteiligen Fall geäußert hatte — Eintritt
Hessens, Badens, Württembergs in den Norddeutschen
Bund, Agitationen in Presse und Zollparlament, Kündigung
des Zollvereins, ja die Gefährdung der Pfalz — und er zwei-
felte nicht, daß Bismarck sie anwenden und Bayern damit
schließlich zu bedingungslosem Anschluß zwingen würde.
Anderseits hatte er den Eindruck, der Kanzler wünsche drin-
gend die Einheit Deutschlands und sei hierfür zu den
größten Konzessionen an Bayern geneigt. Es ist sehr bezeich-
nend für Bismarcks Haltung, daß alle Niederschriften Tauff-
kirchens aus den folgenden Tagen von den Ideen eines weiteren
Bundes ausgehen, wie er selbst ähnliche unter Hohenlohe
im Frühjahr 1867 ausgearbeitet hatte. Unmittelbar an die
^) Eigenhändige Bleistiftnotiz über die Reisedaten; datierte
Aufzeichnung aus Nancy, Sept. 1 1 : T. P. Auch die Rückreise von JVlün-
chen ins Hauptquartier dauerte 4 Tage: vom 19. bis 23. Sept. Vgl.
M. Busch, Tagebuchblätter 1,234 Anm.2. — Tauffkirchen wurde auf der
Reise von seinem Sekretär begleitet. Ob er ein Telegramm nach
München voraussandte, wissen wir nicht. Seine Papiere enthalten nichts
weiter.
2) In Nancy am 11. September s. oben S. 100 Anm. 3.
108 Karl Alexander v. Müller,
damaligen Bestrebungen glaubte Tauffkirchen die Einigung
noch jetzt anknüpfen zu können.
Als er jedoch in die bayerische Hauptstadt kam, fand er
dort das Ministerium aus der Zurückhaltung, in der er es vor
14 Tagen verlassen hatte, schon bedeutsam herausgetreten.
Es ist ein Hauptgegenstand der jüngsten Forschungen ge-
wesen, das ausschlaggebende Moment aufzufinden, welches
diesen Umschwung bewirkt hat. Neben der unaufhaltsam
wachsenden nationalen Begeisterung im Lande, die seit Sedan
in einem großen Adressensturm von Stadt zu Stadt anschwoll
und auf die auch die patriotische Partei bereits begonnen
hatte, Rücksicht zu nehmen^), hat man auf eine späte
Nachwirkung von Berchems Bericht vom 24. August'^), auf
die badische Denkschrift vom 31. August^), auf den Ein-
druck der württembergischen Ministerkonferenzen vom 7. bis
10. September*) hingewiesen. Wer möchte das Gewicht ein-
zelner, derart zusammentreffender Motive auf Grund eines
lückenhaften Materials scharf gegeneinander abwägen. Hierzu
wäre vor allem eine genaue psychologische Kenntnis der ent-
scheidenden Personen nötig. Zu den genannten Antrieben
aber kam nun noch ein weiterer, bisher unbekannter hinzu,
und wir meinen, daß er vielleicht am geeignetsten war, einen
raschen Entschluß auszulösen. Unterm 6. September meldete
1) Vgl. das in der Allgem. Zeitung Nr. 252 vom 9. Sept. wieder-
gegebene Programm aus der Augsb. Postzeitung.
2) W. Busch, Hist. Ztschr. CIX, 171. Gegen Brandenburgs
Einwand, daß nicht das geringste Anzeichen für irgendeine Wirkung
dieses Berichts in München vorliege (Hist. Vierteljahrsschrift XV,
514 ff.), spricht doch die Notiz Hohenlohes II, 24 (Aug. 29).
3) Küntzel 58.
4) Brandenburg, Hist. Vierteljahrsschrift XV, 516 ff. Daß
diese in der Tat ein schwerwiegendes Moment waren, wenn man in
München von ihnen wußte, scheint mir gewiß. Es handelt sich aber,
wie Brandenburg selbst S. 518 sagt, noch um einen positiven Nachweis,
daß dies letztere wirklich der Fall war. — Die sächsische Anregung,
welche W. Busch, Kämpfe 146 ff. ursprünglich in erster Linie heran-
gezogen hatte, scheidet nach unserer augenblicklichen Kenntnis als
Ansporn zu dem ersten Entschluß zu Verhandlungen aus, weil sie nach
Friesen III, 136 erst am 12. Sept. Bray mitgeteilt wurde: Brandenburg,
Hist. Vierteljahrsschrift XV, 518 f. Man könnte nur noch an einen
vorhergehenden Brief des Königs von Sachsen an Ludwig II. denken;
vgl. Stolze 108.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 109
der bayerische Gesandte in Berlin, daß der Staatsminister
Delbrück am selben Tag zur Vorbereitung des Friedenspro-
gramms ins Hauptquartier abgereist sei und daß vielleicht
bald auch bayerische Bevollmächtigte dort gewünscht
würden. Und unterm 8. folgte Telegramm und Bericht: ein
Antrag zu einer deutschen Bundesverfassung stehe bevor,
und die sächsischen Vorschläge seien wohl von Preußen instru-
iert.i) Am 9. fand bereits ein bayerischer Ministerrat statt. 2)
Am 10. meldete der preußische Gesandte aus München ins
Hauptquartier, der König von Bayern habe seine Minister
beauftragt, ein Programm für den Anschluß Bayerns an den
Norddeutschen Bund auszuarbeiten. 3) Am 11. September
folgte ein Erlaß Brays an Berchem nach Reims: die bayerische
Regierung erkenne die notwendige Einwirkung der Kriegs-
ereignisse auf den inneren Ausbau Deutschlands vollkommen
an, und sei bereit, ihr auch bezüglich Bayerns innerhalb der
Grenzen der eigenen Selbständigkeit Rechnung zu tragen;
weitere konkrete Vorschläge wurden noch nicht gemacht;
Berchem solle einmal bei Bismarck die Absichten der
preußischen Regierung über diesen Gegenstand möglichst
zu erkunden suchen.^) Am gleichen Tage wurde auch eine
^) Mitteil. d. Grafen Bray. Wolier der bayer. Gesandte seine
Nachrichten hatte, steht noch dahin.
2) Zuerst nachgewiesen von Ruville 203.
^) Weicker 40 f., auf Grund einer Mitteilung des Auswärtigen
Amtes. Im Hauptquartier wurde das Telegramm am 11. präsentiert.
— Sein Wortlaut legt die Annahme nahe, daß der entscheidende An-
stoß vom König ausging.
*) Mitteil. d. Grafen Bray. — Dies dürfte gegen Brandenburgs
Vermutung (Eintritt 16 f.) sprechen, daß schon am 10. eine bayer.
Note ins Hauptquartier abgegangen sei. — Es entsteht nun die Frage,
ob dieser „Erlaß" am 12. schon im Hauptquartier eingetroffen sein
konnte, d. h. ob er ein Telegramm war? In diesem Fall liegt es nahe,
das bekannte Gespräch Prinz Luitpolds mit Bismarck am 12. Sept.
(M. Busch, Tagebuchblätter I, 190 f.) damit in Verbindung zu bringen.
Der erste Satz der Inhaltsangabe, die Delbrück II, 413 von der am 12.
eingetroffenen ,, Mitteilung aus München" gibt, könnte, wie mir scheint,
mit der obigen, von Graf H. Bray gegebenen Inhaltsangabe in Einklang
gebracht werden. Der zweite Satz bezieht sich offenbar auf die unten
noch zu erwähnende telegraphische Bitte vom 12. Sept. Ob die Angabe
in Brays Antrag vom 12. (Bray 138), es sei bereits Anstalt getroffen,
daß die preuß. Regierung über ihre Absichten bezüglich des Norddeut-
110 Karl Alexander v. Müller,
offiziöse Nachricht an die Allgemeine Zeitung hinausgegeben^
die durch die Bestätigung ernster ministerieller Konferenzen
über die deutsche Verfassungsfrage die erregte öffentliche
Meinung beruhigen und zugleich den auftauchenden Ge-
rüchten, daß Bayern dem Norddeutschen Bund beitreten
wolle, im Sinn der bayerischen Selbständigkeit entgegnen
sollte. 1) In dieselben Tage fallen jedenfalls lebhafte Er-
wägungen des Ministeriums über das zugrundezulegende
Programm, und man zog dazu auch die Entwürfe Außen-
stehender heran. Wir wissen, daß der ,,Präliminarvertrag"
des liberalen Kammerführers Marquard Barth, noch ehe er
mit den norddeutschen Freunden umgearbeitet war, also
wohl vor dem 10. September, Bray auf seinen ausdrücklichen
Wunsch übergeben wurde.^) Und das gleiche war mit den
,, Vorschlägen zu einer deutschen Bundesverfassung" der Fall,
die der Ministerialrat Freiherr von Völderndorff, Hohenlohes
Freund und frühere rechte Hand, am 12. September unter
seinen Bekannten verbreitete. 3) Am selben 12. erklärte sich
Graf Bray gegenüber dem sächsischen Gesandten, der ihm
den Erlaß seiner Regierung vom 10. mitteilte, mit allen darin
sehen Bundes Aufschluß erteile, mit diesem Auftrag an Berchem schon
hinreichend begründet wird, oder ob sie noch eine weitere Anfrage
voraussetzt, wage ich auf Grund des oben mitgeteilten Materials noch
nicht zu entscheiden (vgl. Brandenburg, Aktenstücke Nr. 30 Anm. 1).
1) Allgem. Zeitung Nr. 256 vom 13. Sept. (München, 11. Sept.);
vgl. W. Busch, Hist. Ztschr. CIX, 168, 169 Anm.
2) Lasker an Bamberger, Nov. 25: Brandenburg, Aktenstücke
Nr. 186; vgl. Hohenlohe II, 23, 25. In den Besprechungen mit Lasker
und Bennigsen gingen aus diesem „Präliminarvertrag" die sog. „10
Punkte" Laskers hervor: Brandenburg, Aktenstücke Nr. 31.
^) Lithogr. Vervielfältigung in Völderndorffs Handschrift, datiert
Sept. 12. T. P. Im wesentlichen übereinstimmend mit dem in der
Allgem. Zeitung Nr. 260 vom 17. Sept. gedruckten Entwurf (Bran-
denburg, Aktenstücke Nr. 38); nur die Artikeleinteilung ist anders
(XX Art. in 24 §§) und an Stelle des Art. VII (des Druckes) stehen fol-
gende zwei im Druck weggefallene §§: „§ 6. Gegen den Beschluß von
drey Viertheilen der Stimmen des Bundesrathes, also gegen 44 Stimmen
kann ein Bundeskrieg nicht erklärt werden. § 7. Es werden unter den
zu ernennenden Bundesgesandtschaften durch das Bundespräsidium
drey Posten bezeichnet werden, für welche die Vertreter auf den Vor-
schlag S. M. d. Königs von Bayern ernannt werden sollen." — Der
Entwurf wurde Bray mitgeteilt: Völderndorff, Vom Reichskanzler
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 111
niedergelegten Gedanken im Prinzip einverstanden: es werde
seiir schwer sein, der nationalen Bewegung keine Reclinung
zu tragen, und der gegenwärtige Zeitpunkt sei der geeignetste,
um an die Reorganisation Deutschlands zu gehen. Es komme
daher zunächst darauf an, zu wissen, was Preußen eigentlich
wolle. „In den unveränderten Nordbund treten wir keines-
falls ein." Anders würde es sich verhalten, wenn man letz-
teren in passender Weise reformieren, oder wenn der Nord-
bund, unter Beibehaltung seiner derzeitigen Konstitution,
in einen weiteren Staatenbund mit Süddeutschland treten
wolle.i) Auf dieser Alternative ruht auch der unterm selben
Datum gehende Antrag Brays an den König, der die Grund-
lage des bayerischen Programms für die kommenden Ver-
handlungen festlegte.2) Und am gleichen 12. lief, wie Friesen
berichtet, in Berlin bereits die telegraphische Münchener
Bitte ein, daß der Minister Delbrück seine Rückreise aus
Frankreich über München nehmen möge.^)
In diesem Zeitpunkt traf Tauffkirchen mit seinem Auf-
trag in der bayerischen Hauptstadt ein. Soweit seine Papiere
Aufschluß geben, scheint er sich sofort unmittelbar an den
König gewendet zu haben. Der eigenhändige Entwurf eines
Nachtrags zu den Aufzeichnungen vom 11.*) deutet darauf hin,
daß er diese oder eine Abschrift davon dem königlichen
Kabinett vorlegte. Er beantragte dazu: der König möge ihn
empfangen und seinen Bericht entgegennehmen; er möge
ihn sodann ermächtigen, durch die Chiffre der preußischen
Gesandtschaft dem Grafen Bismarck telegraphisch mitzu-
teilen, daß seine Eröffnungen günstig aufgenommen worden
seien und Vorschläge ehestens erfolgen würden. Diese Ant-
Fürsten v. Hohenlohe 52 f. ; vgl. Küntzel 65 Anm. 3. — Vgl. auch den
Leitartikel „Bayern und der deutsche Staat" in der Allgem. Zeitung
Nr. 272 vom 29. Sept. — Ein offizieller Entwurf der Regierung ist
uns bis jetzt nicht bekannt geworden; vgl. Oncken, Bennigsen II, 182.
1) Friesen III, 135.
2) Bray 136 ff. Die Angabe S. 136 läßt es unklar, ob der Antrag
am 12. von Bray entworfen oder bereits von den übrigen Ministern
nachträglich angenommen oder schon dem König unterbreitet wurde.
3) Friesen 111, 136 (nach einer Mitteilung Thiles an den sächsischen
Gesandten).
*) Undatiert; 1 Briefbogen. T. P.
112 Karl Alexander v. Müller,
wort binde den Kanzler, nach keiner Seite zu unterhan-
deln, bis solche bayerische Vorschläge, mit denen, wie er höre,
der Ministerrat ja bereits befaßt sei, einträfen. Er regte an,
ob der König sich nicht zu seiner eigenen Information durch
Männer, , »welche sein und des Landes Vertrauen genießen",
gleichfalls noch einen Vorschlag ausarbeiten lassen wolle,
und schlug hierfür den Grafen Hegnenberg-Dux^) vor, dem
er in diesem Fall sein Material mitteilen zu dürfen bitte.
Noch am 13. September wurde Tauffkirchen vom
König in Berg empfangen^) und sandte ein Telegramm an
Bismarck.3) Wir wissen aber weder vom Inhalt des Ge-
spräches noch dem der Depesche; welche Anträge er stellte,
welchen Eindruck er beim König hervorrief, liegt noch im
Dunkeln. Erst am Tag darauf erstattete er in zwei gekürzten
Berichten*) dem Minister Meldung über seine Besprechungen
mit Bismarck, ohne jedoch ein Wort über seine Audienz bei
Ludwig II. beizufügen. Er betonte darin den Vorteil, der bei
solchen Verhandlungen dem Verfasser des zugrundegelegten
Planes zufalle, und befürwortete eine sofortige vertrauliche
Initiative Bayerns noch vor dem Beginn formeller Ver-
handlungen durch Bevollmächtigte. Auf Wunsch des Mi-
nisters stellte er dann am 15. für diesen kurz seine Ansichten
über Form und Gegenstand der von Bayern zu machenden
Vorschläge zusammen.^) Die Art des Vorgehens, meinte er,
habe Bismarck selbst ziemlich deutlich angezeigt. Sobald die
bayerische Regierung über die Grundzüge des anzustrebenden
Vertrags mit sich im Reinen sei, werde es nötig sein, sie mit
1) Vgl. Allgem. Deutsche Biographie XI, 285 ff.; R. v. Mohl,
Lebenserinnerungen II, 327; vgl. auch L. v. Kobell 4. — Wir haben,
soviel ich sehe, noch kein Zeugnis, ob diese Anregung genehmigt und
ob ein Gutachten Hegnenbergs eingeliefert wurde.
2) Ludwig II. war (nach den Hof berichten der Allgem. Zeitung)
am 13. von Hohenschwangau nach Berg zurückgekehrt. Erst am
27. abends kam er nach München, am 29. begab er sich wieder
nach Berg.
3) Siehe unten S. 117 Anm. 3.
*) Sept. 14, Abschrift von der Hand des Sekretärs. T. P. Der
eine Bericht betrifft seine eigene Verwendung in der provisor. Ver-
waltung in Frankreich und Bismarcks Annexionsabsichten, der andere
die deutsche Frage.
^) Entwurf von der Hand des Sekretärs, datiert. T. P.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. HS
dem Kanzler vertraulich, wie dieser es begonnen, zu besprechen.
Dabei werde man wahrscheinlich zur Aufstellung von Punk-
tationen gelangen, die dann eine feste Grundlage für den
detaillierten Vertragsentwurf und zugleich eine Garantie
gegen ungünstigere Strömungen im preußischen Haupt-
quartier bilden würden. Er führte an, was der Kanzler ihm
in dieser Richtung angedeutet hatte. Die Eifersucht Württem-
bergs und Badens sei zu bekannt und erprobt, als daß sie
sich in diesem Fall nicht sogar bis zu Entschlüssen steigern
könnte, die für die eigene Unabhängigkeit dieser Länder
bedenklich würden; die Reisen der Minister Suckow und
Linden sollten sicher Bayern ,,den Rang ablaufen". Er
wiederholte, wie dringend notwendig es für Bayern sei,
die von Bismarck angebotene Verhandlungsbasis nicht nur
anzunehmen, sondern ohne allen Verzug vertragsmäßig
festzulegen.
Dieses Angebot selbst aber präzisierte er dahin, daß
es sich um die Bildung eines Deutschen Bundes oder Reiches
handle, dessen eines und mächtigstes Glied der Nord-
deutsche Bund in seiner gegenwärtigen Gestalt sei; dessen
zweitmächtigstes Glied, Bayern, die seiner Rolle in der
Geschichte und namentlich im gegenwärtigen Krieg ent-
sprechenden Ausnahmsbestimmungen für sich in Anspruch
nehmen könne; und dessen weitere Glieder die übrigen der-
malen nicht zum Nordbund gehörigen Länder zu bilden
hätten. 1) Die Verfassung dieses neuen Bundes, dann wohl der
bedeutendsten europäischen Großmacht, könnte föderalistisch
sein, mit grundsätzlicher Gleichberechtigung aller Glieder.
Ihre staatsrechtliche Grundlage wären die Prinzipien, auf
^) Es ist, wie man sieht, hierin im wesentlichen der alte Hohen-
lohesche weitere Bundesplan, nur mit stärkerem Akzent auf der Vor-
zugsstellung Bayerns. Bei dem weiteren Bundesplan dagegen, den
Bray später in Versailles vertrat und auf den die isolierte bayerische
Politik vom September an abzuzielen scheint, blieb nur Bayern allein
als gleichberechtigtes Glied neben dem ganzen übrigen Deutschland
bestehen (vgl. Brandenburg, Aktenstücke Nr. 132. Hier liegt wohl
auch der Anknüpfungspunkt für den „alternierenden Kaiser"). Das
erste war sozusagen ein süddeutscher, das zweite ein bayerischer weiterer
Bundesplan. Doch hat auch Bray selbst, in Versailles Friesen gegen-
über, den zweiten Plan als „nicht glücklich" bezeichnet: Friesen III, 180.
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 8
114 Karl Alexander v. Müller,
denen die Bundesverfassung von 1815 aufgebaut werden
sollte, aber in Wirklichkeit nicht aufgebaut worden sei^);
bei den Bestimmungen im einzelnen dagegen könnte von der
norddeutschen Bundesverfassung ausgegangen werden. Die
oberste Leitung falle notwendig dem König von Preußen,
zugleich Präsidenten des Norddeutschen Bundes, zu. Er
betonte auch hier, daß seiner Meinung nach der Titel
„Deutscher Kaiser" ein lange gehegter Wunsch Wilhelms I.
sei, und daß für einen einstimmigen, freiwilligen Beschluß
der sämtlichen deutschen Fürsten, diesen Titel anzutra-
gen, wesentliche materielle Konzessionen zu erreichen sein
würden.
In Tauffkirchens Nachlaß sind noch verschiedene
flüchtige Blätter aus diesen Tagen erhalten^), in denen
solche Pläne nach der einen oder andern Seite näher
ausgeführt werden. Überlegungen, wie das neue Reich
dauernd lebensfähig gemacht, d. h. vor der Agglomeration
in den Nordbund gesichert werden könnte, indem diesem
wesentliche Teile der Kompetenz genommen und auf das
Reich übertragen würden; dann Versuche, auszuscheiden,
was nun im einzelnen nur für den Norddeutschen Bund, was
für das Reich zu gelten habe; Bemühungen, die ungeheure
Kompliziertheit des parlamentarischen Apparates zu über-
sehen, in welchem preußische Provinziallandtage, Einzel-
landtage, norddeutscher Reichstag und deutsches Volkshaus
nebeneinanderstanden^); Zusammenstellung der besonderen
Vorrechte Bayerns; der Entwurf eines Anschlußvertrags in
der Form des Zollvertrages.
1) Nämlich der Eingang, die Art. 2, 3, 11 Abs. 1 u. 2 der Deutschen
Bundesakte, die Art. 1, 2, 3 u. 5 der Wiener Schlußakte,
2) Drei eigenhändige Aufzeichnungen, undatiert; zwei auf Brief-
bogen, einer auf Kanzleibogen. T. P. Ihre etwaige unmittelbare Be-
stimmung ist nicht ersichtlich.
3) Vgl. oben S. 96. Auch im Gespräch mit Bismarck am 8. Sep-
tember hatte Tauffkirchen ausdrücklich als Vorteil seines föderativen
Plans aufgeführt, daß dann die Notwendigkeit des norddeutschen Par-
laments wegfiele; es bliebe dann nur mehr das preußische und das
deutsche. Genau derselbe Gedanke schon in dem oben erwähnten,
Brief an H. v. Gagern 1867, April 20. — Vgl. Fr. Meinecke, Welt-^
bürgertum und Nationalstaat ^ 468 ff., bes. 471 ff.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 115
Wie weit diese Gedanken — letzte überlebte und unmög-
liche Ausläufer alter liberaler, föderativer, partikularistischer
Ideen — in ihrem ganzen Zusammenhang oder in einzelnen
Bestandteilen, in den amtlichen und außeramtlichen Be-
sprechungen und Entwürfen dieser Tage Einfluß gewannen,
wage ich mit dem gegenwärtigen Material noch nicht zu ent-
scheiden.i) Zu Vieles, noch kaum Faßbares, greift in diesen
Tagen ineinander, in denen zugleich die Minister und die
Abgeordneten, bayerische und norddeutsche, das Kabinett
und halbamtliche Unterhändler und die deutschen Gesandten
sich miteinander bereden. 2) Man könnte vielleicht eine Wir-
kung der Nachrichten Tauffkirchens in dem allmählichen Zu-
rücktreten des Projekts, den Norddeutschen Bund aufzulösen^),
und dem entschiedenen Überwiegen der weiteren Bundespläne
im Ministerium sehen. Eine handschriftliche Notiz in Bennig-
sens Papieren weist darauf hin, daß er bei gemeinsamen
Beratungen über das Völderndorffsche Programm zugegen
war.^) Im wesentlichen vertrat freilich gerade dies einen vom
Tauffkirchenschen bereits durchaus abweichenden Stand-
punkt. Der Leitartikel, der seinen Druck in der Allgemeinen
^) Es wäre der Gegenstand einer eigenen Untersuchung, einmal
die verschiedenen bayerischen Verfassungsentwürfe jener Monate
nach ihren Hauptideen, ihren theoretischen und praktischen Gesichts-
punkten näher zu vergleichen.
2) Am 15. hatte Tauffkirchen auch noch eine mündliche Unter-
redung mit Bray (Allgem. Zeitung Nr. 261 vom 18. Sept.); dieser be-
sprach sich am selben Tage auch mit Bennigsen und Eisenhart: Oncken,
Bennigsen II, 182. — Über den gegenseitigen Austausch der verschie-
denen Programme vgl. G. JMeyer 57 ff., Oncken, Bennigsen II, 183.
^) Wie er z. B. noch besonders lebhaft in dem erwähnten offi-
ziösen Artikel vom 11. sich ausspricht; auch im Antrag Brays vom 12.
herrscht er stark vor. Gegen ihn wendet sich scharf Völderndorffs
Leitartikel in der Allgem. Zeitung Nr. 260, mit einer Stelle, die unmittel-
bar an Tauffkirchens Bericht anklingt. — Auch in den späteren Terri-
torialwünschen des Königs und Brays und bei dem Gedanken, gegen
das Kaiseranerbieten größere Konzessionen zu erhandeln, könnten
Tauffkirchens Berichte nachwirken. — Verschiedenheit der weiteren
Bundespläne Brays von denen Tauffkirchens: s. oben S. 113 Anm. 1.
*) Oncken, Bennigsen II, 182 Anm. Das hier genannte Akten-
stück ist, wie sich aus der Paragraphenzahl und dem Zitat S. 183 Anm. 1
mit Sicherheit ergibt, das oben S. 110 Anm, 3 angeführte Lithogramm
des Völderndorffschen Entwurfs.
8*
116 Karl Alexander v. Müller,
Zeitung einführte, enthielt eine scharfe Kritik des weiteren
Bundesplans: bei dem Baden und Hessen sicher nicht mittun
würden; dessen konstitutionelle Maschinerie unübersehbar
und für Preußen ganz unmöglich wäre; ja dem selbst die
innere Berechtigung jetzt einigermaßen fehle: denn warum
sollten Baden und Württemberg mehr Rechte haben als
Sachsen? Es waren ähnliche Einwände, wie Hohenlohe sie
am Ende des Monats aussprach: die Idee des weiteren Bundes,
den er selbst einst auszuführen gesucht habe, sei jetzt voll-
kommen unpraktisch und werde von Bismarck nur einst-
weilen geduldet, um Bayern damit vollständig zu isolieren.
Während Hohenlohes erster Mitarbeiter und Referent von
den alten, damals verfolgten Plänen noch nicht lassen wollte,
waren sein Nachfolger wie der Fürst selbst bereits überzeugt,
daß für Bayern jetzt nur mehr ein privilegierter Beitritt zum
Norddeutschen Bunde möglich sei.i)
Und so kamen auch Tauffkirchens Vorschläge für die
Form der Verhandlungen mit Preußen zu spät. Auch hier
können wir erst einige allgemeine Züge erkennen. Es scheint,
daß der König, vielleicht unter dem Eindruck von Tauff-
kirchens Bericht, am 13. ein Handschreiben an Bray erließ,
das zu energischerem Vorgehen aufforderte, und daß der
Minister daraufhin ,,die Geneigtheit Bayerns zur Absendung
eines Bevollmächtigten in das preußische Hauptquartier
telegraphisch dorthin kundgab. "2) Am 14. kam wieder ein
Telegramm von Perglas aus Berlin, offenbar eine Antwort auf
die Bitte vom 12.: daß Delbrück vom Hauptquartier als-
bald nach Berlin zurückkehre und von hier ohne Verzug
nach München reisen werde. Der bayerische Minister nahm
^) Auf dieser Basis hat auch Lutz in Versailles von Anfang an
unterhandelt; vgl. Brandenburg, Eintritt 39.
2) Eisenhart an Tauffkirchen, Sept. 17 (Or. T. R): „Auf das
Ihnen bekannte Handschreiben hat Graf Bray lediglich die , Geneigtheit
Bayerns zur Absendung eines Bevollmächtigten in das preußische Haupt-
quartier telegraphisch dorthin kundgegeben'." Die Stelle ist aber nicht
eindeutig. Das Handschreiben könnte auch vor dem 13. liegen (vgl.
Wertherns Telegramm vom 10.!). — Übereinstimmend eine Mitteil,
d. Grafen Bray, wonach dies Telegramm ins Hauptquartier wohl
am 13. oder 14. früh, wahrscheinlich durch Vermittlung des preuß.
Gesandten abgegangen sei.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 117
diese Ankündigung sofort (noch am 14.) telegraphisch an:
es sei zwar bereits vorher beschlossen gewesen, bayerische
Bevollmächtigte ins Hauptquartier zu senden, jetzt aber
werde man die Ankunft Delbrücks abwarten, der sehr will-
kommen sei.^) Damit war das nächste Zentrum der Verhand-
lungen nach München verlegt, und es mochte dem Minister
nur angenehm sein, dazu keiner vertraulichen Mittelsmänner
mehr zu bedürfen, deren er, wie die Dinge lagen, doch nie
völlig sicher sein konnte.
Tauffkirchen selbst hat in diesen Tagen weder den
König noch den Kabinettsekretär, der einige Tage in Mün-
chen weilte, mehr gesehen. Am 17. schrieb dieser ihm aus
Schloß Berg, er habe seine Angelegenheit ,, sowohl bei Seiner
Majestät als an andern competenten Orten angeregt, aber
geradezu erfolglos, weil man entschieden das Ein-
treffen Delbrücks abwarten will, wodurch die Sache aller-
dings schlimme Zögerung erleidet". 2) Noch ehe diese
Absage in Tauffkirchens Hände kam, war am Morgen bereits
ein Telegramm Bismarcks eingelaufen, daß seine baldige
Rückkehr sowohl wegen der Organisation der provisorischen
Verwaltung als wegen politischer Besprechungen dringendes
Bedürfnis sei.^) Tauffkirchen bat sofort bei Bray, ihm die
^) Mitteil. d. Grafen Bray. Danach ergäbe sich folgende
Reihenfolge: Zuerst am 12. Bitte, daß Delbrück nach München komme.
2. Am 13. oder 14. Erklärung, einen Bevollmächtigten ins Haupt-
quartier zu senden. 3. Am 14. (später) Erklärung, Delbrück in München
zu erwarten. Am 15. reiste Delbrück aus dem Hauptquartier ab. —
Am 14. lief auch in Stuttgart ein Bericht aus München ein, daß die
bayerische Regierung sich Preußen gegenüber zu Verhandlungen wegen
eines Verfassungsbündnisses mit dem Norddeutschen Bund bereit
erklärt habe: Mittnacht, Rückblicke 84 f. (Weicker 48 spricht irrtüm-
lich von einer Mitteilung der bayerischen Regierung nach Stuttgart,
wovon bei Mittnacht nichts steht.)
2) S. oben S. 1 16 Anm. 2. Auf das Zitat im Text folgt unmittelbar
die oben angeführte Stelle. Der Brief schließt etwas dunkel: ,,Die ganze
Sache stößt — subrosa leider auf hoffentlich zu beseitigende Schwie-
rigkeiten; deshalb ist — gleichfalls sub rosa — der erwartete Vertrags-
entwurf (Hegnenbergs??) noch nicht ins Cabinet gelangt."
3) „N. d. Gesandten München. Meaux 16* 3" (pr. 17. Sept. 9. 15).
Für Graf Tauffkirchen. Telegramm vom 14. erhalten. Nachdem
Großherzog von Mecklenburg angekommen, ist Ew. Hochgeboren
baldige Rückkehr dringendes Bedürfniß, sowohl wegen Organisation
118 Karl Alexander v. Müller,
förmliche dienstliche Genehmigung zum Antritt dieser Stelle
zu erteilen und ihn zugleich — er hatte wohl Eisenharts Schrei-
ben noch nicht empfangen — mit allen jenen besonderen Auf-
trägen versehen zu wollen, welche der König sich veranlaßt
finde, ihm bei dieser Gelegenheit durch den Minister anver-
trauen zu lassen. 1) Er hatte dann noch eine persönliche Unter-
redung mit Bray, der ihm einen Brief an Bismarck mitgab.
Die telegraphische Genehmigung des Königs zu sofortiger
Amtsübernahme aber hatte keinen weiteren Zusatz. 2)
Am 19. reiste der Gesandte aus München ab^), war am 21.
wieder in Bar le Duc und traf am 23. mittags im Haupt-
quartier ein, das nun seit einigen Tagen in Ferneres, dem
Schlosse Rothschilds, bei Paris lag.
Er wurde sogleich nach seiner Ankunft vom Kanzler zu
Tisch geladen*) und hatte dann von V26 bis 8 Uhr auf einem
Spaziergang mit ihm wiederum eine lange Unterredung^),
die zuerst noch einmal Tauffkirchens neues Amt als Zivil-
kommissär in Reims, in der Hauptsache aber wieder Bayern
und die deutsche Frage zum Inhalt hatte. Man stand nun in
den Tagen, in denen eben die ersten Friedens- und Waffenstill-
standsverhandlungen mit Jules Favre sich zerschlagen hatten.
Während derselben war der Kanzler einige Zeit körperlich
und geistig verstimmt gewesen, nun fand ihn seine Um-
gebung wieder „viel menschlicher und munterer".^) Der
Brief Brays, den er unterwegs las, schien ihn zu befriedigen.
Auf den ausdrückhchen Wunsch des bayerischen Ministers,
sagte er, habe Delbrück sich bereits nach München begeben,
der Verwaltung als wegen politischer Besprechungen. Gez. Bismarck."
Abschrift. T. P.
1) Tauffkirchen an Bray, Datum abgerissen, Entwurf von dritter
Hand. T. P.
2) Ludwig II. an Bray, Sept. 18. Or. T. P.
3) In der Presse war seine Anwesenheit fast unbemerkt vorüber-
gegangen; die Allgem. Zeitung (Nr. 260; vgl. Nr. 261, 268) brachte sie
mit den gleichzeitigen römischen Ereignissen in Verbindung.
«) Vgl. auch M. Busch, Tagebuchblätter I, 233 f.
^) Zwei Berichte Tauffkirchens an Bray, Chateau Ferneres
Sept. 24 (1. die deutsche Frage, 2. seine Ernennung zum Zivilkommissär
in Reims betr.), Abschrift von dritter Hand. T. P.
«) M. Busch, Tagebuchblätter I, 219, 233.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 119
und gegenwärtig werde dort wohl schon verhandelt. Er
versicherte, seine und des Königs Stimmung sei noch genau
dieselbe wie am 8. September. Nach wie vor wünsche er vor
allem, mit dem König von Bayern über das Ob und Wie
der Gründung eines Deutschen Reiches ins reine zu kommen,
und zwar in der freundschaftlichsten, die Rechte Bayerns in
jeder Hinsicht aufrechterhaltenden Weise. Die hierbei ge-
fundene Basis würden alle übrigen Fürsten nur akzeptieren
können. Er blieb aber jetzt nicht mehr bei diesem bloßen
Wunsche stehen, sondern schob die Angelegenheit sogleich
um einen Schritt weiter. Zum Zweck dieser Vereinigung
nämlich, fuhr er fort, beabsichtigt Wilhelm I., wenn die
Münchener Vorbesprechungen beendigt sein werden, den
bayerischen König in einem eigenhändigen Brief zu sich ins
Hauptquartier nach Schloß Fontainebleau einzuladen, um
daselbst mit ihm die Grundzüge der künftigen deutschen Ver-
fassung gründlich zu vereinbaren; menschlicher Voraussicht
nach wird sich hieran ein gemeinsamer Einzug in Paris reihen.
Erst dann, wenn diese Besprechung stattgefunden hat, oder
wenn der König von Preußen die Überzeugung gewinnt,
daß sie nicht stattfinden kann, wird er dem bereits kund-
gegebenen Wunsch der übrigen deutschen Fürsten und Ver-
treter der freien Städte, sich um ihn zu versammeln, ent-
sprechen.i) — Es war der alte Plan einer Fürstenzusammen-
kunft im Heerlager vor dem Feind, der seit dem August er-
wogen, jetzt eben, wie es hieß, durch das Anerbieten der
Münchener Verhandlungen gekreuzt worden war^); und mit
ihm nun, als eine Art Vorspiel, verbunden ein neues aus-
zeichnendes Entgegenkommen — und zugleich ein neuer,
bestimmter Druck auf den bayerischen König.
Es scheint, daß Tauffkirchen sogleich auf die Schwierig-
keiten hinwies, denen diese Absicht bei der Menschenscheu
Ludwigs H. begegnen würde. Die Fürstenzusammenkunft,
betonte jedenfalls der Kanzler, ist eine beschlossene Sache.
Vom König von Bayern hängt lediglich ab, ob ihr eine
1) Dies stimmt also genau mit der von Brandenburg, Eintritt 38
Anm. 1 geäußerten Vermutung überein.
2) Bismarck zu Suckow, Sept. 17: A. v. Suckow, Rückschau,
her. V. W. Busch 167 f., Mittnacht 81 f.
120 Karl Alexander v. Müller,
Vorherbesprechung, wie sie seiner und seines Landes Stellung
zukommt, vorangehen soll oder nicht. Die Ablehnung einer
solchen direkten Einladung wäre für Wilhelm 1. natürlich
nicht erwünscht. Er ersuchte Tauffkirchen daher sogleich
um eine vertrauliche Anfrage am bayerischen Hof: aber
derart, daß er mögHchst bald und bestimmt erfahre, ob eine
Annahme zu erwarten oder ob mit Bestimmtheit eine Ab-
sage vorauszusehen sei.
Tauffkirchen bat hierauf um die Erlaubnis, ein Chiffre-
telegramm an Bray aufgeben zu dürfen, und sandte am 24.
morgens die Nachricht nach München: ,, König Wilhelm
beabsichtigt, wenn nicht Ablehnung zu erwarten, König
brieflich einzuladen, in Fontainebleau deutsche Frage allein
mit ihm vor allen andern zu besprechen und festzustellen.
Anerbietung Kaisertitels scheint gewünscht, dagegen jede
Concession, namentlich bezüglich Bewaffnung und sonstiger
Militärverhältnisse, in Aussicht. Bitte chiffrirte Antwort
nach Reims, wohin morgen abreist Graf Tauffkirchen, Civil-
commissär der westlichen occupirten französischen Pro-
vinzen, "i)
In einem Bericht vom gleichen Tag führte er diese An-
deutungen näher aus. Von der Kaiseridee habe der Kanzler
diesmal zwar nicht ausdrücklich gesprochen, aber die Be-
rufung der sämtlichen deutschen Fürsten ins Hauptquartier
zeige die Absicht einer Proklamation ja deutlich genug.
„Noch klarer wurde mir im Verlaufe des Gespräches, daß
dem Könige sehr viel daran liegt, diesen Titel, und zwar durch
Anerbieten, also sozusagen aus der Hand des Königs von
Bayern zu empfangen, und daß er eben deßhalb zu den weit-
gehendsten Konzessionen für die Ausnahmsstellung des
Königreiches Bayern in diesem Reiche als Gegenleistung
bereit ist. Die Ansicht, welche ich mir aus den Äußerungen
des Grafen gebildet, ist die, daß eine Annahme dieser Ein-
ladung seitens unseres Königs in der Dynastie und des
Landes Interesse und zum Schutze der berechtigten Eigen-
^) Entwurf eigenhändig, auf abgerissenem Briefbogenblatt.
T. P. — Die Vermutung Brandenburgs (Eintritt 16 Anm. 2), daß schon
vor Delbrücks Ankunft in München eine offizielle Einladung dorthin
ergangen sei, dürfte damit entfallen.
Bismarck und Ludwig 11. im September 1870. 121
thümlichkeiten und der vollen inneren Souveränität Bayerns
geradezu wesentlich erscheint."
Um das Maß solcher Konzessionen zu erkunden, habe er
insbesondere die Militärverhältnisse zur Sprache gebracht,
für die bei der Verstimmung des Kriegsministers^) eine sichere
Basis wohl am nötigsten sei. Beibehaltung nicht nur der
Uniform^) und des Kommandos, sondern auch der selbstän-
digen Bewaffnung (Werdergewehre) habe Bismarck ohne
weiteres zugegeben. Zögernder sei seine Antwort auf die
Frage gewesen, ob mit Rücksicht auf die Stimmung der
bayerischen und württembergischen Stände auch in Kon-
tingent und militärischer Präsenz von den in der nord-
deutschen Verfassung festgelegten Grundzügen abgewichen
werden könnte: in dieser Hinsicht wäre in einem Reich,
dessen Wehrkraft nach außen eines der wesentlichsten
Momente seiner Verfassung zu bilden haben werde, doch wohl
eine Gleichheit notwendig. Aber warum müßten denn alle
Schwierigkeiten gleich auf einmal gelöst werden? Er sei
keiner von denen, die eine vollständig fertige Verfassung für
ewige Zeiten so auf einen Schlag in sechs Wochen herstellen.
Ihm genüge es, eine Grundlage zu schaffen, fest genug,
um in 10, 20, in 50 Jahren ausgebaut zu werden. Wo sich
also zurzeit ernstliche Hindernisse erheben, könne man es
einstweilen beim status quo belassen und vertragsmäßig eine
weitere Einigung vorbehalten. Gerade in der genannten Frage
mache er sich vollkommen anheischig, „einen Triller zu
machen".^) Die bayerische Militärverwaltung möge darüber
ganz beruhigt sein, es würde keine wesentliche Änderung
ohne volle Übereinstimmung in den Vertrag gesetzt werden.
Er wiederhole noch einmal, was er Tauffkirchen schon früher
gesagt habe: die Hauptsache sei, daß die Grundzüge zwischen
Bayern und Preußen durch einen auf beiden Seiten frei-
willigen und beide Teile bindenden, nur mit Einwilligung
beider Teile modifizierbaren Vertrag zustande kämen.*)
^) Vgl. Oncken, Bennigsen II, 186.
2) Dazu M. Busch, Tagebuchblätter I, 423.
^) Vgl. hierzu auch Bismarcks Entgegenkommen gegen Pranckh
in Versailles: Lorenz 350 f.; Brandenburg, Eintritt 73 ff .
*) In Tauffkirchens Bericht folgt hierauf folgender Abschnitt:
„Dieser Vertrag würde jedenfalls dann gegenüber dem gegenwärtigen
122 Karl Alexander v. Müller,
Er verfehlte zum Schluß nicht, Tauffkirchen noch den
Eindruck seiner neulichen Besprechung mit dem württem-
bergischen Kriegsminister v. Suckow mitzuteilen. Die Ab-
neigung des Königs und der Königin gegen den Eintritt in
einen deutschen Reichsverband scheine vollkommen gehoben,
ja die Aspirationen Württembergs gingen im wesentlichen
geradezu auf einen Eintritt in den Norddeutschen Bund.^)
Und auf die Antwort des Bayern, daß Suckow doch nur eine
Richtung in Württemberg vertrete, die im Lande viele und
bedeutende Gegner habe, versicherte er, daß gerade der
Führer dieser Gegenpartei, der Justizminister Mittnacht,
sich völlig zur Notwendigkeit eines Zusammenschlusses ganz
Deutschlands unter einer Verfassung bekehrt habe. Die
bayerische Regierung würde sich eben jetzt, wo Mittnacht
den Konferenzen mit Delbrück anwohne, davon überzeugen
können.
Am 24. nachmittags wurde Tauffkirchen noch vom
König empfangen; in der Nacht darauf begab er sich auf
seinen neuen Posten nach Reims.
Inzwischen war der Erfolg seiner zweiten Botschaft an
Ludwig IL bereits entschieden. Schon am 23. September
hatte Delbrück bei seiner Audienz in Berg einen Besuch des
Königs im Hauptquartier, in Versailles, angeregt, und Lud-
wig IL hatte den Gegenstand mit einer ausweichenden Rede-
Zustande einen erheblichen Fortschritt begründen, wenn durch den-
selben mittels wesentlicher Erweiterungen der Befugnisse des Zoll-
bundesraths und Zollparlaments ein deutsches Parlament geschaffen
würde, in welchem die eigenthümlichen Verhältnisse der süddeutschen
Staaten durch die itio in partes, das Veto gegen Neuerungen, gesichert
werden könnten." Dies scheint jedoch nicht mehr Wiedergabe von
Äußerungen Bismarcks, sondern eigenes Raisonnement Tauffkirchens.
^) Auch am 8. September hatte Bismarck kurz über Württemberg
gesprochen; Tauffkirchen hatte damals herauszuhören gemeint, daß
Bismarck mit dem kurz vorhergegangenen Ministerwechsel in Stutt-
gart einverstanden sei, und daß dieser Wechsel mit der Absicht zu-
sammenhänge, eine Einigung Württembergs mit den übrigen deutschen
Staaten zustande zu bringen. — Tauffkirchen hatte auf der Herreise
eben den württembergischen Minister Linden (damals Präfekten in
Chälons) getroffen und von ihm gehört, daß Bismarck im Gespräch
mit ihm die deutsche Frage gar nicht berührt habe. — Neuer Um-
schwung in Württemberg Anfang Oktober: Suckow 171.
Bismarck und Ludwig 11. im September 1870. 123
Wendung fallen lassen. i) Als nun am Tage darauf Tauff-
kirchens Telegramm eintraf und von Bray alsbald münd-
lich dringend befürwortet wurde^), scheint es auf ihn die
schlimmste Wirkung gehabt zu haben. Seine krankhafte
Menschenscheu rief den beleidigten Fürstenstolz zu Hilfe,
daß man ihm anstatt eines Prinzen nur einen Minister ge-
schickt habe^); und auch Tauffkirchen gehörte, soviel wir
wissen, nie zu seinen besonderen Vertrauten.
Dieser selbst erhielt auf seine Nachricht von Bray nur
ein lakonisches Telegramm (vom 29,), daß die Antwort
bereits Delbrück gegeben worden sei.*) Er hatte jedoch,
um sicher zu gehen, das Konzept seines Berichtes auch dem
Flügeladjutanten des Königs, Major v. Sauer, mitgeteilt^),
und dieser gab ihm am 5. Oktober näheren Bericht. Die
Sachen stünden vorläufig noch nichts weniger als günstig.
Speziell vom Ministerium hätte er ein ganz anderes Leben
erwartet. Die vorläufigen Anfragen Delbrücks und Tauff-
kirchens hätten die Annahme der Einladung sehr wesentlich
erschwert; seiner Kenntnis der Sache nach hätte er auch nie
zu solchen geraten. ,,Hic Rhodus, hie salta! Dies ist das
einzige Motto, unter welchem man unter unseren Verhält-
1) Delbrück 11,417; Kobell 26.
2) Mitteil. d. Grafen Bray. Wohl zwischen dem 27. und 29. Sep-
tember. Auch nach dem Eintreffen von Tauffkirchens Bericht habe
Bray am 1. Oktober aus Irlbach einen schriftlichen Antrag auf An-
nahme der Einladung gestellt. Das Gesamtministerium befürwortete
sie in drei dringenden Vorstellungen an Ludwig IL, Okt. 13 und 16,
Nov. 12/19.
^) Marquardsen an Lasker, Oktober 15: Brandenburg, Akten-
stücke Nr. 79; vgl. M.Barth an Baumgarten, September 27: Oncken,
Bennigsen II, 186; Hohenlohe 11, 24 f.
*) „Antwort ist bereits dem Staatsminister gegeben worden.
Bray." Or. T. P.
5) Oder mitgegeben? Sauer hatte sich Anfang September in
königlichem Auftrag zur bayerischen Armee begeben, um die Ordens-
dekorationen zu überbringen (Allgem. Zeitung Nr. 246 vom 3. Sept.).
Daß er damals in Verbindung mit Bismarck getreten, sagt der Brief
Tauffkirchens an Bismarck, Okt. 1 1 (s. u.), in dem Tauffkirchen Sauer
„eine meinem König nahestehende Person, welche E. E. gleichfalls
ins Vertrauen gezogen haben", nennt. Nach Hohenlohe 11,25 (Sept. 29)
scheinen auch durch Sauer noch besondere Verhandlungen gelaufen
zu sein. Vgl. auch M, Busch, Tagebuchblätter II, 6.
124 Karl Alexander v. Müller,
nissen etwas erreicht. Keine Vorverhandlung, sondern mit
dem Einladungsbrief ankommen, ohne ihn vorher auch nur
anzukündigen, das wäre der Weg gewesen, der wohl wahr-
scheinlich zum Ziel geführt hätte." Aber dieser Weg stehe
schließlich immer noch offen. Wenn Tauffkirchen es für
dienlich halte, möge er Bismarck diese Überzeugung Sauers
mitteilen. Könne man sich entschließen, trotz der Delbrück
gemachten Andeutungen, die Einladung einfach abgehen
und durch eine geeignete Persönlichkeit übergeben zu lassen,
,,so hoffe ich — ich möchte sagen mit Bestimmtheit — auf
günstigen Erfolg". i)
Am II. Oktober gab Tauffkirchen diesen Rat an Bis-
marck weiter, mit der Empfehlung, daß die gleiche Ansicht
dem Kanzler selbst bei der letzten Besprechung ja nicht
ferngelegen sei. 2) Dies scheint, nach dem uns vorliegenden
Material, in diesen Monaten der letzte Schritt Tauffkirchens
in der deutschen Frage gewesen zu sein. 3)
II.
Von hier aus seien nun zum Schluß noch ein paar ganz
kurze allgemeinere Ausblicke auf den größeren Zusammen-
hang jener bayerischen Anschlußverhandlungen gestattet.
Je näher wir in sie hineinsehen, um so gewaltiger wächst
vor unseren Augen die Arbeit und das Verdienst Bismarcks.
In immer neuen Anschlägen und Vorbereitungen taucht er
auf, überall im Mittelpunkt, anspornend, lenkend, dämonisch
überlegen. Unerschöpflich ist der Reichtum der Mittel, mit
denen er — scheinbar ruhig zuwartend — die zögernde,
1) Sauer an Tauffkirchen, Berg, Okt. 5. Or. eigenhändig. T. P.
2) Tauffkirchen an Bismarck, Reims, Okt. 11. Entwurf eigen-
händig. T. P. — Unterm 11. Oktober berichtet M. Busch (Tagebuch-
blätter I, 286, vgl. 300) von Gesprächen an Bismarcks Tafel über den
Fürstenkongreß und das ev. Kommen Ludwigs II.
3) Er hatte am 25. September seinen Posten in Reims angetreten.
Da er mit den von Bismarck geforderten Gewaltmaßregeln in den
okkupierten Provinzen nicht einverstanden war, kam er bald in Kon-
flikt mit dem Kanzler, Er betrieb selbst, schon im November, seine
Rückberufung, erhielt am 9. Dezember Urlaub und kehrte Anfang
1871 nach Rom zurück.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 125
schwankende, zurückweichende bayerische Regierung von
allen Seiten her umgibt und vorwärtszwingt. In der Kette
dieser bald vorsichtigen, bald kühnen, dieser konzentrierten
und zähen Antriebe^), ist diese Tauffkirchensche Mission ein
neues, in manchem Betracht interessantes Glied. Der Anstoß,
den sie Bayern geben soll, ist stärker als die anderen aus diesen
Wochen: unmittelbar an die Person des bayerischen Königs
selbst richtet sie sich. Ihre Drohungen und ihre Angebote
gehen weiter als die, von denen wir bisher wußten. Nicht nur
von einem Lockern der gegenwärtigen Bande, vom Kündigen
des Zollvereins ist die Rede, sondern von der Ablösung der
Rheinpfalz, von einem Eingriff zum allermindesten in den
inneren Zusammenhang des Königreiches. Und nicht nur
in kleinen Uniforms- und Etikettebedenken kommt der Kanz-
ler entgegen, sondern in einschneidenden Fragen des Militär-
wesens, der prinzipiellen Ausnahmestellung Bayerns zeigt er
sich läßlich: er spricht von der Möglichkeit eines parlamen-
tarischen Vetos, er lehnt Tauffkirchens Vorschlag eines bloßen
weiteren Bundes in keiner Weise ab. Wieviel weiter geht,
was er hier unwidersprochen passieren läßt, als die gleich-
zeitigen Zugeständnisse der liberalen Führer in München,
über die er sich später so grimmig beklagte. Freilich, es sind,
auch wenn er selbst sie ausspricht, nicht seine Vorschläge,
über die hier geredet wird: Bayern, so wünscht er, soll bei
diesen Verhandlungen der vorschlagende Teil sein; nur zu
einem grundsätzlichen Entgegenkommen bindet er sich;
im einzelnen geht er über ein gesprächsweises tolerari potest
nicht hinaus.2) Indem er Bayern die volle Freiheit des
Handelns zusichert, behält er sie vor allem auch sich selber
vor. Wer möchte abschätzen, zu welchen Zugeständnissen
er damals im Innersten, wenigstens für den Notfall, bereit
gewesen wäre, wie weit er auch in lockereren Formen die
Gewichte immer so zu verteilen gerüstet war, daß die natür-
liche Schwere der Tatsachen, die Gemeinsamkeit der Inter-
essen sich doch schließlich über kurz oder lang ihr Recht ver-
schafft hätten. Fürs erste lag ihm offenbar vor allem daran,
1) Vgl. Küntzel 57.
2) So hat er sich auch gegenüber Sachsen, dessen Vermittlung
er anrief, über seine Forderungen an Bayern nicht ausgelassen.
126 Karl Alexander v. Müller,
den bayerischen Standpunkt, die Zähigkeit und das eigent-
liche Zentrum des bayerischen Widerstandes genau kennen zu
lernen und Bayern zu einem ersten Schritt zu bringen, nach
dem ein endgültiges Zurück in der nationalen Begeisterung
des Krieges jedenfalls sehr schwer war. ,,Vor allen Dingen
erst rin ins Haus. Alles andre findet sich", wie er im De-
zember zu Wilmowski sagte. i) Schon in Frankfurt hatte er
die möglichste Rücksicht, ja eine gewisse Pflege des baye-
rischen Selbstgefühls, eine Begünstigung der bayerischen
Separatwünsche, die den Wittelsbachischen Staat ja zugleich
immer von seinen Nachbarn abtrennten, als die klügste
Politik gegenüber dem größten deutschen Mittelstaat emp-
fohlen. Zu verschiedenen Zeitpunkten vor 1870 war er
zu noch wesentlich weitergehenden Zugeständnissen an die
bayerische Selbständigkeit bereit gewesen; eine große und
entschiedene bayerische Politik, die sich seinen obersten
Voraussetzungen anzupassen verstanden hätte, hätte 1870
wie 1866 von ihm viel erreichen können. 2) Den bayerischen
Regierungen, wie sie waren, gegenüber kam er mit bloßer
Geduld aus. „Wir wollen den Bayern Zeit lassen, daß sie sich
besinnen können", hatte er 1868 einmal zu Bluntschli ge-
meint.3) ,,Sie müssen inzwischen an den Wänden herumtasten
und nach einem Ausweg suchen, sie werden keinen finden.
Dann werden sie sich schließlich in ihr Schicksal fügen . . .
Es läßt sich alles friedlich mit Bayern abmachen." Wir
wissen aus vielen gleichzeitigen Äußerungen, welchen außer-
ordentlichen Wert dieser furchtbare Kämpfer gerade in jenen
Herbst- und Wintermonaten 1870 darauf legte, die deutsche
Einheit in der Tat friedlich, ohne Pression, ohne die nach-
haltige Verstimmung eines harten Zwanges zu vollenden,
daß er den schließlichen Beitritt Bayerns zu ,,dem Wichtig-
1) Feldbriefe 1870/71 von K- v. Wilmowski 76 (Dez. 8).
2) Daß Bismarck von vornherein Bayern eine Ausnahmsstellung
(etwa in den dann festgelegten Grenzen) zugedacht hatte und nicht
erst durch unglückliche Zufälle im Lauf der Verhandlungen dazu ge-
zwungen wurde, hat Brandenburg, Eintritt 38, 85 f. mit vollem Recht
nachdrücklich betont. Ebenso daß hierin der Hauptgrund der sowohl
von Bismarck wie Bray gewünschten Separatverhandlungen lag.
^) J. C. Bluntschli, Denkwürdiges aus meinem Leben III, 203.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 127
sten" rechnete, „was wir in diesen Jahren erreicht haben".i)
Es hat zunächst fast etwas Komisches, wenn er jeden Ge-
danken eines Druckes zu diesem Beitritt mit demselben Atem-
zug bestreitet, mit dem er ihn tatsächlich ausübt-); aber im
letzten Grunde spricht er, wie so häufig, die Wahrheit: denn
er droht hier mit dem Zwang eigentlich nur, um ihn nicht
anwenden zu müssen. Wer möchte zweifeln, daß auch bei
der geschilderten Tauffkirchenschen Sendung sein Ziel nicht
die Schädigung Bayerns war, mit der er den Unterhändler
zu erschrecken suchte, sondern im Gegenteil dessen Erhal-
tung, die er eben damit zu sichern trachtete.
Die Wirkungen dieser Mission im einzelnen sind heute
noch kaum festzustellen. Sie kreuzen sich, wie oben aus-
geführt, mit denen anderer, zum Teil früherer Bismarckischer
Antriebe. Als Tauffkirchen nach München kam, hatte die
bayerische Regierung — wie wir meinen, vor allem auf Grund
der Nachrichten ihres Berliner Gesandten — den ersten
Schritt bereits getan. So mancher Punkt auch durch die
bisherigen Untersuchungen aufgehellt worden ist, so sehen
wir doch in dem unruhigen Projektengetriebe dieser Tage,
gerade etwa vom 8. bis zum 18. September, noch viel zu wenig
klar, wissen zu wenig von den in diesem Augenblick wirklich
leitenden Männern und Motiven, als daß wir die gegenseitigen
Überschneidungen einzelner Pläne schon mit Sicherheit be-
rechnen könnten.^) Die bayerischen Regierungsverhältnisse
dieser Jahre waren — und es scheint doch, daß die Forschung
dies praktisch bisher zu wenig berücksichtigt hat — durch
die krankhafte Anlage eines edlen und begabten Monarchen
bereits ganz abnorm und sehr verworren; Verhalten und
Leistungen der einzelnen Beteiligten können nicht mit dem
1) Z. B. M. Busch, Tagebuchbiätter I, 427, 465, 479, 526; Hohen-
lohe 11,47.
2) Küntzel 58.
^) Sehr wichtig wäre vor allem eine Kenntnis der fortlaufenden
Berichte Berchems, s. oben S. 98 Anm, 4. Sie müßten wohl auch
über das seltsame Projekt eines „Soldatenkaisers über Deutschland",
das Bayern, wie Bismarck erzählte (M.Busch, Tagebuchblätter II, 115),
nach Sedan angeregt haben soll und für das wir sonst noch gar keinen
Anhaltspunkt haben (außer etwa Brandenburg, Aktenstücke Nr. 27),
Aufschluß geben.
128 Karl Alexander v. Müller,
normalen Maßstab gemessen werden, wo das ganze Räder-
werk nur mehr exzentrisch zu arbeiten vermag. Besonders
schwierig ist es, im ganzen wie in einzelnen Momenten,
die Verteilung des Gewichtes und des Verdienstes zwischen
König und Ministerium abzugrenzen. i) Auf der einen Seite
geben die unglückliche Menschenscheu und Entschluß-
schwierigkeit, die zeitweilige politische Gleichgültigkeit und
die Phantastik des Königs offenbar den Ministern größeren
Spielraum und erhöhte Selbständigkeit. 2) Auf der anderen
Seite hat Ludwig II. das königliche Regiment wieder stolz
in der Hand, sieht scharfsinnig und klug oft weiter und realer
als seine Minister und entscheidet in den größten Augen-
blicken, nur von Vertrauten seiner nächsten Umgebung be-
raten, aus fürstlicher Machtfülle selbstherrlich über die
Köpfe des Ministeriums hinweg, ohne es nur zu befragen.
Seine lebhafte Bestimmbarkeit durch persönliche Eindrücke,
verbunden mit seiner Abgeschlossenheit, begünstigen ein
immer wechselndes Spiel von Intrigen und Einflüssen am
Hof, das natürlich auch in die Regierung hinüberwirkt und
die Verhältnisse oft schwer verständlich macht. In diesen
Septemberwochen 1870 finden wir das Ministerium, einem,
wie es scheint, chronischen bayerischen Übel zufolge, in
sich uneins, mit ausgeprägtem Ressortpartikularismus, nicht
selten mit heftigen Reibungen in seiner eigenen Mitte. Der
nominelle Vorsitzende des Ministerrates, Graf Bray, ein
nüchterner, sehr vorsichtiger, langsamer und loyaler diplo-
matischer Praktiker alter Schule, bereits 63 jährig, ohne
die durchgreifende Energie, die nötige Einheit zu erzwingen,
zudem in der augenblicklichen deutschen Frage aus seinen
1) Brandenburgs Gesamturteil (Eintritt 86 f.), daß die schwersten
Hindernisse überall nur auf Seite der Dynastien und Höfe gelegen
waren, während die Minister sich alle ziemlich bald über das Not-
wendige und Erreichbare einig geworden seien, kommt mir für Bayern
z. T, nicht zutreffend, z. T. jedenfalls viel zu sehr simplifiziert und
daher nicht ausreichend vor. Seine Gegenüberstellung der „verant-
wortlichen Staatsmänner" und der „Herrscher und ihrer unverant-
wortlichen Ratgeber" (der „Hofkamarilla" 88) = Licht und Schatten
ist für Bayern sicher nicht richtig. Die Verteilung von Licht und
Schatten ist hier viel komplizierter.
2) Vgl. hierzu Brandenburg, Eintritt 71, 81.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 129
alten Maßstäben geworfen, ohne eigentlich positives Ziel.^)
Die Erkenntnis seiner Haltung allein nützt noch nicht sehr viel.
Die tete forte des Ministeriums, sein begabtester, energischster
und ehrgeizigster Kopf, der leitende bayerische Minister der
nächsten zwei Jahrzehnte, Johannes Lutz, sicher in vielen
Dingen ganz anderer Meinung^), mit anderen Zielen und
schon von sehr großem Einfluß.^) Wir wissen aber noch so
wenig Zusammenhängendes über seine damaligen Anschau-
ungen und Absichten, daß wir zunächst nur ein X für ihn
einstellen können. Neben diesen beiden noch eine ziemliche
Stufenleiter von Differenzen, von dem Minister des Innern,
Herrn v. Braun, der für den nationalsten galt, über den ehr-
lichen Partikularisten Freiherrn v. Pranckh zum völlig
widerstrebenden Handelsminister v. Schlör. Und das ganze
Ministerium in dieser Zeit doch wesentlich passiv, zweifellos
mehr getrieben als treibend, zeitweise völlig von der Hand in
den Mund lebend. Im weiteren Umkreis, und eben in diesen
Tagen in lebhafterem Verkehr mit dem ministeriellen Zen-
trum, nichtamtliche Politiker und Abgeordnete: der Mini-
sterialrat V. Völderndorff, der Freund und Vertraute
Hohenlohes, und wohl auch der Oberregierungsrat Riedel,
^) Vgl. über ihn vor allem Küntzel 34 ff. ; Brandenburg, Eintritt
54 ff., 85 f., der aber m. E. in der berechtigten Tendenz, Bray gegen
ungerechte Unterschätzung zu verteidigen, wieder etwas zu weit geht;
und den Artikel in der AUgem. Deutschen Biogr. LV, 680 — 687
<Müller), für welchen auch bereits, wie hier nachgetragen werden
darf, einige Mitteilungen des Grafen Hipp. Bray verwendet werden
durften.
2) Vgl. Brandenburg, Eintritt 39,41,51 Anm. 1.
8) Ich habe schon früher (Hist. Ztschr. CIX, 382) versucht, die
Aufmerksamkeit mehr auf seine Rolle, auch in diesen früheren Stadien,
zu lenken. Über sein Gewicht in den deutschen Verhandlungen stimmen
alle kompetenten gleichzeitigen Beurteiler überein: z. B. Delbrück an
Lasker, Okt. 18: Brandenburg, Aktenstücke Nr. 83; Mittnacht 84
Anm. 3; Hohenlohe II, 12; Marquardsen an Lasker, Sept. 25 und
Okt. 15: Brandenburg, Aktenstücke Nr. 52, 79; Stenglein an Bennig-
sen: Oncken, Bennigsen II, 206; vgl. auch Hist. Ztschr. CIX, 384;
M. Busch, Tagebuchblätter II, 6. — Durch Eisenhart hatte Lutz
auch Einfluß auf den König: Hohenlohe II, 12; Kobell 40. — Seine
bedeutende Rolle in Versailles haben Brandenburg, Eintritt 39 ff.,
und W. Busch (Hist. Ztschr. CIX, 177 ff.) betont. — Vgl. auch
jMlgem. Deutsche Biogr. LV, 555 ff. (Bitterauf).
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 9
130 Karl Alexander v. Müller,
der nachmalige Finanzminister^); Marquard Barth und
Marquardsen, Lasker und Bennigsen; sicher aber auch Ver-
treter der patriotischen Partei, von denen wir augenbhcklich
noch nichts wissen. Und zwischen oder in mancher Hinsicht
über allen diesen, um den einsamen König, mit dauerndem
oder vorübergehendem Einfluß, oder wenigstens unmittelbar
an ihn herankommend, amtliche Diener, persönliche Ver-
traute, Ratgeber, Mittler: der Kabinettsekretär v. Eisenhart,
in diesem Schicksalsjahr von den größten Verdiensten um
König und Land^), der Flügeladjutant v. Sauer, der Oberst-
stallmeister Graf Holnstein; die Grafen Tauffkirchen, Hegnen-
berg, Berchem; der Kanonikus Trost. 3) Unsere Kenntnis
reicht noch lange nicht aus, die eigentliche Struktur all dieser
sich kreuzenden Einflüsse, das Widerspiel all dieser Kräfte
sicher aufzudecken.
Als ein bemerkenswerter Zug aber tritt nun schließlich
in unserem kleinen Beitrag hervor, wie Bismarck zwar,
direkt oder indirekt, Fühlung mit allen diesen Kreisen hat,,
alle kennt und auf alle einwirkt: — vor allem aber sucht
er doch immer wieder unmittelbar an den König selbst zu
kommen. Er mochte den Druck auf das Ministerium durch
die Anregungen über Sachsen und Berlin für genügend halten
und sich, für den Fall, daß es zögerte, einen neuen Weg sichern
wollen. Man weiß, daß er kein rechtes Zutrauen zu Brays
Gesinnung und Geschäftsgewandtheit hatte*), von näheren
Beziehungen zu Lutz ist uns aus dieser Zeit bis jetzt nichts
bekannt. Dagegen hatte die Haltung des Königs vor dem
Sturz Hohenlohes^) und dann beim Ausbruch des Krieges^)
1) Vgl. seinen Briefwechsel mit Lasker (im Dezember): Deutsche
Revue XVII. 4. 63 ff.; im September wurde er auch als mutmaß-
licher Verfasser des Programms in der Allgem. Zeitung vom 17. Sep-
tember genannt: Allgem. Zeitung Nr. 265 vom 22. Sept.
2) Auch er galt in eingeweihten Kreisen als möglicher Verfasser
des Völderndorffschen Entwurfes: Meyer 60.
3) Vgl. Oncken, Bennigsen II, 195, 205.
*) Vgl. M. Busch, Tagebuchblätter, Register, bes. I, 207, 251 f., 477-
s) Hohenlohe I, 439.
^) Zur Haltung Bayerns im Juli 1870 vgl. jetzt die wichtige
neue Nachricht bei Wertheimer, Andrassy 1,503: Bayern und Würt-
temberg hätten kurz vor der Emser Depesche in Wien die Erklärung.
Bismarck und Ludwig II. im September 1870. 131
Bismarcks guten Glauben von ihm nur steigern icönnen.
In den unveriiohlensten Äußerungen, die wir aus jenen
Monaten von ihm haben, den Tischgesprächen, die Moritz
Busch aufgezeichnet hat, erscheint Ludwig IL mehrmals
in dem schneidenden, grausamen, blitzscharf in Gründe und
Abgründe leuchtenden Licht des Bismarckischen Blickes —
gewöhnlich mit zwei charakteristischen Zügen, die eine Be-
merkung vom 20. Dezember einmal in einem Satz zusammen-
faßt: „Der Beste in den obern Regionen ist noch immer
der König, aber der ist, wie es scheint, kränklich, phantastisch,
und wer weiß, was noch geschieht."^) Er war sich anfangs
offenbar über die jähen Kontraste in diesem Witteisbacher
noch nicht völlig klar, und dies war wohl nicht der letzte
Grund, warum er mit den deutschen Verhandlungen zögerte^)
und Bayern zunächst noch weiter entgegenkam, als sich später
nötig erwies. Er hatte das Gefühl, daß jener ihm nicht traue,
und suchte ihn mit dem sicheren Griff des Genies am
tiefsten Kern seines Wesens zu packen: am königlichen
Hoheitsgefühl des Herrschers, an der Selbstherrlichkeit des ge-
borenen Souveräns, an der unmittelbaren Eindrucksfähigkeit
eines scharfsinnigen, großdenkenden, bestimmbaren Men-
schen.3) Von jenem ersten, so fein auf das fürstliche Emp-
finden Ludwigs IL berechneten Zusatz, mit dem er die Mit-
teilung der Emser Depesche nach München begleitete, bis
zu dem berühmten psychologischen Meisterstück des Kaiser-
briefes führt eine Reihe unmittelbarer Einwirkungen auf
den König, deren Folgerichtigkeit und Unermüdlichkeit das
spätere unerschütterliche Vertrauen des Mißtrauischen be-
greifen lassen. Am liebsten hätte er ihn ins Lager, in seinen
unmittelbaren Bannkreis gezogen. Dies ist ihm nicht ge-
lungen. Aber wir sehen, wie er dafür in eben diesen September-
abgegeben, daß der Krieg Preußens mit Frankreich für sie keine Ver-
anlassung biete, sicli zu beteiligen.
1) M. Busch, Tagebuchblätter I, 553.
2) A. a. O. 1, 300 (Okt. 16): „Es ist übrigens komisch, daß sie
denken, ich wünschte die Einheit Deutschlands nicht. Die Sache geht
nur nicht recht vorwärts wegen der steten Tergiversationen Bayerns
und Württembergs, und weil man nicht genau weiß, wie der König
Ludwig denkt." Vgl. auch I, 190.
3) Vgl. auch Küntzel 64.
9*
132 K. A. V. Müller, Bismarck und Ludwig II. im Sept. 1870.
Wochen Fühlung mit seiner nächsten Umgebung gewinnt,
die ihm wenigstens einen unmittelbaren Verkehr und Ein-
blicl< ermöghcht — „dabei konnte ich die Diplomatie nicht
gebrauchen". 1) Und wir sehen, wie er in diesen Verhand-
lungen allmählich die Natur des Königs, die ungewohnten
Verhältnisse dieses Hofes und dieser Regierung völlig durch-
schaut und sich ihrer bemächtigt. Der erste Auftrag Tauff-
kirchens hatte seine Absichten wohl zum Teil erfüllt; der
zweite, die Einladung, erwies sich als ein Fehlgriff. Aber
die Lehre, die der Adjutant Sauer ihm hier gab — nicht
anzufragen, der krankhaften Schwäche des Königs keine
Zeit zur Unschlüssigkeit zu lassen, ihn durch einen geeigneten
Mann unmittelbar vor den großen Entschluß zu setzen —
hat Bismarck nicht vergessen: es ist das Rezept für die
Sendung Holnsteins und des Kaiserbriefes.
1) Poschinger, Bismarck und die Parlamentarier III, 212. Von
wann Bismarcks Beziehungen zu Holnstein datieren, ist mir nicht
bekannt. Über die „gute Gesinnung" der nächsten Umgebung des
Königs vgl. auch Mohls Bericht vom Ende September bei M. Busch,
Tagebuchblätter 1,251; auch Delbrück 11,417.
Miszelle.
Radowitz de se ipso.
Von
Friedrich Meinedce.
Die deutsche Revolution von 1848/49 organisch zu be-
kämpfen und die Ursachen künftiger Revolutionen zu beseitigen
durch Erfüllung der nationalpolitischen Einheitsbedürfnisse, war
der Grundgedanke der Politik, die Radowitz als Ratgeber und
FreundFriedrich Wilhelms IV. im Frühjahr 1849 einleitete. Sie
brach, wie man weiß, im Herbste 1850 kläglich zusammen. Der
Geschichte dieses denkwürdigen Unternehmens und des Staats-
mannes, der es leitete, ist mein Buch über ,, Radowitz und die
deutsche Revolution" gewidmet, das etwa gleichzeitig mit diesem
Hefte im Mittlerschen Verlage erscheinen wird. Aus den reichen
Materialien des Radowitzschen Nachlasses, der neben den Akten
der Berhner Archive die Grundlage meiner Darstellung bildete,
möchte ich ein bezeichnendes Schriftstück hier mitteilen, das in
nuce zusammenfaßt, wie Radowitz selbst über die Ursachen
seines Mißerfolgs in dem Augenblicke dachte, wo die Katastrophe
seiner Politik und seines Ministeriums zwar noch nicht einge-
treten war, aber unmittelbar bevorstand. Am 27. Oktober 1850,
wo er diese Zeilen schrieb, weilte der Ministerpräsident Graf
Brandenburg eben noch in Warschau und erfüllte sich dort mit
der Überzeugung, daß Radowitz und sein Werk dem Widerstände
Österreichs und Rußlands geopfert werden müsse. Wie Radowitz
an sein Unternehmen von vornherein mit der Ahnung der Nieder-
lage gegangen ist, so bezeugt auch dieses Schriftstück den pessi-
mistischen und fatalistischen Grundzug seiner Denk- und Hand-
134 Friedrich Meinecke,
lungsweise. Zugleich zeigt es die scharfsinnige Selbstzergliederung,
deren er fähig war, und die freilich doch nicht vermochte, auch die
unbewußten Tiefen seines eigenen staatsmännischen Ehrgeizes sich
aufzudecken. Das Motiv der persönlichen Freundestreue gegen
den König, das er hier zur Erklärung seiner Fehler geltend
macht, tritt deswegen vielleicht etwas zu stark in den Vorder-
grund. Aber die wichtigsten der Fäden, die in seinem tragischen
Schicksal zusammenliefen, wird man getreu wiedergegeben finden.
De se ipso.
Wer in der Gegenwart und Zukunft über mich und mein
Verhalten reden will, der muß damit anfangen, einzusehen, daß
mein Verhältnis ein exzeptionelles gewesen ist und stets ist.
Ich hänge mit Preußen nicht bloß durch die Dienstpflicht zu-
sammen, sondern zugleich durch das Band der innigsten Freund-
schaft seines Königs. Ich kann und will daher die Dinge
nicht bloß unter dem ersteren Gesichtspunkte betrachten, sondern
ich muß stets den zweiten hinzuziehen. Dies ist mein Geschick
und die innerste Erklärung meiner Handlungsweise.
Der König ist die wunderbarste Natur, die je auf einem
Throne gesessen hat. Er liebt die Freiheit und zugleich den Ab-
solutismus, er will die nationale Einheit Deutschlands und zu-
gleich die Bewahrung des dynastischen Partikularismus, insbe-
sondere aber der Oberherrschaft des „durchlauchtigen Erzhauses".
Beide Richtungen sind gleich wahr, gleich mächtig in ihm; es ist
keine Halbheit, kein Schwanken in seiner Seele, natürlich
aber im höchsten Grade in seinen Handlungen. Beides
möchte er nebeneinander her führen, beides festhalten und ver-
ehren.
Ich meinerseits bin durch die innere und äußere Entwicklung
meines Lebens aus einem ähnlichen Dualismus heraus auf den
einen Pol desselben hingewiesen worden. Ich will die rechtliche
Freiheit, ich erkenne ihre wahre Verwirklichung in der echt
ständischen Regierungsform, aber ich kann nicht die Augen vor
der Gewißheit verschließen, daß der geschichtliche Moment, in
dem wir leben, auf die sog. konstitutionelle Form angewiesen ist,
und daß es daher die höhere Aufgabe bleibt, aus dieser heraus
in wahrhaft historischem und organischem Wege zu der ständischen
zu gelangen. Für Deutschland ist mir die Notwendigkeit wie die
Radowitz de se ipso. 135
heilige Pflicht der Aufrichtung eines nationalen Gemeinwesens
ganz unwiderleglich sicher; die entgegenstehenden Rücksichten
dagegen als gänzlich unfähig, hiervon zu dispensieren.
In diesem Sinne habe ich daher dem Könige zur Seite ge-
standen; ich habe getrachtet, nach allen Kräften das Element der
freien Verfassung in der inneren Frage und das der nationalen
Einheit in der deutschen Frage bei ihm aufrechtzuhalten und
gegen das entgegengesetzte zu vertreten.
Da nun gerade derselbe Dualismus auch in der Zeit überhaupt
und in Preußen insbesondere wirksam ist, so erwuchs hieraus die
Pein, die Mühe und der Undank meiner Lage.
Ich habe um des Gewissens und der Vernunft willen der
kontrerevolutionären Partei in Preußen entgegentreten müssen
und ihren Haß geerntet. Ich habe gegen das österreichische und
russische Andringen und gegen die selbstsüchtige Bosheit der
kleinen deutschen Dynastien gekämpft, um der Pflicht gegen die
Nation und gegen Preußen selbst willen.
Auf der anderen Seite habe ich die Schmähungen und Ver-
folgungen der großen, aus den verschiedenartigsten Schattierungen
zusammengesetzten Partei hinnehmen müssen, die im Inneren den
antimonarchischen Konstitutionalismus, in der deutschen Sache
die Anwendung aller Mittel zu dem gesteckten Ziele anstrebt.
Auch der Unverstand, der die Tragweite seiner eigenen Denkweise
nicht ahnt, der nicht weiß, daß eben auf den Wegen, in die er
lautschreiend die Regierung drängen möchte, die deutsche Sache
ganz sicher und auf lange hinaus zugrunde gerichtet würde,
auch dieser hat die Haufen meiner Feinde gemehrt.
Ist dieses aber das Ende der schmerzlichen Betrachtung?
Leider nein. Denn auch den Weg, den ich selbst als den wahrhaft
verständigen und gerechten erkenne, habe ich nicht stetig, klar
und fest verfolgen können. Das antagonistische Element im
Könige hat dies nie zugelassen, und sich hieran anlehnend ist bald
genug auch derselbe Geist in dem Ministerium mächtig geworden.
Ich habe nicht zu den rechten Zielen die rechten Mittel ergreifen
dürfen, ich habe nicht fragen dürfen, was ist das beste, sondern
mich nur zu oft damit begnügen müssen, das minder Mangelhafte
anzuwenden. Dies ist mein tiefstes Unglück, es ist das auch der
Grund, weshalb ich das beispiellose Mißtrauen, das sich an meinen
Namen knüpft, erklärbar, ja gerechtfertigt finden muß. Die
136 Friedrich Meinecke, Radowitz de se ipso.
Mitwelt wird hier wahrscheinlicii nie klar sehen, vielleicht auch
nicht die Nachwelt.
Allerdings kann man mich fragen, weshalb schiedest du
nicht aus von diesem Treiben, wenn das deiner Überzeugung Ent-
sprechende nicht geschah? Hierauf habe ich eben nur die Ant-
wort, mit der ich oben begann: Weil ich an Preußen nicht bloß
durch den Dienst, sondern auch durch jene wunderbare Ver-
kettung mit der Person des Königs gebunden bin. Ich habe mit
schmerzlicher Selbstverleugnung ausharren und immer wieder
aufs neue danach ringen müssen, Übleres abzuwenden, die Ehre
Preußens, die Verpflichtung gegen die deutsche Nation soweit
zu wahren, als es unter solchen Umständen möglich war. Wie
lange noch, das wird sich bald zeigen, da ich nun auch in die
äußere Verpflichtung getreten bin.i) Ich hatte dies gemieden,
eben wegen jener Doppelbeziehung, die mich zum Minister im
sog. konstitutionellen Sinne eigentlich unfähig macht. Man hat
von mir verlangt, daß ich jetzt mit meiner Person bezahle; dem
durfte ich mich nicht entziehen, nachdem ich die Gegengründe
dargelegt hatte. Nunmehr wird der letzte Akt bald herannahen,
und mit ihm auch der größte Schmerz für den König und mich!
Eins nehme ich mit: das Bewußtsein, daß ich nie mich selbst ge-
sucht habe.
27. Oktober 1850.
^) Am 26. September 1850 hatte er das Ministerium des Aus-
wärtigen übernommen.
Literaturbericht.
Idee und Persönlichkeit in der Kirchengeschichte. Von Walther
Köhler. Tübingen, Mohr. 1910. VIII u. 103 S.
Die Züricher Antrittsrede des bekannten Lutherforschers
behandelt das ganz allgemeine Problem, was überhaupt Wesen
und Aufgabe der Geschichte des Christentums sein könne und
sein müsse. Indem diese Frage von den allgemeinsten Prinzipien
der Geschichtsforschung überhaupt aus behandelt wird, ist die
feine, an geistreichen Bemerkungen, vielseitigen Mitteilungen
und ernster Denkarbeit reiche Abhandlung auch von allgemein
historischer Bedeutung. Köhler neigt dazu, die Aufgabe der
Historie in der Weise Hegels zu bestimmen als die Aufgabe,
eine durch den gesamten Kausalnexus des Einzelgeschehens
hindurch sich entwickelnde Idee als das Wesen der historischen
Komplexe anzusehen und die Darstellung durch den Aufweis
dieser Idee zu organisieren. Es ist ihm auch jedenfalls zuzu-
gestehen, daß auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie
und der Religion diese Auffassung verhältnismäßig leicht durch-
zuführen ist. So ist ihm die sog. Kirchengeschichte in Wahrheit
Geschichte des Christentums und diese wiederum die Entwick-
lungsgeschichte der „christlichen Idee", als welche er in der
Weise Hegels die Idee der Gottmenschheit erkennt. Das Ganze
ist eine Rückkehr zu dem Programm der Tübinger Schule, die
ja zum ersten Male überhaupt eine Gesamtgeschichte des Christen-
tums in wirklich historischem Sinne geschaffen und dazu sich
der Hegeischen „Idee" als des Mittels zur Organisation des Stoffes
bedient hat. Wenn nun aber K. seinem Problem die besondere
Fassung einer Frage nach dem Verhältnis von „Idee und Per-
138 Literaturbericht.
sönlichkeit" gegeben hat, so hat das darin seinen Grund, daß
auf jene Leistung der Tübinger Schule der Gegenschlag der heu-
tigen, in ihrem Führer Adolf Harnack verkörperten Kirchen-
geschichtschreibung gefolgt ist, welche die Organisation des
christentumsgeschichtlichen Stoffes durch die in ihm sich ent-
wickelnde Idee als eine unzutreffende Rationalisierung der Ge-
schichte empfand, daher die irrationalen Momente der großen
schöpferischen Persönlichkeiten in den Vordergrund stellte und
von deren unberechenbarem Auftreten, ihrem irrational hervor-
tretenden Lebensinhalten, dem von ihnen ausgehenden persön-
lich-suggestiven Einfluß aus die großen Mächte und Ereignisse der
Christentumsgeschichte verstand. K. hat mit Recht den bald
größeren, bald geringeren Anteil der supranaturalen Dogmatik an
solchen Sätzen betont und dessen Ausscheidung verlangt. Werde
dieser ausgeschieden, dann werde es unumgänglich, die Bedeutung
dieser Persönlichkeiten gerade in ihrer konkreten und mächtigen
Verkörperung von Ideen zu finden. Es verschwinde also der
Gegensatz zwischen beiden Begriffen. Indem die Idee rein immanent
aus dem geschichtlichen Stoffe selbst erst zu gewinnen ist, indem
sie nur in lebendigen Personen lebt und durch sie hindurch zu
einzelnen Heroen sich aufgipfelt, nimmt sie den Begriff der Per-
sönlichkeiten in sich auf und teilt mit ihnen die Irrationalität,
die Unmöglichkeit der vollständigen Erklärung ihres Ursprungs.
Diese Erklärung veriäuft ins Metaphysische, begründet aber
keine formell-supranaturale Autorität. Indem umgekehrt die
Bedeutung der Persönlichkeiten in dem lebendig verkörperten
und wirksam gemachten ideellen Gehalte liegt, werden diese
wieder zu Organen, Quellpunkten, Fortleitern der Idee, die
eine überindividuelle Lebenskraft und Eigentendenz besitzt.
Mir scheint diese Auflösung des Gegensatzes ganz richtig, wenn
ich auch hinzufügen möchte, daß es schwierig ist, die Idee des
Christentums als einheitüches Entwicklungsprinzip der christ-
lichen oder wenigstens relativ christlichen Kulturwelt zu formu-
lieren. In Wahrheit hat das noch niemand in einer historischen
Darstellung befriedigend durchführen können.
Diese Schwierigkeit weist auf den Einwand oder die Ergän-
zung hin, die ich zu K.s Ausführung für meine Person machen
müßte. Was K. gibt, ist ein durch und durch , .ideologisches"
Prinzip der Geschichtsforschung. Es ist etwas Berechtigtes daran,
Allgemeines. 139
besonders wo es sich um eine so ideelle Bewegung wie die christ-
liche Religion handelt. Aber wie eine solche Ideologie z. B. auf
dem politischen Gebiet nicht durchführbar ist, so ist sie auch
auf dem religiösen Gebiete nur bedingt durchführbar. Die Kau-
salität der Geschichte ist da zu sehr als rein logisch-ideelle Ent-
wicklungstendenz gefaßt wie bei Hegel. In Wahrheit zeigt
bei einer näheren soziologischen Beleuchtung die Idee ihre starke
Beeinflussung durch die aus ihr hervorgehenden Gemeinschafts-
bildungen, Organisationen und Institutionen. Es liegen in ihr,
d. h. in der christlichen, verschiedene Möglichkeiten solcher Selbst-
organisation, sie haben rückwirkend die Idee aufs tiefste bestimmt.
Das Einteilungsprinzip für die Ordnung der christlichen An-
schauungen liegt in erster Linie in den aus der Idee hervorgehenden
Gemeinschaftsformen und in deren Rückwirkung auf die Idee.
Dazu kommt dann weiter, daß der von der religiösen Idee be-
herrschte oder zu erobernde Boden bereits mit den soziologischen
Bildungen des Staates, der Wirtschaft, der Familie, der Gesell-
schaft besetzt ist, die der religiösen Idee nur eine sehr bedingte
Auswirkung möglich machen oder sie in bestimmte Richtungen
lenken. Hier ergeben sich Wechselwirkungen, die die stärkste
Bedeutung für die wirkliche Entwicklung haben und die erst
im Zufall des Zusammentreffens ganz verschiedener, voneinander
ursprünglich unabhängiger Bildungen begründet sind. Die ge-
danklichen Darstellungen von Dogma und Ethik sind dadurch
natürlich nicht ausschließlich, aber doch in weitem Umfang be-
dingt. Das rein Ideologische und das Soziologische liegen fort-
während ineinander, bald mehr mit dem Übergewicht des einen,
bald mehr mit dem des anderen. Ich habe diesen verwickelten
und jedesmal von Fall zu Fall zu klärenden Tatbestand in meinen
„Soziallehren" darzustellen versucht. Auch Harnack hat doch
nicht bloß die Persönlichkeiten, sondern vor allem die Institutionen
gegen die bloße Ideologie geltend gemacht, womit freilich nur
erst ein Teil des hier vorliegenden Problems in Arbeit genommen
ist. Damit aber ist etwas in die historischen Kausalitäten ein-
geführt, das weder Idee noch Persönlichkeit ist, sondern in dem
Naturgesetz der soziologischen Selbstgestaltung alles Ideellen
und in dem historischen Zufall des Aufeinanderstoßens und
Verschmelzens dieser verschiedenen Bildungen begründet ist.
K. hat nun dieses soziologische Element allerdings nicht über-
140 Literaturbericht.
sehen, aber er hat es in eine m. E. irrtümliche Beleuchtung ge-
bracht, wenn er in dem Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe
oder Masse, d. h. in den dieses ausdrückenden soziologischen
Begriffen, nur eine Umformung des alten Verhältnisses der Per-
sönlichkeit und Idee erkennt, S. 42: „Deutlich steckt hinter
dem neuen Begriff der Masse der alte der Idee." Nein, ganz und
gar nicht. Die Idee W. v. Humboldts und Hegels ist ein seine
eigene innere Dialektik besitzender Gedanke, der diese Dialektik
im einzelnen und in Massen entfalten kann, der aber immer
einen in ihm enthaltenen Zwecktrieb auswirkt. Die soziologischen
Gesetze dagegen sind psychologische Naturgesetze, die aus der
Spaltung der Seele in Eigenleben und Wechselbeziehung folgen
und die mit dem ideologischen Element die allerkompHziertesten
Verhältnisse eingehen, die es jedesmal von Fall zu Fall in ihrer
gegenseitigen Bedingtheit aufzuhellen gilt. Unter diesen Um-
ständen ist es aber dann kaum möglich, für eine so komplizierte
Erscheinung wie das Christentum eine leitende Idee zu finden,
die den ganzen historischen Komplex in dauernder organischer
Entwicklungsnotwendigkeit umspannte. Die „Notwendigkeit der
Idee" findet nicht bloß, wie auch K. sagt, an der „Freiheit" der
Persönlichkeit ihre Grenze, sondern auch an den soziologischen
Gesetzen und an dem historischen Zufall zusammenstoßender
verschiedener Entwicklungslinien und Gesamtverhältnisse.
Schränkt sich von dieser Seite her die allzu ideologische
Auffassung der Religionsgeschichte ein, so zeigt sich etwas Ähn-
liches in K.s eigener Ausführung über die Idee, die er beständig
mit historischen Gesetzen zusammenfaßt. So unterscheidet er
„Formalideen" und „Materialideen". Die Formalideen sind ihm
dauernde Formen historischer Gestaltung, wie Drama, Epos,
Lyrik, oder, auf dem Gebiete der Religion, wie Sakrament,
Kultus, Symbol. Die Materialideen sind die eine inhaltliche
Entwicklungstotalität hervortreibenden und zusammenhalten-
den geistigen Triebkräfte. Allein nur das letztere ist Idee im
Hegeischen und Humboldtschen Sinne und als solche sicher-
lich eine der vielen historischen Kausalitäten. Jene Formal-
ideen aber sind allgemeine, bei verschiedenstem Inhalt wieder-
kehrende Formen oder, wenn man will, Naturgesetze. Sie gehören
einer völlig anderen Kategorie historischer Begriffe an, jener
von Rickert so genannten Mischkategorie aus allgemeiner und
Allgemeines. 141
individualisierender Begriffsbildung. Man darf beides durchaus
nicht unter einen Begriff bringen; es wäre derselbe Fehler wie
der, die überindividuelle Triebkraft der Idee und die soziologi-
schen Gesetze der Gruppenbildung und des Massenlebens zu
identifizieren.
Die Reihe der historischen Kausalitäten ist damit nicht zu
Ende; aber davon ist hier nicht zu reden, da K. weitere nicht
berührt. Jedenfalls ergibt sich aber schon aus dem Bisherigen,
daß die Betrachtungsweise K.s einseitig ideologisch ist und
in dieser Einseitigkeit auch nicht einmal auf dem Gebiete der
Religionsgeschichte durchgeführt werden kann. Die Parole
„Zurück zu Hegel" kann ich, wie alle ähnlichen Rückwärtsparolen,
nicht für glücklich halten. Wir sollten lieber vorwärts zu uns
selber kommen, was ja wohl auch im Grunde K.s Meinung ist,
da seine Aufstellungen von der Hegeischen Metaphysik, dem
Untergrund seiner Geschichtstheorie, doch nicht allzuviel stehen
lassen.
Heidelberg. Troeltscfi.
Jahresberichte der Geschichtswissenschaft. Im Auftrage der
Historischen Gesellschaft zu Berlin herausgegeben von
G. Schuster. 30. bis 33. Jahrg., 1907-1910. Jedesmal vier
Teile in zwei Bänden. Berlin, Weidmannsche Buchhand-
lung. 1909—1912. 410, 574, 468, 322; 258, 483, 427, 300; 284,
566, 461, 253; 275, 586, 369, 351.
Bis zu Jahrg. 1906 ist über die Jahresberichte der Geschichts-
wissenschaft in Bd. 103 (S. 565 ff.) der Hist. Zeitschr. berichtet
worden. Die seitdem erschienenen Bände geben zur Wieder-
holung der früher ausgesprochenen Klage Anlaß, daß eine beträcht-
liche Zahl von Referaten nicht geliefert worden ist; anderseits
ist auch von mancher interessanten neuen Erscheinung zu reden.
Es spiegelt sich in der Geschichte der „Jahresberichte" die all-
gemeine Entwicklung der Geschichtswissenschaft wieder: ein
starker Ausbau der einzelnen Teile unserer Disziplin und die
Schaffung neuer Spezialgebiete; demgegenüber eine relative
Verminderung der Publikationen allgemeinen Inhalts. Nicht eine
absolute Verminderung; manches neue Unternehmen, das sich die
Zusammenfassung großer Perioden oder Materien zum Zweck
142 Literaturbericht.
setzt, tritt ja hervor; wir i<önnen sogar einen Fortschritt in dieser
Hinsicht gegenüber früheren Jahren verzeichnen. Aber im ganzen
ist doch der Ausbau der Spezialgebiete stärker, fast verwirrend
stark. So ist es denn z. B. charakteristisch, daß ein so zentrales
Kapitel wie die griechische Geschichte zwar in Abteilungen zer-
legt, aber in der einen Abteilung nur selten, in der andern seit
sehr langer Zeit gar nicht bearbeitet worden ist, daß ferner die
Spalten für unsere mittelalterlichen Kaiser zurzeit leer stehen,
während der Geschichte der drei Hansestädte seit dem Jahrg. 1905
je ein besonderer Paragraph gewidmet und dieser regelmäßig und
mit Feuereifer bearbeitet wird. Auch sonst (so bei der Kirchen-
geschichte) bemerkt man die zunehmende Teilung der Arbeit. Man
könnte einen Widerspruch zu unserer obigen Bemerkung darin
sehen, daß die Spezialgebiete der Paläographie und Diplomatik seit
unendlich langer Zeit unbearbeitet gebUeben sind. Allein diese
Spezialgebiete spalten sich allmählich wieder in Unterabteilungen
(besonders die Diplomatik), so daß schon viel dazu gehört, das
ganze Gebiet zu beherrschen. Sodann Hegen die Berichte über
Paläographie und Diplomatik in der Hand von Forschern, die
mitten in einer durch die mannigfachsten Anforderungen an-
gespannten Arbeit stehen. Es wird sich wohl als zweckmäßig
empfehlen, für die Referate jüngere Kräfte heranzuziehen, wie
ja auch das Rezensieren im Lauf der letzten Jahrzehnte mehr
und mehr Arbeit der Jüngeren geworden ist. Jahrg. 1910 (IV,
S. 46 ff.) bringt, nach sehr langer Wartezeit, die angenehme
Überraschung eines Referats über Philosophie und Methodologie
der Geschichte, von E. Bleich. Die fehlenden Jahrgänge bis
1908 hat der Verf. nicht nachgeholt, sondern auf die in diesem
Jahr erschienene neue Auflage von Bernheims Lehrbuch ver-
wiesen und erst von da an sein Referat erstattet. Dies Verfahren
wird bei der Diplomatik demnächst gewiß ähnlich anzuwenden
sein. Beachtung verdient es, daß in das Referat über Philosophie
und Methodologie der Geschichte einige Dinge aus dem über Kultur-
geschichte übernommen worden sind (s. Jahrg. 1910, IV, S. 56u.64;
ebenda S. 56 Z. 2 lies statt 31 11:31 IV): nämlich die „soziolo-
gische" Literatur und die über die Geschichte der neueren Hi-
storiographie. Dies ist durchaus zweckmäßig; künftig sollte man
es aber auch direkt in der Überschrift des Referats zum Aus-
druck bringen, daß es die Entwicklung der Historiographie mit
Allgemeines. 143
berücksichtigt, zumal die Beschäftigung mit den historiographi-
schen Fragen eine fortschreitend größere Ausdehnung annimmt.
Die Zusammenstellung „soziologischer" Arbeiten erfolgt natür-
lich wesentlich mit Rücksicht auf das im Titel der Schriften vor-
kommende Wort „soziologisch". Eine besondere Disziplin „So-
ziologie" zu konstruieren, ist ja ganz unmöglich; wir treiben alle,
Philologen, Theologen, Juristen, Nationalökonomen, Historiker,
„Soziologie", und auch wer sich mit Kriegsgeschichte beschäftigt,
treibt sie.^) Was unter dem Titel „Soziologie" vorgebracht wird,
ist (falls es überhaupt etwas ist) entweder Geschichtsphilosophie
oder andersartige Philosophie oder Nationalökonomie usw. Es
wäre wünschenswert, wenn in jenem Referat die besondere
Firma „Soziologie" fortfiele und die betreffende Literatur unter
den speziellen Kategorien behandelt würde.
Im Hinblick auf den Umstand, daß regelmäßig so viele Re-
ferate ausbleiben und auch sonst Unregelmäßigkeiten in der
Berichterstattung vorkommen, hat man mancherlei Abänderungs-
vorschläge für die Organisation der Jahresberichte vorgeschlagen
(vgl. z. B. 0. Kende, Deutsche Literaturzeitung 1909, Sp. 3247 f.;
1911, Sp. 2796 f.; 1912, Sp. 2863 ff.). Indessen dürfte die Bes-
serung, wie auch oft im politischen Leben, weniger durch die
Änderung der Verfassung als durch die Wahl geeigneter Per-
sönlichkeiten zu suchen sein. Wenn man z. B. ein passendes
Mittel der Abhilfe darin gesehen hat, daß Referate über bestimmte
Gebiete abwechselnd nur jedes zweite Jahr gebracht werden,
so kommt die Praxis ja oft genug darauf hinaus. Einen Grundsatz
daraus zu machen, dürfte sich aber schon deshalb nicht emp-
') Als ich im Jahre 1903 in die Redaktion der Vierteljahr-
schrift für „Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" eintrat, hat mir
selbstverständlich der Titel „Sozialgeschichte" Gedanken gemacht.
Ich lege mir diesen Titel indessen so zurecht, daß dadurch über
das Gebiet der Wirtschaftsgeschichte hinaus ein etwas weiterer
Rahmen gesichert werden soll. Natürlich aber erhält die Zeit-
schrift ihren eigentlichen Charakter durch das Wort Wirtschafts-
geschichte. Im übrigen verweise ich zur Frage der Soziologie
auf meine Bemerkungen in H. Z. 106, S. 103 Anm. 1. Vgl. dazu
auch Vierkandt, Deutsche Literaturzeitung 1912, Nr. 16, Sp. 1010,.
der das Recht der Einzelwissenschaften gegenüber den „sozio-
logischen Systemen" betont.
144 Literaturbericht.
fehlen, weil doch mancher Referent im nächsten Jahr vielleicht
zu leisten verhindert ist, was er im ersten noch bieten konnte.
Noch weniger möchten wir dem Vorschlag beistimmen, verwandte
Berichtseinheiten in größere Berichtsabschnitte zusammenzu-
ziehen. Sachlich ließe sich ja einiges dafür anführen (so die Ver-
meidung von Wiederholungen). Aber es würde die Schwierig-
keiten, Referenten zu finden, erhöhen, da sich nun einmal überall
die Neigung der Beschränkung auf ein engeres Gebiet beob-
achten läßt. Es wird wohl (was freilich eine nicht leichte Auf-
gabe ist) nur übrig bleiben, durch die Auswahl der Persönlich-
keiten Abhilfe zu schaffen, wobei, wie vorhin angedeutet, im
Zweifelsfall der jüngeren Kraft der Vorzug zu geben wäre.
Um ein paar Einzelheiten zu berühren, so sollte in dem
Referat über Italien, da der Text deutsch gegeben wird, konse-
quenterweise auch in den Anmerkungen die deutsche Sprache
angewandt werden (vgl. Jahrg. 1909, III, S. 455 ff.). An den
Referaten „Ottonen und Salier" hat S. Hellmann in Hist. Zeitschr.
105, S. 564 ff. Kritik geübt. Gar zu sehr mit lobenden Prädikaten
wirft Spatz in seinem Referat über Brandenburg um sich (vgl.
Jahrg. 1910, II, S. 468 ff.), mitunter so, daß der Verf. die herge-
stellte Beziehung abzulehnen geneigt sein kann (S. 472 bei Anm.21).
Den Jahresberichten ist eine mehr der Sache als den Personen
gewidmete Darstellung angemessen. In den Referaten über die
drei Hansestädte zeigt sich, wie bemerkt, viel schöner Eifer.
Aber das Referat über ein Buch zu einer eingehenden Rezension,
mit Notierung kleinerer Versehen, zu erweitern (so Ohnesorge,
Jahrg. 1909, II, S. 478 ff.), ein solches Verfahren halten wir nicht
für praktisch, wenn wir auch jede Art der Belehrung an sich be-
grüßen. Eine Forderung, die wir schon früher aufgestellt haben
und die inzwischen von anderer Seite unterstützt ist, möchten
wir wiederholen, nämlich die, die Angabe der namhafteren Re-
zensionen obligatorisch zu machen. Um nur ein Beispiel heraus-
zugreifen, wie sehr würde sich der Referent in Jahrg. 1907, II,
S. 40 f. die Benutzer zu Dank verpflichtet haben, wenn er zu der
Arbeit von Rörig über die Landeshoheit des Trierer Erzbischofs
die Rezension von Rietschel, Vierteljahresschrift f. Soz. u. Wirt-
schafts-G. Bd. 5, S. 335 ff. notiert hätte! Es steckt doch eben
in einer Rezension oft ebensoviel Aufklärung wie in einer langen
Abhandlung.
Allgemeines. 145
Dem Referat über Philosophie und Methodologie der Ge-
schichte, das nach langer Wartezeit wieder auftaucht (Jahrg. 1910,
IV, S. 46 ff.), möchte ich einige Worte widmen. Dem Widerspruch,
den der Ref. Diethers Buch „L. v. Ranke als Politiker" entgegen-
setzt, trete ich durchaus bei, wie ja auch schon Meinecke Wider-
-spruch erhoben hat (Weltbürgertum und Nationalstaat, 2. Aufl.,
S. 281 Anni. 1). Der begabte Autor ist hier doch leider einen Irr-
weg gegangen. Aus dem 18. Jahrhundert, dem Diether Ranke
wesentlich zuweisen will, ist dieser m. E. gar nicht zu erklären.
Zu den Bemerkungen des Ref. über Lamprechts Geschichtsauf-
fassung ist jetzt die eingehende Kritik der letzteren von Brandi,
Gott. Gel. Anz. 1912, Nr. 11, S. 652 ff., hinzuzunehmen. Es ist
darin sehr richtig auf den Kernpunkt des ganzen Streits, die Frage
der Einheit der Kultur, hingewiesen und im Zusammenhang damit
wird mit vollem Recht der beschränkte Wert der vergleichenden
Methode (S. 662 und 666; vgl. dazu meine Bemerkungen in der
Histor. Vierteljahrschrift 1904, S. 61 f.) betont. W. Goetz hat
in der „Frankfurter Zeitung" 1912, Nr. 97 (7. April 1912) bei
mannigfacher kritischer Beanstandung Lamprecht doch den Titel
eines „Bahnbrechers" im Hinblick auf den umfassenden Plan
seiner „Deutschen Geschichte" zuerkennen wollen. Meines Er-
achtens kann Lamprecht dieser Titel eben deshalb nicht zuerkannt
werden, weil er das hier in Betracht kommende Problem, das der
Stoffabgrenzung, nicht gelöst hat. Friedjung, Österreich von
1848 bis 1860, II, 1, S. 305, bemerkt, von der Kunst und der
Literatur bringe er bloß dasjenige zur Sprache, was mit dem Leben
des Staats näher zusammenhänge. Dies Bekenntnis des Praktikers
der Geschichtsschreibung sollten sich die Geschichtstheoretiker
zu Herzen nehmen; und dabei ist Friedjung geneigt, den Rahmen
seiner Darstellung so weit wie möglich zu spannen. Die Frage, in
welchem Maß die verschiedenen Seiten der Kultur in der Dar-
stellung der Geschichte eines Volks zu berücksichtigen sind,
ist eben von Lamprecht noch nicht vorbildlich beantwortet worden.
Es muß doch immer von neuem daran erinnert werden, daß Ge-
schichtsdarstellung und Konversationslexikon sich in ihren
Zwecken nicht decken (vgl. Hist. Zeitschr. 106, S. 96 ff.). S. Hell-
mann hat in seinem Vortrag „Wie studiert man Geschichte?"
(Lpz. 1911) S. 48 von D. Schäfers „Deutscher Geschichte" mit
besonderer Rücksicht auf die darin enthaltene Beschränkurig
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 10
146 Literaturbericht.
auf die politische Geschichte erklärt, sie „gibt kein wirkHches
Bild der Geschichte und bedeutet einen Rückschritt". Diese Be-
urteilung hat schon F. Kern, Deutsche Literaturzeitung 1912,
Nr, 29, Sp. 1801 abgelehnt. Man sollte Geschichtswerke nie ein-
seitig vom Standpunkt der Orthodoxie der Methode aus beurteilen.
Aber ist denn die Methode, die Hellmann für die Stoffauswahl
empfiehlt, einwandfrei? Die Bemerkung Friedjungs und die
Ausführungen Brandis über die Frage der Einheit der Kultur
sollten ihn zu einer Erwägung darüber veranlassen, daß man von
den „Grundlagen der staatlichen Entwicklung" doch nicht mit
der Sicherheit sprechen darf, wie er es tut. Leider macht man
noch oft die Beobachtung, daß der Widerspruch gegen die „po-
litische" Geschichtschreibung auf einen politischen oder besser
unpolitischen Parteistandpunkt zurückgeht (vgl. Gott. Gel. Aoz.
1892, S. 280 ff.).
Eine besondere Erwähnung verdienen die Referate über all-
gemeine deutsche Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte (zuletzt»,
Jahrg. 1909, II, S. 152 ff., von Tuckermann, über die Zeit seit
1500, freilich erst für die Jahre 1904 — 1905), da auf diesem Ge-
biet die Literatur wohl relativ am stärksten gewachsen ist. Ver-
fassungs- und wirtschaftsgeschichtliche Arbeiten werden natürlich
auch noch in vielen anderen Referaten erwähnt, so in dem über
Kulturgeschichte und über hansische Geschichte. Das letzte
Referat über Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte erfüllt in
stärkerm Maß die Forderung der Verzeichnung der Rezensionen,
ebenso das über hansische Geschichte und erfreulicherweise noch
mehrere andere.
Freiburg i. B. G. v. Below.
Wilhelm von Tyrus und der Templerorden, mit 6 Abbildungen,.
5 Stammtafeln aus einer Tafel der nachweisbaren Templer-
meister bis 1182. Von Prof. Lic. Dr. Friedrich Lundgreen.
(Histor. Studien, veröffentlicht von E. Ehering. Heft 97.)
Berlin, Ehering. 1911. 199 S.
Zu den kritischen Untersuchungen, die in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts Sybel, Jaffe, Streit, Kugler, Prutz und
im Jahre 1904 auch Holder- Egger über eine der bedeutendsten
geschichtlichen Arbeiten des Mittelalters, über die Historia rerum
Mittelalter. 147
in partibus transmarinis gestarum des Erzbischofs Wilhelm von
Tyrus veröffentlicht haben, ist nunmehr auch mit vollem Rechte
obige Schrift Lundgreens zu zählen. In ihr wird mit Umsicht
und Geschick auf Grund der Mitteilungen Wilhelms in seiner
Historia und im Vergleiche zu anderweitigen Quellen dessen
Ansicht über den Templerorden und dessen zu diesem eingenom-
mene Stellung dargelegt, die Art und Weise, wie und inwieweit
er vorhandenes Quellenmaterial zur Geschichte dieses Ordens in
seiner Historia verwertet hat, aufgezeigt und efn Thema behandelt,
das bisher in gleich eingehender Weise noch nicht zur Darstellung
gebracht worden ist. Der Verfasser kommt in seiner Unter-
suchung zu folgendem Resultate: Wilhelms Bericht von der
Entstehung des Ordens sowie seine Nachrichten über die Be-
teiligung des Ordens an den Zeitereignissen bis zum Jahre 1182
seien lückenhaft, bisweilen unklar und entstellt oder gar falsch.
L. macht ihm zum Vorwurf, daß er fast nichts von der Ordens-
regel von Troyes und gar nichts von der Exemtionsbulle vom
17. Februar 1154 mitteile. „Hätte Wilhelm hinsichtlich des
Templerordens nur das zum tieferen Verständnis der allgemeinen
Geschichte unbedingt Notwendige geboten, so wären wir dankbar,
obgleich er noch viel mehr hätte mitteilen können. Aber am Ueb-
sten würde Wilhelm die Templer überhaupt nicht erwähnt haben.
Da dies nicht anging, gedachte er, die Entstehung des Ordens
mit wenig Worten abzutun. Er gibt die Frömmigkeit der Stifter
zu und erkennt die gute Absicht des Ordens in dessen erster Zeit
an. Aber nur widerwillig erwähnt er die Templer später, wenn
sie zu loben sind, dagegen verweilt er gerne bei ihnen, wenn er
sie verdächtigen kann, ohne sich selbst bloßzustellen." Des wei-
teren hat L. in seiner Untersuchung als Gründe von Wilhelms
unfreundlicher Stellung zum Templerorden folgende gefunden:
Nicht weil Wilhelm Häresie oder auch nur Keime von Häresie
im Orden gekannt hätte, sondern weil ihn als Staatsmann die
von weltlicher Macht unabhängige Stellung des Ordens befremdete,
sodann weil ihn als Bischof die Freiheit der Templer erbitterte,
weil der immer mehr auf Kosten der Weltgeistlichkeit wechselnde
Reichtum des Ordens Mißstimmung hervorrief und er mit seinem
Zeitgenossen, dem Templermeister Odo v. S. Amand, in Feind-
schaft lebte. Man wird im allgemeinen den von L. gefundenen
Resultaten die Zustimmung nicht versagen können: denn die
10*
148 Literaturbericht.
Wilhelmsche Art ist es, unliebsame Vorkommnisse nach eigenem
Geschmactce zu erzählen und nach Belieben selbst sichere Quellen-
nachrichten zu übergehen, wenn sie ihm ungeeignet erscheinen,
der Kreuzfahrer Ehre zu fördern. Immerhin aber ist nicht überall,
wo L. ihn wegen seiner lückenhaften Darstellung verantwortlich
macht in der Voraussetzung, daß er mehr hätte bieten können,
dieser Vorwurf sachlich begründet. Man mag bedauern, daß er
uns so wenig und so kurz nur über die Entstehung des Templer-
ordens Nachricht gibt, allein Wilhelm, der erst in den 70er Jahren
des 12. Jahrhunderts schrieb, hätte uns gewiß mehr über die
Entstehung des Ordens mitgeteilt, wenn er mehreres in Erfahrung
gebracht haben würde. Wie bedeutungslos aber die Anfänge
der Ritterorden den Gleichzeitigen erschienen sind, darüber
mag uns z. B. Fulcher belehren. Fulcher, der die Geschichte
des Königreichs Jerusalem bis zum Jahre 1127 beschrieben
und dessen Erzählung Wilhelm von Tyrus als eine seiner Haupt-
quellen für die ersten drei Jahrzehnte ausgiebig benutzt hat,
erwähnt des ca. 1120 gegründeten Templerordens mit keiner
Silbe. Wäre in der Tat die Vereinigung der angeblich neun Grün-
der des Ordens von besonderer Bedeutung gewesen, so würde
Fulcher hierüber nicht geschwiegen haben; er kennt nur milites,
die im Dienste des Königs gestanden sind. Außerdem ist auch
keine einzige Urkunde vor dem Jahre 1126 vorhanden, die uns
über die Entstehung des Ordens Genaueres bieten könnte. Die
Annahme, daß Wilhelm mehr darüber gewußt habe, als er mit-
teilt, ist kaum glaublich; viel näher liegt es, anzunehmen, daß er
trotz seiner Erkundigungen mehr über die Entstehung des Ordens,
als er in seiner Historia bietet, überhaupt nicht in Erfahrung
gebracht hat. Darin aber, daß L. die Gründung des Ordens,
entgegen der Mitteilung Wilhelms, der sie ins Jahr 1118 setzt,
wohl richtig im Jahre 1120 stattgefunden sein läßt, dürfte er
vollkommen recht haben. Höchst wahrscheinlich hat u. E. zu
dessen Gründung jenes von Albert. Aqu. XH, 23 mitgeteilte, so
traurige Ereignis die nächste Veranlassung gegeben, als an
Ostern 1120 eine große Schar Pilger — es sollen deren gegen
700 gewesen sein — auf dem Wege von Jerusalem nach dem
Jordan von Sarazenen überfallen und teils hingemordet, teils
gefangen weggeschleppt worden sind, welches Vorkommnis in
Jerusalem große Bestürzung hervorrief . Eine von König Balduin 11.
Mittelalter. 149
2iir Verfolgung der Sarazenen ausgesandte Rittcrabteilung erzielte
keinen Erfolg. Gerade der Mißstand des damals hervortretenden,
den Pilgern unzureichend gebotenen Schutzes wird ausschlag-
gebend zur Gründung des Ordens gewesen sein. Vorgesetzt ist
dem Buche ein ausführliches, 30 Seiten umfassendes Verzeichnis
der über den Templerorden und über Wilhelm von Tyrus han-
delnden Schriften, in dem übrigens das vor 5 Jahren erschienene
wichtige Werk von Stevenson, The crusaders in the east, nicht
genannt wird. In Beilagen liefert L. neben Stammtafeln der
Könige von Jerusalem und einem Verzeichnis der bis zum Jahre
1182 nachweisbaren Templermeister noch eine Untersuchung;
Aber die nach ihm in Übereinstimmung mit Schnürer ursprüng-
lich lateinisch abgefaßte Templerregel, worin er jedoch im Gegen-
satze zu Schnürer zu erweisen sucht, daß die spätere französische
Fassung der Templerregel keine auf Mißverständnissen beruhende
einfache Übersetzung des lateinischen Textes, sondern eine
Weiterbildung der Regel sei, was er in betreff des Verkehrs der
Templer mit Exkommunizierten, oder nach der lateinischen
Fassung verboten, nach der französischen aber gestattet und
empfohlen ist, des näheren begründet. Die zur Veranschaulichung
der ehemaligen Wohnung der Templer der Schrift beigegebenen
Lichtbilder (el Aksa-Moschee, Kubbet es-Sachra, Davidsturm,
Jaffator) sind vom Verfasser selbst auf einer Palästinareise an
Ort und Stelle aufgenommen.
Bödigheim. H. Hagenmeyer. -
Die oberschwäbischen Reichstädte. Ihre Entstehung und ältere
Verfassung. Von K. 0. Muller. Stuttgart, W. Kohlhammer.
1912. XX u. 447 S. (Darstellungen aus der Württember-
gischen Geschichte. Herausg. von der Württ. Kommission
für Landesgeschichte. 8. Bd.)
Die vorliegende Arbeit, die wir einem Schüler Rietschels
verdanken, gehört zweifellos zu den besten Monographien über
die Entstehung der Verfassung einzelner Städte. Müller vereinigt
in erfreulichster Weise juristisches Verständnis mit historischer
Methode und Vertiefung in den Quellenstoff. Seine Arbeit hat
aber um so größeren Wert, als er eine Gruppe von Städten, die
oberschwäbischen Reichsstädte, zum Gegenstand seiner Unter-
150 Literaturbericht.
suchung macht und so das, was er über den einen Ort zu sagen
hat, durch den Vergleich mit der übereinstimmenden oder ab-
weichenden Entwicklung der andern Orte in helleres Licht setzen
kann. Die Städte, von denen er handelt, sind: Ravensburg
(über welche Stadt am meisten zu sagen war), Memmingen, Kauf-
beuren, Überlingen, Leutkirch, Pfullendorf, Buchhorn, Biberach,
Isny, Kempten, Buchau, Lindau, Wangen. Zeitlich führt M.
die Entwicklung bis zu den Zunftkämpfen, etwa den Jahren
1360 — 1380. Für einige von jenen Orten lagen bereits umfang-
reiche Darstellungen vor, so vor allem für Lindau (S. Kellers
„Patriziat und Geschlechterherrschaft" und die in drei Bänden
erschienene, von einer Mehrzahl von Autoren bearbeitete „Ge-
schichte der Stadt Lindau"). Aber auch hier ist M. in der Lage,
noch Neues zu bieten. Ich möchte nun nicht über den Inhalt
seines Buches referieren, sondern im Anschluß an Betrachtungen,
in denen er die Ergebnisse seiner Untersuchungen zusammen-
faßt (S. 404 ff.), einiges über den Ertrag bemerken, den sein
Buch für die großen Fragen der Entstehungsgeschichte der deut-
schen Städte liefert.
M. bekennt sich, wie sein Lehrer Rietschel, zur „Markt-
rechtstheorie". Ich habe indessen schon in meiner Abhandlung
„Stadtgemeinde, Landgemeinde und Gilde" (Vierteljahrschrift f.
Sozial- und Wirtschaftsgesch. 1909, S. 414 ff.) darauf hinge-
wiesen, daß die Auffassung, die Rietschel vertritt, nicht eigent-
lich die Marktrechtstheorie ist, daß er vielmehr wesentliche oder
gar die wesentlichsten Stücke derselben preisgibt. Und auch bei
M. ist es im Grunde nur der Terminus Marktrechtstheorie, was
er verteidigt. Gegenüber der reinen und unverfälschten Markt-
rechtstheorie habe ich in meinem „Ursprung der deutschen
Stadtverfassung" (S. 86) nachgewiesen, daß es „nie ein besonderes
Marktgericht gegeben hat". Ganz in Übereinstimmung damit
konstatiert M. (S. 409): „Es gibt kein besonderes Marktgericht."
Damit aber ist der Kern der Marktrechtstheorie, welche die Ent-
stehung des Stadtgerichts aus einem besonderen Marktgericht
lehrte, beseitigt. Doch noch mehr! M. zeigt (S. 37 und S. 49
Anm. 4), daß das nahe bei Ravensburg gelegene Altdorf („das
alte Dorf", heute Weingarten) sich zu einem namhaften Wirt-
schaftsmittelpunkt entwickelte, ohne ein formelles Marktrechts-
privileg erhalten zu haben, ohne ein Marktrechtsort zu sein.
Mittelalter. 151
Es kam eine Zeitlang Ravensburg mindestens gleich, übertraf
diese Stadt wahrscheinlich sogar. Die Bewohner von Altdorf
werden in staufischer Zeit cives, der Ort burgum genannt.*) Man
sieht also, daß das Marktrecht die Sache nicht allein macht.
Man könnte Rietschels Auffassung statt Marktrechtstheorie fast
Ummauerungstheorie nennen, wie denn auch sein Schüler M.
hervorhebt, daß ein Ort dadurch noch nicht zur Stadt wird,
daß er einen Markt erhält, daß vielmehr die Ummauerung hinzu-
kommen müsse (vgl. hierzu M. S. 147; Rietschel, Markt und Stadt
S. 151 ; auch Bretholz, Gesch. Böhmens und Mährens S. 353).
Im übrigen wird es dabei bleiben, daß, wie ich dies stets betont
habe, eine Reihe von Kriterien bei dem Wesen der mittelalter-
lichen Stadt zu unterscheiden ist.
Meine Übereinstimmung mit M.s Darstellung könnte ich
noch an mehreren Punkten verzeichnen, so zu dem Satz (S. 409),
daß „die Existenz der Fronhof- und Lehengerichte vom Stadt-
gericht unberührt bleibt" (vgl. m. Ursprung S. 121 f.), zu der
Bemerkung (S. 412) über „die wohl keiner Stadt fehlende All-
mende", zu der Unterscheidung der Stadt als Gemeinde von
der Stadt als Gerichtsbezirk (S, 410). Wenn M. anderseits geltend
macht (S. 410), daß die Stadtgemeinde „sich in ihrer Organisation
von den Dorfgemeinden unterscheidet", so ist die besondere
Organisation der Stadtgemeinde doch erst Produkt allmählicher
Entwicklung. Wenn er ferner den bekannten Rietschelschen
Satz, daß die meisten Städte Gründungsstädte, nicht nach und
nach aus Dörfern erwachsen sind, durch neue Beispiele belegt,
so liegt darin ja keine Widerlegung der Landgemeindetheorie.
Der Kampf um diese kann im wesentlichen nur so ausgefochten
werden, daß man die Verhältnisse derjenigen älteren Städte
untersucht, die den Gründungsstädten als Muster gedient haben.
Zu diesen Problemen vgl. neuerdings den inhaltreichen Nachruf
von Alfred Schnitze auf Rietschel in der Zeitschr. der Savigny-
Stiftung, German. Abt., Bd. 33, S. VII ff. (s. auch H. Z. 110,
S. 234 ff.).
Freiburg i. B. G. v. Below.
') Altdorf verlor später seine wirtschaftliche Bedeutung, wie
es scheint, hauptsächlich deshalb, weil Ravensburg ihm in den
-Augen der höheren Instanzen den Rang abzulaufen verstand.
152 Literaturbericht.
Luthers theologische Quellen. Seine Verteidigung gegen Denifle
und Grisar. Von Alphons Victor Mfiller. Gießen, A.Töpel-
mann. 1912. XVI u. 244 S. 5 M.
Diese Schrift gehört zu den besten Arbeiten, die Denifles
Lutherwerk als Gegenschriften hervorgerufen hat. Und zwar
um deswillen, weil hier der Aufgabe, die durch Denifle die dring-
lichste der Lutherforschung geworden war, Luthers Verhältnis^
zum Mittelalter zu bestimmen, mit Energie und Originalität
nahegetreten worden ist. Dem Verfasser, der als ehemaliger
Dominikaner über eine gute Schulung verfügt, kommt die Kenntnis
der mittelalterlichen Fragestellungen und der Theologie des
15. Jahrhunderts ausgezeichnet zustatten, hier spürt man, was
die katholische Wissenschaft auf dem heiklen Gebiete der Luther-
forschung leisten könnte in der Herausarbeitung der mittelalter-
lichen theologischen Umwelt Luthers, anstatt, wie das Grisar
auch wieder getan hat, ihm immer wieder den Ketzerprozeß zu
machen! Wenn ich von den formellen Schärfen, die hier und da
ans Burschikose streifen und den Konvertitengroll, der zwar nicht
vornehm, aber wohl unvermeidlich ist, zu lebhaft verraten,
absehe, so hätte M. dieses Buch ebensogut als Dominikaner
schreiben können wie Denifle das seinige; es ist nur hundertmal
besser als dieses. Der durch das ganze Werk sich hindurch-
ziehende Grundgedanke ist der: Luther fußt auf einer im Augu-
stinerorden fortlebenden theologischen Tradition, als deren
Repräsentant namentlich Hervaeus erscheint, einer Tradition,
die damals keineswegs schon kirchlicherseits verworfen war,
vielmehr mitten im Kampfe stand, sogar auf dem Tridentinum
noch ihre Vertreter besaß. Die von Denifle z. B. Luther vor-
geworfenen Inkommentmäßigkeiten in der Klosterdisziplin sind,
historisch betrachtet, keine solchen, der Begriff „Mönchstaufe"
ist ein üblicher gewesen und von Luther ganz richtig bestimm!
worden, ebenso das katholische Lebensideal oder die Formel:
voveo regulam und die mönchische Absolutionsformel. Luthers
Ausführungen über die Ehe entsprechen der augustinisch beein-
flußten mittelalterlichen Theologie, Konkupiszenz und Erbsünde
sind nicht erst durch Luther identifiziert worden, und Luther
hat hier Augustin nicht gefälscht (das hatte übrigens schon
Saltet gesehen); endlich auch der berühmte, von Denifle als der
eigentliche Scheidepunkt zwischen Luther und der katholischen
Luther. 15i
Kirche gebrandniarkte Satz: die Konkupiszenz ist unüberwind-
lich, läßt sich vor Luther nachweisen, namentlich bei Pullus
und Roland (Alexander III.). In dieser Weise werden von M.
noch eine ganze Reihe von theologischen Begriffen Luthers vor-
geführt und dabei auf der einen Seite Denifle grobe Mißverständ-
nisse Luthers und Unrichtigkeiten nachgewiesen, auf der anderen
Seite Luther als eine mittelalterliche Tradition wiedergebend
und auf ihr fußend gekennzeichnet.
Das von M. beigebrachte Material ist auf alle Fälle sehr wert-
voll und beleuchtet manchen Punkt der Lutherschen Theologie
neu, versetzt der angeblichen Denifleschen Gründlichkeit einen
starken Stoß. An sehr vielen Stellen ist M. ohne weiteres zuzu-
stimmen. Dennoch habe ich einige Bedenken: es ist 1. mißlich,
daß die von M. namhaft gemachten Hauptquellen der Luther-
schen Theologie, wie Hervaeus z. B., m. W. niemals von ihm
zitiert werden. Wie ist das möglich, wenn sie wirklich Haupl-
quelle gewesen sind? In puncto servum arbitrium sind sie es
(gegen M.) sicherlich nicht gewesen, vielmehr die Nominalisten,
speziell Ockam. Ist vielleicht eine Schultradition anzunehmen,
die, ohne die Meister zu nennen, vorgetragen wurde? 2. Leidet
bei M. nicht Luthers Originalität? Und wenn nein, worin besteht
sie? Ist wirklich jene augustinische Schule ein Lutherus ante
Lutherum? Ich habe den Eindruck, daß zwar oft genug die
termini bei Luther und jenen Vorgängern stimmen, aber dabei
doch nicht die ganzen Systeme, daß vielmehr alte Formeln einen
neuen Sinn bei ihm gewinnen und er, wie ja anderweitig fest-
steht, in dem Gefühl, auf kirchlichem Boden zu stehen, gerne
traditionelle Formeln akzeptierte, sie aber einseitig verstand.
Es würde vor allem zu prüfen sein, ob jene Augustiner den Ver-
dienstbegriff ganz ausschalten oder ihn nicht trotz allen Redens
von der Gnade heimlich wieder einschmuggeln, was Luther
selbst nicht getan hat. Endlich 3. die Ausführungen über Luther
und die „neue Theologie der Lüge" sind der Ergänzung und Kor-
rektur bedürftig. Luther ist doch ein Anwalt der Notlüge ge-
wesen. (Näheres in meiner soeben erschienenen Schrift „Luther
und die Lüge" im 2. Teil.)
Zürich. W. Köhler.
154 Literaturbericht.
Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Fried-
rich Wilhelm von Brandenburg. 20. Bd.: Auswärtige Akten
IV (Frankreich) 1667 — 1688. Herausgegeben von Dr. Ferdi-
nand Fehling, Privatdozent an der Universität zu Heidel-
berg. Berlin, Georg Reimer. 1911. VI u. 1304 S.
Es ist nahezu ein halbes Jahrhundert verflossen, seitdem
"Simson den ersten Band jener Aktenstücke veröffentlichte,
welche die Beziehungen Brandenburgs zu Frankreich in dem
Zeitalter des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg
erläutern sollten. Simson hat in der Einleitung zu seiner Pu-
blikation die Schwierigkeiten geschildert, die ihm damals seitens
■der französischen Archivverwaltung bei seinen Forschungen be-
reitet wurden, und die ihn schließlich nötigten, seine Arbeit mit
dem Jahre 1667 abzubrechen. Daß derartige Bedenken heute in
Paris nicht bestehen, daß das französische Ministerium der aus-
wärtigen Angelegenheiten wie dessen Archivverwaltung wissen-
schaftliche Arbeiten vielmehr in liebenswürdigster Weise fördern,
hebt Fehling, der nunmehr die Beziehungen Brandenburgs und
Frankreich in den Jahren 1667 — 1688 aktenmäßig schildert,
mit aufrichtigem Danke hervor. Allerdings wird man heute der
Veröffentlichung dieser Aktenstücke nicht jene hohe Bedeutung
zusprechen können, die ihr zweifelsohne vor einem halben Jahr-
hundert beigemessen worden wäre. Denn in dieser langen Reihe
von Jahren sind die betreffenden Aktenbestände des französischen
Archives oft durchforscht worden; am eingehendsten von den
französischen Forschern Waddington und Pages sowie von den
deutschen Historikern Prutz und Fehling. Auf die Bedeutung der
Arbeiten Waddingtons und Pages hat Ref. in dieser Zeitschrift
hingewiesen. Namentlich das Werk des letzteren Schriftstellers
„Le grand electeur et Louis XIV. i66o — 1688'\ auf den umfassend-
sten archivalischen Studien aufgebaut und den ganzen Zeitraum
der vorliegenden Publikation umfassend, mindert die Bedeutung
dieser um ein wesentliches. Die Berichte Rebenacs, weitaus die
umfangreichsten und interessantesten der ganzen Reihe, aus
den Jahren 1680 — 1688, sind überdies von Prutz und Fehling in
umfassenden Arbeiten verwertet worden. Schließlich hat F. in
einer kleinen aber wertvollen Schrift „Die europäische Politik
des Großen Kurfürsten 1667 — 1688"^) auf Grundlage der nunmehr
') Leipzig, Quelle & Meyer. 1910.
17. Jahrhundert. 155
veröffentlichten Aktenstücke den seit Erdmannsdörffer oft ge-?
führten Nachweis dafür wiederholt, daß Friedrich Wilhelm in
erster Linie brandenburgischer Herrscher war und von diesem
beschränkten, aber sicherlich notwendig beschränkten und für
das von ihm beherrschte Volk vorteilhaften Standpunkte aus
die auswärtige Politik seines Staates geleitet hat, F. hat daher
mit vollem Rechte darauf verzichtet, in den Einleitungen zu den
acht Abteilungen, in die die vorliegende Publikation zerfällt,
eine ausführliche Darstellung der Beziehungen Brandenburgs
und Frankreichs zu geben, und sich damit begnügt, einige dem
Verständnisse der mitgeteilten Akten dienende Bemerkungen
zu machen. Bietet daher, wie aus dem Gesagten hervorgeht,
die Arbeit F.s wenig Neues zur Erkenntnis der Richtlinien der
kurfürstlichen Politik in den Jahren 1667 — 1688, so entschädigt
dieselbe durch eine Fülle wertvoller Details, und zwar nicht nur
über die auswärtige Politik Friedrich Wilhelms sondern auch zur
Charakteristik des Kurfürsten und seiner Umgebung. Für die von
Pagfes in einer interessanten Sonderschrift schon erörterten
Frage der „Gratifikationen", die Ludwig XIV. im Interesse seiner
auswärtigen Politik spendete, enthält die vorliegende Publikation
sehr merkwürdige Belege (vgl. u. a. S. 88 f., 200 ff., 229 ff., 897 ff.).
Nicht minder wertvoll sind die zahlreichen Erörterungen der fran-
zösischen Gesandten über die Differenzen im kurfürstlichen
Hause (vgl. insbesondere S. 399, 475 ff., 524, 633 a. a. 0.), nament-
lich auch die Mitteilungen Rebenacs über seine und der Kur-
fürstin Bemühungen, Friedrich Wilhelm bei der Abfassung der
Testamente zu beeinflussen (vgl. u. a. 798 ff.). Ferner mag auf
die interessanten Nachrichten über den Tod des Markgrafen
Ludwig (S. 1213 f.) verwiesen werden. Wenn Rebenac unter dem
4. September 1685 (vgl. S. 1022) an Ludwig XIV. berichtet,
daß der Wiener Hof „propose meme un quartier de pays qu'on
uppelle le Schwiebus", so wird man an der Glaubwürdigkeit dieser
Nachricht zweifeln dürfen; jedenfalls aber hat der kaiserliche
Gesandte am Berliner Hofe, Fridag, damals diesen Antrag nicht
gestellt. Daß übrigens Rebenac, zumal seit dem Ende des Jahres
1685, nicht mehr so gut über die Pläne des kurfürstlichen Hofes
orientiert war, wie vorher, ist schon von verschiedenen Forschern
betont worden. Die Lektüre der vorliegenden Publikation be-
stätigt diese Anschauung. Vgl. u. a. seinen Bericht d.d. 19. Febr.
156 Literaturbericht.
1686, S. 1088 ff., wo er bezüglich des bald darauf — 22. März
1686 — abgeschlossenen Geheimvertrages zwischen Friedrich
Wilhelm und Leopold I. schreibt: „je ne vois aucun fondement
solide ä ce bruit. II n'y a pas mime la moindre vraisemblance" .
Am 23. März, nach erfolgtem Abschlüsse, spricht er (p. 1094 ff.)
noch von Gerüchten einer geplanten engen AUianz. In der Edi-
tionsmethode ist F. in gewissenhaftester Weise dem erprobten
Beispiele seiner Vorgänger gefolgt.
Wien. A. Pribram.
Der Aufklärer Friedrich Nicolai. Von Karl Aner. Gießen, Alfr.
Töpelmann. 1912. (Studien zur Geschichte des neueren
Protestantismus, 6. Heft.) 196 S. 6 M.
Friedrich Nicolai, der „Typus der deutschen Popularaufklä-
rung" des 18. Jahrhunderts, ist für die populäre Ansicht des 19.
zum Typus des anmaßlichen Philisters geworden. So hatten ihn
die Xenien, so Fichte gezeichnet. Unter den schärferen Linien
der Satire war das Urbild verschwunden. Nicolai erwarb sich als
Buchhändler eine bedeutende Übersicht über die Beziehungen des
wirtschaftlichen Lebens zum literarischen, als Verleger und
Herausgeber eines kritischen Journals verfügte er über die Fülle
der Bibliographie, als bürgerlicher Schriftsteller erging er sich
in der Breite des Ausdrucks. Seine Welt war sauber gegliederte
Fläche; es fehlte ihm die Empfindung für das Zusammenfassende,^
das zugleich höher und tiefer führt; er bemerkte gar nicht den
Abstand seines geistigen Vermögens von irgendeinem anderen.
Im stehenden Gleichgewicht seiner Bildung konnte er ein schwe-
bendes nicht auffassen. Wollte er also Gefahren beschwören
im Angesicht des Wertherfiebers oder der Ansprüche des Fichte-
schen Idealismus, so sah er nicht, daß Goethe wie Fichte den Aus-
gleich ihrer Schwingungen durch ihren Genius verbürgten. Es.
war ein Unrecht, Nicolai nur aus der Stimmung jener Zusammen-
stöße zu betrachten. Damals stritt Resultat gegen Problem,
Gemeinverstand und gemeiner Nutzen gegen vordringende ein-
same Idee; jetzt darf uns Nicolai selbst Problem werden, und
da finden wir „die feste Bestimmtheit seiner Naturanlage"
(Hettner) mit ihrer ,, gesunden Vernunft" auf demselben Wege,
den die Klassiker vorauseilend beschritten haben. Es ist erstaun-
18. Jahrhundert. 157
lieh, wie vielfältig Nicolai eine begrenzte Menge verhärteter Be-
griffe zur Kennzeichnung der Gegenstände zu setzen weiß und wie
sicher dieser Schematismus den Reisenden durch Deutschland
zu fruchtbaren Beobachtungen leitet. Nicolai kämpfte um
solch kostbaren Besitz; er glaubte den Ertrag der Wolffschen
Schule durch die neuen Fragstellungen gefährdet, und er täuschte
sich nicht. Wir sind bis heute nicht wieder zu jener Gewißheit
des Rationalismus gelangt, die alles Leben und alle Praxis mit ge-
ordneten Gedanken erfüllt. Goethe und Kant haben uns gelehrt,
von diesen Gedanken mehr zu verlangen, aber die Forderung eines
festen Verhältnisses der Breite zur Tiefe bleibt bestehen. Es ging
Nicolai um die Einheit, die er in sich fühlte und dem mühsam auf-
strebenden Bürgertum gewinnen wollte. Diese politische Wür-
digung Nicolais hat Karl Aner weit gefördert. Er schildert den
Lebensgang und in der „theologischen Gedankenwelt" die ethische
Richtung Nicolais; schließlich erfahren wir, wie der „Sebaldus
Nothanker" ins Publikum hinein gewirkt hat. A. hat sehr gründ-
lich gearbeitet; über der Durchsicht des ungedruckten Brief-
wechsels auf der Königlichen Bibliothek ist ihm Nicolai ans
Herz gewachsen. — Volkstümliche Aufklärung hat als solche etwas
Unpersönliches. Wenn wir den einzelnen Aufklärer von seiner
Gemeinde loslösen, so steigern wir ihn durch die Absonderung.
Ein Nicolai wird über sich hinaus vergrößert, wenn man den Be-
weggründen seiner Theologie nachspürt, als handle es sich um
Lessing. Auch bringt A, ein mittelmäßiges Ingenium manchmal
zu nah an höhere Geister heran. Aber im ganzen beschreibt er
doch richtig Aufklärung und Klassizismus als einheitlichen
„Gebirgszug". — Historischen Sinn freilich möchten wir der
Aufklärung nicht unbedingt zusprechen. Hat auch Nicolai in
den Untersuchungen über den Templerorden „Geschichte um
ihrer selbst willen" getrieben, so ist doch „antiquarisch" noch
nicht „historisch", und bei der Historie gehört die Form der Dar-
stellung zur Sache. — In jedem Falle begreifen wir die Auf-
klärung jetzt auch in ihren durchschnittlichen Vertretern. Wir
werden dieses Zeitalters mächtig, nun wir aus seiner Schule ent-
lassen sind.
Gießen. R. A. Fritzsche.
158 Literaturbericht.
Napoleon I. Sein Leben und seine Zeit. Von Friedrich M. Kirch-
eisen. 1. Bd. München und Leipzig, Georg Müller. 1911.
XII u. 482 S.
Der erste Band einer neuen, auf 8 bis 10 Bände berechneten
Napoleonbiographie! Der Verfasser, der bekannte und verdiente
Bibliograph, verfügt über eine Literaturkenntnis auf seinem
Gebiete, wie wohl kaum ein anderer Historiker diesseits oder
jenseits der Vogesen. Er schreibt gewandt, flüssig und lebhaft.
Das Werk ist sehr gut ausgestattet und geradezu prachtvoll
gedruckt; es bietet also der Vorzüge genug. Freilich kann der
Leser dieses ersten Bandes, der nur bis zur Übernahme des Kom-
mandos der italienischen Armee durch Bonaparte im Frühjahr 1796
führt, also mehr nur Präliminarien enthält, noch kaum ein be-
stimmtes Urteil über die Aussichten wagen, welche das ganze
Werk bietet. Doch sind dem Referenten immerhin schon gewisse
Bedenken aufgestiegen, welche hier bei aller Anerkennung zur
Sprache gebracht werden mögen.
Wie bei manchen anderen Werken, die sich durch besondere
Glätte und Gewandtheit der Schreibweise auszeichnen, scheint
auch bei diesem die Gefahr zu bestehen, daß der Autor sich und
den Leser gelegentlich über die Schwierigkeiten der Probleme
hinwegtäusche. So ist z. B. die Rolle, die Napoleon in den kor-
sischen Wirren des Jahres 1793 spielte, zwar lebhaft und an-
schaulich geschildert, man wird aber nicht behaupten können^
daß die für die Beurteilung des späteren Kaisers so wesent-
liche Frage, inwiefern er damals gegen die Gesetze der Loya-
lität und Ehre verstoßen und sein Vaterland und dessen Helden
Paoli im eigenen Interesse oder dem der Partei, der er sich
angeschlossen hatte, verraten habe, mit der geringsten Vertie-
fung behandelt sei. Auch über eine andere heikle Frage gleitet
Kircheisen eher hinweg, als daß er sie einer ernstlichen Prü-
fung unterzöge: inwiefern nämlich die Übertragung des Kom-
mandos der italienischen Armee mit den Beziehungen des Gene-
rals zu Josephine zusammenhängen dürfte. „Er brauchte keinen
Beschützer, keinen Gönner, nicht einmal Barras" (S. 470) —
dieser Satz klingt zwar sehr hübsch, dürfte aber kaum vor der
Kritik bestehen! Bei alledem wird der Leser, wie ausdrück-
lich festgestellt sei, doch nicht auf den Gedanken kommen,
daß Kircheisen, trotz größter Bewunderung für seinen Helden,.
19. Jahrhundert. IS»
sich etwa ausgesprochener und bewußter Parteilichkeit schuldige
mache.
Ebensowenig wie die Verarbeitung der Quellen in diesem
Bande überall der Quellen k e n n t n i s des Verfassers entspricht,
ist die Kraft und Schönheit der Sprache immer auf derselben
Höhe wie ihre Glätte und Eleganz. Es finden sich vielmehr
hier und da recht unbedeutende, ja leere Sätze. S. 343 lesen
wir von Carnot (der überhaupt völlig ungenügend charakterisiert
wird): „Das aschfahle, durch Pockennarben entstellte Gesicht,
die große Nase, das hellblonde Haar und die wasserblauen Augen
gaben ihm ein sehr harmloses Aussehen." S. 455 von Beauharnais:
„Die Freiheitsbestrebungen sagten ihm zu, der in Amerika den
heilsamen Einfluß der RepubUk kennen gelernt hatte." Daß
kleinere Versehen im einzelnen vorkommen (Paoli starb 1807,
nicht erst 1815 — S. 234 An m.), ist bei einem so umfassenden
Werke unvermeidlich. Die zahlreichen Illustrationen bringen
manches Wertvolle und Interessante. Man wird aber doch nicht
sagen können, daß ihre Auswahl immer sehr glücklich sei; von
den sechs Bildern Maximilian Robespierres, die dem Bande
beigegeben sind, kann nur das eine oder andere als leidlich charak-
teristisch gelten. Die beiden auf oder neben S. 283 und S. 460
reproduzierten gehören zu denjenigen, welche die Eigenart des
Tyrannen am wenigsten von allen wiedergeben. (Vgl. Buffenoir^
Les Portraits de Robespierre. Paris 1910.)
Tübingen. Adalbert Wahl.
Der Kampf um den Zollverein zwischen Österreich und Preußen
von 1849 bis 1853. Von Dr. Alfred Gaertner. (Straßburger
Beiträge zur neueren Geschichte, herausg. von Professor
Dr. Martin Spahn in Straßburg. 4. Bd., 1. u. 2. Heft.) Straß-
burg I.E., Herdersche Buchhandlung. 1911. 346 S.
Der Verfasser hat für die vorliegende Arbeit als erster die
einschlägigen Akten des k. k. Ministeriums des Auswärtigen be-
nutzen dürfen. Gleichzeitig aber bewährt er sich als ein Schüler
M. Spahns, indem er in ausgiebigster Weise auch die Zeitungs-
und Zeitschriftenliteratur heranzieht. Zumal das damals führende
Organ der süddeutschen Mittelstaaten und Österreichs, die Augs-
burger Allgemeine Zeitung, liefert ihm reiche Ausbeute. So er-
halten wir eine nicht nur die schon ältere, aus bayerischen Akten
160 Literaturbericht.
geschöpfte Darstellung Webers, sondern auch Zimmermann und
Beer, den preußischen und den österreichischen Geschichts-
schreiber des Zollvereins, ergänzende und berichtigende Dar-
stellung, ein lückenloses und aufschlußreiches Bild des Ringens
der beiden deutschen Großmächte auf wirtschaftspolitischem
Gebiet, das den Kampf auf rein politischem begleitet und
fortsetzt.
Wenn Österreich in diesem letzteren Kampf mit der 01-
mützer Punktation der vorläufige Sieg zufiel, so blieb der Erfolg
<Jort, trotz wesentlicher Zugeständnisse an Österreich, im großen
und ganzen bei Preußen. Entgegen der ursprünglichen Absicht
<les Handelsministers Freiherrn v. Brück und seiner Helfer,
„Österreich, das Zollvereinsgebiet und das übrige Deutschland
zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet zusammenzufassen",
kam es bloß zum preußisch-österreichischen Handelsvertrag
vom 19. Februar 1853: Preußen hatte seinen schon mit Sprengung
bedrohten Zollverein gerettet und ihn noch dazu um den bis-
lierigen hannoverisch-oldenburgischen Steuerverein, bekanntlich
<Jas eigentliche Streitobjekt der letzten Jahre, vergrößert und
versprach die Anbahnung der vollen Zolleinigung mit Österreich
nur in unbestimmter Weise für das Jahr 1859. Zwischen jenem
Ausgangs- und diesem Endpunkt bewegen sich in kaum überseh-
barem Auf und Ab die Entwürfe, die Verhandlungen, die Kon-
ferenzen. Als dritter Faktor treten die Mittelstaaten auf, die
sich während der Wiener Konferenz unter von der Pfordtens
Führung zur Trias zusammenschlössen, aber eine eigentlich selb-
ständige Stellung in wirtschaftlicher Beziehung so wenig wie in
politischer auf die Dauer einzunehmen imstande waren: trotz
ihrer politischen Gegnerschaft gegen Preußen und trotz der mit
Ausnahme Sachsens vorwaltenden schutzzöllnerischen Interessen
ihrer Industrie mußten sie sich schließlich doch wieder auf den
Boden des Zollvereins begeben.
Dem wirtschaftlichen Kampf der beiden Großmächte blieb
aber selbst ein politischer Grundzug gewahrt. Der Versuch
Österreichs, die Zolleinigung mit Preußen zu erreichen, ist nichts
anderes als eine Neuauflage des dualistischen Kampfproblems
in materiellem Gewände. Nicht nur Fürst Schwarzenberg sondern
auch Brück ist sich des politischen Zieles, der Wahrung der
österreichischen Vorherrschaft, gar wohl bewußt. (Der Verfasser
19. Jahrhundert. 161
scheint mir freilich mit seiner eigenen Aussage S. 118 auf S. 39,
wie auf S. 339 in Widerspruch zu geraten.) Der Unterschied
zwischen beiden besteht nur darin, daß für Brück, den Begründer
des österreichischen Lloyd, das Wirtschaftsproblem der eigent-
liche Ausgangspunkt war und auch als solches fortdauernd von
selbständiger Bedeutung blieb, während es Schwarzenberg nur als
Mittel zum Zweck in seinem rein politischen Spiel benutzte. Auf
der andern Seite konnte Preußen, so bedeutsame kommerzielle
Vorteile auch eine künftige Wirtschaftsgemeinschaft mit dem Staate
versprechen mochte, dem das aufblühende Triest und Oberitalien
zugehörte, dessen Handel sich im Mittelmeer, auf dem Balkan und
in der Levante auszubreiten begann, ganz abgesehen von den
noch prinzipiell verschiedenen Tarifen, „aus politischen Gründen
vorderhand mit Österreich volkswirtschaftlich weniger als je
freiwillig gemeinsame Sache machen".
Gut kommt auch der Einfluß des Auslands zur Darstellung:
Englands, das von vornherein durch Brucks Programm und die
ihm gespendeten Lobeshymnen der Allgemeinen Zeitung er-
schreckt, seiner Verwirklichung entgegenarbeitet; Rußlands,
das im Gegensatz hierzu das Einvernehmen der beiden deutschen
Großmächte betreibt; des neuerstehenden französischen Kaiser-
reichs, dessen Ehrgeiz sie zu gemeinsamer Frontwendung nach
Westen auffordert. Wenn aber der Verfasser schließlich weit mehr
der Fortentwicklung der äußeren Verhältnisse die Schuld daran
beimißt, daß der Handelsvertrag nicht zur Zollvereinigung fort-
gebildet wurde, so möchte ich in gegensätzlicher Auffassung
auch für die weiteren Jahre auf den im Grunde fortbestehenden
und durch die europäischen Ereignisse nur neu entzündeten
preußisch-österreichischen Antagonismus das Schwergewicht legen.
Nicht minder eingehend werden die verschiedenen Strö-
mungen in den deutschen Einzelstaaten geschildert. Trefflich
kommen im ganzen Charakter und Tendenzen der leitenden Staats-
männer, so des entschlußscheuen Beust und des fest und ehrlich
beharrenden Pfordten zum Ausdruck. Nur Schwarzenberg er-
scheint mir viel zu friedliebend charakterisiert: in den unver-
öffentlichten Papieren Pfordtens wird berichtet, daß es haupt-
sächlich Englands und Rußlands Einspruch gegen jede Gebiets-
verkürzung Preußens war, die Österreich der Olmützer Abkunft
vor der Waffenentscheidung den Vorzug geben ließen, und aus
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 11
162 Literaturbericht.
dem zweiten Band von Friedjungs „Österreich von 1848 bis
1860", über den der Verfasser noch nicht verfügte, ersehen wir,
wie Österreich damals zum großen Kriege gegen das unvorbe-
reitete Preußen gerüstet stand. Es war freilich die letzte Mög-
lichkeit, Preußen zurückzudrängen. Als dieser Schicksalsmoment
ungenutzt verstrichen war, da war auch alles Mühen Österreichs
vergeblich, mittels der Hintertüre der Zolleinigung seine alte Vor-
machtstellung in Deutschland neu zu erringen, oder doch sie für
die Dauer zu behaupten.
In der Schlußbetrachtung hätte es sich wohl verlohnt, die
Hauptetappen des Gesamtkampfes nochmals zusammenzufassen,
da die großen Linien über der mühevollen Lektüre der Einzel-
heiten doch allzu leicht aus den Augen entschwinden. Endlich
darf der Rezensent die stilistisch recht bedenkliche Formulierung
in der Überschrift des zwölften Abschnitts: „Die Unterhand-
lungen der Mittelstaaten untereinander und Österreichs An-
passung daran" nicht ungerügt lassen.
Heidelberg. Karl Stählin.
Die Kultur der Gegenwart. Teil II, Abt. II, 1: Allgemeine Ver-
fassungs- und Verwaltungsgeschichte von A. Vierkandt,
L. Wenger, M. Hartmann, 0. Franke, K. Rathgen, A. Ritter
Luschin von Ebengreuth, 0. Hintze. 1. Hälfte. Leipzig-
Berlin, B. G. Teubner. 19n. VII u. 373 S.
Einem Werke gegenüber, in dem die Verfassung und Ver-
waltung der primitiven Völker, des Orients von den frühesten
Zeiten an bis heute, des europäischen Altertums und der Ger-
manen und des Deutschen Reiches bis 1806 von Fachleuten
behandelt werden, darf ich nicht den Anspruch erheben, ein zu-
ständiger Beurteiler zu sein. Aber gerade weil ich dem Buch als
Lernender unbefangen gegenübergetreten bin, glaube ich be-
rechtigt zu sein, mich über den Eindruck zu äußern, den es als
Ganzes, als „Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte",
auf mich gemacht hat. Ich muß gestehen, daß das Werk gerade
in dieser Hinsicht nicht befriedigt. Jedes Sammelwerk ist ja der
Gefahr ausgesetzt, daß der Vorteil der größeren Sachkunde in
den einzelnen Abschnitten durch den Mangel an Einheitlichkeit
im Ganzen aufgewogen wird, und dieser Gefahr ist diese Verfas-
sungsgeschichte infolge der unglücklichen Disposition erlegen..
Allgemeine Verfassungsgeschichte. 163
Obwohl Helmolts Weltgeschichte jeden, der jemals die
geographische Gruppierung für eine brauchbare Grundlage
historischer Stoffverteilung gehalten hat, von deren Unzweck-
mäßigkeit vollkommen hat überzeugen können, ist in dem vor-
liegenden Werke doch wieder eine Disposition nach geographischen
Gesichtspunkten gewählt worden; auf die von A. Vierkandt
bearbeitete Einleitung, die sich mit den „Anfängen der Verfassung
und Verwaltung und der Verfassung und Verwaltung der pri-
mitiven Völker" befaßt, folgt als Abschnitt A die orientalische
Verfassung und Verwaltung, während der erst zur Hälfte vor-
liegende Abschnitt B der europäischen Verfassung und Verwaltung
gewidmet ist.
Diese Wahl der räumlichen statt der zeitlichen Anordnung ist
umso seltsamer, als die klaffende Lücke zwischen A I, wo L. Wen-
ger die Verfassung und Verwaltung des orientalischen Altertums
bis zum Perserreich hin behandelt, und A II, der von M. Hart-
mann verfaßten Bearbeitung der islamischen Verfassung und
Verwaltung, die Zeit, in der ein großer Teil des Orients unter
europäischer, makedonisch-hellenistischer und römischer Herr-
schaft stand, nach einer chronologischen Darstellung geradezu
schreit. Ich verkenne nicht, daß die Abschnitte A II bis A IV
(Islam; 0. Franke, China; K. Rathgen, Japan) chronologisch
schwer einzureihen sind. Aber ihr gegebener Platz war am Ende
des gesamten Bandes, hinter der Geschichte der neueren Ver-
fassungs- und Verwaltungsgeschichte Europas, die wir von
0. Hintze noch zu erwarten haben. Denn die moderne Verfas-
sungsentwicklung sowohl der islamischen Welt wie Japans und
Chinas ist so offenkundig von der europäischen beeinflußt, daß
sie nur aus der Kenntnis der europäischen Verhältnisse heraus
verstanden werden kann.
Aber noch viel schwerer fällt gegen die gewählte Disposition
ins Gewicht, daß sie den einheitlichen Gang der allgemeinen
Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte unterbricht. Wenn
auch jeder der drei Kulturkreise, der des alten Orients, der grie-
chisch-römischen Welt und der Germanen, seine besondere Ent-
wicklung hat, so stehen sie doch nicht bloß nebeneinander, sondern
sie folgen aufeinander. Und das wäre meiner Ansicht nach die
Hauptaufgabe, die eine allgemeine Verfassungsgeschichte zu
lösen hätte, auf die aber in dem vorliegenden Werke nur gelegent-
11*
164 Literaturbericht.
lieh hingewiesen ist, zu zeigen, worin das eigentümliche Wesen
jeder einzelnen Gruppe besteht und wie sich dieses Wesen mit
dem Erbe der vorhergegangenen Gruppe zu einer neuen Einheit
verbindet, wie also im alten Orient ohne jeden Einfluß der Rassen-
unterschiede Weltreiche unter despotischen Königen entstehen,
wie dann der griechisch-römische Stadtstaat in diese orientalische
Welt hineinwächst und von ihr nicht bloß den Gedanken des
jede gleichberechtigte Macht ausschließenden Weltreichs sondern
auch die göttliche Verehrung des Königtums übernimmt, zugleich
aber durch die weitere Ausgestaltung der Verwaltung einen Fort-
schritt der staatlichen Entwicklung über jene orientalischen
Despotien hinaus bringt, wie endlich die Einheitlichkeit der
antiken Kulturwelt auseinanderbricht, indem auf der einen Seite
die germanischen Völker das römische Reich zerstören und auf
seinem Boden neue Staaten gründen, auf der andern aber die
islamischen Völker eindringen. Erst vom Ende des Altertums
ab ist es berechtigt, die europäische und die orientalische Ver-
fassungsgeschichte getrennt zu betrachten, denn bis in die jüngste
Zeit hinein fehlen alle Berührungspunkte. Der Islam kennt
überhaupt keine Entwicklung auf dem Gebiete der Verfassung
und Verwaltung; aber die Frage, inwiefern die Einrichtungen
des oströmischen Reiches auf die islamischen Staaten Einfluß
gehabt haben, scheint mir doch mehr Beachtung zu verdienen,
als ihr zuteil geworden ist. Überhaupt bedaure ich, daß das byzan-
tinische Reich nicht im Zusammenhange behandelt worden ist.
Im ganzen aber herrscht im Orient Stagnation, der Fortschritt
der Verfassungsgeschichte liegt ausschließlich in der germanisch-
romanischen Staatenwelt. Mit dieser Doppelbezeichnung ist schon
angedeutet, daß nicht bloß das germanische Element die Welt
beherrscht, sondern daß zugleich die antike Kultur einen wich-
tigen Faktor der weiteren Entwicklung bedeutet; und den dritten
Faktor bildet die römische Kirche. Wie aus diesen Kräften die
moderne Welt entsteht, das erfahren wir aus dem bis jetzt
allein vorliegenden Halbband noch nicht. Nur ein Teil, die früh-
germanischen Staaten und das römisch-deutsche Reich, ist be-
handelt worden, also gerade der Teil der Entwicklung, der nicht
zum modernen Staat hingeführt hat.
SelbstverständHch ist mit dieser Skizze der allgemeinen
Verfassungsentwicklung nicht der reiche Inhalt des Buches er-
Allgemeine Verfassungsgeschichte. 165
schöpft. Interessant wäre auch ein Vergleich der einzelnen Ein-
richtungen, z. B. der Steuer- und Heeresverfassung oder des
Beamtenwesens in den verschiedenen Staaten. Überhaupt bin
ich mir durchaus bewußt, den Leistungen der einzelnen Bearbeiter
mit meinen Bemerkungen keineswegs gerecht geworden zu sein;
aber, wie gesagt, ich fühle mich dazu auch gar nicht imstande.
Nur das möchte ich sagen, daß der Eindruck der Beiträge sehr
günstig ist; man hat das Gefühl, daß die Verfasser ihren Stoff be-
herrschen, als besonders instruktiv darf ich wohl den Abschnitt
über China von 0. Franke hervorheben, der uns eine historische
Erklärung der „Kultur der Gegenwart" gibt und zeigt, wie die
moderne Entwicklung Chinas durch die Vergangenheit belastet
und erschwert wird.
Ein Abschnitt freilich steht nicht auf der Höhe moderner
Forschung, der von Luschin von Ebengreuth bearbeitete über die
Verfassung und Verwaltung der Germanen und des deutschen
Reiches bis zum Jahre 1806. Hier finden sich nicht nur viele
Fehler im einzelnen, unter denen ich nur die regelmäßige An-
wendung der Bezeichnung ,, Heiliges römisches Reich deutscher
Nation" nenne, sondern, was schlimmer ist, es sind die Probleme
gar nicht erkannt. L. reiht Staats- und Rechtsaltertümer an-
einander, statt uns den geschichtlichen Verlauf und die treibenden
Kräfte verständlich zu machen. Wie sich die Germanen in das
römische Reich einschieben und es zersetzen, wie sie aber zugleich
die römische Kultur und die christliche Religion annehmen,
wie sie mit den Resten der römischen Bevölkerung verschmelzen
und neue romanische Nationen bilden, das sollte nicht nur „neben-
her erwähnt" werden (vgl. S. 211), sondern ist die wichtigste
Frage der Verfassungsgeschichte jener Übergangszeit. Auch das
Frankenreich wird ja von dem Gegensatz der römischen Welt-
reichsidee, an der vor allem die Kirche festhält, und der germa-
nischen Staatsauffassung, die immer wieder in den Reichsteilungen
zum Ausdruck kommt, lange Zeit hindurch beherrscht; daraus
entsteht der besondere Zug nicht nur der neueren Verfassungs-
geschichte sondern der neueren Geschichte überhaupt, das System
von gleichberechtigten Staaten, das kein Weltreich mehr duldet.
Ebenso wenig befriedigt die Darstellung der Geschichte des
deutschen Reichs. Schon die Disposition (L Entstehen und Blüte-
zeit 887— 1198; IL Zeit der päpstlichen Vorherrschaft 1198—1519;
166 Literaturbericht.
III. bis zum Untergang 1519 — 1806) erscheint mir verfehlt. Den
tiefsten Einschnitt möchte ich beim Untergang der Staufer machen.
Bis dahin handelt die Reichsgeschichte vor allem vom Kampf der
universalen Gewalten, des Kaisertums und des Papsttums, erst
in zweiter Linie von dem Verhältnis der Zentralgewalt zum
Partikularismus der Stämme. Seit dem Interregnum aber spielt
die universale Politik, spielt das Verhältnis von Kaiser und Papst
keine große Rolle mehr, entscheidend ist vielmehr die Stellung
von Königtum und Territorien; es handelt sich, so möchte ich
sagen, nicht mehr um das römische Reich, sondern um das Reich
deutscher Nation in dem Sinne, den A.Werminghoff und K. Zeu-
mer vor einigen Jahren festgestellt haben. Und daß in der späteren
Reichsgeschichte hinter all dem sattsam bekannten Unerfreu-
lichen und Absterbenden doch zugleich lebendige und zukunfts-
reiche Kräfte föderativer Gestaltung stecken, das hat L. auch nicht
erkannt. Ich will das hier nicht in polemischem Ton ausführen,
weil ich meine Ansichten über die spätere Reichsverfassungs-
geschichte in Meisters Grundriß der Geschichtswissenschaft positiv
aussprechen werde, und lasse es einstweilen bei diesem allgemeinen
Widerspruch gegen L.s Darstellung bewenden.
Halle (Saale). Fritz Härtung.
Die Verwaltungsorganisation des Fürstbistums Paderborn im
Mittelalter. Von Hermann Aubin. (Abhandlungen zur mitt-
leren und neueren Geschichte, herausg. von Georg v. Below.
Heinrich Finke, Friedrich Meinecke. Heft 26.) Berlin und
Leipzig, Dr. Walther Rothschild. 1911. X u. 152 S.
In dem vorliegenden tüchtigen Buche Aubins wird weniger
eine Darstellung der Verwaltungsorganisation des Fürstentums
Paderborn im Mittelalter denn eine Schilderung der Anfänge
des Territorialstaats geliefert. Das mag daher rühren, daß der
Verfasser in dem vorhandenen archivalischen und gedruckten
Material, das er bis 1500 durchgearbeitet hat, nicht die Bausteine
fand, mit denen er das Gebäude einer umfassenden Behörden-
geschichte dieses geistlichen Territoriums zu errichten vermochte.
Ausgehend von der Bedeutung, welche die Verwendung
von Ministerialen als Beamte für den Ausbau der deutschen
Territorien gewonnen hatte, beginnt der Verfasser seine Erörte-
rung mit einer Untersuchung der Ministerialität im Fürstbistum.
Deutsche Landschaften. 167
Bei der großen Gefahr, die in der Belehnung von Ämtern an Freie
nach der Ausbildung der Erblichkeit der Lehen für den Landes-
herrn gegeben war, lag es nahe, der Entfremdung solcher Ämter
vorzubeugen, indem die Bischöfe unfreie, von ihnen als den Dienst-
herren abhängige Ministerialen seit Beginn des 11. Jahrhunderts
mit der Verwaltung der Ämter beauftragten und so wie in anderen
Territorien ein vom Herrn unbedingt abhängiges Beamtentum
wie es schon in der karolingischen Zeit bestand, wieder aufs
neue geschaffen haben. Mit dem Beginn des 12. Jahrhunderts
werden die Lehen aber auch an Ministerialen verliehen, und diese
beginnen nun, selbst ihre Ämter als Lehen zu betrachten, und die
Reaktion trat in einer Feudalisierung der Ämter in die Erschei-
nung. Die Ministerialen waren im Laufe des 14. Jahrhunderts
in die territoriale Ritterschaft übergegangen (S. 35).
Nach dieser Darlegung der ständischen Verhältnisse wendet
sich A. den Hofämtern zu, indem er von der zentralistischen
Verwaltung durch den vicedominus ausgeht. Dieser vicedominus,
der in der kirchlichen Verfassung überhaupt schon früher eine
große Rolle spielt (vgl. Rosenthal, Geschichte des Gerichts-
wesens und der Verwaltungsorganisation Bayerns I, S. 275 f.),
wird auch hier (wie auch vereinzelt in weltlichen Territorien,
z. B. Bayern) Generalstellvertreter des Landesherrn. Er ver-
schwindet in Paderborn in der zweiten Hälfte des 12. Jahr-
hunderts und die Hofverwaltung gleitet in die Hände der vier
Hofämter. Die dem Kämmerer unterstellte Kammer entwickelt
sich mit zunehmender Geldwirtschaft zu einer Zentralkasse.
Das Bild der Zentralregierung zeigt im wesentlichen die bekann-
ten Züge.
Der Rat (Kap. III) wird im Anfang des 13. Jahrhunderts
aus Hofbeamten und anderen Ministerialen gebildet. Jene treten
zurück und der Bischof wählt seine Räte aus den nicht im Hof-
dienste tätigen Rittern. Eine Konsolidierung des losen Gefüges
des Rates tritt erst (seit 1491) in dem geschworenen Rat hervor.
A.s Vermutung, daß für die Ratsorganisation das Vorbild
Kölns maßgebend gewesen und in derselben die Nachwirkung
der Union mit Köln zu erblicken, scheint mir begründet zu sein.
Daß der Rat nicht als höchstes Gericht des Territoriums
tätig war — ein Hofgericht kam erst 1569 zur Entstehung —
läßt, wie der Verfasser mit Recht betont, die Paderborner Rats-
168 Literaturbericht.
Organisation als rückständig gegenüber anderen Territorien
erscheinen.
Für die Kanzlei bot sich nur dürftiges Material, so daß
der Verfasser eine anschauliche Schilderung der Kanzleiorga-
nisation zu geben nicht in der Lage war.
Größeres Interesse bietet die Vogtei, deren Entwicklung
das 5. Kapitel schildert. Nach einer vorübergehenden Feudali-
sierung der Vogteien kommen die Vogteirechte wieder in die
Hand des Bischofs und bilden neben den Grafenrechten den
Kernpunkt landesherrlicher Gewalt.
In einem sehr ausführlichen Schlußkapitel (S. 93 — 152) stellt
Verfasser die Ämterverfassung dar. Auch in Paderborn spiegelt
sich in der Bezirkseinteilung ein Stück der Geschichte des Terri-
toriums wieder, indem auch hier größere Neuerwerbungen als
geschlossene Ämter angegliedert werden. In einer lehrreichen
Darstellung wird die Geschichte einzelner Ämter geschildert,
wobei die finanzielle Seite der Amtsbildung stark in den Vorder-
grund rückt.
Man wird von der vorliegenden Arbeit, deren Verfasser sich
durch gründliches Eindringen in sein Quellenmaterial auszeichnet,
nicht behaupten können, daß sie ein anschauliches Bild eines
reichgegliederten Verwaltungsapparats zeigt. Das ist kein Vor-
wurf gegen den Verfasser, denn das Material war, wie schon
im Eingange hervorgehoben worden, für eine Geschichte des
Verwaltungsorganismus nicht ausreichend. Aber das, was der
Verfasser bietet — und ich darf hier nur an die vortrefflichen
Ausführungen über die Ausbildung der Ämterverfassung er-
innern — , darf als eine erfreuliche Bereicherung unserer Kenntnis
der deutschen Territorialrechtsgeschichte bezeichnet werden.
Jena. Eduard Rosenthal.
Edzard der Große. Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte
Ostfrieslands. Von Heinrich Reimers. 13./14. Heft. Aurich,
Dunkmann. 1910. 151 S.
Die Grafschaft Ostfriesland ist ein junges Staatsgebilde auf
althistorischem Boden. Erst in der Mitte des 15. Jahrhunderts
ist aus dem wüsten Streit der Häuptlingsfamilien die Herrschaft
der Cirksenas hervorgegangen. Der zweite Graf aus diesem
Hause war Edzard I., dem längere Zeit nach seinem Tode der
Deutsche Landschaften. 169
Beiname der „Große" gegeben worden ist. Pauls hat in seiner
eingehenden Anzeige des Reimersschen Buches in den Forsch.
z. brand. u. preuß. Geschichte die Berechtigung dieses Bei-
namens bezweifelt — wenn man Edzards Erfolge dafür ent-
scheidend sein läßt, gewiß mit Recht. Aber im Vergleich zu den
unbedeutenden oder unglücklichen Gestalten seiner Nachfolger
darf er auch heute auf ein Beiwort Anspruch machen, das ihn
über die andern hinaushebt. Und eine Persönlichkeit von un-
verwüstlicher Lebenskraft, von ungewöhnlicher Macht über
Menschen, von soldatischer Tüchtigkeit im Verein mit politischer
Begabung ist dieser deutsche Graf, der noch mit 55 Jahren einen
nächtlichen Sturmangriff auf die Friedeburg unternimmt, dem
nicht nur seine Bauern bis in den Tod treu gewesen sind, sondern
den selbst seine Feinde bewundert haben, doch trotz aller poli-
tischen und militärischen Rückschläge gewesen.
R.s Biographie fußt auf gründlicher Forschung und ist
anziehend geschrieben. Die verdiente Anerkennung soll durch
die folgenden Bemerkungen nicht geschmälert werden. Die
Zahlen des Landsknechtsheeres auf S. 89, die auf S. 92 u. 97
wiederholt werden, scheinen stark übertrieben: vgl. die offenbar
authentischen Zahlen auf S. 111. Gegenüber der Kunst der
Menschenbehandlung, die dem Grafen auf S. 63 nach der Er-
werbung der Stadt Groningen nachgerühmt wird, ist auf S. 110
u. 112 hinzuweisen, wo von einer Anhänglichkeit der Stadt nichts
mehr zu spüren ist. Die inneren Zustände treten in der Dar-
stellung, abgesehen von der sympathischen Schilderung der Ein-
führung der Reformation, stark zurück. Freilich ist das Material
sehr dürftig. Vielleicht hätte sich über die Verwaltung durch
Zusammenstellung gelegentlicher Erwähnungen von Drosten,
z. B. S. 51, 56, und von anderen Beamten doch etwas gewinnen
lassen. Auch über die Bedeutung der Stände, die schon unter
Ulrich I. nachweisbar sind und so bald der landesherrlichen
Macht erfolgreich entgegentreten sollten, war wohl einiges zu
sagen. Die landesherrlichen Finanzen, die unter den ersten
Cirksenas sich in vorzüglicher Verfassung befanden, verdienten
einmal eine zusammenfassende Behandlung, die sich auch die
mühsame Durchsicht der Emder und Leerer Kontraktenprotokolle
nicht ersparen dürfte. Aus den Ämterlagerbüchern sind bei der
nötigen Kritik Rückschlüsse auf das 16. Jahrhundert wohl möglich.
170 Literaturbericht.
Die sehr verwickelte Frage der Echtheit der ältesten Lehn-
briefe für Ostfriesland ist von R. durch neue Mitteilungen aus
Wien und Dresden erheblich gefördert worden. Ganz klar liegen
die Dinge auch jetzt noch nicht. Für die Beurteilung des Pri-
vilegs von 1495 ist die Erwähnung der von Maximilian begrün-
deten Grafschaft Bentheim-Steinfurth in der inserierten Ur-
kunde vom Jahre 1454 bedeutungsvoll. Die Fälschung der
Urkunde von 1454 kann erst nach der Verleihung des Privilegs
an den ersten Grafen von Bentheim-Steinfurth erfolgt sein.
Berlin. E. Kaeber.
Briefwechsel des Ubbo Emmius. Herausgegeben von Dr. H. Brug-
mans, Professor an der Universität von Amsterdam, und
Dr. F. Wächter, Geh. Archivrat in Aurich. Bd. 1: 1556—1607.
Aurich, Dunkmann. 1911. VII u. 485 S.
Der Größte des alten Friesenvolkes, wie die Vorrede vor-
liegender Ausgabe seiner Briefe ihn nennt — Ubbo Emmius,
zeigt sich in seiner Korrespondenz als ein echter Humanist.
Zwei Brennpunkte kennt sein Interesse: die res publica und die
ecclesia. Beiden widmet sich der Schulrektor. Emdens Kampf
mit den ostfriesischen Grafen, der Kampf der Staaten mit Spa-
nien, Groningens mit den Ommelanden beschäftigen ihn und
seine Korrespondenten. Daneben findet in ihm die kalvinische
Orthodoxie, wie sie von den Niederlanden bis Bremen ihren
Freundeskreis zog, in der Bekämpfung des Jorismus und in
Nachrichten aus dem kirchlichen Leben (z. B. Vorsynode im
Haag 1607) ihren Vertreter. Und wie hier im kirchlichen Leben
die Briefe (und die in Briefform abgefaßten mit aufgenommenen
Vorreden) den Humanisten in der Praxis und zugleich in der
wissenschaftlichen Betätigung zeigen, so gesellen sich bei ihm
auch zur politischen Teilnahme Reflexionen über die Geschichte
und die historische Verarbeitung der Friesengeschichte. Diese
Vereinigung von Theorie und Praxis in re publica und in ecclesia
kennzeichnet das allgemeine humanistische Bildungsideal, unter
dessen Stil Emmius in seinem Briefwechsel nur als Typ, nicht als
Individuum erscheint. Auch in den persönlichsten Briefen (die
an Johann Witten) tritt humanistisches Pathos, Redegewandt-
heit und Interesse an hochgestellter Bekanntschaft so stark in
den Vordergrund, daß man oft gegen die Wahrheit der Emp-
Deutsche Landschaften. 171
findung und gegen den Menschen Emmius skeptisch wird. So
liegt der Hauptwert des Briefwechsels in seinem Zeitungscharakter
und in dem Kultureindruck, den er gibt. Heute sind die Tages-
zeitungen kulturloser, die Redakteure individualisierter, während
die Briefzeitung des Humanisten unindividuell und stilvoll,
persönlich und unpersönlich zugleich sich darstellt.
Vielleicht ist die Edition von diesem Gesichtspunkt aus
zu ausführlich, wenn sie sämtliche Briefe im Wortlaut bringt.
Ebenso hätte ein kurzes Regest über den einzelnen Briefen die
Übersicht erleichtert. Man darf aber dem zweiten (Schluß-)
Bande mit um so größerem Interesse entgegensehen, da uns
der Herausgeber in dessen Vorrede „die Bedeutung des Ubbo
Emmius in seiner vielseitigen Tätigkeit und den Wert seines
Briefwechsels" darlegen will.
Marburg. W. Sohm.
Mecklenburgisches Urkundenbuch. Herausgegeben von dem Ver-
ein für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde.
23. Bd. 1396—1399. Schwerin, Baerensprungsche Hofbuchdr.
1911. 4". 682 u. 197 S.
Ein ganz besonders stattlicher Band des großen, gleichmäßig
fortschreitenden Urkundenwerkes liegt in der bekannten muster-
gültigen Ausstattung vor. Nur vier Jahre umfaßt er, bringt aber
aus diesem kurzen Zeiträume nicht weniger als 681 Urkunden
und Regesten, von denen 473 hier zum ersten Male gedruckt sind.
Freilich ist der Begriff der Urkunde recht weit gefaßt; es ist
wohl nichts dagegen einzuwenden, daß Inschriften auf Grab-
steinen oder Glocken dazu gerechnet werden, ob aber die mannig-
fachen chronikalischen Nachrichten — es sind etwa 20 Nummern
— in die Sammlung gehören, muß doch als zweifelhaft gelten.
Man erkennt nicht recht, ob das alle derartigen Notizen aus dieser
Zeit, die sich auf mecklenburgische Ereignisse beziehen, sind
oder ob eine Auswahl erfolgt ist. Eher kann man sich damit
befreunden, daß die in den Hanserezessen veröffentlichten Ur-
kunden hier nochmals, zum Teil in besserem Texte, abgedruckt
worden sind. Von Bedeutung ist es, daß die verschiedenen Re-
gisterbände des Vatikanischen Archives in reichem Maße benutzt
worden sind; ich zähle nicht weniger als 58 Regesten von Ur-
172 Literaturbericht.
künden, die dorther stammen. Die Textgestaltung und die Druck-
legung, die Archivrat Dr. F. S t u h r besorgt hat, sind, wie
man an dem Werke schon lange gewöhnt ist, musterhaft, ebenso
sind die Register, die vom Geh. Archivrat Dr. Grotefend
und Oberbibliothekar Dr. V o ß angefertigt worden sind, über
jedes Lob erhaben. Jeder, der mittelalterliche Urkunden beson-
ders Niederdeutschlands benutzt, weiß, welch eine Fülle von Stoff
namentlich in dem Wort- und Sachregister steckt und wie diese
in den einzelnen Bänden enthaltenen Glossare oft ein unentbehr-
liches Hilfsmittel für Worterklärungen sind.
Der Inhalt der Urkunden bezieht sich zum Teil noch auf
die nordischen Wirren, in die Mecklenburg seit lange verwickelt
war; fällt doch in diese Zeit das persönliche Eingreifen des Herzogs
Erich, König Albrechts Sohnes, und sein Kampf um Stockholm.
Mehr noch treten uns die freundlichen und feindlichen Verhand-
lungen mit dem Deutschen Orden entgegen, dem ja 1399 die
Insel Gotland überlassen werden mußte. Auch über die Streitig-
keiten um das Erzbistum Riga und das Bistum Dorpat erhalten
wir, wenn auch nicht gerade neue, doch nicht unbedeutende
Nachrichten. Vornehmlich bezieht sich der Inhalt natürlich
auf innere Verhältnisse, kirchliche Verwaltung, Klosterwesen,
Ablaß u. a. m., sowie städtische Einrichtungen und Zustände
im Gericht oder Handelsverkehr. Eigenartig sind die zahlreichen
sog. Zuversichtsbriefe (litterae respectus), die zum Teil mit Bürg-
schaften oder Vollmachten verknüpft sind. Von besonderem
kulturhistorischem Interesse erscheint mir das Testament eines
Pfarrers zu Barth in Pommern vom 3. Juni 1398 (Nr. 13 306),
das uns einen tiefen Blick in das wirtschaftliche und geistige
Leben eines Klerikers tun läßt.
Das Mecklenburgische Urkundenbuch nähert sich in der
bisherigen Form seinem Abschlüsse. Es sollen nach den Mit-
teilungen im neuesten Jahresberichte des Vereins noch zwei Bände
folgen, von denen Band XXIV die Urkunden des Jahres 1400
und ein Siegelheft, Band XXV aber Nachträge zu allen früheren
Bänden enthalten sollen. Auch mit den Arbeiten zu der Fort-
setzung, die in einer Sammlung von Regesten für das 15. Jahr-
hundert folgen soll, ist man bereits eifrig beschäftigt. Es ist
nach den bisherigen Leistungen zu hoffen, daß alle diese Pläne
in absehbarer Zeit zur Ausführung gelangen werden. Mecklen-
Deutsche Landschaften. 173
bürg kann stolz sein auf dies Werk, und viele Benutzer werden
den Bearbeitern für ihre Mühe von Herzen dankbar sein.
Greifenberg i. P. M. Wehrmann.
Wustrau, Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte eines branden-
burgischen Rittergutes. Von Carl Brinkmann. (Staats-
und sozialwissenschaftliche Forschungen, herausg. von
Gustav Schmoller und Max Sering. Heft 155.) Leipzig,
Duncker & Humblot. 1911. 163 S. 4 M.
Gute Lokalstudien sind für die ostdeutsche Agrargeschichte,
von der wir noch so wenig wissen, von großem Werte. Sie er-
gänzen und revidieren unsere noch auf der Oberfläche liegenden
Kenntnisse über die eigentümliche Entwicklung, die dem deut-
schen Osten seine, von dem Westen so stark kontrastierende
Agrarverfassung gegeben hat. Von allen Gutsgeschichten, die
ich kenne, ist — vom wissenschaftlichen Standpunkt aus be-
trachtet — die Brinkmanns mit die beste. Sie gehört nicht
zu jenen schwächHchen Dilettantenarbeiten, die nur wieder-
geben, was aus zufällig gefundenen Quellen wahllos exzerpiert
worden ist, sondern sie ist das Ergebnis von gründlichen und
kritischen Studien eines geschulten und wohl bewanderten Hi-
storikers. Vielleicht ist das Buch ein wenig zu streng sachlich
und bewußt trocken geschrieben; von dem poetischen Glänze,
mit dem der Dichter Fontane Zietens Wustrau umgeben hat,
ist auch nicht ein schwacher Schimmer geblieben.
Die Quellen setzen erst spät ein, aber früh genug, um die
Ausbildung der Gutsherrschaft noch kennen zu lernen. Die erste
Beschreibung des Dorfes aus dem Jahre 1491 zeigt eine Grund-
besitzverteilung, die die Planmäßigkeit der ersten Anlage in der
Kolonialzeit noch deutlich erkennen läßt. In das Dorf teilen
sich zwölf Bauern und drei Ritter zu gleichen Teilen; den Bauern
wie den Rittern gehören je 24 Hufen. Die Ritterhufen liegen
mit den Bauernhufen im Gemenge und werden im gemeinsamen
Flurzwange von den Rittern selber bewirtschaftet. Eine Grund-
herrschaft der Ritter über die Bauern hat noch nicht in jedem
Falle eine feste Ausbildung erfahren. Erst als im 16. Jahrhundert
die Rittergüter einen wirtschaftlichen Aufschwung nehmen, den
die bäuerlichen Wirtschaften nicht mitzumachen vermögen,
geraten die Bauern in eine immer stärker werdende Wirtschaft-
174 Literaturbericht.
liehe und rechtliche Abhängigkeit von den Gutsherrn. Doch
hat ein bewußtes Bauernlegen weder jetzt noch in den folgenden
drei Jahrhunderten stattgefunden; im Gegenteil — bis in das
18. Jahrhundert hinein zeigten sich die Gutsherrn bemüht,
die Bauernstellen immer wieder zu besetzen. Eine einschneidende
Wandlung vollzog sich erst seit Ausgang des 18. Jahrhunderts.
Dem Feldmarschall v. Zieten war es gelungen, alle drei Ritter-
güter des Dorfes in seiner Hand zu vereinigen und damit sich
die Unterlage für die Einrichtung eines landwirtschaftlichen
Großbetriebes zu schaffen. Die unter ihm und seinem Sohne
vorgenommene Separation und Regulierung wurde in einer
die Bauern stark benachteiligenden Weise durchgeführt. Gleich-
wohl vermochten sich die Bauernwirtschaften aber auch jetzt
noch zu halten, bis sie dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts zur Hälfte eingingen und dem Rittergute anfielen.
Von seinem alten Dorfcharakter hat Wustrau viel eingebüßt.
Zu dem Zietenschen Gute, das bis zum Jahre 1764 nur ein mittel-
großer Hof neben andern ritterlichen und bäuerlichen Höfen
gewesen war, gehören heute mehr als zwei Drittel der gesamten
Dorfflur. Der alte Dorfring besteht nur noch zur Hälfte; die
eine Seite wird von dem herrschaftlichen Parke eingenommen.
Berlin-Friedenau. Skalweit.
Das Ausgabenbuch des Marienburger Hauskomturs für die Jahre
1410—1420. Mit Unterstützung des Vereins für die Her-
stellung und Ausschmückung der Marienburg herausgegeben
von Walther Ziesemer. Mit 1 Karte, Plan, Schriftproben
und Wasserzeichen. Königsberg, Thomas & Oppermann.
1911. XXXIII u. 464 S. 18 M.
Es ist kein Zufall, daß eine so wertvolle Quelle, wie das
Ausgabenbuch des Marienburger Hauskomturs ist, gerade auf
Veranlassung des Vereins für die Herstellung der Marienburg
herausgegeben worden ist. In noch höherem Maße nämlich als
das unter Beihilfe desselben Vereins 1896 von Erich Joachim
publizierte Treßlerbuch bietet es gerade für die Baugeschichte
der Marienburg die schätzbarsten Nachrichten. Fällt doch die
Abfassung des Ausgabenbuches gerade in die große Zeit des
Tannenberger Krieges, des ungeheuren Zusammenbruches des
Ordens und seiner Wiederaufrichtung durch den heldenhaften
Deutsche Landschaften. 175
Heinrich v. Plauen. Die Möglichkeit dieser Wiederaufrichtung
aber beruhte auf der ruhmvollen Verteidigung der Marienburg,
die allerdings schweren Schaden bei der Belagerung erlitten hatte.
Von der Ausbesserung dieses Schadens und von der darauffol-
genden großartigen Erweiterung und Verstärkung des Ordens-
haupthauses weiß das Ausgabenbuch dem Kundigen vielerlei zu
berichten. Das erklärt sich aus der Stellung des Hauskomturs;
er hatte die Schloßverwaltung im besonderen unter sich, er stellte
das Gesinde und die Knechte an, er verwaltete das Verkehrs-
wesen, hatte für Fuhrleute und Wagenpark zu sorgen, er hatte
im einzelnen die für den Betrieb nötigen Gerätschaften zu be-
schaffen. Ihm unterstand aber auch das Bauwesen, denn er war
es, der die Zimmerleute, Maurer, Steinmetzen und andere Arbeiter
„zu Werke" schickte, d. h. ihre Arbeiten verteilte, beaufsichtigte
und entlohnte. Indem nun das Ausgabenbuch die einzelnen
Posten für Löhne, für Materialbeschaffung, für Transportkosten
usw. enthält, gibt es Auskünfte über außerordentlich wichtige
Vorgänge im Bauwesen des Schlosses. Freilich Auskünfte, die
der Sichtung und Kritik von sachverständiger Seite bedürfen.
So hat denn Steinbrecht, der ebenso meisterhaft in den geschrie-
benen wie in den steinernen Urkunden zu lesen versteht, nicht
nur die Publikation veranlaßt, sondern ihr auch einen vortreff-
lichen, äußerst lehrreichen Exkurs über das Bauwesen der Kom-
turei Marienburg in den Jahren 1410 — 1420 beigegeben. Die
Einleitung Ziesemers gibt Auskunft über die Stellung des Haus-
komturs zu Marienburg, sein Verhältnis zum Großkomtur und
zum Treßler, über seine amtliche Tätigkeit und über die Anlage
seines Ausgabenbuches und die Art seiner Führung. Soweit es
möglich ist, stellt er auch die einzelnen Inhaber des Amtes fest.
Der Textabdruck ist sorgfältig und praktisch, man bemerkt mit
Vergnügen die vortreffliche philologische Schulung des Heraus-
gebers, die sich auch schon in anderen Arbeiten bewährt hat;
die Einrichtung des Textes entspricht der beim Treßlerbuch
bereits angewandten und erprobten. Sehr viel ausführlicher als
in der Treßlerbuchausgabe sind erfreulicherweise die Register,
was die Benutzung ganz außerordentlich erleichtert. Daß ein-
zelne kleine Versehen darin untergelaufen sind, wird niemand,
der von der Mühseligkeit und Schwierigkeit der Herstellung
solcher Register einen Begriff hat, dem Herausgeber zum Vor-
176 Literaturbericht.
wurf machen. Die meisten dieser Irrtümer hat Perlbach schon
mit gewohnter Exaktheit festgestellt (Altpreuß. Monatsschrift 48,
S.327); ich brauche sie hier nicht zu wiederholen, dagegen möchte
ich auf folgenden Punkt aufmerksam machen: der mittelalter-
liche Adel kannte nicht das Wörtchen „von" als Adelskennzeichen,
bei ihm bezeichnet es immer nur Herkunft oder Besitz. Solche
Namen, die weder einen Ort noch ein Gut anzeigen, sondern
eben reine Familiennamen sind, werden daher im Mittelalter
auch nie mit dem ,,von" geziert, das wäre für das natürliche
Sprachempfinden jener Zeit, das noch durch keine Zeitungen
verdorben war, ganz unerträglich gewesen. Es empfiehlt sich
daher, um Sprachwidrigkeiten zu vermeiden, in Anmerkungen
und Registern zu mittelalterlichen Texten nur dann ein von vor
den Namen zu setzen, wenn es sich auch im Text findet, also
nicht Hermann von Gans, Heinrich von Klotz usw. Sehr
nützHch für das Studium des Buches sind die Beigaben, eine
Karte des Gebietes Marienburg von Bernhard Schmid, ein Über-
sichtsplan der Marienburg mit allen sicher festgestellten mittel-
alterlichen Ortsbenennungen von Steinbrecht und die Schrift-
proben und Wasserzeichen aus den beiden Handschriftenbänden
des Danziger Archives. Der preußischen Geschichtsforschung
ist mit der Publikation des Marienburger Ausgabenbuches ein
wertvoller Dienst geleistet, aber von dem reichen Schatze der
Ordensarchive harren noch viele ähnliche Urkunden von großem
Quellenwerte der Veröffentlichung; ich erinnere an das Marien-
burger Konventsbuch, an die Sold- und Schadenbücher usw.;
es wäre sehr zu wünschen, wenn Z. auch ihrer Bearbeitung
seine Kraft widmen wollte und sich noch mehr Männer fänden,
die wie Steinbrecht ihre Autorität und Mühe einsetzten, um die
materielle Unterlage für diese nicht billigen Publikationen zu
schaffen. — Wie ich inzwischen erfahren habe, ist die Heraus-
gabe des Konventsbuches durch Ziesemer im Gange.
Schlobitten. Krollmann.
Die Entstehung der Landeshoheit in Österreich. Von Dr. Otto
Frhr. v. Dungern. Wien und Leipzig, Alfr. Holder. 1910.
II u. 197 8.
Das Buch des Freiherrn v. Dungern darf eine mehr als
landesgeschichtliche Bedeutung beanspruchen, denn es sucht
Österreich. 177
auf einem neuen Wege das alte Problem der Entstehung der
Landeshoheit in einem bestimmten Territorium zu lösen. Als
Genealoge tritt sein Verfasser vom genealogischen Standpunkte
aus an seine Aufgabe heran.
V. D. lehnt die alte grundherrliche Theorie ausdrücklich ab.
Er verwirft aber ebenso die heute herrschende Theorie, die die
Entstehung der Landeshoheit aus dem Erwerb öffentlich-recht-
licher Hoheitsrechte, vor allem der Grafengewalt erklären will.
Nach ihm erwuchs die Landeshoheit aus der durch planmäßige
Politik der Landesherren bewirkten und von der Reichsgewalt
begünstigten Überführung der Freien und Unfreien in einen
neuen einheitlichen Untertanenverband.
Wir haben mithin zwei Faktoren in Betracht zu ziehen.
Auf der einen Seite das Reich. Im 12. Jahrhundert ist die alte
einst wohlgefügte Dynastenklasse in voller Auflösung und Ver-
wirrung. Die Staufer suchen Ordnung zu schaffen, indem sie
die Kleineren den Größeren aufopfern, um in diesen brauchbare
Stützen ihrer Politik zu gewinnen. Auf der anderen Seite stehen
die größeren Dynasten. Sie sammeln „Menschen nicht Grund-
besitz". In mühsamer Einzelforschung — wie sie nur ein Genealoge
vom Range v. D.s zu leisten vermochte — wird darum versucht,
die verschiedenen Bevölkerungsklassen im Österreich der Staufer-
zeit zu rekonstruieren. Als Resultat der Untersuchungen über
die Grafengeschlechter, die Familiennamen, die Umwandlungen
der Amtstitel in Familienbezeichnungen ergeben sich drei Klassen:
I. die Dynasten oder Hochfreien, 2. die kleinen freien Grund-
besitzer, 3. die privatrechtlich abhängigen Einwohner, vor allem
die Ministerialen. Die Politik der Babenberger erreichte es
— wie V. D. im letzten Kapitel ausführt — die Dynasten zu ver-
drängen oder zu unterwerfen, die kleinen Freien in die Ministe-
rialität oder in eine unpolitische bäuerliche Existenz zu bringen
und aus den privatrechtlich abhängigen Einwohnern wenigstens
die Ministerialen herauszuheben.
Der Referent ist geneigt, in den ständegeschichtlichen Ab-
schnitten die wertvollsten Teile des Buches zu erblicken. Ein
reiches Tatsachenmaterial tritt auch hier wieder wie in v. D.s
Herrenstand vorteilhaft in Erscheinung und befähigt ihn mit
den Mitteln der soviel von Dilettanten gepflegten aber von Fach-
männern meist mißachteten Genealogie wertvolle, wenn auch
Historische Zeitsctirift (111. Bd.) 3. Folge IS.^Bd. 12
178 Literaturbericht.
nicht durchgängig neue Resultate zu erzielen. Gewiß ist nicht
alles, wie übrigens v. D. selbst bemerkt, gesichert; aber auch
hier besteht der von A. Schulte (Der Adel und die deutsche
Kirche im Mittelalter S. 25) über des Verfassers Herrenstand
geschriebene Satz zu Recht: „Wer wollte auf einem so großen,
so liederlich bestellten und so lehmigen Boden nicht einmal
daneben treten." Die These über die Entstehung der Landes-
hoheit scheint jedoch dem Referenten nicht erwiesen. Für die
Auffassung der staufischen Reichspolitik fehlt einstweilen noch
eine wirklich quellenmäßige Begründung. Daß die Landesherren
Dynasten aus ihrer Stellung verdrängten und Freie in die Mini-
sterialität brachten, ist eine schon beobachtete Erscheinung,,
die aber schwerlich zu v. D.s weittragenden Schlüssen berechtigen
dürfte. Die Ausdehnung der landesherrlichen Gewalt knüpfte
an die gräfüche Gerichtsbarkeit an, und den vielleicht wichtigsten
Wendepunkt bildete der Wegfall der königlichen Bannleihe.
Freiburg i. Br. Johannes Lahusen.
österreichische Staatsverträge. Fürstentum Siebenbürgen (1526>
bis 1690). Bearbeitet von Roderid) Gooß. Wien, Holzhausen
und Leipzig, Engelmann. 1911. XI u. 974 S.
Das vorliegende Buch enthält neben 94 Staatsverträgen,,
die der Zeit vom 26. März 1527 bis 1. Mai 1690 angehören, die
Friedensschlüsse von Großwardein vom 24. Februar 1538
samt den dazugehörigen Akten (Nr. 12 — 16, S. 49 — 85), von
Wien vom 23. Juni 1606 (Nr. 40—45, S. 278—367), Preß-
b u r g vom April 1613 (Nr. 49, S. 41 1—420), N i k o 1 s b u r g
vom 31. Dezember 1621 (Nr. 60, 61, S. 504—562), Wien vom
8. Mai 1624 (Nr. 65, S. 591—609), P r e ß b u r g vom 20. De-
zember 1626 (Nr. 68, S. 618—613), Kaschau vom 3. April
1631 (Nr. 71, S. 645—658) und Linz vom 16. Dezember 1645
(Nr. 74 — 76, S. 715—805). Alle sind samt dem einschlägigen
Material mit ausführlichen Einleitungen und den nötigen Lite-
raturvermerken zum Abdruck gebracht. Die allgemeineren Frie-
densschlüsse von Adrianopel, Szöny, Vasvär und Zsitvatorok
werden beiläufig gestreift. Von Waffenstillständen werden 44
aus der Zeit vom 26. März 1627 bis zum 15. Juni 1662 vorgelegt.
Die Arbeit ist mit großer Sorgfalt in Angriff genommen und
durchgeführt worden; man darf das trotz einiger unterlaufener
Schweiz. 179
Auslassungen und Versehen behaupten. Was diese betrifft, hat
seinerzeit Fr. Schuller im 26. Band, 1. und 3. Heft, 28. Band,
3. Heft, und 29. Band, 3. Heft des Archivs d. Ver. für sieben-
bürgische Landeskunde 230 Nummern „Urkundliche Beiträge
zur Geschichte Siebenbürgens von der Schlacht bei Mohäcs bis
zum Frieden von Großwardein" aus dem k. u. k. Haus-, Hof-
und Staatsarchiv in Wien mitgeteilt, die nicht bloß Ergänzungen
zu den von Gooß publizierten Materialien, sondern in der Einleitung
auch wichtige Bemerkungen über die Provenienz der Briefe,
Akten und Urkunden enthalten. Auf einzelne Nummern dieser
Sammlung ist schon aus dem Grunde hinzuweisen, weil in ihr
und der vorliegenden Sammlung manche Daten verschieden ver-
merkt sind. So hat Schuller (Beiträge XXVI, 251) das richtigere
Datum für die ungarische Königswahl Ferdinands I. (s. auch
Huber, Gesch. Österreichs HI, 556). Zu Nr. 11 der vorliegenden
Sammlung sind aus jener Schullers im 29. Band des Archivs
die Nummern 195, 196, 198, 202 — 204 zu erwähnen. Mehrere
sind für die Vorverhandlungen zum Frieden von Großwardein
belangreich, so namentlich die letzte Nummer, in welcher Fer-
dinand I. seinem Bruder die Gründe mitteilt, die beim Abschluß
des Friedens mit Johann Zapolya maßgebend gewesen. Zu
S. 226, 236 u. a. wäre auf die Schrift von K. Reißenberger, Maria
Christiana von Innerösterreich im 30. Heft der Mitt. des bist.
Vereins für Steiermark hinzuweisen gewesen. Die Register sind
mit wünschenswerter Ausführiichkeit und Genauigkeit behandelt.
Von Irrtümern bemerken wir im Sachregister Szony 637 statt
638, Vasvär 647 statt 646.
Graz. J. Loserth.
Zürich, Massdna en Suisse messidor an VII — brumaire an VIII
(juillet-octobre 1799). Par le capitaine L, Hennequin de
la section historique de l'Etat-major de l'armde. Publik
sous la direction de la Section historique de l'Etat-major
de Varmde. Paris, librairie militaire Berger-Levraut. 1911.
559 S. und 8 Karten.
Die Geschichte des Feldzugs von 1799 in der Schweiz, der
Namen wie Suworof, Erzherzog Karl, Hotze, Mass^na, Lecourbe,
Ney, Soult, Oudinot, Molitor angehören, ist Gegenstand zahl-
reicher neuerer Forschungen geworden. Zu dem grundlegenden
Werk des Russen Miliutin kamen, hauptsächlich auf den öster-
12*
180 Literaturbericht.
reichischen Akten fußend, das Buch Angelis über Erzherzog Karl
als Feldherrn und Heeresorganisator und die aufschlußreichen
Publikationen Hermann Hüffers, der unter anderem die oft wieder-
holte Sage, die österreichischen Generalstabsoffiziere hätten
Suworof nicht darüber aufgeklärt, daß die Gotthardstraße am
Urnersee aufhöre, und dadurch seinen Zug über den Gotthard
statt über die Bündnerpässe verschuldet, aktenmäßig widerlegt
hat. Auf schweizerischer Seite hat besonders Reding-Biberegg
(Der Zug Suworof s durch die Schweiz, Zürich 1896) durch Ver-
wertung der in den Pariser Archiven liegenden Korrespondenzen
der französischen Generäle die früheren Darstellungen in wesent-
lichen Punkten berichtigt. Während in der Sammelschrift „Vor
hundert Jahren" (Zürich 1899) Meyer v. Knonau eine ältere
Schilderung der zweiten Schlacht von Zürich von Wilhelm Meyer
mit kritischen Bemerkungen und Ergänzungen neu herausgab,
Oberst F. Becker die erste Schlacht bei Zürich darstellte und
Zeller-Werdmüller gleichsam die Belege für beides aus zeitgenös-
sischen Aufzeichnungen und Briefen beifügte, veröffentlichte das
eidgenössische Generalstabsbureau ein wertvolles Heft „Kriegs-
geschichtliche Studien" mit einer Schilderung der Kämpfe in
der Nordostschweiz bis zum Rückzug Massenas in die Stellung
bei Zürich von Bühler, einer Studie über den Linthübergang
Soults von Galiffe und einer vollständigen Bibliographie über
den Feldzug. Reinhold Günther widmete dem Gebirgskrieg
Lecourbes eine eigene Schrift. Die diplomatische Tätigkeit,
die dem Krieg parallellief, erfuhr neue Beleuchtung durch eine
Schrift Eduard Rotts über Perrochel und Massena sowie durch
eine Arbeit Felix Burckhardts über die schweizerische Emigration,
die ein wenig bekanntes Kapitel aus der Geschichte der zweiten
Koalition mit erschöpfender Gründlichkeit behandelte. Auch
Stricklers große „Aktensammlung aus der Zeit der Helvetischen
Republik" sowie die aus den Pariser Archiven geschöpfte Samm-
lung Dunants über die Beziehungen Frankreichs zur helvetischen
Republik boten mancherlei ergänzende Züge. Die Verflechtung
des Feldzugs mit den politischen Geschicken der Schweiz suchte
der Referent in dem 1903 erschienenen ersten Bande seiner
„Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert" darzulegen.
Seitdem haben auch französische Forscher sich mit dem
Gegenstand beschäftigt. 1904 erschien ein Band von E. Gachot
Schweiz. 181
über den Feldzug in Helvetien, der aus bisher unbenutzten Quellen
im Familienarchiv des Enkels von Mass^na, des Fürsten von Eßling,
schöpfte, im übrigen aber nichts weniger als einwandfrei war;
manche Partien des Buches sind wie aus bloßem Gedächtnis
niedergeschrieben. 1909 gab Gachot aus dem Eßlingschen Fa-
milienarchiv die Papiere von Mar^s, dem Generaladjutanten
Massenas, heraus, eine wirklich wertvolle Quelle, Weitaus das
Vorzüglichste aber, was von französischer Seite geleistet wurde, ist
das letztes Jahr unter den Auspizien der historischen Sektion
des französischen Generalstabs veröffentlichte Buch von Haupt-
mann Hennequin, von dem nur zu bedauern ist, daß es
bloß die zweite Hälfte des Feldzugs vom Juli bis Oktober, in
der allerdings die Entscheidungen gefallen sind, behandelt.
Dafür hat der Verfasser die reichen Schätze des französischen
Kriegsarchivs, die Korrespondenz der Generäle, des Kriegs-
ministers und Direktoriums, die Wochen- und Monatsbulletins
und Situationstabellen der Divisionen und der Armee systematisch
für seinen Zweck durchgearbeitet und auch die Archive der
Familien Massenas und Lecourbes herangezogen. Mit der ein-
schlägigen Literatur, auch der deutschen und schweizerischen,
zeigt er sich wohl vertraut; nur wenige Arbeiten sind ihm ent-
gangen. Mit der Sorgfalt und Gründlichkeit in der Quellenbe-
nutzung verbindet Hennequin eine zutreffende Kritik und steht
nicht an, gewollte oder ungewollte Lücken, Unwahrscheinlich-
keiten und Übertreibungen in den französischen Berichten zu
signalisieren, wo ihm solche aufstoßen. Die Darstellung ist
phrasenlos, von erquickender Sachlichkeit und Objektivität;
man hat das Gefühl, daß es dem Autor um nichts als die hi-
storische Wahrheit zu tun sei. Der trostlose Zustand der fran-
zösischen Armeeverwaltung, der Mass^na nötigte, allen Ver-
sprechungen und Verträgen zuwider die ganze Last des Unter-
halts seiner Armee auf die „verbündeten" Helvetier abzuwälzen,
das bedenkliche Verhältnis zwischen Oberbefehlshaber und
Kriegsminister, die Unwissenheit des Direktoriums über die
Bewegungen und Kriegspläne des Feindes, sein fortwährendes
Schwanken im Kriegsplan, nichts wird verhüllt oder beschönigt.
Wie der Umsicht und Tatkraft Massenas und seiner Unterführer,
so läßt Hennequin auch den feindlichen Heerführern und ihren
Truppen volle Gerechtigkeit widerfahren; selbst Korssakof wird
182 Literaturbericht.
von ihm milder beurteilt als gewöhnlich, indem er für die „heroische
Entschlossenheit", mit der sich der russische Feldherr durch
die siegreichen Franzosen aus dem eingeschlossenen Zürich
einen Weg bahnte, anerkennende Worte findet. Der Anteil,
den die wenigen helvetischen Truppen an der Vereitelung des
Aareübergangs des Erzherzogs bei Döttingen und an der Zurück-
weisung Suworofs bei Näfels hatten, wird gebührend gewürdigt.
Bemerkenswert ist auch die gute Kenntnis des schweizerischen
Kriegstheaters, das der Autor persönlich besucht hat. Der ein-
zige topographische Irrtum, der dem Referenten aufgefallen ist,
bezieht sich auf den Teischberg (S. 107), der nicht die Höhe
von Betten, sondern die Felsterrasse unterhalb Lax ist, in der
die oberste Talstufe des Wallis, das Goms, gegen das östliche
Stück des Zehntens Raron abfällt. Auf alle Fälle darf das Buch
Hennequins als ein erfreuliches Zeugnis für den wissenschaft-
lichen Geist bezeichnet werden, der die historische Sektion des
französischen Generalstabs beseelt.
Zürich. Wilhelm Oechsli.
Histoire de Charles V. I (1338— 1358). U (1358—1364). Par R.
DelacbenaL Paris, A. Picard et fils. 1909. XXXV u.
474 S. 494 S.
Es ist nicht uninteressant, zu beobachten, daß zu der gleichen
Zeit, da in Deutschland ein scharfer und nicht immer gerechter
Krieg gegen die Jahrbücher der Deutschen Geschichte geführt
wird und man vielfach an Stelle der „Katakomben" unter Auf-
gabe des Prinzips der Vollständigkeit gedrängtere Darstellungen
verlangt, welche bloß das WesentUche bringen und auch höheren
literarischen Anforderungen genügen, daß zu der gleichen Zeit
in Frankreich nach deutschem Muster die Annales de VHistoire
de France ä Vepoque Carolingienne und jahrbücherartige Werke
entstehen.
Delachenal geht mit der peinlichen Gründlichkeit des An-
nalisten vor, er zieht das gesamte gedruckte und ungedruckte
Material heran und gibt eine schlichte, fast stets chronologische
Darstellung, die allerdings zuweilen etwas trocken und ermüdend
ist. Die einzelnen Kapitel sind in Paragraphen geteilt. Die
beiden stattlichen Bände bringen nur die Vorgeschichte; wie
viele werden noch folgen müssen, um die gesamte Tätigkeit
Frankreich. 183
dieses Fürsten zu würdigen, der sein Land mit starker Hand
von dem Rande des Verderbens gerissen und zu neuer Blüte
geführt hat!
Bereits als Dauphin — der erste Valois übrigens, der sich
so nennen kann — kam Karl mit dem Manne in Berührung,
der ihm Zeitlebens zu schaffen machte: mit Karl von Navarra,
der es immer wieder versuchte, die Krone Frankreichs den Valois
zu entreißen und an die Evreux zu bringen. Als Lieutenant des
Königs in der Normandie wurde der junge Prinz durch die Um-
triebe des Erzbösewichts vortrefflich in das politische Ränkespiel
eingeführt. Bald bot sich die Gelegenheit zu selbständigem
Handeln, da er durch die Gefangennahme König Johanns in der
Schlacht von Poitiers an die Spitze der Regierung gestellt wurde.
Auf Grund eingehender topographischer Studien verfolgt
D. den Gang der Schlacht und legt dabei viel Gewicht auf den
Brief des Schwarzen Prinzen an den Magistrat von London:
Das befestigte Lager der Engländer, das Froissart den Engländern
zuschreibt, fällt damit fort. Leider setzt sich der Verfasser mit
Delbrück nicht auseinander (s. auch einige Ausstellungen von
Tout in der Engl. Hist. Review XXV (1910), 156 ff.).
Zunächst als königlicher Lieutenant für das ganze Reich,
dann als Regent versuchte Karl dem Vater das Reich unversehrt
zu erhalten: wahrlich eine schwere Aufgabe. Nicht nur galt es
stets den Krieg mit England im Auge zu behalten, schwere innere
Kämpfe waren zu bestehen: mit dem König von Navarra, mit den
Reichsständen, welche die Gelegenheit für günstig hielten, um die
königliche Prärogative anzutasten. Dabei kein Geld, kein tüch-
tiges Heer, keine zuverlässigen Beamten, kein Anhang im Volk.
Zu offenem Widerstände gegen die Reformer fehlte es an Macht,
es hieß geschickt lavieren, ausweichen, hinziehen. Karl zeigte
sich in diesen Künsten als Meister: Stephan Marcel verliert sein
Leben, ohne etwas erreicht zu haben.
Währenddessen liefen die langwierigen Verhandlungen mit
England. Sehr wichtig ist es, daß D. im British Museum Abmachun-
gen fand (unter den bemerkenswerten pUces justificaiives II,
S. 402 Nr. XXIII, s. auch II, S. 62 ff. veröffentlicht), die im
Anfang des Jahres 1358 von den beiden Königen getroffen
wurden. Erst als dieser erste Vertrag von London nicht zustande
kam, entschloß sich der „gute" König, dem seine Freiheit über
184 Literaturbericht.
sein Reich ging, zu dem schmachvollen zweiten Frieden von
London (24. März 1359), der für den Regenten unannehmbar
war. Mißerfolge zwangen König Eduard zur Nachgiebigkeit,
auf die Verhandlungen von Bretigny folgte dann endlich der
Friede von Calais. Vier Jahre nach der Rückkehr seines Vaters
wurde der 26 jährige (nicht 1337, sondern 1338 geboren) selbst
König: kränklich (nach Brächet Skrofulöse in Verbindung mit
schleichender Tuberkulose), aber von größter Energie. Petrarca
lobte an dem Dauphin den Spiritus ardentissimus. Als wahrer
Nachkomme der Luxemburger hatte Karl Sinn für Prunk und
Pracht und zeigte schon früh die größte Freude an Kleinodien;
ein Inventar von 1363 zählt beinahe 1000 Gegenstände auf.
Bereits als Dauphin kaufte er dem Grafen von Etampes das
Schloß ab, das seine sorgsame Hand zum weithin berühmten
Hotel Saint Pol umgestaltete.
Dem bedeutenden Werke sind beigegeben das bekannte
Porträt König Johanns aus der BibHotheque Nationale, eine Mi-
niatur aus dem Jahre 1367, welche den Dauphin darstellt (Bibl.
Nat. fr. 5707) und endlich eine Karte für die Schlacht von Poi-
tiers. Mit Spannung sieht man der Fortsetzung entgegen.
Heidelberg. Otto Cartellieri.
La juridiction de la municipalitd Parisienne de Saint Louis ä
Charles VIL Par Georges HuismaD, (Bibliothkque d'hi-
stoire de Paris pubL sous les auspices du Service de la
Bibliothkque et des travaux historiques de la ville.) Paris,
Ernest Leroux. 1912. XV u. 261 8.
Histoire de la ville et communautd de Pontivy au XVIII^ siicle.
Essai sur l' Organisation municipale en Bretagne. Par
F. Le Lay. (Le Bretagne et les Pays Celtiques, sdrie in-8,
I.) Paris, Honord Champion. 1911. III u. 396 S.
Wir bringen hier zwei interessante und verdienstliche Ver-
öffentlichungen zur Geschichte der französischen Städte und ihrer
Verfassung zur Anzeige.
Unter den Städten Frankreichs nimmt Paris verfassungs-
geschichtlich eine ganz besondere Stellung ein. Die Magistratur
ist hier hervorgegangen aus der Vorstandschaft der wichtigsten
Gilde, nämlich der den Namen „Hanse" tragenden Vereinigung
der Kaufleute, die auf der Seine Handel trieben. Der Prevöt des
marchands, das Haupt der Pariser Stadtverwaltung, und die
Frankreich. 185
ihm zur Seite stehenden vier Schöffen (ichevins) sind nichts anderes
als der alte Privöt des marchands de l'eau, der Vorsitzende der
Pariser Hanse, mit seinen juris oder ichevins, doch umkleidet
mit Funktionen für die gesamte Bürgerschaft. Wie diese Ent-
stehungsgeschichte dauernd deutliche Spuren in den städtischen
Organen und ihren Funktionen zurückließ, zeigt in belehrender
Weise das Buch von Huisman über die ältere Geschichte der
städtischen Gerichtsbarkeit in Paris. Wir verdanken seine Ver-
öffentlichung dem Enseignement d'histoire de Paris, einer zum
Zweck der Belehrung gebildeten (auch öffentliche Vorträge ver-
anstaltenden) Abteilung des großen und verdienten wissenschaft-
lichen Instituts der Stadt Paris, das den Namen Bibliotheque et
travaux historiques de la villede Paris trägt und namentlich auf den
Schultern von Marcel Poete ruht. H., ein Schüler von Poete,
beginnt seine Untersuchung mit der Zeit Ludwigs des Heiligen,
in welcher zuerst die städtische Beamtenschaft erscheint (er
setzt S. 21 die Erlangung städtischer Funktionen durch die
Hanse vielleicht allzu genau auf „gegen 1260 oder 1261" an).
Die ausführliche Einleitung beschäftigt sich aber zurückgreifend
auch mit der Entstehung und Geschichte der Hanse und ihrer
Gerichtsbarkeit sowie mit der weiteren Geschichte der Stadt-
verfassung durch ein Jahrhundert friedlicher Entwicklung und
durch die anschließenden Stürme zur Zeit Etienne Marcels (1357
bis 1358), der Cabochiens (1413) und des ganzen Bürgerkriegs
bis zur Thronbesteigung Karls Vll. (1422). Dann folgt ein-
gehend die Geschichte des sogenannten Parloir aux bourgeois,
seiner Organisation und seiner Gerichtsbarkeit über Hanse und
Stadt. Das Parloir aux bourgeois war ursprünglich das Gemeinde-
haus, in dem die städtische Magistratur sich versammelte. H. ge-
braucht das Wort aber speziell vom Stadtgericht, das ursprünglich
aus dem Prevöt des marchands und den Schöffen, später aus
einem Lieutenant und seinen Beisitzern bestand, obgleich auch
ein im Jahre 1296 geschaffenes und ebenda tagendes Kollegium
von 24 Männern zur Unterstützung des Prevöt und der Schöffen
gelegentlich ebenso genannt wird (das S. 41 f. über dieses Kol-
legium Bemerkte bedarf überhaupt der Ergänzung). Der Umfang
der städtischen Gerichtsbarkeit war in Paris nicht sehr groß
und läßt den Ursprung aus der Korporationsgerichtsbarkeit
der Hanse erkennen. Es handelt sich dabei im wesentlichen um
186 Literaturbericht.
die Handelsgerichtsbarkeit auf der Seine und ihren Nebenflüssen,
um eine beschränkte Gerichtsbarkeit in Steuersachen (geflossen
aus der Mitwirkung der städtischen Organe bei der Repartition
der Steuern) sowie um die Gerichtsbarkeit in Angelegenheiten
städtischen Eigentums. Da sich die Stadt im allgemeinen in den
Grenzen ihrer Zuständigkeit hielt, hatte sie auch nur verhältnis-
mäßig selten Kompetenzstreitigkeiten mit der Gerichtsbarkeit
des königlichen Privöt von Paris (im Chätelet), noch seltener mit
dem Parlament. Die Reste der alten Bestände des Stadtarchivs,
des Chätelet und des Parlaments sind die archivalischen Quellen,
die H. mit erheblichem Erfolg für seine gründliche Arbeit neben
der gedruckten Literatur herangezogen hat.
In eine andere Zeit und in eine andere Gegend führt uns das
Buch von Le Lay. Es beschäftigt sich mit der Stadt P o n t i v y
in der Bretagne (heute Departement Morbihan) während des
Jahrhunderts von 1680 — 1789. Diese Umgrenzung geht äußerlich
darauf zurück, daß die ergiebigen Akten des Standesamts von
Pontivy erst seit etwa 1680 erhalten sind. Sie entbehrt aber auch
nicht ganz der inneren Berechtigung; denn die Stadt hat im
18. Jahrhundert eine wichtige, ihr Aussehen verändernde Um-
bildung erfahren. Der Beginn einer städtischen Verfassung läßt
sich in Pontivy bis ins 16. Jahrhundert zurück verfolgen; schon
1570 war die Stadt in den Provinzialständen der Bretagne vertre-
ten. Aber während in der älteren Zeit die gesamte Bürgerschaft
an der Verwaltung teilnahm und sie im wesentlichen nach den
Wünschen ihrer herzoglichen Seigneurs aus dem Hause Rohan
führte, hat im Jahre 1717 die durch Tuchhandel und Leder-
industrie reich gewordene kaufmännische Bourgeoisie es verstan-
den, das Regiment der Stadt vollständig in ihre Hände zu bekom-
men. Diesem Wandel und seinen Grundlagen, d. h. den Ver-
hältnissen und Verschiebungen innerhalb der Bevölkerung, geht
Le Lay zunächst nach, um dann die Tätigkeit der städtischen
Behörden sowie die Rechte des Königs und des Herzogs von
Rohan in anschaulicher Weise zur Darstellung zu bringen und
mit einem Kapitel über die politische Rolle der Gemeinde in den
bewegten Jahren 1788 — 1789 zu schließen. So stellt sein auf
archivalischer Grundlage ruhendes Buch einen hübschen Beitrag
zur Geschichte des Dritten Standes in Frankreich dar.
Straßburg i. E. Robert Holtzmann,
England. 187
Life of Sir Henry Vane the Younger with a History of the Events
of his Time. By William W. Ireland, London, Eveleigh
Nash. 1905. XVI u. 513 S.
Die vorliegende Biographie des jüngeren Sir Henry Vane
ist mit großer Liebe verfaßt, ja mit so vieler Liebe, daß dem
Autor darüber der richtige Maßstab für die Würdigung seines
Helden verloren gegangen ist. Vane war ein Mann von tüch-
tigem Können und großer Arbeitskraft, ein echter Puritaner
und ein echter Freund freiheitlicher Bestrebungen. Seine bedeu-
tendsten Leistungen liegen auf dem Gebiete der Verwaltung,
insbesondere der Marineverwaltung in der Zeit des Common-
wealth. An dem großen Aufschwung der englischen Seemacht
unter der Republik hat er sein redliches Verdienst. Als einer
der führenden Männer im langen Parlament hat er, bis zum
Sturze desselben im Jahre 1653, an allen Fragen der inneren
und äußeren Politik den lebhaftesten Anteil genommen und
oft wichtige Entscheidungen herbeigeführt. Aber mit alledem
wird man ihn schwerlich als einen der größten Staatsmänner
Englands, wie der Verfasser es tut, bezeichnen können. Schon
mit Hampden und Pym ist er nicht zu vergleichen. Der wahre
Leiter der Geschicke des Landes ist er nie gewesen, und da er
im entscheidenden Augenblicke es nicht vermochte, eine Ver-
ständigung zwischen dem ihm befreundeten Cromwell und dem
am Besitze der Macht klebenden Parlamente herzustellen, so
ist er mit diesem gefallen. „Der Herr erlöse mich von Sir Henry
Vane", herrscht Cromwell ihn an und spricht damit seiner poli-
tischen Befähigung das Urteil.
Der Überschätzung Vanes entspricht es auch, wenn der
Verfasser an seinem Helden schlechthin nichts zu tadeln findet,
weder an seinen Gedanken noch an seinen Handlungen. In Wahr-
heit ist doch, um nur soviel zu erwähnen, an Vanes Tätigkeit
in den amerikanischen Kolonien wie an seiner stark mystischen
Religiosität von jeher wohl mit Recht Kritik geübt worden.
So ist das Bild Sir Henry Vanes einseitig gezeichnet, ohne volles
Verständnis der Zeit. Das vorhandene Quellenmaterial ist zwar
benutzt, aber nicht kritisch verwertet. (Die Darlegung S. 347
bis 350 ist wenig glücklich. An dem Versuche der Mitglieder
des langen Parlaments, ihre Sitze auch im folgenden zu behalten,
ist nicht zu zweifeln. Ihre Absicht „to perpetuate themselves"
188 Literaturbericht.
durfte Cromwell in seinen späteren Reden, Carlyle Speech I
und III, wie eine notorische Sache behandeln.) Und die Resultate
der modernen Wissenschaft — er sagt es selbst in seiner Vor-
rede — kümmern den Verfasser nicht.
Freiburg i. Br. W. Michael.
Forum Conche. Fuero de Cuenca. The latin text of the municipat
charter and laws of the city of Cuenca, Spain. Edited with
an Introduction and Critical Notes by George H. Allen,
Ph. D. p. I. II. (University Studies publ. by the University
of Cincinnati, Ser. II, Vol. V, No. 4 und Vol. VI, No. 1.)
Cincinnati, University Press. 1909—10. 92 u. 134 S.
Man unterscheidet unter den Fueros eine ältere Gruppe
aus dem 11. und Anfang des 12. Jahrhunderts, deren Repräsen-
tanten meist von sehr beschränktem Umfange sind, und eine
jüngere meist ausführlicher Gesetze, die seit ca. 1150 entstanden
sind. Einer der ältesten Vertreter der jüngeren Gruppe ist der
fuero von Cuenca, dessen Entstehung in die Zeit von der Geburt
Ferdinands des Heiligen (1189) bis zum Tode seines Vaters Alfons
(121 1) fällt. Der Text desselben hat für eine ganze Anzahl anderer
fueros, die besonders an Ortschaften der Provinzen Estremadura
und La Mancha verliehen wurden, als Vorlage gedient, und die
Wichtigkeit seiner näheren Untersuchung ist wiederholt aner-
kannt worden. Trotzdem war seine Veröffentlichung über einen
stecken gebliebenen Versuch zu Ausgang des 18. Jahrhunderts
nicht hinausgediehen. Es ist daher eine sehr verdienstliche
Leistung, daß Allen von dem wichtigen Dokumente jetzt einen
kritischen Text gegeben hat, den er auf der Überlieferung einer
Pariser und zweier Handschriften des Escorial aufbaut, von
denen die eine den für die Stadt Haro abgeänderten, sonst aber
genau dem fuero von Cuenca entsprechenden Wortlaut enthält.
Der der Ausgabe beigegebene Apparat beschränkt sich vorläufig
auf die Anführung der Textvarianten; eine eingehende Würdi-
gung des Inhalts, die besonders auch die Stellung des Dokumentes
gegenüber dem fuero von Teruel, der vielfach mit Unrecht als
sein unmittelbares Vorbild angesehen worden ist, darlegen soll»
beabsichtigt der Verfasser der Ausgabe folgen zu lassen.
Friedenau. K. Haebler.
Asien. 189
Quellen und Forschungen zur Erd- und Kulturkunde. Heraus-
gegeben unter Mitwirkung hervorragender Fachgelehrter
von Dr. R. Stube. Bd. 3: Iran im Mittelalter nach den
arabischen Geographen. II. Von Dr. Paul Schwarz, Pro-
fessor an der Universität Leipzig. Leipzig, Wigand. 1910.
VIII u. 67 S.
Der verstorbene große Arabist Prof. M. J. de Goeje hat mit
seiner Bibliotheca Geographorum Arabicorum ein monumentales
Werk geschaffen, das eine unendliche Fülle von Material zur Kennt-
nis der muslimischen Lande des Mittelalters und zur Beurteilung
der Geographie und Geschichte bei den Arabern bietet. Zum
großen Teile war dies Material allein den Arabisten zugänglich»
da nur wenige der Texte, die von ihm mit so unvergleichlicher
Akribie und Sprach- und Sachkenntnis herausgegeben wurden,
auch übersetzt worden sind. Es wird auch der Einzelarbeit vieler
Forscher bedürfen, um alles darin Enthaltene für die nichtorien-
talischen Geographen und Historiker nutzbar zu machen.
Nun hat der Leipziger Arabist P. Schwarz sich die Aufgabe
gestellt, alles was uns die Araber in ihren Schriften über Iran
überliefert haben, zu verarbeiten und systematisch darzustellen.
Bereits in seiner Habilitationsschrift vom Jahre 1896 hat er eine
Probe seiner gründlichen Arbeitsweise gegeben. In ihr behandelte
er die nördüchen Provinzen der eigentlichen Landschaft Persis.
Die vorliegende Schrift schließt sich direkt an ihre Vorgängerin
an: sie schreitet weiter nach Südosten vor und enthält die Be-
schreibungen der Provinzen Ardesir Hurre und Däräbegird, also
der Gegenden, die auf der Ostseite (der persischen Seite) des per-
sischen Golfes liegen. Schw. hat sich natürlich dabei nicht nur
auf die von de Goeje herausgegebenen Geographen beschränkt,
obwohl diese ihm das Hauptmaterial lieferten, sondern auch alle
anderen erreichbaren historischen und geographischen Quellen
herangezogen.
Es war für mich unmöglich und — nach dem Eindruck,
den die sorgfältige Arbeitsweise des Verf. macht — auch un-
nötig, die Originale überall einzusehen und die Übersetzungen des
Verf. auf ihre Zuverlässigkeit hin zu prüfen. Ich muß mich daher
hier damit begnügen, einen Einblick in den interessanten Inhalt
zu gewähren.
190 Literaturbericht.
Das Heft enthält, wie gesagt: I. Die Provinz Ardesir Hurre
mit der Hauptstadt Schiraz (Siräz); H. Die Provinz Däräbegird
mit gleichnamiger Hauptstadt (heute Darab oder Kala Darab).
In I werden nacheinander beschrieben: 1. Siräz; 2, Gür, die alte
Hauptstadt, später Firüzäbäd; 3. Siräf, die alte Hafenstadt der
Provinz, die im Jahre 366/367 der Higra durch ein großes
Erdbeben zerstört wurde, deren Bewohner durch den Handel
reich geworden waren und in der eine sehr laxe Moral herrschte,
wie das ja auch in vielen anderen Hafenstädten der Fall war
und ist; 4. Tauweg, eine größere Stadt im Nordwesten, die als
Tacke zur Zeit Alexanders des Großen genannt wird ; 5. weniger
bedeutende Bezirke und Städte der Provinz, darunter das jetzt
verschollene Gundigän, das zur Zeit der Sasaniden eine große
Rolle spielte, da ein Wezier dort geboren war, ferner das berüch-
tigte Seeräubernest Hisn Ibn 'Umära zwischen Siräf und Hormuz,
dem zur Portugiesenzeit bekannten Hafen; 6. die Inseln des Per-
sischen Meerbusens, und zwar zuerst die größeren, Gazirat Bani
Käwän vor Hormuz, Uwäl {— Bahrain, auf der arabischen Seite)
und Härak (im Norden auf der persischen Seite), dann die klei-
neren, unter denen besonders Kis oder Kis zu nennen ist, auf der
sich die Residenz des „Herrschers dieses Meeres" befand; 7. Kur-
kum und Kärijän, zwei Bezirke, die von dem Geographen al-
Mukaddasi zu dieser Provinz gerechnet werden. In II steht
voran die Hauptstadt Däräbegird, dann folgt die große Stadt
Fasä (= Pasä); danach kommt noch eine Anzahl von kleineren
Bezirken und Städten, von denen mehrere aber auch ihre Be-
deutung für Industrie, Handel und Verkehr haben.
Die Beschreibungen aller dieser Bezirke und Städte bieten
viele interessante und wichtige Tatsachen zur Kultur- und Wirt-
schaftsgeschichte. Das, wodurch diese Gegenden auch für den
Welthandel besonders wichtig geworden sind, steht natürlich auch
hier voran: das Rosenwasser, die Perlen, Fischerei, die Teppich-
weberei und die Webstickerei. Von mannigfachen Webereiarbeiten
hören wir bei der Beschreibung von Siräz (S. 51), von Tauweg
(S. 67—68), von Däräbegird (S. 94), von Fasä (S. 98), von Öahram
(S. 103); von Furg (S. 107) und von Tärim (S. 108). Diese Pro-
duktion scheint meist schon im großen betrieben zu sein; denn
bei der Erwähnung der großen Zimmerteppiche von Gahram
wird besonders bemerkt: „es gibt dort keine Manufaktur, die dem
Asien. 191
Fürsten und den Kaufleuten gehört". Rosenwasser wurde natür-
lich besonders aus den „Rosen von Schiraz" gewonnen (S. 52),
aber das von Gör (Firüzäbäd) und von Kuwär (S. 81) wurde noch
mehr geschätzt (S. 58). Wohlriechende Essenzen wurden auch
aus anderen Blüten gewonnen: aus Jasmin in §iräz (S. 58) und
Däräbegird (S. 94), aus Veilchen und Teichrosen in Öiräz (S. 58),
aus Palmblüten, Crocus und Weidenblüten in Gür (S. 58). Die
Perlenfischerei wurde betrieben in Bahrain (S. 85), Härak (S. 86)
und anderen Inseln (S. 87 — 88). Von all den anderen Erzeug-
nissen, die gelegentlich erwähnt werden, sei hier besonders auf
den mineralischen Balsam (Mümijäj) hingewiesen, der in Därä-
begird unter ganz besonderen Vorsichtsmaßregeln der Regierung
gewonnen wurde (S. 94 — 97).
Daß die große Schiffahrtsstraße durch den Persischen Meer-
busen ging, daran werden wir auch hier wieder erinnert, wenn
wir von den Chinafahrern hören, die von Basra kommen und in
Siräf vor Anker gehen (S. 61 u. 62) oder bei Härak (S. 86) und
Kis (S. 89) halten. Die Inseln und die Küsten sind bekanntlich
sehr heiß und haben ein recht ungesundes Klima: das Trink-
wasser muß oft in Leitungen herbeigeschafft oder in Zisternen
aufgefangen werden: Wasserleitungen und Zisternen werden
häufig erwähnt. Dort wo wenig Regen fällt, aber Grundwasser
vorhanden ist, gedeiht natürlich die Dattelpalme, so u. a. in
Tauweg (S. 67) und auf Härak (S. 86). Es ist volkswirtschaftlich
besonders interessant, daß sich in Tauweg schon in vorislamischer
Zeit Araber zur Dattelkultur niedergelassen haben (S. 67, Anm. 2).
Der höher gelegene Teil der Provinz jedoch hat ein kühleres
Klima und deshalb ist mehrfach die Rede von „heißen" und von
„kalten Landen" und von den Orten, die auf der Grenze liegen
(S. 98, S. 107). Bei einem solchen Orte kommen dann Bäume des
kälteren sowohl wie des heißeren Klimas vor, wie Nüsse und
Orangen in Fasä (S.98) ; dort gibt es auch Schnee sowohl wie Datteln.
Über Steuern, Staatsdotationen, Ärzte und Heilmittel,
Religionen und Sekten, Sprache, Gebäude und Ruinen erfahren
wir allerhand. Nach S. 46 war in Siräz die Grundsteuer doppelt
so hoch wie anderswo, und die Weinschenken und öffentlichen
Häuser hatten hohe Abgaben zu zahlen; letzteres erinnert an ähn-
liche Einrichtungen im römischen und islamischen Ägypten.
In Öiräz war nach S. 48 auch ein staatlich dotiertes Hospital mit
192 Literaturbericht.
geschickten Ärzten. Von Heilwasser hören wir auf S. 53, 58, 70
und 100. Das Heilwasser von Siräz (S. 53) ist sogar von besonderer
Wirkung: „wer einen Becher davon trinkt, dem verschafft er einen
Stuhlgang, wer mehr trinkt, hat für jeden Becher einen Stuhl-
gang mehr". Auf den Balsam Mömijäj ist bereits hingewiesen. —
In §iräz scheint noch lange religiöse Toleranz geherrscht zu
haben; die Zoroastrier brauchten kein besonderes Kennzeichen
zu tragen (S. 45 — 46). Feuertempel werden genannt S. 54, 57,
69, 91. Von islamischen Sekten werden die Ibäditen in Läft
(S. 83) und die Mu'taziliten in Gahram (S. 83) erwähnt. Be-
sonders interessant ist die auch anderswo vorkommende Sage,
daß ungewöhnlich starke Menschen von Dämonen und Menschen-
weibern abstammen sollen; so hier auf der Insel Gäsak (S. 89). —
Auf S. 47 heißt es von Siräz: „Auch Lehrer haben sie, wären nur
nicht die Sprachfehler beim Studenten und Dozenten!" Das be-
zieht sich natürlich auf die schlechte Aussprache des Arabischen
durch die Perser, deren Sprachwerkzeuge nicht für die anhelantia
et stridentia vocabula des Arabischen gebaut waren. — Ver-
schiedentlich werden ältere und neuere Gebäude beschrieben;
so S. 44, 48, 49, 73, 74. Von Siräf wird berichtet (S. 60): „Zum
Häuserbau dient Teakholz und Holz, das aus dem Lande der
Zeng (d. i. Ostafrika) gebracht wird." Dazu macht Schw. in
Anm. 3 darauf aufmerksam, daß noch im 19. Jahrhundert in
Minab (d. i. eine Stadt in Persien, nicht weit vom alten Hormuz)
Zanzibarholz verwendet wurde. Man sieht wiederum, wie alt die
Beziehungen zwischen den Ländern am Persischen Golf und
Ostafrika sind; diese haben sich ja auch in dem arabischen Dialekt
von Oman und Zanzibar ausgeprägt.
Dem interessanten und verdienstvollen Unternehmen sei
ein guter Fortgang gewünscht. Zum Schluß werden hoffentlich
auch ausführliche Namens- und Sachregister gegeben werden.
Die einzige Inkonsequenz in der Transskription (Belädsori statt
Belädori) kann dann auch noch ausgeglichen werden.
Straßburg i. E. E. Littmann.
Die Juden in Arabien zur Zeit Mohammeds. Von Rudolf Les-
zynsky. Berlin, Mayer & Müller. 1910. 116 S.
Das Verhältnis des Propheten Mohammed und seines Lebens-
werkes zum Judentum ist ein äußerst reizvolles Thema für den
Asien. 193
Religionshistoriker, den mittelalterlichen Historiker und den
Orientalisten. Es ist gewissermaßen eins der Vorspiele zu dem
großen weltgeschichtlichen Drama, das im 7. Jahrhundert fast
die ganze damals bekannte Welt erschütterte und eine Um-
wälzung in den Geschicken der Völker hervorrief, wie sie die
Geschichte selten erlebt hat. Diese Umwälzung knüpft zunächst
an die Tätigkeit eines Mannes an, des Mekkaners Mohammed,
des Sohnes des 'Abdallah, aus dem Stamme Koraisch, eines
Mannes, der den Anspruch erhob, ein von Gott gesandter Prophet
zu sein, der zuerst ein unbeachteter, ja verachteter Schwärmer
gewesen war, dann aber sich zum politischen und „religiösen"
Herrscher seines ganzen Vaterlandes aufgeworfen hatte. Die
Idee der Theokratie und des Prophetentums führt sofort in alt-
testamentliche Gedankenkreise. Aber es war auch bereits seit
langem erkannt, daß eine große Menge der im Koran enthaltenen
religiösen Ideen und Vorschriften und vor allem der dort entstellt
wiedergegebenen alttestamentlichen Erzählungen auf Vermittelung
des Judentums zurückgehen. Ferner wußte man aus der arabischen
Überiieferung, daß es in Arabien große Judengemeinden gegeben
hat, mit denen Mohammed sich auseinandersetzen mußte und die
er zum Teil ausrottete. Und so war es natürlich, daß man sich
durch die Untersuchung des Verhältnisses von Mohammed zum
Judentum wichtige Aufschlüsse über die Entstehungsgeschichte
des Islam versprach. Die sind in der Tat auch gegeben worden
von Geigers Pionierarbeit „Was hat Mohammed aus dem Juden-
tum aufgenommen?" an bis auf Wensincks gründliche Unter-
suchung „Mohammed en de Joden te Medina" (Leiden 1908).
Durch diese beiden Schriften werden auch schon die beiden
Seiten des Problems dargestellt.
In der hier angezeigten Schrift unternimmt R. Leszynsky
eine neue Durchprüfung des Materials. Die Schrift zerfällt in
folgende Teile. Einleitung: Die Quellen (S. 1 — 5); Kap. 1: Die
älteste Zeit, Abstammung, Charakter, Äußeres, Kulturzustände
(S. 6 — 33); Kap. 2: Mohammed und die Juden bis zum Ausbruche
des Krieges (S. 34 — 59); Kap. 3: Die Vertreibung der Juden aus
Medina (S. 60—83); Kap. 4: Der Krieg um die Datteln (S.84 bis
100); Kap. 5: Die letzten Juden in Higäz (S. 101—116).
Der Verfasser beherrscht das in Frage kommende Material
und setzt sich mit fast allen Problemen, die damit zusammen-
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 13
194 Literaturbericht.
hängen, auseinander. Oft wird man auch den von ihm selbständig
oder im Anschluß an andere gebotenen Lösungen zustimmen
können. Doch er nimmt manchmal viel zu stark Partei für die
Juden, und verfällt in denselben Fehler, den er anderen vorwirft,
die das Christliche und Arabische zu stark betont haben. Es
ist zweifellos, daß Mohammed zunächst mehr vom Judentum als
vom Christentum entlehnt hat; aber es geht doch nicht an,
den christlichen Einfluß fast ganz zu leugnen, wie es der Verfasser
in Kap. 2 tut. Hier brauche ich nur auf Beckers Christentum und
Islam (Tübingen 1907, englische Übersetzung, London 1909) hin-
zuweisen, oder auch darauf, daß berichtet wird, wie heidnische
Araber ihre christlichen Ideen sich bei christlichen Weinhändlern
in al-Hira holten. Auch daß die verfolgten Gläubigen sich gerade
zum christlichen König nach Abessinien flüchteten, gibt zu denken;
dort werden sie jedenfalls ihren Zusammenhang mit dem Juden-
tum nicht haben merken lassen dürfen, da in jenem Lande die
Erinnerung an den Krieg gegen den jüdischen König von Süd-
arabien noch lebendig gewesen sein wird und da ja Christen und
Juden einander dort heftig befehdeten. Und wenn Mohammed
das Judentum wirklich verstanden hätte, so wäre er nie auf die
Idee verfallen, die Juden bekehren zu können.
In Kap. 1 stellt der Verfasser alles zusammen, was wir über
die Juden in Arabien vor dem Islam wissen. Er betont mit Recht,
daß sie tüchtige, fleißige Leute waren, daß ihre Treue sprich-
wörtlich war und daß sie in vielen Dingen den Arabern überlegen
waren. Unter den Zeugnissen für diese Zeit vermisse ich nur
einen Hinweis auf die hebräischen Namen, die in näbatäischen
Inschriften vorkommen, so besonders den Uhrmacher Nathan
b. Manasse, der die Sonnenuhr in Hegra herstellte (vgl. Jaussen-
Savignac, Mission arcMologique en Arabie, p. 242, Nr. 172 &»»), und
den Juden §ubait (ib. p. 150).
Kap. 4 hätte eher die Überschrift „Der Krieg um Chaibar"
tragen sollen. Die grausame Verletzung allen Kriegs- und Völker-
rechts durch Mohammed, der die Palmen umhauen ließ, wird ge-
nügend hervorgehoben; selbst seine Anhänger nahmen an dieser
Tat Anstoß. Die Datierung der in Kap. 3 und 4 behandelten
historischen Dokumente weicht zum Teil von der bisher üblichen
ab; gegen einzelnes ist bereits von Wensinck, meines Erachtens mit
Recht, Einspruch erhoben; vgl. Islam, II, S. 288.
Amerika. 195
In Kap. 5 geht der Verfasser auf die Schicksale der letzten
Juden im Higäz ein. Viel ist darüber nicht bekannt. Es handelt
sich hier besonders um ein in der Synagoge zu Altkairo gefundenes
Dokument, das den Juden ungeheure Vorrechte verleiht und das
im fünften Jahre der Higra geschrieben sein will. Gegen die
Echtheit liegen die allerstärksten Bedenken vor: der Verfasser
will wenigstens einen Teil der Echtheit retten, indem er das Datum
als späteren Zusatz ansieht und die Vorrechte nur auf die Fa-
milie der von Mohammed geraubten Jüdin Safiya bezieht. Aber
auch dies läßt sich nicht halten; ähnliche „Freibriefe" sind un-
endlich oft gefälscht worden, und die späte Sprache verrät sich
z. B. auch durch den Ausdruck „Ort der Wahrheit" für „Fried-
hof". Über den eigentlichen historischen Kern, der dieser Fäl-
schung zugrunde liegt — ein Sendschreiben Muhammeds über
die Stellung der Juden in Nordarabien — , hat Wensinck, 1. c.
S. 289 f., gehandelt.
Die Transskription arabischer Namen ist sehr inkonsequent und
teilweise nachlässig; auch auf den Stil hätte mehr Sorgfalt ver-
wendet werden können. Druckfehler sind mir hier und da aufgefallen.
Straßburg i. E. E. Littmann.
Amandas Johnson, The swedish Settlements on the Delaware.
Thelr history and relatlon to the Indians, Dutch and Eng-
lish 1638-1664. 2 Bde. XX u. 879 S. University of Penn-
sylvania. D. Appleton & Co. Agents. New York 1911. 6 Doli.
Man hat oft unserer deutschen Geschichtswissenschaft, be-
sonders im Ausland, den Vorwurf allzu großer Gründlichkeit
gemacht, aber auch manche Erzeugnisse der jungen amerika-
nischen Geschichtsforschung lassen in dieser Hinsicht nichts zu
wünschen übrig. Der kleinen schwedischen Kolonie am Dela-
ware, die nur 17 Jahre bestanden und nie mehr als 400 Ein-
wohner gezählt hat, widmet Johnson, ein Amerikaner schwedischer
Abkunft, ein zweibändiges Werk, fast 900 Seiten in Großoktav.
Freilich kann man nicht umhin, die Lust und Liebe, mit der
der Verfasser seinen Gegenstand behandelt, und insbesondere
seinen Spürsinn zu bewundern, mit dem er aus schwedischen,
holländischen und englischen Archiven und Bibliotheken jedes
nur irgendwie erreichbare Aktenstück oder Buch herangezogen
hat und auf diese Weise der Vollständigkeit nahegekommen ist.
13*
1% Literaturbericht.
Das Ergebnis dieses Fleißes und des Spürsinns ist so eine
erschöpfende Geschichte der schwedischen Kolonisation in Nord-
amerika geworden. Johnson schildert zuerst die Zustände Schwe-
dens im 17. Jahrhundert, geht dann auf die Bildung von Han-
delsgesellschaften im allgemeinen und die der neuschwedischen
Kompagnien im besonderen ein und stellt mit großer Breite
die Gründung (1638) und die Schicksale der kleinen schwedischen
Kolonie am Delaware dar. Er disponiert dabei derart, daß er
in jeder Periode zuerst die Ereignisse, die sich in Europa ab-
spielten, behandelt und dann die gleichzeitigen Begebenheiten
jenseits des Ozeans schildert. Besondere Beachtung verdienen
die Kapitel über die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen
Zustände Neuschwedens, zu deren Erhellung Johnson seine aus-
gezeichneten Kenntnisse der altschwedischen Wirtschaft und
Kultur verwertet. Er geht ferner auf die Beziehungen der Kolo-
nisten zu ihren Nachbarn, den Indianern, den Engländern und
Holländern ein und zeigt, wie die letzteren 1655 die Kolonie
erobert und so dem Traum eines schwedischen Kolonialreichs
in Nordamerika ein frühes Ende bereitet haben. Schließlich
erzählt er noch, wie die Schweden vergebliche Versuche gemacht
haben, die Kolonie von den Holländern und, nachdem Neu-
schweden mit Neuniederland 1664 an England gekommen war,
von den Engländern zurückzubekommen; die Schicksale der
Kolonie selbst hat Johnson bis zur englischen Okkupation 1664
behandelt. Zu bedauern ist, daß ein Ausblick auf die spätere
Zeit und insbesondere eine Würdigung der Bedeutung Neu-
schwedens für die werdenden amerikanischen Kolonien, die
freilich nicht sehr groß gewesen ist, dem Buche fehlt. ^) Beige-
geben sind noch Biographien der wichtigsten in der Geschichte
Neuschwedens vorkommenden Persönlichkeiten, eine Anzahl von
Aktenstücken und eine sehr ausführliche Bibliographie, Die
Ausstattung des Werkes, das mit Unterstützung der Swedish
Colonial Society herausgegeben und dem König von Schweden
zugeeignet ist, verdient alles Lob. Paul Darmstaedter.
*) Wie aus einem mir kürzlich zugegangenen Prospekt her-
vorgeht, beabsichtigt Johnson die Geschichte der schwedischen
Ansiedlungen in Amerika bis zur Gegenwart fortzuführen.
Notizen und Nachrichten.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, welche sie an dieser
Stelle berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion.
Allgemeines.
Die Wandelungen im Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit,
die den Unterschied zwischen Mittelalter und Neuzeit ausmachen,
fallen in den drei Gebieten Wirtschaft, Staat und Weltanschauung
unter gemeinsame Gesichtspunkte. Die Gemeinschaftsgliederung des
Mittelalters weicht auf allen Gebieten vor der Ausbildung neuer ge-
sellschaftlicher Organisationen, die dem Individuum eine selbständi-
gere Stellung geben. Der Einzelne emanzipiert sich innerhalb
der alten Verbände (vom Grundherrn zum Gutsherrn, vom Landes-
herm zum absoluten Fürsten, von der kirchlichen Legalität zum
Probabilismus), im Gegensatz zu den alten Verbänden mit dem
Trieb, sie zu sprengen (Auflösung der mittelalterlichen Gemeinde-
und Gewerbeverfassung, des politischen Ancien Regime, der Zwangs-
kirche), und endlich neben denselben (Kommerzialisierung, Inter-
nationalisierung, Rationalisierung der Welt). Eine eigentümlich mo-
derne Einschränkung und zugleich Vervollständigung des Weltbürger-
tums, das sich aus allen jenen Entwicklungsreihen ergibt, ist die Ent-
stehung der Nation (im Gegensatz zum „Volk" ein neuzeitliches Ge-
bilde), die sich dem Individuum gegenüber stellvertretend für die
„Welt" einschiebt, jedoch ohne den Fortgang des Nivellierungspro-
zesses aufzuhalten. Diese Grundgedanken sind mit seltener Univer-
salität und tiefem geschichtlichem Blick entwickelt in F. T ö n n i e s'
Vortrag „Individuum und Welt in der Neuzeit" (Weltwirtschaft-
198 Notizen und Nachrichten.
liches Archiv 1,1). Der Historiker würde den Entwurf weniger ab-
strakt zusammengedrängt wünschen: der großartigen Intuition, der
Kraft und Präzision der Gedanken wird er seine Bewunderung nicht
versagen. Kern.
Wie Neukamp einem Hauptgegner des Naturrechts, Bergbohm,
nachgewiesen hatte, daß sein eigenes Denksystem nicht ohne natur-
rechtliche Motive auskommt (vgl. Cathrein, Recht, Naturrecht und
positives Recht 2, 220), so zeigt der Wiener Staatsrechtler A. M e n -
z e 1 in einer vornehm ausgestatteten kleinen Schrift (Naturrecht und
Soziologie. Wien und Leipzig, C. Fromme. 1912. 60 S.) den un-
umgänglichen naturrechtlichen Einschlag in den soziologischen Syste-
men des 19. Jahrhunderts. Ob dieselben sich in einen Gegensatz zum
Naturrecht stellen oder nicht — ein Gegensatz, der häufig gar nicht
das eigentliche Naturrecht, sondern nur dessen einseitig revolutionäre
Folgerungen betrifft — , macht hierin keinen Unterschied. Menzels
verdienstliche Schrift, die eine stattliche Reihe von soziologischen
Systemen unter diesem Gesichtspunkt mustert, hätte noch gewonnen,
wenn sie weiter in die Geschichte des Naturrechts zurückgegriffen
hätte: erst unter Berücksichtigung der großen alten Systeme läßt
sich das Naturrecht in Comte, Spencer, Kidd, Fouille, Hauriou usf.
wirklich erschöpfen. Daß Comte und Hauriou selbst die Soziologie
des Mittelalters der eigenen in wesentlichen Stücken gleichsetzen
(Menzel S. 36 Note 6; S. 50 Note 4), könnte den Ausgangspunkt der
Spezialuntersuchung bilden. K.
Giorgio Del Vecchio, // fenomeno della guerra e l'idea della
pace. Seconda edizione riveduta e accresciuta. Torino 1911. (S.-A. aus
Rivista di diritto internazionale. Jahrg. 5, Heft 1/2.) 99 S. — Der
bekannte italienische Rechtsphilosoph will in dieser kleinen Schrift,
die aus einer im Jahre 1909 gehaltenen akademischen Festrede her-
vorgewachsen ist, untersuchen, ob und in welchem Sinne der Friedens-
gedanke ein berechtigtes Ideal darstelle. Die Weltgeschichte zeigt
ihm den Friedensgedanken in vierfach verschiedener Fassung. Die
asketische Fassung, die den Krieg als dem Gesetz der Liebe und
Brüderlichkeit widersprechend verwirft, findet er bei den Kirchen-
vätern, dann den Mennoniten und Quäkern und neuerdings bei Tol-
stoi; sie ist unbrauchbar, weil sie ein nur juristisch zu lösendes Pro-
blem zu einem moralischen zu machen sucht. Die imperialistische
Fassung will durch Unterwerfung aller Völker unter die Gewalt eines
Weltreichs zum allgemeinen Frieden führen, ein Gedanke, der schon
bei Alexander dem Großen anklingt, dann aber vor allem im Mittel-
alter ein wichtiges Element der Kaiseridee ist, wie sie etwa in Dantes
Monarchia vertreten wird; die Unterschiede und Gegensätze der Völker
Allgemeines. 199
sind zu groß, als daß ein solches Weltreich, die Möglichkeit seiner
Bildung vorausgesetzt, auf die Dauer den Frieden verbürgen könnte.
Die empirisch-politische Fassung, als deren vornehmste Vertreter
Suily und der Abb6 de Saint-Pierre mit ihren bekannten Friedens-
plänen genannt werden, glaubt den Frieden durch Garantieverträge
unter den bestehenden Regierungen sichern zu können; sie beruht
auf einer Verkennung der historischen, zum Kriege treibenden Fak-
toren. Berechtigt ist nur die letzte, die juristische Fassung des Frie-
densgedankens; sie liegt der modernen Entwicklung des Völkerrechts
zu Grunde, die in immer weitergehendem Maße die Beziehungen der
Staaten untereinander rechtlich bindet und durch die Schaffung von
Schiedsverträgen und internationalen Gerichtshöfen die Gerechtigkeit
im Leben der Völker auf friedlichem Wege zu verwirklichen strebt.
Die Verbindung des Friedensgedankens mit der Gerechtigkeitsidee, zu
der hier die Ansätze gegeben sind, ist das dem Verfasser vorschwebende
Ideal. Er ist sich aber klar darüber, daß der Krieg auf diesem Wege
nicht ganz aus der Welt zu schaffen ist; es wird immer Fälle geben,
wo nur der Krieg über das Recht der Völker entscheiden kann. Die
unklaren Schwärmereien der Friedensbewegung, die in dem Frieden
schlechthin ein höchstes Gut sieht, lehnt Del Vecchio mit erfreulicher
Entschiedenheit ab. Ob er aber wohl heute noch behaupten möchte,
daß „nella fase odierna la guerra ha pressochk esaurita la sua funzione"?
Göttingen. Paul Lenel.
„Die deutsche Arbeit" von W. H. R i e h I — das zuerst 1861
veröffentlichte Buch, das in liebevoller Fühlung mit dem Volksleben
die Gedanken zu erforschen weiß, die die Vorstellungswelt der Deut-
schen mit der Arbeit in allen ihren Formen verknüpft hat, — wird
von der Cottaschen Buchhandlung in einer unveränderten vierten Auf-
lage zu billigem Preise vorgelegt (X, 269 S.; 1,20 M., geb. 1,50 M.).
Mit trefflichem Sinn für das Eindringliche, Malerische und Leben-
dige geleitet das Source Book of English History for the use of schools
von Arthur D. Innes (Bd. 1, 597 — 1603. Cambridge, University
Press. 1912. VIII, 384 S., 31 Ulustr., 4^/^ sh.) den englischen Schüler
durch die dramatischen Begebenheiten der vaterländischen Geschichte.
Das ausgezeichnete Material der britischen Chronistik ist mit wirk-
lichem Geschick ausgebeutet, wenn auch für eine tiefere Bildungs-
stufe als das französische Standardwerk Paris' und Jeanroys, welches
den Schüler weit mehr zu den Elementen historischer Kritik hin-
führt; die zum Teil recht nichtssagenden Illustrationen würden wir
missen können. Das Prinzip Innes', nicht die verschiedenen Chroni-
sten als Persönlichkeiten vorzuführen, sondern die berühmten Erelg-
Jiisse zu illustrieren, ist für ein Schul quellenbuch gewiß am Platz.
200 Notizen und Nachrichten.
Ein kurzer Auszug aus E. Baluzes Geschichte von Tülle ist vorr
G. Mathieu (Paris, Champion. 1912) hergestellt worden.
Die populär gehaltene „Geschichte der Türken" von
Dr. Albrecht W i r t h (Frankhsche Verlagshandlung, Stuttgart. 1912>
gibt auf nur 110 Seiten Auskunft über die Herkunft und die Geschichte
der Türken von ihrer Festsetzung in Nordkleinasien und Europa bis
auf den heutigen Tag. Verfolgt sie den Zweck, weitere Kreise mit
den wichtigsten Kapiteln der Geschicke des osmanischen Volkes be-
kanntzumachen, so dürfte sie ihn im Hinblick auf den knappen Um-
fang und die gut geschriebene Darstellung auch erreicht haben. Das
Wesentliche wird herausgehoben und neben der äußeren Geschichte
auch die innere Entwicklung und Kulturgeschichte behandelt. Eine
Anzahl von Abbildungen erläutert den Text, dessen hie und da allzu-
knappe Fassung freilich manche Ungenauigkeiten im Gefolge hat.
Das Hauptgewicht wird auf die neuere und neueste Geschichte gelegt.
So ist der Abfall Griechenlands, der Krimkrieg usw. verhältnismäßig;
breit behandelt, am breitesten die jüngste Entwicklung, die bis in
den JVlai 1912 geführt wird. Loserth.
Carl K 0 e p p , Das Verhältnis der Mehrwerttheorien von Kart
Marx und Thomas Hodgskin. Studien zur Sozial-, Wirtschafts- und
Verwaltungsgeschichte, herausg. von K. Grünberg. 6. Heft. Wien,
Konegen. 1911. Vll, 289 S. 7 M. — Das vorliegende Buch bildet
einen wertvollen Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Marxismus.
Es handelt sich darum, ob und in welchem Maße Marx in seinen
Lehren vom Mehrwert originell ist, oder auf Hodgskin aufbaut. Wäh-
rend man bisher, vor allem Brentano, der Ansicht gewesen war, daß
Marx in hohem Maße von Hodgskin abhängig sei, daß er dessen Theorie
zum Eckstein seiner Lehre gemacht habe, kommt Koepp zu dem Er-
gebnis, daß diese Auffassung zu weit geht, daß zwischen den Theorien
beider nur Analogien vorhanden seien. Mombert.
Aus Karl Georgs Winkelblechs (Karl Marios) literarischem Nach-
laß. Eingeleitet und herausgegeben von W. Ed. B i e r m a n n. Leip-
zig, A. Deichert. 1912. 163 S. 3 M. — Was man mit Recht gegen das
große Werk Biermanns über Winkelblech, von dem bis jetzt zwei
umfangreiche Bände erschienen sind, während ein dritter noch in
Aussicht steht, eingewendet hat, daß der Verfasser die Bedeutung
seines Helden und seiner wissenschaftlichen Leistungen weit über-
schätzt, gilt auch von dem vorliegenden literarischen Nachlasse. Mehr
als antiquarischer Wert ist diesem nicht zuzuerkennen. Es ist psycho-
logisch begreiflich, daß Biermann hinter Winkelblech mehr sieht aber
auch sucht, als es andere tun. Aber selbst, wenn man dieses als mil-^
dernden Umstand gelten lassen will, so zeigt doch die vorliegende
Allgemeines. 201
Veröffentlichung, daß Biermann zu sehr das Augenmaß dafür gefehlt
hat, welche Bedeutung Winkelblech in der Geschichte der wirtschaft-
lichen und sozialen Anschauungen zukommt.
Freiburg i. Br. Mombert.
Die neue Großoktavausgabe der „Gedanken und Er-
innerungen Bismarck s", welche Horst Kohl wieder im
Cottaschen Verlage veranstaltet hat, gibt den Text der Volksausgabe
von 1905, mit deren erläuternden Anmerkungen, revidiert und er-
weitert; ferner auch ist das Register erweitert. Ein großer Mangel
ist, daß nicht die Seitenzahlen der älteren Großoktavausgabe, nach
denen man zu zitieren gewohnt ist, eingefügt sind.
Sir John Robert Seeley. Eine Studie über den Historiker. Mit
einer Bibliographie. Von Dr. phil. Adolf Rein. Langensalza, Her-
mann Beyer & Söhne. 1912. 112 S. — Der Autor hat der vorliegen-
den Schrift den Untertitel „Eine Studie über den Historiker" ge-
geben. Er hätte wohl besser gesagt „über den historischen Denker
und Methodiker". Denn das ,, Leben Steins", die einzige historio-
graphische Leistung Seeleys, wird bei ihm nur gelegentlich erwähnt
und nirgends besprochen, und Seeley wird ausschließlich als Lehrer
der Geschichte und historisch-politischer Essayist und Theoretiker
behandelt. Die Arbeit selbst beruht auf gründlicher Kenntnis des
englischen akademischen und literarischen Lebens und der Schriften
Seeleys und resümiert die Ansichten ihres Helden klar, unparteiisch
und mit sicherem Blick für das Wesentliche. Sehr fein sind die Wur-
zeln der imperialistischen Tendenzen des englischen Historikers bloß-
gelegt; ebenso ist der entscheidende, positive und negative Einfluß
Macaulays und Buckles durchaus zutreffend charakterisiert. Viel-
leicht hätten auch noch die Fäden, die von Seeley zu den gleich-
zeitigen deutschen Rankeschülern wie Sybel hinüberlaufen, und die
geistige Verwandtschaft mit diesen, die dann doch wieder starke
Unterschiede nicht ausgeschlossen hat, behandelt werden dürfen,
ebenso wie nicht hätte unterlassen werden sollen, das Verhältnis der
auf politische Erziehung künftiger Staatsmänner hinzielenden Lehr-
tätigkeit Seeleys zu der Geschichtschreibung Freemans zu bestimmen.
Die hübsch abgerundete Schrift, die in die vier Kapitel ,,Der Werde-
gang, der Historiker, der Politiker und der Mensch" zerfällt, ist um
so wertvoller, als sie bisher überhaupt die einzige selbständige Arbeit
über den englischen Historiker darstellt; von englischer Seite ist bis-
her weder eine Biographie Seeleys herausgegeben, noch ihm ein eigenes
Buch gewidmet worden. Dadurch erweist sich auch die Bibliographie
der Schriften Seeleys und der Literatur über ihn, die dem Werke
beigegeben ist, als außerordentlich verdienstlich. Beigefügt sei noch.
202 Notizen und Nachrichten.
daß der Verfasser, der Seeley selbst nicht mehr gekannt hat, durch
Erkundigungen bei Zeitgenossen manche unpublizierte Einzelheiten
über diesen erfahren hat und so auch von seinem Helden als Menschen
•ein lebendiges Bild hat entwerfen können. Fueter.
Carl Schirrens Sohn läßt eine Sammlung von Vorträgen
■des Verstorbenen erscheinen (Charaktere und Menschheitsprobleme.
Kiel, Mühlau. 1912), die neben dem Neudruck von Universitätsreden
auch Unveröffentlichtes enthält. Im Mittelpunkt des Interesses steht
die glanzvolle Rede über Patkul aus dem Jahr 1869, nach einem
Stenogramm im Besitz der Frau von Stern-Patkul zugänglich ge-
macht Hat auch Schirren später die ideale Auffassung seines da-
maligen Lieblingshelden preisgeben müssen, so ist diese Rede doch
selbst, wie der Herausgeber richtig sagt, „Dokument" historischer
Tage. Auch sonst gibt die Sammlung ein gutes Bild von einer der
eigenartigsten und packendsten Rednergestalten unter den deutschen
Historikern. Die Weglassung der nicht druckreifen Dante-Vorträge
und eine der markigen Persönlichkeit Schirrens mehr entsprechende
Buchausstattung hätte den Gesamteindruck noch erhöht. K.
In den Mitteilungen des Instituts für Österreich. Geschichtsfor-
schung 34, 1 handelt H. Steinacker (im Anschluß an eine An-
zeige der Habsburger Regesten I durch K. Uhlirz in den Göttinger
gelehrten Anzeigen, Mai 1912) klar und verständig über Fragen der
Regestentechnik. — Ebenda finden sich Ausführungen von K- K o -
V a c über die nur aus der Neuzeit bekannte diplomatische Geheim-
schrift der ehemaligen Republik Ragusa.
Mit voller Beherrschung eines weitschichtigen, mit großem Fleiß
gesammelten Materials deckt eine diplomatische Untersuchung von
M. M e y h ö f e r im Archiv für Urkundenforschung 4,3 die Zusam-
menhänge auf, die zwischen den kaiserlichen Stiftungsprivilegien für
Universitäten bestehen. Die Arbeit beschränkt sich zeitlich nicht
auf das Mittelalter, sondern geht bis zum Schluß des 18. Jahr-
hunderts — das letzte Privileg ist die Errichtung der Universität
Bonn durch Joseph II. vom Jahre 1784 — , so daß im ganzen 58 Stück
(20 vor 1500, 38 nachher) auf Anordnungs- und Inhaltsverwandtschaft
untersucht worden sind. Was den Wert und die Bedeutung der kaiser-
lichen Stiftungsbriefe anlangt, so ergibt sich, daß Papst und Kaiser
das Recht der Privilegierung einander nicht bestritten haben, so daß
,,oft Privilegien beider Autoritäten vorlagen. Aus dieser Tatsache
folgt, daß die kaiserlichen Urkunden, die ihrem Inhalte nach ein und
dasselbe Ziel verfolgen, nicht immer dieselbe Bedeutung für die Stif-
tung eines Studium generale erlangen. Nur dort begründen sie eine
Universität und schaffen den Rechtsboden für ihr Dasein, wo noch
Alte Geschichte. 203
nicht eine Privilegierung durch die andere universale Autorität vor-
angegangen war; dort, wo schon das Papsttum Stiftungsbriefe erteilt
hatte, nahmen sie den Charakter einer Bestätigung an." Anhangsweise
folgen u. a. die Regesten der päpstlichen Stiftungsprivilegien bis zum
Jahre 1507.
Aus dem Inhalt der Archivalischen Zeitschrift N. F. 19 (1912)
sind an dieser Stelle zu nennen der Schluß der schon öfter genannten
Sammlung von Theod. J. Scherg: Franconica aus dem Vatikai|
1464—1492 (vgl. H. Z. 105, 418; 106, 643), der ein Orts- und Personen-
verzeichnis für die Nummern aus der Zeit Sixtus' IV. und Inno-
cenz' VIII. beigefügt ist; ferner die sehr stoff reiche Arbeit von Aug.
Sperl: Geschichte des Königlichen Kreisarchives Würzburg 1802
bis 1912, die Mitteilung der Schriftstücke über die Maßnahmen des
Nürnberger Rats beim Verlust des Sekretsiegels im Jahre 1440
durch W. Fürst, die Veröffentlichung bayerischer Fischerei-Re-
gesten durch Jos. Demi und die Bemerkungen von J. S t r i e -
dinger über die neue italienische Archivordnung von 1911.
Neue Bücher: Miscellanea di studl storici in onore di Antonio
Manno. 2 voll. ( Torino, fratelli Bocca.) — R a u e r , Der deutsche
Kaiser. Seine rechtliche Stellung im alten und im neuen Reiche.
(Berlin, Puttkammer & Mühlbrecht. 1,50 M.) — Hupp, Die Wap-
pen und Siegel der deutschen Städte, Flecken und Dörfer. 6. Heft.
1. Heft des II. Bandes: Königreich Bayern, Kreis Ober- und Nieder-
bayem. (Frankfurt a. M., Keller. 30 M.) — Kuhn, Mythologische
Studien. 2. (Schluß-)Band. (Gütersloh, Bertelsmann. 6 M.)
Alte Geschichte.
In den Proceedings of the Society of biblical arcfiaeology 34, 7
<1912) und 35, 1 (1913) setzt A. H. Sayce seine Forschungen über
ihe Solution of the Hittite problem fort und zwar 2. The Herakleid dy-
nasty of Lydia. 3. The Midas-city. 4. The titles of the Merash Kings.
5. The name of Istar. Weiter bespricht H. R. Hall die Zeit des*
neugefundenen Königs Demb-db-taui Uatfkara und Th. G. P i n -
<: h e s , The Sumerians of Lagos.
Unter den im Hermes 48, 2 veröffentlichten philologischen Klei-
nigkeiten von R. Reitzenstein interessiert uns hier nament-
lich 2: Das deutsche Heldenlied bei Tacitus, wobei mit Recht darauf
aufmerksam gemacht wird, daß die Worte des Tacitus die Existenz
wirklicher Arminius-Lieder durchaus nicht bezeugen. Weiter bespricht
M. L e h n e r d t ein verschollenes Werk des älteren Plinius, näm-
Jich das Buch über die Germanenkriege, dessen Vorhandensein in
204 Notizen und Nachrichten.
Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert nicht zweifelhaft zu sein
scheint; weiter notieren wir Ch. Blinkenh er g , 'PöSov Hriarm-,
U. Kahrstedt, Nachlese auf griechischen Schlachtfeldern und
L. Schmidt, Das Regnum Vannianum.
Im Philologus 72, 1 interessieren uns der Aufsatz von R. A s -
m u s , Zur Kritik und Erklärung von Julian Ep. 3* u, 35 und die
Untersuchung von O. I m m i s c h , Der erste platonische Brief (mit
einer Einleitung über den Zweck und einer Vermutung über die Ent-
stehung der platonischen Briefsammlung).
In der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 29, 3
finden sich zwei Abhandlungen, welche für die antike Wirtschafts-
geschichte von erheblichem Interesse sind. A. B e r g e r , Woh-
nungsmiete und Verwandtes in den gräko-ägyptischen Papyri und
J. K 0 h 1 e r , Über Miet-, Pacht- und Dienstverträge in Babyion
und Ägypten.
Die nach langer Pause erschienene Ephemeris epigraplüca bringt
zunächst von F. Haverfield Nachträge zu CIL VII, welche die
in den Jahren 1890 — 1911 gefundenen Inschriften aus Großbritan-
nien umfassen; dann veröffentlicht H. Dessau mit gewohnter
Sorgfalt und Umsicht geführte Untersuchungen über 1.: De regina
Pythodoride et de Pythodoride juniore; 2.: Reges Thraciae qui fuerint
imperante Augusto.
In der Numismatischen Zeitschrift V, 2 (1912) setzt zunächst
R. Münsterberg seine sorgfältigen Untersuchungen über die
Beamtennamen auf griechischen iVlünzen fort, weiter veröffentlichen
Arbeiten M. C. S o u t z o , Contribution ä l'äude de l'inegalite pon-
derale des as libraux Romains ; E. J. S e 1 1 m a n , Concerning a
suspected gold coin of Syracuse ; O. V o e 1 1 e r , Zu Gallienus und
seiner Familie; Fr. Imhof-Blumer, Die Kupferprägung des
mithradatischen Reiches und andere Münzen des Pontus und Paphla-
goniens und karische Münzen.
Ungemein reich ist wieder das neueste Heft des Bulletin de
correspondance hellenique 36, 5/2, Ch. P i c a r d et A. J. R e i n a c[h :
Voyage dans la Chersonese et aux lies de la mer de Tfirace ; K- A.
R h 0 m a i 0 s : Teyeariy.nl k-niyoaqjni ; A. Plassart: Fouilles de
Delos executees aux frais de M. le duc de Loubat. Inscriptions du
gymnase mit einer Note additionnelle sur la liste des gymnasiarques
deliens von P. Roussel; W. B. Dinsmoor: Studies of the Del-
pllian trcuiuries; N. D. Chaviaras: 'Emy^aipnl KvtSiag /eoaort'aov^
G. S e u r e : Antiquit^s Thraces de la Propontide. Collection Stamoulis
(meist aus dem alten Selymbria und Umgegend, reich an Inschriften);
E. Bourguet: Monuments et inscriptions de Delphes. 8. Le tresor
Alte Geschichte. 205
de Corintlie ; J. Hatzfeld: Note sur une inscription de Cnide, worin
der Name des G. Julius Artemidoros, des Freundes von Caesar, mit
hoher Wahrscheinlichkeit hergestellt wird.
In der Revue de Philologie de litterature et d'histoire anciennes
30, 3/4 gibt von neuem H. Brillant eine griechische Inschrift
aus Tomi vom 29. März 160 n. Chr. heraus und begleitet sie mit guten
und brauchbaren Anmerkungen, wobei besonders die Geschichte die-
ser Inschrift merkwürdig ist.
Beiträge zur Geschichte altrömischer Agrarprobleme (bis 367
V. Chr.) von Dr. phil. Kurt Schwarze. Halle a. S., Max Niemeyer.
1912. 87 S. 2,80 M. — Der Eifer, mit dem der Verfasser seine Pro-
bleme behandelt, und die Menge moderner Literatur, die er zitiert,
kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in Wirklichkeit zu unserer
Erkenntnis nichts „beiträgt". Die Intention des 1. Kapitels, wo die
Landbesitzverhältnisse, wie sie sich aus den römischen Agrarschrift-
stellern ergeben, zusammengestellt werden, war gut. In gleicher Weise
hätten sämtliche Nachrichten der übrigen republikanischen Literatur,
sofern sie die Besitzverhältnisse zur Zeit der Autoren erläutern, ge-
sammelt werden können. Sind einmal die Agrarprobleme der durch
gleichzeitge Zeugnisse erhellten Epoche klar erfaßt, dann mag man
versuchen, auch in das Dunkel der Vorzeit hineinzuleuchten. Statt
dessen begibt sich Schwarze auf das Meer der modernen Hypothesen
und sucht sich hier eine eigene Meinung herauszufischen. Dabei fehlt
ihm aber das unentbehrliche Rüstzeug des quellenkritischen Ver-
ständnisses, und so ist sein Unternehmen von vornherein aussichts-
los: S. 82 will er gegen Niese das sextisch-licinische Staatslandesgesetz
für 367 retten und führt für die Zuverlässigkeit der livianischen Tra-
dition aus, Livius selbst erwähne die lex Licinia sonst noch einmal,
ferner der audor de viris illustribus und Varro! Zu diesem Versagen
gegenüber elementaren Forderungen wissenschaftlicher Arbeit passen
die zahlreichen Druckfehler und die nicht seltenen stilistischen Flüch-
tigkeiten. M. Geizer.
The governors of Moesia von Selatie Edgar Stout,
Dissertation der Princeton University. Princeton 1911. 97 S. — •
Die Namen sämtlicher Statthalter, soweit möglich chronologisch ge-
ordnet, sämtliche Zeugnisse in extenso, nach Stichproben zu urteilen
sorgfältig gearbeitet.
Cäsar. Von G. V e i t h , k. u. k. Hauptmann. (,, Wissenschaft
und Bildung" Bd. 75.) Leipzig, Quelle & Meyer. 1912. Geb. 1,25 M.
— Die Kriege Cäsars werden frisch und anschaulich erzählt. Was
aber der Verfasser sonst noch ausführt über Cäsars politische und
allgemeine historische Bedeutung, ist bloß für das Studium moderner
206 Notizen und Nachrichten.
Heldenverehrung interessant. Wer sich ernsthaft über den wirk-
lichen Cäsar und seine Zeit unterrichten will, muß nachdrücklich
vor diesem Lebensbild gewarnt werden. M. Geizer.
Aus der Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft und die
Kunde des Urchristentums 14,1 notieren wir E, Preu sehen:
Untersuchungen zur Apostelgeschichte 1; H. Waitz: Das Evan-
gelium der zwölf Apostel II und H. D u e n s i g: Ein Stücke der ur-
christlichen Petrusapokalypse enthaltender Traktat der äthiopischen
Pseudoklementinischen Literatur.
Aus der Neuen kirchlichen Zeitschrift 24, 2 (1913) notieren wir
Ed. König: Das Alte Testament und die babylonische Sprache
und Schrift.
In der Revue de l'histoire des religions spricht M. G o g u e 1
über la date et le Heu de composition de Vipitre aux Philippiens, wo-
für Ephesus und das Jahr 55 mit guten Gründen zu erweisen ge-
sucht wird.
Im Expositor 1913, Februar-März beschließt H. A. A. Ken-
nedy seine Untersuchungen: St. Paul and the Mystery-religions.
9: Conclusions. W. M. Ramsay veröffentlicht Suggestions on the
history and letters of St. Paul. 1 : The date of the Galatian letter und
C. L a 1 1 e y verbreitet sich über Alexander the God, ohne die Sache
wesentlich zu fördern. Weiter notieren wir M. Jones The apostolic
decrees in Acts XV: a compromise or a thriumph? und V. B a r 1 1 e t:
The historic setting of the Pastoral epistles.
Neue Buchen P als , Storia critica dl Roma durante i primi
cinque secoli. Vol. I, parti I e II. {Roma, Loescher e C. i8 L.) —
S e e b e r g , Die Synode von Antiochien im Jahre 324/25. (Berlin,
Trowitzsch & Sohn. 8,60 M.)
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250.
G. Kossinna, Die deutsche Vorgeschichte eine hervor-
ragend nationale Wissenschaft. (Mannusbibliothek 9.) 100 S. 157 Ab-
bildungen im Text. Würzburg, Kabitzsch. 5 M. — Bekannt ist, daß
Kossinna der gewichtigste Vertreter der Theorie ist, die Germanen
stammten nicht aus dem asiatischen Osten, sondern aus Nordeuropa.
Die überaus reiche Kultur dieser Völker von ihren ersten Anfängen
über die herrlich entwickelte Bronzezeit bis ins Ende der Latfenezeit
schildert Kossinna aus eindringlichstem Wissen heraus unter Beigabe
vorzüglich ausgewählter Abbildungen. Zum Schluß folgt ein Kapitel
über die Darstellungen der Germanen in der antiken Kunst, wobei
hätte erwähnt werden dürfen, daß Schumacher durch seinen Gerfnanen-
Frühes Mittelalter. 207
katalog des Römisch-germanischen Zentralmuseums eine solche Zu-
sammenfassung erst möglich gemacht hat. Bedauerlich und gänz-
lich ungerechtfertigt ist der gereizte Ton, der gegen die Vertreter der
römisch-germanischen Forschung, soweit sie auf klassisch-philologi-
schem Boden stehen, angeschlagen wird. Jeder weiß, daß gerade sie
seit Jahren das erstreben und fordern, was Kossinna mit seinem Vor-
trag erreichen will; auch Schumacher, den Kossinna mit vollem Recht
lobt, ist ein solcher ,, Klassiker", um einen früheren Ausdruck von
Kossinna zu gebrauchen. Daß im Rheinland durchaus nicht bloß
Römerforschung betrieben wird, bei der gelegentlich „auch für die
vor- und nachrömischen Knlturverhältnisse einiges abfällt", weiß
jeder oder könnte es wenigstens wissen, dem die Berichte der Röm.-
germ. Kommission und die Verhandlungen der beiden großen Ver-
bände für Altertumsforschung bekannt sind. Daß die deutsche Vor-
geschichte eine hervorragend nationale Wissenschaft ist, wurde in
diesen Kreisen nicht nur oftmals ausgesprochen, sondern auch be-
tätigt, wenn auch ohne viel Geräusch, und so wird man, freilich mit
dem eben gemachten Vorbehalt, auch diesem Leitsatz des Verfassers
zustimmen und dem Vortrag den Erfolg wünschen, daß recht viele
Mitarbeiter, aber auch reichere Geldmittel für die germanische For-
schung neu gewonnen werden möchten. Anthes.
H. Dragendorff (Westdeutschland zur Römerzeit. Leipzig,.
Quelle & Meyer. 1912. 1,25 M.) gibt einen wertvollen, aus dem Vollen
geschöpften Überblick über die römische Kultur im westlichen Deutsch-
land. Trotz geringen Umfangs enthält das Büchlein in den sieben
gut orientierenden Abschnitten über die Eroberung des Gebiets, über
militärische, städtische und ländliche Siedlung, Verkehr, Handwerk,.
Kunst, Religion und Sprache mancherlei förderliche Hinweise auch
auf Einzelheiten. A.
In reich ausgestatteter Veröffentlichung beschreibt A. Götze
(Die altthüringischen Funde von Weimar, 5. — 7. Jahrh. n. Chr.
Berlin, Wasmuth. 1912) die Ausgrabungsergebnisse auf dem großen
Friedhof von Weimar, auf dem gerüstete Krieger und reichgeschmückte
Frauen ihre Ruhestätte gefunden haben. Diese und andere Funde
beweisen, daß Weimar im 5. und 6. Jahrhundert ein Hauptsitz alt-
thüringischer Kultur gewesen ist. Mit der sorgfältigen Fundbeschrei-
bung, der Hervorhebung zahlreicher technischen Einzelheiten und
den ausgezeichneten Abbildungen (19 Taf. und 24 Bilder im Text>
bildet das Werk einen wertvollen Beitrag zur Kenntnis der frühen
Kultur Mitteldeutschlands. A.
Der Aufsatz von H. Böhmer über das germanische Christen-
tum (Theologische Studien und Kritiken 1913,2, S. 165— 280) mit
208 Notizen und Nachrichten.
der Fülle seiner Aufschlüsse und dem Reichtum seiner mit größter
Belesenheit zusammengetragenen Belege läßt sich kaum in seinen all-
gemeinsten Umrissen verdeutlichen. Es kommt dem Verfasser darauf
an, die geistige und religiöse Höhenlage der Germanen zu umschrei-
ben, zu einer Zeit, wo das Christentum als Religion und als Ethos,
als Kirche, als kultisches Institut und als rechtlich verfaßte Anstalt
zu ihnen drang. Er will darlegen, inwieweit innerhalb der germani-
schen Volkskirchen, die etwa um das Jahr 500 bis 1000 sich um die
römische Kirche sammelten, das lateinische Christentum Wandlungen
und Neubildungen erfuhr, inwieweit dies Christentum von den Ger-
manen rezipiert wurde und sie beeinflußte. Die Ausführungen im
einzelnen verbinden nüchterne Erwägungen mit mutiger Polemik gegen
eingewurzelte Vorstellungen; sie rücken das aufgeworfene Problem in
rsligionshistorische Zusammenhänge, bedienen sich zu seiner Lösung
der ReUgionsvergleichung und nehmen auch zu Fragen Stellung wie
z B. die nach der Bedeutung der ständischen Gliederung innerhalb
der Kirche auf deutschem, französischem und englischem Boden, um
so die Tragweite der Arbeiten von A. Schulte auch für die germa-
nische Frühzeit fruchtbar zu machen. Vier Exkurse, durch den
Reichtum der Belege besonders wertvoll, gelten der Frage nach den
Tempeln bei den Südgermanen, den freiständischen und freiherrlichen
Klöstern und Stiftern in den germanischen Reichen, die Zulassung
von Unfreien zur Profeß und endlich dem Geburtsstand der Bischöfe
und Erzbischöfe zumeist in England. Es wäre sehr wünschenswert,
würde die Arbeit auch als Sonderdruck veröffentlicht werden, zumal
durch die Schuld des Setzers der Druck in der Zeitschrift etwas in
Unordnung geraten ist. A. Werminghoff.
In einem gedrängten Überblick vergegenwärtigt A. M. K o e -
n i g e r die Geschichte des Sendgerichts, seiner Zusammensetzung
und seines Verfahrens bis zu seinem Untergang im 17. und 18. Jahr-
hundert. Den Darlegungen kommt zugute, daß der Verfasser in jedem
Abschnitte die Entwicklung des Sends in der Diözese Bamberg schil-
dert, derart, daß auf diese Weise die allgemeinen Züge zugleich in
dem Bamberger Paradigma sich widerspiegeln und so verdeutlicht
werden. JVlan wird in dem Abriß den Vorläufer des noch ausstehen-
den zweiten Bandes über „Die Sendgerichte in Deutschland", denen
Koenigers Veröffentlichung vom Jahre 1907 galt, wie nicht minder
die des Jahres 1910 mit den Quellen zur Geschichte der Sendgerichte
in Deutschland (70. Bericht des Historischen Vereins zu Bamberg
1912).
Von den Aufsätzen des Neuen Archivs 38, 1 sind hier folgende
zu erwähnen : D. v. K r a l i k unterzieht die deutschsprachlichen
Frühes Mittelalter. 209
Bestandteile der Lex Baiuvariorum einer eingehenden Untersuchung;
K. Strecker stellt die Fragmente von Notkers polymetrischer
Vita s. Galli in einer kritisch sichtenden Ausgabe zusammen, sind
doch, wie er am Eingang seines Beitrags bemerkt, ,, gerade 1000 Jahre
verflossen, seit in St. Gallen sich der zahnlose Mund für immer schloß
(!), der so anmutig zu plaudern und zu scherzen wußte und durch
seine Erzählungen Kaiser Karl III. tagelang fesselte". Überaus will-
kommen ist die umfangreiche Abhandlung von E. Caspar über
das Registrum Gregorii VII. mit der Fülle ihrer Aufschlüsse über die
handschriftliche Überlieferung, über die Registerführung unter Gre-
gor VII. und zum päpstlichen Registerwesen im früheren Mittelalter
überhaupt. Die Studie setzt sich auf Schritt und Tritt mit den Er-
gebnissen der anregenden Arbeit von W. Peitz (Sitzungsberichte der
Wiener Akademie 115,5. 1911) auseinander, um eine Neuausgabe
jener wichtigsten Quelle für die Geschichte Gregors VII. vorzubereiten.
Die in dieser Zeitschrift 110, 186 angezeigte Arbeit von O. Blaul be-
spricht E. Caspar im Neuen Archiv 38, S. 385f., während A. Hof-
meister S. 333 ff. mit den Studien von Th. llgen (vgl. 109,642)
sich auseinandersetzt, d. h. ihre Ergebnisse ablehnt.
Die ,, Urkunden zur Geschichte des deutschen Privatrechtes,
für den Gebrauch bei Vorlesungen und Übungen herausgegeben von
Hugo Loersch und Richard Schröder", die zuerst 1874 er-
schienen sind, können einen Platz in der Geschichte der deutschen
Rechtswissenschaft beanspruchen; E. Landsberg hat in seiner Darstel-
lung dieser Geschichte (S. 898) mit Recht hervorgehoben, daß die
Sammlung ,, entscheidend gewirkt hat für die Verbreitung der An-
schauung, daß die Kunde des deutschen Rechts neben den eigent-
lichen Rechtsquellen wesentlich den Urkunden zu entnehmen ist".
Daß sie nun auch wieder in der Gegenwart als willkommenes Hilfs-
mittel dasteht, verdankt sie der neuen Bearbeitung, der sie Leopold
Pereis in Gemeinschaft mit Schröder selbst unterzogen hat (Bonn,
A. Marcus und E. Webers Veriag. 1912. XXXI 1 u. 250 S. 6 M.).
Der Stoff, in alter Weise chronologisch geordnet, aber durch eine
Übersicht nach Materien der systematischen Benutzung erschlossen,
wurde zum Teil erneuert, und die Texte vieler Urkunden konnten
nach neueren Drucken in besserer Form gegeben werden. Die Lite-
raturverweise und knappen Erläuterungen des Bearbeiters sind will-
kommen, nützlich ist auch trotz ihrer gewollten Unvollständigkeit
die früher fehlende Wortliste am Schlüsse des Buches.
L. L e V i 1 1 a i n , La succession d'Austrasie au VW siecle (Re-
vue lustorique 1 12, 1913, S. 62—93) behandelt die an Wirren und Kämp-
fen reiche Geschichte des Austrasischen Königtums von der Zeit an,
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge U. Bd, 14
^10 Notizen und Nachrichten.
da Dagobert I. dem Lande 633/34 in seinem Sohne Sigbert III. einert
eigenen König gab, bis zum Ende dieser Sonderstellung Austrasiens-
nach der Ermordung Dagoberts II. im Jahre 679 und dem Tode des
Hausmeiers Ebroin, indem er die zerstreuten Ausführungen seiner Vor-
gänger mit Geschick zusammenfaßt und im besonderen als erster den
5. Band der Scriptores verum Merovingicarum heranzieht. Nicht immer
geglückt scheinen mir eigene Vermutungen des Verfassers, so bei
den Ausführungen über den ersten, im einzelnen wenig bekannten
Versuch der Pippiniden, die Merowinger zu entthronen (S. 63 ff.):
Daß der Hausmeier Grimoald I., der dies unternahm, Urkunden nach
dem jungen Dagobert II. datierte, so lange er ihm den Schein der
Herrschaft ließ, ist verständlich; daß er es tat, nachdem er ihn hatte
scheren lassen, was mit der Thronentsetzung gleichbedeutend war,,
und nach Irland gesandt hatte, ist so unwahrscheinlich wie nur mög-
lich, und auch sonst scheinen mir die Ausführungen von Krusch über
diese Vorgänge vor den neuen Annahmen entschieden den Vorzug
zu verdienen. Die Folgerungen, die Levillain für die Chronologie
Childerichs II. aus einer Zeitangabe in den Beschlüssen des Konzils
von Saint- Jean de Losne c. 11 (MG. Concilia 1,218) gezogen hat
(S. 73 f.), fallen ohne weiteres dahin, da er den von dem König viel-
leicht gar nicht erlebten Termin einer zukünftigen Synode
fälschlich für die Zeit des beschließenden Konzils gehalten hat. Der
Name des Metropoliten Chado in einer Originalurkunde von 677
sollte nicht in den des Bischofs Dado (Audoin) von Ronen verbessert
werden (S. 82); es ist der wohlbekannte Chado von Bourges (vgL
Duchesne, Fastes episcopaux de Vancienne Gaule W^, S. 29 f. ; MG.^
Auct. ant. XIII, 493), und die von Grandidier „gereinigte" Gestalt
einer falschen Ebersheimer Urkunde (vgl. H. Bloch, Zeitschrift für
die Geschichte des Oberrheins N. F. XII, 1897, S. 477 f.) sollte nicht
mehr als echt benutzt werden (S. 92 Anm. 2). Über den Aquitani-
sehen Herzog Lupus (S. 81 f. 84) vgl. SS. R. Merov. V, 486 ff.
W. Levison.
Sehr willkommen ist eine umfangreiche Abhandlung von Th.
Hirschfeld im Archiv für Urkundenforschung 4, S. 419 ff. über
das Gerichtswesen der Stadt Rom vom 8. bis zum 12. Jahrhundert
wesentlich nach stadtrömischen Urkunden. Sie befaßt sich zunächst
mit der Kriminal- und Zivilgerichtsbarkeit des Kaisers, der welt-
lichen Gerichtsbarkeit des Papstes, der Kardinalvikare und weltlichen
Usurpatoren, weiterhin mit den iudices, dem Präfekt und dem Senat.
Es kommt dem Verfasser darauf an, die genannten Personen als Vor-
sitzende von Gerichten kennen zu lehren, sie durch die Jahrhunderte
hindurch zu begleiten und durch ihre gegenseitige Unterscheidung
wiederum eine Art von Systematik des stadtrömischen Gerichtswesens
Frühes Mittelalter. 211
zu geben. Die weiteren Abschnitte gelten der Kompetenz der Ge-
richte, ihren Beisitzern und sonstigen Funktionären wie z. B. den
fitdices ordinär ii und dativi, den Advokaten, Boten und Zeugen. Fleiß
und Umsicht der Untersuchung verdienen alles Lob; daß nicht allent-
halben restlose Klarheit erzielt werden konnte, fällt nicht dem Ver-
fasser, sondern der Überlieferung zur Last, nicht minder der Ver-
fassungsgeschichte der Stadt Rom im ganzen, die nicht nur hinsicht-
lich des Gerichtswesens gegenüber jedem Versuche einer Verdeut-
lichung sich mehr als spröde erweist.
Mario K rammer hat für die Brandenburg- Seeligersche
„Quellensammlung zur deutschen Geschichte" die „Quellen zur Ge-
schichte der deutschen Königswahl und des Kurfürstenkollegs" zu-
sammengestellt. Die beiden Bändchen sollen nicht nur pädagogischen
Zwecken dienen, sondern auch für die neuerdings besonders lebhafte
Forschung über das Kurkolleg ein bequemes Hilfsmittel an die Hand
geben. Die Zeit von der Wahl Konrads I. bis in das 13. Jahrhundert
umfaßt der erste, die von Rudolf bis Karl IV. der zweite Band; ein
Abdruck des größten Teiles der Goldenen Bulle macht den Schluß.
Die Ausgabe ist umsichtig und sorgfältig. Für die Zeit bis Rudolf
ist die erstrebte Vollständigkeit einigermaßen erreicht (ich vermerke
für eine neue Auflage, daß in der Krönungsordnung aus der ottoni-
schen Zeit die Stelle, die von der Salbung handelt, nicht weggelassen
werden sollte), am Ende des 13. Jahrhunderts schwillt das Material
allzusehr an, als daß nicht hätte ausgewählt werden müssen, und
man wird daher zuweilen verschiedener Meinung sein können, ob
nicht auch dieses oder jenes Stück Aufnahme verdient hätte. So
vermißt man etwa zwischen der Absetzung Adolfs und der zweiten
Wahl Albrechts die Urkunde über Albrechts erste Wahl, oder neben
der Bestellung eines Boten an den Kölner Erzbischof durch Balduin
von Trier am 18. November 1314 mindestens den Hinweis darauf,
daß auch der König einen gleichen Auftrag erteilte u. dgl. mehr. Aber,
wenn hier noch einiges fehlt, so schadet dies schon deshalb nichts, weil
dadurch die Gefahr vermindert wird, daß durch diese und ähnliche
Hilfsmittel die Studierenden des Gebrauchs der großen Quellenwerke
selbst, vor allem der Bände der Monumenta, allzusehr entwöhnt wer-
den (Leipzig und Berlin, Teubner. 96 u. 160 S.). £. Vogt.
H. Bloch untersucht in einem wertvollen Aufsatz des Neuen
Archivs 38, 1 die Entstehungsgeschichte der Sachsengeschichte Widu-
kinds von Corvei, und es gelingt seinem Scharfblick folgendes, wie uns
scheint, gesichertes Resultat zu erzielen. Widukind hat bereits im
Winter 957/8 einen ersten Entwurf seines Werkes niedergeschrieben;
dieser wurde um 967/8 mit Rücksicht auf die Prinzessin Mathilde
14»
212 Notizen und Nachrichten.
erweitert und ist in solcher Gestalt allein auf uns gekommen; erst
nach dem Tode Ottos des Gr. wurde ein kurzer Schluß angehängt.
In der für Mathilde bestimmten Form finden sich gegenüber dem
ersten Entwürfe Zutaten von Briefen, Einzelabschnitte und Sätze:
werden sie eben als Zutaten ausgeschaltet, so ergibt sich die Gestalt
des ersten Entwurfs mit völliger Bestimmtheit, derart, daß hierdurch
zugleich auf die Verwandtschaft und Wertung der Handschriften
neues Licht fällt, nicht minder aber auf die wechselseitigen Beziehungen
zwischen Widukind und Hrotsvit von Gandersheim. Ein letzter Ab-
schnitt der Studie behandelt die Sachsengeschichte als Zeugnis deut-
schen Lebens und Widukinds Auffassung vom Kaisertum; die bis-
herige Beurteilung z. B. seines Schweigens über Ottos Kaiserkrönung
erweist sich als der Korrektur bedürftig. An gleicher Stelle sodann
(S. 297 ff.) setzt sich H. Bloch mit J. Haller auseinander, dessen
Schrift über „Die Marbacher Annalen. Eine quellenkritische Unter-
suchung zur Geschichtschreibung der Stauferzeit" (Berlin 1912)
Blochs Ergebnisse hinsichtlich der Elsässischen Annalen der Staufen-
zeit und seiner Ausgabe der sog. Marbacher Annalen bekämpft hatte.
Ihm gegenüber glaubt Bloch an seinen früheren Resultaten festhalten
zu sollen.
Robert Latouche, Histoire du comte du Maine pendant le
X^ et le XI' siede. Avec un plan. (= Bibliotheque de l'Ecole des
Hautes Etudes, 183. Heft.) Paris, Champion, 1910. VIII, 205 S.
4,80 M. — Mit dieser Provinzialgeschichte will Latouche zugleich
einen typischen Fall für den Umwandlungsprozeß eines fränkischen
Gaues in das Regime feodal erfassen. In beider Hinsicht, sowohl als
Baustein für die noch so lückenhafte Geschichte der französischen
Lehnsfürstentümer, wie als Beispiel jenes Überganges stellt die Ar-
beit eine ausgereifte Anfängerleistung dar. Wie wenig dankbar die
Geschichte des kleinen Landes an sich ist, zeigen die spröden Ka-
pitel der politischen Erzählung. Wie ein Jahrhundert später sich in
der Kunstgeschichte die großen Nachbarprovinzen um den Besitz von
Maine stritten, so ruht auch das politische Schicksal schon ganz frühe
im Wettbewerb der Nachbarn. So verweist Latouche den ausländischen
Leser mit Recht mehr auf die verfassungsgeschichtlichen Abschnitte,
die bei Gelegenheit ,, berühmte Thesen illustrieren'" (III). Bei der
Darstellung der Anfänge des Lehnswesens (S. 57) hat Latouche leider
kein besonderes Glück mit der These gehabt, die er zu illustrieren
unternahm: auf seine Autoritäten hin (S. 65,68) setzt er den Ritter
mit dem Gemeinfreien der Karlingerzeit einfach gleich und stützt
diese Annahme durch den Trugschluß einer Gleichsetzung (statt Neben-
einanderstellung) von miles und liber homo (S. 68 Note 5, 6). Die
nützliche Stoffsammlung zum Ämterwesen (S. 70 ff.) zeigt Verquickung
Frühes Mittelalter. 213
der seigneiirialen Einrichtungen mit den gräflichen. Die Bischofs-
geschichte gibt ein bemerkenswertes Bild von Verweltlichung und
Reform im hohen Klerus; ebenso sind die Stadtgeschichte von Le Mans,
die über die Hälfte des Bandes erfüllenden Exkurse, Grafenverzeich-
nisse, Urkunden und das Register Lobes würdig.
Kiel. Fritz Kern.
W, L e V i s 0 n kann in der English Historical Review 27
(Oktober 1912) über einen bisher unbekannten, in einer Handschrift
von Canterbury überlieferten, leider freilich fragmentarischen Text
jener Verhandlungen berichten, die im Jahre 1072 auf der Penenden-
Heide zwischen Erzbischof Lanfrank von Canterbury und Bischof
Odo von Bayeux gepflogen wurden.
Aus der Revue des Questions historiques, nouv. ser. 49, 1, S. 71 ff.
notieren wir die geschickt zusammenfassenden Bemerkungen von J.
de Ghellinck über die polemische Literatur im Zeitalter des
Investiturstreites, denen freilich wesentlich neue Gesichtspunkte in
der Würdigung jener Streitschriften fehlen.
Ungewöhnlich reichhaltig ist die Ausbeute an unbekannten Ur-
kunden und Regesten zur Reichsgeschichte Oberitaliens vom 11. bis
zum 13. Jahrhundert, von der als der Frucht archivalischer Studien
H. K a 1 b f u ß in den Quellen und Forschungen aus italienischen
Archiven und Bibliotheken 15, 1 S. 53 ff. Bericht erstatten kann. Es
handelt sich um Dokumente zur Geschichte u. a. der Markgräfin
Mathilde von Tuscien, des Herzogs Weif, der Hohenstaufen und Ottos IV.
bis zum Jahre 1231, die zugleich in die Organisation ihrer Beamtenschaft
und in die Verwaltung ihrer vielartigen Besitzungen lehrreiche Ein-
blicke erlauben. In die Zeit Friedrichs II. und Manfreds versetzen
die von F. Schneider an demselben Orte (S. 1 ff.) veröffentlichten
Beiträge: ihr erster gilt den selbständigen Reichsvikariaten unter
Friedrich II., der zweite der Versöhnungspolitik seines Sohnes, die
durch die Beigabe eines Gesandtschaftsberichtes vom Jahre 1263 ins
rechte Licht gerückt wird.
In der den Slawen eigenen umständlichen Art sucht Dr. Nikola
T 0 m a s i c , der frühere Banus von Kroatien, den Nachweis zu füh-
ren, daß die Verbindung des dreieinigen Königreichs Kroatien-Slawo-
nien-Dalmatien mit Ungarn von König Kolomann nicht durch kriege-
rische Eroberung, sondern durch Vertrag (per pacta et conventa) her-
beigeführt worden sei. (Temelji drzavnoga prava Hrvatskoga kraljev-
stva. Fundament a iuris publici regni Croatiae. Najstarije doba : Pacta
conventa. Zagreb (Agram) 1910. Tisak kralj. zemaijske tiskare. VIII
u. 175 S.) Er geht von einer angeblich im Jahre 1108 von dem König
den Bürgern von Trau verliehenen Urkunde aus (F^jer, CD. Hungariae
214 Notizen und Nachrichten.
2, 45; CD. regni Croatiae coli. T. Smiciklas 2, 19 Nr. 16), deren Fas-
sung in den Urkunden Geisas II. für Spalato vom Jahre 1142 (Fejer
2, 118; CD. regni Croatiae 2, 49 Nr. 49) und Stephans III. für Sebenico
vom Jahre 1167 {CD. regni Croatiae 2,115 Nr. 108) wiederkehrt.
Nach seiner Ansicht sind von König Kolomann den dalmatinischen
Städten gleichlautende Urkunden ausgestellt worden, die auf einer
für ganz Kroatien geltenden Grundlage, eben den pacta et conventa,
beruhen. Schon an diesem Schluß wird man an und für sich und im
besonderen mit Rücksicht darauf, daß es sich um venezianische Städte
handeln würde, Anstoß nehmen. Ist zudem die innere Echtheit der
nicht im Original erhaltenen Urkunde ernsten Bedenken unterworfen,
so ruht das ganze Gebäude auf einer recht unsicheren Grundlage.
In der Tat hat J. Karäcsonyi (Szäzadok 1910; Vjesnik Kr. Hrvatsko-
Slavonsko-Dalmatinskoga zemaljskoga Arkiva 1911; Revue de Hongrie
7(1911) lOOff.; Szäzadok \'d\2; vgl. Stefan Heinlein in der Ung. Rund-
schau 1 (1912), 686 ff. und D. Gruber im Vjesnik 1911) sehr gewichtige
kritische Einwendungen erhoben. Überdies kann die Art und Weise,
wie Tomasic die Urkunden zergliedert und wie er aus einzelnen Ab--
sätzen und Worten weitgehende Folgerungen ableitet, ebensowenig als
zulässig gelten wie die Verbindung dieser schwergerüsteten Darlegungen
mit einem an den Schluß gestellten politischen Programm in sieben
Artikeln (S. 117). Das hat mit wissenschaftlicher Forschung nichts
mehr zu tun, erschüttert das Vertrauen in die Unbefangenheit der
gelehrten Arbeit und dürfte die politische Auseinandersetzung nicht
fördern. Im übrigen enthält die Untersuchung manchen wichtigen
Beitrag zur älteren Geschichte Kroatiens und Dalmatiens, so über
die von den Stadtbewohnern zu leistenden Abgaben (S. 9 ff.), über
die Anfänge des kroatischen Königtums (S. 49 ff.), über die arpädischen
Könige Kroatiens (S. 72 ff.) und über die Banuswürde (S. 98 ff.).
Im Anhang sind die nach der Ansicht des Verfassers für die staats-
rechtlichen Fragen wichtigen Urkunden und Aufzeichnungen abge-
druckt.
Graz. K. Uhlirz.
In einer kleinen Schrift würdigt G. K I e e m a n n den Ponti-
fikat Gregors VIII., der am 21. Oktober 1187 gewählt, am 25. Ok-
tober geweiht wurde und schon am 17. Dezember desselben Jahres
1187 zu Pisa starb. Die Aufmerksamkeit Gregors war in erster Linie
auf das Zustandekommen eines neuen Kreuzzuges gerichtet: diese
seine Tätigkeit nimmt daher in der vorliegenden Abhandlung den
ersten Platz ein, neben ihr Gregors Beziehungen zu Friedrich I. und
Heinrich VI., wie auch seine innerkirchlichen Maßnahmen. Die Studie
verrät ansprechenden Fleiß in der Verwertung des urkundlichen und
Frühes Mittelalter. 215
historiographischen Materials, ohne sich im übrigen durch allzuviel
neue Gesichtspunkte oder durch große Selbständigkeit in der Beurtei-
lung des Papstes (vgl. bes. S. 19 ff., 50 ff.) auszuzeichnen. Nützlich
ist unter den Anhängen der erste mit seiner Übersicht über die von
P. Kehr, aber noch nicht von Jaff6-Löwenfeld verzeichneten Urkun-
den Gregors, während der vierte mit dem Hinweis auf eine Vorschrift
des ehemaligen Kanzlers Albert von Mora (des späteren Papstes Gre-
gor VIII.) über die Anordnung des Rhythmus in den päpstlichen
Bullen recht dürftig ausgefallen ist (Papst Gregor VIII. 1187. Bonn,
A. Marcus und E. Weber 1912. 62 S. ; a. u. d. T.: Jenaer Historische
Arbeiten, hersg. von A. Cartellieri und W. Judeich, Heft 4). A. W.
H. Niese macht in den Nachrichten der K. Gesellschaft der
Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Klasse 1912,4 bisher un-
bekannte Materialien zur Geschichte Friedrichs II. zugänglich. Die
mitgeteilten Stücke, Privilegien, Mandate u. a. m. aus der Zeit von
1207 bis 1247 werfen neues Licht auf die Geschichte des sizilischen
Königreiches vor dem ersten Zuge Friedrichs II. nach Deutschland,
vor allem aber auf die Verwaltung des Königreiches unter dem Hohen-
staufen selbst, zumal in Fragen der Justiz. Der Finder und Herausgeber
der Stücke hat sie insgesamt in einer aufschlußreichen Einleitung er-
läutert; aus ihr erheischen die Bemerkungen über die Methode der
Forschung besondere Aufmerksamkeit.
Unter dem Titel ,, Handel und Wandel in der Moldau bis zum
Ende des 16. Jahrhunderts" gibt J. Nistor (Czernowitz 1912, Uni-
versitätsbuchhandiung Pardini) den besonderen Teil seiner Untersuchun-
gen zur moldauischen Handels- und Wirtschaftsgeschichte, deren all-
gemeiner Teil ein Jahr zuvor erschienen war (s. H. Z. 108, 201). Die
Methode der Untersuchung und das Quellenmaterial sind großenteils
dieselben wie früher. In acht Abschnitten werden hier die handels-
politischen Verhältnisse (s. besonders den allgemeinen Überblick auf
S. 11/12), das moldauische Verkehrswesen, die Kaufleute (s. 51, 56
und 58 über die deutschen Kaufleute, die Verdrängung der rumäni-
schen Kaufmannschaft durch die Griechen und die Einschränkung
der Handelstätigkeit der Juden), die Arten und die Technik des Waren-
umsatzes, die Handelsgerichtsbarkeit, Maße und Gewichte, endlich
Handelsgegenstände und Warenpreise behandelt. Die einzelnen Ab-
schnitte ruhen auf einer sorgsamen Durchforschung des einschlägigen,
weit verstreuten und größtenteils noch ungesichteten Quellenmate-
rials und der älteren und neueren Literatur, deren Verzeichnis —
wie es sich in dem allgemeinen Teile abgedruckt findet — hier vielfach
ergänzt ist. Am gelungensten erscheinen uns die Kapitel über das
Geldwesen und über Maße und Gewichte. J. Loserth.
I
216 Notizen und Nachrichten.
K. H a m p e , Ein ungedruckter Bericht über das Konklave
von 1241 im römischen Septizonium. S.-B. der Heidelberger Aka-
demie. Philol.-hist. Kl., Jahrg. 1913. 1. Abh. Heidelberg, Winter.
34 S. 1,20 M.) — Aus einer schon früher benutzten Handschrift der
Reimser Stadtbibliothek gewährt Hampe zwei Briefe vom November
1241, die zur Zeit der Erledigung des päpstlichen Stuhles nach dem
Tode Coelestins IV. (gewählt 25. Oktober 1241, gestorben 10. No-
vember) zwischen einer in Rom verbliebenen Gruppe von Kardinälen
und der nach Anagni geflüchteten Mehrheit gewechselt wurden. Der
kurzen Aufforderung jener, zur schleunigen Neuwahl nach Rom zu
kommen, folgt eine lange Ablehnung, begründet auf die furchtbaren
Leiden, welche die Kardinäle in dem jüngst verflossenen Konklave
dank der brutalen Gewaltmaßregeln des einschließenden römischen
Senators Matteo Orsini zu tragen hatten. Außerhalb Roms wollte
man in Freiheit wählen! Die erinnernde Schilderung an die zwangs-
weise Einsperrung , an die ekelhafte todbringende Einzwängimg,
an die Bedrohung mit noch ärgeren Schrecknissen für Leib und Seele
ist auch unter literarischem Gesichtspunkt bedeutsam, inhaltlich sehr
wertvoll zur Aufklärung der Lage in kritischen Jahren des Kampfes
zwischen Reich und Kirche. Erst mehr als zwanzig Monate nach
dem Tode Cölestins IV., am 25. Juni 1243 ist der Kirche in Innocenz IV.
ein neues Haupt erstanden. Wenn aber von Hampe jetzt die Haupt-
schuld für den vielbeklagten Aufschub nicht mehr den Kardinälen
bzw. dem Kaiser, sondern dem brutalen Übereifer des römischen
Senators, durch den das Kollegium sich in wohlbegründeter Angst
habe zersprengen lassen, zugewiesen wird, so glaube ich ihm darin
nur mit Einschränkung folgen zu dürfen. Unerledigt bleibt bei ihm,
wie in dem eingehenden Kapitel, das E. von Westenholz, seine Schü-
lerin, noch ohne Kenntnis des vorliegenden Berichts in ihrem Buche
„Kardinal Rainer von Viterbo" (1912) über die Sedisvakanz von
1241 — 1243" geschrieben hat, die wichtige Frage nach dem zeitlichen
Beginn des Konklaves von 1241. Es geht doch nicht an, mit dem
Biographen Innocenz IV. (Nicolaus de Carbio) die Einschließung als
„sofort nach Gregors Tode" (f 21. oder 22. August) erfolgt anzusehen.
Wenn ich auch die übersehene Angabe Rolandins von Padua von
vierzigtägiger Zwietracht, die auf Mitte September führen würde,
ausschalte, weil die Einschließung nach Ryccardus von S. Germano
im Monat August erfolgt ist, so verfließen doch eben nach seinen An-
gaben (M. G. SS. 19, 381, 28u. 32) eine Reihe von Tagen, bis außer-
halb Roms befindliche Kardinäle, insbesondere Johann Colonna, mit
Erlaubnis des Kaisers herbeigekommen waren. Also die Kardinäle
schaffen nicht wie bei den drei letzten Wahlen am Todestage oder
an einem der beiden nächsten Tage ein neues Oberhaupt, sie zögern
Späteres Mittelalter. 217
schon den Beginn der Wahlhandlung hin, vielleicht eine Woche und
mehr — da geschieht in der hochgespannten Lage, die alle drei Fak-
toren vom rechten Wege abirren läßt, aber auch bis zu gewissem
Grade entlastet, das Außerordentliche (Hampe hat es nicht als sol-
ches gekennzeichnet): ein weltlicher Machthaber schließt zum ersten-
mal die Kardinäle ein (ut ad creandum papam inviti procedant, Ryccar-
dus de S. G.), und so stark bleibt in den nächsten Jahrzehnten die
Parteiung, daß ohne Konklaveordnung, die erst 1274 Gesetz wurde,
die Einschließung sich fast regelmäßig wiederholt — trotz der grau-
sigen Erinnerungen an das erste Konklave. K. Wenck.
Neue Bücher: A 1 i v i s a t o s , Die kirchliche Gesetzgebung des
Kaisers Justinian I. (Berlin, Trowitzsch & Sohn. 5,60 M.) — G ad -
do n i eZaccherini, Chartularium Imolense. Vol. II. (Rom,
Bretschneider. 14,40 M.) — Hans Hirsch, Die Klosterimmunität
seit dem Investiturstreit. (Weimar, Böhlaus Nachf. 6 M.) — Codex
diplomaticiis et epistolaris regni Bohemiae ed. Gast. Friedrich.
Tom. II. Inde ab a. MCXCVIII usque ad a. MCCXXX. (Prag,
Rivnäc. 20 M.) — Krammer, Das Kurfürstenkolleg von seinen
Anfängen bis zum Zusammenschluß im Renser Kurverein des Jahres
1338. (Weimar, Boehlau. 10,40 M.) — Mayer-Homberg,
Die fränkischen Volksrechte im Mittelalter. 1. Band. (Weimar, Böh-
laus Nachf. 10 M.) — Allsho r n , Stupor mundi : the life and times
of Frederick II., emperor of the Romans, king of Sicily and Jerusalem,
J194 — 1230. (London, Secker. 16 sh.)
Späteres Mittelalter (1250—1500).
Mit einer Analyse seiner umfangreichen Arbeit über Magister
Heinrich den Poeten in Würzburg verbindet Herm. G r a u e r t allerlei
Hinweise zur Kulturgeschichte und zur Organisation der Kurie (Histo-
risches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 33, 4). |
Aus der Bibliotheque de l'ecole des chartes 1912, September-
Dezember sind wiederum einige in unsere Rubrik fallende Beiträge
namhaft zu machen. H. Stein veröffentlicht das Testament des
Erzbischofs Peter von Palermo (1283), aus dem sich u. a. ergibt, daß
dieser zur Zeit der Sizilianischen Vesper seines Amtes waltende Kir-
chenfürst von Geburt Franzose (Pierre de Sainte-Foi) gewesen ist.
Eine diplomatische Abhandlung von Fr. G a 1 a b e r t handelt nach
Urkunden für Toulouse über den Vermerk „Cffias sie signata" und
die Taxen in der französischen Kanzlei des 14. Jahrhunderts. G.
Ritter teilt aus einem Bande der Bibliothek zu Rouen die Ein-
träge des Journal du Trisor royal von 1423/24, also aus der Zeit der
218 Notizen und Nachrichten.
englischen Okkupation, mit. Endlich sei noch die Auseinandersetzung
zwischen P. V i o 1 1 e t und H. Fr. D e 1 a b o r d e über die „En-
seignements de saint Louis ä son fils" (vgl. H. Z. 110, 191 und 432)
erwähnt.
Nachdem sich die Forschung zu wiederholten Malen eindringend
mit dem Verhältnisse von Staat und Kirche in einzelnen deutschen
Territorien des späteren Mittelalters befaßt hat, beleuchtet E. Schil-
ler, Bürgerschaft und Geistlichkeit in Goslar 1290 — 1365 (Kirchen-
rechtliche Abhandlungen, herausg. von Ulr. Stutz, 77. Heft. Stutt-
gart, Ferdinand Enke. 1912. XXIV, 228 S. 9 M.) zum ersten Male
im Zusammenhang die Beziehungen von Stadt und Kirche in einer
•einzelnen Reichsstadt. Seine klare und eindringende Untersuchung
führt im ganzen zu den gleichen Resultaten, wie sie jene Studien ge-
zeitigt hatten: auch in Goslar die Vorbereitung des Landeskirchen-
werkes der Reformation durch das Vordringen der weltlichen gegen
die geistliche Gewalt im späteren Mittelalter. Die Kirchenpolitik Gos-
lars bietet freilich kaum Beispiele jener oft extremen Entschieden-
heit, durch die so vielfach die Territorialpolitik charakterisiert ist;
■ein vorsichtiges, auf möglichste Vermeidung scharfer Konflikte gerich-
tetes Regiment, das aber doch im einzelnen ganz namhafte Erfolge
erzielte. Besonders beachtenswert sind die Ausführungen des Ver-
lassers über die Provisoren oder Prokuratoren, Ratsvormünder, durch
die der Rat die gesamte Verwaltung des Klosters Neuwerk und in
geringerem Maße auch anderer Stifter und Klöster unter seine Kon-
trolle brachte. Im übrigen darf wohl auf die ausführlichere Anzeige
des Unterzeichneten in der Zeitschr. d. Savigny-Stiftung für Rechts-
geschichte, kanon. Abt. 1913, verwiesen werden.
Graz. Heinrich R. v. Srbik.
Lettres de Jean XXII (1316—1334). Textes et analyses publ.
p. Arnold Fayen. Tome II. 1325—1334. (Analeda Vaticano-Bel-
gica Vol. III.) Paris-Bruxelles-Rome, Bretschneider-Dewit-Champion
o. J. XI, 980 S. — Über den zweiten Band des Werkes ist nur zu
sagen, daß er sich seinem H. Z. 106, 198 f. besprochenen Vorgänger
•würdig anreiht. Besonderes Lob verdient wieder das über zweihundert
Seiten starke, gut und sorgfältig gearbeitete Register. H. K.
In den Comptes-rendus des Seances de VAcademie des Inscrip-
tions et Beiles- Lettres pendant Vannee 1912, November entwirft P.
Fournier ein kurzes Lebensbild des Dauphins Humbert II. (gest.
1355), nach dessen Tod die wohlvorbereitete Einziehung des Landes
durch das französistne Königtum vollzogen werden konnte.
Über Johannes Porta de Annoniaco und sein Buch über die
Krönung Kaiser Karls IV., das bisher in der gänzlich unzureichenden
Späteres Mittelalter. . 219
Ausgabe von Höf ler benutzt werden mußte, handelt R. S a 1 o m o n
im Neuen Archiv 38, 1. Der Aufsatz bildet eine Vorarbeit für die
etwa gleichzeitig in der Reihe der Scriptores rerum Germanicariim
erschienene Neubearbeitung des wichtigen Quellenwerks, das auf
einer Sammlung der auf die Krönungsangelegenheit bezüglichen Akten-
stücke und dem Reisetagebuch Johanns beruht. Alle einschlägigen
Fragen werden mit Scharfsinn und Umsicht erörtert. — Johann
S c h u 1 1 z e gibt an der gleichen Stelle einen kleinen Beitrag zur
Kenntnis des Taxwesens in der päpstlichen Kanzlei unter Eugen IV.
(nach einer Aufzeichnung des Martinstifts zu Kassel, jetzt im Mar-
burger Staatsarchiv befindlich).
L. M i r 0 t kommt mit einem nochmaligen ausführlichen Ab-
schnitt im Mayen Age 1912, November-Dezember mit seiner breit
angelegten Arbeit: Le proch du boiteux d'Orgemont (vgl. H. Z. 106,
432; 107, 195; 109, 650; 110, 434) glücklich zu Ende. Er schildert
die Verschwörung von 1416 und das Verfahren gegen Nikolaus, das
mit Einkerkerung, Verlust aller Ämter und Würden und Beschlag-
nahme der Güter endete. Auch andere Mitglieder der Familie sind
von der Rache der Armagnacs ereilt worden.
C. Kamm veröffentlicht in der Römischen Quartalschrift für
christliche Altertumskunde und für Kirchengeschichte 26, 4 den Schluß
seiner schon öfter (vgl. H. Z. 109, 443; 110, 193 u. 434) genannten
Arbeit über den Prozeß gegen die „Justificatio Ducis Burgundiae*'
auf der Pariser Synode 1413/14, indem er namentlich die Argumente
der Gegner und Verteidiger Jean Petits genau wiedergibt. Am 23. Fe-
bruar 1414 hat die Synode ihr Verdammungsurteil ausgesprochen,
doch hat der Herzog sofort an den Papst appelliert, der die Ange-
legenheit an eine Kardinalkommission verwiesen und so die Verhand-
lungen zu Konstanz vorbereitet hat.
G. Z a 0 1 i schildert in den Studi e memorie per la storia deU'uni-
versitä di Bologna Vol. III (1912) den Aufschwung, den die Hoch-
schule in den Jahren 1416 — 1420 unter der Ägide Papst Martins V.
genommen hat. Besonders dankenswert ist die Zusammenstellung des
Lehrkörpers während jener Zeit und der Abdruck der langen Stif-
tungsurkunde des Collegium Gregor ianum durch Papst Gregor XI.
X1372). — Auch die kurzen Mitteilungen, die Ferd. Gabotto an
der gleichen Stelle über Angehörige des savoyischen Fürstenhauses
macht, die vom Ende des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts in
Bologna studiert haben, mögen hier noch angeführt werden.
Hans P r u t z , Jacques Coeur von Bourges. Geschichte eines
patriotischen Kaufmanns aus dem 15. Jahrhundert. Historische Stu-
KJien, Heft 93. Berlin, Ebering. 1911. VIIl u. 438 S. 7 Tafeln. —
220 . Notizen und Nachrichten.
Einen stattlichen Band legt uns Prutz vor. Eingehend, ja etwas um-
ständlich berichtet er uns über das Leben des merkwürdigen Mannes,
der in mancher Beziehung an den großen Florentiner Handelsherrn
gemahnt. Wir hören von seiner umfassenden Tätigkeit als Gewerb-
treibender und Kaufmann, als Münz- und Verwaltungsbeamter, als
Diplomat und Kriegsmann, als Bauherr und Kunstfreund. Ärgerlicher-
weise zieht nur Prutz die neue Literatur nicht heran, ebensowenig
allgemeinere Werke wie Spezialarbeiten, so die wichtigen Recherches
der Fräulein Guiraud, die doch Jacques Cceur wesentlich anders auf-
faßt (vgl. Revue Historique 110,85); kein patriotischer Kaufmann,
keineswegs die ,, Verkörperung des hochstrebenden Bürgertums", son-
dern ein skrupelloser Unternehmer. Das letzte Wort bleibt also zu
sagen. — Literaturverzeichnis, Register und genaueres Inhaltsver-
zeichnis sollten nicht fehlen. Zahlreiche Druckfehler sind stehen ge-
blieben. O. CartelUeri.
Die Archivalische Zeitschrift N. F. 19 (1912) bringt zwei kleinere
Beiträge zur Geschichte des späteren Mittelalters von Wilh. Beck.
Es handelt sich einmal um eine Urkunde des Münchener Hausarchivs
von 1434, die für die Kenntnis der Beziehungen Herzog Heinrichs
des Reichen von Niederbayern zu seinem Sohn Ludwig in Betracht
kommt, während die zweite Arbeit an der Hand von Gerichtsver-
handlungen aus den Jahren 1464/65 einen Zweikampf zu Pferd zu
schildern sucht.
Eine bisher ungedruckte Schilderung der Kurie, die zugleich
einen nicht unwichtigen Beitrag zur Geschichte der italienischen Re-
naissance darstellt, analysiert Richard S c h o 1 z im Archiv für Kultur-
geschichte 10, 4. Als Verfasser ergibt sich der Florentiner Humanist
Lapo da Castiglione (1405 — 1438), Schüler von Bruni und Filelfo, seit
1436 Sekretär der Kurie, der diesen seinen „Dialogus super excellencia
et dignitate curie Romane super ceteras policias et curias antiquorum
et modernorum contra eos qui Romanorum curiam diffamant" unmittel-
bar vor seinem Tode geschrieben hat. Die Schrift versetzt uns in den
Kampf zwischen dem Basler Konzil und der Kurie, deren Verteidigung
sie bezweckt, wenngleich im Vordergrund der ,, Widerstreit zwischen
mönchisch-asketischer und humanistischer Weltanschauung" steht.
Dem Verfasser ist die Kurie ,,die zur Führerin in der Renaissance-
bewegung berufene Macht der Zukunft". — Eine vollständige Ver-
öffentlichung des Textes wird demnächst in den Quellen und For-
schungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken erfolgen.
Der „letzten Kaiserin von Trapezunt in der südslavischen Dich-
tung" widmet Camilla L u c e r n a eine kleine Arbeit. Es handelt
sich um die in der serbischen Heldendichtung fortlebende Helena
Reformation und Gegenreformation. 221
Kaiitaciizena, die nach dem Untergang des Reiches (1462) dem Gatten,
acht Söhnen und einem Neffen als Opfer einer einzigen Hinrichtung
ins Grab sehen mußte, während sie selbst nebst ihrer Tochter ver-
schont blieb. Die Arbeit sucht den Zusammenhang zwischen Geschichte
und Lied herzustellen (Zur Kunde der Balkanhalbinsel. II. Quellen
und Forschungen, Heft 4. Sarajevo 1912. 36 S.).
Die Mitteilungen des Instituts für Österreich. Geschichtsforschung
34, 1 bringen eine das spätere Mittelalter angehende Abwehr von AI.
Schulte: Zur Geschichte des hohen Adels gegen unbegründete
Angriffe des Freiherrn O. v. Dungern. — • Von den kleineren Beiträgen
nennen wir noch Joh. Lahusen: Die Urkunden über Freiburgs
Übergang an Österreich (1368) und H. Wibel: Neues zu Heinrich
Institoris.
Mit einem Beitrag zur Geschichte der Juden in der alten polni-
schen Hauptstadt Krakau gegen Ende des 15. Jahrhunderts beginnt
M. B a 1 a b a n in der Monatschrift für Geschichte und Wissenschaft
des Judentums 1913, Januar-Februar.
Neue Bücher: H a u s s , Kardinal Oktavian Ubaldini, ein Staats-
mann des 13. Jahrhunderts. (Heidelberg, Winter. 3 M.) — Zaoli,
Papa Martina V e i bolognesi. {Bologna, stab. poligr. Emiliano.) —
M at hew , The life and times of Rodrigo Borgia, Pope Alexander VI.
{London, Paul. i6 sh.)
Reformation und Gegenreformation (1500—1648).
Für Krügers „Handbuch der Kirchengeschichte" hat Heinrich
H e r m e I i n k als dritten Teil die „Reformation und Gegenrefor-
mation" (XI 11, 328 S. Tübingen, J. C. B. Mohr. 1911. 4M., geb.
5,60 M.) bearbeitet, natürlich in der für das ganze Unternehmen ange-
ordneten Form, im Text der Paragraphen kurze Zusammenfassungen
zu bieten, alle Details aber in umfangreiche Erläuterungen zu ver-
weisen. Ebenfalls durch den Gesamtplan bedingt war die zeitliche
Umgrenzung 1450 — 1689, also die ganze sog. Übergangszeit, die in
der Regel als Vorgeschichte des vierten Teiles der Kirchengeschichte
behandelt wird, einschließend. Der Verfasser hat seinen großen Stoff
eingehend und selbständig durchgearbeitet, er legt besonderen Nach-
druck darauf, die gegenwärtig schwebenden Probleme und Kontro-
versen klarzumachen, ohne die eigene Stellungnahme zu verleugnen,
und versteht es durch geschickt ausgewählte Zitate gut zu charakteri-
sieren. Neben dem Politischen und Kirchengeschichtlichen kommen
die allgemeinen kulturellen Fragen nicht zu kurz. So wird das Buch
seinen Zweck, Studierenden (nicht nur Studenten) ein Wegweiser und
222 Notizen und Nachrichten.
Anreger zu sein, gut erfüllen können. Ein gewisser lutherischer Akzent
über dem Ganzen macht sich vor allem in einem ungerechten Urteil
über Zwingli und die schweizerische Reformation geltend, und be-
dauerlich, auch durch die Entschuldigung im Vorwort nicht ganz
gedeckt, ist die Menge der Nachträge und Druckfehler. W. K.
Das 2. Heft der Revue historique 1 1 2 bringt Renaudets
Aufsatz über das Leben des Erasmus von 1506 — 1517 (vgl. H. Z.
110, 437). Die Entwicklung des großen Humanisten war im Jahre
des Thesenanschlags fertig und Erasmus zu neuen Kämpfen nicht
aufgelegt.
Aus dem ersten Band einer Notarmatrikel der römischen Kurie,
der die Jahre 1507 — 1519 umfaßt, veröffentlicht Karl Heinrich S c h ä -
f e r im Historischen Jahrbuch 33, 4 die auffallend hohe Zahl der
Namen deutscher Notare (156 von 400). Die starke Vertretung des
deutschen Elements in Rom bei Beginn der Reformation bedürfte
einer näheren Untersuchung.
Ein instruktiver Vortrag von Ernst D a e n e 1 1 über Kolonisation
und Kolonialpolitik der Spanier, vornehmlich in Nordamerika, ge-
langt in den Hansischen Geschichtsblättern 1912,2 zum Abdruck.
Er bietet ein vorsichtiges, einige Vorurteile zerstörendes Bild von
der spanischen Kolonialverwaltung, die sich in mancher Hinsicht
(namentlich in der Indianerschutzgesetzgebung) vorteilhaft von der-
jenigen anderer Völker unterschied, und verfolgt die Beziehungen
zu den Franzosen, Holländern und Engländern sowie die Entwicklung
der Kolonisation bis zum Abfall im 19. Jahrhundert.
In Nr. 37 des Archivs für Reformationsgeschichte (10. Jahrg., 1)
beendet K. Pallas seinen Aufsatz über den Reformationsversuch
des Didymus in Eilenburg 1522—1525 (vgl. H. Z. 110,666) durch den
Abdruck von acht weiteren Aktenstücken. Hans Becker gibt einen
Beitrag zur Lebensgeschichte des 1529 entlassenen Zwickauer Predi-
gers Paul Lindenau, indem er einen Brief des Kurprinzen Johann
Friedrich von Sachsen über den Hergang bei dieser Entlassung ver-
öffentlicht (v. 21. März 1529, vgl. Mentz, Joh, Fried. 1,41 Anm. 1).
A. Scholz untersucht das gegenseitige Verhältnis der Kirchen-
ordnungen Bugenhagens, d. h. insonderheit der drei großen, von
Bugenhagen 1528 — 1531 verfaßten Ordnungen von Braunschweig,
Hamburg und Lübeck, sowie einiger kleineren, bei denen er wenigstens
mitgewirkt hat; die Braunschweiger Ordnung war grundlegend für
die späteren, die jedoch keineswegs nach der Schablone gearbeitet
sind, sondern auf die zeitlich und örtlich veränderten Verhältnisse
Rücksicht nehmen. W. Friedensburg, der im I.Band der
Nuntiaturberichte die Akten über die Nuntiaturen Vergerios (1533
Reformation und Gegenreformation. 223
bis 1530) publiziert hat, macht in einem Aufsatz „Vergeriana" Mit-
teilungen aus ungedruckten Briefen Vergerios 1534 — 1550, die für
die Umstände, unter denen dieser sich alimählich zum Protestantis-
mus gewendet hat, von Belang sind. Otto Giemen druckt aus einer
Wiener, ehemals im Besitz des Johann Fabri gewesenen Handschrift
kirchliche Reunionsvorschläge, die er dem Georg Witzel zuschreibt, ab-
sie sind laut Eingangsvermerk am 9. Mai 1540 dem Schreiber, den
Clemen für Fabri hält (doch vermißt man eine Untersuchung der
Schrift), übergeben worden und waren laut einer Notiz am Schluß
dem Kaiser von Luther übersandt worden (ob diese Notiz freilich zu-
trifft, erscheint mir zweifelhaft, und eine Hypothese über die Ge-
legenheit, bei der die Übersendung geschah, halte ich für irrig). Th.
Wotschke schließlich veröffentlicht einen Brief des Joh. Auri-
faber an Albrecht von Preußen (1563), der uns einen Blick in die
wissenschaftliche Tätigkeit des Schreibers tun läßt. R. H.
Von dem hessischen Reformator Adam Krafft (1493 — 1558)
entwirft F. W. S c h a e f e r im Archiv f. Hessische Gesch. u. Alter-
tumskunde N. F. 8 eine aus archivalischen Studien erwachsene Dar-
stellung, die es zunächst mit seiner Jugend und seiner Tätigkeit als
Hofprediger und Visitator der hessischen Kirche bis 1530 zu tun hat.
Die Fortsetzung der Beiträge zur Geschichte der Reformation
in Iglau von Ferd. Schennerin der Zeitschr. des deutschen Vereins^
f. d. Gesch. Mährens u. Schlesiens 16 (vgl. H. Z. 108, 697) betrifft den
Sieg des Protestantismus 1523 — 1567 sowie die Frage der Kollatur
von St. Jakob, einen Streitfall aus der beginnenden Gegenreformation.
Trotz der Gründe, die im Vorwort von H. Lehr, La riforme
et les eglises reformees dans le departement actuel d'Eure-et-Loir (1523
— 1911), Paris, Fischbacher. 1912. VI u. 595 S., angegeben werden,
ist es kein glücklicher Gedanke, die Grenzen eines heutigen Departe-
ments der Geschichte reformierter Kirchen zugrunde zu legen. Das
entspricht zwar wahrscheinlich gewissen praktischen Bedürfnissen, be-
raubt aber die Geschichte der Gemeinden bis zur Revolution — und
das ist doch die nach Inhalt und Umfang weitaus wichtigere Zeit —
jedes festen Haltes und selbst des gehörigen Zusammenhanges, den
die alten staatlichen und kirchlichen Einteilungen geben. Es ist auch,
gar nicht zu vermeiden, daß eine Anzahl wichtiger Gesichtspunkte
zur Beurteilung des inneren Lebens der Gemeinden bei diesem Ver-
fahren keineswegs genügend zur Geltung kommt. Nur wenn die Ge-
schichte einer Institution seit der Einführung der modernen Departe-
ments-Einteilung die weitaus bedeutendere wäre, hinter der diejenige
im ancien rigime beinahe verschwände, könnte ein solches Vorgehen
berechtigt sein. Aber das wird bei der Geschichte der französischen
224 Notizen und Nachrichten.
protestantischen Kirchen wohl nie der Fall sein. — Eines anderen
Vorteils hat sich der Verfasser dadurch begeben, daß er die Landschaft
und ihre Geschichte fast ganz aus dem örtlichen und geistigen Zu-
sammenhang mit der allgemeinen französischen Geschichte und be-
sonders derjenigen der reformierten Kirchen herausreißt. Auch sonst
kann die besonders im Anfang gar zu annalistisch gehaltene Dar-
stellung nicht immer befriedigen, so hört man fast nichts über die
theologischen Ansichten der Pastoren und über ihre Schriften, und
«ine apologetische Tendenz macht sich hin und wieder störend fühlbar.
Bemerkenswert sind mancherlei statistische Angaben, auch hebt sich
das Kapitel über die Dragonnaden vorteilhaft ab. A. Elkan.
„Die Stellung Kursachsens und des Landgrafen Philipp von
Hessen zur Täuferbewegung" behandelt Paul W a p p 1 e r in Heft 13
und 14 der Reformationsgeschichtlichen Studien und Texte, herausg.
von Jos. Greving (XI, 254 S. Münster, Aschendorff. 1910. 6,80 M.).
Benutzt sind die Akten des Weimarer, Dresdener, Meininger, Mühl-
hausener und Magdeburger Archivs und dargestellt die Konfliktsfälle
zwischen der sächsischen und hessischen Regierung in den von beiden
gemeinsam regierten Gebieten, vor allem in Hausbreitenbach, Mühl-
hausen, Gemünden, Berka. Sachsen unter der Leitung seiner Theo-
logen, deren Vorkämpfer Justus Menius ist, wird in der Bestrafung
der Täufer immer schärfer und stellt sich ganz auf den Boden der
kaiserlichen Mandate, während der Landgraf von Hessen es nicht
über sich bringt, jemanden um des Glaubens willen hinrichten zu
Jassen, es mit Religionsgesprächen durch Bucer versucht und schließ-
lich, gedrängt, für den äußersten Fall der Hartnäckigkeit die Hinrich-
tung zusagt, aber tatsächlich nicht ausführt. So bietet Wappler einen
wertvollen Beitrag zu der Frage: Reformation und Ketzerprozeß und
hält auch diesen grundsätzlichen Gesichtspunkt im Auge, wenn er
sich, abgesehen vom Texte, in besonderem Exkurse mit O. Ritschi,
Böhmer, Hermelink und Hunzinger auseinandersetzt und (mit Recht)
betont, daß Luther die Täufer nicht nur als Aufrührer bestraft wissen
wollte, sondern schon auf ihre einfache Lehrmeinung hin die Todes-
strafe gesetzt wünschte; nur ist das nicht, wie Wappler meint, unter
dem Titel der Ketzerei, sondern unter dem der Gotteslästerung ge-
schehen — ein für die Weiterentwicklung bedeutsamer Unterschied!
Von den mitgeteilten Aktenstücken sei ein Traktat Melchior Rinks
herausgehoben. W. K.
Ein neuer Aufsatz von H. G r i s a r , Lutherstimmung und
Kritik (Stimmen aus Maria-Laach 1913,3; vgl. H. Z. 110, 665) sucht
die Wendung von den „Schlichen und Fehltritten" in Luthers Schrei-
ben an Melanchthon vom 28. August 1530 ins rechte Licht zu stellen,
Reformation und Gegenreformation. 225
mit dem Bestreben, zwischen einseitigen Ausnützungen die Mitte zu
halten.
Otto Giemen, Eine Erfurter Teufelsgeschichte von 1537 (Ar-
chiv f. Kulturgesch. 10, 4) druckt einen Bericht Mechlers über die
Bekehrung eines Erfurter Bürgers, der sich dem Teufel verschrieben
hatte — einen Vorgang, für den sich auch Luther und Justus Jonas
interessiert haben.
Die durch Franz J o s t e s angeregte Münstersche Dissertation
von Hermann Grutkamp, Johannes Holtmann und sein Buch
„Van waren geistliken levene eyn körte underwijsinge" (1912) hat einen
heftigen, der persönlichen Spitze nicht entbehrenden Kampf zwischen
Jostes und Kl. L ö f f 1 e r entfacht. Löffler veröffentlichte im Literar.
Handweiser 1912 Nr. 14 eine ziemlich ablehnende Kritik der Disser-
tation, und in ähnlichem Sinne sprach sich auch L. Schmitz-
Kallenberg aus (Westfalen 1912). Dagegen verteidigt Jostes in
der Zeitschr. f. vaterländ. Gesch. u. Altertumskunde Westfalens 70, 1
die Arbeit Grutkamps; eine Erwiderung von Löffler und eine Replik
von Jostes stehen am gleichen Ort. Es handelt sich in der Haupt-
sache, wenn wir von allem Beiwerk absehen, darum, daß Jostes den
Einfluß der frühreformatorischen Schriften auf den angesehenen katho-
lischen Theologen Holtmann zu Münster (f 1540) und sein 1539/40
geschriebenes Buch vom geistlichen Leben höher einschätzt als Löffler,
der die Beziehungen zur Reformation wohl allzusehr einzuengen sucht.
— In derselben Nummer der zuletzt genannten Zeitschrift bringt
Löffler Ergänzungen und Verbesserungen zu Hamelmanns Re-
formationsgeschichte der Stadt Höxter (1533 — 1555), sowie Mittei-
lungen über die Anfänge des hebräischen Unterrichts in Westfalen.
R. H.
Die Einziehung und Verpfändung der Klostergüter in Branden-
burg begegnete nur im Nonnenkloster Heiligengrabe (Prignitz), wo
die Äbtissin Anna von Quitzow die Unterstützung des Landadels
fand, heftigem Widerstand. Den erbitterten Kampf um das Kloster
(1542 — 1544 und 1549) schildert Fritz Curschmann in den For-
schungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 25, 2
nach den bisher wenig benutzten Akten im Berliner Staatsarchiv.
Der Aufsatz bietet einen charakteristischen Beitrag zur Reformations-
und Ständegeschichte der Mark.
Boleslaw K u d e 1 k a schildert im „Kwartalnik hist." (26,
S. 13 ff.) ausführlicher die von Jorga sehr knapp dargestellte poli-
tische Rolle des „Herakliden" Jakob Despota (f 1563), der
— ähnlich wie später der erste Pseudodemetrius — ohne eigene Mittel
ein Reich gewann, aber bald ein Ende mit Schrecken nahm. Dieser
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 13. Bd. 15
226 Notizen und Nachrichten.
griechische Abenteurer erlangte durch Melanchthon und andere deutsche
Protestanten Beziehungen zu Albrecht, dem Herzog in Preußen, der
ihm bis zuletzt treue Freundschaft bewahrte. Der polnische Magnat
Johann Albrecht Laski, der Sohn des bekannten ungarischen Diplo-
maten, erwarb ihm die Hilfe der polnischen Dissidenten und der Habs-
burger; und so gelang es dem „Herakliden" trotz der Feindschaft
des Polenkönigs und des jungen Zapolja, die Moldau zu erobern (1561)
und sogar die türkische Anerkennung zu finden. Da er aber gleich-
zeitig dem Sultan wie dem Kaiser gefällig scheinen mußte, wurde er
beiden verdächtig. Zudem lud er die Rache des Laski auf sich und
erregte durch reformatorische Neigungen das Mißtrauen seiner Bo-
jaren. So verlor er schließlich durch eine Erhebung der Moldauer
Land und Leben; in seinen Sturz wurde der berühmte litauische
Magnat und Kasakenfürst Dimitri Wisniowiecki mitgerissen.
E. Missalek.
An die Eroberung von Delmenhorst durch den Grafen Anton
von Oldenburg 1547 schloß sich ein Prozeß, den der Bischof von Mün-
ster, der bisherige Herr von Delmenhorst, gegen Oldenburg anstrengte,
und der zuerst (1548) vor dem Reichshofrat, dann seit 1549 vor dem
Reichskammergericht geführt und erst 1670 (!) zugunsten Oldenburgs
entschieden wurde. August F r e s e schildert die außerordentlich
langwierigen Verhandlungen im Jahrbuch f. d. Gesch. des Herzog-
tums Oldenburg 21 auf Grund der umfangreichen Akten.
Ein Aufsatz von Jean B r i c h e t über die Eroberung der Drei
Bistümer (Metz, Toul und Verdun durch Frankreich 1550 — 1559) in
den Marches de l'est 4, 19 zeichnet sich lediglich durch die chauvini-
stische Tendenz aus, die ein integrierender Bestandteil dieser Zeit-
schrift ist.
Während die Geschichte des Protestantismus in der Guyenne
sonst erst um 1560 einsetzt, vermag de France im Bulletin de la
soc. de Vhist. du protestantisme frang., Jan.-Febr. 1913, ein Testament
von 1550 bekanntzumachen, das von einer für die Reformation ge-
wonnenen Dame aus Montauban herrührt. Ebenda gibt M. L u t -
h a r d eine ausführliche Geschichte der Protestanten in St. Andre-
de-Sangonis (bei Gignac, Dep. Herault) 1562 — 1873; andere Orte der
Nieder-Languedoc sollen folgen. J. P a n n i e r handelt über die
Protestanten zu Bordeaux 1603 — 1605 nach den Berichten des eng-
lischen Gesandten Parry.
G. Constant, von dem wir eine Reihe kenntnisreicher Auf-
sätze über Reformation und Katholizismus in England haben (vgl.
H. Z. 108, 209 u. 441 ; 109, 448), handelt in der Revue historique 112, 1
über den Anfang der katholischen Restauration Marias der Katholi-
Reformation und Gegenreformation. 227
sehen 1553, hauptsächlich auf Grund verschiedener Gesandtschafts-
berichte. Die Rückführung des Katholizismus war leichter als die
Wiederherstellung der Obödienz gegen Rom, und nur erstere wurde
bis Ende 1553 vollzogen.
Daß auch nach dem Vordringen des Luthertums in Süddeutsch-
land sich Reste von Anschauungen und Bräuchen der Zwinglianer
hier gehalten haben, zeigt eine lutherisch-schweizerische Mischagende
von 1560, über die H. W a 1 d e n m a i e r in der Monatschrift für
Gottesdienst und kirchliche Kunst 18, 3 berichtet. Sie galt in einigen
Orten des Kraichgaus (heute Kreis Heidelberg).
In Ergänzung seiner „Akten und Korrespondenzen zur Geschichte
der Gegenreformation in Innerösterreich" handelt J. Loserth in
den Mitteil, des Instit. für österr. Geschichtsforsch. 34, 1 über die
Protokolle der Land- und Hof rechte aus den Jahren 1583 — 1601.
Eine zusammenfassende Geschichte und Würdigung der Uni-
versität Altdorf bei Nürnberg von Ewald Reinhard im Histori-
schen Jahrbuch 33, 4 ist mit Dank zu begrüßen. Der Eröffnung der
Universität 1623 war die Errichtung eines Gymnasiums (1571 — 1575)
und dessen Ausbau zu einer Akademie (1578 — 1580) vorangegangen.
Im 17. Jahrhundert hat es die Universität und namentlich die medi-
zinische Fakultät zu verhältnismäßiger Blüte gebracht, im 18. Jahr-
hundert folgte der Niedergang, 1809 wurde sie geschlossen, 1818 end-
gültig aufgehoben. Auch über die innere Einrichtung, die namhaf-
teren Professoren, das studentische Leben gibt Reinhard Aufschluß.
Die Beziehungen des Kardinals Franz von Dietrichstein zu
Kaiser Ferdinand II. und Papst Urban VIII. (1621—1636) untersucht
Albert Rille in der Zeitschr. des deutschen Vereins f. d. Gesch.
Mährens und Schlesiens 16. Es handelt sich hauptsächlich um die
Bemühungen des Kardinals, Protector Germaniae zu werden. —
Ebenda druckt J. Loserth sieben Briefe über die Drangsalierung
Nordmährens durch die Schweden 1646 — 1648 mit einem Bericht
,,Wie Tampier in Mähren gehaust" (1619).
Die Vorgänge bei der Belagerung von La Rochelle durch Lud-
wig XIII. und Richelieu 1627 — 1628 erfahren neue Beleuchtung durch
eine Reihe von Briefen, die Louis Delavaud in den Archives histo-
riques de la Saintonge et de l'Aunis 43 veröffentlicht. Es sind 19 Briefe
des Staatssekretärs Ph. d'Herbault und seines ersten Direktors P.
Ardier aus dem königlichen Lager an den Marschall d'Estr^es, No-
vember 1627 bis Juni 1628, zwei Briefe des Königs und einer des
Siegelbewahrers Marillac an Richelieu April und Mai 1628, sowie
schließlich noch ein Brief Ardiers über den Tod Herbaults, Mai 1629
(S. 173 ist das Jahresdatum verdruckt). — Ed. Rott beginnt in
15*
228 Notizen und Nachrichten.
der Revue historique 112,2 eine archivalische Untersuchung über
Richelieu und den Plan einer Annexion der Stadt Genf 1631 — 1632.
Der 3. Band der Studi e memorie per la storia deiraniversitä di
Bologna enthält einen instruktiven, auf archivalischer Grundlage ruhen-
den Aufsatz von Emilio Costa, Beiträge zur Geschichte des Bolog-
neser Studiums im 17. Jahrhundert. Wir sehen, wie die studenti-
schen Verbände (Nationen) leere Schemen ohne Wirksamkeit werden,
wie die Kurie es versteht, der Freiheit des Senats schwere Fesseln
anzulegen, und wie die Universität schlimme Kämpfe mit den Jesuiten
und mit den päpstlichen Legaten zu bestehen hat.
In etwas umständlicher Weise schildert auf Grund umfangreicher
archivalischer Forschungen E. S a u 1 n i e r in seiner Studie „le röle
politique du cardinal de Bourbon {Charles X) 1523—1590 (Paris 1912.
VI u. 324 S.) das Leben dieses französischen Kirchenfürsten, der
lediglich infolge seiner nahen Verwandtschaft zum französischen
Königshause in den inneren Wirren des damaligen Frankreich eine
gewisse Rolle gespielt hat. Als — allerdings ungekrönter — König
der Liga ist er im Mai 1590 als Gefangener seines Neffen, Heinrich IV.,
gestorben, und dieses Schicksal ist bezeichnend gewesen für sein ge-
samtes früheres politisches Leben: er war stets das Werkzeug anderer,
ausgespielt zu selbstsüchtigen Zwecken von den größten Parteien des
Landes; von Katharina Medici, die sogar mit dem Plane umging, nach
dem Tode Heinrichs II. den Kardinal zu heiraten, wogegen jedoch
die Kurie Einspruch erhob; besonders aber von Heinrich Guise, dem
Führer der Liga. Im Herzen lebte in ihm ein tiefes dynastisches Ge-
fühl, und nur seine große Anhänglichkeit an die katholische Kirche
und ihren Glauben, sein starker Abscheu gegen den Protestantismus,
die einzigen Momente, in denen er sich stets treu geblieben ist, haben
ihn in die Reihen der Fronde getrieben. Wohl gefühlt hat er sich in
diesen Kreisen nicht, und er konnte das um so weniger, als sein Name
von den Guisen mißbraucht wurde, um ihrem Kampf gegen Hein-
rich III., um ihren landesverräterischen Verbindungen mit dem König
von Spanien einen gewissen legitimistischen Anschein zu geben. Ir-
gendwelchen Einfluß hat der Kardinal niemals ausgeübt: es ist be-
zeichnend, daß er von dem entscheidenden Manifest der Liga von
Peronne vom März 1585, das in seinem Namen ausging, erst Kennt-
nis erlangt hat, als es längst durch den Druck verbreitet war. In
seiner Hilflosigkeit und Charakterlosigkeit bietet er mehr eine komische
als eine tragische Figur, und man darf wohl die Frage aufwerfen, ob
es wirklich nötig war, in solcher Umständlichkeit längst Bekanntes
wieder zu erzählen, nur um stets aufs neue zu betonen, daß die Per-
sönlichkeit des Kardinals von Bourbon auf die Entwicklung der so
1648—1789. 229
breit geschilderten Vorgänge gar keinen Einfluß ausgeübt hat. Sein
einziges Verdienst um Frankreich ist ein indirektes: indem die Liga
ihn, der als Gefangener nichts leisten konnte, zum König ausrief, hielt
sie jüngere und tatkräftigere Elemente von diesem Posten fern, er-
leichterte sie damit Heinrich IV. den Sieg über seinen inneren Gegner.
Halle a. S. Adolf Hasenclever.
Neue Bücher: Documents relatifs au rkgne de Louis XII et ä
sa politique en Italie publies par Lion G. P i l i s s i er. (Montpel-
lier, impr. ginirale du Midi.) — H olmqui st , Luther, Loyola,
Calvin i deras reformatoriska genesis. (Lund, Gleerup. 2,50 Kr.) —
Niederländische Akten und Urkunden zur Geschichte der Hanse und
zur deutschen Seegeschichte, bearb. von Rud. H ä p k e. 1. Bd.:
1531—1557. (München, Duncker & Humblot. 39,60 M.) — Nun-
tiaturberichte aus Deutschland nebst ergänzenden Aktenstücken.
IV. Abtlg. 17. Jahrh. Die Prager Nuntiatur des Giovanni Stefano
Ferreri und die Wiener Nuntiatur des Giacomo Serra (1603 — 1606).
2. Hälfte. Bearb. von Arnold Osk. Meyer. (Berlin, Bath. 22,50 M.)
1648—1789.
Es ist nicht möglich, auf dem knappen Raum einer Anzeige den
wissenschaftlichen Ertrag zu verzeichnen, den die von H. Rachel
bearbeitete „Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Brandenburg-Preußens
bis 1713" {Acta Borussica, Denkmäler der preußischen Staatsver-
waltung im 18. Jahrhundert, herausgegeben von der Kgl. Akademie
der Wissenschaften. Die einzelnen Gebiete der Verwaltung: Han-
dels-, Zoll- und Akzisepolitik, Bd. 1, Berlin 1911, XIX u. 922 S.,
mit einer Karte des mittleren Staatsgebiets) bringt; es sei daher
nur kurz auf den Inhalt verwiesen. Das erste Buch behandelt in
zwei Teilen die wenig erfolgreiche Zoll- und Handelspolitik der terri-
torialen Zeit. Im zweiten Buch wird die Zoll- und Handelspolitik
in den brandenburgischen Territorien von 1640 bis 1713 geschildert;
hier werden die Versuche erzählt, die neuerworbenen Gebiete, soweit
sie mit der Mark in territorialem Zusammenhang standen, dem alten
Wirtschaftssystem einzugliedern — doch sei auf die grundlegende
Darstellung der in den meisten Büchern über die preußische Han-
delspolitik vernachlässigten Handels- und Zollgeschichte in den ent-
legenen ostpreußischen und rheinisch-westfälischen Besitzungen be-
sonders aufmerksam gemacht; es handelt sich dabei vor allem darum,
mit den alten Mitteln der territorialen Wirtschaftspolitik eine Be-
lebung des darniederliegenden Handels zumal auf den Wasserstraßen
zu erzielen. Aber schon in diesem Buche zeigt sich oft, z. B. bei der
230 Notizen und Nachrichten.
Geschichte des „Neuen Grabens", wie neue Gesichtspunkte die alt-
territoriale, wesentlich noch vom städtischen Interesse ausgehende
Wirtschaftspolitik verdrängen. Dieses Neue beherrscht dann das
dritte Buch, das ,,Die Elemente und Anfänge gesamtstaatlicher Wirt-
schaftspolitik" darstellt. Die großen Umrisse sind ja längst bekannt,
der enge Zusammenhang der gesamtstaatlichen Machtpolitik und ihres
Geldbedarfs mit der neuen, Handel und Industrie pflegenden Wirt-
schaftspolitik und die Bedeutung der Akzise als des beide Interessen
verbindenden Gliedes; trotzdem ist die wohl abschließende Unter-
suchung des Einzelnen von erheblichem wissenschaftlichen Interesse,
weil sie uns einen viel tieferen Einblick in die Schwierigkeiten des
Neuen, in die allmähliche Ausgestaltung der Akzise aus einer Steuer-
quelle zum Werkzeug der Schutzzollpolitik verschafft. — Das Werk
baut sich vor allem auf umfassendem Aktenstudium auf, gibt
aber die Resultate der Forschung in einer trotz aller Sprödigkeit
des Stoffes gut geschriebenen, von voller Beherrschung des Stoffes
zeugenden Darstellung wieder. Wohl mit Rücksicht auf den Charakter
des Buches als einer Veröffentlichung der Akademie hat sich Rachel
streng an die Form einer relatio ex actis gehalten und auf eine ver-
gleichende Betrachtung der Entwicklung in anderen Ländern selbst
da verzichtet, wo sie nahegelegen hätte; dagegen hat er den engen
Zusammenhang zwischen der staatlichen und der wirtschaftspolitischen
Entwicklung klar herausgearbeitet. Sein Werk wird zweifellos für
lange Zeit maßgebend für die Erforschung der gesamten territorialen
Wirtschaftsgeschichte sein. F. Härtung.
Einen Zug zum Charakterbilde Augusts des Starken liefert
Stanislaw P i o t r o w i c z (Kwart. hist. 26, S. 83 ff.). Er ver-
öffentlicht Aufzeichnungen des Königs über dessen ernstliche Be-
mühungen, „Pohlen in Flor und in Ansehung gegen seine Nachbaren
zu sehzen", E. M.
Graf S c h 1 i e f f e n t, Friedrich der Große. Zur zweihundert-
jährigen Wiederkehr des Tages seiner Geburt. 124 S. Berlin 1912.
E, S. Mittler & Sohn. — Der frühere Chef des preußischen General-
stabs, Generalfeldmarschall Graf Schlieffen, gibt hier auf Grund der
Arbeiten der kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen General-
stabs einen schnellen Überblick über die drei schlesischen Kriege.
Die Beschaffenheit der Armeen und die damit in Zusammenhang
stehenden großen Streitfragen über die friderizianische Strategie und
Taktik werden nicht erörtert, sondern nur der Verlauf der Feldzüge
und Schlachten geschildert. Hier verrät jedes Wort den Fachmann;
in der Anschaulichkeit der Darstellung, der Knappheit der Sprache,
der Schärfe des Urteils und der Klarheit der 26 Kartenskizzen ist
1648—1789. 231
diese Schrift unübertrefflich und mustergültig. Um so mehr sticht
davon die Erzählung der politischen Ereignisse an der Hand der
Carlyleschen Biographie, nur unter gelegentlicher Benutzung des
Koserschen Werkes ab; so wird Friedrich in Küstrin auf die Für-
sprache auswärtiger Mächte hin begnadigt, die Berliner Akademie
1740 begründet; der Tod Kaiser Karls VI. muß ausgenützt werden,
denn geht diese Gelegenheit ungenützt vorüber, ,,was soll einmal
aus Preußen, dem Protestantismus und Deutschland werden?" Der
Nymphenburger Vertrag besteht für Schlieffen noch. ,, Unverkenn-
bar war in diesem Fürstenbund (von 1785) das Deutschland unter
Preußens Führung enthalten, das ein Jahrhundert später in die Er-
scheinung trat." Die Proben genügen wohl. Ziekursch.
Willy Norbert, Friedrichs des Großen Rheinsberger Jahre.
VII u. 232 S. Vita, Deutsches Verlagshaus, Berlin-Charlottenburg,
0. J. (1911). Dieses mit vielen Rheinsberger Abbildungen geschmückte
Buch, das unter dem Zwang des Stoffes halb und halb zu einer Jugend-
geschichte Friedrichs geworden ist, müßte stark gepriesen werden,
wenn nicht Koser denselben Stoff und das gleiche Material früher
und wissenschaftlich und künstlerisch noch besser verarbeitet hätte.
Ziekursch.
J. Th. Müller veröffentlicht in der* Zeitschrift für Brüder-
geschichte, Jahrg. 6, 1912, Heft 2 neue Berichte Zinzendorfs über
sein Leben, seine Unternehmungen und Herrnhuts Entstehen.
Neue Bücher: Boissonnade, Histoire des pr emiers essais
de relations economiques directes entre la France et l'Etat prussien pen-
dant le rkgne de Louis XIV (1643 — 1715). (Paris, Champion.) —
C r 0 q uez , La Flandre wallonne et les pays de l'intendance de Lille
sous Louis XIV. (Paris, Champion. 10 fr.) — M alo , Les Corsaires
dunkerquois et Jean Bart. I. (Paris, Mercure de France. 7,50 fr.)
— R ö d d i n g , Pufendorf als Historiker und Politiker in den „Com-
mentarii de rebus gestis Friderici tertii". (Halle, Niemeyer. 3 M.) —
Schirren, Zur Geschichte des nordischen Krieges. (Kiel, Mühlau.
6 M.) — de P i i p a p e , Histoire des princes de Conde au XVIII'
siMe. La fin d'une race. Les trois derniers Conde. (Paris, Plon-Nour-
rit et Cie. 7,30 fr.) — L 0 e w e , Preußens Staatsverträge aus der
Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I. (Leipzig, Hirzel. 22 M.)
— Sahrmann, Die Frage der preußischen Sukzession in Ans-
bach und Bayreuth und Friedrich der Große. (Bayreuth, Grau.
2,50 M.) — F e n g 1 e r , Die Wirtschaftspolitik Turgots und seiner
Zeitgenossen im Lichte der Wirtschaft des ancien rigime. (Leipzig,
Deichert Nachf. 3 M.)
232 Notizen und Nachrichten.
Neuere Geschichte seit 1789.
Pierre C a r o n , Manuel Pratique pour l'etude de la Revolution
Frangaise. Paris, Alph. Picard. 1912. XV u. 294 S. — Wir erhalten
hiermit ein höchst brauchbares Hilfsmittel für den Historiker der
Revolution. Besonders eingehend (S. 55 — 156) behandelt Caron die
handschriftlichen Quellen. Sehr willkommen ist auch die
ausführliche Konkordanz des republikanischen und gregorianischen
Kalenders (S. 221 — 269). Auf der anderen Seite erweckt doch diese
Bibliographie noch mehr als die meisten derartigen Unternehmungen
ernste Bedenken, von denen folgende wenige angemerkt seien: Der
Verfasser ist ganz einseitiger Anhänger Aulards. S. 215 wird Wal-
Ions bekannte Geschichte des Revolutionstribunals „tendenziös im
gegenrevolutionären Sinn" genannt. Zu Aulards Histoire Politique
bemerkt der Verfasser dagegen (S. 214) nur: „es ist das Hauptwerk";
aber — auch abgesehen davon, daß dieser Satz nur in sehr beschränk-
tem Sinne Geltung hat — hat Caron wirklich nicht gemerkt, daß
Aulard „tendenziös im revolutionären Sinne" ist? Sybels Werk er-
scheint nicht unter „Allgemeine Geschichte der Revolution", son-
dern unter der Überschrift „Handbücher und verschiedene Hilfs-
mittel" bei „Diplomatische Geschichte". Sybel sagt eben der Re-
volution unangenehme Wahrheiten! Von Sorel werden nur fünf
Bände zitiert, weil Caron nur die Zeit bis 1799 behandelt. Dadurch
wird jeder nicht eingeweihte Benutzer irregeführt. In hohem Grade
unglücklich ist (S. 217) die Auswahl der biographischen Nachschlage-
bücher. Wo bleiben z. B. die bekannten Werke von Brette und Ro-
binet, die beide sehr viel wichtiger sind als die drei Bücher, die Caron
zitiert? Die außerordentliche Parteilichkeit des Verfassers zeigt (S. 217)
seine boshafte Bemerkung zu dem grundlegenden Werke von Stourm
„Les finances de fanden regime et de la revolution". Er schreibt:
„Der V/crt dieses Werkes liegt hauptsächlich in den zahlreichen biblio-
graphischen Angaben, die es enthält." Auch Stourms Buch ist eben
für den Neo-Jacobiner nicht angenehm zu lesen. Wahl.
Der Artikel von JVl. Marion über La propriete paysanne en
France ä la veille de la Revolution d'apr^s un ouvrage recent (Revue
d'Histoire Moderne etc. 17, 6, Nov.-Dez. 1912) beschäftigt sich teils
zustimmend, teils kritisch mit Loutchiskys neuestem Werk über diesen
Gegenstand (1912). Er macht schwere und wohl durchweg berech-
tigte methodische Einwände, läßt aber das eine Hauptresultat L.s
unangefochten, wonach in zwei genau untersuchten großen Gebieten des
Limousin der Bauer rund 55% des Bodens besaß. Es stellt sich immer
mehr heraus, daß des Unterzeichneten, allerdings mit allen Vorbehalten
Neuere Geschichte. 233
gemachte Schätzung, wonach der Bauer vor der Revolution gegen
40"/o des französischen Bodens als Eigentümer innegehabt habe, den
überlieferten Anschauungen gegenüber noch viel zu vorsichtig war.
Wahl.
Notice sur le Comte Stanislas de Clermont-Tonnerre par le M ar -
quis de Chaieaubrun. Paris 1912. 87 S. Clermont-Tonnerre
(1759 — 1792), einer der Führer der „Anglikaner" in der Constituante,
verdient eine eingehende Darstellung seiner politischen Ansichten
und Bemühungen weit mehr als mancher ,, Patriot", dem dickleibige
Bücher gewidmet worden sind. Von dem vorliegenden, gut gemeinten
Büchlein sei nur gesagt, daß es diese erwünschte Darstellung nicht
enthält. Wahl.
In der Rev. des Deux Mondes vom 15. Februar, 1. März und
15. März 1913 findet sich eine umfangreiche Publikation des Grafen
von Haussonville über Madame de Stael et M. Necker d'apres
leur correspondance inedite: I. Madame de Stael ä Goppel pendant
la Revolution et le Directoire. II. A la veille et au lendemain du i8
brumaire. III. Avant l'exil. Die Arbeit, welche in der heutzutage
in Frankreich üblichen Form Briefstellen durch einen fortlaufenden
Text verbindet, ist in mehrerlei Hinsicht interessant.
K. A. V. M ü 1 1 e r veröffentlicht im Archiv für Kulturgeschichte
10, 4 einen glänzenden Vortrag über den jungen Görres, den er im
September 1912 auf der Hauptversammlung der deutschen Gesch. -
und Altertumsvereine in Würzburg gehalten hatte. Die Arbeit zeich-
net sich vor allem dadurch aus, daß sie Görres durchaus im Zusam-
menhang mit den Zeitströmungen behandelt. Auch ihre letzten Seiten,
in denen der Versuch gemacht wird, mit ein paar Strichen die spä-
teren erstaunlichen Entwicklungen Görres' zu skizzieren, sind zum
mindesten beachtenswert.
Das Januarheft der Feuilles d'histoire enthält u. a. das Vorwort
E. W e 1 V e r t s zu der von ihm vorbereiteten Ausgabe der Memoiren
von Theod. L a m e t h , und als weitere Probe daraus die Schilde-
rung einer Audienz Lameths bei dem Ersten Konsul, Napoleon Bona-
parte (vgl. H. Z. 110, 677). R. Guyot berichtet über die vom Di-
rektorium zur Beobachtung der Volksstimmung im Faubourg Antoine
gehaltenen „observateurs" (amüsante Abrechnungen über deren Aus-
lagen). Maurer veröffentlicht ein Schreiben des Brigadegenerals
A m e y an Napoleon vom 22. März 1807, worin dieser sich über eine
Stelle in dem Bulletin über die Schlacht von Eylau beschwert. Ge-
neral P a 1 a t (Lehautcourt) widerlegt in scharfer kritischer Unter-
suchung die Phantasien Duquets über den heroischen Widerstand und
234 Notizen und Nachrichten.
die Siegesmöglichkeiten der Franzosen in der Schlacht bei Beaii-
mont. Im Februarheft behandelt Schveitzer die Aufnahme der
Verfassung des Jahres 1 1 1 und der Fruktidordekrete im Departement
de l'Eure. V a u t h i e r veröffentlicht einen Institutsbericht von
FranQois de Neufchäteau vom 5. Januar 1800 über die Fortschritte
der Literatur und Künste, H u e Fortsetzung und Schluß der Briefe
des Dragoneroffiziers Le Nourry aus dem Winterfeldzug 1806/7 (vgl.
H. Z. 110, 677), Welvert drei Briefe Huhns, des Bastillesiegers
und Kommandanten von Berlin, an den Sicherheitsausschuß, an
Napoleon, an Ludwig XVIII., die ihn abwechselnd als glühenden
Republikaner, Bonapartisten und Royalisten zeigen, und Kommandant
Pinet einige Familienbriefe des Obersten Langlois aus dem französi-
schen Lager vor Sebastopol. In beiden Heften wird die Veröffent-
lichung der Polizeiberichte Beugnots (über Napoleon auf Elba, Murat
in Neapel, Wiener Kongreß, bonapartistische Umtriebe usw.) fort-
gesetzt (12. November bis 3. Dezember 1814).
Im Januarheft (1913) der Revue des Etudes Napoleoniennes sucht
F. M a s s 0 n nachzuweisen, daß die Briefe von Pauline, aus denen
ihr Inzest mit Napoleon in Elba gefolgert wurde, von dem Abbe
Fleuriel für Blacas gefälscht sind. Lanzac de Laborie behandelt
die Beziehungen Napoleons zu David, der dabei als besonders hab-
süchtig erscheint. Der Oberstleutnant C o t i n erörtert „la place de
Napoleon dans l'histoire militaire", indem er besonders die Neuheit
der Operationen mit Divisionen statt mit einer kompakten Armee
betont. E. Mayer kritisiert, namentlich an der Darstellung der
Schlacht von Belle-Alliance, die Unzuverlässigkeit der Zitate Hous-
sayes („On ne saurait contester que la documentation d'H. Houssaye
soit souvent d'un litteratur plutöt que d'un Historien"). Die Publikation
des ,, Journals" des Obersten B^chaud (H. Z. 110, 677) wird beendet.
Das „Bulletin historique" dieses Heftes enthält eine recht instruktive
Zusammenstellung der Literatur der Jahre 1900 — 1911 zur Geschichte
der Kontinentalsperre.
F. Rousseau veröffentlicht unter dem Titel „De Bäle ä
Tolentino" Briefe von Azara an Godoi von 1795 bis 1797, besonders
über die päpstliche Friedensverhandlung mit Saliceti und mit Napo-
leon Bonaparte „Vhomme le plus firoce et le plus atrabilaire que la na-
ture ait produit" (Revue des Quest. histor. 1913, 1).
In der Revue histor. de la Revol. franf. et de l'Empire (Oktober-
Dezember 1912) wird die Veröffentlichung von Briefen Marie-
Karolinens an Gallo fortgesetzt (20. Juni 1799 bis 14. IVlärz
1800).
Neuere Geschichte. 235
Vi^nots Abhandlung „Napoleon I'^ et V Imperatrice Marie-
Feodoro\vna'\ d'apr^s les rapports et notes secräes de Savary et de Cau-
laincourt" enthält trotz der Ankündigung im Inhaltsverzeichnis „Do-
cuments inidits" lediglich Auszüge aus längst gedruckten Berichten
Savarys und Caulaincourts {La Revue, 1, Februar 1913).
E. F a g u e t widmet Chateaubriand im Anschluß an dessen
kürzlich veröffentlichte Korrespondenz einen Artikel voll Sympathie
<„// impose — et il platt"). La Revue, 15. Dezember 1912.
Die neue, mit großer Sorgfalt bearbeitete kritische Gesamtaus-
gabe der Werke M a n z o n i s , die bei Hoepli in Mailand erscheint,
wird vervollständigt durch eine stark vermehrte Ausgabe des Brief-
wechsels, die drei Bände umfassen soll. Erschienen ist der erste Band :
Carteggio di Alessandro Manzoni a cura dl G. Sforza e G. Gallavresi
con 12 ritratti e 2 facsimili 1803 — 1821 (XX, 610 S.). Manzoni war
ein lässiger Briefschreiber, oft und oft klagt er sich selbst der Träg-
heit an, eine willkommene Ergänzung bilden daher die Briefe von
Angehörigen und Freunden, wodurch die Sammlung zu einer ergiebigen
biographischen Quelle wird. Am mitteilsamsten war der Dichter gegen
Fauriel, den er in Paris zum Freund gewonnen hatte und mit dem die
Intimität unverändert fortdauerte, auch als Manzoni aus einem Frei-
geist und Religionsspötter sich in einen gläubigen Katholiken ver-
wandelt hatte. Über diese Umwandlung ist viel geschrieben worden,
völlig aufgehellt sind die Motive nicht, der Dichter selbst hat auch
gegen seine nächsten Freunde niemals darüber gesprochen und auch im
Briefwechsel findet sich kein Aufschluß: man steht auf einmal vor der
vollendeten Tatsache. Sicher scheint, daß weiblicher Einfluß stark
im Spiele war. Das Bekehrungswerk wurde zuerst an der jungen,
sanftmütigen Gattin, die aus protestantischer Familie war, ausgeführt
und an der Mutter, die, eine stolze Tochter des bekannten Rechtslehrers
Beccaria, keine vorwurfsfreie Vergangenheit hatte. Es sind Anzeichen
dafür vorhanden, daß die Geistlichen bei Manzoni eine schwierigere
Arbeit hatten, und daß sie, auch nachdem dieser seinen Voltaire an
den Kanonikus Tosi, den Beichtvater der frommgewordenen Familie,
ausgeliefert hatte, nicht ohne Sorge waren, daß das Werk der gött-
lichen Gnade durch ungünstige Einflüsse und durch weltliche Be-
schäftigungen wieder gestört werden möchte. Übrigens waren es
jansenistische, jesuitenfeindliche Geistliche und Laien, die zum Be-
kehrungswerk halfen, und im ganzen trägt die Frömmigkeit Manzonis
einen milden, keineswegs intoleranten Charakter, sie tut weder seinem
Patriotismus Eintrag noch seiner Neigung zu leichtem Spott und
feiner Ironie. Der Vermengung von Religion und Politik war er
durchaus abhold, und in einem Brief an jenen Kanonikus Tosi gibt
236 Notizen und Nachrichten.
er einmal einen Bericht über die kirchlichen Zustände in Frankreich,
worin er den heißblütigen Verfechtern des politischen Katholizismus
geradezu die Schuld für die zunehmende Irreligiosität zuschreibt.
Politisches findet sich in den Briefen nicht, die Zeitgeschichte wird
kaum je gestreift. Das erklärt sich schon aus der in jenen Zeiten
nötigen Vorsicht, aber auch aus dem ängstlich zurückhaltenden Cha-
rakter des Dichters, der eine krankhafte Scheu vor der Öffentlich-
keit hatte. In seinen Dichtungen und in seinen ästhetischen An-
sichten war er gleichwohl ein kühner Neuerer. Der Meinungsaustausch
mit Fauriel dreht sich größtenteils um diese literarischen Dinge, um
den Kampf zwischen Klassizisten und Romantikern und um die Dich-
tungen, mit denen Manzoni bekanntlich so glücklich war, die An-
erkennung und warme Sympathie Goethes zu erwerben. W. Lang.
Band 4 und 5 der Correspondance du comte de La Forest (publ.
p. M. Geoffroy de Grandmaiso n. Paris, A. Picard & fils. 1910/1 1.
588, 427 S.) überragen unzweifelhaft an quellenmäßigem Werte die
vorausgegangenen Bände. Allerdings zeigt sich der Briefschreiber
gegenüber den spanischen Verhältnissen außerhalb seines unmittel-
baren Gesichtskreises ebenso verständnislos und mangelhaft unter-
richtet als zuvor, und das schmeichlerische Bestreben, seine Berichte
so zu gestalten, daß sie den Wünschen Napoleons entgegenkommen,
ist vielfach unverkennbar. Aber der Gang der Ereignisse bringt es mit
sich, daß für das spanische Königtum die Beziehungen zu Paris von
ausschlaggebender Bedeutung werden. Josephs Kampf gegen Napo-
leons Absichten auf die Provinzen nördlich des Ebro, sein Ringen mit
den militärischen Führern, die sich mehr und mehr zu Alleinherr-
schern in den von ihnen besetzten Provinzen aufwerfen, und ihn schließ-
lich veranlassen, nach Paris zu flüchten, um mit seiner Abdankung
zu drohen, die Hoffnungen, die er aus Paris mitbrachte, und die Ent-
täuschungen, die er durch den weiteren Gang der Ereignisse erfuhr,
alles das ist in der Korrespondenz in authentischen Äußerungen nieder-
gelegt, die nicht durch die Verkennung fremder Zustände und Eigen-
art in ihrem Werte beeinträchtigt werden. Auch das Charakterbild
Josephs tritt vielfach mit schärferen Umrissen als in den früheren Bän-
den hervor. Besonders aber wird die Rücksichtslosigkeit der napoleoni-
schen Eroberungspolitik, die den Bruder fast immer gegenüber den
Anmaßungen der strategischen Leiter des Kampfes preisgibt, grell
beleuchtet. K. Haebler.
Das Märzheft 1913 der Preußischen Jahrbücher bringt 24 „Briefe
E. M. Arndts, mitgeteilt und erläutert von Wilhelm H a n o w (f)".
Sie sind an Karl Schildener (1777 — 1843), Professor der Rechte in
Greifswald, gerichtet und stammen aus den Jahren 1809 — 1836, die
Neuere Geschichte. 237
Mehrzahl jedoch aus der Zeit der Erhebung. Sie sind, wie wir das
von den Briefen Arndts gewöhnt sind, durch die Ursprünglichl<eit
und Schärfe des Urteils erfrischend.
Gegen Ende 1812 sandte Fürst Adam Czartoryski einen Ge-
sandten an Kaiser Alexander mit Vorschlägen des Wiederaufbaues
Polens unter der Herrschaft des Kaisers oder eines seiner Brüder.
Dieser Schritt des Fürsten machte Metternich manche Sorgen, denn
die polnischen Pläne Alexanders waren der österreichischen Regierung
unbequem. Infolgedessen ist der Gesandte des Fürsten und er selbst
von den österreichischen Behörden überwacht und behindert worden;
insbesondere ist sein Gesandter Kluczewski bei seiner Rückkehr aus
Rußland in der Nähe von Brody wegen angeblicher Choleragefahr
21 Tage interniert worden. Sophie Ko lischer teilt aus dem
Lemberger Staatshaltereiarchiv darauf bezügliches Material aus 1813
mit {Kwartalnik Hist. Lemberg. Bd. 25, S. 63 ff).. /?. F. Kaindl.
Gustav D i c k h u t h beginnt in der Deutschen Rundschau,
Märzheft 1913, eine Arbeit über „1813", in der er — in etwas ab-
gerissenem Stil und nicht ohne Versehen im einzelnen — einstweilen
die Ereignisse bis zum Waffenstillstand schildert.
Heute sind zwei wundervolle akademische Festreden zur Er-
innerung an die Erhebung Preußens zu notieren: 1. die Dietrich Schä-
fers (in: Feier der Kgl. Friedrich- Wilhelms-Universität zu Berlin
am 9. Februar 1913 in der Aula zur Erinnerung an die Erhebung der
deutschen Nation im Jahre 1813. Berlin 1913, S. 5—29), 2. die Max
Lehmanns (gehalten am 3. Februar, Preuß. Jahrb. Märzheft
1913). Sie sind von charakteristischer Verschiedenheit. Während
die Schäfers u. a. auch einen großartigen Überblick über die deutsche
und preußische Geschichte enthält und manche Gegenwartsfrage in
ihr anklingt, beruht die Lehmanns auf wuchtiger Beschränkung auf
die Zeit der Erhebung, der er den größten und schönsten Teil seiner
Lebensarbeit gewidmet hat.
Gailly de Taurine schildert die wechselvollen Schicksale
und Abenteuer der Königin Hortense im Jahre 1815, ihre Auswei-
sungen aus Frankreich und aus der Schweiz und ihre Flucht nach
Deutschland {Revue des Etud. Iiistor. Januar-Februar 1913).
Die bisher unbekannte, von J. A. F. Eichhorn verfaßte und
von Hardenberg am 8. Juli 1816 vollzogene „Instruktion" für
d i e am 20. Juni eingesetzte ,,Preußische Immediatjustiz-
kommission für die Rheinlande" samt einem Auszug
aus dem interpretierenden Erlaß vom 30. März 1817 hat E. Lands-
berg in der Zeitschr. f. Politik VI, 1 veröffentlicht. Durch diesen
238 Notizen und Nachrichten.
Fund wird „ein staatsrechtliches Rätsel gelöst", nämlich wie es ge-
kommen ist, daß im Gegensatz zu vorher ergangenen Verordnungen
auch in den altpreußischen Teilen der linksrheinischen Rheinprovinz
das altpreußische Recht damals nicht wieder eingeführt worden ist.
Pawlowski (BWlioteka warszawska. 1910. 4, S. 285— 311)
schildert das Verhalten Österreichs zu Rußland 1825—1829. Die
Spannung war infolge der türkischen und polnischen Verhältnisse
nicht gering. Erwähnt sei, daß die bekannte polenfreundliche Ge-
sinnung Österreichs damals auch darin zum Ausdruck kam, daß der
Plan auftauchte (wie schon 1794 und 1809), aus Galizien und dem
Fürstentume Warschau einen polnischen Staat unter habsburgischer
Herrschaft zu schaffen. Die Förderung der Polen durch Österreich
war ein Mittel, auf Rußland einen Druck auszuüben. R. F. Kaindl.
Heinrich Maier, jetzt in Göttingen, gibt (1912) noch als Tü-
binger Dekanatsprogramm Briefe bekannt , die D. Fr. Strauß
zwischen 1831 und 1849 an den späteren Prälaten Ludwig Georgii
gerichtet hat; in seiner Abhandlung über Strauß (An der Grenze der
Philosophie, 1909) hat er sie bereits verwertet, da sie die Kenntnis
von Straußens philosophisch-theologischer Entwicklung fördern. Er
begleitet die Briefe mit dankenswerten Hinweisen; darunter ist S. 9
eine Ausführung über die berufliche Krisis von 1835, S. 26 eine über
die Züricher Vorgänge; beidemal wird Th. Ziegler berichtigt. Der
Inhalt der Briefe ist mannigfaltig, überwiegend wissenschaftlich, doch
gerade darin wieder recht persönlich. Im September 1837 warnt
Strauß davor, in einem Gebiete wissenschaftlich aufzutreten, wo
hitziger Streit herrsche, oder gar, wie er, solchen zu veranlassen.
,, Leidenschaft, der wir durch unsere Studien entfliehen wollen, kommt
uns aus eben dem Gebiete entgegen, wo wir Stille des Geistes und
Gemütes suchten. . . Man kommt am Ende zu der Verkehrung, daß
man, um den auf wissenschaftlichem Gebiete verlorenen Frieden zu
finden, sich an das Leben klammern zu müssen glaubt." Das Be-
kenntnis vom April 1842 über den Charakter seiner Leidenschaft für
die Schebest mag bisher Bekanntes ergänzen: zwiespältig zwischen
Leidenschaft und Klarheit, sarkastisch-ungläubig im Lebensunmut,
läßt er den Freund darein sehen, wie er sich tragisch verwickelt. Bald
folgt der Bericht von der Trauung, wo der befreundete Geistliche
,, trefflich allem Christlichen aus dem Wege" ging (die Rede bei Ziegler
2, 385) und Kauffmann auf der Orgel aus der Zauberflöte spielte.
Strauß „präsentiert" sich in seinen Briefen mit einer gewissen Ab-
sichtlichkeit, wie Maier nicht ohne einen launigen Unterton feststellt.
Daß er ein Meister im Briefschreiben gewesen sei, liest man viel; als
„glänzender Stilist" wird er gerne gerühmt; und in der Tat konnte er
Neuere Geschichte. 239
mit vornehmer Eleganz und durchsichtiger Bestimmtheit, lebensvoll
und in satten Farben darstellen. Doch schreibt derselbe Mann auch
schulmeisterlich und ledern, in Schriften und Briefen. Eben diese
Zweiseitigkeit kennzeichnet ihn. Rapp.
Ch. S c h e f e r , dessen instruktive Forschungen zur Geschichte
der französischen Handels- und Kolonialpolitik in Afrika hier schon
mehrfach erwähnt wurden, erörtert auf archivalischer Grundlage die
Politik des Ministeriums Mole in Algier, die 1837 zu dem Vertrage
von la Tafka mit Abd-el-Kader und zur Einnahme von Constantine
führte (Revue des Etud. histor. Januar-Februar 1913).
Von den Bemühungen Friedrich Wilhelms IV., die aus der ohne
spezielle Vollmacht von dem Gesandten H. v. Bülow unterzeich-
neten Londoner Konvention vom 15. Juli 1840 (in der orientalischen
Frage) erwachsenen Verpflichtung für Preußen auf appui morale ein-
zuschränken — durch nachträgliche aber zu spät gekommene, und
von Palmerston geheim gehaltene Verwahrung — hat A. Hasen-
clever (König Friedrich Wilhelm IV. und die Londoner Konven-
tion vom 15. Juli 1840) in den Forschungen zur brandenb. und preuß.
Gesch. 25, 2 gehandelt. Hasenclever will darin nicht Schwäche und
Unentschlossenheit der preußischen Orientpolitik, sondern Fortsetzung
der unter Friedrich Wilhelm 111. eingehaltenen Bahnen erblicken.
In einem umfassenden und gehaltvollen Aufsatz (Zeitschr. f.
Politik VI, 1 — 114) hat Gustav Mayer über die Anfänge des poli-
tischen Radikalismus im vormärzlichen Preußen gehandelt, auf Grund
archivalischer und publizistischer Materialien. Mayer versteht dabei
unter Radikalismus diejenigen Bestrebungen, die an die Gedanken
und Forderungen der französischen Revolution anknüpfend mehr von
außen her an den bestehenden Zuständen Kritik üben, in Verbindung
mit den Ideen Rousseaus und der junghegelianischen Auslegung der
Identitätsphilosophie. Nicht die praktisch-politischen Bestrebungen,
sondern die Publizistik der vierziger Jahre in Ostpreußen (Hartungsche
Zeitung), im Rheinland (Rheinische Zeitung), in Berlin (besonders
„Die Freien", der Kreis um die Brüder Bauer) und der Kampf der
wechselnden Zensurpolitik der Regierung gegen diese zum Teil in
Kommunismus und Anarchismus auslaufende Literatur bilden den
wesentlichen Inhalt der Ausführungen, denen eine anonyme, Stirner
zugewiesene Broschüre und ein ungedrucktes Programm der „Freien"
angehängt ist.
Anmutige „Lebenserinnerungen" aus dem Nachlaß von Rochus
Frhrn. v. Liliencron hat A. Bettelheim in der Deutschen
Rundschau veröffentlicht. Anknüpfend an die „Frohen Jugendtage"
handeln sie vom Germanistentage in Lübeck 1847, den Anfängen der
240 Notizen und Nachrichten.
Dozententätigkeit und der 48 er Bewegung in Bonn, von der Schles-
wig-Holsteinschen Frage (nach Briefen der Braut aus Kopenhagen)
und schließen mit dem Abgang Liliencrons als Freiwilliger nach Hol-
stein (JVlärzheft 1913).
Die Organe großer studentischer Gemeinschaften wie der Bur-
schenschaft und des Vereins deutscher Studenten sind nicht nur als
Geschichtsquelle bekannt, insofern sie weitgreifende, geistige Be-
wegungen widerspiegeln, sondern setzen sich auch die Erforschung
der Vergangenheit ihrer Kreise zum Zweck; die Burschenschaft hat
neuerdings ein Unternehmen zur Aufklärung ihrer Geschichte in großem
Stil ins Leben gerufen. Hier mag darauf hingewiesen sein, daß das
Organ des Schwarzburgbundes, die „Blätter aus dem Schwarzburg-
bund" (Leipzig, P. Eger), in der letzten Zeit gleichfalls Beiträge zur
Geschichte des studentischen Lebens gebracht hat. Insbesondere
weisen wir auf einen Artikel von Th. B a u e r im 3. Jahrgang, 3. Heft,
S. 65 ff. hin. Es wird darin in großen Zügen die Abwendung der
Burschenschaft von den christlich-altdeutschen Ideen der Romantik,
der „christlich-deutschen Ausbildung" geschildert und dargelegt, wie
eben deshalb neue studentische Vereinigungen aufkamen, die auf jene
Ideen zurückgriffen. Bauer hebt Veröffentlichungen von H. Grieben
(z. B. die Novellette „Schwarz-rot-gold" in der Zeitschrift „Europa"
1849) hervor, in denen an der zeitgenössischen Burschenschaft im
Hinblick auf ihre alten Ideale Kritik geübt wird. Vgl. auch 1. Jahrg.
2. u. 3. Heft, 2, Jahrg. 1. u. 2. Heft, 3. Jahrg. 2. u. 4. Heft.
G. V. Below.
Der Beginn von Mitteilungen aus der diplomatischen Tätigkeit
des langjährigen österreichisch-ungarischen Botschafters in Berlin
(1860—1878) und London (bis 1888) Graf Alois K a r o 1 y i (März-
heft der Deutschen Revue) führt zunächst in die Krisis von 1859
und Karolyis ergebnislose Sendung nach Petersburg, und enthält in
der Einleitung einen Briefwechsel mit Bismarck über angebliche Ver-
stimmung der deutschen Politik gegen Österreich 1875.
Wie selbstverständlich für Nikolaus I. die Bevormundung
Preußens war und in wie eigentümlicher Weise preußische Militärs
sich über interne preußische Regierungsmaßnahmen gegenüber dem
russischen Gesandten äußerten, zeigt u. a. die wertvolle Fortsetzung
der Bd. 110, S. 683 erwähnten „politischen Briefe des Grafen
Hugo zu Münster an Edwin Manteuffel, diesmal aus
den Jahren 1852 und 1853" (Deutsche Revue, März 1913). Im Zu-
sammenhang mit der ohne Manteuffels Wissen erfolgten Berufung
von Radowitz' an die Spitze des Militärerziehungs- und Bildungs-
wesens 1852 steht der Brief Edwin Manteuffels an seinen Vetter, den
Neuere Geschichte. 241
Ministerpräsidenten: den Rat, bis zum Herbst 1852 die Zollvereins-
frage zu erledigen und dann zurückzutreten.
E. V. Wertheimers Aufsatz: „Andrassy und Blsmarcks
Kulturkampf" (Deutsche Revue, Februar 1913) bietet ein Kapitel
aus dem inzwischen erschienenen zweiten Bande seiner Andrassy-
Biographie. Er ist bemerkenswert einmal wegen der Benutzung diplo-
matischer Berichte aus dem Wiener und Berliner Archiv bis 1875!
(Berichte des deutschen Botschafters in Wien, General v. Schweinitz;
des Generalkonsuls in Pesth, v. Wächter-Gotter; Weisungen Bismarcks
an Keudell (1873) und an Schweinitz (1875); Andrassys an den österr.-
ungar. Botschafter in Berlin Graf Karolyi und dessen Berichte an
Andrassy) und sodann wegen der Art, wie es der habsburgischen
Politik gelang, trotz politischer Freundschaft mit Italien und eigener
Neuordnung der staatlich-kirchlichen Beziehungen in Zisleithanien
durch die Gesetze von 1874, denen die Bischöfe wohl theoretischen
Protest, aber bei der Ausführung keinen Widerstand entgegensetzten,
kirchliche Übergriffe in die staatliche Sphäre fernzuhalten und „die
Autorität des Staates zu schützen, ohne doch dadurch die Monarchie
den verheerenden Stürmen eines Kulturkampfes aussetzen zu müssen".
Bismarcks Bemühungen um internationale Schritte gegen die Folgen
der Infallibilitätserklärung und zur Beeinflussung der zu erwartenden
Papstwahl hat Andrassy sich versagt.
Mit einer sehr hübschen Persönlichkeitsschilderung M i q u e 1 s
hat K. A. V. Müller den beginnenden Abdruck von Briefen Mi-
quels an Marquardsen (Süddeutsche Monatshefte, März 1913)
eingeleitet, die zunächst außer einem Schreiben von 1876 (das Ver-
dienst am Rechenschaftsbericht der nationalliberalen Partei gebühre
Wehrenpfennig; „ich habe nur in bezug auf Anordnung, Richtung,
Material etwas mitgewirkt"), Briefe aus dem Jahre 1884 enthalten
zur Reorganisation und Taktik der nationalliberalen Partei (d. i. Ent-
wurf des Heidelberger Programms von Miquel, die Schlußredaktion
von Marquardsen).
Frhr. v. Freytag-Loringhoven, Generalmajor und
Oberquartiermeister, Die Führung in den neuesten Kriegen, Operatives
und Taktisches. 1. Heft: Das russische Oberkommando in der euro-
päischen Türkei im Kriege 1877 — 1878. Mit 7 Skizzen als Anlagen
(Berlin 1912, E. S. Mittler & Sohn. VIll u. 110 S.). — Die Absicht
des bereits rühmlichst bekannten Verfassers ist es, in einer Reihe
von Schriften die wichtigsten Erscheinungen der neuesten Kriege
unter dem Gesichtspunkt der Führung größerer wie kleinerer Verbände
zusammenzufassen und so „unmittelbar der Ausbildung für den Krieg
zu dienen". Er wählt den russisch-türkischen Krieg als Ausgangs-
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 16
242 Notizen und Nachrichten.
punkt, der mancherlei im mandschurischen Kriege wiederkehrende
Züge auf russischer Seite aufweist. Als Hauptquelle dient ihm das
1908 veröffentlichte Tagebuch des damaligen Obersten im russischen
Generalstab v. Hasenkampf. Die großzügige und tiefeindringende
Betrachtungsweise läßt uns mit lebhaften Erwartungen den weiteren
Heften entgegensehen, von welchen eines den Gebirgskämpfen auf
der Balkanhalbinsel, vor allem bei der Okkupation Bosniens, zwei
weitere dem russisch-japanischen Kriege mit vergleichenden Aus-
blicken besonders auf den Burenkrieg und seine taktischen Lehren
gewidmet sein werden.
Heidelberg. Karl Stählin.
Unter der Überschrift ,,Die Gewalttaten im Balkankriege" gibt
L. Raschdau einen auf eigene Teilnahme gegründeten, auch poli-
tisch höchst interessanten Bericht über die sog. Rhodope-Kom-
m i s s i 0 n im Juli und August 1878, d. h. der Reise der internationalen
Diplomatenkommission, zur Feststellung, ob die Greueltaten, die eine
Viertelmillion Flüchtlinge in jenes Gebirge getrieben hatten, wie die
Engländer behaupteten und alle Aussagen angaben, von den Russen
herrührten oder von den Bulgaren; Raschdaus Stellungnahme für den
russischen Kommissar sei gebilligt und von russischer Seite auch an-
erkannt worden (Deutsche Rurrdschau, März 1913).
Emil Albert S o r e 1 erläutert aus Briefen und Aufzeichnungen
seines Vaters, wie aus dem Romanschriftsteller und Sekretär Chau-
dordys hauptsächlich durch Taines Einwirkung der Geschichtspro-
fessor und Historiker wurde (Revue des deux mondes, 15. März 1913).
F. A. Magruder, Recent administration in Virginia. Johns
Hopkins University Studies in historical and political science, series
XXX, I. Baltimore, The Johns Hopkins Press. — Magruder bespricht
in dieser lehrreichen Abhandlung die wichtigsten Verwaltungszweige
des Staates Virginia und ihre Entwicklung während des letzten Men-
schenalters. Er zeigt, wie die Staatstätigkeit in dieser Zeit zugenom-
men hat, eine Erscheinung, die sich überall in den Vereinigten Staaten
beobachten läßt. Magruder knüpft an die Darstellung der Geschichte
der Verwaltung eine Kritik der Einrichtungen des Staates und tritt
für weitere Zentralisation der Verwaltung sowie für eine Kräftigung
der Exekutive ein. P. D.
Das Märzheft der Deutschen Revue bringt den Schluß der Bd. 110,
S. 688 zuletzt erwähnten Briefe von G. Freytag an Stosch
aus den Jahren 1891 — 1895: Persönliches, aber auch publizistische
Tätigkeit von Stosch (zwar ohne genügende Erläuterung) und auch
politische Urteile (sehr hübsch über Bismarcks Popularität nach seiner
Entlassung) enthaltend.
Neuere Geschichte. 243
hl Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung 37 wird eine Studie
von W. J. H 0 1 1 a e n d e r (f) über den „Deutschen Zolltarif von
1902" abgedruckt, die „das Wichtigste über seine Entstehungsursachen
und Gestaltungsbedingungen" zusammenfassen will und zunächst
im 1. Heft die parlamentarischen Kämpfe um die Handelsverträge
der Caprivischen Ära bis zum Abschluß des russischen Handelsver-
trags und die Anfänge der agrarischen Agitation schildert.
Der von Arnold H. Rennebarth übersetzte und einge-
leitete Aufsatz von J. Alfred Spender, dem Chefredakteur der
(liberalen) Westminster Review über „Die Grundlagen der britischen
Politik" (Zeitschr. f. Politik, VI, 1) bietet die wesentlichen Teile einer
Anfang 1911 in jener Zeitung erschienenen Artikelserie, die für das
englische Publikum bestimmt, diesem auch Deutschlands Haltung in
Stimmung und politischer Stellungnahme in den letzten Jahren klar
zu machen sucht. Hervorzuheben ist die Behauptung, daß erst durch
Deutschlands Verhalten seit Tanger (1905) die britischen Abkommen
mit Frankreich und Rußland, die ursprünglich im wesentlichen außer-
europäische Bedeutung besessen hätten, zu wichtigen Faktoren der
europäischen Politik Englands gemacht worden seien.
Neue Bücher: Bord, Etudes sur la question Louis XVII (1792
ö 1795)- Autour du Temple, II. III. (Paris, Emile-Paul.) — La-
hr 0 ue , La mission du conventionnel Lakanal dans la Dordogne en
Van II {octobre 1793 — aoät 1794). {Paris, Champion.) — G achot ,
1809. Napoleon en Allemagne. (Paris, Plon-Nourrit et Cie.) — Christian
JVl e y e r , Der Feldzug nach Rußland im Jahre 1812. (München,
Klübers Nachf. 1,50 M.) — Kerchnawe u. Veltze, Feld-
marschall Karl Fürst zu Schwarzenberg, der Führer der Verbündeten
in den Befreiungskriegen. (Wien, Gerlach <S Wiedling. 20 M.) —
Des Feldmarschalls Fürsten Schwarzenberg Briefe an seine
Frau 1799 — 1816, herausg. von Joh. Frdr. Noväk. (Wien, Gerlach
& Wiedling. 20 M.) — V i t e n s e , Mecklenburg und die Mecklen-
burger in der großen Zeit der deutschen Befreiungskriege 1813 — 1815.
(Neubrandenburg, Nahmmacher. 3,80 M.) — Bezzenberger,
Ostpreußen in der Franzosenzeit. (Königsberg, Gräfe & Unzer. 6 M.)
— B 0 r r e y , La Francfie-Comti en 18 14. (Paris et Natjcy, Berger^
Levrault.) — List, Der Kampf ums gute alte Recht (1815—1819),
nach seiner ideen- und parteigeschichtlichen Seite. (Tübingen, Mohr.
6 M.) — Otto H a r n a c k , Wilhelm v. Humboldt. (Berlin, Hof-
mann & Co. 3,60 M.) — B 0 ut ar d , Lamennais, sa vie et ses doctrines.
III: Education de la democratie, 1834 — 1854. (Paris, Perrin et Cie.)
— P f i s t e r , Aus den Berichten der preußischen Gesandten in der
Schweiz 1842—1846. (Bern, Wyß. 2,50 M.) — K u I e n k a m p f f ,
16*
244 Notizen und Nachrichten.
Der 1. vereinigte preußische Landtag 1847 und die öffentliche Mei-
nung Südwestdeutschlands. (Berlin, Rothschild. 3,50 M.) — N i -
Castro, Dal quarantotto al sessanta : contributo alla storia econo-
mica, sociale e politica della Sicilia nel secolo XIX. (Milano-Roma-
Napoli, Albright, Segati e C. 4,50 L.) — Or s i , Cavour e la forma-
zione del regno d'Italia. {Torino, soc. tip. ed. Nazionale. 3,50 L.) —
Charles- Roux, Alexandre II, Gortchakoff et Napoleon III.
(Paris, Plon-Nourrit et Cie. 8 fr.) — Fliegenschmidt, Deutsch-
lands Orientpoiitik im 1. Reichsjahrzehnt 1870—1880. (1. Tl.) (Ber-
lin, Puttkammer & JVlühlbrecht. 10 M.) — Alwrod, La Bateille
du Mans, 10, 11 et 12 janvier 1871. {Angers, Grassin.) — S i mo nd ,
Histoire de la troisieme Republique de i88y ä i8g4. Presidence de M.
Cur not. (Paris, Charles-Lavauzelle.)
Deutsche Landschaften.
Als zweites Heft der Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv
Colmar ist die erste Lieferung des Repertoriums des Stadtarchivs,
aufgestellt von C, Engel, erschienen.
Eine Freiburger Dissertation von K- G. Straub, die in den
Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees, Heft 41 erscheint,
behandelt die Schiffahrt auf dem Oberrhein im Mittelalter, ihre äußere
Entwicklung und ihre Organisation mit besonderer Rücksicht auf
Basel und infolgedessen hauptsächlich auf Grund Basler Urkunden.
Aus den nachgelassenen Papieren von Nebenius gibt Willy
Andreas die Grundgedanken einiger aus seinen Anfängen stam-
menden Gutachten über die Prinzipien der badischen Verwaltung
in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F. 28, 1 wieder.
Einige Briefe von Görres, Ittner, Malchus, Rau und Schuck-
mann an den Staatsrechtslehrer Johann Ludwig Klüber, die haupt-
sächlich Angelegenheiten der Universität Heidelberg besprechen, teilt
Karl O b s e r im Februarheft der Mannheimer Geschichtsblätter mit.
In den von ihm herausgegebenen „Tübinger Studien für schwä-
bische und deutsche Rechtsgeschichte" (2. Bd., 4. Heft) veröffentlicht
Friedrich Thudichum eine „Geschichte der Reichsstadt Rottweil
und des kaiserlichen Hofgerichts daselbst" (Tübingen, Laupp. 1911.
VII u, 95 S. 2,60 M.). Bei Darstellung der Stadtgeschichte beschränkt
sich der Verfasser fast ganz darauf, Urkundenauszüge aneinanderzu-
reihen. Ein Abschnitt über das Pürschgericht geht voran, ein inhalt-
volleres, doch auch nicht klar durchgearbeitetes Kapitel über das
kaiserliche Hofgericht zu Rottweil bildet den Schluß.
Deutsche Landschaften. 245
Aus den Württembergischen Vierteljahrsheften für Landes-
geschichte 22, 1 seien die Aufsätze erwähnt von Wilhelm Ohr: Die
Entstehung des Bauernaufruhrs vom armen Konrad 1524, von J. Z e 1 -
1er: Zur ältesten Geschichte des Frauenklosters Höfen (Buchhorn)
und von O. Frhrn. v. Stotzingen: Schwäbische Ritter und Edel-
knechte im italienischen Solde im 14, Jahrhundert.
F. Wintterlin behandelt in den Württembergischen Jahr-
büchern für Statistik und Landeskunde 1912, 1 die württembergische
Verfassung 1815 — 1819. Nach kurzem Überblick über die altwürttem-
bergischen Zustände, wie sie sich im Laufe des 18. Jahrhunderts heraus-
gebildet hatten, schildert er die Verhandlungen zwischen Regierung
und Ständen, die nach zweimaliger Ablehnung der königlichen Ent-
würfe schließHch 1819 zur Verleihung der Verfassung führten. Fünf
Punkte waren es hauptsächlich, in denen die Wünsche der Parteien
auseinandergingen. Sie betrafen die Verantwortlichkeit der Minister,
die Frage, ob Ein- oder Zweikammersystem eingeführt werden sollte,
die Existenz eines permanenten Kammerausschusses, den Umfang des
Budgetrechts und die Immunität der Abgeordneten. Die endgültige
Verfassung vom 27. September 1819 beruht auf einem Kompromiß;
jede Partei, die Regierung sowohl wie die Stände, kam den Wünschen
der andern entgegen.
Im Archiv des Historischen Vereins von Unterfranken und
Aschaffenburg Bd. 54 veröffentlicht J. F. A b e r t eine aus dem
Jahre 1779 stammende Denkschrift Karl Theodor von Dalbergs über
die Verbesserung der Armenpolizei im Hochstift Würzburg, welche
die Grundlage der Reform der Armenpflege durch Fürstbischof Franz
Ludwig von Erthal gebildet hat. Dasselbe Heft bringt eine Arbeit
von K. R. Frhrn. v. Thüngen: Zur Genealogie der Familie Derer
von Thüngen.
Die Arbeit von F. Tarrasch über den „Übergang des Fürsten-
tums Ansbach an Bayern" (Historische Bibliothek, Bd. 32; München
u. Berlin, R. Oldenbourg, 1912, 182 S.) ergänzt das 1902 erschienene
Buch von K. Süßheim über Preußens Politik in Ansbach-Bayreuth
1791—1806 (vgl. H. Z. 91,113). Dieser hatte vor allem die Versuche
Hardenbergs behandelt, die preußische Macht in Franken auszudehnen;
Tarrasch geht von den bayerischen Akten aus und betrachtet die in
natürlichem Gegensatz zu der preußischen Politik stehenden baye-
rischen Bestrebungen, in Franken territorialen Besitz zu erwerben.
Die beiden Arbeiten ergänzen sich auch insofern, als Süßheims Interesse
zeitlich in den Jahren vor 1796, vor der gescheiterten Annexion Nürn-
bergs, liegt und immer mehr abnimmt, je mehr sich Preußen in Franken
auf die Defensive beschränkt; Tarrasch dagegen setzt gerade mit dem
246 Notizen und Nachrichten.
Zurückweichen Preußens ein und wird immer ausführlicher, je näher
Bayern seinem Ziele, der Annexion Ansbachs, kam. So ist sein Buch,
obwohl es in der Hauptsache ja nichts Neues bringen konnte, doch nicht
überflüssig. Von Einzelheiten möchte ich nur zwei hervorheben, ein-
mal die zynische aber für die ganze Zeit charakteristische Äußerung
von Montgelas über die bayerischen Annexionen des Jahres 1806
(S. 173): „In einer Zeit, wo jeder nehme, was er kriegen könne, . . .
könne man keine Rücksichten nehmen, sonst komme einem der raub-
lustige Nachbar zuvor"; zweitens die Bestätigung, die die Berichte
des bayerischen Gesandten Bray aus Berlin für die zuerst von M. Leh-
mann aufgestellte Vermutung bringen, daß Haugwitz im November
1805 eine geheime Instruktion des Königs für seine Sendung nach
Schönbrunn erhalten hat (S. 61 ff.). F. Härtung.
In die Zeit der schlimmsten Vielstaaterei in Deutschland, die
Zeit, in welcher das System des Sichumallesbekümmerns seitens der
Regierungen seinen Höhepunkt erreicht hat, führt uns die Monographie
von Jakob Wille über August Graf von Limburg-Siirum, Fürst-
bischof von Speyer (Neujahrsblätter der Badischen Historischen Kom-
mission 1913, Heidelberg, 115 S.). Unsere Vorstellung von dieser
Vielregiererei des damaligen Polizeistaats wird auch durch dieses
Einzelbeispiel in vollem Maße bestätigt. Aber trotzdem, welch über-
raschend imponierende und in vielen Beziehungen überaus sympa-
thische Erscheinung tritt uns in der Persönlichkeit dieses vorletzten
Fürstbischofs von Speyer entgegen! Das hervorstechendste Merkmal
dieses Mannes ist die unglaubliche Zähigkeit und Energie, mit der er
seinen Willen allen Hemmnissen gegenüber durchsetzt. Dies zeigt
sich schon in der Art, wie er den Bischofstuhl besteigt: mit dem ge-
samten Domkapitel aufs heftigste verfeindet, weiß er es doch dahin
zu bringen, daß er einstimmig zum Fürstbischof erwählt wird. Wenn
auch dem Lande dies Ergebnis der Wahl zu großem Segen gereicht hat.
So hat das Domkapitel selbst sie doch zu büßen gehabt, denn von
dem Augenblick an, in dem der neue Herr die Zügel in die Hand ge-
nommen hat, wurde es vollständig von jedem Einfluß auf die Regierungs-
tätigkeit ausgeschlossen, Graf August leitete seinen Staat in denkbar
autokratischer Form, sein Kabinett war die einzig entscheidende
Stelle; aber, wie schon gesagt, seinen Untertanen schlug dieses System
zum Heil aus. Die Finanzreform, die der Fürstbischof durchführte,
ist eine bewundernswerte und heilsame Leistung gewesen. Allerdings
hatten die Beamten unter diesem energischen, dabei aber mit recht
vielen Eigenheiten behafteten Herrn kein leichtes Leben; sie mußten
darauf gefaßt sein, von ihm, wenn er es für angebracht hielt oder wenn
sein Temperament mit ihm durchging, die allergröbsten Beschimpfungen
einstecken zu müssen. Willes Darstellung läßt uns die eindrucksvolle
Deutsche Landschaften. 247
Persönlichkeit des Bischofs klar vor Augen treten; seine Regierungs-
tätigkeit schildert er nur in größten Zügen, er will ja auch nur „Mi-
niaturbilder aus einem geistlichen Staat" liefern. Einige der Episoden,
die er mitteilt, sind aber, abgesehen davon, daß sie wundervolle Schlag-
lichter auf den Mann und auf die Zeit werfen, wahrhaft köstlich; sie
werden Jedem Leser ebensoviel Freude bereiten, wie sie offenbar dem
Autor bereitet haben. W. Windelband.
Die „Kirchenbücher aus den Regierungsbezirken Koblenz und
Trier" sind in den Mitteil, der preuß. Archivverw. Heft 22, 1912, von
H. Reimer verzeichnet worden. Kirchenbücher wurden in diesen
Gebieten seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zuerst von Protestanten,
wenig später auch von Katholiken geführt. Als Endpunkt für das
vorliegende Verzeichnis ist 1798, das letzte Jahr der ,, alten Kirchen-
bücher" gewählt, die damals (nach dem französischen Gesetz vom
20. Sept. 1792) geschlossen und durch Zivilstandsregister der Mairien
ersetzt wurden.
Die Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte
veröffentlichen in Heft 27 und 28 eine von Wolfgang v. Gersdorff
verfaßte Geschichte des Theaters in Kiel unter den Herzogen zu Hol-
stein-Gottorp (Kiel 1912).
Die Hansischen Geschichtsblätter, Jahrgang 1912, Heft 2 ver-
öffentlichen den von Hans Witte während des Hansischen Geschichts-
tages am 28. Mai 1912 gehaltenen Vortrag „Wismar als schwedisches
Pfand 1803—1903".
Band 12 der Pommerschen Jahrbücher, herausgegeben vom
Rügisch-Pommerschen Geschichtsverein (1911), bringt einen zu wei-
terem Forschen anregenden Aufsatz von Fritz Curschmann
„Die Landeseinteilung Pommerns im Mittelalter und die Verwal-
tungseinteilung der Neuzeit" (auch als besondere Schrift erschienen
Greifswald 1911, 179 S.). Um allen Mißdeutungen von vornherein
vorzubeugen, betont der Verfasser gleich eingangs, daß der Gegen-
stand nicht in einem räumlich beschränkten Zeitschriftenaufsatz
erschöpft werden kann. Es soll hier nur der Weg gewiesen werden,
auf dem fortschreitend man allmählich zur ,, kartographischen Fest-
legung der älteren Landeseinteilung Pommerns kommen kann". So
wird auch nicht ganz Pommern, sondern nur der westliche Teil Hinter-
pommerns in den Rahmen der Betrachtung gezogen, d. h. ungefähr
der Regierungsbezirk Stettin, soweit er rechts von Oder und Dievenow
liegt. Leider stoßen die Forschungen, von der bis heute so gut wie
unverändert beibehaltenen Kreiseinteilung der Jahre 1817/18 rück-
wärts schreitend, im späteren und noch mehr im früheren Mittelalter
auf sehr große Schwierigkeiten, die durch das nicht allzu reichlich
248 Notizen und Nachrichten.
überlieferte Material an Grenz- oder Besitzbeschreibungen verursacht
werden. Um so mehr ist die vom Verfasser geleistete Arbeit anzuer-
kennen, die der Zusammensetzung der einzelnen Landesteile bis ins
kleinste nachgeht. In dem größeren Teil der Arbeit, in dem Anhang,
werden die Belege zu den vorhergegangenen Ausführungen gegeben,
Tabellen und Urkundenregesten; eine sehr übersichtliche plastische
Zusammenstellung der ermittelten Ergebnisse bietet zum Schluß
die in unterscheidenden Farben angelegte Karte des behandelten Ge-
bietes, die den Zustand der Verwaltungseinteilung unmittelbar vor
der Durchführung der neuen Kreiseinteilung Friedrich Wilhelms I.
von 1724 darstellt.
Stettin. 0. Grotefend.
Die Beziehungen des Nürnberger Handels zum Nordosten Deutsch-
lands bilden das Thema zweier Abhandlungen Paul O s t w a I d s
und A. Till es in den deutschen Geschichtsblättern Bd. 14, Heft 4.
„Die Gewinnung Nordostdeutschlands für den Nürnberger Handel"
setzt Tille in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts. Erst verhältnis-
mäßig spät ist Nürnberg in den internationalen Verkehr eingetreten.
Das Ergebnis Tilles wird bestätigt durch Ostwalds lokal begrenztere
Untersuchung über die „Nürnberger Kaufleute im Lande des deutschen
Ordens". Die Handelsleute Nürnbergs fanden hier seit der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts reichen Absatz für ihre Waren, namentlich
Stahlwaren, bis ein Erlaß des Hochmeisters vom 3. Mai 1448 die
schädliche, den Einheimischen verhaßte Konkurrenz der Süddeutschen
beseitigte.
G. C r 0 0 n , Die landständische Verfassung von Schweidnitz-
Jauer. {Codex diplomaticus Silesiae, Bd. 27.) Breslau, Ferd. Hirt. 1912,
XII u. 388 S. — Die Geschichte der ständischen Verfassung in den
einzelnen schlesischen Fürstentümern ist in Rachfahls grundlegendem
Werk über die Gesamtstaatsverwaltung Schlesiens, das sich unter ande-
rem die Aufgabe gesetzt hat, die Entwicklung der Generalstände und
des Fürstentages aufzuklären, nicht eingehender erörtert worden. Es ist
dankenswert, daß Croon begonnen hat, diese Lücke zu schließen. Der
gut erhaltene Bestand der Landtagsakten lenkte seine Wahl auf die
Fürstentümer Schweidnitz-Jauer. — Der darstellende Teil seines Werkes
geht aus von den „Vorläufern der landständischen Verfassung in Schle-
sien" und behandelt dann in vier Kapiteln des zweiten Buches die
landständische Verfassung, die sich in Schweidnitz-Jauer bemerkens-
werterweise in vielen wesentlichen Zügen durchaus in Übereinstimmung
mit der allgemein-deutschen Entwicklung vollzogen hat, sobald einmal
die Fundamente des Ständestaates gelegt waren. Der dualistische
Charakter des Ständestaates trat auch in Schlesien um die Mitte des
Deutsche Landschaften. 249
14. Jahrhunderts klar hervor. Wie nun aber im Kampf des Fürsten-
tums mit den Ständen sich die Verfassung entwickelte, bleibt in Croons
Darstellimg ungewiß. Daß seine Arbeit hier versagt, liegt zum Teil
an der Vernachlässigung der Steuergeschichte, die das Rückgrat der
landständischen Geschichte bilden sollte. Gelegentliche Bemerkungen
der folgenden Abschnitte lassen deutlich erkennen, daß die ständische
Verfassung auch in Schweidnitz-Jauer im Zusammenhang mit der
Einführung allgemeiner Landessteuern und den Anfängen des Obrig-
keitsstaates entstanden ist. — Das zweite Kapitel, das zu einer mehr
systematischen Darstellung übergeht, setzt die Existenz einer aus-
gebildeten landständischen Verfassung voraus; es behandelt die Land-
standschaft der einzelnen Stände im 16. und 17. Jahrhundert. Von
nun an verknüpft sich die Geschichte des Ständewesens mit der all-
gemeinen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Fürstentümer.
Im Kapitel 3 sind die Organe der Landesherrschaft und der Land-
stände, in Kapitel 4 die einzelnen Gebiete der Verwaltung, Finanz-
verwaltung, Gerichtswesen und Heereswesen, behandelt. Angedeutet
wenigstens ist der bedeutende Umfang der auf den Landtagen des
16. und 17. Jahrhunderts entwickelten Tätigkeit, die sich auch auf die
Landeswohlfahrt und Regelung des wirtschaftlichen Lebens, des Han-
dels, Verkehrs und Gewerbewesens erstreckte. Diese Seite der ständi-
schen Tätigkeit sollte ganz besonders beachtet werden (vgl. z. B.
M. Haß, Die kurmärkischen Stände im letzten Drittel des 16. Jahr-
hunderts, 1913, S. 135 ff.); denn es fehlt bisher an Vorarbeiten, auf
denen sich eine umfassendere Geschichte der Entstehung des abso-
luten Staats und des Merkantilismus aufbauen könnte. — Die pro-
vinzialgeschichtliche Literatur ist von Croon gewissenhaft herangezogen
worden. Verdienstlich wie der darstellende Teil ist auch die sorgfältige
Publikation der Urkunden und Akten (1330—1742, 1809), der zum
Schluß ein Namen- und Sachregister beigefügt ist. Spangenberg.
C. B 1 a s e 1 gibt in den Darstell, u. Quellen z. schles. Gesch.
Bd. 17 (Breslau, Hirt, 1912, IV u. 126 S.) eine wissenschaftlich wenig
ertragreiche „Geschichte von Kirche und Kloster St. Adalbert zu
Breslau". Ziekursch.
In die Zeit der Freiheitskriege führen drei Publikationen der
Mitteil, des Geschlchts- und Altertums-Vereins zu Liegnitz, Heft 4,
1911/12: „Lebenserinnerungen des Generalleutnants Carl v. Wedel,
1810 — 1813 (Kurt T r o e g e r), „Zeitgenössische Mitteilungen über
die kriegerischen Ereignisse in Liegnitz und Umgebung während der
Zeit vom 26. Mai 1813 bis zur Schlacht an der Katzbach" (Heinrich
V. N a t z m e r) und 28 bisher unveröffentlichte Briefe Blüchers aus
dem V. Heinenschen Familienarchiv in Groß-Wandriß (1813 — 1815),
/
250 Notizen und Nachrichten.
welche zum Teil die Erwerbung und Ordnung der dem Feldherrn 1814
mit seiner Ernennung zum Fürsten versprochenen Dotation betreffen
und an Karl v. Heinen, Blüchers Generalbevollmächtigten in der Ver-
waltung seiner Güter, gerichtet sind (Superintendent v. Hase).
In allzugroßer Breite schildert Mathias Rupertsberger in
seinem Buche „Ebelsberg Einst und Jetzt. Ein ortsgeschichtlicher Ver-
such" (Linz-Ebelsberg 1912, Kommissionsverlag des katholischen
Preßvereins Linz) die Geschichte dieses alten oberösterreichischen
Marktes, sowie der Pfarre und des Schlosses und der Herrschaft Ebels-
berg. Der Verfasser hat in Wiener, Münchner, Linzer, Landshuter,
St. Florianer und anderen Archiven zwar ein reichhaltiges Material
für seine Zwecke zusammengebracht, es aber nicht genügend ver-
arbeitet, so daß das Buch eher eine Materialiensammlung zur Ge-
schichte des Marktes Ebelsberg als eine abgerundete, lesbare Geschichte
desselben darstellt. Da werden dem Leser die selbstverständlichsten
Dinge, wie z. B. „Schnelles Fahren verboten" (Reichsstraße und Auto-
mobilverkehr!) zur Lektüre vorgelegt. Nur so konnte der Umfang des
Buches, abgesehen von den (übrigens recht guten) Bildern und Karten
auf 462 Seiten anwachsen. Der Abschnitt über den Markt bringt
Erläuterungen über Name, Wappen und -Bilder, über die Marktord-
nung) und die Märkte überhaupt und die ganze äußere und innere
Entwicklung und in gleicher Weise werden Einzelheiten über die
Geschichte der Pfarre und des Schlosses gegeben. Aus dem ersten
Teile mögen die Abschnitte „Ebelsberg im Bauernkriege" und „Ebels-
berg in den Napoleonskriegen", aus dem zweiten der Abschnitt über
die Gegenreformation besonders hervorgehoben werden.
Graz. J. Loserth.
Das Archiv für österreichische Geschichte, Bd. 102, erste Hälfte,
Wien 1913, veröffentlicht zwei neue Abhandlungen zum historischen
Atlas der österreichischen Alpenländer: „Die Pfarren als Grundlage
der politisch-militärischen Einteilung der Steiermark" (Hans Pircheg-
g e r) und „Geschichte der Gerichte Deutschtirols" (Otto Stolz).
Stolz behandelt 1. die Entwicklung und Ausdehnung der Grafschaften
als Grundlagen der späteren Gerichtseinteilung, 2. die Auflösung der
Grafschaften und die Entstehung der territorialen Gerichte Deutsch-
tirols, 3. die Grundzüge der Gerichtsverwaltung vom 13. bis 18. Jahr-
hundert, 4. besondere Standes- und Realgerichte, 5. die Gemeinden
und ihr Verhältnis zu den Gerichten, 6. die Viertels- und Kreiseinteilung,
7. die Kulturgeographie der Grenzbildung in Tirol. Nicht berücksichtigt
sind die Zentralgerichte und das Gerichtsverfahren.
Das kürzlich vollendete Werk Raimund Friedr. Kaindls über
die Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern (3 Bde., Gotha
Deutsche Landschaften. 251
1907 — 1911, F. A. Perthes) hat Franz Ilwof die Anregung geboten,
die Leser der Preußischen Jahrbücher (Bd. 150, Heft 3, 1912) in einem
zusammenfassenden Essai über die Forschungsergebnisse Kaindls zu
unterrichten. Er schildert die Entstehung der deutschen Ansiedlungen,
die sich nördlich und südlich der Karpathen von Galizien durch die
Bukowina, Ungarn, Siebenbürgen, Kroatien und Slavonien bis nach
Rumänien ausgedehnt haben, und verfolgt deren Entwicklung von
ihrem Ursprünge im 8. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Neue Bücher: O e c h s 1 i , Geschichte der Schweiz im 19. Jahr-
hundert. 2. Bd. (Leipzig, Hirzel. 14 M.) — Gagliardi, Doku-
mente zur Geschichte des Bürgermeisters Hans Waldmann. 2. Bd.
(Basel, Basler Buch- u. Antiquariatshandlung. 13,60 M.) — B u r c k -
h a r d t , Die Geschichte der Stadt Basel von der Trennung des Kan-
tons bis zur neuen Bundesverfassung 1833 — 1848. 2. Tl. (Basel,
Helbing <S Lichtenhahn. 1 ,40 M.) — Württembergische Archivinventare,
hrsg. V. d. Württemberg. Kommission f. Landesgeschichte. Heft 2 — 6.
{Stuttgart, Kohlhammer. 5,50 M.) — Hohenlohisches Urkundenbuch
hrsg. von Karl W e 1 1 e r und Christian Belschner. 3. Bd. 1351
bis 1375. (Stuttgart, Kohlhammer. 15 M.) — H e 1 d w e i n , Die
Klöster Bayerns am Ausgange des Mittelalters. (München, Lindauer.
4 M.) — Monumenta Boica. 53. Bd. Neue Folge 7. Bd. Regensburger
Urkundenbuch. 1. Bd. (München, Franz. 12 M.) — Seh oll er,
Das Münzwesen der Reichsstadt Nürnberg im 16. Jahrhundert, (Nürn-
berg, Schräg. 5 M.) — Frdr. Weber, Geschichte der fränkischen
Reichsdörfer Gochsheim und Sennfeld. (Schweinfurt, Stoer. 10 M.)
— Günth. Schmidt, Das würzburgische Herzogtum und die Grafen
und Herren von Ostfranken vom 11. bis zum 17. Jahrhundert. (Wei-
mar, Boehlau. 4,20 M.) — Chroust, Das Großherzogtum Würz-
burg (1806—1814). (Würzburg, Stürtz. 2 M.) — Westfälisches Urkun-
denbuch. 8. Bd. Bearb. von Krumbholtz. (Münster, Regens-
J)erg. 7,50 M.) — Israel, Das Wittenberger Universitätsarchiv,
seine Geschichte und seine Bestände. (Halle, Gebauer-Schwetschke.
4,50 M.) — K r a b b 0 , Regesten der Markgrafen von Brandenburg
aus askanischem Hause. 3. Lfg. (München, Duncker <S Humblot.
4,40 M.) — W ä s c h k e , Anhaltische Geschichte. 2. Bd. (Cöthen,
Schulze. 5 M.) — Luschin v. Ebengreuth, Wiener Münz-
wesen im Mittelalter. (Wien, Fromme. 5,50 M.) — Adf. A 1 1 m a n n ,
Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg von den frühesten
Zeiten bis auf die Gegenwart. 1. Bd. (Berlin, Lamm. 6 M.)
252 Notizen und Nachrichten.
Vermischtes.
Für den zweiten Preis der v. Frege-Weltzienstiftung
hat die Kgl. Sächsische Kommissionfür Geschichte
die folgende Aufgabe gestellt: „Die Sequestration der Leipziger Rats-
verwaltung im 17. Jahrhundert". Die Kommission wünscht eine auf
die Quellen gegründete Darstellung der großen, von der kurfürstlich-
sächsischen Regierung angeordneten Untersuchung über das Schulden-
wesen und den Haushalt der Stadt Leipzig, die im Jahre 1627 zur Se-
questration der gesamten städtischen Verwaltung führte. Die Kom-
mission legt Wert auf eine Behandlung, welche an dem Beispiele Leip-
zigs sichere Ergebnisse zu einer vertieften Auffassung der Wirtschafts-
und Verwaltungsgeschichte einer großen deutschen Stadt des 17. Jahr-
hunderts bietet. Bearbeitungen sind bis zum 31. Dezember 1914
an die Kommission, Leipzig, Universitätsstraße ll/III, einzusenden.
Preis 1000 M.
Am 5. April ist Henry Simonsfeld in München im
61. Lebensjahre gestorben. Seine wissenschaftliche Arbeit galt früher
vornehmlich der Geschichte Venedigs, zuletzt der Zeit Kaiser Fried-
richs I.
Zwei Jahre nach Conrad Varrentrapps Tode ist der
Gedächtnisrede v. d. Ropps (H. Z. 107, 345 ff.) ein ausführlicher und
liebevoll eindringender Nachruf aus der Feder K. W e n c k s gefolgt,
der insbesondere darauf ausgeht, die wichtigsten Arbeiten Varren-
trapps nach der wissenschaftlichen und der biographischen Seite zu
kennzeichnen.
Beriditigung.
In der Besprechung von Konschel, Königsberger Religionsprozeß
Bd. 110, S. 597 ist Z. 9 v. u. statt „Mediziner Ebel" zu lesen: „Medi-
ziner Sachs".
Studien zur Entwicklung und Bedeutung
der universalgeschichtlichen Anschauung.
Von
J. Kaerst.
Der Überblick über die Entwicklung moderner ge-
•schichtlicher Auffassung, den wir in unserem ersten Auf-
satze zu geben versucht haben, hat gezeigt, wie eine in die
Eigenart des geschichtlichen Lebens sich immer mehr ver-
tiefende Anschauung — bei aller intensiven Arbeit, die den
Einzelinhalten dieses geschichtlichen Lebens zugewandt
wurde — doch zugleich in einer universalhistorischen Idee
gipfelte. Es war die Idee eines allgemeinen Zusammen-
hangs, in dem die historischen Einzelbildungen erst in le-
bendiger Wechselwirkung sich verflechten und in ihrer
besonderen Art und Wirksamkeit gestalten. Diese universal-
historische Ansicht steht im Gegensatze zur klassizistischen
Anschauung. Der Klassizismus sah die Geschichte des
Altertums als eine völlig abgeschlossene Entwicklung einer
großen vergangenen Kulturperiode der Menschheit an.
Eine bestimmte Nation, die in der organischen Entfaltung
ihres geschichtlichen Wesens zur klassischen, für alle Zeiten
vorbildlichen Repräsentantin eines Weltalters allgemein
menschlicher Kulturentwicklung geworden ist, hat ihr
Leben in politischer und kultureller Beziehung ausgelebt.
1) Vgl. H. Z. 106, S. 473 ff.
Historische Zeitsclirift (til. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 17
254 J. Kaerst,
Mit dem inneren Erlöschen dieser Kultur hat sich die Ge-
schichte des Altertums als einer auf sich ruhenden Periode
der Menschheitsgeschichte vollendet.
Nun wird allerdings heutzutage der Klassizismus,,
wenigstens in seiner ursprünglichen Form, auch in der
Altertumswissenschaft kaum mehr aufrechterhalten. Aber
er wirkt noch fort in der Ansicht von der Abgeschlossenheit
der antiken Entwicklung, die gerade in der neueren For-
schung mit der größten Entschiedenheit vertreten wird.
Diese Ansicht wird zum Teil auch noch durch Anschauungen,,
die auf dem Boden einer anderen allgemeinen Auffassung,
erwachsen sind, gestärkt. Es ist deshalb unsere Aufgabe,,
sie einer genaueren Prüfung zu unterziehen.
Mit der Annahme einer völligen Abgeschlos-
senheit des Altertums steht in enger Verbindung die
Meinung, daß zwischen der antiken und christlich-mo-
dernen Geschichte ein P a r a 1 1 e 1 i s m u s obwalte. Das
Altertum bedeutet danach nicht, wie es in der herkömm-
lichen Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit
vorausgesetzt wird, einen Teil oder eine Stufe einer allge-
mein-geschichtlichen Entwicklung, sondern ein gewisser-
maßen für sich bestehendes Ganzes neben oder gegen-
über der Geschichte der christlich-modernen Menschheit.
Es ist notwendig, die einander entgegengesetzten An-
schauungen in ihrer vollen Tragweite zu erfassen. Für das
universalgeschichtliche Denken Rankes ist der Gesichts-
punkt einer Kontinuität des geschichtlichen Lebens
von entscheidender Bedeutung. i) Der Idee der Kontinuität
historischer Entwicklung steht der Gedanke der völligen
Abgeschlossenheit der Geschichte des Altertums, die ihren
Kreislauf in sich selbst vollendet hat, gegenüber. In charak-
teristischen Äußerungen moderner Forscher tritt uns dieser
Gedanke in seiner vollen Schärfe entgegen. Die Entwick-
lung der Mittelmeervölker ist danach „bisher in zwei paral-
lelen Perioden verlaufen." Im Altertum sehen wir ,,in andert-
1)' In diesem Sinne spricht Ranke (Weltgesch. IX, 2, S. XIII)
von der bewunderungswürdigen Stetigl<eit des allgemeinen Zusammen-
hanges.
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 255
halb Jahrtausenden eine Kultur den ganzen Kreislauf
ihrer Entwicklung durchmachen". .,Mit dem Untergang
des Altertums hebt die Entwicklung von neuem an; sie
kehrt wieder zurück zu primitiven Zuständen, die sie ein-
mal schon längst überwunden hatte. "^) In sehr scharf zu-
gespitzter Formulierung hat man hervorgehoben, daß die
Geschichte der christlichen Welt nicht ein zweiter und dritter
Akt der Weltgeschichte sei, sondern „die Wiederholung des
gleichen großen Dramas vom Menschen". 2)
Es läßt sich kaum ein größerer Gegensatz denken, als
zwischen der soeben skizzierten Anschauung und den Ge-
danken, wie sie Ranke, z. B. in der tiefsinnigen Einleitung
zur Geschichte der Päpste, über das Verhältnis des Alter-
tums zur folgenden Entwicklung ausgesprochen hat. 3)
Aus der Annahme einer im Kreislaufe erfolgten abgeschlos-
senen Entwicklung des Altertums ergeben sich weitere
Folgerungen von allgemeiner Tragweite. Der Auffassung
von einem wesentlich einmaligen großen Prozesse
geschichtlicher Entwicklung, einem inneren Zusammenhang
des historischen Gesamtlebens wird an einem entscheidenden
Punkte der Boden entzogen. Es liegt dann der Schluß
nahe, daß die geschichtliche Entwicklung überhaupt in
einer Reihe von solchen parallelen Kreisen verläuft.
*) Ich fasse hier die Ausführungen von E. Meyer (vor allem
in seinen Vorträgen über die wirtschaftliche Entwicklung des Alter-
tums und über die Sklaverei im Altertum = „Kleine Schriften" 1910,
S. 79 ff. u. S. 171 ff.; vgl. z. B. S. 89. 159 f. 175. 188. 212) und von
Wilamowitz (vornehmlich in seiner Rede über Weltperioden = Reden
und Vorträge S. 120 ff.) zusammen. Die Darlegungen von E. Bethe
(in der Zeitschrift „Der Lotse" I, 1901) bewegen sich im wesentlichen
in den Bahnen der Auffassung von Wilamowitz und E. Meyer. Der
Gesichtspunkt des Parallelismus der antiken und mittelalterlich-neu-
zeitlichen Entwicklung wird besonders stark von E. Meyer betont.
Allerdings sind ihm auch die Differenzen zwischen beiden Entwick-
lungen nicht verborgen geblieben (vgl. z. B: Kleine Schriften S. 34, 1 ;
89, 1). Aber sie kommen doch gegenüber jenem beherrschenden Ge-
sichtspunkte des parallelen Verlaufes weniger zur Geltung.
2) E. Bethe a. a. O.
3) V. Wilamowitz hat auch selbst den Gegensatz seiner Auffas-
sung zu derjenigen Rankes deutlich hervorgehoben (vgl. a. a. O. S. 131 f.
mit S. 126).
17*
256 J. Kaerst,
An die Stelle der Idee eines fortschreitenden geschichtlichen
Lebens tritt die eines allgemeinen Kreislaufs.^)
Es ist einleuchtend, daß für eine solche Auffassung
die unter bestimmten Voraussetzungen in verschiedenen
Zeitaltern wiederkehrenden analogen Vorgänge und Er-
scheinungen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, gei-
stigen Lebens eine besondere Bedeutung gewinnen. Die
typischen Momente geschichtlicher Entwicklung bilden
vor allem den Nährboden für diese Anschauung. 2) Von dem
Gesichtspunkte des Typischen aus hat man auch die Ein-
teilung der Geschichte im Altertum, Mittelalter und Neuzeit
umgedeutet und verwandt, um gewisse Gruppen analoger
geschichtlicher Phänomene unter gemeinsamen Begriffen zu-
sammenzufassen. Das Mittelalterliche bezeichnet dann be-
stimmte Formen sozialer, wirtschaftlicher und seelischer Gebun-
denheit, die in verschiedenen Zeitaltern uns entgegentreten.^)
1) Diese Ansicht wird ja auch in ihrer prinzipiellen Bedeutung
sowohl von Wilamowitz (in der angeführten Rede über Weltperioden)
wie von E. Meyer (vgl. z. B. Gesch. d. Altertums I, 1^, S. 82, aller-
dings mit gewissen, der Eigenart und Singularität der geschichtlichen
Faktoren Rechnung tragenden Einschränkungen) ausgesprochen. Die von
Wilamowitz vertretene Auffassung von einem Kreislauf des geschicht-
lichen Lebens hat anscheinend eine ihrer tiefsten Wurzeln in den
Vorstellungen des Altertums selbst. Eben Wilamowitz weist ja auch
ausdrücklich auf Platens geschichtsphilosophische Gedanken hin (a. a.
O. S. 133) und hebt besonders hervor, daß , .eigentlich die Rückkehr
zum Ausgangspunkt mit bezeichnet wird, wenn wir den Hellenen das
Wort Periode nachbraüchen" (a. a. O. S. 132).
2) Die systematische, prinzipielle Ausbildung der auf das Typische
gerichteten Anschauung ist in späterem Zusammenhange noch zu wür-
digen. Hier soll nur ihre innere Verbindung mit der Theorie paral-
leler, im Kreislaufe erfolgender Entwicklungen angedeutet werden.
Diese Theorie wird zum Teil auch wieder, wie z. B. bei E. Meyer,
durch ein sicheres Augenmaß für den individuellen Verlauf histori-
schen Geschehens in ihren Konsequenzen abgeschwächt. Die klassizi-
stische Anschauung — in ihrer ursprünglichen Form — steht natür-
lich auch zu dieser Theorie insofern in einem gewissen Gegensatze,
als die innere Kraft des Klassizismus in der Betrachtung der abge-
schlossenen Entwicklung des Altertums als einmaliger besonderer
Ausprägung allgemein menschlichen Wesens liegt.
') Die Auffassung, daß die Entwicklung des Altertums sich in
bestimmten Stufen, die einen gewissen Parallelismus zu denen der
mittelalterlich-modernen Welt darstellten, vollzogen habe, ist an sich
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 257
Der Begriff des Neuzeitlichen nähert sich im allgemeinen
dem Begriff der Vollkultur.i)
Wir sehen hier davon ab, daß die Bestimmung und
Begrenzung dieser allgemeinen geschichtlichen Entwick-
lungsperioden eine schwankende ist. 2) Das darf jedenfalls
ohne weiteres zugegeben werden, daß die Zusammenfassung
verwandter Erscheinungen unter einheitlrchen Gesichts-
punkten sich vielfach als fruchtbar erwiesen und dazu bei-
getragen hat, den Blick für das Charakteristische einzelner
geschichtlicher Entwicklungen zu schärfen. Indessen, es
erhebt sich jetzt die wichtige, allgemeine Frage: Knüpft
sich unser universalhistorisches Interesse vor allem an solche
parallele, vielleicht typisch wiederkehrende Entwicklungs-
reihen? Es ist ein zentrales Problem historischer Auffassung,
vor das wir uns hiermit gestellt finden. Bedeutet das Uni-
versalhistorische den Inhalt oder die Form geschicht-
lichen Lebens? Mit anderen Worten: Sind die großen Perio-
den weltgeschichtlicher Entwicklung durch einen gemein-
samen Inhalt untereinander verbunden oder liegt das Ge-
meinsame nur in den wesentlich gleichartigen Formen
universalgeschichtlichen Verlaufes? Diese Frage ist eine
rein historische und läßt sich nur aus der Geschichte selbst
beantworten. Wir fassen demgemäß das Problem des Ver-
hältnisses, in dem die Geschichte des Altertums zu unserer
nicht neu. So hat H. Leo, worauf vornehmlich v. Below hinge-
wiesen hat, in seinem Lehrbuch der Universalgeschichte die Bezeich-
nung: ,, Altertum" und , .Mittelalter" schon auf die Geschichte Grie-
chenlands angewandt, und auch F. G. Welcker spricht, wie v. Wila-
mowitz, Staat und Gesellsch. d. Griechen S. 29 in Erinnerung ge-
bracht hat, in der Einleitung zum 2. Bande der griech. Götterlehre
(S. 5 f.) von einem griechischen Mittelalter. Für die moderne For-
schung ist es aber charakteristisch, daß dieser Parallelismus in weiterem
Umfange durchgeführt und zur Grundlage einer umfassenden histori-
schen Gesamtanschauung gemacht wird.
^) So wie diesen vor allem Vierkandt in seinem Buche über Natur-
völker und Kulturvölker zu bestimmen versucht hat. Vgl. auch Bil-
leter, Die Anschauungen vom Wesen des Griechentums S. 343 f.
*) So stimmen z. B. in der Begrenzung der mittelalterlichen
Periode E. Meyer (vgl. namentlich Kl. Sehr. S. 99) und Poehlmann,
Aus Altertum und Gegenwart '^ S. 108, 1 (vgl. auch Lamprecht, D.
Gesch. III, S. 4 f.) nicht ganz überein.
258 J. Kaerst, .
mittelalterlich-modernen Entwicklung steht, genauer ins
Auge. Es handelt sich ja hier unzweifelhaft um ein universal-
geschichtliches Verhältnis von entscheidender Bedeutung,
aus dem. sich uns zugleich auch weitere Folgerungen für das
Wesen des Universalhistorischen ergeben werden.
Für diese Erörterungen kommen hauptsächlich zwei
einander wesentlich entgegengesetzte Gesichtspunkte in
Betracht. Wir haben zunächst zu fragen, ob sich eine Kon-
tinuität der Entwicklung von der antiken zur mittelalterlich-
modernen Welt erkennen läßt, und dann weiter, ob und in-
wieweit wir von einem Parallelismus der beiden großen
geschichtlichen Entwicklungen reden dürfen. Von diesen
beiden entgegengesetzten Seiten aus versuchen wir den
Gegenstand unserer Untersuchung in hellere Beleuchtung
zu bringen.
Wir sind, wenn wir die geschichtliche Bedeutung des
Altertums uns vor Augen stellen, leicht geneigt, uns vor
allem, vielleicht zu ausschließlich an die das eigene Denken
befreiende Macht des griechischen Geistes zu erinnern, an
jene Seite griechischer Kultur, die namentlich in den großen
Renaissancebewegungen zu befruchtender Wirkung gelangt
ist. Daneben steht aber noch eine andere Seite, die für die
historische Betrachtung nicht weniger wichtig ist. Es ist
eine gewaltige, tief nachwirkende geistige Herrschaft,
die das Altertum in der Form einer in sich geschlossenen
Welt ausgeübt hat. Die griechische Kultur hat einen großen,
inneren Weltzusammenhang ausgebildet, der mit dem durch
das römische Weltreich geschaffenen äußer'eh Weltzusammen-
hang eine solidarische Verbindung eingegangen ist und in
dieser Verbindung das geistige Leben der folgenden Jahr-
hunderte beherrscht und in bestimmten Bahnen festgehal-
ten hat.
Es ist bekannt, welch ungeheuren Einfluß die Idee
des römischen Weltreiches in der christlichen Welt aus-
geübt hat. Die christliche Welt, soweit sie dem irdischen
Leben angehört, ist für die mittelalterliche Anschauung
mit der Idee und dem Bestände des römischen Reiches ver-
wachsen. Die mittelalterliche Kulturmenschheit gehört
einer umfassenden, einheitlichen Organisation an, die noch
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 259
immer in Rom ihren Mittelpunkt hat. Das römische Kaiser-
tum, das sich jetzt mit der deutschen Nation verbunden hat,
•und das römische Priestertum bezeichnen nur zwei ver-
schiedene Seiten des nämUchen organisatorischen Zusammen-
hanges, die weltUche und die geistUche, zwei verschiedene
Aufgaben und Ämter (die beiden Schwerter) der gleichen,
•einheitUch organisierten Menschheit. In diesen Zusammen-
hang sind die einzelnen Menschen unverbrüchlich eingefügt,
seinen verpflichtenden Ordnungen unterworfen. Schon am
Ende des Altertums finden wir von christlichen Kirchen-
Schriftstellern die Auffassung ausgesprochen, daß der Be-
stand der gegenwärtigen irdischen Lebensordnung an den
des römischen Reiches geknüpft, daß mit dem Urtt-ergang
•dieses Reiches zugleich die Katastrophe der irdischen Welt
zu erwarten sei.^) Diese Vorstellung wird durch die Deutung
biblischer Verkündungen begründet. Es ist kaum nötig,
'darauf hinzuweisen, wie insbesondere die Deutung des vierten
■danielischen Weltreiches auf das römische Reich als die
letzte der großen Weltmonarchien Jahrhunderte lang Phan-
tasie und Gemüt der Christenheit beherrscht hat. Indessen
■würde diese Auslegung kaum einen so nachhaltigen Ein-
fluß auf die allgemeine Anschauung haben behaupten können,
wenn nicht die Idee des römischen Weltreiches als ein un-
zerstörbares Erbe des Altertums durch die Wirren und
1) Tertull. apolog. 32. Lact. inst. div. VII 25. Vgl. Doellinger,
Akad. Vortr. III, S. 106. Bryce, Das heilige römische Reich S. 16.
350 Anm. 12. Sehr charakteristisch ist auch die Ausführung eines
Schriftstellers des 13. Jahrhunderts, des Jordanus von Osnabrück
"(Ausg. V. G. Waitz, Abh. d. Götting. Gesellsch. d. Wissensch. Bd. 14,
1868,69) S. 47: „Item Dominus non solum honoravit sed honorat Ro-
jnanum Imperium in hoc, quod Romano imperio stante et durante non
veniet homo peccati, filius proditionis, Antichristus, ut legitur 2 ad Tfies-
salonic. capitulo 2." Ähnlich Aeneas Sylvius Piccol. de ortu et autho-
ritate imperii c. 8 (Schard , de jurisdidione imperii etc. p. 314 ff.).
Bezeichnend tritt der Gedanke, daß die Organisation der Welt im
wesertflichen identisch ist mit dem römischen Reiche, an einer von
Troeltsch, Soziallehren d. Christi. Kirchen S. 154, 72 angeführten
Stelle Augustins, de civ. dei XVIII, 2 zutage. — Über die mittel-
alterliche Idee des einheitlichen staatlichen und kirchlichen Organismus
im allgemeinen ist vor allem die grundlegende Darstellung von Gierke
2u vergleichen, Deutsches Genossenschaftsrecht III, S. 514 ff.
260 J. Kaerst,
Stürme der Völkerwanderung hindurch gerettet worden^
wenn nicht dieses Weltreich als eine allem menschlichen
Zutun und aller menschlichen Willkür entrückte entschei-
dende und letzte Instanz irdischer Weltgestaltung und Welt-
ordnung erschienen wäre. Wenn irgendwo die Kontinuität
geschichtlicher Entwicklung erkennbar ist, so ist sie es hier.
Es sind antike Anschauungen, antike Organisationsformen,
antike Denk- und Weltzusammenhänge, die ein christliches
Gewand angelegt haben, die in der christlichen Anschauung
eigentümlich ausgeprägt und fortgebildet werden. Der
Gedanke einer einheitlichen, in sich geschlossenen, die ge-
samte Kulturmenschheit umfassenden und sie durch all-
gemeingültige Ordnung verpflichtenden Organisation geht
in seinen Grundelementen auf das Altertum zurück. i) Hier
hat zugleich jener Gedanke in dem römischen Weltkultur-
reich schon eine gewisse tatsächliche Verwirklichung ge-
funden. Die geistige Kraft des Griechentums hat sich mit
der politischen Kraft Roms vereinigt, den Bereich römischer
Weltherrschaft zugleich als die zusammenfassende und ab-
schließende Organisation der gesamten Kulturwelt, der
Ökumene, zur Darstellung zu bringen. Denn darüber kann
doch kein Zweifel sein: So gewiß der Glaube an das „ewige
Rom" aus den politischen Erfolgen des römischen Volkes,,
dem Stolz auf den römischen Namen, auf die Herrlichkeit
und Majestät des römischen Staates als der Verkörperung
höchster Herrschermacht hervorgewachsen ist, 2) so stammt
doch die Idee einer dieses Reich innerlich zusammenschlie-
ßenden und zusammenhaltenden Kultur als einer allge-
meinen Menschheitskultur aus dem griechischen Denken. 3)
^) Ich habe die Grundzüge dieser Anschauung und zugleich die
wesentlichen Momente der Entwicklung, in der diese Idee sich verwirk-
licht, schon in meiner Schrift ,,Die antike Idee der Ökumene in ihrer
politischen und kulturellen Bedeutung", Leipzig 1903, dargelegt.
^) Verg. Aen. 1,278 f.: „His ego nee metas reriim nee tempora
pono ; Imperium sine fine dedi." Bryce a. a. O. S. 15 f.
^) Es ist wohl nicht überflüssig, zu bemerken, daß diese Idee
dem alten Orient noch durchaus fremd ist. Auch in der am meisten^
fortgeschrittenen unter den altorientalischen Reichsbildungen, dem
Achämenidenreiche, kann von einer innerlichen Verbindung der Reichs-
bewohner als solcher durch eine universale, allgemein menschliche
Studien z. Entwickig. u. Bedeutg.d. universalgesch. Anschauung. 261
Der Körper des Reiches ist römisch, aber seine Seele ist im
tiefsten Grunde griechisch. Es ist ebenso das äußere Ziel,
dem die antike Entwicklung zustrebt, wie die innere Kraft
der weltaufbauenden Gedanken des Altertums, daß eine
einheitliche Welt entsteht, zusammengehalten durch ein um-
fassendes, weltbeherrschendes Gesetz.
Die Idee einer höchsten Zusammenfassung menschlichen
Gemeinschaftslebens in einem universalen Reichsorganismus^)
ist in einer charakteristischen Richtung griechischen Denkens
tief begründet. Zwei Momente der Anschauung sind hierfür
gleich bezeichnend. Auf der einen Seite finden wir die Be-
gründung der irdischen Gemeinschaftsordnungen durch die
Ordnungen der allgemeinen Welt, die Anlehnung mensch-
licher Gemeinschaft an das Leben des großen kosmischen
Ganzen. ,,Alle menschlichen Gesetze nähren sich aus dem
einen, göttlichen", hatte schon Heraklit in einem tiefen
Worte ausgesprochen. 2) Ebenso deutlich tritt anderseits
das Bestreben hervor, das Gemeinschaftsleben auf eine un-
bedingt verpflichtende gesetzliche Ordnung aufzubauen.
Der Nomos waltet als Herrscher in der Polis wie in der all-
gemeinen Welt.=*) Es war für das griechische Denken ein
Ideal menschlicher Gemeinschaft, an dem man die tatsäch-
lichen universalen Reichsbildungen in ihrem Werte maß,
daß die zivilisatorische Einheit des Menschengeschlechtes
in einer einheitlichen Organisation unter der Herrschaft
eines gemeinsamen Gesetzes ihren Ausdruck finde, daß alle
Kultur nicht die Rede sein. Nur die Tradition umfassender Herrschafts-
bildungen an sich und die in diesen tatsächlich erfolgte Ver-
mischung verschiedener Bevölkerungs- und Kulturelemente sind hier
von Bedeutung gewesen. Der Einfluß, den später der Orient auf die
innere Ausgestaltung der Kultur des römischen Weltreiches ausgeübt
hat, kann für den Zusammenhang unserer Erörterung außer Betracht
bleiben.
^) „7o Ttjg xoiv^s oixorittvr,i atofia .... avfafftöant'^ spricht Con-
stantin d. Gr. bei Eusebius v. Const. II, 65, 1 in bezeichnenden
Worten als seine Absicht aus.
2) Frg. IHDiels.
3) Daß der die allgemeine Welt durchwaltende Nomos wieder
in wesentlichen Beziehungen eine Wiederspiegelung der in der Polis
herrschenden gesetzlichen Ordnung darstellt, darauf braucht hier
nicht eingegangen zu werden.
262 J. Kaerst,
Menschen „zu einem Demos vereinigt würden", einer ein-
heitlichen Führung Untertan und zu einem einheitUchen
Leben verbunden. i) Durch die Anknüpfung an das allwal-
tende Weltgesetz wird der Nomos in seiner Stellung als
höchste Norm der menschlichen Gemeinschaft gestärkt und
gesteigert. Alle irdische Gemeinschaft erfüllt um so mehr
die Zwecke wahrhaften Gemeinschaftslebens, je universaler
sie ist, je mehr sie ein Abbild der vernünftigen, Götter und
Menschen umfassenden Gemeinschaft darstellt. 2) Das Recht,
das Grundlage und Norm dieses höchsten menschlichen
Gemeinschaftslebens bildet, gründet sich auf das in dem
Weltganzen wirksame, gemeinsame Gesetz, unabhängig von
aller Setzung durch die Menschen, in seinem Wesen unverän-
derlich und zu allen Zeiten gleichmäßig verpflichtend. Es
ist nicht so sehr ein Ausdruck der spezifischen Lebenszwecke
menschlicher Gemeinschaft, als ein Ausfluß der allgemeinen
Weltordnung, der auch die menschliche Gemeinschafts-
ordnung als ein fester und notwendiger Bestandteil eingefügt
ist. So werden die höchsten Normen des Rechts als Na-
turrecht begründet, nicht als ein Erzeugnis des ge-
schichtlichen Lebens der Menschheit, sondern in ihrer un-
wandelbaren Wahrheit allem geschichtlichen Leben voraus-
liegend — die ganze Lehre eine der wirksamsten und folgen-
reichsten Schöpfungen griechischen Geistes.^)
In dem römischen Weltreich hat die Einheit der Welt,
die in der Entwicklung des griechischen Denkens eine so
große Gewalt über das menschliche Geistesleben gewonnen
hatte, gewissermaßen ihren abschließenden irdisch-staat-
lichen Ausdruck erhalten. Der Weltstaat der Kaiserzeit
erscheint als die vollkommenste Verkörperung der einheit-
lichen Organisation menschlicher Kultur.*) Gerade in der
1) Vgl. vor allem Plut. de Alex. M. fort. 1,6.8; II, 11.
2) Vgl. hierzu die in meiner Gesch. d. hellenist. Zeitalters II, I,
S. 131,3 angeführten Belege.
3) Vgl. hierzu meine Ausführungen in meiner Gesch. d. hellenist.
Zeitalters II, 1, S. 142 ff. Hier sind auch die wichtigsten Belege für
diese Lehre angeführt.
*) Vgl. hierzu die ausführlichere Darlegung in meinen ,, Studien
z. Entwicklung u. Begründung d. Monarchie im Altertum" (Histor.
Bibl. VI) S. 91ff.; namentlich S. 97.
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 263
Zeit, in der sich das römische Reich am bewußtesten mit den
griechischen Kuiturgedanken durchdrungen hat, das grie-
chische Kulturelement als Repräsentant allgemein-mensch-
lichen vernünftigen Wesens die Seele dieses Herrschafts-
organismus bildet, in der Hadrianisch-Antoninischen Epoche,
zeigt sich dieser Charakter des römischen Reiches als einer
auf sich selbst ruhenden, gegen alles barbarische Wesen ab-
geschlossenen universal-menschlichen Staats- und Kultur-
bildung besonders deutlich. Zum griechischen Kulturgedanken
kommt allerdings noch ein wesentliches Moment, das wir
bereits vorher angedeutet haben, hinzu. Es ist die ungeheuere
Gewalt römischer Herrschaftsmacht, die den römischen
Staat zum wirksamsten und eindrucksvollsten Vertreter
einer die kultivierte Menschheit als solche zusammenfas-
senden staatlichen Organisation macht.
Mit der Idee eines einheitlichen Reiches ist die einer
obersten Gewalt auf das engste verbunden. i) Diese
oberste Gewalt erscheint als eine letzte Instanz der mensch-
lichen Angelegenheiten, in ihrer unbedingt verpflichtenden
Kraft der bündigste Ausdruck der Einheit jener univer-
salen Staats- und Kulturwelt.
Die Einheit des Reiches gewann im Zeitalter Kon-
stantins des Großen eine neue Begründung durch die Einheit
der Religion. In genialer Erkenntnis der in der christ-
lichen Kirche lebendigen Kräfte benutzte Konstantin die
Organisation dieser Kirche, um die Einheit des Reiches zu
stärken. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, daß Kon-
stantins Bestrebungen sich ursprünglich anlehnten an die
synkretistische Idee einer einheitlichen obersten Gottheit,
— eine Idee, die namentlich seit der Severischen Epoche
in mannigfachen Ausprägungen im römischen Reiche lebendig
geworden war. Vor allem hatte bereits Aurelian einen sehr
bemerkenswerten Versuch gemacht, in dem Kulte des Söl
invictus dem Reiche eine mit der Person des Kaisers in
••engstem Zusammenhange stehende religiöse Einheit zu
geben. Und vorher schon zeigt der Kult des Kaisers als
^) Dieser Zusammenhang gelangt in den Ausführungen von
E. Stengel, „Den Kaiser macht das Heer", Weimar 1910, nicht ge-
nügend zur Geltung.
264 J. Kaerst,
der Verkörperung der im römischen Weltreiche zusammen-
gefaßten politischen und kulturellen Einheit des Menschen-
geschlechtes die universale Tendenz, die gerade auch der
religiösen Ausprägung der Reichseinheit innewohnte.
Die christliche Kirche hat allerdings aus ihrem eigenen
Wesen eine bedeutsame Verstärkung der Einheit hinzu-
gebracht. In dem paulinischen Vergleiche des Organismus
der Christenheit mit dem Leibe Christi hat gerade in bezug
auf die christliche Menschheit die Idee der Einheit eine
charakteristische Vertiefung und Verinnerlichung gewonnen.
Es Jst eine Anschauung, in der zugleich der eigentümliche
Wert, der den einzelnen Christen als Gliedern des Ganzen
zukommt, zu lebendigem Ausdruck gelangt.^) In der wei-
teren Entwicklung tritt die Einheit in ihrer Begründung auf
den sakramentalen Charakter der kirchlichen Heilsgemein-^
Schaft und die ausschließliche Wahrheit der kirchlichen
Lehre immer beherrschender hervor.
Aber, so hoch wir auch die in der Kirche selbst liegende
Tendenz auf einheitliche Gestaltung der ihrem Einflüsse
unterstellten Welt einschätzen^), so dürfen wir doch nicht
1) Sehr treffend ist der bedeutsame Charakter dieser Anschauung
von Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht 111, S. 108 ff. gewür-
digt worden.
2) Troeltsch, Soziailehren der christlichen Kirchen S. 88 Anm. 40
hat wohl im allgemeinen darin recht, daß er das Zentralisationsbedürfnis
und die Ausschließiichkeit des Katholizismus in erster Linie aus dem
Wahrheits- und Sakramentsbegriff ableitet. Aber wenn er dann selbst
betont, daß dieses Zentralisationsbedürfnis mit dem Kaiserreich nur
dadurch zusammenhänge, ,,daß eben das Kaiserreich eine Einheits-
religion als sein Korrelat forderte", so liegt darin das Zugeständnis,,
daß die geschlossene, einheitliche Organisation des Kaiserreichs auch
für die katholische Kirche ungemein viel bedeutete. Die Kirche fand
eben in jener Einheit des Reiches eine außerordentlich wichtige Vor-
bedingung für die Verwirklichung ihrer Einheitstendenzen, ja viel-
leicht sogar eine Voraussetzung für die einseitige Gestaltung und kon-
sequente Ausprägung dieses Einheitsbedürfnisses selbst. Die Idee einer
in sich abgeschlossenen Welt, in deren allgemeiner Ordnung jeder ein-
zelne die von vornherein gegebene Grundlage seiner eigenen Lebens-
bestimmung hat, fanden wir als charakteristischen Grundzug der uni-
versellen geistigen Tendenzen und politisch-kulturellen Bildungen des
ausgehenden Altertums. Es ist ein Zug, der dem organisatorischen
Zusammenhang und der zwangsmäßigen Einheit der katholischen
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 265
verkennen, daß die Organisation der einheitlichen Kirche
erst durch den Anschluß an das römische Reich zur Vol-
lendung gelangt ist.^) Erst als religiöse Organisation der
im Altertum ausgebildeten, im römischen Weltreiche ver-
körperten Oekumene hat die Kirche ihren ökumenischen,
für die gesamte Kulturmenschheit als solche verpflichtenden
Charakter erhalten. Die enge Verbindung, in die Staat und
Kirche traten, erreichte ihren Gipfel unter Gratian und
Theodosius dem Großen, indem jetzt das orthodoxe katho-
lische Bekenntnis gewissermaßen auch zum Grundgesetz
des römischen Reiches erklärt wurde. 2) Das römische Reich
wurde zur weltlichen Organisation der christlichen Ökumene.
So wurde im wesentlichen schon die organisatorische Einheit
staatlichen und kirchlichen Lebens, unter deren Herrschaft
die mittelalterliche Entwicklung steht, begründet.
In diese Idee einer einheitlichen höchsten Organisation
der Kulturmenschheit sind nun die barbarischen Stämme
der Germanen hineingewachsen. Es war ein ohne ihr Zutun
ausgebildeter umfassender Organismus,! von dem sie, als
sie sich selbst zu Herren eines Teils des römischen Reiches
machten, umfangen wurden. Die Kultur, in die sie eintraten,
war mit dieser Organisation verwachsen. Insbesondere ge-
wann auch das Christentum für sie in der weiteren Entwick-
lung immer mehr Beziehung zur Idee des römischen Reiches.
Die Verbindung, die sie mit der katholischen, durch das
Kirche verwandt ist. Dieses Erbe des Altertums hat der Kirche die
Ausbildung ihres einheitlichen Herrschaftssystems jedenfalls wesent-
lich erleichtert. Auch in spezifisch religiöser Beziehung hat sich ja
die Kirche an die besonderen geistigen Tendenzen des späteren Alter-
tums angelehnt. Die Verdinglichung der Religion, die in dem sakra-
mentalen Charakter der Kirche ihren charakteristischen Ausdruck
findet, hat ihr Vorbild in dem magisch-sakramentalen Wesen, das
der Religion des ausgehenden Altertums, namentlich der synkretisti-
schen Mysterienreligion, ihr bezeichnendes Gepräge verleiht.
^) Sehr entschieden hat die Abhängigkeit der einheitlichen Ge-
staltung der Kirche von der ,, Vereinbarung mit dem Kaisertum"
Ranke ausgesprochen, Weltgesch. 111,1, S. 547. Über den Einfluß
der Reichsverfassung auf die Organisation der Kirche vgl. z. B. die
Ausführungen von Sohm, Kirchenrecht I, S. 372 ff. Harnack, Texte
und Untersuchungen XIII, 4, S. 62.
2) Cod. Theod. XVI, 1.2.
266 J. Kaerst,
römische Bistum vertretenen Form des Christentums ein-
gingen, bildete hierfür eine wichtige Voraussetzung. i)
So lebt die aus dem Altertum überkommene einheitliche
Organisation der Menschheit im Mittelalter fort, nur eben in
den Formen der christlichen Weltkultur, die an die Stelle
der antiken Kultur getret-en ist. Wohl ist es, etwa vom
6. bis zum 8. Jahrhundert, eine schmale Brücke, wodurch die
Kontinuität der folgenden Entwicklung mit dem Altertum
aufrechterhalten wird. 2) Wohl scheint es eine Zeitlang, als
würde die Kulturtradition des Altertums völlig durch die
barbarische Flut hinweggeschwemmt werden. Aber die
Verbindung bleibt doch bestehen, vor allem durch die rö-
mische Kirche selbst bedingt und repräsentiert. Und die
Schriften einzelner kirchlicher Lehrer, wie des Isidorus von
Sevilla, überliefern der Folgezeit einen enzyklopädischen
Gesamtauszug aus dem Wissen und den Anschauungen
des Altertums und legen so den Grund, auf dem sich dann
weiter der vollere Zusammenhang mit dem Altertum, ver-
stärkt durch Renaissancebewegungen, ausgestaltet.
Der antike Einfluß zeigt sich vor allem auch in der
ganzen Richtung der geistigen Auffassung des Mittelalters.
Das griechische Denken hatte dazu geführt, ein einheitliches,
zusammenhaltendes Lebensgesetz der Welt aufzustellen,
und alle praktische Lebensgestaltung urrd Lebensentfaltung
des späteren Altertums war einer umfassenden Einheit
dienstbar geworden. Die gleiche Herrschaft über die An-
schauung übt auch im Mittelalter das Prinzip der Einheit aus.
Die stoische Philosophie hatte gelehrt, daß die monar-
chische Ordnung der irdischen Welt das Abbild der monar-
chischen Ordnung im Weltall sei. Ebenso betont Thomas
von Aquino, daß der Herrscher in seinem Reiche sein solle.
^) Allerdings ist das germanische Element in dem römischen
Kirchentum nicht aufgegangen, sondern hat auch sein eigenes Wesen
der kirchlichen Entwicklung aufgeprägt. Vgl. neuerdings v. Schubert,
Histor. Bibl. Bd. 26.
2) Ein Eingehen auf die besonderen Zusammenhänge, in denen
die Verhältnisse der auf dem Boden des römischen Reiches sich bilden-
den germanischen Staaten mit römischen Institutionen stehen, würde
über den Rahmen dieser Erörterungen und auch über meine Kompetenz
hinausgehen.
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch.Anschauung. 267
was die Seele im Leib, was Gott in der Welt sei. Die Re-
gierung des Staates hat ihr Vorbild in der göttlichen Re-
gierung der Welt.') Besonders ausführlich legt Dante in
der Schrift de monarchia die Bedeutung der kosmischen
Einheit für das staatliche Leben dar.^) Die Einheit der
Lebensgestaltung ist für diese Anschauung mit der inneren
Seinsnotwendigkeit der allgemeinen Welt auf das engste
verbunden. Nur eine einheitliche Welt kann die höchsten
Aufgaben irdisch-menschlichen Zusammenlebens, die Auf-
rtchterhaltung des Friedens und eines geordneten Rechts-
zustandes, gewährleisten.^) Die Theorie des staufischen Welt-
kaisertums begründet die einheitliche Herrschaftsordnung
in der Welt auf die Einheit des göttlichen Weltregiments.
Wie einen Gott, so gibt es nur e i n geistliches und e i n
weltliches Oberhaupt der irdischen Welt.^)
Und ebenso wie die Einheit finden wir das unbedingte
Walten des höchsten Welt gesetzes, das jetzt das Gesetz
des christlichen Gottes und mit seinem Wesen im tiefsten
Grunde identisch ist, betont.^) Das antike Naturrecht ver-
schmilzt mit dem christlichen Gesetze als höchste Norm
und Lebensordnung einer einheitlichen Welt.
Die Identifikation von Naturgesetz und göttlichem
Gesetz war christlicherseits schon früh, in der Zeit der Kir-
') Thom. Aquin. de regim. princ. I, 12. 13 f. Der von Thomas
gebrauchte Vergleich mit den Bienen zeigt auch die literarische Ab-
hängigkeit von stoischer Lehre; vgl. Senec. de dem. 1,19, 2 f.; Dio
Chrys. IV, 63 und meine Gesch. d. hellenist. Zeitalters II, 1, S. 318, 1.
2) Dante de monarchia ed. Witte 1,8 f. Ich habe die Stelle
Hist. Bibl. VI, 66 angeführt.
ä) Dieser Gedanke leuchtet durch die Ausführungen Dantes
a. a, O. hindurch und wird in sehr charakteristischer Weise von Tho-
mas von Aquino de reg. princ. I, 2 ausgesprochen. Besonders be-
zeichnend ist es, wie hier Thomas von Aquino den Nutzen des mon-
archischen Regimentes darauf begründet, daß das, was an sich eins
sei, auch die Einheit besser bewirken könne als die Mehreren.
*) Vgl. den Ausspruch Friedrichs I. (Const. imp. ed. Weiland
J,253): „Cumque unus Deus, unus papa, unus imperator sufficiai."
Andere Belege der staufischen Theorie des Weltkaisertums habe ich
Hist. Bibl. VI, S. 105 angeführt.
^) Vgl. Thom. Aquin. S. theol. 11,1.91.93. 71 art. 6. Gierke,
Deutsches Genossenschaftsrecht III, S. 610 An m. 256.
268 J. Kaerst,
chen Väter, erfolgt. i) Sie bot für die in der Welt sich ein-
richtende, mit deren Ordnungen sich abfindende Kirche
«in wichtiges Mittel, die Kontinuität der christlichen Lebens-
ordnung mit den bisherigen Institutionen, namentlich im
staatlich-gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben, her-
zustellen.2) In der Scholastik kommt die Lehre von Natur-
i) Vgl. Carlyle, Mediaeval political theory I, S. 103 f. Troeltsch,
Soziallehren d. christl. Kirchen S. 159 f. Anm. 73.
2) Sehr energisch und umfassend hat diesen Gesichtspunkt Troeltsch
in seinem imposanten Werke über die Soziallehren der christlichen
Kirchen geltend gemacht. Die große Bedeutung seiner Erörterungen
läßt es aber als notwendig erscheinen, gegen die Darstellung, die er
von den Anschauungen der Stoa, insbesondere über absolutes und
relatives Naturrecht, gibt (vgl. namentlich S. 52 ff. 146 ff.; auch H. Z.
106, S. 247 ff.) entschiedene Bedenken zu erheben, Troeltsch ist hier
wohl von den Ausführungen A. J. Carlyles, Mediaeval political theory I
zu sehr abhängig (vgl. Soziallehren d. christl. Kirchen S. 163,74).
Carlyle hat die antike Anschauung nicht genügend und zum Teil auch
nicht zutreffend charakterisiert, wie er auch von der großen Ent-
wicklung der monarchischen Idee im Altertum so gut wie
nichts gibt. Troeltsch' Erörterung über das durch die Sünde der
Menschen bedingte relative Naturrecht schwebt, soweit
das Altertum hierfür als Grundlage der Anschauung in Betracht
kommt, einigermaßen in der Luft. Die Darstellung A. J. Carlyles
von der Lehre Ciceros und Senecas, auf die sich Troeltsch besonders
stützt, ist zum Teil geradezu unrichtig. Cicero lehrt nichts anderes
als eine allgemeine, in der vernünftigen menschlichen Natur begrün-
dete, wesentlich gleiche Möglichkeit der Teilnahme an der vernünf-
tigen Erkenntnis. Von einer ausgeführten Lehre über eine Gleichheit
des Urstandes kann bei ihm keine Rede sein. Die vornehmlich durch
Panaetios vertretene Anschauung, die der Darlegung Ciceros in den
Büchern de legibus und de republica (vgl. auch die Bücher de officiis)
vor allem zugrunde liegt, daß die staatliche Gemeinschaft aus der
(sozialen) Natur der Menschen folge,, eine Erfüllung des sozialen Triebes
selbst bedeute, verträgt sich schwer mit einer Auffassung, derzufolge
das staatliche Leben eine Folge und zugleich ein remedium der Sünde
sein soll. Die Ausführungen Senecas im 90. Brief geben eine eigen-
artige Ausprägung stoischer Anschauung durch Poseidonios, eine Ver-
bindung der volkstümlichen romantischen Vorstellungen vom goldenen
Zeitalter mit dem Ideal des Weisen wieder (vgl. meine Gesch. d.
heilenist. Zeitalters II, 1, S. 199 f. Hirzel, äyonqioi vöfxos S. 86 ff.,
der mit Recht auch darauf hinweist, daß nach Sext. Empir. IX, 28
nur jüngere Stoiker ihr Ideal in einem goldenen Zeitalter wieder-
gefunden hätten). Seneca läßt ja auch deutlich erkennen, daß nach
«einer Ansicht dieses Leben in der goldenen Urzeit nicht dem Ideale
d
Studien z. Entwickig. u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 269
gesetz und Naturrecht zu jener vollen Ausgestaltung, in der
5ie die katholische Theologie bis zum heutigen Tage be-
eines wahrhaft vernunftgemäßen Lebens entspreche. Das Natur-
recht ist für die Stoa im allgemeinen doch zugleich im vollen Sinne
Vernunftrecht und seine Verwirklichung ist im wesentlichen abhängig
■von der vernünftigen Erkenntnis des Weisen. Ein
durch die Sünde getrübtes relatives Naturrecht ist wenigstens für
den Vernunftrigorismus der älteren Stoa überhaupt kein Naturrecht
4m wahren Sinne des Wortes. Später hat ja gewiß unter dem Ein-
fluß der Erweichung dieses Rigorismus eine größere Akkommodation
an das Bestehende stattgefunden. Die Spannung zwischen dem Ver-
nunftideal und der Welt der Tatsächlichkeit ist gemildert worden.
Aber daß auf stoischer Grundlage nun allgemein ein relatives Natur-
recht als Fundament für die Gestaltung der menschlichen Lebens-
verhältnisse gelehrt worden sei, davon kann keine Rede sein. Auch
die Identifikation des jus gentium der römischen Juristen mit diesem
relativen Naturrecht (Troeltsch a. a. O. S. 161 Anm. 73. 163 Anm. 74)
stößt auf gegründete Bedenken.
Die christliche Lehre von einem durch die Sünde getrübten
Naturrecht hängt mit dem Gegensatze zwischen der irdischen, un-
vollkommenen und sündhaften Welt und der höheren Welt zusammen
— einem Gegensatze, der jedenfalls in dieser Form für die allgemeine
Anschauung der Stoa nicht besteht.
Es wird auch von Carlyle (wie von Troeltsch) nicht genügend
gewürdigt, daß die Anerkennung der (im idealen Sinne vorhandenen)
menschlichen Gleichheit in aller tatsächlichen Ungleichheit bei den
christlichen Schriftstellern wesentlich verstärkt wird durch den Hin-
weis auf die Zukunft des jenseitigen Lebens, in dem die Gleich-
heit vor Gott zur Geltung gelangen wird. — Troeltsch hat in seiner
Betonung des Einflusses des stoischen Naturrechtes auf die Ausgestal-
tung einer christlichen Welt nur die eine Seite des Zusammenhanges,
in dem die folgende Kulturentwicklung mit der des Altertums steht,
stark zur Geltung gebracht. Dagegen den anderen, mit dem ersten
nahe verwandten Faktor der Kontinuität, nämlich die Bedeutung,
die der Idee der Ökumene, der einheitlichen Organisation der Kultur-
menschheit in einem großen Weltkulturreiche, zukommt, hat er nicht
genügend zum Ausdruck gelangen lassen. Nur wenn wir auch diesem
zweiten Momente gebührende Beachtung schenken, vermögen wir
m. E. den bedeutenden und nachhaltigen Einfluß, den die mittelalter-
liche Idee des Corpus Christiamim ausgeübt hat — einen Einfluß,
der aus rein kirchlichen Faktoren, etwa dem kirchlichen Wahrheits-
und Sakramentsbegriff, nicht allein abgeleitet werden kann — in
vollem Maße zu verstehen. Ganz verkannt hat den Zusammenhang
des mittelalterlichen Organismus mit antiken Ideen und Institutionen
V. Eicken, Gesch. u. System d. mittelalterl. Weltanschauung S. 193
<eine Stelle, auf die ich durch Voßler, „Die göttl. Komödie" I, 2, S. 162
Historische Zeitschrift (111. Bd ) 3. Folge 15. Bd. 18
270 J. Kaerst,
herrscht.!) Alle menschlichen Gesetze, so lehrt Thomas
von Aquino, sind nur Ausflüsse des allgemeinen Natur-
gesetzes, das zugleich das ewige Gesetz Gottes ist. Sie be-
deuten nur Anwendungen dieses an sich gleichmäßigen und!
feststehenden Gesetzes auf die besonderen Verhältnisse.
Das ist nichts anderes als die ausgeführte stoische Lehre in
christlichem Gewände. Der große und tiefe Gedanke einer
Verankerung menschlicher Sittlichkeit in einer umfassen-
den allgemeinen Weltordnung empfängt hier ebenso wie in
der Lehre des Altertums das einseitige Gepräge einer dem
vernünftigen Erkennen ein für allemal gegebenen natur-
gesetzlichen oder göttlichen Wahrheit — einer Wahrheit,,
die nicht in der Geschichte erst ihr Wesen entfaltet, sondern
in ihrem an sich gleichbleibenden allgemeinen Charakter
nur den einzelnen, besonderen Verhältnissen anzupassen ist..
So wird unter der Hülle christlicher Gedanken das
geistige Erbe der Antike ungeschwächt festgehalten und zum
Teil weiter gestaltet, wie die äußere Organisation der christ-
lichen Welt die antike Organisation der Ökumene in eigen-
tümlicher Weise fortgebildet hat. Wohl wölbt sich über dem
Reiche der Natur die höhere, christliche Welt der Gnade und
Offenbarung, aber sie erhebt sich durchaus auf dem Unterbau^
dei^ durch die geistige Anschauung des Altertums geschaffen
worden ist.
hingewiesen bin): ,,Nur weil die Bekehrung der ganzen Menschheit
die Aufgabe der Kirche war, besaß das Kaisertum ein göttliches Recht
auf ein die ganze Erde umschließendes Machtgebiet. Die universale
Macht des Kaisertums war auf die universale Sendung der Kirche-
begründet."
1) Vgl. Thom. Aquin. S. theol. II, 1,90 ff. Cathrein, Moral-
philosophie I, 4, S. 332 ff. Cathrein, Recht, Naturrecht und positives
Recht, v. Hertling, Kl. Schriften S. 168 ff. Mausbach, Die kathol.
Moral und ihre Gegner, 1911, S. 125 ff. Natürlich ist durch das Zu-
rückgehen auf die göttliche Offenbarung immerhin für die katholische
Lehre eine nicht unwesentlich andere Begründung gegeben, als sie
für die antike Auffassung bestand. Auch ist hervorzuheben, daß der
Widerstreit zwischen vernünftiger Erkenntnis des ewigen Naturgesetzes
und der heteronomistischen Bindung durch das göttliche Gesetz in
der katholischen Anschauung durchaus nicht ausgeglichen ist. (Vgl.
auch die Bemerkungen v. W. Herrmann, Rom. u. evang. Sittlich-
keit ^ 8.156 ff., die durch Mausbachs Ausführungen nicht wider-
legt sind.)
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 271
Im Gegensatz zu dem in der Antike wurzelnden geistigen
Prinzip kommen dann — vor allem in den Strömungen des
Nominalismus — neue geistige Kräfte und Tendenzen empor,
die gegenüber der Vorherrschaft des Intellektualismus die
Bedeutung des Willens, gegenüber der Herrschaft des All-
gemeinen die innere Kraft des Besonderen zur Geltung
bringen^) und namentlich in der Richtung auf das Irratio-
nelle, Tatsächlich-individuelle schon die reformatorische
Auffassung Luthers vorbereiten.
Damit gelangen wir nun aber schon zum zweiten
Hauptpunkt unserer Erörterung, zur Beantwortung der
Frage, ob die Entwicklung unserer modernen geschichtlichen
Welt sich als eine Parallelentwicklung zu derjenigen des
Altertums verstehen läßt. Es ist die Eigenart des modernen
historischen Lebens gegenüber dem des Altertums, die haupt-
sächlich gegen die Annahme einer Parallelentwicklung
spricht. In zwei großen Gesamterscheinungen der Neuzeit
findet diese Eigenart einen besonders deutlichen Ausdruck.
Wir sehen hier, daß neue Kräfte geschichtlichen Lebens und
neue Ziele geschichtlichen Handelns in den großen Prozeß
der allgemeinen Entwicklung eintreten.
Es ist zunächst ein neues Persönlichkeits-
ideal, das die geistige und sittliche Wesensentfaltung
des modernen Menschen beherrscht und bestimmt. Und
weiter ist es eine neue Ausgestaltung nationalen
Wesens, die der modernen Menschheit im ganzen neue
Bahnen ihres geschichtlichen Lebens gewiesen hat.^)
Das moderne Persönlichkeitsideal läßt sich gewiß nicht
auf einen Generalexponenten bringen, der die verschiedenen
^) Vgl. die lichtvolle Darstellung, die Windelband in seiner Ge-
schichte der Philosophie von diesen Strömungen gibt. Die wesent-
lichen Momente dieser Darstellung werden wohl auch durch die Ein-
schränkungen, die Bäumker, Europäische Philosophie des Mittelalters
(Kultur der Gegenwart 1, 5) gegenüber neueren Auffassungen für
nötig hält, nicht berührt.
'^) Die folgende Darstellung soll natürlich nur einzelne Gesichts-
punkte, die mir wichtig zu sein scheinen, zur Geltung bringen. Eine
breitere und tiefere Kenntnis der neuzeitlichen geschichtlichen Kultur
wird die hier gegebenen Ausführungen gewiß zum Teil ergänzen, zum
Teil berichtigen.
18*
272 J. Kaerst,
Erscheinungen unserer neuzeitlichen Kultur erklären könnte.
Die Richtungen der geistigen Gesamtkultur sind so mannig-
faltig, daß wir sie nicht ohne Vergewaltigung unter die
Herrschaft eines einheitlichen Prinzips zu stellen vermögen.
Aber anderseits sind es doch bestimmte Ideen, die gerade
mit der inneren Bewegung modernen Geistes, mit seinen
eigentümlichsten Kräften auf das innigste verknüpft sind.
Sie treten in einzelnen, schöpferisch gestaltenden, neue Wege
der geistigen Entwicklung bezeichnenden Perioden der Neu-
zeit — ich nenne hier vor allem die Reformation und die
Zeit des deutschen Idealismus — besonders charakteristisch
und bestimmend hervor.
Die antike geistige Kultur — soweit sich in ihr die Eigen-
art des griechischen Genius ausgeprägt hat — zeigt, bei allen
großen Verschiedenheiten in ihren besonderen geistigen
Inhalten, doch einen gewissen einheitlichen Grundzug.
Es ist der Intellektualismus, der die geistige
Anschauung vorwiegend beherrscht, der das sittliche Handeln
als ein vom vernünftigen Erkennen durchaus abhängiges
erscheinen läßt. Das geistige und sittliche Leben des Men-
schen empfängt seinen Inhalt aus einer gegebenen Welt,
die der Mensch durch sein Erkennen sich zu eigen macht. i)
Als das innerste Lebensprinzip dieser Welt, das als solches
zugleich die höchste Norm menschlichen Handelns bildet,
erscheint in einer starken und umfassenden Strömung an-
tiken Geisteslebens das Gesetz, in sich selbst fertig und
inhaltlich abgeschlossen. Dem fertigen und
in sich abgeschlossenen Gesetz entspricht eine im wesent-
lichen fertige Welt. Eine Welt, die nicht erst in ihrer
Entwicklung zur Erschließung neuer Lebenstiefen führt,
sondern in der Hauptsache zur Selbstdarstellung des ein
für allemal gegebenen, in sich selbst gleichen -Gesetzes wird.
^) Sehr gut wird die antike Anschauung von Windelband, Logos
I, S. 194 bezeichnet: „Es war die Grenze des antiken Bewußtseins
gewesen, sich selber immer nur als empfangend, als einen Spiegel
zu wissen, dem der höchste wie geringste Gegenstand, die Idee wie
die Empfindung einmal gegeben werden müsse." Vgl. auch die tref-
fende Charakteristik, die Dilthey, Einl. in d. Geistesw. I, S. 236,
gibt.
Studien z. Entwickig. u. Bedeutg. d. universalgesch. Anschauung. 273
Die Selbstdarstellung des allgemeinen Weltgesetzes tritt
uns dann in der bezeichnendsten Ausprägung dieser ganzen
Anschauung als ein Kreislauf entgegen, der die be-
ständig gleiche Natur der Dinge in unaufhörlicher Wiederkehr
der nämlichen Erscheinungen zum Ausdruck bringt.
In der Erkenntnis des allgemeinen Gesetzes ist nach der
intellektualistischen Richtung des hellenischen Denkens
zugleich seine Befolgung gesetzt. Der in der Erkenntnis
gegebene Lebensinhalt wirkt somit unmittelbar bestimmend
für das menschliche Handeln. Träger des sittlichen Handelns
ist dem entsprechend im wesentlichen der vernünftig
erkennende Teil des Menschen. In der Sokratischen
Begründung des guten Handelns auf die allgemeinen Begriffe
kommt die Einseitigkeit des Intellektualismus am entschie-
densten zur Geltung. Darin, daß das Gute und Gerechte
sich in seinem verpflichtenden Wesen vor dem vernünftigen
Erkennen des Einzelsubjekts ausweisen und rechtfertigen
muß, liegt das Befreiende und Große, das für alle folgende
geistige Entwicklung Grundlegende, in der ausschließlichen
Begründung des ethischen Prinzips auf die Erkenntnis
die Schranke der Sokratischen Dialektik. Allerdings wird
in der weiteren Entwicklung des philosophischen Denkens
der Intellektualismus des Sokrates nicht unwesentlich ein-
geschränkt. Das seelische Leben als Ganzes gelangt in der
platonisch-aristotelischen Philosophie zu stärkerer Geltung,
und insbesondere dürfen wir in der eigentümlichen Tätigkeit
des bei Piaton als zweiter Seelenteil erscheinenden „Mut-
artigen", des d^v/joeiddg, den Ausdruck eines unter dem
Einflüsse des Erkennens stehenden sittlichen Stre-
be n s finden. 1) Weiter wird namentlich von den Kynikern
die grundlegende Bedeutung der sittlichen Anstren-
gung (des novog) für die Tugendausübung betont.*)
Es sind somit hier sehr bemerkenswerte Ansätze zur Über-
windung des einseitigen Intellektualismus erkennbar. Aber
sie ändern doch nichts daran, daß im allgemeinen die Er-
^) Vgl. E. Schwartz, Charakterköpfe aus d. antiken Literatur,
S. 61 f.
2) Vgl. meine Gesch. d. hellenist. Zeitalters 11,1, S. 116 f.
274 J. Kaerst,
Kenntnis als solche die entscheidende Grundlage der grie-
chischen philosophischen Ethik bleibt.^)
Der antike Intellektualismus offenbart sich aber nicht
bloß in der Abhängigkeit von einem vernunftgemäß erkenn-
baren, in seinem Wesen gleichmäßigen Inhalte eines all-
gemeinen Begriffes oder Gesetzes. Ist ein solches Allgemeines
als unbedingt gültige Norm des sittlichen Handelns der
vernünftigen Erkenntnis nicht gegeben, so zeigt der Intellek-
tualismus ein ganz anderes Gesicht. In den sophistisch-
skeptischen Richtungen tritt uns ein völliger Relati-
vismus entgegen; der das ethische Handeln von der
schwankenden Erkenntnis möglichkeit der Welt
seitens der in ihrem besonderen Wesen verschiedenen, in
ihren Dispositionen wechselnden Individuen abhängig macht.
Von diesem Relativismus aus zerfällt dann das Ganze des
Lebens — nicht bloß des menschlichen Einzellebens, sondern
vor allem auch des geschichtlichen Gesamtlebens — in ein-
zelne Inhalte, die keinen rechten Zusammenhang unter-
einander haben. So wie die Gesamtheit der Menschen in
einzelne (isolierte) Individuen zerfällt, die nur von sich,
ihren Rechten und Interessen, ihren besonderen Vorstellungen
aus ihr Leben aufbauen. Mit der Begründung der Normen
sittlichen Handelns auf die Einzelintellekte ist dann zu-
gleich jener Utilitarismus gegeben, der an sich dem Intellek-
tualismus so verwandt ist .und in charakteristischer Weise
große Strömungen antiken geistigen Lebens — wie auch
diesen verwandte Strömungen moderner geistiger Kultur —
beherrscht.
In unserer modernen geistigen Entwicklung kommt
— trotz langer Vorherrschaft der Aufklärung — doch lebendig
und stark die Erkenntnis zum Durchbruch, daß gerade die
höchsten und innerlichsten Kräfte und Werte geistig-sitt-
lichen Lebens nicht in logisch-begriffsmäßiger Zergliederung
dargestellt werden können, sondern daß sie — als geistiges
Leben — nur dem Erleben selbst zugänglich sind.
Einer Anschauung, die das Erkennen zur allein oder
vorwiegend bestimmenden Kraft sittlichen Handelns erhebt,
^) Es kommt dies auch im Ideal des Weisen sehr deutlich zum
Ausdruck.
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 275
steht hier eine andere gegenüber, der sich das innerste geistige
Wesen in dem W o 1 1 e n als der Grundkraft und der Grund-
tatsache persönlichen Lebens erschließt. Es kann hier nicht
im philosophischen Sinne die Frage der Wahrheit der einen
oder der anderen Anschauung erörtert werden. Es handelt
sich vielmehr um eine in den Tiefen unserer modernen gei-
stigen Kultur wurzelnde Idee, die — trotz aller Gegen-
strömungen, die gerade auch diese moderne Kultur aufweist
— doch unser geschichtliches Bewußtsein selbst in wirk-
samster Weise bestimmt. Der antiken Anschauung von
•einer gegebenen Welt, die der Mensch in der Erkenntnis
in sich aufnimmt, in seinem eigenen Leben darstellt oder
nachbildet, steht die Idee einer Welt gegenüber, die von
Innen, aus dem geistigen Wesen des Menschen sich aufbauen
soll. Damit ist aber zugleich ein eigentümliches Persön-
lichkeitsideal auf das engste verbunden. Das gei-
stige und sittliche Leben erscheint hier durchaus auf das
innerliche Wesen der Persönlichkeit begründet. Die sitt-
liche Aufgabe gilt als eine immer von neuem aus den Tiefen
persönlichen Lebens hervorgehende, sittliches Leben um
seiner Innerlichkeit willen zugleich als ein eigenartig
persönlich bestimmtes. Die sittliche Welt ist keine in ihren
Grundzügen fertige, die eine für sich bestehende gesetzliche
Ordnung darstellt, sondern sie ist eine mit den unendlichen
Aufgaben persönlichen Lebens und persönlicher Vervoll-
kommnung wachsende. 1)
Mit dem persönlichen Prinzip des sittlichen Handelns
ist zugleich im tiefsten Sinne das der inneren Freiheit
gegeben. Die Betonung des eigenen persönlichen Lebens als
des Quellprinzips wahrhaft sittlichen Handelns bedingt
die Anerkennung des Rechtes und der inneren Freiheit der
Persönlichkeit anderer. Auch alle wahrhaft schöpferische
^) Sehr charakteristisch zeigt sich der Unterschied zwischen
•antiker und moderner Anschauung in der Würdigung der Bedeutung
der Arbeit. Für Piaton h'egt der Wert der Arbeit durchaus in
■dem Objekte, dem Werke selbst, das möglichst vollkommen zu
gestalten ist, die moderne Auffassung dagegen, wie sie z. B. Goethe
vertritt, betont zugleich und vor allem den Wert für die Bildung der
Persönlichkeit. Vgl. meine Gesch. d. heilenist. Zeitalters
Jl, 1, S. 190,3.
/
276 ' J. Kaerst,
Gemeinschaft beruht auf der Selbständigkeit per-
sönlichen Wesens. Persönlichkeit und Gemeinschaft werdeiv
in innere Wechselbeziehung zueinander gebracht. Die:
Idee nationalen Lebens in Staat und Kultur wird mit den;
geistigen Kräften der Persönlichkeit ausgestattet und da-
durch verinnerlicht.i)
In dem neuzeitlichen Persönlichkeitsideal ist ein Prinzip
entschiedener Subjektivität ausgesprochen. Es kanrt
in seiner eigentümlichen Ausprägung als charakteristisch für
die moderne Entwicklung angesehen werden. 2) Der Indi-
vidualismus hellenischer Kultur dagegen ist von diesem
modernen Persönlichkeitsprinzip nicht unwesentlich ver-
schieden. Gerade die stärksten Ausprägungen des Indi-
vidualismus in der hellenistischen Periode zeigen die ent-
schiedene Tendenz, im Namen der allgemeinen Vernunft
oder der sittlichen und intellektuellen Überlegenheit, der
höheren Kraft des einzelnen Individuums eine Herrschaft
über andere aufzurichten, das Individuum selbst in seiner
Stärke oder untrüglichen Erkenntnis wieder zum Gesetze
für andere werden zu lassen. 3) Auch die Freiheit selbst
1) Vgl. 1, Aufsatz (H. Z. 106, S. 489 ff. 517).
^) Es braucht wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden,,
daß sowohl in der tatsächlichen Gestaltung unserer modernen Welt
wie in bedeutenden Strömungen der geistigen Kultur zum Teil auch
starke Bedrohungen dieses Persönlichkeitsideals sich finden. Ich nenne
hier die ungeheure Ausbildung der modernen Technik in Verbindung,
mit bestimmten gesellschaftlichen Bildungen und Tendenzen, das Vor-
herrschen einer naturwissenschaftlich-biologischen Anschauung, die das
einzelne Individuum nur in seiner Bedingtheit in einem naturgesetz-
lichen Kausalitätszusammenhange gelten läßt. — Ebenso steht natür-
lich auf der anderen Seite die tatsächliche Entfaltung der
Persönlichkeiten in den großen Zeiten antiker Kultur nicht mit der
oben gegebenen Darstellung im Widerspruch.
3) Vgl. meine Gesch. d. hellenist. Zeitalters 11,1, S. 115 f. 158.
166. Zu der an letzter Stelle gegebenen Erörterung über das Ver-
hältnis dieses Individualismus zu den Persönlichkeitswerten freue
ich mich auf die wesentlich übereinstimmende Darlegung von Misch,.
Gesch. d. Autobiographie I, S. 111 hinweisen zu können. Das Per-
sönlichkeitsideal der italienischen Renaissance dürfte übrigens wohl
mit diesem antiken Individualismus stärkere Verwandtschaft haben
als das religiöse Subjektivitätsprinzip der Reformation oder die in*
Zeitalter des deutschen Idealismus gestaltete Persönlichkeitsidee.
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 277
prägt sich für die antike Anschauung vielfach noch vor-
wiegend in den Formen der Herrschaft aus. Oder sie nimmt
die Gestalt eines radikalen Individualismus an, der das In-
dividuum ganz auf sich selbst stellt, es vor allem auch gegen
die Anforderungen und Einflüsse des Gemeinschaftslebens
abschließt.
Allerdings hat die griechisch-römische Stoa unter der
Führung des Panaetios eine Ethik ausgebildet, die in weit-
herziger Weise der Mannigfaltigkeit der Individualitäten
gerecht zu werden sucht und somit einen außerordentlich
fruchtbaren Keim für lebensvolle Gestaltung der sittlichen
Ideale birgt.
Wenn diese Ethik die Harmonie des ganzen Lebens und
der einzelnen Handlungen nur auf der Grundlage, die durch
die besondere Natur der Einzelpersönlichkeit gegeben ist,
für erreichbar erklärt^), wenn sie das, was einem jeden am
meisten eigen ist, als das am meisten für ihn geziemende
betrachtet 2), so werden wir dadurch stark an moderne
Anschauungen erinnert. Man möchte etwa versucht sein,
die W. V. Humboldtsche Idee einer harmonischen Vollen-
dung der Einzelpersönlichkeit in der ,, Einheit und Tiefe'*
ihres besonderen Wesens oder das Schleiermachersche,
,,daß jeder Mensch auf eigene Art die Menschheit darstellen
soll", in der von Panaetios begründeten Auffassung im
wesentlichen schon enthalten zu finden. Indessen dürfen
wir auch den bedeutsamen Unterschied von dem modernen
Persönlichkeitsideal nicht übersehen.^) Wir können nicht
1) Cic. de off. 1, 111.
^) CIc. a. a. O. 113: „id enim maxume quemque decet, quod est
cujusque maxume suum."
3) Dies scheint mir doch in den übrigens sehr wertvollen Aus-
führungen von Reitzenstein, Wesen und Werden der Humanität im
Altertum, 1907, S. 17 einigermaßen der Fall zu sein. Zielinski, Cicero
im Wandel der Jahrhunderte 2, hat in seiner ausführlichen Darstel-
lung der ethischen Grundgedanken der griechisch-römischen Stoa,
die er unter der persönlichen Flagge Ciceros ihren Siegeszug durch
die spätere Kulturwelt halten läßt, das Unterscheidende und Eigen-
artige moderner Kultur völlig verkannt (vgl, namentlich S. 88. 89 f.
252 f.). Sehr viel treffender ist m. E. die Beurteilung der Auffas-
sung des Panaetios bei Misch, Gesch. d. Autobiographie I, S. 115 f.,
mit dem ich mich auch hier wieder in wesentlicher Übereinstimmung
278 . J. Kaerst,
verkennen, daß der individualisierende Charakter dieser
antiken Ethik doch im wesentlichen nur objektiv in
der Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Einzelnaturen
begründet ist. Er bedeutet nicht sowohl, daß das sittliche
Handeln sich auf das individuelle Leben der Persönlichkeit
als solcher aufbauen soll, als vielmehr, daß in der Verschieden-
heit der Einzelnaturen eine Schranke für die gleichmäßige
Durchführung des allgemein-verpflichtenden Gesetzes ge-
geben ist. Er muß somit vor allem als Konzession an die
mannigfaltige Wirklichkeit betrachtet werden. i) Es fehlt
dieser Anschauung das subjektiv-persönliche Element des
modernen Persönlichkeitsideals, die eigentümliche Ver-
innerlichung der sittlichen Aufgabe durch das persönliche
Erleben des Subjektes. Es bleibt die für die antike Ethik
charakteristische Begründung der Sittlichkeit auf die Er-
kenntnis des Naturgemäßen, nur daß zur allgemeinen Natur
die besondere ergänzend hinzutritt.^)
befinde. Vgl. im übrigen auch noch M. Wundt, Gesch. d. griech.
Ethik II, S. 373 f.
^) Es genügt, um das Wesen dieser Auffassung deutlich zu
machen, eine besonders bezeichnende Stelle heranzuziehen. Cic. de
off. I, 110: „Sic enim est faciendiim, ut contra iiniversam naturam nihil
contendamus , ea tarnen conservata proprium no st r am s e -
quamur , ut, etiamsi sint alia gr av i o r a at que mel ior a ,
tarnen nos studio nostra nostrae naturae regula metiamur ; neque enim
attinet, naturae repugnare nee quicquam sequi quod ass e qui
no n que as. Der Vergleich mit den Rollen der Schauspieler (Cic.
a. a. O. 114) läßt ebenfalls klar den zugrundeliegenden Gedanken er-
kennen: Das besondere Maß und die besondere Richtung der Kräfte
und Anlagen bedingen die Modifizierung und mannigfaltige Ausgestal-
tung der sittlichen Aufgaben in der Praxis des Lebens, die besondere
Durchführung der verschiedenen Lebensrollen. Ein wertvoller Ge-
danke, der aber nicht in ein zu einseitig modernes Gewand gehüllt
werden sollte.
*) Wir können in dieser Umbildung der stoischen Anschauung
durch Panaetios doch zugleich den Zusammenhang mit der ursprüng-
lichen Auffassung der Stoa erkennen. Es ist eine förmliche Stufen-
folge, in der sich die Anschauung entwickelt. Zenon faßte die Tugend
als ein Leben nach der (allgemeinen) Natur; Chrysippos fügte der
allgemeinen die menschliche Natur als die besondere Grundlage hinzu.
In der Fortbildung der Lehre durch Panaetios erfolgte eine weitere
Begründung auf die (besonderen) menschlichen Einzelnaturen. Auch
die ursprüngliche Lehre der Stoiker von der Verbreitung der allge-
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.untversalgesch. Anschauung. 279
Wie das Persönlichkeitsideal selbst in bestimmten mo-
dernen Tendenzen eine andere Ausprägung erhalten hat
als in der Antike, so gilt dies auch von dem Verhältnis der
Persönlichkeit zu den großen geschichtlichen Gemeinschafts-
welten, die das Leben des Einzelnen in ihre bestimmende
und beherrschende Einflußsphäre hineinriehen. Wir finden
in unserer modernen Kultur auf der einen Seite in charak-
teristischer Ausgestaltung die große Idee einer tiefinner-
lichen Wechselbeziehung zwischen den schöpferischen Kräften
und den Aufgaben des persönlichen Lebens und denen des
Gemeinschaftslebens.^) Anderseits sehen wir als eine der
bezeichnendsten Idealforderungen unseres modernen —
ich möchte sagen — geschichtlichen Rechtsbewußtseins
die einer prinzipiellen Wahrung des inneren Rechtes und der
Freiheit der Persönlichkeit gegenüber der Staatsgewalt. 2)
Der Staat soll die Bürger nicht als „Werkzeuge", sondern
als , .Zwecke" behandeln.^) In der Aufstellung allgemeiner
Menschenrechte kommt diese Idealforderung zu einem
gewiß einseitigen aber doch zugleich in der Tiefe modernen
geistigen Wesens begründeten Ausdruck.*)
Die antike Kultur bietet in dieser Beziehung eine wesent-
lich andere Perspektive. Es ist ein ewiger Ruhmestitel des
Griechentums, daß wenigstens in der Zeit höchster Blüte
der Polis das gemeinsame Gesetz als eine verbindende Macht
sittlichen Gemeinschaftslebens sich offenbarte und per-
meinen Weltvernunft als Xöyos aneofianyos in den Einzelbildungen
scheint wohl in der Auffassung des Panaetios noch hindurch.
1) Vgl. d. I. Aufs. (H. Z. Bd. 106, S. 517 ff.).
2) Daß eine solche Abgrenzung, die ja auch nur durch den sou-
veränen Staat selbst erfolgen kann, in den tatsächlichen Verhältnissen
immer nur unvollkommen verwirklicht werden wird, ist selbstver-
ständlich.
^) Frhr. v. Stein, Staatswissensch. Betrachtungen b. Pertz, Stein
n, S. 448.
*) Wir können natürlich für die Zwecke unserer Betrachtung
■davon absehen, daß diese Idee allgemeiner Menschenrechte in dem
Zeitalter der Aufklärung und Revolution zunächst ungeschichtliche
Formen der Begründung und Ausprägung fand, indem das, was in
Wahrheit erst ein Ergebnis geschichtlicher Kulturarbeit ist, als vor-
geschichtliches Grundrecht und Grundvoraussetzung alles staatlichen
Lebens betrachtet wurde.
280 J. Kaerst,
sönliche Lebenskräfte eines selbsttätigen Bürgertums in
bewußter und freier Hingabe an die gemeinsamen Lebens-
zweci<e des Staates sich entfalteten. Aber dieses persönliche
Leben des Bürgers war doch so durchaus von dem Gesamt-
leben bestimmt, daß es sich im wesentlichen noch nicht von
diesem als solchem unterschied, noch nicht zu einer inneren
Selbständigkeit gegenüber dem Staate gelangte. i) Aller-
dings gilt dies nur, soweit das eigentliche staatliche Lebens-
ideal in voller Wirksamkeit steht. Daneben und im Gegen-
satze dazu finden wir schon eine weitgehende Emanzipation
des Individuums. Aber diese zeigt sich in ihrer stärksten
Ausprägung eben darin, daß das Individuum zugleich dazu
fortschreitet, die Verbindlichkeit der staatlichen Ordnung
an sich, wenigstens für die eigene Person, zu bestreiten. 2)
Die Freiheit erscheint überhaupt vorwiegend entweder als
eine Freiheit, die durch Teilnahme an dem Herrschaft s-
rechtdes Staates bedingt wird, oder als eine Freiheit
vom Staate, wie sie uns vornehmlich beim radikalen
philosophischen Individualismus entgegentritt. Die Freiheit
im Staate dagegen, die auf der Freiheit gerade auch der
1) Daran ändert auch nichts die verhältnismäßig große tatsäch-
liche Freiheit, die in Athen — im Gegensatze zu Sparta — der ein-
zelne Bürger in seinem Privatleben genoß. Ich halte es für unrichtig,,
wenn Wilamowitz, Staat u. Gesellschaft d. Griechen, S. 113 es den
thukydideischen Perikles am demokratischen Athen preisen läßt, daß
jeder leben könne, wie er wolle. Weder hat dies Thukydides sagen wollen,
noch hat es geschichtlich in der großen Zeit der athenischen Demo-
kratie gegolten. Aristoteles (Pol. V, 1310a, 32) führt allerdings —
nach dem Vorgange von Piaton de rep. VI II, 557b — als Grundsatz
der Demokratie an xb ort nv ßovkrjjai ns notsh'. Aber der hier ge-
zeichnete extreme Individualismus ist erst in der Zeit der radikalen-
Demokratie aufgetreten und hat mit dem zusammenfassenden Geist
der Polis, wie er in den größten Leistungen des Bürgertums während
der glänzendsten Periode des athenischen Staatswesens sich entfaltete,,
nichts zu tun, ist vielmehr sein stärkster Gegensatz.
2) Gerade die selbständigere Entwicklung individuellen geistigen
Lebens führt auf griechischem Boden im allgemeinen und im letzter»
Ergebnis nicht zu einer Befruchtung des geschichtlichen Gemein-
schaftslebens durch die persönlichen Kräfte des reicher entfalteten
Individuums, sondern zu einem sich immer steigernden inneren Gegen-
satze zwischen Staat und Individuum; vgl. meine Gesch. d. heilenist.
Zeitalters II, 1, S. 87 ff.
Studien z. Entwickig. u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 281
staatsbürgerlichen Persönlichkeit als sol-
cher beruht, ist nicht in vollem Maße entwickelt und gelangt
namentlich nicht zu prinzipieller Anerkennung seitens des
Staates selbst. Auch die dem griechischen Denken nicht
fehlende Idee einer ursprünglich gegebenen Freiheit des
Menschen hat nicht zur Anerkennung eines Rechtes
des Individuums auf Freiheit, zur Aufstellung eines per-
sönlichen Grundrechtes als solchen geführt. i)
Allerdings zeigt sich nun gegenüber der Emanzipation
des Individuums von dem Gemeinschaftsleben noch eine
andere Richtung individueller Entwicklung in der hellenischen
Kultur. In der Idealphilosophie hat die ethische Staatsidee
ihre volle Ausgestaltung gefunden. Sokrates' Wirksamkeit
und Martyrium erwiesen das höhere Recht des an sein
«igenes Wahrheitsstreben und seine persönliche Erkenntnis
des Wahren und Gerechten gebundenen Individuums gegen-
über der bestehenden Ordnung des Staates, das Recht,
von dieser Wahrheitserkenntnis aus eine neue, innerlicher
begründete Ordnung zu vertreten. Aber gerade der tiefste
iinter den großen griechischen Philosophen, der dieses Recht
in den idealen Gebilden seines eigenen Denkens zum Aus-
druck bringt, Piaton, ist weit davon entfernt, dem Bürger
seines Idealstaates eine eigene Sphäre persönlicher Freiheit
und Selbständigkeit gegenüber dem gemeinsamen Leben
des Staates einzuräumen. 2) Er nimmt vielmehr noch in
viel stärkerem Maße als der historische Staat die Person des
Bürgers durch die gemeinsamen staatlichen Aufgaben und
Ordnungen in Anspruch. Der Bürger ist für diese Anschauung
im wesentlichen nur ein Teil des Staates.^) Auf die ob-
jektive Verwirklichung der Gerechtigkeit im Staate ist
1) Vgl. meine Gesch. d. hellenist. Zeitalters II, 1, S. 147.
*) Es ist dies zum Teil in einem gewissen Absolutismus des philo-
sophischen Denkens, der auch in der Neuzeit seine Analogien hat,
begründet, zum Teil aber und vor allem ist es doch dafür charakteri-
stisch, daß die Dissonanz zwischen persönlicher Freiheit und All-
gewalt des Staates von dem auf dem Boden der Polis stehenden
griechischen Kulturbewußtsein nicht so stark empfunden wurde, wie
es uns Modernen anzunehmen nahe liegt.
•) In gewissem Sinne ist hiervon nur der philosophische Leiter
des Staates ausgenommen.
/
282 J. Kaerst,
das entscheidende Interesse gerichtet. Die sokratische
Philosophie geht überhaupt nicht darauf aus, dem einzelnen
Individuum eine prinzipielle Freiheit in Sachen persönlichen
inneren Lebens zu gewähren, sondern es in den neuen Zu-
sammenhang einer von der Vernunft aus begründeten Ge-
meinschaft zu versetzen, in der es ein dem Wesen der Dinge
entsprechendes Leben in wahrer Gerechtigkeit zu führen
imstande wäre. Sie bringt nicht so sehr die Forderung eines
Rechtes des Subjektes auf eigentümliche Darstellung
und Begründung eines Allgemeinen in dem eigenen Wesen
zur Geltung, als vielmehr das Streben, ein hinfällig gewor-
denes Objektives durch ein neues, tiefer und fester
begründetes Objekt zu ersetzen. Ließen sich solche allge-
mein gültige und verpflichtende Objekte nicht finden, wie
es die Auffassung der Sophistik war, so blieben dann eben nur
die empirischen Gegebenheiten der wechselnden Empfin-
dungen und Vorstellungen der einzelnen Individuen in
ihrer Relativität übrig. ^)
Besonders bezeichnend tritt uns die in der Behandlung
des Persönlichkeitsproblems sich offenbarende Verschieden-
heit antiker Kultur von der modernen auf religiösem
Gebiet entgegen.
Die Religion der griechischen Polis trägt einen aus-
gesprochen innerstaatlichen Charakter. Die reli-
giöse Sphäre ist von der staatlichen nicht geschieden. Gerade
diejenige Periode, die wir als die Zeit der innerlich lebendig-
sten und freiesten Entfaltung staatlichen Gemeinschafts-
lebens auf griechischem Boden betrachten dürfen, wird ebenso
durch eine religiöse Begründung des Staates wie durch eine
staatliche Ausprägung der Religion charakterisiert. Die
religiösen Pflichten des Bürgers unterscheiden sich in der
Hauptsache nicht von seinen bürgerlichen Pflichten.
Es ist somit klar, daß eine prinzipielle Freiheit der Reli-
gion dem Bürger als solchem nicht gewährt wird. In den
tatsächlichen Verhältnissen finden wir allerdings eine ge-
wisse Freiheit. Die gemeinsame staatliche Religion besteht
vor allem im gemeinsamen Kultus. Eine besondere religiöse
^) Hiervon ist schon in anderem Zusammenhange vorher (S. 274)
die fiede gewesen.
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 283
Lehrgewalt existiert nicht. In der Bildung der Vorstellungen
über die Welt des Göttlichen herrscht — bei allem Gemein-
samen im ganzen, wie es durch den gemeinschaftlichen
Charakter der Kultur gegeben ist — im einzelnen eine große
Mannigfaltigkeit und Beweglichkeit. In der Gesamtheit
griechischen Geisteslebens spielt demzufolge, wie es scheint,
diese Freiheit des religiösen Denkens eine beherrschende
Rolle, und wir sind zunächst durchaus berechtigt, in ihr
einen bemerkenswerten Grundzug der griechischen Kultur
zu erblicken. Gewiß offenbart sich nun hierin vor allem
auch das für den griechischen Genius so bezeichnende starke
und großartige Vertrauen auf die innere Kraft vernunft-
mäßigen Denkens. Aber auf der anderen Seite ist es doch
wieder außerordentlich bedeutsam, daß diese tatsächlich
in so weitem Umfange entwickelte religiöse Freiheit nicht
sowohl eine in dem innerlichen Leben des Subjektes
begründete Freiheit bedeutet als aus den im Objekte
selbst gegebenen Faktoren abzuleiten ist. Die Unbekannt-
heit oder Unerkennbarkeit des Gegenstandes und die Kürze
des menschlichen Lebens bezeichnet Protagoras in seinem
bekannten Ausspruche^) als die Gründe, aus denen die Un-
möglichkeit, eine bestimmte Meinung über die Existenz
einer Welt des Göttlichen zu äußern, folge. Dieser Aus-
spruch des Protagoras darf als charakteristisch für das Ver-
hältnis großer Strömungen des griechischen Kulturlebens
zu den religiösen Problemen gelten. 2) Aus der Schwierigkeit
der Erkenntnis des Objektes, aus der hierdurch bedingten
Vielfältigkeit der Meinungen ergab sich dem unter der
Herrschaft der Aufklärung stehenden griechischen Kultur-
bewußtsein die Bewegungsfreiheit auf religiösem Gebiete.
Auch der Charakter der populären Religion — das Neben-
einander der verschiedenen Objekte des Glaubens, die Man-
nigfaltigkeit der Göttergestalten, die als solche doch eben
nur bedingte und begrenzte Sphären der Wirksamkeit hatten
— war geeignet, eine gewisse Beweglichkeit und Freiheit
der religiösen Vorstellungswelt zu fördern.
') Frg, 4 Diels.
') Vgl. auch das bezeichnende Fragment des Xenophanes 34
Dicis.
284 J. Kaerst,
Der griechische Staat selbst vermochte, so sehr er der
gemeinschaftlichen religiösen Grundlage bedurfte, so wenig
er an sich das Recht des einzelnen Staatsbürgers auf reli-
giöse Freiheit anerkannte, den bindenden Charakter seiner
religiösen Ausgestaltung gegenüber der allgemeinen Entwick-
lung des politischen Lebens und Denkens nicht zu behaupten.
Diese führte immer mehr dazu, sein partikulares Recht auf-
zulösen. Der Angriff auf die Gottheiten des Staates hing
eben auch mit der veränderten Stellung gegenüber dem
Staate selbst, mit der Anfechtung seiner unbedingt ver-
pflichtenden Bedeutung durch das einzelne Individuum
zusammen.
Es ist also, im ganzen genommen, vornehmlich die
Relativität der religiösen Gestalten und der religiösen
Anschauungen, die der Ausübung eines religiösen Zwanges
im Bereiche griechischen Kulturbewußtseins entgegenwirkte.
Unstreitig liegt hierin ein wirksames Element religiöser
Freiheit überhaupt, ein Element, das auch in der religiösen
Toleranzbewegung der Neuzeit eine bedeutsame Rolle ge-
spielt hat.
Auch ein anderer wichtiger Faktor der modernen To-
leranzidee weist auf innere Verwandtschaft, zugleich wohl
auch tatsächlichen Zusammenhang mit analogen Gedanken
antiker, namentlich stoischer Philosophie hin. Es ist die
Annahme eines allen besonderen religiösen Gestaltungen
zugrunde liegenden allgemein-vernünftigen Kernes reli-
giöser Erkenntnis als des wesentlichen Inhaltes aller wahren
Religion.^) Diese Idee steht schon im Altertum neben der
Idee der Relativität, die sich auf die tatsächlichen Ver-
schiedenheiten und den wechselnden Charakter aller mensch-
lich-geschichtlichen Bildungen gründet. Bereits in der Zeit
der Sophistik finden wir in einer Lehre, die das Allgemeine
und Gleichbleibende vernünftigen menschlichen Wesens
gegenüber der Mannigfaltigkeit besonderer Anschauungen
*) Vgl. hierzu die bekannten Ausführungen von W. Dilthey
im 5. u. 7. Bd. d. Archivs f. Gesch. d. Philosophie. Allerdings kommt
die Autonomie des vernünftig erkennenden Subjekts in der neuzeit-
lichen Entwicklung wohl noch zu stärkerem Ausdrucke als im Altertum.
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 285
und Institutionen betont^), die Ansätze zu dieser Auffassung,
die von der Stoa zur Theorie einer allgemeinen natürlichen
Religion ausgebildet wird.
Wenn somit wichtige Elemente moderner religiöser
Freiheit in der Gedankenwelt des Altertums wurzeln, durch
die antike Auffassung von der Rationalität menschlichen
Wesens vorbereitet sind, so schreitet doch auch hier die
moderne Entwicklung wesentlich über die Antike hinaus.
Die großen politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten
staatlicher Machtbildungen üben auf die Durchsetzung
staatsbürgerlicher religiöser Freiheit in d.er Neuzeit einen
Einfluß aus, zu dem sich in der Geschichte des Altertums
keine Parallele findet. Vor allem aber ist doch in der bisher
besprochenen Begründung religiöser Freiheit, wie sie uns
schon im Altertum entgegentritt, noch nicht deren vollstes
und tiefstes Wesen enthalten. Es handelt sich vielmehr um
eine V e r i n n e rlichung des religiösen Lebens-
prinzips selbst. Sie bedeutet die Freiheit, die dem reli-
giösen Subjekte als solchem zukommt, die Selbständigkeit
seines persönlichen religiösen Lebens.
Wir kommen hiermit zu einer der tiefsten und stärksten
Wurzeln des modernen Ideals persönlicher geistig-sittlicher
Freiheit überhaupt. Wir können nicht dabei stehen bleiben,
die Bedeutung der religiösen Subjektivität nur für die eigen-
artige Ausprägung der besonderen religiösen Entwicklung
hervorzuheben. Eine Betrachtung, die in die Einheit und
Tiefe modernen geschichtlichen Lebens einzudringen sucht,
wird eben auch den Gesamtzusammenhang der geistigen
Tendenzen zu erfassen suchen. Auch die befreienden Ge-
danken der Aufklärung sind ja zum Teil als Rationalisierung
ursprünglicher religiöser Ideen zu erkennen. 2) Das neuzeit-
liche religiöse Persönlichkeitsideal, wie es in der Reformation
lebendig geworden ist, wurzelt nun aber in dem christlichen
Persönlichkeitsprinzip. Diesem müssen wir im Zusammen-
hange unserer Darlegung eine kurze Erörterung widmen.
1) Hippias bei Piaton, Protag. 337. Xen. Mem. IV, 4, 19.
2) Ich stimme hierin durchaus mit Troeltsch, H. Z. 106, S. 264 f.
überein.
Historische Zeitschrift (tll. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 19
286 J. Kaerst,
Das christliche Persönlichkeitsideal hat seine tiefste Grund-
lage in der christlichen Gottesidee, in der sich ein höchstes
Ideal ethischer Personalität verkörpert zeigt. Die antike
philosophisch-religiöse Anschauung gipfelt in einer einheit-
lichen Welt und ihrem Gesetze, das als höchste Instanz
der Welt und als Inbegriff der höchsten Vollkommenheit und
Glückseligkeit zur Gottheit personifiziert wird.^) Auch bei
Piaton, der in der sittlichen Ausprägung seiner Gottesidee
dem Christentum besonders nahe steht, ist doch die Idee
desGuten, die ihm als die höchste Weltpotenz zur Gott-
heit wird, das Primäre. Ganz anders im Christentum. Die
christliche Vorstellung geht — zunächst in ihrer alttesta-
mentlichen Vorstufe — von einem höchst lebendigen per-
sönlichen Wesen, das mit seinem Willen alle
Lebensverhältnisse durchdringt und bestimmt, aus. In der
Vertiefung der religiösen Anschauung durch die prophetische
Auffassung verkörpert dieses höchste persönliche Wesen
zugleich das Ideal vollkommener Reinheit und Gerechtigkeit.
Im Christentum selbst tritt uns die Gottesidee entgegen als
die Idee des Vaters, von dem alle vollkommene und gute
Gabe kommt, als die höchste Personifikation des voll-
kommenen und guten Willens. In dem Ver-
hältnis des persönlichen Liebeswillens Gottes zu der mensch-
lichen Einzelpersönlichkeit, in der Bedeutung, die dieser
für die sittlichen Zwecke des Reiches Gottes zukommt,
ist für die christliche Anschauung die ausschlaggebende
Wichtigkeit des Persönlichkeitsprinzipes für das sittliche
Wesen des Menschen begründet. Wie Gott als die höchste
und vollkommenste Verkörperung des guten Willens er-
scheint, so ist der Wille der grundlegende Faktor mensch-
lichen Handelns, die bestimmende Kraft und der entscheidende
Maßstab sittlichen Lebens. Die sittliche Aufgabe ist eine
mit der Persönlichkeit selbst in die unendlichen Tiefen des
göttlichen Liebeswillens wachsende. Auch das Gemein-
schaftsleben steht im tiefsten Grunde im Zeichen der Per-
sönlichkeit. Denn wenn einerseits die volle Betätigung sitt-
lichen Wesens für die christliche Auffassung nur in der
1) Vgl. meine Gesch. d. hellenist. Zeitalters 11, 1, S. 233 ff.
Studien z. Entwickig. u. Bedeutg. d. universalgesch. Anschauung. 287
Gemeinschaft und für die Gemeinschaft gedacht werden kann,
so findet hinwiederum das Gemeinschaftsleben seinen höch-
sten und innerhchsten Ausdruck in der Weckung wie in der
Förderung persönlichen Lebens.
Nun steht allerdings, wie es scheint, ein anderer Grund-
zug des Christentums dem Prinzip religiöser Freiheit ent-
gegen. In der christlichen Religion wird Wert und Schicksal
der Menschenseele an das Verhältnis zu einem Absoluten
gebunden. Ist damit nicht die Begründung einer prin-
zipiellen Intoleranz gegeben? Die Geschichte der christ-
lichen Kirche bietet doch zunächst eine starke Stütze für
eine solche Auffassung. Ausschließlicher Kirchenbegriff
und religiöse Toleranz stehen dem Anschein nach in Wider-
spruch untereinander. Verkörpert sich nicht in der christ-
lichen Kirche vor allem das Interesse an der Seligkeit des
Einzelnen als einem durch gemeinsamen Heils- und Wahr-
heitsbesitz gewährleisteten Gut, viel mehr als das Interesse
an der freien Lebensentfaltung der einzelnen Persönlich-
keit ?i) Wir antworten indessen mit der Gegenfrage: Dürfen
wir es nicht gerade als ein Ideal innerlich-lebendigster christ-
^) Troeltsch hat in seinem Werke über die Soziallehren der
christlichen Kirchen gewiß mit Recht das christlich-individualistische
Element innerhalb des mittelalterlichen katholischen Oesamtorganis-
mus betont (vgl. namentlich S. 304 f. 352 ff.). Aber das Individuum
kommt hier doch im wesentlichen als Glied eines Verbandes zur Gel-
tung, wie es ja auch Troeltsch in der Bedeutung, die er der organi-
schen Auffassung im Mittelalter beimißt, zum Ausdruck bringt. Und
der schon in ursprünglich christlichen Gedanken wurzelnden, im ger-
manischen Wesen tief angelegten Idee der Selbständigkeit der Per-
sönlichkeit steht die kirchliche Gebundenheit gegenüber, die erst in
der späteren Zeit des Mittelalters durch subjektivere, innerlichere For-
men der Frömmigkeit allmählich gelockert wurde. Religiös betrachtet
ist das Individuum das Objekt der kirchlichen Fürsorge, nicht
das Subjekt eigener religiöser Betätigung. Und dazu stimmt
durchaus der patriarchalische Zug, der durch die Gesamtkonstruk-
tion des gesellschaftlichen Organismus hindurchgeht. Troeltsch selbst
gesteht ja auch zu, daß in dem Begriff der Kirche der Individualis-
mus sich auf das von der Kirche zu verleihende Seelenheil beschränke
(S. 305). Die individualistische Bewegung, die aus den sozialen, gei-
stigen, religiösen Kräften und Tendenzen des späteren Mittelalters
erwächst, bedeutet eben schon die Anfänge einer die Schranken des
Mittelalters brechenden Entwicklung.
19*
288 J. Kaerst,
licher Anschauung betrachten, daß, wie alles Höchste und
Innerlichste, so auch die höchste Stufe der Seligkeit nur aus
dem freien Verhältnis des Subjektes, der selbständigen
Persönlichkeit zum höchsten Persönlichkeitswillen, dem gött-
lichen, hervorgehen könne? Es ist doch auch kein Zweifel,
daß in dem Frömmigkeitsprinzip der Reformation, nament-
lich dem Luthers, die Subjektivität als Grundprinzip des
religiösen Lebens schon in entscheidender Weise zum Durch-
bruch gelangt ist. In innerer Freiheit (,,es ist ein frei Werk
um den Glauben, dazu man niemand kann zwingen") und
Selbstverantwortlichkeit (,,Auch so liegt einem jeglichen
sein eigen Gefahr daran, wie er glaubt, und muß für sich
selbst sehen, daß er recht glaube") spricht sich für Luther
die Kraft persönlichen Glaubens aus.^) Auch das Verhältnis
1) Dieser grundlegenden geschichtlichen Bedeutung Luthers wird
die gewiß sehr wertvolle und bedeutende Darstellung, die Troeltsch
in seinem Werke über die Soziallehren der christlichen Kirchen ge-
geben hat, wie mir scheint, nicht in vollem Maße gerecht. In Luthers
Wesen und Anschauungen sind sehr verschiedene Elemente, die auch
in Troeltsch' Ausführungen hervortreten. Es fragt sich, welche Elemente
wir als die für die Beurteilung von Luthers geschichtlicher Stellung
entscheidenden anzusehen haben. Troeltsch hat (vgl. namentlich S. 448 ff.)
die objektiven Momente des lutherischen Kirchenbegriffs sehr stark
betont (vgl. z. B. S. 449: „An Stelle der hierarchischen Sakraments-
kirche tritt «lie Schrift- und Predigerkirche, aber auch sie eine An-
stalt, den Gliedern vorgeordnet als ihr supranaturaler, von Gott ge-
stifteter und geleiteter Produzent", S. 463: „Der katholischen Fort-
dauer der Menschwerdung im Priestertum entspricht die protestan-
tische Fortdauer in der Bibel", S. 464: „Die Gemeinde ist nur das
Produkt des Anstaltskerns, des Wortes, und nie der Produzent der
christlichen Gemeinschaft"). Nun ist es gewiß richtig, daß das Wort
für Luther etwas unbedingt Objektives ist, aber ebenso gewiß ist
doch, daß er die Wirkung des Wortes durchaus in die Innerlichkeit
des Subjekts verlegt, von der selbständigen persönlichen Entscheidung
des Glaubenden abhängig macht. Allerdings hat Luther den Staat
noch nicht von den Aufgaben „christlicher Zwangskultur" freigemacht.
Der Gedanke der Duldung hat bei Luther ,,noch einen engen Gesichts-
kreis und trägt die Last des Mittelalters auf seinem Rücken" (Sohm,
Kirchenrecht I, S. 547). Aber das glaubende Individuum
wird auf sich, auf seine eigene Verantwortung get.tellt. Troeltsch
hat mit Recht die Kontinuität des Luthertums wie des Altprotestantis-
mus überhaupt mit dem Mittelalter betont, die starken Gegensätze
gegen die eigentlich moderne Kultur hervorgehoben. Er hat (sowohl
in dem Werke über die Soziallehren der christlichen Kirchen wie in
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch.Anschauung. 289
zum Absoluten kann für eine solche Auffassung dem In-
dividuum nicht oktroyiert werden, sondern muß aus dem
inneren Leben der Persönlichkeit hervorgehen.
seiner Darstellung des protestantischen Christentums und der prote-
stantischen Kirche in der Neuzeit, Kultur d. Gegenwart 1, 4) eine
glänzende Schilderung des patriarchalisch-ständischen Luthertums
gegeben. So sehr aber auch der Zusammenhang dieses Luthertums
mit .Anschauungen Luthers selbst hervortritt, muß doch auf der anderen
Seite Luther vom Luthertum stärker geschieden werden, als es bei
Troeltsch geschieht, muß das eigentlich Protestantische, in die Zu-
kunft Weisende in Luthers Wesen gegenüber dem Katholisierenden
des Luthertums entschieden hervorgehoben werden. Es ist weiter
von Troeltsch mit besonderer Energie betont worden, daß die Aner-
kennung weltlichen Berufswirkens als eigentlicher Sphäre christlichen
Lebens durch Luther durchaus noch nicht zu einer im modernen Sinne
gefaßten selbständigen Wertung weltlichen Kulturlebens geführt habe.
Dies ist durchaus richtig. Es liegt in dem Verhältnis des Luthertums
zur Welt noch etwas Gedrücktes, man möchte fast sagen. Passives.
Die positiven Aufgaben des Staates und des weltlichen Kulturlebens
entwickeln sich unter dem einseitigen Einflüsse der Jenseitigkeit noch
nicht zu voller Selbständigkeit. Das weltliche Regiment ist zum Teil
nur ein solches, „das äußerlich Frieden schafft und bösen Werken
wehrt" (Luther v. weltl. Obrigkeit), zum Teil wird es, wie von Me-
lanchthon (de jure reformandi, C. Ref. III, 242. 245) durchaus den eigent-
lich religiösen Lebenszwecken, ,,iit Evangelium propagari possit" „ut
Deus innotescüt" dienstbar gemacht (vgl. auch Basileensis prior con-
fessio fidei — Niemeyer, Colledio Confessionum in ecdesiis reformatis
publicatarum S. 82 f. — : „Die Obrigkeit soll all ihr Vermögen dahin
richten, daß bei ihren Unterth«nen der Name Gottes geheiligt, sein
Reich erweitert .... werde" usw.). In der klassischen Ausprägung
ständisch-patriarchalischer Anschauungen des Luthertums bei V. von
Seckendorff erscheint das ,, vergnügliche, stille und friedsame bürger-
liche oder gottselige Leben" unter dem Schutze der Obrigkeit als
der hauptsächliche Zweck des Staates. Trotzdem hat mit Recht
Dilthey, Arch. f. Gesch. d. Phil. V, S. 365 den Gedanken Luthers,
„daß die Sphäre der Werke des Glaubens die weltliche Gesellschaft»
und deren Ordnung ist", einen der größten organisatorischen Ge-
danken in der Geschichte genannt (vgl. auch die beachtenswerten
Ausführungen von Troeltsch selbst „Luther und die moderne Welt"
in dem Sammelwerk „Das Christentum" 1908, Quelle u. Meyer, S. 94 f.).
Indem Luther von religiösen Forderungen aus die Herrschaft
der Kirche über den Staat und das Kulturleben bekämpfte und ent-
wurzelte, hat er im tiefsten Grunde die Bahn dafür frei gemacht, daß
staatliches Leben und weltliche Kultur sich als selbständige Sphäre
der Sittlichkeit entwickeln konnten. Die Innerlichkeit des Subjektes,
die von Luther zum Prinzip religiös-sittlichen Wesens erhoben wurde,
290 . J. Kaerst,
Auch die Idee der Kirche selbst wird mit dem Vor-
dringen der protestantischen Auffassung immer mehr durch
eine Anschauung beeinflußt und fortgebildet, in der das
selbständige Leben der Persönlichkeit als ein für das Wesen
der Kirche grundlegendes Element zur Geltung gelangt.
Die Kirche ist danach nicht vor allem, wie es in dem heils-
anstaltlichen Charakter der katholischen Kirche ausgeprägt
ist, die schon an und für sich vollendete Voraussetzung der
religiösen Lebensgestaltung und des religiösen Lebens-
geschickes des Einzelnen, sondern vornehmlich eine durch
persönliche Kräfte des Glaubens und sittlichen Handelns
sich immer von neuem verwirklichende und weiterbildende
Gemeinschaft.^)
Neben der Persönlichkeitsidee, die bei aller vielseitigen
Ausprägung der modernen geistigen Kultur, ja, trotz ihrer
inneren Gegensätze jedenfalls eigentümliche geistige Strö-
mungen des modernen Wesens als solchen bezeichnet, steht
als eine für die neuzeitliche geschichtliche Entwicklung
ebenso charakteristische, diese sogar noch in weiterem Um-
fange beherrschende Gesamterscheinung das Nebeneinander
selbständiger nationaler Staaten und natio-
naler Kulturen. Diese sind, wie uns vornehmlich
Ranke gelehrt hat, das Ergebnis eines umfassenden, mannig-
fach verflochtenen historischen Gesamtprozesses. In ihnen
hat in ihren von innen heraus schaffenden und gestaltenden Einfluß
auch die Welt selbst hineingezogen. Diese Entwicklung ist noch nicht
in der Reformationszeit erfolgt, aber es ist damals der religiöse
Grund hierzu gelegt worden.
Dieses Prinzip der Weltgestaltung von innen, aus der Gesin-
nung des Subjektes heraus bezeichnet zugleich einen wesentlichen
»Unterschied moderner von antiker Ethik. — Der Einfluß der persön-
lichen reformatorischen Tat Luthers erstreckt sich übrigens auch auf
die anderen Richtungen der Reformation (vor allem die independenti-
stische), die viel unmittelbarer als das Luthertum auf die Durch-
setzung der persönlichen Freiheitsrechte im modernen Leben ein-
gewirkt haben,
^) Die allgemeine, an sich gewiß sehr lehrreiche Bestimmung
des Wesens des Kirchentypus, die Troeltsch, Soziallehren d. christl.
Kirchen, S. 371 f. (vgl, auch die schon angeführten Erörterungen
S. 448 ff,) gibt, ist doch, wie mir scheint, von vornherein zu sehr
auf den katholischen Kirchentypus zugeschnitten.
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 291
spricht sich das geschichtUche Wesen der Neuzeit vor allem
aus. Das Altertum zeigt ganz andere Grundzüge seiner
geschichtlichen Entwicklung. Auch ihm ist allerdings die
Bedeutung nationalen Lebens nicht fremd geblieben. Eine
Kulturnation ersten Ranges tritt uns in der griechischen
entgegen. Aber einen wirklich nationalen Staat im modernen
Sinne hat die griechische wie die antike Entwicklung über-
haupt nicht hervorgebracht. Die Verbindung der nationalen
Idee mit der Staatsidee ist als solche charakteristisch für
die Vertiefung, die in der Neuzeit die Staatsidee erfahren
hat. Die Idee der griechischen Nationalität ist wesentlich
durch den gemeinsamen Kulturinhalt, den diese Idee um-
faßt, begründet. Sie hat in der eigentümlichen Selbständig-
keit und Tiefe, in der die griechische Kultur ausgebildet
worden ist, eine fast unverwüstliche Kraft einflußreichster
langanhaltender Wirkung gewonnen. Aber sie hat nicht zur
Forderung, noch weniger zur Verwirklichung einer auf
diesen gemeinsamen Kulturinhalt und das nationale Kultur-
bewußtsein sich aufbauenden nationalstaatlichen Organi-
sation geführt, so etwa, wie aus der deutschen nationalen
Kultur der deutsche nationale Staat erwachsen ist. In
politischer Hinsicht ist die römisch-italische Entwicklung
dem Charakter nationaler Bildung im Altertum am nächsten
gekommen. Ein italisches Gesamtvolk mit gemeinsamer
politischer Organisation, die den italischen Gemeinden als
solchen zukam, ist von Rom geschaffen worden. Aber ein
wirklicher italischer Nationalstaat als dauernde Zusammen-
fassung der geschichtlichen Kräfte dieses italischen Volkes
hat sich nicht gebildet. Er ist vielmehr im römischen Welt-
reich untergegangen, sowie vorher die Ansätze zu einem
makedonischen Nationalstaat, die in der großartigen poli-
tischen Schöpfung Philipps II. uns entgegentreten, in der
Weltherrschaft Alexanders des Großen untergegangen sind.
Noch weniger als die Entwicklung der beiden klassischen
Völker hat die Geschichte des alten Orients unter dem Zeichen
großer nationaler Bildungen — im modernen Sinne — ge-
standen, wenn es auch an Ansätzen hierzu nicht völlig
gefehlt und die tiefer dringende Forschung uns die Wirk-
samkeit ursprünglich verschiedener Volksindividualitäten
292 J. Kaerst,
in dem scheinbar einförmigen Bilde orientalischer Herr-
schaftssysteme deutlicher kennen gelehrt hat. Von den großen
altorientalischen Mächten läßt wohl die ägyptische uns am
meisten die gemeinsame Geschichte und Kultur eines be-
stimmten Volkes erkennen. Viel weniger ist dies in Babylon
der Fall. Der persische Staat erhebt sich allerdings auf dem
Boden einer gewissen Gesamtkultur iranischer Stämme, die
namentlich auf dem Gebiete der Religion ausgeprägt ist.
Aber von einem nationalen iranischen Gesamtstaate kann
nicht die Rede sein. Das persische Volk bildet in Wahrheit
nur einen herrschenden Stamm oder eine Gruppe von herr-
schenden Stämmen innerhalb des iranischen Gesamtvolkes.
Gewiß hat auch der allgemeine Charakter altorientalischen
Staatslebens, das unbedingte Vorwiegen despotischer Re-
gierungsform, wesentlich dazu beigetragen, daß es so wenig
zu dauernder selbständiger und schöpferischer Entfaltung
nationalen Wesens gekommen ist.^)
Jedenfalls ist die allgemeine Tendenz, in der das ge-
schichtliche Leben des Altertums verläuft, das Gesamt-
ergebnis, mit dem die Entwicklung des Altertums abschließt,
völlig klar. Es ist der größte Gegensatz zu den vorherrschen-
den Tendenzen unseres modernen historischen Lebens.
Hier große, in sich zusammengefaßte nationale Bildungen,
dort die universalen Gestaltungen eines Weltreichs und einer
Weltkultur, worin alle ursprünglich selbständigen Elemente
politischen und kulturellen Lebens in einem großen Ver-
mischungs- und Nivellierungsprozesse untereinander aus-
geglichen erscheinen.
Man hat nun allerdings gemeint, einen wichtigen Pa-
rallelismus in der antiken und modernen Entwicklung auf-
weisen zu können. Eine bestimmte Periode des Altertums,
die hellenistische, scheint eine bedeutsame Analogie zu der
Neuzeit zu bieten und eben deshalb die Bezeichnung als
einer wesentlich modernen zu verdienen. Große Mächte
stehen in dieser Zeit in einem gewissen tatsächlichen Gleich-
gewicht nebeneinander und einander gegenüber. Das System
0 Von der eigenartigen israelitischen Entwicklung, in der das
Volkstum selbst vor allem durch die Jahvereligion geschaffen wird,
sehe ich hier ab.
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universa]g6sch. Anschauung. 293
der modernen großen europäischen Mächte^) scheint hier
schon vorgebildet zu sein. Die Analogie hat zunächst etwas
Bestechendes. Indessen bei genauerer Betrachtung zeigt
sich doch auch hier wieder eine wesentliche Verschiedenheit. 2)
Die Idee eines Systems von großen Mächten ist überhaupt
wohl der hellenistischen Zeit fremd geblieben. Wir können
nur von einem Gleichgewichte der herrschenden Persön-
lichkeiten und Dynastien und damit allerdings auch in
technischem Sinne der diesen zur Verfügung stehenden
Machtbildungen reden. Das Recht der einzelnen Macht
beruht ja auch in der Hauptsache nur auf dem persön-
lichen Ansprüche der Herrscher, besonders der Be-
gründer der herrschenden Dynastien, auf das ihnen durch
Eroberung zugefallene Land, die doqUxi^rog yiöqu.^) Es
sind persönliche Herrschaftsbildungen die sich so — bei
wesentlich gleichen Machtmitteln der Herrscher — in ge-
wissem Sinne das Gleichgewicht halten, aber keine auf sich
selbst ruhenden staatlichen Gebilde, die in der inneren
Geschlossenheit und Selbständigkeit ihres nationalen Lebens
ein festes Fundament ihrer politischen Verhältnisse und
ihrer Machtbehauptung haben.*) So ist es eine für die innere
Gestaltung der hellenistischen Staatenwelt sehr bezeichnende
Tatsache, daß für die griechischen Städte im Seleukiden-
reiche sich die Grundlage ihrer politischen Stellung weniger
aus dem Reichszusammenhange, dem sie territorial angehören,
an sich als aus dem Verhältnis, in dem sie zu der Person
des Herrschers und zu seiner Dynastie stehen, ergibt.^)
1) Vgl. hierüber jetzt v. Caemmerer in der Festschrift für M, Lenz,
S. 265 ff.
*) Vgl. hierzu meine Bemerkungen, Gesch. d. hellenist. Zeitalters
II, 1, S. 331 und weiter die Ausführungen von 0. Hintze, Histor. u.
polit. Aufsätze IV, S. 148 f.
^) Auch in dieser Hinsicht bietet die italienische Renaissance
in ihren staatlichen Bildungen wohl wieder die größte Ähnlichkeit mit
dem Altertum.
*) Etwas anderes sind natürlich die auf dem Boden griechischer
Stadtfreiheit erwachsenen Staaten, wie z. B. Rhodos oder die in ge-
wissem Sinne noch auf volkstümlichem Grunde ruhenden Machtbil-
dungen, wie das makedonische Königtum, zu beurteilen.
*) Allerdings fehlt es auch nicht an Ansätzen zu einer Entwicklung
des Reichsgedankens im territorialen Sinne; aber es sind eben nur Ansätze.
294 J. Kaerst,
Gewiß hat die Neuzeit mit der hellenistisclien Periode in-
sofern Ähnlichkeit, als auch in ihr die Macht- und Herrschafts-
zwecke der Dynastien vielfach die Politik der großen Staaten
bestimmen. Aber das ist eben für die moderne Entwicklung
im Unterschiede von der hellenistischen charakteristisch,
daß diese dynastischen Bestrebungen immer mehr der Heraus-
gestaltung großer innerer Lebenstendenzen und sachlicher
Zusammenhänge, die durch das nationale Gesamtleben
repräsentiert werden, zum Teil dienen, zum Teil weichen
müssen. Weiter ist es selbstverständlich, daß die äußeren
Machtverhältnisse auch der modernen großen Staaten wech-
selnde und vielfach schwankende sind, daß jeder einzelne
nur durch besondere Anstrengungen und Mittel der Macht-
entfaltung seine politische Stellung und damit auch seine
nationale Selbständigkeit behaupten kann. Aber ebenso-
wenig kann auf der andern Seite bestritten werden, daß
diese Mächte große, geschichtlich zusammengewachsene
Ganze bedeuten, denen in der eigenartigen geschichtlichen
Kraft, mit der sie ihre nationalen Lebenstendenzen ver-
wirklichen, eine gewisse innere Notwendigkeit gesonderten
und selbständigen Bestandes zukommt. Es gehört gewisser-
massen zur inneren Konstitution dieser modernen Staaten-
und Kulturwelt, daß einzelne selbständige Mächte als wesent-
lich gleichberechtigte Glieder eines in sich zusammenhän-
genden Gesamtsystems nebeneinander stehen, nicht bloß
durch die gleichen Mittel äußerer Machtbehauptung, sondern
vor allem auch durch die eigentümlichen Kräfte besonderen
geschichtlichen Lebens.^) Das moderne gechichtliche Kul-
turbewußtsein gründet sich zu einem wesentlichen Teile
auf dieses Nebeneinander der großen nationalen Staaten
und Kulturen. Es ist natürlich ebenso ein Erzeugnis der
neuzeitlichen politischen Konstellation, wie es wieder auf
die Stärkung und Erhaltung der modernen politischen Ver-
hältnisse hinwirkt.
So verstehen wir es, bei tieferer Betrachtung, daß die
großen Mächte der hellenistischen Periode das Endschicksal
^) Vgl. zu obigem besonders Rankes Abhandlung: ,,Die großen
Mächte", Werke Bd. 24.
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch.Anschauung. 295
der antiken Welt, in einem umfassenden Weltreiciie aufzu-
gehen, nicht abzuwenden imstande gewesen sind. Sie haben
zu wenig innere Konsistenz zu gewinnen vermocht. Es fehlt
ihnen die geschichtliche Tiefe.^) Und die kleineren Mächte,
die das Erbe der griechischen Polis vertraten, haben nicht
genügende politische Kraft gezeigt, um in umfassenderen
Machtbildungen auf dem Boden ihres eigenen Prinzips
eine Selbständigkeit des ihnen eigentümlichen staatlichen
Lebens zu behaupten.
Allerdings bringt nun die im ausgehenden Altertum
erfolgende universale Zusammenfassung einer einheitlichen
Kulturwelt in einem großen Weltkulturstaate eine für die
allgemeine geschichtliche Entwicklung unendlich bedeut-
same Idee zum Ausdruck. Es ist die Idee der inneren Zu-
sammengehörigkeit der Kulturmenschheit. Aber es ist doch
wesentlich, daß diese Idee im Altertum eben eine für dessen
besondere Entwicklung charakteristische Verwirk-
lichung findet. Damit ist aber ein bedeutsamer Unterschied
von verwandten Strömungen modernen geschichtlichen
Lebens gegeben. Im Altertum gipfeln die auf die Einheit
menschlicher Kultur gerichteten Bestrebungen in einer
umfassenden staatlichen Organisation und der obersten
Gewalt eines einheitlichen Kulturreiches. Auch die Theorie
hält durchaus an einem, wenn auch zum Teil in unbestimmten
Formen gedachten Weltstaat und seiner einheitlichen Leitung
fest. Der kosmopolitische Universalismus der Neuzeit
kristallisiert sich in der Idee eines Staatenbundes, der das
friedliche und gerechte Nebeneinanderleben der verschie-
denen selbständigen Glieder des gemeinschaftlichen Systems
der Kulturstaaten ermöglichen soll.
Wir sehen die moderne nationale Entwicklung durch
innere Beziehungen mit dem Altertum verknüpft, aber zu-
gleich wieder durch eigentümliche, neue Kräfte und Ten-
denzen von diesem unterschieden und geschieden. Im Alter-
^) Daß auch bei ihnen zum Teil geschichtliche Traditionen, wie
vor allem beim ptolemäischen Reiche die des alten ägyptischen König-
tums, auch beim seleukidischen Königtum diejenigen einer großen
vorderasiatischen Herrschaftsbildung eine gewisse Rolle gespielt haben,
soll damit nicht bestritten werden.
296 J. Kaerst,
tum löst sich die Kultur immer mehr von den ursprünglichen
Schranken der Nationalität los. Sie gewinnt als die Kultur
einer einheitlichen Kulturmenschheit einen universalen Cha-
rakter. Die Idee der einheitlichen Kulturmenschheit lebt
im Mittelalter fort und bildet sich weiter in der Idee einer
einheitlichen, durch bestimmte Organisationsformen und
verpflichtende Ordnungen verbundenen christlichen Mensch-
heit. In dem universalen organisatorischen Zusammen-
hange, wie er zunächst durch das römische Weltreich, dann
durch christliche Kirche und christliches Imperium ver-
körpert ist, sind die Voraussetzungen für unsere modernen
vielgestaltige, aber zugleich von dem Bewußtsein eines
einheitlichen Kulturzusammenhanges erfüllte geschichtliche
Welt gegeben. Ihre großen nationalen Bildungen haben sich
aus dieser Einheit heraus gestaltet. Aber anderseits setzt
nun eben hier eine neue, anders geartete Entwicklung ein,
insofern die Einheit des Kulturzusammenhanges vorwiegend
als eine innerliche gefaßt wird^) und ihre Verwirklichung
in der größeren Weite modernen Lebens nicht die besonderen
und eigenartigen Gestaltungen nationaler Kultur ausschließt,
sondern im Gegenteil gerade in diesen erst in lebensvollster
Weise sich vollzieht.
Und dürfen wir nun nicht in den beiden Erscheinungen,
die wir als besonders bezeichnend für das geschichtliche
Wesen der Neuzeit hinstellten, einen gewissen inneren
Parallelismus wahrnehmen? Auf der einen Seite das Per-
sönlichkeitsideal, das zur Anerkennung des Nebeneinander
der Persönlichkeiten in ihrem selbständigen Eigenwert,
der Schätzung persönlichen Lebens als der innerlich freien
und tiefen Ausprägung eines gemeinsamen geistigen Welt-
inhaltes führt. Auf der anderen Seite das Nebeneinander
1) Natürlich prägt sich diese Einheit auch in einer Reihe von
äußeren Bestrebungen und Institutionen aus; ich brauche hier nur
auf das moderne Völkerrecht und seine humanitären Tendenzen hin-
zuweisen. Daß es gerade unter dem Einflüsse der modernen Mittel
der Technik, des dadurch bedingten Weltverkehrs, — zum Teil auch
einer bestimmten Ausprägung weltbürgerlicher Humanitätsideen —
nicht an Tendenzen mangelt, die innere Kraft des besonderen natio-
nalen Lebens durch internationale Ausgleichung und Nivellierung ab-
zuschwächen, möge auch kurz angedeutet werden.
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 297
der Nationalitäten oder Nationaiindividuen, die in der
Selbständigkeit eigentümlichen Wesens den Reichtum histo-
rischen Lebens und die Innerlichkeit und Freiheit geistiger
Kultur darzustellen berufen sind.
Das hellenische Kulturbewußtsein wird gerade in der
Zeit der glänzendsten Entfaltung der schöpferischen Kräfte
der Kultur durch eine Ausschließlichkeit charakterisiert,
die in dem Gegensatze der Hellenen gegen die Barbaren
ihren sprechendsten Ausdruck gefunden hat. Dieser Gegen-
satz gegen die Barbaren tritt nun allerdings mit dem Nieder-
gange der griechischen Polis, vor allem aber unter dem
Einflüsse der Idee des Allgemein-menschlichen zurück.
Indessen das Allgemein-menschliche wird — im Unter-
schiede von modernen Anschauungen — weniger in der
Fülle verschiedener, in der Besonderheit eigenen Wesens
berechtigter und wertvoller Charaktere^), in der Selbständig-
keit der einzelnen Volksindividualitäten erblickt. Sondern
es wird vorwiegend an einem bestimmten Idealinhalte
menschlich-vernünftigen Wesens, als dessen Verkörperung
vor allem die hellenische Kultur erscheint, gemessen. So
zeigt sich in der antiken Humanitätsidee, bei aller univer-
salen Ausgestaltung der Anschauung, doch eine gewisse
Ausschließlichkeit des Denkens, die alle besonderen Aus-
prägungen des Kulturlebens der Herrschaft des allgemeinen
vernünftigen Gesetzes unterwerfen möchte. 2) Sie findet in
dem ökumenischen Charakter des einheitlichen römischen
Weltreiches ihre Parallele.
Gewiß ist es etwas Großes, daß das griechische Volk,
wohl zum ersten Male in der Geschichte, zusammenfassend
sein eigenes Wesen zum Gegenstande der Betrach-
1) Vgl. I Aufsatz (H. Z. 106) S. 488 f.
2) An sich ist dieser Zug ja in gewissem Sinne überhaupt im
Wesen des Rationalismus begründet und tritt dementsprechend auch
in der modernen Aufklärung auf. Aber er hat eben hier die tiefere Er-
fassung besonderen geschichtlichen Lebens auf die Dauer nicht zu
verhindern vermocht. Und der Universalismus Fichtes und anderer
Vertreter der deutschen idealistischen Bewegung unterscheidet sich
von dem hellenischen Universalismus doch wesentlich durch die
Richtung auf die Herausbildung eines tieferen geschichtlichen National-
bewußtseins. Vgl. I Aufs. (H. Z. 106) S. 518f.
298 J. Kaerst,
tung gemacht hat. Aber es hat sich dabei vornehmhch als
einen Träger aligemein-menschHchen, vernünftigen Wesens
aufgefaßt. Seine Selbstbeurteilung ist eine weniger ge-
schichtlich als rational begründete. i)
Es kann nicht die Aufgabe dieser Erörterung sein, der
Mannigfaltigkeit der Kräfte und Ziele, von denen die mo-
derne geschichtliche Entwicklung bestimmt wird, genauer
nachzugehen. Nur auf einige wenige Momente soll noch
ganz kurz hingewiesen werden.
Mit den großen nationalen Bildungen der Neuzeit
stehen weitere bedeutsame Erscheinungen in engem Zu-
sammenhange. Die moderne Volkswirtschaft als
Zusammenfassung der wirtschaftlichen Kräfte und Aufgaben
eines nationalen Ganzen^), die nationalstaatliche
Souveränitätsidee, die überhaupt erst in vollem
Maße den Souveränitätsgedanken des modernen weltlichen
Staates zum Ausdruck gebracht hat, sind eigentümliche
Ausprägungen geschichtlichen Wesens, zu denen wir im
Altertum keine volle Analogie finden. Von der größten
Bedeutung ist aber vor allem das in der germanisch-christ-
lichen Welt ausgebildete Repräsentativprinzip,
das in einer dem Altertum noch wesentlich fremden Weise
es ermöglicht, die selbständige Betätigung politischen Lebens
mit den Aufgaben großer staatlicher Machtbildungen zu
verbinden.
Es braucht endlich nur andeutend berührt zu werden,
welch großen Einfluß die in der Neuzeit erfolgte völlige
Verschiebung des geographischen Mittelpunktes des
geschichtlichen Lebens, die dadurch bedingte Erweiterung
des Horizontes, zuletzt die auf den Mitteln moderner Technik
beruhende Erschließung einer neuen umfassenden Welt
auch auf die inhaltliche Neugestaltung geschichtlichen
Wesens ausgeübt haben. Gegenüber der geographisch
^) Daß hierbei auch die Begrenztheit und verliältnismäßige
Jugend der geschichtlichen Erfahrung des Altertums eine nicht un-
wichtige Rolle spielt, ist natürlich nicht außer acht zu lassen.
2) Vgl. Schmoller, Umrisse und Untersuchungen z. Verfassungs-,
Verwaltungs- u. Wirtschaftsgeschichte, S. 32 ff. Bücher, Entst. d.
Volkswirtschaf t3, S. 157 ff.
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 299
wesentlich abgeschlossenen Welt der Mittelmeerkultur sind
durch die Vorrückung nach Westen, an die Küsten des
Atlantischen Ozeans, ganz neue Bedingungen geschichtlicher
Bewegung und Entwicklung geschaffen worden. i)
Wir fassen zusammen: Es ist eine eigenartige Gesamt-
ansicht, die sich uns von den großen Tendenzen der Neu-
zeit gegenüber dem Altertum ergeben hat. Die neuen
Richtungen und Gestaltungen des geschichtlichen Lebens
gewinnen ihren charakteristischen Ausdruck in einem
eigentümlichen geschichtlichen Bewußtsein, das sich von
der antiken Anschauung wesentlich unterscheidet. Für
diese fanden wir es bezeichnend, daß sie von einer ge-
gebenen Welt ausgeht, in deren allgemeines Gesetz ohne
weiteres auch das geschichtliche Leben der Menächen, als
Ausfluß einer unverbrüchlichen Ökonomie der Natur, ein-
gereiht wird. Der naturgesetzliche Verlauf alles Geschehens,
— so sahen wir weiter — wird vorwiegend im Bilde eines
allgemeinen Kreislaufes betrachtet. 2) Es sind bestimmte
Grundformen, in denen sich nach dieser Auffassung
alles historische Leben abspielt, in deren allgemeinem
Charakter in gewissem Sinne schon das Schicksal der histo-
rischen Einzelbildungen beschlossen liegt. Die moderne
Anschauung dagegen ist erfüllt von der Idee einer in
der Geschichte sich entfaltenden geistigen Welt. Das
historische Bewußtsein der Neuzeit gründet sich auf den
Eigenwert der Persönlichkeit, der Nation, zuletzt auch der
Menschheit selbst als eines sich geschichtlich entwickelnden,
nicht bloß naturbestimmten Ganzen. Das spezifisch moderne
Bewußtsein der Neuzeit prägt sich zunächst, wenn auch noch
in rationalistischer Einseitigkeit, vor allem in dem Glauben
an eine fortschreitende geschichtliche Aufwärtsbewegung der
Menschheit aus.^) Gegenüber der im Altertum vorherr-
^) Sehr scharf und entschieden hat die Bedeutung dieses Momentes
Ranke in der Einleitung zur engl. Geschichte hervorgehoben.
2) Ich weise hier auch auf die charakteristische Ansicht von
einem Kreislauf in den mores, die bei Tacitus, ann. 111,55 ausge-
sprochen ist, hin. In gewissem Sinne ist diese Auffassung schon durch
Piaton vorgebildet.
3) Vgl. I Aufsatz (H. Z. 106), S. 480 ff.
300 J. Kaerst;
sehenden Ansicht, die — trotz einzelner beachtenswerter
Ansätze zu einer tieferen Würdigung des GeschichtUchen —
vornehmlich von der allgemeinen Naturbedingtheit alles
historischen Lebens ausgeht, erscheint dieses in der modernen
Auffassung in höherem Maße in eine Sphäre der Selbstän-
digkeit, ich möchte sagen, der Eigenbewegung hinauf-
gehoben.
Somit tritt uns das Verhältnis der geschichtlichen
Kultur des Altertums zu derjenigen der modernen Welt als
ein außerordentlich kompliziertes entgegen. Einerseits dürfen
wir unstreitig den Gesichtspunkt des Parallelismus geltend
machen. Die Vertiefung und Verfeinerung des Seelen-
lebens, die Entfaltung wissenschaftlichen Denkens und For-
schens, die Ausbildung technischer Macht- und Genußmittel
einer reich entfalteten und vielfach differenzierten Kultur
sind Erscheinungen, die uns berechtigen, von analogen Ten-
denzen und Richtungen antiker und moderner Entwicklung
zu reden. Aber ebenso klar treten wieder die tiefgehenden
Unterschiede hervor, die dem modernen historischen Leben
ein eigentümliches Gepräge gegenüber dem des Altertums
verleihen. Und die Tatsache der Kontinuität, die gerade
beim Übergang vom Altertum zur Folgezeit so deutlich
erhellt, erlaubt es nicht, die Geschichte des Altertums in
dem Maße, wie es die klassizistische Auffassung annahm
und wie es auch heutzutage noch vielfach gilt, als eine ab-
geschlossene zu betrachten. Vielmehr erscheint die Antike
in wichtigen Beziehungen als der Lebensgrund, auf dem
große und einflußreiche Entwicklungen der Folgezeit sich
vorgebildet haben. Die umfassende Bedeutung der auf
diesem Grunde erwachsenen Ideen und Institutionen läßt
sich aber nur recht ermessen, wenn wir sie in ihrer univer-
salen historischen Auswirkung verfolgen.
So sehen wir nun aber gerade unter dem Einflüsse
universalhistorischer Betrachtung das ausgehende Altertum
in einer anderen Perspektive, als wenn wir es nur unter
dem Gesichtspunkte des Verfalles und Zusammenbruches
eines in sich selbst abgeschlossenen, höchst entwickelten
Kulturweltalters auffassen. Die antike Humanitätsidee
ist allerdings erst in einer Zeit zur vollen Entfaltung ge-
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 301
kommen, in der die ursprünglichen, schöpferisciien Kräfte
des Griechentums vielfach schon zu versagen beginnen und
ein Niedergang der Freiheit und Selbständigkeit antiker
Kultur sich anzeigt. Trotzdem werden wir diese Idee nicht
als ein Produkt des Verfalles der antiken Kultur bezeichnen
können. Sie ist vielmehr ein kostbares Vermächtnis, das der
griechische Genius aus der Tiefe seines Wesens der Folgezeit
hinterlassen hat. Sie greift in ihrer Bedeutung weit über
die Schranken der Geschichte des Altertums hinaus. Und
die religiöse Entwicklung des späteren Altertums, die im
Christentum gipfelt, zeigt inmitten der zunehmenden Müdig-
keit des allgemeinen Kulturlebens neue Kräfte geschicht-
licher Bewegung, neue Ideale des geistigen Lebens, die als
solche die Grundlage unserer eigenen historischen Entwick-
lung gebildet haben. Der Glaube an ein überweltliches
Prinzip hat neue Tiefen des seelischen Lebens erschlossen. i)
Schon in der platonischen Philosophie tritt uns die Schei-
dung einer höheren geistigen Wirklichkeit von der unmittel-
bar vorliegenden, in der sinnlich erfahrbaren Welt gegebenen
Wirklichkeit entgegen. 2) Diese Richtung der Anschauung
ist nun aber zu stärkerem Einflüsse erst im ausgehenden
Altertum gelangt und hat ihre volle geschichtliche Wirkung
erst im christlichen Weltalter gewonnen. Die Ideen des
Altertums führen also auch hier über die zeitliche Grenze
der selbständigen Entwicklung antiker Kultur hinaus.
In den mystischen Religionen des spätem Altertums kommen
gegenüber dem reinen Erkennen neue Formen geistigen
Erlebens zur Geltung, die, zunächst noch schwärmerisch
und ekstatisch, in ihrer späteren Abklärung für die tiefere
1) Dies ist im wesentlichen wohl, was Harnack das „Geheim-
nis der alten Geschichte" nennt. Vgl. „Universität und Schule",
Vorträge auf der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner
zu Basel 1907, S. 32 f. 36 f. = Harnack, „Aus Wissenschaft und Leben"
I, S. 83 ff. Vgl. auch die Schlußbemerkungen von F. Cumont in der
Vorrede zu seinem Werke: „Les religions orientales dans le paganisme
romain", p. XXII.
2) Piaton hat hier zugleich ältere Ideen, religiöse der orphischen
Bewegung wie philosophische, die in der eleatischen Lehre gegeben
waren, weitergebildet und zu vollendetem Ausdruck in einer einheit-
lichen philosophischen Weltanschauung gebracht.
Historische Zeitschrift (111 Bd.) 3. Folge 15. Bd. 20
302 J. Kaerst,
Entfaltung modernen seelischen Lebens Bedeutung erlangt
haben.
Wir haben bisher von einem bestimmten universal-
historischen Verhältnis aus — demjenigen, in dem die antike
Kultur zu unserem eigenen geschichtlichen Leben steht —
das Wesen des Universalhistorischen zu bestimmen versucht.
Wir müssen jetzt das gewonnene Ergebnis noch weiter
stützen und zum Abschluß bringen mit Rücksicht auf zwei
wesentliche Einwendungen, die gegen die hier vertretene
Anschauung erhoben werden können. Einerseits ist es eine
andere allgemeine Auffassung des Universalgeschichtlichen,
mit der wir uns auseinanderzusetzen haben, anderseits wird
das besondere Recht einer spezifischen, auf das Altertum
sich beziehenden historischen Wissenschaft, der klassischen
Altertumswissenschaft, der universalhistorischen Betrachtung
entgegengestellt. Mit diesem besonderen Rechte einer
in der tatsächlichen Entwicklung zu starker Selbständigkeit
erwachsenen Wissenschaft verbindet sich, wie es scheint,
noch ein allgemeineres Interesse der wissenschaftlichen For-
schung, das in der Notwendigkeit einer möglichst allseitigen
Durcharbeitung und Beherrschung eines bestimmten For-
schungsgebietes liegt.
Fassen wir zunächst die Stellung der Altertumswissen-
schaft in das Auge.
Die Idee der Altertumswissenschaft als einer besonderen,
auf die Gesamterforschung des klassischen Altertums zielenden
geschichtlichen Wissenschaft ist ein Erbe, das die klassi-
zistische Auffassung der Folgezeit hinterlassen hat.^) Der
Anspruch dieser Wissenschaft, einen in sich begrenzten Zur
sammenhang geschichtlicher Forschung zu bilden, wird
begründet durch die Einheit und Abgeschlossenheit ihres
Objektes. Als dieses erscheint die in sich selbst abgeschlos-
sene geschichtliche Kultur des Altertums. Nur die „gemein-
same Methode" stellt dann die Verbindung zwischen dem
Forschungsgebiete des Altertums und den andern histori-
schen Forschungsgebieten her. 2)
1) Vgl. H. Z. 106, S. 499 ff.
*) V. Wilamowitz, Reden und Vorträge, S. 132; vgl. auch S. 104.
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 303
Nun ist es gewiß richtig, die Aufgabe der Wissenschaft
durch das Objekt zu bestimmen. Aber das klassische Alter-
tum bildet, geschichtlich betrachtet, kein in sich abgeschlos-
senes Objekt. Die ursprüngliche Grundlage der als besondere
Wissenschaft konstituierten klassischen Altertumswissen-
schaft, die Vorstellung von einer abgeschlossenen Entwick-
lung einer bestimmten (der griechischen) Nation oder zweier
nahe verwandter Nationen (der griechischen und lateinischen)
ist durch die Erweiterung des historischen Horizontes be-
seitigt. Zunächst darf schon die Erkenntnis, daß auch die
griechische Entwicklung auf dem Boden einer älteren, um-
fassenden Kultur sich herausgebildet hat, jetzt als Gemein-
gut der Forschung angesehen werden. Vor allem aber steht
die Geschichte des Altertums in einem großen Zusammen-
hange mit der folgenden Entwicklung. Das Objekt der For-
schung ist somit das geschichtliche Leben, das sich in diesem
universalen Zusammenhange entfaltet hat. Läßt sich die
Abgeschlossenheit der antiken Entwicklung nicht aufrecht-
erhalten, So schwindet eben zugleich jene ,, Einheit des
Objektes", die v. Wilamowitz für das alleinige Recht einer
besonderen Altertumswissenschaft auf die geschichtliche
Erforschung des Altertums geltend macht. Es tritt ein um-
fassenderes Ganzes als Objekt der historischen Forschung
an die Stelle des Altertums. Damit wird aber der Begriff
der klassischen Altertumswissenschaft als einer selbständigen
in sich begrenzten und abgeschlossenen geschichtlichen
Wissenschaft innerlich aufgehoben.
Wir sehen hier einen wesentlichen Unterschied der
eigentlichen Geschichtswissenschaft von der klassischen
Philologie. Die klassische Philologie ist an bestimmte
Sprachen und die sich darauf aufbauende Literatur, an die
Kultur, die hierin ihren Ausdruck gefunden hat, gebun-
den. Sie ist durch ihr Objekt im wesentlichen auf das
Altertum beschränkt, i) Die Geschichtswissenschaft strebt
1) Ganz läßt sich allerdings diese Grenze nicht innehalten, wie
schon die mittelalterlich-lateinische Philologie beweist. Das Fort-
leben lateinischer Sprache im Mittelalter (und darüber hinaus) ist
ja aber auch selbst wieder ein Zeugnis für die Kontinuität der all-
gemeinen geschichtlichen Entwicklung.
20*
304 J. Kaerst,
mit innerer Notwendigkeit über die Grenze des Altertums
hinaus.
Die klassizistische Auffassung hat — trotz ihrer Ein-
seitigkeit — der modernen Altertumsforschung eine große,
für die geschichtlich-wissenschaftliche Erkenntnis wichtige
Aufgabe gestellt, die Aufgabe, ein allseitiges Verständnis der
antiken Gesamtkultur anzustreben. i) Die moderne Alter-
tumsforschung hat dieser Aufgabe eine bewunderungs-
würdig vielseitige und energische Arbeit gewidmet. Ein
solches umfassendes Verständnis antiker Kultur muß aber
in einer lebendigen Gesamtanschauung ihrer geschicht-
lichen Stellung gipfeln. Diese läßt sich nur durch eine Be-
trachtung, die nicht ihren Standort innerhalb des Altertums
selbst nimmt, erzielen. So wichtig es ist, die Auffassung,
die die Alten selbst von ihrer eigenen Kultur hatten, zu re-
konstruieren^), so kann doch die historische Forschung
hierbei nicht stehen bleiben. Die Kräfte und Werte antiker
Kultur erscheinen einer universalhistorischen Ansicht viel-
fach in anderer Perspektive als den Alten selbst. Die bedeut-
samsten Schöpfungen politischen wie geistigen Lebens, die
dem griechischen Denken zum Teil in allgemeiner ratio-
naler Begründung entgegentreten, gewinnen erst in univer-
salgeschichtlicher Beleuchtung, in der Beziehung zu anderen
großen Perioden historischer Entwicklung in vollem Maße
ihre besondere geschichtliche Färbung, ihren eigentlich ge-
schichtlichen Charakter.
Auch die Auswahl dessen, was als charakteristisch
und bestimmend zu gelten hat für geschichtliches Wesen
und Leben, was somit im eigentlichsten Sinne den Gegen-
stand historischer Forschung bildet, kann nur auf dem
Boden einer universalhistorischen Anschauung erfolgen.
Hier scheiden sich wieder Geschichte und Philologie. Wenn
die klassische Philologie — nach der Äußerung eines ihrer
1) Vgl. H. z; 106, s. 500.
2) Vgl. H. Z. 106, S. 528 ff. Natürlich ist auch wieder die Re-
konstruktion der Anschauungen antiker Autoren vielfach nicht mög-
lich ohne allgemeinere Kenntnis der Probleme und Erscheinungen
geschichtlichen Lebens.
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 305
hervorragendsten Vertreter^) — gleichermaßen ,,die Par-
tikel ar und die Entelechie des Aristoteles, die heiligen
Grotten Apollons und den Götzen Besas, das Lied der Sappho
und die Predigt der heiligen Thekla, die Metrik Pindars
und den Meßtisch von Pompeji, die Fratzen der Dipylon-
vasen und die Thermen Caracallas, die Amtsbefugnisse
der Schultheißen von Abdera und die Taten des göttlichen
Augustus, die Kegelschnitte des Apollonios und die Astro-
logie des Petosiris" zu erforschen hat, so gilt dies nicht für
die Geschichte. Der historische Erforschungswert bestimmter
Erscheinungen ist durch ihre Bedeutung für das geschicht-
liche Leben, im höchsten Sinne für das geschichtliche Ge-
samtleben, bedingt.2) Die sprachlichen, literarischen, zum
Teil auch kunstgeschichtlichen Forschungen führen vielfach
in besondere Zusammenhänge geistig-technischer Gestal-
tungen, die mit dem wirklich geschichtlichen Leben nur in
einer mittelbaren Verbindung stehen. Das eigentlich Tech-
nische gehört bloß in beschränktem Sinne der Geschichte an. 3)
Wenn wir für die besonderen Aufgaben der geschicht-
lichen Erkenntnis des Altertums das Recht und die Not-
wendigkeit der universalhistorischen Auffassung und For-
schung festhalten müssen, so entspricht dieses Ergebnis zu-
gleich dem allgemeinen Wesen historischer Wissenschaft.
Hier ist nun allerdings zunächst ein gewichtiger Einwand
zu berücksichtigen. Ist nicht in den tatsächlichen Anfor-
derungen der wissenschaftlichen Arbeit die Beschränkung
gegeben? Wird nicht damit die universalhistorische For-
schung von vornherein zu einer Utopie? Zwar wird heutzu-
tage eine Forschung, die wirklich der Erkenntnis dienen will,
^) V. Wilamowitz, Reden und Vorträge, S. 105.
2) Sehr treffend bezeichnet es schon Ranke als Aufgabe der
modernen Historiographie, ,,daß sie alle Elemente des Lebens, die
zu der universalen Entwicklung mitwirken, zusammenzufassen und
zur Anschauung zu bringen sucht" (Werke 51/52, S. 580).
*) „Bei der Geschichte der Chemie liegt der Ton unzweifelhaft
auf Chemie, nicht auf Geschichte", sagt Treitschke treffend (Histor.
u. polit. Aufsätze IV, S. 450). Natürlich kann die Tatsache einer weit-
gehenden technischen Ausgestaltung einer Kultur für ihren allge-
meinen geschichtlichen Charakter große Bedeutung erhalten, wie es
z. B. mit der hellenistischen und mit der modernen Kultur der Fall ist.
306 J. Kaerst,
wohl nicht mehr in der ausschiießHchen Beschäftigung mit
einem speziellen Gebiete das non plus ultra aller Wissen-
schaftlichkeit erblicken. Aber die Beschränkung der For-
schung scheint doch, so kann man meinen, allein eine wirk-
liche Beherrschung eines bestimmten Forschungsgebietes,
die Gewinnung eines fruchtbaren Mittelpunktes für die
Forschungsarbeit zu ermöglichen. Einer solchen Beschrän-
kung der Forschung gegenüber muß indessen auf das ent-
schiedenste betont werden, was Ranke schon am Anfange
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ausgesprochen hat, daß
alle historische Forschung ihrem Wesen nach universal ist.
Wohl besteht ein gewisser Widerstreit zwischen den indi-
viduellen Kräften des Forschers, dem technisch-wissenschaft-
lichen Interesse der vollen Beherrschung eines bestimmten
Stoffgebietes auf der einen Seite und der universalen Auf-
gabe geschichtlicher Anschauung anderseits. Dieser Wider-
streit kann — bei der heutigen Erweiterung und Vertiefung
der wissenschaftlichen Einzelarbeit — kaum noch in vollem
Maße von dem einzelnen Forscher sondern nur von dem
Ganzen der Forschung überwunden werden. Aber über-
wunden werden muß er um der inneren Kraft und Leben-
digkeit historischer Auffassung selbst willen. Wenn alles
geschichtliche Leben sich darauf aufbaut, daß die Hand-
lungen der Menschen ein Kontinuum bilden, einen über die
unmittelbare Naturbasis und den Augenblick hinausrei-
chenden Zusammenhang hervorrufen, so wird der Charakter
geschichtlichen Lebens in dem Maße gesteigert, je tiefer
dieser Zusammenhang begründet wird, je weiter er reicht
und fortwirkt. 1) Durch das Wesen historischer Vorgänge
und historischer Entwicklung ist auch das Wesen historischer
Anschauung und Forschung bedingt, die Notwendigkeit
1) In der Bedeutung, die das Moment kontinuierlichen Fort-
wirkens für die Geschichte hat, ist es auch begründet, daß alle die-
jenigen Äußerungen historischen Lebens besonders wichtig für die
historische Betrachtung sind, in denen der vereinigte Wille einer
Gesamtheit zur Geltung gelangt. Hierin liegt eine vorzüglich geschichts-
bildende Macht und Kraft. Vornehmlich gilt dies vom Staate.
Er ist ja diejenige Organisation, die vor allem auf einer die einzelnen
unbedingt und dauernd verbindenden und bindenden Einheit des
Wollens und Handelns beruht.
Studien z.Eiitwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 307
einer möglichst umfassenden Ausdehnung des Gesichts-
kreises gegeben. Der Gedanke der geschichtlichen Kon-
tinuität ist ein im tiefsten Sinne universalhistorischer Ge-
danke. Die Kontinuität historischen Lebens läßt sich nicht
durch allgemeine Vernunftgründe in ihrer inneren Notwen-
digkeit beweisen. Sie kann nur durch die historische Er-
fahrung selbst begründet werden. Sie bedeutet, daß unser
eigenes geschichtliches Leben einem umfassenden, universalen
Zusammenhang eingefügt ist.^) In der Erkenntnis dieses
Zusammenhanges erscheint die Vollendung und Krönung
historischer Forschung überhaupt. 2)
So ergibt sich sowohl aus dem allgemeinen Charakter
geschichtlichen Wesens wie vor allem den besonderen großen
Zusammenhängen der geschichtlichen Entwicklung die Idee
eines umfassenden historischen Gesamtlebens, das als solches
den Gegenstand historischer Betrachtung und Forschung
bildet. Gewiß soll der einzelne Forscher nicht immer dieses
letzte Ziel der Forschung im Munde führen. Aber es darf
ihm als höchster Inhalt und stärkste Kraft seiner wissen-
schaftlichen Arbeit doch stets vor Augen stehen. Die histo-
rische Forschung erhält durch die Beziehung hierauf ihren
^) Die innere Beziehung zwischen unserem eigenen geschicht-
lichen Wesen und der Gesamtentwicklung der geschichtlichen Mensch-
heit hat Rani<e schon in einem Briefe von 1826 an seinen Bruder Hein-
rich (Lebensnachr. S. 162) bestimmt hervorgehoben. — Ich brauche
wohl nicht ausdrücklich zu bemerken, daß ich hier zunächst nur von
derjenigen Entwicklung rede, mit der unsere eigene geschichtliche
Kultur in einer nachweisbaren Verbindung steht. Damit ist aber
nicht gesagt, daß nicht auch diejenigen Kulturkreise, die außerhalb
dieses engeren Zusammenhanges stehen, für die universalgeschicht-
liche Betrachtung Bedeutung gewinnen könnten. Je umfassender das
moderne geschichtliche Gesamtleben sich gestaltet, je mehr es sich
über den ganzen Erdball ausdehnt, desto weiter werden auch die
Aufgaben der historischen Erkenntnis. Aber die nächste und größte
Aufgabe bleibt doch die immer vollere und tiefere Erfassung unseres
eigenen geschichtlichen Wesens.
^) Vgl. auch die schönen Worte von R. Sohm in der Vorrede
zum 1. Bd. seines Kirchenrechts, S. VII. — v. Wilamowitz aller-
dings, Reden und Vortr., S. 132 will die zusammenfassende Betrach-
tung der Geschichtsphilosophie vorbehalten wissen. Damit würde
die Einheit der wissenschaftlich-geschichtlichen Anschauung zer-
rissen.
308 J. Kaerst,
inneren Reichtum und ihre Tiefe. Auch die nationale Ge-
schichte, wie sie aus der allgemeinen Verflechtung histo-
rischen Geschehens hervorgeht, gewinnt ihre innerlich leben-
dige Begründung und die Rechtfertigung ihrer eigenen,
selbständigen Bedeutung vor allem im Zusammenhange mit
jenem allgemeinen historischen Leben. Dieses gibt erst in
vollem Maße aller geschichtlichen Einzelforschung ihre
innere Einheit. Es bildet durch seinen gemeinsamen Inhalt
das verknüpfende Band zwischen den einzelnen Sonder-
gebieten geschichtlicher Wissenschaft.
Die bisherige Darstellung hat das Universalhistorische
vor allem in einem gemeinsamen Inhalte der geschicht-
lichen Entwicklung nachzuweisen versucht. Damit ist die
früher aufgeworfene Frage nach dem Wesen des Universal-
historischen schon mittelbar beantwortet. Es bedarf aber
noch einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit einer An-
schauung, die das Wesen der universalgeschichtlichen Vor-
gänge durch bestimmte Formen, die für den Verlauf
des historischen Geschehens auf seinen einzelnen Stufen
charakteristisch sein sollen, bedingt werden läßt. Diese
Auffassung steht mit einer starken Strömung unserer gegen-
wärtigen geistigen Kultur in engem Zusammenhange. Sie ist
durch die Tendenz bedingt, in der Auffindung von Ge-
setzen das höchste Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis
zu erblicken. 1) Diese Tendenz ist hauptsächlich von den
Voraussetzungen eines vorwiegenfl naturwissenschaftlichen
Denkens aus, zum Teil auch auf Grund einseitiger Beob-
achtung der Massenerscheinungen erwachsen. Die Analogien
naturgesetzlich-biologischer Entwicklung dienen einer solchen
Anschauung als Grundlage für die Betrachtung des histo-
rischen Lebens. Das biogenetische Grundgesetz soll den
Schlüssel für das Verständnis auch der historischen Ent-
wicklung bieten. 2) Als „soziologisches Grundgesetz" wird
1) Auf die philosophische Seite des hier vorliegenden Problems
gehe ich nicht ein, sondern begnüge mich, die Förderung, die in dieser
Frage die Geschichtswissenschaft von der Philosophie erfahren hat,
dankbar hervorzuheben.
- 2) Vgl, vor allem H. Schneider, Entwicklungsgesch. d. Mensch-
heit I, S. VII ff. Schneider kündigt auch das Kommen eines Darwin
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 309
das Prinzip der fortschreitenden Vergesellschaftung, das
auf zunehmender Anpassung beruhe, zum Grundprinzip
für den historischen Gesamtverlauf erhoben. i) Die einzelnen
historischen Entwicklungsreihen erscheinen „als Einzelfälle
des durch das Gesetz der fortschreitenden Vergesellschaftung
aufgestellten Prinzipes".^) Was der historischen Forschung
als das Ergebnis eines einmaligen geschichtlichen Verlaufes,
besonderer historischer Bedingungen und Kräfte erscheint,
tritt hier als ein aus allgemeinen biologisch-soziologischen
Gründen vorauszusetzendes Gesetz auf, das durch die uns
bekannten geschichtlichen Erscheinungen im wesentlichen
nur illustriert und bestätigt wird.^)
der Geschichte an (S. IX). Breysig, „Der Stufenbau und die Gesetze
der Weltgeschichte" S. 121 ist geneigt, „der Gleichläufigkeit der seeli-
schen Entwicklung des Einzelnen und des Menschengeschlechtes in
der Geschichte" „die Bedeutung eines Gesetzes höherer Ordnung"
beizumessen. Vgl. auch die Bemerkungen von Lamprecht, Abh. d.
K. Sachs. Gesellsch. d. Wissensch. 57, 1909, S. 61. — Ich führe vor
allem Stimmen aus der neueren Literatur an.
*) L. M. Hartmann, „Über historische Entwicklung" 1905,
S. 57 ff.
2) Hartmann a. a. O. S. 62. O. Seeck will in seiner Geschichte
des Unterganges der antiken Welt „an einem charakteristischen Bei-
spiele in die Gesetze des historischen Werdens und Vergehens ein-
führen". Auch er geht ja von einer vor allem naturwissenschaftlich
begründeten Anschauung aus.
^) Die Abhängigkeit von den allgemeinen biologischen Voraus-
setzungen ergibt sich für die Anschauung Hartmanns aus dessen eigener
Darlegung S. 6 ff. Hartmann sucht die von ihm hervorgehobenen all-
gemeinen Tendenzen historischer Entwicklung durch einen Überblick
über die staatliche Entwicklung im Altertum zu veranschaulichen. In
diesem Überblicke kommen aber die besonderen geschichtlichen, poli-
tischen wie geistigen, Kräfte, die die Einheit der antiken Welt ge-
staltet haben, durchaus nicht genügend zu ihrem Rechte. Hartmann
spricht allerdings auch von dem ,, staatenbildenden Geist der römi-
schen Bauern", aber er sieht — charakteristisch genug — darin auch
erst eine Anpassung an die geänderten Verhältnisse
(S. 76). Von dem in der griechischen Kultur ausgeprägten Streben
nach einheitlicher, geistiger Zusammenfassung der Welt, das einen
der eigentümlichsten und wirksamsten Faktoren für die innere Begrün-
dung der einheitlichen Kulturwelt des Altertums darstellt, ist nicht
die Rede. Sehr bezeichnend für die Grundauffassung Hartmanns ist
das, was er im Anschlüsse an eine Bemerkung von Harnack, Mission
und Ausbreitung des Christentums S. 108 (= 2. Aufl. S. 129) bemerkt.
310 J. Kaerst,
Das entscheidende Interesse, das die historischen Vor-
gänge hervorrufen, knüpft sich also auf dem Boden dieser
Auffassung vor allem an die allgemeinen Formen des
historischen Verlaufes. i) Das Typische bedingt danach
den eigentlich wissenschaftlichen Charakter geschichtlicher
Erkenntnis. Es entspricht den Gesichtspunkten und Zielen
einer vornehmlich das Typische der historischen Erschei-
nungen aufsuchenden Forschung, wenn man von den kultur-
geschichtlichen Erkenntnissen urteilt, daß sie ,, letzten Endes
überhaupt nicht so sehr inhaltreicher, bildhafter,
wie formaler, evolutionistischer Natur" seien. 2) Als
die Aufgabe einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung
geschichtlichen Lebens wird es angesehen, ,, alles was heute
Harnack sagt: „(Das Evangelium) vergeistigt den unüberwindlichen
Trieb, der den Menschen zum Menschen zieht, und erhebt die gesell-
schaftliche Verbindung der Menschen über die Konvention hinaus
in den Bereich des sittlich Notwendigen." Hartmann (S. 78) erklärt,
daß dem Christentimi als sittlich notwendig erschien, was durch die
Organisation des römischen Reiches vorgebildet war. Also wieder
die von vornherein alle geschichtlichen Erscheinungen beherrschende
Anpassung. Und gelangt nicht eben auch im römischen Reiche als
einem einheitlichen Kulturreiche schon eine geschichtliche geistige
Kraft zur Geltung? Auch in der Skizze des Kapitalismus, die Hart-
mann S. 78 ff. zum Erweise des allgemeinen Assoziationsgesetzes gibt,
erscheint der „sogenannte" kapitalistische Geist nur als eine An-
passungserscheinung des menschlichen Bewußtseins an eine tatsäch-
liche Entwicklung (S. 81).
^) In geistvollen Erörterungen hat Hamann in seinem Buche
über den Impressionismus (1907) vom Gesichtspunkte impressionisti-
schen Lebens- und Kunststils das Wesen und innere Gesetz der Stil-
folge in der Geschichte zu beleuchten und danach die Aufeinander-
folge großer Kulturzeitalter zu bestimmen versucht. Hier ist allerdings
nicht das Besondere der geschichtlichen Erscheinungswelt in dem
Maße wie in anderen, auf das Typische ausgehenden Darstellungen
zugunsten allgemeiner Begriffe verflüchtigt. Aber der impressionisti-
schen Kultur ist doch zum Teil eine Weite der Ausdehnung gegeben,
die kaum als zulässig gelten kann; zum Teil darf es aber auch als zweifel-
haft angesehen werden (z. B. in der Zeichnung des hellenistischen
Zeitalters), ob wirklich die Darstellung, die Hamann von einzelnen
Kulturzeitaltern gibt, den geschichtlichen Gesamtcharakter dieser
Zeitalter genügend zum Ausdruck bringt.
2) Lamprecht, Abh. d. Kön. Sachs. Gesellsch. d. Wissensch.
Bd. 57, 1909, S. 51.
Studien z.Entwicklg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 311
als spezifisch national und spezifisch persönlich
gilt, so weit als irgend möglich in die a 1 1 g e m e i n e Ent-
wicklung des Menschen und des einzelnen Volkes auf-
zulösen".i) Das heißt doch: die Einzelpersönlichkeit und die
Nation haben, wenigstens für die wissenschaftliche Auf-
fassung, ihren eigentlichen Wert nicht in den beson-
deren Inhalten ihres Wesens und Lebens, die als
solche für das historische Bewußtsein eben zugleich Zwecke
in sich selbst bilden, sondern soweit sie die entscheidenden
Typen allgemeinen entwicklungsgeschichtlichen Werdens der
Menschheit darstellen.
Als Repräsentanten typisch-geschichtlicher Entwick-
lung erscheinen einer solchen Betrachtungsweise vor allem
die N a t i 0 n e n. Es ist bekannt, wie namentlich Lam-
precht die Lehre vom typischen Charakter der nationalen
Entwicklungen ausgebildet hat. ,,Die Nationen," so sagt
er^), ,,sind als Exemplare eines generellen nationalen Typs
zu begreifen mit regulär wiederkehrenden Momenten der
Entwicklung." Der typische Verlauf der nationalen Ent-
wicklungen prägt die regelmäßige Aufeinanderfolge der all-
gemeinen Kulturstufen oder Kulturzeitalter aus. Die Grund-
voraussetzung einer solchen universalhistorischen Betrach-
tungsweise ist, wie Lamprecht selbst betont^), „nationaler
Verlauf der menschlichen Geschichte und normaler Verlauf
der nationalen Entwicklungen". Die Nationen sind also
danach die Grundtypen regulär wiederkehrender Ent-
wicklungsformen.*) Sie bezeichnen dieVoraussctzun-
1) H. Schneider a. a. O. S. XV.
'^) Zeitschr. f. Geschichtswissenschaft, N. F. I, S. 100.
3) „Moderne Geschichtswissenschaft" S. 126.
*) Wesentlich in derselben Richtung gehen auch schon die Äuße-
rungen Useners, ,, Philologie und Geschichtswissenschaft" S. 15 f.
Er spricht hier von einer ,,Ergründung der allgemeinen Ge-
setze, nach denen die einzelnen Lebensäußerungen der Völker
sich entwickeln und gegenseitig bedingen", von einer „vom einzelnen
zum allgemeinen hinstrebenden Geschichtswissenschaft", die sich be-
müht, „aus der Fülle tatsächlichen Wissens die Begriffe abzu-
leiten". ,, Dieser allgemeinen, einheitlich umfassenden Wissenschaft
erscheinen die einzelnen Völkergruppen und Völker nur als For-
men eines Organismentypus, dessen reguläre Konstitution
und Lebensbedingungen sie erforscht, während ihr die individuellen
312 J. Kaerst,
gen der geschichtlichen Entwicklung, treten aber nicht
als deren Ergebnis auf. Auch Ranke sagt^): „In den
Nationen selbst erscheint die Geschichte der Menschheit."
Aber bei Ranke erhalten die Nationen erst ihren bestimmten
Inhalt durch den besonderen Verlauf und die besondere
Verflechtung gesamtgeschichtlichen Lebens. 2)
Hier sehen wir den fundamentalen Gegensatz der An-
schauungen. Indessen in der Auffassung, daß die nationalen
Bildungen, wenn sie auch natürlich in einer ursprünglichen
Volksindividualität wurzeln, in ihrem besonderen eigen-
tümlichen Wesen Ergebnisse eines umfassenden geschicht-
lichen Lebens sind, ist eine Erkenntnis gegeben, die als eine
der großen Errungenschaften moderner historischer For-
schung gelten darf. Das wahrhaft universalhistorische Ver-
ständnis geschichtlicher Vorgänge hängt daran, daß diese
vor allem durch Ranke gewonnene Erkenntnis nicht wieder
preisgegeben wird. Sie entzieht einer Ansicht, die im wesent-
lichen die Nationen nur als Typen historischer Bildungen
verwertet, den Boden. Die Anschauung vom lebendigen
Werden nationaler Gestaltungen unter dem Einflüsse „der
großen Abwandlung der Begebenheiten" kann nicht ersetzt
werden durch den Versuch „den Typ des Völkerwerdens zu
entwickeln".^) Der Zusammenhang der nationalen Ent-
wicklungen untereinander darf nicht als ein solcher betrachtet
werden, der wesentlich auf dem Wege typischerüber-
tragungen (Renaissance, Rezeption usw.) vermittelt
Besonderheiten derselben an sich gleichgültig sind und nur als Kor-
rektiv wichtig werden." ,,Auch auf dem geschichtlichen Gebiet be-
ginnt Wissenschaft in der wahren Bedeutung des Wortes erst mit der
Erforschung allgemeiner, für die Menschheit selbst gültiger Gesetze."
Usener hat diese Methode der Forschung selbst in seinen religions-
geschichtlichen Untersuchungen zur Anwendung gebracht.
1) Weltgesch. I, S. IX.
2) Vgl. die H. Z. 106, S. 526 angeführten Stellen. Im Gegen-
satze zu Ranke hält Lamprecht die — wenigstens zunächst — iso-
lierende Betrachtung der nationalen Entwicklungen für ein notwen-
diges Mittel wissenschaftlich-historischer Erkenntnis (vgl. z, B. Zeit-
schrift f. Geschichtswiss. N. F. I, S. 101. Abh. d. sächs. Gesellsch.
d. Wissensch. 57, S. 38 ff.).
3) Lamprecht, Die kulturhistorische Methode, S. 44.
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 313
wird.^) Der universalgeschichtliche Prozeß ist nicht als
„eine in ihrem Inhalte freilich ständig gesteigerte Summation
nationaler Entwicklungsgeschichten"'^) anzusehen. Jede iso-
lierende Betrachtung der nationalen Entwicklungen läuft
Gefahr, das Wesen des universalhistorischen Prozesses,
die gegenseitige Verflechtung der historischen Vorgänge
und Entwicklungen, zu verkennen. Auch das , »seelische
Werden" der Nationen wird ebenso wie das der Individuen
wesentlich bestimmt und geformt durch das, was sie er-
leben. Die Geschichte selbst bildet ihr inneres Wesen. ^)
Die Erkenntnis, daß die Nationen nicht nur — in dem
ursprünglichen Kern ihres Wesens — die Grundlage des all-
gemeinen geschichtlichen Lebens bilden, sondern selbst
wieder — in ihrer vollen Ausgestaltung — aus dem Zu-
sammenhange dieses allgemeinen geschichtlichen Lebens
hervorgehen, ist zunächst auf dem Gebiete der neueren
Geschichte zur, Geltung gelangt. Indessen mit immer größerer
Deutlichkeit sehen wir, daß auch die großen Völker des
Altertums, vor allem das griechische, aus umfassenderen
geschichtlichen Zusammenhängen hervorgewachsen sind.
Es ist nun dann aber die Eigenart der antiken Entwicklung,
daß sie nicht in selbständigen, nationalen Staaten und Kul-
turen, sondern in einem Weltstaat und einer Weltkultur
ihren Abschluß gefunden hat. Und umgekehrt ist es der
eigentümliche Charakter eines einmaligen universalen ge-
schichtlichen Prozesses, der das für die Neuzeit charakte-
ristische Nebeneinander der nationalen Staaten und Kul-
turen bedingt hat. Es ist damit eine neue Stufe univer-
saler Entwicklung gegenüber dem Altertum gegeben, ebenso
^) Diese Lehre von den typischen Übertragungsformen spielt ja
vor allem wieder bei Lampreclit eine große Rolle. Vgl. z. B. „Mo-
derne Geschichtswissenschaft", S. 111 ff. Abh. d. sächs. Gesellsch.
d. Wissensch. 57, S. 36: „Denn, was den universalgeschichtlichen Ver-
lauf recht eigentlich bildet, sind die Vorgänge der Renaissancen und
Rezeptionen."
2) Lamprecht, Ergänzungsbd. z. deutschen Geschichte I, S. 458.
3) Ich bemerke dies mit Bezug auf eine Äußerung von Lamprecht,
Ergänzungsbd. z. deutschen Geschichte 11,2, S. 44. Natürlich wird
die eigentümliche Verwertung der Erlebnisse wieder durch einen ur-
sprünglich gegebenen besonderen Charakter bedingt.
314 J. Kaerst,
wie der moderne Subjektivismus und die moderne Per-
sönlichkeitsidee eine von der antiken Kulturentfaltung
wesentlich verschiedene Stufe der geistigen Gesamtentwick-
lung bezeichnen.
Jeder Versuch einer typischen Erklärung nationaler
Entwicklungen versagt gegenüber der Eigenart dieses histo-
rischen Gesamtprozesses.
Und weiter: Große weltgeschichtliche Erscheinungen,
wie das Christentum, lassen sich von vornherein nicht in
den Rahmen nationaler Entwicklungen fassen. Das Christen-
tum ist seinem Wesen nach universal, wenn es sich auch in
besonderen Ausprägungen mit nationalen Faktoren ver-
bunden hat. Soweit es aber in einem besonderen nationalen
Leben, dem des jüdischen Volkes, wurzelt, handelt es sich
um eine höchst eigenartige religiöse Entwicklung, der man
den Charakter des Typischen nicht zuschreiben kann.
So ergibt es sich immer wieder von neuem, daß universal-
historische Erkenntnis an einen gemeinsamen Inhalt
geschichtlichen Lebens, der in großen Zusammenhängen
dieses Lebens sich ausprägt, geknüpft ist. In der Auffindung
typischer Entwicklungsformen wird das Wesen universaler
geschichtlicher Entwicklung nicht erfaßt, wie ja überhaupt
das Typische nie und nimmer dazu dienen kann, den vollen
Charakter geschichtlicher Vorgänge zum Ausdruck zu bringen.
Eine einseitig auf die Herausstellung des Typischen und
Gesetzmäßigen hinzielende Forschung läuft . geradezu Ge-
fahr, die geschichtlichen Erscheinungen ihres wertvollsten
Erkenntnisinhaltes zu berauben. Das Besondere der histo-
rischen Konstellation, das Wirksame des bestimmten histo-
rischen Ereignisses, die Bedeutung des persönlichen Fak-
tors geschichtlichen Handelns sind eben unzertrennlich mit
dem Wesen der Geschichte verbunden. Gerade die eigentüm-
liche Gestaltung individuellen Wesens begründet oder ver-
stärkt oft in entscheidendem Maße die schöpferische und
tiefer greifende historische Wirksamkeit.
Es soll damit natürlich nicht gesagt sein, daß das Typische
für den Historiker keine Bedeutung habe. Selbstverständ-
lich ist es, daß die allgemeinen Grundzüge des menschlichen
Wesens — das ja allerdings in seiner Totalität sich auch erst
Studien z. Entwickig. u.Bedeutg.d.universalgescli. Anschauung. 315
in der üeschichte entfaltet — immer wieder zu verwandten
Bildungen und Entwicklungen führen, und daß bestimmte,
in ähnlichen Gestaltungen wiederkehrende Konstellationen
der äußeren Verhältnisse in analogen historischen Vorgängen
ihren Ausdruck finden. Morphologische Betrachtungen über
den Zusammenhang zwischen äußerer Staatenbildung und.
Verfassungsentwicklungi), geographische über den Einfluß
räumlicher Bildungen auf die historische, insbesondere auch
die politische Entwicklung sind für die geschichtliche For-
schung außerordentlich fruchtbar. Die Mannigfaltigkeit
des historischen Lebens erhebt sich auf dem Grunde allge-
meiner Entwicklungsfaktoren, die wir in der Fülle des be-
sonderen Lebens wirksam sehen, 2) Aber Allgemeines und
Besonderes sind in den historischen Erscheinungen und
Vorgängen so unauflöslich miteinander verschmolzen, daß
das, was im Leben verbunden ist, auch in der Erkenntnis
nicht voneinander geschieden werden kann. Ein weiter
Überblick über ein umfassendes historisches Beobachtungs-
und Anschauungsmaterial, und auf der so gewonnenen
Grundlage vielseitiger historischer Erkenntnismöglichkeiten
scharfe Erfassung des besonderen, einmaligen historischen
Zusammenhanges müssen in der Tätigkeit des Historikers
sich auf das engste vereinen. Es muß aber auch auf das
entschiedenste hervorgehoben werden, daß auch dann,
wenn wir das Analoge und Parallele geschichtlicher Vor-
gänge in das Auge fassen, unser wissenschaftliches Interesse
sich nicht allein an bestimmte Formen knüpft, in denen
1) Vgl. die lehrreichen Ausführungen von O. Hintze, H. Z. 88,
S. 1 ff. ^ Histor. u. polit. Aufsätze IV, S. 13 ff.
2) Sehr beachtenswert sind auch die Beobachtungen über den
Unterschied von Naturvölkern und Kulturvölkern, die Vierkandt in
seinem Buche über Naturvölker und Kulturvölker gemacht hat.
Solche Versuche, über die Mannigfaltigkeit des historischen Einzei-
lebens unter der Leitung allgemeiner Gesichtspunkte zu orientieren,
können klärend und befruchtend wirken, wenn wir uns über die
Grenzen ihrer Beweiskraft im klaren bleiben und aus ihnen nicht Er-
klärungsprinzipien für die Entwicklung der geschichtlichen Welt machen
(vgl. auch die Bemerkungen von Vierkandt selbst, S. 12), und wenn
diese Versuche nicht dazu führen, in solchen allgemeinen Begriffen
das für die wissenschaftliche Erkenntnis ausschließlich Wertvolle zu
erblicken.
316 J. Kaerst,
sich der Verlauf analoger Entwicklungen vollzieht. Sondern
wir denken auch hier an den gemeinsamen Inhalt eines
universalen historischen Lebens. Auch die allgemeinen
Kräfte, die unter analogen Bedingungen im Verlaufe der
geschichtlichen Entwicklung sich wirksam zeigen, gewinnen
jhren eigentlich historischen Charakter erst in der eigen-
artigen Verflechtung besonderer historischer Zusammen-
hänge und in ihrer Bedeutung für den eigentümlichen Auf-
bau des geschichtlichen Gesamtlebens.
Und weiter kann nicht bezweifelt werden, daß das
Typische sich in denjenigen Perioden am stärksten geltend
macht, in denen das geschichtliche Leben noch am meisten
gebunden erscheint. Es tritt dagegen mehr zurück, je mehr
der eigentlich geschichtliche Charakter sich in der größeren
Kompliziertheit und gegenseitigen Verflochtenheit histo-
rischer Begebenheiten und Phänomene, in der stärkeren
Eigentümlichkeit und Selbständigkeit geschichtlichen Wol-
lens und Handelns ausprägt.^)
Rankes Anschauung von einem ,, historischen Leben,
das sich fortschreitend von einer Nation zur andern, von
einem Völkerkreise zum andern bewegt", faßt den gemein-
samen Inhalt dieses universalen Lebens vorwiegend nach
seiner objektiven Seite. Ranke betont vornehmlich
die Wirkungen und Kräfte, die von den geschichtlich han-
delnden und Geschichte erlebenden Menschen ausgehen, die
Ideen, die von besonderen Brennpunkten geschichtlichen
Lebens aus immer weitere Kreise ihrem Einflüsse unter-
werfen, die historischen Bildungen selbst, die in unaufhör-
licher gegenseitiger Wechselwirkung ihr eigenes Leben mit
dem fortschreitenden allgemeinen Leben verbinden. Man
kann aber diesen universalen Zusammenhang auch mehr
nach der subjektiven Seite hin betrachten. Man
kann vor allem an den geschichtlichen Men-
schen selbst als den Träger des gemeinsamen geschicht-
lichen Lebens denken, die Veränderungen, die sein geistiges
Wesen im Verlaufe der Weltgeschichte erfahren hat, in das
^) Vgl. hierzu auch die sehr treffenden Bemerkungen von O.
Hintze, Histor. u. polit. Aufs. IV, S. 55 ff.
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 317
Auge fassen. Es ist der große, schon von Herder gefaßte
Gedanke einer „Geschichte der menschlichen Seele über-
haupt in Zeiten und Völkern"^), auf den wir so geführt
werden. Es ist der Gedanke, der wohl vor allem J. Burck-
hardt als das höchste Ziel geschichtlicher Erkenntnis vor-
geschwebt hat. Natürlich ist von vornherein ein Zusammen-
hang zwischen der mehr objektiven und der mehr subjek-
tiven Seite der Betrachtung vorhanden. Beide Seiten lassen
sich überhaupt nicht völlig voneinander trennen. 2) Denn
wie ließe sich ein gemeinsames historisches Leben denken,
ohne daß wir zugleich eine gewisse innere Einheit der histo-
rischen Menschheit selbst annähmen? Wie vermöchten
wir die Kräfte und Werte menschlicher Geschichte, die
Ideen und historischen Bildungen in ihrer universalen Ent-
wicklung zu verfolgen, ohne daß wir zugleich den Versuch
machten, den Reflex zu erfassen, den jenes große gemeinsame
Leben in der Seele der handelnden und erlebenden Menschen
selbst findet? Allerdings werden wir bei einem solchen Ver-
suche, zu einem seelischen Verständnis der Menschen ver-
gangener, uns fern liegender Epochen vorzudringen, die
Schranken unserer Erkenntnis besonders deutlich emp-
finden.
Wenn wir in unseren Erörterungen den Gedanken der
Kontinuität der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung
als einen für die universalhistorische Betrachtungsweise
besonders wichtigen betont haben, so soll das natürlich nicht
heißen, daß diese Entwicklung „kontinuierlich fortschreitend
in aufsteigender Linie" verlaufen sei. Ernsthafte historische
Forschung hat wohl kaum diesen ,, Wahnglauben" geteilt.^)
Die einseitige Ausprägung der Idee eines unbedingten Fort-
schrittes der Menschheit, der erst in der Neuzeit zu seiner
vollen Verwirklichung gelange, stammt aus der Aufklärung*),
1) Vgl. H. Z. 106, S. 501, 1.
*) In der berühmten, schon erwähnten Äußerung Rankes im Brief
an seinen Bruder Heinrich von 1826 (Lebensnachr. S. 162) tritt auch
die subjektive Seite klar hervor.
3) Die Polemik von E. Meyer (Kl. Sehr. S. 88; vgl. auch S. 173 f.)
und von Wilamowitz, Reden u. Vortr., S. 132 trifft nicht den Punkt,
auf den es ankommt.
*) Vgl. H. Z. 106, S. 480 ff.
Historische Zeitschrift (111. BdL) 3. Folge 15. Bd. 21
318 J. Kaerst,
die einem für die allgemeine historische Anschauung wichtigen
Gedanken einen den Schranken rationalistischer Auffassung
entsprechenden Ausdruck verliehen hat.
Fortschreitendes geschichtliches Leben bedeutet nicht,
daß das nächstfolgende Zeitalter immer höher stehe als das
vorhergehende — die geschichtliche Erfahrung würde einer
solchen Auffassung allzusehr widersprechen — sondern
daß ein Zusammenhang der allgemeinen Entwicklung statt-
findet, daß neue Aufgaben und Kräfte emporkommen, die
sich doch zugleich in innerer Beziehung zu dem bisherigen
geschichtlichen Leben entfalten. Wir dürfen die allgemeine
historische Entwicklung einem Strom vergleichen, der bis-
weilen in sich selbst zurückzulaufen scheint, in Wahrheit aber
sich von seinem Ursprünge immer weiter entfernt. So ist
auch die geschichtliche Entwicklung keine geradlinige.
Das Maß der geistigen und sittlichen Kraft ist verschieden
in den geschichtlichen Zeitaltern wie bei den einzelnen Men-
schen. Freiheit und Notwendigkeit sind, wie schon Ranke
betont hafi), in der Geschichte unauflöslich verbunden.
Neben der Einheit des allgemeinen Zusammenhanges sehen
wir die Mannigfaltigkeit in der Gestaltung und Ausprägung
besonderen Lebens.
In dem Kampf des Neuen mit dem Alten, in dem Gegen-
sätze, in dem neu emporkommende Tendenzen und Mächte
zu den bisher herrschenden stehen, scheint es wohl bisweilen,
als ob auch die größten Errungenschaften und Werte früherer
Entwicklung verschwinden. Aber was einmal wahrhaft
lebendig geworden ist im geistigen Wesen des Menschen,
erlischt auch im geschichtlichen Gesamtleben nicht völlig,
wenn es auch immer neue Verbindungen und mannigfache
Umbildungen eingeht.
Die Anschauung von einem fortschreitenden Zusammen-
hange des historischen Gesamtlebens bedeutet auch nicht,,
daß nun etwa die besonderen Epochen gewissermaßen me-
diatisiert^) würden zugunsten jenes universalen Zusammen-
hanges. Wenn wir das Altertum als eine besondere Stufe
1) Weltgesch. IX, 2, S. XIV.
2) Ich finde bei erneutem Lesen, daß bereits Ranke diesen Aus-
druck gebraucht hat (Weltgesch. IX, 2, S. 5).
^
Studien z.EntwickIg.u.Bedeutg.d.universalgesch. Anschauung. 319
allgemeiner Entwicklung gegenüber unserer modernen ge-
schichtlichen Kultur betrachten, so ist damit nicht gesagt,
daß das Altertum nicht seinen besonderen Wert und seine
besondere Bedeutung in sich selbst besäße, daß es etwa
nur als „Vorhalle" für die Geschichte der romanischen und
germanischen Nationen zu gelten hätte". i) Die Originalität
und innere Größe antiker Kultur können gewiß nicht in
ein Trabantenverhältnis zu folgenden Zeitaltern gebracht
werden. Gerade die geschichtliche Ausprägung der Humani-
tätsidee in unserer klassischen Literaturepoche hat uns ge-
lehrt, die einzelnen Zeitalter als selbständige, in ihrer Be-
sonderheit wertvolle Ausprägungen allgemein menschlichen
Wesens zu erfassen. 2) Niemand hat entschiedener als Ranke
die Selbständigkeit der verschiedenen historischen Epochen
betont: ,, Nichts ist ganz um des andern willen da; keines
geht ganz in der Realität des anderen auf".^) Es ist dies
eben wieder das wunderbare Ineinander scheinbarer Gegen-
sätze in der Geschichte, daß große historische Entwick-
lungen und Bildungen zunächst ihre Bedeutung und ihren
Zweck in sich selbst haben und doch zugleich auch zu Grund-
lagen eines umfassenderen Gesamtlebens werden und damit
Zwecken dienen, die über ihr besonderes eigenes Leben hinaus-
reichen.
Die universalhistorische Anschauung, die in der Idee
eines gemeinsamen geschichtlichen Lebens der Menschheit
1) Auch Ranke hat dies nicht so angesehen, wie E. Meyer, Gesch.
d. Altert. II, S. 32 und v. Wilamowitz, Reden u. Vortr,, S. 132 be-
haupten. Vgl. dagegen auch Poehlmann, Aus Altertum u. Gegen-
wart 2, S. 300, 1. Die Vorträge, die Ranke vor König Max II. ge-
halten hat (Weltgesch. IX, 2, S. 1 ff.) lassen hierüber gar keinen
Zweifel aufkommen. Ranke geht sogar in der Gleichschätzung der
einzelnen Generationen in bezug auf ihren sittlichen Charakter hier,
wie mir scheint, etwas zu weit. Jedenfalls hat er ausdrücklich betont
(S. 8), daß „wir z. B. die moralische Größe der Alten Welt gar nicht
übertreffen können". Wir dürfen nur soviel sagen, daß das Schwer-
gewicht von Rankes Forschung und Auffassung nicht gerade im Alter-
tum gelegen hat.
2) Vgl. Z. H. 106, S. 512.
3) Weltgesch. IX, 2 S. XIV. Vgl. auch Weltgesch. IX, 2, S. 10:
„man wird nicht sagen dürfen, daß ein Jahrhundert dem andern dienst-
bar sei".
21*
/
320 J. Kaerst, Studien zur Entwicklung und Bedeutung etc.
gipfelt, hat ihren höchsten Wert und ihre größte innere Kraft
darin, daß sie die geschichtlichen Erscheinungen im ganzen
aus der Schranke der Relativität heraushebt. Denn es
handelt sich beim Prozesse der universalen geschichtlichen
Entwicklung um eine große innere Bewegung, die bei allem
Zeitlich-bedingten der besonderen Phänomene und Vorgänge
in ihrem Gesamtverlauf eine tief begründete Notwendigkeit
bezeichnet.!) Es ist eine Notwendigkeit, die nicht vor-
wiegend formaler Natur ist, sondern in dem Reichtum und
der Tiefe der sich fortentwickelnden geschichtlichen Aufgaben
und Kräfte die innerste Lebensentfaltung der geschichtlichen
Menschheit zum Ausdruck bringt.
1) Die Hegelsciie Piiiiosophie hat den Versucii gemacht, auf rein
spekulativem Wege eine innere Notwendigkeit weltgeschichtlicher
Entwicklung nachzuweisen. Trotz der einseitigen dialektisch-kon-
struktiven Durchführung des Versuches, gegen die Ranke sich mit
vollem Rechte wandte, hat Hegel doch das große Verdienst, daß er
den Wert der Geschichte für die allgemeinen Aufgaben menschlicher
Erkenntnis im Rahmen eines umfassenden Versuches philosophischer
Weltauffassung zur Geltung brachte. Indem er die geschichtliche
Entwicklung als eine Selbstentfaltung des vernünftigen Weltgeistes
darstellte, darauf ausging, „diese reiche Produktion der schöpferischen
Vernunft zu begreifen, welche die Weltgeschichte ist" (Philosophie
der Geschichte, S. 20), gewann die Geschichte einen unendlich reichen
Erkenntnisinhalt. Der einseitige Gegensatz zwischen Natur- oder
Vernunftrecht und historischem Recht wurde in einer höheren Synthese
aufgehoben, indem die Vernunft als vornehmlich in der Geschichte
wirksam nachgewiesen wurde. — Ich hebe um so mehr hier dieses
große und unvergängliche Verdienst der Hegeischen Philosophie her-
vor, als die in dem ersten Aufsatze besonders verfolgten Gedanken-
zusammenhänge weniger Gelegenheit für eine Würdigung Hegels
boten.
Die Volkszahl als Faktor und Grad-
messer der historischen Entwicklung.
Antrittsvorlesung, gehalten am 11. Dezember 1912 in der Aula
der Universität Leipzig
von
Karl Julius Beloch.
Wenn wir uns heute von der Bedeutung eines Staates
ein Bild machen wollen, so fragen wir zuerst nach der Zahl
seiner Bevölkerung; denn davon hängt in letzter Linie
die militärische Leistungsfähigkeit ab, und weiterhin, wenn
auch nicht in demselben Grade, die wirtschaftliche. Die
sechs europäischen Großmächte sind auch die bevölkertsten
Staaten unseres Erdteiles. Natürlich gilt das Gesagte nur
für Staaten, die auf annähernd gleicher Kulturhöhe stehen,
und, was fast noch wichtiger ist, die eine leistungsfähige
Organisation haben. Darum zählt der Staat, der von allen
die größte Bevölkerung hat, höher oder doch ebenso hoch
als die aller europäischen Großmächte zusammen, heute
in der Weltpolitik als aktiver Faktor kaum mit.
Die Merkantilisten hatten also ganz recht, wenn sie
in einer Zeit, als Europa noch eine verhältnismäßig dünne
Bevölkerung hatte, die Vermehrung der Volkszahl für
eine der wesentlichsten Aufgaben der Regierung ansahen.
Und noch heute denken viele nicht anders, und sehen in
der Abnahme der Geburtenzahl, wie sie in unserer Zeit in
allen Kulturstaaten eingetreten ist, ein bedenkliches Symp-
tom, ohne zu erwägen, daß eine hohe Volkszahl nur dann
322 Karl Julius Beloch,
eine Quelle der Stärke bildet, wenn sie zu der Ausdehnung
des politisch oder wirtschaftlich beherrschten Gebietes im
rechten Verhältnis steht.
Gibt uns nun die absolute Höhe der Bevölkerung,
richtig gewertet, einen Gradmesser für die politische Macht
eines Staates, so gewährt die relative Höhe der Bevöl-
kerung einen Gradmesser für die Stufe der wirtschaftlichen
Entwicklung, die ein Land erreicht hat. Sizilien zählt heute
3V2 Millionen, Sardinien, bei fast gleichem Flächenraum,
nicht ganz 900 000 Einwohner, also kaum V4 d^r Bevöl-
kerung der Schwesterinsel; obgleich doch auch Sardinien
ein von der Natur reich gesegnetes Land ist. Die ganze Ge-
schichte der beiden Inseln findet in diesen Zahlen ihren
charakteristischen Ausdruck. Natürlich dürfen bei solchen
Vergleichen die Zahlen nicht immer ohne weiteres einander
gegenübergestellt werden. Wenn z.B. Bengalen 1911 155 Ein-
wohner auf 1 qkm zählte, das Deutsche Reich nur 120,
so wird niemand daraus schließen wollen, daß unser Reich
auf einer niedrigeren Stufe wirtschaftlicher Entwicklung steht;
denn Bengalens dichte Bevölkerung ist bedingt durch den
reichen Alluvialboden der Ebene am unteren Ganges und
das subtropische oder tropische Klima. Nehmen wir die
Ebene an der Mündung unseres großen deutschen Stromes
zum Vergleich, so wird das Verhältnis schon anders: Holland
hat reichlich dieselbe (180), Belgien eine beträchtlich höhere
Volksdichtigkeit (255) als Bengalen. Einen noch besseren
Gradmesser gibt die Höhe der städtischen Bevölkerung,
da hier die industrielle und kommerzielle Entwicklung gegen-
über der landwirtschaftlichen Produktion zum reinsten
Ausdruck kommt: Bengalen hatte 1911 bei einer Bevöl-
kerung von 86 Millionen nur zwei Städte von mehr als
100 000 Einwohnern, das Deutsche Reich (1890) bei nur
65 Millionen Einwohnern 48. Und da es viel leichter ist,
von der städtischen, namentlich der großstädtischen Be-
völkerung vergangener Zeiten eine Anschauung zu ge-
winnen, als von der Volksdichte ganzer Länder, so ist diese
Erkenntnis für die Geschichte von hoher Bedeutung.
Die Volkszahl als Faktor u. Gradmesser der bist. Entwicklung. 323
Nun sollte man meinen, daß bei dieser Sachlage die
Historiker es als eine ihrer hauptsächlichsten Aufgaben be-
trachtet haben würden, die Bevölkerungsverhältnisse ver-
gangener Geschichtsperioden nach allen Richtungen hin
zu erforschen. Um so mehr, als bereits die Staatenkunde,
oder wie man damals sagte, Statistik des 18. Jahrhun-
derts den Weg gewiesen hatte, trotz der unvollkommenen
Hilfsmittel, die dieser Zeit zu Gebote standen. Es ist ja
auch vieles in dieser Richtung geschehen; meist aber werden
in unseren historischen Darstellungen die Bevölkerungs-
verhältnisse vollständig ignoriert, oder, was noch viel schlim-
mer ist, in ungenügender, nur zu oft auch in unwissenschaft-
licher Weise behandelt. Das gilt selbst für Zeiten, für die
uns ein so reiches Material vorliegt, wie für die Geschichte
der beiden letzten Jahrhunderte. Und doch könnte und
müßte die Geschichte dieser beiden Jahrhunderte auf stati-
stischer Grundlage geschrieben werden. Sie würde dann
vielleicht weniger lesbar sein, aber die Zeit, wo die Ge-
schichte als ein Teil der schönen Literatur galt, ist doch wohl
vorüber.
Selbst da, wo man es am wenigsten erwarten sollte,
in der Kriegsgeschichte, treffen wir oft die gleiche Nicht-
achtung der statistischen Forschung. Wie ist es überhaupt
möglich, sich vom Verlauf einer Schlacht ein richtiges Bild
zu machen, ohne eine klare Anschauung der Stärke der
kämpfenden Heere? Aber die zu gewinnen, daran hat,
wenigstens für das Altertum und das Mittelalter, bis vor
wenigen Jahren kaum jemand gedacht. Erst Hans Delbrück
hat hier Wandel zu schaffen begonnen, und die fundamentale
Bedeutung der Heeresstärken in das rechte Licht gesetzt.
Haben die Historiker sich um diese Dinge bisher im
ganzen recht wenig gekümmert, so haben es die Statistiker
nicht besser gemacht. In diesen Kreisen herrscht meist der
Glaube, daß es Volkszählungen, die diesen Namen verdienen,
vor dem Anfang des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht
gegeben habe, und daß alle älteren Angaben folglich wissen-
schaftlich unbrauchbar wären, und der Aufmerksamkeit
eines Statistikers unwürdig. Dieser Glaube gründet sich
darauf, daß in Frankreich und England die ersten Volkszäh-
324 Karl Julius Beloch,
lungen im Jahre 1801 gehalten worden sind. Aber in einer
Reihe deutscher und italienischer Staaten sind schon im
18. Jahrhundert Zählungen vorgenommen worden, die
hinter diesen ersten französischen und englischen Zählungen
an Genauigkeit jedenfalls nicht zurückstehen, sie vielleicht
auch noch übertreffen. Und bereits im 16., ja selbst im
15. Jahrhundert hat es in Italien Zählungen gegeben, die
sich die Ermittlung der Gesamtbevölkerung zur Aufgabe
stellten, sogar mit namentlicher Verzeichnung aller einzelnen
Personen und mit Angabe ihres Alters. Diese Erhebungen
sind allerdings damals statistisch nur sehr ungenügend ver-
arbeitet worden, aber das Rohmaterial liegt zum guten Teil
noch heute in den Archiven. Meist freilich haben wir aus
dieser Zeit und dem Mittelalter nur Aufnahmen der Zahl
der Feuerstellen. Wohl die älteste Urkunde dieser Art ist
das Domesday-book Wilhelms des Eroberers von 1083 bis
1086. Dann beginnt, wenn wir rückwärts schreiten, eine
tausendjährige Nacht bis hinauf zu dem Census des Claudius
im Jahre 49 n. Chr., eine Nacht, die durch keine, auch nur
einigermaßen vertrauenswürdige Angaben über bevölke-
rungsstatistische Verhältnisse erhellt wird; wir können für
diese Zeit nur auf indirektem Wege zu einer Anschauung
dieser Verhältnisse gelangen, die dann freilich nur die groben
Umrisse erfassen kann. Für die Blütezeit der antiken Kultur
vom 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung bis zur Mitte
des 1. Jahrhunderts n. Chr. steht uns dann wieder eine
Anzahl offizieller Angaben zu Gebote, unter denen die
Ergebnisse des römischen Census die wichtigste Stelle ein-
nehmen. Von diesen Aufnahmen ausgehend, ist es mit Heran-
ziehung einer Reihe anderer Hilfsmittel möglich, zu einer
allgemeinen Anschauung der Bevölkerungsverhältnisse des
Altertums zu gelangen, die ja freilich im einzelnen sehr viel
zu wünschen, auch der Fehlergrenze einen verhältnismäßig
weiten Spielraum läßt. Aber die Bevölkerungsgeschichte
kann nun einmal der konkreten Zahlen nicht entbehren,
und auch approximalive Zahlen sind sehr viel besser als die
allgemeinen Phrasen, mit denen der Agnostizismus auf diesem
Gebiete uns abspeisen möchte. Denn dieser Agnostizismus
ist ja nichts weiter als eine wissenschaftliche Feigheit. Er
Die Volkszahl als Faktor u. Gradmesser der hist. Entwicklung. 325
beweist zudem nur, daß, wer diesen Standpunkt einnimmt,
über das Problem nicht tiefer nachgedacht hat. Denn die Höhe
der Bevölkerung eines Landes zu einer gegebenen Zeit ist ja
nichts weiter als das Produkt historischer und wirtschaft-
licher Faktoren; und wo die Faktoren bekannt sind, läßt
das Produkt sich berechnen. Die so gewonnenen Resultate
stehen viel sicherer, als so manches, was uns auf Grund der
Überlieferung in unseren Geschichtswerken erzählt wird.
Und jedenfalls sind sie von fundamentaler Bedeutung als
Kriterium zur Prüfung und Wertung dieser Überlieferung.
Unter diesen Faktoren ist nun einer, den wir innerhalb
einer minimalen Fehlergrenze mit voller objektiver Sicher-
heit zu bestimmen vermögen, und gerade einer der wichtig-
sten, um nicht zu sagen, der wichtigste von allen, oder doch
wenigstens der, von dem in letzter Linie alles übrige ab-
hängt. Ich meine den Flächenraum. Länder von annähernd
gleichem Klima, gleicher Bodenbeschaffenheit und gleicher
Kulturstufe müssen annähernd die gleiche Volksdichte
haben, sofern es sich nicht um junge Kolonialgebiete handelt,
oder sonst äußere Störungen wirksam sind.
Nun können wir auf unseren historischen Karten die
Grenzen der Staaten und der Verwaltungsbezirke in die
sie zerfielen, für die meisten Geschichtsperioden mit an-
nähernder Genauigkeit einzeichnen; wir können die so um-
grenzten Gebiete also auch mit dem Planimeter ausmessen,
und der historischen Bevölkerungsstatistik damit die ob-
jektive Grundlage geben, auf der sie sich aufbauen muß. Es
gereicht der historischen Wissenschaft, oder besser gesagt,
es gereicht der historischen Geographie nicht zur Ehre, daß
das bisher in so ungenügendem Maße geschehen ist. Gibt
es doch, meines Wissens, nicht einmal eine zuverlässige
Arealstatistik der Territorien des alten Deutschen Reiches,
auch nur für die Zeit unmittelbar vor der französischen
Revolution. Allerdings, wir besitzen ja eine wissenschaft-
lichen Anforderungen genügende Arealstatistik selbst für
unsere Zeit erst seit einigen Jahrzehnten; erst Behm und
Wagner haben sie begründet, Strelbitzky hat sie für Europa
zuerst systematisch durchgeführt, bis sich dann end-
lich auch die amtlichen Stellen der Sache angenommen
/
326 Karl Julius Beloch,
haben. Möglich geworden ist diese Arealstatistik freilich
erst durch die Erfindung des Planimeters; aber das Plani-
meter ist bis jetzt noch kaum in den Dienst der historischen
Forschung getreten. Grundbedingung für solche Berech-
nungen sind allerdings zuverlässige historische Karten in
hinreichend großem Maßstabe, und daran fehlt es uns leider
nur zu sehr. Aber das bessere ist der Feind des guten; und
wenn wir warten wollten, bis uns die historische Geographie
solche Karten für ganz Europa, oder auch nur für Deutschland
gegeben haben wird, müßten wir für unsere Lebzeiten auf
eine historische Arealstatistik verzichten. Mögen nun auch
endgültige Resultate vielfach noch nicht zu gewinnen sein,
so können wir doch schon jetzt zu Annäherungswerten ge-
langen, die für den Zweck der historischen Statistik durchaus
genügen. Das ist die nächste Aufgabe, die uns gestellt ist;
ihre Lösung fordert gewiß große Entsagung, aber nur ent-
sagungsvolle Arbeit fördert die Wissenschaft.
Dabei sollen wir uns aber keineswegs auf die Staaten
oder Provinzen beschränken, sondern ebensosehr die Städte in
Betracht ziehen, denn überall da, wo Zahlen für die städtische
Bevölkerung fehlen, also für das höhere Mittelalter, wie zum
größten Teil auch für das Altertum, bildet die Ausdehnung
des bebauten, oder doch von der Mauer eingeschlossenen
Flächenraumes das einzige objektive Kriterium, an dem
wir die Bedeutung einer Stadt messen können. Und auch
wo Bevölkerungszahlen überliefert sind, bildet die Kenntnis
des Flächenraumes ein sehr wichtiges Korrektiv. Nur auf
diesem Wege haben z. B. die übertriebenen Schätzungen der
Bevölkerung des kaiserlichen Roms auf ihr richtiges Maß
zurückgeführt werden können. Daß die so gewonnenen
Zahlen nicht kritiklos nebeneinander gestellt werden dürfen,
so wenig wie irgendwelche anderen statistischen Zahlen,
bedarf keiner Bemerkung.
Überall aber brauchen wir auf bevölkerungsgeschicht-
lichem Gebiete extensive Arbeit. Untersuchungen über die
Bevölkerung einzelner Städte sind ja sehr dankenswert,
aber solange sie isoliert bleiben, helfen sie uns nicht viel
weiter. Was nutzt es, die Bevölkerung Basels oder Frank-
furts oder Nürnbergs im späteren Mittelalter zu kennen,
Die Volkszahi als Faktor u. Gradmesser der hist. Entwicklung. 327
wenn wir von der Bevölkerung der übrigen größeren Städte
Deutschlands und Europas aus dieser Zeit nichts wissen?
Ganz abgesehen davon, daß nur ein reiches Material uns in
den Stand setzt, an unseren Quellen Kritik zu üben. Und
natürlich müssen wir hier wie überall in der Wissenschaft,
vom Bekannten zum Unbekannten fortschreiten, also nicht
den Stier bei den Hörnern packen und gleich ins Mittelalter
hineinspringen, sondern von unserer Zeit aus rückwärts
gehen, bis wir das Mittelalter erreicht haben. Für das
Altertum ist das etwas anderes; da haben wir einen Bruch
der Kontinuität, über den keine Brücke hinüberführt.
Und darum muß das Altertum gesondert behandelt werden.
Doch genug und übergenug von der Methode; kommen
wir zu den Sachen,
Ein großer Feldherr hat gesagt, daß es die starken
Bataillone sind, die im Kriege den Ausschlag geben. Und
die starken Bataillone sind es, denen Rom zuerst die Herr-
schaft über Italien, dann die Weltherrschaft zu danken
gehabt hat. Gewiß waren die Römer gute Soldaten, aber
das waren die Völker, mit denen sie zu kämpfen hatten,
zum großen Teile nicht minder. Wenn Rom die stamm-
verwandten Latinerstädte seiner Oberhoheit unterworfen
hat, so ist klar, daß der Grund nur darin liegen kann, daß
Rom die bei weitem größte Stadt in Latium war, was
durch seine Lage an dem schiffbaren Flusse bedingt war,
die es zum natürlichen Emporium der Landschaft machte.
In dem Kampfe mit Samnium hat den Ausschlag gegeben,
daß Capua und Arpi auf die römische Seite traten; so hatten
die Römer die Überlegenheit der Zahl, und daran hat sich
die Kraft der Samniten gebrochen, die an kriegerischer
Tüchtigkeit den Römern nicht nachstanden, sie vielleicht
auch noch übertrafen. So wurden die Römer die Herren
Italiens. Ihr Ruhm bleibt es, dem eroberten Lande eine
feste Organisation gegeben zu haben, die allen Stürmen
getrotzt hat, die den Völkern Italiens die Unabhängigkeit
in ihren inneren Angelegenheiten ließ und doch ihre ganze
Wehrkraft dem führenden Staate zur Verfügung stellte.
328 Karl Julius Beloch,
Rom konnte infolgedessen jetzt Heere aufstellen, so zahl-
reich, wie kein anderer Staat dieser Zeit es vermochte.
Schon Pyrrhos soll gesagt haben, er kämpfe mit der 1er-
näischen Hydra; sein militärisches Genie wie später das
Genie Hannibals war gegen diese überlegene Zahl machtlos,
so schlecht die römischen Heere auch in der Regel geführt
wurden. Der Sieg über Hannibal machte Rom dann zur
Herrin am ganzen Westen des Mittelmeeres. Wohl war der
hellenische Osten auch jetzt noch an Volkszahl weit über-
legen, von der wirtschaftlichen wie intellektuellen Über-
legenheit ganz abgesehen; aber er war in eine Reihe von
Staaten zersplittert, die nur ihre Sonderinteressen im Auge
hatten, und zu deren Förderung stets bereit waren, gegen
die eigenen Stammesgenossen mit den Fremden in Bund
zu treten. So wurde die griechische Welt den Römern zur
leichten Beute. Und unter der Fremdherrschaft sind dann die
Griechen tiefer und tiefer gesunken, bis sie schließlich zu
Byzantinern geworden sind, ihren eigenen Namen vergessen,
und den Namen ihrer römischen Herren angenommen haben.
Es ist die ergreifendste Tragödie der ganzen Weltgeschichte,
wie dieses Volk, dem wir das beste in unserer Kultur zu
danken haben, durch eigene Schuld zugrunde gegangen ist,
weil es die nationale Einheit, als es sie endlich errungen
hatte, nicht festzuhalten vermocht hat.
Wenn in Griechenland Sparta und Athen die Führung
gehabt haben, so verdanken sie das dem Umstände, daß
sie unter all den zahllosen Kleinstaaten, in welche die
Nation zersplittert war, die stärkste Bevölkerung hatten.
Aber diese Stellung ging verloren in dem Augenblick, als
Makedonien in den Kreis der griechischen Kulturstaaten
einzutreten begann; denn Makedonien war viel bevölkerter
und schon darum militärisch leistungsfähiger als Athen oder
Sparta. Und als die griechischen Kleinstaaten dann endlich
begannen, zu größeren Staatsbildungen, den y.oivä, sich zu-
sammenzuschließen, waren auch die bedeutendsten darunter,
der ätolische wie der achäische Bundesstaat, Makedonien
an Zahl der Bevölkerung noch immer nicht gewachsen, und
so ist die makedonische Vorherrschaft bestehen geblieben,
bis Griechenland durch die römischen Waffen „befreit" wurde.
Die Volkszahl als Faktor u. Gradmesser der hist. Entwicklung. 329
Wie Makedonien den griechischien Kleinstaaten an
Bevölkerung überlegen war, so war es, und in noch viel
höherem Maße, das Perserreich Griechenland gegenüber,
auch als dieses durch Philipp geeinigt worden war. Das
Reich, das Alexander erbte, hat vielleicht nur den zehnten
Teil der Bevölkerung des Perserreiches gehabt, jedenfalls
nicht viel mehr, und doch hat das Perserreich dem Angriff
Alexanders nicht zu widerstehen vermocht. Es war damals
allerdings morsch und verrottet. Aber schon anderthalb
Jahrhunderte früher, als das Reich noch jugendfrisch war,
hat seine Offensivkraft, der die großen Monarchien des
Ostens erlegen waren, auch das halbgriechische Lydien
und das von griechischen Söldnern verteidigte Ägypten, an
der Koalition einer Anzahl griechischer Kleinstaaten sich
gebrochen. Den Zeitgenossen schien es ein Wunder, und sie
erkannten darin das sichtbare Walten der Gottheit. Aber es
kommt eben im Kriege nicht auf die Volkszahl an sich an,
sondern auf die militärische Leistungsfähigkeit; und die
war durch die ungeheure Ausdehnung des Perserreiches sehr
beeinträchtigt. Auch hatten von all den zahllosen Kon-
tingenten, welche der Perserkönig zu den Waffen rufen
konnte, nur die iranischen Truppen wirklich militärischen
Wert. Und hier wieder war es die Reiterei, der die Perser
ihre Siege zu danken gehabt hatten. Diese Waffe war aber
in dem gebirgigen Griechenland kaum zu verwerten, und die
persische Infanterie kam der griechischen weder an Bewaff-
nung, noch an taktischer Ausbildung gleich. So mußte
Xerxes' Zug scheitern. Der Sieg und der Abfall loniens,
den er zur Folge hatte, gab den Griechen dann auch die un-
bedingte Überlegenheit zur See, und damit war jede Mög-
lichkeit eines neuen persischen Angriffs auf Griechenland
abgeschnitten. Aber auch die Griechen konnten bei ihrem
Mangel an Reiterei an eine Offensive in das Innere des
Perserreiches nicht denken. Erst als Philipp eine der per-
sischen an Qualität überlegene Reiterei geschaffen hatte,
ist die Eroberung Asiens gelungen. Und weil die Römer eine
solche Reiterei nicht besessen haben, haben sie gegen die
Parther nichts auszurichten vermocht, trotzdem das Par-
therreich nicht die Hälfte der Ausdehnung des Perserreiches
330 Karl Julius Beloch,
hatte, und die Römer über unendlich größere Machtmittel
verfügten als der Staat Philipps.
Doch wenden wir uns jetzt zur Betrachtung von Zeiten,
die uns näher liegen. Wenn Frankreich von der Zeit der
Kreuzzüge bis fast in unsere Zeit hinein mit verhältnis-
mäßig kurzen Unterbrechungen das geistige und politische
Übergewicht in Europa behauptet hat, so liegt der Grund
in der Hauptsache darin, daß es das bevölkertste Land
unseres Erdteils war. Es zählte am Anfang des 14. Jahr-
hunderts nach offiziellen, und, soviel wir sehen, im ganzen
glaubwürdigen Angaben innerhalb seiner damaligen Grenzen
etwa 3 Millionen Feuerstellen oder 12 — 15 Millionen Ein-
wohner, was für den heutigen Umfang etwa 15 — 19 Millionen
ergeben würde, unter der Annahme, daß die noch nicht
zum Reiche gehörenden Gebietsteile die gleiche Volksdichte
hatten wie dieses. England, das heut Frankreich an Be-
völkerung annähernd gleich kommt, hatte höchstens 3 Mil-
lionen Einwohner; wir verstehen, warum die englische
Herrschaft in Frankreich nicht von Dauer sein konnte.
Italien mag damals etwa 10 Millionen Einwohner gezählt
haben, die Pyrenäenhalbinsel etwa 6 Millionen oder doch
wenig mehr. Die Bevölkerung Deutschlands in seinen da-
maligen Grenzen, von Oberitalien, das ja nur noch nominell
zum Reiche gehörte, natürlich abgesehen, mag der Bevöl-
kerung des Königreichs Frankreich immerhin etwa gleich-
gekommen sein; aber bei seiner heillosen Zersplitterung
kam das Reich als Machtfaktor kaum mehr in Betracht.
Und als dann Spanien um die Wende vom 15. zum 16. Jahr-
hundert seine nationale Einheit gewonnen, den Süden
Italiens, Mailand, die Freigrafschaft Burgund, die Nieder-
lande seiner Herrschaft unterworfen hatte, auch da stand
Frankreich der Monarchie Karls V. und Philipps 11. an
Bevölkerung annähernd gleich, denn es zählte mindestens
15 Millionen Einwohner, während Spanien 7 — 8, die italieni-
schen Besitzungen etwa 6, die Niederlande etwa 3 Millionen,
die Freigrafschaft etwa V2 Million Einwohner hatten, zu-
sammen also 17 Millionen. Das türkische Reich mag etwa
dieselbe Bevölkerung gehabt haben. Das waren damals die
drei einzigen wirklichen Großmächte; dann folgten im wei-
Die Volkszahl als Faktor u. Gradmesser der bist. Entwicklung. 331
ten Abstände Polen und die kaiserlichen Erblande mit je 7,
England mit etwa 6 Millionen; sonst, wenn wir von Ruß-
land absehen, das in der europäischen Politik noch
nicht mitzählte, nur Kleinstaaten. Als dann Spanien und
die Türkei in Verfall kamen, und ihre militärische Lei-
stungsfähigkeit zum großen Teil einbüßten, blieb Frankreich
die einzige Großmacht. Beim Ausbruch des Spanischen Erb-
folgekrieges war es mit etwa 20 Millionen Einwohnern der
Koalition der Gegner gewachsen, denn Großbritannien mit
Irland und die kaiserlichen Erblande mit Ungarn zählten
etwa je 9, die Republik der Niederlande IV2 Millionen. Und
dabei standen Ludwig XIV. am Anfang des Krieges auch
die Hilfsquellen der spanischen Monarchie zu Gebote, die
noch immer etwa 15 Millionen Einwohner zählte. Noch
beim Ausbruch der großen Revolution war Frankreich mit
nahe an 30 Millionen Einwohnern der bevölkertste Staat
Europas, dann folgten Rußland mit 26, Österreich mit 24,
Großbritannien und Irland mit 15, Preußen mit 6 Millionen.
Aber nicht bloß die politische Geltung der Nationen hängt
von der Völkszahl ab; nur ein numerisch starkes Volk
kann ein führendes Kulturvolk werden. Auf die absolute
Höhe der Volkszahl kommt es dabei nicht an; nur auf das
Verhältnis zu den anderen Völkern. Die Griechen mochten
zur Zeit der höchsten Blüte ihrer Kultur, vor der Eroberung
Asiens, ein Volk von etwa 8 Millionen sein, jedenfalls nicht
viel zahlreicher, nach unseren Begriffen also ein kleines
Volk; aber es gab kein zweites Volk am Mittelmeer, das
ebenso zahlreich oder zahlreicher gewesen wäre. Dagegen
war die lateinische Sprache im wesentlichen auf Mittel-
italien beschränkt, noch zu einer Zeit, als Rom bereits die
Weltherrschaft gewonnen hatte. In der Gracchenzeit ist
lateinisch, hoch gerechnet, von kaum 2 Millionen Menschen
gesprochen worden. Wohl aber sprach man griechisch am
ganzen Osten des Mittelmeeres. Infolgedessen war Griechisch
noch immer die Weltsprache. Graeca leguntur in Omnibus
fere gentibus, Latina suis finibus, exiguis sane, continentur^
sagt noch Cicero {pro Arch. 10, 23).
Das änderte sich, als der ganze Westen des Reiches
und die Donauländer sich latinisiert hatten; seit die Gebiete
/
332 Karl Julius Beloch,
beider Sprachen die gleiche Ausdehnung hatten, trat das
Lateinische dem Griechischen als Weltsprache zur Seite, die
Griechen lernten jetzt lateinisch, schrieben es auch wohl,
wie früher die Römer griechisch.
Während des ganzen Mittelalters und der Renaissance-
zeit und bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts ist die
Kultur Europas überwiegend romanisch gewesen. Das be-
ruht freilich zunächst auf historischen Gründen, waren doch
die romanischen Völker die direkten Erben der römischen
Kultur. Aber dies Übergewicht hätte sich nicht so lange
erhalten können, wenn es sich nicht auf das Übergewicht
der Volkszahl gestützt hätte. Um den Anfang des 14. Jahr-
hunderts mag es in Europa mehr als 30 Millionen Romanen
gegeben haben, gegenüber noch nicht 20 Millionen Ger-
manen; für die Slaven wage ich eine bestimmte Ziffer nicht
auszusprechen, es ist aber kaum zweifelhaft, daß sie damals
zur Zeit der Tartarenherrschaft in Rußland die Germanen
an Zahl bei weitem nicht erreicht haben. Die Romanen
standen also damals zu den Germanen annähernd wie 2:1,
zu den Slaven vielleicht wie 3:1. Die Hälfte der Bevöl-
kerung von Europa war romanisch. Ein Viertel Jahrtausend
später, um die Mitte des 16. Jahrhunderts, war die Zahl
der Romanen auf etwa 40 Millionen gestiegen, die der Ger-
manen auf etwa 27 Millionen, die Slaven können auch jetzt
die Germanen an Zahl nicht erreicht haben. Das Verhältnis
zwischen Romanen und Germanen war wie 3 : 2, Romanen
und Slaven vielleicht wie 2:1. Und wieder nach einem
Viertel Jahrtausend, am Ende des 18. Jahrhunderts, standen
neben 60 Millionen Romanen 54 Millionen Germanen, und
nahe an 50 Millionen Slaven; noch immer behaupten die
Romanen die erste Stelle, aber die drei Hauptsprachstämme
Europas stehen sich untereinander bereits annähernd gleich.
Jetzt, nach weiteren 100 Jahren, hat die Reihenfolge be-
kanntlich sich umgekehrt: am Anfang dieses Jahrhunderts
standen 130 Millionen Slaven neben 124 Millionen Ger-
manen und 96 Millionen Romanen, oder, wenn wir die
Rumänen einrechnen, die oben, als noch außerhalb der ro-
manischen Kultur stehend, nicht berücksichtigt sind, 106 Mil-
lionen.
Die Volkszahl als Faktor u. Gradmesser der hist. Entwicklung. 333
Diese Verschiebung beruht auf der Tendenz der Be-
völkerung, überall im Verhältnis zur Fläche soweit als mög-
lich das gleiche Niveau zu erreichen; dazu kommt für das
letzte Jahrhundert die industrielle Entwicklung Englands
und Deutschlands. Infolgedessen hat der Schwerpunkt der
Bevölkerung, der im Mittelalter im SW. Europas lag, sich seit-
dem immer mehr nach NO. verschoben. Und diese Ver-
schiebung wird aller Voraussicht nach weiter gehen, das
numerische Übergewicht der Slaven wird immer größer
werden, wenn die geographische Verteilung der europäischen
Rassen die heutige bleibt.
Das Bild würde aber unvollständig bleiben, wollten wir
uns auf Europa beschränken. Bis zum 18. Jahrhundert
allerdings waren die von Europäern besiedelten Kolonial-
länder in anderen Erdteilen so schwach bevölkert, daß sie
als Machtfaktoren nur wirtschaftlich, sonst aber noch kaum
ins Gewicht fielen; zählten doch die Vereinigten Staaten noch
im Jahre 1800 nicht mehr als 5 Millionen Bewohner. Australien
war damals noch gar nicht, das Kapland nur dünn besiedelt;
die spanischen Kolonien in Amerika zählten allerdings
14 — 15 Millionen Bewohner, darunter aber nur etwa 3 Mil-
lionen rein europäischer Abstammung, die übrigen waren
Mestizen, Indianer und Neger. Dagegen lebten um die
Wende zum 20. Jahrhundert in Amerika etwa 80 Millionen
germanisch und gegen 60 Millionen romanisch redende
Menschen, in Australien, Neuseeland, Südafrika etwa 5 Mil-
lionen Menschen germanischer Abkunft, in Sibirien und am
Kaukasus etwa 8 Millionen Menschen russischen Stammes.
Das macht für die ganze Erde 210 Millionen germanischer,
165 Millionen romanischer, 140 Millionen slavischer Sprache.
Diese Ausbreitung jenseits des Ozeans ist allerdings fast
ausschließlich zwei Völkern zugute gekommen. Während
im 16. Jahrhundert auf der Erde nur etwa 5 Millionen Men-
schen englisch, etwa 8 Millionen spanisch redeten, umfaßte
das englische Sprachgebiet im Jahre 1900 etwa 125 Mil-
lionen, das spanische etwa 60 Millionen. Es ist das eine Ent-
wicklung, die in der Geschichte wohl nur ein Analogon findet,
in der Ausbreitung der lateinischen Sprache in der Zeit
vom 4. Jahrhundert vor bis zum 4. Jahrhundert nach un-
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 22
334 Karl Julius Beloch,
serer Zeitrechnung. Um 350 n. Chr., am Vorabend der Sam-
nitenkriege, mag kaum V2 Million Menschen lateinisch
gesprochen haben; in Constantins Zeit mögen es 40 Mil-
lionen gewesen sein, wobei allerdings nicht zu vergessen ist,
daß die unteren Schichten der Bevölkerung in den Provinzen,
die hier eingerechnet sind, vielfach nur oberflächlich oder auch
noch gar nicht latinisiert waren. Die Griechen dagegen haben
es nach der Eroberung des Orients nur vermocht, die Städte
zu hellenisieren; die Landbevölkerung hielt, mit Ausnahme
eines Teiles von Kleinasien, an ihrer alten Sprache fest,
und so sind die griechischen Bewohner der Städte schließ-
lich von der Landbevölkerung absorbiert worden, wie es
den Bürgern so vieler deutschen Städte im slavischen Osten
ergangen ist.
*
Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die
städtische Entwicklung, als dem besten Gradmesser für die
Intensität der Kultur. Die europäische Kultur ist von Kreta
ausgegangen; schon um die Mitte des 2. Jahrhunderts vor
unserer Zeitrechnung bestanden hier Städte von einiger
Bedeutung, während es sonst in Europa nur Herrenburgen
und Dörfer gab. Die Griechen traten die Erbschaft dieser
Kultur an; als sie zum meerbeherrschenden Volke geworden
waren, begannen auch bei ihnen die Städte sich zu entwickeln,
doch haben auch die größten griechischen Städte im 6. Jahr-
hundert, Milet, Korinth, Sybaris, kaum über 20 bis
30 000 Einwohner gezählt. Der wirtschaftliche Aufschwung,
der infolge der Perserkriege eintrat, hatte dann auch ein
Anwachsen der städtischen Bevölkerung zur Folge; Athen
und Syrakus mögen um die Zeit des Peloponnesischen Krieges
gegen 100 000 Einwohner gezählt haben. Die Eroberung
Asiens brachte einen weiteren Aufschwung; jetzt wuchsen
im Osten Städte empor, die auch nach unseren Begriffen
als Großstädte gelten würden, wie Alexandreia in Ägypten
und Seleukeia am Tigris, die im 1. Jahrhundert vor unserer
Zeitrechnung V2 Million Bewohner gezählt haben mögen,
und Antiocheia am Orontes, das diesen beiden freilich nicht
gleichkam, aber doch einige Hunderttausend Bewohner gehabt
Die Volkszahl als Faktor u. Gradmesser der hist. Entwicklung. 335
hat. Das griechische Mutterland freilich, das jetzt wirt-
schaftlich zu sinken begann, nahm an dieser Entwicklung
keinen Anteil; Korinth, das „Auge von Hellas" wurde
zudem von den Römern zerstört, ebenso im mithradatischen
Krieg der Peiräeus; auch die Blüte der großen Städte
des Westens, griechischer wie nichtgriechischer, Syrakus,
Tarent, Capua, wurden durch die römische Eroberung ge-
brochen. Karthago, die Königin der Städte am westlichen
Mittelmeer, teilte das Schicksal Korinths. Auf diesen Trüm-
mern wuchs Rom zu einer Großstadt empor, wie die Welt
oder wenigstens unsere westliche Kulturwelt sie noch nicht
gesehen hatte und auch bis zum 19. Jahrhundert nicht
wieder sehen sollte, mit einer Bevölkerung, die im 1. und
2. Jahrhundert der Kaiserzeit eine Million erreicht, vielleicht
auch noch etwas überstiegen hat. Aber dieser Blüte fehlte
die wirtschaftliche Grundlage; sie beruhte ausschließlich
auf dem Umstände, daß Rom die Hauptstadt des Reiches
war, und auf den Getreideverteilungen an den städtischen
Pöbel; und darum ist ein jäher Verfall eingetreten, sobald
die Hauptstadt verlegt wurde, und bald darauf das Reich
zusammenbrach. Seit dem 6. Jahrhundert ist Rom eine
Mittelstadt, bis es in unseren Tagen noch einmal zur Groß-
stadt geworden ist, aus ähnlichen Ursachen wie die, denen
es seine erste Blütezeit zu verdanken hatte. Während des
ersten halben Jahrtausends des Mittelalters ist dann das von
Constantin am Bosporos begründete Neu-Rom die einzige
Großstadt Europas geblieben; es folgten, in weitem Abstände,
die beiden arabischen Hauptstädte Cordoba und Palermo.
Dann ist, mit der Erstarkung des französischen Königtums
Paris zur Großstadt emporgewachsen; es zählte am Anfang
des 14. Jahrhunderts etwa 100 000 Einwohner. Ebenso be-
völkert war damals Venedig, die größte Handelsstadt Italiens,
und Mailand wird nicht viel kleiner gewesen sein. Das waren
in dieser Zeit, nach Konstantinopel, die größten Städte
Europas. Ob Florenz damals wirklich 90 000 Einwohner
gezählt hat, wie berichtet wird, mag dahingestellt bleiben;
Städte von 40 — 50 000 Einwohnern gab es aber in Europa
bereits eine ganze Reihe, außer Florenz Köln, Brügge,
Gent, London, Barcelona, Genua, Verona, Padua, Bologna,
22*
336 Karl Julius Beloch,
Palermo, vielleicht auch Neapel und Prag. Wie man sieht,
stand Italien, seiner wirtschaftlichen Bedeutung entspre-
chend, oben an; es zählte allein so viele große Städte, wie
das übrige Europa zusammen. Im 15. Jahrhundert hat das
Bild sich nicht wesentlich verändert. Erst das 16. Jahr-
hundert brachte einen neuen, glänzenden Aufschwung;
Europa zählte, um 1600, von Konstantinopel und vielleicht
Moskau abgesehen, 12 Städte mit über 100 000 Einwohnern,
von denen London, Paris, Neapel mit je einer Viertel Million
die erste Stelle einnehmen; dann folgten Lissabon, Mailand,
Venedig mit je etwa 200 000, Sevilla, Palermo, Antwerpen,
Amsterdam, Rom, Genua mit etwa je 100 000. Die Hälfte
dieser Großstädte kam auch jetzt auf Italien. Ein Jahr-
hundert später hatten London und Paris die halbe Million
erreicht oder überschritten, Amsterdam hatte etwa 200 000
Einwohner, in Deutschland war Wien mit 130000 Einwohnern
in die Reihe der Großstädte eingetreten, und Hamburg
näherte sich bereits der Zahl von 100 000 Einwohnern.
Auch die Hauptstadt Spaniens, Madrid, war mit 125 000 Ein-
wohnern zur Großstadt geworden. Dagegen spricht sich
der wirtschaftliche Verfall Italiens in dem Sinken seiner
Großstädte aus; nur Neapel und Palermo behaupteten
annähernd ihre frühere Bevölkerung. Rom war sogar auf
140 000 Einwohner gestiegen; ein Zeichen, daß die viel-
geschmähte päpstliche Herrschaft doch nicht so schlecht
gewesen sein kann. Der Verfall Portugals spricht sich In
dem Sinken von Lissabon aus, das kaum noch die Hälfte
der Bevölkerung zählte, die es ein Jahrhundert früher ge-
habt hatte.
Mit dem 18. Jahrhundert setzt dann in ganz Europa
jene rasche Zunahme der Bevölkerung ein, die in keiner
früheren Periode ihre Parallele findet, und die noch in
unserer Zeit andauert. Die Folge war eine starke Vermehrung
der Zahl der Städte mit mehr als 100000 Einwohnern, die
im Laufe des Jahrhunderts von 14 auf 22 stieg, und ihrer
Bevölkerung, die sich von etwa 3 Millionen auf über 5 Mil-
lionen vermehrte. London näherte sich bereits der Zahl von
1 Million Einwohnern, Paris war dagegen ziemlich stationär
geblieben und hatte die halbe Million noch nicht weit über-
Die Volkszahl als Faktor u. Gradmesser der bist. Entwicklung. 337
schritten, Neapel, das nach der Befreiung von der spanischen
Herrschaft einen glänzenden Aufschwung genommen hatte,
war nicht mehr weit von der halben Million entfernt. Dann
folgten in weitem Abstände Moskau, Petersburg, Wien
und Amsterdam, die, mit einer Viertelmillion Einwohnern
oder wenig darunter, einander fast gleich standen. Im
Laufe des 19. Jahrhunderts ist dann die Zahl der Städte mit
über 100 000 Einwohnern in Europa von 22 auf 149 ge-
stiegen, mit zusammen 48 Millionen Einwohnern. Vielleicht
nirgends wieder findet der Kulturfortschritt, den das letzte
Jahrhundert gebracht hat, einen so charakteristischen
Ausdruck.
Nur durch ziffermäßige Erfassung konnten diese Ver-
hältnisse zur konkreten Anschauung gebracht, die Ent-
wicklung, die sich darin ausspricht, in objektiver Weise
gewertet werden. Und dasselbe gilt von allen oder doch den
meisten anderen Zweigen des Staats- und Wirtschaftslebens.
Selbst die geistigen Strömungen sind in viel höherem Maße
der statistischen Behandlung zugänglich als die meinen,
die in der Geschichte nichts anderes sehen, als ein Bündel
Heldenbiographien. Freilich, bis zur Erreichung dieser
Ziele ist noch ein weiter Weg. Aber erst wenn dieser Weg
durchmessen sein wird, soweit es die uns zu Gebote stehenden
Mittel gestatten, kann die Geschichte das werden, was sie
heute noch nicht ist, wenigstens noch nicht im vollen Sinne
des Wortes, was sie aber werden muß, eine Wissenschaft.
Miszelle.
Zu Noel Valois, Le Pape et le Concile.^)
I.
Entgegnung von N. Valois.
Hochgeehrter Herr!
Wenn die Leser der Hist. Zeitschrift, wie ich fürchte,
die Ratschläge des Herrn Haller befolgen, werden sie vielleicht
mein Buch Le Pape et le Concile nur öffnen, um die darin ent-
haltenen Anmerkungen zu Rate zu ziehen, in denen, wie der ge-
lehrte Herr Professor anerkennt (Bd. 1 10, 347), verschiedenes Neues
und „manch wertvoller Aufschluß" sich befinden, aber dieselben
werden sich hüten, den Text selbst, der wahrscheinlich viel un-
nützes Geschwätz enthält, zu lesen. Und nun bin ich dadurch
in eine sehr peinliche Lage geraten: denn ich kann wohl kaum
hoffen, daß Ihre Leser sich selbst von der Richtigkeit seiner
Vorwürfe überzeugen werden. Damit sie dennoch Kenntnis
nehmen können von der Art, in der H. die historische Kritik
versteht, folgen hier als Beispiel einige seiner Bemerkungen.
S. 348 wirft er mir vor, daß ich Karl VII. zu der Zusammen-
kunft von Bourges 1438 im Anfang und nicht Ende des Monats
August habe ankommen lassen; ich habe aber da (II, 230 2. Zeile),
1) Wir haben von unserem Grundsatze, Entgegnungen auf Rezen-
sionen, die über den Rahmen des § 11 des Preßgesetzes hinausgehen,
abzulehnen, im vorliegenden Falle eine Ausnahme gemacht, um einem
Ausländer Gelegenheit zu geben, in unserer Zeitschrift sich gegen
eine besonders scharfe Kritik zu verteidigen. Die Redaktion.
1
Entgegnung von N. Valois. 339
WO ich von Karl VII. spreche, wörthch geschrieben: // ne par-
vint ä Bourges qu'ä la fin du mois d'aout.^)
S. 352 gibt er den Lesern zu verstehen, daß „ich mich wohl-
weislich gehütet habe", einen von ihm im Concil. Basil. 1, 435
veröffentlichten Text zu erwähnen, der augenscheinlich sehr
kompromittierend für mich wäre: aber gerade diesen Text habe
ich erwähnt (11, 33 Anm. 2), indem ich auf die genannte Seite
verwies.2)
S. 342: Ich hätte auch ein im Jahre 1435 von Cesarini an den
Papst gerichtetes Schreiben vollständig übergangen. Ich habe
es jedoch zitiert und erläutert I, 395! Es ist übrigens nicht so
aufzufassen wie H. annimmt, und enthält in der Hauptsache
nur eine flüchtige Hindeutung auf den für das Annatenverbot
versprochenen Ersatz {Concil. Basil. I, 388).
S. 348: Ich hätte Unrecht gehabt zu sagen (I, 183 Anm. 4),
daß das Konzil in seiner Antwort vom 3. September 1432 als
Beispiel früherer Papstabsetzungen nur Liberius und Anastasius
aufgeführt habe. Dies ist doch die Wahrheit!^) Die Väter führen
— weiter unten — die Fälle von Johann XII. und von Bene-
dikt IX. nur da an, wo die Rede ist von den Obedienzent-
ziehungen.*)
Wenn ich schrieb (II, 43): Des prelats frangais tels que
l'archeveque de Lyon se joignirent au cardinal Aleman pour re-
commander la Solution avignonnaise, sollte mir nicht die Anwen-
dung einer einschränkenden Formel vorgeworfen werden, denn
es ist wahr, daß nicht alle französischen Prälaten das Wort
ergriffen haben, um diese Lösung zu empfehlen. H.s Bemer-
kung (S. 352 Anm. 1) — „wenn das nicht verdrehen heißt, so
heißt es doch vertuschen" — ist hier ganz und gar nicht am
Platze.
^) Die 2. von H. nicht verstandene Anmerkung — weit davon
entfernt, ein Widerspruch zu sein — bestätigt im Gegenteil diese
Behauptung.
") Ebenso habe ich die Antwort auf die Verlegung nach Ferrara
aufgeführt (II, 115), deren Erwähnung mir H. vorwirft (S. 344)
überhaupt vergessen zu haben.
') „Qui non audierunt Ecclesiam fuerunt habiti ut ethnici et publi-
cani, ut legitur de Anastasio et Liberia" (Mon. Concil. II, 244).
*) Ibid. 245.
340 Zu Noel Valois, Le Pape et le Concile.
S. 348 ist er erstaunt, daß ich den Verfasser des Guberna-
culum conciliorum unter den Wiener Theologen suche! Weiß
er denn nicht, was Schulte (Gesch. d. Quellen u. Literatur d.
canon. Rechts II, 439) schon festgestellt hat, und was ich mit
neuen Beweisen bestätigen könnte, nämlich daß der Spanier
Andreas von Escobar die Würde eines Doktors der Theologie in
Wien erwarb?
S. 350 behauptet er kühn, daß Eugen IV., als er gezwungen
war, gleichzeitig mit den Bullen In arcano und Inscrutabilis,
die angebliche Bulle Dem novit zu widerrufen, nichts tat, um zu
zeigen, daß er nicht der Verfasser der letzteren war. Ohne hier
von der nicht mißzuverstehenden Weise zu sprechen, in welcher
der Papst die Urheberschaft der qu. Bulle in Abrede stellte,
und welche von den Legaten^) und dem venezianischen Gesandten
bestätigt wird^), genügt es mir, wenn ich den Text selbst des
Widerrufs der Bulle den Lesern unterbreite: „Duas nostras liU
teras pridem in palacio apostolico promulgatas, nam tercias . . .,
que dicuntur incipere D e us novit, cum a nobis aut de scitu
nostro nunquam emanaverint, licet superfluum videatur quod non
exstat revocare, tarnen quia petiium est, et ad cautelam . . . , cas-
samus" (Mon. Concil. II, 565). Man sieht, mit welcher Unge-
niertheit H. die beweiskräftigsten Texte verschwinden läßt: in
Wirklichkeit geschah gerade das Gegenteil von dem, was er
behauptet.
S. 348 macht er mir zum Vorwurf, daß ich den berühmten
Erzbischof von Tarent, welcher, wie er sagt, ein Orsini von Taglia-
cozzo ist, beharrlich „Johann Berardi" nenne.^) Ich bedauere,
konstatieren zu müssen, daß hier H. einem alten, seit langer
Zeit wiederholten Irrtum verfällt.*) Dieser Prälat gehört nicht
1) Ibid. 561.
^) „Andreas [Donatol volebat esse commemoratum quod, audito
de bulla illa D e us novit, papa ammirabatur quomodo id sibi
imponeretur, quia nunquam illam fecisset, ymo imposuerat ut sua ex
parte rogaret atque requireret, quod et ipse Andreas requirebat, ut contra
auctorem dicte bulle procederetur" (ibid. 563).
3) Ich habe ihn auch „Berardi de Tagliacozzo" genannt (I,
178; II, 388).
*) Siehe Ciaconius II, 902; Moroni, Dizionario stor.-eccl.
LXXII, 227.
Entgegnung von N. Valois. MI
zur Familie Orsini, und sein wirklicher Name, so wie er uns be-
sonders durch den Brief Martin V. vom 20. Oktober 1421 über-
liefert ist, ist wohl derjenige, den ich wiedergegeben habe, näm-
lich „Johann Berardi von Tagliacozzo".*)
S. 349 ist H. das Opfer einer wirklich merkwürdigen Hal-
luzination: er glaubt auf S. 243 meines 2. Bandes zu lesen, daß
ich den Bischof von Zengg im Jahre 1439 sterben lasse, und daß
ich ihm eine rührende Abschiedsrede auf dem Totenbette in den
Mund gelegt habe, die in Wirklichkeit der Bischof von Lübeck
gehalten hat, die auch nur bei diesem einen Sinn hat. Jedoch
weder auf dieser 243. Seite, noch auf irgendeiner anderen meiner
2 Bände findet sich etwas Derartiges. Ich stelle H. anheim, in
meinem ganzen Werke eine einzige Stelle zu finden, welche den
falschen Angaben, die er mir zuschreibt, auch nur ähnelt! Ich
habe den Tod des Bischofs von Zengg (S. 243 Anm. 1) nur er-
wähnt, um Juan von Segovia zu widerlegen, der ihn gegen das
Jahr 1439 verlegt. Ich habe weder eine Anspielung auf das
„Totenbett", noch auf die „rührende Abschiedsrede" gemacht!
In dem interessanten Briefe der ungarischen Prälaten und Ba-
rone, den ich S. 243 Anm. 2 veröffentlicht habe, handelt es sich
nur um die im kaiserlichen Lager vom Bischof von Lübeck, Ab-
gesandten des Konzils, gehaltenen Reden und um die Widerlegung
seiner Argumente durch den Bevollmächtigten des Papstes, den
Bischof von Zengg, Dieser lateinische Text ist ganz deutlich,
ebenso wie die Anmerkungen, die ich in meiner Mutter-
sprache hinzugefügt habe. H. beherrscht Latein und Französisch
wohl zur Genüge, und ich verzichte deshalb darauf, zu erfahren,
was in seinem Geiste vorgegangen ist.
Gleichwohl kann ich ein noch merkwürdigeres Phänomen
zitieren. H.s Wunsch, mich auf Fehlern zu ertappen, ist so groß,
daß er nicht zögert, einen Text, den er selbst veröffentlicht hat,
zu ändern. Er hat 1901 einen Brief von Eugen IV. von 1436,
datiert septimo kal. martii, veröffentlicht; er übersah, daß das
Jahr 1436 ein Schaltjahr war und hatte ihn aus Unachtsamkeit
mit dem Datum vom 23. Februar versehen (Quellen u. Forsch,
aus Italien. Archiven II, 185). Als ich nun diesen Brief meiner-
seits anführte (II, 13), habe ich ihn natürlich richtig datiert,
^) Eubel, Hierar eh. cath. I, 499.
342 Zu Noel Valois, Le Pape et le Concile.
nämlich vom 24. Februar. H. sollte sich darein finden, für einmal
sich geirrt zu haben ? Aber er zieht vor, septimo in sexto zu ver-
wandeln (S. 347), und das erlaubt ihm dann, sich über meine
Unwissenheit, die mich den 6 kl. martii eines Schaltjahres mit
24. Februar hat übersetzen lassen, lustig zu machen? Dieser
Zug ist so reizend, daß es sich verlohnt, ihn hier wiederzugeben:
„Er hat vergessen, was er doch auf der Ecole des chartes einmal
gelernt haben wird, wie die Märzkaienden im Schaltjahr (1436)
umzurechnen sind." Wollen Sie im übrigen bemerken, daß H.
vergebens den Glauben zu erwecken sucht, daß der 24. eine
Schwierigkeit schaffe, weil der in Frage stehende Brief dem
Cosimo Medici einen Auftrag gibt, den dieser am 23. ausgeführt
hätte? Dieser Einwurf beweist, daß H. die Texte, die er veröffent-
licht, ohne die nötige Sorgfalt auslegt. Denn es war in der Tat
am 23., daß Cosimo gewisse Verpflichtungen gegenüber dem
Vertreter des Papstes übernimmt; aber was ihm der Papst am
24. befiehlt, ist, sich den Bevollmächtigten des Königs Rene zu
verpflichten, und dieser Schwur wurde erst 4 Tage später, am 28.,
geleistet. In allem, was vorhergeht — wohlbemerkt — ziehe ich
H.s guten Glauben nicht in Zweifel, aber Sie werden mir er-
lauben, es lächerlich zu finden, wenn er sich, den andern For-
schern gegenüber, der Ausdrücke wie „Blindheit, Übereilung,
Flüchtigkeit, falsche Interpretation", in etwas sehr freigebiger
Weise bedient.
Daß ich unter diesen Umständen auf eine weitere Diskussion
mit H. verzichte, wird man begreiflich finden. Wenn ich mehrere
seiner Kritiken schon im voraus beantwortet habe^), so bleiben
noch viele andere, die ich mit Leichtigkeit widerlegen könnte,
allerdings in Ausführungen, die hier nicht wiederzugeben wären,
ohne die Gastfreundschaft der Zeitschrift zu mißbrauchen.
Es liegt mir auch daran, festzustellen, daß ich keineswegs beab-
sichtige, alle die Ansichten, die er mir zuschreibt, abzustreiten.
Diejenigen, die mich — nach ihm — für einen systematischen
^) Es ist ebenso überflüssig, daß ich von neuem versuche, ihm
verstehen zu geben, was ich unter triomphe de la papauti ver-
stehe, ein Triumph, den niemand in Abrede stellt, außer H., von
dem ich aber klar und deutlich hervorgehoben habe, was er Un-
vollständiges, in gewissem Maße Illusorisches (II, 359. 364. 369),
selbst in mancher Hinsicht Gefahrvolles (II, 363) an sich hat.
Entgegnung von N. Valois. 343
Verteidiger des römischen Pontifs und für einen hartnäckigen
Gegner des Konzils von Basel halten, würden sich schwer täu-
schen. An vielen Stellen habe ich von dem Eigensinn (I, 97, 149),
der Blindheit (I, 133), der Ungeschicklichkeit Eugen IV. (I,
189; II, 306), seinen skandalösen Ernennungen (I, 109, 124, 167;
II, 87 — 96, 273, 319), den Übertreibungen seines Ausbeutungs-
systems (I, 376), seiner manchmal grausamen Strenge (II, 4,
85, 319), seiner Ungerechtigkeit gegenüber dem Konzil (II, 19),
seinem Widerstand gegen Reformen (II, 27) gesprochen. Ich habe
selbst ein gegen ihn und die weltliche Macht des Papstes gerich-
tetes, besonders heftiges Schreiben (11,97 — 103) bekanntgegeben.
Anderseits habe ich aber auch der Selbstlosigkeit, dem oft hero-
ischen Mute und dem guten Glauben der Väter von Basel meine
Anerkennung nicht versagt (II, 124, 160, 165, 177, 178, 357);
aber selbst daraus macht mir H. fast einen Vorwurf (S. 345).
Indessen habe ich mich doch nicht verpflichtet geglaubt, mit
geschlossenen Augen alle Handlungen der Väter zu bewundern,
wie er, und z. B. bin ich überzeugt, daß alle unparteiischen Leser
das Urteil, das ich über ihr beklagenswertes Handeln in der
Angelegenheit der Vereinigung der griechischen Kirche gefällt
habe, ohne weiteres unterschreiben würden, ein Urteil, das übri-
gens nicht strenger ist als das ihres Chefs Cesarini.
Meine Arbeiten geben, seit einigen Jahren schon, Herrn
Dr. H. reichlich Beschäftigung: vor der Besprechung meines
Buches Le Pape et le Concile in der Zeitschrift hat er dem
gleichen Werk einen Artikel in der Theologischen Li-
teraturzeitung gewidmet, und zuvor veröffentlichte er
in dieser Zeitschrift einen Artikel von 52 Seiten über meine
Histoire de la Pragmatique Sandion de Bourges, zwei Artikel,
welche beide dasselbe Gepräge des gleichen Wohlwollens tragen.
Es steht ihm frei, diese Angriffe fortzusetzen. Sollten sich aber
nicht einige Freunde finden, die ihm zu verstehen gäben, daß er
bei dieser Art von gewaltsamer Polemik viel von den Eigen-
schaften verliert, die man bei dem Autor des Concilium Basi-
liense gern lobt, wie Scharfblick, Kritikfähigkeit und Genauig-
keit, und um ihm den Rat zu geben, nicht öffentlich eine der-
artig tiefe Geringschätzung denjenigen entgegenzubringen, welche
sich das gleiche Thema zu Vorwurf genommen haben? Es wird
nicht an böswilligen Gegnern fehlen, die daraus schließen, daß
S44 Zu Noel Valois, Le Pape et le Concile.
er gewisse Abschnitte der Gescliiclite als ein reserviertes Jagd-
gebiet betrachtet, das niemand außer ihm betreten darf.
Empfangen Sie, bitte, geehrter Herr, die Versicherung meiner
Hochachtung.
Paris, den 17. März 1913. Noel Valois.
II.
Sdilußwort von J. Haller.
Auf die höchst schmeichelhafte Meinung, die Herr Valois
über die Leser der Historischen Zeitschrift äußert, werden diese
selbst die richtige Antwort wissen. Zu den Vorwürfen aber,
mit denen meine Kritik entkräftet werden soll, muß ich folgendes
bemerken.
1. Pape et Concile II, 230 steht im Text allerdings, daß
Karl VII. erst Ende August in Bourges ankam. Dagegen wird
in der zugehörigen Anmerkung eine Urkunde des Königs, „date
de Bourges, le 6 aoüt 1440", als bemerkenswert (a remarquer)
zitiert, ohne jede Erklärung. Hierauf bezieht sich meine Bemer-
kung: gerade die Form des Ausfertigungsbefehls beweise, daß
der König abwesend.
2. Die aufschlußreiche Denkschrift, die ignoriert zu haben
ich V. vorwerfe, ist von ihm allerdings einmal in drei Zeilen (!)
zitiert worden, aber nicht dort, wo sie hingehört, nämlich bei
der Krisis Ende 1436, sondern vorgreifend zu den Verhandlungen
im Sommer 1436, und zudem — nur in einer Fußnote! In der
Darstellung wird kein Gebrauch von ihr gemacht. Das ist eben
die Methode, die ich hinlänglich gekennzeichnet zu haben glaube:
was einem nicht paßt, sei es noch so interessant, setzt man in die
Anmerkungen, wo es von den meisten übersehen wird und kein
Unheil stiftet. Wird einem dann vorgehalten, daß man unbe-
queme Wahrheiten unterdrücke, so wirft man sich in die Brust:
„Ich hab's zitiert!"
3. Den nächsten Vorwurf kann V. nur erheben, indem er
meine Worte unrichtig wiedergibt. Ich habe nicht behauptet,
Schlußwort von J. Haller. 345
V. habe das Schreiben Cesarinis vollständig übergangen;
ich spreche vielmehr von seinem Programm der Ver-
ständigung. Von diesem sagt V. in der Tat nichts. An der
Stelle, auf die er sich zur Entschuldigung beruft, gibt er den
Inhalt des 5 Vi große Seiten langen Aktenstücks in vollen 7 Yz Zeilen
wieder — von „Erläuterung" ist keine Rede — und überdies
falsch. Die „flüchtige Hindeutung" auf den Ersatz für die An-
naten besteht in einer beredten, 8 Zeilen langen Vorstellung,
daß es für Papst und Kardinäle vorteilhafter wäre, eine von der
ganzen Kirche gebotene Entschädigung anzunehmen, da dann
der bisherige Widerspruch gegen die Abgaben verstummen
müßte. Ich denke, das Argument verdiente doch wohl Er-
wähnung. Statt dessen faßt V. die Meinung des Legaten in
die Worte zusammen: „// lui conseilla de eider presque sur
tous les points", und nennt unter diesen Punkten ausdrücklich
auch la question des annates. Danach sollte man glauben,
Cesarini habe dem Papste zugemutet, auf die vom Konzil
verbotenen Annaten einfach zu verzichten. Bin ich da nicht im
Recht, zu sagen, V. habe das Programm der Verständigung
übergangen?
4. Ich bin in Verlegenheit, wie ich den nächsten Vorwurf
beurteilen soll. „Die Wahrheit" ist, daß das Konzil an den von
V. angezogenen zwei Stellen ersichtlich keinen Unterschied
zwischen Absetzung und Obedienzentziehung macht. Es zitiert
an der ersten als Beispiele der Absetzung Liberius und Anastasius,
an der zweiten als solche der Obedienzentziehung wiederum
Anastasius und Liberius neben fünf andern, worunter auch
Johann XXIII. Das „distinguo", mit dem V. sich auszureden
sucht, ist denn doch gar zu dünn.
5. Es ist natürlich richtig, daß in der Debatte „nicht
alle französischen Prälaten das Wort ergriffen haben", folglich
auch nicht alle Avignon empfohlen haben können. Aber —
und darauf allein kommt es an — gestimmt haben sie alle
für Avignon, wie ich schon 1895 nachwies und V. noch heute —
verschweigt.
6. Andreas von Escobar hat allerdings 1393 in Wien den
Doktorat der Theologie erhalten. Aber darf er darum in den drei-
ßiger Jahren des folgenden Jahrhunderts, wo er ständig an der
346 Zu Noel Valois, Le Pape et le Concile.
Kurie lebt, „un docteur en theologie de l'universiti de Vienne"
heißen? Wer findet ihn unter dieser Adresse? Und seit wann
kennt V. seinen Namen? Pape et Concile I, 92 und 398 kannte
er ihn noch nicht, sonst hätte er ihn wohl genannt. Wenn er nun-
mehr den Anschein erwecken will, ihn schon damals im Auge
gehabt zu haben, so überlasse ich andern, diese Art der Polemik
zu beurteilen.
7. Bezüglich der Bulle Deus novit hat V. meine Worte wieder-
um unrichtig wiedergegeben. Ich habe keineswegs behauptet,
daß Eugen IV. „nichts tat, um zu zeigen, daß er nicht der Ver-
fasser" war, sondern: „Der Papst erklärt nicht etwa, das Mach-
werk gehe ihn nichts an, sondern er fügt sich und revoziert Wort
für Wort, was ein Subalterner auf seinen Namen gefälscht haben
soll." Das entspricht genau den Tatsachen. Gewiß hat Eugen
selbst und durch andere die Echtheit der Bulle bestritten, aber
er hat sie trotzdem anerkennen müssen, indem er sie kassierte.
Es gehört ein starkes Maß von Kritiklosigkeit dazu, in den offi-
ziellen und offiziösen Ableugnungen ,,die beweiskräftigsten
Texte" zu erblicken, die ich mit „Ungeniertheit" „verschwinden
lasse". Statt solche billige Phrasen zu brauchen, hätte V. lieber
den Versuch machen sollen, meine positiven Beweise für die
Echtheit der Bulle zu entkräften.
8. Für die überlieferte Annahme, daß der Erzbischof von
Tarent ein Orsini war, habe ich bestimmte Anhaltspunkte. Dem
steht auch keineswegs entgegen, daß Martin V. ihn Johannes
Berardi nennt. Wäre Berardi sein Geschlechtsname, so müßte
er hier „Johannes de Berardis" heißen. Sein Vater hieß eben
Berardus. Gerade so gut könnte man behaupten, Kaiser Niko-
laus 11. sei kein Romanow, denn er heiße Nikolai Alexandro-
witsch.
9. Bezüglich des Bischofs von Zengg habe ich V. zum Teil
unrecht getan, indem ich übersah, daß er selbst die chronolo-
gischen Bedenken anführt, die es unmöglich machen, die Er-
zählung Segovias vom Tode und letzten Bekenntnis zur Sache
des Konzils auf den Bischof von Zengg zu beziehen. Nur hätte
er diese Beziehung überhaupt nicht vornehmen dürfen; denn
Segovia spricht vom Bischof von Lübeck. Das Behagen, mit
dem V. dieses mein Versehen auszubeuten sucht, gönne ich
Schlußwort von J. Haller. 347
ihm um so h'eber, da es zu der Wichtigkeit der Sache in
umgekehrtem Verhältnis steht. Was der Brief der ungarischen
Prälaten und Barone damit zu tun haben soll, ist mir uner-
findlich.
10. Mit Staunen — wäre ich Franzose, so würde ich sagen:
mit Beschämung — muß ich feststellen, daß Herr Noel Valois,
Mitglied der Akademie, Ehrenmitglied des Nationalarchivs und
ehemaliges Mitglied der Ecole des Charles, wirklich noch immer
nicht weiß, wie im Schaltjahr die Märzkaienden umzurechnen
sind. Der Fall ist humoristisch. Die Urkunde trägt nämlich
das Datum 7. kl. Martii, uimI das ist nun einmal der 23. Februar,
im Schaltjahr wie in jedem andern Jahr. Wer das nicht weiß,
der lerne es; streiten kann man darüber nicht. Ich habe allerdings
in der Hist. Zeitschr. 110, 347 aus Versehen „6. kl." geschrieben
(oder den Druckfehler übersehen). Wäre dies das wirkliche
Datum der Urkunde, so hätte V. recht und ich unrecht. Ich
habe also zum Vorteil meines Gegners „geändert", und er —
hat es nicht einmal gemerkt! Die Leser mögen urteilen, wer
und was hier „lächerlich" ist.
Dies sind die Dinge, durch deren Aufdeckung V. meinem
Urteil den Kredit entziehen wollte. Einen Punkt ausgenommen,
hat er in allen Stücken unrecht. Aber selbst wenn er ebensosehr
recht hätte, wie er unrecht hat, es würde sich doch nur um Neben-
sachen handeln, und um verhältnismäßig wenige. Von den wirk-
lich großen Fehlern, die ich ihm nachwies, hat er geschwiegen,
von den schweren Vorwürfen, die ich gegen seine Methode erheben
mußte, hat er keinen einzigen auch nur versucht zu entkräften.
Oder meint er vielleicht, es genüge, um ein unbefangener Ge-
schichtschreiber zu heißen, daß man ein paar Fehler des Papstes
erwähne und den persönlichen Tugenden der Konzilsleute einiges
Lob spende? Durch dieses Verfahren lassen wir uns nicht mehr
täuschen; es ist zu verbraucht. Wenn V. aber mir nachsagt,
ich „bewundere mit geschlossenen Augen alle Handlungen der
Väter" (des Konzils), so fordere ich ihn auf, in meinen Schriften
eine einzige Zeile nachzuweisen, die von blinder Bewunderung
des Konzils zeugte. Bis ihm dieser Nachweis gelungen ist, darf
ich seine Bemerkung für eine völlig haltlose Insinuation erklären;
wie ich es auch unter meiner Würde finde, auf die Verdächtigungen
348 Schlußwort von J. Haller.
zu erwidern, mit denen er seine Entgegnung zu schließen den
eigentümlichen Mut besitzt. Mit den Erzeugnissen seiner Feder
brauche ich mich künftig allerdings nicht mehr zu befassen.
Mein Zweck war, seine Arbeiten deutschen Lesern zu zeigen,
wie sie sind. Diesen Zweck glaube ich erreicht zu haben,
und was etwa noch fehlte, hat er selbst durch die Art seiner
Erwiderung ergänzt. Ich darf also wohl für immer von ihnen
Abschied nehmen.
H a 1 1 e r.
Literaturbericht.
Kleine historische Schriften. Von Max Lenz. München und Berlin,
R. Oldenbourg. 1910. VIII u. 608 S.
Studien und Versuche zur neueren Geschichte. Max Lenz ge-
widmet von Freunden und Schülern. Berlin^ Gebr. Paetel.
1910. 480 S.
Man wird es meinen mühe- und entsagungsvollen biblio-
graphischen Arbeiten der letzten Jahre zugute halten, daß ich
diese längst fällige Anzeige mit so großer Verspätung abfertige.
Vor mir selbst habe ich mich in dieser Zeit der Beklemmung,
eine lastende Verpflichtung nicht rechtzeitig abtragen zu können,
mit der Gewißheit rechtfertigen dürfen, daß die beiden hier zu
besprechenden Bücher, unabhängig von jedem rühmenden Wort,
ihren Weg gehen würden, wie sie denn inzwischen auch von der
Kritik mit ungeteiltem Beifall aufgenommen worden sind.
Max Lenz' Schriften sind für einen weiteren Leserkreis be-
stimmt. Eine Reihe von ihnen ist bereits in den „Ausgewählten
Vorträgen und Aufsätzen", die den Band 18 der von Arnold
Reimann herausgegebenen deutschen Bücherei bilden und in
drei starken Auflagen verbreitet sind, erschienen, doch ist es zu
begrüßen, daß sich der Verfasser entschlossen hat, 31 seiner
allgemeinen Stoffen gewidmeten Schriften in dem vorliegenden
umfassenderen und teureren Werke einem größeren Publikum
zugänglich zu machen, und man möchte nur bedauern, daß
in Rücksicht auf den Raum von dem Gesichtspunkt der Voll-
ständigkeit abgesehen worden ist.
Die Sammlung der so vereinigten Vorträge und Aufsätze
stellt das Ergebnis von 35 Jahren ernster Forscherarbeit dar.
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 23
350 Literaturbericht.
Sie sind den wichtigsten Problemen neuerer geschichtlicher Ent-
wicklung gewidmet, und die drei hervorragenden Arbeitsgebiete
L.s kommen auch in diesen Essays klar zum Ausdruck. Sie
setzen sich aus einer reformationsgeschichtlichen Gruppe, einer
mit der französischen Revolution und der napoleonischen Epoche
sich beschäftigenden Reihe und schließlich einer die Zeit der
Reichsgründung behandelnden Abteilung zusammen, für die alle
bekanntlich L. je eine grundlegende Biographie geliefert hat.
Des Verfassers wissenschaftliche Art ist rühmlichst bekannt.
In den Fachkreisen schätzt man ihn als den erfolgreichsten
Fortführer Rankescher Geschichtsauffassung und Geschichts-
schreibung, und mit größter Absicht ist der aufschlußreiche,
den wissenschaftlichen Charakter feinsinnig analysierende Aufsatz
über Leopold Ranke an die Spitze der Sammlung gestellt: eine
sympathische Huldigung für den großen Lehrmeister der jüngeren
deutschen Geschichtsforscher. Mit ihm teilt L. den weiten
universalen Blick, die strenge kritische Methode, den Sinn für
staatliche Entwicklung in der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer
Äußerungen. Dagegen erinnerte die glänzende Diktion, die
lebensprühende Darstellung, der nationale Schwung, die uns in
jeder der Schriften entgegentreten, mehr an Treitschke, dem
gleichfalls nicht ohne Absicht ein schöner Beitrag gewidmet
ist, und so hat Otto Hintze durchaus recht, wenn er L. als eine
Synthese von Ranke und Treitschke bezeichnet, wenn auch der,,
zumal aus den Aufsätzen der ersten Gruppe sprechende, prote-
stantische Klang seiner Art einen höchst eigenen persönlichen
Stempel gibt. In der Tat tritt uns in diesem Bande überall
die volle Eigenart einer durch und durch selbständigen, starken
und warmherzigen Persönlichkeit entgegen, die ebenso durch die
echte und tiefgrabende Forschungsarbeit wie durch deren hoch-
stehende künstlerische Gestaltung wirkt. Eindrucksvoller noch
als das bisher möglich war, erweist sich L. in diesem Sammelbande
als einer der glänzendsten Essayisten, die die deutsche geschichts-
wissenschaftliche Schule hervorgebracht hat.
Am ursprünglichsten erscheint mir L. in dem erstgenannten
Kreise. Von dem kleinen Gutenberg-Aufsatz und der kraft-
vollen Zurückweisung des in verfälschendem Gewände einher-^
schreitenden Werkes Janssens an bis zu den inhaltsvollen Auf-
sätzen über „Humanismus und Reformation" und „Geschichts-
Allgemeines. 351
Schreibung und Geschichtsforschung in Elsaß zur Zeit der Refor-
mation", die für die Kenntnis vom Wesen der Reformation
gesicherte Ergebnisse niederlegen, bis zu der Reihe wohlabgerun-
deter biographischer Beiträge, die uns die großen Gestalten
jener Zeit vor Augen führen, bis schließlich zu dem völlig vor-
urteilsfreien Aufsatz über „Gustav Adolf dem Befreier" spricht der
Verfasser in aller Unmittelbarkeit zu uns, mehr instinktiv wohl
als absichtsvoll in den Worten schlichter und treuer Begeisterung
seinen Gegenstand plastisch hinstellend und bearbeitend. Einen
anderen, mehr reflektierenden Charakter scheinen mir die Bei-
träge der beiden folgenden Abteilungen zu besitzen, die fast
ausnahmslos in späteren Jahren entstanden sind. Es sind die
Leistungen des aus seinem ersten Arbeitsgebiete heraustreten-
den, sich zu universellerer Betrachtung entwickelnden Forschers,
der den ganzen Umkreis geschichtlicher Entwicklung in seine
Betrachtung zieht, ein wenig freilich — wie mir scheint — auf
Kosten des engen Verhältnisses zum Leser. Wie durch ein schönes
Eingangstor treten wir mit den beiden gehaltvollen Aufsätzen
„Nationalität und Religion" und „Wie entstehen Revolutionen?"
in diesen späteren Arbeitsbereich des Verfassers. Während Auf-
sätze wie „Napoleon I. und Preußen" und „Die Bedeutung der See-
beherrschung für die Politik Napoleons" sich der Napoleon-
biographie anschließen, vertritt der große Aufsatz „Die franzö-
sische Revolution und die Kirche", dem man ohne Übertreibung
grundlegende Bedeutung zuerkennen darf, allein die ausgedehntere
Forschungsarbeit L.s zur Geschichte der Revolutionszeit, und
man muß es bedauern, daß er sich nicht zur Aufnahme weiterer
Aufsätze hat entschließen können. Dagegen umfaßt des Ver-
fassers dritter Forschungsbereich zur Geschichte der Reichs-
gründung nahezu die ganze zweite Hälfte des Buches. Den
Übergang bildet der klassische Beitrag „1848". Seinen Haupt-
inhalt machen die biographischen und analysierenden Aufsätze
über die großen handelnden Persönlichkeiten wie Bismarck,.
Wilhelm L und Friedrich III. und ihre Geschichtsschreiber wie
Treitschke und Rößler aus, während sich die anschließenden
Aufsätze über „Das russische Problem", „Jahrhundertswende
vor hundert Jahren und jetzt" und „Ein Blick in das preußische
Jahrhundert" in weiter Umschau den großen Problemen der
jüngsten Vergangenheit zuwenden, die dem Verfasser aus seinem
23*
/
352 Literaturbericht.
Werke über „Die großen Mächte" erwachsen sind, Sie vollends
zeigen, wie auch der Schlußaufsatz über „Die Stellung der histori-
schen Wissenschaften in der Gegenwart", den auf höchster Warte
stehenden, durchaus universellen Gelehrten, und man möchte
der Hoffnung Ausdruck geben, daß dieses Werk voll reichster
Anregung und Belehrung eine recht weite Verbreitung unter dem
gebildeten Publikum finde. Es kann, wahrhaft missionierend,
dazu beitragen, in weiteren Kreisen den historischen Sinn wieder
zu wecken, der uns bitter not tut. Wenn es gestattet ist noch einen
Wunsch auszusprechen, so ist es der, daß bei einer neuen Auf-
lage angegeben werden möchte, wo die Aufsätze früher schon
einmal erschienen sind, wie denn auch die mitgeteilten Jahres-
zahlen nicht erkennen lassen, ob sie der Zeit der Entstehung oder
der Veröffentlichung gelten.
Einem neuen Brauche folgend haben Freunde und Schüler
L.s ihrem 60 jährigen Lehrer und Freunde ihre Huldigung dar-
bringen wollen, aber die so entstandene Festschrift hat nicht den
üblichen Charakter. Nicht eine große Zahl von verhältnismäßig
bedeutungslosen Beiträgen, die bei dieser passenden Gelegen-
heit bequem untergebracht werden konnten, tritt uns entgegen,
sondern nur acht Aufsätze von wissenschaftlichem Werte, die
zugleich den wissenschaftlichen Charakter der Geber kennt-
lich machen, wurden der Ehre gewürdigt, diese Festgabe zu bil-
den, wenn das auch den Nachteil zur Folge hat, daß sich die große
Schar der aus L.s Schule entsprossenen jungen Historikergene-
ration nicht erkennen läßt. Nicht Quantität sondern Qualität
war das Leitmotiv, und angesichts mancher unerfreulichen Er-
scheinung in dem immer weiter werdenden Kreise moderner
Festschriften wird man diesem Gesichtspunkte die freudige Zu-
stimmung nicht versagen.
Dem befreundeten Fachgenossen auf dem Gebiete der Re-
formationsgeschichte widmet Theodor Briger seinen Auf-
satz über „Die Gliederung der 95 Thesen Luthers", eine alte
Streitfrage spezielleren Charakters damit zum Abschluß führend.
Es gelingt ihm, eine feste Anordnung nachzuweisen, und man
wird sich den Ergebnissen seiner auf der vollen Kenntnis der
Zeit beruhenden scharfsinnigen Untersuchung anschließen. Die
Gliederung in 5 Gruppen, von denen die vierte sich wieder in
vier Untergruppen scheiden läßt, erscheint tatsächlich klar,
Allgemeines. 353
und der von B. scharf betonte praktische Gesichtspunkt für die
Anlage der „Fundamentalartikel" des Protestantismus gibt für
alles die Stütze. — Im Gegensatz zu dieser Einzeluntersuchung,
die begrifflich freilich überall in die Weite führt, ist der Aufsatz
Felix Rachfahls der großangelegte Überblick über einen
große Zeiträume umspannenden Gegenstand; er behandelt
„die holländische See- und Handelsmacht vor und nach dem
Ausbruche des niederländischen Aufstandes". Aus seiner Be-
schäftigung mit der großen Gestalt Wilhelms von Oranien heraus
vermag der Verfasser, dank seiner hervorragenden Fähigkeit,
einen weitschichtigen Stoff zu durchdringen und zu meistern,
ein plastisches Bild von dem gewaltigen Aufschwung der wirt-
schaftlichen Macht Althollands zu entwerfen. Mit warmem Anteil
für das heldenhafte Wirken des Handelsvolkes und mit sicherem
Blick für die treibenden Kräfte verfolgt er die Entwicklung seit
der Zeit der burgundischen Herrschaft, und in der kenntnisreichen
Darlegung und der gedankenreichen Betrachtung werden wert-
volle Ergebnisse gewonnen. Rückhaltlos wird man sich der
Feststellung anschließen, daß die Entstehung und auch schon die
erste Blüte der holländischen See- und Handelsgeltung bereits
in die Zeit vor dem Ausbruche des niederländischen Aufstände?
fallen, und auch die interessante Frage nach den Gründen weiterer
Steigerung der wirtschaftlichen Entfaltung während der Freiheits-
kämpfe selbst scheint mir ebenso überzeugend wie erschöpfend
beantwortet. In einer Schlußbetrachtung wird über das eigent-
liche Thema hinaus die spätere Entwicklung kurz skizziert, wer-
den das Wesen und die Form dieser Handelstätigkeit in der
Zeit ihrer Blüte charakterisiert, wird der dem Zusammenbruch
der Hanse analoge Niedergang der holländischen Seemacht-
stellung begründet. — In dem folgenden Beitragt) unternimmt es
Paul Haake, von der schillernden Persönlichkeit des
Generalfeldmarschalls Hans Adam von Schöning ein bio-
graphisch getreues Bild zu zeichnen. Im Anschluß an seine For-
schungen über August den Starken hat der Verfasser reiches
neues Material herbeischaffen können, das ein sehr viel helleres
Licht über die umstrittene Gestalt Schönings verbreitet, wenn
auch die Unauffindbarkeit seiner Papiere selbst noch fühlbare
') Auch als Sonderdruck.
354 Literaturbericht.
Lücken läßt und manchem Zweifel Raum gibt. Es tritt uns dieser
merkwürdige Mann so in seinen guten wie in seinen schlechten
Zügen greifbar entgegen, halb ein Condottiere, halb ein Offizier
im modernen Sinne; auf der einen Seite ein eigenen ehrgeizigen
Zielen nachstrebender „Mietling Ludwigs XIV.", wie ihn auch
Haake trotz stärkerer Hervorhebung günstiger Eigenschaften
nennen muß, auf der anderen Seite ein General, der geschickt und
eifrig die Interessen seines Fürsten vertritt. Die allgemein-
geschichtliche Bedeutung der Persönlichkeit kommt in dem
leider allzu ausführlich geratenen Aufsatz, der ^/4 des gesamten
Buches füllt, klar zum Ausdruck, und mit richtigem Urteil weiß
der Verfasser zu scheiden zwischen dem, was Schöning individuell
zu eigen ist und dem, was der Zeit überhaupt zugehört. — Aus dem
Brandenburg des Großen Kurfürsten führt uns Wilhelm Stolze
in das Preußen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des
Großen. „Zwei preußische Oberpräsidenten in Rheinland-West-
falen im 18. Jahrhundert. (Friedrich Wilhelm v. Borcke und
Karl Freiherr vom Stein.) Ein Versuch" nennt sich sein Beitrag;
er scheint mir durchaus gelungen, wenn man davon absieht,
daß er im Grunde nur Borcke^) gewidmet ist, während Stein
lediglich im Sinne des Ausblicks auf die weitere innere Entwick-
lung der westlichen Gebiete Preußens mehr anhangmäßig be-
handelt wird. Auch Borcke ist eine einigermaßen schillernde
Persönlichkeit, aber es ist unzweifelhaft St.s Verdienst, auf Grund
der von ihm erschlossenen neuen Quellen der Acta Borussica den
bösen Ruf, den die Kabinettsorder von 1738 dem Namen Borcke
verschaffte, als unberechtigt nachgewiesen zu haben. Aller-
dings hat er nicht vermocht, ein wirkHch plastisches Bild des
Oberpräsidenten und seiner Wirksamkeit zu zeichnen; das ver-
bietet das dürftige Material. Aber in den Umrissen läßt sich die
Gestalt dieses altpreußischen Beamten wohl erkennen, und in
der umfassenden Verwaltungstätigkeit Borckes, der mehrere
Jahre in selbständigster Stellung an der Spitze der westfälisch-
rheinischen Provinzen stand, bis er durch eine mächtige Opposition
verdrängt wurde, tritt uns eindrucksvoll vor Augen, welche
Verdienste um die Ausgestaltung des preußischen Staatswesens
*) Ich fürchte nicht als kleinlicher Kritiker beanstandet zu
werden, wenn ich auf die Auffälligkeit hinweise, daß neben der
häufigeren Schreibweise Borcke auch Borck stehen geblieben ist.
Allgemeines. 355
den Helfern und Dienern der Könige zukommen. In dem Schluß-
ausblick auf Steins Oberpräsidialtätigkeit hat Stolze den Ver-
such gemacht, die Kontinuität der inneren Politik im preußischen
Westen darzulegen und zu erweisen, daß Steins Wirken eng an
Borckes Tätigkeit anschloß. Es ist zuzugeben, daß hier manche
gute Beobachtung ausgesprochen wird, aber es muß für diese
Zusammenhänge noch weitere Detailarbeit geleistet werden,
ehe man zu sicheren Ergebnissen gelangen kann. — Auf ganz
anders gearteten Boden, wenn auch der gleichen Zeit, geleitet
uns Hermann v, Caemnierer mit seinem Aufsatz
über „Rankes »große Mächte' und die Geschichtschreibung des
18. Jahrhunderts". Verständnisvoll auf das Interessengebiet
des gefeierten Lehrers eingehend, hat er sich zur Aufgabe gemacht,
Rankes Meisterwerk, für das Max L. die Fortführung über das
19. Jahrhundert geliefert hat, in seinen Beziehungen zur politi-
schen Geschichtschreibung des 18. Jahrhunderts zu untersuchen
und das Besondere der Stellung Rankes klarzulegen. Nach Form
wie Inhalt ist die Studie gleich bedeutend, und man wird ihre
Ergebnisse als dauernden Gewinn für die Geschichtschreibung
und Geschichtsauffassung zur Kenntnis nehmen. Caemmerer
weist überzeugend^ nach, wie Ranke über die französische Revo-
lution auf die Ideen des 18. Jahrhunderts zurückgreift. Die
Richtung Schmauß, Achenwall, Ancillon, Heeren verfolgend,
zeigt er die folgerichtige Ausgestaltung der Grundanschauungen,
wie sie in Rankes klassischer Programmschrift niedergelegt
sind, die das Gesetz der Selbsterhaltung als das Bestimmende
für das Staatenleben ansehen, die die innere Politik der
äußern unterordnen, die deshalb auf die Beziehungen der
Staaten untereinander, d. h. das Staatensystem, das Schwer-
gewicht legen. Aber ebenso klar wie diese Einwirkung der
politischen Historie des 18. Jahrhunderts auf Rankes Anschau-
ungswelt tritt uns in der vortrefflichen Untersuchung auch
seine Besonderheit entgegen. Statt der mechanischen blutlosen
Theorie jener Göttinger nunmehr der in der unmittelbaren
Anschauung des staatlichen Lebens in seiner ganzen Mannig-
faltigkeit begründete kraftvolle Begriff von der Einheit des
Staates und der Nation, die Erkenntnis von den mächtig
wirkenden Tendenzen des Nationalitätsprinzips. Man möchte
der Hoffnung Ausdruck geben, daß der Verfasser diese wert-
356 Literaturbericht.
vollen und ergebnisreichen Studien fortführe und erweitere. —
Wieder einen spezielleren Charakter besitzt die kleine Studie
Hans Delbrücks über „Die Frage der polnischen Krone
und die Vernichtung Preußens in Tilsit", aber auch sie bringt
die Forschung in einem umstrittenen Einzelproblem, zu dem
sich auch L. seinerzeit geäußert hatte, ein gut Stück weiter.
In sorgfältiger und scharfsinniger Untersuchung legt der Ver-
fasser dar, wie Zar Alexander zwar, entgegen den Abmachungen
mit König Friedrich Wilhelm, gesonderte Verhandlungen mit
Napoleon einleitete, aber innerhalb derselben immer wieder für
die Erhaltung Preußens eintrat und durch diese Stellungnahme
Napoleons Ziele erheblich einschränkte. Schrittweise mußte
dieser von seinem Plane der Beseitigung und Aufteilung Preußens
unter Frankreich und Rußland und der Übertragung der polnischen
Krone an den Zaren zurückgehen, und geringfügige Abtretungen
preußisch-polnischen Gebietes an Rußland und des Königs von
Sachsen Ausstattung mit der polnischen Krone waren die Gegen-
äußerungen der von- Alexander geforderten Erhaltung eines
rechtselbischen Preußens, das für Rußland als Pufferstaat un-
entbehrlich war. Der interessante und verwickelte Hergang
dieser in steter Wechselwirkung stehenden diplomatischen Ver-
handlungen kommt in dem Aufsatz, der übrigens auf die Heran-
ziehung ungedruckten Quellenmaterials verzichtet, deutlich zum
Ausdruck. — Einen ähnlich gearteten Gegenstand behandelt
Erich Brandenberg in seinem Beitrag über den „Ein-
tritt der süddeutschen Staaten in den norddeutschen Bund". In
seiner klaren, sachlichen Art geht der Verfasser den außerordent-
lich schwer zu überblickenden Verhandlungen nach, die zwischen
Preußen einerseits und den süddeutschen Staaten anderseits
nach der Schlacht bei Sedan angeknüpft wurden und Ende
November 1870 zum Abschluß führten. Soweit die bisher zu-
gänglichen Quellen es zulassen, stellt Brandenberg mit scharfem
kritischem Blick den Verlauf im einzelnen klar, und ich stehe nicht
an, ihm im ganzen mit seinem vielfach von Busch, weniger von
Küntzel, abweichenden Urteil recht zu geben. i) Auf Einzelheiten
*) Von der seitdem zwischen ihm und Wilhelm Stolze ent-
brannten Polemik ist hier nicht zu sprechen; doch habe ich mit
der obigen Erklärung zugleich meinen Standpunkt auch hierfür
zum Ausdruck gebracht.
Allgemeines. 357
darf ich mich nicht einlassen. Die wichtigste Förderung erfährt
unsere Kenntnis und Auffassung von dem Verhalten Bayerns
und Württembergs bzw. ihrer handelnden Vertreter. Nament-
lich Graf Bray erscheint in einem ganz neuen Licht: es dürfte durch
Brandenburg erwiesen sein, daß man ihn nicht als einen unfähigen
Diplomaten ansehen darf, wenn man auch an dem allzu günstigen
Urteil einige Abstriche wird vornehmen müssen. Auch die enge,
wechselseitige Kausalität der Vorgänge in Bayern und Württem-
berg tritt uns deutlich vor Augen, und so weit das möglich ist,
fällt helles Licht auf die vielfach störenden Pläne und Handlungen
der Hofkreise. Daß solche Untersuchungen infolge der stetigen
Erschließung neuer Quellen der Gefahr unterliegen, schnell zu
veralten, ist unzweifelhaft, doch sind sie im wissenschaftlichen
Sinne deshalb nicht weniger wertvoll. In der selbständigen
Publikation seines Aufsatzes (Berlin, Gebr. Paetel, 1910) hat
Brandenberg noch den, kurz nach Abschluß der Festschrift er-
schienenen 3. Band der Friesen-Erinnerungen hineinarbeiten
können, die in der Hauptsache seine Darstellung nur stützten,
aber in den Einzelheiten mancherlei ergänzten und genauere
Angaben ermöglichten. Diesem Sonderdruck ist auch ein wich-
tiger Anhang beigegeben worden, der die Pläne einer Änderung
der Bundesverfassung während der Verhandlung über die Reichs-
gründung behandelt. — Dem Aufsatz Hermann Onckens
über „Amerika und die großen Mächte", der den Schluß der
Festschrift bildet, erkenne ich den originalsten Wert zu. Diese
„Studie über die Epochen des amerikanischen Imperialismus"
stellt sich in engste Beziehung zu dem gefeierten Lehrer. Sie ver-
folgt für das nordamerikanische Staatengebilde das gleiche Ziel,
dem L. in seinen „Großen Mächten" für die europäischen Staaten
nachgegangen war, nämlich den Rankeschen Grundgedanken
von der unter dem Machtgesichtspunkt stehenden staatlichen
Entwicklung auch für den Großstaat des transatlantischen
Kontinents als geltend nachzuweisen. Der Beweis ist gelungen,
und es ist von großem Reize, den Darlegungen, die das Problem
im großen anpacken und zugleich wertvolle Einzelforschung
leisten, zu folgen. In der Tat erscheint von der ältesten Zeit
selbständiger amerikanischer Geschichte an der Machtgedanke
bestimmend, wenn er auch aus den religiösen und sozialen Voraus-
setzungen des jungen Kolonialreiches heraus zunächst mit pazifi-
358 Literaturbericht.
stischen Idealen verquickt ist, und bald tritt die Eroberung des
Erdteils als das Leitmotiv klar hervor. Von Epoche zu Epoche
nehmen diese Machttendenzen festere Formen an. Trotz der
völlig anders gearteten Daseinsbedingungen und der ganz einzig-
artigen geographischen Lage folgt das nordamerikanische Staats-
wesen den Bahnen der alten europäischen Mächte, und in den
Gedanken der Staatsmänner, eines Jefferson und Monroe, eines
Clay und Seward und schließlich eines Roosevelt äußert sich schla-
gend das folgerichtige Weiterwachsen jenes Machtgedankens,
vom Fernhalten europäischer Kolonisation und Intervention
der älteren Zeit über die klug begrenzte Kontinentalpolitik der
60 er bis 90 er Jahre zur imperialistischen Weltpolitik der jüngsten
Vergangenheit und Gegenwart. In scharfer Scheidung werden
die einzelnen Epochen dieser Entwicklung herausgearbeitet,
und in einer geradezu mustergültigen Anschaulichkeit tritt uns
das Ganze dieser Entwicklung eindrucksvoll vor Augen. i)
So stellt sich die L.-Festschrift mit ihren acht selbständigen
Beiträgen als eine höchst erfreuliche Gabe dar, nicht nur für den
Gelehrten, dem sie gewidmet ist, sondern auch für den allgemeinen
Kreis der Wissenschaft. Möchten ihr bei den zahlreichen kommen-
den Gelegenheiten recht viel gleichwertige Nachfolger erwachsen!
Leipzig. Herre.
Atlas der Nederlandsche Palaeographie bewerkt door H, Britg-
mans en O. Oppermann, 's Gravenhage, A. de Jager.
1910. 28 Tafeln mit Vorrede und Transskriptionen.
Die Herausgeber haben sich als Ziel gesetzt, die bezeichnend-
sten Proben auf dem Gebiet der gesamten niederländischen
Paläographie vorzuführen. Die Auswahl ist mit Geschick getroffen,
insofern wirklich die verschiedenartigsten Erzeugnisse der wichtig-
sten in Betracht kommenden Kanzleien nebst einer kleineren
Anzahl von Reproduktionen aus Handschriften literarischen
Inhalts Aufnahme gefunden haben. Zeitlich reichen die Proben
>) Daß Oncken Gelegenheit fand, auf die unbesonnenen An-
griffe, die der Friedensapostel Alfred H. Fried im Anschluß an
diesen Aufsatz gegen ihn gerichtet hatte, mit einer wirklich herz-
erquickenden Deutlichkeit zu antworten, ist bereits in dieser Zeit-
schrift Bd. 107, S. 459 erwähnt.
Mittelalter. 359
von ca. 1100 bis 1692; daß sie nicht mit dem Ausgang des Mittel-
alters abbrechen, sondern auch der Paläographie der Neuzeit
ihren Tribut darbringen, ist besonders erfreulich.
Die Entzifferung weist nicht bei allen Tafeln die peinliche
Genauigkeit auf, die einer in erster Linie für Anfänger bestimmten
Sammlung eigen sein sollte. Zum guten Teil mögen die gering-
fügigeren Abweichungen dem Setzer zur Last fallen und von den
Herausgebern bei der Korrektur übersehen worden sein — es
kommen aber auch gröbere Verstöße vor, die auf diese Weise nicht
erklärt werden können. So wenn auf Tafel XIII b die durch-
strichene Stelle zwischen Z. 13 u. 14 aufgelöst wird „et post apo-
stolicarum" statt „et post ipsarum", wenn in der in der Nähe
stehenden Randnotiz „refertas" gelesen ist statt „insertas", in
Z. 6 V. u. „cautative" statt „caritative" u. a. m. — Und der Text
auf Tafel XV 1 1 a gewinnt einen ganz anderen Sinn, oder überhaupt
erst einen Sinn, wenn man die Schriftzüge sorgfältiger zu erfassen
bemüht ist. Schon die Auflösung der Siglen in Z. 2 dürfte nicht
richtig und statt „universis etc. sfingulis] in dfominoj sfalutemj'*
zu lesen sein „universis etc. sfalutemj in dfominoj sfempiternamj".
Z. 5 am Ende steht deutlich „patiatur'' statt „patietur", Z. 1 1 lies
„licentiare et dimittere denegabit et refugieV statt „libere habere
et dimittere denegabit et insurgerf" (sie!), Z. 14 „patrem et mini-
stram" statt „priorem et monasterii"; Z. 19 „pecuniaria" statt
„pertinacia" ; Z. 18 „districte precipientes mandetis" statt „discrete
preceptis etcetera mandatis"; Z. 19 „requirimus'* statt „ingerimus'';
Z. 23 „ut premittitur postulatum" statt „ut permittitur postulatur";
in der letzten Zeile ist „licentient" ausgelassen. Das sind Mängel,
die einer zweiten Auflage, deren sich das Werk ohne Zweifel in
absehbarer Zeit erfreuen wird, unbedingt verschwinden müssen.
Straßburg i. E. Hans Kaiser.
L'immunitd franque par Maurice KroelL Paris, Arthur RouS'
seau. 1910. XXIII u. 363 S. 6 Fr.
Die Frage nach der rechtlichen Beschaffenheit und Ent-
wicklung der Immunität ist für die deutsche Geschichte ebenso
wichtig wie für die französische; ein neues französisches Werk
über diesen Gegenstand, welches, wie das bei dem Buch von
Kroell zutrifft, mit voller Beherrschung des Stoffes eine ausführ-
liche und übersichtliche Darstellung verbindet, kommt also auch
360 Literaturbericht.
der deutschen Forschung zugute, und zwar auch dann, wenn es
an vielen Stellen keine neuen Ergebnisse, sondern nur eine neue
Zusammenfassung des schon Bekannten bietet. Freilich liegen
die seit dem Erscheinen des Seeligerschen Buches im Vorder-
grund stehenden Seiten der Frage, die für die deutsche Geschichte
von besonderer Bedeutung sind, die Stellung freier und unfreier
von der Immunitätsherrschaft in verschiedener Weise abhängen-
der Hintersassen, die mannigfache. Abstufung der Gerichtshoheit,
schließlich das Verhältnis der Immunität zu der später an den-
selben Stellen sich bildenden Landeshoheit, dem französischen
Forscher etwas ferne, so daß man von ihm keine wesentliche
Förderung dieser Forschungsaufgaben erwarten darf. K. hat
überhaupt die Entwicklung nach dem 9. Jahrhundert am rasche-
sten abgetan, indem er ihr nur den kurzen Schlußabschnitt
widmet, der vorwiegend unter dem Gesichtspunkt des Verfalls
gefaßt, mehr auf die französischen als auf die gleichzeitigen deut-
schen Verhältnisse Rücksicht nimmt. Viel eingehender erörtert
der Verfasser die ältere Geschichte der Immunität, also zunächst
die Rechtstellung der Domänen in der römischen Kaiserzeit,
dann die einschlägigen Verhältnisse unter den Merowingern und
den Beherrschern des karolingischen Gesamtreiches.
Sehr zu beachten sind K.s Ausführungen über die Anfänge
der merowingischen Immunität. Er widerspricht entschieden
der von Waitz vertretenen Ansicht von einem finanziellen Ur-
sprung (S. 71, 117, wobei man allerdings den Hinweis auf die
in gleicher Richtung zielenden Beobachtungen von Seeliger,
Soziale und politische Bedeutung der Grundherrschaft S. 77 f.
vermißt) und will, obwohl er die in den formulae Andegavenses
überlieferten Gerichtsurkunden dem Beginn des 6. Jahrhunderts
zuzuschreiben geneigt ist (S. 34 f., viel vorsichtiger urteilt Brunner,
Deutsche Rechtsgeschichte 1, 2. Aufl., 578), dennoch zwischen
den auf Steuern und Gerichtsbarkeit bezüglichen Befreiungen
der spätrömischen Grundbesitzer und der seit 614 durch mero-
wingische Gesetze und Urkunden bezeugten Immunität keinen
engeren Zusammenhang anerkennen. Auf den Staatsgütern habe
sich die schon den Domänen der römischen Kaiser zustehende
Befreiung von der ordentlichen Verwaltungstätigkeit fortgepflanzt;
daß sie auch auf die Güter von Privaten übertragen wird, das ist
nach K. eine Neuerung des ausgehenden 6. und des 7. Jahr-
Mittelalter. 36t
Hunderts und In der Hauptsache eine Gegenwirkung der allzu
strammen Wirtschaft, welche die fränkischen Grafen übten.
Sieht also K. hier einen viel schärferen Einschnitt in der Ent-
wicklung, als man ihn sonst annahm, so hat er auch den Unter-
schied zwischen merowingischer und karolingischer Immunität
kräftig herausgearbeitet. Jene wird von ihm als Zerstörung der
staatlichen Gewalt, diese als ein Wiederaufbauen und als ein
wichtiges Glied in den Verwaltungseinrichtungen Karls d. Gr.
geschildert. In der Betonung des geistlichen Charakters der
karolingischen Immunität ist der Verfasser vielleicht etwas zu
weit gegangen (das S. 161 angeführte Immunitätsdiplom für Heimo
stammt nicht aus dem 10. Jahrhundert, sondern vom Jahr 888),
auch nimmt es wunder, die Befreiung vom Heerdienste nahezu
auf eine Stufe mit anderen Wirkungen der Immunität gestellt
zu sehen. Die unklaren Ausdrücke, deren sich die Kanzlei Lud-
wigs des Fr. in dem zugunsten von Korvey an den Königsboten
Bischof Baderad gerichteten Befehlschreiben bediente, machen
es allerdings zweifelhaft, ob dieses Kloster ein besonderes jetzt
verlorenes Privileg über Heerdienstbefreiung besaß, wie nicht
bloß Mühlbacher und Lechner (im Verzeichnis der verlorenen
Urkunden zu den Karolingerregesten Nr. 256), sondern auch
schon Roth, Feudalität S. 236 und Sickel, Beiträge V, 365,
Acta Karol. 2, 364 annahmen, oder ob es diese Vergünstigung
auf Grund eines reinen Immunitätsdiploms beanspruchen konnte,
wie K. S. 186 meint (gegen die Annahme des deperditum ist
auch Stengel, Immunität 1, 672). Mag man nun zu der einen
oder zu der andern Ansicht neigen, keineswegs wird doch aus
jener Unklarheit oder aus dem öfteren Zusammentreffen von
Immunität und Heerdienstbefreiung auf eine weitergehende
Vermengung der beiden Arten von Privilegierung zu schließen
sein. Wenn übrigens der Verfasser auf Grund der Notitia de
servitio monasteriorum annimmt, daß in der Folge nur etwa ein
Drittel der Klöster zum Heerdienst verpflichtet blieb, alle übrigen
davon befreit gewesen seien, so leidet die Zuverlässigkeit dieser
Schätzung sehr durch die ihm entgangenen Ausführungen von
Puckert (Berichte der Kgl. sächsischen Gesellschaft der Wissen-
schaften 42. Bd., 1890, 46 ff.), nach denen mit stärkeren Ent-
stellungen der verlorenen echten Liste gerechnet werden muß,
als sie K. S. 184 in Betracht zieht.
362 Literaturbericht.
Das vielerörterte Immunitätsdiplom Karls des Gr. für Metz,
in welchem die Heerpflicht der auf Kirchengut wohnenden Freien
ausdrücklich erwähnt wird, findet an dem Verfasser einen ent-
schiedenen Verteidiger seiner Echtheit, und gewiß mit Recht,
nur darin irrt der französische Forscher, daß er S. 202 die Annahme
eines an zwei verschiedenen Orten übereinstimmend auftauchen-
den falschen Wortlautes für ausgeschlossen hält; deutsche Diplo-
matiker sind leider schon einigemale auf Urkunden gestoßen,
die sich nur durch die mehreren Empfängern dienende Tätig-
keit desselben Fälschers erklären läßt; vgl. dazu Tangl in den
Nachträgen zu Mon. Germ. Dipl. Karolinorum 1, 563, Stein-
acker in den Mitt. des Instituts 32, 399 und Breßlau, Hand-
buch der Urkundenlehre 1 ^, 42. Im ganzen hat der Verfasser
die diplomatische Literatur, die sich auf die Immunitäts-
diplome bezieht, sorgfältig benutzt; einen Fall, in dem er es
unterließ, hat Rietschel in der Zeitschr. f. Rechtsgesch. 45, 478
bemerkt; übersehen ist S. 207 die Interpolation von Reg. 1554,
auf die es aber hier nicht ankommt. Was S. 282 ff. über
die Fassung der karolingischen Immunitätsdiplome gesagt
wird, berührt sich enge mit Sickel, Beitr. V, dabei ist jedoch
aus der richtigen Beobachtung Sickels (a. a. 0. 329), daß in
der Verbotsklausel karolingischer Immunitätsdiplome in der
Regel „eine detaillierte Aufzählung der betreffenden Beamten
noch nicht stattfindet", bei K. S. 284 die unrichtige An-
sicht geworden, daß ein ausnahmsweises Vorkommen solcher
Aufzählung ein sicheres Anzeichen von Fälschung wäre, und
daß echte Diplome erst im 10. Jahrhundert diese Erscheinung
aufwiesen; Stengels Werk, das K. noch nicht benutzen konnte,
gibt nach seiner ganzen Anlage über diesen Punkt (1, 449 ff .),
wie auch sonst über die Fassung, viel genauere Angaben, und wenn
es erst zum zweiten Bande gediehen sein wird, dürfte es gerade
über diejenigen Fragen der späteren Entwicklung der Immunität,
die K. am kürzesten behandelt hat, den genauesten Aufschluß
gewähren. Wer aber über die Entstehung dieses Rechtsverhält-
nisses und seine Fortbildung bis auf Karl d. Gr. sich unter-
richten will, der wird immer mit großem Nutzen zu dem Buche
von K. greifen.
Innsbruck. W. Erben.
Mittelalter. 363
La cit^ de Li^ge au moyen-äge. Par G. Kurtb, Bruxelles, A.
Dewit. LUge, D. Cormaux et L. Demarteau. 1909 und 1910.
3 Bde. LXXI u. 322, VIll u. 345, VII u. 417 S. 15 Fr.
In drei stattlichen, fesselnd geschriebenen Bänden legt uns
Kurth die Ergebnisse seiner mehrjährigen Studien vor, über
welche uns schon einzelne Aufsätze unterrichtet hatten {Notger
de Liege et la civilisation au X' siede. — Les origines de la com-
mune de Lüge usw.). — Gern läßt man sich von K. die wechselvollen
Ereignisse der Geschichte Lüttichs vorführen. Schon am Ende
des 11. Jahrhunderts arbeitet die Stadt des hl. Lambert auf ein
bestimmtes Ziel hin: das gesamte städtische Gebiet soll der
Gerichtsbarkeit ihres Magistrates, die gesamte Bevölkerung
dem gemeinen Rechte unterworfen werden. Keine leichte Auf-
gabe, wenn man die große Zahl der in Lüttich lebenden Kleriker
in Betracht zieht; K. schätzt die Zahl der Kanoniker, Mönche,
Weltgeistlichen, Kleriker jeden Grades auf 1200 bis 1500. Noch
Petrarca schreibt : vidi Leodium insignem clero locum. Es nimmt
nicht wunder, daß die Lütticher andauernd in wirtschaftliche
und politische Kämpfe verwickelt sind. Bald heißt es, den „Na-
tionalfeind", den Herzog von Brabant, zu bekriegen, bald handelt
es sich um Streitigkeiten im Innern. Die Patrizier liegen sich mit
den Plebejern in den Haaren, oder man findet die Lütticher
Schulter an Schulter mit dem Fürstbischof, so, wenn es gilt,
auch von dem Klerus und dem Kapitel die indirekten Steuern
{la fermeti) zu erhalten, um die erforderlichen Mittel für die
neue mehr Raum bietende Stadtmauer aufzubringen. Oder die
Lütticher stehen auf selten des Kapitels, wenn der Fürstbischof
seine Machtbefugnisse erweitern will.
Unter den Fürstbischöfen treten uns interessante Persönlich-
keiten entgegen. Fremde sind es in der Regel, die ihre Unter-
tanen in Art und Unart nicht zu erkennen vermögen, und häufig
kein anderes Hilfsmittel in Stunden der Gefahr wissen, als fremde
Söldner herbeizurufen. Eine Ausnahme macht Albert van
Cuyck (1194 — 1200). Das Privileg von 1196 verschafft ihm eine
solche Popularität, daß bei dem Besuche Ottos IV. in Lüttich
dem flüchtigen Bischöfe und nicht dem anwesenden König ge-
horcht wird. Johann von Eppes (1229 — 1238) sieht sich einer
gefährlichen Koalition gegenüber: zum erstenmal verbünden
sich die Lütticher mit den anderen Städten des Fürstentums.
364 Literaturbericht.
Deutlich zeigt sich das Bestreben Lüttichs, eine freie Reichsstadt
zu werden; doch König Heinrich VI L unterstützt nur eine Zeit-
lang den Plan. Mit Heinrich von Geldern (1247 — 1274) kommt der
unwürdigste Bischof von allen zur Regierung. Ein roher und grober
Kriegsmann, der in seiner Sinnenlust die Nonnenklöster nicht ver-
schont, der nach seiner Absetzung das Leben eines Wegelagerers
und Strauchdiebes führt und aus dem Hinterhalt seinen fried-
lichen Nachfolger feig ermordet. Der Name Johanns von Flan-
dern (1281 — 1291) lebt ruhmvoll in drei hervorragenden Werken
fort: die paix des clercs (1287 zwischen dem Kapitel und der
Bürgerschaft geschlossen), die loi muee (die Gesetzesreform von
1287) und die Synodalstatuten von dem Jahre 1288, eine Art von
Corpus iuris für den Gebrauch der Lütticher Kleriker, legen das
beste Zeugnis ab von seiner politischen und juristischen Be-
gabung. Adolf von der Mark (1313 — 1344) entfesselt neue Stürme:
dem fürstlichen Absolutismus, wie er ihn vertritt, stellen die
Lütticher den städtischen Absolutismus gegenüber. Unter
Johann von Baiern (1389 — 1417) stoßen die beiden nach Will-
kürherrschaft strebenden Gewalten hart aufeinander. Johann
„ohne Gnade" siegt. Aber um welchen Preis! Im Grunde erleidet
auch er eine Niederlage, auch er muß sich vor den Siegern von
Othee, vor Johann von Burgund und Wilhelm von Holland,
demütigen. K. meint allerdings, daß die Tragödie von Othee
mit einer Komödie endigte, daß sich der Elekt nur zum Schein
unterwarf, aber ich kann mich nicht davon überzeugen. [Vgl. jetzt
auch F. Schneider, Herzog Johann von Baiern S. 61.] — Schon
der Baier muß später Zugeständnisse machen; sein Nachfolger
Johann von Walenrode (1418—1419) stellt die städtischen Frei-
heiten wieder her, und auch Johann von Heinsberg (1419 — 1455)
läßt sie bestehen. Erst unter Ludwig von Bourbon (1455 — 1482)
kommt es zu neuem Konflikt. Unfähig wie kaum ein anderer,
muß er sich von seinem eigenen Klerus recht kräftig die Wahrheit
sagen lassen. Die Demagogen feiern Orgien. Und was sogar die
ganz verrannten Hedrois zur Zeit Johanns von Baiern nicht ge-
wagt haben, tun jetzt die wilden Draufgänger: sie ernennen
selbst geistliche Würdenträger. In seiner Bulle vom 23. Dezember
1465 spricht Papst Paul II. über die Lütticher „nicht nur das
Urteil der römischen Kirche, sondern auch das der Geschichte
aus" (III, 226). Das Strafgericht vollzieht Karl der Kühne,
Mrttelalter. 365
der gern die alte begehrliche Politik der Brabanter fortsetzt.
Vergeblich versucht der Legat Onofrio, dem ein energischer Ver-
teidiger in K. entsteht, einen Frieden mit dem Burgunder herbei-
zuführen: in dem Entscheidungskampfe geht die Stadt zugrunde.
Ich weise in dem bedeutsamen Werke noch besonders auf
Kapitel XVI und XV 11 hin, die sich mit dem wirtschaftlichen,
religiösen und geistigen Leben in Lüttich beschäftigen; auf die
Exkurse, so auf den Exkurs über den Namen der Hedrois, auf den
Exkurs über den Lütticher Ursprung der Beguinen: Lambert der
Stammler sucht die „Frauenfrage" in Lüttich zu lösen, indem
er den Witwen sowie den Frauen ohne Beruf und Mittel bei der
Kirche des hl. Christoph ein Asyl eröffnet, nach dessen Muster
bald andere gegründet werden. Die interessante Einleitung handelt
von den Kommunen im Mittelalter: La civilisation moderne s'est
ilaboree au cours des siicles dans trois centres successifs. Ce furent
les monasteres pendant le haut moyen-äge; pendant le bas moyen-äge
ce furent les communes; depuis la Renaissance ce sont les Etats.
Heidelberg. Otto Cartellieri.
Das Anwachsen der deutschen Städte in der Zeit der mittelalter-
lichen Kolonialbewegung. Von Alfred Pfisdiel. Mit 15 Stadt-
plänen. (Abhandlungen zur Verkehrs- und Seegeschichte.
Im Auftrage des Hansischen Geschichtsvereins herausge-
geben von Dietrich Schäfer. Bd. 4.) Berlin, Karl Curtius.
1910. XII u. 214 S. 7,50 M.
Alle Versuche, uns die staatlichen, gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Zustände des Mittelalters vorstellbar und ver-
ständlich zu machen, haben mit einer großen Schwierigkeit zu
kämpfen. Es fehlt uns an Angaben über die Größenverhältnisse,
die den Aufbau der mittelalterlichen Gesellschaftskörper be-
herrschen. Die Geschichte des deutschen Volkes glauben wir
zu kennen. Aber über die Geschichte der deutschen Bevölkerung
wissen wir bis zum 17. Jahrhundert nur sehr wenig. Daß ohne
die Hilfsmittel der Statistik von Staat, Gesellschaft und Wirt-
schaft der Gegenwart eine klare Vorstellung nicht zu erlangen
wäre, leuchtet ohne weiteres ein. Für das Mittelalter hingegen
kennt der Geschichtsforscher die Entwicklung der Bevölkerungs-
ziffer auch nicht einmal in ihren gröbsten Umrissen. Einzelne
Vermutungen, die darüber angestellt worden sind, schweben
Hittoriscbe Zeitachrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 24
366 Literaturbericht.
mehr oder weniger in der Luft. Brauchbare Ergebnisse haben
bisher nur die Untersuchungen geliefert, die seit dem von Karl
Hegel gegebenen Beispiel über die Einwohnerzahl einzelner
mittelalterlicher Städte angestellt worden sind. Sie haben uns
die überraschende Kleinheit der deutschen Stadt des Mittel-
alters kennen gelehrt. Von einer anderen Seite packt jetzt das
bevölkerungsgeschichtliche Problem der deutschen Vergangen-
heit ein Schüler Dietrich Schäfers, A. Püschel, an. Auch sein
Interesse ist auf die Erforschung der Größenverhältnisse der
älteren deutschen Städte gerichtet. Aber er fragt nicht nach
ihrer Volksmenge, sondern nach ihrer räumlichen Ausdehnung.
Neben das ältere, von Hegel aufgeworfene Problem wird damit
ein neues gestellt, und auch hier wieder ist das Ergebnis ein
überraschendes.
Verfasser geht von der Wahrnehmung aus, daß die im 12.
und 13. Jahrhundert gegründeten deutschen Kolonialstädte in
schnellem Wachstum meist schon am Ausgang des 13, Jahr-
hunderts, spätestens aber im 14. den Umfang erreichen, den sie
dann bis in das 19. Jahrhundert hinein behalten. Das war im
einzelnen wohl schon bekannt. P.s Verdienst ist es, diese Tat-
sache zuerst als eine Massenerscheinung erfaßt zu haben. Er
stellt ihr die andere Tatsache zur Seite, daß auch die älteren
Städte Westdeutschlands, die z. T. bis in die Römerzeit zurück-
reichen, in ihrer langsameren Entwicklung um dieselbe Zeit wie
die Kolonialstädte ihre größte Ausdehnung erreichen. Die Zeit
vom Ausgang des 13. bis etwa zur Mitte des 14. Jahrhunderts
erscheint damit als ein erster großer Wendepunkt in der räum-
lichen Entwicklung der deutschen Städte. Diejenigen Städte,
bei denen dies nicht zutrifft, wie etwa Hamburg, Berlin, Dresden
u.a., haben sich unter Ausnahmebedingungen entwickelt.
Den Beweis erbringt P. dadurch, daß er die Baugeschichte
von 15 wichtigeren deutschen Städten auf die Frage hin unter-
sucht, wann zuerst eine jede von ihnen die Bebauungsgrenze
erreicht, mit der sie in das 19. Jahrhundert eintritt. Der Zug
der Stadtmauer mit ihren Toren und mit den Straßen und Kirchen
in ihrer Nähe dienen dabei als Marksteine. Als Quellen werden
neben vereinzelten chronikalischen Nächrichten die topogra-
phischen Angaben der Urkunden und älteren Stadtbücher heran-
gezogen. In einigen Fällen wurde die Arbeit durch die bereits
Mittelalter. 367
vorhandenen lokalgeschichtlich-topographischen Untersuchungen
erleichtert. Zumeist aber sah sich der Verfasser ausschließlich
auf die Quellen selbst angewiesen. Seine Forschung liefert daher
auch für die Lokalgeschichte wertvolle Beiträge. Namentlich
für Augsburg wird der Grund zu einer kritischen Baugeschichte
der Stadt hier erst gelegt.
An die Untersuchung der räumlichen Entwicklung knüpft
eine durch mühsame Planmessungen gewonnene Berechnung des
Flächeninhaltes der Städte an. Auch das führt zu interessanten
Ergebnissen. Als die bei weitem umfangreichste Stadt lernen wir
Köln mit einem Flächeninhalt von 397 ha kennen. Auch Straß-
burg mit 193 und Augsburg mit 178 ha überragen das gewöhn-
liche Maß noch um ein beträchtliches. Das Durchschnittsmaß
für den Flächeninhalt der mittelalterlichen Großstadt läßt sich
auf etwa 100 — 130 ha ansetzen. In diese Größenklasse gehören
Städte wie Nürnberg, Frankfurt, Erfurt, Breslau, Braunschweig,
Magdeburg, Lübeck, Regensburg. Auffällig klein erscheinen die
Kolonialstädte im Ostseegebiet: Rostock mit 68, Wismar mit 58,
Stralsund mit 45 ha. Recht anschaulich treten diese Größenver-
hältnisse auf den 15 Stadtplänen hervor, die der Verfasser selbst
nach den verschiedensten Vorlagen auf den einheitlichen Maß-
stab von 1:10 000 zurückgeführt hat. Sie geben naturgemäß nicht
alle Einzelheiten genau wieder, reichen aber aus, die Flächen-
inhalte der dargestellten Städte miteinander vergleichbar zu
machen und die im Text gegebenen topographischen Nachweise
zu verdeutlichen. Wer selbst einmal sich in solchen Planzeich-
nungen versucht hat, wird dankbar anerkennen, welch opfer-
volle Arbeitsleistung gerade auch in diesen Beilagen steckt.
So liegt uns die räumliche Entwicklung der mittelalterhchen
Städte dank der verständnisvollen Bemühungen des Verfassers
in der Hauptsache klar vor Augen. Wie ist es nun aber zu erklären,
daß sie so früh schon zum Stillstand kommt? Sie bricht in der
zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ab; und das ist um so auf-
fälHger, als das Wachstum der deutschen Städte damals noch
keineswegs seinen Höhepunkt erreicht hatte. Dieser Wider-
spruch tritt in P.s Darstellung nicht recht hervor. Es wird da
die Zeit des 12. bis 14. Jahrhunderts als eine Periode städtischen
Wachstums mit der Gegenwartsentwicklung in Parallele gestellt
und die dazwischen liegenden vier bis fünf Jahrhunderte als eine
24*
368 Literaturbericht.
Zeit des Stillstandes genannt. Das ist aber irrig. Die deutschen
Städte sind auch noch im 15. und noch bis tief in das 16. Jahr-
hundert hinein (z. T. sogar sehr stark) gewachsen. Die Einwohner-
schaft Nürnbergs z. B. hat sich, soweit wir sehen können, in
dieser späten Zeit noch nahezu verdoppelt. Abgeschlossen war
seit dem 14, Jahrhundert nur die räumliche Entwicklung. Die
Stadtbevölkerung beginnt m. a. W. seit dem 14. Jahrhundert
sich innerhalb des vorhandenen Mauerringes dichter zusammen-
zudrängen, während sie bisher die Stadtbefestigung ihrer wach-
senden Zahl entsprechend von Zeit zu Zeit weiter hinausgeschoben
hatte. Schon Eberstadt hat gelegentlich einmal auf diese auf-
fällige Erscheinung hingewiesen. Er meint: Der Gebrauch des
Schießpulvers und der Artillerie, der seit dem 14. Jahrhundert
aufkam, habe an die städtischen Befestigungsbauten so große
Anforderungen gestellt, daß die Bürgerschaft sich genötigt sah,
von einer weiteren Ausdehnung des Stadtumfanges abzusehen,
um die vorhandene Befestigungslinie desto stärker ausbauen zu
können. Ohne Eberstadts Ausführungen zu kennen, weist P.
doch schon ganz treffend auf die Tatsache hin, an der sie scheitern
müssen. Er zeigt, daß es keineswegs äußere Umstände waren,
die der weiteren Ausdehnung der Städte ein Ziel setzten, sondern
daß seit dem 14. Jahrhundert ihr Expansionsbedürfnis selbst
zu erlöschen scheint; denn die letzten Erweiterungsgebiete, die
noch im 13. oder 14. Jahrhundert in die Stadtbefestigung ein-
bezogen wurden, weisen fast durchweg eine weit geringere Auf-
teilung, Bebauung des Grundes und Bodens auf, als der Kern
der Stadt. P. scheint daraus auf ein Stocken der Bautätigkeit in der
Stadt schließen zu wollen. Davon kann aber nicht die Rede sein.
Die Bautätigkeit ist gerade im 15. und 16. Jahrhundert lebhafter
denn je. Aber sie erstreckt sich nicht gleichmäßig über alle Teile
des ummauerten Stadtbodens, sondern sie konzentriert sich auf
die innere Stadt. Hier verschwinden jetzt die großen Höfe und
Gärten, die etwa noch vorhanden waren. Hier wachsen die
Häuser bis zu drei und vier Stockwerken in die Höhe, während
in der äußeren Stadt (nach der Ringmauer zu) die Straßen nur
mit niedrigen Einfamilienhäusern eingefaßt sind, zwischen denen
sich weite Garten- und Feldgrundstücke ausdehnen. So be-
deutet der Wendepunkt, den P. für das 14. Jahrhundert in der
Bauentwicklung der deutschen Städte nachgewiesen hat, nichts
Mittelalter. 369
anderes, als daß an die Stelle der bisherigen Stadterweiterung
eine steigende Konzentration der Bebauung tritt. Mir scheint
dieser merkwürdige Wechsel auf eine Veränderung in der wirt-
schaftlichen Struktur der Stadt hinzuweisen. Wir wissen, daß
die Städte im früheren Mittelalter noch ein ausgesprochen agra-
risches Gepräge tragen. So klein sie waren, so waren sie doch
weiträumig angelegt, um Garten- und Ackerbau auch innerhalb
der Mauer zu ermöglichen. Je mehr dann Handel und Gewerbe
sich entfalteten, um so lästiger mußte diese Weitläufigkeit im
Verkehr empfunden werden. Um den Verkehr zu erleichtern
und möglichst vielen Gewerbetreibenden rege Teilnahme am
Handel und Wandel zu ermöglichen, fängt man daher an, jeden
Winkel in der inneren Stadt als Baustelle auszunützen und Stock-
werk auf Stockwerk zu türmen. In Mainz läßt sich diese Ent-
wicklung schon bis in den Anfang des 12. Jahrhunderts zurück-
verfolgen. Otto von Freising {Gesta Friderici imp. 1, 13, MG.
Schulausgabe, 2. Aufl., S. 23) berichtet zum Jahr 1117 auf Grund
eigener Anschauung, daß innerhalb der Ringmauer dort die
Gegend am Rhein dicht bewohnt sei, während die anderen Teile
dem Weinbau und anderen Nutzungen dienten. Und in Köln
zeigt der Stadtplan des Merkator, daß selbst das Gebiet, das
um 1150 bereits in die Stadtbefestigung einbezogen wurde, im
Jahre 1571 noch nicht voll bebaut war. Das durch die Stadt-
erweiterung von 1300 gewonnene Gelände vollends sehen wir
selbst am Anfang des 19. Jahrhunderts noch ganz mit Gärten
und Feldern erfüllt; nur die Hauptstraßen sind hier mit Häusern
besetzt, während in der inneren Stadt schon der Prospekt von
1531 das dreistöckige Haus als die vorherrschende Bebauungsart
erkennen läßt. (H. Keussen, Topographie der Stadt Köln im
Mittelalter, Bonn 1910.)
Gerade diese Bauentwicklung von Mainz und Köln scheint
darauf hinzuweisen, daß es bei den mittelalterlichen Stadterwei-
terungen zum Teil wenigstens nicht so sehr auf die Gewinnung
neuer Baustellen, als auf die Einbeziehung der die Stadt um-
gebenden bürgerlich-ländlichen Betriebe abgesehen war. Viel-
leicht läßt sich das Aufhören der Stadterweiterungen im 15. Jahr-
hundert in manchen Fällen damit erklären, daß durch die ge-
werbliche Entwicklung der Stadt die landwirtschaftlichen Inter-
essen innerhalb der Bürgerschaft mehr in den Hintergrund ge-
370 Literaturbericht.
drängt wurden. In anderen Fällen aber waren gewiß auch andere
Erwägungen maßgebend. Wenigstens sehen wir so manche
Stadt auch im späteren Mittelalter noch um den Schutz der
bürgerlich-ländlichen Betriebe in ihrer nächsten Umgebung
besorgt. Als Nürnberg 1449 mit Markgraf Albrecht von Bran-
denburg in Krieg geriet, ließ der Rat zum Schutz der nächsten
Umgebung in weitem Bogen um die Stadt herum eine Landwehr
anlegen, die den Umfang der Stadtmauer etwa um das Doppelte
oder Dreifache übertraf. Man sieht daraus, wie entsprechend
der wachsenden Bevölkerungsziffer auch die agrarischen Inter-
essen der Bürgerschaft vor den Stadttoren (trotz der gewerb-
lichen Entwicklung) immer noch im Zunehmen begriffen waren.
Man erkennt aber sofort auch, daß es der Stadt militärisch nicht
mehr möglich war, dieses erweiterte Vorland nach dem Muster
früherer Zeiten in den Mauerring einzubeziehen. Das Geld dazu
wäre vielleicht noch zu beschaffen gewesen. Größer wären schon
die rechtlichen Schwierigkeiten gewesen, die sich in dieser spä-
teren Zeit einer so ausgiebigen Stadterweiterung entgegengestellt
hätten. Entscheidend aber war wohl, daß die militärische Kraft
der Bürgerschaft zur Verteidigung einer so langgestreckten
Mauerlinie nicht ausgereicht haben würde. So begnügte man sich,
das Vorland mit einer Landwehr zu schützen. In den Landwehren,
die wir seit dem 15. Jahrhundert bei einer ganzen Anzahl von
Städten auftauchen sehen, hätten wir also in gewissem Sinne
die Fortsetzung der älteren Stadterweiterungen zu erblicken.
Es ließen sich noch mancherlei Fragen und Betrachtungen
an das Ergebnis der P.schen Untersuchung anknüpfen. Sie ist
geeignet, auf mehr als ein Problem der deutschen Städtegeschichte
ein neues Licht zu werfen. Es würde hier zu weit führen, darauf
einzugehen. Daß der Verfasser selbst sich auf seine Feststellungen
beschränkt hat, ohne den Versuch zu machen, das Festgestellte
in seinem ursächlichen Zusammenhang zu erklären, ist nur zu
billigen. Im Rahmen einer topographisch-statistischen Arbeit
war für eine solche Aufgabe kein Platz. Aber ein Hinweis auf
die grundlegenden neuen Fragen, die sich für die Städtegeschichte
aus dem Buche ergeben, schien mir hier um so mehr angezeigt,
als erst dadurch die weittragende Bedeutung sichtbar wird, die
der scheinbar so trockenen Untersuchung innewohnt.
Prag. Paul Sander.
Mittelalter. 371
Handel und Verkehr der Deutschen Hanse in Flandern während
des 14. Jahrhunderts. Von Dr. phil. Koarad Bahre. Leip-
zig, Duncker & Humblot. 1911. 198 S.
Was der Verfasser behandelt, ist in der Hauptsache die
rechtliche Stellung der Deutschen in Flandern. Die wirtschaft-
liche Seite tritt hinter den rechtlichen Gesichtspunkten in der
Darstellung in den Hintergrund. Nur das Kapitel über den
hansischen Warenhandel in Flandern, welches aber im wesent-
lichen lediglich eine Zusammenstellung der in Flandern von den
Deutschen eingeführten und ausgeführten Warenarten unter
möglichster Angabe ihrer Herkunft enthält, geht in dieser Be-
ziehung weiter. Der erste Teil, der die Überschrift trägt: „Flandern
und sein Verhältnis zur Deutschen Hanse", behandelt die Ent-
wicklung der politischen Verhältnisse Flanderns, den Erwerb der
Privilegien der Deutschen in Flandern und die Wandlungen,
welche das Verhältnis der Deutschen zu Flandern und Brügge
bis zum Ende des 14. Jahrhunderts durchmachte. Der zweite,
„Verkehr und Rechtstellung der Deutschen Hanse in Flandern"
überschriebene Teil, der etwa drei Viertel der Arbeit umfaßt,
beschäftigt sich, wenn wir von der schon erwähnten Zusammen-
stellung der ein- und ausgeführten Warenarten absehen, mit
der rechtlichen Stellung des Einzelnen in Flandern in bezug
auf Aufenthalt, Grundbesitz, Handel, Rechtspflege, Strandrecht,
Erbrecht, Stapelpflicht, Zölle und Abgaben, Münzgesetzgebung
und Hafenordnung.
Die in der Arbeit gebotene Zusammentragung und Bearbei-
tung des Materials über die rechtlichen Verhältnisse der Deut-
schen in Flandern ist eine dankenswerte Leistung, die zur Klärung
der auf diesem Gebiete zu beantwortenden Fragen entschieden
beitragen wird, wenn auch die Forschung in manchen Einzel-
heiten das von dem Verfasser entworfene Bild vielleicht noch
umgestalten dürfte. Nicht ohne Interesse sind u. a. die Dar-
legungen des Verfassers darüber (S. 82), wie Flandern und Brügge
sich der Aufgabe unterzogen, bei Beraubungen von Kauffahrern,
die sich auf dem Wege nach Flandern wenn auch außerhalb des
flandrischen Gebietes befanden, sich der Ansprüche der Beraubten
anzunehmen; das gleiche gilt von dem Rechtssatze, daß der
Beraubte, wenn ihm in dem fremden Lande, in dem sich der
Räuber oder das geraubte Gut befanden, sein Recht verweigert
372 Literaturbericht.
worden war, in Flandern den Anspruch erheben konnte, daß,
wenn der Räuber oder das geraubte Gut dorthin kamen, seinem
Rechte dort Genüge geschehe und der Räuber angehalten und
in Haft genommen, das geraubte Gut aber ihm zurückerstattet
werde. Wenn B. meint (S. 85), derjenige, der das geraubte Gut
gutgläubig erworben habe und der es trotzdem habe herausgeben
müssen, habe von den vlämischen Städten Entschädigung fordern
können, weil sie die unentgeltliche Herausgabe des Gutes von
ihm nicht hätten verlangen können, und hieran weitere Schlüsse
knüpft, so düte er z. B. hierin irren. Der Rechtssatz, daß geraubtes
Gut ohne Entschädigung herauszugeben ist, hatte im mittelalter-
lichen Rechte, welches in dieser Beziehung von anderen Auffassun-
gen ausging als wir heute, allgemeinere Geltung; derjenige, dem
geraubtes Gut genommen wurde, mußte sich wegen seines Schadens
an denjenigen halten, von dem er das Gut erworben hatte und
der ihm dafür einzustehen hatte, daß das verkaufte Gut nicht
etwa geraubtes war. Auch die Vorstellung (S. 89), daß das ge-
raubte Gut selten nach Flandern gekommen sein werde, dürfte
kaum zutreffend sein; denn wenn auch zwar der Räuber viel-
fach Bedenken getragen haben mag, mit dem Gute selbst nach
Flandern zu kommen, so doch nicht der dritte gutgläubige Er-
werber des Gutes. Gerade deshalb, weil Flandern der große
Markt war, auf den von allen Seiten die Waren zusammenström-
ten, weil sie dort am leichtesten Absatz fanden, dürften die
Deutschen hier auf diese Bestimmungen Gewicht gelegt haben.
Bei der Darstellung des Gästerechtes schließt B. sich der von
Stein aufgestellten Theorie an, nach welcher in Brügge, dem
Platze, wo schon am Anfang des 13. Jahrhunderts nach dem
Gedichte Wilhelms des Bretagners die Waren von allen Teilen
der Welt zusammenflössen, um von dort wieder nach allen Seiten
hin hinauszugehen, im 13. Jahrhundert ein den Fremden feind-
liches Gästerecht bestanden haben soll, das den Handel der
Fremden untereinander verbot. Tatsächlich ist uns weder ein
solches Verbot selbst noch eine Nachricht über sein Bestehen
oder seine Aufhebung in Brügge erhalten. Aus dem Jahre 1304
ist eine Urkunde vorhanden, nach welcher den Fremden der
Detailhandel mit Spezereien untereinander untersagt wurde; zu-
treffend bemerkt B. (S. 58), hieraus gehe hervor, daß der Groß-
handel damals den Fremden untereinander erlaubt gewesen sei.
Mittelalter. 373
Die auch von B. wieder aufgenommene Hypothese Steins, daß
in Brügge, dem Platze, der mehr als irgendein anderer Ursache
hatte, den Fremden ihren Handel zu erleichtern, um sie dorthin
zu ziehen und die Welthandelsstellung Brügges zu stärken, ein
fremdenfeindliches Verbot des Handels der Gäste untereinander
bestanden hätte, gründet sich darauf, daß bei der Verlegung
des Stapels der Deutschen von Brügge nach Aardenburg die
deutschen Städte ihre Zustimmung zur Verlegung des Stapels
nach diesem Platze damit begründen, daß Aardenburg die Frei-
heit des Handels mit Fremden den Deutschen zugestanden habe.
Hieraus läßt sich aber keineswegs ohne weiteres folgern, daß
dieses Recht den Deutschen in Brügge nicht zugestanden habe;
die Erklärung kann vielmehr darin liegen, daß in Aardenburg
bis dahin der Handel Fremder untereinander verboten war und
die Deutschen ihre Zustimmung für die Wahl dieses Platzes bei
Verlegung des Stapels erst gaben, als diese in Aardenburg be-
stehende Beschränkung aufgehoben war. Dafür, daß diese Er-
klärung die richtige und die Kombination Steins, gegen welche
auch die Wahrscheinlichkeit spricht, nicht zutreffend ist, spricht
deutlich auch die Tatsache, daß uns eine Zusammenstellung der
Forderungen der Deutschen, an die sie die Zurückverlegung des
Stapels nach Brügge knüpften (Hans. Urkundenbuch I, n. 891),
erhalten ist, in welcher von einer Aufhebung eines in Brügge
bestehenden Verbotes des Fremdenhandels überhaupt gar keine
Rede ist, was unverständlich wäre, wenn dies der hauptsächlichste
Beschwerdepunkt der Deutschen gewesen wäre. Im Gegensatze
zu dieser Frage, in welcher die Forschung bei weiterer Nach-
prüfung zu anderen Ergebnissen als die Arbeit B.s gelangen
dürfte, sind z. B. durchaus zutreffend die Ausführungen B.s
über die Entstehung des Stapels am Swin. Aus einem den da-
maligen Verkehrsverhältnissen entsprungenen Bedürfnisse heraus
hatte sich der tatsächliche Zustand ausgebildet, daß die Waren
nach Brügge und gewissen Nebenorten Brügges am Swin ge-
bracht wurden; erst im Laufe der Zeit erhielt diese tatsächliche
Ordnung der Dinge, zu deren Aufrechterhaltung Sluis gegenüber
die Brügger zu den Waffen griffen, einerseits ihre rechtliche
Sanktion durch Graf Ludwig 1323 und wurde damit zu einem
verbrieften Rechte Brügges, inhaltlich dessen kein anderer flan-
drischer Ort mehr diesen Stapel fortan haben durfte. Auf der
374 Literaturbericht.
anderen Seite erwuchs für die Deutsclien aus der dem Verkehrs-
bedürfnisse entspringenden Gewohnheit, ihre Waren im Westen
nach Brügge zu bringen, schließlich die autonome hansische
Vorschrift, welche die Deutschen verpflichtete, in Brügge und
dessen Hafenplätzen ihren Stapel zu halten, eine Verpflichtung,
die schließlich dann die Hanse auch wiederum Brügge gegen-
über übernahm. — Für die weitere Forschung auf dem von B.
behandelten Gebiete wird die Arbeit jedenfalls eine gute Grund-
lage bilden. G. A. Kiesselbach.
Albert de Berzeviczy, Bäatrice d' Aragon, reine de Hongrie
(1417—1508). 2 vol. Paris, Champion. 1911/12. (Biblio-
theque hongroise, III et IV. XlII u. 267, 295 S. u. 3 Stamm-
tafeln.
Das vorliegende Werk enthält nicht, wie man nach seinem
Titel meinen könnte, eine biographische Skizze dieser hervor-
ragenden Tochter Ferdinands I., Königs von Neapel aus dem
Hause Aragon, die 1476 die Gemahlin des ungarischen Königs
Matthias Corvinus wurde, sondern gibt auf Grund umfassender
Studien in ungarischen, italienischen, französischen, deutschen
und österreichischen Archiven und der zeitgenössischen historischen
Literatur eine kritisch gehaltene und dabei fesselnd geschriebene
Darstellung der ungarischen Geschichte im Zeitalter der Re-
naissance, in deren Mittelpunkt diese Königin steht, die während
der wichtigsten Regierungsperiode des Königs Matthias die vor-
nehmste Trägerin der neuen Ideen in Ungarn wurde und auch
das politische Leben daselbst stark beeinflußte. Das erste von den
sechs Büchern des Gesamtwerkes {Les annees d'enfance et de
jeunesse) schildert nicht nur die Jugendzeit Beatricens, ihre Er-
ziehung im Sinne der Renaissance, ihre Beschäftigung mit der
Literatur und Kunst, das Leben und Treiben am Hofe, sondern
bringt einen förmlichen Abriß der Geschichte Neapels in dieser
ereignisvollen Zeit, der Kämpfe Ferdinands um den Thron
und der politischen Beziehungen zu den italienischen Staaten,
von denen die zu Ferrara einen breiten Raum einnehmen. Das
zweite Buch {Les noces) behandelt die Hochzeit der Prinzessin
und ihre Aufnahme in Ungarn, worauf dann im dritten (Compagne
de regne) der Einfluß dargestellt wird, den sie auf den König aus-
übte. Bedeutender noch sind die folgenden drei Bücher des
Mittelalter. 375
zweiten Bandes. Das vierte der ganzen Reihe {Antagonisme
latent) enthält den tiefen Gegensatz zwischen den Aspirationen
der Königin, die schon vor dem Tode ihres Gemahls für ihre
Nachfolge arbeitet, und den Absichten des Königs, der sie seinem
natürlichen Sohn Johannes zuwenden will. Mehr als im ersten
Bande wird hier ein trefflicher Einblick in das geboten, was man
die italienische Renaissance in Ungarn nennt, man sieht das Ein-
dringen des italienischen Elements in die wichtigsten Stellen
in Staat und Kirche, vor allem der Verwandten der Königin,
von denen der erst sechs Jahre alte Hippolyt Erzbischof von
Gran wird, man lernt den Antagonismus des ungarischen Adels
kennen, der den Hof schon deswegen meidet, weil er mit den
Fremden in ihrer Sprache nicht verkehren kann. Es ist ein
italienisches Hofleben der Renaissancezeit, das hier in allen seinen
Einzelheiten zur Darstellung gelangt. So werden die fremden
Einflüsse nicht nur in literarischen und künstlerischen Dingen
sondern auch in bezug auf die Lebensweise, selbst auf das Speisen
und Wohnen betont, die so stark sind, daß diese Ferraresen
Ungarn als ihr zweites Vaterland betrachten. Wird die Opposition
gegen diese italienische Herrschaft in Ungarn auch mehr nach der
gesellschaftlichen als nach der politischen Seite hin gewürdigt,
so ist das, was z. B. über die Persönlichkeit und Wirksamkeit
des Franziskaners Pelbart von Temesvar gesagt wird, immerhin
bezeichnend genug. Zugleich bieten die Korrespondenzen, die
zwischen Ungarn, Ferrara und Neapel gewechselt werden, wich-
tigen Stoff auch für die allgemeine Geschichte jener Zeit. Neben
der Schilderung dieser italienischen Invasion ist es die Person
und das Wesen des Königs, das der Verf. mit sicherer Hand
zeichnet, ohne das Buch mit zu viel Einzelheiten zu belasten.
Von besonderem Interesse ist es, zu sehen, wie der König von den
für das Land und das Volk verderblichen Aspirationen seiner
Gemahlin spricht und ihre geringe Beliebtheit im Lande her-
vorhebt: „Wenn die Intriguen der Königin nicht aufhören,
könnte sich das Ärgste ereignen, was weder ihren noch seinen
eigenen Wünschen entspräche, daß die Ungarn nach des Königs
Tode Friedrich HI. wählen könnten." Ergreifend ist das Ende
des Königs, nicht minder ergreifend auch die Tragik geschildert,
wie die Königin um ihre zweite Ehe mit Wladislaw von Böhmen
betrogen wird. Die beiden letzten Bücher behandeln die Wirren
376 Literaturbericht.
nach dem Tode des Matthias, die anfänglichen Erfolge der Kö-
niginwitwe über den Prinzen Johann, die Scheinheirat mit
Wladislaw, die Enttäuschungen Beatricens und ihr i<lägliches
Ende. Sieht man von einzelnen Wiederholungen, die beseitigt
werden konnten, und von mehreren Druckfehlern ab, so wird man
an dem schönen Werke keine besonderen Ausstellungen zu machen
haben. Es kann als ein wertvoller Beitrag zur Geschichte Ungarns
im Zeitalter der Renaissance und zu dieser selbst bezeichnet
werden.
Graz. J. Losertfi.
Deutsche Geschichte im Ausgang des Mittelalters (1438—1519)
2. Bd.: Deutsche Geschichte zur Zeit Maximilians I. (1486
bis 1519). Von Kurt Käser. (Bibliothek deutscher Ge-
schichte, herausgegeben von H. v. Zwiedineck-Südenhorst.)
Stuttgart und Berlin, Cotta Nachfolger. 1912. X u. 527 S.
Daß Käser seine Aufgabe besser gelöst hat als V. v. Kraus
im ersten Bande (vgl. Bd. 99, S. 183 ff.), wird man ihm ohne
weiteres zuerkennen, aber daß er sie ganz oder auch nur halb-
wegs befriedigend gelöst habe, kann ich nicht finden. Schon die
Gliederung und Anordnung des Stoffes — in der sich dieser Band
übrigens vorteilhaft von seinem Vorgänger unterscheidet —
kann Bedenken erregen. Da wird im ersten Kapitel „Das Reich
und Maximilians auswärtige Politik" behandelt, im zweiten
folgen „Verluste des Reiches im Südwesten und Nordosten,
Bildung einer österreichischen Großmacht". Wie denn? Ist das
etwa nicht auswärtige Politik? Ein drittes Kapitel bringt „Die
Reichsreform unter Maximilian" und „Die Rezeption des rö-
mischen Rechts". Was aber haben diese beiden Dinge mit-
einander zu tun? Die Rezeption gehört doch eher ins vierte
Kapitel: „Der deutsche Territorialstaat um 1500." Man freut
sich wohl schon, dieser Überschrift überhaupt zu begegnen,
aber die Untertitel verraten doch wieder manche Unklarheit.
,, Wiedergeburt des territorialen Staatslebens im 15. Jahrhundert",
— das ist gewiß nicht richtig. K. will doch nicht behaupten,
das territoriale Staatsleben sei im 14. Jahrhundert erstorben
gewesen, daß es im 15. „wiedergeboren" werden mußte? Es
entwickelt sich ja in ungebrochener Linie vom 12. und 13. bis zu
seiner Vollendung im 17. Jahrhundert. Was gemeint ist, sieht
Mittelalter. 377
man erst bei der Lektüre, nämlich der Abschluß der Terri-
torienbildung. Ferner: „Landesherrschaft und Kirche",
„Gesteigerte Wirksamkeit der territorialen Staatsgewalten",
„Verwaltungsreformen" — , das ist doch alles eher, als eine be-
griffliche Ordnung der Dinge. Das letzte Kapitel endlich bringt
einen „Überblick (warum nur das?) über die wirtschaftlichen
und sozialen Strömungen (warum nur „Strömungen", nicht
„Zustände"?) in Deutschland am Vorabend der Reformation".
Solch ein Hinausdeuten aus dem eigenen Rahmen ist zum min-
desten stilwidrig, es würde für das 1. Kapitel einer Geschichte
der Reformationszeit passen, nicht für das letzte der vorausgehen-
den Zeit. Ebenso die beiden Untertitel: „Umriß (!) einer Vor-
geschichte des Bauernkrieges" und „Vorläufer des Bauern-
krieges". Abgesehen davon, daß diese Unterscheidung nicht
recht einleuchtet, welch ein Einfall ist es doch, ein Buch
mit einer „Vorgeschichte" und „Vorläufern" zu schließen! An
diesem Fehler leiden keineswegs nur die Überschriften, er ver-
dirbt die ganze Darstellung, Sie ist durchaus — ich möchte
sagen — anachronistisch gesehen, aus dem Gesichtspunkt der
Folgezeit, nicht für sich selbst betrachtet, wie es dem Ge-
schichtschreiber ziemt. Beständig erscheinen die Dinge auf
das bezogen, was später kommen soll, die ganze Zeit ist nur
das Vorspiel der nachfolgenden. Entsprechend lautet das
Schlußwort: „Die alten Formen sind überlebt, und jubelnd grüßt
Deutschland ihren Zerstörer". Das ist doch wirklich gar nicht
richtig. Was in Deutschland um 1520 bestand, waren ja nicht
mehr „alte Formen", sondern neue, zum Teil erst ganz neuerdings
gebildete. „Zerstört" hat der Mann, auf den K.s Schlußwort
prophetisch hinweist, nur eine einzige alte Form, und auch sie
schon im Zerfallen, die römische Gesamtkirche (ihre „Zerstörung"
hat bekanntlich gerade zu ihrer Wiederherstellung geführt,
wenn auch in beschränktem Umfang, so dafür in viel größerer
Festigkeit). Alles andere ist bestehen geblieben, wie es war. Und
sogar auf dem Gebiet der Kirche stehen die positiven Neuschöp-
fungen der folgenden Zeit durchaus auf dem Boden dessen,
was das ausgehende Mittelalter geschaffen hat. Das hat auch K.
richtig hervorgehoben, wenn auch mit nicht gerade glücklichem
Ausdruck: „Als Luther . . . wiewohl widerstrebend, die geistliche
Obrigkeit in die Hand der Fürsten legte, wahrte er die Kontinuität
378 Literaturbericht.
der historischen Entwicklung." Es sollte eher heißen: „unterwarf
er sich dem geschichtlich schon Gewordenen und Bestehenden."
Die einzelnen Abschnitte sind nicht von gleichem Wert,
am wenigsten gelungen die beiden ersten Kapitel, die von den
Beziehungen zum Ausland handeln. Man merkt bald, daß der
Verf. hier nicht allzu viel Quellenstudien gemacht hat.^) In der
Kenntnis der Tatsachen ist er ganz von Ulmann abhängig, dem er
gleichwohl in der Auffassung widerspricht. Für ihn ist Maximilian
immer noch der getreue Eckart der deutschen Nation, der in un-
ermüdlicher, tätiger Sorge den Gefahren entgegentritt, die dem
Reiche vom „Erbfeind", d. h. Frankreich, drohen, der aber in
diesem löblichen Bemühen von den ,, kaltsinnigen", „selbst-
süchtigen" usw. Fürsten schnöde im Stich gelassen wird. Es ist
fast beschämend, dieser gründlich unhistorischen und unkritischen
Vorstellung unter wissenschaftlich gebildeten Historikern immer
wieder zu begegnen. Die Phrase vom „Erbfeind" sollten wir doch
ein für alle Male den Zeitungen et fiuic generi omni überlassen.
Überdies ist nichts falscher als die Meinung, Frankreich und
Deutschland seien vor dem Entstehen der burgundisch-öster-
reichischen Weltmacht dauernd Feinde gewesen. K. behauptet
es zwar, aber er beweist damit nur, daß er die Geschichte des
Mittelalters nicht kennt. Er sagt, schon im 10. Jahrhundert habe
Frankreich nach der Rheingrenze gestrebt. Entsetzlich! Schon
im 10. Jahrhundert! Damit kann man die Kinder schrecken;
ernsthafte Männer und — Historiker werden fragen, was Frank-
reich denn zwischen dem 10. Jahrhundert und dem Ende des 15.
dem Deutschen Reich zu Leide getan hat. Und die Antwort muß
lauten: herzlich wenig. Der wirkliche Feind Deutschlands, aber
auch zugleich Frankreichs, ist im 15. Jahrhundert Burgund,
und sein Erbe ist — Habsburg. So hat denn auch erst die Bil-
dung der habsburgischen Weltmacht die Erbfeindschaft zwischen
Frankreich und dem Deutschen Reich geschaffen; sie ist wirklich
eine „Erbfeindschaft", wenn auch in anderm Sinne, als man ge-
meinhin sagt. Und bekanntlich hat die Entstehung der habs-
burgischen Weltmacht dem Reiche größere Verluste gebracht
als alle welsche Bosheit in den vorausgehenden Jahrhunderten:
^) Wie konnte er nur S. 145 f. in Livland den schon 1237 auf-
gelösten Sehwertbrüderorden an Stelle des Deutschordens bestehen
lassen.
Mittelalter. 379
sie hat ihm den Besitz des „burgundischen Kreises", darunter
auch Hollands, gekostet. Das Urteil K.s über Maximilians aus-
wärtige Politik, die er für höchst patriotisch und opfermutig
erklärt, fällt schon in sich zusammen, wenn man es nur auf seine
Quellen prüft. Es sind ausschließlich die eigenen offiziellen
Äußerungen des Kaisers, seine Reden und Flugschriften. Von
ihrem Echo, den Deklamationen der vom Kaiser beeinflußten
Humanisten, will ich lieber nicht sprechen, obwohl man neuer-
dings den Geschmack gehabt hat, ausgerechnet diese Herren
— Antiquare, Poeten und Journalisten nach heutigen Begriffen —
für die wahrhaft berufenen Richter in Sachen der hohen Politik
zu erklären (Fritz Härtung, Geschichte des fränkischen Kreises I,
75: „es war doch ein Zeichen von gesunder Erfassung der Ver-
hältnisse, daß gerade die Entdecker der deutschen Geschichte,
die Humanisten, treu zu Maximilian standen"). Es ist bezeich-
nend, daß K. in den ganzen zwei Kapiteln von 170 Seiten von
Maximilian keine anderen als öffentliche Kundgebungen zitiert.
Das richtete sich selbst, auch wenn wir nicht genug vertrauliche
Äußerungen und Handlungen von ihm besäßen, die genau das
Gegenteil beweisen. Was würde K. wohl von einem englischen
Geschichtschreiber halten, der die englische Weltpolitik von heute
lediglich nach den Reden der Minister und den Leitartikeln
der „Times", oder von einem katholischen, der Innozenz HI.
ausschließlich nach seinen eigenen Worten beurteilte? Übrigens
widerlegt K. sich selbst, wo er auf die östlichen Dinge und den
Wiener Vertrag von 1516 zu sprechen kommt. Da kann auch er
nicht leugnen, wenn er es auch zu beschönigen sucht, daß Maxi-
milian wirkliche Interessen und Rechte des Reiches und der
Nation — Preußen! — seinen eigenen dynastischen Zukunfts-
hoffnungen geopfert hat. Woraus ihm ein Historiker, der nicht
mit Forderungen und Maßstäben unserer Zeit arbeitet, natürlich
keinen Vorwurf machen darf. K.s Darstellung ist ja inzwischen
auch in einer Weise zurückgewiesen worden, von der man hoffen
möchte, daß sie endgültig wirken möchte: zuerst durch Ulmann
mit der Ruhe überlegener Sachkenntnis (in dieser Zeitschrift
Bd. 107, S. 473 ff.), dann ganz neuerdings durch Andreas Walther
in äußerst fein durchdachten und anregenden Ausführungen (Mit-
teilungen des Instituts für österr. Geschichtsforschung, Bd. 33).
Man wird darüber jetzt wohl zur Tagesordnung schreiten können.
380 Literaturbericht.
Entschieden besser ist das Kapitel über die Reichsreform
geraten. Es sucht im Urteil über Kaiser und Fürsten zu ver-
mitteln und nach Möglichkeit beiden Teilen gerecht zu werden.
Den Schlüssel zu dieser Frage hätte K. freilich erst gefunden, wenn
er vorgezogen hätte, die Reichsreform nicht für sich abgetrennt,
sondern, wie es sich gebührt, im Zusammenhang der ganzen Politik
Maximilians darzustellen. Da hätte er nicht nur den Fehler ver-
mieden, die Reformgesetze von 1495, die er erst im 3. Kapitel
erzählt, schon im 2. Kapitel als bekannt vorauszusetzen (als
Ursache für den Schweizerkrieg); es wäre ihm dann wohl auch
klar geworden, daß dieser Kampf um die Reichsverfassung ja
nur das Komplement der maximilianischen Auslandspolitik
bildet. Ich möchte sagen: die Fürsten drehen an einem Strick,
mit dem sie den König zu fesseln hoffen, und der König sucht
mit demselben Strick die Fürsten vor den Wagen seiner Welt-
politik zu spannen. Die schulbuchmäßige Einteilung in „Äußeres"
und „Inneres" sollte man übrigens in wirklichen Darstellungen
endlich fahren lassen. Es gibt keine auswärtige Politik ohne Rück-
sicht auf die innere, und umgekehrt. Immer wird die eine erst
durch die andere verständlich.
In den folgenden Kapiteln, die von den Territorialstaaten
und wirtschaftlichen Zuständen handeln, liegt der Schwerpunkt
des Buches und sein Verdienst. Vermißt man auch hier das Neue,
das eigene Forschung hätte bringen können, so ist doch schon
der Versuch einer Zusammenfassung des Bekannten auf diesem
vernachlässigten Gebiete fast als eine Tat dankbar zu begrüßen,
um so mehr, da der Verf. sich mit den neueren Forschungen
in erfreulichem Maße vertraut zeigt. Mit allen Zusammenfas-
sungen dieser Art teilt seine Darstellung den Fehler großer Un-
gleichheit. Wo die Literatur reichhaltig ist, da ist auch K.s Dar-
stellung ausführlich, und das manchmal nur zu sehr; wie denn
Ökonomie und perspektivisches Maß überhaupt nicht seine starke
Seite sind. Man lese z. B. die weitläufige Erzählung der doch
höchst krähwinkligen Halleschen Streitigkeiten S. 335 ff.; auch
die Verwaltungsordnung Maximilians ist auf S. 407 — 424 in einer
Breite entwickelt, die ganz aus den Verhältnissen der Gesamtdar-
stellung herausfällt. Beiläufig: wie K. es möglich macht, die
Kontroverse über dieses Thema zwischen Adler und Walther für
unerheblich zu erklären, ist wohl nicht nur mir schlechthin un-
Mittelalter. 381
verständlich. Wo es dagegen an Vorarbeiten fehlt, da wird auch
K.s Schilderung dürftig, oder sie versagt wohl ganz. So ist z. B.
von dem Leben in den geistlichen Territorien überhaupt
mit keinem Wort die Rede. Am meisten hätte ich an dem Ab-
schnitt über die landeskirchlichen Verhältnisse auszusetzen.
Abgesehen davon, daß K. in der Literatur das Beste entgangen
ist, die klassische Abhandlung von Max Lehmann über Staat
und Kirche in Schlesien, scheint er mir hier doch allzu sehr aus
zweiter Hand zu schöpfen. Eigenes Quellenstudium hätte ihn
wohl vor solchen Irrtümern bewahrt, wie er sie S. 354 in den Be-
merkungen über die Vogtei begeht, und S. 355, wo er von „Landes-
herren" der westdeutschen Bischöfe spricht, da diese doch alle
selbst Reichsfürsten und Landesherren sind. S. 369 beneidet er
„die großen Staaten Westeuropas, selbst das eifrig katholische
Spanien", die „ihre Untertanen besser vor den Finanzkünsten
Roms zu bewahren" wußten. Mit solchen allgemeinen Urteilen
kann man nicht vorsichtig genug sein. So glaube ich z. B. be-
weisen zu können, daß der Griechenablaß von 1439 dem Papst
nirgends so viel eingebracht hat wie in England. Die Wahrheit
ist wohl, daß die deutschen Fürsten einen römischen Ablaß
immer gern sahen, weil sie immer dabei profitieren konnten.
Wenn das in den westlichen Nachbarländern anders war, so lag
das daran, daß dort die doppelte Besteuerung des Klerus, für den
Papst und für den König, schon feste Formen angenommen hatte,
die man in Deutschland noch suchte. Überhaupt kann ich nicht
finden, daß K. für die Darstellung der Beziehungen zwischen
Staat und Kirche den Grundton richtig getroffen hat. Durch
alles, was er darüber sagt, geht ein innerer Widerspruch. Auf der
einen Seite beklagt er den armen Staat, dem es nicht gelingen will,
die angemaßte Sonderstellung der Kirche zu brechen, auf der
andern erzählt er von lauter Dingen, die das Gegenteil bedeuten:
daß die Geistlichen Steuern zahlen, Eingriffe und Beschränkungen
in geistliche Gerichte dulden, ihre Pfründen dem Landesherrn
ausliefern und sogar in rein sakralen Dingen fürstliche Befehle
hinnehmen müssen. Wie die Dinge in Wirklichkeit lagen, ist doch
gar nicht zu verkennen. Die historische und wohlverbriefte Vor-
zugsstellung des Klerus im Staat, die libertas ecclesiastica, ist
um 1500 schon auf der ganzen Linie zurückgedrängt, durchbrochen,
vielfach bereits vom Staat erobert. Daß das Kirchengut auch in
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 25
382 Literaturbericht.
dieser Zeit noch unaufhörlich gewachsen sei, „durch Kauf,
fromme Stiftung (gibt es auch unfromme Stiftungen?), Ver-
erbung (?) und Verlehnung (??)", wie S. 350 gesagt wird, das
sollte der Verf. einmal beweisen. Ich fürchte, dabei käme er in
Verlegenheit. Auch die Unveräußerlichkeit des Kirchengutes, von
der er in diesem Zusammenhang spricht, und die Entziehung
der Güter der toten Hand aus dem wirtschaftlichen Verkehr
hat in der Praxis nie bestanden. Sie ist ein Märchengespenst, das
sich allerdings am hellen Tage herumtreiben kann, weil die dar-
stellenden Historiker es verschmähen, einmal eines der vielen
klösterlichen oder stiftischen Urkundenbücher daraufhin anzu-
sehen. S. 305 wird behauptet, um 1500 seien „Unteilbarkeit und
Primogenitur dem deutschen Staatsrecht endgültig errungen"
gewesen. Die Vorliebe für starke Worte hat den Verf. vergessen
lassen, daß Hessen und Baden noch im 16. Jahrhundert, die
weifischen Lande noch im 17. geteilt worden sind. Ganz kritiklos
ist S. 377 die sogenannte Reformation Kaiser Sigmunds ver-
wertet. Aus den Träumereien dieses einen Querkopfes darf man
unmöglich schließen, schon um 1440 seien „die niederen Kleriker
und die graduierten Theologen (!) entschlossen" gewesen, „den
Beistand des Kaisers und der weltlichen Fürsten anzurufen"
zur Reform der Kirche gegen die Prälaten. Das ist ihnen nicht
eingefallen. Und nun soll sogar Papst Pius II. der gleichen Mei-
nung gewesen sein! Da muß K. — er gibt keinen Beleg an —
irgendeine Äußerung arg mißverstanden haben.
Doch ich will mich nicht in Einzelheiten verlieren, in denen
man bei einem Buche dieser Art natürlich des Unrichtigen
immer genug entdecken kann. Schwerer scheint mir ein anderer
Mangel zu wiegen: es fehlt der Darstellung durchweg an Anschau-
lichkeit. Daran ist wohl schon der Stil des Verf. ein wenig
schuld. Sein Stil ist unruhig, fährt hin und her, macht zu viel
Worte, übertreibt leicht im Ausdruck und läßt die Hauptpunkte
nicht deutlich hervortreten. Wo Licht und Schatten nicht verteilt
sind, gibt es kein plastisches Bild. Dann bewegt sich der Verf.
auch da, wo er von konkreten Dingen spricht, gern in Allgemein-
heiten, wie: „die Landesherren liebten es", „es gab unter den
Fürsten viele" u. dgl. „Man" ist das Subjekt nur zu vieler Sätze.
So etwas mordet die Anschauung. Ist es schon eine merk-
würdige Probe der Erzählungskunst, daß S. 142 der Schweizer-
Mittelalter. 383
krieg mit vielen Worten berichtet wird, ohne daß ein einziger
Schlachtort — nicht einmal Dornach! — genannt würde^), so
sind die Schilderungen vollends farblos ausgefallen. Wie gern
gäbe man viele Seiten dieser gewiß fleißigen, oft recht mühe-
vollen Zusammenstellungen, denen, mögen sie noch so richtig
sein, doch jedes Leben fehlt, — wie gern gäbe man sie hin für
ein paar abgerundete, wenn schon kurze, so doch lebendige
Charakterbilder. So spricht der Verf. viel von „den Fürsten", die
ihren Beruf in einer bisher nicht gekannten, höheren, manchmal
fast religiös puritanischen Weise erfaßten. Wenn er uns nun
doch einen oder zwei dieser fürstlichen Landesväter in ganzer Figur
vorführte, etwa Friedrich den Weisen oder seinen Vetter Georg
von Sachsen oder Christoph von Baden! Den letzten läßt er mehr-
mals auftreten, aber nie gönnt er ihm eine ganze Szene für sich
allein. Georg von Sachsen kommt so gut wie gar nicht vor und
Friedrich nur gelegentlich der Reichsreform. Täusche ich mich,
wenn ich diesen Mangel darauf zurückführe, daß der Verf.
die neuere Literatur besser kennt als die Quellen? An einem
klassischen Vorbild hätte es ihm nicht gefehlt. Erdmanns-
dörffer in seiner Deutschen Geschichte nach dem Westfälischen
Frieden hatte eine ganz ähnliche Aufgabe zu lösen, und wie hat
er sie gelöst!
Ich habe viele Ausstellungen gemacht und möchte zum Schluß
selbst für mildernde Umstände eintreten. Das Buch war schwer
zu schreiben, weil es in gewissem Sinne das erste seiner Art ist.
Ein Nachfolger wird es leichter haben, schon weil inzwischen
unsere Kenntnis Fortschritte gemacht haben wird. Vielleicht wird
dieser Nachfolger es auch schon als das Natürliche ansehen,
daß man zuerst Deutschland und sein verworrenes inneres Staats-
leben schildert, und dann von diesem krausen Hintergrund das
Bild der Großmachtspolitik des Kaisers sich abheben läßt. Das
hätte nun freilich schon K. tun können — wie es bereits Erd-
mannsdörffer getan hat — , wenn er sich von dem leidigen Schul-
buchschema losgemacht hätte, wo zuerst Kriege, Verträge und
Diplomatie kommen und dann „das Innere" nachhinkt, eigent-
*) Dafür muß man sich folgende Wendungen gefallen lassen:
„In Tirol herrschte erhöhter Groll . . . und wie mit Naturgewalt
entladet sich jetzt die kochende Gärung: bald lodert das Kriegs-
feuer von den Quellen der Etsch bis zum Sundgau hinab."
25*
384 Literaturbericht.
lieh doch nur, weil vor 200 Jahren die „Staatengeschichte" eine
Hilfswissenschaft des internationalen Staatsrechts war. Aus der
richtigen Anordnung, wonach das Gegebene, Dauernde voran-
zustehen, dann das Werdende, Neue zu folgen hat, würde sich
auch das richtige Urteil über Menschen und Dinge von selbst
ergeben. Wir würden dann nicht mehr in Gefahr sein, in jenen
patriotisch erregten Klageton zu verfallen, den auch K. in der
ersten Hälfte seines Buches durchweg und in der zweiten immer
noch allzu oft hören läßt, wo es sich doch nur noch darum
handelt, zu verstehen, was längst nicht mehr zu ändern ist. Man
soll Klio nie zwingen, händeringend und haareraufend hinter
den Ereignissen herzulaufen. Das heißt die Muse erniedrigen.
Gießen. Malier.
Karl V. und die deutschen Reichsstände von 1546 bis 1555. Von
Fritz Härtung. (Histor. Studien herausg. von Rieh. Fester.
Heft 1.) Halle, Niemeyer. 1910. 176 S.
In sieben Kapiteln mit den Überschriften: „Die Vorgeschichte
des Schmalkaldischen Kriegs; der Schmalkaldische Krieg und
Karls V. Versuch einer monarchischen Reichsreform ; Rückgang
der kaiserlichen Macht; Moritz von Sachsen und die Fürsten-
revolution; der Passauische Vertrag; die Zeit des Heidelberger
Bundes" und „der Reichstag zu Augsburg im Jahre 1555"
unternimmt Härtung den Versuch, das Jahrzehnt 1546 — 1555
einmal monographisch vom verfassungsgeschichtlichen Stand-
punkt aus zu untersuchen und darzustellen. Zweifellos ist diese
Aufgabe sehr dankbar, und es hätte daher der Rechtfertigung
im Vorwort gar nicht bedurft, denn der Reformationshistoriker,
der wirklich nur über diese Jahre rasch hinweggeht, weil er darin
„den trüben Ausgang der glänzend begonnenen Reformations-
zeit" erblickt, darf von vornherein wenig Anspruch auf den
Glauben an seine Objektivität erheben.
Gerade in dem Aufspüren der Ursachen für den so ganz
anderen Ausgang der deutschen Reformation, als ihn die Zeit-
genossen selbst erhofft oder gefürchtet hatten, muß für jeden
unparteiischen Historiker, der in die Tiefe alles geschichtlichen
Geschehens dringen will, ein hoher Reiz liegen. Gelingt es ihm,
die vielverschlungenen Fäden zu entwirren und zwanglos so zu
16. Jahrhundert. 385
ordnen, daß jeder Leser von der Richtigkeit seiner Folgerungen
überzeugt ist, so hat er für die ganze Geschichtsforschung eine
größere Tat geleistet, als wenn er noch so farbenprächtig nur
die günstigen Anfänge oder die ersten Höhepunkte der Entwick-
lung schildert. H. hat sich wie gesagt diese Aufgabe für das
enger begrenzte Gebiet der deutschen Verfassungsgeschichte in
den Jahren 1546 — 1555 gesteckt, und ich glaube, daß niemand
seine Ausführungen ohne lebhaftes Interesse und starke An-
regung lesen wird, aber die Frage, ob damit für längere Zeit das
letzte Wort über diese ganze Epoche gesprochen worden ist,
muß ich doch verneinen.
Den Grund hierfür sehe ich nicht etwa in einem Mangel
an Darstellungsvermögen, das im Gegenteil meist recht an-
sprechend zutage tritt, sondern durchaus in der Natur des von H.
nur oder vollkommen überwiegend benutzten Quellenmateriales.
Es ist aus praktischen Gründen zwar ohne weiteres verständlich,
daß H. sich in der Hauptsache nur auf das gedruckte Material
beschränkt hat, aber ohne „den Wert historischer Arbeiten nur
nach dem Umfang der neu erschlossenen Quellen" zu bemessen,.
darf doch in diesem Falle nicht verkannt werden, wie infolge
dieser Beschränkung sein Urteil durch die völlige Erschließung
der schon in Angriff genommenen wichtigen neuen Quellen
sofort in sehr wesentlichen Punkten korrigiert werden wird.
Sowohl die noch außenstehenden Bände der Politischen Kor-
respondenz des Kurfürsten Moritz von Sachsen, als die der-
jenigen König Ferdinands I. werden schon das wirkliche Macht-
verhältnis der deutschen Fürsten zu Karl V. vielfach in einem
anderen Lichte als bisher erscheinen lassen, aber noch weit mehr
Einfluß dürften sie auf eine Vertiefung unserer Anschauung von
den maßgebenden Persönlichkeiten selbst ausüben.
Zum Teil spürt man diese ja schon jetzt aus der Wertung
des bisher von Druffel, Brandi, Winckelmann, Ernst und Mentz
veröffentlichten Materials heraus, aber noch drängen sich immer
wieder Zweifel dazwischen, die in der alteingewurzelten Auf-
fassung von dem Weltmachtskaiser Karl V. begründet sind.
In diesem Ringen zwischen alter und neuer Beurteilung —
dort nach den alten Geschichtswerken, hier nach den neuen
Aktenpublikationen — hat H. noch keine klare Stellung gewinnen
können, und so erscheint sein Urteil gerade über die beiden
386 Literaturbericht.
Hauptpersonen seiner Epoche, über Karl V. und Moritz von
Sachsen, vielfach zwiespältig. Bei Karl V. tritt das nicht nur
gleich in dem allgemeinen Urteil über ihn hervor (S. 5 — 9),
sondern fast noch mehr in der späteren Darstellung der einzelnen
Verhandlungen zwischen den deutschen Fürsten und ihm, wo
dann eben weit mehr als früher die bessere Kenntnis aus den
veröffentlichten Akten H. zum Umbiegen manches eigenen
früheren Urteiles zwingt.
Richtig erscheint mir die Beobachtung, daß Karl V. „die
persönliche Größe und Genialität" fehlt (S. 7), und weiter die
Hervorhebung seiner „Scheu vor raschen Entschlüssen" und
„seiner oft abstoßenden Härte und Maßlosigkeit in der Aus-
nutzung seiner Erfolge", aber das stimmt nur alles nicht mit
der kurz vorher (S. 5 f.) gegebenen Schilderung überein, wo Karl
„eine durch und durch politische Natur" genannt wird und wo
ihm mit 19 Jahren schon der Gedanke eines Titanen untergelegt
wird, der kurzerhand die ganze Welt für sich beansprucht und
zwei Jahre später auch schon das Programm seines weiteren
Lebens aufstellt, um nun „die ganze Energie seines unbeug-
samen Geistes" an dessen Ausführung zu setzen. Bezüglich der
Deutung solcher frühen Erlasse für die eigene Auffassung Karls
müssen wir doch wohl vorsichtiger sein — wie z. B. auch Baum-
garten an dieser Stelle die Möglichkeit von fremden Einflüssen
durchaus offen läßt — , wenn wir später sehen müssen (aus den
Papiers d'itat), wie abhängig der Kaiser noch 1547 selbst in
seinen militärischen Entschlüssen ist, obwohl doch sonst gerade
seine Tüchtigkeit als Feldherr von den romanischen Zeitgenossen
über alle Maßen gelobt wird. Die starke Betonung von den
Pflichten des Glaubens in der Denkschrift von 1519 weist mit
Sicherheit auf geistliche Mitarbeiter hin und auch „die großen
Dinge gegen die Ungläubigen" sind Ziele, die damit vollkommen
im Einklang stehen. Und ganz ähnlich widersprechen sich die
Schilderungen des Herrschers durch H. auf S. 12 und S. 102,
von wo an überhaupt für die letzten Jahre von Karls Regierung —
eben auf Grund des unbestreitbaren Eindrucks aus den veröffent-
lichten Akten — die Unschlüssigkeit seines Wesens, die doch
mit „einer durch und durch politischen Natur" unvereinbar ist,
richtig immer schärfer hervorgehoben wird. Ich meine aber,
wenn man die Unschlüssigkeit von Anfang an als den Grundzug
16. Jahrhundert. 387
im Charakter des Habsburgers ansieht, wie sie sich als natür*
liehe Folge des steten Mißverhältnisses zwischen großen, ihm
von Fremden vorgetragenen Ideen und seinen eigenen viel ge-
ringeren geistigen Angriffsmitteln darstellt, so erklären sich in
fast allen Fällen am ungezwungensten die ununterbrochenen
Schwankungen, die nun doch einmal seine ganze Herrschertätigkeit
durchziehen, bis er sich endlich zu dem für ihn einzig befreienden
Entschluß durchringt, abzudanken und damit endgültig die
seinem Wesen immer fremde Last der Entscheidung von sich
abzuwälzen.
Nur allmählich allerdings, auf dem Wege strengster Akten-
kritik in bezug auf alle einzelnen Urheber und Formengeber
jeder wichtigen Kundgebung aus der kaiserlichen Kanzlei werden
wir volle Aufklärung über die eigene Arbeitsleistung des Kaisers
und über den Anteil seiner Räte erwarten dürfen, aber sie scheint
mir, wenigstens für die letzten Jahre seiner Regierung, eben
durchaus in der hier angedeuteten Richtung zu liegen. Bei
Urteilen von Zeitgenossen wird dagegen stets die persönliche
Stellung zum Kaiser mehr oder weniger stark mitsprechen, und
sie können darum stets nur mit äußerster Vorsicht zur Charak-
terisierung des Habsburgers gebraucht werden, wie das ja auch
sein neuester Biograph grundsätzlich anzuerkennen scheint.^)
Ebenso sagen natürlich Wahlsprüche (S. 6, 85) wenig für die
tatsächliche Bedeutung eines Mannes, denn nur zu gern posiert
einer dabei mit Gedanken, die ihm zuerst bei andern imponiert
haben und mit denen er nun selbst imponieren will. Es soll
natürlich nicht geleugnet werden, daß Karl V. sich trotzdem
gern in hohen Gedanken gefiel und auch zähe immer wieder
darauf zurückkam, aber das ist ja sehr häufig der Fall bei Men-
schen, die sich zu Taten nicht entschließen können, und wider-
spricht also gar nicht dem unbefriedigenden Gesamteindruck,
den wir von des Kaisers persönlichem Wirken nach den Akten
überall empfangen und den schließlich auch der Ausgang aller
seiner Politik und seines ganzen Lebens hinterläßt. Denn zieht
») Andreas Walther, Die Anfänge Karls V. (1911) S. 1 und
202 f. Freilich verfällt dann Walther doch in diesen Fehler und
widerspricht sich dadurch selbst auch im Urteil über den Jungen
Fürsten. S. 207 und 210!
388 Literaturbericht.
man wirklich die Summe seines Lebens, so fallen einem doch
unwillkürlich die Worte Grillparzers ein:
„Das ist der Fluch von unserm edlen Haus:
Auf halben Wegen und zu halber Tat
Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben."
Und wie in der Charakteristik Karls V., so scheint mir H.
auch in der Beurteilung des Kurfürsten Moritz noch lange nicht
das Richtige getroffen zu haben. Während er den Habsburger
zu überschätzen geneigt ist, sieht er in dem Wettiner nur den
Vertreter einer „rein territorialen und partikularistischen"
Politik, wie sie etwa ähnlich ein Albrecht Achilles im 15. Jahr-
hundert gepflegt hat (S. 62, 79). Dabei fehlt es nun freilich
abermals nicht an wesentlichen inneren Widersprüchen, aber
sich im einzelnen mit ihnen auseinanderzusetzen, würde eine
neue, aktenmäßig begründete und mindestens ebenso eingehende
Darstellung der ganzen Verhältnisse wie bei H. bedingen, und
so sollen nur einige wenige Punkte herausgegriffen werden. So
ist es ganz gewiß, daß Moritz bei seiner Erhebung gegen den
Kaiser schon von Anfang an die Herstellung eines allgemeinen
Religionsfriedens für das ganze Reich im Sinne hatte (S. 69
u. 81) und nicht nur für sein eigenes Land sorgen wollte (S. 78).
Die Verhandlungen in Linz bildeten gewissermaßen nur den
Prüfstein für ihn, ob die deutschen Habsburger überhaupt für
dieses Programm zu gewinnen sein würden und ob der Kaiser
schon durch die bisherigen Erfolge der Kriegsfürsten mürbe
genug zu seiner Einwilligung geworden sei. Als er hier erkannte,
daß wohl das erstere, aber noch nicht das letztere der Fall war,
zwang der Kurfürst in raschem Vorstoß den widerstrebenden
Herrscher zur Flucht aus der Hauptstadt Tirols, um ihm damit
die militärische Hauptzuzugsstraße aus Italien her zu ver-
schließen und ihn so weit von den deutschen Grenzen abzudrängen,
daß ihm ein plötzliches Erscheinen im Reiche schlechterdings
unmöglich gemacht wurde. Weil Moritz aber dabei gar nicht die
Absicht hatte, „denschweren Vogel" zu fangen, für den er sowieso
keinen Käfig" hatte^), so konnte sein Zug auch gar nicht dieses
Ziel verfehlen (S. 84), wie er denn im Gegenteil nach der Erstür-
') V. Langenn: Moritz von Sachsen 1, 468, 529.
16. Jahrhundert. 389
mung der Ehrenberger Klause dem König Ferdinand zu offen-
barer Warnung seinen Einzug in Innsbruck für zwei Tage später
ausdrücklich ankündigte. Die folgenden Verhandlungen in
Passau zeigten auch, daß ihm die notwendige Schwächung der
kaiserlichen Stellung wohl gelungen war, denn — nach H.s
eigenen Worten — „fast alles, was er gefordert hatte, hatte er
auch durchgesetzt" (S. 99, 113 f.), obwohl er angeblich vorher
die Neutralen nur dadurch gewonnen und festgehalten haben
sollte, daß er „seine Forderungen herabsetzte" und „daß er
immer weiter nachgab" (S. 86). Eine besonders herbe Kritik
übt ferner H. des öfteren an der Neigung von Moritz, „unverein-
bare Pläne zugleich zu verfolgen und immer auf beiden Achseln
zu tragen" (S. 63, 112), ein Vorwurf, den ich in dieser Schärfe
durchaus nicht anerkennen kann, den aber erst die Veröffent-
lichung der gesamten politischen Korrespondenz des Wettiners
wirksam entkräften wird. Solche scharfe Formulierungen be-
gegnen aber überhaupt mehrfach bei H,, wie z. B. auch Mark-
graf Albrecht Alcibiades bei ihm eigentlich nur als fürstlicher
Strauchdieb erscheint, obwohl dieser doch fraglos niemals so
treue Freunde und begeisterte Diener gefunden hätte, wenn sein
ganzes Wesen so alles höheren Schwunges wirklich bar gewesen
wäre.
Noch mehr als bei der Schilderung von Persönlichkeiten
tritt dieses Bestreben, möglichst scharf zu pointieren, bei der
Darstellung der politischen Verhandlungen hervor, obwohl auch
hier H. bei allem Bemühen, der Weisheit letzten Schluß zu geben,
doch nie ganz aus gewissen Widersprüchen und« Beschränkungen
seines Materials herauskommen kann. Besonders die Ausein-
andersetzungen über den kaiserlichen Bundesplan von 1547/48
verknüpfen infolgedessen hinsichtlich der Stellung der einzelnen
Stände zum ganzen Projekte mehrfach Späteres mit Früherem
und geben dadurch ein in manchen Beziehungen sachlich un-
richtiges Bild, ebenso wie sie das tatsächliche Ende der Bundes-
bestrebungen mit dem 28. Februar 1548 zu plötzlich annehmen,
da diese nur vorläufig in den Abmachungen über den allgemeinen
Landfrieden untergehen, um doch sogleich mit fast denselben
Gründen für und wider einen förmlichen Bundesabschluß noch
1552 und die folgenden Jahre wiederum aufzutauchen. Ihre
grundsätzliche Bedeutung für die Verfassungsgeschichte des
390 Literaturbericht.
Reiches ist also mit dem endgültigen Abtun bei H. (S. 40) noch
lange nicht erschöpft, eine Tatsache, die auch bei ihm an anderer
Stelle später (S. 141 u. 143) gelegentlich noch einmal durch-
blickt, ohne aber in ihrem inneren Zusammenhange mit den
früheren Vorgängen verfolgt zu werden. Nicht minder werden
die Verhandlungen zu Linz und Passau noch eine andere Be-
leuchtung erfahren, wenn erst einmal aus dem gesamten Akten-
material die persönliche Gesinnung der verhandelnden Fürsten
und der Einfluß ihrer Räte vollkommen klargelegt werden
können.
Selbstverständlich wollen diese Einwände der allgemeinen
Verdienstlichkeit von H.s fleißiger Arbeit keinen Abtrag tun,
denn wir können eben nur hoffen, zu weiterer Klarheit vorzu-
dringen, wenn wir von schon erreichten einzelnen Höhepunkten
aus immer wieder den Blick auf das Ganze richten. In diesem
Sinne aber füllt das Buch von H. eine empfindliche Lücke aus,
denn es ersetzt uns die ungeschrieben gebliebenen Einleitungen
zu den großen Aktenveröffentlichungen von Druffel und Brandi
und gibt uns mit dieser vorläufigen Zusammenfassung wieder
reiche Anregung zu weiterer Forschung.
Dresden. 0. A. Hecker.
Epistolae et acta Jesuitarum Transylvaniae temporibus principum
Bdthory (1571—1613). Collegit et edidit Dr. Andreas
Veress, Volumen primum (Fontes rerum Transylvanicarum
[Erdilyi törtdnelmi forrdsokj tarn, l.) In Kommission bei
Alfred Holder, Wien und Leipzig. 1911. XVI u. 325 S.
Mit dem vorliegenden Buche wird eine Reihe von Geschichts-
quellen eröffnet, die von hervorragender Bedeutung für die
Geschichte Siebenbürgens in den Zeiten des Hauses Bäthory
und seine Beziehungen zu den benachbarten Ländern und Völkern
sind. Nicht bloß die streng kirchUchen und kirchenpolitischen
Verhältnisse, wie sie mit der Einführung des Jesuitenordens in
Siebenbürgen und der Errichtung des Klausenburger Jesuiten-
kollegiums gegeben sind, nicht bloß die inneren Zustände des
Ordens, seine Anfechtungen und Erfolge inmitten einer ihm feind-
lichen Bevölkerung treten in einer großen Zahl dieser Jesuiten-
briefe hell hervor, auch für die allgemeine politische Geschichte
Gegenreformation. 391
jener Zeiten und vornehmlich auch für die Kulturzustände in
Siebenbürgen, Ungarn und Polen finden sich hier die wertvollsten
Materialien. Wenn die folgenden Bände ebenso stoffreich sein
sollten, wie der vorliegende, so darf die siebenbürgische Geschichte
auf eine reiche Ausbeute hoffen. Das ganze Unternehmen ist in
großartigem Maßstab entworfen. Es soll nicht weniger als 50 Bände
fassen und eine Art Ergänzung der von der kaiseriichen Akademie
in Wien herausgegebenen Fontes rerum Austriacarum bilden.
Die Materialien hat in 20 jähriger Arbeit Andreas Veress, dem
man bereits die Ausgaben der Epistolae et acta P. Alfonsi Car-
rillii S. J. (1591—1618), Budapest 1906, dann der Epistolae et
acta Generalis Georgii Basta (1597—1607), Budapest 1909, und
der Relationes nuntiorum Apostolicorum in Transsilvaniam
missorum a demente VIII (1592—1600), Budapest 1909, dankt,
in den öffentlichen und verschiedenen Privatarchiven Ungarns,
Österreichs, Deutschlands, Italiens, Rußlands u. a. gesammelt.
Die ersten drei Bände sollen die oben vermerkten Jesuitenbriefe
füllen, daran schließen sich Regesten aus Familienarchiven,
das Epistolarium P. Alfonsi Carrillii, Teile der Annuae Litterae
Societatisjesu, das Epistolarium des Kardinals Andreas Bäthory usw.
Von den Jesuitenbriefen liegt der erste Band mit Briefen von
1571 — 1583 vor. Es sind etwas über 100 Nummern, verschieden
an Umfang, doch alle bedeutsam : Schreiben Pius' V., Gregors XIII.
Briefe von und an die Jesuitengenerale Mercurian Eberhard und
Aquaviva, von und an Stephan und Christoph Bäthory, Briefe
des Nuntius Caligari, der Provinzialen Campani, Maggio usw.
Auf das Jahr 1571 entfallen 3, auf 1572 2, je 4 auf 1574—1577,
1 Stück auf 1578, 10 auf 1579, 19 auf 1580, 25 auf 1581, 12 auf
1582 und 24 auf 1583. Von höchstem Wert sind die an Aquaviva
gerichteten Briefe. Sie geben getreulich die Zustände wieder,
wie sie in diesen Jesuitenkreisen herrschen, berichten nicht bloß
Dinge, die für die Jesuiten erfreulich sind, sondern schildern
auch die Fehler einzelner auf wichtigen Posten stehender Je-
suiten: ihren Hochmut, ihre Unverträglichkeit, Streitsucht usw.
Es ist nicht anders, als wir es seinerzeit für das Grazer Kollegium
nachzuweisen in der Lage waren. Da gibt es Schmeicheleien
bis zur Würdelosigkeit für den General, offenkundige Über-
treibungen oder Unwahrheiten; wir hören aus jesuitischen Federn,
wie sich die Jesuiten in alles und jedes mischen usw. Interessant
392 Literaturbericht.
ist die Schilderung der Zustände in Siebenbürgen und vornehm-
lich auch in Polen, wo die Behandlung der Untertanen in einen
Gegensatz zu der in Siebenbürgen gestellt wird. Die Ausgabe
ist, soweit man sieht, gewissenhaft gemacht, die Wiedergabe
der Texte im Drucke, wie man den beigegebenen Proben ent-
nimmt, eine korrekte. Zu bedauern ist dagegen, daß alle kri-
tischen und sachlichen Anmerkungen, Inhaltsangaben, Notizen
über die Provenienz und Überlieferung der einzelnen Nummern,
Hinweise auf einige Drucke und Literaturvermerke ausschließlich
in magyarischer Sprache geschrieben sind.
Graz. J. Loserth.
Recueil des Instructions donnies aux ambassadeurs et minist res
de France depuis les traitis de Westphalie jusqu'ä la re'vo-
lution franpaise, publik sous les auspices de la commission
des archives diplomatiques au ministere des affaires etran-
geres. Bd. 18: Diete germanique, avec une introduction et
des notes par B. Auerbach. Paris,F. Alcan. 1912. XCVIII
u. 400 S. 20 Fr.
Die Art dieser Sammlung, die nur die den neu ernannten
Gesandten zur Einführung in ihre Aufgabe erteilten allgemeinen
Instruktionen, nicht die besonderen Weisungen oder gar die Be-
richte der Gesandten enthält, scheint mir für die Einzelfor-
schung wenig zweckmäßig zu sein; daher lasse ich mich gar
nicht auf die Frage ein, inwiefern unsere Kenntnisse über einzelne
Punkte der deutsch-französichen Beziehungen, etwa den Rhein-
bund des Jahres 1658 oder die Reunionspolitik, erweitert oder
umgestaltet werden. Der Wert der vorliegenden Zusammen-
stellung von 17 Instruktionen aus den Jahren 1653 — 1792 besteht
vielmehr darin, daß sie den Gang der französischen Politik gegen-
über dem Reiche in großen Zügen widerspiegelt. Die ersten
Instruktionen stehen noch unter der Einwirkung des Dreißig-
jährigen Krieges; Frankreich fühlt sich als Schützer der deutschen
Libertät, es versucht, als Reichsstand in den Reichstag einzu-
dringen, um hier dem Haus Habsburg Abbruch zu tun, es führt
die Opposition gegen das Kaisertum. Sehr bald aber ändert
sich durch die aggressive Politik Ludwigs XIV. die Aufgabe der
französischen Gesandten am Reichstage. Der Grundgedanke
der französischen Politik bleibt natürlich der gleiche, zu ver-
17.— 18. Jahrhundert. 393
hindern, daß der Kaiser die gesamten Kräfte des Reiches gegen
Frankreich einige. Aber die Mittel ändern sich. Seitdem die
Masse der Reichsstände die Gefährlichkeit Frankreichs erkannt
hat, kann Frankreich nicht mehr daran denken, als Reichsstand
zugelassen zu werden; seither beruft es sich auf die Garantie
des Westfälischen Friedens. Auch das ist nicht mehr möglich,
eine große Partei zu gewinnen und das Reich gegen den Kaiser
zu organisieren. Vielmehr sind die französischen Gesandten in
die Defensive gedrängt, müssen die Haltung ihres Königs recht-
fertigen und entschuldigen und mühsam die einzelnen Stände
soweit bearbeiten, daß sie auf dem Reichstage Beschlüsse, die
sich gegen Frankreich richteten, verhinderten. Das ist natürlich
in erster Linie Aufgabe der besonderen Gesandten, die Frank-
reich bei den wichtigeren Ständen unterhielt; aber auch die
Gesandten am Reichstage können hier, zumal bei der unbehol-
fenen Reichstagsverfassung, allerhand tun (vgl. z. B. S. 77).
Die Politik Ludwigs XIV. endet mit völliger Zerstörung der
alten Stellung Frankreichs in Deutschland; das kommt in der
Instruktion für den Grafen de Gergy, den ersten Gesandten
Frankreichs nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, deutlich zum
Ausdruck. Ihm wird die Aufgabe zugewiesen, das Vertrauen der
Stände auf die Vertragstreue und Friedensliebe Frankreichs
durch unbedingte Zurückhaltung in allen politischen und kon-
fessionellen Fragen wieder herzustellen; im nordischen Kriege,
so sehr er auch durch die Gefährdung Schwedens, des Mitgaranten
des Westfälischen Friedens, Frankreich berührt, in der Angelegen-
heit der Ryswicker Klausel, auf die Ludwig XIV. besonderen
Wert gelegt hatte, überall bleibt Frankreich neutral, läßt die
Nächstbeteiligten ihre Sache allein ausfechten. Und diese Zurück-
haltung, die sich gern als die Politik des „juste milieu", des Ab-
wartens, des Balancierens zwischen Kaiser und Reich ausgab,
bleibt der ganzen Folgezeit eigentümlich; das Bündnis mit
Österreich ändert daran nichts, im Gegenteil, es befestigt sie,
weil Frankreich neben dem Bündnis seine Verbindungen im
Reiche nicht aufgeben wollte. Damit hatte es freilich kein Glück,
der Einfluß Frankreichs im Reiche schwindet gegen Ende des
18. Jahrhunderts unaufhaltsam; an seiner Stelle ist das Preußen
Friedrichs des Großen, des Fürstenbundes, der Schützer der
deutschen Libertät geworden. Das wird auch aus den letzten
394 Literaturbericht.
Instruktionen klar; sie sind weniger Anweisungen für die Be-
handlung der Reichspolitik als historische Darstellungen des
entschwundenen Einflusses Frankreichs auf Deutschland. Die
letzte der mitgeteilten Instruktionen, die von 1792, hat eigentlich
nur Kuriositätswert. Sie zeigt die Illusionen des girondistischen
Ministeriums, das zu Beginn des Jahres 1792 den deutschen
Reichstag als eine „association libre", als den geeigneten Ver-
mittler zwischen dem neuen freien Frankreich und der deutschen
Nation auffaßte. Aber auch aus dieser phrasenreichen Instruktion
tritt der Grundzug der Reichspolitik Frankreichs zutage, das
Streben, die deutschen Mittel- und Kleinstaaten als ein Gegen-
gewicht gegen die Großmacht Österreich um sich zu vereinigen;
die Verbindung der Rheinbundspolitik des ancien rigime mit
der Napoleons ist unverkennbar.
Der Herausgeber hat es leider versäumt, die Kontinuität
der Entwicklung im Druck dadurch hervorzuheben, daß er wört-
lich sich wiederholende Stellen irgendwie kenntlich machte.
Einige Anläufe hat er zwar genommen, z. B. in Nr. XIII (S. 255)
und in den Nummern XVI und XVII, die zum größten Teil
aus Nr. XV abgeschrieben sind. Aber selbst in diesen Nummern
hat er nicht alle übernommenen Stellen angemerkt (vgl. S. 187,
226, 298 usw.) ; auch die der Zeit entsprechend sehr ausführlichen
Anweisungen über das Zeremoniell sind in der Regel ohne jeden
Hinweis auf die Wiederholungen wörtlich mitgeteilt.
Halle (Saale). F. Hortung.
Kritische Bibliographie der Flugschriften zur deutschen Verfas-
sungsfrage 1848—1851. Von Paul Wentzdce. Halle a. S.,
Max Niemeyer. 1911. XXI u. 313 S.
Wer sich darstellerisch mit der deutschen Revolution 1848/49
befaßt, dem bietet die Verwertung der Flugschriften große Schwie-
rigkeit. Der Inhalt dieser Erzeugnisse rührt häufig an die wich-
tigsten Fragen der Zeitgeschichte in origineller Weise — das
Schicksal hat sie aber zu dem Ephemeren und Ephemersten
gesellt, so daß sie noch glücklich zu preisen sind, wenn sie in
einem staubigen Gefach oder Kasten der öffentlichen Institute
bescheiden am Leben bleiben durften. Hier mußte einmal
19. Jahrhundert. 395
ein Hilfsorgan entstehen, das dem Forscher überhaupt zeigte,
womit er zu rechnen hat, wo einzusetzen ist.
Paul Wentzcke hat sich der mühseligen Aufgabe unterzogen,
dieses Hilfsorgan zu schaffen in dem vorliegenden Buche. Er nennt
es eine Bibliographie; das Attribut „kritisch" hebt aber die
Arbeit über das Registrierende hinaus. 8000 Broschüren hat er
durchzusehen gehabt, unter Abrechnung der Dubletten 5000;
1000 Nummern enthält seine Zusammenstellung. Alle diese
Nummern behandeln die eine große herrschende Frage der
Zeit, die der deutschen Verfassungsgestaltung. W. hat durch
sorgfältige und übersichtliche Disponierung Ordnung in den
Widerstreit der Gesichtspunkte und Interessen gebracht; also
etwa: Von Anfang März bis zur Berliner Revolution; Unterab-
schnitte: Rückblick auf die Tätigkeit des Bundestages. Über die
Umgestaltung des Bundestages. Von der Erneuerung Deutsch-
lands. Mit dem chronologischen ist das geographische und partei-
politische Einteilungsprinzip kombiniert. Jede der Schriften ist,
abgesehen von den bibliographischen Notizen, begleitet von einem
Resümee in Schlagworten. Manchmal wünschte man diese
Resümees ausführlicher, wenn die Neugier durch eine Besonder-
heit des Ausgangspunktes oder Stiles gereizt ist; aber W. will
ja nicht Lektüre ersetzen, sondern zur Lektüre anleiten. Es
ist ein Lob, wenn man sagt, daß diese Bibliographie aber schon
selbst eindrucksvoll wie eine Lektüre wirkt.
Mit Recht hat W. die Broschüren, die sich mit den
sozialen und wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigen, außer
acht gelassen, nur so konnte er etwas Konzentriertes zustande
bringen. Das scheint mir der ausschlaggebende Grund zu sein
— und nicht der Umstand, daß für die sozialen Probleme die
Epoche 1848/51 nur eine Übergangszeit darstellt. Für die politi-
schen etwa nicht? Ich möchte den Wunsch aussprechen, daß
wir eine ähnliche Bibliographie für die anderen Broschüren er-
hielten; es wäre da aber früher, schon vor der Notzeit, etwa
1845/46, der Anfangspunkt zu nehmen.
W.s fleißiges und nützliches Hilfsmittel, das Friedrich
Meinecke gewidmet ist, wurde gedruckt mit Unterstützung
der Straßburger Cunitz-Stiftung.
Freiburg i. Er. Veit Valentin.
396 Literaturbericht.
Handbuch der Kirchengeschichte für Studierende, in Verbindung
mit Gerhard Ficker, Heinrich Hermelink, Erwin Preuschen,
Horst Stephan herausgegeben von Gustav Krüger. 4. Teil:
Die Neuzeit. Bearbeitet von Lic. Horst Stephan, Privat-
dozent der Theologie in Marburg. Tübingen, J. C. B. Mohr.
1909. XII u. 300 S. 5 M.
Das Buch bildet den zuerst erschienenen vierten Teil des
mittlerweile fertiggestellten Krügerschen Handbuchs der Kirchen-
geschichte. Es behandelt insbesondere „die Neuzeit". Der Autor
ist sich der Schwierigkeit des Unternehmens bewußt. Denn das
„Gebiet" der „neueren Kirchengeschichte" hat, wie er selbst
sagt, „weniger streng wissenschaftliche Vorarbeiten und mehr
komplizierte Zusammenhänge aufzuweisen, steht auch natur-
gemäß mehr unter dem Bann der Subjektivität als irgendein
anderes". Um so dankenswerter ist das, was geboten wird.
Das Ganze zerfällt in zwei Hauptteile, indem zwei Perioden,
eine solche der „Inneren Umbildung und äußeren Auflösung"
und eine solche der ,, Äußeren und inneren Neubildung" unter-
schieden werden. Als Ausgangspunkt hat der Verfasser nicht,
wie vielfach üblich, das Jahr 1648, sondern mit Loofs 1689 ge-
wählt. Den Einschnitt macht er nicht bei der französischen
Revolution (1789), auch nicht, wie Loofs und Arnold (-Wein-
garten), bei dem Jahre 1806, sondern bei 1814. Dargestellt wird
in jedem der beiden Teile nach einem kurzen Hinweis auf die
„allgemeinen Grundlagen und Einwirkungen" der Protestantis-
mus, zunächst der deutsche und dann der außerdeutsche, und
der römische Katholizismus. Dagegen bleibt der griechische
Katholizismus, abgesehen von einzelnen Exkursen, aus Gründen,
die sich durchaus hören lassen können, im wesentlichen unberück-
sichtigt, und die Schilderung desselben wird der Disziplin der
Symbolik vorbehalten. Die Abschnitte, die es mit Amerika zu
tun haben, sind von Professor Rauschenbusch in Rochester,
diejenigen, die sich auf die Entwicklung von Predigt, Kirchen-
lied, Agende u. a. beziehen, von Privatdozent Lic. Günther in
Marburg bearbeitet worden. Sie sind verhältnismäßig umfang-
reich ausgefallen, ohne jedoch die Symmetrie empfindlich zu
stören.
Charakteristisch ist für das Werk das bereits in der Anlage
hervortretende doppelte Bestreben, einmal die geistigen Zusammen-
Kirchengeschichtc. 397
hänge und die ausschlaggebenden Gesichtspunkte kurz zu kenn-
zeichnen und dann die so in großen Umrissen skizzierten Bilder
durch eine Fülle von Einzelheiten anschaulich zu gestalten.
Niemals aber wirkt die wahrhaft erstaunliche Stoffmenge er-
drückend; vielmehr erweist sie sich als vortrefflich geeignet zu
selbständigem Nachdenken über die treibenden Ideen in der
Geschichte anzuregen. Nicht ganz leicht war es gerade bei der
Behandlung der Neuzeit, ohne Verleugnung des eigenen Standorts
den verschiedenen Richtungen des kirchlichen und theologischen
Lebens gerecht zu werden. Indem der Autor mehr ihre Leistungen
als ihre Einseitigkeiten herauszukehren sich bemühte, hat er die
Aufgabe in vorbildlicher Weise gelöst, und man wird kaum den
Eindruck haben, daß „die Plastik der Darstellung" darunter
stark gelitten hätte. Auch die besonnene Beurteilung der aktu-
ellen und viel erörterten Frage nach der Bedeutung der Refor-
mation für den neueren Protestantismus beruht augenscheinlich
auf sorgfältiger, das Für und Wider kritisch prüfenden Erwä-
gungen und ist nach der Überzeugung des Unterzeichneten richtig.
Das Buch dürfte seinen Zweck, „in erster Linie Vorlesungen
zum Anhalt" zu dienen, durchaus erfüllen. Man gehe zur Prob^
einmal etwa den Abschnitt über die Aufklärung durch.
Wenn ich einen vereinzelten Wunsch äußern dürfte, so wäre
es der, daß bei der Besprechung des Pietismus die Ethik dieser
Richtung etwas ausführlicher charakterisiert worden wäre; denn
sie hat stark nachgewirkt bis in die Gegenwart hinein. Zum
Schluß, auf die Gefahr hin, des Krokylegmus bezichtigt zu
werden, noch eine Frage: Stammt die Iglesia Espanola aus dem
Jahre 1881 oder, wie bei Loofs steht, 1880?
Straßburg i. E. E. W. Mayer.
Die Endter. Eine Nürnberger Buchhändlerfamilie (1590 — 1740).
Monographische Studie von Friedrich Oldenbourg. Mit
8 Porträtbildern. München und Berlin, R. Oldenbourg. 1911.
116 S.
Durch die Familie Endter ist Nürnberg im 17. Jahrhundert
der Ruhm eines hervorragenden Buchhandelsplatzes, den es einst
den Kobergern verdankt hatte, zurückerobert worden. Wenn die
Stadt, wie Goldfriedrich in seiner Geschichte des deutschen Buch-
handels gezeigt hat, in diesem 1618 noch an zwölfter, 1730 aber
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 26
398 Literaturbericht.
an zweiter Stelle stand, hatte sie diesen Aufschwung vornehmlich
der rührigen Tätigkeit der Endterschen Buchhändlerdynastie
zu danken. Mit Recht stellt der Verfasser das ökonomische und
handelsgeschichtliche Interesse seines Stoffes in den Vorder-
grund, ohne darüber das Biographische zu vernachlässigen;
nur auf dessen erschöpfende Behandlung hat er verzichtet, da
sie jahrelange, weit über Deutschland hinaus erstreckte Studien
erfordert hätte.
Der erste, biographische Teil beginnt mit Georg Endter d. Ä.,
der, 1562 geboren, von Haus aus Buchbinder, 1590 ein Verlags-
geschäft begründete. Ein reines Verlegertum kannte man noch
nicht. Ursprünglich war der Buchdrucker als erster berechtigt,
nicht nur das Verlagsgeschäft zu betreiben sondern auch für den
Absatz der Bücher zu sorgen ; in der letzteren Arbeit aber wurde
er bald zum größten Teil vom Buchbinder abgelöst. Hatte schon
Georg Endter d. Ä., wie die prächtige Tracht seines schönen Bild-
nisses verrät, es zu behäbigem Wohlstand gebracht, so verdankten
dann die Endter seinem zweiten Sohne Wolfgang d. Ä. (1593 bis
1659) den Ehrenplatz in der Geschichte des Buchhandels. Wolf-
gang hat wieder Schriftgießer nach Nürnberg gebracht, hat die
Papierfabrikation gefördert, war im Besitze von drei Druckereien
und als Verieger wie Sortimenter gleich tätig. Seine Leichen-
predigt rühmt ihn als einen wegen seines Handels vornehmen und
berühmten Mann, der seinesgleichen in Deutschland nicht viele
gehabt habe. Seine Erhebung in den Adelstand durch Kaiser
Ferdinand III. (1651) wurde von den eifersüchtigen Nürnberger
Patriziern nicht anerkannt. Bemerkenswert ist, daß der größte
Aufschwung des Geschäftes in die Zeiten des Dreißigjährigen
Krieges fällt. Damals hielt die Familie noch zusammen, und eben
diesem Zusammenhalt verdankten die Endter zu gutem Teil
ihre dominierende Stellung im Buchhandel. Schon in den Sechziger
Jahren des 17. Jahrhunderts aber erscheinen die ersten Anzeichen
einer Abwärtsbewegung und im folgenden Jahrhundert drängte
die zunehmende Zersplitterung der Familie die Endterschen Ge-
schäfte auf das Durchschnittsniveau herab.
Im zweiten Teile werden die einzelnen Zweige dieser Ge-
schäfte besprochen, wir verfolgen die Endter als Drucker, als
Buchbinder, Papierfabrikanten und Papierhändler, als Verleger
und Sortimenter, sowie Bedeutung und Inhalt ihres Verlags.
Deutsche Landschaften. 999
Als dessen Grundstock erscheinen die auf die ursprüngliche Ver-
lagstätigkeit zurückgehenden, für einen Buchbinder und Sorti-
menter gangbartsten Artikel: Bibel, Kalender, Erbauungsliteratur.
Vornehmlich durch Bibelausgaben (die berühmteste die Wei-
marer oder Kurfürstenbibel) und Erbauungsliteratur (darunter
die bekanntesten Schriften dieser Art, wie Spangenbergs Postille,
Amds wahres Christentum und Paradiesgärtlein) gewannen die
Endter ihre Bedeutung als Buchhändlerdynastie. Während die
Linie Wolfgangs sich besonders auf die protestantische Erbauungs-
literatur warf, betrieb die Linie Georgs d. J., trotz der Schwierig-
keiten, welche die unduldsame Verfolgung des Rates bereitete,
vor allem die Ausgabe katholischer Werke — in dem streng
lutherischen Nürnberg eine überraschende Erscheinung, für die
in katholischen Ländern wohl kein Gegenstück nachzuweisen sein
wird. Auf die Buchhändlervergangenheit der Endter weist auch
ihr ansehnlicher Verlag von Volksbüchern, wie Eulenspiegel,
Genoveva, De vita Fausti, zurück, der dem Unterhaltungsbedürfnis
breiter Volksschichten entgegenkam.
Gegen die Schäden des Nachdrucks, soweit sie davon betroffen
wurden, führten die Endter einen eifrigen Kampf. Auf der andern
Seite wurden sie aber selbst häufig wegen Nachdrucks verklagt
und ist unbestreitbar, daß sie ihre Geschäfte mit großer Rück-
sichtslosigkeit gegen die Rechte anderer betrieben. Und zwar
weniger durch eigentlichen Nachdruck, als dadurch, daß sie sich
in den Besitz günstiger Privilegien setzten, die vorher anderen
verliehen worden waren. Sehr oft schreckten die verarmten recht-
mäßigen Verleger vor den Kosten zurück, welche die Erneuerung
eines Privilegs mit sich brachte.
Ein interessantes Kapitel bilden die Reibungen mit der
Zensur. Sie entsprangen teils aus dem Verlag katholischer Bücher,
teils aus der Herausgabe einer Zeitung. Die Anfänge periodischen
Zeitungsdruckes durch die Endter fallen in die Jahre 1662 bis
1664, aber erst 1693 erwarb Balthasar Joachim ein kaiserliches
Privileg für einen „Teutschen ordinari- und extraordinari Frie-
dens- und Kriegskurier" (gewöhnlich „Der Postillon", 1725 „Der
schnelle Postillon" genannt). Noch mehr Schwierigkeiten als die
Zensur bereitete dem Zeitungswesen die kleinliche Ängstlichkeit
des Rates, dem der Zensor nicht weit genug gehen konnte. Der
Rat wachte auch darüber, daß die Zeitungen nicht an Umfang
26«
400 Literaturbericht,
zunähmen, verlangte, auch bei ihrer äußeren Ausstattung mit-
zusprechen. Als sein offizielles Organ hat er die Zeitung selten
benutzt.
Als Sortimenter verstanden es die Endter trotz der schweren
Zeiten die literarischen Erzeugnisse der Zeit weit durch die Länder
und in abgelegene Orte zu tragen. Mit großen Geldopfern, mit
Einsatz von Tatkraft, ja persönlicher Tapferkeit, wurden die
Hemmnisse überwunden. Süddeutschland und die österreichischen
Erblande, mit Einschluß Schlesiens, waren die Hauptabsatz-
gebiete der Endter, doch führten sie ihre Geschäftsreisen auch
nach Paris, Genf, Holland, Livland und Schweden. An den grö-
ßeren Plätzen hatten sie Niederlagen, auch besondere Vertreter.
Von den Endterschen Sortimentskatalogen sind nur wenige er-
halten. Während der von 1639 im ganzen nur 81 Werke aufführt,
nennt der für das Münchener Meßlager 1670 hergestellte nicht
weniger als 3427. Weitaus am stärksten vertreten sind hier die
Fächer der Theologie, Jurisprudenz, philosophische, historische,
politische, endlich medizinische und chemische Bücher. Weit
größer war selbstverständlich der Bestand des Nürnberger Lagers.
Der theologische Katalog von 1686 allein enthält 7870 Titel,
fast genau zur Hälfte lateinische, zur Hälfte deutsche Werke.
Dem Kommissionsbuchhandel (Lieferung auf Kondition) hat sich
erst Wolfgang Moritz (seit ca. 1690) gewidmet.
Aus dem dritten Teil: Die Endter und der Buchhandel des
17. Jahrhunderts, sei das Problem einer in Frankfurt a. M. einzu-
führenden Büchertaxe hervorgehoben. 1656 wandten sich die
Endter gegen die von kaiserlicher Seite geplante Einführung
einer Taxe, d. h. der obrigkeitlichen Preisfixierung für Bücher
bestimmten Formates, besonders aus dem einleuchtenden Grunde,
weil die Herstellungskosten von so verschiedener Höhe seien.
Später aber wurde der Gedanke aus dem Kreise der Buchhändler
im engeren Sinne wieder belebt, welche durch eine Taxe die
Konkurrenz der Buchbinder, Drucker, Kupferstecher usw. zu
beschränken hofften, und nun finden wir die Endter als Wort-
führer dieser Tendenz. Ihre Eingabe an den Kaiser von 1669
richtete sich besonders gegen den Buchhandel der Buchdrucker,
die in ihrer Hauptaufgabe genügende Beschäftigung und Ver-
dienst fänden, und — wie man sieht, verstanden die Endter den
Mantel nach dem Wind zu drehen— auch der Buchbinder, deren
Deutsche Landschaften. 401
Buchhandel nur an Orten zulässig sein sollte, wo kein rechter
Buchhändler ansässig sei. Drittens wandte sich die Eingabe gegen
die Konkurrenz der Kunsthändler, Kupferstecher, Formenschnei-
der usw., die für die Endter um so mißlicher war, da sie selbst
viele illustrierte Werke verlegten, und viertens gegen die von
den Geistlichen beider Konfessionen ausgehende. Der Frankfurter
Rat aber erklärte sich energisch gegen die nach dem Monopol
strebenden Endter, und wiewohl ihre Denkschrift mit den An-
schauungen der Reichsregierung übereinstimmte, errangen sie nur
mäßigen Erfolg. Die Büchertaxfrage, worin Johann Andreas
Endter das treibende Element war, verschwand von der Bild-
fläche, ohne Spuren zu hinterlassen.
In den Anlagen folgen Stammbäume, die Endter in den Meß-
katalogen, Brief (d. h. Eingabe) und Bericht der Endter an den
Kaiser (beide undatiert, Angaben über die Datierung finden sich
zwar im darstellenden Teil, S. 87 f., wären aber auch bei den
Texten erwünscht), endlich ihr kaiserliches Zeitungsprivileg
und der Vertrag zwischen Balthasar Joachim und Johann Daniel
von 1717. Die Quellen für das Ganze haben neben einer nicht sehr
ausgedehnten Literatur die Archive von Nürnberg, Leipzig,
Frankfurt und Wien geboten. Streng methodisch, durch Gründ-
lichkeit, Sauberkeit und einsichtsvolle Hervorhebung des Wesent-
lichen ausgezeichnet, darf die Schrift Oldenbourgs als wertvoller
Beitrag zur Aufhellung eines noch wenig bebauten Gebietes
deutscher Kulturgeschichte begrüßt werden.
München. S. Riezler.
Die provisorische Verwaltung am Nieder- und Mittelrhein während
der Jahre 1814— 1816. Von Fritz Vollheim. Bonn, Hanstein.
1912. IV u. 256 S.
Als ein neuer Versuch, mehr Licht über die Anfänge der
preußischen Herrschaft am Rhein zu verbreiten, wird Vollheims
Arbeit Beifall finden. Die drei schwerfälligen, aber unentbehr-
lichen Werke Neigebaurs (V. schreibt hartnäckig Neigebauer)
verdienten schon lange eine Modernisierung und Ergänzung.
Darum hat sich V. mit Erfolg bemüht. Die Ergänzungen stam-
men vornehmlich aus dem Amtsblatte der provisorischen Ver-
waltungen. Ferner ist das Gouvernementsarchiv in Düsseldorf
(Sektion 1, 2, 4) und die Korrespondenz mit der Zentrale im
402 Literaturbericht.
Berliner Geheimen Staatsarchiv (Repositur 74 und 92) partien-
weise herangezogen worden. Jedoch wird eine gleichmäßige Ver-
wertung dieser Akten nicht angestrebt; denn wichtige verwal-
tungsgeschichtliche Kapitel der Arbeit, wie die über Gerichts-
verfassung, Schul- und Kirchenwesen, Handel und Industrie u. a.
beruhen fast nur auf gedrucktem Material. Auch hat V. davon
abgesehen, die Lokalakten neben den Zentralakten zu verwerten.
Am wichtigsten wären die Archive der sog. Gouvernements-
kommissariate gewesen, d. h. der ehemaligen französischen Prä-
fekturen. Aber auch die Stadtarchive könnten hier noch viel
liefern. Außerordentlich umfangreich sind z. B. die einschlägigen
Bestände im Stadtarchiv Köln, deren Verzeichnung freilich
noch aussteht. Wertvolles Material findet sich ferner im Archiv
des Oberbergamts Bonn, das dem Verfasser allerdings nichts
bieten konnte, weil er ohne rechten Grund das Berg- und Hütten-
wesen mit Stillschweigen übergeht. Ähnliches würde von den
Archiven der Regierungen gelten. Die Beschränkung auf gewisse
Teile der Zentralakten hat auch sonst die nachteilige Folge,
daß die erheblichen lokalen Verschiedenheiten in dem verwaltungs-
geschichtlichen Bilde doch nicht genügend hervortreten. Im üb-
rigen aber ist einer Erstlingsarbeit aus einer solchen Beschränkung
in der Aktenbenutzung dann kein Vorwurf zu machen, wenn der
Leser über den Gesamtumfang der archivalischen Grundlage,
was ohne besonderen Arbeitsaufwand geschehen kann, irgendwo
unterrichtet wird. Das zu tun, hat der Verfasser versäumt,
wenn er auch mit Recht erklärt: „Das entrollte Bild ist nur mit
groben Strichen gezeichnet". Noch weniger befriedigend ist die
Benutzung der Literatur. Einerseits erscheinen im Literatur-
verzeichnisse ein Reihe von Arbeiten die gar nicht verwertet
werden. Anderseits fehlen einige wichtige neuere Werke. Für
die Zollverhältnisse kann man nach den grundlegenden Arbeiten
von Charles Schmidt, Schwann, Zeyß, Lindner S. 50 Anm. 2
nicht mehr nur auf den zur Tendenz neigenden Bockenheimer
verweisen. Schmidt fehlt sogar im Literaturverzeichnis. Lindner
ist möglicherweise zu spät erschienen. Dagegen ist zu rügen,
daß V. für die Grenzgeschichte Schulteis' vortreffliche Erläute-
rungen zu den einschlägigen Karten des Historischen Atlasses
der Rheinprovinz sowie diese selbst beiseite läßt. Auch hätte
sich den Beiträgen der rheinischen Geschichtszeitschriften, von
Deutsche Landschaften. 403
denen ebenfalls nicht die Rede ist, noch einiges Weitere ent-
nehmen lassen. Dagegen hat V. Urteile aus der späteren
preußischen Zeit zu stark herangezogen, während er wieder
der Rühlschen Publikation keine Bedeutung beizulegen scheint.
Die verdienstliche Broschüre Koppes ist nicht 1826, sondern
1815 herausgekommen. Besonders die französische Zeit erscheint
in der späteren Literatur nicht immer in richtigem Lichte. Der
Verfasser warnt S. 151 Anm. 2 mit Recht davor, den Urteilen
der neuen Verwaltung über die französische allzuviel Glauben zu
schenken. Er selbst aber hat diese Warnung bisweilen über-
sehen und jene Urteile sich dann doch in etwa zu eigen gemacht,
wenn er z. B. S. 91 Amn. 2, für die französische Korruption ein-
fach Benzenberg und P. Kaufmann zitiert, am auffallendsten
Seite 166 bei der französischen Gensdarmerie, die nach allge-
meinem Urteil vielmehr zu den besten Einrichtungen der Fremd-
herrschaft zählt. Dagegen ist das Urteil über die französische
Konskription wieder zu günstig (S. 133 Anm. 1).
Gleichwohl ist die allgemeine Tendenz der vorliegenden
Arbeit durchaus zu billigen. Sie ist nämlich eine warm geschrie-
bene Apologie des Generalgouverneurs Sack und trifft damit im
allgemeinen, einige Superlative und vorschnelle Urteile abge-
rechnet, ohne Zweifel das Richtige. Ein Hauptruhmestitel der
preußischen Verwaltung auch am Rhein, nämlich die Gerechtig-
keit, wird durch den Verfasser an manchem neuen und treffenden
Beispiele deutlich gemacht. Vor allem wird nachgewiesen, daß
die kenntnislose Kritik, die das Ministerium an Sacks Verwaltung
geübt hat und hat üben lassen, durchaus unberechtigt ist. Es
ist für sie selbst beschämend, wie die Zentrale in entscheidenden
Fragen schließlich zurückweichen, ihr Unrecht eingestehen und
dem schwer gekränkten ersten erfolgreichen Vertreter preußischen
Wesens am Rhein eine glänzende Rechtfertigung ausstellen muß,
so bei der Kassenverwaltung (48 f.), beim militärischen Lieferungs-
wesen (92, vgl. 97 ff.), bei der Verwendung der Liebesgaben für
das Heer (126), bei der Forstverwaltung (199 f.) und sonst. Mit
Bedauern erfährt man, daß sich Max von Schenkendorf unter
den leichtfertigen gouvernementalen Kritikern besonders hervor-
tut. Demgegenüber hat V. die schon von seinen Vorgängern
gegebenen Nachweise für die außerordentlichen Erfolge Sacks,
ebenso aber auch für die patriotische Opferwilligkeit des Rhein-
404 Literaturbericht.
landes, dem Sack sympathisch gewesen sein muß, in mancher
Beziehung und durchaus richtig verstärkt. Wahrscheinlich würde
das noch besser gelingen, wenn Sacks Verwaltung später einmal
allseitiger und gleichmäßiger behandelt würde, als es hier mög-
lich gewesen ist. Es ist ja nicht unberechtigt, daß etwa ein Drittel
des Buches den militärischen Angelegenheiten gewidmet ist,
zu denen am besten doch auch die bei der Polizei untergebrachten
Abschnitte über die beiden Formen der Milizen gerechnet würden.
Aber der Verfasser verdirbt die Ökonomie seiner Arbeit hier
und sonst durch eine allzugroße Vorliebe für verwaltungstech-
nische Äußerlichkeiten, Selbstverständlichkeiten und Bagatellen.
Für das Mißverhältnis einzelner Teile untereinander könnte man
sonderbare Beispiele anführen. So ist das Kapitel über die
Truppenverpflegung fast doppelt so groß als das über Handel und
Industrie zusammengenommen. Von Gewerbe und Landwirt-
schaft, von der Stellung zu den französischen bureaux des hospices
et de bienfaisance, auch von der Presse ist kaum die Rede. Un-
glücklich ist auch die Gliederung des Militärkapitels, wenn die
dinglichen den persönlichen Fragen vorangestellt werden. Warum
die Zölle (das Wort Douanerie, S. 50, gibt es nicht) zum Teil
unter den Steuern behandelt werden, versteht man nicht. Über-
haupt ist dem Verfasser eine wirkliche geistige Durchdringung
seines Stoffes nicht recht gelungen. i) So ist die Schilderung
der im wesentlichen beibehaltenen französischen Verwaltungs-
organisation rein äußerlich. Über ihren allgemeinen Geist wird
ebensowenig etwas gesagt wie über ihr Verhältnis zur preußischen.
Der Leser kann sich deshalb auch kein rechtes Urteil darüber bilden,
was es zu bedeuten hat, daß die französischen Ordnungen zunächst
fast gar nicht angetastet werden. Auch die ähnliche, für die
rheinische Verwaltungsgeschichte vielfach entscheidende Stellung
der provisorischen Verwaltung zur französischen Mairie- (Bürger-
meisterei-) Verfassung wird nicht grundsätzlich erörtert (30).
Sogar der technische Ausdruck „Samtgemeinde" wird bei Bespre-
chung der Anwendung des Kommunalgesetzes von 1802 ver-
mieden (34). Eine über das Äußerliche hinausstrebende Verwal-
0 Stilistische Entgleisungen, wie S. 100 von Sack:... „daß
er ehrenvoll aus dieser Zeit .. ., nicht gerade gewürzt durch an-
erkennende Worte, hervorgegangen ist", begegnen auch sonst
bisweilen.
Deutsche Landschaften. 405
tungsgeschichte kann aber ohne bestimmte verwaltungsrecht-
liche Begriffe nicht auskommen. Auch sonst vermißt man die
begriffliche Durchdringung, die an die Stelle der äußerlichen
Beschreibung treten müßte. So fehlt beispielsweise in dem
Schulkapitel der entscheidende, den Gegensatz Preußens zu
Frankreich erst wirklich erklärende Begriff des Neuhumanismus.
Anderseits ist es eine außerordentliche Übertreibung, wenn es
von Napoleon S. 38 heißt: „der bei seinen militärischen Nei-
gungen (!) ein Verächter jeder wissenschaftlichen Bildung sein
mußte und war" (!). Dürftig ist, was sich zum Teil auch auf
diesen Grund zurückführen läßt, das Schlußkapitel über die
„Stimmung der Bevölkerung". Auch kritisch ist es zum Teil
unbefriedigend. Die Scheu des Verfassers vor dem Begrifflichen
ist auch wohl dadurch verstärkt worden, daß vergleichende
Blicke auf andere Gebiete und Zeiten fast ganz vermieden werden.
Die französische Zeit scheint der Verfasser hauptsächlich auch
nur aus den preußischen Quellen zu kennen.
Trotz dieser und anderer Bedenken wird die Arbeit zur Ein-
führung in das Studium der preußischen Anfänge am Rhein gute
Dienste leisten. Hätte sie ein Register, so würde man sie auch als
bequemes Nachschlagebuch bezeichnen können. Ihre Herstel-
lung hat viel Fleiß und Entsagung gekostet. Daran hat es der
Verfasser nicht fehlen lassen. Das ist zum Schlüsse besonders
anzuerkennen. Über das einzelne kann hier nicht mehr gesprochen
werden.
Bonn. J. Hashagen.
Notizen und Nachrichten.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, welche sie an dieser
Stelle berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion.
Allgemeines.
Unter dem Namen „N e a p o li s" erscheint im Verlage von
Perrella & Co. zu Neapel eine „Rivista di archeologia, epigrafia e numis-
matica". Die Herausgeber, V. Macchioro und L. Correra,
möchten mit dieser Zeitschrift, die in Vierteljahrsheften von über
100 Seiten mit Tafeln und Textabbildungen ausgegeben wird (jährlich
15 Franken, im Ausland 20), insbesondere der Forschung über Süd-
italien eine Sammelstätte bieten. Das im April veröffentlichte erste
Heft enthält mehrere Aufsätze (in italienischer, deutscher und fran-
zösischer Sprache) und zahlreiche Bücherbesprechungen.
Als neue Zeitschrift, die sich die Vermittlung der Kulturwerte
Asiens an weitere Kreise des deutschen Volkes zum Ziel setzt, führt
sich ein „Geist des Ostens, Monatsschrift zur Asi-
atenkunde" (München, Verlag des Ostens). Die bisher vorliegenden
Hefte enthalten hauptsächlich Beiträge von Auslandsdeutschen, unter
ihnen wohlbekannte Namen.
Aus Logos 4, 1 notieren wir E. Troeltsch, Logos und Mythos
in Theologie und Religionsphilosophie und F. Burschell, Über
Johann Georg Hamann.
In der Revue de Synthkse Historique (35, 2) beendet A. R e i n a c h
seine Studie „Atthis. Les origines de l'Etat athenien". Richard M.
Meyer setzt seine Arbeit über „Le mouvement moral vers 1840" fort.
Von A. T c h e s k i s* beginnt zu erscheinen „La Philosophie sociale
de Pierre Lavroff". Über den Namen von „L'ile-de-France" handelt
M. Bloch.
Allgemeines. 407
R. Michels veröffentlicht (Archiv f. Sozialwiss. u. Sozialpol.
36, 1 und 2) Studien „Zur historischen Analyse des Patriotismus".
Die „Questioni storiografiche" Benedetto C r o c e s {Atti deU'Ac-
cademia Pontaniana Bd. 43) behandeln „La positivitä della storia",
„L' umanitä della storia", „La storia della natura e la storia" und ver-
schiedene methodologische Fragen.
Wenn Fueters „Geschichte der neueren Historiographie" dem
Rat der zahlreichen wertvollen Kritiken hätte folgen können, die jetzt
als Beweis ihrer anregenden Kraft erscheinen, so hätte sie vielleicht
manches gewonnen, aber auch den frischen Subjektivismus verloren,
der ihr in Verbindung mit andern Vorzügen das hohe Lob ihrer Kri-
tiker eingetragen hat. Wäre z. B. die von vielen Seiten, vor allem
aber durch B. C r o c e („Von der Geschichte der Geschichte", Intern.
Monatsschr. 7, April 1913) verworfene enge Begrenzung des Themas
fortgefallen und mit der Berücksichtigung der Geschichtsphilosophie
zugleich eine stärkere organische Verknüpfung der einzelnen Abschnitte
erreicht worden, so wäre doch der echt empirische Charakter des Buches,
sein Eingehen auf das Irrationale des geistigen Verlaufs dadurch bedroht
worden. Mag es für den Geschichts Philosophen einen „pessi-
mistischen" Zug bedeuten, wenn die Geschichte einer Wissenschaft in
Zickzacksprüngen des Genies verläuft, statt in Ideen-Stammbäumen
und dialektischem Fortschritt: der Historiker, der sich in Fueter
instinktiv gegen jede Theodizee der Geschichte gewehrt hat, konnte
der Gefahr willkürlicher Logisierung nicht grundsätzlich genug aus-
weichen. Daher auch der (im einzelnen freilich oft befremdlich, wie
das Ausbrechen von Zähnen eines Zahnrads wirkende) radikale Aus-
schluß der Geschichtsphilosophie aus dem prächtigen Werk. Selbstän-
dige Anregungen geben die Kritiken von J. Hashagen (Westd.
Zeitschr. f. Gesch. u. Kunst 31, 3 — ein auch durch seinen sonstigen
Inhalt bemerkenswerter Artikel) — und P. Joachimsen (Histor.
Viertel jahrsschr. April 1913), sowie vor allem das neue Buch von
G 0 0 c h , auf das zurückzukommen sein wird. F. K.
In einem besonderen Heft ist die Begrüßungsrede erschienen,
welche James B r y c e , der durch seine Pflichten als Botschafter in
Amerika festgehaltene Vorsitzende des Internationalen Historiker-
kongresses in London, an die Teilnehmer zu richten gedachte, zusammen
mit den einleitenden und abschließenden Bemerkungen von A. W. Ward,
der an seiner Stelle den Vorsitz führte. Bryce gibt einen geistvollen
Überblick über die Entwicklung, insbesondere die Erweiterung der
historischen Wissenschaften während des letzten Menschenalters. Er
sieht sie in der Heranziehung der Wirtschaftsgeschichte, in den Schil-
derungen, die man heute von der Lage der Massen zu geben versucht,
409 Notizen und Nachrichten.
in der Erschließung neuer Forschungsgebiete, wie des Studiums der
Urgeschichte des Menschen, der Kultur des ältesten Orients, nicht
zum wenigsten auch des Lebens der Naturvölker mit der Nutzanwendung
auf die Ursprünge menschlicher Kultur. Aber nun meint er, ist auch
kein Augenblick zu verlieren. Die Welt schließt sich sichtlich zu einem
Ganzen zusammen. Die schwachen Völker und Volksstämme verschwin-
den und mit ihnen die Vielheit der Sprachen, der Religionen', der Sitten.
Zuletzt mahnt Bryce die Versammlung, eingedenk zu sein, daß das
gemeinsame Suchen nach der Wahrheit es sei, was sie vereinigt habe.
Aber die Historiker wissen es auch am besten, daß unter den Nationen
im Lauf der Zeiten die Mißverständnisse nicht ausbleiben, sie wissen
— ein wunderbares Geständnis im Munde eines Staatsmannes —
wie wenige der Kriege, die die Menschheit geführt habe, notwendige
Kriege gewesen seien. Und darum: „Sind nicht wir als Jünger der
Historie mehr als andere berufen, unser Bestes zu versuchen, um jede
Quelle des Haders zwischen den Völkern versiegen zu machen?" — •
Dem fügt nun Ward noch anderes hinzu, das für den Aufschwung,
den die historischen Studien genommen, wesentlich sei. Er spricht
von der Eröffnung der Archive, von der systematischen Veröffent-
lichung von Quellenmaterialien. Er nennt die Bereicherung des akade-
mischen Geschichtsunterrichts, besonders durch das System der histo-
rischen Seminare. Er erwähnt die Begründung und die steigende
Bedeutung der Fachzeitschriften auf dem Gebiete der Geschichts-
wissenschaft und nennt dabei unsere historische Zeitschrift an erster
Stelle. (International Congress of Historical Studies. London 1913.
President ial Address by J. Bryce and A. W. Ward. Oxford.)
W. Michael.
In der Festschrift des akademischen Historikerklubs zur Erinne-
rung an dessen 40. Stiftungsfest veröffentlicht Wilhelm Erben
„Streifzüge durch die Geschichte des historischen Seminars in Inns-
bruck". Wir erfahren u. a., daß erst 1871 H. v. Zeißberg in Verbindung
mit A. Huber das Innsbrucker historische Seminar ins Leben gerufen
hat, während J. Ficker sich dem förmlichen Seminarbetriebe fernhielt.
Wertvoll sind die „Methodischen Fragen zum Historischen Atlas",
die G. H. M ü 1 1 e r in der „Zeitschrift des Histor. Vereins für Nieder-
sachsen" (1913, 1) aufwirft, um anläßlich der Vorbereitung des „Histo-
rischen Atlas von Niedersachsen" die Erfahrungen der vier älteren
historisch-geographischen Provinzialatlanten Deutschlands und der
Grundkarten-Unternehmung zu sichten.
B. Harms leitet das von ihm begründete „Weltwirtschaftliche
Archiv" (1, 1, Januar 1913, Jena, Fischer) durch eine Darlegung seiner
Neueinteilung der Nationalökonomie ein („Weltwirtschaft und Welt-
Allgemeines. 409
Wirtschaftslehre"), die sich vielfach gegen die historisch-politische Rich-
tung kehrt.
Im „Orientalischen Archiv" 3, 3 behandelt P. Kahle „Das
islamitische Schattentheater in Ägypten", R. v. Lichtenberg
,, Antikes in den Gebräuchen des heutigen Orients".
Von Aufsätzen zur Geschichte Asiens notieren wir C. H. Becker,
Zur Geschichte des islamischen Kultus (Der Islam 3, 4); J. J e a n n i n ,
Le chant liturgique Syrien (Journal Asiatique 19, 2, 3); A. C. M o u I e ,
Marco Polos Sinjumatu (T'oung Pao 13,3); M. Granet, Coutumes
matrimoniales de la Chine antique (T'oung Pao 13,4); B. Laufe r
und P. Pelliot über den Namen „China" (T'oung Pao 13, 5).
Warme Sympathie für das heutige Griechenland bestimmt den
Ton des Vortrags von A. Heisenberg, „Der Philhellenismus
einst und jetzt" (München, C. H. Beck).
Otto H i n t z e („Machtpolitik und Regierungsverfassung",
Internat. Monatsschr. 7, 9) sucht „den Zusammenhang auf, der zwischen
der besonderen Weltstellung und den Aufgaben der auswärtigen Politik
einerseits und den inneren Verfassungs- und Verwaltungseinrichtungen
anderseits besteht". So findet die Struktur der englischen und der
kontinentalen Verfassungen eine großzügige Würdigung unter diesem
bestimmten Gesichtspunkt.
Die kleine „Staatsbürgerkunde" Ernst Bernheims (Wissen-
schaft und Bildung Bd. 115, Leipzig, Quelle <S Meyer) stellt sich als
treffliches Mittel dar, weitere Kreise in das Wesen der modernen Ver-
fassungen einzuführen, als deren Typen die Revolutionsverfassung
von 1791, die Charte von 1814, die belgische und die preußische Ver-
fassung gewählt werden. — S. 89, 2 b. muß es wohl statt „Amtsent-
hebung" ,, Amtsbekleidung" heißen.
Die kulturgeschichtliche Auffassung Richard Wagners, die
Adolf R a p p („Die Erscheinung Richard Wagners im Geistesleben",
Archiv für Kulturgeschichte II, 1) vorträgt, sucht feinsinnig das Problem
nach den verschiedensten Seiten hin zu vertiefen.
Im Bulletino delV Istituto storico Italiano 33 ist der zweite Teil
der nützlichen Arbeit von L. Schiaparelli: Tachigrafia sillabica
neue carte italiane nebst guten Abbildungen veröffentlicht (vgl. H. Z.
107, 176).
Über Merseburger Kaiendarien vom 10. bis 16. Jahrhundert,
deren älteste auch für die allgemeine Geschichte von Bedeutung sind,
handelt eingehend 0. Rademacher in der Thüringisch-sächsischen
Zeitschrift für Geschichte und Kunst 2, 2. Die Kalender aus dem
16. Jahrhundert, die teilweise noch weiter fortgesetzt sind, haben
410 Notizen und Nachrichten.
ihren ursprünglichen Charakter so gut wie ganz eingebüßt und sind
eher als Rechenbücher anzusprechen.
Anknüpfend an den Plan, gleichzeitig mit dem Neubau des Geh.
Staatsarchivs zu Berlin ein Reichsarchiv zu begründen, erinnert ein
anspruchsloser kleiner Aufsatz von P. W e n t z c k e an die Versuche
des alten deutschen Reichs, ein selbständiges Archiv zu schaffen (Die
Orenzboten 1913, Nr. 14).
Marion Dexter L e a r n e d , Guide to the manuscript materials
relating to American history in the Ger man State Archives. Washington,
Carnegie Institution 1912. VII, 352 S. — Das Carnegie- Institut in
Washington hat es sich zur Aufgabe gemacht, in europäischen Archiven
Nachforschungen anzustellen nach Quellenmaterial, das für die Ge-
schichte Amerikas von Bedeutung sein könnte. Learned legt in einem
stattlichen Bande die Ergebnisse seiner in einer großen Anzahl von deut-
schen Archiven angestellten Untersuchungen vor. Er hat bei sämtlichen
Staatsarchiven, einigen Kommunalarchiven, dem fürstlich Wiedschen
Archiv zu Neuwied, und dem Archiv der Herrnhuter Nachforschungen
veranstaltet, zum Teil allerdings mit negativem Erfolg. Er hat fest-
gestellt, daß die deutschen Archive nach drei Richtungen für die
amerikanische Geschichte in Betracht kommen: 1. für die Geschichte
aer Auswanderung seit dem 18. Jahrhundert (für die ältere Auswan-
derung namentlich die süddeutschen Archive); 2. für die Geschichte
der während des Unabhängigkeitskrieges in Amerika verwendeten
deutschen Truppenteile (vor allem die Archive in Wolfenbüttel, Mar-
burg und Bamberg); 3. für die Geschichte der Handelsbeziehungen
(besonders Berlin, Hamburg und Bremen). Die Brauchbarkeit des
Buches, das natürlich in erster Linie für Amerikaner bestimmt ist,
wird erhöht durch Angaben über die Organisation und Benutzungs-
ordnung der betreffenden Archive. P. D.
Die J. J. Lentnersche Hofbuchhandlung in München eröffnet
eine größere Folge von Lagerkatalogen mit einer Auswahl von Werken
des 15. bis 19. Jahrhunderts, deren 868 Nummern den Titel „Rara
et Curiosa" vollauf rechtfertigen. Dem Interesse des Historikers mögen
vor allem die Rubriken Ablaß, Almanache, Bibliographie, Duell, Eisen-
bahn, Embleme, England empfohlen werden. Die Ausstattung mit
Kunstdrucktafeln und Wiedergaben alter Holzschnitte geht über das
bei Antiquariatskatalogen gewohnte Maß weit hinaus. Alfred Götze.
Neue Bücher: Ehrlich, Wie ist Geschichte als Wissenschaft
möglich? (Berlin-Wilmersdorf, Basch & Co. 2,50 M.) — K u b e r k a ,
Über das Wesen der politischen Systeme in der Geschichte. (Heidel-
berg, Winter. 2,40 M.) — F r am ar i n o d ei M al at est a , La
societä e lo stato. (Torino, Unionetipografico-editrice. 8 L.) — A. Wirth,
Alte Geschichte. 411
Der Gang der Weltgeschichte. (Gotha, Perthes. 9 M.) — Feist,
Kultur, Ausbreitung und Herkunft der Indogermanen. (Berlin, Weid-
mann. 13 M.) — Steinhausen, Geschichte der deutschen Kultur.
2., neubearb. u. verm. Aufl. 1. Bd. (Leipzig, Bibliograph. Institut.
10 M.) — Kern, Preußische Geschichte. Leipzig, Quelle & Meyer.
4M.) — G uir i n Songeon, Histoire de la Bulgarie depuis les ori-
gines jusqü'ä nos jours, 485 — 1913. (Paris, Nouvelle Libr. nationale,
5 Fr.) — L u f f t , Geschichte Südamerikas. 1 1. Das portugies. Süd-
amerika (Brasilien). (Leipzig, Göschen. 0,90 M.) — Posse, Die
Siegel der deutschen Kaiser und Könige von 751 — 1806. IIL IV.
(Dresden, Verlag der v. Baensch-Stiftung. 120 M.)
Alte Geschichte.
Übersichtlich und brauchbar ist das Bulletin critique des religions
de Vigypte igo8 et 190g, welches J. C a p a r t in Revue de l'histoire
des religions 67, 1 (1913) veröffentlicht.
Wichtig für ägyptische Chronologie und Geschichte ist der Auf-
satz von F. Legge: New ligfit on sequence-dating, welcher sich gegen
Flinders Petrie wendet in Proceedings of the Society of biblical arcfiaeo-
logy 35, 3- Ebendort veröffentlicht C. G. Pinches: Notes upon
the early Sumerian month-names und H. Thompson: Demotic tax-
receipts, eine willkommene Ergänzung zu Wilckens Ostraka.
Aus Proceedings of the Society of biblical archaeology 35, 2 notieren
wir A. H. S a y c e : Notes on the Hittite inscriptions and mythology:
the rock sculptures of Boghaz-Keui und L. W. King: Studies on some
rock-sculptures and rock-inscriptiones of Western Asia.
Les institutions militaires de VEgypte sous les Lagides par Jean
Lesquier. Paris, Leroux 1911. XVIIl u. 381 S. — Dieses Buch
ist allen, welche die Struktur des Ptolemäerreiches verstehen wollen,
aufs angelegentlichste zu empfehlen. Das wichtigste Ergebnis ist das,
daß (im Gegensatz zum Römerreich) in Friedenszeit neben der Gen-
darmerie nur eine geringe Zahl stehender Truppen vorhanden war
als Garde und zur Bewachung der festen Plätze, daß aber für den
Krieg eine große Armee mobilisiert werden konnte, die sich aus drei
Elementen zusammensetzte, den Regulären, den Söldnern und den
Eingeborenen. Die Regulären sind Griechen, vornehmlich Makedonen.
Im Jahre 217 belief sich ihre Infanterie auf 25 000 Mann. Die Regie-
rung versicherte sich dieser Mannschaften, indem sie ihnen Grundbesitz
in Ägypten anwies, auf welchem die Verpflichtung zum Militärdienst
lastete. Sie stellte also den pharaonischen /m/t^o*, die sie beibehielt,
einen ähnlich organisierten erblichen hellenischen Kriegerstand der
412 Notizen und Nachrichten.
Kleruchen zur Seite. Die Entwicklung ging dahin, daß sich die Hel-
lenen und Ägypter der Armee einander immer mehr anglichen. Neben
der Darstellung der militärischen Organisation nimmt darum die Be-
sprechung der mit ihr aufs engste zusammenhängenden eigentümlichen
Agrarverhältnisse einen breiten Raum ein.
Freiburg i. B. , M. Geizer.
Die Zeitschrift des Deutschen Palästina- Vereins 36, 2 bringt von
R. Hartmann wichtige Materialien zur historischen Topographie
der Palästina Tertia und behandelt zuvörderst: Das Straßennetz auf
Grund der Peutingerschen Tafel.
Im Rheinischen Museum 68, 2 veröffentlicht Fr. R ü h 1 lesens-
werte Randglossen zu den Hellenika von Oxyrhynchos, dann behandelt
Th. Lenschau den Staatsstreich der Vierhundert in dem Sinne,
die Berichte bei Thukydides und Aristoteles zu vereinen, und A. Klotz
untersucht die Bedeutung des Namens Hellespont bei den Geographen.
Mit gewohnter Regelmäßigkeit ist wieder der Bericht über die
Arbeiten zu Pergamon, und zwar für die Jahre 1910 — 1911 erschienen.
Darin berichtet W. Dörpfeld über die Bauwerke, A. I p p e 1 über
die Inschriften und Einzelfunde, P. Schazmann und G. Darier
über eine Untersuchung auf dem Kaleh Agili 191 1 und S. Loeschcke
über Sigillata-Töpfereien in Tschandarli. Mitteilungen des k. deutschen
archäol. Instituts, Athenische Abtlg. 37, 314. Im jüngst erschienenen
Heft (38, 1) finden sich folgende Arbeiten P. Corssen: Die erythrä-
ische Sibylle; J. N. Giannopulos: lolkos; P. D. Rediades:
Noch einmal Psyttaleia; E. Fabricius: Inschrift aus Kapatzedes
(wahrscheinlich dem alten Elaia, sehr wichtig für die Zeit des Über-
gangs des pergamenischen Reichs in den Besitz der Römer); Z. A. Hat-
zi d a k i s : Kretische Gräber; B. L a u m : Eianyoryele auf Samos
und K. Müller: Tiryns. Vorbericht über die Grabungen 1905 — 1912.
In den Milanges d'archiologie et d'historie 32, 4/5 finden sich
Aufsätze von L. Duchesne über L'empereur Anastase et sa poli-
tique religieuse, von Ch. A v e z o u und Ch. P i c a r d über La nicro-
pole de Tfiessalonique und von R. M a s s i g 1 i : Sur Vorigine de la col-
lection canonique dite Hadriana augmentee.
In der Revue archiologique 1913, Januar-April setzt G. Seure
seine wiederholt schon besprochene Arbeit Archiologie Thrace. Docu-
ments inidits ou peu connus fort, dann gibt S. R e i n a c h einen will-
kommenen Beitrag zur Erklärung der Mainzer Juppitersäule und
Seh. V. Sahakian veröffentlicht eine griechische Inschrift aus
dem Pontes, welche trotz Th. Reinachs Zusatznote noch nicht völlig
erklärt zu sein scheint. Weiter notieren wir L. Delaruelle: Les
sources d'oeuvres plastiques dans la revue des Mros au livre VI de rEniide;
Alte Geschichte. 413
R. L a n t i e r: La ville romaine de Lillebonne (alt Juliobona, die Haupt-
stadt der Caletes) und G. A n c e y.Questions mythiques. 1 : La naissance
d'AlMne, 2: Arks-Aiäks.
Eine sehr interessante Inschrift eines Soldaten, der in einem
Partherkriege (wohl dem des Septimius Severus) vor Seleucia in Baby-
lonien die militärischen Ehrenzeichen empfing, veröffentlicht A. Mör-
l i n in Comptes rendus de l'Acadimie des Inscript. 1913, Januar- Februar.
Ebendort handelt B a y a r d sur une inscription chräienne et sur des
passages de Saint Cyprien.
Aus der Revue historique 1913, Mai- Juni notieren wir L. Homo,
L'empereur Gallien et la crise de l'empire Romain au Ille sikcle und
Ch. L 6 c r i V a i n : Antiquitis latines. Publications itrangtres.
In der Revue de Philologie, de littirature et d'fiistoire anciennes
37, 1 handelt Ph. F a b i a über L'ambassade d'Othon aux Vitelliens
und Ch. P i c a r d bespricht les inscriptions du thiätre d'EpMse et le
culte d' Artemis Ephesia.
Im American Journal of arcfiaeology 17, 1 (1913) veröffentlichen
W. H. B u c k I e r und D. M. Robinson interessante Inschriften
aus Sardeis (darunter in besserer Lesung von neuem die bekannten
Verse des Acholius) und W. B. Dinsmoor, Attic building accounts. 1 :
The Parthenon, das sind sorgfältige Untersuchungen, an denen kein
Forscher vorübergehen darf.
Die Atti della r. Accademia delle Scienze di Torino, classe di scienze
morali, storiche e filologiche 48, 1/10 bringen Arbeiten von G. P a s -
q u a 1 i : Per la storia del culto di Andania (im Anschluß an eine neue
von Vollgraff im Bulletin de corr. hell. 1909, 175 herausgegebene In-
schrift, worin ein Orakel ne^i rag &vaias xal Tiöv fivaTf}Qiu)v erwähnt
wird); A. Taccone: Per la data e Vesegesi delV Olimpica VI di
Pindaro und G. DeSanctis, Note di epigrafia romana, und zwar
1. La orazione funebre di Turia, 2. Ancora della tavola d'Eraclea;
A. Ferrabino: Le guerre^i Attalo I contro i Galati e Antioco Jerace-,
G. Corradi: Gli strateghi di Pergamo; A. Ferrabino: Curione
in Africa 49 a. C.
In den Rendiconti della r. Accademia dei Lincei, classe di scienze
morali, storiche e filologiche 1912, 5 — 10 finden sich Arbeiten von
V. Costanzi: // luogo di origine del concetto di autoctonia e di preel-
lenicitä attribuito ai Pelasgi; L. A. Milani: La fibula Corsini e il
templum coeleste degli Etruschi; G. Patroni: Questioni vascolari.
A proposito di recenti scritti intorno alle antiche ceramiche deW Italia
Meridionale und A. B a r t 0 I i : Ultime vicende e transformazioni
xristiane della Basilica Emilia.
HUtorische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 27
414 Notizen und Nachrichten.
Aus den Notizie degli scavi 1912, 7/8 notieren wir E. Ghis-
1 a n z 0 n i und G. M a n c i n i : Roma. Nuove scoperte nellä cittä e
nel suburbio; D. Vaglieri: Ostia. Scavi nelle tombe. Ricerche nel
portico sul decumano. Scavi nella via dei Vigili presso la Caserma e
presso il Tempio di Vulcano ; M. Della Corte: Pompei. Conti-
nuazione dello scavo di via delV Abbondanza durante il mese di luglio
agosto igi2 ; P. O r s i : Siracusa. Scoperte in Ortygia.
In der Zeitschrift für neutestamentiiche Wissenschaft und die
Kunde des Urchristentums 14, 2 notieren wir H. W a i t z: Das Evan-
gelium der zwölf Apostel (Ebionitenevangelium) (Schluß) und den för-
dersamen Aufsatz von Chr. Bugge: Zum Essäerproblem.
In der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 55, 2 liest man
sehr lesenswerte Auseinandersetzungen von H. Lietzmann: Zur
altchristlichen Verfassungsgeschichte.
Aus Expositor 1913, Juni notieren wir W. A. Curtis: „Raise
the stone: Cleave the wood. A Study of an Oxyrhynchos logion und
J. S k i n n e r: The divine names in Genesis. 3: Recensians of the Sep-
tuagint.
Aus Neue kirchliche Zeitschrift 24, 6 notieren wir Dräsecke:
Eustathios und Michael Akominatos, wodurch man einen guten Ein-
blick in die Beziehungen der Theologen des 12. Jahrhunderts zuein-
ander gewinnt.
E. V. Dobschütz, Das Decretum Gelasianum de libris reci-
piendis et non recipiendis in kritischem Text herausgegeben und unter-
sucht. Texte und Untersuchungen (herausg. von A. Harnack und
C. Schmidt). XXXVIII, 4. Leipzig 1912. — E. v. Dobschütz hat sich
in höchst dankenswerter Weise der großen Mühe unterzogen, uns eine
kritische Ausgabe des sog. Decretum Gelasianum zu schenken, die den
Namen einer abschließenden verdient. Mag das Ergebnis der Unter-
suchung, die er mit der Edition verbindet, noch einer weiteren Ver-
feinerung fähig sein — Verfasser selbst hält das für wohl möglich — ,
an dem Text wird auch durch neue Zeugen schwerlich etwa Wesent-
liches geändert werden. Zu seiner Herstellung hat v. Dobschütz ein
reiches Material herangezogen. Er gruppiert die Handschriften nach
dem Hauptprinzip der Zurückführung des Dekretes auf Damasus,
Gelasius oder Hormisdas. So gelingt es ihm, die recht komplizierten
Textverhältnisse übersichtlich vorzuführen. Drei Sonderformen, die
sich in den Apparat nicht fügen, werden für sich abgedruckt. An die
Wiedergabe des Textes schließen sich Ausführungen „zur äußeren Form",,
die auch methodisch sehr lehrreich sind. Die „Untersuchung" handelt
zunächst von der Überlieferung, gibt dann Beiträge zur Sacherklärung
und geht endlich auf die Frage nach dem Ursprung des alten Schrift-
Frühes Mittelalter. 415
Stücks ein. Hier verficht v. Dobschütz gegenüber den bisher beliebten
Auffassungen mit guten Gründen die Überzeugung, daß keiner der
genannten Päpste Verfasser des Dekrets oder an seiner Entstehung
beteiligt gewesen ist. Vielmehr ist es als eine Privatarbeit aus der
ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts anzusehen. Seine Heimat ist das
Abendland, wahrscheinlich Italien.
Breslau. Walter Bauer.
In dem von Schiele und Zschamack herausgegebenen Hand-
wörterbuch „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" Bd. 4,
Sp. 1131 — 1163 hat A. Werminghoff jetzt den vielen kleinen
Papstbiographien einen inhaltvollen Artikel über das Papsttum im
Altertum und Mittelalter folgen lassen, der in knapper Zusammen-
fassung des Wesentlichen zugleich der äußeren und der inneren Ge-
schichte des Papsttums nachgeht.
[Neue Bücher : S t r e h I und S o 1 1 a u , Grundriß der alten Ge-
schichte und Quellenkunde. 2. verm. u. verb. Aufl. 1. Bd. (Breslau,
Marcus. 6,40 M.) — B e 1 o c h , Griechische Geschichte. 2., neu-
gestaltete Aufl. 1. Bd., 2. Abtlg. (Straßburg, Trübner. 8 M.) —
Baumgarten, Poland, Wagner, Die hellenische Kultur. 3., stark-
vermehrte Aufl. (Leipzig, B. G. Teubner. 10 M., geb. 12,50 M.) —
P 0 r a 1 1 a , Prosopographie der Lakedaimonier bis auf die Zeit Ale-
xanders des Großen. (Breslau, Max & Co. 6 M.) — San Nicolö,
Ägyptisches Vereinswesen zur Zeit der Ptolemäer und Römer. 1. Bd.
(München, Beck. 7 M.) — M e 1 1 z e r , Geschichte der Karthager.
3. (Schluß-)Bd. V. Ulr. Kahrstedt. (Berlin, Weidmann. 20 M.) —
Hugo Koch, Konstantin der Große und das Christentum. (München,
Mörike. 1,20 M.)
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250.
K. Schumacher veröffentlicht im Korrespondenzblatt des
Gesamtvereins 1913, 5 den Jahresbericht des Römisch-Germanischen
Zentralmuseums zu Mainz für das Rechnungsjahr vom 1. April 1912
bis 1. April 1913.
Das Korrespondenzblatt des Gesamtvereins 61, 3/4 bringt die
Vorträge zum Abdruck, die während der Würzburger Tagung des
südwestdeutschen Verbandes von Altertumsvereinen im September
1912 gehalten wurden. Wir notieren hier allein, um nicht alle Themen
nennen zu müssen, den Bericht von G. A n t h e s über die archäo-
logische Tätigkeit der Verbandsvereine während der Jahre 1911 und
1912, die Vorträge von Forrer über neue archäologische Unter-
suchungen im Elsaß und von P. G ö ß 1 e r über neue Untersuchungen
27*
416 Notizen und Nachrichten.
und Ergebnisse zur Geschichte der römischen Okkupation von Süd-
westdeutschland. Die übrigen Referate sind ausgesprochen lokalge-
schichtücher Natur und gelten Gegenständen aus prähistorischer,
römischer und germanischer Zeit, derart daß man ihren Spuren später
wieder in der Museographie der Westdeutschen Zeitschrift, den Fund-
berichten aus Schwaben und anderwärts begegnen wird.
Der reiche Inhalt der Prähistorischen Zeitschrift 5, 1/2 läßt
hier nur diejenigen Beiträge verzeichnen, die sich auf Einzelheiten
der Vorgeschichte Deutschlands beziehen. Genannt seien die Aufsätze
und Fundberichte von K. S. Gutmann (Die neolithische Bergfeste
von Oltingen), Th. H a r s t e r (Das bajuwarische Reihengräberfeld
bei Kelheim) und H. Müller-Brauel (Drei bronzezeitliche Hügel-
gräber im Kreise Stade; Ein bronzezeitlicher Hügel mit sächsischer
Nachbestattung bei Anderlingen). Unter den kleineren Mitteilungen
mögen die von B ä r t h o I d (Die Spiral-Mäanderkultur in Sachsen-
Thüringen) und P. Q u e n t e (Der Urnenfriedhof von Techow) erwähnt
werden. Allen Studien sind zahlreiche Abbildungen beigegeben, die
auch dort noch wirken, wo die genaueste Beschreibung dem der Prä-
historie Fernerstehenden nicht vollen Aufschluß zu gewähren im-
stande ist.
H. N ö t h e schildert in kurzen Zügen die Ergebnisse der Aus-
grabungen in Oberraden, gestützt vornehmlich auf einen Vortrag von
Baum, der über jenes Thema sich auf der Dortmunder Tagung des
Vereins für Vorgeschichte im August 1912 verbreitete; Histor. Viertel-
jahrschrift 1913, S. 243 ff.
K. R e g I i n g s Beschreibung eines größeren Fundes römischer
Denare bei Fröndenberg im Ruhrgebiet verdient um ihres Anhangs
willen besondere Hervorhebung. In ihm sind die bisher zutage ge-
tretenen römischen Münzschätze im freien Germanien verzeichnet,
wie der Verfasser bemerkt, ohne jeden Anspruch auf selbst nur an-
nähernde Vollständigkeit, gleichwohl dankenswert durch die über-
sichtliche Anordnung und die Heranziehung weitzerstreuter Literatur;
Zeitschrift für Numismatik 29, 3/4, S. 189 ff.
O. Roßbachs Aufsatz in den Neuen Jahrbüchern für das
klassische Altertum usw., 1. Abt. XXXI, 4, S. 269 ff., stellt sich als
ein erfreulicher Beitrag zur Ikonographie germanischer Könige der
Völkerwanderungszeit dar. Er behandelt die Persönlichkeiten und
die äußere Erscheinung des Ostgoten Theoderich d. Gr. (f 526) und
des Westgoten Theoderich II. (453 — 466), derart, daß die Berichte
über sie wie bildliche Darstellungen — von Theoderich d. Gr. auf
einer wertvollen Goldmünze — zu ihrem Rechte gelangen. Die Schil-
Frühes Mittelalter. 417
derung der Westgoten durch Apollinaris Sidonius liegt derjenigen
Friedrichs 1. (1152—1190) durch Rahewin {Gesta Friderici IV c. 86
ed. B. von Simson p. 342 sqq.) zugrunde — Roßbach will damit Be-
kanntes nicht noch einmal sagen, sondern gegen ihre Verwertung
durch M. Kemmerich ankämpfen, der erklärt hatte, daß sie an Wert
nicht das geringste durch den Nachweis verlöre, daß „manche Aus-
drücke Einhard und Sidonius Apollonius (!) entnommen sind". Die
sklavische Abhängigkeit Rahewins von seiner Vorlage wird durch
den Paralleldruck noch deutlicher als durch die entsprechenden An-
merkungen in der angeführten Ausgabe.
Im 111. Heft der Untersuchungen zur Staats- und Rechtsge-
schichte, herausgegeben von O. v. Gierke, behandelt Emil G o 1 d -
mann das and^/ong-Problem. In einer Anzahl von Urkunden (vom
Anfang des 8. bis gegen Ende des 11. Jahrhunderts) kommt der ande-
lang als rechtliches Wahrzeichen bei der Grundstückübereignung vor,,
ohne daß klare Anhaltspunkte dafür gegeben sind, was andelang eigent-
lich bedeute, ohne daß einer der bisherigen Deutungsversuche allge-
meinen Anklang gefunden hätte. Mit dem ganzen, schweren Rüstzeug
rechtsgeschichtlicher sprachgeschichtlicher und volkskundlicher For-
schung untersucht Goldmann ausführlich und sorgfältig die Frage
von neuem und stellt als Ergebnis die Gleichung andelang = Kessel-
haken auf; eine Erklärung, die schon Malbrancus versucht hatte.
In der Sache ist dagegen kaum ein Bedenken einzuwenden. Der sprach-
liche Beweis, der das Wort auf romanische Quelle zurückführen möchte,
ist wohl noch nicht endgültig. Vgl. Zeitschr. der Savigny-Stiftung
für Rechtsgeschichte, germanistische Abteilung 1912, S. 599 — 602.
Vielleicht wäre ergänzend darauf hinzuweisen, daß der Kesselhaken
auch kngehaeke hieß. (Schiller-Lübben, Mittelniederdeutsches Wörter-
buch II, 177; vgl. lenge 3. Bedeutung ebenda II, 664.) v. Künßberg.
Der kleine Aufsatz von Paul Sander „Über die Wirtschafts-
entwicklung der Karolingerzeit" (Schmollers Jahrbuch für Gesetz-
gebung usw. 37, 1) enthält eine durch ihre selbständigen Beobachtungen
wertvolle Besprechung des Buches von Dopsch.
In einer Studie über „Einhard, Rudolf, Meginhard. Ein Beitrag
zur Frage der Annales Fuldenses" (Histor. Jahrbuch 1913, S. 40 ff.)
bekämpft S. H e 1 1 m a n n zunächst einige Bedenken, die M. Jansen
gegen seine Ergebnisse zur Frage nach der Entstehungsgeschichte
der Annales Fuldenses geäußert hatte (a. a. O. 1912, S. 101 ff., vgl.
mit Neuem Archiv 33, S. 697 ff., 34, S. 15 ff., 37, S. 53 ff.). Daran
schließen sich neue Argumente, die Hellmanns Hypothese stützen
sollen, daß jenes Annalenwerk nicht von drei einander ablösenden
Verfassern herrühre, sondern nur von einem einzigen, in Mainz lebenden
418 Notizen und Nachrichten.
Autor, der ihm vorliegende ältere Arbeiten zusammengeschweißt habe;
im Südosten des Reiches habe ein ebenfalls unbekannter Autor sie bis
mindestens dem Jahre 901 oder 902 fortgeführt, nachdem von ihm
die Karl III. feindliche Darstellung der Jahre 882—887 durch eine
diesem Karolinger günstigere ersetzt worden sei. F. Kurzes Polemik
(a. a. O. 36, S. 345 ff., 37, S. 778 ff.) wird von Hellmann nicht noch
einmal bekämpft, da er gegen sie bereits (a. a. O. 37, S. 53 ff.) in die
Schranken getreten war.
Ph. Lauer, Robert I'^ et Raoul de Bourgogne, rois de France
(g23 — g36) Annales de VHistoire de France a l'epoque Carolingienne.
Bibliothtque de VEcole des Hautes Etudes. Sciences historiques et philo-
logiques i88' fascicule. Paris, Champion 1910, IV, 115 S. — Der sach-
kundige Herausgeber des Flodoard füllt mit diesem Buche die Lücke
aus, die in den Annales de VHistoire de France zwischen den Werken
über Karl den Einfältigen und Ludwig dem Überseeischen vorhanden
war. Über Robert ist nicht viel zu berichten, seine Laufbahn nahm
ein zu jähes Ende. Rudolf trat zunächst als Usurpator auf, aber dank
seiner trefflichen kriegerischen und politischen Gaben verstand er es,
sich durchzusetzen. Gingen damals der französischen Herrschaft
Lothringen und die Provence verloren, so war es wahrlich nicht die
Schuld des Königs, sondern die des unbotmäßigen Vasallen Herbert
von Vermandois, der mit seinem andauernden Widerstände die Politik
Rudolfs stets und ständig durchkreuzte. O. Cartellieri.
Man darf es als erfreuliches Zeichen der Gesundheit unseres
akademischen Geschichtsunterrichtes begrüßen, daß die von K. Z e u -
m e r bearbeitete Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen
Reichsverfassung in JVIittelalter und Neuzeit (vgl. H. Z. 94 [1905],
S. 474) in wesentlich bereicherter neuer Auflage erscheinen kann
(Tübingen, J. C. B. Mohr [P. Siebeck], 1913, XVIII, 562 S.). Über
die Anlage des Buches, das sich auch als bloße Urkundensammlung
dank dem sicheren Takte des Bearbeiters zu einem Werke von selb-
ständiger wissenschaftlicher Bedeutung erhebt, braucht hier nichts
mehr gesagt zu werden. Die neu aufgenommenen 35 Nummern, von
denen 5 an die Stelle von 6 ausgeschiedenen getreten sind, gehören
zu Vierfünfteln der mittelalterlichen Abteilung an; bei einer der wert-
vollsten, der Urkunde über die Verkündigung der Wahl König Richards
(Nr. 77), ist leider die Druckstelle des zur Beurteilung der Urkunde
wichtigen Zeumerschen Aufsatzes falsch angegeben (H. Z. 94 [1905]
muß es heißen). Im Register ist S. 556 unter „Bitten, erste" 84 statt 74
zu lesen. Daß die beiden fast genau gleich starken Teile des Buches
auch getrennt abgegeben werden, ist namentlich für den Seminar-
betrieb eine große Erleichterung.
Frühes Mittelalter. 419
Die Abhandlung von L. K. G o e t z über die Frage nach dem
Umfang der kirchlichen Gerichtsbarkeit im vormongolischen Rußland
(Zeitschrift für osteuropäische Geschichte 3, 3 S. 327 ff.) prüft die
Bestimmungen dreier, freilich nicht insgesamt für echt erklärter Kirchen-
gesetze, des Statuts von Vladimir (980 — 1015), des Statuts von Jaroslav
(1019 — 1054) und des Dekrets von Rotislav Mstislavic von Smolensk
aus dem Jahre 1150. Es scheint, als würde bei den Lesern des Auf-
satzes zu viel Kenntnis altrussischer Kirchengeschichte vorausgesetzt,
derart daß infolge geringer Rücksichtnahme auf solches Nichtwissen
die Studie selbst ihres Eindrucks sich berauben möchte; über ihre
Ergebnisse zu urteilen steht uns nicht zu. In derselben Zeitschrift
(S, 365 ff.) unterzieht M. V. B r e c k e v i c das Privileg des Papstes
Innozenz II. für den Bischof Adalbert von Wollin aus dem Jahre 1140
einer eingehenden Prüfung. Indem er sie im Gegensatz zu A. Hauck
für echt erklärt, bemüht er sich zugleich, ihre Bestimmungen im ein-
zelnen zu erläutern, die insgesamt einen Versuch des Bischofs dar-
stellen sollen, „seine Besitzungen und Rechte für alle Fälle durch
weitergehende Ausdrücke zu bezeichnen, als es in der Tat notwendig
war". Ganz geklärt und behoben sind alle Bedenken aber keineswegs,
zumal eine diplomatische Prüfung der Urkunde selbst unterblieben ist.
In den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1913, 5 unterzieht
A. Brackmann das Werk von G. Schreiber über Kurie und Kloster
im 12. Jahrhundert (Stuttgart 1910) einer eindringlichen Würdigung
hinsichtlich seiner Methode und seiner Ergebnisse: sie meldet nicht
unwesentliche Bedenken an, ohne deshalb das Verdienst Schreibers
mindern zu wollen. Brackmanns Darlegungen über den päpstlichen
Schutz, die Zinszahlung, die Exemtion, die bischöflichen Jurisdiktions-
rechte verdienen ernste Beachtung, da sie die Schwierigkeiten der
Untersuchung neu ans Licht stellen. Auch Schreiber war sich ihrer
bewußt, nur daß der von ihm gewählte Ausgangs- und Schlußpunkt
seiner Untersuchungen ihm das Bild der Entwicklung weniger viel-
gestaltig erscheinen ließen, als es in lokaler Differenzierung tatsächlich
war. Gerade diese betont Brackmann mit vollem Recht, um damit
erneut auf die Notwendigkeit weiterer eindringender Studien auf
diesem Gebiete hinzuweisen.
P. Kehr legt in einer 7. Reihe von Nachträgen zu den Papst-
urkunden Italiens (vgl. 110, 655) den Text von nicht weniger als
41 Papst- und Legatenurkunden aus den Jahren 1102 — 1194 vor,
deren Auffindung den Nachforschungen von H. Kalbfuß gelang, als
dieser die Archive und Bibliotheken der Lombardei einer ergänzenden
Durchprüfung unterzog. Namentlich reich an Überlieferungsformen
waren die Sammlungen von Brescia und Bergamo; sie lieferten Ma-
420 Notizen und Nachrichten.
terialien aus Fonds, „von denen wir bisher entweder gar nichts oder
nur sehr wenig besaßen". Der Inhalt der mitgeteilten, überwiegend
echten Stücke bezieht sich auf italienische Einzelkirchen und Einzel-
klöster, ihre Rechte und Besitzungen. Besonders wichtig erscheint
ein Brief Alexanders III. vom Jahre 1167 an Konsuln und Volk von
Brescia: diese erhalten den päpstlichen Dank für ihre Anstrengungen
zugunsten der Kirche und ihrer Freiheit und werden ermahnt, darin
auszuharren; alle aber, welche dem Tyrannen Friedrich und seinen
Anhängern durch Treueid verbunden sind, werden von diesem ent-
bunden. Ob auch andere Stücke sich für die politische Geschichte
verwerten lassen, kann hier dahingestellt bleiben: genug, daß ihre
Texte neue Beiträge liefern zur Erkenntnis des von den Päpsten ge-
schaffenen Ordens- und Klosterrechts, dessen Vielseitigkeit immer
wieder die Blicke auf sich zieht (Nachrichten der K. Gesellschaft der
Wissenschaften zu Göttingen, phil.-hist. Klasse 1912, 4 S. 414 ff.).
Die scharfsinnig durchgeführte Untersuchung von B. Schmeid-
1 e r über den Briefwechsel zwischen Abälard und Heloise (Archiv für
Kulturgeschichte 11, 1 S. 1 ff.) kommt zu folgenden überraschenden
Ergebnissen: unzweifelhaft echt ist die ihn eröffnende Historia calami-
tatum; die übrigen sieben Briefe stellen sich dank vornehmlich durch-
gängiger stilistischer Eigentümlichkeiten als das Werk Abälards allein
dar, der freilich in ihm echte, von Heloise herrührende Briefe benutzt
haben mag. „Der Briefwechsel ist nichts als die Fortsetzung der Historia
calamitatum, eine Selbstdarstellung des Romans von Abälards Leben
in Briefform." Der Überzeugungskraft von Schmeidlers Argumenten
wird man sich kaum entziehen können, während die von ihm ange-
deutete scharfe Verurteilung von Abälards Charakter allzuhart dünkt.
Aus der Zeitschrift für Deutsches Altertum 54, 1 S. 61 ff. no-
tieren wir die ansprechenden Bemerkungen von E. Michaelis
zum Ludus de Antichristo, dem mit Recht jegliche politische Spitze
abgesprochen wird. Die Entstehung des Spiels wird mit behutsamer
Vorsicht in die Zeit „nicht allzuweit von der Wirksamkeit des hl. Bern-
hard in Deutschland" verlegt, wenn nicht gar in die Zeit vor die un-
glückliche Wendung des zweiten Kreuzzuges. Auf die neue Ausgabe
des Ludus durch F. Wilhelm in den „Münchener Texten" (Heft 1,
München o. J.) konnte Michaelis nur in nachträglichen Bemerkungen
eingehen.
Im 6. Hefte der von F. Wilhelm herausgegebenen „Münchener
Texte" legt M. M a n i t i u s eine neue Edition der Gedichte des
Archipoeta vor, deren Übersetzung durch B. Schmeidler vor einem
Jahre hier angeführt werden konnte (109, 643). Ohne über die philo-
logischen Verdienste der Arbeit urteilen zu dürfen, wird folgendes zu
Frühes Mittelalter. 421
bemerken sein. Manitius würdigt in der Einleitung zunächst die Per-
sönlichkeit und die Lebensumstände des Dichters, charakterisiert als-
dann die Überlieferungen seiner Werke und bietet schließlich für diese
einen von kritischen Noten und Erläuterungen begleitenden Text,
der namentlich für die Zwecke von Übungen sich eignen möchte. Die
Kommentierung der Gedichte bemüht sich vornehmlich, den sprach-
lichen Vorlagen des Erzpoeten in der Bibel und der antiken Literatur
nachzugehen. Seine Abhängigkeit von ihnen erscheint dem Heraus-
geber als „recht stark" und „zeigt auch an diesem Beispiel, auf welcher
Grundlage die Dichter des 12. Jahrhunderts ihre Poesien verfertigten"
(S. 14). Man bedauert, daß Manitius es unterlassen hat, eine Konkor-
danz der älteren Ausgaben mit der eigenen beizufügen, zumal er selbst
„die Reihenfolge der Gedichte nach der wahrscheinlichen chrono-
logischen Folge" gab, also von der Edition z. B. von Wilhelm Grimm
oftmals abgewichen ist (Die Gedichte des Archipoeta. München, G.
D. W. Callwey 1913. 65 S.).
P. F e d e 1 e stellt aus dem Urkundenbestand von S. Maria
in Via Lata eine Reihe von Dokumenten zusammen, die über die Ge-
schichte des stadtrömischen Senats im 12. Jahrhundert neues Licht
zu verbreiten geeignet sind; Archivio della R.Societä Romana di Storia
Palria 34, 3/4 S. 351 ff.
Einen merkwürdigen Versuch zur Geschichte des s i z i 1 i s c h -
unteritalischen Lehnrechtes unternimmt ein Aufsatz von
Roberto Palmarocchi, Sul feudo Normanno (Studi storici XX,
349 ff.). Der Verfasser versucht den Nachweis, daß nicht, wie man
bisher annahm, das fränkische Lehnrecht (mit Primogeniturerbfolge),
sondern das langobardische (mit Teilbarkeit) im Königreich vorge-
waltet habe, daß nur „einige Personen" nach fränkischem Recht gelebt
hätten. Erst ganz spät sei das den Feudataren (angeblich) günstigere
fränkische Recht das herrschende geworden, denn erstens könne von
einer Übertragung der fränkischen Primogeniturerbfolge durch die Er-
oberer des wegen keine Rede sein, weil es in der Normandie damals
noch nicht rezipiert gewesen sei, zweitens seien viele Langobarden
im Heere der normannischen Führer gewesen, und drittens habe das
(angebliche) normannische Prinzip der Anpassung zur Annahme des
im eroberten Lande heimischen Rechtes, also des langobardischen, ge-
führt. Der kühne Versuch des Verfassers ist meines Erachtens kaum
diskutabel. Es wird nur mit allgemeinem Räsonnement und ohne
die notwendige Kenntnis von Urkunden und Rechtsquellen gearbeitet.
Die Konstitution König Rogers für Kalabrien von 1150, die der Ver-
fasser S. 370 für das Lehnerbrecht heranzieht, bezieht sich nicht auf
dieses, sondern auf die Erbfolge in freiem Eigen. Was Ficker und
422 Notizen und Nachrichten.
Brunner über das anglonormannische Erbrecht geschrieben haben, ist
dem Verfasser nicht bel<annt. Wenn wir nun auch nicht mit Bestimmt-
heit sagen können, daß in den neu errichteten sizilisch-unteritalischen
Lehen der ältesten Zeit das Primogeniturprinzip von vornherein ge-
herrscht habe, so beweisen doch schon die N a m e n der ältesten Lehns-
träger, daß sie überwiegend französischer Herkunft waren. Die ältesten
erreichbaren lehnrechtlichen Bestimmungen zeigen ausschließlich nor-
mannischen und sonstigen französischen Einfluß. Die verabsäumte
Einsicht in den Catalogus Baronum hätte dem Verfasser eine Vorstel-
lung von der quantitativen Verteilung zwischen Lehen fränkischen
und Lehen langobardischen Rechtes innerhalb der festländischen Teile
des Reiches vermittelt. Niese.
Wir notieren aus den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1913, 4
die Anzeige des Buches von H. Bloch (Die staufischen Kaiserwahlen
und die Entstehung des Kurfürstentums. Leipzig 1911) durch G.
H u s a k. Ihr Verfasser lehnt nach eingehender Darlegung der Her-
gänge bei der Wahl des Jahres 1198 Blochs Ausführungen ab. ,,Wir
sehen bei der Doppelwahl electio regis und electio imperatoris alter-
nierend verwendet, ohne daß es gelungen wäre, ein System in die
Anwendung der beiden Termini bringen zu können. Von der weifisch-
päpstlichen wie von der staufischen Partei finden wir die beiden Be-
zeichnungen gelegentlich gebraucht. Zwischen regnum und Imperium
wird überhaupt nicht unterschieden, d. h. Imperium gilt nicht als
Gebiet und Herrschaft des nur kaiserlichen Regierenden, sondern be-
zeichnet die hinteriassene Herrschaft des verstorbenen Kaisers. Auch
der Papst spricht von Imperium in demselben Sinn wie die weifischen
und staufischen Fürsten. Betreffs der von Bloch konstatierten Wand-
lung in den offiziellen staatstheoretischen Anschauungen des Papstes
versuchten wir an der Hand der in Frage kommenden Titel zu zeigen,
daß hierüber keine Meinungsverschiedenheit zwischen den Deutschen
und dem Papste nachzuweisen ist. Die aktuellen Meinungsverschieden-
heiten liegen vor allem auf dem politischen Gebiete. Die theoretischen
Auseinandersetzungen der päpstlichen Briefe haben daher meist einen
sehr realpolitischen Hintergrund und sind infolge dieser ihrer Bedingt-
heit nicht ohne innere Widersprüche. Festzuhalten ist eben, daß die
Streitfrage sich um die Person, nicht um den Titel dreht, und um den
vom Papste als idoneus erachteten Kandidaten durchzubringen, wird
alles ins Treffen geführt, was rechtlich für ihn sprechen kann, wobei
gelegentlich andere rechtliche Momente vergewaltigt werden. Die vom
Papste gefundene Bezeichnung rex in imperatorem postmodum promo-
vendus gibt glücklich den begrifflichen Inhalt der von den Fürsten
gewählten Person wieder. Dieser Ausdruck ist inhaltlich gleich mit
Frühes Mittelalter. 423
rex in imperatorern electus; mit diesem Titel wird Otto von Innozenz
oft, aber nicht immer bezeichnet." Husacks Anzeige erschöpft nicht
den Gesamtinhalt des Werkes von Bloch, bedeutet aber einen scharfen
Vorstoß gegen die erste Reihe seiner Ausführungen (vgl. auch H. K a 1 b -
f u ß in der Deutschen Literaturzeitung 1913, Nr. 16). Nicht vergessen
sei die Anzeige von W. Hauthalers Salzburger Urkundenbuch I (Salz-
burg 1910) durch E. Schröder.
Roman Grodecki beschäftigt sich im Kwart. hist. XXVI
(S. 433 — 475) mit den Verhältnissen des herzoglichen Landes bei Treb-
nitz vor der Stiftung des dortigen Klosters. Das praedium Trebnicense
der Urkunde von 1203 ist etwas anderes als die ipsa Trebnica des Di-
ploms von 1204 (Haeusler „Urkundensammlung etc." Nr. 9 u. 10);
es umfaßt außer dieser noch sechs Nachbardörfer und war ursprüng-
lich wohl im Besitze des Peter Wlast. Der Herzog erwarb eigens zur
Bestiftung desTrebnitzer Klosters noch mehrere Orte in der Nähe seines
Praediums. Diese Dörfer überkam er zumeist menschenleer; daher
war es nötig, aus anderen Orten Hörige dorthin zu überweisen. In den
Trebnitzer Dörfern finden wir teils hospites, teils Handwerker und
Diener. Subdapifer wird mit coquus gleichgesetzt. Die , .Zeitschrift des
Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens" wird sich mit Gro-
deckis Arbeit eingehender befassen. E. Missalek.
In der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F. 28, I
wertet H. Flamm den Fund eines neuen Blattes des Rotulus San-
petrinus, das im Freiburger Stadtarchiv zutage trat. Wohl hatte
schon Schannat im Jahre 1723 fünf Berichte über Schenkungen an
das Schwarzwaldkloster veröffentlicht, das von H. Flamm entdeckte
Stück erscheint als das Original eines dieser Berichte, so daß es sich
lohnte, es neu herauszugeben und zugleich sachgemäß zu erläutern.
Um 1200 geschrieben erweitert es die Kenntnis vom Güterbesitz jener
Abtei.
Anknüpfend an Friedrichs II. Instruktion für einen Admiral
Nicolinus Spinola vom Jahre 1239 entwirft W. Cohn in der Fest-
schrift für Alfred Hillebrandt (Halle a. S. 1913, S. 12 ff.) ein Bild von
den Amtsbefugnissen des Admirals unter jenem Hohenstaufen, dessen
Verständnis für Seefahrt und Seegeltung er überaus hochstellt. Zur
Einleitung mag bemerkt werden, daß bereits unter Otto 111. ein Flotten-
präfekt begegnet (vgl. Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom III*,
S. 455).
In der Histor. Vierteljahrschrift 1913, 2 S. 161 ff. wird der Ent-
wurf eines Vortrags über spanische Geschichte im Mittelalter zum
Abdruck gebracht, den G. C a r o kurz vor seinem frühen Tode fixierte.
Auch der Torso läßt erkennen, mit welcher Energie der Verstorbene
424 Notizen und Nachrichten.
sich den ihm ferner liegenden Stoff aneignete, zugleich sein Geschick,
mit der Darlegung spanischer Wirtschafts- und Verfassungsverhält-
nisse Vergleiche mit denen anderer Länder zu verbinden. Man bedauert
lebhaft, daß es dem Verfasser nicht beschieden war, den geplanten
Vortrag zu einer eindringenden Studie auszugestalten.
Albert Hauß, Kardinal Oktavian Ubaldini, ein
Staatsmann des 13. Jahrhunderts. (Heidelberger Ab-
handlungen zur mittleren und neueren Geschichte. Heft 35. VIII u.
114 S. Heidelberg, Winter. 3 M.) — So reizvoll die problematische
Gestalt dieses Ghibellinenfreundes und großen Lebenskünstlers in den
unterhaltsamen Erzählungen Salimbenes sich ausnimmt, so sehr Dantes
Interesse für „den Kardinal", den er neben Friedrich II. unter die
Ketzer versetzt, unsere Wißbegierde erregt, im Grunde eignet sich
seine Persönlichkeit mehr für eine episodische Darstellung, für eine
geistvolle Charakteristik, wie sie Davidsohn (Geschichte von Florenz II,
1 S. 327 f.) geboten hat, als für eine Biographie, die mit recht gleich-
gültigen urkundlichen Daten zu behaften war und kein stärkeres Inter-
esse für den Helden aufkommen läßt, der „der letzte war, sich politisch
irgendwie festzulegen", der trotz aller intellektuellen Begabung weder
als Feldherr noch als Diplomat erhebliche Erfolge errungen hat, weil
er versäumte, sich voll einzusetzen, dem vor allem daran gelegen war,
Macht und Einfluß seines Hauses, eines Florenz benachbarten Herren-
geschlechts, zu fördern, und selbst ein reiches und prächtiges Dasein
zu führen. Hauß hat sich durchaus nicht über die mangelnde Größe
des Mannes getäuscht, er folgte einer Anregung Winkelmanns (H. Z. 68,
170), aber er bekundet wiederholt, daß nicht die Taten des Kirchen-
fürsten unter fünf Päpsten in 28 Jahren Oktavians Bedeutung aus-
machen, sondern seine Denkweise, die nach Art des Renaissance-
menschen das Sachliche hinter dem rein Persönlichen zurückstelle.
Nur ist, was wir von seinem Denken und Fühlen wissen, doch wieder
nicht reich genug, um die eingehende Behandlung voll zu lohnen.
Aber dem Verfasser gebührt Dank für seine sorgfältige Arbeit. Sie
stellt seiner Fähigkeit zu kritischer Würdigung und geschmackvoller
Darstellung ein gutes Zeugnis aus und hat über den biographischen
Rahmen hinaus den Wert, uns die Eigenart der Päpste Innozenz IV.
bis Gregor X. unter eigentümlichem Gesichtswinkel — in ihrem Ver-
hältnis zu einem Kardinal, der sich durchaus nicht der antistaufischen
Schablone einordnete, zu beleuchten. Der Tadel, den Innozenz IV.
ihm 1249 ausspricht (Levi ep. III p. 271), hätte S. 25 schärfer zum
Ausdruck kommen müssen, die Namensform hätte ,,Ottaviano" sein
sollen. Die Knappheit der Zitate geht bisweilen entschieden zu weit.
K. Wenck.
Späteres Mittelalter. 425
Neue Bücher: Ludw. Schmidt, Geschichtie der deutschen
Stämme bis zum Ausgange der Völkerwanderung. II. Abtlg., 2. Buch.
(Berlin, Weidmann. 4 M.) — Acta et diplomata res Albaniae mediae
aetatis illustrantia. CoUegerunt et digesserunt Ludovicus deThalloczy,
Constantinus J er ic ek et Emiliarxus de S u f f l av. Vol. I. (Wien,
Holzhausen. 20 M.) — P i er q u i n , Histoire politique de la monarchie
anglo-saxonne (44g — 1066). (Paris, Picard et fils.) — Reynaud,
Les origines de Vinfluence fran^aise en Allemagne (g^o — 11 50). T. i*^.
(Paris, Champion.) — Walt. Franke, Romuald v. Camaldoli und
seine Reformtätigkeit zur Zeit Ottos III. (Berlin, Ebering. 6,80 M.)
— Francke, Barbarossas Angaben über das Gerichtsverfahren
gegen Heinrich den Löwen. (Hannover, Helwing. 1,50 M.) — K 1 e e -
mann , Papst Gregor VIII. (1187). (Bonn, Marcus & Weber. 2 M.)
— S c h a u b , Studien zur Geschichte der Sklaverei im Frühmittel-
alter. (Berlin, Rothschild. 3,50 M.)
Späteres Mittelalter (1250—1500).
Fr. E h r 1 e beginnt in der Zeitschrift für katholische Theologie
1913, 2 eine längere Abhandlung über den in zwei Phasen verlaufenden
Kampf um die Lehre des Thomas von Aquino in den ersten 50 Jahren
nach seinem Tod. Der vorliegende erste Artikel bemüht sich für eine
Behandlung des an das Correctorium des Franziskaners Wilhelm de la
Mare (entstanden vor 1283, wahrscheinlich Ende 1277 oder 1278)
anknüpfenden Streites eine brauchbare Grundlage zu schaffen, indem
er die in Betracht kommenden, fast durchweg anonym überlieferten
Handschriften zusammenstellt und untersucht.
Joh. L a h u s e n unternimmt in der Zeitschrift für die Geschichte
des Oberrheins N. F. 28, 2 den Nachweis, daß das Überlinger Stadt-
recht nicht vor Ende 1298 begonnen (worauf schon K. O. Müller in
seiner Arbeit über die oberschwäbischen Reichsstädte hingewiesen hatte)
und daß es mit der Verfassungsänderung König Albrechts in Verbin-
dung zu bringen ist.
Über ein von Karl von Anjou für den Monat April des Jahres 1302
nach Cesena berufenes „Parlament" macht eine Miszelle von Rob.
Davidsohn im Archivio storico Italiano 1912, disp. 4 nähere An-
gaben. — Aus dem gleichen Hefte ist noch ein erster Abschnitt der
Arbeit von L. Chiappelli: Ricerche di storia letterar ia del diritto
zu erwähnen, in dem die Sammelhandschrift Ashburnham 1798 der
Mediceo-Laurenziana zu Florenz genau beschrieben und in ihren ein-
zelnen Bestandteilen vorgeführt wird. Sie bietet in der Tat ein gutes
Bild vom Stande der deutschen juristischen Wissenschaft im aus-
426 Notizen und Nachrichten.
italienischen m
I
gehenden Mittelalter, wie sie sich unter dem Einfluß der it
Rechtsschulen entwickelt hatte.
Über den wenig erfreulichen Empfang, dessen sich im Jahre 1304
der päpstliche Nuntius Gerard v. Pecorara, Kanonikus zu Reims,
mit seinen Geldforderungen in England zu versehen hatte, gibt sein
im Vatikanischen Archiv erhaltener Bericht Aufschluß, der von W.
E. L u n t nach einer im Record Office befindlichen modernen Abschrift
zum Abdruck gebracht wird (The English historial Review 1913, April).
G. Lizerand: Les dipositions du grand maitre Jacques de
Molay au proces des Templiers (1307 — 1314) behandelt im MoyenAge
1913, JWärz-April Einzelfragen aus dem Verhör Molays, namentlich im
Anschluß an die kleine Veröffentlichung von P. Viollet: Les inter-
rogatoires de Jean de Molay (Paris 1909). Die Beurteilung der Persön-
lichkeit gipfelt in dem Satz: „Molay . . . n'etait qu'un pauvre et brave
homme."
Als Beitrag zur italienischen Rechtsgeschichte sei aus dem Archivio
della R. Societä Romana 35, fasc. 3 — 4 die Veröffentlichung von J.
Schuster verzeichnet : Un protocollo di notar Pietro di Gregor io
neir archivio di Farfa. Die zum Abdruck gebrachten 28 Nummern
entstammen sämtlich dem Jahre 1344.
Vornehmlich auf Grund ragusischer Quellen, die bisher ganz
unbenutzt geblieben sind, handelt Graf L. de Voinovitsch in
der Revue des questions historiques 1913, April über das Schicksal
der angiovinischen Parteigänger, die bei der Unternehmung gegen
Karl von Durazzo zu Anfang des Jahres 1384 von Streitkräften der
Republik Ragusa gefangen genommen wurden und 14 Monate in die-
sem Zustand verbleiben mußten.
Im 43. und 44. Jahresbericht des Historischen Vereins zu Bran-
denburg a. H. hat O. T s c h i r c h die märkische Chronik des Stadt-
schreibers Engelbert Wusterwitz (1388 — 1420) neu herausgegeben, die
gleichzeitig auch als Sonderdruck erschienen ist.
Über die rein lokalgeschichtliche Bedeutung geht stellenweise
hinaus die Zusammenstellung der Frankfurter Judennamen bis zum
Jahre 1400 und ihre Erklärung durch L. Krakauer (Archiv für
Frankfurts Geschichte und Kunst 3. Folge 11).
Zu den der Geschichte der deutschen Dominikaner im späteren
Mittelalter geltenden Forschungen von H. Finke und E. Förstemann
liefert in der Zeitschrift für Kirchengeschichte 34, 1 Fr. B ü n g e r
eine willkommene Ergänzung, indem er das Bruchstück eines Berichts
über die Verhandlungen eines Dominikaner-Provinzialkapitels zu
Luckau (1400) zum Abdruck bringt. Namentlich auf die biographischen
Nachweise ist viel Mühe und Sorgfalt verwandt worden.
I
Späteres Mittelalter. 427
Otto C a r t e 1 1 i e r i setzt in den Sitzungsberichten der Heidel-
berger Akademie der Wissenschaften, philos. -historische Klasse Jahr-
gang 1913, 2. Abhandlung, seine H. Z. 110, 192 erwähnten Beiträge
zur Geschichte der Herzöge von Burgund fort, indem er aus dem De-
partementalarchiv zu Lille, der Pariser Nationalbibliothek und dem
Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv eine Reihe von Schriftstücken
zum Abdruck bringt und in den geschichtlichen Zusammenhang ein-
ordnet, die aus dem Zeitraum vom Herbst 1414 bis zum Frühjahr 1415
stammen und eine hübsche Ergänzung zu der Veröffentlichung von
Jules Finot (La paix d'Arras, 1906) abgeben.
Über den wenig bedeutenden Abt Sigmund Pirchan von Hohen-
furt, der 1441 von Felix V. zum Bischof von Salona ernannt wurde
und in dieser Würde nach seinem Frieden mit der römischen Kurie
bis zu seinem Tode (1472) verblieben ist, handelt ein Aufsatz von
Val. Schmidt in den Studien und Mitteilungen zur Geschichte
des Benediktinerordens und seiner Zweige N. F. 2 (1912), 643 ff. Daß
die Arbeit einen Beitrag zur Geschichte des Basler Konzils darstelle,
wie der Untertitel sagt, kann nach den dürftigen Nachrichten, die
in dieser Hinsicht beigebracht werden, nicht zugegeben werden.
Beachtenswertes Quellenmaterial zur Geschichte der Beziehungen
zwischen Venedig und Mailand in der zweiten Hälfte des 15. Jahr-
hunderts enthält die Arbeit von L. de Thaloczy: Frammenti
relativi alla storia dei paesi situati aU'Adria (Archeografo Triestino 35).
In den Anfang der siebziger Jahre des 15. Jahrhunderts führt
die mancherlei ungedruckte Materialien verwertende Darstellung von
L. F u m i : La sfida del duca Galeazzo Maria a Bartolomeo Colleoni
(Archivio storico Lombardo serie quarta, anno 39, fasc. 36).
Die Histor. Vierteljahrschrift 16, 2 bringt den Schluß der H. Z.
1 10, 662 erwähnten Arbeit von Fritz Härtung über die Reichsreform
von 1485 — 1495, der sich mit dem Reichstag von Worms (1495) be-
schäftigt. Eingehend wird dargelegt, wie die Reichsreform im Sinne
Bertholds von Mainz am Widerstand des Königs sowohl als der Ter-
ritorien scheitern mußte, wie weder der Partikularismus der Stände
niedergerungen noch das Königtum dauernd dem Reich untergeordnet
werden konnte. Diesem unbestreitbaren Mißerfolg gegenüber darf aber
der Versuch der Reform, die Vereinigung der Reichsstände zum Träger
des Reichs zu machen, in seiner Wirkung nicht unterschätzt werden:
,,Die Reichsreform . . . hat vielmehr eine dauernde Belebung des Reichs-
gedankens zur Folge gehabt. Das Interesse der Stände am Reich und
ihr Anteil an seiner Regierung ist gewachsen, seitdem der Reichstag
eine wirksame Verkörperung der ständischen Organisation bildete,
seitdem seine Bedeutung immer mehr zunahm und er ein gleichberech-
428 ^ Notizen und Nachrichten.
tigter Faktor neben dem König wurde. Auch der ewige Landfrie^
und das Kammergericht waren Errungenschaften, die sich das Reich
auf die Dauer nicht mehr hat entreißen lassen."
Im neuesten Hefte der „Frankfurter Zeitgemäßen Broschüren"
32, 7 (Hamm, Beer und Thiemann 1913) hat G. Seiler unter dem
Titel „Der gemeine Pfennig eine Vermögensabgabe vor 500 Jahren"
zusammengestellt was sich über die Geschichte dieser Reichssteuer,
ihre Erhebung und Verwendung wie endlich über ihren praktischen
Erfolg bei nicht allzuweit reichender Benutzung von Sammlungen
wie z. B. den Deutschen Reichstagsakten, der Neuen und vollstän-
digeren Sammlung der Reichsabschiede, von Darstellungen wie z. B,
F. V. Bezolds Werk über Sigmund und die Reichskriege gegen die
Hussiten zusammentragen ließ. Dem Verfasser ist entgangen, daß
sich wertvolle Materialien über den gemeinen Pfennig vom Jahre 1495
im Frankfurter Stadtarchiv erhalten haben (vgl. R. Jung im Korre-
spondenzblatt des Gesamtvereins 1909, Sp. 328 ff,), weiterhin welche
Vorgeschichte die Heranziehung des gesamten Klerus zur Reichsab-
gabe hat. Es fehlt nicht an Unrichtigkeiten, wie denn z. B. auf S. 263
übersehen ist, daß neben dem Heer für den täglichen Krieg — dieses
sollte durch die Leistungen der in der Matrikel von 1422 Aufgezählten
auf die Beine gebracht werden — noch ein zweites, viel stärkeres Heer
zum Entsatz der Feste Karlstein aufgeboten wurde. Die Verwertung
der neueren Literatur zur Steuergeschichte ist ebenfalls nicht aus-
reichend, zumal da der Hinweis auf das Buch von K. H. Lang aus
dem Jahre 1793 nicht vergessen läßt, daß seitdem u. a. die Arbeiten
von K. Zeumer, J. Weizsäcker und A. Wagner unsere Kenntnis der
Steuergeschichte erheblich gefördert und erweitert haben. Auch die
Leipziger Dissertation von J. Sieber über das Reichsmatrikelwesen
(1910) hätte dem Verfasser gute Dienste getan. So wird eine neue
Arbeit über den gemeinen Pfennig nicht unnötig erscheinen; vgl. dazu
Meisters Grundriß H, 6 (2. Aufl.), S. 60 Anm. L A. W.
Neue Bücher: Fritz B a e r , Studien zur Geschichte der Juden
im Königreich Aragonien während des 13. und 14. Jahrhunderts.
(Berlin, Ehering. 6 M.) — R o h d e , Der Kampf um Sizilien in den
Jahren 1291—1302. (Beriin, Rothschild. 5,50 M.) — Mittelalter-
liche Studien L Bd., l. Heft: Kern, Humana Civilitas (Staat,
Kirche und Kultur). Eine Dante-Untersuchung. (Leipzig, Koehler.
7,50 M.) — C aggese , Firenze dalla decadenza di Roma al risorgi-
mento d' Italia, II: dal prior ato di Dante alla caduta della repubblica.
(Firenze, succ. B. Seeber e F. Lumachi. 6 L.) — Statuti di Perugia
deW anno MCCCXLII. Vol. I, libri i e 2, a cura di G. Degli
Azzi. (Roma, Loescher e C. 14 L.)
I
Reformation und Gegenreformation. 429
Reformation und Gegenreformation (1500—1648).
Ohne ganz genügende Kenntnis und Ausnutzung neuerer Lite-
ratur erzählt B e u z a r t äußerst ausführlich die einzelnen Ereignisse
der Reformationsbewegung in der Gegend von Douai, Arras und dem
„Pays de l'Alleu". Die an sich dankenswerte Archivforschung hat
wesentliches Neues nicht zu bringen vermocht. Vorher berichtet Beu-
zart auf 100 Seiten über die mittelalterlichen Ketzer dieser Gegenden
und macht dabei einen etwas gar zu weit gehenden Gebrauch von
Büchern Bossuets, Bayles, Fleurys und ähnlicher Autoren. Auf die
interessanten, hauptsächlich durch Pirenne aufgeworfenen Fragen
über die Verbindung wirtschaftlicher und religiöser Bewegungen, die
ja gerade in diesen flämischen Gegenden eine so große Rolle spielt,
ist Beuzart leider nicht näher eingegangen (Paul B e u z a r t , Les fii-
risies pendant le moyen äge et la rijorme jusqü'ä la mort de Philippe II,
1598^ dans la rigion de Douai, d' Arras et au Pays de l'Alleu. Paris,
Champion, 1912. XI u. 576 S. 15 Fr.). A. Elkan.
Domenico Ghetti: Storia politico-nazionale d' Italia dalla fine
deir impero romano occidentale fino ai nostri giorni. Volume ierzo:
Etä delle preponderanze straniere deW anno 1492 al 1814. Roma, Er-
manno Loescher & Co., 1910. 670 S. — Es lohnt sich in keiner Weise
mit näheren Worten auf das Buch einzugehen, das man am besten als
ein geistloses Sammelsurium geschichtlicher Nachrichten für die Jahre
1492 — 1814 mit besonderer Berücksichtigung Italiens bezeichnen kann.
Vergebens sucht man nach irgendwelchen Gesichtspunkten, nach Be-
mühungen, die Darstellung innerlich zu verknüpfen. Die Begeben-
heiten werden in peinlichst beobachtetem chronologischem Weiter-
schreiten schematisch aufgezählt und in unerträglicher annalistischer
Dürre aneinandergereiht, wobei Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten
in Fülle unterlaufen. Jeder Staat kommt an die Reihe, wenn in seinem
Bereich etwas passiert ist, was der Erwähnung wert erscheint, und das
ist erstaunlich viel. So wirbeln die Ereignisse wie Kraut und Rüben
durcheinander: Schlachten, Herrschervermählungen, Papstwahlen,
Bündnisse, Eheskandale, Hungersnöte, Friedensschlüsse, Thron-
wechsel usw., und wenn es dem Verfasser gefällt, muß neben der italie-
nischen auch die französische und spanische Geschichte zu diesem
Frikassee „politisch-nationaler Geschichte" herhalten. Man begreift
nicht, daß ein solches Buch heute noch geschrieben, und noch weniger,
daß es in einem angesehenen Verlag gedruckt werden konnte. Aber
das schon jetzt rostbraune holzhaltige Papier, von dem in zehn Jahren
wenig mehr übrig geblieben sein dürfte, sichert dem Verlag mildernde
Umstände und läßt auf mancherlei schließen.
Leipzig. Herre.
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 28
43Q Notizen und Nachrichten.
Zwei interessante Flugschriften aus der Zeit Maximilians I.,
die Theodor L o r e n t z e n in den Neuen Heidelberger Jahrbüchern
17, 2 bespricht und druckt, stammen von dem unter dem Pseudonym
Heinz von Beschwinden gehenden Tiroler Dichter kaiserlicher Gesin-
nung und betreffen den Schweizer- oder Schwabenkrieg von 1499
(von dieser Reimchronik hatte Golther im Anzeiger f. Schweiz. Gesch.
N. F. 6 nur Bruchstücke veröffentlichen können) und den Landshuter
Erbfolgekrieg von 1504.
Während der Kämpfe Venedigs gegen die Liga von Cambrai
gelang es der Republik, den Markgrafen Francesco II. Gonzaga von
Mantua gefangen zu nehmen (1509). Mit dieser Gefangenschaft und
den ersten Versuchen zu seiner Befreiung beschäftigt sich Roberto
C e s s i im Nuovo archivio Veneto 89. — Der Aufsatz von A. L u z i o
über Isabella von Este und Julius II. 1510—1513 (vgl. H. Z. 110, 663)
wird im Archivio storico Lombardo 4. Serie, 36 (Jahrg. 39) mit zahl-
reichen urkundlichen Beilagen zu Ende geführt.
Die Studi critici per nozze Neri-Gariazzo (Turin, 3. Februar 1912),
eine der italienischen Hochzeits-Festschriften, die in anderen Ländern
bisher glücklicherweise keine Nachahmung gefunden haben, enthalten
einen Aufsatz von Carlo Pio de Magistris mit Akten über Alda
Manuzia, die Tochter des 1515 gestorbenen venezianischen Buchdruckers
und Gelehrten Aldo Manuzio, u. a. über ihre Hochzeit (1529) und ihre
Familie.
Wie neulich von Luther (vgl. H. Z. 110, 196), so entwirft Im-
bart de la Tour Jetzt auch ein Bild von Erasmus (Revue des deux
mondes vom 15. Mai 1913), dem er innerlich näher steht, und der sehr
von ihm gepriesen wird. Die fesselnde, oft faszinierende Darstellung
fordert gelegentlich gleichfalls zum Widerspruch heraus, so hinsichtlich
einer allzu schematischen Durchführung des Gegensatzes zwischen
Renaissance und Reformation; so auch, wenn Erasmus das Haupt-
verdienst daran, daß Frankreich katholisch geblieben sei, zugemessen
wird.
Im März-April-Heft des Bulletin de la soc. de Vhist. du prote-
stantisme frangais (1913) verneint John Vienot die Frage, ob es
in Frankreich schon vor Luther eine Reformation gegeben habe (Le-
f^vre gehöre auf eine Stufe mit Erasmus). P. Beuzart macht Mit-
teilungen über Simon Liebaert, der 1544 an der Berufung des Refor-
mators Pierre Brully von Straßburg nach Tournai beteiligt war, dafür
von der spanischen Regierung des Landes verwiesen und erst 1578
durch den Generalstatthalter Erzherzog Matthias zurückgerufen
wurde. M. Luthard gibt als Fortsetzung der oben S. 226 erwähnten
Aufsätze eine Geschichte des Protestantismus in Canet (Dep. H^rault)
Reformation und Gegenreformation. 431
1607 — 1873; G. Lavergne handelt über ein Inventar von 1673
aus Issigeac (D6p. Dordogne), das für die Geschichte des Protestantismus
in P^rigord wertvoll ist; J. Meyhoffer bespricht das Buch von
B e u z a r t über die Häretiker in der Gegend von Douai, Arras und
dem pays de l'Alleu (1912).
Wir freuen uns, bereits wieder einen Band der schönen Clemen-
schen Studenten-Lutherausgabe (vgl. H. Z. 110, 439) anzeigen zu
können: Luthers Werke in Auswahl, unter Mitwirkung von A. L e i t z -
mann herausgeg. von Otto Giemen, 3. Bd., Bonn, A. JVlarcus
und E. Weber, 1913, VII u. 516 S., geb. 5 M. Er umfaßt neun Schriften
der Jahre 1524 — 1528 und entspricht in Grundsätzen und Zuverlässig-
keit des Drucks den früheren Bänden. Fast drei Viertel des Umfangs
werden durch die beiden Schriften De servo arbitrio und „Vom Abend-
mahl Christi" eingenommen. Doch kann man ihre ungekürzte Auf-
nahme nur billigen, zumal der an sich naheliegende Gedanke einer
Beschneidung des Bekenntnisses vom Abendmahl leicht als apolo-
getische Absicht mißdeutet worden wäre. Auf die beiden Korrekturen,
die Luther am Schluß bringt (S. 515 f.), hätte wohl im Text an den
betreffenden Stellen verwiesen werden können. Außerdem enthält
der Band die Schrift „Von Kaufshandlung und Wucher", die drei
Schriften über die Bauern (1525), die Deutsche Messe, das Taufbüchlein
und die Schrift „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können".
Der Schlußband, für den sich auch eine einheitliche Zusammenstellung
der Siglen empfehlen dürfte, wird hoffentlich bald erscheinen. R. H.
Eine selbständige Leistung bedeutet die Lutherbiographie von
Preserved Smith (The Life and Letters of Martin Luther, XIV u.
490 S., Boston and New York, Houghton Mifflin Company, 1911, 8 sh.),
dessen Arbeit über Luthers Tischreden ihn bereits als tüchtigen Forscher
bekannt gemacht hatte. Neue Bahnen schlägt zwar das neue Werk
nicht ein, aber das Quellenmaterial ist sorgsam durchgearbeitet. Ver-
fasser läßt mit Vorliebe die Quellen selbst reden und hat die im Titel
erwähnten Letters in großer Fülle in Übersetzung in den Text einge-
schaltet. So präsentiert sich das Ganze sehr gut; gerne zieht Smith
historische Vergleiche, z. B. : // is a matter of course that St. Francis
of Assisi should save a hare from the trap, but it is almost surprising
that Luther should do the same (nämlich bei der Jagd auf der Wartburg),
und das mit feinem Humor geschriebene Kapitel über Katharina
v. Bora sagt treffend: without marked spirituality she was a Martha
busied with many things rather than a Mary, sitting in devotion of his
master's feet. Wie der umfangreiche bibliographische Anhang zeigt, ist
Smith, der längere Zeit auf der Berliner Kgl. Bibliothek arbeitete,
mit der neuesten Lutherforschung wohlbekannt, er hat sie nur nicht
28*
432 Notizen und Nachrichten.
allenthalben genügend ausgenützt, z. B. Kalkoffs Forschungen zu
Luthers römischem Prozeß oder die Untersuchungen zu den Anfängen
Lutherscher Theologie. Der Theologe Luther kommt überhaupt bei
Smith etwas zu kurz, aber im übrigen werden nicht nur englische Leser,
die, wie eine Besprechung im American Journal of theology sagte, eine
derartige Biographie Luthers in ihrer Sprache bisher nicht besaßen,
an dem Buche ihre Freude haben, sondern auch die deutsche Luther-
forschung wird Smith danken. Die beigebenen Bilder sind gut, nur
wäre für Philipp von Hessen ein besseres Porträt am Platze gewesen.
A Son of thunder calling down fire from heaven, a Titan hurling Pelion
upon Ossa against the hostile gods — das ist Smiths Motto für Luther,
und darin hat er recht. W. K.
Das schon viel behandelte Thema: Luther und die Juden hat eine
sorgfältige Neubearbeitung gefunden durch Reinhold L e w i n (Luthers
Stellung zu den Juden. Neue Studien zur Geschichte der Theologie
und Kirche, herausg. von N. Bonwetsch und R. Seeberg, Nr. 10,
XVI u. 110 S. Berlin 1911, Trowitzsch & Sohn. 4,40 M.). Das Material
wird in bisher nicht erreichter Vollständigkeit vorgeführt. Kap. 1
handelt von Luthers Stellung zu den Juden vor 1521. Was der Refor-
mator hier vorträgt, ist Bücherweisheit, die Juden werden beurteilt
nach den Prophezeiungen der Bibel, die Leute, über die er urteilt, und
die Bücher, die er kritisiert, kennt er tatsächlich gar nicht; die ganze
Judenfrage behandelt er theokratisch. Nun läßt Lewin eine Wendung
eintreten durch den Besuch zweier Juden in Luthers Herberge auf
dem Wormser Reichstage, von dem Kaspar Sturm berichtet. Lewin
macht anschaulich, daß in Judenkreisen an Luthers Auftreten messi-
anische Erwartungen sich knüpften. Luther aber seinerseits hofft jetzt
auf die Juden, redet einer freundlichen Behandlung das Wort und glaubt
an Israels Bekehrung. Literarischer Ausdruck dieser Stimmung ist
die Schrift: „daß Jesus Christus ein geborener Jude sei" (1523); mit
der Bibel in der Hand will er den Juden die Messianität Jesu erschließen.
Das Buch hat unter seinen Freunden Erfolg, nicht aber bei denen,
auf die es abzweckte, die aufsteigende Linie in Luthers Stellung zu
den Juden geht also wieder zurück, unangenehme persönliche Erfah-
rungen kommen hinzu, man spielt u. a. jüdische Kommentationen
gegen seine Bibelübersetzung aus, die Bewegung der sog. Sabbater
verstimmt ihn, so bescheidet er den Judenanwalt Josel von Rosheim
abschlägig, schreibt wider die Sabbater und schließlich seine scharfen
Schriften „von den Juden und ihren Lügen" und „vom Schem Ham-
phoras", er hat die Juden jetzt völlig preisgegeben ; vier Tage vor seinem
Tode erscheint in diesem Sinne seine „Vermahnung wider die Juden".
— Diese verschiedenen Stadien der Entwicklung waren auch früher
Reformation und Gegenreformation. 433
bekannt, fraglich ist nur, ob die Motivierung bei Lewin alientlialben
die richtige ist. Z. B. scheint mir das Wormser Erlebnis überschätzt,
und die Wandlung der Stimmung mußte in den größeren Zusammen-
hang der Stellungnahme Luthers zu Andersgläubigen überhaupt
gebracht werden; sein Verhalten gegen die Ketzer z. B. unterlag dem
gleichen Wechsel. W. K.
Die „Beiträge zur Lutherforschung", welche Otto Giemen
in der Zeitschr. f. Kirchengesch. 34, 1 veröffentlicht, enthalten: \. einen
Brief Luthers an G. Didymus in Torgau 1526 (ohne größere Bedeutung);
2. ein Schreiben von N. Hausmann 1532 über den Regierungswechsel
in Sachsen und die Vertrautheit des neuen Kurfürsten mit Luther;
3. ein Schreiben G. Brücks 1536 mit Nachrichten über die damalige
Spannung zwischen Luther und Melanchthon ; 4. ein Schreiben über
den Ungarnkrieg 1541 (von einem Verfasser, der darüber auch aa
Luther berichtet hat); 5. Luthers Fluch über Leipzig und Segen über
Halle 1546 (vgl. Theolog. Studien u. Kritiken 1899, S. 267) in neuer
Überlieferung.
Die katholische Lutherforschung schließt sich zurzeit besonders
an das Werk von H. Grisar an. G r i s a r selbst verteidigt sich im
Hist. Jahrbuch 34, 1 gegen die Schrift von Walther Köhler, Luther
und die Lüge, 1912 (Schriften des Vereins f. Reformationsgeschichte
Nr. 109/1 10), scheint mir aber in der Erörterung dieses schwierigen, mit
vorgefaßten Meinungen und fertigen ethischen Werturteilen für den
Historiker noch lange nicht erledigten Problems durchaus nicht glück-
lich zu sein. Luther hat, wenn auch mit ganz unverkennbarer Zurück-
haltung, die Ansicht vertreten, daß die Notlüge erlaubt sei, und jeder
Historiker hat die Pflicht, hier einmal zunächst in Ernst und Ruhe
zu fragen, wie Luther dazu gekommen ist, aus welchen Quellen er
schöpfte, was er aus sich selbst hinzutat, und was für Beweggründe
ihn leiteten. Daß hier Köhler die Aufgabe des Historikers tiefer und
besser erfüllt hat als Grisar, der alsbald mit dem Strick bei der Hand
ist, mehrfach über Luthers „neue Lügentheologie" und „Lügenrein-
kultur" sich ereifert und den Gegnern ziemlich unverblümt den Vor-
wurf macht, daß sie hier wider besseres Wissen bemänteln, kann keinem
Zweifel unterliegen. Die Erlaubtheit der Notlüge ist ferner eine ernste
ethische Frage. Und auch ethische Fragen löst man nicht mit ethischer
Entrüstung, da diese eine Petitio principii einschließt. Mag man sich
in der Sache nun so oder so entscheiden, so sollte doch darüber Ein-
vernehmen herrschen, daß derjenige, welcher vor seinem Gewissen
nach ernster Prüfung einmal eine Notlüge für erlaubt hält, dadurch
allein noch nicht das Recht auf den Namen einer wahrhaften und sitt-
lichen Persönlichkeit verwirkt hat. Und was uns Grisar als Beispiele
434 Notizen und Nachrichten.
häufiger, fast gewohnheitsmäßiger Lügerei Luthers auftischt, das ist
einfach lächerlich. Einen Hauptbestandteil nehmen da z. B. die zornigen
und gewiß einseitigen, häufig auch durchaus unrichtigen Ansichten
Luthers über die katholische Kirche, ihre Lehren und Einrichtungen
ein! Wer hier seine subjektive Ehrlichkeit anzweifelt, erweist sich
wirklich nicht als geeigneten Biographen des Reformators. — Gestützt
auf Grisar, behandelt der Jesuit Matthias Reichmann in den
Stimmen aus Maria-Laach 84, 5 das Thema „Luther als Kasuist".
Freilich in einer merkwürdig zwiespältigen Weise, sofern die Kasuistik
zwar sehr gerühmt, Luther aber, der gleichfalls Kasuist gewesen sei,
sehr getadelt wird. Er trieb eben eine falsche Kasuistik und gelangte
durch sie „in die flachste Niederung". Daß Luther vielfach Ratschläge
in praktischen Gewissensfällen erteilt hat, ist ja gewiß richtig. Aber
mit dieser Feststellung sind die tieferen Fragen des Einflusses der Recht-
fertigungslehre auf die Gestaltung der Ethik noch nicht beantwortet,
ja kaum berührt. Wie es mit der Kompetenz Reichmanns auf diesem
Gebiet bestellt ist, läßt sich aus der köstlichen Bemerkung erschließen,
daß die spätere protestantische Theologie durch das Fallenlassen der
Kasuistik „alle persönliche Seelsorge" aufgegeben habe. — Im Katholik
93, 3 schließlich beantwortet Martin Grabmann die Frage, ob Luther
die Frühscholastik gekannt habe, mit einem Nein, das er gegen das
Buch von Alphons Viktor Müller (Luthers theologische Quellen, 1912)
verteidigt. Die Art seiner Beweisführung läßt wohl noch einige Wünsche
offen. Aber gegen das Müllersche Buch habe ich allerdings auch schwere
Bedenken, und ich glaube nicht, daß bei Luther von einer wirklichen
Kenntnis der Frühscholastik geredet werden kann. R. H,
Gegen Köhler (vgl. H. Z. 1 10, 197) will Hermann B a r g e in den
Theolog. Studien u. Kritiken 1913, 3 daran festhalten, daß die Witten-
berger Beutelordnung nicht schon im November 1521 in Kraft gewesen
sei, sondern zeitlich zur Stadtordnung vom Januar 1522 gehöre (vgl.
H. Z. 101, 443 f.). — Ebenda bespricht Edmund Schmidt einige
Evangeliensummarien der Reformationszeit, die zu Unrecht Luther
zugeschrieben worden sind.
Mit den Diplomaten des Königs Franz I. von Frankreich will
sich V. L. B 0 u r r i 1 1 y in einer größeren Serie von Artikeln beschäf-
tigen. Er macht in der Revue historique 113, 1 den Anfang mit Antonio
Rincon, dem langjährigen Agenten des Königs in der orientalischen
Politik (1522 — 1541), und gibt hier einige Ergänzungen zu dem Buch
von J. Ursu über die orientalische Politik Franz' I., 1908. (Der bis
1528 reichende Artikel betrifft die Verhandlungen mit Ungarn und
Polen.)
Reformation und Gegenreformation. 435
In Nr. 38 des Arcliivs für Reformationsgeschichte (10. Jahrg., 2)
beginnt G. Bessert mit dem sehr dankenswerten Versuch einer
neuen Darstellung des Lebens und der Gedanken des Augustin Bader
von Augsburg und seiner Genossen, nach den Akten des Prozesses
von 1530. Bader, aus täuferischen Kreisen hervorgegangen, ist ein merk-
würdiger Vorläufer des Jan van Leyden, Er trat seit 1528 in einem
kleinen, aber über ganz Süddeutschland verbreiteten Kreis von Gleich-
gestimmten als Prophet und Gründer eines neuen Gottesreiches auf;
zum Messias und König proklamierte er ein Söhnlein, das ihm 1529
als fünftes Kind geboren wurde. — Ebenda setzt W. Köhler seinen
Aufsatz „Brentiana und andere Reformatoria" fort (vgl. H. Z. 109,
445) mit einer Reihe neuer Akten über Brenz und seinen Kreis. Wir
heben hervor: Gutachten von Brenz über die Machtbefugnisse des
Schwäbischen Bundes (1527) und die Türkengefahr (1529—1530),
sowie ein eherechtliches Gutachten von Melanchthon.
„Religion und Politik in den letzten Lebensjahren Herzog Georgs
des Bärtigen von Sachsen" schildert O. A. H e c k e r in einem
knappen, gut geschriebenen Buch (Leipzig, Quelle & Meyer, 1912,
128 S.). Der Schwerpunkt seiner Darstellung ruht aber nicht auf Georg,
obwohl diesem eine vielleicht allzu konstruierte, aber von Verständnis
für die Eigenart der Persönlichkeit zeugende und den üblichen einseitig
lutherischen Standpunkt der Beurteilung vermeidende Charakteristik
zuteil wird, sondern auf dem Wirken Georgs von Carlowitz, Auch hier
arbeitet Hecker reichlich mit Konstruktionen und Vermutungen, aber
sein Grundgedanke erscheint mir glücklich und anregend. Er unter-
sucht die Grundlagen der von Carlowitz betriebenen Vermittelungs-
politik und findet sie in der humanistischen Bildung der damaligen
Räte, in deren Beziehungen zu Erasmus, der Carlowitzens Schwager,
dem sächsichen Rat Julius Pflugk, eine Schrift über eine Vermittelung
im Kirchenstreit {de amabili ecclesiae concordiä) gewidmet hat, eine
Schrift, in welcher Mängel in der Kirche zwar zugestanden, aber eine
Reform durch die Spaltung der Kirche, eine „unordentliche Empörung",
abgelehnt werden. Ganz ähnlich war Carlowitzens Absicht; er hoffte
durch Beseitigung der offenkundigen Gebrechen in der Kirche eine
Versöhnung zwischen den Katholiken und Protestanten anbahnen zu
können. Einen Erfolg hat er mit seinen wohlgemeinten Bestrebungen
freilich nicht erzielt; beide Parteien, Herzog Georg sowohlwie Kur-
fürst Johann Friedrich und sein Kanzler Brück, haben den Gedanken'
der Vermittelung, der ihnen wie eine Verleugnung der eigenen Grund-
sätze erscheinen mochte, von sich gewiesen.
Halle (Saale). F. Hortung,
436 Notizen und Nachrichten.
Zu den Berichten über Luthers Tod ergreift Wilh. W a 1 1 h e r
in der Histor. Vierteljahrschrift 16, 2 nochmals das Wort, um gegen
Strieder (vgl. H. Z. 110, 200) daran festzuhalten, daß der Bericht des
Anonymus (in Strieders Ausgabe Nr. 11), der auch den Briefen des
Hans Georg von Mansfeld und des Andreas Münzer beigegeben ist
(ebd. Nr. 10, 12), von dem Stadtschreiber Hans Albrecht herrühre
und die originale, zuverlässige Darstellung eines Augenzeugen sei.
Eine genaue handschriftliche Untersuchung wäre sehr erwünscht.
Dr. Hans L i e b m a n n , Deutsches Land und Volk nach italieni-
schen Berichterstattern der Reformationszeit (Histor. Studien 81).
Berlin, Ehering 1910, 241 S. — Die vorliegende Abhandlung liefert
einen Beitrag zu dem großen Kapitel: „Die Deutschen im Urteil des
Auslandes". Wenn unser Volk es allezeit geliebt hat, sich in fremden
Ländern umzusehen, so ist dem von selten der letzteren nicht voll
entsprochen worden; der Deutsche hat mehr das Ausland aufgesucht
als dieses ihn. Doch hat es natürlich nie ganz an fremden Beobachtern
unseres Landes und Volkes gefehlt; im besonderen hat die Epoche
des Kaisertums Karls V. mit dem alle Verhältnisse aufrüttelnden
innern Umschwung die Aufmerksamkeit des Auslandes lebhaft auf
sich gezogen. So hat L i e b m a n n für diese Epoche eine ansehnliche
Schar von Berichterstattern allein aus Italien zusammenbringen können,
deren Zahl sich durch Zurückgreifen auf die Archive auch noch hätte
vergrößern lassen. Voran stehen die Gesandten, die offiziellen Bericht-
erstatter; aber auch an privaten Beobachtern fehlt es nicht, und Ver-
fasser urteilt, daß ihre Nachrichten im allgemeinen sowohl unbefangener
als reichhaltiger seien. — Die ersten Abschnitte behandeln die Bericht-
erstatter, die weiteren die Berichte, und zwar geschieden, je nachdem
sie sich auf das deutsche Land oder das deutsche Volk beziehen; das
„Land" wird nach den Hauptlandschaften (Süd-, Südwest-, Nordwest-
und Norddeutschland), das „Volk" nach seinen Ständen (Fürsten
und Adel, Geistliche und Gelehrte, Städte und Bürgertum, Bauern,
Soldaten, endlich „die deutsche Frau") betrachtet. Zum Schluß faßt
Liebmann die Ergebnisse zusammen: unter dem Einfluß der Renais-
sance hat sich der Wirklichkeitssinn der Italiener gehoben und geschärft,
so daß sie im allgemeinen gut beobachten und das Beobachtete richtig
wiedergeben; andererseits hat die Renaissance mit ihrem Zurückgreifen
auf die große Vorzeit die Eigenliebe der Italiener erhöht und es ihnen
dadurch erschwert, ihrer Vorurteile, vor allem den Deutschen gegenüber,
Herr zu werden; ein tieferes Verständnis der Vorgänge in Deutschland
dürfen wir daher bei ihnen nicht zu finden erwarten, am wenigsten In
bezug auf die kirchlichen Dinge. Freilich darf nicht verkannt werden,
daß in jener Epoche der Umwandlung Deutschland dem Ausländer
Reformation und Gegenreformation. 437
leicht das Bild der Unsicherheit und Zerfahrenheit darbieten konnte.
Die fleißige Abhandlung ist übersichtlich angelegt und durchgeführt;
freilich hätte der Ertrag größer sein können, wenn Verfasser in den
Berichten seiner Gewährsmänner zwischen Wichtigem und Unwich-
tigem schärfer geschieden, vor allem aber festgestellt hätte, wo und
inwieweit jene Angaben eine Bereicherung unseres Wissens von dem
damaligen Deutschland darstellen. Allerdings wären dazu eingehendere
Untersuchungen anzustellen gewesen, die wohl nicht im Plan dieser
Erstlingsarbeit lagen. Friedensburg.
Über die ersten Verhandlungen und Ereignisse, die sich an die
Erhebung Cosimos I. zum Großherzog von Toskana (1569) schlössen,
geben 14 Berichte des französischen Gesandten aus Rom vom Dezember
1569 bis Juli 1570 allerhand Aufschluß. Carlo Pio de Magistris,
der sie schon in seinen Questioni di precedenza tra Savoia e Toscana
durante il regno di Emanuele Filiberto (1912) benutzt hat, veröffentlicht
sie jetzt im Wortlaut in der Miscellanea di Studi storici in onore di
A. Manno (Torino, Opes 1912), zugleich als erwünschte Ergänzung zu
der bekannten Arbeit von V. Bibl (Archiv f. österr. Gesch. 103).
Einen Bericht über die Reise des Thomas Stukeley nach Spanien
und Portugal 1578 veröffentlicht Z. N. B r o o k e in der English hist.
Review 28, Nr. 110 aus der Vatikanischen Bibliothek. Stukeley war
von Gregor XIII. nach Irland gesandt worden, um hier die Erhebung
gegen Elisabeth zu unterstützen, ist aber nicht so weit gekommen.
Seit 1911 erscheinen die Akten der beiden Germanischen Nationen
der Universität Padua; die Akten der Legisten-Nation werden von
Biagio Brugi herausgegeben (1. Bd., 1545 — 1601), diejenigen der
Artisten-Nation von Antonio Favaro (2 Bde., 1553 — 1615). Die
Durchsicht dieser Akten hat Emilio Costa zu einem Aufsatz über
die beiden Germanischen Nationen in Padua veranlaßt (Archivio storico
Italiano 5. Serie, 50, 4). Er hebt u. a. hervor: den turbulenten Geist
der Studenten, denen die Republik Venedig das Waffentragen verbot,
die Konflikte mit dem Bischof (wegen der zahlreichen evangelischen
Deutschen) und mit der Stadt Padua (wegen Festhaltens an der Auto-
nomie), den Besuch der Vorlesungen, der viel zu wünschen übrig
ließ, u. a. m.
Die Kämpfe in den Dauphinealpen von 1588 — 1747 zwischen
Frankreich und Savoyen erfahren eine zusammenfassende Würdigung
durch D. M. V a u g h a n in der English hist. Review 28, Nr. 110. Es
handelte sich hier namentlich um Saluzzo, Pignerolo und die wichtigen
Alpenpässe, wobei es den Herzogen von Savoyen übrigens oft in erster
Linie darauf ankam, durch den Kampf gegen die Bourbonen sich die
438 Notizen und Nächrichten.
Habsburger zu verpflichten, um neue Erwerbungen in Italien zu
machen.
Aus Gutachten von Jesuiten zu Beginn der „katholischen General-
reformation" in Böhmen 1620 — 1621, d. h. zur Zeit der Gewaltpolitik
Ferdinands II. nach der Schlacht am Weißen Berge, macht Alois
K r o e ß im Histor. Jahrbuch 34, 1 einige Mitteilungen, die ihrem
Zweck, die Jesuiten von den Gewalttaten zu entlasten, freilich nicht
gerecht werden können,
Charles Bratli: Philippe II, Roi d'Espagne. Etüde sur sa
vie et son caractire. Nouvelle Edition, revue et augmentee par l'auteur.
Avec une preface du comte Baguenault de Puchesse. Ouvrage orne
de 6 gravures et un fac-simile. Paris, Honore Champion, 1912. 300 S. —
Das 1909 erschienene dänische Originalwerk habe ich im 107. Bande
(S. 633 — 635) dieser Zeitschrift angezeigt. Die vorliegende französische
Ausgabe, die (französischem Brauche entsprechend) mit einem Vor-
wort des Historikers der letzten Valois versehen ist, stellt eine nahezu
unveränderte Übersetzung des dänischen Textes dar. Die Revision
und Vermehrung beschränkt sich nahezu völlig auf den bibliographischen
Apparat, aber auch hier nichts wesentlich umgestaltend. Daß es sich
lohnen würde, das namentlich in seinen bibliographischen Teilen wert-
volle Buch in eine der großen Kultursprachen zu übersetzen, habe
ich seinerzeit ausgesprochen. Es ist zu begrüßen, daß die Ergebnisse
eines anerkennenswerten Sammeleifers nunmehr weiter zugängig ge-
inacht sind. Zumal in Spanien selbst, wo die Literatur germanischer
Sprachen fast völlig unbekannt ist, kann diese neue französische Aus-
gabe mannigfachen Nutzen bringen.
Leipzig. Herre.
Die Kämpfe im Dauphine während des ersten Hugenottenkriegs
(1562 — 1563) bilden den Hauptinhalt des Beginns einer Biographie
über den Baron Des Adrets (Fran^ois de Beaumont, 1512 — 1586)
von Pierre de Vaissiere {Rev. des questions hist. 93, Nr. 186). Des
Adrets stand damals auf Seiten der Reformierten, aber ohne innerliche
Überzeugung, so daß er sich später leicht zum Katholizismus zurückfand.
Die auswärtige Politik Richelieus in den Jahren 1629 — 1638
erfährt einige neue Beleuchtung durch einen Aufsatz von Ed. R o 1 1
über Rohan und Richelieu (Revue d'hist. diplomatique 27, 2). Es handelt
sich um die wechselnden Beziehungen des Kardinals zu Herzog Hein-
rich von Rohan, dem bekannten Hugenottenführer, namentlich um
Rohans Wirksamkeit in Venedig, der Schweiz, dem Veltlin und im Drei-
ßigjährigen Krieg. — Desselben Verfassers Untersuchung über die von
Richelieu im Verein mit Viktor Amadeus I. von Savoyen geplante Unter-
werfung von Genf 1631—1632 (vgl. oben S. 227 f.) wird in der Revue
I
1648—1789. 439
historique 113, 1 zu Ende geführt. Die Stadt ist nicht zum wenigsten
durch Gustav Adolfs Landung in Deutschland gerettet worden.
Nach dem französischen Thronwechsel von 1643 machte sich
das Bedürfnis geltend, die bestehenden englisch-französischen Friedens-
verträge zu erneuern. Das geschah 1644 zu Ruel durch Abschluß
eines eidlichen Bündnisses zwischen Karl 1., Ludwig XIV. und der
Regentin Anna. Der bisher unbekannte Vertrag wird von Dorothy
A. B i g b y in der English hist. Review 28, Nr. 110 gedruckt.
Zur Frage der Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges auf den
Volkswohlstand ist eine kleine, aber sorgfältige und zwischen den
Extremen, wie mir scheint, die richtige Mitte haltende Untersuchung
von Naumann, Die Pfortaschen Amtsdörfer und der Dreißigjährige
Krieg (Naumburg a. S. 1912, 39 S., Sonderabdruck aus dem Naum-
burger Tageblatt) zu beachten. Auch Naumann hält sich von Über-
treibungen fern, stellt aber bei den 17 einst dem Kloster Pforta ge-
hörigen Dörfern doch sehr große Schädigungen an Menschen und
Gut fest. R. H.
Neue Bücher : R o 1 o f f , Geschichte der europäischen Koloni-
sation seit der Entdeckung Amerikas. (Heilbronn, Salzer. 3 M.) —
Vadianische Briefsammlung, VII. Ergänzungsband. (Nachträge aus
den Jahren 1513—1550.) (St. Gallen, Fehr. 16 M.) — Pocquet,
Histoire de Bretagne. La Bretagne province. T. 5 (151 5 — 1715)- (Ren-
nes, Plihon et Hommay.) — K a 1 k 0 f f , Die Entstehung des Wormser
Edikts. (Leipzig, Heinsius Nachf. 7,50 M.) — Aug. Lang, Zwingli
und Calvin. (Bielefeld, Velhagen & Klasing. 4 M.) — v. Pastor,
Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters. 6. Bd. (1550
bis 1559). (Freiburg i. B., Herder. 11 M.) — Codex diplomaticus ord.
E. S. Augustini Papiae, cura Rod. M a i 0 c ch i et Naz. C as a c c a.
Vol. IV (1367 — 1620). (Papiae, ex off. typ. Rossetti.) — Karl Hahn,
Die kirchlichen Reformbestrebungen des Straßburger Bischofs Jo-
hann von Manderscheid (1569—1592). (Straßburg, Trübner. 6,50 M.)
— Fouqueray, Histoire de la compagnie de Jisus en France, des
origines ä la suppression. T. 2 (1575 — 1604). (Paris, Picard et fils.)
— Denis, Le cardinal Richelieu et la riforme des monastires bini-
dictins. (Paris, Champion.)
1648—1789.
In seinem Aufsatz über ,,Die politischen Testamente der Hohen-
zollern" gibt F. Härtung eine zusammenfassende Behandlung des
Gegenstandes, indem er die bekannten Testamente des großen Kur-
fürsten, Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen als Ganzes
440 Notizen und Nachrichten.
zu nehmen versucht. Er findet in jedem eine besondere Stufe der
Staatsentwici<lung repräsentiert und meint, die Epochen der absoluten
Monarchie in ihnen wiederfinden zu i<önnen. Unter dem großen Kur-
fürsten ist es die Verschmelzung der einzelnen Territorien zum Ein-
heitsstaat, unter Friedrich Wilhelm I. das Durchdringen eines grund-
sätzlichen Absolutismus, den der Verfasser mit dem Königtum Lud-
wigs XIV. vergleicht, unter Friedrich dem Großen die Anerkennung
des Staatsinteresses, das König und Volk gleichmäßig umfaßt, also
der auf geklärte. Despotismus, aber auch (mit dem zweiten Testament
von 1768) das letzte Stadium der alten Staatsanschauung mit seiner
Geringschätzung der moralischen Kräfte des Volkes (Forsch, z. brand.
u. preuß. Gesch. 25, 2). W. Michael.
R. S t ö 1 z 1 e gibt Mitteilungen aus einer Schrift über Schul-
reform im Anfang des 18. Jahrhunderts. Ihre Bedeutung liegt be-
sonders in dem Einblick, den sie in den Schulbetrieb dieser Zeit ge-
währt (Ein Arzt als Schulreformer vor 200 Jahren. Zeitschr. f. Gesch.
der Erziehung und des Unterrichts, 2. Jahrg. 2. Heft. 1912).
Julius Langhäuser, Das Militärkirchenwesen
im kurbrandenburgischen und königlich preußi-
schen Heere, Seine Entwickelung und derzeitige Gestalt. Straß-
burger Diss. P. Müller, Metz, 1912. XVI u. 271 S. — Langhäuser
schildert klar und eingehend, aber viel mehr vom kirchenrechtlichen
als vom historischen Standpunkt aus die Entwicklung der evangelischen
Militärseelsorge seit den Tagen des Großen Kurfürsten und der katho-
lischen seit Friedrich Wilhelm I. bis zur Gegenwart. Für den Historiker
dürfte der zweite Teil ungleich lehrreicher sein, weil er zeigt, wie es
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus dem preußischen
Staat bitter schwer geworden ist, den Katholiken auf diesem Gebiete
auch nur halbwegs Gleichberechtigung zu gewähren. Ziekursch.
Nach meist ungedruckten Briefen des Kronprinzen Friedrich
an seinen Vater, seine Geschwister u. a. stellt Hans Droysen in
den Forsch, z. brand. u. preuß. Gesch. 25, 2 (1913) einen Tageskalender
Friedrichs vom 26. Februar 1732 bis zur Thronbesteigung am 31. Mai
1740 zusammen.
Im selben Heft gibt G. R o 1 o f f eine Darstellung der Reichs-
politik Friedrichs des Großen zwischen dem ersten und zweiten schlesi-
schen Kriege, wobei es sich insbesondere um eine Erklärung des be-
rühmten Assoziationsprojekts von 1743 handelt. W. M.
Die Frage nach den französisch-bayerischen Vereinbarungen von
1741 hat eine neue Bearbeitung gefunden in der Königsberger Disser-
tation von G. A. Schröter, Der Nymphenburger Vertrag (Ber-
lin 1911). Der Verfasser schließt sich dem von mir (H. Z. 103, S. 302 ff.)
1648—1789. 441
gebrachten Nachweis an, daß die französisch-bayerischen Verein-
barungen doch schon auf die Zeit der Anwesenheit Belleisles in Nym-
phenburg (18. Mai bis 8. Juni) zurückgehen, und daß zum mindesten
der für Bayern wichtigste Punkt, die Erlangung bedeutend erhöhter
Subsidien, schon damals geregelt worden war. Den bekannten Ver-
tragstext sucht der Verfasser als die Fälschung eines Mannes zu er-
weisen, der sich Einblick in die Korrespondenzen französischer Diplo-
maten zu verschaffen in der Lage war; eine dankenswerte Zusammen-
stellungen der Punkte, in denen der Vertragstext mit wirklich statt-
gehabten Erörterungen, die aktenmäßig zu belegen sind, mehr oder
minder übereinstimmt, enthält viel Brauchbares. Über die Person
des „Fälschers" will Verfasser „Gewißheit" erlangt haben durch Ver-
wertung dreier Briefe Lord Hyndfords, wonach dieser am 23. August
eine Abschrift des Vertragstextes von einem Angestellten aus Va-
lorys Kanzlei erhalten hat, in welchem diplomatischen Spion wir den
„Fälscher" des Vertrages erkennen müßten. Beide, in ähnlicher, wenn
auch nicht in gleich ausführlicher Weise schon früher aufgetretenen
Hypothesen, können jedoch auch jetzt nur mit vielen Bedenken in
Erwägung gezogen werden. Ist einmal die genannte Identifikation
auch nicht als unmöglich von der Hand zu weisen, so sind wir von
einer wirklichen Gewißheit gleichwohl noch weit entfernt; fehlt
doch vor allem der Nachweis, daß die Veröffentlichung des Vertrags-
textes von London aus oder von Hyndford oder etwa von dem ,, Fäl-
scher" selbst erfolgt sei, und sind doch noch Möglichkeiten gegeben,
daß die Fabrizierung des Textes in anderer Weise und an anderen
Orten zustandegekommen sei, und daß der über mancherlei Bezie-
hungen verfügende Spion sein Exemplar selbst von anderer Seite er-
halten habe. Mehrere Angaben in dem Vertragstexte widerstreben
der versuchten Identifikation. Den von Schröter (S. 108) aufgeführten
Daten, die der Fälscher den Papieren Valorys entnommen haben soll,
könnte man eine Anzahl anderer gegenüberstellen, bei denen dies
kaum der Fall gewesen sein kann. Ferner wußte nach dem Schrei-
ben Harringtons vom 30. August (S. 111 A. 3) der Spion sicher nichts
von dem Abschluß einer französisch-preußischen Allianz, während auf
S. 47 seine Kenntnis auch der Ratifikationsdaten zur Beseitigung
eines Bedenkens herhalten muß. Die Papiere Valorys enthielten ganz
andere Subsidienziffern als in dem Vertragstexte erscheinen (die Er-
klärung auf S. 53 muß hier auf einmal Flüchtigkeit des Fälschers an-
nehmen). Von den Eroberungsabsichten Frankreichs in Deutschland
steht in dem bekanntgewordenen Briefwechsel Belleisles mit
Valory kein Wort; es geht nicht an, mit der durch nichts gestützten
Behauptung zu operieren, die entscheidende Nachricht müsse in uns
nicht bekannten Briefen Belleisles gestanden haben (S. 80). Daß
442 Notizen und Nachrichten.
das Schreiben Belleisles an Amelot vom 11. Juni auch ins Berliner
Gesandtschaftsarchiv gelangte (S. 53 f.), ist eine ebenso zu charakteri-
sierende Vermutung. Auch ist nicht ohne weiteres klar, weshalb der
Spion nun auch seinen neuen Auftraggeber mit einer mühsamen Er-
dichtung düpiert haben sollte; hätte ja doch die Mitteilung aller Korre-
spondenzen, in die er (der Hypothese zufolge) Einblick gehabt haben
muß, für den englischen Gesandten einen keineswegs geringeren Wert
gehabt. In jedem Falle bleibt die wichtigste Frage noch unerledigt,
was der Fälscher aus eigener Erfindung hinzugetan haben mag, und
aus welchen Quellen insbesondere die für Karl Albert am meisten
belastenden Bestimmungen, nämlich die des 3. Separat-Artikels,
in das „Machwerk" hineingekommen sein werden. In diesem Punkte
sind wir aber durch die vorliegende Studie nicht viel weiter geführt
worden. Ohne eingehende Nachforschungen in London und Paris
ist dies auch nicht zu erwarten. — Der Nachweis, daß es im letzten
Absatz des Vertragstextes in der ältesten bekannt gewordenen Ver-
sion Rois et Princes geheißen hat, beseitigt endgültig einen alten, schon
von Ranke zurückgewiesenen Einwand. — Daß in Nymphenburg nur
Pourparlers gehalten worden seien (S. 57, 90, 91) widerspricht dem
von den bayerischen Staatsmännern später gebrauchten Ausdruck le
traiti de Nymphenbourg ; Schröter scheint jedoch seine irrtümliche
Auffassung im Fortgange seiner Arbeit selbst berichtigt zu haben
(vgl. S. 100). — Daß Frankreich schon 1741 als kriegführende Macht
im völkerrechtlichen Sinne in den Krieg eingetreten sei, ist falsch
(vgl. meine Ausführungen in der Festgabe f. H. Grauert, Freiburg
1910). — Die S. 35 genannte Subsidie von 1 Mill. Lire ist identisch
mit der S. 30 erwähnten. — Im Jahre 1741 brauchte man nicht zu
den Eingeweihten zu gehören, um über Bayerns mißliche finanzielle
Lage unterrichtet zu sein (S. 54). — Auch in einer Erstlingsarbeit
sollte ein peinlich genauer Nachweis der (sich stellenweise bis auf den
Wortlaut erstreckenden) Abhängigkeit des Verfassers von seinen Vor-
gängern nicht vermißt werden dürfen. v. Karg-Bebenburg.
Die Abhandlung von Th. v. Karg-Bebenburg über Karl VII.
und die Konvention von Nieder-Schönfeld versucht die Haltung des
Kaisers in den kritischen Wochen, die dem Abschluß der Kapitulation
vorangingen, verständlich zu machen (Aus der Festgabe für Herm.
Grauert. Freiburg, Herder. 1910).
Der Aufsatz von Baron S. A. K o r f f über die Geschichte des
russischen Senats (Zeitschr. für osteurop. Gesch. 3, 3) gibt eine aus-
führliche Würdigung der amtlichen „Geschichte des dirigierenden
Senats", die 1911 zur Zweihundertjahrfeier dieser Behörde veröffent-
licht wurde. Das in fünf Bänden erschienene Werk, meint Korff,
I
1648—1789. 443
stelle eine bedeutende Bereicherung der russischen historischen Literatur
dar, leide aber an einer gewissen Buntscheckigkeit, die durch die große
Zahl der Mitarbeiter und die Verschiedenheit ihrer Ansichten und
Arbeitsmethoden bedingt sei.
H. W. V. T e m p e r I e y veröffentlicht eine wertvolle Studie
über die Entwicklung des Privy Council und des Kabinetts in England
bis zum Jahre 1783. Er will zeigen, wie das Kabinett an die Stelle
des Privy Council getreten ist. In bezug auf die fernere Geschichte
des Kabinetts bis 1783 macht er dann, etwas zu schematisch, einen
strengen Unterschied zwischen dem äußeren und dem inneren Kabinett.
Er geht dabei von der Beobachtung aus, daß schon unter den beiden
ersten Georgen gewöhnlich nur eine kleinere Zahl der Kabinettsmit-
glieder an den Sitzungen teilnimmt. Aber diese engeren Zirkel sind,
wie ich an anderer Stelle ausführlicher darzulegen beabsichtige, noch
in Walpoles Zeit nicht abgeschlossen, und die Bildung kleinerer regie-
render Gruppen, in denen über die Politik des Landes entschieden
wird, fällt auch nicht immer mit dem hier beschriebenen inneren
Kabinett zusammen. So scheint mir denn auch die Anschauung,
daß der König immer in der Lage gewesen sei, von dem inneren an
das äußere Kabinett zu appellieren und diese Praxis auch gelegent-
lich befolgt habe, wenigstens für Walpoles Zeit noch nicht den Tat-
sachen zu entsprechen (Inner and Outer Cabinet and Privy Council,
1679—1783. Engl. hist. Review, Oct. 1912. Dazu vergleiche ferner: H.
W. V. Temperley, Documents illustrative of tfie Powers of the Privy
Council in the Seventeenth Century, ibid. Jan. 1913). W. Michael.
William S. Mc. C I e 1 1 a n , Smuggling in the American Colonies
at the outbreak of the Revolution with special reference to the West Indies
trade. New York, Moffat.Yard & Co., 1912, XX und 105 S. 1 Dollar.
— Die Abhandlung, eine Preisarbeit von Williams College, sucht unter
sorgfältiger Benutzung der Literatur zu zeigen, daß diejenigen Ge-
setze Englands, die den Import europäischer Produkte betrafen, von
der Bevölkerung der amerikanischen Kolonien nur in geringem Um-
fang verletzt wurden, und daß auch ohne einschränkende Gesetze
die Kolonisten den überwiegenden Teil ihres industriellen Bedarfs
von England bezogen hätten. Dagegen wurde die Melasseakte von
1733, die den für Neuengland absolut notwendigen Handel mit den
französischen Zuckerinseln unterbinden sollte, fortdauernd umgangen,
und der in der Zuckerakte von 1764 unternommene Versuch, aus dem
westindischen Handel der Kolonien Einnahmen zu erzielen und zu-
gleich die Befolgung des Gesetzes zu erzwingen, trug dazu bei, unter
den Amerikanern jene Stimmung vorzubereiten, die schließlich im
Verein mit vielen anderen Ursachen zur Revolution und zur Unab-
hängigkeit der Kolonien geführt hat. P. D.
444 Notizen und Nachrichten.
In geistvoller und fördernder Weise referiert Paul S a k m a n n
im „Archiv f. d. Studium der neueren Sprachen", April 1913, über
„Das Rousseauproblem und seine neuesten Lösungen". Besprochen
werden namentlich die Aufsätze des Sammelheftes der Revue de meta-
physique et de morale vom Mai 1912 (von Boutroux, Hoff ding usw.)
und die Schriften von Görland, Champion, Wasmuth und Bouvier.
In Bouviers Buche über Rousseau (Genf 1912) sieht Sakmann ein
klassisches Meisterwerk. Sakmann, der selbst kürzlich ein Buch über
Rousseau (als 5. Band der „Großen Erzieher", Berlin, Reuther & Reich-
hard) veröffentlicht hat, ist der Ansicht, daß das crtoyen- Ideal des
Contrat social etwas mehr Anempfundenes darstelle, während der
mystisch-pantheistische Naturglaube den tiefsten Punkt in Rousseaus
Seele darstelle. Man sieht aus seinem Referate, wie sehr sich wohl
die Rousseauforschung schon verfeinert, aber mit wie schwierigen
Problemen sie fortgesetzt zu kämpfen hat.
Neue Bücher: F ab i us , Het leven van Willem III (1650 — 1702).
(Alkmaar, Gebr. Kluitman. 2,40 Fl.) — Lettres du ducde B 0 ur go gn e
au roi d'Espagne Philippe V et d la reine, publikes par A. Baudrillart
et L. Lecestre. T. j*»" (1701 — iyo8). (Paris, Laurens.) — Levati,
I dogi di Genova dal 1721 al 1746 e vita genovese negli stessi anni. (Genova,
Tip. della Gioventii.) — österreichische Staatsverträge. England
Bearbeitet von Alfr. Francis P r i b r a m. 2. Bd.: 1749 bis Oktober
1813 (nebst einem Anhang bis April 1847). (Wien, Holzhausen. 30 M.)
— V. Janson, Hans Karl v. Winterfeldt, des Großen Königs General-
stabschef. (Beriin, Stilke. 9 M.) — Die K r i e g e Friedrichs des Großen.
III. Teil: Der Siebenjährige Krieg. 12. Bd.: Landeshut und Liegnitz.
(Beriin, Mittler & Sohn. 13,50 M.)
Neuere Geschichte seit 1789.
Im Februarheft 1913 der Rivolution Franqaise findet sich ein
besonnener Artikel A u 1 a r d s über la fiodaliti sous Louis XVI. Er
kommt zu dem doppelten Ergebnis: 1. daß in mancher Hinsicht nach-
weislich die Last der „fiodaliti" unter Ludwig XVI. leichter wurde,
2. daß es trotz Sagnac u. a. n i c h t zu beweisen sei, daß sie in anderer
Hinsicht drückender geworden sei. B a r r e y bespricht, auf Grund
nicht eben ertragreicher Briefe eines Bürgers von Havre, les ilections
ä la Convention dans la Seine- Infir teure. L 0 u b e t beginnt eine
Abhandlung über le Gouvernement Toulousain du duc d'Angouleme
apris les cent jours, die er im Aprilheft beendigt. U. a. widerlegt er die
Legende, wonach die Ultraroyalisten damals daran gedacht haben
sollten, den Süden von Frankreich loszureißen. — Im Märzheft schildert
D e s t r a y , leider allzu knapp, un village de mainmortables bourgui-
Neuere Geschichte. 445
gnons au i8* siicle (erstes Viertel). A u I a r d sucht die Bedeutung
der „Nacht des 4. August" abzuschwächen („coup de thiätre'\ „con-
tagion sentimentale"). — Im Aprilheft zeigt E, Champion in einem
„provinces et dipartements" überschriebenen Artikel abermals, daß
die Departements nicht ohne alle Rücksicht auf die natürliche Zusam-
mengehörigkeit der Gebiete gebildet wurden. Simon I s t r i a erzählt
la vie de Philibert Buchot — eine der üblichen Apologien eines Blut-
menschen. L a b r 0 u e steuert einen instruktiven Aufsatz über les
origines mesmiriennes du club jacobin de Berger ac bei, in dem er zeigt,
daß über zwei Drittel der Mitglieder einer mesmerianischen Gesellschaft
in den Jakobinerklub eintraten. — Im Maiheft schildert Douarche
la grand' peur ä Bourgoin en lySg. Es zeigten sich hier dieselben Er-
scheinungen wie anderswo; so fanden sich z. B. auch hier bei den
Bauern gedruckte Zettel mit den Worten: le rot ordonne de brüler tous
les chäteaux. Der umfangreiche Artikel von D u b r e u i 1 über le Roux
de Cheff du Bois et Taupin ist eine ausführliche Besprechung von Le-
nötre, Bleus, Blancs et Rouges.
Edwin S c h e i b e r , Die Septembermorde und Danton. Leipzig
1912, 80 S. (Leipziger Histor. Abhandlungen, hersg. v. Brandenburg,
Seeliger, Wilcken. Heft 27.) — Diese in hohem Grade beachtenswerte
Anfängerarbeit untersucht L die Politik der jungen Pariser Kom-
mune vom 18. August 1792 bis zu den Septembermorden, Sie weist
überzeugend nach, daß die Stadtregierung kalten Bluts die Greuel-
taten organisiert hat, um die Legislative zu überbieten und die Bevöl-
kerung von Paris für sich zu gewinnen. Es handelt sich also nicht um
einen spontanen Racheakt der Pariser Bevölkerung. Aulards An-
sichten werden siegreich widerlegt. Bei der Verfolgung der Taktik
der Kommune zeigt der Verfasser eine Fähigkeit, ungeblendet durch
alle Phrasen, die wahren grausigen Zwecke zu erkennen, welche einem
Machiavell Ehre gemacht hätte. Daß dabei auch viel Motiven kon-
struktion mit unterlaufen muß, ist selbstverständlich; aber diese
Konstruktionen haben die größte innere Wahrscheinlichkeit für sich.
Die Auffassung Robespierres als großen Taktikers wird S. 27 und 41 in
erfreulicher Weise bestätigt. — 2, Weniger überzeugend sind die Re-
sultate der Untersuchungen des Verfassers über Dantons Verhältnis
zu den Septembermorden: Danton hat von dem geplanten Massen-
mord vorher nichts gewußt; seine Politik erklärt sich daraus, daß er
sich über den Parteien halten wollte; er hat später behauptet, die
Septembermorde gefördert, ja geleitet zu haben, nur um sich neben
der Kommune in der Gunst der öffentlichen Meinung festzusetzen.
Neben dieser Konstruktion sind, wie man ohne weiteres einsieht,
auch noch andere berechtigt. — Auch diese tüchtige Arbeit ist nicht
^anz frei von den Mängeln, welche Dissertationen anzuhaften pflegen.
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 29
446 Notizen und Nachrichten.
Die Schreibweise, die im ganzen zu loben ist, wird gelegentlich dunkel,
ja unverständlich. In der Bibliographie und in den Zitaten ist die er-
wünschte Korrektheit keineswegs erzielt. Die Einleitung, die im
Gegensatz zu den übrigen Kapiteln, nicht aus den Quellen gearbeitet
ist, enthält manchen schiefen oder längst widerlegten Satz, so z. B.
den, daß Ludwig XVI. bei seiner Flucht „den stolzen Bau der absoluten
Monarchie mit Hilfe der befreundeten europäischen Souveräne wieder
aufrichten" wollte. Im ganzen aber ist die Arbeit wieder einmal ein
erfreulicher Beleg für die Tatsache, daß der deutsche Historiker der
Revolution, so sehr er bei der Quellen- und Literaturbenutzung gegen-
über dem französischen Fachgenossen benachteiligt ist, allein schon
vermöge seiner Unbefangenheit über jenen hinauszukommen vermag.
Die französische Kritik wird nun freilich, sofern sie es nicht vorzieht,
das Werkchen totzuschweigen, dem Verfasser Unvollständigkeit der
Literaturbenutzung vorwerfen. Er wird sich damit trösten können,
daß er die wichtigste Literatur in der Tat herangezogen hat und daß
jeder Einsichtige sich heute darüber klar ist, daß die „Vollständigkeit
der Literaturbenutzung" auf dem Gebiet der neueren Geschichte,
und nun gar dem der Revolutionsgeschichte, zum fast völligen Auf-
hören der Produktion führen müßte. Wahl.
Im Märzheft der Feuilles d'histoire veröffentlicht C h u q u e t
einige Analekten zur Geschichte des Revolutionskrieges von 1794,
V 0 V a r d Mitteilungen über die Auszeichnungen nach der Weg-
nahme des englischen Kriegsschiffes „Swiftsure" (1801) und die spä-
teren Schicksale der Ausgezeichneten. W e 1 v e r t ergänzt die Ver-
öffentlichung der Polizeiberichte über Elba durch eine Denkschrift
Beugnots vom Oktober 1815 über die Bewachung Elbas, worin er sich
— als damaliger Marineminister — gegen die ihm wegen der Ent-
weichung Napoleons gemachten Vorwürfe verteidigt. Die Briefe des
Obersten Langlois über die Belagerung Sebastopols (16. Dezember
1855 bis 15. Januar 1856, vgl. auch H. Z. 111, 234) wenden sich scharf
gegen den Prinzen Napoleon wie gegen Saint-Arnaud und Canrobert
und rühmen Pelissier und Bourbaki. Im Aprilheft veröffentlicht B i o -
V e s unter dem Titel „Paris en i8oo" das Schreiben eines Engländers
Edwards an Lord Grenville, worin der blühende Zustand Frankreichs,
die Sehnsucht der Bevölkerung nach Frieden, die Begeisterung für
Napoleon, das Erlöschen der revolutionären Erinnerungen usw. ge-
schildert werden. Im Anschluß an Beugnots Polizeiberichte wird noch
ein Schreiben des Kommandanten der französischen Fregatte „La
Fleur-de-Lys", Chevalier de Garat, vom I.März 1815 publiziert,
der nach Mitteilungen von Campbell über die Entweichung Napoleons
von Elba berichtet. Die weiteren Briefe des Obersten Langlois
(15. Januar bis 7. März 1856) erzählen arge Erpressungen des Mar-^
Neuere Geschichte. 447
Schalls St.-Arnaud und seiner Frau gegen den Sultan. General P a 1 a t
(Lehautcourt) kritisiert überlegen das neue (1912) Werk Duquets
über die Tage vom 7. bis 30. August 1870 und dessen Verteidigung
der strategischen Entwürfe Palikaos. W e 1 v e r t gibt einen Nekrolog
E. Dejeans, des am 20. Januar d. J. verstorbenen Direktors des Na-
tionalarchivs in Paris.
Auf ungedruckten Briefen beruht die Arbeit von G. du B o s c q
de Beaumont und M. B e r n o s über „Die Herzogin von Orleans
und Mm. de Genlis" {Rev. des Deux Mondes, 1. u. 15. April 1913).
Es geht aus ihnen zur Evidenz hervor, daß die Genlis in der Tat die
Geliebte des Herzogs war. Die Herzogin erscheint sehr sympathisch
und groß denkend.
Die Fortsetzung der Briefe Azaras ist recht interessant {Revue
des Quest. hist. 1913, 2: „De Bäle ä Tolentino"; vgl. H. Z. 111, 234).
Azara kritisiert scharf die päpstliche und die neapolitanische Politik.
Er erörtert die Beseitigung der weltlichen Macht des Papstes und
empfiehlt seinem Minister, die damalige Krisis zur Abschüttelung des
päpstlichen Joches zu benutzen. Über Napoleon Bonaparte urteilt
er (17. Oktober 1796): „// n'y a pas eu de giniral qui ait abusi de la
victoire que ce Bonaparte... S'il lui survient le moindre ichec, les pierres
elles-memes se dresseraient contre lui."
E. Angot erörtert (Revue des Quest. hist. 1913, 2) die persön-
lichen Beziehungen zwischen Talleyrand und Hauterive und veröffent-
licht Proben aus ihrem Briefwechsel. Beachtenswert ist ein Schreiben
Talleyrands vom 13. Dezember 1806, der sich gegen die ausschwei-
fenden territorialen Umgestaltungspläne Hauterives wendet („L'Em-
pereur ne veut ni ne doit etre exciti par nous ä un Systeme de grandeur
indijinie, dont je regarde comme un de mes premiers devoirs envers lui
de chercher ä mar quer les limites"). Andere der hier abgedruckten
Briefe finden sich schon bei Bailleu, Preußen und Frankreich II,
S. 602 ff.
E. Gabor y (Revue de Paris, 15. April 1913) schildert den
Aufenthalt Napoleons in der Vendee und in Nantes im August 1808.
Selbst die Geistlichkeit der Vendee wußte damals noch nichts von der
schon im Februar erfolgten Besetzung Roms durch die Franzosen,
so daß Napoleon als Wiederhersteller des religiösen Friedens freund-
lich empfangen wurde.
Ch. Schmidt schildert nach archivalischen Quellen Gent als
Hauptstadt des Scheidedepartements unter französischer Herrschaft,
das Aufblühen der Spinnereien und Webereien, die Wirksamkeit des
Präfekten Faypoult de Maisoncelle usf. (Revue de Paris, 1. Mai).
29*
448 Notizen und Nachrichten.
„Eines deutschen Hauslehrers Pilgerschaft durch Land und
Leben (1792—1818)" von Ch. C. L. Klee haben O. M. v. S tack hei -
b e r g und Fr. S t i 11 m a c h neu herausgegeben. (Reval 1913.) —
Die Erinnerungen sind für den Historiker durch eine lebendige Schil-
derung des Brandes von Moskau 1812 recht interessant. Der damalige
Rektor der lutherischen Gemeindeschule Klee flieht erst beim Ausbruch
des Brandes aus der Stadt, kehrt aber gleich zurück und hat dann
mit seiner großen Familie bis zum Abzüge der Franzosen die ärgsten
Mühsale zu erdulden. An Lebensmitteln fehlt es den Franzosen trotz
des Brandes nicht, da sie an bedürftige Einwohner viel abgeben können,
dafür haben diese sehr unter den plündernden Rheinbündlern und —
Russen selbst zu leiden, während die Franzosen bessere Mannszucht
wahren. Die Darstellung ist lebendig und durch viele Details belebt,
erweckt auch durchaus den Eindruck der Objektivität und Zuver-
lässigkeit. Pantenius.
R e m u z a t behandelt (La Revue, 15. April 1913) nach gedruckten
schwedischen und einigen ungedruckten französischen Quellen die
gesellschaftliche Rolle der Frau v. Stael in Stockholm 1812 und ihre
damaligen Beziehungen zu Kronprinz Charles- Jean (Bernadotte).
G. Stenger skizziert höchst wohlwollend das Leben und
Wirken des Herzogs von Persigny, hauptsächlich im Anschluß an
dessen Memoiren (Revue nouvelle, 15. März und 1. April 1913).
Aus den Preußischen Jahrb., April 1913, notieren wir einen
Aufsatz von H. Scholz über „Fichte und Napoleon", der indessen
auf die Entwicklung der Gedanken Fichtes über Napoleon nicht eingeht.
Aus der Zeitschr. für osteurop. Gesch. 3, 3 notieren wir: B o -
r 0 z d i n , Jubiläumsliteratur über d. J. 1812, und v. W r a n g e 1 1 ,
Jubiläumsliteratur über den Feldzug in Kurland 1812.
Aus dem Militärwochenblatt 1912, Beiheft 11/12 ist ein Vortrag
von Hoeniger zu notieren : „Die politische Lage Europas vor Be-
ginn der Befreiungskriege", dessen Mittelpunkt zwei Archivfunde
bilden: 1. eine von dem Danziger Residenten in Paris herrührende
Wiedergabe der Rede, die Napoleon am 24, März 1811 der Deputation
der Pariser Handels- und Gewerbekammer hielt (über den Kampf
gegen England) und 2. eine aus dem Grunerschen Nachlaß stammende
recht interessante Denkschrift über die Stellung der Kontinentalstaaten
im September 1811.
Dem Kunstwart 26, 15 hat Fr. M e i n e c k e eine knappe Studie
über „Stein und die Erhebung von 1813" ^liefert.
G. D i c k h u t h setzt seine von uns (vgl. H. Z. 111, 237) schon
erwähnte Arbeit über 1813 im April-, Mai- und Juniheft 1913 der
Deutschen Rundschau fort, um sie im Juliheft zu beendigen.
Neuere Geschichte. 449
Gedankenreich, wie immer, sind die zwei Studien des Gen.-
Feldm. v. d. Goltz über „1813. Die Generalprobe von Großgörschen
am 2. Mai 1813" und „Bautzen, die Schlacht der Enttäuschungen
am 20. und 21. Mai 1813" (Deutsche Revue, Mai- und Juniheft 1913).
Die Leistungen der „schlesischen Landwehr im Befreiungskriege"
behandelt ein Vortrag von Manfred L a u b e r t (Breslau, Nischkowsky,
20 S.). Das Thema könnte wohl noch eindringender untersucht werden,
als es hier auf Grund der gedruckten Literatur geschehen ist, doch
dürfte das im ganzen günstige und die Schattenseiten dabei nicht über-
gehende Gesamturteil des Verfassers wohl recht behalten. Bei den
Bemerkungen über das Gefecht von Hagelberg S. 12 vermißt man
Stellungnahme zu Wiehrs Untersuchung. Af.
Th. Bitterauf zeigt in einer ausführlichen Arbeit, daß in
Altbayem die nationale und franzosenfeindliche Richtung der öffent-
lichen Meinung, abgesehen vom Adel und Klerus, vor dem Vertrag
von Ried recht schwach vertreten war. Das stimmt durchaus zu un-
seren bisherigen Vorstellungen. Anders lag die Sache in den neu er-
worbenen, vornehmlich den früher preußischen Landesteilen. (Zur Ge-
schichte der öffentlichen Meinung im Königreich Bayern im Jahre 1813
bis zum Abschluß des Vertrages von Ried, Arch. f. Kulturgesch. 11,1.)
Der Redaktion sind wieder drei Festreden zur Erinnerung an
1813 zugegangen. Sehr anschaulich und reich an charakteristischen
Einzelheiten ist die Fr. L u c k w a 1 d t s. Der Geist von 1813. Fest-
rede zum 10. März 1913, gehalten an der Kgl. Technischen Hochschule
in Danzig, Danzig 1913, 25 S. Die zwei übrigen behandeln in fördernder
Weise die Erhebung in einzelnen deutschen Landschaften: Hermann
Bloch, Mecklenburg zu Beginn der Freiheitskriege. Rede gehalten
in der Aula der Universität am 28. Februar 1913 bei der akademischen
Feier zur Erinnerung an die Befreiungskriege, Rostock 1913, 36 S.
Hermann Klaje, Bilder aus Pommern. Ein Beitrag zur Geschichte
d. J. 1813. Rede zur Feier des Geburtstages S. M. d. Kaisers gehalten
am 26. Januar 1913 (S. A. a. d. Jahresbericht des Dom- und Real-
gymnasiums zu Kolberg 1913, 8 S.). Die letztere Rede beruht auf
Archivstudien, deren Resultate durchaus beachtenswert sind. Wahl.
Als ,, Bausteine zu einer Biographie des Bischofs J. M. S a i 1 e r"
veröffentlicht A. D ö b e r 1 in den Hist. Pol. Blättern 151, 10 u. 11
zwei Aufsätze: 1. über Sailers Stellung zu Felders Literaturzeitung,
einem Organ der Konföderierten 1814 — 1818, mit deren konfessionell
schroffer Politik er nicht immer einverstanden war; 2. Sailers Be-
mühungen für Pflege katholischen Lebens, namentlich auch bei Be-
rufungen für die neue Universität München (Auszüge aus Briefen
an den Minister v. Schenk).
450 Notizen und Nachrichten.
E. D e j e a n , der kürzlich verstorbene Direktor des Pariser
Nationalarchivs (vgl. oben S. 447), der ein Buch über die Herzogin
.von Berry und die europäischen Monarchien" vorbereitet hat, erzählt
unter dem Titel „La derniire ambassade de Chateaubriand" die zwei-
malige Reise Chateaubriands nach Prag im Jahre 1833 an den Hof
Karls X. und seine vergeblichen Bemühungen, die Herzogin von Berry
nach ihrer heimlichen Vermählung mit ihrer Familie zu versöhnen
und den alten König zur Abdankung und zur Proklamierung der Ma-
jorennität des Herzogs von Bordeaux zu bestimmen. Die auf reichem
archivalischen Material beruhende Abhandlung ist zugleich ein guter
Beitrag zur Kritik der Memoires d'outre-tombe (Revue de Paris, 15. Mai
und 1. Juni).
Lady Blennerhassett schildert nach dem zweiten Bande
von Monypennys Biographie D Israelis parlamentarische Entwick-
von 1837—1846 (Deutsche Rundschau, April 1913).
Von den mutmaßlichen Folgen des Thronwechsels in Preußen
1840 in kirchlicher Hinsicht handelt eine wohl mit Sicherheit Jarcke
zuzuweisende, von A. Hasenclever veröffentlichte „österreichische
Denkschrift" aus dem Juni 1840 (Z. f. Kirchengesch. 34, 1). An eine
baldige Konversion Friedrich Wilhelms IV. glaubt der Verfasser nicht,
aber an Kampf gegen den Rationalismus; und wenn die Beschwerden
der Katholiken im Westen nicht abgestellt würden, sei zu erwarten,
daß diese mit der liberalen Opposition vereint für eine Konstitution
kämpfen würden. Sehr gut ist am Anfang die Charakterisierung von
Friedrich Wilhelms des Dritten Regierungstendenz. Übrigens macht
das Aktenstück in der vorliegenden Form doch den Eindruck eines
Fragments. K. J.
Gustav Mayers Mitteilungen über „den Untergang der deutsch-
französischen Jahrbücher und den Pariser Vorwärts" (Grünbergs
Archiv f. Gesch. d. Sozialismus 111,3) bieten einen interessanten Beitrag
zur preußischen Zensurpolitik der vierziger Jahre.
April- und Maiheft der Deutschen Rundschau 1913 bringen zu-
nächst einen Abschluß der S. 239 erwähnten Lebenserinnerungen von
Rochus Frhrn. v. Liliencron: die Beteiligung an der Schleswig-
holsteinischen Erhebung, vornehmlich als Graf Reventlows Sekretär,
dann die Begründung des eigenen Heims und die Jahre der Lehrtätig-
keit erst in Kiel und — hier unhaltbar — in Jena.
In der Deutschen Revue (April bis Juni 1913) wird die S. 240
2uletzt erwähnte Veröffentlichung der politischen Briefe des Grafen
Hugo V. Münster an Edwin v. Manteuffel (vgl. S. 240) bis zu Münsters
Abberufung aus Petersburg (September 1856) unter Ausfüllung von
Lücken durch Abdruck von Angaben in Leopold v. Gerlachs Tage-
Neuere Geschichte. 451
büchern zu Ende geführt. In ihrer Gesamtheit sind diese Briefe eine
außerordentlich wertvolle Quelle für die preußisch-russischen Be-
ziehungen und die preußische Politik während des Krimkriegs.
Unter dem Titel „An der Wiege des Königreichs Rumänien"
sind in den Grenzboten 1913, Nr. 8, 17, 18 beachtenswerte „Berichte
des preußischen Spezialgesandten Frhrn. v. Richthofen an Friedrich
Wilhelm IV." von 1857 über die poHtischen Zustände in den Donau-
fürstentümern und das Verhalten der Mächtekommissare erschienen.
Die Fortsetzung der S. 240 erwähnten Mitteilungen aus der
diplomatischen Tätigkeit des Grafen Karolyi reicht in den nächsten
Heften der Deutschen Revue (April- Juni 1913) bis zu den Monarchen-
begegnungen in Baden, Teplitz und Warschau 1860. Der Herausgeber,
Frhr. v. Hengelmüller, orientiert uns über die wichtigsten
Momente der österreichischen Politik und die Beziehungen zu Preußen.
In einem Schlußwort zu „Bismarck und Lassalle" (Preuß. Jahrbb.
1913, April) weist H. O n c k e n die Polemik der Kreuzzeitung gegen
seine Ausführungen über Bismarcks Oktroyierungspläne für das
spätere Reichstagswahlrecht in der Konfliktszeit (vgl. H. Z. 108, 454)
mit Recht zurück, namentlich auch unter Berufung auf den H. Z.
110, 459 erwähnten Brief Lassalles an M. Heß; anschließend betont
Oncken die Unmöglichkeit einer Systematik von Lassalles Lehre, wie
sie Rosenbaum unlängst versucht hat.
Der Anfang der im Juniheft der Deutschen Revue beginnenden
Mitteilungen „Aus dem Leben des Oberpräsidenten (von Posen)
C, V. Hörn 1863 — 1869" betrifft vornehmlich dessen ebenso besonnene
wie energische Haltung im Polenaufstand von 1863.
R. W. Seton-Watson, The Southern Slav Question and
the Habsburg Monarchy. London, Constable & Co. 1911. 463 S. — Seit
einigen Jahren erregen die Schriften von Scotus Viator (ein Deckname
für den Verfasser des obigen Buches) in der politischen Welt großes
Aufsehen. Der Verfasser der Schriften über die Bevölkerungsprobleme
in Ungarn (1908), die Korruption und Reform in Ungarn (1911), die
politische Persekution in Ungarn (1908) und noch anderer Gelegen-
heitsschriften schildert in allen den beispiellosen Druck auf politischem
Gebiete, der auf den nichtmagyarischen Völkerschaften Ungarns lastet.
Wir wollen es ununtersucht lassen, ob es der Wahrheit entspricht,
was magyarische und ihnen nahestehende österreichische Blätter
behaupten, daß Seton-Watson im englischen Interesse im Sinne des
Trialismus arbeitet, insofern als England bei den Kroaten einen sehr
guten Stützpunkt für seine gegen den Dreibund gerichtete Politik zu
finden glaubt. Tatsache ist, daß das vorliegende Buch, das übrigens
auf einer sehr genauen Kenntnis der einschlägigen historischen, poli-
452 Notizen und Nachrichten.
tischen und geographisch-statistischen Literatur beruht, den magyari-
schen Drucl< auf jeder Seite scharf hervortreten läßt. Sieht man davon
ab, so findet sich in den 14 Kapiteln, die es enthält, eine gute Zusammen-
stellung der einzelnen Phasen dessen, was man die kroatische Frage
in Ungarn nennen kann, und werden insbesondere die politischen Er-
eignisse der letzten Jahrzehnte in Ungarn und Kroatien eingehender
kritischer Würdigung unterzogen. Dem Buche sind 17 Beilagen an-
gefügt, aus denen wir die Urkunde über die Wahl Ferdinands I. zum
König von Kroatien (1527), Kroatien und die pragmatische Sanktion,
die Adresse der kroatischen Stände an den König vom Juni 1898,
den ungaro-kroatischen Kompromiß von 1868 und, was ein allgemeineres
Interesse bietet, die Korrespondenz des Bischofs Straßmayer mit Glad-
stone herausheben. Dem Buche sind ferner noch eine ausreichende
Bibliographie über die einschlägigen Fragen und eine Karte über die
ethnographischen Verhältnisse der Südslaven beigegeben.
Graz. J. Loserth.
Das Aprilheft der Deutschen Revue 1913 bringt sehr hübsche
„JVlexikanische Briefe" von Kurd v. Schloezer aus den Anfängen
seiner Gesandtentätigkeit (1869).
Als 7. Heft der Neujahrsblätter der Gesellschaft für fränkische
Geschichte (Würzburg, A. Stürtz & Co. 1912, 97 S.) hat H. Frhr.
V. Egloffstein unter dem Titel: Ein Sohn des Frankenlandes in
großer Zeit Kriegsbriefe seines Vaters an seine Mutter aus den Jahren
1870/71 herausgegeben. Oberst Frhr. v. Egloffstein hat als persönlicher
Adjutant des Herzogs von Meiningen in dessen Begleitung den größten
Teil des Feldzugs bei der 22. („eisernen", s. S. 52 über das erste Vor-
kommen des bekannten Beinamens in einem Briefe der Gattin des
Briefschreibers) Division, erst von Mitte Dezember ab in Versailles
mitgemacht und in freiwilliger Ordonnanztätigkeit bei Weißenburg,
Wörth, Sedan und im Loirefeldzug sich verdienstlich im Kampfe be-
tätigen können. Die lebendig, im Drange des Augenblicks, oft in un-
vollständigen Sätzen geschriebenen Briefe gewähren naturgemäß so
gut wie keine neuen Aufschlüsse über Heerführung und Diplomatie,
sie führen aber in trefflicher Anschaulichkeit ebenso in Schlachten-
lärm und Kriegsleben hinein wie sie zugleich ein Dokument mensch-
lichen und echt kriegerischen Empfindens und Erlebens sind. Sie
verdienen unter den zahllosen Veröffentlichungen von Kriegsbriefen
einen bevorzugten Platz. K. Jacob.
E. 0 1 1 i V i e r beginnt eine ausführliche Darstellung der Schlachten
um Metz mit einer Erzählung des Kampfes vom 14. August, wobei
er Bazaine verteidigt und die späteren Mißerfolge der Unzulänglichkeit
der Korpsführer am 15. August zuschreibt. Die Deutschen charak-
Neuere Geschichte. 453
terisiert er als „indomptables du haut en bas de Vichelle, depuis le giniral
jusqu'au soldat, animis du disir furieux de vaincre", spricht aber ander-
seits wegen des selbständigen und befehlswidrigen Vorgehens einzelner
Führer von der „armie indisciplinie des Allemands" {Revue des deux
mondes, 1. Juni 1913).
Der Abschluß der zuletzt H. Z. 1 10, 687 erwähnten Studien von
G. Bapst über das französische Oberkommando in der Schlacht von
Gravelotte-St. Privat (Deutsche Revue 1913, April und Mai) übt
in detaillierter Einzelschilderung herbste Kritik an dem Verhalten
Bazaines während der Schlacht selbst.
In der Histor. Vierteljahrschrift 16, 2 wendet sich W. Stolze
in sehr entschiedener Weise gegen die von E. Brandenburg ebenda
Bd. 15 an seinem Werke über die Gründung des Deutschen Reichs
1870/71 geübte Kritik, die H. Z. HO, 460 erwähnt ist. Er beschränkt
sich dabei in der Hauptsache auf zwei Punkte: die Bedeutung der
Einwirkungen der europäischen Politik und den Kaiserplan vom
Frühjahr 1870. M. E. ist es Stolze nicht gelungen, in irgendeinem
wesentlichen Punkte Brandenburgs Einwendungen zu entkräften, so
daß Brandenburg in einem Schlußwort seine Stellung durchaus auf-
recht erhalten kann; insbesondere auch den Vorwurf methodischer
Unzulänglichkeit in der Quellenkritik zum Kaiserplan. Vgl. dazu auch
die auf Brandenburgs Kritik verweisende, ablehnende Besprechung
von Stolzes Buch in der Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins 28, 2 von
Th. Bitterauf. K. J.
Chantriot behandelt in der „occupation allemande de la
Meurthe" (Revue de Paris, 1. Mai 1913) hauptsächlich die Tätigkeit
des deutschen Präfekten Graf Renard, die er als eine Mischung von
Härte und Gutmütigkeit charakterisiert. Seine Darstellung zeigt,
daß im ganzen alles sich sehr ruhig abwickelte.
Der Schluß der bekannten Studien G o y a u s über „Bismarck
und die Kirche" betrifft den Friedensschluß mit Leo XIII. durch die
zweimalige Revision der Maigesetze, die Septennatsfrage und „le lende-
main du Culturkampf" (1886—1890, Besuch Kaiser Wilhelms II. im
Vatikan). Die Darstellung mündet aus in eine Verherrlichung des
„kleinen Weifen" Windhorst und der Macht und Größe der katho-
lischen Kirche (Revue des deux Mondes, 1. Januar und 1. Februar 1913).
Unter der Überschrift „Diplomatenerziehung" (Grenzboten
1913, 13) bietet G. Cleinow einige allgemeine Bemerkungen über
Bismarcks Verhalten zum diplomatischen Nachwuchs und sodann
interessante Details über die Anfänge der Laufbahn des verstorbenen
Staatssekretärs v. Kiderlen-Wächter.
454 Notizen und Nachrichten.
April- und Maiheft 1913 der Süddeutschen Monatshefte bringen
den Rest der S. 241 angeführten Briefe Miquels an Marquardsen bis
1897 mit mancherlei sehr charakteristischen und zum Teil erheblichen
Äußerungen Miquels über Bismarck, die Innern Politik- und Partei-
anschauungen.
Ein Aufsatz in der Revue de Paris (1. April 1913) behandelt die
Reise der Kaiserin Friedrich nach Paris (Februar 1891) als den ernstesten
deutsch-französischen Zwischenfall seit dem Pariser Frieden, der den
Aussöhnungsversuchen ein Ende gemacht und die französisch-russische
Verständigung gefördert habe.
Die Fortsetzung des S. 243 erwähnten Aufsatzes von J. W. H o 1 -
1 a e n d e r (f) (Schmollers Jahrbuch 37, 2) schildert das Vordringen
der agrarischen Bewegung 1894 — 1897, die Vorbereitungen zur Reform
des Zolltarifs seit Posadowskys Andeutungen (Januar 1897), die Agi-
tation für die Erhöhung der Getreidezölle und das Einsetzen einer
Gegenbewegung 1900 bis zur Veröffentlichung des neuen Entwurfs
(Sommer 1901).
Über die Entwicklung der „sozialistischen Bewegung in Nor-
wegen" besonders seit den 80er Jahren aus der Arbeiterbewegung
heraus und im Verhältnis zur Gewerkschaftsbewegung berichtet (mit
deutlichen sozialistischen Sympathien) Edv. Bull in Grünbergs
Archiv f. Gesch. d, Sozialismus III, 3.
Neue Bücher: Cahen ei Guyot , L'oeuvre legislative de la Rivo-
lution. (Paris, Alcan. y fr.) — Liesenfeld, Klemens Wenzeslaus, der
letzte Kurfürst von Trier, seine Landstände und die französische Revo-
lution (1789— 1794). (Trier, Lintz. 9 M.)— Wo Ifg. Kraus, Die Strategie
des Erzherzogs Karl im Jahre 1796 m. besond. Berücksicht. der Schlacht
bei Würzburg. (Berlin, Nauck. 1,50 M.) — Erzherzog Karl, der Feld-
herr und seine Armee, hrsg. von Wilh. John. (Wien, Hof- u. Staats-
druckerei. 385 M.) — G 0 0 c h , Hisfory and historians in the nine-
teenth Century. (London, Longmans, Green & Co. io,6 sh.) — Berichte
aus der Berliner Franzosenzeit 1807 — 1809. Nach den Akten des Berliner
geheimen Staatsarchivs und des Pariser Kriegsarchivs hrsg. v. H. G r a -
n i e r. (Leipzig, Hirzel. 20 M.) — Des Generals Neidhardt v. Gnei-
senau Briefe 1809 — 1815. Gesammelt u. hrsg. von Jul. v. Pflugk-
H a r 1 1 u n g. (Gotha, Perthes. 3,60 M.) — v. P f 1 u g k - H a r t -
t u n g. Das Befreiungsjahr 1813. (Berlin, Union Zweigniederlassung.
16 M.) — Friedrich, Die Kämpfe an der sächsisch-böhmischen
Grenze im Herbst 1813. (Dresden, Köhler. 3,80 M.) — Fabry,
Etudes sur les Operations de l'Empereur, 5 au 21 septembre 1813. (Paris,
Chapelot et Cie.) — Fournier, Die Geheimpolizei auf dem Wiener
Kongreß, (Wien, Tempsky. 12 M.) — Eckhardt, Die Grundrechte
Deutsche Landschaften. 455
vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart. (Breslau, Marcus. 6,40 M.)
— Comte Rudolphe A p p o n y i , Vingt-cinq ans ä Paris (1826 — 1850).
Journal publii par E. Daudet. I. 1826 — 1830. (Paris, Plon-Nourrit
et Cie. y,5o fr.) — Le Marchand, L'Europe et la conquete d' Alger,
d'aprts les documents originaux tiris des archives de l'Etat. (Paris,
Perrin et Cie.) — Schiemann, Geschichte Rußlands unter Kaiser
Nikolaus I. 3. Bd. (Berlin, Reimer. 12 M.) — Hemmerle, Die
Rheinländer und die preußische Verfassungsfrage auf dem ersten ver-
einigten Landtag (1847). (Bonn, Marcus & Weber. 6 M.) — Mei-
necke, Radowitz und die deutsche Revolution. (Berlin, Mittler.
10 M.) — Wassermann, Les clubs de Barrts et de Blanqui en
1848. (Paris, Cornily et Cie. 7 fr.) — Desjoyeaux, La fusion
monarchique, 1848 — 1873, d'aprks des sources inidites. (Paris, Plon-
Nourrit et Cie. y,5o fr.) — T r i s al , L'annexion de la Savoie ä la
France (1848 — 1860). (Paris, Plon-Nourrit et Cie. 7,50 fr.) — Graf
Segur-Cabanac, Kaiser Ferdinand L (V.) der Gütige in Prag.
(Brunn, Irrgang. 10 M.) — C l av e au , Souvenirs politiques et parle-
mentaires d'un temoin. I: 1865 — i8jo. (Paris, Plon-Nourrit et Cie.
7.50 fr.) — Fester, Neue Beiträge zur Geschichte der hohenzoUern-
schen Thronkandidatur in Spanien. (Leipzig, Teubner. 5 M.) —
Hesselbarth, Drei psychologische Fragen zur spanischen Thron-
kandidatur Leopolds von Hohenzollern. (Leipzig, Teubner, 3,60 M.)
— Louis Thomas, Documents sur la guerre et la commune, i8yo — i8yi.
T. !*'■. (Paris, Les Marches de l'Est. 5 fr.) — Fabricius, Besangon-
Pontarlier. Die Operationen des Generals v. Manteuffel gegen den
Rückzug des französ. Ostheers vom 21. 1. 1871 ab. I. Tl., 2. Buch.
(Oldenburg, Stalling. 8 M.) — G 0 y au , Bismarck et Viglise. Le
Culturkampf. T. 3. 4. (Paris, Perrin et Cie.) — v. Wertheimer,
Graf Julius Andrassy, sein Leben und seine Zeit. 2. u. 3. Bd. (Stutt-
gart, Deutsche Verlagsanstalt. 20 M.) — F ar n et i , La pace di Lo-
sanna. (Napoli, Casella. 1,50 L.) — Alfr, Meyer, Der Balkankrieg
1912/13. 1. Tl. (Berlin, Vossische Buchh. 2 M.)
Deutsche Landschaften.
Dierauer, dessen 70. Geburtstag am 20. März 1912 unter
allgemeiner freudiger Beteiligung gefeiert wurde, hat die Genugtuung,
daß B a n d 1 seiner in dieser Zeitschrift, Bd. 65, S. 547 u. 548, zum
ersten Male zur Anzeige gebrachten Geschichte der schwei-
zerischen Eidgenossenschaft in zweiter Auflage
(Gotha, R. A. Perthes. XXI u. 517 S.) noch vor Schluß des Jahres
ausgegeben worden ist; dieser bis 1415 reichende Band ist gegenüber
der ersten Auflage im Textteil um 55 Seiten stärker geworden und
456 Notizen und Nachrichten.
enthält nun auch schon in erwünschter Weise das Orts- und Personen-
register. Daß die ganze in dem seit Erscheinen der ersten Form
verflossenen Vierteljahrhundert zutage getretene Literatur in den
Anmerkungen nachgetragen und nach deren Ergebnissen der Text,
wo sich das als notwendig herausstellte, abgeändert ist, versteht sich
bei der schon längst bekannten Gewissenhaftigkeit des Autors von
selbst. Auch die Polemik ist, wo das notwendig erscheint, ganz vor-
trefflich gehandhabt. So weist n. 157 auf S. 174 den Versuch
Schollenbergers, „so ziemlich alle Ergebnisse der kritischen Forschung
mit überlegener Gebärde umzustoßen und die Erzählungen Tschudis,
die von „Amts wegen in die amtlichen und auch in die obligatori-
schen Schulbücher wieder aufgenommen werden" sollten, zu histo-
risch unanfechtbaren, eben in die Zeit des Königs Albrecht „passen-
den Quellenstücken zu erheben", in der besten Weise zurück. Da-
gegen kann gegen S. 146, n. 102 noch bemerkt werden, daß die
auch von P. Sidler in seinem dort notierten Werke (S. 167 u. 168)
hervorgehobene und aus Schwyz stammende Lokalangabe „am Mor-
garten ze Scheffstetten uff dem Sattel" doch sehr nachdrücklich
gegen die Ansetzung auf Zuger Boden, wo jetzt ein Denkmal steht,
spricht. M. v. K.
Im Anzeiger für Schweizerische Geschichte 1913, 3 veröffentlicht
A. I n h e 1 d e r einen zeitgenössischen Bericht über das Gefecht von
Andelfingen, das am 25. Mai 1799 zwischen Österreichern und Fran-
zosen stattfand.
Über die Beziehungen der Familie von Salis zum Kloster St. Gallen
veröffentlicht P. Nikolaus v. S a 1 i s - S o g 1 i o O. S. B. in den Stu-
dien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens, N. F. II,
zwei Arbeiten, von denen besonders die zweite Beachtung verdient.
Sie behandelt die erfolglosen Bemühungen um die Wiederherstellung
der im Gefolge der Französischen Revolution aufgehobenen Abtei.
Georg Wagner, Untersuchungen über die Standesverhältnisse
elsässischer Klöster (in Beiträgen zur Landes- und Volkeskunde von
Elsaß- Lothringen XLI). Straßburg, Heitz, 1911. 87 S. — Die Studie
Wagners schließt sich eng an Schultes Buch „Der Adel und die deutsche
Kirche" (vgl. H. Z. 109, 194) an. Sie beschäftigt sich mit dem Bene-
diktinerkloster Murbach und den beiden Kanonissenstiftern am Odilien-
berg, Hohenburg und Niedermünster, und betrachtet die Verhältnisse
ihrer Dienstmannen und den Geburtsstand der Klosterinsassen. Dabei
ergibt sich, daß Murbach sowohl als Hohenburg-Niedermünster eine
Ausnahme von der durch Schulte festgestellten Norm bilden, indem
sie, wenngleich reichsfürstlich, doch ihren Konvent dem Dienstadel
nicht verschlossen haben. Die Untersuchung ist gewandt geführt.
Deutsche Landschaften. 457
fesselt den Leser auch durch Heranziehen bisher noch unveröffentlichten
Materials und durch interessante Ausblicke auf die politische und Wirt-
schaftsgeschichte. Im einzelnen scheint Wagner seine Behauptungen
nicht immer ausreichend fundiert zu haben. So genügen für die Liste
der Murbacher Dienstmannen aus der Zeit, da in den Urkunden neben
dem Namen der Titel ministerialis zu fehlen pflegt (S. 15), die ange-
führten Belegstellen nicht, um alle Angaben zu rechtfertigen. So
bleiben in der Anmerkung über die Herkunft der berühmten Äbtissin
Herrad (S. 78) zwei für die Genealogie der Landsberger wichtige Doku-
mente (Straßburger Urkundenbuch 4, 1, 8 Nr. 12 und Annales de l' Est
6, 104 Nr. 8) unbeachtet. — Diese Mängel der Arbeit würde man dem
Verfasser gern nachsehen, hätte er nicht sich mehr als nötig als Zensor
seiner Vorgänger geriert und an Werken wie Redlichs Rudolf von Habs-
burg eine wenig begründete Kritik geübt.
Straßburg i. E. Alfred Hessel.
Als 44. Heft der Beiträge zur Landes- und Volkskunde von
Elsaß-Lothringen ist eine völkerrechtliche Studie von A. Gerardot
über die Optionsfrage in Elsaß-Lothringen erschienen.
In überaus klaren und scharfsinnig durchgeführten Untersuchun-
gen ,,Zur Textgeschichte der Freiburger Stadtrechtsaufzeichnungen"
(Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N. F. 28, Heft 2)
kommt Alfred Schultze zu dem Ergebnis, daß der Stadtrodel
zwischen 1218 und 1248, wahrscheinlich zwischen 1235 und 1245 ent-
standen sei, während die Freiburger Vorlage des Bremgarter Textes
sicher der Zeit vor 1244, wahrscheinlich der Zeit zwischen 1218
und 1225 angehöre.
Aus dem sonstigen Inhalt dieses Heftes der Zeitschrift für die
Geschichte des Oberrheins seien hervorgehoben der Aufsatz von S. Hell-
mann über die sog. ,, Weingartener" Annalen, deren Entstehung
er nach Konstanz verlegt, und die Arbeiten von P. Wentzcke
und H. Kunze über die Beteiligung Erwin v. Steinbachs am Bau
des Straßburger Münsters.
Eine Heidelberger Dissertation von K. Buchegger (Berlin
1912, 236 S.) behandelt die Verfassung und Verwaltung der Stadt
Konstanz im 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der
Tätigkeit des Stadthauptmanns Franz v. Blanc.
In der Alemannia 41, 1 macht B. Schwarz Mitteilungen über
einen Hexenprozeß im Kraichgau im Jahre 1563 auf Grund von Akten
des Gemmingischen Familienarchivs.
Württemberg hat in der großen Sammlung seiner Oberamts-
beschreibungen längst einen wertvollen Besitz. Etwas höchst Bedeut-
sames für die Wissenschaft schaffen aber nun die Neuauflagen, die
458 Notizen und Nachrichten.
das Statistische Landesamt jetzt unternimmt (Verlag von Kohlhammer,
Stuttgart), und zwar gilt dies gerade für den geschichtlichen Teil,
der uns hier vor dem übrigen angeht und den Viktor Ernst bear-
beitet. Es ist eine vielseitige Arbeit ab ovo namentlich aus archivali-
schen Quellen, die bisher unbenutzt waren; für eine künftige Landes-
geschichte eine ausgezeichnete Grundlage. 1909 ist Urach (762 S.,
dazu Register, Tabellen, Karten und viel photographische Bilder),
1912 Münsingen (ebenso, im ganzen 937 S.) erschienen, also ein zu-
sammenhängendes Stück Alb mit Vorland; gegenwärtig wird Tett-
nang (Bodenseegegend) vorbereitet. Sachlich und methodisch sind
schon die Abschnitte über Siedelung, Markungsgrenzen und Hundert-
schaften (dies namentlich im Band über Münsingen!), Geschichte der
kirchlichen Versorgung (Zusammenhang mit den politischen Grenzen!)
interessant. Dann folgen über eine hellere Zeit Forschungen über
Grundbesitz, herrschaftliche Einkünfte, Behandlung des Gemeinde-
und Privateigentums durch die Herrschaft, über herrschaftliche Ämter,
Abgaben und Dienste der Untertanen und Eigenleute, Umfang der
Zinslehen und des bäuerlichen Eigens, Dorfverfassung mit der Stellung
des Maierhofes, die Seidner in der Gemeinde usf. In Altwürttemberg
ist der Landesherr weitaus der größte Grundherr; nächst ihm kommen
Klöster und Kirchen; adeliger Besitz ist früh aufgegangen. Wichtig
waren vor den wirtembergischen Grafen die von Achalm und Urach.
Die von Achalm gaben ihren Besitz in der Zeit der großen Benediktiner-
reform größtenteils dem Kloster Zwiefalten, das ihre Gründung ist;
es nimmt in dem Band über Münsingen eine wichtige Stelle ein. Die
Uracher verbanden sich durch Heirat mit den Zähringern ; daher stam-
men die Fürstenberg. Der Band über Urach enthält noch einen be-
merkenswerten wirtschaftsgeschichtlichen Abschnitt, besonders über
Getreidebau und Allmenden; sodann wird der Niedergang der Bevöl-
kerung im Dreißigjährigen Krieg und ihr Steigen danach statistisch
gefaßt; die der Landgemeinden zusammengerechnet hat erst 1780
die Zahl wieder erreicht, die sie vor der Schlacht bei Nördlingen hatte;
die Stadt hat rascher zugenommen; die Zuwandernden kamen auch
hier meistens aus der Schweiz und österreichischen Ländern. Wichtig
ist endlich im Uracher Band ein Abschnitt über die Stellung des Volkes
zum Staat. — Das Prähistorische in beiden Bänden hat Peter G ö ß 1 e r
verfaßt. Rapp.
Von der Sammlung „Geschichtliche Lieder und Sprüche Württem-
bergs" von S t e i f f und M e h r i n g (vgl. H. Z. 90, 378) ist jetzt das
Schlußheft erschienen (das Ganze: 1115 S., bei Kohlhammer in Stutt-
gart). Es enthält die 48er Zeit, dann hauptsächlich noch 1870. Der
eigentliche Wert liegt in den eingehenden Erläuterungen und Fuß-
noten der Herausgeber.
Deutsche Landschaften. 459
Zu einem in letzter Zeit recht häufig behandelten Thema äußert
sich H. S t ä b 1 e r , indem er in den Württembergischen Vierteljahrs-
heften für Landesgeschichte N, F. 22, 2 eine zusammenfassende Arbeit
über die Geschichte Eßlingens bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts,
also bis zum Beginn der eigentlichen reichsstädtischen Geschichte gibt.
Im Archiv für Frankfurter Geschichte und Kunst, Dritte Folge,
Bd. 11, 1913 behandelt Siegfr. Sieber nach Beschreibungen, Krö-
nungsdiarien, Programmen, Wahl- und Krönungsakten des Frank-
furter und Augsburger Stadtarchivs die „Volksbelustigungen bei
Kaiserkrönungen" in der Zeit von 1442 bis 1792, und zwar 1. die Quellen,
2. die Schauplätze und Zustände, d. i. die Umwelt, in der sich die Krö-
nungen abgespielt haben (Aufwand der Stadt, Geschenke an Kaiser
und Fürsten, Vorbereitungen für die Krönung, Fremdenbesuch, Ein-
quartierungen, Preisverhältnisse u. dgl. m.), 3. Aufzüge, Feste und Be-
lustigungen während der Wahl- und Krönungszeit, 4. den Krönungs-
tag (Krönungs- und Hochzeitsbräuche, Krönungsmahl). Die Zahl der
Aufzüge, Feierlichkeiten und Lustbarkeiten nahm von Krönung zu
Krönung zu. Die Kaiserkrönungen übten merklichen Einfluß auf die
Entwicklung von Sitte, Mode und Stil und lassen den Einfluß spanischer,
französischer und englischer Moden und Stilarten erkennen, — Weitere
Beiträge behandeln „das erste Auftreten der Jesuiten in Frankfurt a. M.
1560 — 1567" und „die Niederlegung der Festungswerke in Frank-
furt a. M. 1802 — 1807", die das wichtigste kommunale Unternehmen
am Anfang des 19. Jahrhunderts gewesen ist (Rud. Jung), ferner
„Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400" (J. Kra-
kauer) und „Das Meisterbuch der Frankfurter Goldschmiede im Mittel-
alter 1223—1556" (Alexander D i e t z).
Die gediegene Abhandlung Justus Hashagens „Zur Geschichte
der Eisenindustrie vornehmlich in der nordwestlichen Eifel" (Sonder-
abdruck aus der Eifelfestschrift, 1913, S. 269—294) beruht haupt-
sächlich auf Aktenmaterial der Staatsarchive zu Düsseldorf und Wetz-
lar und des Oberbergamtes in Bonn. Ausgehend von der Bodenständig-
keit und dem Alter der Eisenindustrie, ihrer Leistungsfähigkeit in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts schildert H. im ersten Abschnitt
die Eisenindustrie von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Aus-
gang des alten Reiches (Produktionsfaktoren, Arbeiterschaft, öffent-
liche Verhältnisse, privatwirtschaftliche Verhältnisse der Hütten-
meisterfamilien), im zweiten und dritten Abschnitt die Eisenindustrie
unter französischer und preußischer Herrschaft.
Die Schrift J. B. Deermanns „Ländliche Siedelungs-, Ver-
fassungs- und Wirtschaftsgeschichte des Venkigaus und der späteren
Niedergrafschaft Lingen bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts"
460 Notizen und Nachrichten.
(Forsch, z, Gesch. Niedersachsens Bd. 4, Heft 2 — 3), Hannover, E. Geibel
1912, 179 S., enthält eine recht gründliche, von lebendigem Heimat-
sinn zeugende Schilderung aller wesentlichen Formen des ländlichen
Lebens im Venkigau (wo auch die geistlichen Grundherrschaften Cor-
vey und Werden begütert waren). Sie führt über die Periode der Groß-
grundherrschaft, der Villikationsverfassung und ihres Verfalls hinau
bis in die Zeit, in der die Staatsgewalt wachsenden Einfluß auf die Rege-
lung der ländlichen Verhältnisse zu gewinnen sucht. Den breitesten
Raum nehmen die Verhältnisse des 16. Jahrhunderts in Anspruch
(meist nach Quellen aus der Zeit von 1549 — 1597): die wirtschaftliche,
soziale, rechtliche Lage der Freien und Eigenhörigen, die Verfassung
der beiden ländlichen Organisationsformen Bauerschaft und Marken-
genossenschaft, die Umwandlung der JVlarkengenossenschaft in eine
Servitutgemeinschaft seit Erwerbung des vollen Obereigentums an den
Marken durch die Staatsgewalt, endlich auch die Staats- und Gerichts-
verfassung der Niedergrafschaft Lingen zur Zeit der entstehenden
Landeshoheit. Die Einwirkung der Rezeption des römischen Rechts
auf Organisation und Zuständigkeit der Markengerichtsbarkeit ist
leider nur gestreift worden (vgl. S. 156, 157). Sp.
Die kleine Schrift von Julius Voigt „Die sog. Ilmenauische
Empörung von 1768", Xenien-Verlag zu Leipzig, 1912, 63 S., führt
in die vorgoethische Zeit. Sie schildert die durch absolutes Willkür-
regiment veranlaßten Bürgerunruhen (1768) und die ihnen unmittelbar
folgenden Wirren, welche Goethe später zu beseitigen suchte.
Die in K. Büchers Seminar entstandene Arbeit Walter Schönes
über „Die Anfänge des Dresdner Zeitungswesens im 18. Jahrhundert"
(Mitteil, des Ver. für Gesch. Dresdens, Heft 23), Dresden 1912, 126 S.,
gliedert sich in drei Abschnitte: 1. Allgemeines, 2. die Dresdner Zei-
tungen und Journale, 3. das Dresdner Intelligenzwesen. Sie versucht
vor allem die Preisgeschichte des Anzeigewesens zu ergründen. Das
Ergebnis über die Entstehung der Annoncenpreise und die Grundsätze
der Preisbildung wird auf S. 102 ff. zusammengefaßt. Die wirtschaft-
liche Grundlage der Zeitungen ist bis ins 19. Jahrhundert hinein die
Einnahme aus dem Verkauf der Blätter (Abonnement), erst im Laufe
des 19. Jahrhunderts das Inseratengeschäft gewesen.
Die von Hans Beschorner im Neuen Archiv für sächsische
Geschichte und Altertumskunde Bd. 34, Heft 1 und 2, 1913, veröffent-
lichten Beiträge zur Lebensgeschichte des Balthasar Permoser (f 20. Fe-
bruar 1732) sind als Vorarbeit für eine umfassendere Biographie ge-
dacht. Permoser, der Hofbildhauer Augusts des Starken, ist einer der
bedeutendsten und kraftvollsten Vertreter der deutschen Barock-
plastik gewesen.
I
Deutsche Landschaften. 46
Der über ganz Europa ausgespannte „Nachrichtendienst und
Reiseverkehr des deutschen Ordens um 1400" wird in der Altpreußischen
Monatsschrift Bd. 50, Heft 2, 1913, von Paul Babendererde
dargestellt. Der Botendienst des deutschen Ordens stand dem wohl-
geordneten Nachrichtenverkehr der Hanse, ja selbst der päpstlichen
Kurie ebenbürtig zur Seite. — M. Emmelmann schildert ebendas.
die Teilnahme Karls IV. an der Schlichtung der Streitigkeiten, des
Deutschordens (1369 — 1374) mit dem Bischof von Ermeland und
(bis 1366) mit dem Erzbischof von Riga. — Die „Kriegsberichte
von 1812" (A. V. S c h o e n a i c h) enthalten Korrespondenzen von
Schön und Auerswald an Hardenberg und einen Brief Auerswalds an
Schön.
Gerhard G ü n z e I vergleicht in den Darstellungen u. Quellen
z. schles. Gesch. Bd. 14 (Breslau, F. Hirt, 1911) die „österreichische
und preußische Städteverwaltung in Schlesien während der Zeit von
1648—1809, dargestellt am Beispiel der Stadt Striegau" (VIII u.
130 S.) und kommt zu dem Ergebnis, daß die österreichische Re-
gierung sich um das Wohlergehen der Städte nicht kümmerte, während
die preußische bei allen guten Absichten keine nennenswerten Resul-
tate erzielte. Die Schrift gewährt viele lehrreiche Einblicke in die Ver-
waltungsart, das Wirtschaftsleben, die Zunftverhältnisse und den
sozialen Aufbau der Bevölkerung einer ostelbischen Provinzialstadt
im 17. und 18. Jahrhundert; ich verweise nur auf die bisher nicht ge-
nügend betonte Tatsache, die sich in Striegau und anderwärts fest-
stellen läßt, daß die Handwerker der meisten preußischen Städte
noch im Beginn des 19. Jahrhunderts vielfach zugleich Kramerei
und vor allem Landwirtschaft trieben und aus letzterer ihre Haupt-
einnahmen zogen. Zu beachten sind auch die Ausführungen S. 90 ff.
über die unglaubliche Art des Zustandekommens der preußischen Sta-
tistik gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Ziekursch.
In den Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts-
forsch. Bd. 34, Heft 1, 1913, erörtert Joh. Loser th die in seiner
Ausgabe der Akten und Korrespondenzen zur Geschichte der Gegen-
reformation veröffentlichten „Protokolle der Land- und Hofrechte
aus den Jahren 1583 — 1601" als Quelle zur Geschichte der Gegen-
reformation in Innerösterreich und erläutert wichtigere Aktenstücke.
Wenngleich die Abhandlung Emanuel Ottos „Reformation
und Gegenreformation in der Steiermark" (Zeitschrift des histor. Ver.
für Steiermark, 1913, Jahrg. 11, Heft 1 u. 2) wenig Neues bietet und
sich in der Hauptsache von Loserthschen Forschungsergebnissen ab-
hängig zeigt, ist sie doch als erster Versuch einer Zusammenfassung
willkommen. Die Rekatholisierung war in der Oststeiermark bis zur
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 30
462 Notizen und Nachrichten.
Mitte des 17. Jahrhunderts vollendet. — Joh. L o s e r t h publiziert
ebendas. Schriftstücke zur kirchlichen Bewegung in Steiermark wäh-
rend des 16. und 17. Jahrhunderts (1572, 1599, 1624, 1628, 1630) und
zur Geschichte der Wiedertäufer daselbst in den Jahren 1529, 1530,
1531, 1534. — Herrn. Niebour verzeichnet Namen und Lebens-
verhältnisse der nach der Frankfurter Nationalversammlung (1848)
entsendeten Abgeordneten Steiermarks.
Adolf Häuften, Geschichte, Art und Sprache des deutschen
Volksliedes in Böhmen. Wiss. Beihefte zur Zeitschrift des allgem.
deutschen Sprachvereins 5. Reihe, Heft 35. Berlin 1912. 32 S. —
Der Festvortrag, mit dem Hauff en zu Pfingsten 1912 den Sprach-
verein bei seiner 17. Hauptversammlung in Reichenberg begrüßt hat,
erscheint hier im Druck erweitert und um die notwendigen Nachweise
vermehrt. Auf einen historischen Rückblick über das Leben des deut-
schen Lieds im deutschböhmischen Volksmund und eine Umschau
über den Anteil Böhmens an der Volksliedforschung folgen als Kern-
stück des Vortrags Aufschlüsse über den Stand der Sammlungen für
das ministerielle Unternehmen „Das Volkslied in Österreich" in einer
Fülle, wie nur Häuften sie geben konnte, banach liegen, neben einem
gedruckten Bestand von 2200 Liedern, in der nahezu abgeschlossenen
handschriftlichen Sammlung in Prag über 12 000 Lieder und Sprüche
und etwa 3000 Singweisen vor. Als Hruschka und Toischer 1891 in
ihren Deutschen Volksliedern in Böhmen 2000 Lieder veröffentlichten,
gab es nur eine Stimme der Bewunderung für diese Reichtümer, und
man hielt die Bescheidenheit der Herausgeber für übertrieben, die ihre
Sammlung nicht für abschließend hielten. Nun uns eine sechsmal
größere Fülle in gewisse Aussicht gestellt ist, rückt Deutschböhmen
unstreitig an die erste Stelle im deutschen Volksgesang: eine glückliche
Bodengestaltung, ein freundliches Klima, die Siedelungsverhältnisse
und der lebhafte Verkehr, eine bewegte geschichtliche Vergangenheit
und die stark ausgeprägte Heimatliebe des begabten deutschböhmischen
Stammes, verstärkt durch den langen Kampf mit einem zähen Gegner,
haben eine Sangeslust großgezogen, die sich in einem unvergleichlichen
Reichtum volkstümlicher Dichtung ausprägt. Häuften scheidet die
gemeindeutschen von den bodenständigen Elementen dieses Volks-
gesangs, die Kunstlieder im Volksmund von dem volksentsprossenen
Liedergut, und bietet zum Schluß feinsinnige Bemerkungen über die
Abgrenzung von Schriftsprache und Mundart in den deutschen Volks-
liedern Böhmens.
Freiburg i. B. Alfred Götze.
Der 28. Band des Archiv cesky (Prag 1912 in Kommission
von Bursik <S Kohont) enthält die Fortsetzung der in dieser Zeit-
schrift 105, 469 bereits angezeigten Zprdvy o statech a prech venkovs^
Deutsche Landschaften. 463
kych z archivu mesta Prahy, L — Z, d. h. Berichte über auswärtige
Besitzungen und Streitigkeiten (Besitzveränderungen außerhalb Prags,
die in Prager Stadtbüchern vermeri<t. werden) aus dem Archiv der
Stadt Prag. Der vorliegende Band verzeichnet den Rest der Plätze
in alphabetischer Reihenfolge (L — Z) mit reichlichen Nachträgen;
einige der häufiger genannten Orte sind: Laun (6 Nummern), Malesice
(19), Melnik (6), Michle (6), Mvdrany (19), Nusle (39), Nimburg (6),
Olsany (48), Opocno (9), Pankrac (28), Podol (65), Podvini (16), Prerow
bei Böhmisch-Brod (7), Strasnice (47), Sesovice (50), Unhost (115),
Vesec (19), Vrsovice (14), Vysocany (22), Vysehrad (22), Zbraslaw
(Königsaal mit 20 Nummern), Zlichov (59) und 2atec (Saaz mit der
ansehnlichen Zahl von 310 Nummern). Auch hier sind es Kauf- und
Tauschverträge, Schuldscheine und sonstige Materialien zur Wirtschafts-
geschichte, das meiste in tschechischer Sprache. Sie reichen noch in
die Zeiten Karls IV., einzelnes selbst in die König Johanns und Premysl
Ottokars II. zurück. Hier und da bietet ein Stück wegen der Datierung
ein Interesse, so ist ein Launer Stück nach dem Tage des hl. Magisters
Johannes Huß datiert. J. L.
Im Histor. Jahrb. der Görres-Gesellschaft Bd. 34, Heft 1, 1913,
veröffentlicht AI. Kroeß ein „Gutachten der Jesuiten am Beginne der
katholischen Generalreformation in Böhmen".
Neue Bücher: Jörin, Der Kanton Oberiand 1798—1803.
(Zürich, Gebr. Leemann <& Co, 4,50 M.) — Monumenta boica. 48. Bd.
I. Tl. Neue Folge. II. Bd. 1. Tl. Die Urbare des Burggrafentums Nürn-
berg unter dem Gebirge. Nachtrag bis 1500. (München, Franz. 8 M.)
— R i e z 1 e r , Geschichte Bayerns. 7. Bd. Von 1651—1704. (Gotha,
Perthes. 15 M.) — Riezler- Festschrift. Beiträge zur bayer. Geschichte,
hrsg. von Karl Alex. v. M ü 1 1 e r. (Gotha, Perthes. 10 M.) — L e n e I ,
Badens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung unter Markgraf Karl
Friedrich 1738— 1803. (Karlsruhe, Braun. 5,40 M.) — A n d r e a s ,
Geschichte der badischen Verwaltungsorganisation und Verfassung in
den Jahren 1802— 1818. 1. Bd. (Leipzig, Quelle & Meyer. 12,40 M.)
— Hattemer, Entwicklungsgeschichte Hessen-Darmstadts. 1. Tl.
(Darmstadt, Bergstraßen 2 M.) — Herrmann, Inventare der
evangelischen Pfarrarchive im Großherzogtum Hessen. 1. Hälfte.
(Darmstadt, Staatsverlag. 6 M.) — Aufmwasser, Sozialstati-
stische Studien zur Geschichte von Wesel im 14. u. 15. Jahrhundert.
(Münster, Coppenrath. 1,50 M.) — Lethmate, Die Bevölkerung
Münsters i. W. in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. (Münster, Coppen-
rath. 1,50 M.) — Walter v. Boetticher, Geschichte des ober-
lausitzischen Adels und seiner Güter, 1635 — 1815. 2. Bd. (Göriitz,
Verlagsanstalt Görlitzer Nachrichten. 20 M.)
30»
61 Notizen und Nachrichten.
Vermischtes.
Der Internationale Kongreß für historische
Wissenschaften, der vom 3. bis zum 9. April dieses Jahres
in London tagte, bot den Teilnehmern eine reiche Fülle von An-
regungen ebensowohl durch die dort geleistete Arbeit wie durch
den Verkehr mit der großen Zahl gelehrter Fachgenossen aus aller
Herren Länder, An der Spitze des vorbereitenden wie des leitenden
Ausschusses stand A. W. W a r d , der Master of Peterhouse, Cambridge,
neben dem die Professoren Prothero, Vinogradoff, Gol-
1 a n c z und Whitney sich in die schwierige Führung der Ge-
schäfte teilten. Die Zahl der Mitglieder soll sich auf etwa 1200 belaufen
haben, darunter natürlich die britischen Historiker am zahlreichsten,
nächst ihnen die Deutschen und Amerikaner durch eine stattliche
Anzahl und bedeutende Namen vertreten, verhältnismäßig wenige
Franzosen, dagegen in bemerkenswerter Zahl auch Russen, Skandinavier
und andere Nationalitäten. Die Mehrzahl der Vorträge ward in eng-
lischer Sprache gehalten, besonders diejenigen, welche die Geschichte
Großbritanniens betrafen, auch wenn die Redner selbst nicht Engländer
waren. Freilich haben auch manche Vortragende nur ihr Thema unter
einem englischen Titel angekündigt und dann gleichwohl deutsch oder
französisch gesprochen.
An Stelle des abwesenden B r y c e führte Ward den Vorsitz
auf dem Kongresse, den er in allgemeiner Sitzung eröffnete und schloß.
Es war dankenswert, daß er die Rede, welche B r y c e zur Eröffnung
hatte sprechen wollen, der Versammlung nicht vorenthielt und sie
durch seine eigenen einleitenden und abschließenden Bemerkungen
bereicherte (s. oben S. 407).
Die vom Kongresse geleistete Arbeit war schon dem Umfange
nach ungeheuer. Man denke nur: in mehr als 200 Vorträgen wurden
die verschiedensten Gebiete des historischen Wissens berührt. Was
der einzelne Teilnehmer außerhalb der Sektion, der er sich angeschlossen
hatte, von diesem gewaltigen Stoff noch aufzunehmen vermochte,
war freilich in der Regel nicht allzuviel. Die Hauptschwierigkeit lag
hier in dem Umstand, daß die Sektionen in oft weit voneinander ent-
fernten Teilen Londons untergebracht waren. Und wenn auch die
Tageszeitungen, besonders die Times, den Verlauf des Kongresses
mit ihren Berichten und Artikeln begleiteten, so wird doch ein klarer
Überblick über den Inhalt der Vorträge erst dann zu gewinnen sein,
wenn der geplante Band erschienen ist, der die sämtlichen „abstrads"^
umfassen soll. Einstweilen gelangten nämlich diese kurzen Auszüge,
da sie erst vor jedem Vortrage an Ort und Stelle verteilt wurden, nur
den jedesmaligen Zuhörern in die Hände. Das vortreffliche Prinzip
Vermischtes. 46!^
der „abstrads" könnte sich noch nützlicher erweisen — und hier erp
iauben wir uns den Veranstaltern des nächsten Kongresses einen Wink
zu geben — , wenn die Auszüge der bereits gehaltenen Vorträge täglich
auf den Bureaus zur Verteilung gelangten. Aus alledem ergibt sich
zugleich, daß der Referent, so sehr ihm auch Kürze zur Pflicht ge-
macht ist, sich mit seinen Bemerkungen nicht auf die von ihm selbst
gehörten Vorträge beschränken darf.
Ausführlich wurde fast in allen Sektionen, oft in einleitenden
Ansprachen der Vorsitzenden, über die Methode, die Aufgaben, den
Arbeitsstoff der verschiedenen Disziplinen gesprochen. So wurden die
Verhandlungen der mittelalterlichen wie der neugeschichtlichen Sekr
tion durch Vorträge von T o u t und F i r t h eingeleitet, in denen
die Redner über den gegenwärtigen Stand der Studien in mittlerer
und neuerer Geschichte in England berichteten. Beide wiesen auf die
Schwierigkeiten hin, die der Heranbildung einer Schule von Historikern
im Wege stehen. F i r t h fand diese Schwierigkeiten besonders in
den Mängeln des Unterrichts in den Schulen und auf den Universitäten
— den alten wie den neuen. „Was wir brauchen," sagte er, „ist eine
Reform des historischen Unterrichts an den Universitäten." Er tadelte
auch die Vorbereitung der Archivbeamten, welche auf Grund des
gewöhnlichen Examens für den Verwaltungsdienst angestellt werden»
ohne daß besondere Kenntnisse in Paläographie, Diplomatik usw.
gefordert werden oder, wo sie vorhanden sind, eine schnellere Beförde-
rung herbeiführen. Und endlich fand er, daß die Leitung der in so
großem Umfange erfolgenden Quelleneditionen ausschließlicher als bis-
her in der Hand geschulter Historiker liegen sollte.
In der Subsektion für See- und Kriegsgeschichte {Naval and
Military History) war geradezu die Mehrzahl aller Vorträge dem Wesen^
der Arbeitsweise, dem Quellenstoff und — bezeichnenderweise — :
dem Nutzen dieser Disziplin gewidmet. In einer der Sitzungen führte
Prinz Battenberg, der erste Lord des Flottenamts, persönlich
den Vorsitz, um, wie er sagte, das Interesse der Admiralität an den
hier gepflogenen Verhandlungen darzutun, um zu zeigen, wie unent-
behrlich das Studium der Seekriegsgeschichte zur Vorbereitung für
den Dienst in der Marine sei. Aber schon er wies auch auf die Mängel
der bisherigen Methoden hin. überhaupt herrscht in diesen Kreisen
die Anschauung, daß in der Erforschung der Seekriegsgeschichte kaum
erst ein Anfang gemacht sei. Das war auch der eigentliche Sinn eines
Vortrages, den J. K. L a u g h t o n , der Nestor unter den englischen
Marinehistorikern, der Begründer der Navy Records Society, in dieser
Abteilung hielt. Und Themata wie ,, Marinegeschichte und die Not-
wendigkeit einer Katalogisierung ihrer Quellen" (Leutnant A. D e w a r),
„Die Bedeutung der Marinegeschichte für den Dienst zur See" (Kapitän
30**
466 Notizen und Nachrichten.
i.. R i c h m 0 n d),*„ Quellen zur Marinegeschichte in der Bibliothek
der Admiralität" (A. G. Perrin) fanden fast noch mehr Beachtung
als die Vorträge anerkannter Autoritäten der Seekriegsgeschichte wie
C 0 r b e 1 1 und T a n n e r.
Die in den Sektionen geleistete Arbeit ist, wie gesagt, einstweilen
noch schwer zu übersehen. Mit Hinzurechnung mehrerer Subsektionen,
die aber meistens auch von den übrigen getrennt ihre Sitzungen hiel-
ten, waren nicht weniger als 16 solcher Abteilungen eingerichtet worden.
Von der neueren Geschichte waren Kolonialgeschichte sowie See- und
Kriegsgeschichte abgetrennt worden. Die kulturgeschichtliche Sektion
bestand aus vier Unterabteilungen, in denen Philosophie, Sprache
und Literatur, Kunstgeschichte nebst Architektur und Musik, die
exakten Wissenschaften und die Medizin (von ihrer historischen Seite
betrachtet), Soziales und Erziehungswesen vertreten waren. Die in
der neugeschichtlichen und der rechtshistorischen Sektion gehaltenen
Vorträge werden als Sitzungsberichte erscheinen.
Von den Vorträgen mögen zunächst wenigstens die in den all-
gemeinen Sitzungen gehaltenen rasch erwähnt werden. Die Reihe
derselben wurde eröffnet durch B e r n h e i m (Die historische Inter-
pretation aus den Zeitanschauungen). P i r e n n e sprach über die
sozialgeschichtlichen Phasen des Kapitalismus vom 12. bis zum 19. Jahr-
hundert, G i e r k e „Zur Geschichte des Majoritätsprinzips". W h i t -
well begründete mit wenigen Worten den Vorschlag, ein neues Wör-
terbuch der mittelalterlichen Latinität in Angriff zu nehmen. In der
zweiten allgemeinen Sitzung gab Eduard Meyer (Alte Geschichte
und historische Forschung während des letzten Menschenalters) einen
Überblick über die wunderbaren Fortschritte, die das Studium der
klassischen und orientalischen Nationen in den letzten Jahrzehnten
gemacht hat. Lappo-Danilewski behandelte die Entwick-
lung des Staatsgedankens in Rußland von der Zeit der Unruhen des
17. bis zu den Reformen des 18. Jahrhunderts. Lamprecht sprach
über „Jüngste geistige Strömungen in Deutschland", und endlich
versuchte J o r g a (Bukarest) eine neue Auffassung der mittelalter-
lichen Geschichte zu begründen.
Aus der Zahl der in der Sektion für mittelalterliche^) Geschichte
gehaltenen Vorträge nennen wir von solchen, die rein politische Stoffe
behandelten: A. Cartellieri, Philipp August und der Zusammen-
bruch des angevinischen Reiches; J. E. Lloyd, Der Einfluß von
Wales auf die englische Politik von 1066 — 1282. Die erörterten ver-
fassungsgeschichtlichen Probleme (F. Liebermann, Die Volks-
1) Hier folge ich den mir gütigst zur Verfügung gestellten Mit-
teilungen des Herrn Professor Bloch (Rostock).
Vermischtes. 467
Versammlung bei den Angelsachsen; Haskins, Die Verwaltung
der Normandie unter Heinrich II.; Goddard H. Orpen, Der Ein-
fluß der normannischen Eroberung auf Irland von 1169 — 1333) regten
ebenso zu universalgeschichtlicher Vergleichung an wie die Vorträge
über das Städtewesen von J. H. Round, der die Theorie von dem
Einfluß der Garnison auf die Ausbildung des städtischen mittel-
alterlichen Rechts zurückwies, Ch. B 6 m o n t (Die städtische Ent-
wickelung in Guyenne), H. P i r e n n e (Der Handel und die Stadt-
wirtschaft vom 11. bis zum 13. Jahrhundert — eine Weiterführung
seines in der allgemeinen Sitzung gehaltenen geistreichen Vortrages).
Zu geistesgeschichtlicher Betrachtung leiteten hinüber die Vorträge
von N. Boubnov („Die Legende vom Papst Silvester II.",
quellenkritisch beleuchtet, ausmündend in eine Geschichte der
Wissenschaft im 10. Jahrhundert), H. B 1 o c h (Kaisertum und Papst-
tum im 13. Jahrhundert) und R. Volpe (Die Kirche in den lom-
bardischen Städten des 13. Jahrhunderts); tief in dieses Gebiet hinein
führten G. G. C o u 1 1 o n (Die Klosterschulen des Mittelalters) sowie
die gehaltvollen Darlegungen von R. Davidsohn (Die Frühzeit
der Florentiner Kultur) und F. Kern (Dantes Gesellschaftslehre).
Von neugeschichtlichen Vorträgen, die innerhalb und außerhalb
der Sektion gehalten wurden, seien noch erwähnt die rein politischen
Themata: A. Stille (Karl XII. und seine Beziehungen zu West-
europa), P. J. B I 0 k („England und Holland 1800—1813", behandelt
den Gedanken der englischen Regierung, aus dem mit Belgien vereinigten
Holland eine starke Grenzwacht gegen Frankreich zu schaffen), Holland
Rose (Napoleons Pläne für den Herbstfeldzug von 1813), C. K.
Webster (Die britische Politik und das Kongreßsystem 1815—1822),
Schiemann (England und Rußland 1853 — 1854) und J a m e s o n
(Die territoriale Entwicklung der Vereinigten Staaten). Vornehmlich
verfassungsgeschichtliche Fragen behandelten die Vorträge von W.
Michael (Robert Walpole und das Aufkommen der Parteiregierung
in England), H. M a r c z a I i (Graf Szechenyi und England), J. Red-
lich (österreichische Verwaltungsmethoden) und R. H ü b n e r („Ein
Verfassungsentwurf im Frankfurter Parlament", gab Mitteilungen aus
dem Nachlaß Droysens über die Verhandlungen der 17 Vertrauens-
männer). Kolonialgeschichtlich interessant waren die Vorträge von
H. W. V. T e m p e r I e y (Probleme der britischen Kolonialpolitik
im 18. Jahrhundert) und C. P. L u c a s (Historische Probleme in West-
indien). Die kirchengeschichtliche Seite der englischen Revolution be-
handelte A. O. Meyer („Karl I. und Rom", erscheint in der
American hist. Review).
Wenn wir sodann, ohne lange abzuwägen, aus den übrigen Sek-
tionen noch einige Vorträge hervorheben dürfen, so seien es diejenigen
468 Notizen und Nachrichten.
von Ed. Meyer (Darstellung fremder Volksstämme auf ägyptischen
Denkmälern), v. Wilamowitz-Möllendorf (Die Athena von
llion), O. S e e c k (Der letzte Waffengang des römischen Heidentums),
O. L e n e 1 (Zur Entwicklungsgeschichte des römischen Testaments),
A. D 0 p s c h (Die Geldwirtschaft der Karolingerzeit), D. Schäfer
(Die Sundzölle als eine Quelle der internationalen Geschichte), K.
Lamprecht (Die Organisation des höheren historischen Studiums),
F. Keutgen (Ziel und Zweck des Kolonialinstituts in Hamburg),
G. P. G 0 0 c h (Der Lehrstuhl der neueren Geschichte an der Uni-
versität Cambridge).
Natürlich ist aber mit der Aufzählung der Vorträge, von denen
doch niemand mehr als ein bescheidenes Maß genießen konnte, nur
ein Teil der Anregungen genannt, die der Kongreß den Besuchern
bot. Höchst erfreulich gestaltete sich der persönliche Verkehr mit
den Fachgenossen, mit denen man bei so vielen geselligen Veranstal-
tungen zwanglos verkehrte. Der in den Tischreden oft anklingende
Gedanke der einigenden Kraft der Wissenschaft beherrschte die all-
gemeine Stimmung. Auch die oft gerühmte englische Gastfreundschaft
zeigte sich in schönstem Lichte. Der König, durch Trauer verhindert,
die fremden Gäste persönlich zu empfangen, ließ sie in seinem Namen
im Schlosse zu Windsor begrüßen. Die Regierung gab ein glänzendes
Mahl im Hotel Cecil. Lord M o r 1 e y insbesondere, auch durch wissen-
schaftliche Interessen der Welt der Historiker nahestehend, begrüßte
einen Kreis auswärtiger Gäste in Oxford. Die Führungen durch das
Parlament, das Record Office, durch die Sammlungen waren von hohem
Interesse. Auch eine Reihe von Privatpalästen, wie Lansdowne House
und Bridgewater House, wurden freundlich geöffnet, um den gelehrten
Besuchern des Kongresses ihre sonst so ängstlich gehüteten Schätze
zu offenbaren. Die Klubs und die Häuser der englischen Fachgenossen
taten sich gastlich auf. Und endlich war nach dem Schlüsse des Kon-
gresses je eine Anzahl der auswärtigen Teilnehmer nach Oxford und
Cambridge geladen worden. In den alten gotischen Hallen der Colleges,
in denen sonst die „Undergraduates" zu tafeln pflegen, wurden nun
die aus aller Welt herbeigeströmten Geschichtsbeflissenen gastlich
empfangen. So wohl gefiel es den Fremden in dieser klassischen Um-
gebung, daß manche schon, undankbar scherzend, die Frage aufwarfen,
warum man nicht lieber den Kongreß an eine dieser ehrwürdigen
Stätten der Wissenschaft verlegt habe, als in den Trubel der Weltstadt.
Der nächste Kongreß soll in Petersburg tagen, und die in London
anwesenden russischen Fachgenossen taten das Ihrige, um mit dem
Hinweis auf jegliches Entgegenkommen der russischen Regierung den
westeuropäischen Historikern den Entschluß zur weiten Reise in das
Zarenreich zu erleichtern. V^. Michael.
\
Vermisohtes. 469
Die 13. Tagung desVerbandesdeutscherHistoriker
wird vom 16. bis 20. September 1913 zu Wien stattfinden. Vorträge
hat)en angemeldet: A. Bauer- Graz, M. Dreger- Wien, A. C a r -
t e II i e r i - Jena, H. Friedjung- Wien, J. Hansen- Köln, H.
Hirsch- Wien, F. Kern- Kiel, J. L u 1 v 6 s - Hannover, H.
Schlitter- Wien, H. Steinacker- Innsbruck, J. Uebers-
b e r g e r - Wien. Gleichzeitig tagt die Konferenz landes-
geschichtlicher Publikationsinstitute, deren erste
Sitzung für den 17. September bestimmt ist. Das endgiltige Programm
wird zu Anfang Juli ausgegeben werden.
Aus dem Jahresbericht über die Herausgabe der Monument a
Germaniae historica erwähnen wir, daß im Berichtsjahre
1912/13 erschienen sind: Teil 3 des 32. Bandes der Scriptores; in der
Reihe der Scriptores rerum Germanicarum die von S i m s o n besorgte
3. Ausgabe der Gesta Friderici Ottos von Freising und Rahewins, die
Chronik Ottos von S. Biasien (Hofmeister) und der Liber de
coronatione Karoli IV. des Johannes Porta (Salomon); Neues
Archiv 37, 3 und 38, 1. — Der 6. Band der Scriptores rerum Mero-
vingicarum (Krusch und Levison) ist im Drucke fast vollendet, der
Druck des 7. und letzten Bandes soll sich sogleich anschließen. Für
die Abteilung Scriptores hat ihr neuer Leiter B r e ß 1 a u einen Arbeits-
plan vorgelegt. Eine Nachlese zu den Quellen der Zeit der sächsischen
und salischen Kaiser soll die 2. Hälfte des 30. (Schluß-) Bandes der
Folioreihe bringen, der Ligurinus und andere Werke der staufischen
Zeit werden den 33. Band (Quartreihe) füllen. Sehr erfreulich ist es,
daß zunächst vor allem eine Anzahl wichtiger Chroniken der deutschen
Geschichte des 14. Jahrhunderts in der Reihe der Scriptores rerum
Germanicarum erscheinen sollen, und ein alter Wunsch vieler Fach-
genossen, der auch in dieser Zeitschrift schon wiederholt ausgesprochen
worden ist, geht damit in Erfüllung, daß auf Breßlaus Antrag beschlossen
wurde, die Einleitungen zu den Bänden der Scriptores rerum Germani-
carum fortan in deutscher Sprache abfassen zu lassen; doch hat man
die dem Bereiche der Auetores antiquissimi und (leider) auch die der
Scriptores rerum Merovingicarum zugehörigen Schriftsteller ausge-
nommen. In der Abteilung Constitutiones et acta publica ist das Namen-
register des 5. Bandes (S c h w a 1 m) gedruckt, das Sach- und Wort-
register (Salomon) nahezu druckfertig; der Druck des 8. Bandes
mußte unterbrochen werden, doch ist bereits das Namenregister dieses
Bandes durch Salomon, das Sachregister durch den neuen Mit-
arbeiter Dr. S t ä b I e r für den Druck vorbereitet. Für die Trac-
tatus selecti de iure imperii saec. XIII. et XIV. hat an Ottos Stelle
R. Scholz den Marsilius von Padua übernommen. In der Abteilung
470 Notizen und Nachrichten.
Diplomata saec. XI soll der Band, der die Urkunden Heinrichs III.
enthält (B r e ß 1 a u und W i b e 1) im nächsten Jahre unter die Presse
kommen. Für die Abteilung Epistolae ist zunächst das Registrum
Gregors VII. und das Registrum super negotio imperii Innocenz III.
in Aussicht genommen.
Über die 54. Plenarversammlung der Historischen Kom-
missionbei der K. Bayer. Akademie der Wissen-
schaften entnehmen wir dem Berichte des Sekretariats folgendes:
Seit der letzten Plenarversammlung sind erschienen: Allgemeine
Deutsche Biographie, Registerband, bearbeitet von G e r 1 i c h in
München, mit Nachwort von Alfred Dove, 56. und Schluß-
band des Werkes; Geschichte der Wissenschaften: Gerland,
Geschichte der Physik, erster Teil; Briefe und Akten zur Geschichte
des 16, Jahrhunderts, 6. Bd., Beiträge zur Geschichte Herzog Al-
brechts V. und der sog. Adelsverschwörung von 1563, bearbeitet von
Walter Goetz und L, Theobald; ein anastatischer Neudruck
von Schmellers Bayerischem Wörterbuch. — Im Drucke befinden
sich: Quellen und Erörterungen, N. F., Abt. Chroniken, 3. Bd.: Die
Werke Veit Arnpecks, herausgegeben von L e i d i n g e r; Deutsche
Reichstagsakten, 13. Bd., 2. Hälfte, bearbeitet von Beckmann;
Deutsche Reichstagsakten, 15. Bd., 2. Hälfte, bearbeitet von Herre;
der dritte Band der mit Unterstützung der Kommission von H a r t -
mann herausgegebenen Historischen Volkslieder und Zeitgedichte.
— Mit der Herausgabe der Celtisbriefe wird Prof. Joachimsen,
mit Herausgabe der Traditionen des Hochstiftes Regensburg und
des Klosters St. Emmeram Dr. Joseph Widemann in München
betraut. — Für die Supplemente der älterenReihederReichs-
tagsakten war nach Bericht des Leiters, Prof. Q u i d d e in Mün-
chen, Dr. Baucknerin München tätig, der sich auch mit den Kor-
rekturen der laufenden Bände und mit Durcharbeitung der Bände 1
und 2 nach dem Weizsäckerschen Handexemplare beschäftigte, (Es
wäre, wie wir meinen, sehr erfreulich, wenn diese vielberufenen
Supplemente endlich in das Licht der Öffentlichkeit treten wollten.) —
Für den 2. Band der von Goetz geleiteten Abteilung: Briefe
und Akten zur Geschichte der Dreißigjährigen
Kriegs in den Zeiten des vorwaltenden Einflusses der Witteis-
bacher N. F. 2, Abteilung (1625 und folgende Jahre) wird Goetz
IV2 Jahre, Dr, Endres das weitere bearbeiten. K. Mayr wird
im September mit dem Drucke des ersten Bandes der Neuen Folge,
1. Abteilung (1618 — 1619) beginnen können. — Für die p u b 1 i z i s t i -
sehen Schriften zur Reichsgeschichte wird der
Traktat de regia ac papaii potestate von Ludovico de Strassoldo (1413)
Vermischtes. 471
durch Dr. H ö s 1 in München, der Traktat de potestate paparum et
imperatorum von Piero del Monte (1433) durch Dr. Zellfelder
in Erlangen, der Traktat Monarchia von Antonio de Roselli durch den
Leiter des Unternehmens, Beckmann, bearbeitet. Von den Re-
formtraktaten ist das Avisamentum pro reformatione imperii von Z e 1 1 -
f e 1 d e r fertiggestellt, der Traktat des Heinrich Toke über die Reform
der Kirche und des Reiches (1430) wird von Beckmann kommen-
tiert, der Vorschlag des Bischofs Schele (1434) ist von H a 1 1 e r druck-
fertig gemacht, der weitere Traktat von 1442 über Reichs- und Kirchen-
reform gleichfalls bereits erledigt. Wegen Übernahme der Reformation
K. Sigmunds schweben Verhandlungen. — Die Beschlußfassung über
das im vorigen Jahre ins Auge gefaßte, unter Leitung Beckmanns
auszuführende Porträtwerk zur deutschen Geschichte
im Mittelalter wurde ausgesetzt. — Auf Antrag v. B e 1 o w s
erklärte sich die Kommission grundsätzlich mit zwei neuen, wirtschafts-
geschichtlichen Publikationen einverstanden: 1. einer Edition der süd-
deutschen Handlungsbücher aus dem ausgehenden Mittel-
alter und dem 16. Jahrhundert; 2. einer Edition der mittelalterlichen
deutschen Zolltarife. Strieder in Leipzig wird unter Leitung
V. B e 1 o w s ein Verzeichnis der süddeutschen Handlungsbücher ab-
fassen und der nächsten Plenarversammlung vorlegen. — Wir be-
merken schließlich noch, daß die bisherigen außerordentlichen Mit-
glieder der Kommission, E. Brandenburg und Walter G o e t z ,
zu ordentlichen Mitgliedern ernannt worden sind.
Aus dem Jahresbericht der R. Deputazione Toscana di storia
patria für 1912 (Archivio storico Italiano ser. V, t. 50) erwähnen wir,
daß der Codice diplomatico aretino im Drucke bis zum 47. Bogen fort-
geschritten ist, und daß nach dem Vorschlage Del Vecchios künftig
zum Archivio storico Italiano Ergänzungsbände erscheinen sollen, die
Monographien zur Geschichte Toskanas und insbesondere zur floren-
tinischen Geschichte bringen werden.
Der oben S. 252 erwähnte Nachruf K. W e n c k s auf Varren-
trapp ist im 2. Hefte des 16. Jahrgangs der Historischen Vierteljahr-
schrift erschienen.
472
Notizen und Nachrichten.
Berichtigung.
A. Wahl hat meine Arbeit über die Erklärung der Menschen"
und Bürgerrechte von 1789 in dieser Zeitschrift 110, S. 592 ff. einer
Kritik unterzogen, die mich zu folgender Berichtigung nötigt. Wahl
stellt den Satz: „Da hatte es derZufall gewollt, daß . . .
(Lafayette) die erste Erklärung der M. R. im amerikanischen Sinne
einreichte," als einen Verlegenheitssatz hin, der so recht beweise,
daß ich eine verlorene Stellung zu verteidigen suche. Meine Darstel-
lung wird für den Leser in ein falsches Licht gerückt, wenn Wahl die
wesentliche Tatsache unerwähnt läßt, daß bereits einen Monat vor
Lafayette Deputierte Vorschläge zur Deklaration einbringen wollten
und nur durch Hereinziehen anderer Gegenstände in die Debatte
daran verhindert wurden. Weiterhin findet Wahl es „förmlich wunder-
lich", daß ich auf den äußerst lehrreichen, systematischen Vergleich
der fertigen Urkunde mit den E. d. M. der amerikanischen Einzel-
staaten verzichtet habe. Meine Konkordanz der fertigen französischen
Erklärung mit den amerikanischen (S. 224 — 229), die, wie ich glaube,
der Jellinekschen an Reichhaltigkeit nicht nachsteht, scheint Wahl
entgangen zu sein. W. Rees.
Erwiderung.
Zum ersten Punkt der obigen „Berichtigung" habe ich meiner
Besprechung nichts hinzuzufügen. Zum zweiten bemerke ich, daß Rees
auf S. 224 — 229 — wo nicht einmal ein einziger französischer Artikel,
geschweige denn alle!, in seinem vollen Wortlaut mit dem entsprechen-
den amerikanischen Material in Parallele gesetzt wird, wo also sogar
die Grundlage einer fruchtbaren Vergleichung fehlt — den erwünsch-
ten „systematischen Vergleich" eben nicht bietet. Wahl.
f/i
Die Gesetze des Gaius Gracchus*
Von
Walther Judeich.
Für die Geschichte der Gracchen ist in den letzten Jahr-
zehnten viel geschehen. Die Überlieferung, der Verlauf,
<jer Geist der gracchischen Reform sind in wesentlichen
Punkten geklärt. Aber das große Problem in seiner ein-
schneidenden weitreichenden Bedeutung, die beiden großen
Männer, haben ihre Anziehungskraft darum nicht verloren.
Und von dem feineren psychologischen Verständnis ganz
abgesehen, bleibt auch rein tatsächlich noch vieles ungewiß
und doch wissenswert, namentlich für Gaius Gracchus,
dessen längere und umfassendere Tätigkeit im Verhältnis
nicht so gut überliefert ist als die des Tiberius.
Auch die Modernen haben Tiberius Gracchus im ganzen
vor Gaius bevorzugt; noch jüngst hat Robert Pöhlmann
rseine Persönlichkeit mit feinsinnigem Verständnis gewürdigt
<S.-B. Akademie d. W. München 1907, 443 ff . = Aus Alter-
tum und Gegenwart, N. F. 1911, 118 ff.). Mit Gaius befaßte
sich nach Callegaris bravem, aber nicht tief genug gehendem
und zu stark reflektierendem Buche zuletzt E. Kornemann^)
*) Ettore Callegari, La legislazione sociale di Cajo Gracco Padova
1896; Kornemann, Klio, 1. Beiheft, 1903, Zur Geschichte der Gracchen-
zeit. Vgl. besonders S. 42 ff. S. außerdem W. Warde Fowler, Notes
on Gaius Gracchus, Engiish historical Review XX, 1905, 209 ff. und
K. Prodinger, Das Tribunat des C. Gracchus, Progr. Gottschee 1908.
A. H. J. Greenidge, A history of Rome 133—104, London 1906, bringt
Jiur eine allgemeine Würdigung. Die Arbeit von E. Felsberg, Die
Historische Zeitschrift (111. BdJ 3. Folge 15. Bd. 31
474 Walther Judeich,
und im Anschluß an ihn W. Warde Fowler. Kornemann'
hat durchaus richtig erkannt, daß neben der Quellenfrage
ein wirkliches Verständnis von C. Gracchus' Gesetzgebung
nur möglich wird durch die richtige zeitliche Verteilung
der einzelnen Gesetze zunächst auf Gaius' zwei Tribunate,
und nach dieser Richtung hin die ganze Frage gefördert.
Mit Recht hat er darauf hingewiesen, daß innerhalb des
zweiten Tribunates nur ganz wenig Raum bleibt für eine
gesetzgeberische Tätigkeit, weil Gaius als Kolonialtriumvir
für Carthago-Iunonia 70 Tage von Rom abwesend war
und schon geraume Zeit vor den Tribunenwahlen im Hoch-
sommer 122 zurückkehrte (Plut. C. Gr. 11, 2. 12). Nach
seiner Heimkehr war er nicht mehr imstande, den während
seiner Abwesenheit erschütterten Einfluß auf das Volk
zurückzugewinnen. Im zweiten Tribunat setzt auch bereits
die Reaktion der Optimatenpartei ein. Der Schwerpunkt
von C. Gracchus' Gesetzgebung muß danach im ersten Tri-
bunat liegen.
Dieses Ergebnis bietet uns eine wichtige Handhabe zur
Beurteilung der Überlieferung, die eben Gaius' Tätigkeit
verschieden verteilt.
Wie Kornemann a. a. 0. 42, K. W. Nitzschs Anregungen
folgend, bereits bemerkt hat, stehen sich hier Appian auf
der einen und Plutarch mit der livianischen Tradition und
Velleius auf der anderen Seite gegenüber. Appian verlegt
die wichtigsten Gesetze in das zweite Tribunat, die andere
Gruppe in das erste; sie muß also hier vorgezogen werden.^)»
Brüder Gracchus, Gel. Abhandlungen der Univ. Jurjew, Dorpat 1910
(russisch) kann ich ihrer Sprache wegen nicht selbständig beurteilen..
1) Die überaus schwierige Frage des Verhältnisses der einzelnen
Berichte über die gracchische Bewegung und ihrer Ursprünge soll hier
nicht aufgerollt, sondern nur eben gestreift werden. E. Meyers ein-
dringende „Untersuchungen zur Geschichte der Gracchen" in der
Festschrift z. zweihundertjährigen Jubiläum von Halle-Wittenberg
1894 haben für die Quellenverhältnisse neuen Grund gelegt, werden
aber im einzelnen zu ergänzen und zu verändern sein. Bereits E.
Schwartz, G. G. A. 1896, 792 ff. ist mit Erfolg in dieser Richtung
vorgegangen, aber seinen Versuch, der ganzen Überlieferung den
historischen Boden zu entziehen, halte ich nicht für geglückt; Poehl-
mann a. a. O. hat ihn mit guten Gründen bekämpft. Auf der anderen
Seite scheint mir auch die bestimmte Vermutung Kornemanns a. a. O.^
Die Gesetze des Gaius Gracchus. 475
Aber um zu einer wirklichen Vorstellung von C. Gracchus'
Reformplan zu gelangen, ist es nötig, innerhalb der zweiten
Gruppe Reihenfolge und Inhalt der einzelnen Gesetze zu
prüfen.
Im ganzen kennen wir, wie die nachfolgende Zusammen-
stellung lehrt, annähernd 17 Anträge; eine genaue Angabe
ist von vornherein deshalb unmöglich, weil sich nicht un-
mittelbar entscheiden läßt, ob einzelne Gesetze mehrmals
eingebracht sind und scheinbar verschiedene Anträge zu-
sammenfallen.i)
1. Gesetz: ne de capite dvis Romani iniussu populi iu-
dicaretur etc. (unten S. 480 f.).
2. Antrag, daß der durch Volksbeschluß seines Amtes
Entsetzte von der Bekleidung anderer Ämter ausgeschlossen
sei; zurückgezogen (S. 481).
3. — 7. Lex agraria, lex militaris, lex de iooipr](fia so-
ciorum, lex frumentaria, lex iudiciaria (S. 480 ff., 491 ff.).
8. Lex de provincia Asia a censoribus locanda (S. 482 f.).
9. Gesetz über neue Zölle (S. 483, 1).
10. — 12. Lex de horreis, lex de coloniis deducendis, lex
Viaria (S. 483).
13. Lex de provinciis consularibus (S. 484).
14. 15. Antrag auf Entsendung von Bürgerkolonien
nach Kapua und Tarent; Antrag auf Bürgerrechtsverleihung
an die Latiner (S. 485).
16. Antrag auf Bürgerrechtsverleihung an alle Bundes-
genossen (S. 488).
17. Antrag auf Abänderung der Stimmordnung in den
Zenturiatkomitien (S. 489).
die livianische Tradition auf C. Fannius' Annalen zurückzuführen, zu
kühn; sie hält einer näheren Prüfung nicht stand. Meyer kann ich
u. a. nicht beistimmen in seiner Leugnung der Möglichkeit irgend-
welcher poseidonischer Einflüsse bei Appian (S. 83, 2). Andeutungen
über eine besondere Gruppierung der Quellen bietet auch Cichorius
bei E. Drzezga, Die röm. Bundesgenossenpolitik von den Gracchen
bis zum Ausbruch des Bundesgenossenkrieges, Diss. Breslau 1907, 8 f.
*) Eine Übersicht über die Hauptgesetze nach den verschiedenen
Überlieferungen hat bereits Nitzsch, Gracchen 444, gegeben. Vgl.
Lange, Röm. Alterth. II 1,30 ff., Callegari a. a. 0. 52 ff., 72 ff. Doch fehlt
eine vollständige Zusammenstellung.
31*
476 Walther Judeich,
Immerhin muß zwischen einer Anzahl dieser Gesetze
ein engerer Zusammenhang bestanden haben, denn es werden
uns Bruchstücke ganz verschiedenen Inhalts einer später
veröffentlichten Rede, die er über die „beantragten Gesetze"
gehalten hat, überliefert. Er hat also allem Anschein nach
mehrere Bestimmungen zu einem Gesetzesstrauß vereinigt
und die Abstimmung en bloc beantragt. i)
Wann tat er das, und welche Gesetze gehörten zu dem
Strauße? Man hat diese Frage bisher verschieden beant-
wortet. Die Mehrheit der Forscher neigt zu der Ansicht,
daß die oratio de legibus promulgatis in Gracchus' zweites
Tribunat gehöre und bringt sie unmittelbar oder still-
schweigend in Verbindung mit Plutarchs Angabe (C. Gr.
12, 1), Gracchus habe nach seiner Rückkehr aus Afrika
im Jahre 122 „die übrigen Gesetze vorgelegt, um sie zur
Abstimmung bringen zu lassen". Eine Minderheit verlegt
sie ohne weitere Begründung in das erste Tribunat.^) Und
^) Gell. X 3, 2 legebamus adeo nuper o r at i o nem Gracchi d e
legibus promulgatis, vgl. IX 14, 16 C. Gracchus de le-
gibus promulgatis, Schol. Bobiensia z. Cic. pro Sulla 26 (S. 14,
15 Hildebrandt) et hie, quantum mea opinio est, imitatus est C. Gracchum ;
sie enim et ille de legibus promulgatis, Festus S. 201 M. C.
Gracchus de legibus a s e promulgatis. — Wann die in der
älteren republikanischen Zeit nicht ungewöhnliche Enbloc-Abstim-
mung (per saturam) über verschiedene Gesetze abgeschafft worden
ist, läßt sich nicht sagen. Die erste Spur dafür findet sich in dem
Repetundengesetz des Acilius vom J. 122 (§ 72, vgl. Mommsen, St. R.
III 336, 5 und unten S. 487). So besteht nicht der geringste Grund,
die Möglichkeit für C. Gracchus' Gesetzgebung zu leugnen. Ja viel-
leicht hat gerade diese Gesetzgebung Veranlassung zur Abschaffung
gegeben, als sich 122 die Nobilität zum Gegenangriff gegen C. Gracchus
aufraffte, und auch das aus Gracchus' Kreise stammende acilische
Gesetz mußte damit rechnen. Daß in dem Exzerpt Diodors XXXIV, 27
anscheinend von einer besonderen Abstimmung über das Richtergesetz
die Rede ist, bildet keinen ernsthaften Anstoß, denn dort wird nur
ein geflügeltes Wort des Gracchus (s. unten S. 482, 1) willkürlich und
anekdotenhaft von dem Exzerptor eingekleidet. Die Enbloc-Abstim-
mung scheint vielmehr ein einheitlicher Zug der gracchischen Politik
gewesen zu sein. Es ist wohl kein Zufall, daß wir bei C. Gracchus so oft
von Gesetzantragsgruppen und seltener von einzelnen Gesetzen hören.
2) Für 122 vgl. Nitzsch, Gracchen 398 ff.; C. Neumann, Gesch.
Roms während des Verfalles d. Republik 251 f. ; Herzog, Rom. Staats-
verf. I464A.; Callegari a. a. O. 133f; Kornemann a. a. O. 50 f. Für
Die Gesetze des Gaius Gracchus. 477
dahin verweisen sie in der Tat die ziemlich umfangreichen
Fragmente.
Schon das von Meyer mit Recht an den Anfang gestellte
deutet auf den erst in sein Amt eintretenden und nicht
auf den sich zur letzten Entscheidung rüstenden Tribunen:
„Wenn ich zu Euch hätte sprechen und von Euch hätte
fordern wollen, Ihr möget mir gestatten, in Ruhe zu bleiben,
da ich aus vornehmstem Geschlechte stamme, da ich meinen
Bruder um Eueretwillen verloren habe, da ich und mein
Knabe die einzigen Überlebenden seien vom Hause des
P. Africanus und Tiberius Gracchus, auf daß unsere Familie
nicht mit der Wurzel ausgerottet würde — ich weiß nicht,
ob ich das mit Euerem Willen von Euch erreicht hätte"
(Schol. Bob. u. 0.).
Ein anderes Bruchstück läßt sich am wahrscheinlich-
sten auf das nach allgemeiner Überlieferung ganz in die
Anfänge der gracchischen Reform gehörende Getreide-
gesetz beziehen. Gracchus widerlegt da die Auffassung,
daß er nur die Ansprüche der niederen Bevölkerung steigern
wolle: „Man sagt, das solle des Luxus wegen eingeführt
werden." ,,Das ist nicht Luxus, was für des Lebens Not-
durft beschafft wird." Es wäre denkbar, daß damit auch
in Zusammenhang stünden die dunklen Worte: „Was für
uns einzig als Schaustück herangebracht wird, das dient
ihnen gerade zum Gebrauch", doch bleibt hier die Beziehung
ganz ungewiß.^)
123 H. Meyer, Oratorum Rom. Fragm.S 1842, 234, J. Soergel de
Tiberio et Gaio Gracchis III, Progr. Erlangen 1866, 18 f. und Lange,
Rom. Altert. IIP 34, der aber unrichtig von einer Sammlung von
Reden, die den Titel orationes de legibus promulgaüs geführt habe,
spricht; die Anführungen erwähnen immer nur die eine Rede.
') Gell. IX 14, 16 ea luxurii causa aiunt institui. et ibidem infra
wriptum est: non est ea luxuries, quae necessario parentur vitae causa.
Vgl. Fest., S. 201 M. ostentum, quo nunc utimur interdum prodigit
vice, quin participaliter quoque dici solitum sit, non dubium facit etiam
C. Gracchus de legibus a se promulgatis, quom a\t : quod unum nobis
in ostentum, ipsis in usum adportatur. Meyer 238 faßt die Stelle in
anderem Sinne, er denkt an einen Gegensatz zwischen Plebejern (d. h.
wohl Volkspartei), die nur den Schaugenuß, und Patriziern (d. h.
wohl Senatspartei), die den wirklichen Nutzen von irgendeiner Maß-
regel hätten.
478 Walther Judeich,
Der bedeutendste Rest der Rede handelt von der grau-
samen Willkür römischer Beamten gegenüber angesehenen
Männern in Teanum Sidicinum, Ferentinum, Venusia und
von der Furcht vor solchen Übergriffen in Cales (Gell.* X, 3).
Die hier erwähnten Städte besaßen in gracchischer Zeit
sämtlich latinisches Recht, und gerade das hat wohl den
Hauptgrund abgegeben, Gracchus' große Programmrede
in das zweite Tribunat zu verlegen, in dem er sich nachweis-
lich gerade mit den Latinern und deren Stellung zur römischen
Bürgerschaft befaßt hat (s. unt.), aber zwingend ist dieser
Grund in keiner Weise. Im Gegenteil, Kornemanns zunächst
bestechende Auffassung, daß das zu Gracchus' Anträgen
aus dem Anfang des Jahres 122 gehörende Gesetz über
Verleihung des Bürgerrechts an die Latiner (Plut. C. Gr.
8, 3; App. b. c. 1, 23) nur auf Gleichstellung im Stimmrecht
{iooipr](pia) zu deuten sei, erweist sich bei genauerem Zu-
sehen als nicht stichhaltig. Durchaus richtig scheidet Korne-
mann 45 im Gegensatz zu der herrschenden Ansicht ein
Latinergesetz und ein Bundesgenossengesetz bzw. mehrere
Bundesgenossengesetze des C. Gracchus (s. unten) und
meint, daß nur dem Latinergesetz der Konkurrenzantrag
des senatsfreundlichen Tribunen des Jahres 122, Livius
Drusus, die Latiner im Felde vor der Prügelstrafe zu schützen,
gegenübergestellt werden könne, aber der von Kornemann
angenommene Inhalt des gracchischen Gesetzes, wie die
Wertung und die Zeitfolge, beruhen nur auf Vermutung
und finden in der Überlieferung keine Stütze. Bei dem
Latinergesetz ist von Verleihung des Vollbürgerrechts die
Rede, bei dem von Plutarch (C. Gr. 5, 1) in das erste Tribunat
des Gracchus' verlegten Bundesgenossengesetz — wie sich
erweisen wird, dem ersten Bundesgenossengesetz — von
der Stimmrechtsverleihung an alle Italiker.*) Das Latiner-
gesetz bedeutete also inhaltlich einen Fortschritt in Gracchus'
Forderungen. Daß Gaius Gracchus schon am Beginn seines
Amtes sich der Bundesgenossen annahm, hat nichts Wunder-
1) Darauf spielen auch die Worte bei Plutarch 9,2 an: in Si 6
fiii' (Gracchus) rols ylarivois iao\^t;^ini' StSoii iXvnei; die Latiner allein
werden genannt, weil in dem zweiten Gesetz nur von den Latinern
die Rede war.
Die Gesetze des Gaius Gracchus. 47<>
bares, nachdem, wie glaubwürdig überliefert wird, bereits
sein Bruder Tiberius die Verleihung des Bürgerrechts an
alle Italiker geplant hatte (Vell. II, 2, 2), und im Jahre 125
der Konsul Fulvius den Gedanken wieder aufgenommen
hatte (Val. Max. IX, 5, 1 ; App. I, 21). Daß sein Antrag an-
genommen wurde, wird durch die Zusammenstellung mit
den anderen sicher zu Gesetzen erhobenen Anträgen bei
Plutarch a. a. 0. sehr wahrscheinlich. Die Annahme erhält
schließlich eine unmittelbare Bestätigung durch die im Jahre
122 vom Konsul C. Fannius auf Drängen der Optimatenpartei
verfügte Ausweisung aller Nichtbürger aus Rom, gerade als
über das zweite Bundesgenossengesetz abgestimmt werden
sollte, mindestens war diese innerlich viel besser begründet.*)
Man fürchtete wohl eben nicht nur den Druck der anwesenden
Massen der Bundesgenossen auf die Bürger, sondern auch
die Ausübung des ihnen, sowohl den Latinern wie den anderen
Italikern, bereits verliehenen Stimmrechts.
Als nahezu sicheres Ergebnis der bisherigen Betrachtung
von C. Gracchus' Gesetzen kann man nach alledem hinstellen,
daß Gracchus seine Rede de legibus promulgatis im Beginn
seines ersten Tribunats hielt, und daß zu den von ihm vor-
gebrachten Anträgen das Getreidegesetz und ein Bundes-
genossengesetz gehörten. Weiter läßt sich schließen, daß,
wenn in einem Teil der Überlieferung, der plutarchisch-
livianischen (S. 474), bestimmte Gruppen von Gesetzen aus
dem Beginn von Gracchus' erstem Tribunat genannt werden,
wie namentlich bei Livius per. 60 lex frumentaria, lex agraria
und lex iudiciaria und bei Plutarch C. Gr. 5 lex agraria,
lex militaris, lex de sociis, lex frumentaria, lex iudiciaria^),
gerade diese die leges promulgatae gebildet haben, auf denen
') Plut. C. Gr. 12, 12, App. 1123, vgl. unten S. 488.
2) Nicht so klar liegt die Ausscheidung einer bestimmten Ge-
setzesgruppe bei Velieius 116,2, wo die wichtigsten Gesetze aus Grac-
chus' ganzem ersten Tribunat vereinigt sind. Mit Appians rhetorisch
zugespitzter, willkürlicher Gruppierung ist überhaupt nichts anzu-
fangen. Man braucht ihr nicht einmal mit E. Meyer 95, 4 die Ehre
anzutun mit der Annahme, daß Appian, wenn er alle gracchischen
Gesetze außer dem Getreidegesetz in das zweite Tribunat verlegt,
Tribunenwahl (im Sommer) und Tribunenantritt (10. Dezember) ver-
wechselt habe.
4§0 VValther Judeich,
Gracchus seine Reform aufbauen wollte. In der Tat bilden
diese Gesetze innerlich und politisch eine Einheit. Sie sind
meisterlich so zusammengefügt, daß alle Parteien, außer
der herrschenden Optimatenpartei, darin auf ihre Rechnung
kamen und dafür interessiert werden mußten. Das Acker-
gesetz, das Tiberius Gracchus' Gesetz in der erweiterten
Form wiederherstellte, und das Militärgesetz, das Einkleidung
von Staats wegen verfügte, jeden Abzug vom Sold dafür
verbot und die Einziehung zum Kriegsdienst vor dem 17. Jahre
untersagte, waren für die ländliche Plebs bestimmt. Das
Getreidegesetz mit der Festsetzung eines sehr mäßigen
Vorzugspreises, zu dem dem Volk aus den Staatsmagazinen
Getreide geliefert werden sollte, galt für die städtische
Plebs, das Richtergesetz mit der Einführung von Ritter-
geschworenen neben den bisher allmächtigen Senatsgeschwo-
renen (S. 491 ff.) für die Ritter, das Bundesgenossengesetz für
alle Bundesgenossen einschließlich der schon im beschränkten
Maße mitstimmenden Latiner. Und wenn man über die
Gesetze nicht einzeln, sondern als ein Ganzes abstimmen
ließ, war die beste Aussicht, daß sie angenommen wurden;
sie sind auch angenommen worden.
Mit dieser Erkenntnis ist eine feste Grundlage gewonnen
für die Beurteilung von Gaius Gracchus' gesamter gesetz-
geberischer Tätigkeit, über die die Meinungen bisher so
schwankten und schwanken mußten, weil eine rein sachliche
oder psychologische Betrachtung ohne jede Stütze in einer
bestimmten Überlieferung immer problematisch bleiben muß.
Plutarch hat sich im ganzen wie im einzelnen als der beste
Führer erwiesen, ihm müssen wir zunächst auch weiter folgen,
und die Probe auf seine Führung wird sein, ob sich zwischen
der Folge der Gesetze, wie er sie überliefert, ein innerer
Zusammenhang ergibt.
Plutarch C. Gr. 4, 1. 2 verlegt vor die Gruppe der „leg^s
promulgatae" an den Anfang von Gracchus' Tribunat zwei
Anträge persönlicher Art. Einer richtete sich gegen M. Oc-
tavius, den Kollegen und politischen Gegner seines Bruders
Tiberius, dem dieser durch Volksbeschluß das Tribunat
hatte aberkennen lassen. Der Antrag verbot die Bekleidung
eines neuen Amtes für jeden, den das Volk seines Amtes
Die Gesetze des Gaius Gracchus. 481
entsetzt hatte. Gracchus soll ihn dann seiner Mutter Cor-
nelia zuliebe haben fallen lassen. i) Der zweite Antrag traf
P. Popillius Lacnas, den Konsul des Jahres 132, der die
Verfolgung der Anhänger des Tiberius Gracchus geleitet
hatte: Wer einen Bürger ohne Urteilsspruch verbannt hätte,
sollte dem Volksgericht und selbst der Verbannung verfallen. 2)
Niemand hat m. W. diese Gesetze und die Zeit ihrer
Beantragung bezweifelt. Sie leiten C. Gracchus' Vorgehen
sehr verständlich ein. An den Bruder knüpft er an. Die
Gültigkeit auch der ungewöhnlichen und als ungesetzmäßig
angefochtenen Maßregel der Entsetzung des M. Octavius
will er für immer festlegen, das Verfahren der siegreichen
Gegenpartei als widergesetzlich brandmarken. Unmittelbar
damit verknüpft sich die Vorführung der Stärke der gracchi-
schen Partei und der absoluten Gewalt des Volkswillens, die
Erhöhung der eigenen Popularität.
Auf diesem Boden baut Gaius weiter für die Wieder-
aufnahme von des Bruders Werk in den „leges promulgatae'' .
Nicht nur die verschiedenen für die Unterstützung der grac-
chischen Pläne wichtigen Parteien sind bei ihnen berück-
sichtigt, sondern auch die sämtlichen Gesetzesgedanken des
Tiberius Gracchus, von denen wir Kunde haben. Abgesehen
von dem Angel- und Kernpunkt der gracchischen Reform
der lex agraria, die durch allerhand Zusätze, namentlich
durch die Aberkennung der richterlichen Gewalt der Acker-
triumviren im Jahre 129 unwirksam gemacht war und in
alter Kraft wiederhergestellt werden mußte, hatte auch
Tiberius eine lex de sociis geplant (S. 479), dazu eine lex
militaris, eine lex iudiciaria.^) Gaius läßt sich nur bei der
Wiederaufnahme der Anträge von dem politisch Erreichbaren
leiten. Er hatte gelernt. Neu ist allein seine lex frumen-
taria, deren demagogische Tendenz klar zutage liegt. Gaius
1) Plut. C. Gr. 4, 1.2. Vgl. Diod. XXX IV 25, 2, der von einer
Verbannung des Octavius redet; vielleicht liegt da eine Verwechslung
oder falsche Verknüpfung mit Gracchus' zweitem Antrag vor (s. u,).
") Plut. a. a. O. Cic. pro Rab. perd. 12. de domo 82, vgl. Lange,
R. A. I1P31.
3) Plut. Ti. Gr. 16, 1. Dio frgm. 83, 7 B. Macrob. Sat. III 14, 6.
Vell. 112,2.
482 Walther Judeich,
ist davor nicht zurückgeschreckt, zunächst wohl, weil ihm
der Zweck, die Durchbringung seiner anderen Gesetze, das
Mittel heiligte, dann aber aus einer gewissen Kampfesfreude
und dem Haß gegen die herrschende Senatspartei, den auch
das bekannte geflügelte Wort, wahrscheinlich über sein
Richtergesetz, widerspiegelt: „Ich habe Dolche auf den
Markt geworfen, mit denen sich die Feinde selbst zerfleischen
mögen."!)
Für die Deckung der durch die lex frumentaria ent-
stehenden großen Kosten scheint aber Gaius wenigstens
wieder auf einen schon von seinem Bruder betretenen Weg
zurückgekommen zu sein, auf die Verwertung der attalischen
Erbschaft, deren Barmittel eben Tiberius bereits für die
Ausstattung der durch sein Ackergesetz geschaffenen Klein-
bauerngüter hatte verwenden lassen, deren Landgebiet er
dem Senat entzogen und der Verfügung des Volkes über-
wiesen hatte. 2) Gaius zog mit seinem Antrag, die Provinz
Asia künftig durch die Zensoren zu verpachten, nur die
Konsequenz dieses Vorgehens^), und als Zweck der dadurch
geschaffenen Lex Sempronia wird ausdrücklich die Ver-
pflegung der Massen angegeben (Flor. II, 3, 2 Rossb.).
Das Getreidegesetz war auch das einzige Gesetz der „leges
promulgatae", das größere Mittel erforderte.
Ob etwa die lex de provincia Asia selbst zu dem Ge-
setzesstrauß des Gaius Gracchus gehörte (Lange III^, 31),
ist nicht festzustellen, aber durch nichts gefordert, wenn wir
Plutarchs Aufzählung der Gesetze (C. Gr. 5, 1.2) unmittel-
1) Cic. de leg. 1 1 1 20. C. vero Gracchus ruinis et iis sicis, qiias ipse
se proiecisse in forum dixit, quibus digladiarentur inter se cives, tionne
omnem rei publicae statum deturbavit? Cicero sagt cives; den wirklichen
Wortlaut dürfen wir wohl dem anderen Wort entnehmen, das ver-
mutlich auch auf die lex iudiciaria geht: „Das Schwert sitzt den
Feinden (txd-Qols) an der Kehle, wie auch über das andere das
Schicksal befindet, ich bin's zufrieden." Diod. XXXVI 27. Vgl.^end-
lich Diod. XXXVII 9: „Ich werde das Schwert nicht von mir lassen,
das ich den Senatsleuten von der Seite gerissen habe."
2) Plut. T. Gr. 14, 1. 2, Gros. V 8, 4 (Aur. Vict.) de vir. illustr. 64, 5.
Vgl. Val. Max. 1112,17.
3) Cic. Verr. III 12, vgl. ad Att. I 17, 9. App. b. c. V 4. SchoL
Bob. z. pro Plancio 31, S. 133,5, Hildebr. Lex agr. 82.
Die Gesetze des Gaius Gracchus. 4S3
bar gelten lassen, sogar ausgeschlossen. Wahrscheinlich han-
delt es sich bei dem Gesetz nur um den Ausbau der in den
leges promulgatae begründeten großen Reform, und in ihm
waren außer dem Hauptpunkt auch weitere Bestimmungen
für die finanzielle Ausnutzung der Provinz getroffen. i)
Ein solcher Ausbau ist auch in den anderen Bestimmungen,
die Plutarch weiterhin aus Gaius' erstem Tribunatsjahre
überliefert, deutlich erkennbar. So bildete die Anlage der
großen Getreidespeicher, der fiorrea Sempronia, eine un-
mittelbare Ergänzung der lex frumentaria (Fest. p. 290,
M. Flut. C. Gr. 6, 3). Und die Befugnis der wieder mit der
alten Macht ausgestatteten Ackertriumvirn wurde durch
das Recht der Koloniegründung und des Wegebaues er-
weitert.2) Plutarch behauptet zwar, daß Gracchus sich dabei
1) Daß die lex de provincia Asia nicht unmittelbar mit der lex
jrumentaria verbunden war, wird schon durch den heftigen Wider-
spruch und die Klage der Optimaten nahegelegt, daß man die Staats-
kasse durch die Getreidespenden erschöpfe (Cic. pro Sest. 103, de off.
1 1 72, Tusc, I II 48 f.). Auf dieses Gesetz über Asien hat man schon
längst richtig die Angabe des Velleius II 6, 3, daß Gracchus neue Zölle
■eingeführt habe, bezogen und in der von Gracchus bekämpften lex
Aufeia, in der von Vermehrung der Steuern und von der Rücksicht
auf die Könige Nikomedes von Bithynien und Mithradates von Pontus
die Rede war (Gell. XI 10), ein Gegenstück zu dem griechischen An-
trage erkennt. Vielleicht handelte es sich bei Gracchus um die Er-
richtung einer besonderen Zollgrenze zwischen der asiatischen Pro-
vinz und den benachbarten Königreichen. In glänzender Weise hatte
übrigens Gracchus auch für dieses Gesetz wieder verschiedene Parteien
gleichzeitig zu interessieren gewußt, die hauptstädtische Plebs wie
die bei der Verpachtung Asiens beteiligte Ritterpartei, ohne daß man
■es deshalb als Kampfgesetz zu betrachten und mit dem Richtergesetz
ohne weiteres zu verknüpfen braucht, wie Kornemann a. a. O. 48
vorschlägt.
2) Plut. C. Gr. 6, 3. 7, vgl. App. I 23. Appian verlegt dieses Ge-
setz in das zweite Tribunat, offenbar weil er fälschlich das allgemeine
Recht der Koloniegründung mit den auf Grund dieses Rechtes von
Gracchus in seinem zweiten Tribunat wirklich beantragten Kolonien
•(s. unten) zusammenwarf. Dieser Fehler ist auch von den Neueren
nachgemacht worden, z.B. von Lange III- 37, der überdies ohne
Grimd aus Plutarch erschließt, daß es sich hier nicht um tribunicische
Gesetze, sondern um von Gracchus veranlaßte Senatsbeschlüsse han-
dele. Bei Plutarch ist aber scharf zu trennen zwischen einem wirklich
<lurch Gracchus beeinflußten Senatsbeschluß, der einem spanischen
484 Walther Judeich,
immer wieder als vollziehenden Beamten für die einzelnen
Aufgaben besonders habe wählen lassen, aber hier spricht
aus ihm wohl die Gracchus feindliche Quelle (Poseidonios?).
Es ist gegen Recht und Brauch der Zeit, einen einzelnen
mit so weitgehenden außerordentlichen Befugnissen zu be-^
trauen, auch das Ackergesetz vollzogen Triumvirn, und
anderseits stehen die Befugnisse in so enger Beziehung zu
dem Ackergesetz, daß sie folgerichtig nur von den Triumvirn
übernommen werden konnten. Die „monarchische Gewalt",,
die die Gegner Gracchus vorwarfen^), konnte dieser trotzdem
ausüben, denn er war eben die Seele und das Haupt des.
Ackertriumvirn- wie des Volkstribunenkollegiums. Er be-
schied die Menge von Unterbeamten, die bei seinen viel-
seitigen Aufgaben beteiligt waren. In dieser vielbewunderten
und vielgehaßten Machtstellung hat er auch über die Be-
setzung des Konsulats für das Jahr 122 verfügt und selbst
das Tribunat wieder erhalten. Damals stand C. Gracchus^
auf seiner Höhe.
In diese Höhe fällt vermutlich noch ein zeitlos überliefertes.
Gesetz — Plutarch schweigt davon — , das bis an das Ende
der Republik hin maßgebend geblieben ist, die lex Sempronia
de provinciis consularibus.^) Sie befreite die amtierenden
Konsuln von der Gunst des Senats dadurch, daß sie die
Bestimmung der konsularischen Provinzen schon vor der
Wahl des künftigen Inhabers anordnete. Man möchte sie
deshalb am liebsten in Verbindung bringen mit der durch
Gracchus begünstigten Wahl des Konsuls für 122, C. Fannius
(Plut. C. Gr. 8, 2).
Auf die Machthöhe folgt im zweiten Tribunatsjahr
ein jäher Sturz. Anscheinend hat Gracchus in diesem Jahre
überhaupt kein Gesetz mehr durchgebracht. Und die Ge-
setzesanträge,' die wir kennen lernen, atmen einen ganz
anderen Geist als wie die ersten. Es fehlt jene sorgsame
Verknüpfung verschiedener Interessen, jenes staatsmännische
Statthalter die rückhaltlose Ausbeutung seiner Provinz untersagte
(c. 6, 2), und den in Anknüpfung daran aufgezählten neuen gracchi-
schen Gesetzen (6, 3).
1) Plut. C. Gr. 6,1. Diod. XXXIV 25, 1. Vell. 116,4.
' *) Cic. de prov. cons. 3. de domo 24. Sali. lug. 27, 3.
Die Gesetze des Qaius Gracchus. 485
Verständnis, jene Kampfesfreude, die die früiieren Gesetze
auszeichnet. Die neuen Anträge weisen tatsächlich den
Charakter auf, mit dem sie uns Piutarch überliefert, den
Charakter von Augenbhcksschöpfungen, um die einmal
errungene Popularität zu behaupten. Auch tritt Gracchus'
Persönlichkeit in dem zweiten Tribunat lange nicht so be-
herrschend hervor wie im ersten. Die Freunde handeln mit
ihm und für ihn, Rubrius, M. Acilius Glabrio, M. Fulvius
Flaccus. Sie bringen wichtige Gesetze durch, während im
«rsten Tribunat, soweit unsere Kenntnis reicht, Gracchus
allein Antragsteller war, und beeinflussen teilweise Gracchus'
Politik.
Piutarch (8, 3) nennt als erste Vorschläge von Gaius
Oracchus selbst die Gründung von Bürgerkolonien in Tarent
und Kapua, und die volle Bürgerrechtsverleihung an die
Latiner. Beide Anträge bilden nur die Weiterführung von
Plänen, deren Verwirklichung Gracchus bereits mit seinen
früheren Gesetzen in Angriff genommen hatte, aber sie sind
in ihrer Wirkung viel beschränkter als diese und vorwiegend
■für eine Bevölkerungsgruppe berechnet, an deren Unter-
stützung Gracchus besonders lag, für den guten Mittelstand
bei Bürgern und Bundesgenossen. Es wird ausdrücklich
überliefert (Plut. C. Gr. 9, 2), daß Gracchus beabsichtigt
habe, die ,, feinsten" Bürger (rotg x«?££<7räToi;g twv noli-
xMv) in die Kolonie zu entsenden, d. h. besonders
brauchbare und tüchtige Elemente, die in den alten Kultur-
mittelpunkten das alte wahrhafte Römertum heimisch
machen sollten. i) Dieselben Elemente empfingen auch durch
die meist wohlhabenden und seit so langer Zeit eng mit
Rom verbundenen Latiner eine wertvolle Verstärkung.
Gegen beide Anträge erhob im Auftrage des Senats
der optimatisch gesinnte Mittribun des Gracchus, M, Livius
^) Für den an sich hübschen Gedanken Kornemanns a, a. O. 49,
daß Gracchus bei den Koioniegründungen gerade in Tarent und Kapua
(und später Karthago) in erster Linie Handelsinteresse und eine Be-
günstigung der Ritter veranlaßt habe, läßt sich weder aus den
Quellen noch aus der allgemeinen Lage eine ausreichende Begründung
geben. Gracchus wählte als Kolonie Kapua und Tarent zunächst
wohl, weil dieses Gebiet verfügbar und für den Anbau besonders
lockend war.
486 Walther Judeich,
Drusus, Einspruch, zugleich suchte er durch andere Gesetze
Gracchus in der Volksfreundlichkeit zu übertrumpfen und
die Massen zu sich herüberzuziehen. Er beantragte, viel-
leicht nach gracchischem Muster auch en bloc, statt zwei
Kolonien zwölf mit je 3000 Kolonisten der ärmsten Be-
völkerung, Befreiung der durch die Ackertriumvirn ver-
sorgten Bauern von ihrer Pacht an den Staat, und Schutz
der im Heer dienenden Latiner vor Prügelstrafe. Dabei
lehnte er ganz im Gegensatz zu Gracchus alle mit seinen
Vorschlägen verbundenen Ämter und Würden ab. So fielen
Gracchus' Anträge, die des Livius Drusus wurden Gesetz. i>
Die italischen Kolonien, von deren Gründung wir in dieser
Zeit hören, Scolacium-Minervium und Tarentum-Neptunia,
gehen auf Drusus' und nicht auf Gracchus' Anweisungen
zurück. 2)
1) Plut. C. Gr. 8, 4—10, 1, App. I 23 (Vict.) de vir. illustr. 65, 3.
Ein Einspruch des Gracchus gegen Livius' Gesetze, wie ihn Lange
IIP 45 annimmt, ist weder überliefert noch an sich wahrscheinHch.
Ebensowenig läßt sich nachweisen, daß, wie man gelegentlich ver-
mutet hat, die Anträge des Livius erst in die Zeit von Gracchus' Ab-
wesenheit in Karthago gefallen sind.
2) Liv. per. 60. Vell. I 15, 4, der freilich die Gründung in das
Jahr 123 verlegt, ebenso wie Eutrop IV 21 und Orosius V 12, 2 die
Kolonisation Karthagos durch Gracchus in diesem Jahre ansetzen.
Hier liegt zweifellos ein Irrtum vor. Der herrschenden Ansicht, daß
man zwischen Beschluß (123) und Ausführung (122) zu scheiden habe,
kann ich mich nicht anschließen. Ganz abgesehen von dem Wider-
spruch gegen die erzählenden Berichte, die eben Livius' Vorgehen
erst durch Gracchus' Vorgehen während seines zweiten Tribunats
hervorgerufen sein lassen, ist nach den sorgfältigen Feststellungen
Mommsens über das Trinundinum (St. R. III 376, 2) eine Abstimmung
über einen mit dem Antritt der Tribunen am 10. Dez. gestellten An-
trag bis zum 31. Dez. gar nicht mehr möglich. Noch klarer liegt der
Irrtum bei Karthago zutage. — Nissen, Ital. Landesk. II 705, 4 glaubt
zwar, daß in Kapua wenigstens mit den Vermessungen für die grac-
chische Kolonie begonnen worden sei, und Cicero de leg. agr. 11,81
irre, wenn er behaupte, der ager Campanus sei unter den Gracchen
nicht aufgeteilt worden, aber seine Meinung läßt sich nicht halten.
Der Stein CIL X 3861 ^ Dessau ILS I 24, ein Grenzstein der Acker-
triumvirn Gracchus, Appius Claudius, P. Licinius, auf den er sich
beruft, stammt aus dem Jahre 132 und hat mit der Kolonie Kapua
unmittelbar nichts zu tim. Vgl. auch Kubitschek b. Pauly-Wissowa
III 1441 f.
Die Gesetze des Gaius Gracchus. 487
Der Gegenstoß der gracchischen Partei gegen die livia-
nischen Gesetze bildete einmal wahrscheinlich die Lex
Rubria zur Aussendung einer Kolonie nach Karthago, die
Plutarch (10,2) gerade im Anschluß an Livius' Wirksamkeit
berichtet und später die lex Acilia repetundarum.^) Die
zweite setzt die erste voraus (§ 22), aus beiden spricht auch
derselbe Geist, und zwar gerade die Form gracchischer
Politik, die wir auch sonst in jener Zeit besonders ausge-
prägt finden, die Begünstigung der Bundesgenossen, in denen
Gracchus, da seine alte Parteigruppe ihm zum Teil ent-
fremdet war, jetzt wachsend seine Stütze sucht. Angeblich
hat Gracchus als Vorstand der Koloniegründungskommission
beabsichtigt, ohne weiteres Bundesgenossen als Bürger-
kolonisten in Karthago aufzunehmen. 2) Und in dem acilischen
Gesetz wird den erfolgreichen Angebern, sofern sie nicht
Bürger sind, das Bürgerrecht, und den Latinern unter ihnen,
die das Bürgerrecht ablehnen, die Provokation an das
Volk wie den Bürgern zugesichert (§ 76 ff.). Den gleichen
Gedanken der Zulassung der Provokation für Nichtbürger
hatte auch M. Fulvius Flaccus als Konsul im Jahre 125
verfochten, derselbe Flaccus, der damals Gracchus' treuester
und tätigster Genosse war, und dem man gerade damals
die heimliche Aufstachelung der Bundesgenossen vorwarf. 3)
In der nächstfolgenden Zeit ist für Acilius' Gesetz kein
Platz mehr.
Über zwei Monate blieb Gracchus von Rom fern, um
die neue karthagische Kolonie einzurichten. Die lange Ab-
wesenheit wurde für ihn zum Verhängnis. Die Gegner hatten
ihren ersten Sieg auszunutzen verstanden, der Abfall in den
») über die 1. Rubria vgl. außer Plutarch die S. 486 Anm. 2
angeführten Stellen, über die erhaltene I. Acilia CIL. I 198 = Bruns^
fontes* 55 ff., Cic. in Verr. act. I 51 f., M. Ziegler, fasti tribunorum
plebis 133—70, Progr. Ulm 1903, 6.
*) App. 1 24, wo allerdings diese Absicht dem Gracchus und
Fulvius Flaccus, der hier als Begleiter des Gracchus nach Afrika er-
scheint, erst für die Zeit der Rückkehr von Karthago zugeschrieben
wird. Die Darstellung ist nicht ganz klar, Appian hat anscheinend
stark verkürzt. Sicher steht der Plan mit Flaccus' Agitation bei den
Bundesgenossen in Beziehung (s. Anm. 2).
') Val. Max. 1X5, 1 vgl. App. 121; 34, Plut. C. Gr. 10,3; 11, 2.
488 Walther Judeich,
eigenen Reihen hatte weitere Fortschritte gemacht. Gracchus
war, als er heimkehrte, machtlos dagegen und suchte zu-
nächst nur Anschluß bei den Ärmsten unter der haupt-
städtischen Plebs, dann brachte er die übrigen Gesetzes-
anträge ein (Plut. C. Gr. 12, 1). Welche waren das? Die
erzählende Überlieferung führt sie nicht besonders auf,
namentlich schweigt auch Plutarch. Dennoch kann darüber
kein Zweifel sein. Zwei Anträge von der früher gegebenen
Übersicht sind nur noch übrig, und eben sie passen mit ihrem
Inhalt gerade in diese Zeit, ein Bundesgenossengesetz, das
anscheinend für alle Bundesgenossen das Bürgerrecht ver-
langte, und ein Gesetz zur Reform der Abstimmung in den
Zenturiatkomitien, in denen die einzelnen Zenturien künftig
nicht mehr nach der alten „servianischen Ordnung", sondern
nach Loswahl ihre Stimme abgeben sollten.
Daß Gracchus in der Mitte seines zweiten Tribunats
kurz vor den Neuwahlen ein Bundesgenossengesetz einge-
bracht hat, ist gesichert durch die Nachricht, daß der Konsul
122 C. Fannius eine Rede de sociis et de nomine Latino gegen
Gracchus gehalten habe^), und durch die außerordentliche
Maßregel des Senats, daß er durch den Konsul allen Bundes-
genossen den Aufenthalt in Rom für die Abstimmungstage
verbieten ließ, anscheinend eine willkürliche Wiederaufnahme
des inzwischen abgeschafften und seinerzeit von Gracchus
bekämpften Gesetzes des M. Junius Pennus vom Jahre 126. 2)
Daß Gracchus' Gesetz verschieden war von seinem Latiner-
gesetz am Beginn des zweiten Tribunats, läßt sich aus der
Erwähnung der „Bundesgenossen" neben den Latinern,
wie aus dem Gang von Plutarchs Erzählung entnehmen,
ist auch von Kornemann (49 f.) schon hervorgehoben worden,
nur den Inhalt wird man anders zu fassen haben, als es Korne-
mann tut. Inhaltlich werden uns nicht nur zwei, sondern
drei Bundesgenossengesetze überliefert: gleiches Stimmrecht
mit den römischen Bürgern für alle Bundesgenossen, Ver-
1) Cic. Brut. 99. Daß die Rede aus Fannius' Konsulat 122 stammt,
ist zweifellos, denn vorher war Fannius noch Gracchus' Freund (Plut.
C. Gr. 8, 2, 3).
2) Vgl. oben S. 479 über das Gesetz des lunius Pennus Lange,
R. A. 1112 26,29.
Die Gesetze des Gaius Gracchus. 489
leihung des Bürgerrechts an die Latiner, Verleihung des Bür-
gerrechts an alle Bundesgenossen. Und unabhängig davon
fordern drei auch die Berichte über Gracchus' Tätigkeit,
voran wieder der Plutarchs, wenngleich er auf den letzten
Gesetzesantrag nur eben anspielt.^) Immer steigend in seinen
Forderungen hat Gracchus die Frage angegriffen.
Der Antrag auf Veränderung der Stimmordnung in
den Zenturiatkomitien ist undatiert, nur eine einzige Stelle
<Ps.-Sall. de rep. II, 8, 1) berichtet davon, aber er gehört
zu den Anträgen, die nicht Gesetz geworden sind (Mommsen,
St. R. III, 294), und kam in gleicher Weise den ärmeren
Bürgern wie den bundesgenössischen Neubürgern zugute,
aber eben nur diesen. Gracchus hat vielleicht hier noch
einmal versucht, die Interessen mehrerer Parteigruppen
einheitlich zusammenzufassen, wenngleich er damals seine
alte Praxis der Enbloc-Abstimmung wahrscheinlich nicht
mehr verwenden konnte (S. 476). Ob neben diesen beiden
Anträgen von Gracchus auch noch andere eingebracht
wurden, läßt sich nicht sagen, nötig ist es nicht. Jedenfalls
ist Gracchus auch dieses Mal wieder gescheitert, und diese
Niederlage hat weiterhin zur Beseitigung der meisten seiner
Gesetze und zur Katastrophe geführt.
Die plutarchische Überlieferung gibt nach alledem
Zusammen mit den anderen Quellen ein klares einheitliches
Bild von Gracchus' Gesetzeswerk. Und damit gelangen wir
auch zu einer tieferen und sichereren Kenntnis der viel-
^) Die genaue Fassung des letzten Antrages läßt sich nicht fest-
stellen. Nur auf ihn paßt streng genommen Velleius' Angabe 116,2,
Gracchus habe versucht, allen Itallkern das Bürgerrecht zu verleihen
und Italien bis beinahe zu den Alpen auszudehnen. In den erhal-
tenen spärlichen Fragmenten von Fannius' Gegenrede (H. Meyer,
Orat. Rom. Fragm. 200 f.) werden Drohungen des Gracchus erwähnt.
Außerdem wird von der Konkurrenz gesprochen, die die alten Voll-
bürger von den latinischen Neubürgern zu fürchten hätten. Damit
ist aber nicht gesagt, daß Gracchus' Antrag nur die Latiner und ihr
Bürgerrecht betraf. Auch wenn für alle Bundesgenossen das Bürger-
recht gefordert war, konnte die Stellung der Latiner besonders erörtert
werden. Möglich aber, daß Gracchus in der Tat nur für die Latiner
volles Bürgerrecht, für die übrigen Italiker Latinerrecht neben dem
schon bewilligten gleichen Stimmrecht verlangte. Jedenfalls ging er
über seine früheren Anträge hinaus.
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 32
490 Walther Judeich,
umstrittenen Persönlichkeit und ihrer Motive. Auch ohne
daß er eine bestimmte Folge von Gaius Gracchus' Gesetzen
geben wollte und konnte, hat Th.Mommsen (R.G. IP,113ff.>
schon vollkommen richtig erkannt, daß bei Gracchus' Tätig-
keit ein wohlüberlegter umfassender Plan vorliegt, aber
unrichtig ist sein Gedanke, daß Gracchus' Plan in dem
Sturz der Demokratie, in der Schöpfung eines unum-
schränkten Volkstribunats auf Lebenszeit gegipfelt habe;
er findet wohl heute auch keine Vertretung mehr. Nur zum
Teil richtig ist freilich auch K. W. Nitzschs Vermutung
(Gracchen 397), daß das Ziel der gesamten gracchischen
Reform die Neuschöpfung eines römischen Bauernstandes
aus den Bundesgenossen gewesen sei. Die in der gracchischen
Zeit schwebende Bundesgenossenfrage ist wohl ein wichtiger
Bestandteil von Gracchus' Politik, ein Mittel für ihre Durch-
führung, aber niemals der Endzweck gewesen. Dieser End-
zweck bildet vielmehr die Wiederherstellung und Vollendung
von dem Werke seines Bruders, dessen reine Ziele er kannte^
dessen tragisches Ende ihn tief erbittert hatte, mit vollem
Recht. Nicht die „Revolutionspartei", sondern der äußerste
rechte Flügel der regierenden Adelspartei hatte ohne Grund
zuerst zur brutalen Gewalt gegriffen. So hat der Gedanke
der Rache für den ermordeten Bruder in dem leidenschaft-
lichen, tatkräftigen und glänzend begabten Mann von vorn-
herein tief Wurzel geschlagen, er bricht zeitweise lebhaft
und unmittelbar durch, aber auch er ist nie allein maß-
gebend. Der so sorgfältig zusammengefügte Bau der ersten
großen Gesetzesgruppe umschließt sozusagen alles, was der
Bruder gewollt hatte, im Kern die Hebung der ländlichen
Plebs, das andere ist Beiwerk. Daß Gaius wie schon Tiberius
im weiteren die Idee vorgeschwebt hat, aus den Italikern
diese Plebs zu stärken und zu ergänzen, ist wahrscheinlich,
schon die ergreifenden, mit Unrecht verdächtigten Worte
in Tiberius' großer Eingangsrede (Plut. Ti. Gr. 9, 4. 5) deuten
darauf hin. Doch der letzte entscheidende Antrag, der allen
Bundesgenossen das Bürgerrecht verleihen soll, ist fast
mehr in Gracchus' eigenem Interesse gestellt, der eine neue
Stütze sucht, als in dem der Italiker. Sein stolzes Wort,
daß er den durch die außerordentliche Verfügung des Senats
Die Gesetze des Gaius Gracchus. 491
von Rom ausgeschlossenen Bundesgenossen zu Hilfe kommen
werde, hat er nicht gehalten (Plut. C. Gr. 12, 2). Er hatte
dazu auch kein wirkliches Recht. Die schwere seelische
Enttäuschung, daß Gaius sich am Ende gerade von denen
verlassen sah, denen seines Bruders wie seine eigene Lebens-
arbeit gegolten hatte, von der bürgerlichen Kleinbauern-
schaft, hat wohl bei ihm zuerst die unpolitische Schroffheit
und Willkür ausgelöst, dann die Teilnahmslosigkeit und
Entmutigung, von der wir in seiner letzten Zeit hören.
Lange bevor die Katastrophe eintrat, war er ein gebrochener
Mann. Trotz der Verschiedenheit von seinem Bruder, der
siegenden und zwingenden Kraft seines Wesens, der Kampfes-
lust, der staatsmännischen Begabung, der Herrscherfreude
und Herrscherbegabung ist Gaius Gracchus doch wie Tiberius
ein Reformator geblieben, der verzichtete und verzweifelte,
als er mit gesetzlichen Mitteln nichts mehr erreichen konnte.
Für die Revolution war er, war die Zeit noch nicht reif.
Anhang.
C. Gracchus' Bichtergeeetz.
Die herrschende, besonders von Th. Mommsen begründete
Meinung läßt C. Gracchus zwei Richtergesetze einbringen, ein
milderes aus dem ersten Tribunat, das eine aus Senatoren und
Rittern gebildete Geschworenenschaft schuf, und ein schärferes,
das die Gerichte vollkommen den Rittern auslieferte.^) In der
Tat wird der Inhalt des gracchischen Gesetzes bald in der einen,
bald in der anderen Form angegeben, aber das Gewicht der beiden
Überlieferungsgruppen ist sehr verschieden. 2) Außerdem kennen
») Zeitschr. f. d. Altertumswissenschaft I, 1843, 817 ff. = Ges.
Schriften III, 1907, 343 ff., vgl. Staatsr. III 529 f. Lange, R. A.
III 38 f. Kubier u. Pauly-W. VI 289 f.
*) Auf der einen Seite stehen wieder Plutarch C. Gr. 5, comp. 2, 1
und Livius per. 60, d. h. eben die livianische ÜberUeferung, auf der
anderen Appian 122 und Diodor XXXIV 25 in stark rhetorisch ge-
färbten Überblicken über Gracchus' Gesetzestätigkeit, d. h. wohl
Poseidonios, und eine Anzahl allgemeiner Anspielungen, Vell. II 6,4.
Varro de vita pop. Rom. b. Non. p. 454. Plin. n. h. XXXIII 34. Tac.
XII 60. Flor. 115,3.
32*
492 Walther Judeich,
beide nur ein Richtergesetz, Und es könnte sich höchstens darum
handeln, ob dieses Gesetz im ersten oder im zweiten Tribunat
eingebracht worden ist. Die besten Gewährsmänner geben das
erste Tribunat an, und im ersten Tribunat ist nach dem, was
früher festgestellt worden ist, eigentlich auch nur Raum für
das Gesetz. So scheint die Entscheidung ganz leicht. Aber
es bleiben doch noch Schwierigkeiten für den Inhalt wie für
die Zeit des Gesetzes. Einmal scheint aus dem 29. Fragment
von Ciceros erster Rede pro Cornelio vom Jahre 65 hervorzugehen,
daß zuerst nach der lex Plautia aus dem Jahre 89 Senatoren und
römische Ritter zusammen Geschworene gewesen sind, und ferner
sind in dem wahrscheinlich 122 eingebrachten erhaltenen Repe-
tundengesetz des Acilius (S. 487) unter der dabei urteilenden
Richtergruppe von 450 Geschworenen die Senatoren ausdrücklich
ausgeschlossen.^) Um diese scheinbaren Widersprüche zu be-
seitigen, müssen wir die von Mommsen a. a. 0. eingehend er-
örterten Richtergesetze von der gracchischen Zeit bis in den
Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. kurz überblicken.
Zuerst soll Tiberius Gracchus 133 geplant haben, den Senats-
geschworenen die gleiche Zahl von Rittergeschworenen an die
Seite zu stellen (Plut. Ti. Gr. 16, 1), oder nach anderer Über-
lieferung (Dio Fr. 83, 7 B.) die Gerichte den Rittern überwiesen
haben. Es folgte C. Gracchus. Nach ihm brachte 106 der Konsul
Servilius Caepio die Geschworenengerichte tatsächlich an Ritter
und Senat (Obesq. 41 Cassiod. chron. z. d. J.) oder er gab, wie
Tacitus Ann. XII, 60 meldet, im Gegensatz zu Gracchus dem
Senat die Gerichte zurück. Im Jahre 91 beantragte der Tribun
M. Livius Drusus wieder, die 300 Senatoren durch 300 in den
Senat aufzunehmende Rittergeschworene zu verstärken. 2) Schließ-
lich verfügte die lex Plautia des Tribunen für 89, M. Plautius
Silvanus, da der Einfluß der Ritter in den Gerichten überwog,
daß jährlich von jeder Tribus 15 Geschworene (zusammen 525)
zu wählen seien.
1) Cic. pro Com. I, Frgm. 29 memoria teneo, cum primum senatores
cum equitibus Romanis lege Plotia iudicarent etc., vgl. Ascon. p. 79
z. d. St. In der lex Acilia ist wiederholt von den 450 Geschworenen
und ihrer Qualifikation die Rede (§ 12, 16, 22), die Stellen stützen
sich in der Lesung gegenseitig.
') App. b. c. 135, vgl. Liv. per. 71. Dagegen sprechen Velleius
II 13,2 und (Aur. Victor) de vir. illustr. 66,4, vgl. Asconius z. Cic.
pro Scauro, p. 19 Kiessl. wieder von einer Überweisung der Gerichte
an den Senat.
Die Gesetze des Gaius Gracchus. 493
Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich zunächst eine Be-
stätigung der Ansicht, daß, wenn uns das Gesetz des C. Gracchus
in verschiedenen Fassungen überliefert wird, wir deshalb nicht
an zwei Gesetze zu denken brauchen. Die gleiche Verschiedenheit
der Nachrichten liegt auch bei Ti. Gracchus und Servilius Caepio
vor, die sicher nur ein Gesetz beantragt haben. Ferner findet
sich der Gedanke von C. Gracchus' Gesetz, die Geschworenen
aus Senatoren und Rittern zu mischen bzw. eine Anzahl Ritter
für den Zweck in den Senat aufzunehmen, mehrfach wieder und
gewinnt damit an innerer Wahrscheinlichkeit. Endlich müssen,
nach den Gegenanträgen der Folgezeit zu schließen, in dem
gracchischen Gesetz tatsächlich die Ritter die Oberhand gehabt
haben. Daß sie aber deshalb allein Geschworene waren, ist da-
durch nicht gefordert und braucht auch nicht aus Ciceros Äuße-
rung in der cornelischen Rede und den nichtsenatorischen
Geschworenen des acilischen Gesetzes gefolgert zu werden. Bei
Cicero liegt eine gelegentliche Anspielung vor, die kaum den
Anspruch erhebt, den Termin in dem Wechsel der Geschworenen
authentisch festzulegen — Asconius' Erklärung bietet keinen
Gegenbeweis—, ganz abgesehen davon, daß Cicero sich auch geirrt
haben kann. Keinesfalls dürfen wir die Nachricht pressen. Und
-bei dem acilischen Gesetz handelt es sich eben um ein besonderes
Gesetz, das auch besondere Bestimmungen über die Zusammen-
setzung der Geschworenenschaft treffen konnte. Wenn man
bei den Erpressungsklagen die Senatoren, die Statthalterkandi-
daten, ausschloß, war das nur zu verständlich. Wir haben viel-
mehr eine Nachricht, die die Forderungen, welche wir an das
gracchische Gesetz zu stellen haben, unmittelbar erfüllt in Livius'
Angabe {per. 60), daß 600 Ritter in den Senat aufgenommen und
mit den 300 Senatoren die Geschworenenschaft bilden sollten.
Allerdings gibt Plutarch (C. Gr. 5, 2), der im Grunde wieder
durchaus mit Livius zusammenstimmt, etwas andere Zahlen,
300 Ritter und 300 Senatoren, aber seine Angabe ist später und
nicht ursprünglich, außerdem liegt es außerordentlich nahe,
bei diesen Zahlen an eine Verwechslung mit Ti. Gracchus ge-
plantem Gesetz und Livius Drusus' Antrag zu denken. Die be-
sondere Zahl der Periochae des Livius hat schon von vornherein
mehr für sich. Die livianische Nachricht geht auch gut zusammen
mit dem acilischen Gesetz, denn, wenn eine Geschworenenschaft
von 600 nicht senatorischen Mitgliedern bestand, ließ sich daraus
sehr gut ein Kollegium von 450 Geschworenen auswählen.^)
^) Ob die 600 Rittergeschworenen wirklich Senatoren werden
sollten, oder ob sie nur für die Gerichte mit den Senatoren gleich-
494 Walther Judeich, Die Gesetze des Gaius Gracchus.
C. Gracchus hat also in seinem ersten großen Gesetzesstrauß
wirklich sein Richtergesetz gebracht und darin den Rittern eine
überragende Stellung eingeräumt, ohne die Senatoren auszu-
schließen. Die optimatische Überlieferung konnte deshalb ganz
gut von einer Auslieferung der Gerichte an die Ritter sprechen,
um so mehr, als in dem acilischen Repetundengesetz, das im
Verlauf von Gracchus' zweitem Tribunat während seines Ringens
mit der Nobilität durchging, für den besonderen Fall tatsächlich
den Senatoren die Beteiligung unmöglich gemacht wurde (S. 492).
Die Verschärfung paßt gerade in diese Kampfzeit. Die gracchische
und acilische Geschworenenordnung hat dann wohl bestanden,
bis das servilische Gesetz, vorübergehend wenigstens, wieder
eine gleichmäßige Verteilung senatorischer und ritterlicher Ge-
schworener anordnete. Eine wirkliche Rückgabe der Gerichte
an den Senat erfolgte aber erst durch Sulla,
berechtigt zusammenwirken sollten, läßt sich nicht sicher entscheiden.
Wahrscheinlicher ist die zweite Möglichkeit, da die Rittergeschworenen
gegenüber den Senatsgeschworenen damals wie später als eine beson-
dere Gruppe angesehen worden sind. Auch versteht man nur so die
an sich nicht anzuzweifelnde Nachricht, daß C. Gracchus die Aus-
wahl der Rittergeschworenen übertragen wurde. Sie wurden also
nicht als Senatoren gerechnet. Aus welchem Kreis diese Rittergeschwo-
renen genommen wurden, ob aus der alten Staatsritterschaft oder aus
dem neu emporstrebenden Ritterstand, läßt sich ebenfalls nicht mit
voller Sicherheit feststellen; von vornherein möchte man das letztere
annehmen.
Gallikanismus und episkopalistische
Strömungen im deutschen Katholizismus
zwischen Tridentinum und Vaticanum.
Studien zur Geschichte der Lehre von dem Universalepiskopat
und der Unfehlbarkeit des Papstes.^)
Von
Fritz Vigener.
Der Historiker wird es tief begründet finden, daß ein
zentraler Punkt des katholischen Kirchenwesens erst in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dogmatisch ge-
sichert worden ist. Da, wo das System des Glaubens und das
der Organisation sich durchdringen, wo das Dogma vom
unfehlbaren Lehramt der Kirche zusammentrifft mit dem
Prinzip der monarchischen Verfassung, wo höchste Glaubens-
autorität und höchste Jurisdiktionsgewalt sich begegnen,
da waren Aufgaben gegeben, an denen zuerst Jahrhunderte
vorübergingen und dann Generationen sich abmühten, bis
die der staatlichen Bevormundung entrückte Kirche den
dogmatischen Abschluß vollziehen und, was mehr heißt,
auch ertragen konnte.
') Dieser Vortrag, der am 6. Februar 1913 in der Kultur-
wissenschaftlichen Gesellschaft zu Freiburg i. Br. gehalten wurde, ist
für den Druck an einzelnen Stellen erweitert; dagegen sind einige
einleitende und abschließende Bemerkungen, die an Studien über
Ketteier und das Vatikanische Konzil anknüpften, hier weggelassen,
um an anderem Orte in größerem Zusammenhange verwertet zu
-werden.
4% Fritz Vigener,
Die Idee der kirchlichen Unfehlbarkeit ist so alt
wie die Kirche. Die Kirche als Rechtsordnung, wie sie sich
aus dem Urchristentum entwickelt hat^), ist die einzige Ver-
mittlerin der Glaubenswahrheiten; sie hütet den Schatz,
göttlicher Offenbarung, sie bietet ihn den Gläubigen dar,,
sie genießt als die gottgesetzte Trägerin der Wahrheit den
Beistand Gottes, der sie vor Irrtum schützt. Der Anspruch
auf die Unfehlbarkeit in der Auslegung der Glaubenslehre
ist also mit der Kirche begriffsmäßig verbunden. Die Kirche
aber, die wir geschichtlich zuerst fassen können, ist nicht
Papstkirche, sondern Bischofskirche. Die Erhebung des.
römischen Primates, die Anerkennung des Primats durch
den Episkopat, die Verdichtung des primatus honoris zu
einem primatus jurisdictionis ist das Ergebnis einer in den.
Hauptstufen erkennbaren geschichtlichen Entwicklung. Den
letzten, förmlichen Abschluß hat gewiß erst das Vaticanum
gebracht. Tatsächlich aber hatte das Papsttum bereits auf
der Höhe des Mittelalters die monarchische Stellung er-
reicht. Man darf das ein Werk der päpstlichen Politik
1) Daß die älteste Christenheit nur den religiösen Begriff der
Kirche kannte, das hat auch Adolf Harnack, obwohl er an seiner
Anschauung von dem Dasein einer körperschaftlichen, rechtlichen
Ortsgemeindeverfassung im Urchristentum festhält, seinem Gegner
Rud. Sohm zugestanden. Sohms Darlegungen über den grundsätz-
lichen Unterschied zwischen Urchristentum und Katholizismus (zu-
erst in den Abh. der philol.-histor. Klasse der Sachs, Gesellsch. der
Wissensch. 27 [1909], Heft 3), die in einzelnen Punkten von Scheel
(Theol. Studien u. Kritiken 85 [1912], S. 403 f.) durch neue Zeugnisse-
und Erwägungen gestützt worden sind (vgl. jetzt die 2., als selbständige
Schrift 1912 veröffentlichte Auflage von Sohms „Wesen und Ur-
sprung des Katholizismus"), bleiben bestehen, auch wenn der Histo-
riker mit Ed. Schwartz (Histor. Zeitschr. 104 [1910], 609 ff., bes.
611 f.) bemerken wird, daß der Gegensatz zwischen Religion und Recht
von dem Juristen Sohm „aufs äußerste zugespitzt" ist. Vgl. ferner
Lietzmann in der Zeitschr. f. Wissenschaft!. Theologie 55 (1913)^.
Heft 2 und Scheel in der Dt. Literaturzeitung 1913, Nr. 26. Der
mehr dialektisch-apologetische als quellenmäßig-kritische Aufsatz von
P. A. Leder in der Zeitschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte-
32, Kanonist. Abteilung 1 (1911), S. 276 ff. („Das Problem der Ent-
stehung des Katholizismus. Kritische Äußerungen zu Harnack und
Sohm") ist von einem katholisch-kirchlichen Triumphgefühl erfüllt,
das als Herzensbedürfnis begreiflich, aber sachlich unbegründet und
für die Wissenschaft belanglos ist.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 497
nennen — aber nur dann, wenn man unter Politik nicht ledig-
lich die Ausnutzung und Überwindung fremder, weltlich-poli-
tischer Mächte begreift, sondern zugleich auch die Nieder-
haltung innerkirchlicher Widerstände durch die Ausbildung
und Anwendung eines päpstlichen Kirchenrechts. Schon
die ersten großen kirchenpolitischen Erfolge der Päpste
im Abendland sind nicht nur juristisch gerechtfertigt, son-
dern gutenteils auch juristisch vorbereitet; die päpstlichen
Dekretalen oder gar Pseudoisidor allein stellen gewiß
nicht d i e Grundlage der kirchlichen . .achtentfaltung des
Papsttums dar, aber doch eine Grundstütze, die ihre Kraft
im Mittelalter glänzend bewährt und ihre Tragfähigkeit nie
verloren hat. Das Dekretalenrecht, wie es seit dem 12. Jahr-
hundert ausgebaut worden ist, spiegelt das hierarchische
Kirchensystem in einheitlicher Auffassung juristisch wieder
und es sollte zugleich diesem System die letzte Vollendung
geben. Übrigens hat bereits Gregor VII. der papalistischen
Auffassung programmatische Prägung verliehen, nicht in
einer der christlichen Welt gewidmeten Kathedralentschei-
dung, aber in einer Aufzeichnung, die seine Gedanken in der
Form bindender Lehrsätze darbot. In dem Dictatus papae^)
ist die Idee von der monarchischen, unbeschränkten Gewalt
des römischen Bischofs mit absoluter Gewißheit als ver-
pflichtende Wahrheit hingestellt, aber auch mit deutlicher
Kampfrichtung gegen widerstrebende Elemente, deren Macht
nicht überwunden ist.^) Bedeutsam vor allem, daß die
') Die mit unverdientem Beifall aufgenommene Hypothese, daß
der Kardinal Deusdedit der Verfasser des Dictatus papae sei — E.
Hirsch, Die rechtliche Stellung der römischen Kurie und des Papstes
nach Kardinal Deusdedit: Archiv f. kathol. Kirchenrecht 88 (1908),
S. 599 Anm. 2, 601 u. ö. läßt sie einfach als Tatsache gelten — , ist
ein für allemal erledigt, seitdem das Registrum Gregors VII. als das
ursprüngliche Kanzleiregister erkannt ist. Vgl. darüber W. M. Peitz,
S. j. : Das Originalregister Gregors VII. (Sitzungsberichte der Wiener
Akademie, philos.-hist. Klasse 165, 5. Abhandig., 1911; S. 265 ff. über
den Dictatus); Blaul im Archiv für Urkundenforscliung 4 (1912),
S. 132 ff.; Caspar im Neuen Archiv der Gesellschaft für ältere dt. Ge-
schichtskunde 38 (1913), S. 143 ff. (S. 204 eine kurze Bemerkung über
den Dictatus).
2) Der Dictatus papae (Registr. Gregorii, II 55 a; Jaffe, Biblio-
theca rer. Germ. 2, S. 174 ff.) ist bequem zu benutzen in Mirbts
498 Fritz Vigener,
beiden Gedanken, die mit einer streng monarchischen Ver-
fassung der Kirche unmittelbar gegeben sind, die Idee der
Unfehlbarkeit des römischen Stuhles und die Idee des all-
gemeinen Bischoftums, des päpstlichen Universalepisko-
pates, sich in diesem bestimmtesten aller Bekenntnisse
Gregors VII. nachweisen lassen. i)
Auch die Meinung, daß das allgemeine Konzil den
Papst in seiner Gewalt beengen und sich als übergeordnete
Macht hinstellen könne, sah Gregor VII. als erledigt an. 2)
Tatsächlich ist ja die kirchliche Rechtsentwicklung vom
11. bis zum 14. Jahrhundert und nicht weniger die, durch
die Scholastik auch geistig neu gerechtfertigte, reale Gel-
tung des Papsttums in der Kirche eben durch die Superiorität
des Papsttums über den gesamten Episkopat gekennzeichnet.
Man darf wohl sagen, daß die Konzilien des 12. und 13. Jahr-
hunderts und selbst noch das von Vienne an und für sich so
gut wie das vatikanische und gewiß eifriger als dieses zu
einer Dogmatisierung des Universalepiskopates und der Un-
fehlbarkeit des Papstes grundsätzlich bereit gewesen wären.
Aber die Frage wurde nicht aufgeworfen, weil sie gar nicht
als eine der Lösung bedürftige Frage empfunden worden
ist. Daß eine Verschiedenheit der Auffassung über die
Stellung des Papstes in der Kirche vorhanden war, ist dann
freilich noch im 14. Jahrhundert der Kurie deutlich genug
offenbart worden, und nicht nur durch literarische Polemik.
In der konziliaren Idee, die vorher höchstens als politische
Quellen zur Geschichte des Papsttums und des röm. Katholiz., 2. A.,
S. 113, Nr. 201 (3. A., 1911, Nr, 255) oder in Bernheims Quellen zur
Gesch. des Investiturstreites (in der von Brandenburg und Seeliger
hg. Quellensammlung), Heft 1 (1907), S. 47. Den übersichtlichsten
Druck bietet jetzt (Sommer 1913) K. Brandi, Urkunden und Akten
für akademische Übungen zusammengestellt (S. 44, Nr. 29).
^) Dictatus § 22: Quod Romana ecclesia numquam erravit nee
in perpetuum, scriptura testante, errabit. Vgl. § 19, 23 und 26. —
§ 2, 3, 7 (Quod Uli soli licet pro temporis necessitate novas leges con-
dere ....). — Vgl. auch Gregors Brief von 1080 (Registr. VIII, 1;
Jaffe, Bibl. 2, 425): in qua [in sancta Romana ecclesia] nullus unquam
haereticus praefuisse dinoscitur, nee unquam praeficiendum praesertim
Domino promittente confidimus.
^) Dictatus § 16: Quod nulla synodus absque praeeepto eius debet,
generalis vocari. Vgl. § 3 und 25.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 499
Waffe gelegentlich eine wenig wirksame Rolle gespielt
hatte, hat sich jetzt die Gegenbewegung recht greifbar
geäußert. Das Schisma hat den Schleier zerrissen, der
die Einheitlichkeit des Kirchenbegriffs vortäuschte. Mit
Recht hat J. Haller*) nachdrücklich darauf hingewiesen,
daß es sich in den kirchlichen Kämpfen der Zeit des großen
Schismas um zwei einander ausschließende Anschauungen
vom Wesen der Kirche handelte. Die Gedanken, die nie
völlig untergegangen, aber zu Boden gedrückt waren, er-
hoben sich in den Kämpfen um die Wiederherstellung der
Kircheneinheit; die Lehre von der Superiorität des all-
gemeinen Konzils schloß sowohl die absolute Regierungs-
gewalt des Papstes in der Kirche als auch die lehramtliche
Unfehlbarkeit des ex cathedra entscheidenden Papstes aus.
Soweit der Konziliarismus eine förmliche Veränderung der
Kirchenverfassung durchsetzen wollte, ist er durch das
Papsttum überwunden worden. Die praktischen Fol-
gerungen aus der konziliaren Theorie hat die Kurie ab-
gewehrt; der damals hervorgetriebenen Doktrinen aber
ist sie erst auf dem vatikanischen Konzil Herr geworden.
Dem papalen Kirchenbegriff stand nicht mehr lediglich
eine ,,konziliare" Theorie, sondern vielmehr eine anders
geartete, ernsthaft und einheitlich aufgefaßte Idee vom
katholischen Kirchentum selbständig und mit dem Anspruch
auf Richtigkeit und Gültigkeit gegenüber; sie lief letzten
Endes darauf hinaus, dem Episkopat eine Mitwirkung bei
der Regierung der Kirche grundsätzlich zu wahren und ihm
seinen unbedingten und für unentbehrlich geltenden Anteil
an dem unfehlbaren Lehramt zu sichern. In Deutschland
hat allerdings die große Glaubensspaltung mit ihren staats-
und kirchenpolitischen Folgen diese episkopalistische Bewe-
gung im Katholizismus zurückgedrängt, fast vernichtet. 2) Im
^) Papsttum und Kirchenreform 1 (1903), S. 333.
^) Eine scheue Zurückhaltung vor der Wiederholung des bestimmt
formulierten Konstanzer Satzes von der Überordnung des allgemeinen
Konzils über den Papst zeigt sich übrigens schon in der Mainzer Akzep-
tation von 1439; vgl. Werminghoff, Nationalkirchliche Bestrebungen
im deutschen Mittelalter (1910), S. 44 ff. In ähnlicher Rücksicht auf
taktische Bedürfnisse hat später auch Wimpheling in einem Gut-
achten die große grundsätzliche Frage bei Seite geschoben, indem er
500 Fritz Vigener,
Leben wie in der Literatur. Die Kämpfe der Reformations-
zeit greifen auf beiden Seiten zu tief, als daß der Streit über
das Verhältnis von Primat und Episkopat, von Papsttum
und unfehlbarer Kirche mehr als nur nebenbei hätte hervor-
treten können. 1) Von Interesse ist es immerhin, zu sehen,
daß und wie die protestantische Polemik die Frage nach der
Stellung der Bischöfe zum Papste aufgegriffen hat. Ihre
Tendenz im Kampfe wider die lehrende Kirche des Katholi-
zismus ist keineswegs einhellig. Die protestantische Auf-
fassung von Papsttum und Episkopat ist widerspruchsvoll
und wechselnd selbst bei den einzelnen, wie sich z. B. an
Luther zeigen ließe.^) Das liegt keineswegs bloß an einer Un-
klarheit in der Erfassung katholischer Glaubensprinzipien,
noch ist es lediglich in polemischer Absicht begründet. Es
ist vielmehr das Ungeklärte, Unausgeglichene, Umstrittene
in der katholischen Anschauung selbst, das sich hier äußert.
Der Anspruch des Papstes war gewiß, wie Luther einmal sagt 3)^
der, daß er Herr und Richter sein solle über das Concilium.
Aber die Frage nach der Superiorität von Papst oder Konzil
war weder durch eine allgemein anerkannte dogmatische
aus der französischen pragmatischen Sanktion u. a. das Dekret „De
concüiorum generalium audoritate" ausschied; vgl. B. Gebhardt, Die
Gravamina der dt. Nation gegen den römischen Hof, 2. A., 1895,
S. 80.
^) In Italien breitet sich die katholische Polemik, wie sich aus
der Volksart und aus der weit geringeren Wucht des Widerstandes
der Gegner erklärt, in ihren literarischen Äußerungen auch gern auf
den Streit der Meinungen über die Unfehlbarkeit und den Universal-
episkopat des Papstes aus. Die meisten, die in Italien Luther be-
kämpfen, vertreten die kurialistische Doktrin. Aber nicht alle. Der
Franziskaner Thomas Illyricus z, B. sagte vom Papste: Ad ipsum so-
lum pertinent omnes causae maiores de ecclesia, excepto tarnen . . .
quod non potest aliquid decidere in causa fidei sine concilio . . . quia
papa potest errare in fide, sed non tota ecclesia. Vgl. Lauchert, Die
ital. literarischen Gegner Luthers (1912; Erläuterungen und Ergän-
zungen zu Janssen 8) S. 247.
2) Die Stellen sind aus dem Sachregister der Erlanger Ausgabe,,
Bd. 67 (1857), S. 68 ff. leicht zusammenzubringen.
^) In der Schrift (von 1545) „Wider das Papsttum zu Rom, vom
Teufel gestiftet" (Erianger Ausg. 26, Frankf. 1885, S. 134 f.); in der
von Buchhorn, Kawerau u. a. hg. deutschen Volksausgabe, 3. Aufl.,.
Bd. 4 (1905), S. 130.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 501
Entscheidung^) förmlich gelöst, noch in der Auffassung der
Gläubigen endgültig erledigt.
Auch das Tridentinum hat hier nicht durch-
gegriffen. Dieses Konzil ist, wie kein anderes in der abend-
ländischen Kirche, zugleich Reformsynode und konstitutives
Lehrkonzil gewesen — mit der Absicht und dem Ergebnis,
die katholische Glaubenslehre abzugrenzen gegen fremde
Gedanken, insbesondere gegen die feindlichen Ideen des
Protestantismus. Aber auch diese, mit ihrer Arbeitsleistung
die ganze künftige Entwicklung des Katholizismus bestim-
mende Vertretung der restaurierten und romanisierten Welt-
kirche hat die tief bedeutungsvolle Frage nach dem Charakter
der Kirchenverfassung und den Trägern der Lehrgewalt
und der Unfehlbarkeit, d. h. in concreto: nach der Stellung
der Bischöfe zum Papst, der apostolischen Bischofsgemein-
schaft zum Nachfolger Petri nicht in ihrem ganzen Inhalte
anzufassen gewagt. Die Politik, die der weltlichen und die
der geistlichen Gewalten, die in so mannigfacher Weise das
Tridentinum und wahrlich nicht nur seinen äußeren Verlauf
beeinflußt hat^), ist auch hier nicht ohne Wirkung geblieben.
Aber durchaus entscheidend sind doch die innerkirchlichen
Strömungen; aus ihnen erklärt sich die Tatsache, daß die
Streitfrage über das Verhältnis bischöflicher und päpstlicher
Jurisdiktion, über die Begründung bischöflicher und päpst-
^) Die Bulle „Execrabilis" , die Pius II. 1459 ausgehen ließ (Aus-
zug: Mirbt, Quellen der Gesch. d. Papsttums, 2. Aufl. Nr. 263, 3. Aufl.
Nr. 329; deutsche Übersetzung bei Pastor, Gesch. der Päpste, Bd. 2
(3. — 4. A., 1904), S. 80), um die Appellationen vom Papst an das Kon-
zil mit der Exkommunikation zu belegen, kann natürlich so wenig als
solche gelten wie spätere päpstliche Verfügungen dieser Art. Daß nicht
„nonnulli, spiritu rebellionis imbuti", wie die Bulle behauptet, diese
vom Papst verdammte Anschauung vertraten, lehrt die Geschichte.
Selbst Pastor (a. a. 0. S. 79) meint, daß die Appellation damals „viel-
fach" als zulässig gegolten habe, fügt freilich sogleich die über die
Befugnisse des Historikers hinausgehende Bemerkung hinzu, daß
„man sich des Widerspruches zwischen der falschen Konzilstheorie
und der göttlichen Rechte des Papsttums gar nicht bewußt" ge-
wesen sei.
») Vgl. dazu etwa Paul Herre, Papsttum und Papstwahl im
Zeitalter Philipps II. (1907), 4. Kapitel, besonders S. 69 ff.
502 Fritz Vigener,
lieber Lehrbefugnis gerade von römiscber Seite nur zagbaft
angegriffen 1) und auf beiden Seiten nur theoretisch erörtert
worden ist. Einzelne Konzilsväter haben den ganzen Auf-
wand biblischer Beweise und theologischer Begründung ent-
faltet; aber neben einem entschlossenen Episkopalismus^)
vertrat der durchgebildete Kurialismus mit allen seinen
Folgerungen und Forderungen, in der gleichen Methode und
mit denselben Mitteln, seine Sache.^) Eben dieses Nebeneinan-
1) Vgl. S. 504 Anm. 1.
2) Der Bischof von Lugos in Spanien sagte in seiner Rede vom
3. Dez. 1562 „episcopos iure divino immediate a Christo institutos,
sed per Romanum pontificem, non tantum quoad potestatem ordinis,
sed etiam iurisdictionis, cum a Deo constituti sint ad regendam et
gubernandam ecclesiam". (Concilium Tridentinum ... II; Diariorum
pars II colieg S. Merkte [1911], S. 753 f.) — Ein anderer spani-
scher Bischof erklärte am 3. Dez, 1562, daß die Bischöfe unmittelbar
von Christus eingesetzt seien „quoad omnimodam potestatem" und
daß „ut Petrus nullam dedit apostolis potestatem, sie nee pontifex
Romanus episcopis quoad regendam ecclesiam"; die Beweise für seine
eindrucksvollen Darlegungen {„confirmans suam sententiam . . . docte
et eloquentissime" sagt selbst sein Gegner, der uns berichtende Bi-
schof von Verdun) entnahm er den älteren kirchlichen Schriftstellern
mit der interessanten Bemerkung „nolle se credere doctoribus, qui a
divo Bernardo liucusque scripserunt, nisi quatenus consentiant prio-
ribus". Concil. Trident. 2, S. 756. — Auch der Bischof von Amiens
(oder der von Saintes?, vgl. a. a. O. 766, Anm. 5) verteidigte die apo-
stolische Gewalt der Bischöfe; sie hätten „a Deo immediate authori-
tatem quandam supremam", und zwar „plenissimam, universalissimam
et a papa solo non valentem coarctari, eo quod sit apostolica actu par
papali" und die Nachfolger der Apostel könnten vom Papste nicht
genötigt werden „extra, praeter, contra aut supra canones, sed a sola
ecclesia Ulis superiori, cuius est moderari, laxare et limitare ipsorum
potestatis exercitium ei soll subditum" (a. a. O. 768, Z. 2 ff.). — Der
Bischof von Metz wandte sich scharf gegen die papalistische Lehre
(a. a. O.): Kirche und Konzil stehen über dem Papste; bei Konzilien,
die Glaubensfragen behandeln, müssen Laien zugegen sein(!); der Papst
besitze nicht die plenitudo potestatis; „Quod dicitur ecclesia errare
non posse, intelligendum est de tota ecclesia Christi". — Der Bischof
von Le Mans am 6. Dez. 1562: nullam esse differentiam et dissimili-
tudinem inter apostolos et episcopos et quod omnino etiam quoad omni-
modam iurisdictionem episcopi sunt a Christo instituti.
8) Die päpstliche Auffassung (vgl. dazu S. 504 Anm. 1) in der Frage
nach dem Ursprünge der bischöflichen Jurisdiktion sprach z. B. der
Bischof von Salamanca in seinem Votum vom 30. November 1562
aus (Concilium Trident. 2, 662 f.), u. a. so (S. 663, Z. 23 ff.): (Itaque)
Gallikanismus u.episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 503
der der sich ausschließenden Meinungen unter Bischöfen und
Theologen, die im Glaubenseifer und in einhelliger Abwehr
alles Kirchenfeindlichen einander zu übertreffen suchten,
hat das Konzil wie die Kurie über die Unmöglichkeit einer
Entscheidung belehrt. i) Die päpstlichen Konzilslegaten sahen
sich dem vordringenden Episkopalismus gegenüber auf die
Verteidigung angewiesen. Es kennzeichnet ihre beengte
Lage und zugleich die mehr schlaue als ehrliche Taktik,
mit der sie sich den Fesseln zu entwinden suchten, daß sie
quantitm ad ordinem liabemiis episcopatum a Christo per summunt
pontificeni tanquam per supremum eius vicarium atque ministrum.
Quantum vero attinet ad iurisdictionem, illam habemus a summo pon-
tifice, cui plena et suprema potestas et iurisdictio tributa est, ut
nie tanquam summus pastor provincias distribueret et inferiores pa-
stores in Ulis collocaret. — Der Bischof von Leiria erklärte am 24. No-
vember 1562 kurz und bestimmt: Nullus dicat episcopos apostolis
successisse, cum multum eis desit iurisdidionis et potestatis, qua do-
natos fuisse apostolos constat. Potest tarnen dici episcopos succes-
sisse apostolis, sed per similitudinem tantum. Neque enim negari
potest episcopos iure divino esse institutos, cum ordo sit ex Deo, sed
non praejiciuntur ecclesiis nisi mediante papa, a quo liabent iurisdic-
tionem, ut in eadem vinea Christi simul cum eo laborant (a. a. O.
S. 738 f.). — Man vergleiche damit die vorige Anmerkung, nament-
lich (am Schlüsse) die Erklärung des Bischofs von Le Mans.
^) Daß die Frage über die Ableitung der bischöflichen Jurisdik-
tion weder durch das Tridentinum noch auch durch das Vaticanum
förmlich entschieden worden ist, haben auch gut kurialistisch gesinnte
Theologen mit fühlbarer Genugtuung festgestellt, z. B. J. Hergen-
röther, Kathol. Kirche und christlicher Staat 2 (1872), S. 908. Vgl.
auch S. 505 Anm. 1. Man vergißt dabei, daß mit der Dogmatisierung
des päpstlichen Universalepiskopates die Streitfrage ihre alte Bedeu-
tung verloren hat. Übrigens ist in dem Prooemium zu „Pastor aeter-
nus" die päpstliche Auffassung wenn nicht dogmatisiert, so doch de-
klariert, und neuerdings behandeln Kurialisten reinster Prägung die
Frage so, als sei sie in? päpstlichen Sinne dogmatisch entschieden.
Man lese, was E. Commer, Die Kirche in ihrem Wesen und Leben
dargestellt I (Vom Wesen der Kirche), Wien 1904, S. 156 ff. über
„Die Vollgewalt des Papstes" zu sagen weiß. Hier bleibt für die Bi-
schöfe von eigener Gewalt nichts übrig. Vgl. z. B. S. 178: „Die Kirche
hat keine innere Macht aus sich selbst, um sich zu erhalten. Der
Papst ist . . . nicht bloß die höchste Spitze der Kirche, sondern auch
ihr tiefster Grund. . ."; nach S. 184 sind Papst und Kirche eins, nach
S. 183 „ist der Papst in seiner Würde gleichsam ein zweiter Christus"
und mit Gott-Vater ,,hat der Papst wegen seiner Machtfülle eine be-
sondere Ähnlichkeit".
504 Fritz Vigener,
im Herbst 1562 im Einverständnis mit der Kurie die be-
denkliche Lehre „institutionem episcoporum esse iuris di-
vinV* durch allerlei andere Darlegungen in den Kanones
und in der Einleitung unschädlich zu machen entschlossen
waren. 1) Der Satz war gefährlich, weil er seinem vollen Inhalt
nach den Anspruch auf den päpstlichen Universalepiskopat
ausschloß und die Aussicht auf künftige kirchliche Anerken-
nung des kurialen Papstbegriffes zu verdunkeln drohte. 2)
Für den, der vom Tridentinum zum Vaticanum hinblickt,
ist die Beobachtung wertvoll, daß der konsequente Kurialis-
mus auch die Auffassung zahlreicher Bischöfe beherrschte.
Vielleicht die Hälfte der Konzilsväter wäre bereit gewesen,
^) In dem Briefe der Konzilslegaten an den Kardinal Borromäus
vom 19. Oktober 1562 heißt es (Jacobi Lainez . . . Disputationes Tri-
dentinae . . . edidit . . . H. Grisar I (1886), S. 414): Per qiiel, che si
pud fin hora vedere, i voti che vogliono che si dichiari, i nst ituci o -
nem episcoporum esse juris div i ni , se non sono supe-
riori o pari a gli altri, manco di cosi poco, che non si potria senza grave
scandalo lasciare di far questa dechiarazione. Ma saremo domani insieme
e vederemo di mettere parole tali cosi nella prefatione come nei canoni, che
questa dechiarazione non ci farä alcun nocumento. — Dazu die Antwort
des Borromäus, Rom, 29. Olctober 1562 (in Trient am 4. Nov. ange-
kommen), a. a. O. S. 423 (Regest und Auszug): Wenn im Konzil er-
klärt werde, die Einsetzung der Bischöfe sei göttlichen Rechtes, so
müsse zugefügt werden, daß das nur vom ordo nicht von der jurisdictio
gelte. „Sua S^^ ha ancora inteso per la postscritta de' ig . . il dubbio,
che havevano di non poter lasciar di declarare, institutionem episcopa-
tus esse juris divini. Nel che non voglio mancare di ricordare (se
bene so, non essere bisogno) che quando cid s'habbi pure a jare, s'in-
tenda solamente quo ad or di ne m; essende troppo chiaro cosa, che
quo ad j ur i sdi et i o nem i vescovi l'hanno da summo pontijice,
et che in la detta declaratione, tanto nella prejatione, quanto nei canoni
si mettano anco paroli tali (come Lor dicono, che jaranno), che non
p 0 ssano in temp o alcun o generare p r egi udi c i o
ne tirar consequenze pernitiose a questa s ant a
se de.
2) Vgl. die (von mir) gesperrten Worte der vorigen Anmerkungen.
— Die extremen Papalisten des späteren Mittelalters hatten im Kampfe
gegen die konziliare Bewegung die Frage nach der Stellung der Bi-
schöfe in einem Sinne behandelt und erledigt, den die Kurie selbst
offen kaum zu vertreten wagte. So außer Augustinus Triumphus und
Alvarus Pelagius namentlich Torquemada (Turrecremata); vgl. Pastor,
Oesch. d. Päpste 1*, 390 ff. (dessen Auffassung allerdings, man be-
achte S. 392 Anm. 1, manchen Bedenken unterliegt).
Gallikanismus u.episk. Strömungen im dtsch.Katholizismus etc. 505
auf den Satz von der göttlichen Verleihung der bischöflichen
Gewalt zu verzichten. Und es gab Bischöfe, die in der Ab-
lehnung episkopalistisch-gallikanischer Gedanken weder den
Jesuiten^) noch den Legaten etwas nachgaben. Wäre ihre
zahlenmäßige und persönliche Überlegenheit stärker ge-
wesen 2), so hätte man die Lehre von der gottgesetzten bischöf-
lichen Jurisdiktion verworfen, und dem Episkopalismus
wären noch schwerere Wunden geschlagen worden. So aber
kam es anders. Das Tridentinum hat zwar dem Papste die
Möglichkeit gelassen, deutbare Dekrete in seinem Sinne aus-
zulegen, aber an der in Rom festgehaltenen und auch
anderwärts gepflegten Lehre von der Unfehlbarkeit des
Papstes hat es vorübergehen müssen, und auch die Dogma-
tisierung des päpstlichen Universalepiskopats durfte man
nicht wagen, da die Welt weder kirchlich noch politisch
vorbereitet war, das Dogma aufzunehmen.
Um so mehr haben die, denen diese Lehren als offenbarte
Wahrheit oder als notwendige Folgerung aus der Kirchen-
lehre galten oder wenigstens nützlich für den Zusammenhalt
des Katholizismus erschienen, nach dem Konzil ihre Kräfte
und Mittel eingesetzt, um der kurialistischen Doktrin in
Kirche und Volk neuen Boden zu gewinnen. Die nachtri-
dentinische Theologie hat ihre Gelehrsamkeit, ihren Scharf-
sinn, ihre Kunst der Auslegung und Formulierung mit Vor-
liebe eben jener Doktrin zugewandt, die man zu Trient in
kein Dekret hat hineinbringen können. Noch vor Abschluß
des Konzils hat der Dominikaner Melchior Canus in seinen
*) Lainez hat noch beim Abschluß der Debatten die kurialistischen
Grundsätze über die Stellung des Episkopates, von denen die Kurie
selbst unter dem Druck der Verhältnisse abgehen mußte, in ihrer
von aller Diplomatie unangekränkelten Reinheit vertreten (Disputa-
tiones a. a. O. S. •38 ff.). Beachtenswert ist, daß Lainez lehrt (Quae-
stio II, cap. 3 seiner zu einer Abhandlung erweiterten Konzilsrede,
a. a. O. S. 77 ff.), die Apostel hätten ihre Jurisdiktion nicht un-
mittelbar von Christus, sondern von Petrus, dem Christus die ganze
Regierungsgewalt übertragen habe. Wenn Grisar, S. *51, dazu bemerkt
„hodie merito contraria doctrina invaluit", so würde doch z. B. Com-
mer (vgl. S. 503 Anm. 1) mindestens dem „merito" seine Anerken-
nung versagen. Vgl. etwa noch die 1911 veröffentlichte Schrift
•des römischen Priesters Cappello, De curia Romana 1, S. 8.
') Vgl. dazu den Brief der Konzilslegaten, vorige Seite Anm. 1.
Historische Zeits.U.i:; all. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 33
506 Fritz Vigener,
„Loci theologici'' zwar die Unfehlbarkeit der Kirche voran-
gestellt und sie darauf gegründet, daß Christus das Haupt
und der Herr der Kirche sei^); auch hat er in seinen Dar-
legungen über die Konzilien nicht nur deren Dekreten, son-
dern auch den für die ganze Kirche gegebenen päpstlichen
Glaubensentscheidungen die Unfehlbarkeit eben darum zu-
gesprochen, weil die gesamte Kirche die Gabe der Irrtums-
losigkeit besitze. 2) Aber Canus hat doch ein ganzes Buch
seines Werkes überschrieben „De ecclesiae Romanae auc-
toritate''; er vertritt hier den päpstlichen Universalepi-
skopat und stellt die persönliche Unfehlbarkeit des Papstes
in Glaubensentscheidungen als theologisch gesicherte Lehre
hin. 3) Canus hat wie anderwärts so auch in Deutschland die
kirchlich-scholastische Dogmatik und die praktische Auf-
fassung, die der Klerus sich von der Kirchenverfassung
bildete, vielfach beeinflußt. Gerade in Deutschland ist
freilich sein Einfluß durch die Geltung anderer überwunden
worden, und namentlich der erste deutsch-niederländische
I
^) Fratris Melchioris Cani . . . Locorum theologicorum libri XI 1
[zuerst 1562, von mir benutzt in der zu Padua, typis seminarii, 1734
gedrucl<ten Ausgabe der Opera], lib. IV, cap. 4 (S. 118 ff.): • • • Ecde-
siam in fide errare non posse, sie a fidelibus accipiendum est, ut quic-
quid ecclesia tanquam fidei dogma tenet, verum Sit, nee quicquam
falsum, quod illa aut credit, auf docet esse credendum. Cum enim
Corpus Christi sit, ut ad Ephesios docet Apostolus, a suo certe capite
movetur ac regitur. Ecclesiae igitur error ad Christum auctorem re-
feretur. Nullo itaque pacta errare in fide potest.
2) A. a. O. lib. V: De auctoritate conciliorum. Vgl. besonders
S. 166, Spalte 1: Certitudo quippe Fidei judicibus a Deo constitutis
non propter ecclesias privatas promissa et concessa est, quae singulae
errare possunt, sed propter ecclesiam universalem, quae errare non po-
test. Itaque summorum pontificum conciliorumque doctrina, si toti
ecclesiae proponatur, si cum obligatione etiam credendi proponatur,
tum vero de fidei causa Judicium est . . .
3) A. a. O. lib. VI: De ecclesiae Romanae auctoritate. Vgl. be-
sonders Kapitel 3, das beweisen will, daß Petrus von Christus als
„pastor ecclesiae universalis" [vgl. oben S. 502 Anm. 3 „summus pastor"]
eingesetzt worden sei und die Unfehlbarkeit in Glaubensentscheidungen
erhalten habe, ferner Kapitel 4 „In quo ostenditur, quod Romanus
episcopus nie sit, qui Petro et in fidei firmitate et in componendis reli-
gionis controversiis divino jure succedat", Kapitel 7 (Rationibus Theo-
logiae probat, R. Pontificum in fidei controversiis finiendis errare non
posse), dazu Kapitel 8.
Gallikanistnus u.episk. Strömungen im dtsch.Katholizismusetc. 507
Jesuit, Petrus C a n i s i u s , hat viel mehr in die Breite
gewirkt.
Canisius hat den tridentinischen Streit über das Ver-
hältnis von Papsttum und Episkopat aufrichtig beklagt.*)
Aber er bekannte sich doch zu der Ansicht, daß die Bischöfe
ihre Jurisdiktion lediglich durch päpstliche Vermittlung
erhielten^), und der päpstliche Universalepiskopat ist von
ihm nie in Zweifel gezogen worden. 3) in seinen Katechismen,
die für das katholische Deutschland eine ähnliche Bedeu-
tung beanspruchen wie Luthers Katechismus für das pro-
testantische und ihre Geltung bis in die Zeit der Aufklärung,
in geringerem Maße noch darüber hinaus behaupteten, in
seinem großen wie in seinem kleinen Katechismus hat Cani-
sius die Lehre von der die ganze Kirche umspannenden un-
mittelbaren päpstlichen Gewalt als einen selbstverständlichen
Bestandteil des Begriffes Kirche aufgefaßt und die kirch-
lichen Entscheidungen der Päpste neben den Konzilsbeschlüs-
sen und der Tradition zu den gottgewollten Zeugnissen der
Wahrheit gerechnet.*) Die Frage, ob erst die Zustimmung
der Kirche einer päpstlichen Glaubensentscheidung Unab-
änderlichkeit verleihe, hat er nicht berührt. Er hätte sie
gewiß verneint.^) Aber daß er die Lehre von der Unfehlbar-
keit des Papstes nicht gebracht hat, sie also vom katecheti-
schen Unterricht ferngehalten wissen wollte, ist für die kluge
^) Beati Petri Canisii, S. J. Epistulae et acta colleg. . . . Otto
Braunsberger, III (1561, 1562), Freiburg 1901, S. XXIV f.
*) Von der Ansicht des Lainez (vgl. S. 505 Anm. 1), daß die Bi-
schöfe ihre Jurisdiktion „pontifice mediante" besäßen, sagt er: „mihi
non displicet", Brief vom 7. November 1562 (a. a. O. S. 527).
') Der Papst wird von ihm z, B. in einem Briefe vom 10. Sept.
1546 (Epistulae I, S. 218) als der „episcopus universalis'' der Kirche
bezeiciinet.
*) Vgl. Braunsberger, Plus V. und die deutschen Katholiken (1912)
S. 85.
') Etwas zu einseitig antiinfallibilistisch beurteilt Joh. Friedrich,
Gesch. des Vatikan. Konzils 1, 508 f. (der freilich die oben angeführten
Zeugnisse nicht kannte) den Canisius. Die Meinung Theobalds (Neue
kirchl. Zeitschrift 23 (1912), S. 882), daß Canisius „im Gegensatz
zu seinem Orden" dem Episkopalismus ,,den Vorzug gegeben zu
haben" scheine, ist nicht begründet, wie sich aus einer Nachprüfung
der von Theobald zitierten Briefstellen ergibt.
33*
508 Fritz Vigener,
Mäßigung des Mannes bezeichnend, der seiner Kirciie den
inneren Frieden zu wahren wünschte, um ihre Machtregungen
gegen die äußeren Feinde nicht einen Augenbhck zu hemmen.
Der canisische Katechismus unterläßt es mit Bedacht,
dem Dogma von der kirchlichen Unfehlbarkeit die
Schulmeinung von der päpstlichen Unfehlbarkeit bei-
zugesellen.i) Gleiches, und das ist noch wichtiger, kann man
von einem „Katechismus" feststellen, der mehr ist als ein
Katechismus im landläufigen Sinne. Der „Catechismus
Romanus'^ der unmittelbar aus den tridentinischen Reform-
bestrebungen entsprangt), ist ja kein Kinderkatechismus
und kein Schulbuch, sondern eine mit höchster Autorität
umkleidete, für die Belehrung der Seelsorger bestimmte
Darlegung der katholischen Glaubenslehren, ein römisches
Lehrbuch der Dogmatik, das dem kirchentreuen Pfarrer,
der sich unterrichten wollte, zunächst zur Hand lag. Auch
hier ist die Unfehlbarkeitsdoktrin weggeblieben. 3)
Diese offizielle kirchliche Korrektheit schloß die offi-
ziöse Begünstigung der Lehre nicht aus. Ihre Vertreter
^) Vgl. Friedrich a. a. O., aber auch Braunsberger a. a. 0. —
Auch die deutschen Jesuitengymnasien legten dem Unterrichte den
kleinen und den großen lateinischen Canisius zugrunde. Vgl. B. Duhr,
Gesch. der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge 2 I (1913),
S. 501 f.
2) Catechismus ex decreto Concilii Trid. ad parochos Pii V. Pont.
max. iussu editus. Romae 1566. In Deutschland ist er bald (so 1567
in Köln) und immer wieder gedruckt worden.
*) Auch der päpstliche Universalepiskopat ist in dem Catechismus
Romanus nicht in aller Form ausgesprochen. Wenn es I 10 § 11 vom
Papste heißt „de quo fuit üla omnium patrum ratio et sententia con-
sentiens, hoc visibile caput ad unitatem ecclesiae constituendam et
conservandam necessarium fuisse", so wird hier doch keineswegs ,,die
päpstliche Autokratie als Glaubensartikel gelehrt" (so Harnack, Dogmen-
geschichte [Grundriß], 4. Aufl. [1905], S. 400). Deutlicher neigen die
Erklärungen 117 §25 der Lehre vom Universalepiskopat zu, aber sie
ist doch selbst in den Worten „summum in eo dignitatis gradum et
iurisdictionis amplitudinem, non quidem ullis synodicis aut aliis hu-
manis constitutionibus, sed divinitus datam agnoscit" nicht förmlich
ausgesprochen. (Die deutsche Übersetzung von 1576 gibt, S. 476f.,
„iurisdictionis amplitudinem" durch „vollmechtige Verwaltung" wie-
der.) Diese und die vorher genannte Stelle auch bei Mirbt, Quellen
zur Gesch. des Papsttums, 2. Aufl., Nr. 333, S. 263 (3. A., Nr. 401).
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch.Katholizismus etc. 509
durften immer auf das Verständnis der Kurie, leicht auch auf
den Beifall der Fürsten rechnen, denen die katholisch-
kirchliche Sache völlig zur eigenen geworden war. Nach
dem Tridentinum haben in Deutschland die Herzöge von
Baiern neben den Habsburgern und zeitweise weit mehr als
diese bei der Wiederaufrichtung des Katholizismus die beste
Arbeit geleistet oder gefördert. Dem jesuitenfreundlichsten
unter den Witteisbachern, Herzog Wilhelm V., dem From-
men^), hat ein dem Jesuitenorden angehöriger Theologie-
professor zu Ingolstadt im Jahre 1585 das Werk widmen
dürfen^), das die Doktrin von dem Universalepiskopat und
der Unfehlbarkeit des Papstes mit einer in Deutschland
damals und dann bis ins 19. Jahrhundert hinein unerhörten
Zuversicht der theologischen Beweisführung, mit der größten
Bestimmtheit in der Fassung der Ergebnisse und mit den
entschlossensten Folgerungen verkündete. Diese Analysis^
fidei catholicae des Gregor von Valentia bleibt
nicht dabei stehen, die Entscheidungen des Papstes, die für
die ganze Kirche bestimmt sind, als schlechthin verbindlich
und in sich unfehlbar zu erklären. 3) Sie läßt die Unfehl-
barkeit der Kirche und der allgemeinen Konzilien in der
Unfehlbarkeit des Papstes geradezu aufgehen. Der Gedanke,
den einst Thomas von Aquino in einer Jugendschrift ge-
legentlich hingeworfen hatte*), erscheint hier wieder und auf
die Spitze getrieben. Nicht die Irrtumslosigkeit der Kirche,
sondern die des Papstes ist grundlegend; der Kirche darf
man Unfehlbarkeit zusprechen, weil ihr Haupt unfehlbar
ist, und die Unfehlbarkeit der Konzilsentscheidungen ruht
nicht auf der göttlichen Konstitution der allgemeinen Kirche,
1) über ihn vgl. S. Riezler, Gesch. Baiems 4 (1899), 625—680.
Riezler zeigt, daß Wilhelm, der gerade von einem Jesuiten „als Vor-
bild vollkommener Tugend" gefeiert wurde, in allen Lebensäußerungen
durch den katholischen Gedanken beherrscht war.
2) Die epistola dedicatoria ist datiert : Ingolstadii, 30. Martii a. d.
1585. — Ich benutze die „Analysis" des Gregor von Valentia in der
Originalausgabe (Ingolstadii 1585). Exemplar in der an theologischen
Schriften reichen Freiburger Universitätsbibliothek.
3) Analysis2\\ ff. — Vgl. über einzelne Stellen den Index secundus.
*) Thomas v. Aquino, Kommentar zu den Sentenzen des Lom-
barden 1. IV, dist. 209, 1, nr. 3.' Vgl. „Katholik" 1871, I, S. 566 f.
510 Fritz Vigener,
sondern auf der Unfehlbarkeit des Papstes. Es gibt nur eine
Unfehlbarkeit, die päpstliche, die sich in verschiedenen
Formen äußert; es liegt in des Papstes Hand, ob er durch das
Werkzeug einer ökumenischen Synode oder für sich seine
untrügliche Lehrgewalt wirken lassen will.^) So wird in
diesem Buche das Dogma von der Doktrin abhängig gemacht;
das Vaticanum ist nicht nur vorweggenommen, sondern im
voraus überboten. Was Gregor von Valentia hier nicht etwa
als neue Lehre oder Schulmeinung, sondern als die einfache
Analyse des katholischen Glaubens vortrug, hat er, der
spanische Jesuit, als deutscher Universitätsprofessor natürlich
auch seine Schüler gelehrt. Und seine Ordensgenossen, die
eben im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die katholischen
Staaten Deutschlands mit ihren Kollegien und Unterrichts-
anstalten überzogen, werden das Hauptwerk ihres gefeierten
Ordensgenossen gern statt der zaghafteren Deduktionen des
Dominikaners Melchior Canus empfohlen haben. 2) Überdies
konnten sie bald auch den Schriften ihres einflußreichsten
Theologen, des Kardinals Bellarmino^), ähnliche Gedanken
in einer etwas behutsameren und darum für bestimmbare
Geister noch wirkungsvolleren Formulierung entnehmen.*)
Der Siegeszug der Gegenreformation in Deutschland
ist zugleich ein Triumph der papalistischen Theologie ge-
1) Die entscheidende Stelle S. 404 f.
2) Bei Duhr a. a. O. (vgl. S. 508 Anm. 1) finde ich freilich
nichts darüber; hier heißt es nur, daß in den Jesuitengymnasien die
Kontroversen nach dem Handbuch des P. Coster behandelt worden
seien.
3) Eine reichliche Auswahl aus Bellarmin bietet Mirbt, Quellen
zur Gesch. d. Papsttums, 2. A., S. 268 ff.
*) Sehr hübsch hat Agrippa d'Aubigne das Besondere der Schriften
Bellarmins getroffen, wenn er in seiner Selbstbiographie (zum Jahre
1586) über den Eindruck, den ihm Bellarmin machte, folgendes sagt:
// [Agrippa] embrassa la methode et la force de ce livre, & prent goust
ä la candeur apparente de laquelle les lieux adversaires sont cites par
cest autheur . . . S'estant pourtant mis ä une curieuse analyse . . .
ü s'affermit plus que jamais en sa Religion . . . (Oeuvres completes
. . . publ. . . . par E. Reaume et F. de Caussadi 1(1873), S. 59; vgl.
auch s, Brief von 1616, ebenda S. 474.) Ähnliches konnte mancher
Gegner der papalen Unfehlbarkeitslehre nach der Lektüre Bellarmins
von sich sagen.
Oallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 51 1
"wesen, der die episkopalistisch-konziliare und die gemäßigt-
episkopalistische Auffassung in der Literatur verblassen
machte. Und wenn die Kraft des restaurierten Katholizismus
außer in der Rekatholisierung von Ländern und Menschen-
massen sich auch in der überzeugenden oder überredenden
Bekehrung des Einzelnen zeigt, so kann man in dem Glau-
bensbegriff gelehrter Konvertiten der deutschen Gegen-
reformation die Spuren, Einwirkungen und selbst Weiter-
bildungen der Doktrinen nachtridentinischer Theologen
aufdecken. Für den Marburger Juristen Helfrich Ulrich
H u n ri i u s gehörte die Idee von dem Universalepiskopat
und der Unfehlbarkeit des Papstes zu den ,, unumstößlichen
und unwiderleglichen Beweisgründen", die ihn veranlaßten,
,,der lutherischen Ketzerei zu entsagen und den katholischen
Glauben zu bekennen".^) Dieser Professor, der als reifer Mann
1630 katholisch geworden war^), wird weniger dadurch charak-
terisiert, daß er die päpstliche Unfehlbarkeitslehre als gemein-
gültigen Grundsatz aufnahm^), sondern ganz besonders durch
die Art und Weise, wie er die Stellung des Episkopates ver-
stand. Er schreibt allein dem hl. Petrus eine ordentliche
und darum vererbliche Machtfülle zu; die Gewalt der übrigen
Apostel sei von der des Petrus abgeleitet, sei übertragen,
außerordentlich und darum mit ihrem Tode erloschen.*)
^) Invicta prorsus et indissolubilia duodecim argumenta, quibus con-
victus atque constrictus, relictä Lutheranä Sectd, catholicam profitetur
fidem Helfricus Ulricus Hunnius (Heidelbergae 1631, 2. A. 1632;
deutsch 1634. Beide Auflagen in der Universitätsbibliothek zu Gießen.
Ich zitiere nach der ersten Ausgabe).
*) Vgl. Andr. Räß, Die Convertiten seit der Reformation nach
ihrem Leben und aus ihren Schriften dargestellt, Bd. 5 (1867), S.329 ff.;
Joh. Fr. V. Schulte, Gesch. der Quellen und Liter, d. röm. Rechtes 3 I,
S. 137 f.; Joh. Werner, Gesch. der apologet. und polem. Literatur der
■Christi. Theologie 4 (1865), S. 732.
*) Vgl. Argumentum IM.: de certitudine et infallibilitate ludicis
controversiarum (S. 9 — 14). Er gibt (mit den meisten Theologen) zu
(S. 13), der Papst als Privatperson könne „errare et in haeresin inci-
dere", aber „i cathedra, ut Pontifex, et controversiarum fidei judex,
äefiniendo errare, vel errorem aliquem, ä tota ecclesia sequendum, prae-
scribere non potest".
*) Argumentum IV., insbesondere S. 25. — Vgl. dazu oben S. 502
Anm. 3.
512 Fritz Vigener,
Hier war die Rücksicht auf Schrift und Tradition in gleicher
Kühnheit ausgeschaltet und mit juristischer Freude an durch-
greifender Begriffsbildung ein System hingestellt, in dem,
im Geiste der spätmittelalterlichen Papaltheorie, die ganze
Machtfülle auf den Papst vereinigt und den Bischöfen, mit
dem Anschein biblischer Begründung, der Platz päpstlicher
Delegierter zugewiesen war. Den Männern, die von der
evangelischen Rechtfertigungslehre zum katholischen Kir-^
chentum flüchteten, war begreiflicherweise die Idee des
unfehlbaren Papsttums als einfacher und fester Halt in ganz
besonderem Maße willkommen, i) Darum eben hat der
Kirchenbegriff solcher Konvertiten zu viel von ihrer per-
sönlichen Geistesentwicklung mitbekommen, als daß ihre
Vorstellungen einfach als Zeugnisse gemeinkatholischer Auf-
fassung angesehen werden könnten. Man möchte von Kon-^
vertitendogmatik sprechen.
Das aber darf man feststellen: die Siege der Gegen ~
reformation wurden vorbereitet, begleitet, ausgenutzt
durch jene Theologen, denen der päpstliche Universalepi-
skopat die gottgeordnete Krönung der Kirchenverfassung^
die päpstliche Unfehlbarkeit aber Grundlage der katholischen
Lehrverkündigung und Abschluß des katholischen Glaubens-
systems war. Mit der Kraft, der Angriffslust und den Er-
folgen der nachtridentinischen Kirche wuchs die Zuversicht
der lehrenden und schreibenden Vorkämpfer des monarchi-
schen Kirchenbegriffs; sie stieg um so höher, als ihnen eben-
bürtige Gegner nicht im Wege standen. Das gilt jedenfalls
für Deutschland, wo neben den Ordensgelehrten, namentlich
Jesuiten fremder Nationalität, eine bodenständige Theologie
von Bedeutung noch nicht aufkommen wollte. In Deutschland
ist der bischöflich-landesfürstliche Widerstand gegen den
Papst damals stärker gewesen als der literarische. Die
Opposition der rheinischen Erzbischöfe ist schon im 16. Jahr-
hundert lebendig geworden und seitdem nie mehr ganz er-
1) So erklärt auch Peter Guiffart, Doktor der Arzneikunde zu
Rouen, der 1653 vom Kalvinismus zum Katholizismus übertrat, den
Papst ganz einfach darum für unfehlbar, „weil er der Leiter der Kirche
Gottes ist" (Räß a. a. O., Bd. 7 [1868], S. 44 ff., S. 60).
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 51$
loschen; indem sie die päpstliche Dispensationsgewalt von
ihren Diözesen abwehrten, verwarfen sie zugleich den päpst-
lichen Universalepiskopat. Vollends seit dem Ende des
Dreißigjährigen Krieges lagen die Voraussetzungen für den
Kurialismus nicht mehr so günstig wie vordem. Die Ent-
spannung der großenteils konfessionell begründeten oder ge-
nährten politischen Gegensätze unter den deutschen Terri-
torialherren hat nicht nur engere Verbindungen zwischen
katholischen und protestantischen Fürsten ermöglicht, sie
hat auch dem geistigen Leben in einzelnen katholischen
Ländern und gerade in geistlichen Staaten freiere Regungen
gestattet. Indessen hat die geistig-literarische Reaktion gegen
den Kurialismus in Deutschland erst im 18. Jahrhundert
selbständige Bedeutung gewonnen, zunächst wesentlich unter
französischem Einfluß.
In Frankreich war die katholische Kirche nur vorüber-
gehend erschüttert worden, ihren eigenen Bildungsreichtum
hatten fremde Elemente nicht in seinem Wesen verändert,
ihre Überlieferung war wohl an einzelnen Stellen durchbrochen^
als Ganzes aber unzerstört. In dem klassischen Lande des
Gallikanismus ist die gallikanische Doktrin seit dem
15. Jahrhundert nie mehr verdunkelt worden, und ihre Ver-
teidiger sind weder in den Religionskriegen des 16. Jahr-
hunderts ausgestorben, noch haben sie in den erbitterten
kirchlichen Kämpfen um Jansenismus und Quietismus
ihre Bedeutung verloren. Der französische Gallikanismus
des 17. Jahrhunderts ist seinem Kerne nach nichts anderes
als der des 15., und seine grundlegenden Gedanken sind weder
von der papstfeindlichen Politik der französischen Regierung
geschaffen, noch durch deren romfreundliche Wendung ver-
nichtet worden. Das allerdings ist festzustellen, daß auch
hier Theorie und Wirklichkeit sich nicht völlig decken. Der
Gallikanismus als Kirchenbegriff war eindeutig und einheit-
lich, aber der Gallikanismus der Individuen war es nicht.
Die gallikanische Bewegung, wie sie lebendig in der Ge-
schichte dasteht, weist mannigfache Verschiedenheiten auf
nach der positiven und nach der negativen Seite, in der Aus-
deutung des Eigenen, wie in der Abwehr des Fremden. Der
Satz, daß der Papst nicht über dem allgemeinen Konzile
514 Fritz Vigener,
stehe, ist in allen gallikanischen Lehrschriften enthalten.
Pierre Pithou^) hat ihn in seine offiziöse Aufstellung der
gallikanischen Freiheiten (1594) aufgenommen^), und der
zweite der Vier Artikel von 1682 hat die in Konstanz dekre-
tierte Überordnung des allgemeinen Konzils über den Papst
als unabänderlichen Glaubenssatz von neuem verkündet^),
obwohl er durch die Kurie wieder und wieder verdammt
worden war.*) Die Lehre, daß nicht im Papste, sondern in
der allgemeinen Synode die letzte und höchste Gewalt der
Kirche liege, gehörte also zum System des Gallikanismus.
Aber sie gehörte nicht notwendig zum lebendigen Glaubens-
system eines gallikanisch gesinnten Katholiken.^) Nicht
allen, die sich Gallikaner nannten, galt die schroffe konziliare
Theorie des 15. Jahrhunderts als grundlegende Idee der
Kirchenverfassung.
Aber so groß die Unterschiede der Auffassung und die
Abtönungen gewesen sein mögen, die Verwerfung der roma-
nistischen Infallibilitätstheorie gehörte schlechthin zum Wesen
des Gallikanismus. Darin kamen alle Gallikaner überein, daß
eine Entscheidung des Papstes über Fragen des Glaubens und
der Sitte erst durch die ausdrückliche oder stillschweigende
Zustimmung der Kirche, des Episkopates, den Charakter der
Unwiderruflichkeit erhalte, daß eben erst dieser consensus
ecclesiae ihr die Unfehlbarkeit verleihe. Dieser kirchliche Epi-
^) Es verschlägt nichts, wenn J. de Maistre in seiner Inquisitoren-
manier einmal das Rechte getroffen hat, indem er den ehemals kal-
vinistischen Generalprokurator „demi- Protestant" nennt {De VEglise
Gallicane, 1. II, eh. 14, zu Anfang; Ausgabe von 1852, S. 309).
2) Les libertez de l'iglise gallicane § 40 (vgl. § 5), auch in Mirbts
Quellen zur Gesch. des Papsttums (2. Aufl., Nr. 347; 3. Aufl., Nr. 419)
— Die Gedanken Edmond Richers (vgl. J. Fr. v. Schulte, Gesch. d.
Quellen d. kanon. Rechts 3 I, 573 ff.) sind radikaler.
8) Declaratio cleri Gallicani de ecclesiastica potestate § 2 (gleich-
falls bei Mirbt).
*) So zuletzt implicite durch Urbans VIII. Konstitution „Pasto-
ralis Romani pontificis" von 1627 in der endgültigen Fassung der
Bulle „In coena domini" § 2 (Mirbt a. a. O. 2. Aufl., S. 281, 3. A. S. 283).
^) Man beachte übrigens, daß Pithou (§ 40) ausdrücklich zugibt
„que ... les conciles generaux ne se doivent assembler ni tenir sans
le pape clavenonerrante...et qu'il ne s'y doive rien conclure
ny arrester sans luy et sans son autfiorite".
Gallikanismus u.episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 515
skopalismus war keineswegs auf den französischen Episkopat
beschränkt; er beherrschte die Auffassung aller der Bischöfe,
die ihren Anteil an der Wahrung des depositum fidei in Bibel
und Tradition nicht weniger gut gegründet fanden als die
Rechte des Nachfolgers Petri und die sich ihren Anteil sichern
wollten. Daß es keine unbedeutende Minderheit war, die so
dachte, wußten die Päpste des 17. Jahrhunderts gut genug,
auch ohne so unmittelbar darüber belehrt zu sein, wie einst
Pius IV. durch die Vorgänge in Trient. Aber die Vertreter
der päpstlichen Unfehlbarkeitslehre taten recht daran,
gerade den gemäßigten Gallikanismus, dessen Macht in seiner
Ausdehnung lag, ohne Unterlaß zu bekämpfen. Unter Ma-
zarins Regiment — das gewiß den Gallikanismus nicht drückte,
aber dem Jesuitismus freie Bahn ließ und ihm den Janse-
nismus opferte — ist in dem Kirchenkrieg gegen Port Royal
die papalistische Theorie auch in Frankreich kräftig auf-
getreten. Eine französische Verteidigungsschrift des Papst-
rechtes, die der Verdammung jansenistischer Sätze durch
Innozenz X. rasch nachgefolgt ist (1658), gab der Doktrin
die einfachste Formulierung, indem sie den Papst die Regel
des Glaubens nannte, den unbedingten und einzigen Rich-
ter, i) Gegen derartige Lehren wandte sich die Sorbonne,
wandten sich die Bischöfe, deren gottgesetzte, selbständige
Stellung in der Kirche eine geistliche Versammlung von
1665/66 aufrecht erhielt. Das Recht des Papstes, in
Glaubensfragen Entscheidungen zu geben, haben die gal-
likanischen Bischöfe im Reiche Ludwigs XIV. nicht an-
gefochten. Aber sie wollten auch um keinen Preis die Be-
dingungen und Schranken beseitigt sehen, die ihnen in der
kirchlichen Überlieferung aufgestellt zu sein schienen. Der
letzte und kürzeste der Vier Artikel von 1682, der Satz, der
am wenigsten von politischen Nebenabsichten angekränkelt
war, erklärte in maßvoller Bestimmtheit, daß in Glau-
bensfragen dem Papste die erste Stelle gebühre, daß seine
Entscheidungen sich auf alle Kirchen erstreckten, daß seinem
Urteil aber erst durch Beistimmung der Kirche die Unwider-
^) Vgl. Ranke, Französische Geschichte 3 (Werke 10), S. 248
und (zum folgenden) 249 ff.
516 Fritz Vigener,
ruflichkeit zuteil werde.^) In der Bekämpfung dieses kirch-
lich-korrekten, selbstsicheren und doch zurückhaltenden
Gallikanismus gingen die Theoretiker des Papalsystems so
weit, daß sie seiner gewaltsamen Unterdrückung das Wort
redeten. So tat es Erzbischof Rocaberti von Valencia in
seinem Werke „D£ Romani Pontificis infallibilitate" (1691/94).
Er hat die Schrift Papst Innocenz XII. gewidmet, also dem
Papste, der den Triumph erlebte, die Verpflichtung auf die
Vier Artikel von der französischen Regierung preisgegeben
zu sehen. 2) Aber der Gallikanismus war viel zu stark, als daß
die Kurie mit Aussicht auf Erfolg den Versuch hätte machen
können, ihn zu überwinden. Die politisch begründete Aussöh-
nung Ludwigs XIV. mit Rom (1693) war ohne Frage ein schwerer
Schlag für die gallikanische Kirche. Aber der gemeinsame
Besitz der verschiedenen gallikanischen Strömungen, jener
Kirchenbegriff, der nur die Gemeinschaft der lehrenden
Kirche, Papst und Episkopat zusammengenommen, als Träger
der Unfehlbarkeit, als letzten zuständigen Interpret der
Glaubenslehre faßte, er blieb unzerstört und wurde in seiner
kirchHchen Bedeutung jetzt, da er von den Interessen der
Staatspolitik losgelöst erschien, nur noch freier und tiefer
gewürdigt.
Der Papst für sich hatte die Vier Artikel unterschiedslos
zensuriert. Der vierte Satz, der die unwiderrufliche Gültig-
keit päpstlicher Glaubensentscheidungen von der Zustim-
mung der Kirche abhängig machte, wird der Kurie schwerlich
sympathischer gewesen sein als der zweite mit seiner Er-
neuerung des Konziliarismus. Die Lehre von der Über-
ordnung des allgemeinen Konzils war allerdings die durch-
greifendere und ihrem Inhalt nach am schärfsten gegen die
päpstliche Suprematie gekehrt. Aber sie konnte den Papst
1) In fidei quoqiie quaestionibus praecipuas summi pontificis
esse partes, eiusque decreta ad omnes et singulas ecclesias pertinere,
nee tarnen irreformabile esse iudicium, nisi ecclesiae consensus acces-
serit.
2) Auch seine große Sammlung papalistischer Schriftsteller (Biblio-
teca maxima pontificia, in qua authores melioris notae qui hadenus
pro sancta Romana Sede tum theologick, tum canonici scripserunty
fere omnes continentur. 20 Bände in Fol. und 1 Registerband, Romae
1698—99) hatte Rocaberti Innozenz XII. gewidmet.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 517
kühl lassen, solange der Gedanke an eine ökumenische
Synode im Stile der Versammlungen von Konstanz und
Basel höchstens in den Träumen einiger Ideologen Raum
hatte. Man darf also das Paradoxon wagen: die gefähr-
lichere Doktrin war damals die erträglichere.
Auch für die führenden Gallikaner selbst steht nicht
die Frage nach dem Verhältnis von Papst und Konzil,
sondern die nach dem Träger der Unfehlbarkeit im Mittel-
punkt der Erörterungen. 1) Der große Bossuet hat den Um-
stand, daß die Doktrin von der Unfehlbarkeit des Papstes
niemals zur Kirchenlehre erhoben war, geschickt als Deckung
gegen die Anhänger der Doktrin benutzt.^) Er läßt die Ironie
der Tatsache für sich selbst sprechen, daß im 17. Jahrhundert
des Daseins der Kirche rechtgläubige, fromme Männer über
jene Infallibilität sehr verschiedene Meinung hegten. 2) Da
^) Natürlich ist die Frage nach dem Verhältnis von Papst und
Konzil nicht immer übergangen worden. Auch Bossuet zeigt gelegent-
lich in der Abwehr der kurialistischen Deduktionen, daß seiner Mei-
nung nach die Frage nicht im päpstlich-absolutistischen Sinne ent-
schieden werden dürfe. Vgl. seine Histoire des variations des iglises
protestantes, livre 15 (Oeuvres [s. die folgende Anm.], Bd. 3, S. 490),
auch in der „Defensio declarationis cleri Gallicani"). (Oeuvres 12,
S. 365: eo sensu [Petrum] repraesentasse Ecclesiam, quod ejus vim
omnem potestatemque, ut insitam sibi praesentemque concludet, quod
toncilio universali est proprium, non sanctus quisquam, non AugU'
stinus, non alius e sanctis Patribus cogitabat.)
*) Namentlich in der Schrift „Defensio declarationis cleri Galli-
cani de ecclesiastica potestate" mit der Einleitung „Gallia orthodoxa
sive vindiciae scholae Parisiensis totiusque cleri Gallicani adver sus
nonnullos {Oeuvres compläes de Bossuet . . . par une sociäe d'eccli-
siastiques (Bar-Le-Duc 1870), Bd. 12, S. 3 — 492). Die Defensio
ist 1683/85 verfaßt, 1695/96 überarbeitet, von der dritten Bearbeitung
1700/1702 ist keine Abschrift erhalten (vgl. a. a. O. S. VII f., über-
nommen aus der Vorbemerkung zum 21. Band der von Lachat be-
sorgten Ausgabe der Oeuvres [1865], S. I). Im Drucke ist das Werk
zum erstenmal 1745 erschienen. Es ist wohl lediglich der von der
Politik eingegebene Wille des Königs gewesen, der Bossuet bestimmte,
das Werk, in dem er die Fülle eigener Arbeit und eigener Gedanken
niedergelegt hatte und das ihn immer wieder anzog, ungedruckt zu
lassen.
«) Vgl. den Schlußabschnitt der „Praevia et theologica Dissertatio"
zur Gallia orthodoxa, besonders S. 51, Spalte 2 (in der Ausgabe
von Lachat, Bd. 21, S. 128): Gerte in Ecclesiae catholicae septimo
518 Fritz Vigener,
diese Doktrin niemals dogmatisch definiert worden sei,
könne sie nicht zum Notwendigen in der Kirche gehören.
Und das ist ihm ein Gewinn der Kirche. Wenn die Ge-
schichte lehre, daß mehr als einmal Päpste in ihrer dogmati-
schen Entscheidung geirrt hätten, so seien diese Irrtümer
der Päpste doch weder dem Glauben, noch der Kirche,
noch dem apostolischen Stuhle schädlich gewesen. i) Bossuet
ist also der Meinung, daß die Doktrin die geschichtliche
Belastungsprobe nicht aushalten könne. Und darum sähe
er, obwohl ihm der "gegenwärtige Zustand der Bewegungs-
freiheit durchaus erträglich scheint^), dem begehrlichen
Drängen der entschlossenen Papalisten gern einen Riegel
vorgeschoben. Den gemäßigtesten seiner kirchlichen Pro-
grammsätze von 1682, der weit über die gallikanische Kirche
hinaus und ganz unabhängig von ihren sonstigen Lehren
ausgebreitet war, möchte er zum Dogma erhoben wissen:
Päpstliche Entscheidung wird nur durch den consensus
ecclesiae unabänderlich, vollgiltig, unfehlbar. 3)
Dieser Grundgedanke des papsttreuen Gallikanismus,
der freilich immer wieder auch zur Lehre von der Supre-
matie des Konzils zurückleiten konnte, blieb der dogma-
tischen Arbeit der nächsten Generationen lebendig. Die
decimo saeculo vivimus, necdum de illa infallibilitate inter orthodoxos
piosque constitit : atque ut Constantiensem ac Basiliensem synodos
omittemus, viri sancti doctique ei restiterunt. Et quidem adversus
illos privati multi multa inclamarunt et incautas censuras profuderunt ;
Ecclesia catholica et Roma ipsa nihil egit, quo nostri vel leviter nota-
rentur ; trecentique anni sunt, ex quo de illa controversia innoxie di-
sputatur. An Ecclesia, ut tuta tranquillaque esset, nostram aetatem,
ac prope jam elapsum septimum decimum saeculum exspectabat?
1) Defensio declarationis lib. IX, cap. 32 und 33, S. 395 f., Aus-
gabe V. Lachat, Bd. 22, S. 223 ff.
2) Vgl. die in der vorletzten Anmerkung angeführte Stelle und
deren Fortsetzung.
3) Vgl. das Corollarium zur Gallia orthodoxa {„Quod doärina
nostra primatus Romanus non obscuratur, sed illustratur et confir-
matur; S. 477—494), S. 484 f., besonders 485 (= Oeuvres, hg. v.
Lachat, Bd. 22, S. 437): „. . . pontificium decretum non haberi pro
irreformabili neque ultimum robur esse consecutum, nisi Ecclesiae
consensus accesserit. Quo dogmate constituto, tota infallibilitatis quae-
stio speculativas inter vanasque quaestiones habeatur".
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 519
Befehdung des Jansenismus, die nach Bossuet auch viele
jüngere Verfechter des GalHkanismus als kirchliche Pflicht
ansahen, hat den Gallikanern die Energie der Vertretung
und die Schärfe der Ausprägung ihrer Grundanschauung
nicht genommen.^) Dafür sorgten schon die immer erneuten
Angriffe französischer Papalisten, die, weil durch Roms
Gunst getragen, auch dann noch ernst zu nehmen waren,
wenn sie ans Komische streiften; wie denn etwa der lothrin-
gische Benediktiner Petitdidier^) im Alter sich einredete,
in der Jugend dem päpstlichen Stuhle die Geltung in der
ganzen Christenheit erschrieben zu haben und jetzt seinem
neuen Ziele, der allgemeinen Anerkennung der päpstlichen
Unfehlbarkeit, nahe zu sein. 3) Gerade im 18. Jahrhundert
übte der Gallikanismus, der sich in Frankreich der Gegner
*) Auch Tournely, der die (jansenistische) Appellation von der
Bulle „Unigenitus" an ein allgemeines Konzil (1717) oder vielmehr
die Art und Weise dieser Appellation verurteilt, hält an der Superio-
rität des Konzils fest und an der Anschauung, daß päpstliche Ent-
scheidungen erst durch die Zustimmung der Kirche den Charakter
der Unfehlbarkeit erhalten. Vgl. Jos. Hild, Honore Tournely und
seine Stellung zum Jansenismus (Freiburger Theolog. Studien, hg.
v. Hoberg und Pfeilschifter, 5. Heft, 1911) S. 135 f. (wo diese Anschau-
ung als ,, Krankheit" gekennzeichnet wird!).
2) Vgl. über ihn v. Schulte, Geschichte der Quellen .... 31,
S. 635 f.
^) Dom Mathieu Petitdidier, Tratte theologique sur Vautorite et
l'infaillibilili des papes {Luxembourg 1724). In dem Widmungsbriefe
an Innozenz XI II. sagt er in seinem betulichen Eifer: ,,// y a plus
de trente ans, qu'icrivant contre le Docteur du Piu, j'ai eu Vhonneur
de soutenir l'unite de la Chaire Apostolique dans tout le monde chre-
tien. Aujourd'hui je travaüle ä faire recorjnaltre par tous les Catho-
liques VAutoriti des Souverains Pontifes et lern infaillibilite en ma-
tihe de Foi. Lern Autoriti en ce que ces matidres leur ont toujours
ete raportees, et leur Infaillibiliti en ce que, les dicisions qü'ils en
ont adresse ä toute l'Eglise, ont eti de tout tems regardies comme des
Oracles, qu'il n'a Jamals ete permis de revoquer en doute." — Auf
Geheiß Papst Benedikts XII 1. wurde die Schrift ins Italienische über-
setzt (diese im Titel der lateinischen genannte ital. Übersetzung kennt
V. Schulte a. a. O. nicht), dann erschien in Augsburg 1727 „in Ger-
manorum theologorum gratiam" die vom P. Gallus Cartier (über ihn
vgl. V. Schulte a. a. O. 220) im Kloster Ettenheimmünster im Breis-
gau besorgte lateinische Übertragung (Exemplar in Freiburg). Von
Cartier eine ähnlich gerichtete selbständige Schrift 1738.
520 Fritz Vigener,
siegreich erwehrte, seine mächtige Wirkung auch in Deutsch-
1 a n d aus, indem er sich mit dem praktischen Episkopalis-
mus deutscher Kirchenfürsten verband.
In Deutschland war der Boden damals geistig-theologisch
noch wenig, kirchlich-politisch sehr gut vorbereitet. Der prak-
tische Episkopalismus ist hier älter als der theoretische. Der
Streit um die Quinquennalfakultäten^) ist zugleich Streit zwi-
schen Episkopalismus und Papalismus, Kampf gegen die all-
gemeine und souveräne Jurisdiktion des Papstes. Der heute
längst durchgesetzte Satz des Kirchenrechts, daß nur der Papst
von allen kirchlichen Gesetzen, vom jus commune dispen-
sieren könne, ist ein langsam und ungleichmäßig gewach-
senes Produkt der Geschichte. Bis tief ins 12. Jahrhundert
hinein ist es bischöfliche oder ist es Metropolitansache,
allgemeine Dispense und Absolutionen zu erteilen. Als dann,
besonders seit Innocenz 111., die Kurie öfters um Dispense
angegangen wurde, war der Papst sich seiner Recht schöpfenden
Macht bewußt genug, um kraft eigenen Rechtes sich Dis-
pensbefugnisse vorzubehalten. Von einem allgemeinen und
bleibenden Siege des Papalsystems kann doch auch hier nicht
die Rede sein. Übrigens hat erst das nachtridentinische
Papsttum eine dauernde Ordnung zu geben gewußt und sie
auch in Deutschland einzuführen unternommen. Darüber
ist es seit dem 16. Jahrhundert immer wieder zu Konflikten
gekommen. Deutsche Bischöfe, die rheinischen Erzbischöfe
zumal, beanspruchten die Dispensgewalt ohne päpstliche
Vollmacht, kraft eigenen Rechtes. Sie pflegten von sich
aus auch vom gemeinen Recht Befreiung zu gewähren. Im
Sinne des Papstes war das Usurpation, und um seine Be-
fugnis wenigstens grundsätzlich zu sichern, hat der Papst
— zuerst in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts^) — durch
zeitlich beschränkte päpstliche Vollmachten den Bischöfen
<Jas gewährt, was sie meist tatsächlich ohne Rücksicht auf
Rom bereits übten.^) Da aber die Bischöfe, und insbesondere
1) Vgl. die inhaltvolle Darstellung von Leo Mergentheim, Die
Quinquennalfakultäten pro foro externo 1908 (Kirchenrechtl. Ab-
handlungen, hg. V. Stutz, 52./55. Heft).
2) Vgl. JVlergentheim 1, S. 20.
3) Mergentheim 1, S, 223; 2, S. 87 f., 122 u. ö.
Oallikanismus n. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 521
die geistlichen Kurfürsten im 18. Jahrhundert, immer
wieder über diese Fakultäten hinweg und auch ohne päpst-
liche Verleihung dispensierten und grundsätzlich an ihrer
eigenen üispensationsgewalt festhielten, so blieb der Gegen-
satz bestehen.
Der Druck dieses eingewurzelten Episkopalismus hat
in Deutschland schon vor der Mitte des 18. Jahrhunderts
den anders Gerichteten, die früher so einflußreich waren,
auch die literarische Wirkung erschwert. i) Noch ehe Hont-
heim dem Episkopalismus sein großes Lehrsystem geschenkt
hatte, erhoben sich einzelne Kanonisten gegen den Kurialismus,
versuchten andere zwischen den sich ausschließenden Vor-
stellungen zu vermitteln. 2) Noch 1761 suchte Martin Ger-
*) Von deutschen Verteidigern der päpstlichen Unfehlbarkeit
und des päpstlichen Universalepiskopates in der 1, Hälfte des 18. Jahr-
hunderts wüßte ich außer Cartier (s. S. 519 Anm. 3) nur den
baierischen Jesuiten Vitus Pichler (f 1736; v. Schulte 163 f.) zu
nennen; von ihm erschien in Augsburg 1709: Papatus nunquam er-
rans in proponendis fidei articulis, hoc est : Romanus Pontifex, Jesu
Christo in terris vicarius, divi Petri successor, universalis ecclesiae
pastor et rector, judex controversiarum ad fidem et mores pertinen-
tium auctoritate summus , potestate maximus , sententia i nf al -
l i b i i i s propugnatus et in lucem datus a P. Vito Pichler S. J. —
Die Worte „Judex'' und „infallibilis" sind durch fetten Druck und
Sperrung hervorgehoben, der ganze Titel gibt gleichsam im voraus
das Vaticanum in nuce.
2) Bemerkenswert z. B., daß 1751 in Augsburg ein ungenannter
Benediktiner das auf Veranlassung des französischen Klerus von dem
Jesuiten Bougeant verf. Religionshandbuch deutsch („Vollkommene
Erklärung der christl. Lehre") herausgab. Hier heißt zwar, wie natür-
lich, Petrus Haupt der allgemeinen Kirche (S. 153, dabei ein in seiner
Absichtlichkeit leicht zu durchschauender Hinweis auf Bossuets rom-
freundliche Anrede bei der Klerikerversammlung von 1681), die römische
Kirche Sitz der Einigkeit der allgemeinen Kirche (vgl. S. 151 f.), auch
sagt der Verfasser (S. 170) mit Berufung auf das Konzil von Florenz sogar,
der Papst habe „wegen seiner höchsten Würde alle Völle des Gewalts"
[im geistlichen Regiment], aber der consensus ecclesie gilt doch auch
hier als geboten (vgl. S. 173 ff.; S. 178 in etwas behutsamer Fassung:
Die Bischöfe haben Unfehlbarkeit, soweit sie die Kirche im Konzil
oder zerstreut vorstellen, „und einen vom Papst in Glaubens-Sachen
ergangenen Spruch annehmen"). — Eine neue, (auch in den Seiten-
zahlen) gleichlautende Ausgabe erschien Augsburg 1780 mit P. Franz
Neumayrs Christenlehre (Exempl. beider Ausgaben in Freiburg). Die
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 34
522 Fritz Vigener,
bert von St. Blasien, der auf seinen Reisen die kirchlichen
Gegensätze kennen gelernt hatte und die Zerrissenheit
schmerzlich empfand, einem Ausgleich vorzuarbeiten. Aber
diese tiefen Gegensätze ließen auf beiden Seiten nur den
Entschiedenen, Scharfen, Durchgreifenden Geltung und
Einfluß. Die friedsame geistliche Gelehrtennatur Gerberts
vermochte nicht durchzudringen. Auch zeigt sein Buch^
daß seine Vermittlung doch mehr in kurialistischem Sinne
gedacht war. Er nennt sein Werk „De communione potestatis
ecclesiasticae inter summos ecclesiae principes, pontificem
et episcopos".^) Der Titel, der den Papst und die Bischöfe
zusammenfaßt als die höchsten Kirchenfürsten, klingt so
episkopalistisch, daß ein Kurialist reinster Prägung ihn
niemals gewählt hätte. Aus der Darstellung selbst, die
neben den Zeugnissen der kirchlichen Tradition und der
Geschichte gern auch allgemeinen Erwägungen, selbst treu-^
herzigen Ermahnungen Raum läßt, sind die entscheidenden
Gedanken nicht leicht herauszuholen. Die Abwehr des aus-
gesprochenen päpstlichen Absolutismus^), die Duldung einer
I
„Religio prudentum'' dieses Jesuiten Neumayr war das „verführerisch
geschriebene" Buch, das dem jungen Laukhard die Wahrheit der katho-
lischen Kirche dartun sollte. Vgl. Laukhards Leben und Schicksale
1. Abteilung (1791), Kapitel 6 (vgl. auch Kapitel 32).
1) Typis princ. monast. S. Blasii 1761 (640 S., Inhaltsverzeichnis,
Index rerum).
2) Sogleich in der Praefatio heißt es (S. II f.): „Peculiariter autem
Petro pascendae sunt commissae oves, non soli, alioquin frustra cae-
teri apostoli essent electi et in omnem terram ad colligendum domini-
cum gregem missi, quem hadenus eorum successores cum Petri succes-
soribus mutuo ac communiter pascunt . . ." Einem Ausspruch des hl.
Ambrosius folgt dann die Bemerkung „Est haec ipsissima communio
potestatis ecclesiasticae juxta ecclesiastici regiminis formam a Christo
institutam atque retentam semper in ecclesia". . . Dazu S. 74 „aber-
rant, qui Papae auctoritatem tuantur contra totam ecclesiam, ordi-
nemque hierarchicum in ejusmodi rebus, quae ipsum ecclesiae funda-
mentum attinenV. S. 75 wird den Bischöfen das Widerstandsrecht zu-
gesprochen, wenn der Papst etwas bestimmt „quod non tenderet ad
ecclesiarum sibi concreditarum aedificationem, canones, statuta ac
consuetudines laudabiliter receptas", und Gerbert führt zustimmend
die Mahnung Bernhards von Clairvaux an, daß der Papst erwägen
solle, „Romanam ecclesiam . . . ecclesiarum matrem esse, non dornt-
nam: te vero non dominum episcoporum, sed unum ex ipsis".
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 523
ganz gallikanisch gedachten Vorstellung Bossuets^) könnte
die Meinung erwecken, daß der Titel tatsächlich die Tendenz
des Buches widerspiegle. Allein wir finden nicht nur den
Gedanken an die Zulässigkeit der Appellation von dem
Papst an das allgemeine Konzil als zwecklos und schädlich
verworfen^), vor allem ist gerade jene kurialistische Lehre,
in deren Ablehnung die Gallikaner jeglicher Schattierung
sich einig waren, die Unfehlbarkeit des ex cathedra spre-
chenden Papstes von Gerbert anerkannt worden.^)
Im Jahre 1761 hat Gerbert diese ruhige und würdige
Schrift veröffentlicht; 1763 erschien, nicht als Antwort ge-
dacht, und doch eine Antwort das weltbewegende Werk,
das Johannes Nikolaus von H o n t h e i m unter dem Namen
Justinus Febronius geschrieben hat. In den Kämpfen
um Febronius, in dem siegreichen literarischen und kirChen-
politischen Vordringen des Febronianismus ist Gerberts gut-
gemeinte Schrift rasch vergessen worden.
Hontheim*) stellt als sein letztes Ziel und eigentlich
leitenden Gedanken die Wiedervereinigung der Konfessionen
hin.*) In diesem Ideal wird er in der Tat die höchste Recht-
*) S. 121 verweist Gerbert auf die oben S. 518 Anm. 3 angeführte
Stelle Bossuets, aber er bemerkt dazu, daß Rom eben als centrum uni-
tatis untrennbar mit der Kirche verbunden sei und nichts lehre, was
„absonum a credulitate ecclesiae" sei.
2) S. 585 ff.
3) Vgl. besonders S. 177 . . . non omne id quod Romanus Pontifex
ut privata persona dicit, pro irrefragabili habetur ; sed quando pasto-
rale munus suum exercens ex cathedra loqui dicitur. Femer S. 183
(mit Bellarmin, gegen die Gallikaner), 184 f. u. ö.
*) Eine befriedigende Biographie fehlt. Eine nützliche Übersicht
über „Die kirchenrechtlichen Ideen des Febronius" bietet die Würz-
burger Jurist. Dissertation von F. Stümper (1908; mit einer Über-
sicht über die Literatur); durch diese reichhaltigen und objektiven
Zusammenstellungen, die freilich nur eine äußerliche Ordnung des
Stoffes bieten, ist die Zitatenauswahl in Röschs Aufsatz über „Das
Kirchenrecht im Zeitalter der Aufklärung" im Archiv für kathol.
Kirchenrecht 83 (1903), 446 ff., 620 ff. überholt.
^) Schon der Titel seines Werkes drückt das aus: „De statu eccle-
siae et legitima potestate Romani pontificis über singularis ad reuniendos
dissidentes in religione christianos compositus über singularis." Vgl.
femer die Vorreden, sowie auch Kap, 111, § 11, Nr. 7, S. 184, wo
er nochmals betont, daß er nicht nur schreibe „ut tandem apericmtnr
34*
524 Fritz Vigener,
fertigung seiner Idee gesehen haben. i) Aber die Durch-
führung seines Systems ist doch von diesem Ideal nicht weiter
berührt. Mochte die christliche Union erreichbar sein oder
nicht, die Frage nach der Stellung des Papstes in der Kirche
war für die Kirche, so wie sie dastand, von höchster Be-
deutung. Schon die realistische Erfassung der eigenen Zeit
mußte den Trierer Weihbischof auf dieses zentrale Problem
führen. Überhaupt darf man über den geistigen Wurzeln
des Febronianismus, über den Anregungen, die Hontheim
aus den gallikanischen Gedanken und dem Studium der
Geschichte zog, die sehr bedeutenden Einwirkungen deut-
scher Kirchenverhältnisse, jener deutsch-episkopalistischen^
Kirchenpolitik nicht übersehen. 2) Der Febronius ist dabei
auch als historisch-gelehrte Arbeit ernst zu nehmen; in
Deutschland ist bis auf den Janus hin ein ähnliches Werk
von gleicher Bedeutung nicht erschienen. An selbständiger
Gelehrsamkeit ist Döllinger dem Prälaten des 18. Jahr-
hunderts gewiß weitaus überlegen. Aber dieser hat doch,
wenn er auch nicht allzu tief gräbt, mehr als bloß eine
bequeme Kompilation geliefert. Seine Ideen berühren sich
mit der Gedankenwelt des Gallikanismus. Bereits in seiner
Jugend hatte er als Schüler van Espens in Löwen gallika-
nische Anregungen aufgegenommen ; in dem reifen Manne
wurden sie durch die Veröffentlichung der „Gallia orthodoxa''
Bossuets (1745)^) neu belebt. Den päpstlichen Primat zwei-
felt Hontheim nicht an*), wohl aber verwirft er die mon-
oculi Curialisiarum Romanorum" , sondern auch „pro reunione aliarum
Ecclesiarum cum unicä verä".
1) Der billige Spott neuerer und neuester Kurialisten reicht nicht
aus, das Gegenteil zu beweisen.
2) Von Mergentheim a. a. O. 1, 30 ff. (s. S. 520 Anm. 1) und Hist.-
polit. Blätter 139 (1907), 180 ff. mit Recht betont. Nur hat M. unter
dem Einfluß der überaus engen und unkritischen Schrift Brücks
über die rationalistischen Bestrebungen im kathol. Deutschland (1865)
die protestantisch-aufklärerischen Einwirkungen auf Febronius über-
schätzt.
3) Vgl. oben S. 517 Anm. 2.
«) Vgl. De statu ecdesiae Cap. II, §2. Er bekennt sich (S. 75)
zu dem Satze des hl. Augustinus „ideo unus pro omnibus, quia unitas
in Omnibus".
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 525
archische Gebieterstellung über den Bischöfen^) und die Un-
fehlbarkeit^), die der Papalismus für den Papst beansprucht.
Der Papst ist der Erste in der Kirche, aber er bleibt der Ge-
samtkirche untergeordnet; von ihr, die die oberste Schlüssel-
gewalt innehat, leiten sich seine Rechte her, er ist an die
Kanones gebunden, dem allgemeinen Konzil unterworfen.^)
Der Primat, wie er in Rom gefaßt wird, deckt sich nach
Hontheims Meinung nicht mit dem von Christus gestifteten.*)
') Vgl. über die Stellung der Bischöfe, insbesondere ihre selbstän-
dige, gottgegebene Jurisdiktion a. a. O. Cap. VII „De authoritate
episcoporum ex iure divino". Hier kommt Hontheim (§ 1 S. 442) zu
dem Ergebnis: omnes Episcopos in sua institutione, praeveniendo
emnem humanam ordinationem, esse in potestate et authoritate gu-
oernandi Ecdesiam aequales, non tantum quoad ea, quae Ordinis
bunt, sed et quae Jurisdictionis, in quantum haec ad salutem populi
st rectum Spirituale Ecclesiae regimen spedant. — Auch die triden-
tinischen Verhandlungen (s. oben S. 501 ff.) berührt Hontheim VII,
§2 (S. 446 ff.). — Zu beachten sind noch die bei Stümper 189 ff.
abgedruckten Nachträge zu Cap. VII, § 5, die Hontheim in sein Hand-
exemplar des „Justimis Febronius abbreviatus et emendatus" (1777)
eingetragen hat.
2) Vgl. Cap. VI, § 8, Nr. 7 (S. 339): Dum Pontifex aliquod dögma
definit, Episcoporum est, hanc definitionem cum Verbo Dei scripta et
tradito conferre, ad dispiciendum, an huic illa sit per omnia conformis.
Femer Cap. II, §8, besonders S. 104 über das „jus contradicendi"
und Cap. IV, § 2, S. 189 ff., auch die noch mehr dem gemäßigt-
gallikanischen Standpunkte Bossuets sich nähernden Bemerkungen
Cap. II, §4, S. 86 und Cap. VI, §8, Nr. 7, S. 339: Si episcopi od
summi Pontificis sententiam etiam tacite accedant . . . causa finita est.
^) Cap. I, § 6: Christus habe der ganzen Kirche die Schlüsselgewalt
übertragen in der Weise (S. 22) „ut illa per eos[!] Ministros pro sua
cujusque portione, ac inter lios per summum Pontificem exerceatur".
Der Papst ist der „Primarius" unter ihnen, aber auch seine Gewalt
ist der der ganzen Kirche unterworfen. Vgl. bes. S. 26: Cum itaque
Ecclesia ipsa principaliter et r ad i c a l it er obtineat pote-
statem clavium, quae ab illa in omnes ejus Ministros, ipsümque sum-
mum Pontificem, derivatur, et singulis quibusque pro sua portione com-
municatur, hinc sequitur, Ecdesiam j uxt a p r o p r i am s u am
dispensationem, id est C ano ne regi ; Conciliorum
(quippe quae totam Ecdesiam repraesentant) authoritatem superiorem
esse illä cujusque M i ni str i , etiam summi ... Über das
Allgemeine Konzil überhaupt vgl. Cap. VI, S. 281 ff.
*) Cap. III ff., vgl. Stümper 48 ff., auch Hontheims handschrift-
lichen Nachtrag zu Cap. III, §8 De juribus primatus aut falsis auf
controversis bei Stümper, S. 183 ff. (vgl. oben Anm. 1).
526 Fritz Vigener,
Die Päpste haben dank der Gunst der Verhältnisse allerlei
Rechte gewonnen, die Bischöfe solche eingebüßt. Durch diese
Scheidung ursprünglicher und hinzuerworbener Primatial-
rechte wird Febronius zu der Forderung gebracht, daß die
Bischöfe ihre apostolische Vollgewalt wiedererlangen müßten,
soweit sie ihnen genommen wurde. Das klingt nicht nur
wie eine Rechtfertigung des Widerstandes deutscher Bischöfe
gegen den Papst, sondern sollte es auch tatsächlich sein. An
diesem Punkte läßt sich jene lebendige Quelle für Hont-
heims System am besten erkennen. Zugleich versteht man,
daß dieses System auf die kirchenpolitischen Tendenzen der
deutschen Erzbischöfe wiederum zurückwirken mußte. Hont-
heims großartiger Versuch^) einer einheitlich episkopalisti-
schen Konzeption der Kirchenverfassung hat dem praktischen
Episkopalismus, der zum Emser Kongreß führte, die er-
wünschte theoretische Grundlegung und prinzipielle Recht-
fertigung geboten. 2) Die Josefinisten in Österreich und die
Kirchenpolitiker anderer Staaten haben gleichfalls die ihnen
gemäßen febronianischen Gedanken herausgegriffen, um die
eigene Praxis zu stützen. Vor allem aber hat, den Be-
mühungen der Kurie zum Trotz, Febronius nebst seinen
Ablegern die Auffassung des Klerus und der gebildeten
katholischen Laien, mindestens der Gelehrten und Beamten,
in den deutschen Staaten stark beeinflußt.
Man hat den Febronianismus das Kirchenrecht der
Aufklärung genannt. Ganz richtig. Aber die Aufklärung
selbst mit ihren rationalistisch-unkatholischen Gedanken hat
in Kanonistik und Theologie Bewegungen entfesselt, die
über die Lehren des Febronius^) und über die Absichten
1) Man muß sagen „Versuch", denn die Lücken und Widersprüche
(z. B. Bischofsrechte — Rechte der Gesamtheit der Gläubigen!) des
febronianischen Systems sind unverkennbar.
2) Die Kirchenpolitik der deutschen Erzbischöfe ist hier nicht
zu erörtern. Wenn in dem Kölner Brevier von 1780 Stellen, die der
Autorität des Petrus und seiner Nachfolger zu viel Gewicht zu geben
schienen, ausgemerzt waren (S. Bäumer, Gesch. des Breviers, 1895,
S. 541), so darf auch das als eine Wirkung des Febronius gefaßt werden.
') Blau (s. S. 528) hat sich gerade die kritische Auseinandersetzung
mit den geschichtlichen Darlegungen und kirchlichen Folgerungen Hont-
heims besonders angelegen sein lassen.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 527
des Episkopalisinus hinausgriffen und auch vor den fest-
stehenden und grundlegenden Dogmen der katholischen
Kirche nicht Halt machten. Es kennzeichnet diese Theo-
logie der Aufklärung, daß in ihr die Bemühung um ver-
tiefte Erkenntnis und der besinnliche Ernst geschicht-
licher Arbeit (den man bei Hontheim so gut findet wie
bei Bossuet) zurücktritt hinter die vernunftgemäße Be-
trachtung und die nüchterne Abschätzung der meßbaren
Nützlichkeit des Kirchlichen für die zu belehrende Mensch-
heit. Rationalisierung des Irrationalen, Auflösung aller
„vernunftwidrigen" Elemente in Kirchenlehre und Kirchen-
verfassung, in Kult und Disziplin, das war das Ideal, dessen
Erfüllung nur vom guten Willen abhängig schien. Der
sokratische Gedanke der Lehrbarkeit der Tugend bewegt den
Drang nach dem Besitz des Wissens und den Wunsch, alles
Gegebene durch Erkenntnis zu läutern. Für den aufkläreri-
schen Radikalismus war der kirchliche Gegensatz zwischen
Episkopalismus und Papalismus erst in zweiter Linie von
Bedeutung, denn ihm waren Voraussetzungen, die auch
den entschlossensten Episkopalisten heilig waren, proble-
matisch oder vernunftwidrig und unhaltbar. Ein Theolog
aus dem Kreise Karl Eugens von Württemberg, der Stutt-
garter Hofkaplan Werkmeister, hat nicht mehr die Frage
nach der päpstlichen Unfehlbarkeit, sondern die nach
der Unfehlbarkeit der Kirche gestellt und verneint.^)
Er verwirft den Gedanken der Unfehlbarkeit als ungöttlich
und menschenunwürdig. Die Unfehlbarkeit ist nicht von Gott,
denn die notwendige Folge der Unfehlbarkeit ist Unwissen-
heit; die Unfehlbarkeit , »hindert die Entwicklung der Ver-
nunft und die Verbreitung reeller Kenntnisse". 2) Die typische
*) Thomas Freykirch; oder freymüthige Untersuchungen über
die Unfehlbarkeit der kathoh'schen Kirche von einem katholischen
Gottesgelehrten. 1. Bd., Frankfurt und Leipzig, 1792, LXIV und
394 S. Auf dem Widmungsblatte: Dem Papste, den Erz- und Bi-
schöfen vorzüglich allen Gottesgelehrten des katholischen Deutschlands.
Alea jacta est! — Vgl. Sägmüller, Die kirchliche Aufklärung am Hofe
Karl Eugens v. Württemberg (1906), S. 20ff. (Dazu: Merkle, Die
kathol. Beurteilung des Aufklärungszeitaiters, 1909).
*) Freykirch, 358 f. (359 oben), in der Zusammenfassung, die
nochmals zeigen soll, daß „die Rechte der menschlichen Natur, die
528 Fritz Vigener,
Argumentation des unbedingten Vernunftbewußtseins! Nicht
i^irchliche Gedanken bestimmen, nicht geschichtUche Tat-
sachen sollen beweisen^), sondern die Deduktionen der
„Vernunft"; nicht dogmatische und verfassungsrechtliche
Bedenken bilden das letzte Hindernis für die Lehre von der
kirchlichen Unfehlbarkeit, sondern rationalistisch-erziehungs-
politische Erwägungen.
Schon ein Jahr vor Werkmeister hat der Mainzer Priester
Felix Anton Blau, der sich willig dem revolutionären
Frankreich hingab, eine „Kritische Geschichte der kirch-
lichen Unfehlbarkeit" veröffentlicht^), auch er, ohne seinen
Namen zu nennen. Das Werk wollte, wie der Titel ver-
kündete, „zur Beförderung einer freien Prüfung des Katholi-
cismus" beitragen^) und so mit der Reform, die Blau und seine
Mainzer Mitarbeiter bisher auf den Kultus beschränkt hatten,
an dem Innersten der kirchlichen Glaubenslehre ansetzen.
Blau ist nicht ganz abstrakt in seiner Begründung; er sucht
dem reinen Vernunftstreben doch ein wenig geschichtliche
Erdenschwere beizugeben; er bemüht sich ernsthaft um
eine Kritik der biblischen und theologischen Beweisquellen
der Unfehlbarkeitslehre, er will sie an der geschichtlichen
Wirklichkeit prüfen. Aber der Vernunftbeweis steht auch bei
ihm in Ehren, und sein Radikalismus wird durch die ge-
schichtliche Betrachtung nicht gemildert. Was Blaus Werk
kennzeichnet, ist nicht die Verneinung des Papalismus,
sondern die Verneinung des katholischen Kirchenbegriffs
I
Bestimmung und die natürliche Anlage unseres Verstandes" „sich
mit einem unfehlbaren Richter, wie ihn die römische Kirche auf-
stellt, unmöglich vereinigen lassen".
^) Natürlich fehlt es nicht an geschichtlichen Erörterungen, aber
nicht die historisch-dogmatische Untersuchung der Lehre von der
kirchlichen Unfehlbarkeit, sondern deren vernunftgemäße Prüfung ist
das alles beherrschende Bestreben Werkmeisters.
*) Frankfurt am Main, bei Phil. Wilh. Eichenberg, 1791. XVII t
u. 598 S. kl. 8". Als Motto auf dem Titelblatt (aus Lactantius, Div.
Jnstit., V 19): Nihil est tarn voluntarium quam religio, in qua si ani-
mus sacrificantis aversus est, iam sublata, iam nulla est.
^) Vgl. auch die Erklärung im Vorwort, daß er das Buch ge-
schrieben habe, um sich und andere Theologen in den Stand zu setzen,
das katholische System gründlich zu prüfen.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 529
und der katholischen Glaubensquellen. Sieht man nur nach
der negativen Seite, so stellt sich dieser katholische Priester
nüchtern und kühl auf den Standpunkt, den einst Luther im
heißen Kampfe gegen das überkommene Kirchentum nicht
ohne schmerzliches Ringen gewonnen hatte; nach dem
Papste sollte auch das Konzil stürzen. Die Unfehlbarkeit
der ökumenischen Synode und der allgemeinen Kirche ver-
werfen, hieß aber am Ende des 18. Jahrhunderts nicht weniger
als am Beginn des 16. die katholische Kirche selbst auf-
geben.^)
Dieser unkirchliche Radikalismus bedeutete für den
kirchlichen Episkopalismus so gut eine Gefahr, wie auf
der anderen Seite der extreme Kurialismus die Fortschritte
der geduldigen Arbeit des gemäßigten Papalismus hemmte.
Zwischen der gegen die Unfehlbarkeit der Kirche gerichteten
Anschauung Blaus und seiner zahlreichen Gesinnungsver-
wandten und dem gegen den Absolutismus und die Un-
fehlbarkeit des Papstes ankämpfenden Gallikanismus und
Episkopalismus selbst hätte es zu schweren Zusammen-
stößen kommen müssen, wenn nicht der theoretische Radi-
kalismus der kirchlichen Aufklärung in dem angewandten
Radikalismus der Revolution untergegangen wäre.
Aber das ist ja die geringste Wirkung der französischen
Revolution auf den deutschen Katholizismus; Revolution
und Reaktion zusammen haben ihm fast alles genommen,
was seine Besonderheit ausmachte. Auch in Frankreich hat
die Revolution zur Säkularisation geführt; sie bedeutete
eine große Schädigung der Kirche und eine Minderung
ihrer Macht und hat mannigfache Folgen für ihre Organi-
sation und für ihr geistiges Leben gehabt, aber die fran-
zösische Kirche hatte nicht so viel zu verlieren und hat nicht
so viel verloren wie die deutsche.
^) Da manche die Konsequenzen Blaus nicht erkannten, andere
sie nicht anerkannten, aber doch viele Prämissen gelten ließen, so
konnte das Buch weit in die Kreise hinein wirken, die kirchlich-katho-
lisch sein wollten und waren. In Dillingen und in Würzburg studierte
man es, und der vierzigjährige Professor Sailer, der spätere Regens-
burger Bischof, hat es empfohlen. Vgl. Stölzle, J. M. Sailer und seine
JVlaßregelung an der Universität Dillingen (1910) S. 57.
530 Fritz Vigener,
Das politische und wirtschaftliciie, das geistige und
kirchliche Dasein, wie es der Katholizismus Deutschlands
in eigentümlichen Formen entwickelt hatte, wurde durch
die Säkularisation zerrissen : Stifte und Klöster,
alte katholische Geistesstätten und bequeme, dem katholi-
schen Adel deutscher Nation unentbehrlich gewordene Ver-
sorgungsanstalten, die katholischen Stiftungen und Uni-
versitäten, die Domkapitel und die Bistümer waren zer-
stört, die geistliche Staatenwelt mit ihrer kirchlichen Kultur
zerschlagen, die konfessionelle Geschlossenheit — von innen
her schon angefressen, aber noch eine einheitliche Macht —
war aufgehoben; kurzum: die geschichtliche Kirche Deutsch-
lands in all ihrer reichen geistlich-weltlichen Gestaltung war
wie vom Erdboden verschwunden. Freilich, diese Säku-
larisation mit allen ihren Folgen, dieser furchtbarste Schlag,
der die historische deutsche Kirche treffen konnte, ist
letzten Endes ein unendlicher Gewinn für die unnationale,
übernationale allgemeine Kirche gewesen. Die Säkularisa-
tion erst ermöglichte schließlich die vollkommene Verkirch-
lichung der deutschen Kirche, ihre Entweltlichung in einem
höheren Sinne, eine nie vorher erreichte Freiheit von der
Welt und Freiheit für die Welt im Geiste der allge-
meinen Kirche. Die geistlichen Staatengebilde mit ihrer
politischen Bindung kirchlicher Interessen hatten die Aus-
gestaltung der kirchlichen Gemeinschaft zu streng und
straff zentralisierter kirchlicher Einheit verhindert. Erst
nach dem Verlust ihrer politischen Stellung konnte die
katholische Kirche Deutschlands nach und nach als dienen-
des Glied ohne Vorbehalt und ohne Rücksicht dem kirch-
lichen Ganzen angeschlossen werden; der moderne Staat
hat nur kurze Zeit im Wege gestanden. Der Sinn für die
Möglichkeit dieser Entwicklung wurde bei der kirchlichen
Zentrale zum begehrenden Willen, sobald sie sich aus dem
Drucke des revolutionären in die Gemeinschaft des re-
staurierten Europas versetzt sah.
Auch der Papst hat die Säkularisation verurteilt. Ja
er hat von dem Wiener Kongreß geradezu die Wiederher-
stellung des heiligen römischen Reichs deutscher Nation,
die Wiederaufrichtung der gesamten geistlichen Staaten-
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katliolizismus etc. 531
weit gefordert.^) Das war natürlich nur jene grundsatzvolle
theoretische Entschlossenheit, die man sich bei einer aus-
sichtslosen Sache ohne Schaden gestatten darf.
In Deutschland aber haben die, denen eine verhältnis-
mäßige Selbständigkeit und Sonderstellung der deutschen
Kirche innerhalb der allgemeinen Kirche als Ideal erschien,
es schmerzlich empfunden 2), daß nicht so sehr durch die
Säkularisation an sich als vielmehr durch die Art ihrer
Vollziehung und ihre Hinüberleitung von dem politischen
auf das geistlich-kirchliche Gebiet auch den bescheidensten
national-kirchlichen Hoffnungen von vornherein die Errei-
chung des Zieles sehr erschwert war. Man hatte die Säku-
larisation so gründlich vollzogen, daß mit dem Besitz des
Fürsten in dem Bischof regelmäßig auch der Besitz
für den Bischof als geistliche Person verschwand; man
machte ,,den Fürsten und den Kirchenprälaten zugleich
zum Pensionär".^) Dabei war in manchen Domkapiteln
der kirchliche Zusammenhalt zerrissen, sobald die Kapitel
1) Vgl. Klüber, Akten des Wiener Kongresses, Bd. 4, S. 319 ff.
und Bd. 6, S. 437 ff . (bes. 441); Klüber, Übersicht der diplomat.
Verhandlungen, 3. Abteiig., 1816, S. 473 ff. Dazu die päpstliche AIlo-
kution im geheimen Konsistorium vom 4. Sept. 1815 bei Klüber,
Akten 4, S. 312 ff. (317 f.).
ä) Vgl. zum folgenden den Aufsatz „Dermalige Lage der deut-
schen katholischen Kirche" im 1. Heft der (Tübinger) Theolog. Quartal-
schrift 1819. — Vgl. dazu die Denkschrift der kathol. „Oratoren"
auf dem Wiener Kongreß (ihre Namen bei Klüber, Akten 6, S. 611)
vom 30. Okt. 1814 (Klüber, Akten 1, Heft 2, S. 28ff.), ihre Bemer-
kungen vom Mai 1815 (Klüber, Akten 4, 290 ff., Nr. 27 und 295 ff.,
Nr. 28), sowie ihre Denkschrift vom 1. März 1815 über Zuziehung von
Vertretern der deutschen Kirche zur Beratung der die katholische
Kirche berührenden deutschen Angelegenheiten (Klüber, Akten 2,
255 ff., Nr. 21; vgl. auch Klüber, Übersicht S. 418 ff.) und die Denk-
schriften und Vorschläge Wessenbergs vom November 1814 (Klüber,
Akten 4, S. 299 ff. ; Übersicht S. 434 ff.), femer etwa noch den Auf-
satz von Görres ,,Die katholische Kirche in den zu einer neuen Orga-
nisation derselben vereinigten Staaten Deutschlands" im „Katholik"
18 (1825), 237—301, über die ersten Konkordatskämpfe, die febro-
tiianischen Gedanken und die Bemühungen Wessenbergs auch
A. Fr. Ludwig, Weihbischof Zirkel von Würzburg 2 (1906), Kap. 34
<S. 382 ff.).
3) Quartalschrift a. a. O. S. 94.
532 Fritz Vigener,
aufhörten, Landstände eines geistlichen Territoriums zu
sein^); es gab der Domherren genug, die keinen lebendigen
Begriff davon hatten, daß sie einer vom Sein oder Nicht-
sein des geistlichen Staates unabhängigen geistlichen
Körperschaft, der priesterlichen Gemeinschaft ihrer Dom-
kirche angehörten. So rächte sich an der deutschen Kirche
selbst ihre innere Säkularisation in dem Augenblick, da
sich die äußere vollzog. Dazu kam dann, daß die meisten
Bistümer infolge der Revolution und Säkularisation erledigt
waren; in allen ehemaligen Reichslanden ließen sich im
Jahre 1818 noch drei Bischöfe finden. Die Kirche Deutsch-
lands war also auch als geistliche Genossenschaft ihrer
Ordnung und ihrer Leitung beraubt. Sie rückte damit als
solche fast von selbst in einem Sinne, wie nie zuvor, un-
mittelbar unter die päpstliche Gewalt; der Papst erschien,,
was ein kirchlicher Zeitgenosse befremdet bemerkt, beinahe
wie „der episcopus universalis von Deutschland". 2)
Neben den noch vorwaltenden, in sich freilich vielfach,
abgestuften episkopalistisch-nationalkirchlichen Bestrebungen
waren die Tendenzen, die man sich gewöhnt hat, ultramon-
tane zu nennen, im Flusse; aber sie waren damals noch nicht
zusammengefaßt, noch nicht gleichmäßig von unten ge-
nährt und von oben geleitet und darum nicht von jener
Richtung gebenden Gewalt wie ein Menschenalter später.
Daß sie überhaupt vorhanden waren^), erleichterte der Kurie
^) Vgl. die bitteren Worte über die „Mietlinge" in der TheoL
Quartalschrift 1819, S. 332.
2) Quartalschrift a. a. O. S. 94. — Dazu die (in der Quartalschrift
a.a.O. 102 ff.) mit Beifall besprochene Schrift von Fridolin Huber,
Wessenberg und das päpstliche Breve, nebst einem Anhange über Kir-
chengewalt, bischöfl. und päpstl. Rechte (1817). Hier sind z. B. ganz
nach Hontheims Vorbild einzelne Primatrechte als nicht „wesentlich"
und darum entbehrlich bezeichnet, und dem Papste wird vorge-^
halten, daß er sich „zum Monarchen über die Bischöfe der gesamten
kathol. Kirche" aufwerfe (S. 69).
3) Vgl. etwa die in der Theol. Quartalschrift 1819, S. 73 ff. be^
sprochene Schrift „Der Pabst im Verhältniß zum Katholicismus"
(Luzern 1817) und die von Fr. W. Carove, Alleinseligmachende Kirche
(s. unten S. 549 Anm. 3) 1,16 ff. bekämpfte Schrift von Thomas
Ziegler (Bischof von Tyniez, vorher Theologieprofessor in Wien), Das
kathol. Glaubensprinzip (Wien 1823). Über Frey s. unten S. 55a
Oallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 533
den Weg; entscheidend aber wirkte nicht die Gesinnung
der geistlichen, sondern der Wille der weltlichen Mächte
Deutschlands, die Haltung der Regierungen.
Den meisten deutschen Staaten war die kirchliche
Einheit schon darum nicht erwünscht, weil man die poli-
tische möglichst sanft gefaßt wissen wollte. Der Gedanke
eines gemeindeutschen Konkordates mit der Kurie ist nicht
nur in den Kreisen Dalbergs und Wessenbergs mit innerlicher
Hingabe und äußerem Eifer gepflegt worden. Aber gerade
den größeren deutschen Staaten erschien die Zusammen-
fassung der Bistümer zu einer deutschen Kirche unter
einem Primas, dieser in Rom gefürchtete deutsch-kirch-
liche Zentralisationsgedanke, politisch zu bedenklich, als
daß die weit verbreiteten und gut begründeten Sympathien
für seinen kirchenpolitischen Inhalt^) ihn hätten retten
können. 2) Es wurde zur Sache der einzelnen Regierungen,
ihr Verhältnis zur katholischen Kirche und zu Rom zu
regeln. Die Fürsten meinten, von Rom weniger als von
einer starken deutschen Kirche befürchten zu müssen. Sie
haben die beweglichen Klagen über ihre Abhängigkeit von
Anm. 2. Auch Weihbischof Zirkel ist zuletzt bei einem ziemlich stark
papalistisch gefärbten Kirchenbegriff angelangt; vgl. Ludwig 2, 482 f.,
ebenda I (1904), 144 ff. u. ö. über die ganz anders gearteten früheren
Anschauungen Zirkels.
^) Von ihnen war z. B. auch Görres berührt, und noch 1825 hatte
er sie nicht völlig abgestreift, wie einzelne Äußerungen in dem oben
S. 531 Anm. 2 genannten Aufsatze „Die katholische Kirche in den
zu einer neuen Organisation derselben vereinigten Staaten Deutsch-
lands" zeigen.
2) Immerhin wurde wenigstens der Gedanke gemeinsamer Ver-
handlungen der deutschen Regierungen mit Rom lange und ernsthaft
erwogen. Auf dem Kongreß hat z. B. Hessen-Darmstadt der katho-
lischen Kirche Deutschlands „eine ihre Rechte sichernde Verfassung"
verbürgt wissen wollen (vgl. Klüber, Akten 2,366; Übersicht 444),
und in Preußen war es auch nach der Wiener Schlußakte noch nicht
ausgemacht, ob die Regierung das Verhältnis zum Papste „in Absicht
der rheinischen Provinzen" allein und für sich zu regeln suchen oder
ob sie etwaigen „allgemeinen Vorschlägen, die man
in Deutschland machen wird, beitreten" werde (Brief Hum-
boldts, Paris 13. Sept. 1815; Wilhelm und Caroline v. H. in ihren
Briefen 5 [1912], S. 68).
534 Fritz Vigener,
Rom^) gelassen hingenommen. Sie ließen den Freunden
des deutschen Sonderkirchenrechts zum Trotz das papale
Kirchenrecht als allgemeine Verhandlungsgrundlage gelten
— um so lieber, da sie es im einzelnen mit ihrem weltlichen
Territorialprinzip zu durchbrechen wußten. Die staatliche
Bevormundung ist schon damals von vielen Priestern und
eifervollen Laien als unwürdig empfunden, auch wohl offen
bekämpft worden. Aber schon die politischen Verhältnisse
schlössen einen organisierten, durchgreifenden, erfolgreichen
Widerstand aus. Gewiß konnte und mußte Rom als ein
„Gegengewicht gegen den Staatsabsolutismus"^) erscheinen.
Aber der Staatsabsolutismus war nicht bloß der überlegene
Teil; auch die inneren Kräfte des deutschen Katholizis-
mus entbehrten noch der Sammlung und Schulung im
römischen Sinne. Die neuen Bischöfe waren in ihrer Mehr-
heit mit den Dingen zufrieden; die vorwaltende Stimmung
des Klerus in großen deutschen Gebieten, namentlich in
Oberdeutschland^) war keineswegs eingenommen gegen das
Staatskirchentum, die Geistlichkeit war von sehr geringer
tätiger Sympathie für die römischen Absichten einer stär-
keren Zentralisation erfüllt, zugleich nicht selten beherrscht
durch den Drang nach vereinfachender und modernisieren-
1) Theol. Quartalschrift 1819, S. 94 f. — Der Verfasser verdirbt
sich übrigens selbst das Konzept, wenn er in einem und demselben
Atem auch hervorhebt, daß „der eigentliche Landesbischof" ganz
anders als „ein substituierter Generalvikar" für seinen Sprengel sorgen
könne, „besonders wenn es darauf ankommt, die Kirchenfreiheit gegen
die Beschränkung der Landesregierung zu be-
haupten". Interessant ist aber auf der anderen Seite, daß er mit
Resignation und zugleich mit der Zuversicht des Propheten bemerkt,
der Gelehrte erkenne „die Täuschungen und Verführungen der Politik,
die um gewisser Nebenzwecke willen nicht berücksichtigt, was der
ganzen Nation nottut. Woraus am Ende eine feinere, sich conse-
quente Politik jenseits der Berge allein ihre bestimmten Vorteile
zieht".
^) Stutz, Kirchenrecht, in Holtzendorffs Realenzyklopädie, 6. Auf-
lage, Bd. 2, S. 876.
^) Vgl. zum folgenden z, B. die in ihren sachlichen Mitteilungen
nützliche Schrift von A, Rösch, Das religiöse Leben in Hohenzollern
unter dem Einfluß des Wessenbergianismus 1800—1850 (2. Vereins-
gabe der Görresgesellschaft für 1908).
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 535
der Reform von Kultus^) und Disziplin und selbst nach
Anteilnahme an der Diözesanregierung. Grundsätze der
Aufklärung berührten noch die religiösen Gedanken, die
kirchlichen und kirchenpolitischen Anschauungen bildeten
sich teilweise noch unter Einwirkung des Febronianismus'^)
und der josefinischen Praxis, Wessenberg beeinflußte den
oberdeutschen Klerus mit seiner Persönlichkeit und seinen
Schriften auch dann noch, als er kirchlich mattgesetzt war»
Die katholische Theologie selbst, die sich rasch von den
Fesseln der Aufklärung löste, hat sich deren Anregungen
nicht ganz entzogen und sich der befruchtenden Berührung
mit der aufsteigenden protestantischen Theologie keines-
wegs verschlossen. 3) Der Absage an die Aufklärung ent-
spricht nicht nur eine Vertiefung der religiösen Gedanken,
eine verinnerlichte Erfassung der katholischen Glaubens-
schätze, sondern zugleich eine Vertiefung der geschichtlichen
Einsicht; dieses historische Verständnis hat auch die in voll-
kommenster Bewußtheit katholisch-kirchlich empfindenden
Theologen fast durchweg davon abgehalten, kurialistische
Doktrinen als katholische Glaubenswahrheiten aufzunehmen
und mit den Extremen des Febronianismus auch den kirch-
lich-gemäßigten Episkopalismus zu verwerfen. Die Gegen-
^) Noch kurz vor der Februarrevolution hören wir z. B., daß
in Baden gerade die ä 1 1 e r e n Priester sich vielfach abgeneigt zeigten
gegen Bittgänge, Exorzismen, allzu eifrigen Heiligenkult („Katholik"
1848, S. 7; 5. Januar).
*) Vgl. z. B. für das Bistum Würzburg (um 1813) Ludwig, Weih-
bischof Zirkel 2, 268; der febronianisch gesinnte Klerus hatte hier
das Übergewicht.
3) Man sehe etwa, wie der junge Möhler auf seiner Reise 1822/23
die Begegnung mit den großen protestantischen Theologen feiert und
wieviel er sich von der geistigen Fühlung mit ihnen verspricht. In
einem Briefe an einen ihm verwandten Rottenburger Domkapituiar
schrieb er damals z. B.: „Neander erfaßt alles in der tiefsten Tiefe.
Unvergeßlich werden mir Neanders Vorlesungen sein; entscheidenden
Einfluß werden sie auf meine kirchenhistorischen Arbeiten haben".
Vgl. Kihns Lebensbild Möhlers in den von Raich (1889) hg. Ergän-
zungen zu Möhlers Symbolik S. VII f. — Die Einwirkung der pro-
testantischen gelehrten Arbeit und protestantischer Anschauung auf
die katholische vorvatikanische Theologie verdiente eine eigene Unter-
suchung.
536 Fritz Vigener,
bewegung fehlte schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts
nicht, und sie stand auf langsam ansteigender Bahn. Aber
diese papalistische Strömung im deutschen Katholizismus
war noch wesentlich aus fremden Quellen gespeist, sie wagte
zuerst nur zögernd sich ihre Bahn zu suchen, sie wurde noch
überall gehemmt; und nicht nur durch die Abwehr über-
legener Widersacher, auch durch die eigene Unsicherheit
und Bedenklichkeit ihrer deutschen Anhänger war sie ein-
geschränkt. Beides zeigt sich in der Art, wie die von außen
kommenden Anregungen und Anstöße aufgenommen worden
sind.
Die gewaltige und schließlich erfolgreiche literarische
Propaganda für die Lehre von dem Universalepiskopat und
der Unfehlbarkeit des Papstes, die im ersten Drittel des
19. Jahrhunderts noch wenig, im zweiten ganz allgemein
den Katholizismus der gesamten Welt beschäftigt hat, ist im
großen Stile eingeleitet worden durch einen Mann, der weder
Priester noch Theolog noch Kanonist war. Aber der sar-
dinische Gesandte am Petersburger Hofe, Graf Joseph
de Maistre, der in seiner anders gearteten Jugend um
das Freimaurertum seiner Heimat und des südlichen Frank-
reichs sich verdient gemacht hatte^), verstand es, aus Kirche
und Theologie, aus Religion und Recht gerade so viel
herauszuholen, als sich mit romantisch -absolutistischen
politischen Gedanken zu der Einheit eines Systems
zusammenfügen ließ^); und dieses System wußte er in das
berückende Gewand einer glänzenden französischen Diktion
zu kleiden. De Maistre möchte die absolutistischen Ten-
denzen der legitimistischen Regierungen zusammmenfassen
und hinleiten zu dem alle irdische Souveränität begrün-
^) Die Nachweise in der Schrift von Vermale, La Franc-Magott-
nerie Savoisienne ä Vepoque revolutionnaire (1912). Vgl. Wahls Notiz,
Histor. Zeitschrift 110 (1913), 211. — De Maistres Familie stammt
aus Frankreich; vgl. J. Mandoul, J. de M. et la politique de la maison
de Savoie {TMse; Paris 1899) S. 8 und 19.
2) Daß de Maistre, dessen Bedeutung eben in der Art liegt, wie
er bestimmte Gedanken darzubieten weiß, von anderen abhängig ist
und gelegentlich unkritische oder tendenziöse Darstellungen unkritisch
und tendenziös ausschreibt, hat C. Latreille, Joseph de Maistre et la
Papaute (1906) an einzelnen Beispielen gezeigt.
Oallikanismus u. episk. Strömungen im dt$ch. Katholizismus etc. 537
<lenden päpstlichen Absolutismus. Der schlechthin absolute
Souverän ist Gott selbst, darum eben kann sich diese gött-
liche Souveränität unmittelbar einzig in dem Stellvertreter
Gottes sichtbar darstellen. Das ist logische Forderung und
zugleich Ergebnis der Geschichte.^) Auf dem Papste ruht
der Gedanke der Souveränität, er ist der Schützer der Völker
zugleich und die Stütze der Herrscher, die Angel der Welt.
Die Heilsamkeit, ja Notwendigkeit des höchsten, des päpst-
lichen Absolutismus darzutun, schrieb de Maistre sein Buch
„Du Pape'\ das er 1819 unter dem alles sagenden Motto
^g ÄotQcevog eaTi'i ausgehen ließ. 2)
Die absolutistische Stellung des Papstes in der K i r c h e
hat de Maistre nicht lediglich als Konsequenz dieser Sou-
veränität in der Welt gefordert, er hat sie vielmehr un-
mittelbar aus Begriff und Wesen der Kirche selbst gefolgert,
sie logisch und historisch zu begründen gesucht. Als Syste-
matiker des kirchlich-päpstlichen Absolutismus fühlte er
sich, obwohl er es nicht liebte, Abhängigkeit von einem
Fremden zuzugeben, wie der wahre Vollender Burkescher
Gedanken; wenn gegen Burke der Vorwurf erhoben worden
war, er führe auf dem Wege der politischen zur religiösen
Unfehlbarkeit, so ist de Maistre den Weg bewußt bis
ans letzte Ende gegangen. 3) Der Papst ist der große
Demiurgos der gesamten Gesittung; seine kulturbringende
Wirksamkeit ist ohne Schranken, sofern ihr nicht Blind-
heit und Böswilligkeit der Fürsten entgegentritt.*) Auch
in der Kirche könnten seiner segenvollen Souveränität
Fesseln angelegt werden durch allerlei Nebengewalten.
Darum ist jeglicher Konziliarismus verwerflich. De Maistre
verrät es als sein persönliches Gefühl, daß er für die
Konzile nichts, für den Papst alles übrig habe. Da man
^) Wie er selbst sein Papstbuch beurteilt wissen wollte, zeigt
ein Brief vom 3. April 1820 (in der in der folgenden Anm. genannten
Ausgabe S. XI), in dem es z. B. heißt: Sans contredit, on n'a pas com-
pris mon livre encore, car il n'est ni gallican, ni ultramontain ; il n'est
que logique et historique.
^) Ich benutze die 9. Auflage, Lyon 1851 (= Oeuvres, Bd. 3).
') Reflexions sur le protestantisme ; Latreille 74.
*) Du Pape, 1. III, chap. 2, Anfang, S. 298.
Historische Zeitschrift (III. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 35
538 Fritz Vigener,
nun einmal — er findet es in seiner Diplomaten-Non~
chalance lächerlich genug — sogar den Konzilsdekreten an
und für sich Gesetzeskraft zugemessen und in dem allge-
meinen Konzil das letzte Mittel gesehen hat, die Einheit
der Kirche zu erhalten, so konnte de Maistre der Frage über
das Verhältnis von Papst und Konzil nicht ausweichen. i)
Er gönnt ihr einige geschichtliche Streifzüge, aber sie ist
für ihn in der Gegenwart tatsächlich erledigt: für die Jugend
der Christenheit waren die Konzile geschaffen, jetzt ist die
Welt zu groß für sie. 2) Wozu überhaupt ein allgemeines
Konzil; schafft doch die päpstliche Souveränität, der Natur
gleich, nichts vergebens.^) Nur der päpstliche Absolutismus
verbürgt die Durchführung der Aufgaben, die der Kirche
in der Welt gestellt sind. Die persönliche lehramtliche Un-
fehlbarkeit des Papstes ist aber dieser Souveränität notwendig
innewohnend, wahre Souveränität ist ihrem Wesen nach
unfehlbar, Souveränität und Infallibilität sind gleichbedeu-
tende Worte.^) Wer diese Souveränitäts-Unfehlbarkeit nicht
anerkennt, gehört in Wahrheit nicht zur Kirche, ist Feind
der Einheit und des Christentums.^) Daher bei de Maistre
die grundsätzliche Abweisung aller gallikanischen Gedanken.
Der Polemik gegen den Gallikanismus, die zuerst in
dem „Pape'' selbst eine Stätte hatte finden sollen^), hat er
1821 ein besonderes Werk gewidmet') — eine Schrift, viel-
1) Latreille 170 ff. — Vgl. noch Du Pape 1,2 (S. 26).
2) £)u papg i^ 4^ ani £ntje (S. 41).
^) Du Pape (II, 15) S. 276 Anm. 1: La souverainete est comme
la nature, eile ne fait rien en vain. Pourquoi un concile oecumenique,
qußnd le pilori suffit? — Dialektische Apercus über, d. h. gegen das
aligemeine Konzil schon in dem unten S. 539 Anm. 4 genannten Briete,
S. 193 f.
*) Du Pape 1,19, S. 147 f., dazu das Vorwort zur 2. Auflage
(1820), ebenda S. XXXV II, wo er meint, daß selbst die theologische
Bestreitung der päpstlichen Unfehlbarkeit niemals zur Anerkennung
des Rechtes einer Appellation von der Entscheidung des päpstlichen
Stuhles führen könne.
«) Du Pape I, 1, S. 17 und 25 f. (Suprematie ist gleich Unfehl-
barkeit).
«) Vgl. das Vorwort zur 2. Auflage von „Du Pape" S. XXXVIII f.
') De Viglise gallicane dans son rapport avec le souverain pon-
tife, pour servir de suite ä l'ouvrage intitule : Du Pape. — Oeuvres,^
Bd. 4 (1852).
Gallikanismusu.episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 539
leicht noch willkürlicher als die ,,Vom Papste", gelehrt
scheinende Plaudereien eines gewandten Causeurs, aber
geschrieben mit entschlossenem Hindrängen auf die prak-
tischen Konsequenzen und in der faktischen Wirkung klug
berechnet. Die gallikanische Erklärung von 1682 ist ihm
über alle Maßen vernunftwidrig^), der dritte Artikel von
der Superiorität des Konzils eine kindische Theorie^), und
den letzten Satz, der den consensus ecclesiae fordert, über-
schüttet er vollends mit seinem Spotte.^) Der fingerfertige
Diplomat entkleidet den Gallikanismus nicht nur jedes
Sinnes und Verdienstes, er entzieht ihm zugleich seine
Menschen. De Maistre hatte sich im „Pape*' in der Kunst,
mit Quellenzeugnissen umzugehen, genügend geübt; so ist es
ihm ein leichtes, zu zeigen, daß Bossuet mit den Vier Ar-
tikeln nichts zu schaffen habe, der gallikanische Bischof in
Wahrheit gar kein Gallikaner sei.^) Seine Absicht bei dieser
Geschichtsverrenkung ist durchsichtig genug. Hat Bossuet
die Vier Artikel im Grunde seines Herzens verachtet^), so
folgen die Gallikaner des 19. Jahrhunderts eben nur dem
1) De l'eglise gallicane, 1. II, eh. 4, S. 148. — Schon 1811 hatte
er in einem Briefe die Vier Artikel „le plus miprisable chiffon de l'hi-
stoire ecclesiastique" genannt (Joseph de Maistre et Blacas, lern cor^
respondance inidite et l'histoire de lern amitie . . . par Emest Daudet,
Paris 1«08, S. 126; vgl. ebenda S. 143 f., 146 ff.).
2) II, 4, S. 144.
3) S. 146 f.
*) II, 8 („Ce qu'il faut penser de Vautorite de Bossuet invoquee
en faveur des quatre articles), S. 191 ff. Man sehe besonders die alles
umbiegende Auslegung Bossuetscher Äußerungen S. 201, man ver-
gleiche die Bemerkung (S. 208), daß Bossuet in der Verteidigung
der Deklaration „la maniere protestante" anwende mit der derselben,
von Bossuet ungedruckt hinterlassenen „Difence de la dedaration"
(vgl. oben S. 517 Anm. 2) geltenden Sentenz (11,9, S. 216): „tout ce
qu'on komme icrit n'est pas avoui par lui". Vor allem ist zu be-
achten, daß De Maistre immer wieder behauptet, die gallikanische
Auffassung sei von Bossuet selbst verworfen worden (s. besonders
II, 16, S. 342 „proscrit", auch die folgende Anmerkung). Mit den
Versuchen, Bossuet von den Vier Artikeln zu lösen, hat de Maistre
gleichfalls schon 1812 in seinen Briefen an Blacas (s, oben Anm. 1)
begonnen, s. den Brief vom 20. September 1812 a.a.O. S. 190 f.,
vgl. auch S. 265.
*) II, 8, S. 200: // est certain qu'il miprisait dans le fand de son
coeur les quatre articles proprements dits.
35*
540 Fritz Vigener,
großen Gallikaner des 17., wenn sie sich reuig dem absolu-
tistischen und unfehlbaren Papsttum zuwenden; der glück-
lich entdeckte echte, innere Bossuet und der entdeckende,
lehrende de Maistre sollen zur überzeugenden Einheit werden.
Das ist die alles rechtfertigende Hoffnung, in der er sich
zuletzt unmittelbar mahnend und werbend an den fran-
zösischen Klerus wendet. i) Die Kirche Frankreichs stehe
seinem Herzen am nächsten — die Kirche, wie sie unter
dem beseligenden Einfluß seiner Doktrin werden soll, um
dann auch jenseits der französischen Grenze zu bekehren
und zu erobern.
Mit Deutschland hat de Maistre nie nähere geistige
Fühlung gewonnen; deutsch konnte er nur mühsam mit
fremder Hilfe lesen, die deutsche Philosophie blieb ihm fern,
Kants Kritik der reinen Vernunft war ihm ein Buch mit
lächerlichem Titel, und mehr als den Titel kannte er nicht.
Auch dem deutschen Katholizismus ist er nicht enger ver-
bunden. Aber er hat doch in der Zeit, da er an seinem Buch
vom Papste arbeitete^), sich darum bemüht, der „bonne
dodrine'' auch in Deutschland Gehör zu verschaffen. Frei-
lich, daß er sich an einen Mann wandte wie Friedrich Leo-
pold Stolberg^), dem ein überspannter Papalismus ganz
fern lag, bezeugt sein geringes Verständnis für deutsches
Wesen. Den legitimistischen Theoretikern und Praktikern
der Heiligen Allianz mochte „Du Pape'' aus der Seele ge-
schrieben sein. Aber dieses Buch mit seiner geistreichen
oder geistreichelnden Beredsamkeit, seiner dreisten Dialek-
tik, in dem die Wissenschaftlichkeit nur noch im Zustand
der Verflüchtigung zu finden und die Erkenntnisbilder
vielfach verschoben waren, diese Schrift mit ihrem bis ins
Lächerliche überspannten Drang zur Vernichtung alles Pro-
1) Vgl, das 17. Kapitel des 2. Buches: Adresse au clerge fran-
(ais, et diclaration de l'auteur, S. 352 — 358.
2) 1817. Aber bereits in einem Briefe vom Jalire 1814 hat de
Maistre einen Grundgedanken des Buches, die Anschauung, daß Papst
und Christenheit eins und dasselbe seien, ausgesprochen. Vgl, La-
treille 8f,
3) Brief von 1817, vgl, J. Friedrich, Gesch. des Vatikan. Konzils
1, S. 187 Anm. 4. S. auch unten S. 552,
Gallikanismusu.episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 541
testantischen^), mit ihren schnöden Bemerkungen über die
Reformation und die Personen Luthers und Calvins^), das
war kein Buch für jene deutschen Katholiken, die sich
ehrlich sehnten, wieder ruhige kirchliche Zustände in der
Heimat zu sehen, für die Theologen, die sich ernsthaft be-
mühten, die gemeinkatholischen Gedanken zu pflegen,
ohne die besonderen Überlieferungen der deutschen Bildung
preiszugeben.^) Es ist eine heute herrschende, aber nicht
haltbare Vorstellung, daß de Maistre auf den deutschen
Katholizismus jener Tage eine bedeutende oder gar entschei-
dende Wirkung im Sinne der kurialistischen Doktrinen aus-
geübt habe.^) Seine Programmschriften haben in kirch-
lichen Kreisen Deutschlands nur wenig Widerhall geweckt.^)
^) Vgl. namentlich die Conclusion des „Pape" (§ 9), S. 469:
Pour ritablir une religion et une morale en Europe ; poiir donner ä
la veriti les forces, qu'exigent les conquetes qu'elle midite ; pour raf-
fermir surtout le trdne des souverains, et calmer doucement cette
Fermentation ginerale des esprits qui nous menace des plus grands
malheurs, un präiminaire indispensable est d'effacer du dictionnaire
europien ce mot fatal, Protestantisme.
*) Ebenda (Conclusion § 13) S. 473: Luther p ar ait ; Calvin
le SU it. Dans un acds de frenisie dont le gerne humain n'avait pas
vu d'exemple, et dont la suite immMiate fut un carnage de trente ans,
ces deux hommes de neant, avec Vorgueil des cabarets, publihent l a
r e f 0 r me de l' Egl i s e ; et le fanatisme des sectaires, l'acri-
monie plebeienne, et en effet ils la reform^rent, mais sans savoir ce qu'ils
disaient, ni ce qu'ils faisaient
3) Es verdient bemerkt zu werden, daß noch ein in allen Fragen
des geistigen Lebens völlig klerikalisierter Mann wie der Wiener Kar-
dinal-Erzbischof Rauscher de Maistre kennzeichnet als einen Laien,
der ein mehr bestechendes als zuverlässiges Talent besessen habe und
in der Theologie weniger bewandert gewesen sei. Freilich gab Rauscher
dieses Urteil auf dem Vatikanischen Konzil ab (Mai 1870) im Kampfe
gegen die papalistische Unfehlbarkeitsdoktrin (Th. Granderath, S. J.,
Geschichte des Vatikan. Konzils, Bd. 3, 1906, S. 173).
*) Selbst für Frankreich darf seine Wirkung nicht so maßlos hoch
angeschlagen werden, wie von Friedrich a. a. O. 105 geschieht. Einige
Einschränkungen z. B. bei Latreille 245. Vgl. auch die Bemerkung
in dem übrigens stark panegyrischen und befangenen Buche von M.
de Lescure, Le comte J. de Af. et sa famille (1892) S. 383.
•) Nicht nur die oben Anm. 2 mitgeteilte Stelle, die auch
im „Katholik" (vgl. dazu die folgende Seite) Bd. 7, S. 306 in
wörtlicher Übersetzung wiedergegeben ist, macht es begreiflich, daß
542 Fritz Vigener,
Unter , den politischen Romantikern fand de Maistre am
ehesten gleichgestimmte oder sich gleich stimmende Seelen.
So in Friedrich Schlegel.^) Schlegel hatte sich vor seiner
Wiener Zeit bereits in eine romantische Universalidee hinein-
gelebt.2) Sie erhielt ihren eigentlichen Inhalt durch den
Gedanken an ein universales Kaisertum, aber dieses Kaiser-
tum sollte religiös begründet sein, also in der Praxis mit der
universalen Kirche verbunden und das heißt doch wohl, ihr
untergeordnet sein. Auch durch Novalis sind, wie Friedrich
Meinecke gezeigt hat^), Gedanken de Maistres vorweg-
genommen; aus einem idealisierten Bild des Mittelalters,
aus der Sympathie für mittelalterlichen Universalismus
erhob sich in Novalis die Idee eines kirchlichen Kosmo-
politismus, eines über die irdische Sphäre hinaustretenden
europäischen Gemeinschaftsstaat.es. Schlegel, der durch
innere Entwicklung Katholik geworden war, konnte auch
die rein kirchlichen Gedanken de Maistres willig aufneh-
men. Ihm persönlich allerdings war der, wie er meinte,
überzeugende Nachweis der inneren Notwendigkeit und
des geschichtlichen Daseins der Kircheneinheit — also das
mehr politisch Wirksame im Leben der Kirche — das Wich-
tigste an dem Papstbuche. Aber sein Interesse für das
Ganze bekundete er durch den Wunsch nach einer Über-
setzung. Das Verlangen wurde sogleich erfüllt: 1822 lag das
Papstbuch in deutscher Sprache vor, das Werk des jungen
katholischen Juristen Moritz Lieber und des frommen Bonner
Physiologen Windischmann*) — ein bezeichnendes Beispiel
gerade eine 1823 in Mainz veröffentliclite polemische Sclirift gegen das
Reformationsgedächtnis (s. Schnütgen, Das Elsaß und die Erneuerung
des kathol. Lebens in Deutschland von 1814 — 1848 [Teildruck als
Straßburger phijos. Dissert. 1908; jetzt, Frühjahr 1913, vollständig]
S. 26) auf de Maistres Papstbuch verwies.
1) Vgl. Friedrich, Gesch. d. vatik. Konzils 1, 187 f.
2) Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 2. Aufl., S. 84 ff.
3) A, a. O. S. 68 ff. (besonders 71).
*) M. Lieber (geb. 1790) in Kamberg, der Vater des bekannten
Parlamentariers, war Windischmanns Schwiegersohn; einiges über ihn
z. B. bei G. Goyau, L'Allemagne religieuse, le Catholicisme (s. das
Register, Bd. 4 [1909], S. 409). Über K. J. H. Windischmann ebenda,
ferner Ferd. Walter, Aus meinem Leben (1865), S. 310 ff.; von O. Pfülf
<3allikantsnius u.episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 543
für die auch sonst zu beobachtende Erscheinung, daß bei
den ersten Versuchen einer stärkeren Ronianisierung der ka-
tholischen Kirche Deutschlands die Laien bereits in hervor-
ragendem Maße beteiligt sind. Für unsere Untersuchungen
hier handelt es sich um die Feststellung, welche Aufnahme
die kirchlich-katholischen Kreise und die Theologen Deutsch-
lands dem Buche und seiner papalistischen Kirchenlehre be-
reitet haben. Wir können erwähnen, daß der zweiundzwanzig-
jährige Theolog Heinrich Klee, der damals noch vor der
Priesterweihe stand, bald aber als ausgezeichneter Dogmatiker
gefeiert wurde, die „Eglise gallicane" für sich verdeutscht
erscheinen ließ^), noch ehe die Liebersche Übersetzung der
Werke de Maistres die Schrift brachte. 2) Viel wichtiger
war doch, daß die popularisierende katholisch-theologische
Zeitschrift, die weit in die breiten Massen des Klerus und
in die kirchlich gesinnte gebildete Laienschicht eindrangt),
die Darlegungen de Maistres in breiten Auszügen ihrem
Publikum dargeboten hat. Es ist der noch heute, mit wenig
geändertem Charakter bestehende ,,Katholik** — eine
Mainzer Gründung.
In Mainz standen die Überlieferungen der erzstifti-
schen Zeit mit ihrer durch Aufklärung und Gallikanismus,
Febronianismus und nationalkirchliche Gedanken wesent-
lich bestimmten Richtung innerlich unvermittelt neben
aufsteigenden neukatholischen Tendenzen. Die fromme,
entschlossen kirchliche, zugleich milde und vornehme Per-
S. J. (Katholisch. Kirchenlexikon, hg. v. Wetzer u. Weite, 2. Aufh,
12 [1901], 1696), wird Windischmann „ein entschiedener, in jeder Hin-
sicht ausgezeichneter Katholik" genannt. Über seinen Anteil an der
deutschen Ausgabe de Maistres vgl. seinen Brief an Görres vom
17. März 1825 (Görres, Briefe, hg. v. Binder, Bd. 3 [= Gesammelte
Schriften, Bd. 9], S. 156).
») Friedrich 1, 188. Über Klee vgl. z. B. den Artikel von Hein-
rich im Kathol. Kirchenlexikon 7 (1891), 743 ff. und Goyau, L'AIU-
magne religieuse, le Catholicisme (s. das Register, Bd. 4, S. 408). Eine
knappe, liebevolle Charakteristik Klees gibt Ferd. Walter, Aus mei-
nem Leben S. 316.
^) Über diese berichtete der „Katholik" (s. unten S. 548) im
10. Bande (1823), S. 75—94.
^) Vgl. dazu die Notizen bei Schnütgen 27 f.
544 Fritz Vigener,
sönlichkeit des von Napoleon ernannten Bischofs Colmar^)
hat den ersten Äußerungen dieser Gegensätze viel von
ihrer Schärfe zu nehmen vermocht; der Zwiespalt selbst war
nicht überwunden. Gerade Colmar.hat dem Scholastizismus
in Theologie und Philosophie, dem das aufgeklärte Mainz
für immer entwachsen zu sein wähnte, durch die Gründung
seines Priesterseminars eine Feste errichtet, von der aus
bedeutende Vertreter eines jeder Vermischung mit aufkläre-
rischen und gallikanischen Gedanken abholden Katholizis-
mus in die Praxis der Kirche und in die Praxis der literari-
schen Polemik hineingesandt werden konnten. 2) Freilich
das 1805^) gegründete Mainzer Seminar war zunächst, wie
jedes französische Priesterseminar, durch seine vom Kaiser
bestätigten Satzungen auf die Deklaration von 1682 ver-
pflichtet; jeder Professor mußte sich zu den gallikanischen
Vier Artikeln schriftlich bekennen und geloben, seine Lehre
nach ihnen zu richten.*) Erst der Sturz Napoleons hat das
kirchliche Leben in Mainz dieser vom Staate angelegten
dogmatischen Fessel entzogen. Das Großherzogtum
Hessen, dem Mainz zufiel, verfügte nicht über kirchen-
politische Erfahrungen, und am allerwenigsten brachte dieser
Staat, der eben zuerst Ländergebiete mit starker katholischer
Bevölkerung erhalten hatte, ein Lehrsystem mit, das nach
Art der gallikanischen Artikel oder des Febronianismus
deutscher katholischer Staaten Priestererziehung und dog-
^) Über ihn das freilich ziemlich oberflächliche Buch von Jos.
Wirth, Monseign. Colmar, evique de Mayence (1760 — 1818), 1906^
ferner Schnütgen S. 4 ff., Bergsträßer, Studien zur Vorgeschichte der
Zentrumspartei 116 ff., F. Usinger, Das Bistum Mainz unter französi-
scher Herrschaft (1912), Gustav Krüger, Der Mainzer Kreis und die
kathol. Bewegung: Preuß. Jahrbücher 148 (1912), 395 ff.
ä) Vgl. Colmars Brief vom 24. Juli 1818 bei Bergsträßer 243 f.
') Vgl. Usinger 60 (nicht 1803, wie Krüger 396).
*) Vgl. Jos. Guerber, Bruno Franz Liebermann (1880) S. 215 ff.
und die von Usinger 59 f. mitgeteilten Bestimmungen. In den bis-
herigen Darstellungen sind die ersten Jahre des Mainzer Seminars
nicht richtig beurteilt oder ganz übersehen worden. Es ist doch lehr-
reich, daß der Jesuitenschüler Liebermann (s. S. 545 und 551) die Vier
Artikel unterschrieben und nach ihnen zu lehren versprochen hat.
Welche Rücksicht auf die gallikanische Tradition voiinöten war, er-
gibt sich auch aus Guerber, Liebermann S. 301 f.
Gallikanismus u.episk.Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 545
matisclie Unterweisung in bestimmter Richtung festgelegt
hätte. So hat, was man zu übersehen pflegt, erst der deutsche
„PoUzeistaat" die spezifische Entwici^lung des Mainzer
Seminars ermögUcht, um ihm dann freilich nach einem
halben Menschenalter ein Ende zu bereiten. Es entspricht
dem Wechsel der politischen Verhältnisse, daß Colmars
elsässischer Landesgenosse Liebermann, den der Bischof
von Anfang an zum Leiter des Seminars bestellt hatte, erst
im Jahre 1814 dazu übergingt), statt des Kirchenrechts
Dogmatik zu lehren. Jetzt durfte er das Gegenteil dessen
verkünden, was er beim Antritt seines Amtes zu lehren ver-
sprochen hatte. Dem gallikanischen Artikel von der Superiori-
tät des Konzils konnte er die Lehre vom Universalepiskopat
des Papstes entgegenhalten, und, statt mit Bossuet die Gel-
tung päpstlicher Lehrentscheidungen von der Zustimmung
der Kirche abhängig zu machen, wagte er es, die Doktrin
von der päpstlichen Unfehlbarkeit, gegen die er selbst doch
seine ernstlichen Zweifel hegte^), den künftigen Priestern
vorzutragen. 3) Aus Liebermanns Seminar sind die beiden
Priester hervorgegangen, die im Jahre 1821 den „Katholik"
gründeten, Andreas Räß, selbst Philosophielehrer am Seminar,
und Johannes Weis, beide später als Bischöfe ganz im Geiste
ihres alten Seminars tätig.
Der Katholik ist die Monatschrift, die sich seitdem am
meisten bemüht hat, dem deutschen Klerus und den gebil-
deten Laien Deutschlands die ihnen fast fremd gewordene
streng kirchlich-römische Anschauung aller Dinge und
namentlich der Kirche selbst wieder in die Seele zu senken.
Das Programm der Zeitschrift macht die bewußte Abwendung
von den Aufklärungsideen deutlich, zeigt aber bei allem
Spotte über ,, unser hochgepriesenes menschentümliches Zeit-
alter" zugleich, daß man es verstand, sich nach außen zur
Rechtfertigung dieser neuen literarischen Kampfesrüstung
eben auf die Toleranzgedanken der Aufklärung zu be-
0 Krüger S. 398.
») Vgl. unten S. 551.
3) Das bezeugt Guerber S. 304 ausdrücklich, doch vgl. auch ebenda
S,303 und namentlich 217.
546 Fritz Vigener,
rufen.^) Die Zeitschrift wollte kein Gelehrtenblatt sein, aber
sie wollte die Theologie, wie das Mainzer Seminar sie faßte,
propagieren und popularisieren, um der vorherrschenden
Theologie der Aufklärung und des Febronianismus ein
Gegengewicht zu bieten. Dabei war es eine wohl verstandene
Pflicht der Klugheit, nicht trotzig begehrend mit der ganzen
Wucht der orthodox-theologischen Waffen hervorzutreten.
Wenn man die innere Hingabe des sog. Mainzer Kreises
an den Kurialismus feststellt, so muß man zugleich bemerken,
daß die Leitung des „Katholik" es im ganzen trefflich ver-
standen hat, bestimmten Übertreibungen papalistischer
Doktrinen aus dem Wege zu gehen, ohne sich in dem Wesent-
lichen irgend etwas zu vergeben, und meist auch durch das
Verbindliche einer maßvollen Form dem sachlich Entschei-
denden größere Wirkung zu sichern. Diese Berechnung ist
der Zeitschrift auch in der Begeisterung für de Maistre
nicht ganz verloren gegangen. Der „Katholik" hat die
deutsche Ausgabe des Papstbuches sogleich lebhaft begrüßt
und viele Seiten mit Auszügen aus de Maistre gefüllt^) —
für die Leser der Zeitschrift damals, da ihr Görres seine
schneidige und biegsame Feder noch nicht zur Verfügung
gestellt hatte, auch literarisch ein ungewohnter und ver-
lockender Genuß. Der Verfasser des Aufsatzes gibt sich den
Gedanken de Maistres ganz gefangen. Was de Maistre
vorträgt, sei es selbst die Lehre vom Recht des Papstes,
die Untertanen ihres Treueides zu entbinden^), es wird mit
ehrerbietiger Zustimmung aufgenommen. Um so mehr
bedeutet es, daß der ,, Katholik" sich in einem Punkte sorglich
salviert hat. Er läßt den Satz gelten, daß die Einheit der
Lehr« eine monarchische Regierungsform der Kirche erfor-
dere, aber die Behauptung, daß die Lehre von der päpst-
1) „Katholik", Bd. 1, Heft 1 (1821), Vorwort S. III. Die Ver-
teidigung der Kirche soll (S. V) im „Geist der Liebe und Sanftmut,
der Bescheidenheit und des hohen Ernstes" geschehen. Dabei wird
bereits im T.Bande (1823) in einem „Lehrgedicht" mit dem Titel
„Das Pabstthum zu Rom, von Christus gestiftet" Luther „der tolle
Mönch" genannt (S. 21). Vgl. auch oben S. 541 Anm. 5.
2) „Katholik" 7 (1823), S. 179—210 und 284—308.
3) A. a. O. S. 199. Vgl. auch S. 293 (aus „Du Pape", Buch 3,
Kap. 4).
Oailikanismus u.episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 547
liehen Infallibilität zum gegebenen Glaubenssystem gehöre,
macht er sich nicht zu eigen; die Unfehlbarkeit des Papstes
sei nicht Lehre der Kirche, könne also geglaubt werden
oder nicht, je nach der subjektiven Einsicht der Gründe
dafür oder dawider, nur die Unfehlbarkeit der lehrenden
Kirche sei Dogma. i) Diese Zurückhaltung ist nicht schon
erklärt, wenn man feststellt, daß sie dem tatsächlichen
Stand des Dogmas in korrekter Weise gerecht wird; denn
wie jetzt de Maistre, so hatten vorher viele andere, Ordens-
niänner und Priester, die nahe Fühlung mit der Kurie hatten,
Theologen, die man Kirchenväter der Neuzeit nennen darf,
über das definierte Dogma hinausgegriffen und die Unfehl-
barkeitsdoktrin als verpflichtendes Stück der Glaubenslehre
angesprochen. Diese so sehr gewissenhafte Zurückhaltung
an einem Punkte, wo nach kurialer Auffassung weniger
Loyalität lobwürdiger gewesen wäre, ist doch vor allem
als höchst berechtigte Taktik gegenüber der deutschen
Wirklichkeit einzuschätzen. Die Männer, die im „Katholik"
weniger Kenntnisse verbreiten, als Anschauungen beein-
flussen und durch Belehrung erziehen wollten, wußten sehr
^enau, daß die Wegebereiter der geschlossen kurialistischen
Kirchenansicht in Deutschland den Spaten tiefer ansetzen
müßten. Die Unfehlbarkeitslehre konnte und sollte den
letzten Abschluß geben, vorher galt es doch, erst einmal nur
dem, was man in Rom längst zu dem Selbstverständlichen
und Feststehenden rechnete, die allgemeine Anerkennung
der deutschen Priester und Theologen zu erwirken. Wo der
jurisdiktioneile Primat des Papstes noch bestritten und die
Superiorität des allgemeinen Konzils noch festgehalten wurde
von Theologen, die jede Verdächtigung ihrer Kirchlichkeit
mit innerlichem Rechte hätten zurückweisen können, da
mußte man mit der Propaganda für die Infallibilitätsdoktrin
behutsam an sich halten. Solange die Neuordnung der
deutschen Kirche noch nicht völlig durchgeführt war, mußte
man in den Kreisen, die der ,, Katholik" vertrat, nicht nur
*) A. a. O. S. 190 in der Anmerkung steht diese einschränkende
Bemerkung zu dem von der „faktischen Unfehlbarkeit" des Papstes
-handelnden 15. Kapitel des 1. Buches von „Du Pape"; Bergsträßer
119 f. ist zu berichtigen.
5t48 Fritz Vigener,
gallikanische Theorien fürchten, sondern selbst gaUikanisch-
febronianische Praxis. Solche Besorgnisse sprechen deutlich
schon aus einer Apostrophe, die im ersten Hefte des „Katlio-^
lik" an den künftig zu bestellenden Mainzer Bischof gerich-
tet war^), und aus der Besprechung der deutschen Über-
setzung von de Maistres Schrift über die Gallikanische
Kirche. 2) In einem programmatischen Aufsatze aber, den
die Zeitschrift im Jahre 1825 über die unsicheren Verhält- AI
nisse in der oberrheinischen Kirchenprovinz veröffent- "'
lichte^), meldet sich der Episkopalismus als kirchenpolitische
Realität ganz unmittelbar an. Hier wird einfach zugegeben,,
daß es noch unentschieden sei, ob das Episkopal- oder das-
^) „Die Religion an den aufzustellenden Bischof" („Katholik" l
[1821], S. 81—98, anonym, wie alle diese Aufsätze). Hier heißt es S. 87:
„Überzeugt, daß du einsehen wirst, der Pabst sey nicht nur Bischof
in Rom, sondern der wahre Nachfolger des hl. Petrus, leg' ich in ge-
drängter Kürze die Gründe vor, die beweisen, daß der Pabst dieser
Nachfolger wirklich sei — nicht für dich, sondern für diejenigen, *die
sich Febronianer nennen, und den Pabst den ersten unter seines
Gleichen gelten lassen." Daß der Verfasser natürlich gerade die Er-^
Hebung eines febronianisch gesinnten Bischofs fürchtete, braucht nicht
erst gesagt zu werden. Das oben S. 546 Anm. 1 genannte „Lehr-
gedicht" fordert zum Gebet auf, daß Gott „H i r t e n" sende, „nicht j
stumme Hunde, die nicht bellen können" [= Jesaias 56, 10]. Der erst
1830 eingesetzte Mainzer Bischof, Domdekan Burg von Freiburg, hat
den Erwartungen dieses Mahners jedenfalls nicht entsprochen.
2) ,, Katholik" (Bd. 10 Straßburg 1823; damals hg. von G. Scheib-
lein) S. 75 — 94, besonders S. 77 f., wo sich die beachtenswerten Worte
finden: Das Ganze wird dem denkenden katholischen Leser mehr als
einen Anlaß zu besorgungsvollen Seitenblicken auf die in Deutschland
herrschenden ähnlichen Erscheinungen und Denkarten in Hinsicht
der Grundsätze geben, welchen ein so großer Teil deutscher
Katholiken zugetan ist, und welche gerade jetzt erst recht ernst er-
wogen zu werden verdienen. Man würde sich sehr irren, wenn man
glauben wollte, wir wären von den Grundsätzen der gallikanischen
Kirche unangesteckt geblieben; fabula narratur de te mutaio nomine.
.... Man wird gewiß erkennen, daß der Einfluß, welchen diese
Grundsätze auch auf uns hatten, und annoch in Rück-
sicht der Begriffe vom römischen Stuhle unter
uns haben, nur zu groß war." (Von mir gesperrt.)
3) „Die religiösen Verhältnisse der Katholiken Deutschlands —
und was sind die protestantischen Landesherren ihren katholischen
Untertanen in Bezug auf ihre Religionsverhältnisse schuldig": „Katho-
lik" 15 (1825), S. 129—176.
Gallikanlsmus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 549
Papalsysteni dein Wohl der deutschen Kirche am zuver»
sichtlichsten entspreche.^) Auch dieser, persönlich dem aus-
schließlich papalen Kirchenrecht zugekehrte Schriftsteller
glaubt der deutschen Kirche das Zugeständnis schuldig zu
sein, daß bei der endgültigen Feststellung der Rechtsver-
hältnisse zwischen Papst und Episkopat die Bischöfe geradeso
gut herangezogen werden müßten wie der Papst. 2) Gewiß,
die Not des Augenblicks hat hier die Feder führen helfen,
aber daß auch der „Katholik" genötigt war, mindestens
scheinbar einer Vermittlung das Wort zu reden, bekundet
eine gebotene Rücksicht auf den Episkopalismus und be-
zeugt so dessen lebendige Kraft.
Wir sind indessen nicht dazu verurteilt, lediglich an
der Haltung der Gegner die nachwirkende Macht des Fe-
bronianismus, das selbstsichere Fortleben des kirchlichen
Episkopalismus und die Stärke des Widerstandes gegen die
Infallibilitätsdoktrin mühsam abzumessen. Wir haben posi-
tive Zeugnisse genug. Abzusehen ist dabei von dem Radi-
kalismus, der mit seiner Anfechtung des päpstlichen Pri-
mates überhaupt, mit seiner Bestreitung selbst der Unfehl-
barkeit des allgemeinen Konzils und der allgemeinen Kirche
sich außerhalb des Kreises aufstellt, der um das Dogma
zu ziehen ist.=^) Vielmehr darf die Untersuchung nur da ein-
setzen, wo nicht allein die Gesinnung, sondern auch die
Lehranschauung korrekt-katholisch ist, wo gewollte und tat-
sächliche Kirchlichkeit zusammentreffen. Man wird zu dem
Ergebnis kommen, daß die papale Unfehlbarkeitsdoktrin in
Deutschland damals in den Büchern, die sich durchzusetzen
^) S, 175, besonders die Anmerkung.
2) S. 175 Anm., vgl. auch S. 149.
^) Darum bleibt hier z. B. unberücksichtigt die übrigens sehr
interessante Schrift, die F. W. Carove 1826/7 unter dem Titel „Über
-allein seligmachende Kirche" in 2 Bänden veröffentlicht hat. Einige
Notizen über Carove bietet J. Fr. v. Schulte, Gesch. der Quellen des
canon. Rechts 3 I, S. 342; eine kleine Mitteilung auch bei Paul Vogel,
Beiträge zur Geschichte des Kölner Kirchenstreites (1913) S. 52. —
Da Grauert in seiner Schrift über Görres in Straßburg (Görresgeseil-
schaft, 3. Vereinsschrift für 1910) S. 46 Anm. 3 berichtet, daß er
Caroves Werk in München vergebens gesucht habe, bemerke ich,
daß die Freiburger Universitätsbibliothek es besitzt.
550 Fritz Vigener,
vermochten, einer nahezu allgemeinen Ablehnung begegnet. i)(|
Aus der für die Theologen bestimmten Literatur genügen;
zum Beweise zwei Beispiele, da sie der Schicht entstammen,
die man später ultramontan genannt hat. Der Bonner
Kanonist Ferdinand Walter erledigte 1822 in seinem Lehr-
buch des Kirchenrechts, das der ,, Katholik" aufs wärmst(
empfohlen hat 2), die Doktrin der Unfehlbarkeit des ei
^) Eine immerhin beachtenswerte Ausnahme ist der Bambergerij
Kirchenrechtsprofessor Franz Andreas Frey (f 1829), wenn auch von'
einer starken Wirkung seines Auftretens nichts zu spüren ist. Sein
„Allgemeines Religions-, Kirchen- und Kirchenstaatsrecht", das er
1808 anonym veröffentlichte (Neue [Titel-JAuflage als „neue Ausgabe"
mit dem Namen, Kitzingen 1822) verrät in der Vorrede schon deut-
lich seine Sympathien für die kurialistische Kirchenauffassung; er
wendet sich scharf gegen die Febronianer und klagt, daß diese „jüngere
Partei, die nun der Mehrzahl nach über die ältere hervorragt, in ihren
Forderungen dermalen die Schranken weit zu überschreiten wagt".
In seinem „Kritischen Kommentar über das Kirchenrecht, frei be-
arbeitet nach Anton Michl's Kirchenrecht für Katholiken und Prote-
stanten", Teil 2 (1818; 2., unveränderte Auflage 1823) hat er es ganz
klar ausgesprochen, daß seiner Überzeugung nach die Superiorität des
Papstes über das allgemeine Konzil wie auch die Unfehlbarkeit päpst-
licher Entscheidungen in Glaubensfragen zu dem Wesentlichen des
kirchlichen Lehrsystems gehören. J. F. v. Schultes Bemerkung (Gesch.
der Quellen, 3 I, 307), Frey vertrete „das Episkopalsystem mit einer
kleinen Neigung nach Rom" ist durchaus irreführend; man vgl. Frey,
Koinmentar 2 § 112 ff., namentlich S. 201, 204, 208, 211 (hier sogar
die freilich ganz verkehrte Behauptung, daß zu Trient die Unfehl-
barkeitslehre „dekretiert" worden sei). Vorsichtig und zurückhaltend
in der Form ist Frey allerdings. Übrigens zeigt die ganze Art, wie
er in den Darlegungen über „Streitige Rechte des Papstes" die Gründe
ifür und wider vorträgt und bespricht, seine innere Parteinahme für
Rom; das um so mehr, als die von ihm zugrunde gelegte Arbeit
Michls (München 1809) sich in ausgesprochener Weise (vgl. hier nament-
lich § 25 S. 80 f.) gegen die Überordnung des Papstes über das all-
gemeine Konzil und gegen die päpstliche Unfehlbarkeit wendet.
Wenn F. Walter (s. oben) schon in der ersten Auflage seines Kirchen-
rechts in einer Note auf die Zusammenstellung der Gründe und
Gegengründe bei Frey verweist, so offenbarte sich auch darin (s. die
übernächste Anmerkung) sein noch verhüllter und ihm selbst vielleicht
unbewußter Drang von der episkopalistischen zur kurialistischen Seite.
2) „Katholik" 10 (1823), 205—223 über die 1823 veröffentlichte
2. Auflage. Das Lob „musterhafter Consequenz und Unparteilichkeit"
hat immerhin etwas zu bedeuten im Munde eines Kritikers, der (S. 212>
zu Walters Darlegungen über Papal- und Episkopalsystem bemerkt:
Gallikanismus u.episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 551
cathedra entscheidenden Papstes in einer kurzen Note mit
der Bemerkung, derartiges habe man früher behauptet;
in Wahrheit besitze der Papst nicht die Gabe der Unfehl-
barkeit,^) Eine gewichtigere Stimme als dem Laienkano-
nisten kommt dem gefeierten Priestererzieher und Dog-
matiker Liebermann zu, dem ersten Leiter des Mainzer
Seminars. Liebermanns vielbenutztes Hauptwerk, die „//z-
stitutiones theologicae'\ sind im ganzen durchaus in scho-
lastisch-römischem Geiste gehalten, unter scharfer Ableh-
nung alles Sondertums. Aber in dem zweiten Bande, den
er 1820 veröffentlichte, ist nicht nur die Lehre von der Un-
fehlbarkeit des Papstes als kontrovers und die der gesamten
Kirche als die allein feststehende bezeichnet; hier wird viel-
mehr geradezu der vierte gallikanische Artikel als die
katholische Lehre verkündet.^)
Hierüber verdient besonders de Maistres Werk „Vom Papste" nach-
gelesen zu werden.
*) Ferd. Walter, Lehrbuch des Kirchenrechts mit Berücksichtigung
der neuesten Verhältnisse (Bonn 1822), S. 26. Walter bemerkt noch^
die Unfehlbarkeit werde „von den meisten Theologen, Liebermann,.
Bossuet, Riegger usw. [diese Reihenfolge!] auf ein allgemeines Conci-
lium ausgedehnt", andere wollten sie dem Konzil nur dann zugestehen,
„wenn dessen Entscheidungen von der gesamten Kirche angenom-
men worden seien". In den papalistischen Kirchenbegriff, von dem
sein Buch zuerst nur vereinzelte Spuren aufwies (vgl. den Schluß der
vorletzten Anmerkung, dazu das Urteil der Theolog. Quartalschrift
bei Friedrich, Gesch. d. vatik. Konzils 1, S. 199 Anm. 1), hat sich
Walter mit dem Wechsel der Zeiten immer besser hineingefunden;
für die Beurteilung seines Kirchenrechtes ist diese Tatsache so wichtig»
daß man bedauert, sie in den sonst ziemlich eingehenden Bemerkungen
von Landsberg, Gesch. der dt. Rechtswissenschaft 3 II (1910), Text
S. 332 ff., Noten S. 152 ff. nicht berücksichtigt zu finden. — In der
8. Auflage (1839) hat Walter die soeben angeführten Darlegungen
einfach weggelassen und statt dessen erklärt, das allgemeine Konzil
und der Papst seien mit der Unfehlbarkeit ausgestattet, bei geteilter
Meinung komme „es auf den Beitritt des römischen Stuhles an"
(S. 332). Vgl. auch J. Fr. Schultes Anzeige der 14. Auflage im Theo-
logischen Literaturblatt (herausg. v. Reusch) 1872, Nr. 14 (besonders
Spalte 335).
2) Fr. Leop. Br. Liebermann, Institutiones theologicae 2 (Mogun-
tiae 1820), S. 622: Ex principiis fidei catholicis certum est, summum
Pontificem in dijudicandis fidei controversiis praecipuas partes habere^
ejusque Judicium, si ecclesiae consensus accesserit, esse irreformabile.
5öi Fritz Vigener,
Blickt man auf die Kreise, in denen sich die innerlicli-
mystische und zugleich streng kirchliche Frömmigkeit am
leuchtendsten darstellt, in Niederdeutschland die mün-
sterische Gemeinschaft, in Oberdeutschland Sailer und seine
Freunde, so findet man, daß sie von ihrem Kirchenbegriff
in gleicher Weise den päpstlichen Absolutismus und die
Doktrin von der päpstlichen Unfehlbarkeit fernhielten. ^.
Diesen, mit strenger Kirchlichkeit gepaarten, gemäßigt epi- ^|
skopalistischen Standpunkt vertrat etwa Bernhard Heinrich
Overberg, der als bedeutendster Bildner des münsterlän-
dischen Lehrerstandes fast ein Menschenalter lang und noch
unter preußischer Herrschaft in Kirche und Schule weithin
gewirkt hat; es war das Urteil des „Katholik", das das
Religionsbuch dieses ,, gewandten und vom inneren Leben der
Religion tief durchdrungenen Katecheten" als das beste
bezeichnete.!) Friedrich Leopold Stolberg, als Konvertit
auch einer der Schüler Overbergs, hat in seiner „Geschichte
der Religion Jesu Christi" die Vorstellung, daß die Ver-
fassung der Kirche despotisch sei und der Willkür des sicht-
baren Oberhauptes Raum lasse, geradezu mit dem Hinweis
auf die Einrichtung des allgemeinen Konzils für irrig er-
klärt^) — eine deutliche Abfertigung de Maistres.^) Mit
ruhiger Sicherheit konnte er sagen: „Jeder wohl unterrichtete
(Vgl. dazu oben S. 516 mit Anm. 1.) An autem ante Ecclesiae con-
sensum infallibile sit, libere et salva fide inter Catholicos controver-
titur, — S. 625: Ergo infallibilitas Romani Pontificis urgeri non po-
test contra Haereticos ; neque adhiberi ad stabüiendam fidem catho
licam. — S. 575: . . . Respondemus, neminem esse inter Catholicos
qui non sciat, supremam potestatem judicandi in rebus fidei in ecclesia
docente seu in corpore pastorum residere. Vgl. ferner S. 576, 588,
595 f. _ Im „Katholik" 12 (1824), S. 42 wurden die drei ersten Bände
der Institutionen als „Meisterwerk" begrüßt.
1) „Katholik" 20 (1826), S. 340; vgl. auch Bd. 21, S. 242—245.
Es kennzeichnet den Unterschied der Zeiten, wenn streng kirchliche
Beurteiler von heutzutage finden, Overberg wende sich mehr an den
„natürlichen Menschen" als an den getauften Christen (Thalhofer,
Die Entwicklung des kathol. Katechismus in Deutschland von Cani-
sius bis Deharbe, 1899, S. 141).
2) Fr. L. Graf zu Stolberg, Gesch. der Religion Jesu Christi [Ori-
ginal-Ausg., Hamburg 1806/18], Neue Ausgabe, Bd. 5 (Wren 1817),
S. 515; Bd. 10, S. 136 ff. und 444.
3) Vgl. dazu oben S. 538.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 553
Katholik weiß es, daß unsere Glaubenslehre nicht dem
Papste, sondern nur der großen Mehrheit der mit dem
Nachfolger des Apostels übereinstimmenden Bischöfe die
Unfehlbarkeit beilegt/'^)
S a i 1 e r , der in jüngeren Jahren selbst für Blaus
rationalistische und ultra-febronianische Gedanken noch
Sympathie zeigte^), hat als Bischof von Regensburg keine
andere Anschauung gewonnen, als sie ihn auf dem Lands-
huter Katheder erfüllte und mit den münsterischen Katho-
liken aufs innigste verband. Ganz im Geiste Sailers hat noch
später sein bedeutendster Jünger, Melchior Diepenbrock,
in dessen Seele die Überlieferung der münsterländischen
Heimat sich mit Sailers Gedanken verschmolz, den einseitigen
Romanismus ebenso abgelehnt wie jenen radikalen Febro-
nianismus, der dem Papste nur den Ehrenprimat lassen
wollte; in dem vermittelnden, durch den Papst abgeschlos-
senen, nicht aber im Papste aufgehenden Episkopalsystem
sah Diepenbrock das wahrhaft Katholische.^)
Daß in der ungeordneten und theologisch ungeklärten
Gedankenwelt mancher kirchlich-begeisterter Laien die Vor-
stellung von dem Primat und die von der Unfehlbarkeit
des Papstes in eins zusammenflössen und ihnen so die
Unfehlbarkeitsdoktrin wie von selbst zum grundlegenden
Dogma werden konnte, ist nachweisbar*) und begreiflich.
^) Bd. 10, S. 444. — Vgl. auch das Register zu Stolberg, bear-
beitet von Jos. Moritz, Prof. der Kirchengeschichte und des Kirchen-
rechts zu Dillingen, Bd. 2 (1825), S. 382 und die von Friedrich, Gesch.
des vatik. Konzils 1, S. 187 Anm. 4 (S. 188) angeführte Äußerung
Stolbergs gegen „die falsche Behauptung, daß wir Katholiken den
Papst für unfehlbar halten".
*) Vgl. oben S. 529 Anm. 1.
') Diepenbrock an J. K. Passavant, 22. Juni 1840, „Briefe von
Sailer, Diepenbrock und Passavant" (1860) S. 113; vgl. Passavants
Briefe, ebenda S. 80 f. u. 94 f., auch Reinkens, Diepenbrock S. 482.
Der Frankfurter Arzt Passavant war übrigens nicht, wie Friedrich,
Gesch. des vat. Konzils 1,219 meint (ebenso offenbar Schnabel, Der
Zusammenschluß des polit. Katholizismus, 1910, S. 65), Katholik,
sondern Protestant.
*) Von einem sehr lehrreichen Beispiel, das der deutsche Maler
Koch in Rom (um 1829) bietet, erzählt Beda Weber, Charakterbilder
(1853) S. 157 ff.
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 36
554 Fritz Vigener,
Aber die Theologen haben diese Verschiebung damals ebenso
gut zurückgewiesen, wie es Stolberg getan hat, und wenn
man ihr bei protestantischen Gelehrten begegnete, dann
glaubte man sie zu den unredlichen Mitteln gehässiger
Polemik zählen zu dürfen. So hat es der ,, Katholik" 1826
getan!) — damals war kein geringerer als Liebermann der
Redakteur und Görres neben ihm tätig — und nicht anders
1827, als Liebermanns Mainzer Schüler Weis die Zeitschrift
herausgab^); der Münchener Philosoph Baader aber konnte
noch später theologischen Beifalls gewiß sein, als er es Hegel
entrüstet vorhielt, daß er Katholizismus und Glaube an
päpstliche Unfehlbarkeit gleichsetze.^)
Vor allem hat das große Organ der aufblühenden
Tübinger katholischen Fakultät, die Theologische
Quartalschrift (auch sie besteht noch heute, doch
ist sie anders geartet als damals), mit der Aufdeckung
solcher polemischer Entgleisungen die positive Begründung
der Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche verbunden,
um sie nicht allein gegen irgendeinen Protestanten, der
1) „Katholik" 21 (1826), S. 243 f. in der Besprechung von Over-
bergs Religionshandbuch. „Bei der Lehre von der Unfehlbarkeit der
Kirche sei auch — was die gelehrten Protestanten
immer nicht zu wissen sich anstellen — wohl be-
merkt, daß nicht jeder Bischof für sich unfehlbar sei, daß es auch
keine Glaubenslehre sei, daß der Papst unfehlbar sei, sondern die
übereinstimmende Erklärung sämtlicher Bischöfe (d. i. der Mehrzahl
derselben) unter dem Oberhaupte ist unfehlbar." — Vgl. auch S. 547
Anm. 1.
2) „Katholik" 26 (1827), S. 15. Hier wird der protestantisch ge-
wordene Fürst Salm-Salm hart angefahren, weil er von der Un-
fehlbarkeit des Papstes redet — „ein schon hundertmal widerlegter
lügenhafter Vorwurf". — In ähnlicher Heftigkeit äußert sich um die-
selbe Zeit Rothensee; vgl. Friedrich 1,531.
3) Fr. Baaders Sämtliche Werke, hg. v. Franz Hoffmann, Bd. 5,
S. 396 Anm. 1. — Unter den Historikern um die Jahrhundertmitte hat
gerade der von Hegel stark beeinflußte Gervinus den „Statthalter Christi"
als „mit Gottes Willkür und Unfehlbarkeit ausgestattet" angesehen
(Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrh., 1852; in der 4. Auflage
[1864] S. 33). Später sind freilich solche Stimmen als „protestan-
tische Zeugen der Wahrheit" von katholischen Apologeten ebenso
eifrig gelobt und gesammelt worden, wie sie vordem gescholten und
abgelehnt wurden.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 555
dem Katholizismus Lehren andichte, „die nie von ihm
gelehrt worden" seien '), sondern auch wider die Vor-
kämpfer der Papaldoktrin selber als die allein gültige
zu verteidigen. Die Quartalschrift, die von Hirscher und
drei anderen Tübinger Theologen^) seit 1819 herausgegeben
wurde, wollte der Wissenschaft und der kirchlichen Gegen-
wart zugleich ihre Aufmerksamkeit schenken. Wie in Würt-
temberg überhaupt eine Durchdringung der von der Auf-
klärung überkommenen, an der deutschen Philosophie
genährten Grundsätze selbständiger Forschung mit dem
Glaubensgehalt eines kirchHchen Katholizismus sich sehr
früh und kräftig vollzogen hat, so ist die Quartalschrift
insbesondere der Ausdruck einer nach wissenschaftlicher
Erkenntnis strebenden und zugleich um die Einheit und
Reinheit der Kirche ehrlich bemühten Richtung im deutschen
Katholizisnms, einer weiten und wechselnden und doch in
der Tübinger Fakultät zusammengefaßten theologisch-kirch-
lichen Gemeinschaft. Die Quartalschrift machte nicht die
überredende Unterweisung sondern die belehrende Unter-
suchung zu ihrem Ideal. Die Herausgeber sprachen es aus^),
daß sie, von aller Parteisucht und Parteinahme entfernt,
überall nur der Wahrheit huldigen und ihr die Huldigung
ihrer Leser verschaffen wollten, und sie faßten die geforderte
Wahrheit in einem Sinne, daß sie dabei die Freiheit der Mit-
arbeiter verkünden konnten.*) In der Lehre ihrer Kirche
sahen natürlich auch sie die heilige Schranke für die eigene
Meinung. Aber den Grundsatz der Überlas in dubiis hat die
Zeitschrift auf lange hinaus und ganz besonders in den ersten
Jahren mit einer recht bewußten Weitherzigkeit festgehalten,
1) Theolog. Quartalschrift 1819, S. 712.
2) Gratz, Drey, Herbst.
3) Theol. Quartalschrift, Vorwort zum 1. Heft (1819), S. 6.
Ebenda zu dem oben folgenden.
*) Wohl nur in dieser katholisch-theologischen Zeitschrift war
ein Satz möglich, wie er sich im Jahrgang 1824, S. 589, findet:
„Jede Kirche entstehet, erhält und erweitert sich . . . durch die freie,
religiöse Überzeugung ihrer Glieder". Man versteht es, daß selbst
F. W. Carov6 in seiner oben S. 549 Anm. 3 genannten Schrift 1,
S. 84 Anm. 2 zu dieser „in wahrhaft reformierendem Sinne" gehal-
tenen Äußerung seine Zustimmung gab.
36*
556 Fritz Vigener,
die auch den letzten Wogen des entschlossenen Febronianis-
mus nicht die Bahn versperren mochte. Der deutsch- j
kirchliche Standpunkt ist hier in der Zeit, da über das Schick-
sal der deutschen Kirche beraten wurde, nachdrücklich und]
ausschließlich vertreten worden. Keine Sorge hat die Tü-j
binger Theologen und ihre Freunde stärker bewegt als die vor
einer Überspannung der Befugnisse der kirchlichen Zentral-'
gewalt, vor einem lastenden päpstlichen Summepiskopat
über das deutsche Kirchenwesen, dessen Freiheit als uraltes
geschichtliches Recht um so williger gefeiert wurde, weil
sie für den Augenblick fast vernichtet und für die Dauer
bedroht war. Den Streit Wessenbergs mit Rom wollte die
Quartalschrift gewürdigt wissen als eine Kirchenangelegen-
heit der deutschen Nation^); mit gutem Grunde, denn hier
war in der Tat die grundsätzliche Frage berührt, ob das
aus dem 18. Jahrhundert überlieferte deutsche oder das
gemeine papale Kirchenrecht gelten sollte. Die Zeitschrift
mahnte, daß keiner sich an seiner Nation versündigen möchte
und die Fesseln wieder schmieden helfe, die die Voreltern
mit großer Mühe zerbrochen hätten. Ein Mitarbeiter schrieb
Anfang Februar 1819 in gemäßigter Stimmung und behut-
samer Haltung kritische Glossen über Entstehung und In-
halt des baierischen Konkordates. 2) Er bekennt^) ohne
1) Theologische Quartalschrift, Jahrgang 1819, S. 299, auch
S. 311 die Berufung auf das deutsche Kirchenrecht. Vgl. ferner Nie-
buhrs „Schreiben eines Protestanten an einen Katholiken" (Nachgelas-
sene Schriften B. G, Niebuhrs nichtphilologischen Inhalts, 1842,
S. 501 — 518), das, wie der Herausgeber bemerkt, „anscheinend 1818
geschrieben" ist. Auch hier geht das Urteil des Katholiken dahin
(S. 503 f.), daß die Wessenbergische Sache „wenn irgend eine, Ge-
samtangelegenheit Deutschlands" sei (S. 504 oben). Niebuhr wendet
sich in kühler Überlegung gegen den Gedanken, daß man in der
Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit den Protestanten eine katho-
lische deutsche Nationalkirche gründen könne. Aber auch er, der die
Kurie so vorurteilslos beurteilte wie wenige, muß zugeben (S. 51 1 f.),
daß Rom die Bedürfnisse des katholischen Deutschlands „verkennt
und nicht begreifen kann", und „unnatürlich" sei es, „daß Italiäner
eine geistige Herrschaft über Deutschland ausüben".
2) A. a. O. S. 300—329. — Die Zeit der Abfassung ergibt sich
aus S. 327.
3) Ebenda S. 317 f.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 557
Vorbehalt seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer
obersten und zentralen Gewalt, er verwirft jedes Streben
nach der haltungslosen Vielheit unabhängiger National-
kirchen und Patriarchate, er hat Verständnis für die auf-
saugende Anziehungskraft der Zentrale und würdigt selbst
den die Einheit erhaltenden Drang der Päpste zur Allein-
gewalt in der Kirche. Aber der Idee einer reinen Monarchie
will er doch den gesunderen und bewährten Gedanken der
beschränkten Monarchie in der Kirche nicht opfern. Er
bestreitet dem Papste das Recht, ,,die Kanones einer großen
Nationalkirche eigenmächtig ohne ihr Mitwissen und Mit-
wirken abzuändern". Eine beliebige Verfügung über die
Rechte der Kirchen bedinge eine schlechthin monarchische
Stellung; sie aber gilt ihm für unvereinbar mit dem Wesen
der Kirche. Das sind Gedanken, die schon vorher Fridolin
Huber unter dem Beifalle der Tübinger Quartalschrift mit
noch energischeren Folgerungen vorgetragen hatte. i)
Durch das blendende Gefunkel der Deduktionen de
Maistres konnten die Tübinger Theologen am allerwenigsten
über die Willkürlichkeit und das Gefährliche dieser Laien-
predigten hinweggetäuscht werden. In der Quartalschrift^)
wurden die Auseinandersetzungen des Papstbuches als
alberne Deklamationen eines Dilettanten zurückgewiesen,
und der Infallibilitätstheorie hielt man entgegen, daß das
„erhabene Prärogativ der Untrüglichkeit" nach der Kirchen-
lehre nicht dem Papste, sondern ,,der Gesamtheit der vom
hl. Geist gesetzten Kirchenhirten versprochen und gegeben"
sei. Die Abwehr richtet sich in gleicher Weise wie gegen die
Unfehlbarkeitslehre und noch schärfer auch gegen die ab-
solutistische Ausdeutung des Primates, gegen die von de
Maistre auf die Spitze getriebene Lehre von der schranken-
losen Monarchengewalt des Papstes; sie gilt dem Kritiker
für so abgeschmackt, daß es ihm als Beleidigung der Leser
1) Vgl. oben S. 532 Anm. 2.
2) Jahrg. 1822, Heft 4, S. 677 ff., besonders S. 684. Die wich-
tigsten Sätze (doch mit falscher Angabe der Druckstelle) schon bei
Heinr. Schmid, Gesch. der kath. Kirche Deutschlands von der Mitte
des 18. Jahrunderts bis in die Gegenwart (1874) S. 330 f.; vgl. auch
Friedrich, Gesch. des vatik. Konzils 1, 190 f.
558 Fritz Vigener,
erschiene, wenn man sich mit diesen „man darf wohl sagen
unkatholischen Behauptungen" ernstlich auseinandersetzen
wollte. So wird in der angesehensten Zeitschrift der wissen-
schaftlichen deutschen Theologie nicht nur die Abweisung
der Unfehlbarkeitsdoktrin sondern auch das Beharren auf
der Lehre von der Superiorität des allgemeinen Konzils
als katholische Glaubenspflicht genommen.
Die Frage über das Verhältnis von Papst und Konzil
war für die Kurie gefährlich, solange sie im Sinne des Kon-
ziliarismus beantwortet werden durfte und gar noch in der
Praxis beantwortet werden konnte. In Deutschland hat die
Haltung einiger protestantischer Regierungen episkopa-
listische Hoffnungen auch in dieser Richtung länger wach
gehalten. In der Zeit der Zwistigkeiten und kühler Feind-
schaft zwischen Rom und den oberdeutschen Staaten in
den ersten Anfängen der oberrheinischen Kirchenprovinz
gab es noch Augenblicke, da nicht nur die Enthusiasten
des idealisierten ,,altteutschen" Kirchentums sich der
Erwartung hingaben, daß die Regierungen den Widerstand
episkopalistischer Gedanken gegen den römischen absoluten
Universalismus ausnützen und so auch dem Episkopalismus
selbst eine besser gesicherte Geltung in der deutschen Kirche
verschaffen möchten.
Aber auch damals, da eine Abgrenzung zwischen päpst-
licher und bischöflicher Macht in einem mehr episkopalisti-
schen Sinne noch zu den Möglichkeiten gehörte^), war die
Scheu vor der Propaganda für die Lehre von der Überord-
nung der ökumenischen Synode über den Papst selbst bei
den Gegnern des Papalismus verbreitet.
Die wenigsten wagten doch die Notwendigkeit päpst-
licher Anerkennung der allgemeinen Synode, päpstlicher
Bestätigung der Konzilsbeschlüsse zu bestreiten. Mit diesem
Zugeständnis konnte der Streit um die Superiorität leicht
als erledigt gelten, und in dieser Auffassung trafen mit den
intransigenten und den gemäßigten Kurialisten manche
gallikanisch Gerichtete zusammen. Die lässig hingeworfene
Bemerkung de Maistres ,,Wenn es kein allgemeines Konzil
^) Vgl. oben S. 547 ff.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 559
ohne den Papst geben kann, wozu die lächerliche Frage, ob
es über dem Papste stehe oder unter ihm?"^), sie war klug
ausgesonnen, denn sie konnte den Gegnern peinlich werden.
Der „Katholik" nahm das Argument mit Beifall auf 2),
und kurz zuvor hat Ferdinand Walter^) die Frage, ob der
Papst einem allgemeinen Konzil unterworfen sei, umgangen,
indem er sie schon in ihrer Fassung für nichtig erklärte,
eben weil ein allgemeines Konzil ohne das Oberhaupt der
Kirche nicht gedacht werden könne. Aber auch ein Mann
wie Anton Günther lehnte damals die ganze Fragestellung
ab; ein feindlicher Gegensatz zwischen dem Papst als Träger
der Zentralgewalt und dem gesamten Lehrkörper auf einem
Konzil erscheint ihm als unmöglich, weil gleichbedeutend
mit Zerstörung des kirchlichen Organismus.*) Dieser öster-
reichische Priester, der später über seinen Spekulationen
die Beschäftigung mit diesen brennenden Problemen ver-
nachlässigt hat^), glaubte damals sogar in dem, doch weniger
der kampfdurchwühlten Geschichte und der wirren Wirklich-
keit des Tages als vielmehr dem innerlich geschauten Ideale
angepaßten Gedanken harmonischer Einheitlichkeit des voll-
endeten Organismus der Kirche den rechten Standpunkt
gefunden zu haben, um „über die ebenso grob angefochtene
als plump verteidigte Infallibilität der Zentralgewalt in der
Kirche ein vermittelndes Wort zu sagen".*) Setzt man seine
etwas hoch gehobenen Worte, in denen er diese Vermittlung
geben will, auf den platten Erdboden, so bleibt von ihnen
nichts anderes zurück als die Anerkennung der päpstlichen
Unfehlbarkeit im Lehr- und im Richteramte zugleich. Gün-
ther hat die praktischen Konsequenzen seiner Gedanken
sich selbst schwerlich klar gemacht. Gerade weil ihm die
Vorstellung von der unzerstörbaren Einheit zwischen Epi-
») Du Pape, 1. II, eh. 15, S. 276.
*) „Kathohk" 7 (1823), 186.
') In der 1. Ausgabe seines „Kirchenrechts" S. 42. Vgl. aber
.auch oben S. 550 f.
*) So spricht sich Günther in einer Rezension von 1822 aus.
Peter Knoodt, Anton Günther (1781—1863), eine Biographie (1881) 1,
S. 239 f.
") Doch vgl. seinen Brief von 1851 bei Knoodt 2, 88 f.
•) Knoodt 1, S. 239 f.
560 Fritz Vigener,
skopat und Primat in unreflektierter Ursprünglichkeit leben-
dig war, ist ihm die Scheidung zwischen kirchlicher und
päpstlicher Unfehlbarkeit, die zugespitzte Frage, ob eine
päpstliche Lehrentscheidung aus sich heraus oder erst aus der
Zustimmung der Kirche die Kraft der Unfehlbarkeit gewinne,
nicht so deutlich geworden^) wie den mehr kritischen oder
mehr historisch geschulten Theologen.
Die Auseinandersetzungen Günthers zeigen, daß in der
förmlichen Preisgabe der Lehre von der Überordnung des
allgemeinen Konzils eine Gefahr für den kirchlichen Epi-
skopalismus gelegen hätte. Das konnte den Vertretern des
gallikanischen Kirchenbegriffs, die den Universalepiskopat
und die lehramtliche Unfehlbarkeit des Papstes verwarfen,
nicht entgehen, und die Erkenntnis war stark genug, um
eine Hinwendung zu der römischen Anschauung über die
Stellung des Papstes zum Konzil zurückzuhalten. Aber
sie hatten zugleich Bedenken, eine so heikle und dazu bei
rein theoretischer Behandlung noch unfruchtbare Frage
in schroffer Betonung hervorzukehren. Der konziliare Ge-
danke ging nicht unter, er wurde nicht als erledigt oder
überwunden preisgegeben; aber wie in stiller Vereinbarung
suchte man ihn in der Ruhe seiner ehrwürdigen Geschichte
zu belassen. Der Gallikanismus der V i e r Artikel wurde so
in der literarischen Praxis des 19. Jahrhunderts so ziemlich
in einen Gallikanismus des vierten Artikels einge-
schränkt. Unter Abweisung der Doktrinen von dem Monar-
chismus und der Unfehlbarkeit des Papstes versuchte darum
die mächtig aufstrebende deutsche Theologie gerade die
in der Verbindung von Episkopat und Primat beruhende
Einheit .der Kirche als solche zu begreifen. Niemand hat
sie tiefer und in glücklicherer Verschmelzung innerlicher
^) Auch in der weniger papalistiscli l<lingenden Rezension von
1818 bei Knoodt 1,240 heißt es doch nur: „In den organischen Ver-
bindungen des Primats, als des Hauptes, mit dem Lehrkörper ist der
Träger desselben unfehlbar in Sachen des Glaubens und umgekehrt
jener unfehlbar nur in und mit dem Primatträger. Objectivirt er-
scheint diese Verbindung in allgemeinen Koncilien. Diese Unfehl-
barkeit behauptet die lehrende Kirche nicht aus sich und durch sich^
sondern durch den Geist Gottes, dessen Organ sie ist."
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 561
und historischer Anschauung gefaßt als der am reinsten
religiös gestimmte unter den großen katholischen Theologen
des 19. Jahrhunderts, als Adam M ö h 1 c r.^)
Dem jungen Möhler erschien die Einheit der Kirche als
das Prinzip des Katholizismus. 2) Das Wesen des Christen-
tums, das die Lehrbegriffe und Dogmen nach außen darzu-
stellen haben, ist ihm ein inneres Leben, die Kirche die real
gewordene Versöhnung der Menschen durch Christus mit
Gott. 3) Möhler sucht das Bild der Kirche aus dem Geiste der
ersten Kirchenväter zu gewinnen. Ihre Verfassung begreift
er als bischöflich in ihrer Grundlegung; mit Cyprian ist ihm
Einheit des Episkopates und Einheit der Kirche gleichbedeu-
tend.^) Aber Episkopat soll Primat nicht ausschließen.
Der Gedanke, daß einzig und allein in der gleichgearteten
Einheit des Episkopates der ideale Zusammenschluß aller
Teile zum Ganzen, die von der Idee der Kirche geforderte
organische Einheit gegeben, daß die Notwendigkeit des Pri-
mats also zu verneinen sei, dieser überepiskopalistische Ge-
danke hat den jungen Möhler, der mit fast verzehrendem
Erkenntnisdrang der Überlieferung die Wahrheit selber ab-
zuringen suchte, zunächst in seinen Bann gezogen. Aber
er hat den Gedanken aufgegeben, noch ehe er ihn nach außen
vertreten hätte.^) Aus der Bibel, aus der Geschichte, aus der
*) Neuere Literatur über Möhler verzeichnet M[ulert] in dem von
Schiele und Zscharnack hg. Handwörterbuch „Die Religion in Ge-
schichte und Gegenwart" 4 (1913), Sp. 426. Aus der älteren Literatur
vgl. Kuhns Nachruf in der Theolog. Quartalschrift 1838, S. 576 ff.;
s. auch oben S. 535 Anm. 3.
*) Die Einheit in der Kirche oder das Princip des Katholicismus,
dargestellt im Geiste der Kirchenväter der drei ersten Jahrhunderte.
Von Johann Adam Möhler, Privatdozent bei der katholisch-theologi-
schen Fakultät zu Tübingen. Tübingen 1825.
«) Einheit der Kirche S. 46 (vgl. S. 42) und S. 248.
*) Einheit der Kirche S. 246, vgl. S. 257 f. — Der wenig jüngere,
aber stärker auf die spekulative Theologie als auf die Kirchen- und
Dogmengeschichte gerichtete Staudenmaier vertrat ähnliche Gedanken,
doch schon mit einem unbewußten Hindrängen zu der strengen Idee
des päpstlichen Universalepiskopates, wie gelegentliche Äußerungen
(Fr. Lauchert, Franz Anton Staudenmaier, 1901, S. 90 und 203)
zeigen.
^) Darüber sein eigenes Bekenntnis: Einheit der Kirche S. 260.
562 Fritz Vigener,
zusammengreifenden Betrachtung der Kirchenverfassung
offenbarte sich ihm die Notwendigkeit des Primates. Es
gehörte die ganze spel<ulative Kraft dieses Geistes und zu-
gleich ein gutes Maß hegelischer Dialektik^) dazu, um den
Gedanken des Primates und den Gedanken des die Kirchen-
verfassung bestimmenden Episkopates widerspruchslos in eins
zusammenzufassen. Die Einheit der Kirche stelle sich in der
Gesamtheit der Bischöfe dar, aber der Papst sei der person-
gewordene Reflex dieser Einheit. So gewiß die Einrichtung
des Episkopates von Christus stamme, so gewiß, meint
Möhler, sei der Primat des Petrus geschichtliche Tatsache;
der kirchliche Zentralpunkt sei in der apostolischen Zeit
„vorgezeichnet". 2) Durch den großen Grundgedanken, daß
Christentum inneres Leben sei^), wird Möhler davor bewahrt*),
dem geschichtlichen Hervortreten einer kirchlichen Einheits-
form Absolutheit, Allgemeingültigkeit zuzusprechen. Die
Liebe zu seiner Kirche und sein historischer Sinn strömen
zusammen, wenn er gerade in dem Reichtum und in der
Biegsamkeit der kirchlichen Einheitsformen die Stärke der
Kirche sieht, die sich in ihrer Verfassung eben den großen
Linien des Lebens anzupassen vermag.
^) Die Frage nach dem Einflüsse Hegels auf Möhler kann hier
nicht behandelt werden. Mittelbare Einwirkung mindestens ist nicht
zu bezweifeln. Die katholische Theologie im zweiten Drittel des
19. Jahrh. hat die Bekämpfung Hegels (vgl. etwa Staudenmaiers
,, Darstellung und Kritik des Hegeischen Systems"; 1844) gewiß nicht
zuletzt eben darum als Bedürfnis empfunden, weil sie selbst sich der
Macht des hegelischen Geistes nicht völlig zu entziehen vermochte.
Auch hier wäre eine umfassende Untersuchung lohnend,
2) Einheit der Kirche S. 262.
3) Einheit S. 46.
<) Zum folgenden: Einheit S. 272 ff. — Vgl. auch S. 271: „Zwei
Extreme im kirchlichen Leben sind aber möglich, und beide heißen
Egoismus, sie sind: wenn ein jeder, oder wenn einer alles
sein will; im letzten Falle wird das Band der Einheit so eng und die
Liebe so warm, daß man sich des Erstickens nicht erwehren kann;
im ersteren fällt alles so auseinander, und es wird so kalt, daß man
erfriert; der eine Egoismus erzeugt den anderen." — Möhler trifft
hier mit der ganzen Überlegenheit seines Charakters und seines Wis-
sens den „Pape" de Maistres, den auch nur zu nennen er offenbar
unter seiner Würde gehalten hat.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 563
Diese Gedanken, die den kurialistischen Kirchenbegriff^)
überhaupt und die päpstliche Unfehlbarkeitsdoktrin insbeson-
dere ausschlössen, hat Möhler in seinem Buche „Die Einheit
in der Kirche" 1825 entwickelt.^) Auch in seiner berühmten
Symbolik (1832) hat er nur die eine Lehre von der Unfehl-
barkeit des mit dem Papste vereinigten Episkopates vor-
getragen. Die Hunderte von Theologen, die in den andert-
halb Jahrzehnten seiner Tübinger und Münchener Lehr-
tätigkeit seine Schüler waren^), hat Möhler, auch hier der
einsichtsvolle Historiker, über die relative, die geschichtliche
Berechtigung des Episkopal- und des Papalsystems, über die
zeitweilige praktische Nützlichkeit des einen wie des andern
belehrt; aber er hat zugleich erklärt, daß jedes dieser Systeme,
absolut aufgefaßt, irrig sei.'*) Mit seinem klassischen Haupt-
^) Die „steif mittelalterliche" Auffassung, sagt Möhler (S. 277).
2) Ein leises Bangen vor diesem Buche, das über das gewohnte
Maß hinaus zugleich reich, fromm und frei war, erfaßte freilich die geist-
lichen Kreise des „Katholik". Bezeichnend, daß Möhler (erst am
23. Februar 1827!) den nicht theologischen, doch gleichfalls von den
Gedanken des kirchlichen Episkopalismus berührten Görres bat, sein
Buch im ,, Katholik" zu besprechen (Görres, Briefe 3 [= Gesammelte
Schriften 9], S. 291). Übrigens darf nicht unerwähnt bleiben, daß
Möhler selbst später von seiner Schrift urteilte: ,,Es ist die Arbeit
einer begeisterten Jugend, die es mit Gott, Kirche und Welt redlich
meinte; aber manches, was darin steht, könnte ich jetzt nicht mehr
vertreten; es ist nicht alles gehörig verdaut und bündig dargestellt"
(Beda Weber, Charakterbilder, 1853, S. 6).
') Über die große Wirkung der Vorlesungen Möhlers vgl. die
Zeugnisse bei Kihn (s. oben S. 535 Anm. 3) S. XXXI ff.
*) Möhler, Kirchengeschichte, nach s. Vorlesungen hg. v. P.
Gams 2 (1868), S. 505. — Die ganze Stelle bei Friedrich, Gesch. d.
vatik. Konzils 1, 528 f. — Es ist sehr lehrreich, zu sehen, daß Karl
Hase in der Jugendschrift ,,Vom Streite der Kirche", die er 1827
unter der Maske eines Staatsmannes „an den christlichen Adel deut-
scher Nation" richtete (Vorwort: Rom [!], am Tage der Verkündigung
1826), verwandte Gedanken vertrat. Er erklärte (Gesammelte Werke
10 [1892], S. 62), daß Unfehlbarkeit der Kirche nicht Unfehlbarkeit
des Papstes sei, wandte sich aber „gegen die Überspannung einiger
Episkopalisten". „Die Kraft des Katholizismus ruht in seiner Ein-
heit, die Einheit aber wird äußerlich realisiert durch das Anschließen
aller Glieder an das gemeinsame Oberhaupt der Kirche" (S. 63). Die
Kirche sei (S. 68) ihrer Verfassung nach eine konstitutionelle Mon-
archie.
564 Fritz Vigener,
werke ist Möhler der Lehrer einer ganzen Generation ge-
worden; auch geistliche Führer des auflebenden politischen
Katholizismus — für die die verinnerlichte Religiosität
Möhlers nicht mehr die ausschließende Bedeutung hatte —
haben in der Auffassung des Kirchenbegriffes und des Un-
fehlbarkeitsgedankens die Fühlung mit ihm bewahrt.^)
Die Symbolik, dieser „geistesmächtige Angriff auf die pro-
testantische Kirche"2), hat mit der zwar gelehrten und vor-
nehmen, aber scharf eingreifenden Polemik den Konfessionalis-
mus stärken wollen und mächtig gestärkt; darum eben ist es
von hoher Bedeutung, daß Möhlers Apologie des Katholizis-
mus keine Apologie des Kurialismus gewesen ist, daß nicht
auch er für die Ausgestaltung des Bildes der Kirche in den
Seelen der Geistlichen und der gebildeten Laien jene Farben
hergegeben hat, die seit Jahrhunderten durch papalistische
Dogmatiker und von neuem durch den absolutistischen
Theoretiker de Maistre als unentbehrlich waren angepriesen
worden.
Möhler erlebte noch den heftigen Anfang der konfes-
sionellen Kämpfe, die sich an den Kölner Kirchenstreit von
1837 anschlössen. Die Haltung der Ultra war nicht ganz
nach seinem Sinn; die bedenkliche Spannung zwischen dem
Ethos der Religion und der derben Praxis hat seine zarte
Natur tief empfunden. 3) Dennoch mußte er sich des gehobenen
kirchlichen Bewußtseins freuen, das den Athanasiuskampf
durchströmte^), und er durfte sich sagen, daß in seiner
Symbolik eine der literarischen Wurzeln dieser neuen Kräfte
1) Das gilt namentlich für Ketteier, der von früh an Möhlers
Werke schätzte.
2) Karl Hase im Vorwort (Rom, im Mai 1862) zu der L Aufl.
seines Handbuchs der protestantischen Polemik gegen die römisch-
katholische Kirche (= Werke 9 [1890], S. V). Der gewaltige Anstoß,
den die „Symbolik" der halbentschlummerten Polemik und Apo-
logetik gegeben hat, ist bereits von W. H. Riehl im Jahre 1850 (Land
und Leute IX, 2. Kapitel: Die neue Macht der Kirche; 5. Aufl., 1861,
S. 454) richtig erkannt worden.
^) Vgl. seine, von taktischen Erwägungen doch nur leicht berührten
Äußerungen über „diesen furchtbaren Zusammenstoß der Extreme"
bei Beda Weber, Charakterbilder S. 9.
*) Es sei daran erinnert, daß er gemeinsam mit Döllinger, v. Moy
und Phillips das kanonistische Gutachten ausgearbeitet und unter-
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 565
ruhe. Auch jetzt war es nicht so, daß die Gegner preußischer
KirchenpoUtik und staatUcher Mitregierung im geistlichen
Wesen schlechthin auch die Eiferer für das Papalsystem
gewesen wären. ^) Die Verschiedenheit der Auffassung der
innerkirchlichen Frage bedingte keine Spaltung in der
äußeren kirchenpolitischen Aktion; und die Gemeinschaft
des Kampfes für das e i n e Ideal der Kirchenfreiheit konnte
andererseits die weit auseinander gehenden Gedanken über
das höchste Kirchenregiment und über die Unfehlbarkeits-
lehre nicht einfach zusammenführen. Aber allerdings,
der Kampf gegen den Staat ist der Ausbreitung der päpst-
lichen Doktrinen förderlich gewesen. Je mehr solch ein
Kampf wie der preußische Kirchenstreit zwischen protestan-
tischer Regierung und katholischem Kirchenhaupt selbst
sich abspielte und der Papst die Gläubigen gegen den Staats-
absolutismus erfolgreich deckte, desto enger fühlten sich alle
entschlossenen Katholiken dem römischen Stuhle ver-
bunden; manche dem Kurialismus im Wege stehende Hin-
dernisse, Schwierigkeiten, die in der Stimmung und Ge-
sinnung lagen, konnten, je nach dem Maße der Anpassungs-
fähigkeit des Einzelnen, in der gemeinschaftlichen Phalanx
erleichtert oder aus dem Wege geräumt werden.
Aber stärker haben in diesem Sinne schon damals die
innerkirchlichen Kämpfe und Verschiebungen gewirkt. Der
Pontifikatswechsel von 1831 brachte die zentralistische
und intransigente Richtung, die schon Leo XII. einge-
schlagen hatte, mit gedoppelter Kraft in die Leitung der
Kirche zurück. Gregor XVI. hat den Abschluß von Dogma
und Verfassung, den das Vaticanum dann bringen sollte,
in seinen Gedanken bereits vollzogen, und seine Enzyklika
„Mirari vos"^) von 1832 hat tatsäschlich ganz unmittelbar
der Enzyklika von 1864 und dem Syllabus vorgearbeitet.
Sie enthielt auch den Urteilsspruch gegen Lamennais, der
vordem mit glühender Begeisterung die die Kirche tragende
zeichnet hat (12. Dezember 1837), das Görres in seinen Athanasius
(2. Aufl., 1838, S. 65—75) aufnahm.
1) Man denke etwa nur an Görres selbst.
») Sie ist damals z. B. im „Katholik'* 46 (1832), S. 173—195
abgedruckt worden.
566 Fritz Vigener,
^
Kraft des unfehlbaren Papstes gepriesen und den Galli-
kanismus bekämpft hatte. Für die Geschichte der Ge-
danken, die wir hier verfolgen, hat die Verdammung des den
gallikanischen Strömungen fernstehenden französischen katho-
lisch-sozialen Demokratismus indessen viel weniger zu be-
deuten als das kirchliche Urteil gegen den deutschen Her-
mesianismus. Auch der Hermesianismus als Lehrsystem
steht an sich außer Zusammenhang mit dem Streit um das
Wesen des höchsten Kirchenregimentes und den Träger der
Unfehlbarkeit; von dem Boden einer Lehre, die die Rationali-
sierung des Offenbarungsglaubens zu geben suchte, war der-
artigen Doktrinen gegenüber eine Entscheidung nach beiden
Seiten möglich. Nicht der Hermesianismus war antikuriali-
stisch, wohl aber waren es die Hermesianer. Die wirkungs-
reichsten Freunde des Hermes und seiner Lehre fühlten sich
in lebendiger Verbindung mit der gemäßigt episkopalistischen
deutsch-theologischen und deutsch-kanonistischen Überlie-
ferung, die dem Romanismus keinen Raum ließ. Der Bonner
Theolog Achterfeld unterließ es nicht, in seinem „Lehrbuch
der christkatholischen Glaubens- und Sittenlehre" (1825)^)
die dogmatische Tatsache einzuprägen, daß n u r die Gemein-
schaft der Bischöfe und des Papstes den Träger der lehramt-
lichen Unfehlbarkeit darstelle. In ähnlicher Weise erschien
dem Kanonisten Clemens August v. Droste- Hülshoff 2) die
Auffassung, daß der Papst für sich nicht unfehlbar sei, ganz
im Sinne Bossuets^), als „zu erweisende Glaubenslehre";
er lebte der Zuversicht, daß ein allgemeines Konzil, wenn es
sich je darüber aussprechen werde, nur diesen negativen
Satz erklären könne.*) Die durch Gregor XVI. 1835 aus-
1) Das Buch hatte sich auch des Beifalls des „Katholik" zu er-
freuen. Vgl. „Katholik" 20 (1826), S. 340 und nochmals 21 (1826),
242—245. — Im Jahre 1834 gab Achterfeld den l.Tell der „Christkathol.
Theologie" von Hermes heraus, der 1835 vom Papste verdammt wurde.
2) Über ihn v. Schulte, Gesch. der Quellen 3 I, 346 ff. (biogra-
phische Notizen) und (tiefer dringend) E. Landsberg, Gesch. der
Rechtswissenschaft, 3. Abteiig., 2. Halbband (1910), Text S. 183 ff.
und Noten S. 91 f.
3) Vgl. oben S. 517 f.
*) C. A. V. Droste-Hülshoff, Grundsätze des gemeinen Kirchen-
rechtes der Katholiken und Evangelischen, wie sie in Deutschland
Gallikanismus u.episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 567
gesprochene Verurteilung des Hermesianismus traf alle die^
die jene leichte Fühlung, wie sie zwischen katholischer Theo-
logie und deutscher Philosophie immerhin möglich war,
gewahrt wissen wollten. Die Ausrottung hermesianischer
Anschauungen im Klerus ist nur sehr langsam gelungen,
aber die Mattsetzung hermesianischer Professoren, besonders
in Bonn, war verknüpft mit einer Begünstigung solcher
Theologen, die dem Kurialismus und seiner Infallibilitäts-
doktrin an bisher verschlossenen Stätten eine Vertretung
und Einfluß sicherten.^)
In der Geschichte der Unfehlbarkeitsdoktrin kommt aber
Gregor XVI. noch eine ganz unmittelbare Bedeutung zu.
Als er noch römischer Kamaldulensermönch war, hat er, der
dreiunddreißigjährige Mauro Cappellari, im Jahre 179&
ein geschickt gezimmertes Buch veröffentlicht, in dem er
den Triumph des hl. Stuhles und der Kirche über die
,, Neuerer" mit deren eigenen Waffen erkämpft zu haben
glaubte.2) Cappellari hat viel von älteren Kurialisten über-
nommen, und seine Beweisführung läßt sich durch logi-
sche Bedenken und geschichtliche Tatsachen nicht immer
beeinflussen, aber er versteht es, die Zeugnisse aus Bibel,.
gelten, 2. Bd., I.Abteilung (1830), S. 305. Vgl. auch S. 304, 306, ferner
153 f., wo er die Lehre von der Superiorität des Papstes über das all-
gemeine Konzil ablehnt mit der Bemerkung, daß es „auch" deutsche
Theologen und Kanonisten gebe, die die Lehre von der päpstlichen
Unfehlbarkeit verteidigten.
') So schon seit 1830 H. Klee (s. oben S. 543 Anm. 1), der vorher
am Mainzer Seminar gelehrt hatte und 1838 als Nachfolger Möhlers
nach München ging. Klee vertrat in seiner „Katholischen Dogmatik"
1 (1835), S. 210 ff. die Lehre von der „Infallibilität des Primats" mit
sichtlicher Sympathie, aber doch mit Zurückhaltung. Vgl. Friedrich,
Gesch. d. vat. Konzils 1, 536 f.
*) // Trionfo della santa Sede e della chiesa contro gli assalti det
Novatori combattuti e respinti colle stesse loro armi. Ich benutze die
unten S. 571 f. besprochene Ausgabe ... (. . . opera di D. Mauro
Cappellari, monaco Camaldolese, ora Gregorio XVI) von 1837. Vene-
zia, Battaggia. XLVI u. 548 S. — J. Fr. v. Schulte, der so manchem
trüben Lichte einen Platz in seiner Geschichte der kanonistischen
Literatur eingeräumt hat, hat Cappellari ganz übergangen. Desgleichen
fehlt er bei Gla, Repertorium der katholisch-theologischen Literatur
1 II (1904). Bei Friedrich, Gesch. des vat. Konzils 1 findet sich nur
eine kurze Bemerkung (S. 191 und, fast gleichlautend, 535).
668 Fritz Vigener,
Tradition und Geschichte wirkungsvoll zu gruppieren und
in seinem Sinne mit dem Anspruch auf alleinige Geltung;
zu deuten, und im ganzen ist er in seinen Folgerungen
so bestimmt und klar, wie in seinen Behauptungen, er]
schreibt statt in steifem Latein in einem etwas gemes-
senen, doch gut lesbaren Italienisch, nicht ohne seinem von
der Muttersprache begünstigten Drang zum Rhetorischen _.
zur rechten Zeit nachzugeben. Die Schrift ist stärker als f |
der Titel erwarten läßt, ja mit fast ausschließlicher Kon-
zentrierung auf die Frage nach der Stellung des Papstes
in der Kirche gerichtet. Der Gedanke, den zwei Jahrzehnte
später de Maistre mit glücklicherer Pose und in besser ge-
wählter Stunde in die Welt geworfen hat, ist hier, unberührt
von politischen Absichten und ohne politische Begründung,
als kirchliche Gewißheit verkündet. Der monarchische
Charakter des Papsttums bedingt die päpstliche Unfehlbar-
keit; weil der Papst wahrer Alleinherrscher in der Kirche
ist, darum ist er unfehlbar, i) Der Begründung dieser Un-
fehlbarkeitsdoktrin ist der weitaus größte Teil des Werkes
gewidmet. Die Lehre, die den Papst der allgemeinen Kirche
untergeordnet sein läßt, weiß Cappellari leicht zu widerlegen;
nicht der Kirche, sondern vielmehr dem Petrus und das heißt
dem Papste hat Christus die Gewalt übergeben. 2) Auch die
Bekämpfung jener außerhalb kurialistischer Kreise vor-
herrschenden Anschauung, daß wohl die Unfehlbarkeit
der Kirche feststehe, nicht aber die des Papstes, hat er sich
nicht allzuviel Mühe kosten lassen. 3) Die schwierige Frage
nach dem Verhältnis der kirchlichen und päpstlichen Un-
fehlbarkeit läßt er dadurch erledigt sein, daß er die päpstliche
Unfehlbarkeit aus der Stellung des Papstes in der Kirche
folgert; der Papst ist unfehlbar, weil er Haupt und Grundlage
der unfehlbaren Kirche ist.^) Die Verträglichkeit der kon-
ziliaren und der papalen Infallibilität weiß er in ebenso über-
1) Vgl. den „Discorso preliminare sulla immutabilitä del governo
äella chiesa" (S. 3—110), besonders S. 109 f.
2) Trionto, Kap. 7, § 4, S. 247 f.
3) Vgl. Kap. 8, S. 251 ff.
*) S. 252: . . . dicendosi appunto il papa infallibile, perchi t
costüuito capo e fondamento deW infallibile chiesa.
Oallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 569
zeugten Sprache zu beweisen^), wie die in der Geschichte
begründeten Einwendungen gegen die Unfehlbarkeitslehre zu
widerlegen. 2) Den hihalt, die Grenzen, die Bedingungen
dieser Unfehlbarkeit sucht Cappellari dann im Gefühle theo-
logischer Besonnenheit genau zu bestimmen und den Zwei-
felnden über die Bedenken der Gallikaner und gesinnungsver-
wandter „novatori" hinwegzuhelfen. 3) Auch er gehört zu
jenen Vertretern der Doktrin, die bei aller Bestimmtheit
Maß zu halten wissen, und durch die Wahrung einer ver-
bindlichen Form in der Polemik sich den Weg zu den Herzen
'der Andersdenkenden frei halten möchten.
Aber die gewaltigen Begebenheiten des napoleonischen
Zeitalters waren weder in ihrem politischen Inhalte noch in
ihren kirchlichen Folgen dem Buche günstig. Die ersten
Jahre der Restauration hätten ihm vielleicht verspätete
Anerkennung gebracht, wenn nicht die leicht redende Zunge
de Maistres verwandte Gedanken vorgetragen hätte — in
schmiegsam sich einschmeichelnder Form und in lockender
1) Vgl. namentlich Kap. 15, § 7, S. 324 f.
*) Vgl. S. 326 ff. insbesondere Kap. 16 (das 5. allgemeine
Konzil bestätige tatsächlich die Unfehlbarkeit des Papstes, und die
Honoriussache könne nichts gegen sie beweisen) und Kap. 19 (die
Opposition gegen die Päpste besage nichts gegen die Irreformabilität
ihrer Entscheidungen).
') Vgl. Kap. 23 ff.; Im 23. Kapitel u. a. „Beweise" gegen die,
die den consensus ecclesiae für erforderlich halten. — Im 24. Kapitel
„si dimostra legittima nel romano pontefice la distinzione di persona
privata, e di pastor della Chiesa ; e si accennano alcune regole, onde
conoscere quando abbia veramente ex cathedra definito. — Im
25. Kapitel {L'effetto delle scomuniche imposte dai romani pontefici
non dipende dall'espresso consenso della Chiesa, ma dall'estrinseca loro
ejficacia, e quindi esso pure dimostra infallibili i pontefici) ist nament-
lich § 17 (S. 466 f.) zu beachten. — Aus dem 26. Kapitel, wo „si sciol-
gono alcune difficoltä dalla ragione contro la pontificia infallibilitä",
ist einmal hervorzuheben, daß Cappellari hier (S. 471) gewissenhaft
und bescheiden „dalle nostre teorie" spricht, dann aber auch eine
hübsche und lehrreiche Auseinandersetzung zu erwähnen. Christus
habe, sagt er, der Kirche versprochen, sie solle nie in Irrtum fallen,
er werde sie immer mit seinem himmlischen Lichte erleuchten —
„ma non determind in queste semplici , assolute e generali promesse
il modo, in cui le verrebbe proposta la dottrina, se per una costante
rivelazione o ispirazione, owero per l'organo ed il ministero di san Pietro
t dei suoi successori".
Historische Zeitschrift (Ml. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 37
570 Fritz Vigener,
Verbindung mit gern gehörten politisch -absolutistischen
Lehren. Als Kardinal konnte Cappellari zwar in der Stille'
seiner Zensortätigkeit seinen Einfluß auf kanonistisch-
theologische Lehrbücher im Sinne eines strengen Kurialis-
mus geltend machen^), dem eigenen Buche aber vermochte
er nicht neues Leben zu schenken. Erst als er Papst ge-
worden, wirbt seine Stellung dem Werke Wirkung und Ruhm.
Jetzt redet nicht mehr Pater Mauro aus dem Buche; die
Worte des Mönches werden Worte des Papstes. Gregor XV L
hat seine Jugendschrift von neuem herausgegeben, um sie
mit dem Gewichte seiner höchsten Autorität für die ihm
heiligen Ideen arbeiten zu lassen. Der „Trionfo della Santa
sede" soll nicht auf Italien beschränkt bleiben. Hier war
der geringste Bekehrungseifer von nöten. Es galt vor allem,
dem Buche das Land zu erschließen, das in besonderem Maße,
mehr noch als Frankreich, der Vorbereitung auf das künftige
Dogma bedürftig war. Im zweiten Pontifikatsjahre Gre-
gors XVI. ist die neue italienische Ausgabe erschienen,
noch im gleichen Jahre wurde die deutsche Ausgabe bear-
beitet, die 1833 in Augsburg ans Licht kam. Ob sie von Rom
geradezu veranlaßt worden ist, bleibt fraglich; in der Tat-
sache, daß der Verfasser Papst geworden war, daß der Papst
sein Werk liebte und ihm Wirkung wünschte, lag Anregung
genug. Jedenfalls ist diese Augsburger Übersetzung ,,mit
allerhöchster Genehmigung Sr. päpstlichen Heilig-
keit" veranstaltet worden. 2) Dieser besonderen Gutheißung
konnte sich eine andere Verdeutschung, die gleichzeitig er-
^) So gegenüber Liebermanns Dogmatik (vgl, dazu oben S. 551),
s. den in der Revue catholique d'Alsace 1903, S. 264 abgedruckten
Brief von Räß vom 2. Juni 1831 (z. T. wiederholt bei Goyau, L'AUe-
magne relig., Le Catholic. 2, 18 Anm. 5).
2) P. JVlauro Cappellari (jetzt regierender Pabst Gregor XVI.),
Triumph des hl. Stuhls und der Kirche über die Angriffe der, mit
ihren eigenen Waffen bekämpften und geschlagenen Neuerer. Nach
der 3., ganz neu bearbeiteten Ausgabe des Originals (Venedig 1832)
aus dem Italienischen übersetzt und für Deutschland bearbeitet von
mehreren gelehrten Geistlichen. Mit allerhöchster Genehmigung Sr.
päpstlichen Heiligkeit veranstaltete Ausgabe. Augsburg, Kollmann.
1833. — Über den Verleger Kollmann und insbesondere zur Kenn-
zeichnung seiner moralischen Qualitäten ist die oben S. 549 Anm. 3
genannte Schrift Vogels S. 21 f. zu vergleichen.
I
Gallikanismus u.episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 571
schien, nicht rühmen.^) Aber die zwiefache Bemühung, dieses
päpsthche Lehrbuch des kuriaUstischen Systems in Deutsch-
land heimisch zu machen, blieb immer erfreulich. Denn das
Buch war in Deutschland unbekannt. Die Besprechung
im „Katholik"^) mit der Empfehlung „des alle Theologen
in höchstem Grade interessierenden Werkes" bezeugt das.
Sie beweist noch etwas anderes, und das ist wichtiger; sie
beweist, daß die deutschen Freunde der Unfehlbarkeits-
doktrin den ungeheuren Vorteil, der mit der Erhebung des
kurialistischen, infallibilistischen Theologen auf den Stuhl
Petri sich ihnen darbot, nach Kräften auszunützen suchten.
Der Rezensent faßte mit guter Witterung das als die Absicht
des Buches, ,,die Gegner der Lehre von der Unfehlbarkeit
des Papstes in Glaubenssachen aus ihren eigenen Grund-
sätzen zu widerlegen, d. h, sie zurAnerkennung
der hierarchischen Monarchie oder zur
Verwerfung der Kirche zu nötigen".^) Dieser
Satz war in seiner verdammenden Bestimmtheit mehr in
kluger Rücksicht auf Rom als in weiser Erwägung deutscher
Verhältnisse geschrieben. Für Deutschland war er damals
noch unerhört und undurchführbar. Aber das zum Papst-
buch gewordene Mönchsbuch sollte eben helfen, hier Wandel
zu schaffen. Von der einen deutschen Übersetzung erschien
1841 eine zweite Auflage, und schon vier Jahre zuvor
war den deutschen Theologen das Werk noch einmal in
der Originalsprache dargeboten worden. Der 1837 in Vene-
dig, also in österreichischem Gebiete, veröffentlichte Neu-
druck*), wurde von dem Verleger, einem päpstlichen Vize-
konsul, dem Bamberger Erzbischof Joseph Maria Freiherrn
von Fraunberg zugeeignet. Die Widmung rühmt nicht
nur die ,, wahrhaft bewundernswerte" Verehrung des Erz-
^) Da diese bei Schlosser in Augsburg verlegte Übersetzung
(„nach der neuesten Ausgabe vom Jahre 1832 zum erstenmal aus
dem Italienischen übersetzt") überdies manche Verstöße gegen die
übliche theologische Ausdrucksweise aufwies, hat ihr der „Katholik"
(vgl. die folgende Anmerkung) wenig Beifall gespendet. ' Aber gerade
diese Übersetzung erschien 1841 in 2. Auflage.
») „Katholik" 47 (1833), S. 246 f.; 54 (1834), S. 115 f.
'■ , ») „Katholik" 47, S. 246.
*) Vgl. oben S. 567 Anm. 2.
37»
572 Fritz Vigener,
bischofs für den Papst, sie konnte dem deutschen Prä-
laten zugleich für die Gewinnung zahlreicher Bezieher des
Buches danken, was dem Buchhändler schließlich auch eher
anstand. Also: unter den Augen des Bischofs von AugSr
burgi) waren die deutschen Übersetzungen erschienen, und
der Erzbischof von Bamberg bemühte sich, dem Werke
Käufer und Leser zu verschaffen. So bot das katholische
Baiern die Stützpunkte für den erhofften Siegeszug — das
Land, das durch sein Konkordat in besondere Verbindung mit
Rom getreten war und eben im Jahre 1837 in dem Mini-
sterium AbeP) eine Regierung erhielt, mit der, trotz ihren
staatskirchlichen Ansprüchen, selbst Gregor XVI. einiger-
maßen zufrieden sein konnte.
Um die Propagierung der Gedanken Gregors hat sich
aber vor allem der „Katholik" verdient gemacht. Der
„Katholik" stand Priestern und Laien offen; diese Zeit-
schrift, in der Görres manchen aufrüttelnden Weckruf
hatte vernehmen lassen, die sich von geschulten Theo-
logen und geschickten Polemikern ihre in Lehre, Mahnung
und Abwehr stets kirchlich-erzieherischen Aufsätze schrei-
ben ließ, hatte ihr breites Publikum. Noch wenige Jahre
zuvor wollte auch der „Katholik" die Lehre von der Unfehl-
barkeit des Papstes nur als Doktrin gelten lassen. Unter
dem Pontifikate Gregors XVI. wurde das anders.^) Wie
1) Daß Bischof Riegg oder sein Nachfolger Richarz (seit 1837)
persönlich dem Kurialismus hold gewesen sei, soll damit nicht ge-
sagt sein. Aber die iViacht der Kurie beginnt sich eben jetzt auch
darin zu äußern, daß die Bischöfe Lehren und Lehrer dulden müs-
sen, deren Gedanken nicht mit ihrer Überzeugung übereinstimmen.
Vollends unter Pius IX, wurde den Bischöfen von der Not ihrer Lage
die Taktik eingegeben, an den kurialistischen Kirchenbegriff Zuge-
ständnisse zu machen und die Propaganda für die päpstliche Unfehl-
barkeitsdoktrin zu dulden, um so, als scheinbare Bekenner, die
Überflüssigkeit einer Dogmatisierung der Lehre vom Universalepisko-
pat und von der Unfehlbarkeit des Papstes augenscheinlich zu machen.
Das ist wenigstens ein Zug neben anderen, wie ich an Kettelers
Haltung zu zeigen gedenke.
2) Vgl. dazu auch unten S. 579 Anm. 4.
^) Der Anfang oder Übergang zeigt sich schon in der Übersetzung
von Muzzarellis Darlegungen, „Katholik" 44 (1832); Fortsetzung 60
(1836).
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 573
gebannt durch den Wink von Rom, scheinen die unge-
nannten Mitarbeiter der Zeitschrift ihre deutsche Um-
gebung und die einst beachteten theologischen Einwendungen
vergessen zu haben; die von Deutschland fast allgemein
abgelehnte oder nur als Theorie geduldete Doktrin
wurde von ihnen nun, da der Papst selbst sie darbot, einem
jeden empfohlen, dem es um eine gründliche Kenntnis der
Lehren seiner Kirche zu tun sei.^) Bei ihrem eigentlichen
Leserkreis durfte die Zeitschrift damals wohl schon eine ver-
wandte Überzeugung voraussetzen oder doch die Bereit-
schaft, sich im Sinne Gregors XVI. belehren zu lassen. Im
ganzen aber hat der ,, Katholik" mit seinen schroff aus-
geprägten gregorianischen Forderungen der Zeit vorgegriffen.
Die deutsch-gallikanische Überlieferung war noch zu mächtige
die Kräfte der kirchlich-wissenschaftlichen Theologie, wie
sie etwa in Möhler und Hirscher, in Döllinger und Kuhn
lebten, strömten noch zu frisch und ungehemmt, die Not-^
wendigkeit einheitlichen Widerstandes des gesamten kirch-
lichen Katholizismus gegen Protestantismus, Liberalismus
und Staatsabsolutismus wurde durch die Begebenheiten
selbst mit zu deutlicher Sprache gepredigt, als daß man
in dem vom ,, Katholik" ganz richtig erfaßten Sinne Gre-
gors XVI. hätte durchgreifen und schon damals Bekenntnis
zum Katholizismus und Bekenntnis zur Lehre von der
Unfehlbarkeit des Papstes hätte gleichsetzen können.
Im Vordringen waren die deutschen Freunde der Dok-
trin auch so, ohne alle Frage; in Schrifttum und Unterricht
wurde die Lehre ausgebreitet. 2) Gregor XVI., der als Kar-
») „Katholik" 54 (1834), S. 115 f.; im gleichen Sinne ist dann
im 56. und 57. Bande (vgl. besonders 57, S. 85) der zurückhaltendere
Roscovany besprochen und im 60. Bande Muzzarellis Erörterung (s.
die vorige Anm.) zu Ende geführt.
*) Nach J. Friedrichs Mitteilung (Ignaz v. Döllinger 2 (1899),
S. 66 ff.) wurde noch 1841 dem Moraltheologen Kaiser in München seine
Professur genommen, well er die Infalllbllltät als Kirchenlehre vor-
trug." Aber um dieselbe Zelt hat doch Windischmann sie ungestört
propagiert (s. unten S. 576), und nicht er allein. Gerade aus diesen
Jahren, da er als Theologieprofessor in Freising wirkte, schreibt der
treu und eifrig kirchlich gesinnte Magnus J 0 c h a m in seinen „Me-
moiren eines Obskuranten" (hg. von M. Sattler, 1896) S. 508: „Auch
674 Fritz Vigener,
dinal der Dogmatik Liebermanns den Mangel hinreichender
Anpassung an die kurialistischen Anschauungen vorgeworfen
hatte!), erlebte die Genugtuung, auch in Deutschland eini
theologisches Lehrbuch eingeführt zu sehen, das sich durch'
sein rein römisches Gepräge und zugleich durch eine zu-
nächst verwirrende und vielleicht gerade darum Erfolg
verheißende scholastische Dialektik auszeichnete. Es sind
die theologischen Vorlesungen, die der Jesuit Giovanni
P e r r 0 n e als Professor am Collegium Romanum gehalten
und als Buch herausgegeben hatte. Der Verfasser selbst,
der ja unter den Augen Gregors XVI. lebte, hat sich um
die Einbürgerung seines Werkes in Deutschland bemüht,
indem er der 1842/43 in neun Bänden veröffentlichten
Wiener Ausgabe, der die zweite römische zugrunde lag,
einige Zusätze gab. 2) Perrone verknüpft mit dem Dogma
von der Unfehlbarkeit der Kirche die Doktrin von der Un-
fehlbarkeit des Papstes, für die er gleichfalls die dogmatische
Geltung einer verpflichtenden Glaubenslehre beansprucht.
Er übernimmt nicht alle Maßlosigkeiten mittelalterlicher und
neuerer Theoretiker. Er scheidet sich von ihnen schon
darin, daß er die Kirche als Quelle der Unfehlbarkeit des
Papstes ansieht; a sola audoritate ecclesiae schöpft der
die maßlose Hervorhebung der Unfehlbarkeit
des Papstes von diesen überfrommen Menschen , als wäre
dies das erste und allerwichtigste Dogma, war mir sehr zuwider, weil
ich gar kein Verständnis für diese Doktrin gewonnen hatte, und weil
mir diese Leute auch gar nicht sagen konnten, was denn der Inhalt
dieser Unfehlbarkeit sei. Ich hörte nur immer von dem ex cathedra
Sprechen des Papstes; aber was dies sei, war mir ganz und gar nicht
klar. Ich ließ auch diese Sache, wie so manches andere, als Adiaphoron
liegen, bis die kirchliche Entscheidung kam." Daß diese drei Sätze,
die nach dem Vaticanum geschrieben wurden, auch in anderem
Sinne, als wir sie hier zu verwerten haben, ein historisches Zeugnis
sind, braucht nicht erst gesagt zu werden.
1) S. oben S. 570 Anm. 1.
2) Praelectiones theologicae quas in collegio Romano soc. Jesu
habebat Ja. Perrone. Editio post secundam Romanam . . . ab ipso
audore locupletata. 9 Bände. Wien 1842/43. — Ich bemerke, daß
der von kräftigem Protestantenhaß erfüllte „Kontroverskatechismus"
Perrones erst 1860 deutsch erschienen ist.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 575
Papst wie das allgemeine Konzil. i) Auch läßt Perrone die
Anschauung von der eigenen Jurisdiktion der Bischöfe
gelten. 2) Er lehrt aber doch den päpstlichen Universalepi-
skopat bis in seine letzten Konsequenzen. Das Wesen des
Primats ist ihm die bischöfliche Gewalt des Papstes
über die Gesamtheit der Gläubigen, auch über die Bischöfe^);
die Einheit der Kirche sieht er nicht mehr letzten Endes
— wie es der Deutsche Möhler getan — in der großen Ge-
meinschaft der im Papste geeinten Bischöfe, sondern in
dem Papste allein gegeben und gesichert.*) Mit besonderem
Eifer versucht Perrone den Gallikanismus aller Grade zu
widerlegen; dabei zeigt er die, für einen Eroberungszug in
Deutschland doppelt berechtigte Mäßigung, daß er selbst
die Lehre von der Superiorität des Konzils nicht ausdrücklich
als verwerflich bezeichnet, sondern nur unter anderen, gün-
1) Praelectiones, Bd. 2, 1. Abteilung, S. 200, § 421, vgl. S. 201,
§422, auch schon Bd. 1, S. 149 ff., bes. 155 ff. (159 §26, 163 §41).
Darum stellt Perrone in seinem Werke überhaupt den Artikel „De
tcclesiae infallibilitate" den Darlegungen „De Romano Pontifice"
voran.
2) A. a. O. S. 307, § 616 läßt er den Einwand erheben „Semel
episcopatii romani pontificis constituto episcopi evaderent totidem
ejusdem vicarii et ministri, quod esset evertere ecclesiasticam hierar-
chiam divinitus institutam", um dann (§617 ff., S. 307 ff.) die Wider-
legung zu versuchen. Er sagt hier § 619, S. 308 ausdrücklich, daß
die Bischöfe ihre Diözesen „non precaria autoritate, sed proprio et
ordinär ia" leiten (regunt). Dazu aber die nächste Anmerkung! Zwei-
deutig und unbestimmt zeigte sich Perrone auch früher; vgl. Friedrich,
Gesch. des vatik. Konzils 1, S. 345 und 561 Anm. 2.
3) Vgl. die Propositio S. 300: Primatus audoritas . . . auctoritas
£St episcopalis , quae omnes compleäitur Christi fideles etiam epi-
scopos. Dazu ebenda § 603: Auctoritas episcopalis consistit in m-
mediata et ordinaria potestate pascendi, regendi et guberriandi gregem
sibi commissum. Die Einwendungen § 608, S. 303 f. (besonders zu be-
achten sind Nr. 3 und namentlich Nr. 4!) sucht Perrone S. 304 ff.
zu widerlegen. Vgl. ferner S. 308 ff. über die Propositio II: Romartus
pontifex vi sui primatus suprema auctoritate gaudet in omnes episco-
pos etiam in generali synodo collectos. Siehe auch die in der nächsten
Anm. angeführte Stelle.
*) Vgl. §606, S. 303: ergo quemadmodum unitas ecclesiae parti-
cularis ab episcopi supremi et universalis unitate perpendet unitas
ecclesiae ipsius universae. Aus dieser Voraussetzung, die als Beweis
gilt, werden dann §626, S. 311 „logische" Folgerungen gezogen.
576 Fritz Vigener,
stigeren Meinungen auch die Bellarmins widergibt, der sie für
beinahe häretisch erklärt hatte.^) Perrone kann getrost
in der Verwerfung mild sein, da er in der Lehre streng ist.
In dem Kapitel „De Romani Pontifkis primatus dotibus"
ihat er in nüchterner Bestimmtheit die Lehre von der Un-
fehlbarkeit des Papstes fast genau in der Weise vorgetragen,
wie sie später dogmatisiert worden ist.^)
Deutsche Theologieprofessoren kurialistischer Richtung
haben sogleich ihren Schülern diese Dogmatik als d a s^
Lehrbuch schlechthin empfohlen. Freilich waren solche
Theologen noch nicht in der Überzahl und sie standen am
manchen Universitäten mit ihrer Meinung fast isoliert.
Aber es ist doch nur ein Beispiel aus täglicher Übung, wenn
man sieht, wie der Dogmatiker Windischmann in München
dem jungen Ketteier die Abneigung gegen Perrone auszu-
treiben versteht^); es war der Wunsch dieser Lehrer, daß die
künftigen Priester selbst die ganz orthodoxe, aber gerade in
der Entwicklung der Unfehlbarkeitslehre noch schüchterne
Dogmatik Klees*) gegen die robusten Selbstverständlich-
keiten Perrones eintauschten.^)
Auf dem Gebiete der Dogmatik blieben den deutschen
Verfechtern der Doktrin die fremden Helfer noch lange
unentbehrlich. Dagegen hat am Ausgange des Pontifikates
Gregors XVI. ein Deutscher ein großes kanonistisches Werk
geschrieben, dessen treuliche Hingabe an das Papalsystem
nicht zu übertreffen war. Denn das darf man sagen von dem
1) § 624, S. 310 (mit Anm. 3).
2) §731, S. 358 (vgl. §725 ff.); die von ihm „bewiesene" Pro^
positio lautet: Romanus pontifex ex cathedra def intens in rebus fidei
et morum infallibilis est, ejusque dogmatica decreta, etiam antequanf
accedat ecclesiae consensus sunt prorsus irreformabilia.
8) Vgl. Pfülf, Bischof V. Ketteier (1899) 1, S. 101.
*) Vgl. oben S. 567 Anm. 1.
') In Eichstätt hat der sich zum Priestertum vorbereitende Ket-
teier noch Klees Dogmatik studiert (Kettelers Briefe, hg. v. Raich,
1879, S. 98). Dem fast krankhaft ängstlichen Windischmann genügte
Klee nicht; vgl. seine Äußerung in einem späteren Briefe an Ketteier
(ebenda S. 225). Ketteier freilich hat, wie sich zum Schrecken vieler
zeigen sollte, mehr aus den von Perrone aufgenommenen Einwen-
dungen gegen die papalistische Theorie gelernt als aus der Lehre und
den Widerlegungsversuchen des römischen Dogmatikers selbst.
I
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 577
Kirchenrecht von George Phillips, das bei aller Gelehr-
samkeit nicht selten aufhört, ein wissenschaftliches Hand-
buch zu sein, um ein Buch de Propaganda oboedientia zu
werden.
In Phillips verbinden sich die heiße Hingabe des Kon-
vertiten an das neue Ideal und die romantische Geschichts-
und Staatsanschauung mit der Befähigung zu konsequenter
juristischer Konstruktion. Das Studium des Kirchenrechts
war einst dem jungen Protestanten zur Vorschule des Katho-
lizismus geworden*); jetzt konnte er mit seinem kanoni-
stischen System zugleich seiner Wissenschaft und seiner
Kirche danken. Mindestens so stark wie der Wunsch, die
Kirche aus ihrer Vergangenheit heraus zu verteidigen,,
lebte in ihm der Drang, die Gegenwart zu beeinflussen, um
die Zukunft der Kirche mit zu bestimmen. Er sucht die
ganze Kirche von dem zentralen Punkt, den er im Papsttum
gegeben sieht, nicht so geistig-religiös als vielmehr juristisch-
verfassungsmäßig zu begreifen und begreifen zu lehren.
Er erkennt es als die schwache Stelle ihres Verfassungslebens^
daß der päpstliche Universalepiskopat bestritten werden
konnte, und es ist ihm schmerzlich, daß die päpstliche Unfehl-
barkeit gerade in Deutschland nur als Schulmeinung Gel-
tung hatte, nur im Programm bestimmter Gruppen und im
naiven Glauben dunkler Schichten lebte. In Phillips selbst
hat sich der Begriff der Kirche nicht mit einem Male
zu der absolutistischen Geschlossenheit erhoben, in der
sein Kirchenrecht ihn bietet. Auch Phillips hat sich von der
Zeitströmung tragen lassen, die tatsächlichen Siege des päpst-
lichen Absolutismus, die deutschen Erfolge der Kirchen-
politik Gregors XVI., die Vertretung und Begünstigung der
Unfehlbarkeitslehre durch den Papst selbst haben ihn
sicherlich nicht allein bestimmt, wohl aber ermutigt, die
^) In seinem Nachruf auf Jarcke sagte Phillips (Vermischte Schrif-
ten 2 [1856], S. 606): Jarckes geist- und glaubensvolle Worte über die
Wahrheit der katholischen Kirche . . . wurden durch den Hauch der
göttlichen Gnade in mein Herz . . . geweht, während zuvordurch
Studium der Geschichte und des Kirchenrechts
mein Verstand für jene Wahrheit empfänglich
gemacht worden war.
578 Fritz Vigener,
papale Doktrin in ihrer schärfsten Fassung zu lehren. i)
Seine Darstellung der Deutschen Geschichte vom Jahre 1834
zeigt seinen Kirchenbegriff bei unverkennbarer Hinneigung
zum Papalsystem doch so weit durch historische Erwägung
berührt, daß er die Kirche als Republik mit monarchisch-
aristokratischer Verfassung bezeichnet. 2) In seinem Kir-
chenrecht aber bekennt er sich zu dem päpstlichen Absolutis-
mus in Jurisdiktion und Lehrverkündigung; er beruft sich
auf die Bulle „Unam sanctam", wenn er erklärt, daß alle
Mitglieder der Kirche dem Oberhirtenamte des Papstes
,, übergeben" und weder die Bischöfe noch die weltlichen
Fürsten davon ausgenommen seien. 3) Die Unfehlbarkeit
des kirchlichen Lehramtes ist ihm im Grund nichts anderes
als päpstliche Unfehlbarkeit. Das zu behaupten, hat der
Jesuit Perrone nicht gewagt; selbst Cappellari gründete nicht
geradezu die kirchliche Unfehlbarkeit auf die des Papstes.
Phillips aber tut es, wie es dritthalb Jahrhunderte zuvor,
gleichfalls in Baiern, Gregorius von Valentia getan hatte.
Ihm ist der Papst nicht mehr lediglich Träger der kirch-
lichen Unfehlbarkeit, sondern vielmehr ihr Quell; auf
seiner Unfehlbarkeit beruht, da sie auf ihm steht, die der
1) Ich erinnere daran, daß der 1 ^2 Jahrzehnte zuvor gallikanisch
gerichtete Ferd. Walter gleichfalls unter dem Pontifikate Gregors XVI.
nach dem Kölner Kirchenstreite seine Hinwendung zu einem ziemlich
eindeutig kurialistischen Kirchenbegriff bekundete. Vgl. oben S. 551
Anm, 1.
2) Deutsche Geschichte von George Phillips, 2. Band (Berlin
1834), S. 215 mit der Anmerkung. Hier heißt es u. a. : Die Leitung,
Führung und Regierung (der Menschen, um sie leichter zur Seligkeit
zu führen) „wird vorzugsweise ausgeübt von den Bischöfen, welche
daher vor allen anderen Mitgliedern der Kirche einen ausgezeichneten
und höheren Rang haben; sie bilden daher in der Kirche ein aristo-
kratisches Element. Aber alle Bischöfe stehen wiederum, samt der
ganzen Christenheit, unter Einem Oberhaupt, dem Pabste, welchem
die höchste Leitung und Regierung der Kirche zusteht, und eben
hierin liegt das monarchische Element."
3) Phillips, Kirchenrecht 2 (1846), S. 173. Vgl. S. 171 ff. übejr
den kanonischen Gehorsam und S, 199 ff. über die Pflicht der Bi-
schöfe, die limirM apcstolorum zu besuchen; daß er auf jene „bisher
wenig erörterte Lehre" und auf diese „wichtige" Pflicht näher ein-
ging, hat er sich, wie das Vorwort zeigt, als besonderes Verdienst an-
gerechnet.
Gallikanismus u. episk. Strömungen im dtsch. Katholizismus etc. 579
Kirche.*) So erscheint Phillips wie ein deutscher de Maistre:
dieselbe Idee des päpstlichen Absolutismus in der Kirche,
dieselbe Gleichsetzung von Kirche und Papst, nur daß
Phillips durch juristische und kirchlich-verfassungsrechtliche
Einsicht und Erwägungen, nicht durch politisch-absoluti-
stische Ideen bestimmt wird, und daß das leicht bewegliche
und gewandte wälsche Wesen in die wuchtigere, tiefer grei-
fende, gelehrtere, schwerfälligere deutsche Art umgesetzt
ist. Sie zeigt sich zuletzt auch darin, daß Phillips erklärt^),
seine Darlegungen über die Unfehlbarkeit des Papstes ent-
hielten nur eine auf den gewichtigsten Gründen ruhende
Meinung, nicht einen formulierten kirchlichen Glaubenssatz.
Diese etwas kleinlaut klingende Bemerkung war indes ein
unschädlicher Vorbehalt, ja im Sinne des Verfassers auch ein
Ansporn zur Lösung der offenen und doch in der Meinung
der Kurie und der Kurialisten längst entschiedenen Frage. ^)
Phillips hat länger als ein Jahrzehnt eine juristische
Professur in München innegehabt; so konnten er und der
Theolog Windischmann einander in die Hände arbeiten. Der
Einfluß seiner weltgewandten und eindrucksvollen Persönlich-
keit ging weit über den akademischen Lehrbetrieb hinaus.*)
Im Görreskreise^) hatte Phillips etwas zu bedeuten, und als
Mitherausgeber der Historisch-Politischen Blätter konnte er
^) Ebenda 312. — Vgl. 314 f.: Päpstliche Entscheidung ist ebenso
wahr, wie jene, die Petrus gab, ebenso kräftig, ebenso gültig; sie ist
es durch sich selbst und braucht . . . nicht erst durch die Kirche oder
den Episkopat bestätigt zu werden, . . . Nicht die Kirche also gibt
dem Papste Gewißheit, sondern sie empfängt sie von ihm, denn sie
steht auf ihm als auf dem Fundament, nicht er auf ihr." Wie andere
Infallibilisten stützt sich Phillips z. T. auf Ballerini; Ballerinis „Vin-
diciae" gegen Febronius sind im folgenden Jahre (1847) neu heraus-
gegeben worden (v. Schulte, Gesch. der Quellen 3 I, 517).
2) S. 340.
») Phillips erwartete diese Lösung wohl durch eine Erklärung
des Papstes selbst. Sonst wäre es wenigstens recht unklug von ihm,
zu sagen (a. a. O. S. 260 Anm. 26), in Glaubenssachen könne die
Majorität eines ökumenischen Konzils über nichts entscheiden. 1870
dachte er freilich über diese „Majorität" anders.
*) Auch die baierische Regierung, d. h, Abel, war seinen Einwir-
kungen zugänglich. Vgl. das Urteil Diepenbrocks bei Reinkens, Die-
penbrock S. 357.
») Vgl. Bergsträßer im Oberbayer. Archiv 56 (1912).
580 Fritz VJgener,
$eine Gedanken einem großen, lernbegierigen und leitungs-
bedürftigen Publikum zuführen. Die besonderen Aufgaben
der Zeitschrift, der übrigens Görres, nicht Phillips das
Beste gab, forderten freilich zunächst mehr die Befehdung
Preußens und der Protestanten als die Behandlung der großen
innerkirchlichen Fragen. Aber indem die Historisch-Poli-
tischen Blätter die Kampfesstimmung des dem Kurialismus
so überaus günstigen Kölner Kirchenstreites wachhielten,
indem sie die katholische Kirche als die gottgesetzte These,
die Reformation als die gottzugelassene Antithese hin-
stellten^), haben sie jenen kraftbewußten und angriffslustigen
Katholizismus mächtig gefördert, der sich unmittelbar auf
die Kurie stützte und dessen Bekenner schon darum geneigt
waren, auch die kurialistischen Doktrinen gutzuheißen und
zu vertreten.
Das alles, unmittelbar oder mittelbar, ist die Wirkung
des Pontifikates Gregors XVI. Die ersten bedeutenden An-
sätze einer erfolgreichen Propagierung des geschlossen papa-
listischen Kirchenbegriffs haben sich im damaligen Deutsch-
land also nicht so unter französischem, wie vielmehr italieni-
schem, römischem, päpstlichem Einfluß vollzogen. Daß die
katholische Bewegung Deutschlands auch schon im ersten
Drittel des 19. Jahrhunderts dem französischen Vorbild
viel verdankt, ist unbestreitbar. Aber, wenn schon die um-
bildende Kraft der kirchlichen Gedanken de Maistres, des
jungen Lamennais und Lacordaires im allgemeinen neuer-
dings wohl zu hoch angeschlagen worden ist, so darf die
Bedeutung ihrer Einwirkung bei einer Betrachtung der
Fragen, die uns hier beschäftigen, vollends nicht überschätzt
werden. Vielmehr ist nicht allein unter Gregor XVI.,
sondern ganz wesentlich auch durch ihn Bresche gelegt
worden in den Wall, der die Theologie Deutschlands in Lite-
ratur und Lehre fast völlig von den konsequent kurialisti-
schen Doktrinen abgeschlossen hatte. Noch in den zwanziger
Jahren konnten in Deutschland führende Geister des streng-
gläubigen Katholizismus erklären, die Anschauung von der
Unfehlbarkeit des Papstes habe mit der Kirchenlehre nichts
I
1) Historisch-politische Blätter 2 (1838), S. 418 f., 428.
Gallikanismus u.episk. Strömungen im dtsch.Katholizismus etc. 581
ZU tun.^) Solche scharf abweisende Stimmen sind in diesem
Lager nicht mehr laut geworden, seitdem der Papst selbst
sich, und doch nicht nur mit seiner theologischen
Autorität, für die Lehre eingesetzt hatte. Gewiß, auch in-
mitten seiner kirchenpolitischen Siege hat es Gregor XV L
nicht vermocht, die Macht der gegnerischen Überlieferung
zu überwältigen; aber sie ist eingeschränkt worden, die
Polemik gegen die Doktrin wird gedämpft, fast verstummt
sie; die deutschen Vorkämpfer der Lehre dürfen kühner
ihr Haupt erheben, da ihre Anschauung sich deckt mit der
ausgesprochenen Gesinnung des Papstes. So erscheinen die
Erfolge Gregors XV L auch hier als die Grundlage der ent-
scheidenden Erfolge Pius IX.; er hat ganz unmittelbar d e m
vorgearbeitet, was dem Pontifikate seines Nachfolgers den
eigentlichen kirchlichen Inhalt geben sollte. Freilich, es
bedurfte noch der geduldigen Arbeit eines halben Menschen-
alters, es mußten sich jene von der Februarrevolution aus-
gehenden Wandlungen vollziehen, die niemand rascher und
geschickter genutzt hat als die katholische Kirche, ehe
Pius IX. auch den stillen, aber tiefgegründeten Widerstand
im Episkopat überwinden konnte. Erst die vatikanische
Konstitution „Pastor aeternus" hat der inneren Kirchen-
politik der Päpste den krönenden Abschluß verliehen. Aber
das Vaticanum bezeichnet nicht nur den glänzendsten
Triumph des lebenden Pius; es ist zugleich ein Sieg des
toten Gregor.
>) Vgl. oben S. 549 ff.
Zur Beurteilung Rankes.
Von
Friedrich Meinecke.
Leopold V. Ranke als Politiker. Historisch -psychologische Studie
über das Verhältnis des reinen Historikers zur praktischen
Politik. Von Otto Diether. Leipzig, Duncker <S Humblot.
19n. XV u. 615 S.
Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deut-
schen Nationalstaats. Von Friedrich Meinecke. 2. Aufl.
München und Berlin, R. Oldenbourg. VllI u. 515 S.
Ranke hat immer noch nicht aufgehört, der große, ja
rfer größte Lehrer unserer Wissenschaft zu sein, aber er
beginnt daneben etwas ganz Neues zu werden, ein großes
geistesgeschichtliches Phänomen, das wir aus geschichtlicher
Distanz und mit geschichtlichen Erkenntnismitteln zu be-
greifen versuchen. Das beanspruchte schon Lamprecht vor
1/4 Jahrzehnten zu leisten, als er den Methodenstreit gegen
die sogenannten Jungrankianer führte und sie als Epigonen
eines großen, aber veralteten und überwundenen Meisterscha-
rakterisieren zu können glaubte. Sein Versuch mußte schei-
tern, weil er nicht vom reinen Erkenntnisbedürfnis, sondern
von dem praktischen Bedürfnis, sich selbst auf den Stuhl
des Meisters zu setzen, ausging. Dem Verfasser des oben-
genannten Buches über Ranke liegen solche Velleitäten fern.
Er ist ein Anfänger, dessen Buch nur seine erweiterte Disser-
tation bildet. Er ist ein sehr begabter Vertreter der aller-
jüngsten Generation deutscher Historiker, die eben erst
Zur Beurteilung Rankes. 583
in unsere Arbeitsgemeinschaft eintritt, und da die Älteren
es sich nie verdrießen lassen dürfen, die eben keimenden
Regungen der Selbständigkeit in ihrem Nachwüchse zu
beobachten, so hat es einen eigenen Reiz, dieselben Waffen,
die Diether gegen Ranke kehrt, auch gegen ihn zu kehren,
sein Buch so historisch wie möglich zu nehmen und als
Produkt des 20. Jahrhunderts und der jüngsten Jugend zu
begreifen. Daß es auch in seiner Form an gewöhnlichen
Jugendfehlern leidet, überflüssig breit geraten und nicht
immer wählerisch in Sprache und Ausdrucksmitteln ist,
wollen wir nur nebenher anmerken. Es hat dafür auch alle
Vorzüge jugendlicher Vitalität, energischen Ringens nach
neuer und tieferer Anschauung und freudigen Schwelgens
in ihr. ,,Man liebt", um mit Ranke zu sprechen, ,, Jugend-
lichkeit und Frische, selbst wenn sie mit einigen Mängeln
verbunden ist."
Inwieweit nun auch das, was uns an dem Inhalte des
Buches nicht gefällt, auf bloße Jugendlichkeit oder auf
modernste Denkweise zurückzuführen ist, läßt sich heute
noch nicht übersehen. Ich neige zu der Meinung, daß
Diether, von dem wir noch etwas erhoffen dürfen, in 10 oder
20 Jahren vieles anders auffassen wird. Aber der Grund-
fehler, den ich ihm vorwerfen möchte, hat charakteristische
Analogien auf anderen Gebieten moderner Literatur-, Kunst-
und Kulturbetrachtung, wie sie sich heutzutage in den
Revuen und Feuilletons der Ästheten und der sog. Kultur-
politiker regt und nunmehr, wie es scheint, Einlaß in die
Wissenschaft sucht. Man trifft hier auf eine starke Neigung,
große Kulturerscheinungen zu stilisieren und auf über-
raschende und einheitliche Formeln zu bringen. Zwar pflegt
man dabei ursprünglich auszugehen von einer oft bohrenden
Analyse ihrer besonderen Einzelzüge, von einer beinahe
ungeduldigen Durchwühlung und Zerfaserung ihres kom-
plizierten Inhaltes, aber die Ungeduld treibt dann auch zu
raschen Resultaten, zu starken, übertreibenden Umrissen,
die den verwickelten Inhalt wieder zu packender und ein-
heitlichster Anschauung bringen sollen, und zur Ignorierung
dessen, was den einmal gewonnenen Eindruck stören könnte.
Man versucht das Bedürfnis der Analyse und der Synthese
584 Friedrich Meinecke,
geradezu krampfhaft miteinander zu vereinigen. Wer sicii
etwa an Friedrich Naumanns Art erinnert, historische Dinge
zu begreifen und zu malen, weiß, was ich meine. Alle
Fähigkeiten und Schwächen, alle Leiden und Wünsche
unserer aufgewühlten Zeit mit ihrer Unrast und ihrem
Lebensdrange, ihrem Hin und Her zwischen breitester Ex-
pansion und straffster Zusammendrängung, spiegeln sich
in dieser Methode. Die reinere und ruhigere Wissenschaft
Avird sich sagen müssen, daß auch sie, da sie von dem Leben
ihrer Zeit nicht losgelöst sich denken kann, bis zu gewissem
Grade hineingerissen werden kann in diese Strömung; sie
wird vielleicht sogar manchen neuen Erkenntnisgewinn von
ihr zu erwarten haben; aber sie muß sich hüten, sich ihr
zu weit hinzugeben, weil die Gefahr einer vorschnellen Ver-
gewaltigung der Dinge hier allerwegen lauert.
Mit dem Dietherschen Buche mich auseinanderzusetzen,
habe ich deswegen noch eine besondere Veranlassung, weil
sich der Verfasser auch mit meinem Buche, das in seinen
Gegenständen streckenweise mit dem seinen zusammentrifft,
in der Vorrede auseinandersetzt. Trotz der freundlichen
Anerkennung, die er mir zollt, läßt er doch erkennen, daß
die von ihm gezeichnete Entwicklungsreihe ihm wesentlicher
und wichtiger zu sein scheint, wie die von mir gezeichnete.
Während ich mich — so meint er — mit dem Wechsel ge-
danklicher Gebilde beschäftige, wolle er an dem Beispiele
Rankes und der Zeiten, in die Rankes Leben hineinragt,
den Wandel im Unterbewußtsein der Generationen auf-
weisen, den „Übergang von reiner Denker- und Dichter-
leidenschaft zu absolutem politischen Wollen". Während
ich Ranke und Bismarck in einem Kapitel zusammenfasse
als diejenigen, die das universalistische Gespinst der poli-
tischen Romantik, der Restaurationszeit durchbrachen und
die autonome Realpolitik des modernen Nationalstaates
zur Geltung brachten, sieht er von seinem Standpunkte
aus Ranke und Bismarck eher als Gegenfüßler wie als Geistes-
genossen an. ,,Denn während der eine sein politisches Wollen
von den Bedürfnissen reinster Erkenntnisleidenschaft ab-
leitet und tragen läßt, schreibt bei dem anderen gerade
umgekehrt die titanische politische Leidenschaft der histo-
Zur Beurteilung; Rankes. 585
risch-politischen Einsicht ihre Art und ihren Umfang vor."
Ich muß ihm zunächst entgegenhalten, daß ich keineswegs
nur den Wechsel gedanklicher Gebilde und die Auswirkung
intellektueller Kräfte darstellen wollte. Wenn Diether
meint, daß die Welt der ,, esoterischen Ideen" eingeengt,
umgestaltet und beherrscht werde von einer anderen Welt,
die ich ignoriert habe, von der Welt der „oft dunklen Mächte
des Empfindens und Wollens" — , so antworte ich, daß ich
unter ,, Ideen" eben mehr verstehe, als Diether annimmt.
Historische Ideen sind nicht bloße Gedanken, sind in erster
Linie vielmehr Tendenzen, an denen die Bedürfnisse des
Willens und Gefühls im Grunde mehr Anteil haben als der
Intellekt. Und der ganze Befreiungs- und Reinigungsprozeß
der nationalen Ideen, den ich zu zeigen versuchte, bedeutet
ja gerade eine allmähliche Erstarkung der politischen und
nationalen Energien zu dem Ergebnis hin, daß die volle
Selbstbestimmung des nationalen Staatswillens errungen
wird. Das Mißverständnis Diethers rührt daher, daß ich
diesen gewaltigen Umbildungsprozeß lediglich auf dem
schmalen Gratwege verfolge, den die Tendenzen der großen
politischen Denker Deutschlands darstellen, und daß ich,
mit erlaubter Abbreviatur, meist nur von ihren ,, Gedanken"
spreche. Was ich in Wahrheit darstellen wollte, ist die all-
mähliche Wandlung und Erneuerung des Lebensblutes in
diesen Gedanken, überhaupt ihr Zusammenhang mit Leben
und Persönlichkeit.
Aber Diether meint ferner, daß ich der Massenbewegung
zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. „Wenn auch
die plumpe Öffentlichkeit", sagt er S. VIII, „für die Fort-
bildung der rein geistigen Ideen direkt nur wenig leistet, so
bringt sie doch, indem sie sich in immer tieferen Schichten
mit politischem Wollen, mit politischer Massenenergie in
Ihren verschiedenen Erscheinungsformen erfüllt, historische
Wirkungen von ganz gewaltiger Art hervor. Dieses neue
liberale und nationale Massenwollen stellt dem 19. Jahr-
hundert überhaupt erst seine eigentümlichen politischen
Aufgaben, mit welchen sich jene Denkergehirne theoretisch
abmühen." Kollektive und individuelle Faktoren des Ge-
■schehens gegeneinander abzugrenzen, wird in exakter Weise
Historische Zeitschrift (Hl. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 38
"586 Friedrich Meinecke,
niemals möglich sein, wird immer nur eine Saclie des histo-
Tischen Taktes, der gesamten Bildung und Lebenserfahrung,,
der jeweiligen Entwicklungsstufe, auf der die Persönlichkeit
des Forschers steht, sein. Ich bekenne gern, daß ich heute
die Bedeutung der kollektiven Mächte höher zu schätzen
geneigt bin als vor 20 Jahren, — insbesondere ihre kausale
Bedeutung. Von der ungeheuren Masse des durch Ursache
und Wirkung miteinander verknüpften menschheitlichen
Geschehens ist aber nur ein kleiner Teil historisch wertvoll^
und innerhalb dieses kleinen Ausschnittes, den wir allein
zu untersuchen, zu verstehen und darzustellen bemüht sind,,
können die individuellen Faktoren einen verhältnismäßig
hohen Erkenntniswert beanspruchen. Ich habe das, was
Diether „theoretische Bemühungen der Denkergehirne"
nennt, vor allem deswegen herausgehoben und der Betrach-
tung unterworfen, weil ich in diesen Ideen der geistigen.
Führer der Nation allerdings einen unvergleichlich hohen,
Kulturwert sehe, der unter allen Umständen anzuerkennen
ist, ganz unabhängig zunächst von der Frage, wie er kausal
entstanden ist, ob mehr durch Eigenleistung der einzelnen,,
ob mehr durch Zusammenwirken vieler, — ganz unabhängig
ferner auch von der weiteren Frage, in welchem Umfange
diese Ideen ihrerseits kausal weiter gewirkt haben. In den
ehernen Kausalzusammenhang reiht sich das Größte wie das
Kleinste im Leben ein, aber das Größte gehört zugleich noch
einem anderen Zusammenhange an, eben dem der großen
Kulturwerte, deren Betrachtung und Würdigung uns von
der Qual der bitteren Erkenntnis erlöst, daß auch alles
geistige Geschehen eingespannt ist in den Mechanismus des.
allgemeinen Naturverlaufes.
Ich meine aber weiter, daß innerhalb des nach Wert-
gesichtspunkten abgesteckten Arbeitsgebietes der Geschichte
den individuellen Faktoren auch eine verhältnismäßig große
kausale Bedeutung zukommt. Im vorliegenden Falle kann
ich also der apodiktischen Fassung Diethers, daß erst das
neue Massenwollen dem deutschen 19. Jahrhundert seine
eigentümlichen politischen Aufgaben gestellt habe, nicht
ohne Einschränkung zustimmen. Diese „eigentümlichen poli-^
tischen Aufgaben" sind vielmehr erwachsen aus einem sehr
Zur Beurteilung Rankes. 587
komplizierten Zusammenwirken von Massenregung, Be-
dürfnis der Staaten und Leistung der einzelnen. Selbst wenn
man annähme, daß auch der Inhalt der neuen Aufgaben
wesentlich schon bestimmt würde durch die Lebensregungen
in den breiteren Schichten der Nation, so ist doch ihre geistige
Klärung, ihre wirksamste Vertretung und ihre praktische
Durchführung in der Regel das Werk einzelner bedeutender
Individuen. Ich bin aber geneigt, in diesem Falle ihrer
Leistung noch mehr zuzuschreiben. Was Fichte und die
Romantiker in der Zeit der Befreiungskriege, was Hegel,
Ranke und Bismarck in der Übergangszeit von der Speku-
lation zum Realismus auch zum Inhalte der politischen und
nationalen Ideale des deutschen Volkes beigetragen haben,,
ist ganz gewaltig. Dabei weiß ich sehr wohl und habe es
auch betont (S. 271), daß die hochgelegenen Quellen dieser
Ideale zum breiten Strome nur werden können durch die
unzähligen konvergierenden Zuflüsse aus den verschiedenen
Schichten des Volkslebens. Die Untersuchung dieser Massen-
strömungen ist eine große und wichtige Aufgabe für sich,
an der jetzt von vielen Seiten mit Eifer und Erfolg gearbeitet
wird. Aber es ist bezeichnend und rechtfertigt zugleich meine
Methode, daß die instruktivsten Einzelarbeiten dieser Art^)
in der Regel anknüpfen an bestimmte einzelne Persönlich-
keiten und Kreise. Überall, wo man in den Grund und
Ursprung der Massenbewegungen einzudringen versucht —
und welche Epoche böte dafür reichere Möglichkeiten als
das 19. Jahrhundert — , stößt man nicht nur auf die Wir-
kungen vorhandener Zustände, Einrichtungen und Über-
lieferungen, sondern auch auf die belebenden Impulse ein-
zelner Persönlichkeiten. Der Begriff der ,, Massenbewegung"
und der „kollektiven Kräfte", mit dem wir zu operieren
pflegen, ist ja wissenschaftlich unentbehrlich, um die großen
Einheiten zu bezeichnen, die aus dem Konflux unzähliger
Einzelkräfte entstehen, aber ist bei Licht besehen, doch
zugleich auch nur eine Abbreviatur, die den Ursprung dieser
Einheiten nur summarisch zum Ausdruck bringt und deshalb
*) Ich verweise z. B. auf die kürzlich erschienene vorzügliche
Untersuchung G. Mayers über den vormärzlichen Radikalismus in
Preußen; Zeitschrift für Politik VI, 1,
38*
588 Friedrich Meinecke,
leicht zu mißbräuchlicher Anwendung führt. Innerster Kern
alles geschichtlichen Lebens ist und bleibt, wenn man dies
Wort Rankes im Sinne moderner Erfahrungen interpretiert,
„lebend Leben des Individuums",
Zu diesen modernen Erfahrungen gehört insbesonders
auch die genauere Würdigung dessen, was Diether das
,, Unterbewußtsein", die Sphäre der dunklen triebartigen
Willens- und Gefühlsregungen nennt, und die erste Auf-
gabe seines Buches ist, das Unterbewußtsein Rankes in seinem
Werden und seiner Eigenart zu erklären. Ranke wurzelt,
so ist seine Hauptthese, durchaus im Boden des deutschen
18. Jahrhunderts, des „intellektualistischen" Geisteslebens
„autonomer" Denker und Dichter. Ich vermisse zunächst
eine genaue Inhaltsbestimmung des vom Verfasser bis zum
Überdruß gebrauchten Schlagwortes „autonom". Bald
scheint es die einseitige Herrschaft des Intellektes und die
Fernhaltung trübender Leidenschaften und Willensregungen
aus der reinen Sphäre des intellektuellen Schaffens bezeichnen
zu sollen, bald den souveränen Individualismus, der sich
seitab vom Staate hält. Diese Unklarheit und Zwiespältig-
keit der Bedeutung zieht sich durch das ganze Buch und
trübt nicht selten auch die einzelnen Urteile des Verfassers.
Vorwiegend aber wird das „intellektualistische 18. Jahr-
hundert" gegen das ,,voluntaristische 19. Jahrhundert" aus-
gespielt, und Ranke wird, wie gesagt, in das erstere verwiesen.
Der „Intellektuelle", heißt es in mannigfachen Variationen,
erschrickt vor dem neuen Zeitgeiste mit seinen Massen-
leidenschaften; die wahre Eigenart des Jahrhunderts bleibt
ihm ewig fremd. Es ist etwas Richtiges daran, aber es ist
ungebührlich übertrieben. Es ist ganz richtig, daß Ranke,
als er in der Historisch-politischen Zeitschrift den Kampf
gegen die Tagestheorien des Liberalismus und der Volks-
souveränität führte, das „Gewand für den Körper hielt"
und die populären Gewalten, die hinter jenen Theorien standen,
nicht voll würdigte. Schon Dove hat mit unvergleichlicher
Feinheit den schwachen Zug in der Rankeschen Geschicht-
schreibung charakterisiert: „Diese mächtigen Ströme seiner
Historie münden nicht selten wie der Rhein, weil er Bedenken
trug, sie voll und frei ins politische Gewoge der modernen
Zur Beurteilung Rankes. 589
Folgezeit zu ergießen." Daß Ranke keine politische Leiden-
schaft hatte, ist eine Binsenwahrheit. Aber kann poHtische
Leidenschaftslosigkeit und reiner, um mit Diether zu spre-
chen, ,, autonomer" Erkenntnisdrang hier nur aus den Nach-
wirkungen des deutschen 18. Jahrhunderts erklärt werden?
Vita contemplativa und vita activa sind zeitlose Gegensätze
menschlicher Geistesart überhaupt. Sie können zugleich
auch einen zeitgeschichtlich bestimmten Charakter annehmen,
und ich leugne natürlich keinen Augenblick, daß die besondere
geistige Welt des deutschen Idealismus, aus der Ranke
hervorging, kontemplativ im höchsten Sinne war. Ich leugne
ebensowenig, daß Ranke ihre Spuren allenthalben an sich
trug, aber man soll dieses Urteil nicht übertreiben und nicht
übersehen, daß beschauliche Denkernaturen auch in be-
wegteren Zeiten sich entwickeln können. Burckhardt,
Justi und Dilthey wuchsen auf, umbrandet vom Wogen-
schlage des 19. Jahrhunderts, und haben doch ihre stille
Insel in ihm gefunden, von der aus sie auch das Schauspiel
der Stürme ihrer Zeit in sich aufnahmen. Es kann Ranke-
naturen zu jeder Zeit geben — so wie es sog. ,, Renaissance-
menschen" zu jeder Zeit geben kann. Die Sucht zu histo-
rischen Etikettierungen, die der Erforschung des Verhält-
nisses von Mittelalter und Renaissance gefährlich geworden
ist, hat auch die Dietherschen Auffassungen geschädigt.
Er hätte unseres Erachtens sich bei jedem einzelnen Zuge,
den er an Ranke charakterisiert, fragen müssen, ob er zeit-
geschichtlichen oder individuellen, persönlichen Ursprunges
ist. Wenn man beides auch nicht immer scheiden kann, so
hätte allein schon die Fragestellung ihn behutsamer stimmen
müssen.
Das voreilige Abstempeln und Etikettieren gehört zu
jenen modernen Zeitfehlern, von denen ich oben sprach.
Es trübt nicht nur den Blick für das wunderbare Neben-
einander von Zeitlosem, ewig Menschlichem, zu allen Zeiten
Möglichem und von zeitgeschichtlich Bestimmtem in der
Geschichte, sondern es schwächt auch das Verständnis
für die leisen kontinuierlichen Abwandlungen dessen, was
zeitgeschichtlich bestimmt ist. Diether tut eine große Kluft
-auf zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert, er schweifet
590 Friedrich Meinecke,
förmlich in dem Anblick dieser Kluft, wo drüben die reine
Stille des Denker- und Dichterlebens und hüben das leiden-
schaftliche Drängen der Massen und der Tatmenschen er-
scheint. Er ignoriert ja nicht ganz die Verbindungsglieder
beider Epochen und läßt sie auch bei Ranke hier und da
hervortreten, aber nicht mit dem Nachdrucke, den man
wünschen müßte. Denn die Keime dessen, was man als eigen-
tümlich für den Geist des 19. Jahrhunderts ansieht, liegen
bereits massenhaft ausgestreut im deutschen Idealismus
und in der deutschen Romantik. Die Aufstellung der neuen
ethischen, politischen und nationalen Ideale zu Beginn des
Jahrhunderts und in den Jahren der Befreiungskämpfe
und ihre Anwendung auf den preußischen Staat ist nichts
anderes als der erste Akt des modernen Realismus und
Voluntarismus in Deutschland. Fichte, Adam Müller,
Wilhelm v. Humboldt, so verschieden unter sich geartet,
sind einig darin, daß die Wissenschaft nicht in reiner Selbst-
genügsamkeit verharren dürfe, sondern das Leben ergreifen
und gestalten müsse. Sie sind zugleich diejenigen Denker,
deren Arbeit, wie ich an einem einzelnen Probleme zu zeigen
versucht habe, die unmittelbare Vorstufe der Rankeschen
Geschichtsauffassung bildet. Es ist ein Mangel des Diether-
schen Buches, daß er diese Fäden zwischen 18. und 19. Jahr-
hundert nicht genügend beachtet hat.
Der neue politische „Tatmensch" also war schon vor
Ranke in voller Entwicklung und wurde nicht nur von
den Denkern postuliert, sondern von den Reformern Preußens
in großer Weise realisiert. Reaktion und Restauration
haben diese Entwicklung dann allerdings wieder aufgehalten.
Zugleich wurden die Geister der Tiefe, die in der französischen
Revolution an das Licht gedrängt hatten, gebändigt, die
Massenbewegungen niedergehalten und alle alten aristo-
kratischen Gewalten in Staat und Gesellschaft wieder zur
Geltung gebracht. Diesen quietistischen und aristokratischen
Duft der Restaurationszeit hat Ranke mit Behagen in sich
eingeatmet. Seine persönliche Lebensstimmung und seine
eigenen- politischen Wünsche behielten zeitlebens die Spuren
ihres Geistes. Daß dies auch von seiner Geschichtschreibung
bis zu gewissem Grade gilt, ist niemals verkannt worden.
Zur Beurteilung Rankes. 59t
Sie beleuchtet vorzugsweise die Höhen des Staatslebens
und der Gesellschaft, — nicht nur, weil die diplomatischen
und literarischen Quellen, die er bevorzugte, dies schon
taten, sondern er bevorzugte diese Quellen wesentlich auch
deswegen, weil es ihn innerlich immer hinzog zu eben diesen
Höhen. „There is a tendency", sagt der Engländer Gooch in
seinem eben erschienenen Buche über die Geschichtschreibung
des 19. Jahrhunderts (S. 101) ganz richtig, „/o survey events
too mucfi from the Windows of the council-cliamber, to neglect
ilic masses, to overlook the pressure of economic forces." Nun
^ber ist diese aristokratisch sich abschließende Welt der
'Restaurationszeit, die Ranke umfangen hielt, keineswegs
nur Restauration des 18. Jahrhunderts, sondern eine be-
sondere Welt für sich, in der auch die neuen stärkeren Im-
pulse der Revolutions- und Erhebungszeit, wenn auch ge-
dämpft, weiterlebten. Das Wesen dieser Zeit ist also eine
fortwährende geistige Auseinandersetzung und Wechsel-
wirkung zwischen dem, was Diether den Intellektualismus
des 18. Jahrhunderts und den Voluntarismus des 19. Jahr-
hunderts nennt. Und obwohl nun Diether im einzelnen keines-
wegs blind ist für diese Wechselwirkung, macht er sich
doch grundsätzlich nicht klar, daß Ranke nur vom Boden
dieser Übergangsepoche, aber nicht von dem des reinen
18. Jahrhunderts aus zu verstehen ist. Weil er ihn
gewaltsam in dieses zurückzudrängen versucht, muß er sich
fortwährend abmühen, die Regungen des neuen Jahrhunderts
in ihm umzudeuten und abzuschwächen.
Er zitiert selbst (S. 233) Rankes Wort über Capefigues
Auffassung der Bartholomäusnacht: „Wir sind jetzt geneigter,
die Dinge überhaupt von unbewußten Antrieben herzuleiten,
als von Absicht und vorbedachter Leitung. Es ist der Tribut,
den wir unserem Jahrhundert zahlen, wo die populären Be-
wegungen so oft die Oberhand behalten haben." Aber er
verwertet dieses Wort und die ihr vorhergehende Ausein-
andersetzung nicht. Sie zeigt, daß Ranke grundsätzlich
bereit und imstande war, die Bedeutung der Massenbewe-
gungen anzuerkennen, und nur vor ihrer Übertreibung
warnte: „Es ist gewiß falsch, die Ereignisse jener Zeit allein
von Politik und dem Einfluß der Persönlichkeiten herzu-
592 Friedrich Meinecke,
leiten: die geistlichen Antriebe hatten noch eine eigentüm-
liche, ihnen innewohnende Kraft. Aber ebenso falsch ist es>
diesen eine absolute Herrschaft zuzuschreiben, die Ursachen
der Ereignisse allein in der Meinung zu suchen." Auch heute
würde man nicht wesentlich anders urteilen dürfen. Man
lese ferner Rankes von Diether S. 227 zitierte, im Jahre 1834
geschriebene Apotheose des ,, Genius des Occidentes":
i,der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, der die
Straßen zieht, die Kanäle gräbt, alle Meere mit Flotten be-
deckt und in sein Eigentum verwandelt, die entfernten Kon-
tinente mit Kolonien erfüllt, der die Gebiete des Wissens
eingenommen und sie mit immer frischer Arbeit erneuert",
— ist sie nicht zugleich auch ein glänzendes Bild der expan-
siven Energie des 19. Jahrhunderts? Diether (S. 248) gibt
wohl auch zu, daß Ranke den Wert politischen Massenbewußt-
seins kenne, aber seine „moralische Energie" sei nicht ein
leidenschaftliches, vorwärtstreibendes Willens-Agens im poli-
tischen Individuum, sondern ein ,, geheimnisvolles, trans-
zendentales Etwas, das nur dann wirksam wird, wenn sich
Regierende wie Untertanen ihm gegenüber in leidenschafts-
loser Rezeptivität verhalten." Wiederum eine unzulässige
Übertreibung. Man nehme doch nur das ,, Politische Ge-
spräch" Rankes von 1836 zur Hand. Die ,, moralische
Energie", die er dort vom Staatsbürger verlangt, soll dahin
führen, daß „die Zwangspflicht sich zur Selbsttätigkeit, das
Gebot zur Freiheit erhebe". Diether selbst muß einräumen,
daß Ranke hier eine Politisierung des Individuums fordert.
Wenn Ranke seine politische Willensforderung in vergeistigter
Sprache aussprach, so gibt das noch kein Recht dazu, sie
in das „Transzendentale" — wir wollen über den irrigen
Gebrauch dieses philosophischen Begriffs nicht mit dem
Verfasser rechten — umzudeuten. Ich würde es geradezu
für einen Verfall und für eine Unfähigkeit historischen Ver-
stehens halten, wenn man in den Vergeistigungen der Ranke-
schen Ideen nicht mehr den vollen Pulsschlag des ganzen
Lebens spüren könnte. Jeder Kenner Rankes weiß, daß die
„moralischen Energien", die er in der Geschichte aufsucht
und darstellt, nicht nur höhere geistige Werte, sondern auch
Anspannung aller menschlichen Kräfte für sie umfassen.
Zur Beurteilung Rankes. 593
„Die Erforschung der Geschichte", sagt Ranke in seinem
Aufsatz über die Kammer von 1815 (S. W. 49/50, S. 176),
„hat es mit Dingen, die nicht leicht anzufassen, mit den
moralischen Kräften und ihrem verwickelten, verborgenen
Getriebe zu tun," Das ist das unzweideutige Bekenntnis
zu einer realistischen, das ganze Spiel der geschichtlichen
Willenskräfte erfassenden Geschichtsbetrachtung und zu-
gleich die unzweideutige Erkenntnis ihrer komplizierten Ver-
wurzelungen. Was Ranke hier im Auge hat, umfaßt auch
schon alles das, was Diether unter der „Sphäre des Unter-
bewußtseins" versteht. Wenn Ranke bescheiden hinzufügt,
daß es der Forschung nur selten gelinge, dieses Dunkel zu
erhellen, so hat auch die moderne Wissenschaft trotz ihrer
verfeinerten Methode in der Analyse komplexer und ,, unter-
bewußter" Vorgänge alle Veranlassung zu ähnlicher Be-
scheidenheit. Den Weg zu dieser analytischen Methode hat
gerade Ranke schon gebahnt. ,,Wäre es möglich," heißt
es in demselben Aufsatze S. 194, „die politischen Parteien
durch eine geistige Anatomie bis in ihre geheimsten Bestand-
teile zu zerlegen, so würde man, glaube ich, auf ein irrationales
Element stoßen." Damit leitet er über zu einer Charakteri-
sierung der blinden zerstörenden Leidenschaften, die sowohl
in der revolutionären Bewegung von 1789, wie in der royali-
stischen Gegenbewegung des „weißen Schreckens" von
1815 sich auswirkten. Diether, S. 194, bemerkt dazu: ,,Als
eigentliche materia peccans erkennt er auch hier wieder das
unheimliche x, das er sich immer erst auf Umwegen kon-
struieren muß: die politische Leidenschaft, zunächst die
der Parteien Dieser ,, dunkle vernunftlose Antrieb'*
verschuldet die Greuel des weißen Schreckens, er ist über-
haupt der Quell alles politischen Unheils im Staate, möge
dieser eine Form haben, welche er wolle." Wieder übertreibt
er etwas an sich Richtiges. Wohl läßt Ranke seine eigene
politische Empfindung, die den Exaltados von hüben wie von
drüben gleich abhold war, hier deutlich durchschimmern,
aber als Historiker sieht er ihrem Treiben scharf in das Auge,
und es kann gar keine Rede davon sein, daß er sich dieses
„unheimliche X" immer erst auf Umwegen konstruieren
müsse. Richtig ist auch, was Diether des weiteren ausführt.
594 Friedrich Meinecke,
daß Ranke seine Aufmerksamkeit lieber den Bewegungen
der Staaten im ganzen als denen der Parteien widmet. Aber
falsch ist es, dies in erster Linie aus einer politischen Ab-
neigung Rankes gegen die „subalternen Egoismen" der
Parteien zu erklären. Gewiß soll diese Abneigung nicht
geleugnet werden, aber sie ist hier nicht Ursache, sondern
Wirkung von etwas anderem. Das primäre Motiv ist viel-
mehr jener große und fruchtbare Grundgedanke der Ranke-
schen Geschichtsbetrachtung, daß die zentralen Träger der
politischen Geschichte die Staatsindividualitäten sind. Natür-
lich kennt auch Diether diesen Gedanken, aber er muß ihn,
um seine These von Rankes Intellektualismus und Fremd-
heit im voluntaristischen 19. Jahrhundert zu retten, um-
deuten und verschleiern. Er nennt das Rankesche Staats-
individuum „etwas geheimnisvoll"; er meint, daß Ranke,
indem er das Werden und Vergehen der „großen Mächte"
immer mehr in den Vordergrund gestellt habe, sich zu „sub-
limen Höhen", hoch über alles poHtische Parteibedürfnis
hinaus, erhoben habe. Nun, ,, geheimnisvoll" ist das Rankesche
Staatsindividuum nicht mehr und nicht weniger, wie jede
andere historische Individualität, vom einzelnen Individuum
angefangen, und das irrationale Element in den Partei-
gebilden hat ja gerade Ranke, wie wir eben hörten, hervor-
gehoben. Aber vielleicht meint Diether, daß das „Geheimnis-
volle" des Rankeschen Staatsindividuums nicht etwa irra-
tionaler, sondern sagen wir einmal überrationaler, mystischer,
transzendenter Art sei. Dann müßten wir ihm erst recht
widersprechen. Die Rankeschen Staatsindividuen sind zuerst
und vor allen Dingen sehr reale und gewaltige, immerdar
wirkende und schaffende Komplexe von Energien, und Diether
hat gar nicht erkannt, daß Ranke, indem er das Willens-
leben der großen Mächte und Staatspersönlichkeiten zur
unvergleichlichen, nie vorher gebotenen Anschauung brachte,
einer der größten Führer und Bahnbrecher des modernen
voluntaristischen Geistes geworden ist — als Erkennender
und Zeigender natürlich nur, nicht als Handelnder. Ein
Erkennender muß, — und mag seine Aufmerksamkeit auch
den triebartigsten Kräften und dem untersten ,, Unter-
bewußtsein" zugekehrt sein — , immer in gewissem Sinne auf
Zur Beurteilung Rankes. 595
„sublimen Höhen" wandeln, wenn er seiner Aufgabe ganz
gerecht werden will. Wenn Ranke nicht die Lebenstriebe
•der Parteien und der Massen, sondern die Lebenstriebe
der Staaten sich zu seinem Objekte wählte, so spricht sich
in erster Linie darin das Werturteil aus, daß diese eben
geschichtlich mehr bedeuten als jene. Aber ist dieses Urteil
etwa falsch? Wohl sind die politischen Parteien und die
wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Massenbewegungen
innerhalb der Staaten seit Rankes Zeit immer stärker, auch
für die Staaten selbst immer wichtiger geworden, — aber
sie haben dadurch die Bedeutung des Staatsganzen nicht
herabgedrückt, sondern eher noch gesteigert. Allen An-
sprüchen der Parteien, allen Fluktuationen der Massen gegen-
über macht sich immer wieder das geltend, was man heute
<iie „Staatsnotwendigkeit" nennt und im Rankeschen Sinne
den Lebenstrieb der individuellen Staatspersönlichkeit nennen
kann; und gerade, wenn sie zur Herrschaft im Staate gelangen,
■müssen die Parteien in gewissem Grade aufhören, Parteien
zu sein, und anfangen, dienende Organe des Staates und
seiner geschichtlichen Überlieferungen zu werden. Jakobiner
als Minister, hat schon Mirabeau gesagt, sind keine Jako-
hinerminister mehr. Und wenn auch der Ausgleich zwischen
Massenleben und Staatsleben immer schwieriger wird und
die Gefahren für den Staat dabei immer größer werden, so
wächst doch dem Staate, der ihrer Herr wird, auch neue
Kraft zu, weil seine Wurzeln nun tiefer in das Erdreich der
Nation gehen und seine Daseinskämpfe von Millionen, statt
wie früher von Zehn- und Hunderttausenden ausgekämpft
werden. Es ist nun ganz richtig, daß Ranke, umgeben von
den halkyonischen Zuständen der Restauration, das volle
Bild dieser gewaltigen Wechselwirkung zwischen Macht
und Masse noch nicht hatte und schon deswegen in ein
stärkeres Interesse für das moderne Massenleben nicht mehr
hineinwachsen konnte. Dafür hat er in anderer Hinsicht
die Schranken jener halkyonischen Zeit durchbrochen, indem
er — ich darf hier an die Ausführungen meines Buches
erinnern — den Gedanken der unbedingten staatlichen
Selbstbestimmung und der realistischen Machtpolitik in
seiner Geschichtsbetrachtung wieder zu Ehren brachte
5% Friedrich Meinecke,
gegenüber allen ideologischen Dogmen von rechts und
links.
Freilich sagt Diether (S. 248f.): „Dieser Rankesche
„Kampf" ist in Wahrheit nur ein von den „großen Mächten"
aufgeführtes Schauspiel, angeschaut mit den Augen des.
fütellektuellen, empfunden mit seinen Erkenntnisnerven:
ein historisches Gesetz, aber keine aktive Willensforderung.
Dieses Rankesche Kampfprinzip trägt für die Praxis höch-
stens defensiven Charakter." Die Farben zu diesem Bilde
machen den Eindruck, dem modernen Ästhetentum ent-
nommen zu sein. Aber vor allem muß man geltend machen,
daß Fragen, die man an den Historiker Ranke stellt, nicht
von vornherein mit solchen vermischt werden dürfen, die
an den Politiker in ihm zu stellen sind. Rankes Geschicht-
schreibung ist grundsätzlich rein kontemplativ. Gooch
sagt mit Recht, daß der erste der Dienste, den er der Historie
erwies, darin bestand, to divorce the study of the past from
the passions of the present. Deshalb darf man von seiner
Geschichtschreibung auch keine aktive Willensforderung
verlangen. Genau ebenso grundsätzlich kontemplativ will
aber auch die moderne Geschichtswissenschaft sein. Sie
erklärt den Historiker von stärkerem politischen Tempera-
ment zwar nicht für unfähig zu reiner historischer Erkenntnis-
arbeit, denn sie würde sich damit eines Teiles ihrer Wurzel-
säfte berauben. Aber sie fordert von ihm eine stetige strenge
Selbstprüfung, ob die eigenen Willensforderungen, die ihn
erfüllen, nicht etwa das Bild der Vergangenheit trüben. .
Da nun Ranke dieses stärkere politische Temperament
nicht besaß, so hat er es als Historiker allerdings leicht
gehabt, sich der Politik zu erwehren; dafür aber hat er als
Politiker zu wenig von seiner eigenen Historie gelernt und
hat das Kampfprinzip, das er als Grunderfahrung des ge-
schichtlichen Staatenlebens verkündete, da, wo er zu handeln
hatte, nicht immer mit derjenigen stählernen Energie ver-
wirklicht, die er in seiner Geschichtschreibung so großartig
zur Anschauung brachte. Seine eigene Praxis war also-
meinethalben, um Diethers Ausdruck zu gebrauchen, „de-^
fensiv"; aber sein „Kampfprinzip" war es durchaus nicht.
Hätte sich Diether auf die Aufgabe beschränkt, diesen
Zur Beurteilung; Rankes. 597
Dualismus des Rankeschen Wesens lierauszuarbeiten, so
würden wir ihm rückhaltlos zustimmen. Statt dessen ver-
wischt er ihn durch seine unklare und zweideutige Formu-
lierung, die den Charakter dieses Kampfprinzips und damit
auch die geistige Empfänglichkeit Rankes für die volun-
taristische Seite des geschichtlichen Lebens abschwächt.
In den späteren Partien des Buches ist es Diether viel
besser gelungen, die historische und die politische Seite des
Rankeschen Wesens auseinander zu halten. Die Darstellung
seiner politischen Betätigung unter Friedrich Wilhelm IV.
ist zum Teil vorzüglich. Hier tritt es auch ganz klar und
unwiderleglich hervor, daß die konservativen Ideologien,
die Ranke in seiner Geschichtsauffassung überwunden hatte,
seine politische Praxis noch leise mit lenken konnten. Des-
wegen konnte er sich so heimisch fühlen im Kreise Friedrich
Wilhelms IV., deswegen konnte er auch später, als er über
ihn historisch zu urteilen hatte, sich nicht ganz von dem
Banne befreien, der seine politischen und persönlichen
Empfindungen über ihn beherrschte. Anderseits war er
doch auch wieder in den Jahren 1848/50 in entscheidenden
Momenten imstande, die Prinzipien der Machtpolitik, die
€r als Denker verkündigte, auch für die Praxis zu fordern.
In der großartigsten Weise hat er im September 1850 inmitten
der schwächlichen Schwankungen der Unionspolitik aus-
geführt, daß die preußische Politik, wenn sie die Verbindung
mit revolutionären Elementen nicht gescheut hätte, zwar
sich größten Gefahren ausgesetzt haben würde, — „^ber
Kühnheit und Macht überwinden alles". Was er in der
damaligen Situation dann forderte, berührt sich aufs engste
mit den Ansätzen zu einer großpreußisch-konservativen
Realpolitik, die ich in meinem Buche über Radowitz dar-
zustellen versucht habe.
Als dann Bismarcks Erscheinung aufstieg, als er das
Kampfprinzip des Staates, das Ranke in der Geschichte
nachgewiesen hatte, zu neuer Geltung brachte und den
Geist der „großen Mächte" Rankes in sich inkarnierte
und potenzierte, gingen in Ranke freilich der Historiker und
der -Politiker wieder auseinander. Diether zeigt, daß Ranke
über Bismarck eine Art von doppelter Buchführung trieb
598 Friedrich Meinecke,
Seine persönlichen Äußerungen über Bismarck, die er zu
seinem Amanuensis Wiedemann in den siebziger Jahren tat,,
klingen sehr viel schärfer und ablehnender als seine Tage-
buchaufzeichnungen, in denen er an Bismarck doch immer
wieder seine alte Kunst des historischen Verstehens übte.
Man darf überhaupt wohl sagen, daß Ranke als historischer
Denker sehr viel größer war wie als Mensch und daß seine
politischen Schwächen zum Teil auf menschliche Schwächen
zurückgingen — ähnlich wie bei Gentz. Ähnlich wie dieser
fühlte er sich am wohlsten in einer weichlichen Anlehnung an
die Aristokratie. Wenn es nicht auch zu den zeitlosen und
immer wiederkehrenden Erscheinungen im Gelehrtenleben
gehörte, daß Mensch und Denker auseinanderfallen können
und daß über der mächtigen Entwicklung des Geistes das
Menschlich-Persönliche oft zurückbleibt, so wäre man fast
versucht zu sagen, daß diese Spaltung von Mensch und
Denker in Ranke mehr in das 19. als in das 18. Jahrhundert
weist. Der klassische Idealismus des 18. Jahrhunderts ver-
einigte grundsätzlich und praktisch großes Denkertum
und große, reiche und harmonische Menschlichkeit. Das
19. Jahrhundert aber, das Jahrhundert der Arbeitsteilung,
machte den Menschen nur zu leicht zur Funktion und zwang
ihn, mehr mit dem zu zahlen, was er leistete, als mit dem,
was er war. Aber lassen wir es, wie gesagt, dahingestellt,
ob Ranke auch in diesem Wesenszuge dem neuen Jahrhundert
seinen Tribut gezollt hat. Mag man nun zugeben, daß er
uns nicht das sein kann, was uns Goethe, Schiller und
Wilhelm v. Humboldt bedeuten, so muß man doch sofort
geltend machen, daß menschliche Größe auch in der Kraft
liegt, mit der Ranke sich über sich selbst hinaus erhoben hat.
Alle Hüllen und Fesseln streifte er ab, wenn er in das Heiligtum
der Historie trat. Das ist der tiefere Sinn seines Wortes,
daß er sein Selbst auslöschen wolle.
So war und blieb er imstande, als historischer Denker
die Energie des neuen Jahrhunderts zu befruchten und
die ideologischen Nachwirkungen des 18. Jahrhunderts zu
tiberwinden, und als einer dieser Überwinder und Herauf-
führer einer neuen geistigen Epoche lebt er für uns und in
der Geschichte weiter. Wohl jeder Überwinder einer alten
Zur Beurteilung Rankes. 599
Z^it aber trägt noch ein Stück von ihr in sich. Indem wir
die Übertreibungen des Dietherschen Buches zurüci^weisen,
eri<ennen wir sein Verdienst, auf diesen Rest des Alten
und überhaupt auf jeglichen Erdenrest in Rankes Wesen
die Aufmerksamkeit gerichtet zu haben, bereitwillig an.
Wir schließen mit den Worten, in denen Ranke selbst gegen
seinen Bruder Heinrich am 28. November 1874 den Dualis-
mus in sich zwischen 18. und 19. Jahrhundert und die Über-
windung dieses Dualismus durch die Anerkennung der
neuen Zeitgewalten berührte: ,,Auch du bist, wie ich, noch
ein Geschöpf des vorigen Jahrhunderts, und wie weit sind
wir nun in dem neunzehnten vorgerückt! Es ist ein bedeu-
tender Teil der Weltgeschichte, was wir seitdem erlebt;
höchst unerwartet die Wendung, welche die Dinge gerade
in den letzten Jahren genommen haben. Es könnte
scheinen, als müßtenwir sie unsererÜber-
zeugung und Natur nach verwerfen. Doch
sei das fern e!"
Miszellen.
Zur neuesten Literatur über die Aufgaben
der Genealogie.
Von ^
Fritz Kern.
Familienforschung. Von E. Devrient. Leipzig, Teubner. 191!.
134 S. (Aus Natur und Geisteswelt Bd. 350.)
Genealogie und Familienforschung als Hilfswissenschaft der Ge-
schichte. Von A. Hofmeister. (Histor. Vierteljahrschrift
herausgegeben von G. Seeliger, Bd. 15. Leipzig, Teubner.
1912. S. 457—492.)
Die Versuchung für natürlich begrenzte Forschungsgebiete,
sich durch die Annexion fremder Wissenschaftsdomänen künst-
lich zu erweitern, ist an der übrigens verdienstlichen Darstellung
der Genealogie aus der Feder des Archivars der Zentralstelle für
deutsche Personen- und Familiengeschichte auch nicht vorüber-
gegangen. Der alte Gatterer hatte der Genealogie noch den
Charakter „einer eigentlichen Wissenschaft" aberkannt. Aber
die „Familienforschung" der Schule Ottokar Lorenz', die Devrient
am Leipziger universalgeschichtlichen Institut vorgetragen hat,
greift nach dem Höchsten. So groß Devrients Achtung
für das 18. Jahrhundert, das goldene Zeitalter seiner Wissen-
schaft, ist (S. 15), so sehr hebt sich doch seine Definition von
der bescheidenen Gatterers ab. Genealogie ist nach ihm nichts
weniger als „die Lehre von den Abstammungsverhältnissen der
Individuen und den daraus sich ergebenden biologischen und
rechtlichen Beziehungen". Nach dem Wortstamm ist eine solche
Zur neuesten Literatur Über die Aufgaben der Genealogie. 601
Begriffsbestimmung von ytvtakoyla möglich. Ob sie eine zu-
lässige wissenschaftliche Fragestellung in sich birgt, in einem Fach,
dessen Belagerung durch Dilettanten dem Verfasser wohl bewußt
ist (S. 16 und sehr charakteristisch aus guter Amtserfahrung
S. 61, 66, 84), muß erst untersucht werden.
Zunächst tritt nun das methodische Bedenken in den Ka-
piteln wenig hervor, die sich mit der Familien geschichts-
forschung, mit ihrem Material (Kap. II „Quellen und Hilfsmittel"),
mit der Ausrüstung des Familiengeschichtsforschers (Kap. III
„Hilfswissenschaften und Kritik"; man kann aber nicht eigent-
lich „Kultur- und Rechtsgeschichte", „Biologie" usw. Hilfswissen-
schaften der Genealogie nennen) und (IV. Kap.) endlich mit
der „Darstellung der Ergebnisse" beschäftigen. Die bündige und
praktische Weise, mit der Devrient hier den Familiengeschichts-
forscher mit allem Handwerkszeug versieht und ihm die Wege
weist, ist ihrer Anerkennung sicher und zeigt den Fachmann
im Mittelpunkt seiner Tätigkeit. Meine Ausstellungen sind hier
nebensächlicher Art. Zu Eckehard von Aura sollte Breßlaus
Untersuchung nicht unberegt bleiben (S. 8). Daß unsere deutsche
Schrift beiläufig wieder einmal fälschlich als „entartende Mönchs-
schrift" (S. 62) geschmäht wird, ist verzeihlicher, wenn man
beachtet, daß der Verfasser dies vor dem Erscheinen von Brandis
schönem Buch über „Unsere Schrift" geschrieben hat. Hervor-
zuheben Ist die manchem Historiker nützliche kurze Geschichte
der Eigennamen (S. 45). Bei Urkundenlehre und Paläographie
hätte eine Erwähnung der neueren Hauptwerke neben der Ver-
weisung auf Heydenreich wohl dem Leser gedient.
Nun aber versetzt uns da, wo mit der „Darstellung ihrer
Ergebnisse" die Genealogie am Ende scheint, das V. Kapitel
plötzlich in die „Probleme der Vererbungslehre". Wir sind heute
schon empfindlicher gegen die einst beliebte „Synthese" natur-
wissenschaftlicher und historischer Absichten geworden, als noch
zur Zeit, da Ottokar Lorenz schrieb. Wenn schon der Meister
auf starken Widerspruch stieß, so hätte der Schüler nicht
mehr so leichthin an das „Gefühl" appellieren dürfen (S. 84),
„daß es jetzt an der Zeit sei, das Allgemeine wieder ins Auge
zu fassen".
Es ist durchaus richtig, wenn sich die Genealogie die Auf-
gabe setzt (S. 16), „Stoff für die empirische Begründung der
Historische Zeitschrift (IM. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 39
602 Fritz Kern,
Anthropologie und Medizin" zu liefern, und wir können es An-
thropologen und Medizinern überlassen, ob ihnen das auf familien-
historischem Weg gewonnene Material für ihre Methoden brauch-
bar scheint oder nicht. Aber in Wirklichkeit geht Devrient auf
nichts andres aus als die Umdrehung dieses Grundsatzes, d. h.
auf die Übernahme anthropologischen und medizinischen Stoffes
zur empirischen Begründung der „neuen" Genealogie. Nichts
andres bedeutet es, wenn den biologischen Theorien über Zeugung
und Befruchtung viele Seiten eingeräumt werden, deren Richtig-
keit der Referent nicht nachprüfen kann, deren Überflüssigkeit,
ja Schädlichkeit an dieser Stelle er aber konstatieren muß in
Übereinstimmung mit dem Verfasser selbst, der vorsichtiger als
Lorenz zuweilen doch die Unmöglichkeit ahnt, aus solchen bio-
logischen Allgemeingesetzen (richtiger „Hypothesen", denn um
mehr handelt es sich in den Vererbungstheorien noch nicht)
irgend etwas für den singulären Fall einer geschichtlichen Anlagen-
vererbung abzuleiten. (Vgl. schon S. 87, wo sehr vernünftig
Lorenz' dilettantische Schematisierung des Befruchtungsvorgangs
abgelehnt wird.) Dann muß man aber folgerichtig sein und nicht
den Schein erwecken, als ob die Genealogie „die biologischen"
Beziehungen der „Abstammungsverhältnisse" lehren, der Natur ,
in ihre Geheimnisse zu blicken vermöchte! ^
Soweit die genealogische Forschung der Naturwissenschaft
Material zubereiten will, wie es Devrient in seiner Abhandlung
über die sechs ersten Geschlechtsfolgen der ernestinischen Wet-
tiner versucht hat, soweit sie also ganz unbeeinflußt von irgend-
welchen biologischen Theorien auf dem schlichten Weg normaler
historischer Methode Vererbung von Eigenschaften feststellt
— häufig wird das ja möglich sein, wenn auch sichere Schlüsse
viel seltener sind als Wahrscheinlichkeitsschlüsse i) — , so ist
das gewiß eine ihrer interessantesten Seiten, die schon einen
Herodot anzog und die das 19. Jahrhundert mit Recht betont
>) Besonders bei den seelischen Eigenschaften kann das
Mißtrauen gegen Vererbungsbehauptungen nicht groß genug sein,,
was Devrient selbst einmal durch den Hinweis auf die ganz un-
biologischen Momente zum Ausdruck bringt (S. 121), welche bei
der Beharrlichkeit gewisser Eigenschaften in einem Familien-
oder Lebenskreis mitspielen. Trotzdem zeigt er das kritische
Mißtrauen nicht überall in erwünschtem Maße.
Zur neuesten Literatur über die Aufgaben der Genealogie. 603
hat. Aber wohin anders soll es führen, als zu geschmackloser
Spielerei, wenn die Genealogie selbst mit den problematischen
„Gesetzmäßigkeiten" der Vererbung spielt? Eine Probe'):
„Man kann wohl sagen, daß bei Bismarck die geistigen
Anlagen seiner mütterlichen Ahnen stark hervortreten ; bei seinen
Geschwistern wird sich dies nicht behaupten lassen, und man
wird nach dem Gesamtergebnis der Bismarck-
M e nkenschen Ehe die beiden Typen als gleich mächtig
erkennen müssen, wobei Ottos Schwester Malwine als Misch-
form (!) zwischen den beiden überlebenden Brüdern gelten kann.
Würde (!) Otto v. Bismarck die Tochter einer ähnlichen Ver-
bindung verschiedenartiger Verwandtschaftskreise heimgeführt
haben, so hätten wir vielleicht (!) Gelegenheit, bei seinen Kindern
die Merkmale der v. Bismarck und der Menken einzeln hervor-
treten zu sehen. Bekanntlich ist das nicht der Fall und es ent-
spricht wieder der Wahrscheinlichkeit, daß die Verbindung
Bismarck-Puttkamer die Menkenschen Merkmale zurücktreten
läßt" (S. 108).
Zuchtwahlbetrachtungen derart mögen den Naturwissenschaft-
ler interessieren, obwohl ich daran zweifle, nicht nur wegen des
sog. „Gesamtergebnisses", das doch in jeder Familie von der
zufälligen Zahl zur Reife gelangter Kinder abhängt, sondern auch
wegen der wenig umgrenzten Beschaffenheit „Menkenscher
Merkmale". Aber immerhin mag es den Biologen interessieren^):
*) Man vergleiche mit dem folgenden die Behandlung der-
selben Frage in E. Marcks' Bismarck I (1909), die Devrient vor-
bildlich darüber hätte belehren müssen, bis wohin Kritik und
Takt den Historiker auf diesem Gebiet gehen lassen. Aber selbst
«in Buch wie Heycks Bismarck (Bielefeld 1898) 8 f. hatte schon
wesentlich die Gr6nze bezeichnet, die auch der biologische
Genealoge nicht ungestraft überschreitet.
*) Ich bin selbstverständlich weit davon entfernt, den bio-
logischen Wert der Erforschung göistiger Vererbung und die
Hilfsarbeit der Genealogie hierbei anzufechten. Es ist nur
die alte, wie man meinen sollte, überwundene Verwechslung der
Geschichte mit Gesetzeswissenschaften, welche bei D. das schiefe
Bestreben weckt, aus allgemeinen Gesetzen irgend etwas für den
Einzelfall folgern zu wollen. Welches praktische Unheil daraus
erwächst in einem Buch, das vorwiegend für historische Dilet-
tanten bestimmt ist, dürfte einleuchten.
39*
604 Fritz Kern,
Genealogie, Geschichte überhaupt, ist das nicht mehr! Es ist
einer der peinlichsten Irrwege, den die Suche nach der „Erklärung"
des Genies nur irgend einschlagen kann. Die nächste Frage,
die der neugierige Genealog dieses Stils stellen wird, ist dann
wohl, wie viele „Blutseinheiten", „Qualitätsreinheiten", welche
„Reduktionsteilungen der Chromatinmassen" bei der Zeugung
eintreten mußten, damit von den neun Kindern des Sattlers
J. G. Kant gerade das vierte die Kritik der reinen Vernunft
schrieb. Und der Schritt ist für den „Familienforscher" nicht
mehr groß, in der solchergestalt vertieften Genealogie den Stein
der Weisen zu suchen, der auch die Vorherbestimmung künftiger
Genies erlaubt. Vollzogen hat diesen Schritt bereits A. Reib-
mayr. Die Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies,
Bd. 1; Die Züchtung des invididuellen Talentes und Genies
in Familien und Kasten (München 1908). Wird es dieser Kunde
an Adepten nicht fehlen, so ist ihr zugleich der höchste Rang
versprochen, denn „die wissenschaftliche Genealogie erscheint
gerade als der gegebene Boden für eine Verständigung zwischen
den verschiedenen geschichtsphilosophischen Richtungen" (S. 121)!
Diese Homunkuluswissenschaft war nicht nur deshalb so
eingehend zu beleuchten, weil Lamprechts Institut dieser Genea-
logie, wie Devrients Vorwort rühmt, „zuerst wieder einen Platz
im akademischen Lehrbetrieb einräumt", oder auch, weil der
Psychiater Sommer auf die Familienforschung den Plan eines
„zugleich natur- und geisteswissenschaftlichen" Reichsinstituts
gründet (vgl. H. Z. 109, 630), sondern weil hier die Vermischung
historischer und naturwissenschaftlicher Methoden und Ziele in
einer so blühenden Gestalt als jugendfrische Wissenschaft auftritt,
wie man es dem gealterten Materialismus unsrer Epoche kaum
mehr zutrauen würde. Und auch aus dem Grunde muß dagegen
Front gemacht werden, weil Devrient, wie noch einmal lebhaft
betont sei, als Familien geschichts forscher so tüchtige und
methodisch richtige Grundsätze zeigt, daß man ihm die Rück-
kehr von den gefährlichen Seiten der „Familienforschung"
zu der soliden Selbsterkenntnis der Gattererschen Genealogie*)
*) „Man erzählt und beweist in ihr wie in der gesamten
Historie. Die Genealogie hat also Materie und Form mit der
Historie gemein: sie ist ein Teil der Geschichte selbst." J. Chr.
Gatterer, Abriß der Genealogie (Göttingen 1788) § 3.
Zur neuesten Literatur über die Aufgaben der Genealogie. 605
aufrichtig wünschen möchte. Hoffen wir, daß er die angekündigte
Untersuchung über „die Einflüsse der mütterlichen Keimzellen"
auf die „ernestinischen Heldenbrüder aus dem Dreißigjährigen
Krieg" (S. 93) als Archivar und nicht als Arzt führt. —
Vorstehende Kritik des Devrientschen Buches war bereits
geschrieben, als Adolf Hofmeisters Berliner Probevorlesung im
Druck erschien, die das Beste ist, was neuerdings über „Genealogie
und Familienforschung als Hilfswissenschaft der Geschichte"
gesagt wurde.*) Lange hatte die Historie zu den regsamen Be-
strebungen der neueren Berufsgenealogen, Biologen, Soziologen usf.
auf diesem Gebiet geschwiegen. Um so erfreulicher ist es, daß mit
Hofmeister der Genealogie wieder ein akademischer Vertreter
von ausgebreiteten Kenntnissen und klarer Kritik erstand, der
zugleich allgemeiner Historiker ist und, wie schon der Titel der
einleitenden Vorlesung ankündigt, die Genealogie im alten Sinn
als Hilfsdisziplin der Geschichte behandelt wissen will. Ablehnung
und positive Förderung schuldet der Historiker dem augenblick-
lichen Programm der Genealogie zu gleichen Teilen. Beides gibt
Hofmeister, und ich freue mich, im Mißtrauen gegen manche
Punkte dieses Programms mit ihm übereinzustimmen, wenn er
auch sein Urteil über Devrient allzusehr durch die Blume sagt
(S. 467 Note 1).
Auch für Hofmeister ist das Biologische ein nicht mehr
verlierbarer Bestandteil der Genealogie geworden, und er tadelt
an Bernheim und den Arbeiten seiner Schule „die völlige Aus-
scheidung" dieses Gesichtspunktes (S. 485). Wie sich Hofmeister
die Einordnung und Verwerturfg desselben denkt, betonen mit
erfreulicher Deutlichkeit die Worte: „Die Genealogie wird . . .
niemals anders als mit historischen Methoden arbeiten ....
können" (S. 464). Bezüglich der biologischen und soziologischen
Aufgaben der Familienforschung urteilt Hofmeister: „Noch ist
ganz dunkel, ob sich alle die hochgespannten Erwartungen er-
füllen werden, die man heute auf sie setzt" (S. 465). Hofmeister
') Klarer wäre wohl „Genealogie = Familienforschung" :
oder will Hofmeister mit dem letzteren Namen die biologisch-
soziologischen Strömungen insbesondere bezeichnen und relativ
verselbständigen? Größere Entschiedenheit gegenüber diesen
Grundfragen wäre dem Vortrag da und dort zu wünschen.
606 Fritz Kern,
hätte nur noch mehr unterscheiden sollen, wieweit schon hei
die endgültige Unlösbarkeit der von Nichthistorikern der Genea-
logie gestellten Aufgaben erhellt, und wieweit eine Lösung zwar
in ferner Zukunft liegt, aber doch grundsätzlich möglich erscheint.
Noch mehr als es S. 467 Note 1 geschieht, hätte vor der Anwen-
dung sog. biologischer Gesetze durch den Historiker gewarnt
werden können; da liegen doch nicht nur „schwere praktische
Bedenken der Anwendbarkeit", sondern, wie die kritischen
Biologen selbst betonen, überhaupt noch keine von Nichtnatur-
wissenschaftlem einfach übernehmbaren Theorien vor.
Was nun die positiven Leistungen auf echthistorischem
Gebiet betrifft, so sieht Hofmeister natürlich von geschichts-
philosophischen Theoremen im Sinn Ottokar Lorenz' ab (S. 466) ;
an scharfsinnig und kenntnisreich gewählten Beispielen zeigt er
aber etwa folgendes: L Gerade im frühen Mittelalter hat die
Genealogie noch wichtige universalhistorische Aufgaben, weil
die Spärlichkeit der historischen Nachrichten überhaupt einer
verhältnismäßigen Fülle bisher ungenügend durchforschter ge-
nealogischer Notizen gegenübersteht (S, 469 ff.). 2. Außer den
vielen einzelnen Aufschlüssen soll nach Hofmeister die genea-
logische Bearbeitung dieser Zeiträume den allgemeinen Gewinn
bieten, die internationalen Beziehungen der regierenden Schichten
überhaupt erst richtig einschätzen zu lassen (S. 471 ff.). 3. Die
Kontinuität der Familien und Menschengruppen durch lange
Zeiträume zu verfolgen, hat zwar häufig nur soziologischen Wert,
es gibt aber auch Fälle von individuellem historischem Interesse
(S. 475 ff., besonders S. 477 Z. 3 ff.). Dabei stimmt Hofmeister
dem -Urteil Brachets zu, daß die bürgerliche Familienforschung
wegen der Art der Überlieferung nicht auf dieselbe wissenschaft-
liche Höhe gebracht werden könne, wie die der adeligen urtd
besonders die der regierenden Familien (S. 481): „Damit wird
ganz richtig die heute so enthusiastisch betriebene Vererbungs-
geschichte des künstlerischen oder wissenschaftlichen Talents,
sc offenbar die Tatsachen der Vererbung häufig sind, als wenig
hoffnungsreich gekennzeichnet, sofern es sich um Erkenntnisse
grundlegender und prinzipieller Art handelt,"
Die Forderungen und Vorschläge hinsichtlich der Herstellung
wissenschaftlich genügender Stammtafeln und Ahnentafeln
(S. 486 ff.) verdienen größere Beachtung als diese Dinge, gemein-
Zur neuesten Literatur über die Aufgaben der Genealogie. 607
hin finden: Es ist unberechenbar, wie viel exakter wir z. B, Terri-
torialgeschichte des späteren Mittelalters, aber auch internationale
Geschichte desselben Zeitraums schreiben könnten, wenn uns
die familiären Beziehungen der großen und kleinen Dynasten
stets durchsichtig wären. Oft würde sich, namentlich dort wo
unsere Kenntnis nicht auf Geschichtschreibern, sondern Ur-
kunden beruht, eine verwickelte, schwer zu verstehende politische
Situation durch den Nachweis genealogischer Fäden blitzartig
erhellen; unsere heutigen Stammtafeln machen den Nachweis
solcher Beziehungen, wo nicht ein Familienhistoriograph wie der
alte Duchesne zu Hilfe kommt, zur zeitraubenden Sonderarbeit.
Auch die von E. Brandenburg betonte Wichtigkeit (vgl. S. 487)
der Ahnen tafel für die Beurteilung der Persönlichkeiten wird
niemand in Abrede ziehen: wenn auch exakte Feststellungen in
dem Sinn, wie es Devrient bei Bismarck versucht, abzulehnen
sind, so wird die Ahnentafel auf alle Fälle als heuristisches Hilfs-
mittel anregend auf die Charakterforschung wirken. Hofmeister
betont aber, daß Stamm tafeln ein dringenderes Bedürfnis sind
als Ahnentafeln.
Von einer leisen Überschätzung dessen, was die Genealogie
der Universalgeschichte beisteuern könne, scheint mir aber auch
Hofmeister nicht frei: dort nämlich, wo er für das frühere Mittel-
alter universalgeschichtliche Entdeckungen mit Hilfe der Genea-
logie erhofft. Er schreibt (S. 470): „Es gilt vielfach das frühere
Mittelalter für eine Zeit, in der die einzelnen Staaten ein Sonder-
dasein führten und nur gelegentlich in Berührung miteinander
traten. Wer die genealogischen Beziehungen der führenden Fa-
milien kennt, wird schwerlich an dieser Anschauung festhalten."
Dem möchte ich entgegenhalten: Wir haben ja nicht nur mittelr
bare Quellen für die Beziehungen der Staaten, wie z. B. die Ge-
nealogie oder die Handelsgeschichte, sondern auch ganz direkte.
Es genügt, an die Berichte der Gesandten Ottos I. zu erinnern
oder etwa auch an den Reisebericht des derselben Zeit angehörigen
Ibn Jaqub. Was ein Liutprand von Cremona, ein Johann von
Gorze sagen, gibt uns eben den tatsächlichen Gegensatz des
früheren Mittelalters zum späteren, mit dem Einschnitt der
Kreuzzüge. Eine solche innerliche Entferntheit und auch äußer-
lich eine so geringe Vertrautheit der Höfe miteinander, wie sie
alle Berichte dieser Zeit atmen, wird durch keine internationalen
608 Fritz Kern,
Ebenbürtigkeitsehen verändert oder verringert. Man ist heute
nur zu sehr geneigt, diesen Zustand des früheren Mittelalters
wegretuschieren zu wollen, wo man Spuren internationaler Be-
ziehungen findet. Ich möchte für die ganz erstaunlich große Ent-
fremdung benachbarter Völker im 10. und 11. Jahrhundert
doch auch auf das Urteil der Völker selbst, z. B. der Franzosen
über die Deutschen, hinweisen. i) Was für Ost- und Westfranzien
gilt, trifft auch auf das Verhältnis von Germanen und freien
Slawen, Oströmern und Sarazenen usf. zu. Nie war der euro-
päische Völkerkreis loser verknüpft. Einseitige Schlüsse aus den
internationalen Heiraten allein sind gefährlich. Zeitlich nahe-
liegende Anschauung dafür, wie sehr genealogische Beziehungen
ihren historischen Wert erst aus der allgemeinen Geschichte emp-
fangen, bieten z. B. die Verschwägerungen Rußlands mit süd-
deutschen Mittelstaaten, die in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts ein Faktor der innerdeutschen PoHtik gewesen sind
(Württemberg), Ende des Jahrhunderts (Hessen) aber darin nichts
mehr bedeuten konnten. Im frühen Mittelalter nun haben inter-
nationale Verschwägerungen im allgemeinen wenig bedeutet. Das
europäische politische System des 10. und 11. Jahrhunderts ist ein
wesentlich inner nationales: so ist die Genealogie des deutschen
Hochadels, ebenso des französischen usf., voller politischer Motive
und Aufschlüsse. Anders sind im Durchschnitt die internatio-
nalen Heiraten der Herrscherhäuser jener Zeiten zu beurteilen.
Man freute sich, standesgemäße und politisch gefahrlose, weil:
indifferente Ehen schließen zu können, an deren Möglichkeit es
bekanntlich Karl dem Großen für seine Töchter noch gefehlt
hatte. Nicht der Beziehungsreichtum zwischen zwei Staaten,,
sondern eher die Beziehungsarmut scheint also häufig die Ver-
schwägerung zu erklären. Auch der Gedanke, die Inzucht zu
vermeiden, trieb, durch die kanonische Ehegesetzgebung künst-
lich gesteigert, zu fernen Verbindungen. Politische Beziehungen
*) Vgl. meinen Aufsatz »Der mittelalterliche Deutsche in
französischer Ansicht" in Bd. 108 dies. Zeitschrift und W. Remppis^
Die Vorstellungen von Deutschland im altfranzösischen Helden-
epos und Roman (34. Beiheft zur Zeitschr. für. rem. Phil. 1911),.
dazu meine Kritik in der „Zeitschr. für franz. Sprache und Lite-
ratur 1912, S. 6.
Zur neuesten Literatur über die Aufgaben der Genealogie. 609
jSchufen wohl Heiraten; aber nicht überall, wo Heiraten zu-
stande kamen, bestanden wirkliche politische Beziehungen.
Dieser Zustand verschwindet langsam. Seit dem 13. Jahrhun-
dert vor allem wächst sich die europäische Staatenwelt allmählich
in den Zustand der Staaten f a m i 1 i e hinein, d. h. ein eng ver-
flochtenes System der Interessen überspinnt die Länder; etwas
wie ein europäisches Gleichgewicht entsteht. Seit dieser Zeit
wurde der Typus der internationalen Heiratsverhandlungen, die
mit der Politik begannen und endeten, wohl häufiger als der
unpolitische Typus: in Herrschern, die wie Karl von Anjou und
Eduard I. von England für dies Aufkommen des europäischen
Gleichgewichts bezeichnend sind, hat auch die Heiratspolitik
vorbildliche Meister gefunden. Auch ihr deutscher Zeitgenosse,
der Begründer von Habsburgs Größe, versuchte sich auf diesem
Gebiet.i) Tu felix Austria nubel Bei Rudolf von Habsburg über-
trägt das Landesherrentum auch hierin auf die Weltpolitik, was
es in der Territorialpolitik längst geübt hatte. 2) Fortan sind
heiratsfähige Prinzen und Prinzessinnen, im Notfalle sogar Kinder
und nicht selten sogar noch ungeborene, als Versatzstück auf
der politischen Bühne fast unentbehrlich; sie dienen als Pfänder
oder Beglaubigungsmittel für die völkerrechtliche fides. Die
Beurteilung, ob eine Ehe zur politischen oder unpolitischen Gat-
tung gehört, bedingt also erst ihren geschichtlichen Wert: die
Genealogie des früheren Mittelalters wird deshalb, wenn ausge-
baut, zwar schätzbare, doch kaum grundlegende Züge in das be-
stehende politische Bild hereintragen können.
') Vgl. meine „Analekten" I und III, Mitteil. d. Instituts für
österr. Gesch. 30. 31.
') Ein Virtuos der Heiratspolitik, der gleichzeitig, aber ganz
anders, aus dem Territorialen ins Internationale hinauswächst,
ist Otto IV. von Burgund (Kern, Die Anfänge der französischen
Ausdehnungspolitik, 1910, 146 ff.).
610 Erich Missalek,
Die ältesten Formen der slawischen Siedlung.
Von
Erich Missalek.
Bisher fand man stets in Darstellungen der ostdeutschen
Kolonisation die Meinung vertreten, daß die slawische Siedlungs-
weise das Runddorf, der Rundling, gewesen sei, daß die deutschen
Bauern hingegen das Straßendorf (Reihendorf) nach dem Osten
gebracht hätten.
Diese Ansicht wird sich kaum halten können, seit der pol-
nische Historiker Oswald B a 1 z e r sie zum Ausgangspunkt
einer eingehenden Untersuchung gemacht hat, die im 24. Bande
des „Kwartalnik historyczny" (S. 359 — 406) erschienen ist.^)
Er stellt daselbst fest, daß der Rundling bei den Russen und
Südslawen völlig ungebräuchlich, im eigentlichen Polen recht
selten, in Pommern, Schlesien, Ostböhmen keineswegs vorherr-
schend ist; daß seine Domäne sich auf das alte Polabenland,
auf Mecklenburg, die Mark, auf die Lausitz und Westböhmen
beschränkt. Sehr viel häufiger ist bei den Slawen das Straßen-
dorf, bei Südslawen und Russen die ausschließliche Dorfgestalt,
die aber auch in den westlichen Slawenländcrn stark vertreten ist.
Dieses gemeinslawische Reihendorf unterscheidet sich freilich
von dem der deutschen Kolonisten durch die weniger regelmäßige
Lage der Äcker. Eine Urkunde von 1378, die Wladyslaw von
Oppeln, der langjährige Verweser der polnischen Kleinrussen-
lande, ausstellt, sagt: „. . . agri (sc. des slawischen Dorfes) . . .
non in una linea secundum ius Tewtunicum annexivum, sed secun-
dum Rutenorum consuetudinem sparsim et particulatim sunt
distincti.''
Es fehlt auch nicht an Mischtypen. Aber das Reihendorf
ist in allen Slawensitzen vertreten, in den ältesten sogar aus-
schHeßlich; der Rundling nur in den erst später von Slawen
besiedelten nordwestlichen Landen. Das Straßendorf ist gemein-
slawisch, ist älter. Das Runddorf ist eine spätere partikuläre
') Kutrzeba in der 3. Auflage seines „Grundrisses der polni-
schen Verfassungsgeschichte" (Deutsche Übersetzung, Berlin 1912)
nennt diese Abhandlung zwar (S. 240), verwertet sie aber nicht
(S. 6, 35).
Die ältesten Formen der slawischen Siedlung. 611
Schöpfung jener westlichen Stämme, die durch einen jahrhunderte-
lang unterbrochenen Krieg mit den benachbarten Deutschen
dazu veranlaßt wurden. Es ist gewissermaßen ein befestigtes
Dorf: die Häuser dicht aneinandergedrängt, zu einer Kreis- oder
besser Hufeisenform verbunden, die Türen nur auf der Innen-
seite dieses Häuserringes, ringsherum Gärten und Felder, in der
Mitte die Viehplätze; ins ganze Dorf führt nur ein Zugang.
Balzer erörtert weiter die Frage, ob es nicht noch eine ältere
Siedlungsform bei den Slawen gebe als das Reihendorf. Prokop
(De hello Goth. III, 14) sagt von den ihm bekannten Südslawen:
„o/xorff/ öt (f xuXvßaig oixtquic (V<ffrx;ji'ij^t<tVo/ noXhö (.iiv un uX-
AjjXfy»'.'* Daraus läßt sich nur auf Einzelhöfe schließen. Solche
muß es auch noch in späterer Zeit beiden Polen in größerer
Zahl gegeben haben. Balzer erinnert an Dorfnamen „u Kwiatka,
u Sobka" (bei Kwiatek, bei Sobek), die sich nur so erklären
lassen, daß diese Dörfer aus Einzelhöfen hervorgegangen sind.
Auch die Namen auf -öw, owa, -owo (z. B. Dalechöw, Kozlowa,
Gorzkowo) brauchen keineswegs immer auf einen Edelmann
hinzudeuten, der das Dorf begründet hat, sondern sind oft durch
Entstehung aus einem Einzelgehöft zu erklären. Die Urkunde
(Cod. dipi. Mai. Pol. I, Nr. 7), in der 1136 Innozenz II. den Besitz
des Gnesener Erzbistums bestätigt, erwähnt eine „villa . . .
quam tenuit olim Stan arator episcopi". Wir lernen in den Diplomen
des 12. und 13. Jahrhunderts auch eine ganze Anzahl von Sied-
lungen kennen, die gewissermaßen noch in der Entwicklung
zum Dorfe begriffen sind. Von 27 Siedlungen, die 1105 den Bene-
diktinern von Tyniec gehören, sind 7 Einzelhöfe, 6 Doppelhöfe,
.4 haben drei, 8 haben vier, 1 hat sechs und 1 sieben Wirtschaften.
Auf solches Entstehen weisen auch hin die patronymischen Dorf-
namen auf -ice: Kwiatkowice ist das Dorf des Kwiatek und der
Seinen. (Ich füge hinzu, daß in der Urkunde von 1136 im Kra-
kauischen erwähnt wird „Jurevici cum villa eorum".)
Aus alledem ergibt sich für die älteren slawischen Dörfer
eine ziemlich geringe Ausdehnung, die besonders ins Auge fiel,
wenn daneben ein deutsches Dorf entstand; dieses hieß dann
z. B. Groß-Breßnitz, während das ältere als Klein-Breßnitz
oder Wendisch-Breßnitz bezeichnet wurde.
In welcher Weise konnte aus dem Einzelhof ein Dorf ent-
stehen?
612 Erich Missalek,
Balzer beantwortet das auf Grund südslawischer Verhä!
nisse. Dort wohnen in einem Hauswesen öfters Großfamilien von
15—30, 40 Köpfen beisammen. Langt der Raum nicht mehr zu,
so werden Nebenhäuser errichtet, die zwar mit dem Mutterhause
schließlich eine kreisähnliche Figur bilden, aber sich bei alledem
vom Rundling lebhaft unterscheiden. Zudem werden sie meist
nur im Sommer bewohnt. Das alte Haus bleibt der eigentliche
Sitz der Sippe. Wenn aber bei weiterem Anwachsen der Groß-
familie dieser Zustand nicht mehr haltbar ist, so entstehen aller-
dings neue Sippenhäuser selbständig für sich, und diese werden
in der FrontHnie des älteren Haupthauses erbaut. So erwachsen
aus dem Einzelhofe Straßendörfer.
Das Runddorf hingegen kann nicht allmählich entstanden
sein. Wenn der Häuserring nicht von vornherein geschlossen war,
so verfehlte ja die ganze Anlage ihren militärischen Zweck, der
allein ihre Kompliziertheit und Unbequemlichkeit verstehen läßt.
Die Entstehung des Straßendorfes ist also gleichlaufend mit
der Abspaltung jüngerer Großfamilien und dementsprechend der
fortschreitenden Teilung des Landeigens. Eine Urkunde aus der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gibt ein Beispiel: „Sups/
autem, per se volens habere domicilium, divisit se a fratribus et accepit
quartam partem fiaereditatis pro se" (Buch von Andrzejow). Es wohn-
ten also in einem solchen Dorfe schließlich mehrere Großfamilien
nebeneinander, jede von ihrem Vorstande geleitet. Nach dessen
Namen werden sie in den Urkunden bezeichnet, mit dem Zusätze
„cum fratribus, cum filiis et fratribus, cum sociis, cum cognatione".
(In der großen Schenkung für Mogilno [Cod. dipl.M. Pol. I, Nr. 3]
finde ich „cum tota consanguinitate sua".) So dürften denn im
allgemeinen in früheren Zeiten die meisten Dorfgenossen von
gemeinsamen Vorfahren abstammen. Das erklärt wohl die Exi-
stenz eines Dorfhäuptlings, den das Elbinger Buch (13. Jahr-
hundert) als ,,Staroste im Dorfe", den die auf polabische und
lausitzer Zustände bezüglichen Urkunden als „starasse, senior"
bezeichnen. In Steiermark nannte man ihn „zupan" (ein Wort
von sehr verschiedener Bedeutung). Er hatte die Leitung der
gemeinsamen agrarischen Angelegenheiten und eine gewisse
Jurisdiktion, wobei ihn die einzelnen Hausvorstände unterstützten.
Da vor der deutschen Kolonisation von der Bildung wirkHcher
dörflicher Gemeindekorporationen noch nicht die Rede sein
Die ältesten Formen der slawischen Siedlung. 613
kann, so muß wohl das historische Entstehen des Dorfes aus
einem Hause die Existenz jenes Dorfhäuptlings ermöglicht
haben; dieser muß zunächst der Vorstand der ältesten Wirtschaft
gewesen sein. Tatsächlich war auch bei Polaben und Lausitzern
vielfach das Amt des Dorfstarosten in einer Familie erblich.
(In Böhmen sind daraus „nobiles" geworden; vgl. Lippert „Sozial-
geschichte Böhmens" [Wien 1896] S. 201 f., 250 ff .)
In einem Vertrage, den der deutsche Ritterorden 1255 mit
dem Bischöfe von Kulm abschließt, erhalten innerhalb der bischöf-
lichen Dörfer gewisse Befugnisse für die ganze Gemeinde: „Scul-
tetus vel starosta et cum eis aliqui senior es villae." Dieses „vel"
faßt Balzer hier im disjunktiven Sinne auf; der Schultheiß sei
in den Dörfern deutschen Rechtes dasselbe wie der Starost in
den polnischen. Daran knüpft nun der polnische Gelehrte eine
Hypothese, die doch vielleicht ein wenig von seinem nationalen
Empfinden beeinflußt ist. Er sagt folgendes:
„Bekanntlich hat die Kolonisation zu deutschem Recht bei
uns zwei Typen von Siedlungsorganisationen geschaffen, Stadt
und Dorf, beide gestützt auf das Prinzip der Selbstverwaltung,
einer weiteren in den Städten, einer sehr viel engeren in den Dörfern.
Im gleichzeitigen Deutschland besaßen nur die Städte eine Selbst-
verwaltung. Eine solche gab es nicht in den dörflichen Nieder-
lassungen zu jener Zeit: Die deutschen Dorfbeamten, wie sie
auch hießen, Schulze, Meier, Schaffer usw., waren im Grunde
nur Beamte des Herrn. Im Gegensatze zu diesen Verhältnissen
in Deutschland selbst besitzt das Dorf deutschen Rechtes in Polen
eine gewisse Selbstverwaltung mit einem Schultheißen an der
Spitze. Auf diesen charakteristischen Unterschied zwischen der
Dorfverfassung in Deutschland und Polen wurde schon früher
einmal in der deutschen Wissenschaft selbst die Aufmerksamkeit
gelenkt, und zwar von sehr gewichtiger Seite. Woher nahm
man sie in Polen, wenn es eine solche in Deutschland nicht gab?
Meines Erachtens liegt hier d i e Annahme am nächsten, daß
man die Organisation und Stellung des Schultheißenamtes in
den polnischen Niederlassungen deutschen Rechtes, soweit es
möglich war, auf das früher vorhandene Vorbild des polnischen
Dorfstarosten stützte."
Ich glaube, diese Hypothese ist doch etwas gesucht. Zu-
nächst sind unsere Nachrichten über die Bedeutung des Dorf-
614 Erich Missaiek, Die ältesten Formen der slawischen Siedlung.
Starosten und seiner „setiiores" recht kümmerlich. Die oben
zitierte Urkunde von 1255 stammt aus einer Zeit, wo die deutschen
Rechtsbegriffe auch auf die Nichtdeutschen schon großen Einfluß
ausübten. Warum soll denn im Kulmerlande das Verhältnis
zwischen „starosta" und „scuMus" nicht umgekehrt gewesen sein ?
Balzers Theorie von der Selbstverwaltung der polnischen Dörfer
stützt sich unverkennbar auf Analogien mit den Zuständen
anderer Slawenstämme, z. B. der Czechen. Aber die böhmischen
„seniores" sind den deutschen Schöffen völlig unähnlich. Balzer
übertreibt auch, wenn er später behauptet, daß der Ausdruck
„Schultheiß" in Deutschland „etwas anderes" bedeute als in den
Kolonistendörfern. Hier wie dort ist er doch der „grundherriiche
Beamte" und gleichzeitig der „Richter". Es geht doch nicht an,
etwa den Schultheißen des Kolonistendorfes als Kommunal-
beamten aufzufassen. Scultetus ist der Lokator schon, bevor
die Gemeinde überhaupt vorhanden ist. Das geht aus dem Wort-
laute solcher Privilegien doch klar hervor: „ . . . contulimus
plenam potestatem Hermanno sculteto locandi civitatem liberam
in Costozyn iure theutonico" (Cod. dipl. Maj. Pol. I, 296). Auch
wird man nicht behaupten können, daß den Deutschen im 13. Jahr-
hundert die dörfliche Selbstverwaltung etwas völlig Unbekanntes
gewesen sei. Zum mindesten war doch allenthalben die Erinnerung
daran, daß in früheren Zeiten die freien Bauern gemeinsam
gewisse Angelegenheiten ihres Dorfes verhandelten, weit einfluß-
reicher als etwa die Kenntnis von dem slawischen Dorfstarosten
und seinen Seniores.
Literaturbericht.
über das Wesen der politischen Systeme in der Geschichte. Vofr
Dr. Felix Kuberka. Heidelberg, Carl Winter. 1913. 92 S.
Der politische Historiker muß jeden auf ernstem und tieferem
Denken beruhenden Versuch, seiner Wissenschaft einen syste-
matischeren Charakter zu geben, zugleich begrüßen und fürchten.
Denn die Objekte des geschichtlichen Lebens, die er darzustellen
hat, haben wohl eine der systematischen Behandlung zugängliche
Seite und können durch sie aufs interessanteste beleuchtet, aber
nie so umfassend und reich beleuchtet werden, wie es unser histo-
risches Bedürfnis verlangt. Bisher sind diese systematisierenden
Bestrebungen vorzugsweise von kollektivistischer und soziolo-
gischer Grundlage ausgegangen. Wir sind ihnen dankbar für
das, was sie uns zu geben vermochten, aber wir haben uns nicht
veranlaßt gefühlt, uns ihnen ganz zu ergeben und unsere eigene
Flagge zu streichen. In der vorliegenden, höchst anregenden
und gedankenreichen Schrift wird nun der Versuch gemacht,,
vom Boden der politischen Geschichte selbst aus ihr einen höheren
Grad von Begrifflichkeit zu geben, als sie bisher hatte und sie
dadurch vor dem Vorwurfe Lamprechts zu schützen, daß sie zu
sehr im Persönlichen stecken bleibe. Als grundlegende Kate-
gorie sowohl des historischen Geschehens wie des historischen
Denkens bezeichnet K. das ,, politische System", das ungefähr mit
dem zusammenfällt, was Jellinek die „ungeschriebene Verfassung"
eines Staates oder einer Machtorganisation nannte: zweckmäßige
Zusammenfassung, Organisierung und Zentralisierung von aus-
einanderstrebenden geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Kräften
zu größerer und dauernderer Macht. Ein solches zentralistisches
System schuf etwa Otto I. durch die Eingliederung der deutschen
616 Literaturbericht.
Kirche in die Zwecke der Monarchie, und „groß" im historischen
Sinne ist derjenige zu nennen, der aus den vorhandenen Materi-
alien der Zeit ein großes System von Wirksamkeit und Dauer zu
organisieren vermag. Überhaupt sei an den „poHtischen Syste-
men" der Wert der historischen Persönlichkeiten zu prüfen.
Es wird weiter das Verhältnis dieser Systeme zu den Ideen einer-
seits, den ökonomischen Faktoren anderseits auseinandergesetzt,
€S werden die Systeme klassifiziert und die Wechselwirkungen
gleichzeitig nebeneinander bestehender Systeme untersucht;
die letzten Abschnitte erörtern die methodische Bedeutung der
Systeme und das Verhältnis der systematischen Geschichts-
auffassung zur Ideenlehre Rankes.
Grundstürzend sind die Anregungen des Verfassers nicht.
Die Historiker haben tatsächlich doch schon in großem Umfange
mit der Kategorie des „politischen Systems" gearbeitet. Die
Systeme Karls V., Friedrichs des Großen, Napoleons, Bismarcks
sind für uns anschauliche und wohlbekannte Zusammen-
hänge. Wenn man sie, wie es der Verfasser wünscht, noch stärker
in den Vordergrund schieben und um sie herum alles historische
Geschehen gruppieren und die Weltgeschichte als ein Nach-
und Nebeneinander der großen politischen Systeme konstru-
ieren wollte, so würde zweifellos ein nicht nur architektonisch
gegliedertes, sondern auch höchst lehrreiches Bild entstehen.
Aber es wäre doch nur ein Einteilungsprinzip neben anderen
ebenso möglichen und berechtigten, und es dürfte nicht den
Anspruch erheben, das beste oder gar das alleingültige Prinzip
für Auswahl, Bewertung und Gliederung des geschichtlichen
Stoffes zu sein. Es steht damit ähnlich wie mit dem bekannten
Aper9u Rankes, daß man auch einmal die Geschichte nach Gene-
rationen einzuteilen und darzustellen vermöchte. Wir wären
dankbar, wenn es einmal mit der nötigen wissenschaftlichen
Kraft geschähe, aber wir möchten uns dafür bedanken, wenn
die ganze Geschichtschreibung auf diese Linie einschwenken
wollte. So hat auch der Lamprechtsche Versuch, den geschicht-
lichen Stoff nach psychologisch bestimmten Zeitaltern einzuteilen,
seine gute Berechtigung, aber keine Alleinberechtigung. Was nun
die „politischen Systeme" betrifft, so erwachsen sie doch immer
nur auf dem Boden bestimmter Staaten und Nationen oder be-
stimmter Kulturgemeinschaften; sie erfüllen deren Bedürfnisse
I
Allgemeines. 617
und sind Mittel zum Zweck ihres Daseins. Staaten, Nationen
und Kulturgemeinschaften sind und bleiben die konkretesten
und realsten Wesenheiten der Geschichte und geben darum
auch immer die ersten und natürlichsten Einteilungsgründe.
Innerhalb ihres Rahmens darf man auch den „politischen Syste-
men" einen bevorzugten Platz anweisen, aber doch nur so, daß
daneben auch die inhaltlichen Mächte des Lebens, die Ideen,
die sozialen und wirtschaftlichen Kräfte zur vollen Anschauung
gebracht werden. Das ist im Grunde auch die Meinung des Ver-
fassers. Er will mit seiner Empfehlung der „politischen Systeme"
keiner farblosen Schematik das Wort reden, sondern nur ein
geeignetes Gefäß bieten, um die bunte Fülle des historischen
Lebens aufzunehmen.
Ah den einzelnen Urteilen des Verfassers wäre manches
auszusetzen. Wenn er sagt, die Geschichte kenne kein größeres
Gesetz als die Abwandlung und den Wechsel der zentralistischen
(systemschaffenden) und partikularistischen (systemzersetzenden)
Perioden, so verfällt er damit schon etwas dem von ihm doch
nicht beabsichtigten Schematisieren. An der historischen Größe
des Großen Kurfürsten zweifelt er deswegen, weil er sich zu sehr
in die Abhängigkeit von Frankreich begeben habe. Aber diese
Abhängigkeit von Frankreich, über deren realpolitische Zweck-
mäßigkeit und Notwendigkeit man wohl diskutieren kann, be-
rührt in keiner Weise die vom Kurfürsten im Inneren seines
Staates geschaffenen Organisationen der Macht, die ein wirkliches
und dauerndes „politisches System" im Sinne des Verfassers
bildeten. Daß das „politische System" Friedrichs des Großen
im wesentlichen bis 1806 bestanden habe, ist nur mit starker
Einschränkung richtig, denn die eigentliche Sprungfeder dieses
Systems, der Machtgedanke, entartete und versagte nach dem
Tode des Königs.
Freiburg i. B. Fr. Meinecke.
Lehre vom Staat bei den protestantischen Gottesgelehrten
Deutschlands und der Niederlande in der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts. Von Dr. Friedrich Fries. Berlin,
Ehering. 1912. 173 S.
Das Buch gibt eine sehr eingehende Materialsammlung,
ausreichend freilich nur bei den lutherischen Theologen; von den
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15.;Bd. 40
618 Literaturbericht.
Reformierten sind nur ein paar Niederländer, außerdem der
Arminianer Limborcii und der lutherisch beeinflußte deutsche
Reformierte Wendelin herangezogen. Das gibt kein Bild von der
reformierten Ethik, wie der Verfasser der reformierten Geistes-
art überhaupt nicht viel Beachtung schenkt, sondern lieber das
ihr mit den lutherischen Theologen Gemeinsame heraushebt. In
der Darstellung und Auffassung erweist sich der Verfasser als durch
Röscher bestimmt, d. h. als ein Freund der lutherischen Ethik,
der aber ihre Befangenheit in der scholastischen Überlieferung
und ihre wesentHche dogmatische Gebundenheit, ihre Fremd-
heit gegen die eigentlich politische Lebenskenntnis und gegen
alle Hauptzüge des modernen Staatsbegriffes nicht verbirgt.
Sein Ergebnis ist: die lutherische Staatsethik ist einfache Fort-
setzung und protestantische Modifizierung der scholastischen
Theorien, ganz und gar ideologisch gedacht als ethisch-dog-
matische Anforderung an Bürger und politische Gewalten, dem
Zuge der Zeit zum Absolutismus eng verwandt, aller Demokratie
feindselig, die herrschende Gewalt verherrlichend, gegen Ver-
fassungs- und Organisationsprobleme indifferent, den Staat
überhaupt nur als Stand innerhalb der staatlich-kirchlichen
Lebenseinheit der christlichen Gesellschaft behandelnd, die
herrschende Gewalt als von Gott eingesetzt betrachtend, Ent-
stehung und Wesen des Staates wesentlich utilitarisch auffas-
send, gegen die Bedeutung der wirtschaftlichen und sozialen
Unterlagen des Staates gänzlich blind. Es fehlt ihnen über-
haupt noch ein besonderes Wort für den Staat. Er ist coetus
hominum, allenfalls res publica; Status politicus bezeichnet nur
den Stand und Beruf der Obrigkeiten innerhalb der Christen-
heit. Der profane Sprachgebrauch der Zeit ist also bei ihnen
noch nicht durchgesetzt. Ihre Beweisführung ist gemischt aus
biblisch-alttestamentlichen, naturrechtlichen und positiv-recht-
lichen Begründungen, vor allem berufen sie sich auf die patriar-
chalische Gewalt des Hausvaters und auf die Entstehung des Staates
aus der Familie. Von der konkreten Beschaffenheit des sie um-
gebenden Staates nehmen sie wenig Notiz; die profanen Autoren
beachten sie wenig und nehmen aus ihnen nur den Souveränitäts-
begriff heraus. Jeden Gedanken bürgerlicher Gleichheit und
Rechtsgleichheit bekämpfen sie bis zur Verteidigung der Sklaverei.
Ihre Ethik ist absolut patriarchalisch. Den Krieg und das Bündnis-
Allgemeines. 619
recht kennen sie nur zu Zwecken der Verteidigung, ein Wider-
standsrecht nur, soweit das positive Recht die etwaigen Mit-
teilhaber der Gewalt dazu berechtigt. Gegenüber dem Steuer-
druck ermahnen sie zur Geduld und pünktlichen Bezahlung,
die Fürsten fordern sie zu gerechter Milde auf. Das Strafrecht
leiten sie von Gott her als ein dem vicarius Dei zustehendes Recht,
das Zivilrecht sehen sie als im Sündenstande berechtigt an und
rechtfertigen auch den Eid als unentbehrliches Mittel dieser Justiz.
Kurz, es ist eine sehr kindliche Vorstellung von der Obrigkeit,
deren Wesen es ist, gerechte Gesetze zu geben, die Untertanen
christlich zu behandeln und für Ruhe und Gedeihen zu sorgen.
Der Untertan wird wesentlich zum Gehorsam ermahnt, auch
gegen gottlose Fürsten. Gegenüber der radikalen Durchsetzung
christlicher Gesellschaftsideale in den Sekten wird die Scheidung
zwischen Privatmoral und staatlicher Berufsmoral betont, welch
letztere unter den Bedingungen des Sündenstandes anderen
Gesichtspunkten unterliegt als die privat-persönliche. Inter-
essant ist die Bemerkung verschiedener Dogmatiker, daß auch
ohne Sündenfall ein patriarchalisches Herrschaftsverhältnis wie
in der Familie so auch in der politischen Gemeinschaft einge-
treten wäre. So ferne liegt dem Luthertum der Gedanke an die
freie selbstverantwortliche Persönlichkeit. Es ist geradezu der
Gedanke, den sie überall von der politischen Ethik grundsätz-
lich auszuschließen suchen, während sie auf religiösem Gebiet
die Gleichheit zugeben, freilich nicht die Freiheit. Die Folge
der Gleichheit aller vor Gott ist vor allem das Recht, auch Fürsten
und Vornehme moralisch durch die Prediger zu tadeln und das
Recht des Nominal-Elenchus, das ohne Ansehen der Person soll
gebraucht werden dürfen. Von Rechtsstaat, Nationalstaat,^
Vaterlandsgefühl ist nicht die Rede; auch nicht vom Kultur-^
Staat, da alle Unterrichtspolitik im Dienste der Kirche steht.
Es ist vielmehr die von der weltlichen Obrigkeit im Dienste des
Evangeliums geleitete christliche Gesellschaft, wo nichts Welt-
liches einen Zweck in sich selber trägt. Alles Weltliche dient
der Kirche, für die ja auch die Bewahrung und Aufrechterhal-
tung der physischen Existenz der Menschen weltliche Voraus-
setzung ist.
Auffallend ist die Ähnlichkeit dieser Staatslehre mit dem
Augustin vorschwebenden Ideal. Sie sieht aus wie eine Kor-
40*
620 Literaturbericht.
rektur des Thomismus aus dem Augustinismus. Jedenfalls isl
es eine rein papierene Konstruktion aus der Welt der Bücher,
von geringer Berührung mit dem politischen Leben. Leider
ist der Verfasser beiden Fragen nicht näher nachgegangen.
Bei den Reformierten stellt der Verfasser den gleichen Zug
zum Patriarchalismus und zur ständischen Ungleichheit fest.
Im übrigen konstatiert er hier eine stärkere Lösung und Ver-
selbständigung des Staatsbegriffes gegenüber der Theologie und
eine größere praktisch-politische Schulung und Einsicht der
Theologen.
Schade ist, daß der Verfasser diese Ansichten nicht aus denen
der gleichzeitigen Juristen und Kameralisten beleuchtet hat.
Erst so ergäbe sich ein Bild von dem politisch-ethischen Denken
jener konfessionellen Territorien. Erst bei ihnen kommen die
religiösen Voraussetzungen in Kontakt mit dem realen Leben.
Die Theologen sind zu sehr unpraktische Ideologen, sie geben
im Grunde nur allgemeine moralische Betrachtungen und diese
im konventionellen Stil uralter theologischer Überlieferung.
Heidelberg. Troeltsch.
Die Anfänge der Beginen. Ein Beitrag zur Geschichte der Volks-
frömmigkeit und des Ordenswesens im Hochmittelalter [so!].
Von Dr. Joseph Greven, Kaplan an St. Paul in Düssel-
dorf. (= Vorreformatorische Forschungen Bd. 8.) Mün-
ster i. W., Aschendorff. 1912. XV u. 227 S. 5,50 M.
Das vom Verfasser behandelte Problem ist eines der schwie-
rigsten der mittelalterlichen Kirchengeschichte; es hat immer
wieder die Forscher angelockt und zu den verschiedenartigsten
Lösungsversuchen Anlaß gegeben. Ich selbst glaubte bei der
von mir in der Realenzyklopädie für protestantische Theologie
und Kirche IP, S. 516f. und XI, S. 225 ff. gegebenen Über-
sicht über den derzeitigen Stand der Forschung die Stiftung
der Beginenvereinigungen durch den Priester Lambert le Bfegue
als endgültig erwiesen bezeichnen zu dürfen. Der Verfasser hat
erfreulicherweise von neuem den Spaten angesetzt und die Früh-
geschichte des Beginenwesens auf Grundlage einer außerordent-
lich ausgebreiteten Benutzung und Kritik des weitschichtigen,
ziemlich schwer erreichbaren Quellenmaterials zum Gegenstand
einer eindringenden Forschung gemacht. Diese kommt zum
Mittelalter. 621
Ergebnis, daß nicht schon Lambert, als er um die Mitte des
12. Jahrhunderts im Kampfe mit weiten Kreisen des Lütticher
Klerus stand, den Anstoß zur Bildung der Beginengenossen-
schaften gegeben hat, sondern erst die starke religiöse Bewegung,
die sich zu Anfang des 13. Jahrhunderts im Lütticher Sprengel
bemerkbar machte. Wenn man nun aber doch schon damals
die von jener religiösen Bewegung erfaßten Lütticher Frauen
als „Beginen" nach dem Namen des Lambert le B^gue (f 1177)
bezeichnete, so erklärt dies Greven damit, daß der Name „Be-
gine" schon in jener Zeit schlechthin die Bedeutung „Ketzerin'^
angenommen hatte und deshalb von den Lütticher Klerikern
den von ihnen angefeindeten frommen Frauen und Mädchen
ohne Beziehung auf die Person Lamberts von Lüttich beigelegt
wurde. Diese neue Hypothese hat sicherlich viel für sich, wenn
sie auch nicht alle Schwierigkeiten beseitigt. Sehr dankenswert
sind auch des Verfassers Nachweise der allmählichen Entwick-
lung des Beginenwesens zu einer eigenen neuen Genossenschaft
und die Darlegung der geschichtlichen Voraussetzungen, die die
Entwicklung jener eigenartigen weiblichen Frömmigkeit ermög-
licht haben. Die Arbeit ist ein Muster sorgfältiger und vor-
sichtiger Forschung und macht ihrem Verfasser, einem Schüler
von H. Schrörs, alle Ehre.
Gießen. Herman Haupt.
Les Papes d'Avignon (1305—1378). Par G. Mollat, (Bibliotheque
de l'enseignement de l'histoire eccle'siastique.) Paris, Le-
coffre. 1912. XV u. 423 S. 3,50 Fr.
In mehr als einer Richtung erhält man bei diesem Buch er-
freuliche Eindrücke. Erfreulich ist zunächst schon der Eifer
und Erfolg, mit dem die Studien über das spätere Mittel-
alter neuerdings betrieben werden. Als ich vor 10 Jahren
den ersten Versuch einer zusammenfassenden Schilderung des
Papsttums von Avignon unternahm, befand ich mich meistens
auf unbebautem Boden. Wie anders das heute ist, davon
zeugt in diesem Buche schon die reiche, ja überreiche Biblio-
graphie, der man nur etwas mehr Gleichmäßigkeit und strengere
Ordnung wünschen möchte. Wie darf z. B. in dem Kapitel
über die päpstliche Kanzlei der Hinweis auf Breßlaus Handbuch
622 Literaturbericht.
der Urkundenlehre fehlen? Davon zeugt aber noch mehr der
hihalt selbst. In der klaren, immer präzisen Sprache, die der
Vorzug der französischen Wissenschaft ist, erhält man hier ein
wohlabgerundetes, im ganzen vollständiges und anschauliches
Bild von der Geschichte des französischen Papsttums, von seiner
kirchlichen Wirksamkeit (1. Buch), seinen politischen Bestre-
bungen" (2. Buch), seiner Organisation und Verwaltung (3. Buch).
Die Darstellung ist zum größeren Teil Zusammenfassung fremder
Arbeiten und als solche schon sehr willkommen, bietet aber
an manchen Stellen auch mehr. Mit Quellen und Literatur ist
der Verfasser im allgemeinen sehr gut vertraut, zahlreiche Kapitel
beruhen offenbar auf gründlichen eigenen Studien. Obwohl
ein Handbuch für Studium und Unterricht, enthält das Buch
doch manche Seite, die als künstlerische Darstellung auch hohen
Ansprüchen genügt. Die Geschichte des Templerprozesses,
die Rückkehr Gregors XL sind besonders gelungen. Anderes
freilich ist nicht ganz auf der Höhe, am wenigsten das, was von
den Beziehungen zu Deutschland handelt. Hier weist sogar die
Bibliographie starke Lücken auf. Bei Ludwig dem Baiern
vermißt man den Hinweis auf Riezlers Geschichte Baierns, wie
auch auf wichtige Spezialuntersuchungen, wie die von Friedens-
burg, Sievers, Priesack. Auch die Darstellung ist an dieser Stelle
weniger klar, zum Teil geradezu schief und unrichtig. Die Ver-
handlungen Ludwigs mit der Kurie scheinen mir durchaus nicht
zutreffend wiedergegeben, das noch immer ungelöste Problem
der Prokuratorien ist zu obenhin behandelt (weder die ältere
Untersuchung von Rohrmann noch die neueste von Zeumer
werden erwähnt), das päpstliche Reichsvikariat wird gar nicht
besprochen. Vollends was über Karl IV. gesagt wird — genau
zwei Seiten! — ist ganz ungenügend, abgesehen davon, daß der
Verfasser auch hier die neuesten Studien über die Goldene Bulle,
voran die Monographie von Zeumer, nicht zu kennen scheint.
Die Flüchtigkeit fällt hier um so mehr auf, weil der Verfasser
anderswo des Guten eher zu viel tut. So sind die Abschnitte
über den Prozeß des Bischofs von Cahors unter Johann XXII.
und über die Ordensreformen Benedikts XI L entschieden zu breit
ausgeführt. Auf Einzelheiten möchte ich nicht zu viel eingehen;
aber die Darstellung, die von der Politik Benedikts XII. gegen-
über Frankreich gegeben wird — sie ist sehr abhängig von dem
Mittelalter. t)23
schlechten Buche von Deprez, Les präiminaires de la guerre de
Cent ans (1902) — kann man doch nicht ohne Verwahrung hin-
gehen lassen. Daß Philipp der Schöne durch den Ausgang des
Templerprozesses „grausam enttäuscht" worden sei (S. 249),
wird auch schwerlich jemand glauben. Bekam er doch für die
Herausgabe der Templergüter, die er 6 Jahre lang für sich genutzt
hatte, von den Johannitern noch 200 000 Livres ausbezahlt.
Daß sich hinter dem „comte Lando" und „Bongard" (S. 151, 155)
zwei deutsche Kondottieren, Lutz von Landau und Manschen
Baumgarten verbergen, werden nicht alle Leser erraten.
Die stärksten Bedenken dürfte die Anordnung des Stoffes
hervorrufen. Er ist über die ganze Periode von Klemens V.
bis Gregor XL (1305 — 1378) in die drei oben bezeichneten Gruppen
eingeteilt, was man allenfalls verstehen könnte. Das 2. Buch, das
die Politik der Päpste gegenüber weltlichen Mächten darstellt,
gliedert sich wiederum in 5 Kapitel, die der Reihe nach die Be-
ziehungen zu Italien, Deutschland, Frankreich, England, Spanien
behandeln, jedes ebenfalls über den ganzen Zeitraum hinweg.
Es liegt auf der Hand, daß dabei die Einheit der einzelnen Papst-
regierungen ebensowenig zur Geltung kommt wie der Gegensatz,
•der zwischen einigen von ihnen (Benedikt X 1 1. gegen Johann XX IL,
Klemens VI. gegen Benedikt XII.) besteht. Der Verfasser mag
2u seiner Disposition durch den Zweck seines Buches geführt
worden sein. Aber mir scheint, dieser Zweck hätte auch bei
«iner mehr dem Stoff angepaßten Ordnung nicht unbedingt zu
leiden brauchen. Daß die italienische Politik von der deutschen
getrennt wird, ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen.
Das zeigt schon der Titel des 2. Kapitels: la Papauti et l' Empire.
Was wäre denn das Empire, wenn nicht die deutsche Herrschaft
in Italien? So wirkt auch der Römerzug Ludwigs des Baiern,
von dem Zusammenhang der italienischen Dinge abgelöst, gar
nicht verständlich. Ebenso verliert der ganze Pontifikat Gre-
gors XL seinen eigentümlichen Charakter, weil die Politik dieses
Papstes, vor allem die Rückkehr nach Rom, nur aus dem Zu-
sammenhang seiner Beziehungen zu Frankreich auf der einen,
England und Deutschland auf der andern, den italienischen
Staaten auf der dritten Seite zu begreifen ist. Diesen Zusammen-
hang herzustellen überläßt der Verfasser dem Leser — ein Fehler,
der gerade bei einem Handbuch für Studierende bedenklich ist.
624 Literaturbericht.
Der Verfasser verwahrt sich im Vorwort gegen jede Tendenz^
und man wird ihm die ernste Absicht, rein sachlich zu erzählen
und zu urteilen, gern glauben. Nichtsdestoweniger ist es un-
verkennbar, daß er manche Personen und Dinge günstiger be-
urteilt als sie verdienen. Johann XXII. ist sicher nicht der
Gemütsmensch gewesen, Klemens VI. nicht der Biedermann,,
die der Verfasser uns vorführt. Klemens V. war auch nicht weich'
und versöhnlich, sondern eher böse und schwach. Auch die
Schilderung Gregors XI. (S. 122) mutet etwas offiziös rosenfarbig^
an. Der Bericht über das Ende Johanns XXII. ist sogar ein-
fach der offizielle, mit dem man nach dem Tode des Papstes,,
der unter der Anklage der Ketzerei gestorben war, die Welt zu
beruhigen und zu täuschen suchte. Ist der Verfasser hier zu milde,,
so hat er für anderes nicht das Verständnis, das man wohl er-
warten dürfte. Dies gilt von seiner Schilderung des Armuts-
streits. Der letzte Grund der Feindschaft zwischen Johann XX IL
und den Minoriten scheint ihm nicht klar geworden zu sein,,
wie er denn die tiefe Bedeutung des religiösen Armutsideals
offenbar nicht erfaßt hat. Daß die avignonesischen Päpste
nur ihr eigenes Interesse verfolgten, wenn sie Frankreich dienten
(S. 266), wird man außerhalb Frankreichs nicht leicht glauben.
Das Interesse der Gesamtkirche ist jedenfalls darüber zu kurz ge-
kommen, daß ihr Oberhaupt nicht mehr unabhängig unter den
Großmächten, geschweige denn über ihnen dastand. Der Ver-
fasser scheint selbst zu fühlen, daß dieser Punkt nach Recht-
fertigung verlangt. Würde er sonst wohl seine Darstellung,
statt mit einem Ausblick, mit einem richtigen Plaidoyer schließen,,
das man doch nur als Ausdruck seiner subjektiven Ansicht gelten
lassen kann? Denn daß die französischen Päpste von dem Vor-
wurf der Dienstbarkeit gegen Frankreich reingewaschen seien,,
abgesehen von einigen Einzelfragen und einzelnen Personen
wie Klemens V. und Benedikt XII., bei denen „allein der Tadel
noch verdient scheinen kann" (S. 400: ce reproche peut seule-
ment encore sembler mirite), — das ist doch einfach nicht richtig.
Ebenso wenig richtig wie die Behauptung (S. 401), die Avignonesen
hätten sämtlich die Rückkehr nach Rom erstrebt. Von Bene-
dikt XII. bis Innozenz VI. (1335—1362) ist davon schlechter-
dings keine Rede. Da scheint der Verfasser doch nicht
nur, da hat er wirklich nicht vermocht, sich die erforderliche
Reformation. 625
Unbefangenheit des Urteils zu erwerben, die die Dinge sieht,
wie sie sind, nicht wie wir wünschten, daß sie wären.
Trotz der gerügten Mängel bleibt das Buch höchst nützhch
und verdienstvoll. Wer es als Kenner zur Hand nimmt, wird
immer noch viel daraus lernen können, und wer erst in das Studium
des 14. Jahrhunderts einzudringen wünscht, dem wird es über-
all ein bequemer, meist ein guter, mitunter ein ausgezeichneter
Führer sein. Es gibt vielleicht zu denken, daß in Frankreich
solche Bücher für Unterricht und Studium geschrieben werden,
und daß es geistliche Kreise sind, die sich vornehmlich darum
bemühen. Geschichtliche Lehrbücher von dem Range des hier
besprochenen wünschten wir in Deutschland wohl mehr zu be-
sitzen.
Gießen. Malier.
Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer 1509 bis
1567. Herausgegeben von der Badischen Historischen Kom-
mission (Bd. 3: in Verbindung mit dem Zwingli-Verein zu
Zürich), bearb. von Traugott Schieß. 3 Bde. XLVIII, 884;
XVII, 914; XX, 936 S. Freiburg, Fehsenfeid. 1908—1912.
Die Anregung zu dieser zu glücklichem Abschluß gekom-
menen großen Publikation kam von der Herausgabe der Vadiani-
schen Briefsammlung her; die gleichen Bände, denen jene wert-
volle Korrespondenz entnommen war, bargen noch Kostbareres,
den größten Teil des Briefwechsels der beiden Konstanzer Refor-
matoren Ambrosius und Thomas Blarer (über die Schreibweise
Blaurer oder Blarer hat sich eine kleine Debatte zwischen Schieß
und den Württembergern, vorab Bessert und Keidel, erhoben;
Seh, dürfte im Unrecht sein; vgl. das abschließende Votum von
Keidel in den Blättern für württemb. Kirchengeschichte 191 1). Die
Badische Historische Kommission als die zunächst berufene nahm
die Sache in die Hand; der Kirchenhistoriker Hans v. Schubert
überwachte den Druck. Man wollte sich zuerst auf die Jahre 1509
bis 1548 beschränken, da damals infolge des Konstanzer Sturmes
die Gebrüder Blarer die Vaterstadt verlassen mußten, doch ge-
lang nach Abschluß des zweiten, schon mit einem Register ver-
sehenen Bandes dank der Unterstützung durch den Zwingli-Verein
in Zürich, der mit Recht die Publikation als eine, wenn ich so
sagen soll, halb schweizerische Aufgabe ansah, den Endpunkt
^26 Literaturbericht.
bis zum Tode der beiden Brüder hinauszuschieben. So haben wir
ein vollendetes Ganzes vor uns. Um den Umfang, der schon jetzt
sehr erheblich ist, nicht allzu stark werden zu lassen, sind weniger
bedeutsame Stücke in Regest gegeben. Das hat, wie namentlich
Kolde in den Beiträgen zur bayerischen Kirchengeschichte
hervorhob, seine Nachteile, man kann in die Lage kommen,
gerade auch für solche Stücke — ein Maßstab, der untrüglich
wäre, was denn weniger bedeutsam ist, existiert ja nicht — den
Wortlaut zu benötigen, aber man muß anerkennen, daß Seh.
sehr gewissenhaft die Auszüge anfertigte. Viel schmerzlicher
berührt die Knappheit der Anmerkungen; sie sind zwar weit aus-
führlicher als die der Vadianischen Briefsammlung, die den
Suchenden fast völlig im Stich läßt, aber sie lassen doch noch
zu viel unerklärt. Mir scheint hier die von Egli in der Zwingli-
Korrespondenz gebotene Gründlichkeit, die seine Nachfolger,
Finsler und der Unterzeichnete, tunlichst weiterzuführen sich be-
mühen, vorbildlich zu sein, so schwierig sie auch ist. Ein gut er-
läuterter Brief liest sich ganz anders! Daß die Literaturangaben
oft mit veraltetem Materiale arbeiten, hängt wohl mit dem kleinen
Bestände an neuerer Literatur in der S. Galler Vadiana, wo
Seh. arbeitete, zusammen. Da diese wichtige Fundgrube in der
Regel übersehen wird, darf ich hier wohl darauf hinweisen, daß
Johannes Ficker im 2. Bande seiner mit 0. Winckelmann heraus-
gegebenen Handschriftenproben eine Fülle von biographischem
Material zur Geschichte der Straßburger Reformation mühsam
zusammengetragen hat; es ist Seh. entgangen.
Einzelheiten oder gar Ergänzungen und Korrekturen zu der
Edition aufzuführen, ist innerhalb der hier gesetzten Raum-
schranken unmöglich. Die Blarer-Korrespondenz erstreckt sich
so ziemlich auf alles, was in den betreffenden Zeitraum hinein-
fällt, bald in kurzen Bemerkungen, bald in längeren Ausführungen;
die guten Einleitungen von Seh. und die Inhaltsangaben über den
Briefen erleichtern die Orientierung. Für die älteste Periode sind
die Stimmungsbilder aus der Blarerschen Familie und dem
Wittenberger Melanchthonkreise charakteristisch, sowie die Wand-
lung des Ambrosius Blarer vom Mönche zum Anfänger der Refor-
mation. Dann folgt die Reformationseinführung in Konstanz,
die Verbindung mit Zürich und Bern. Gegen Ende des Jahres
1528 beginnt die auswärtige reformatorische Tätigkeit des Am-
Napoleonische Zeit. 627
brosius Blarer, hinter dem der Konstanzer Bruder Thomas
zurücktritt; er wirkt in Memmingen, Bischofszeil, Herisau u. a.
Der Lutheraner vollzieht allmählich eine Hinneigung zu Zwingli,
ohne doch ganz den lutherischen Ausgangspunkt vergessen zu
können. Beweis dafür ist die Abendmahlskontroverse, für deren
Verständnis die vorliegende Publikation wertvollstes Material
bietet; es sei nur daran erinnert, daß H. v. Schuberts neue Dar-
stellung der Marburger Disputation sich zum guten Teil auf der
Blarer-Korrespondenz aufbaut. Seine Stellungnahme im Abend-
mahlsstreit hat Blarer auch den Ruf nach Württemberg ver-
schafft, doch ergaben sich bekanntlich gerade hier die größten
Schwierigkeiten, man gewinnt aber aus den Briefen allen Respekt
vor Blarers Wirksamkeit als Organisator an der Tübinger Uni-
versität und im Lande. Seit 1538 ist Blarer wieder daheim in
Konstanz; das gibt Gelegenheit, in der Korrespondenz wie in
einem Zeitspiegel die reformatorische und allgemeine Politik
beobachten zu können. Der Zusammenbruch der Konstanzer
Reformation 1548 eröffnet die letzte Periode in Blarers Leben,
die ihn wesentlich auf schweizerischem Boden zeigt.
Es sind in Summa 2938 Briefe, die Seh. mitteilt. Man kann
wohl sagen, daß die gesamte deutsche Reformationsgeschichte
durch sie eine neue und helle Beleuchtung erfährt. Gute Register
ermöglichen eine rasche Ausnutzung. Aufmerksam gemacht sei
noch auf die Briefe Bucers an Margaretha Blarer, die die edle
Schwester der beiden Reformatoren näher kennen lehren. —
Unmittelbar nach Abschluß dieser großen Arbeit hat der Züricher
Zwingli-Verein Seh. mit der Herausgabe der Bullinger-Korrespon-
denz beauftragt. Er ist dazu der geeignetste, und seine Wahl die
wohlverdiente Anerkennung seiner Ausgabe der Blarer-Korre-
spondenz.
Zürich. H^. Köhler.
1805. Der Feldzug von Ulm. Von KrauB, k. u. k. Generalmajor.
Mit 32 Beilagen, darunter 24 Skizzen. Wien, Seidel & Sohn.
1912. 594 S.
Der Feldzug von Ulm ist ein ungemein interessanter Feldzug.
Nur wenige kleinere Gefechte fanden statt. Ohne" Schlacht
wurde der Feldzug von dem „Schlachtenkaiser" entschieden, und
628 Literaturbericht.
zwar so gründlich, wie kaum ein anderer Feldzug. Zum erstenmal
stand Napoleon, der bisher nur kleinere Armeen ins Feld geführt
hatte, an der Spitze einer Heeresmacht von über 200 000 Mann.
Man hat daher mit Recht in diesem Feldzuge den Beginn des
modernen großen Krieges erblickt. Die Verpflegung solcher
Massen und die rückwärtigen Verbindungen erforderten daher
eine ganz andere Vorsorge, als man bisher gewohnt war. Die ein-
gehenden Maßnahmen Napoleons für die Verpflegung und die
Einrichtung seiner Etappenlinie sind äußerst interessant und
vom Verfasser sorgfältig bearbeitet. Wir machen besonders
auf diese lehrreichen Abschnitte aufmerksam. Mit dem Schlag-
wort: „Vom Lande leben", kam man nicht mehr durch, mehrfach
wurde die Rücksicht auf die Verpflegung bestimmend für die
Operationen.
Die äußerst sorgfältige, gründliche und ausführliche Be-
arbeitung des Feldzugs durch Generalmajor Krauß beruht einer-
seits auf dem französischen Quellenwerk von Alombert et Colin,
La campagne de 1805 en Allemagne, anderseits auf der dem Ver-
fasser zugestandenen Benutzung der Akten des k. u. k. Kriegs-
archivs. Sie sind nach Angabe des Verfassers zwar nicht lückenlos,
bieten aber doch einen genügenden Einblick in die Ereignisse
und deren Veranlassung. So konnte zum erstenmal eine auf den
Kriegsarchiven beider Parteien beruhende Darstellung der Er-
eignisse geboten werden, die geeignet ist, als Grundlage für das
kriegsgeschichtliche Studium dieses Feldzuges zu dienen. Es
zeigte sich dabei hier, wie auch in anderen ähnlichen Fällen,
daß man bisher über manche Begebenheiten, Absichten und
Entschlüsse der Führer ungenügend unterrichtet war und sie
daher auch irrtümlich beurteilt hat. Ein Punkt verdient in dieser
Beziehung besonders hervorgehoben zu werden. Die nach den
Originalbefehlen gegebene Darstellung läßt erkennen, daß die
bisherige Auffassung, Napoleon habe bei Beginn des Rhein-
überganges durch die Korps Lannes und Murat im Schwarzwald
demonstrieren lassen, um, gedeckt und gesichert durch diese
Demonstration, mit der Hauptkraft den Schwarzwald zu um-
gehen, unrichtig ist. Man hat diese Verwendung des Kavallerie-
korps bisher als ein großartiges Beispiel der Verschleierung hin-
gestellt. Tatsächlich hat Napoleon im Schwarzwald gar nicht
demonstrieren wollen. Eine solche Demonstration hätte doch
Napoleonische Zeit. 629
auch erfordert, daß Lannes und Murat durch den Schwarz-
wald hindurch etwa bis an den oberen Neckar vorgegangen
wären und sich dort erst in Richtung auf Stuttgart dem An-
marsch der Hauptkräfte angeschlossen hätten. Auch das längere
Verweilen der Korps Lannes und Murat bei Rastatt und Straß-
burg war nicht beabsichtigt gewesen und hatte besondere Gründe,
war aber geeignet, beim Gegner den Anschein zu erwecken, als
sei der französische Marsch durch den Schwarzwald geplant.
Sehr eingehend bearbeitet und auf österreichischer Seite
sehr scharf beurteilt sind die inneren Zustände der Armee und
der Dienstbetrieb im Felde. Dieser Abschnitt ist sehr lehrreich.
Auffallend ist, wie ungleich zu den verschiedenen Zeiten die
Führer über den Gegner unterrichtet waren. Manchmal lagen
überraschend genaue und zutreffende Nachrichten vor, die man
aber fast alle nicht der aufklärenden Tätigkeit der Kavallerie,
sondern Kundschaftern und Aussagen von Landleuten verdankte.
Zu anderen Zeiten war man wieder völlig im dunkeln, wenn die
genannten Quellen versagten. Es lag dies auf französischer
Seite an der Verwendung der Kavallerie. Auch hierüber hat K.
sehr eingehende und lehrreiche Untersuchungen angestellt. Die
schwere Kavallerie war zur Aufklärung wenig geeignet und wurde
auch, wie schon ihr Name „Reservekavallerie" andeutet, für den
Kampf zusammengehalten. Die eigentliche Aufklärungskavallerie,
aus der leichten Kavallerie bestehend, war auf die Armeekorps
verteilt und diente infolgedessen mehr den beschränkteren Zwecken
der Korpsführer als den weiter gesteckten Zielen des Armee-
führers. Den Kavalleriemassen Murats mußte wiederholt zur
Aufklärung leichte Kavallerie zugeteilt werden, die den Armee-
korps entnommen wurde.
In sehr günstigem Lichte erscheint der nominelle Führer
der österreichischen Armee, Erzherzog Ferdinand. Es ist auf-
fallend, welches klare, natürliche und einfache militärische Urteil
der 24 jährige Erzherzog gegenüber den phantastischen Plänen
Macks hatte. Daß ein Mann wie Mack es verstanden hatte, die
maßgebenden Kreise so für sich zu gewinnen, daß ihm neben
dem Erzherzog der tatsächliche Oberbefehl übertragen wurde,
erscheint kaum begreiflich. Nachdem man nunmehr auf Grund
des Kriegsarchivs über alle Vorgänge genau unterrichtet ist,
muß das Urteil über ihn noch vernichtender ausfallen als bisher.
630 Literaturbericht.
Das vorliegende Buch ist ein gediegenes, gründliches, militär-
wissenschaftliches Werk, dem wegen seiner quellenmäßigen Unter-
lage sowohl wie wegen der an die Schilderung der Ereignisse
angeknüpften freimütigen kritischen Betrachtungen ein beson-
<lerer Wert beizulegen ist. Sehr übersichtliche Skizzen erleichtern
das Studium. x.
Kaiser Konstantin und die christliche Kirche. Von Eduard Sdiwartz.
Leipzig, Teubner. 1913. VII u. 171 S. 3 M.
Das Büchlein, das Ed. Schwartz diesmal aus seinen Frank-
"Tfurter Hochstiftvorträgen gestaltet hat, faßt die tiefgrabenden
kirchengeschichtlichen Forschungen seiner letzten Jahre im runden
Bilde zusammen. Es glänzt durch dieselben Eigenschaften wie
seine Vorgänger: überall Selbstgedachtes, persönlich Empfundenes
und dazu eine seltene Kunst, bei knappster Fassung doch an-
schaulich zu reden. Demgegenüber ist der Berichterstatter in
mißlicher Lage. Es ist schlechthin unmöglich, den Inhalt so
wiederzugeben, daß der Leser den ganzen Reichtum der ge-
botenen Anregungen empfände. Ich muß mich begnügen, die
Grundlinien hervorzuheben und dabei das Wichtigste der neu
vorgetragenen Auffassungen anzudeuten.
Um den geschichtlichen Hintergrund zu gewinnen, schildert
Ed. Schwartz zunächst das Kaisertum und die christliche Kirche,
so wie Konstantin sie beides vorfand. Beim Kaisertum ist Seh.
vor allem bemüht, den Unterschied zwischen Diokletians und
Konstantins Monarchie scharf ins Licht zu setzen. Er betont
nachdrücklich die rückwärts gewandten Züge in Diokletians
Schöpfung: Diokletian faßt seine Stellung noch als ein Amt,
während Konstantin von Anfang an auf das erbliche Kaisertum
losstrebt.
Auf selten der christlichen Kirche gilt es in erster Linie,
die Geschichte und die Bedeutung ihrer Verfassung zu ver-
stehen. Seh. läßt sie von zwei, aus dem Judentum her über-
nommenen Glaubensgedanken ausgehen: dem Gedanken des
Volkes Gottes und des geistlichen Charisma. Indem er neben
dem für gewöhnlich allein genannten zweiten die Vorstellung
vom Volke Gottes betont, gewinnt er die Möglichkeit, auch
das Ältestenamt und damit zugleich die Spannung zwischen
Kirchengeschichtc. 631
Geineingeist und persönlicher Begabung in einfachster Weise
abzuleiten, (Man beachte auch die feine Benierl<ung über den
Diakonat S. 22.) Seh. zeigt dann, unter welchen Einflüssen
die Glaubensgedanken sich in Rechtsformen wandelten: der
monarchische Episkopat bildete den vorläufigen Abschluß. Auf-
gefallen ist mir dabei nur, daß Seh. den Einschnitt, den der
erste Klemensbrief anzeigt, nicht erwähnt, und daß er den mon-
archischen Episkopat in Rom erst in der Zeit des Kaisers
Marcus aufkommen läßt, vgl. dagegen Justin apol. I 65, 3. 5;
67, 5. — Der monarchische Episkopat bedeutet innerhalb der
Gesamtheit der Kirche die Selbständigkeit des einen Bischofs,
gegenüber dem andern. Aber die Kirche fällt darum doch
nicht in Ortsgemeinden auseinander. Der Gedanke des Volkes
Gottes als des Ursprünglichen und Übergreifenden, dem-
gegenüber sich die einzelnen Gemeinden nur wie Erscheinungs-
formen verhalten, bleibt in der Kirche lebendig. Er erweist
sich als eine Macht nach Innen und nach Außen. Aber die
Einheit, die dadurch hergestellt wird, ist nur eine geistige,,
eine sittliche. Eine rechtliche Ausgestaltung dieser Seite des
Kirchenbegriffs hat vor Konstantin nicht stattgefunden.
Auch in der Auffassung der Verfolgungen geht Seh. seine
eigenen Wege. Er stimmt mit M. Heinze darin überein, daß
das Vorgehen der Statthalter gegen das Christentum eine
rechtliche Grundlage in einem (verlorenen) Kaiseredikt oder
Senatskonsult gehabt haben müsse, das die Zugehörigkeit zur
christlichen Kirche für ein kapitales Verbrechen erklärte. Ich
bin hier noch nicht völlig überzeugt. Aber soviel haben
Heinze und Schwartz jedenfalls bewiesen, daß die Frage nicht
mehr als durch Mommsen erledigt gelten darf.
Absichtlich hat Seh. das Unfertige der Verhältnisse in
Staat und Kirche unterstrichen, um damit von vornherein
deutlich zu machen, daß die Lösung, die Konstantin fand, nicht
einfach am Wege lag. Was Konstantin unternahm, war ein
Wagnis, das nur einem bedeutenden, seiner selbst sichern Menschen
gelingen konnte. Um Staat und Kirche so in Beziehung zu
setzen wie er es getan hat, mußte er beide erst umbilden.
Das ursprünglich Treibende bei Konstantin findet Seh,
in seinem Streben nach Weltherrschaft. „Sein ganzes Handeln
von 306 an ist nur verständlich, wenn er von Anfang an danach.
632 Literaturbericht.
trachtete, an Stelle der diokletianischen Tetras die Universal-
monarchie zu setzen." Aber sehr früh müsse bei Konstantin
der Gedanke hinzugetreten sein, „daß es seinen weltumfassenden
Plänen förderlich sei, ein Verhältnis zur christlichen Kirche zu
gewinnen". Seh. erinnert an die Eindrücke, die sich dem jungen
Konstantin in Nikomedien bezüglich der sittlichen Macht der
•christlichen Kirche aufdrängen mußten. Schon das Toleranz-
edikt des Galerius möchte er auf einen von Konstantin geübten
Druck zurückführen. Jedenfalls habe er sich bereits vor der
Schlacht am Ponte Molle als Katechumene mit der Kirche ver-
bunden (vgl. dazu Götting. Nachrichten 1904). Das beweise die
geradezu herausfordernde Art, in der er seinen Sieg über Maxentius
als einen Sieg des Christengottes darstellte, obwohl Maxentius
die Kirche in Ruhe gelassen hatte und das Heidentum gerade
in Rom die festesten Wurzeln besaß. Ein Christ war er trotz-
dem nicht, sagt Seh. etwas schroff; aber er schreibt ihm doch
einen ehrlichen, vom Christentum her beeinflußten Glauben zu.
Er erklärt es für eine abgeschmackte Vorstellung, daß Kon-
stantin ein scheinheiliger Heuchler gewesen sei. Die Überzeu-
gung, der Konstantin selbst häufig Ausdruck gab, daß er Werk-
zeug Gottes und Vollstrecker seines Willens sei, habe ihn tat-
sächlich beseelt.
Danach bemißt sich das Urteil über Konstantins Kirchen-
politik. Seh, setzt sich nicht erst lang mit der Meinung ausein-
ander, als ob ihr letztes Ziel die Herstellung eines Mischmaschs
aus Heidentum und Christentum gewesen wäre. Die Gesetzgebung
Konstantins zeigt ihm deutlich, wie er seit 313 darauf ausging,
der Kirche eine Vorzugsstellung zu verschaffen, und ihr zulieb
überlieferte Ordnungen rücksichtslos niederriß. Aber es war
nicht Konstantins Absicht, sich die Kirche über den Kopf wachsen
2ü lassen. Er hat, indem er sich ihrer annahm, auch in ihre
inneren Angelegenheiten eingegriffen, und zwar so, daß er immer
die oberste Entscheidung in der Hand behielt. Das veranschau-
licht Seh. am donatistischen und am arianischen Streit.
Auf den letzteren möchte ich etwas näher eingehen, weil Seh.
gerade hier besonders viel Neues bringt. Er zeigt zuerst, wie im
arianischen Streit eine kirchliche Verfassungsfrage mit einem
theologischen Gegensatz sich kreuzte. Dann holt er weit aus,
^ um die Lehrfrage zu beleuchten. Ein glänzender Überblick über
Kirchengeschichte. 633
das System des Origenes hebt scharf den Punkt hervor, an den
der Streit anknüpfte. Bei Origenes ist die christliche Schätzung
der geschichtlichen Offenbarung geglichen mit der platonischen
Lehre vom abgestuften göttlichen Sein und mit platonischer
„Mystik": der Sohn selbständiges Wesen gegenüber dem Vater,
„Gott" für alles, was unter ihm und durch ihn ist, und doch nicht
das höchste Ziel des religiösen Strebens, das nur in Gott selbst
ausruhen will. Die bischöflichen Schüler des Origenes haben
die ganze Kühnheit dieser Gotteslehre, namentlich die auf Plato
zurückgehende Mystik, nicht aufgenommen, aber doch zäh an
der Trennung des Vaters und des Sohnes in zwei selbständige
Wesen festgehalten. Damit kommen sie jedoch in Gegensatz zu
einer in der Gemeinde lebendigen Stimmung, die Vater und
Sohn auf eine Stufe zu setzen strebte. Das tritt in dem Fall
des Dionysius von Alexandrien deutlich zutage. Dort taucht
auch schon das Schlagwort ofAoovaiog auf, das später die große
Rolle spielte. Seh. betont, durchaus überzeugend, daß dieses
Schlagwort an sich ein doppeltes Gesicht hat, daß die Gegner des
Dionysius es in einem andern Sinn gebrauchen als wenn etwa
TertuUian von una substantia des Vaters und des Sohnes redet.
„Die Gegner des Dionys von Alexandrien fordern das Bekenntnis
zur Homousie des Sohnes mit dem Vater, um die These von der
Inferiorität des Sohnes auszuschließen", während bei TertuUian
die una substantia und die Unterordnung des Sohnes nebenein-
ander stehen. Dionys ist vor seinem Namensbruder in Rom
einen Schritt zurückgewichen, aber seine Anschauung wird in
verschärfter Fassung von Lucian und Arius aufgenommen. Seh.
stellt ein Kolumbusei auf, wenn er die Christologie des Arius
eng an die des Dionysius anknüpft. Dadurch ist mit einem
Schlag erklärt, warum die Stichworte hfxoovoiog, rgflg vnoaTÖaetg
sofort bei Beginn des Streites wieder aufleben. Ob man aber
Arius eine „weiche Künstlernatur" nennen darf? Weich, ge-
wiß; aber einen Künstler würde ich ihn trotz oder vielmehr
wegen seiner Thaleia nicht heißen. Die daneben bei Seh. sich
findende Kennzeichnung, daß Arius im Vergleich mit Origenes
„Rationalist" ist, scheint mir zutreffender. — Über die erste An-
zettelung des arianischen Streits denke ich etwas anders als Seh.
Ich vermag hier meinem alten Epiphanius nicht soviel Glauben zu
schenken, wie er. Die Erzählung des Epiphanius von gewissen
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 41
634 Literaturbericht.
Beziehungen zwischen Melitius und Arius erscheint mir nur als
einer seiner gewohnten Versuche, etwas wie eine diado/jj der Ketzer
herzustellen. Aber außerordentlich lebendig führt Seh. dann die
Entwicklung des großen Streits vor. Der von ihm aufgefundene
Brief der Synode von Antiochien wirft auch auf die Vorgänge
in Nizäa ein ganz neues Licht. Nur zustimmen kann ich auch,
wenn er die Dinge so schildert, daß in Nizäa wohl das Stichwort
ofxoovGiog, aber nicht eine bestimmte Deutung festgelegt wurde.
Dadurch wird der nachfolgende Kampf, soweit er unter Kon-
stantin noch fortdauert, erst wirklich verständlich.
Während Seh. diese Vorgänge im einzelnen erzählt, hat er
die großen Gesichtspunkte nicht aus dem Auge verloren. Er
erinnert den Leser immer wieder daran, daß Konstantin es ist,
der die Fäden in der Hand hält. Und höchst eindrücklich stellt
er fest, daß, was der Kaiser in der Kirche und für die Kirche tat,
eine tiefgreifende Umgestaltung ihres ganzen Wesens bedeutete.
Die „Katholizität" der Kirche war bis dahin ein Glaubensgedanke
gewesen, eine sittliche Forderung, die man mit geistlichen
Mitteln durchzusetzen suchte; jetzt wird sie in Form des Rechts
verwirklicht. Der Kaiser schafft sie, indem er die großen
Synoden beruft, bestätigt und auf ihre Beschlüsse Einfluß übt.
Und dieselben Bischöfe, die vorher dem Staat so tapfer wider-
strebt hatten, jubeln jetzt dem Kaiser zu, der die Kirche ihrer
Freiheit beraubt.
Am Schluß des Büchleins steht noch ein Wort, das mich zum
Widerspruch herausfordert. Seh. sagt: „seinem eigenen Reich
hat dieser Bund (zwischen Thron und Altar) kein inneres Leben
zugeführt". Ich kann mir denken, welche Tatsachen Seh. da-
bei im Auge hat, aber ich möchte ihm doch die Frage entgegen-
halten: hätte das byzantinische Reich wohl bis 1453 sich be-
hauptet, wenn es nicht christlich geworden wäre? Woraus
schöpfte es die Kräfte zu seinem heldenhaften Widerstand?
Aus dem Staatsgedanken Konstantins gewiß nicht; wohl aber
aus dem christlichen Glauben, den er mit dem Staatsgedanken
verbunden hat.
Berlin. K. Holl.
Deutsche Landschaften. 635
Geschichte der Freien Stadt Frankfurt a. M. (1814-1866). Von
Richard Schwemer. 1. Bd. XVI u.407 S. 2. Bd. XIV u. 772 S.
Frankfurt a M., Joseph Baer & Co. 1910 u. 1912.
Die wissenschaftlichen Bestrebungen in Frankfurt a. M.,
die in früheren Jahren durch das Senckenbergianum, den Verein
für Geschichte und Altertumskunde und das Freie Deutsche
Hochstift allein gepflegt und gefördert worden sind, haben infolge
der Gründung der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften
einen starken Impuls erhalten. Was früher von einzelnen For-
schern und von Freunden gelehrter Studien für die breite Ober-
schicht einer ungewöhnlich bildungseifrigen Bürgerschaft ge-
leistet wurde, das wird nun in mehr fachlichem Geiste für einen
engeren, allerdings noch keineswegs wirklich akademischen
Kreis erstrebt. Auch die historischen Wissenschaften sind in diese
neue Richtung gelenkt worden. Die historische Kommission
der Stadt Frankfurt hat eine Anzahl gelehrter Studien angeregt;
die stattlichste Aufgabe hat sie bisher Richard Schwemer gestellt
— nämlich die, eine Geschichte der Freien Stadt Frankfurt
(1814 — 1866) zu schreiben. Die zwei ersten Bände dieses Werkes
liegen vor, breitrandig und sorgfältig gedruckt, gediegen ausge-
stattet; der dritte ist im Laufe des Jahres 1913 zu erwarten.
Seh. hat sich das Ziel gesetzt, eine vorzugsweise poli-
tische Geschichte zu geben. Die Entstehung der Frei-
heit, die Kämpfe um die Erhaltung der Freiheit, der Verlust
der Freiheit — die Schicksale des staatlichen Frankfurt also —
das ist sein Hauptstoff. Man könnte wohl diese starke Betonung
des Politischen einseitig finden; je beschränkter ein
staatliches Gebilde an Ausdehnung ist, desto unwichtiger werden
ja seine politischen Erlebnisse für die Kulturwissenschaft. Die
Spannungen und Leidenschaften der Staatsgeschäfte werden durch
die Kleinheit der Objekte entwertet. Nicht die Leistung, sondern
der Zusammenhang gibt hier die Geltung.
Umgekehrt ist das Verhältnis bei geistes- und wirtschafts-
geschichtlichen Problemen. Monumentalen Staatsgeschicken
gegenüber vermögen sie sich nicht zu behaupten, erst durch
das Detail werden sie ergiebig. In einem kleinen Gemeinwesen,
wie es das alte Frankfurt war, sind gerade diese Kräfte außer-
ordentlich individuell geprägt gewesen; von ihnen kann der Ge-
schichtschreiber sein Bestes sagen. Man könnte sich also denken,
41*
-636 Literaturbericht.
daß der Frankfurter Historiograph seine Aufgabe tiefer erfaßt
haben dürfte, wenn er sich eine Schilderung des Kulturganzen
und seiner Entwicklung zum Problem gestellt hätte. Die Frage
ist prinzipiell. Seh. folgt dem Drang seiner Begabung für
die Reibungen und Verwicklungen diplomatischer Aktionen
und setzt, in der Art Sybels etwa, neben den Hauptstoff, das
Politische, ergänzend die andern Gebiete.
Das Geistesgeschichtliche ist dabei entschieden zu kurz ge-
kommen. Über das Frankfurter Theater findet sich nichts als
eine allgemein absprechende Bemerkung; Malß und seine Hampel-
manniaden, etwas für das Frankfurter Volkstum doch ungemein
Charakteristisches, sind unerwähnt geblieben. Etwas anderes:
die einzige europäische Intelligenz, die Frankfurt damals besaß,
Ludwig Börne, mußte in einer Geschichte der Freien Stadt nicht
so dürftig abgemacht werden, wie es hier geschieht (II, 21,
22). Es hängt das wohl mit Sch.s allgemeiner Antipathie gegen
das „Demokratische" zusammen. So bezeichnet er auch die
Attentäter von 1833 mit dem Polizistenwort „Rebellen". Kein
Heutiger wird sich mit den Schwärmern von damals identi-
fizieren wollen; aber warum so wenig Humor und warum so
wenig Respekt vor der edeln Courage unserer Großväter? Seh.
liebt sogar das Wort „demokratisch" nicht, und er gibt ihm in
romantisierender Umdeutung die Nuance „volkstümlich" (I, 15
u. 54). Warum sich das Wort aneignen, wenn man die Sache
nicht mag? Oder verwechselt er wirklich Verfassungsform
und Staatswille? Auch ist es sicher nicht richtig und wider-
spricht den neuesten Forschungen über die Rheinbundszeit, den
deutschtümelnden Geist von 1814 einfach als „den guten" zu
bezeichnen und die Anhänger Dalbergs als Französlinge zu ver-
dammen. Ein wenig absolutistische Zucht hat den Leuten am
Main und Rhein sehr gut getan, und sie ist manchmal mehr
friderizianisch als napoleonisch gewesen.
Schwemers Feder ist von seinen früheren Arbeiten als leicht-
flüssig und elegant in Erinnerung. Die große Gewandtheit macht
die Dinge häufig etwas glatt; Bildlichkeiten wie das „Karten-
haus" oder die „Krummstabslande" wirken konventionell. Auch
die Häufung der Schillerzitate ist mißlich.
Wieviel kräftige Prägungen stehen aber dagegen: Schwemer
nennt Stein den Staatsmann der deutschen Sehnsucht, er
Deutsche Landschaften. 637
spricht von einer Probemobilmachung der deutschen Einheits-
idee u. a. m.
Ich habe hier nicht verschwiegen, daß mir Gesamtauffassung
und Grundanlage des Werkes diskutabel erscheinen, es bleibt
darum selbstverständlich eine höchst beachtenswerte, ja unge-
wöhnliche Leistung. Seh. bringt zunächst schon so viel neues
Material, daß allein dadurch alles, was es bisher an Studien
über diese Epoche gibt, zur Vorarbeit wird. Die neuen Archi-
valien stammen, abgesehen vom Frankfurter Stadtarchiv, aus
den Staatsarchiven in Berlin und Wien sowie aus dem Staats-
archiv in Bremen. Bremen hat den Nachlaß seines Bürger-
meisters Smidt gespendet, der mehr als je ein Frankfurter mit
Bundestags- und mit andern Staats- oder stadtpolitischen Fragen
vertraut war.
Kleinere Ergänzungen boten dann noch die Archive Wies-
baden, München, Karlsruhe u. a., sowie London, Paris und
Petersburg. Viele Frankfurter Familien stellten Papiere zu
Verfügung. Ein sehr anschauliches Material also, das nun in
vielen Punkten ein völlig neues Bild der Ereignisse bietet.
Dankenswerterweise gibt Seh. einen fast ganz anmer-
kungsfreien Text, stellt die Nachweise am Schluß zusammen
und ergänzt die Darstellung in der üblichen Art durch „Beilagen",
wortgetreu abgedruckte Urkunden. So ist es dem Forscher er-
leichtert, sich über einzelnes genauer zu informieren. Im ganzen
hat man aber leider den Eindruck, daß die Freude am Fund
den Verfasser häufig zur Breite verführt hat; der zweite Band ist
ja zur Unhandlichkeit angeschwollen. Eine geschicktere Stoff-
verteilung (II, Abschnitt 2 und 3 etwa noch zu I) hätte da ge-
holfen; und warum konnten nicht die gewiß interessanten baye-
rischen Großmachtsaspirationen in einem Aufsatz ,in einer Fach-
zeitschrift abgehandelt und in der Darstellung knapper erledigt
werden? — Wiederholt scheint das Gesagte nicht dem Problem,
sondern dem Material entwachsen, und das gibt dem Werk etwas
Langatmiges. Wenn das schon einem Gelehrten auffällt, der
Frankfurter ist, wie soll es da den ungelehrten Frankfurtern oder
den Gelehrten gehen, die — nach der altfrankfurter Terminologie —
Ausländer sind?
,,Die Wiederherstellung der Frankfurter Freiheit" — das
ist der erste Gegenstand von Sch.s Werk. Es gibt 1814 in
638 Literaturbericht.
der Stadt eine Partei „Alt-Frankfurt sans pfirase", als deren
Sprecher sich die Bürgerkapitäne, „Volkstribunen", gewisser-
maßen unter der geschickten Regie Feyerleins aufwerfen; also
auch hier erhebt sich das ancien regime: von der alten Verfassung
reichsstädtischen Andenkens nach vorwärts, nicht von dem
revolutionär Gewordenen nach rückwärts soll reformiert wer-
den. In Wien, wo Frankfurts Schicksal sehr unwichtig erscheint,
muß es sich entscheiden; Bayern will süddeutsche Großmacht
werden, durch das Mainland und die Mainstadt die Pfalz mit
dem Stammgebiet vereinigen (Seh. veröffentlicht dazu eine
sehr instruktive Karte aus dem bayerischen Geheimen Staats-
archiv); Stein ist der eigentliche Freund und Retter Frankfurts
— für ihn ist die freie Stadt Garantie seines Bundesstaates.
Die Frankfurter Selbständigkeitsfrage verknüpft sich besonders
noch dadurch mit den großen Fragen des Kongresses, daß Bayern
sich zu den Gegnern der preußisch-russischen Allianz gesellt
— so daß dann das Kleinste vom Größten und umgekehrt ab-
hängig sein mußte; Frankfurt erhielt endlich die Freiheit als
Geschenk von Österreichs Gnaden (Metternichs douceur aus
Frankfurter Staatsmitteln betrug 10 000 Dukaten). Es wird
frei, weil es Bundeshauptstadt wird — Bund und Freiheit gehören
zusammen. Das eine lebt vom Blut des andern.
Der Bundestag wird eröffnet — bloß durch ein Diner — denn
über die Gottesdienste können sich katholische und protestanti-
sche Großmacht nicht einig werden. Eine neue Welt kommt
damit nach Frankfurt; es wird eine Diplomatenstadt und ist
doch keine Residenz; die Diplomaten ziehen allerlei Leute nach
sich: Friedrich Schlegel zum Beispiel wirkt als österreichischer
Presseagent. Denkwürdig ist, daß die echten Alt-Frankfurter
den Bundestag zunächst gar nicht gemocht haben, und daß auch
weiterhin eine gewisse Spannung zwischen Bundestag und Bundes-
stadt bestand. Die Lokalgewalten waren eben durch diese
deutsche Behörde in Schatten gestellt; anderseits war diese Be-
hörde in ihrem Schicksal von den Maßregeln der Lokalgewalten
abhängig.
Den altfrankfurter Stil, der in den Konstitutions-Ergänzungs-
akten nun seinen verfassungsmäßigen Ausdruck erhält, charak-
terisiert Seh. äußerst treffend: man schätzt sein Vermögen
selbst ein, Falschangaben werden nicht als Meineid verfolgt.
Deutsche Landschaften. 63*9
alles was mehr als 12000 Gulden besitzt, bezahlt einfach die „große
Schätzung", der Frankfurter Bürger wird von seinem väter-
lichen Senat als ein Mustermensch behandelt, der keiner „bru-
talen" Polizeigewalt bedarf, der unter schlechtem Gesinde und
anderen minderwertigen Auswärtigen leidet, und deshalb geschützt
werden muß, der seine Vaterstadt selbst verteidigt, indem er
entweder selbst auf die Wache zieht (wie es sogar Rothschild
in revolutionären Zeiten einmal tat) oder, wenn der Wind sachter
weht, einen Wachtaler bezahlt. Dieser souveräne Bürger von
Frankfurt ist wirklich — wie es Seh. tut — den mediatisierten
Fürsten in seiner Ausnahmestellung zu vergleichen. Er hat seine
Rechte, niemand darf dran rühren: die Konstabier — die bürger-
liche Artillerie — hatten immer bei Paraden den Ehrenplatz auf
der rechten Seite. Ihr Hauptmann treibt es bis zur schwersten
Insubordination, um diesen Anspruch durchzusetzen. Und wie
milde wird er dafür bestraft! Überhaupt: der Senat glaubt nicht
an Verbrechen seiner Bürger. Wenn etwas passiert, so behauptet
er, es seien Auswärtige gewesen; und wenn es doch wahr ist,
dann ergreift ihn eine rührende Betrübnis.
Eine der besten Stellen in Sch.s Buch ist der Vergleich
des altfrankfurter Gemeinwesens mit einer Erwerbsgenossen-
schaft. Die Bürger sind in der Tat die „Nationalsubstanz",
ihr Wohl, ihre Nahrung, der Flor ihrer Handlung wird mit allen
Mitteln beschützt; für die ärmeren sorgen Stiftungen und Sti-
pendien; wer Bürger werden will, muß Vermögen nachweisen
und erhebliche Gebühren zahlen; wer abziehen will, muß einen
Teil des Vermögens als Abzugsgeld zurücklassen. Das persön-
liche Vermögen ist demnach nicht in dem Sinne volleigen wie
anderwärts.
Der Senat will gar nicht, wie Seh. interessant nachweist,
daß die wohlhabenden Bürger durch Vermietung von Grund-
stücken an Fremde sich hohe Einnahmen verschaffen; das würde
gerade die ärmeren Bürger schädigen — infolge der Wertsteigerung
— und so das Wohl der Gesamtheit gefährden. Es liegt zweifel-
los darin etwas Großes, in diesem Zusammenhalten der einen
Bürgerfamilie, und der Stolz des Alt-Frankfurters, der die Her-
gelaufenen von auswärts so ärgerte und heute noch ärgert, hat
seine tiefen starken Wurzeln. Frankfurt mit seinem Bundes-
tag, seinem patriarchalisch wirkenden Senat, der eine Art my-
640 Literaturbericht. aJHH^^H
stisches Wesen war, das alles tat und alles wußte — wenn es
wollte, ein Wesen, in dem der einzelne Beamte aufging: dieses
Frankfurt mit seinen zünftigen Handwerkern und dem welt-
umspannenden Handel war in der Tat, wie Smidt schreibt,
„die Hauptstadt von Deutschland", das „deutsche Paris".
Seit der Entstehung des preußischen Zollvereins war diese
alte königliche Position der Stadt unhaltbar. Frankfurt ist
die typische Kaufmannsmetropole, industriefeindlich, inter-
national, kosmopolitisch durch und durch. Die preußische Maut,
industriefördernd, zwängt Frankfurt mit ihren Schranken von
allen Seiten ein. Frankfurt — unter der geistigen Leitung des
Bürgermeisters Thomas, dessen Gestalt und Wirken Seh. vorzüg-
lich herausgearbeitet hat — Frankfurt vereinigt seine Mitinter-
essenten zur Abwehr im mitteldeutschen Handelsverein, hinter
dem der Gedanke des „reinen" mittleren Deutschland bedeutsam
steht; es schließt endlich den Handelsvertrag mit England.
Seine politische Freiheit ist der Exponent der merkantilen: Frank-
furt wird um seiner Selbstbestimmung willen zum Eingangshafen
für England und zum Schmuggeldepot. Der Frankfurter Adler
erhält seinen Platz in der Londoner Börse unter den Wappen der
schiffahrenden Nationen.
Die Peripetie erfolgt aber schnell. Der Frankfurter Wachen-
sturm von 1833 führt zur politischen Demütigung des Staates
Frankfurt — er muß sich Bundesmilitär zum Schutz des Bundes-
tags gefallen lassen; und aus der Wirtschaftskrise hilft nur der
Eintritt in den preußischen Zollverein. Frankfurt muß sich in
Berlin sagen lassen, daß einem kleinen Mann kein großer Rat
paßt; die Statistiken, die Bürgermeister von Guaita mitbringt,
werden von den preußischen Beamten belächelt. Es ist nicht mehr
möglich, daß eine deutsche Stadt eine englische Faktorei bleibt
— Frankfurt wird in die nationale Lebensgemeinschaft hinein-
gezogen.
Das ist eine kurze Skizze des zum großen Teil stofflich
Neuen, das Seh. mitteilt; originell und überzeugend ist auch
die Verknüpfung und Würdigung dieses Neuen.
Wenn ich dem Verfasser gegenüber zum Schluß einen Wunsch
aussprechen darf, den er vielleicht noch beim dritten Band berück-
sichtigen könnte, so wäre es dieser: wenn man Frankfurts Ge-
schichte schreibt, so ist es kaum ein Unglück, wenn man kein
Deutsche Landschaften. 641
echter Frankfurter ist; gerade daraus entwickelt sich vielleicht
ein gewisser unbefangener Überblick, der dem allzusehr Einge-
wachsenen versagt bleibt. Aber muß der Ton des Historiographen
deshalb so gereizt sein? Wir Frankfurter haben eine Menge
schlechter Eigenschaften — Eitelkeit, Dünkel usw. Müssen wir
deshalb von der Geschichte so feierlich koramiert werden ? Schwe-
mer versteht unsere Art ganz gut, wie er bewiesen hat: möchte
er uns doch etwas liebevoller behandeln, so daß dies Werk eines
Frankfurter Oberlehrers, das die neue Universität empfangen soll^
selbst ganz ein Stück von uns sei und so wahrhaft zeige, was wir
sein konnten und was wir sind.
Freiburg i. Br. Veit Valentin.
Das älteste Wismarsche Stadtbuch von etwa 1250 bis 1272. Im
Auftrage der Seestadt Wismar herausgegeben von F. Tedien
als Festschrift für die Jahresversammlung des Hansischen
Geschichtsvereins und des Vereins für niederdeutsche
Sprachforschung Pfingsten 1912. Wismar, Hinstorffsche
Verlagsbuchhandlung. 1912. XX u. 169 S.
Wismar gehört zu den Städten, bei denen sich die Entwicklung
des Stadtbuchwesens gut überblicken läßt: zuerst ein Stadtbuch
umfassender Natur, welches Eintragungen privatrechtlichen
Inhalts und öffentlich-rechtlicher Natur enthält, dann Speziali-
sierungen. Diese setzen mit dem Anfang des 14. Jahrhunderts
ein. Der Name Stadtbuch bleibt dem Buch, in dem die Ver-
äußerungen und Auflassungen der Grundstücke verzeichnet
werden, während das die Verpfändungen, Schuldanerkennungen,
Bürgschaften u. dgl. umfassende zuerst das „Kleine Stadtbuch",
nachher „Zeugebuch" benannt wird. In der vorliegenden Edition
erhalten wir nun das älteste Stadtbuch von Wismar, welches
allein schon um seines Alters willen die Aufmerksamkeit verdient.
Es gehört zu den ältesten deutschen Stadtbüchern überhaupt;
aus ganz Deutschland gehen nur Lübeck und Hamburg (dies
bloß um wenige Jahre) voran, wenn man die Kölner Schreins-
urkunden und -karten, die Metzer Bannrollen und vielleicht
noch eine Aufzeichnung verwandter Art nicht mitrechnet. Und
als eine frühe Aufzeichnung ist unser Denkmal ferner in dem
Sinn zu bezeichnen, daß es bereits 20 bis 25 Jahre nach der Be-
gründung der Stadt hervortritt. Hierbei ist natürlich zu berück-
642 Literaturbericht.
sichtigen, daß man in Wismar von dem Beispiel anderer Städte
Nutzen gezogen haben wird. Der Inhalt ist, wie schon bemerkt,
mannigfaltig und, wie wir hinzufügen, unsystematisch bunt.
Es findet sich alles mögliche, was nur die Bürger im Stadtbuch
zu größerer Sicherheit verzeichnet zu sehen wünschten und woran
sie die Schreibgebühr von einem Schilling wenden wollten (S.
XIV): von den üblichen Akten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
bis zur Aufnahme in eine geistliche Bruderschaft (S. 91, Nr. 1145).
Interessant sind die Eintragungen, die aus Anlaß der Kreuzzüge
und der Wallfahrten gemacht werden (vgl. S. 160 und 168 f.).
Man soUte einmal aus den Stadtbüchern und den Einzelurkunden
die Nachrichten über Verpfändungen, die ein Kreuzfahrer vor-
nimmt, und derartiges mehr zusammenstellen. Wenn man der
einseitigen Theorie vom wirtschaftlichen Ursprung der Kreuz-
2üge Beachtung schenken will, so dürften solche Quellen beson-
ders heranzuziehen sein. Wie schon bemerkt, enthält das vor-
liegende Stadtbuch neben den privatrechtlichen Aufzeichnungen
auch solche öffentlich-rechtlicher Natur, Diese, bemerkenswerte
Äußerungen der Tätigkeit des Stadtrats, waren schon (namentlich
durch das Mecklenb. Urkundenbuch) bekannt geworden; sie im
überlief erten Zusammenhang zu sehen hat aber immer seinen Wert.
Eine Erscheinung, die wieder einmal den Versuch, geradlinige
Entwicklungen zu zeichnen, zunichte macht, kommt in der Tat-
sache zum Ausdruck, daß unsere Aufzeichnung deutsch beginnt
und lateinisch bis zum Schluß fortgesetzt wird. Um auf den In-
halt etwas einzugehen, so lockt die große Zahl überlieferter
Namen (mit Herkunftsbezeichnungen) dazu, den Kreis der
Einwanderer, die mehr oder weniger die Bürgerschaft von Wismar
begründet haben, zu ermitteln. Wir wollen aber nicht unter-
lassen, für solche Versuche auf die wichtigen kritischen Gesichts-
punkte hinzuweisen, die Keußen in dieser Beziehung aufgestellt
hat (Korrespondenzblatt der westdeutschen Zeitschr. 1893,
Sp. 57 f.). Beachtenswert ist, daß Handwerker häufig als
Grundbesitzer erwähnt werden. Es mag dies ausdrücklich kon-
statiert werden, da die Tatsache für das 13. Jahrhundert bezweifelt
worden ist (s. hierzu meinen Ursprung der deutschen Stadt-
verfassung, S. 46 f.). In dem servus Bernardi institoris S. 40
(Nr. 616) haben wir zweifellos nicht einen Unfreien, sondern
einen Handlungsgehilfen zu sehen. Dagegen haben wir S. 82
Deutsche Landschaften. 643
<Nr. 1109) die Regelung der Nachlaßverhältnisse eines in der Stadt
gestorbenen Unfreien (s. m. Ursprung S. 109). Leider ist das
Sachregister nicht ganz vollständig, was man doppelt bei einem
solchen Meister in der Herstellung von Sachregistern wie Techen
bedauert. Vielleicht wäre es nützlich gewesen, die Personen,
die den Beinamen Slavus tragen, zusammenzustellen (s. Nr, 938
und 1131c, S. 89); er dürfte doch wohl kaum Familienname
sein. Zum Schluß sei auf einige Textänderungen hingewiesen,
die A. Hofmeister im Neuen Archiv 38, S. 369 vorschlägt.
Frei bürg i. B. G. v. Below.
Notizen und Nachrichten.
Die Herren Verfasser ersuchen wir, Sonderabzüge ihrer
in Zeitschriften erschienenen Aufsätze, welche sie an dieser
Stelle berücksichtigt wünschen, uns freundlichst einzusenden.
Die Redaktion.
Allgemeines.
Erich Rothacker, Über die Möglichkeit und den Er-
trag einer genetischen Geschichtschreibung im Sinne K. Lamp-
rechts. (Beiträge zur Kultur- und Universalgeschichte, Heft 20.
Leipzig, Voigtländer. 1912. VIII, u. 163 S. 5,80 M.) — R. geht
von einer zweifachen Anwendung des Verbums „entwickeln" aus:
einmal im transitiven Sinn, „sich entwickeln", wobei es sich um die
inneren Zustandsänderungen eines Subjekts handelt, und ferner im
transitiven Sinn. Wenn z. B. geschildert wird, wie ein Tisch entsteht,
könnte man dies natürlich auch genetisch nennen. „Entwicklung" wird
definiert als „der aktive Vorgang der Zustandsänderung lebendiger
Subjekte" (S. 11), mit dem Ziele des Wachstums, d. h. Erhöhung der
Vitalität, die in vielen, meßbaren und gesetzmäßig bestimmbaren
Stufen ständig erfolgt. Wir haben ein vitales und ein anschauliches
oder symptomatisches Sein von Entwicklungen zu trennen. Auf der
einseitigen Bevorzugung von diesem letzteren beruht die „dramatische"
Geschichtsauffassung, eine Beschreibung von gegebenen Aktionen, aber
genetisch nur im transitiven Sinn; von einer „echten" Entwicklung ist
keine Rede, nur von einer „Entstehung" (S. 20 f., S. 30). Die Frage,
ob solche echten Entwicklungen der Geschichtschreibung zugänglich
sind, bejaht R. unbedingt. Der Gang einer solchen wird nach ihm
dargestellt durch die Kulturzeitalter oder völkerpsychischen Stufen.
Durch den kontinuierlichen Bedeutungswandel der geistigen Phäno-
mene (z. B. der Gottesvorstellung in verschiedenen Zeiten) im Zusam-
menhang mit dem Begabungswandel hält er es für erwiesen, daß von
Allgemeines. 645
«iner Konstanz der menschlichen Begabung keine Rede sein kann,
daß diese vielmehr einer Entwicklung unterworfen ist, die „ein bio-
logischer Prozeß von übersehbarer Gesetzmäßigkeit" ist [!] (S. 99).
Im letzten Abschnitt (IN.) behandelt R. den Ertrag der genetischen
Methode für die Geschichtschreibung. Taten oder Handlungen sind
Symptome einer Entwicklung von Zuständen und werden bei der
Darstellung ausgewählt ,,nach dem Maße sich steigernder Zustände,
die in ihnen zur Erscheinung kommen" (S. 143). — Den im einzelnen
scharfsinnig ausgeführten Thesen R.s, deren Lektüre des öfteren leider
durch sinnstörende Druckfehler (sowie Ungenauigkeiten im Literatur-
verzeichnis) beeinträchtigt wird, kann man schwerlich beitreten. Es
handelt sich letzten Grundes wiederum um einen Versuch, wie in der
Naturwissenschaft so auch in der Geschichtswissenschaft Gesetze auf-
zustellen. Daß der Gesetzesbegriff der Naturwissenschaft hier keine
Anwendung finden darf, ist in dem Streite um Lamprechts Theorien
so oft und eingehend nachgewiesen worden, daß eine Wiederholung
der Argumente überflüssig ist. Die Geschichtswissenschaft hat es mit
Individuen zu tun, die gerade in dem unbegreiflich und einzigartig sind,
was sie voneinander unterscheidet. Soll sie darum auf eine „echte"
genetische Darstellung verzichten? Keineswegs. Abgesehen von an-
deren Beispielen ist die Biographie ein solches, wie auch R. betont.
Außer dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung jedoch beob-
achten wir noch das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel. Den Zweck-
begriff hat aber R. beinahe ganz außer acht gelassen, trotzdem er
doch für den Entwicklungsbegriff von wesentlicher Bedeutung ist.
Hier versagen eben die Entwicklungsgesetze. Ein Subjekt kann
aus gegebenen Bedingungen eine Folge ziehen, aber m u ß es nicht:
das ist gerade das Wesen der historischen Kausalität.
Altona. Otto Hell.
Bemerkenswerte Studien über die Anfänge des Vaterlandsgefühls
in der Neuzeit beginnen im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozial-
polit k 36, 1 zu erscheinen (R. Michels, Zur historischen Analyse
des Patriotismus 1).
Es ist sehr zu begrüßen, daß Paul H e r r e neben der Neuaus-
gabe der Dahlmann-Waitzschen Quellenkunde (vgl. H. Z. 110, 601)
auch die Wünsche derer befriedigen will, die eine summarische, das
Wichtigste auswählende Bibliographie in der Art der ersten Auflagen
des Dahlmann-Waitz verlangen, und noch dankenswerter war es, daß
«er diesen Plan erweiterte zu einer „Quellenkunde zur Weltgeschichte",
die er in Verbindung mit Adolf Hofmeister und Rudolf Stube
1910 im Dieterichschen Verlage hat erscheinen lassen. Nach häufigem
Oebrauche dürfen wir sagen, daß das kühne Unternehmen in der Haupt-
646 Notizen und Nachrichten.
Sache gelungen ist. Die Anlage entspricht dem großen Dahlmann-
Waitz. Von den 319 Seiten fallen S. 1 — 48 auf den allgemeinen Teil^
S. 48— S2 auf das Altertum, S. 83—170 auf das Mittelalter, S. 170
bis 319 auf die Neuzeit. Das Handbuch wird bei neuen Auflagen nicht
wesentlich an Umfang zunehmen dürfen, wenn es nicht in eine gefähr-
liche Konkurrenz mit den nationalen Einzelbibliographien treten soll,
Sie kann diese nicht überflüssig machen wollen, sondern muß sich
neben ihnen behaupten durch die Kunst der Auswahl. Sie wird ihre
besten Dienste dem leisten, der sich neben seinem speziellen Arbeits-
gebiete Sinn und Zeit zu wahren weiß für allgemeingeschichtliche
Interessen und für diese und jene ihm aufstoßende Frage rasch nach
den besten Hilfsmitteln verlangt. Für Studenten und Mittelschullehrer
wird sie zugleich einen gewissen Ersatz für den teuren Dahlmann-Waitz^
bieten. Wir beschränken unsere Wünsche für Aufnahme noch fehlen-
der Werke auf ein Mindestmaß. Zu Nr. 2515 müßten die letzte Aus-
gabe der Schriften Machiavells, die Burdsche Ausgabe des Principe
und die Tommasinische Machiavellbiographie gefügt werden. Legrelles
großes Werk über die französische Diplomatie und die spanische Erb-
folgefrage durfte nicht fehlen. Zu Nr. 2876 wäre nicht Schefers, son-
dern Bourgeois' Ausgabe der Spanheimschen Relation de la com de
France zu nennen gewesen. Die Schriften des Duc de Broglie über
das Zeitalter Friedrichs des Großen konnten wohl auch aufgeführt
werden. Die Arbeit Th. Ludwigs über die deutschen Reichsstände im
Elsaß und den Ausbruch der Revolutionskriege vermißt man ungern.
Zu Nr. 3191 (Th. v. Schön) durfte M. Lehmanns Knesebeck und Schön
nicht vergessen werden. Auch Hayms Buch über W. v. Humboldt
muß genannt werden. M.
Von V. Lowes „Bücherkunde" liegt eine 4., wesentlich um-
gearbeitete Auflage vor (Altenburg, Rade, 1913), die mit ihren meist
treffenden kurzen Charakteristiken, unter denen man auch die neuste
Literatur findet, dem Studenten neben Dahlmann-Waitz gute Dienste
tun wird. Der wunde Punkt ist nach wie vor der (nicht einmal folge-
richtig durchgeführte) Ausschluß der Quellen. Es fällt schwer, eine
„Bücherkunde der deutschen Geschichte" zu empfehlen, in der das
Wort „Monumenta Germaniae" nicht vorkommt.
Wir konnten wiederholt, zuletzt 110, 171 f. auf das rüstige Fort-
schreiten des Dictionnaire d'histoire et de giographie eccUsiastiques auf-
merksam machen; heute liegen drei neue Lieferungen 6 — 8 vor, von
denen die erste (bis Albus Tr actus reichend) den ersten Band des gan-
zen Nachschlagewerkes abschließt, die beiden anderen den zweiten
bis zum Stichwort Alphonse de Carthagene führen. Um den Inhalt
der Lieferungen zu veranschaulichen, genügt es, an die mehr als 120 Ar-
Allgemeines. 647
tikel „Alexander" zu erinnern, darunter natürlich über die Päpste
dieses Namens, bei denen freilich die für Alexander I. bis V. beige-
fügten, ganz jungen Porträts recht eigenartig sich ausnehmen: solange
wir einer kritischen Ikonographie der Päpste entbehren, sollte man
selbst nicht einmal die Kupferstiche oder Holzschnitte des 17. Jahr-
hunderts (die Bilder sind dem Bullarium Romanum ed. Cherubinus I,
Rom 1638, entnommen) für die Päpste des Mittelalters wiederholen. Wir
verweisen zugleich auf den umfangreichen Abschnitt über Alexandria
(Sp. 289 — 369) von J. F a i v r e, der ein früher geäußertes Bedenken
über die Aufnahme solcher fast buchförmiger Abrisse erneut wach
werden läßt. In die Übersicht über die kirchliche Entwicklung Deutsch-
lands (11, Sp. 494 — 591) haben sich drei Gelehrte geteilt: P. R i c h a r d
behandelt die Zeit bis zum Jahre 1448, J. P a q u i e r bis zum Jahre
1648, P. Richard wiederum die Periode bis zum Untergang des
alten Reiches und endlich G. G o y a u die Entwicklung der deutschen
Kirchendinge bis an die Schwelle der Gegenwart. Es ist lehrreich,
diese Abschnitte insgesamt mit denen von K. Jakob, W. Köhler und
H. Hoffmann in der „Religion in Geschichte und Gegenwart" I,
Sp. 2062 — 2128, zu vergleichen. Erfüllt von mehr Detail erweisen sich
die der französischen Gelehrten, während die deutschen mehr die all-
gemeinen Tendenzen der Entwicklung herausgearbeitet haben. Wohl-
tuend berührt im „Dictionnaire" das offensichtliche Streben nach
Unparteilichkeit, für das unter anderem das Urteil über Janßen (Sp. 541)
bezeichnend ist. Für das deutsche Mittelalter bot natürlich A. Haucks
Kirchengeschichte die Grundlage, so daß die Zeit von 1347 — 1448,
die er noch nicht dargestellt hat, im Vergleich zu den voraufgehenden
Perioden etwas knapp geschildert worden ist, während die hier ange-
fügte Literaturübersicht nicht ohne Fehler ist. Alles in allem aber
ist der Artikel dankenswert, nicht zuletzt wegen der Karten, die den
Stand der kirchlichen Einteilung Deutschlands am Ende des Mittel-
alters und in der Gegenwart veranschaulichen, wenigstens soweit die
katholische Kirche in Betracht kommt; eine dritte Karte läßt den
Territorialbestand ums Jahr 1648 mit besonderer Hervorhebung der
geistlichen Reichsfürstentümer erkennen. Man mag fragen, ob diese
Karten genügen, wird sich aber zugleich daran erinnern, daß die Ein-
zelartikel über Bistümer jeweils deren Karten bringen. Bis jetzt ist
im „Dictionnaire" noch kein deutsches Bistum behandelt; sollte es
dazu kommen, so wird vielleicht zu erwägen sein, ob nicht jede Diözese
zwei Kartenbilder erhalten muß, um durch sie den früheren und den
jetzigen Stand zu verdeutlichen. So nützlich die Karten bei Heussi
und Mulert in dem verdienstvollen „Atlas zur Kirchengeschichte"
auch sind (n. VIII A. B., XII C), sie gewähren bei ihrer natürlichen
Kleinheit nur Umrißlinien und sind überdies in verschiedenen Maß-
^48 Notizen und Nachrichten.
Stäben gehalten. Wie dem immer sei, durch unsere Anregung möchten
wir das Interesse am „Didionnaire" bekunden, der im erfreulichen
Gegensatz zu deutschen Nachschlagewerken gerade der kirchlichen
Geographie sein Augenmerk zugekehrt hat. Wer weiß, wie sehr sie
in deutschen Darstellungen der historischen Geographie vernachlässigt
wird, glaubt versichern zu können, daß auf diesem Gebiete noch viel zu
tun ist: mit der Frage nach dem Verhältnis der Gau- und Diözesan-
grenzen allein sind nicht zugleich alle weiteren aufgeworfen, geschweige
denn erledigt. A. W.
Von dem „KatalogderNürnbergerStadtbiblio-
t h e k, herausgegeben im Auftrage des Stadtmagistrats", ist der
2. Band (Abteilung I: Geschichte, 2. Teil: Alte Geschichte; mittlere
und neuere Geschichte im allgemeinen) soeben erschienen (Nürnberg,
Sebald, 1913, VI u. 399 S.). Die Sammlung ist reich an älteren Drucken;
die Kulturgeschichte ist stark vertreten, besonders zahlreich ist
die Literatur über die Geschichte der Juden in Altertum, Mittelalter
und Neuzeit. Der Band ist wie der erste von dem (auf dem Titelblatt
nicht genannten!) Kustos an der Stadtbibliothek, E. Reicke,
bearbeitet.
Weitere Bemerkungen über die Herstellung von Regesten, die
sich stellenweise sehr ins einzelne verlieren, macht K- U h 1 i r z gegen
H. Steinacker in den Mitteilungen des Instituts für Österreich.
Geschichtsforschung 34, 2 (vgl. oben S. 202); letzterer hat nur ganz
kurz geantwortet.
Eine von Heldmann angeregte Hallische Dissertation von Paul
Jahn: Die Kanzlei der Stadt Zerbst bis zum Jahre 1500 (Teildruck
1913; VII, 55 S.) enthält Angaben über die Wirksamkeit und Stellung
der Stadtschreiber, Kanzleierzeugnisse und Kanzleibetrieb und ein
paar kurze Bemerkungen über die Kanzleisprache.
H. O m 0 n t verzeichnet in der Bibliotheque de l'Ecole des cfiar-
tes 1913, Januar-April die Zugänge der Handschriftenabteilung in der
Pariser Nationalbibliothek während der Jahre 1911 und 1912, darunter
wieder zahlreiche Handschriften geschichtlichen Inhalts.
In seiner Schrift: Der heraldische Schmuck der Kirche des Wiener
Versorgungsheims hat Dr. Jakob D o n t die Wappen der Stadt Wien,
die Bezirkswappen und die Wappen der Genossenschaften abgebildet
und mit Unterstützung des städtischen Archivars G. A. R e s s e 1 er-
läutert. Dem letzteren ist auch der für den Historiker wichtigere An-
hang zu verdanken, in dem die Siegel der ehemaligen Wiener Vor-
städte und Vorortgemeinden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht
und beschrieben werden (Wien, Gerlach & Wiedling, o. J. 32 und
XXVIII Seiten mit 26 Tafeln).
Alte Geschichte. 649
Neue Bücher: Grundriß der Geschichtswissenschaft. Herausge-
geben von Aloys Meister. I. Reihe. Abteilung IVa. Forst-
B a 1 1 a g li a , Genealogie. (Leipzig, Teubner. 1,80 M.) — K a i n d f ,
Geschichte und Volkskunde. (Czernowitz, Pardini. 2 M.) — Chat-
terton-Hill, Individuum und Staat. (Tübingen, Mohr. 5 M.)
— R e i n , Sir John Robert Seeley. Eine Studie über den Historiker.
(Langensalza, Beyer & Söhne. 2,40 M.) — Hatschek, Englische
Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Viktoria.
(München, Oldenbourg. 18 M.)
Alte Geschichte.
Historische attische Inschriften, ausgewählt und erklärt von
Ernst Nachmanson, Privatdozent in Upsala. Kleine Texte
für Vorlesungen und Übungen, herausgegeben von Hans Lietzmann.
Heft 110. Bonn, Marcus <S Weber. 1913. 82 S. 2,20 M. — Mit der
Bearbeitung dieses Heftes hat sich der Verfasser ein außerordentliches
Verdienst erworben, denn so unerläßlich das Studium der Inschriften
für den heutigen Betrieb der alten Geschichte ist, so gab es bisher doch
keine Sammlung, deren Preis der Kauffähigkeit eines Studenten ent-
sprochen hätte. Das Werk könnte nach Auswahl der Texte und Form
und Inhalt der erklärenden Anmerkungen nicht besser angelegt sein.
Vielleicht nimmt der Verfasser später auch noch die Inschriften Dittenb.
syll. 33 und 101 auf, die interessant sind für die Geschichte der atti-
schen Seebünde. Für eine 2. Auflage notiere ich noch einige kleine
Versehen. Bei Nr. 39 könnte wohl als Jahrzahl 337/6 angegeben wer-
den. In der Überschrift von 54 muß es heißen „für Bithys, Feldherrn
. . ." statt ,, Feldherr", Anmerkung 56, 13 ,, Köhler vermutet, es sei . . ."
statt „ist". Anmerkung 86 „Baetica" statt „Baetia". Anmerkung 87
„Todesjahr des Arcadius" statt „Claudius". M. Geizer.
Unter dem Titel „Beiträge zur Geschichte von Lesbos im vierten
Jahrhundert v. Chr." stellt Hans Pistoriusim5. Heft der Jenaer
historischen Arbeiten (Bonn, A. Marcus und E. Weber. 1913) alles
zusammen, was wir von der politischen Geschichte der Insel in dieser
Zeit wissen. Die Arbeit ist verdienstlich, wenn wir auch nicht viel
neues daraus lernen, was ja bei einem solchen Thema kaum zu er-
warten war. Aus den Einzeluntersuchungen, die im Anfang gegeben
werden, mag der Exkurs ,,Zur Epigraphik von Lesbos" hervorgehoben
werden; hier wird der Versuch gemacht, aus den Buchstabenformen
und dem Dialekt Kriterien für eine chronologische Anordnung zu
gewinnen; da dem Verfasser aber ,, weder Originale noch Abklatsche
zu Gebote standen" (S. 139), haben die Ergebnisse nur sehr relativen
Wert. Beloch.
HUtoriscbe Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 42
650 Notizen und Nachrichten.
In der Revue de Vhistoire des religions 1913, Mai -Juni setzt
zunächst J. L d v y seine Studie über Sarapis fort. Dann veröffent-
licht Ad. R e i n a c h eine lesenswerte Arbeit : L'origine des Amazones.
A propos d'une explication nouvelle de la legende amazonienne, nämlich
des neuen Buches von W. Leonhardt: Hettiter und Amazonen. Aber
Reinach erweitert die Leonhardtsche These und man wird ihm wohl
beistimmen in seinem Urteil: „Aussi bien, les Amazones devenaient-
elles comme le Symbole de toutes les peuplades hostiles qui s'agitaient
sur les confins septentrionaux du monde grec, du Caucase ä l'Adriatique.
Lehrreich ist der Aufsatz von Ad. Rein ach: Noe Sangariou,
etude sur le diluge en Phrygie et le syncritisme judio-phrygien in Revue
des itudes juives 1913, April.
Aus Hermes 48, 3 notieren wir A. Rosenberg: Studien
zur Entstehung der Plebs, und zwar 1. sacrosanctus. 2. Der Rechts-
ursprung des Tribunats. 3. Die lex Icilia de Aventino ; E. v. S t e r n:
Solon und Peisistratos; W. Heraeus: Lateinische Gedichte auf
Inschriften; St. Braßloff: Die rechtliche Bedeutung der Inaugu-
ration beim Flaminat und R. M. M e y e r: Tacitus und die Arminius-
lieder.
Die Rangordnung der römischen Centurionen, Berliner Disser-
tation von Theodor Wegeleben. Berlin, W. Weber. 1913. —
Diese klar geschriebene, scharfsinnige Abhandlung macht der höchst
sonderbaren, aber bisher allgemein akzeptierten Hypothese von der
Rangverschiedenheit der 60 Centurionen einer Legion, welche für die
höchste Stelle des primipilus normalerweise ein 60faches Avancement
voraussetzte, ein Ende. Statt ihrer gelingt es dem Verfasser, eine
Ranggleichheit der Hauptleute in der 2. — 10. Kohorte glaubhaft zu
machen. Ihnen stehen gegenüber die 6 Centurionen der 1000 Mann
starken 1. Kohorte. Von ihnen sind die höchsten der primus pilus
mit Kommando über 400, der (primus) princeps über 200 und der
(primus) hastatus, der bloß 100 Mann kommandiert, wie die anderen
Hauptleute.
Freiburg i. B. M. Geizer.
Aus den Sitzungsberichten der Kgl. Preuß. Akademie 1913,
36/37 notieren wir E. Meyer: Untersuchungen zur Geschichte des
zweiten Punischen Krieges und C. Schuchhardt: Westeuropa
als alter Kulturkreis.
In den Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum 16,6/7
behandelt R. Reitzenstein die Areopagrede des Paulus, der
gegen Harnack sich wendet und klar und eindringlich dessen Schwä-
chen aufdeckt. Weiter notieren wir G. H erbig: Die nächsten Auf-
Alte Geschichte. 651
gaben der etruskischen Archäologie; A. Schulten: Martials spani-
sche Gedichte; J. Dräseke: Der Übergang der Osmanen nach
Europa im 14. Jahrhundert und H. Lanier: Die Arbeiten in Per-
gamon 1910—1911.
Im Rheinischen Museum 68, 3 behandeln J. M e s k : Antiochos
und Stratonike, um die Überlieferung dieser Geschichte aufzuhellen
und alte novellistische Züge darin aufzuzeigen, dann U. K a h r -
s t e d t: Die Martyrerakten von Lugudunum 177 (Euseb. h. e. V, 1 ff.);
weiter ist anzuführen der Aufsatz von St. Braßloff: Zur Lehre
von den Freilassungen in der römischen Kaiserzeit; M. L. Strack:
In Sachen Abderas, der sich gegen Wilamowitz' Angriffe wehrt und
E. Hohl: Tacitus und der jüngere Plinius.
Wertvoll und bedeutsam ist die Untersuchung Br. Keils:
Ein Xoyoi avornrtxof, worin das 35 Stück in der Sammlung der Julian-
briefe als ein Empfehlungsschreiben, welches von den Führern einer
Gesandtschaft bei der Ankunft dem Prokonsul überreicht wurde,
nachgewiesen wird. Er gehört in die 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts
n. Chr.
Aus der Byzantinischen Zeitschrift 22, 1/2 notieren wir D, S e r -
ruys: Les Canons d'Eusebe, d'Annianos et d'Andronicos d' apres EUe
de Nisibe ; M. J u g i e : Abraham d'Ephese et ses ecrits ; L. C a n t a -
r e 1 1 i : L''Ena^xo^ Aiyvnrov nei papiri di Theadelphia ; Ch. S a u -
m a g n e : Etüde siir la propriite ecclesiastique ä Carthage d' apres les
nouvelles 36 et 37 de Justinien ; Ch. D i e h 1: Catherine ou Theodor a?
R. Grosse: Das römisch-byzantinische Marschlager vom 4. bis
10. Jahrhundert; L. Br^hier: A propos de la question „Orient ou
Byzance"?
Im Philologus 72,2 handelt W. F. Otto über: Die Luperci
und die Feier der Luperealien, der die neuerdings von Deubner stam-
mende und von Wissowa aufgenommene Erklärung: „Wolfsabwehrer"
mit Recht verwirft und lupercus als , .wolfsähnlich" erklärt. Weiter
ist beachtenswert E, v. Druffel: Papyrologisches. 1.: Zu Pap.
Grenf. 111; 2.: Zum Hermiasprozeß; Fr. Görres: Die Religions-
politik des Kaisers Licinius. Beiträge zur Kritik der Quellen des
diokletianisch-konstantinischen Zeitalters.
In der Revue des questions historiques 1913, Juli veröffentlicht
Th. de Launay eine Studie über La campagne de Sabinus en Nor-
mandie (56 ans a. J. C.) und M. Besnier eine ausgezeichnete Chro-
nique d'histoire ancienne grecque et romaine.
In Mimoires de la Sociiti nationale des Antiquaires de France
1912 ist eine Abhandlung von R. Mowat: Les conspirateurs et les
42*
652 Notizen und Nachrichten.
pretendants nan reconnus par le Senat depuis. Jules Cesar jusqiF
malus Augustus.
In der Revue historique 1913, Juli-August gibt J. To utain
einen vortrefflichen Überblick über die Antiquitis romaines. Dann
behandelt L. Homo: L'empereur Gallien et la crise de l'empire Ro-
main au III* sikcle.
In den Comptes rendus de VAcademie des inscriptions et belles-
lettres 1913, JVlärz— April veröffentlicht A. Merlin: Decouvertes ä
Utique, darunter höchst wichtige Inschriften, vor allem eine aus repu-
blikanischer Zeit dem quaestor Q. Numerius Q. F. Rufus gesetzt von
den Stipendiarii der pagi Muxsi, Gususi und Zeuget. Weiter berichten
Capitan, Peyrony und Bouyssonie unter dem Titel :
l'art des cavernes über die neuesten Entdeckungen und Funde in der
Dordogne.
Im American Journal of archaeology 1913, April-Juni veröffent-
lichen D. iVl. Robinson: inscriptions from the Cyrenaica und
W. B. D i n s m 0 r: Attic building accounts. 2: The Erechtheum. Den
Schluß des Heftes bilden die oft angezeigten, trefflichen Archaeological
discussions. Summaries of original articles cfiiefly in current publica-
tions von W. N. Bates.
Aus The Journal of hellenic studies 33, 1 notieren wir M. O. B.
C a s p a r i : On the revolution of the four hundred at Athens ; T, W.
Allen: Lives of Homer; M. N.Tod: Three greek numeral Systems;
A. W. Gomme: The legend of Cadmus and the logographi ; W. M.
C a 1 d e r: Corpus inscriptionum neo-phrygiarum. II ; P. G a r d -
ner: Note on the coinage of the Jonian revolt; G. Dickins: The
growth of Spartan policy. A reply (gegen Grundy).
Das Bullettino della Commissione archeologica comunale di Roma
40,4 ist reich an Aufsätzen und Mitteilungen. O. Marucchi:
/ monumenti Egizl ed i monumenti Cristiani recentementi sistemati
nel museo Capitolino. Part. 2: Collezione cristiana (reich an Inschriften,
deren Mitteilung höchst willkommen ist); G. Schneider-Gra-
z i 0 s i : Vn monumento quasi ignorato nella regione prima (betrifft
eine Inschrift aus Velletri, welche vortrefflich erklärt wird); E. G a 1 1 i:
Avanzi di acquedotti romane scoperti presso Porta Maggiore ; L. C a n -
t a r e 1 1 i : Gli utricularii und Scoperti archeologiche in Italia e neue
antiche provincie Romane ; U. A n t o n e 1 1 i : // culto di Mitra neue
coorti pretorie und G. G a 1 1 i : Notizie di recenti trovamenti di anti-
chitä in Roma e nel suburbio.
Das Nuovo Bullettino di archeologia cristiana 19,1 — 4 ist der
16. Zentenarfeier Constantins und dem 50 jährigen Bestehen der durch
Alte Geschichte. 653
Giovani Battista de Rossi gegründeten Zeitschrift gewidmet und ent-
hält eine große Menge vortrefflicher Aufsätze, von denen wir hier
folgende hervorheben : G. B. D e R o s s i : Una questione suU'arco
trionfale dedicato a Costantino und L'iscrizione delVarco irionfale di
Costantino ; L. Duchesne: Constantin et Maxence ; R. P a r i -
b e n i : SulVorigine del nome cristiano ; A. M o n a c i : La campagna
di Costantino in Italia nel 312 ; C. S a n t u c c i : L'editto di Milano
nei riguardi del diritto ; Schneider Graziosi (G.), // labaro
Costantiniano e la risurrezione di Lazzaro sopra due marmi del cimi-
ttro di Priscilla ; A. S i I v a g n i : // titolo Costantiniano di Equizio ;
F. H e r m a n i n : La leggenda di Costantino imperatore nella cfiiesa
di S. Silvestro a Tivoli.
Aus demselben Anlaß bringt auch die Revue des deux Mondes
1913, 15. Juli einen Artikel von R. P i c h 0 n: La liberti de consciente
dans Vancienne Rome ä propos du seixieme anniversaire de l'idit de
Milan.
Die !-^(>;fa«oAoy«x»; 'E^fis^ie 1912, 3/4 ist ungemein reich an
Berichten und Mitteilungen, wovon wir hier nur erwähnen können
A. E r ayye ?. iS t] e: Ex t^s MvKr]VMv yeojfierQixrjs rsxponöXeios ; K.
K ovQOvvKiizr; s: To iv yivxoaov^ Miyaqov rrj^ JeanoivTjS ; ^. Be^-
aatirjs: Mvrifieia tiöv voriioy jiqotioSwv rr,s yixooTiökeaig ; V. XaT^t-
Sdxte: Tvliaoe Mncoixr; und von Ad. Wilhelm die trefflichen Er-
klärungen und Herstellungen euboischer und athenischer Inschriften,
während A. Arvanitopullos seine Herstellungen thessalischer
Inschriften mitteilt.
Neue Bücher : G e m o 1 1 , Israeliten und Hyksos. Der histor.
Kern der Sage vom Aufenthalte Israels in Ägypten, (Leipzig, Hin-
richs. 6 M.) — Die antiken Münzen Mysiens. Bearb. von Hans v.
Fritze. 1. Abtlg. (Berlin, Reimer. 32 M.) — H ands , Italo-greek
coins of Southern Italy. (London, Spink and son.) — Rosenberg,
Der Staat der alten Italiker. Untersuchungen über die ursprüng-
liche Verfassung der Latiner, Osker und Etrusker. (Berlin, Weid-
mann. 4 M.) — Holmes, Cäsars Feldzüge in Gallien und Britan-
nien. Übersetzung und Bearbeitung von Wilh. Schott, nach dessen
Tode zu Ende geführt von Fei. Rosenberg. (Leipzig, Teubner. 9 M.)
— S 0 m i gl i di S. D et ale , Costantino il grande e il problema po-
litico-religioso al principio del secolo IV {2y4 — 337). (Firenze, Razzo-
lini. 2 L.) — B en igni , Storia sociale della chiesa. Vol. IL (Da
Costantino alla caduta delVimpero romano), tomo I. (Milano, Vallardi.)
— S e e c k , Geschichte des Untergangs der antiken Welt. 5. Bd.
(Berlin, Siemenroth. 6 M.)
654 Notizen und Nachrichten.
Römisch-germanische Zeit und frühes Mittelalter bis 1250.
Aus den neuen Heften des Römisch-germanischen Korrespon-
denzblattes 5 N. 6 und 6 N. J — 3 notieren wir im AnschUiß an die
Reihenfolge der einzelnen Hefte folgende Beiträge. Chr. H r. e 1 s e n
wertet Boissards Metzer Inschriftensammlung und den Grabstein eines
römischen Bierbrauers, E. Wagner schildert eine römische Nieder-
lassung bei Eckartsbrunn im Amte Engen, P. G o e ß 1 e r drei rö-
mische Votivsteine im württembergischen Gingen am Fils. E. Rit-
terling liefert Beiträge zum Germanenkrieg der Jahre 39 — 41 n.
Chr. Geb., W. Bremer befaßt sich mit steinzeitlichen Ansiedlungen
bei Eberstadt im Kreise Gießen, St. K a h mit drei Gigantenreiter-
gruppen in Haueneberstein bei Baden-Baden. Über einige frührömische
Fibelformen handelt E. Krüger, über steinzeitliche und Latfene-
wohnanlagen bei Heilbronn A. S c h 1 i z , während K. H ä h n I e
über die Ausgrabungen zu Haltern im Jahre 1912 berichtet und
K ö r b e r neue Inschriften aus Weißenau bei Mainz mitteilen kann.
Im letzten der hier zu wertenden Hefte (6 N. 3) nimmt J. B. K e u n e
zu Hülsens Ausführungen über Boissards Metzer Inschriftensammlung
Stellung; von den kleineren Notizen über neue Funde und Ausgra-
bungen sei allein die von P. Reinecke über solche zu Kempten
im Jahre 1912 verzeichnet. An den weiteren Inhalt der Hefte, vor
allem an die Berichte über Verbands- und Vereinstagungen mit ihrer
Wiedergabe einzelner Vorträge u. a. m. kann hier nur erinnert werden.
Im 9. Sammelblatt des Historischen Vereins Freising (1912) han-
delt K. H 0 I z h e y über prähistorische Gräber in der Freisinger Ge-
gend; J. Schlecht teilt aus einer Münchener Handschrift zwei
Urkunden des Bischofs Konrad I. von Freising mit, die wohl den
Jahren 1248 oder 1249 angehören und mittelbar mit dem Kampfe
zwischen Friedrich II. und Innocenz IV. zusammenhängen.
In seiner Studie „Ancient Rome and Ireland" in der English
Hist. Review XXVIII, S. 1— 12 bekämpft F. Haverfield Zim-
mers Annahme eines „lebhaften" Handels der Iren mit dem Römer-
reich für die Zeit von 50 — 350 n. Chr. und stellt dabei die spärlichen
Funde von römischen Münzen u. a. in Irland zusammen. Die Ver-
teilung der Fundorte veranschaulicht eine Karte. Danach hatten die
mittelalterlichen Seefahrten vom Frankenreich nach der irischen West-
küste in der Römerzeit keine Vorgänger. A. H.
Anknüpfend an die Arbeiten von K. H. Schäfer und A. Ludwig
geht im Archiv für katholisches Kirchenrecht 93, 2 F. G i 1 1 m a n n
dem Problem nach, welche Stellung die frühscholastischen Theologen
und Kanonisten zur Frage der Diakonissen und zur Möglichkeit der
Ordination von weiblichen Klerikern überhaupt einnahmen.
Frühes Mittelalter. 655
Das jüngst ausgegebene Heft des Neuen Archivs 38, 2 enthält
eine große Zahl umfangreicherer und kleinerer Studien, die hier we-
nigstens erwähnt werden sollen. Vorangestellt sei der Hinweis auf
zwei Übersichten von Handschriften, die eine von W. L e v i s o n
über Codices des Museum Meermanno-Westreenianum im Haag, die
andere von F. W. E. Roth über Handschriften in der Bibliothek
des Priesterseminars zu Mainz. A. Hofmeister handelt über
eine Handschrift der Sächsischen Weltchronik, P. Lehmann über
neue Textzeugen des Prüfeninger Liber de viris illustribus {Anony-
mus Mellicensis). Zur Quellenkunde haben S. H e 1 1 m a n n (zu
den Gesta Treverorum) und K. U h I i r z (Das Admonter Bruchstück
einer Abschrift der Melker Annalen) beigesteuert, vor allem aber
zwei Aufsätze aus dem Nachlaß von O. Holder-Egger zur
Kritik minoritischer Geschichtsquellen und zur Lebensgeschichte des
Bruders Salimbene de Adam, der letzterwähnte ein Bruchstück, das
den Tod des Verfassers erneut beklagen läßt (vgl. 108, 424). H.
B r e ß I a u teilt eine gefälschte Urkunde Karls des Großen für das
Bistum Torcello mit, F. Güterbock untersucht ein echtes und
ein unechtes Privileg Friedrichs I. für Kloster Neuburg im Elsaß,
um sich über beide mit J. Haller auseinanderzusetzen. J. B a c h -
mann sucht die Zeit zweier Briefe im Codex Udalrici näher zu be-
stimmen, während D. von K r a 1 i k seine Studie über die deutschen
Bestandteile der Lex Baiuvariorum (vgl. 111, 208 f.) um einen zweiten
Teil vermehrt.
M. J u s s e I i n schlägt in der Bibliotheque de Vecole des chartes
74, 1/2 S. 67 ff. für eine Reihe von tironischen Noten in merowingi-
schen Königsurkunden neue Lesungen vor, die zugleich Einblick in
das Getriebe der Kanzlei, vor allem in die Art und Weise gewähren
möchten, wie Befehle an Kanzleibeamte gegeben und von diesen zum
Ausdruck gebracht wurden. Jusselin findet in mehreren Urkunden
die Note per anolum (anolo) und deutet sie darauf, daß sie auf Be-
fehle aufmerksam mache, die durch ein mit dem Ring besiegeltes
Schriftstück des Befehlsgebers übermittelt worden seien, nicht aber
mündlich.
E. Jörge nsen, Fremmed Indflydelse ander den Danske
Kirkes tidligste Udvikling. Kgl. Danske Videnskabs Selskabs Skrifter
I. /?. Histor. og Filos. Afdel. F. 2. Kopenhagen 1908. 123 S. —
Die Abhandlung ist das Ergebnis einer von der Akademie der Wissen-
schaften in Kopenhagen gestellten Preisaufgabe, zu ermitteln, von wel-
chem Volk die älteste dänische Kirche beeinflußt worden ist in ihrer
inneren Entwicklung (Organisation, Verwaltung, Gesetze, Sprache
Liturgie). Verfasserin untersucht den Zeitraum dänischer Kirchen
t)56 Notizen und Nachrichten.
geschichte vom 9. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts, bis die Ein-
tracht zwischen Kirche und Königtum für lange zerreißt. Ein Ein-
schnitt liegt etwa bei 1050 und ergibt sich durch den Sturz der däni-
schen Herrschaft in England und die Organisation der dänischen
Kirche unter König Svend Estridson. In der ersten Periode hat sich
angelsächsischer Einfluß in beherrschender Weise geltend gemacht
für die Ausbildung der Liturgie in Dänemark, In der zweiten Periode
ist das Bild der in die dänische Kirchenentwicklung hineinspielenden
fremden Einflüsse mannigfaltiger. Jetzt überwiegt der deutsche den
angelsächsischen Einfluß. Die angelsächsische Kirche ist im Ab-
sterben. Auch französische und römische Einflüsse beginnen sich zu
zeigen. — Im einzelnen behandelt Verfasserin unter scharfsinniger und
umfassender Verwertung der Quellen die Ernennung der Bischöfe^
die Organisation des Klerus, die kirchliche Gesetzgebung und Straf-
gewalt, die Entwicklung der Liturgie, den Heiligenkalender und die
Kirchensprache, in der besonders starke angelsächsische Einflüsse
nachgewiesen werden.
Kiel. Daenell.
Über mittelalterliches Bücherwesen in Dänemark (einschließl.
Schonen) hat Dr. Ellen Jörgensen eine gründliche Untersuchung
veröffentlicht. Es werden der Reihe nach behandelt: Bücher für den
Gebrauch der Domkirchen, Bibliotheken der Bischöfe und Kanoniker^
Schulbücher, Klosterbibliotheken, Bücher, die bei Kirchen und Geist-
lichen rings im Lande verbreitet waren, endlich solche im Besitz von
Laien (Studier over danske middelalderlige Bogsamlinger, S.-A. aus
Dansk Historisk Tidsskrift 8. R. IV. 1912. 67 S). V^. V.
Thomas C a r 1 y 1 e , Frühe Könige von Norwegen. Übersetzt
von Peter Bredt. Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht. 1911. 155 S.
— Die Early Kings of Norway waren Carlyles letzte historische Ar-
beit, und man versteht, daß er, nach Froude, mit ihr wenig zufrieden
war. In der Tat bietet sie kaum mehr als einen kurzen Auszug aus
Snorres norwegischen Königsgeschichten, freilich gesehen durch Car-
lylesches Temperament. Aber Carlyles Absicht ging wohl auch nicht
weiter als die alten geliebten nordischen Gestalten seinen Landsleuten
nahezubringen, und denselben Zweck mag für uns auch diese deutsche
Ausgabe noch erfüllen, solange die so wünschenswerte deutsche Über-
setzung der Heimskringla fehlt. Die Übersetzung liest sich gut, nur
mit dem schrecklichen „Olaf dem Untersetzten" kann man sich schwer
befreunde^, mag es auch das Thick-set or Stout-built des englischen
Originals buchstäblich wiedergeben. Walther Vogel.
W. Erben gelangt in seinen gründlichen Untersuchungen zur
Lebensgeschichte des Erzbischofs Gebhard von Salzburg (f 1088) zu
Frühes Mittelalter. 657^
folgenden, auch für die Geschichte des Deutschen Reiches unter Hein-
rich III. und Heinrich IV. nicht unwichtigen Ergebnissen: Gebhard
hat unter Heinrich 111. nicht die Stelle des Erzkaplans erlangt; im
Jahre 1074 weilte er als Vertrauensmann Heinrichs IV. am Kaiser-
hofe von Byzanz; im Jahre 1071 wurde er von Papst Alexander II.
durch ein besonderes Mandat für die Verhandlungen der Mainzer
Synode mit der päpstlichen Stellvertretung betraut, nicht aber mit
einer Legation über alle Kirchen des Deutschen Reiches. Erben neigt
dazu anzunehmen, daß Gebhards Bezeichnungen als Erzkaplan und
als Legat für Deutschland, wie sie erst im ausgehenden 12. Jahrhundert
entgegentreten, mit Bestrebungen zusammenhängen, die am Salzburger
Hofe in den Zeiten nach dem Frieden von Venedig auftauchen mochten
(Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 53. 1913).
In der von Brandenburg und Seeliger herausgegebenen „Quellen-
sammlung zur deutschen Geschichte" bietet Rudolf Kötzschke
eine reichhaltige und lehrreiche Zusammenstellung von „Quellen zur
Geschichte der ostdeutschen Kolonisation im 12. — 14. Jahrhundert"
(Leipzig-Berlin, Teubner. 1912. 142 S. mit 4 Flurkarten. 2 M.).
Auch die Urkunden über deutsche Stadtgründungen im slawischen
Osten sind in ausgiebiger Weise berücksichtigt worden.
An die Publikation der bisher unbeachteten Aufzeichnung de*^
,,Debita Willelmi Cade", d. h. der von ihm ausgeliehenen Summen,
Von etwa 1 165 — 1 166 knüpft H. Jenkinson in der English Hist.
Review XXV III, S. 209 ff. lehrreiche Bemerkungen über diese Per-
sönlichkeit, die er als den ersten christlichen Finanzmann großen Stils
charakterisiert, und über die Finanzgebarung der ersten Jahre Hein-
richs II. Er vermutet, daß Cade, dessen Geldgeschäfte mit der Krone
auch in den Pipe-Rolls Heinrichs II. zu verfolgen sind, aus Flandern
stammte und um 1166 starb. A. H.
Unter dem Titel „Philipp II. August und der Zusammenbruch
des angevinischen Reiches" veröffentlicht A. Cartellieri seinen
zu London gehaltenen Vortrag, der in gedrängter Kürze den Inhalt
des demnächst erscheinenden vierten Bandes seines Werkes über den
König von Frankreich wiedergibt. Die Herausarbeitung der entschei-
denden Ereignisse und die Abschätzung internationaler Politik um
die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts sind wohl gelungen, immerhin
wird zu einem abschließenden Urteil die ausführlichere Darstellung
abzuwarten sein (Leipzig, Dyk. 1913. 16 S.).
E. Michael behandelt in der Zeitschrift für katholische Theo-
logie 1913, 3 S. 689 ff. „zwei staatsrechtliche Fragen des hohen
Mittelalters", die durch neuere Arbeiten wieder an Interesse gewonnen
Raben; einmal Papst Innocenz III. und die „Kaiserwahl", sodann
658 Notizen und Nachrichten.
das Verhältnis der Nürnberger Wahl Friedrichs II. im Jahre 1211
zu seiner Frankfurter Wahl im Jahre 1212.
F. Baethgen unterwirft die Nachrichten über die Exkommu-
nikation Philipps von Schwaben einer erneuten Prüfung. Im Gegen-
satz zu A. Hauck (Berichte der sächsischen Gesellschaft der Wissen-
schaften 1904, S. 137 ff.) vertritt er die Meinung, daß eine allgemeine
Bannsentenz Cölestins III. den Hohenstaufen unter die detentores et
invasores patrimonii b. Petri subsumiert, Philipp von Schwaben aber
jene Subsumtion nicht anerkannt, sich selbst also nicht als gebannt
betrachtet habe; bat er aber 1 197 oder 1 198 um Absolution und erkannte
er damit den Bann an, „so hatte er in den unaufgeklärten Verhältnissen
nach Heinrichs VI. Tode vielleicht es für angezeigt gehalten, der Kurie
einen Schritt entgegenzukommen. Im Jahre 1206 hatte er dazu keinen
Grund; Innocenz' sophistisches Ausnutzen der Bannsentenz mochte
ihn gereizt haben, vor allem aber hatte seine politische Position sich
entscheidend verschoben. In diesem Augenblick war er der Sieger,
der sich auf den schroffen Rechtsstandpunkt stellen konnte und der
sich nicht mehr veranlaßt sah zu einem Zugeständnis, das die Zähig-
keit der Kurie im weiteren Verlauf der Unterhandlungen ihm doch
abgerungen zu haben scheint". Auch die Würdigung von Innocenz'
Verhalten weicht von der durch A. Hauck ab, dessen Verurteilung
der Nachrichten in den päpstlichen Schreiben Baethgen bekämpft
(Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung
34, 2).
In den Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und
Bibliotheken 15,2 veröffentlicht H. Kalbfuß eine zweite Reihe
von Urkunden und Regesten zur Reichsgeschichte Oberitaliens. Es
ist schwer, von dem reichen Inhalt der gebotenen Stücke eine klare
Vorstellung zu geben: hier muß die Bemerkung genügen, daß die
meisten der mitgeteilten Stücke der ersten Hälfte des 13. Jahrhun-
derts angehören, also vor allem zur Geschichte Friedrichs II. und
seiner Zeit Beiträge liefern. Der Herausgeber hat sich bei der Durch-
forschung der Archive und Sammlungen nicht darauf beschränkt, nur
Kaiserurkunden zu suchen und zu finden. Indem er auch den Urkunden
u. a. kaiserlicher Legaten, Richter usw. nachging, gelang eine Aus-
beute, die als wichtige Bereicherung des Materials gerade für Fried-
richs II. Verwaltungstätigkeit begrüßt werden darf (vgl. 111, 215).
Angefügt sei der Hinweis auf die Veröffentlichung von E. Sthamer
am gleichen Orte, einer Urkunde nämlich vom Jahre 1259, die für
die Geschichte des Kastells Rocca S. Agata von Interesse ist.
Eine scharfsinnige Untersuchung von H. Niese über die Re^
gister Friedrichs II. (Archiv für Urkundenforschung 5, 1) legt dar^
Frühes Mittelalter. 659
daß man General- und Spezialregister zu scheiden habe, und lehrt
den Inhalt ihrer Eintragungen kennen. Ein glücklicher "Fund im Ar-
chiv zu Neapel ergab bisher unbekannte Urkunden Friedrichs II.
aus den Jahren 1239 und 1240, derart daß ihre Übernahme in ein
Transsumpt vom Jahre 1332 die fortdauernde Verwertung der Re-
gister Friedrichs. 1 1. auch unter seinen Nachfolgern offenbarte (s. auch
III, 215).
Im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins 1913,6/7 findet sich
das Referat eines lehrreichen und aufschlußvollen Vortrages von
K. H. Schäfer über die deutschen Ritter in Italien und ihre Kirche
in Verona. Er erwuchs aus dem Buche des Redners über ,, Deutsche
Ritter und Edelknechte in Italien während des 14. Jahrhunderts" (Pa-
derborn 1912); vgl. die Anzeige von H. Niese in dieser Zeitschrift
109, 647 ff. Seine Ausführungen hätten aber auch an die Bemerkungen
von K. W. Nitzsch (Geschichte des deutschen Volkes III, 1885, S. 201 ff.,
230 ff.) erinnern müssen, in denen das Ausströmen adeliger Kräfte aus
Deutschland gerade während des endenden 13. und beginnenden
14. Jahrhunderts in den Zusammenhang der ständischen Entwicklung
jener Zeit überhaupt gestellt ist, so weit wir sehen zum ersten Male,
derart daß Schäfers Ergebnisse zu ihnen eine wertvolle Ergänzung
und weitere Erläuterung bieten.
R. Hoenigers Betrachtungen über das Erstehen des deut-
schen Volkstums und seine Verbreitung im Mittelalter wollen die
Frage beantworten, „wie aus dem räumlich unsicher begrenzten Ge-
samtbereich urzeitlich-germanischen Wesens ein deutsches Volkstum
sich ausgeschieden hat, welchen Wohnraum es bis zum Ausgang des
Mittelalters gewann und in welchem Umfange über die deutschen
Grenzen hinaus eine deutsche Einflußnahme auf fremdvölkische Außen-
lande erfolgte". Man folgt den im ganzen geschickten Darlegungen
nicht ohne Interesse, wird aber doch wesentlich neue Gedanken ver-
missen, für deren Ausbreitung vielleicht in einer an gebildete Leser
im allgemeinen sich wendende Zeitschrift (Internationale Monatschrift
1913, 10 S. 1221 ff.) nicht Raum gegeben werden mochte.
Elisabeth v. Westenholz, Kardinal Rainer von Viterbo.
(Heidelberger Abhandlungen z. mittl. u. neuer. Gesch. 34. Heft.)
VIII u. 207 S. Heidelberg, Winter. 1912. 5,40 M. — Wenn es zu
voller Würdigung der kurialen Politik des 13. Jahrhunderts dringend
erwünscht ist, aus der langen Reihe ausgeprägter hierarchischer Ge-
stalten, die als Kardinäle neben dem Papst, bisweilen auch als die
eigentlichen Leiter und selbst im Gegensatz zu ihm einen bedeutungs-
vollen Einfluß geübt haben, die hervorragendsten in Einzeldarstel-
lungen kennen zu lernen, so verdient diesen Vorzug zweifellos Rainer
660 Notizen und Nachrichten.
von Viterbo, Kardinal von 1215 — 1250, d. h. unter vier Päpsten, zu
deren jedem Rainer eine nach ihrer Eigenart versciiiedene Stellung
eingenommen hat. Nicht als ob er wegen neuer Gedanken zu den
führenden Geistern zu zählen und etwa deshalb die Angabe seiner
Amtsjahre auf dem Titel überflüssig gewesen wäre, sondern weil in
ihm der von der Kirche gegen das Kaisertum Friedrichs II. geführte
Kampf den leidenschaftlichsten Vertreter gefunden hat. Seine Denk-
weise erkennen wir aus einer Reihe von Schriften, die Hampe 1908
als von einem Kanzlisten Rainers für das Lyoner Konzil von 1245
verfaßt nachgewiesen hat. In lodernder Feindseligkeit und zugleich
in empörender Unwahrhaftigkeit stehen sie unvergleichlich da. Es
ist wertvoll, sie in das Lebensbild Rainers, der schon in Zeiten fried-
lichen Einvernehmens zwischen Kurie und Kaisertum, in den Jahren
1222 und 1234, ohne Schuld des Kaisers sich voll Haß gegen ihn ge-
sogen hatte, eingeordnet und ihr die Handlungsweise gegenübergestellt
zu sehen, die der Kardinal in den eigentlichen Kampf jähren 1244 ff.
entfaltete, als er zur Vertretung des Papstes, zur Führung des Schwertes
wider Friedrich 1 1. in Italien zurückblieb, während Innocenz IV. nach
Lyon zog. Nach vier Jahren war der Papst müde des ungestümen
Draufgängers, der die vorsichtig lavierende päpstliche Politik zu mei-
stern unternahm, ihr mit Tat und Wort seinen unbändigen Trieb zur
Vernichtung des Kaisers auferlegen wollte — Innocenz ließ ihn und
andere ältere Kardinäle fallen zugunsten neuer gefügiger Werkzeuge.
Rainer hat den Sturz nur um reichlich ein Jahr überlebt. Im Ver-
gleich mit der Zeit Innocenz' IV. sind die vorausgegangenen Jahr-
zehnte von viel geringerem Interesse — unter Honorius III. stand
Kardinal Hugo in erster Linie, und dann führte dieser selbst als Gre-
gor IX. ein so starkes Regiment, daß insbesondere für den Gesin-
nungsgenossen zu besonderem Hervortreten kein Anlaß gegeben war.
Die Zeichnung Rainers wirkt überzeugend, v. W. hat selbst tempera-
mentvoll den wenig anziehenden Charakter treu erfaßt und in schöner
Form dargestellt, sie hatte u. a. Arbeiten von Winkelmann, Roden-
berg, Hampe, Gräfe, Pinzi und Signorelli (2 Geschichten Viterbos)
zu verwerten, sie hat in eingehenden Anmerkungen und Exkursen
manche kleinere kritische Frage besonders chronologischer Art ge-
fördert. Bisweilen ist sie zu eifrig einer naheliegenden Vorstellung
gefolgt. Sie würde über Kardinal Hugos Verhältnis zu Franz von
Assisi, dem auch Rainer aufrichtige Ergebenheit, auch in Rede und
Versen, gezollt hat, viel günstiger geurteilt haben (als S. 31), wenn
ihr das 1911 erschienene Buch E. Brems (s. H. Z. 109,221) vorge-
legen hätte, aber das Vorwort datiert vom Herbst 1910 und nichts
weist darauf hin, daß v. W. bis zum Erscheinen ihres Buches im Früh-
jahr 1912 noch irgendetwas geändert habe. v. W. tut Gregor IX.
Frühes Mittelalter. 66^
buchstäblich unrecht, wenn sie S. 37 sagt, er habe seine Regierung
in Rom mit Ketzerbränden begonnen, diese erfolgten, als Gregor im
Dezember 1230 nach Rom zurückgekehrt war, aber schon vom Ok-
tober 1227 ab hatte er dort ein halbes Jahr residiert. Bezüglich der
pseudojoachimitischen Kommentare zu Jeremias und Jesaias hat
sich V. W. (S. 41 und 131), was die Datierung und die weifische An-
schauung betrifft (sie schreibt vielmehr: „von einem kommenden
Kaiser die Rettung hofften"), aus der angeführten guten Abhandlung
von Karl Friderich schlecht unterrichtet. Betreffs des Konklave
von 1241 (Kapitel 3) verweise ich auf meine Besprechung der nach-
gefolgten Abhandlung Hampes oben S. 216. Die Verweisungen sind
bisweilen zu kurz, entbehren manchmal der Seitenzahlen oder geben
unrichtige Zahlen, manchmal längst veraltete Quellenausgaben. Aber
das sind Jugendsünden, die den Wert des Buches nicht eigentlich an-
tasten. Drei Urkunden aus dem Archiv zu Viterbo bzw. der Vatika-
nischen Bibliothek und ein Verzeichnis der Orts- und Personennamen
am Schluß seien erwähnt. K. Wenck.
Neue Bücher : Stuhlfath, Gregor I., der Große. Sein Leben
bis zu seiner Wahl zum Papste nebst einer Untersuchung der ältesten
Viten. (Heidelberg, Winter. 3 M.) — Liebermann, The national
assembly in the Anglo-Saxon period. (Halle, Niemeyer. 2,50 M.) —
Kurze, Die karolingischen Annalen bis zum Tode Einhards. (Leip-
zig, Fock. 1 M.) — D 0 p s c h , Die Wirtschaftsentwicklung der
Karolingerzeit, vornehmlich in Deutschland. 2. Tl. (Weimar, Böhlaus
Nachf. 9 M.) — Liber Largitorius vel notarius monasterii Pharphensis,
a cura di Giuseppe Zucchetti. Vol. I. (Roma, Loescher e Co.
12,80 M.) — S aga X La ndo l f us , Historia, a cura di A. Crivel-
lucci. {Roma, tip. del Senato. 28 L.) — Le carte del monastero di s.
Maria in Firenze (Badia). Vol. I (sec. X, XI) edito da L. Schia-
p ar eil i. (Roma, Loescher e Co. 15 L.) — T h e 1 o e , Die Ketzer-
verfolgungen im 11. und 12. Jahrhundert. (Berlin, Rothschild. 5,40 M.)
— Haupt, Nachrichten über Wizelin, den Apostel der Wagern.
(Tübingen, Laupp. 2,40 M.) — Kowalski, Die deutschen Köni-
ginnen und Kaiserinnen von Konrad III. bis zum Ende des Inter-
regnums. (Weimar, Böhlaus Nachf. 3,20 M.) — Heinr. Zimmer-
mann, Die päpstliche Legation in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts.
(Paderborn, Schöningh. 12 M.) — Frz. Becker, Das Königtum
der Thronfolger im Deutschen Reich des Mittelalters. (Weimar, Böh-
laus Nachf. 4,60 M.) — Gli antichi Vescovi d'Italia dalle origini al
1300. La Lombardia, parte I : Milano, per cura di F. S avi 0. (Firenze,
libr. ed. Florentina. 20 L.)
662 Notizen und Nachrichten.
Späteres Mittelalter (1250—1500).
Enactments in Parliament specially concerning the Universities of
Oxford and Cambridge the Colleges and Halls therein and the Colleges
of Winchester Eton and Westminster. Edited by Lionel Lancelot S had-
w e 1 1 M. A. of New College Oxford Barr ister-at- Law. 4 Bde. Oxford
Clarendon Press 1912, XXXIX u. 360, 407, 420 u. 384 S. — Den An-
stoß zu der vorliegenden Sammlung alier sich auf die beiden alten
englischen Universitäten beziehenden Parlamentsbeschlüsse gaben prak-
tische Erwägungen. Die im Jahre 1869 von Dr. Griff iths herausge-
gebenen „Enactments in Parliament specially concerning the Universities
of Oxford and Cambridge" waren seit einiger Zeit so gut wie vergriffen,
und die seither getroffenen Verfügungen über die Universitäten waren
nirgends zusammengestellt. Die Delegierten der Clarendon Press lei-
teten daher eine neue Ausgabe in die Wege. Doch hielten sie und der
Herausgeber sich nicht an den Plan der von Qriffiths besorgten Samm-
lung, griffen vielmehr weit über diese hinaus und brachten so ein Werk
zustande, das auch für den Historiker von großer Bedeutung ist. Wäh-
rend der frühere Herausgeber nur Akte zum Abdruck brachte, die noch
in Kraft standen, publiziert Shadwell alle Akte, die sich auf die beiden
Universitäten beziehen, ohne Rücksicht darauf, daß viele von ihnen
später aufgehoben wurden. Außerdem sind die Grenzen des aufzu-
nehmenden im aligemeinen weiter gesteckt worden als in der alten
Sammlung; so ist z. B. auch die ganze Gesetzgebung über die mit den
Universitäten in Oxford und Cambridge in engem Zusammenhange
stehenden Colleges von Winchester, Eton und Westminster hinein-
bezogen worden. Außerdem kommen noch die seit 1869 erlassenen
Dekrete hinzu, die fast einen ganzen Band ausfüllen und bis zum Jahre
1910 führen. Soweit nicht offizielle Drucke vorlagen, sind für die Her-
stellung des Textes die Originale zu Rat gezogen worden. Von den
Akten sind nur die Teile vollständig mitgeteilt, die sich direkt auf die
Universitäten beziehen, die übrigen Abschnitte sind in der Regel in
einem kurzen Regest resümiert. Auch die neuen Anmerkungen tragen,
so knapp sie gehalten sind, dem veränderten Charakter der Sammlung
Rechnung; sie suchen auch den Benutzern entgegenzukommen, die
den Stoff vom historischen Standpunkt aus betrachten. Ein sorgfältig
gearbeitetes Sach- und Personenregister ist beigegeben. So ist das der
Clarendon Press zu verdankende Werk denn auch für den Historiker zu
einer außerordentlich wertvollen JVtaterialsammlung geworden. Fueter.
Untersuchungen zu Gottfried Hagens Reimchronik der Stadt
Köln nebst Beiträgen zur mittelripuarischen Grammatik von Ernst
D 0 r f e I d, (Germanist. Abhandlungen herausgegeben von Fr. Vogt.
Heft 40.) Breslau, M. u. H. Marcus. 1912. XII u. 320 S. 10,80 M.
Späteres Mittelalter. 663
— Diese umfangreiche und gründliche Arbeit geht die Leser der Hi-
storischen Zeitschrift nur in ihrem ersten Drittel (S. 1 — 94) näher an;
die weiteren Teile behandein die mittelripuarische Sprache des Autors,
seine Metrik, schließlich Syntax und Stil. Die Reimchronik des köl-
nischen Stadtschreibers Gottfried Hagen, an deren vom Verfasser
selbst gebotener Datierung auf das Jahr 1270 Dorfeid S. 90 Anm.
gegen Cardauns festhält, liegt uns vollständig nur in einer Frankfurter
Papierhandschrift (F) des 15. Jahrhunderts vor, nach der sie E. v. Groote
(1834) sehr zuverlässig herausgegeben hat. Ein später aufgetauchtes
Pergamentblatt aus Düsseldorf (D), das der Zeit um 1300 zugeschrieben
wird, hat den letzten Herausgeber C. Schröder (in den Chroniken der
deutschen Städte Bd. 12, 1875) zu unberechtigtem Mißtrauen gegen die
gute sprachliche Form von F verführt und auch sonst zu allerlei Will-
kürlichkeiten verleitet, während er tiefergreifende Mängel der Über-
lieferung nicht erkannt oder doch falsch beurteilt hat. Dorfeid ver-
sucht den Nachweis, daß der Fortgang der Erzählung, in der Schröder
mehrfach Lücken ansetzte, vor allem durch drei alte Blattversetzungen
gestört ist, deren richtige Erkenntnis die Annahme von Lücken ein-
schränkt. Diese Verwirrung muß schon sehr früh eingetreten sein,
denn sie wird geteilt von der Koelhoffschen Chronik, welche Hagens
Werk umständlich benutzt, ja in einem Falle ist sie bereits durch
das Fragment D bezeugt. Mir hat die Beweisführung Dorfeids nament-
lich im ersten Falle eingeleuchtet, und auch die Erklärung des Vorgangs
kann man sich aneignen: daß das Werk anfangs öfter aus dem Original
vorgelesen wurde und dabei solchen Eingriffen leichter ausgesetzt war,
während später, nachdem die Blattfolge gestört war, die Überlieferung
nur durch Abschreiber erfolgte, welche für Leser arbeiteten; diese
beiden Instanzen kamen der Zerrüttung des Textes weniger leicht
auf die Spur, als etwa der Vorleser und seine Zuhörer. Nur freilich
erscheint mir die Vorstellung von dem mechanischen Prozeß, welche
Dorfeid entwickelt, wenig wahrscheinlich: zweimal soll ein Doppel-
blatt im Falz durchgerissen sein (S. 16, 27) — bei einer Pergamenthand-
schrift ist das doch nicht gut ohne Anwendung der Schere möglich;
und da Dorfeid überdies nicht um die Verschiebung von Einzelblättern
herumkommt, Ist es doch wohl wahrscheinlicher, daß der Originaltext
eben auf solchen fixiert war. Es muß übrigens ein sehr zierliches Ta-
schenbuchformat gewesen sein. ■ — So treu die Handschrift F das sprach-
liche Gewand der 200 Jahre altern Dichtung überliefert hat, dem Text-
kritiker gibt sie doch im einzelnen recht viel zu tun: den meisten der
auf S. 34 — 78 gebotenen Emendationen wird man unbedenklich zu-
stimmen können. Schließlich tritt Dorfeid den Beweis an, daß der
Text in F aus reimtechnischen Rücksichten überarbeitet worden sei
(S. 78 — 94); auch dies wird man anerkennen müssen. Edward Schröder.
664 Notizen und Nachrichten.
Aus der Ztschr, f. d. Gesch. d. Oberrheins N. F. 28, 3 sind hier
folgende Arbeiten zu erwähnen. H. Kaiser berichtet über eiae
neue Überlieferung des namentlich für die Wirtschaftsgeschichte wich-
tigen Liber possessionum Edelins von Weißenburg, die — bruchstück-
artig nur erhalten — in einem der letzten Jahrzehnte des 13. Jahrhun-
derts von demselben Schreiber hergestellt ist wie die von J. C. Zeuß
zum Abdruck gebrachte. Chr. R o d e r gibt nach Grabsteinen und
nach Urkunden aus der Zeit von 1349 — 1376 Nachrichten zur Geschichte
der Juden in Überlingen während des späteren Mittelalters, A. Krie-
ger veröffentlicht unbekannte Berichte über das Lütticher Abenteuer
des zum mamburnus von Stadt und Bistum erwählten Markgrafen
Markus von Baden und seines Bruders Karl (1465), und K. S t e n z e 1
gibt in seinem übrigens auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht be-
merkenswerten Aufsatz über den Franckschen Handel einen lehrreichen
Beitrag zu den Beziehungen zwischen Stadlf und Bistum Straßburg
am Ausgang des 15. Jahrhunderts.
M, V y s t y d veröffentlicht in den Mitteilungen des Instituts
für Österreich. Geschichtsforschung 34, 2 eine umfangreiche quellen-
kritische Untersuchung, die Seemüllers Ansicht von der Benutzung
der Königsaaler Chronik durch den steierischen Reimchronisten einer
gründlichen Nachprüfung unterzieht. Wie schon J. Loserth in dieser
Zeitschrift 74, 286 ff. kommt auch Vystyd zu dem Ergebnis, daß von
einer solchen Benutzung nicht die Rede sein kann, daß gewisse Über-
einstimmungen sich vielmehr durch die Annahme einer gemeinsamen
Vorlage zwanglos erklären lassen. Die Entstehung dieser nicht bekannt
gewordenen Vorlage würde in den Zeitraum von etwa 1290 — 1297 zu
setzen sein.
P. Thomas veröffentlicht in der Revue du Nord 1913, Mai
aus den im Departemental-Archiv zu Lille bewahrten Akten der Rech-
nungskammer lehrreiche Zusammenstellungen über die Zeitdauer, die
für die Beförderung von Postsachen aus französischen und belgischen
Städten nach Lille im 14.- Jahrhundert erforderlich war.
In der Bibliotheque de VEcole des chartes 1913, Januar-April be-
ginnt Jules V i a r d mit einer Zusammenstellung des Itinerars für
König Philipp VI. von Frankreich (bisher 1328—1337).
Gewissermaßen als Beilage zu dem im vorigen Band dieser Zeit-
schrift S. 473 ff. erschienenen Aufsatz über den Hochmeister des Deut-
schen Ordens und das Reich bis zum Jahre 1525 veröffentlicht A.
Werminghoff im Archiv für Urkundenforschung 5, 1 eine kleine
Untersuchung über Überlieferung, Form und Inhalt der Urkunden
Ludwigs des Bayern für den Hochmeister Dietrich von Altenburg
vom Jahre 1337. Dieselben bestehen aus einem Entwurf auf einem
Späteres Mittelalter. 665
Pergamentblatt mit dem Siegel des Hochmeisters und des Herzogs
von Bayern und aus einer Prunkausfertigung, die vielfach, aber — wie
Werminghoff nach dem Vorgang anderer Forscher nachweist — zu
Unrecht als Fälschung verdächtigt worden ist. Der von einem Kanzlei-
beamten des Ordens aufgesetzte Entwurf, der die Billigung des Kaisers
gefunden hat, ist der Reinschrift zugrunde gelegt worden und mit
ihr in das Archiv des Ordens gewandert: alle Stilwidrigkeiten der letz-
teren erklären sich aus der Tatsache, daß eben eine Empfänger-
ausfertigung vorliegt, an der in der Reichskanzlei nichts geändert
worden ist.
Trotz mancher Druckfehler, Ungleichmäßigkeiten und anderer
Versehen ist eine Arbeit, in der Luise v. W i n t e r f e 1 d die Entwick-
lung des kurrheinischen Bündniswesens von den Anfängen bis zu den
festgefügten Landfriedensbündnissen vorführt (1386 auch handels-
politische Einheit), mit Anerkennung zu erwähnen. Von den Exkursen
ist Nr. 2 hervorzuheben, der die Unterschiede zwischen den beiden
1338 an Papst Benedikt XII. gerichteten kurfürstlichen Schreiben
aus einer im Kurkolleg herrschenden Meinungsverschiedenheit hin-
sichtlich der im Anschluß an die Renser Beschlüsse der Kurie zu unter-
breitenden Forderungen erklärt wissen will (Die kurrheinischen Bünd-
nisse bis zum Jahre 1386, Ein Beitrag zum Bündniswesen des aus-
gehenden Mittelalters. Berlin, Weidmann 1912, VI u. 123 S.).
Über drei Zweifler am Kausalprinzip aus dem 14. Jahrhundert,
Peter von Ailly, Nikolaus von Autricuria und Wilhelm Occam, handelt
G. M. M a n s e r O. P. im Jahrbuch für Philosophie und spekulative
Theologie 27, 3 u. 4.
Im Gegensatz zu den vor einem Jahrzehnt von Kehrmann ge-
wonnenen Ergebnissen lenkt H. E. R o h d e in einer Untersuchung
über Verfasser und Entstehungszeit der sog. Capita agendorum im ganzen
wieder zu der alten, von Tschackert und Finke vertretenen Meinung
zurück. Nach seinen Ausführungen sind die Capita in der uns vor-
liegenden Form von Peter von Ailly für das Konstanzer Konzil zu-
sammengestellte Reformvorschläge, in denen eigene Gedanken des
Bearbeiters mit einem Teil eines Gutachtens der Pariser Hochschule
und eines Gersonschen Traktates Anfang 1414 verschmolzen worden
sind (Zeitschrift für Kirchengeschichte 34, 2).
Paul Joachimsen bespricht in den Blättern für das Gym-
nasial-Schulwesen 1913, 5 u. 6 die Bedeutung des antiken Elements
für die Staatsauffassung der Renaissance: „Die Antike hat der Renais-
sance zwar nicht ihre Staatsidee gegeben, das konnte sie nicht in einem
Gemeinwesen, das christlich und feudal organisiert war, wohl aber
den Staatsbegriff als solche n."
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 43
666 Notizen und Nachrichten.
Jos. Schnitzer handelt in den Beiträgen zur bayerischen
Kirchengeschichte 19, 5 über die Wirkung Savonarolas auf den Nürn-
berger Humanisten Hartmann Schedel, der als Verfasser einer Welt-
chronik bekannt ist. Wie zwei von Schedel selbst angelegte Sammel-
bände der Münchener Staatsbibliothek erweisen, hat er — vielleicht
durch Vermittlung seines Landsmanns Lorenz Behaim — mancherlei
Schriften Savonarolas und noch mehr Schriften über ihn erworben
bzw. abgeschrieben.
Zwei deutsche Berichte aus Rom (1492 und 1504) bringt in einem
Sonderdruck aus der Kirchengeschichtlichen Festgabe für Anton
de Waal Jos. Schlecht zum Abdruck (Rom, Armani <S Stein. 1913.
19 S.). Es handelt sich um JVlitteilungen eines ungenannten, vielleicht
dem bayerischen Adel angehörigen Pfründenanwärters über die An-
fänge Papst Alexanders VL, vier Wochen nach dessen Krönung nieder-
geschrieben, und um den Wortlaut des über Asquino von Colloredo,
den von den Borja gedungenen Mörder des Kardinals Michiel, ver-
hängten und auf dem Petersplatz öffentlich verkündigten Urteils aus
dem Nachlaß des Regensburger Stiftsherrn Leonhard Cantzler.
Wir erwähnen noch kurz einige Beiträge zur italienischen Ge-
schichte des 15. Jahrhunderts. Aus dem Arcfiivio storico Lombardo
Serie quarta, anno 40, fasc. 37 die umfangreiche, noch nicht abgeschlos-
sene Arbeit von G. B i s c a r o: // banco Filippo Borromei e compagni
di Londra (1436 — 1439) sowie L. F u m i: L'atteggiamento di Francesco
Sforza verso Sigismondo Malatesta in una sua Istruzione del 1462, con
particolari sulla morte violenta della figlia Polissena (Abdruck und
Erläuterung). Ferner aus dem Archivio storico per le province Napole-
tane 38, 2 P, G e n t i 1 e : Finanze e Parlamenti nel Regno di Napoli
dal 1450 al 1457; aus dem Nuovo Arcfiivio Veneto 1913, Januar-März
A. de P e 1 e g r i n i : Note e documenti sulle incursioni turchesche in
Friüli al cader e del secolo XV.
Die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Juden-
tums 1913, März-April bringt den Schluß des Beitrags von M. B a 1 a -
b a n zur Geschichte der Krakauer Juden am Ausgang des Mittelalters.
Pierre R a m b a u d , L'assistance publique ä Poitiers jusqu'ä
Van V. Bd. 1. Paris, Champion 1912. 663 S. — Rambaud hat es unter-
nommen, eine Geschichte des Armenwesens der Stadt Poitiers von
den ältesten Zeiten bis zum Jahre V zu schreiben. Der 1. Band schil-
dert die Armenfürsorge im Mittelalter sowie die verschiedenen Stif-
tungen, die ihr dienten, die Organisation eines besonderen Armen-
amtes, des „Bureau de la Communauti des pauvres", genannt (nach
den am Sonntag abgehaltenen Sitzungen) „la Dominieale", im 16. Jahr-
hundert, sowie den Kampf gegen Bettelei und Landstreicherei bis zum
Späteres Mittelalter. 667
Ausgang des 18. Jahrhunderts. Der 2. Band des vorwiegend den Lokal-
historiker oder den Spezialisten interessierenden Werkes soll die Für-
sorge für Kinder und Kranke behandeln. P. D.
Geschichte der Spanischen Inquisition von Henry Charles L e a ,
deutsch bearbeitet von Prosper Müllendorf f. Bd. 1, Leipzig,
Dyksche Buchhandlung. XXVI u. 575 S. 15 M. — Von der meister-
haften „History of the Inquisition of Spain" (4 Bde. New York, Macmil-
lan Company. 1906 ff.) wird in dem vorliegenden Werke nicht eine
wortgetreue Übertragung geboten, sondern eine Bearbeitung, die den
Inhalt der englischen Ausgabe, etwa um ein Drittel gekürzt, wiedergibt.
Der Verfasser selbst hat dem Übersetzer Müllendorff die volle Verant-
wortung für seine Bearbeitung überlassen, unter der ausdrücklichen
Vorschrift, daß der deutschen Ausgabe der „Geist der Mäßigung und
UnVoreingenommenheit" erhalten bleibe. Ausgedehntere Kürzungen
des englischen Textes sind namentlich in den Abschnitten über die
allgemeine Landesgeschichte Spaniens vorgenommen worden, sodann
in den Kapiteln, die die Geschichte der Juden und des Mystizismus
behandeln. Die Quellen- und Literaturangaben des Originals sind
nur zum kleinsten Teile übernommen; die im Anhange der englischen
Ausgabe abgedruckten spanischen und lateinischen Texte sind gleich-
falls weggefallen und nur in Fußnoten mit Hinweisen auf das Original
erwähnt worden. Das Geleitwort des Herausgebers enthält eine an-
sprechende Darstellung von Leas Lebensgang und eine zutreffende
Würdigung seiner wissenschaftlichen Bedeutung; es wäre zu wünschen
gewesen, daß hier auch auf die neuesten Angriffe, die Leas Werke
von katholischer Seite erfahren haben, hingewiesen worden wäre.
Der Bearbeiter hat sich selbst die Schwierigkeiten, die mit der von
ihm gewagten Kürzung seiner Vorlage verbunden sind, nicht verhehlt.
Bei allem Bemühen des Bearbeiters, sich getreu an den Sinn der Vor-
lage zu halten, ließ sich bei seinem Verfahren doch Willkür und Ent-
stellung des Originals nicht vollständig ausschließen. Wenn nun aber
doch einmal Leas bedeutsames Werk nur in dieser gekürzten Form
zur Kenntnis eines weiteren deutschen Leserkreises gebracht werden
konnte, so werden wir dem Bearbeiter für sein Unternehmen trotz
aller Bedenken aufrichtig dankbar sein dürfen. Die wissenschaftliche
Forschung wird sich selbstverständlich nach wie vor ausschließlich
an die englische Ausgabe halten müssen.
Gießen. Herman Haupt.
Neue Bücher: M esser i , Enzo re. (Genova, Formlggini. i L.)
— Regesto di s. Leonardo di Siponto, a cura di F. Camobreco.
(Roma, Loescher e C. 14 L.) — Statuti dei laghi di Como e di Lugano
del sec. XIV. Vol. /., a cura di E. Anderion i. (Roma, Loescher
43*
•668 Notizen und Nachrichten.
e C. 14 L.) — Statuto di Forli deW anno 1359, con le modificazioni
del 1373, a cura di E. R i n ald i. (Roma, Loescfier e C. 16 L.) —
Quelques pieces relatives ä la vie de Louis I, duc d' Orleans et de Valen-
tine Visconti, sa femme, publiees par F. M. Gr av es. (Paris, Cham-
pion,)
Reformation und Gegenreformation (1500 — 164S).
Die „Raeteis" des Simon Lemnius (f 1550), ein lateinisches Hel-
dengedicht über den Schwabenkrieg von 1499, wird im 42. Jahresber.
der Hist.-antiqu. Gesellsch. von Graubünden durch Janett Michel
auf ihre Quellen untersucht.
Gegen das Buch von Georg Schuhmann, Die Berner Jetzer-
tragödie (1912), nach dem die vier 1509 in Bern verbrannten Dominikaner
völlig unschuldig gewesen sein sollen, nimmt R. Steck, der Heraus-
geber der Prozeßakten, Stellung in der Schweizerischen Theologischen
Zeitschrift 30, 4.
In Nr. 39 des Archivs für Reformationsgeschichte (10. Jahrg., 3)
setzt zunächst G. Bossert seine interessante Darstellung der Schick-
sale des Propheten Augustin Bader und seiner Genossen fort (vgl.
oben S. 435). Otto Winkelmann, der eine ausführliche Würdi-
gung der Nürnberger Armenordnung von 1522 vorbereitet, untersucht
das Verhältnis der verschiedenen Drucke und gibt eine kritische Aus-
gabe von ihr; die späteren Ordnungen von Kitzingen (1523), Regens-
burg (1523) und Ypern (1525) werden erläutert und sollen gleichfalls
noch gedruckt werden. G. Kawerau teilt aus dem Nachlaß von
Nikolaus Müller einen Brief Melanchthons vom Juli 1524 mit,
der für das damalige kühl-reservierte Verhältnis Melanchthons zu
Luther charakteristisch ist. Walther Müller gibt einen Brief Luthers
an Johann Friedrich den Großmütigen vom Juli 1545 bekannt (in
Angelegenheit der Berufung Mediers nach Braunschweig). E. Kling-
n e r schließlich, der in der Palaestra 56 über Luther und den deutschen
Volksaberglauben gehandelt hat, macht einige Bemerkungen gegen
Grisars unzulängliche Auffassung vom Aberglauben Luthers (Dämono-
logie und Hexenwesen).
Eine zutreffende Charakteristik des G r i s a r sehen Lutherwerks
gibt Karl B a u e r , " ein Schüler Hausraths, in einem Aufsatz
„Luther in jesuitischer Beleuchtung" (Protestantische Monatshefte
17, 6 u. 7). Nicht nur die mangelhafte Methode, sondern das ganze
Milieu, der Gedankenkreis, auf dem sich Grisars Biographie auf-
baut, wird hier recht anschaulich gemacht. Die willkürliche Quellen-
benutzung bei Grisar ist danach „im Grunde nichts anders als die
Reformation und Gegenreformation. 669^
Übertragung des jesuitischen Probabilismus vom ethischen auf das
historische und biographische Gebiet". R. H.
Aus dem Nachlaß von Nii<olaus Müller veröffentlicht G.
Kawerau in den Theologischen Studien und Kritiken 1913, 4 einen
Aufsatz „Lutherana" mit Briefen von, an und über Luther 1515 — 1541
(sie betreffen unter anderem Luthers Stellung zur Türkenhilfe 1538,
ein Eheurteil 1539 usw.).
Luthers letzte Predigt (über Mat 11, 25 ff.) ist nach Georg
B u c h w a 1 d in der Zeitschr. f. Kirchengesch. 34, 2 wohl am 15. Fe-
bruar 1546 (Montag) gehalten worden.
G. A r n d t handelt in der Monatschrift f. Gottesdienst u. kirchl.
Kunst 18, 7 über die Entwicklung der evangelischen Gottesdienstord-
nung im Bistum Halberstadt während des 16. Jahrhunderts.
Mit der Tätigkeit Siegmund Augusts, des letzten Jagelionen,
vor seiner Thronbesteigung in Polen (1548), insonderheit mit seiner
Regierung als Großfürst-Regent von Litauen (1544 — 1548), beschäf-
tigt sich ein polnisches Buch von L. Kolankowski (1913), über
das J. Paczkowski in der Zeitschr. f. osteuropäische Gesch. 3, 4
ausführliche Mitteilungen macht. Es beruht danach auf eindringenden
Studien und ist namentlich wichtig für die Grenzverhandlungen mit
den Nachbarstaaten (Moskau, Livland, Preußen, Polen, Walachei,
Tataren), für die Finanz- und Hufenreform sowie für die persönliche
Geschichte Siegmund Augusts.
In Ergänzung der im „Concilium Tridentinum" gedruckten Akten
bespricht St. E h s e s in der Römischen Quartalschrift 27, 1 zwei
Vota von Seripando und Salmeron über die Rechtfertigungsfrage
(5. Juni und 16. Okt. 1546) und beginnt mit ihrer Veröffentlichung.
Auch spricht er über die Voten des Isidor Clarius in der gleichen
Sache und verbessert dabei die Angaben von J. Hefner, Voten vom
Trienter Konzil (1912).
Einen recht interessanten Beitrag zu dem Gelehrtenkrieg zwischen
Protestanten und Katholiken gibt Adolf J ü 1 i c h e r , Ein Blatt aus
der Geschichte des Kampfes um die Freiheit der Geister im 16. und
17. Jahrhundert (Festschrift der Universität Marburg für die Philo-
logenversammlung 1913). Es handelt sich um den angeblichen Brief
des Johannes Chrysostomus an einen Mönch Caesarius, den zuerst
Petrus Martyr Vermigli 1549 als ein Zeugnis gegen die katholische
Transsubstantiationslehre herangezogen hat, und der lange eine be-
sonders heftig umstrittene patristische Quelle war, bis er ums Jahr
1700 allgemein als eine Fälschung erkannt wurde (sie stammt aus der
Mitte des 5. Jahrhunderts).
670 Notizen und Nachrichten. 4^^^I^H
Die Jesuiten. Eine historische Slcizze von H. B o e h m e r. (Aus
Natur und Geisteswelt, 49. Bändchen.) 3., verm. u. verb. Aufl. B.
G. Teubner, Leipzig u. Berlin 1913. VI u. 174 S. geb. 1,25 M. — Boehmers
instruktives Jesuitenbüchlein, das wir H. Z. 102, 206 f. angezeigt
haben, liegt bereits in 3. Auflage vor (die 1. erschien 1904), ein Er-
folg, über den man sich angesichts der gediegenen, sich auch in der
Neubearbeitung bewährenden Arbeitsleistung nur freuen kann. Das
viel behandelte Thema wird hier mit einem guten historischen Blick
betrachtet; Vorwürfe wegen angeblicher Voreingenommenheit für den
Orden halten wir für ungerechtfertigt. R. H.
Die Hinrichtung Johann Sylvans in Heidelberg 1572, über die
wir vor zwei Jahren auf eine Aktensammlung von Rott verweisen
konnten (H.Z. 107,437), erfährt neue Beleuchtung durch einen Bericht,
den Anton Dürrwaechterinder Zeitschr. f. Kirchengesch. 34, 2
druckt und bespricht. Danach wäre Sylvan keineswegs bußfertig ge-
storben.
Ein Aufsatz von J. Loserth, Zur kirchlichen Bewegung in
Steiermark (Zeitschr. des Hist. Vereins f. Steiermark 10, 3 — 4) ent-
hält: 1. Zwei Briefe an den Propst von Seckau 1572 und 1599, in
denen sich Höhepunkt und Niedergang der Reformation spiegeln;
2. aktenmäßige Mitteilungen über die Frage der Errichtung eines Bis-
tums in Graz 1611—1630.
Das Mai- Juni-Heft des Bulletin de la soc. de l'hist. du protestan-
tisme frangais (1913) enthält einen Aufsatz von R. Reuß über F.
Beaucaire de Peguillon und seine Schrift „Rerum Gallicarum commen-
tarii 1461 — 1380" (vgl. Hauser, Les sources de l'hist. de France 1, 27
nr. 22) sowie eine Untersuchung von E. LeParquier über den refor-
mierten Kult in der Landschaft Caux (Normandie) nach dem Frieden
von Amboise 1563.
Jean du Houssay, Seigneur de La Borde, ein Navarrese und Ver-
trauter König Heinrichs IV. von Frankreich, der ihn mit verschie-
denen Missionen betraut hat, berichtet darüber in Memoiren, von
denen Pierre de Vaissifere im Annuaire-bulletin de la soc. de l'hist.
de France 1912, 4 Bruchstücke (1588—1594) herausgibt.
Die päpstliche Politik in der Preußischen und in der Jülich-
Klevischen Frage, d. h. der vergebliche Versuch der Kurie, die Fest-
setzung Brandenburgs in Preußen und am Rhein zu hintertreiben,
wird von Philipp Hiltebrandt in den Quellen und Forschungen
aus italienischen Archiven und Bibliotheken 14, 2 u. 15, 2 auf Grund
der vatikanischen Akten, insonderheit der auch noch fürs 17. Jahr-
hundert wichtigen Nuntiaturberichte, einer ausführlichen und ergeb-
nisreichen Untersuchung unterzogen. Der Abschnitt über Preußen,
Reformation und Gegenreformation. 671
■der die ganze Periode von 1525 — 1660 ins Auge faßt, entliält wichtige
Ergänzungen zu dem bel<annten Buch von Vota (1911). Der Ab-
schnitt über Jülich-Kleve (1609 — 1610) beschäftigt sich namentlich
mit den Bemühungen Roms, einen Konflikt zwischen Frankreich
und Spanien zu verhindern, und bewertet die Aussichten des Plans
einer Familienverbindung zwischen den beiden Häusern ernster, als
das sonst meist geschieht.
Dürrwächter, Anton, Jakob Gretser und seine Dramen.
Ein Beitrag zur Geschichte des Jesuitendramas in Deutschland (Er-
läuterungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen
Volkes 9, 1 u. 2). Freiburg i. B., Herder 1912. VII, 218 S. 5,40 M.
— Jakob Gretser S. J. (1562—1625), der Athleta Christi, in unsern
Bibliotheken mit etwa 150 polemischen Schriften gegen die Reforma-
toren vertreten, die Herders Konversations-Lexikon „allzu derb"
nennen muß, war als früher Vorfechter des Jesuitendramas bekannt,
schon seit Dürrwächter 1898 seine Comoedia prima de regno humani-
tatis als Regensburger Schulprogramm herausgegeben hatte. Er läßt
jetzt die Comoedia secunda von 1590 nach der Münchener Handschrift
folgen und leitet sie ein mit einer umfassenden und gelehrten Darstel-
lung von Gretsers dramatischer Tätigkeit, die sich bemüht, aus der
Tradition und Gleichmacherei dieses ordensmäßigen Schultheaters, das
den Ton nie auf das Persönliche gelegt hat, den Anteil einer wenn nicht
erfreulichen und kultivierten, so doch kraftvollen und vielseitigen
Persönlichkeit herauszuarbeiten.
Freiburg i. B. Alfred Götze.
Abel JVl a n s u y , Le monde Slave et les classiques frangais aux
XVI'— XVII' siicles. Pr^face de Ch. D i e h 1. Paris 1912. Honore
Champion, ^diteur. 493 S. — Es handelt sich in diesem Buche, über
dessen Inhalt die von Charles Diehl geschriebene Vorrede gut orien-
tiert, nicht, wie man nach dem Titel erwarten würde, um die slawische
Welt als solche, sondern nur um das Königreich Polen. Selbst Ruß-
land betrifft nur der letzte Abschnitt „La Russie et la littirature fran-
gaise du XVII' sitcle (S. 423 — 476), der manches kulturgeschichtlich
Belangreiche bietet. Im ersten Abschnitt „Rabelais et les Slaves"
(S. 9 — 26) finden sich beachtenswerte geographische Exkurse, im zwei-
ten „Montaigne^' (S. 27 — 42) vornehmlich Schilderungen polnischer
Sitten, im dritten (S. 43 — 62) „Un Ronsardisant oublie Jean Kocha-
nowski" (Verfasser polnischer und lateinischer Gedichte) Materialien
zur französischen und polnischen Literaturgeschichte und zur Ge-
schichte des Humanismus, im vierten „Henri /**" de Valois roi de Po-
logne et ses chroniqueurs classiques" (S. 63 — 92) wertvolle Angaben
über die Werke von Blaise de Montluc, Brantome und Bossuet, soweit
672 Notizen und Nachrichten.
sie polnische Verhältnisse berühren. Der fünfte Abschnitt „Les Sobieski
en France" (S. 95 — 129), der wertvollste des ganzen Buches, schildert
die Anwesenheit Jacques Sobieskis, dessen Journal de voyage erhalten
ist, in Paris, wo er das tragische Ende Heinrichs IV. erlebte und der
Exekution Ravaillacs beiwohnte, dann die spätere Länderreise der
beiden Söhne Sobieskis, Markus und Johannes und ihrer Gouverneure
Orchowski und Gawarecki; der folgende Abschnitt (S. 132 — 162)
„Madame de Motteville et Marie-Louise de Gonzague reine de Pologne"
(Gemahlin Wladislaws IV.) enthält neben manchen politischen No-
tizen viel Klatsch. Im siebenten Kapitel, Saint-Amant et Marie Louise
de Gonzague (S. 163 — 202) werden Gedichte Saint- Amants, der eine
Reise nach Polen unternommen hatte, erläutert. Die folgenden vier
Abschnitte, Variation ä Varsovie et ä Reims au XV 11^ siede et Cyrano
de Bergerac (S. 203—229), La question Pascal en Pologne (S. 232—290),
Une reine de Pologne janseniste et les Provinciales (S. 291 — 309) und
La Fontaine et Sobieski (S. 311 — 329) enthalten unwesentliche Dinge,
zum Teil solche, die nicht zur Sache gehören und mit Polen nichts zu
tun haben. In dem Abschnitt Racine Historien et Sobieski (S. 331 — 359)
— der Titel Saint Simon et Sobieski wäre entsprechender — wird die
Politik Frankreichs Polen gegenüber dargelegt. Von den beiden letzten
Kapiteln „Andri Morsztyn et Marysienka" (S. 361 — 396) und „Bossuet
gallican et Videe de riunion" enthält nur der zweite wichtigere Ausfüh-
rungen, die für die Stellung Bossuets zu den Protestanten bezeichnend
sind. Im ganzen und großen ist die Lektüre des Buches, das einzelnes
nicht selten auch geringfügiges mit einer unglaublichen Weitschweifig-
keit (s. die Bemerkungen über Cyrano de Bergerac S. 438 — 444, über
Racine, über Corneilles Attila und über Regnard) behandelt und oft
ein Durcheinander von politischen, literarischen und wissenschaft-
lichen Dingen bietet, eine recht unerquickliche. J. Loserth.
KordubaJVliron schildert in der Zeitschr. f. osteurop. Gesch.
(1912, S. 367 ff.) die Anfänge des ukrainischen Kosaken-
t u m s. Er sucht in der Kosakenzeit gewissermaßen eine Heldenperiode
des kleinrussischen Volkes. Demgegenüber erinnert Rawita-Gaw-
ronski (Kwart. hist. XXVI, S. 521 ff.) daran, daß am Ende des
16. Jahrhunderts die Kosaken sich nicht aus der Landbevölkerung
rekrutierten, sondern aus Vagabunden; den Rest bildeten Polen,
Armenier, Weißrussen und sogar Tataren. Auch Hrusevski nennt die
Kosaken ein „Gesindel". C. Missalek.
Im 41. Jahresber. der Hist.-antiqu. Gesellsch. von Graubünden
veröffentlicht Ph. Z i n s I i Nachträge zu seiner Ausgabe der Poli-
tischen Gedichte aus der Zeit der Bündner Wirren 1603 — 1639 (vgl.
H. Z. 107, 671).
1648—1789. 673
Zur Geschichte der Hexenprozesse verzeichnen wir einen Aufsatz
von Joseph Schneid, Das Rechtsverfahren wider die Hexen zu
Wemding (Oberbayerisches Archiv f. vaterländ. Gesch. 57). Die Pro-
zesse spielten in den Jahren 1609 — 1610 und 1628 — 1631 und for-
derten 49 Opfer.
Das 2. Heft des Historischen Jahrbuchs 34 bringt den Schluß
der Mitteilungen von Alois K r o e ß aus Gutachten der Jesuiten am
Beginne der „katholischen Generalreformation" in Böhmen (1621);
vgl. oben S. 438.
Neue Bücher: W a 1 1 h e r , Die Ursprünge der deutschen Behör-
den-Organisation im Zeitalter Maximilians I. (Stuttgart, Kohlhammer.
2,40 M.) — Pasolini, Adriano VI. (Roma, Loescher. lo L.) —
Inventare hansischer Archive des 16. Jahrhunderts. 3. Bd. Danziger
Archiv 1531 — 1591. Bearbeitet von Paul S i m s o n. (München,
Duncker & Humblot. 57 M.) — Visconti, La pubblica amministra-
zione nello stato milanese durante il predominio straniero (1541 — 1796).
(Roma, Athenaeum. 9 L.) — Lazzar i , Le ultime Ire duchesse dt
Ferrara e la carte estense a'tempi di Torquato Tasso. (Firenze, Rassegna
nazionale. 8 L.) — Grabinski, Wie ist Luther gestorben? (Pader-
born, Junfermann. 2 M.) — P i r e n n e , Geschichte Belgiens. Deutsche
Übersetzung von Fritz Arnheim. 4. Bd. (1567 — 1648). (Gotha, Perthes.
16 M.) — Greg. Richter, Die Schriften Georg Witzeis, bibliogra-
phisch bearbeitet. (Fulda, Aktiendruckerei. 4,50 M.)
1648—1789.
Ernest Daudet: A travers trois siecles. (Etudes d'oeuvres et
propos d' Historien.) Paris, Hachette et Cie. 1911. VII und 281 S.
3,50 Fr. — Ein liebenswürdiges französisches Buch, das keine wissen-
schaftlichen Ansprüche stellt, aber unterhält und unterrichtet. Es ist
eine gefällige Sammlung von eleganten Essaybesprechungen, die sich
mit wichtigeren Neuerscheinungen zur (vorwiegend französischen) Ge-
schichte der letzten drei Jahrhunderte beschäftigen, und die den Laien
in die Werke bzw. in ihren geschichtlichen Umkreis einführen wollen.
Demgemäß behandeln sie lediglich Erscheinungen, für die ein weiterer
historisch gebildeter Kreis Interesse hat, also Brief- und Memoiren-
publikationen oder Verarbeitungen solcher Quellen. Für alles ist ein
kulturgeschichtlicher Gesichtspunkt bestimmend und innerhalb des-
selben die Freude an der interessanten Persönlichkeit. Sieben Aufsätze
sind der Zeit der Bourbonen gewidmet. Die Herrscher selbst werden
lebendig vor uns hingestellt, daneben ihre Diener, wie ein Concini und
ein Marschall von Luxemburg, vor allem aber die Frauen, die Königinnen
und Prinzessinnen wie auch die Maitressen; ohne jede Sensation, in-
674 Notizen und Nachrichten.
dessen mit einer unverkennbaren Neigung zum Amüsanten. Am wich-
tigsten ist die zweite Gruppe von 8 Essays, die sich auf den Neuerschei-
nungen zur Geschichte der Revolution und Napoleons I. aufbaut. Sie
verläßt den rein französischen Bereich, wendet sich auch nach Spanien,
Rußland und Deutschland, für diese Zusammenhänge wieder ganz
Persönlichkeitsdarstellung. Aber das Hauptinteresse haftet doch an
der überragenden Gestalt Bonapartes, der im Stile Vandals, Massons,
Houssayes national-französisch aufgefaßt wird. Die letzte Gruppe be-
handelt in 6 Aufsätzen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, am aus-
führlichsten Metternich, dem Daudet selbst mit seinem Buche über
die Gräfin Lieven eine geschichtliche Arbeit gewidmet hat, weiter
Talleyrand, Guizot und wiederum drei Frauen, die in eigenen Memoiren
über ihr Leben berichtet haben: die Gräfin de Boigne, die Herzogin
von Dino und die Fürstin von Sayn-Wittgenstein. Die Frau steht
überhaupt im Vordergrunde der Schilderungen: eine bezeichnende
Äußerung des französischen Charakters des Buches.
Leipzig. Herre.
Aus der Revue d'histoire diplomatique 27* annee 1913 notieren
wir die Aufsätze des Grafen von Fourbin über die zweite Mission von
Toussaint de Forbin in Polen (1680/81) und von L. de Laigue über
den Grafen von Froullay als französischen Botschafter in Venedig
(1733 — 1743). Beide sind nach den Akten des Auswärtigen Ministeriums
gearbeitet.
E. R. Turner behandelt in der English Historical Review 110
(April 1913) die Peerage Bill von 1719. Es ist dasselbe Thema, mit
dem sich vor wenigen Jahren K. Güterbock, angeregt durch die modernen
verfassungsrechtlichen Kämpfe in England, befaßt hat, dessen Arbeit
Turner übrigens nicht zu kennen scheint (vgl. H. Z. 107, S. 675). Dieses
Mal wird der 1719 gemachte Versuch, das zur königlichen Prärogative
gehörige Recht der Ernennung neuer Peers auf dem Wege der Gesetz-
gebung abzuschaffen und damit einen künftigen Pairsschub unmöglich
zu machen, richtig im Rahmen der Parteipolitik und der Tagesereig-
nisse der Zeit gewürdigt; in der Tat ist er nur in diesem Zusammen-
hang verständlich. Die Spaltung der Whigpartei, die Opposition
Robert Walpoles, das Zerwürfnis innerhalb der königlichen Familie
sind die entscheidenden Umstände. Der Verfasser hat (neben wenigen
handschriftlichen Quellen) in großer Vollständigkeit das gedruckte
Material benutzt, wobei die ausgedehnte Heranziehung der Pamphlet-
literatur besonders verdienstlich erscheint. Er ist dadurch in der Lage,
den in der Presse geführten Kampf, dessen Argumente in den par-
lamentarischen Debatten wiederkehren, ausführlich zu schildern. Da-
für werden diese Debatten etwas kurz abgemacht. W. Michael.
1648—1789. 675
Berliner geschriebene Zeitungen aus dem
Jahre 1740. Der Regierungsanfang Friedrichs des Großen. Heraus-
gegeben von R. W 0 1 f f. (Schriften d. Vereins f. d. Geschichte Berlins,
Heft 44.) Berlin, Mittler. 1912. XXVIII u. 171 S. — Diese 50 Be-
richte zweier Agenten gingen an die Äbtissin von Quedlinburg, die sich
für den Regierungswechsel in Preußen interessierte, weil ihr Stift
unter preußischer Schutzherrschaft stand und unter diesem Druck
stark litt. Die Berichte enthalten eine Fülle von Einzelnachrichten
meist recht äußerlicher Art; zusammen mit ähnlichen, schon veröffent-
lichten Notizen beleuchten sie die Wirkung der Maßnahmen Friedrichs
in seinem ersten Regierungsjahre auf die Stimmung der Berliner Be-
völkerung. Ziekursch.
Nach einer englischen Publikation aus dem Jahre 1772 behandelt
L. V i 1 1 a r i die Geschichte der russischen Flottenexpedition ins
Ägäische Meer während des ersten Türkenkrieges unter Katharina II.
(Una spedizione russa nelV Egeo al tempo di Caterina II. Archivio stör,
ital. Ser. V. Tom. L. igij).
Justus Moser als Staatsmann und Publizist. Von Otto H a t z i g.
(Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, Bd. XXVII.)
Hannover und Leipzig, Hahn, 1909. X u. 200 S. — In der Würdigung
des großen Osnabrücker Patrioten, der das politische Denken in Deutsch-
land so unvergleichlich befruchtet hat, bedeutet die Hatzigsche Schrift
eine wichtige Etappe. Sie unternimmt es zum ersten Male, die prak-
tische Verwaltungstätigkeit Mosers auf Grund der Osnabrücker Archi-
valien eingehend zu untersuchen und ihren engen Zusammenhang
mit seiner Publizistik und seinen bekannten sozialen und politischen
Theorien zu zeigen. „Moser bleibt letzthin", so schließt die Schrift,
„auch als betrachtender Schriftsteller Verwaltungsmann." Daß dem
so war, konnte man schon aus dem praktischen Geiste seiner Theorien
folgern, aber die Anschauung seines Schaffens auf dem Gebiete der
bäuerlichen und gewerblichen Verhältnisse erhält man erst jetzt.
Leider ist die Form, in der Hatzig seine gründliche Forschung bietet,
sehr ungenießbar. Er versteht es nicht, die Zustände, Einrichtungen
und Verwaltungsmaßregeln, die er bespricht, klar und durchsichtig
zu schildern und setzt beim Leser zu große Vertrautheit mit den ver-
wickelten Verhältnissen und der lokalen Terminologie voraus. M.
In seinem Aufsatz „Zur Geschichte der Bischofswahlen in den
deutschen Reichsstiftern unter Joseph II." behandelt E. Guglia
nach den Akten des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs das Ver-
halten des Kaiserhofs bei den Bischofswahlen des Jahrzehnts von
1780 — 1790. Neben dem stets ausgesprochenen Grundsatz, die Wahl-
freiheit nicht zu stören, stehen die Bestrebungen, die Wahl auf einen
676 Notizen und Nachrichten.
dem österreichischen Interesse wohlgesinnten Bewerber zu lenken.
Nicht immer mit Erfolg: die ausführlich erzählte Bischofswahl in
Eichstätt endete mit dem Scheitern des österreichischen Kandidaten.
Persönlich sprach sich sodann Kaiser Joseph 1788 für eine freie kano-
nische Wahl aus, ohne „den Domkapiteln durch Anempfehlungen
beschwerlich" fallen zu wollen (Mitteil. d. Inst. f. österr. Geschichts-
forsch. 34, 2). W. M.
A. G i r a r d veröffentlicht Dokumente über eine gescheiterte
französisch-spanische Verhandlung, die im Jahre 1782 den Absatz der
französischen Leinenfabrikate in den Reichen der spanischen Krone
sichern sollte (Une negociation commerciale entre la France et l'Espagne
en iy82. Revue hist. CXI, II).
Neue Buchen Karttunen, Les nonciatures apostoliques per-
manentes de 1650 ä 1800. (Roma, Bretschneider.) — Bertolini,
II settecento e il primo regno d'Italia. (Milano, Fratelli Treves.) —
Übersberger, Rußlands Orientpolitik in den letzten zwei Jahr-
hunderten. 1. Bd. (Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt. 7 M.) —
La guerre de succession d'Autriche. Campagne de 1744 dans les Pays-
Bas, Operations militaires sur le Rhin et sur le Main en 1745, par le
major Z***. (Paris-Nancy, Imhaus et Chapelot.) — M i r b t , Geschichte
der katholischen Kirche von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum
vatikanischen Konzil. (Berlin, Göschen. 90 Pf.) — K 0 h u t , Friedrich
der Große. (Breslau, Markgraf. 2,50 M.) — Archives ou correspon-
dance inedite de la maison d'Orange-Nassau. V sirie, publice par F.
J. L. Krämer. IL ijjg — 1782. (Leyden, Sijthoff. 6,75 FL)
Neuere Geschichte seit 1789.
Der Artikel Emile F a g u e t s in der Rev. des Deux Mondes
vom 1. Juni 1913 „Sur Mirabeau" ist eine ausführliche Anzeige der
Biographie Mirabeaus aus der Feder des Ministers Louis Barthou.
Mirabeau und die Erklärung der Menschenrechte von Marie
Albrecht, Marburger Inauguraldissertation 1911, VII u. 116 S.
— Diese tüchtige Dissertation macht den Versuch, eine neue Er-
klärung für die widerspruchsvolle Haltung zu finden, die Mirabeau
dem Gedanken einer Rechteerklärung gegenüber einnahm. Sie
kommt zu beachtenswerten Ergebnissen: Mirabeau hat niemals ,,die
Erklärung der Menschenrechte wegen ihres revolutionären Charakters
bekämpft". Wenn er den Gedanken fallen ließ, so geschah es aus
taktischen Gründen. „Er hat in diesem Zeitraum die revolutionären
Kräfte weit mehr angetrieben als gehemmt." Die Arbeit schließt
mit einer feinen Modifikation eines Wortes von Erdmannsdörffer
Neuere Geschichte. 677
■(leider druckt die Verfasserin den ehrwürdigen Namen falsch!): Hatte
dieser gemeint: „Der Staatsmann, der Mirabeau war, und der Demagog,
der er sein mußte, lagen in dauerndem Kampf", so will Frl. Albrecht
statt dessen sagen: „Der Demagog, der er war, und der Staatsmann,
der er wurde, lagen in dauerndem Kampf." — Hoffentlich trägt auch
diese Arbeit dazu bei, die Mirabeau-Legende — eine der seltsamsten
aller Legenden über die Revolutionszeit — zu zerstören Wie konnten
doch so viele Generationen von Historikern der Ansicht sein, dieser
feige und in jeder Hinsicht bankerotte Demagog, der immer nur von
rein persönlichen Motiven geleitet war, und der um des Beifallsklatschens
willen hundertmal anders sprach, als er sich vorgenommen, hätte,
wenn er am Leben geblieben wäre, der Revolution eine andere Wen-
dung gegeben! — Mancherlei in Frl. Albrechts Arbeit ist anfechtbar;
so z. B. S. 37 die nicht glückliche und in keiner Weise in die Tiefe
gehende Polemik gegen Jellinek. Wahl.
Otto Karmin, La question du sei pendant la revolution (Biblio-
iheque de la Revolution et de V Empire, nouvelle serie I) (Paris, Champion.
1912. 184, LXXXVIII S.) behandelt an der Hand eines weitschich-
tigen, aber nicht hinreichend verarbeiteten Aktenmaterials die Mil-
derung und endliche Aufhebung der verhaßten Salzsteuer (gabelle)
durch die Nationalversammlung. Im Text selbst sowie im Anhang
sind eine große Anzahl von Aktenstücken abgedruckt. P. D.
In den Feuilles d'histoire (Mai- und Junihefte) veröffentlicht
A. Chuquet einige Kapitel aus der für die Sammlung Figures du
Passi vorbereiteten Biographie von Dumouriez unter dem
Titel „Dumouriez gineral et ministre" (Bemühungen von Dumouriez,
durch Bayern und Pfalz-Zweibrücken die preußisch-österreichische
Allianz von 1792 zu brechen). E. Welvert behandelt nach archi-
valischen Quellen die Mission Lakanals auf dem linken Rheinufer
(1799) und kritisiert scharf dessen schädliche Wirksamkeit, die haupt-
sächlich von den Mainzer Patrioten beeinflußt wurde. Als Ergänzung
.zu dem früher publizierten Tagebuch während der Belagerung Genuas
(s. H. Z. 109, 667 und 110, 210) wird der Abdruck eines ähnlichen
Tagebuchs begonnen, das sich heftig gegen Massena wendet. Chuquet
veröffentlicht Bemerkungen Napoleons zu Auszügen aus englischen
Zeitungen sowie zwei Schreiben des Herzogs von Valentinois, Fürsten
Honore V. von Monaco, über die Landung Napoleons im Golf Juan
1815 und sein Zusammentreffen mit dem Kaiser. D u r i e u x erörtert
• den Konflikt des Bischofs Moritz Broglie von Gent mit der Kaiser-
. liehen Regierung. D e j o b beginnt Mitteilungen über die Reden bei
Preisverteilungen unter dem dritten Kaiserreich. Die Veröffentlichung
der Briefe des Obersten Langlois aus der Krim (18. März
^bis 12. Mai 1856) wird beendet (vgl. H. Z. 111,234 und 446).
678 Notizen und Nachrichten.
Napoleon by Herbert Fisher, M. A., F. B. A. Londoir
1913. 256 S. K1.-8". 1 sh. {Home University Library of Modern
Knowledge B. 61.) — Dieses Büchlein des in Deutschland viel zu
wenig bekannten, vielseitigen und geistreichen Historikers ist warm
zu empfehlen. Es beruht auf eindringender Kenntnis, ist anschaulich
und lebendig geschrieben und stark und doch maßvoll im Urteil.
Gewiß wird man in manchen Dingen anderer Ansicht sein als Fisher,
und hier und da ein Versehen finden, aber alles in allem haben wir
in seinem kleinen Buch die schlechthin beste unter den knappen
Zusammenfassungen von Napoleons Leben vor uns. Wahl.
Im Märzheft der Revue des Etudes Napoleoniennes erörtert der
Herausgeber E. D r i a u 1 1 die Quellen zur napoleonischen Geschichte
im Dipot des Affaires ärangeres und macht Vorschläge zu archiva-
lischen Publikationen. C. Woensky behandelt die Freilassung und
Heimsendung der russischen Gefangenen durch Napoleon im Jahre
1800. H. R 0 1 1 i n gibt archivalische Beiträge zur Vorgeschichte von
Trafalgar und zum Selbstmorde des Admirals Villeneuve {„VAmiral
Villeneuve et Napolion"). Aus der Zeitschrift „Le voleur" (1843) wird
die hübsche Schilderung eines Festes bei Madame R^camier (1802)
von Graf A. de la Garde-Chambonas, dem Verfasser der
Fäes et Souvenirs du congrts de Vienne, abgedruckt. R. L e v y be-
spricht die neueren Veröffentlichungen zur inneren Geschichte Frank-
reichs unter dem ersten und zweiten Kaiserreich, N. J o r g a rumä-
nische Publikationen in ihrer Bedeutung für die Geschichte der fran-
zösischen Politik unter Napoleon 1. und Napoleon III. Im Maiheft
erinnert Marmottan an eine von dem Baron de Verneilh 1810
bis 1814 zusammengestellte und im Druck erschiedene Sammlung
von Vorarbeiten für einen „Code rural". L. J, Thomas gibt einen
Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Meinung unter dem ersten
Kaiserreich, indem er auf den Umschwung der Stimmung in Mont-
pellier gegen Napoleon 1811 hinweist, der teils infolge der kirchen-
politischen Verwicklungen, teils infolge der strengeren Durchführung
der Konskription eintrat. Interessant sind die Erörterungen von
G. W e i 1 1 über die einflußreiche Wirksamkeit hervorragender Schüler
und Anhänger St.-Simons und des Pore Enfantin unter Napoleon III.
M. Handelsman, der ein Werk über die Diplomaten Napoleons
in Warschau vorbereitet, veröffentlicht den Schlußbericht des Resi-
denten Serra über seine Wirksamkeit in Warschau von 1808 bis 1811,
eine arge Selbstverherrlichung. Beachtenswert ist eine Übersicht über
die neuere Literatur zur Geschichte des napoleonischen Korsika von
L. Villa t. G. Vauthier publiziert einige Daten über die Kosten
der Toiletten Marie-Louisens. Durch beide Hefte geht eine längere
Abhandlung des Obersten G r o u a r d , des Verfassers der „Critique-
I
I
Neuere Geschichte. 679
de la campagne de 1815*' (1904), in der er sich mit den neueren Dar-
stellungen des Feldzugs von 1815, besonders mit derjenigen des ita-
lienischen Generals A. Pollio in ,,Waterloo" kritisch auseinandersetzt.
Er erörtert dabei hauptsächlich die Märsche des Korps Erlon.
R. Steig veröffentlicht im Juliheft 1913 der Deutschen
Revue u. d. T. „Aus der preußischen Unglückszeit" patriotische Ver-
suche und Vorschläge von Achim v. Arnim aus der Zeit unmittel-
bar vor und nach dem Zusammenbruch. Sie enthalten auch einiges
Phantastische, sind aber — besonders gilt das von dem schönen,
machtvollen „Aufruf an die Pommern und Märker" vom Dezember
1806 — ein Zeugnis dafür, daß einige Feuerseelen sich aufrecht erhielten
und unmittelbar nach der Katastrophe schon den Gedanken der Be-
kämpfung der Franzosen durch Freikorps und Volkserhebung ergriffen.
In den Forschungen zur brandenburgischen und preußischen
Geschichte 25, 2 u. 26, 1 liefert Felix R a c h f a h 1 sehr umfangreiche
— vielleicht auch etwas breite — „Kritische Studien zur Schlacht
von Dennewitz" u. d. T. „Bernadotte und Bülow vor Wittenberg".
Er kommt in umsichtiger und scharfsinniger Untersuchung zwar nicht
in allem, wohl aber im wesentlichen zur Ablehnung der Rettungen
Bernadottes durch Wiehr und andere und faßt sein Urteil zum Schluß
in folgende Worte zusammen: „Die Schuld Bernadottes ist nicht so
groß, wie seine Feinde behaupten, und sein Verdienst besteht ander-
seits nur in der Phantasie seiner Verteidiger". — In dem letztgenannten
Heft veröffentlicht ferner H. G r a n i e r eine Anzahl sehr hübscher
Briefe Blüchers an verschiedene Adressaten aus den Jahren 1798 bis
1819. Sie zeigen den Marschall Vorwärts mehrfach in dem Kampfe,
in dem er am wenigsten Ruhm erntete: in dem Kampf mit seinen Fi-
nanzen. Von einer Anzahl von Adressaten liegen auch die Antworten
vor. Ernst W i 1 m a n n s veröffentlicht aus dem Lübecker Staats-
archiv einige recht farbige „Berichte vom Rastadter Kongreß". In
dem anonymen Verfasser vermutet Wilmanns einen Kanzleibeamten
irgendeines geistlichen Fürsten. G r a n i e r liefert zwei kleine Akten-
beiträge „Aus der Berliner Franzosenzeit": I. „Die Kurierverbindung
zwischen Berlin und Memel während der Franzosenzeit 1807". 2. „Ein
.Exzeß' zu Brandenburg a. H. gegen französische Truppen im Jahre
1809". R i e ß veröffentlicht aus dem British Museum die Dokumente,
die Scharnhorst im März 1813 zur Erlangung englischer Hilfe ver-
faßte. Sehr interessant ist der kleine Aufsatz Pflugk-Hart-
t u n g s über „den Aufruf An mein Volk und An mein Kriegsheer
1813". Er zeigt die Mitarbeit Hardenbergs an beiden im einzelnen
auf und weist auf die — wertvolle — Mitwirkung des Königs an letz-
terem hin. Hübsch ist schließlich der knappe Nachweis M e u s e 1 s ,
680 Notizen und Nachrichten.
daß „die angeblich von Niebuhr verfaßten (zwei) Aufsätze ,Von dem
Wesen des Kriegs' (1813)" in Wirklichkeit von dem „Erzreaktionär"
Marwitz stammen.
Infolge des Friedens von 1809 hatte Österreich einen bedeutenden
Teil Galiziens (die Kreise von Zomoszsz und Westgalizien) an das Her-
zogtum Warschau und den Tarnopoler Kreis an Rußland verloren.
Es galt nun die Reste Galiziens vor dem Einflüsse des polnischen
Herzogtums zu schützen. M e j b a u m , Rzady austryackie w Ga-
licyi pomiedzy wojna roku i8og a 1812 {Biblioteka warszawska 1910.
4. S. 21 — 29) zeigt, daß die österreichischen Behörden starke Zweifel
hegten, daß Galizien jemals eine treue österreichische Provinz wer-
den könnte. Die galizischen Polen hatten schon früher die Wieder-
herstellung Polens ersehnt. Durch die Errichtung des Herzogtums
Warschau ist dieser Wunsch noch mehr entflammt worden. Die Be-
hörden versuchten daher den Einfluß des Herzogtums möglichst herab-
zumindern, den Verkehr zwischen ihm und Galizien zu unterbinden,
ferner wurde schon damals betont, daß die Förderung der untertänigen
Bauern und der griechisch-katholischen (also ruthenischen) Geistlich-
keit wirksame Mittel gegen die Revolutionsgelüste der Polen wären.
R. F. Kaindl.
Unter dem Titel „Les effectifs de la grande armee pour la cam-
pagne de Russie" (Revue des Etudes hist., JV\ai-Juni) veröffentlicht V i 1 -
latte des Prugnes aus dem Kriegsarchiv und dem National-
archiv in Paris die Stärkezahlen der ,, Großen Armee" 1812, die er
auf 590 687 JVIann (ohne Schwarzenbergs Korps) mit 157 878 Pfer-
den berechnet.
Die Festrede, die Fr. M e i n e c k e zur Jahrhundertfeier der
deutschen Erhebung und zur Kaiserfeier am 14. Juni 1913 in der
Aula der Universität Freiburg i. B. gehalten hat, ist in der Zeitschrift
Logos 4, 2 erschienen.
Ad. Wahl, der hier die Reden zur Erinnerung an 1813 tref-
fend charakterisiert hat, bezeichnet in einer Tübinger Festrede zum
Regierungs Jubiläum (Tübingen, Mohr. 1913. 30 S.), in der er den
preußischen Charakter der Erhebung stark unterstreicht, über „Die
Ideen von 1813" diese als „national und christlich"; „Deutschheit
und Gott war die Parole". In diesen Ideen wie in den Taten war
das Volk einig und dieser wundervolle Einmut diente „einem Ziele":
der Befreiung des Vaterlandes von fremder Tyrannei. Eine „innere
Befreiung" als Ziel lehnt Wahl ebenso ab wie die Zurückführung der
Steinschen Reformideen auf das Vorbild der französischen Revo-
lution. Auch sonst, wie man es bei Wahl gewöhnt ist, polemisiert
er gern gegen „Legenden".
Neuere Geschichte. 681
Einen* vortrefflichen knappen Überblick über die militärischen
Ereignisse vom Ende des Waffenstillstandes bis in den September
1813 bietet von der Goltz im Augustheft 1913 der Deutschen
Revue. Der Aufsatz ist betitelt: „Blüchers Aufstieg"; Blücher wird
mit Recht als „Heerführer großen Stils auf taktischem Gebiet" be-
zeichnet.
„Drei Briefe von und über Gneisenau" aus den Jahren 1813
bis 1826 werden im Juliheft 1913 der Preuß. Jahrbücher veröffent-
licht. Sie sind an Werner von Haxthausen gerichtet. Vor allem der
zweite, verstümmelte, dessen Schreiber der Graf Münster ist (Datum:
Aug. oder Sept. 1815) und der von gigantischen Plänen Gneisenaus
berichtet, verdient sorgfältige Prüfung. Auch der dritte, vom 7. No-
vember 1826, in dem Gneisenau die französische Revolution das „Hur-
kind der Reformation" nennt, ist charakteristisch und interessant.
Im Juliheft 1913 der Deutschen Rundschau beginnt H. Frhr.
v. Egloffstein eine durchaus auf ungedrucktem Material be-
ruhende Arbeit über „Carl August während des Krieges von 1813",
welche die verzweifelt schwierige Lage des kleinen Sachsen-Weimar
recht anschaulich macht.
Georges W e i 1 1 , professeur ä l' Universite de Caen, La France
sous la monarchie constitutionnelle (1814 — 1848). Nouvelle Mition revue
et corrigie. Paris, Alcan. 1912. II. 311 S. — Eine vielfach verbes-
serte Auflage des im Jahr 1902 zuerst erschiedenen Werkchens, das
in knappem Rahmen einen Abriß der französischen Geschichte unter
der Regierung der letzten Bourbonen und des Julikönigtums darbietet.
Die eigentliche politische Geschichte ist sehr kurz gefaßt, denn Lud-
wig XVIII. und Karl X. sind zusammen kaum vierzig Seiten gewid-
met; ebensoviel, ungefähr, wird Ludwig Philipp zuteil, wobei noch
zu bemerken ist, daß die Verhältnisse Frankreichs nach außen,
von 1814 bis 1848, kaum berührt werden. Was der Weillschen Ar-
beit ihren Wert gibt, sind ihre kulturgeschichtlichen Ausführungen.
Die fünf letzten Kapitel des Buches (III. Die französische Gesellschaft.
IV. Die religiöse Bewegung. V. Literatur, Kunst und Wissenschaft.
VI. Die ökonomische Bewegung. VII. Soziale Theorien) umfassen
mehr als zwei Drittel des Buches, und da G. Weill ein Sozialpolitiker
von Fach ist, so bieten sie eine für das große Publikum berechnete,
recht brauchbare Übersicht über die inneren Zustände Frankreichs
in dieser Periode seiner geschichtlichen Entwicklung dar. R.
Alfred P e r e i r e , Autour de Saint-Simon. Documents originaux.
{Saint-Simon, Auguste Comte et les deux lettres dites „anonymes", Saint-
Simon et l'entente cordiale, un sicritaire inconnu de Saint-Simon, Saint-
Simon et les freres Pereire). Paris 1912. 237 S. — Ein Nachkomme
Historische Zeitschrift (lil. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 44
682 Notizen und Nachrichten.
eines der Begründer des Cridit mobilier veröffentlicht und erläutert
hier einige für die Biographie des berühmten französischen Sozial-
philosophen interessante Dokumente, die sich im Besitz seiner Fa-
n-ilie befinden und die er vorher schon in Zeitschriften und Zeitungen
hat abdrucken lassen. Er glaubt, den bisher nicht genau festgestellten
Zeitpunkt, wo Comte die für sein Denken so folgenreiche Bekannt-
schaft mit Saint-Simon machte, in den Mai 1817 verlegen zu können
und bringt für die Anfänge ihrer Arbeitsgemeinschaft einige erwünschte
Details bei. Die Aufzeichnungen eines anonymen Sekretärs des gräf-
lichen Sozialisten enthalten neue und präzise Angaben über Saint-
Simons äußere Erscheinung und seine Lebens- und Arbeitsweise, die
um so beachtenswerter sind, als sie aus erster Quelle stammen. Ein
Aufsatz des Herausgebers über Saint-Simon und die Brüder Pereire
ist insofern nicht ohne Wert, als er erkennen läßt, auf wie eigentüm-
liche Weise sich in der Epoche des Frühkapitalismus die sozialistischen
und kapitalistischen Bestrebungen noch vermengen konnten.
Zehlendorf. Gustav Mayer.
Das Lebensbild des Herzogs von Reichstadt von Eduard W e r t -
heimer liegt in einer neuen Auflage vor (Stuttgart, Cotta. 1913).
Sie ist ein fast unveränderter Wiederabdruck dieser vor zehn Jahren
erschienenen erschöpfenden und unparteiischen Biographie des un-
glücklichen Kaisersohns. (Vgl. H. Z. Bd. 92, S. 303.) H^. L.
Die aktenmäßigen JVlitteilungen von A. v. Wiedemann-
W a r n h e i m über Prozeß und Behandlung der als Carbonari 1821
verurteilten Italiener, besonders des Grafen Canonici aus Ferrara auf
dem Kastell zu Laibach 1822—1824 (JVlitt. d. Inst. f. österr. Geschichts-
forschung 34, 2) illustrieren aufs neue den Geist des damaligen öster-
reichischen Regimes.
Auch in der Skizze „der österreichischen und russischen Orient-
politik 1820—1825", die Ernst iVlolden, zum Teil mit Benutzung
von Wiener Archivalien, in der österr. Rundschau 35, 4 gegeben hat,
tritt die entscheidende Bedeutung Cannings als eigentlichen Urhebers
des russisch-englischen Bündnisses hervor.
Über den Tod des Herzogs von Berry (1820) veröffentlicht L a u -
r e n t i e im Correspondant vom 10. Februar ds. J. Aufzeichnungen
des Herzogs von Angouleme, dessen sonstige JVlemoiren leider ver-
nichtet sind.
Von Chateaubriand publiziert Thomas weitere diplo-
matische, meist eigenhändige Schreiben vom 6. Juni 1823 bis zum
13. April 1824 an Vill^le und andere, größtenteils auf Spanien be-
züglich. (Revue nouvelle vom 1. Juli; vgl. H. Z. 110,457.)
Neuere Geschichte. 683
In der Revue des deux mondes (1. und 15. Mai und 1. Juni) wird
die Veröffentlichung der Tagebücher Apponyis fortgesetzt,
deren erster Teil jetzt bei Plön erschienen ist. Die neuen Kapitel
betreffen die Anfänge der Julimonarchie, die Unruhen in Paris, die
Cholera und ihre Verwüstungen, die Vermählung der Prinzessin Louise,
Tochter Ludwig Philipps, mit dem König von Belgien u. a. (Vgl. H. Z.
110, 457, 458 und den Artikel von Lanzac de Laborie im Correspondant,
10. Febr. ds. J.)
Th. Schiemanns Vortrag auf dem internationalen Histo-
riker-Kongreß in London über die „Russisch-englischen Beziehungen
unter Kaiser Nicolaus I." ist in der Zeitschrift f. osteurop. Gesch. III, 4
abgedruckt. Er behandelt hauptsächlich die durch den für Nicolaus
dauernden, für England vorübergehenden Gegensatz zu Louis Phi-
lipps Politik (1839 — 1844) herbeigeführte, von Rußland im entschei-
denden iVlomente nicht ausgenutzte Annäherung beider Mächte.
Aus dem Nachlaß des einflußreichen russischen Gesandten in
Berlin und Wien (1839/50 und 1850/4) P. v. Meyendorff hat O.
Hoetzsch (Zeitschr. f. osteurop. Gesch. 111,4) „Aktenstücke zur
polnischen Geschichte 1846 (Krakauer Frage: Korrespondenzen von
Metternich, Paskiewitsch, Canitz) und 1861" (sehr lehrreiche Denk-
schrift des Senators Krusenstern gegen die polnischen Autonomie-
bestrebungen, an deren Ende als Ziel nur die Wiederherstellung Po-
lens stehe) veröffentlicht.
In der Revolution de 1848 (Mai- Juni) behandelt Ph. M 0 r ^ r e
unter dem Titel „UArüge avant le rigime dimocratique" hauptsäch-
lich die Lage der Bergleute von Ranci6, die trotz aller politischen
Umwälzungen bis zum Jahre 1893 fast unverändert geblieben ist.
C a 1 m e 1 1 e schildert nach Archivalien das Treiben der Carbonari
und anderer geheimer Gesellschaften von 1821 bis 1830 und die
großen Erfolge ihrer Propaganda.
Eine ausführliche und inhaltreiche Besprechung von H. Schmidts
in Rußland preisgekröntem Buch über die polnische Revolution von
1848, auf das wir zurückkommen werden, hat M. Laubert in den
Götting. Gel. Anz. 1813, Juli, S. 381—421 gegeben; er rügt mit Recht
die unzureichende und einseitige Literaturbenutzung und die ten-
denziöse Grundlage des Werkes, die er richtig charakterisiert als den
Standpunkt Mieroslawskis und der polnischen Demokratie. — Über
die Entwicklung des Posener Distriktskommissariats hat M. L a u -
b e r t in der Zeitschr. d. Hist. Gesellschaft d. Provinz Posen 27 ge-
handelt.
In einer beachtenswerten Besprechung der neuen Auflage von
Meineckes Weltbürgertum und Nationalstaat (Deutsche Lit.-
44*
684 Notizen und Nachrichten.
Zeitung 1913, Nr. 31) nimmt G. Küntzel zunächst in vermitteln-
dem Sinne Stellung zu der nun abgemilderten Kontroverse Ulmann-
Meinecke über Steins Haltung zum deutschen Nationalstaat und
gibt sodann aus eigenen Pfizerstudien Ergänzungen bezüglich Pfizers
wechselnder Vorstellung vom Probleme einer preußischen Konsti-
tution in ihrem Verhältnis zur nationalen Einheit. — Anschließend
mag auf den Aufsatz von R. Vonschott, Preußen-Deutschland
und die Grundrechte (Hist. Pol. Blätter 152, 1 u. 2) hingewiesen sein,
um der hier vertretenen Anschauung willen, daß nur vom Stand-
punkt der (korrekten) katholischen Rechtsphilosophie aus eine rich-
tige Würdigung der Grundrechte möglich sei.
In der Frankf. Ztg. 1913, Nr. 176 vom 27. Juni veröffentlicht
A. Herr mann („K. Marx und F. Lassalle", 2 Denkschriften aus den
Jahren 1848 und 1867 [muß heißen 1861]) die von Marx 1848 und
Lassalle für ihn 1861 an den Minister des Innern gerichteten Eingaben
um Wiederaufnahme ins preußische Staatsbürgerrecht nebst den ab-
lehnenden Bescheiden und eigenen Erläuterungen.
Kaiser Maximilian von Mexiko. Die letzten Monate seiner Re-
gierung und sein Tod. Nach eigenen Erlebnissen aufgezeichnet von
J. N. Freiherrn v. Fürstenwärther, Burgsasse zu Odenbach,
kaiserlich mexikanischem Kapitän. Bearbeitet von Major Alois V e 1 1 z e.
Wien 1910. Verlag von L. W. Seidel & Sohn. VII, 182 S. — Die
Veröffentlichung der Fürstenwärtherschen Aufzeichnungen ist in erster
Linie ein Akt der Pietät gegen einen Offizier, der als begeisterter Ver-
ehrer des Erzherzog-Kaisers ihm nach Mexiko gefolgt war, und sein
Schicksal bis zur Gefangennahme geteilt hat. Was der Veröffent-
lichung einen gewissen Wert verleiht, sind tagebuchförmige Aufzeich-
nungen über die Vorgänge in und um Queretaro während der Ein-
schließung, die der Verfasser unmittelbar darauf während seiner Ge-
fangenschaft geordnet und überarbeitet hat. Obwohl der Verfasser
der näheren Umgebung Maximilians angehört hat, so ist ihm doch
ein tieferer Einblick in die politischen Vorgänge nicht verstattet ge-
wesen. Er berichtet über das, was er in der Front gesehen und gehört
hat. Dabei macht ihn die Anhänglichkeit an Maximilian in hohem
Grade ungerecht gegen die Republikaner und blind für vieles, was
in den eigenen Reihen geschah. Immerhin sind einige Urteile über
den Erzherzog- Kaiser und manche Persönlichkeiten, die eine Rolle
in der Tragödie von Queretaro gespielt haben, nicht ganz ohne Wert.
Die topographischen Skizzen, die dem Buche beigegeben sind, ver-
danken ihren Ursprung wohl dem Umstände, daß Maximilian sich
mit dem Plane getragen hat, eine Geschichte seiner Kämpfe in Mexiko
zu schreiben und den Verfasser mit der Sammlung von Material dazu
Neuere Geschichte. 655
betraut hatte. Ihr strategischer Wert ist freilich vielfach ein recht
mäßiger, wie denn auch die Bemühungen, diese regellosen Kämpfe
nach der Art eines Generalstabswerkes zu behandeln, in der Haupt-
sache verfehlt sind. Sympathisch berührt aber die loyale Anhänglich-
keit, die der österreichische Offizier dem Sprößling seines angestammten
Herrscherhauses widmet. K. Haebler.
Sehr charakteristische Briefe Edwin v. Manteuffels an den
ältesten Sohn Hans-Karl (geb. 1846) als älterem Schüler und jungen
Offizier (von 1860 — 1868) mit gelegentlichen Einflechtungen politi-
scher Bemerkungen finden sich im August 1913 der Deutschen Revue.
Die Fortsetzung der Mitteilungen des Frhrn. v. H e n g e 1 -
m ü 1 1 e r aus den Papieren des Grafen K a r o 1 y i (s. S. 451) zeigen,
natürlich in österreichischer Beleuchtung, die zunehmende Verschär-
fung der Beziehungen zwischen Österreich und Preußen in der deut-
schen Frage von den bisher fast unbekannten, von Sybel kaum ge-
streiften, gescheiterten Allianzverhandlungen Anfang 1860 bis zu den
gereizten Verhandlungen über die Beustschen Reformvorschläge An-
fang 1862 (Deutsche Revue, Juli und August 1913).
Die Fortsetzung der S. 451 erwähnten Mitteilungen aus dem
Leben des Oberpräsidenten (v. Posen 1863/69) C. v. H o r n (Deutsche
Revue, Juli und August 1913) berühren die verschiedenen Seiten
seiner umfassenden, sorgfältigen und verständnisvollen Tätigkeit, ins-
besondere für Wirtschaftsleben, Kirche und Schule und gegenüber
den Polen.
L. R i e ß hat eine noch unveröffentlichte Emser Depesche
König Wilhelms I. vom 11. Juli 1870 7 h 50 N an den Kronprinzen
(aus Privatbesitz in Berlin) in den Forschungen z, brandenb. und
preuß. Gesch. 26, 1 mitgeteilt. Der Text lautet: „Dein Raisonnement
ist vollkommen richtig. Das preußische Gouvernement ist ganz un-
beteiligt u. ich nur als Familien-Haupt. Dennoch will man in
Paris dies nicht verstehen und macht Preußen responsable für
spanische Kandidatur. Diese Logik ist allerdings neu. Stünd-
lich steigert sich der Ernst der Lage. Keine Nachricht v. Leopold,
der e. Alpenreise macht . . ." Die Folgerungen freilich, die Rieß aus
diesem Telegramm ziehen zu sollen glaubt: Schon am 11. Juli ist
die gefährliche Friedensliebe des Königs, die nur vorübergehend für
den 10. Juli zutrifft, und der Einfluß Augustas überwunden, eben
vornehmlich durch das Schreiben (oder Telegramm des Kronprinzen),
das wahrscheinlich von Bismarck veranlaßt ist; nur in die Tage des
9. — 11. Juli paßt die wiederholte Drohung Bismarcks mit Amtsnieder-
legung — diese Folgerungen finden doch auch in Rieß' Argumenta-
tionen keine genügende Begründung. Übrigens verwechselt Rieß
686 Notizen und Nachrichten. ^^^^^H
S. 208 den Pariser Botschafter v. Werther mit dem damaligen Mün-
chener, früher Madrider Gesandten v. Werthern. K. J.
Ohne daß an dieser Stelle ein näheres Eingehen möglich wäre,
sei auf die Studie von J. F. Kleindinst über die deutschen
Kriegsanleihen in den Jahren 1870/1 (Annalen des Deutschen Reiches
1913, Nr. 4, 6, 7) hingewiesen.
E. O 11 i V i e r setzt die Darstellung der Kämpfe um Metz fort
{Revue des deux mondes, 15. Juni, 1. u. 15. Juli 1913). Er rühmt für
den 16. August verdientermaßen Konstantin v. Alvensleben, tadelt
Ladmirault, rechtfertigt dabei Bazaine (doch „mehr Soldat als Ge-
neral"), dem man schlecht gehorcht habe. Am 18., wo Frossard und
Leboeuf sich ausgezeichnet hätten, sei er ganz unzulänglich gewesen.
Ollivier schließt mit einer Gesamtwürdigung Bazaines, die nicht un-
zutreffend erscheint. Im übrigen operiert er mit vielen „Wenn und
Aber", benutzt gern die ruhmredigen Aufzeichnungen Garcins, des
Generalstabschefs von Cissey (vgl. H. Z. 1 10, 220) und zitiert zur
Beurteilung von Gravelotte-St.-Privat selbst Joh. Scherr als Zeugen.
Sehr dankenswert sind die Mitteilungen, die aus zwei umfang-
reichen, in der Russkaja Stanica 1912 u. 1913 erschienenen Aufzeich-
nungen höherer russischer Militärs zur Geschichte des russisch-türki-
schen Krieges und des Berliner Kongresses in der Zeitschr. f. osteur.
Gesch. 111, 4) gemacht werden: von General Bobrizow, der
die Serben in den Krieg treiben sollte, und von General A n u 9 i n ,
der als militärischer Berater dem Kongreß anwohnte. Dieser gesteht
die Unzulänglichkeit der russischen Vertretung auf dem Kongreß,
besonders die Unfähigkeit Gortschakows, offen zu; beide stimmen
darin überein, daß Bismarck ehrlich und soweit möglich für die Inter-
essen Rußlands eingetreten ist und bestätigen damit Bismarcks eigene
Angaben.
Die handelspolitischen Beziehungen Österreich-Ungarns zur
Türkei (in geschichtlichem Abriß) sind von O. Hecht behandelt;
der wirtschaftlichen Entwicklung Bulgariens in den letzten Jahr-
zehnten sind die Aufsätze von W. K. Weiß-Bartenstein
und von J. Raudnitz gewidmet: sämtlich in der (österr.) Zeitschr.
f. Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung 22.
Eine Anzahl interessanter „Briefe von Colmar Frhrn. v. d.
G 0 1 1 z aus seiner türkischen Zeit" — von 1884 bis 1894 reichend —
an einen ungenannten Freund — ist in der Frankf. Ztg. 1913 Nr. 181
vom 8. Juli veröffentlicht.
Mit großer Kraft bringt E. Landsberg in seiner Bonner Fest-
rede den „Geist der Gesetzgebung in Deutschland und Preußen 1888
Neuere Geschichte. 687
bis 1913" zur Anschauung (Bonn, Fr. Cohen. 23 S.). Die Grenze
zweier Epochen sieht er — übereinstimmend mit vielen Beobachtungen
auf anderen Gebieten — in den Jahren zwischen 1887 und 1890. Jen-
seits liegt der erste Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches, beherrscht
von den Ausläufern der spekulativen Zeit, von harmonisierender und
konstruktiver Systematik, diesseits, beginnend mit der endgültigen
Form des Gesetzbuches, aber noch stärker sich ausprägend in den
folgenden Gesetzen, ein neuer drängender und stoßender Geist der
Zweckmäßigkeit und „der technisch und naturrechtlich unbegrenzten
Möglichkeiten".
Im 3. Hefte des 37. Jahrgangs von Schmollers Jahrbuch wird
die zuletzt S. 454 erwähnte Abhandlung von J. W. H o 1 1 a e n d e r (f)
über den deutschen Zolltarif von 1902 mit einer übersichtlichen Schil-
derung des Ganges der Beratungen in Kommission und Plenum des
Reichstags zu Ende geführt. M. E. ist Hollaender der Grundlage
der Obstruktion — der es auf Herbeiführung von Neuwahlen unter
der Tarifparole, nicht ohne innere Berechtigung, ankam — nicht ge-
recht geworden. Im übrigen ist subjektive Stellungnahme und Ein-
gehen auf die divergierenden Strömungen der Parteien augenschein-
lich mit Absicht möglichst vermieden, ebenso wie die Erörterung der
staatsrechtlichen Fragen, die sich über das Vorgehen der Kompromiß-
mehrheit erheben. Zum Schluß vermißt man doch Angaben über die
Parteigruppierungen bei den entscheidenden Abstimmungen. K. J.
Eine ausgezeichnete, auf eigene Beobachtungen bei einer For-
schungsreise 1912 gestützte Studie von O. Hoetzsch über Rus-
sisch-Turkestan und die Tendenzen (und Mittel) der heutigen russi-
schen Kolonialpolitik enthalten Heft 2 und 3 von Schmollers Jahr-
buch Bd. 37 (1913), mit reicher Verwertung der russischen Literatur;
es muß genügen zu betonen, daß wirtschaftspolitisch die Förderung
der Baumwollkultur im Vordergrunde steht und daß mit Recht nach
den verschiedensten Seiten die Bedeutung des Chiwaeroberers und
ersten Generalgouverneurs, des Generals von Kaufmann, immer wie-
der hervorgehoben wird.
Wir notieren die „Politische Jahresübersicht für 1912" von
G. Egelhaaf (Stuttgart, Krabbe. 143 S. Urk. 2,25), der seit
fünf Jahren diese kurz gehaltene Zeitchronik herausgibt.
Neue Bücher : Kircheisen, Napoleons Feldzug in Italien
und Österreich 1796—1797. (München, Müller. 8 M.) — P f I ü g e r ,
Koalitions-Politik. Metternich und Friedrich v. Gentz 1804 — 1806.
1. Tl. (Hamburg, Rademacher. 2,50 M.) — Walther Vogel, Die
Hansestädte und die Kontinentalsperre. (München, Duncker & Hum-
blot. 1 M.) — Correspondance inedite de Napoleon /**■ conservie
688 Notizen und Nachrichten.
aux archives de la guerre. Publiie par E. Picard et L. Tuetey. T. 3
{i8og — 1810). (Paris, Charles-Lavauzelle. 18 fr.) — Lettres et docu-
ments pour servir ä Vhistoire de Joachim Murat. VII: Royaume de
Naples. (Paris, Plon-Nourrit et Cie. 7,30 fr.) — Joh. Frdr. Hoff,
Die Mediatisiertenfrage in den Jahren 1813 — 1815. (Berlin, Rothschild.
4 M.) — Kriege unter der Regierung des Kaisers Franz. Befreiungs-
krieg 1813 und 1814. 1. Bd. Bearb. von Osk. C r i s t e. (Wien, Seidel
<S Sohn. 5M.) — S ando na , II regno lombardo veneto, 18 14 — 185g.
(Milano, Cogliati. 8,50 L.) — S ar d i , Lucca e il suo ducato dal 18 14
al 185g. (Firenze, Passegna nazionale. 2,50 L.) — Briefe von und an
Friedrich v. Gentz. Herausgegeben von Frdr. Carl Wittichen f
und Ernst S a 1 z e r. III. Bd.: Schriftwechsel mit Metternich, 2. Tl.
(JVIünchen, Oldenbourg. 9,50 M.) — Souvenirs du comte de M 0 nt b e l
ministre de Charles X (1787 — 1831), publiis par Guy de Montbel. (Paris,
Plon-Nourrit et Cie. 7,50 fr.) — Karl B a c h e m , Josef Bachern.
2. Bd. 1848—1860. (Köln, Bachern. 6 JVl.) — Nicastro, Dal
quarantotto cd sessanta: contributo alla storia economica, sociale e poli-
tica della Sicilia nel secolo XIX. (Milano- Roma-Napoli, Albrighi, Se-
gati e C. 4,50 L.) — S 0 Im i , Mazzini e Gioberti. (Milano-Roma-
Napoli, Albrighi-Segati e C. 5 L.) — Carteggio politico di L. G. De
C ambr ay D igny , aprile-novembre 185g. (Milano, Fratelli Treves.
jo L.) — M a u g e t , Kaiserin Eugenie und ihr Hof. Deutsch von
Emma Weber-Brugmann. (Halle, Thamm. 4 M.) — Briefe, Akten-
stücke und Regesten zur Geschichte der hohenzollernschen Thron-
kandidatur in Spanien. Herausgegeben von Rieh. Fester. Heft 1,
2. (Leipzig, Teubner. 4,40 M.) — F r i t s c h , 1870/71. (Bonn, Marcus
<S Weber. 4 M.) — Ollivier, L'empire libiral. Tome 16. (Paris,
Garnier frires. 3,50 fr.) — B ap st , Le marichal Canrobert. T. 6 :
(Bataille de Saint- Privat.) (Paris, Plon-Nourrit et Cie. 7,50 fr.) —
Lano ir , Le marechal Bazaine et la capitulation de Metz, i^^ vol.
(Antibes, impr. Roux. 7 fr.) — F a b r i c i u s , Besan^on-Pontarlier.
Die Operationen des Generals v. JVIanteuffel gegen den Rückzug des
französischen Ostheeres vom 21. I, 1871 ab. II. Tl. 3. Buch. (Olden-
burg, Stalling. 7 M.) — Gust. Freytags Briefe an Albrecht v.
Stosch. Herausgegeben und erläutert von Hans F. Helmolt. (Stutt-
gart, Deutsche Verlagsanstalt. 7,50 M.) — Rachfahl, Kaiser
und Reich. 1888—1913. (Berlin, Vossische Buchh. 4,50 JVl.) —
Curt Frhr. v. JVlaltzahn, Der Seekrieg zwischen Rußland und
Japan 1904—1905. 2. Bd. (Berlin, Mittler & Sohn. 9 M.) — v. dem
Borne, Der italienisch-türkische Krieg. 2. (Schluß-) Tl. (Olden-
burg, Stalling. 2,50 M.)
Deutsche Landschaften. 689
Deutsche Landschaften.
Über den Frankschen Handel, einen Zusammenstoß zwischen
Stadt und Bistum Straßburg am Ende des 15. Jahrhunderts, berichtet
K. S t e n z e 1 in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins
N. F. 28, 3. Oswald Frank war ein Abenteurer, der es fertig brachte,
zur Rache für die Konfiskation seiner Habe durch einen bischöflichen
Vogt längere Zeit die bischöflichen Untertanen durch fortwährende
Brandstiftungen in Atem zu halten. Ermöglicht wurde ihm das nur,
indem er das schlechte Verhältnis zwischen Bischof und Stadt geschickt
ausnutzte. Schließlich kam es über seine Person zu einem ernsten
Konflikt zwischen dem Rat und dem Bischof. In demselben Heft gibt
K. H 0 f m a n n die Zusammenstellung der badischen Geschichts-
literatur des Jahres 1912.
Das Neue Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg 10,'4
bringt den Schluß der Arbeit von W. D o n at über die Heidelberger
Apotheken (als Separatdruck ist das Ganze schon vor einiger Zeit
erschienen). In demselben Heft setzt B. Schwarz seine Publikation
der Korrespondenz des schwedischen Oberamtmanns zu Amorbach,
Johann Christian von Gemmingen, aus den Jahren 1632, 1633 und
1634 fort.
Aus dem Inhalt der Neuen Heidelberger Jahrbücher 17, 2 er-
wähnen wir den Beitrag von C, Hörn über Joh. Sylvan und die An-
fänge des Heidelberger Antitrinitarismus und die Veröffentlichung
zweier Flugschriften aus der Zeit Maximilians I. durch Th. L o r e n t -
zen: einer Reimchronik über den Schwabenkrieg 1499 und eines
Gedichts über die Landshuter Fehde 1504, die beide von Haintz von
Bechwinden verfaßt sind.
Den Beginn einer Arbeit über die Geschichte der Vorstädte
Münchens von Th. Wilmersdoerffer bringt das Ober bayerische
Archiv für vaterländische Geschichte 58, 1 u. 2. Dieser erste Teil
beschäftigt sich mit der Geschichte von Neuberghausen.
Jos. Schlecht setzt im 9. Sammelblatt des Historischen Ver-
eins Freising seine dankenswerte Veröffentlichung der , .Monumentalen
Inschriften im Freisinger Dom" fort. Die Arbeit ist auch (als 5. Heft
der „Inschriften") gesondert erschienen (Freising 1913, 34 S.).
Im Archiv für Kulturgeschichte 11, 2 erscheint ein Vortrag
von Seb. M e r k 1 e über Würzburg im Zeitalter der Aufklärung. Merkle
gibt in großen Zügen einen Überblick über die Tätigkeit der beiden
Fürstbischöfe Adam Friedrich von Seinsheim und Franz Ludwig von
Erthal. Beide waren ehrlich bemüht, ihre Untertanen auf sozialem
und kulturellem Gebiet zu heben. Besonders eingehend wird ihre Be-
690 Notizen und Nachrichten.
deutung für das kirchliche Leben des Bistums geschildert. Es ent-
spricht nur der historischen Gerechtigkeit, wenn in Merkles Darstel-
lung die Persönlichkeit und die Verdienste Franz Ludwigs von Erthal
im hellsten Lichte erscheinen.
O. Kreuzer berichtet im Jahrbuch 1912 des Historischen
Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums
Bamberg über einen Preßkonflikt, welchen der Romantiker F. G.
Wetzel als Redakteur des „Fränkischen Merkur" im Jahre 1815 mit
der sachsen-koburgischen und der bayerischen Regierung auszufechten
hatte. Hier sei deshalb darauf hingewiesen, da der Fall ein gutes Bei-
spiel für die Handhabung der Preßzensur in Bayern unter Montgelas
bildet. Aus dem übrigen Inhalt sei die Zusammenstellung der neuen
Literatur zur Bamberger Geschichte durch A. Dürrwaechter er-
wähnt.
Trotz umfassender Kenntnis der einschlägigen Quellen und
Literatur ist es A. J e g e 1 in seiner Arbeit über „Die landständische
Verfassung in den ehemaligen Fürstentümern Ansbach-Bayreuth" (S.-A.
des Archivs für Geschichte u. Altertumskunde von Oberfranken, Bd. 25,
1912, 159 S.) nicht gelungen, eine befriedigende Darstellung des Themas
zu geben. Er baut die landständische Verfassung seiner Territorien
nicht selbständig auf und vergleicht sie dann mit der anderer Länder,
sondern er will sie aus den Vergleichen aufbauen. Schon in der Dis-
position seiner Arbeit begeht er den grundlegenden Fehler, die Disposition
der Einleitung zu G. v. Belows Landtagsakten mit Ausnahme eines
Kapitels wörtlich nachzuahmen. Dabei hat er übersehen, daß diese
Einleitung gar keine „land ständische Verfassung" ist, sondern
eine „Darstellung der L a n d t a g s Verfassung von Jülich-Berg 1400
bis 1538", für die eine große Vorarbeit, eben die „landständische"
Verfassung von Jülich-Berg, die ganz anders disponiert war, vorlag.
Wie wenig tief er in den Geist der landständischen Verfassung einge-
drungen ist, beweist er gleich am Anfang seiner Arbeit durch die Be-
hauptung, es sei ein Widerspruch, daß der Adel landsässig war und
doch die Vereinbarungen über seine Rechte und Pflichten „auf dem
Fuß der Gleichberechtigung" mit seinen Fürsten schloß. Bildete doch
gerade diese Gleichberechtigung des Landesherrn und des durch die
Stände vertretenen Landes die Grundlage des ständischen Territorial-
staats. Es ist begreiflich, daß durch dieses mangelnde Verständnis
und durch die Kopie der Disposition am falschen Ort der Wert von
Jegels Arbeit erheblich vermindert wird. Dies ist um so mehr zu be-
dauern, als Ansbach und Bayreuth zu den wenigen Territorien ge-
hörten, in denen die Bauern auf den Landtagen erschienen, und die
Entwicklung der ständischen Verhältnisse auch sonst manches Be-
merkenswerte aufweist. Waren doch seit dem 16. Jahrhundert die
Deutsche Landschaften. 691
Städte mit der Bauernschaft die einzige ständische Vertretung, da die
Ritterschaft sich im Streben nach Reichsunmittelbarkeit ihren Pflich-
ten als Landstand entzog und die Prälaten infolge der Reformation
ausschieden. Da Jegel aber nur pragmatisch die Tatsachen aneinander
reiht, erfährt man nur wenig über den Zusammenhang der Ereignisse
untereinander. So hörte man z. B. gern mehr über das Ausscheiden
der Prälatenkurie und über die Bauernschaft als landständische Ver-
tretung. Jegel hat aber den Nutzen seiner Arbeit noch mehr durch
die unglückliche Idee zerstört, „auf Anmerkungen im landläufigen
Sinn Verzicht zu leisten". Die 1118 an das Ende des Buchs gesetzten
Akten- und Literaturzitate (für 104 Seiten!) bringen vielleicht den
Gewinn, daß jemand anders zu einer geschickteren Bearbeitung der
landständischen Geschichte von Ansbach-Bayreuth angeregt wird,
vielleicht auch, soweit es lohnt, die Akten selbst veröffentlicht.
H. Goldschmidt.
In der Westdeutschen Zeitschr. für Gesch. und Kunst, Jahrg. 31,
Heft 4, 1912 handelt Herm. Thimme über „Den Handel Kölns
am Ende des 16, Jahrhunderts", auf Grund reichhaltigen Aktenmate-
rials, auch auswärtiger Archive, über die fremdländischen Bestandteile
des Kölner Kaufmannsstandes, deren Einwanderung Köln um die
Wende des 16. Jahrhunderts, einen ganz internationalen Charakter
verlieh, 1. die Portugiesen, 2. die Italiener, 3. die Niederländer und
ihren Handel nach Italien und Spanien. Den Verfall des Kölner Han-
dels am Anfang des 17. Jahrhunderts führt Thimme zum Teil auf die
engherzige Politik und mangelndes Verständnis der Kölner Stadtver-
waltung zurück.
Die von Hans Goldschmidt in der Zeitschrift des bergischen
Geschichtsvereins, Bd. 46, 1913 gelieferten Nachträge zu den Landtags-
akten Jülich-Bergs (Bd. 1 u. 2) enthalten 77 Aktenstücke aus der
Zeit von 1499—1589.
Die auf fleißigem Quellenstudium beruhende Abhandlung Wil-
helm Meiers: „Die clevischen Städte unter brandenburgisch-preußi-
scher Herrschaft im 17. und 18. Jahrhundert" (Festschrift des städt.
Gymnasiums an der Klosterstraße zu Düsseldorf, 1913, S. 145 — 196),
schildert den Rückgang der städtischen Autonomie und des bürger-
lichen Wohlstandes, die Versuche zur Einführung landesherrlicher
indirekter Steuern, die Einschränkung der Selbstverwaltung durch
das absolutistische Regiment. Sie könnte auch als Beitrag zur Zoll-
und Akzisepolitik der Hohenzollern bezeichnet werden. Dankenswert,
aber ergänzungsbedürftig sind die Angaben über Friedrich Wilhelms I.
und Friedrichs des Großen Bemühungen zur Begründung einer leist-
ungsfähigen einheimischen Industrie in den Stadtgemeinden Cleves.
692 Notizen und Nachrichten.
Mit den Anfängen einer territorialen Wirtschaftspolitik in Hessen
beschäftigt sich Joh. Schultzes Abhandlung „Zur Getreidepolitik
in Hessen unter Landgraf Philipp dem Großmütigen (1518 — 1567)"
(Vierteljahrschrift f. Sozial- und Wirtschaftsgesch. 1913, Bd. II, Heft 1
und 2). Der Landgraf hat die Einrichtung von Kornmagazinen als
wirksames JVlittel zur Bekämpfung von Teuerungen und JVlißernten
verwendet.
In den Deutschen Geschichtsblättern, Bd. 14, Heft 9, I9I3 schreibt
Herm. S c h e 1 e n z über die Wohlfahrtsbestrebungen in Hessen vom
16. bis zum 18. Jahrhundert.
In den Mitteil, des Ver. für Gesch. und Landeskunde von Osna-
brück, Bd. 36, 1912 behandelt Ed. Donnerberg den Besitz des
von Benno II. im 11. Jahrhundert gegründeten, 1802 aufgehobenen
Klosters Iburg, des reichsten Klosters im Hochstift Osnabrück. Im
Mittelpunkt seines Interesses stehen die Entwicklung und Verwaltung
des Güterbesitzes, weniger die wirtschaftlichen Verhältnisse. A. W e n -
z e 1 , „Die Grundherrschaft des ehemaligen Benediktinerinnenklosters
Herzebrock in Westfalen", stellt sich dagegen die Aufgabe, ein möglichst
zusammenhängendes Bild der wirtschaftlichen Entwicklung des Klo-
sters zu geben.
Die Hansischen Geschichtsblätter, Jahrg. 1913, Heft 1 gewähren
reichhaltige Belehrung und Anregung: W. Draeger untersucht
„das alte lübische Stadtrecht und seine Quellen". Das lübische Recht
setzte sich zusammen aus originellen Satzungen Lübecks, 2. aus einigen
in den deutschen Städten allgemein gültigen Rechtsgrundsätzen,
3, aus Rechtsbestimmungen einzelner Städte, auch des um 1120 ent-
standenen Soester Rechts, dessen Einfluß auf die lübische Rechtsbil-
dung jedoch bisher überschätzt worden ist. — Der Beitrag P. Wegners
über „Die mittelalterliche Flußschiffahrt im Wesergebiet" ergänzt mit
seinen eingehenden Ausführungen über die Weserzölle und Stapel-
plätze für das Wesergebiet die bekannten Arbeiten Sommerlads, Hum-
mels, Weißenborns über die Rhein-, Main- und Elbzölle. — K. H o y e r
behandelt „Das Bremer Brauereigewerbe", das im 13. und 14. Jahr-
hundert seine Blüte erreichte, im 15. Jahrhundert aber von einem
Exportgewerbe zu einem freilich immer noch ansehnlichen Stadt-
gewerbe herabsank. — Rud. H ä p k e , „Friesen und Sachsen im Ost-
seeverkehr des 13. Jahrhunderts", weist auf die Rivalitäten beider
Stämme im Seeverkehr hin. Die friesische Ostseefahrt machte zu
Beginn der achtziger Jahre des 13. Jahrhunderts so große Fortschritte,
daß Lübeck sich beunruhigt und benachteiligt fühlte. Die Lübecker
und ihre sächsischen Stammesgenossen im Westen setzten es daher
durch, daß Friesen und Flandrern die Fahrt auf der Ostsee nach Got-
Deutsche Landschaften. 693
!and, den Goten umgekehrt die Befahrung der Westsee untersagt
wurde. — W. Stein, „Die Hansestädte", stellt sich die nach dem
heutigen Stande der Quellenpublikation aussichtsvolle Aufgabe, zu
ermitteln, welche Städte der deutschen Hansa angehört haben. Ein
erster, „Überlieferung und Grundfragen" betitelter Abschnitt seiner
Untersuchung, die mit dem Jahre 1358, dem Jahre der ersten Er-
wähnung deutscher „Hansestädte" einsetzt, stellt die Frage 1. nach
den Wesensmerkmalen einer Hansestadt und 2. nach dem Ver-
hältnis der großen und kleinen Hansestädte zur Hanse. Das ent-
scheidende Kriterium für das Wesen einer Hansestadt sieht Stein
(in Übereinstimmung mit früheren Erklärungsversuchen) in ihrer
Zulassung zu den auswärtigen Niederlassungen. „Die deutsche Hanse
war und blieb ihrem Wesen nach in erster Linie eine Rechtsgemein-
5Chaft in ihren auswärtigen Privilegien" (S. 277); „es genügt der
Gebrauch der Privilegien, um eine Stadt hansisch zu machen"
(S. 287). Die erhaltenen Verzeichnisse (von Hansestädten), deren
Stein vom Jahre 1407 an mehr als 15 anführt, sind meist nicht voll-
ständig und ebensowenig durchweg zuverlässig. Ein Bild vom An-
wachsen der Zahl der Hansestädte und später von ihrer Abnahme
kann daher nur mit Hilfe der Einzelzeugnisse gewonnen werden. Der
zweite noch ausstehende Abschnitt soll ,,die einzelnen Hansestädte
jn bestimmter Ordnung und Gruppierung samt den über ihre Eigen-
schaft als Hansestädte vorliegenden Nachrichten vor Augen führen".
Im 43. und 44. Jahresbericht des Histor. Ver. zu Brandenburg
a. H., der zur HohenzoUernfeier 1912 erschienen, wird die märkische
Chronik des Brandenburgers Engelbert Wusterwitz von O.Tschirch
und das Volkslied des Niklas Upschlacht auf Markgraf Friedrich I.
und seinen Sieg über die Quitzows 1414 von W. Specht nach der
wiederaufgefundenen Handschrift (in der von der Hagenschen Biblio-
thek zu Hohennauen) herausgegeben. Die Anmerkungen zum mittel-
niederdeutschen Text des Volksliedes sowie die Übertragung ins Hoch-
deutsche rühren von O. Tschirch her. Herm. K r a b b o , „Die Teilung
der Mark durch die Markgrafen Johann I. und Otto III.", scheidet
vier Teilungsepochen (1258 — 1266); er sucht zu ermitteln, was in den
einzelnen Verträgen aufgeteilt worden und wie die Mark nach Durch-
führung aller Teilungen ausgesehen hat.
Die Abhandlung Ad. S t ö 1 z e 1 s über den vermeintlichen „Schöp-
penstuhl zu Jüterbog im 17. Jahrhundert" in den Geschichtsblättern
für Stadt und Land Magdeburg, Jahrg. 48, 1913, Heft 1 enthält lehr-
reiche Ausführungen über das Gerichtswesen und die Verbreitung der
gelehrten Rechtsprechung im 17. Jahrhundert. — Wilhelm Brink-
w e r t h , „Beiträge zur Geschichte der Reorganisation des Städte-
694 Notizen und Nachrichten.
Wesens in der Kurmark Brandenburg und im Herzogtum Magdeburg
in den Jahren 1680 — 1713", wendet sich gegen Schmollers Ansicht
von dem „systemlosen Charakter und der geringen Bedeutung" der
damaligen reorganisatorischen Eingriffe in die städtische Verwaltung,
und sucht durch aktenmäßige Darstellung der Revisionen und Regle-
mentierung städtischer Verwaltung in der Mittelmark, Altmark und
im Herzogtum Magdeburg für die Zeit des großen Kurfürsten und
Friedrichs I. den Nachweis planvoller, ziemlich umfassender städtischer
Reformen zu liefern. — Ad. Müller behandelt ebendaselbst nach den
(seit 1407) erhaltenen Rechnungsbüchern über den städtischen Haus-
halt die Einnahmen und Ausgaben der Stadt Groß-Salze.
Die unter dem Pseudonym Vota erschienene, anspruchsvolle,,
aber unkritische Schrift, „Untergang des Ordensstaates Preußen und
die Entstehung der preußischen Königswürde", wird in den For-
schungen zur brand. und preuß. Geschichte, Bd. 26, 1913 von A.
Seraphim einer eingehenden Würdigung unterzogen, welche Ten-
denz und Fehler des Werkes vornehmlich an der Zeit des Untergangs
der Ordensherrschaft und der Begründung des preußischen Herzogtum?
nachzuweisen sucht. — Ad. Hofmeisters „Analekten zur ältere»
brandenburgischen Geschichte" verwerten Bestände des Woldegker
Rats- und Pfarrarchivs. — Herm. v. Caemmerer sucht mit scharf-
sinnigen Argumenten gegen Kotelmann und Schapper die Glaubwürdig-
keit einer Angabe Albrecht Achills (aus dem Jahre 1485) über die Höhe
seiner Jahreseinnahme aus der Mark Brandenburg zu stützen.
Die wichtige Periode der preußischen Deutschordensgeschichte
vom ersten bis zum zweiten Thorner Frieden ist in aller Breite in
Joh. Voigts umfassendem, inzwischen aber veraltetem Werk (Bd. 7
u. 8, 1836, 38) dargestellt worden. Eine übersichtüche, die Ergeb-
nisse neuerer Forschung in ansprechender Form zusammenfassende
Darstellung, wie sieA. Werminghoff „Der Deutsche Orden und
die Stände in Preußen bis zum zweiten Thorner Frieden im Jahre
1466", für die Pfingstblätter des Hansischen Geschichtsvereins
(Blatt VIII, 1912,85 8.) geschrieben hat, wird daher einen dank-
baren Leserkreis finden. Sie schildert in drei Kapiteln 1. den Staat
des Deutschen Ordens zur Zeit seiner Blüte, 2. Landesherrschaft und
Stände bis 1440, 3. die Zeit von der Gründung des Bundes (1440)
bis zum Thorner Frieden (1466).
Die Mitteilungen der literar. Gesellschaft Masovia, Heft 18, 1913
veröffentlichen Materialien zur Geschichte der Reformierten in Alt-
preußen und im Ermlande (Ernst M a c h h o 1 z) und einen Beitrag
Joh. H 0 e 1 g e s zur Geschichte des Deutschordensstaates, „Das
Culmer Domkapitel zu Culmsee im Mittelalter".
Deutsche Landschaften. 695
Die Abhandlung Walter P a a p s , „Kloster Belbuck um die
Wende des 16. Jahrhunderts" (Baltische Studien, N. F. Bd. 16, 1912),
berücksichtigt hauptsächlich die wirtschaftlichen Verhältnisse des
Klosters, seine Umwandlung in ein herzogliches Amt und die Ver-
fassung des aus Klosterdörfern gebildeten Amtes. Sie bietet einen
willkommenen Beitrag zur Kirchen- und Wirtschaftspolitik der für
Pommerns Entwicklung sehr bedeutsamen Regierungszeit Bogislaws X.
(f 1523), wenn auch die allgemeinen Gesichtspunkte nicht genügend
hervorgehoben sind. — „Die Kolonisationstätigkeit des Prinzen Moritz
von Anhalt-Dessau in Pommern 1747 — 1754" hat, wie Hans Hesse
ausführt, vornehmlich Pfälzer, Württemberger, Mecklenburger und
Deutschpolen nach Pommern geführt. — Franz Weber veröffent-
licht ebendaselbst ein Verzeichnis der auf der Stadtbibliothek zu
Stettin befindlichen Drucke von 1500 — 1550.
Das von R. G e i g e s in der Zeitschr. für Brüdergesch., Jahrg. VII,
1913, Heft 1 entworfene Lebensbild Joh. Konr. Comojes (f 1767)
führt in die Anfänge der herrnhutischen Gemeinschaftspflege in Würt-
temberg. — J. Th. Müller veröffentlicht ebendaselbst ein Verzeich-
nis der in der Bibliothek des Unitätsarchivs zu Herrenhut in 13 Bän-
den aufbewahrten, für die Geschichte der böhmischen Brüder (1460
bis 1589) wertvollen Acta unitatis fratrum (der sog. Lissaer Folianten).
H. W e n d t , Die Breslauer Eingemeindungen. (Mitteilungen
aus d. Stadtarchiv u. d. Stadtbibliothek, Heft 11.) Breslau, E. Mor-
genstern. 1912. V u. 99 S. u. 3 Karten. — Seit frühen Zeiten um-
gab die Stadt Breslau ein Kranz von meist geistlichen Grundherren
gehörenden und bald dichtbevölkerten Vorstädten; die Folge waren
dauernde, oft schwere Streitigkeiten über die Anlage von Festungs-
werken, die Gerichtsbarkeit, die Polizei, vor allem niemals abreißende,
auch von der altpreußischen Verwaltung nicht unterdrückte Kämpfe
zwischen den städtischen Zünftlern und den vorstädtischen Pfuschern.
Die Vereinigung von Stadt und Vorstädten bei Einführung der Städte-
ordnung von 1808 bereitete deshalb hier besonders große, erst nach
vielen Jahren völlig überwundene Schwierigkeiten. Im weiteren Ver-
lauf des 19. Jahrhunderts ist die Geschichte der Breslauer Eingemein-
dungen charakterisiert durch eine kurzsichtige PoHtik der Sparsamkeit
auf Seiten der Stadt bis in die sechziger Jahre und durch den nur mit
rasch wachsenden Opfern auszuschaltenden Widerstand des Land-
kreises an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert. Durch die Be-
handlung dieser Probleme besitzt das Buch eine über den lokalen
Interessenkreis weit hinausgehende Bedeutung. Ziekursch.
Neue Bücher: D i e r a u e r , Geschichte der schweizerischen
Eidgenossenschaft. 1. u. 2. Bd. 2. Aufl. (Gotha, Perthes. 20 M.)
696 Notizen und Nachrichten.
— Württembergische Landtagsaiiten. I. Reihe. 1. Bd.: 1498 — 1515.
Bearbeitet von Wilh. Ohr und Erich Koben (Stuttgart, Kohl-
hammer. 5 M.) — Frz. Schneider, Geschichte der Universität
Heidelberg im 1. Jahrzehnt nach der Reorganisation durch Karl Friedrich
(1803—1813). (Heidelberg, Winter. 9,20 M.) — Regesten der Erz-
bischöfe von Mainz von 1289—1396. 14. Lfg. 1. Abtlg. Bearbeitet
von Ernst Vogt. Bogen 61—73. (Leipzig, Veit & Co. 6,50 M.) —
Quellen und Forschungen zur Hessischen Geschichte I: Die Mainzer
Dompropstei im 14. Jahrhundert, Aufzeichnungen über ihre Besitzun-
gen, Rechte und Pflichten aus den Jahren 1364 — 1367, bearbeitet
von V i g e n e r. (Darmstadt, Großh, hessischer Staatsverlag. 6 M.) —
Netz, Geschichte der Stadt Wetzlar. (Wetzlar, Waldschmidt. 3 M.)
— Die Münzen und Medaillen von Köln. 2. Bd. Bearbeitet von Alfr.
N 0 ß. (Köln a. Rh., Stadt Köln. 30 M.) — Die Akten der Visitation
des Bistums Münster aus der Zeit Johanns v. Hoya (1571 — 1573).
Herausgegeben und erläutert von Wilh. Eberh. Schwarz. (Münster,
Theissing. 9M.) — Rothert, Kirchengeschichte der Grafschaft
Mark. (Gütersloh, Bertelsmann. 5 M.) — M ö r i n g , Die Wohlfahrts-
politik des Hamburger Rates im Mittelalter. (Berlin, Rothschild. 6 M.)
— Arnecke, Die Hijdesheimer Stadtschreiber bis zu den ersten
Anfängen des Syndikats und Sekretariats 1217 — 1443. (Marburg,
Spieß. 6,50 M.) — Fahlbusch, Die Finanzverwaltung der Stadt
Braunschweig seit dem großen Aufstand im Jahre 1374 bis zum Jahre
1425. (Breslau, Marcus. 6,80 M.) — Vollmer, Die Wollweberei
und der Gewandschnitt in der Stadt Braunschweig bis zum Jahre 1671.
(Wolfenbüttel, Zwißler. 3 M.) — M u t k e , Helmstedt im Mittelalter.
(Wolfenbüttel, Zwißler. 3 M.) — I s e 1 e r , Die Entwicklung eines
öffentlichen politischen Lebens in Kurhessen in der Zeit von 1815 — 1848.
(Berlin, Ehering. 3 M.) — Urkunden zur Caminer Bistumsgeschichte,
auf Grund der avignonesischen Supplikenregister herausgegeben von
Arth. M 0 t z k i. (Stettin, Saunier. 2 M.) — v. Bulmerincq,
Kämmerei-Register der Stadt Riga 1348—1361 und 1405—1474. 2. Bd.
(München, Duncker & Humblot. 17,20 M.)
Vermischtes.
Im Interesse der von der Historischen Kommission bei der Kgl.
Bayer. Akademie der Wissenschaften beschlossenen Verzeichnung
der ungedruckten süddeutschen Handlungs bücher und
verwandten Akten des Mittelalters und des 16. Jahrhunderts bitten
G. V. B e I 0 w und J. S t r i e d e r die Freunde der deutschen Wirt-
schafts- und Handelsgeschichte, möglichst genaue Angaben über ihnen
bekannte oder aufstoßende Handelspapiere der genannten Art an
Vermischtes. 697
Herrn Privatdozenten Dr. Strieder, Leipzig-Goiilis, Kleiststr. 9,
gelangen zu lassen. Die gesuchten Archivalien finden sich oft als
Beilagen zu Gerichtsakten.
Aus dem (32.) Jahresbericht der Gesellschaftfür Rhei-
nische Geschichtskunde über das Jahr 1912 ist hier fol-
gendes anzumerken. Erschienen ist: Geschichtlicher Atlas der Rhein-
provinz. Erläuterungen, 5. Bd.: Die beiden Karten der kirchlichen
Organisation, 1450 und 1610, von W. Fabricius. 2. Hälfte. Die
Trierer und Mainzer Kirchenprovinz. Die protestantische Kirchen-
verfassung. Ferner wurde von der Kommission für die Denkmäler-
statistik der Rheinprovinz aus Mitteln des Rheinischen Provinzial-
verbandes veröffentlicht: Die Kunstdenkmäler der Kreise Aachen-Land
und Eupen, bearbeitet von R e i n e r s. Noch in diesem Jahre wird
erscheinen der 1. Band der von Au bin bearbeiteten Kölner Weis-
tümer; der 2. Band soll im nächsten Jahre unter die Presse kommen.
Die von Kötzschke herausgegebenen Werdener Urbare sollen zu
Ende dieses Jahres im Druck vollendet sein. Von den Jülich-Bergischen
Landtagsakten steht der von Goldschmidt bearbeitete Schluß-
band der 1. Reihe im Beginn der Drucklegung, von Band 1 der 2. Reihe
(1624 — 1653), den Küch bearbeitet, sind 24 Bogen gedruckt. Von
dem Geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz ist der Text des 6. Er-
läuterungsbandes (der vordere Nahegau mit Kreuznach) fertig gedruckt.
Der Druckabschluß des Textbandes der Romanischen Wandmalereien
(Giemen) steht nahe bevor, desgleichen das Erscheinen des von
T h i m m e besorgten 7. (Schluß-)Bandes von Sauerlands Vatika-
nischen Urkunden und Regesten zur Geschichte der Rheinlande und
Teil 2 des 2. Bandes der Jülich-Bergischen Kirchenpolitik am Ausgang
des Mittelalters und in der Reformationszeit (Redlich). K u s k e s
Quellen zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs bis zum
Jahre 1500 sollen 1914 erscheinen, die Fortführung dieses Werkes bis
zum Jahre 1650 hat T h i m m e übernommen. Mit der Bearbeitung
von Quellen zur Geschichte der Aufklärung am Rhein im 18. Jahr-
hundert ist Dr. B e y e r h a u s in Bonn unter v. Bezolds Leitung
beauftragt worden, Gutachten und verwandte Aktenstücke über die
Tätigkeit der Immediat-Justiz-Kommission für die preußischen Rhein-
provinzen, 1816—1818, wird E. Landsberg bearbeiten. Dem
Jahresbericht ist von der durch K r u d e w i g bearbeiteten Übersicht
über den Inhalt der kleineren Archive der Rheinprovinz das 3. Helt
des 4. Bandes, das den Kreis Wittlich enthält, beigegeben.
Die Württembergische Kommission für Lan-
desgeschichte hat, wie ihre Mitteilungen berichten, 1912 ver-
öffentlicht: Rapp, Urkundenbuch der Stadt Stuttgart; Geschichte
Historische Zeitschrift (111. Bd.) 3. Folge 15. Bd. 45
698 Notizen und Nachrichten.
des humanistischen Schulwesens I; Steiff-iVlehring, Geschicht-
ilche Lieder und Sprüche (Schluß); Binder-Ebner, Münzen-
und JMedaillenkunde II, 1; Schnurre-Niebour, Die württem-
bergischen Abgeordneten zur Frankfurter Nationalversammlung;
Wülk-Funk, Die Kirchenpolitik der Grafen von Württemberg;
Archivinventare 2 (Ravensburg — Saulgau), 3 (Künzelsau), 4 (Back-
nang— Besigheim — Cannstatt), 5 (JVlergentheim), 6 (JVlarbach); von
Rauch, Heilbronner Urkundenbuch II; Ohr-Kober, Württ.
Landtagsakten I, 1, Im Druck sind: Hauber, Heiligkreuztaler
Urkundenbuch II; Günter, Briefe und Akten Gerwig Blarers I;
Merkle, Entwicklung des Rottweiler Herrschaftsgebiets; Archiv-
inventare 7 (JVIaulbronn — Brackenheim). Druckfertig sind: Wint-
terlin, Ländliche Rechtsquellen II; v. Rauch, Heilbronner
Urkundenbuch III; M ü 1 1 e r , Oberschwäbische Stadtrechte I; Archiv-
inventare: Gerabronn, Ellwangen, Neresheim, Vaihingen, Tübingen,
Rottenburg, Balingen, Calw, Freudenstadt, Oberndorf, Spaichingen,
Waldsee, Laupheim, Tettnang, Wangen, Biberach. In Aussicht ge-
nommen sind: Ernst, Briefwechsel des Herzogs Christoph V und VI;
Schäfer, Minoriten in Württemberg; List, Politische Korrespon-
denz des Königs Friedrich; Geschichte des württembergischen Volks-
schulwesens. Neu beschlossen wurde: AI brecht. Die Triaspolitik
des Freiherrn v. Wangenheim; Hutter, Das Herrschaftsgebiet des
Klosters Ellwangen; Z e 1 1 e r , Verzeichnis der Kirchenheiligen Würt-
tembergs mit Angabe des ersten Vorkommens; P i s c h e k , Die würt-
tembergischen Lagerbücher des 14. Jahrhunderts.
Von den Unternehmungen der Historischen Kommis-
sion für Hessen und Waldeck stehen die 1. Lieferung des
Fuldaer Urkundenbuchs (Stengel) und der 2. Band der Chroniken
von Hessen und Waldeck, der die Klüppelsche Chronik (J ü r g e s),
die Aufzeichnungen von Trygophorus (L e i ß) und die Flechtorfer
Chronik (D e r s c h) enthält, unmittelbar vor der Ausgabe. Von den
Klosterarchiven ist sowohl der von Huyskens bearbeitete Band
über die Werraklöster wie der von S c h u 1 1 z e bearbeitete über
die Kasseler Klöster bald zu erwarten, desgleichen von den Quellen
zur Rechts- und Verfassungsgeschichte der hessischen Städte der von
K ü c h vorbereitete Band über Marburg. Die Arbeiten für das Orts-
lexikon hat Reimer wieder aufgenomrnen.
Die Historische Kommission für das Groß-
herzogtum Hessen hat ihre 5. Hauptversammlung am 14. Juni
1913 zu Wimpfen a. N. abgehalten. Aus der Kommission ausgeschieden
sind Haller und A. B. Schmidt, neu eingetreten sind Hübner, Vogt
und Voltz. Von Glöckners Bearbeitung des Codex Laureshamensis
Vermischtes. 699
soll ein erster (Text-) Band mit Einleitung, Anmerkungen und Re-
gistern 1914 erscheinen, desgleichen der von Veit bearbeitete 1. Band
der Mainzer Domkapitelprotokolle (1450 — 1514), dem sich der 1. Halb-
band des von Herrmann bearbeiteten 2. Bandes sogleich anschließen
soll. Das 1. Heft der von Haupt herausgegebenen Hessischen Bio-
graphien ist erschienen, das 2. Heft im Drucke fast vollendet. Das
von D i e t e r i c h und Esselborn bearbeitete Repertorium der
hessischen Verordnungen wird gleichfalls wohl noch in diesem Jahre
beendet werden. Von dem historischen Kartenwerk der Länder am
Mittelrhein, zu dem sich mit der Hessischen Kommission die Kom-
missionen von Hessen und Waldeck, Nassau und Frankfurt und die
Gesellschaft für fränkische Geschichte zusammengetan haben, ist die
erste, die territorialen Verhältnisse von 1792 darstellende Karte
(1:250 000), bearbeitet von Strecker, im nächsten Jahre zu er-
warten. Die Herausgabe der historischen Grundkarten des Groß-
herzogtums Hessen ist von der Kommission beschlossen worden; die
Blätter sollen bis zum 1. April vorliegen. Von den Quellen und For-
schungen zur hessischen Geschichte liegt der 1. Band (Vi gen er,
Die Mainzer Dompropstei im 14. Jahrhundert; Aufzeichnungen über
ihre Besitzungen, Rechte und Pflichten aus den Jahren 1364 — 1367)
vor, als 2. Band werden noch 1913 erscheinen die von Bergsträßer
herauszugebenden „Lebenserinnerungen des hessischen Staatsmanns
Reinhard Eigenbrodt aus den Tagen des Frankfurter und Erfurter
Parlaments und der preußischen Union 1848 — 1860", als 3. Band wird
voraussichtlich Anfang 1914 erscheinen: Stimming, Die Ent-
stehung des weltlichen Territoriums des Mainzer Erzbistums.
Aus dem Bericht der Historischen Landeskom-
mission für Steiermark über die Jahre 1908 — 1912 teilen
wir folgendes mit. Veröffentlicht wurden in der Reihe der „Forschun-
gen": V. Mensi, Geschichte der direkten Steuern in Steiermark bis
zum Regierungsantritte Maria Theresias. I und U; Meli, Beiträge
zur Geschichte der steirischen Privaturkunde. 1. Die Zeit der Tradi-
tionsbücher. 2. Die Besieglung der Privaturkunde und deren recht-
liche Bedeutung; W a 1 1 n e r , Beiträge zur Geschichte des Fischerei-
wesens in Steiermark I; Loserth, Das Kirchengut in Steiermark
im 16. und 17. Jahrhundert. Ferner in den „Veröffentlichungen":
Meli und Thiel, Die Urbare und urbarialen Aufzeichnungen des
landesfürstlichen Kammergutes in Steiermark; Loserth, Das Archiv
des Hauses Stubenberg (Supplement). Das Archiv Gutenberg; Thiel,
Zur Geschichte des steiermärkischen Statthaltereiarchivs. Die Be-
arbeitung des 3. Bandes der „Geschichte der direkten Steuern in
Steiermark bis zum Regierungsantritte Maria Theresias" durch
V. Mensi dürfte voraussichtlich bis Ende des Jahres 1913 abge-
45*
700 Notizen und Nachrichten.
schlössen werden. Auch die von Meli und Pirchegger heraus-
zugebende Sammlung der „Steirischen Landgerichts- und Burgfrieds-
beschreibungen" soll 1913 erscheinen, als Heft 28 der „Veröffent-
lichungen". Thiel, „Regesten zur Geschichte des landesfürstlichen
Behördenwesens in Steiermark", 1. Teil, liegt druckfertig vor, des-
gleichen W a 1 1 n e r , „Beiträge zur Geschichte des Fischereiwesens
in der Steiermark", 2. Teil „Das Gebiet der Mur". Durch Dr. Viktor
Ritter v. G e r a m b wurden 46 größere Herrschafts- und Familien-
archive geordnet und inventarisiert.
Georg E r 1 e r in Münster (geb. 1850) ist am 30. Juni gestorben.
Wir erinnern an seine verdienstvollen Schriften über Dietrich von
Nieheim und an seine Bearbeitung der Matrikeln der Universitäten
Leipzig und Königsberg.
D
1
H7A
Bd. 111
Historische Zeitschrilt
PLEASE DÖ NOT REMOVE
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