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Full text of "Historische Zeitschrift"

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HANDBOUND 
AT  THE 


UNTVERSITY  OF 
TORONTO  PRESS 


Historische  Zeitschrift 

Begründet  von  Heinrich  v.  Sybel 

Unter  Mitwirkung  von 

Paul  Bailleu,  Georg  von  Below,  Otto  Hintze,  Otto  Krauske, 
Max  Lenz,   Eridi  Marcks,   Sigmund  Riezler,   Moriz  Ritter 

herausgegeben  von 

Friedridi  Meinecke  und  Fritz  Vigener 

Der  ganzen  Reihe  120.  Band 
Dritte  Folge  —  24.  Band 


München  und  Berlin  1919 
Druck  und  Verlag  von  R.  Oldcnbourg 

Reprinted  with  the  permission  of  R.  Oldenbourg  Verlag 

JOHNSON  REPRINT  CORPORATION  JOHNSON  REPRINT  COMPANY  LTD. 

1 1 1  Fifth  Avenue,  New  York,  N.Y.  10003        Berkeley  Square  House,  London,  W.  1 


Bd.  \w 


SEP   4  lyöb 


First  reprinting,  1968,  Johnson  Reprint  Corporation 
Printed  in  the  United  States  of  America 


INHALT. 


AufsätZQ.  Seite 

Über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.    3.  Der  Marxismus.    Von  Ernst 

Troeltsch 393 

Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassungsgeschichte.  Ein  methodischer 

Versuch  von  Eugen  Täubler 189 

Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.    Von  Fritz  Kern 1 

Kaiser  Friedrich   II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.     Von  Manfred 

Stimming 210 

Renaissance  als  Stilbegriff.    Dem  Andenken  Jakob  Burckhardts  von  Werner 

Weisbach 250 

Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.    Von  E.  W.  Mayer     ....  452 

Die  Entstehung  von  Sturdzas  „Etat  actuel  de  l'AUemagne".  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  der  deutsch-russischen  Beziehungen  von  Carl  Brink- 
mann  80 


Literaturbericht. 


Seite 

Allgemeines: 

Geschichtsphilosophie  103.  281  ff.  495 

Deutschtum 291  ff. 

Biographisches 295  ff. 

Alte  Geschichte 104 

Mittelalter 109ff.    300ff.   . 

16.  Jahrhundert 118.310 

18.  Jahrhundert 121.313 

19.  Jahrhundert: 

Wiener  Kongreß 501 

Schulwesen 314 

Biographisches 499 

Katholizismus    ......  124.  318 

20.  Jahrhundert 320 


Seite 

Rechtsgeschichte 129.    321  ff. 

Wirtschaftsgeschichte     .    .     328  ff.    505 

Kirchengeschichte 507  ff. 

Deutsche  Landschaften: 

Baden      511 

Baiern 515 

Rheinland 519 

Hessen 522 

Salzburg 132 

Steiermark 524 

England 336.  525 

Italien 527 

Rußland 340ff. 

Heeresgeschichte 346 


Alphabetisches  Verzeichnis  der  besprochenen 
Schriften. 

(Enthält  auch  die  in  den  Aufsätzen  und  den  Notizen  und  Nachrichten  besprochenen 
selbständigen  Schriften.) 


Seite 
Adam  von  Bremen,  Hamburg.  Kir- 
chengeschichte. 3.  Aufl.,  herausg. 

von  B.  Schmeidler 543 

V.  Albert  und  v.  Alten  s.  Hand- 
buch. 


Seite 

Anrieh,  Hagios  Nikolaos.  Der  hei- 
lige Nikolaos  in  der  griechischen 
Kirche.    Bd.  2 507 

—  s.  Ficker. 

Baldasseroni  s.  Schiaparelli. 


IV 


Inhalt. 


Seite 

P.Barth,  Geschichte  der  Erziehung. 
2;  Auflage 534 

Adolf  Bauer,  Vom  Judentum  zum 
Christentum 354 

A.  E.  Berger  s.  Luther. 

Bertalot  s.  Dante. 

Carl  Bertuchs  Tagebuch  vom  Wie- 
ner Kongreß.  Herausg.  von  H. 
V.  Egloffstein 501 

Bettelheim  s.  Jahrbuch. 

Bibl  s.  Korrespondenzen. 

Hessische  Biographien.  Herausg.  von 
H.  Haupt.    Bd.  1,  Lief.  4.    .    .    180 

Birt,  Aus  dem  Leben  der  Antike  540 

Blüchers  Briefe,  ausgewählt  und 
erläutert  von  Stümcke.    ...    169 

Braune,  Edmund  Burke  in  Deutsch- 
land  495 

Briefe  an  und  von  Johann  George 
Scheffner.  Herausg. v.Warda. 
Bd.  1 167 

Buzzi  s.  Federici. 

Charmatz,  Minister  Freiherr  von 
Brück,  der  Vorkämpfer  Mittel- 
europas     499 

Augsburger  Chroniken.  7.  Bd. 
Bearbeitet   von  Friedrich   Roth  370 

de  C16ry,  Les  id6es  politiques  de 
Fr6d6ric  de  Gentz 556 

Cohn  s.  Philo. 

Corray,  Tapfer  und  treu    ....  384 

de  Crignis-Mentelberg,  Herzogin 
Renata  von  Lothringen  ....  552 

D  a  n  t  i  s  Alagherii  de  Monarchia  libri 
in  rec.  Bertalot 152 

Dante  Alighieri,  La  Divina  Com- 
media.    Herausg.  von   Olschki   151 

Denzinger,  Enchiridion  symbolo- 
rum.    12.  Aufl 136 

Dopsch,  Wirtschaftsentwicklung  d. 
Karolingerzeit,  vornehmlich  in 
Deutschland.    Bd.  2 109 

— ,  Wirtschaftliche    und    soziale 
Grundlagen     der     europäischen 
Kulturentwicklung  aus  der  Zeit 
von  Cäsar  bis  auf  Karl  d.Gr.  Bd.l  328 

Dunning,  The  British  Empire  and 
the  United  States 525 

V.  Egloffstein  s.  Bertuch. 

Ehrle,  Neu-Deutschland  und  der 
Vatikan 177 

Eickholt,  Roms  letzte  Tage  unter 
der  Tiara 172 

Erben,  Die  Berichte  der  erzählen- 
den Quellen  über  die  Schlacht 
bei  Mühldorf 153 

Unsere  religiösen  Erzieher.   2.  Aufl.   136 

Espitalier,  Vers  Brumaire.  Bona- 
parte ä  Paris.  5.  XII.  1797—4. 
V.  1798 168 

Federici  e  Buzzi,  Regesto  della 
chiesa  di  Ravenna.    I  u.   II  .    .   527 

Fichtes  Schrift,  Machiavellii.  Her- 
ausgegeben von   Hofmiller.    .    170 

— ,Machiavell.   Herausg.  v.  Schulz    169 

Ficker  und  Anrieh,  Zwei  Straß- 
burger Reden  zur  Reformations- 
jubelfeier      160 


Seite 

Fiebiger   und    L.    Schmidt,    In- 
schriftensammlung zur  Geschichte 
der  Ostgermanen 143 

Hans  Foerster,  Die  Abkürzungen 
in  den  Kölner  Handschriften  der 
Karolingerzeit 300 

Forst-Battaglia,  Vom  Herren- 
stande.   Heft  1 361 

Frey,  Die  österreichischen  Alpen- 
straßen in  früheren  Jahrhunder- 
ten     571 

Gentz,  Vorwort  zu  den  Fragmenten 
aus  der  neuesten  Geschichte  des 
politischen  Gleichgewichts  in 
Europa.    Herausg.  von  Guglia  375 

Glitsch,  DeralamannischeZentenar 
und  sein  Gericht 541 

Gmür,  Schweizerische  Bauernmar- 
ken und  Holzurkunden   ....   120 

Leopold  Carl.Goetz,  Deutsch-rus- 
sische Handelsverträge  des  Mit- 
telalters   307 

Grabowsky,    Wege    ins    neue 

Deutschland 562 

Graf,  Altbayrische  Frühgotik    .    .   179 

Guglia,  Maria  Theresia 121 

—  s.  Gentz. 

Guidi  e  Parenti,  Regesto  del 
capitolo  di  Lucca.    I  u.  II     .    .  527 

Guthe,  Luther  und  die  Bibelfor- 
schung der  Gegenwart    ....   15Ö 

Häpke,  Die  Regierung  Karls  V. 
und  der  europäische  Norden.    .'  118 

Haller,  Die  Ursachen  der  Reforma- 
tion  157 

Hamacher,  Die  Beurteilung  der 
Franzosen  in  den  deutschen 
Zeitungen  und  in  der  deutschen 
Publizistik  während  der  drei 
schlesischen  Kriege 555 

Handbuch  für  Heer  und  Flotte.  Her- 
ausgegeben von  V.  Alten,  fort- 
geführt von  v.  Albert.    6.  Bd.    34« 

Die  Handschriften  des  Finanz- 
archivs zu  Warschau  zur  Ge- 
schichte der  Ostprovinzen  des 
preußischen  Staates 182 

Hartig,  Die  Gründung  der  Mün- 
chener Hofbibliothek  durch  Al- 
brecht V.  und  Johann  Jakob 
Fugger 515 

F.  Härtung,  Österreich-Ungarn  als 
Verfassungsstaat 350 

Hashagen,  Geschichte  der  Familie 
Hoesch.    2.  Bd 519 

Haupt  s.  Biographien. 

Hauthaler  s.  Urkundenbuch. 

Heck,  Pfleghafte  und  Grafschafts- 
bauern in  Ostfalen 545 

Heckrodt,  Die  Kanones  von  Sar- 
dika  aus  der  Kirchengeschichte 
erläutert      141 

Hegel,  Die  Vernunft  in  der  Ge- 
schichte.   Herausg.  von  Lasso n   103 

Magdalene  Herrmann,  Niklas  Vogt, 
ein  Historiker  der  Mainzer  Univer- 
sität aus  der  2.  Hälfte  des  18. 

Jahrhunderts 555 

Hessel,  Elsässische  Urkunden  vor- 
nehmlich des  13.  Jahrhunderts     361 


Inhalt. 


Seite 

Hettner,  Rußland 343 

Hobohm,  Hans  Delbrück  der  Sieb- 
zigjährige  350 

Karl  Hoff  mann,  Das  Ende  des 
kolonialpolitischen  Zeitalters  .    .  561 

— ,  Der  kleineuropäische  Gedanke  .  561 

V.  Hoffmeister,  Durch  Armenien, 
eine  Wanderung,  und  der  Zug 
Xenophons  bis  zum  Schwarzen 
Meere «104 

Hofmiller  s.  Fichte. 

Holl,  Die  Bedeutung  der  großen 
Kriege  für  das  religiöse  und  kirch- 
liche Leben  innerhalb  des  deut- 
schen Protestantismus 137 

— ,  Was  verstand  Luther  unter  Reli- 
gion?    158 

Hoppe,  Markgraf  Konrad  von  Mei- 
ßen, der  Reichsfürst  und  der  Grün- 
der des  wettinischen  Staates.    .  360 

Imendörffer,  Die  Verteidigung 
Wiens  im  Jahre  1683      ....   373 

Biographisches   Jahrbuch   und 
Deutscher    Nekrolog.     Herausg. 
von  Bettelheim.    18.  Bd.     .    .  295 

Japikse,  Waardeering  van  Johan 
de  Witt 554 

Jordan,  Die  öffentliche  Meinung 
in  Sachsen  1864—1866    ....  559 

Junghanns,  Zur  Geschichte  der 
englischen  Kirchenpoiitik  von 
1399—1413 548 

Kahler,  Beiträge  zu  W.  v.  Hum- 
boldts Entwurf  einer  ständischen 
Verfassung  für  Preußen  vom 
Jahre  1819 377 

Kaerst,  Das  geschichtliche  Wesen 
und  Recht  der  deutschen  natio- 
nalen  Idee 291 

Kahn,  Die  Stadtansicht  von  Würz- 
burg im  Wechsel  der  Jahrhun- 
derte     387 

Keiper,  Chr.  Dettweiler,  ein  tap- 
ferer Pfälzer  in  französischen 
Kriegsdiensten 375 

Kiesel,  Petershüttly .  Ein  Friedens- 
ziel in  den  Vogesen 385 

Kißling,  Kardinal  Francisco  Xi- 
menes 156 

Kleinberg,  Denken  und  Fühlen  im 
Vormärz      557 

— ,  Die  Zensur  im  Vormärz     ,    .    .  557 

H.  Knapp,  Das  Rechtsbuch  Rup- 
rechts von  Freising 503 

Knetsch,  Das  Haus  Brabant    .    .  522 

Knoke,  Niederdeutsches  Schul- 
wesen zur  Zeit  der  französisch- 
westfälischen Herrschaft  1803 
—1813 314 

Knüttel,  Catalogus  van  de  pam- 
fletten  —  Verzameling  berustende 
in  de  koniklijke  bibliothek     .    .   138 

Köhler  s.  Lamprecht 321 

Koehne,  Gewerberechtliches  in 
deutschen  Rechtssprichwörtern  .   321 

Koeniger,  Grundriß  einer  Ge- 
schichte des  katholischen  Kir- 
chenrechts   350 

Kötzschke,  Die  Urbare  der  Abtei 
Werden  a.  d.  Ruhr.    Bd.  2 .    .    .   505 


Seite 
Koppers,  Die  ethnologische  Wirt- 
schaftsforschung        .    .  533 

Korrespondenzen     österreichischer 
Herrscher.     Die    Korrespondenz 
Maximilians  II.  l.Bd.  Herausg. 

von   Bibl 310 

Kotzebu  e.     Das     merkwürdigste 

Jahr  meines  Lebens 557 

Kraus,  Husitstvi  v  literature,  zej- 

m6na  nemecke 548 

Krüger,  Der  Genius  Luthers    .    .   157 
J.  Kühn,  Das  Bauerngut  der  alten 

Grundherrschaft 334 

Kunzer,  Bulgarien 536 

Kutschbach,  Die  Serben  im  Bal- 
kankrieg 1912 — 1913  und  im 
Kriege  gegen  Bulgarien  ....   536 

Lamprecht,  Rektoratserinnerun- 
gen.   Herausg.  von   Köhler  .    .   298 

Lasson  s.  Hegel. 

Leibniz,   Der  allerchristüchste 
Kriegsgott    (Mars    christianissi- 
mus).    Übersetzt  und  eingeleitet 
von  Paul  Ritter 373 

Lehmann,  Das  Prinzip  der  Wahl- 
kreiseinteilung und  seine  Ent- 
stehung in  Frankreich     ....  556 

Lenel,  Badens  Rechtsverwaltung 
und  Rechtsverfassung  unter 
Markgraf  Karl  Friedrich  1738 
—1803 511 

Lenz,  Die  Bedeutung  der  deutschen 
Geschichtschreibung  seit  den  Be- 
freiungskriegen für  die  nationale 
Erziehung 171 

Linneborn,  Die  kirchliche  Baulast 
im  ehemaligen  Fürstbistum  Pa- 
derborn    568 

V.  Löwe,  Das  neue  Rußland  und 
seine  sittlichen  Kräfte     ....  383 

Loserth,  Die  protestantischen  Schu- 
len der  Steiermark  im  16.  Jahr- 
hundert    524 

Luhe  s.  Mandt. 

Lüttich,  Ungarnzüge  in  Europa 
im   10.  Jahrhundert 116 

Luschin  v.  Ebengreuth,  Die 
Münze  nach  Wesen,  Gebrauch 
und   Bedeutung 138 

Luthers  Werke.  Herausg.  von  A.  E. 
Berger 367 

Mandt,  Ein  deutscher  Arzt  am 
Hofe  Kaiser  Nikolaus  I.  von 
Rußland.  Herausg.  von  Veron. 
Luhe 340 

Marbe,  Die  Siedlungen  des  Kaiser- 
stuhlgebirges   567 

Marcks,  Männer  und  Zeiten.  5.Auf- 
lage 532 

Martin  s.  Urkundenbuch. 

Matthaei,  Deutsche  Baukunst  im 

Mittelalter.    4.  Aufl 547 

— ,  Deutsche  Baukunst  in  der  Re- 
naissance- und  Barockzeit  bis 
zum  Ausgang  des  18.  Jahrhun- 
derts.   2.  Aufl 546 

Meister,  Richtlinien  für  das  Stu- 
dium der  Geschichte  des  Mittel- 
alters und  der  Neuzeit    ....   135 


VI 


Inhalt. 


Seite 

Merle,  Die  Geschichte  der  Städte 
Byzantion  und  Kalchedon .    .    .   139 

Meumann,  Zeitfragen  deutscher 
Nationalerziehung 293 

A.  O.  Meyer,  Deutschland  und 
Schleswig-Holstein  vor  der  Er- 
hebung     379 

E.  Meyer,  Das  britische  Welt- 
reich      336 

Michael,     Englands    Friedens- 
schlüsse   373 

Melden,  Alois  Graf  Aehrenthal. 
Sechs  Jahre  äußere  Politik 
Österreich-Ungarns 320 

A.  V.  Müller,  Luther  und  Tauler 
auf  ihren  theologischen  Zu- 
sammenhang neu  untersucht     .   367 

K.  Müller,  Die  großen  Gedanken 
der  Reformation  und  die  Gegen-' 
wart 159 

Württembergischer  Nekrolog  1913 
—1915 386 

Niemeyer,  Die  völkerrechtlichen 
Grundlagen  des  Weltkrieges. 
Bd.  2 563 

Öliger,  Documenta  inedita  ad 
historiam  fraticellorum  spec- 
tantia 154 

Olschki  s.  Dante. 

Oncken,  Das  alte  und  das  neue 
Mitteleuropa 381 

— ,  Über  die  Zusammenhänge  zwi- 
schen innerer  und  äußerer  Po- 
litik       563 

Otto,  Herodes 538 

Pagliai,  Regesto  di  Coltibuono     .  527 

Parenti  s.  Guidi. 

Passow,  Kapitalismus 534 

V.  Peez,  Die  Landsverleger-Com- 
pagnia  zu  Wienn 554 

Philippi,  Luther  und  die  alte 
Kirche 158 

▼.  Philippovich,  Das  Leben  und 
Wirken  eines  österreichischen 
Offiziers 535 

Philo.  6.  Bd.  Herausg.  von  Cohn 
und  Wendland 540 

Purlitz,  Der  Europäische  Krieg   .    177 

Rade,    Luthers   Rechtfertigungs- 
glaube  159 

Ranke,  Die  großen  Mächte.  Hersg. 
von  Rud.  Schulze 136 

Regesta  Chartarum  Italiae.  Bd.  4 
bis  9 527 

Die  preußischen  Registraturen  in 
den  polnischen  Staatsarchiven  .    183 

A.  Reimann,  Deutsche  Geschichte 
im    Zeitalter    der    Reformation  366 

Reutter,  Das  Siedlungswesen  der 
Deutschen  in  Mähren  und  Schle- 
sien bis  zum  14.  Jahrhundert      .   371 

Ritschi,  Reformation  und  evange- 
lische Union 157 

Ritter  s.  Leibniz. 

Friedr.  Roth  s.  Chroniken. 

V.  Rümelin,  Geistiges  Leben  in 
Württemberg  unter  der  Regie- 
rung König  Wilhelms  II.   .    .    .   386 

Ruof,  Dr.  Johann  Wilhelm  von 
Archenholtz 313 


Seite 

Salomon,  Die  neuen  Parteipro- 
gramme   177 

Schambach,  Noch  einmal  die 
Geinhäuser  Urkunde  und  der 
Prozeß  Heinrichs  des  Löwen.    .   545 

Scheffner  s.  Briefe. 

Schiaparelli  e  Baldasseroni, 
Regesto  di  Camaldoli  II.    .    .    .  527 

Schmeidler  s.  Adam. 

Eberhard  Schmidt,  Entwicklung 
und  Vollzug  der  Freiheitsstrafe 
in  Brandenburg-Preußen  bis 
zum  Ausgang  des  18.  Jahrhun- 
derts     326 

L.   Schmidt  s.  Fiebiger. 

Hellmuth     Schmidt-Breitung, 
Weltgeschichte     der     neuesten 
Zeit   1902—1918 382 

Fedor  Schneider,  Regestum  Se- 
nense  I 527 

O.  Scholz,  Die  Hegesippus-Ambro- 
sius-Frage 142 

Schragmüller,  Borerund  Balierer  386 

Schranil,  Stadtverfassung  nach 
Magdeburger  Recht:  Magdeburg 
und  Halle 324 

Hans  Schulz  s.  Fichte. 

Rud.  Schulze  s.  Ranke. 

Schumpeter,  Zur  Soziologie  der 
Imperialismen 563 

Schwab n.  Die  Beziehungen  der 
katholischen  Rheinlande  und 
Belgiens  in  den  Jahren  1830  bis 
1840 124 

V.  Schwerin,  Deutsche  Rechts- 
geschichte (mit  Ausschluß  der 
Verfassungsgeschichte).    2.  Aufl.   535 

Schwinkowski,  Das  Geld-  und 
Münzwesen  Sachsens 568 

Hohenzollern-Jahrbuch.  20.  Jahr- 
gang.   Herausg.  von  P.  Seidel   351 

W.  V.  Seidlitz,  Kulturkrieg.    .    .   382 

Sieger,  Der  österreichische  Staats- 
gedanke und  seine  geographi- 
schen Grundlagen 350 

Simon,  L'ordre  des  P6nitentes  de 
Ste.    Marie-Madeleine    en    Alle- 

^     magne  au  Xllle  siecle    ....   362 

SiSic,  Geschichte  der  Kroaten  .    .    143 

Slawitschek,  Werdegang  der  öster- 
reichischen Verfassung     ....  558 

Sommerlad,  Die  alte  und  die  neue 
Kontinentalsperre 376 

Spengler,  Der  Untergang  des 
Abendlandes.  Umrisse  einer  Mor- 
phologie der  Weltgeschichte. 
1.  Bd 281 

Spranger,  Das  preußische  Ministe- 
rium der  geistlichen  und  Unter- 
richtsangelegenheiten     137 

Strupp,  Unser  Recht  auf  Elsaß- 
Lothringen  178 

Eugen  Stamm,  Konstantin  Frantz 
und  Bismarck 380 

Staude,  Dorpat  und  Rostock    .    .    183 

Steig,  Clemens  Brentano  und  die 
Brüder  Grimm 317 

Steinert,  Wartburgfest 558 

Sten  Konow,  Indien 352 


Inhalt. 


Vll 


Seite 

E.  V.  Stern,  Die  russische  Agrar- 
frage und  die  russische  Revolu- 
tion   383 

Stoeckius,  Untersuchungen  zur 
Geschichte  des  Noviziates  in  der 
Gesellschaft  Jesu 553 

Störmann,  Studien  zur  Geschichte 
des   Königreichs  Mallorka   .    .    .   547 

Stümcke  s.  Blücher. 

Teuf  fei,  Individuelle  Persönlich- 
keitsschilderung in  den  deutschen 
Geschichtswerken  des  10.  und 
11.  Jahrhunderts 305 

Theloe,  Die  Ketzerverfolgungen  im 
11.  und  12.  Jahrhundert     ...  509 

Thomsen,  Das  Alte  Testament. 
Seine  Entstehung  und  seine  Ge- 
schichte  538 

Salzburger  Urkundenbuch  II  (790 
— 1199).  Bearb.  von  Hauthaler 
und  Martin 132 

Veress,  Fontes  rerum  Hungarica- 
rum.    3.  Bd 552 

Völker,  Luthers  Anteil  an  der 
Grundlegung  der  neueren  deut- 
schen Kultur 160 

Karl  Voigt,  Die  karolingische  Klo- 
sterpolitik und  der  Niedergang 
des  westfränkischen   Königtums  303 

Wähle,  Feldzugserinnerungen  römi- 
scher Kameraden      539 

Wal zel,  Deutsche  Romantik.  4.  Auf- 
lage   349 

Warda  s.  Briefe. 


Seite 

Wegener,  Diederich  Ernst  Bühring 
und  sein  Plan  einer  Generalland- 
schaftskasse 167 

A.Weiß,  Das  Werden  unserer  Volks- 
schule   388 

J.Weiß,  Römerzeit  und  Völkerwan- 
derung auf  österreichischem  Bo- 
den   571 

v.  Weissembach,  Quellensamm- 
lung zur  Geschichte  des  Mittel- 
alters und  der  Neuzeit.    1.  Bd.  356 

Joh.  Wen  dl  and,  Reformation  und 
deutscher  Idealismus 550 

Wendland  s.  Philo. 

Wendorf,  Die  Fraktion  des  Zen- 
trums im  Preußischen  Abgeord- 
netenhause 1859—1867    ....   318 

Wentzcke,  Was  ist  Elsaß-Lothrin- 
gen dem  Reich? 565 

Werner,  Die  neuen  theologischen 
Enzyklopädien 535 

Wutte,  Die  Entstehung  der  öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie  571 

Zahn,  Kultur-  und  Arrondierungs- 
wesen  des  Kraichgauer  Niede- 
rungsgebietes   386 

Zibermayr,  Die  Legation  des  Kar- 
dinals Nikolaus  Cusanus  und  die 
Ordensreform  in  der  Kirchenpro- 
•vinz  Salzburg 364 

Zoepfl,  Johannes  Altenstaig,  ein 
Gelehrtenleben  aus  der  Zeit  des 
Humanismus  und  der  Reforma- 
tion   366 

Ulrich  Zwingli 551 


Notizen  und  Nachrichten. 

(Die  Namen  der  ständigen  Mitarbeiter^sind  in  Klammern  hinzugefügt.) 

Seite 

Allgemeines  (Frischeisen-Köhler) 135.348.532 

Alte  Geschichte  (Brand is) 139.  353.  538 

Römisch-germanische  Zeit   und  frühes  Mittelalter  bis  1250  (Hof- 
meister)      142.  355.  541 

Späteres  Mittelalter  (Kaiser) 151.  362.  547 

Reformation  und  Gegenreformation  (Köhler) 157.  366.  550 

Zeitalter  des  Absolutismus  (Michael) 165.373.554 

Neuere  Geschichte  von    1789   bis  1871    (bis  1815  Kahler,    nach 

1815  Jacob) 168.  374.  556 

Neueste  Geschichte  seit  1871  (Hashagcn) 178.  381.  561 

Deutsche  Landschaften  (Windel  band) 178.  384.  567 

Vermischtes 184.  389.  571 


Redit  und  Verfassung  im  Mittelalter. 


Von 

Fritz  Kern, 


Inhalt:  Vorbemerkung.  —  I.  Recht.  1.  Das  Recht  ist  alt.  — 
2,  Das  Recht  ist  gut.  —  3.  Das  gute  alte  Recht  ist  ungesetzt 
und  ungeschrieben.  —  4.  Altes  Recht  bricht  jüngeres  Recht.  — 
5.  Rechtserneuerung  ist  Wiederherstellung  guten  alten  Rechts. 
—  6.  Rechtsanschauung  und  Rechtsleben.  —  II.  Verfassung. 
1.  Grundsatz  der  Rechtsschranken  (der  Herrscher  ist  an  das 
Recht  gebunden).  —  2.  Grundsatz  der  Volksvertretung  (Kon- 
senspflicht des  Herrschers).  —  3.  Grundsatz  der  Verantwort- 
lichkeit (das  Widerstandsrecht).  —  4..  Übergänge.  —  5.  Zeit- 
liches und  begriffliches  Mittelalter. 

Es  sind  nicht  die  „Realien"  sondern  die  „Ideen"  des  mittelalter- 
lichen Rechts-  und  Verfassungslebens,  die  auf  den  folgenden  Seiten 
zur  Darstellung  gelangen:  allerdings  auch  nicht  die  abstrakten  Theo- 
rien mittelalterlicher  Gelehrter,  sondern  die  Anschauungen,  wie  sie 
bewußt  und  unbewußt,  ausgesprochen  und  unausgesprochen  dem  breiten 
Rechts-  und  Verfassungsleben  jenes  großen  vergangenen  Zeitalters 
zugrunde  lagen.  Die  Wechselwirkung  von  Rechtsanschauung  und 
Rechtsleben  wird  uns  stets  vor  Augen  bleiben;  aber  zunächst  soll 
doch  die  Anschauung  als  solche  verständlich  werden.  Die  Darstellung 
geht  nach  geistesgeschichtlicher  oder  weltanschauungsgeschichtlicher 
Methode  vor.  Sie  sucht  demgemäß  die  Geschichtsquellen  nicht  wie  einen 
Steinbruch  zu  benutzen,  sondern  wie  eine  geologische  Formation  zu 
studieren.  Während  der  Rechtshistoriker  z.  B.  unbefangen  von  einem 
fränkischen  „Privatrecht"  oder  „staatsrechtlichen  Normen"  der 
anglonormannischen  Zeit  sprechen  und  die  „Realien"  unter  diesen 
Stichworten  ordnen  darf,  müssen  wir  feststellen,  daß  das  Mittelalter 
gar  kein  „Privatrecht"  als  solches  und  auch  nicht  unsern  Begriff  des 
„Staates"  kennt.  Wer  aus  klassischen  Werken  wie  Brunners  Rechts- 
geschichte die  Rechtsanschauungen  der  betreffenden  Zeit  kennen 
lernen  oder  rekonstruieren  wollte  (wofür  selbstverständlich  eine  solche 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  1 


2  Fritz  Kern, 

Realiengeschichte  gar  nicht  geschrieben  ist):  der  würde  zu  einer  wun* 
derlich  unzeitgemäßen  Vorstellung  gelangen.  Theoretisch  wird  das 
jedermann  ablehnen;  praktisch  aber  wird  in  großen  und  kleinen 
Dingen  sehr  oft  so  verfahren,  weil  eben  die  Realien  gut  und  leicht 
erreichbar  dargestellt  sind,  die  Ideen  mit  vereinzelten  Ausnahmen  bis- 
lang nicht. 

Die  geistesgeschichtliche  Methode  erschöpft  sich  aber  selbst- 
verständlich auch  nicht  in  der  Aufzählung  der  Wörter  oder  Begriffe, 
welche  das  betreffende  Zeitalter  im  Munde  geführt  hat.  Damit 
würde  einmal  die  bewertende  Anknüpfung  und  Einreihung  in  unsere 
eigene  Begriffswelt  versäumt,  die  mittelalterliche  Anschauung  bliebe 
unverständlich.  Zweitens  aber  würde  dieselbe  durch  solche  Wort- 
und  Begriffsphilologie  auch  in  sich  selbst  nicht  zutreffend  erfaßt: 
denn  das  Beste  und  Tiefste,  worauf  ein  Zeitalter  fußt,  kann  es  selber 
meist  nur  ungeschickt  oder  gar  nicht  aussprechen. i)  Erst  in  der  Abend- 
dämmerung beginnt  die  Eule  der  Minerva  ihren  Flug.  So  müssen 
wir  denn,  indem  wir  es  vermeiden,  die  Begriffe  unserer  Zeit  kritiklos 
und  anachronistisch  ins  Mittelalter  zurückzutragen,  anderseits  doch 
mit  den  Worten  unserer  Zeit  die  mittelalterlichen  Anschauungen  zu 
umschreiben  suchen.  Wir  vergegenwärtigen  uns  aus  Reden  und  Taten 
des  Mittelalters  dessen  von  dem  unserigen  gänzlich  verschiedenen  Rechts- 
begriff:  dann  aber  fassen  wir  ihn  in  eine  Sprache,  die  den  Heutigen  ver- 
traut ist.  Die  Geistesgeschichte  macht  den  Dolmetscher  zwischen  einst 
und  jetzt,  und  diese  hermeneutische  Aufgabe  bedingt  eine  Methode^ 
die,  nachdem  sie  bei  der  Philologie  wie  bei  der  Rechtsgeschichte  in 
die  Schule  ging,  doch  keines  von  beiden,  sondern  ein  eigenes  zwischen 
beiden  ist. 

Diese  Vorbemerkungen  würden  für  die  folgenden  anspruchslosen 
Beobachtungen  fast  zu  schwer  auftreten,  wenn  es  nicht  nötig  wäre, 
Realienforschern  gegenüber  auf  die  Wahl  des  Standpunktes  aufmerk- 


1)  Hierfür  vgl.  F.  Fleiner,  Politik  als  Wissenschaft,  Zürich  1917^ 
S.  8:  „Die  leitenden  Ideen  einer  Zeitepoche  bleiben  häufig  den  Zeit- 
genossen verborgen. .  .  Das  15.  Jahrhundert  ist  erfüllt  von  den  Ein- 
griffen der  staatlichen  Obrigkeiten  in  die  Angelegenheiten  der  Kirche. 
Ich  brauche  nur  an  die  Kirchenpolitik  Waldmanns  oder  an  das  Rechts- 
sprichwort zu  erinnern  von  dem  Herzog  von  Cleve  qui  papa  est  in  suis. 
ierris.  Die  Kompetenz  zu  solchen  Eingriffen  hat  im  16.  Jahrhundert 
den  weltlichen  Obrigkeiten  die  juristische  Rechtfertigung  zur  Kirchen- 
reform .  .  .  geliefert.  Worin  liegt  ihre  Begründung?  In  einem  von  den 
Quellen  des  15.  Jahrhunderts  stillschweigend  vorausgesetzten  Rechts- 
grundsatz, demzufolge  der  Staat  als  vicarius  ecclesiae  vor  Gott  ver- 
pflichtet ist,  den  Glauben  zu  schirmen,  wenn  das  geistliche  Schwert 
lässig  bleibt.  Ein  Rechtsgrundsatz  ersten  Ranges,  den  keine  Ur- 
kunde ausspricht,  sondern  den  wir  allein  aus  seiner  Anwendung 
in  einer  großen  Zahl  von  Einzelfällen  erkennen."  —  VgU 
auch  MSt.  1,  482,  1. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  3 

sam  zu  machen,  um  Erwartungen  zu  vermeiden,  die  hier  nicht  befrie- 
digt werden  könnten,  und  um  eine  Art  der  Auseinandersetzung  zu 
erbitten,  welche  den  beiderseitigen  Standpunkt  zu  klären  vermöchte, 
statt  ihn  zu  vermengen. 

I.  Recht.i) 

Für  uns  hat  das  Recht,  damit  es  gelte,  nur  eine  einzige 
Eigenschaft  nötig:  die  unmittelbare  oder  mittelbare  Ein- 
setzung durch  den  Staat.  Dem  mittelalterlichen  Recht  da- 
gegen sind  zwei  andere  Eigenschaften  anstatt  dieser  einen 
wesentlich:  es  ist  „altes"  Recht  und  es  ist  „gutes"  Recht. 
Dagegen  kann  es  das  Merkmal  der  Einsetzung  durch  den 
Staat  entbehren.  Ohne  jene  zwei  Eigenschaften  des  Alters 
und  des  Gutseins,  die,  wie  wir  sehen  werden,  merkwürdiger- 
weise eigentlich  nur  für  eine  einzige  und  einheitliche  Eigen- 
schaft gehalten  wurden,  ist  Recht  kein  Recht,  selbst  wenn 
es  vom  Machthaber  in  aller  Form  eingesetzt  sein  sollte. 

1.  Das  Recht  ist  alt. 
Für  subjektive  Rechte,  insbesondere  für  Besitzrechte, 
ist  das  Alter  zu  allen  Zeiten  von  Bedeutung  und  kann  unter 
Umständen  rechtsbegründende  Kraft  haben  (Ersitzung). 
Für  die  Gültigkeit  des  objektiven  Rechtes  dagegen  bedeutet 
unter  der  Herrschaft  des  heutigen  Gesetzesrechtes  Alter 
schlechterdings  nichts.  Für  uns  ist  das  Recht  vom  Tage  seiner 
Einführung  bis  zu  dem  seiner  Abschaffung  weder  alt  noch 
jung,  sondern  schlechthin  gegenwärtig.  Im  Mittelalter  war 
das  anders:  gerade  für  das  objektive  Recht  galt  das  Alter 
als  wichtigste  Grundeigenschaft.  Das  Recht  war  ja  Ge- 
wohnheit. Das  unvordenkliche  Herkommen,  erwiesen  durch 
die  Erinnerung  der  ältesten  und  glaubwürdigsten  Leute; 
die  leges  patrum,  unter  Umständen,  aber  nicht  notwendig, 
bezeugt  auch  durch  äußere  Gedächtnishilfen,  wie  Urkunden, 
Landmarken,  Rechtsbücher  oder  sonst  eine  die  Lebenszeit 


^)  Belege  und  nähere  Ausführungen  für  alles  Folgende  siehe  in 
meinen  „Mittelalterlichen  Studien"  Bd.  1  (Leipzig  1914),  286 ff.,  456 ff. 
(abgekürzt  angeführt  MSt.).  Mein  Aufsatz  „Über  die  mittelalterliche 
Anschauung  vom  Recht"  in  der  H.  Z.  Bd.  115  ist  in  die  folgenden  Aus- 
führungen hineingearbeitet  und  damit  überholt. 

1* 


4  Fritz  Kern, 

der  Menschengeschlechter  überdauernde  Sache:  das  ist  das 
objektive  Recht.  Und  für  ein  in  Frage  stehendes  subjektives 
Recht  war  seine  Zugehörigkeit  zum  Väterbrauch  ungefähr 
dasselbe,  was  heute  der  Nachweis  sein  würde,  daß  dasselbe 
aus  einem  gültigen  Staatsgesetz  erfließe. 

Freilich,  damit  Recht  Recht  sei,  muß  es  nicht  nur  alt, 
sondern  auch  „gut"  sein.  Die  Streitfrage  moderner  Juristen, 
ob  das  hohe  Alter  die  verbindliche  Kraft  des  Gewx)hnheits- 
rechtes  erzeuge  oder  nur  erkennen  lasse?,  ist  für  das  mittel- 
alterliche Vorstellungsvermögen  gegenstandslos.  Denn  das 
Alter  an  sich  erzeugt  noch  kein  Recht,  und  am  Alter  allein 
kann  man  es  auch  nicht  erkennen.  Vielmehr  sind  „hundert 
Jahre  Unrecht  noch  keine  Stunde  Recht",  und  Eike  von 
Repgow  betont  z.  B.,  daß  die  Unfreiheit  nur  von  Zwang 
und  unrechter  Gewalt  herstamme,  freilich  von  alters  her 
Gewohnheit  sei,  weshalb  man  sie  nun  „für  Recht  haben  wiir*.^) 
Aber  sie  ist  nur  eine  „unrechte  Gewohnheit".  Das  Vorhanden- 
sein unrechter  oder  „böser"  Gewohnheit  von  so  langer  Zeit 
her  zeigt,  daß  Gewohnheit  oder  Alter  allein  das  Recht  nicht 
macht  oder  erkennen  läßt.^)  Bei  Eike  ist  die  Unfreiheit 
ein  später,  wenn  auch  schon  lange  eingeführter  Mißbrauch 
gegenüber  der  allgemeinen  Freiheit,  die  herrschte,  „als  man 
das  Recht  zu  allererst  setzte". 3)  Vor  dem  hundertjährigen 
Mißbrauch  war  eben  ein  tausendjähriges  Recht  oder  viel- 
leicht sogar  ein  ewiges,  unverjährbares.  Mit  dem  Unverjähr- 
barkeitsgedanken  bricht  kirchlicher  Ideenschwung  in  die 
germanische  Anschauung  vom  Recht:  das  paradiesische 
Naturrecht  des  goldenen  Zeitalters  stempelt  letzten  Endes 


1)  Ssp.  Ldr.  3,  42,  6.  Der  Paragraph  fehlt  in  der  Quedlinb.  Hand- 
schrift. 

2)  Schon  hier  erhellt,  wie  wenig  der  moderne  Begriff  des  Gewohn- 
heitsrechts den  mittelalterlichen  Begriff  vom  Recht  erschöpft  oder 
auch  nur  deckt.  Im  folgenden  wird  das  noch  mehr  hervortreten.  Trotz- 
dem werden  wir  der  Kürze  halber  das  Wort  Gewohnheitsrecht  als  Ge- 
gensatz zum  gesetzten  Recht  beibehalten,  wenn  wir  uns  nur  bewußt 
bleiben,  daß  es  nur  ein  Stichwort,  keine  Wiedergabe  der  wesentlichen 
Begriffsmerkmale  der  mittelalterlichen  Rechtsvorstellung  bildet. 

»)  Ebenda  3,  42,  3.  Vgl.  Schw.  Sp.  44,  und  für  die  unrechte  Ge- 
wohnheit i.  allg.  S.  Brie,  pie  Lehre  vom  Gewohnheitsrecht  1  (Breslau 
1899),  222f.,  236ff.  247. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  5 

alle  auf  Ungleichheit  der  Menschen  beruhende  Rechtsord- 
nung als  Unrecht  ab.  Wird  in  diesem  Beispiel  die  volks- 
tümliche mittelalterliche  Rechtsweltanschauung  (mit  der 
wir  uns  in  dieser  Studie  allein  befassen)  auch  durch  die  ge- 
lehrte Rechtsphilosophie  gestreift,  so  ist  doch  dieser  unbeug- 
same Trotz  des  Rechts  gegen  die  Zeit  und  was  sie  bringt, 
ein  Eckstein  des  mittelalterlichen  Rechtsdenkens  überhaupt. 

Nicht  der  Staat,  sondern  „Gott  ist  der  Anfang  alles 
Rechts".  Das  Recht  ist  ein  Stück  der  Weltordnung  ^  es  ist 
unerschütterlich.  Es  kann  gebeugt,  gefälscht  werden,  aber 
dann  stellt  es  sich  selbst  wieder  her  und  zerschmettert  zu- 
letzt doch  den  Missetäter,  der  es  antastete.  Hat  irgendwer, 
ein  Volksgenosse  oder  gar  die  Obrigkeit,  ein  „Recht"  ge- 
schaffen, welches  einem  guten  alten  Herkommen  wider- 
spricht, und  dieses  Herkommen  wird  zweifelsfrei,  etwa 
durch  Aussage  bejahrter  Zeugen  oder  durch  Vorbringen  einer 
Königsurkunde,  erwiesen,  so  war  jenes  neugeschaffene 
Recht  kein  Recht,  sondern  Unrecht,  nicht  usus,  sondern 
abusus,  und  es  ist  Pflicht  jedes  Rechtsgenossen,  der  Obrig- 
keit wie  des  gemeinen  Mannes,  das  verdunkelte  gute  alte 
Recht  wiederherzustellen.  Der  gemeine  Mann  ebenso  wie 
die  Obrigkeit  ist  dem  Recht  verpflichtet  und  berufen,  an 
seiner  Wiederaufrichtung  teilzunehmen.  Gegenüber  der 
Heiligkeit  des  Rechtes,  zu  seiner  Bewahrung  sind  Obrigkeit 
und  Untertanen  (Staatsgewalt  und  Private)  ganz  gleich 
befugt.  Hieraus  folgt  für  die  Verfassung  Ungemeines,  wie 
wir  sehen  werden.  Es  wird  sich  dann  auch  zeigen,  daß 
Begriffe  von  so  großem  Umfang,  aber  wenig  bestimmtem 
Inhalt,  wie  der  mittelalterliche  Begriff  vom  Recht,  im  prak- 
tischen Leben  viel  Verwirrung  stiften. 

Beleuchten  wir  aber  zunächst  noch  weiter  die  eigen- 
tümlichen Folgen,  die  sich  aus  der  notwendigen  Eigenschaft 
des  Rechts  als  eines  alten  ergeben. 

Wo  ein  neuer  Rechtsfall  auftaucht,  für  welches  kein 
geltendes  Recht  angeführt  werden  kann,  da  wird  von  den 
Rechtsgenossen  bzw.  den  Urteilern  neues  Recht  mit  dem 
Bewußtsein  geschaffen,  daß  es  wiederum  altes  gutes  Recht 
sei,  zwar  kein  ausdrücklich  überkommenes,  aber  ein  still- 
schweigend vorhandenes.  Sie  „setzen"  das  Recht  darum  nicht, 


6  Fritz  Kern, 

sondern  sie  „finden"  es.  Das  Einzelurteil  im  Gericht,  das 
wir  als  besondere  Folgerung  aus  feststehenden  allgemeinen 
Rechtsnormen  auffassen,  unterscheidet  sich  für  den  mittel- 
alterlichen Denkbrauch  in  nichts  von  der  Gesetzgebung 
der  Rechtsgemeinde:  beidemal  wird  ein  zwar  verstecktes, 
aber  doch  schon  vorhandenes  Recht  gefunden,  nicht  ge- 
schaffen. Die  „erste  Anwendung  eines  Rechtssatzes"  be- 
zeichnet sich  im  Mittelalter  niemals  als  solche.^)  Das  Recht 
ist  alt;  neues  Recht  ist  ein  Widerspruch 2);  denn  entweder 
erfließt  es  ausdrücklich  oder  stillschweigend  aus  dem  alten 
oder  es  steht  diesem  entgegen,  dann  ist  es  eben  Unrecht. 
Der  Grundgedanke  bleibt  unangetastet,  daß  das  alte  Recht 
wirklich  und  das  wirkliche  Recht  alt  sei. 

Sonach  ist  also  Rechtsneuerung  im  Mittelalter  über- 
haupt nicht  möglich?  Der  Weltanschauung  nach  nicht. 
Jede  Rechtsneuerung  und  Reform  wird  aufgefaßt  als  Wie- 
derherstellung gekränkten  guten  alten  Rechts.  3) 

Hier  müssen  wir  nun  die  zweite  Eigenschaft  des  Rechts 
ins  Auge  fassen,  die  für  das  Mittelalter  mit  der  ersten  eng- 
verschwistert,  fast  zusammenfallend  ist: 

2.    Das  Recht  ist  gut. 

Die  Philologen  streiten  noch,  ob  das  altgermanische 
Wort  für  Recht,  I,  mit  aequus  oder  mit  aevus,  mit  „billig" 
oder  mit  „Ewigkeit"  zusammenhänge.  Für  die  mittelalter- 
liche Auffassung  würde  beides  fast  dasselbe  sein:  denn  was 
von  Ewigkeit  her  bestand,  ist  billig,  und  was  billig  ist,  muß 
sich  irgendwie  auf  ewige  Ordnungen  zurückbeziehen.  Das 
alte  Recht  ist  vernünftig,  und  das  vernünftige  Recht  ist  alt. 

Dennoch  würde  man  aus  sachlichen  Gründen  der  Be- 
griffs Verbindung  i  mit  aequus  den  Vorrang  geben  müssen. 
Ist  es  doch  die  grundlegende  Eigentümlichkeit  mittelalter- 
lichen Rechtsdenkens  (ohne  deren  Kenntnis  sich  der  Hi- 
storiker in  lauter  Fehlschlüssen  bewegen  müßte),  daß  es 
zwischen    Recht,    Billigkeit,    Staatsräson    und    Sittlichkeit 

1)  Vgl.  Brie  a.  a.  O.  231,  27. 

2)  Pollock  und  Maitland,  History  of  English  Law  1,  12;  Brie 
a.  a.  O.  228,  16. 

»)  Vgl.  unten  S.24ff. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  7 

nicht  unterscheidet.  Wo  wir  dem  Recht,  der  Politik  und  dem 
Gewissen  drei  getrennte  Altäre  errichtet  haben  und  jeder 
dieser  Ideen  als  einer  souveränen  Gottheit  opfern,  da  sitzt 
für  den  mittelalterlichen  Menschen  die  eine  Frau  Justitia 
auf  dem  Thron,  über  sich  nur  Gott  und  den  Glauben,  neben 
sich  nichts,  und  zu  ihren  Füßen  kniend  Obrigkeit  und  Unter- 
tanen, Fürst  und  Volk  (wir  würden  sagen  Staatsgewalt  und 
Private),  über  welche  sie  in  ewiger,  unverbrüchlicher  Gleich- 
heit Schwert  und  Wage  hält.  Ihr  gegenüber  aber,  feindlich 
anrennend  und  die  Knienden  aufhetzend,  die  höllische 
Schattengestalt  des  Unrechts. 

Daß  die  an  der  Stoa  gebildete  Rechtsphilosophie  der 
Kirchenväter,  welche  das  sittlich-rechtliche  Mischgebiet 
des  Naturrechts  überlieferte,  beim  Mittelalter  so  viel  Anklang 
fand,  das  hat  seinen  Grund  darin,  daß  das  Denken  des  Mittel- 
alters noch  nicht  zu  jener  Sonjderung  von  Rechts-  und 
Sittlichkeitssphäre  vorgedrungen  war,  welche  in  der  Neu- 
zeit rechtsphilosophisch  bis  zu  der  Fichteschen  (dialektischen) 
Entgegensetzung  von  Recht  und  Sittlichkeit  vertieft 
worden  ist. 

Während  aber  die  Gelehrten  des  Mittelalters  gerade 
an  dem  Gegensatz  der  antiken  Ideen  und  des  lebendigen 
Gewohnheitsrechts  ihrer  Umwelt,  sowie  am  Römischen  Recht 
dazu  geschult  wurden,  allmählich  den  Begriff  des  positiven 
Rechts  als  Gegensatz-  und  Ergänzungsbegriff  zum  Natur- 
recht  herauszuarbeiten,  hat  das  volksmäßige  Rechts- 
bewußtsein nichts  von  dieser  Unterscheidung  geahnt  und 
in  gewaltiger,  ungebrochener  Einfachheit  das  Recht  als  etwas 
großartig  Ganzes  und  Eines  gesehen,  das  Recht  gleich  der 
Gerechtigkeit  schlechthin  als  Gottes  Dienerin,  die  „Jeg- 
Hchem  das  Seine  gibt*'.  Mit  diesem  Bewußtsein,  das  dem 
breiten  lebendigen  Recht  des  Mittelalters  zugrundelag, 
haben  wir  es  hier  allein  zu  tun,  nicht  mit  der  Begriffsarbeit 
der  Scholastiker  und  Juristen  und  was  aus  ihr  folgte.  Darum 
haben  wir  die  einfache  Tatsache  festzustellen,  daß  dem  mittel- 
alterlichen Denkbrauch,  der  die  Handhabung  des  unge- 
lehrten Rechts  bestimmt  hat,  die  Unterscheidung  von  posi- 
tivem und  idealem  Rechte  fehlt.  Recht  ist  das  Rechte, 
das  Richtige,  das  Redliche,  das  Vernünftige.   Das  göttliche, 


i  Fritz  Kern, 

das  natürliche,  das  moralische  Recht  ist  nicht  über,  neben 
oder  außerhalb  des  positiven  Rechts,  sondern  „das  Recht" 
ist  göttlich,  natürlich,  moralisch  und  positiv  zugleich,  wenn 
wir  überhaupt  diese  spaltenden  Begriffe  von  außen  daran 
herantragen  dürfen,  an  dieses  einfache,  allumfassende 
„Recht". 

„Recht  und  redlich",  „/us/e  et  rationabiliter'*  ist  eine 
der  beliebtesten  Wort-Ehen  in  der  mittelalterlichen  Rechts- 
sprache, gemäß  der  Einerleiheit  von  „positivem"  und  „mo- 
ralischem" Recht.i)  Für  uns  ist  das  wirkliche  geltende 
oder  positive  Recht  etwas  nicht  Unmoralisches,  aber  Amora- 
lisches, das  seine  Herkunft  nicht  aus  Gewissen,  Gott,  Natur, 
Idealen,  Ideen,  Billigkeit  o.  dgl.,  sondern  einfach  aus  dem 
Willen  des  Staates  und  seine  Sanktion  in  der  Zwangsgewalt 
des  Staates  hat.  Dafür  ist  eben  —  um  hier  den  zartempfin- 
denden Nichtjuristen  zu  beruhigen  —  für  uns  der  Staat 
etwas  Heiligeres  als  für  den  mittelalterlichen  Menschen. 
Wenigstens  der  Staat,  den  wir  anerkennen  und  lieben  kön- 
nen, der  ein  Teil  unserer  selbst  und  unsere  geistige  Heimat 
ist.  Verneinen  wir  ein,  z.  B.  durch  Fremdherrschaft  oder 
Pöbelherrschaft  aufgezwungenes  Recht,  so  werden  wir  eben 
revolutionär  gegen  den  Staat  ganz  im  mittelalterlichen  Sinn 
des  noch  zu  besprechenden  Widerstandsrechtes.  Mit  dieser 
außerjuristischen  Abschweifung  wollte'  ich  nur  eriäutern, 
daß  selbstverständlich  auch  für  uns  Recht  und  Staat  in 
überrechtlichen  und  überstaatlichen  Empfindungen  wurzeln. 
Aber  wir  vermögen  zu  sondern,  wir  sehen  auch  im  ver- 
haßten Recht  des  verhaßtesten  Staates  vollgültiges  positives 
Recht  bis  zu  dem  Tag,  da  wir  beide  zugleich  durch  Revo- 
lution zerbrechen  können.  Das  Recht  ist  für  uns  Erben  der 
juristisch-scholastischen  Begriffsarbeit  erst  das  Zweite,  der 
Staat  das  Erste.  Dem  Mittelalter  war  das  Recht  Selbstzweck, 
weil  unter  Recht  zugleich  das  sittliche  Empfinden,  die  geistige 
Grundlage  der  ganzen  Menschheitsordnungen,  das  Gute 
schlechthin  mitgedacht  wird,  also  auch  die  selbstverständ- 
liche Grundlage  des  Staates.   Für  das  Mittelalter  ist  deshalb 


^)  F.   Frensdorft,   Recht  und   Rede.    Histor.  Aufs.    G.   Waitz, 
gewidmet  (Hann.  1886),  433ff. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  9 

das  Recht  das  Erste,  der  Staat  erst  das  Zweite.  Der  Staat 
ist  hier  nur  das  Mittel  zur  Verwirklichung  des  Rechts;  sein 
Dasein  leitet  sich  ab  aus  dem  Dasein  des  über  ihm  stehenden 
Rechts.  Das  Recht  ist  vor  dem  Staat,  der  Staat  für  das 
Recht  und  durch  das  Recht,  nicht  das  Recht  durch  den 
Staat.i) 

Für  uns  hat  das  „moralische",  natürliche",  „ideale" 
Recht  seinen  Standort  zunächst  gar  nicht  innerhalb  der 
Rechtssphäre.  Nur  wo  das  positive  Recht  ausdrücklich 
das  sittliche  Empfinden  hereinruft  in  seinen  Kreis,  wird  es 
zu  einem  Glied  der  Rechtswelt,  bestimmt,  als  dienende 
Stütze  am  Bau  des  positiven  Rechtes  mitzutragen.  Nur 
wo  das  positive,  vom  Staat  gesetzte  Recht  im  Bewußtsein 
einer  Lücke  seines  eigenen  Baues,  in  welchem  es  die  Wirk- 
lichkeit des  Lebens  fangen  und  fassen  soll,  zur  Schließung 
dieser  Lücke  die  Billigkeit,  das  Ermessen  (das  sittliche 
Urteil)  des  Richters  oder  Beamten  aufbietet  oder  dem  Staats- 
oberhaupt die  Milderung  des  strikten  Rechts  durch  das 
Walten  der  Gnade  einräumt,  dort,  und  nur  dort  tritt  bei 


1)  Es  könnte  hier  einem  Leser  einfallen,  die  Unterordnung  des 
mittelalterlichen  Staates  unter  das  Recht  gegen  die  wahre  Staats- 
natur des  mittelalterlichen  Staates  auszuspielen.  Nichts  wäre  falscher 
als  das.  Wer  die  hier  vorliegende  Studie  zu  Ende  gelesen  hat,  wird  davor 
bewahrt  sein,  den  mittelalterlichen  Staat  in  ein  System  von  Privat- 
rechten oder  Privat  vertragen  aufzulösen;  er  wird  überhaupt  mit  der 
Entgegensetzung  von  Privat-  und  Staatsrecht  im  Mittelalter  vor- 
sichtig werden.  Die  wahre  Staatsnatur  des  mittelalterlichen  Staates 
ist  von  G.  V.  Below,  Der  deutsche  Staat  des  Mittelalters  1  (Leipzig 
1914),  wie  man  meinen  sollte,  endgültig  nachgewiesen  worden.  Aller- 
dings hat  die  Unterordnung  des  Staats  unter  das  Recht,  und  zwar 
unter  das  so  vieldeutig  schillernde  „Recht"  im  Sinne  des  mittelalter- 
lichen Begriffs,  auch  für  Gestalt  und  Schicksale  des  Staates  die  größten 
Wirkungen  gehabt,  wie  dies  in  einer  Studie  über  „Mittelalterliche  Po- 
litik" des  näheren  gezeigt  werden  soll.  Aber  so  verschieden  an  Zweck- 
setzung und  Gebarung  auch  der  mittelalterliche  Staat  vom  heutigen 
war  und  so  sehr  auch  der  Begriff  Staat,  wie  wir  ihn  kennen,  damals  in 
Gemenge  mit  anderen  Begriffen  liegt  (entsprechend  der  Gemengelage 
des  Rechtsbegriffs),  so  ist  er  doch,  sobald  man  die  Realien  und  nicht 
die  Ideen  des  Mittelalters  anschaut,  zweifellos  Staat  im  vollen  Sinne 
unseres  heutigen  Begriffs.  Man  vgl.  die  einleitende  Bemerkung  über 
die  Methode  der  Geistesgeschichte  in  ihrem  Unterschied  zur  rechts- 
geschichtlichen Methode. 


10  Fritz  Kern, 

uns  das  moralische  „Recht"  aus  dem  inneren  Waltekreis 
des  Gewissens  aufs  Forum  hinaus,  eingeführt,  befugt,  um- 
grenzt und  überwacht  durch  das  positive  Recht.  Das  po- 
sitive Recht  macht  das  moralische  auf  diese  Weise  zu  seinem 
eigenen  Bestandteil,  so  daß  auch  nunmehr  noch  der  Form 
nach  im  Staate  nur  ein  einziges  Recht  gilt,  das  positive, 
und  kein  anderes  außer  ihm.^)  Dieses  positive  Recht  aber 
kann  der  Staat  nach  der  heute  herrschenden  Staats-  und 
Rechtsidee  jederzeit  beliebig  abändern.  Der  Staat  ist  der 
Souverän ;  er  bestimmt  also  sogar,  inwieweit  das  moralisch 
„Rechte"  Recht  sein  soll. 

Es  gibt  nach  der  modernen  Auffassung  nur  einen  Weg, 
Avie  das  ideale  Recht,  Antigones  Gesetze  der  Götter,  recht- 
mäßig (verfassungsmäßig)  Herr  werden  könne  über  das  po- 
sitive Recht,  die  Gesetze  des  Staates:  durch  die  staatliche 
Setzung  neuen  positiven  Rechts.  Das  geschieht,  wenn  sich 
der  Staat  überzeugt,  daß  bisher  außerrechtliche,  moralische 
Empfindungen   einen   Umbau  des  geltenden   Rechts  emp- 

^)  Einen  Überblick  über  die  ins  moderne  bürgerliche  Recht 
hereingerufenen  moralischen  Bestandteile  bietet  O.  v.  Gierke,  Recht 
und  Sittlichkeit,  Logos  6  (1917),  211  ff.  Wenn  aber  Gierke  251  ff. 
<fen  Gegensatz  von  striktem  und  billigem  Recht  hierbei  ausscheiden 
will,  so  scheint  er  mir  dabei  den  Standpunkt  etwas  zu  verschieben. 
Gewiß  ist  Billigkeitsrecht  auch  vollgültiges  Recht,  aber  das  sind  „sitt- 
liche Pflichten"  usf.  auch,  insoweit  sie  durch  das  positive  Recht  und 
■für  dasselbe  erheblich  gemacht  worden  sind.  Es  bestehen  natür- 
lich Gradunterschiede.  Aber  grundsätzlich  gilt:  alle  „moralischen" 
Bestandteile  des  systematischen  positiven  Rechts  sind  Recht,  insoweit 
sie  abgestempelt  sind  durch  den  gesetzgeberischen  Akt,  und  nur  in- 
soweit. Das  gilt  auch  für  Billigkeit,  Zweck  usf.  Das  Billigkeitsrecht 
ändert  gemäß  dem  allgemeineren  Wandel  der  Rechtsvorstellung  seinen 
Standort:  im  mittelalterlichen  Recht,  das  aus  Herkommen  und  Rechts- 
gefühl geschöpft  wird,  entsteht  das  Billigkeitsrecht  aus  Rechtsgefühl 
und  Ge\yohnheit  eines  besonderen  Richters,  der  kraft  besonderen 
Herkommens  (z.  B.  weil  er  König  ist)  nicht  nach  den  Normen  gleich- 
zeitiger anderer  Gerichte  zu  richten  hat  und  dessen  (außerordentliche) 
Gepflogenheit  dann  den  Zeitgenossen  gerechter  (biegsamer,  indivi- 
dualisierender) als  jene  anderen  (ordentlichen)  Normen  vorkommt 
und  darum  als  billig  bezeichnet  wird.  Im  heutigen  Recht  dagegen 
laufen  nicht  striktes  und  billiges  Recht  im  Wettbewerb  nebeneinander 
her,  sondern  das  Billigkeitsrecht  hat  formal  seine  ihm  bestimmt  zu- 
gewiesene Stelle  innerhalb  des  einen,  der  Idee  nach  lückenlos  geschlosse- 
nen Satzungsrechts. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  It 

fehlen.  Dann  setzt  sich  aber  nicht  einfach  das  moralische 
Recht  an  die  Stelle  des  positiven;  aus  dem  außerrechtlichen 
Gebiet  der  moralischen  Überzeugungen  tritt  nichs  von  sich 
aus  in  das  Haus  des  Rechts  hinüber.  Sondern  der  Staat 
formt  sein  positives  Recht  um,  was  er  jederzeit  beliebig 
und  souverän  kann. 

Inwieweit  auch  in  diesem  modernen  Rechtsbild  Fik- 
tionen stecken,  erörtern  wir  nicht;  es  ist  uns  genug,  daß  die 
Vorstellung  einheitlich  und  ein  geschlossenes  Begriffsgebäude 
ist,  bezogen  auf  die  Souveränetät  des  Staates  und  die  alleinige 
Geltung  des  vom  Staat  erflossenen,  d.  h.  positiven  Rechts. 

Völlig  entgegengesetzt  ist  die  Vorstellung  des  Mittel- 
alters. Das  Recht  ist  hier  souverän,  und  nicht  der  Staat,  d.  h. 
das  Gemeinwesen,  die  Obrigkeit,  der  Fürst  oder  wie  die  mittel- 
alterlichen Begriffe  sonst  lauten,  welche  wir  in  diesem  Zu- 
sammenhang dem  Recht  gegenüberstellen.  Der  Staat  kann 
das  Recht  nicht  ändern.  Er  würde  damit  etwas  begehen 
wie  Muttermord.  Diese  gewaltige  Tatsache  der  mittelalter- 
lichen Gedankenwelt  werden  wir  im  nächsten  Abschnitt 
in  ihren  Folgen  für  das  Rechtsleben  zu  betrachten  beginnen; 
hier  soll  nur  noch  einmal  der  Grund  dieser  Überordnung 
des  Rechts  über  den  Staat  verdeutlicht  werden.  Er  liegt 
in  der  Nichtunterscheidung  von  idealem  und  positivem  Recht. 
Ein  Recht,  das  gleich  ist  mit  dem  Guten  an  sich,  ist  selbst- 
verständlich vor  und  über  dem  Staat.  Die  mittelalterliche 
Welt  schwillt  über  von  begrifflicher  Ehrfurcht  für  die  Heilig- 
keit des  Rechts:  natürlich,  denn  es  ist  nicht  das  nüchterne, 
trockene,  bewegliche,  technische,  vom  Staat  abhängige 
positive  Recht  von  heutzutage:  es  trägt  in  unklarer  Ver- 
mengung die  Heiligkeit  des  moralischen  Gesetzes  in  sich. 
Der  Leser  wird  sich  vermutlich  rasch  überzeugen,  daß  die  Ab- 
spaltung des  Rechts  von  der  Moral  nicht  nur  ein  technischer 
Fortschritt  und  eine  gesunde  Ernüchterung  war,  welche  die 
Neuzeit  heraufführte,  sondern  daß  auch  die  tatsächliche 
Heiligkeit  des  Rechts  dadurch  nur  gewonnen  hat,  so  wie  auf 
anderem  Gebiet  z.  B.  der  kalte  moderne  Gesetzes  gehor- 
sam mehr  ist  als  die  farbig  warme,  vieldeutige  mittelalter- 
liche Untertanen  treue.  Aus  der  schwerlastenden  Erhaben- 
heit des  mittelalterlichen   Rechtsbegriffs  werden  wir  also 


12  Fritz  Kern, 

nicht  folgern,  daß  auch  in  Wirklichkeit  das  Recht  besonders 
heilig  geachtet  war.  Wir  wollen  hier  überhaupt  nicht  kultur- 
geschichtlich den  Wert  und  Einfluß  des  hochgespannten 
mittelalterlichen  Rechtsbegriffs  auf  das  Leben  zu  schildern 
versuchen,  weder  seine  schöpferische,  kulturbringende  und 
vergeistigende  Kraft  noch  auch  seine  unheilvolle  Gestal- 
tungsgabe für  unklare  Zuständigkeiten  wie  für  Heuchelei; 
wir  begnügen  uns  mit  der  einfachen  Feststellung  praktischer 
Unhandlichkeit  eines  so  vielsinnig  bepackten  und  undeut- 
lichen Begriffs,  und  wollen  im  übrigen  zunächst  nichts, 
als  diesen  Begriff  selber  darstellen  und  deutlich  machen. 

Die  Sprache  hütet  oft  die  Begriffswelt  eines  entschwun- 
denen Zeitalters  und  überliefert  sie  in  ihrer  veralteten  Logik 
künftigen  Geschlechtern.  Wir  haben  in  unserer  altertüm- 
Hchen  Sprache  auch  noch  ein  Denkmal  für  diese  einstmalige 
Einerleiheit  von  Recht  und  Moral;  wir  können  das  was 
„recht*'  ist,  von  dem  was  „Recht*'  ist,  nur  durch  das  Gewalt- 
mittel der  Rechtschreibung  unterscheiden. i) 

Es  ist  nun  verständlich,  in  welchem  Sinn  dem  Recht 
für  die  mittelalterliche  Auffassung  das  Merkmal  des  Gut- 
seins unerläßlich  ist,  und  wir  wenden  uns  somit  einem  dritten 
Satze  zu: 

3.  Das  gute  alte  Recht  ist  ungesetzt  und  unge- 
schrieben. 
Wir  sind  jetzt  imstande,  besser  zu  verstehen,  warum  das 
alte  Recht  und  das  gute  Recht  verschwistert  sind  und  so- 
zusagen zusammenfallen.  Das  moderne  Recht  ist  immer 
irgendwie  vom  Staat  gesetzt.  Das  mittelalterliche  Recht 
ist  einfach;  der  mittelalterliche  Denkbrauch  empfindet  es 
nicht  als  menschlich  gesetzt,  sondern  es  ist  schlechthin 
ein  Teil  des  Guten,  Gerechten,  das  immer  ist,  so  wie  das 
Böse  (nach  dem  kirchenväterisch-mittelalterlichen  Begriffs- 

^)  Wo  aber  diese  versagt,  wie  z.  B.  in  dem  Wort  „Rechtschrei- 
bung" selber,  da  können  wir  aus  dem  Begriff  die  alte  Unklarheit  nicht 
einmal  sprachlich  beseitigen.  Verpflichtet  die  „Rechtschreibung" 
rechtlich  oder  nur  sittlich-sittenhaft  zu  ihrer  Befolgung?  Die  Doppel- 
deutbarkeit  der  Wortverbindungen  mit  „Recht"  bleibt  also  be- 
stehen. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter,  13 

realismus)  niemals  etwas  ist  als  nur  die  Privation  des 
Guten,  die  Verneinung  des  Seienden  schlechtweg,  also  in 
Wirklichkeit  nichts.^)  Wir  haben  oben  gesagt,  das  moderne 
Recht  sei  gegenwärtiges  Recht  vom  Tag  der  Setzung  ab  bis 
zum  Tag  der  Aufhebung;  vorher  war  es  künftiges  Recht, 
nachher  wird  es  veraltetes  Recht  sein,  beidemal  also  nicht 
wirkliches  Recht.  Das  moderne  positive  Recht  hat  weder 
vor  seiner  Setzung,  noch  während  seiner  Gültigkeit  noch  nach 
seiner  Aufhebung  jemals  die  Eigenschaften,  alt  oder  gut  zu 
sein.  Das  mittelalterliche  Recht  dagegen,  das  die  Termine 
der  Setzung  und  der  Außerkraftsetzung  nicht  kennt,  ist 
nicht  sowohl  gegenwärtig  als  zeitlos.  Nur  gutes  Recht  ist 
wirklich,  einerlei  ob  der  menschliche  Gesetzgeber  und  Richter 
es  erkennt  oder  verkennt,  d.  h.  nach  unseren  Begriffen, 
einerlei  ob  es  positives  oder  „nur"  ideales  Recht  sei.  Das 
Verhalten  des  Gesetzgebers  und  Richters  zum  Recht  ist  nur 
ein  Schatten,  der  über  es  dahinhuscht:  er  kann  es  verdunkeln, 
aber  nicht  beseitigen,  denn  das  Recht  ist  wirklich,  die  etwaige 
Verdunkelung  durch  das  ,, rechtswidrige'*  positive  Recht 
oder  durch  Vergessen  ist  ein  wesenloses  Nichts,  eben  ein 
Schatten,  der  über  ein  in  sich  bestehendes  körperhaftes 
Ding  hinweggleitet.    Das  echte  gute  Recht  besteht  auch  in 


1)  Das  Gute  ist,  das  Schiechte  ist  nicht;  das  Sein  hat  Grade, 
und  der  höchste  Grad  des  Seins  fällt  zusammen  mit  dem  höchsten 
Grad  des  Guten.  Dieser  neuplatonische  Bestandteil  mittelalterlicher 
Wissenschaft  durchdringt  auch  außerhalb  der  eigentlichen  Wissen- 
schaft die  bewußte  oder  unbewußte  mittelalterliche  Weltanschauung. 
Ja,  er  ist  eines  der  Hauptkennzeichen  moralisierter  Weltanschauung 
überhaupt.  Besonders  bedeutsam  aber  erscheint  diese  Grundform 
mittelalterli<:her  Anschauungsweise  bei  dem  Grundsatz  des  seienden 
guten  Rechts. 

Daß  das  Recht  nicht  gesetzt,  sondern  gefunden  wird,  hat  im  kirch- 
lichen Recht  darin  seine  Parallele,  daß  das  Recht  aus  Offenbarungs- 
tatsachen erfließt,  die  vom  Gesetzgeber  nur  in  ihren  Folgerungen  zu 
entwickeln  sind  und  durch  ihren  göttlichen  Ursprung  über  dem  welt- 
lichen Recht  stehen. 

Auch  des  Gottesurteils  ist  hier  zu  gedenken.  Das  Recht  ist  die 
heilige  Gerechtigkeit,  die  in  den  sapientes  unter  den  Menschen  wieder- 
klingt. Zuweilen  aber  ist  es  unmöglich  oder  unschicklich,  daß  Menschen 
es  finden;  dann  muß  Gott  selbst  es  offenbaren.  Vgl.  z.B.  Widukind 
2.  10. 


14  Fritz  Kern, 

der  Zeit  seiner  Verdunkelung  unverbrüchlich  fort.  Es  ist 
gegenüber  der  Verdunkelung  „alt";  ob  man  sagt:  das  gute 
Recht  oder  das  alte  Recht  ist  gänzlich  gleichbedeutend. 

Wenn  das  Recht  aber  nicht  an  einer  Setzung  kenntlich, 
wenn  es  ferner  nicht  am  bloßen  Alter  erkennbar  ist,  weil 
es  auch  altes  Unrecht  gibt,  sondern  es  vor  allem  gut,  folglich 
auch  alt  sein  muß:  woran  erkennt  man  es  dann  mit  Bestimmt- 
heit?  Wo  wird  das  Recht  gefunden? 

Es  wird  gefunden  einmal  dort,  wo  alles  Moralische  seinen 
Sitz  hat,  im  Gewissen,  und  zwar,  da  das  Recht  die  einer 
Volksgesamtheit  gemeinsamen  Gebiete  des  Rechten  umfaßt, 
im  Gesamtgewissen  des  Volks,  im  Rechtsgefühl  der  Volks- 
gemeinde oder  ihrer  Vertrauensmänner,  der  erlesenen  Schöf- 
fen. Nicht  irgendein  gelehrtes  Wissen  oder  ein  Buch  ist 
ihnen  vonnöten,  sondern  nur,  daß  sie  das  „normale"  Rechts- 
gefühl der  Gesamtheit  besitzen,  daß  sie  sapientes,  prud'- 
hommes,  Biedermänner  seien. 

Das  Recht  wird  aber  zweitens  gefunden  in  alten  Über- 
lieferungen. Alles  gute  und  echte  Recht  war  nach  der  all- 
gemeinen Überzeugung  schon  irgendwie  in  dem  legendären 
Recht  eines  sagenhaften  Gesetzgebers,  eines  ehemaligen,, 
besonders  starken  und  weisen  Königs  enthalten. 

Wir  bemerken  also  einen  zwiefachen  Fundort  des  R'ichts. 
Es  wäre  reizvoll,  rechtsphilosophisch  der  Zweihei*  dieser 
Brennpunkte  nachzugehen,  in  denen  sich  Rechtsgefühl  und 
Herkommen  wechselseitig  ineinander  projizieren.  Das  Mittel- 
alter denkt  aber  gar  nicht  über  das  Problem  dieser  Zweiheit 
nach,  es  nimmt  sie  naiv  als  gegeben.  Es  rätselt  nicht  über 
den  „Volksgeist",  sondern  ist  überzeugt,  daß  in  der  Brust 
der  Schöffen  und  in  den  alten  Überlieferungen  ein  und  das- 
selbe lebt,  daß  die  Schöffen  aus  der  Erinnerung ,, finden"^ 
was  die  Alten  schufen,  also  nach  wahren  guten  Überliefe- 
rungen zeugen,  und  daß  grundsätzlich  diese  Überliefe- 
rungen trotz  aller  etwaiger  Verdunkelungen  unvergänglich 
leben.  Durch  dies  Ineinanderfließen  von  Rechtsgefühl  und 
Überlieferung  wird  eben  das  alte  Recht  und  das  gute  Recht 
zum  einen  guten,  alten  Recht. 

In  der  Anknüpfung  des  Rechts  an  einen  mythischen 
Gesetzgeber  liegt  scheinbar  ein  Widerspruch  zu  unserem 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  1{^ 

Satz  von  der  Ungesetztheit  und  Ungeschriebenheit  des  Rechts. 
Aber  doch  nur  scheinbar.  Denn  jener  Gesetzgeber  wird 
weniger  als  ein  willkürlicher  Gesetzmacher,  denn  als  eine 
besonders  kräftige  und  deutliche  Enthüllung  des  Wahren, 
und  Guten  aufgefaßt.  Gott  ist  der  einzige  Gesetzgeber  im 
vollen  und  wahren  Sinne  des  Worts.  Bei  den  Sagenherr- 
schern der  Vorzeit  offenbart  sich  sozusagen  das  Recht; 
auch  sie  schaffen  es  nicht,  aber  sie  bringen  es  an  den  Tag 
und  pflanzen  seine  Herrschaft  unter  den  Menschen  auf. 
Auch  sie  sind,  wie  alle  Staatsgewalt,  unter,  nicht  über  dem 
Recht.  Aber  als  eine  Art  von  Propheten  oder  Heroen  rücken 
sie  allerdings  über  Menschenmaß  hinaus  in  die  Nähe  gött- 
licher Wirkungskräfte;  sie  können  wohl  dann  auch  als. 
Schopf  er  des  Rechts  selber  verehrt  werden,  sobald  sie  über- 
menschliche Kräfte  haben.  Unserer  Behauptung,  daß  das 
Recht  nicht  von  Menschenwitz  oder  Menschenwille  gesetzt 
sei,  widerspricht  das  nicht,  bekräftigt  sie  vielmehr. 

Auch  geschrieben  ist  dies  Recht  des  mythischen  Gesetz- 
gebers nicht.  Es  ist  überaus  dehnbar  und  unbestimmt: 
alles  Gute  hat  darin  Platz,  alles  Schlechte  ist  eine  spätere 
Abweichung  und  Verderbnis,  die  wieder  abgestellt  werden 
sollte. 

Allerdings  hat  man  auch  im  Mittelalter  Rechtssätze 
aufgezeichnet.  Es  gibt  kein  geschriebenes,  aber  aufgeschrie- 
benes Recht.  Dieser  Umstand  erfordert  sorgfältige  Er- 
wägung. Wir  stehen  hier  an  der  geschichtlichen  Naht  zwi- 
schen Gewohnheits-  und  Satzungsrecht. 

Zunächst  wird  hie  und  da  als  Gedächtnisstütze  für 
Zweifelsfälle,  um  die  Überlieferung  stet  und  eindeutig  zu 
halten,  ein  oder  das  andere  Stück  Rechts  aufgezeichnet. 
Der  Träger  eines  subjektiven  Rechts,  wie  wir  es  nennen^ 
läßt  mit  publica  fides  des  Herrschers  oder  eines  Notars  sein 
Recht  beurkunden.  Die  Gesamtheit  des  Volkes  schreibt 
einige  Sätze  ihrer  Rechtswelt  feierlich  und  authentisch  nieder^ 
so  daß  der  Wortlaut  den  Nachkommen  erhalten  bleibt. 
Oder  ein  einzelner  Privater,  wie  wir  es  nennen,  verbucht 
ohne  Auftrag,  nur  aus  dem  Gewissen  eines  „Schöffen" 
heraus,  was  er  vom  objektiven  Recht  kennt,  wie  wir  sagen 
würden,  oder  was  er  als  gutes  altes  Recht  weiß,  wie  man  im 


16  Fritz  Kern, 

mittelalterlichen  Sinne  sagen  würde.  Dies  sind  die  drei 
Formen  der  Rechtsaufzeichnung,  die  das  Mittelalter  kennt, 
die  Urkunde,  das  Volks  recht  (bzw.  das  authentische 
Recht  irgendeiner  Gesamtheit)  und  das  Rechtsbuch, 
drei  Rechtsquellen  verschiedenen  Rangs,  aber  für  die  mittel- 
alterliche Bewertung  selbst  nicht  von  so  großen  Unterschie- 
den, wie  es  uns  scheinen  müßte. 

Alle  diese  drei  aufgeschriebenen  Rechtsausschnitte  haben 
nämlich  neben  oder  über  sich  noch  das  lebende  Rechts- 
gefühl bzw.  mündlich  überlieferte  Recht,  das  allein  die 
Ganzheit  des  Rechts  darstellt.  Jenes  aufgeschriebene 
Recht  ist  kein  Satzungsrecht  (mit  Ausnahme  der  vertrag- 
lichen subjektiven  Rechte,  die  natürlich  auch  im  Mittel- 
alter aus  dem  Willen  der  Kontrahenten  gesetzt  sind),  son- 
dern einfach  aufgeschriebenes  Gewohnheitsrecht,  wie  wir 
es  nennen;  immer  bleibt  es  nur  ein  Bruchstück  von  jener 
Ganzheit,  die  einzig  und  allein  in  der  Brust  der  Rechts- 
gemeinde lebt.^)  I 

Dem  entgegengesetzt  ist  der  moderne  Zustand  des 
Satzungsrechts,  das  seinem  Wesen  nach  geschriebenes 
Recht  sein  muß.  2)  Denn  es  besitzt  die  Ganzheit  des  Rechts 
in  dem  wörtlich  fixierten  Gebot  der  Autorität.    Es  ist  ein 


^)  Im  aufgeschriebenen  mittelalterlichen  Recht  finden  sich  denn 
auch  oft  Ausdrücke  und  Bestimmungen,  die  nicht  das  Vollgewicht  haben, 
wie  jedes  Wort  aus  einem  Kodex,  so  z.  B.  von  vornherein  unlebendige 
Bestimmungen,  drakonische,  niemals  angewandte  Strafen,  sogar  scherz- 
hafte Einfälle  und  theoretische  Arabesken.  Rechtsschreiber  des  Mittel- 
alters durften  sich  solche  Launen  leisten,  da  ja  das  Rechtsleben  an  ihre 
Sätze  nicht  strikt  gebunden  ist  und  nur  das  wirklich  Lebendige  aus 
ihnen  festhält  und  anwendet.  So  konnte  der  Rechtsschreiber  auch  ge- 
radezu unanwendbare  und  nie  angewandte  Sätze  niederschreiben, 
ohne  das  Vertrauen  des  Volks  zu  verscherzen,  wenn  nur  seine  phantasie- 
voll, theoretisch  oder  symbolisch  aufgestutzten  Sätze  durch  ihren  tie- 
feren Sinn  als  Maximen,  dem  allgemeinen  Rechtsbewußtsein  gefielen. 

2)  Dem  Geschriebensein  verwandt  erschiene  auf  den  ersten  Blick 
buchstäbliches  Memorieren  des  Rechts  durch  alle  zur  Rechtsanwendung 
Befugten,  etwa  in  der  Art,  wie  die  Veden  überliefert  worden  sind. 
Aber  auch  wo  im  Mittelalter  das  Recht  buchstäblich  memoriert  wird 
(vgl.  unten  S.  29),  ist  es  natürlich  nur  bruchstückweise  aufgeschrie- 
benem Gewohnheitsrecht  und  nicht  dem  als  Totalität  geschriebenen 
Satzungsrecht  gleichzuachten. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter,  17 

Kodex,  der  den  Anspruch  auf  systematische  Vollständigkeit 
erhebt  und  folglich  für  alles,  was  nun  außer  diesen  fixierten 
Sätzen  noch  Recht  sein  soll,  die  formale,  technische  For- 
derung erhebt,  irgendwie  aus  dem  Ergebnis  jenes  Kodifi- 
kationsaktes ableitbar  zu  sein.  Auch  die  lebendige  Fort- 
bildung des  Rechts  aus  dem  Rechtsgefühl,  etwa  bei  uns  die 
Rechtssprechung  des  Reichsgerichts,  ist  formal  und  technisch 
nur  insoweit  möglich,  als  die  Verfassung  bzw.  das  kodifi- 
zierte Recht  eine  Behörde  einsetzt,  der  in  gewissen  Grenzen 
die  Rechtsfortbildung,  als  Lebensfunktion  des  kodifizierten 
Rechts  übertragen  ist,  und  alle  Rechtsfortbildung  erscheint 
hier  nur  als  Erläuterung,  Anwendung,  Individualisierung  des 
als  Ganzheit  und  als  allumfassend  geltenden  Satzungsrechts. i) 
Der  Gegensatz  zwischen  Herkommensrecht  und  ge- 
setztem Recht  läßt  sich  also  kurz  so  zusammendrängen, 
daß  die  Ganzheit  des  Rechts  hier  in  einem  Kodex  (=  ge- 
schriebenemRecht),  dort  in  schwebendem  Rechtsgefühl 
liegt.  Aufgeschriebenes  Gewohnheitsrecht  ist  darum  immer 
nur  Bruchstück.  Die  Nutzanwendung  dieses  Satzes  werden 
wir  sogleich  im  mittelalterlichen   Rechtsleben  beobachten. 

4.    Altes  Recht  bricht  jüngeres  Recht. 

Bei  uns  bricht  selbstverständlich  neueres  positives 
Recht  das  ältere.  Das  ist  ja  der  Sinn  und  Zweck  seiner 
Setzung  überhaupt.  Es  wäre  ein  Hohn,  wollte  das  ältere, 
mit  der  Heiligkeit  größeren  Gutseins  umkleidet,  Lebens- 
ansprüche gegen  das  jüngere  geltend  machen.  Der  mittel- 
alterliche Grundsatz  wäre  für  uns  ebenso  unsinnig,  wie  wenn 
mein  Urahn  mich  beerben  wollte.  Für  die  mittelalterliche 
Vorstellung  aber  paßt  ein  ganz  anderes  Gleichnis:  wenn  altes 
Recht  jüngeres  bricht,  so  weicht  ein  junger  Fant  dem  ehr- 
würdigen Greis  aus  dem  Wege,  oder,  noch  genauer:  der  Ein- 
dringling weicht,  wenn  der  rechtmäßige  Besitzer  heimkehrt. 

Es  kann  ja  auch  im  modernen  Rechtswesen  vorkommen, 
daß  das  jüngere  Recht  einen  Rechtsirrtum  enthält:  dann 
wird  eben  ein  neues  (drittes)  positives  Recht  geschaffen, 
welches  zu  dem  ersten  zurückkehrt.   Aber  in  allen  drei  Zu- 


1)  Vgl.  oben  S.  9  f. 
Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd. 


18  Fritz  Kern, 

ständen  ist  dann  das  gültige  Recht  dasjenige,  welches  der 
Staat  zu  der  betreffenden  Zeit  gesetzt  hat.  Nach  mittel- 
alterlicher Vorstellung  besteht  das  erste  Recht  einfach 
auch  während  des  zweiten  Zustandes  verdunkelt  fort  und 
stellt  im  dritten  Zustand  sich  selber  wieder  her. 

Was  heißt  überhaupt  älteres  Recht?  Unter  der  Herr- 
schaft ungeschriebenen  Herkommens  ist  das  Alter  zumeist 
nicht  in  der  Art  festzustellen,  wie  bei  kodifiziertem,  da- 
tiertem Satzungsrecht.  Das  „alte"  Recht  ist  hier  mehr  eine 
Qualitätsbezeichnung  als  eine  genaue  Zeitfeststellung.  Das 
Recht,  welches  man  für  das  bessere  hält,  wird  man  bis  zum 
Beweis  des  Gegenteils  auch  immer  für  das  ältere  erklären. 
Im  übrigen  liegen  die  Fälle  sehr  mannigfaltig,  wovon  schon 
oben  ein  Beispiel  aus  dem  Sachsenspiegel  gegeben  worden 
ist.^)  Ein  andermal  wird  man  das  Recht  eines  soeben  ge- 
storbenen unbeliebten  Herrschers  in  Gegensatz  bringen  zu 
dem  idealen  Recht  des  mythischen  Gesetzgebers,  wird  jenes 
als  neues,  schlechtes  Recht  widerrufen  und  das  Recht  des 
mythischen  Gesetzgebers  wiederherstellen,  das  indes  viel- 
leicht doch  auch  einigen  zu  achtenden  Rechtsneuerungen 
widersprechen  würde,  so  daß  man  dann  auch  das  mythische 
Gesetzgeberrecht  als  vielleicht  teilweise  verderbt  überlie- 
fert und  verbesserungsfähig  hinstellt:  kurz,  man  hilft  sich, 
wie  man  kann,  um  ohne  Verletzung  der  Rechtstheorie  doch 
dem  praktischen  Bedürfnis  des  Augenblicks  zu  dienen. 2) 
Jedenfalls  wird  man  dem  Recht,  das  man  haben  will,  stets 
möglichst  die  Eigenschaft  ehrwürdigen  Alters  zusprechen. 3) 


1)  Siehe  S.  4. 

2)  In  diesem  Sirin  erklärt  Heinrich  I.  von  England  1100  (W. 
Stubbs,  Select  Charters  of  English  constitutional  history,  8.  Aufl.,  1900, 
S.  lOOf.):  Omnes  malas  consuetudines  quibus  regnum  Angliae  iniuste 
opprimebatur,  inde  aufero  . . .  Legem  Edwardi  regis  vobis  reddo  cum 
Ulis  emendationibus,  quibus  pater  meus  eam  emendavit  consilio  baronum 
suorum.  Das  Recht  Eduards  des  Bekenners,  d.  h.  die  guten  Gewohn- 
heiten der  angelsächsischen  Zeit,  sollen  wiederhergestellt  werden  mit 
Ausnahme  der  guten,  d.  h.  von  den  Volksvertretern  gutgeheißenen 
normannischen  Abänderungen  oder  „Verbesserungen".  Über  das  Ein- 
treten  der  Volksvertretung  als  Quelle  des  Rechtsgefühls  vgl.  unten 
S.  52  ff.  und  zu  dem  angeführten  Beispiel  MSt.  1,  468. 

»)  Darüber  vgl.  den  nächsten  Abschnitt. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  19 

Besonders  leicht  konnte  man  die  heikle  Theorie  von  dem 
alten  Recht,  welches  das  neue  bricht,  mit  den  auch  im  Mittel- 
alter nach  neuem  Recht  verlangenden  praktischen  Verhält- 
nissen dann  in  Einklang  setzen,  wenn  weder  das  ,,alte** 
noch  das  ,,neue"  Recht  bestimmt  datiert  waren.  Es^ab  indes 
auch  schwierigere  Fälle;  auch  ihrer  wurde  die  Praxis  Herr, 
die  sich  niemals  von  einer  Theorie  endgültig  in  Fesseln 
schlagen  läßt. 

Im  Jahr  819  entdeckten  die  Franken  einen  Widerspruch 
zwischen  einem  gewohnheitsrechtlichen  Ehebrauch  und  dem, 
was  die  Lex  Salica  darüber  bestimmte.  Mußte  man  nun 
nicht  den  lebendigen  Brauch  als  eine  schlechte  Neuerung 
gegenüber  dem  ausdrücklichen  Zeugnis  des  ehrwürdigen 
Volksrechtes,  welches  das  alte  Väterrecht  sei,  verwerfen  und 
rückgängig  machen?  Die  Franken  bestimmen  einfach,  der 
Ehebrauch  solle  so  gehandhabt  werden,  „wie  es  bis  jetzt 
die  Altvordern  gehalten  haben*',  und  „nicht  so,  wie  in  der 
Lex  Salica  geschrieben  steht**. 

Man  könnte  vielleicht  denken,  hier  läge  die  Rechts- 
regel zugrunde,  daß  Gewohnheitsrecht  Gesetzesrecht  breche. 
Aber  nichts  wäre  falscher  als  diese  Auslegung.  Jener  Rechts- 
grundsatz ist  bezeichnend  für  das  Zeitalter,  welches  zwischen 
dem  reinen  mittelalterlichen  Gewohnheitsrecht  und  dem 
reinen  modernen  Gesetzesrecht  geschichtlich  und  logisch 
in  der  Mitte  steht.  In  der  Moderne  ist  dieser  Satz  unsinnig, 
da  das  Gewohnheitsrecht  theoretisch  zum  Bestandteil  und 
dienenden  Glied  des  Gesetzesrechts  geworden  ist  und  nur 
innerhalb  des  von  diesem  gezogenen  Rahmens  waltet.^) 
Für  das  Mittelalter  ist  diese  Rechtsregel  überhaupt  unvor- 
stellbar, da  ja  Gesetzesrecht  nichts  ist  als  aufgeschriebenes 
Gewohnheitsrecht.  Jene  Rechtsregel  ist  dagegen  unent- 
behrlich geworden  für  das  gelehrte  romanistische  Pandekten- 
recht, welches  ein  totes,  wiederausgegrabenes  Gesetzesrecht 
cum  gram  salis  auf  eine  veränderte  Gegenwart  wieder  anzu- 
wenden hatte.  Für  das  Mittelalter  dagegen  ist,  wie  ge- 
sagt, „Gesetzesrecht"  nichts  als  Gewohnheitsrecht,  aufge- 
zeichnet, damit  seine  an  sich  stets  vorhandene  unbegrenzte 


1)  Vgl.  oben  S.  10. 

2* 


20  Fritz  Kern, 

Geltung  vor  dem  Vergessenwerden  gesichert  sei.  Eine 
diesem  „Gesetzesrecht",  d.  h.  fixiertem  ÜberHeferungsrecht, 
widerstrebende  neue  Gewohnheit  ist  also  Mißbrauch,  Un- 
recht. 

Wenn  dem  aber  so  ist,  mußten  sich  dann  nicht  die  Fran- 
ken des  Jahres  819  dem  wider  ihre  Gewohnheit  zeugenden 
Buchstaben  der  Lex  Salica  unterwerfen?  Nein,  denn  sie 
empfanden  hier  keinen  feindlichen  Gegensatz  zwischen 
freiem  „modernem**  Rechtsgefühl  und  aufgeschriebenem 
„altem"  Gewohnheitsrecht:  vielmehr,  auch  hier  brach  gutes 
altes  Recht  schlechtes  neues.  Wie  wurde  das  dargestellt? 
Nun,  sehr  einfach.  Ein  in  lebendiger  Überlieferung  bewußt 
gegenwärtiger  Altvordernbrauch  siegte  über  ein  aufgeschrie- 
benes totes  Latein,  über  einen  Schriftsatz,  der  für  die  Auf- 
fassung der  Franken  von  819  weiß  Gott  wie  in  die  Lex  Salica 
hineingekommen  war,  vielleicht  durch  einen  Schreibfehler 
oder  eine  Einschaltung  oder  möglicherweise  auch  durch  eine 
,, unrechte"  Gewohnheit  der  Lex  Salica-Verfasser,  die  ja 
auch  irren  können,  soweit  ihnen  nicht  göttliche  Eingebung 
die  Feder  führt.  Man  sieht  hier,  wie  sich  die  Praxis  zu  helfen 
wußte,  ohne  die  Theorie  zu  verletzen. 

Schwieriger  aber  war  dies,  wo  das  aufgeschriebene  Recht 
einen  authentischeren  Charakter  trägt,  als  dies  bei  einem 
Volksrecht  der  Fall  ist,  also  bei  der  Herrscherurkunde. 
Hier  wird  in  der  Tat  die  Theorie  zuweilen  doch  auch  Herr 
über  die  Praxis. 

Es  war  unmöglich,  eine  aus  dem  Nichts  plötzlich  auf- 
tauchende alte  Königsurkunde  beiseite  zu  setzen,  wenn  man 
sie  für  echt  halten  mußte.  Mochte  sie  auch  in  den  jetzigen 
Rechtsverhältnissen  daliegen  wie  ein  erratischer  Block 
und  bereits  altbestehende  Rechtszustände  umstoßen:  sie 
war  und  blieb  Recht,  und  brach  alle  jüngeren  Herrscherurkun- 
den, die  nicht  ausdrücklich  jene  ältere  ausnahmen.  Was 
haben  z.  B.  mittelalterliche  Fürsten  von  König  Pipin  ange- 
fangen nicht  alles  verfügt  und  verschenkt,  im  Glauben, 
gutes,  altes  Recht  wiederherstellen  zu  müssen,  wenn  man 
ihnen  ein  Stück  wie  die  Konstantinische  Schenkung  vor 
Augen  hielt! 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  21 

Man  muß  hier  unterscheiden  zwischen  Rechtsbestim- 
mungen, welche  den  Zustand  Einzelner  im  Volke,  z.  B. 
das  Besitzrecht  an  einem  Acker,  und  solchen,  welche  den 
Zustand  Aller  oder  doch  generell  Vieler  betrafen,  z.  B.  Erb- 
rechtsbestimmungen oder  Leistungen  an  den  Herrscher. 
Bei  Fällen  der  ersten  Art  kann  der  Rechtszustand  vertrag- 
lich geändert  werden,  bei  Fällen  der  zweiten  Art  wird  er  der 
Theorie  nach  nicht  geändert,  in  Wirklichkeit  aber  befindet 
die  Volksgesamtheit^)  jederzeit  frei,  was  rechtens  sei.  Herr- 
scherurkunden, die  im  Rechtsleben  herangezogen  werden, 
sind  fast  immer  derart,  daß  eine  interessierte  Partei  sie  vor- 
bringt. Da  bricht  nun  die  ältere  Herrscherurkunde  die 
jüngere,  wenn  aus  der  jüngeren  nicht  ausdrückhch  hervor- 
geht, daß  sie  in  Kenntnis  jener  älteren  erlassen  ist.  Das 
hängt  mit  der  schlechten  Aufbewahrung  der  Urkunden  zu- 
sammen: der  Herrscher  urkundet  zwar  mit  publica  fides, 
aber  lange  nicht  so  zuverlässig  wie  ein  modernes  Grund- 
buch: es  ist  verhältnismäßig  leicht,  von  ihm  eine  Urkunde 
unter  ungenügender,  parteiischer  Kenntnis  der  Tatsachen 
zu  erschleichen.  2)  Wird  deshalb  ein  Rechtsverhältnis  durch 
Vertrag  geändert,  so  muß  sich  die  interessierte  Partei  für  den 
Fall,  daß  über  den  früheren  Rechtszustand  eine  Königs- 
urkunde bestand  (und  wer  wollte  mit  Sicherheit  wissen, 
ob  sie  nicht  bestand  und  irgendwoher  auftauchte?),  sichern, 
indem  sie  eine  Königsurkunde  erwirkte,  welche  etwa  ent- 
gegenstehende ^ältere  Urkunden  ausdrücklich  widerrief. 
Auch  dann  lag  es  nicht  so,  daß  man  nun  unbedingte  Gewähr 
dafür  hatte,  daß  der  Herrscher  in  voller  doppelseitiger 
Kenntnis  des  Tatbestandes  urkundete;  auch  jetzt  noch  können 
für  die  Rechtsgültigkeit  des  durch  eine  ältere  Urkunde  be- 
zeugten Zustandes  gegenüber  dem  durch  die  jüngere  Ur- 
kunde bezeugten  unter  Umständen  Gründe  angeführt  wer- 
den. Hoffnungsloser  aber  wird  die  Sache  für  die  jüngere  Ur- 
kunde, wenn  sie  es  versäumt,  ältere  Urkunden  zu  wider- 
rufen, und  am  hoffnungslosesten  steht  das  neue  Recht  dann 
da,  wenn  die  tatsächliche  jüngere  Rechtslage  überhaupt 
keinen  urkundHchen  Rückhalt  aufweisen  kann  und  ihr  auf 

1)  Vgl.  unten  S.  52  ff. 

2)  Vgl.  unten  S.  32  ff. 


22  Fritz  Kern, 

einmal  ein  ehrwürdiges  Herrscherpergament  einen  anderen, 
älteren  Rechtszustand,  der  denn  der  eigentlich  sein  sollende 
ist,  gebieterisch  entgegenstreckt.  Im  Zusammenstoß  einer 
älteren  mit  einer  jüngeren  Urkunde  aber  gilt  der  Satz: 
ut  praecepta  facta,  quae  anteriora  essent,  firmiora  et  stabiliora 
essent,^) 

In  diesen  Verhältnissen  berühren  wir  eine  der  Haupt- 
krankheitsquellen des  mittelalterlichen  Rechtslebens,  seiner 
großen  Unsicherheit,  des  Herumtappens  im  Nebel,  sobald 
eine  alte  Urkunde  auftaucht,  oft  zur  Wut,  Verachtung  und 
zum  deutlich  ausgesprochenem  Argwohn  der  damit  Über- 
fallenen Gegenpartei 2);  hier  berühren  wir  auch  schon  das 
Gebiet  der  mittelalterlichen  Fälscherindustrie.  Wobei  wir 
jetzt  ohne  weiteres  einsehen,  daß  dieses  Gewerbe  nicht 
nur  um  deswillen  möglichst  alte  Herrscher  für  seine  Mach- 
werke wählt,  weil  deren  Urkunden  sich  der  Nachprüfung 
leichter  entziehen,  sondern  vor  allem  um  deswillen,  weil 
eine  Urkunde  um  so  kräftiger  und  vor  Entwertung  sicherer 
ist,  je  älter  sie  sich  gibt.  So  geht  der  Fälscher  bis  zu  Kon- 
stantin und  Cäsar  zurück. 

Wir  unterschieden  vorhin  der  praktischen  Deutlichkeit 
(nicht  um  irgendeines  begrifflichen  Grundes)  willen  zwischen 
Urkunden,  die  nur  Sonderrechte,  und  solchen,  die  auch  all- 
gemeines Recht  betreffen.  Diese  Unterscheidung  müssen 
wir  nun  wieder  zuschütten,  denn  sie  ist  gänzlich  unmittel- 
alterlich. Nicht  nur  unterscheidet  das  Mittelalter  nicht 
zwischen  objektivem  Recht  und  subjektivem  Recht. 3)  Nicht 
nur  ist  ihm  jeder  Stein  des  Rechtsgefüges,  des  objektiven 
Rechts  als  Gefüge  aller  subjektiven  Rechte,  nach  seiner 
edlen,  idealen  Grundauffassung  gleich  heilig  und  wert,  das 
Äckerlein  irgendeines  Hörigen  wie  der  Grenzstein  des  Reichs, 
die  Gefälle  eines  Burgmanns  wie  die  Gerichtsverfassung  des 
Volkes.  Sondern,  um  bei  unserer  Frage  zu  bleiben,  die 
„Privaten*'  (wie  wir  sagen  würden)  lassen  sich  mit  Vorliebe 

1)  Vgl.  Breßlau,  Urkundenlehre  P  (1912),  6451. 

2)  Lebhafte  Äußerungen  ebenda  651  f.  Auf  die  hiermit  ange- 
schnittene Frage  der  Beweiskraft  von  Privaturkunden  einzugehen, 
erlaubt  die  Allgemeinheit  unseres  Gedankenganges  nicht. 

3)  Siehe  S.  31. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  23 

gerade  auch  solche  Rechte  verbriefen,  die  einen  allgemeinen 
Charakter  an  sich  tragen,  die  wir  als  öffentlich-rechtliche 
bezeichnen  würden. i) 

Taucht  nun  eine  solche  Urkunde  auf,  echt  oder  gefälscht, 
welche  dem  tatsächlichen  öffentlich-rechtlichen  (wie  wir 
sagen  würden)  Zustand  des  Zeitalters  widerspricht,  in  wel- 
chem sie  auftaucht,  so  entsteht  die  schwierige  Frage:  kann 
man  sie  wegen  dieses  Widerspruchs  zu  offenkundig  tatsäch- 
lichen Zuständen  als  Fälschung  abtun?  Oder  kann  man  die 
Wiedereinführung  des  Zustandes  der  Urkunde  beschränken 
auf  den  Urkundenvorweiser  selbst,  ohne  die  allgemeinen 
Zustände  wieder  zurückzuschrauben?  Oder  müßte  man 
eigentlich  allgemein  zurückreformieren?  Hier,  bei  Gegen- 
ständen von  allgemeinerem  Belang,  entschieden  natürlich 
vielfach  Gesichtspunkte  der  Politik,  Macht  und  Opportunität 
darüber,  wie  man  sich  zu  der  Urkunde  stellte.  2)  Ich  erinnere 
nur  an  das  Privilegium  Majas  des  Herzogs  von  Österreich. 
Aber  der  allgemeine  Grundsatz,  von  dem  wir  ausgegangen 
sind,  daß  älteres  Recht  jüngeres  bricht,  wurde  dabei  niemals 
bestritten,  und  er  konnte  ja  auch  so  wenig  abgeleugnet 
werden  wie  der  Satz,  daß  das  Gute  gut  und  das  Schlechte 
schlecht  sei.^)    Hieraus  folgt  nun  ein  weiterer  Satz: 


1)  Vgl.  unten  S.  39  f. 

*)  Über  Kompromißversuche  zwischen  altem  und  neuem  Recht 
vgl.  unten  S.  41. 

3)  Ohne  auf  das  Kirchenrecht  näher  einzugehen,  sei  doch  so  viel 
bemerkt,  daß  es  durch  seine  Natur  den  allgemeinen  Grundsatz  be- 
stätigt, daß  altes  Recht  das  jüngere  bricht.  Vgl.  MSt.  1,  292,  272. 
Denn  das  allerälteste  Recht  ist  auch  das  gottnächste,  stärkste  Recht. 
Nach  der  Offenbarung  in  den  Evangelien  folgen  in  absteigender  Kraft 
die  weiteren  Rechtsquellen:  Apostel,  vier  alte  Konzilien,  jüngere  Kon- 
zilien, endlich  die  Dekretalen  usf.  In  c.  21,  C.  25  qu.  2  stellt  Gratian 
in  Erörterung  eines  Wortes  des  P.  Pelagius  I.  fest,  daß  der  Papst  ein 
von  einem  seiner  Vorgänger  erteiltes  Privileg  nur  pietatis  vel  necessi' 
tatis  intuitu  abändern  könne.  Im  übrigen  aber  wächst  gerade  aus 
den  Machtbefugnissen,  die  das  Kirchenrecht  dem  Papst  zuerteilt, 
auch  der  jüngere  Zustand  heraus,  daß  neues  Recht  altes  bricht.  Vgl. 
A.  Hofmeister  in  Festschrift  für  Dietrich  Schäfer  (1915)  119,  1. 

In  MSt.  1,  289ff.  und  H.  Z.  115,  507 f.  hatte  ich  mit  einigen  Worten 
auch  die  Rolle  des  Kirchenrechtes  gestreift,  ohne  aber  diese  schwierige 
Frage  auch  nur  im  entferntesten  lösen  zu  wollen.  Hier  möchte  ich  mich 


24  Fritz  Kern, 


5.  Rechtsneuerung   ist   Wiederherstellung  guten 
alten  Rechts. 

Sehen  wir  einen  Augenblick  auf  die  mittelalterliche 
Weltanschauung  als  Ganzes.  Sie  kennt  nicht  die  Denkform 
der  Entwicklung,  des  Wachsens  und  sich  selber  Emporbauens, 
sie  betrachtet  die  menschlichen  Vorgänge  nicht  biologisch 
(trotz  dem  aus  der  Antike  geerbten,  aber  rein  morphologisch 
erstarrten  Organismusvergleich  d.es  Gesellschaftskörpers).  Sie 
kennt  ein  ruhendes,  gradweis  abgestuftes^)  Sein.  Das  zeitlos 
Starre,  Apriorische  der  Ethik,  nicht  das  Werden,  sondern 
das  Soll  beherrscht  ihre  Anschauung  von  menschlichen 
Dingen.  Diese  Grundform  des  gebildeten  Denkens  im  Mittel- 
alter verbindet  sich  leicht  der  germanischen  volkstümlichen 
Gewohnheit,  das  Recht  als  alt  und  bleibend,  als  ruhend  und 
in  seiner  Ruhe  zu  schützend  anzunehmen.  Germanische  Volks- 
überlieferung und  kirchlich-ethische  Bildung  vereinigen  sich, 
um  einen  beharrenden,  rein  verteidigungshaften,  nicht  voran- 
treibenden, sondern  in  die  Unveränderlichkeit  des  Zeit- 
losen zurückgezogenen  Rechtsbegriff  zu  schaffen. 

Das  Leben  aber  schafft  auch  im  Mittelalter  täglich  Neues ; 
nur  muß  es  dies  Neuschaffen  vor  seinem  eigenen  theoreti- 
schen Gewissen  mit  dem  beharrenden  Rechtsbegriff  in  Ord- 
nung und  Gleichklang  bringen.  Änderung  und  Erneuerung 
des  Rechts  ist  möglich,  ja  geboten,  sobald  sie  Wiederher- 
stellung ist,  bzw.  als  solche  sich  gibt:  Kein  Umsturz,  keine 
Entwicklung,  aber  fortwährende  Enthüllung,  Klärung,  Rei- 


zurückhalten  in  der  Hoffnung  auf  Unterstützung  von  berufenerer 
Seite.  Das  mittelalterliche  Bewußtsein  unterscheidet  ja  das  Kirchenrecht, 
wie  auch  das  Lehnsrecht  usw.  lange  nicht  mit  so  bestimmter  Abgrenzung 
vom  allgemeinen  Recht,  wie  dies  die  spätere  Jurisprudenz  tut.  Der 
Rechtsbegriff  des  Mittelalters  ist  ein  viel  einheitlicherer  als  man  gewöhn- 
lich annimmt.  Anderseits  aber  sprengt  gerade  das  Kirchenrecht  ma- 
teriell den  mittelalterlichen  Rechtsbegriff  durch  seine  antiken  Bestand- 
teile, seinen  Offenbarungscharakter,  seine  Kirchenverfassung.  Diese 
Verwandtschaft  wie  diese  Gegensätzlichkeit  des  Kirchenrechts  zu  dem 
allgemeinen  mittelalterlichen  Rechtsbegriff  kann  nur  ein  Fachgelehrter 
zutreffend  darstellen.  Auch  die  Auffassung  bei  A.  J.  Carlyle,  Mediaeval 
political  theory  ist  noch  recht  lückenhaft. 
1)  Vgl.  oben  S.  12f. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  25 

nigung  des  wahren  guten  Rechts,  das  ewig  im  Kampf  liegt 
mit  Unrecht,  Trübung,  Mißverstand  und  Vergessen. i) 

Wenn  ein  Recht  zweifelhaft  geworden  ist,  so  sagen  die 
zum  Weistum  aufgeforderten  Weisen  nicht,  was  als  Recht 
gesetzt  werden  soll.  Sondern  sie  finden  in  ihrem  Wissen 
und  Gewissen,  was  rechtens  gewesen  ist  und  folglich  zu  recht 
besteht.  Sie  können  sich  darin  täuschen:  ihr  Rechtsbewußt- 
sein kann  tatsächlich  ein  Recht  finden,  das  noch  nie  bestan- 
den hat.  Ja,  sie  können  vielleicht  selbst  ein  Bewußtsein  davon 
haben,  daß  sie  eine  Neuerung  vollziehen.  Aber  sie  sagen  es 
nicht.  Sie  können  es  nicht  sagen,  daß  sie  neues  Recht  schaf- 
fen, so  wenig  wie  etwa  ein  moderner  Gesetzgeber  sagen 
darf,  daß  er  aus  selbstsüchtiger  Willkür,  Klassengeist  o.  dgl. 
Recht  setze.  Denn  wenn  auch  das  Mittelalter  in  Wirklich- 
keit jeden  Tag  neues  Recht  schafft,  so  darf  es  doch  unter 
dem  Zwang  seiner  Begriffswelt  nichts  anderes  dafür  aussagen, 
als  daß  das  vernünftige,  billige  Recht  auch  das  alte  ist.  Die 
„erste  Anwendung  eines  Rechtssatzes'*  bezeichnet  sich 
darum,  wie  wir  sahen,  im  Mittelalter  niemals  als  solche.^) 
Zwar  haben  mittelalterliche  Gesetzgeber  häufig  ausdrück- 
lich, um  mit  Saxo  Grammaticus  zu  reden,  „ruchlose  Gesetze 
abgeschafft  und  heilsame  gegeben".  Dann  ersetzten  sie 
aber  für  ihre  Anschauung  nicht  positives  Recht  durch  anderes 
positives,  sondern  sie  leiteten  die  Ströme  des  echten  Rechts 
wieder  zurück  in  das  zeitweilig  vom  Unrecht  versumpfte 
Bett.  Der  bezeichnende  Ausdruck  für  mittelalterliche 
Rechtsform  ist  legem  emendare,  das  Recht  von  seinen  Ver- 
unstaltungen befreien.  Man  stellt  Recht  und  Gesetz  wieder 
her,  wie  sie  in  den  guten  Tagen  König  Erichs  (in  Schweden), 
Eduards  des  Bekenners  (bei  den  Anglonormanen),  Karls 
des  Großen  (bei  Deutschen  und  Franzosen)  oder  sonst  eines 
mythischen  Gesetzgebers  gewesen  waren. 3) 

fi)  Weder  Evolution,  noch  Revolution,  sondern  Reformation. 
2)  Vgl.  oben  S.  5  f. 

3)  Indem  für  das  Reichsrecht  der  fromme  Kaiser  Justinian  diese 
Stellung  überkommt,  mündet  das  mittelalterliche  Recht,  zuerst  das 
(damit  neuerstehende)  Staatsrecht  in  das  römische  ein.  Hier  stößt  man 
auf  die  Erscheinung,  daß  das  Römische  Recht,  welches  zusammen  mit 
dem  Kirchenrecht  allmählich  den  mittelalterlichen  Rechtsbegriff 
sprengt,  doch  zunächst  unter  dessen  Schutz  und  Hülle,  sozusagen  naiv, 
rezipiert  wurde,  ja  überhaupt  nicht  anders  rezipiert  werden  konnte. 


26  Fritz  Kern, 

Häufiger  als  im  (wie  wir  es  nennen)  Privatrecht  gab  es 
freilich  in  den  öffentlichen  Angelegenheiten  Rechtsfälle, 
für  welche  der  Natur  der  Sache  nach  ältere  Rechte  weder 
angeführt  noch  vorausgesetzt  werden  konnten.  Aber  auch 
da  kommt  es  vor  dem  Zeitalter  der  Rezeption  kaum  vor, 
daß  die  Urteiler  offen  sagen,  sie  hätten  beim  Fehlen  vor- 
handener Rechtsregeln  nach  ihrem  arbitrium  entschieden. 
Eine  so  unmittelalterliche  Formel  weist  auf  das  Bestehen 
einer  gewissen  gelehrten  Jurisprudenz  hin.^)  Allerdings  gab 
es  gewisse  Fälle  einer,  auch  von  dem  mittelalterlichen  Rechts- 
begriff geduldeten  Rechtsneuschöpfung:  der  Herrscher  kann 
Privilegien  frei  erteilen,  wenn  dadurch  niemand  Unrecht 
geschieht.  Er  kann  z.  B.  von  dem  Seinigen  schenken,  so- 
weit dadurch  nicht  die  Gesamtheit  Schaden  erleidet.  Das 
(objektive)  Recht  wird  aufgefaßt  wie  ein  riesiger  Knäuel 
untereinander  verknüpfter  (subjektiver)  Berechtigungen. 
Keine  Berechtigung  darf  außer  durch  freien  Vertrag  oder 
Rechtsverwirkung  beseitigt  werden.  Aber  wo  Leerräume 
zwischen  den  Berechtigungen  liegen,  da  darf  der  freie  Wille 
eingreifen  und  neue  Fäden  knüpfen.  Diese  Selbstverständ- 
lichkeit durchbricht  aber  nicht  die  allgemeine  Regel,  daß 
wo  ein  Recht  streitig  ist,  der  gute  alte  Brauch  und  nicht  die 
setzende  Willkür  Lebender  maßgebend  sein  soll.  Mit  dem 
Grundgedanken  der  Wiederherstellung  des  guten  alten  Rechts 
gewann  im  allgemeinen  die  mittelalterliche  Gesellschaft 
schon  die  für  ihre  Bedürfnisse  genügende  Freiheit,  das  be- 
stehende Recht  nach  ihrem  jeweiligen  Rechtsgefühl  elastisch 
fortzubilden.  Man  reformierte,  indem  man  der  Theorie 
nach  zurückreformierte,  und  hatte  darin  freie  Hand,  soweit 
nur  eben  nicht  beurkundete  subjektive  Rechte  und  Privi- 
legien ein  Rührmichnichtan  wurden  und  starr  die  Entwick- 
lung des  objektiven  Rechts  hemmten. 2) 


1)  Vgl.  Brie  a.  a.  O.  263;  für  die  langobardische  Jurisprudenz 
264,  29. 

2)  Nur  mit  einem  Wort  sei  daran  erinnert,  wie  sehr  z.  B.  vom  Kir- 
chenrecht aus  der  Begriff  der  Reformatio  ecclesiae,  d.  h.  ihre  Reinigung 
und  Zurückbildung  auf  den  idealen  Urständ,  diese  Denkgepflogenheiten 
stützt,  ebenso  von  der  Philosophie  her  der  Gedanke  des  paradiesischen 
Naturrechts,  wovon  wir  ja  oben  S,4f.  ein  Beispiel  hatten. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  27 

6.  Rechtsanschauung  und  Rechtsleben 
in  ihrem  wechselseitigen  Verhältnis  haben  wir  schon  oben, 
z.  B.  in  dem  Abschnitt  über  das  alte  Recht,  welches  das 
jüngere  bricht,  beobachten  müssen.  Wir  dürfen  nicht  daran 
denken,  dies  überwältigend  große  und  schwierige  Gebiet  her 
wirklich  zu  durchmessen.  Nur  ein  paar  vorläufige  Wahr- 
nehmungen seien  noch  angefügt. 

Wäre  das  mittelalterliche  Volksrecht  auch  nur  in  einiger- 
maßen nennenswerter  Vollständigkeit  aufgeschrieben,  auf- 
bewahrt, nachgeschlagen  und  seine  Aufzeichnung  als  echt 
anerkannt  worden  i),  so  hätte  sich  nach  dem,  was  wir  gesehen 
haben,  der  freie  Fluß  der  gewohnheitlichen  Rechtsentwick- 
lung in  ein  starres  und  ultrareaktionäres  Beharren  verwandeln 
müssen.  Denn  die  Bestimmung  König  Pipins  für  Italien, 
einmal  urkundlich  erlassenes  Recht  dürfe  nicht  mehr  durch 
Gewohnheit  überwuchert  werden^),  gilt,  obwohl  sonst  nicht 
so  ausdrücklich  festgesetzt,  dennoch  theoretisch  für  alles 
aufgezeichnete  Volks-  oder  Königsrecht.  Freilich  wäre  das 
Gewohnheitsrecht  durchweg  aufgezeichnet  und  nach  dem 
aufgezeichneten  Buchstaben  beherzigt  worden,  dann  hätte 
es  sich  durch  die  vollkommene  Erstarrung,  die  ihm  gefolgt 
wäre,  selber  ad  absurdum  geführt:  oder  anders  ausgedrückt, 
das  Gewohnheitsrecht  hätte  dann  wie  Satzungsrecht  be- 
handelt, sich  in  solches  auch  begrifflich  verwandeln  müssen. 
Man  hätte  dann  notgedrungen  zu  dem  Rechtsbegriff  des 
kodifizierten  Rechts  übergehen  müssen,  das  durch  jüngeres 
kodifiziertes  Recht  aufgehoben  wird.  Für  diesen  Rechts- 
begriff lag  aber  kein  Bedürfnis  vor,  auch  dort  nicht,  wo  das 
Volksrecht  aufgezeichnet  wurde.  Denn  immer  weiß  das  auf- 
geschriebene mittelalterliche  Recht  sich  selbst  nur  als  Aus- 
schnitt aus  dem  allumfassenden  Meer  des  Gewohnheitsrechts, 
als  Bruchstück,  nicht  als  lückenlose  Kodifikation.  Die  Ge- 
setze, Kapitularien  usf.  weisen  regelmäßig  auf  das  unge- 
schriebene Gewohnheitsrecht  als  das  maßgeblich  zu  befol- 
gende hin.  Im  Notfall  aber,  wie  wir  sahen,  konnte  man 
immer  die  Gültigkeit,  d.  h.  Echtheit  des  aufgeschriebenen 

1)  Zu  letzterem  Punkte  vgl.  oben  S.  20. 

2)  Brie  a.  a.  O.  255ff.    Man  vergleiche  damit  den  entgegenge- 
setzten Grundsatz,  der  oben  S.  19  erwähnt  wurde. 


2S  Fntz  Kern, 

Rechts  anzweifeln,  ja  sogar  die  des  beurkundeten  Rechts  in 
sehr  vielen  Fällen;  denn  diese  Aufschriebe  und  auch  die 
Beurkundungen  waren  kein  unwegdeutbarer  Kodex,  son- 
dern blieben  bei  der  Art  ihrer  Aufzeichnung  und  Aufbe- 
wahrung den  mannigfachsten  Anfechtungen  ausgesetzt. 
Dies  alles  haben  wir  oben  schon  erörtert. 

Das  mittelalterliche  Recht  zeigt  theoretisch  absolute 
Beharrung,  praktisch  gemildert  durch  Vergeßlichkeit.  Man 
konnte,  wenn  ein  „altes''  Recht  wohlbezeugt  in  den  Gerichts- 
ring trat,  doch  fast  immer  annehmen,  daß  es,  falls  es  dem 
Rechtsgefühl  der  Urteiler  widersprach,  auch  irgendwie 
verfälscht,  erschlichen,  unzuverlässig  und  unvollkommen 
überliefert  sei.  Und  da  die  mittelalterliche  Rechtspraxis 
nicht  wie  das  heutige  Zivilrecht  seinen  Spruch  absichtlich 
mit  Beschränkung  auf  das  von  den  Parteien  beigebrachte 
Material  fällt,  sondern  das  wahre  gute  objektive  Recht  sucht, 
so  kann  durch  jenes  (dank  der  mittelalterlichen  Unordnung 
nur  zu  wohl  begründete)  Mißtrauen  gegen  alles  bezeugte 
alte  Recht,  soweit  es  dem  Rechtsgefühl  widerspricht,  das 
urteilbestimmende  Rechtsgefühl  doch  im  ganzen  beweglich 
bleiben.  So  wußte  sich  auch  im  Mittelalter  das  Leben  von 
der  Herrschaft  des  Buchstaben  zu  befreien  und  diesen  für 
tot  zu  erklären.  Das  blinde  Veto  des  aufgeschriebenen  Rechts 
gegenüber  dem  lebendigen  Fluß  des  nur  gedächtnismäßig 
überlieferten  Gewohnheitsrechts  taucht  immer  nur  verein- 
zelt auf,  wo  etwa  eine  vergessene  alte  Urkunde  hervorge- 
zogen wird,  der  man  nicht  zu  widersprechen  wagt;  dann 
allerdings  konnte  die  Entwicklung  des  Rechts  unter  Um- 
ständen rücksichtslos  auf  einen  früheren  Zustand  zurück- 
geschraubt werden,  da  ja  das  alte  Recht  das  jüngere  bricht. 

Wir  sondern  hier  wieder  aus  praktischen  Gründen 
(das  Mittelalter  sondert  theoretisch  nicht)  die  Fortbildung 
des  objektiven  Rechts  und  die  Behandlung  der  subjektiven 
Rechte.  Für  das  Gefundenwerden  (oder  Sichselberfinden)  des 
objektiven  Rechts  ist  die  bezeichnende  Form  des  Mittelalters 
das  abstrakte  Urteil  des  Weistums.  Es  wird  häufig  ohne 
eigentliche  geschichtlichen  oder  urkundlichen  Nachfor- 
schungen aus  dem  Gedächtnis  und  Rechtsgefühl  Rechts- 
erfahrener  und   Vertrauenswürdiger   geschöpft.     Es   bildet 


I 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  29 

leicht  das  Recht  unbewußt  oder  doch  unausgesprochen 
weiter,  insofern  die  Schöffen  tatsächHch  oft  mehr  nach  ihrer 
ratio  als  nach  einem  vielleicht  veralteten  oder  vergessenen 
Herkommen  urteilten.  Wo  das  Weistum  o.  dgl.  dagegen  auf- 
geschrieben wurde  und  unvergessen  blieb,  da  konnte  es  wohl 
das  Recht  starrer  binden,  länger  in  altertümlichem  Gang  er- 
halten, als  modernes  kodifiziertes  Recht.  Denn  zum  Unter- 
schied von  letzterem  konnte  es  niemals  und  durch  nichts 
förmlich  aufgehoben  werden.  Veraltetes  Satzungsrecht  wird 
ohne  Zögern  durch  neue  Satzung  ersetzt,  wenn  nur  wirklich 
der  Gesetzgeber  von  seiner  Veraltung  überzeugt  ist.  Das 
Mittelalter  hatte  diesen  Weg  nicht,  ererbtes,  überständiges 
Recht  los  zu  werden.    Es  kann  nicht  rufen: 

„Der  Wald  ist  alt,  man  muß  ihn  nächstens  fällen 
Und  neuen  pflanzen  an  die  alten  Stellen." 

Aber  es  hatte  dafür  den  glücklichen  Leichtsinn  in  der 
Bewahrung,  Überlieferung  und  Bewertung  aufgeschriebener 
Rechtssätze,  und  vermochte  ein  nicht  mehr  in  die  Zeit  pas- 
sendes Recht  für  die  Praxis  damit  häufig  unschädHch  zu 
machen. 

Rechtsneuerung  und  Rechtsbeharrung  können  beide 
nützlich  und  schädlich  sein;  auch  im  Mittelalter  gewahren 
wir  praktisch  den  ewigen  Kampf  beider  Grundstrebungen 
miteinander.  Dazu  aber  kommt  hier  hineinverflochten  ein 
zweites  Ringen,  um  das  wir  Heutigen  uns  unter  der  Herr- 
schaft des  wohlgepflegten  Satzungsrechtes  nicht  mehr  sorgen 
brauchen:  das  Ringen  um  die  Rechtsbeständigkeit,  um  die 
zusammenhängende  Überlieferung,  die  Kontinuität  des 
Rechts.  Je  mehr  der  Rechtskreis  hinauswächst  über  die 
Nachbar-  und  Dorfgemeinde,  desto  weniger  kann  man  sich 
eben  auf  das  bloße  Gedächtnis  verlassen.  In  Skandinavien 
(nur  dort)  bestand  der  Brauch,  das  Recht  in  gemessenen 
Zeiträumen  mündlich  vorzutragen,  damit  es  sich  fixiere. 
Ähnlichen  Dienst  leisteten  Aufzeichnungen  kundiger  Schöffen, 
Niederschriften,  die  in  Hand  und  Herz  zu  halten  den  Rechts- 
männern freilich  niemals  zur  Pflicht  hat  gemacht  werden 
können,  die  sich  aber  durch  Zuverlässigkeit  und  Reichhaltig- 
keit, ja  vergleichsweise  durch  eine  gewisse  Systematik  und 
Vollständigkeit    zum    Massengebrauch   empfahlen.     Es   ist 


30  Fritz  Kern, 

bekannt,  wie  die  Rechtsbücher  des  hohen  und  späteren  Mittel- 
alters einen  solchen  Dienst  erfüllten.  Auch  diese  privaten 
Aufzeichnungen  des  Gewohnheitsrechts  konnten  beim  Mangel 
eines  kodifizierten  Rechts  maßgebend,  gesetzbuchartig  und 
nicht  nur  rechtsbewahrend,  sondern,  den  Zeitgenossen  un- 
bewußt oder  doch  unausgesprochen,  auch  rechtsfortbildend 
wirken.  Dank  dem  Ansehen  ihrer  Verfasser  wurden  solche 
Rechtsbücher  als  getreue  Aufbewahrungsstätten  des  guten 
alten  Rechts  angesehen,  ebenso  wie  ja  auch  die  geschrie- 
benen Gesetze  der  Könige  und  Völker  begrifflich  nur  Bekräf- 
tigungen, nicht  Schöpfungen  des  Rechts  sind. 

Nun  ist  aber  die  Hauptsache  zu  bedenken.  Für  uns 
würde  ein  solches  Bemühen  um  Rechtsbeständigkeit  in  jedem 
Falle  etwas  schlechthin  Löbliches  und  Nützliches  bedeuten. 
Es  würde  dem  Streit  um  Rechtsneuerung  oder  Rechtsbe- 
harrung in  nichts  vorgreifen,  in  diesem  Streit  neutral  beiden 
Grundstrebungen  nur  den  zuverlässigen  Stoff  dessen,  was  ist, 
übermitteln,  ohne  darüber  zu  befinden,  was  nun  etwa  sein 
und  werden  soll.  Der  mittelalterliche  Rechtsgedanke  aber 
setzt  ja  das  Recht,  das  ist,  gleich  mit  dem  Recht,  das  sein 
soll.  Jedes  Bemühen  um  Rechtsbeständigkeit  ist  also  im 
Mittelalter  zugleich  schon  eine  Parteinahme  für  Rechts- 
beharrung^),  und,  wie  ja  nun  klar  ist,  würde  eine  lückenlose 
Rechtsbeständigkeit  auch  eine  vollkommene  Abriegelung 
gegen  Rechtsneuerung  bedeuten.  Darum  ist  jene  Lässigkeit 
der  Bewahrung,  die  immer  wieder  die  Anstrengungen  um  voll- 
kommene Rechtsbeständigkeit  gleichmütig  vernichtet,  auch 
ein  wohltätiges  Übel,  eine  notwendige  Luftschleuse  für  Rechts- 
fortbildung. Diese  Lässigkeit  geht  auch  ruhig  über  Ge- 
schriebenes hinweg;  Artikel  von  Rechtsbüchern  werden 
vergessen,  Gesetzesbestimmungen,  wie  die  aus  der  Lex 
Salica,  werden  verworfen,  Urkunden  für  unecht  oder  durch 
ausdrückliche  spätere  Urkunde  abgeschafft  erklärt,  wenn 
die  Entwicklung  sich  nicht  anders  Luft  zu  machen  weiß. 

Es  wäre  nun  mit  die  herrlichste  Aufgabe  mittelalter- 
licher Rechtsgeschichte,  das  Spiel  dieser  Gegensätze  in  der 


1)  Soweit  nicht  der  Rechtsaufzeichner,  wie  Eike,  vielfach  eigene, 
d.  h.  neue  Gedanken  als  geltendes  Gewohnheitsrecht  mitüberliefert. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  31 

Entwicklung  der  Rechtswirklichkeit  zu  beachten,  aufzu- 
zeigen, wie  der  beharrende  Rechtsgedanke,  die  biegsame 
Mündlichkeit  des  Gewohnheitsrechts,  die  Anläufe  zur  Rechts- 
fixierung und  die  unbehilfliche  Rechtstechnik  ineinander- 
wirken,  fördernd  oder  schädlich,  und  wie  aus  alledem  eine 
bestimmte  Reihe  mittelalterlicher  Eigentümlichkeiten  im 
konkreten  Recht  erwächst,  neben  den  anderen  Reihen  von 
Besonderheiten,  welche  aus  Wirtschaft,  Gesellschaft,  Sitte, 
Glauben  und  Politik  des  Mittelalters  zu  erklären  sind. 

So  viel  vom  objektiven  Recht.  Auf  dem  Gebiet  der  sub- 
jektiven Rechte  aber  drückt  sich  die  geschilderte  mittelalter- 
liche Zusammenknüpfung  von  Theorie  und  Praxis  zunächst 
aus  in  einer  hervorstechenden  Rechtsunsicherheit,  welche, 
trotz  vielen  Bequemlichkeiten  im  einzelnen,  doch  den  Über- 
gang zur  modernen  Rechtstheorie  als  einen  entscheidenden 
Fortschritt  empfinden  läßt. 

Nicht  als  ob  die  Rechte  der  ,, Privaten"  irgendwie  ge- 
ringeren Ranges  gewesen  wären,  verglichen  mit  der  öffent- 
lichen Rechtsordnung.  Im  Gegenteil,  die  Nichtunterschei- 
dung von  objektivem  und  subjektivem,  von  öffentlichem 
und  privatem  Recht^)  umkleidete  auch  den  geringsten  Rechts- 
anspruch eines  Einzelnen  mit  der  ganzen  Heiligkeit  der  unver- 
brüchlichen Gesamtrechtsordnung,  aus  der  kein  Steinchen 
losgebröckelt  werden  kann,  ohne  daß  das  Ganze  wanke. 
Die  ethische  Grundstimmung  des  Mittelalters  verschmäht 
politische  Wichtigkeitserwägungen  und  nimmt  Recht  und 
Unrecht  immer  gleich  ernst,  wie  groß  oder  klein  ihr  Gegen- 
stand. Also  die  Theorie  des  Rechts  mußte  die  subjektiven 
Rechte  sicherer  stellen  als  irgendeine  andere  Rechtstheorie, 
z.  B.  als  die  moderne,  in  der  öffentliches  Recht  das  private 
Recht  bricht. 2)  Aber  es  ist  hier  wie  so  oft  mit  dem  Mittel- 
alter: sein  idealer  Flug  scheitert  an  der  Unzulänglichkeit 
der  technischen  Zurüstungen.  Auch  die  theoretisch  so  felsen- 
feste Rechtssicherheit,  unerschütterlich  für  Groß  und  Klein, 
unterschiedslos  für  Staatsgewalt  oder  Private,  stellt  sich 
in  der  Praxis  beim  Mangel  an  Rechtsbeständigkeit  weit 
anders  dar. 

1)  Vgl.  oben  S.  22  und  unten  S.  39  f. 

*)  Das  nähere  hierüber  im  Abschnitt  von  der  Verfassung. 


32  Fritz  Kern, 

Auch  hier  wie  beim  objektiven  Recht  entscheidet  prak- 
tisch die  SpärHchkeit  und  Unsystematik  der  Aufzeichnung, 
der  Mangel  geordneter  und  vollständiger  Gesetzbücher, 
das  Fehlen  registrierter  Urkunden  und  Erlasse,  das  Nicht- 
vorhandensein gelehrter  Richter  und  Gesetzgeber,  die  un- 
gleichmäßige Kenntnis  und  zweifelnde  Benutzung  des  einmal 
aufgeschriebenen  Rechts  durch  die  Nachfahren.  Auch  hier 
steht  das  subjektive  Recht  am  festesten  im  räumlich  eng- 
begrenzten Nachbarkreis,  in  zeitlich  naheliegenden  Abstän- 
den der  rechtserheblichen  Ereignisse.  Schwieriger  wurde  die 
Bewahrung  subjektiver  Rechte  über  Raum  und  Zeit  hinweg. 
Nur  die  Interessenten  selbst,  die  Träger  subjektiver  Rechte, 
kümmerten  sich  innerhalb  ihres  engen  Gesichtsfeldes  um 
die  Rechtsbeständigkeit;  nur  sie  taten  etwas  dafür,  natürlich 
in  einseitiger,  die  Rechtssicherheit  mit  der  einen  Hand 
stützender,  mit  der  anderen  Hand  umbiegender  Parteilich- 
keit; nur  sie  legten  Archive  der  Urkundentitel  ihrer  sub- 
jektiven Rechte  an,  zu  deren  Nachprüfung  überparteiliche 
Archive  mit  öffentlichem  Geschäftskreis  meistenorts  man- 
gelten. Die  ausgleichende  Rechtsbewahrung  des  Staats 
wird  auch  vom  mittelalterlichen  Herrscher  mit  lauten  Tönen 
gefordert;  die  Scholastiker  preisen  die  justitia  distribativa 
des  Herrschers:  aber  praktisch  hatte  er  keine  Hilfsmittel  und 
Handhaben,  um  unparteiisch  und  genau  festzustellen,  was 
,, jedem  das  Seine''  sei.  Praktisch  war  er  auf  die  immer  der 
Parteilichkeit  verdächtige  justitia  commutativa  der  Privaten 
angewiesen.  Die  gebildetsten,  technisch  bestgerüsteten  Pri- 
vaten waren  stets  die  geistlichen  Anstalten,  die  Kirchen  und 
Klöster:  die  hatten  Archive,  Urkundenregister  usf.,  sie  haben 
für  das  dem  Zeitalter  höchsterreichbare  Maß  von  Rechts- 
sicherheit gesorgt.  Aber  sie  haben  zugleich  bei  der  Dürftig- 
keit der  Urkundenkritik,  der  technischen  Hilflosigkeit  der 
öffentlichen  Behörden  auch  erfundene  Rechte  am  häufigsten 
und  am  leichtesten  erschlichen,  indem  sie  z.  B.  Rechtsakte 
früherer  Herrscher  fälschten.  Die  Versuchung  der  Rechts- 
fälschung war  aber  nicht  nur  deshalb  so  groß,  weil  eine 
Nachprüfung  meist  ausgeschlossen,  dem  kühnen  Dieb  also 
der  Erfolg  so  gut  wie  sicher  war.  Wir  müssen  der  pia  fraus 
des  Mittelalters  eben  aus  der  mangelnden  Rechtsbeständig- 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  33 

keit  heraus  noch  einen  gewissen  Milderungsgrund  zuge- 
stehen. Ich  bin  überzeugt,  wenn  es  sich  auch  mangels  Fäl- 
scherkonfessionen des  Mittelalters  schwer  quellenmäßig  be- 
legen läßt,  daß  manch  ein  für  sein  Kloster  Urkunden  kompo- 
nierendes Mönchlein,  von  Fälscherheiligen  wie  Pseudo-Isidor 
ganz  abgesehen,  in  seinem  Maulwurfsbau  sich  den  Himmel 
verdient  hat.  War  es  denn  nicht  sozusagen  aus  Vernunft, 
Rechtsgefühl,  leisen  oder  lauten  Überlieferungen  usw.  klar 
und  einleuchtend,  daß  jener  Acker  nicht  dem  bösen  Vogt 
gehören  kann,  da  er  doch  so  geschnitten  ist,  daß  er  zu  dem 
anstoßenden  Klostergut  ursprünglich  gehört  haben  muß. 
Ist  nicht  klar,  daß  Konstantin,  als  er  nach  Neurom  ging, 
in  Altrom  den  Papst  zum  Erben  einsetzen  mußte?  Ist 
nicht  die  Kirchenverfassung  des  9.  Jahrhunderts  ein  uner- 
träglich verunstaltetes  Ding,  gegenüber  der  reineren  Form, 
wie  sie  in  der  alten  Kirche  bestanden  haben  muß?  Gewiß, 
über  all  das  fehlen  schriftliche  Belege,  das  hundertjährige 
Unrecht  hat  sich  breit  gemacht  und  kann  von  dem  älteren 
und  unveraltenden  Recht  erfolgreich  nur  noch  angegriffen 
und  vertrieben  werden,  wenn  dies  alte,  wahre  Recht  Zeug- 
nisse für  sich  ins  Feld  führen  kann.  Ist  es  aber  nun  nicht  der 
reine  Zufall,  ob  solche  Zeugnisse  noch  da  sind  oder  nicht? 
Können  sie  nicht  beim  Normannenbrand  vor  hundert  Jahren 
zugrunde  gegangen  sein?  Kann  nicht  Leichtsinn  irgend- 
eines Vorfahren  ihre  Ausstellung  oder  ihre  Aufbewahrung 
vernachlässigt  haben?  Kann  nicht  schließlich  ein 
älterer,  vom  Glück  begünstigter  Fälscher  der  Ge- 
genpartei durch  sein  Werk  das  Recht  verdrängt 
und  das  Unrecht  triumphierend  gemacht  haben? 
So  hilft  man  nun  der  Wahrheit  und  dem  Recht  durch  eine 
neue  Fälschung  zum  Sieg.  Man  korrigiert  den  Zufall  der 
Rechtsüberlieferung,  schafft  wahre  Rechtsbeständigkeit;  in- 
dem man  die  Zeugnisse  herstellt,  stellt  man  das  Recht  selbst 
wieder  her.  So  arbeiten  in  verborgener  Minierarbeit  und  doch 
mit  beiderseits  bestem  Gewissen  zwei  Heere  geschickter 
Fälscherparteien  gegeneinander,  sie  flicken  die  Löcher  der 
Überlieferung  in  der  allein  rechtswirksamen  Weise.  Sie 
reden  nicht  über  ihr  Tun  und  doch  ist  ihr  Gewissen  gut, 
wie  dasjenige  der  Northcliffe-Agenten,  wenn  sie  zum  Nutzen 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  3 


94  Fritz  Kern, 

ihres  Volkes  unterirdische  Bestechungsgänge  in  die  öffent- 
liehe  Meinung  graben:  beidemal  der  Natur  der  Sache  nach 
geheime,  aber  beidemal  auch  selbstverständliche  und  be- 
rechtigte Tätigkeiten.  Wenn  Pseudo-Isidor  das  Kirchenrecht 
wieder  herstellte,  wie  es  hat  sein  müssen,  und  wenn  jener 
Acker  für  das  Kloster  zurückbewiesen  war,  dann  durfte  sich 
der  geschickte  Urkundenstratege  freuen  als  über  einen  un- 
blutigen, wahrhaft  rechtlichen  Sieg,  und  man  darf  vermuten, 
daß  ihm  die  Absolution  nicht  schwer  gemacht  worden  ist. 
Die  Rechtsunbeständigkeit  des  Mittelalters  war  ein  zu  be- 
quemer und  verführerischer  Antrieb  zum  Fälschen. 

Soviel  über  die  zu  vermutende  Seelenkunde  der  mittel- 
alteriichen  Fälscher,  die  man  ohne  anschauliche  Kenntnis 
des  mittelalterlichen  Rechtsbegriffs  nicht  verstehen  kann. 
Die  ganze  vorstehende  Abhandlung  dient  in  gewisser  Weise 
zurErklärung  der  massenhaften  Fälscherei ;  als  advocatus  dia- 
boli  beweist  sie,  weshalb  das  Wasser,  mit  dem  die  Kirche 
kochte,  nicht  immer  rein  sein  konnte.  Damit  soll  natür- 
lich nicht  geleugnet  werden,  daß  auch  das  Mittelalter  selbst 
dies  Mittel  als  ein  fragwürdiges  und  bedenkliches  emp- 
fand. Nur  wo  der  Zweck  ein  guter,  ja  heiliger,  auch  über- 
persönlicher war,  wo  ein  verbreitetes  Rechtsgefühl  Zustände 
als  einst  wirklich  vorhandene  so  annahm,  wie  man  sie  dann 
fälschenderweise  wieder  in  die  Welt  setzte,  nur  dort  konnte 
die  Selbstrechtfertigung  im  obigen  Sinne  wirken. 

Neben  den  Fälschungen  sind  es  besonders  die  massen- 
haften Urkundenbestätigungen  des  Mittelalters,  deren 
Hypertrophie  eine  gewisse  Störung  des  Rechtskreislaufs 
verrät. 

Man  sucht  die  Sitte  der  Bestätigungen  daraus  zu  er- 
klären, daß  das  Mittelalter  im  allgemeinen  keine  überper- 
sönliche Staatsgewalt  gekannt  und  deshalb  auf  die  persön- 
liche Bindung  jedes  neuen  Herrschers  so  großes  Gewicht  ge- 
legt habe.i)  Wir  werden  aber  im  Abschnitt  über  die  Ver- 
fassung sehen,  daß  der  jeweilige  Herrscher  zwar  nicht  im 
Namen  einer  überpersönlichen  Staatsgewalt,  wohl  aber  im 

^)  So  z.  B.  A.  Hofmeister  in  der  Festschrift  für  D.  Schäfer,  Jena 
1915,  S.  79f.  Vgl.  auch  S.  74,  1.  So  wie  Hofmeister  die  Bestäti- 
gungssitte darstellt,  ist  die  Erklärung  nicht  falsch,  nur  unvollständig. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  35 

Namen  der  Rechtsgemeinschaft  und  des  überpersönlichen, 
unvergänglichen  Rechtes  urkundet.  Aus  allgemeinen  Ver- 
fassungsanschauungen ist  darum  die  Bestätigungssitte  nicht 
ohne  weiteres  ableitbar;  wir  müssen  zu  ihrer  Erklärung 
mehr  ins  Praktische,  einfach  Technische  des  mittelalterlichen 
Rechtsganges  hinabsteigen. 

Jeder  Herrscher  war  an  sich,  der  Verfassung  nach, 
an  seine  eigenen  früheren  Herrscherhandlungen,  sowie  an  die 
rechtmäßigen  Regierungsakte  aller  seiner  Vorgänger  gebun- 
den. Hätte  der  mittelalterliche  Staat  ein  gutes  behördliches 
Urkundenregister  gehabt,  mit  Löschung  der  getilgten  und 
immerwährender  Schauhaltung  aller  noch  gültigen  Urkun- 
den, dann  hätte  das  Mittelalter  nicht  eine  einzige  Bestätigung 
gebraucht.  Diese  sind  einfach  technische  Behelfe  für  Rechts- 
beständigkeit, Vorsichts-,  wenn  man  will,  Angsterzeugnisse, 
gegen  die  Rechtsunsicherheit.  Wenn  man  ein  verbrieftes 
subjektives  Recht  besaß,  so  lebte  man  immer  in  der  Erwar- 
tung, daß  der  Gegeninteressent  plötzlich  mit  einem  das 
Gegenteil  bekundenden  Herrscherdiplom  anrückte.  Zwar 
war  die  ältere  Urkunde  besser,  wenn  nicht  die  jüngere  Ur- 
kunde ausdrückUch  die  ältere  ausnahm.  Aber  wie  leicht- 
fertig wurde  doch  oft  in  mittelalterlichen  Herrscherkanzleien 
nach  Gunst  oder  in  flüchtiger  Kenntnis  der  Sachlage  entschie- 
den^):   Die  Rechtsprechung  war  materiell  mangelhaft,  die 

^)  Eine  kontradiktorische  Verhandlung  bei  der  Bestätigung 
alter  Urkunden  war  nicht  vorgeschrieben,  sondern  nur  freigestellt. 
Die  päpstliche  Kanzlei  marschiert  hier  an  der  Spitze  der  Sorgfalt 
und  vergleichsweisen  Rechtssicherheit,  wie  auch  in  der  Pflege  der  Re- 
gister. Absolute  Rechtsbeständigkeit  darf  man  aber  auch  bei  ihr  noch 
nicht  voraussetzen.  Vgl.  Breßlau,  Urkundenlehre  2,  P,  30 f.  Der  höhere 
Kredit  und  Kursstand  päpstlicher  Privilegien  infolge  dieser  vergleichs- 
weise besseren  Ordnung  in  der  Kanzlei  ist  ein  Bestandteil  der  Über- 
legenheit päpstlicher  Politik.  Bei  strittigen  Fällen  fand  allerdings 
die  Urkundenbestätigung  auch  im  weltlichen  Staat  wohl  durch  ein 
ordentliches  Gerichtsverfahren  statt.  Breßlau  a.  a.  O.  74f.  Aber  ab- 
gesehen davon,  daß  dies  keine  Regel  war,  krankte  auch  das  Gerichts- 
verfahren an  demselben  entscheidenden  Mangel  einer  absoluten  öffent- 
lichen Evidenzhaltung  der  mit  publica  fides  ausgestellten  alten  Ur- 
kunden. Eine  besonders  starke  Gefährdung  der  Parteigegner  durch 
Urkundenbestätigungen  mußte  dort  eintreten,  wo  (Breßlau  ebenda) 
dem  Empfänger  der  Bestätigung  noch  außerdem  ein  besonderer  Akt 
erneuerter  Besitzeinweisung  zuteil  wurde. 

3* 


36  Fritz  Kern, 

Urkundenausfertigung  ein  Teil  dieser  mangelhaften  Recht- 
sprechung; bei  aller  Erhabenheit  des  Rechtsbegriffs  war 
die  Technik  schwach.  Man  mußte  also  jeden  Augenblick 
gewärtigen,  daß  die  gute  alte  Herrscherurkunde,  die  man 
für  sein  subjektives  Recht  besaß,  vom  Gegeninteressenten 
durch  eine  neuerdings  gut-  oder  schlechtgläubig  erschlichene, 
formell  einwandsfreie,  vielleicht  sogar  die  ausdrückliche 
Widerrufung  jener  eigenen  Urkunde  enthaltende  Herrscher- 
verbriefung  überrannt  wurde.  Wer  bürgte  dafür,  daß  nicht 
in  jedem  Augenblick  die  Gegenpartei  ein  altes  Diplom  „fand", 
welches  dann  der  augenblicklich  regierende  Herrscher  gut- 
gläubig vidimierte?^)  Kurz,  in  diesem  Dorngestrüpp  mög- 
licher Gefährde  im  Rechtswirrwarr  des  Mittelalters  gab  es 
nur  ein  verhältnismäßig  sicheres  Auskunftsmittel:  man 
beeilte  sich  von  dem  neuen  Herrscher  eine  Bestätigung  der 
eigenen  subjektiven  Rechte  zu  erwirken.  Dann  war  man  für 
dessen  Lebenszeit  gegen  unerwünschte  Zwischenfälle  verhält- 
nismäßig gesichert.  Er  hatte  sich  persönlich  gebunden,  und 
würde  diese  Bindung  nicht  so  leicht  widerrufen  können.  Ge- 
sichert hatte  man  sich  nicht  gegen  eine  (der  Verfassung  wider- 
sprechende) materielle  Willkür  des  Herrschers,  Akte  seiner 
Vorgänger  nach  Belieben  zu  widerrufen;  aber  gegen  sein 
praktisches  Unvermögen,  den  wirklichen  Stand  des  Rechts, 
den  zu  schützen  er  berufen  und  verpflichtet  war,  überall 
einwandfrei  zu  erkennen;  gesichert  hatte  man  sich  gegen 
den  so  leicht  zu  befürchtenden  Hereinfall  des  Herrschers 
auf  ihm  vorgetragene,  von  ihm  nicht  wirklich  nachprüfbare 
Beweismittel  der  Gegenpartei.  Auch  war  es  wertvoll,  neben 
alten  Urkunden,  welche  das  ehrwürdige  Alter  und  damit 
die  steigende  Güte  des  betreffenden  Rechtes  verbürgten, 
auch  junge  Urkunden  für  dasselbe  Recht  zu  besitzen. 
Gegen  alte   Urkunden  hatte  nämlich   die   Bestätigungsbe- 


1)  Es  war  wieder  der  päpstlichen  Kanzlei  vorbehalten,  in  Fällen, 
denen  sie  selbst  nicht  traute,  ihrem  Vidimus  die  dispositive  Rechts- 
kraft vorzuenthalten  (Breßlau  a.  a.  O.  31,  2),  ein  bezeichnendes  Über- 
gangsverfahren zur  „Sanierung"  der  bereits  als  überlebt  empfundenen 
mittelalterlichen  Sitte,  solche  nur  beim  Empfänger  überlieferte  Ur- 
kunden zu  bestätigen,  einer  Sitte  von  der  man  sich  ganz  noch  nicht 
lossagen  kann,  da  die  behördlichen  Register  nicht  genügen. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  37 

hörde  ein  berechtigtes  Mißtrauen,  weil  die  Prüfung  ihrer 
Echtheit  so  viel  schwieriger  war  (Breßlau  a.  a.  0.  30),  und 
vielleicht  noch  mehr,  weil  die  Rechtsverhältnisse  jener  alten 
Zeit  doch  gar  zu  vielen  Verschiebungen  in  der  Zwischenzeit 
ausgesetzt  sein  konnten,  die  eine  einfache  Bestätigung  be- 
denklich machten,  wenn  die  Kanzlei  es  genau  nahm.i)  Die 
Parteien  hatten  also  allen  Anlaß,  die  Kette  der  Bestätigungs- 
urkunden durch  alle  Herrscher  hindurch  nicht  abreißen  zu 
lassen.  Man  ließ  gern  einen  Herrscher  seine  eigenen  Ur- 
kunden selber  nochmals  bestätigen,  z.  B.  den  deutschen 
König,  nachdem  er  Kaiser  geworden  war,  nicht  etwa  deshalb, 
weil  er  mit  der  Kaiserkrönung  eine  neue  staatsrechtliche 
Persönlichkeit  an-  und  die  alte  ausgezogen  hätte  und  für 
seine  früheren  Herrscherhandlungen  nicht  mehr  aufkommen 
brauchte;  sondern  einfach  deshalb,  weil  die  Staatskanzlei 
oft  in  der  größten  Hilflosigkeit  war,  festzustellen,  ob  eine 
bestimmte  Urkunde  wirklich  von  ihr  ausgegangen  sei  oder 
nicht,  selbst  wenn  es  sich  dabei  um  den  noch  lebenden 
Herrscher  handelt e^);  und  so  konnte  es  unter  Umstän- 
den peinlich  sein,  wenn  man  nur  eine  Urkunde  des  Königs 
Heinrich  im  Schreine  hatte,  während  die  Gegenpartei  eine 
solche  des  Kaisers  Heinrich  aufwies.  Doppelt  genäht  hielt 
besser. 

So  erklärt  sich  die  Sitte  der  Bestätigungen  aus  dem  unge- 
heuren prozessualischen  Wert  der  Herrscherurkunde, 
innerhalb  der  fließenden  Nebel  mündlichen  Gewohnheits- 
rechts sozusagen  des  einzigen  festen  Pfeilers  der  Rechtsüber- 
lief erung^),  in  Verbindung  mit  dem  technisch  hilflosen 
Zustand  der  Aufbewahrung  dieser  Hauptbeweismittel  nur 
bei  den  Parteien.  Die  Kanzleigebühr,  die  man  für  die  immer 
wiederholten   Bestätigungen   erlegte,  waren   Versicherungs- 


^)  Bez.  des  Auskunftsmittels  der  Kanzlei,  in  bedenklichen  Fällen 
ir  zu  transsumieren,  nicht  eine  neue  dispositive  Urkunde  auszufer- 
tigen, vgl.  oben  S.  36  Anm.  1. 

2)  Anschaulich  bei  Breßlau,  Urkundenlehre  P  (1912),  644,  5. 

^)  Für  die  riesige,  Urkundenfälscher  geradezu  privilegierende 
prozessuale  Vorzugsstellung  des  Urkundenbesitzers  vgl.  die  ungelenk 
frühmittelalterliche  Bestimmung  der  Lex  Ribuaria  60,  6,  die  den  eine 
Königsurkunde  erfolglos  Anfechtenden  mit  dem  Leben  bestraft.  Breßlau 
a.  a.  0.  643f. 


38  Fritz  Kern, 

Prämien  nicht  gegen  eine  staatsrechtliche  Gefährdung  der 
eigenen  Privatrechte  (eine  solche  Gefährdung  etwa  durch 
Herrscherwechsel  bestand,  wie  bemerkt,  verfassungsrecht- 
lich nicht),  wohl  aber  gegen  eine  rechtstechnische  Ge- 
fährdung; nicht  gegen  rechtlichen  Absolutismus  des  Herr- 
schers gegenüber  früheren  Regierungshandlungen,  sondern 
gegen  die  Anarchie  seiner  Kanzlei. 

Wie  die  Herrscher  selbst,  und  zwar  in  großen  staats- 
rechtlichen Fragen,  unter  dem  technischen  Unvermögen, 
die  Rechtsbeständigkeit  zu  sichern,  und  den  daraus  folgenden 
schwankenden  Zuständen  litten,  davon  wäre  an  anderem 
Ort  zu  erzählen.  Diese  Rechtsunbeständigkeit  ist  strecken- 
weise so  groß,  daß  man  zuweilen  gemeint  hat,  dem  mittel- 
alterlichen öffentlichen  Leben  den  Rechtscharakter  über- 
haupt absprechen  und  darin  nur  ein  Chaos  der  Machtkämpfe 
sehen  zu  dürfen:  in  diesem  mittelalterlichen  Leben,  dessen 
eigene  Anschauungswelt  nicht  nur  das  Recht,  sondern 
sogar  die  Politik  so  ehern  in  dem  ewigen  Grund  der  Moral 
zu  verankern  strebt,  wie  kein  Zeitalter  vor  oder  nach  ihm! 
Das  praktisch  Entscheidende  ist  auch  hier  das  technische 
Unvermögen,  die  Idee  in  die  Wirklichkeit  überzuführen, 
weshalb  eben  die  Neuzeit,  trotzdem  sie  dem  Recht  nicht  mehr 
solche  theoretische  Heiligkeit  zuspricht,  in  all  ihrer  Nüch- 
ternheit doch  dem  Recht  eine  viel  größere  praktische  Er- 
habenheit durch  wirksamere  Beständigkeit  zu  sichern  wußte.^) 
Wenn  ein  Barbarossa  vom  Papst  zu  Stallknechtsdiensten 
aufgefordert  wird,  gewiß  eine  Frage  hohen  Belanges  für  das 
Verhältnis  von  Papst-  und  Kaisertum,  welche  Hilfsmittel 
hat  er,  um  die  Berechtigung  dieses  Verlangens  nachzuprüfen 
bzw.  im  Fürstengericht  nachprüfen  zu  lassen?  Die  zufällige 
mündliche  Überlieferung,  das  Gedächtnis  seiner  Romzugs- 
gesellen an  frühere  Kaiserfahrten,  und  zweitens  Urkunden, 


1)  Hier  wären  Fragen  zu  erörtern,  wie  die,  warum  einschneidende 
Gesetze  und  Verträge  des  mittelalterlichen  Lebens,  wie  das  Wormser 
Konkordat  oder  die  Goldene  Bulle,  so  wenig  befolgt  worden  sind; 
weshalb  bei  derlei  Vorkommnissen  immer  nur  die  Interessenten  auf 
Befolgung  und  Erinnerung  dringen,  aber  die  Gegeninteressenten  keinem 
allgemeinen  Zwang  dazu  unterliegen  usf.  Doch  wird  dies  besser  einer 
Studie  über  mittelalterliche  Politik  vorbehalten. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  39 

die  der  Papst,  also  der  Gegeninteressent,  ihm  vorwies.^) 
Begreiflich,  daß  der  Fürst  sich  sträubte  und  gegen  die  Zu- 
verlässigkeit dieses  „Rechtes"  auch  dann  noch  sich  innerlich 
gesträubt  haben  mag^),  wenn  er  aus  politischen  Gründen 
sich  ihm  unterwarf. 

Den  Schaden,  den  in  diesem  Falle  ein  Herrscher  in  seinen 
subjektiven  Rechten  erlitt,  weil  er  den  Urkunden  der  Gegen- 
partei keine  Urkunden  entgegenzustellen  hatte,  erlitten 
Untertanen  noch  viel  leichter. 

Je  umsichtiger  darum  ein  mittelalterlicher  Rechts- 
träger war,  desto  mehr  hielt  er  nicht  nur  auf  Bestätigungen, 
sondern  überhaupt  auf  einen  möglichst  vollständigen  Ur- 
kundenschatz. Man  ließ  sich  vorsichtshalber  mögHchst 
alle  seine  Rechte  verbriefen,  nicht  nur  singulare,  sondern 
auch  generelle  und  solche,  die  wir  als  von  öffentlichrecht- 
licher Natur  bezeichnen.  Ich  führe  hier  die  trefflichen  Worte 
Steinackers  an,  die  an  wenig  zugänglichem  Orte  gedruckt 
sind^):  „Die  Fähigkeit  des  römischen  oder  modernen  Gesetzes, 
dem  Einzelnen  das  subjektive  Recht,  das  ihm  nach  der  ob- 
jektiven Rechtsanordnung  zustand,  auch  unmittelbar  zu 
sichern  und  zu  verschaffen,  fehlt  dem  Recht  der  ständischen 
Zeit;  und  eben  darum  richtete  sich  damals  die  Aufzeichnung 
des  Rechtes  so  selten  auf  das  objektive  Recht  und  schon 
gar  nicht  auf  eine  vollständige  und  systematische  Kodifi- 
zierung des  objektiven  Rechts,  sondern  zumeist  auf  die 
Festlegung  der  subjektiven  Rechte  der  einzelnen  Personen. 
Mit  anderen  Worten:  sie  nimmt  überwiegend  die  Form  des 
,, Privilegs"   an.     Der   Einzelne   läßt  sich   sein   subjektives 


1)  MSt.  1,  470.  Wiesen  beide  Parteien  Urkunden  vor,  konnte  der 
politische  Streit  sich  entscheidungslos  fortsetzen  (Arnold  von  Lübeck 
zu  1184). 

2)  Für  das  Mißtrauen  gegen  Urkunden  vgl.  oben  S.  22. 

3)  H.  Steinacker,  Über  die  Entstehung  der  beiden  Fassungen 
des  österreichischen  Landrechtes,  Jahrbuch  des  Vereins  für  Landes- 
kunde von  Niederösterreich  1916/17,  Wien  1917,  S.  261.  Die  Ab- 
handlung, deren  konkretes  Ergebnis  ich  im  übrigen  zu  beurteilen  nicht 
in  der  Lage  bin,  stützt  sich  für  die  allgemeinen  Erwägungen  z.  T.  auf 
meine  Ausführungen  in  H.  Z.  115  und  bestrebt  sich,  meine  grundsätz- 
liche Auffassung  methodisch  bei  der  Lösung  eines  Einzelproblems 
2u  verwerten.    Vgl.  S.  241  ff.,  261  f. 


40  Fritz  Kern, 

Recht  unmittelbar  von  den  Trägern  der  öffentlichen  Gewalt 
urkundlich  verbürgen,  und  zwar  nicht  nur  Vorrechte, 
die  andere  Standes-  und  Rechtsgenossen  nicht  besitzen, 
die  also  Ausnahmen  von  der  allgemeinen  Rechtsordnung, 
„Privilegien"  im  eigentlichen  Sinn  des  Wortes  bilden,  son- 
dern auch  Berechtigungen,  die  er  auch  ohne  ausdrückliche 
Privilegierung  und  Beurkundung  beanspruchen  durfte,  weil 
sie,  wie  die  Urkunden  selbst  oft  unmittelbar  sagen,  gewohn- 
heitsmäßig kraft  allgemeingültiger  Rechtsanschauungen  allen 
Mitgliedern  eines  bestimmten  Kreises,  etwa  allen  Grund- 
herren, allen  Bürgern  usw.,  zustehen.  Und  solche  Urkunden 
erwirbt  der  Einzelne  für  sich  ganz  ohne  Rücksicht  darauf, 
ob  und  wie  der  betreffende  allgemeine  Grundsatz,  kraft 
dessen  unter  vielen  anderen  auch  ihm  jene  Berechtigung 
zustehen  würde,  als  solcher  aufgezeichnet  war.  In  der  Tat, 
diese  Form  des  Privilegs,  die  Beurkundung  der  subjektiven 
Rechte  einer  bestimmten  Person,  boten  dieser  verhältnis- 
mäßig noch  am  meisten  Sicherheit.  Denn  die  mittelalter- 
lichen Aufzeichnungen  der  objektiven  Rechtsordnung  wur- 
den immer  wieder  von  gewohnheitsrechtlichen  Bildungen 
überwuchert,  zersetzt,  ausgeschaltet.** 

Wieweit  wir  in  kleinen  Einzelheiten  den  Ausdruck  anders 
schattieren  würden  als  Steinacker,  geht  aus  den  früheren 
Darlegungen  hervor.  In  allem  Wesentlichen  aber  geben  diese 
Ausführungen  Steinackers  den  Grund  und  die  Eigenart 
mittelalterlicher  Privilegienjagd  unübertrefflich  an. 

Es  konnte  also  vorkommen,  daß  ein  Einzelner,  der  sich 
ein  generelles  Recht  seines  Standes  verbriefen  läßt,  nach 
Ablauf  einer  Zeit,  während  welcher  jenes  Recht  als  generelles 
verschwand  und  neuen  gewohnheitsrechtlichen  Zuständen 
Platz  machte,  nunmehr  kraft  der  Urkunde  dieses  Recht 
als  singuläres  Privileg  trotzdem  weitergenoß. 

Es  wäre  nun  noch  der  Übergang  von  der  mittelalter- 
lichen zur  modernen  Rechtsanschauung,  vom  Gewohn- 
heits-  zum  Satzungsrecht  darzustellen,  doch  müssen  wir 
dies  berufenerer  Hand  überlassen  und  wagen  nur  vorläufige 
Bemerkungen. 

Einen  besonders  großen  Anteil  an  der  Entstehung  des 
modernen  Rechtsbegriffs  möchtenVir  der  oben  dargestellten 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  41 

und  auch  von  den  Zeitgenossen  empfundenen  technischen 
Unvollkommenheit  der  mittelalterlichen  Rechtspraxis  zu- 
sprechen. Aus  der  Praxis  heraus  mußte  z.  B.  auch  das  Be- 
wußtsein aufsteigen,  daß  neues  Recht  altes  breche.^) 
Schon  das  ribuarische  Gesetz  (60,  7)  sucht  einen  naiven  Ver- 
legenheitsausgleich zwischen  dem  Grundsatz  vom  guten  alten 
Recht  und  dem  Rechte  „das  mit  uns  geboren":  beim  Zu- 
sammenstoß zweier  Königsurkunden  solle  der  umstrittene 
Gegenstand  geteilt  werden,  und  zwar  so,  daß  der  Besitzer 
der  älteren  2/3,  der  der  jüngeren  Urkunde  V3  des  Streitgegen- 
standes erhalte.  Tatsächlich  bricht  ja  auch  im  Mittelalter 
fortwährend  junges  Recht  das  alte,  nur  daß  dies  nicht  aus- 
gesprochen und  begrifflich  klar  werden  kann.  Erst  im 
Satzungsrecht  gilt  dann  grundsätzlich  die  jüngste  Satzung, 
wie  beim  Gewohnheitsrecht  das  älteste  Herkommen.  Da- 
mit aber  der  Grundsatz  vom  kräftigeren  neuen  Recht  durch- 
dringen könne,  muß  erst  das  Satzungsrecht  mit  dem  Anspruch 
der  Ganzheit  (Totalität)  auftreten,  dergestalt,  daß  es  für 
den  Kreis  der  betreffenden  Satzung  oder  Kodifikation  alles 
ältere  Recht  lösche  oder  zudecke. 

Ein  Übergang  vom  grundsätzlichen  Gewohnheitsrecht 
zum  grundsätzlichen  Satzungsrecht  vollzog  sich  jedenfalls 
durch  das  gelehrte  Recht.  Das  Römische  Recht  spielt  dabei 
seine  Rolle.  Es  wird  vom  Gewohnheitsrecht  arglos  wie  ein 
Stück  seiner  selbst  aufgenommen,  und  sprengt  dann  als 
treibender  Kern  die  immer  schwächer  werdende  Schale  des 
Gewohnheitsrechts. 2)  Das  Corpus  Juris  ist  eine  Sammlung 
von  Bruchstücken,  keine  Ganzheit  von  Satzungen.  Aber 
als  totes  Recht,  nicht  lebendes  Herkommen,  zwingt  es  zu 
systematischer  Durchdringung  und  zur  Findung  von  Grund- 
sätzen. Diese  Grundsätze  bzw.  die  wissenschaftliche  Opera- 
tion, die  zu  ihnen  führt,  macht  das  System  des  Römischen 
Rechts  zu  einer  Ganzheit,  und  gibt  der  Jurisprudenz  ihre 
Natur  als  Auslegekunst  einer  allumfassenden  Satzung.  Wie 
aber  das  Pandektenrecht  eine  Ganzheit  für  das  bürgerliche 
Recht  wird,  so  vollzieht  die  Wissenschaft,  und  auf  ihren 
Spuren  auch  die   Kodifikation,  dieselbe  Totalisierung  der 

1)  Vgl.  auch  oben  8.24  f. 
*)  Vgl.  oben  S.  25  Anm.  3. 


42  Fritz  Kern, 

Bruchstücke  auch  für  Strafrecht,  Prozeßrecht,  Staatsrecht  usf. 
Ist  diese  moderne  Ganzheit  des  gesetzten  Rechts  nicht  minder 
eine  Fiktion,  wie  die  mittelalterliche  Anschauung  vom  Recht, 
so  hat  sie  doch  entscheidende  technische  Vorzüge  und  ist 
bei  der  heutigen  Größe  der  Rechtsgemeinschaften  schlechter- 
dings unentbehrlich;  das  Gewohnheitsrecht  paßt  nur  für 
Nachbarrecht.  Die  technischen  Fortschritte  aber,  nicht  die 
ideellen,  sind  es,  die  den  modernen  Rechtsbegriff  über  den 
mittelalterlichen  stellen.  Jedenfalls  können  wir  geschicht- 
lich diese  fortwährende  Überführung  von  örtlich  begrenztem 
und  bruchstückhaftem  Gewohnheitsrecht  in  allumfassendes 
Satzungsrecht  beobachten.  Das  Recht  wird  dabei  zugleich 
flüssiger  und  bestimmter,  sowie  sicherer.  Es  wird  ein  bes- 
seres Verkehrsmittel:  das  Gewohnheitsrecht  war  zu  unbe- 
weglich und,  wo  es,  seiner  eigenen  Idee  zum  Trotz,  sich  be- 
wegte, da  war  es  zu  fraglich  und  schwankend,  niemals  über 
große  Räume  und  Zeiten  hinweg  zu  gebrauchen. 

Die  neue  Auffassung,  daß  das  Recht  lückenlos  im 
Kodex  stehe,  erwuchs  aus  dem  allmählich  sich  durchsetzen- 
den Bedürfnis,  die  privaten,  zufälligen,  lückenhaften  Rechts- 
niederschriften irgendwie  authentisch  zu  fixieren. i)  Tat  aber 
die  Wissenschaft  oder  der  Staat  dem  Rechtsleben  diesen 
Gefallen,  dann  mußte  es  schließlich  zu  der  Ganzheit  der 
Niederschriften  und  zu  der  Fiktion  von  der  Lückenlosigkeit 
des  positiven  Rechtes  kommen.  Denn  die  als  unfehlbar 
befragte  Autorität  der  Wissenschaft  oder  des  Gesetzbuchs 
antwortet  auch  dann,  wenn  sie  schweigt.  So  ist  der  Staat, 
seit  er  überhaupt  als  solcher  Recht  schreibt,  ebenso  wie 
seine  Vorgängerin  hierin,  die  Wissenschaft,  gezwungen, 
der  Idee  nach  auch  lückenlos  zu  schreiben  und  alles  im 
Rechtsgefühl  schwebende  Recht  in  gesetztes  Recht  zu  ver- 

1)  Nicht  nur  das  tote  Recht  des  Corpus  juris,  sondern  auch  das 
lebende  Gewohnheitsrecht  des  Mittelalters  hat  die  Entstehung  der 
Rechtswissenschaft  ganz  anders  angeregt  als  es  ein  bereits  beste- 
hendes totales  geschriebenes  Recht  vermocht  hätte.  Verleitet  dieses 
einfach  zur  mechanischen  Tradierung  der  Paragraphen,  so  mußten  jene 
zerstückelten  Trümmer  und  fragwürdigen  Bruchstücke  der  Überlie- 
ferung zur  Schöpfung  einer  gedanklichen  Totalität,  d.  h.  zu  wissen- 
schaftlicher Findung  von  Grundsätzen  anregen.  So  z.  B.  bei  der  Ent- 
stehung der  englischen  Jurisprudenz. 


i 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  43 

wandeln.  Die  natürliche  Ganzheit  des  Rechtsbewußt- 
seins wird  dabei  umgegossen  in  die  künstliche  Ganzheit 
eines  Rechtssystems,  vermöge  der  Grundsätze,  die  die 
Wissenschaft  einführt,  welche  die  Brücke  schlagen  zwischen 
Kodex  und  Rechtsgewissen. 

Diese  Bemerkungen  sind,  wie  gesagt,  unzulänglich  und 
verlangen  nach  einer  Ersetzung  durch  kundigere  Hand. 

Nur  darauf  sei  zuletzt  noch  der  Blick  gelenkt,  wie  sich 
die  mittelalterliche  Rechtsanschauung  gegen  die  moderne 
wehrt  und  ihr  nur  zögernd  die  Alleinherrschaft  überläßt. 
Für  das  naive  Empfinden,  in  welchem  ein  Stück  Mittelalter 
fortlebt,  ist  es  eine  unheimliche  Sache,  daß  alles  Recht  in 
Büchern  stehe  und  nicht  dort,  wo  Gott  das  Recht  hervor- 
wachsen ließ,  im  Gewissen  und  der  gemeinen  Meinung,  in 
der  Gewohnheit  und  dem  gesunden  Menschenverstand. 
Das  positive  geschriebene  Recht  bringt  die  Rechtsgelehrten, 
die  vom  Volk  abgesonderten  Studierten  mit  sich  und  um- 
gekehrt. Obwohl  in  Wahrheit  das  Satzungsrecht  genauer 
und  bestimmter  arbeitet,  wird  für  den  Ungelehrten  nun 
immer  unsicherer,  was  Recht  sei.  Er  kann  es  nicht  mehr 
überschauen  und  fühlt  sich  den  Juristen,  den  „Rechtsver- 
drehern" und  Advokaten  mit  nicht  geringerem  Mißtrauen  aus- 
geliefert als  Ärzten  und  Apothekern.  Die  Krankheiten  sind 
nun  einmal  von  Gott  gesandt,  aber  diese  unverständlichen 
Gesetze  scheinen  willkürlich  von  Menschen  gemacht,  ja 
sogar  von  dem  alten  Heidenvolk  übernommen,  wieder  aus- 
gegraben zu  Bologna,  in  Hörsälen  und  Folianten.  Der  alte 
Bauer  glaubt  recht  zu  tun,  wenn  er  seinem  Sohn,  dem  Stu- 
denten, der  in  den  Ferien  das  Corpus  Juris  mitbringt,  wenig- 
stens die  Glossen  ringsherum  wegschneidet. 

Oft  erweist  das  positive,  kodifizierte  Recht  sich  in  der 
Tat  auch  schwerfälliger  und  unbehilflicher  als  das  Gewohn- 
heitsrecht. Dieses  gleitet  über  veraltende  Rechte  still  hinweg; 
sie  sinken  in  Vergessen  und  sterben  geräuschlos  wie  von  selber 
weg;  und  das  Recht  selbst  bleibt  jung,  immer  unter  der 
Anschauung,  daß  es  das  alte  sei,  doch  in  Wirklichkeit  ist 
es  ein  unaufhörliches  lebendiges  Zusammenwachsen  neuen 
Rechts  mit  altem,  ein  frisches  Hervorquellen  zeitgemäßen 
Rechts  aus  der  Zeugungsstätte  des  Unterbewußtseins,  meist 


44  Fritz  Kern, 

nicht  allzusehr  abgezäunt  durch  starre  Schranken  aufge- 
schriebenen urkundlichen  Rechts.  Das  Satzungsrecht  da- 
gegen kann  vom  Buchstaben  nicht  los,  solange  nicht  ein  neuer 
Buchstabe  den  alten  getötet  hat,  habe  gleich  das  Leben  den 
alten  Buchstaben  längst  zum  Tode  verurteilt:  der  tote  Buch- 
stabe behält  vorerst  über  das  Leben  Gewalt.  Das  Gewohn- 
heitsrecht gleicht  dem  wuchernden  Urwald,  der,  nie  gefällt, 
seinen  äußeren  Umriß  kaum  leise  wandelnd,  sich  stets  ver- 
jüngt und  in  hundert  Jahren  ein  anderer  wird,  obwohl  er 
von  außen  derselbe  „alte**  Wald  bleibt,  wobei  das  langsame 
Wachsen  auch  ein  unmerkliches  Modern  anderer  Teile  be- 
dingt. Das  positive  geschriebene  Recht  dagegen  gleicht  in 
seiner  Verjüngung  ruckweise  einsetzenden  Erdrevolutionen; 
wenn  Vernunft  Unsinn,  Wohltat  Plage  geworden  ist,  so  be- 
darf es  einer  einmaligen  bewußten  Abänderung,  bis  zu  der 
hin  kein  allmähliches  Absterben  des  Alten  erlaubt  wird. 
Das  naive  volkstümliche  Bewußtsein  aber  erhebt  dort,  wo 
ein  Zustand  seinem  Rechtsgefühl  widerspricht,  noch  heute 
die  echt  mittelalterliche  Frage,  warum  denn,  was  recht  sei, 
nicht  auch  Recht  sein  solle,  heute,  sofort  und  ohne  alle  Ver- 
schleppung, Umständlichkeiten  und  unverständliche  büro- 
kratisch-juristische Bedenken.  Der  mittelalterliche  Rechts- 
begriff ist  warmblütig,  unklar,  verworren  und  unpraktisch, 
technisch  unhandlich,  aber  schöpferisch,  von  einer  nicht  zu 
übertreffenden  Erhabenheit  und  Tröstlichkeit  der  Idee;  zu 
ihm  kehren  die  Menschen  besonders  gern  dann  zurück, 
wenn  sich  ungeschriebene  Urrechte  der  menschlichen  Brust 
empören  gegen  die  kalte  Herzlosigkeit,  wie  es  ihnen  dünkt, 
geschriebener  Satzung  (im  verführerischen  Urrecht  der  Re- 
volution z.  B.).  Doch  das  werden  wir  näher  sehen,  wenn 
wir  uns  nun  dem  zweiten  Teil  unserer  Untersuchung,  dem 
Staatsrecht  im  engeren  Sinne,  zuwenden. 


II.  Verfassung. 

Unter  „Verfassung"  begreifen  wir  Moderne  denjenigen 
Teil  der  allgemeinen  Rechtsordnung  eines  Staates,  welcher 
die  Zusammensetzung  der  Staatsgewalt  sowie  die  wechsel- 
seitigen   Beziehungen    zwischen    Staatsgewalt    und    Unter- 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  45 

tanen  regelt.  Gibt  es  in  diesem  Sinn  im  Mittelalter  eine  Ver- 
fassung? Daß  das  Wort  „Verfassung"  modern  ist,  bedarf 
ja  keiner  Darlegung.^)  Wie  aber  verhält  es  sich  mit  der 
Sache  selbst? 

Das  Mittelalter  kennt  die  Herrschaft  der  Volkssouveräni- 
tätslehre nicht.  2)  Der  Herrscher  ist  keinen  Menschen  Untertan. 
Aber  er  ist  dem  Recht  Untertan.  Daß  dies  souveräne  Recht, 
dem  auch  der  Herrscher  untersteht,  kein  geschriebenes 
Recht  ist,  versteht  sich  nach  dem  Vorausgesagten  von  selbst. 
Nicht  einer  bestimmten  Verfassungsurkunde,  sondern  dem 
Recht  überhaupt,  in  seiner  ganzen  Weiträumigkeit,  All- 
gewalt und  fließender,  fast  grenzenloser  Unbestimmtheit 
ist  der  Herrscher  unterworfen,  durch  dieses  Recht  beschränkt, 
an  dieses  Recht  gebunden.  Technisch  wird  diese  Bindung, 
das  ahnen  wir  nun  schon  aus  der  Allgemeinheit  des  Rechts- 
begriffes, vermutlich  sehr  unvollkommen  und  unfest  sein. 
Aber  dem  Gedanken  und  der  Forderung  nach  läßt  sich  eine 
vollständigere  Bindung  des  Herrschers,  eine  Bindung  ans 
Recht  bis  zu  dem  Grad,  welcher  die  Politik  knebelt  und  die 
Staatsräson  ausschließt,  gar  nicht  denken.  Wir  gewinnen 
damit  für  das  Mittelalter  sofort  den 

1.  Grundsatz  der  Rechtsschranke. 
(Der  Herrscher  ist  an  das  Recht  gebunden.) 

Man  kann  für  diese  Bindung  des  mittelalterlichen 
Herrschers  ans  Recht  drei  Quellen  namhaft  machen,  die 
germanische,  schon  von  Tacitus  bezeugte  Gewohnheit,  das 
stoische,  durch  die  Kirchenväter  überlieferte  Naturrecht  und 
den  christlichen  Gedanken,  daß  jede  Regierung  Gottes 
Stellvertreterin  und  Vollzugsorgan  sei.^)  Das  Recht  steht 
über  allen  Menschen,  auch  über  dem  Herrscher: 
Nieman  ist  so  here,  so  daz  reht  zware. 


1)  Vgl.  R.  Schmidt,  Vorgeschichte  der  geschriebenen  Verfassungen, 
[eipzig  1916,  S.  89ff. 

2)  Für  alles  folgende  finden  sich  die  Quellenbelege,  auch  ohne  daß 
darauf  ausdrücklich  verwiesen  wird,  in  meinen  MSt.  1,  142ff.,  sowie  den 
entsprechenden  Anhängen. 

^)  Wenn  man  die  Entstehung  des  Verfassungsgedankens  bis  ins 
letzte  verfolgt,  so  stößt  man  außer  auf  die  germanische  Rechtsgebunden- 


46  Fritz  Kern, 

Der  Herrscher  steht  unter  dem  Recht:  freiUch  denkt 
das  Volk  und  die  Kirche  dabei  an  verschiedenes  Recht. 
Aber  einig  sind  Volk  und  Kirche  darin,  daß  es  kein  beson- 
deres Staatsrecht  gibt,  sondern  daß  der  Herrscher  unter  dem 
Recht  als  solchem  steht.  Das  objektive  Recht  umfaßt  als 
solches  sämtliche  subjektiven  Rechte  sämtlicher  Volks- 
genossen, oder  vielmehr  es  besteht  überhaupt  aus  ihnen. 
Auch  das  Recht,  kraft  welchem  der  Herrscher  regiert,  ist 
nichts  Besonderes,  nichts  hiervon  Verschiedenes.  Der  Re- 
gent hat  sein  subjektives  Recht  auf  Herrschaft,  wie  der 
letzte  Hörige  sein  Recht  auf  Bearbeitung  der  Scholle.  Diese 
Einheit  und  Unteilbarkeit  aller  (subjektiven)  Rechte  in 
dem  (objektiven)  Recht  ist  der  entscheidende  Bestandteil 
des  mittelalterlichen  Verfassungsgedankens,  wie  wir  später 
bei  der  Erörterung  der  Grundrechte  sehen  werden.  Hier 
haben  wir  nun  vorerst  besonders  die  Seite  ins  Auge  zu  fassen, 
daß  es  kein  besonderes  Staatsrecht,  keine  Unterscheidung 
von  Staatsrecht  und  Privatrecht  gibt.  Wer  die  Einheit  des 
subjektiven  und  objektiven,  sowie  des  privaten  und  des 
öffentlichen  Rechts  im  Mittelalter  nicht  beachtet,  wird  nie- 
mals verstehen  können,  was  mittelalterliche  Verfassung  ist, 
oder  wie  sie  sich  zu  moderner  Verfassung  verhält. 

Bei  uns  ist  das  Recht  teilweise  eine  unselbständige  Funk- 
tion der  Politik.  Der  Staat  setzt  als  Recht,  was  er  für  sein 
Leben  braucht,  und  dieses  Staatsrecht  bricht  die  privaten 
Rechte.  Wir  söhnen  uns  damit  aus,  wenn  wir  in  diesem  pö- 
belt des  Herrschers,  den  germanischen  Schutz  der  Untertanenrechte, 
auch  auf  die  kirchliche  Versittlichung  der  Herrscherpflicht.  Aber  die 
Vertreter  der  Kirche,  z.  B.  die  Fürstenspiegelverfasser,  reden  theore- 
tisch doch  immer  nur  von  den  inneren  Schranken  des  Herrschers,  wie 
schon  Plutarch,  von  dem  Gesetz  in  seinem  Gewissen;  alles  was  sie  sagen,, 
kann  auch  der  absolute  Monarch  des  18.  Jahrhunderts,  der  der  erste 
Diener  seines  Staates  sein  will,  unterschreiben.  Insofern  hat  die  kirch- 
liche Lehre  nirgends  nachweislich  die  germanische  Verfassungsgebun- 
denheit des  Herrschers  gestärkt.  In  den  einzelnen  Fragen  hat  ja  sogar 
das  Kirchen  recht  den  Herrscher  vielfach  von  der  Rücksicht  auf  das 
Volks  recht  entbunden.  Aber  bei  alledem  bleibt  es  doch  wahr,  daß 
auch  die  Kirche  unausgesetzt  den  Herrscher  an  eine  Seite  der  ihm 
gezogenen  Schranken  erinnert,  und  das  nicht  nur  mit  Worten,  sondern 
auch  fühlbar  mit  Taten,  wo  er  nämlich  gegen  die  eigene  Macht  der  Kirche 
anstößt. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  47 

litischen  Recht,  dem  Staatsrecht,  die  Willkür  vermieden 
und  das  Notwendige  befolgt  sehen.  Und  als  Bürgschaft 
hierfür  fordern  wir,  daß  das  Staatsrecht  nicht  von  einem  Ein«- 
zelnen  nach  Laune  und  Willkür,  sondern  von  der  Vertretung 
der  Gesamtheit  geschaffen  werde.  Das  Mittelalter  aber, 
mit  seinem  rein  bewahrenden,  erhaltenden  Rechtsbegriff, 
mit  seiner  Ablehnung  der  Politik,  seiner  Verschmelzung  von 
Moral  und  Recht,  von  idealem  und  positivem  Recht  kana 
überhaupt  kein  Staatsrecht  kennen,  welches  die  privaten 
Rechte  verändert  oder  bricht.  Die  Rechtsgebundenheit  des 
selbstregierenden  mittelalterlichen  Fürsten  oder  Verwesers 
ist  dem  Gedanken  nach  noch  viel  größer  als  in  der  Moderne 
selbst  beim  verfassungsbeschränktesten  Monarchen  oder  Prä- 
sidenten. Denn  dieser  kann  doch  mit  den  übrigen  Ver- 
fassungsorganen zusammen  neues  Recht  setzen:  der  mittel- 
alterliche Herrscher  aber  ist  dazu  da,  das  gute  alte  Recht  in 
dem  vollen,  schweren  Wortsinn,  den  wir  kennen,  anzuwen- 
den und  zu  schützen.  Für  den  Dienst  am  guten  alten  Recht 
ist  er  eingesetzt :  das  ist  seine  justitia,  und  aus  der  Bewahrung 
der  subjektiven  Rechte  eines  Jeden,  des  suum  cuique,  erfließt 
die  pax,  der  innere  Rechtsfriede,  der  das  vornehmste,  ja 
beinahe  ausschließliche  Ziel  der  inneren  Herrschaft  ist.  .In 
dieser  Rechtsbewahrung  im  weitesten  und  konservativsten 
Sinn  empfängt  der  Herrscher  auch  die  Sicherung  seiner 
eigenen  Herrschaft:  denn  das  heilig  bewahrte  Recht  aller 
Volksgenossen,  bis  hinab  zu  jener  Scholle  des  letzten  Hörigen^ 
bewahrt  auch  ihm  selbst  das  Recht  auf  die  Krone. 

Bei  seiner  Thronbesteigung  legt  der  mittelalterliche 
Herrscher  das  Gelübde  aufs  Recht  ab,  er  verpflichtet  sich 
persönlich  auf  das  Recht.  In  diesen  Throngelübden  liegt 
der  Anfang  zum  modernen  Verfassungseid.  Wenn  man  die 
Vorgeschichte  der  Verfassungen  schreiben  will,  wird  man  diese 
Selbstbindung  des  mittelalterlichen  Herrschers  zum  Aus- 
gangspunkt nehmen  müssen:  es  ist  die  ausdrückliche 
Bindung  der  Staatsgewalt  an  das  über  ihr  stehende  Recht. 

Nun  empfing  allerdings  die  mittelalterliche  Bildung  mit 
den  überlieferten  Resten  antiker  Kultur  auch  einzelne  Sätze 
und  Schlagworte,  die  aus  dem  völlig  entgegengesetzten  Den- 
ken des  römisch-kaiserlichen  Absolutismus  stammten.   Aber 


48  Fritz  Kern, 

die  mittelalterliche  Wissenschaft  wandte  hier  dasselbe  Ver- 
fahren an,  das  sie  auch  sonst  zur  Verfügung  hatte,  um  un- 
verdauliche Brocken  antiker  Überlieferung  zu  neutrali- 
sieren. Sie  machte  den  princeps  legibus  absolutus  durch  Aus- 
legungskünste unschädlich.  Die  als  eine  Art  von  Rechts- 
sprichwörtern aus  der  Antike  entlehnten  Sätze,  welche  von 
«iner  über,  nicht  unter  dem  Recht  stehenden  Staatsgewalt 
Zeugnis  ablegten,  wurden  so  lange  tunlichst  ins  Moralische 
umgedeutet,  bis  in  ihnen  das  Recht  doch  die  Oberhand  über  den 
Träger  der  Staatsgewalt  zu  behalten  schien.  Der  rex  wird 
^Is  animata  lex  bezeichnet,  das  heißt  nicht:  des  Herrschers 
Belieben  ist  Gesetz,  sondern  der  Herrscher  hat  das  Gesetz 
in  seinen  Willen  aufgenommen.  Auch  im  Kirchenrecht  be- 
deutet die  Formel,  daß  der  Papst  alles  Recht  im  Schreine 
seiner  Brust  trage,  nicht  absolutistische  Willkür,  sondern 
die  Rechtsvermutung  für  päpstliche  Erlasse,  daß  sie  in  Kennt- 
nis und  im  Einklang  des  älteren  Kirchenrechts  erflossen 
seien.  Ganz  allgemein  darf  man  die  römisch-rechtlichen  und 
die  absolutistisch  klingenden  Formeln  nicht  zu  ernsthaft 
nehmen,  zumal  da,  wie  wir  im  Abschnitt  über  die  Konsens- 
pflicht des  Herrschers  sehen  werden,  ein  uns  absolutistisch 
berührendes  Vorgehen  des  Herrschers  das  Mittelalter  nicht 
notwendig  absolutistisch  anmutet:  das  hängt  mit  der  mangel- 
haften Technik  der  Volksvertretung  zusammen.  Freilich, 
€s  kommt  später  ein  Zeitalter,  das  mit  den  absolutistischen 
Formeln  auch  den  absolutistischen  Geist  einführt:  aber  das 
ist  dann  eben  das  Ende  des  mittelalterlichen  Staats-  und 
Rechtsbegriffs.  1) 

Die  Nichtunterscheidung  von  idealem  und  positivem 
Recht,  die  wir  kennen,  bot  dem  Mittelalter  die  Handhabe, 
um  einer  allzu  starren  Fesselung  an  überkommenes  Recht 
zu  entgehen.  Konnte  das  Überkommene  nicht  ein  Miß- 
brauch sein?  Besonders  die  Kirche  lockert  hier  die  Ver- 
pflichtung der  Staatsgewalt  auf  das  Volks  recht.  Wohl  steht 
auch  für  sie  die  Regierung  unter  dem  Recht,  aber  doch  nur 
gnadenweise  unter  dem  von  der  Staatsgewalt  selbst  ge- 

^)  Ganz  verkehrt  ist  es,  wenn  E.  Mayer,  Ital.  Verfassungsgesch. 
2,  208,  den  consensus  (s.  unten  S.  52  ff.)  auf  Grund  absolutistischer 
Theorien  und  des  Corpus  juris  unter  Barbarossa  aufhören  lassen  will. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  49 

setzten  Recht.  Der  Herrscher  gilt  ihr  als  zur  Billigkeit  ver- 
pflichtet: das  ist  das  ,, Recht**,  dem  er  unbedingt  untersteht. 
Folglich,  wo  das  strikte  Recht  etwas  Unbilliges  enthält,  ist 
es  eben  nicht  ,, recht",  die  Obrigkeit  nicht  zu  seiner  Erhal- 
tung, sondern  zu  seiner  Beseitigung  verpflichtet. i) 

Die  Meinung,  die  Erlasse  mittelalterlicher  Herrscher 
hätten  nur  für  deren  jeweilige  eigene  Regierungszeit  gegolten, 
ist  so  unsinnig  wie  nur  denkbar.  Als  unrechtmäßig  erkannte 
Herrscherhandlungen  werden  widerrufen,  wie  alt  oder  wie 
jung  sie  sein  mögen.  Für  recht  anerkannte  dagegen  haben 
Rechtskraft  ganz  unabhängig  von  Thronwechsel,  ja,  um  so 
heiligere  Kraft,  je  älter  sie  sind. 

Hier  beginnt  in  der  Regel  die  Verlegenheit  des  modernen 
Historikers,  der  nicht  vom  mittelalterlichen  Rechtsbegrif 
ausgeht,  über  die  Sonderbarkeiten  der  mittelalterlichen 
Verfassungsgeschichte.  Man  findet,  daß  das  Mittelalter  gar 
keine  eigentliche  staatliche  Gesetzgebung  kennt.  Die  Ver- 
fügungen oder  Gesetze  der  Staatsgewalt  wollen  nur  das  gel- 
tende Volks-  oder  Gewohnheitsrecht  wiederherstellen  und 
durchführen. 2)  Das  Recht  führt  sein  souveränes  Eigenleben. 
Der  Staat  greift  darin  nicht  ein.  Er  schützt  nur  sein  Dasein 
von  außen  her,  wo  es  nötig  wird.  Ganze  Jahrhunderte  kommen 
aus  ohne  die  leisesten  Ansätze  einer  Gesetzgebungs-  oder 
Verordnungstätigkeit  in  unserem  Sinne.  Der  mittelalter- 
liche Rechtsbegriff  enthält  die  Erklärung  dieser  Erscheinung. 
In  ihm  aber  liegt  auch  schon  die  Frage  der  Grund-  oder 
Menschenrechte  beschlossen.  Fassen  vv^ir  mit  Rücksicht  hier- 
auf noch  einmal  das  Gesagte  zusanmien. 

Es  gibt  kein  Staatsrecht.  Das  objektive  Recht  ist  nichts 
als  die  Summe  oder  das  Geflecht  aller  subjektiven  Rechte 
der  Volksgenossen.  Das  Recht  ist  vor  und  über  dem  Staat. 
Die  ganze  Auffassung  vom  Staat  oder  der  Obrigkeit  hängt 
davon  ab:  der  Staat  ist  sozusagen  der  Leidtragende  beim 
mittelalterlichen  Rechtsbegriff.  Denn,  daß  der  Herrscher 
nicht  vor,  sondern  unter  dem  Recht  ist,  darin  jedem  Ein- 

^)  Das  Kirchenrecht  ist  hier  vorbildlich.  Der  Papst  ist  den 
Kanones  enthoben,  aber  der  aeqiiitas  unterworfen,  Carlyle  2,  172f. 

2)  Vgl.  z.  B.  R.  Holtzmann,  Französ.  VerfassuHgsgesch.  (München 
1910)  131   über  die  Ordonnanzen. 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  4 


50  Fritz  Kern, 

zelnen  im  Volke  gleich  und  nur  im  Gegensatz  zu  den  anderen 
Einzelnen  er  verantwortlich  für  die  Rechte  Aller  und  für 
alle  Rechte  allein  haftbar:  das  klingt  dem  Gedanken  nach 
wunderschön  und  scheint  die  Rechte  der  Einzelnen  sicherer 
zu  verankern  als  irgendeine  andere  Verfassungskonstruktion» 
Es  ist  nur  wieder  die  technische  Ausführung,  die  mangel- 
haft ist  und  die  es  bewirkt,  daß  die  Vorzüge  des  Systems, 
der  Schutz  der  Privatrechte,  in  der  Wirklichkeit  weniger 
hervortreten  als  seine  Mängel,  nämlich  die  verhängnisvolle 
Knebelung  der  Staatsgewalt.  Denn  da  der  einzige  Zweck 
des  Staates  ist  (germanisch),  das  vorhandene  Recht  oder  die 
vorhandenen  Rechte  zu  beschirmen,  bzw.  (kirchlich)  die  gött- 
lichen Gebote  auszuführen,  so  ist  es  dem  Staat  verwehrt, 
eigenen  Staatsnotwendigkeiten  nachzuleben  und  das  Recht 
der  Gesamtheit  wie  der  Einzelnen  nach  diesen  Notwendig- 
keiten (vermöge  des  modernen  Begriffes  vom  Staatsrecht) 
umzuformen.  Der  mittelalterliche  Staat  ist  als  bloße  Rechts- 
bewahranstalt nicht  befugt,  in  die  Privatrechte  zum  Nutzen 
der  Allgemeinheit  einzugreifen.  Nur  Rechtlosen,  z.  B.  den 
im  Kriege  Unterworfenen  oder  den  für  friedlos  Erklärten 
gegenüber  darf  einseitig  etwas  bestimmt  werden.  Sonst 
aber  sind  alle  Privatrechte  Einzelner  dem  Staat  gegen- 
über, wie  ein  späterer  Naturrechtler  sagen  würde,  Grund- 
rechte, d.  h.  sie  dürfen  samt  und  sonders  nicht  durch  ein- 
seitig gesetztes  neues  Recht  verdrängt  werden.  Den  Volks- 
genossen hat  die  Regierung  alle  subjektiven  Rechte  zu  er- 
halten, denn  aus  deren  Summe  besteht  ja  das  ganze  objek- 
tive Recht,  deren  Teilglied  auch  die  Obrigkeit,  der  Staat 
selber  ist.  Der  Staat  hat  kein  Recht  sui  generis  für  sich, 
keinen  Nenner,  durch  welchen  er  jene  Summe  privater 
Rechte  dividieren  dürfte.  Er  kann  z.  B.  keine  Steuern  er- 
heben; denn  Steuer  ist  für  die  mittelalterliche  Auffassung 
eine  Vermögensbeschlagnahmung.  Diesen  Eingriff  in  das 
Privateigentum  kann  der  Staat  also  nur  im  freiwilligen 
Einverständnis  aller  Betroffenen  (oder  mindestens  ihrer 
Vertreter)  vollziehen.  Darum  ist  die  mittelalterliche  Steuer 
„Bitte"  (Bede).  Nur  wo  eine  Abgabe  schon  herkömmlich  ist,, 
hat  der  Staat  bzw.  der  Herrscher  auch  seinerseits  ein  sub- 
jektives Anrecht  darauf.    Die  Vermögensrechte  jedes  ein- 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  51 

zelnen  Volksgenossen  sind  ein  absolut  heiliger  Bestandteil 
der  ganzen  absolut  heiligen  Rechtsordnung:  die  Vermögens- 
rechte der  Privaten  wie  des  Staates.  Maßstab  für  beides  ist 
das  gute  alte  Recht. 

An  diesem  Steuerbeispiel  erkennen  wir  klar,  warum  das 
Mittelalter  keine  einzelnen  Grundrechte  der  Untertanen 
absondern  kann,  aber  auch  nicht  braucht.  Denn  alle  sub- 
jektiven Rechte  sind  eben,  wie  wir  sagen  würden,  verfassungs- 
mäßig geschützt,  unantastbar  umhegt  durch  das  Recht  an 
sich.  Abgesonderte  Grundrechte  gewinnen  erst  dann  einen 
Sinn,  wenn  sich  ein  besonderes  Staatsrecht  ausgebildet  haben 
wird,  das  dann  im  allgemeinen  den  Privatrechten  souverän 
gegenübersteht.  Erst  aus  der  Tätigkeit  des  absolutisti- 
schen Staates,  welcher  auf  den  mittelalterlichen  und  stän- 
dischen Staat  folgt  und  rücksichtslos  in  die  Privatrechte  ein- 
greift, verstehen  wir  das  Verlangen  nach  verfassungsumhegten 
Grund-  oder  Menschenrechten,  d.  h.  nach  der  Anerkennung 
gewisser  Schranken  der  Staatssouveränetät  beim  Eingriff 
in  das  Privatrecht,  i)  Für  das  Mittelalter  liegt  ein  solches  Be- 
dürfnis nach  begrifflicher  Aussonderung  von  Grundrechten 
nicht  vor,  wie  aus  dem  Vorhergehenden  klar  geworden 
sein  dürfte.  Man  versteht  nun  auch,  warum  bei  der  mittel- 
alterlichen Nichtunterscheidung  von  Staats-  und  Privat- 
recht  (ferner  von  Recht  und  Moral,  positivem  und  idealem 
Recht)  theoretisch  nur  der  Staat,  nicht  der  Privatmann  der 
Leidtragende  war.  Die  Staatsräson  litt  Not,  die  Politik. 
In  Wirklichkeit  litt  freilich  auch  der  Einzelne  unter  der 
Sache.  Aber  zunächst  wurde  doch  der  Staat  in  der  Idee 
geknebelt,  und  das  wirkte  aufs  tiefste  auch  ins  wirkliche 
Leben  zurück. 

Die  technische  Mangelhaftigkeit  der  mittelalterlichen 
Verfassung  bei  allem  idealen  Schwung  kann  erst  in  den  näch- 
sten Abschnitten  besprochen  werden,  wenn  wir  der  Volks- 


^)  Es  bleibe  außer  Betracht,  daß  bei  der  technischen  Natur  des 
modernen  Rechts  diese  begrifflich  über  dem  Staatsrecht  stehenden 
Grundrechte  formell  auch  nur  als  Bestandteil  des  Staatsrechts  selbst, 
unter  ihm,  auftreten  können.  Es  wiederholt  sich  hier,  was  oben  be- 
treffs der  Stellung  des  idealen  Rechts  im  modernen  Rechtsbegriff 
ausgeführt  worden  ist.    S.  oben  S.  9  f. 

4* 


52  Fritz  Kern, 

Vertretung  und  den  Sanktionen  der  Verfassung  nähertreten. 
Hier,  wo  wir  zunächst  nur  den  Verfassungsgrundsatz  für 
sich  betrachten,  fiel  uns  überhaupt  erst  ein  Ansatz  zur  tech- 
nischen Ausführung  auf:  das  Throngelübde  des  Herrschers. 
Wie  wenig  das  in  der  Tat  eine  Bürgschaft  für  die  Vollziehung 
der  mittelalterlichen  Verfassungsidee  (die  in  ihrem  buchstäb- 
lichen Umfang  überhaupt  nicht  vollziehbar  war)  bot,  das 
liegt  auf  der  Hand. 

Woran  erkannte  man  denn  nun  aber,  ob  der  Herrscher 
mit  dem  Recht  im  Einklang  blieb,  ob  er,  wie  wir  sagen  würden, 
verfassungsmäßig  sich  verhielt  oder  nicht?  Bei  dem  unge- 
schriebenen, flüssigen  guten  alten  Recht  war  dies  unendlich 
schwieriger  festzustellen  als  bei  modernem  geschriebenem 
Verfassungsrecht.  Es  gab  eben  letzten  Ortes  nur  Eine  Ent- 
scheidungsstelle: das  Rechtsgefühl  der  Gesamtlieit.  Damit 
kommen  wir  zum 

2.  Grundsatz  der  Volksvertretung. 
(Konsenspflicht  des  Herrschers.) 

Die  monarchische  Ordnung  des  niiitelalterlichen Staates 
kann  in  unserem  Zusammenhang  als  etwas  rein  Tatsächliclies 
hingenommen  werden,  obwohl  auch  sie  ideelle  Wurfein 
und  Begründungen  hat.^)  Auch  bei  republikanischen  Ein- 
richtungen verhält  sich  der  mittelalterliche  Staat  in  den  grund- 
legenden Verfassungsgedanken  nicht  anders  als  bei  der 
Monarchie;  da  Vorsteher  und  Genossenschaft  verfassungs- 
mäßig in  einem  ganz  analogen  Verhältnis  stehen,  wie  Herr- 
scher und  Volk.2)  Yiein  tatsächlich  gegeben  nehmen  wir  ferner 


1)  über  das  monarchische  F'rinzip  vgl.  MSt.  1,  149ff. 

2)  Man  kann  nicht  von  mittelaltcriicher  Verfassung  handeln, 
ohne  der  ihr  unvermeidlichen  Einrichtung  des  Interregnums  zu  ge- 
denken.  Es  entsteht  aus  der  monarchischen  Staatsform  einerseits, 
dem  Mangel  einer  von  der  Verfassung  vorgeschriebenen  festen  Thron- 
folgeordnung anderseits.  Nur  durch  die  Vv'^ahl  des  Nachfolgers  bei 
Lebzeiten  des  Vorgängers  konnte  man  der  Unbequemlichkeit  des 
Interregnums  entgehen.  Vgl.  im  allgemeinen  MSt.  1,461  ff.  Hierzu 
noch  folgende  Bemerkungen.  Das  Interregnum  gilt  als  Unglück: 
wenn  die  Tätigkeit  des  Monarchen  in  der  Aufrechterlialtung  von  Recht 
und  Frieden  besteht,  so  muß  beim  Fehlen  des  Monarchen  notwendig 
Unfriede  und  Unrecht  überwuchern.  Wäre  dem  nicht  so,  dann  brauchte 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  53 

hier  die  Vertretung  der  Gesamtheit  durch  die  meliores 
et  maiGres,  obwohl  auch  hierfür  ideelle  Wurzeln  nachgewiesen 
werden  könnten.  Nach  dieser  vorläufigen  doppelten  Ent- 
lastung unseres  Gedankengangs  (wir  fragen  nicht  nach  Un- 
terschieden zwischen  Monarchen  und  Genossenschaftsvor- 
stehern, fragen  nicht  nach  den  Regeln,  wie  das  Volk  sich  ver- 
treten läßt)  können  wir  unmittelbar  an  die  Hauptfrage  heran- 
treten: ist  der  Herrscher  an  die  Zustimmung  des  Volkes  ge- 
bunden?  Worin  ist  er  gebunden,  worin  ist  er  frei? 

Daß  der  mittelalterliche  Herrscher  materiell  nicht  abso- 
lut ist,  haben  v/ir  zur  Genüge  gesehen.  Er  ist  an  das  Recht 
gebunden.  Aber  formell  erscheint  der  mittelalterliche  Herr- 
scher uns  praktisch  absolut:  denn  er  ist  nicht  verpflichtet, 
diesen  von  ihm  erforderten  Einklang  mit  dem  Keucht  auf 
irgendeinem  formvorgeschriebenen  Weg  zu  trrciclien.  Der 
Einklang  des  Herrschers  mit  dem  Recht  vollzieht  sich  in 
der  Regel  völlig  formlos.  Im  Zweifel  allerdings  zeigt  sich 
sein  Einklang  mit  dem  Recht  an  der  Zustimmung  der  Volks- 
gesamtheit bzw.  ihrer  Vertreter.  Aber  es  gibt  keine  bindende 
Regel  dafür,  in  welchen  Fällen  diese  Zustimmung  eingeholt 
werden  müßte.  In  gewöhnlichen  Zeiten  besteht  für  alle 
Handlungen  des  Herrschers  die  Rechtsvermutung,  daß  sie 
stillschweigend  oder  ausdrücklich  im  Einklang  mit  dem 
Recht  und  dem  Rechtsgefühl  der  Gesamtheit  geschehen 
seien. 

Um  dies  verständlich  zu  machen,  dazu  müssen  wir  an 
die  eigentümlich  unbestimmte  und  unbegriffliche  Gemein- 
schaftlichkeit erinnern,  in  welcher  Herrscher  und  Untertanen- 
schar im  Mittelalter  zusammen  den  Staat  oder  das  Volk 
bilden.    Es  gibt  keinen  Gegensatz  zwischen  Herrscher  und 


man  ja  den  Herrscher  nicht.  Dies  ganz  schematisch  bei  Wipo,  der  ja 
überhaupt  für  die  Verhältnisse  der  Thronerlangung  einer  der  typischsten 
Schilderer  des  Mittelalters  ist  (Wipo,  S.-A.  der  MG.,  3.  Aufl.  1915, 
S.  9,  Kap.  1).  Zum  rex  justus  gehört  aber  auch  eine  idonea  electio. 
Diese  herbeizuführen,  ist  der  einzige  von  Gott  gewollte  Inhalt  des  In- 
terregnums. Die  Wahl  erfolgt  nicht  durch  Mehrheitsbeschlüsse.  Der 
Zufall  soll  aus  ihr  möglichst  ausgeschaltet  sein:  sie  hat  sich  als  göttlich 
inspiriert  darzustellen,  darum  auch  einhellig.  So  umgeht  wenigstens 
die  Theorie  die  Klippe  der  fehlenden  festen  Wahlkörper  und  Wahl- 
regeln. 


54  Fritz  Kern, 

Volk  etwa  im  Sinne  der  Volkssouveränitätslehre  oder  der 
Lehre  vom  Herrschaftsvertrag. 

Was  der  Herrscher  tut,  tut  er  im  Namen,  im  Sinne, 
nach  dem  Willen  des  Volks;  er  redet  als  der  Mund  des  Volks.^) 
Herrscher  und  Volk  hängen  gemeinsam  im  Recht,  sie  fin- 
den und  bewahren  es  gemeinsam.  Bis  zum  Beweis  des  Gegen- 
teils ist  alles,  was  vom  Herrscher  ausgeht,  Recht  in  demselben 
Sinne  wie  wenn  es  vom  Volk,  von  der  Gesamtheit  ausge- 
gangen wäre.  Der  Herrscher  könnte  bis  zum  Beweis  des 
Gegenteils  als  der  ständige  Vertreter  des  Volks  bzw.  seines 
Rechts  bezeichnet  werden.  Darum  sind  die  Bestimmungen 
darüber,  wie  sich  der  Herrscher  der  Übereinstimmung  mit 
der  Gesamtheit  und  damit  seines  eigenen  Einklangs  mit 
dem  Recht  versichert,  so  überaus  verschwommen  und  unent- 
wickelt. 

Es  gibt  drei  Stufen  der  Anteilnahme  der  Gesamtheit 
(d.  h.  ihrer  Vertreter,  der  maiores  et  meliores  usf.)  an  den 
Handlungen  der  Staatsgewalt.  Die  erste  Stufe  ist  die  schwei- 
gende Zustimmung:  hier  handelt  der  Herrscher  formell 
allein,  wenn  man  so  will  absolutistisch  (der  Form,  nicht  der 
Sache  nach).  Die  zweite  Stufe  ist  beratende  Zustimmung, 
die  dritte  Stufe  gerichtsförmlicher  Urteilsspruch.  Das 
eigentümlich  Mittelalterliche  ist  nun,  daß  für  die  Anwendung 
dieser  drei  Stufen  keine  festen  Regeln  bestehen  und  daß  sie 
alle  drei  zu  (unterschiedslos)  gleich  rechtsgültigen  Staats- 
handlungen führen  können. 

Unter  der  heutigen  Herrschaft  eines  verselbständigten 
Staatsrechts  und  eines  geschriebenen  Rechts  unterscheiden 
wir  peinlich  zwischen  jenen  drei  Stufen  der  Volksmitwir- 
kung und  haben  für  jede  von  ihnen  ihren  Umkreis  festgelegt. 
Es  ist  genau  bestimmt,  welche  Rechtsangelegenheiten  in 
Gerichtsform  erledigt  werden,  und  diese  Gerichtsvorgänge 
sind  der  persönlichen  Einwirkung  des  Herrschers  bzw.  der 


^)  Man  kann  sich  das  allgemeine  Verhältnis  von  Herrscher 
und  Volk  in  der  mittelalterlichen  Verfassung  veranschaulichen  durch 
das  gleichzeitige  Verhältnis  von  Richter  und  urteilsfindender  Ge- 
meinde im  germanischen  Gericht,  ohne  aber  die  Analogie  auf  die  Spitze 
zu  treiben. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  55 

Regierung  im  Verfassungsstaat  entzogen.  Es  ist  genau  fest- 
gelegt, in  welchen  Angelegenheiten  die  Regierung  nicht  ohne 
den  Rat  der  Volksvertretung  handeln  darf,  und  diese  Kon- 
senspflicht ist  bis  zu  einem  unerläßlichen  Beschlußfassungs- 
recht der  Volksvertretung  im  Verfassungsstaat  gesteigert. 
Es  ist  endlich  genau  festgelegt,  welches  der  Umkrejs  der 
freien  Verordnungsgewalt  der  Regierung  ist,  für  welche  also 
die  schweigende  Zustimmung  der  Gesamtheit  mittels  der 
Verfassungsurkunde  ein  für  allemal  durch  Satzungsrecht 
erteilt  ist.  Nichts  von  allem  dem  ist  im  mittelalterlichen 
Staat  umschrieben  und  festgelegt. 

Es  steht  dem  mittelalterlichen  Herrscher,  vorausgesetzt, 
daß  er  mit  dem  Recht  im  Einklang  bleibt,  vollkommen  frei, 
welchen  der  drei  Wege  er  für  die  Erledigung  eines  Geschäftes 
einschlagen  will.  Ob  er  mit  persönlicher  Verfügung  oder 
nach  Anhörung,  etwa  auch  unter  Mitbeurkundung  von  Rat- 
gebern, d.  h.  Vertretern  der  Gesamtheit,  oder  endlich  durch 
Erwirkung  eines  Hofgerichtsurteils  oder  Fürstenspruchs  die 
Angelegenheit  regeln  will,  ist  ihm  völlig  freigestellt.  Ver- 
fügt er  allein  und  rein  persönlich,  aber  im  Einklang  mit 
dem  Recht,  dann  besteht  seine  Verfügung  zu  Recht  und  der 
durch  Nichtauflehnung  erteilte  stillschweigende  Konsens  der 
Gesamtheit  ist  völlig  ausreichend.  Anderseits  aber  kann  es 
auch  vorkommen,  daß  der  Rat  bzw.  die  Volksvertretung, 
ja  selbst  das  feierlichste  Gericht  einen  Fehlspruch  tut: 
dann  muß  die  widerrechtliche  Entscheidung,  trotzdem  sie 
im  ausdrücklichen  Einklang  von  Herrscher  und  Volk 
erfolgt  ist,  widerrufen  werden.  Die  Form,  in  der  eine  staat- 
liche Maßnahme  geschieht,  ist  dem  Mittelalter  einerlei, 
wenn  sie  nur  inhaltlich  mit  dem  Recht  in  Übereinstimmung 
steht. 

Immerhin  haben  sich  gewisse  Konsensgepflogenheiten 
herausgebildet.  Bevor  wir  jedoch  auf  sie  eingehen,  müssen 
wir  des  Gegensatzes  von  Volksrecht  und  Königsrecht  ge- 
denken. Diese  umstrittene  Frage  löst  sich  von  dem  jetzt 
gewonnenen  Standort  aus  von  selbst.  In  der  Rechtswirk- 
lichkeit haben  wir  bestimmt  zu  scheiden  zwischen  volks- 
rechtlichen und  königsrechtlichen,  volksgerichtlichen  tmd 
königsgerichtlichen  Normen,  z.  B.  in  der  fränkischen  Zeit. 


56  Fritz  Kern, 

Aber  das  Zeitalter  selbst,  seine  Theorie,  hat  den  Unterschied 
nicht  gekannt  und  nicht  kennen  können.  Denn  ob  die  Volks- 
gerichte und  das  Königsgericht  auch  nach  verschiedenen 
Grundsätzen  entschieden,  es  war  doch  beides  einerlei  Recht, 
das  Recht.  Was  der  König  mit  der  ausdrücklichen  oder 
stillschweigenden  Billigung  der  Gesamtheit  setzt,  ist  Recht; 
insoweit  es  mit  dem  Rechtsgefühl  der  Gesamtheit  überein- 
stimmt, ist  es  selbst  ein  Teil  des  guten  alten  Brauches, 
auch  wenn  es  ganz  neu  ist.  Königsrecht  gilt  als  Volksrecht 
und  Volksrecht  wird  auch  vom  König  ausdrücklich  als  für 
ihn  rechtsverbindlich  und  als  Schranke  für  seine  Verfügungs- 
gewalt anerkannt.  1) 

Wenn  also  der  moderne  Realienforscher  Königs-  (oder 
Amts)recht  und  Volksrecht  aus  [ulen  Gründen  unterscheidet, 
so  muß  er  sich  doch  hüten,  cicLcn  Begriffsgegensatz  in  die 
mittelalterlichen  Anschauungen  selbst  hineinzusehen.    Das 
Volksrecht  im  mittelalterlichen  Sinn  ist  das  von  Fürst  und 
Volk    gemeinsam    anerkannte    aufgezeichnete    oder    nicht 
aufgezeichnete   Recht,   zu  dem  auch   die  rein  persönlichen 
Handlungen  des  Königs  gehören,  soweit  das  Volk  ihre  Rechts- 
kraft anerkennt.    Das  Recht  des  Königs,  Urkunden  auszu- 
stellen, im  Krieg  zu  befehlen,  seine  Banngewalt  u.  dgl.  ist 
ein   Stück  Volksrechtes  selbst  und  findet  seine   Schranke 
durchweg  an  dem  vorgefundenen  objektiven  Recht,  gleich 
der  Summe  subjektiver  Rechte  aller  Volksgenossen.   Daß  der 
theoretisch  ganz  ans  überlieferte  Recht  gebundene  mittel- 
alterliche Herrscher  und  das  ebenso  gebundene  Volk  praktisch 
trotzdem  in  Gesetzen  und  Urkunden  willkürlich  und  schein- 
bar absolutistisch  die  Gesetze  und  Urkunden  früherer  Zeit 
überspringen    konnten,    dieser    grelle    Widerspruch    erklärt 
sich  eben  aus  den  oben  zur  Genüge  erläuterten  technischen 
Unvollkommenheiten  in  der  Überlieferung  und  Festlegung 
des  Rechts.   Theoretisch  band  jeder  rechtmäßige  Herrscher- 
akt wie  jedes  wohlerworbene  Recht  die  Nachfolger  und  die 
ganze  nachlebende  Volksgesamtheit.    Praktisch  wußte  m.an 
sehr  schlecht  für  die  Rechtsbeständigkeit  zu  sorgen,  und  die 


1)  Z.   B.   von  Chlotachar   II.  in  einem   Königsgesetz.    MSt.   1^ 
485,  493f. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  57 

Erfordernisse  der  Politik,  für  die  im  Rahmen  der  Rechts- 
und Verfassungstheorie  des  Mittelalters  ein  Raum  überhaupt 
nicht  vorgesehen  war,  brechen  sich  wilde  Bahn.  Sie  konn- 
ten es,  ohne  die  so  feingewobene  Theorie  selbst  zu  verletzen, 
da  die  Rechtspraxis  weitmaschig  genug  war.  Dieser 
Widerspruch  von  Theorie  und  Praxis  aber  hat  mit 
der  Frage  der  Konsensgebundenheit  oder  persön- 
lichen Verfügungsgew^alt  des  Herrschers  (der  Re- 
gierung) unmittelbar  nichts  zu  tun.  Praktische  Will- 
kür bei  theoretischer  Gebundenheit  wird  von  der  Volks- 
gesamtheit ganz  ebenso  verbrochen,  wie  vom  Herrscher. 
Denn  sie  ist  ja  ganz  ebenso  theoretisch  rechtsgebunden  wie 
er.  Tatsächlich  kehrt  man  sich  eben  an  wirklich  überlebte, 
wenn  auch  dem  Begriff  des  Gewohnheitsrechts  gemäß  nie- 
mals abgeschaffte,  ja  nicht  abschaffbare  Rechte  keinen  Deut 
mehr,  wenn  man  nicht,  etwa  infolge  auftauchender  Ur- 
kunden, sich  darum  kümmern  mußte. 

Hier  ist  nun  aber  doch  ein  Unterschied  auch  für  das 
mittelalterliche  Denken  zwischen  der  Rechtsgebundenheit 
des  Volks  und  der  des  Herrschers  zu  bemerken. 

Wenn  die  Gesamtheit  sich  zum  Recht  in  Widerspruch 
setzte,  so  hatte  das  nichts  zu  besagen,  wenn  nur  das  Rechts- 
gefühl der  Gesamtheit  oder  ihres  ausschlaggebenden  Teiles 
mit  sich  selber  einig  blieb.  Anders,  wenn  sich  der  Herrscher 
als  ein  Einzelner  mit  einem  beachtbaren  Teil  der  öffentlichen 
Meinung  in  Widerspruch  setzte.  Dann  war  er  sehr  stark 
gefährdet,  einmal  wegen  des  tatsächlichen  Aufbaus  miittel- 
alterlicher  Staatsmacht  oder  -Ohnmacht,  worüber  in  einer 
Abhandlung  über  mittelalterliche  Politik  mehr  zu  sagen 
wäre,  und  anderseits  wegen  der  auch  theoretisch  so  starken 
Verantwortlichkeit  des  Herrschers  für  seine  Handlungen, 
wovon  wir  im  nächsten  Abschnitt  sprechen  werden. 

Darum  sichert  sich  der  Herrscher  vielfach  gegen  etwa 
zu  gewärtigenden  Widerspruch,  indem  er  von  vornherein 
die  Zustimmung  der  Gesamtheit  bzw.  ihrer  Vertreter  einholt 
und  beurkunden  läßt.  Auf  die  nähere  Geschichte  dieser 
Konsensgepflogenheiten  des  Mittelalters  hier  einzugehen, 
besteht  kein  Anlaß.  Das  Entscheidende  bleibt  immer,  daß 
es  dem  Herrscher  freistand,  ob  er  diese  Sicherung  einschalten 


58  Fritz  Kern, 

wollte  oder  nicht,  und  daß  auch  ohne  die  vorher  nachgesuchte 
oder  beurkundete  Zustimmung  (der  bloße  „Rat"  gilt  auch 
als  solche)  rechtsgültige  Verfügungen  des  Herrschers  zustande 
kommen  konnten. 

Niemals  aber  konnte  die  Gesamtheit,  bzw.  wer  sie  ver- 
trat, und  natürlich  auch  nicht  der  Herrscher,  einseitig  über 
die  wohlerworbenen  Rechte  anderer  Volksgenossen  ver- 
fügen. An  diesem  Punkt  wird  die  Bindung  des  mittelalter- 
lichen Staates  an  das  Recht  besonders  klar,  eine  Bindung, 
die  etwas  unendlich  viel  Grundsätzlicheres  an  sich  hat, 
als  irgendeine  Bindung  eines  Staatsorgans  innerhalb  des 
modernen  Verfassungsstaats.  Bei  uns  ist  die  Staatsgewalt 
souverän.  Nur  eine  gewisse  letzte  Sphäre  privater  Rechte 
oder  Freiheiten  soll  naturrechtlich  auch  heute  dem  Zugriff 
des  absolut  souveränen  Staates  entzogen  sein:  dies  eben  ist 
der  Sinn  der  sog.  Menschen-  oder  Grundrechte,  die  selbst- 
verständlich erst  unter  der  Herrschaft  eines  souveränen 
Staatsbegriffs  aufgebracht  werden  konnten  (und  auch  da 
zweifelhaft  bleiben;  denn,  gesetzt  den  Fall,  die  Mehrheit 
in  einem  modernen  Staat  beschlösse  die  Aufhebung  der 
Menschenrechte,  wer  wollte  auf  dem  Boden  des  modernen 
Staatsrechts  dann  noch  ihre  fortdauernde  Gültigkeit  be- 
haupten? Indes:  der  Sinn  der  Menschenrechte  ist  eben, 
daß  nach  der  Naturveranlagung  der  Menschen  sich  niemals 
€ine  Mehrheit  zur  Aufhebung  gerade  dieser  Bestimmungen 
würde  finden  lassen).  Im  Mittelalter  nun  hat  jedes  wohl- 
erworbene Recht,  auch  das  Recht  auf  einen  jährlichen  Zins 
in  Gestalt  eines  Huhnes,  ungefähr  dieselbe  Heiligkeit,  wie 
in  gewissen  modernen  Verfassungen  die  Menschenrechte. 
Es  gibt  nur  den  freiwilligen  Verzicht  des  Berechtigten  und 
nichts  anderes,  was  dieses  Recht  auf  rechtlichem  Weg  be- 
seitigen kann;  keine  Herrscherverfügung  vermag  das,  und 
wenn  sie  sich  auch  auf  das  breiteste  Votum  einer  Volks- 
vertretung stützte;  gegen  den  Willen  des  Berechtigten  kann 
kein  gültiger  Staatsakt  zustande  kommen. 

Bei  strenger  Auslegung  (die  allerdings  dem  von  ihr  Ge- 
brauchmachenden persönlich  übel  bekommen  konnte)  war 
es  so  einem  Einzelnen  möglich,  die  Bildung  eines  Staats- 
willens gänzlich  zu  lähmen,  denn  auch  die  Erhaltung  des 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  59 

bestehenden  Staatszustandes  bis  in  kleine  Einzelheiten  hin 
ist  für  diese  mittelalterliche  Auffassung  letzthin  ein  Bestand- 
teil der  subjektiven  Rechte  jedes  beliebigen  Volksgenossen. 
Der  Staat,  der  bis  zuletzt  an  diesem  echt  mittelalterlichen 
Grundsatz  festgehalten  hat,  wenigstens  für  seine  adeligen 
Volksgenossen,  und  darum  an  einerii  auf  die  Spitze  getrie- 
benen liberum  veto  zugrunde  ging,  ist  Polen.  Aber  auch  bei 
den  Germanen  gibt  es  verwandte  Ansätze.  Ein  Beispiel 
möge  dies  erläutern. 

König  Chlodowech  wünschte  aus  einer  Kriegsbeute 
über  den  ihm  rechtlich  zustehenden  Anteil  hinaus  eine  kost- 
bare Vase  zu  erhalten,  um  sie  einer  Kirche  zu  stiften.  Alle 
stimmen  zu,  nur  ein  Neider  aus  dem  Volk  widerspricht  in 
einer  den  König  beleidigenden  Weise  und  schlägt  mit  der 
Axt  auf  die  Vase.  Er  bleibt  straflos,  denn  er  erhärtet  in 
dieser  Auflehnung  gegen  den  allgemeinen  Willen  nichts  als 
sein  unzerstörbares  subjektives  Anrecht  auf  das  objektive 
Recht  der  einmal  festgesetzten  Beuteteilung,  die  auch  durch 
Mehrheitsbeschlüsse  nicht  über  den  Kopf  eines  Einzelnen 
hinweg  verändert  werden  darf.  Zwar  rächt  sich  der  König 
ein  Jahr  später  in  einer  Art  von  spiegelnder  Rache^),  durch 
ähnlich  rigoristische  Übertreibung  eines  anderen  Teiles  der 
objektiven  Rechtsordnung,  nämlich  seiner  militärischen 
Kommandogewalt.  Aber  daß  er  sich  rächen  muß,  bei  gün- 
stig scheinender  Gelegenheit,  und  nicht  strafen  kann, 
zeigt  eben,  daß  der  Franke  auf  gutem  Grund  stand,  als  er 
leugnete,  daß  ein  Recht,  an  welchem  alle  teilhaben,  anders 
als  durch  einhelligen  Beschluß  Aller  geändert  werden  könne. 
Er  zog  sich  zwar  durch  die  formalistische  Übertreibung 
seines  Rechtes  Rache  zu,  aber  er  war  formal  im  Recht 
auch  gegen  die  Gewalt  der  Mehrheit:  denn  sein  Recht  auf 
Wahrung  der  Beuteordnung  konnte  ihm  durch  keinen  Mehr- 
heitsbeschluß entzogen  werden,  weil  es  kein  Staatsrecht  gab, 
welches  private  Rechte  hätte  brechen  dürfen. 

Hier  haben  wir  also  einen  Fall  des  später  zu  besprechen- 
den Widerstandsrechtes,  der  sich  nicht  sowohl  gegen  den 
König  als  gegen  das  ganze  Volk,  ausgenommen  einen  Volks- 


1)  Die  Axt  war  nicht  die  gleiche  (gegen  MSt.  1,  322,  323). 


60  Fritz  Kern, 

genossen,  richtet.  Solange  auch  nur  ein  einziger  Volks^ 
genösse  auf  ein  subjektives  wohlerworbenes  Recht  nicht 
freiwillig  verzichtet,  kann  der  Staat  das  objektive  Recht, 
in  welchem  jenes  subjektive  Recht  steckt,  durch  keinen 
Beschluß  abändern.  Wir  sehen  hier  die  theoretischen 
Schranken  nicht  nur  des  Herrschers,  sondern  auch  des  Volkes 
selbst  gegenüber  dem  Recht.  Der  Einzelne  ist  aus  dem  Recht 
unvertreiblich:  es  gibt  keine  Majorisierung.  Fiat  justitia, 
pereat  mundus.  Der  politisch-staatsrechtliche  Gesichts- 
punkt wird  von  der  gewaltig  einheitlichen  mittelalterlichen 
Denkweise  vollständig  verdrängt. 

Wir  haben  hier  zweierlei  gelernt:  einmal,  daß  der  Herr- 
scher z.  B.  Steuern  (vgl.  oben  S.  50)  nur  ausschreiben  konnte 
nach  gütlicher  Verständigung  mit  der  Volksgesamtheit, 
und  zweitens,  daß  diese  Verständigung  der  Theorie  nach 
wenigstens  das  Wesen  eines  Verhandeins  mit  jedem  Einzelnen, 
ob  er  gutwillig  zahlen  wollte,  trug.  Der  Fürst  konnte  im  Mittel- 
alter noch  nicht  schreiben,  wie  Friedrich  Wilhelm  I.  an 
seinen  Nachfolger  betreffs  der  Stände:  „Accordiren  sie  de 
bonne  grace,  gut.  Machen  sie  Difficultät,  so  hat  euch  Gott  ja 
Suverein  gemachet."  Solche  Andeutung  wäre  im  Mittel- 
alter fast  als  Gotteslästerung  herausgekommen.  Auch  der 
Besitzstand,  sowie  der  Rechtsstand  des  Reiches  oder  der 
Volksgesamtheit  gilt  als  ein  Recht,  das  der  König  nicht  ein- 
seitig schmälern  darf.  So  gibt  es  eine  Reihe  von  Fällen, 
wo  der  Herrscher  von  vornherein  nicht  einseitig  verfügen 
darf,  sondern  auf  eine  gütliche  Verständigung  mit  der  Ge- 
samtheit angewiesen  ist,  der  Theorie  nach.  In  der  Praxis 
war  es  freilich  nicht  immer  ganz  einfach,  diese  Fälle  eindeutig 
zu  bestimmen,  und  noch  weniger  leicht  war  es,  einen  mächtigen 
Fürsten  handgreiflich  davon  zu  überzeugen,  worin  er  etwa 
seine  Konsenspflicht  verletzt  habe.  Die  Macht  entschied 
auch  hier.  Wer  die  Macht  hatte,  dessen  Auffassung  bestimmte, 
was  Recht  sei.  Doch  auch  diese  Ketzerei  hätte  das  Mittel- 
alter niemals  aussprechen,  ein  solch  nichtswürdiges  Stück 
der  Wirklichkeit  niemals  beim  Namen  nennen  dürfen. 

Damit  aber  sind  wir  schon  hinübergeglitten  zum 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  61 

3.  Grundsatz  der  Verantwortlichkeit. 
(Das  Widerstandsrecht.) 

Der  Einzelne  schützt  das  Recht  gegen  jedermann, 
auch  gegen  die  Staatsgewalt.  Jeder  Einzelne  ist  hierzu  be- 
rufen, berechtigt,  ja  verpflichtet.  Das  ist  der  Sinn  des  Wi- 
derstandsrechts, über  das  ich  an  anderem  Ort  so  ausgiebig 
gehandelt  habe,  daß  ich  mich  hier  kurz  fassen  darf.^)  Das 
Widerstandsrecht  ist  aber  nur  die  begrifflich  und  technisch 
unbeliilfliclie  mittelalterliche  Ausführungsform  für  einen 
viel  allgemeineren  Grundsatz,  für  den  sich  nachmals  auch 
technisch  geeignetere  Verwirklichungen  fanden  als  das 
(für  unser  Auge  revolutionäre)  Recht  des  Widerstandes. 
Dieser  Grundsatz  ist  der  der  Verantvv'ortlichkeit  der  Re- 
gierung oder  der  Staatsgewalt,  mittelalterlich  gesprochen  des 
Herrschers  und  seiner  Räte. 2)  Da  die  Regierung  eingesetzt 
ist  zum  Schutze  des  Rechts,  so  verliert  sie  durcli  den  Bruch 
des  Rechts  ihre  eigene  Befugnis.  //  n'est  mie  seignor  de  faire 
fort.  Der  Herrscher,  der  das  objektive  Recht  verletzt,  zer- 
stört auch  zugleich  sein  eigenes  subjektives  Herrschaftsrecht, 
das  der  objektiven  Rechtsordnung  als  ein  untrennbarer 
Bestandteil  angehört.  Rex  eris,  si  rede  egerls.  Oder:  recte 
faciendo  regis  nomen  tenetur,  peccando  amittitur.  Die- Nicht- 
unterscheidung von  idealem  und  positivem  Recht  macht 
auch  diese  Herrschaftsverwirkung  zu  einem  halb  rechtlichen, 
halb  morahsch-innerlichen  Vorgang.  Ipso  facto  verliert  der 
Herrscher  durch  einen  Rechtsbruch  sein  Herrschaftsrecht. 
Er  setzt  sich  selber  ab.  Der  Spruch  der  Gesamtheit,  der 
formlose  Abfall  Einzelner,  die  Wahl  eines  neuen  Königs 
(Gegenkönigs):  all  das,  und  was  sonst  bei  den  unzähligen 
Fällen  der  Anwendung  mittelalterlichen  Widerstandsrechtes 
begegnet,  hat  alles  eigentlich  nur  noch  deklaratorische  Be- 
deutung, während  die  Herrschaftsverwirkung  durch  Selbst- 


V 


1)  MSt.   1. 

2)  Der  Ratgeber  des  Fürsten  erscheint  im  Mittelalter  in  schil- 
lernder Doppcleigenschaft  als  Volksvertreter  gegen  den  Herrscher 
und  als  mitverantwortlicher  Korregent  gegenüber  dem  Volk,  was  ja 
auch  die  Nachfolger  des  unbestimmten  mittelalterlichen  consilium, 
die  spätmittelalterüchen  Stände,  noch  übernommen  haben. 


62  Fritz  Kern, 

absetzung  konstitutiv  schon  im  Augenblick  der  fürstlichen 
Rechtsüberschreitung  vollzogen  ist. 

Wir  treten  hier  nicht  in  die  Betrachtung  des  praktischen 
Verfassungslebens  ein:  diese  Widerstandstheorie  selbst,  die 
reifste  Frucht  des  mittelalterlichen  Rechts-  und  Staats- 
begriffs, birgt  die  praktische  Anarchie  unter  ihrer  Schale. 

Bedarf  diese  Theorie  des  Vertragsbegriffs?  Nicht  unbe- 
dingt. Wer  subjektive  Rechte  anderer  verletzt,  der  setzt 
sich  selber  außerhalb  der  Rechtsordnung  und  verliert  seiner- 
seits den  Anspruch  auf  den  Schutz  seiner  subjektiven  Rechte. 
Dem  Träger  der  Staatsgewalt  geht  es  dabei  mangels  eines 
eigenen  Staatsrechts  nicht  anders  wie  dem  geringsten  Volks- 
genossen, und  der  Senator,  den  der  Kaiser  willkürlich  ab- 
setzt, antwortet  in  der  mittelalterlichen  Rechtsanekdote 
dem  Kaiser:  ,,Wenn  du  mich  nicht  mehr  als  Senator  be- 
trachtest, betrachte  ich  dich  nicht  mehr  als  Kaiser."  Der 
rechtmäßig  eingesetzte  Herrscher  hat  ein  Anrecht  auf  die 
Herrschaft,  wie  der  Bauer  auf  den  ererbten  Hof;  ebenso 
heilig  ist  sein  Anspruch,  aber  ebensowenig  unverwirkbar. 
Es  ist  ein  (wir  würden  sagen  „privates")  Recht  wie  jedes 
andere.^)  Dem  Herrscher  muß  man  gehorchen,  dem  Ty- 
rannen nicht.  2)  Im  Augenblick  aber,  wo  der  Herrscher  die 
Anrechte  anderer  Volksgenossen  einseitig  ändert,  wandelt 
er  sich  selbst  freiwillig  von  einem  rex  in  einen  tyrannus 
um  und  verliert  sein  Anrecht  auf  Gehorsam  in  demselben 
Augenblick,  ohne  daß  es  dazu  noch  ein  rechtsförmliches 
Verfahren  seitens  der  Gesamtheit  brauchte. 

Wie  man  sieht,  bedarf  es  der  Einführung  des  Ver- 
tragsbegriffes nicht,  um  das  Widerstandsrecht  zu  erklären. 3) 
Volles  Verständnis  des  mittelalterlichen  Rechtsbegriffs 
sichert   überhaupt  gegen   eine   Überschätzung   der  rechts- 


1)  Das  Mittelalter  selbst  kennt  selbstverständlich  kein  privates 
Recht,  weil  der  es  setzende  Gegensatz  des  souveränen  Staatsrechts 
gegenüber  dem  Privatrecht  fehlt. 

*)  Die  ethisch-soteriologisch  gerichtete  Kirche  läßt  es  nicht  ein- 
mal dabei  bewenden,  daß  dem  Tyannen  nicht  gehorcht  werden  braucht 
Ihr  zufolge  darf  man  ihm  gar  nicht  gehorchen. 

*)  Näheres  in  MSt.  I.  Ich  freue  mich,  hier  völlig  mit  R.  Schmidt^ 
Vorgeschichte  der  geschr.  Verf.  156,  3,  übereinzustimmen. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalten  6$ 

theoretischen  Bedeutung  des  Vertragsbegriffs.  Immerhin 
wird  auf  die  eben  geschilderten  Verhältnisse  vom  späteren 
Mittelalter  auch  das  privatrechtliche  Symbol  des  Herrschafts- 
„Vertrages"  angewendet,  nachdem  man  es  in  der  antiken 
Literatur  gefunden  hatte.  Altgermanisch  ist  dieser  Vertrags- 
gedanke nicht,  aber  für  das  gelehrte  Denken  bietet  er  sich 
als  passendstes  Gleichnis,  um  die  wechselseitige  Verpflich- 
tung von  Herrscher  und  Volk  auf  das  über  beiden  thronende 
Recht  zu  veranschaulichen.  Germanisch  ist  nicht  der  Ver- 
tragsgedanke, sondern  der  Begriff  der  wechselseitigen  Treue^ 
deren  Schnittpunkt  im  objektiven  Recht  liegt.  Durch  Treue 
ist  die  Staatsgewalt  dem  Volk  verpflichtet,  wie  dieses  jener. 
In  der  Wirklichkeit  aber  kam  die  germanische  Verwirkung; 
des  Treuanspruches  seitens  des  selber  Treubrüchigen  auf 
eines  hinaus  mit  der  kirchlichen  Lehre  vom  tyrannus^ 
der  sich  selber  absetzt,  und  mit  der  naturrechtlichen  Kon- 
struktion von  der  Auflösung  des  Herrschaftsvertrags  durch- 
Rechtsverletzung des  Herrschers. 

Um  das  mittelalterliche  Widerstandsrecht  ganz  zu  ver- 
stehen, müssen  wir  es  hier  noch  abgrenzen  gegen  das  moderne 
Notrecht  der  Revolution.  Auch  wir  werden  unter  Umstän- 
den es  billigen,  wenn  sich  irgendein  „Naturrecht"  „elementar**" 
gegen  ein  noch  so  formell  unanfechtbares  Staatsrecht  empört. 
Denn  das  Recht  (worunter  wir  nur  noch  positives  Recht 
verstehen)  ist  für  uns  nichts  in  sich  Letztes  und  Alleiniges: 
es  wird,  wie  von  der  Staatsräson  oder  Politik  einerseits,  so 
von  der  Sittlichkeit  anderseits  begrenzt,  überwacht  und 
unter  Umständen  zertrümmert.  Solch  einen  Einbruch 
rechtsfremder,  aber  politisch  oder  sittlich  begründeter 
Materie  in  den  Kreis  des  Rechts  anerkennen  wir  unter  Um- 
ständen in  dem  (nicht  Recht,  aber)  Notrecht  des  Umsturzes. 
Das  mittelalterliche  Widerstandsrecht  aber  ist  kein  Revo- 
lutionsrecht, sondern  einer  der  klarsten  Bestandteile  des  Ver- 
fassungsrechtes selbst:  eine  wahre  verfassungsrechtliche 
Auflehnungsbefugnis  des  Untertans.  Die  Erklärung  hierfür 
liegt  nicht  sowohl  in  der  Nichtunterscheidung  von  Staats- 
recht und  Privatrecht,  als  vielmehr  in  der  Gleichsetzung  von 
idealem  und  positivem  Recht.  Jene  für  uns  außerrecht- 
liche  Macht    der    Sittlichkeit    (Politik    oder   Staatsräsoa 


64  Fritz  Kern, 

wird  im  Mittelalter  überhaupt  nicht  anerkannt)  steckt  eben 
im  mittelalterlichen  Rechtsbegriff  selber  drin. 

Da  das  Recht  Recht  schlankweg,  nicht  positives  Recht 
war,  machte  es  für  seinen  Gehalt  und  seine  Gültigkeit  nichts 
aus,  ob  die  Staatsgewalt  es  kannte  und  anerkannte.  Um  so 
schlimmer  für  die  Staatsgewalt,  wenn  sie  das  Recht  ver- 
kannte! Es  mochte  also  der  Fall  eintreten  (und  ist  oft  ein- 
getreten), daß  ein  einzelner  Volksgenosse  das  Recht  erkannte 
oder  zu  erkennen  glaubte,  während  die  Staatsgewalt  es  an- 
geblich oder  in  Wahrheit  verkannte.  Da  aber  die  Staatsge- 
walt nur  ist  durch  und  für  das  Recht  und  nur  Obrigkeit  ist, 
insofern  sie  das  Recht  spendet  und  verwaltet,  so  hört  die 
Obrigkeit,  die  sich  an  das  Unrecht  gebunden  hat,  auf,  Obrig- 
keit zu  sein,  für  den  Mann,  der  sich  an  das  Recht  gebunden 
weiß.  Das  Recht  ist  der  Souverän,  und  jene  Obrigkeit  Ty- 
rannei, d.h.  nichtig.  Der  Einzelne  kämpft  dann  mit  Fug  und 
Recht  gegen  den  angemaßten  Träger  der  Staatsgewalt, 
der  zu  dem  betreffenden  besonderen  Unrecht  noch  das  all- 
gemeine fügt,  sich  widerrechtlich  als  Obrigkeit  aufzuführen, 
während  doch  der  aufhört  rex  zu  sein,  der  das  Recht  (rectum) 
nicht  achtet.  1) 

1)  In  vielem  ähnelt  der  mittelalterliche  Herrscher  nach  der  Auf- 
fassung der  Zeit  dem  Abt.  Dieser  rein  zu  sittlicher  Erziehung  seiner 
Brüder  eingesetzte  Vater  ist  Vorbild  auch  des  Verhältnisses  weltlicher 
Herrscher  zu  ihren  Untertanen,  so  wie  das  Kloster  das  ideale  Vorbild 
der  menschlichen  Gesellschaft  überhaupt  sein  soll.  Näher  ist  hierauf 
nicht  einzugehen;  es  gehört  in  die  Geschichte  der  mittelalterlichen 
Politik.  Ich  erwähne  es  hier  nur,  um  des  einen  Umstandes  willen, 
daß  der  Abt  trotz  seinen  typisch  mittelalterlichen  diskretionären  Herr- 
scherbefugnissen, trotz  der  Unbestimmtheit  seiner  Konsenspflichten  usf., 
doch  in  einem  mehr  der  modernen  verfassungsbeschränkten  Regierung 
als  dem  mittelalterlichen  weltlichen  Herrscher  ähnelt:  er  hat  eine 
geschriebene  Verfassung,  die  Regel,  über  sich.  Mit  den  entsprechen- 
den Einschränkungen  gilt  ähnliches  überhaupt  von  der  geistlichen 
Obrigkeit  des  Mittelalters. 

In  allem  übrigen  aber  ist  nach  der  Regel  Benedikts  der  Abt  das 
Vorbild  mittelalterlichen  Herrschertums  selbst,  das  monarchisch, 
nichtabsolutistisch,  aber  ohne  bestimmte  Bindungen  ist  (mit  Aus- 
nahme eben  der  „Regel"  als  geschriebenen  Rechts,  an  das  der  Abt 
gebunden  ist;  aber  die  Regel  läßt  sehr  vieles  unbestimmt!).  Der  Abt 
soll  in  wichtigen  Dingen  die  Gesamtheit  der  Mönche,  in  unwichtigeren 
die  Seniores  hören.    Er  selbst  aber  bestimmt,  was  wichtig  und  was 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  65 

4.  Übergänge. 

Die  nachmittelalterliche  Verfassungsentwicklung  hat 
das  hier  gezeichnete  Bild  allmählich  in  allen  seinen  Einzel- 
heiten verwischt.  Vor  allem  hat  der  moderne  Rechtsbegriff, 
indem  er  das  positive,  das  kodifizierte  und  das  Staatsrecht 
herausarbeitete,  die  Pfeiler  des  mittelalterlichen  Gedanken- 
gebäudes selbst  zum  Einsturz  gebracht. 

Noch  bevor  dies  eintrat,  hat  das  Spätmittelalter  inner- 
halb des  alten  Rechtsbegriffes  selbst  einige  technische  Neue- 
rungen vollzogen,  durch  die  verbesserten  bzw.  geregelteren 
Konsensgepflogenheiten  des  Ständestaats. 

Der  Ständestaat  bewahrt  (im  Gegensatz  zum  landes- 
fürstlichen Absolutismus)  den  Grundzug  des  mittelalter- 
lichen Verfassungsgedankens  und  verschärft  ihn  sogar  noch: 
nämlich  den  Schutz  der  Individualrechte  und  die  Schwächung, 
Bindung  und  Beschränkung  der  Staatsgewalt.  Der  im  Früh- 
mittelalter noch  schwankende  Kreis  der  konsensberechtigten 
Personen  wird  abgegrenzt,  der  im  Frühmittelalter  noch 
fließende  Rahmen  der  konsenspflichtigen  Herrscherver- 
fügungen wird  abgesteckt.  Das  wirkliche  Volk  tritt  in  seiner 
Bedeutung  freilich  zurück,  je  mehr  die  Volksvertreter, 
die  Stände  sich  abzirkeln  und  damit  auch  zu  einer  Art  von 
Volk  in  oder  über  dem  Volke,  zu  einer  Art  von  Nebenstaats- 
gewalt oder  Korregenten  werden.  Auch  das  Widerstands- 
recht, das  dem  Ständestaat  infolge  der  unverrückt  beibe- 
haltenen mittelalterlichen  Grundzüge  noch  unentbehrHch 
ist,  wird  auf  die  Stände  eingeschränkt  und  damit  mehr  und 
mehr  von  einer  fallweise  repressiven  zu  einer  ständig  präven- 
tiven Verfassungseinrichtung,  die  zu  den  modernen  Formen 
der  Regierungsverantwortlichkeit,  der  parlamentarischen 
Verantwortlichkeit  hinüberleitet.  In  dieser  Festlegung  so- 
wohl des  Personenkreises  wie  der  Geschäftsbefugnisse  der 
Volksvertretung  vollzieht  der  Ständestaat  entscheidende 
Klärungen,  zu  denen  noch  als  weitere  technische  Verbesse- 
rung die  Einführung  des  Mehrheitsgrundsatzes  innerhalb 
der  Volksvertretung  kommen  konnte. 

weniger  wichtig  ist;  ebenso  wer  senior  sei  und  wieviele  seniores  er  hören 
will.  Endlich  soll  er  diese  Ratgeber  nur  hören,  entscheiden  und  Beschluß 
fassen  soll  er  monarchisch-allein. 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  5 


66  Fritz  Kerrt, 

Das,  was  das  Mittelalter  nicht  fertiggebracht  hatte 
und  worauf  es  doch  für  eine  praktisch  gedeihliche  Arbeit 
der  Staatsmaschinerie  ankommt,  die  klare  Abgrenzung  der 
Organe  und  ihrer  Zuständigkeiten,  das  wird  jetzt  einiger- 
maßen erreicht.  Die  wohltätige  Fiktion  kommt  auf,  daß 
der  Wille  der  einzelnen  Volksgenossen  für  sie  selbst  rechts- 
verbindlich  ausgedrückt  und  zusammengefaßt  wird  durch 
den  Willen  der  Mehrheit  der  Volksvertreter.  Der  Herrscher 
aber  weiß  jetzt  genau,  für  welche  Angelegenheiten  er  die  Zu- 
stimmung ganz  bestimmter  Persönlichkeiten  einholen  muß. 

Diese  Fortschritte  des  Ständestaats  konnte  das  Mittel- 
alter sozusagen  noch  aus  seinem  eigenen  Geiste  heraus  an- 
bahnen. Der  Ständestaat  ist  Geist  von  seinem  Geist:  das 
beweist  er  auch  in  der  immer  noch  weiter  getriebenen  Kne- 
belung der  Staatsgewalt,  dem  Vordrängen  der  privatrecht- 
lichen und  privatwirtschaftlichen  Gesichtspunkte.  Infolge- 
dessen konnte  auch  der  moderne  Staat  nicht  geradlinig  aus 
dem  Ständestaat  herauswachsen,  sondern  es  mußte  erst  die 
Staatsvernunft  und  Staatsnotwendigkeit  sich  gewaltsam 
Bahn  erzwingen  durch  den  Durchbruch  des  absolutistischen 
Fürstenrechtes,  ausgehend  von  einem  wurzelhaft  unmittel- 
alterlichen und  gegenmittelalterlichen  Staats-  und  Rechts- 
begriff, Der  Gedanke  der  Verfassung  war  im  Mittelalter 
infolge  des  moraldurchtränkten  mittelalterlichen  Rechts- 
begriffs zu  Staats-  und  machtfeindlich.  Der  rauhe  Rück- 
schlag des  absolutistischen  Fürstenstaats  bringt  den  Ver- 
fassungsgedanken völlig  unter  die  kräftigen  Klauen  der 
Politik,  der  Staatsvernunft.  Und  dann  erst,  als  sich  Privat- 
recht und  Moral  unter  der  Hülle  des  Naturrechts  wieder 
dem  nunmehr  machtgesättigten  Leviathan- Staat  nähern, 
entsteht  nach  langen  Verfassungskämpfen  aus  dem  billigen 
Ausgleich  zwischen  Macht  (Staatsrecht)  und  „Recht"  (Natur- 
und  Privatrecht)  der  moderne  Verfassungsstaat. 

Man  kann  von  einem  „ewigen  Mittelalter"  sprechen, 
das  auch  in  der  Neuzeit  fortlebe.  In  einem  doppelten  Sinn 
möchte  ich  hier  diesen  Ausdruck  zugeben:  einmal,  indem 
die  Neuzeit  mittelalterliche  Grundgedanken  in  völliger  tech- 
nischer Umarbeitung  beibehält  und  manchmal  besser  zum 
Ziele  führt  als  das  Mittelalter  selbst  es  vermochte.    Und  so- 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  67 

dann :  indem  die  verwickelte  Technik  des  modernen  Kultur- 
lebens einen  Zwiespalt  aufreißt  zwischen  der  gelehrt-gebil- 
deten Kultur  und  dem  volkstümlichen  Denken,  das  viel- 
fach bei  mittelalterlichen  oder  halbmittelalterlichen  Denk- 
bräuchen stehen  bleibt,  die  zu  ihrer  Zeit  noch  eine  unge- 
brochene Einheit  zwischen  Gebildeten  und  Ungebildeten  dar- 
stellten. Diese  beiden  Gesichtspunkte  des  Fortlebens  des 
Mittelalterlichen  sollen  hier  fi|r  das  Verfassungsgebiet  einer 
nach  dem  andern  erwähnt  werden.  Ich  bemerke  aber,  daß 
in  diesem  Zusammenhang,  wie  in  unserer  ganzen  Studie 
„Mittelalter**  im  rein  zeitlichen  Sinn,  für  die  Kultur  des 
Jahrtausends  von  500  bis  1500  gesetzt  ist.  Daß  dies  nicht 
mit  begrifflichem  Mittelalter  zusammenfällt,  soll  nachher 
noch  erörtert  werden. 

Betrachten  wir  die  Erfüllung  mittelalterlicher  Zielgedan- 
ken durch  moderne  Verfassungen.  Es  bedarf  gar  keiner  langen 
Beweisführung,  um  zu  zeigen,  daß  die  Grundgedanken  des 
modernen  Verfassungsstaates:  Rechtsgebundenheit  der  Re- 
gierung, Mitwirkung  der  Volksvertretung,  Verantwortlich- 
keit der  Regierung  genau  die  Grundlinien  auch  der  mittel- 
alterlichen Verfassung  sind.  Außerordentlich  groß  aber 
sind  die  technischen  Veränderungen,  durch  welche  die  Neu- 
zeit diesen  übereinstimmenden  Endzweck  der  Verfassung 
scheinbar  umständlicher,  in  Wahrheit  sicherer  und  reibungs- 
loser erreicht. 

Die  moderne  Staatsgewalt  ist  nicht  mehr  an  „das  Recht", 
sondern  an  positives  Recht,  an  eine  geschriebene  Verfassung 
gebunden.  Moderne  Verfassungen  enthalten  zwei  gänzlich 
verschiedene  Bestandteile:  naturrechtlich  beeinflußte  Grund- 
oder Menschenrechte  auf  der  einen,  rein  technische  Bestim- 
mungen auf  der  anderen  Seite.  Zu  der  ersten  Reihe  würde 
z.  B.  auch  die  Trennung  der  Gewalten  zu  zählen  sein,  zu 
der  zweiten  die  Einzelbestimmungen  über  das  Zustande- 
kommen der  Volksvertretung,  Wahlgesetze  usf.^)  Aber  beide 


1)  Soll  der  Begriff  der  Grund-  oder  Menschenrechte  überhaupt 
einen  guten  Sinn  behalten,  so  scheint  mir  nötig,  daß  nur  naturrecht- 
liche Bestimmungen  darunter  verstanden  werden.  R.  Schmidt  beginnt 
abweichend  hiervon  seine  „Vorgeschichte  der  geschriebenen  Verfas- 
sungen" auf  S.  81  damit,  daß  er  alle  diejenigen  Verfassungsbestimmun» 

5* 


tS  Fritz  Kern, 

Reihen  von  Bestimmungen  erscheinen  äußerlich  als  posi- 
tives Recht.  Jedes  einzelne  Organ  des  Staates,  auch  die 
Regierung,  steht  unter  diesem  positiven  Recht,  aber  die 
Staatsgewalt  als  Ganzes  steht  darüber.  Sie,  nicht  das  po- 
sitive Recht,  ist  souverän.  Während  also  die  Regierung 
in  ähnlicher  Weise  ans  Recht,  wenn  auch  an  ein  anderes 
Recht,  gebunden  ist,  wie  der  mittelalterliche  Herrscher, 
ist  doch  die  moderne  Staatsgewalt  als  Ganzes  an  kein 
Recht  gebunden,  sondern  steht  darüber.  Der  Herrscher- 
oder Regierungswillkür  sind  Schranken  gezogen,  aber  nicht 
mehr  wie  im  Mittelalter  auch  dem  Staatsermessen,  der 
Staats  Vernunft. 

Ob  die  Staatsgewalt  das  Recht  beobachtete  oder  ver- 
letzte, konnte  im  Mittelalter  bei  der  Vieldeutigkeit  des 
Rechtsbegriffs  einerseits,  der  mangelhaften  Rechtsbestän- 
digkeit anderseits  fast  in  jedem  einzelnen  Fall  strittig  blei- 
ben. Heute  ist  es  sehr  leicht  festzustellen,  ob  irgendein  Staats- 
organ in  Einklang  mit  dem  Recht  blieb  oder  nicht:  diese 
leichte  Erkennbarkeit  teilt  die  moderne  geschriebene  Ver- 
fassung mit  dem  geschriebenen  Recht  überhaupt,  dessen 
Krone  sie  ist.  Gesetzt  also  auch,  es  gäbe  heute  noch  ein 
Widerstandsrecht  des  Einzelnen,  so  würden  doch  die  Fälle 
seines  Eintretens  heute  unendlich  viel  einwandfreier  festzu- 
stellen sein  als  unter  der  Herrschaft  des  mittelalterlichen 
Rechtsbegriffs,  und  schon  damit  wäre  für  die  Erhaltung 
der  Staatsmacht  und  Rechtssicherheit  Entscheidendes  ge- 
wonnen. Aber  es  bedarf  des  Widerstandsrechtes  gar  nicht 
mehr.    Denn  die  moderne  geschriebene  Verfassung  verzahnt 


gen,  welche  das  Verhältnis  von  Staat  und  Individuum  berühren,  als 
Menschenrechte  bezeichnet,  also  auch  so  rein  technische  und  positiv- 
rechtliche Einzelheiten,  wie  die  Festsetzung  des  Wahl-  oder  Militär- 
alters u.  dgl.  Auf  der  anderen  Seite  würden  auch  die  wichtigsten  Fest- 
setzungen über  die  Organe  der  Staatsgewalt  hiernach  nicht  unter 
die  Grundrechte  fallen.  Schutz  des  privaten  Vermögens,  der  persön- 
lichen Freiheit  und  des  Lebens  sind  gewiß  Menschenrechte.  Aber  ge- 
hört hierzu  nicht  auch  mein  Menschenrecht  auf  Trennung  der  Justiz 
von  der  Verwaltung?  Die  naturrechtliche  Hoheit  und  damit  die  Ge- 
burtsurkunde der  Menschenrechte  scheint  mir  bei  der  Schmidtschen 
Auslegung  verloren  gegangen,  und  der  Begriff  einerseits  zu  eng,  ander- 
seits zu  weit  gefaßt. 


i 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  69 

die  wechselseitigen  Befugnisse  der  Staatsorgane  so  unter- 
einander, daß  ein  seine  Zuständigkeit  überschreitendes  Organ 
wie  von  selbst  durch  eintretende  Sicherungen  gehemmt  und 
unschädlich   gemacht  wird.     Freilich  nicht  unbedingt  gilt 
das:  immer  entscheidet  zuletzt  auch  hier  die  Macht.    Ver- 
fassungsbrüche   sind  möglich,    Staatsstreich  und  Umsturz. 
Aber  das  sind  außerrechtliche  Vorgänge.  Innerhalb  von  Recht 
und  Verfassung  selbst  ist  das  repressive  Recht  des  Wider- 
standes durch  präventive  gegenseitige   Überwachungsmaß- 
nahmen der  Staatsglieder  ersetzt  worden.    Die  Geschichte 
der  Anarchie  im  Mittelalter  zeigt,  welch  segensreiche  Ent- 
deckung    die    Wiederausgrabung    des    Begriffs    „positives 
Recht"  und  die   Scheidung  von    Staats-  und   Privatrecht 
gewesen  ist;  sie  war  manches  Bataillon  Soldaten  wert.    Im 
Mittelalter  durfte  und  mußte,  um  zu  wissen,  was   Recht 
sei,  jeder  das  eigene  Rechtsgefühl  befragen.  Wenn  heute  eine 
Minderheit  ihr  von  der  Gewalt  des  Bestehenden  abweichendes 
Rechtsgefühl  durchsetzen  will,  so  muß  sie  streben,  zur  Mehr- 
heit zu  werden  und  den  Willen  der  Staatsorgane  zu  be- 
stimmen, welche  festsetzen,  was  Recht  sein  soll.    Im  Mittel- 
alter war  das  kein  anerkannter  Weg:  denn  das  Recht  wurde 
nicht  von  Staatsorganen  gemacht,  am  wenigsten  von  Mehr- 
heiten, sondern  es  war  vor  allen  Staatsorganen  und  un- 
geachtet aller  Mehrheitsbeschlüsse.  Wohl  fragte  der  Fürst, 
um  zu  wissen,  was  Recht  sei,  wenn  er  wollte,  auserlesene 
Männer,  die  dann  gewissermaßen  als  Vertreter  der  Gesamt- 
heit galten.    Aber  ob  er  sie  fragen  wollte,  wen  er  fragen 
wollte,  ob  er  sich  an  ihre  Antwort  kehren  wollte,  stand  bei 
ihm.    Was   aber   die   Meinungsbildung   der   Volksvertreter 
anlangt,  so  bestand  die  moderne  staatsrechtliche   Fiktion 
noch  nicht  (vielmehr  sie  kam  eben  erst  im  Kirchenrecht  auf), 
daß  der  Vertreterwille  den  Willen  der  Vertretenen,  der  Mehr- 
heitswille den  Minderheitswillen  tötet,  so  daß  aus  ihm  ein 
Gesamtwille  wird,  der  alle  bindet.    Da  man  nun  im  Mittel- 
alter Minderheits-  oder   Individualanschauungen  über  das, 
was  Rechtens  sei,  nicht  positivrechtlich  vernichten  konnte, 
weil  es  kein  positives  Recht  gab,  und  da  auch  die  Herstel- 
lung der  theoretisch  geforderten  Einstimmigkeit  praktisch 
nicht  einmal  auf  dem  Weg  des  Niedersäbeins,  wie  im  polni- 


90  Fritz  Kern, 

sehen  Reichstag,  für  die  zahllosen  Fälle  des  Rechtslebens 
in  Betracht  kam^),  so  konnte  man  Minderheiten  und  Einzelne 
niemals  daran  hindern,  zu  glauben  und  zu  erklären,  ihre 
Kenntnis  und  Überzeugung  vom  Recht  sei  die  echte,  die  der 
herrschenden  Partei  aber  Rechtsverdrehung.  Und  da  nun 
das  Recht  damals  durch  sich  selber  war  und  nicht  durch 
Satzung  des  Staates,  so  hatte  jeder  Volksgenosse  das  Recht, 
wo  nicht  die  Pflicht,  Recht  zu  verteidigen  gegen  Unrecht, 
und  zum  Michael  Kohlhaas  zu  werden:  er  schützt  das  Recht, 
an  das  jeder  gebunden  ist,  gegen  das  Unrecht,  an  welches 
sich  die  Staatsgewalt  gebunden  hat,  ohne  daß  sie  damit 
die  einzelnen  Volksgenossen  gleichfalls  dem  Teufel  ver- 
pflichten konnte. 

Es  liegt  eben  alles  in  der  Nichtunterscheidung  des 
idealen  und  des  positiven  Rechtes:  sie  bestimmt  das  von 
unserem  modernen  Leben  so  abweichende  Verhalten  des  Ein- 
zelnen zu  Recht,  Gesetzgeber  und  Staatsgewalt.  Wenn  heute 
jemand  ein  positives  Recht  schilt,  so  kann  er  seine  verfassungs- 
mäßige Ersetzung  durch  das  ihm  vorschwebende  ideale 
Recht  nur  erreichen  durch  Umstimmung  des  Gesetzgebers, 
der  dann  das  geforderte  ideale  Recht  in  positives  verwandelt. 
Wenn  aber  im  Mittelalter  jemand  ein  Unrecht  (und  jede 
„Ungerechtigkeit"  ist  damals  gleichbedeutend  mit  „Unrecht- 
mäßigkeit",  ja  „Gewalt"^)  im  Verhalten  der  Staatsgewalt 
entdeckte,  so  durfte  er  erklären,  das  Recht  sei  durch  Gewalt 
unterdrückt:  nicht  neues  Recht  brauche  erlassen  werden, 
sondern  einfach  das  Nichtrecht  sei  zugunsten  des  bedrängten, 
aber  allein  seienden  Rechts  wieder  aufzuheben;  das  verlange 
er,  Michael  Kohlhaas,  und  werde  nötigenfalls  den  Staat 
dazu  zwingen,  Gewalt  wider  Gewalt  setzend. 

Wir  brauchen,  wo  wir  die  Gerechtigkeit  gekränkt  sehen, 
glücklicherweise  nicht  mehr  gleich  „Gewalt'*  zu  rufen. 
Begriffliche  Verfeinerungen  und  technische  Verbesserungen 
haben  den  Zweck  der  mittelalterlichen  Verfassung  innerhalb 
jies  modernen  Verfassungsstaats  zu  einer  ruhiger  und  sicherer 
arbeitenden  Erfüllung  gebracht,  ohne  ihn  irgendwie  zu  ver- 

1)  Vgl.  MSt.   1,  461. 

2)  Vgl.  auch  MSt.   1,  313,  307,  zum  Sprachgebrauch  von  vis. 
Daß  ius  und  iustitia  wechselsweise  gebraucht  werden,  ist  bekannt. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  71 

flüchtigen.  Aber  unsere  letzten  Bemerkungen  haben  doch 
auch  schon  auf  jene  zweite  Seite  des  „ewigen  Mittelalters*' 
hinübergeführt,  die  oben  bezeichnet  wurde  als  das  Festhalten 
volkstümlicher  Anschauungsweise  an  mittelalterlichen  Denk- 
bräuchen auch  innerhalb  der  Moderne,  die  eben  durch  ihren 
verwickeiteren  Aufbau  eine  Spaltung  zwischen  gebildetem 
und  ungebildetem  Denken  erzeugen  mußte.  Wir  haben  das 
schon  oben  am  Ende  unserer  Ausführungen  über  das  Recht 
im  allgemeinen  betont,  und  müssen  es  hier  nun  für  die  Ver- 
fassung wiederholen. 

Dem  naiven  Volksempfinden  wurde  und  wird  es  immer 
schwer,  einzusehen,  daß  etwas,  was  es  für  recht  hält,  dennoch 
nicht  Recht  sein  solle.  Denn  zu  allen  Zeiten  empfängt  der 
Staat  sein  Daseinsrecht  daraus,  daß  sein  Walten  dem  Rechts- 
gefühl entspreche:  nicht  immer  aber  sind  Staatsnotwendig- 
keiten ohne  weiteres  verständlich.  Der  Weg  der  gesetzmäßi- 
gen Reform  ist  lang  und  für  Minderheiten  zudem  meist  hoff- 
nungslos verschlossen.  Wie  segensreich  und  notwendig 
die  technischen  Hemmungen,  das  langsame  und  verwickelte 
Räderwerk  des  modernen  Staats-  und  Rechtslebens  ist, 
das  überblickt  der  gemeine  Mann  nicht.  Er  ahnt  es  vielleicht 
dunkel,  aber  Michael  Kohlhaas  ist  seinem  rechtstrotzigen 
Empfinden  jedenfalls  lieber.  Freilich,  die  starken  Staats- 
gewalten der  Neuzeit  haben  mit  ihrem  positiven,  geschrie- 
benen Recht  und  zumal  Staatsrecht  die  Völker  erzogen.  Das 
Murren  des  Volks  blieb  jetzt  im  allgemeinen  davor  bewahrt, 
Widerstandsrecht  wie  in  alter  Zeit  und  so  sich  selber  furcht- 
bar zu  werden.  Ausgenommen  bei  unterdrückten  Völkern,  die 
unter  volksfremden  Staatsgewalten  seufzen  und  denen  des- 
halb das  Widerstandsrecht  auch  heute  als  eines  der  ewigen, 
in  den   Sternen  geschriebenen  Rechte  gelten  muß^),  ist  es 

^)  Man  vergleiche  z.  B.  folgende,  beliebig  herausgegriffene  Mel- 
dung der  „Norddeutschen  Allgemeinen  Zeitung"  von  1918: 

Die  irischen  Bischöfe  und  die  Dienstpflicht. 
Haag,  den  27.  April.  (Privattelegramm.)  Der  „Telegraaf" 
läßt  sich  aus  London  melden:  „Der  eigenartige  Standpunkt,  den  die 
katholische  Priesterschaft  Irlands  zu  der  Dienstpflicht  eingenommen 
hat,  wird  durch  die  Erklärung  Foleys,  des  Bischofs  von  Kildare,  be- 
leuchtet.  Einem  Bericht  zufolge,  den  die  „Times"  aus  Dublin  erhielt. 


72  Fritz  Kern, 

erloschen.  Das  ewig  junge  Verlangen  nach  einem  idealen 
Recht  weiß  heute,  was  es  im  Mittelalter  noch  nicht  wissen 
konnte:  daß  der  Umbau  des  Rechts  sich,  wenn  auch  unter 
Widersprüchen  und  Verzögerungen,  doch  gewisser  durch  ein 
absolut  bindendes  positives  Recht,  Mehrheitsbeschlüsse  und 
Kodifikationen  erzielen  läßt  als  durch  den  Glauben  an  ein 
durch  sich  selbst  seiendes  Recht  mit  dem  Rechtszug  an  die 
Souveränetät  des  Einzelgewissens,  welches  befugt  ist,  jenes 
Recht  wiederherzustellen,  wenn  es  gekränkt  wurde,  und  die 
Staatsgewalt  abzulehnen,  welche  es  kränkte. 

Völker,  die  staatlich  gut  erzogen  sind  und  die  Staats- 
räson in  den  Willen  der  Einzelnen  aufgenommen  haben, 
wie  Franzosen  und  Engländer,  töten  sich  nicht  mehr  so 
leicht  selbst  durch  Revolution  wie  mittelalterlich  unpolitische 
Völker  in  der  Art  der  Deutschen  oder  Russen. 

Freilich  in  einem  Punkt  wird  es  dem  Privaten,  dem 
Untertan  theoretisch  nie  wieder  so  wohl  werden,  wie  im  Mittel- 
alter. Nie  wieder  wird  das  geringste  seiner  subjektiven 
Rechte  so  heilig  und  unverbrüchlich  werden  wie  das  Grund- 
gesetz des  Staates,  ja  der  Menschheit  selbst!  Aber  dieser 
schrankenlose  Schutz  des  Privatrechts  in  der  Theorie  war 
doch  in  der  Praxis  eher  bedenklich,  nicht  nur  für  den  Staat, 
der,  im  Schlinggewächs  überwuchernder  Privatrechte  ver- 
strickt, keinen  staatsnotwendigen  Schritt  tun  konnte, 
ohne  das  Recht  zu  übertreten^),  sondern  auch  für  den  Privat- 
mann oder  Volksgenossen  selbst.  Denn  wo  mangels  feinerer 
begrifflicher    Unterscheidungen   das  Kleinste    dem  Größten 


hat  der  genannte  Bischof  in  einer  Rede  in  der  Kathedrale  von  Carlow 
gesagt,  daß  die  Bischöfe  der  Meinung  seien,  das  Dienstpflichtgesetz 
sei  kein  Gesetz.  Es  liege  außerhalb  der  Befugnisse  der  Regierung, 
weil  es  einen  Versuch  darstellt,  eine  unerträgliche  Last  auf  das  Gewissen 
des  Volkes  zu  bürden.  Darum  ist  ein  Widerstand  des  Volkes  gegen  dieses 
sog.  Gesetz  rechtmäßig  und  darum  können  alle  Mittel  angewandt  wer- 
den, die  mit  dem  göttlichen  Gesetz  in  Übereinstimmung  stehen.  Diese 
These,  so  sagt  die  „Times",  ruft  zu  einem  öffentlichen  Widerstand 
gegen  ein  regulär  vom  Parlament  angenommenes  Gesetz  auf.  Es  ist 
klar,  daß  die  katholische  Kirche  hier  ein  sehr  gefährliches  Spiel  spielt, 
denn  der  alte  Religionsstreit  wird  dadurch  wieder  wachgerufen." 

*)  Hierüber  künftig  in   einer   Studie  über  mittelalterliche  Po- 
litik.  Vorläufig  vergleiche  MSt.  1,  308ff. 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  7S 

gleichgeachtet  wird,  da  ist  die  Gefahr  nahe,  daß  auch  das 
Große  kleingeachtet  werde.  In  der  Nichtunterscheidung 
des  idealen  und  des  positiven  Rechtes  lag  vielfach  Gefährde 
sowohl  für  den  Privatmann  wie  für  die  Staatsgewalt.  Wenn 
z.  B.  ein  Fürst  einem  Untertan  freies  Geleit  zum  Konzil 
zusagte,  auf  welchem  dann  durch  die  Stimme  des  Heiligen 
Geistes  jener  als  Ketzer  anerkannt  wird,  so  verliert  der  Ge- 
leitsbrief ipso  facto  seine  Gültigkeit,  da  jedes  Recht  und 
jeder  Staatsakt  hinwegfällt,  wenn  sie  dem  Glauben  schaden 
(Hus).  Gewiß,  heute  ist  der  Untertan  bei  keinem  seiner 
Privatrechte  mehr  ganz  sicher,  daß  nicht  der  souveräne  Staat 
in  seinen  bitteren  Staatsnotwendigkeiten  und  seiner  uner- 
sättlichen Machtgier  sie  ihm  kürze.  Nur  zwei  Sicherungen 
sieht  der  Private  heute,  und  diese  beiden  müssen  ihm  ge- 
nügen. Das  eine  ist  die  Gewißheit,  daß  bestimmte  Gebote 
der  Sittlichkeit  so  feststehen,  daß  sie  auch  durch  keine 
wie  immer  geartete  Staatsnotwendigkeit  angegriffen  werden 
können.  Das  andere  ist  die  Teilnahme  einer  Volksvertretung 
an  der  Staatsgewalt,  wodurch  die  Sicherung  jener  sittlichen 
Forderungen  gegen  Launen  Einzelner  verbürgt  erscheint, 
welche  Mängel  auch  immer  diese  Volksvertretung  sonst 
haben  möge.  Ob  aber  jene  sittlichen  Forderungen  ganz  oder 
teilweise  in  die  geschriebene  Verfassungsurkunde  aufge- 
nommen sind,  als  Grundrechte  u.  dgl.,  ist  höchst  gleichgültig 
und  für  das  Wesen  des  modernen  Verfassungsstaates  von  fast 
gar  keiner  Bedeutung.  Denn  ihre  Unverbrüchlichkeit  liegt 
ja  keineswegs  in  ihrer  Aufnahme  in  das  positive  Staats- 
recht, welches  im  Gegenteil  formal  als  positives  Recht  gerade 
das  Merkmal  der  leichten  Abänderungsfähigkeit  trägt,  son- 
dern darin,  daß  sie  ein  ideales  Recht  darstellen,  welches  allen 
Volksgenossen  oder  doch  der  überwältigenden  Mehrheit 
dauernd  teuer  und  heilig  ist,  sowie  darin,  daß  der  moderne 
Verfassungsstaat  die  Staatsorgane  so  gegeneinander  ordnet, 
daß  keines  von  ihnen  ungestraft  diese  sittliche  Gemeinüber- 
zeugung verletzen  kann.  Daß  man  die  Grundrechte  (d.  h. 
einen  kleinen  Ausschnitt  jener  sittlichen  Grundforderungen) 
im  18./19.  Jahrhundert  da  und  dort  in  die  geschriebenen 
Verfassungen  aufnahm,  ist  nicht  aus  dem  Geist  des  modernen 
Verfassungsstaats   zu   erklären,   sondern   aus   einem    Stück 


74  Fritz  Kern, 

„ewigen  Mittelalters",  hineingeworfen  in  die  Kämpfe  mit 
dem  absoluten  Staat,  unter  einer  Wesensverkennung  des 
geschriebenen  Rechts,  wofür  eben  die  Haltung  des  Natur- 
rechts zwischen  Mittelalter  und  Moderne  bezeichnend  ist. 

Doch  hierauf  soll  nicht  näher  eingegangen  werden. 
Es  genüge  uns,  nach  den  Verwandtschaftsbanden  zwischen 
mittelalterlicher  und  moderner  Verfassungsidee  auch  ihre 
Verschiedenheiten  erwähnt  zu  haben.  Die  straffe  Vollzie- 
hungsgewalt des  modernen  Staats  prägte  den  Völkern  ein, 
daß  auch  eine  „ungerechte"  Obrigkeit  nicht  aufhöre  Obrig- 
keit zu  sein,  und  ein  schlechtes  positives  Recht  noch  immer 
Recht  bleibe.  Der  mittelalterliche  Rechtsbegriff  ging  unter 
durch  das  gelehrte,  geschriebene  Recht  und  die  Erstarkung 
der  Staatsgewalt.  Der  vieldeutige  Rechtsbegriff  des  Mittel- 
alters, dunkel  und  reich  in  seiner  unklaren  Tiefe,  ausreichend 
in  altertümlich  engen  und  begrenzten  Lebensverhältnissen, 
wo  jeder  jeden  kannte  und  den  ganzen  Umkreis  der  für  ihn 
wesentlichen  Rechtsordnungen  überschaute,  dieser  einfache 
und  doch  so  unergründlich  strudelnde  Rechtsbegriff  war 
eines  der  wesentlichen  Hindernisse  für  den  Aufbau  kräftiger 
Staatsordnungen:  er  paßte  für  Markgenossen,  aber  nicht  für 
Monarchien. 

Anhang. 
Die  entscheidende  Wendung  der  ganzen  begrifflichen  Entwick- 
lung trat  ein,  als  die  spätmittelalterliche  Rechtsphilosophie  es  lernte, 
zwischen  positivem  und  Naturrecht  zu  unterscheiden.  Fortan  ist  die 
Staatsgewalt  über  dem  positiven  und  unter  dem  natürlichen  Recht. 
Also  nicht  mehr  jedes  unbedeutendste  individuelle  Privatrecht,  sondern 
nur  noch  die  großen  Grundsätze  des  Naturrechts  sind  dem  Zugriff 
des  Staates  entzogen.  Das  Programm  des  Schutzes  der  Individual- 
rechte gegen  den  Staat  wird  damit  kleiner,  aber  auch  gewichtiger. 
Gleichzeitig  setzt  sich  freilich  der  absolutistische  Leviathan-Staat  über 
alle  Individualrechte  hinweg.  In  seiner  Bekämpfung  gewinnt  die 
Theorie  der  Naturrechtler  den  Wert  einer  praktisch  wirksamen  Waffe 
und  hilft  den  Verfassungskampf  entscheiden.  Das  Naturrecht  und  seine 
Grund-  oder  Menschenrechte  stehen  also  mitten  inne  zwischen  dem 
mittelalterlichen  und  dem  modernen  Verfassungszustand,  welch  letz- 
terer der  Staatsgewalt  dieselbe  absolute  Souveränetät  auch  gegenüber 
den  Privatrechten  gibt,  wie  sie  der  absolutistische  Fürstenstaat  besaß, 
aber  durch  die  Zusammensetzung  der  Staatsgewalt  Bürgschaften  dafür 
schafft,  daß  die  sittlichen  Forderungen  (=  iVlenschenrechte)  nicht  über- 
schritten werden.    Diese  Bürgschaften  sind  der  Schwerpunkt  der 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  75 

Verfassungen,  die,  wie  jedes  moderne  Recht,  geschriebenes  Recht  sind, 
wenigstens  auf  dem  Festland.  Die  Verkündigung  von  Menschen- 
rechten aber  ohne  jene  geschriebenen  oder  ungeschriebenen  Bürg- 
schaften, ist  erst  ein  Programm,  eine  Vorstufe,  eine  Forderung.  Die 
proklamierten  Menschenrechte  wollen  darum  gewürdigt  werden  als 
Kampf erzeugnis  einer  ganz  bestimmten  geschichtlichen  Lage.  Man 
erweist  ihnen  zuviel  Ehre,  wenn  man  in  ihnen  selbst  eine  Bürgschaft 
des  Verfassungslebens  sehen  will.  Denn  entweder  sind  sie  sehr  allge- 
mein gefaßt,  und  dann  auch  nichtssagend,  oder  sehr  speziell,  und  dann 
übertritt  der  souveräne  Staat  sie  jeden  Tag.  Dem  ausgebauten  Verfas- 
sungsstaat liegt  an  den  Grundrechten  wenig.  Die  Menschen  wollen  so 
regiert  werden,  daß  sie  selbst  einsehen,  es  sei  gerecht  und  vernünftig. 
Nach  welchen  Grundsätzen  dies  konkrete  Gefühl  ihnen  erwachse, 
kümmert  sie  weniger.  Im  18.  Jahrhundert  aber,  als  die  Menschheit  dem 
Fürstenabsolutismus  entrinnen  wollte,  hatte  das  Aussprechen  gewisser 
Formeln,  die  das  Recht  der  Privaten  gegen  den  Staat  betonten,  um  so 
mehr  Gewicht,  je  weniger  noch  Bürgschaften  dafür  bestanden,  und  im 
Aussprechen  dieser  Formeln  ruhte  deshalb  das  politische  Lebensglück 
dieser  Geschlechter  zum  großen  Teile,  so  wie  umgekehrt  unter  der  la- 
stenden Herrschaft  des  mittelalterlichen  Moralcan/s  der  Fürstenspiegel 
Machiavelli  es  für  seine  geschichtliche  Aufgabe  halten  mußte,  das  un- 
verjährbare, aber  vom  Mittelalter  verkannte  Eigenrecht  der  Politik 
zu  betonen. 

Das  Mittelalter  hatte  einzig  das  Eigenrecht  der  Seele  und  ihres 
Erlösungswillens  verkündigt,  dem  Staat  nur  den  Zweck,  dabei  mitzu- 
helfen, zuerteilt  und  die  Politik  als  solche  überhaupt  verneint.  Der 
moderne  Staat  ging  im  Rückschlag  gegen  das  Mittelalter  zunächst 
rücksichtslos  auf  Macht  aus:  das  ist  der  absolutistisch-zentralistische 
Staatstypus,  für  den  Machiavelli  oder  Hobbes  bezeichnend  sind.  Dann 
aber  kommt  der  absolute  Staat  auf  dem  Umweg  der  Machtpolitik 
doch  auch  zu  einer  neuen  Wohlfahrtspolitik,  da  es  als  unerläßliches 
Mittel  der  Machtpolitik  erkannt  wird,  auch  den  Einzelnen  zu  fördern 
und  zu  bilden.  So  erwächst  die  Wohlfahrtspolitik  des  aufgeklärten  Ab- 
solutismus nicht  wie  die  mittelalterliche  aus  Erlösungs-,  sondern  aus 
Machtzwecken.  Es  ist  Beglückungs-,  nicht  Erlösungspolitik.  Der 
Fortschritt  vom  brutalen,  machtzusammenfassenden  Ur-Absolutismus 
zum  aufgeklärten  Absolutismus  führt  dann  in  derselben  Linie  der 
Befriedigung  des  Individuums  weiter  zum  Verfassungsstaat  mit  Men- 
schenrechten, in  deren  Besitz  sich  der  Einzelne  „fühlen"  darf.  Aber 
auch  der  moderne  Verfassungsstaat  zielt  auf  Macht,  und  das  ist  sein 
grundlegender  Unterschied  von  der  mittelalterlichen  Rechts-  und 
Staatstheorie. 

In  seinem  Buch  über  „die  Vorgeschichte  der  geschriebenen  Ver- 
fassungen" (Leipzig  1916)  hat  R.  Schmidt  den  Grundrechten  eine 
Darstellung  angedeihen  lassen,  welche  durch  die  obige  Darstellung 
in  wesentlichen  Punkten  zurechtgerückt  erscheint.  Schmidts  Haupt- 
gedanke, daß  die  Aufnahme  der  Grundrechte  in  die  geschriebenen 
Verfassungen    nur  formell   etwas  Neues  sei,    „die  universalhistorisch 


76  Fritz  Kern, 

epochemachende  Tat"  aber,  nämlich  die  materielle  Auffindung  der 
Grundrechte,  „dem  Zeitalter  zum  Ruhm  angerechnet  werden  müsse, 
das  die  schwierige  Beziehung  zwischen  Staatsform  und  Einzelsphäre, 
das  Aufeinanderangewiesensein  von  Staatsgewalt  und  Untertan  unter 
der  Autorität  der  Rechtsordnung  zu  entdecken  und  bewußt  formuliert 
zum  Gemeingut  des  staatsrechtlichen  Denkens  zu  machen  verstand", 
dieser  sein  Hauptgedanke  führt  Schmidt  selbstverständlich  zur 
scholastischen  Rechtsphilosophie.  Er  unterschätzt  aber  deren  Ab- 
hängigkeit von  dem  allgemeinen  mittelalterlichen  Rechts-  und  Ver- 
fassungsgedanken. Die  mittelalterlichen  Theoretiker  verlangen,  mit 
dem  Schlüssel  der  wirklichen  Verfassungsverhältnisse  ihrer  Zeit  ge* 
lesen  zu  werden,  wie  dies  z.  B.  K-  Wolzendorff  in  seinem  Buch  über 
„Staatsrecht  und  Naturrecht  in  der  Lehre  vom  Widerstandsrecht..." 
(Breslau  1916)  tut,  indem  er  die  Widerstandslehre  z.  B.  noch  der 
Monarchomachen  abgezogen  zeigt  vom  Staatsrecht  des  Ständestaats. 
Eine  Vorgeschichte  der  geschriebenen  Verfassungen  aus  einigen  Lese- 
früchten aus  Thomas,  Marsilius  und  Bartolus  aufbauen  zu  wollen, 
heißt  soviel,  wie  einen  antiken  Tempel  aus  einer  Säulenbasis,  einer 
halben  Metope  und  einem  Akroterion  zu  rekonstruieren, . .  während 
doch  der  Tempel  selbst  unversehrt  vor  aller  Augen  daneben  steht. 
Allerdings  wäre  so  viel  zu  sagen  gewesen,  daß  die  Rechtsphilosophie 
der  Hochscholastik  dank  ihrer  antiken  Quellen  zur  Unterscheidung 
von  natürlichem  und  positivem  Recht  vordringt  und  damit  die  Mög- 
lichkeit schafft,  Grundrechte  und  positiv-subjektive  Rechte  der  Pri- 
vaten zu  trennen.  Die  bei  den  Scholastikern  naturrechtlich  geheiligten 
Privatrechte  sind  dann  freilich  wieder  im  wesentlichen  dieselben,  für 
welche  auch  die  frühmittelalterliche  Verfassung  ein  Konsensrecht  der 
Beteiligten  ausgebildet  hatte.  Daß  das  naturrechtliche  System  des 
Mittelalters  und  des  Nachmittelalters  solche  geheiligten  Privatrechte 
enthielt,  war  natürlich  altbekannt.  Es  sind  nur  noch  keine  kodi- 
fizierten Grundrechte,  und  diese  Kodifizierung  ist  und  bleibt  das 
Werk  der  amerikanischen  und  der  französischen  Verfassungsurkunden, 
Alles  Wesentliche  ist  in  den  wenigen  Sätzen  O.  Gierkes,  Althusius 
(1913)  265 f.,  346,  381,  gesagt.  Für  das  Moment  der  geschriebenen 
Verfassung,  daß  sich  die  jeweiligen  Organe  der  Staatsgewalt  ausdrück- 
lich auf  sie  verpflichten,  Hegt  die  „Vorgeschichte"  in  den  mittel- 
alterlichen Throngelübden.  Das  Stärkste  an  geschichtlicher  Verzer- 
rung findet  sich  bei  Schmidt  in  dem  „Die  Umbildung  der  kano- 
nistischen  Rechtsgedanken  in  die  Prinzipien  des  weltlichen  Territorial- 
staatsrechts (!)"  überschriebenen  Kapitel,  worin  (S.  138)  „Marsilius 
die  von  Thomas  geschaffenen  (!)  Schutzmaßregeln  gegen  ungerechte 
Regierungsakte  von  den  klerikalen  Beisätzen  des  Scholastikers  reinigt". 

5.  Zeitliches  und  begriffliches  Mittelalter. 

Die  Geistesgeschichte  unterscheidet  den  mittelalterlichen 
Kulturtypus  vom  früh-  wie  vom  spätzeitlichen  Typus.   Das 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  77 

Kennzeichen  des  Mittelalterlichen  ist  für  sie  der  Erlösungs- 
gedanke, und  damit  der  folgerichtig  aus  Einem  Punkt  ent- 
wickelte Versuch,  die  Materie  hinwegzuvergeistigen. 

Die  vorstehende  Untersuchung  bildet  eine  Warnung  für 
Geistesgeschichtler,  zu  einheitlich  konstruieren  und  etiket- 
tieren zu  wollen.  Denn  Vieles  von  dem,  was  wir  darstellten, 
ja  das  Meiste  ist  ein  wesentlich  frühzeitliches  Anschauungs- 
gewebe. 

Gewiß  fanden  wir  namentlich  überall  dort,  wo  die  Kirche 
sich  fühlbar  machte,  begrifflich  mittelalterliche  Elemente 
eingesprengt.  Aber  daneben  ragen  andere,  völlig  unsoterio- 
logische,  gegen  den  mittelalterlichen  Grundgedanken  gleich- 
gültige Elemente.  Nicht  alle,  die  mittelalterlich  scheinen, 
sind  es  wirklich.  Die  Gemengelage  des  Rechts  mit  dem 
Guten  z.  B.  ist  trotz  dem  ethischen  Beigeschmack  nicht 
mittelalterlich,  sondern  typisch  frühzeitlich. 

Der  begriffliche  Leitgedanke  des  Mittelalters,  die  Er- 
lösung vom  Materiellen,  hat  sich  auf  dem  Rechtsgebiet 
keineswegs  rein  durchgesetzt.  Am  reinsten  natürlich  in  der 
wirklichkeitsferneren  Buchspekulation  der  mittelalterlichen 
Theologen,  die  sich  mit  Rechtsphilosophie  beschäftigen. 
Aber  kaum  in  den  Werken  rechtskundiger  Schöffen,  ob- 
wohl sie  gute  Christen  waren.  Das  Rechtsgebiet  liegt  eben 
dem  Zentralgebiet  des  mittelalterlichen  Fühlens  vergleichs- 
weise ferne  und  läßt  sich  immer  nur  gradweise  spirituali- 
sieren.  Diese  Grade  sind  freilich  verschieden  hoch.  Wir 
streiften  mannigfach  den  Einschlag  des  kirchlichen  Gedan- 
kens: ihn  vollständig  nachzuweisen  würde  das  Ziel  einer 
schönen  Sonderuntersuchung  sein.  Nur  nebenbei  sei  er- 
wähnt, daß  die  rechtlichen,  wirtschaftlichen  und  gesell- 
schaftlichen Zustände  und  Anschauungen  der  christlich-ger- 
manischen Epoche  von  500  bis  1500,  obwohl  in  sich  keines- 
wegs rein  vergeistigt  oder  auch  nur  annähernd  vergeistig- 
bar, doch  von  den  Theologen  bis  zu  einem  hohen  Grad  in 
den  Dienst  des  mittelalterlichen  Leitgedankens  eingespannt 
worden  sind.    Man  braucht  nur  an  Thomas  denken. 

Diese  Affinität  frühzeitlicher  Zustände  mit  mittelalter- 
licher Denkweise,  ebenso  beider  Gegensätzlichkeit  kann  hier 
aber  nur  gestreift,  nicht  entwickelt  werden.     Die  mittel- 


78  Fritz  Kern, 

alterliche  Weltanschauung  ist  nicht  nur  einheitlicher,  son- 
dern auch  intensiver  als  die  andern.  Die  Frühzeit  denkt 
naiver,  die  Spätzeit  blasierter  über  den  Wert  einer  logischen 
Geschlossenheit  des  Weltbildes*  Infolgedessen  hat  das  Früh- 
zeitliche (und  Spätzeitliche)  unter  sich  weniger  zwingenden 
Zusammenhang  als  das  Mittelalterliche. 

Will  man  für  das  Gebiet  der  Rechtsanschauungen  das 
leitende  Merkmal  der  drei  typischen  Epochen  angeben,  sa 
würde  für  die  Frühzeit  die  Vorherrschaft  des  Gewohnheits- 
rechts, für  das  Mittelalter  die  Einspannung  des  Rechts  in 
die  pädagogische  Heilsanstalt,  für  die  Spätzeit  die  Techni- 
sierung des  Rechts  als  geschriebenes  und  staatliches  Recht 
und  seine  Verselbständigung  gegenüber  dem  Herkommen 
und  dem  Guten  zu  nennen  sein.  Die  Antike  der  Mittel- 
meerkultur durchlebte  einen  Kreislauf  von  Frühzeit,  Mittel- 
alter und  Spätzeit,  der  in  Vielem  Ähnlichkeit  mit  dem  Ver- 
lauf der  drei  Phasen  in  der  christlich-germanischen  Welt 
hat,  wenn  diese  Analogie  auch  nicht  übertrieben  werden 
darf.  Die  antike  Frühzeit  wie  die  Frühzeit  anderer  Kultur- 
kreise weist  mit  dem  von  uns  geschilderten  Typus  des  ger- 
manischen Gewohnheitrechts  Ähnlichkeiten  auf.  Das  antike 
Mittelalter  formt  ethisch-religiöse  Erlösungsgedanken,  die 
innerhalb  der  Rechtsanschauung  vor  allem  in  Gestalt  der 
stoischen  Philosophie  sich  auf  das  christliche  Mittelalter  ver- 
erben. 

Es  ist  hierbei  zu  beachten,  daß  sich  die  Kulturzeitalter 
nicht  reinlich  ablösen,  sondern  übereinanderschieben  und 
daß  in  jedem  Mittelalter  viel  Frühzeit,  in  jeder  Spätzeit 
Frühzeitliches  und  Mittelalterliches  aus  demselben  Kultur- 
kreis sowie  vielfach  auch  die  Überlieferungen  einer  älteren, 
abgelaufenen  Kulturfolge  fortleben. 

Die  Geistesgeschichte  wird,  wenn  sie  vom  „ewigen 
Mittelalter"  spricht,  darunter  den  fortwirkenden  Einfluß 
des  Erlösungsgedankens  verstehen,  nicht,  wie  wir  es  oben 
taten,  das  Fortleben  des  frühzeitlich-mittelalterlichen  Ge- 
spinstes von  Anschauungen  der  christHch-germanischen 
Epoche  von  500  bis  1500. 

Aber  ist  es  dann  nicht  richtiger,  den  Doppelsinn  von 
„Mittelalter''  durch  neue  Wortbezeichnungen  auszuschalten 


Recht  und  Verfassung  im  Mittelalter.  79 

und  das  zeitliche  Mittelalter  (die  Epoche  von  500  bis  1500) 
und  das  begriffliche  Mittelalter  (Erlösungskulturen)  unmiß- 
verständlich voneinander  zu  unterscheiden? 

Die  Frage  ragt  über  unsere  Untersuchung  weit  hinaus^ 
Jedenfalls  ist  die  Epoche  von  500  bis  1500  in  den  Geistes- 
gebieten, die  von  ihr  selbst  als  die  vornehmsten  empfunden 
werden,  und  überhaupt  in  ihrer  Rangordnung  der  Werte 
völlig  soteriologisch.  Darum  kann  sie  apotiori  als  Mittel-^ 
alter  schlechthin  bezeichnet  werden.  Sie  hat  eben  durch 
ihren  Charakter  dem  „begrifflichen  Mittelalter"  zu  seiner 
wissenschaftlichen  Prägung  verholten  und  ist  noch  heute 
für  die  Abendländer  das  bei  weitem  wichtigste  Anschau- 
ungsgebiet für  Erlösungskultur«  In  dem  Doppelsinn  von 
„Mittelalter"  liegt  also  etwas  logisch  Störendes,  aber  an- 
schauungsmäßig Gesundes.  Die  Sprache,  die  als  sinnliches^ 
Wesen  langsamer  wird  und  wechselt  als  wissenschaftliche 
Logik,  verteidigt  ihr  gegenüber  durch  ihre  beharrliche  Hem- 
mung reinlicher  terminologischer  Scheidungen  die  geistig- 
geschichtlichen Anschauungszusammenhänge,  die  zuweilen 
gehaltvoller  sind  als  logische  Schemate. 

Alles  hier  Angedeutete  wird  erst  dann  klar  heraus- 
treten, wenn  einmal  ein  Kundiger  in  dem  zeitlichen  Mittel- 
alter der  christlich-germanischen  Epoche  die  frühzeitlichen 
Elemente  und  die  soteriologischen  gesondert  sowie  in  ihrer 
Durchdringung  dargestellt,  ein  anderer  aber  vielleicht  die 
Methode  gefunden  haben  wird,  das  dem  Begriff  nach 
mittelalterliche  Recht,  d.  h.  das  Recht  unter  der  Herr- 
schaft des  Erlösungsgedankens,  aus  den  verschiedenen  Kul- 
turkreisen zu  sammeln  und  zu  vergleichen. 


Die  Entstehung  von  Sturdzas 
„Etat  actuel  de  l'AlIemagne^^ 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  deutsch-russischen  Beziehungen 

von 
Carl  Brinkmann. 


Zweimal,  am  Anfang  und  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts, 
hat  die  eigentümliche  Mittelstellung  des  modernen  Rußland 
zwischen  mittelalterlicher  und  neuzeitlicher  Kultur  es  mit 
sich  gebracht,  daß  gerade  hier,  am  Schauplatz  der  trieb- 
haftesten innen-  und  außenpolitischen  Leidenschaften,  gegen- 
über dem  neuzeitlichen  Grundsatz  nationaler  Machtentfal- 
tung die  Idee  der  internationalen  politischen  Norm  zu  vor- 
bildlicher Verkörperung  gelangte.  Sowohl  die  Politik,  die 
sich  1899  von  der  modernen  pazifistischen  Bewegung  zur 
ersten  diplomatischen  Anregung  der  Haager  Friedenskon- 
ferenzen bestimmen  ließ,  als  diejenige,  die  aus  dem  Kampf 
gegen  Napoleon  den  damaligen  Kosmopolitismus  zu  dem 
Völkerbund  der  Heiligen  Allianz  ableitete,  stellen  sich  zwei- 
fellos zunächst  unwillkürlich  von  der  Seite  des  Doppelspiels, 
der  bewußten  Ausnutzung  ideeller  Strömungen  zu  ganz 
realpolitischen  Zwecken  dar.  Aber  wie  man  auch  über  das 
historisch  noch  unzugängliche  Ereignis  von  1899  denken 
möge,  die  russische  Politik  der  Allianzzeit  dürfte  nachgerade 
eine  breitere,  vor  allem  auch  sozialgeschichtliche  Betrach- 
tung zulassen  und  erfordern. 

Neben  den  Völkern  West-  und  Mitteleuropas,  die  im 
Gefolge  der  Französischen  Revolution  große  bürgerliche  Be- 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  ȧtat  actuel  de  l'Allemagne".    81 

wegungeti  zur  Erneuerung  ihrer  Rechts-  und  Staatsverfas- 
sungen entwickelten,  erschien  und  erscheint  mit  einem  ge- 
wissen Recht  die  russische  Monarchie  als  eine  politische 
Größe,  deren  innere  Einheitlichkeit  ihr  allein  schon  ein  erheb- 
liches Übergewicht  über  jene  Mitbewerber  sicherte.  Indes 
dabei  wird  leicht  vergessen,  daß  gerade  auch  die  Verflech- 
tung in  die  ,, europäischen**  Entwicklungen,  unorganisch  und 
unstet  wie  sie  von  jeher  Rußlands  Schicksal  gewesen  war, 
damals  wie  vor-  und  nachher  die  Züge  des  Revolutionszeit- 
alters teils  zwar  abgeschwächt,  teils  aber  desto  gesammelter 
und  bewußter  widerspiegelte.  So  wenig  der  Stammbaum 
der  russischen  Aufklärung  auf  den  zwei  Augen  der  Katharina 
stand,  würde  man  die  Regierung  Alexanders  I.  aus  weiter 
nichts  als  seinen  Anlagen  und  westlichen  Bildungseinflüssen 
verstehen.  Beide  waren  gesteigerte  Vertreter  eines  kultu- 
rellen und  politischen  Typus,  der  in  Rußland  vielleicht  nur 
je  schwächer  an  Zahl  desto  stärker  an  Eigenschaften  auch 
den  Absolutismus  zum  gesellschaftlichen  Problem  machte. 

Sieht  man  so  das  Rußland  von  vor  100  Jahren  nicht  als 
reinen  Gegensatz  zu,  sondern  als  Grenzfall  in  der  Reihe  der 
europäischen  Staaten,  so  öffnet  sich  auf  der  andern  Seite 
auch  der  Blick  für  sein  eigentümliches  Verhältnis  zu  Deutsch- 
land innerhalb  dieser  Reihe.  Befreundet  und  verfeindet  zu- 
gleich, wie  stets  der  nächste  Lehrmeister  und  Vermittler  der 
Gesittung,  stand  Deutschland  nicht  bloß  geographisch,  son- 
dern geistig  zwischen  Rußland  und  dem  Westeuropa,  das 
gerade  um  die  Zeit  der  ersten  russischen  Kulturdämmerung 
die  Führung  der  europäischen  Gesellschaftsentwicklung  über- 
nommen hatte.  Das  bedeutete  für  die  deutsch-russischen 
Beziehungen  des  Revolutionszeitalters  eine  Art  von  Brüder- 
lichkeit, die  sich  sachlich  in  manchen  Übereinstimmungen 
der  sozialen  und  konstitutionellen  Machtverhältnisse,  per- 
sönlich in  der  engen  Gemeinschaft  des  deutschen  und  russi- 
schen Konservatismus  einer-  und  Liberalismus  anderseits 
fast  bis  vor  die  Tore  des  Weltkriegs  entfaltet  und  erhalten  hat. 

Die  besondere  Prägung  dieser  großen  historischen  Linien 
während  der  Jahrzehnte  der  Napoleonischen  Kriege  und 
der  Restauration  besteht  nun  darin,  daß  diese  Zeit  auch  hier 
im  Drang  der  politischen  und  gesellschaftlichen  Verschie- 

Historische  Zeitschrift  (120.  BcL)  3.  Folge  24.  Bd.  6 


82  Carl  Brinkmann, 

bungen  die  späteren  und  auch  wohl  früheren  Gegensätze 
des  europäischen  Geistes-  und  Staatslebens,  Klassizismus 
und  Romantik,  Weltbürgertum  und  Nationalismus  in  den 
verschiedensten  Klarheitsgraden  miteinander  verwirrt,  ver- 
knotet oder  wahrhaft  vermählt.  Und  durch  Zusammen- 
drängung in  Zeit  und  Persönlichkeiten  noch  verwickelter  ist 
der  Anteil  Rußlands  an  dieser  Epoche.  Der  rätselhaft 
schillernde  Charakter  Alexanders  I.  ist  lediglich  das  sicht- 
barste Symptom  davon,  daß  seine  Zeit  die  ganze  zerspren- 
gende Keimfülle  aller  nachherigen  europäischen  und  russi- 
schen Gesinnungen  und  Strebungen  in  einem  Schoß  zu  hegen 
hatte.  Man  überlege,  daß  der  junge  Kaiser,  der  wenige  Jahre 
nach  Friedrich  Wilhelm  III.  oder  Max  Joseph  seine  revo- 
lutionären Mächten  auch  äußerlich  ungleich  tiefer  verpflich- 
tete Regierung  antrat,  neben  den  staatlichen  Reformauf- 
gaben jener  deutschen  Herrscher  auch  die  noch  schwerere 
und  gefährlichere  antrat,  die  geistigen  Besitztümer  der 
europäischen  Aufklärung  ernsthafter  als  das  Rokoko  seiner 
Großmutter  seinem  Lande  einzuverleiben.  Wie  es  sachlich 
merkwürdig  ist,  in  dieser  alexandrinischen  Rezeption  Rüst- 
zeug, wenn  nicht  Rohstoff  aller  russischen  Denkerschulen, 
der  Westler  und  Volkstümler,  Marxisten  und  Heroisten, 
vorgebildet  zu  finden,  so  liegt  eine  ganz  persönliche  Tragik 
in  der  Art,  wie  auch  der  Zar  als  Treibhausgärtner,  als  Urheber 
z.  B.  der  Übersetzungsflut  der  Jahrhundertwende^),  als 
Anbeter  dann  des  französischen  Geistes  zu  Beginn  der  so 
verhängnisvollen  Okkupation  von  1815 — 1818  mit  eigener 
Hand  die  Waffen  bereiten  hilft,  die  sich  noch  zu  seinen 
Lebzeiten  deutlich  genug  gegen  die  absolutistische  Form 
seiner  Gaben  kehren  sollten. 

Freilich  war  gerade  dieser  Absolutismus  noch  viel 
weniger  als  der  der  Aufklärung  der  bloße  theoretische  Aus- 
druck der  hergebrachten  Staatsgewalt,  sondern  zugleich 
neben  der  an  England  geschulten  organischen  Staatstheorie 
eine  zweite,  mächtige  und  selbständige  Gegenwirkung  des 
europäischen  Denkens  gegen  die  Spannungen  des  revolu- 
tionären Rationalismus.   Nichts  ist  bezeichnender  für  die  ge- 


1)  Pypin,  Istoriceskija  ocerki*  110  f.  (Minzes  105  f.). 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  „l^tat  actuel  de  rAllemagne*.    83 

schilderte  Interessengemeinschaft  Deutschlands  und  Ruß- 
lands, als  daß  sich  diese  monarchische,  religiöse  Fassung 
des  politischen  Traditionalismus  dort  in  Franz  Baader  ihren 
ersten  bedeutenden  Verkünder  auf  den  Grundlagen  der 
klassischen  Philosophie  und  des  Katholizismus,  hier  in 
Alexander  I.  ihren  ersten  Anwender  auf  dem  Gebiet  des 
Selbstherrschertums  und  der  orthodoxen  Kirche  schuf.  Das 
seltsame  Vexierspiel,  daß  nun  die  Russen  in  Alexanders 
Innenpolitik  den  deutschen  Neuerer,  die  Deutschen  in  seiner 
Außenpolitik  den  asiatischen  Despoten  zu  sehen  glaubten, 
war  deshalb  eine  in  der  Tat  naheliegende  Täuschung  durch 
einseitige  Anschauung:  Das  natürliche  Übergewicht  der 
Theorie  in  Deutschland,  der  Praxis  in  Rußland  verschleierte, 
daß  in  beiden  Ländern  nicht  ganz  ungleich  aufgebaute 
Gesellschaften  um  dasselbe  geistige  und  politische  Problem 
beschäftigt  waren. 

Erst  diese  allgemeinen  Erwägungen  können  die  Gestalt 
des  Mannes  lebendig  machen,  der  inmitten  des  alexandri- 
nischen,  des  ewig  russischen  Gegensatzes  fremder  oder  fremd- 
bestimmter Bildungskräfte  und  einheimischer  Trägheits- 
massen fast  allein  ein  früher  und  etwas  blasser  Vorläufer 
des  vergeistigten  russischen  Nationalismus  ist:  Wie  andert- 
halb Jahrhunderte  früher  der  große  slawische  Erwecker 
Krizanic  aus  der  ethnischen,  kam  der  ungarisch-walachische 
Bojari)  Alexander  Demetrius  Sturdza  aus  der  kirchlichen 
Diaspora  nach  dem  russischen  Mutterland  mit  allem  sehn- 
süchtig leidenschaftlichen  Idealismus  solcher  Abstammung. 
Der  europäischen  Öffentlichkeit  wurde  er  nach  Vollendung 
seines  deutschen  Hochschulstudiums  zuerst  durch  ein  Buch 
bekannt,  das,  am  Mittelpunkt  des  deutschen  Klassizismus 
erschienen  und  in  der  Form  deutlich  von  ihm  beeinflußt, 
die  Urchristlichkeit,  Staatsfreundlichkeit  und  Duldsamkeit 
der  griechischen  Kirche  dem  Westen  rühmte  —  die  litera- 
rische Begleitung  von  Alexanders  I.  damaliger  Wendung 
gegen  die  Propaganda  der  Jesuiten  in  Rußland.^)   Weniger 


^)  Nach  der  Nouv.  biogr.  gin.  4^,  529  stammt  die  Familie  von 
den  als  Teilhaber  der  Fugger  bekannten  Turzo. 

*)  Considirations  sur  la  doctrine  et  l'esprit  de  VEglise  Orthodoxe 
(Weimar  1816),  besonders  S.  183  ff.    Zitiert  werden  von  Zeitgenossen 

6* 


84  Carl  Brinkmann, 

bekannt  war,  daß  er  schon  im  Vorjahr  für  den  Kaiser  die 
Urkunde  des  Völkerbundes  entworfen  hatte,  in  dem  die 
christHchen  Monarchen  aller  Bekenntnisse  den  religiösen 
Absolutismus  zum  weltpolitischen  Gesetz  zu  erheben  ver- 
suchten: der  Heiligen  Allianz.^)  Auch  bei  jener  ,, Feindes- 
liebe** Alexanders  zu  Frankreich  hatte  Sturdzas  Mystik  im 
Verein  mit  der  deutschen  mitgewirkt:  Die  Bekanntschaft 
des  Kaisers  mit  Juliane  v.  Krüdener  wurde  durch  Sturdzas 
Schwester  Roxandra,  die  Hofdame  der  Kaiserin  Elisabeth 
und  Freundin  Jung-Stillings,  vermittelt.^) 

Hier  ist  jene  Verflechtung  der  russischen  und  europä- 
ischen Idealismen,  von  der  ich  sprach,  mit  Händen  zugreifen: 
Während  ein,  zwei  Jahrzehnte  später  Caadaev  wesentlich 
auch  aus  der  katholischen  Romantik  Frankreichs  die  nega- 
tive Haltung  gegen  das  eigene  Volks-  und  Kirchentum  ab- 
leitet und  der  russischen  Intelligenz  hinterläßt,  ist  in  der 
Allianzzeit  auch  der  religiöse  Widerspruch  gegen  den  Westen 
und  die  Revolution  weltbürgerlich,  nicht  schon  national 
unterschieden.  Und  ebenso  nach  innen:  Die  Hochflut  des 
russischen  Nationalismus  1812  war  doch  lange  nicht  stark 
genug  gewesen,  das  Gefühl  der  Einheit  zwischen  dem  pa- 
triarchalischen Fortschritt  der  Regierung  und  dem  auto- 
nomen der  führenden  Gesellschaftsschichten  völlig  zu  zer- 
reißen; eben  in  die  Jahre  1813" — 1818,  als  auch  Slurdza  mit 
pädagogischen  Entwürfen  beschäftigt  erscheint^),  fallen 
Alexanders  1.  Bestrebungen  zur  Einführung  der  englischen 
und  schweizerischen  Lehrmethoden  von  Lancaster-Bell  und 


nur  Herders  Ideen  (S.  9)  und  Baaders  unten  (S.  86)  genannte  Schrift 
(S.  16). 

i)  Öilder,  Aleksandr  Pervyj  3,  3,  44.  Bei  Eylert,  Friedrich 
Wilhelm  III.  2,2,249  bezeichnet  Alexander  1.  den  König  nicht,  wie 
Gagern,  Mein  Anteil  5,  1,422  f.  will,  als  Verfasser  des  Textes,  sondern 
nur  als  Anreger  des  Gedankens.  Ebenso  irrig  die  Auffassung  Alex- 
anders als  Verfasser  bei  Metternich,  Nachgel.  Pap.  1,  215  und  Muhlen- 
beck,  Sainte-AUiance  245.  Gegen  die  Krüdener  als  Verfasserin :  Cape- 
figue,  La  baronne  de  K.  98,  108. 

')  S.  Sturdzas  Biographie  seiner  Schwester  Souvenirs  et  portraits 
{Oeuvres  posthumes  3,    Paris  1859)  49  f.    Vgl.  Baur  A.  D.  B.  17,  205. 

*)  Unten  S.  97,  Souvenirs  et  portraits  8  f. 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  „iStat  actuel  de  rAlIemagne".    85 

Pestalozzi-Fellenberg  im  russischen  Volk  und  sogar  Heer^), 
der  erste  russische  Tugendbund  von  1816  aber  war  noch  viel 
mehr,  als  seine  deutschen  Paten  und  Vorbilder^)  eine  bis  in 
die  Kreise  der  Regierung  reichende  Organisation  zu  ihrer 
Unterstützung  und  erst  in  zweiter  Reihe  zu  ihrer  Bekämp- 
fung. Die  endgültige  Trennung  der  amtlichen  Reaktion  und 
der  populären  Opposition  erfolgte  in  Rußland  wie  in  Deutsch- 
land, und  dort  eher  noch  später  und  zögernder  als  hier,  erst 
im  Zuge  der  großen  europäischen  Ereignisse  des  dritten 
Jahrzehnts:  Des  ehemaligen  Reformators  Novosil'cov  bru- 
tales Vorgehen  gegen  die  polnischen  Universitäten,  gleich- 
sam die  Mittelglieder  zwischen  den  gefürchteten  deutschen 
und  den  noch  sehr  harmlosen  russischen^),  gehört  bereits  zu 
der  Atmosphäre  der  werdenden  Dezemberrevolution  von 
1825.  Sturdza  selbst  ist  noch  1835  in  seinen  ,,Notions  sur 
la  Russie''  für  die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  eingetreten.*) 
Das  bisher  Gesagte  wird  genügen,  um  gegen  die  land- 
läufige, obwohl  bereits  zeitgenössische  Auffassung  bedenk- 
lich zu  machen,  als  handle  es  sich  bei  Sturdzas  drittem  und 
bekanntestem  Hervortreten  in  die  politische  Literatur,  der 
Denkschrift  für  den  Aachener  Kongreß  über  den  gegen- 
wärtigen Zustand  Deutschlands,  lediglich  um  die  bestellte 
Arbeit  eines  sachunverständigen  Angebers.  Weder  die  Zeit 
noch  der  Mann  war  danach  angetan  und  so  einfach  zu 
nehmen.  Um  jedoch  an  die  Stelle  falscher  oder  leerer  Vor- 
stellungen die  Anschauung  zu  setzen,  muß  die  Art  und  die 
äußere  Entstehung  der  Schrift  näher  beleuchtet  werden. 


1)  Pypin  333  ff.  (Minzes  472  ff.)  Nur  mit  diesem  Vorbehalt  gilt 
m.  E.  das  von  Schiemann,  Alexander  I.  4I6f.  über  Alexanders  „neue 
Gesinnung"  Gesagte. 

2)  Daß  neben  der  Erinnerung  an  den  Königsberger  Tugendbund 
auch  der  lebendige  Verkehr  mit  den  deutschen  Geheimbünden  nach 
1815  (vgl.  über  sie  jetzt  Ulmann  H.  Z.  95,  435  ff.  und  Meinecke, 
Quell,  u.  Darst.  z.  Gesch.  d.  Burschensch.  1, 1  ff.)  entscheidend  war, 
macht  die  Darstellung  bei  Pypin  371  (Minzes  527),  obwohl  er  diese 
Bünde  nicht  kennt,  doch  unzweifelhaft. 

^)  Vgl.  meinen  Aufsatz  über  Joachim  Lelewel  Internationale 
Monatsschrift  1918,  Sept. 

*)  Oeuvres  posthumes  2  (Paris  1858),  108.  S.  auch  seinen  warmen 
Nachruf  für  Stein  (vgl.  unten  S.  90  Anm.  1)  Souvenirs  et  portraits  206  ff. 


86  Carl  Brinkmann, 

So  fern  davon,  die  berühmte  Anklage  der  deutschen 
Universitäten  bloß  äußerlich  zu  verbrämen,  stellt  ihre  ge- 
schichtsphilosophische  Einleitung  erst  den  zu  ihrem  Ver- 
ständnis unentbehrlichen  Rahmen  auf.  Es  ist  die  keines- 
wegs unklare,  sondern  sehr  bestimmt  formulierte  Stimmung 
der  Heiligen  Allianz,  die  als  Idee  der  übernationalen  politi- 
schen Organisation  zugleich  Antrieb  und  Berechtigung  zur 
Kritik  fremdvölkischer  Einrichtungen  gibt.  Ein  großes 
gemeinsames  Schicksal,  die  revolutionäre  Erschütterung  und 
wirtschaftlich-soziale  Auflösung,  droht  den  alten  Staats- 
ordnungen Europas.  Es  erinnert  ganz  unmittelbar  an  die 
frühen  soziologischen  Beobachtungen  der  deutschen  Philo- 
sophie, etwa  eines  Jakob  Friedrich  Fries  (des  Wartburg- 
redners!) und  besonders  Franz  Baaders^),  wenn  mit  eigen- 
artiger Mischung  von  Naivetät  und  Scharfblick  die  Ver- 
drängung und  Verschiebung  der  einzelnen,  der  Klassen  und 
der  Autoritäten  von  ihren  alten  Plätzen  in  der  Gesellschaft 
(das  sei  der  wahre  Grund  des  falschen  Scheins  einer  Bevöl- 
kerungsvermehrung!) als  erste  Ursache  der  fein  erfühlten 
Unruhe  Europas  bezeichnet  wird  (S.  24  n.,  29  ff.).^)  Nur 
in  christlichen  Staatsordnungen  liegt  die  Rettung  vor  dem 
Untergang.  Zugespitzt,  aber  im  Grunde  wahr  und  tief,  wird 
bemerkt,  daß  nur  zwei  gläubige  Völker  wie  das  spanische 
und  das  russische  auch  tatsächlich  das  Joch  des  Napoleo- 
nischen Universaldespotismus  brechen  konnten  (S.  21); 
überall  betont  ja  die  Lehre  des  Legitimismus  die  Beschrän- 
kung der  Monarchie  wie  des  Völkerbundes  durch  das  gött- 
liche Recht.  Und  von  da  aus  wendet  sich  nun  die  Betrach- 
tung der  besonderen  Lage  Deutschlands  zu.  Hier  hat  die 
Revolution  die  alte  Staatsform  des  Reichs  bereits  zertrüm- 
mert, und  die  neue  „Kollektivautorität"  des  Bundes  droht 


1)  Vgl.  etwa  des  ersten  Bekehret  Euch  (1814,  Neuausg.  von 
H.  Mühlestein,  München  1915),  des  zweiten  Über  das  durch  die  fran- 
zösische Revolution  herbeigeführte  Bedürfnis  einer  neuen  und  inni- 
geren Verbindung  der  Religion  mit  der  Politik  (1815,  auch  im  schlechten 
Neudruck  der  Sozietätsphilosophie  von  1837,  Hellerau  1917). 

2)  Ich  zitiere  die  französische  Veröffentlichung,  Paris  November 
1818.  Auf  dem  Aachener  Kongreß  war  ein  Privatdruck  in  50  Exem- 
plaren umgelaufen.     Biogr.  Univ.  40,  287. 


» 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  „ßtat  actuel  de  TAllemagne*.    87 


die  Teilstaaten  nach  innen  und  außen  widerstandsunfähig 
zu  lassen  (S.  24,  30  n.).  Damit  ist  dem  europäischen  Völker- 
bund eine  natürliche  Schützeraufgabe,  aber  auch  zugleich 
ein  Vorbild  im  kleineren  Maßstab  erwachsen.  Denn,  heißt 
es  mit  äußerst  treffender  Empfindung  für  die  Verwandt- 
schaft des  nationalen  und  des  übernationalen  Staaten- 
bundes: „Cest  sur  les  auspices  de  ce  systime  tutelaire  que 
VAlkmagne  a  regu  son  nouveau  pacte  jeder al . . .  (cette  loi 
fondamentale)  represente  en  raccourci  ce  grand  pacte  politique 
qui  associe  entre  eux  les  divers  memhres  de  la  famille  euro- 
p^enne''  (S.  22).  Gewiß  lag  es  dem  wachsenden  deutschen 
Volksbewußtsein  hier  sehr  nahe,  wie  das  Weimarer  „Oppo- 
sitionsblatt" 3)  sich  für  die  aufgedrungene  Bevormundung 
zu  bedanken  und  dahinter  nur  die  Furcht  des  Reaktionärs 
vor  den  europäischen  Wirkungen  einer  freien  deutschen 
Staatsentwicklung  zu  wittern.  Für  das  historische  Urteil 
über  Sturdzas  guten  Glauben  ist  es  indes  wohl  kaum 
nötig,  darauf  zu  verweisen,  wieviel  näher  seine  Einschätzung 
der  gesamtdeutschen  Staatsform  gerade  bei  beginnender 
einzelstaatlicher  Reaktion  leider  den  politischen  Tatsachen 
(und  übrigens  doch  auch  der  Einschätzung  von  Deutschlands 
eigenen  weltbürgerlichen  Staatsmännern  um  1815)  kam. 

Auch  in  den  sachlichen  Anregungen  der  Denkschrift, 
der  deutschen  Hochschul-  und  Preßreform,  braucht  man  das 
religiös-politische  Glaubensbekenntnis  des  Verfassers  nicht 
zu  teilen,  um  ihm  wiederum  zuzugeben:  Bei  der  unabseh- 
lichen  Wichtigkeit  von  Unterricht  und  Presse  für  die  Volks- 
erziehung bildete  die  ungeheure  Steigerung  und  schon  rein 
zahlenmäßige  Vervielfachung  der  deutschen  literarischen 
und  Universitätsbildung  in  dem  damaligen  politischen 
Schwebezustand  eine  Frage  von  größtem  Ernst,  und  diese 
Frage  mußte  nach  allem  oben  Berührten,  das  dennoch 
hierbei  ganz  vergessen  zu  werden  pflegt,  in  Sturdza  nicht 
bloß   den    Europäer,    sondern   unmittelbar   den   russischen 


1)  In  dem  in  seinem  Verlage  herausgegebenen  Examen  critique 
du  mimoire  sur  Vetat  prisent  de  VAÜemagne  (1819)  S.  86.  Dazu  ver- 
dient angemerkt  zu  werden,  daß  der  frühere  Leiter  des  Oppositions- 
blattes, der  Ausländer  F.  L.  Lindner,  seine  Stellung  wegen  eines  puoli- 
zistischen  Streichs  gegen  Kotzebue  (1817)  verloren  hatte  (u.S.  101  n.3). 


S8  Carl  Brinkmann, 

Sozialpädagogen  selbst  beschäftigen,  der  ohne  besondere 
Prophetie  die  eigene  nationale  Entwicklung  noch  auf  lange 
hinaus  auch  auf  diesem  Gebiete  durch  die  Einrichtungen 
des  vermittelnden  Nachbarvolks  bestimmt  sehen  konnte. 
Es  ist  manchmal,  als  hätte  sein  geistiges  Auge  durch  die 
deutschen  Burschenschafter  hindurch  bereits  die  revolu- 
tionäre russische  Studentenschaft  des  späten  19.  Jahrhun- 
derts vorausgeschaut.  Dieser  Interessengemeinschaft  ent- 
sprechend fehlt  es  weder  seinen  Anklagen  noch  seinen  Bes- 
serungsvorschlägen neben  einem  gewissen  weltfremden  Radi- 
kalismus, der  indessen  ja  auch  den  politisch  ganz  entgegen- 
gesetzten Gedankengängen  des  Zeitalters  durchweg  eignet, 
an  bisweilen  überraschendem  Scharfblick.  Neben  der  Unter- 
drückung des  vermeintlichen.  Schadens  steht  ihm  auch 
pädagogisch  stets  die  positive  Aufgabe  der  Schaffung  einer 
monarchischen  Staatserziehung,  für  die  er  unbefangen  genug 
ist  ein  Muster  in  den  Demokratien  des  Altertums,  eine 
Warnung  in  der  moralischen  Laxheit  des  aufgeklärten 
Polizeistaats  anzuerkennen  (S.  37,  41,  52).  Sowohl  die 
gesellschaftliche  wie  die  wissenschaftliche  Verfassung  der 
deutschen  Universitäten,  von  denen  er  mit  Recht  die  poli- 
tisch bedeutsamste,  die  periodische  Presse  (S.  56),  völlig 
abhängig  glaubt,  erfahren  manche  kaum  unberechtigte 
Kritik.^)  Der  sozial  beherrschende  Zug  ist  im  System  der 
allgemeinen  ständischen  Gärung  der  Andrang  aller  Klassen 
zu  den  Hochschulen:  „tout  aspire  ä  äudier  en  Allemagne"' 
(S.  38).  Um  diese  Hochkonjunktur  meint  Sturdza  unter 
den  Anstalten  und  ihren  Staatsregierungen  einen  grob 
wirtschaftlichen  Wettbewerb  wahrzunehmen,  in  dem  die 
bedenklichen    akademischen    Freiheiten    des    Lehrens    und 


1)  Es  gibt  doch  zu  denken,  daß  auch  ein  Mann  wie  Gneisenau 
(am  8.  Jan.  1813  von  London  Pertz  2,  483)  an  seine  Frau  schreibt: 
„Möchtest  Du  ihn  (den  Sohn  August)  wchl  dieses  Vorteils  (des  Stu- 
diums in  Genf)  entbehren  lassen,  besonders  da  die  in  Geneve  herrschende 
Reinheit  der  Sitten  für  die  seinigen  daselbst  weniger  befürchten  läßt 
als  sonst  irgendwo,  besonders  auf  unseren  deutschen  Erziehungs- 
anstalten, sowohl  Gymnasien  als  Universitäten."  Vgl.  auch  die  Äuße- 
rungen des  klassischen  russischen  Aufklärers  Admiral  Mordvinov  gegen 
die  deutsche  Studentenfreiheit  bei  Bilbassov,  Ardiv  Mordvinovych  4^ 
XLVII  und  428  "f. 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  »fitat  actuel  de  l'Allemagne".    89 

Lernens  die  Rolle  der  lockenden  Bedingungen  zu  spielen 
neigen  (S.  40,  47).  Und  noch  deutlicher  ist  der  richtige 
Kern  in  der  Schilderung  der  Wissenschaftsentwicklung,  deren 
ungehemmter  Individualismus  die  Theologie  zum  Ratio- 
nalismus, die  Medizin  (man  denke  an  Schelling,  Eschen- 
mayer, Windischmann)  zur  Psychologie,  die  Jurisprudenz 
(fast  eine  Divination  des  Allianzgründers!)  zur  Lehre  vom 
Recht  des  Stärkeren  mache  (S.  42  f.). 

Soweit  wird  der  Meinung  des  Kritikers  ein  nicht  un- 
edler und  dazu  in  sich  folgerichtiger  Idealismus  schwer  ab- 
zusprechen sein.  Aber  mit  der  Zweideutigkeit  und  Un- 
fruchtbarkeit der  Heiligen  Allianz  ist  auch  er  behaftet. 
Das  zeigt  auch  hier  die  politische  Praxis  und  Therapie  in 
fast  tragischer  Weise.  Gerade  das  Schöpferische  der  mon- 
archischen Staatsphilosophie  findet  in  Sturdzas  Programm 
keine  selbständige  Gestaltung  und  verdorrt  in  einem  Sche- 
matismus rein  negativer  Maßregeln:  Beschränkung  der  Preß- 
freiheit durch  Bundesgesetz,  Aufhebung  der  akademischen 
Privilegien,  vor  allem  der  Sondergerichtsbarkeit^),  Ein- 
führung strenger  Fachkurse  und  Sittenzeugnisse,  Trennung 
des  Studiums  von  In-  und  Ausländern  (ein  frommer  Wunsch, 
der  abermals  viel  spätere  Erscheinungen  wie  die  auslän- 
dischen Studienanstalten  oder  die  Studentenüberwachung 
der  russischen  Unterrichtsverwaltung  fast  verblüffend  anti- 
zipiert), Unterordnung  des  Vorschlagsrechts  der  Fakultäten 
unter  die  Ernennung  durch  die  Regierungsbehörden  (S.  58, 
44  ff.).  Was  hier  nicht  der  Rüstkammer  des  alten  Polizei- 
staates entstammt,  gehört  wider  Willen  einem  politischen 
Luftkreis  an,  von  dem  sich  Sturdza  im  Grundsatz  durch 
Welten  für  getrennt  hielt:  Schon  der  Weimarer  Rezensent 
konnte  schadenfroh  feststellen 2),  daß  er  im  Drange  des 
frommen  Reformeifers  ahnungslos  die  Unterrichtspolitik  des 
Erzfeindes  Napoleon  übernehme.  Die  Ähnlichkeit  geht  in 
der  Tat  bis  an  die  Grenze  der  unbewußt  noch  möglichen 

^)  Gerade  diese  hatte  selbst  der  Kgl.  westfälische  Göttinger 
Professor  C.  Viliers  in  seinem  berühmten  Coup  d'oeil  sur  les  univer^ 
sitis  de  VAllemagne  protestante  (Cassel  1808)  S.  63ff.  besonders  ge- 
rechtfertigt. 

2)  Examen  critique  S.  41  ff. 


^  Carl  Brinkmann, 

Nachahmung:  Das  yjnstitut  national  Germanique''  (diese 
„geistige  Turnanstalt",  wie  ein  anderer  deutscher  Beurteiler, 
€S  ist  heute  schwer  zu  sagen,  ob  unbefangen  oder  mit  dann 
sehr  boshaftem  Witz,  sich  ausdrückte^)),  worin  Sturdza  das 
deutsche  Bildungswesen  nach  sehr  unbestimmtem  Plan 
gleichsam  zusammenfassen  und  sozialisieren  wollte  (S.  47, 
62),  ist  der  unverkennbare  Abkomme  der  Krönung  des 
Napoleonischen  Unterrichtssystems,  des  Institut  de  France, 
Noch  eine  andere  Schwäche  der  Denkschrift  darf  schließ- 
lich nicht  unerwähnt  bleiben.  Ich  habe  bisher  absichtlich 
das  zeitgenössische  und  das  danach  ausgerichtete  geschicht- 
liche Urteil  nach  der  Seite  des  Günstigen  und  Bedeutenden 
zu  ergänzen  versucht.  Um  so  schärfer  muß  hervorgehoben 
werden,  was  anderseits  die  mitlebenden  Gegner,  namentlich 
die  deutschen,  zweifellos  als  das  Widerwärtigste  an  der 
Arbeit  empfunden  haben:  Es  ist  ein  kaum  faßbares,  gleich 
einem  Geruch  auch  dem  Ausdruck  der  bezeichneten  guten 
und  klugen  Gedanken  anhaftendes  Element  von  Verzerrung, 
Hinterhältigkeit,  Gereiztheit  und  Persönlichkeit,  das  mit 
der  Stellung  und  Vergangenheit  des  Verfassers  zu  verein- 
baren, wenigstens  nach  den  hier  zusammengestellten  Nach- 
richten schwer  fällt.  Daran  hauptsächlich  knüpft  vielleicht 
schon  der  Verdacht  der  Zeitgenossen,  billig  jedenfalls  der 
der  Forschung,  daß  hier  eine  Spur  auf  geheimnisvolle  fremde 
Beeinflussung  und  Anstiftung  des  Autors  führe.  Die  neben 
Breslau  und  Göttingen  als  Veranstalter  des  Wartburgfest 
besonders  (S.  27)  gebrandmarkten  Jenaer  Burschenschafter, 
die  im  März  1819  durch  Heinrich  von  Gagern  eine  Beschwerde 
darüber  beim  Senat  einreichten^),  werden  Sturdza  als  Freund 

1)  In  der  deutschen  Übersetzung  der  Denkschrift  (Frankfurt, 
Andrea,  1819)  S.  49.  Der  unparteiische  Verfasser  steht  anscheinend 
<S.  24,  32)  Hans  v.  Gagern  nahe.  Vgl.  Steins  Briefe  an  diesen 
Frankfurt,  18.  Dez.  1818  und  2.  Jan.  1819  Mein  Anteil  an  der  Politik 
4,  68  f.:  „Man  schimpft  über  Stourza,  über  die  Anmaßung  eines 
Fremdlings,  uns  zurechtweisen  zu  wollen.  Da  unsere  Pamphletisten 
aber  doch  über  alle  europäische  Angelegenheiten  entscheiden  und 
aburteilen,  warum  soll  es  Stourza  nicht  erlaubt  sein,  ein  Wort  zu 
sprechen."  „Allerdings  weiß  der  Fremdling,  was  er  tut,  man  hätte 
ihn  daher  mit  Gründen  und  nicht  mit  Spott  widerlegen  sollen,  der 
alle  Teilnehmer  erbittert." 

2)  Wentzckein  Quell,  u.  Darst.  z.  Gesch.  d.  Burschenschaft  1, 168. 


il 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  „iStat  actuel  de  rAllemagne*.    91 

Kotzebues,   der  seine   Betrachtungen   über   die   Orthodoxe 
Kirche  noch  soeben  (1817  bei  Brockhaus)  deutsch  heraus- 
gegeben hatte,  Schwager  des  weimarischen  Außenministers 
Edling  und  Schwiegersohn  Hufelands^)  in  erster  Reihe  mit 
den  seit  Maria  Paulowna  zwischen  Weimar  und  Petersburg 
spielenden    höfischen    Intrigen    zusammengebracht    haben. 
Einen  anderen  Fingerzeig  wagte  der  Hamburger  Deutsche 
Beobachter  (Nr.  724)  vom  9.  April  1819,  den  Gentz  darauf- 
hin sofort  aufgeregt  an  Metternich  übermittelte^),  im  An- 
schluß an  den  thüringischen  Vorfall:   ,,Aus  Weimar  vorn 
8.  März  heißt  es:  ,Man  sagt  hier,  daß  unser  Großherzog  den 
Staatsrat   Schweitzer^)    in   Angelegenheit   des   russischen 
Staatsrats  v.  Sturdza  nach  Jena  geschickt  und  durch  eine 
Vorladung    der    Burschenschaft    durch    den   Akademischen 
Senat  einige  sehr  laute  und  bestimmte  Ausbrüche  des  Un- 
willens gegen  des  besagten   Staatsrats  ungünstige   Urteile 
über  die  deutschen  Universitäten,  die  er  in  seiner  Denk- 
schrift über  den  gegenwärtigen  Zustand  Deutschlands  aus- 
gesprochen hat,  zu  beschwichtigen  und  in  ihre  Schranken 
zurückzuführen    gewußt    habe.     Wie    verlautet,    hat    Herr 
V.  Sturdza  selbst   über  den   Ursprung  jener   Denkschrift 
an  das  großherzogliche   Staatsministerium  sehr  bestimmte 
Erklärungen  mitgeteilt,  daß  sie  aus  Papieren  und  Memoiren 
geflossen,    welche    ein    großer  Deutscher    Hof    einem 
zweiten  nicht  Deutschen  beim  Kongreß  in  Aachen 
unterlegte,  wobei  kein  Verdacht  entstehen  konnte,  daß 
die  Verfasser  jener  Aktenstücke  der  wahren  Lage  der  Dinge 
unkundig  seyen'.*' 

Fast  klingt  in  dem  mit  Hardenbergs  Vertrautem  Benzen- 
berg so  eng  verbundenen  hanseatischen  Organ*)  die  Zusam- 


1)  Wittichen-Salzer,  Gentz  3,1,397.     Rühl,  Staegemann  2,357. 

2)  Wittichen-Salzer  3,  1,  384.  Wenn  das  Datum  8.  April  stimmt, 
muß  ein  durch  die  Zensur  oder  sonst  beschaffter  Korrekturbogen 
beigelegen  haben.  Da  er  den  Herausgebern  nicht  mehr  vorlag,  gebe 
ich  die  angezogene  Stelle  aus  dem  (einzigen  nachweisbaren)  Exemplar 
der  Universitätsbibliothek  Halle  oben  voll  wieder. 

^)  Über   ihn  als   Freund  der  Burschenschaft   (nicht  „Burschen- 
schafter") s.  Petersdorff,  Motz  2,  162. 
*)  Heyderhoff,  Benzenberg  72  ff. 


92  Carl  Brinkmann, 

menstellung  der  beiden  Nachrichten  wie  ein  absichtlicher 
Vergleich  des  liberalen  Weimarischen  mit  dem  deutlich  genug 
bezeichneten  Wiener  Hof.  Jedenfalls  ist  auch  Preußen 
von  der  um  Sturdzas  Denkschrift  ausgebreiteten  Geheimnis- 
krämerei nicht  unberührt  geblieben:  Im  Augenbhck,  da  im 
Schoß  der  preußischen  Regierung  der  Streit  um  die  Erfül- 
lung des  Verfassungsversprechens  der  Entscheidung  nahte 
und  die  Gründung  der  Bonner  Universität  die  sich  messen- 
den Parteien  auch  auf  pädagogischem  Gebiet  in  Spannung 
hielt^),  geriet  der  preußische  Legationsrat  Scholl  in  den 
von  Sturdza  und  der  russischen  Regierung  geteilten  Ver- 
dacht, die  erste  Veröffentlichung  des  Mimoire  in  Paris  ver- 
anlaßt zu  haben.  Scholl  war  der  ehemalige  Besitzer  der 
Verlagsfirma,  der  sog.  Librairie  grecgue-latine-allemande,  die 
er  zwar  1814  beim  Eintritt  in  den  preußischen  Dienst  ver- 
kauft hatte,  der  er  aber  noch  immer  nachweislich  nahestand. *> 
Nach  seiner  eigenen,  später  an  Hardenberg  gerichteten  und 
von  diesem  Nesselrode  übergebenen  Verteidigung  kam  er 
in  Aachen  bei  einem  ungenannten  Freund,  also  außeramt- 
lich, in  den  Besitz  des  amtlichen  Drucks  des  M^moirCr 
schickte  es  als  aeinen  eigenen  Überzeugungen  entsprechend 
an  einen  royalistischen  Freund  in  Paris,  von  dem  es  dann 
durch  Vermittelung  von  Deputierten  dieser  Parteirichtung 
seinen  Weg  in  die  Öffentlichkeit  nahm.^)  Selbst  wenn  maa 
Scholl  seine  Unschuld  an  diesem  letzten  glaubt,  so  sieht 
man  jedenfalls  hier  noch  eine  neue  Spielart  der  europäischen 
Reaktion  in  die  Sache  verflochten.  Daß  ihr  Eingreifen 
Sturdza  und  Rußland  so  schwer  bloßstellte,  konnte  aber 
leicht  Hardenberg,  dessen  sehr  kühle  Beziehungen  zu  Scholl 


1)  Sturdza  S.  63  n.  setzt  eigne  Hoffnungen  auf  die  neue  Hoch- 
schule (dagegen  s.  unten  S.  99);  vgl.  jetzt  allgemein  Haake  in  Forsch. 
z.  Brand. -Preuß.  Gesch.  30,  337  und  Platzhoff  in  Die  Rheinprovinz 
1815—1915  2,  109  f. 

2)  Die  dem  Exemplar  der  Kgl.  Bibliothek  in  Berlin  beigebun- 
denen Bücheranzeigen  umfassen  mehrere  Werke  von  ihm.  „Ändert 
agent  dela  police  frangaise"  nennt  ihn  Pozzo  di  Borgo  an  Lieven 
20.  Sept.  1817  Corr.  avec  Nesselrode  2,  211. 

3)  Geh.  St.-A.  A.  A.  II  Rep.  4  Polizei  Nr.  24  vol.  2:  16.  (nicht 
wie  bei  Stern,  Gesch.  Europas  P,  478  Anm.:  10.)  Okt.  1820. 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  »6tat  actuel  de  rAllemagne".    93 

unbekannt  waren,  den  Argwohn  einer  Verschwörung  zum 
Schaden  Rußlands  eintragen,^) 

In  alle  diese  Verhältnisse  bringt  neues  Licht  ein 
Schriftstück,  das  sich  unter  den  Akten  der  damaligen  preu- 
ßischen Staatsverwaltung  an  ziemlich  verstecktem  Ort  er- 
halten hat.  Neben  den  durch  die  Missionen  versehenen, 
eigentlich  politischen  Beziehungen  zwischen  Preußen,  und 
Rußland  lief  in  den  Jahren  zwischen  der  Heiligen  Allianz 
und  dem  Aachener  Kongreß  eine  sehr  wichtige  handels- 
politische Verhandlung.  Die  Wiener  Verträge  vom  5.  Mai 
1815  zwischen  Rußland  und  Preußen-Österreich  hatten  dem 
neubegründeten  Königreich  Kongreßpolen  als  Patengeschenk 
das  Recht  des  freien  Handels  innerhalb  der  Grenzen  des 
ungeteilten  Polens  von  1772  mitgegeben.  Dies  den  drei 
Teilungsmächten  im  Grunde  gleich  lästige  Privileg,  das, 
Aveniger  bekannt,  doch  zu  den  typischsten  politischen  Schöp- 
fungen der  Kongreß-  und  Allianzzeit  und  ihrer  internationa- 
listischen Denkweise  gehört,  konnte,  wie  begreiflich,  erst  in 
äußerst  langwierigen  und  verwickelten  Verhandlungen^)  zwi- 
schen jenen  Mächten  auch  nur  einigermaßen  in  die  Wirk- 
lichkeit umgesetzt  werden.  Das  Ergebnis  dieser  Verhand- 
lungen auf  preußisch-russischer  Seite  war  die  wenigstens 
vorübergehende  Durchbrechung  des  russischen  Schutzzoll- 
systems im  Handelsvertrag  vom  19.  Dezember  1818.  Ent- 
scheidendes Verdienst  um  den  Abschluß  gebührt  dem  preu- 
ßischen Sonderbevollmächtigten  in  Petersburg,  Regierungs- 
rat Karl  Wilhelm  Salomon  Semler  vom  Finanzministerium. 
Das  Wenige,  was  wir  über  das  Vor-  und  Nachleben  dieses 
Beamten  wissen,  ist  doch  gerade  in  dem  gegenwärtigen 
Zusammenhang  überaus  bezeichnend.  Als  Sohn  eines  Re- 
gierungsrats in  Halle  und  Enkel  des  berühmten  Theologen 

1)  So  erklärt  sich  der  gereizte  Ton  des  von  Alopeus  an  Bern- 
storff  vertraulich  mitgeteilten  Erlasses  von  Nesselrode  u.  S.  95  Anm.  2. 
Daß  die  Ernennung  Schölls  ins  Oberzensurkollegium  1819  Hardenberg 
aufgedrungen  war,  will  Dorow,  Erlebtes  2,  107  wissen. 

2)  Vgl.  darüber  bis  zum  Erscheinen  der  von  mir  vorbereiteten 
Publikation  der  Preußischen  Staatsarchive  über  die  Preußische  Han- 
delspolitik vor  dem  Zollverein,  wenn  auch  mit  Vorsicht,  Treitschke, 
D.O.  1,660  f.  und  3,  474;  Bernhardi,  Gesch.  Rußlands  3,  622  ff., 
Zimmermann,  Preuß.  Handelspol.  13  ff.,  59  tf. 


94  Carl  Brinkmann, 

Johann  Salomon  Semler  1788  geboren,   stand   er  von  Haus 
aus  in  den   Überlieferungen   der  geistigen  und  politischen 
Aufklärung,  in  deren  Nachblüte  während  der  preußischen 
Reformzeit  er  dann,  schon  seit  1815  an  der  russischen  Ver- 
handlung maßgebend  beteiligt,  früh  eine  glänzende   Lauf- 
bahn  versprochen   haben   muß.     Unglücklich   für   ihn   fiel 
jedoch  sein  Petersburger  Erfolg  gerade  mit  dem  Beginn  der 
Reaktion    zusammen.     Das   erlaubt   wenigstens    eine    Ver- 
mutung über  sein  alsbaldiges  Verschwinden  aus  den  Vorder- 
gründen des  Staatslebens.    Schon  einige  Jahre  vor  seinem 
1838  in  Berlin  erfolgten  Tode  nahm  er  den  Abschied  als 
Geh.  Oberfinanzrat,  um  sich  seinem  hauptsächlichen  Privat- 
interesse, der  Förderung  religiöser  und  pädagogischer,  z.  B. 
temperenzlerischer   Vereine   und   Bestrebungen   ungestörter 
zu  widmen.^)    Man  sieht:  ein  echter  Mann  seiner  Zeit  und 
höchstens   durch   das  rationalistische   Vorzeichen  von   den 
sie   beherrschenden   ähnlichen    Bewegungen   der   Romantik 
abgerückt.    Seine  Kommissionsberichte  1817 — 1819  an  das 
Ministerium  des  Auswärtigen  sind  neben  den  gleichfalls  bis 
jetzt   unveröffentlichten    Depeschen   des    Petersburger    Ge- 
sandten,   Generalleutnants   v.  Schöler,    mit     dem     er    bei 
sehr  verschiedener  politischer   Gesinnung  auf  dem   besten 
Fuß  zu  stehen  wußte,  trotz  ihres  fachlichen  Gegenstandes 
eine  ausgezeichnete  allgemeine   Quelle  für  die  der  näheren 
Erforschung    noch    dringend    bedürftigen    damaligen    Be- 
ziehungen   zwischen    der   preußischen    und    der   russischen 
Politik.   Darunter  ist  auch  der  unten  (S.  97  ff.)  abgedruckte^ 
seinem  Verfasser  selbst  offenbar  als  eine  Art  Wagnis  aus 
Herzensbedürfnis  bewußte  Sonderbericht  über  die  Sturdzasche 
Denkschrift,  der  sich  wie  eine  letzte  halb  verzweifelte  Mah- 
nung vom  Ausland  her  der  drohenden  Ebbe  der  preußischen 
Reform  in  den  Weg  zu  werfen  versucht. 

Er  ist  natürlich  weit  davon  entfernt,  eine  erschöpfende 
authentische  Darstellung  vom  Ursprung  des  Memoire  zu 
bieten.    Muß  schon  sein  einnehmend  warmer  und  offener, 

1)  Neuer  Nekrolog  der  Deutschen  16,2  (1840),  1132.  Als  eifri- 
gen Sammler  der  zeitgenössischen  philosophischen  und  staatswissen- 
schaftlichen Literatur  zeigt  ihn  der  in  der  Kgl.  Bibliothek  Berlin  be- 
wahrte Auktionskatalog  seiner  Bibliothek  (Berlin  1839). 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  »fitat  actuel  de  rAllemagne*.    95 

aber  unverhüllt  Partei  nehmender  Ton  vorsichtig  stimmen, 
so  fallen  auch  im  einzelnen  kleine  (in  meinen  Anmerkungen 
näher  bezeichnete)  Ungenauigkeiten  in  ihm  auf.  In  der 
Hauptsache  aber  kann  keine  Frage  sein,  daß  er  den  bisher 
weitaus  klarsten  EinbUck  in  die  Sturdzaepisode  überhaupt 
gewährt.  Namentlich  ein  Umstand  geht,  wie  ich  meine, 
daraus  mit  zwingender  Deutlichkeit  hervor:  Die  Unruhe  der 
öffentlichen  Meinung  in  Deutschland  über  das  plötzliche 
Auftreten  des  exotischen  Kritikers  war  nur  zu  berechtigt, 
denn  die  letzten  Urheber  dieses  Auftretens  saßen  nirgend 
anders  als  —  im  deutschen  Volke  selbst.  Und  zwar  zunächst 
noch  zugespitzter:  Als  unmittelbare  Quelle  jener  gehässigen 
Kleinlichkeit,  die  wie  das  Flüstern  eines  Souffleurs  durch 
Sturdzas  idealistische  Gedanken  klingt,  zumal  wo  von  den 
deutschen  Hochschulen  die  Rede  ist,  erscheint  wieder,  wie 
in  Preußen  1815  Schmalz,  ein  deutscher  Universitätsprofessor, 
der  bekannte  Anatom  Justus  Christian  Loder,  der,  schon 
früh  durch  den  Glanz  von  Kotzebues  Laufbahn  verlockt^), 
damals  auf  dem  Gipfel  seiner  eigenen  als  Generalarzt  des 
Feldzugs  von  1812  und  Mitglied  höchster  medizinischer  und 
sogar  legislativer  Behörden  des  russischen  Reichs  angelangt 
war.  Aber  während  er  durchaus  nur  selber  geschoben,  be- 
stellter Gutachter  und  höchstens  allgemein  der  Vertreter  der 
rückschrittlichen  Minderheit  innerhalb  des  deutschrussischen 
Beamtentums  bleibt,  wird  nicht  minder  überzeugend  der 
leitende  Geist  der  ganzen  Aktion  aufgewiesen,  wo  der  Schrift- 
wechsel Capodistrias  mit  der  Wiener  Staatskanzlei  und 
ihrem  auswärtigen  Dienst  über  das  Wartburgfest  erwähnt 
wird:  Der  indiskrete  „Beobachter'*  (oben  S.  91)  war  nicht 
so  schlecht  unterrichtet;  derselbe  Metternich,  der  nach  dem 
Ausbruch  des  Skandals  Wert  darauf  legte,  Alexander  I.  als 
Auftraggeber  Sturdzas  darzustellen 2),  hatte  zwar  nicht  in 


1)  Waitz- Schmidt,  Karoline  2,  110;  die  (auch  sonst  reichlich 
an  ihm  geübte)  Bosheit  der  Jenaer  Romantiker  und  der  offizielle 
Lebenslauf  A.  D.  B.  19,  75  ff.  ergänzen  einander  vortrefflich. 

*)  An  Kaiser  Franz  1.  27.  April  1819  Stern,  Gesch.  Europas 
P,  478.  Österreich  als  Anstifter  der  Aachner  Aktion  vermutet  übri- 
gens schon  Ilse,  Geschichte  der  polit.  Untersuchungen  1  f.  Auch 
Nesselrode  schreibt  in  dem  Stern  P,  478  Anm.  erwähnten  Erlaß  an 


%  Carl  Brinkmann, 

Aacfien,  doch  früher  die  Mine  gelegt,  die  ihm  nun  so  un- 
zeitig und  eigenmächtig  aufgeflogen  war. 

Denn  wenn  es  außer  dem  bekannten  Liberalismus  Capo- 
distrias  und  der  hier  einleitend  geschilderten  ganzen  Lage 
der  damaligen  russischen  Regierung  noch  eines  Beweises 
dafür  bedarf,  daß  Sturdza  in  Aachen  nicht  etwa  als  Teil- 
nehmer in  eine  Verschwörung  der  gesamten  europäischen 
Reaktion  zur  Besiegung  des  „preußischen  Jakobinertums" 
eingriff,  so  zeigt  die  Korrespondenz  Gentzens  mit  Metter- 
nich  und  Adam  Müller  schlagend  die  Zusammenhanglosig- 
keit  zwischen  dem  österreichischen  Druck  auf  Berlin,  der  ja 
ebenfalls  von  zwei  in  Aachen  überreichten  Denkschriften 
Metternichs  ausging,  und  der  parallelen  russischen  Politik. 
Nicht  nur  Enttäuschung  über  Alexanders  mangelndes  Ver- 
ständnis wird  hier  ausgesprochen,  sondern  im  Rückblick 
auf  die  erste  geheime  Zirkulation  von  Sturdzas  Denkschrift 
geradezu  bedauert,  daß  man  ihr  seinerzeit  nicht  mehr  Auf- 
merksamkeit geschenkt  habe:  „Aber  wer  konnte  damals 
voraussehen,  daß  diese  Schrift  so  wichtig  werden  würde."*) 

Wie  so  oft  ergibt  also  die  Forschung  Unordnung  und 
„Zufall",  wo  Zeitgenossen  Absicht  und  Plan  vorausgesetzt 
hatten.  Die  in  Aachen  verpaßte,  von  Rußland  mindestens 
möglicherweise  auch  nicht  gesuchte  Gelegenheit  einer  Ver- 
ständigung mit  Österreich  über  bereits  zusammen  Erwogenes 
verkehrte  sich  infolge  des  Bekanntwerdens  des  Memoire 
in  ein  verlegenes  Hin-  und  Herwälzen  der  Verantwortung. 
Allein  daß  der  Hauptschuldige  vor  der  Öffentlichkeit  es  nicht 
auch  in  Wirklichkeit  war,  kann  heute  nicht  mehr  bezweifelt 
werden.  Es  gibt  doch  zu  denken,  daß  Semlers  Klage,  die 
deutschen  Sympathien  wendeten  sich  jetzt  erst  von  Ruß- 
land ab   (u.  S.  99),  schon  in  der  polemischen  Literatur  über 

Chanikov  vom  5./17.  März  1819  (nicht  1817),  übrigens  einem  Rund- 
erlaß  an  sämtliche  russ.  Gesandtschaften  zum  Schutze  Sturdzas:  „Les 
cours  de  Vienne  et  de  Berlin  avaient  elles-memes  cru  devoir  adresser 
ä  la  nötre  des  Communications  au  sujet  de  ces  iv^nements  (des  Wart- 
burgfests).*'  Geh.  St.-A.  A.  A.  11  Rep.  4  Polizei  Nr.  24  vol.  1. 

1)  An  Metternich  8.  April,  dazu  an  und  von  Adam  Müller 
15.  März  und  3.  April  1819  Wittichen-Salzer  3,  1,  384,  361,  399. 
Auch  Scholl  maß  nach  seiner  oben  S.  92  erwähnten  Verteidigung 
<lem  Mimoire  auf  dem  Kongreß  gar  keine  politische  Bedeiitung  bei. 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  »6tat  actuel  de  TAllemagne".    97 

Sturdza  fast  wörtlich  wiederkehrt.^)  Gewiß  urteilt  Treitschke 
mehr  im  Vorübergehen  und  auf  Grund  seiner  allgemeinen 
politischen  Ansicht  von  der  Heilsamkeit  der  verleumdeten 
russischen,  der  Schädlichkeit  der  gepriesenen  österreichischen 
Nachbarschaft  für  Deutschland,  wenn  er  (DG.  2, 486)  schreibt: 
„Seitdem  wähnten  die  Studenten  allesamt,  daß  die  deutsche 
Reaktion  von  Petersburg  ausgehe . . .  Der  Verdacht  der 
jungen  Leute  entbehrte  jedes  Grundes."  Und  gewiß  ist  das 
auch  nicht  die  volle  Wahrheit.  Aber  es  kommt  ihr  auf  alle 
Fälle  näher  als  die  Rolle,  die  gerade  die  Sturdzaepisode  in 
der  fortan  wachsenden  Entfremdung  des  deutschen  Volkes 
vom  russischen  Staat  hat  spielen  müssen. 

Bericht  des  Regierungsrats  Semler  an  die  2.  Sektion  des 
Ministeriums  des  Auswärtigen  in  Berlin. 

19.  ,^  ^  Geh.  Staatsarchiv  Berlin  A.A.  II 

St.  Petersburg  3j- Januar  1819.  p^p  g  Yiumnd  10  vol.  4 

Das  Mimoire  sur  Vitat  actuel  de  VAÜemagne  hat  in  so 
vielen  Beziehungen  die  Aufmerksamkeit  draußen  teils  er- 
regt, teils  vermehrt,  daß  es  Einer  Hochlöblichen  Section 
vielleicht  nicht  unangenehm  sein  möchte,  auch  über  den 
Eindruck,  den  es  hier  gemacht  hat.  Einiges  aus  dem  Stand- 
punkte eines  unbefangenen  Privatmannes  zu  vernehmen. 
Ohnehin  fühle  ich  mich,  da  mir  die  erwähnte  Schrift  nur 
nach  Auszügen  daraus  schon  beachtenswert  genug  schien, 
einer  von  ihrem  Verfasser  hauptsächlich  herrührenden  Ge- 
neralinstruction  für  einen  Teil  des  öffentlichen  Unterrichts 
im  Russischen  Reiche  zu  erwähnen  (Bericht  vom  19ten 
vorigen  Monats  und  Jahres)  und  diese  Instruction  in  einer 
Übersetzung  unter  dem  26ten  vorigen  Monats  und  Jahres 
nachfolgen  zu  lassen^),  —  gegenwärtig,  nachdem  ich  das 
Schriftchen  ganz  gelesen  habe,  besonders  veranlaßt,  auf 
beide  Berichte  zurückzukommen,  und  zwar  aus  dem  Grunde, 
weil  die  von  mir  eingereichte  Übersetzung  in  diesem  Augen- 

^)  In  der  Gegenschrift  des  Leipziger  Philosophen  W.  C.  Krug, 
Auch  eine  Darstellung  über  den  Zustand  von  Deutschland  (Leipzig 
1819)  S.  42. 

*)  Nicht  mehr  bei  den  Akten. 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd  7 


98  Carl  Brinkmann, 

blick  nach  Deutschland  geschickt  und  mit  einem  kurzen, 
aber  bedeutenden  Vorworte  durch  die  allgemeine  Zeitung 
bekannt  gemacht  wird.^)  Ich  möchte  nämlich  nicht  gerne 
dafür  angesehen  werden,  als  sei  diese  Bekanntwerdung  durch 
mich  veranlaßt;  nicht  etwa,  daß  ich  die  ihr  zum  Grunde 
liegende  Absicht  tadelnswert  fände,  welche  im  Gegenteil 
ich  zu  billigen  mich  gedrungen  fühle,  sondern  weil  ich  auch 
nicht  entfernt  in  den  Schein  einer  Unschicklichkeit  gegen 
Eine  Hochlöbliche  Section  geraten  mag  und  es  nach  meinem 
Gefühl  mindestens  eine  solche  sein  würde,  einen  höhern  Orts 
einmal  vorgelegten  Aufsatz  nachher  ohne  Vorwissen  auf  dem 
bemerkten    Wege    zur    allgemeinen    Kenntnis   zu    bringen. 

Ein  Österreichischer  Diplomatiker,  der  hiesige  Geschäfts- 
träger Graf  Thurn,  —  ein  höchst  ausgezeichneter  Offizier, 
von  dem  auch  die  interessanten  Mitteilungen  über  das 
Russische  Militair  und  das  Armee-Colonisationswesen  in  der 
Österreichischen  Militair-Zeitschrift^)  herrühren  —  hat  diese 
Bekanntwerdung  —  für  sich  —  veranlaßt.  Die  Übersetzung 
wird  in  einigen  Stellen  verbessert  erscheinen  und  wahrschein- 
lich auch  die  besseren  Köpfe  in  Deutschland  ungleich  mehr, 
als  das  Memoire  selbst,  darauf  zurückzukommen  einladen. 

Unter  dem  Russischen  Publicum,  das  mehr  als  Zeitungen 
liest,  —  und  ein  solches  giebt  es  hier  nicht  allein  unter  den 
Gelehrten,  besonders  den  Deutschen  und  den  Beamteten, 
son(;iern  vorzüglich  auch  unter  dem  zahlreichen  General- 
stabe — ,  hat  Sturdzas  Werk,  so  weit  meine  und  anderer 
Beobachtungen  reichen,  entschieden  einen  widrigen  Effect 
gemacht.  Die  Gesellschaft  der  Kreise,  welche  überhaupt 
durch  Dinge  der  Art  bewegt  werden,  beschäftigt  sich  fort- 
dauernd mit  diesem  Gegenstande  auf  eine  hier  ganz  unge- 
wöhnliche Weise,  und  hin  und  wieder  hat  man  sich  mit 
einer  Dreistigkeit   darüber  ausgelassen,   welche  so   zu   be- 

1)  Nr.  30  u.  33  Wittichen  3,  1,  361. 

*)  Die  anonyme  „Darstellung  der  Streitkräfte  Rußlands  während 
der  Kriege  von  1812 — 1815  und  ihrer  bisherigen  Reduktion"  in  der 
Osterreichischen  Militairischen  Zeitschrift  4  (1818),  208 — 231  behan- 
delt die  Militärkolonien  kurz  S.  224  f.  Stern,  Gesch.  Europas  3,21 
n.  1  erwähnt  eine  Denkschrift  des  Grafen  Heinrich  Bombelles  (s.  u. 
S.  100  n.  2)  darüber.    Vgl.  auch  Schiemann,  Alexander  I.  450  ff. 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  „ttat  actuel  de  rAIleraagne".    99 

merken  auch  diejenigen  bisher  kaum  Gelegenheit  gehabt 
haben  wollen,  die  ungleich  mehr  als  ich  in  der  Gesellschaft 
sich  befinden.  Geborne  Russen  haben  unverholen  ihr  Be- 
dauern geäußert,  daß  des  Kaisers  Majestät,  dem  dieses 
Erzeugnis  doch  gewiß  vorher  mehr  als  bekannt  gewesen  sei, 
sich  unfehlbar  um  einen  großen  Teil  der  Liebe  und  des  Ver- 
trauens des  deutschen  Volkes  bringe  und  dessen  Blicke 
nun  vollends  von  Rußland  abwende,  und  es  ist  Tatsache, 
daß,  als  die  dortige  Vossische  Zeitung  der  Sturdzaschen 
Schrift  ausführlich  und,  wie  man  bemerken  wollte,  billigend 
erwähnte^),  ich  mit  Fragen  gleichsam  bestürmt  wurde,  ob 
es  denn  wohl  möglich  sei,  daß  die  Ideen  des  Herrn  v.  Stourdza 
Eingang  in  Berlin  gewinnen  könnten.  Bei  dieser  und  so 
mancher  andern  Gelegenheit,  ich  darf  wohl  sagen,  bei  der 
neuesten  pohtischen  Emancipation  von  Frankreich  ist  mir 
das  Vertrauen  gar  erhebend  gewesen,  womit  hier  so  viele 
Männer  von  Gediegenheit  —  ich  will  nur  einen  nennen, 
aber  er  zählt  für  viele,  den  General-Lieutenant  Klinger^)  — 
auf  Preußens  Regierung  schauen  und  fest  daran  glauben, 
daß  sie  die  freisinnigen  Ideen  ernsthaft  pflegen  und  besonnen 
darzustellen  bemüht  [sein],  überall  aber  an  Deutschland  nie 
und  unter  keinen  Umständen  verzweifeln  werde.  Als  ob  der 
Gedanke  eines  gemeinschaftlichen  Gesamtvaterlandes  erst 
außerhalb  desselben  Stärke  bekäme,  habe  ich  keinen  Deut- 
schen in  der  Gesellschaft  hier  getroffen,  der  sich  wie  so  viele 
wahrheitliebende  Eingeborne  (die  einem  Karamsin  den  Beruf 
eines  Historikers  des  Russischen  Volks  nicht  zugestehen) 3) 
nicht  mit  Innigkeit  gefreut  hätte,  als  die  Zeitungen  so  volle 
Bürgschaft  in  der  Stiftung  und  Ankündigung  der  neuen 
Hochschule  am  Rhein  trostreich  verkündeten.  —  Russische 
Beamtete,  die  in  hohen  Ämtern  stehen,  z.  B.  ein  Wirklicher 


1)  Die  Anzeige  der  Vossischen  Zeitung  Stück  153  f.  vom  22. 
und  24.  Dezember  1818  ist  fast  ausschließlich  Referat  und  wendet 
sich  nur  anfangs  gegen  die  Nationalzeitung  der  Deutschen,  die  Sturdzas 
Urteil  über  Deutschland  im  vorhinein  die  Zuständigkeit  bestritten 
hatte.    Vgl.  Steins  Urteil  oben  S.  90  Anm.  1. 

2)  Der  Dichter  Friedrich  Maximilian  KUnger,  schon,  seit  1780 
am  russischen  Hof. 

•)  S.  z.  B.  Turgenev,  La  Russie  I,  462  ff. 

7* 


ICO  Carl  Brinkmann, 

Etatsrat  v.  Turgeneff^),  einer  der  ersten  im  Ministerium  des 
öffentlichen  Unterrichts,  haben  laut  und  unzweideutig  ihre 
Mißbilligung  über  die  Darstellung  des  Herrn  v.  Stourdza 
zu  erkennen  gegeben. — 

Wie  wehe  es  aber  auch  tut,  so  erfordert  eine  treue  Er- 
zählung, bei  diesem  Anlasse  eines  deutschen  Gelehrten  zu 
erwähnen,  der  auf  Stourdzas  Ansichten  bedeutend  gewirkt 
und  schon  im  Winter  vorigen  Jahres,  durch  den  Minister 
Fürsten  Gallizin  aufgefordert,  eine  Darstellung  des  deut- 
schen Universitätswesens  berichtlich  geliefert  hat;  eines 
deutschen  Gelehrten,  der  selbst  viele  Jahre  hindurch  deut- 
scher Lehrer  in  Jena  und  Halle  gewesen  und  bei  dem  nach 
seinen  frühern  Verhältnissen  eine  genaue  Kenntnis  des 
deutschen  Universitätswesens  vorausgesetzt  werden  konnte; 
es  ist  dies  der  Wirkliche  Etatsrat  v.  Loder  zu  Moskau.  Als 
nämlich  im  Winter  1817  von  Wien  aus  offizielle  Darstel- 
lungen der  Vorgänge  auf  der  Wartburg  zu  Moskau  einliefen; 
als  diese  Darstellungen  der  gewandten  Feder  des  Grafen 
Capodistrias  zu  Antworten  Veranlassung  gaben,  die  Graf 
Mombelles^)  so  gut  als  den  Inhalt  jener  Darstellungen  ver- 
antworten mag,  richtete  sich  die  Aufmerksamkeit  hier 
schärfer  auf  die  deutschen  Universitäten,  und  der  Minister^) 
Fürst  Gallizin  trug  Herrn  v.  Loder,  bei  dem  man  Kenntnis 
der  Sache  überhaupt,  des  Weimarschen  Landes  und  vieler 
dortigen  Beamteten  insbesondere  voraussetzte,  auf,  seine 
Äußerungen  über  die  Vorgänge  mit  einem  Urteile  über  den 
Unterricht  auf  Universitäten  überhaupt  und  ihre  Verfas- 
sungen abzugeben.  Die  große  Eitelkeit  des  Herrn  v.  Loder 
fand  sich  dadurch  nicht  wenig  geschmeichelt,  und  er  über- 
gab jene  Darstellung,  über  deren  unwürdigen  Inhalt  ich  aus 

*)  Der  große  Politiker  Nikolaj  Ivanovic  Turgenev  (s.  vor.  Anm.); 
vgl.  Stern,   Gesch.  Europas   3,  25,    Schiemann,   Alexander  I.  475  ff. 

*)  Zweifellos  phonetische  Verschreibung  für  Bombelies,  entweder 
Graf  Heinrich,  Thurns  Legationssekretär  in  Petersburg,  Wittichen- 
Salzer  3,  2,  282  n.  1  und  oben  S.  98  n.  2,  oder  wahrscheinlicher 
Graf  Ludwig,  1817 — 20  österreichischer  Gesandter  in  Dresden  (und 
damit  an  den  thüringischen  Höfen),  Wittichen-Salzer  3,  1,  37  n.  2, 
auch  Mitglied  der  Christlich-deutschen  Tischgesellschaft  1811  Steig, 
Kleists  Beriiner  Kämpfe  622,  65a 

^)  Der  Unterrichtsminister.    Vgl.  über  ihn  Schiemann  415  f. 


Die  Entstehung  von  Sturdzas  „Etat  actuel  de  rAUcmagne*.    101 

den  besten  Quellen  unterrichtet  worden  bin.  Herr  v.  Stourdza, 
im  frühen  Alter  dem  frischen  Leben  schon  halb  entfremdet, 
ist  dadurch  sehr  influenzirt  worden,  so  wie  sein  tief  religiöses 
Gemüt  ihn  früher  schon  drängte,  die  Sache  des  Glaubens 
und  besonders  der  griechischen  Kirche,  gewiß  glücklicher, 
obgleich  nicht  minder  einseitig,  zur  Sprache  zu  bringen.*)  — 
Von  der  Aufmerksamkeit  übrigens,  welche  von  Seiten 
der  hiesigen  Regierung  der  Flut  von  Tagesschriften  und 
Zeitungen,  welche  Deutschland  erzeugt,  gewidmet  wird, 
erlaube  ich  mir  zum  Schlüsse  etwas  beizubringen.  Es  sind 
bei  der  besondern  Canzlei  des  Polizeiministerii  (so  heißt  die 
Behörde,  welche  das,  was  von  der  geheimen  Polizei  noch 
übrig  geblieben,  verwaltet  und  wie  das  gesamte  Polizei- 
ministerium nächstens  eine  totale  Umgestaltung  erfahren 
wird2),  mehrere  Beamtete,  und  darunter  einige  von  aus- 
gezeichnetem Kopfe,  besonders  dafür  angestellt,  alle  diese 
Schriften  zu  lesen  und  nach  gewissen  Regeln  zu  excerpiren, 
aus  welchen  Excerpten  hiernächst  an  die  Person  des  Re- 
genten Zusammenstellungen  gemacht  werden.  3)  Ich  habe 
mehrere  Monate  hindurch  Bücher  und  Tagesschriften  aus 
dieser  Quelle  zu  erhalten  gewußt  und  aus  den  darin  zum 
Excerpiren  angestrichenen  Stellen  oft  selbst  beurteilen 
können,  wie  mißlich  und  wie  ganz  irreleitend  diese  Art  der 
Beobachtung  des  öffentlichen  Lebens  in  einem  so  viel  schrei- 
benden Lande  als  Deutschland  werden  kann  und  wie  oft 
sie  dies  beinah  notwendig  werden  muß.  Diese  Einrichtung 
und  ähnliche  Arbeiten,  welche  das  Russische  Ministerium 
von  seinen  diplomatischen  und  Civilbeamteten  draußen 
machen  läßt,  müssen  erklären,  wie  ganz  falsch  oft  die  An- 
sichten der  obersten  Personen  über  die  Stimmung  und  Vor- 
gänge in  Deutschland  und  den  einzelnen  deutschen  Staaten 
sein  müssen,  und  schon  aus  diesem  einzigen  Grunde  bin  ich 
geneigt,    die    Idee,    eine    Preußische    Staatszeitung    dorten 

1)  Vgl.  oben  S.  83. 

*)  Vgl.  über  diese  Reform  Schiemann,  Alexander  I.  362  ff. 

')  Vgl.  über  die  Entdeckung  eines  solchen  „Bulletins"  Kotze* 
bues  durch  F.  L.  Lindner  und  Luden  Dezember  1817  H.  Ehrentreich 
in  Quell,  u.  Darst.  z.  Gesch.  d.  Burschenschaft  4,  89  f.  und  E.  Fehre, 
Balt.  Monatsschr.  42,  549  ff. 


102    C  Brinkmann,  Entstehung  von  Sturdzas  „ßtat  a.  de  TAUA 

erscheinen  zu  lassen^),  für  eine  der  glücklichsten  und  ihre 
consequente  Ausführung  ganz  geeignet  zu  halten,  den  gerade 
bei  nicht  selbst  lesenden  Personen  recht  möglichen  schäd- 
lichen Effect  haltungsloser  Darstellungen,  Auszüge  und 
Bulletins,  so  weit  sie  Preußen  berühren,  bedeutend  zu 
schwächen. 

Eine  Hochlöbliche  Section  bitte  ich  ganz  gehorsamst, 
diese  anspruchslosen  Bemerkungen  mit  nachsichtsvoller  Güte 
aufzunehmen. 


1)  Vgl.  über  sie  Rühl,  Staegemann  3,  XV  ff. 


Literaturberidit 


!  Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegel,  Die  Vernunft  in  der  Geschichte. 
Einleitung  in  die  Philosophie  der  Weltgeschichte.  Auf 
Grund  des  aufbehaltenen  handschriftlichen  Materials  neu 
herausgegeben  von  Georg  Lassen,  Pastor  an  St.  Bartholo- 
mäus, Berlin.  Leipzig,  Felix  Meiner.  1917.  (Philos.  Bibl. 
171a.)    Xu.  264  S.    5,50  M.,  geb.  7  M. 

Die  Einleitung  in  die  Philosophie  der  Geschichte  ist  vielleicht 
die  geeignetste  Einführung  in  Hegels  Philosophie  überhaupt, 
wenigstens  für  den,  dem  es  mehr  auf  Hegels  Weltanschauung, 
Grundwertungen,  Denkart  als  auf  den  systematischen  Zusammen- 
hang, die  Methode,  die  logischen  Theorien  ankommt.  Sie  ist 
bekanntlich  nicht  von  Hegel  selbst,  sondern  zuerst  von  Eduard 
Gans,  dann  mit  Hilfe  reicheren  Materials  vermehrt  von  Karl 
Hegel  herausgegeben  worden.  Für  die  Einleitung  lag  außer  den 
Kollegheften  eine  Ausarbeitung  des  Philosophen  zugrunde.  Aber 
diese  ist  von  den  Herausgebern  recht  willkürlich  behandelt 
worden,  und  ihr  Text  macht  nirgends  kenntlich,  wo  die  Hand- 
schrift aus  den  Kollegheften  ergänzt  und  unterbrochen  wird. 
Es  kam  Gans  und  Hegel  dem  Sohne  eben  darauf  an,  ein  lesbares 
Buch  zusammenzustellen,  und  diese  für  die  erste  Ausgabe  be- 
rechtigte Absicht  mag  ihre  Willkür  entschuldigen.  Dem  neuen 
Herausgeber  aber  lag  es  ob,  das  ursprüngliche  Wort  überall  herzu- 
stellen, außerdem  standen  ihm  Kolleghefte  zur  Verfügung,  die 
seine  Vorgänger  nicht  benutzen  konnten.  Auch  den  Kolleg-Nach- 
schriften gegenüber  wahrte  er  im  Gegensatze  zu  jenen  den  Grund- 
satz vollständiger  Wiedergabe.  Hegels  Handschrift  ist  durch 
größeren  Druck  hervorgehoben,  kann  also  vom  Leser  ausgesondert 
werden.  Wenn  es  vielleicht  vorzuziehen  gewesen  wäre,  sie  für 
«ich  im  Zusammenhange  abzudrucken  und  dann  das   Kolleg- 


104  Literaturbericht. 

heft  folgen  zu  lassen,  so  hielt  den  Herausgeber  wohl  die  begreif, 
liehe  Scheu  vor  Wiederholungen  davon  ab.  Jedenfalls  besitzen 
wir  nun  einen  treuen  und  inhaltlich  vollständigen  Abdruck 
dieses  vielleicht  wichtigsten  Versuches  einer  Geschichtsphilosophie. 
Wievieles  dadurch  neu  gewonnen  ist,  kann  man  z.  B.  erkennen, 
wenn  man  die  Ausführungen  über  den  Volksgeist  S.  36f.  42f.  93. 

105  mit  den  entsprechenden  Stellen  der  2.  Auflage,  S.  62  und 
64 — 66,  vergleicht.  So  schulden  wir  Georg  Lasson  für  seine 
hingebende  treue  Arbeit  unsern  Dank  und  bedauern  mit  ihm, 
daß  er  nur  spärliche  Mußestunden  ihr  widmen  kann.  Es  ist  ein 
schwere  Anklage  gegen  die  Verantwortlichen,  wenn  Lasson  (VIII) 
sagen  muß*:  „Es  gibt  im  Preußischen  Staat  anscheinend  keinen 
Weg,  um  Arbeiten  zu  fördern,  wie  sie  der  Herausgeber  im  Dienste 
der  Wissenschaft  leistet." 

Freiburg  i.  Br.  Jonas  Cohn. 

(1)  „Durch  Armenien  eine  Wanderung  und**  (2)  „Der  Zug  Xeno- 
phons  bis  zum  Schwarzen  Meere,  eine  militär-geographische 
Studie«.  Von  E.  v.  Hoffmeister,  Generalleutnant  z.  D.  Mit 
5  Vollbildern,  96  Abbildungen  meist  nach  Originalaufnah- 
men des  Verfassers,  2  Kartenskizzen  Im  Text  sowie  2  Kar- 
tenbeilagen.   Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner.    I91I. 

Das  äußerst  anziehend  und  frisch  geschriebene  Buch  des 
bekannten  Verfassers  zerfällt  in  zwei  getrennte  Teile.  Die 
lebensvollen  Reiseschilderungen  des  ersten  (S.  1-— 168)  sind  mit 
wohlgelungenen,  trotz  kleinen  Maßstabes  sehr  deutlichen  Illu- 
strationen (meist  Landschaften  und  Typen)  versehen.  Da  die 
bereisten  Gebiete  während  des  gegenwärtigen  Krieges  ein  be- 
sonderes Interesse  beanspruchen,  so  wird  sich  diese  durch  ver- 
schiedene widrige  Umstände  verspätete  Besprechung  vielleicht 
auch  jetzt  noch  rechtfertigen  lassen.  Von  besonderem  Werte 
sind  einerseits  die  Abschnitte,  in  denen  der  Militärschriftsteller 
speziell  zu  Worte  kommt,  anderseits  die  Schilderung  von  Gegen- 
den, die  von  den  letzten  Reisenden,  die  umfangreiche  Berichte 
über  Armenien  veröffentlicht  hatten,  —  Lynch  und  dem  Refe- 
renten —  nicht  berührt  worden  waren. 

Dem  kundigen  Militärschriftsteller  folgen  wir  bei  der  Schi^ 
derung  der  Operationen  und  Kämpfe  bei  Kars  im  Russisch^ 
Türkischen  Kriege.    Sie  gipfelten  in  der  Schlacht  am  Aladja- 


Alte  Geschichte.  105 

Dagh,  wo  trotz  heldenmütiger  Verteidigung  Muchtar  Pascha  von 
den  Russen  vernichtend  geschlagen  wurde.  (Abschn.  IV,  S.  41 
bis  59.)  Neuerdings  nicht  Geschildertes  bringen  besonders  die 
Strecken  (Baiburt^Gümüschchaneh — Djivizlik  (S.  134 — 144) 
und  das  Höhlenkloste  rSumela.  Dieses  erinnert  in  seiner  Anlage 
an  das  auf  russischem  Gebiete  belegene  georgische  Höhlenkloster 
Wardzie,  das  zuletzt  genau  von  Lynch  geschildert  worden  ist 
(vgl.  Ref.,  Armenien  einst  und  jetzt,  Bd.  1,  1910,  S.  89  ff.).  Der 
Abschnitt  V,  „Die  Ruinenstadt  Ani",  bildet  eine  erfreuliche 
Ergänzung  zu  der  eingehenden  Behandlung  dieser  geschichtlich 
und  kunsthistorisch  so  bedeutsamen  Stätte  bei  Lynch. 

Was  den  Weg  Xenophons  angeht,  so  „darf  sich  der  Ver- 
fasser zu  denjenigen  Forschern  rechnen,  die  dem  Zug  der  Zehn- 
tausend am  weitesten  gefolgt  sind".  Es  fehlen  „ihm  aus  eigener 
Anschauung  nur  die  Anfangsstrecken  des  Vormarsches  und  von 
dem  Rückzuge  das  Stück  von  Mosul  bis  zur  Ebene  von  Pasin". 
Denn  auf  seiner  ersten  Reise  Kairo — Bagdad — Konstantinopel 
war  er,  nachdem  er  den  Euphrat  von  Damaskus  her  erreicht^ 
den  Spuren  Xenophons  auf  dem  jenseitigen  Ufer  über  600  km 
weit  gefolgt,  hatte  oberhalb  der  Stätte  von  Kunaxa  den  Strom 
überschritten  und  war  dem  Zuge  der  Zehntausend  bis  Mosul 
(Ninive-Mespila)  gefolgt.  Die  im  vorliegenden  Buche  beschrie- 
bene Reise  galt  der  Erforschung  des  Stückes  von  der  Pasin- 
ebene  bis  zum  Meere.  Gerade  das  dem  Verfasser  persönlich  un- 
bekannt gebliebene  Gebiet  aber  ist  vom  Referenten  und  seinem 
Reisegefährten  auf  der  deutschen  Expedition  nach  Armenien 
zum  großen  Teile  bereist  worden,  so  daß  überhaupt  nur  das 
Stück  von  der  Abbiegung  vom  Tigris  oberhalb  Djezireh  bis  zur 
Durchgangsstelle  durch  den  Kentrites,  d.  h.  der  Marsch  durch 
das  Rarducheniand ,  in  neuerer  Zeit  nicht  speziell  verfolgt 
worden  ist. 

Die  Darstellung,  der  eine  Einleitung  über  die  Veranlassung 
und  die  Gesamtumstände  des  Kyros-Zuges  vorausgeht,  zerfällt 
in  drei  Abschnitte,  l.  Der  Aufmarsch  von  Sardes  bis  Issos. 
II.  Der  Vormarsch  von  Issos  nach  Babylonien  bis  zur  Schlacht 
bei  Kunaxa.  III.  Der  Rückzug  aus  Babylonien  und  zwar  bis 
a)  zu  den  kurdischen  Bergen,  b)  in  die  Ebene  Pasin,  c)  zum 
Schwarzen  Meere.  Nur  zu  dem  den  Referenten  aus  obigem 
Grunde  besonders  angehenden  Abschnitt  III  mögen  einige  Be» 


1D6  Literaturbericht. 

merkungen  folgen.  Die  Namen  Larissa  und  Mespila  für  Kalach 
(heute  Nimrud)  und  Ninive  stammen,  wie  Referent  gezeigt  hat, 
aus  dem  Aramäischen;  sie  bezeichnen  die  beiden  Ruinenstätten 
als  die  oben  (lä-resä),  gelegene  und  die  untere  (meSpilä),  was 
freilich  nicht,  wie  Referent  früher  versehentlich  geäußert  hatte, 
der  wechselseitigen  Lage  am  oder  zum  Tigris  entspricht.  Eher 
wird  in  Betracht  kommen,  daß  für  die  Ruinen  von  Kalach  der 
große  auch  von  Xenophon  (Anab,  111,4,  9  als  eine  Stein- 
pyramide) beschriebene  Turm  charakteristisch  ist  (Referent, 
Armenien  einst  und  jetzt  Bd.  2,  S.  251  Abbildung),  während 
Niniveh  aus  zwei  durch  den  Chausser  getrennten  Teilen  be- 
steht, von  denen  der  südlichere  Nebi  Jünus  erheblich  höher 
Hegt  als  der  umfangreichere  nördlichere  Kojundjyk  (Armenien 
Bd.  2,  S.  230/1  Abb.),  welch  letzterer  daher  mit  einem  auch  im 
Assyrischen  nachweisbaren  Worte  muspalu  als  die  „untere  Stadt*' 
bezeichnet  werden  konnte.  Diese  Ausdrücke  hörten  und  miß- 
verstanden die  Griechen  von  ihren  Führern,  —  das  Aramäische 
war  bekanntlich  damals  im  persischen  Reiche  die  gangbare  Ver- 
kehrssprache. Zu  archäologischen  Forschungen  blieb  den  Griechen 
Iceine  Zeit.  Immerhin  bleibt  es  „wunderbar",  daß  der  Name 
Ninive,  der  „doch  einer  ganzen  Welt  bekannt"  war,  schon  da- 
mals, zwei  Jahrhunderte  nach  der  Zerstörung,  so  ganz  verschol- 
len war. 

Die  Stelle  des  Durchgangs  durch  den  Kentrites  hat  sich 
an  der  Hand  von  Xenophons  Schilderungen  an  Ort  und  Stelle 
genau  bestimmen  lassen,  wie  ausführlich  vom  Referenten,  „Ar- 
menien einst  und  jetzt"  Bd.  1,  Kap.  11,  dargelegt.  Sie  liegt 
etwas  oberhalb  von  Till,  wo  sie  schon  Shiel  und  Karbe  ge- 
sucht hatten,  genauer  beim  Dorfe  Mutyt,  alle  Einzelheiten  von 
Xenophons  Schilderungen  beider  Ufer  finden  sich  dort  wieder. 
Hoffmeister  nennt  das  genannte  Buch  des  Referenten  auch  unter 
seinen  Quellen.  Gleichwohl  verfällt  er  in  den  Fehler,  die  Zehn- 
tausend den  Kentrites  zu  weit  oberhalb  überschreiten  und  dann 
von  Söört  nach  Bitlis  gelangen  zu  lassen.  Dabei  wären  sie  aber 
durch  gebirgiges  Gelände  gekommen,  während  Xenophon  aus- 
drücklich nur  von  flachem  Lande  und  sanften  Anhöhen  spricht, 
und  ferner  ist  die  Vorstellung,  daß  die  Strecke  Söört— Bitlis  eine 
für  Heeresmassen  passierbare  Straße  darstelle,  zwar  weit  ver- 
breitet, aber  darum  nicht  minder  irrtümlich. 


Alte  Geschichte.  107 

Der  Verfasser  wendet  sich  (S.  237)  gegen  die  vormals  herr- 
schende Vorstellung,  als  habe  Xenophon  vom  Teleboas  (Kara-su) 
aus  nach  Überschreitung  des  Euphrat  (==  Muradsu)  und  über 
drei  Pässe  (darunter  den  fast  unübersteiglichen  über  den  Bingöl- 
dagh)  die  Richtung  gerade  auf  Hassankalah  in  der  Ebene  von 
Pasin  genommen.  Er  glaubt  vielmehr,  daß  die  Griechen  aus 
der  Gegend  von  Musch  am  Euphrat  aufwärts  ,,und  seinen  Quellen 
zu"  eine  nordöstliche  Richtung  einschlugen,  bei  Karakilissa  die 
uralte  Straße  gewannen,  die  aus  dem  Tale  des  östlichen  Euphrat, 
des  Murad-su,  nach  dem  des  Araxes  führt  und  auf  dieser  in  die 
Ebene  Pasin  gelangten.  Damit  trifft  nun  v.  H.,  was  ihm  ent- 
gangen ist,  in  allem  Wesentlichen  mit  den  Ermittlungen  meines 
Reisegefährten  (Zeitschr.  f.  Ethnologie  31  [1899],  S.  257  f.;  Verh. 
Berl.  Anthrop.  Ges.  1899,  S.  661  ff.)  überein.  Also  liegen  zwei 
voneinander  unabhängige  Urteile  über  diesen  wichtigen  Punkt 
vor,  und  die  Aufstellungen,  zu  denen  Belck  während  unserer 
Expedition  gelangt  war,  sind  bestätigt.  Als  Kuriosum  sei  er- 
wähnt, daß  Boucher,  U Anabase  de  Xenophon  1913,  gleich- 
falls eine  westliche  Ausbiegung  in  Betracht  zieht,  aber  dabei 
viel  zu  weit  ausgreift,  indem  er  die  Zehntausend  von  den  Quellen 
des  Murad-su  bei  Karakilissa  in  südöstlicher  Richtung  rückwärts 
ziehen  und  den  Riesenumweg  über  die  persisch-türkischen  Grenz- 
gebirge nach  Chol,  dann  über  den  Araxes  nach  Djulfa,  von  da 
über  Eriwan  und  Dilidjan  nach  Kars  machen  und  weiter  nach 
Hassankalah  gelangen  läßt.  Dadurch  hätten  sich  die  Griechen 
in  einem  ganz  unzulässigen  und  zielwidrigen  Maße  von  der  für 
ihren  Rückzug  gebotenen  Hauptrichtung  entfernt. 

Aus  der  Gegend  von  Karakilissa  gelangten  die  Griechen  in 
zehn  Tagemärschen  an  den  Phasisfluß,  der  ein  Plethron  breit 
war.  Xenophon  versteht  unter  Phasis,  wie  der  Verfasser  gleich 
Anderen  sicher  mit  Recht  annimmt,  nicht  den  Rhion,  sondern 
den  Araxes,  den  die  Griechen  von  Karakilissa  her  bei  Köpri-köi 
erreichten,  der  strategisch  wichtigen  Kreuzung  der  Straßen,  die 
das  obere  Tal  des  Murad-su  mit  dem  des  Araxes  verbinden,  und 
weiter  derer,  die  über  Sarykamysch  nach  Kars  und  über  Olty 
ins  obere  Djoroktal  führen.  Bei  Köpri-köi  hat  auch  einer  der 
ersten  Kämpfe  zwischen  Russen  und  Türken  im  gegenwärtigen 
Kriege  stattgefunden. 


108  Literaturbericht 

Von  Kars  herkommend,  traf  hier  der  Verfasser  auf  den 
von  ihm  für  richtig  gehaltenen  Weg  der  Griechen.  Die  im  ersten 
Teil  des  Buches  geschilderte  Reise  ermöglichte  es  ihm,  Schritt 
für  Schritt  mit  ihnen  bis  zum  Schwarzen  Meer  weiter  zu  wan- 
dern und  seine  Leser  daran  teilnehmen  zu  lassen. 

Für  die  früher  herrschende  Ansicht  über  diesen  letzten 
Teil  des  Rückmarsches  war  der  Gedanke  maßgebend,  daß  die 
Griechen  von  Süden  her  über  den  Bingöl-dagh  nach  Hassankalah 
gelangten  und  nun  in  nördlicher  Hauptrichtung  weiterzogen. 
„Um  die  Anzahl  der  Marschtage,  die  Entfernungen  und  die 
mutmaßlichen  Wohnsitze  der  namhaft  gemachten  Völkerschaften 
einigermaßen  zusammenzubringen",  ergab  sich  dann  der  Umweg 
Hassankalah — Oltital — ^Ardahan  (an  der  oberen  Kura),  von  da 
in  schwierigstem  Gebirgsgelände  westwärts  nach  dem  Harpasos 
(Djoroksu)  und  nun,  „an  diesem  nördlich  entlang  zum  nahen 
Meere,  wiederum  südwestlich  fast  200  km  weit  nach  Gymnias 
(Baiburt)"  und  weiter  auf  Saumpfaden  nach  Trapezunt.  Daß 
ein  solcher  Zickzackkurs  ausgeschlossen  sei,  daß  vielmehr  die 
Griechen,  nachdem  sie  die  durch  die  Geländeverhältnisse  ge- 
botene nordöstliche  Abweichung  biS  zu  den  Quellen  des  Muradsu 
überwunden  hatten,  nunmehr  bestrebt  sein  mußten,  die  nord- 
westliche Hauptrichtung  festzuhalten,  liegt  auf  der  Hand  (vgl. 
Zeitschr.  /.  Ethnologie  a.  a.  0.).  So  ist  auch  der  Verfasser  der 
Überzeugung,  daß  die  Griechen  eine  viel  einfachereund  kürzere 
Route  genommen  haben:  Köpriköi — Hassankalah,  dann  „über 
die  Ebene  von  Erzerum  nordwärts  nach  dem  Tale  des  Har^ 
pasos  (Chorok-su),  dieses  aufwärts  bis  Gymnias  (Baiburt)** 
und  von  dort  in  fruchtbaren,  meist  breiten  Tälern  über  den 
Ziganapaß  im  Techesgebirge  (Thalatta,  Thalatta!)  nach  Tra- 
pezüs.  Er  weist  die  Übereinstimmung  mit  Xenophons  Schilde- 
rungen treffend  nach:  seine  Darlegungen  bestätigen  aufs  neue^ 
daß  die  Entscheidung  zwischen  mehreren,  theoretisch  anschei- 
nend möglichen  Routen  nur  im  Gelände  an  der  Hand  des  Autors^ 
dessen  Weg  man  bestimmen  will,  erfolgen  kann.  So  wählt  v.  H, 
unter  den  drei  Verbindungen  zwischen  Erzerum  und  Baiburt  — - 
1.  der  Karawanenstraße  über  den  Kop-dagh  (die  seinerzeit  wi^ 
später  der  Verfasser,  so  auch  Referent  —  in  umgekehrter  Rich- 
tung —  zurückgelegt  hat),  2.  der  über  den  „Jehen"  (Referent 
hörte  Jedjan)  -dagh  und  3.  der  über  Ispir  —  die  letztere,  die 


Mittelalter.  109 

zwar  länger  ist,  aber  über  einen  wesentlich  niedrigeren  Paß  mit 
günstigeren  Schneeverhältnissen  führt. 

In  diesem  letzten  Hauptabschnitt  trifft  nun  auch  Boucher 
in  der  Hauptsache  mit  v.  H.  zusammen:  auch  für  Boucher  sind 
die  Hauptstationen:  Erzerum,  Baiburt  und  ein  Paß  über  das 
Ziganagebirge.  Wenn  auch  in  Einzelheiten,  z.  B.  betreffs  der 
Strecke  Baiburt — Erzerum,  Abweichungen  bestehen,  so  kann 
somit  auch  dieser  letzte  Teil  von  Xenophons  Route  als  neuer- 
lich von  mehreren  Forschern  in  wesentlicher  Übereinstimmung 
festgelegt  gelten. 

Dem  Verfasser  gebührt  wie  für  seine  anziehenden  und  lehr- 
reichen Reiseschilderungen,  so  für  seine  erfolgreichen  Bemühungen 
um  die  Aufhellung  der  historisch-geographischen  Probleme,  die 
der  Rückzug  der  Griechen  durch  das  armenische  Bergland  bis 
zum  Schwarzen  Meere  bietet,  allseitiger  lebhafter  Dank. 

Innsbruck.  C.  F.  Lehmann- Haupt 

Die  Wirtschaftsentwicklung  der  Karolingerzeit,  vornehmlich  in 
Deutschland.  Von  Alfons  Dopsdi.  2.  Teil.  Weimar,  Her- 
mann Böhlaus  Nach!.     1913.    VIII  u.  364  S. 

Der  2.  Band,  mit  dem  Dopsch  noch  vor  dem  Kriege  sein 
Buch  abgeschlossen  hat,  bringt  gegenüber  den  überwiegend 
kritischen  Auseinandersetzungen  des  ein  Jahr  früher  erschienenen 
1.  Teiles  (vgl.  Herzberg-Fränkel :  H.  Z.  112  [1914],  159  ff.),  wie 
sie  auch  hier  durchaus  nicht  fehlen,  wesentlicher  aufbauende 
Arbeit.  Ist  die  Anschauung  von  der  alles  beherrschenden 
Bedeutung  der  Großgrundherrschaften  als  unzutreffend  erwie- 
sen, wie  das  offenbar  der  Fall  ist,  und  dürfen  mithin  die 
Sozial-  und  Verkehrsgeschichte  neben  der  Agrargeschichte  eine 
selbständigere  Stellung  beanspruchen,  als  man  ihnen  bisher 
einräumte,  so  entwiift  D_.  nun  in  den  sieben  großen  Abschnitten 
(§§8—14)  über  „die  soziale  Entwicklung",  „die  Grundherrlich- 
keit (Immunität  und  Vogtei)",  „das  Gewerbe",  „Handel  und 
Verkehr",  „die  Geldwirtschaft",  „das  Münzwesen"  und  „die 
Regalien"  ein  von  dem  üblichen  stark  abweichendes  Bild  des 
ständischen  und  wirtschaftlichen  Lebens  der  Karolingerzeit  und 
ihrer  staatlichen  Entwicklung,  soweit  diese  bedingt  oder  bedin- 
gend unmittelbar  mit  den  hier  berührten  Erscheinungen  ver- 
knüpft ist. 


1 10  Literaturbericht. 

Sind  die  Ausführungen  über  die  soziale  Entwicklung  (§  8) 
noch  überwiegend  eine  kritische  Auseinandersetzung  nicht  nur 
wie  das  ganze  Buch,  mit  von  Inama-Sternegg,  sondern  auch 
namentlich  mit  Hecks  entschieden  abgelehnten  Ständetheorien, 
so  tritt  im  folgenden  das  Positive  immer  mehrinden  Vordergrund. 
Am  wenigsten  auf  eigener  Forschung  fußt  wohl  der  übrigens- 
inhaltreiche  Abschnitt  über  Handel  und  Verkehr  (§11);  hier 
wird  auch  statt  auf  die  ursprünglichen  Quellenbelege  oft  auf 
mehr  oder  weniger  zusammenfassende  Darstellungen,  darunter 
einen  zwar  anregenden,  aber  im  einzelnen  nicht  unbedingt  zu- 
verlässigen Aufsatz  von  A.  Bugge,  verwiesen.  Die  §§  12  und  13 
über  die  Geldwirtschaft  und  das  Münzwesen  suchen,  so  vieles  We- 
sentliche auch  gerade  hier  unsicher  bleiben  muß,  feste  Richt- 
wege durch  das  schier  undurchdringliche  Gestrüpp  der  Hypo- 
thesen und  Konstruktionen  auf  dem  Gebiete  der  merowingisch- 
karolingischen  Geld-  und  Münzgeschichte  zu  hauen.  Die  Aus- 
führungen über  den  älteren  leichten  und  den  jüngeren,  vielleicht 
schon  seit  Anfang  des  7.  Jahrhunderts  vorhandenen  schwereren 
Denar,  von  denen  D.  den  ersten  mit  dem  viel  umstrittenen  Denar 
der  Lex  Salica  in  Beziehung  setzt,  dürfen  bei  den  Erörterungen 
über  die  Lex  Salica  ernste  Beachtung  beanspruchen.  Gegenwärtig 
besonders  interessant  sind  die  Versuche  staatlicherseits,  durch 
Festsetzung  von  Höchstpreisen  u.  dgl.  die  Konsumenten  vor  einer 
monopolistischen  Preistreiberei  des  nach  D.  schon  damals  vorhan- 
und  nicht,  wie  Sombart  will,  erst  am  Ausgang  des  Mittelalters 
denenen  tstandenen  Kapitalismus  zu  schützen.  Knapp,  aber  ein- 
drucksvoll ist  der  letzte, Abschnitt  über  die  Regalien,  aus  dem 
besonders  der  Nachweis  regelmäßiger  direkter  Staatssteuern 
hervorgehoben  sei.  Er  beleuchtet  die  ganze  Wirtschaftspolitik 
der  Karolinger  neu:  „Sie  teilten  in  immer  reicherem  Maße  von 
ihren  Krongütern  Schenkungen  aus,  .  .  .  waren  aber  dem- 
gegenüber noch  auffallend  sparsam  in  der  Erteilung  von  Re- 
gaüen."  „Die  herrschende  Lehre,  als  ob  Karl  der  Große  den 
Schwerpunkt  seiner  Finanzwirtschaft  auf  die  Domänen  ver- 
legt habe,  ist  unhaltbar.  Ganz  im  Gegenteile  mußten  diese  zahl- 
reichen Regalien  jetzt  schon  viel  reichere  Einnahmen  ergeben,  als 
die  in  schlechtem  Zustande  befindlichen  und  wenig  verläßlichen 
Krongutsverwaltungen." 


Mittelalter.  111 

„Die  Wirtschaftsentwicklung  der  Karolingerzeit",  so  schließt 
D.,  „baute  auf  anderen  Grundlagen  auf,  als  die  Forschung 
bisher  angenommen  hatte."  „Die  Vorstellung,  als  ob  Träger 
dieser  Wirtschaft  zunächst  noch  eine  große  Masse  gleichberech- 
tigter und  gleichbegüterter  Vollfreier  gewesen  sei,  .  .  .  muß  als 
kulturhistorischer  Anachronismus  bezeichnet  werden."  Durch 
Jahrhunderte  waren  bereits  neue  Fermente  wirtschaftlicher 
und  geistiger  Entwicklung  am  Werke,  jene  Einheiten  der  Urzeit 
und  deren  Gleichheit  umzuschaffen.  Kleines  freies  Grund- 
eigentum war  zwar  ohne  Zweifel  nach  wie  vor  nicht  wenig  vor- 
handen, aber  „sicherlich  hat  die  Karolingerzeit  die  Weiterbil- 
dung der  großen  Grundherrschaften  ebenso  gefördert  wie  die 
Merowingerzeit  zuvor".  „Die  Bedeutung  der  längst  vorhandenen 
Grundherrschaften"  möchte  D.  freilich  „nicht  in  einer  groß- 
zügigen und  planmäßigen  wirtschaftlichen  Aktivität  erblicken. . ., 
sondern  eher  glauben,  daß  deren  reicher  Bestand  es  immer  zahl- 
reicheren Bevölkerungselementen  außerhalb  ermöglichte,  daran 
Anteil  zu  gewinnen,  wirtschaftlich  zu  erstarken  und  sich  schließ- 
lich teilweise  auch  zu  verselbständigen".  Die  Anschauung,  als 
ob  sich  das  gesamte  wirtschaftliche  Leben  innerhalb  dieser  Groß- 
grundherrschaften und  unter  ihrem  beherrschenden  Einfluß 
vollzogen  habe,  ist  durchaus  abzulehnen.  Von  einer  „geschlosse- 
nen Hauswirtschaft"  kann  nicht  entfernt  die  Rede  sein.  Die 
Verkehrswirtschaft  war  auch  in  Deutschland  schon  sehr  beträcht- 
Hch  entwickelt.  „Die  sogenannte  Völkerwanderung  hat  auch  die 
spätrömische  Verkehrswirtschaft  keineswegs  ganz  verschüttet^ 
so  daß  die  Franken  jetzt  sich  zu  deren  Errungenschaften  von 
urzeitlichen  Zuständen  aus  erst  von  neuem  hätten  mühsam 
durchringen  müssen."  Wird  man  D.  hierin  gerne  zustimmen^ 
so  geht  er  doch  viel  zu  weit,  wenn  er  die  ununterbrochene  le- 
bendige Fortbildung  ganz  „ohne  Kulturzäsur"  von  der  Spät- 
!  antike  in  das  deutsche  Mittelalter  hineinführen  läßt.  Zu  der  Fülle 
j  von  wirtschaftlichen  Wechselbeziehungen,  die  auf  dem  platten 
I  Lande  einen  lebhaften  Verkehr  erzeugten,  trat,  so  fährt  D.  fort, 
;  eine  stattliche  Anzahl  von  Städten  und  Märkten,  die  die  An- 
*  schauung  von  einem  rein  landwirtschaftlichen  Kulturprofil  der 
Karolingerzeit  unmöglich  machen.  „Die  gewerbliche  Produktion 
!  war  damals  nicht  bloß  Hauswerk  und  Lohnwerk,  sondern  auch 


1 12  Literaturbericht. 

schon  Preiswerk"  und  stellenweise  schon  auf  die  Ausfuhr  gerichtet. 
Handel  und  Verkehr  ist  auch  im  Innern  Deutschlands,  das  keines- 
wegs zum  größten  Teil  „als  ein  allseitig  meist  umgangenes  Zwi- 
schenland wenig  vom  großen  Verkehre  berührt,  dalag",  nicht  so 
gering  und  bedeutungslos  gewesen,  wie  man  bisher  annahm. 
„Die  wirtschaftlichen  Depressionen  in  den  Zeiten  der  großen 
Völkerwanderungen  waren  .  .  .  längst  überwunden,  der  Impe- 
rialismus Karls  des  Großen  hatte  auch  ihn  zu  internationaler  Be- 
deutung entwickelt."  Allüberall  bemerken  wir  daher  auch  schon 
deutliche  Anzeichen  der  Geldwirtschaft.  „Das  Geld  ist  nicht  nur 
Wertmesser  für  Zahlungen  und  Leistungen  in  natura,  sondern 
selbst  Zahlungsmittel."  Die  überwiegende  Silberprägung,  die 
Verstärkung  des  Münzfußes,  die  Vermehrung  des  Feingehaltes 
und  die  Erhöhung  des  Gewichtes  sind  Maßnahmen  der  „tüchtig- 
sten Verwaltungstalente  unter  den  Karolingern",  um  bei  dem  großen 
Geldbedarf  und  der  internationalen  Ausbreitung  des  Handels 
schwere  wirtschaftliche  Schädigung  durch  das  stete  Herab- 
sinken des  Münzfußes  und  die  fortwährende  Verschlechterung 
des  Feingehaltes  gegen  Ende  der  Merowingerzeit  zu  verhüten. 
„Diese  Maßnahmen  waren  tatsächlich  von  gutem  Erfolg  begleitet"; 
sie  haben  der  politischen  Eroberung  die  wirtschaftliche  der  weiten 
neugewonnenen  Gebiete  folgen  lassen.  „Die  Ausbildung  der 
Regalität",  die  beim  Münzwesen  hervortritt,  ist  auch  in  den 
andern  Zweigen  der  Finanzverwaltung  zu  verfolgen;  sie  ist  eine 
der  wesentlichen  Grundlagen  des  karolingischen  Staates.  Aber 
mit  dem  Verfall  des  Einheitsstaates  und  dem  Niedergang  der 
königlichen  Gewalt  gewinnt  alsbald  die  erstarkende  Macht  der 
Großen,  der  Bischöfe  wie  des  weltlichen  Adels,  daran  Anteil, 
und  dieser  Wandel  beginnt  nicht  erst  im  10.  Jahrhundert,  son- 
dern bereits  in  der  Karolingerzeit  selbst  schon  im  neunten,  ja 
man  kann  sagen  stellenweise  bald  nach  dem  Tode  Karls  des 
Großen."  Eine  besondere  Bedeutung  in  diesem  Vorgang  der 
„Entstaatlichung"  mißt  D.  der  Ausbildung  bei,  die  die  Immuni- 
tät im  9.  Jahrhundert  erfuhr.  Damit  „wurde  jene  bedeutsame 
Entwicklung  der  Gerichtsverfassung  eröffnet,  die  dann  nach 
100  Jahren  bereits  das  Recht  der  Bischöfe,  aber  auch  das  welt- 
licher Dynasten  an  die  Stelle  des  königlichen  treten  ließ".  So 
kamen  die  Erfolge  der  wirtschafts-  und  sozialpolitischen  Be- 
mühungen der  ersten  Karolinger  nicht  so  sehr  der  Zentralgewalt^ 


Mittelalter.  1 13 

als  vielmehr  den  Bischöfen  und  dem  Herzogtum  zugute,  und 
„langsam  aber  sicher  sollzog  sich  auf  tausend  kleinen,  vielfach 
unscheinbaren  Pfaden  das  große  Werk  der  inneren  Kolonisation, 
das  nimmermehr  von  einem  einzigen  Mittelpunkte  aus  verwirk- 
licht werden  konnte." 

Abgeschlossen  ist  das  reiche  und  anschauliche .  Bild,  das 
hier  entworfen  wird,  wie  D.  selbst  bemerkt,  noch  nicht.  Es  wird 
noch  mancher  Ergänzung  fähig  sein  und  wird  gewiß  in  manchem 
Urteil,  wie  in  mancher  tatsächlichen  Angabe  der  Einschränkung 
oder  der  Abänderung  bedürfen.  So  scheint  D.  in  dem  Abschnitt 
über  Handel  und  Verkehr,  in  dem  ich  einige  Stichproben  gemacht 
habe,  S.  183/84  Schleswig  und  Hedeby  für  zwei  ganz  verschiedene 
Orte  zu  halten,  während  es  sich  doch  mindestens,  wenn  auch 
nicht  genau  um  den  gleichen  Platz,  um  ein  und  dieselbe  Verkehrs- 
stätte handelte.  —  S.  184  Z.  8  lies  „Biörkö  im  Mälar'*  statt 
„B.  in  Mälaren"  (en  ist  der  schwedische  bestimmte  Artikel). 

—  S.  187:  für  den  friesischen  Schiffsverkehr  auf  der  Leine  bis 
Ezle  im  Jahre  815  ist  die  eigentliche  Quelle  die  von  Bertram 
1897  herausgegebene  Fundatio  ecclesie  Hildensemensis,  die  der 
von  D.  zitierte  Ann.  Saxo  ausschreibt.  Die  Tatsache  braucht 
in  keiner  Weise  bezweifelt  zu  werden.  Erschienen  doch  z.  B. 
schon  789  friesische  Hilfstruppen  zu  Schiff  auf  der  Havel,  um 
Karls  des  Großen  Feldzug  gegen  die  Wilzen  zu  unterstützen, 
Ann.  regni  Franc,  ed.  Kurze  S.  85  (vgl.  W.  Vogel,  Gesch.  d.  deut- 
schen Seeschiffahrt  I  (1915)  89,  Waitz  Dt.VG.  IV^  631).  Bereits 
748  mögen  sie  sich  in  ähnlicher  Weise  an  dem  Feldzug  Pipins 
gegen  die  Sachsen  beteiligt  haben;  denn  daß  die  Frigiones  bei 
Fredeg.  cont.  c.  31  (117)  (vgl.  H.  Z.  118,  S.  208  A.  1)  auf  wirkliche 
friesische  Hilfstruppea  beim  fränkischen  Heere  zu  deuten  sind, 
ist  mir  jetzt  mit  Bezug  auf  denselben  Fall  789  und  dann  791  im 
Feldzuge  gegen  die  Avaren  (vgl.  Abel-Simson,  Jb.  Karls  des 
Großen  II  16ff.)  nicht  zweifelhaft.  —  S.  189  fehlt  es  in  der  Schil- 
derung der  großen  Handelsstraße  „von  der  Maas,  Dinant  über 
Lüttich,  Huy  und  Heristal,  Aachen,  Düren  zum  Rheine"  etwas 
an  geographischer  Anschauung;  Huy  war  vor  Lüttich  zu  nennen. 

—  Über  sächsische  Kaufleute  außerhalb  der  Reichsgrenzen 
im  Norden  und  Nordosten  (S.  188f.)  gibt  es  eigentlich  kaum 
ein  sicheres  Zeugnis  vor  dem  ostfränkisch-dänischen  Handels- 
vertrag von  873  {Ann.  Fuld.  ed.  Kurze  S.  78).   Welcher  Natio- 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  8 


114  Literaturbericht 

nalität  die  Kaufleute  waren,  durch  die  der  Dänenkönig  Gott« 
fried  809  zu  Verhandlungen  einladen  ließ  (an  den  Verhandlungen 
selber  nahmen  sie  natürlich  nicht  teil),  wissen  wir  nicht;  daß  sie 
„aus  Sachsen  nach  Friesland  reisten",  sagen  weder  die  Ann, 
r.  Franc.  S.  128,  die  D.  S.  188  anführt,  noch  Regina  S.  68.  — 
Die  „Wein-  und  Salzfuhren  gingen"  vermutlich  nicht  „von  Frei- 
sing und  Tegernsee  nach  Bozen  bzw.  Hall"  (S.  92),  sondern  in 
umgekehrter  Richtung.  —  S.  200:  Für  einen  Verkehr  von  Arles 
„mit  den  handelstüchtigen  Arabern"  ist  wenigstens  aus  Ann, 
Bertin.  859  und  869  nichts  zu  entnehmen.  Zu  859  spricht  diese 
Quelle  nur  von  den  Normannen,  die  sich  bei  ihrem  Raubzug 
ins  Mittelmeer  auf  der  Camargue  niederlassen,  und  869  (S.  106 
ed.  Waitz),  wo  es  sich  wirklich  um  die  Sarazenen  handelt,  ist 
doch  kaum  von  friedUchem  Handelsverkehr  die  Rede.  —  S.  202: 
Ober  Ortona  als  etwaigen  Handelsplatz  ist  aus  Ann.  regni  Franc, 
802  nichts  zu  entnehmen.  —  S.  206:  Es  ist  kein  stichhaltiger 
Grund  dafür  abzusehen,  daß  von  der  Aufzählung  zahlreicher 
und  verschiedener  Arten  von  Zollabgaben  in  den  Zollbefreiungs- 
privilegien „vieles  formelhaft  und  zum  Teil  auch  aus  älterer,  be- 
sonders der  Römerzeit  übernommenen"  (gemeint  ist  doch  wohl 
„zu  Unrecht  weiterbeibehalten")  sein  soll.  Brunner  äußert 
an  der  angeführten  Stelle  (RG.  U  238f.)  nichts  derartiges.  — 
So  mag  auch  anderes  und  wohl  auch  Wesentlicheres  sich  bei 
näherer  Prüfung  als  nicht  stichhaltig  erweisen.  Die  anfangs  blen- 
denden Ausführungen  über  die  Entstehung  und  Bestimmung 
des  Capitulare  de  villis  in  der  aquitanischen  Königszeit  Ludwigs 
des  Frommen,  die  mit  im  Mittelpunkt  des  1.  Bandes  stehen  und 
auch  im  2.  des  öfteren  herangezogen  werden,  scheinen  z.  B. 
schließlich  doch  nicht  durchzugreifen  (vgl.  besonders  G.  Baist, 
Zur  Interpretation  der  Brevium  exempla  und  des  Capitulare  de 
villis,  Vierteljahrschrift  für  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte 
XU,  1914). 

Trotzdem  kann  es  kaum  einem  Zweifel  unterHegen,  daß  D.^ 
im  ganzen  genommen,  ein  richtigeres  Bild  der  karoHngischen 
Wirtschaftsentwicklung  gezeichnet  hat,  als,  vornehmlich  unter 
dem  Einfluß  von  v.  Inama-Sternegg,  bisher  im  allgemeinen 
herrschte.  Altbekannte  Quellenstellen  von  höchster  Wichtigkeit 
sind  hier  in  neue  und  originelle  Beleuchtung  gerückt  und  wohl 
mehr  als  einmal  einem  besseren  Verständnis  erschlossen;  manch 


Mittelalter.  115 

weitere  Zeugnisse  sind  hier  überhaupt  zum  erstenmal  ver- 
wertet. Die  methodischen  Darlegungen  über  die  Verwertung 
und  die  Tragweite  des  urkundlichen  Materials,  vor  allem  der 
Traditionen  und  der  Urbarien  liefern  einen  wertvollen  Bei- 
trag zur  Quellenkritik;  sie  haben  über  den  Gegenstand  des  vor- 
liegenden Buches  hinaus  allgemeine  Bedeutung.  D.  hat  in 
seinem  Buche  die  fruchtbaren  Beobachtungen  und  Ansätze,  die 
sich  in  der  neueren  Forschung  namentlich  v.  Belows,  aber  auch 
Keutgens,  Hecks  und  mancher  anderer  fanden,  zusammenzufassen 
und  zu  einem  neuen  eindrucksvollen  und,  was  mehr  ist,  in 
höherem  Maße  geschichtlichen  Bilde  zu  entwickeln  vermocht. 
Auch  wenn  sich  nicht  in  allen  Punkten  ein  so  radikaler  Um- 
sturz der  üblichen  Anschauungen  durchsetzt,  hat  D.  mit  seinen 
Untersuchungen,  die  jedes  einzelne  Zeugnis  in  seinen  Besonder- 
heiten würdigen  und  sich  von  Deduktionen  aus  gewissen  von 
vornherein  feststehenden  allgemeinen  Sätzen  fernhalten  wollen, 
zweifellos  manche  sichereren  Grundlagen  für  die  künftige  For- 
schung gelegt. 

Die  mittelalterliche  Geschichtswissenschaft  hat  durch  dieses 
Buch  gezeigt,  daß  sie  den  Blick  für  die  großen  Zusammenhänge 
und  das  warme  reiche  Leben  der  geschichtlichen  Entwicklung 
nicht  verloren  hat  und  trotz  oder  gerade  wegen  ihrer  lange  vor- 
wiegend quellenkritisch  gerichteten  Schulung  ihren  Platz  neben 
scheinbar  mehr  „zeitgemäßen**  Schwesterwissenschaften  voll  zu 
behaupten  vermag.  Das  Buch  von  D.  ist,  auch  wo  es  Wider- 
spruch erweckt,  eines  der  lehrreichsten  Bücher  zur  mittelalter- 
lichen Geschichte,  die  in  neuerer  Zeit  erschienen  sind,  und  dabei 
trotz  so  eines  durchaus  nicht  nachahmenswerten  Stiles  stets 
fesselnd. 

Es  ist  sehr  zu  wünschen,  daß  auch  die  Entwicklung  der  eigent- 
lichen deutschen  Kaiserzeit  und  des  späteren  Mittelalters  bald 
eine  ähnlich  fruchtbare  Behandlung  erfährt. 

Daß  keinerlei  alphabetische  Register  und  keinerlei  Verzeich- 
nis der  erläuterten  Quellenstellen  beigegeben  sind,  wird  jeder 
Benutzer  schmerzlich  bedauern. 

Berlin-Steglitz.  Adolf  Hofmeister. 


8* 


116  Literaturbericht. 

Ungarnzüge  in  Europa  im  10.  Jahrhundert.  Von  Rudolf  Lütticfa. 
Berlin,  Emil  Ehering.  1910.  (Historische  Studien,  veröffent- 
licht von  E.  Ehering.    Heft  84.)     174  S. 

Der  Verfasser  gibt  zunächst  (S.  12 — 31)  einen  Überblick 
über  die  Schicksale  der  Ungarn  im  Orient,  d.  h.  in  den  Steppen 
des  südlichen  Rußlands  unter  den  Völkern  des  Schwarzen  Meer- 
Kreises  bis  896,  gegen  den  allerdings  von  der  Spezialforschung 
Einwendungen  erhoben  worden  sind,  und  stellt  dann  nach  einer 
kurzen  Beschreibung  des  Staats-  und  Kriegswesens  und  der 
Sitten  und  Gebräuche  der  Ungarn  (S.  32 — 40)  an  der  Hand  der 
Quellen  ihre  Züge  durch  Deutschland  und  Frankreich  900 — 954 
(S.  41— 101)  und  in  ItaUen  (899—954,  S.  114— 142)  zusammen. 
Dabei  wird  „Bayerns  innere  und  äußere  Politik  zur  Zeit  der 
Ungarnzüge**  gesondert  besprochen  (S.  102 — 113)  und  am  Schluß 
kurz  über  „das  byzantinische  Reich  und  die  Ungarneinfälle** 
bis  961  (S.  143 — 149)  und  ausführlich  über  „die  Ungarnschlacht 
von  955  und  ihre  Folgen**  (S.  150—170)  gehandelt.  Bei  der 
letzteren,  zu  der  jetzt  neben  der  Abhandlung  von  A.  Schröder 
im  Archiv  für  die  Geschichte  des  Hochstifts  Augsburg  I  auch  die 
Ausführungen  von  K.  Uhlirz  zu  der  vorliegenden  Schrift  (Histori- 
sche Vierteljahrschrift  XV)  zu  vergleichen  sind,  folgt  Lüttich 
der  Ansicht  Schäfers  „mit  Hinzufügung  einiger  neuer  Beweis- 
punkte**. Obwohl  es  sich  im  wesentlichen  nur  um  eine  Zusammen- 
fassung bekannter  Vorgänge  handelt  und  der  Verfasser  die  magy- 
arische Literatur  zum  größten  Teil  nicht  heranziehen  konnte,  ist 
die  knapp  und  übersichtlich  abgefaßte  Arbeit  als  ein  nützliches 
und,  dank  dem  alphabetischen  Register,  auch  bequemes  Hilfsmittel 
zu  begrüßen.  Leider  hat  L.  darauf  verzichtet,  seine  Erzäh- 
lung durch  Beigabe  einer  Karte  mit  Angabe  aller  von  den  Ungarn 
nachweislich  heimgesuchten  Orte  anschaulicher  zu  gestalten. 
Unbedingt  vollständig  ist  seine  Zusammenstellung  allerdings 
nicht,  weder  was  die  Sammlung  der  Quellenstellen  zu  den  einzelnen 
Ereignissen,  noch  was  diese  selber  betrifft.  Es  fehlt  z.  B.  die 
Zerstörung  der  hennegauischen  Klöster  Hasnon  und  Soignies 
durch  die  Huni,  von  der  Gislebert  Chron.  Hanon.  c.  4  und  13 
(S.  27  und  38  der  Ausgabe  von  Arndt)  berichtet;  Vanderkindere 
denkt  dabei  an  den  Zug  von  954,  und  in  der  Tat  sind  die  Ungarn 
919  und  937  kaum  so  weit  nach  Norden  vorgedrungen.  In  der 
selbständigen    Kritik   der   Überlieferung   hätte   sich   wiederholt 


Mittelalter.  117 

erheblich  weiter  kommen  lassen.  Davon,  daß  915  die  Ungarn 
„sich  die  Böhmen  als  Bundesgenossen  mitbrachten"  (S.  63), 
sagt  Adam  I  54  (52  in  der  neuen  Ausgabe  von  Schmeidler)  ebenso 
wenig  wie  von  einem  angeblichen  Vordringen  bis  Bremen  in  dem- 
selben Jahre.  Adam  spricht  hier  vielmehr  lediglich  allgemein 
von  den  Heimsuchungen,  denen  Sachsen  „in  diebus  illis'\  d.  h. 
in  der  Zeit  Erzbischof  Hogers  (909—915  oder  917?)  ausgesetzt 
war,  „cum  hinc  Dani  et  SclavU  inde  Behemi  et  Ungri  laniarent 
ecclesias.  Tunc*\  so  fährt  er  fort  „.parrochia  Hammaburgensis  a 
Sclavis  et  Bremensis  üngromm  impetu  demolita  esV\  und  „in- 
zwischen" (interea)  stirbt  Hoger.  Mit  dieser  Verwüstung  des 
Bremer  Sprengeis  ist  offenbar  derselbe  Einfall  gemeint,  den  Adam 
I,  55  (53  Schmeidler)  ausführlicher  unter  der  kurzen  Regierung 
Erzbischof  Reginwards  (915 — 916  bei  Adam,  richtiger  vielleicht 
915  oder  917?  —  918  oder  919?)  erzählt  und  der  am  ersten  wohl 
mit  dem  Bericht  der  Corveier  Annalen  zu  919,  nicht  zu  915  oder 
906,  zu  verbinden  ist.  Wenn  917  die  Ungarn  nach  der  Chron. 
S.  Medardi  Suess.  über  den  Rhein  ylusque  Burgundiam"  vor- 
dringen, so  ist  damit  wohl  eher  das  westfränkische  Herzogtum 
Burgund  als  das  „burgundische  Reich"  (S.  68)  gemeint.  Die 
Ungarn,  die  935  in  Burgund  auftauchen,  sind  vielleicht  nicht  durch 
Süddeutschland  (S.  85ff.),  sondern  durch  Oberitalien  dorthin 
gelangt.  Auf  Kämpfe  mit  den  Arabern  gerade  in  diesem  Jahr 
kann  aus  der  „Sage"  bei  Ekkehard,  Casus  S.Galli,  MG.  SS.  H,  HO, 
um  so  weniger  geschlossen  werden,  als  Ekkehard  den  burgundischen 
König  Konrad  nennt,  der  erst  seit  937,  und  tatsächlich  erst  seit 
etwa  942,  regierte.  Grundfalsch,  wie  allerdings  fast  immer,  ist 
das  Verhältnis  Herzog  Arnulfs  von  Bayern  zu  König  Konrad  I. 
und  zu  den  Ungarn  dargestellt  (S.  106f.).  Arnulf  wurde  nicht 
schon  914  zur  Flucht  zu  den  Ungarn  genötigt  und  erhob  dann 
916 — 917  zurückgekehrt  die  Waffen  von  neuem  gegen  den 
König,  sondern  seine  Flucht  fand  erst  916,  als  Konrad  Regens- 
burg einnahm,  statt ;  sie  gab  vermutlich  die  Veranlassung  zu  dem 
Ungarneinfall  von  917.  Die  Rückkehr  des  Herzogs  erfolgte 
erst  nach  dem  Tode  des  Königs.  Denn  die  bayerisch-österreichische 
Annalistik  (Ann.  S.  Rudb.  Salisburg.  und  Auct.  Garst.)  schöpft 
nur,  wie  ich  in  meinem  Buch  über  die  hl.  Lanze  (1908)  S.  12 
A.  4  gezeigt  habe,  aus  der  Chronik  Ottos  von  Freising,  der  seiner- 
seits Liudprands  Ant.  II,  19  ausschreibt.    Sie  hat  ihr  Jahr  914 


118  Literaturbericht. 

willkürlich  aus  Ottos  falscher  Chronologie  errechnet,  der  C/ir,  VI,  16 
zunächst  die  Wahl  Konrads  I.  zu  913,  dann  „anno  regni  sui  /®" 
die  Niederlage  der  Ungarn  am  Inn  (913)  und  unmittelbar  daran 
anschließend  (Porro  A.  Baioariamm  dux  usw.)  Arnulfs  Empörung 
und  Flucht  erzählt.  Wenig  eindringend  und  sachkundig  sind  die 
italienischen  Ereignisse  behandelt.  Ohne  stichhaltigen  Grund 
wird  das  Erscheinen  der  Ungarn  an  der  Ostgrenze  Italiens  898 
bezweifelt  (S.  118).  Aquileja,  Verona,  Pavia  sind  nicht  899 
ihnen  „zum  Opfer  gefallen"  (S.  119),  sondern  Liudprand  Ant.  11,9 
sagt  ausdrücklich,  daß  sie  an  diesen  befestigten  Städten  vorüber- 
zogen {pertranseunt).  Markgraf  Adalbert  II.  von  Tuscien  starb 
nicht  917,  sondern  wahrscheinlich  915,  sicher  vor  8.  Dez.  915, 
vgl.  meine  Untersuchungen  über  „Markgrafen  und  Markgraf- 
schaften im  Italischen  Königreich",  MJÖG.  VII.  Ergbd.  (1906), 
400  und  neuerdings  F.  Schneider,  Die  Reichsverwaltung  in  Toskana 
I,  333  A.  2.  Ganz  irre  geht  die  Darstellung  eines  Ungarnzuges 
bis  vor  Rom  (S.  133 ff.),  der  auf  die  ungenügende  Autorität  des 
späten  Romuald  von  Sal^rno  hin  zu  926  gesetzt  wird,  aber  wohl 
am  ersten  zu  928  zu  ziehen  ist.  Nicht  Alberich  von  Spoleto, 
wie  Martinus  Polonus  im  13.  Jahrhundert  infolge  eines  Miß- 
verständnisses schreibt,  sondern  Peter,  der  Bruder  des  Papstes 
Johann  X.,  wie  die  Quelle  Martins,  Benedikt  von  S.  Andrea 
am  Soracte  c.  29  (vgl.  Liudprand  Ant.  III,  43),  berichtet,  war  es, 
der  damals  die  Ungarn  rief  und  dafür  dann  von  den  Römern 
erschlagen  wurde,  vgl.  meine  Ausführungen  MJÖG.  VII.  Ergbd., 
S.402f.  und  418  A.  1. 

Berlin.  Adolf  Hofmeister. 


Die  Regierung  Karls  V.  und  der  europäische  Norden.  Von  Rudolf 
Häpke.  (Veröffentlichungen  zur  Geschichte  der  Freien  und 
Hansestadt  Lübeck,  herausg.  vom  Staatsarchiv  zu  Lübeck.) 
Lübeck,  Max  Schmidt.     1914.   XVI  u.  386  S. 

Häpkes  Buch  gehört  eng  zusammen  mit  seiner  im  Auftrag 
des  Vereins  für  Hansische  Geschichte  durchgeführten  Edition 
der  „Niederländischen  Akten  und  Urkunden  zur  Geschichte  der 
Hanse  und  zur  deutschen  Seegeschichte",  Bd.  I,  1531 — 1557,  er- 
schienen 1913.  Demgemäß  bilden  den  einen  selbständigen  Pol 
der  Darstellung  die  handeis-  und  speziell  die  seegeschichtlichen 


r 


16.  Jahrhundert  119 


Vorgänge.  Da  Häpke  lange  im  Brüsseler  Staatsarchiv  arbeitete, 
d.  h.  besonders  in  den  Quellen  derjenigen  Gebiete  zu  Hause  ist, 
die  zur  Zeit  Karls  V.  Mittel-  und  Knotenpunkt  des  Seeverkehrs 
waren  und  die  Fäden  zweier  Zeitalter  zusammenfaßten,  gelingen 
seiner  Fähigkeit  zu  besonnenem  Aufsuchen  großer  Linien  auch 
auf  diesem  Gebiet  Ergebnisse  allgemeiner  Bedeutung.  Aber  manch- 
mal quellen  die  speziell  seegeschichtlichen  Interessen  doch  über; 
in  vielen  Einzelheiten,  besonders  der  eingehenden  Darstellung 
der  Konvoifahrten  nach  Spanien  und  Portugal  seit  1552,  am 
merkbarsten  aber  in  dem  umfangreichen  einleitenden  Abschnitt, 
der  den  Leser  gleich  am  Anfang  durch  eine  Reihe  von  systemati- 
schen Monographien  über  Seefahrt  und  Seehandel,  Seefischerei, 
Kapital  und  Geldbesitz,  Handelspolitik,  Seekriegswesen  führt. 
Das  Buch  hätte  gewonnen,  wenn  aus  diesem  Bündel  das  unmittelbar 
der  Einführung  dienende  herausgelöst  und  zu  einer  Einheit,  die 
etwa  auch  die  unerörtert  bleibenden  inneren  Verhältnisse  Skan- 
dinaviens und  der  Hansestädte  hineingezogen  hätte,  gegliedert, 
das  Überschüssige  aber  in  Anhänge  verwiesen  worden  wäre,  wo 
Ausführungen  wie  über  Seefischerei,  Kapital  und  Geldbesitz, 
Seekriegswesen  auch  ganz  anders  materialreich  hätten  auftreten 
können. 

Der  zweite  Pol  neben  dem  see-  und  handelsgeschichtlichen 
ist,  gemäß  den  im  Gegenstand  begründeten  Traditionen  des 
Hansischen  Geschichtsvereins  und  speziell  der  Schule  Dietrich 
Schäfers,  das  Interesse  an  den  politischen  Ereignissen  und  Kon- 
stellationen, die  Häpke  ebenfalls  geschickt  und  wohlorientiert  in 
die  großen  Linien  der  Weltreichspolitik  Karls  V.  hineinstellt. 
Wie  sehr  das  politische  Interesse  (neben  dem  seegeschichtlichen) 
das  Auswahlprinzip  für  die  Behandlung  auch  des  wirtschaftlichen 
Prozesses  bildet,  zeigte  schon  das  gänzliche  Überwiegen  der 
diplomatischen  Korrespondenzen  in  jener  Edition,  während  im 
Brüsseler  Staatsarchiv  noch  gewaltige,  auch  für  den  Landhandel 
wichtige,  ergänzende  statistische  Quellen  vorhanden  sind,  die 
ich  vom  Gesichtspunkt  der  wirtschaftlichen  Grundlagen  des 
Reiches  Karls  V.  aus  dort  untersuchte. 

Die  „Regierung  Karls  V."  in  Häpkes  Titel  bedeutet  ganz 
wesentlich  die  niederländische  Regierung,  deren  Kanzleipapiere 
das  Brüsseler  Staatsarchiv  verwahrt.  Die  Regierung  unter 
Ferdinand  in  Deutschland  spielt  nur  ganz  gelegentlich  hinein, 


120  Literaturbericht. 

und  auch  der  kaiserliche  Hof  selbst  bleibt  im  Hintergrund,  so 
sehr  Häpke  durchgehend  aufzeigt,  wie  vielfach  Karls  dynastische 
und  Reichspolitik  in  Konflikte  geriet  mit  den  spezifisch  nieder- 
ländischen, auf  ungestörten  Handelsverkehr  angewiesenen  Inter- 
essen, welche  meist  die  Haltung  der  Regentin  Maria  und  ihrer 
nebengeordneten  Räte  bestimmten.  So  gibt  das  Buch  zugleich 
einen  Beitrag  zu  der  sich  allmählich  durchsetzenden  gerechteren 
Würdigung  der  Auseinandersetzung  zwischen  Fürsten  und  Stän- 
den. Eine  nähere  Verfolgung  der  verschieden  orientierten  Stre- 
bungen der  einzelnen  Provinzen  und  ihrer  leitenden  Männer, 
wie  ich  sie  für  die  Frühzeit  Karls  V.  in  den  Niederlanden  ver- 
suchte, wäre  möglich  gewesen;  doch  hatte  das  Gemeinstaats- 
bewußtsein in  dem  Menschenalter  von  der  Zeit  der  Chi^vres  und 
Berghes  bis  zu  der  Zeit  Marias,  die  Häpke  vorzüglich  behandelt,, 
große  Fortschritte  gemacht,  und  der  Verfasser  konzentriert  sein 
Interesse  nur  auf  die  nördlichen  Gebiete,  besonders  die  auf- 
steigenden und  speziell  mit  den  Hansen  in  Beziehungen  stehenden 
Provinzen  Holland  und  Seeland. 

Ist  das  nördliche  Burgund  durchgehend  der  eine  Brenn- 
punkt des  Interesses,  so  ist  der  andere  zunächst  das  den  Sund 
beherrschende  Dänemark,  besonders  solange  der  vertriebene 
Christian  II.  auf  Grund  seiner  habsburgischen  Heirat  wieder  und 
wieder  einen  Stützpunkt  in  den  widerstrebenden  Niederlanden 
suchte.  Nordwestdeutschland  rückt  in  den  Mittelpunkt  der 
Darstellung  seit  der  Zeit  des  Klevischen  und  besonders  für  die 
Periode  des  Schmalkaldischen  Krieges,  dessen  Höhepunkt  in 
Niedersachsen,  die  Bremen  befreiende  Schlacht  bei  Drakenburg^ 
Häpke  besonders  ausführlich  und  mit  von  Heimatsliebe  be- 
schwingter Feder  schildert.  Immer  aber  behält  er  die  Fäden 
zu  den  zahlreichen  andern  mit  spielenden  Parteien  in  der  Hand 
und  zeigt  insbesondere  die  Machtverschiebungen  zwischen  Lü- 
beck, Hamburg,  Bremen,  Emden  auf. 

Wichtiger  als  einige  Anlagen  zur  Schlacht  bei  Drakenburg, 
1547,  und  zu  den  Seekriegsplänen  Moritzens,  1552,  wäre  ein 
Register  oder  wenigstens  ein  ausführliches  Inhaltsverzeichnis 
gewesen,  das  die  zwar  in  gutem  Stil  geschriebenen,  aber  weit- 
läufig dahegenden,  zu  wenig  mit  Rekapitulationen  durchsetzten 
und  vielfach  mehr  mit  den  Kennern  sich  unterhaltenden  Aus- 
führungen für  allgemeine  Benutzung  besser  erschließen  würde. 


18.  Jahrhundert.  121 

Doch  mußte  der  größere  Teil  des  Buches  gedruckt  werden,  als 
der  Verfasser  schon  im  Felde  stand. 

Berlin.  Andreas  Walther. 

Maria  Theresia.  Ihr  Leben  und  ihre  Regierung.  Von  Eugen 
Guglia.  München  und  Berlin,  R.  Oldenbourg.  1917.  2  Bde. 
VII  u.  388;  418  S. 

Am  13.  Mai  1917  wurde  zum  zweiten  Male  das  Jahrhundert 
voll,  daß  Maria  Theresia  das  Licht  der  Welt  erblickte.  Mitten 
in  den  Stürmen  und  Sorgen  des  Weltkrieges  ging  dieser  Tag 
fast  unbemerkt  vorüber.  Kaum  daß  in  den  Schulen  die  Jugend 
an  ihn  erinnert  wurde.  Doch  welch  besseren  Trost  gibt  es  in 
sorgenschwerer  Zeit,  als  sich  in  die  Vergangenheit  zu  versenken 
und  aus  ihr  zu  entnehmen,  wie  der  Staat  auch  vorher  schon  aus 
schwerer  Gefahr  gerettet  worden  ist.  Gerettet  worden  durch  die 
Tatkraft  einer  Frau,  die  an  den  Staat  glaubte  und  durch  ihre 
felsenfeste  Überzeugung  und  den  Liebreiz  ihrer  Erscheinung 
ihre  Beamte  und  Untertanen  zu  ähnlichem  Glauben  bekehrte. 
Gleich  ihrem  ersten  Sohne  lebt  Maria  Theresia  noch  heute  in 
der  Erinnerung  des  Volkes.  Gilt  dieser  als  der  Volkskaiser,  als 
der  Beglücker  seiner  Untertanen,  besonders  der  Armen  und 
Bedrückten  und  als  der  Verfechter  einer  freieren  Lebensanschauung 
gegenüber  den  Mächten  des  Mittelalters,  so  jene  als  die  Vertreterin 
des  alten,  guten,  so  mächtigen  und  angesehenen  Österreichs,, 
jenes  Österreichs,  das  im  Glänze  der  römischen  Kaiserkrone  die 
erste  Rolle  in  Mitteleuropa  spielte,  jener  Zeit,  die  jedem  Öster- 
reicher wie  ein  schöner,  längst  entschwundener  Traum  erscheint. 

So  war  es  denn  ein  guter  Gedanke,  die  zweite  Jahrhundert- 
wende mit  einer  Lebensbeschreibung  Maria  Theresias  zu  feiern. 
Ist  auch  im  Kriegsgetümmel  der  Erfolg  des  Buches  vielleicht 
hinter  den  Erwartungen  geblieben,  so  wird  man  in  kommenden 
Friedensjahren  sicher  darauf  zurückgreifen.  Der  Verfasser  hat 
auf  dem  Gebiete  der  Biographie  sein  Bestes  geleistet,  und  sa 
lag  die  Arbeit  in  bewährten  Händen.  Unleugbar  kommt  sie  einem 
Bedürfnis  entgegen.  Maria  Theresia  hat  zwar  schon  Biographen 
gefunden.  Vortrefflich  ist  das  Buch  von  Adam  Wolf  „Österreich 
unter  Maria  Theresia",  aber  es  ist  längst  vergriffen  und  liegt 
über  60  Jahre  zurück.  Das  große  Werk  von  Arneth,  in  seiner 
Art  ein  klassisches  Buch,  war  viel  zu  umfangreich,  um  in  die 


122  Literaturbericht 

breite  Öffentlichkeit  zu  dringen.  In  seinen  späteren  Bänden 
mehr  auch  eine  Sammlung  von  Stoff  als  eine  Verarbeitung  zu 
abgerundetem  Bilde,  mehr  eine  Familien-  als  eine  Staatsgeschichte 
und  vor  allem  nur  in  österreichischer  Beleuchtung  aufgenommen, 
so  daß  dem  Bilde  das  Körperliche  fehlt.  Denn  die  Darstellung 
Arneths  beruhte  im  wesentlichen  auf  den  Akten  des  Haus-,  Hof- 
und  Staatsarchives.  Arneth  war  auch  nicht  eigentlich  Fachmann. 
Ein  hochbegabter  Mann  und  feiner  politischer  Kopf  war  er  von 
der  Verwaltung  in  die  Geschichtschreibung  durch  Neigung  und 
Stellung  geraten  ohne  die  fachliche  Vorbildung  in  strenger  Schule 
sich  angeeignet  zu  haben.  Den  Politiker  der  liberalen  Ära  hat 
der  Vorwurf  angezogen,  und  der  Politiker  spricht  fast  aus  jeder 
Seite  des  Buches,  gewiß  nicht  zum  Nachteil  desselben,  wenn 
auch  für  unseren  Geschmack  manchmal  zu  laut.  Seit  Arneth 
ist  viel  neues  Material  dazu  gekommen,  die  Tagebücher  Kheven- 
hüllers  mit  den  lehrreichen  Anmerkungen  von  Schlitter,  ver- 
schiedene Korrespondenzen,  die  Arbeiten  von  Grünberg  und 
Meli  über  die  Bauernbefreiung  und  andere.  Auch  der  große 
Gegner  Maria  Theresias,  Friedrich  II.,  hat  seitdem  einen  neuen 
hervorragenden  Biographen  gefunden,  und  zahlreiche  Arbeiten 
beschäftigten  sich  mit  der  Politik  der  europäischen  Mächte. 

Der  Verfasser  dieser  neuesten  Biographie  will  nicht  eine 
Geschichte  des  österreichischen  Staates  in  der  Zeit  Maria  Theresias, 
€r  will  eine  Lebensgeschichte  der  großen  Kaiserin  geben.  Daher 
steht  das  Persönliche  durchaus  im  Vordergrund.  Die  äußere 
und  innere  Politik  wird  nur  insoweit  dargestellt,  als  die  Kaiserin 
daran  Anteil  hatte,  und  so  tritt  namentlich  die  Kriegführung 
zurück.  Allerdings  verzichtet  der  Verfasser  nirgends  darauf, 
das  Bild  der  Kaiserin  zu  zeichnen,  und  da  Maria  Theresia  fast  in 
allen  Regierungsangelegenheiten  entscheidend  eingriff,  so  wird 
uns  zugleich  ein  guter  Teil  der  Staatsgeschichte  vorgeführt. 
Der  Verfasser  begnügt  sich  im  ganzen,  die  Quellenveröffentlichun- 
gen und  die  Literatur  auszuschöpfen.  Nur  ab  und  zu  greift  er 
nach  ungedruckten  Archivalien.  Mit  Recht;  denn  anders  Heß 
sich  die  Aufgabe  in  wenigen  Jahren  nicht  lösen.  Viel  Unbekanntes, 
das  geeignet  wäre,  neue  Lichter  zum  Bilde  Maria  Theresias  beizu- 
tragen, dürfte  überhaupt  kaum  mehr  vorhanden  sein.  Denn, 
wie  der  Verfasser  mit  Recht  bemerkt,  seine  Heldin  gibt  der  For- 
schung keine  Rätsel  zu  lösen.    Klar  ist  die  Entwicklung  dieser 


18.  Jahrhundert.  123 

Frau  vorgezeichnet.  Das,  was  sie  von  Friedrich  II.  scheidet, 
ist  doch  der  Mangel  an  tieferer  Bildung.  Beide  hochbegabte 
Persönlichkeiten,  aber  in  Anlage  und  Entwicklung  auseinander- 
gehend, Maria  Theresia  wie  ein  Naturlaut,  kraft  ihres  scharfen 
Verstandes  zumeist  instinktiv  das  Richtige  treffend,  voll  Tempe- 
rament und  Tatkraft,  dabei  kindlich  fromm  und  gläubig,  gläubig 
auch  an  die  Gerechtigkeit  ihrer  Sache,  der  König  von  Preußen, 
ein  Philosoph  im  Besitze  der  Bildung  seiner  Zeit,  an  Tatkraft 
der  Kaiserin  gleich,  ein  Diplomat,  der  unter  Umständen  auch 
vor  zweifelhaften  Mitteln  nicht  zurückschreckt,  ein  Zweifler 
ohne  den  kindlichen  kirchlichen  Glauben,  nur  von  dem  Gefühl 
der  Verantwortung  gegenüber  dem  Staat  beherrscht.  Es  war  das 
Verhängnis  Deutschlands,  daß  sich  die  beiden  Persönlichkeiten 
gegenüberstanden  und  sich  aneinander  rieben.  Doch  hat  sich 
in  dieser  Reibung  ihre  Größe  vielleicht  erst  recht  entwickelt. 
Ohne  Mollwitz  wäre  Maria  Theresia  zuletzt  doch  die  Kaiserin 
geblieben,  die  sich  im  wesentlichen  auf  die  Repräsentation  und 
die    Familie    zurückzog. 

Das  Schwergewicht  des  Buches  liegt  vielleicht  im  ersten 
Band.  Den  Erbfolgekrieg  bezeichnet  der  Verfasser  als  die  Helden- 
zeit der  Kaiserin.  Mit  vollem  Rechte.  Hier  ist  überall  Maria 
Theresia  die  treibende  Kraft.  Angegriffen  von  halb  Europa 
wehrt  sie  ihr  Erbe  wie  eine  Löwin.  Der  Siebenjährige  Krieg 
ist  nicht  minder  ihr  Krieg  gewesen.  Denn  daß  Maria  Thesesia 
den  Verlust  Schlesiens  nicht  verschmerzen  konnte  und  daß  sie 
trachtete,  es  mit  Gewalt  wieder  zu  gewinnen,  darüber  ist  wohl 
heute  kein  Zweifel  mehr.  Schon  aus  religiösen  Beweggründen, 
da  sie  fürchtete,  für  das  Seelenheil  ihrer  ehemaligen  schlesischen 
Untertanen,  das  ihr  unter  einer  protestantischen  Herrschaft 
gefährdet  schien,  die  Verantwortung  vor  Gott  übernehmen  zu 
müssen.  Dieser  Revanchekrieg  erreichte  allerdings  sein  Ziel  so 
wenig  wie  die  meisten  andern.  Unter  allen  Kriegen  gleicht  er 
am  meisten  dem  jetzigen,  ein  Weltkrieg  wie  dieser  aus  Revanche- 
gelüsten und  kolonialen  Streitigkeiten  erwachsen,  eröffnet  durch 
den  Einbruch  in  ein  neutrales  Land,  das  des  Einverständnisses 
mit  dem  Gegner  beziehtet  wird. 

Die  innere  Verwaltung  des  Staates,  in  den  Hauptzügen  eben- 
falls bekannt,  wird  noch  in  dem  einen  oder  anderen  Punkte  der 
Aufhellung  bedürfen.    Bietet  so  der  Verfasser  im  großen  und 


124  Litcraturbericht 

ganzen  auf  dem  Gebiete  der  Politik  in  angenehmer  Darstellung 
Bekanntes,  so  wird  man  gerne  seinen  Ausführungen  über  das 
gesellige  Leben  der  Kaiserin  und  ihre  Beziehungen  zu  Kunst 
und  Literatur  folgen. 

Wien.  Voltelini. 

Die  Beziehungen  der  katholischen  Rheinlande  und  Belgiens  in  den 
Jahren  1830—1840.  Von  Dr.  phil.  Lukas  Sdrwahn.  (Straß- 
burger Beiträge  zur  neueren  Geschichte,  herausg.  von  Prof. 
Dr.  Martin  Spahn,  Straßburg.)  Straßburg  i.  E.,  Herdersche 
Buchhandlung.     1914.    XX  u.  208  S.    4,80  M. 

Paul  Vogel  hat  1913  in  seinen  Beiträgen  zur  Geschichte  des 
Kölner  Kirchenstreits  Einzelheiten  dieses  Kampfes  nach  den 
Akten  und  Flugschriften  genauer  behandelt,  insbesondere  die 
klerikale  Kleinarbeit  auf  ihren  verborgenen  Wegen  zu  verfolgen 
gesucht.  Den  Anteil  des  belgischen  Klerikalismus  an  dem  Kölner 
Ereignis,  an  seiner  Vorgeschichte  und  seinen  nächsten  Nach- 
wirkungen im  Rheinlande,  die  persönliche  und  sachliche  Ver- 
bindung zwischen  rheinischem  und  belgischem  Katholizismus 
untersucht  die  vorliegende  inhaltsvolle  Schrift.  Schwahn  hat  die 
Akten  des  Geh.  Staatsarchivs  in  Berlin  und  des  belgischen  Mini- 
steriums des  Äußern  benutzt,  er  hat  überdies  etwa  40  deutsche 
und  belgische  Zeitungen  und  Zeitschriften  (wenn  auch  nicht 
immer  für  den  ganzen  im  Titel  bezeichneten  Zeitraum!)  und 
gegen  100  Flugschriften  durchgearbeitet  (nützliche  Übersicht 
S.  VII  ff.),  auch  die  neuere  Forschung  sorgsam,  manchmal  sogar 
allzu  umständlich  berücksichtigt.  Zu  bedeutendem  Ertrage  führt 
das  Buch  freilich  nicht.  Wenn  man  beim  Lesen  diesen  Ein- 
druck gewinnt,  so  liegt  das  gewiß  zum  Teil  daran,  daß  der 
Betrachtungsweise  des  Verfassers,  was  sich  sogleich,  doch  nicht 
allein,  in  der  Einleitung  zeigt,  der  große  Zug  fehlt.  Aber  zuletzt 
dürfte  dieses  bescheidene  Ergebnis  doch  der  unmittelbare  Aus- 
druck der  geschichtlichen  Wirklichkeit  sein. 

Eine  starke,  selbständig  bestimmende  Einwirkung  des  bel- 
gischen Klerikalismus  auf  den  rheinischen  ist  nicht  nachweisbar. 
Das  scheint  mir  die  auf  den  fleißig  zusammengetragenen  Stoff- 
massen ruhende  Untersuchung  der  Einzelfragen  noch  deutlicher 
zu  zeigen,  als  der  Verfasser  selbst  bemerkt  (doch  vgl.  S.  67). 
Der  belgische  Katholizismus  hat  mehr  durch  sein  Dasein,  durch 


19.  Jahrhundert.  125 

seine  kraftvolle  Selbständigkeit  und  Bewegungsfreiheit  als  durch 
selbsteigene  Betreibung  seiner  Gedanken  in  den  Rheinlanden 
gewirkt,  weniger  als  Herd  einer  von  sich  aus  über  die  Grenzen 
greifenden  Agitation,  sondern  mehr  als  ein  von  außen  her  ge- 
suchtes Vorbild;  nicht  das  ist  das  Hervorstechende,  daß  die 
Belgier  ihre  kirchenpolitischen  Gedanken  in  der  benachbarten 
preußischen  Provinz  zu  verbreiten  gesucht  hätten  —  obwohl 
auch  das  natürlich  nicht  unterblieben  ist  — ,  sondern  vielmehr 
das,  daß  einzelne  Führer  des  rheinischen  Katholizismus  bei  dem 
freien  und  politisch  starken  belgischen  Katholizismus  Rückhalt 
und  Förderung  suchten  und  sich  bemühten,  die  eigenen  Wünsche 
durch  belgische  Blätter  vertreten  zu  lassen.  Längst  vor  dem 
Kölner  Ereignis,  schon  alsbald  nach  der  Revolution  von  1830, 
läßt  sich  die  Tätigkeit  rheinischer  Ultramontaner  nachweisen; 
insbesondere  zwei  preußische  Denkschriften  vom  Februar  1838, 
die  der  Verfasser  im  Wortlaut  mitteilt  (S.  175 ff.;  vgl.  S.  18 ff.), 
nennen  zahlreiche  Namen.  Das  Bodenständige  des  rheinischen 
Klerikalismus  müßte  freilich  noch  genauer  betrachtet  werden, 
die  deutsche  Vorgeschichte  des  Kölner  Ereignisses  bedarf  noch 
der  Aufhellung.  Jedenfalls  haben  Ultramontane  der  Rheinlande 
offenbar  mehr  nach  dem  belgischen  Ideal  gestrebt,  als  daß  die 
Belgier  es  ihnen  hätten  aufdrängen  wollen.  An  belgischer  Pro- 
paganda fehlte  es  gewiß  nicht.  Preußenfeindliche  politische  Ge- 
danken wurden  durch  die  republikanischen  Demokraten  ver- 
treten; sowohl  der  zu  Frankreich  neigende  de  Potter  wie  der 
eine  unmittelbare  Verbindung  mit  Frankreich  abweisende  Adolf 
Bartels  dachten  an  belgisch-rheinischen  Zusammenschluß.  Preu- 
ßische Gesandtschaftsberichte  gewähren  einzelne  Einblicke  in 
diese  nicht  eben  bedeutenden  belgischen  Versuche,  den  Abfall 
der  Rheinlande  zu  betreiben.  Für  die  große  klerikale  Partei  — 
von  der  sich  die  namentlich  durch  das  Journal  des  Flandres  ver- 
tretenen klerikalen  Demokraten  abgesondert  hielten  —  war  nicht 
die  politische,  sondern  die  kirchenpolitische  Verbindung  mit  den 
Rheinlanden  die  nächste  Aufgabe.  Ihrem  Führer,  dem  Lütticher 
Bischof  van  Bommel,  schrieb  man  in  Berlin  wie  in  Belgien  starken 
Einfluß  auf  die  Parteizeitung  Le  Courier  de  la  Meuse  zu.  Seh. 
hat  den  Courier  erst  von  1834  an  benutzen  können.  Von  dieser 
Zeit  bis  1837  aber  wurde  der  Kampf  gegen  die  preußische  Kirchen- 
politik lediglich  in  dem  neu  gegründeten  Journal  historique  et 


126  Literaturbericht 

littiraire  de  LUge  geführt.  Diöse  Monatschrift  beanspruchte 
nach  dem  Ausbruch  des  Kölner  Kirchenstreites  das  Verdienst, 
wichtige  Vorarbeit  geleistet  zu  haben.  Sie  hatte  sich  gegen  den 
Hermesianismus  und  mit  besonderer  Schärfe  gegen  das  preußische 
Verfahren  in  der  Frage  der  gemischten  Ehen  gewandt.  Im  Rhein- 
land wurde  die  Zeitschrift  stark  gelesen;  daß  der  regierungsfreund- 
liche Kölner  Kapitularvikar  Hüsgen  sie  im  Dezember  1835  verbot, 
wirkte  bei  den  rheinischen  Klerikalen  eher  wie  eine  Empfehlung. 
Auf  die  naheliegende  Frage  nach  dem  rheinländischen  Ur- 
sprung einzelner  Aufsätze  des  Journal  läßt  sich  eine  sichere  Ant- 
wort nicht  geben.  Aber  es  ist  klar,  daß  manche  Mitteilungen 
(z.  B.  die  schon  in  früheren  Darstellungen  verwerteten  über  die 
Geheime  Instruktion)  nur  aus  den  Kreisen  des  rheinischen  Klerus 
stammen  können.  Dazu  halte  man,  daß  Alberts,  der  in  Sittard 
Flugschriften  druckte  (nicht  im  Auftrage  der  belgischen  Kleri- 
kalen!) und  sie  im  Rheinland  vertrieb,  mindestens  einen  Teil 
seiner  Unterlagen  aus  Rheinpreußen  unmittelbar  bezog  und  daß 
auch  van  Bommel  mindestens  1837  von  Köln  aus  auf  dem  Lau- 
fenden gehalten  wurde.  So  wird  man  —  was  ohnedies  naheliegt 
—  aus  den  belgischen  klerikalen  Schlachtrufen  gegen  die  preu- 
ßische Regierung  vor  allem  eben  den  Klang  rheinischer  Stimmen 
heraushören  müssen.  Der  Verfasser  hätte  nachdrücklicher  her- 
vorheben sollen,  daß  das,  was  er  im  2.  Kapitel  beibringt,  nicht 
einfach  als  Beweis  einer  selbständigen,  lediglich  aus  belgisch- 
katholischen Erwägungen  entspringenden  Bekämpfung  der  preu- 
ßischen Kirchenpolitik  gelten  darf.  Aus  den  im  3.  Kapitel  zu- 
sammengetragenen Zeugnissen  tritt  die  bodenständige  klerikale 
Arbeit  in  den  Rheinlanden  deutlicher  hervor.  Neben  den  längst 
bekannten  Männern,  wie  Laurent  und  Moeller,  in  denen  sich 
Rheinisches  und  Belgisches  unmittelbar  vereinigte,  wie  Binterim 
und  Windischmann,  zeigen  sich  andere  —  Weltpriester,  Ordens- 
leute, Laien  —  als  wirksame  Träger  der  rheinisch-belgischen 
Geistesverbindung;  ihre  Namen  sind  zumeist  durch  jene  beiden 
preußischen  Denkschriften  überliefert.  Die  Leitung  des  Journal 
betont  schon  1835,  sie  sei  ständig  darauf  bedacht,  auch  unter  den 
ihr  bekannten  zuverlässigen  Geistlichen  im  Ausland  Mitarbeiter 
zu  gewinnen;  daß  man  dabei  insbesondere  an  rheinländische 
Klerikale  zu  denken  hat  und  daß  darunter  Männer  voll  eigener 
Initiative  waren,  ist  zum  Überfluß  besonders  bezeugt  (vgl.  S.  67). 


19.  Jahrhundert.  127 

Wenn  eine  unmittelbare  Verbindung  Drostes  mit  den  belgischen 
Klerikalen  nach  seiner  Erhebung  zum  Erzbischof  sich  nicht 
nachweisen  läßt,  so  ist  doch  zu  beachten,  daß  er  durch  seine 
geistlichen  Untergebenen,  insbesondere  seinen  Hofkaplan  und 
Geheimschreiber  Michelis,  diese  Beziehungen  auf  besser  gesicher- 
ten Wegen  pflegen  konnte  als  im  unmittelbaren  Briefwechsel 
(vgl.  S.  75  f.  und  namentlich  79  ff.).  Der  Erzbischof  ist  aber 
auch  hier  so  verfahren  wie  bei  dem  Versuche  seines  Hofkaplans, 
„einige  Jesuiten  hereinzuschmuggeln";  er  „gibt  zu  allem  seinen 
Segen,  tut  aber  einstweilen  bei  allem  noch  die  Augen  zu,  so  daß 
die  Unternehmung  nur  eine  Privatunternehmung  ist"  (Michelis 
an  Binterim,  2.  Mai  1837).  Ich  will  nebenbei  bemerken,  daß  die 
nach  Ausbruch  des  Kölner  Kirchenstreits  beschlagnahmten 
Briefe  u.  a.  von  Gutzkow  nicht  nur  in  der  „Roten  Mütze",  die  S» 
in  seiner  Übersicht  der  Flugschriften  allein  (Nr.  102)  nennt, 
sondern  auch  in  den  gleichfalls  1838  veröffentlichten  „Streif- 
zügen in  der  Kölner  Sache"  (Werke,  1.  Serie,  Bd.  10,  S.  62  f., 
vgl.  67)  verwertet  sind;  selbst  in  Gutzkows  unerträglich  breitem, 
aber  zeitgeschichtlich  nicht  wertlosem  Roman  „Der  Zauberer 
von  Rom"  sind  (Band  2,  1858,  S.  238  f.)  der  sog.  Schnüffelbrief 
und  der  soeben  erwähnte  Jesuitenbrief  im  Wortlaute  heran- 
gezogen. 

Aus  S.s  Darstellung  ist  wiederum  deutlich  zu  erkennen,  daß 
die  gegen  die  preußische  Regierung  gerichtete  klerikale  Bewegung 
in  den  Rheinlanden  schon  vor  dem  Kölner  Ereignis  sich  ent- 
faltete; und  wenn  der  preußische  Geschäftsträger  in  Belgien,  Graf 
Galen,  kurz  vor  dem  Zusammenstoß  erklärt,  die  Maßnahmen 
gegen  den  belgischen  Klerus  seien  durch  „die  von  Belgien  fort- 
während ausgehenden  Versuche  zur  Aufwiegelung  der  katholi- 
schen Untertanen  in  der  Rheinprovinz"  vollkommen  gerecht- 
fertigt, so  dürfen  auch  hier  die  rheinischen  Wurzeln  des  kirchen- 
politischen Inhalts  dieser  Versuche  nicht  übersehen  werden. 
Daß  ein  wichtiger  Aufsatz  des  Journal  vom  Mai  1837  durch 
Michelis  gespeist  worden  ist,  steht  fest  (S.  83  Anm.  2,  vgl.  S.  103); 
auch  in  den  mißbilligenden  Äußerungen,  die  das  Journal  vorher 
über  Klemens  August  gebracht  hatte,  mögen  übrigens  rhein- 
ländische  Stimmen  stecken,  wie  denn  die  Klerikalen  außerhalb 
der  engsten  Umgebung  des  Erzbischofs  über  seine  wahre  Gesin- 
nung zunächst  nicht  leicht  ins  Klare  kommen  konnten.   Seit  dem 


128  Literaturbericht 

Ausbruch  des  offenen  Kampfes  wurden  dem  Journal  Aktenstücke 
und  Nachrichten  aus  Köln  zugeschoben,  brachte  zugleich  der 
Courier  de  la  Meuse  unermüdlich  seine  heftigen  Angriffe  auf 
Preußen,  an  denen  rheinländische  GeistUche  entscheidenden  An- 
teil hatten  (vgl.  S.  111  f.)-  Daß  dem  plötzlich  gegen  die  preu- 
ßische Regierung  auftretenden  Conservateur  beige  gleichfalls  An- 
regungen aus  dem  Rheinland  zugegangen  sind,  wird  dadurch, 
daß  das  Blatt  selbst  sie  nur  für  die  ..affaires  politiques''  ausdrück- 
lich zu  bestreiten  wagt  (S.  117),  geradezu  bewiesen.  In  den  Rhein- 
landen selbst  fehlte  es  nicht  an  geistlichen  Heißspornen,  die  die 
Regierung  zu  gewaltsamem  Vorgehen  zu  reizen  suchten  (S.  119  f.). 
Wie  weit  die  Absichten  einzelner  gingen,  wie  stark  sie  der  Ge- 
danke an  die  Möglichkeit  offenen  Widerstands  beschäftigte,  das 
läßt  sich  nicht  erkennen;  belastende  Briefe  sind  offenbar  großen- 
teils vernichtet  worden,  belastete  Persönlichkeiten  aber  ver- 
suchten es  nach  Kräften  mit  der  Ableugnung —  freilich  in  den 
kirchenpolitischen  Angelegenheiten  nicht  immer  mit  Erfolg, 
denn  mindestens  Michelis  und  Binterim  können  der  Unwahrheit 
überführt  werden  (vgl.  S.  3  f.,  88  f.,  121),  was  für  die  persönliche 
Beurteilung  und  sachliche  Kritik  gleich  wichtig  ist  (vgl.  auch  130 
Anm.  3).  Auch  das  bleibt  ungewiß,  ob  die  nach  der  Verhaftung 
des  Erzbischofs  nachweisbare  belgische  Agitation,  die  in  der 
Stille  an  eine  Revolutionierung  der  Rheinlande  dachte,  von 
rheinischen  Klerikalen  gefördert  worden  ist.  Jedenfalls  muß 
man  mit  dem  Verfasser  feststellen,  daß  von  einer  ernsthaften 
revolutionären  Bewegung  in  den  Rheinlanden  sich  nicht  die 
geringsten  Spuren  nachweisen  lassen.  Ober  den  durch  das  Kölner 
Ereignis  angeregten  belgischen  Pressekampf  gegen  Preußen  gibt 
S.  (S.  143  ff.)  einige  Mitteilungen.  Bartels  betrieb,  wie  S.  (155  ff.) 
zeigt,  seinen  alten  Gedanken  eines  belgisch-rheinländischen  Zu- 
sammenschlusses von  neuem  und  glaubte  ihn  im  November  1838 
gar  der  Verwirklichung  nahe;  die  klerikale  Partei  Belgiens  aber 
lehnte  ihn  jetzt  wie  früher  ab. 

S.s  fleißige  Schrift,  deren  Benutzung  leider  weder  durch  eine 
eingehende  Inhaltsübersicht  noch  durch  ein  Register  erleichtert 
wird,  ist  in  der  Darstellung  nicht  immer  glücklich;  schon  der 
Titel  verrät  nicht  eben  starkes  Sprachgefühl.  Störend  wirken  die 
durch  manchen  Druckfehler  entstellten  französischen  Auszüge 
mitten  in  der  deutschen  Erzählung.  Vor  allem  aber  vermißt  man 


Rechtsgeschichte.  129 

das  kräftige  Herausarbeiten  der  leitenden  Gedanken,  besonders 
auch  in  dem  überaus  dürftigen  Schlußabschnitt.  Offenbar  hat 
der  eifrige  Verfasser  beim  Kriegsbeginn  nicht  mehr  Zeit  und  Ruhe 
zu  einer  letzten  Überarbeitung  gefunden.  Er  ist  dann  alsbald 
im  Kampfe  fürs  Vaterland  gefallen.  Seine  hinterlassenen  Unter- 
suchungen über  die  Beziehungen  des  rheinischen  Katholizismus 
zu  dem  übrigen  katholischen  Deutschland  und  zu  Frankreich 
(vgl.  das  Vorwort  vom  5.  August  1914  und  S.  175  Anm.  1)  sind 
zwar  nicht  abgeschlossen,  scheinen  aber  umfassend  und  wertvoll 
zu  sein;  vielleicht  wird  der  Herausgeber  der  ,, Straßburger  Bei- 
träge**, der  die  vorliegende  Arbeit  angeregt  hat,  auch  diese  Stu- 
dien bald  der  Forschung  zugänglich  machen  können. 

Gießen.  F.  Vigener. 

Schweizerische  Bauernmarken  und  Holzurkunden.  Von  Max 
Gmür.  (Abhandlungen  zum  schweizerischen  Recht,  her- 
ausgegeben von  Max  Gmür.  77.  Heft.)  Mit  33  Tafeln.  Bern, 
Stämpfli.     1917.    100  S. 

Dies  Buch  geht  nicht  nur  den  Juristen,  sondern  ganz  be- 
sonders auch  den  Historiker,  in  erster  Reihe  den  Diplomatiker  und 
Sozialhistoriker  an.  Die  Bücher  von  Michelsen  (1853)  und  Homeyer 
(1870)  über  die  Hausmarken  gehörten  noch  zu  der  vorkritischen 
Periode  deutscher  Rechtsgeschichte,  die  dennoch  an  Systematik 
des  Blicks  der  Folgezeit  so  vielfach  überlegen  war.  Hier  hat 
also  Gmür  weit  zurückgehen  müssen.  Seine  anschheßende  Be- 
handlung der  Holzurkunden  bricht  vollends  Neuland.  Sie  baut  sich 
wesentlich  auf  einer  von  ihm  selbst  angelegten  Sammlung  von 
Originalen  auf,  von  denen  der  Anhang  zahlreiche  in  vortreff- 
hchen  Lichtbildern  zeigt. 

Die  Darstellung  des  Berner  Zivilisten  sieht  die  Dinge  gewisser- 
maßen umgekehrt  wie  der  Historiker,  von  ihrem  modernen  Ent- 
wicklungsende aus.  Sie  beginnt  mit  dem  Markenrecht,  das  ja 
außerhalb  der  ländlichen  Rechtsverhältnisse  ein  völlig  lebendiger 
Zweig  der  gegenwärtigen  Jurisprudenz  ist,  und  schreitet  dann 
erst  zu  seinem  hauptsächüchen  mittelalterlichen  Substrat,  dem 
rechtlich  heute  sehr  seltenen  Kerbholz  im  weitesten  Sinn,  vor. 
Gerade  hier  würde  der  Historiker  einsetzen  und  an  der  Hand  der 
einzigen  eindringenden  Untersuchung  neuerer  Zeit,  dem  (G.  leider 
unbekannten)  Aufsatz  Michael  Tangls  über  Urkunde  und  Symbol 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  9 


130  Literaturbericht. 

(Festschrift  für  Heinrich  Brunner,  Weimar  1910,  S.  761— 775> 
das  Wesen  des  Kerbholzes  als  volksrechtlichen  Symbols  im  Gegen- 
satz zur  römisch-rechtlichen  Urkunde  zu  begreifen  suchen.  Von 
den  durch  Tangl  kritisch  untersuchten  Fällen  der  Befestigung 
einer  festuca  oder  eines  Messers  an  der  Urkunde  (vgl.  dazu  noch 
Grimm,  Rechtsaltert.  1*,  170  Anm.  2  sowie  für  England  F.  Wiß- 
mann, Arch.  f. Urkundenforschung  3  [191 1],  263f.)  führt  ein  stetiger 
Zusammenhang  zu  dem  selbständigen  Investitursymbol  des 
Stabes  oder  Messers  (zu  den  leider  undatierten  Beispielen  Wiß- 
manns a.  a.  0.  263  vgl.  jetzt  auch  die  sehr  hübschen  und  frühen 
bei  H.  W.  C.  Davis,  Regesta  Regum  Anglo-Normannorum  [Ox.  1913J 
nr.  1  [1066],  29  [1069]  und  378  [1096]);  namentlich  wenn  das 
Holz  nicht  schon  als  Messergriff  oder  irgendwie  sonst  gestaltet 
ist,  liegt  es  nahe  seinen  Symbolch.arakter  durch  Marken-  oder 
Schriftzeichen  zu  betonen:  Einer  der  von  den  Maurinern  (Nouveau 
Traiti  4,  469;  vgl.  Tangl  a.  a.  0.  767)  beschriebenen  Fälle  davon, 
ein  Entschädigungsversprechen  König  Ludwigs  VII.  für  Notre 
Dame  in  Paris,  kommt  dann  auch  der  Rechtsbedeutung  nach 
ganz  auf  die  Hauptfunktion  des  Kerbholzes  als  „Geständnis- 
urkunde" (Gmür  149)  hinaus  —  man  sieht  die  beiden  Seiten 
volksrechtlicher  Symbolik,  die  Feierlichkeit  und  den  praktischen 
Realismus,  gleichsam  sinnlich  sich  zusammenschließen, 

Je  mehr  nun  im  öffentlichen  Recht  und  nach  dessen  Vorbild 
im  herrschaftlichen  (geistlichen,  grundherrlichen,  städtischen) 
Privatrecht  die  römisch-rechtlichen  Urkundenformen  die  Symbole 
verdrängen,  ein  desto  zäheres  Leben  führen  diese  in  den  wirt- 
schaftlich und  gesellschaftlich  stabileren  Kreisen  des  ländlichen 
genossenschaftlichen  Rechts.  Während  die  Verbindung  von 
Holzurkunde  und  bäuerlicher  Kultur  zu  auffällig  ist,  um  über- 
sahen zu  werden,  nimmt  es  eigentlich  wunder,  daß  abgesehen 
von  gelegentlichen  Ansätzen  (z.  B.  Gmür  71)  der  Begriff  des 
Genossenschaftsrechts  in  der  neueren  einschlägigen  Literatur 
verhältnismäßig  so  wenig  herangezogen  worden  ist.  Er  ver- 
diente m.  E.  im  Mittelpunkt  der  ganzen  Symbolforschung  zu 
stehn,  und  in  ihm  liegt  vor  allem  auch  die  tiefere  Begründung 
der  Einheit  von  Rechtssymbol  und  Marke:  Die  Marke,  das  durch 
die  äußere  Gestalt  nicht  oder  kaum  erklärte  Konventional- 
zeichen  ist  noch  viel  mehr  als  das  sich  vielfach  selbst  erklärende 
Symbol  die  Sprache  engster,  in  ihrem  ganzen  geistigen  Daseia 


Rechtsgeschichte.  13t 

verwandter  Gruppen,  nicht  nur  weil  sie  außerhalb  solcher  nicht 
mehr  verstanden  wird,  sondern  auch  weil  die  Vermehrung  ihrer 
Zeichen  über  enge  Grenzen  hinaus  den  Vorsprung  vor  der  ge- 
sprochenen und  geschriebenen  Sprache  wieder  aufhöbe. 

Zu  unmittelbarer  Veranschaulichung  gelangt  diese  Abhängig- 
keit der  einzelnen  Marke  von  einer  Gesamtheit  ähnlicher  z.  B.  in 
den  sog.  Loshölzern  und  Einlegetesseln,  deren  Gesamtheit  sozu- 
sagen ein  Spiel  mit  fester  Zahl  von  Einheiten  bildet  (Gmür  72ff., 
122f.  und  Tafel  XIII,  XXVIII),  oder  noch  besser  in  den  Kehr- 
und  Gemeindetesseln,  wo  ein  einziger  Holzkörper  das  Verzeichnis 
dersämthchen  Einzelmarken  trägt  (Gmür  83 ff.  und  Tafel  XVIII). 

Wie  Amira  (Zeitschr.  der  Savigny-Stiftung  38,  447)  die 
Schweizer  Mitteilungen  G.s  besonders  für  Skandinavien  ergänzt 
hat  (vgl.  auch  das  von  G.  nicht  angeführte  steirische  Holzmarken- 
verzeichnis des  18.  Jahrhunderts,  Ost.  Weist.  6,  717  ff.),  möchte 
ich  mir  erlauben  auf  die  Erhaltung  des  Symbol-  und  Marken- 
wesens in  dem  so  konservativen  englischen  Recht  mit  einem 
Wort  einzugehen.  Bekannt  ist  zunächst  der  bis  in  die  Neu- 
zeit beibehaltene  Gebrauch  der  Kerbhölzer  (tallies)  im  Rech- 
nungswesen der  Zentralbehörde,  des  Exchequer,  als  scheinbarer 
Widerspruch  zu  dem  vorhin  Ausgeführten  vielleicht  erklär- 
bar durch  die  starre  Form  der  Abrechnung  mit  dem  festen 
Kreis  der  ländlichen  Grafschaftsbeamten.  (Sehr  häufigen  grund- 
herrlichen Gebrauch  der  Kerbholzrechnung  zeigen  z.  B.  auch 
meine  Bad.  Weist.  1,  1,  59  n.  1,  61  n.  2,  70  §  24,  225  §  7,  336  §  13; 
die  kerfer  des  Holzgedingweistums  von  Wevelinghoven  1500, 
Weist,  der  Rheinprov.  2,  1,  249f.,  255,  sei  es  daß  sie  von  Baum- 
zeichen [Aubin  249  n.  5]  oder  Rechnungshölzern  genannt  sind, 
bezeugen  in  beiden  Fällen  Markenrecht.)  Weniger  bekannt  ist, 
daß  in  einem  der  gebräuchhchsten  englischen  Worte  für  „Be- 
zeichnung", „bezeichnen",  earmark,  noch  heute  das  Andenken 
des  häufigsten  mittelalterlichen  Viehzeichens,  des  Kerbens  der 
Ohren,  fortlebt;  die  frühesten  Belege  des  neuenglischen  Aus- 
drucks (16.  Jahrhundert  vgl.  Bradley  in  Murrays  Dict.  s.  v.) 
reichen  über  die  Jahrhunderte  die  Hand  der  mearc,  mit  der  in 
den  Gesetzen  der  Angelsachsen  (Dunsaete  1,  um  935?  Lieber- 
mann 1,  374,  dazu  2,  310,  583)  auch  bei  unterbrochener  Spur- 
folge Eigentum  an  Vieh  bewiesen  wird.  Und  was  die  Marken- 
verwendung bei  Land-  und  Flurteilung  in  der  Art  der  oberdeutschen 

9* 


132  Literaturbericht. 

Loshölzer  und  niederdeutschen  Kaveln  betrifft  (Gmür  73),  macht 
mich  Felix  Liebermann  freundlichst  auf  eine  merkwürdige  Mit- 
teilung (G.  L.  Gomme,  The  village  Community  [London  1890]  165) 
über  die  Flurteilung  des  Manors  Aston  (Oxfordshire)  aufmerksam: 
Die  Gemeinweide  zerfiel  in  16  (im  Lauf  der  Zeit  vielfach  unter- 
geteilte) gleiche  Anteile,  deren  Marken  aus  wagerechten  Parallel- 
schichten in  der  Zahl  ihrer  Reihenfolge  bestanden,  und  nach 
diesen  Marken  (also  doch  wohl  auf  Loshölzern)  wurde  die  nur 
vier  Anteile  zählende  Wiese  jährlich  verlost;  im  Nachbarmanor 
Bampton  begegnen  als  Losmarken  außer  einer  komplizierteren 
Strichfigur  („zwei  Striche  rechts  und  einer  darüber")  auch  bild- 
lichere: ,, Bratpfanne",  „Krähenfuß",  „Bogen". 

Diese  wenigen  Bemerkungen  geben  vielleicht  besser  als  ein 
ausführliches  Referat  eine  Vorstellung  von  dem  Reichtum  an 
Nachrichten  und  Anregungen,  den  G.s  Buch  enthält.  Ihnen 
auch  im  Gebiet  des  so  wenig  erforschten  deutschen  Rechts  der 
neueren  Jahrhunderte  zu  folgen,  würde  eine  ebenso  wichtige  als 
dankbare  Aufgabe  sein. 

Berlin.  Carl  Brinkmann. 

Salzburger  Urkundenbuch  IL  Band.  Urkunden  von  790—1199.  Ge- 
sammelt und  bearbeitet  von  Abt  Willibald  Hauthaler  0.  S.  B. 
und  Franz  Martin.  Mit  Unterstützung  des  k.  k.  Ministeriums 
für  Kultus  und  Unterricht  und  der  Kais.  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Wien  herausgegeben  von  der  Gesellschaft 
für  Salzburger  Landeskunde.  Salzburg  1916.  XXVII  u.  756  S., 
A  1—23  S.,  10  Tafeln  Siegelabbildungen.  Preis  24  K. 

Zum  Gedächtnis  der  100jährigen  Vereinigung  Salzburgs  mit 
Österreich  ist  dieser  stattliche  2.  Band^)  erschienen,  welcher  die 
vollständig  gedruckten  Urkunden  aus  den  Jahren  790 — 1199 
enthält,  soweit  sie  das  einstige  Hochstift  oder  das  heutige  Kronland 
betreffen  oder  von  den  Salzburger  Erzbischöfen  ausgestellt  sind, 
während  ein  3.  Band  die  Urkunden  von  1200—1246  mit  Registern 
bringen  soll  und  die  Veröffentlichung  der  Briefe  und  Akten- 
stücke einem  4.  Bande  vorbehalten  ist.  Dagegen  wurde  von  einer 
auszugsweisen  oder   regestenweisen  Wiedergabe    von  Urkunden 


^)  Vgl.  die  Anzeige    des  1.  Bandes  von  Karl  Uhlirz  in  dieser 
Zeitschrift  (107  3.  F.  11),  230. 


Deutsche  Landschaften.  133 

als  selbständige  Nummern  Abstand  genommen,  ebenso  von  der 
Anführung  jener  Urkunden,  worin  die  Erzbischöfe  als  Zeugen 
oder  Intervenienten  vorkommen,  weil  seit  1866  schon  das  v.  Meil- 
lersche  Regestenwerk  (1106 — 1246)  im  Drucke  vorHegt.  Freilich 
fallen  dabei  die  urkundlichen  Erwähnungen  der  Salzburger  Dom- 
pröpste, Äbte  und  sonstigen  geistlichen  und  weltlichen  Würden- 
träger, sofern  sie  nicht  in  Gesellschaft  der  Erzbischöfe  auftreten, 
unter  den  Tisch. 

Im  Anhang  1  folgen  auszugsweise  die  päpstlichen  Kom- 
missorien, im  Anhang  2  das  Verzeichnis  der  verlorenen  Urkunden. 
Daran  schließen  sich  in  Anhang  3  die  Konkordanzen  zum  diplo- 
matischen Anhang  von  Kleimayrns  Juvavia  und  zu  v.  Meillers 
Regesten.  Nach  einem  kurzen  Abschnitt,  der  Ergänzungen  und 
Berichtigungen  zum  Urkundenbuche  bringt,  folgen  zehn  Tafeln 
mit  photographischen  Abbildungen  von  21  erzbischöflichen 
Siegeln  und  zwei  des  Domkapitels,  alle  in  Naturgröße. 

Den  Beschluß  bildet  der  Neuabdruck  der  wichtigen  Breves 
Notitiae  (c.  790)  nach  einer  neu  aufgefundenen  Admonter  Hand- 
schrift vor  1200  in  der  Bibliothek  der  gräfl.  Kuenburgschen 
Fideikommißherrschaft  Jungwoschitz  in  Böhmen,  nachdem  der 
Abdruck  im  1.  Band  nach  fehlerhaften  Handschriften  aus  dem 
Schlüsse  des  13.  Jahrhunderts  und  15.  Jahrhunderts  nicht  mehr 
genügte. 

Die  musterhafte  Urkundenausgabe  erfolgte  ganz  nach  dem 
von  Sickel  geschaffenen  Vorbild  in  der  Diplomata-Abteilung  der 
Monumenta  Germaniae.  Soweit  es  möglich  war,  sind  die  einzelnen 
Verfasser  und  Schreiber  der  Urkunden  genau  geschieden  und 
sofern  ihre  Namen  nicht  bekannt  sind,  was  meist  der  Fall  ist, 
durch  Siglen  gekennzeichnet.  Dazu  hat  Franz  Martin  eine 
treffliche  Vorarbeit:  „Über  das  Urkundenwesen  der  Erzbischöfe, 
1106 — 1246"  im  Q.Ergänzungsbande  der  Mitteilungen  des  In- 
stitutes  f.    österr.    Geschichtsforschung,    S.  559 — 765,    geliefert. 

Mit  Rücksicht  darauf,  daß  schon  in  der  Juvavia  und  in  den 
Monumenta  Boica,  ferner  in  den  neuzeitlichen  Urkundenbüchern 
von  Oberösterreich,  Steiermark  und  Kärnten  viel  Salzburger  Stoff 
zum  Abdruck  gelangt  ist,  konnte  verhältnismäßig  nicht  viel 
Neues  geboten  werden.  Von  den  533  Urkunden  sind  nur  26  ganz 
unbekannt,  während  36  bisher  nur  auszugsweise  veröffentlicht 
waren.     Aber  es  bleibt  ein  nicht  zu  unterschätzender  Vorteil, 


134  Literaturbericht. 

daß  nun  auf  einmal  die  gesamten  salzburgischen  Urkunden- 
schätze zu  übersehen  sind,  welche  man  früher  aus  verschiedenen 
Büchern  zusammensuchen  mußte  —  noch  dazu  streng  geschieden, 
was  echt  und  was  falsch  ist.  Freilich  haben  da  namentlich  die 
Monumenta  ducatus  Carinthiae,  Bd.  1 — 4,  hinsichtlich  der  zahl- 
reichen Kärntner,  namentlich  Gurker  Fälschungen  reiche  Vor- 
arbeiten geboten,  deren  Ergebnissen  die  Salzburger  Bearbeiter 
einwandfrei  gefolgt  sind. 

Es  fragt  sich  nur,  ob  die  Herausgeber  recht  getan  haben, 
daß  sie  Fälschungen  —  „angebliche  Originale"  von  ihnen  ge- 
nannt —  nicht  aufnahmen,  welche  keinen  noch  erkennbaren 
echten  Kern  enthalten,  mögen  sie  immerhin  auf  den  Namen 
eines  salzburgischen  Erzbischofes  lauten.  Denn  diese  Fälschungen 
sind  doch  für  die  Zeit,  in  der  sie  entstanden  sind,  Quellen  ersten 
Ranges. 

Schließlich  sei  bezügüch  der  Siegelabbildungen  1,  2  und  4, 
von  denen  nur  gesagt  ist,  daß  sie  nach  Gipsabgüssen  in  den  Samm- 
lungen des  Geschichtsvereines  in  Klagenfurt  gemacht  sind,  er- 
gänzt, daß  1,  das  Siegel  Erzbischofs  Friedrich  (958 — 991)  auf 
n.  47,  2  das  Hartwichs  (991—1023)  auf  n.  61  und  4  das  Gebhards 
(1060—1088)  auf  n.  HO  aufgedrückt  ist.  Das  Siegel  Hartwichs, 
auch  abgebildet  von  Richter  in  Mitteilungen  d.  Zentralkommission 
f.  Kunst-  u.  historische  Denkmale  N.  F.  8,  CXXI,  ist  aber  eine 
Fälschung,  Nachbildung  eines  echten  Siegels,  was  wohl  im  Text 
zu  n.  61  S.  113,  nicht  aber  in  den  Erläuterungen  zu  Siegeltafel  1 
erwähnt  ist.  Das  einzige  echte  Siegel  dieses  Erzbischofs  finden 
wir  auf  n.  65  aufgedrückt,  von  dem  sich  bis  heute  ein  ziemlich 
großes  Bruchstück  erhalten  hat. 

Klagenfurt.  August  v.  Jaksch. 


1 


Notizen  und  Nadiriditen. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  die  sie  an  dieser  Stelle 
berücksichtigt  wünschen,  uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 

Allgemeines. 

Unter  dem  Titel  Jahresberichte  der  deutschen  Geschichte 
bereiten  Archivrat  Dr.  Loewe  und  Privatdozent  Dr.  Stimming  in 
Breslau  eine  jährlich  wiederkehrende  Veröffentlichung  vor,  welche 
die  wissenschaftliche  Literatur  je  eines  Jahres  in  sachlichen  Referaten 
und  in  systematischer  Anordnung  des  Stoffes  vorführen  will.  Die 
einzelne  Erscheinung  soll  möglichst  in  den  historiographischen  Zu- 
sammenhang eingefügt  werden,  um  den  allgemeinen  Fortschritt  der 
Forschung  deutlich  hervortreten  zu  lassen.  Im  Vordergrund  wird 
die  politische,  die  Verfassungs-,  Verwaltungs-  und  Wirtschaftsge- 
schichte stehen,  aber  auch  die  Grenzgebiete  werden  berücksichtigt 
werden.  Genaue  bibliographische  Hinweise  sollen  auch  die  nicht  be- 
prochenen  Schriften  berücksichtigen.  Demnächst  soll  der  Jahrgang 
1918  erscheinen.  Der  Jahresbericht  (etwa  12  Bogen)  erscheint  im 
Verlage  von  Priebatschs  Buchhandlung  in  Breslau,  Ring  Nr.  58,  an 
die  auch  die  Überweisung  von  Besprechungsexemplaren,  namentlich 
kleineren  Schriften,  Sonderabdrucken  und  Dissertationen,  erbeten  wird. 

Die  „Richtlinien  für  das  Studium  der  Geschichte  des  Mittel- 
alters und  der  Neuzeit"  von  AI.  Meister  (Münster  i.  W.,  Borgmeyer 
Ä  Co.  1916.  44  S.  1  M.)  enthalten  allerlei  Ratschläge  und  nützliche 
Winke.  Aber  Meister  hat  sich,  offenbar  in  der  Besorgnis,  dem  An» 
iänger  zuviel  zuzumuten,  eine  Zurückhaltung  auferlegt,  die  nun  frei- 
lich diese  Richtlinien  etwas  dünn  hat  werden  lassen.     Die  ziemlich 


136  Notizen  und  Nachrichten. 

kärgliche  Literaturauswahl  bringt  neben  vielem  Guten  einigen  Ballast, 
läßt  aber  wichtige  Werke  (z.  B.  Haucks  Kirchengeschichte,  überhaupt 
die  kirchengeschichtlichen  und  kirchenrechtlichen  Darstellungen)  bei- 
seite. Neben  kleinen  Flüchtigkeiten  stören  etliche  ungenaue  oder 
veraltete  Angaben  in  dem  Literaturverzeichnis  (z.  B.  S.  31  f.  Ritter, 
Koser,  Sybel;  S.  37  Zeumer,  Altmann;  S.  40  Marcks,  Meinecke,  Fried- 
jung; S.  42  Jahresberichte  der  Geschichtswissenschaft).  F.  V. 

„Die  großen  Mächte"  von  Ranke  sind  jetzt  auch  als  Nr.  5975 
von  Reclams  Universal-Bibliothek  abgedruckt;  die  biographische  Ein- 
leitung von  Dr.  Rudolf  Schulze  bleibt  beim  Äußerlichen  stehen. 

Auf  die  1913  veröffentlichte  12.  Auflage  von  H.  Denzingers 
Enchiridion  symbolorum  definitionum  et  dedarationum  de  rebus  fidei 
et  morum  (Freiburg,  Herder.  XXVII  u.  656  S.  6,60  M.,  geb.  8  M.) 
sei  hier  nachträglich  kurz  hingewiesen,  da  die  von  dem  jetzigen  Her- 
ausgeber C.  Bannwart  zuerst  im  Jahre  1908  veranstaltete  Neu- 
bearbeitung in  dieser  Zeitschrift  noch  nicht  erwähnt  worden  ist. 
Die  jedem  Kirchenhistoriker  vertraute  wertvolle  Sammlung  der  kirch- 
lichen Glaubensentscheidungen  setzt  mit  den  verschiedenen  Überliefe- 
rungen des  Apostolikums  ein  und  schließt  mit  dem  Modernisteneid 
von  1910.  Sie  ist  durch  ein  alphabetisches  Namen-  und  Sachverzeichnis 
und  einen  Index  systematicus  rerum,  quae  cum  dogmate  cohaerent  (darin 
die  für  den  Historiker  besonders  wichtigen,  übersichtlich  gegliederten 
Abschnitte  Ecclesia  und  Romanus  Pontifex!)  für  den  Handgebrauch 
bequem  zugerichtet. 

Durch  die  gediegenen  Beiträge  eines  erlesenen  Stabes  von  Mit- 
arbeitern, die  der  hochverdiente  Herausgeber  der  „Zeitschrift  für 
Kirchengeschichte"  B.  Beß  unter  seiner  Fahne  gesammelt  hat,  wird 
das  für  weitere  Kreise  bestimmte,  vornehm  ausgestattete  Sammel- 
werk „Unsere  religiösen  Erzieher,  Eine  Geschichte  des  Christentums 
in  Lebensbildern"  (2.  Aufl.  Leipzig,  Quelle  &  Meyer)  auch  für  den 
gelehrten  Leser  und  weit  über  das  Gedächtnisjahr  der  Reformation 
hinaus  seinen  Wert  behalten.  Wie  der  Untertitel  „Von  Luther  bis 
Bismarck"  andeutet,  ist  der  nationale  Gedanke  entschieden,  wenn 
auch  mit  weiser  Zurückhaltung  betont.  Neben  den  feinsinnigen  Auf- 
sätzen von  L.  Zscharnack  über  die  Religion  unserer  Klassiker  und 
dem  von  W.  Herrmann  über  die  erziehliche  Kraft  der  Religion,  dem 
kraftvollen  Bilde  der  religiösen  Persönlichkeit  Bismarcks  von  O.  Baum- 
garten sind  für  den  Historiker  vor.  allem  die  aus  gründlichster  Ver- 
trautheit mit  dem  Stoff  und  schöpferischem  Einleben  in  die  geschicht- 
liche Umgebung  erwachsenen  Lebensbilder  Zwingiis  (von  W.  Köhler) 
und  Calvins  (von  B.  Beß)  hervorzuheben,  die  sich  zu  einer  Schweize- 
rischen Reformationsgeschichte  von  eigenartigem  Reiz  ergänzen.    Die 


Allgemeines.  137 

Schilderung  der  religiösen  Eigenart  Luthers  durch  Th.  Kolde  ist 
schon  1908  erschienen  und  in  geschichtlicher  Hinsicht  durch  ein  dem 
seitherigen  Fortschritt  der  Luther-Forschung  gewidmetes  Nachwort 
des  Herausgebers  ergänzt  worden.  Die  Führer  des  Pietismus,  Spener, 
Francke  und  Zinzendorf,  wurden  von  O.  Uttendörfer,  Schleier«^ 
macher  von  dem  verstorbenen  O.  Kirn  und  in  neuer  Bearbeitung 
von  H.  Mulert,  Wichern  von  F.  Mahling  in  ebenso  gründlicher  wie 
anziehender  Weise  behandelt.  P.  Kalkoff. 

Zu  den  allerwertvollsten  wissenschaftlichen  Früchten  der  Kriegs- 
jähre  gehört  die  Schrift  Karl  Ho  11s  „Die  Bedeutung  der  großen  Kriege 
für  das  religiöse  und  kirchliche  Leben  innerhalb  des  deutschen  Prote- 
stantismus" (Tübingen,  Mohr.  1917.  129  S.).  Sie  ist  ausgezeichnet 
durch  tiefe  Kenntnis  der  Quellen,  darunter  sehr  entlegener  und  bisher 
kaum  beachteter  Schriften,  scharfe  Prüfung  der  Gedankengänge, 
kraftvollen  konstruktiven  Aufbau  der  großen  durchgehenden  Rich- 
tungen und  hohe  Prägnanz  der  Darstellung.  Unsere  Anschauung  vom 
geistigen  Leben  Deutschlands  nach  dem  Dreißigjährigen  Kriege  wird 
sehr  bereichert.  Eine  so  starke  Persönlichkeit  wie  der  Rostocker  Theo- 
loge Großgebauer  wird  fortan  nicht  mehr  übersehen  werden  und  das 
landläufige  Urteil  über  die  Erstarrung  der  lutherischen  Orthodoxie 
nicht  mehr  wiederholt  werden  dürfen.  Auch  in  ihren  Kreisen  reifte 
„ein  gesteigertes  Selbständigkeitsbewußtsein  des  Einzelnen"  heran,  das 
den  geistigen  Aufschwung  des  18.  Jahrhunderts  mit  vorbereiten  half. 
—  Der  zweite  Teil  der  Schrift  behandelt  die  religiöse  Wirkung  des 
Zeitalters  der  Befreiungskriege.  Stark  betont  wird,  wie  der  Glaube 
der  Aufklärung  an  den  „guten  Menschen"  erschüttert  wurde  durch 
die  Wucht  der  Erlebnisse,  wie  aber  zugleich  die  während  des  18.  Jahr- 
hunderts überwiegend  einheitliche  Frömmigkeit  des  Volkes  durch  den 
Neuaufschwung  des  Glaubenslebens  im  Kriege  einen  tiefen  Riß  er- 
hielt, der  sich  dann  auf  das  politische  und  gesellschaftliche  Gebiet  in 
den  Parteiungen  der  Rechten  und  Linken  fortpflanzte.  Die  Urteile 
des  der  positiven  Richtung  zuneigenden  Verfassers  werden  auch  den 
Andersdenkenden  anregen  und  innerlich  beschäftigen.  „Die  Kriege'% 
so  schließt  er,  „haben  die  bestehenden  theologischen  Gegensätze  nie 
aufgehoben,  sondern  eher  vertieft  und  zu  den  vorhandenen  neue  hinzu- 
gefügt.   Das  war  nicht  in  jeder  Hinsicht  ein  Schade."  M. 

Als  Sonderabdruck  aus  dem  Novemberheft  der  Internationalen 
Monatschrift  1917  sind  die  Gedenkworte,  die  Ed.  Spranger  dem  preußi- 
schen Ministerium  der  geistlichen  und  Unterrichtsangelegenheiten  bei 
Gelegenheit  seiner  Jahrhundertfeier  am  3.  November  1917  widmete, 
erschienen.  Spranger  war  der  Berufenste,  um  in  einem  trotz  seiner 
Kürze  überaus  gehaltvollen   Rückblick  das  Werden  und  die  Wand- 


138  Notizen  und  Nachrichten. 

lungen  des  Ministeriums  in  einer  zusammenfassenden  Rückschau  zu 
umschreiben.  Sind  auch  jetzt  noch  nicht  die  Alcten  erschlossen,  welche 
dessen  Entwicklung  erst  im  einzelnen  zu  verfolgen  gestatten,  so  dürfte 
Sprangers  Abhandlung,  die  sie  in  der  bei  dem  Verfasser  bekannten 
weitblickenden  Art  in  den  allgemeinen  Gang  der  Dinge  einordnet, 
überall  die  entscheidenden  Gesichtspunkte  herausgehoben  haben,  die 
■für  die  weitere  Forschung  maßgebend  sind.  Es  ist,  zumal  da  jetzt 
die  Veränderung  aller  politischen  Verhältnisse  die  mit  Wilhelm  v.  Hum- 
boldt beginnende  Epoche  der  preußischen  Unterrichtsverwaltung  wohl 
endgültig  abgeschlossen  hat,  zu  erwarten,  daß  das  Material  für  eine 
umfassendere  geschichtliche  Darstellung  und  Würdigung  zugängig 
werden  wird.  F.-K. 

R.  Passow,  Die  grundherrschaftlichen  Wirtschaftsverhältnisse 
in  der  Lehre  von  den  Wirtschaftssystemen  (Jahrb.  f.  Nationalökonomie 
112  (1919),  1 — 14)  gibt  kritische  Bemerkungen  zur  wirtschaftsgeschicht- 
lichen Begriffsbildung.  Er  wendet  sich  insbesondere  gegen  die  Auf- 
fassung, die  bei  der  Gegenüberstellung  von  „Eigenwirtschaft"  und 
„Tauschwirtschaft"  stehen  bleibt,  und  stellt  als  Gegensatz  zur  Eigen- 
wirtschaft den  Begriff  „Bezugswirtschaft"  auf  als  „Bezeichnung  für 
alle  Arten  individualistischer  Wirtschaftssysteme,  in  denen  neben 
€igenwirtschaftlicher  Gütergewinnung  ...  in  großem  Umfange  Güter 
und  Dienste  aus  fremden  Wirtschaftseinheiten  .  .  .  bezogen  werden". 

Aus  dem  Bändchen  91  der  Sammlung  „Aus  Natur  und  Geistes- 
welt", in  welchem  A.  Luschin  von  Ebengreuth  1906  „Die  Münze 
als  historisches  Denkmal  sowie  ihre  Bedeutung  im  Rechts-  und  Wirt- 
schaftsleben" mit  der  nur  ihm  eignenden  Sachkunde  behandelt  hatte, 
soll  jetzt  in  der  zweiten  Auflage  ein  kleiner,  für  die  weitesten  Kreise 
der  Geschichtsfreunde  bestimmter  Grundriß  der  Münzkunde  wer- 
den, als  dessen  erster  Teil  die  im  ganzen  verkürzte,  in  einigen  Punkten 
aber  auch  bereicherte  und  um  ein  kurzes  Kapitel  über  „Münzfunde" 
vermehrte  Luschinsche  Arbeit  vorliegt:  „Die  Münze  nach  Wesen, 
Gebrauch  und  Bedeutung".  Leipzig,  Teubner  1918.  102  S.  Den 
speziellen  Teil  dürfen  wir  von  Prof.  Buchenau  in  München  bald  er- 
warten. E.  S. 

W.  P.  C.  Knüttels  Verzeichnis  der  Sammlung  der  kleinen 
Schriften,  die  sich  im  Besitze  der  königlichen  Bibliothek  im  Haag 
befinden,  hat  mit  dem  Erscheinen  des  7.  und  8.  Teils  einen  vorläufigen 
Abschluß  erhalten  (W.  P.  C.  Knüttel,  Catalogus  van  de  pamf leiten- 
Verzameling  berustende  in  de  koniklijke  bibliotheek.  Deel  y  und  8.  's  Gra- 
venhage.  Algemeen  landsdrukkerij.  1916.  351  u.  262  S.).  Der  7.  Teil 
<über  den  vorhergehenden  vgl.  H.  Z.  92  [1904],  552)  enthält  die  Num- 
mern 26291  bis  29764,  die  den  Jahren  1831—1853  angehören,  Teil  8 


Alte  Geschichte.  139 

bringt  reichhaltige  Nachträge,  die  sich  auf  die  Zeit  von  1507 — 1830 
verteilen.  Erläuternde  Anmerkungen  und  Verfasserverzeichnisse  er- 
höhen den  Wert  des  wichtigen  bibliographischen  Hilfsmittels,  das 
freilich  erst  durch  Beifügung  eines  Sachregisters  der  Benutzung  in 
wünschenswerter  Weise  erschlossen  werden  würde.  H.  Haupt. 

Neue  Bücher:  Pohlig,  Eiszeit  und  Urgeschichte  des  Menschen. 
3.  Aufl.  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer.  1,50  M.)  —  Troeltsch,  Die  Be- 
deutung der  Geschichte  für  die  Weltanschauung.  (Berlin,  Mittler  & 
Sohn.  1,80  M.)  —  Spengler,  Der  Untergang  des  Abendlandes.  Um- 
risse einer  Morphologie  der  Weltgeschichte.  Bd.  I.  (Wien,  Brau- 
müller. 20  M.)  —  Frdr.  v.  Bezold,  Aus  Mittelalter  und  Renaissance. 
Kulturgeschichtliche  Studien.  (München,  Oldenbourg.  18  M.)  — 
Heyer,  Der  Machiavellismus.  (Berlin,  Dümmler.  3,50  M.)  —  Sper- 
ling, Studien  zur  Geschichte  der  Kaiserkrönung  und  -Weihe.  (Stutt- 
gart, Violet.  1,50  M.)  —  Ger  des,  Geschichte  des  deutschen  Bauern- 
standes. 2.,  verbesserte  Aufl.  (Leipzig,  Teubner.  2  M.)  —  Luschin 
V.  Ebengreuth,  Grundriß  der  österreichischen  Reichsgeschichte. 
2.  verbesserte  und  erweiterte  Auflage.  (Bamberg,  Buchner.  11  M.) 
—  Blesch,  Frankreichs  Streben  nach  dem  Rhein.  Elsaß-Lothringen 
in  der  französischen  und  deutschen  Politik  seit  dem  16.  Jahrhundert. 
<Basel,  Finckh.  2  M.)  —  Festschrift  zur  Gedenkfeier  des  50jährigen 
Bestehens  des  histor.  Vereins  Brandenburg,  hrsg.  von  Otto  Tschirch. 
(Brandenburg,  Histor.  Verein.  7  M.)  —  Gustav  Wolf,  Dietrich  Schäfer 
und  Hans  Delbrück.  Nationale  Ziele  der  deutschen  Geschichtschreibung 
seit  der  französischen  Revolution.    (Gotha,  Perthes.    4  M.) 

Alte  Geschichte. 

In  der  Zeitschrift  für  ägyptische  Sprache  55  zeigt  H.  Schäfer: 
Die  angeblichen  Kanopenbildnisse  König  Amenophis  IV.  schlagend, 
daß  die  in  Frage  kommenden  Krugköpfe  des  Amenophis  Gemahlin, 
Nefretete,  nicht  dem  König  selbst  eignen.  Ebendort  veröffentlicht 
derselbe  Gelehrte  einen  Aufsatz,  der  äußerst  förderlich  ist:  Altes  und 
Neues  zur  Kunst  und  Religion  von  Teil  el-Amarna.  Zu  beachten  ist 
auch  G.  Möllers  Aufsatz:  Mhbr  Meyaßagog  wegen  der  guten  Zu- 
sammenstellung von  Zeugnissen  über  das  Volk  der  Msydßaqoi. 

Wichtig  und  ergebnisreich  ist  der  Aufsatz  A.  Debrunners:  Die 
Besiedlung  des  alten  Griechenland  im  Lichte  der  Sprachforschung  in 
Neuen  Jahrbb.  f.  d.  klassische  Altertum,  1918,  10. 

Die  Geschichte  der  Städte  Byzantion  und  Kalchedon  von  ihrer 
Gründung  bis  zum  Eingreifen  der  Römer  in  die  Verhältnisse  des  Ostens 
von  Heinrich  Merle.   Dissertation  Kiel  1916.    96  S.  —  Diese  Arbeit 


140  Notizen  und  Nachrichten. 

ist  noch  aus  der  Schule  Stracks  hervorgegangen  und  macht  diesem 
trefflichen  Lehrer  alle  Ehre  durch  ihren  gediegenen  Fleiß.  Zu  einer 
eigentlichen  Geschichtschreibung  ist  allerdings  das  Quellenmaterial 
zu  dürftig.  Besonders  dankenswert  sind  da  die  Zusammenstellungen 
am  Schluß  über  den  Handel  von  Byzantion,  die  Verfassung  von  Byzanz 
und  Kalchedon,  die  Prosopographie  und  die  Regesten  (S.  63  ff.).  S.  50 
lehnt  Merle  die  Zugehörigkeit  Byzantions  zu  dem  von  Philipp  von 
Makedonien  gegründeten  hellenischen  Bund  ab.  Die  Tatsache,  daß 
die  von  Alexander  befreiten  Griechenstaaten  Kleinasiens  dem  Bunde 
beizutreten  hatten  (Dittenberger  syll.'"*  283),  widerspricht  dem.  Avxo- 
voftia  und  üevd'sQia  waren  durch  die  Bundesverfassung  gewährleistet 
(Ps.  Demosth.  17,  8).  Darum  schlägt  Merles  Hinweis  auf  die  Auto- 
nomie von  Byzanz  nicht  durch.  S.  65  und  71  wird  mit  gewisser  Ver- 
wunderung die  antike  Überlieferung  (Athen.  6,  271  b)  erwähnt,  wonach 
die  Byzantier  auf  ihrem  Territorium  Bauern  hatten,  deren  Stellung 
derjenigen  der  spartanischen  Heloten  verglichen  wird.  Derartige 
Hörige  sind  im  Kolonialgebiet  des  Ostens  und  Westens  eine  verbreitete 
Erscheinung  (syll.  279,  5.  282,  15.    or.  gr.  11,  6).  Af.  Geizer. 

Aus  dem  Rheinischen  Museum  74,  1/2  kommen  für  uns  hier 
in  Betracht:  E.  Bickel:  Beiträge  zur  römischen  Religionsgeschichte. 
2.  Zum  Cybelekult;  L.  Weniger:  Vom  Ursprung  der  olympischen 
Spiele;  B.  A.  Müller:  Zum  Ninosroman,  worin  viel  für  das  Heerwesen 
Wissenswertes  sich  findet. 

Im  Philologus  74,3/4  setzt  P.  Lehmann  seine  höchst  dankens- 
werten Cassiorstudien  fort,  und  dann  veröffentlicht  W.  So  1  tau:  Die 
echten  Kaiserbiographien.  Der  Weg  zur  Lösung  des  Problems  der 
Scriptores  Historiae  Augustae. 

Aus  dem  Hermes  53,  H.  4  führen  wir  an:  A.  Stein:  Ser.  Sul- 
picius  Similis,  der  vom  Zenturio  zum  Vizekönig  von  Ägypten  auf- 
stieg. 

In  den  Wiener  Studien  40,  1  finden  sich  Arbeiten  von  E.  Groag: 
Studien  zur  Kaisergeschichte.  I.  Das  Pontifikalkolleg  unter  Trajan. 
2.  Die  Kaiserrede  des  Pseudo-Aristides;  A.  Steinwenter:  Ein  Re- 
skript der  Kaiser  Severus  und  Caracalla  über  die  Privilegien  des  Col- 
legium  centonariorum  in  Solva;  A.  Gaheis:  Brancatelli,  der  Epigra- 
phiker  von  Amelia,  ein  Fälscher? 

Aus  der  Numismatischen  Zeitschrift  51  (=  N.  F.  11),  1 — 3  sind 
zu  nennen:  B.  Fi  low:  Hermesstatue  auf  einer  Münze  von  Pautalia; 
O.  Voetter:  Die  Kupferprägung  der  Diokletianischen  Tetrarchie; 
W.  Kubitschek:  Ein  Fund  byzantinischer  Münzen;  Eine  Inschrift 
des  Speichers  von  Andriake  (Lykien);  Zum  Denarfund  aus  Nord- 
bulgarien; N.  A.  Muschmow:  Münzfunde  aus  Bulgarien;  M.  v.  Bahr- 


Alte  Geschichte.  141 

feldt:  Nachträge  und  Berichtigungen  zur  Münzkunde  der  Römischen 
Republik. 

Im  Jahrbuch  des  K.  D.  archäologischen  Instituts  33,  1/2  be- 
richtet A.  Schulten  über  ein  römisches  Lager  aus  dem  Sertoriani- 
schen  Kriege,  das  er  in  Spanien  auf  den  wüsten  Flächen  Extrema- 
duras  —  an  der  alten  Römerstraße,  die  von  Emirita  Augusta  (Merida) 
über  Castra  Caecilia  nach  Vicus  Caecilius  und  weiter  nach  Asturica 
Augusta  (Astorga)  und  Caesarea  Augusta  (Zaragoza)  führte  —  fand 
und  ausgrub. 

Im  Archäologischen  Anzeiger  1918,  1/2  veröffentlicht  G.  Kaza- 
row  einen  mit  vielen  Abbildungen  ausgestatteten,  auf  eigenen  For- 
schungen und  Funden  beruhenden  Aufsatz:  Zur  Archäologie  Thra- 
kiens. 

In  den  Sitzungsberichten  der  preuß.  Akademie  1918,  43/44  ist 
A.  V.  Harnacks  Abhandlung:.  „Zur  Geschichte  der  Anfänge  der 
inneren  Organisation  der  stadtrömischen  Kirche"  abgedruckt. 

Es  sei  kurz  hingewiesen  auf  den  Aufsatz  von  F.  Schneder- 
mann:  Zum  Erweise  geschichtlicher  Treue  bei  den  Evangelisten  in 
Neue  kirchl.  Zeitschrift  1918,  12. 

Einen  lehrreichen  Aufsatz  veröffentlicht  P.  Corssen:  Paulus 
und  Porphyrios.    1.   1.  Kor.  13,  13  im  Sokrates,  7,  1/2. 

Ella  Heckrodt,  Die  Kanones  von  Sardika  aus  der  Kirchen- 
geschichte erläutert.  Bonn,  A.  Marcus  und  E.  Weber.  1917.  (Jenaer 
Hist.  Arbeiten  8.)  Xu.  128  S.  —  Die  Verfasserin  will  untersuchen, 
„ob  sich  die  Kanones  in  die  kirchengeschichtlichen  Bewegungen  des 
4.  Jahrhunderts  einfügen".  Diese  Frage  wird  in  nüchterner,  quellen- 
mäßiger Einzelerörterung  durchweg  bejaht.  Den  größten  Umfang  und 
das  größte  Interesse  beansprucht  die  Behandlung  der  „Translations**- 
(S.  4 — 42)  und  besonders  der  „Appellations"-Kanones  (S.  42—97). 
Bei  den  letzteren  wird  ausführlich  die  allmähliche  Entwicklung  römi- 
scher Primatansprüche  und  -Rechte  bis  ins  5.  Jahrhundert  verfolgt: 
Die  schließlichen  „Errungenschaften  gehen,  wenn  sie  auch  ihre  Ansätze 
in  früherer  Zeit  haben,  doch  weit  über  die  Beschlüsse  von  Sardika 
hinaus.  Es  zeigt  sich  auch  hier,  daß  die  sardizensischen  Kanones 
durchaus  in  die  bedeutsame  Entwicklungsperiode  des  römischen  Pri- 
mats hineinpassen,  der  sie  die  Überlieferung  zuschreibt."  Bei  der 
Erörterung  der  Teilnahme  der  Nachbarbischöfe  an  der  Bischofswahl 
(S.  114  ff.)  wäre  der  Unterschied  zwischen  Wahl  und  Weihe  schärfer 
zu  beachten  gewesen.  Auf  neuere  Literatur  wird  verhältnismäßig 
spärlich  Bezug  genommen;  zu  Abschnitt  II  hätte  z.  B.  L.  Ober,  Die 
Translation  der  Bischöfe  im  Altertum,  Archiv  f.  kath.  Kirchenrecht 
28,  209 ff.  angeführt  werden  können.  A.  Hofmeister. 


142  Notizen  und  Nachrichten. 

Als  Verfasser  des  unter  dem  Namen  des  Hegesippus  gehenden 
lateinischen  Geschichtswerks  über  den  jüdischen  Krieg  hat  eine  Reihe 
von  Forschern  Ambrosius  von  Mailand  vermutet.  Dieser  Annahme 
hat  sich  u.  a.  auch  Vinc.  Ussari  angeschlossen,  dem  die  Wiener  Aka- 
demie eine  neue  Ausgabe  des  „Hegesippus"  übertragen  hatte.  Otto 
Scholz  hatte  bereits  1909  in  einer  im  8.  Bande  von  Sdraleks  kirchen- 
geschichtlichen Abhandlungen  erschienenen  Untersuchung  jene  Hypo- 
these bekämpft  und  sich  für  die  Verfasserschaft  des  jüdischen  Kon- 
vertiten Isaac,  des  sog.  Ambrosiaster,  ausgesprochen  (vgl.  meine  Be- 
sprechung in  H.  Z.  109  [3.  Folge  Bd.  13],  S.  389).  Ein  zweiter,  durch 
einige  wenige  belangreiche  Zusätze  erweiterter  Abdruck  dieser  Unter- 
suchung ist  dann  1913  unter  dem  Titel  „Die  Hegesippus-Ambrosius- 
Frage"  als  Breslauer  theologische  Dissertation  erschienen  (58  S.), 
die  im  gleichen  Jahre  auch  als  wissenschaftliche  Beilage  zum  Jahres- 
berichte der  Oberrealschule  zu  Königshütte  in  unveränderter  Form 
Verwendung  gefunden  hat  (Königshütte,  Druck  von  Max  Gärtner. 
1913.    58  S.    Programm  1913,  Nr.  329).  Herman  Haupt. 

Neue  Bücher:  Radermacher,  Probleme  der  Kriegszeit  im 
Altertum.  (Wien,  Holder.  1,40  M.)  —  v.  Lichtenberg,  Die  ägäische 
Kultur.  2.,  verbesserte  Auflage.  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer.  1,50  M.) 
—  Ed.  Schwartz,  Das  Geschichtswerk  des  Thukydides.  (Bonn, 
Cohen.  15  M.)  —  Pais,  Dalle  guerre  puniche  a  Cesare  Augusto.  2  voll. 
(Roma,  Nardecchia.  30  L.)  —  Eduard  Meyer,  Cäsars  Monarchie  und 
das  Prinzipat  des  Pompejus.  (Stuttgart,  Cotta.  24  M.)  —  Dopsch, 
Wirtschaftliche  und  soziale  Grundlagen  der  europäischen  Kulturent- 
wicklung aus  der  Zeit  von  Cäsar  bis  auf  Karl  den  Großen.  I.  Teil. 
(Wien,  Seidel  &  Sohn.    27  M.) 

Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

Aus  dem  1.  und  2.  Heft  des  10.  Bandes  des  „Mannus",  das  als 
Festschrift  zu  Gustaf  Kossinnas  60.  Geburtstag  ausgestaltet  ist  und 
ein  für  die  Zeit  vor  1919  vollständiges  Verzeichnis  seiner  Arbeiten 
enthält,  seien  hier  folgende  Aufsätze  verzeichnet:  O.  A Imgren,  Zur 
Rugierfrage  und  Verwandtes,  der  u.  a.  wieder  die  Frage  aufwirft,  ob 
nicht  doch  der  Name  der  Insel  Rügen  nicht  slawisch  sei,  sondern  mit 
den  Rugiern  zusammenhänge;  H.  Mötefindt,  Die  Entstehung  des 
Wagens  und  des  Wagenrades,  die  er  auf  das  Scheibenrad  und  den 
Karren  zurückführt  und  in  Norditalien  (daneben  vielleicht  unabhängig 
in  Babylonien  und  Assyrien)  suchen  möchte;  O.  Montelius,  Die 
Vorfahren  der  Germanen,  der  jetzt  in  diesen  die  ersten  Bewohner 
Schwedens  und  der  anderen  skandinavischen  Länder  nach  der  Eiszeit 
(vor  ungefähr  15000  Jahren)  sieht,  es  aber  abweist,  auch  die  Heimat 


Frühes  Mittelalter.  US 

der  Indogermanen  überhaupt  in  den  Ländern  der  Ostsee  zu  suchen; 
G.  Wilke,  Die  Zahl  Dreizehn  im  Glauben  der  Indogermanen. 

„Inschriftensammlung  zur  Geschichte  der  Ostgermanen"  von 
Otto  Fi e biger  und  Ludwig  Schmidt  (kais.  Akad.  d.  Wiss.  in  Wien, 
Philos.-hist.  Ki.  Denkschriften,  60.  Bd.,  3.  Abhandl).  Wien,  A.  Holder 
in  Komm.  1917.  VIII  u.  1/4  S.  gr.-4o.  16  M.  —  Die  Sammlung  setzt 
um  200  V.  Chr.  mit  dem  beim  Herannahen  der  Skiren  und  „Galater** 
gefaßten  Volksbeschluß  von  Olbia  ein  und  reicht  im  allgemeinen  bis 
zum  Todesjahre  Justinians  (565),  über  das  sie  nur  vereinzelt  hinaus- 
greift. Die  Inschriften  sind  nach  den  Voiksstämmen  geordnet:  Skiren, 
Bastarnen,  Wandalen,  Burgunder,  Goten,  Gepiden,  Heruler,  worauf 
dann  noch  Stücke  folgen,  die  nur  im  allgemeinen  den  Ostgermanen 
zugeschrieben  werden  können,  und  schließlich  solche,  wo  die  Zuteilung 
an  Ostgermanen  oder  Westgermanen  nicht  entschieden  werden  kann. 
Auch  sonst  bleibt  noch  manches  unsicher:  auf  den  einen  „Egnatius 
Lugius"  von  Narbonne  (Nr.  16)  hin  den  Stamm  der  Lugier  (vor  den 
Wandalen)  einzureihen,  erscheint  mir  mindestens  bedenklich.  Die  An- 
gaben über  Datierung  (oder  Unmöglichkeit  einer  solchen)  fehlen  zu- 
weilen ohne  ersichtlichen  Grund.  —  Unter  den  334  Nummern  findet 
sich  nichts  Überraschendes,  aber  die  Sammlung  des  sehr  zerstreuten 
Materials  ist  zweifellos  ein  Verdienst,  das  von  Germanisten  und  Histo- 
rikern dankbar  anerkannt  werden  wird.  Daß  die  Herausgeber  uns 
nicht  mit  langen  etymologischen  Erörterungen  plagen,  ist  nur  erwünscht; 
die  Literatur  haben  sie  vollständig  (allzu  vollständig:  denn  es  ist  viel 
wertloses  Zeug  darunter)  aufgeführt,  und  hier  und  da  hat  der  kundige 
Rud.  Much  eine  eigene  Bemerkung  beigesteuert.  Es  wäre  sehr  erfreu- 
lich, wenn  die  Westgermanen  bald  folgen  möchten!      E.  Schröder. 

Im  Verlag  von  L.  Hartmanns  akademischer  Buchhandlung  in 
Agram  ist  der  erste  (bis  1102  reichende)  Teil  einer  Geschichte  der 
Kroaten  von  Ferdinand  v.  Sisic  (mit  3  Karten.  1917.  XIV  und 
407  S.)  in  deutscher  Sprache  erschienen,  die  auf  besondere  Beachtung 
rechnen  darf.  Der  Verfasser  schildert  in  einer  Einleitung  den  Schau- 
platz Her  kroatischen  Geschichte,  die  prähistorische  Zeit,  das  illyrische 
und  römische  Zeitalter,  die  Tage  der  Völkerwanderung  und  geht  hier- 
auf auf  die  Periodisierung  der  kroatischen  Geschichte  ein,  für  welche 
die  Jahre  1102,  1526  und  1790  die  im  Gegenstand  selbst  begründetem 
Einschnitte  geben.  Der  vorliegende  Band  behandelt  in  15  (bis  zur 
Krönung  König  Kolomans  zum  König  von  Kroatien  und  Dalmatien 
reichenden)  Abschnitten,  die  nicht  alle  von  gleichem  Umfange  und 
Werte  sind,  seinen  Gegenstand  in  gut  übersichtlicher  Weise.  Man 
entnimmt  einem  Vergleich  mit  des  Verfassers  wertvollem  Enchiridion 
historiae  Croaticae,  daß  Sisiö  seinen  Gegenstand  streng  kritisch  be- 
handelt und  auf  seinen  wahren  Gehalt  hin  verwertet.  Von  den  Zitaten 


144  Notizen  und  Nachrichten. 

regen  viele  zur  Lesung  der  Quellen  selbst  an.  An  einer  größeren  Zahl 
von  Stellen  waren  Fragen  zu  erledigen,  über  die  noch  jetzt  Streit  der 
Meinungen  unter  den  Historikern  herrscht,  wie  über  die  Grenzen 
zwischen  den  eingewanderten  Magyaren  und  den  Kroaten  oder  über 
die  bulgarisch-byzantinischen  Beziehungen,  über  die  kirchlichen  Ver- 
hältnisse, die  Zugehörigkeit  Bosniens  zu  Kroatien  usw.  Ausführlich 
wird  an  den  passenden  Stellen  die  Frage  der  slawischen  Liturgie  be- 
handelt. Wir  wollen  auf  die  Erörterung  des  bekannten,  von  verschie- 
denen Historikern  ganz  verschieden  gedeuteten,  weil  dunkel  gehal- 
tenen Angebotes  Gregors  VH.  an  den  Dänenkönig  Sven  Estridson, 
^,ihm  bzw.  seinem  Hause  ein  nicht  weit  vom  Meer  abliegendes  reiches 
Gebiet,  das  feige  Ketzer  innehaben,  zuzuwenden",  noch  besonders 
hinweisen.  Damit  ist  Kroatien  gemeint.  Für  die  Zeit  des  Investitur- 
streites und  den  Ausgang  des  nationalen  Königtums  bringt  das  Buch 
«ingehende  und  sichere  Angaben. 

Graz.  J.  Loserth. 

Konrad  Müller,  „Ulfilas  Ende"  in  der  Zeitschrift  für  deutsches 
Altertum,  Bd.  55,  will  in  dem  Sterbebericht  lesen  ad  disputationem 
habendam  contra  Apollinaristas  (was  schon  Waitz  erwogen,  aber 
abgewiesen  hatte);  als  Todesjahr  Ulfilas  kommt  nach  ihm  mit  F.  Vogt 
einzig  382  (nicht  383)  in  Frage,  wozu  die  anderen  überlieferten  Lebens- 
daten Ulfilas  aufs  beste  stimmen. 

In  der  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum  Bd.  55  bespricht  Th. 
V.  Grien  berger  „Ostgermanische  Flußnamen  bei  Jordanes"  (Scar- 
niunga,  Aqua  nigra,  lacus  Pelsois,  Nedao,  Bolia,  Auha,  Gilpil,  Grisia, 
Miliare,  Marisia,  Flutausis).  —  J.  Schwietering  tritt  für  den  christ- 
lichen Ursprung  des  ersten  Merseburger  Spruches  ein.  —  Die  Wen- 
dung „Nu  zuo  des  der  neve  si!"  (Meier  Helmbrecht,  Ottokars  Reim- 
chronik), „die  nur  fürs  oberdeutsche  Österreich  belegt"  ist  und  „zu- 
dem verhältnismäßig  junge  Anschauungen  und  Zustände  voraussetzt", 
wird  von  L.  Pfannmüller  auf  die  Entsippung  zurückgeführt.  — 
Rudolf  Much  erklärt  den  inschriftlich  aus  den  unteren  Rheinl^nden 
überlieferten  Namen  einer  germanischen  Göttin  Vagdavercustis  als 
wagda-werkustiz  =  virtas  militaris.  —  E.  Schröder  („Otfrid  beim 
Abschluß  seines  Werkes")  sieht  in  den  Versen  I  1,31  ff.  eine  Anspie- 
lung auf  die  Anerkennung  der  slawischen  Kirchensprache  durch  Ha- 
drian  II.  im  Frühjahr  868  und  wertet  das  als  Beleg  für  die  Annahme 
von  der  damals  erfolgten  Abfassung  des  Werkes.  —  L6on  Polak  legt 
einen  II.  sagengeschichtlichen  Teil  von  „Untersuchungen  über  die 
Sage  vom  Burgundenuntergang"  vor. 

Die  Abhandlung  über  „Althochdeutsch  und  Angelsächsisch", 
die  W.  Braune  in  den  „Beiträgen  zur  Gesch.  d.  dt.  Sprache  u.  Lite» 


Frühes  Mittelalter.  145 

ratur"  43  (1918),  361—445  veröffentlicht,  darf  auch  von  dem  Histo- 
riker nicht  übersehen  werden.  Die  Untersuchung  des  christlichen 
Wortschatzes  der  ahd.  Sprache  führt  den  Verfasser  dazu,  eine  von 
England  aus  durch  die  angelsächsische  Kirchensprache  beeinflußte 
jüngere  Schicht  (Fulda!)  von  der  älteren,  süddeutsch-rheinischen  zu 
scheiden.  Bei  einzelnen  Begriffen  haben  die  in  Süddeutschland  kirch- 
lich umgeprägten  vorchristlichen  Ausdrücke  die  entsprechenden  angel- 
sächsisch-fränkischen Worte  verdrängt,  bei  anderen  (wie  „heilig")  ist 
umgekehrt  der  angelsächsische  Sprachgebrauch  durch  die  Missionare 
des  8.  Jahrhunderts  nach  Deutschland  übertragen  worden  und  dort 
zur  Alleinherrschaft  gelangt.  Die  christliche  Umprägung  der  heid- 
nischen Festnamen  „Ostern*'  und  „Jul"  schreibt  Braune  in  eingehen- 
der Begründung  der  englischen  Kirche  zu.  Er  lehnt  damit  für  „Ostern" 
Kluges  Herleitung  aus  dem  Gotischen  ab.  Auch  „Kirche"  sei  nicht 
durch  gotische  Vermittlung  zu  den  übrigen  Germanen  gekommen, 
vielmehr  müsse  mit  Stutz  die  Heimat  des  deutschen  und  des  eng- 
lischen Wortes  für  Kirche  am  Rhein  (4.  Jahrhundert)  gesucht  werden; 
gleiches  gelte  für  „Bischof",  und  das  germanische  Wort  „Heide" 
sei  zuerst  von  den  Angelsachsen  nach  600  für  gentilis,  ethnicus,  paganus 
gebraucht  worden".  Zum  Schlüsse  sucht  Braune,  vielfach  an  A.  Doves 
Untersuchungen  anknüpfend,  auch  für  theotiscus  die  Herkunft  aus 
England  zu  erweisen.  J.  Grimms  Annahme  eines  gemeingermanischen 
*^iudiska  verwirft  Braune;  von  dem  nur  einmal  belegten  got.  ^iudiskö 
müsse  ahd.  diutisc,  ags.  ^eodisc  „seiner  Entstehung  nach  vollständig 
getrennt  werden".  Eine  ausreichende  Begründung  wird  man  hier  ver- 
missen. Für  die  Bezeichnung  der  deutschen  Sprache  als  theotisca 
sucht  Braune,  einer  Vermutung  Doves  folgend,  in  der  Umgebung  des 
Bonifatius  die  Heimat.  Er  verwirft  dabei  Doves  Annahme,  daß  der 
Name  für  die  deutsche  Gemeinsprache  „zunächst  in  deutscher  Zunge" 
ausgebildet  worden  sei;  man  müsse  „von  einem  deutschen  thiudisc 
als  Grundlage"  völlig  absehen  und  die  Einführung  der  Bezeichnung 
theodisca  lingua  in  Deutschland  dem  Bonifatius  zuschreiben.  Die  Be- 
merkungen über  das  älteste  Zeugnis  für  theodisce  (S.  442f.)  seien  be- 
sonders hervorgehoben.  Aber  die  ganze  Untersuchung  ladet  Historiker 
und  Germanisten  zu  erneuter  Beschäftigung  mit  diesen  Fragen  ein. 

F.  V. 
In  einer  eingehenden  Besprechung  von  Caspars  Buch  „Pippin 
und  die  römische  Kirche"  (Götting.  Gel.  Anzeigen  1918,  401 — 425) 
kommt  A.  Brackmann  wie  Caspar  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  Ur- 
kunde von  Kiersy  als  Garantievertrag  aufzufassen  sei,  hält  aber  gegen- 
über Caspars  Ablehnung  an  der  Anschauung  W.  Sickels  fest,  daß  die 
Urkunde  in  der  Form  der  römischen  und  nicht  der  fränkischen  Ver- 
iragsurkunde  abgefaßt  worden  sei.    Pippins  politische  Haltung  und 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  10 


146  Notizen  und  Nachrichten. 

Fähigkeiten  möchte  Brackmann  günstiger  beurteilt  wissen,  als  es 
durch  Caspar  geschehen  ist. 

Im  Archiv  für  slawische  Philologie  Bd.  37,  1.  u.  2.  Heft  prüft 
L.  Stein  berger  („Wandalen  =  Wenden")  die  angeblichen  Belege 
für  die  Gleichsetzung  der  Vandalen  und  Wenden  (mit  eigenen  Beob- 
achtungen für  die  von  ihm  vor  805  datierten  Wessobrunner  Glossen); 
als  ältester  bleibt  das  Glossar  Salomos  (II.  oder  III.)  von  Konstanz 
bestehen. 

„Ein  mittelirisches  Lobgedicht  auf  die  Ui  Erhart  von  Ulster**- 
und  ihren  König  Aedmar  Domnaill  (993 — 1004)  hat  Kuno  Meyer 
in  den  Sitzungsberichten  der  preußischen  Akademie  der  Wissenschaften 
(Berlin  1919,  5)  mit  Übersetzung  herausgegeben. 

Der  Aufsatz  von  Emil  Gold  mann,  „Tertia  manus  und  Inter- 
tiation  im  Spurfolge-  und  Anefangsverfahren  des  fränkischen  Rechtes. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deutschen  Fahrnisprozesses"  in  der 
Zeitschrift  der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschichte,  Germanist.  Abt. 
Bd.  39  tritt  unter  eingehender  Erörterung  der  einschlägigen  Stelle  der 
Lex  Salica  für  die  Sequestrationstheorie  ein.  —  Aus  demselben  Bande 
seien  ferner  die  „Studien  zur  Geschichte  des  deutschen  Arrestprozesses, 
Der  Fremdenarrest"  von  Hans  Planitz  und  die  Bemerkungen  über 
„Das  älteste  Breisacher  Stadtrecht"  von  F.  Beyerle  hervorgehoben.. 

Die  „Beiträge  zur  Geschichte  der  Predigt  und  des  religiösen 
Volksunterrichts  im  Elsaß  während  des  Mittelalters"  von  L.  Pfleger 
im  Historischen  Jahrbuch  der  Görres-Gesellschaft  Bd.  38,  4.  Heft 
gehen  besonders  ausführlich  auf  die  merowingisch-karolingische  Zeit 
und  die  Missionspredigt  ein  (namentlich  auf  Cod.  Weissenburg.  75  in 
Wolfenbüttel);  daneben  besprechen  sie  „Die  Predigt  gegen  den  Islam'*^ 
und  „Zeugnisse  und  Nachrichten  für  die  Predigttätigkeit  in  elsässischen 
Städten  vom  13.  bis  15.  Jahrhundert". 

In  „Westfalen,  Mitteilungen  des  Vereins  für  Geschichte  und 
Altertumskunde  Westfalens  und  des  Landesmuseums  der  Provinz 
Westfalen",  9.  Jahrg.,  Heft  2  u.  3  (1918)  gibt  Klemens  Löff  1er  einen 
Überblick  über  „Die  Anfänge  des  Christentums  im  späteren  Bistum 
Münster";  bei  Markloh,  dem  Ort  der  alten  sächsischen  Landesver- 
sammlung, denkt  er  in  erster  Linie  an  Lohe  bei  Nienburg  am  linken 
Weserufer. 

Im  2.  Teil  seiner  „Fuldensia"  handelt  Edmund  E.  Stengel  im 
Archiv  für  Urkundenforschung  Bd.  7  eindringend  und  sorgsam  „über 
die  karolingischen  Kartulare  des  Klosters  Fulda",  indem  er  in  großen 
Zügen  die  Gliederung  sowohl  der  erhaltenen  Kartulare  wie  der  Kar- 
tularauszüge  Eberhards  aufzeigt.  Wenn  wirklich  für  die  geplante 
Neuausgabe  des  Codex  Laureshamensis  die  Absicht  besteht,  unter  Auf- 


I 


Frühes  Mittelalter.  147 

lösung  von  dessen  geographischer  Gliederung  „ein  auf  der  chronologi- 
schen Reihenfolge  aufgebautes  modernes  Urkundenbuch  herzustellen**, 
so  halten  wir  das  für  recht  bedenklich,  weil  dann  doch  die  alten  Drucke 
daneben  stets  unentbehrlich  bleiben  würden. 

Im  Historischen  Jahrbuch  der  Görres-Gesellschaft  Bd.  38,  4.  Heft 
sucht  F.J.Bendel  (,, Studien  zur  ältesten  Geschichte  der  Abtei  Fulda") 
mit  ganz  wilden,  methodisch  unzulässigen  Vermutungen  die  bisherige 
Wertung  von  Eigils  Vita  Sturmi  zu  erschüttern,  die  nach  ihm  sogar 
ein  Werk  Otlohs  aus  dem  11.  Jahrhundert  sein  könnte  (!!);  er  be- 
streitet auch,  ohne  zu  tiberzeugen,  die  Entstehung  der  sog.  Chartula 
s.  Bonifatii  oder  Fuldaer  Grenzbeschreibung  noch  im  9.  Jahrhundert. 

A.  H. 

Alphons  Dopsch,  „Das  Capitulare  de  Villis,  die  Brevium  Exempla 
und  der  Bauplan  von  St.  Gallen"  (dazu  ein  Nächtrag:  „Nochmals  der 
Bauplan  von  St.  Gallen"  mit  Stellungnahme  zu  Hugo  Grafs  kunst- 
geschichtlicher Erklärung)  verteidigt  in  der  Vierteljahrschrift  für 
Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte  Bd.  13  namentlich  gegen  Baist  seine 
Verweisung  des  Cap.  de  villis  in  die  aquitanische  Königszeit  Ludwigs 
des  Frommen  und  seine  Darlegungen  über  die  Brevium  exempla;  den 
Bauplan  von  St.  Gallen  möchte  er  mit  der  großen  Klosterreform  Lud- 
wigs des  Frommen  von  816 — 817  und  damit  ebenfalls  mit  südfranzö- 
sischen Einflüssen  in  Verbindung  setzen.  —  Ebendort  behandelt  Mar- 
garete Merores  „Die  venezianischen  Salinen  der  älteren  Zeit  in  ihrer 
wirtschaftlichen  und  sozialen  Bedeutung"  (etwa  vom  10.  bis  zum 
Ende  des  12.  Jahrhunderts).  Frhr.  H.  v.  Minnigerode  polemisiert 
in  „Bemerkungen  zu  den  Kölner  Burggrafenfälschungen"  gegen  die 
Kritik  der  Untersuchung  Beyerles  durch  Luise  von  Winterfeld.  Ernst 
Mayer,  „Zum  frühmittelalterlichen  Münzwesen  und  der  angeblichen 
karolingischen  Bußreduktion"  will  „eine  neue  und  dabei  überaus  ein- 
fache Lösung"  vorlegen,  „nach  der  es  möglich  sein  wird,  von  einer 
fast  vollständigen  Stabilität  der  Münz-  und  Wertverhältnisse  aus- 
zugehen". Er  sucht  von  den  angelsächsischen  Münzverhältnissen  aus 
„ein  entscheidendes  Licht"  auf  das  fränkische  Münzwesen  fallen  zu 
lassen,  nimmt  für  die  karolingische  Zeit  eine  Goldsilberrelation  von 
1  :  12  an,  leugnet  eine  Reduktion  der  Bußsätze  und  „die  angebliche 
Schöpfung  eines  eigenen  karolingischen  Pfundes",  während  man  viel- 
mehr zu  keiner  Zeit  vom  römischen  Pfund  abgewichen  sei;  nur  seien 
in  der  Tat  in  der  Zeit  Pippins  und  Karls  des  Großen  die  Denare  all- 
mählich wieder  etwas  schwerer  ausgeprägt  worden. 

In  einem  weiteren  „Beitrag  zur  Entstehung  der  sog.  Formular- 
sammlung von  St.  Denis"  („Zum  Briefwechsel  Einhards  und  des  hl. 
Ansegis  von  Fontanelle  [St.  Wandrille]",  in  der  Historischen  Viertel- 

10* 


148  Notizen  und  Nachrichten. 

Jahrschrift  XVIII,  1916/18,  4.  Heft)  behandelt  M.  Buchner  mit 
ebensowenig  Erfolg,  wie  früher  andere  Stücke  derselben  Sammlung 
(vgl.  H.  Z.  114,  S.  667;  117,  S.  349  u.  524;  119,  S.  327)  die  Nr.  17, 
die  er  ohne  durchgreifende  Gründe  als  Brief  des  Abts  Ansegis  von 
Fontanella  (822 — 833)  an  Einhard  ansieht.  Selbst  wenn  man  die  zu- 
nächst ansprechende,  aber  keineswegs  notwendige  Beziehung  des 
Schreibers  zu  Fontaneila  annimmt  —  daneben  kommt  z.  B.  Jumi^ges 
in  Betracht  — ,  zwingt  nichts,  gerade  an  Ansegis  zu  denken. 

Die  Arbeit  von  Artur  Schönegger  S.  J.  über  „Die  kirchen- 
politische Bedeutung  des  Constitutum  Constantini  im  früheren  Mittel- 
alter (bis  zum  Decretum  Gratiani)"  in  der  Zeitschrift  für  katholische 
Theologie  Bd.  42  (1918)  will  mit  allzu  weitgehender  Skepsis  nach- 
weisen, daß  „der  falschen  Urkunde  für  die  kirchenpolitische  Ent- 
wicklung des  frühen  Mittelalters  nicht  die  Bedeutung  zukommt,  die 
ihr  von  der  Forschung  in  traditioneller  Weise  beigelegt  wurde";  auch 
ohne  sie  „würde  die  kirchenpolitische  Entwicklung  den  Lauf  genommen 
haben,  wie  er  uns  in  dieser  Periode  vor  Augen  tritt".  Erst  Leo  IX. 
habe  sie  „bestimmt  und  zielbewußt"  zu  praktischen  Zwecken  heran- 
gezogen, und  erst  die  Aufnahme  in  das  Decr.  Grat,  als  Palea  (D.  96 
c.  14)  habe  ihr  Ansehen  gefestigt  und  ihr  autoritativen  Einfluß  ver- 
schafft. 

Aus  der  Vierteljahrschrift  für  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte 
Bd.  14  (1918)  sind  an  dieser  Stelle  folgende  Arbeiten  zu  verzeichnen: 
Philipp  Heck  weist  „Die  Ministerialentheorie  der  Schöffenbaren"  zu- 
rück, die  vielmehr  im  Sachsenspiegel  durchaus  als  Freie  gedacht  seien; 
der  Ausdruck  „schöffenbarfrei"  komme  in  dieser  Form  bei  Eike  nicht 
vor.  Robert  Endres  behandelt  fördernd,  aber  etwas  knapp  und  fast 
rein  wirtschaftsgeschichtlich  „Das  Kirchengut  im  Bistum  Lucca  vom 
8.  bis  10.  Jahrhundert"  (zu  den  Quellen  ist  nachzutragen  der  1910 
erschienene  1.  Band  des  Regesto  del  Capitolo  di  Lucca  von  P.  Guidi 
und  O.  Parenti).  —  Ernst  Mayer,  „Zur  Hundertschaft  und  Zehnt- 
schaft", polemisiert  gegen  Claudius  Frhrn.  v.  Schwerin,  und  Fedor 
Schneider  knüpft  an  den  4.  Band  von  L.  M.  Hartmanns  Geschichte 
Italiens  im  Mittelalter  einzelne  Ausführungen  „Zur  Geschichte  der 
Ottonen",  in  denen  er  besonders  gegenüber  Hartmann  die  Umwand- 
lung des  Urteils  über  Otto  III.  und  seine  Regierung  auf  Grund  der 
Forschungen  von  Halphen  und  Bloch  zum  Ausdruck  bringt. 

„Fünf  unbekannte  Urkunden  Heinrichs  III.  und  IV.",  betr. 
Landschenkungen  an  königliche  Ministerialen,  hat  Hans  Pregler  aus 
einem  Kopialbuch  des  Klosters  Michaelsberg  bei  Bamberg  in  der 
Archivalischen  Zeitschrift  3.  F.,  1.  Bd.  veröffentlicht;  für  das  Itinerar 
Heinrichs  IV.  wichtig  ist  die  letzte,  vom  18.  Juli  1068,  Botfeld. 


Frühes  Mittelalter.  149 

In  der  Zeitschrift  der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschichte 
39,  kanonist.  Abt.  8  untersucht  W.  Levison  „eine  angebliche  Urkunde 
Papst  Gelasius'  II.  für  die  Regularkanoniker"  (1118 — 19),  die  er  wegen 
der  Beziehungen  ihrer  Grußformel  zu  der  Schrift  Letberts  von  St. 
Ruf  US  bei  Avignon  (f  1110  oder  Uli)  zum  Preise  des  Augustiner- 
ordens als  eine  freilich  unerklärbare  Fälschung  betrachtet.  Auch  auf 
die  Abhandlung  von  R.  Kost  1er,  „Consuetudo  legitime  prescripta. 
Ein  Beitrag  zur  Lehre  vom  Gewohnheitsrecht  und  vom  Privileg" 
(ebendort)  ist  hier  hinzuweisen. 

Auf  die  „Kunstgeschichtlichen  Untersuchungen  über  die  Eulalios- 
Frage  und  den  Mosaikschmuck  der  Apostelkirche  zu  Konstantinopel" 
von  Nikos  A.  Bees  im  Repertorium  für  Kunstwissenschaft  Bd.  39 
und  40  sei  hier  besonders  wegen  darin  enthaltener  Untersuchungen 
zur  Genealogie  des  byzantinischen  Kaiserhauses  der  Komnenen  auf- 
merksam gemacht. 

Der  Versuch  von  L.  Rieß,  seine  Aufstellungen  über  „Die  treuen 
Weiber  von  Weinsberg**  zu  verteidigen  (Histor.  Vierteljahrschrift  18, 
1916/18.  4.  Heft),  wird  von  R.  Holtzmann  (ebenda,  vgl.  H.  Z.  117, 
S.  525)  entscheidend  zurückgewiesen. 

„Ein  neuer  Versuch  zur  Erklärung  des  Carmen  V.  (Nocte  qua- 
dam  usw.)  des  Archipoeten"  von  K.  Schambach  in  den  Annalen 
des  histor.  Vereins  für  den  Niederrhein  102  (1918)  nimmt,  Schmeid- 
lers  Darlegungen  weiterführend,  an,  daß  dieses  Gedicht  am  18.  Nov. 
1164  auf  dem  Hof  tage  zu  Bamberg  in  Gegenwart  Reinaids  von  Köln 
und  des  Pfalzgrafen  vorgetragen  worden  sei.  —  Zu  Archipoeta  VII,  11 
schlägt  M.  H.  Jellinek  in  der  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum 
Bd.  55  die  Lesung  at  Yrus  statt  atyrus  vor. 

„Die  Neuordnung  des  Reichsfürstenstandes  und  der  Prozeß 
Heinrichs  des  Löwen"  wird  aufs  neue  von  Richard  Mo  eller  in  der 
Zeitschrift  der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschichte,  Germ.  Abt.  39 
(1918)  behandelt.  Während  ihm  in  der  einleuchtend  begründeten  Ab- 
lehnung der  Fehrschen  Unterscheidung  eines  doppelten  Fürstenbegriffes 
im  Sachsenspiegel  durchaus  zuzustimmen  ist,  bleibt  es  bei  dem  Ver- 
such, die  reichsrechtliche  Schaffung  des  jüngeren  Reichsfürstenstandes 
anläßlich  des  Prozesses  Heinrichs  des  Löwen  durch  ein  sowohl  zeitlich 
und  örtlich,  wie  inhaltlich  ganz  fest  bestimmtes  Weistum  (zu  Kaina 
August  1179)  genau  festzulegen,  doch  bei  öfter  gewiß  diskutablen 
Vermutungen.  Im  übrigen  finden  sich  recht  gute  Beobachtungen; 
daß  die  Übergangszeit  in  der  Entwicklung  vom  älteren  zum  jüngeren 
Reichsfürstenstand  im  wesentlichen  vor,  nicht  nach  1180  lag,  ist  zweifel- 
los richtig.    Aber  der  Hallersche  Text  der  Geinhäuser  Urkunde,  den 


150  Notizen  und  Nachrichten. 

Moeller  zugrundelegt,  ist  wohl  noch  nicht  der  endgültige  (vgl.  H.  Z. 
118,  S.  156),  und  in  der  Quellenkritik  möchte  ich  Moeller,  der  Arnold 
und  mit  Recht  auch  den  Ursperger  Chronisten  nachdrücklich  heranzieht, 
nicht  immer  folgen.  Zu  Kaina  kam  nach  ihm  nur  das  landrechtliche 
Verfahren  zum  Abschluß,  in  dem  iehnrechtlichen,  dessen  erste  beiden 
Termine  mit  dem  des  landrechtlichen  zusammenfielen,  wurde  der 
Spruch  erst  zu  Würzburg  gefällt;  in  ersterem  waren  Fürsten  und 
Standesgenossen  (d.  h.  Edelfreie,  nobiles),  in  letzterem  nur  Fürsten 
die  Urteilen  Daß  dem  Herzog  sein  AUod  nicht  entzogen  sei  und  die 
Pegauer  Annalen  (mit  denen  andere  Quellen  übereinstimmen)  in  diesem 
Punkte  irren,  ist  nicht  zutreffend;  nur  durch  die  Gnade  des  Kaisers 
erhielt  ja  Heinrich  zu  Erfurt  1181  sein  Eigengut  Braunschweig  und 
Lüneburg  zurück  (Ann.  S.  Petri  Erphesf.  mai.  S.  66f.).  A.  H. 

„Die  Entstehung  der  Vita  Engelberti  des  Cäsarius  von  Heister- 
bach" schildert  J.  Greven  in  den  Annalen  des  histor.  Vereins  für 
den  Niederrhein  102  (1918)  auf  Grund  der  neuen  Ausgabe  von  A. 
Poncelet  in  den  Acta  Sanäorum  Bolland.  Nov.  T.  III;  er  zeigt,  daß 
diese  ursprünglich  als  4.  und  5.  Buch  der  Libri  VIII  miraculorum  ge- 
dacht war,  kurz  vor  der  Vollendung  aber  im  Auftrage  des  Erzbischofs 
Heinrich  von  Köln  zu  einem  selbständigen  dreiteiligen  Werke  um- 
gestaltet wurde.  Dieses  liegt  handschriftlich  in  zwei  Fassungen  vor, 
von  denen  die  zweite,  kürzende,  wohl  sicher  später  als  Cäsarius  ist. 
Die  Äußerung  des  Cäsarius  über  Engelberts  Tod  Hom.  III  S.  90,  91 
ist  spätestens  im  Dezember  1225,  nicht,  wie  Poncelet  will,  erst  im 
September  1226  geschrieben. 

Die  Abhandlung  Eduard  Eichmanns  über  „Die  Stellung  Eikes 
von  Repgau  zu  Kirche  und  Kurie"  im  Historischen  Jahrbuch  der 
Görres- Gesellschaft  Bd.  38,  4.  Heft,  die  ihre  Schlüsse  auch  durch 
die  vermeintlich  von  dem  gleichen  Verfasser  herrührende  Säch- 
sische Weltchronik  und  die  unbewiesene  Annahme  von  einem  späteren 
Eintritt  Eikes  in  den  geistlichen  Stand  stützen  möchte,  wendet 
sich  gegen  die  Meinung,  daß  Eikes  Gesinnung  irgendwie  eine  anti- 
kuriale  oder  gar  antikirchliche  Spitze  zeige.  Eichmann  sucht  seine 
Auffassung  des  mit  rechte  im  Ssp.  III  54,  3  =  iudicio  zu  verteidigen, 
hält  dabei  aber  die  verschiedenen  Fassungen  der  Sächsischen  Welt- 
chronik nicht  genügend  auseinander;  er  will  aus  der  in  keinem  Falle 
mit  Eike  zusammenhängenden  Fassung  C  eine  Stütze  für  seine  Deutung 
gewinnen.  Für  Eikes  Stellung  zum  Wormser  Konkordat  ist  auf  Fest- 
schrift für  Dietrich  Schäfer  (Jena  1915)  S.  112  ff.  zu  verweisen.  Auch 
Ssp.  III 2  von  den  Pfaffen  und  Juden,  welche  Waffen  führen  und 
nicht  geschoren  sind  nach  ihrem  Rechte,  steht  nach  Eichmann  in 
vollem  Einklang  mit  dem  kanonischen  Recht  seiner  Zeit.         A.  H. 


Späteres  Mittelalter.  151 

In  „Studien  zu  den  deutschen  Münznamen"  in  der  Zeitschrift 
für  vergleichende  Sprachforschung  auf  dem  Gebiete  der  indogermani- 
schen Sprachen  Bd.  48  spricht  Edward  Schröder  über  Scherf,  Pfen- 
ning, Schilling,  Schatz. 

Neue  Bücher:  Forrer,  Das  röm.  Zabern  Tres  Tabernae.  (Stutt- 
gart, Kohlhammer.  12  M.)  —  Ludw.  Schmidt,  Geschichte  der  deut* 
sehen  Stämme  bis  zum  Ausgange  der  Völkerwanderung.  2.  Abt., 
2.  Buch  (Schluß)  u.  3.  Buch.  (Berlin,  Weidmann.  12  M.)  —  Peitz, 
Über  Diurnus.  Beiträge  zur  Kenntnis  der  ältesten  päpstlichen  Kanzlei 
vor  Gregor  dem  Großen.  I.  (Wien,  Holder.  5,80  M.)  —  Busseil, 
Religioüs  thought  and  heresy  in  the  Middle  Ages.   (London,  Scott.) 

Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

In  den  Franziskanischen  Studien  1918,  Oktober  vertritt  T.  Den- 
kinger  eine  neue  Hypothese  über  die  Abfassungszeit  der  den  Zeit- 
geist geißelnden  Histoire  de  Fauvain,  die  bisher  nach  1314  angesetzt 
wurde;  er  weist  auf  die  Zeit  des  letzten  Kreuzzugs  (1270)  hin,  — 
Jak.  Feldkamp  stellt  im  gleichen  Heft  zusammen,  was  sich  über 
Albrecht  von  Beichlingen,  den  Sproß  des  bekannten  Geschlechts, 
als  Weihbischof  von  Erfurt  (etwa  1335—1371)  ermitteln  läßt. 

K.  Helm  erinnert  in  Braunes  „Beiträgen  zur  Geschichte  der 
deutschen  Sprache  und  Literatur"  43  (1918),  Heft  2,  S.  341  ff.  daran, 
daß  Hugo  von  Langenstein  in  seiner  1293  vollendeten  Martina  die 
Legenda  aurea  des  Jacobus  a  Voragine  benutzt  hat,  und  setzt  danach 
die  Entstehung  der  Legende  in  das  Ende  der  achtziger  Jahre.  Dieses 
Ergebnis  stützt  (ebenda  Heft  3  S.  549)  Ph.  Strauch  durch  erneuten 
Hinweis  auf  eine  Stelle  des  zwischen  1287  und  1291  gedichteten  „Wil- 
helm von  Wenden"  Ulrichs  von  Eschenbach,  der  gleichfalls  die  Legenda 
aurea  verwertet  hat. 

Dante  Alighieri,  La  Divina  Commedia.  Vollständiger  Text, 
mit  Erläuterungen,  Grammatik,  Glossar  und  sieben  Tafeln  hrsg.  von 
Dr.  Leonardo  Olschki,  a.  o.  Professor  an  der  Universität  Heidelberg. 
(Heidelberg,  Groos.  1918.  XVIII  u.  640  S.  Auf  Dünndruckpapier, 
biegsam  kartoniert  12  M.).  —  Die  Divina  Commedia  pflegt  bei  uns 
in  der  Bearbeitung  von  E.  Moore  {Tutte  le  apere  di  Dante  Alighieri, 
terza  ediz.  Oxford  1904),  in  dem  Textabdruck  der  Bibliotheca  Romana 
oder  auch  in  der  etwas  umständlich  kommentierten  Ausgabe  von 
Scartazzini  benutzt  zu  werden.  Olschkis  hübscher,  handlicher  Band 
ist  in  erster  Linie  für  Studenten  der  romanischen  Philologie  bestimmt, 
wird  aber  gefade  wegen  der  philologischen  Zutaten  auch  dem  Histo- 
riker willkommen  sein.  Das  Glossar  hat  sich  bei  wiederholtem  Nach- 
schlagen bewährt;  daß  es  dem  Anfänger  stark  entgegenkommt,  wird 


152  Notizen  und  Nachrichten. 

man  kaunl  bemängeln  dürfen,  obwohl  andererseits  nicht  alle  der  Schrift- 
sprache fremden  Worte  (z.  B.  Inf.  3,  109  bragia  =  brace)  aufgenom- 
men worden  sind.  Der  Anhang  bringt  eine  kleine  Grammatik  der 
Sprache  Dantes  (mit  einem  besonderen  Register)  und  einen  Abriß 
der  Metrik.  Das  Namenregister  enthält  viele  nützliche  und  einige 
überflüssige  Erläuterungen.  Dem  Texte,  der  erheblich  schöner  ge- 
druckt ist  als  in  den  anderen  Handausgaben,  sind  Stichworte  am 
Rande,  deutsche  Inhaltsübersichten  und  Anmerkungen  in  klarer,  nicht 
zu  kleiner  Fraktur  beigegeben.  Bei  den  Erläuterungen  hat  der  Heraus- 
geber sich  vor  allem  durch  pädagogische  Erwägungen  bestimmen  lassen, 
die  Ihn  leider  auch  von  eingehender  Auseinandersetzung  mit  der 
Danteliteratur  abhielten.  Eine  Aufzählung  der  großen  Darstellungen  und 
der  wichtigsten  neueren  Untersuchungen  über  Dante  wäre  neben  den 
bibliographischen  Bemerkungen  S.  IX  f.  willkommen  gewesen,  obwohl 
die  Auswahl  gewiß  nicht  jeden  hätte  befriedigen  können.  Einige  Be- 
richtigungen veröffentlicht  soeben  A.  Bassermann  in  der  Deutschen 
Literaturzeitung  vom  5.  April  1919.  F.  V. 

Dantis  Alagherii-  de  Monarchia  libri  III  rec.  Ludovicus  ßertalot. 
Friedrichsdorf  in  monte  Tauno  apud  Francofurtum  apud  editorem 
1918.  111p.  (Vom  Herausgeber  für  2  M.  zu  beziehen,  bei  6  und  mehr 
Exemplaren  1,60  M.)  —  Eine  neue  handliche,  schön  gedruckte  Sonder- 
ausgabe von  Dantes  Monarchie,  die  sich  durch  reichliche  Handschriften- 
benutzung empfiehlt  (12  statt  der  7  von  Witte  1874  benutzten),  wird 
sicherlich  vielen  willkommen  sein,  um  so  mehr  als  nicht  nur  die  für 
1921  bevorstehende  Erinnerungsfeier  von  Dantes  Todesjahr,  mehr  noch 
die  Beziehungen  der  Schrift  zu  den  heutigen  Gedanken  des  Welt- 
friedens und  Völkerbundes  auffordern,  sie  in  seminaristischen  Übungen 
zu  behandeln.  Wenn  der  von  Bertalot  zuerst  verwendete  codex  Bini 
(über  den  er  anderwärts  Mitteilungen  machen  wird)  für  de  Mon.  nicht 
gleich  wertvolles  Material  bietet,  wie  die  Kritiker  der  1917  voran- 
gegangenen Ausgabe  von  de  vulgari  eloquentia  nachrühmen  konnten, 
so  kommt  doch  dies  Heft  einem  Bedürfnis  entgegen,  da  Wittes  Aus- 
gabe längst  vergriffen  ist  und  eine  Sonderausgabe  aus  Moores  Gesamt- 
ausgabe, die  1916,  eingeleitet  von  einer  längeren  deutschfeindlichen 
Abhandlung  Reades  über  Dantes  politische  Theorie,  in  Oxford  er- 
scnien,  mit  ihren  winzigen  Buchstaben,  bei  dem  Mangel  jeden  hand- 
schriftlichen und  sachlichen  Apparats  und  hohem  Preise  in  Deutsch- 
land nicht  Verbreitung  finden  dürfte.  Bertalot  bietet  dankenswerte 
Parallelzitate  aus  Aristoteles  und  den  Scholastikern.      K.  Wenck. 

Emil  Dürr  veröffentlicht  im  Anzeiger  für  Schweizerische  Ge- 
schichte 48, 3  einen  gedankenreichen  Aufsatz  über  die  Bedeutung  der 
Schlacht  von  Morgarten  (15.  November  1315),  die  einen  schon  lange 


Späteres  Mittelalter.  153 

bestehenden  heimlichen  Gegensatz  zwischen  üri,  Schwyz  und  Unter- 
waiden einer-  und  Habsburg-Österreich  anderseits  zum  Ausbruch  ge» 
bracht  und  einen  fast  zweihundertjährigen  Kampf  zwischen  den  Eid- 
genossen und  den  Habsburgern  entfesselt  hat.  Wir  umschreiben  seinen 
Hauptinhalt  am  besten  mit  des  Verfassers  eigenen  Worten:  „In  der 
Schlacht  ...  hat  es  sich  ...  für  Uri  darum  gehandelt,  seine  Reichs- 
freiheit zu  verteidigen,  für  Schwyz,  sie  zu  behaupten,  und  Unterwaiden 
hat  sich  im  Kampf  gegen  das  damals  über  den  Brünig  einbrechende 
österreichische  Heer  seine  junge  Reichsunmittelbarkeit  gerettet.** 
Weiter:  „Die  Schlacht  .  .  .  steht  am  Anfang  jener  großen  Auseinander- 
setzung zwischen  dem  aufkommenden  Landesfürstentum  und  den 
Kommunen,  den  Reichsstädten  und  Reichsgemeinden.  Indem  der 
Bund  von  1315  verbot,  daß  sich  eines  der  drei  Länder  ohne  Zustim- 
mung der  anderen  beherre,  war  der  Wille  ausgesprochen,  ein  Landes- 
fürstentum auf  waldstättischem  Boden  fernzuhalten  und  ihr  öffent- 
liches Leben,  ihre  Gemeinden  mit  dem  Grundsatz  freier  Selbstbestim- 
mung im  Rahmen  der  Reichsfreiheit  aufzubauen."  Der  feudalen  Ge- 
walt „stellte  sich  die  freie  Einigung  freier  Gemeinden,  das  genossen- 
schaftlich organisierte  Staatsgebilde,  entgegen,  in  seinem  Schutz  be- 
haupteten sich  die  eidgenössischen  ländlichen  Demokratien  und  die 
ihnen  später  sich  anschließenden  städtischen  Republiken  .  .  .  Mit 
dem  Kampf  um  die  werdende  Staatsform  verband  sich  untrennbar 
der  Gegensatz  der  Stände,  die  soziale  Frage  jener  Zeit.  Und  die  hieß: 
Minderung  oder  Mehrung  der  Gemeindefreiheit,  ja  Behauptung  oder 
Untergang  der  gemeinfreien  Schichten  und  besonders  des  gemeinfreien 
Bauerntums."  Die  Feindschaft  gegen  Österreich  hat  sich  im  Lauf 
der  Zeit  zur  Reichsfeindschaft  ausgewachsen  und  zur  Trennung  vom 
Reich  geführt,  da  Reich  und  Haus  Habsburg  in  der  Vorstellung  der 
Eidgenossenschaft  sich  identifizierten.  „So  haben  sie  sich  zufrieden 
gegeben  mit  der  Gemeinfreiheit,  Unabhängigkeit  und  Eigenherrlichkeit." 
Eine  eingehende,  zu  Buchform  angewachsene  Untersuchung  von 
Wilh.  Erben  hat  im  Archiv  f.  österr.  Geschichte  105,  2  (Wien,  Holder, 
1918)  die  Berichte  der  erzählenden  Quellen  über  die  Schlacht  bei 
Mühldorf  zusammengestellt  und  kritisch  gewertet;  weitere  Auseinander- 
setzungen über  die  in  Betracht  kommenden  Urkunden  und  geschicht- 
lichen Aufzeichnungen  und  eine  geschichtliche  und  topographische  Be- 
trachtung des  Schlachtfeldes  sollen  folgen.  In  der  vorliegenden  Arbeit 
sind  besprochen:  1.  die  gleichzeitigen  Nachrichten,  2.  jüngere  Darstel- 
I  lungen  aus  den  beteiligten  Ländern,  3.  fernerstehende  Berichte,  4.  ab- 
j  geleitete  Darstellungen  aus  Böhmen  und  Bayern,  5.  abgeleitete  öster- 
I  reichische  Darstellungen.  Die  betreffenden  Stellen  der  in  den  drei 
t  ersten  Abschritten  geprüften  Quellen,  die  sich  als  nicht  abgeleitet 
)  erwiesen  haben,  werden  im  Abdruck  wiedergegeben.  Als  Hauptergebnis 


154  Notizen  und  Nachrichten. 

der  methodisch  in  hohem  Grade  beachtenswerten  Arbeit  ist  festzuhalten, 
daß  der  Wert  der  erzählenden  Quellen  recht  gering  ist  —  nicht  einmal 
die  äußeren  Vorgänge  des  Tages  können  ihnen  mit  Sicherheit  ent- 
nommen werden  —  und  daß  nur  wenige  als  vollglaubwürdig  angesehen 
werden  können.  Mit  dichterischer  Ausschmückung,  Zutaten,  die  der 
Anschaulichkeit  und  dem  Verständnis  dienen  sollen,  auch  mit  der 
Möglichkeit  der  Vermengung  verschiedener  verwandten  Kriegsereig- 
nisse bei  den  breiter  erzählenden  Quellen  muß  gerechnet  werden. 

H.  Kaiser. 

Für  die  Geschichte  der  deutschen  Bibelübersetzung  im  Mittel- 
alter ist  eine  Untersuchung  von  Cornelius  Schröder  zu  beachten, 
die  den  Nachweis  unternimmt,  daß  der  Minorit  Nikolaus  Cranc,  der 
um  1350  als  einer  der  ersten  den  Versuch  gemacht  hat,  biblische  Bücher 
ins  Deutsche  zu  übersetzen,  als  Verfasser  der  in  einer  Prachthand- 
schrift des  Königsberger  Staatsarchivs  überlieferten  Übertragung  der 
Apostelgeschichte  nicht  in  Frage  kommen  könne  (Franziskanische  Stu- 
dien 1918,  Oktober).  Wenn  man  somit  im  Ordenslande  schon  sehr  früh 
um  die  Verdeutschung  heiliger  Schriften  sich  bemüht  hat,  so  darf 
daraus  wohl  auf  ein  starkes  Bedürfnis  nach  deutschen  Bibeln  geschlossen 
werden,  das  die  vom  Süden  und  Westen  gekommenen  Ansiedler  zu 
befriedigen  suchten. 

Aus  der  Zeitschrift  der  Savigny-Zeitschrift  für  Rechtsgeschichte 
39,  German.  Abt.  erwähnen  wir  den  Anfang  einer  längeren  Abhand- 
lung von  Fr.  Koväts  über  Preßburger  Grundbuchführung  und  Liegen- 
schaftsrecht im  späteren  Mittelalter  und  die  Mitteilungen  von  Guido 
Kisch  über  sehr  beachtenswerte  Schöffenspruchsammlungen,  die  in 
einer  Handschrift  der  Görlitzer  Ratsbibliothek  enthalten  sind.  —  Im 
gleichen  Jahrgang  der  Zeitschrift,  Kanonist.  Abt.  8  finden  sich  in 
Miszellenform  gekleidete  Bemerkungen  zu  Emil  Göllers  Repertorium 
Germanicum  von  A.  Werminghoff  und  Zusammenstellungen  von 
Joh.  Dorn,  aus  denen  hervorgeht,  daß  auch  die  Einrichtung  der  Ober- 
höfe in  das  mittelalterliche  Kirchenrecht  übergegangen  ist. 

Paul  Karge  erbringt  in  der  Altpreußischen  Monatsschrift  55, 
1 — 4  den  Nachweis,  daß  der  Gesandtschaftsbericht  des  obersten  Or- 
densspittlers  Grafen  Konrad  von  Kyburg  vom  Jahre  1397,  der  in 
der  neueren  polnischen  Literatur  zur  Geschichte  Litauens  und  Wilnas 
vielfach  als  Quelle  herangezogen  ist,  eine  polnische  Fälschung  darstellt, 
die  offenbar  aus  dem  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  stammt. 

In  den  Bänden  3 — 6  (1910 — 1913)  des  „Archivum  Franciscanum 
historicum'*  hatte  der  gelehrte  Minorite  P.  Livarius  Öliger  eine  Reihe 
von  Quellenstücken  zur  Geschichte  der  italienischen  Fraticellen-Sekte 
aus  dem  14.  und  15.  Jahrhundert  erstmals  veröffentlicht.    Die  Zu- 


Späteres  Mittelalter.  155 

sammenfassung  dieser  zum  Teil  höchst  bedeutungsvollen  urkundlichen 
Mitteilungen  in  einem  besonderen  Bande  (Documenta  inedita  ad  histo- 
riam  fraticellorum  spectantia.  Quaracchi  1913.  208  S.)  ist  dankbar 
zu  begrüßen.  H.  Haupt. 

In  den  Studien  und  Mitteilungen  zur  Geschichte  des  Benedik- 
tinerordens und  seiner  Zweige  1918,1 — 2  handelt  J.  Zibermayer 
kurz  über  die  Reform  von  Melk,  die  1418  auf  Anregung  Herzog  Al- 
brechts von  Österreich  durch  deutsche,  von  Subiaco  gekommene  Bene- 
diktinermönche vor  sich  gegangen  ist.  Die  Visitation  durch  Nikolaus 
von  Cues  (1451)  zeigt  die  Melker  Bewegung,  die  sich  nicht  auf  kirch- 
liche Wirkung  beschränkt,  sondern  auch  wirtschaftliche  und  wissen- 
schaftliche Hebung  der  Ordensniederlassungen  bezweckt  hat,  auf  dem 
Höhepunkt;  von  da  an  ist  es  wieder  abwärts  gegangen. 

Im  Historischen  Jahrbuch  der  Görres-Gesellschaft  38,4  macht 
Georg  Hofmann  auf  eine  in  mehrfacher  Hinsicht  bemerkenswerte 
deutsche  Ordensregel  der  Dominikanerinnen  aufmerksam,  die  1434 
zu  Nürnberg  geschrieben  ist  und  jetzt  in  der  Bibliothek  des  Priester- 
seminars zu  Bamberg  bewahrt  wird. 

Die  Annalen  des  Histor.  Vereins  für  den  Niederrhein  H.  100 
bringen  einen  den  Vorläufer  einer  größeren  Arbeit  darstellenden  Auf- 
satz von  F.  Schröder  über  den  einem  kleveschen  Ministerialengeschlecht 
entsprossenen  Humanisten  Arnold  Heymerick  (f  1490),  der  in  seiner 
Jugend  von  den  Brüdern  vom  gemeinsamen  Leben  nachhaltig  beein- 
flußt, in  den  dreißiger  Jahren  beim  Konzil  in  Basel  sich  aufgehalten, 
dann  dem  Dienst  der  Kurie  sich  gewidmet  und  —  fast  ein  Menschen- 
alter von  der  Heimat  entfernt  —  mit  dem  Humanismus  in  steter  Be- 
rührung gestanden  hat.  Die  Verbindung  mit  der  Kurie  hat  auch  später 
angehalten,  da  ihn  während  der  Soester  Fehde  eine  wichtige  diploma- 
tische Mission  nach  Rom  geführt  hat;  nach  1460  hat  er  dann  offenbar 
der  Politik  gänzlich  den  Rücken  gewandt.  Für  seine  geistige  Entwick- 
lung sind  die  in  Holland  und  Italien  empfangenen  Eindrücke  von 
maßgebendem  Einfluß  gewesen,  die  mehrfach  sich  findenden  Anklänge 
an  Schriften  Papst  Pius*  II.  sind  bei  einem  Familiären  dieses  Papstes 
sicher  kein  bloßer  Zufall.  —  Im  Heft  102  teilt  der  Verfasser  den  Bericht 
Heymericks  über  seine  Reise  über  den  Großen  St.  Bernhard  (1460) 
mit;  es  handelt  sich  um  eine  im  wesentlichen  didaktische  Absichten 
verfolgende  Schrift  an  den  Xantener  Stiftsschüler  Peter  von  Coblenz 
(De  successu  Romani  itineris). 

Wilh.  Oehl  beschließt  in  der  Zeitschrift  für  Schweizerische  Kir- 
chengeschichte 11,4  seine  Mitteilungen  über  Bruder  Klaus  und  die 
deutsche  Mystik  mit  dem  Ergebnis,  daß  derselbe  sich,  was  Gebets- 
und Visionsleben  sowie  Askese  anlangt,  durchaus  in   die  allgemeine 


156  Notizen  und  Nachrichten. 

Bewegung  der  deutschen  Mystik  einfügt  und  auch  als  Politiker  mit 
den  hervorragenderen  Mystikern  des  Mittelalters  in  einer  Reihe  steht. 

Joseph  Fischer  entwirft  in  den  Stimmen  der  Zeit  1918,  Novbr» 
ein  Lebensbild  von  Hieronymus  Münzer  aus  Feldkirch,  der  im  Namen 
Maximilians  I.  1493  an  Johann  II.  von  Portugal  ein  Schreiben  ge- 
richtet hat  mit  der  Aufforderung,  Ostasien  (Kathay)  auf  dem  West- 
wege aufzusuchen,  und  den  von  ihm  verfaßten  Abschnitten  der  Schedei- 
schen Chronik  die  bemerkenswerte  Karte  Deutschlands  hinzugefügt 
hat.  —  Aus  dem  gleichen  Heft  sei  noch  die  Arbeit  über  den  Spiritualen- 
führer  Petrus  Johannis  Olivi  und  seine  Bedeutung  für  das  mittelalter- 
liche Geistesleben  von  B.  Jansen  kurz  erwähnt. 

Der  „Beifried"  („Monatsschrift  für  Gegenwart  und  Geschichte 
der  belgischen  Lande")  3.  Jahrg.,  6.  Heft  (Dezember  1918)  bringt 
einen  anregenden  kleinen  Aufsatz  von  Rudolf  Häpke  über  „Die  Be- 
deutung der  flandrischen  Wirtschaftsgeschichte".  Neben  der  wirt- 
schafts-  und  handelsgeschichtlichen  Stellung  Flanderns, 'besonders  im 
späteren  Mittelalter,  wird  auch  sein  Platz  in  der  allgemeinen  Politik 
und  im  Geistesleben  angedeutet. 

In  dem  hübsch  ausgestatteten  Werke:  „Dinant.  Eine  Denk- 
schrift bearbeitet  im  Auftrage  Sr.  Exzellenz  des  Generalgouverneurs 
in  Belgien  Generalobersten  Freiherrn  von  Bissing  im  Jahre  1916. 
München  1918"  S.  19—32,  veröffentlicht  Otto  Cartellieri  eine 
übersichtliche  Darstellung  „Zur  Geschichte  Dinants";  die  Zeit  vor 
und  nach  dem  15.  Jahrhundert  ist  nur  kurz  berührt. 

Als  1.  Band  einer  Sammlung:  „Lebensbilder  aus  dem  Orden  des 
hl.  Franziskus"  hat  Johannes  B.  Kißling  das  Leben  des  „Kardinal 
Francisco  Ximenes  de  Cisneros  (1436 — 1517),  Erzbischof  von  Toledo, 
Spaniens  katholischer  Reformator"  (Münster,  Aschendorff,  1917,  X 
u.  83  S.  4  M.)  aufs  neue  geschrieben.  Unzweifelhaft  das  Beste  an  dem 
Buch  sind  die  zahlreichen  mit  Geschick  und  Geschmack  ausgesuchten, 
in  glänzender  Ausstattung  wiedergegebenen,  meist  freilich  aus  anderen 
Veröffentlichungen  bereits  bekannten  Bilder.  Die  wissenschaftliche 
Leistung  des  Verfassers  ist  gering:  es  wird  uns  vornehmlich  eine  poli- 
tische Geschichte  Spaniens  zu  Lebzeiten  des  Ximenes  an  der  Hand 
der  bekannten  Werke  von  Hefele,  Ranke,  Baumgarten  und  Häbler 
geboten;  das  rein  Biographische,  der  Versuch,  das  Werk  des  Ximenes 
psychologisch  zu  erklären,  tritt  ganz  zurück,  ja  man  gewinnt  den 
Eindruck,  als  ob  der  Verfasser  überhaupt  kein  inneres  Verhältnis  zu 
seinem  Helden  zu  gewinnen  vermocht,  als  ob  er  nicht  aus  For- 
schertrieb, sondern  nur  auf  höheren  Befehl  diese  Arbeit  übernommen 
habe;  auf  jeden  Fall  ist  es  ihm  nicht  gelungen,  seine  Leser  irgendwie 
auch  nur  für  die  Persönlichkeit  des  Ximenes  zu  erwärmen.    Eine  Be- 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500 — 1648).  157 

reicherung  der  Wissenschaft  vermögen  wir  in  dieser  Studie  nicht  zu 
erblicken;  wenn  die  Arbeit  lediglich  als  Erbauungsbuch  für  die  An- 
hänger des  hl.  Franciscus  gedacht  war,  so  dürfte  sie  ihren  Zweck  er- 
füllen. 

Halle  a.  S.  Adolf  Hasenclever. 

Neue  Bücher:  Des  Eneas  Silvius  Piccolomini  Briefwechsel. 
Hrsg.  V.  Rud.  Wolkan.  III.  Abt.:  Briefe  als  Bischof  von  Siena.  1.  Bd. 
(Wien,  Holder.    25  M.) 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648). 

Aus  der  Zahl  der  akademischen  Festreden  zum  Reformations- 
jubiläum seien  noch  folgende  kurz  erwähnt:  O.  Ritschi  sprach  in 
Bonn,  an  der  „ersten  ev.  theol.  Fakultät,  die  von  vornherein  die  ev. 
Union  als  den  kirchlichen  Rechtsboden  ihrer  amtlichen  Wirksamkeit 
voraussetzt,"  über  „Reformation  und  evangelische  Union"  (27  S., 
Bonn,  Marcus  &  Weber,  1917,  1  M.),  die  Eigenart  der  beiden  Konfes- 
sionen, lutherischer  und  reformierter  Protestantismus,  in  ihren  Führern 
kurz  würdigend,  und  betonend,  daß  der  deutsche  Calvinismus  zum 
Unterschied  vom  englisch-amerikanischen  die  schroffe  Prädestinations- 
lehre von  vornherein  durch  den  Bundesgedanken  (Föderaltheologie) 
milderte.  G.  Krüger  in  Gießen  rückte  unter  dem  Titel  „Der  Genius 
Luthers"  das  Wort  Döllingers  von  1872:  „Hätte  es  keinen  Luther 
gegeben,  Deutschland  wäre  doch  nicht  katholisch  geblieben"  unter 
die  kritische  Lupe  und  verneint  es  um  der  Genialität  der  Persönlichkeit 
willen  (19  S.,  Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr,  1917,  1,20  M.).  Im  württem- 
bergischen Goethebund  in  Stuttgart  sprach  Joh.  Haller  über  „Die 
Ursachen  der  Reformation."  Sie  werden  gefunden  im  Schwinden  des 
Glaubens  an  die  Kirche,  deren  ganze  Erscheinungsform,  einer  viel 
früheren  Zeit  entstammend,  dem  neuen,  höher  gespannten  religiösen 
Bedürfnis  der  Welt  nicht  mehr  genügt,  Überwindung  der  theologisch- 
kirchlichen Bildung  des  Mittelalters  durch  die  profane,  kritisch-ratio- 
nalistische Bildung  des  Humanismus,  in  der  die  Laienkreise  die  Füh- 
rung haben,  endlich  Unterwerfung  der  Kirche  unter  die  Herrschaft 
der  Staatsgewalt.  In  gewählter  Sprache,  illustriert  durch  zahlreiche 
Beispiele,  werden  diese  drei  Faktoren  herausgearbeitet.  Dabei  wolle 
man  die  an  den  Schluß  gestellten  Anmerkungen  nicht  übersehen; 
sie  enthalten  u.  a.  eine  etwas  gar  knappe  Auseinandersetzung  mit 
Troeltsch,  dessen  „glänzendes  Paradoxon  höchstens  einen  gewissen 
heuristischen  Wert  haben  mag",  eine  sehr  feine  Beobachtung  über  den 
Unterschied  zwischen  restitutio  Christianismi  und  renascens  Christia- 
nismus, die  der  Nachprüfung  wert  wäre,  und  eine  Ablehnung  von 
H.  Böhmers  Zurückführung  der  letzten  Ursache  der  Reformation  auf 


158  Notizen  und  Nachrichten. 

Luthers  reformatorisches  Erlebnis.  Es  kommt  Haller  darauf  an,  zu 
zeigen,  warum  der  Funke  Luthers  zündete,  während  er  vorher  so  und 
so  oft  nicht  zündete  trotz  Gleichheit  der  Gedanken  („das  allermeiste,, 
was  Luther  sagte  und  forderte,  ja,  eigentlich  alles,  war  schon  vor  ihm 
gesagt  und  gefordert",  S.  3),  daher  denn  auch  die  Reformation  von 
1520  (an  den  christlichen  Adel)  datiert  wird.  Damit  entsteht  eine  ge- 
wisse Gefahr,  die  Originalität  der  Persönlichkeit  zu  unterschätzen^ 
der  Haller  zwar  sofort  vorbeugt  (S.  30  f.,  43  f.),  bei  der  aber  doch  die 
Bedeutung  gerade  der  Rechtfertigungslehre  nicht  zu  ihrem  vollen 
Rechte  kommt  (doch  vgl.  S.  43  unten).  Sie  ist  doch  der  Zentralpunkt 
und  auch  Ausgangspunkt  für  alles  Weitere  gewesen  und  anders  orien- 
tiert als  bei  Faber  Stapulensis;  die  Formel  allein  tut  es  da  nicht.  (44  S., 
Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr,  1917,  1,20  M.)  In  der  Hinsicht  bietet  eine 
glückliche  Ergänzung  die  Berliner  Rede  von  K-  Holl:  „Was  verstand 
Luther  unter  Religion?"  (ebenda,  38  S.,  1,20  M.).  Von  dem  Hinter- 
grunde einer  feinen  Skizzierung  der  in  Scholastik,  Mystik,  Renaissance 
sich  manifestierenden  mittelalterlichen  Frömmigkeit  hebt  sich  eine 
bis  wirklich  an  das  Geheimnis  der  Religion  Luthers  rührende  psycho- 
logische Analyse  des  inneren  Werdens  des  Reformators.  Der  Gottes- 
begriff wird  in  den  Mittelpunkt  gerückt  und  aus  seiner  kraftvollen 
Lebendigkeit  die  Wandlung  aller  Vorstellungen  über  Religion  begriffen 
(scharfe  Trennung  zwischen  Religion  und  natürlichem  Lebenstrieb, 
Abgrenzung  von  der  Mystik,  Entstehung  eines  neuen  Ichgefühls,  Ab- 
leitung der  Ethik  aus  dem  Zielgedanken  des  Reiches  Gottes,  Kirchen- 
begriff, Abhebung  des  christlichen  Gemeinschaftsgedankens  vom  Staat, 
der  anderseits  die  Lebensbedingungen  für  die  Möglichkeit  des  Reiches 
Gottes  schafft).  Die  an  den  Leser  hohe  Anforderungen  stellende,  ihn 
dann  aber  auch  vollauf  befriedigende  Rede  klingt  aus  in  den  gerade 
jetzt  sehr  zeitgemäßen,  treffenden  Gedanken,  daß  Luthers  Religion 
nicht  spezifisch  deutsche  Religion  ist,  vielmehr  den  Menschen  als 
Menschen  ergreift.  —  Bei  dem  Vortrage  von  F.  Philippi  in  Münster: 
„Luther  und  die  alte  Kirche"  hat  man  den  deutlichen  Eindruck,  daß 
dem  Verfasser  sein  Thema  nicht  „liegt",  wie  denn  schon  im  Vorworte 
gesagt  wird,  daß  wesentlich  im  Anschluß  an  H.  Böhmer  und  Th.  Kolde 
gearbeitet  wurde.  Das  wäre  ja  gewiß  an  sich  kein  Schaden,  wenn 
nur  die  eingangs  aufgestellte  Grundabsicht,  zu  zeigen,  daß  es  sich  bei 
Luther  „nicht  um  einen  vollständigen  Bruch  mit  der  Vergangenheit 
und  der  Überlieferung  der  alten  Kirche  handelt,  sondern  nur  um  eine 
starke  Betonung  und  selbständige  Weiterbildung  von  in  der  Christen- 
heit seit  lange  wirksamen  Strömungen  und  Bewegungen,  so  daß  eine 
Verständigung  der  Bekenntnisse  auf  Grundlage  der  allen  gemeinsamen 
Anschauungen  und  gemeinsamen  Bestrebungen  sehr  wohl  angängig 
erscheint",  wirklich  scharf  herausgearbeitet  wäre.    Statt  dessen  wird 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500 — 1648).  159 

uns  nur  gesagt,  daß  Luther  „sich  mehr  gegen  das  Wie  als  gegen  das 
Was*'  bei  seinem  Gegensatze  gegen  die  alte  Kirche  wandte.  Soll  das 
Was  die  gemeinsame  Basis  sein,  so  kann  sie  doch  höchstens  ganz  for- 
mal sein;  denn  Luthers  Neufassung  des  Wie  gestaltete  tatsächlich 
auch  das  Was  um,  wie  das  ja  gar  nicht  anders  geht.  Philipp!  sucht  als 
Brücke  zwischen  Luther  und  dem  Mittelalter  vorab  die  Mystik  zu 
werten,  deren  Bedeutung  S.  20  aber  gewaltig  überschätzt  ist  (gerade 
Boehmer  hatte  hier  vor  Überschätzung  gewarnt).  Ebensowenig  glück- 
lich ist  die  Ausspielung  des  „germanisierenden"  Begriffes  vom  Vater- 
gotte  bei  Luther  gegen  den  romanisierenden  Prädestinationsgott  bei 
Calvin,  da  bekanntlich  Luther  diesen  trotz  Philippi  nicht  nur  kennt, 
sondern  auch  „in  sein  System  aufnimmt,"  wenn  man  diesen  Ausdruck 
einmal  gelten  lassen  will.  Daß  Grisar  „nicht  mehr  aus  der  Rolle  des 
wissenschaftlichen  Betrachters  und  Bearbeiters  herausfällt",  kann 
man,  vorab  nach  Scheels  Untersuchungen,  nicht  mehr  sagen.  (Münster^ 
Coppenrath,  23  S.,  1  M.)  —  Rade  sprach  auf  der  Gießener  theologischen 
Konferenz  über  „Luthers  Rechtfertigungsglaube,  seine  Bedeutung 
für  die  95  Thesen  und  für  uns"  (32  S.,  Tübingen,  Mohr,  0,80  M.).  Der 
viel  angefochtene  Begriff  der  Rechtfertigung  wird  nach  seinem  negativ- 
polemischen Wert  (Beseitigung  des  Verdienstgedankens)  wie  nach 
seiner  positiven  Eigenart  mit  der  Aufgipfelung  der  „Freiheit  eines 
Christenmenschen"  fein  herausgearbeitet  und  als  Voraussetzung  der 
95  Thesen  gewürdigt,  —  K-  Müller  in  Tübingen  wählte  sich  das  Thema: 
„Die  großen  Gedanken  der  Reformation  und  die  Gegenwart"  (24  S.,. 
Tübingen,  Mohr,  0,60  M.)  und  rückte  energisch,  sich  darin  mit  Rade 
berührend,  den  Rechtfertigungsgedanken  in  den  Mittelpunkt.  „Das 
Letzte  und  Tiefste  bei  Luther  war  das  Ringen  um  die  persönliche 
Heilsgewißheit,  d.  h.  um  den  gnädigen  Gott  gewesen."  Die  Religion 
wurde  aus  der  Sphäre  des  Rechts  heraus  ganz  in  die  Innerlichkeit  des 
persönlichsten  Lebens  gelegt.  Das  wirkte  dann  umgestaltend  nach 
allen  Seiten.  —  H.  Guthe  in  Leipzig  sprach  vor  dem  Zweigverein  des 
Ev.  Bundes  in  Löbau  über  „Luther  und  die  Bibelforschung  der  Gegen- 
wart" (41  S.,  Tübingen,  Mohr,  1,35  M.)  und  konfrontierte  in  offener 
Ehrlichkeit  die  moderne  Bibelforschung  mit  Luthers  Standpunkt, 
seinen  bekannten  freien  und  seinen  ebenso  bekannten  konservativen 
Anschauungen.  Man  muß  darauf  verzichten,  einen  einheitlichen 
Standpunkt  bei  Luther  anzunehmen,  er  denkt  vielmehr  teils  mittel- 
alterlich, teils  als  Anheber  einer  neuen  Zeit.  Als  letzterer  verrät  er 
Verwandtschaft  mit  der  Forschung  der  Gegenwart,  vorab  in  seiner 
Forderung  der  Sprachenkenntnis  zum  Verständnis  der  Bibel.  Er  hat 
auch  den  Unterschied  zwischen  A.  und  N.  T.  und  dann  doch  wieder 
den  Zusammenhang  beider  Testamente  empfunden  und  im  einzelnen 
manches  fein  beobachtet.    Seine  bekannte   Kritik  ist  eine  religiöse. 


160  Notizen  und  Nachrichten. 

nicht  eine  historisch-wissenschaftliche,  und  trifft  den  Inhalt  der  betr. 
Schriften,  nicht  die  Frage  der  Entstehung  u.  dgl.,  die  war  für  Luther 
unwesentlich.  Die  Sicherheit  des  Glaubens  gab  ihm  Kraft  und  Recht 
freier  Prüfung.  Bei  dem  mit  manchen  Belegstellen  ausgestatteten 
lehrreichen  Vortrage  ist  nur  zu  bedauern,  daß  nach  der  Erlanger  Aus- 
gabe, sogar  der  ersten  Auflage,  zitiert  wird.  —  In  Straßburg  haben 
J.  Ficker  und  G.  Anrieh  gesprochen,  jener  über  Luther  1517,  nament- 
lich die  Hebräerbriefvorlesung  heranziehend  und  kunstgeschichtliches 
Material  nutzend,  in  den  beigefügten  Anmerkungen  wertvollste  Belege 
bietend,  dieser  die  Gesamtgeschichte  der  Straßburger  Reformation  in 
Kennzeichnung  der  politischen  und  sozialen  Verhältnisse,  der  führenden 
Persönlichkeiten,  namentlich  Bucers,  der  Originalität  und  Fernwirkung 
vorführend.  (Zwei  Straßburger  Reden  zur  Reformationsjubelfeier, 
Leipzig,  R.  Haupt,  1918,  2,40  M.)  W.  Köhler. 

Die  sehr  lesenswerten  knappen  Ausführungen  von  Peter  Ras- 
sow:  „Luthers  deutsche  Kraft"  (Preuß.  Jahrbücher  174)  rücken  ener- 
gisch in  den  Vordergrund,  daß  Luthers  Werk,  die  Befreiung  der  christ- 
lichen Religion  aus  der  Umklammerung  menschlicher  Einrichtungen, 
dieses  sein  Ureigenstes,  mit  dem  Deutschtum  direkt  nichts  zu  tun  hat. 
Er  hat  bei  drei  Entscheidungen,  in  Worms,  bei  der  Kirchenorganisa- 
tion, in  Marburg  (wo  aber  Rassow  Zwingli  nicht  „einen  flachen  Ratio- 
nalisten" hätte  nennen  sollen)  bewußt  den  nationalen  Gedanken  in 
die  zweite  Linie  gestellt,  um  der  Religion  der  Menschheit  allein  zu 
dienen.  Ganz  ähnlich  stand  es  bei  Friedrich  dem  Großen,  Goethe, 
Schiller,  Humboldt,  Kant,  Fichte,  Hegel,  Bismarck.  „Nichts  falscher, 
als  zu  sagen,  Luther  habe  gleichsam  aus  nationalem  Impuls  die  deutsche 
Form  des  Christentums  geschaffen.  Nein,  er  hat  wohl  dem  Christen- 
tum eine  neue  Gestalt  gegeben,  aber  nicht  eine  deutsche,  sondern 
€ine  einfachere  befreite.  Und  durch  diese  Tat  hat  er  zugleich  in  der 
Schatzkammer  der  deutschen  Nation  die  schönsten  Kleinodien  nieder- 
gelegt." 

Die  mit  reichlichen  Literaturnachweisen  ausgestattete  Rede  des 
Wiener  Privatdozenten  K.  Völker:  „Martin  Luthers  Anteil  an  der 
Grundlegung  der  neueren  deutschen  Kultur"  (Bielitz,  W.  Fröhlich. 
39  S.)  geht  aus  von  der  am  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts  gegenüber 
der  Französierung  einsetzenden  deutschen  Kulturerhebung  und  sucht 
die  aus  Zitaten  der  damaligen  führenden  Geister  belegte  Mitschwingung 
der  Gedanken  Luthers  zu  bestimmen  als  Einfluß  seiner  Persönlichkeit 
auf  die  Kulturwerte  des  Staates,  der  Familie,  Schule,  Wissenschaft, 
Sprache  und  Kunst. 

Die  Thd.  Zahn  zum  80.  Geburtstag  gewidmete  Studie  von  W. 
^ngelhardt  über  „Luther  als  Lehrer"  (Neue  kirchl.  Zeitschr.  29, 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648).  161 

H.  10)  fußt  hauptsächlich  auf  den  Vorlesungen  über  den  Römerbrief- 
kommentar, stellt  u.  a.  die  sehr  anfechtbare  These  auf,  die  sog.  Scho- 
llen seien  nach  der  Vorlesung  aus  Entwurfszetteln  ins  Reine  geschrieben 
worden.  —  O.  Brenner  handelt  ebenda  in  Fortsetzung  seiner  Auf- 
sätze „Zur  Geschichte  von  Luthers  Bibelübersetzung"  über  die  Reihen- 
folge der  Bibeldrucke.  —  In  Heft  11  derselben  Zeitschrift  stellt  E. 
Körner  hübsch  die  Urteile  über  Luther  aus  dem  Munde  seines  Schü- 
lers Erasmus  Alber  zusammen.  Stein  lein  handelt  über  Luthers 
Stimme  und  sein  Verständnis  für  die  Stimme;  Luther  verfügte  bis 
an  sein  Lebensende  über  eine  klare  ausreichende  Stimme,  dank  einem 
Verständnis  für  Wesen  und  Bedeutung  der  Stimme  überhaupt. 

Lesenswert  ist  der  Aufsatz  von  A.  E.  Harvey:  Martin  Luther 
in  the  Estimate  of  modern  historians  {American  Journal  of  theology  22), 
nur  dadurch  etwas  beeinträchtigt,  daß  der  Weltkrieg  die  Kenntnis- 
nahme neuester  Literatur  verhindert  hat.  Verfasser  unterscheidet, 
von  Ranke  als  der  klassischen  Grundlage  ausgehend,  einen  supranatura- 
listischen Typus  (William  Robertson)  und  den  an  Carlyle  entzündeten 
Typ  des  Kultus  des  großen  Mannes  (Treitschke,  aber  auch,  nur  vice 
versa,  Denifle-Weiß  oder  Janssen);  daran  schließt  sich  die  psycho- 
logische Auffassung  (Köstlin,  Mac  Giffert,  Grisar).  Zur  in  Lamprecht 
repräsentierten  materialistisch-evolutionistischen  Auffassung  leiten 
Kolde  und  Berger  hinüber,  die  konservative  bzw.  liberale  Darstellung 
zeigen  Kahnis,  Kliefoth  bzw.  F.  Chr.  Baur  und  Heinr.  Lang;  es  folgen 
Ritschi  und  Harnack,  endlich  als  Reaktion  gegen  die  Modernisierung 
Luthers  Troeltsch. 

Unter  dem  Titel  „Luther  im  Spiegel  seiner  Jahrhundertfeier" 
referiert  H.  Grisar  in  den  „Stimmen  der  Zeit"  (Bd.  96,  H.  1)  über 
"die  wichtigste  protestantische  Reformationsliteratur.  Die  Tendenz 
seiner  Ausführungen  geht  auf  den  Nachweis  der  „Zerfahrenheit  der 
Feiernden".  Der  wirkliche  Luther  sei  nicht  zu  Wort  gekommen  u.  dgl. 
Das  ist  richtig,  wenn  der  wirkliche  Luther  der  Grisarsche  sein  soll, 
was  offenbar  Grisar  meint.  Hier  ist  die  Diskussion  zwecklos,  die  Ver- 
ständigung aussichtslos.  —  Genau  mit  derselben  Tendenz,  boshafte 
Seitenhiebe  auf  ihm  mißliebige  Autoren  und  Richtungen  nicht  sparend, 
referiert  Grisar  in  der  Zeitschrift  für  kathol.  Theologie  1918,  H.  3  u.  4 
über  „die  Literatur  des  Lutherjubiläums  1917".  Zu  loben  ist  die  Zu- 
sammenstellung der  einzelnen  Schriften  und  Aufsätze.  W.  K. 

Unter  dem  Titel  „Wert  und  Bedeutung  der  Bibel  1546"  führt 
O.  Reichert  den  Nachweis,  daß  diese  Ausgabe,  nicht  die  von  1545, 
die  letzte  Gestalt  des  von  Luther  selbst  geschaffenen  und  gewünschten 
Bibeltextes,  zumal  im  Neuen  Testament  bietet.  (Theol.  Studien  und 
Kritiken  1918,  H.  2.)  —  K.  Knoke  beschreibt  ebenda  „Zur  Geschichte 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3»  Folge  24.  Bd.  1 1 


162  Notizen  und  Nachrichten. 

der  evangelischen  Gesangbücher  bis  zu  Luthers  Tode"  Liedersamm- 
lungen mit  der  Bezeichnung  Enchiridion  an  der  Spitze  ihres  TiteK 
blattes,  die  ihr  Dasein  lediglich  buchhändlerischem  Unternehmungs- 
geist verdanken.  —  G.  Kawerau  bringt  ebenda  Nachträge  „zu  Lu- 
thers Briefwechsel". 

Im  „Archiv  für  Reformationsgeschichte"  Bd.  15  setzt  W.  Mat- 
thi essen  die  Veröffentlichung  theologischer  Abhandlungen  des  Theo- 
phrast  von  Hohenheim  fort  und  bietet  als  Nr.  6  den  ethisch  sehr  inter- 
essanten über  de  fionestis  utrisque  divitiis,  als  Nr.  7  den  religiös  ebenso 
wertvollen  Über  de  remissione  peccatorum,  als  Nr.  8  den  über  de  potentia 
et  potentiae  gratia  dei,  als  Nr.  9  den  Traktat  in  principio  und  als  Nr.  10 
den  über  de  resurrectione  et  corporum  glorificatione.  Manche  Gedanken 
klingen  ganz  reformatorisch.  P.  Kalkoff  behandelt  den  Dompropst 
von  Hildesheim,  Livin  von  Veitheim,  einen  gefährlichen  Pfründenjäger 
und  Gegner  der  Reformation  in  Norddeutschland.  Th.  Wotschke 
beendet  seine  auf  Dresdener  und  Hamburger  Akten  aufgebaute  Studie 
über  die  unitarische  Propaganda  an  der  Universität  Wittenberg  am 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  und  die  orthodoxen  Gegenmaßnahmen 
der  dortigen  Professoren.  1621  haben  die  letzten  unitarischen  Stu- 
denten Wittenberg  verlassen,  die  meisten  Unitarier  gingen  nunmehr 
nach  Leiden.  A.  Nutzhorn  beschreibt  ein  wenig  umständlich  ein 
Tafelbüchlein  aus  der  Reformationszeit  1555,  doch  zeigt  O.  Al- 
brecht richtig,  daß  es  sich  nicht  um  ein  Tafelbüchlein,  sondern  um 
Makulatur-  oder  Probedruckbogen  eines  Schulbuches  handelt.  G. 
Boss  er  t  gibt  biographische  Notizen  zu  dem  von  Luther  empfohlenen 
Pfarrer  Theobald  Diedelhuber.  J.  Kvacala  beendet  seine  Studie 
über  W.  Posteil,  zeigt  seine  Wirksamkeit  in  Wien,  bespricht  seine 
Schriften,  wie  die  Apologie  Serviti  (deren  Originalhandschrift  Kvacala 
gefunden  und  in  besonderem  Buche  „Postelliana",  Dorpat  1915,  mit- 
geteilt hat),  seinen  Brief  an  Schwenckfeld  und  Melanchthon,  den 
Inquisitionsprozeß  gegen  ihn  und  seine  schließliche  Hinwendung  zum 
Katholizismus.  Die  Wirkungen  Posteils  auf  Bodin,  Herbert  v.  Cher- 
burg,  Jak.  Böhme  u.  a.  werden  leider  nur  angedeutet.  Durch  seine 
Anschauung  von  der  Einheit  des  menschlichen  Geschlechtes  unter 
allen  Religionen  hat  Postell  jedenfalls  der  Idee  der  sog.  natürlichen 
Religion  vorgearbeitet.  R.  Stölzle  analysiert  die  1568  bei  Samuel 
Emmel  zu  Straßburg  erschienene  Schrift  des  Joh.  Friedrich  Coelestin: 
„Von  Schulen". 

Über  die  Echtheit  der  bekannten  Totenmaske  Luthers  in  der 
Marienbibliothek  zu  Halle  a.  S.  streiten  in  „Religiöse  Kunst"  Bd.  15 
F.  Loofs  und  Brathe,  dieser  für,  jener  gegen  sie.  Die  Überlieferung, 
nach  der  bei  der  Durchführung  der  Leiche  durch  Halle  auf  dem  Wege 
von  Eisleben  nach  Wittenberg  die  Maske  angefertigt  sein  soll,  reicht. 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500 — 1648).  163 

nur  bis  1742  zurück.  Die  Totenmaske  findet  sich  abgebildet  in  dem 
soeben  in  2.  Auflage  erschienenen  Buche  von  H.  Preuß:  Lutherbild- 
nisse (Leipzig,  Voigtländer.    64  S.    1  M.). 

Die  Abhandlung  von  P.  Schweizer:  „Ein  Vorschlag  zur  Ver- 
söhnung in  einem  Streit  unserer  Theologen  betr.  Zwingli  und  Luther" 
(Schweiz,  theol.  Zeitschr.  Bd.  35)  bietet  über  das  Persönliche  hinaus- 
gehend, abgesehen  von  dem  Irrtum,  die  von  Luther  angebotene  Kom- 
promißformel sei  völlig  katholisch  gewesen  und  habe  die  Transsub- 
stantiation  involviert,  einige  beachtenswerte  Richtpunkte  zum  Ver- 
ständnis des  Marburger  Religionsgespräches. 

In  der  Zeitschrift  für  schweizerische  Kirchengeschichte  Bd.  12,  H.  1 
handelt  A.  Scheiwiler  über  Fürstabt  Joachim  von  St.  Gallen  (Joa- 
chim Opser  1577 — 94,  enthält  zwei  wertvolle  Berichte  über  die  Bar- 
tholomäusnacht), O.  Ringholz  über:  Die  ehemaligen  protestantischen 
Pfarreien  des  Stiftes  Einsiedeln  (Geschichte  der  im  Laufe  der  Refor- 
mation protestantisch  gewordenen  Einsiedlerpfarreien,  interessante 
Erörterungen  der  Rechtsverhältnisse). 

Im  Februarheft  1919  der  „Internationalen  Monatschrift"  ver- 
öffentlicht W.  Köhler  seine  (erweiterte)  Festrede  bei  der  Zwingli- 
Säkularfeier  der  Universität  Zürich.  Im  Rahmen  einer  Entwicklungs- 
geschichte des  schweizerischen  Reformators  wird  seine  religiöse  Eigen- 
art in  der  Verbindung  von  Christentum  und  Antike  bestimmt  und  in 
ihren  Einzelwirkungen  aufgezeigt.  Zwingli  suchte  den  Ausgleich  von 
Glauben  und  Wissen,  im  Abendmahlstreit  die  reine  Geistigkeit  und 
war  fähig,  die  supranaturale  Exklusivität  des  kirchlichen  Christentums 
zu  durchbrechen. 

Die  Arbeit  von  Frieda  Gallati  über  „Eidgenössische  Politik  zur 
Zeit  des  Dreißigjährigen  Krieges  handelt  vorab  von  der  Stellung  Zürichs, 
insbesondere  des  Antistes  Breitinger.  Das  Ergebnis  ist  dieses,  daß  die 
evangelischen  Städte  1628 — 30  keine  aggressiven  Tendenzen  hatten, 
daß  ferner  das  angeblich  von  Breitinger  betriebene  Bündnis  mit  Gustav 
Adolf  in  Widerspruch  gegen  die  offizielle  zürcherische  Politik  nicht 
existiert,  Breitinger  vielmehr  als  Reformierter  keine  Sympathie  für 
den  lutherischen  Schweden  empfand.  Verfasser  gewisser  in  seinem 
Nachlaß  befindlicher  Aufsätze  in  gegenteiligem  Sinne  ist  nicht  der 
Antistes,  vielmehr  ein  abenteuerlicher  Pfälzer  Publizist  Joh.  Philipp 
Spieß  (Jahrb.  f.  Schweiz.  Gesch.  Bd.  43). 

H.  de  Vries:  Les  lois  somptuaires  de  la  Republique  de  Gentve 
au  XV I^  siede  (Anzeiger  f.  Schweiz.  Gesch.  1918  Nr.  4)  berichtigt 
Gabriel  {Histoire  de  VEglise  de  Gen^ve)  durch  den  Nachweis,  daß  von 
derartigen  Gesetzen  nicht  schon  1541,  sondern  erst  1558  die  Rede 
sein  könne. 


164  Notizen  und  Nachrichten. 

1893  hatte  de  Ruble  unter  dem  Titel  „Mimoires  de  Jeanne  (VAl- 
bret**  ein  Dokument  veröffentlicht,  das  für  die  Religionskriege  Frank- 
reichs sehr  wichtig  sein  würde,  falls  es  echt  wäre.  P.  von  Dyke  unter- 
zieht es  in  Revue  histor.  Bd.  129  einer  eingehenden  Kritik,  stellt  die 
Unmöglichkeit  der  Autorschaft  Jeanne  d'Albrets  fest,  ferner  überhaupt 
die  historische  Wertlosigkeit;  es  handelt  sich  um  ein  Pamphlet. 

Bulletin  de  la  Societe  de  Vhistoire  du  protestantisme  frangais  Bd.  67 
enthält  folgende  Aufsätze:  M.  Godet:  Les  protestants  ä  Abbeville  au 
debut  des  guerres  de  religion  (1560 — 72);  Liste  des  Abbevillois  suspects 
de  calvinisme  entre  1560  et  1572.  J.  Pannier:  Anciens  lieux  de  culte 
Protestant  autour  de  Soissons.  G.  de  Pourtal^s:  Odet  de  la  Noue  (Ver- 
fasser der  von  Napoleon  /.  als  la  „Bible  du  Soldat"  gewerteten  „Discours 
politiques  et  militaires").  H.  Aubert:  Une  lettre  inidite  de  Calvin  ä 
Farel  (15.  Juli  1544,  sachlich  unwichtig).  E.  Rodocanachi:  Uatti- 
tude  des  autorites  civiles  et  religieuses  ä  Vegard  de  la  Reformation  en 
Piimont  au  XV P  stiele  (Referat  über  G.  Jalla:  Storia  della  Riforma 
in  Piemonte  1914,  Mitteilung  über  Drucke  der  Werke  des  Faber  Sta- 
pulensis  in  Turin,  Porträt  der  Margarete  von  Navarra).  N.  Weiß: 
Louis  de  Berquin,  son  premier ^procts  et  sa  ritractation  d'aprts  quelques 
documents  inedits  (1523,  Mitteilung  eines  Briefes  der  Pariser  theol. 
Fakultät  an  den  Bischof  von  Troyes  in  Sachen  Berquins). 

Anknüpfend  bei  der  stattlichen,  in  Berlin  (Münzkabinett)  und 
London  (Sammlung  Oppenheimer)  vorhandenen  Medaille  des  Bamberger 
Domherrn  Willibald  von  Redwitz  sucht  Gg.  Habich  durch  Vergleich 
mit  ähnlichen  Porträtstücken  u.  a.  eines  Melanchthonbildes  den  Würz- 
burger Bildhauer  Peter  Dell  den  Älteren  als  Verfasser  festzustellen 
(Jahrb.  der  Kgl.  preuß.  Kunstsammlungen  Bd.  39,  H.  3). 

Kulturhistorisch  interessant  ist  der  Aufsatz  von  O.  Ringholz 
über  „Kriegswallfahrten  zu  U.  L.  F.  von  Einsiedeln  in  alter  und  neuer 
Zeit";  er  behandelt  insbesondere  die  Zeit  des  Dreißigjährigen  Krieges 
und  teilt  u.  a.  mit,  daß  1639  in  Einsiedeln  geheime  Waffenstillstands- 
verhandlungen zwischen  Bayern  und  Frankreich  gepflogen  wurden 
(Hist.-pol.  Blätter  Bd.  162,  H.  9/10). 

Über  die  „Stimmung  katholischer  Bauern  im  Stift  Hildesheim 
zur  Zeit  des  Schmalkaldischen  Krieges"  unterrichtet  J.  H.  Gebauer 
an  der  Hand  eines  Protokolls  aus  dem  Ratschlagbuch  in  Zeitschr.  f. 
Kirchengesch.  37,  H.  3/4.  —  Ebenda  macht  O.  Giemen  Mitteilungen 
über  die  ältesten  lettischen  Katechismen  seit  1586. 

In  Württemberg  hat  sich  ein  Verein  für  württembergische  Kirchen- 
geschichte gebildet,  der  die  rühmlichst  bekannten  „Blätter  für  würt- 
tembergische Kirchengeschichte"  herausgeben  soll  (Jahresbeitrag  4  M., 
Anmeldung  bei  Stadtpfarrer  Dr.  Rauscher  in  Tuttlingen).    Der  Jahr- 


Zeitalter  des  Absolutismus  (1648—1789).  M 

gang  1918  enthält  folgende  Aufsätze:  A.  Reutschler:  Einführung 
der  Reformation  in  der  Herrschaft  Limpurg;  Chr.  Kolb:  Das  Stift 
in  Stuttgart  während  der  Okkupation  durch  die  Jesuiten  1634 — 1648. 

Sehr  eingehend  und  grtindlich  ist  die  Studie  von  E.  Kochs 
über  „die  Anfänge  der  ostfriesischen  Reformation"  (Jahrb.  der  Gesellsch. 
f.  Kunst  u.  vaterl.  Altertümer  zu  Emden  XIX).  Nach  einem  Über- 
blick über  die  Quellen  wird  die  politische  Lage  Ostfrieslands  am  Vor- 
abend der  Reformation  sowie  das  kirchliche  Leben  geschildert.  Mit 
dem  Grafen  Edgard  setzt  die  Reformation  ein,  das  Religionsgespräch 
zu  Oldersum  1526  bedeutet  einen  Höhepunkt;  dann  wendet  sich  Kochs 
dem  religiösen  Gehalt  der  ostfriesischen  Reformation  zu,  gibt  eine 
sehr  interessante  Schilderung  des  Abendmahlstreites  und  endet  mit 
der  Darstellung  der  Wirkung  der  Reformation  auf  das  Volksleben 
und  gegenreformatorischen  Bestrebungen  (Erasmus).  Die  Abhandlung 
ist  noch  nicht  abgeschlossen. 

K.  Gauß  bringt  im  „Basler  Jahrbuch  1919"  seine  Arbeit  über 
„Die  Gegenreformation  im  baslerisch-bischöflichen  Laufen"  zum  Ab- 
schluß. .  Sie  ist  wesentlich  das  Werk  der  Jesuiten  unter  Oberleitung 
des  Bischofs  Jakob  Christoph  Blarer  gewesen,  welch  letzterer  von  Gauß 
eingehend  charakterisiert  wird.  Laufen  kam  erst  1815  an  die  Eid- 
genossenschaft, und  blieb  katholisch. 

Neue  Bücher:  Huldrych  Zwingiis  Briefe.  Übers,  von  Oskar 
Farner.  Bd.  I.  1512—1523.  (Zürich,  Rascher  &  Co.  9  M.)  —  August 
Lang,  Reformation  und  Gegenwart.  (Detmold,  Meyer.  6  M.)  — 
Luthervorträge.  Zum  400.  Jahrestage  der  Reformation  geh.  in 
Greifswald  von  Eduard  Frhr.  v.  d.  Goltz,  Johs.  Haußleiter,  Johs. 
Luther,  Frdr.  Wiegand,  Rud.  Ewald  Zingel.  (Berlin,  Siegismund. 
2,50  M.)  —  Berger,  Martin  Luther  in  kulturgeschichtlicher  Darstel- 
lung. 2.  Teil,  2.  Hälfte.  (Berlin,  E.  Hofmann  <S  Co.  18,50  M.)  — 
B ichler,  Luther  in  Vergangenheit  und  Gegenwart.  (Regensburg, 
Pustet.    3  M.) 

Zeitalter  des  Absolutismus  (1648—1789). 

In  einer  gründlichen  Untersuchung,  die  sich  auf  fleißiger  Be- 
nutzung gedruckter  Literatur  wie  auch  archivalischer  Quellen  — 
Berlin  und  Wolfenbüttel  —  aufbaut,  behandelt  E.  Frhr.  v.  Dan  ekel - 
man  „Die  Friedenspolitik  Wilhelms  III.  von  England  und  Friedrichs  IIL 
von  Brandenburg  in  den  Jahren  1694 — 1697"  (Forschungen  z.  brand. 
u.  preuß.  Gesch.  31,  1).  Indem  er  dem  Gange  der  Friedensverhand- 
lungen folgt,  die  endlich  auf  dem  Rijswijker  Kongresse  zum  Abschlüsse 
kamen,  gibt  er  einen  Beitrag  zur  Geschichte  des  Friedens  von  Rijs- 
wijk,  eine  Ergänzung  der  vorhandenen  Werke  von  Klopp,  Neuhaus, 


166  Notizen  und  Nachrichten. 

Legruelle,  Schulte,  G.  Koch  u.  a.  m.  Er  betrachtet  die  Ereignisse  be- 
sonders in  ihrer  Wirkung  auf  den  brandenburgischen  Staat  und  ver- 
mag hier  manches  Neue  zu  bieten.  Dabei  ist  er  allerdings  von  ein- 
seitiger Betrachtungsweise  nicht  frei.  Ich  möchte  den  Wert  der  Arbeit 
überhaupt  mehr  in  den  aus  den  Akten  geschöpften  Einzelheiten,  in 
der  Bereicherung  unserer  Detailkenntnis  erblicken,  als  in  den  histo- 
rischen Schlüssen  des  Verfassers.  Um  nur  den  wichtigsten  Punkt  zu 
erwähnen,  so  wird  er  mit  seinem  ungünstigen  Urteil  über  Wilhelm  III., 
das  er  feierlich,  mit  Berufung  auf  Legrelle,  demjenigen  Rankes  ent- 
gegenstellt, schwerlich  durchdringen.  Aus  diplomatischem  Detail  läßt 
sich  die  Bedeutung  einer  Persönlichkeit  wie  die  des  Oraniers  nicht 
erschließen.  Mag  sein,  daß  Kurfürst  Friedrich  Grund  hatte,  enttäuscht 
zu  sein,  aber  darum  bleibt  Wilhelm  III.  doch  der  große  europäische 
Politiker,  der  einen  Damm  aufrichtete  gegen  das  Vordringen  Frank- 
reichs unter  Ludwig  XIV.  Was  ferner  die  Religion  betrifft,  so  hatten 
freilich  auf  der  Fahne  seines  Schiffes  1688  über  dem  altoranischen 
Wahlspruch  die  Worte  gestanden:  pro  religione  protestante,  pro  libero 
parlamento  (bei  Danckelman  S.  34  ungenau  zitiert).  Aber  das  galt 
doch  nur  für  England,  wo  es  auch  gewißlich  zur  Wahrheit  wurde. 
Der  Vorwurf,  daß  Wilhelm  dem  Protestantismus  in  der  Weit  ein  ge- 
gebenes Wort  nicht  gehalten  habe,  trifft  nicht  zu.  Und  vollends  die 
Behauptung,  daß  es  in  der  Zeit  des  Rijswijker  Friedens  für  den  König 
von  England  „heiligste  Pflicht"  gewesen  wäre,  für  die  deutschen 
Protestanten,  „sei  es  von  neuem  mit  dem  Schwerte,  einzutreten" 
(S.  64),  kann  uns  nur  ein  Lächeln  abnötigen.  Endlich  noch  eine  Kleinig- 
keit. Der  Verfasser  behauptet,  Wilhelm  III.  habe  1696  „in  so  überaus 
unhöflicher  Weise"  die  Hand  der  Tochter  des  Kurfürsten  ausgeschlagen. 
Das  ist  nicht  richtig.  Nichts  Derartiges  ergibt  sich  aus  der  Schilderung 
in  dem  Buche  von  G.  Koch  (das  ich  selbst  veröffentlicht  habe).  Der 
nicht  sehr  glückliche,  wohl  von  brandenburgischer  Seite  vorgeschlagene 
Plan,  den  englischen  König  mit  der  30  Jahre  jüngeren  Prinzessin  Luise 
zu  veriiiählen,  ist  nach  der  Zusammenkunft  zu  Kleve,  wir  wissen 
nicht  warum  und  von  wem,  einfach  aufgegeben  worden. 

W.  Michael. 

In  den  Forschungen  zur  brand.  u.  preuß.  Gesch.  31,  1  wird  aus 
dem  Nachlasse  von  W.  v.  Sommerfeld  das  Fragment  einer  Studie 
über  „die  philosophische  Entwicklung  des  Kronprinzen  Friedrich" 
veröffentlicht.  Es  umfaßt  die  Jahre  1734 — 36  und  gehört  zu  den 
umfassenden  Vorarbeiten  des  Verfassers  zu  einer  Untersuchung  des 
„Antimachiavell". 

O.  Herrmann  veröffentlicht  eine  Relation  des  Prinzen  Ferdi- 
nand von  Preußen  über  den  Feldzug  vom  Jahre  1757  (Forsch,  zur 
brand.  u.  preuß.  Gesch.  31,  1).    Sie  ist  französisch  geschrieben  und, 


Zeitalter  des  Absolutismus  (1648—1789).  167 

Avie  der  Herausgeber  nachweist,  in  der  Zeit  zwischen  1799  und  1802 
verfaßt.  Das  ist  freilich  ein  sehr  später  Termin,  der  keinen  günstigen 
Schluß  auf  den  Queilenwert  des  Berichtes  zulassen  würde.  Doch  soll 
dieser  nicht  nur  auf  persönlichen  Erinnerungen,  sondern  auch  auf 
gleichzeitigen  Aufzeichnungen  beruhen.  Und  auch  wenn  man  seinen 
Inhalt  mit  dem  vergleicht,  was  wir  heute  über  die  Ereignisse  wissen, 
muß  man  zu  einem  recht  günstigen  Urteil  über  die  Glaubwürdigkeit 
gelangen.  Die  interessanteste  Stelle  der  Relation  ist  diejenige,  in  der 
der  Prinz  als  Ohrenzeuge  die  Ansprache  Friedrichs  des  Großen  an  seine 
Offiziere  vor  der  Schlacht  bei  Leuthen  wiedergibt.  Einen  authentischen 
Wortlaut  erhalten  wir  freilich  auch  diesesmal  nicht,  da  der  Prinz  fran- 
zösisch schreibt,  die  Rede  des  Königs  aber  in  deutscher  Sprache  ge- 
halten wurde.  W.  M. 

Ed.  Wegen  er,  Archivar  der  preußischen  Zentral-Bodenkredit- 
Aktiengesellschaft,  veröffentlicht  unter  dem  Titel  „Diederich  Ernst 
Bühring  und  sein  Plan  einer  Generallandschaftskasse"  einen  „Beitrag 
zur  Vorgeschichte  der  preußischen  Landschaften"  (Berlin,  Dümmler. 
1918.  IV  u.  63  S.).  Er  will  die  wenig  bekannte  Angelegenheit  in  ihrer 
Bedeutung  für  jene  Zeit  darstellen.  Dabei  haben  ihm  das  Geheime 
Staatsarchiv  und  das  Breslauer  Archiv  zwar  für  die  Geschichte  des 
Bühringschen  Projekts  kein  Material  geliefert,  wohl  aber  manchen 
Anhalt  für  das  Leben  und  Wirken  des  Mannes.  Ein  erfolgreicher  Kauf- 
mann und  Fabrikant  hat  Bühring  zur  Darlegung  seines  Planes  am 
23.  Februar  1767  eine  Eingabe  an  den  König  gerichtet,  die  aber  sehr 
rasch,  schon  unter  dem  31.  März  desselben  Jahres,  abschlägig  be- 
schieden wurde.  Doch  macht  der  Verfasser  es  wahrscheinlich,  daß  der 
Minister  v.  Carmer,  der  zwei  Jahre  später  den  ersten  Anstoß  zur  Grün- 
dung des  schlesischen  Kreditsystems  gab,  den  Plan  Bührings  benutzt 
hat,  während  anderseits  dieser  sowohl  durch  die  Organisation  des 
überseeischen  Bodenkredits  der  damaligen  Niederlande  als  auch  durch 
die  Formen  des  Realkredits  in  seiner  Vaterstadt  Bremen  beeinflußt 
worden  war.  W.  M. 

Die  Altpreuß.  Monatschrift  55,  1.  bis  4.  Heft  bringt  die  Fort- 
setzung der  Abhandlung  von  V.  Urbanek  über  „Friedrich  den  Großen 
und  Polen  nach  der  Konvention  vom  5.  August  1772"  (vgl.  H.  Z. 
119,  353).  Sie  führt  die  Erzählung  diesesmal  bis  in  die  Zeit  des  pol- 
nischen Reichstages  von  1773. 

In  der  Reihe  der  Veröffentlichungen  des  Vereins  für  die  Ge- 
schichte von  Ost-  und  Westpreußen  erscheinen  jetzt  „Briefe  an  und 
von  Johann  George  Scheffner,  herausgegeben  von  Arthur  War  da" 
(München  und  Leipzig,  Duncker  &  Humblot).  Der  erste  Band  (in 
zwei  Teilen  1916  und  1918.   528  S.)  enthält  in  alphabetischer  Reihen- 


168  Notizen  und  Nachrichten. 

folge  den  Briefwechsel  Litt.  A  bis  K  aus  den  Jahren  1758 — 1820.  Unter 
den  Korrespondenten  erscheinen  Frau  v.  Berg-Haeseler,  die  Freundin 
der  Königin  Luise,  Beyme,  Borowski,  der  Prinzenerzieher  Delbrück,. 
Alexander  von  Dohna,  Dorow,  Gneisenau  J.  G.  Hamann,  Herder  (aus 
seiner  Rigaer  Zeit),  v.  Hippel,  Prinz  Hermann  zu  Hohenzollern-Hechingea 
u.  a.  Der  Inhalt  der  Briefe  ist  im  allgemeinen  weniger  politisch  als 
literargeschichtlich  bedeutsam;  wird  doch  Scheffner  von  A.  v.  Bogus- 
lawski  als  „Königsbergs  Quintilian  und  Horaz"  bezeichnet.  Doch  fehlt 
es  auch  nicht  an  stimmungsvollen  Briefen  aus  der  Franzosenzeit  und 
charakteristischen  Äußerungen  über  König  Friedrich  Wilhelm  HL 
und  Königin  Luise.  —  Das  Fehlen  jeder  erläuternden  Anmerkung,, 
die  ebenso  wie  Einleitung  und  Register  auf  einen  späteren  Teil  ver- 
sprochen werden,  wird  von  vielen  Lesern  gewiß  recht  ungern  bemerkt 
werden.  P.  B. 

Neue  Bücher:  Böhling,  Gräfin  Maria  Aurora  v.  Königsmark. 
(Dresden,  Minden.    2,25  M.) 

Neuere  Geschichte  von  1789  bis  1871. 

Die  Studie  von  Albert  Espitalier:  „Vers  Brumaire.  Bonaparte 
ä  Paris.  5.  XII.  lygy — 4.  V.  lygS.  D'aprhs  des  documents  inidits**^ 
(Paris  1914.  302  S.)  versucht  Napoleons  Haltung  während  dieser 
wichtigen  Epoche  seines  Lebens,  über  die  A.  Fournier:  „Napoleon  I.** 
Bd.  P  (1904)  S.  304  eine  genauere  Untersuchung  vermißte,  im  ein- 
zelnen klarzulegen.  Das  Ergebnis  ist,  daß  das  damals  ins  Auge  ge« 
faßte  Unternehmen  gegen  England  nur  ein  Scheinmanöver  war,  daß. 
Talleyrand  als  der  eigentliche  geistige  Urheber  der  Unternehmung  in 
den  Orient  anzusehen  ist  (das  aufschlußreiche  Buch  von  Frangois. 
Charles- Roux  „Les  origines  de  Vexpidition  d*Egypte'\  Paris  1910, 
vgl.  die  Anzeige  von  G.  Roloff  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  107  (1911), 
S.  443,  scheint  der  Verfasser  nicht  zu  kennen),  daß  Bonaparte  auf 
den  Plaa  erst  einging,  als  sein  Versuch,  mit  Barias'  Hilfe  Mitglied  des 
Direktoriums  zu  werden,  an  dessen  ablehnender  Haltung  gescheitert 
war  (iber  Bonapartes  und  Talleyrands  Rolle  in  der  Vorgeschichte 
der  Unternehmung  vgl.  meine  „Geschichte  Ägyptens  im  19.  Jahr- 
hundert", Halle  1917,  S.  271),  und  daß  die  Direktoren  keine  Ein- 
wendungen erhoben,  weil  sie  den  ihnen  lästigen  General  los  werden 
wollten ;  wie  weit  diese  letztere  Behauptung  richtig  ist,  läßt  sich  schwer 
erweisen,  denn  gerade  hier  müssen  wir  uns  nicht  so  sehr  auf  amt- 
liches zeitgenössisches  Material  als  auf  später  niedergeschriebene  Me- 
moiren mit  all  ihrem  absichtlichen  und  unabsichtlichen  Klatsch  stützen. 
Das  Neue  an  dieser  Studie  ist  —  und  dieser  Beweis  scheint  mir  ge- 
glückt  zu   sein  — ,  daß   Bonaparte   keineswegs   in  großer   Bejgeiste- 


Neuere  Geschichte  von  1789—1871.  169 

rung  in  den  Orient  gezogen  ist,  weil  er  hoffte,  sich  dort  ein  großes 
Reich  erobern  zu  können,  sondern  daß  er  diesen  Zug  als  ein  notwen- 
diges Übel  betrachtet  hat,  um  nicht  als  unbeschäftigter  General  seine 
Popularität  bei  den  Franzosen  einzubüßen;  hat  es  schließlich  doch 
einer  ernsten  Mahnung  von  seiten  des  Direktoriums  durch  Barras 
bedurft,  um  ihn  nach  dem  durch  Bernadottes  diplomatisches  Unge- 
schick hervorgerufenen  Zwischenfall  in  Wien,  der  für  wenige  Tage 
den  Bruch  mit  Österreich,  d.  h.  den  Festlandkrieg,  in  nahe  Aussicht 
stellte,  zur  Abreise  zu  bewegen.  Auch  jetzt  rechnete  Napoleon  nur 
mit  einer  Abwesenheit  von  wenigen  Monaten;  erst  die  Folgen  des 
Tages  von  Abukir  haben  ihn  für  IV2  Jahre  im  Orient  festgehalten. 
—  Ein  recht  interessantes  Licht  auf  seine  geheimsten  Zukunftspläne 
wirft  sein  überaus  kluges  Verhalten  am  21.  Januar  1798,  bei  der  Feier 
des  Todestages  Ludwigs  XVI.:  um  den  gefährlichen  General  bei  Roya- 
listen  und  Gemäßigten  heillos  bloßzustellen,  hatte  das  Direktorium 
seine  offizielle  Teilnahme  gefordert;  Bonaparte  nahm  teil,  aber  nicht 
als  siegreicher  General,  der  aller  Augen  auf  sich  lenken  mußte,  sondern 
als  einfacher  Bürger,  in  seiner  Eigenschaft  als  Mitglied  des  Instituts. 
Halle  a.  S.  Adolf  Hasenclever. 

Gebauer  behandelt  in  einem  wertvollen,  manche  neue  Auf- 
schlüsse bietenden  Aufsatz  ausführlich  die  „Vorgeschichte  der  ersten 
Einverleibung  Hildesheims  in  Preußen  (1798—1802)".  Es  gab  in 
Hildesheim  eine  preußische  und  eine  hannoversche  Partei,  aber  in 
einem  war  man  einig,  nämlich  in  der  Abneigung  gegen  den  Gedanken, 
durch  eine  Zuteilung  an  Kurköln  die  bisherige  geistliche  Herrschaft 
lediglich  gegen  eine  andere  einzutauschen  (Forsch,  z.  brandenburg.  u. 
preuß.  Gesch.  31,  1),  W. 

Blüchers  Briefe,  ausgewählt  und  erläutert  von  Dr.  Heinrich 
Stümcke  (Reclams  Universalbibliothek  Nr.  5964.  112  S.).  —  Die 
Auswahl  ist  geschickt  und  die  Erläuterungen  auch  für  weitere  Kreise 
völlig  ausreichend.  Wahl. 

Joh.  Gottlieb  Fichte,  Machiavell,  nebst  einem  Briefe  Carls  v. 
Clausewitz  an  Fichte,  kritische  Ausgabe  von  Hans  Schulz,  Leipzig,, 
Verlag  von  Felix  Meier,  1918,  XXII  u.  65  S.  —  Es  war  ein  guter 
Gedanke,  Fichtes  Machiavell-Aufsatz  neu  herauszugeben;  denn  je 
mehr  diese  herrliche  Arbeit  gelesen  wird,  desto  besser.  Gewiß  ent- 
hält sie  nur  einige  Anfangsgründe  der  Politik;  gerade  deswegen  aber 
ist  sie  beim  deutschen  Volke  immer  zeitgemäß.  —  Schulz  druckt  zum 
erstenmal  wieder  den  Urtext  vollständig  ab,  in  dem  der  Machiavell 
1807  in  der  Zeitschrift  „Vesta"  erschien.  Im  kritischen  Apparat  gibt 
er  die  Varianten  an,  die  der  zweite  Druck,  der  in  Fouqu^s  „Musen'* 
1813,  bietet.    Sie  sind  im  allgemeinen  nicht  erheblich;  vielfach  han- 


170  Notizen  und  Nachrichten. 

delt  es  sich  bei  ihnen  nur  um  stilistische  Verbesserungen,  gelegentlich 
auch  um  die  Einschränkung  eines  viel  zu  weit  gehenden  Urteils  (z.  B. 
S.  10).  Erheblich  sind  dagegen  die  Änderungen  (Auslassungen!)  auf 
S.  16,  23,  52 — 56.  Ich  vermute,  daß  Fichte  selbst  die  neue  Redak- 
tion besorgt  hat,  während  Schulz  die  Frage  offen  läßt.  Ganz  abzu- 
lehnen ist  seine  offenbar  auf  einem  reinen  Versehen  beruhende  An- 
nahme, daß  die  „Herrschaft  Frankreichs"  zu  den  größeren  Ände- 
rungen genötigt  habe.  Das  betr.  Heft  der  „Musen"  erschien  tief  im 
Jahre  1813!  Vielmehr  sind  sicher  die  Auslassungen  auf  S.  23  und 
52 — 56  vorgenommen  worden,  weil  diese  Stellen  nicht  geeignet  gewesen 
waren,  die  Kampfstimmung  der  Freiheitskrieger  zu  fördern.  Die 
Auslassung  auf  S.  16  aber  beruht  auf  der  Korrektur,  die  Clausewitz 
an  einer  falschen  Auffassung  Fichtes  —  über  den  Reichtum  der  fran- 
zösischen Heere  an  Artillerie  —  in  dem  Brief  an  Fichte  vom  Jahre 
1809  vorgenommen  hatte,  den  Schulz  im  Anhang  abdruckt  (S.  60). 
Besonders  gerade  wegen  dieser  Verbesserung  nach  einem  Privatbrief 
ist  anzunehmen,  daß  Fichte  selbst  für  die  Änderungen  im  zweiten 
Druck  seiner  Arbeit  verantwortlich  ist.  Wahl. 

In  Reclams  Universalbibliothek  (Nr.  5928)  ist  Fichtes  Schrift 
unter  dem  Titel  „Inwiefern  Machiavellis  Politik  auch  noch  auf  unsere 
Zeiten  Anwendung  habe"  schon  im  Sommer  1917  von  Jos.  Hof- 
miller veröffentlicht  worden.  Diese  volkstümliche  Ausgabe  mit  kurzer 
Einleitung  liegt  jetzt  in  2.  Auflage  vor. 

Im  vorigen  Hefte  ist  in  der  Notiz  über  Roloffs  Aufsatz  S.  536 
Z.  10  V.  u.  statt  „Fälschung"  „Plagiat"  (s.  Roloff  S.  213)  zu  lesen-; 
denn  das  von  Hoffmann  mitgeteilte  Memoire  Leibnizens  ist  nur  die 
französische  Übersetzung  des  von  Guhrauer  (s.  Leibnitz  I,  Anm.S.  18.) 
herausgegebenen  Epistola  ad  Regem  Franciae  de  expeditione  Aegyptiaca. 
(Leibnitz'   Werke  ed.   Klopp  II,  78—92). 

Der  Abdruck  der  Kreuz-  und  Querzüge  von  A.  L.  Fr.  Schau- 
mann (s.  zuletzt  119,  354)  ist  im  Januar-  und  Februarheft  der  Deutsch. 
Rundschau  1919  mit  der  erneuten  Teilnahme  an  der  englischen  Ex- 
pedition nach  Portugal,  April  1809,  wieder  aufgenommen:  Reise, 
Landung,  erste  Kämpfe,  Eroberung  von  Oporto,  Abmarsch  nach 
Spanien. 

Aus  Eichhorns  Nachlaß  (s.  zuletzt  119,354)  hat  W.  Windel- 
band Briefe  an  Gneisenau  1809 — 1818  abgedruckt,  mit  manchen 
wertvollen  Einzelheiten  über  die  Pläne  der  Patrioten  aus  der  Zeit 
der  Reform,  der  Erhebung  und  der  Verfassungskämpfe  nach  1815. 
Hingewiesen  sei  auf  den  Brief  vom  31.  März  1815  über  Schmalz  und 
den  Justizrat  Hoffmann  von  Rödelheim  (Dtsch.  Revue,  Januar — März 
1919). 


A 


Neuere  Geschichte  von  1789—1871.  171 

Die  Bedeutung  der  deutschen  Geschichtschreibung  seit  den  Be- 
freiungskriegen für  die  nationale  Erziehung  von  Max  Lenz  (Geschicht- 
liche Abende  im  Zentralinstitut  für  Erziehung  und  Unterricht,  9.  Heft, 
Berlin,  E.  S.  Mittler  &  Sohn.  1918.  27  S.).  —  Der  Vortrag  bietet 
einen  mit  feinen  und  treffenden,  aber  meist  allzu  knappen  Bemer- 
kungen über  eine  große  Zahl  von  deutschen  Historikern  des  19.  Jahr- 
hunderts ausgestatteten  Überblick,  um  dann,  nach  gerechter  Abwägung, 
wie  es  sich  gebührt,  Ranke  die  Palme  zuzusprechen.  Auch  dieser 
schöne  Vortrag  zeigt  nur  zu  deutlich  (s.  z.  B.  S.  5),  daß  wir  vor  dem 
Zusammenbruch  in  einer  Traumwelt  gelebt  haben:  der  erzieherische 
Einfluß  unserer  Geschichtschreibung  und  gerade  auch  der  Rankes 
ist,  zum  Verderben  unseres  Volkes,  auf  eine  überaus  kleine  Oberschicht 
beschränkt  geblieben.  Wahl. 

Zwei  Berichte,  die  Varnhagen  v.  Ense  über  die  Ermordung 
Kotzebues  dem  König  aus  Karlsruhe  am  24.  und  25.  März  1819  ein- 
sandte, veröffentlicht  Paul  Bai  Heu  in  der  Unterhaltungsbeilage  der 
Täglichen  Rundschau  vom  22.  März  1919. 

Gegenüber  den  von  D.  Anguial  erhobenen  Einwürfen  (s.  119, 
355)  bezüglich  der  Beurteilung  der  Ernennung  Batthianys  zum  unga- 
rischen Ministerpräsidenten  am  17.  März  1848  und  der  „Erschleichung" 
des  Handschreibens  gegen  Jellacic  durch  Batthiany  am  10.  Juni  hat 
H.  Friedjung  (in  der  österr.  Rundschau  1918,  Bd.  54,  73ff.)  seine 
Darstellung  aufrecht  erhalten.  D.  Anguial  seinerseits  bleibt  in  einer 
erneuten  Replik  („Monarchie"  1918,  auf  S.  14)  bei  seiner  Auffassung. 
Er  will  bei  der  Ernennung  Batthianys,  für  deren  Legalität  er  eine 
mündliche,  sonst  nirgends  beglaubigte  Ermächtigung  durch  den  Herr- 
scher geltend  macht,  höchstens  „einen  Formfehler  von  untergeordneter 
Bedeutung"  gelten  lassen:  es  dürften  die  Ernennung  Batthyanys  und 
die  Entsendung  der  Ministerialkommission  nicht  als  revolutionäre, 
eher  als  gegenrevolutionäre  (!)  Akte  bezeichnet  werden.  Auch  be- 
streitet Anguial  nach  wie  vor  freilich  in  sehr  gewundener  Argumen- 
tation, daß  für  das  Handschreiben  vom  10.  Juni  der  Ausdruck  „er- 
schlichen" „zulässig"  sei. 

Einige  hübsche  Jugendbriefe  von  Kurd  von  Schlözer  (s.  117, 
176)  brachte  die  Deutsche  Revue,  März  1919:  über  den  Septemberauf- 
stand in  Frankfurt  vom  18.  und  24.  September  und  über  die  Bewegung 
in  Berlin  vom  10.  November  und  4.  Dezember  1848. 

Briefe  des  Präsidenten  Lette,  des  bekannten  liberalen  Politikers 
und  Begründers  des  Lettevereins,  aus  dem  Frankfurter  Parlament 
an  Ignaz  von  Olfers  vom  15.  Oktober  1848  bis  9.  Februar  1849  hat 
L.  Bergsträßer  im  Februarheft  der  Deutsch.  Rundschau  mitgeteilt. 
Erwähnenswert  ist   besonders   der   Novemberbrief   über  die   Mission 


172  Notizen  und  Nachrichten. 

von  Rodbertus  und  Schulze-Delitzsch  nach  Frankfurt  (S.  177  ist  wohl 
zweimal  Schulze  statt  Schmidt  zu  lesen)  und  über  Bassermanns  Mission 
nach  Berlin. 

H.  Schütter  macht  in  der  österr.  Rundschau  1919,2  kurze 
Mitteilungen  aus  den  Akten  der  Ministerialkonferenzen  über  die  Hal- 
tung der  österreichischen  Regierung  gegenüber  der  polnischen  Revo- 
lution und  der  Diplomatie  der  Westmächte  vom  März  bis  November 
1863.  Sie  zeigen,  daß  man  in  Wien  wohl  erkannte,  welche  Gefahren 
die  von  den  Westmächten,  insbesondere  von  Napoleon  III.  angeregte 
Wiederherstellung  Polens  für  die  Habsburgische  Monarchie,  speziell 
für  die  Behauptung  Galiziens,  heraufbeschwören  würde,  daß  aber  die 
Wiener  Politik  sich  aus  schwankenden  Erwägungen  zu  aktiver  Tätig- 
keit nicht  zu  erheben  vermochte  und  daß  dabei  das  durch  die  Bundes- 
reformfrage  verstärkte  Mißtrauen  gegen  Preußen  lähmend  einwirkte. 

Inhaltreiche,  mit  Apologetik  und  Polemik  reichlich  durchsetzte 
Mitteilungen  über  die  ministerielle  Tätigkeit  des  Grafen  Richard 
Belcredi  und  Österreichs  innerstaatliche  und  auf  den  Krieg  bezüg- 
liche Politik  vor  und  nach  der  Entscheidung  von  1866,  u.  a.  über  die 
beim  Ausgleich  mit  Ungarn  auftretenden  Gegensätze  und  die  Rollen 
der  maßgebenden  Personen  hat  H.  Traub  aus  den  Belcredischen 
Familienpapieren  in  „Österreich"  I,  4  veröffentlicht. 

Im  Märzheft  der  Deutschen  Revue  druckt  W.  Schüßler  Teile 
aus  den  Tagebüchern  des  hessischen  Ministers  Frhr.  R.  v.  Dalwigk. 
zu  Lichtenfels  aus  den  Jahren  1866  bis  1871  ab,  die  demnächst  in 
Buchform  erscheinen  sollen. 

Roms  letzte  Tage  unter  der  Tiara.  Erinnerungen  eines  römischen 
Kanoniers  aus  den  Jahren  1866  bis  1870.  Von  Klemens  August  Eick- 
holt,  päpstlichem  Offizier  a.  D.  Mit  8  Bildern.  Freiburg,  Herder 
[1917].  VIII  u.  320  S.  3,50  M.  —  Das  hübsch  ausgestattete  Büchlein 
ist  nach  Inhalt  und  Darstellung  so  gehalten,  daß  man  es  sich  gern  in 
den  Händen  der  Familie  und  der  nächsten  Freunde  des  greisen  Ver- 
fassers denkt.  Für  die  Wissenschaft  bietet  es  nichts  außer  einigen 
Mitteilungen  über  römisches  Leben  und  vereinzelten  kleinen  Beob- 
achtungen. Nützlich  sind  manche  Nachrichten  über  das  päpstliche 
Heer,  namentlich  über  den  inneren  Dienst,  auch  etwa  über  die  geist- 
lichen Exerzitien  (S.  194f.),  endlich  über  die  Verteidigung  Roms  im 
September  1870  (S.  266 ff.  bei  Porta  S.  Giovanni  am  20.  September);, 
ein  Verzeichnis  der  bei  der  Einnahme  Roms  verwundeten  und  gefal- 
lenen päpstlichen  Soldaten,  Offiziere  und  Ärzte  ist  beigegeben.  Von 
Einzelheiten  sind  nennenswert:  S.  140f.  schüchterne  Bemerkungen  über 
Kanoniker  im  Kirchenstaat;  S.  204f.  über  die  Landbevölkerung;  250f. 
und  261  über  die  Römer;  über  Pius  IX.  S.  160  und  289  (seine  „herr-^ 


1 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  173 

liehe,  klangvolle  Stimme");  zu  dem  Tod  des  Kardinals  Franchi  181 
^Anm.  2);  S.  221  ff.  über  das  „widerliche  Gespenst"  des  Chauvinismus 
in  Marseille  im  Juli  und  August  1870  (S.  233 f.  über  einen  Ausbruch 
tierischer  Wut  des  französischen  Pöbels ;  auch  237ff .).  An  der  streng 
kirchlichen,  papsttreuen  Gesinnung  Eickholts  würde  gewiß  auch  dann 
niemand  gezweifelt  haben,  wenn  sie  etwas  weniger  aufdringlich  her- 
vorträte. Der  Verfasser,  der  sich  als  päpstlicher  Soldat  in  Wort  und 
Tat  etwas  eilfertig  zeigt,  ist  noch  jetzt  in  seinem  Urteil  einseitig  und 
heftig,  besonders  wenn  er  auf  das  Königreich  Italien  zu  sprechen  kommt. 
Der  Spott  über  Bixio  (1866)  S.  280  bekundet  mehr  Vorurteil  als  Sach- 
kenntnis. F.   Vigener. 

Neue  Bücher:  Bitterauf,  Geschichte  der  französischen  Revo- 
lution. 2.  Aufl.  (Leipzig,  Teubner.  2  M.)  —  Hub.  Klein,  Napoleon  I. 
und  die  Presse.  Napoleons  Kampf  gegen  die  Presse  1799 — 1805.  (Bonn, 
Behrendt.  2  M.)  —  Hansen,  Preußen  und  Rheinland  von  1815  bis 
1915.  (Bonn,  Marcus  &  Weber.  9  M.)  —  Leitzmann,  Wilhelm  v. 
Humboldt.  (Halle,  Niemeyer.  3,50  M.)  —  Charmatz,  Geschichte 
der  auswärtigen  Politik  Österreichs  im  19.  Jahrhundert.  2.,  veränd. 
Auflage.  2  Bde.  (Leipzig,  Teubner.  Je  2  M.)  —  Charmatz,  Öster- 
reichs innere  Geschichte  von  1848 — 1895.  3.,  veränderte  Auflage. 
2  Bde.  (Leipzig,  Teubner.  Je  2  M.)  —  O.  Weber,  1848.  3.  Aufl. 
{Leipzig,  Teubner.    2  M.) 

Neueste  Geschichte  seit  1871.i) 

Von  höchstem  Interesse  sind  die  auf  Bismarcks  Sturz  bezüg- 
lichen Korrespondenzen,  die  H.  Schütter  in  der  österr.  Revue  1919,3 
aus  dem  Wiener  Archiv  mitgeteilt  hat.  Am  22.  März  1890  hat  Franz 
Joseph  in  einem  von  Kalnoky  entworfenen  Schreiben  an  Bismarck 
sein  aufrichtiges  Bedauern  über  dessen  Abgang  und  seine  dankbare 
Anerkennung  für  die  Freundschaft  und  die  Allianz  mit  der  Habsburger 
Monarchie  ausgesprochen  (I).  In  seiner  Antwort  vom  26.  März  (II) 
betont  Bismarck  die  Stärkung  des  monarchischen  Gedankens  in  Preußen 
und  im  übrigen  Deutschland  seit  seinem  Amtsantritt;  daß  er  nicht 
freiwillig  seinen  Posten  verlassen,  hebt  er  zweimal  nachdrücklich  her- 
vor. Man  möchte  vermuten,  daß  die  Kenntnis  dieses  Schriftwechsels 
Kaiser  Wilhelm  veranlaßt  hat,  am  3.  April  in  einem  umfangreichen 
(7^  Druckseiten),  anscheinend  eigenhändigen  und  selbstverfaßten 
Briefe  (III)  „einen  vertraulichen  Überblick  zu  geben  über  die  Ent- 
wicklung und  das  schließliche  Eintreten  des  Rücktritts  des  Fürsten 
von  Bismarck".    Es  ist  natürlich  ganz  subjektive  Darstellung  in  der 


^)  Wo  nichts  anderes  angegeben,  ist  das  Erscheinungsjahr  1918. 


174  Notizen  und  Nachrichten. 

temperamentvollen  Art  des  jungen  Kaisers,  völlig  unter  dem  Eindruck 
der  Krise  und  der  Katastrophe.  Bemerkenswert  ist  es,  daß  Wilhelm 
hier  —  wohl  in  bewußter  Absicht  —  Meinungsverschiedenheit  mit 
Bismarck  auf  dem  Gebiete  der  auswärtigen  Politik  entschieden  be- 
streitet und  nur  „rein  innere,  meist  taktische  Gesichtspunkte"  gelten 
lassen  will:  zunächst  beim  großen  Bergarbeiterstreik  von  1889  (was 
schon  Marcks,  Otto  von  Bismarck  1915,  220  f.  angedeutet  hat);  dann 
den  Arbeiterschutz;  Bismarcks  Intrigen  gegen  die  von  Wilhelm  ge- 
wünschte internationale  Konferenz  (auch  hier  die  Rolle  des  schweize- 
zischen  Gesandten  Roth,  wie  sie  Hohenlohe  II  468  vom  Kaiser  im 
Juni  1890  vernommen  hat),  die  Erneuerung  des  Sozialistengesetzes 
(die  Kartellparteien  hätten  von  Bismarck  nur  die  Zusage  verlangt, 
das  Fallenlassen  des  Ausweisungsparagraphen  „in  Erwägung  zu  ziehen"); 
überhaupt  die  Frage  einer  vom  Kaiser  abgelehnten,  von  Bismarck  ge- 
wünschten kraftvollen,  wenn  nötig  gewaltsamen  Unterdrückungspolitik 
gegen  die  Sozialdemokratie;  die  Kabinettsordre  von  1852;  die  Audienz 
Windthorsts.  Von  der  Einbringung  einer  neuen  Militärvorlage  mit 
ihren  möglichen  politischen  Konsequenzen  und  von  den  von  Delbrück 
behaupteten  Wahlrechtsänderungs-  und  Staatstreichplänen  ist  nicht 
die  Rede.  Entscheidend  aber  für  die  Notwendigkeit  der  Trennung 
(zunächst  in  allmählichem,  von  Bismarck  selbst  gewünschtem  Aus- 
scheiden), dann  der  in  schroffem  Zerwürfnis  erfolgten  Entlassung  ist 
nach  Wilhelms  Darstellung  die  krankhafte  Gereiztheit,  das  brüskie- 
rende, unehrerbietige  und  intrigierende  Auftreten  Bismarcks  geworden, 
als  der  Kaiser  erkannte,  daß  „der  Dämon  der  Herrschaft  den  hehren, 
großen  Mann  erfaßte,  und  daß  er  jede  Gelegenheit  zum  Kampf  gegen 
seinen  Kaiser  benützte."  „Da  riß  mir  die  Geduld;  mein  alter  hohen- 
zollerscher  Familienstolz  bäumte  sich  auf,  jetzt  galt  es,  den  alten 
Trotzkopf  zum  Gehorsam  zu  zwingen  oder  die  Trennung  herbeizufüh- 
ren." —  Bemerkenswert  ist  des  Kaisers  Mitteilung,  daß  er  nach  dem 
Tode  Kaiser  Wilhelms  I.  sich  allein  für  Bismarck  in  die  Bresche  ge- 
schlagen und  dadurch  den  Zorn  des  sterbenden  Vaters  und  den  un- 
auslöschlichen Haß  der  Mutter  auf  sich  gezogen  habe.  —  Es  folgt  die 
Antwort  Franz  Josephs  vom  12.  April,  ein  kurzer  Dank  Wilhelms 
vom  14.  April  (IV  u.  V).  —  Bekannt  ist  ja  Caprivis  Uriasbrief  vom 
9.  Juni  1892  an  den  Prinzen  Reuß.  Jetzt  sehen  wir  (mit  der  zusagen- 
den Antwort  Franz  Josephs  vom  15.  Juni),  daß  am  12.  Juni  1892 
Wilhelm  selbst  dem  österreichischen  Kaiser  die  Bitte  vorträgt,  den 
„ungehorsamen  Untertan"  (vgl.  Friedrich  Wilhelm  III.  an  Stein, 
Lehmann,  Stein  I,  451),  der  „in  der  perfidesten  Manier  in  seiner  Presse 
und  der  fremder  Länder  gegen  mich,  Caprivi,  meine  Minister  usw. 
Krieg  geführt"  und  „unter  ungezogenster  Ignorierung  meines  Hofes 
sich  nach  Dresden  und  Wien  begibt,  um  dort  den  alten  treuen  Mann 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  175 

herauszubeißen",  nicht  zu  empfangen,  ehe  er  nicht  peccavi  gesagt.  — 
Diese  Veröffentlichung,  besonders  der  mit  erstaunlicher  Deutlichkeit 
auch  in  den  Einzelheiten  über  Bismarck  und  die  Minister  geschrie- 
bene Brief  vom  3.  April,  der  hoffentlich  ausführliche  Mitteilungen  von 
Bismarckscher  Seite  veranlassen  wird,  wird  wohl  zu  erneuter  Erörte- 
rung über  das  vielumstrittene  Problem  von  Bismarcks  Sturz  führen. 

K.  J. 

The  Official  Index  of  the  Times  (jährlich  vier  Bände),  der  sich 
auch  auf  Leit-,  Spezialartikel  und  Besprechungen  erstreckt,  ist  ein. 
vorzügliches  Hilfsmittel  zum  Studium  der  neuesten  Geschichte,  über 
deren  Quellen  H.  Hall  in  der  Contemporary  Review  113  eine  Ab- 
handlung veröffentlicht. 

Zur  deutschen  Kriegsliteratur  äußern  sich  ebenda  Th.  F.  A. 
Smith,  ferner  W.  Epstein  im  Hibbert  Journal  14,  1915,  W.  Goetz 
in  der  Europäischen  Staats-  und  Wirtschaftszeitung  1916  und  Drey- 
haus  in  den  Forschungen  zur  Brandenburgischen  und  Preußischen 
Geschichte  30/1,  1917/8. 

Lehrreich  und  dankenswert  ist  die  in  der  Neuen  Zeit  11  von 
E.  Dähn  gegebene  Übersicht  über  „das  Archiv  der  sozialdemokra- 
tischen Partei  Deutschlands,  seine  Geschichte  und  Sammlungen"» 
Dagegen  kann  man  sich  mit  der  für  das  Berichtsgebiet  häufig  in  Be- 
tracht kommenden,  bis  1918  einschließlich  vorliegenden  Biblio- 
graphie der  Sozialwissenschaften  und  der  Bibliographie  der 
einheimischen  und  fremden  Zeitschriften-  bzw.  Zeitungsliteratur  weder 
technisch  noch  sachlich  ganz  einverstanden  erklären. 

Zwei  Akademiereden  von  1915/16,  die  J.  Bryce  unter  der  Über- 
schrift: Reflexions  d'un  Historien  sur  la  guerre  in  den  Januarheften 
der  Revue  de  Paris  und  außerdem  in  den  Essays  and  adresses  in 
war  Urne  veröffentlicht,  sind  nicht  sehr  ergiebig  und  halten  sich  im 
allgemeinen  an  der  Oberfläche.  Dagegen  verdienen  H.  Grubers  Dar- 
legungen: „Das  lateinische  Kultundeal,  die  Freimaurerei  und  der 
Ententefrieden"  (Deutsche  Rundschau  45)  wegen  des  Hinweises  auf 
anglo-italienische  geschichtliche  Zusammenhänge  Beachtung.  Mit  der 
Theorie  der  öffentlichen  Meinung  befaßt  sich  F.  Tön  nies  in  Schmollers 
Jahrbuch  40. 

Der  mit  Fragen  der  diplomatischen  Vorgeschichte  des  Krieges 
neuerdings  wieder  stark  beschäftigte  E.  Daudet  widmet  der  inter- 
nationalen Krise  von  1875  in  der  Revue  des  Deux  Mondes  (1915,  April 
15)  eine  Untersuchung.  Auch  Bismarcks  Rückversicherungsvertrag 
von  1887  gibt  immer  wieder  zu  förderlichen  geschichtlichen  Betrach- 
tungen Anlaß,  wie  M.  v.  Hagen s  Artikel  im  Neuen  Deutschland  7 
erkennen  läßt.    Nicht  minder  fordert  die  Politik  der  Nachfolger  Bis- 


176  Notizen  und  Nachrichten. 

marcks  zu  nachprüfender  Betrachtung  heraus,  zumal  da  Bülows 
Deutsche  Politik  dafür  einen  kräftigen  Anstoß  gegeben  hat.  Hier 
seien  einige  Besprechungen  des  Werkes  nachgetragen:  Cromer, 
Spectator  1914,  Febr.  14,  J.  de  Wlassics,  Revue  de  Hongrie  15,  und 
<j.  Kaufmann,  Internationale  Monatschrift  9  (1915),  E.  H.  Moorhouse, 
Londoner  Outlook  38,  H.  Oncken,  Deutsche  Politik  1,  M.  Spahn, 
Hochland  13,  G.  v.  Schmoller,  Jahrbuch  40,  E.  Bernstein,  Neue  Zeit 
34,  n,  M.  Schippel,  Sozialistische  Monatshefte  II  und  Wittschewsky, 
Grenzboten  75  (1916),  auch  H.  Welschinger,  Revue  des  Deux  Mondes 
1917,  Mai  1.  Hierher  gehören  auch  die  durch  die  Burtzeff-Enthüllun- 
gen  angeregten  Aufsätze  über  den  Vertrag  von  Björkö  von  1905  aus 
der  Feder  von  A.  Nekludow,  ebenda  März  1,  und  von  M.  Bompard, 
Revue  de  Paris,  Mai  1915.  Zur  Polemik  zwischen  Delbrück  und 
Haller  äußert  sich  Spectator,   Neue  Zeit  35,  II  (1917). 

Von  den  zahlreichen  Nachrufen  auf  Kaiser  Franz  Joseph  sind 
die  von  R.  Pinon,  Revue  des  Deux  Mondes  VI,  37,  und  von  L.  Eisen- 
mann, Revue  de  Paris  24,  I  (1917)  beachtenswert. 

Aus  derselben  Zeitschrift  25,  III  sei  der  gut  geschriebene,  über- 
sichtliche Beitrag  von  J.  Duhem,  La  question  serbe  et  les  origines  de 
la  guerre  hervorgehoben.  Über  den  Titel  hinausgehend,  gewährt  er 
einen  trefflichen  Einblick  in  die  (feindliche)  Anschauung  über  die 
österreichisch-ungarische  Balkanpolitik  und  ihr  Verhältnis  zur  Vor- 
geschichte des  Krieges.  Sofern  sie  Eisenbahnpolitik  ist,  hat  sie  auf 
französischer  Seite  öfters  besondere  Aufmerksamkeit  gefunden.  Be- 
zeichnend dafür  ist  R.  Gonnard,  Uexpansion  austro-hongroise  et 
les  nouvelles  lignes  croato-dalmates.  Die  Arbeit  dieses  in  austro-balka- 
nischen  Fragen  bewanderten  Lyoner  Professors  ist  in  der  Revue  Poli- 
tique  et  Parlamentair e  79  (1914)  erschienen  und  noch  vor  dem  Kriege 
verfaßt.  Aus  der  Kriegszeit  stammt  J.  Thureau,  Les  chemins  de 
fer  balkaniques  et  leur  röte  dans  les  origines  de  la  guerre  (ebd.  86,  1916), 
die  den  interessanten  Gegenstand  in  noch  weiterem  Rahmen  behandelt. 

Die  sich  noch  immer  vermehrenden  Arbeiten  über  die  diploma- 
tischen Kämpfe  vor  Kriegsausbruch  werden  besonders  auf  feindlicher 
Seite  gepflegt.  Ein  Beispiel  bietet  die  kritische,  recht  tendenziöse 
Studie  des  auf  diesem  Gebiete  auch  sonst  eifrig  tätigen  A.  Gauvain, 
Mitarbeiters  am  Journal  des  Dibats,  über  die  Anfang  1919  auch  in 
Deutschland  erschienenen  Enthüllungen  Lichnowskys,  Mühions  und 
des  im  Herbst  1917  herausgegebenen  Griechischen  Weißbuchs  (Revue 
de  Paris  25,  III).  Anderseits  hat  die  Schmähschrift  faccuse,  als  deren 
Verfasser  sich  Ende  1918  R.  Grelling  bekannt  hat,  mehrfach  auch 
auf  neutraler  Seite  begründeten  Widerspruch  erfahren,  so  bei  dem 
Arzte  E.  von  Dieren,  Gedanken  eines  Holländers  über  den  Welt- 
krieg (1916). 


Neueste  GeßChichte  seit  1871.  177 

Im  Archiv  für  Straf  recht  hat  Pharos  das  auch  gesondert  er- 
schienene Protokoll  des  Prozesses  gegen  die  Attentäter  von  Sarajewo 
herausgegeben.  J.  Hashagen. 

Der  „Deutsche  Geschichtskalender",  von  Fr.  Purlitz  bearbeitet, 
hat  sich  zu  einem  unentbehrlichen,  überaus  stoffreichen  zeitgeschicht- 
lichen Hilfsmittel  für  die  Geschichte  des  Weltkrieges  entwickelt.    Als 
Sonderausgabe  unter  dem  Titel  „Der  Europäische  Krieg"  umfaßt  er 
jetzt  schon  53  bis  zum  Dezember  1918  reichende  Lieferungen  (Verlag 
von  F.  Meiner,    Leipzig).    Darunter  befinden   sich    Sonderhefte  über 
den  Frieden  von   Brest-Litowsk,  den  Waffenstillstand  und    die  deut- 
sche   Revolution.     Man  wird   mit  Ergriffenheit,  diese  letzten   Hefte 
durchsehend,    noch    einmal    die    furchtbaren    Tage     unseres    plötz- 
lichen Zusammenbruches  durchleben.    Dabei  wird  man  freilich  auch 
einen  Mangel  in  der  Anlage  des  Sammelwerkes  gewahr,  der  sich  aus 
seiner  raschen  Herstellung  erklärt  und  ganz  wohl  nicht  beseitigt  wer- 
den,  aber  doch   durch    eine   umsichtige    Redaktion    gemildert    wer- 
den kann.    Nebeneinander  stehen  nämlich  jetzt  die  kurzen  Tatsachen- 
vermerke und  eine  Fülle  von  Preßstimmen  des    In-  und  Auslandes 
über  die  Ereignisse,  in  denen  in  oft  versteckter  Weise  auch  kausal 
wichtige,  ja  unentbehrliche  Mitteilungen  enthalten  sind,  die  der  Her- 
ausgeber eigentlich  an  hervorragender  Stelle,  unmittelbar  den  Haupt- 
tatsachen angefügt,  bringen  müßte.    Wer  könnte,  wenn  er  nur  diesen 
Geschichtskalender   liest,    ahnen,   aus   welchen    Beweggründen    unser 
Waffenstillstandsangebot  vom  5.  Oktober  entsprang.    Die  damaligen 
Urteile  der  rechtsstehenden  Blätter,  die  der  Geschichtskalender  ihnen 
unmittelbar  anreiht,  würden  ihm  ein  völlig  falsches  Bild  der  Situation 
vorspiegeln.    Viele  Seiten  später  (S.  132)  erfährt  man  dann  erst,  daß 
die  Tägl.  Rundschau  die  Verantwortung  für  das  unglückliche  Waffen- 
stillstandsangebot in  erster  Reihe  Ludendorff  zurechnet.    Der  Heraus- 
geber des    Geschichtskalenders  hat  nun  zwar  nicht  die   Pflicht,  zu 
untersuchen,  inwieweit  solche  Behauptungen  zutreffen,  aber  er  müßte 
dem  künftigen  Forscher  wenigstens  dadurch  vorarbeiten,  daß  er  sie 
an  hervorragender  Stelle  bucht  und  mit  den  schon  erreichbaren  Zeug- 
nissen belegt.  M. 
\            In  den   Annalen  für   Soziale   Politik  und    Gesetzgebung  6,  3/4 
I  hat  H.  Oncken  über  die  inneren  Ursachen  der  Revolution  von  1918 
I  gehandelt. 

!  In  einem  Heftchen  der  Sammlung  „Die  neue  Zeit.    Schriften 

I  zur  Neugestaltung  Deutschlands"  sind  durch  Felix  Salomon  „Die 
j  neuen  Parteiprogramme  mit  den  letzten  der  alten  Parteien  zusammen- 
gestellt" (Leipzig  und  Berlin,  Teubner.    1919.    IV  u.  688.    1,50  M.). 
Franz   Ehrle    S.  J.  „Neu-Deutschland    und  der  Vatikan.    Er- 
wägungen über  Artikel  3  des  Entwurfes  der  neuen  Reichsverfassung" 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  12 


178  Notizen  und  Nachrichten. 

(Flugschriften  der  „Stimmen  der  Zeit",  2.  Heft.  Freiburg  i.  Br.,  Her- 
der. 1919.  18  S.  60  Pf.)  tritt  für  eine  gegenseitige  Vertretung  des 
Reiches  und  der  Kurie  ein.  Er  führt  auch  geschichtliche  Erwägungen 
ins  Feld. 

Neue  Bücher:  Fried  jung,  Das  Zeitalter  des  Imperialismus 
1884—1914.  1.  Bd.  (Berlin,  Neufeld  &  Henius.  20  M.)  —  Sauer- 
beck, Die  Großmachtspolitik  der  letzten  zehn  Friedensjahre  im  Licht 
der  belgischen  Diplomatie.  (Basel,  Finckh.  6  M.)  —  Hammann, 
Zur  Vorgeschichte  des  Weltkrieges.  (Berlin,  Hobbing.  4,50  M.)  — 
Platykas,  La  Grtce  pendant  la  guerre  de  igi4 — igi8.  (Bern,  Wyß.) 
—  Reinke,  Politische  Lehren  des  großen  Krieges.  (Berlin,  Mittler 
&  Sohn.  3,80  M.)  —  L6vay,  Logik  des  Weltkrieges.  (Wien,  Brau- 
müller. 4  M.)  —  Löwe,  Das  neue  Rußland  und  seine  sittlichen  Kräfte. 
(Halle,  Niemeyer.    5,30  M.) 


Deutsche  Landschaften. 

Neue  historische  Literatur  über  die  deutsche  und  italienische 
Schweiz  stellt  C.  Brun  zusammen  im  Anzeiger  für  Schweizerische 
Geschichte  1918,  3. 

Aus  dem  Sammelwerk,  das  Karl  Strupp  als  Werbeschrift  unter 
dem  absonderiichen  Titel  „Unser  Recht  auf  Elsaß-Lothringen"  (München 
und  Leipzig,  Duncker  und  Humblot.  1918)  herausgegeben  hat,  darf 
hier  der  Beitrag  Karl  Stählins:  Politische  und  kulturelle  Geschichte 
Elsaß- Lothringens,  rühmlich  hervorgehoben  werden.  Mit  Fug  und 
Recht  werden  kritische  Streitfragen  umgangen;  um  so  anregender 
ist  der  Versuch,  die  Geschichte  beider  Länder,  Elsaß  und  Lothringens, 
die  bekanntlich  vor  1870  weit  weniger  als  die  meisten  anderen  deut- 
schen Stämme  gemeinsam  hatten,  im  großen  Rahmen  der  europäischen 
Kultur  und  Politik  in  enge  Beziehungen  zu  setzen.  Leider  endet  die 
Darstellung  mit  der  Einverleibung  des  Reichslandes  ins  Neue  Reich; 
ihre  Fortsetzung  erst  bis  in  die  Kriegsjahre  hinein  kann  die  große 
Frage  nach  der  „Schuld"  lösen,  die  der  kleine  deutsche  Bundesstaat 
mit  der  Angliederung  von  Volksgenossen  auf  sich  lud,  die  in  der 
politischen  Luft  des  nationalen  Einheitstaates  zu  leben  gewöhnt 
waren  und  jetzt  in  einen  Partikularismus  hineingespannt  wurden, 
den  sie  längst  überwunden  hatten.  Hier  gilt  es,  uns  und  den 
kommenden  Geschlechtern  ein  neues  „Recht"  auf  das  ehemalige 
„Reichsland"  zu  erwerben,  und  hier  muß  auch  die  Geschichtschrei- 
bung einsetzen  zur  rückhaltlosen  nationalen  Selbstkritik. 

P.  Wentzcke, 


i 


Deutsche  Landschaften.  179 

An  Hand  von  aus  der  Heidenzeit  noch  erhaltenen  Gräbern  und 
Steinen  erzählt  C.  Matthis  in  seiner  Schrift:  Wasgowiana,  Straßburg, 
Heitz,  1918,  47  S.,  allerlei  Sagen  des  nördlichen  Wasgaus. 

Den  Inhalt  des  Visitationsprotokolls  betreffs  des  Klosters  Trochtel- 
fingen  vom  Jahre  1661  analysiert  Friedrich  Eisele  in  den  Mitteilungen 
des  Vereins  für  Geschichte  und  Altertumskunde  in  Hohenzollern 
Bd.  51.  Aus  dem  fürstl.  Hohenzollernschen  Hausarchiv  veröffentlicht 
Hebeisen  das  Fragment  einer  unbekannten  Handschrift  über  die 
Königskrönung  Maximilians  I.  im  Jahre  1486  und  den  Brief  eines 
Augenzeugen  über  den  Zustand  des  französischen  Heeres  beim  Durch- 
marsch durch  Vilsingen,  als  es  sich  1799  nach  der  Schlacht  bei  Stockach 
vor  Erzherzog  Karl  zurückziehen  mußte. 

Eine  Reihe  von  wertvollen  Aufsätzen  sind  aus  dem  Oberbayri- 
schen Archiv  für  vaterländische  Geschichte  Bd.  61  zu  erwähnen:  Ph. 
Wehner:  Die  burschenschaftliche  Bewegung  an  der  Universität  Lands- 
hut-München 1815 — 1833;  besonders  geht  der  Verfasser  auf  die  De- 
zemberunruhen von  1830  ein,  als  deren  Kern  er  einen  Studentenulk 
bezeichnet,  der  sich  nur  infolge  des  ungeeigneten  Vorgehens  der  Polizei 
und  der  Militärorgane  zu  öffentlicher  Ruhestörung  ausgewachsen  habe. 
Auf  Grund  des  Briefwechsels  des  kurbayrischen  Ministers  Grafen  Maxi- 
milian von  Berchem  mit  seinem  ältesten  Sohn  schildert  August  Rosen- 
lehne r  das  bayrische  Leben  in  den  Jahren  1759 — 1776.  Die  Artikel, 
die  Joseph  und  Guido  Görres  für  die  Allgemeine  Zeitung  geliefert 
haben,  stellt  Karl  Alexander  v.  Müller  zusammen.  Franz  Feld- 
meier beweist,  daß  das  angeblich  kurbayrische  Manifest  von  1704, 
wie  schon  Heigel  behauptet  hatte,  nicht  als  Kundgebung  der  bayri- 
schen Regierung  angesprochen  werden  darf.  Kurfürst  Max  Emanuel 
hat  nicht  das  geringste  mit  dieser  „Rechtfertigungsschrift"  zu  tun. 
Ihr  Verfasser  ist  der  französische  Abb6  Dubos,  und  veranlaßt  ist  sie 
von  einem  der  Hauptagitatoren  der  französischen  Partei  im  Reich, 
dem  kurkölnischen  Oberstkanzler  Karg  von  Bebenburg,  der  durch 
diese  angeblich  amtlich  bayrische  Kundgebung  den  Riß  zwischen  Max 
Emanuel  und  dem  Kaiser  noch  vertiefen  und  auf  diese  Weise  den 
Kurfürst  ganz  ohne  allen  Rückhalt  in  die  Arme  Ludwigs  XIV.  treiben 
wollte.  Georg  Buchner  untersucht  die  Ortsnamen  des  Karwendel- 
gebiets, und  schließlich  enthält  der  Band  noch  den  Schluß  der  an 
dieser  Stelle  schon  erwähnten  Arbeit  von  Artur  Kleinschmidt  über 
Karl  Vn.  und  Hessen. 

Ein  Gesamtbild  der  Zeit  des  Eindringens  der  gotischen  Formen 
in  die  altbayrische  Baugeschichte  aus  dem  leider  sehr  lückenhaften 
und  brüchigen  Material  herauszuarbeiten,  ist  die  Absicht  des  Werkes 
von  Hermann  Graf:  Altbayrische  Frühgotik,  München,  Piper.    1918. 

12* 


180  Notizen  und  Nachrichten, 

151  S.  und  17  Tafeln.  Der  Verfasser  weist  zunächst  den  französischen 
Einfluß  in  der  spätromanischen  Epoche  und  das  Auftauchen  frühgoti- 
scher Einzeiformen  im  Rahmen  noch  romanischer  Bauten  nach.  Als 
die  eigentlichen  Träger  der  aus  Frankreich  übernommenen  Frühgotik 
bezeichnet  er  die  Meister  der  Regensburger  Bauhütte.  Neben  ihnen 
steht  die  Münchener  Bauschule,  die  die  einheimische  Tradition  aus 
dem  Backsteingebiet  fortführt. 

Eine  Würzburger  Dissertation  von  J.  Rottenkolber  schildert 
die  Wirksamkeit  des  Kemptner  Fürstabts  Heinrich  von  Ulm  (1607 
— 1616);  sie  ist  erschienen  im  Allgäuer  Geschichtsfreund  1918. 

Die  nur  einjährige  Wirksamkeit  der  Friedrichsakademie  zu  Bay- 
reuth 1742 — 1743  untersucht  K.  W.  Aign  im  Archiv  für  Geschichts- 
und Altertumskunde  von  Oberfranken  27,  1.  Gegründet  ist  sie  1742 
von  Markgraf  Friedrich,  dem  Gemahl  von  Friedrich  des  Großen  Schwe- 
ster Wilhelmine;  aber  aus  finanziellen  und  anderen  Schwierigkeiten 
wurde  sie  bereits  am  13.  April  1743  nach  Erlangen  verlegt. 

Aus  dem  Archiv  für  Kulturgeschichte  Bd.  14,  Heft  1  u.  2:  Erich 
Frhr.  v.  Guttenberg  beleuchtet  durch  Beispiele,  die  er  dem  Gutten- 
bergschen  Familienarchiv  entnimmt,  das  Leben  fränkischer  Edelfrauen 
im  16.  Jahrhundert;  als  ihr  Lebensprinzip  bezeichnet  er  „die  bewußte 
Beschränkung  auf  ein  Wirkungsgebiet,  das  ihre  Kräfte  und  Anlagen 
zu  umspannen  vermochten".  Richard  Weyl  beginnt  mit  der  Schil- 
derung eines  Vierteljahrtausends  Kieler  Gelehrtenlebens  aus  Anlaß  des 
250jährigen  Jubiläums  der  Universität  Kiel.  Als  Ergänzung  zu  Kerns 
Sammlung  deutscher  Hofordnungen  veröffentlicht  Felix  Pischel  die 
Hof  Ordnung  vom  19.  September  1573,  die  Kurfürst  August  von  Sachsen 
für  den  Aufenthalt  seines  Mündels,  des  elfjährigen  Herzogs  Friedrich 
Wilhelm   in  Jena  erlassen  hat. 

Sechs  Briefe  der  Pfalzgräfin  Elisabeth,  Äbtissin  von  Herford, 
an  ihren  Bruder,  den  Kurfürsten  Carl  Ludwig  von  der  Pfalz,  ver- 
öffentlicht Anna  Wen  dl  and  in  der  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des 
Oberrheins,  N.  F.  34,  1  mit  einer  etwas  reichlich  gefühlvollen  Würdi- 
gung; sie  stammen  alle  aus  dem  Jahre  1650  und  betreffen  den  Plan 
der  Heirat  von  Elisabeths  Schwester  Henriette  Maria  mit  Sigmund 
Räköczy.  Karl  Baas  schildert  die  Maßnahmen  zur  öffentlichen  Ge- 
sundheitspflege in  Elsaß-Lothringen  von  der  Römerzeit  mit  ihren 
Bauten  von  Wasserleitungen  usw.  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters. 
Das  Heft  enthält  schließlich  den  Schluß  der  Arbeit  von  K.  Vierneisel 
über  Neutralitätspolitik  unter  Markgraf  Karl  Wilhelm  von  Baden- 
Durlach. 

Hessische  Biographien  (hrsg.  von  Herman  Haupt)  Bd.  1,  Lief.  4 
(S.  385  bis  520.     Darmstadt,    Großh.   hess.    Staatsverlag.     1918).   — 


Deutsche  Landschaften.  181 

Männer  von  überragender  Bedeutung  sind  in  dieser  Lieferung,  die  den 
ersten  Band  der  hessischen  Biographien  zu  Ende  führt,  nicht  behandelt. 
Das  meiste  Interesse  wird  der  Historiker  dem  Leutnant  Wilhelm 
Schulz  entgegenbringen,  der  in  der  Revolution  von  1848  eine  gewisse 
Rolle  spielte,  und  dem  Fürsten  Ludwig  zu  Solms-Lich,  für  dessen 
Biographie  hier  freilich  kaum  mehr  als  der  äußere  Rahmen  mitgeteilt 
wird.  Das  Fürstenhaus  ist  vertreten  durch  den  Prinzen  Heinrich  von 
Hessen,  der  1866  auf  preußischer  Seite  focht,  im  Gegensatz  zu  seinem 
doch  nicht  weniger  preußenfreundlichen  Bruder  Ludwig,  dem  späteren 
Großherzog,  sowie  durch  den  Prinzen  Friedrich,  den  Helden  der 
Idylle,  die  den  Darmstädtern  durch  Pasques  „Es  steht  ein  Baum 
im  Odenwald"  lieb  geworden  ist.  Daneben  haben  eine  stattliche  Zahl 
von  Frauen  Arbeiten  aus  den  verschiedensten  Lebenskreisen  ohne 
Übertreibung  und  lauten  Lokalpatriotismus,  ihre  ansprechende  Würdi- 
gung gefunden,  der  Physiker  Buff,  die  protestantischen  Theologen 
Rinß  und  Schmidt,  der  katholische  Theologe  Humann,  der  Jurist 
Löhr,  der  Schulmann  Bone  u.a.    (Vgl.  H.  Z.  Bd.  113,  S.  624  ff.) 

E.  Vogt  f. 
Im  Dezember  1578  ließ  Herzog  Julius  von  Braunschweig  trotz 
eifrig  evangelischer  Gesinnung,  um  seinem  Hause  den  Besitz  gewisser 
geistlicher  Güter  zu  sichern,  seinem  ältesten  Sohn  die  kirchliche  Weihe, 
seinen  beiden  jüngeren  die  Tonsur  erteilen.  Diese  Handlung  erregte 
den  lebhaftesten  Widerspruch  der  Braunschweiger  Geistlichkeit,  worauf 
der  Herzog  mit  der  Amtsentlassung  des  Professors  Thimoteus  Kirchner, 
des  ersten  Geistlichen  der  Universität  Helmstadt,  antwortete.  Trotz 
einer  Eingabe  der  gesamten  Professorenschaft  der  Universität  hielt 
der  Herzog  diese  Verfügung  aufrecht.  Im  Braunschweigischen  Magazin, 
April  1918,  teilt  Paul  Zimmermann  den  Wortlaut  dieser  bisher  un- 
gedruckten Eingabe  mit. 

Die  Zeitschrift  des  Harz-Vereins  für  Geschichte  und  Altertums- 
kunde, Heft  51  bringt  eine  Arbeit  von  H.  Denker  über  den  Wald- 
besitz des  Klosters  Neuwerk  im  Oberharz  und  von  M.  v.  Bahrfeldt 
über  die  letzten  Münzprägungen  der  Grafen  von  Regenstein  1596 
bis  1599. 

Den  Verlauf  und  örtlichen  Schauplatz  der  Niederlage  der  Kaiser- 
lichen in  der  Nähe  von  Liegnitz  am  13.  Mai  1634  untersucht  Arnold 
zum  Winkel  in  den  Mitteilungen  des  Geschichts-  und  Altertums- 
vereins zu  Liegnitz,  Heft  6;  er  veröffentlicht  eine  Anzahl  amtlicher 
und  privater  Schlachtberichte.  Das  Leben  des  Landeshauptmanns  des 
Fürstentums  Liegnitz,  David  von  Schweinitz  (1600 — 1667)  schildert 
Konrad  Klose.  Einen  wichtigen  Beitrag  zur  Reformationsgeschichte 
liefert  die  Studie  von  J.  Bah  low:   Die  Reformation  in  Liegnitz;  sie 

12** 


182  Notizen  und  Nachrichten. 

beruht  auf  guter  Literaturkenntnis  und  auf  dem  Studium  der  ein- 
schlägigen Akten,  von  denen  die  wichtigsten  im  Anhang  abgedruckt 
werden. 

Die  Fortsetzung  der  an  dieser  Stelle  schon  erwähnten  Arbeit 
von  Waldemar  Giese:  Die  JVlark  Landsberg  bis  zu  ihrem  Übergang 
an  die  brandenburgischen  Askanier  im  Jahre  1291  erscheint  in  der 
Thüringisch-sächsischen  Zeitschrift  für  Geschichte  und  Altertumskunde 
8,  2.  Im  Anhang  wird  ein  Verzeichnis  der  zur  Grafschaft  Wettin  bei 
ihrem  Verkauf  an  den  Erzbischof  von  Magdeburg  1248  gehörigen  Ort> 
schatten  mitgeteilt.  In  einem  historischen  Exkurs  beschäftigt  sich 
der  Verfasser  mit  der  Gründungsurkunde  des  Ciarenklosters  zu  Weißen- 
fels vom  6.  September  1284. 

„Die  Archivverwaltung  bei  dem  Kaiserlich  deutschen  General- 
gouvernement zu  Warschau",  die  im  Herbst  1915  unter  Leitung  des 
Danziger  Archivdirektors  Geh.  Archivrat  Dr.  Warschauer  eingerichtet 
wurde,  erhielt  die  Aufgabe  zugewiesen,  gemäß  den  Bestimmungen  der 
Haager  Landkriegsordnung  die  beim  deutschen  Einzug  meist  hüterlos 
zurückgelassenen  Archive  zu  schützen  und  zugleich  den  dort  vorhan- 
denen Quellenstoff  zur  Geschichte  Ostdeutschlands  zu  erforschen  und 
wissenschaftlich  nutzbar  zu  machen.  In  Warschau  selbst  wurden  nicht 
weniger  als  sieben  Archive  —  darunter  die  der  Finanzen  und  der  in- 
neren Verwaltung  —  nebst  verschiedenen  Geschäftsregistraturen  der 
Archivverwaltung  unterstellt;  darüber  hinaus  aber  dehnte  diese  ihre 
Tätigkeit  aus  auf  andere  Städte  des  besetzten  Gebietes,  auf  Privat- 
sammlungen, Kirchen-  und  Gemeindearchive  usw.  Daß  dabei  ein  außer- 
ordentlich reiches  Quellenmaterial  zur  deutschen  und  besonders  zur 
preußischen  Geschichte  im  Osten  zutage  gefördert  werden  müßte,  ist 
bei  der  jahrhundertelangen  Verbindung  j^ener  Landesteile  mit  Polen 
selbstverständlich.  Eine  besondere  Aufmerksamkeit  wurde  dabei  den 
Archivalien  preußischen  Ursprungs  zugewandt,  die  nach  dem  Tilsiter 
Frieden  an  das  Herzogtum  Warschau  ausgeliefert  und  nach  dem 
Wiener  Kongreß  großenteils  nicht  zurückgegeben  sind.  Mit  wie  schönem 
Erfolge  die  Archivverwaltung  dort  gearbeitet  hat,  sieht  man  jetzt  aus 
zwei  Veröffentlichungen,  die  in  der  deutschen  Staatsdruckerei  in  War- 
schau gedruckt  sind.  Der  erste  Band  (Eigentum  des  Kaiserlich  deut- 
schen Generalgouvernements.  1917.  XL IX  u.  190  S.)  behandelt  „Die 
Handschriften  des  Finanzarchivs  zu  Warschau  zur  Geschichte  der 
Ostprovinzen  des  preußischen  Staates".  Nach  einer  Einleitung  über 
die  Einrichtung  der  deutschen  Archivverwaltung  in  Warschau  und 
des  polnischen  Archivwesens  sowie  über  die  bei  dieser  Veröffentlichung 
maßgebenden  Gesichtspunkte  werden  von  sachkundigen  Händen  und 
mit   größter  Sorgfalt   nicht   wenige^   als    330  Handschriften   in    vier 


Deutsche  Landschaften.  I8S 

Gruppen  (Steuerbücher,  Zollrechnungen,  Lustrationen  und  Inventare 
und  Sammelbände)  verzeichnet  und  beschrieben  und  damit  für  Ge- 
schichte deutscher  Städte  und  deutscher  Familien,  für  Verkehrs-  und 
Wirtschaftsgeschichte  des  Ostens,  für  Baugeschichte  —  auch  der  Marien- 
burg —  usw.  Quellen  von  höchstem  Werte  erschlossen,  die  sich  der 
deutschen  Forschung  bisher  entzogen  hatten.  Ein  Ortsregister  erleich» 
tert  die  Benutzung.  —  Von  der  zweiten  Veröffentlichung  „Die  preußi- 
schen Registraturen  in  den  polnischen  Staatsarchiven"  liegt  bisher 
nur  der  er.te  Teil  vor  (1918,  VII  u.  153  S.).  Unter  dem  Titel:  Die 
Gcc^cnichte  der  preußischen  Registraturen"  berichtet  er  die  Ausliefe- 
rung i  reußischer  Akten  an  das  Herzogtum  Warschau  nach  dem  Til- 
siter Frieden,  deren  Schicksale  in  polnischer  Hand  und  die  höchst 
unvollständige  Rückgabe  nach  1815.  In  aktenmäßiger,  streng  sach- 
licher Darstellung,  die  man  doch  nicht  ohne  innerste  Anteilnahme 
lesen  kann,  wird  hier  gezeigt,  wie  nach  1807  die  gewalttätige  Ein- 
mischung der  Franzosen,  die  in  die  Archive  selbst  eindrangen,  und 
nach  dem  Wiener  Kongreß  die  Nachlässigkeit  preußischer  Vertreter 
die  preußischen  Archivbestände  auf  das  schwerste  geschädigt  haben. 
—  Das  zweite  Heft  dieser  Veröffentlichung  soll  die  „vorgefundenen 
Bestände  der  preußischen  Zentralregistraturen,  ein  drittes  die  in  den 
jetzt  polnischen  Bezirken  selbst  entstandenen  Landesregistraturen, 
auch  die  schlesischen  Registraturen  beleuchten,  sowie  die  Quellen- 
nachweisungen und  Register  für  das  ganze  Werk  geben".      P.  B. 

Einen  kurzen  Überblick  über  den  Kampf  der  Universität  Dorpat 
gegen  die  Russifizierung  und  über  die  speziellen  Beziehungen  zwischen, 
den  Universitäten  Dorpat-Rostockgibt  Otto  Staude  in  seiner  Rostocker 
Rektoratsrede:  Dorpat  und  Rostock.    Rostock  1918,  16  S. 

Kulturhistorisches  Interesse  bietet  der  Artikel  über  Sitten  und 
Gebräuche  im  großen  Walsertale  von  Ignaz  Konzett  in  der  Viertel- 
jahrschrift für  Geschichte  und  Landeskunde  Vorarlbergs,  1918,  Heft  3 
und  4;  besonders  ausführlich  geht  er  ein  auf  die  Gebräuche  bei  Ge- 
burt, Taufe,  Hochzeit  und  Tod. 

Neue  Bücher:  Steck  und  Tob  1er,  Aktensammlung  zur  Geschichte 
der  Berner  Reformation  1521—1532.  Lieferg.  1.  2.  (Bern,  K-  J.  Wyß 
Erben.  5  M.)  —  Thdr.  Pestalozzi,  Die  Gegner  Zwingiis  am  Groß- 
münsterstift in  Zürich.  (Zürich,  Gebr.  Leemann  &  Co.  4,50  M.)  — 
Urkundenbuch  der  Abtei  Sankt  Gallen.  VI.  Teil,  Lief  erg.  2  (1448 — 
1453),  bearb.  v.  Traügott  Schieß.  (St.  Gallen,  Fehr.  28  M.)  —  Hor- 
ning,  Der  Humanist  Dr.  Nikolaus  Gerbel,  Förderer  luther.  Reforma- 
tion in  Straßburg  (1485—1560).  (Straßburg,  Heitz.  3  M.)  —  Soll- 
eder, Urkundenbuch  der  Stadt  Straubing.  1.  Bd.  (Straubing,  Hiscor. 
Verein  für  Straubing  und  Umgebung.   20  M.)  —  Karl  Wagner,  Regi- 


184  Notizen  und  Nachrichten. 

ster  zur  Matrikel  der  Universität  Eriangen  1743—1843.  (München, 
Duncker  &  Humblot.  28  M.)  —  Thürauf,  Die  öffentliche  Meinung 
Im  Fürstentum  Ansbach-Bayreuth  zur  Zeit  der  französischen  Revolu- 
tion und  der  Freiheitskriege.  (München,  Beck.  6  M.) —  Goldschmit, 
Geschichte  der  badischen  Verfassungsurkunde  1818 — 1918.  (Karlsruhe, 
Braun.  6  M.)  —  Schwemer,  Geschichte  der  freien  Stadt  Frankfurt 
a.  M.  (1814—1866).    3.  Bd.,  2.  Tl.    (Frankfurt,  Baer  &  Co.    7,50  M.) 

Vermischtes. 

Historische  Kommission  für  Hessen  und  Waldeck.  Seit 
dem  letzten  Jahresbericht  (Juli  1914)  wurden  ausgegeben:  1.  Urkund- 
liche 'Quellen  zur  hessischen  Reformationsgeschichte.  Einleitung:  Terri- 
torium und  Reformation  in  der  hessischen  Geschichte  1526 — 1555  von 
Walter  Sohm  (1913).  2.  Hessisches  Klosterbuch  von  Wilhelm  Dersch 
<1915).  3.  Klosterarchive.  1.  Bd.:  Die  Klöster  der  Landschaft  an  der 
Werra.  Regesten  und  Urkunden,  bearbeitet  von  Albert  Huyskens 
(1916).  4.  Quellen  zur  Rechtsgeschichte  der  hessischen  Städte.  1.  Bd.: 
Quellen  zur  Rechtsgeschichte  der  Stadt  Marburg.  1.  Bd.  bearbeitet 
von  Friedrich  Küch  (1918).  Die  Regesten  Ludwigs  I.  (Armbrust) 
liegen  seit  Herbst  1916  druckfertig  vor.  Von  der  „Behördenorganisa- 
tion" hat  Gundlach  den  1.  Band  ganz  und  den  2.  nahezu  abge- 
schlossen. Von  den  Quellen  zur  Rechts-  und  Verfassungsgeschichte 
der  hessischen  Städte  hat  Küch  das  Manuskript  für  den  2.  Band 
Marburg  abgeschlossen  und  Vorarbeiten  für  andere  Städte  erledigt. 
Von  der^Ropp  vollendete  die  archivalischen  Vorarbeiten  für  den 
ökonomischen  Staat  Landgraf  Wilhelms  IV.  Reimer  gedenkt  die 
Arbeit  des  Ortslexikons  binnen  wenigen  Monaten  abzuschließen. 

Die  Historische  Kommission  für  die  Provinz  Westfalen 
hat,  wie  wir  A.  Meisters  Bericht  über  die  22.  Jahresversammlung 
entnehmen,  im  Jahre  1917  veröffentlicht:  Inventare  der  nichtstaat- 
lichen Archive  Bd. 3,  H.  3  (Kreis  Lüdinghausen);  Mindener  Geschichts- 
quellen Bd.  1:  Die  Bischofschrpniken  des  Mittelalters,  hrsg.  von  Kl. 
Löffler.  —  Das  Register  zum  7.  Band  des  Westfälischen  Urkunden- 
buchs  ist  im  Druck  fast  abgeschlossen.  Für  die  Inventare  der  nicht- 
staatlichen Archive  hat  Archivar  H.  Müller  das  Inventar  des  Hauses 
Hülshof  bearbeitet,  Schmitz-Kallenberg  einen  Teil  des  gräfl.  Galen- 
schen  Archivs  und  einige  kleinere  Archive  des  Stadtkreises  Münster; 
das  Inventar  für  den  Kreis  Paderborn  (Linneborn)  ist  im  Druck. 
Von  den  darstellenden  Geschichtsquellen  sind  durch  Löffler  der 
2.  Band  der  Mindener  Geschichtsquellen  (Tribbes  Beschreibung  von 
Stift  und  Stadt  Minden)  außer  der  Einleitung  und  die  Chronik  von 
Frenswegen  druckfertig  vorgelegt.    Die  von  Didier  vorbereitete  Aus- 


Vermischte».  185 

gäbe  des  Briefwechsels  des  Fürsten  Karl  Theodor  Otto  von  Salm- 
Salm  will  man  für  die  Veröffentlichungen  der  Kommission  zu  gewinnen 
suchen.  Ein  von  Meister  vorgelegtes  Schema  der  Bearbeitung  des 
westfälischen  Adelslexikons  wurde  gebilligt. 

Aus  dem  Bericht  der  Kommission  für  neuere  Geschichte 
Österreichs  über  das  Jahr  1917/18  erwähnen  wir  folgendes:  Von 
dem  2.  Bande  der  Familienkorrespondenz  Ferdinands  I.  (W.  Bauer) 
steht  nur  die  Bearbeitung  der  Briefe  von  1530  und  1531  noch  aus. 
Bibl  hat  den  2.  Band  der  Familienkorrespondenz  Maximilians  II. 
(August  1566  bis  Ende  1567)  druckfertig  vorgelegt.  Die  Arbeiten  für 
den  3.  Band  (1568—1569)  sind  so  gut  wie  beendet. 

Preisaufgabe  der  Samsonstiftung  bei  der  Kgl.  Bayrischen 
Akademie  der  Wissenschaften  im  Jahre  1918:  „Die  Bestattungssitten 
der  ältesten  Zeit  im  Bereich  der  antiken  Kultur  sollen  auf  Grund  einer 
möglichst  vollständigen  kritischen  Sammlung  der  Funde  und  Fund- 
berichte so  dargestellt  werden,  daß  sich  Schlüsse  auf  die  Vorstellungen 
vom  Weiterleben  des  Toten  und  auf  die  Verpflichtungen,  für  das  Wohl- 
ergehen des  Toten  zu  sorgen,  ergeben,  welche  aus  diesen  Vorstellungen 
für  die  Überlebenden  erwuchsen.  Als  zeitliche  Grenze  dieser  ältesten 
Zeit  wird  zweckmäßigerweise  die  Epoche  des  geometrischen  Stils 
(diese  noch  einbezogen)  anzunehmen  sein.  Eine  räumliche  Beschrän- 
kung auf  den  Osten  oder  den  Westen  der  antiken  Welt  ist  gestattet." 
Bearbeitungszeit  3  Jahre  (nach  Beendigung  des  Krieges).  Preis  3000  M. 

Preisaufgaben  der  Teylerschen  Theologischen  Gesell- 
schaft zu  Haarlem.  1.  Zur  Beantwortung  vor  1.  Januar  1920:  „Die 
Gesellschaft  verlangt  eine  Entwicklungsgeschichte  der  , Bewußtseins- 
oder Erfahrungstheologie*  seit  Schleiermacher."  2.  Zur  Beantwortung 
vor  1.  Januar  1921:  Eine  Abhandlung  über  den  Platz  der  Sünde  im 
religiösen  Leben  der  Menschen  nach  moderner  Auffassung.  —  Preis 
Goldene  Medaille  oder  400  fl.  Von  den  Bestimmungen  der  Gesellschaft 
seien  die  folgenden,  da  sie  sonstigen  Gepflogenheiten  widersprechen, 
einmal  im  Wortlaut  mitgeteilt:  „Alle  eingesandten  Antworten  fallen 
der  Gesellschaft  als  Eigentum  anheim,  welche  die  gekrönten,  mit  oder 
ohne  Übersetzung,  unter  ihre  Werke  aufnimmt,  so  daß  die  Verfasser 
sie  nicht  ohne  Erlaubnis  der  Stiftung  herausgeben  dürfen.  Auch  be- 
hält die  Gesellschaft  sich  vor,  von  den  nicht  mit  dem  Preis 
gekrönten  nach  Gutfinden  Gebrauch  zu  machen,  mit  oder 
ohne  Vermeldung  des  Namens  der  Verfasser,  doch  im  ersteren  Falle 
nicht  ohne  ihre  Bewilligung."  Einsendung  (mit  Kennwort)  an:  „Fun- 
datiehuis  van  wijlen  den  Heer  P.   Teyler  van  der  Hülst,  te  Haarlem." 

Ibero-amerikanischer  Studienpreis,  anläßlich  der  drei- 
hundertsten Wiederkehr  des  Todestages  von  Cervantes  begründet  für 


186  Notizen  und  Nachrichten. 

deutsche  Doktordissertationen,  Habilitationsschriften  und  wissen- 
schaftliche Erstlingsveröffentlichungen.  Erster  Preis:  1000  M.  und 
die  Ibero-amerikanische  Medaille  für  wissenschaftliche  Studien.  Der 
Gegenstand  einer  an  dem  Wettbewerb  teilnehmenden  Arbeit  muß  ganz, 
oder  vorwiegend  der  Pyrenäenhalbinsel,  dem  spanischen  Amerika  oder 
Brasilien  angehören.  Nur  eine  1918  im  Druck  erschienene  wissen-^ 
schaftliche  Arbeit,  deren  Verfasser  deutscher  Staatsangehörigkeit  ist 
oder,  von  Deutschen  abstammend,  in  einem  ibero-amerikanischen 
Lande  geboren,  wurde,  wird  zum  Wettbewerb  zugelassen.  Sie  ist  ia 
fünf  Exemplaren,  unter  Beifügung  der  Adresse  des  Verfassers,  seines 
Studienlaufes  und  des  Staatsangehörigkeitsnachweises  bis  zum  1.  Juli 
1919  dem  Wissenschaftlichen  Rat  des  Ibero-amerikanischen  Instituts, 
Hamburg  36,  zur  Verfügung  zu  stellen. 

Aus  der  Totenliste  des  Jahres  1917  seien  nachgetragen :  W.  Meyer 
aus  Speyer  (geb.  1845),  der  Meister  der  lateinischen  Philologie  des 
Mittelalters,  t  9.  März;  der  Jesuitenpater  Emil  Michael  (geb.  1852 
in  Reichenbach,  f  12.  März),  bekannt  durch  sein  tendenziöses  Buch 
über  Döllinger  und  seine  „Geschichte  des  deutschen  Volkes  seit  dem 
13.  Jahrhundert  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters"  (6  Bde.  1897 — 
1917),  die  in  manchem  Kleinen  verdienstlich,  doch  nicht  nur  äußer- 
lich ein  Janssen  für  das  Mittelalter  ist;  Eugen  v.  Philippovich 
(geb.  1858  in  Wien,  f  4.  Juni),  von  dessen  Werken  neben  dem 
„Grundriß  der  politischen  Ökonomie"  namentlich  die  kleine  Schrift 
„Die  Entwicklung  der  wirtschaftspolitischen  Ideen  im  19.  Jahrhun- 
dert" (1910)  bei  uns  Historikern  Beachtung  gefunden  hat;  der  Stutt- 
garter Archivar  Adolf  Pischek  (geb.  1875  in  Stuttgart,  gefallen  in 
Flandern  am  8.  Juni),  der  mit  seiner  ungewöhnlich  reifen  Dissertation 
über  „Die  Vogtgerichtsbarkeit  süddeutscher  Klöster"  (1907)  der  kirch- 
lichen Verfassungsgeschichte  eine  stark  nachwirkende  Anregung  gegeben 
hat;  der  Senior  unter  den  geistigen  Führern  des  Ältkatholizismus  Johan- 
nes Friedrich  (geb.  1836  zu  Poxdorf  in  Oberfranken,  fia  Juli),  der 
seiner  Döllinger-Biographie  durch  den  Stoffreichtum,  seiner  Geschichte 
des  vatikanischen  Konzils  durch  eine  zwar  nicht  unparteiische,  aber 
eindringliche  Behandlung  einzelner  Gedankenreihen  bleibenden  Wert 
zu  verleihen  wußte;  Moriz  Hoernes  (geb.  1851  in  Wien,  f  im  Juli),  der 
Verfasser  zahlreicher  Einzeluntersuchungen  und  mehrerer  zusammen- 
fassender Darstellungen  über  die  Urgeschichte;  Heinrich  Boos  in 
Basel  (geb.  1851  in  Kannstatt,  f  im  Juli),  der  sich  durch  seine  Quellen- 
veröffentlichungen zur  Baseler  und  zur  Wormser  Geschichte  verdient 
gemacht  hat  und  durch  die  namentlich  wegen  der  kraftvollen  Zeich- 
nungen Joseph  Sattlers  geschätzte  „Geschichte  der  rheinischen  Städte- 
kultur" auch  weiteren  Kreisen  bekannt  geworden  ist;  Otto  Kaemmel 
(geb.  1843  in  Zittau,  f  im  September),  dessen  Forschungen  der  deut- 


J 


Vermischteft.  187 

sehen  Besiedelung  des  Ostens,  der  sächsischen  Geschichte,  dem  Un- 
terichtswesen  und  der  Geschichte  Bismarcks  galten,  der  aber  auch 
durch  seine  anspruchslos-hübscnen  Bücher  über  Italien  und  nament- 
Jich  seine  gut  angelegten  und  gut  lesbaren  Darstellungen  der  deut- 
schen und  der  allgemeinen  neueren  Geschichte  eine  bei  uns  Deut- 
schen noch  viel  zu  wenig  geübte  Befähigung  zu  volkstümlicher  Ver- 
wertung wissenschaftlicher  Arbeit  gezeigt  hat;  Adolf  Wagner  (geb. 
1835  in  Erlangen,  f  8.  November,  der  unserem  Arbeitsgebiete  nicht 
^anz  so  nahe  stand  wie  der  wenige  Monate  vor  ihm  verstorbene 
Gustav  Schmoller  (vgl.  H.  Z.  118,  S.  477  ff.),  aber  mit  seinen  theo- 
retischen Schriften  und  seinen  finanzgeschichtlichen  Forschungen 
auch  für  die  Geschichtswissenschaft  große  Bedeutung  gewonnen  hat; 
Pasquale  Villari  (geb.  1827  in  Neapel,  f  6.  Dezember),  der  aus- 
gezeichnete italienische  Geschichtschreiber,  der  namentlich  durch  seine 
Werke  über  Savonarola  und  Machiavelli  auch  die  von  ihm  hoch  ge- 
schätzte deutsche  Wissenschaft  vielfach  anzuregen  vermochte. 

Am  7.  Januar  1918  starb  Hugo  Laemmer  in  Breslau  (geb.  1835 
in  AUenstein),  der  sich  als  junger  Berliner  Privatdozent  von  der  evan- 
gelischen Theologie  zum  Katholizismus  hinwandte  und  dann,  seit 
1859  Priester  und  Dr.  theol.,  mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  lang 
seine  Arbeitskraft  der  Geschichte  der  katholischen  Kirche,  zumal  der 
Geschichte  ihres  Rechtes  und  ihrer  Theologie  widmete. 

Am  7.  Januar  1918  starb  Julius  Wellhausen  in  Göttingen 
(geb.  1844  in  Hameln),  der  hervorragende  Kenner  des  Alten  und  Neuen 
Testaments,  der  israelitischen  und  der  arabischen  Geschichte;  seine 
glänzenden  Bücher  „Prolegomena  zur  Geschichte  Israels"  (zuerst  als 
„Geschichte Israels  1.  Bd."  1878),  „Israelitische  und  jüdische  Geschichte'* 
(zuerst  1894)  und  seine  bedeutenden  Untersuchungen  über  die  Araber 
stellen  ihn  in  die  vorderste  Reihe  der  Geschichtsforscher  des  ausgehen- 
den 19.  und  beginnenden  20.  Jahrhunderts.  Wir  verweisen  auf  den 
wundervollen  Nachruf  von  Eduard  Schwartz  in  den  Geschäftlichen 
Mitteilungen  der  Göttinger  Gesellschaft  der  Wissenschaften  (1918) 
S.  43—73. 

Theobald  Ziegler,  geb.  1846  in  Göppingen,  bis  1911  Professor 
in  Straßburg,  ist  im  September  1918  gestorben.  Von  seinen  Werken  be- 
rühren uns  am  nächsten  seine  gewandte,  halb  populäre  Geschichte 
der  Pädagogik,  sein  umfängliches  Buch  „Die  geistigen  und  sozialen 
Strömungen  des  19.  Jahrhunderts"  —  das  leider  manchmal  zu  stark 
von  Tagesstimmungen  ergriffen  ist  und  sich  gelegentlich  zu  sehr  dem 
Ton  der  Tagesschriftstellerei  nähert,  als  daß  es  der  großen  Aufgabe 
ganz  hätte  gerecht  werden  können  — ,  endlich  das  mit  Wärme  geschrie- 
bene Werk  über  David  Friedrich  Strauß. 


188  Notizen  und  Nachrichten. 

Am  2.  Dezember  1918  starb  der  Geh.  Oberkonsistorialrat  und 
Probst  Gustav  Kawerau  in  Berlin  (geb.  1847  zu  Bunzlau).  Wir  er- 
innern an  seine  Arbeiten  zur  Reformationsgeschichte,  insbesondere 
die  Neubearbeitung  der  Lutherbiographie  Köstlins,  den  3.  Band  der 
Möllerschen  Kirchengeschichte  und  an  seine  bedeutenden  Verdienste 
um  die  Weimarer  Lutherausgabe. 

Im  Januar  1919  starb  der  Wiener  Professor  der  alten  Geschichte 
Adolf  Bauer  (geb.  1855  in  Prag).  Es  sei  hier  namentlich  seiner  Ar- 
beiten zur  Geschichte  der  antiken  Geschichtschreibung,  sowie  seiner 
Untersuchungen  und  zusammenfassenden  Darstellungen  über  die  Ent- 
stehung der  christlichen  Weltchronistik  gedacht. 

Dem  österreichischen  Geschichtsforscher  Josef  von  Zahn,  der 
vornehmlich  auf  dem  Gebiete  der  steiermärkischen  Geschichte  gearbeitet 
hat,  widmete  A.  von  Jaksch  in  den  Mitteilungen  des  Instituts  für 
österreichische  Geschichte  37  (1916),  534 — 539  einen  Nachruf. 

Über  den  1915  verstorbenen  F.  L.  Baumann  (vgl.  U.Z.  115, 
4,  71)  handelten  ausführlich:  Riedner  in  den  Dtsch.  Geschichtsblättern 
17  (1916),  S.  29—47  und  Tumbült  in  der  Zeitschrift  für  Geschichte 
des  Oberrheins,  N.  F.  31  (1916),  116 — 129  (mit  einem  Verzeichnis  der 
Arbeiten  Baumanns);  Edward  Schröders  Gedächtnisrede  auf  Wilhelm 
Meyer  ist  in  den  Nachrichten  der  Götting.  Gesellsch.  d.  Wissensch. 
1917,  Geschäftl.  Mitteil.   S.  76—84  abgedruckt. 

Einen  kurzen  Nachruf  auf  den  durch  seine  Arbeiten  zur  badi- 
schen und  preußischen  Verfassungsgeschichte  bekannten  Göttinger 
Privatdozenten  Paul  Lenel  (geb.  1884  in  Kiel,  gefallen  in  Frank- 
reich 1.  Okt.  1918)  veröffentlicht  C.  Brinkmann  in  der  Zeitschrift  der 
Savignystiftung,  Germanist.  Abteilung  39  (1918),  378  f. 


Beriditigung. 

Im  vorigen  Bande  ist  S.  473  Z.  30  „h^c"  statt  „ec"  zu  lesen, 
S.  476  Anm.  1  „Angelo  in",   S.  477  Z.  161  „petere". 


Ein  methodischer  Versuch 
von 

Eugen  Täubler. 


I. 


^Römisches  Staatsrecht  und  römische 
H  Verfassungsgeschichte. 

römischen  Behandlung  stehen  geblieben  im  Ämterrecht.  —  Ursachen 
dessen.  —  Anschauungen  über  das  Wesen  des  Staats.  —  Konsequenzen 
für  die  Konstruktion  des  Staatsrechts:  Funktionen  und  Organe.  — 
Bürgerschaft  und  Magistrat. 

Die  Römer  kannten  den  Begriff  des  Staatsrechts  in 
unserem  Sinne  nicht.  Sie  unterschieden  öffentliches  und 
privates  Recht  nach  der  bekannten  Definition  Ulpians 
(D.  1,  1,  1,  2):  quod  ad  statum  rei  Romanae  spectat  .  .  quod 
ad  singulorum  utilitatem  und  sahen  den  Sachbereich  des 
öffentlichen  Rechts  in  sacris,  in  sacerdotibus,  inmagistratibus.^) 
Diese  Dreiteilung  enthält  eine  Ungleichmäßigkeit.  Neben 
der  Parallele  von  Priesterschaften  und  Ämtern  fehlt  auf  der 
staatlichen  Seite  das  den  heiligen  Dingen  Entsprechende. 
Es  müßte  lauten:  in  rebus  publicis  und  müßte  all  das  ent- 
halten, was  über  das  Ämterrecht  hinaus  von  den  staat- 
lichen Dingen  rechtlich  erfaßbar  ist:  die  Organisation  und 
Zuständigkeit  der  nichtmagistratischen  Organe  (des  Senats 
und  der  Volksversammlung),   die  Funktionen  des   Staats, 

^)  Die  Bezeichnungen,  ihren  Inhalt  und  ihren  Geltungsbereich 
entwickelt  E.  Ehrlich,  Beiträge  zur  Theorie  der  Rechtsquellen,  1902, 
S.  159  ff. 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  13 


190  Eugen  Täubler, 

seine  Eigenrechte  und  die  rechtlichen  Gegenseitigkeits- 
Verhältnisse  des  Staats  und  der  Einzelnen.  Aber  diese  Teile 
fehlen  doch  nur  scheinbar.  Sie  sind  in  Wirklichkeit  im  Ämter- 
recht enthalten,  sind  in  dieses  über  die  Notbrücke  einbezogen 
worden,  daß  die  nichtmagistratischen  Organe  nur  zusammen 
mit  den  magistratischen  handlungsfähig  und  die  abgestuften 
Bürgerrechte  die  Voraussetzungen  beider  waren.  Wie  es 
zu  dieser  Einbeziehung  kam,  erklärt  sich  zunächst  daraus, 
daß  die  Entwicklung  des  römischen  Rechts  aus  der  Praxis 
der  verschiedenen  magistratischen  bzw.  priesterlichen  Be- 
fugnisse erfolgte.  An  diese  hielt  sich  dann  auch  die  Rechts- 
wissenschaft, soweit  sie  nicht  zu  begrifflich-systematischer 
Bearbeitung  gelangte;  und  dies  war  nur  auf  dem  Gebiete 
des  Privatrechts  der  Fall. 

Andere  Ursachen  kamen  hinzu.  Ich  deute  nur  an,  daß 
es  nicht  die  Pontifices  und  die  Fachjuristen,  sondern  die 
Antiquare  waren,  die  das  Staatsrecht  behandelten,  daß  auch 
bei  uns  das  Staatsrecht  viel  später  als  das  Privat-  und  Straf- 
recht zu  begrifflicher  Durchbildung  gelangte,  daß  in  der 
Blütezeit  der  römischen  Rechtswissenschaft  die  abgestor- 
benen Verhältnisse  der  Republik  dem  juristischen  Denken 
entrückt  waren,  schließlich,  daß  das  Wesen  des  Staats 
den  Römern  begrifflich  nur  mangelhaft  zu  Bewußtsein 
kam. 

Während  heute  als  Resultat  einer  späten  Erkenntnis 
fast  allgemein  die  Anschauung  herrscht,  daß  zu  den  Wesens- 
bestandteilen eines  Staats  ein  Land,  Menschen  und  eine  der 
Idee  nach  unabhängige  Willensorganisation  gehören,  be- 
schränkten die  Römer,  wie  die  Griechen,  den  Staatsbegriff 
auf  ein  Element,  das  Volk.  Die  beiden  anderen  Elemente 
wurden  nur  als  Zubehör  der  Bürgerschaft  empfunden, 
das  Land  als  Besitz,  die  Herrschaft  als  gewillkürte  Ordnung. 
Dieser  Staatsbegriff  war  in  unserem  Sinne  nur  ein  Gesell- 
schaftsbegriff. So  erscheint  er  auch  in  der  philosophischen 
Terminologie  der  Griechen  und  Römer  und  als  solchen 
hat  ihn  nicht  einmal  das  Staatsrecht  des  Principats  über- 
wunden: der  Princeps  galt  nicht  als  unmittelbarer  Träger 
der  Herrschaft,  sondern  lege  de  imperio  als  rechtlicher  Ver- 
treter der  souveränen  Gesamteinheit  des  Volks. 


Römisches  Staatsrecht  ond  römische  Verfassungsgeschichte.   191 

Diese  Verschiedenheit  zwischen  der  modernen  und  der 
antiken  Begriffsbestimmung  des  Staates  hat  Konsequenzen 
in  der  Konstruktion  des  Staatsrechts. 

Erscheint  die  Staatsgewalt  als  selbständiger  Wesensteil, 
so  drängt  die  staatsrechtliche  Konstruktion  ebenso  wie  wohl 
immer  auch  die  geschichtliche  Entwicklung  von  selbst  zu 
einer  Einteilung  nach  dem  Maß  größtmöglicher  Ausschließ- 
lichkeit der  Unterteile,  d.  h.  zunächst  in  die  bekannte 
Teilung  von  Gesetzgebung,  Justiz  und  allgemeiner  Ver- 
waltung und  weiterhin  in  die  einzelnen  Tätigkeitsbereiche; 
das  sind  die  Funktionen  des  Staats.  Neben  ihnen  stehen 
in  einer  gesonderten  Reihe  die  beschließenden  und  ausfüh- 
renden Organe. 

In  einem  Staatswesen,  in  dem  alle  Herrschgewalt  nur 
ein  Ausdruck  des  Volkswillens  ist,  könnte  das  natürlich 
ebenso  der  Fall  sein.  Aber  die  Verschiedenheit  bezeichnet 
zugleich  eine  Verschiedenheit  der  geschichtlichen  Entwick- 
lungsstufen und  die  Funktionenteilung  einen  sehr  hohen 
Grad  der  Staatsentwicklung.  Sie  ist  erst  ein  Erzeugnis 
des  18.  Jahrhunderts,  wenn  Aristoteles  ihr  auch  begrifflich 
schon  nahe  kam.  Rom  zeigt  die  Konsequenz  der  anderen 
Voraussetzung.  In  Rom  ist  die  Befehlsgewalt  ungeteilt 
auf  die  Konsuln  übergegangen,  und  abgesehen  von  dem  ganz 
aus  der  Reihe  heraustretenden  Tribunat  sind  alle  anderen 
ordentlichen  Ämter  Abspaltungen  dieses  einen,  sie  der  Idee 
nach  immer  in  sich  vereinigenden  Amts.  Auf  diesem  Wege 
konnte  es  zu  einer  klaren  Teilung  der  Funktionen  nicht  kom- 
men. Wenn  auch  die  Gesetzgebung  bestimmt  gesondert 
war  und  im  Bereich  der  Stadt  seit  Schaffung  der  Prätur 
auch  die  Justiz  sich  immer  deutlicher  sonderte,  so  zeigen 
doch  nicht  nur  die  außerordentlichen  Magistraturen,  son- 
dern auch  der  Imperienträger  außerhalb  des  Pomerium 
I  und  die  Koerzitionsgewalt  im  ganzen,  alle  anderen  Funk- 
tionen im  einzelnen,  daß  ihre  Teilung  nur  eine  unvollkommene 
Folgeerscheinung  der  Ämterabspaltung  war. 
i  Zu  den  Tatsachen,  daß  die  Römer  den  Begriff  einer 

!  von  der  Bürgerschaft  gesonderten  Staatsgewalt  nicht  kann- 
j  ten  und  daß  die  Staatsfunktionen  ihnen  völlig  hinter  der 
I   Ämterorganisation    zurücktraten,    kommt    das    Verhältnis 

i  13* 


192  Eugen  Täubler, 

von  Magistrat  und  Volk  hinzu.  Rechtlich  war  der  Magi- 
strat nur  der  Beauftragte  des  Volks.  Da  das  Volk  aber  ohne 
ihn  nicht  handlungsfähig,  jeder  Volksbeschluß  zugleich 
magistratisches  Edikt  war  und  die  Initiative  ausschließlich 
bei  dem  Magistrat  lag,  so  hat  dies  als  Letztes  und  Augen- 
fälligstes bewirkt,  daß  sich  den  Römern  der  Begriff  des 
Staatsrechts  nicht  zur  Selbständigkeit  entwickelte,  sondern 
völlig  im  Banne  des  Ämterrechts  blieb. 

IL 

Das  Neue  in  Mommsens  Staatsrecht:  der  Name,  die  Begriffe, 
Trennung  der  magistratischen  und   der  nichtmagistratischen  Organe. 

—  Gebundenheit  an  das  Ämterrecht.  —  Dessen  Überwindung  im  Ab- 
riß: am  Anfang  über  die  Bürgerschaft  und  das  Reich;  Trennung 
der  Funktionen  von  den  Organen.  —  Unmöglichkeit  genauer  Scheidung. 

—  Staatsrecht  und  Staatsverwaltung,  Verwaltungsrecht  und  Verwal- 
tungsgeschichte. —  Für  Mommsen  ist  der  Staat  wesentlich  ein  Rechts- 
organismus. —  Wie  weit  kann  im  Staatsrecht  das  Wesen  des  Staats 
zum  Ausdruck  kommen  ?  —  Der  Blick  von  innen.  —  Staatsrechtliche 
Schranken  in  Mommsens  Behandlung  der  Staatsformen.  —  Wie  weit 
kann  die  Verwaltungsgeschichte  das  Wesen  des  Staats  erfassen?  — 
Allgemeine  Geschichte  und  Verfassungsgeschichte. 

Schon  der  Ausdruck  „Römisches  Staatsrecht"  bedeutet 
deshalb  bei  Mommsen  ein  neues  Programm.  Aber  die  alte 
Form  wurde  durch  die  Ausführung  nicht  überwunden. 
Mommsen  hat  die  nichtmagistratischen  Organe,  Volksver- 
sammlung und  Senat,  aus  der  Systematik  der  Magistrate 
herausgelöst  und  die  allen  Ämtern  zugrunde  liegenden  Rechte 
begrifflich  zusammengefaßt,  als  Grundlegung  einer  „be- 
grifflich geschlossenen  und  auf  konsequent  durchgeführten 
Grundgedanken  wie  auf  festen  Pfeilern  ruhenden  Dar- 
legung, die  das  Wesen  wie  jedes  Rechtssystems  so  auch  des 
Systems  des  römischen  Staatsrechts"  ist.^)  Mommsen 
hat  damit  im  Staatsrecht,  wie  später  auch  im  Strafrecht, 
das  geleistet,  was  das  Altertum  nur  auf  dem  Gebiete  des 
Privatrechts  hervorgebracht  hatte:  die  begrifflich-syste- 
matische Bearbeitung.  —  Aber  über  den  altrömischen  Ge- 
sichtspunkt des  Ämterrechts  führte  das  nicht  wesentlich 
hinaus:  da  die  Darstellung  nicht  von  der  Bürgerschaft,  son- 

1)  Römisches  Staatsrecht  I,  Vorwort  zur  1.  Auflage. 


Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassungsgeschichte.    193 

dern  von  der  Magistratur  ausgeht,  scheinen  Bürgerschaft 
und  Senat,  zumal  die  Initiative  für  beide  bei  dem  Magistrat 
lag,  beinahe  aus  dem  Ämterwesen  herauszuwachsen,  und  was 
innerhalb  der  Bürgerschaft  gelegentlich  darüber  hinausführt, 
läßt  sich,  streng  genommen,  durch  die  Systematik  des  Staats- 
rechts nicht  mehr  rechtfertigen. 

Sechs  Jahre  nach  der  Vollendung  des  Staatsrechts, 
22  Jahre  nach  dem  Abschluß  des  ersten  Bandes,  faßte 
Mommsen  das  Ganze  noch  einmal  in  ganz  neuer  Gliederung 
in  einem  Abriß  zusammen.  Er  ließ  sich  nun  durch  die  über- 
ragende Bedeutung  der  Magistratur  nicht  mehr  an  einer 
freieren  Auffassung  des  Staatswesens  hindern.  Im  ersten 
Staatsrecht  hatte  er  alle  Fragen,  welche  die  Entstehung 
und  Gliederung  der  Bürgerschaft,  die  nichtbürgerlichen 
Reichsangehörigen,  die  Verbündeten,  die  Beziehungen  zum 
Ausland,  das  Städtewesen  und  das  Reich  als  Gebiet  betreffen, 
in  Verbindung  mit  den  Fragen  über  Organisation  und  Funk- 
tion der  Bürgerschaft  unter  dem  überdies  völlig  unzuläng- 
lichen Titel  „Die  Bürgerschaft*'  an  der  Stelle  behandelt, 
an  die  allein  die  letzten  Fragen  gehören,  i)  Im  Abriß  löste 
er  die  erste  Gruppe  aus  der  Unselbständigkeit,  in  die  sie 
im  Rahmen  des  Volks  als  Organ  der  Staatstätigkeit  hinein- 
gezwungen war,  und  stellte  sie  unter  dem  Titel  „Die  Bürger- 
schaft und  das  Reich"  an  den  Anfang.  Ebenso  verfuhr  er 
mit  den  Gebieten  der  Staatstätigkeit.  Im  ersten  Staats- 
recht führten  sie  kein  eigenes  Leben,  sondern  waren  uiiter 
die  Befugnisse  der  Organe,  sowohl  der  Magistrate  als  auch 
der  Volksversammlungen  und  des  Senats,  aufgeteilt,  und 
da  nicht  einmal  innerhalb  der  Magistrate  eine  Scheidung 
der  Tätigkeitsgebiete  durchgeführt  war,  mußten  sie  völlig 
zerrissen  werden.  Im  Abriß  sind  die  Organe  und  die  Funk- 
tionen selbständig  nebeneinander  behandelt,  und  so  wird 
neben  der  Materialisierung  des  Staats  im  Bilde  seiner  Or- 
gane seine  seelische  Erscheinung  im  Bilde  der  Funktionen 
sichtbar. 

Restlos  durchführen  läßt  sich  die  Teilung  allerdings 
nicht,  namentlich  nicht  für  den  Senat,  bei  dem  der  Fall 


1)  3.  Band,  1.  Abteilung. 


194  Eugen  Täubler, 

SO  liegt,  daß  nicht  die  geschichtlich  schwankenden  Äuße- 
rungen seiner  Tätigkeit  aus  normierten  Befugnissen,  sondern 
die  Befugnisse  gewohnheitsrechtlich  aus  den  usurpierten 
Betätigungen  abzuleiten  sind.  Die  Unmöglichkeit,  die  Kate- 
gorien sauber  gegeneinander  abzugrenzen,  greift  aber  viel 
weiter,  sie  erstreckt  sich  auf  die  ganze  Grenzlinie  von  Willens- 
festsetzung und  Willensbetätigung,  von  Staatsrecht  und 
Staatsverwaltung.  Ideell  ist  die  Verwaltung  nur  die  An- 
wendung des  Staatsrechts.  Tatsächlich  geht  sie  aber  weit 
über  den  Kreis  dessen  hinaus,  was  sich  rechtlich  vorher- 
bestimmen läßt  und  schafft  aus  sich  heraus  neues  Recht. 
Wie  die  Responsa  der  Rechtsgelehrten  und  die  prätorischen 
Edikte  auf  dem  Gebiete  des  Privatrechts,  so  muß  im  Staats- 
recht die  Befehlsgewalt  der  Magistrate  und  die  Geltung  des 
senatorischen  Rats  rechtverändernd  und  rechtschaffend  ge- 
wirkt haben.  Der  letzte  Ausdruck  dessen  ist  die  Gesetzes- 
kraft der  kaiserlichen  Konstitutionen,  allgemeiner  angesehen: 
die  Überwindung  des  Volks  durch  die  Magistratur  im  Prin- 
zipat, die  Verdrängung  des  Staatsrechts  durch  das  kaiser- 
liche Verwaltungsrecht. 

Eine  Unterscheidung  dieser  beiden,  wie  sie  sich  erst 
seit  den  letzten  Jahrzehnten  im  modernen  Recht  durch- 
setzt, kann  im  römischen  Recht  allerdings  nicht  versucht 
werden.  Alles  was  in  der  Staatstätigkeit  rechtlich  erfaßbar  ist, 
muß  in  das  Staatsrecht  hineingezogen  werden.  Da  dies 
aber  nur  für  einen  Teil  der  Verwaltungstätigkeit  möglich 
ist  und  die  Funktion  in  der  Einheit  des  Rechtlichen  und 
Tatsächlichen  besteht,  so  ist  damit  gegeben,  daß  sich  die 
Staatsfunktionen  rechtlich  nicht  völlig  darstellen  lassen. 
Neben  das  Staatsrecht  muß,  ohne  daß  Wiederholungen 
sich  vermeiden  ließen,  die  „materiell  geordnete  Darlegung" 
d.  h.  die  Staatsverwaltung  treten,  nicht  als  Verwaltungsrecht, 
sondern  als  Verwaltungsgeschichte. 

So  hatte  Mommsen  es  sich  gedacht  i),  als  er  die  Insti- 
tutionen des  römischen  Staates  aus  der  lebendigen  Anschauung 
des  gesamten  Organismus  heraus  zur  Darstellung  brachte 
und  die  der  ergänzenden  Staatsverwaltung  vorbehaltenen 

^)  Er  sprach  sich  darüber  im  Vorwort  zur  2.  Auflage  des  1.  Ban- 
des aus. 


Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassungsgeschichte.   195 

Funktionen  dabei  nur  soweit  berücksichtigte,  als  es  nötig 
Mrar,  um  die  Tätigkeit  des  Organs  zur  Anschauung  zu  bringen. 
Aber  der  Rechtsorganismus  sollte  mehr  zum  Ausdruck  bringen 
als  sich  selbst;  Mommsen  glaubte,  mit  ihm  seine  Ansichten 
„über  das  römische  Staatswesen"^)  dargelegt  zu  haben. 

War  diese  Hoffnung  erlaubt?  Ist  das  Staatsrecht 
imstande,  in  sich  das  Wesen  des  Staates,  mehr  als  das  recht- 
liche Wesen  des  Staats,  zum  Ausdruck  zu  bringen?  Momm- 
sen hat  das  Staatsrecht  nicht  innerhalb  des  Zusammenhangs 
einer  umfassenderen  Anschauung  vom  Wesen  des  römischen 
Staats  abgegrenzt  und  mit  keinem  Wort  eine  über  das  Recht- 
liche hinausgehende  Wesensbestimmung  angedeutet.  Nimmt 
man  den  politischen  Anschauungskreis  hinzu,  aus  dem  er 
herauswuchs,  so  wird  man  wohl  annehmen  dürfen,  daß  die 
Lebenserscheinung  des  Staates  sich  ihm  ihrer  Struktur  nach 
wesentlich  als  ein  Rechtsorganismus  darstellte.  Der  Staat 
als  Erscheinung  blieb  ihm  an  seine  Ordnungen  gebunden. 
Seine  Wesensbestimmung,  die  er  weder  begrifflich  noch  in 
umschreibender  Zusammenfassung  versuchte,  hätte  ihn  nicht 
über  die  Grenzen  des  Staatsrechtlichen  hinausgeführt. 

Das  ist  nun  die  Frage:  wie  weit  ist  das  Staatsrecht 
imstande,  das  Wesen  des  Staats  in  sich  zum  Ausdruck  zu 
bringen?  Das  römische  Staatsrecht  wird  dazu  in  höherem 
Grade  als  irgend  ein  anderes  fähig  sein.  Die  Allmacht  des 
Rechtsgedankens  durchdringt  in  Rom  den  Staat  nicht  we- 
niger als  die  bürgerlichen  Verhältnisse.  Der  römische  Genius 
offenbart  sich  in  beiden  in  der  Sprache  des  Rechts,  in  einer 
begrifflichen  Geschlossenheit,  die  in  der  Tat  „auf  konse- 
quent durchgeführten  Grundgedanken  wie  auf  festen  Pfeilern" 
zu  ruhen  scheint.  Der  Strahlungsbereich  der  Rechtsord- 
nungen ist  unbegrenzt;  alle  Bestandteile  und  alle  Tätigkeits- 
bereiche des  Staats  werden  von  ihm  durchdrungen:  die 
territoriale  Schichtung  des  Reichs  ist  ebenso  wie  die  natio- 
nale, die  gesellschaftliche  und  die  wirtschaftliche  des  Volks 
rechtlich  determiniert,  ja  sogar  das  freie  Spiel  der  Politik 
ist  nach  innen  und  nach  außen  durch  Voraussetzungen 
und  Formen  rechtlich  gebunden.  So  stark  sich  danach  der 

^)  Vorwort  zur  3.  Auflage  des  1.  Bandes. 


196  Eugen  Täublerj 

Staat  als  Ganzes  in  seinen  Rechtsordnungen  spiegelt:  diese 
können  sein  Wesen  doch  nur  soweit  wiederspiegeln,  als  es 
ihrer  eigenen  rechtlich  gebundenen  Wesenheit  erfaßbar  ist. 
Der  Staat  als  zusammengesetzter  Gebiets-  und  Volkskörper 
und  als  Machtorganisation,  die  nicht  nur  rechtlich  mit  ihren 
Ordnungen,  sondern  auch  handelnd  mit  den  Tendenzen 
und  Systemen  ihrer  inneren  und  äußeren  Politik  in  einer 
gewissen  Geschlossenheit  zur  Erscheinung  kommt  —  das 
ist  eine  Anschauung,  die  über  die  Grenzen  des  Staatsrecht- 
lichen weit  hinausführt.  In  der  geschichtlich  umkleideten 
Begriffswelt  des  Staatsrechts  wird  der  Staat  nur  mechanisch, 
nicht  auch  substanziell,  morphologisch  und  dynamisch 
sichtbar,  und  ferner  erscheint  er  als  ein  sich  nach  den  Ge- 
setzen einer  inneren  Systematik  ganz  aus  sich  selbst  ent- 
faltendes Eigengebilde,  während  eine  umfassendere  An- 
schauung nicht  verkennen  wird,  daß  auch  die  politische 
Umwelt  auf  seine  äußere  und  innere  Gestaltung  eingewirkt 
hat. 

Das  sei  hier  zunächst  nur  ganz  im  allgemeinen  zur  Be- 
gründung einer  über  das  Staatsrechtliche  hinausgehenden 
Auffassung  vom  Wesen  des  Staats  angedeutet. 

Das  Staatsrecht  selbst  wird  von  diesen  Bemerkungen 
nicht  berührt,  und  die  Einschränkung  dessen,  was  es  im 
Verhältnis  zum  ganzen  Staatswesen  zum  Ausdruck  bringt, 
soll  auch  keineswegs  bedeuten,  daß  es  nur  die  eigene  Welt 
der  Begriffe  und  ihrer  geschichtlichen  Wirklichkeitsformen 
zum  Ausdruck  zu  bringen  vermöchte.  Jedem  Staatsrecht 
wohnt  eine  Anschauung  vom  Wesen  des  Staats  inne.  Jedes 
geschichtliche  Staatsrecht  ist  ebenso  sehr  Geschichte  wie 
System.  Aber  es  ist  immer  nur  der  Blick  von  innen,  der 
sich  von  ihm  aus  erschließt,  und  auch  dieser  streift  nur  von 
fern  die  politischen  und  gesellschaftlich-wirtschaftlichen 
Inhalte,  die  Aristoteles  und  sein  Erneuerer  Röscher  in  den 
Schematismus  ihrer  Kategorien  zu  bannen  versuchten. 
Der  Staat,  der  in  Mommsens  Darstellung  sich  in  seinen 
Ordnungen  offenbart,  ist  nicht  die  den  weiteren  Rahmen 
unseres  Staatsbegriffs  ausfüllende  geschichtliche  Erschei- 
nung, sondern  das  nur  die  Bürgerschaft  subjektivierende 
gemeine  Wesen,  die  res  publica.    So  hochbedeutsam  es  ist, 


Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassungsgeschichte.    197 

daß  Mommsens  Staatsrecht  auf  diese  Weise,  gebunden  an 
die  alten  Anschauungen  von  Staat  und  Ämterrecht,  gewisser- 
maßen zu  einer  antiken  Quelle  wird,  uns  gewissermaßen 
die  wiedergefundenen  Institutionen  des  römischen  Staats 
so  gibt,  wie  sie  ein  juris  publici  peritus  von  seinem  Geiste, 
mit  dem  Rom  nicht  gesegnet  war,  hätte  geben  können,  so 
nötig  ist  es  anderseits,  sich  der  Schranken,  die  im  Prinzip 
liegen,  bewußt  zu  werden.  Aus  dem  staatsrechtlichen  Prinzip 
heraus  ist  es  zu  verstehen,  daß  der  Prinzipat  in  seiner  Dar- 
stellung weniger  als  Staatsform,  denn  als  Magistratur  er- 
scheint und  daß  ihm  über  dem  Neuen  in  den  Institutionen 
Diokletians  die  entwicklungsgeschichtlichen  Zusammenhänge 
zwischen  Prinzipat  und  Dominat  verborgen  blieben.  Wie 
der  Prinzipat  erscheint  auch  das  Königtum,  losgelöst  aus 
seinem  natürlichen  Zusammenhange  mit  dem  Stamm-  und 
Geschlechterstaat,  nur  als  Magistratur,  und  selbst  innerhalb 
der  Republik,  in  welcher  der  Organismus  der  Institutionen 
noch  am  ehesten  imstande  ist,  eine  gewisse  Anschauung 
vom  Wesen  des  Staats  zu  vermitteln,  macht  die  systematische 
Zergliederung  des  Staatsrechts  es  unmöglich,  die  politischen 
Kräfteverschiebungen  in  ihrer  Bedeutung  für  den  inneren 
Wandel  des  Staatsganzen  zur  Anschauung  zu  bringen. 

Die  Verwaltungsgeschichte  sollte  nach  Mommsens  An- 
sicht den  Rahmen  des  Staatsrechtlichen  nur  ausfüllen, 
nicht  erweitern.  Sie  hat  mehr  getan,  besonders  da,  wo  es 
sich  um  Zusammenhänge  mit  Hellenistischem  handelt  und 
wo  die  Verwaltungstätigkeit  über  den  staatsrechtlichen 
Rahmen  hinauswuchs,  i)  Aber  sie  ist  zu  sehr  an  die  einzel- 
nen Gebiete  der  Staatstätigkeit  und  an  das  Innere  des  Staats- 
lebens gebunden  und  auch  nach  dieser  Seite  zu  wenig  fähig, 
die  Wirkung  der  politischen  Bewegungen  auf  die  Gestaltung 
des  Staats  zu  erfassen,  um  imstande  zu  sein,  eine  einheit- 
liche Anschauung  vom  ganzen  Staatswesen  zu  schaffen. 
Staatsrecht  und  Staatsverwaltung,  getrennt  oder  verbun- 
den: der  auf  die  Erfassung  der  Wesenheit  des  Staatsganzen 
gerichtete  Blick  muß  über  beide  hinausstreben. 

1)  Ich  hebe  hervor  0.  Hirschfeld,  Die  kaiserlichen  Verwaltungs- 
beamten bis  auf  Diokletian  und  U.  Wilcken,  Griechische  Ostraka 
aus  Ägypten  und  Nubien. 


198  Eugen  Täubler, 

Es  ist  unnötig,  zu  fragen,  ob  es  ratsam  sei,  ihn  dann 
auf  die  allgemeine  Darstellung  von  Volk  und  Staat  hinzu- 
lenken oder  für  ihn  noch  ein  geschichtliches  Sondergebiet 
abzustecken. 

Die  Frage  ist  bereits  durch  Aristoteles  beantwortet 
worden.  Auch  für  den,  der  nicht  in  seinen  Kategorien  lan- 
den will,  ist  es  der  von  ihm  eröffnete  Weg  verfassungs- 
geschichtlicher Betrachtung,  auf  dem  eine  Anschauung 
vom  Wesen  eines  Staats  gesucht  werden  muß. 

HI. 

Die  verschiedenen  Anschauungsweisen  des  Staats.  —  Die  An- 
schauungseinheit. —  Die  Abgrenzung  des  Staats  durch  das  herrschaft- 
liche Prinzip.  —  Der  sozialpolitische  Charakter  der  Kategorien  des 
Aristoteles;  die  griechischen  Stadtstaaten.  —  Das  Problem  einer 
römischen  Territorialverfassung.  —  Das  Ineinanderwirken  der  sozialen 
und  der  territorialen  Bedingungen  und  Erscheinungen  des  Staatslebens. 
—  Die  politischen  Ideen  im  Verfassungsleben.  —  Der  Staat  als  über- 
nationales Gebilde.  —  Die  vergleichende  Verfassungsgeschichte.  — 
Verfassungstypen.  —  Entwicklungsstufen  der  römischen  Verfassungs- 
^eschichte.  —  Der  römische  GeschlecTiterstaat  und  die  Ämterent- 
wicklung. —  Verfassung  im  engeren  und  weiteren  Sinne. 

Im  Staatsrecht  ist  die  konzentrierteste  und  abstrakteste, 
in  der  allgemeinen,  beschreibenden  Geschichte  die  am  weite- 
sten aufgelöste  und  am  stärksten  an  den  Stoff  gebundene 
Betrachtung  des  Staats  enthalten.  In  der  Mitte  stehen  an- 
dere Anschauungsweisen,  die  auch  auf  den  Staat  als  Ganzes 
gerichtet  sein  können,  ihn  aber  doch  immer  nur  von  einer 
Seite  aus  betrachten:  als  gesellschaftlichen  Organismus, 
als  Wirtschaftsorganisation,  als  Verwaltungskörperschaft, 
als  biogeographische  Einheit,  als  politisch  handelnde  Per- 
sönlichkeit, als  Kulturinstrument.  Was  schafft  aus  den 
Einzelheiten  die  Einheit?  Wie  kommen  wir  zu  einer  in 
sich  geschlossenen  Anschauung  von  der  geschichtlichen 
Wesenheit  eines  Staats?  Ganz  gewiß  weder  durch  enzy- 
klopädische Zusammenfassung  noch  durch  geschichtliche 
Umkleidung  einer  Begriffsbestimmung.  Vielmehr  handelt 
€S  sich  m.  E.  um  eine  durch  den  Erkenntniszweck  bestimmte 
Anschauungseinheit,  die  in  jedem  Teile  das  Ganze  sucht 
und  ihn  nur  soweit  ans  Licht  hebt,  als  er  der  Vorstellung 


Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassangsgeschichte.   199 

des  Ganzen  dient;  nicht  um  ein  System  und  Begriffe,  son- 
dern um  eine  Parallele  zu  dem,  was  Dilthey  in  der  Erfassung 
des  Menschen  als  beschreibende  und  zergliedernde  Psycho- 
logie bestimmt  hat:  darum,  die  Persönlichkeit  eines  Staats 
in  seiner  Struktur  und  seinen  Lebensäußerungen  beschreibend 
zu  erfassen,  einen  gegebenen  Staat  mit  dem  Denkmittel 
des  Historikers,  der  anschauenden  Erkenntnis,  als  Lebens- 
«rscheinung  zu  verstehen.  Der  Vergleich  hat  seine  Schwächen ; 
ich  will  den  Staat  nicht  als  eine  Persönlichkeit,  ebenso  wenig 
wie  als  einen  Organismus,  bezeichnen.  Ich  sehe  in  ihm  ledig- 
lich eine  psychologische  Erfahrungstatsache,  die  sichtbare 
Wirkungen  zu  einer  ursächlichen  Einheit  zusammenfaßt. 
Tatsächlich  sind  auch  die  Ursachen  nur  bis  in  die  Elemente 
verfolgbar,  diese  lassen  aber  schon  in  der  vielfältigen  Paralleli- 
tät ihrer  Entwicklung  und  in  ihrem  Ineinanderspielen  auf 
Schritt  und  Tritt  die  ideelle  Einheit  empfinden. 

Die  Herauslösung  dieser  Einheit  aus  den  mannig- 
fachen Anschauungsmöglichkeiten  bedarf,  um  nicht  im 
Unbestimmten  zu  zerfließen,  eines  leitenden  Prinzips,  und 
das  ergibt  sich,  wenn  wir  die  Begriffseinheit  Staat  nach  ihren 
Elementen  umschreiben :  als  ein  der  Idee  nach  unabhängiges, 
Land  und  Menschen  umspannendes  Machtgebilde.  Diese 
Gliederung  macht  deutlich,  daß  es  das  herrschaftliche  Prinzip 
ist,  unter  dem  und  in  dessen  Grenzen  sich  die  verschiedenen 
Anschauungsweisen  zu  einer  inneren  Einheit  zusammen- 
finden. Wirtschaft,  Recht,  Religion  —  das  sind  Lebens- 
sphären für  sich,  die  mit  dem  Staate  nur  in  einem  Wechsel- 
verhältnis der  Beeinflussung  stehen.  Das  Verhältnis  ist 
aber  herrschaftlicher  Art:  mag  der  Staat  im  Einzelfall 
der  Gebende  oder  der  Nehmende  sein,  mag  z.  B.  die  staat- 
liche Notwendigkeit  eine  Klassenbildung  bewirken  oder 
umgekehrt  eine  soziale  Entwicklung  sich  in  staatliche  Folgen 
umsetzen  —  immer  erscheint  nach  vollendeter  Entwicklung 
der  Staat  als  der  überlegene  Teil,  als  derjenige,  der  die 
anderen  Lebenssphären  mit  seinem  Herrscherwillen  durch- 
dringt. 

In  den  Kategorien  des  Aristoteles  erscheint  der  Staat, 
ohne  tiefere  Untersuchung  des  Wechselverhältnisses,  fast 
ausschließlich  als  Ausdruck  wirtschaftlich-gesellschaftlicher 


200  Eugen  Täubler, 

Zustände^);  das  Urkönigtum  soll  einer  ursprünglichen  Besitz- 
gleichheit und  Gemeinfreiheit  entsprechen,  Aristokratie  und 
Oligarchie  entsprechen  dem  Gegensatz  von  vollberechtigten 
Besitzenden  und  minderberechtigten  Besitzlosen,  Tyrannis 
undältere  Demokratie  sind  Ausdrücke  des  Versuchs,  auf  dem 
Boden  eines  Mittelstands  zu  einem  politischen  Ausgleich  zu 
kommen.  Die  Entwicklungsreihe  entspricht  den  Verhältnissen 
des  griechischen  Stadtstaats,  und  die  Ausschließlichkeit  wirt- 
schaftlich-gesellschaftlicher und  politisch-formaler  Gesichts- 
punkte reicht  im  ganzen  hin,  um  den  an  den  Mauerring 
gebundenen  Staat  zu  kennzeichnen.  Innerhalb  des  Mauer- 
rings vollzog  sich  auch  in  Rom  die  Entwicklung  in  diesen 
Stufen,  aber  Rom  war  anders  als  irgend  eine  griechische 
Stadt  von  allem  Anfang  an  nicht  nur  tatsächlich,  sondern 
auch  verfassungsmäßig  von  außen  gebunden.  Die  älteste 
Stufe  der  Staatsentwicklung,  die  Stammherrschaft  und  ihre 
Zersplitterung  in  Gauherrschaften,  kann  bei  dem  unent- 
wickelten Charakter  ihrer  staatlichen  Wesenheit  und  un- 
serer mangelnden  Kenntnis  in  Griechenland  wie  in  Italien 
nur  als  Vorstufe  verfassungsgeschichtlicher  Betrachtung 
angesehen  werden.  Während  dann  aber  in  Griechenland 
das  Territorium  entweder,  wie  in  Attika,  zum  Weichbild 
einer  Stadt,  oder,  wie  der  Boden  der  Perioiken  in  der 
Argolis  und  in  Lakonien,  unterworfenes  Land  wurde,  oder, 
wie  in  Boiotien,  einen  Städtebund  trug,  der  so  lose  war, 
daß  die  territoriale  Verfassung  des  Einzelstaats  ebenso- 
wenig wie  die  administrative  von  ihm  berührt  wurde,  wäh- 
rend in  Griechenland  auch  das  Verhältnis  der  Kolonie  zur 
Mutterctadt  trotz  der  korinthischen  Epidemiurgen  und 
ähnlicher  Erscheinungen  nicht  zu  einer  territorialen  Verbin- 
dung führte  und  des  attischen  Reiches  Herrlichkeit  dahin- 
sank,  bevor  sie  noch  die  Reife  einer  ausgebildeten  Staats- 
form gewonnen  hatte,  stand  Rom,  solange  die  Geschichte 
der  Stadt  zurückreicht,  mit  Latium  in  einem  territorial- 
politischen Zusammenhang,  der  nicht  nur  tatsächlich,  son- 
dern, ohne  daß  man  die  Fiktion  eines  latinischen  Bundes 
heranzuziehen  braucht,  auch  verfassungsmäßig,  z.  B.  mit 


1)  Vgl.  0.  Hintze,  Histor.  und  polit.  Aufsätze,  4.  Band,  S.  50ff. 


Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassungsgeschichte.   201 

den  politischen  Folgen  der  Verkehrsgemeinschaft,  Form 
und  Wesen  des  Staats  beeinflußt  hat.  Zu  den  sozialen  und 
machtpolitischen  Bedingtheiten  und  Erscheinungsformen 
des  Staatslebens  treten  in  Rom,  unvergleichlich  entschei- 
dender als  in  irgend  einem  anderen  Staate  bis  auf  den  heu- 
tigen Tag,  die  territorialpolitischen  hinzu:  deshalb  stärker, 
weil  das  römische  Reich  wie  kein  anderes  ein  zusammen- 
gesetztes Gebilde  mit  abgestuften  Territorialrechten  war. 
Nur  das  british  empire  ist  von  fern  vergleichbar,  aber  auch 
nur  dem  Reich  der  Kaiserzeit.  Die  verfassungsgeschichtliche 
Wirkung  territorialpolitischer  Kräfte  ist,  soweit  sie  sich 
auf  italischem  Boden  vollzog,  völlig  einzigartig.  In  der  Ent- 
wicklung, die  aus  Italien  und  den  Provinzen  die  Einheit 
des  Dominats  schuf,  sind  diese  Kräfte  zwar  in  größerem  Aus- 
maß, aber  in  geringerer  Innerlichkeit  wirksam  gewesen, 
als  in  den  Jahrhunderten,  in  denen  in  der  vielfältigsten 
Wechselwirkung  und  in  Verknüpfung  mit  weltgeschichtlichen 
Gegenwirkungen  die  Masse  der  italischen  Territorien  sich 
mit  dem  Recht  und  der  Macht  des  römischen  Namens  er- 
füllte. 

Es  ist  in  diesem  Zusammenhang  nicht  möglich,  auf  das 
Problem  einer  römischen  Territorialverfassung  näher  ein- 
zugehen. Schon  die  kleinen  Anfänge  zeigen  deutlich,  worauf 
es  ankommt.  Wenn  Rom  Gabii  zerstört,  sein  Gebiet  in- 
korporiert, seine  Bewohner  nach  Rom  verpflanzt,  so  ändert 
sich  formal  im  Aufbau  des  römischen  Staates  nichts.  Wenn 
Rom  aber  eine  Bürgerkolonie  nach  Ostia  deduziert,  den 
Tuskulanern  das  Halbbürgerrecht  mit,  den  Caeriten  ohne 
Selbstverwaltung  gibt,  so  ändert  sich  der  Aufbau  des  Staats 
insofern,  als  Rom  nun  aufhört,  eine  Einheit  zu  sein.  Das 
Problem  vervielfältigt  und  vertieft  sich  nicht  nur  durch  das 
Hinzukommen  neuer  Kategorien,  sondern  durch  die  Gebiets- 
erweiterung an  sich:  je  mehr  Territorien  hinzutreten  und 
je  mannigfacher  sie  rechtlich  gestellt  sind,  um  so  mehr  ver- 
ändert sich  das  Wesen  des  Staats,  auch  wenn  die  rechtlichen 
Kategorien  seiner  Elemente,  seine  Ämterorganisation,  seine 
nationale  Zusammensetzung,  seine  soziale  Schichtung  die- 
selben bleiben.  Aber  gerade  dies  war  in  Rom  so  wenig  wie  in 
irgend  einem  anderen  entwicklungsfähigen  Staate  der  Fall. 


202  Eugen  Täubler, 

Die  äußere  Staatsverfassung  durchdringt  sich  mit  der  inneren. 
Zwischen  beiden  waltet  ein  Zusammenhang  und  eine  Wechsel- 
wirkung. Das  tritt  besonders  in  der  Wehrverfassung  zu 
Tage,  die,  stärker  von  außen  als  von  innen  bedingt,  diese 
Bedingtheit  weit  über  den  eigenen  Kreis  hinaus  auf  den 
ganzen  inneren  Aufbau  des  Staats  wirken  läßt.  ^)  So  schafft 
ein  Netz  innerer  Beziehungen  die  Einheit  der  sozialpoli- 
tischen und  der  territorialpolitischen  Erscheinungen  des 
Staatslebens.  Sie  geben  sich  dem  Auge  zunächst  als  ein 
Gefüge  von  Strukturverhältnissen.  Da  ihr  Ineinanderwirken 
aber  nicht  mechanischer  Art  ist,  sondern  ein  gestaltender 
Wille  durch  sie  hindurchgeht,  so  kann  die  Wesenheit  des 
Staats  nicht  nur  in  den  an  ein  Element  oder  an  eine  Einrich- 
tung gebundenen  Beziehungen  erkannt,  sondern  muß  auch 
nach  dem  Geist  der  Verwaltung  und  den  Inhalten  der  inneren 
und  äußeren  Politik  bestimmt  werden.  Die  Auswahl  hängt 
von  der  Wertung  ab.  Es  kann  sich  natürlich  nicht  um  die 
Entwicklung  der  einzelnen  politischen  Handlungen,  sondern 
nur  um  die  leitenden  politischen  Ideen  und  Tendenzen 
handeln,  die  über  lange  Räume  hinweg  in  dem  natürlichen 
Sich-Ausleben  und  Ableben  aller  geschichtlichen  Erschei- 
nungen aus  diesen  herauswachsen,  sie  in  Bewegung  setzen 
und  in  neue  Lebensformen  überleiten.  Mit  dem  Gegensatz, 
einer  agrarischen,  auf  die  Vermehrung  von  Bauernhufen 
gerichteten,  auf  Italien  beschränkten  und  einer  kapitalisti- 
schen, über  Italien  hinauswachsenden  Politik  verband  sich 
nicht  nur  ein  Gegensatz  in  der  Bevorzugung  der  Tribus  und 
der  Centurien,  sondern  die  Entwicklung  drängte  aus  dem 
alten,  bäuerlich-aristokratischen  Ämterstaat  nach  griechi- 
schem Muster  in  die  Richtung  einer  die  hauptstädtische 
Masse  einem  Demagogen  in  die  Hände  spielenden  Demo- 
kratie. 2)  Die  Entwicklung,  die  mit  dem  Censor  von  310 
begann,  vollendete  sich  in  Caesar,  in  einer  immer  breiteren, 
tieferen  und  verschlungeneren  Wechselwirkung  völkischer^ 
gesellschaftlich-wirtschaftlicher    und    weltpolitischer    Span- 

^)  O.  Hintze,  Staatsverfassung  und  Heeresverfassung.  1906  (Neue 
Zeit-  und  Streitfragen,  her.  von  der  Gehe-Stiftung  zu  Dresden.  3.  Jahrg., 
4.  Heft). 

2)  Ed.  Meyer,  Weltgeschichte  und  Weltkrieg  S.  46  ff. 


Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassungsgeschichte.  20S 

nungen.  Der  Wandel  der  Regierungsform  kündete  sich  schon 
seit  den  Gracchen  stückweis  an.  Aber  das  war  nur  die  ad- 
ministrative Ausprägung  einer  Entwicklung,  die  den  Staat 
als  Lebenserscheinung  von  früher  her  und  in  allen  seinen 
Teilen  durchdrang  und  schichtweise  veränderte. 

Wenn  man  in  den  Verfassungsgebilden  nur  Institutionen 
und  nicht  Erscheinungen  einer  von  politischen  Ideen  gelenk- 
ten, als  Einheit  zu  betrachtenden  Staatswesenheit  sieht, 
wird  man,  um  noch  einen  Fall  zu  geben,  z.  B.  die  provinziale 
Sonderstellung  Achajas  nicht  in  ihrem  Kern  erfassen  können. 
Die  administrativ  nicht  zu  voller  Durchführung  gekommene,, 
in  den  Gegensätzen  von  griechischer  Stadtfreiheit  und  make- 
donischem Militärkommando  zwitterhaft  hin-  und  herschwan- 
kende Provinz  war  staatsrechtlich,  wie  in  anderer  Weise 
auch  Ägypten,  eine  Anomalie.  Geht  man  ihren  Wurzeln 
nach,  so  erklärt  sich  die  administrative  Unvollkommenheit 
aus  dem  Zwang  einer  politischen  Idee:  der  von  Persien 
über  Makedonien  auf  Rom  fortwirkenden  Idee  des  Schutzes 
der  hellenischen  Freiheit,  i)  Unter  dem  Zeichen  dieses 
Programms  wuchs  Rom  nicht  nur  tatsächlich,  sondern  auch 
verfassungsmäßig  in  das  Erbe  der  hellenistischen  Staaten- 
welt hinein;  auch  die  nationale  Romantik  Octavians  hat 
die  in  Caesars  Geist  zur  Vollendung  gekommenen  Ideen 
und  Formen  hellenistischer  Großstaatsbildung  nicht  ganz 
auszuschalten  vermocht  2),  und  ihnen  gehörte  die  Zukunft. 
Die  Aufgabe  bestand  in  einer  Reichsgestaltung,  die  über 
eine  lose  Vielheit  von  Herrschaften  und  Abhängigkeiten 
hinauswuchs.  Die  nationale,  römisch-italische  Entwicklung 
blieb  dieser  Aufgabe  fern;  die  Ideen  und  Kräfte,  die  in  ihr 
wirksam  wurden,  wuchsen  von  außen  in  den  Staat  hinein. 
Ich  deute  dies  nur  an,  um  zu  dem  Schluß  zu  kommen,  daß 
die  Entwicklung  der  politischen  Ideen  ebenso  wie  die  Be- 
obachtung der  territorialpolitischen  Bedingungen  und  Be- 
ziehungen zu  einer  Anschauung  vom  Staate  führt,  die  ihn, 
im  Gegensatz  zu  allen  nur  auf  den  gesellschaftlichen  und 

^)  E.  Täubler,  Imperium  Romanum.  Studien  zur  Entwicklungs- 
geschichte des  röm.  Reichs.   I.  S.  432  ff. 

2)  Ed.  Meyer,  Kaiser  Augustus  (Hist.  Zeitschrift  Bd.  91,  N.  F.  55, 
1903,  S.  385ff.   =   Kleine  Schriften  S.  443 ff.). 


204  Eugen  Täubler, 

nationalen  Grundlagen  erwachsenden  Anschauungen,  als 
ein  übernationales  Gebilde  erscheinen  läßt. 

Das  Staatsrecht  sieht  den  Staat  von  innen;  die  Ver- 
fassungsgeschichte ist  auf  die  universalgeschichtliche  An- 
schauung eingestellt.  So  hat  0.  Hintze  sie  für  den  Kreis  der 
romanisch-germanischen  Völker  begründet  i),  und  überall, 
wo  es  im  Volkstum  oder  in  geschichtlichen  Beziehungen 
begründet  ist,  die  Entwicklung  mehrerer  Staaten  unter  dem 
Gesichtswinkel  einer  höheren  geschichtlichen  Einheit  zu 
betrachten,  wird  der  Vergleich  ein  unentbehrliches  Er- 
kenntnismittel verfassungsgeschichtlicher  Beobachtung  sein, 
ja  man  wird,  mit  größerer  Vorsicht,  bestimmte  Erscheinungs- 
formen der  Staatsbildung  auch  noch  über  die  Kreise  der  ge- 
schichtlichen Einheiten  hinaus  miteinander  in  Vergleich 
bringen  dürfen.  Denn  bei  aller  Freiheit  individueller  Ge- 
staltung hat  das  Gemeinschaftsleben  auf  der  Grundlage 
einer  gewissen  Gleichheit  in  den  wirtschaftlichen  und  gesell- 
schaftlichen Voraussetzungen  stufenweise  in  gleichartigen 
Erscheinungen  Gestalt  gewonnen,  und  die  vergleichende 
Beobachtung  dieser  typischen  Verfassungsformen,  die  man 
wohl  als  das  oberste  Prinzip  verfassungsgeschichtlicher 
Studien  bezeichnen  kann,  wird  auch  für  die  Erkenntnis 
der  verfassungsgeschichtlichen  Entwicklung  eines  einzel- 
nen Staates  immer  von  Bedeutung  sein.  Aristoteles,  der  die 
spartanische  Verfassung  mit  der  kretischen  und  der  kartha- 
gischen verglich,  hat  dabei  mit  je  einem  Beispiel  gezeigt, 
wie  man  es  machen  und,  ohne  daß  er  auch  dies  beabsich- 
tigte, wie  man  es  nicht  machen  soll. 

Wenn  das  Prinzip  vergleichender  Betrachtung  typischer 
Verfassungsformen  einleuchtend  ist,  so  muß  ihm  gegenüber 
doch  die  große  Schwierigkeit  hervorgehoben  werden,  die 
Veränderungen  eines  Staatswesens  periodisch  zu  gliedern 
und  in  geschlossene  Ausdrucksformen  zu  bringen.  Darin 
liegt  etwas  Gewaltsames;  aber  damit  steht  die  Verfassungs- 
geschichte nicht  allein.  Jede  Periodisierung  unterbricht 
Zusammenhänge  und  schichtet  das  zeitlich  und  sachlich 
Entfernte  auf  einen  Höhepunkt  hin  zusammen;  und  unsere 

^)  Ich  weise  hier  nur  auf  die  Antrittsrede  in  der  Berliner  Akademie 
der  Wissenschaften  hin,  Sitzungsberichte  1914,  S.  744ff. 


Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassungsgeschfchte.  205 

geschichtliche  Anschauung  baut  sich  keineswegs  aus  den 
singulären  Erscheinungen,  wie  aus  wilder  Wurzel,  auf, 
sondern  paßt  diese  gewissen  Kategorien  des  geschichtlichen 
Sehens,  ihren  Grundzügen  nach  festen  Vorstellungsformen, 
an.  Die  Verfassungsgeschichte,  die  nicht  System,  aber  doch 
auch  nicht  erzählende  Geschichte  ist,  muß  darin  weiter 
als  jede  andere  geschichtliche  Anschauungsweise  gehen. 
Das  ist  ihre  besondere  Gefahr,  aber  auch  ihr  besonderer 
Vorzug:  denn  sie  erscheint  dadurch  als  die  schärfste  Ausprä- 
gung aller  auf  das  Ganze  von  Volk  und  Staat  gerichteten 
Betrachtungsweisen. 

Für  die  römische  Geschichte  steht  die  Gliederung  in 
Königszeit,  Republik,  Prinzipat  und  Dominat  fest.  Diese 
Gliederung  folgt  dem  Prinzip  der  Herrschaftsform  und  ist 
deshalb  auch  für  die  Verfassungsgeschichte  brauchbar, 
deren  Aufgabe  es  aber  ist,  das,  was  sich  in  den  vier  Bezeich- 
nungen über  die  Herrschaftsform  hinaus  an  Vorstellungen 
über  die  Substanz,  die  Morphologie,  die  Dynamik  des  Staats- 
wesens verbirgt,  diese  Elemente,  für  die  die  Herrschafts- 
form nur  der  organisatorische  Ausdruck  ist,  zu  greifbarer 
Vorstellung  zu  bringen.  In  welchem  Maße  die  Abwandlungen 
innerhalb  der  Perioden  und  innerhalb  der  einzelnen  Elemente 
auf  das  Ganze  wirken,  hat  z.  B.  selbst  innerhalb  des  so 
einförmig  erscheinenden  Prinzipats  der  ersten  150  Jahre 
die  Verwaltungsgeschichte  gezeigt.^)  Ich  kann  hier  höch- 
stens für  die  erste  Periode  wagen,  eine  speziellere  Andeutung 
zu  geben,  um  zugleich  abschließend  den  Unterschied  zwi- 
schen der  staatsrechtlichen  und  der  verfassungsgeschicht- 
lichen Anschauungsweise  an  einem  besonderen  Fall  schärfer 
als  bisher  hervortreten  zu  lassen. 

Während  das  Königtum  im  Staatsrecht  wesentlich  als 
Magistratur  erscheint,  ist  es  für  eine  umfassendere  Anschauung 
nur  der  Exponent  einer  Staatsform,  die  territorial  durch  die 
Auflösung  der  Stammeinheit  in  Gauherrschaften,  sozial  durch 
das  Auseinandertreten  von  Patriziern  und  Plebejern  ge- 
kennzeichnet wird.  In  Griechenland  sehen  wir,  wie  das 
Königtum  innerlich  durch  das  Aufsteigen  der  Geschlechter 

^)  Vgl.  bes.  das  zusammenfassende  Schlußkapitel  in  0.  Hirsch- 
ields  S.  197  zitiertem  Buche. 

Historische  ZeitschrUt  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  14 


206  Eugen  Täubler, 

abgebaut  wird.  In  Rom  sind  diese  frühen  Zeiten  für  uns 
verloren,  und  außerdem  ist  der  Versuch  eines  Schlusses 
von  dem  Späteren  auf  das  Frühere  auch  noch  dadurch  er- 
schwert, daß  der  Zusammenhang  durch  die  tarquinische 
Fremdherrschaft  unterbrochen  ist.  Aber  eins  können  wir 
auch  in  Rom  erkennen,  daß  nämlich  die  Ämterbildung 
bereits  in  die  Königszeit  zurückreicht.  Wie  ist  sie  zu  be- 
urteilen? Wir  stehen  vor  der  Wahl  eines  Vergleichs  mit 
dem  deutschen  Fürstenstaat,  in  dem  die  Ämter  sich  aus  dem 
Hofgesinde  entwickelten,  oder  mit  dem  griechischen  Stamm- 
staat, in  dem  sie  die  Abschichtung  der  Königsmacht  durch 
die  Vertreter  der  Geschlechter  zum  Ausdruck  bringen.  Die 
Wahl  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  zumal  auch  die  patres 
nicht  mehr  ein  königliches  consilium,  sondern  ein  Geschlech- 
terrat sind.  Aus  diesem  Anschauungskreis  eines  sich  im 
Geschlechterstaat  abbauenden  Königtums  gehe  ich  an  die 
Frage  der  Entstehung  des  Konsulats  heran.  Das  Staatsrecht 
konstruiert  eine  Verdoppelung  des  Königtums  nach  seinem 
Sturze.  Die  Verfassungsgeschichte  kann  nicht  so  mechanisch 
verfahren;  sie  hat  den  heranwachsenden  Geschlechter- 
staat und  die  sich  in  ihm  vollziehende  Auflösung  des  König- 
tums in  den  Adelsämtern  vor  Augen  und  muß  nach  der  Paral- 
lele des  Ephorats  und  wohl  auch  der  athenischen  Polema- 
chie  die  Vermutung  wagen,  daß  die  Konsuln  bzw.  Praetoren, 
wie  wohl  auch  die  vier  Tribunen  der  Stadtquartiere  ^),  in  die 
Königszeit  zurückreichen.  2) 

Auch  wenn  diese  Vermutung  nicht  gebilligt  werden 
sollte,  scheint  sie  mir  ihrem  Prinzip  nach  geeignet,  an  dem 
Verhältnis  des  Ganzen  der  Staatsverfassung  zu  einem  Giiede 
die  Verschiedenheit  der  Voraussetzungen  und  des  Wesens 

1)  Ed.  Meyer,  Der  Ursprung  des  Tribunals  und  die  Gemeinde 
der  vier  Tribus  (Hermes  XXX  1895  S.  1  ff  =  Kleine  Schriften  S.  353  ff.). 

*)  Erst  nachdem  ich  dies  niedergeschrieben  hatte,  werde  ich 
durch  Rosenbergs  Referat  in  Bursians  Jahresbericht  über  die  Fort- 
schritte der  klass.  Altertumswiss.  1918,  Bd.  176,  S.  207  darauf  auf- 
merksam, daß  diese  Vermutung  bereits  von  G.  de  Sanctis  in  seiner 
Storia  dei  Romani  (11907,  8.403 f.)  geäußert  wurde;  ich  möchte  die 
Überemstimmung  nicht  als  Bestätigung,  aber  als  Bekräftigung  gelten 
lassen.  Rosenberg  a.  a.  O. :  „eine  Gedankenreihe,  die  zumindest  Be- 
achtung verdient". 


Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassungsgeschichte.   2Ö7 

staatsrechtlicher  und  verfassungsgeschichtlicher  Anschauung 
deutlich  zu  machen.  Das  Staatsrecht  ist  ein  System;  es 
findet  seine  Einheit  in  Begriffen  und  Kategorien.  Die  Ent- 
wicklung der  Verfassung  ist  Geschichte;  ihre  Einheit  ruht 
in  der  lebendigen  Wesenheit  des  Staats. 

In  meinen  Ausführungen  fehlt  eine  Begründung  dafür, 
daß  ich  die  Vorstellung  von  der  Wesenheit  eines  Staats  mit 
seiner  Verfassung  gleichstelle.  Der  Ausdruck  Verfassung 
bezeichnet  in  der  modernen  Staatslehre  in  viel  engerem 
Sinn  als  Teil  des  Staatsrechts  nur  die  auf  die  Grundgesetze 
aufgebauten  Staatseinrichtungen.  Aber  es  wird  für  den 
Gebrauch  im  weiteren  Sinne  genügen,  auf  Aristoteles  und 
die  allgemeine  vergleichende  Verfassungsgeschichte  hin- 
zuweisen. 


Anlage. 

Als  von  Mommsens  Römischem  Staatsrecht  der  erste  Band 
und  die  erste  Hälfte  des  zweiten  erschienen  waren,  führte  Jacob 
Bernays  das  Werk  in  der  Deutschen  Rundschau  (II  1875,    S.  54 
bis  68  =  Gesammelte  Abhandlungen  II   S.  255 — 275)  mit  einem 
Aufsatz  über  die  Behandlung  des  römischen  Staatsrechts  bis  auf 
Theodor   Mommsen   in   ausgezeichneter   Weise   einem   weiteren 
Kreise   vor.    Wie   Mommsen   selbst  seine   antiquarischen   Vor- 
gänger nur  einer  stummen  Widerlegung  für  wert  erachtet  hatte 
(Vorwort  des  ersten  Bandes,  S.  IX),  so  unterdrückte  auch  Bernays 
die  Namen  der  „zahllosen  Verfertiger  von  mageren  Oktavbänden 
oder  ungeschlachten  Folianten  und  Quartanten,  welche  in  älterer 
Zeit  neben  anderen  auch  die  sog.  staatlichen  Antiquitäten  zu 
Häuf  getragen  haben"  und  würdigte  als  Vorgänger  Mommsens 
nur  zwei  der  Erwähnung,  den  Modenesen  Carolus  Sigonius  mit 
seinem  Hauptwerk  De  antiquo  iure  avium  Romanorum  (1560) 
und  den  in   Holland  ansäßigen  Franzosen   Louis  de  Beaufort, 
j  der  auf  sein  Jugendwerk  De  Vincertitude  de  cinq  premiers  sikles 
I  de  Vhistoire  Romaine  (1738)  im  Alter  (1766)  noch  eine  Verfassungs- 
geschichte in  zwei  Quartbänden  folgen  ließ,  mit  dem  belangreichen 
I  Titel:  La  republique  Romaine,  ou  plan  general  de  fanden  gou- 
1  vernement  de  Rome  oü  Von  diveloppe  les  differents  ressorts  de  ce 
;  Gouvernement,  Vinfluence  qu'y  avoit  la  Räigion;  la  Souveraineti 
I  de  la  Peuple  et  la  maniire  dont  il  Vexergoit;  quelle  äait  l'autoriti 
du  Sinat  et  celle  des  Magistrats,  Vadministration  de  la  Justice, 

14* 


\ 


208  Eugen  Täubler, 

les  Prärogatives  du  Citoyen  Romain  et  les  diffirentes  conditions 
des  Sujets  de  ce  vaste  empire.  Sigonius  hatte  sein  Werk  mit  der 
Definition  des  Bürgerrechts  begonnen  und  aus  ihr  alle  staats- 
rechtlichen Elemente  entwickelt.  Es  ist  der  staatsrechtliche 
Gedanke,  der  ihm  in  seiner  Einheitlichkeit  und  Verzweigtheit 
zum  ersten  Male  bewußt  wurde.  Beaufort  wollte  ihn  in  seiner 
allgemeineren,  geschichtlichen  Bedingtheit  aufzeigen:  es  ist  der 
verfassungsgeschichtliche  Gedanke,  der  ihn  leitet.  Daß  Macchia- 
velli  einige  Jahrzehnte  vor  Sigonius  schrieb,  ist  für  dessen  Werk 
ohne  Bedeutung  geblieben;  auf  Beaufort  scheint  aber  Montes- 
quieu ebenso  eingewirkt  zu  haben,  wie  Beaufort  selbst  mit  dem 
Gedanken  von  der  Beeinflussung  der  Verfassung  durch  die  Religion 
auf  Fustel  de  Coulanges. 

Einen  guten  Oberblick  über  die  Behandlung  der  römischen 
Staatsaltertümer  von  Niebuhr  an,  mit  Versuchen,  die  anti- 
quarische, staatsrechtliche  und  die  sog.  verfassungsgeschichtliche 
Anschauungsweise  gegeneinander  abzugrenzen,  gibt  Herzog, 
Geschichte  und  System  der  römischen  Staatsverfassung  (I.  II, 
1.  2,  1884—1891,  darin  I,  S.  I— L).  Die  Verschiedenheit  der 
Arbeitsweisen  äußert  sich  nach  ihm  darin,  daß  die  antiquarische 
„die  Institutionen  nebeneinander  stellt,  ohne  sie  in  ein  inneres 
Verhältnis  zueinander  zu  setzen"  (S.  XI 11^)),  während  die  staats- 
rechtliche „die  Einrichtungen  des  römischen  Staats  als  ein  ge- 
schlossenes Ganze  darzustellen  und  die  einzelnen  Institute  als 
die  Glieder  eines  solchen  Organismus  zu  erfassen"  sucht 
(S.  XXXIV).  Damit  steht  Mommsen  allein.  Die  Versuche, 
über  die  Äußerlichkeit  einer  rein  antiquarischen  Methode  hinauszu- 
kommen, führten  sonst  nur  zu  einer  gewissen  geschichtlichen 
Systematik,  die  nur  bei  Rubino  die  Tiefe  staatsrechtlicher  und 
verfassungsgeschichtlicher  Anschauung  gewann  (Untersuchungen 
über  römische  Verfassung  und  Geschichte.  I.  Ober  den  Entwick- 
lungsgang der  römischen  Verfassung  bis  zum  Höhepunkte  der 
Republik.  1839.  Ober  seine  Methode  die  Vorrede  und  Herzog, 
S.  XIIIss.).  Hier  findet  sich  der  Grundsatz:  „die  staatsrecht- 
lichen Begriffe  der  Römer  auf  ihrem  eigenen  Boden  zu  gewinnen 
und  auf  ihm  allein  die  Fortbildung  derselben  zu  verfolgen." 
Damit  sprach  er  das  aus,  was  erst  Mommsen  zur  Erfüllung  brachte. 

*)  Eine  andere  Charakteristik  lautet,  daß  sie  „sich  in  bewußter 
Absicht  darauf  beschränkt,  sorgsam  zu  registrieren  und  in  chrono- 
logischer bzw.  systematischer  Ordnung  vorzuführen,  was  die  Über- 
lieferung von  einzelnen  Äußerungen  der  Staatsgewalt  meldet  (K.  J. 
Neumann  über  L.  Langes  Römische  Alterthümer  in  Bursians  Bio- 
graph. Jahrb.  1865,  8.50  f.). 


Römisches  Staatsrecht  und  römische  Verfassungsgeschichte.   209 

Ihm  selbst  mußten  schon  die  Voraussetzungen  über  die  Quellen 
unmöglich  machen,  den  Grundsatz  entscheidend  durchzuführen, 
ebenso  außerdem  der  Mangel  rechtlich-begrifflicher  Systematik 
und  eines  ausreichenden  Oberblicks  über  das  Ganze  der  Ent- 
wicklung. 

Wie  Mommsens  neue  Art  auf  diejenigen  wirkte,  welche 
glaubten,  die  Antiquitäten  mittels  eines  geschichtlichen  Rahmens 
in  Verfassungsgeschichte  umwandeln  zu  können,  zeigt  L.  Langes 
Rezension  des  ersten  Bandes  von  Mommsens  Staatsrecht  (Kleine 
Schriften  auf  dem  Gebiete  der  klassischen  Altertumswissenschaft  I, 
S.  154  ff.). 

Was  Herzog  sich  unter  verfassungsgeschichtlicher  Arbeits- 
weise dachte,  sollte  sein  eigenes  Werk  zeigen.  Es  zeigt  aber  nur, 
daß  er  die  Antiquitäten  etwas  stärker  geschichtlich  umkleidete 
und  gliederte,  ohne  im  entferntesten  auch  nur  an  die  staats- 
rechtliche Behandlungsweise  heranzukommen,  geschweige  denn, 
über  sie  hinauszuwachsen.  Noch  unzulänglicher  blieb  Madwigs 
Verfassung  und  Verwaltung  des  römischen  Reichs  (I.  II  1881. 
1882).  Die  jüngsten  Leistungen  auf  diesem  Gebiete  führten  nicht 
weiter;  weder  Nieses  Staat  und  Gesellschaft  der  Römer  noch 
Wengers  Verfassung  und  Verwaltung  des  europäischen  Altertums 
(beide  in  der  Kultur  der  Gegenwart)  kamen  über  knappe  geschicht- 
liche Abrisse  hinaus.  K.  J.  Neumann  läßt  zwar  in  seinen  Römi- 
schen Staatsaltertümern  (in  Gercke-Nordens  Einleitung  in  die 
Altertumswissenschaft)  die  Verschiedenheit  des  Staatsrechtlichen 
und  des  Verfassungsgeschichtlichen  einmal  anklingen  (S.  473), 
seine  in  der  Anlage  wenig  durchdachte  Darstellung  gibt  aber  nur 
einen  dürftigen  staatsrechtlichen  Abriß. 

Die  in  die  Rechtsgeschichten  und  Institutionen  aufgenom- 
menen Darstellungen  des  Staatsrechts  haben  keine  eigene  Be- 
deutung; mit  Recht  sprach  schon  Herzog  (S.  XXXVIII)  nur 
von  einer  gewissen  Erweiterung  des  spezifisch  juristischen  Stand- 
punkts der  Verfasser  im  Gegensatz  zu  dem  vollständigen  In- 
einanderaufgehen  der  juristischen  Anschauungsweise  in  die 
historisch-philologische  bei  Mommsen. 

Die  Förderung  lag  in  einzelnen  Untersuchungen,  in  der  Ver- 
waltungsgeschichte  und  in  der  an  Eduard  Meyers  Namen  ge- 
knüpften Durchsetzung  universalgeschichtlicher  und  vergleichen- 
der Anschauungsweise. 


Kaiser  Priedridi  IL  und  der  Abfall 
der  deutsdien  Pursten. 

Von 
Manfred  Stimming. 


Seit  der  Gründung  des  Deutschen  Reiches  hat  es  keinen 
König  gegeben,  der  nicht  seine  Kräfte  mit  einzelnen  oder 
mehreren  unbotmäßigen  Kronvasallen  und  Fürsten  hätte 
messen  müssen.  Die  Kämpfe  zwischen  der  Krone  und  den 
aufrührerischen  Großen  waren  jedoch  nach  Wesen  und  Be- 
deutung keineswegs  zu  allen  Zeiten  gleichartig.  In  der  älte- 
ren Zeit  trugen  die  Rebellionen  in  der  Regel  einen  rein  per- 
sönlichen Charakter.  Man  muß  sich,  um  sie  richtig  zu  ver- 
stehen, die  mittelalterlich-germanischen  Anschauungen  vom 
Staate  vor  Augen  halten.  Der  Staat  galt  als  eine  Art  von 
stillschweigendem  Vertrage,  der  beiden  Vertragschließenden, 
dem  Herrscher  wie  den  Beherrschten,  gewisse  Pflichten  auf- 
erlegte, denen  sich  keiner  von  beiden  entziehen  durfte.  Einem 
pflichtvergessenen  König  durften  nach  der  Rechtsüberzeu- 
gung des  Mittelalters  die  Untertanen  mit  Gewalt  begegnen; 
gegen  ungerechte  oder  vermeintlich  widerrechtliche  Maßregeln 
galt  bewaffneter  Widerstand  für  erlaubt.^)  Wenn  auch  das 
Widerstandsrecht  im  früheren  Mittelalter  vielfach  mißbraucht 
worden  ist,  so  waren  doch  die  Auflehnungen  der  Großen 
niemals  im  revolutionären  Sinne  gegen  die  königliche  Ge- 
walt als  solche  gerichtet;  sie  hatten  nicht  das  Ziel,  die  Macht 
des  Königtums  zugunsten  der  Fürsten  dauernd  zu  schwächen. 

^)  F.  Kern,  Gottesgnadentum  und  Widerstandsrecht  im  früheren 
Mittelalter  (1915)  S.  167  u.  183ff. 


J 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    211 

Das  änderte  sich,  als  sich  die  Fürsten  zu  Territorial- 
herren entwickelten.  Aus  Grafschaften,  Grafschaftstrüm- 
mern,  Vogteien,  Grundherrschaften  und  anderen  öffentlichen 
und  privaten  Rechten  begannen  sich  im  Laufe  der  Zeit 
Territorien  herauszubilden.  Ihre  zerstreuten  und  verschieden- 
artigen Besitzungen  zu  vergrößern,  abzurunden  und  fest 
zusammenzuschließen,  war  seit  dem  12.  Jahrhundert  das 
Hauptbestreben  der  Fürsten.  Maßgebend  für  die  fürstliche 
Territorialpolitik  war  in  erster  Linie  der  Wunsch  nach  Stei- 
gerung der  Einnahmen  und  Vermehrung  der  Machtmittel. 
Die  Schaffung  größerer  geschlossener  Gerichtsherrschaften 
und  zusammenhängender  Domänenkomplexe  verbürgte  eine 
bessere  Rentabilität,  eine  bequemere  Verwaltung  und  leich- 
tere Sicherung  der  Besitzungen.  Die  Burgen,  welche  die 
Fürsten  in  großer  Zahl  während  des  12.  Jahrhunderts  er- 
bauten oder  in  ihre  Hand  brachten,  und  die  Ministerialen, 
die  sie  in  steigendem  Maße  in  der  Verwaltung  ihrer  Be- 
sitzungen verwandten,  bildeten  die  festen  Klammern  der 
entstehenden  Territorien. 

Je  mehr  sich  nun  die  locker  organisierten,  anfangs  vor- 
nehmlich durch  das  Lehnsband  zusammengehaltenen  Für- 
stentümer zu  territorialen  Herrschaften  ausgestalteten,  je 
enger  die  Fürsten  mit  ihren  Herrschaftsgebieten  verwuchsen, 
um  so  stärker  traten  die  Bestrebungen  in  den  Vordergrund, 
die  Macht  des  Königs  in  den  fürstlichen  Besitzungen  aus- 
zuschalten und  die  Leistungen  an  das  Reich  nach  Möglich- 
keit zu  beschränken.  Schon  im  12.  Jahrhundert  führte  die 
dynastische  und  territoriale  Interessenpolitik  der  Fürsten 
hier  und  da  zu  heftigen  Zusammenstößen  mit  der  Reichs- 
gewalt; zu  einer  wirklichen  Gefahr  für  die  Machtstellung 
des  Königtums  wurde  sie  jedoch  erst  im  13.  Jahrhundert. 

Solange  nämlich  die  Krone  noch  über  bedeutende 
Massen  von  Reichsgut  verfügte,  solange  sie  durch  Beherr- 
schung der  Reichskirche  eine  unerschöpfliche  Quelle  finan- 
zieller und  militärischer  Machtmittel  besaß,  konnte  ihr  ein 
einzelner  Fürst  oder  auch  eine  Koalition  mehrerer  kaum 
gefährlich  werden.  Auch  war  die  Territorialpolitik  der 
Reichsgewalt  nicht  überall  schädlich.  Soweit  es  sichoim 
die  geistlichen  Fürsten  handelte,  war  das  Anwachsen  und 


212  Manfred  Stimming, 

der  festere  Zusammenschluß  der  Besitzungen  sogar  von  er- 
heblichem Vorteil  für  das  Königtum.  Die  dadurch  gesteigerte 
Leistungsfähigkeit  der  Bistümer  und  Reichsabteien  kam  in- 
direkt der  Stärkung  der  Königsmacht  zugute,  solange  die 
Abhängigkeit  der  Reichskirche  aufrechterhalten  wurde. 

Die  Herrschaft  über  die  Kirche  ging  jedoch  zu  Beginn 
des  13.  Jahrhunderts  verloren,  indem  Otto  IV.  im  Jahre 
1209  und  nach  ihm  Friedrich  II.  im  Jahre  1213  gegenüber 
der  Kurie  durch  Anerkennung  der  uneingeschränkten  Frei- 
heit der  Kapitelwahlen  stillschweigend  auf  die  alten  Königs- 
rechte des  Wormser  Konkordates  verzichteten  und  auch 
das  Spolien-  und  das  Regalienrecht  preisgaben,  Zugeständ- 
nisse von  einschneidender  Bedeutung,  die  um  so  schwerer 
ins  Gewicht  fielen,  als  um  dieselbe  Zeit  auch  ein  erheb- 
licher Teil  des  Königsgutes  der  Krone  entfremdet  wurde. 
Friedrich  II.  konnte  für  seine  Person  diese  Einbußen  noch 
zur  Not  verschmerzen,  da  er  für  die  Machtmittel,  die  er  in 
Deutschland  vermissen  mußte,  in  seinem  sizilianischen  Erb- 
reiche einen  reichlichen  Ersatz  fand.  Aber  für  das  deutsche 
Königtum  als  solches  war  der  Schaden  unberechenbar  und 
nicht  wieder  gutzumachen. 

Die  Zugeständnisse  der  beiden  Kaiser  waren  dazu  be- 
stimmt, der  Befreiung  der  Kirche  von  der  weltlichen  Ge- 
walt zu  dienen;  sie  kamen  aber  in  erster  Linie  den  welt- 
lichen Machtbestrebungen  der  geistlichen  Fürsten  zugute. 
Daß  jene  das  Privileg  von  1213  in  diesem  Sinne  auffaßten, 
geht  deutlich  daraus  hervor,  daß  die  deutschen  Bischöfe 
und  Reichsäbte  sich  die  königlichen  Versprechungen  noch- 
mals im  Jahre  1220  in  der  Confoederatio  cum  principibus 
ecclesiasticis  zusammen  mit  anderen  materiellen  Zugeständ- 
nissen, die  ihrer  Territorialpolitik  Vorschub  leisten  sollten, 
bestätigen  ließen. i) 

Die  Confoederatio  bildete  eine  weitere  wichtige  Etappe 
auf  dem  Entwicklungswege  der  geistlichen  Fürstentümer. 
Durch  sie  wurden  die  letzten  Reste  des  Eigenkirchenrechtes 
beseitigt.  In  der  bisher  vom  Könige  geübten  Praxis,  auf 
dem   Grund   und  Boden   der  Bistümer  und  Reichsabteien 


1)  Mon.  Germ.  Constitut  II  (1896)  p.  89. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    213 

Burgen  zu  bauen  und  Kirchenlehen  für  sich  in  Anspruch 
zu  nehmen,  waren  noch  die  letzten  Nachwirkungen  des  alten 
Eigentumsrechts  am  Reichskirchengut  verspürbar  gewesen. 
Nunmehr  wurde  beides  untersagt.  Damit  hatten  die  geist- 
lichen Fürsten  den  Vorsprung,  den  ihnen  ihre  weltlichen 
Standesgenossen  bis  dahin  voraus  hatten,  eingeholt.  In 
der  Stellung  zur  Reichsgewalt  gab  es  künftig  keinen  Unter- 
schied mehr  zwischen  weltlichen  und  geistlichen  Fürsten- 
tümern. 1) 

Friedrich  II.  zerschnitt  das  enge  Band,  das  so  lange 
Krone  und  Reichskirche  vereinigt  hatte.  Nachdem  die 
letzten  Reste  des  ehemaligen  Beamtencharakters  der  Bi- 
schöfe abgestreift  waren,  hielt  ein  neuer  Geist  in  den  deut- 
schen Episkopat  seinen  Einzug.  Die  geistlichen  Fürsten 
stellten  in  Zukunft  ihre  Territorialpolitik  allen  anderen  Auf- 
gaben voran.  Wohl  gab  es  auch  später  noch  Vertreter  des 
Episkopates,  die  ihre  landesfürstlichen  Aufgaben  mit  den 
Pflichten  gegenüber  dem  Reiche  wohl  zu  vereinigen  ver- 
standen —  man  braucht  sich  nur  an  Engelbert  von  Köln 
oder  Eberhard  von  Salzburg  zu  erinnern  — ,  aber  die  Zahl 
dieser  Männer  war  doch  nur  eine  sehr  geringe. 

Weltliche  und  geistliche  Fürsten  fühlten  sich  seit  dem 
13.  Jahrhundert  in  erster  Linie  als  Territorialherren  und 
wandten  ihre  Kräfte  hauptsächlich  dem  Ausbau  ihrer  Terri- 
torien zu,  die  damals  von  geschlossenen  Gebieten  noch  weit 
entfernt  waren.  Das  gilt  sowohl  für  die  weltlichen  wie  für 
die  geistlichen  Herrschaften.  Im  allgemeinen  zeichneten  sich 
allerdings  die  Besitzungen  der  Laienfürsten  durch  größere 
Geschlossenheit  aus.  Ihr  Hauptfundament  bildeten  in  der 
Regel  eine  oder  mehrere  Grafschaften,  die  sich  vom  Vater 
auf  den  Sohn  vererbten,  und  in  denen  meist  auch  die  Fami- 
liengüter lagen.  Jedoch  waren  fast  alle  alten  Grafschafts- 
sprengel durch  Teilung  und  durch  eingestreute  kirchliche 
Immunitäten  in  mannigfacher  Weise  zerstückelt  und  durch- 
löchert. Dazu  hatten  die  weltlichen  Fürsten  als  Lehen, 
durch  Erbschaft,  Kauf  oder  auf  andere  Weise  auch  zahl- 
reiche zerstreute  und  entlegene  Hoheitsrechte  und  Besit- 

^)  Stimming,  Die  Entstehung  des  weltlichen  Territoriums  des 
Erzbistums  Mainz  (1915)  S.  90. 


214  Manfred  Stimming, 

Zungen  gewonnen,  so  daß  zur  Schaffung  von  geschlossenen 
Herrschaftsgebieten  noch  viel  zu  tun  übrig  blieb.  Noch  weit 
ungünstiger  war  es  mit  den  geistlichen  Herrschaften  bestellt. 
Da  die  Kirchen  ihre  Güter  durch  zahlreiche  einzelne  Schen- 
kungen von  Königen  und  Privatpersonen  erworben  hatten, 
so  lagen  die  Besitzungen  meist  über  weite  Gebiete  zerstreut 
und  entbehrten  jeglicher  territorialen  Geschlossenheit. 

Indem  nun  die  weltlichen  und  geistlichen  Fürsten  wett- 
eifernd ihre  Besitzungen  abzurunden  und  zusammenzuschlie- 
ßen suchten,  gerieten  sie  sich  häufig  ins  Gehege,  zumal  in 
Süd-  und  Westdeutschland,  wo  zahlreiche  größere  und  klei- 
nere, weltliche  und  geistliche  Herrschaften  in  buntem  Ge- 
menge durcheinanderlagen.  Eine  besondere  Rolle  spielten 
bei  den  Reibungen  zwischen  den  weltlichen  und  geistlichen 
Fürsten  die  Kirchenlehen.  Bekanntlich  durften  die  Bischöfe 
nach  kanonischen  Vorschriften  die  Blutgerichtsbarkeit  nicht 
selbst  ausüben.  Sie  waren  daher  gezwungen,  ihre  wichtig- 
sten Hoheitsrechte,  die  Grafschaften  und  Vogteien  über  das 
kirchliche  Grundeigentum,  zu  Lehen  auszugeben;  und  zwar 
waren  sie  dabei  nach  dem  Gewohnheitsrechte  des  früheren 
Mittelalters  auf  Personen  edelfreien  Standes  beschränkt. 
So  kam  ein  großer  Teil  der  kirchlichen  Gerichtsherrschaften 
in  den  erblichen  Lehnsbesitz  der  weltlichen  Fürsten,  welche 
diese  Besitzungen  den  Kirchen  gänzlich  zu  entziehen  und 
2u  ihren  entstehenden  Territorien  zu  schlagen  trachteten. 
Die  geistlichen  Fürsten  dagegen  nahmen  jede  Gelegenheit 
wahr,  um  die  Grafschaften  und  Vogteien  wieder  in  den  un- 
mittelbaren Besitz  ihrer  Kirchen  zu  bringen  und  sie,  nach- 
dem das  Gerichtsmonopol  der  Edelfreien  beseitigt  war,  durch 
Ministeriale  oder  Beamte  verwalten  zu  lassen. 

Trotz  der  starken  Gegensätze  zwischen  den  weltlichen 
und  geistlichen  Fürsten  hatte  sich  doch  gegenüber  der  Krone 
eine  Interessengemeinschaft  herausgebildet.  Bischöfe  und 
Laienfürsten  waren  in  gleicher  Weise  daran  interessiert,  die 
Zentralgewalt  zu  schwächen,  um  dadurch  ihre  Unabhängig- 
keit zu  sichern  und  für  eine  ungehinderte  Territorialpolitik 
freie  Bahn  zu  schaffen.  Im  Jahre  1231  traten  sie  der  Krone 
zum  ersten  Male  in  geschlossener  Phalanx  gegenüber  und 
erzwangen    die    Erfüllung   ihrer    Forderungen,   welche   die 


Kaiser  Friedrich  H.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    215 

Reichsregierung  durch  das  Statutum  in  favorem  principum 
verbriefte.  Das  Neue  und  Bedeutungsvolle  dieser  Vorgänge 
liegt  darin,  daß  sich  die  Fürsten  als  eine  Einheit  zu  fühlen 
begannen  und  durch  gemeinsames  Vorgehen  ihre  Selbstän- 
digkeitsbestrebungen und  ihre  territoriale  Interessenpolitik  zu 
fördern  suchten,  Ziele,  denen  sie  bis  dahin  nur  einzeln  oder 
gruppenweise  nachgegangen  waren. 

Die  ersten  Jahrzehnte  des  13.  Jahrhunderts  brachten 
eine  starke  Machtverschiebung  zwischen  Reichsgewalt  und 
Fürstentum.  Während  die  Landeshoheit  der  Fürsten  ent- 
scheidende Fortschritte  machte,  büßte  die  Krone  einen  guten 
Teil  ihrer  materiellen  und  ideellen  Machtmittel  ein.  In  dem 
Kampfe  zwischen  den  Weifen  und  Hohenstaufen  um  die 
Krone  sahen  sich  die  Gegenkönige  genötigt,  einen  bedeuten- 
den Teil  des  verfügbaren  Reichsgutes  zu  verwenden,  um 
Anhänger  zu  gewinnen.  Dadurch  wurden  große  Lücken  in 
das  unter  Friedrich  I.  und  Heinrich  VI.  ansehnlich  ver- 
mehrte Reichsgut  gerissen,  während  den  territorialen  Be- 
strebungen der  Fürsten  mächtig  Vorschub  geleistet  wurde. 
Aber  die  Verschwendung  des  Reichsgutes  hatte  noch  eine 
andere  bedenkliche  Folge.  Die  Fürsten  lernten  die  Notlage 
des  Königtums  auszunutzen;  sie  gewöhnten  sich  daran,  ihre 
Leistungen  für  das  Reich  nicht  als  eine  PfUcht  anzusehen, 
sondern  als  eine  Hilfe,  die  einer  Gegenleistung  bedürfte. 
Friedrich  II.  war  gezwungen,  dieser  Auffassung  Rechnung 
zu  tragen  und  auch  später  immer  wieder  aufs  neue  die 
Fürsten  mit  Schenkungen  und  Zugeständnissen  zu  bedenken, 
um  sie  sich  geneigt  zu  erhalten  oder  um  etwas  Besonderes 
von  ihnen  zu  erreichen.  Daß  diese  Politik  keineswegs  dazu 
angetan  war,  das  Ansehen  des  Königtums  und  des  Reiches 
zu  heben,  liegt  auf  der  Hand.  Die  Fürsten  begannen  immer 
mehr  den  verfallenden  Bau  des  Reiches  als  einen  Steinbruch 
zu  betrachten,  aus  dem  sie  mit  oder  ohne  Erlaubnis  des 
Königs  und  Herrn  Stein  für  Stein  herausbrachen,  um  diese 
in  die  entstehenden  Gebäude  ihrer  Territorien  einzufügen. 

Die  Gleichgültigkeit  der  Fürsten  gegen  Kaiser  und  Reich 
wurde  auch  dadurch  gefördert,  daß  Friedrich  II.  den  Sitz 
seiner  Herrschaft  und  den  Schwerpunkt  des  Reiches  nach 
Süditalien  verlegte.    Der  Hof  des  Königs  war  in  Deutsch- 


216  Manfred  Stitnming, 

land  stets  der  lebendige  Mittelpunkt  des  Reiches  gewesen. 
Während  der  König  durch  das  Land  zog,  gingen  die  Großen 
des  Reiches  bei  ihm  aus  und  ein:  sie  nahmen  an  den  Fest- 
lichkeiten des  Hofes  teil,  sie  waren  die  Berater  des  Herr- 
schers bei  allen  wichtigen  Reichsangelegenheiten  und  wurden 
zu  politischen  und  diplomatischen  Missionen  verwandt.  Die 
gewohnte  Leistung  der  pflichtmäßigen  Hof-  und  Heerfahrt, 
der  persönliche  Umgang  mit  dem  Könige,  der  ständige  An- 
teil an  den  Regierungsgeschäften,  alles  dies  hielt  das  Inter- 
esse der  Fürsten  an  dem  Reiche  wach,  brachte  in  ihnen 
den  Gedanken  zu  lebendigem  Bewußtsein,  daß  es  über  ihren 
fürstlichen  Herrschaften  noch  etwas  Höheres,  alle  Verbin- 
dendes gäbe,  und  knüpfte  das  Band  zwischen  dem  König 
und  den  Großen  des  Reiches  enger.  Gar  manche  Unstim- 
migkeit und  mancher  drohende  Konflikt  wurde  durch  un- 
mittelbare Verständigung  zwischen  Herrscher  und  Vasallen 
geregelt  und  geordnet.  Wie  stark  das  persönliche  Moment 
selbst  noch  in  der  Zeit  Friedrichs  II.  wirkte,  trat  nach  dem 
Abfalle  Heinrichs  VII.  deutlich  hervor.  Nicht  einmal  eines 
Heeres  bedurfte  es;  das  persönliche  Erscheinen  des  Kaisers 
genügte,  um  die  Ruhe  und  Ordnung  im  Reiche,  die  bereits 
empfindlich  gestört  waren,  wieder  herzustellen. 

Friedrich  IL,  ein  Kind  des  sonnigen  Südens,  stand  dem 
Reiche  ganz  anders  gegenüber  als  seine  Ahnen  und  Vor- 
gänger, die  Deutschland  als  ihre  Heimat  und  die  feste  Grund- 
lage ihrer  Macht  und  die  übrigen  Gebiete  des  Imperiums 
nur  als  Nebenländer  betrachtet  hatten.  Italien  und  Deutsch- 
land galten  ihm  als  gleichgestellte  Glieder  des  umfassenden 
Universalreiches.  Der  riesige  Umfang  der  beherrschten  Län- 
der mit  ihren  gewaltigen  Entfernungen  machte  es  bei  den 
damaligen  mangelhaften  Verkehrsmitteln  unmöglich,  das 
Ganze  persönlich  und  unmittelbar  zu  regieren.  Friedrich 
hatte  zwischen  dem  Norden  und  dem  Süden  zu  wählen. 
Es  kann  kaum  wundernehmen,  daß  er  sich  für  das  König- 
reich Sizilien  entschied,  das  er  als  seine  eigentliche  Heimat 
ansah.  Nicht  nur  sein  Herz  zog  ihn  dorthin;  hier  fand  er 
auch  das,  was  ihm  in  Deutschland  fehlte:  eine  Hausmacht, 
ein  einheitlich  organisiertes  und  reiches  Land  mit  einer 
starken  königlichen  Zentralgewalt. 


I 


Kaiser  Friedrich  IL  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    217 


Deutschland  stand  dem  Kaiser  erst  in  zweiter  Linie. 
Er  hat  keinen  Versuch  gemacht,  hier  etwas  Neues,  Durch- 
greifendes zu  schaffen.  Er  fand  sich  mit  dem  bestehenden 
Zustande  der  Dezentralisation  ab  und  gab  den  Wünschen 
der  fürstlichen  Territorialpolitik  auf  der  ganzen  Linie  nach. 
So  hatte  es  Friedrich  während  des  ersten  Aufenthaltes  in 
Deutschland  in  den  Jahren  1212—1220  gehalten;  auch  1235 
war  sein  ganzes  Streben  darauf  gerichtet,  das  gute  Ver- 
hältnis zu  den  Fürsten  aufrechtzuerhalten  und,  wo  es  ge- 
stört war,  wiederherzustellen,  um  sich  so  die  finanziellen 
und  militärischen  Hilfsquellen  Deutschlands  offenzuhalten 
und  sich  die  Hände  freizumachen  für  die  Aufgaben,  die 
damals  im  Vordergrunde  seines  Interesses  standen. 

Über  das  Ziel  seiner  Politik  hat  sich  Friedrich  im  Jahre 
1236  in  dem  bekannten  Brief  an  den  Bischof  von  Como 
ausgesprochen:  die  Lombardei,  die  auf  allen  Seiten  von 
kaiserlichen  Machtgebieten  umgeben  sei,  sollte  zur  Unter- 
werfung unter  den  kaiserlichen  Willen  gebracht  und  wieder 
eng  mit  dem  Imperium  vereinigt  werden,  i)  Wollte  der  Kaiser 
die  südlichen  und  nördlichen  Länder  des  Reiches  zu  einer 
festen  Einheit  bringen,  so  war  es  in  der  Tat  notwendig, 
den  hemmenden  Wall  der  lombardischen  Unabhängigkeit 
zu  beseitigen. 

Die  Kurie  dagegen  hatte  der  Vereinigung  von  Deutsch- 
land und  Sizilien  von  Anfang  an  mit  allen  Mitteln  entgegen- 
gearbeitet. Die  Unterwerfung  von  Norditalien  hätte  vollends 
das  Patrimonium  Petri  hoffnungslos  zwischen  zwei  gewaltige 
kaiserliche  Machtgebiete  eingekeilt.  Das  konnte  und  wollte 
Gregor  IX.  nicht  zulassen.  Als  der  Sieg  des  Kaisers  in 
gefahrdrohende  Nähe  rückte,  fiel  der  Papst  Friedrich  in 
den  Arm  und  schleuderte  am  20.  März  1239  den  Bann  gegen 
den  Kaiser.  Die  geistlichen  Waffen  konnten  jedoch  nur  durch 
die  Hilfe  des  weltlichen  Armes  wirksam  werden.  So  trat 
denn  Gregor  nicht  nur  mit  den  Lombarden  in  enge  Fühlung, 

^)  Huillard-Br^holles,  Historia  diplomatica  Friderici  II  Bd.  IV, 
S.  49:  „ut  Sic  illud  Halte  medium  nostris  undique  viribus  circumdatum 
ad  nostre  serenitatis  obsequia  et  ad  imperii  redeat  unitatem.  Daß  die 
Lombardei,  nicht  Mittelitalien  gemeint  sei,  geht  aus  dem  Zusammen- 
hang hervor. 


218  Manfred  Stimming) 

sondern  suchte  auch  mit  den  deutschen  Fürsten  anzuknüpfen, 
um  sie  gegen  den  Kaiser  aufzuwiegeln. 

In  Deutschland  waren  durch  die  Maßnahmen  Friedrichs 
in  den  Jahren  1235  und  1236  Ruhe  und  Ordnung  wieder 
hergestellt.  Auf  dem  Tage  von  Wien  wurde  der  neunjährige 
Kaisersohn  Konrad  zum  deutschen  Könige  gewählt;  neben 
ihn  wurde  der  Erzbischof  Siegfried  von  Mainz  als  Reichs- 
verweser gestellt.  Die  Ernennung  eines  neuen  Reichsproku- 
rators war  nur  von  geringer  praktischer  Bedeutung;  sie  ge- 
schah wohl  hauptsächlich,  um  dem  Herkommen  zu  genügen. 
Jedenfalls  hat  Siegfried  auf  die  Regierung  des  Reiches  keinen 
nennenswerten  Einfluß  gehabt.  Die  ganze  Schwäche  seiner 
Stellung  trat  zutage,  als  er  für  den  14.  März  des  Jahres  1238 
einen  Reichstag  nach  Erfurt  berief.  Nur  zwei  Fürsten  lei- 
steten seiner  Einladung  Folge,  i)  Den  eigentlichen  Sitz  der 
Reichsregierung  bildete  der  Hof  Konrads  IV.  Der  König 
selbst  war  freilich  infolge  seines  jugendlichen  Alters  noch 
nicht  imstande,  die  Zügel  der  Regierung  zu  führen.  Aber 
Friedrich  hatte  ihm  eine  Anzahl  erprobter  Männer  beigegeben, 
in  deren  Händen  die  Erziehung  des  jungen  Herrschers  und 
die  Leitung  des  Reiches  lag.  Es  waren  dem  Kaiser  ergebene 
Persönlichkeiten  wie  Gottfried  von  Hohenlohe  und  andere, 
die  keineswegs  zu  den  Großen  des  Reiches  gehörten.  2)  Es 
ist  klar,  daß  diese  Reichsräte  lediglich  ausführende  Organe 
des  kaiserlichen  Willens  waren.  Auf  diese  Weise  war  Fried- 
rich der  eigentliche  Regent  von  Deutschland  geblieben.  Vor- 
kommnisse, wie  sie  unter  der  Regierung  Heinrichs  VIL 
stattgefunden  hatten,  waren  damit  so  gut  wie  ausgeschlossen. 
Eine  Stärkung  der  Zentralgewalt  war  freilich  durch  die 
Einsetzung  der  neuen  Reichsregierung  nicht  erfolgt.  Wenn 
in  den  folgenden  Jahren  die  Ruhe  im  Reiche  leidlich  er- 
halten blieb,  so  lag  das  vornehmlich  daran,  daß  Friedrich 
die  Fürsten  mit  Privilegien  übersättigt  hatte.  Das  hielt  eine 
Zeitlang  vor. 


*)  Annales  Erphordenses  fratrum  praedicatorum.  Monumenta  Er- 
phesfurt  ed.  Holder-Egger  (1899)  p.  94. 

2)  K.  Weller,  Geschichte  des  Hauses  Hohenlohe  Bd.  I  (1904), 
S.  80.  —  K.  Weller,  Gottfried  von  Hohenlohe.  Württembergische 
Vierteljahrschrift  für  Landesgeschichte  NF.  Bd.  V  (1896),  S.  223, 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    219 

Nur  im  Südosten  war  an  dem  Körper  des  Reiches  nach 
dem  Weggange  Friedrichs  eine  offene  Wunde  zurückgeblieben. 
Dem  Kaiser  war  es  nicht  gelungen,  den  Herzog  Friedrich 
von  Österreich  und  Steiermark  völlig  unschädlich  zu  machen. 
Der  geächtete  Babenberger  trat  in  Verbindung  mit  den 
beiden  mächtigsten  Fürsten  im  Südosten  des  Reiches,  dem 
Könige  von  Böhmen  und  dem  Herzoge  von  Bayern.  Diese 
beiden  waren  unzufrieden,  weil  sie  sich  Hoffnungen  auf  Teile 
der  eingezogenen  Herzogtümer  gemacht  hatten  und  sich  be- 
trogen fühlten,  als  der  Kaiser  Österreich  und  Steiermark  für 
das  Reich  verwalten  ließ.  Bei  dem  Bayernherzog  kam  außer- 
dem eine  persönliche  Feindschaft  zu  dem  Reichsverweser, 
dem  Mainzer  Erzbischof,  hinzu,  dem  er  die  Reichsabtei 
Lorsch  streitig  zu  machen  suchte.  ^)  Herzog  Friedrich  von 
Österreich  versprach  dem  Böhmenkönig  die  Abtretungen  be- 
trächtlicher Grenzgebiete  2)  und  gelangte  tatsächlich  mit 
Hilfe  seiner  beiden  Verbündeten  wieder  in  den  Besitz  seiner 
Herzogtümer.  Durch  den  Passauer  Bund  vom  7.  März  1239 
schlössen  sich  die  Fürsten  von  Böhmen,  Bayern  und  Öster- 
reich eng  aneinander  an.^) 

So  war  eine  nicht  unbedeutende  Fürstenopposition  im 
Südosten  des  Reiches  entstanden.  Sie  bot  dem  Papste  die 
erwünschte  Gelegenheit,  die  Hebel  seiner  Politik  hier  mit 
Erfolg  gegen  den  Kaiser  einzusetzen.  Als  päpstlicher  Agent 
wirkte  für  die  Sache  der  Kirche  der  Passauer  Archidiakon 
Albert,  dessen  teilweise  erhaltene  Briefbücher  eine  unschätz- 
bare Quelle  für  die  Verhältnisse  in  Deutschland  um  das 
Jahr  1240  sind.*)  Albert,  welcher  der  kirchlichen  Sache 
zweifellos  aus  ehrlicher  Überzeugung  diente  und  wegen 
seiner  Tätigkeit  mancherlei  Unbilden  zu  erdulden  hatte^), 
zeichnete  sich  mehr  durch  Eifer  als  durch  diplomatisches 

1)  Regesten  der  Pfalzgrafen  ed.  Koch  und  Wille  Bd.  I  (1884) 
n«  429ff. 

2)  Heiligenkreuzer  Fortsetzung  der  Melker  Annalen.  Mon.  Germ, 
SS  IX,  p.  639. 

*)  Constantin  Höfler,  Albert  von  Beham.  Bibliothek  des  lite- 
rarischen Vereins  in  Stuttgart  Bd.  XVI  (1847),  S.  4. 

*)  Herausgegeben  von  C.  Hofier;  vgl.  die  vorige  Anm. 
*)  Höfler  S.  30  u.  32.  —  Hauck,  Kirchengeschichte  Deutschlands 
d.  IV*,  S.  829. 


i 


220  Manfred  Stimming, 

Geschick  aus.  Anfangs  war  freilich  sein  Vorgehen  nicht 
ohne  Erfolg.  Das  Passauer  Dreifürstenbündnis  war  vor- 
nehmlich sein  Werk.  Es  kam  in  der  Folge  alles  darauf  an, 
für  die  päpstliche  Partei  unter  den  deutschen  Fürsten  neuen 
Anhang  zu  gewinnen  und  ihr  durch  die  Wahl  eines  Gegen- 
königs einen  Führer  zu  geben.  Die  darauf  gerichteten  Be- 
strebungen Alberts  endeten  freilich  mit  einem  vollen  Miß- 
erfolge. Die  feindliche  Haltung  des  Herzogs  von  Bayern 
bewirkte,  daß  die  bayerischen  Bischöfe,  die  in  ihrer  Terri- 
torialpolitik die  natürlichen  Gegner  des  Herzogs  waren,  sich 
um  so  fester  an  den  Kaiser  anschlössen.  Nicht  mehr  Glück 
hatte  Albert  bei  den  übrigen  Fürsten  des  Reiches.  Auf  dem 
Reichstage,  den  König  Konrad  und  der  Reichsprokurator 
am  1.  Juni  1239  in  Eger  abhielten,  wurden  die  bisher  noch 
unsicheren  Fürsten,  der  Markgraf  von  Meißen  und  der  Land- 
graf von  Thüringen,  der  durch  die  Heirat  einer  Tochter  des 
geächteten  Babenbergers  in  einen  gewissen  Gegensatz  zur 
Reichsregierung  getreten  war,  vollends  für  die  staufische 
Sache  gewonnen.^)  Man  versteht,  daß  unter  diesen  Um- 
ständen weder  der  Prinz  Abel  von  Dänemark,  noch  der 
Herzog  Otto  von  Braunschweig,  noch  auch  Robert,  der 
Bruder  des  französischen  Königs,  das  Danaergeschenk  der 
ihnen  angebotenen  deutschen  Königskrone  annehmen  woll- 
ten. 2)  Die  nach  Lebus  und  Bautzen  angesagten  Wahltage 
kamen  nicht  zustande.  Schließlich  fiel  auch  die  Fürsten- 
koalition im  Südosten  des  Reiches  auseinander:  der  König 
von  Böhmen  und  der  Herzog  von  Österreich  zogen  es  vor, 
ihren  Frieden  mit  dem  Kaiser  zu  machen.^)  Der  Herzog 
von  Bayern  war  völlig  isoliert.  Je  mehr  die  päpstliche  Sache 
zurückging,  mit  um  so  schärferen  Mitteln  ging  der  Archi- 
diakon  Albert  vor.  Gregor  IX.  hatte  ihm  Auftrag  und  Voll- 
macht gegeben,  alle  Anhänger  und  Begünstiger  des  Kaisers 
zu  bannen.*)   Hiervon  machte  Albert  ausgiebigen  Gebrauch. 


1)  Höfler  S.  5.  —  Annales  Erphord.  Mon.  Erph.  p.  96,  deren 
Berichte  in  einigen  Punkten  von  den  Angaben  Alberts  abweichen. 

*)  Chronicon  Alberichs  von  Trois-Fontaines.  Mon,  Germ.  SS. 
XX IM,  p.  949. 

8)  1240  vor  März  23:  Höfler  S.  10  u.  14. 

*)  Höfler  S.  6. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    221 

Seine  Massenexkommunikationen  blieben  jedoch  wirkungslos 
und  stifteten  mehr  Schaden  als  Nutzen.  Besonders  die  baye- 
rischen Bischöfe  wurden  nur  in  ihrem  Widerstände  bestärkt. 
Sie  leisteten  den  Anordnungen  des  Legaten  keine  Folge  und 
kümmerten  sich  nicht  um  seine  Vorladungen.  Der  Bischof 
Siegfried  von  Regensburg  machte  sich  öffentlich  über  Albert 
lustig  und  gab  ihm  zu  verstehen,  daß  er  seine  Vollmacht 
für  gefälscht  halte.  Der  Erzbischof  von  Salzburg  und  der 
Bischof  von  Brixen  sperrten  den  Boten  Alberts,  die  zum 
Papste  gingen,  den  Weg.  Eberhard  von  Salzburg  scheute 
sich  nicht,  ein  an  ihn  gesandtes  päpstliches  Schreiben  mit 
Füßen  zu  treten,  i)  Der  Bischof  von  Freising  beantwortete 
die  Ladung  des  päpstlichen  Delegatrichters,  des  Straßburger 
Bischofs,  mit  den  kecken  Worten,  der  Papst  habe  in  Deutsch- 
land überhaupt  nichts  zu  schaffen  (nil  iuris  in  Alemannia 
habere).^)  Irgendwelche  kirchlichen  Motive  suchen  wir  bei  den 
Anhängern  und  Gegnern  des  Papstes  vergebens.  Auch  für 
die  Haltung  Ottos  von  Bayern  waren  ausschließlich  terri- 
torialpolitische Gesichtspunkte  maßgebend.  Er  benutzte  den 
päpstlichen  Legaten  als  Werkzeug  der  bayerischen  Politik. 
Die  Exkommunikationen  Alberts  ergingen  vornehmlich  gegen 
diejenigen  Fürsten,  die  Widersacher  und  Rivalen  des  baye- 
rischen Herzogs  waren:  gegen  die  bayerischen  Bischöfe,  den 
Erzbischof  von  Mainz,  den  Herzog  von  Österreich,  den  Land- 
grafen von  Thüringen  und  andere. 3)  Als  dann  Herzog  Otto 
seine  Isolierung  gefährlich  zu  werden  drohte,  begann  er  sich 
der  kaiserlichen  Partei  zu  nähern,  indem  er  sich  zunächst 
mit  den  Bischöfen  von  Freising  und  Passau  aussöhnte.*) 

Der  Versuch  zur  Bildung  einer  päpstlichen  Partei  in 
Deutschland  war  völlig  gescheitert.  Wohl  war  es  der  Kurie 
gelungen,   unter  Ausnutzung   der   persönlichen   und   terri- 


1)  Höfler  S.  12,  16,  19  u.  28. 

2)  Höfler  S.  5. 

3)  Ratzinger,  Albert  d.  Böhme.  Historisch-politische  Blätter 
Bd.  64  (1869),  S.  209.  Um  die  Exkommunikation  des  thüringischen 
Landgrafen  hatte  der  Herzog  von  Bayern  besonders  gebeten:  Höfler 
S.  6  u.  11. 

*)  Höfler  S.  4. 
Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  1 5 


222  Manfred  Stimming, 

torialen  Gegensätze  unter  den  deutschen  Fürsten  eine  An- 
zahl von  Anhängern  zu  gewinnen;  sie  aber  dauernd  zu- 
sammenzuhalten oder  gar  ihnen  das  Übergewicht  zu  ver- 
schaffen, dazu  reichten  die  Mittel,  deren  Gregor  IX.  sich 
bediente,  nicht  aus.  Die  geistlichen  Waffen  erwiesen  sich 
als  stumpf  und  wirkungslos;  nur  an  wenigen  Stellen  wurde 
die  Exkommunikation  des  Kaisers  verkündet.  Nicht  einmal 
ein  päpstlich  gesinnter  Fürst  wie  der  Erzbischof  von  Bremen 
wagte  es  zu  tun,  da  er  für  seine  Stellung  fürchtete,  i)  Nach 
wie  vor  leisteten  die  weltlichen  und  geistlichen  Fürsten  und 
die  Städte  dem  Kaiser  bewaffneten  Zuzug  in  die  Lombardei. 
Ja,  die  kaiserliche  Sache  gestaltete  sich  so  günstig,  daß  es 
Friedrich  gelang,  auf  dem  Egerer  Fürstentage  durch  dorthin 
gesandte  Boten  die  anwesenden  Großen  von  der  Ungerech- 
tigkeit des  päpstlichen  Vorgehens  zu  überzeugen  und  ihnen 
die  eidliche  Verpflichtung  abzunehmen,  den  Versuch  einer 
Versöhnung  zwischen  Papst  und  Kaiser  zu  machen.  Freilich 
darf  man  aus  der  Vermittlungsaktion  keine  zu  weit  gehen- 
den Schlüsse  auf  die  reichstreue  Gesinnung  der  Fürsten 
ziehen.  Sie  handelten  nicht  aus  eigener  Initiative,  sondern 
fügten  sich  dem  Drängen  des  Kaisers,  weil  sie  selbst  ein 
Interesse  daran  hatten,  den  Frieden  und  den  damaligen  Zu- 
stand des  Reiches  aufrechtzuerhalten.  Immerhin  ging  im 
Jahre  1240  nicht  nur  eine  Abordnung  der  deutschen  Fürsten 
unter  der  Führung  des  Deutschmeisters  Konrad  von  Thü- 
ringen nach  Rom,  um  den  Papst  zum  Frieden  zu  bewegen, 
sondern  der  persönliche  Versöhnungsversuch  wurde  noch 
durch  zahlreiche  schriftliche  Kundgebungen  unterstützt. 
Ficker  hat  nachgewiesen,  daß  auch  diese  Vermittlungs- 
schreiben dem  besonderen  Betreiben  König  Konrads  und 
der  Reichsregierung  ihre  Entstehung  verdankten. 2)  Die  in 
den  Briefen  genannten  Daten  und  Ausstellungsorte  stimmen 
mit  dem  Itinerar  des  jungen  Königs  überein,  der  im  Früh- 
jahre des  Jahres  1240  vom  Niederrhein  über  Lüttich,  Köln 
und  Mainz  nach  Würzburg  reiste,  überall  die  Fürsten  an 

1)  Höfler  S.  12. 

2)  J.  Ficker,  Erörterungen  zur  Reichsgeschichte  des  13.  Jahrhun- 
derts. Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische  Geschichtsforschung. 
Bd.  III  (1882),  S.  337. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    223 

den  Hof  lud  und  sie  veranlaßte,  brieflich  beim  Papst  zu 
intervenieren. 

Der  Vermittlungsversuch  war  wohl  von  dem  Kaiser  als 
eine  grandiose  Kundgebung  gedacht,  durch  welche  die  Für- 
sten —  ähnlich  etwa  wie  in  dem  Manifeste  Reinaids  von 
Dassel  auf  dem  Reichstage  zu  Besangon  im  Jahre  1157  — 
in  einmütiger  Entschlossenheit  die  ungerechten  Übergriffe 
der  Kurie  zurückweisen  und  den  Papst  zum  Nachgeben 
zwingen  sollten.  Daraus  ist  allerdings  nichts  geworden.  Nur 
durch  lebhaftes  Drängen  und  beträchtliche  Zugeständnisse 
erreichte  es  die  Reichsregierung,  daß  wenigstens  eine  größere 
Anzahl  von  Fürsten  sich,  einzeln  oder  zu  Gruppen  vereinigt, 
an  die  Kurie  wandte. 

Auch  die  Formulierung  der  fürstlichen  Vermittlungs- 
schreiben entsprach  keineswegs  überall  den  Wünschen  der 
Reichsregierung.  Am  nachdrücklichsten  traten  die  weltlichen 
Fürsten  am  Niederrhein  für  die  Sache  des  Kaisers  ein,  jedoch 
nicht  ohne  daß  sich  König  Konrad  in  den  Lütticher  Ver- 
handlungen dafür  zu  erheblichen  Zugeständnissen  bequemen 
mußte.  Er  ging  mit  den  Fürsten  ein  enges  Bündnis  ein  und  ver- 
sprach ihnen,  Beistand  gegen  jeden  Angreifer  zu  leisten  und 
keinen  Frieden  ohne  sie  mit  dem  Papst  zu  schließen;  außer- 
dem entband  er  sie  im  Namen  seines  Vaters  von  der  Pflicht 
der  Heeresfolge  nach  Italien. i)  Man  sieht:  die  Reichsregie- 
rung trat  den  Fürsten  gegenüber  nicht  als  gehorsamheischen- 
der Staatsgewalt  auf,  sondern  verhandelte  mit  ihnen  auf 
diplomatischem  Wege  wie  mit  gleichgestellten  Mächten.  Mit 
ähnlicher  Entschiedenheit  wie  die  niederrheinischen  Großen 
schrieben  auch  —  wie  es  scheint  ohne  besondere  Zugeständ- 
nisse —  der  Landgraf  von  Thüringen  und  einige  andere 
Fürsten  an  den  Papst.  Dagegen  vermochte  Konrad  die 
Lütticher  Fassung  bei  der  Mehrzahl  der  geistlichen  Fürsten 
nicht  durchzusetzen,  da  die  führende  Persönlichkeit,  der  Erz- 
bischof Konrad  von  Köln,  bereits  stark  zur  päpstlichen  Seite 
neigte.  Das  Schreiben  der  Bischöfe,  die  sich  gemeinschaft- 
lich mit  dem  Kölner  Erzbischof  an  den  Papst  wandten,  war 

1)  Huillard-Br^holles  V,  p.  1116.  —  Vgl.  Ficker  a.a.O.  111, 
S.  341  und  Böhmer,  Regesta  imperii  Bd.  5  (1882).  Bearb.  v.  J.  Ficker 
n«  4414. 

15* 


224  Manfred  Stimming, 

bedeutend  zurückhaltender  und  ließ  die  Möglichkeit  des 
Übertritts  auf  die  kirchliche  Seite  offen.  Vorsichtig  war 
auch  die  Kundgebung  Erzbischof  Siegfrieds  von  Mainz  ge- 
halten, i) 

Unter  diesen  Umständen  konnte  der  Vermittlungsver- 
such kaum  den  erwünschten  Eindruck  auf  den  Papst  machen. 
Es  fehlte  die  nachdrückliche  Entschlossenheit  und  die  Ein- 
mütigkeit, wodurch  allein  ein  Erfolg  hätte  erzielt  werden 
können.  Aus  der  Verschiedenheit  der  Formulierung  leuchtet 
deutlich  der  innere  Zwiespalt  der  deutschen  Fürsten  hervor. 
Die  Bischöfe  ließen  in  ihrem  Schreiben  durchblicken,  daß 
sie  sich  auf  die  Seite  des  Papstes  stellen  würden,  wenn  der 
Vermittlungsversuch  vergeblich  sein  würde.  So  mußte  die 
vom  Kaiser  veranlaßte  und  ohne  inneren  Anteil  von  den 
Fürsten  unternommene  Aktion  scheitern.  Sie  ist  tatsächlich 
ohne  Ergebnis  geblieben. 

Indessen  ging  die  päpstliche  Agitation  in  Deutschland 
weiter  und  machte  einige  Fortschritte.  Der  König  von  Böh- 
men hatte  sich  niemals  völlig  der  kaiserlichen  Sache  an- 
geschlossen; seit  dem  Jahre  1240  begann  er  sich  wieder  der 
päpstlichen  Partei  zu  nähern.  Für  seine  Haltung  war  der 
Umstand  bestimmend,  daß  der  Herzog  von  Österreich,  der 
seit  1239  ein  treuer  Anhänger  des  Kaisers  war,  die  1238 
versprochenen  Gebietsabtretungen  nicht  ausgeführt  hatte. 
Darüber  kam  es  zwischen  beiden  Fürsten  zum  Kriege,  der 
bis  1241  dauerte. 2)  Der  Archidiakon  Albert  bemühte  sich 
auf  das  eifrigste,  den  König  von  Ungarn  für  die  Sache  der 
Kirche  zu  gewinnen  und  einen  neuen  kaiserfeindlichen  Für- 
stenbund zwischen  Bayern,  Ungarn  und  Böhmen  zu  stiften. 
Er  wurde  dabei  von  dem  Herzoge  von  Bayern  unterstützt.  3) 

Da  machte  ein  unvorhergesehenes  Ereignis  alle  Pläne 
zunichte.  Die  drohende  Gefahr  des  Mongolensturmes  ver- 
anlaßte den  König  Bela  IV.  von  Ungarn,  sich  dem  Kaiser 
in  die  Arme  zu  werfen:  er  trug  ihm  im  Mai  des  Jahres  1241 
sein  Land  zu  Lehen  auf,  um  dafür  Hilfe  gegen  die  Barbaren 

1)  HuiIIard-Br6hoIles  Bd.  5,  p.  985  ff. 

*)  Heiligenkreuzer  Fortsetzung  der  iVlelker  Annalen.  Mon.  Germ. 
SS,  Bd.  9,  p.  640. 

»)  Höfler  S.  27  u.  28. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    225 

zu  erhalten,  i)  Ebenso  wandte  sich  der  König  von  Böhmen 
hilfesuchend  an  König  Konrad.  2)  Auch  im  Reiche  hörten 
unter  dem  Drucke  der  drohenden  Gefahr  alle  Sonderbestre- 
bungen auf.  Der  Herzog  von  Bayern  söhnte  sich  im  Mai 
des  Jahres  1241  wieder  mit  dem  Kaiser  aus.^)  Damals  hätte 
Friedrich  das  Kaisertum  wohl  aufs  neue  zu  Ansehen  und 
Macht  bringen  können,  wenn  er  die  Kräfte  und  Bestrebungen, 
die  sich  im  ganzen  Reiche  für  die  gemeinsame  Sache  regten, 
zusammengefaßt  hätte  und  an  der  Spitze  der  vereinigten 
deutschen  Fürsten  den  Feinden  des  Reiches  und  der  abend- 
ländischen Kultur  entgegengetreten  wäre.  Wahrlich,  eine 
kaiserliche  Aufgabe!  Aber  Friedrich  blieb  in  Italien.  Er 
glaubte  damals  dicht  am  Ziele  seiner  italienischen  Pläne  zu 
sein  und  hätte  nach  seiner  Ansicht  durch  seinen  Weggang 
alles  aufs  Spiel  gesetzt.  Um  eben  diese  Zeit,  im  Juni  1241, 
unternahm  er  eine  Heerfahrt  gegen  den  Kirchenstaat,  durch 
welche  der  Papst  bezwungen  und  die  staufische  Herrschaft 
in  Mittelitalien  aufgerichtet  werden  sollte.*)  Die  deutschen 
Angelegenheiten  mußten  hinter  diesen  Unternehmungen  zu- 
rückstehen. Friedrich  überließ  die  Abwehr  der  Mongolen 
der  Reichsregierung,  die  zu  wenig  Macht  und  Ansehen  be- 
saß, um  etwas  Durchgreifendes  zu  unternehmen,  geschweige 
denn  die  Situation  zur  Stärkung  der  Zentralgewalt  aus- 
zunutzen.^) 

Die  Mongolengefahr  verschwand  ebenso  schnell  als  sie 
gekommen  war,  ohne  eine  nachhaltige  Wirkung  auf  die 
deutschen  Verhältnisse  ausgeübt  zu  haben.  Zwar  mit  der 
Fürstenkoalition  im  Südosten  war  es  ein  für  allemal  vorbei. 
Der  König  von  Böhmen  hatte  in  den  folgenden  Jahren  genug 
zu  tun,  um  die  Wunden,  die  der  Mongoleneinfall  seinem 
Lande  geschlagen  hatte,  zu  heilen.  Statt  dessen  aber  ent- 
stand in  Westdeutschland  ein  neuer  Mittelpunkt  reichsfeind- 
licher Bestrebungen.  Schon  im  Jahre  1240  meldete  der 
Archidiakon  Albert  frohlockend  nach  Rom:  ,Jam  episcopos 


^)  Regesta  Habsburgica  ed.  H.  Steinacker  Bd.  1  n^  184. 

2)  Codex  diplomaticus  Moraviae  ed.  Boczek  Bd.  3  (1841)  r\^  23. 

^)  Regesten  der  Ffalzgrafen  n®  466. 

*)  Reg.  Imp.  V,  2  n«  3207  u.  3211. 

*)  Huillard-Br^holles  V,  p.  1145. 


226  Manfred  Stimming, 

I 

I 

incipere  ruminare  tarn  circa  Rhenum  et  alibV'.^)   Zu  den  in    ' 
ihrer  Treue  wankenden  Bischöfen,  die  Albert  im  Auge  hatte,  ^ 
gehörte  gewiß  in  erster  Linie  der  Kölner  Erzbischof  Konrad  1! 
von  Hochstaden,  der  bereits  bei  dem  fürstlichen  Vermitt- 
lungsversuch eine  zweideutige  Rolle  gespielt  hatte.  Er  wurde 
in  den  folgenden  Jahren  die  Seele  der  kaiserfeindlichen  Partei 
in  Deutschland. 

Es  kann  kaum  ein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  für  die 
Parteinahme  Konrads  in  erster  Linie  die  Gesichtspunkte  der 
Territorialpolitik  maßgebend  waren.  Während  seines  mehr 
als  20  jährigen  Episkopates  hatte  der  Erzbischof  unablässig 
und  mit  dem  größten  Erfolge  an  der  Vermehrung  und  der  Ab- 
rundung  der  Kölner  Besitzungen  gearbeitet. 2)  Dies  brachte  ihn 
in  feindlichen  Gegensatz  zu  den  benachbarten  niederrheini- 
schen Fürsten,  die  wetteifernd  mit  dem  Erzbischof  Territorial- 
politik trieben.  Seit  der  Wahl  Konrads  im  April  des  Jahres  1 238 
verging  kein  Jahr  ohne  größere  Kämpfe  am  Niederrhein: 
1238  finden  wir  den  Kölner  in  eine  Fehde  mit  dem  Pfalzgrafen 
um  die  Burg  Thuron  an  der  Mosel  verwickelt^) ;  1239  kämpfte 
er  gegen  den  Grafen  von  Sayn*),  die  Herzöge  von  Brabant 
und  Limburg^),  die  Grafen  von  Berg  und  Jülich«);  und 
auch  in  den  folgenden  Jahren  dauerten  die  Kämpfe  an. 
Nicht  ganz  mit  Unrecht  nennt  ein  Kölner  Bischofskatalog 
des  13.  Jahrhunderts  Konrad  einen  „v/r  furiosus  et  belli- 
cosüs'',"*)  In  der  Regel  stand  der  Erzbischof  allein  gegen 
einzelne  oder  mehrere  niederrheinische  Fürsten.  Diese  aber 
hielten  enge  Fühlung  mit  der  Reichsregierung,  und  wurden 
von  König  Konrad  stark  begünstigt,  s)    Unter  solchen  Um- 


1)  Höfler  S.  15. 

2)  H.  Cardauns,  Konrad  von  Hochstaden,  Erzbischof  von  Köln 
(1880)  S.  51ff. 

3)  Regesten  der  Erzbischöfe  von  Köln  ed.  Knipping  Bd.  3  (1909) 
n»  923. 

*)  ib.  n«  934. 

^)  ib.  n»  981—86. 

•)  ib.  n»  947/48,  951,  959  u.  964. 

')  Mon.  Germ.  SS  Bd.  24,  p.  353. 

■)  Conradus  rex  .  .  .,  qui  etiam  fovit  partes  laicorum  adver sus 
Coloniensem  electum:  Gesta  Trevirorum.  Continuatio  IV  zu  1239.  Mon. 
Germ.  SS.  Bd.  24,  p.  403. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    227 

ständen  mußte  der  Kölner  Erzbischof  jede  Umwälzung  in 
Deutschland  begrüßen,  da  sie  ihm  Befreiung  von  der  Um- 
klammerung durch  seine  Gegner  versprach.  Er  entschloß 
sich  daher  schon  bald  nach  der  Verkündigung  des  Bannes 
gegen  den  Kaiser,  auf  die  Seite  der  Kirche  zu  treten.  An  einen 
offenen  Abfall  freilich  konnte  er  damals  wegen  seiner  iso- 
lierten und  bedrohten  Lage  nicht  denken.  Er  hielt  sich  zu- 
nächst abwartend  zurück,  weil  er  einen  Kampf  scheute,  in  dem 
er  der  Übermacht  der  Reichsregierung  und  seiner  nieder- 
rheinischen Widersacher  preisgegeben  worden  wäre.  Im  April 
oder  Mai  des  Jahres  1239  reiste  er  heimlich  nach  Rom.^) 
Was  dort  zwischen  dem  Papste  und  ihm  abgemacht  wurde, 
ist  nicht  bekannt.  Wir  wissen  nur,  daß  er  dem  kaiserlichen 
Elekten  von  Lüttich  abschwor,  und  daß  er  sich  seither  in 
hervorragendem  Maße  der  Gunst  der  Kurie  erfreute,  die  ihn 
mit  Privilegien  und  Gnadenbezeugungen  überschüttete. 2)  In 
den  folgenden  zwei  Jahren  verhielt  sich  Konrad  ruhig;  ja 
er  nahm  sogar  zum  Scheine  an  dem  fürstlichen  Vermittlungs- 
versuche teil.  Die  Reichsregierung  war  sich  der  Gefahren, 
die  ihr  von  dem  Kölner  Erzbischof  drohten,  wohl  bewußt: 
sie  ließ  nach  der  Verkündigung  des  Bannes  gegen  den  Kaiser 
den  Verkehr  zwischen  der  Kurie  und  dem  Niederrhein  mit 
besonderer  Sorgfalt  überwachen  und  suchte  die  territorialen 
Widersacher  des  Erzbischofs  durch  Privilegien  und  Gunst- 
bezeugungen enger  an  sich  zu  fesseln.  3) 

Erst  als  Konrad  von  Hochstaden  in  der  Person  des 
Erzbischofs  Siegfried  von  Mainz  einen  mächtigen  Verbün- 
deten fand,  entschloß  er  sich  zum  offenen  Abfall.  Der 
Mainzer  Erzbischof  galt  anfangs  als  eine  der  festesten  Stützen 
des  staufischen  Kaisertums;  sonst  hätte  ihn  Friedrich  IL 
wohl  kaum  zum  Reichsprokurator  bestellt.  Noch  bei  dem 
fürstlichen  Vermittlungsversuch  im  Jahre  1240  war  seine 
Haltung  durchaus  loyal.  Allerdings  stand  er  seit  1239  in 
näheren  Beziehungen  zu  dem  Erzbischof  von  Köln.   Als  er 

1)  Kölner  Reg.  III,  n»  936. 

*)  Privilegien  von  1239,  Mai  9,  10,  24,  28  usw.  Köln.  Reg. 
ni,  n«  940ff. 

')  Gesta  Trevirorum,  Continuatio  IV.  Mon,  Germ,  SS.  Bd.  24, 
p.  403. 


228  Manfred  Stimming, 

nämlich  am  6.  Juni  dieses  Jahres  ein  Bündnis  mit  dem 
Herzog  von  Braunschweig  abschloß,  verpflichtete  er  sich 
diesem  zur  Hilfe  gegen  jedermann  außer  gegen  das  Reich 
und  Köln.i)  w^g  den  Mainzer  Erzbischof  an  die  Seite  seines 
niederrheinischen  Amtsgenossen  führte,  war  wohl  vornehm- 
lich die  Gegnerschaft  des  Herzogs  Otto  von  Bayern.  Seit 
Jahren  führten  Bayern  und  Mainz  einen  erbitterten  Streit 
um  die  Abtei  Lorsch.  Als  die  Aussöhnung  zwischen  dem 
Kaiser  und  dem  Bayernherzog  zustande  kam,  begann  Erz- 
bischof Siegfried  wohl  für  seine  Lorscher  Besitzungen  zu 
fürchten.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  dem  Herzog 
Otto  bei  seinem  Parteiwechsel  von  der  Reichsregierung  be- 
stimmte Versprechungen  auf  die  alte  Reichsabtei  gemacht 
wurden. 2)  Jedenfalls  unternahm  König  Konrad,  als  es  zum 
Bruch  mit  Mainz  gekommen  war,  wohl  zugunsten  des  baye- 
rischen Herzogs  einen  Feldzug  gegen  das  Gebiet  von  Lorsch, 
jedoch  ohne  einen  größeren  Erfolg  zu  erzielen. 3)  Wie  dem 
auch  sei;  Tatsache  ist,  daß  es  Erzbischof  Konrad  gelang, 
den  Mainzer  Erzbischof  völlig  für  seine  Pläne  zu  gewinnen. 
Am  10.  November  1241  schlössen  beide  Fürsten  ein  enges 
Bündnis,  das  seine  Spitze  gegen  das  Reich  richtete.*)  Nun- 
mehr hatte  Konrad  das,  was  er  brauchte:  er  sah  einen 
mächtigen  Verbündeten  an  seiner  Seite;  und  das  gab  ihm 
die  erwünschte  Freiheit  des  Handelns.  Der  offene  Abfall 
von  der  kaiserlichen  Sache  ließ  denn  auch  nicht  lange  auf 
sich  warten.  Die  beiden  Erzbischöfe  verkündeten  die  Ex- 
kommunikation des  Kaisers  und  fielen  im  September  des 
Jahres  1241  raubend,  sengend  und  mordend  in  die  Besit- 
zungen des  Reiches  in  der  Wetterau  ein.*)   Daß  die  beiden 

1)  Kölner  Regesten  III,  n»  946. 

*)  Daß  es  zu  bestimmten  Abmachungen  kam,  geht  aus  einem 
Briefe  Friedrichs  II.  hervor  (Winkelmann,  Ada  imperii  inedita  I  (1880)^ 
n®  362).  Ich  nehme  an,  daß  dabei  auch  die  Lorscher  Frage  eine  Rolle 
spielte. 

8)  Annales  Wormat.  zu  1243.    Mon.  Germ.  SS.  Bd.  17,  p.  48. 

*)  Lacomblet,  Urkundenbuch  für  die  Geschichte  des  Niederrheins 
Bd.  3  (1846),  n«  257. 

*)  Gesta  Trevirorum.  Mon.  Germ.  SS.  XXIV,  p.  404.  —  Annales 
sandi  Rudberti  Salisburgenses.  Mon.  Germ.  SS.  IX,  p.  787.  —  Chri- 
stiani  über  de  calamitate  ecdesiae  Moguntinae.  Mon.  Germ.  SS.  XXV, 
247.—  Kölner  Regesten  III,  n«  1033. 


J 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    229 

Fürsten  lediglich  im  egoistischen  Interesse  und  keineswegs 
aus  kirchlicher  Devotion  handelten,  geht  mit  Sicherheit  aus 
der  Tatsache  hervor,  daß  sie  die  Feindseligkeiten  eröffneten, 
als  Papst  Gregor  IX.  bereits  gestorben  war  (am  22.  August), 
Wäre  es  ihnen  um  die  Sache  der  Kirche  zu  tun  gewesen, 
so  hätten  sie  die  Wahl  und  Stellungnahme  des  neuen  Papstes 
abwarten  müssen.  Aber  der  Friede  zwischen  Kaiser  und 
Kurie  war  gerade  dasjenige,  was  sie  zu  vermeiden  wünschten. 
So  eröffneten  sie,  der  Entscheidung  der  Kirche  vorgreifend, 
den  Kampf. 

tDie  Reichsregierung  traf  der  Abfall  nicht  unvorbereitet, 
eit  langem  stand  sie  in  enger  Fühlung  mit  den  niederrheini- 
schen Fürsten.  Schon  1240  hatte  König  Konrad  sich  be- 
müht, die  Stadt  Köln  durch  Begünstigungen  für  sich  zu 
gewinnen;  diese  Versuche  wurden  im  folgenden  Jahre  von 
den  Verbündeten  der  Reichsregierung  wieder  aufgenommen. i) 
Der  gefährlichste  Gegner  war  zweifellos  der  Erzbischof  von 
Köln.  Nicht  ohne  Grund  berichten  die  Gesta  Trevirorum  von 
ihm,  daß  er  „quasi  capitaneus  Imperium  impugnaviV ^)  König 
Konrad  entfaltete  im  Herbst  des  Jahres  1241  eine  fieber- 
hafte Tätigkeit,  um  den  Kölner  Erzbischof  im  Schach  zu 
halten.  Die  Reichsburgen  am  Niederrhein  wurden  in  Ver- 
teidigungszustand gesetzt;  die  befreundeten  Fürsten  gegen 
den  Kölner  aufgeboten.^)  Am  1.  Dezember  ging  die  Reichs- 
regierung ein  enges  Bündnis  mit  dem  Herzog  Wilhelm  von 
Jülich  und  der  Reichsstadt  Aachen  ein. 

In  dem  ausbrechenden  Kriege  zwischen  Köln  und  Jülich 
geriet  Erzbischof  Konrad  im  Februar  des  Jahres  1242  in 
der  Schlacht  von  Lechenich  in  die  Gefangenschaft  seiner 
Gegner.*)  Ein  glücklicher  Zufall  hatte  der  staufischen  Partei 
ihren  gefährlichsten  Widersacher  in  die  Hände  gespielt.  Die 
Reichsregierung  setzte  sofort  alle  Hebel  in  Bewegung,  um 


1)  Lacomblet  II,  n»  247.  —  Kölner  Regesten  III,  n«  1044. 

2)  Mon.  Germ.  SS.  Bd.  24,  p.  405. 

3)  Huillard-Br^holles  VI,  p.  818.  Urkundenbuch  der  Mittelrhei- 
nischen Territorien  Bd.  3  (1874),  n*' 720  u.  746.  —  Lacomblet  II, 
n**  258.  —  Vgl.  J.  Ficker  in  den  Sitzungsberichten  der  kaiserl.  Aka- 
demie der  Wissenschaften  in  Wien  Bd.  69/70  (1872),  S.  356. 

«)  Kölner  Regesten  HI,  n»  1046—50. 


230  Manfred  Stimming, 

die  Auslieferung  des  Gefangenen  zu  erlangen  und  den  glän- 
zenden Fang  im  Interesse  des  Reiches  auszunutzen.  Der 
Mainzer  Domkustos  Graf  Friedrich  von  Eberstein,  einer  der 
eifrigsten  staufischen  Parteigänger,  begab  sich  im  Auftrage 
König  Konrads  an  den  Niederrhein,  um  den  Grafen  von 
Jülich  zu  veranlassen,  den  Kölner  Erzbischof  unter  keinen 
Umständen  frei  zu  lassen,  sondern  ihn  in  sicherem  Gewahr- 
sam zu  halten.  1)  Dann  eilte  König  Konrad  selbst  herbei, 
um  die  Auslieferung  des  Gefangenen  zu  betreiben.  Von 
Speyer,  wo  er  im  Februar  weilte,  reiste  Konrad  über  Trier 
nach  Aachen,  wo  die  Verhandlungen  Mitte  März  stattfanden. 
Obwohl  der  König  eine  bedeutende  Summe  Geldes  bot, 
konnte  er  doch  die  Auslieferung  nicht  durchsetzen.  2)  So 
gering  war  die  Macht  der  Reichsregierung!  Nur  soviel  ver- 
mochte Konrad  zu  erreichen,  daß  Wilhelm  von  Jülich  sich 
eidlich  verpflichtete,  den  Erzbischof  als  Gefangenen  des 
Reiches  anzusehen  und  in  Haft  zu  behalten.  Nicht  einmal 
dieses  Zugeständnis  machte  der  Graf  umsonst,  sondern  ließ 
sich  dafür  die  Reichsstadt  Düren  verpfänden.^)  Graf  Wil- 
helm hielt  den  Kölner  dreiviertel  Jahre  lang  in  Gewahr- 
sam. Dann  aber  brach  er  sein  eidliches  Versprechen  und 
ließ  den  Gefangenen  im  November  des  Jahres  1242  frei, 
nachdem  er  sich  eine  Anzahl  persönlicher  Zusicherungen 
hatte  machen  lassen.*)  Lediglich  zu  seinem  privaten  Vorteile 
nutzte  er  die  Gefangennahme  des  Reichsfeindes  aus.  Seine 
Haltung  war  wie  die  der  meisten  damaligen  Fürsten  aus- 
schließlich von  dynastischen  und  territorialen  Gesichts- 
punkten bestimmt.  So  trug  er  kein  Bedenken,  durch  die 
Freilasoung  des  Gefangenen  Kaiser  und  Reich  schweren 
Schaden   zuzufügen,    um    seinem   persönlichen   Vorteil   zu 

^)  In  einer  ungedruckten  Urkunde  Erzbischof  Siegfrieds  von 
Mainz  von  1242  August  23  (München,  Reichsarchiv,  Mainz  Erzstift 
fasc.  260)  heißt  es:  ...  eundo  in  legatione  regis  ad  principes  inferiores 
et  eos  ad  obsequium  regis  inducendo,  inflammando  comitem  Juliacensem, 
ut  archiepiscopum  Coloniensem  pro  negocio  ecclesie  captum  non  solum 
non  dimitteret,  sei  fortius  compediret. 

2)  Gesta  Trevirorum.  Continuatio  V.  Mon.  Germ.  SS.  Bd.  24,  p.  405. 

')  Ficker  in  den  Sitzungsberichten  der  Wiener  Akademie  Bd.  69/70 
(1872),  S.  93.  —  Reg.  Imp.  V,  2,  n«  4452  b. 

*)  Lacomblet  II,  n«  270.  —  Kölner  Regesten  III,  n»  1056. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    231 

dienen.  Man  versteht,  wie  schwer  unter  diesen  Umständen 
die  Aufgaben  der  Reichsregierung  waren.  Nur  unter  bestän- 
digen Opfern  an  Rechten  und  Besitzungen  vermochte  sie 
ihre  Anhänger  bei  der  Stange  zu  halten  und  mußte  trotz- 
dem gewärtig  sein,  daß  diese  abfielen,  wenn  durch  Übertritt 
auf  die  Gegenseite  größerer  Vorteil  lockte. 

König  Konrad  mußte  im  März  des  Jahres  1242  unver- 
richteter  Sache  Aachen  den  Rücken  kehren.  Er  suchte 
wenigstens  seine  Anwesenheit  im  Westen  des  Reiches  dazu 
auszunutzen,  um  überall  Anhänger  zu  werben  und  neue 
Stützen  für  die  staufische  Sache  zu  gewinnen.  Dabei  wurde  er 
von  dem  Mainzer  Domkustos  Friedrich  tatkräftig  unter- 
stützt; diesem  gelang  es,  den  Grafen  von  Nassau  auf  die 
kaiseriiche  Seite  zu  ziehen. i)  In  Trier  setzte  König  Konrad 
nach  dem  Tode  Erzbischof  Dietrichs  den  Propst  von  St. 
Paul,  einen  Grafen  Rudolf  von  Saarbrücken,  ein  und  be- 
lehnte ihn  mit  den  Regalien.  Der  staufische  Erzbischof 
vermochte  sich  jedoch  trotz  der  Unterstützung  durch  den 
Herzog  von  Lothringen  und  die  Grafen  von  Sayn  und 
Luxemburg  auf  die  Dauer  nicht  gegen  den  Erwählten  des 
Domkapitels,  den  Dompropst  Arnold  von  Isenburg,  zu  be- 
haupten. 2)  Von  Trier  reiste  der  König  nach  Mainz  weiter. 
Eine  bisher  unbeachtete  Urkunde  des  Münchener  Reichs- 
archivs wirft  ein  helles  Licht  auf  die  damaligen  Vorgänge 
in  der  rheinischen  Bischofsstadt.  2)  Mainz  hatte  im  Kampfe 
der  Reichsregierung  mit  ihrem  Landesherren,  dem  Erzbischof, 
noch  nicht  Partei  ergriffen.  Wiederum  eilte  der  rührige 
Domkustos  Friedrich  seinem  Herrn  voraus.  Er  erwirkte  für 
den  König  Einlaß  in  die  Stadt,  nachdem  die  Bürgerschaft 
die  geforderte  Zusicherung  erhalten  hatte,  daß  gegen  den 
Klerus  keine  Gewalt  angewendet  werden  dürfte.  Konrad 
versammelte  die  Mainzer  Geistlichkeit  um  sich  und  suchte 


(tu 


)  Ungedruckte  Urkunde  von  1242:  comitem  etiam  de  Nassowe 
{tunc  fidelem  nostrum)  per  multa  mendacia  et  promissa  a  nostro  (idest: 
chiepiscopi  Moguntini)  et  ecclesie  servicio  revocando,  sicut  publice  se 
ctavit. 

2)  Gesta  Trevirorum.    Contin.  V.  Mon.  Germ.  SS.  Bd.  24,  p.  405 

Iu.  406. 
V        •)  Vgl.  S.  230  Anm.  K 
I 


232  Manfred  Stimming, 

sie  in  Güte  zum  Abfall  von  dem  Erzbischof  zu  bewegen. 
Diese  weigerte  sich  jedoch  standhaft,  etwas  gegen  ihr  kirch- 
liches Oberhaupt  zu  unternehmen,  obwohl  der  Domkustos 
Friedrich  seine  ganze  Beredsamkeit  aufbot,  um  sie  für  die 
staufische  Sache  zu  gewinnen.  Ebensowenig  zeigte  sie  frei- 
lich eine  reichsfeindliche  Gesinnung.  Und  so  machte  denn 
Konrad  Miene,  ihr  unbedenklich  den  erbetenen  Königs- 
schutz zu  verleihen.  Da  aber  sprang  der  Domkustos  erregt 
auf  und  rief,  das  dürfe  er  nicht  tun ;  denn  unter  dem  Klerus 
befänden  sich  viele  geheime  Feinde  des  Reiches.  Er  fürchtete 
eine  Annäherung  zwischen  dem  Könige  und  dem  Mainzer 
Erzbischof  und  suchte  eine  solche  unter  allen  Umständen 
zu  hintertreiben.  Darum  erklärte  er  unzweideutig,  daß  er 
sofort  zur  Gegenpartei  übertreten  würde,  falls  es  zu  einer 
Aussöhnung  zwischen  dem  Kaiser  und  Erzbischof  Siegfried 
kommen  sollte.^)  Auch  bei  diesem  treuesten  Parteigänger 
der  Hohenstaufen  waren  es  lediglich  persönliche  Motive,  der 
glühende  Haß  gegen  seinen  kirchlichen  Oberen  und  der 
Wunsch,  diesem  zu  schaden,  die  ihn  bestimmten,  seine  Kräfte 
der  Reichsregierung  zur  Verfügung  zu  stellen. 

Trotz  aller  Bemühungen  gelang  es  dem  Könige  nicht, 
der  beiden  aufständischen  Erzbischöfe  Herr  zu  werden.  Der 
Abfall  fraß  langsam  weiter.   Vornehmlich  waren  es  die  Suf- 


1)  Ungedruckte  Urkunde  von  1242:  In  reditu  regis  de  inferiori- 
bus  partibus  eum  prevenit  cum  litteris  suis  et  nuntiis  in  civitaiem  no- 
stram  Maguntinam  et  per  multas  trufas  et  mendacia  in  civitaiem  no- 
stram  dicto  regi  contra  nos  impetravit  ingressum.  Vobis  (sc.  clericis 
Magunt.)  quoque  in  unum  publice  convocatis  presente  rege  vos  sollicita- 
vit  attente,  ut  a  nostra  (sc.  archiepiscopi  Magunt.)  obedientia  recedentes 
regi  et  patri  suo  contra  nos  velletis  assister e,  quod  tamen  saniori  usi 
consilio  vestri  gratia  facere  recusastis.  Et  nisi  sollicitudo  ä  fidelitas 
civium  Maguntin.  ex  pacta  speciali  obtinuisset  a  rege,  quod  nullam 
violentiam  faceret  clero  nostro,  vos  ad  recedendum  a  nobis  et  ecclesia, 
quantum  in  ipso  fuisset,  manu  violenta  instigante  custode  procul  dubio 
compulisset.  Preterea  cum  universitas  vestra  defensionem  postulasset  a 
rege  et  ipse  vellet  armuere  votis  vestris,  surrexit  infamis  in  publicum 
dicens:  hoc  facere  non  debere,  quia  multi  ex  vobis  faverent  nobis  ä  dido 
negocio  et  essent  regis  et  patris  sui  clandestini  inimici;  palamque  fuit 
temere  protestatus,  quod,  quamdiu  essemus  f antares  ecclesie,  ipse  a  rege 
et  patre  suo  nollet  aliquaienus  declinare;  et  si  nos  eis  adherere  vellemus, 
ipse  statim  in  partem  contrariam  se  transferret 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    233 

fragane  von  Köln  und  Mainz,  die  in  der  folgenden  Zeit  dem 
Beispiele  ihrer  Metropoliten  folgten  und  zur  antistaufischen 
Partei  übertraten.  Auch  die  reichstreue  Fürstengruppe  am 
Niederrhein  fiel  auseinander:  dort  dauerten  in  den  nächsten 
Jahren  die  lokalen  Fehden  und  Kämpfe  mit  wechselnder 
Parteikonstellation  an.^) 

Dagegen  fand  die  kaiserliche  Sache  eine  feste  Stütze 
an  denjenigen  Fürsten,  die  früher  ihre  schärfsten  Gegner 
gewesen  waren.  Der  König  von  Böhmen  stellte  im  Früh- 
jahr 1242  ein  Heer  gegen  den  Erzbischof  von  Mainz  ins 
Feld.  2)  Der  treueste  und  zuverlässigste  Anhänger  der  Hohen- 
staufen  aber  war  seit  dem  Jahre  1241  der  Herzog  Otto  von 
Bayern.  Die  Verlobung  König  Konrads  mit  Ottos  Tochter 
Elisabeth  im  Jahre  1243  und  die  1246  erfolgte  Vermählung 
knüpften  das  Band  zwischen  den  Witteisbachern  und  Hohen- 
staufen  nur  noch  fester.  Freilich  dürfen  wir  bei  dem  Bayern- 
herzog ebensowenig  wie  bei  den  anderen  Anhängern  des 
Kaisers  auf  eine  besonders  reichstreue  Gesinnung  schließen. 
Man  braucht  sich  nur  an  das  eine  Gespräch  zu  erinnern, 
welches  Otto  mit  dem  Archidiakonen  Albert  geführt  hatte, 
als  er  noch  auf  der  Seite  der  Kirche  stand.  Albert  meinte 
einmal:  da  die  deutschen  Wahlfürsten  versäumt  hätten, 
einen  neuen  König  zu  wählen,  so  könnte  sich  die  Kirche 
einen  Franzosen  oder  einen  Lombarden  oder  irgendeinen 
anderen  zum  Vogt  nehmen  und  so  das  Reich  auf  andere 
Nationen  übergehen  lassen.  Darauf  erwiderte  der  Herzog: 
wenn  es  doch  der  Papst  schon  getan  hätte;  er  wolle  in 
diesem  Falle  gerne  für  sich  und  seine  Erben  auf  seine  beiden 
Wahlstimmen,  die  bayerische  und  die  pfälzische,  verzichten 
und  darüber  der  Kirche  eine  feierliche  Verbrief ung  ausstellen.  3) 
So  geringschätzig  dachte  dieser  Fürst  über  die  Würde  und 
die  Rechte  des  Reiches.  In  der  Tat  ließ  sich  Herzog  Otto 
nur  von  persönlichen  und  partikularistischen  Beweggründen 
leiten.  Nur  da  griff  er  in  den  Kampf  zwischen  dem  Reich 
und  der  Kirche  handelnd  ein,  wo  seine  territorialen  Inter* 


1)  Lacomblet  II,  n«  278  u.  282.  —  Mittelrhein.  Urkundenbuch 
III,  n0  778. 

«)  Höfler  S.  31. 
«)  ib.  S.  16. 


234  Manfred  Stimming, 

essen  in  Frage  kamen.  An  der  Seite  der  Hohenstaufen  glaubte 
er  seine  Pläne  zur  Vermehrung  seines  Länderbesitzes  am* 
besten  fördern  zu  können.  Er  hoffte,  mit  Hilfe  des  Kaisers  J 
seinen  Mainzer  Rivalen  im  Kampfe  um  die  Reichsabtei 
Lorsch  aus  dem  Felde  zu  schlagen  und  das  Herzogtum 
Österreich  nach  dem  Tode  des  Babenbergers  Friedrich,  der 
keine  Erben  besaß,  mit  Bayern  zu  vereinigen.^)  Blieben  auch 
die  Hoffnungen  auf  Lorsch  und  Österreich  unerfüllt,  so  ver- 
dankte doch  Otto  andere  bedeutende  Erwerbungen  wie  die 
der  Grafschaften  Wasserburg  und  Kirchberg  und  die  mera- 
nische  Erbschaft  seinem  engen  Anschluß  an  die  staufische 
Sache. 

In  Mitteldeutschland  war  der  mächtigste  Fürst  der 
Landgraf  Heinrich  Raspe  von  Thüringen,  der  seit  der  Ex- 
kommunikation des  Kaisers  eine  schwankende  Haltung  ein- 
genommen hatte. 2)  Deshalb  glaubte  der  Archidiakon  Albert 
leichtes  Spiel  zu  haben,  jenen  für  die  Sache  der  Kirche  zu 
gewinnen.  Darin  sah  er  sich  freilich  getäuscht,  denn  Heinrich 
war  nicht  geneigt,  solange  die  Reichsregierung  das  Über- 
gewicht hatte,  seine  Stellung  durch  Anschluß  an  die  Gegner 
zu  gefährden.  1240  schloß  er  sich  sogar  mit  aller  Entschie- 
denheit dem  fürstlichen  Vermittlungsversuch  an  und  verfiel 
deshalb  der  Exkommunikation  durch  den  Passauer  Archi- 
diakonen.  Eine  der  hervorstechendsten  Charaktereigen- 
schaften des  Landgrafen  war  sein  Ehrgeiz.^)  Auf  diesen 
spekulierte  der  Kaiser  wohl  in  erster  Linie,  als  er  Heinrich 
im  Frühjahre  1242  anstelle  des  abgefallenen  Mainzer  Erz- 
bischofs zum  Reichsprokurator  machte,  um  so  den  mäch- 
tigen Fürsten  dauernd  an  die  Sache  des  Reiches  zu  fesseln. 
Der  feindliche  Gegensatz  zu  der  Mainzer  Kirche,  deren  Vor- 
steher von  alters  her  Widersacher  der  landgräflichen  Terri- 
torialpolitik in  Thüringen  und  Hessen  waren,  mag  außerdem 

1)  A.  Schreiber,  Otto  der  Erlauchte,  Pfalzgraf  bei  Rhein  und 
Herzog  von  Bayern  (1861),  S.  20.  —  S.  Riezler,  Geschichte  Bayerns 
II  (1880),  S.  88.  —  A.  Lindemann,  Die  Ermordung  Herzog  Ludwigs 
von  Bayern  und  die  päpstliche  Agitation  in  Deutschland.  Rostock. 
Diss.  1894,  S.  65. 

2)  A.  Rübesamen,  Landgraf  Heinrich  Raspe  von  Thüringen.  Halle,. 
Diss.  1885,  S.  30.  —  R.  Maisch,  Heinrich  Raspe  (1911),  S.  34 ff. 

3)  K.  Wenck,  Heinrich  Raspe.    Die  Wartburg  (1907),  S.  215. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    235 

Heinrich  Raspe  mitbestimmt  haben,  offen  und  ohne  Vor- 
behalt in  das  kaiserliche  Lager  überzutreten.  Die  Ernennung 
des  neuen  Reichsprokurators  war  lediglich  ein  politischer 
Schachzug  des  Kaisers.  Tatsächlichen  Einfluß  auf  die  Reichs- 
regierung hat  der  Landgraf  nicht  gewonnen.  Die  Leitung 
des  Reiches  lag  nach  wie  vor  in  den  Händen  König  Konrads 
und  seiner  Räte,  die  ihre  Weisungen  von  Friedrich  aus 
Italien  erhielten.  Auch  an  der  Bekämpfung  der  Reichs- 
feinde hat  sich  Heinrich  nicht  aktiv  beteiligt.  Als  die  kirch- 
liche Partei  in  Deutschland  erstarkte,  war  er  vorsichtig  genug,, 
den  Reichsverwesertitel  abzulegen. i) 

Der  Abfall  der  Erzbischöfe  von  Köln  und  Mainz  hatte 
die  Gesamtlage  in  Deutschland  nicht  wesentlich  geändert. 
Die  meisten  deutschen  Fürsten,  die  nicht  unmittelbar  von 
den  Kämpfen  berührt  wurden,  sahen  dem  Streite  teilnahms- 
los zu  und  gingen  ihren  territorialen  Interessen  nach.  Da 
indessen  die  Reichsregierung  der  Insurrektion  nicht  Herr 
zu  werden  vermochte,  so  blieb  die  Situation  bedrohlich. 

Eine  völlige  Änderung  der  Verhältnisse  trat  ein,  als 
Innozenz  IV.  den  Stuhl  des  heiligen  Petrus  bestieg  und  nach 
vergeblichen  Ausgleichsversuchen  den  Kampf  gegen  das 
staufische  Kaiserhaus  mit  aller  Kraft  wieder  aufnahm.  Aus 
politischen  Machtfragen  entbrannte  der  Streit  zwischen 
Kaisertum  und  Papsttum  aufs  neue.  In  den  kirchlichen 
Streitpunkten  hatte  Friedrich  auf  der  ganzen  Linie  nach- 
gegeben; dagegen  konnte  und  wollte  er  nicht  auf  seine 
Herrschaftsansprüche  in  Nord-  und  Mittelitalien  verzichten. 
Das  Papsttum  aber  mußte  sich  um  jeden  Preis  von  der 
drohenden  Erdrückung  durch  die  staufische  Macht  befreien, 
wenn  es  die  Freiheit  des  Handelns  wiedergewinnen  wollte. 
Es  waren  unvereinbare  Gegensätze,  die  in  den  hochge- 
schrobenen  Machtansprüchen  und  in  dem  rivalisierenden 
Universalismus  von  Kaisertum  und  Papsttum  begründet 
lagen:  sie  konnten  nur  durch  einen  Kampf  auf  Tod  und 
Leben  entschieden  werden. 


1)  Seit  Juli  1243  nannte  er  sich  nicht  mehr  so:  Dobenecker, 
Regesta  Thuringiae -IM  (1904),  n«  1094.  —  Im  Dezember  1243  wird 
der  König  von  Böhmen  einmal  „sacri  per  Germaniam  imperii  procu- 
raior"  genannt:  Codex  Moraviae  III,  p.  33. 


236  Manfred  Stimming, 

Dieser  Kampf,  der  auf  beiden  Seiten  mit  der  größten 
Erbitterung  und  mit  allen  zu  Gebote  stehenden  geistigen 
und  materiellen  Machtmitteln  geführt  wurde,  umspannte 
die  ganze  christliche  Welt.  Innozenz  IV.  war  seinen  Vor- 
gängern nicht  nur  an  Großzügigkeit,  sondern  auch  an 
Skrupellosigkeit  weit  überlegen:  er  wandte  das  gesamte 
furchtbare  geistige  Rüstzeug  der  Kirche  gegen  den  Kaiser 
auf  und  suchte  das  ganze  Abendland  wider  ihn  aufzu- 
wiegeln. Indem  er  die  Exkommunikation  und  die  Abset- 
zung Friedrichs  durch  ein  allgemeines  Konzil  aussprechen 
ließ,  nahm  er  seinem  Vorgehen  den  Charakter  einer  aus 
persönlicher  Feindschaft  ergriffenen  Maßregel  und  erzielte 
eine  um  so  größere  Wirksamkeit.  Er  wandte  sich  an 
die  Herrscher  von  Frankreich  und  England,  um  ihren  Bei- 
stand zur  Vernichtung  des  Kaisers  zu  gewinnen.  Er  suchte 
überall  in  den  Ländern  des  Imperiums  den  Boden  der 
staufischen  Herrschaft  zu  unterwühlen. 

Mit  besonderer  Virtuosität  wußte  Innozenz  die  öffent- 
liehe  Meinung  für  sich  zu  gewinnen  und  der  Förderung 
seiner  Pläne  dienstbar  zu  machen.  Er  trug  Sorge,  daß  die 
Anklagen  gegen  den  Kaiser  und  das  Urteil  des  Lyoner 
Konzils  überall  verbreitet  wurden.  Vortrefflich  kam  ihm 
hierbei  der  alle  Länder  umspannende,  hierarchisch  geglie- 
derte Bau  der  Kirche  zustatten.  Von  der  Kurie  aus  ge- 
langten die  päpstlichen  Anklagen  an  die  Erzbischöfe  und 
Bischöfe  und  wurden  von  ihnen  an  die  unteren  Organe 
bis  zu  den  niedrigsten  Stufen  der  Hierarchie  weitergegeben. 
Weltgeistliche  und  Mönche  sorgten  dafür,  daß  die  An- 
schuldigungen gegen  den  Kaiser  und  die  über  ihn  ver- 
hängten Strafen  überall  in  allen  Gesellschaftsklassen  der 
abendländischen  Laienwelt  bekannt  gemacht  und  verbreitet 
wurden.  Wo  sich  die  oberen  Instanzen  der  Hierarchie  ver- 
sagten, da  setzten  andere  Kräfte  ein:  Dominikaner  und 
Franziskaner  durchzogen  als  Wanderprediger  im  speziellen 
Auftrage  des  Papstes  die  Länder;  sie  verkündeten  überall 
das  Urteil  gegen  den  Kaiser  und  wirkten  erfolgreich  für 
die   päpstliche   Sache.  ^)    Dieser  Organisation  hatte  Fried- 

*)  Chron.  S.  Pari  Erphord.  Monumenta  Erphesfurt.  p.  239.  — 
Vgl.   A.  Lindemann,   Die   Ermordung   Herzog  Ludwigs  von   Bayern, 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    237 

rieh  II.  etwas  Ebenbürtiges  nicht  entgegenzusetzen.  Der 
Kaiser  suchte  den  päpstlichen  Treibereien  auf  diplomati- 
schem Wege  und  durch  Rundschreiben,  die  er  zu  seiner 
Verteidigung  ausgehen  ließ,  entgegenzuarbeiten.  Am  eng- 
lischen und  französischen  Hofe  war  sein  Vorgehen  mit  Er- 
folg gekrönt.  Aber  die  öffentliche  Meinung  vermochte  er 
doch  nur  wenig  zu  seinen  Gunsten  zu  beeinflussen.  Hier 
behauptete  die  Kirche  das  Feld.  In  zahlreichen  zeitgenös- 
sischen Chroniken  und  Geschichtswerken  lesen  wir  von  der 
Exkommunikation  des  Kaisers,  von  seinen  angebHchen  Ver- 
brechen und  Missetaten,  welche  die  Kirche  ihm  vorwarf 
und  geflissentlich  verbreitete;  aber  von  den  Gegenwirkun- 
gen Friedrichs  finden  wir  kaum  irgendwo  eine  Spur.  Sie 
gelangten  entweder  nicht  bis  zu  den  geistlichen  Chronisten 
und  Geschichtsschreibern  oder  blieben  doch  ohne  Eindruck. 
Vor  allem  war  der  Kaiser  gegenüber  der  Maulwurfsarbeit 
der  päpstlichen  Wanderprediger  machtlos;  über  ihre  ver- 
derbliche Tätigkeit  hat  er  sich  bitter  beklagt.^)  In  seinem 
sizilianischen  Königreiche  freilich  war  es  ihm  möglich,  die 
Bettelmönche  durch  ein  Machtgebot  auszuweisen  2);  in 
Deutschland  aber  war  etwas  Derartiges  ausgeschlossen.  3) 
Hier  standen  für  die  päpstlichen  Einflüsse  alle  Wege  offen. 
In  dem  gewaltigen  Endkampf  zwischen  Imperium  und 
Sacerdotium  war  zwar  Italien  der  Hauptkampfplatz,  für  die 
Entscheidung  aber  war  vor  allem  die  Stellungnahme 
Deutschlands  von  hervorragender  Bedeutung.  Der  Kaiser 
zog  aus  seinen  Ländern  nördlich  der  Alpen  Jahr  für  Jahr 
ansehnliche  militärische  und  finanzielle  Kräfte  und  Hilfs- 


S.  76ff.  J.  Zorn,  Umfang  und  Organisation  des  päpstlichen  Eingrei- 
fens in  Deutschland  (1238—1250).  Programm  Baden  bei  Wien  1909, 
S.  9.    Hauck,  Kirchengesch.  IV*,  S.  865ff. 

^)  .  .  .  vitam  nostram  reprobam  predicando  multifariam  deprave- 
runt  nos  et  iura  nostra  minor averunt,  quod  simus  iam  ad  nihilum  redacti. 
Iselinus,  Petrus  de  Vinea  II  (1740),  p.  220. 

^)  Jastrow  und  Winter,  Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der 
Hohenstaufen  II  (1901),  S.  479. 

^)  Hier  konnte  der  Kaiser  höchstens  auf  diplomatischem  Wege 
bei  den  einzelnen  Fürsten  der  päpstlichen  Agitation  entgegenwirken, 
wie  er  es  gegen  Albert  Beheim  bereits  1240  am  bayerischen  Hofe  ver- 
sucht hatte:   Höfler  S.  26. 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd  16 


238  Manfred  Stimming^ 

mittel,  die  bei  den  Kämpfen  in  der  Lombardei  schwer  in 
die  Wagschale  fielen.  Gelang  es  dem  Papst,  diese  Mittel 
zu  sperren  und  die  Herrschaft  Friedrichs  in  Deutschland 
zu  stürzen,  so  war  das  Hauptziel  der  kirchlichen  Politik, 
die  Trennung  von  Sizilien  und  Deutschland  erreicht.  Fried- 
rich wäre  vom  weitgebietenden  Weltkaiser  zum  Herrscher 
eines  Mittelstaates  herabgedrückt  und  der  Kirche  kein  ge- 
fährlicher und  unüberwindlicher  Gegner  mehr  gewesen. 
Innozenz  IV.  hat  die  Bedeutung  Deutschlands  für  den 
Entscheidungskampf  und  die  günstigen  Aussichten  für  ein 
erfolgreiches  Eingreifen  nördlich  der  Alpen  von  vornherein 
durchschaut  und  seine  ganze  Kraft  darauf  konzentriert, 
dem  Kaiser  Deutschland  zu  entreißen. i)  Als  der  Papst  sich 
entschloß,  die  Hohenstaufen  nördlich  der  Alpen  anzugreifen, 
standen  die  drei  rheinischen  Erzbischöfe  bereits  im  Kampfe 
mit  der  Reichsgewalt.  Aber  die  Insurrektion  ging  kaum 
über  den  Charakter  einer  lokalen  Empörung  hinaus.  Erst 
Innozenz  war  es,  der  sie  durch  zielbewußte  Förderung  und 
durch  Organisation  der  kaiserfeindlichen  Kräfte  zu  einer 
wirklichen  großen  Gefahr  für  das  staufische  Kaisertum 
machte.  Schon  wenige  Monate  nach  seiner  Stuhlbesteigung 
trat  er  mit  den  Häuptern  der  antistaufischen  Partei  in 
Fühlung:  Erzbischof  Siegfried  von  Mainz  erhielt  bereits  im 
August  des  Jahres  1243  die  Würde  und  Vollmachten  eines 
päpstlichen  Legaten  2);  am  19.  Dezember  und  an  den  fol- 
genden Tagen  wurden  dem  Erzbischof  von  Köln  eine  An- 
zahl Privilegien  verliehen.  3)  Die  Vergünstigungen,  die  der 
Papst  in  den  ersten  Monaten  des  folgenden  Jahres  den 
rheinischen  Erzbischöfen  zuteil  werden  ließ,  trugen  bereits 
deutlich  eine  antistaufische  Tendenz.  Am  22.  Januar  belegte 
Innozenz  .die  Bischöfe  von  Augsburg  und  Worms  und 
mehrere  Äbte,  die  im  Bunde  mit  König  Konrad  in  das 
Gebiet  des  Mainzer  Erzbischofs  eingedrungen  waren,  mit 
dem  Bann.*)    Am  5.  Mai  verlieh  er  den  Erzbischöfen  von 

1)  Bei  weitem  die  meisten  päpstlichen  Anordnungen  und  Schreiben 
in  den  Jahren  1245  und  1246  beziehen  sich  auf  Deutschland. 

2)  Mon.  Germ.    Epistolae  pontificum  saec.  XIII  Bd.  2,  n^  9. 

3)  Kölner  Regesten  Bd.  3,  n»  1107ff. 

*)  Mon.  Germ.    Epistolae  pontificum  saec.  XIII  Bd.  2,  n®  49. 


t 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    239 

Köln  und  Mainz  das  Recht,  in  ihren  Kirchenprovinzen 
eine  hohe  Steuer  von  allem  kirchlichen  Einkommen  zu  er- 
heben.i)  Q^g  bedeutete  eine  erhebliche  finanzielle  Stärkung 
der  aufständischen  Fürsten,  die  Friedrich  mit  Recht  zu 
hintertreiben  suchte.^)  Die  Beziehungen  zwischen  der  Kurie 
und  der  deutschen  Opposition  waren  also  bereits  angebahnt, 
bevor  der  endgültige  Bruch  zwischen  Kaiser  und  Papst  er- 
folgte. Als  dann  Innozenz  aus  Italien  geflohen  war,  trat 
er  offen  mit  den  Rebellen  in  Verbindung:  er  lud  die  Erz- 
bischöfe von  Köln  und  Mainz  zu  sich  nach  Lyon  und  faßte 
dort  mit  ihnen  im  März  oder  April  des  Jahres  1245  die 
für  das  Vorgehen  in  Deutschland  entscheidenden  Be- 
schlüsse.^) Dürfen  wir  den  Wormser  Annalen  trauen,  so 
wurde  damals  bereits,  also  vor  der  Absetzung  des  Kaisers 
durch  das  Konzil,  die  Wahl  eines  Gegenkönigs  in  Deutsch- 
land verabredet.^) 

Nachdem  das  Urteil  des  Lyoner  Konzils  verkündet  war, 
setzte  die  päpstliche  Agitation  in  Deutschland  mit  Macht 
ein;  sie  begann  jedoch  erst  sehr  allmählich  zu  wirken. 
Hatte  Gregor  IX.  durch  scharfe  Maßregeln  sein  Ziel  zu  er- 
reichen gesucht,  so  trat  Innozenz  umgekehrt  vorsichtig 
und  diplomatisch  auf  und  hatte  damit  weit  größere  Er- 
folge. Nicht  durch  die  Zugkraft  der  großen  kirchlichen 
Ideen,  sondern  durch  kluge  individuelle  Behandlung  brachte 
der  Papst  einen  Fürst  nach  dem  andern  zum  Abfall.  Er 
rechnete  mehr  mit  dem  Egoismus  als  mit  den  edleren 
Eigenschaften  der  Menschen.^)  Seine  Freunde  und  An- 
hänger suchte  er  durch  Privilegien  enger  an  sich  zu  fesseln. 
Schwankende  und  Gleichgültige  durch  lockende  Verspre- 
chungen und  Vergünstigungen  zu  gewinnen.     So  bedachte 

1)  Mon.  Germ.  Ep.  pont  Bd.  2,  n^  65  u.  66.  —  Kölner  Regesten 
Bd.  3,  n®  1139.  —  Chronica  s.  Petri  Erph.  moderna.  Mon.  Erphesfurt. 
p.  238.  —  Menconis  Wrumens,  chronicon.  Mon.  Germ.  SS.  XXIII, 
p.  537.    Die  Suffragane  sträubten  sich  jedoch  zu  zahlen. 

2)  Huillard-Breholles  Bd.  5,  p.  1131. 

^)  Am  Konzil  selbst  nahmen  sie  nicht  teil:  E.  Fink,  Siegfried  III. 
von  Eppenstein,  Erzbischof  von  Mainz.    Rostock,  Diss.  1892,  S.  117ff. 

*)  Mon.  Germ.  SS.  Bd.  17,  p.  49. 

^)  C.  Rodenberg,  Innozenz  IV.  und  Sizilien,  1892,  S.  6.  —  Hauck, 
Kirchengesch.  Bd.  4*,  S.  878. 

10* 


240  Manfred  Stimming, 

er  in  entgegenkommender  Weise  geistliche  Schützlinge  der 
Fürsten  mit  Provisionen  und  gestattete  ihnen  die  Häufung 
von  Pfründen.  1)  Bei  der  Zulassung  von  unkanonischen 
Ehen  zeigte  er  sich  weitherzig:  in  den  Jahren  1244  bis  1245 
erteilte  der  Papst  in  nicht  weniger  als  11  Fällen  deutschen 
Fürsten  Ehedispense.^)  Vor  allem  aber  sparte  er  nicht  mit 
Geld,  um  seine  Pläne  zu  fördern.  Innozenz  hatte  richtig 
erkannt,  daß  bei  den  deutschen  Fürsten  damals  die  Terri- 
torialpolitik im  Vordergrunde  des  Interesses  stand.  Heirat, 
Kauf  und  Krieg,  der  ebenfalls  Geld  kostete,  bildeten  die 
wichtigsten  Mittel  zur  Erwerbung  neuer  Besitzungen.  In- 
dem der  Papst  der  Heiratspolitik  Hindernisse  aus  dem 
Wege  räumte  und  den  finanziellen  Bedürfnissen  Rechnung 
trug,  leistete  er  den  territorialen  Bestrebungen  der  Fürsten 
Vorschub  und  konnte  hierbei  am  ehesten  auf  Gegendienste 
rechnen. 

Friedrich  suchte  den  schädlichen  Einflüssen  des  Papstes 
in  Deutschland  nach  Kräften  entgegenzuwirken.  Während 
das  Konzil  in  Lyon  tagte,  versammelte  der  Kaiser  in  Verona 
König  Konrad  und  die  treu  gebliebenen  deutschen  Fürsten 
um  sich,  um  die  Richthnien  für  die  Politik  der  Reichs- 
regierung festzulegen.  3)  Auch  Friedrich  sparte  nicht  mit 
Zugeständnissen  und  Vergünstigungen,  um  seine  Anhänger 
fester  an  sich  zu  fesseln.*)  Freilich  hätte  man  erwarten 
sollen,  daß  der  Kaiser,  als  sich  die  Verhältnisse  in  Deutsch- 
land immer  drohender  gestalteten,  wie  im  Jahre  1235  über 
die  Alpen  eilen  würde,  um  durch  das  Gewicht  seiner  Per- 
sönlichkeit die  Lage  wieder  herzustellen.  Vor  der  Wahl  des 
Gegenkönigs  hätte  sein  persönliches  Eingreifen  wohl  noch 
von  entscheidender  Bedeutung  sein  können.  Aber  wir  hören 
nicht  einmal  von  der  Absicht  des  Kaisers,  nach  Deutsch- 
land zu  gehen,  sei  es,  daß  er  die  Gefahren  des  päpstlichen 
Eingreifens  unterschätzte,   sei  es,    daß  er  sich  nicht  ohne 


1)  Mon.  Germ.    Ep.  pont,   Bd.  2  n»  149,  194,  195  u.  n«  141,  143, 
144  150  154  185  186. 

2)  ib.  n«'55,  56,  67,  68,  71,  72,  73,  107,  118,  121,  132. 
')  Reg.  Imp.  V  n»  3478  b. 

*)  So  wurde  in  Verona  dem  Herzog  von  Österreich  die  Erhebung 
seines  Landes  zum  Königreich  in  Aussicht  gestellt. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    241 

Schaden  für  seine  Stellung  aus  Italien  entfernen  zu  dürfen 
glaubte.  1)  Erst  im  Jahre  1247  faßte  der  Kaiser  den  Ent- 
schluß, nach  Norden  zu  reisen,  um,  wie  er  dem  Kapitaneus 
des  Königreiches  Sizilien  schrieb,  den  Aufstand,  der  durch 
die  Bosheit  einiger  Ungetreuer  hervorgerufen  sei,  heilsam 
zu  unterdrücken. 2)  Als  er  bereits  bis  Turin  gekommen  war, 
zwang  ihn  der  Abfall  von  Parma  zur  Umkehr.  Die  mili- 
tärischen und  politischen  Mißerfolge  hielten  ihn  weiter  in 
Italien  fest. 

Die  ganze  Schwere  der  deutschen  Aufgaben  lastete  seit 
dem  Jahre  1245  auf  den  Schultern  des  jungen  Königs  Kon- 
rad. Dieser  war  nicht  imstande,  den  weiteren  Rück- 
gang der  staufischen  Sache  in  Deutschland  aufzuhalten. 
Der  Papst  und  seine  Anhänger  zeigten  sich  in  jeder  Weise 
überlegen.  Besonders  in  West-  und  Mitteldeutschland  fielen 
ihnen  immer  größere  Erfolge  zu.  Dagegen  blieben  die  nord- 
deutschen Fürsten,  welche  durch  die  Bekämpfung  des  stau- 
fischen Kaisertums  keinerlei  Gewinn  zu  erwarten  hatten, 
die  Herzöge  von  Sachsen  und  Braunschweig,  die  Mark- 
grafen von  Brandenburg  und  Meißen,  der  Erzbischof  von 
Magdeburg  und  andere,  neutral  und  hielten  den  Verkehr 
sowohl  mit  der  Kurie  wie  mit  dem  Kaiserhofe  aufrecht.^) 
Ja  es  fehlte  sogar  nicht  an  einzelnen  Stimmen  unter  den 
deutschen  Fürsten,  welche  die  Absetzung  des  rechtmäßig 
gewählten  Königs  durch  den  Papst  offen  mißbilligten  und 
darin  einen  Eingriff  in  die  Reichsrechte  sahen.*)  Aber  ihre 
Zahl  war  doch  nur  gering  im  Verhältnis  zu  denen,  welche 
den  Kampf  zwischen  Kaiser  und  Papst  nur  unter  dem  Ge- 
;  Sichtspunkte  ihrer  persönlichen  Interessen  betrachten  und 
ausnutzten. 


1)  Die  Nachricht  des  Matthäus  Parisiensis  von  der  angeblichen 
Reise  des  Kaisers  nach  Deutschland  (Mon.  Germ.  SS.  XXVIII,  219 
u.  244)  wird  mit  Recht  allgemein  als  unglaubwürdig  abgelehnt. 

2)  Iselinus,  Petrus  de  Vinea  I,  p.  344,  n**  49.  —  Winkelmann, 
Acta  imperii  I,  p.  362.  —  Regesta  Imperii  V,  n^  3608  u.  3634. 

■)  Rodenberg,  Innozenz  IV.  und  das  Königreich  Sizilien,  S.  29. 

*)  Qua  sententia  (sc.  concilii  Lyonensis)  per  mundum  volante  qui- 
dam  principum  cum  multis  aliis  reclamabant  dicentes:  ad  papam  non 
pertinere  imperatorem  eis  vel  instituere  vel  destituere,  sed  electum  a  prin- 
cipibus  coronare.  —  Annales  Stadenses.  Mon.  Germ.  SS.  Bd.  16,  p.  369. 


242  Manfred  Stimming, 

Die  päpstliche  Partei  in  Deutschland  stand  auf  schwa- 
chen Füßen,  solange  sie  nicht  durch  die  Erhebung  eines 
Gegenkönigs  einen  festen  Mittelpunkt  erhielt.  Einen  solchen 
zu  bestellen,  wandte  Innozenz  alsbald  lebhafte  Bemühungen 
auf.  Seine  Blicke  lenkten  sich  auf  den  thüringischen  Land- 
grafen, der  einer  der  mächtigsten  Fürsten  in  Deutschland 
war,  und  der  ihm  wegen  seiner  kirchlichen  Devotion  und 
seines  Ehrgeizes  die  geeignete  Persönlichkeit  zu  sein  schien. 
Noch  ehe  das  Konzil  zu  Lyon  sein  Urteil  gesprochen  hatte, 
verließ  Heinrich  Raspe  die  staufische  Sache. i)  Die  drei 
Privilegien,  die  ihm  Innozenz  am  12.  und  13.  April  1244 
verlieh,  lassen  über  seinen  Parteiwechsel  keinen  Zweifel. 2) 
Aus  den  drei  genannten  Urkunden  geht  mit  Deutlichkeit 
hervor,  daß  bei  den  Verhandlungen  mit  dem  Papst 
wiederum  die  Frage  der  Territorialpolitik  im  Vordergrund 
stand.  Die  Machtstellung  Heinrich  Raspes  beruhte  zum 
guten  Teil  auf  den  Grafschaften  Hessen,  Schönstedt  und 
Mittelhausen  und  anderen  Besitzungen,  die  er  von  der 
Mainzer  Kirche  zu  Lehen  trug.  3)  Indem  der  Papst  ihm 
den  ungestörten  Besitz  seiner  Kirchenlehen  versprach, 
stellte  er  ihn  gegen  befürchtete  oder  vielleicht  bereits  er- 
hobene Ansprüche  des  Erzbischofs  von  Mainz  auf  den 
thüringischen  Territorialbesitz  sicher.  Im  August  des  Jahres 
1245  begab  sich  der  päpstliche  Legat  Philipp  von  Ferrara 
an  den  Hof  des  Landgrafen,  um  das  Nötige  für  die  Königs- 
wahl vorzubereiten.*)  Es  gingen  freilich  noch  Monate  ins 
Land,  bevor  es  dem  Papst  gelang,  durch  Befehle  und  Er- 
mahnungen und  nicht  zum  wenigsten  auch  durch  reichliche 
Geldgeschenke  die  Erhebung  Heinrich  Raspes  durchzu- 
setzen.5)     Die   Wahl    zu    Veitshöchheim    fand    unter    den 

1)  Regesta  Imperii  V,  n'' 4865  b. 

2)  Mon.  Germ.  Ep.  pont.  Bd.  2,  n^  55,  57,  58. 

3)  Stimming  a.  a.  O.  S.  119ff. 

*)  Kölner  Regesten  Bd.  3,  n«  1210. 

*)  Daß  der  Papst  der  Urheber  der  Wahl  war,  berichten  fast  alle 
Quellen:  Annales  sancti  Justini  Patavenses.  Mon.  Germ.  SS.  Bd.  19, 
p.  159;  Annales  sancti  Rutberti  Salisburg.  Mon.  Germ.  SS.  Bd.  9, 
p.  789;  Matthaeus  Parisiensis.  ib.  Bd.  28,  p.  279;  Gesta  Trevirorum. 
ib.  Bd.  24,  p.  411;  Annales  Erphord.  fratrum  praedicatorum.  Mon. 
Erphesfurt.  p.  100. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    243 

Augen  des  päpstlichen  Legaten  am  22.  Mai  1246  statt;  an 
ihr  nahmen  neben  einer  Anzahl  hessischer  und  thüringischer 
Grafen  nur  einige  geistliche  Fürsten  teil.  Aber  die  kirch- 
lichen Mittel  arbeiteten  weiter,  um  dem  Gegenkönig  neue 
Anhänger  zu  gewinnen  und  ihm  das  Übergewicht  über  seinen 
Gegner  zu  verschaffen.  Innozenz  unterstützte  seinen  Schütz- 
ling mit  bedeutenden  Geldmitteln^),  er  ließ  unter  Verheißung 
weitgehender  Indulgenzien  das  Kreuz  gegen  den  Kaiser  pre- 
digen und  gewann  ihm  auf  diese  Weise  zahlreiche  bewaffnete 
Helfer,  2)  Der  Legat  Philipp  von  Ferrara  wurde  mit  um- 
fassender Vollmacht  ausgestattet  und  erhielt  die  Weisung, 
mit  aller  Macht  für  die  Anerkennung  Heinrich  Raspes  zu 
wirken.  3)  Außerdem  wandte  sich  der  Papst  persönlich  an 
die  angesehensten  Reichsfürsten.*)  Mit  Exkommunikationen 
war  Innozenz  sparsam,  denn  er  wollte  die  Hohenstaufen 
isolieren,  aber  nicht,  wie  es  durch  das  schroffe  Vorgehen. 
Gregors  IX.  geschehen  war,  die  Fürsten  auf  die  Seite  des 
Gegners  treiben.  Nur  eine  Anzahl  geistlicher  Fürsten,  die 
trotz  des  ausdrücklichen  päpstlichen  Befehls  auf  dem  Frank- 
furter Reichstage  nicht  erschienen  waren,  verfielen  dem 
Banne  und  der  Suspension  durch  den  päpstlichen  Legaten.^) 
Innerhalb  der  Kirche  hielt  Innozenz  IV.  gleich  seinem  großen 
Vorgänger  Innozenz  III.  den  päpstlichen  Absolutismus  im 
vollen  Umfange  aufrecht  und  duldete  keinen  Widerspruch. 
So  wenig  er  gegen  die  weltlichen  Machtbestrebungen  der 
Bischöfe  einzuwenden  hatte,  so  hielt  er  doch  streng  darauf, 
daß  diese  sich  als  Beamte  und  Diener  der  Kirche  fühlten, 
die  in  kirchlichen  Dingen  ihrem  Oberhaupte  unbedingten 


^)  W.  Wattenbach,  Erfurter  Urkunden.  Neues  Archiv  Bd.  1 
<1876),  S.  197;  Siegfried  von  Balnhausen.  Mon.  Germ.  SS»  Bd.  25, 
p.  707.  —  Vgl.  Regesta  imperii  V,  n'>4865d  und  O.  Lorenz,  Deutsche 
Geschichte  im  13.  u.  14.  Jahrhundert  Bd.  1  (1863),  S.  43. 

2)  Mon.  Germ.  Ep.  pont.  Bd.  2,  n«  199.  —  Annales  sancti  Rut- 
berti Salisburgensis.  Mon.  Germ.  SS.  Bd.  9,  p.  789.  Vgl.  A.  Gottlob, 
Die  päpstlichen  Kreuzzugssteuern  im  13.  Jahrhundert  (1892),  S.  76ff. 

3)  O.  W.  Ganz,  Philipp  Fontana  im  Dienste  der  Kurie.  Heidel- 
berger Diss.  1910  S.  13. 

*)  Mon,  Germ.  Ep.  pont.  Bd.  2,  n»  167,  189,  204,  205—207. 
^)  Reg.  Imp.   V,  n°  4869  a.    Vgl.   Hauck,   Kirchengesch.   Bd.  4*, 
S.  867. 


244  Manfred  Stimming, 

Gehorsam  zu  leisten  hatten.  Gegenüber  den  geistlichen 
Fürsten  standen  dem  Papste  auch  weit  wirkungsvollere 
Pressionsmittel  zur  Verfügung  als  bei  deren  weltlichen  Stan- 
desgenossen. Während  die  Stellung  der  erblichen  Fürsten 
durch  die  geistlichen  Kampfmittel  der  Kurie  kaum  ernstlich 
gefährdet  werden  konnte,  waren  die  Bischöfe  weniger  gün- 
stig daran.  Der  Exkommunikation  und  Suspension  pflegte 
bei  hartnäckigem  Ungehorsam  die  Provision  eines  Gegen- 
bischofs zu  folgen.  Da  einerseits  die  geistlichen  Fürsten 
nicht  mehr  wie  früher  einen  starken  Rückhalt  in  der  Reichs- 
regierung fanden,  und  andererseits  in  dem  Domkapitel  und 
Diözesanklerus  in  der  Regel  eine  starke  Gegenpartei  vor- 
handen war,  die  nur  auf  die  Gelegenheit  wartete,  das  Ober- 
wasser zu  gewinnen,  so  erwuchsen  den  Bischöfen  aus  ihrem 
Ungehorsam  gegen  die  Kurie  schwere  Gefahren  für  ihre 
Würde.  Die  Furcht  für  ihre  Stellung  trieb  sie  vornehmlich 
auf  die  Seite  der  Kirche. 

So  kam  es,  daß  der  Abfall  unter  dem  Klerus  immer 
weitere  Dimensionen  annahm.  Von  den  fränkischen  und 
bayerischen  Bischöfen,  die  bisher  treu  zum  Reiche  gehalten 
hatten,  verließ  einer  nach  dem  anderen  die  staufische  Partei: 
so  der  Bischof  von  Freising  im  August  1245^),  im  Oktober 
der  Bischof  von  Bamberg,  der  erst  wenige  Jahre  zuvor 
durch  ein  Machtgebot  Friedrichs  am  kaiserlichen  Hofe  in 
Italien  gewählt  war^),  im  November  der  kaiserliche  Kanzler 
Konrad  von  Regensburg,  im  Dezember  der  Bischof  Lan- 
dulf  von  Worms^);  und  viele  andere  folgten  nach.  Auch 
unter  den  weltlichen  Fürsten  begannen  sich  die  Reihen  der 
staufischen  Parteigänger  zu  lichten.  So  fiel,  um  nur  einige 
der  mächtigsten  zu  nennen,  im  Jahre  1246  der  Herzog  von 
Meran  von  Friedrich  ab*);  und  im  folgenden  Jahre  ging 
der  Herzog  Matthias  von  Lothringen,  ein  alter  Anhänger 
der  Hohenstaufen,  zu  den  Gegnern  über.«)    Die  weltlichen 

1)  Huillard-Br^holles  VI,  p.  337. 

2)  O.  Kreuzer,  Heinrich  von  Bilversheim,  Bischof  von  Bamberg. 
Bamberger  Programm  1906/1909  S.  58. 

3)  Mon.  Germ.    Ep.  pont.  Bd.  2,  n^  144. 

*)  F.  Stein,  Geschichte  von  Franken  I  (1885),  S.  270. 
*)  Br.  Gumlich,  Beziehungen  der  Herzöge  von  Lothringen  zum 
Deutschen  Reiche  im  13.  Jahrhundert.    Halle,  Diss.  1898,  S.  36. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    245 

I  Territorien  am  Niederrhein,  die  so  lange  Zeit  der  feste  Rück- 
I  halt  der  Reichsregierung  gewesen  waren,  wurden  zum  Mittel- 
j  punkt  der  antistaufischen  Bestrebungen:  von  dort  ging  der 
I  zweite  Gegenkönig,  Wilhelm  von  Holland,   hervor.    Selbst 
!  in  Schwaben,  der  alten  und  festen  Grundlage  der  staufi- 
schen Macht,   errang  die  kirchliche  Partei  bedeutende  Er- 
folge:   eine  erhebliche  Anzahl    weltlicher    und    geistlicher 
Großer,   wie  die  Äbte  von   Reichenau  und   Kempten,    die 
Grafen  von  Württemberg,  Dillingen,  Freiburg,  Kiburg  und 
andere,  ließen  sich  für  den  Gegenkönig  gewinnen.^) 

In  den  Jahren  nach  der  Wahl  Heinrich  Raspes  war 
die  Situation  in  Deutschland  die,  daß  fast  der  gesamte 
Episkopat,  der  früher  stets  die  festeste  Stütze  des  König- 
tums gewesen  war,  im  feindlichen  Lager  stand.  Auch  von 
den  weltlichen  Fürsten  hielt  eine  bedeutende  Anzahl  zur 
kirchlichen  Partei.  Auf  staufischer  Seite  verblieben  nur 
einige  Laienfürsten  und  wenige  Bischöfe  im  Süden  und 
Südosten  des  Reiches.  Die  Unterstützung,  die  König  Kon- 
rad von  seinen  fürstlichen  Anhängern  genoß,  war  jedoch 
verhältnismäßig  gering.  Er  war  im  wesentlichen  auf  die 
Machtmittel  des  hohenstaufischen  Hausgutes  und  die  Reichs- 
städte, welche  nach  dem  Abfalle  der  Fürsten  die  natür- 
lichen Verbündeten  des  Königs  waren,  angewiesen.  Konrad 
wäre  wohl  kaum  imstande  gewesen,  der  Übermacht  seiner 
Gegner  zu  widerstehen,  wenn  ihm  diese  geschlossen  gegen- 
übergetreten wären.  Davon  aber  war  nicht  die  Rede. 
Heinrich  Raspe  blieb  an  Macht  und  Ansehen  weit  hinter 
dem  Hohenstaufen  zurück.  Ein  guter  Teil  der  Fürsten 
stand  überhaupt  gleichgültig  beiseite.  Andere  wie  der  Her- 
zog von  Lothringen  ergriffen  zwar  die  Partei  der  Kirche, 
hielten  sich  aber  trotzdem  von  jeder  aktiven  Anteilnahme 
an  den  Kämpfen  fern.^)  Nichts  wäre  verkehrter  als  anzu- 
nehmen, daß  Deutschland  damals  in  zwei  feindliche  Lager 
gespalten  gewesen  sei,  daß  auf  dieser  Seite  für  die  große 
Idee  des   Kaisertums,    auf  jener   für  die  der  Kirche   das 


^)  K.  Weller,  König  Konrad  IV.  und  Schwaben.  Vierteljahrshefte 
für  württembergische   Landesgeschichte   NF.   Bd.  6  (1897),  S.  12Ü. 
2)  Gumlich,  Beziehungen  der  Herzöge  von  Lothringen  S.  36. 


246  Manfred  Stimming,  2*. 

11 

Schwert  geführt  worden  wäre.  Von  höheren  Zielen  und  i 
dem  Wirken  großer  Ideen  ist  bei  der  damaUgen  Generation 
der  deutschen  Territorialfürsten  wenig  zu  verspüren.  Wie 
die  Anhänger  der  kirchlichen  Partei  ihren  Sonderinteressen 
nachgingen  und,  wo  diese  im  Widerstreite  standen,  sich 
untereinander  befehdeten,  so  trugen  auch  die  staufischen 
Parteigänger  kein  Bedenken,  sich  gegenseitig  zu  bekämpfen 
und,  wo  es  ihnen  zweckmäßig  erschien,  mit  einzelnen  Mit- 
gliedern der  Gegenpartei  zu  paktieren.  Die  Fürsten  hatten 
kein  Interesse  daran,  ihre  Kräfte  aufzuwenden,  um  den 
einen  der  Gegenkönige  zu  vernichten  und  den  anderen  gar 
zu  mächtig  werden  zu  lassen.  Sie  zogen  aus  dem  Gleich- 
gewicht der  Kräfte  den  größten  Vorteil.  Unter  diesen  Um- 
ständen gelang  es  weder  dem  Papst,  die  staufische  Herr- 
schaft in  Deutschland  völlig  zu  stürzen,  noch  auch  ver- 
mochte König  Konrad,  seiner  Gegner  Herr  zu  werden. 
Aber  der  größere  Gewinn  erwuchs  aus  dieser  Lage  doch 
der  Kirche.  Durch  das  bellum  omnium  contra  omnes  wurden 
die  Kräfte,  welche  dem  Kaiser  früher  nach  der  Lombardei 
zugeströmt  waren,  in  Deutschland  gebunden.  Friedrich 
hatte  in  den  letzten  Jahren  seiner  Regierung  schwer  zu 
ringen,  um  sich  in  Norditalien  zu  behaupten. 

So  endete  die  Politik,  die  Friedrich  II.  seit  seinem 
ersten  Erscheinen  in  Deutschland  in  beharrlicher  Konse- 
quenz gegenüber  den  Fürsten  verfolgt  hatte,  mit  einem 
vollkommenen  Mißerfolg.  Man  möchte  jedoch  bezweifeln, 
daß  Friedrich  die  Ordnung  der  deutschen  Verhältnisse,  wie 
er  sie  vorgenommen  hatte,  als  eine  endgültige-  betrachtet 
habe;  man  darf  vielmehr  annehmen,  daß  es  ihm  nur  darauf 
angekommen  sei,  zunächst  einen  einigermaßen  haltbaren 
Zustand  zu  schaffen,  um  die  Hände  für  andere  wichtigere 
Aufgaben  frei  zu  bekommen.  Italien  stand  stets  im  Vorder- 
grund seiner  Interessen.  Zwischen  den  ersten  und  zweiten 
Aufenthalt  des  Kaisers  in  Deutschland  fällt  die  Reorgani- 
sation des  sizilianischen  Königreiches.  Die  Worte  und  Maß- 
regeln des  Kaisers  lassen  keinen  Zweifel  darüber  bestehen, 
daß  es  seine  Absicht  war,  das  sizilianische  Verwaltungs- 
system auf  ganz  Italien  auszudehnen.  Soweit  seine  Macht 
reichte,  hatte  Friedrich  in  den  Jahren  1236  bis  1241  ein  ab- 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    247 

solutistisches  Beamtenregiment  aufgerichtet. i)  Nach  den 
Erfolgen  in  der  Lombardei  fing  er  damit  an,  die  Verhält- 
nisse Norditaliens  nach  sizilianischem  Vorbilde  zu  ordnen. 
Er  begann  mit  der  Einsetzung  von  Kapitänen  in  den  Städten. 
Seit  1237  folgte  die  planmäßige  Einrichtung  von  General- 
vikariaten  in  ganz  Italien.  1239  war  das  ganze  Land  in 
eine  größere  Anzahl  von  umfassenden  Amtsbezirken  einge- 
teilt, in  denen  Generalkapitäne  ihres  Amtes  walteten. 2) 

Das  östliche  Oberitalien  bildete  ein  Generalvikariat, 
für  welches  die  Trevisaner  Mark  die  Grundlage  hergab. 
Hierzu  gehörte  auch  das  Bistum  Trient,  das  zum  Deut- 
schen Reich  gerechnet  wurde.  So  war  bereits  im  Jahre  1239 
ein  Stück  von  Deutschland  in  den  Kreis  der  italieni- 
schen Neugestaltungen  mit  hineingezogen. 3)  Man  darf  wohl 
daraus  schließen,  daß  Friedrich  nicht  gesonnen  war.  mit 
seinen  Neuerungen  an  der  Grenze  des  Deutschen  Reiches 
Halt  zu  machen.  Er  ging  mit  seinem  Reformwerk  offenbar 
systematisch,  von  Süden  nach  Norden  fortschreitend,  vor, 
um  nacheinander  alle  Länder  des  Imperiums  fest  in  die 
Hand  zu  bekommen.  Hätte  der  Kaiser  den  Widerstand  der 
lombardischen  Städte  gebrochen  und  damit  sein  Ziel  in 
Norditalien  erreicht,  so  wäre  die  Bahn  für  die  Neuordnung 
der  deutschen  Verhältnisse  frei  gewesen. 

Freilich  besitzen  wir  nicht  die  geringsten  Nachrichten 
darüber,  ob  der  Kaiser  bestimmte  Pläne  für  Deutschland 
gehabt  hat,  und  welcher  Art  sie  gewesen  sein  könnten. 
Nach  den  Worten,  die  Friedrich  im  Jahre  1236  an  den  Bi- 
schof von  Como  richtete,  zu  urteilen,  scheint  es  sogar,  als 
habe  er  die  Grundlagen  seiner  Herrschaft  für  ausreichend 
und  seine  Stellung  für  hinlänglich  gesichert  gehalten.*) 
Selbst  wenn  man  annimmt,  daß  dieses  damals  seine  An- 
sicht war,  so  müssen  ihn  doch  später  die  Ereignisse  in 
Deutschland  eines  besseren  belehrt  haben.    Es  ist  kaum  zu 


^)  K.  Hampe,  Deutsche  Kaisergeschichte  in  der  Zeit  der  Salier 
und  Stauten,  3.  Aufl.  (1916),  S.  259. 

^)  J.  Ficker,  Forschungen  zur  Reichs-  und  Rechtsgeschichte  Ita- 
liens II  (1869),  S.  496  ff. 

»)  ib.   II  p.  507f. 

*)  Vgl.  p.  12,  Note  1. 


248  Manfred  Stimming, 

glauben,  daß  die  bitteren  Erfahrungen,  die  der  Kaiser  in 
den  letzten  Jahren  seiner  Regierung  machen  mußte,  spur- 
los an  ihm  vorübergegangen  seien,  daß  Friedrich  nicht  nach 
neuen  Mitteln  und  Wegen  gesucht  habe,  um  seine  Herr- 
schaft in  Deutschland  auf  festere  Füße  zu  stellen.  In  der 
Tat  griff  der  Kaiser  noch  in  den  letzten  Jahren  seiner  Re- 
gierung zu  Maßregeln,  wie  sie  zuvor  weder  von  ihm  noch 
von  einem  seiner  Vorgänger  angewandt  worden  waren. 
Hampe  macht  darauf  aufmerksam,  daß  Friedrich  nach  dem 
Tode  des  letzten  Babenbergers  die  erledigten  Herzogtümer 
Österreich  und  Steiermark  nicht  wieder  als  Lehen  ausgab. 
Er  griff  damit  auf  einen  Versuch  zurück,den  er  schon  einmal 
nach  der  Ächtung  Herzog  Friedrichs  im  Jahre  1236  gemacht, 
aber  aus  politischen  Gründen  wieder  aufgegeben  hatte. 
Diesmal  schlug  der  Kaiser  einen  neuen  Weg  ein:  er  ließ 
die  heimgefallenen  Länder  nach  sizilianischem  Vorbilde  durch 
Generalkapitäne  verwalten. i) 

Es  ist  kaum  anzunehmen,  daß  es  der  Plan  Kaiser 
Friedrichs  gewesen  sei,  das  System  der  Beamtenverwaltung 
allmählich  auf  ganz  Deutschland  auszudehnen.  Ein  solches 
Beginnen  wäre  bei  den  damaligen  politischen  Verhältnissen 
ohne  jede  Aussicht  auf  Erfolg  gewesen.  Offenbar  war  es 
die  Absicht  des  Kaisers,  an  der  Ostgrenze  des  Reiches  ein 
großes  der  Krone  unmittelbar  unterworfenes  Gebiet  zu 
schaffen.  Er  knüpfte  damit  an  die  Politik  seines  Großvaters 
Friedrich  Barbarossa  an,  der  mit  dem  Herzogtum  Schwaben 
etwas  Ähnliches  im  Auge  gehabt  hatte 2),  und  war  zugleich 
ein  Vorläufer  der  Hausmachtspolitik  der  spätmittelalterlichen 
Könige.  Daß  Friedrich  H.  gerade  Österreich  und  Steiermark 
als  Königsland  ausersah,  macht  seinem  politischen  Scharf- 
blicke Ehre.  Die  Herzogtümer  lagen  dem  nord-ostitalieni- 
schen  Herrschaftsgebiet  des  Kaisers  am  nächsten  und  bil- 
deten zusammen  mit  den  Herzogtümern  Bayern  und  Kärn- 
ten, den  Bistümern  Trient,  Brixen  und  anderen  Territorien, 
deren  Inhaber  dem  Kaiser  bis  zum  Tode  treu  blieben,  ein 
bedeutendes,   fest    zusammenhängendes  staufisches  Macht- 


^)  Hampe  a.  a.  O.  p.  272. 
*)  Stimming  a.  a.  0.  p.  84. 


Kaiser  Friedrich  II.  und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten.    249 

gebiet.  Von  allen  deutschen  Territorien  waren  die  süd-öst- 
lichen,  aus  alten  Markgrafschaften  erwachsenen  Herzogtümer 
die  geschlossensten ;  die  Landeshoheit  war  in  ihnen  am  wei- 
testen fortgeschritten.  Hier  schufen  im  späteren  Mittelalter 
die  Habsburger  ihre  Hausmacht,  welche  sie  in  den  Stand 
setzte,  die  politische  Leitung  des  zerrissenen  und  ausein- 
anderstrebenden Reiches  zu  übernehmen.  Zur  Überwindung 
des  fürstlichen  Partikularismus  war  es  damals  freilich  zu 
spät.  Im  13.  Jahrhundert  hätte  der  Verfall  des  Reiches 
vielleicht  noch  aufgehalten  werden  können,  wenn  nämlich 
die  von  Friedrich  vorgezeichnete  Politik  konsequent  weiter 
verfolgt  worden  wäre.  Die  südostdeutschen  Herzogtümer 
hätten,  ähnlich  wie  das  Herzogtum  Francien  in  dem  be- 
nachbarten Frankreich,  der  Grundstock  und  der  Ausgangs- 
punkt für  die  Schaffung  eines  größeren  und  geschlossenen 
Königslandes  und  dieses  anstelle  der  verlorenen  Herrschaft 
über  die  Reichskirche  zu  einer  neuen  starken  Stütze  und 
Machtgrundlage  des  Königtums  werden  können.  Verschie- 
dene ungünstige  Faktoren  wirkten  zusammen,  um  dies  zu 
verhindern.  Friedrich  selbst  war  nicht  mehr  imstande,  die 
Geschicke  Deutschlands  in  neue  Bahnen  hinüberzuleiten.  Er 
blieb  bis  zu  seinem  Tode  in  Italien  gefesselt  und  mußte 
den  Dingen  nördlich  der  Alpen  ihren  Lauf  lassen.  Nach 
dem  Sturze  des  staufischen  Hauses  aber,  in  der  Zeit  des 
Interregnums,  gehörte  das  Feld  vollends  dem  deutschen 
Territorialfürstentum.  Jener  Geist  des  dynastischen  Parti- 
kularismus, der  vornehmlich  in  der  ersten  Hälfte  des  13. 
Jahrhunderts  groß  geworden  war,  behauptete  dauernd  seine 
Herrschaft  über  Deutschlands  Fürsten  und  führte  das  Reich 
unaufhaltsam  dem  weiteren  Verfalle  entgegen. 


Renaissance  als  Stilbegriff. 

Dem  Andenken  Jakob  Burckhardts 


von 
Werner  Weisbach. 


Der  100.  Geburtstag  Jakob  Burckhardts  i)  hat  von  neuem 
die  Aufmerksamkeit  auf  ein  Problem  gerichtet,  das  mit 
seinem  Namen  aufs  engste  verknüpft  ist:  das  Problem  der 
Renaissance.  In  zweien  seiner  Hauptwerke,  dem  „Cicerone" 
und  der  „Kultur  der  Renaissance  in  Italien",  hat  er  die 
italienische  Renaissance  als  Stilepoche  und  als  Kultur- 
epoche zu  schildern  unternommen  und  damit  einen  nach- 
haltigen Einfluß  auf  die  historische  Begriffsbildung  aus- 
geübt. Im  Rückblick  auf  die  Zeit  der  Konzeption  dieser 
Werke  schrieb  Burckhardt  in  einem  Brief  an  seinen  Freund 
und  Gesinnungsgenossen,  den  Architekturforscher  Hein- 
rich V.  Geymüller  (29.  1.  1881):  „Ich  muß  recht  bei  mir 
selber  lachen,  wenn  ich  bedenke,  durch  welche  Reihe  von 
Zufällen  ich  zur  Abfassung  des  Cicerone  kam,  und  welche 
eigentümliche  Konstellation  zugunsten  der  Renaissance  da- 
mals, 1853 — 1855,  am  Himmel  muß  gewaltet  haben." 

Das  19.  Jahrhundert,  das  nicht  zu  Unrecht  das  histo- 
rische genannt  wird,  hat  den  gesamten  geschichtlichen 
Stoff  nach  einer  systematischen  Erschließung  und  Erfor- 
schung der  Quellen  durch  eine  neue  Periodisierung  zu  glie- 
dern gesucht.    Nachdem  durch  die  Romantik  das  vorher 


*)  Das  Manuskript  wurde  der  Redaktion  Juni  1918   eingereicht. 


Renaissance  als  Stilbegriff.  251 

wenig  beachtete  und  mißachtete  Mittelalter  an  das  Licht 
geführt  und  in  die  geschichtliche  Betrachtung  einbezogen 
worden  war,  ließ  man  diesem  eine  Epoche  folgen,  die  als 
die  Renaissance  bezeichnet  wurde.  Jede  solche  Periodi- 
sierung  hat  ihre  Bedeutung  und  ihre  Anerkenntnis  nur  in 
bezug  auf  den  Standpunkt,  den  die  Gegenwart  einnimmt, 
und  als  Ausdruck  für  die  Vorstellung,  die  diese  sich  von  der 
Vergangenheit  macht.  Sie  ist  abhängig  von  den  Wertungen,, 
die  ein  betrachtendes  Subjekt  anstellt.  Als  geistiges  Produkt 
hat  sie  nur  in  einer  idealen  Sphäre  Geltung.  Es  hieße  einem 
falschen  Begriffsrealismus  verfallen,  wollte  man  sie  als 
etwas  ein-  für  allemal  Feststehendes  und  wie  eine  objektive 
Gegebenheit  Unberührbares  nehmen.  In  dem  Bilde,  das 
sich  eine  Zeit  oder  ein  Individuum  von  der  Vergangenheit 
entwirft,  kommt  zugleich  ein  Gegenwartsgefühl,  eine  be« 
stimmte  geistige  Disposition  zum  Ausdruck. 

Die  neue  Methode,  die  das  19.  Jahrhundert  bei  der 
Ordnung  und  Gliederung  des  historischen  Stoffes  anwandte, 
ist  die  entwicklungsgeschichtliche.  Dabei  sind  für  die  ver- 
schiedenen Gebiete,  die  der  Erkenntnis  geöffnet  werden, 
sollen,  Politik,  Kultur,  Wirtschaft,  Kunst  usw.,  immanente, 
in  dem  Wesen  der  einzelnen  Materien  liegende  und  aus 
ihm  abzuleitende  Entwicklungsfaktoren  in  Anschlag  zu 
bringen.  Der  reflektierende  und  konstruierende  Geist  scheidet 
und  wertet,  um  Entwicklungsprinzipien  herauszustellen, 
die  gleichsam  als  Leitmotiv  bei  der  Durchführung  der  Perio- 
disierung  dienen.  Je  nach  der  Wahl  der  angewandten  Prin- 
zipien und  dem  ihnen  zuerkannten  Bedeutungswert  gestaltet 
sich  die  historische  Einteilung.  Die  Kriterien,  ob  eine  Grup- 
pierung standhält,  schöpft  der  nachprüfende  Geist  daraus, 
ob  das  was  als  die  treibende  Kraft  der  Entwicklung  und 
als  Zielstrebigkeit  angesehen  wird,  sich  durch  die  geschicht- 
lichen Bedingungen  und  Gegebenheiten  als  gerechtfertigt 
erweist.  Immer  wieder  werden  Korrekturen  an  den  Periodi- 
sierungen  im  großen  und  kleinen  vorgenommen,  je  nach- 
dem das  Material  durch  neues  Quellenstudium  erweitert 
und  vertieft  und  neue  Gesichtspunkte  für  die  Art  der  Ein- 
teilung gewonnen  werden.    So  ist  augenblicklich  die  Frage 


252  Werner  Weisbach, 

im  Fluß,  an  welchem  Zeitpunkt  man  den  Anfang  der  Neu- 
zeit ansetzen  soll,  ob  mit  dem  Beginn  der  Reformation 
oder  erst  am  Ende  der  Religionskriege.  Auch  dem  Renais- 
sancebegriff wurden  —  zum  Teil  im  Zusammenhang  damit, 
—  nachdem  er  in  die  historische  Periodisierung  eingeführt 
worden  war,  verschiedene  Bestimmungen  und  Auslegungen 
zuteil,  die,  namentlich  wenn  man  bedenkt,  daß  das  historische 
Bewußtsein  für  die  Epoche  noch  nicht  sehr  weit  zurückreicht, 
recht  beträchtlich  voneinander  abweichen. 

Es  war  bekanntlich  in  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts, 
■daß  aus  dem  geschichtlichen  Verlauf  zwischen  Mittelalter 
und  Neuzeit  eine  Epoche  herausgeschält  und  unter  der  Be- 
zeichnung Renaissance  zusammengefaßt  wurde.  Michelet 
gab  dem  im  Jahre  1855  erschienenen  9.  Bande  seiner  ,,Histoire 
de  France'\  der  das  16.  Jahrhundert  behandelt,  den  Titel: 
La  Renaissance,  Die  entscheidende  Wirkung  für  die  Fixie- 
rung und  Charakterisierung  der  Epoche  ging  aber  von  Jakob 
Burckhardts  „Kultur  der  Renaissance"  (1860)  aus.  Das  Wort 
^yrenaissance''  war  in  Frankreich  längst  in  Gebrauch  und 
kam  in  verschiedenen  Verbindungen  vor:  Renaissance  des 
arts  oder  renaissance  des  lettres.  So  begann,  an  die  fran- 
zösische Tradition  anknüpfend,  Michelet  die  Einleitung  eines 
9.  Bandes:  „Uaimable  mot  de  Renaissance  ne  rappeile  aux 
ümis  du  beau  que  Uavdnement  d'un  art  nouveau  et  le  libre  essor 
de  la  fantaisie.  Pour  rerudit,  c'est  la  renovation  des  etudes  de 
Vantiquite;  pour  les  legistes,  le  jour  qui  commence  ä  luire  sur 
le  discordant  chaos  de  nos  vieilles  coutumes/'  Diesen  ein- 
zelnen Anwendungen  des  Wortes  gegenüber  will  Michelet 
den  Begriff  Renaissance  zu  einer  großen,  Frankreich  sowohl 
wie  Italien  umfassenden  geschichtlichen  Epoche  ausweiten. 
Als  wesentliches  neues  Entwicklungsmoment  dieser  Epoche 
bezeichnet  er:  y,La  decouverte  du  monde,  la  decouverte  de 
r komme/'  Dieses  Charakteristikum  wird  von  Burckhardt 
wörtlich  übernommen;  er  überschreibt  den  vierten  Ab- 
schnitt seines  Werkes:  „Die  Entdeckung  der  Welt  und  des 
Menschen."  Und  in  den  Vorbemerkungen  zu  dem  dritten 
Abschnitt,  in  dem  er  „die  Wiederentdeckung  des  Altertums" 
behandelt,  läßt  er  sich  nachdrücklich  dahin  aus,  daß  nicht 
in  ihr  allein  das  Prinzip  für  die  gestaltende  Entwicklung 


i 


Renaissance  als  Stilbegriff.  253 

der  Epoche  zu  suchen  sei;  sondern  daß  „ihr  enges  Bündnis 
mit  dem  neben  ihr  vorhandenen  italienischen  Volksgeist 
die  abendländische  Welt  bezwungen  hat**.  Burckhardts 
Tat  war  es,  daß  er  die  Kultur,  die  er  unter  dem  Namen 
Renaissance  begriff,  in  ihren  italienischen  Ursprüngen  unter- 
suchte, daß  er  Eigenschaften,  die  sich  aus  den  geschichtlichen 
Bedingungen  Italiens  heraus  entwickelten,  als  Träger  dieser 
Kultur  nachwies.  Ihre  Keime  verfolgte  er  zum  Teil  bis 
weit  ins  Mittelalter  zurück,  z.  B.  für  die  Ausbildung  des 
neuen  Staatsbegriffs  bis  auf  den  Hohenstaufenkaiser  Fried- 
rich 1 1.  Im  allgemeinen  umfaßt  die  von  ihm  charakterisierte 
Epoche  die  Zeit  von  Dante  bis  Michelangelo. 

Der  Umfang  der  für  die  Kultur  der  Renaissance  ange- 
setzten Periode  deckt  sich  nun  aber  nicht  mit  dem  Zeitraum, 
den  der  Kunsthistoriker  Burckhardt  in  seinem  „Cicerone" 
der  Kunst  der  Renaissance  zugewiesen  hat.  Hier  ist  die 
in  den  ersten  Teil  jener  Kulturepoche  fallende  Kunst  in  die 
gotische  Stilperiode  einbezogen,  während  er  die  Renaissance 
in  der  Kunst  mit  dem  Quattrocento  beginnen  läßt. 

Burckhardt  hat,  wie  das  bei  einer  Entdeckung  zu  ge- 
schehen pflegt,  in  seiner  Schilderung  das  Neue,  Moderne, 
das  er  an  der  von  ihm  bearbeiteten  Epoche  gefunden  zu 
haben  glaubte,  besonders  ausgemalt  und  dem  Mittelalter 
gegenüber  in  ein  helles  Licht  gerückt.  Das  Aufleben  der 
Antike  war,  wenn  auch  nicht  als  einziges  Moment,  so  doch 
als  wesentlicher  die  Entwicklung  lenkender  Faktor  für  die 
Charakterisierung  der  Epoche  von  ihm  hingestellt  worden. 
Gleichzeitig  ging  man  auch  von  anderer  Seite  daran,  sich 
über  den  besonderen  Einfluß  der  Antike  auf  das  Geistesleben 
dieser  Zeit  Rechenschaft  zu  geben.  Das  geschah  z.  B.  in 
grundlegender  Weise  durch  das  bekannte,  ein  Jahr  vor  der 
„Kultur  der  Renaissance"  erschienene  Buch  von  Georg 
Voigt:  „Die  Wiederbelebung  des  klassischen  Altertums  und 
das  1.  Jahrhundert  des  Humanismus"  (1859),  dessen  Titel 
noch  eine  deutsche  Umschreibung  des  Wortes  Renaissance 
gibt,  wie  es  bis  in  den  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  üblich 
war;  —  der  Begriff  der  Wiederbelebung  hier  auf  eine  ganz 
bestimmte  Erscheinung  bezogen:  die  Antike.  Es  wurde  denn 
auch   vielfach   Renaissance   einfach   als   Wiedergeburt   der 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  17 


254  Wemer  Weisbach, 

Antike  verstanden,  indem  man  den  in  dem  Wort  liegenden 
Begriff  der  Auferstehung  nur  mit  dem  Altertum  in  Verbin- 
dung brachte. 

Der  neue  Renaissancebegriff  wurde  zunächst  mit  Be- 
geisterung aufgenommen,  befruchtete  Wissenschaft  und 
Literatur,  ging  in  vielfältige  Handbücher  über  und  wurde 
durch  mannigfache  Bearbeitungen  und  Verwässerungen  dem 
Allgemeinbewußtsein  zugeführt.  Nach  geraumer  Zeit  be- 
gann man  jedoch  an  seinen  Grundfesten  zu  rütteln  und  unter- 
zog ihn  von  verschiedenen  Seiten  einer  Revision.  Die  Kritik 
richtete  sich  hauptsächlich  gegen  folgende  Punkte:  gegen 
die  Überschätzung  einer  Beeinflussung  durch  die  Antike, 
gegen  die  Unterschätzung  der  in  der  geschilderten  Epoche 
sich  noch  auswirkenden  mittelalterlichen  Elemente,  gegen 
die  Annahme,  daß  Italien  der  Ursprung  und  wesentlichste 
Träger  der  Entwicklung  der  sogenannten  Renaissance  sei. 

In  seinem  Buche:  ,, Franz  von  Assisi  und  die  Anfänge 
der  Renaissance''  läßt  Thode  die  neue  Kultur  von  einer  gei- 
stigen Bewegung  ausgehen,  die  ihren  Ursprung  in  der  Glau- 
bensinbrunst und  dem  mystischen  Naturgefühl  des  hl. 
Franziskus  habe.  Er  betrachtet  den  Zeitraum  vom  12.  bis 
zum  16.  Jahrhundert,  von  Franz  bis  Michelangelo,  als  eine 
einheitliche  Periode, .  indem  er  die  mystische  Phantasie 
des  Mittelalters  als  das  maßgebende  Entwicklungsmoment 
für  die  Renaissance  ansetzt,  während  Humanismus  und 
Aufnahme  der  Antike  keine  so  wesentliche  Umwälzung 
hervorgerufen  hätten.  Auch  die  Kunstepoche,  die  den 
Namen  Renaissance  zu  tragen  habe,  müsse  man  mit  der 
Verherrlichung  des  hl.  Franz  durch  die  bildenden  Künste 
beginnen  lassen.  Diese  Ideen  werden  von  Thode  weiterhin 
in  der  Einleitung  zum  zweiten  Band  seines  Michelangelo, 
die  die  Überschrift:  „Die  Renaissance*'  führt,  vertreten 
(1903).  Auch  Karl  Neumann  ist  in  seinem  auf  dem  deutschen 
Historikertag  gehaltenen  Vortrag:  „Byzantinische  Kultur 
und  Renaissance-Kultur"  (Stuttgart  1903)  von  der  Theorie 
des  Einflusses  der  Antike  abgerückt  und  beruft  sich  dagegen 
auf  „die  mittelalterliche  christliche  Erziehung  und  das  so- 
genannte Barbarentum  als  die  Lebenskräfte  der  herkömm- 
lich so  bezeichneten  Renaissance."  Daneben  will  er  den  neuen 


Renaissance  als  Stilbegriff.  255 

Realismus,  der  ebenso  im  Norden  wie  im  Süden  der  Alpen 
und  unabhängig  von  der  Antike  aufgekommen  sei,  als  aus- 
schlaggebende Potenz  gewertet  wissen.  Thode,  Neumann 
und  ihre  Gefolgschaft  lassen  also  den  Beginn  der  Kultur 
und  der  Kunst  der  Renaissance  zusammenfallen  und  er- 
klären aus  mittelalterlich-geistigen  und  christlichen  Strö- 
mungen heraus  die  Wendung  zu  einer  neuen  Gedanken- 
und  Formenwelt. 

So  wurde  der  Renaissancebegriff  bald  nach  seiner  Ein- 
führung in  die  geschichtliche  Periodisierung  höchst  labil. 
Historiker  und  Kunsthistoriker  gaben  ihm  je  nach  der  Stel- 
lung, die  sie  zu  den  wesentlichen  Problemen  einnahmen, 
einen  verschiedenen  Sinn  und  Umfang.  Innerhalb  der  all- 
gemeinen Unsicherheit  machte  sich  Adolph  Philippi  in  seinem 
Buche:  „Der  Begriff  der  Renaissance**  (Leipzig  1912)  an 
die  Aufgabe,  eine  Übersicht  über  die  abweichenden  Auf- 
fassungen und  über  die  Entwicklung  des  Begriffs  zu  bieten. 

Bei  der  Nachprüfung  der  durch  Burckhardt  und  seine 
Anhänger  vertretenen  Thesen  kam  man  zweifellos  zu  wert- 
vollen Beobachtungen,  die  das  Bild  der  Renaissance  in  ge- 
wissen Zügen  veränderten  und  bereicherten.  Vor  allem 
wurde  darüber  Klarheit  verbreitet,  daß  gewisse  durchaus 
mittelalterliche  Erscheinungen  als  modern  für  das  Kultur- 
zeitalter der  Renaissance  in  Anspruch  genommen  worden 
waren.  Die  Korrekturen  schössen  aber  in  den  meisten  Fällen 
weit  über  das  Ziel.  Gewiß  war  stellenweise  der  Anschluß 
an  die  Antike  in  der  fraglichen  Epoche  zu  einseitig  heraus- 
geholt worden  und  demgegenüber  wurde  dann  die  Mitwir- 
kung mittelalterlicher  Elemente  und  ihr  Aufgehen  in  der 
neuen  Kultur  richtiggestellt.  Man  übersah  anfangs  über 
heidnischen  Neigungen,  die  sich  an  dem  Kultus  des  Altertums 
nährten,  die  Äußerungen  katholischer  und  mystischer  Fröm- 
migkeit, die,  wenn  auch  nicht  so  stark  hervortretend,  für 
die  Struktur  des  geistigen  Gesamtlebens  doch  höchst  be- 
achtenswert sind.  Man  wurde  sich  klar  über  die  Durchsetzung 
der  neuen  Kultur  mit  ritterlich-höfischen  und  burgundisch- 
französischen  Motiven,  mit  verschiedenen  auf  das  Mittel- 
alter zurückgehenden  schwärmerischen  und  erotischen  Stim- 
mungsmomenten.  Durch  gewisse  romantische  Züge  war  das 

17* 


256  Werner  Weisbach, 

Bild  der  Renaissance  zu  ergänzen,  i)  Zieht  man  aber  auch 
das  alles  in  Betracht,  so  wird  man  zu  dem  Schluß  geführt, 
daß  die  Epoche,  die  unter  den  alle  diese  Symptome  umfassen- 
den Kulturbegriff  fällt,  ihre  zeugenden  Säfte  aus  Italien 
entnimmt  und  mit  dem  14.  Jahrhundert  anhebt. 

Mögen  auch  gewisse  Entwicklungsmomente  im  Norden 
und  im  Süden  die  gleichen  sein,  die  eigentümliche  Durch- 
dringung des  italienischen  Geistes  mit  dem  antiken  Bil- 
dungsstoff, so  daß  daraus  etwas  Neues  und  Modernes  er- 
wächst, die  daraus  entwickelte  Humanitas  als  Grundlage 
eines  neuen  Lebensgefühls  und  Bewußtsein  einer  neuen 
Lebensbestimmung,  das  gibt  dem  geistigen  Phänomen, 
das  uns  als  Renaissance  entgegentritt  und  das  sich  rasch 
über  die  ganze  zivilisierte  Welt  ausdehnte,  doch  erst  seine 
besondere  Prägung.  Abgesehen  davon,  daß  sich  aus  unzäh- 
ligen Beispielen  erweisen  läßt,  daß  die  Zeit  selbst,  in  der  die 
Kultur  blühte,  das,  was  als  eigentlich  modern  empfunden 
wurde,  dort  sah,  wo  ein  mehr  oder  weniger  deutliches  Mit- 
schwingen antiker  Anklänge  herausgefühlt  wurde,  können 
auch  wir  Rückschauende  nicht  umhin,  die  Rezeption  des 
Altertums  als  einen  wesentlichen  Entwicklungsfaktor  an- 
zuerkennen. Wenn  man  dem  entgegenhält,  daß  während 
des  ganzen  Mittelalters  die  Antike  nicht  aus  dem  Gesichts- 
kreis der  europäischen  Welt  getreten  ist,  so  ist  der  Nach- 
druck vielmehr  darauf  zu  legen,  daß  im  Mittelalter  sich  die 
antiken  Erinnerungen  mehr  unter  der  Oberfläche  fort- 
spinnen, dem  spezifisch  mittelalterlichen  Empfinden  völlig 
angeglichen  und  unterworfen  werden  und  nur  wenig  in 
das  Bewußtsein  einer  größeren  Allgemeinheit  treten.  Seit 
dem  Erscheinen  des  Humanismus  aber  wird  die  Antike 
ein  konstruktives  Element  für  den  Aufbau  einer  geistigen 
und  formalen  Anschauung,  mit  dem  in  ganz  zielbewußter 
Weise  operiert  wird.  Sie  wird  ein  allgemeines  Ideal,  Gegen- 
stand einer  phantastischen  Sehnsucht  und  Quelle  für  eine 


^)  Vgl.  Weisbach,  Francesco  Pesellino  und  die  Romantik  der 
Renaissance,  Berlin  1901.  —  Petrarca  und  die  bildende  Kunst,  Re- 
pertor.  für  Kunstwiss.  XXVI,  1903,  S.  265.  —  Botticellis  „Primavera" 
und  die  antikisierende  Romantik,  Jahrb.  d.  Kgl.  Preuß.  KunstsammL 
XXIX,  1908,  S.  5ff. 


Renaissance  als  Stilbegriff.  257 

vernunftgemäße  Erkenntnis.  Man  bildet  an  ihr  Maßstäbe 
für  Denken,  Dichten,  Bilden  und  Leben.  Dazu  kommt,  daß 
für  den  italienischen  Humanismus  die  Erweckung  des  Alter- 
tums zugleich  eine  Anknüpfung  an  eine  eigene  große  Ver- 
gangenheit bedeutete,  deren  Höhepunkt  in  dem  alten  Rom 
lag.  Das  Zurückgreifen  auf  die  Antike  und  das  Selbstgefühl 
des  nationalen  Geistes  stand  in  Wechselwirkung.  Der  Ein- 
schnitt liegt  zwischen  Dante  und  Petrarca.  Neigt  sich  Dantes 
Weltanschauung  und  Ausdrucksweise  noch  nach  der  mittel- 
alterlichen, christlich-symbolischen,  scholastischen  und  my- 
stischen Seite,  so  daß  die  antiken  Bestandteile  nur  als  In- 
gredienz erscheinen,  so  tritt  in  Petrarca  —  bei  allem  Mittel- 
alterlich-Romantischen und  Troubadourmäßigen  in  einem 
Teil  seines  Dichtens  und  Empfindens  —  schon  deutlich  das 
neue  Ideal  heraus,  das  ihm  aus  seiner  Vorstellung  von  der 
Antike  aufsteigt  und  dessen  Verwirklichung  er  das  größte 
Maß  seiner  Kraft  widmet.  Der  Grundstein  der  Renaissance 
scheint  gelegt,  wenn  er  in  seinem  Brief  an  Colonna  das  Alter- 
tum als  das  Reich  seiner  Sehnsucht  zeichnet  und  dem  eige- 
nen elenden  Jahrhundert  entgegenhält,  wenn  er  bekennt: 
„daß  ich  mir  selber  schreibe  und  beim  Schreiben  begierig 
mit  unseren  Ahnen  verkehre  auf  die  einzig  mögliche  Art, 
und  die,  mit  denen  mich  ein  übles  Gestirn  zu  leben  zwingt, 
mehr  als  gern  vergesse.  Und  darin  brauche  ich  alle  meine 
Kräfte,  daß  ich  die  fliehe,  jenen  nachfolge.  Denn  wie  der 
Anblick  dieser  mich  schwer  bedrückt,  so  erheben  mich  jener 
Andenken,  großherzige  Taten  und  hehre  Namen  unglaublich 
und  ohnmaßen  angenehm.  Wenn  alle  dieses  Gefühl  kannten, 
würde  es  viele  zum  Staunen  zwingen,  was  das  ist,  das  mich 
so  viel  lieber  mit  Toten  als  mit  Lebenden  unterhalten  läßt. 
Denen  könnte  zur  Antwort  dienen,  daß  jene  leben,  die  wacker 
und  ruhmreich  ihre  Tage  beschlossen  haben. i) 

Man  muß  sich  denken,  daß  das,  was  von  der  Epoche, 
die  wir  Renaissance  nennen,  als  das  ihr  Zeitgemäße  und  der 
Vergangenheit  gegenüber  Moderne  empfunden  wurde,  ein 
für  uns  nicht  weiter  definierbares  Etwas  war,  das  gleichsam 


W      ^)  Vgl.  Borinski,  Die  Antike  in  Poetik  und  Kunsttheorie,  Leip. 
zig  1914,  S.  104. 


258  Werner  Weisbach, 

in  und  über  den  Dingen  schwebte  und  alle  geistigen  Äuße- 
rungen infiltrierte.  Wer  die  90  er  Jahre  des  vorigen  Jahr- 
hunderts jung  durchlebt  hat,  mag  sich  zurückrufen,  wie  man 
auf  die  damalige  „moderne"  Literatur  und  Kunst  sozusagen 
instinktmäßig  reagierte,  ohne  sich  in  jedem  Fall  gleich  über 
das  Besondere  und  Neuartige  begrifflich  klar  werden  zu 
können.  Und  wenn  Lorenzo  de'Medici  seine  antikischen 
Trionfi  durch  die  Straßen  von  Florenz  führte,  in  denen  er 
sein  und  seiner  Zeit  Ideal  bildlich-anschaulich  verwirklichte, 
so  sog  das  ganze  dem  Schaugepränge  zueilende  und  zujubelnde 
Volk  etwas  von  dem  ihm  entströmenden  Hauche  ein.^) 

In  dem  als  Renaissance  zu  bezeichnenden  kulturellen 
Komplex  muß  also  das  humanistische  Element  —  wie  man 
es  nun  einmal  nennen  mag  —  als  das  eigentlich  fundamentale 
und  formierende  angesprochen  werden.  Alle  bisherigen 
Versuche,  etwas  anderes  an  seine  Stelle  zu  setzen,  dürfen 
doch  wohl  als  mißglückt  bezeichnet  werden.  Mit  seinem  an- 
tiken Einschlag  hat  sich  das  national-italienische  Phänomen 
zu  seiner  welthistorischen  Aufgabe  ausgewachsen  und  fand 
überall  offene  Türen,  da  es  einem  Zeitbedürfnis  entgegen- 
kam. Der  Humanismus  hat  Waffen  geschmiedet  sowohl 
für  die  Reformation  wie  für  die  Gegenreformation.  Die 
Renaissance,  eine  ursprünglich  italienische  Schöpfung, 
wurde  ein  internationales  Bindeglied  für  alle  nationalen 
Kulturen.  Durch  den  Humanismus  des  14.  und  15.  Jahr- 
hunderts wurden  die  Sinne  gebildet  und  empfänglich  ge- 
macht für  das  was  als  ein  moderner  Zeitgeist  allenthalben 
seine  Flügel  regte.  In  seinem  anmaßenden  Selbstgefühl 
hat  dieser  Humanismus  dann  auch  die  Theorie  aufgestellt, 
nach  der  die  Periode  zwischen  dem  Fall  des  antiken  Rom  und 
seinem  eigenen  Aufkommen  als  eine  „barbarische*'  und 
„gotische**  der  Geringschätzung  preisgegeben  wurde. 

Man  hat  nun  aber  kürzlich  gemeint^):  der  humanistische 
Geist  habe  nur  in  einer  aristokratischen  Minorität  Fuß  ge- 
faßt und  könne  deshalb  nicht  zu  einem  allgemeinen  kultur- 

1)  Ausführlicheres  darüber  in  meinem  Buche:  Trionfi.  Berlin, 
Grote.  1919. 

2)  Carl  Neumann,  Gedanken  über  Jakob  Burckhardt,  Deutsche 
Rundschau,  Mai  1918,  S.  241  ff. 


Renaissance^  als  Stilbegriff.  259 

bildenden  Faktor  erhoben  werden.  Schon  der  Ausdruck 
„aristokratische  Minorität"  ist  hier  irreführend.  Die  Hu- 
manisten setzten  sich  aus  den  verschiedensten  Kreisen  bis 
zu  den  niederen  Volksschichten  zusammen  und  wirkten 
nach  unten  wie  nach  oben.  (Eine  Folge  des  Humanismus 
war  ja  auch,  daß  im  16.  Jahrhundert  bürgerliche  Laien  in 
allen  Ländern  an  den  Höfen  als  Beamte  eintraten.)  Wenn 
sie  sich  selbst,  nachdem  sie  es  zu  etwas  gebracht  hatten, 
in  eine  geistige  Aristokratie  einordneten,  so  besagt  das  doch 
nichts  gegen  die  allseitigen  Einflüsse,  die  von  ihnen  ausgingen. 
Der  Humanismus  beherrschte  nicht  nur  die  Fürstensitze 
und  eroberte  sich  die  Kirche  —  das  geistige  Fluidum,  das  durch 
ihn  erzeugt  wurde,  sickerte  überallhin  durch;  es  berührte 
die  Künstler  und  die  Handwerker,  die  für  alle  Kreise  ar- 
beiteten. 
y^k  Man  hat  sich  in  letzter  Zeit  nun  aber  auch  die  Frage 
'^^orgelegt,  wie  sich  die  in  dem  Begriff  Renaissance  liegende 
Wortbedeutung  zu  der  ihm  zugeschriebenen  Sachbedeutung 
verhält,  ferner  in  welcher  Beziehung  der  so  bezeichnete 
Kulturbegriff  zu  dem  Kunst-  oder  Stilbegriff  steht  —  dem 
letzteren  Problem  gilt  ja  unsere  besondere  Aufmerksamkeit. 
Da  die  beiden  Punkte  in  engem  Zusammenhang  miteinander 
stehen,  so  wollen  wir  zunächst  kurz  die  Wort-  und  Begriffs- 
geschichte bis  in  ihre  Ursprünge  zurückverfolgen,  indem  wir 
hon   Bekanntes  durch  neue   Belege  ergänzen. 

Das  heute  allgemein  gebrauchte  französische  Wort 
Renaissance  ist  eine  Übersetzung  des  italienischen  rinascita, 
das  Vasari  in  seiner  pragmatischen  Konstruktion  einer  Ge- 
schichte der  bildenden  Kunst  auf  diese  anwandte.  Infolge 
der  hohen  Geltung  und  weiten  Verbreitung  von  Vasaris 
Viten  hat  der  Begriff  rinascita  in  der  ihm  hier  zugewiesenen 
Bedeutung  auf  lange  hinaus  allenthalben  die  Anschauung 
bestimmt.  Das  religiöse  Bild  der  Wiedergeburt,  dessen  Be- 
deutungswandel Burdach  1)  von  dem  Mittelalter  her  nach- 
gegangen ist,  wurde  von  Vasari  auf  eine  künstlerische  Er- 
scheinung seines  Vaterlandes  übertragen.    Im  letzten  Ab- 

^)  Sinn  und  Ursprung  der  Worte  Renaissance  und  Reformation. 
Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  1910, 
XXX  iL 


260  Werner  Weisbach, 

schnitt  der  Einleitung  zu  seinen  Künstlerbiographien  ent- 
schuldigt er  sich,  daß  er  sich  vielleicht  zu  lange  bei  den 
Anfängen  (bis  zur  Mitte  des  13.  Jahrhunderts)  aufgehalten 
habe.  Es  sei  geschehen,  um  zu  zeigen,  wie  die  Kunst  von  der 
hohen  Stufe,  die  sie  zur  Zeit  der  Antike  einnahm,  in  tiefen 
Verfäll  geraten  sei.  Wie  der  menschliche  Körper  so  habe 
Kunst  ihre  Geburt,  ihr  Wachsen,  Altern  und  Tod.  Er  habe 
es  getan,  damit  die  Künstler  „potranno  ora  piü  facilmente 
conoscere  il  progresso  della  sua  rinascita,  e  di  quella  stessa 
perfezione  dove  ella  i  risalita  ne'  tempi  nostrV\  Und  dann  geht 
er  zu  Cimabue  und  den  Meistern  der  zweiten  Hälfte  des 
13.  Jahrhunderts  über.  Gemeint  ist  hier,  wie  sich  aus  dem 
Zusammenhang  ergibt,  der  nationale  Aufschwung  der  italie- 
nischen Kunst,  nachdem  sie  das  byzantinische  Joch,  die 
maniera  greca,  abgeschüttelt.  In  der  nationalen  Erhebung, 
die  Italien  von  dem,  was  als  fremd  und  gegensätzlich  empfun- 
den wird,  befreit,  sieht  Vasari  einen  neuen  Anfang. 

Rinascita  ist  nun  aber  bei  ihm  nicht  ein  Begriff,  durch 
den  eine  bestimmte  Erscheinung  in  eindeutiger  Weise  um- 
schrieben wird.  Er  hat  schon  die  ihm  als  die  national  italie- 
nisch geltende  Kunst  von  Cimabue  und  Giotto  bis  auf  seine 
Tage  in  verschiedene  Abteilungen  zerlegt.  Indem  er  sein 
großes  biographisches  Werk  in  drei  Abschnitte  teilt,  gliedert 
er  es  nach  drei  Perioden,  die  etwa  unseren  heutigen  Begriffen 
des  Trecento,  der  Frührenaissance  und  der  Hochrenaissance 
entsprechen.  Er  beschließt  den  ersten  Teil  seiner  Biogra- 
phien mit  dem  Leben  des  Lorenzo  di  Bicci,  ,,weil  er  der  letzte 
von  den  Meistern  war,  der  in  der  alten  Manier  Giottos  malte**. 
Und  dann  erzählt  er  im  zweiten  Teil  von  der  Arbeit  Masolinos 
in  der  Brancacci-Kapelle,  daß  sie  so  hoch  geschätzt  wurde 
wegen  ihrer  Neuheit,  wegen  der  Beobachtung  von  vielem, 
das  gänzlich  außerhalb  der  Manier  Giottos  lag.  Masaccio 
ist  für  ihn  der  Begründer  einer  neuen  Kunst,  weil  er  in  ein 
anderes  Verhältnis  zur  Natur  trat:  „Er  räumte  gänzlich  auf 
mit  der  Manier  Giottos  in  den  Köpfen,  Gewandungen, 
Baulichkeiten,  im  Nackten,  im  Kolorit  und  in  den  Verkür- 
zungen, schuf  das  alles  neu  und  führte  jene  „maniera  mo- 
der  na'*  ein,  welcher  von  damals  bis  heute  alle  unsere  Künst- 
ler folgten."  Ja,  er  rühmt  sogar  von  ihm:  „So  modern  war 


i 


Renaissance  als  Stilbegriff.  26| 

er  den  anderen  gegenüber  in  Linienführung  und  Malweise, 
daß  seine  Werke  sicherlich  den  Vergleich  mit  jeder  heutigen 
modernen  Arbeit  in  Zeichnung  und  Kolorit  aushalten." 
Und  wieder  taucht  das  Wort  rinascita  auf.  Am  Schluß 
der  Einleitung  zum  zweiten  Teile  der  Viten  wird  von  Ma- 
saccio  rühmend  hervorgehoben,  daß  ihm  die  Malerei  ihre 
„nuöva  rinascita'*  verdanke. 

Eine  präzise  Begriffsbildung  darf  man  bei  Vasari  nicht 
suchen.  Ebenso  wie  rinascita  finden  wir  auch  den  Begriff 
maniera  moderna  in  wechselnder  Bedeutung. i)  Er  versteht 
darunter  einmal  die  auch  von  seiner  Zeit  noch  gegenüber 
dem  Trecento  als  modern  empfundene  Kunst,  deren  Beginn 
er  etwa  um  1400  ansetzt,  und  dann  die  Kunst  seiner  eigenen 
Epoche,  die  den  von  der  Hochrenaissance  aufgestellten 
Idealen  folgt  und  besonders  in  Michelangelo  ihren  Heros 
sieht,  die  terza  maniera  in  seiner  Einteilung,  die  er  in  beson- 
derem Sinne  „/a  moderna**  nennen  will. 

Die  ganze  national-italienische  Entwicklung,  der  das 
Byzantinische  und  das  Gotische,  die  maniera  greca  und  die 
maniera  tedesca  oder  gotica,  entgegengesetzt  wird,  sucht 
Vasari  nun  aber  in  einen  gewissen  Zusammenhang  mit  dem 
Einfluß  der  Antike  zu  bringen.  Er  sieht  einen  Hauptgrund 
dafür,  daß  diese  Entwicklung  überhaupt  zustande  kam, 
für  den  Aufschwung  der  italienischen  Kunst  nach  1250,  darin, 
daß  die  Künstler  dazu  übergingen,  die  Antiken  nachzuahmen. 
Von  Niccolö  Pisano  an  beobachtet  er  ein  Zurückgreifen  auf 
die  Antike.  Brunelleschi  ist  ihm  der  große  Bahnbrecher, 
weil,  er  in  der  Architektur  die  maniera  tedesca  überwunden 
und  durch  Anschluß  an  das  Altertum  einen  neuen  Stil  ins 
Leben  gerufen  habe.  Die  Grundidee  ist  die  humanistische^ 
daß  sich  die  italienische  Kunst  durch  Anknüpfung  an  ihre 
eigene  antike  Vergangenheit  erneuert  hat. 

Dem  Trecento  steht  Vasari  schon  sehr  fremd  gegenüber. 
Er  kann  natürlich  nicht  zu  seinem  vollen  Verständnis  ge- 
langen, wenn  er  einerseits  seine  gotische  Architektur  ver- 

1)  über  die  Verwendung  des  Begriffs  „modern"  in  der  italienischen 
Quellenliteratur  vgl.  Julius  v.  Schlosser,  Materialien  zur  Quellen- 
kunde der  Kunstgeschichte.  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie 
der  Wissenschaften,  Heft  1,  1914,  S.  98;  Heft  2,  1915,  S.  13,  38. 


262  Werner  Weisbach, 

urteilt  und  anderseits  in  Malerei  und  Plastik  die  Anfänge 
der  nationalen  Entwicklung  sehen  will.  Aber  für  die  Unter- 
scheidung quattrocentistischer  und  cinquecentistischer  Kunst 
hat  er  schon  recht  wesentliche  Merkmale  aufgestellt. 

Die  eine  in  Vasaris  Begriff  der  rinascita  liegende  Vor- 
stellung von  dem  Erwachen  der  national-italienischen  Kunst 
ist  lange  vor  ihm  verbreitet  und  lebt  schon  in  dem  Bewußt- 
sein des  Trecento.  Boccaccio,  den  Sinn  von  Dantes  „5fr7 
nuovo''  auf  die  bildende  Kunst  übertragend,  sagt  von  Giotto, 
er  habe  die  Kunst  wieder  dem  Lichte  zurückgegeben,  i) 
Ghiberti  braucht  dafür  in  seinen  Kommentarien  das  Bild 
des  Aufstiegs.  In  dem  ersten  Abschnitt  des  zweiten  Kommen- 
tars schreibt  er:  Cominciö  Carte  della  pittura  a  sormontare 
in  Etruria  — und  zwar  durch  die  Geburt  Giottos.  Während 
Cimabue  nur  ganz  kurz  als  Lehrer  Giottos  erwähnt  wird, 
heißt  es  von  diesem :  Arrechö  Varte  nuova,  lasciö  la  rogeza  de' 
Oreci;  sormontö  excellentissimamente  in  Etruria.  Giotto 
ist  hier  also  der  Schöpfer  der  neuen  Kunst,  der  den  Byzan- 
tinismus überwindet.  Ghiberti  fühlt  sich  selbst  noch  ganz 
innerhalb  der  Tradition  der  Kunstrichtung  stehend,  die  ihren 
Aufschwung  mit  Giotto  genommen  hat.  Er  gibt  in  dem  zwei- 
ten Kommentar  einen  Abriß  der  Künstlergeschichte  des 
Trecento,  der  mit  seiner  Selbstbiographie  endigt. 

Der  Einfluß  der  Antike  als  Ursache  und  Begleiterschei- 
nung für  die  Ausbildung  des  neuen  Stils  kommt  hier  noch 
gar  nicht  zur  Sprache.  Durch  die  humanistische  Literatur 
ist  das  im  Laufe  des  15.  Jahrhunderts  immer  mehr  in  den 
Vordergrund  gerückt  worden.  Vasari  hat  dann  die  allgemein 
aufgenommene  Formel  dafür  geprägt.  Sein  Begriff  der 
rinascita  umfaßt,  wie  wir  sahen,  zugleich  die  Wiedergeburt 
der  italienischen  Kunst  und  die  Wiedergeburt  der  Antike. 

Bei  der  Autorität,  die  sich  Vasaris  Werk  errang,  wanderte 
der  Begriff  durch  die  ganze  gebildete  Welt,  indem  das  Wort 
rinascita  in  die  verschiedenen   Sprachen  übersetzt  wurde. 


^)  Ausführlich  ist  dieses  ganze  Thema  behandelt  bei  Julius  von 
Schlosser,  Ghibertis  Denkwürdigkeiten,  Kunsthistor.  Jahrbuch  der 
k.  k.  Zentral- Kommission  1910,  S.  122ff.  und  im  2.  Bande  seiner 
Ausgabe  der  Denkwürdigkeiten,  Berlin  1912. 


m 


Renaissance  als  Stilbegriff.  263 

Bald  wurde  die  eine,  bald  die  andere  der  beiden  Sinnüancen 
hervorgekehrt.  Man  trug  auch  kein  Bedenken,  die  Wieder- 
geburt der  italienischen  Kunst  als  die  Wiedergeburt  der  Kunst 
überhaupt  aufzufassen. 

Als  Beispiel,  wie  fest  sich  die  Vorstellung  einwurzelte, 
daß  die  Entdeckung  der  Überreste  des  Altertums  in  unmittel- 
barem Zusammenhang  mit  dem  rinascere  der  Kunst  stand, 
mag  folgende  Stelle  in  einem  Briefe  des  genuesischen  Malers 
Gio.  Battista  Paggi  vom  Jahre  1590  dienen:  .  . . .  non  si 
tosto  si  cominciarono  in  Roma  a  cavare  dalla  terra  le  sepolte 
Statue  antiche,  che  Varte  con  esse  a  rinascere  tornö,  stante 
Vosservazione  e  studio,  che  gli  uomini  sopra  d'esse  a  farne 
intrapresero.  ^) 

Vasaris  Gedanken  des  Auflebens  der  Kunst  im  Gegen- 
tz  zu  der  vorhergehenden  Barbarei  sehen  wir  übernommen 
in  Sandrarts  „Teutscher  Akademie".  Der  erste  Abschnitt 
des  Abrisses  der  italienischen  Kunstgeschichte  trägt  die 
Überschrift:  „Wiedergeburt  der  Mal-Kunst  in  Italien", 
und  im  Text  heißt  es  von  Cimabue:  daß  er  sie  gleichsam 
wiedergeboren  habe  —  ohne  daß  hier  irgendwie  auf  die  An- 
tike angespielt  würde.  Als  Programm  für  diesen  Teil  seines 
Werkes  hat  Sandrart  auch  am  Ende  der  Vorrede  hinge- 
stellt, daß  er  von  den  Künsten  erzählen  wolle,  wie  sie  „aus 
dem  Grabe  einer  verächtlichen  Vergessenheit  wieder  hervor- 
gekrochen und  je  länger  je  höher  kommen".  Daß  seine  Kunst- 
betrachtung stark  von  Vasari  abhängig  und  klassizistisch 
orientiert  ist,  ist  ja  zur  Genüge  bekannt. 

Bei  Baldinucci  finden  wir  das  Wort  risorgimento 
in  demselben  Sinne  wie  Vasaris  rinascita  gebraucht.  Es 
sei  auf  seine  „Letter a  a  Lor.  Gualtieri  Fiorentino  sopra  i 
pittori  piü  celebri  del  sec.  XV T'^)  verwiesen,  wo  er  den  Aus- 
druck auf  die  Malerei  bezieht  in  dem  Sinne  ihres  Auflebens 
in  den  modernen  Zeiten.  Er  spricht  dort  von  Andrea  del 
Sarto  als  dem  bedeutendsten  Maler,  ,,che  giammai  ne' 
moderni  secoli,  e  dopo  il  suo  risorgimento,  avesse  Varte 


1)  Bottari,  Lettere  pittoriche  VI,  S.  90,  Guhl-Rosenberg,  Künstler- 
briefe II,  S.  42. 

2)  Opere  Bd.  14,  Mailand  1812,  S.  275. 


264  Werner  Weisbach, 

della  pittura,**  Auch  der  Ausdruck  rinnovamento  erhält 
den  gleichen  Sinn,  so  in  Ticozzis  Titel  seines  Maler-Lexikons: 
Dizionario  dei  pittori  del  rinnovamento  delle  belle  arti  fino  al 
1800  (Mailand  1818). 

In  Frankreich  begegnet  uns  das  Wort  renaissance  in 
der  Bedeutung  von  Vasaris  rinascita  im  18.  Jahrhundert. 
Voltaire  im  „Essai  sur  les  moeurs  et  Vesprit  des  nations'* 
(1756)  hat  seine  Auffassung  von  der  ,y Renaissance  des  arts*' 
offenbar  im  Anschluß  an  die  Vasari-Tradition  gebildet; 
es  heißt  bei  ihm:  Brunelleschi  commenga  äreformer  Varchi- 
tecture  gothique.^)  Barth^lemy,  der  Verfasser  des  .yVoyage 
du  jeune  Anacharsis  en  Grke'\  —  neben  Winckelmann  ein 
Verkünder  des  neuen  hellenischen  Ideals  und  ein  begeisterter 
Bewunderer  Italiens  —  schreibt  am  23.  Oktober  1755  aus 
Florenz:  „Nous  voilä  enfin  ä  Florence,  la  patrie  de  Dante, 
et  de  Michel'Ange,  la  capitale  des  arts  dans  leur  renais- 
sance''. 

Im  Deutschen  bediente  man  sich  verschiedener  Umschrei- 
bungen für  die  Ausdrücke  rinascita  oder  renaissance, 

Herder  legte  in  seiner  Schrift:  „Auch  eine  Philosophie 
der  Geschichte  zur  Bildung  der  Menschheit'*  folgende  hym- 
nische Paraphrase  nieder:  „Endlich  folgte,  wie  wir  sagen, 
die  Auflösung,  die  Entwicklung;  lange  ewige  Nacht  klärte 
sich  in  Morgen  auf;  es  ward  Reformation,  Wiedergeburt  der 
Künste,  Wissenschaften,  Sitten!  —  die  Hefen  sanken; 
und  es  ward  unser  Denken!  Kultur!  Philosophie!  On 
commengait  ä  penser  comme  nous  pensons  aujourd'fiui:  on 
n'etait  plus  barbare/' 

Herder  hatte  keine  starke  sinnliche  Anschauung  von 
bildender  Kunst,  wie  aus  seinen  Briefen  aus  Italien  zur  Ge- 
nüge hervorgeht.  Was  ihn  im  Süden  am  meisten  bewegt, 
sind  die  Natureindrücke.  In  Rom  fühlte  sich  sein  vorwiegend 
reflektierender  und  forschender  Geist  durch  die  Vielheit 
der  auf  ihn  einstürmenden  Neuigkeiten  erdrückt.  „Es 
bleibt  indessen  auch  für  mich  ein  Grabmal,  aus  dem  ich  mich 
allmählich  herauswünsche",  schreibt  er  einmal. 


1)  Vgl.  Adolf  Phiiippi.  Begriff  der  Renaissance  S.  88. 


Renaissance  als  Stilbegriff.  265 

Mit  einem  ganz  andern  Sinn  und  Vorsteilungsvermögen 
für  Kunst  ging  Goetfie  nach  Italien.  Er  hatte  eine  bestimmte 
Anschauung  von  dem,  was  „Wiederherstellung"  und 
„Auflebung**  der  Kunst  bedeutete,  die  in  Italien  geklärt  und 
befestigt  wurde.  „Am  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  hatte 
sich  der  Geist  der  bildenden  Kunst  völlig  aus  der  Barbarei 
des  Mittelalters  emporgehoben**,  sagt  er  in  der  „Italienischen 
Reise**  (am  Ende  der  Betrachtung  über  Filippo  Neri).  Die 
beiden  vorher  genannten  Umschreibungen  von  rinascita 
und  renaissance  kommen  in  demselben  Werke  vor.  Als  er 
von  seinem  Besuch  bei  D'Agincourt  erzählt,  heißt  es,  daß 
dieser  „seine  Zeit  und  sein  Geld  anwendet,  eine  Geschichte 
der  Kunst  von  ihrem  Verfall  bis  zur  Auflebung  zu  schreiben** 
(Italienische  Reise,  Teil  II,  27.7.  1787). 

Endlich  sei  noch  die  Äußerung  eines  bildenden  Künst- 
lers angemerkt.  Der  junge  Schinkel  notierte  1803  in  seinem 
italienischen  Tagebuch  i):  „Man  bemühte  sich  bisher,  ent- 
weder die  Momente  griechischer  und  römischer  Zeit,  oder 
ein  Gebäude  aus  den  Zeiten  des  Wiederauflebens  der 
Künste  tausendfach  zu  bearbeiten**  —  dem  er  das  Mittel- 
alterliche gegenüberstellt,  für  das  er  sich  viel  mehr  inter- 
essieren will. 

Damit  stehen  wir  schon  mitten  in  der  Romantik. 

Mit  dem  Begriff  einer  durch  die  Antike  gespeisten 
Kunst  der  rinascita,  renaissance,  Wiedergeburt  war  nun 
von  Anfang  an  der  Begriff  einer  modernen  Kunst  verklam- 
mert. Wir  haben  Begriff  und  Wort  schon  bei  Vasari  auftreten 
sehen.  Die  Sinnbedeutung  „modern**  erscheint  in  einem 
doppelten  Gegensatz:  entweder  zu  der  Antike  oder  zu  der 
„barbarischen**  und  „gotischen**  Kunst.  So  schreibt 
Michelangelo  in  jenem  Briefe,  in  dem  er  sein  abschätziges 
Urteil  über  Sangallos  Modell  von  St.  Peter  fällt:  „Teneva 
molto  piü  delV  opera  tedesca,  che  del  buon  modo  antico,  o  della 
vaga  e  bella  maniera  moderna.''  Diese  Antithese  lebt  fort 
bis  in  den  Anfang  des  19.  Jahrhunderts,  wie  durch  ein  paar 
Beispiele  erläutert  werden  mag.  Wenn  Rubens  in  der  Vor- 
rede zu  seinen  „Palazzi  di  Genova'' (1622)  schreibt:  „Wir  sehen 


1)  Ausgabe  von  Ziller  S.  2Z 


266  Werner  Weisbach, 

in  unseren  Gegenden  den  Baustil,  den  man  barbarisch 
oder  gotisch  nennt,  langsam  verkümmern  und  verschwinden; 
wir  sehen  einige  gebildete  Geister  zu  größerer  Ehre  und  Ver- 
schönerung unseres  Vaterlandes  die  wahre  Regelmäßigkeit 
einführen,  welche  die  von  den  alten  Griechen  und  Römern 
aufgestellten  Regeln  befolgt ..."  so  gibt  das  eine  Vorstellung 
von  dem,  was  er  für  seine  Zeit  als  modern  angesehen  wissen 
will.  In  demselben  Sinne  gibt  der  holländische  Architekt 
Salomon  de  Bray  seiner  Veröffentlichung  von  zeitgenössi- 
schen Bauwerken  den  Titel:  „Architedura  Moderna  ofte 
Boüwinge  van  onsen  tyV  (1631)  und  bezeichnet  die  früher 
in  seinem  Vaterland  gepflegte  Architektur  als  eine  sehr 
barbarische,  von  dem  Räubervolk  der  Goten  und  Vandalen 
abstammende  Erfindung.  Und  höchst  bezeichnend  ist  es, 
daß  uns  diese  Anschauung  auch  noch  im  Jahre  1811  entgegen- 
tritt in  einer  Eingabe,  welche  die  italienischen  Künstler 
unter  Mitwirkung  von  Canova  an  Napoleon  richteten,  um 
Widerspruch  gegen  die  Niederlegung  des  Palazzetto  Venezia 
zu  erheben,  die  geplant  war,  um  den  Corso  bis  zum  Kapitol 
weiterzuführen.  Der  Palast  wird  hier  genannt:  Prezioso 
anello  che  lega  il  gusto  barbaro  col  moderno.^) 

Durch  die  Romantik  erhielt  der  Begriff  „modern'*' 
eine  neue  Sinnüance.  Zu  den  beiden  großen  Kunstkomplexen 
der  Antike  und  der  Wiederauflebung  trat  nun  ein  dritter: 
das  neuentdeckte  Mittelalter.  Was  bisher  als  barbarisch 
und  gotisch  verachtet  war,  gewann  ein  hohes,  ja  zum  Teil 
ausschließliches  Interesse  und  genoß  eine  enthusiastische 
Verehrung.  Der  einstmals  gänzlich  dunkle  Zwischenraum 
wurde  mehr  und  mehr  mit  Anschauungsbildern  gefüllt. 
Der  Begriff  „modern**  wurde  auf  das  Mittelalterlich-Roman- 
tische bezogen.  Wenn  die  romantische  Kunstanschauung 
für  die  Malerei  moderne  Stoffe  forderte,  so  verstand  sie 
darunter  mittelalterlich-romantische  und  christlich-mytho- 
logische. Damit  nahm  sie  zugleich  auch  eine  oppositionelle 
Stellung  gegen  die  Kunst  der  Wiederauflebung  ein,  an  welcher 
man  ein  seelisches  Gefühl,  wie  man  es  zum  Ausdruck  ge- 
bracht zu  sehen  wünschte,   und  eine  wahrhaft  christliche 


1)  Dengel,  Palazzo  di  Venezia,  Wien  1909,  S.  139. 


I 


I  Renaissance  als  Stilbegriff.  267 

Gesinnung  vermißte.  Die  von  der  Antike  berührte  Kunst 
erschien  in  ihrer  klassischen  Vollendung  als  kalt  und  heid- 
nisch. Diese  Auffassung  war  nicht  nur  in  dem  „romantischen" 
Deutschland,  von  wo  die  neue  Bewegung  ausging,  sondern 
auch  in  Frankreich  im  Schwange.  Der  bekannte  franzö- 
sische Politiker  und  Kunstfreund  Montalembert  schreibt 
in  seinem  Aufsatz:  Du  Vandalisme  en  France  (1833)^): 
,yUn  catholique  doit  deplorer  plus  qu'un  autre  le  goüt  faux, 
ridicule,  paien,  qui  s'est  introduit  depuis  la  renaissance  dans 

les  constructions  et  restaurations  ecclesiastiques'' womit 

die  späteren  klassischen  Zutaten  zu  mittelalterlichen  Bau- 
werken gemeint  sind.  Hatte  man  früher  die  Kunst  der  Re- 
naissance in  ihrer  Gegensätzlichkeit  zu  dem  als  barbarisch 
empfundenen  Mittelalter  gewertet  und  als  höchsten  Wert 
neben  der  Antike  anerkannt,  so  verblaßte  sie  neben  dem 
Mittelalter  für  die  Romantik,  die  sich  bemühte,  alle  ihre 
negativen  Eigenschaften  ans  Licht  zu  ziehen. 

Aus  den  vorhergehenden  Betrachtungen  läßt  sich  nun 
eine  wichtige  Schlußfolgerung  ziehen.  Wenn  Worte  wie 
Renaissance  oder  Wiederauflebung  anklangen,  so  löste  das 
zweifellos  in  der  Vorstellung  von  Künstlern,  Kunstkennern 
und  Kunstfreunden  das  Bild  einer  bestimmten  Art  von 
Kunst  aus,  deren  Besonderheit  in  ihrer  Berührung  mit  an- 
tikem Geiste  lag.  Durch  das  Vorhandensein  eines  reichen 
und  allbekannten  Monumentenschatzes  konnte  eine  solche 
Anschauung  immer  lebendig  gehalten  werden.  Man  wußte, 
was  gemeint  war,  wenn  man  jene  Worte  hörte  oder  las  — 
so  wie  wenn  heute  von  Empirestil  oder  Impressionismus 
gesprochen  wird.  Es  war  aber  im  wesentlichen  die  Kunst- 
form des  Cinquecento,  was  man  dem  Begriff  unterstellte. 

In  der  gelehrten  und  resümierenden  Kunstschrift- 
stellerei  läßt  sich  bis  in  das  19.  Jahrhundert  das  Nachwirken 
der  beiden  in  Vasaris  Ausdruck  rinascita  zusammenfallenden 
Sinnüancen  verfolgen.  Wir  sehen  das  bei  D'Agincourt 
(1730 — 1814),  der  als  der  erste  in  seiner  Kunstgeschichte 


1)  Abgedruckt  Oeuvres  Bd.  6,  S.  43.  Vgl.  über  diesen  merk- 
würdigen Aufsatz  auch  Weisbach,  Expulsons  les  Barbares,  Deutsche 
Politik  1916,  Heft  12. 


268  Werner  Weisbach, 

{Histoire  de  Vart  parles  monuments  depuis  sadecadence  jusqu'au 
XV l^  steck]  erschienen  in  Lieferungen  von  1809  bis  1823) 
eine  historische  Periodisierung  nach  Stilphasen  aufzustellen 
versucht  und  dabei  auch  das  Wort  Renaissance  einführt, 
ohne  aber  zu  einer  eindeutigen  Terminologie  zu  gelangen. 
Er  wendet  in  den  einzelnen  Abschnitten  über  die  verschie- 
denen Künste  die  Bezeichnungen  renaissance  und  renou- 
vellement  an,  scheidet  aber  nicht  nach  einem  bestimmten 
System.  Renaissance  bezieht  sich  bei  ihm  mehr  auf  das 
Aufleben  der  national-italienischen  Kunst  nach  den  bar- 
barischen Zeiten,  renoüvellement  legt  den  Nachdruck  auf  die 
Wiedergeburt  der  Antike,  die  das  Wachstum  der  neuen 
Kunst  gefördert  hat. 

Um  eine  Klärung  des  Renaissancebegriffs  auf  einer 
objektiven  wissenschaftlichen  Grundlage  hat  sich  dann 
Eduard  Kolloff  bemüht,  der  in  Paris  lebende  feinsinnige 
deutsche  Kunstforscher,  dem  wir  auch  den  frühesten  grund- 
legenden und  einen  der  geistvollsten  Essais  über  Rembrandt 
verdanken.  Der  in  Raumers  Historischem  Taschenbuch 
(Neue  Folge  I.Jahrgang,  1840)  erschienene  Aufsatz,  der  das 
Thema  behandelt,  führt  den  Titel:  ,,Die  Entwicklung  der 
modernen  Kunst  aus  der  antiken  bis  zur  Epoche  der  Renais- 
sance." Das  Wort  Renaissance  tritt  hier  also  schon  in  der 
deutschen  Sprache  als  Kunstbegriff  auf.  Die  Abhandlung 
übt  an  den  verschiedenen  maßgebenden  Kunstauffassungen 
der  Vergangeheit  und  Gegenwart  Kritik  und  hat  dadurch 
den  Charakter  und  den  Reiz  einer  Aktualität.  Kolloff 
kämpft  gegen  zwei  Fronten :  gegen  die  einseitige  Überschät- 
zung des  klassischen  Altertums  durch  die  Winckelmannsche 
Theorie  und  gegen  die  ebenso  ausschließliche  Wertung  des 
Mittelalters  durch  die  Romantik.  Er  rechtfertigt  wohl  noch 
das  Mittelalter  gegenüber  den  alten,  längst  überholten  Vor- 
würfen des  „Barbarischen*'  und  sucht  es,  mit  der  neuen 
Monumentenkenntnis  ausgerüstet,  objektiv  zu  würdigen, 
lehnt  jedoch  die  romantische  Verhimmelung  gänzlich  ab. 
Die  Renaissance  soll  in  der  Absicht  der  Verteidigung  in  ihr 
kunstgeschichtliches  Recht  eingesetzt  und  zugleich  auch 
gegen  den  ihr  von  der  Romantik  gemachten  Vorwurf  der 
Unfrömmigkeit  in  Schutz  genommen  werden.    Ein  Haupt- 


Renaissance  als  Stilbegriff.  269 

Problem  ist  aber  für  den  Verfasser  die  Abgrenzung  der  Stil-- 
epoche  der  Renaissance  gegen  das  Mittelalter.  Da  zeigt 
sich  nun,  daß  er  unter  Renaissance  den  Vasarischen  Begriff 
der  rinascita  versteht,  in  dem  Sinn  des  Auflebens  der  national- 
italienischen Kunst,  mit  dem  zugleich  die  Wiedererweckung 
der  Antike  erfolgt.  Die  Renaissance  ist  die  „auf  freie  Nach- 
ahmung und  Benutzung  antiker  Vorbilder  und  Materialien 
begründete  neue  Kunstweise",  deren  Beginn  man  aber  nicht, 
wie  das  gewöhnlich  geschieht,  erst  in  das  16.  Jahrhundert 
setzen,  sondern  an  das  Ende  des  13.  zurückverlegen  müsse. 
Wird  auch  der  Name  Vasaris  nicht  genannt,  so  ist  doch 
diese  Konstruktion  zweifellos  unter  seinem  Einfluß  vor- 
genommen. Es  ist  zugleich  ein  Schlag  gegen  die  präraffae- 
litische  Auffassung,  die  das  Quattrocento  noch  für  das 
Mittelalter  in  Anspruch  nahm. 

Aus  alledem  ergibt  sich,  daß  der  Begriff  Renaissance 
als  Kunstbegriff  längst  sein  Geltungsbereich  hatte,  ehe  der 
Kulturbegriff  geschaffen  war.  Als  Burckhardt  in  seinem 
„Cicerone''  die  Kunst  der  Renaissance  charakterisierte, 
konnte  er  —  wenn  er  auch  die  Anschauung  in  ganz  neuer 
Weise  belebt  hat  —  mit  Wort  und  Begriff  an  eine  alte  Tra- 
dition anknüpfen.  Die  historische  Methode  des  19.  Jahr- 
hunderts stellte  sich  nun  aber  die  Aufgabe,  die  künstlerischen 
und  literarischen  Erzeugnisse  eines  Volkes  aus  seinen  natio- 
nalen und  kulturellen  Bedingungen  heraus  zu  erklären.  Es 
wurde  Sitte,  in  den  Kunstgeschichten  den  Schilderungen 
der  künstlerischen  Erscheinungen  kulturhistorische  Abschnitte 
voranzustellen.  So  wurde  Burckhardt  dazu  geführt,  seinem 
Aufbau  der  Kunst  der  Renaissance  das  kulturgeschichtliche 
Fundament  zu  geben  und  veröffentlichte  einige  Jahre  nach 
dem  Cicerone  ,,die  Kultur  der  Renaissance  in  Italien",  nach- 
dem Michelet  auf  diesem  Wege  für  die  Geschichte  Frank- 
reichs vorangegangen  war.  Dabei  nimmt  er  nun,  wie  schon 
bemerkt,  indem  er  von  der  Periodisierung  Kolloffs  abweicht, 
den  Anfangstermin  für  beide  Erscheinungen  verschieden 
an.  Während  er  den  Kunststil  da  einsetzen  läßt,  wo  bei 
Vasari  mit  dem  zweiten  Teil  seiner  Viten  die  ,,maniera 
moderna''  beginnt,  datiert  er  die  Kultur  der  Renaissance 
noch  in  das  vorhergehende  Jahrhundert  zurück.    Der  Ein- 

Historische  Zeitschriit  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  18 


270  Werner  Weisbach, 

schnitt  zwischen  Gotik  und  Renaissance  liegt  um  die  Wende 
des  14.  und  15.  Jahrhunderts. 

Als  Burckhardt  seinen  Cicerone  verfaßte,  war  er  sich 
bewußt,  daß  die  Geschichte  der  Kunst  eine  Periodisierung 
nach  immanenten  stilistischen  Prinzipien  erforderte  und  nicht 
einer  nach  anderen  Gesichtspunkten  eingeteilten  Historie 
einfach  an-  oder  eingegliedert  werden  kann.  So  fällt  bei  ihm 
das  erste  Jahrhundert  der  Bildung  der  nationalen  italienischen 
Kunst,  mit  dem  Vasaris  rinascita  anhebt,  die  Zeit  von  Giotto 
bis  zum  Auftreten  von  Brunelleschi  und  Masaccio,  unter 
den  Begriff  des  gotischen  Stils.  Die  Epoche  der  Renaissance 
gliedert  er  in  Früh-  und  Hochrenaissance,  was  etwa  der 
Zweiteilung  entspricht,  die  auch  Vasari  für  die  Periode  von 
1400  bis  auf  seine  Zeit  durchgeführt  hatte. 

An  die  Formulierung  dieses  Stilbegriffs  wurde  nun 
wiederum  die  Sonde  der  Kritik  gelegt  und  er  wurde  ebenso 
ins  Wanken  gebracht  wie  der  Burckhardtsche  Kulturbegriff. 
Wir  haben  schon  anfangs  gesehen,  wie  Thode  und  Neumann 
den  Beginn  der  Renaissancekunst  zurückdatierten  und  zu- 
gleich mit  der  Kultur  aus  anderen  Wurzeln  ableiteten.  Es 
sprachen  in  den  verschiedenen  Ländern  zum  Teil  auch 
nationale  Motive  und  Vorurteile  mit,  die  sich  dagegen  wehr- 
ten, in  Italien  das  Ursprungsland  des  Phänomens  zu  sehen. 

Mit  der  Auffassung  von  Neumann  berührte  sich  der  fran- 
zösische Kunsthistoriker  Louis  Courajod  in  bezug  auf  das, 
was  er  als  Renaissancestil  verstanden  wissen  wollte.  Auch 
er  erkennt  dem  Einfluß  der  Antike  keine  wesentliche  Bedeu- 
tung zu.  „Le  style  gothique  s'est  regener e  tout  seul,  par  la 
conversion  ä  un  naturalisme  absolu,  dont  est  sorti  la  Renais- 
sance/'^) Indem  er  das  Aufkommen  eines  Realismus  als 
treibende  Kraft  für  die  Renaissancebewegung  ansieht,  er- 
kennt er  in  dieser  nicht  eine  von  Italien  ausgehende,  sondern 
eine  an  verschiedenen  Stellen  Europas  selbständig  sich  aus- 
wirkende Erscheinung.  ,, Frankreich  habe  schon  längst  die 
Prinzipien  der  Renaissancekunst  gekannt  und  besessen, 
bevor  es  die  italienischen  Formen  übernommen.''    Die  An- 


i)  Legons  professies  ä  VEcole  du  Louvre  Bd.  2,  1901,  S.  142. 


Renaissance  als  Stilbegriff.  271 

fange  der  Renaissance  lägen  im  14.  Jahrhundert,  in  Frank- 
reich und  Flandern  so  gut  wie  in   Italien. 

In  Deutschland  suchte  Schmarsow  den  Ursprung  der 
Renaissance  seiner  Heimat  zu  vindizieren,  indem  er  ihn 
an  die  Entstehung  der  Hallenkirche  im  15.  Jahrhundert 
knüpfte,  mit  einer  von  ihm  selbst  eingestandenen  natio- 
nalistischen Tendenz,  die  gewiß  nicht  ganz  einwandfrei  ist. 
Seine  Theorie  wurde  von  Richard  Streiter^)  so  ad  absurdum 
geführt,  daß  dem  kaum  noch  etwas  hinzuzufügen  ist.  Ihr 
stellte  er  den  für  jeden  nicht  Voreingenommenen  gewiß 
unanfechtbaren  Satz  entgegen:  ,,Die  Gotik  gab  der  Norden 
dem  Süden,  später  gab  der  Süden  dem  Norden  die  Re- 
naissance. Beide  Stile  waren  nur  in  ihrer  Heimat  echt.** 
Ebenso  wie  Streiter  erklärten  sich  Dehio^)  und  H.  A. 
Schmid^)  gegenüber  Thode,  Neumann,  Schmarsow  und  Cou- 
rajod  dafür,  daß  eine  formale  Einwirkung  der  Antike,  wie 
sie  zuerst  auf  italienischem  Boden  stattfand,  als  ein  un- 
ausschaltbarer  Faktor  für  das  Zustandekommen  des  Re- 
naissancestils einzusetzen  ist. 

Die  Verwirrung  gedieh  also  so  weit,  daß  es  bald  über- 
haupt keinen  eindeutigen  Renaissancebegriff  mehr  gab  und 
die  einzelnen  Forscher  mit  verschiedenen  Begriffen  arbeiteten. 
Und  doch  scheint  es  bei  einer  sachlichen  Prüfung  der  Tat- 
bestände nicht  so  schwer,  zu  einer  einheitlichen  und  präzisen 
Begriffsbestimmung  zu  gelangen. 

Daß  Realismus  nicht  als  stilbildendes  Prinzip  für  eine 
als  Renaissance  zu  bezeichnende  Epoche  genannt  werden 
kann,  bedarf  eigentlich  kaum  noch  einer  Widerlegung, 
—  wenn  anders  man  nicht  überhaupt  darauf  verzichtet, 
zu  einer  Verständigung  über  das,  was  Renaissancestil  be- 
deutet, zu  gelangen.  Der  Gotik  gegenüber  bildet  gerade  die 
I   Tektonik  und  Proportionierung  nach  neuen  harmonischen 


^)  Gotik  oder  Renaissance?  in  „Ausgewählten  Schriften",  Mün- 
chen. 1913. 

2)  Über  die  Grenze  der  Renaissance  gegen  die  Gotik,  Kunst- 
chronik N.  F.  1900,  XI,  Sp.  247.  Abgedruckt  in  „Kunsthistorische 
Aufsätze",  München-Berlin  1914. 

3)  Über  den  Gebrauch  des  Wortes  Renaissance,  Kunstchronik 
1900,  Sp.  468  ff. 

18* 


272  Werner  Weisbach, 


Gesetzen  das  wesentliche  Fundament.  Eine  andersartige 
Organisierung  bestimmt  die  Einteilung  der  bildlichen  Ele- 
mente. Realismus  ist  doch  auch  immer  nur  relativ  zu  ver- 
stehen. Bald  nach  Entstehung  der  Gotik  kam  in  Frankreich 
ein  neuer  Realismus  auf,  der  sich  aber  ganz  dem  gotischen 
Stilgefühl  anpaßte,  ja  aus  ihm  heraus  geboren  war.  In 
Italien  ist  die  Kunst  des  Niccolö  und  des  Giovanni  Pisano 
weit  realistischer  als  alles  was  in  der  italienischen  Plastik 
voranging.  Giotto  erschien  seinen  Zeitgenossen  als  der 
Gipfel  einer  wirklichkeitstreuen  Darstellung,  wie  Boccaccio 
(Decam.,  Giorn.  6,  Nov.  5)  und  Giovanni  Villani  (Storia 
Fior.,  Hb.  XI,  cap.  XII)  bezeugen.  Hat  aber  das  was  an 
diesen  künstlerischen  Erscheinungen  als  realistisch  gelten 
kann,  einen  neuen  Stil  bewirkt?  Niccolö  Pisano  und  seine 
apulischen  Vorläufer  sind  auch  die  ersten  gewesen,  die  sich 
an  antiken  Bildwerken  inspiriert  haben.  Aber  indem  das 
Formgefühl  dieser  Bahnbrecher  sich  einer  neuen  Kunstwelle, 
der  andringenden  nordischen  Gotik,  einschmiegte,  kam  der 
Stil  des  Trecento  zustande.  Die  Gotik  war  damals  der  mo- 
derne Stil  der  europäischen  Welt,  dem  auch  Italien  seinen 
Tribut  zollte.  In  dem  Gotischen  gingen  alle  Äußerungen 
des  italienischen  Kunstgeistes  auf,  mochte  dieser  auch  seine 
besondere  und  dem  Nordischen  in  manchem  widersprechende 
Auffassung  davon  haben.  Es  bildet  das  Ferment  für  alle 
Formprobleme.  Vergleicht  man  eine  italienische  Skulptur 
des  Trecento  mit  einer  gotisch-nordischen,  so  wird  man  mehr 
stilistische  Berührungspunkte  finden  als  etwa  mit  einem 
Donatello. 

Überblickt  man  aber  die  Entwicklung  des  italienischen 
Formgefühls  in  der  kritischen  Zeit  von  dem  Ende  des  13. 
bis  zum  16.  Jahrhundert,  so  kann  man  von  der  Wende  des 
14.  und  15.  an  eine  Umstellung  des  gesamten  künstlerischen 
Schaffens  wahrnehmen.  Durch  die  Entdeckung  der  linearen 
Perspektive  wird  der  Raumsinn  von  Grund  aus  verändert. 
In  der  lebendigen  Wirklichkeit  findet  man  Wertmaßstäbe 
für  körperliche  Funktionen  und  Attitüden,  deren  sich  der 
bildende  Geist  der  Menschheit  seit  der  Zeit  der  Antike  nicht 
bewußt  geworden  war.  Die  Art  und  der  Grad  von  Realis- 
mus, der  nun  erstrebt  wird,  ist  etwas  ganz  anderes  als  in 


Renaissance  als  Stilbegriff.  273 

den  Tagen  eines  Giovanni  Pisano  und  Giotto.  Das  Verhält- 
nis zur  Antike  nimmt  Formen  an,  die  weitab  leiten  von  den 
Tendenzen  des  Mittelalters.  Von  führenden  Künstlern  wer- 
den jetzt  die  noch  vorhandenen  Reste  des  Altertums  syste- 
matisch durchforscht  und  aufgemessen,  um  für  eigene 
produktive  Arbeit  verwertet  zu  werden.  Man  hat  es  nun 
aber  nicht  etwa  so  aufzufassen,  als  ob  die  Wiederentdeckung 
der  Antike  den  Anstoß  für  die  Veränderung  des  Formgefühls 
gab,  wie  jene  alten  Theorien  meinten,  —  nein,  weil  die  Ent- 
wicklung des  Anschauungsvermögens  einen  Punkt  erreicht 
hatte,  wo  man  sich  mit  dem,  was  die  Griechen  und  Römer 
geschaffen  hatten,  berührte,  griff  man  auf  ihre  Formen 
zurück.  Mit  den  völlig  veränderten,  die  ganze  Zeit  bewegen- 
den Problemstellungen  ringt  sich  ein  neues  Stilbewußtsein 
durch. 

Architektur,  Ornamentik,  Menschendarstellung,  alles  was 
zu  Formen  gestaltet  wird,  erfährt  in  Italien  um  die  Wende 
des  14.  und  15.  Jahrhunderts  Neubildungen,  die  auf  anderen 
optischen  und  dekorativen  Voraussetzungen  beruhen  als 
in  der  vorhergehenden  Zeit.  Das  in  der  Baukunst  sich  aus- 
lebende tektonische  Gefühl  wendet  sich  bewußt  und  osten- 
tativ von  der  Gotik  ab  und  stellt  sich  auf  ein  neues  Form- 
system ein.  Brunelleschi  erschien  schon  der  Zeit  selbst  als 
der  Mann  des  Schicksals.  Der  Formenschatz  der  Antike 
wurde  ihm  nicht  Gegenstand  bloßer  Nachahmung,  sondern 
regte  ihn  zu  eigener  schöpferischer  Tätigkeit  an.  So  ver- 
wirklichte er  für  seine  Epoche  ein  altes  lateinisches  Ideal, 
das  mit  Begeisterung  aufgegriffen  wurde,  so  daß  man  nun 
den  Ring  zwischen  der  antiken  Vergangenheit  und  der  mo- 
dernen Ära  geschlossen  glaubte. 

Die  neue  Tektonik  gibt  die  Richtung  an  für  alle  künst- 
lerischen Erzeugnisse.  Und  mußte  nicht  auch  ein  Maler, 
der  sich  einem  von  Säulen  oder  Pilastern  eingefaßten,  mit 
einem  klassischen  Gebälk  bekrönten  Rahmen  anzupassen 
hatte,  schon  eine  ganz  andere  Disponierung  und  Füllung 
der  Bildfläche  vornehmen  als  bei  einem  mit  Fialen  und  Kreuz- 
blumen besetzten  gotischen  Spitzbogenaufbau? 

Für  die  Darstellung  des  menschlichen  Körpers  wird 
eine  zum  Teil  aus  dem  neuen  Naturgefühl  erwachsene,  zum 


274  Werner  Weisbach, 

Teil  aus  der  Antike  abgeleitete  Ponderation  bestimmend. 
Und  die  in  dem  Zeitideal  so  tief  verwurzelte  Proportions- 
lehre geht  als  Leitmotiv  durch  alle  Künste. 

Es  ist  in  der  Tat  ein  neuer  Stil,  der  am  Anfang  des 
15.  Jahrhunderts  die  Gotik  ablöst,  und  den  man  wohl  be- 
rechtigt ist,  Renaissance  zu  nennen,  wenn  sich  auch  gotische 
Nachwirkungen  noch  geraume  Zeit  bemerkbar  machen. 
Für  diesen  Ausdruck  ergab  sich  eine  Schwierigkeit  allerdings 
dadurch,  daß  er  nicht  wie  „romanisch*'  und  ,, gotisch" 
eindeutig  einer  Stilbezeichnung  dient,  sondern  auch  zur 
Charakterisierung  eines  ganzen  Kulturzeitalters  verwandt 
wurde,  dessen  erstes  Jahrhundert  noch  der  Wirkung  eines 
anderen  Kunststils  unterliegt.  Läßt  man  den  Begriff  Re- 
naissance als  Stilbezeichnung  gelten,  so  folgt  daraus,  daß 
man  von  den  in  anderen  und  früheren  Fassungen  an  ihn 
geknüpften  Bedeutungen:  Wiederaufleben  der  italienischen 
Kunst  und  der  Kunst  überhaupt  und  Wiedergeburt  der 
Antike  absehen  muß.  Man  hat  darunter  dann  den  Stil 
zu  verstehen,  der,  an  die  Stelle  der  Gotik  tretend,  auf  Grund 
eines  neuen  Gefühls  für  Natur,  Proportionen  und  Tektonik 
mit  erweiterten  optischen  Fähigkeiten  und  unter  mannig- 
facher Verwertung  antiker  Anregungen  sein  dekoratives  Ge- 
staltungsideal verwirklicht.  Dieser  Stil  ist  tatsächlich  nun 
aber  auch  der  eigentliche  und  wahre  Ausdruck  für  den  gei- 
stigen Gehalt  der  Renaissancekultur.  Erst  durch  ihn  wird 
für  eine  neue  Ideenwelt  eine  neue  Formenwelt  erobert. 
Er  bringt  die  künstlerische  Sehnsucht  der  ersten  Generatio- 
nen des  Renaissancezeitalters  und  des  Humanismus  zur  Er- 
füllung. Das  Ideal  Dantes  wie  des  Mittelalters  verkörpert 
sich  in  der  Gotik.  Seine  Auffassung  von  den  letzten  Dingen 
hat  im  Camposanto  von  Pisa  und  bei  Orcagna  eine  wesens- 
verwandtere künstlerische  Ausprägung  erhalten  als  bei 
Signorelli  und  Michelangelo.  Da  alles  bildnerische  Schaffen 
aus  formalem  Schauen  erwächst,  so  bedurfte  es  erst  einer 
Ergänzung  und  Erweiterung  der  Anschauungsmethoden 
und  durchgreifender  Veränderungen  in  der  Formensprache, 
ehe  der  Renaissancegeist  in  einer  Renaissancekunst  einen 
adäquaten  Ausdruck  fand.  Durch  den  wissenschaftlich 
forschenden  und  kritischen  Geist  des  Humanismus  wurde 


Renaissance  als  Stilbegriff.  275 

auch  die  Kunst  auf  Methoden  geführt,  welche  die  Entdeckung 
der  Linearperspektive,  das  anatomische  Studium,  die  Kon- 
struktion menschlicher  Körper  nach  mathematischen  Ver- 
hältnissen begünstigten.  Die  unheilvollen  Folgen  des  hu- 
manistischen Rationalismus  griffen  hauptsächlich  erst  im 
16.  Jahrhundert  um  sich  und  treten  am  krassesten  in  dem 
sogenannten  Manierismus  zu  Tage.^)  Der  Humanismus  hat 
aber  auch  ein  gefühlsmäßiges  Element  entwickelt,  das  sich 
die  Kunst  mit  ihren  formalen  Mitteln  zu  eigen  machte. 

Damit  findet  nun  die  Burckhardtsche  Anwendung  des 
Stilbegriffs  und  ihre  Abgrenzung  gegen  den  Kulturbegriff 
eine  Rechtfertigung.  Die  heute  übliche  Einteilung  in  Früh- 
renaissance oder  Quattrocento  und  in  Hochrenaissance 
oder  Cinquecento  entspricht  auch,  wie  wir  an  dem  Beispiel 
Vasaris  sahen,  ungefähr  der  Vorstellung,  die  sich  die  Renais- 
sance selbst,  als  sie  rückblickend  zu  reflektieren  begann, 
von  der  Kunst  ihrer  Zeit  machte. 

Man  wird  aber  dem  vielleicht  nicht  ganz  glücklich 
Frührenaissance  benannten  Quattrocento  nicht  gerecht, 
wenn  man  es  nur  als  Vorstufe  zu  der  eigentlichen  „goldenen 
Zeit"  der  Renaissance  ansieht,  wenn  man  es  in  seinem  Ver- 
hältnis zur  Hochrenaissance  nur  wie  die  Verheißung  zur  Er- 
füllung hinnimmt.  Diese  Auffassung  wird  heute  namentlich 
durch  Wölfflin  vertreten,  der  in  seinen  ,, Grundbegriffen  der 
Kunstwissenschaft**  (S.  15)  schreibt:  ,,Die  Vorstufen  der 
Hochrenaissance  dürfen  nicht  ignoriert  werden,  aber  sie 
stellen  eine  altertümliche  Kunst  dar,  eine  Kunst  der  Primi- 
tiven, für  die  eine  sichere  Bildform  noch  nicht  existiert." 
Weist  man  den  Meisterwerken  des  Quattrocento  diese  Rolle 
zu,  so  verbaut  man  damit  in  historischer  und  ästhetischer 
Beziehung  eine  richtige  Würdigung  ihrer  Qualitäten;  denn 
sie  tragen  ihr  Gesetz  in  sich,  das  nicht  bloß  mit  den  Maß- 
stäben der  Hochrenaissance  beurteilt  sein  will.  Sie  haben  die 
Bildform,  die  den  Empfindungsgehalt,  auf  den  sie  eingestellt 
sind,  sinngemäß  ausprägt.  Das  Quattrocento  hat  mit  den 
ihm  zu  Gebote  stehenden  formalen  Mitteln  Werte  geschaffen. 


0   Vgl,  Weisbach,   Der  Manierismus.     Zeitschrift   für   bildende 
Kunst,    April  1919,  S.  161  ff. 


276  Werner  Weisbach, 

die  ganz  von  der  Art  dieser  Mittel  abhängig  sind,  auf  der 
Wahl  dieser  Mittel  beruhen.  Die  wuchtige  Monumentali- 
tät eines  Piero  della  Francesca  ist  kaum  je  übertroffen  wor- 
den. Wer  möchte  etwa  seinen  Kampf  zwischen  Persern 
und  Christen  in  Arezzo  für  die  Raffaelische  Constantin- 
schlacht  missen!  Und  die  herbe  eckige  Grazie  eines  Lippi, 
Pesellino,  Botticelli,  die  wie  die  junge  Morgensonne  am  Him- 
mel der  Renaissance  aufging,  mag  doch  immer  neben  den 
vollen,  reifen,  runden  Formen  des  Cinquecento  bestehen. 
Die  rein  klassischen  Prinzipien  zur  Wertung  der  Frührenais- 
sance nach  rückwärts  zu  übertragen,  ist  eine  Vergewaltigung 
auf  Kosten  ihrer  originalen  Leistungen.  Man  hütet  sich  heute 
ja  auch,  die  archaische  griechische  Kunst  an  den  Phidiasi- 
schen  Stilelementen  zu  messen.  Der  quattrocentistische 
Stil  hat  seine  geschlossene  und  aus  seiner  Vorstellungs- 
welt deutbare  und  zu  deutende  Schönheit.  Die  Beschwörung 
des  Namens  Mantegna  genügt  wohl,  um  diesen  Stil  als  ein 
in  sich  selbst  Ruhendes  und  Vollendetes  erscheinen  zu  lassen. 
Der  Begriff  der  Primitivität  läßt  sich  doch  höchstens  auf 
einige  Erstlingswerke  der  Epoche  anwenden  und  wäre  jeden- 
falls genauer  zu  definieren.  Was  man  als  Primitivität  an- 
spricht, das  Jugendlich-Suchende,  gewissen  Hemmungen 
Unterworfene,  in  einen  beschränkteren  Formausdruck  Ge- 
bannte, noch  nicht  aus  dem  Vollbesitz  aller  klassischen 
Mittel  Schöpfende,  hat  seine  Vorzüge  wie  seine  Mängel. 
Wie  man  beide  gegeneinander  abwägt,  das  wird  zum  großen 
Teil  von  dem  vertretenen  Geschmacksstandpunkt  und  an- 
deren irrationalen  Faktoren  abhängen  —  wie  schon  aus  der 
entgegengesetzten  Stellungnahme  verschiedener  Zeiten  und 
Individuen  ersichtlich  wird.  Die  Romantik  hat  die  Hoch- 
renaissance gegen  das  Quattrocento  herabgesetzt.  Ruskin 
beklagte  in  dem  klassischen  Cinquecento  einen  ketzerischen 
Abfall.  Die  Klassik  sieht  in  der  Frührenaissance  nur  den 
Vorhof  zu  dem  wahren  Heiligtum.  Es  gibt  kein  einheitliches 
Vollkommenheitskriterium,  dem  sich  die  Erzeugnisse  der 
beiden  Jahrhunderte  unterwerfen  ließen. 

Wird  es  als  einleuchtend  hingenommen,  daß  am  An- 
fang des  15.  Jahrhunderts  in  Italien  ein  neuer  Stil  anhebt, 
der  nicht  ohne  eine  gewisse  innere  Berechtigung  den  Namen 


Renaissance  als  StUbegriff.  277 

Renaissance  führt,  so  hat  es  nicht  viel  auf  sich,  wenn  die 
mit  demselben  Namen  bezeichnete  Kulturepoche  einen 
weiteren  Zeitraum  umspannt.  Die  Kunstgeschichte  erfüllt 
ihre  Aufgabe,  wenn  sie  ihre  Periodisierungen  nach  den 
immanenten  Entwicklungsprinzipien  der  bildenden  Kunst 
vornimmt. 

Es  entsteht  nun  aber  die  weitere  Frage:  Läßt  sich  der 
Stilbegriff  Renaissance  mit  der  gleichen  Berechtigung  auf 
die  Kunst  diesseits  der  Alpen  übertragen?  Die  Frage  ist 
teils  bejaht,  teils  verneint  worden.  ^Burckhardt  wollte  von 
den  nicht  italienischen  Renaissancen  nichts  wissen  und  lehnte 
sie  als  Bastarderscheinungen  ab.  Geymüller,  der  Geschichts- 
schreiber der  französischen  Renaissance,  nahm  sie  als  einen 
Weltstil,  der  von  Italien  aus  auf  die  anderen  Länder  übergriff. 

Für  die  in  Deutschland  der  Gotik  folgende  Epoche 
hat  sich  der  Name  deutsche  Renaissance  eingebürgert. 
Man  wird  auch  die  Bezeichnung  festhalten  dürfen,  wenn  man 
darunter  den  Stil  versteht,  der  die  durch  Italien  vermittelte 
antike  Formenwelt  aufnimmt,  verarbeitet  und  sich  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  assimiliert.  Gewiß  wirkt  die  go- 
tische Gewöhnung,  die  den  Deutschen  tiefer  im  Blute  steckte 
als  einem  anderen  Volk,  noch  lange  nach.  Aber  wie  der 
Humanismus  dem  geistigen  Leben  in  Deutschland  eine  neue 
Wendung  gibt,  so  wird  durch  die  tektonischen  Formen 
der  Antike,  die  allerdings  mehr  dekorativ  als  monumental 
verwandt  und  teilweise  bis  zur  Karikatur  modifiziert  wer- 
den und  durch  die  nach  dem  Vorbild  der  italienischen 
Renaissance  durchgeführte  Ponderierung  und  Proportio- 
nierung  des  Figürlichen  eine  Auflösung  des  gotischen  Sy- 
stems bewirkt.  Man  muß  daran  festhalten,  daß  die  nor- 
dische Renaissance  ein  rezipierter  Stil  ist,  der  in  sehr  freier 
und  willkürlicher  Weise  mit  dem  übernommenen  Material 
schaltet  und  eine  starke  lokale  Eigenart  entwickelte.  Ge- 
tragen wird  dieser  Stil  von  dem  deutschen  Bürgertum,  das 
eine  ganz  andere  Lebensart  und  andere  Gewohnheiten  be- 
saß als  der  italienische  Süden.  So  weichen  denn  auch  die 
formalen  Ergebnisse  hier  und  dort  stark  voneinander  ab. 

Läßt  sich  der  das  geistige  Leben  revolutionierende 
Humanismus   in    Deutschland    in    seinen    Anfängen    schon 


278  Werner  Weisbach, 

bis  ins  14.  Jahrhundert  an  den  Hof  Kaiser  Karls  IV.,  den 
ein  Petrarca  aufsuchte,  zurückverfolgen,  so  setzt  doch  die 
Hochflut  erst  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  ein,  und  diese 
Tendenz  wird  dann  gleich  teils  aufgenommen,  teils  durch- 
kreuzt, teils  gehemmt  von  der  religiös-reformatorischen  Be- 
wegung, die  einen  ganz  anderen  Interessenkomplex  in  den 
Vordergrund  rückt  und  den  Leidenschaften  einen  weiten 
Spielraum  gibt.  So  tief  wie  in  Italien  hat  der  Humanismus 
nicht  seine  Furchen  gezogen.  Konnte  er  sich  dort  auf  die 
römische  Antike  als  auf  die  eigene  nationale  Vergangen- 
heit berufen,  so  war  er  in  Deutschland  Importgut  und 
wurde  von  nicht  wenigen  als  „wälsch"  verdächtigt,  wenn  er 
hier  auch  aus  sich  selbst  heraus  eine  Art  nationaler  Ge- 
sinnung entwickelte.  Aber  das  humanistische,  nach  der 
Antike  ausgerichtete  Ideal  war  im  Norden  wie  im  Süden 
das  gleiche.  Was  indessen  in  Deutschland  fehlte,  war  die 
gestaltende  Kraft,  die  dem  Ideal  die  klare  Anschaulichkeit 
und  Reinheit  der  Form  verUeh.  Man  übernahm  alles  Theo- 
retische aus  der  italienischen  Renaissance,  kam  aber  in 
praxi  zu  andersartigen  Ergebnissen  und  Wirkungen.  Be- 
zeichnend ist  jener  am  Hofe  Kaiser  Maximilians  gepflegte 
Humanismus  und  seine-  künstlerischen  Erzeugnisse.  In- 
dem man  den  monströsen  Riesenholzschnitt  der  „Triumph- 
pforte" in  Angriff  nahm,  dachte  man  mit  den  Triumph- 
bögen der  Antike  und  des  modernen  Italien  zu  konkurrieren. 
Eine  mit  der  Spätgotik  verwachsene,  zum  Überladenen, 
Krausen  und  Bizarren  neigende  Phantasie  setzte  der  formalen 
Kultur  der  Renaissance  Widerstände  entgegen.  Im  Grunde 
fehlte  es  an  einem  Sinn  für  die  Harmonie  der  Verhältnisse. 
So  hat  der  Renaissancegeist  in  Deutschland  nicht  einen  so 
adäquanten  und  stilreinen  Ausdruck  in  der  Kunst  gefunden 
wie  in  Italien.  Die  ganze  künstlerische  Entwicklung  war  auch 
auf  einen  weit  engeren  Zeitraum  zusammengedrängt  und 
nahm  infolge  der  starken  Einwirkungen  von  außen  und  der 
lokalen  Verhältnisse  einen  anderen  Verlauf.  Der  deutschen 
Kunst  fehlt  die  Einheitlichkeit  der  Entfaltung,  indem  spät- 
gotische und  Renaissanceformen  noch  lange  durcheinander 
fluten  —  aber  das  Renaissanceelement  bestimmt  doch  als 
das  fortschrittliche   den    Gang  der   Entwicklung. 


Renaissance  als  Stilbegriff.  279 

Es  scheint  mir  deshalb  auch  keine  Veranlassung  vorzu- 
liegen, den  Begriff  deutsche  Renaissance  fallen  zu  lassen, 
wie  von  verschiedenen  Seiten  vorgeschlagen  wurde,  und  die 
Stilepoche  entweder  der  Spätgotik  zuzurechnen  (Carl  Neu- 
mann) oder  dem  Barock  einzuverleiben  (Dehio).  Gegen 
den  ersteren  Vorschlag  sprechen  bereits  unsere  vorhergehen- 
den Ausführungen.  Eine  Umstellung  in  der  Auffassung 
des  Körperlichen,  wie  sie  das  italienische  Quattrocento 
zeigt,  geht  in  Deutschland  im  16,  Jahrhundert  vor  sich  und 
setzt  sich  siegreich  durch.  Dürer  hat  das  ganze  Renaissance- 
problem in  sich  durchgekämpft.  Und  auf  Bauwerke,  wie 
das  Rathaus  von  Rothenburg  an  der  Tauber,  den  Fürsten- 
hof in  Wismar,  den  Otto-Heinrichsbau  des  Heidelberger 
Schlosses,  die  Höfe  der  Residenz  von  Landshut,  des  Schlosses 
von  Dresden  und  des  alten  Schlosses  von  Stuttgart  ist  man 
wohl  berechtigt,  den  Stilbegriff  Renaissance  in  der  von  uns 
vertretenen  Formulierung  anzuwenden.  Von  einem  deut- 
schen Barock  sollte  man  aber  erst  von  da  an  sprechen,  wo 
die  deutsche  Kunst  in  den  großen,  von  Italien  ausgehenden 
Strom  des  Barockstils  einbiegt.  Bietet  die  deutsche  Renais- 
sance, wie  schon  betont,  einen  stark  lokalen  und  eigenbröd- 
lerischen  Charakter,  so  kommt  in  den  Barock  durch  die 
Einwirkung  der  Gegenreformation  in  den  katholischen 
Ländern  und  durch  das  absolutistische  Regime  der  Fürsten- 
höfe auch  in  Deutschland  bei  aller  nationalen  Besonder- 
heit ein  kosmopolitischer  Zug.  In  dem  Ringen  mit  der  reinen 
Renaissance  ist  die  deutsche  Kunst  verblutet  und  wurde 
dann  durch  den  Dreißigjährigen  Krieg  in  ihrer  Entfaltung 
völlig  gehemmt.  Jene  ins  Große  gehende  Freiheit  des  Form- 
gefühls, jene  monumentale  Gestaltungskraft  wurde  ihr  durch 
den  südlichen  Barock  mit  seinen  ins  Barocke  übergeführten 
klassischen  Formen  zugeleitet.  Werke,  wie  das  Schloß  in 
Würzburg  oder  der  Schlütersche  Teil  des  Berliner  Schlosses 
halten  mit  der  allgemeinen  europäischen  Entwicklung 
Schritt.  Die  Epoche,  die  dieses  Stadium  vorbereitet  hat, 
ist  die  deutsche  Renaissance,  mag  auch  ihr  Bedeutungswert 
innerhalb  der  Gesamtentwicklung  ein  anderer  sein  als  der 
der  italienischen  Renaissance. 


280  Werner  Weisbach,  Renaissance  als  Stilbegriff. 

Setzt  man  zu  dem  Wort  Renaissance  die  Prädikate 
italienisch,  deutsch,  französisch  usw.  so  läßt  sich  der  Stil- 
begriff —  bei  gleichzeitiger  Kennzeichnung  des  Gemein- 
samen und  der  lokalen  Eigentümlichkeiten  —  auf  die  ver- 
schiedenen Länder  anwenden  und  bewährt  sich  auch  im 
praktischen  Gebrauch,  was  ja  eine  Hauptbedingung  für  die 
Begriffsbildung  ist.  Wie  die  Renaissancekultur,  so  weist 
der  Renaissancestil  allenthalben  verbindende  Elemente  auf 
und  wird  eine  allgemein  europäische  Erscheinung.  Werden 
die  Formulierungen  in  dem  dargelegten  Sinne  angewandt, 
so  kommt  der  Stilbegriff  ebenso  wie  der  Kulturbegriff  zu 
seinem  Recht. 


I 


Literaturberidit. 


Der   Untergang   des   Abendlandes.     Umrisse   einer  Morphologie 
der  Weltgeschichte.   Von  Oswald  Spengler.    l.Bd.:  Gestalt 
1^»        und   Wirklichkeit.      Wien   und    Leipzig,   Wilh.   Braumüller. 
■K        1918.     XVI  u.  639  S. 

^^B     Das  Buch  —  es  ist  inzwischen   in   zwQ.iter  Auflage  bereits 
'^Tor  Erscheinen  vergriffen  —  hat  sehr  rasch  Aufsehen  gemacht, 
und  mit  Recht,  denn  es  ist  ein  Buch  von  großer  geistiger  Selb- 
ständigkeit und  von  reichsten  Kenntnissen,  wenn  auch  der  an 
sich   nicht  verwerfliche  Dilettantismus  in    ihm  mitunter  an  die 
Grenzen  des  groben  Unfugs  geht.    Es   ist   im   allgemeinen  eines 
jener  Produkte,   die  aus  der  Abneigung  gegen  den  kühlen  kri- 
tischen Rationalismus  und  die  philologische  Akribie  geboren  sind 
und,  wie  es  die  Stimmung  der  jüngeren  Generation  —  freilich  auch 
[     des  für  das   Enzyklopädische  begeisterten  Journalismus  —  ver- 
I     langt,  sich  der  intuitiven  Synthese  zuwendet.  Vorzüge  und  Gefahren 
dieser  Wendung  von  der  Kausalität  der  Einzelvorgänge  zur  kon- 
I     struktiven   und  vergleichenden  Zusammenschau  der  großen  Zu- 
i     sammenhänge  sind  durch  es  in  der  Tat  lehrreich  veranschaulicht. 
j     Es  ist  insofern  ein  bedeutsames  Kulturdokument  aus  der  Zeit  einer 
!     geistigen  Krisis  der  deutschen  Wissenschaft,  ein  Zeugnis  der  über- 
all spürbaren  Empörung  gegen  die  exakte  Philologie  und  gegen 
die  schulmäßig-formalistische  Philosophie  der  Katheder.      Cha- 
rakteristisch ist  dabei,  daß  Mathematik  und  Physik  von  dieser 
Krisis  sehr  viel  weniger  betroffen  sind  als  die  dem  historischen 
Denken   näher   stehenden    biologischen    Disziplinen    und   insbe- 
sondere die  Historie  selbst.    Gegen  ihren  bisherigen  technischen 
Schulbetrieb  und  gegen  die  allerdings  meist  sehr  trivialen  und 
verworrenen    Einbeziehungen    der    Historie    in    philosophische 


282  Liieraturbericht. 

Konventionen  eines  halbschlächtigen  Naturalismus  erhebt  sich 
der  eigentliche  Kampf.  Der  Verfasser  ist  allem  Anschein  nach 
ein  Philosoph,  der  von  den  Naturwissenschaften,  vor  allem 
Mathematik  und  Physik  herkommend,  zur  Historie  übergeht  und 
dabei  den  tiefen  Gegensatz  zwischen  unserem  heutigen  natur- 
wissenschaftlichen Denken  und  der  Historie  wie  eine  alles  er- 
leuchtende Offenbarung  entdeckt.  Rasch  entschlossen  bildet  er 
diese  Entdeckung  zu  einem  grundsätzlichen,  nicht  kausalen, 
sondern  historisierenden  und  individualisierenden  Relativismus 
um,  womit  er  die  letzte  Phase  der  europäischen  Philosophie  zu 
eröffnen  gedenkt,  nachdem  die  anderen  metaphysischen  Mög- 
lichkeiten unseres  Kulturkreises  erschöpft  seien.  Freilich  macht 
er  damit  eine  Entdeckung,  die  schon  manche  andere  vor  ihm 
gemacht  haben  wie  Dilthey,  der  ja  auch  seinerseits  den  grund- 
sätzlichen Skeptizismus  daraus  gefolgert  hatte,  oder  wie  Lotze, 
Windelband  und  Rickert,  die  freilich  von  einer  religiösen  oder 
ethischen  Grundposition  aus  die  skeptischen  Konsequenzen  zu 
entkräften  suchten  und  in  der  Logik  einen  Einheitspunkt  und 
Garanten  der  Erkenntnismöglichkeit  festhielten.  An  Simmel 
und  Bergson  erinnert  der  Verfasser  oft  beinahe  wörtlich  und 
sachlich  jedenfalls  aufs  stärkste,  obwohl  er  bei  der  einzigen  ge- 
legentlichen Erwähnung  dieser  Denker  sehr  despektierlich  von 
ihnen  spricht.  Er  selbst  nennt  als  seine  Meister  lediglich  Goethe 
und  dessen  antimathematische  Konstruktion  der  Urphänomene 
und  Tendenzen  sowie  Nietzsches  Kulturpsychologie  und  kon- 
struktive Zusammenschau  der  europäischen  Geschichte,  bei  der 
er  freilich  immer  noch  in  dem  eschatologischen  Optimismus  des 
Obermenschen  eine  romantisch-europäische  Befangenheit  im  engen 
westeuropäischen  Horizont  feststellen  zu  müssen  glaubt.  Leider 
folgt  nun  aber  doch  Spengler  von  seinen  beiden,  allein  erwähnten 
Meistern  in  Wahrheit  mehr  dem  Manierismus  und  der  Zarathustra- 
Pose  Nietzsches  als  der  Ruhe,  Klarheit  und  Sachlichkeit  Goethes, 
den  er  doch  als  den  eigentlichen  Meister  zu  verehren  vorgibt, 
so  wenig  seine  Skepsis  und  sein  tragischer  Pessimismus  in  Wahr- 
heit mit  Goethes  gläubiger  Gesundheit  zu  tun  hat.  Der  grund- 
sätzliche Größenwahn,  das  majestätische  Einstoßen  offener 
Türen,  die  feierliche  Ankündigung  von  carmina  non  prius  audita, 
das  befehlsmäßige  Pronunciamiento  von  Paradoxien  und  kecken 
Einfällen    gehört    offenbar    zu    den    Stileigentümlichkeiten    der 


Allgemeines.  283 

heutigen  deutschen  Literatur,  auch  wenn  es  sich  um  Dinge  handelt, 
die  auch  ohne  diesen  Jargon  ihrer  Wirkung  —  wenigstens  bei 
ernsten  und  sachlichen  Denkern  —  sicher  wären.  Aber  man 
nennt  das  heute  „Persönlichkeit",  und  das  deutsche  Publikum 
verlangt  das,  so  sehr  eine  feinere  Humanität  gerade  von  diesen 
schlechten  Manieren  sich  reinigen  müßte. 

Man  muß  das  sich  gefallen  lassen  und  sich  an  das  Tüchtige 
halten,  an  dem  es  wahrlich  nicht  fehlt.  Der  Verfasser  hat  unge- 
wöhnlich viel  Geist,  Scharfsinn,  Wissen  und  Einfühlungsvermögen. 
Der  Schwerpunkt  liegt  offenbar  in  seinen  Forschungen  über 
Mathematik,  Physik  und  Erkenntnistheorie,  wo  er  zu  äußerst 
interessanten  Ergebnissen  kommt:  zu  einer  Theorie  der  Er- 
kenntnisse als  von  Symbolen,  in  denen  die  physische  und  seelische 
Wirklichkeit  allein  erfaßt  werden  kann,  und  in  denen  das  objek- 
tive und  das  anthropologische  Element  aller  Erkenntnis  schwer 
scheidbar  zusammenfließen,  deren  Zusammendenkung  dann  aber 
den  Makrokosmus,  das  philosophische  Weltbild,  als  Ausdruck  einer 
inneren  logischen  Notwendigkeit  und  einer  individuellen  Ein- 
stellung des  Denkers  zugleich  ergibt.  Aber  das  gehört  mehr  der 
eigentlichen  Philosophie  an  und  kann  hier  nur  insofern  angedeutet 
werden,  als  eine  solche  Erkenntnistheorie  für  die  Schätzung  des 
Individuellen  auf  dem  Gebiete  der  eigentlichen  Historie  natur- 
gemäß sehr  günstig  disponiert;  jedenfalls  habe  ich  den  Ein- 
druck, als  ob  diese  Erkenntnistheorie  und  nicht  die  historische 
Anschauung  vom  Individuellen  selber  das  Primäre  in  seinem  Denken 
gewesen  sei.  Wo  er  sich  der  letzteren  nähert,  steht  daher  auch 
nicht  das  Persönlich- Individuelle  einzelner  Seelen,  sondern  das 
Sachlich- Individuelle  großer  Kulturkreise  und  ihrer  jedes- 
maligen Gesamteinstellung  auf  Welt  und  Leben  im  Vorder- 
grunde. Die  Einzelseele  spielt  von  Haus  aus  keine  Rolle  in 
diesem  Denken,  sondern  ist  wie  bei  Hegel  das  Material,  in  dem 
sich  die  sachlichen  Ideengehalte  sozusagen  um  ihrer  selbst 
willen  ausprägen.  Wir  haben  es  insofern  trotz  aller  Skepsis 
mit  einem  sehr  starken  Begriffsrealismus  zu  tun.  Was  nun 
aber  diese  großen  Kulturindividualitäten  anbetrifft,  so  stehen 
vor  seinem  Blick  nicht  weniger  als  Altertum,  Westeuropa  oder 
moderne,  indische  und  arabische  Kultur,  wozu  etwas  in  zweiter 
Linie  chinesische,  babylonische  und  ägyptische  hinzukommen. 
Unter  diesen  Umständen  fehlt  mir  natürlich  das  Wissen,  um 


284  Literaturbericht. 

das  Buch  in  dieser,  dem  Verfasser  wichtigsten  Hinsicht  zu 
kritisieren.  Ob  er  selbst  es  besaß  um  es  zu  schreiben,  kann 
ich  aus  dem  gleichen  Grunde  nicht  sagen.  Jedenfalls  zeigt 
sich  an  diesem  Punkte  einer  der  erbitterndsten  Charakterzüge 
des  Buches.  Eigene  Forschungen  können  natürlich  nur  zum 
kleinsten  Teile,  wenn  überhaupt,  zugrunde  liegen;  es  sind  natür- 
lich Darstellungen  und  Verarbeitungen  benutzt.  Aber  der 
Verfasser  gibt  keines  dieser  Werke  an  und  macht  damit  jede 
Kontrolle  unmöglich.  Einige  Quellen  erkennt  man  natürlich: 
Strygowsky,  Werner  Weißbach,  Alois  Riegl,  Worringer,  auch 
Duhems  Forschungen  über  den  Zusammenhang  von  Mathematik 
und  Kultur,  vielleicht  auch  Albrecht  Dieterichs  religionsgeschicht- 
liche Studien.  Es  sind  das  zum  Teil  bereits  sehr  gewagte  Syn- 
thesen, die  der  Verfasser  noch  übersynthesiert  hat.  Es  über- 
wiegt kunstgeschichtliche  und  ästhetisierende  Literatur,  die 
ganz  einseitige  Neigung,  aus  Kunstwerken  die  Geistesgeschichte 
und  damit  die  Geschichte  überhaupt  zu  schreiben  oder  zu 
erraten.  Ein  Satz,  wie  der  „die  Seelengeschichte  der  Säule 
ist  noch  nie  erzählt  worden**,  S.  302,  erinnert  an  schHmmste 
Beispiele  aus  der  modernen  Kunstliteratur.  Daneben  stehen 
dann  wieder  sehr  eindringende  und  treffende  Analysen,  nament- 
lich betreffs  des  Verhältnisses  von  Antike  und  Moderne,  die 
letztere  von  Karl  dem  Großen  ab  gerechnet.  Es  scheint  mir 
das  Buch  überhaupt  einigermaßen  rasch  zusammengeschweißt 
zu  sein,  was  glänzende  Blicke  nicht  ausschließt.  Die  historischen 
Einzelbemerkungen  erregen  durch  manchmal  offenbare  Falsch- 
heit oder  bloße  Behauptung  immerhin  einen  gewissen  Ver- 
dacht und  Schrecken.  Ich  kann  hier  die  vielen  Einzelbeispiele 
nicht  notieren  und  verzeichne  nur  ein  paar  Beispiele.  S.  103 
heißt  es  zum  Beweis  des  Zusammenhangs  der  modernen  Mathe- 
matik mit  der  religiösen  Metaphysik  des  Unendlichen:  „Des- 
cartes,  ein  tiefer  Geist  aus  dem  Kreise  von  Port  Royal,  hat, 
einem  inneren  Bedürfnis  folgend,  anläßlich  seiner  philosophisch- 
mathematischen Unterweisungen  die  Pfalzgräfin  Elisabeth  und 
die  Königin  Christine  wieder  zum  Katholizismus  bekehrt"; 
hier  ist  jedes  Wort  einfach  falsch.  Gleich  darauf,  S.  107,  heißt 
es  von  Alexandria  zum  Beweis  gewisser  Wandelungen  in  der 
Mathematik:  „Es  hört  im  2.  Jahrhundert  n.Chr.  auf  Welt- 
stadt zu  sein  und  wird  eine  aus  der  Zeit  antiker  Zivilisation 


Allgemeines.  285 

stehengebliebene  Häusermasse,  in  der  eine  primitiv  fühlende^ 
seelisch  anders  geartete  Bevölkerung  wohnt";  woher  weiß 
der  Verfasser  das?  S.  144:  „die  geheimnislose,  zahlenmäßige 
Natur  des  Aristoteles  und  Kants,  der  Sophisten  und  Darwins, 
der  modernen  Physik  gegenüber  der  erlebten,  grenzenlosen, 
gefühlten  Natur  Homers,  der  Edda,  des  dorischen  und  gotischen 
Menschen";  das  ist  doch  einfach  Phantasie;  von  dem  „zahlen- 
mäßigen" Aristoteles  sagt  er  überdies  an  anderer  Stelle,  daß 
er  keine  Ahnung  von  moderner  Kausalität  gehabt  habe!  S.  177 
eine  unmögliche  Erklärung  der  Eleusinischen  Mysterien.  S.  210 
die  Bezeichnung  Rousseaus  und  Napoleons  als  Verwirklicher 
der  englischen  Ideenwelt,  eine  Behauptung,  die  dann  Paul 
Lensch  „Am  Ausgang  der  deutschen  Sozialdemokratie", 
1919,  S.  79,  mit  geschichtsmateriahstischer  Umdeutung  und 
Vergröberung  einfach  abgeschrieben  hat.  S.  213  eine  Cha- 
rakteristik Luthers,  die  niemand  schreiben  kann,  der  seine 
Briefe  und  Schriften  einigermaßen  kennt.  Oder  schließlich 
recht  charakteristisch  S.  238:  „Als  um  das  Jahr  1000  der  Ge- 
danke an  das  Weltende  im  Abendland  sich  verbreitete,  wurde 
die  Faustische  Seele  dieser  Landschaft  geboren."  Das  mag 
als  Beispiel  genügen.  Aus  Kenntnis  und  Betätigung  quellen- 
mäßiger Geschichtsforschung  ist  diese  Geschichtstheorie  jeden- 
falls nicht  geboren.  Es  wimmelt  von  falschen  Angaben,  phantasie- 
reichen Behauptungen  und  schiefen  Analogien,  es  fehlt  fast 
alle  kritische  Sicherung  der  Tatsachen  und  jedes  Bedürfnis 
danach.  Aus  diesem  Grunde  erscheint  auch  das  Buch  beim 
zweiten  Lesen  sehr  viel  unangenehmer,  willkürlicher,  phan- 
tastischer und  widerspruchsvoller  als  beim  ersten,  wo  eine  Reihe 
bedeutender  Gedanken  blenden  und  man  über  die  „Beweise" 
leicht  hinwegliest. 

Mit  alledem  ist  von  dem  sensationellen  Haupttitel  noch 
gar  nicht  die  Rede  gewesen.  Er  bezeichnet  auch  in  der  Tat 
nicht  den  Hauptgegenstand.  Der  Hauptgegenstand  ist  eine 
philosophische  Theorie  der  Geschichte  nach  der  formellen  und 
inhaltlichen  Seele,  eine  Methodik  der  Forschung  und  eine 
Werttheorie  der  geschichtlichen  Gehalte.  Aber  mit  diesen 
Untersuchungen  beschäftigt,  kam  der  Verfasser  in  die  Atmo- 
sphäre des  Weltkrieges  und  wollte  ihn  aus  seiner  Geschichts- 
philosophie deuten.    Er  sah  in  ihm  den  Übergang  der  europäi- 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  19 


286  Literaturbericht 

sehen  Kultur  zu  ihrem  letzten  Stadium,  zur  Vereinigung  eines 
rechnerisch-kühlen  ImperiaHsmus  und  Kapitalismus  mit  sozialisti- 
scher Organisation,  die  Parallele  zum  römischen  Imperialismus, 
die  Ablösung  der  Kultur  durch  Zivilisation.  Offenbar  sah  er 
in  Preußen  die  Analogie  des  Römertums  und  die  Überbietung 
des  englischen  Imperialismus  zugleich,  das  dann  nach  dem 
Siege  auch  den  Sozialismus  organisieren  werde:  „die  antike 
Wirtschaftsgesinnung  verleugnet  die  Zeit,  die  Zukunft  die 
Dauer;  die  abendländische  bezieht  sie,  sei  es  in  der  flacheren 
englisch-jüdischen  Fassung  von  Malthus,  Marx,  Bentham,  sei 
es  in  der  tiefen  und  zukunftsreichen  des  preußischen  Staats- 
gedankens, dessen  von  Friedrich  Wilhelm  I.  begründeter  So- 
zialismus noch  in  diesem  Jahrhundert  den  anderen  in  sich  auf- 
nehmen wird*',  S.  195.  Die  allgemeine  Einsicht  in  eine  gewisse 
geistige  Erschöpfung  und  ökonomisch-rationale  Veräußerlichung 
Europas  hatte  ihn  —  wie  so  viele  vor  ihm  —  mit  dem  Gedanken 
einer  Untergangsperiode  im  allgemeinen  vertraut  gemacht; 
der  Weltkrieg  schien  ihm  in  Preußen-Deutschland  die  staats- 
soziaHstische  Endorganisation  einer  untergehenden,  dem  Römer- 
tum  analogen  Welt  heraufzuführen,  eine  zweifellos  geistreiche 
Idee,  die  durch  den  wirklichen  Verlauf  des  Krieges  doch  nur 
teilweise  widerlegt  ist,  wenn  sie  auch  die  Anfechtbarkeit  der 
Theorie  des  Verfassers  deutlich  zeigt,  daß  man  vermöge  seiner 
Lehre  die  Zukunft  endgültig  konstruieren  könne.  Daß  er  in 
der  Erarbeitung  dieser  Idee  eine  den  Leistungen  des  deutschen 
Heeres  einigermaßen  ebenbürtige  Leistung  hervorgebracht  zu 
haben  meint,  S.  VIII,  ist  ein  Teil  dieser  ganzen  Konstruktion. 
Die  deutsche  Tat  und  der  deutsche  Geist,  die  Herbeiführung 
des  Endzustandes  und  d^'e  Erkenntnis  des  Endzustandes  beides 
durch  Deutsche:  das  ist  der  geheimste  Stolz  des  Buches  und 
dazu  viel  zu  sagen  ist  heute  nicht  mehr  nötig.  Immerhin 
aber  mag  das  zu  defi  „Zufällen"  gehören,  die  der  Verfasser  kon- 
struiert und  die  in  der  Vollendung  der  großen  Tendenzen  sich 
auch  verschieben  können.  Paul  Lensch,  der  sich  überhaupt 
auf  Spengler  ordentlich  gestürzt  und  mit  seltsamer  Bereitwil- 
ligkeit die  These  von  dem  Kulturende  im  Sozialismus  über- 
nommen hat,  hat  inzwischen  den  Spenglerschen  Gedankengang 
auf  einem  anderen  Wege  zu  Ende  gedichtet,  indem  er  die  be- 
vorstehende Sozialisierung  Englands  zum  Ausgangspunkt  einer 


Allgemeines.  287 

Endperiode  macht,  die  Amerika,  England  und  Westeuropa  als 
Abendland  endlich  vereinigt  und  beendet  („Das  Weltreich  des 
Abendlandes",  Neue  Rundschau,  Juli   1919). 

Genug,  die  wichtigste  Erkenntnis  und  zweifeHos  ein  alter 
und  ausgereifter  Bestandteil  im  Denken  des  Verfassers  ist  der 
Gegensatz  des  naturwissenschaftlichen,  d.  h.  mathe- 
matisch-physikalischen und  des  historischen  Er- 
kennens,  wie  er  im  Gegensatz  des  Räumlich-Starren, 
Ausgedehnt-Meßbaren  und  Zeitlos-Allgemeingültigen  gegen  die 
Flüssigkeit,  Verschmolzenheit  und  Einmaligkeit  der  kontinuier- 
hchen  Werdezusammenhänge  sich  äußert.  Sp.  hebt  hervor, 
daß  das  nicht  einfach  der  Gegensatz  von  Sein  und  Bewegung 
ist,  da  die  Bewegung  ja  voh  der  Mechanik  räumlich  und  mathe- 
matisch behandelt  werden  kann.  Es  ist  vielmehr  der  Gegensatz  des 
Gewordenen,  in  räumliche  Form  und  Starrheit  Übergegangenen, 
zu  dem  immertätigen  Werden  selbst,  das  sich  überhaupt  nicht 
logisch,  sondern  nur  sachlich  oder  intuitiv  erfassen  läßt.  Somit 
tritt  der  Gegensatz  hervor  zwischen  Gesetz  und  Gestalt,  Kausali- 
tät und  Originalität,  Systematik  und  Physiognomik,  Allgemein- 
gültigkeit und  Individualität,  Kausalerklärung  und  Schicksal, 
Einzelerklärung  und  Zusammenschau.  Damit  ist  gegeben, 
daß  die  historischen  Begriffe  nicht  ohne  Einführung  des  Unter- 
schieds von  Unterbewußtsein  und  wachem  Bewußtsein  und 
nicht  ohne  die  Zugrundelegung  eines  Begriffes  des  historischen 
Sinnzusammenhanges  oder  Wertes  durchführbar  sind,  welch 
letzterer  freilich  vom  pragmatischen  und  bewußten  ,, Zweck" 
sorgfältig  unterschieden  werden  muß.  Besonders  interessant 
sind  Sp.s  Ausführungen  über  den  Begriff  der  historischen  Zeit, 
die  nur  Mißverständnis  mit  dem  Raum  als  analoge  apriorische 
Anschauung  verkuppeln  könne,  die  vielmehr  durch  den  Begriff 
des  Möglichen,  der  Gerichtetheit  und  Nicht- Umkehrbarkeit 
bestimmt  sei  und  in  Wahrheit  nur  erlebt,  nicht  begriffen,  ge- 
messen und  konstruiert  werden  könne.  Es  sind  das  heute  viel- 
fach vertretene  Ansichten  von  größter  Bedeutung,  die  ich  auch 
meinerseits  für  schlechthin  entscheidend  halte.  Vieles  bleibt 
bei  Sp.  offen  oder  widerspruchsvoll;  bald  ist  die  historische 
Erkenntnis  völlig  überlogisch  und  rein  künstlerisch,  bald 
spricht  er  von  einer  Logik  des  Organismus  und  von  Gesetzen 
des  Rhythmus,  wie  denn  in  der  Tat  eine  genauere  Beschreibung 

19* 


288  Literaturbericht. 

und  Normierung  des  logischen  Verfahrens  hier  möglich  sein  muß. 
Doch  kann  das  hier  nicht  weiter  verfolgt  werden. 

Der  hierbei  zugrundegelegte  Begriff  der  Individualität 
bezieht  sich  in  erster  Linie  auf  die  Individualität  der'  kollek- 
tiven Kulturzusammenhänge.  Sp.  bestreitet  daher  jede  Mensch- 
heitsgeschichte und  jeden  einheitlichen  Fortschritt.  Die  Uni- 
versalgeschichte zerfällt  ihm  in  7  oder  8  große  selbständige  und 
völlig  individuelle,  sich  gegenseitig  kaum  verstehende  Kultur- 
zusammenhänge von  jedesmal  eigentümlichem  „Seelentum" 
das  sich  vom  originalen  Ursprung  bis  zum  Niedergang  als 
Ausdruck  seiner  „Idee"  entwickelt.  Den  Organisationspunkt 
jedes  solchen  Seelentums  findet  er  wesentlich  in  ästhetisch- 
künstlerischen Grundvorstellungen,  die  ihm  —  das  ist  das 
Neue  —  mit  dem  jeweiligen  mathematisch-naturwissenschaft- 
lichen Weltbild  eng  zusammenhängen.  Diesen  radikalen  Unter- 
schied und  die  fast  völlige  gegenseitige  Unverstehbarkeit  über- 
trägt er  auch  auf  das  Verhältnis  von  Antike  und  Westeuropa; 
alle  unsere  Beziehungen  auf  die  Antike  seien  äußerlich  technisch 
und  illusionär.  Den  Grundgedanken  halte  ich  auch  hier  für  rich- 
tig; die  ästhetische  Einseitigkeit  der  Konstruktion  und  den 
Gegensatz  von  Antike  und  Moderne  halte  ich  —  trotz  einzel- 
ner ausgezeichneter  Beobachtungen  —  für  starke  Übertreibun- 
gen. Im  übrigen  wäre  die  Kritik  durch  einen  Mathematiker 
sehr  erwünscht,  soweit  die  Sätze  über  die  Mathematik  in  Be- 
tracht kommen.  Einer  unserer  bedeutendsten  Mathematiker 
und  Physiker  lehnte  freilich  jede  Lektüre  ab,  als  wir  ihn  um 
ein  Urteil  baten  und  die  Hauptsätze  Spenglers  andeuteten. 

Trotz  der  gegenseitigen  Unverstehbarkeit  und  der  angeb- 
lichen Unmöglichkeit  logischer  Begriffsbildung  auf  historischem 
Gebiet  unternimmt  nun  aber  doch  Sp.  zwischen  diesen  indi- 
viduellen Kulturverläufen  einen  vollständigen  Parallelis- 
mus des  Verlaufes  herzustellen,  ähnlich  wie  Lamprecht 
und  Breysig,  nur  aber  nicht  auf  Grund  psychologischer  Ge- 
setze, sondern  auf  Grund  morphologischer  Schau,  wie  man 
zoologische  oder  botanische  Entwicklungsstammbäume  neben- 
einander stellt  und  die  Homologien  feststellt.  Diese  Homologie 
wird  bei  ihnen  geradezu  zur  strengen  Gesetzmäßigkeit,  gestattet 
Erschließung  und  Rekonstruktion  vergessener  Perioden  und 
bei  unvollendeten  Kulturen  die  Vorausberechnung  ihres  Rest- 


Allgemeines.  289 


Verlaufes,  wovon  er  ja  gerade  in  bezug  auf  das  Abendland 
die  das  Buch  betitelnde  Anwendung  macht.  Freilich  ist  die 
Tabelle  dieser  Stammbäume  —  ähnliche  werden  von  dem 
Wiener  „Institut  für  Kulturforschung"  ausgearbeitet  —  das 
schwächste  und  verwegenste  Stück  des  Buches.  Sie  ist  nach 
Frühling,  Sommer,  Herbst  und  Winter  des  jeweiligen  Seelen- 
tums  gegliedert  und  in  jedem  dieser  Abschnitte  mit  ziemlich 
willkürlichen  Unterabschnitten  versehen.  Besonders  auffallend 
ist  die  Behandlung  von  Spätantike,  Christentum,  Diokletian, 
Justinian,  Mohammed  usw.  als  arabisch-magische  Kultur  und 
die  völlige  Beseitigung  der  Mittlerstellung  des  Christentums 
zwischen  Antike  und  Moderne,  Dinge,  die  nur  möglich  sind, 
wenn  man  die  spätantike  und  christliche  Literatur  nicht  kennt 
und  statt  dessen  sich  an  Mosaiken  und  Kuppelbauten  hält. 
Aus  dem  radikalen  Individualismus,  der  Zerteilung  der 
menschlichen  Vernunft  in  zahlreiche,  gänzlich  sich  fremde 
Seelentümer,  aus  der  Zuordnung  vor  allem  auch  der  verschie- 
denen Mathematiken  zu  verschiedenen  Kulturtypen  folgt  für 
Sp.  als  philosophische  Gesamttheorie  der  Skeptizismus,  die 
einzige  echte  Philosophie  für  tiefe  Denker,  vor  allem  für  solche 
der  völlig  ausgereiften  Verfallsperioden,  wie  unsere  eine  ist. 
Daß  hiergegen  alle  Argumente  gegen  die  Skepsis  sprechen,  und 
daß  er  selbst  die  Einheitlichkeit  und  Gleichartigkeit  der  Ver- 
nunft in  allen  seinen  Argumentationen  sowie  in  seinem  Paral- 
lelismus der  Entwicklungen  voraussetzt,  davon  soll  hier  nicht 
die  Rede  sein.  Ich  hebe  nur  hervor,  daß  seine  Geschichtsauf- 
fassung eben  damit  „tragisch"  wird.  „Im  Gesetz  liegt  die  Not- 
wendigkeit des  Mathematischen,  im  historischen  Schicksal  die 
des  Tragischen",  S.  223.  Man  könnte  in  einem  solchen  Satze, 
mindestens  im  ersten  Teil,  die  „Skepsis"  vermissen.  In  der 
Tat  stammt  der  tragische  Charakter,  wie  einst  bei  Schelling, 
vor  allem  aus  der  Vernichtung  und  Vergleichgültigung  des 
Einzelindividuums,  das  nur  Material  für  die  Realisation  einer 
individuellen  Kulturidee  ist  und  selber  nichts  davon  hat,  um 
so  mehr  als  die  eigentliche  Reife  stets  nur  ganz  kurz  dauert. 
Hier  ist  der  Gegensatz  des  sonst  vielfach  verwandten  Lotze 
und  vor  allem  Goethes  selbst,  der  nicht  tragisch  sondern  gläu- 
big war,  außerordentlich  lehrreich;  auch  Hegel  hat  doch  die 
Persönlichkeit  aus  der  Idee  mit  eigener  innerer  Seligkeit  erfüllt 


290  Literaturbericht. 

und  ihr  sogar  die  Unsterblichkeit  übriggelassen,  womit  die 
Tragik  bei  ihm  ausgeschlossen  war.  Die  Vorliebe  für  die  tra- 
gische Weltanschauung  ist  erst  mit  Schopenhauer  und  Hebbel 
und  dann  mit  dem  modernen  Ästhetentum  in  unser  deutsches 
Denken  gekommen.  In  Frankreich  als  sie  dem  Ausweichen  vor 
dem  Positivismus  in  den  Ästhetizismus  gefolgt.  In  England  | 
und  Amerika  ist  sie  unbekannt.  Insbesondere  ist  es  ein  inter- 
essanter Kontrast,  daß  das  junge  Frankreich  auf  einer  Bergson- 
schen,  Spengler  nahe  verwandten  Grundlage  Determinismus 
und  Ästhetizismus  und  damit  auch  die  Tragik  verabschiedet 
hat,  wie  man  aus  dem  äußerst  interessanten  Buche  von  E.  R. 
Gurtius  ,,Die  geistigen  Wegbereiter  des  heutigen  Frankreich" 
1919  ersehen  kann.  Sie  setzen  sich  auf  der  gleichen  Grundlage 
intuitiven  Denkens  für  Freiheit,  Schöpfung  und  Glauben  ein, 
auf  der  Sp.  für  Skepsis,  Tragik  und  Beschaulichkeit  plaidiert. 

Die  Skepsis  ihrerseits  ist  für  Sp.  das  Ende  und  die  Reife  der 
Philosophie.  Eine  auf  die  historische  Morphologie  begründete  ab- 
solute Skepsis  wird  die  einzige  uns  noch  übrigbleibende,  übrigens 
spezifisch-abendländische  Philosophie  sein,  die  kein  Grieche 
verstehen  würde  und  kein  Orientale  heute  versteht.  Eben  damit 
ist  aber  auch  diese  Philosophie  der  Skepsis  ein  neues  Zeugnis 
dafür,  daß  das  Abendland  in  seine  letzte,  seine  Unter- 
gangsperiode eingetreten  ist.  Damit  stehen  wir  wieder  bei 
der  schon  berührten  Theorie  vom  Untergang  des  Abendlandes, 
die  in  Wahrheit  so  locker  begründet  ist  wie  die  Theorie  der 
Skepsis  selbst.  Weitere  Begründungen,  wie  die  Parallele  von 
Stoizismus,  Buddhismus  und  Sozialismus  sind  geistreich  aber 
völlig  fragmentarisch. 

Ich  wiederhole:  das  Buch  ist  äußerst  interessant  und  blitzt 
von  guten  Gedanken;  es  zeigt  eine  gewisse  Größe  des  Wurfes 
und  auch  der  Gesinnung.  Es  erinnert  an  Hamann  oder  Herder, 
bisweilen  freilich  an  Chamberlain,  den  Rembrandt-Deutschen 
und  Lamprecht.  Die  Hauptsache  an  ihm  ist  aber  doch  die 
symptomatische  Bedeutung,  die  Bezeugung  der  geistigen 
Revolution.  Gegen  sie  ist  im  allgemeinen  nichts  einzuwenden, 
aber  sie  trä^t  gefährliche  Züge.  Es  wäre  lediglich  allerschwerster 
Verlust,  wenn  wir  den  mühsam  errungenen  kritischen  Ratio- 
nalismus, das  philologische  Element,  die  empirische  Exaktheit 
und  nüchterne  Kausalitätsforschung  einfach  preisgeben  wollten. 


Allgemeines.  291 

um  sie  dann  später  mühsam  wieder  erobern  zu  müssen  oder, 
wenn  dazu  Fähigkeit  oder  Wille  fehlen  sollten,  in  einer  erst 
geistreichen  und  dann  verworrenen  Barbarei  unterzugehen. 
I  Dann  wäre  das  Buch  und  die  von  ihm  vertretenen  Tendenzen 
selbst  ein  aktiver  Beitrag  zum  Untergang  des  Abendlandes. 
Gelingt  es  dagegen,  das  Neue  mit  dem  Alten  zu  verschmelzen, 
dann  hätten  wir  wieder  für  einige  Zeit  große  und  frische  Auf- 
gaben, über  denen  man  die  Untergangstheorie  auf  sich  beruhen 
lassen  und  die  Welt  Gott  anheimstellen  könnte,  wie  es  Sp.s 
Meister,   Goethe,  auch  getan  hat. 

Berlin.  Troeltsch. 

I 

I^Bas  geschichtliche  Wesen  und  Recht  der  deutschen  nationalen 
I^K  Idee.  Von  Prof.  Dr.  Julius  Kaerst,  Würzburg.  München, 
HL         C.  H.  Beck.    1916.    61  S. 

^V  Ich  versuche,  den  Inhalt  der  kleinen  Schrift  kurz  wiederzu- 
geben: der  große  Kampf,  den  das  deutsche  Volk  jetzt  zu  führen 
hat,  ist  ein  Kampf  um  sein  geistiges  Recht  in  der  Welt  (52).  Der 
besondere  geschichtliche  Beruf,  der  dem  deutschen  Volke  ge- 
wiesen ist,  tritt  vor  allem  in  der  entscheidenden  Rolle  zutage, 
die  das  deutsche  Wesen  in  einzelnen  schöpferischen  Perioden 
der  neuzeitlichen  Kultur  gespielt  hat  (37).  Die  moderne  geschicht- 
liche Entwicklung  beruht  auf  der  gegenseitigen  Durchdringung 
von  Universalismus  und  Nationalismus  (1).  Für  die  deutsche 
Auffassung  ist  der  universale  Beruf  des  deutschen  Wesens  vor 
allem  eine  sittliche,  geschichtliche  Aufgabe  (21).  Die  Höhe  der 
universalen  Tendenzen  des  modernen  Europa  bringt  die  Zeit 
der  Aufklärung  (8).  Sie  ist  in  ihrem  Wesen  vornehmlich  englisch 
und  französisch  (36),  individualistisch,  eudämonistisch  und,  be- 
sonders in  England,  utilitaristisch  und  positivistisch.  Sie  wird 
überwunden  durch  den  deutschen  ethischen  Individualismus  (15). 
Wohl  ist  auch  er  weltbürgerlicher  Herkunft  (17).  Aber  aus  der 
weltbürgerlichen  Tiefe  und  Weite  der  deutschen  Kultur  ent- 
wickelt sich  das  kraftvolle  Bewußtsein  eines  besonderen  natio- 
nalen Berufs  (20):  der  Universahsmus  wird  in  inneriichster  Weise 
mit  den  Kräften  eigenartigen  persönlichen  und  nationalen  We- 
sens durchdrungen  (43). 


292  Literaturbericht. 

Aus  zwei  tiefen  Wurzeln  ist  die  moderne  Kultur  erwachsen: 
Antike  und  Christentum.  Zwischen  ihnen  steht  das  germanische 
Element  (42),  von  beiden  auf  das  stärkste  beeinflußt.  Aber  die 
hohe  Schätzung  der  Persönlichkeit,  die  die  selbständige  Entfal- 
tung des  deutschen  Geistes  besonders  charakterisiert,  hat  noch 
mehr  im  Christentum  als  in  der  Antike  ihr  Vorbild  (46).  Die 
Beziehung  des  modernen  deutschen  Wesens  zur  Antike  ist  durchaus 
innerlich  (45),  aber  die  Reformation  in  ihrer  Entstehung  und  ihrer 
weiteren  Geschichte  vorwiegend  deutsch  (36).  So  ist  es  kein 
Zufall,  daß  für  die  Durchführung  des  aktiven  Charakters  der 
Religiosität  in  der  Persönlichkeit  gerade  dem  deutschen  Geist 
eine  führende  Rolle  zugefallen  ist  (47).  Grundsätzlich  wird  ge- 
rade als  religiöse  Forderung  schon  in  der  deutschen  Reformation 
der  selbständige  sittliche  Beruf  des  weltlichen,  insbesondere 
auch  des  staatlichen  Lebens  geltend  gemacht  (50).  In  dem  eigen- 
tümlichen Persönlichkeitsideal  und  der  Richtung  auf  die  selb- 
ständige innere  Entfaltung  des  nationalen  Geistes  findet  das 
moderne  deutsche  Wesen  einen  charakteristischen  Ausdruck  (31). 
Dies  neudeutsche  Persönlichkeitsideal  ist  durchaus  mit  dem 
Gemeinschaftsgedanken  verwachsen  (51).  Schöpferisches  Han- 
deln aus  dem  eigenen  Wesen  heraus,  Selbsttätigkeit  und  Selbst- 
verantwortlichkeit gegenüber  den  Aufgaben  der  Gemeinschaft 
ist  Freiheit  (27).  Die  Tätigkeit  in  der  Welt  erscheint  uns  als  be- 
sonderer sittlicher  Beruf  (51),  des  Einzelnen  und  der  Nation. 
Das  Recht  der  Persönlichkeit,  sich  in  voller  Einheit  und  Tiefe 
ihres  Wesens  zu  entfalten,  wird  zu  einer  Pflicht  gegen  die  Gemein- 
schaft (23). 

Die  Staatsauffassung  unserer  nationalen  Erhebungszeit 
zeigt  neben  dem  demokratischen  Zug,  der  Aufklärung  und 
Weltbürgertum  eigen  ist,  ein  entschieden  aristokratisches  Ele- 
ment: die  Ausbildung  der  Persönlichkeit,  die  Selbständigkeit 
der  einzelnen  Lebenskreise  (28).  Für  jeden  wahren  Fortschritt 
der  modernen  Menschheit  erscheint  auch  der  demokratische  Ge- 
danke als  notwendige  Voraussetzung,  aber  diese  Demokratie 
empfängt  ihr  Maß  und  ihre  Regel  durch  die  Idee  des  geschicht- 
lichen Staats  und  der  geschichtlichen  nationalen  Kultur  (59). 
Nur  insoweit  sie  dieser  Idee  dient,  hat  sie  ihr  Recht  und  kann 
sie  wohltätige  Kraft  unseres  nationalen  Lebens  werden.  Der 
demokratische  Zug  unseres   Staatslebens  hat  sich  zunächst  in 


m 


Allgemeines.  293 

bestimmten  aligemeinen  Pflichten  der  Volksgenossen  bezeugt, 
d.  h.  daß  auch  unsere  demokratische  Entwicklung  von  Anfang 
an  in  den  Dienst  einer  starken  Staatsidee  gestellt  ist  (60). 

Weltweite  und  Welttiefe  der  Kultur  auf  der  einen  Seite, 
Festigkeit  des  nationalen  Wesens  anderseits  stehen  nicht  in 
Gegensatz  zueinander.  Die  Idee  organisierter  internationaler 
Vereinigung  ist  nicht  bloß  Utopie;  sie  führt  zur  Schwächung 
der  geistigen  Kraft  und  Sicherheit  nationalen  Lebens  und  ge- 
fährdet damit  den  inneren  Reichtum  und  die  Tiefe  allgemein 
menschlicher  Entwicklung  (57).  Gegenseitige  Anpassung  be- 
deutet einen  die  nationale  Kraft  abschließenden  Internationalis- 
us  und  ist  daher  nicht  Endzweck  geschichtlichen  Lebens  (57). 
nsere  Aufgabe  ist,  der  Menschheit  durch  die  Stärkung  unseres 
eigenen  Wesens  zu  dienen  (57).  Der  schon  von  Justi  verurteilte, 
in  unsern  Tagen  des  großen  Kriegs  wieder  betonte  Gleichgewichts- 
gedanke, der  an  sich  etwas  Berechtigtes  hat,  entspricht  mehr 
einer  entweder  utopischen  oder  für  bestimmte  Machtinteressen 
ausgebeuteten  Idee  europäischer  Solidarität,  als  daß  er  den  ge- 
eignetsten Ausdruck  der  höchsten  Bedürfnisse  gerade  nationaler 
Entwicklungen  darstellen  könnte.  Der  gegenwärtige  Krieg 
zeigt  die  innere  Unwahrheit  der  europäischen  SoHdaritätsidee 
in  greller  Beleuchtung  (54).  Es  steht  mit  den  tiefsten  Lebens- 
trieben unserer  Geschichte  in  Zusammenhang,  daß  die  stärkste 
Entfaltung  der  Machtpolitik  im  Bismarckschen  Zeitalter  den 
deutschen  Staat  in  bewußter  und  absichtlicher  Beschränkung 
auf  die  Lebensnotwendigkeiten  der  eigenen  Nation  gestellt  hat 
(56).  Was  unserer  Zeit  not  tut  und  in  ihr  sich  bereits  vollzieht, 
ist  die  innere  Verbindung  des  Bismarckschen  staatlichen  Geistes 
mit  dem  Geist  der  vaterländischen  Erhebung  vor  hundert  Jahren, 
des  friderizianisch-preußischen  Machtgedankens  mit  unserer  natio- 
nalen geistigen  Bildung  (58). 

(Tübingen.  K.  Jacob. 

iitfragen  deutscher  Nationalerziehung.    Sechs  Vorlesungen  von 
Ernst  Meumann,  herausgegeben  von  G.  Anschütz.   Leipzig, 
Quelle  &  Meyer.     1917.     143  S.    Geh.  2,60  M.,  geb.  3,20  M. 
Der   bekannte   verstorbene   Begründer  der  experimentellen 
ädagogik  hat  im  Spätjahr  1914  sechs  Vorlesungen  vor  einer 
I      großen  Zuhörerschaft  gehalten;  jetzt,  geraume  Zeit  nach  seinem 


294  Literaturbericht. 

Tode,  werden  sie  herausgegeben.  Meumann  beschränkt  sich 
hier  nicht  auf  Erziehung  der  Jugend;  das  ganze  Volk  vielmehr 
ist  Gegenstand  seiner  Sorge,  er  schreibt  über  Volkserziehung  und 
erklärt  diese  als  planmäßige  und  systematische  Organisation  der 
inneren  Kultur  des  Volkes.  Dieses  ungeheure  Thema  schränkt 
er  dadurch  ein,  daß  er  nur  von  der  Erziehung  des  National- 
bewußtseins handelt,  nur  vom  deutschen  Volke  spricht.  Die 
Vorlesungen  sind  durchaus  Erzeugnisse  der  gehobenen  und  er- 
regten Stimmung  zu  Anfang  des  Krieges,  sie  haben  damals  sicher- 
lich gewirkt;  es  war  ein  Verdienst,  den  herrschenden  Gefühlen 
Ausdruck  zu  geben  und  aus  der  Aufregung  des  Tages  das  ange- 
spannte Gemeingefühl  zum  Nachdenken  über  wichtige  Fragen  zu 
erhöhen.  Daß  aber  diese  Vorlesungen  jetzt  gedruckt  werden, 
erscheint  höchst  überflüssig.  Sie  enthalten  nirgends  einen  Ge- 
danken oder  auch  nur  eine  Prägung,  die  über  das  Bekannte  und 
oft  Gesagte  hinausreicht,  nirgends  eine  wissenschaftliche  Klärung, 
deren  doch  Begriffe  wie  Nation,  Nationalgefühl  usf.  gar  sehr  be- 
dürfen, nirgends  auch  einen  großgedachten  Vorschlag  von  be- 
sonderer Eigenart  oder  eine  wirklich  eingehende  Kritik  fremder 
Vorschläge.  Nation  und  Staatsvolk  scheinen  sich  für  M.  zu 
decken  —  man  ist  geradezu  erschrocken  über  die  enge  Auffassung 
des  Deutschtums,  wenn  man  (S.  53)  G.  Keller  und  C.  F.  Meyer 
als  fremdnationale  Dichter  angeführt  liest.  Was  M.  über  die 
einzelnen  Volkscharaktere  sagt,  geht  nirgends  über  die  land- 
läufigen Urteile  und  Vorurteile  hinaus.  Als  Beispiel  für  seine 
Vorschläge  sei  angeführt,  daß  er  als  Mittel  der  Preßreform  fordert, 
nur  Journalisten,  die  eine  bestimmte  politische,  nationalökonomi- 
sche und  historische  Vorbildung  nachweisen  können,  sollen  das 
Recht  haben,  in  die  Redaktionen  großer  Zeitungen  einzutreten 
(119).  Daß  M.  solche  Einfälle  in  einem  Vortrag  improvisiert  hat, 
setzt  ihn  nicht  herab.  Manches  mag  gelegenthch  gesagt  werden, 
was  nicht  gedruckt  zu  werden  braucht.  Die  pädagogische  Literatur 
zumal,  überreich  an  breiten  Bettelsuppen,  sollte  nicht  durch  solche 
Nachlaßpublikationen  aufgeschwemmt  werden.  Die  Verlags- 
buchhandlung hat  dem  Buche  einen  Waschzettel  beigegeben, 
dessen  bombastischen  Ungeschmack  man  sich  im  Namen  des 
verdienten  Forschers  Ernst  Meumann  verbitten  muß. 

Frei  bürg  i.  Br.  Jonas  Cohn. 


tf 


IT. 


Allgemeines.  295 

Biographisches  Jahrbuch  und  Deutscher  Nekrolog,  herausgegeben 
von  Bettelheim.  18.  Bd.  Vom  1.  Januar  bis  31.  Dezember 
1913.    Berlin,  Georg  Reimer.     1917. 

Unter  den  Toten  dieses  Bandes  bilden  die  Maler  eine  be- 
sonders zahlreiche  Gruppe,  neben  ihnen  Journalisten  und  andere 
Schriftsteller.      Unter   diesen    nehmen    Wilhelm    Jensen,    Adolf 
ilbrandt,   Ludwig   Pietsch,   Adolf   L'Arronge   und   andere   be- 
nnte  Namen  das  Interesse  stark  in  Anspruch   und  bieten  dem 
chdenklichen  Leser  vielfach  Gelegenheit  zu  tieferen  Einblicken 
die  Entwicklung  unseres  geistigen  Lebens  im  Laufe  des  letzten 
ahrhunderts.     Unter  den  Politikern  ist  dem  Chefredakteur  des 
ester  Lloyd,  Max  Falk  (geb.  1825,  gest.  1908),  ein  sehr  ausführ- 
her  Artikel  gewidmet    S.  307 — 318.    Eduard   von  Wertheimer 
hildert  den  großen   Einfluß  und  die  bedeutenden   Verdienste 
ieses   Mannes  mit  fast  überschwenglichen  Worten.     „Mancher 
hef    der   jeweiligen   ungarischen    Regierung   zitterte   für  seine 
tellung,  wenn  Falk  ihn  in  einem  geharnischten  Artikel  angriff, 
seiner  Redaktion  ging  es  oft  wie  in  einem  Ministerrate  zu. 
ie  Hintertür  seines  Zimmers  war  eigentlich  das  Hauptportal, 
urch  das  die  ersten  Männer  Ungarns  ein-  und  ausgingen,  um 
n  wichtigen  Konferenzen  im  Salon  neben  seinem  Bureautisch 
ilzunehmen." 

Ein  breiter  Raum  wird  Bebeis  Andenken  gewidmet,  S.  215 
is  229,  und  der  Zufall  fügt  es,  daß  seine  Biographie  zwischen 
ei  der  bedeutendsten  Staatsmänner  der  Neuzeit  gesetzt  ward, 
ischen  die  österreichischen  Minister  Unger  und  Aehrenthal. 
ebel  begann  seine  politische  Tätigkeit  als  ein  maßvoller  Re- 
former, bekämpfte  1863  das  allgemeine  Wahlrecht,  weil  die  Ar- 
beiter dafür  noch  nicht  reif  seien  und  im  Sommer  1865  sammelte 
er  noch  mit  und  bei  den  Nationalliberalen  Geld  „zur  Bekämpfung 
des  Lassalleanismus**.  Bebel  wurde  dann  durch  Marx'  Schriften 
um  Sozialisten,  aber  wer  Marx  „Kapital"  gelesen  hat,  der  wird 
verstehen,  daß  Bebel  durch  dies  Werk  mehr  erregt  und  an- 
geregt als  geklärt  werden  konnte,  denn  in  diesem  Werk  ringt 
Marx  selbst  noch  sehr  mit  Tatsachen  und  Vorurteilen.  Unter 
em  Einfluß  dieser  mit  Hegeischen  Schlagworten  arbeitenden 
tarken  Persönlichkeit  hat  Bebel  dann  im  Strome  des  Lebens 
sein  System  gewonnen  und  im  Kampf  um  die  Grundgedanken 
und  die  ihm  vom  Leben  und  der  Lebensnot  der  Arbeiter  aufge- 


296  Literaturbericht. 

drängten  Ansichten  hat  er  dann  die  Probleme  mit  seiner  Begeiste- 
rung und  seinen  reichen  Gaben  zu  lösen  versucht.  Das  Nürn- 
berger Programm  von  1868  mit  dem  Satz:  „Die  soziale  Frage  ist 
. . .  untrennbar  von  der  politischen,  ihre  Lösung  durch  diese  be- 
dingt und  nur  möglich  im  demokratischen  Staate",  ist  das  Pro- 
gramm seines  weiteren  kampferfüllten  Lebens  geblieben,  *obschon 
es  gerade  die  Monarchie  war,  und  zwar  das  deutsche  Königtum, 
das  die  soziale  Reform  in  großem  Stile  in  Angriff  nahm,  während 
die  demokratischen  Republiken  Frankreich,  England  und  Nord- 
amerika darin  weit  zurückblieben.  Die  Ansichten  Bebeis,  sowie 
die  begeisterte  und  begeisternde  Rede  des  ganz  nach  Propheten- 
art wirkenden  Mannes  ist  in  dem  Artikel  votrefflich  geschildert, 
in  dessen  Wesen  sich  „Revolutionär  und  Reformer  ...  in  ganz 
eigenartiger  wenn  auch  nicht  in  widerspruchsloser  Weise  ver- 
banden". Bebel  erwartete  einen  Weltkrieg,  dessen  Elend  die 
Massen  zu  der  Frage  nötigen  werde:  ,,für  wen  und  für  was 
denn  das  alles?"  Dann  komme  der  Untergang  des  Kapitalismus. 
Wenn  er  heute  lebte  und  die  Rote  Garde  wüten  sähe,  würde  ihm 
vielleicht  auch  die  Frage  kommen,  ob  sich  eine  neue  Ordnung 
auf  die  aufgelösten  Massen  des  allgemeinen  Stimmrechts  und  des 
von  aller  Zucht  befreiten  Egoismus  werde  gründen  lassen.  Der 
Artikel  ist  von  P.  Kampffmeyer  mit  vortrefflicher  Kenntnis  und 
ruhigem  UrteU  geschrieben. 

Voll  Begeisterung  für  seinen  Helden  hat  Egon  Zweig  den 
Artikel  über  Joseph  Unger,  den  großen  Juristen  und  so  klugen 
wie  hingebend  wirkenden  und  tapfer  für  seine  Überzeugung 
kämpfenden  Politiker,  geschrieben,  S.  187 — 215,  und  doch  hat 
man  den  Eindruck,  daß  dem  bedeutenden  Manne  nur  die  Ehre 
gegeben  wird,  die  ihm  gebührt.  Unger  war  1828  in  kleinen  Ver- 
hältnissen geboren,  aber  sein  Tod  1913  war  ein  Ereignis,  das  die 
kräftigsten  Persönlichkeiten  des  österreichischen  Staatswesens 
tief  bewegte.  Als  Gelehrten  preist  man  ihn  als  den  Bahnbrecher 
für  die  neuen  Wege,  auf  denen  Österreich  sein  Rechtsleben  von 
alten  Fesseln  befreite,  und  als  Politiker  kämpfte  er  um  das  hohe 
Ziel:  „Österreichs  Völker  zu  einem  von  den  Ideen  des  Rechts 
und  der  Freiheit  getragenen  Staate  zu  einigen",  wie  es  Unger 
in  einer  von  ihm  entworfenen  Thronrede  aussprach.  Sein  Kämpfen 
war  vergebens,  1879  schied  er  aus  dem  Ministerium  mit  den 
bitteren   Worten:   „Das   hätte   eine   Regierung  nicht   verdient. 


Allgemeines.  297 

die  aus  Männern  bestand,  welche  sich  nicht  ans  Portefeuille 
kiammern,  sondern  sehnsüchtig  jenen  Augenblick  erwarten,  wo 
sie  von  ihren  schwierigen  Posten  endlich  abgelöst  werden,  die  sie 
in  der  Tat  nur  mit  Selbstaufopferung  noch  inne  haben."  Wie 
haben  sich  seitdem  die  Zeiten  gewandelt  und  Österreichs  Nöte 
erhöht!  Ein  Programm,  wie  es  Unger  vorschwebte,  wird  jetzt 
kein  Minister  Österreichs  mehr  aufstellen  können:  Aber  um  so 
notweridiger  ist  es,  sich  die  Kämpfe  jener  Tage  und  das  Wirken 
solcher  Männer  in  das  Gedächtnis  zurückzurufen. 

Von  Graf  Alois  Aehrenthal  sagt  sein  Biograph  Molden  (S.  230 
bis  243),  er  habe  als  österreichisch-ungarischer  Minister  vom 
24.  Oktober  1906  bis  zu  seinem  Tode,  17.  Februar  1913,  „zum 
ersten  Male  nach  einer  durch  zerrüttende  innere  Kämpfe  ange- 
füllten Pause  die  Monarchie  wieder  als  selbständig  handelnde 
Person  in  die  Geschichte  Europas  eingeführt.  Seine  wichtigste 
Tat  war  die  Annexion  Bosniens  und  der  Herzegowina,  und  auch 
die  Gegner  mußten  anerkennen,  daß  er  durch  seine  tapfere  Durch- 
führung des  viel  bestrittenen  Planes  „das  Selbstvertrauen  (des 
Staates)  weckte  und  stärkte,  und  die  Zuversicht,  die  ihn  erfüllte, 
auf  viele  Hunderttausende,  die  sie  schon  verloren  hatten,  über- 
trug". 

Von  den  übrigen  Artikeln  hebe  ich  noch  den  von  Merkle 
verfaßten  über  den  gelehrten  und  auf  vielen  Gebieten  erfolgreich 
wirksamen  Dominikaner  Heinrich  Denifle  hervor,  sodann  die 
liebevolle  Charakteristik  des  zuletzt  auf  den  theologischen  Kampf- 
platz tretenden  Juristen  Friedrich  Thudichum  von  Professor 
Hartmann,  0.  Redlichs  reichen  Artikel  über  Erzherzog  Rainer 
von  Österreich,  den  sorgsamen  Kurator  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  Wien,  und  verweile  noch  bei  den  zu  früh  aus  reicher 
Forscherarbeit  Abberufenen,  dem  Theologen  Kolde  und  dem 
Literarhistoriker  Erich  Schmidt.  Kolde,  geb.  1850,  gest.  1913, 
stammte  aus  einer  schlesischen  Theologenfamilie  und  mußte  sich 
schwer  die  wissenschaftliche  Muße  erkämpfen,  um  die  Forschungen 
über  Luther  und  die  Reformationszeit  durchzuführen,  die  den 
Mittelpunkt  seiner  Lebensarbeit  bildeten.  Die  Universität  Er- 
langen, an  der  Kolde  von  1880  bis  zu  seinem  Tode  wirkte,  hat  in 
Kolde  einen  für  alle  Seiten  des  Universitätslebens  eifrig  bemühten 
und  mit  lebendiger  Kraft  wirkenden  Lehrer  gehabt.  Gegen  die 
mannigfaltigen  Versuche  katholischer  Schriftsteller,  von  Majunke 


298  Literaturbericht. 

bis  Denifie,  Luthers  Bild  zu  beschmutzen  und  sein  Wirken  zu 
verkleinern,  war  Kolde  stets  rüstig  auf  dem  Kampfplatz.  Von 
Erich  Schmidt  (geb.  1853,  gest.  1913)  entwirft  sein  begeisterter 
Schüler  A.  v.  Weilen  ein  die  Entwicklung  des  Menschen  und  des 
Gelehrten  mit  gründlicher  Kenntnis  gezeichnetes  Bild.  Führt 
aber  auch  die  Liebe  die  Feder,  so  ist  er  doch  ein  zu  getreuer  Schüler 
des  Verehrten,  um  nicht  die  Kritik  zu  üben  an  den  Werken  des 
Lehrers.  Er  ist  sich  dessen  bewußt,  daß  er  sonst  gegen  die  ganze 
Anschauung  Schmidts  verstoßen  würde.  Schmidts  Laufbahn 
ging  im  Fluge  von  Erfolg  zu  Erfolg,  aber  wie  er  über  David  Strauß, 
über  Gervinus,  über  Haym  und  viele  andere  doch  teilweise  recht 
einseitige  Urteile  fällte,  so  wird  schon  jetzt  seine  Art  zu  urteilen 
von  manchem  guten  Kenner  verurteilt  werden.  Vor  allem  wird 
auch  die  philosophische  Grundlage  seines  Urteils  über  Wesen  und 
Bedeutung  der  literarischen  Entwicklung  eines  Volkes  heute  von 
vielen  bemängelt  werden,  wenn  sie  sich  auch  von  dem  dürftigen 
MateriaHsmus  der  in  seines  Lehrers  Wilhelm  Scherer  Zeit  herr- 
schenden Weltanschauung  zu  befreien  begann. 

Breslau.  G.  Kaufmann. 

Karl    Lampredit,    Rektoratserinnerungen.      Herausgegeben    von 
Dr.  Arthur  Köhler.    Gotha,  Fr.  Andr.  Perthes,  A.-G.  1917. 

Die  Betrachtungen  beginnen  mit  einer  Schilderung  der 
äußeren  Vorgänge,  die  Lamprechts  Rektoratsjahr  einleiteten, 
und  einiger  Repräsentationsreisen  nach  Christiania  und  St.  An- 
drews. Aber  sie  erheben  sich  sehr  bald  zu  grundsätzlichen  Er- 
örterungen von  allgemeinen  Hochschulfragen,  die  über  den  Rahmen 
von  nur  persönlichen  Erinnerungen  weit  hinausgreifen.  Der  viel- 
seitig angeregte,  nach  organisatorischem  Wirken  verlangende 
Mann  hatte  Pläne  aller  Art  in  der  Stille  vorbereitet.  „Ich  trug", 
so  bekennt  er  selbst,  „in  mir  all  die  Sehnsucht,  praktisch  zu 
handeln,  die  den  bis  dahin  theoretisch  tätigen  Mann  der  fünfziger 
Jahre  kennzeichnen  mag,  und  ich  wußte  mich  im  Anfang  einer 
Amtstätigkeit,  die  mir  nach  so  vielen  Seiten  freie  Bewegung  zu 
sichern  schien."  Ihm  erschien  das  gesamte  innere  und  äußere 
Leben  der  Universität  hinter  der  Entwicklung  Deutschlands 
zurückgeblieben,  ihr  geistiger  Horizont  zu  eng  geworden,  ihre 
Organisation  (namentlich  bei  den  Geisteswissenschaften)  durch 


Allgemeines.  299 

den  arbeitsteiligen  Betrieb,  in  dem  keine  Einheit  oder  Synthese 
mehr  zu  gewahren  ist,  bedroht.  Diese  Kritik  hatte  ihn  schon 
lange  zu  bestimmten  positiven  Vorschlägen  geführt,  die  er  alsbald 
in  Wirklichkeit  umzusetzen  unternahm;  denn  er  faßte  sein  Amt 
nicht  nur  als  einen  Repräsentations-  oder  Verwaltungsposten  auf, 
sondern  hatte,  wie  er  schreibt,  „die  entschiedene  Absicht  zu 
regieren".  Er  versuchte  —  nach  seiner  Darstellung  — ,  den 
internationalen  und  universellen  Zug  durch  Ausdehnung  der 
zunächst  für  Berlin  begründeten  Einrichtung  der  Austausch- 
professur auf  Leipzig  zu  stärken.  Er  schuf  eine  akademische 
Auskunftsstelle,  er  suchte  die  aus  der  übergroßen  Frequenz  sich 
ergebenden  Universitätsnöte  durch  weitausholende  Erwägungen, 
die  sich  bis  zu  der  durchdachten  Idee  einer  Universitätsstadt 
nach  amerikanischem  Muster  erhoben,  zu  beheben;  durch  ihn 
erhielt  die  von  ihm  aufmerksam  verfolgte  Umbildung  des  studenti- 
schen Lebens  in  Leipzig  eine  neue  Regelung.  Das  Wichtigste 
aber,  was  er  anstrebte,  war  eine  grundlegende  Reform  des  inneren 
Betriebes  der  Universitäten.  Allen  Vertretern  der  Wissenschaft 
an  den  Universitäten,  namentlich  auch  den  jüngeren,  volle  Freiheit 
ihres  Schaffens  zu  gewährleisten,  um  sich  uneingezwängt  von 
allen  wissenschaftlichen  Lebensgewohnheiten  der  absterbenden 
Generation  den  großen  Aufgaben  der  Gegenwart  zu  widmen, 
und  Mittel  zu  finden,  um  die  Kluft  zwischen  dem  praktischen 
und  dem  theoretischen  Ideal  der  Universität,  zwischen  der 
Universität  als  Lehrstätte  und  als  Forschungsstätte,  auszufüllen 
und  damit  zugleich  auch  den  Forderungen  der  Nichtordinarien- 
bewegung  entgegenzukommen:  so  umschreibt  Lamprecht  das 
Ziel,  das  ihn  bei  seinen  Bemühungen  einer  methodischen  Fort- 
bildung der  Institute  im  Sinne  von  Forschungsinstituten  in  Ver- 
bindung mit  e'ner  Staffelung  der  Übungen  an  ihnen  geleitet  habe. 
Offenbar  schwebte  ihm  eine  Erweiterung  dessen  vor,  was  er  in 
seinem  kultur-  und  universalgeschichtlichen  Institut  sich  geschaffen 
hatte.  Freilich  ist  das  von  ihm  erstrebte  einheitliche  alle  ge- 
schichtlichen Wissenschaften  umfassende  Institut  nicht  zustande 
gekommen.  Zwar  verstand  Lamprecht,  beträchtliche  Geldmittel 
für  diesen  Zweck  flüssig  zu  machen;  aber  die  Idee  des  einen  In- 
stitutes teilte  sich  in  die  zahlreicher  selbständiger  Institute  und 
auch  diese  schrumpften  schließlich  auf  die  Berechtigung  der 
Seminardirektoren  zusammen,  die  zugleich  als   Leiter  der  ein- 


300  Literaturbericht. 

zelnen  Foschungsinstitute  figurieren,  eine  gewisse  Quote  der 
jährlich  verfügbaren  Mittel  zur  freien  Unterstützung  wissenschaft- 
licher Forschungen  zu  verwenden. 

NatürHch  ist  das  Büchlein,  das  nicht  nur  Erinnerungen, 
sondern  auch  Zukunftsforderungen  gibt,  im  einzelnen  wie  im 
ganzen  stark  subjektiv.  Bei  der  Erwähnung  von  persönlichen 
Angelegenheiten  hat  der  Herausgeber  sogar  eine  „schonendere" 
Fassung  gewählt.  Das  tatsächlich  Berichtete  dürfte  gewiß  der 
Ergänzung,  vielleicht  auch  der  Berichtigung  durch  andere  Quellen 
bedürftig  sein.  So  hat  z.  B.  der  Herausgeber  eine  eingehendere 
Schilderung  der  schweren  Krisen,  die  das  Projekt  der  Forschungs- 
institute durchzumachen  hatte,  im  Druck  weggelassen,  da  sie 
,,sich  für  die  Veröffentlichung  nicht  eignet".  Gleichwohl  ist  die 
kleine  Schrift  ein  interessanter  Beitrag  zur  deutschen  Universitäts- 
geschichte und  auch  zur  Würdigung  von  Lamprechts  Persönlich- 
keit und  Wirken. 

Halle  a.  d.  Saale.  Frischeisen- Köhler. 

Die  Abkürzungen  in  den  Kölner  Handschriften  der  Karolingerzeit, 
von  Hans  Foerster.  Inauguraldissertation  zur  Erlangung  der 
Doktorwürde,  genehmigt  von  der  Philosophischen  Fakultät 
der  Friedrich -Wilhelms -Universität  zu  Bonn.  Tübingen, 
Druck  von  H.  Laupp  jr.    1916.    VIII  u.  119  S. 

Die  Untersuchungen,  welche  Ludwig  Traube  dem  Kürzungs- 
wesen der  ältesten  lateinischen  Buchschriften  und  im  besonderen 
den  Nomina  sacra  widmete,  sind  nach  seinem  Tode  von  eng- 
lischer, italienischer  und  schweizerischer  Seite  weitergeführt 
worden.  Dabei  war  es  namentlich  W.  M.  Lindsay,  Professor  an 
der  schottischen  Universität  St.  Andrews,  der  seit  1908  in  den 
Veröffentlichungen  seiner  Hochschule,  in  den  Melanges  offerts 
ä  M.  E.  Chatelain,  in  der  Revue  des  bibliotheques  und  in  dem 
Zentralblatt  für  Bibliothekswesen  die  Entwicklung  des  Kürzungs- 
wesens an  verschiedenen  Schreibstellen  des  Festlandes  und  der 
britischen  Inseln  zunächst  einzeln  verfolgt  und  schließHch  in 
einem  eigenen  Werke,  Notae  Latinae  (Cambridge  1915),  seine 
einschlägigen  Beobachtungen  und  Ansichten  zusammengefaßt  hat. 
Auch  Foersters  Arbeit,  die  unter  beratender  Anteilnahme  von 
W.  Levison  zustande  kam,  verdankt  einer  von  Lindsay  beein- 
flußten Anregung  Aloys  Schultes  ihren  Ursprung. 


Mittelalter.  301 

Die  Erhaltung  von  19  sicher  beglaubigten  Kölner  Hand- 
schriften des  9.  Jahrhunderts  in  der  dortigen  Dombibliothek 
schuf  eine  günstige  Grundlage,  von  welcher  der  Verfasser  mit 
großem  Fleiß  Gebrauch  machte.  Seine  Mitteilungen  über  die  in 
diesem  Bestand  angetroffenen  Kürzungen  gehen  sehr  ins  Ein- 
zelne, sie  beziehen  sich  z.  B.  bei  dem  Zahlwort  secundus  und 
seinen  Nebenformen  oder  bei  dem  kleinen  Wörtchen  que  (quae) 
jedesmal  auf  mehr  als  30  verschiedene  Kürzungsarten;  und 
vielfach  ist  nicht  bloß  die  Handschrift,  in  der  diese  oder  jene 
Form  vorkommt,  angegeben,  sondern  auch  die  Fundstelle  genauer 
durch  die  Blattzahl  bezeichnet  worden.  Als  Hauptziel  dieser 
großen  Sammelarbeit  scheint  dem  Verfasser  die  Beurteilung  des 
„insularen"  Einflusses  auf  die  Kölner  Schreibschule  vorgeschwebt 
zu  haben.  Er  konnte  feststellen,  daß  es  nicht  so  sehr  angelsächsi- 
scher als  irischer  Einschlag  ist,  der  sich  in  den  Kölner  Hand- 
schriften da  und  dort  bemerkbar  macht.  Die  andere  Frage, 
ob  diese  Erscheinung  durch  die  benutzten  Vorlagen  oder  durch 
die  Herkunft  der  betreffenden  Schreibkräfte  zu  erklären  sei, 
bleibt  offen.  Um  in  dieser  Hinsicht  weiter  zu  gelangen,  bedürfte 
es  wohl  hauptsächlich  genauer  Scheidung  der  Hände  und  sonstigen 
Entstehungsverhältnisse  des  cöd.  83  H,  die  man  bei  F.  um  so 
mehr  vermißt,  als  er  in  einem  anderen  Fall,  bei  dem  unter  Erz- 
bischof Hildebald  geschriebenen  Psalmenkommentar  Augustins, 
die  Kürzungen  aufs  genaueste  getrennt  nach  den  zehn  hieran 
beteiligten  Schreiberinnen  verzeichnet  hat. 

Gewisse  Bedenken  erweckt  die  Einteilung,  nach  welcher  F. 
den  gesammelten  Stoff  gliedert.  Was  er  in  der  ersten  Abteilung 
unter  der  Überschrift  ,, Zeichen  aus  den  tironischen  Noten** 
einreiht,  berührt  sich  zwar  mit  der  römischen  Kurzschrift,  weicht 
aber  doch  zumeist  von  den  in  den  Commentarii  notarum  Tironia- 
narum  überlieferten  Formen  ab;  wollte  man  deshalb  an  eine 
verlorene  Gestalt  dieses  Lexikons  denken,  wie  ja  aus  anderen 
Gründen  Chatelain,  Introdudion  ä  la  ledure  des  notes  Tironiennes 
S.  117,  für  Bobbio  ein  besonderes  System  der  tironischen  Schrift 
annahm  (s.  jetzt  Mentz  im  Archiv  f.  Urkundenforschung  4,  10  ff.; 
6, 17),  dann  ergibt  sich  vielleicht  auch  für  einige  von  F.  anderswo 
eingereihte  Kürzungen  die  Möglichkeit  tironischer  Herkunft; 
in  der  Tat  ist  kürzlich  Schiaparelli  im  Archivio  storico  lialiano, 
1914,   dafür   eingetreten,   einige   der   q-   und   p-Kürzungen   der 

Historische  Zeitschriff  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  20 


302  Literaturberichl. 

gewöhnlichen  Schrift  aus  tironischer  Quelle  abzuleiten.  Zu 
einem  Mißverständnis  könnte  auch  die  Benennung  der  zweiten 
von  F.  aufgestellten  Gruppe  „aus  den  Notae  iuris  stammende 
Kürzungen"  führen.  Lindsay  hat  schon  im  Zentralblatt  29, 
56 ff.  die  mißbräuchliche  Verwendung  des  Ausdrucks  Notae  iuris 
bekämpft  und  Steffens,  der  ihn  früher  angewandt  hatte,  ist  bei 
Behandlung  des  St.  Qaller  Materials  im  Zentralblatt  30,  477ff. 
mit  Recht  davon  abgegangen.  Den  Kölner  Schreibern  selbst 
will  F.  Beeinflussung  durch  die  Rechtshandschriften  oder  durch 
eines  jener  sog.  Verzeichnisse  der  Notae  iuris  allerdings  nicht 
zumuten;  aber  auch  in  bezug  auf  ihre  irischen  Lehrmeister,  von 
denen  noch  Traube  im  Neuen  Archiv  26,  234ff.  annahm,  sie 
hätten  ihre  Kürzungsweise  mit  Hilfe  irgendwelcher  Verzeichnisse 
solcher  Art  erfunden,  bestreitet  Lindsay  diese  Auffassung;  nicht 
eine  bewußte  Neuschöpfung  sondern  nur  ein  stärkerer,  auch  auf 
Reinschriften  ausgedehnter  Gebrauch  des  vordem  schon  in 
Glossen  und  nichtkalligraphischen  Werken  vorhandenen  Kürzungs- 
verfahrens sei  ihnen  zuzuschreiben.  Da  F.  in  diesen  Fragen, 
deren  Lösung  ein  tiefes  Eindringen  in  Überlieferungsart  und  Zu- 
sammensetzung jener  Nö/ö^- Verzeichnisse  und  in  die  neue  For- 
schung über  die  not.  Tir.  erforderte,  nicht  Stellung  nimmt,  so 
würde  eine  einfachere  Einteilung  des  Stoffes  in  Wortkürzungen 
und  Silbenkürzungen  und  besondere  Erörterung  der  Nomina 
Sacra,  sowie  der  technischen  und  unregelmäßigen  Kürzungen 
seinem  Zweck  besser  entsprochen  haben. 

Die  Schwierigkeiten  der  richtigen  Anordnung  sind  indes  dem 
Verfasser,  wie  seine  Einleitung  zeigt,  nicht  ganz  entgangen,  und 
er  hat  ihnen  durch  die  angehängte  alphabetische  Übersicht  der 
besprochenen  Kürzungen  in  dankenswerter  Weise  abzuhelfen 
gestrebt.  Gerade  dadurch  und  auch  durch  die  sorgfältige  Bezug- 
nahme auf  vorangegangene  Literatur  ist  seine  Arbeit  ein  nütz- 
licher Behelf  und  Ausgangspunkt  für  weitere  Studien  über  das 
Kürzungswesen  geworden.  Solche  Untersuchungen  liegen  freilich 
weit  ab  von  den  großen  Gegenwartsfragen,  aber  es  ist  zu  begrüßen 
und  zu  wünschen,  daß  auch  die  deutsche  Forschung  an  ihnen 
Anteil  nimmt,  und  es  ist  ein  denkwürdiges  Zeugnis  deutschen 
Geisteslebens,  daß  der  Verfasser  der  hier  gewürdigten  Arbeit, 
die  auf  den  Spuren  jenes  schottischen  Gelehrten  so  ernstlich  in 
die    neuaufgeworfenen     Fragen     alter    internationaler    Kultur- 


MitteUlter.  303 

beziehungen   eindringt,   bei   Versendung  seiner  Dissertation   als 
deutscher  Reserveoffizier  an  der  Westfront  stand. 

Graz.  W,  Erben. 

Die  karolingische  Klosterpolitik  und  der  Niedergang  des  west- 
fränkischen Königtums.  Laienäbte  und  Klosterinhaber.  Von 
Karl  Voigt.   (Kirchenrechtliche  Abhandlungen,  herausg.  von 

I  Ulrich  Stutz.  90  u.  91.)  Stuttgart,  F.  Enke.  1917.  XIV  u. 
265  S. 
Pöschl  (Bischofsgut  und  Mensa  episcopalis  111)  hatte  bereits 
hervorgehoben,  daß  für  die  Erstarkung  der  Laienaristokratie  der 
Übergang  von  Reichskirchen  in  den  Besitz  weltlicher  Großer  im 
9.  Jahrhunderte  eine  bedeutende  Rolle  gespielt  habe.  Behandelte 
er  vornehmlich  die  Mediatisierung  von  Bistümern,  so  will  diese 
Arbeit  zeigen,  wie  sich  in  dieser  Hinsicht  das  Schicksal  der  Königs- 
klöster im  westfränkisch-französischen  Reiche  gestaltet  hat. 

Die  Entwicklung  hier  geht  ja  der  im  ostfränkischen  Reiche 
nicht  nur  voraus,  sondern  übertrifft  sie  auch  an  Ausmaß  und  poli- 
tischer Folgewirkung  um  ein  Beträchtliches.  Der  Verfasser 
schildert  das  Verfahren  der  Karolinger  bei  der  Besetzung  und 
Verfügung  über  die  königlichen  Eigenklöster.  Er  meint  (S.  60), 
auch  während  der  Regierung  Ludwigs  d.  Fr.  könne  man  von 
einem  wirklichen  Überhandnehmen  der  Vergebung  von  Klöstern 
an  weltliche  Große  nicht  sprechen.  Zu  seiner  Zeit  hätten  die 
Dinge  im  allgemeinen  keinen  für  die  kirchlichen  Zustände  wirk- 
lich bedrohlichen  Charakter  angenommen.  Das  sei  erst  unter 
Karl  d.  Kahlen  dann  eingetreten. 

Ich  glaube  nicht,  daß  diese  Auffassung  zutreffend  ist.  Ver- 
fasser stützt  seine  Anschauung  hauptsächlich  auf  die  Klagen  der 
Synode  zu  Yütz  (844)  gegenüber  den  Söhnen  Ludwigs,  daß  die 
Vergebung  von  Klöstern  an  Laien  der  Gewohnheit  ,,patrum  vestro- 
rum  seu  regum  praecedentium"  zuwiderlaufe.  Ob  dies  so  buch- 
stäblich zu  nehmen  und  gerade  auch  auf  Ludwig  d.  Fr.  noch 
auszulegen  ist?  Verfasser  muß  selbst  gestehen,  diese  günstige 
Schilderung  des  Zustandes  in  der  früheren  Zeit  habe  , »allerdings 
nicht  ganz  den  wirklichen  Verhältnissen  entsprochen."  (B.  62) 
Tatsächlich  befürchtete  man  damals  bereits  in  kirchlichen  Krei- 
sen, daß  die  Laienaristokratie  eine  allgemeine  Säkularisierung  des 
Kirchengutes  beabsichtige,  wie  der  von  V.  allerdings  übersehene 

20* 


304  Literaturbericht. 

Bericht  der  Vita  Walae  (11,4)  beweist.  Ist  als  Beweggrund  für  die 
Einziehung  von  Klöstern  und  ihre  Vergebung  an  Laien,  wie  der 
Verfasser  selbst  konstatiert  (S.  78),  die  Notwendigkeit  anzu- 
sehen, den  politischen  Anhang  zu  belohnen,  dann  ist  von  vorn- 
herein sehr  wahrscheinlich,  daß  gerade  in  der  letzten  Zeit  Lud- 
wigs d.  Fr.,  als  die  Streitigkeiten  mit  dessen  Söhnen  das  Reich 
zerrissen  und  in  Parteiungen  spalteten,  auch  dieser  Vorgang 
immer  mehr  in  Übung  kam.  Und  zwar  nicht  nur  pro  praeterito, 
sondern  auch  pro  futuro,  d.  h.  um  die  politische  und  militärische 
Unterstützung  der  Großen  zu  gewinnen,  die  eigene  Partei  zu 
verstärken.  Bald  hatten  die  Großen  selbst  damit  ein  Zwangs- 
mittel zur  Erfüllung  ihrer  Aspirationen  gefunden:  sie  drohten 
mit  offenem  Abfall,  wenn  sie  die  gewünschten  Klöster  nicht 
erhielten  (S.  88). 

Nach  dem  Tode  Karls  d.  K.  wurde  mit  den  Thronstreitig- 
keiten und  dem  Verfall  der  königlichen  Macht  die  Zwangslage 
des  Königs  noch  ärger  (S.  105  f.  u.  108  sowie  136). 

Im  zweiten  Teile  seiner  Untersuchung  behandelt  V.  die 
Formen,  in  denen  die  westfränkische  Laienaristokratie  Königs- 
klöster besaß  (S.  161  ff.).  Er  unterscheidet  wesentlich  zwei  Arten: 
die  Großen  waren  entweder  Laienäbte  oder  aber  Inhaber  der 
Klöster,  denen  der  Abt  unterstand.  Bei  letzterer  Form  macht 
V.  einen  scharfen  Unterschied  zwischen  der  Vergebung  zu  Benefiz 
und  der  Schenkung  zu  Eigen  auf  Lebenszeit.  Jedoch  ist  es  nicht 
zutreffend,  aus  den  in  Königsurkunden  gelegentlich  auftretenden 
Wendungen,  daß  eine  Vergebung  y,per  nostram  largitionent' 
erfolgt  sei,  auf  einen  Gegensatz  zu  der  ,yper  beneficium''  geschehenen 
Verleihung  zu  schließen.  Denn  der  Ausdruck  largiri  oder  largitio 
principis  ist  nicht  selten  gerade  ein  terminus  technicus  für  die 
Vergebung  von  königlichen  Gütern  zu  Benefiz.  (Vgl.  Waitz,. 
VG.  II,  13,  310  n.  1  u.  2;  311  n.  2;  318  n.  2  u.  3;  319  n.  2; 
320  n.  3.) 

Daß  Übertragungen  zu  Benefiz  gleich  auf  mehrere  Personen 
und  Generationen  „in  früherer  Zeit  nicht  vorgekommen"  sind, 
ist  eine  recht  unbestimmte  Behauptung.  Was  ist  unter  dieser 
„früheren  Zeit"  zu  verstehen?  Sollte  eine  im  Vorworte  (S.  IX) 
gemachte  Bemerkung,  daß  die  Inhaberschaft  des  Klosterbesitzes 
um  die  Mitte  des  10.  Jahrhunderts  an  Ausbreitung  gewann,  vom 
Verfasser  im  Sinne  jenes  Gegensatzes  gemeint  sein,  dann  wäre 


Mittelalter.  305 

die  „frühere  Zeit"  chronologisch  entschieden  zu  weit  gefaßt. 
Denn  solche  Benefizien  kamen  sicher  auch  im  9.  Jahrhundert 
schon  vor. 

Den  Hauptwert  des  Buches  erblicke  ich  in  den  fleißigen 
Zusammenstellungen  von  Quellenbelegen  für  die  einzelnen 
Klöster,  aus  welchen  sich  nicht  nur  die  gewaltige  Bereicherung 
der  Laienaristokratie  am  Kirchengute  im  westfränkischen  Reiche 
sinnfällig  ergibt,  sondern  zugleich-  auch  erklärt,  weshalb  gerade 
dort  am  Ausgang  des  10.  Jahrhunderts  auf  kirchlicher  Seite  der 
Ruf  nach  Reformen  (Clugny!)  so  lebhaft  rege  wurde. 

Wien.  A.  Dopsch. 

Individuelle  Persönlichkeitsschilderung  in  den  deutschen  Ge- 
schichtswerken des  10.  und  11.  Jahrhunderts.  Von  Rudolf 
Teuffei.     (Beiträge   zur  Kulturgeschichte   des   Mittelalters. 

Bund  der  Renaissance.  Herausgegeben  von  Walter  Goetz. 
Heft  12.)  Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner.  1914.  124  S. 
Der  Verfasser  will  „die  historischen  Quellen  des  10.  und 
"11.  Jahrhunderts  auf  ihren  Gehalt  an  wirkHcher  Persönlichkeits- 
schilderung durcharbeiten".  Die  Hauptfrage,  die  er  sich  stellt, 
ist:  „Wieweit  sind  die  deutschen  Geschichtschreiber  jenes  Zeit- 
alters fähig  gewesen,  eine  bestimmte  Persönlichkeit  in  ihrer 
Eigenart  aufzufassen  und  darzustellen?"  Um  diese  Frage  zu 
beantworten,  will  er  alle  Stellen,  die  nach  seiner  Meinung  indivi- 
duelle Schilderung  geben,  „wenn  auch  nicht  in  absoluter,  so  doch 
in  hinreichender  Vollständigkeit"  sammeln,  dabei  aber  die  eigent- 
lichen Heiligenlegenden  ausschließen.  Er  teilt  seinen  Stoff  in 
die  drei  großen  Gruppen  der  Annalen  (S.  6 — 31),  der  Bistums- 
und Klostergeschichten  (S.  32—63)  und  der  Viten  (S.  64—123).  Die 
Bezeichnung  „Annalen"  für  die  erste  Gruppe,  in  der  als  „rein 
annalistische"  Werke  Hermann  von  Reichenau,  Berthold,  Bernold 
und  Thietmar  und  als  Werke  „mehr  biographischen  Charakters" 
Widukind,  Wipo  und  Lampert  auftreten,  ist  wenig  zutreffend, 
und  die  Anordnung  (Thietmar  nach  Hermann,  Berthold  und 
Bernold,  und  nach  diesen  4  wieder  auf  den  noch  älteren  Widu- 
kind und  auf  Wipo  zurückgreifend),  wie  auch  die  Abgrenzung 
gegen  die  beiden  anderen  Gruppen  befriedigt  nicht.  Auch  in- 
halthch  ist  gegen  diesen  Teil  am  meisteP  einzuwenden.  In  der 
zweiten  Gruppe  wird  mit  Recht  der  Schilderung  Adalberts  von 


306  Literaturbericht. 

Hamburg-Bremen  durch  Adam  der  größte  Raum  zugewiesen 
(S.  47—57).  Der  größte  und  wertvollste  Teil,  ziemlich  die  Hälfte 
der  Schrift,  behandelt  die  eigentlichen  Viten,  und  zwar  zunächst 
„die  Vita  nach  ihrem  formalen  Charakter"  (wobei  an  dem  Beispiel 
der  Vita  Heinrici  IV.  der  rhetorische  Charakter  der  mittelalter- 
lichen Vita  und  ihr  Zusammenhang  mit  der  antiken  laudatio 
dargelegt  und  im  besonderen  sehr  hübsch  auf  Hieronymus  epist.  39 
Ad  Paulam  super  obitu  Blaesillae  filiae  als  Vorbild  hingewiesen 
wird),  sodann  „Viten  ohne  persönüche  Züge"  und  schließlich 
„Viten  mit  persönlicher  Färbung"  (wobei  zu  Ruotgers  Vita 
Brunonis  der  wichtige  Aufsatz  von  Bernheim  in  der  Zeitschrift 
der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschichte  33,  Kanonist.  Abt.  2 
hätte  herangezogen  werden  sollen).  Wenn  vieles  auch  in  den 
„persönlichen"  Viten  stark  „typisch"  klingt,  so  schließt  er  (S.  123), 
dann  „beruht  das  sicherlich  in  vielen  Fällen  nicht  auf  Idealisie- 
rung entgegen  der  Wahrheit,  sondern  hat  seinen  Grund  in  einer 
starken  Einwirkung  des  Ideals  auf  das  wirkliche  Wesen  und 
Handeln  der  betreffenden  Persönlichkeiten".  „Je  weniger  die 
einzelne  Vita  persönliche  Züge  zu  berichten  weiß,  desto  mehr 
ist  Mißtrauen  gegenüber  ihren  ,typischen*  Schilderungen  am 
Platz;  und  je  mehr  sich  persönliche  Züge  unter  typisch  klingenden 
finden,  desto  eher  sind  auch  diese  letzteren  glaubwürdig."  Die 
weitverbreitete  Meinung,  die  besonders  Lamprecht  aufs  schärfste 
formuliert  hat,  daß  die  ganze  Geistesverfassung  und  insbesondere 
die  Geschichtschreibung  des  deutschen  Mittelalters  „typisch" 
und  dieses  gar  nicht  imstande  gewesen  sei,  Individualitäten  zu 
verstehen,  ist  durchaus  abzulehnen.  „Die  Kunst  der  psychologi- 
schen Zergliederung  ist  naturgemäß  noch  längst  nicht  so  ausge- 
arbeitet wie  heutigentags.  Ansätze  dazu,  oft  recht  achtungswerte, 
finden  sich  aber  nicht  wenige."  „Ein  geistig  einigermaßen  be- 
gabter Mann"  war  „bei  genügender  Kenntnis  der  zu  schildernden 
Persönlichkeit  auch  in  unserer  Periode  schon  recht  wohl  imstande, 
das  Wesen  dieser  Persönlichkeit  zu  kennzeichnen.  Gut  be- 
obachtete Einzelzüge  vollends  vermissen  wir  fast  nur  in  dem 
Fall,  daß  dem  Verfasser  das  nötige  Tatsachenmaterial  nicht  zu 
Gebote  stand"  (S.  124).  Teuffei  versucht  vorurteilsfrei  ein 
zuverlässiges  Bild  von  dem  tatsächlichen  Befund  zu  geben  und 
hat  dieses  Ziel  trotz  Yflanches  Schülermäßigen  in  Fragestellung 
und   Urteil   im   ganzen   erreicht..     Von    den   Verirrungen   einer 


I 


l 


Mittelalter.  307 


tsachenfremden  Systematisierung  oder  einer  zum  Selbstzweck 
gewordenen  Quellenkritik  gleich  weit  entfernt,  läßt  er  in  an- 
sprechender Darstellung  die  beste  Überlieferung  so  zu  uns  sprechen, 
wie  sie  vorliegt.  Methodisch  bedenkUch,  aber  ohne  wesentlichen 
Einfluß  auf  das  Ergebnis  ist,  um  von  Einzelheiten  zu  schweigen, 
daß  moderne  Schilderungen  von  Persönlichkeiten  als  Bestätigung 
für  den  individuellen  Charakter  solcher  Quellenzeugnisse  herange- 
zogen werden,  auf  denen  sie  selber  in  der  Hauptsache  beruhen. 
Wesentliche  Gesichtspunkte  sind  jedoch  gut  und  treffend  hervor- 
gehoben. Gewiß  ist  es  zum  guten  Teil  Selbstverständliches, 
das  darum  aber  nicht  weniger  einmal  wieder  gesagt  werden  mußte, 
und  das  hat  Teuffei  nicht  selten  gut  getan.  Seine  Arbeit  bildet 
eine  recht  erfreuliche  Bereicherung  unserer  quellenkundlichen 
Literatur. 

Berlin.  Adolf  Hofmeister. 


Deutsch-russische  Handelsverträge  des  Mittelalters.  (Abhand- 
lungen des  Hamburgischen  Kolonialinstituts.  Bd.  37.)  Von 
Leopold  Carl  Goetz.  Hamburg,  Friederichsen.  1916.  XV 
u.  394  S. 

Von  der  Geschichte  der  deutsch-russischen  Handels- 
beziehungen, deren  Gesamtverlauf  bis  zum  Handelsvertrag  von 
1904  der  Verfasser  zwar  in  kühnem  Abriß  (Berlin  1917)  als 
Einheit  aufgefaßt  hat,  ist  das  vorliegende  Werk  nicht  mehr 
als  die  Vorarbeit  zum  ersten,  mittelalterlichen  Teil.  Schmerz- 
lich (besonders  bei  der  gegenwärtigen  Unabsehbarkeit  größerer 
Reihenpublikationen)  empfindet  der  Leser  oft  die  strenge 
thematische  Beschränkung  auf  die  staatsvertraghchen  Rechts- 
quellen und  ihre  textkritische  Bereinigung,  zumal  diese  überall 
sichtlich  auf  einer  vertieften  Erforschung  des  gesamten,  be- 
sonders deutschen  Urkundenstoffs  ruht.  Es  ist  ein  im  höchsten 
Sinn  entsagungsvoller  Fleiß,  der  hier  auch  die  Gelegenheiten 
zusammenfassender  und  vergleichender  inhaltlicher  Übersicht 
nicht  anders  als  zur  knappsten,  alle  Farben  verschmähenden 
Zeichnung  benutzt.  Diesen  Plan  einmal  vorausgesetzt,  scheint 
das  Verfahren  der  vielfachen  wörtlichen  Textwiedergabe,  so 
daß  die  Darstellung  vollends  zum  paragraphenweisen  Kommentar 
wird,   durchaus   angemessen   und   hätte   vielleicht  sogar  noch 


^8  Literaturbericht. 

ausgedehnt  werden  können,  z.  B.  auf  die  wichtigsten  späteren 
Verträge. 

Das  Buch  gliedert  sich  einfach  in  die  beiden  großen  Gebiete 
des  deutsch-russischen  Handelsverkehrs,  das  Novgoroder  und 
das  des  Dünalands.  Für  jenes  lieferte  die  allgemeine  deutsche 
und  russische  Literatur  zur  Geschichte  der  Hanse  und  Novgorods, 
für  das  zweite  namentlich  die  Stadtgeschichte  des  beherrschenden 
Riga  wertvolle  Bausteine,  darunter  auch  editorisch  so  bedeutende 
wie  Schlüters  1914  abgeschlossene  große  Ausgabe  der  Nov- 
goroder Schra,  Napiersky-Kuniks  Russisch-Livländische  Ur- 
kunden und  Vladimirskij-Budanovs  Chrestomatie.  Aus  Goetzens 
Ausgabe  der  altrussischen  Kirchenrechtsdenkmäler  und  der 
Rußkaja  Pavda  ist  bekannt,  wie  er  solchen  Stoff  zu  sammeln 
und  zu  durchdringen  weiß.  Auch  hier  leistet  ihm  dabei  die 
Rechtsvergleichung  mit  den  verwandten  deutschen  und  russi- 
schen Quellenkreisen,  aber  ebenso  mit  einzelnen  nur  sachlich 
übereinstimmenden  Verhältnissen  des  hansischen  Handels- 
rechts, in  erster  Reihe  dem  allgemeinen  Gästerecht,  die  besten 
Dienste.  Hauptabschnitte  wie  der  über  das  Abkommen  zwischen 
Riga  und  Smolensk  1229,  den  wichtigsten  deutsch-russischen 
Handelsvertrag  des  Mittelalters  (S.  304),  zeigen  die  Fruchtbar- 
keit der  Methode  sowohl  für  das  äußere  und  innere  Entstehungs- 
bild der  Urkunden  als  für  ihr  materielles  Verständnis  (s.  etwa 
das  scharfsinnige  Kriterium  für  die  Trennung  der  Einzelbestim- 
mungen, S.  236  n.  3).  Etwas  äußerlich-chronologisch  erscheint 
mir  nur  die  Unterscheidung  der  zwei  zeitlich  aufeinander  folgen- 
den Gruppen  von  Grund-  und  Sonderverträgen  in  beiden 
Handelsgebieten.  Einmal  ging  ja  den  ersten  bekannten  Grund- 
verträgen von  1189  und  1229  nicht  nur  wie  in  Novgorod  ver- 
mutlich ein  durch  Übung  gefestigter  gewohnheitsrechtlicher 
Zustand  voraus  (auch  ich  möchte  dem  mir  staryj,  S.  16,  diesen 
Sinn  geben),  sondern  daneben  wie  in  Novgorod  fallweise  eine 
Mehrheit  zum  Teil  ganz  besonderer  Verabredungen  (§  37). 
Sodann  aber  ist  es  doch  auch  in  den  späteren  Jahrhunderten 
trotz  allen  Widerstrebens  der  Russen  gegen  die  ihre  Handels- 
entwicklung hemmenden  längeren  und  grundsätzlichen  Bindun- 
gen hier  wie  dort  zu  so  epochalen  Neuregelungen  gekommen 
wie  denen  des  Nieburfriedens  von  Novgorod  1392  und  des  Ko- 
pussavertrags  zwischen  Riga  und  Polock  1406. 


Mittelalter.  309 

Jede  Einzelkritik  an  einer  solchen  kommentatorischen  Lei- 
stung läuft  Gefahr  in  Kleinigkeiten  zu  kramen  oder  vom  Ver- 
fasser schon  bedachte  Einwände  zu  wiederholen.  Auf  diese 
Gefahr  hin  möchte  ich  mir  nur  die  folgenden  wenigen  Bemer- 
kungen erlauben.  Ob  wirklich  die  „Brücke"  (Brügge,  pons) 
vor  dem  gotischen  Gildehof  in  Novgorod  keine  , »eigentliche 
Brücke"  (S.  160),  sondern  nur  ein  Holzpflaster  war?  Ihre 
Zerstörung  durch  die  Russen  und  deren  strafbares  Stehen 
darauf  (S.  126)  würde  wohl  auf  mehr  schließen  lassen,  jeden- 
falls auf  eine  zugleich  für  die  Absonderung  von  und  Verbindung 
mit  der  Umgebung  wichtige  Vorkehrung.  Es  wäre  auch  an 
die  „Deutsche  Brücke"  in  Bergen  und  den  Ortsnamen  Brügge 
zu  erinnern  (vgl.  Häpke,  Brügge  11  n.).  Die  „Älterleute  aus  der 
St.  Michaelstraße"  in  Novgorod  (S.  182)  sind  jedenfalls  die  des 
einen  von  den  fünf  „Vierteln"  der  Stadt  (S.  193  n.  1).  Die 
bemerkenswerte  Bestimmung  der  Einfuhrfreiheit  in  Nr.  28 
bis  30  des  Smolensker  Vertrags  von  1229  (S.  282f.)  bezeichnet 
gegenüber  den  Novgoroder  Einfuhrzöllen  die  typische  Haltung 
des  Ausfuhr-  (Sombart  würde  sagen  „Boden-")  Landes,  das 
den  Handelsverkehr  hauptsächlich  noch  in  umgekehrter  Rich- 
tung besteuern  kann  wie  die  Stadt  oder  das  entwickeltere 
Territorium,  die  gerne  aus-  und  ungern  einführen;  bei  der  Gold- 
und  Silbereinfuhr  ist  natürlich  (S.  284)  deutsche  Einfuhr  nach 
Smolensk  ganz  besonders  willkommen.  Das  1189  und  1268f. 
in  Novgorod,  1229  in  Smolensk  vorkommende  Los  zwischen 
entgegenstehenden  nationalen  Zeugengruppen  (S.  39ff.,  142f., 
250)  ist  ein  sehr  merkwürdiger  Fall  des  Losordals,  der  auch 
mit  der  Vierzahl  an  anderweitig  bekannte  deutsch-rechtliche 
und  altrussische  Eideshilfen  und  Zeugnisse  anklingt  (vgl.  Brink- 
mann, Hist.  Vjs.   18,  64  n.  75). 

Der  Vorbehalt  bezüglich  der  Fürstenbrüder  in  Nr.  24  des 
Smolensker  Erneuerungsvertrags  von  1250  (S.  319f.)  betrifft 
wohl  weder  Handels-  noch  Besuchsreisen,  sondern  die  gewöhn- 
liche Gastung  der  ambulierenden  mittelalterlichen  Hofhalte 
und  gibt  einen  seltenen  Einblick  in  das  Verhältnis  dieser  Tat- 
sächlichkeit zum  Fürstenfrieden.  Von  Druckfehlern  in  den 
russischen  Texten  sind  mir  nur  zwei  störende  aufgefallen: 
S.  235,  Z.  12  und  11  v.  u.,  muß  mit  Azbych'm  ein  neuer  Ab- 
satz, mit  Togo  kein  neuer  Satz  anfangen;  S.  308,  Z.  2  v.  u., 


310  Literaturbericht.  '■ 

steht  ddlzen  statt  dlzen.  In  einem  der  russischen  Forschung 
so  nahestehenden  Werk  wären  wohl  russische  Titel  besser  in 
russischer  Sprache  angeführt  worden. 

Berlin.  C.  Brinkmann. 


Korrespondenzen  österreichischer  Herrscher.  Die  Korrespondenz 
Maximilians  II.  1.  Bd. :  Familienkorrespondenz  1564  Juli  26 
bis  1566  August  11.  Herausgegeben  von  Viktor  Bibl.  (Ver- 
öffentlichungen der  Kommission  für  Neuere  Geschichte 
Österreichs.)    Wien,   Holzhausen.     1916.    XXXIX  u.  643  S. 

Die  Kommission  für  neuere  Geschichte  Österreichs  hat  be- 
schlossen, die  Korrespondenzen  der  österreichischen  Herrscher 
herauszugeben  und  unter  diesen  wieder  mit  einer  gesonderten 
Abteilung  Familienkorrespondenzen  den  Anfang  gemacht.  Man 
begreift  diesen  Entschluß.  Die  Politik  der  Habsburger  war  mit 
Ausnahme  der  großen  Herrscher  des  18.  Jahrhunderts  weit  mehr 
eine  dynastische  als  eine  staatHche.  Die  Habsburger  sind  darin 
den  anderen  deutschen  Dynastien  sicherlich  über  gewesen.  Daher 
haben  sie  es  wohl  verstanden  eine  Hausmacht,  aber  keinen 
Staat  zusammenzuzimmern.  Allerdings  hat  die  ihnen  zugefallene 
Aufgabe  an  Schwierigkeiten  die  in  den  anderen  Territorien  vor- 
handenen Probleme  unvergleichbar  überwogen  und  ist  vielleicht 
überhaupt  zuletzt  unlösbar  gewesen.  Dieses  dynastische  Interesse 
hat  auch  lange  die  Forschung  beherrscht,  bis  mit  dem  eingehen- 
deren Betrieb  der  österreichischen  Reichsgeschichte  die  politische 
Anschauung  in  den  Vordergrund  getreten  ist.  Noch  ein  Beweg- 
grund war  für  die  Kommission  maßgebend.  Sie  begann  mit  der 
Ausgabe  der  Korrespondenzen  Ferdinands  I.  Nun  ist  der  Erz- 
herzog besonders  in  seinen  Anfängen  in  der  Tat  nicht  viel  mehr 
als  das  Werkzeug  Karls  V.  gewesen.  Der  Briefwechsel  mit  dem 
Kaiser,  mit  Ferdinands  Tante  Margarete  und  dann  mit  der 
Schwester  Marie  als  Königin  von  Ungarn  und  in  der  Folge  als 
Statthalterin  der  Niederlande  ist  nicht  nur  an  Zahl  der  gewech- 
selten Briefe  sehr  ausgedehnt,  er  stellt  auch  in  einem  Ausschnitt 
die  Wechselbeziehungen  der  kaiserlichen  spanisch-niederländischen 
PoHtik  mit  der  österreichischen  Ferdinands  und  dessen  Verhältnis 
zu  Ungarn  dar.  Hier  lagen  zwei  wohlgeschlossene  Gruppen  vor. 
Das  alles  trifft  für  Maximilian  II.  nicht  zu.    Der  Umkreis  seiner 


1 


16;  Jahrhundert.  311 

Familie  ist  dank  seiner  drei  Brüder  und  der  zahlreichen  Schwäger 
und  Schwiegersöhne  ein  großer  geworden.  Aber  eine  regere  Kor- 
respondenz entspann  sich  nur  mit  des  Kaisers  Brüdern  und  Her- 
zog Albrecht  von  Bayern.  Wohl  hat  auch  König  Philipp  von 
Spanien  die  gemeinsamen  Interessen  betont  und  den  Kaiser  für 
seine  besonderen  Ziele  einspannen  wollen.  Aber  vertraut  waren 
die  beiden  nicht  miteinander,  ja  Philipp  hat  nicht  selten  in  seiner 
Art  ein  doppeltes  Spiel  auch  mit  Maximilian  gespielt  und  des 
Kaisers  Absichten  und  Interessen  durchkreuzt.  Zudem  war 
dieser  Briefwechsel  kein  reger.  Ebensowenig  der  mit  dem  König 
von  Polen,  der  sich  im  wesentlichen  um  die  Eheirrungen  des 
Königs  mit  Maximilians  Schwester  dreht.  Die  Briefe  aber  der 
italienischen  Schwäger  und  Schwiegersöhne  bestehen  zum  guten 
Teil  aus  schönen  Phrasen,  und  Ferdinands  Briefe  an  sie  sind 
Pumpversuche,  wie  sie  auch  bei  andern  Fürsten  und  Städten 
gemacht  wurden,  von  denen  man  nicht  versteht,  warum  sie 
fehlen,  bloß  aus  dem  Grunde,  weil  die  Empfänger  mit  dem  Kaiser 
nicht  verwandt  oder  verschwägert  waren.  So  ist  die  Auswahl 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Verwandtschaft  eine  willkürliche 
und  zufällige.  Wie  bereits  der  Herausgeber  der  Familienkorre- 
spondenz Ferdinands  I.  bemerkt  hat,  sind  es  selten  vertrauliche 
Briefe,  die  zum  Abdruck  gelangen.  Das  gilt  auch  für  diesen  Band. 
Die  Briefe  zerfallen  in  zwei  Gruppen:  die  meist  eigenhändigen 
Handbriefe  und  die  Kanzleibriefe,  die  sich  schon  durch  die  offi- 
ziellen Titulaturen  als  solche  kennzeichnen.  Jene  sind  in  der 
Minderheit,  diese  weitaus  in  der  Mehrheit.  Oft  wird  berichtet, 
daß  die  Konzepte  im  geheimen  Rate  zustande  gekommen  sind. 
So  manche  stammen  aus  dem  Hofkriegsrat  oder  anderen  Be- 
hörden. Auch  diese  Kanzleibriefe  sind  Bestandteile  der  Korre- 
spondenz des  Herrschers,  denn  diese  ist  damals  noch  sehr  aus- 
gebreitet. Es  ist  nämlich  üblich,  daß  z.  B.  die  Gesandten  oder 
Behörden  ihre  Berichte  an  den  Herrscher  senden  und  dieser  wieder 
in  seinem  Namen  Weisungen  ergehen  läßt.  Aber  einen  persön- 
lichen Anteil  hat  der  Herrscher  daran  nur  insoweit,  als  er  das 
Konzept  biUigt  oder  ändern  läßt  und  die  Reinschrift  unterschreibt. 
Die  Handbriefe  sind  vertraulich  und  als  eigene  Meinungsäußerung 
des  Herrschers  zu  betrachten.  Dahin  gehören  die  meisten  Stücke 
des  Briefwechsels  mit  Herzog  Albrecht  von  Bayern,  besonc'ers 
die  so  interessanten,  allerdings  schon  gedruckten  Nr.  470,  474, 


312  Literaturbericht.  1^ 

484  über  die  Haltung  des  Kaisers  gegen  die  protestantischen 
Reichsstände.  Bei  den  Kanzleibriefen  fehlt  jeder  innere  Grund, 
sie  von  der  übrigen  politischen  Korrespondenz  abzusondern, 
bloß  weil  sie  an  Verwandte  gerichtet  sind,  oder  davon  einlaufen. 
Als  roter  Faden  durchzieht  den  vorliegenden  Band  der  drohende 
Türkenkrieg,  für  dessen  Entstehung  und  Vorbereitung  sehr  wert- 
volles Material  vorgelegt  wird.  Aber  es  kann  nicht  verschwiegen 
werden,  daß  die  in  den  Anmerkungen  hier  und  anderwärts  mit- 
geteilten Auszüge  aus  den  Gesandtenberichten  und  Briefen  und 
Gutachten  des  Lazarus  Schwendi  und  anderer  an  Interesse  die 
langatmigen  Paraphrasen  des  Kaisers  und  die  Ratschläge  seiner 
Brüder  weit  überragen.  NatürHch  ist  dies  nicht  Schuld  des  Her- 
ausgebers, der  sich  an  ein  festes  Programm  zu  halten  hatte.  Wir 
hoffen,  daß  die  Kommission  die  Familienkorrespondenz  mit 
Maximilian  II.  abschließen  wird,  dafür  wünschen  wir  eine  poli- 
tische Korrespondenz  zu  erhalten,  die  uns  überall  die  ursprüng- 
lichsten Quellen,  soweit  sie  von  Bedeutung  sind,  in  stark  zusammen- 
gedrängter Form  bietet.  Daneben  könnten  vertrauliche  Brief- 
wechsel sehr  wohl  zur  Ausgabe  gelangen.  Aber  dann  geschlossen 
und  nicht  zerrissen.  Briefwechsel  sind  nicht  streng  chronologisch 
aufgelöst  ineinander  zu  schachteln,  sie  sind  weder  ein  Regesten- 
werk, noch  ein  Urkundenbuch.  Vielleicht  wäre  es  rationeller 
gewesen,  die  so  wichtigen  Protokolle  des  geheimen  Rates  zur 
Grundlage  zu  nehmen,  und  um  sie  die  Korrespondenzen  zu 
gruppieren. 

In  einem  Punkte  sind  wir  dem  Herausgeber  sehr  zu  Dank 
verpflichtet,  er  hat  die  meisten  der  unzähligen  Empfehlungs- 
schreiben weggelassen  und  auch  sonst  stark  gekürzt.  Nur  hätte 
er  noch  weiter  gehen  können.  In  leicht  zugänglichen  Samm- 
lungen Gedrucktes  nochmals  abzudrucken,  ist  Raumverschwen- 
dung. Mag  der  Wiederabdruck  des  Briefwechsels  mit  Herzog 
Albrecht  von  Bayern  noch  angehen,  da  der  Druck  bei  Freiberg 
sehr  fehlerhaft  ist,  so  ist  er  kaum  gerechtfertigt  bei  den  von 
Weiß,  Papiers  d'Etat  aus  der  Korrespondenz  Granvella  mit- 
geteilten Stücken.  Hier  würden  Kollationen,  wie  dies  Susta  in 
seiner  Ausgabe:  Die  römische  Kurie  und  das  Konzil  von  Trient 
gemacht  hat,  vollständig  genügen.  Auch  sonst  fehlt  es  nicht  an 
Wiederholungen.  Das  Kanzleischreiben  Nr.  173  z.  B.  setzt  auf 
fast  vier   Druckseiten   auseinander,   was  in    Handbrief  Nr.  175 


i 


18.  Jahrhundert.  313 

auf  etwas  mehr  wie  einer  halben  Seite  gesagt  wird.  Manches 
auch  ist  recht  unbedeutend  wie  Nr.  35. 

Neben  dem  Türkenkrieg  und  den  polnischen  Ehewirren  sind 
es  die  Heiratspläne  Maximilians  mit  England  und  Frankreich, 
diese  nicht  ohne  politische  Bedeutung  wegen  der  Absicht,  die 
Bistümer  Metz,  Toul  und  Verdun  zurückzugewinnen  und  Frank- 
reich vom  Bündnis  mit  der  Pforte  abzuziehen,  die  Teilung  der 
väterlichen  Erbschaft,  die  Grumbachschen  Händel  und  andere 
Wirrungen  im  Reiche,  die  Bewegung  in  den  Niederlanden,  die 
Streitigkeiten  wegen  Finale,  die  Papstwahl,  das  Verhältnis  zu 
Venedig,  das  den  Antrag  stellte,  Triest  und  Görz  zu  kaufen  usw., 
die  in  unseren  Briefen  einen  Niederschlag  gefunden  haben. 

Schließlich  sei  der  Sorgfalt  des  Herausgebers  alle  Anerken- 
nung gezollt.  Ein  reiches  Aktenmaterial  ist  in  den  Bemerkungen 
verarbeitet,  die  den  einzelnen  Stücken  beigefügt  sind.  Es  ist 
schon  erwähnt  worden,  daß  zum  Teil  der  Hauptwert  der  Aus- 
gabe hierin  gesucht  werden  muß.  Und  so  schließen  wir  mit 
Dank  für  den  Herausgeber  und  sehen  mit  Erwartung  dem  kom- 
menden Bande  entgegen,  für  den  der  Herausgeber  auch  den  Ab- 
druck des  Tagebuches  des  Kaisers  von  seinem  ungarischen  Kriegs- 
zuge in  Aussicht  stellt. 

Wien.  H.  v.  Voltelini. 

Dr.  Johann  Wilhelm  von  Archenholtz.  Ein  deutscher  Schrift- 
steller zur  Zeit  der  französischen  Revolution  und  Napo- 
leons (1741— 1812).  Von  Friedrich  Ruof.  (Historische  Studien, 
Heft  131.)     Berlin,  Emil  Ehering.     1915.    XVII  u.  149  S. 

Archenholtz  ist  noch  heute  vor  allem  als  Verfasser  der  Ge- 
schichte des  Siebenjährigen  Kriegs  bekannt  und  gelesen.  Viele 
von  uns  werden  in  ihrer  Jugend  aus  diesem  Buche  in  der  Aus- 
gabe von  Potthast  ihre  erste  Kenntnis  von  jenem  großen  Kampfe 
und  vom  Großen  König  gewonnen  haben.  Ruof  beschäftigt 
sich  allerdings  wie  mit  den  meisten  anderen  Schriften  Archenholtz' 
so  auch  mit  diesem  Werke  nur  nebenher,  ohne  auf  die  Quellen 
und  den  Wert  der  Darstellung  kritisch  einzugehen.  Den  wenig 
bekannten  und  zum  Teil  umstrittenen  und  unsicheren  Lebens- 
verhältnissen Archenholtz'  und  seinen  weitverzweigten  persön- 
lichen Beziehungen,  zum  Teil  zu  bedeutenden  Männern  im  literari- 
schen  Leben  jener  Tage  ist   R.   unter  sorgfältiger  Ausnutzung 


314  Litcraturbericht. 

von  Archenholtz'  Schriften,  seiner  erhaltenen  Papiere  und  einer 
recht  umfassenden  Heranziehung  meist  gedruckter  Literatur 
umsichtig  nachgegangen.  In  der  Hauptsache  behandelt  R. 
—  seinem  Plan  gemäß  —  die  schriftstellerische,  speziell  die 
politisch7publizistische  Tätigkeit  von  Archenholtz.  Dabei  steht 
natürlich  die  „Minerva"  in  erster  Linie.  Denn  auf  die  Darstel- 
lung der  politischen  Ansichten  Archenholtz'  seit  dem  Ausbruch 
der  Revolution  wollte  R.  das  Hauptgewicht  legen.  Und  die  Schilde- 
rung von  Archenholtz'  Stellungnahme  zu  den  großen  Weltbegeben- 
heiten in  ihrer  Wandlung  und  Entwicklung  ist  ihm  im  großen  und 
ganzen  wohl  gelungen.  Auch  in  kritischen  Einzelfragen  zeigt 
sich  ein  verständiges  Urteil.  Erfreulich  ist,  daß  R.  sich  der  Grenze 
von  Archenholtz'  Bedeutung  überall  bewußt  bleibt  und  von  jeder 
übertriebenen  biographischen  Verherrlichung  seiner  Leistungen 
fernhält.  Wenig  befriedigend  ist  nur,  schon  in  seiner  Kürze,  der 
zweite  Abschnitt,  der  zwar  eine  Zusammenstellung  von  Archen- 
holtz' Werken  gibt,  aber  nicht  den  Anspruch  auf  ihre  Würdigung 
erheben  kann.  In  dem  reichen  Literaturverzeichnis  fällt  auf, 
daß  einige  Bücher  in  älteren  Auflagen  benutzt  sind,  u.  a.  Goedeke. 
Es  fehlt  die  Arbeit  von  Stroh  (Hist.  Studien  121),  Das  Verhältnis 
zwischen  Frankreich  und  England  in  den  Jahren  1801 — 1803 
im  Urteil  der  pohtischen  Literatur  Deutschlands,  das  dem  Ver- 
fasser vielleicht  noch  nicht  vorgelegen  hatte.  Auch  wäre  wohl 
zu  erwähnen  gewesen,  daß  Clausewitz  drei  „Historische  Briefe 
über  die  großen  Kriegsereignisse  1806"  in  den  Jahrgang  1807 
der  Minerva  geschrieben  hat,  s.  Linnebach,  Karl  und  Marie  von 
Clausewitz  1916,  S.  90,  und  Schwartz,  Das  Leben  des  Generals 
V.  Clausewitz  II,  461  ff. 

Tübingen.  K.  Jacob. 

Niederdeutsches  Schulwesen  zur  Zeit  der  französisch-westfäli- 
schen Herrschaft  1803  —  1813.  Von  Karl  Knoke.  {Monu- 
menta  Germaniae  Paedagogica,  Bd.  LIV.)  Berlin,  Weid- 
mannsche  Buchhandlung.    1915.   431  S.    UM. 

Der  erste  Teil  dieser  aus  archivalischen  Quellen  schöpfenden 
Arbeit  beschäftigt  sich  mit  den  Universitäten  des  Königreichs 
Westfalen,  vor  allem  mit  Göttingen,  daneben  mit  Halle,  Mar- 
burg, Helmstedt,  Rinteln;  der  zweite  gilt  dem  Schulwesen  aller 
Zweige  und  der  Lehrerbildung.    Der  Verfasser  kommt  zu  dem 


19.  Jahrhundert.  315 

Ergebnis,  daß  diese  Zeit,  in  der  das  Schulwesen  der  okkupierten 
westfälischen  Landesteile  erst  unter  der  Generaldirektion  von 
Johannes  v.  Müller,  dann  unter  der  des  Barons  v.  Leist  stand, 
erheblich  günstiger  beurteilt  werden  müsse,  als  es  bisher  ge- 
schehen ist. 

Die  Georgia  Augusta  steht  im  Vordergrund.  Ihre  Einschrän- 
kung durch  die  konzentrierte  napoleonische  Staatsidee  wird  auf 
den  einzelnen  Gebieten  verfolgt:  Verlust  des  Steuerprivilegs, 
Einengung  der  akademischen  Gerichtsbarkeit,  Verbot  der  ge- 
heimen „Orden"  und  Landsmannschaften  (hierbei  eine  Ver- 
ständigung einzelner  Regierungen,  die  als  ein  Vorbote  der  Karls- 
bader Beschlüsse  angesehen  werden  kann).  Die  politische  Stel- 
lung der  Professoren  beleuchtet  u.  a.  charakteristisch  ein  Pro- 
logium  von  Heyne  1807/08  über  den  rechten  Kosmopolitismus 
(S.  127/8).  Zum  größeren  Teile  fanden  sie  sich  mit  Jerome  ab, 
während  die  Studenten  gelegentlich  demonstrierten.  Doch  be- 
stand für  Preußen  und  seinen  Kampf  noch  1812  keine  Sympathie. 
—  Der  König  stand  zunächst  auf  dem  Standpunkt:  „Alle  eure 
Universitäten  taugen  nichts;  ich  werde  sie  alle  verbrennen;  ich 
will  nur  Soldaten  und  Ignoranten."  Doch  wurde  durch  Job. 
v.  Müller,  Charles  de  Villers  und  Leist  ein  Umschwung  bewirkt. 
Nur  Helmstedt  und  Rinteln  wurden  durch  das  Dekret  vom 
10.  Dezember  1809  aufgehoben.  Die  andern  drei  blieben  be- 
stehen, und  besonders  Göttingen  hatte  si?n  infolgedessen  größerer 
Pflege  zu  erfreuen,  die  auch  in  den  Vorschlägen  Leists  für  neue 
Berufungen  (Savigny,  Thibaut,  Zachariae)  zum  Ausdruck  kommt. 

Für  das  Schulwesen  scheint  Müller  einen  großen,  einheit- 
lichen Plan  ins  Auge  gefaßt  zu  haben,  der  aber  infolge  seines 
Todes  nicht  zustande  kam.  Leist  nahm  die  Neuordnung  in  An- 
griff. Über  den  Zustand  des  öffentlichen  höheren  Schulwesens 
in  Hannover  gibt  der  wichtige,  bisher  zu  wenig  beachtete 
Bericht  von  Cuvier-Noel  (13.  Dezember  1810),  ein  Gegenstück 
zu  der  Schrift  von  Villers  über  die  Universitäten,  wertvolle  Nach- 
richten. Zeitweise  wurde  von  der  französischen  Regierung  auch 
die  Aufhebung  einiger  Gymnasien  geplant.  1812  wurde  in  Kassel 
ein  Lyzeum  errichtet,  offenbar  nach  dem  Muster  der  stark  realisti- 
schen französischen  Anstalten  dieses  Namens.  Aus  den  Mit- 
teilungen über  das  Volksschulwesen  und  über  die  Seminare,  für 
die  die  Hannoversche  Seminarschule  Vorbild  war,  geht  hervor, 


316  Literaturbericht. 

daß  beide  in  großem  Umfange  schon  von  der  Auf klärungspädagogilc 
durchdrungen  waren.  Doch  hat  die  französische  Regierung  für 
dieses  Gebiet  wenig  getan.  Den  Schluß  bildet  eine  eingehende 
Darstellung  des  jüdischen  Schulwesens  mit  Seitenblicken  auf  das 
Großherzogtum  Frankfurt. 

Die  Schrift  bringt  außerordentlich  viel  Wertvolles  und 
Neues  über  einen  politisch  und  pädagogisch  höchst  wichtigen 
Zeitabschnitt.  Um  so  mehr  ist  zu  bedauern,  daß  der  verehrte 
Forscher  die  verfassungsgeschichtliche  und  ideengeschichtliche 
Einordnung  nicht  eigentlich  vollzogen  hat.  Nicht  einmal  die 
Werke  von  Ernst  v.  Meier  werden  erwähnt.  Im  ersten  Teil  ver- 
mißt man  ein  Eingehen  auf  die  Unterschiede  der  französischen 
und  deutschen  Auffassung  von  den  Universitäten,  wozu  auch 
durch  die  Schrift  von  Villers  und  die  vorangehende  und  folgende 
literarische  Aussprache  dringender  Anlaß  gegeben  war.  Aus  den 
Forschungen  von  Heubaum  ergibt  sich,  daß  auch  in  Deutschland 
gewisse  Kreise  an  die  Aufhebung  der  Universitäten  gedacht 
hatten,  wodurch  der  Vorgang  in  Westfalen  ein  anderes  Gesicht 
erhält.  Im  zweiten  Teil  werden  zwar  die  Universite  imperiale 
und  die  französischen  Unterrichtsgesetze  von  1802,  1808  und 
1811  (S.  208)  berührt;  aber  der  Einfluß  des  französischen  Unter- 
richtswesens, das  Louis  Liard  in  seinem  Buch  „Venseignement 
superieur  en  France'*,  2  Bde.,  Paris  1888,  so  zugänglich  darge- 
stellt hat,  tritt  nicht  klar  zutage.  Sonst  müßte  z.  B.  bei  der 
Begründung  der  Militärschule  in  Kassel  auf  die  Ecole  polytech- 
nique  und  die  durch  sie  beeinflußten  französischen  Artillerie- 
schulen verwiesen  werden,  bei  der  Begründung  des  Kasseler 
Lyzeums  der  französische  Realismus  dem  deutschen  Neuhuma- 
nismus gegenüber  gestellt  werden.  Auch  Parallelen  mit  Preußen 
wären  fruchtbar  gewesen:  Bei  dem  Brief  des  Generaldirektors 
Leist  vom  13.  Oktober  1812  über  die  geplante  Einführung  des 
Abiturientenexamens  verweist  der  Verfasser  zwar  auf  das  preu- 
ßische Reglement  von  1788,  erwähnt  aber  mit  keinem  Wort  das 
neuere  preußische  Edikt  vom  25.  Juni  1812,  das  gerade  am 
12.  Oktober  Gesetzeskraft  erhalten  hatte.  Endlich  wären  viel- 
leicht auch  Selbstbiographien  wie  z.  B.  die  von  Steffens  (für 
die  Universität  Halle)  und  von  K.  Ph.  Moritz  (für  die  Seminar- 
schule in  Hannover)  ergiebig  gewesen.  —  Wennschon  also  im 
vorliegenden  Falle  noch  einiges  zu  tun  bleibt,  um  über  die  bis- 


19.  Jahrhundert.  317 

her  überwiegende  philologische  Methode  der  Erziehungsgeschichte 
hinauszukommen,  so  müssen  wir  doch  für  das  neu  erschlossene 
Material  dankbar  sein,  das  nicht  zuletzt  auch  der  Kenntnis  der 
damals  verbreiteten  Schulbücher  zugute  kommt. 

Leipzig.  Eduard  Spranger, 

Clemens  Brentano  und  die  Brüder  Grimm.  Von  Reinhold  Steig. 
Mit  Brentanos  Bildnis.  Stuttgart  und  Berlin,  Cotta.  1914. 
291  S.    5  M. 

Reinhold  Steig,  der  am  13.  März  1918  60jährig  verstorben 
ist,  hat  als  Beauftragter  und  Erbe  Herman  Grimms  ein  gut  Teil 
seines  Lebens  und  seiner  hingebenden  Arbeit  an  das  umfangreiche 
Briefwerk  „Achim  von  Arnim  und  die  ihm  nahe  standen"  ge- 
wendet. Das  Urteil  darüber  steht  längst  fest:  das  Material  ist 
äußerst  wertvoll,  und  es  ist  mit  Sachkunde  geordnet  und  erläutert, 
aber  die  Verarbeitung  unterliegt  schweren  Bedenken;  die  Briefe 
sind  nicht  als  zuverlässige  Urkunden  für  sich  gegeben,  sondern 
in  einer  willkürlichen  Redaktion  der  breitspurigen  Paraphrase 
des  Textes  eingereiht,  wo  sie  dann  wieder  in  unschöner  Weise 
durch  eingeklammerte  Anmerkungen  unterbrochen  werden. 
Das  Bild  Arnims  und  seines  Freundeskreises  stand  für  Herman 
Grimm  von  vornherein  in  der  Form  fest,  in  der  es  dem  deutschen 
Volke  „dokumentarisch"  überliefert  werden  sollte,  und  nach  dieser 
Richtschnur  hat  St.  gehandelt. 

Nachdem  das  Arnim-Werk  mit  drei  Bänden  und  über  1400 
engbedruckten  Seiten  (1913)  abgeschlossen  schien,  wirkt  die  vor- 
liegende Publikation  wie  ein  Nachtrag  zu  dem  1904  erschienenen 
Bd.  II  („Achim  von  Arnim  und  Jacob  und  Wilhelm  Grimm"), 
der  etwas  gewaltsam  und  nicht  ohne  vielfältige  Wiederholungen 
aus  jenem  zu  Bandstärke  aufgeschwellt  ist.  Denn  die  Beziehungen 
Brentanos  zu  Jakob  und  Wilhelm  Grimm,  obwohl  sie  sich  über 
die  Jahre  1803 — 1831  erstrecken  (länger  dauern  die  zu  dem  Maler 
und  Radierer  Ludwig  Grimm),  sind  doch  nur  kurze  Zeit  anhaltend 
lebhaft  gewesen:  ihre  Darstellung  unter  vollständiger  Mitteilung 
der  Briefurkunden  würde  ein  bescheidenes  Heft  anmutig  ausge- 
füllt haben,  am  besten  und  natürlichsten  aber  wäre  sie  mit  dem 
Arnim- Grimm-Bande  verbunden  worden,  da  es  sich  vorwiegend  um 
Dinge  handelt,  die  auch  Arnim  angehen,  wie  das  Wunderhorn, 
die  Gräfin  Dolores,  die  Märchen.    Tatsächlich  sind  denn  auch  die 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  21 


318  Literaturbericht. 

meisten  Briefe  dort  bereits  verwertet  oder  auszugsweise  mit- 
geteilt, anderes  hat  St.  nebenher  und  inzwischen  an  verschiedenen 
Stellen  bekanntgegeben,  aber  es  bleiben  doch  immer  als  Ganzes 
eine  Anzahl  Prachtstücke  von  Briefen  Brentanos  an  die  „lieben 
Grimmigen",  die  „geliebten  Doppelhaken"  übrig,  so  S.  15  und  18 
(Heidelberg  1808),  S.  25  (München  und  Landshut  1808),  S.  32 
(Landshut  1808),  S.  48  (München  1809)  und  vor  allem  die  Berliner 
Briefe  S.  84ff.  (Februar  1810)  und  S.  123 ff.  (November  1810). 
Die  Briefe  des  hessischen  Brüderpaars  entfalten  wieder  ihre 
wohlbekannten  und  nie  ermüdenden  Reize,  und  mit  besonderem 
Interesse  begrüßt  man  die  auf  Clemens  Brentanos  Antrieb  von 
Jacob  1811  abgefaßte  „Aufforderung  an  die  gesamten  Freunde 
deutscher  Poesie  und  Geschichte"  zur  Gewinnung  von  volks- 
tümlichen Oberlieferungen,  die  in  einem  „Altdeutschen  Sammler" 
vereinigt  werden  sollten.  Der  Plan  ist  damals  nicht  zur  Ausführung 
gelangt  und  das  wertvolle  Schriftstück  erst  neuerdings  von  St. 
hervorgezogen  worden. 

Göttingen.  Edward  Schröder. 

Die  Fraktion  des  Zentrums  im  Preußischen  Abgeordnetenhause 
1859—1867.  Von  Dr.  phil.  Hermann  Wendorf.  (Leipziger 
histor.  Abhandlungen,  Heft  41.)  Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 
1916.     139  S.    4,75  M. 

Wendorfs  Arbeit  knüpft  naturgemäß  an  die  1909  erschienene 
Dissertation  von  H.  Donner  über  „Die  katholische  Fraktion  in 
Preußen  von  1852 — 1858"  an.  In  der  Einleitung  faßt  er  dessen 
Darstellung  kurz  zusammen.  Doch  lehnt  er  Donners  Auffassung, 
wonach  die  Haltung  der  Fraktion  auch  in  nichtkirchlichen  Fragen 
durch  ihre  kirchenpolitische  Tendenz  bestimmt  gewesen,  als  viel 
zu  weitgehend  ab.  Für  die  Anfänge  1852 f.  wäre  jetzt  auch  das 
Buch  von  0.  Pfülf  über  Graf  Joseph  zu  Stolberg-Stolberg  heranzu- 
ziehen gewesen.  Mit  Recht  wendet  sich  W.  m.  E.  gegen  die  von 
Spahn,  das  deutsche  Zentrum  13ff.,  und  noch  schärfer  von  Rach- 
fahl, Preuß.  Jahrb.  135,  233  ausgesprochene  Ansicht,  diese  kon- 
fessionelle Fraktionsbildung  innerhalb  Preußens  sei  aus  partikula- 
ristischen  oder  gar  preußenfeindlichen  Tendenzen  zu  erklären.  — 
Die  eigene  Darstellung  zerlegt  W.  in  zwei  Abschnitte:  1.  Die  Zeit 
der  neuen  Ära,  die  aber  mit  den  Anfängen  des  Kampfes  um  die 
Heeresreform  in  den  2.:  die  Zentrumsfraktion  im  Konflikt  über- 


19.  Jahrhundert.  319 

greift.  W.  hält  sich  im  allgemeinen  sehr  eng  an  sein  Thema: 
die  parlamentarische  Tätigkeit  der  Fraktion.  Daher  sind  die 
stenographischen  Sitzungsberichte  weitaus  überwiegend  seine 
Quelle.  Daneben  Material,  wie  es  Pastors  A.  Reichensperger 
und  Pfülfs  Mallinckrodt  bieten.  Zeitungen,  auch  der  Partei- 
presse, sind  nur  in  geringer  Auswahl  herangezogen,  dazu  einige 
Broschüren  und  Flugschriften,  zumal  solche,  die  von  den  Reichen- 
spergers  herstammen.  Übrigens  ist  nach  Pastor  I,  389  die  Schrift 
über  die  Wahlen  zum  Preußischen  Abgeordnetenhaus,  die  W. 
13  Peter  R.  zuschreibt,  auch  von  beiden  Brüdern.  Im  allge- 
meinen hält  sich  W.  chronologisch  an  den  Gang  der  Sessionen. 
Das  ist,  entgegen  seiner  eigenen  Meinung  (S.  34)  nicht  zum  Vor- 
teil der  Anschaulichkeit  geworden.  Es  wäre  vorteilhafter  ge- 
wesen, wenn  er  innerhalb  beider  Hauptabschnitte,  wie  zum 
Teil  im  ersten  geschehen,  seine  Darstellung  nach  zusammen- 
gehörigen Materien  geordnet  (wie  die  Ausführungen  über  die 
deutsche  Frage  in  der  neuen  Ära)  und  am  Schluß  der  Abschnitte 
zusammenfassende  Würdigungen  gegeben  hätte.  Auffassung  und 
Beurteilung  —  wo  sich  solche  findet  — sind  durchaus  unparteiisch, 
meist  ohne  in  die  größeren  Zusammenhänge  klerikaler  politischer 
Bestrebungen  jener  Tage,  was  nahe  gelegen  hätte,  einzugehen. 
Selbstverständlich  sieht  W.  in  dem  Zentrum  trotz  der  Namens- 
änderung eine  konfessionelle  Parteibildung.  Neue  Aufschlüsse  von 
Bedeutung  darf  man  nicht  erwarten.  Indes  auch  die  Vollständigkeit 
läßt  zu  wünschen  übrig:  u.  a.  fehlt  die  Haltung  der  Fraktion  bei 
den  Handelsverträgen  mit  Frankreich  1862  (von  den  12  Opponenten 
gehören  II  der  katholischen  Fraktion  an)  und  mit  Österreich  1865 
und  Marinekreditforderungen  aus  diesen  Jahren.  Auch  vermißt 
man  ein  Eingehen  auf  die  Wesensunterschiede  der  verschiedenen 
Richtungen,  in  die  die  Partei  bei  den  Abstimmungen  in  der  Kon- 
fliktszeit auseinander  zu  fallen  pflegte.  In  diesen  Jahren  erscheint 
Peter  Reichensperger  in  seiner  mittleren,  unbefangenen  Stellung 
als  Hauptwortführer  und  die  hervorragendste  Persönlichkeit  in 
der  Fraktion;  sehr  mit  Recht.  Es  wäre  längst  erwünscht,  eine 
eindringende  Studie  über  die  ganze  lange  politische  Tätigkeit 
dieses  bedeutenden  Parlamentariers  zu  haben,  der  seinen  Bruder 
August  als  Politiker  weit  überragt.  —  Ganz  unzulässig  und  un- 
vollständig sind  die  wenigen  Seiten  über  die  letzte  Phase  der 
Fraktion  in  der  Herbstsession   1866  und   1867.    Unbefriedigend 

21* 


320  Literaturbericht. 

sind  auch  die  wie  bei  Donner  angelegten  Mitgliederlisten  im  An- 
hang. Eine  tabellarische  Übersicht  nach  Wahlkreisen  und  Pro- 
vinzen mit  Angabe  von  Stimmenzahlen,  Gegenkandidaten  und 
Mitabgeordneten  anderer  Richtung  wäre  das  Richtige  gewesen. 
Ebenso  entbehrt  man  wenigstens  kurze  biographische  Angaben, 
wie  sie  z.  B.  Parisius  in  seinem  Buche  über  Hoverbeck  —  aller- 
dings auf  die  einzelnen  Kapitel  verstreut  —  in  den  Anmerkungen 
gegeben  hat. 

Tübingen.  /C.  Jacob. 

Alois  Graf  Aehrenthal.  Sechs  Jahre  äußere  Politik  Österreich- 
Ungarns.  Von  Berthold  Melden.  Stuttgart  und  Berlin, 
Deutsche  Verlagsanstalt.    1917.    242  S. 

Das  Buch  hält,  was  der  Titel  verspricht.  Nicht  nur  die 
Amtsführung  des  Grafen  Aehrenthal  als  österr.-ungar.  Minister  des 
Auswärtigen,  1906 — 1912,  sondern  auch  die  gesamte  äußere 
Politik  der  Monarchie  in  den  kritischen  Jahren  der  bosnischen 
Annexion  werden  uns  in  gewandter  geistvoller  Form  geschildert. 
Daß  man  nicht  eben  viel  Neues  erfährt,  liegt  in  der  Natur  der  Sache 
begründet,  aber  man  liest  diese  kluge,  objektive  Darstellung  des 
Werdens  der  Dinge  vor  dem  Weltkriege  mit  Spannung  und  freut 
sich  des  mannhaften  und  erfolgreichen  Auftretens  eines  gewandten 
Diplomaten  aus  der  alten  Schule.  Es  ist  möglich,  daß  eine 
spätere  Kritik  einmal  die  Gestalt  Aehrenthals  nicht  so  hellstrahlend 
finden  wird,  wie  Molden:  aber  wozu  uns  die  Genugtuung  darüber 
beeinträchtigen,  daß  unter  den  vielen  tüchtigen  Männern,  über 
die  Österreich-Ungarn  verfügen  könnte,  einmal  einer  auf  dem 
richtigen  Platze  stand?  Aus  den  wichtigsten  Kapiteln  des 
Buches  scheint,  wie  Referent  meint,  klar  dreierlei  hervorzugehen. 
Einmal,  daß  die  Politik  des  Donaustaates  Serbien  gegenüber 
nicht  immer  eine  glückliche  gewesen  ist.  Zweitens,  daß  der 
Russe  Iswolski  dem  Deutschböhmen  Aehrenthal  an  Schlauheit 
nicht  gewachsen  war.  Endlich,  daß  Frankreich  der  Hauptwühler 
zum  Weltkriege  war:  weil  es  1909  noch  nicht  wollte,  verlief  die 
bosnische  Krise  harmlos,  und  weil  es  1914  wollte,  begann  der 
blutige  Waffengang. 

Für  die  Vorgeschichte  des  Weltkrieges  ist  M.s  Buch  ein 
wertvoller  Beitrag. 

Prag.  0.  Weber. 


Rechtsgeschichte.  321 

Gewerberechtliches  in  deutschen  Rechtssprichwörtern.  Erweiter- 
ter Sonderabdruck  aus  der  Festschrift  für  Georg  Cohn. 
Von  Prof.  Dr.  Carl  Koehne.  Zürich  1915,  82  S.,  davon 
48  S.  Text. 

Zu  Beginn  der  Arbeit,  sowie  in  einem  besonderen  Anhang 
(S.  49f.)  versucht  der  Verfasser  den  Begriff  des  Rechtssprich- 
wortes zu  definieren.  Er  unterscheidet  Rechtsregel  und  Rechts- 
sprichwort. Rechtssprichwort  ist  ein  Satz,  in  dem  ein  Volk, 
die  Einwohner  einer  Landschaft  oder  eines  Ortes  oder  einzelne 
gesellschaftliche  Schichten  eine  in  weiten  Kreisen  als  zutreffend 
angesehene  rechtliche  Beurteilung  bestimmter  Tatsachen  auszu- 
sprechen pflegen.  Geht  ein  solcher  Satz  von  einem  einzelnen 
aus,  so  ist  er  bloße  Rechtsregel.  S.  13  wird  an  Hand  dieser 
Definition  die  Norm  (aus  dem  Rechtsbuche  nach  Distinktionen): 
„Wer  leder  im  wichbilde  gerwet,  der  sal  nit  schu  machen  und 
der  Schumacher  sal  nicht  gerwen,"  aus  dem  Bereiche  der  Rechts- 
sprichwörter verwiesen.  Denn  es  fehle  jeder  Beweis  dafür,  daß 
gerade  die  Form,  in  der  jenes  Rechtsbuch  diesen  Gedanken 
bringt,  dem  Volksmunde  entnommen  sei  oder  allgemeine  Ver- 
breitung gefunden  habe.  Die  Probe  aufs  Exempel  zeigt, 
daß  Koehnes  Begriffsbestimmung  des  Rechtssprich- 
worts nicht  haltbar  ist.  Wie  wollen  wir  beweisen,  daß 
ein  Rechtssprichwort  dem  „Volksmunde"  entnommen  sei?  Ja, 
was  bedeutet  das  überhaupt,  „dem  Volksmund  entnommen"? 
Das  ganze  Volk  wird  nicht  zusammengetreten  sein  um  Rechts- 
sprichwörter zu  beraten.  Die  Fassung  wird  vielmehr  stets  von 
einem  einzelnen  ausgegangen  sein.  Der  Zweite  und  Dritte,  der 
Fünfzigste  und  Hundertste  mag  weiter  daran  gefeilt  habea, 
bis  das  Sprichwort  die  prägnante  Form  erhielt,  in  der  es  dann 
Jahrhunderte  lang  fortlebte.  Aber  noch  mehr.  Rechtssprich- 
wörter sind  Sätze,  die  einen  Rechtssatz  enthalten.  Sie  müssen 
eine  rechtliche  Aussage  machen,  sonst  zählen  sie  wohl  zu.  den 
Sprichwörtern,  nicht  aber  zu  den  Rechtssprichwörtern.  Die 
meisten  der  köstlichen  Sprichwörter  des  Sancho  Pansa  enthalten 
keinen  rechtlichen  Inhalt.  Recht  aber  geht  nicht  von  einem 
einzelnen  aus.  Das  Recht  geht  vom  Volke  aus.  Das  Recht  ist 
Volksrecht,  sei  es  eines  größeren  oder  kleinern  sozialen  Kreises, 
einer  Gerichtsgemeinde  oder  einer  Zunftversammlung.  Und  das 
Recht  zur  Zeit  der  Rechtssprichwörter  (13.  bis  18.  Jahrhundert) 


322  Literaturbericht. 

ist  noch  überwiegend  Gewohnheitsrecht.  Ich  vermute,  daß 
gerade  das  Bedürfnis,  gewohnheitsrechtlichen  Normen 
eine  greifbare,  der  Erinnerung  zugängliche  Form  zu 
geben,  zum  Rechtssprichwort  geführt  hat.  Neben  dieser 
Fähigkeit  leichterer  Einprägung  der  Norm,  spielen  der  Wille  nach 
poetischer  und  humorvoller  Ausgestaltung  des  Rechts  eine  große 
Rolle.  Jakob  Grimm  hat  in  seinem  prächtigen  Aufsatz,  Die 
Poesie  im  Recht  (Zeitschr.  f.  geschichtl.  Rechtswissenschaft  II, 
Heftl,  25 — 99)  und  Otto  Gierke  in  seiner  fein  empfundenen 
Studie,  Der  Humor  im  deutschen  Recht  (Festgabe  für  Homeyer) 
deuthch  gezeigt,  wie  eng  Poesie  und  Humor  mit  dem  Recht  ver- 
knüpft waren,  wie  deutsche  Gestaltungskraft  und  deutsches  Volks- 
gemüt sich  gerade  auch  im  Rechtssprichwort  auf  das  eindruck- 
vollste äußern.  Daher  glaube  ich  feststellen  zu  dürfen:  Das 
Rechtssprichwort  bietet  seinem  Inhalte  nach  Gewohnheitsrecht 
dar.  Die  prägnante  Fassung  rührt  von  einzelnen,  formbegabten 
Personen  her.  Der  Inhalt  ist  aus  dem  Volke  geboren,  die  Form 
vom  einzelnen  gemacht.  (Wobei  ich  noch  einmal  betone,  daß 
oft  viele  einzelne  daran  gefeilt  haben,  bis  das  Wort  die  vulgäre 
Form  erhielt  und  behielt.)  Da  nun  diese  Form  in  der  Regel 
etwas  Zündendes,  Schlagwortartiges  enthält,  so  läßt  sich  sagen: 
Rechtssprichwörter  sind  schlagwortartig  gefaßtes  Gewohnheits- 
recht. 

Als  Kennzeichen  tritt  noch  dazu,  daß  diese  Sprichwörter 
nicht  einzelne  Rechtsfälle  ordnen,  sondern  vielmehr  Rechtsregeln 
allgemeiner  Natur  aufstellen.  Sie  sagen  nicht,  was  einmal  ge- 
schieht oder  wofür  ein  Mensch  oder  eine  Sache  einmal  angesehen 
werden  soll,  sondern  wie  sich  diese  Dinge  dauernd  verhalten, 
dauernd  charakterisieren.  Daher  gelange  ich  zu  der  Begriffs- 
bestimmung: Rechtssprichwörter  sind  Rechtsregeln, 
welche  Gewohnheitsrecht  in  schlagwortartiger  Form 
enthalten. 

Zum  Einzelnen  der  Studie  habe  ich  wenig  zu  bemerken. 
Sie  ist  sehr  gut  gruppiert  in  die  Sprichwörter,  welche  Hand- 
werk und  Innung,  Zwangs-  und  Bannrechte,  die  Unehrlichkeit  ein- 
zelner Berufe  und  endlich  noch  eine  Reihe  anderer  gewerblicher 
Verhältnisse  (z.  B.  Markt-  und  Gästerecht)  umfassen.  Not- 
wendigerweise lehnt  sie  sich  stark  an  die  Zentren  an,  in  denen 
das  Gewerbe  seinen  eigentlichen  Sitz  hatte,  an  die  Städte.    Man 


i 


Rechtsgeschichte.  323 

darf  sich  aber  nicht  beirren  lassen  und  annehmen,  daß  das  Ge- 
wohnheitsrecht in  diesen  Rechtskreisen  dem  Gesetzesrecht  be- 
reits den  Platz  geräumt  hätte.  Auch  unser  Handwerker-  und 
Innungsrecht  ist  ganz  überwiegend  nur  aufgezeichnetes  Gewohn- 
heitsrecht. Gerade  K.s  Sammlung  scheint  mir  einen  neuen 
Beweis  für  diese  Auffassung  gebracht  zu  haben.  Jeder  romanisti- 
sche Einschlag  in  den  Sprichwörtern  fehlt.  Das  Recht  wurde 
noch  von  innen  heraus  geboren,  nicht  von  außen  hereingetragen. 

K.  bringt  die  Parömien  nicht  nur  in  einen  natürlichen  Zu- 
sammenhang, sondern  er  erklärt  die  meisten  sehr  treffsicher. 
Zur  UnehrHchkeit  der  Weber,  welche  z.  B.  in  dem  Sprichwort 
auftritt:  ,,Zehn  Müller,  zehn  Schneider  und  zehn  Weber  sind 
dreißig  Diebe"  (a.  a.  0.  38)  möchte  ich  aufmerksam  machen  auf 
die  Arbeit  von  Gustav  Aubin,  Die  Leineweberzechen  in  Zittau, 
Bautzen  und  Görlitz.  Conrads  Jahrb.  Bd.  104,  S.  577—649. 
Aubin  vermutet,  daß  die  Leineweber  vielfach  auf  dem  Lande  zu 
Hause  und  daher  als  Bauern  slavischer  Herkunft  waren.  Sie 
standen  also  ständisch  tiefer  als  andere  Arbeiter.  Auch  wurde  die 
Leineweberei  relativ  spät  als  selbständiges  Handwerk  anerkannt. 
—  Sehr  einleuchtend  ist  des  Verfassers  Erklärung  der  bekannten 
Sachsenspiegelstelle  II  59  §  4:  „Wer  zuerst  kommt,  mahlt  zuerst." 
Sachse  hat  unrecht,  wenn  er  malen  mit  reden  übersetzt.  Es  handelt 
sich  nicht  um  eine  prozessuale,  sondern  um  eine  materiell  recht- 
liche Norm.  Mahlen  bedeutet  Getreide  mahlen.  Der  Ssp. 
gibt  dem  zuerst  in  der  Mühle  Erscheinenden  das  Recht  der  Priori- 
tät (30).  Prozessual  interessant  ist  dagegen  zu  beobachten,  wie 
gewisse  Sprichwörter  auf  den  Schuldbeweis  wirkten.  Ich  ver- 
weise auf  S.41,  wo  die  Erklärung  von  Pistorius  (1715)  angezogen 
wird:  Falls  man  bei  einem  Schneider  ein  einzelnes  Stück  Tuch 
finde,  so  könne  man  präsumieren,  daß  es  aus  einem  Diebstahl 
herrühre.  So  stark  wirkte  das  Sprichwort  nach :  „Ist  der  Schneider 
kein  Schelm,  so  geben  fünf  Ellen  ein  paar  Handschuh." 

Die  Sammlung  K.s  bietet  eine  schöne  Ergänzung  der  Rechts- 
sprichwörtersammlung von  Graf  und  Dietherr.  Sie  ist  für  den 
Juristen  so  beachtenswert,  wie  für  den  Wirtschafts-  und  Kultur- 
historiker. 

Heidelberg.  Hans  Fehr. 


324  Literaturbericht. 

Stadtverfassung  nach  Magdeburger  Recht:  Magdeburg  und  Halle, 
von  Rudolf  Sdiranil  (Untersuchungen  zur  Deutschen  Staats- 
und Rechtsgeschichte,  herausg.  von  Otto  v.  Gierke,  Heft  125). 
Breslau,  Verlag  von  M.  u.  H.  Marcus.     1915.    XII  und  379  S. 

Der  Verfasser  hatte  ursprünglich  den  Plan,  die  Stadtverfassung 
in  dem  gesamten  magdeburgischen  Rechtskreise  zu  behandeln, 
ist  jedoch  dieses  für  eine  Erstlingsarbeit  wahrlich  kühnen  Unter- 
nehmens nicht  Herr  geworden  und  hat  sich  dann  auf  die  Ver- 
fassung von  Magdeburg  und  Halle  beschränkt.  Sonderbarerweise 
glaubte  er,  jenen  Plan  in  dem  Titel  seines  Buches  zum  Ausdrucke 
bringen  zu  sollen,  als  welchen  er  doch  wohl  besser  einfach: 
„Stadtverfassung  von  Magdeburg  und  Halle**  gewählt  hätte. 
Übrigens  steht  keineswegs  ohne  weiteres  fest,  daß  die  Städte 
des  magdeburgischen  Rechtskreises  samt  und  sonders  schlechthin 
„Stadtverfassung  nach  Magdeburger  Recht**  hatten,  wie  es 
überhaupt  noch  der  näheren  Prüfung  bedarf,  in  welchem  Umfange 
das  Recht  der  Mutterstadt  in  den  Tochterstädten  Geltung  erlangte 
und  behielt.  Schon  jetzt  wird,  wer  in  die  verschiedenen  Stadt- 
rechte tiefer  eingedrungen  ist,  den  Eindruck  gewonnen  haben, 
daß  die  Tochterstädte  in  nicht  wenigen  Beziehungen  eigene 
Wege  gegangen  sind.  Es  ist  gewiß  an  der  Zeit,  diese  Frage  zum 
eigentlichen  Gegenstande  von  Untersuchungen  zu  machen ;  nichts 
ist  getan  mit  der  Formel:  im  magdeburgischen  Rechtskreise  galt 
magdeburgisches  Recht,  am  allerwenigsten  hinsichtlich  der  Ver- 
fassung. 

Eine  zusammenfassende  auf  der  Höhe  stehende  Arbeit  über 
die  Verfassung  von  Magdeburg  und  Halle  fehlte.  Das  Werk 
wäre  also  nach  seinem  Gegenstande  geeignet,  eine  Lücke  in  der 
Literatur  auszufüllen,  die  namentlich  in  Ansehung  Magdeburgs 
recht  fühlbar  ist.  Die  Zahl  der  Einzeluntersuchungen  ist  nicht 
gering;  mancherlei  harrt  indessen  noch  der  Arbeit  des  Forschers. 
So  bot  sich  dem  Verfasser  ein  doppeltes  Feld  zur  Betätigung: 
Literatur  und  Quellen. 

Er  bevorzugt  offensichtlich  jenes,  ohne  jedoch  hier  —  trotz 
den  vielen  von  ihm  angeführten  und  mehr  oder  minder  eingehend 
benutzten  Schriften  —  nach  Art  und  Umfang  den  zu  stellenden 
Anforderungen  zu  genügen  (es  sei  hier  auf  die  entsprechenden 
kritischen  Bemerkungen  Schmidt-Rimplers  in  der  Zeitschrift 
der  Savigny-Stiftung  für  Rechtsgeschichte  Bd.  36,  Germanistische 


Rechtsgeschichte.  325 

Abteilung  S.  526ff.  verwiesen).  Bezüglich  der  Verwertung  der 
Quellen  ist  zu  betonen,  daß  der  Verfasser  nach  neuen,  bisher 
nicht  berücksichtigten  (handschriftlichen)  Quellen  nicht  Umschau 
gehalten,  aber  auch  die  veröffentlicht  vorliegenden  nicht  immer 
in  dem  unbedingt  erforderlichen  Maße  herangezogen  hat;  er 
verläßt  sich  nicht  selten  auf  die  Angaben  der  Schriftsteller  über 
Quellenzeugnisse,  statt  aus  erster  Hand  zu  nehmen,  und  besonders 
ist  zu  rügen,  daß  er  die  Ausgabe  der  hallischen  Schöffenbücher 
(von  Hertel,  in  den  Geschichtsquellen  der  Provinz  Sachsen  Bd.  14, 
1882  und  1887)  nicht  durchgearbeitet  hat.  Häufig  muß  man 
übrigens  die  Wahrnehmung  machen,  daß  es  der  Verfasser  gar 
nicht  für  nötig  hält,  für  seine  Behauptung  —  sei  es  aus  der  Lite- 
ratur, sei  es  aus  den  Quellen  —  Belege  beizubringen. 

Nach  dem  Gesagten  handelt  es  sich  mehr  um  eine  Darstellung 
als  um  eine  Untersuchung  mit  neuen  Ergebnissen. 

In  zwei  getrennten  Teilen  wird  die  Verfassung  der  beiden 
Städte  nacheinander  erörtert,  und  zwar  nach  dem  völlig  gleichen 
Schema:  Machtbereich  des  Erzbischofs  (die  Bezirke  der  öffent- 
lichen Gewalt,  das  Gericht,  die  Handelsregalien,  die  sonstigen 
stadtherriichen  Rechte,  konkurrierende  Machtfaktoren,  Schicksal 
der  stadtherriichen  Gewalt),  Machtbereich  der  Bürger  (die  Bürger, 
der  Grund  und  Boden,  der  Gemeindeverband,  die  selbständigen 
Organe  der  Gemeinde,  die  abhängigen  Organe  der  Gemeinde, 
Kriegsdienst  und  Steuern).  Was  die  zeitlichen  Grenzen  betrifft, 
so  bemüht  sich  der  Verfasser,  möglichst  weit  zurückzugelangen; 
nach  oben  schließt  er  bald  mit  dem  14.,  bald  mit  dem  15.,  bald 
mit  dem  16.  Jahrhundert  ab.  Wir  vermögen  die  rein  systematische 
•Ordnung  nicht  zu  billigen.  Denn  sie  verwischt  vollkommen  die 
geschichtliche  Entwicklung,  die  deutlich  verschiedene  Phasen 
—  zumal  in  der  Ausdehnung  der  beiden  „Machtbereiche"  —  er- 
kennen läßt.  Besonders  bezeichnend  sind  die  Schlußkapitel  der 
ersten  Abschnitte  in  beiden  Teilen  über  das  „Schicksal  der  stadt- 
herriichen Gewalt"  in  der  jüngeren  Zeit;  was  hier  ausgeführt  wird, 
ist  vielfach  durchaus  zum  Verständnis  der  vorhergehenden  Be- 
trachtungen nötig  und  auf  der  anderen  Seite  nicht  immer  recht 
verständlich,  indem  es  die  Kenntnis  späterer  Erörterungen  in 
den  zweiten  Abschnitten  („Machtbereich  der  Bürger")  voraus- 
setzt, namentlich  über  das  Emporkommen  des  Rates,  —  über- 
haupt werden  die  so  interessanten  Kompetenzkämpfe  zwischen 


326  LiteraturberichU 


Rat  und  Schöffen  nicht  im  entferntesten  genügend  gewürdigte 
Auch  sonst  fehlt  der  Darstellung  meist  das  tiefere  Eindringen 
in  die  vielen  vorgeführten  Einzelheiten,  die  zum  nicht  geringen 
Teile  kaum  mehr  als  gestreift  werden.  Aber  sie  ruht  auch  nicht 
auf  dem  breiten  Boden  der  deutschen  Stadtverfassung  an  sich. 

So  ist  das  Buch  weder  grundlegend  noch  abschließend.  In 
der  Zusammenstellung,  die  es  bietet,  vermag  es  immerhin  wohl 
gute  Dienste  zu  leisten  sowohl  demjenigen,  welcher  sich  über  den 
Stand  der  Forschung  unterrichten  will  als  auch  demjenigen, 
welcher  über  diese  hinaus  zu  gelangen  strebt. 

Halle.  Paul  Rehme, 

Entwicklung  und  Vollzug  der  Freiheitsstrafe  in  Brandenburg-Preu- 
ßen bis  zum  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts,  ein  Beitrag  zur 
Geschichte  der  Freiheitsstrafe  von  Dr.  jur.  Eberhard  Schmidt 
(Abhandlungen  des  Kriminalistischen  Instituts  an  der  Uni- 
versität Berlin,  herausgegeben  von  Franz  v.  Liszt  und  Ernst 
Delaquis,  dritte  Folge,  zweiter  Band,  2.  Heft).  Berlin  1915. 
J.  Guttentag,  Verlagsbuchhandlung,  G.  m.  b.  H.  95  S. 

Wie  die  Geschichte  des  Strafrechtes  überhaupt,  so  bedarf 
die  Geschichte  der  Freiheitsstrafe  insbesondere  dringend  ein- 
gehenderer Erforschung.  Das  vorliegende  Werk  kommt  mithin 
einem  Bedürfnis  entgegen.  Das  Strafrecht  ist  ein  Gradmesser 
der  Kultur,  und  so  bietet  das  Buch  ein  interessantes  Stück  Kultur- 
geschichte. Es  ist  in  drei  Abschnitte  gegliedert:  ,,Die  Entwick- 
lung der  Freiheitsstrafe  zur  Zentralstrafe  des  preußischen  Strafen- 
systems," „Die  Zustände  in  den  einzelnen  Arten  der  Strafanstalten 
bis  zum  Ausgange  des  18.  Jahrhunderts,"  „Ergebnisse";  in  einem 
Anhange  ist  eine  größere  Zahl  bisher  ungedruckter  „Urkunden 
aus  der  Geschichte  des  preußischen  Zuchthauswesens"  beigefügt. 
Das  Buch  will  sich  nur  mit  Brandenburg-Preußen  beschäftigen, 
greift  aber  —  bei  dem  Bestreben  des  Verfassers,  das  von  ihm 
Ermittelte  möglichst  der  allgemeinen  Entwicklung  einzugliedern  — 
öfter  über  die  Grenzen  jenes  Staates  hinaus.  Wenn  auch  die 
spärliche  Literatur  dem  Verfasser  manchen  Fingerzeig  gab  (na- 
mentlich ein  Aufsatz  v.  Hippels  in  der  Zeitschrift  für  die  gesamte 
Straf rechtswissenschaft  Bd.  18  und  Kriegsmanns  Einführung  in 
die  Gefängniskunde,  1912),  so  war  er  doch  hauptsächlich  auf 
gedruckte  Quellen  und  Archivalien  angewiesen.     Er  hat  in  dem 


Wirtschaftsgeschichte.  327 

Geheimen  Staatsarchiv  in  BerHn  und  im  Hinblick  auf  das  Zucht- 
haus zu  Magdeburg,  das  eines  der  ersten  brandenburgischen 
Zuchthäuser  war,  in  dem  dortigen  Stadtarchiv  gearbeitet;  seine 
Absicht,  auch  die  Verhältnisse  der  Zuchthäuser  in  Küstrin  und 
Frankfurt  a.  d.  0.  aus  den  alten  Akten  kennen  zu  lernen,  mußte 
er  aufgeben,  da  sich  herausstellte,  daß  die  Küstriner  Akten  während 
des  Siebenjährigen  Krieges  verbrannt  sind,  der  Frankfurter 
Magistrat  aber  eine  entsprechende  Eingabe  unbeantwortet  ließ 
(S.  21  Anm.  4),  —  daß  Forscher  derartige  Erfahrungen  machen, 
gehört  heute  wohl  glücklicherweise  zu  den  Seltenheiten.  In  dem 
ganzen  Werke  steht  die  Zuchthausstrafe  durchaus  im  Vorder- 
grunde der  Darstellung,  und  es  ist  dem  Verfasser  gelungen, 
unsere  Kenntnis  des  preußischen  Zuchthauswesens  im  18.  Jahr- 
hundert in  erfreulichem  Maße  zu  fördern. 

Breslau.  Paul  Rehme. 

Wirtschaftliche  und  soziale  Grundlagen  der  europäischen  Kultur- 
entwicklung aus  der  Zeit  von  Cäsar  bis  auf  Karl  d.  Gr. 
Von   Alfons   Dopsch.     I.Teil.    Wien,  L.  W.  Seidel  &  Sohn. 

^       1918.     XI  u.  404  S.    27  M. 

"     In  einer  Rezension,  die  F.  Philippi  in  den  Gott.  Gel.  Anzeigen 
1913,    Nr.  4,    S.  227ff.,   von    Dopschs   aufschlußreicher   „Wirt- 
schaftsentwicklung der  Karolingerzeit"  Bd.  I  veröffentlicht  hat, 
bedauert  er  es,  daß  D.  die  wirtschaftlichen  Organisationen  der 
Karolingerzeit   nicht   auf   ihren    römischen    Ursprung   hin   ge- 
prüft habe.    Obwohl  man  eher  bei  der  Darstellung  der  Mero- 
wingerzeit  als  bei  der  der  Karolingerzeit  eine  Prüfung  der  wirt- 
schaftlichen   und    sozialen    Grundlagen    auf   ihren    römischen 
Ursprung  hin  für  angebracht  halten  wird,  so  scheint  D.  doch 
Philippis   Forderung  als  berechtigt  anerkannt  zu  haben.     Er 
I  legt  jetzt  eine  Arbeit  vor,  die  ihr  entspricht.   Natürlich  ist  eine 
I   Untersuchung  über  den  Zusammenhang  der  römischen  und  der 
germanischen    Kultur  stets  lebhaft  zu   begrüßen.    Wir  fügen 
I   sogleich  hinzu,  daß  D.s  gelehrtes  Buch  schon  allein  als  zusammen- 
I   fassende  kritische  Überschau  über  die  Ergebnisse  der  bisherigen 
I    Forschungen   auf  diesem    Gebiet  und   wegen   der   Einordnung 
i    derselben  in  die  große  Entwicklung  der  allgemeinen  geschicht- 
I    liehen  Auffassung  (er  spricht  darüber  unter  dem  Titel  „Die 
j    Entstehung  der  Kulturgeschichtstheorien  im  Wandel  der  Zeit- 


328  Literaturbericht. 

richtungen"  in  einem  einleitenden  literargeschichtlichen  Kapitel, 
wie  er  es  auch  seiner  „Karolingerzeit"  beigegeben  hatte),  die 
allgemeine  Beachtung  verdient.  Allein  wir  haben  den  Eindruck, 
daß  er  in  der  Ableitung  von  Einrichtungen  der  Germanen  aus 
dem  Römertum  oder  in  der  Herstellung  eines  Zusammenhangs 
zwischen  beiden  zu  weit  geht,  wie  auch  Philippis  Sätze  u.  E. 
zu  zuversichtlich  lauteten.  Die  Zurückhaltung,  die  D.  früher 
beobachtet  hat,  dürfte  doch  mehr  am  Platz  sein.  Den  eingehen- 
den Nachweis  für  das,  was  ich  hier  andeute,  zu  erbringen,  muß 
ich  an  dieser  Stelle  unterlassen.  Aber  ein  paar  Beweise  möchte 
ich  doch  zur  Verfügung  stellen. 

D.  will  nachweisen  (S.  346),  daß  die  Germanen  die  Hufen- 
verfassung von  den  Römern  „übernommen"  haben.  Er  beruft 
sich  darauf,  daß  die  Gemengelage  der  Äcker  hier  wie  da  vor- 
handen sei.  Indessen  fehlt  doch  viel  an  dem  Nachweis,  daß 
die  Römer  genau  unsere  deutsche  Gemengelage  gehabt  haben. 
Wenn  aus  dem  römischen  Gebiet  erwähnt  wird,  daß  jemand 
Besitzungen  an  verschiedenen  Stellen  habe,  oder  ähnliches, 
so  ist  damit  noch  nicht  die  Existenz  unserer  Gemengelage 
ausgesprochen.  Es  liegt  in  der  Natur  der  Dinge,  daß  bei  den 
verschiedensten  Völkern,  zumal  in  einer  späteren  Zeit,  wo  der 
Grundbesitz  eine  sehr  lange  Zeit  starken  Güterverkehrs  hinter 
sich  hat,  Grundbesitzzersplitterungen  vorhanden  sind,  bzw. 
Besitz  getrenntliegender  Stücke  in  einer  Hand.  D.  führt  weiter 
als  Beweis  für  „die  Übernahme  der  römischen  Flureinteilung 
und  Vermessung  durch  die  germanische  Zeit"  aber  nicht  bloß 
die  Gemengelage  an,  sondern  auch,  daß  „die  Besitzeinheiten 
hier  und  dort  auffällig  zusammenstimmen,  die  Hufen"  (S.  341). 
Schon  die  Bezeichnung  selbst  sei  dieselbe:  sortes.  Indessen 
sind  doch  sors  und  sortiri  (im  Sinn  von  erlangen)  zu  allgemeine 
Ausdrücke,  als  daß  aus  ihnen  viel  gefolgert  werden  könnte, 
und  wenn  sors  das  Sondereigen  des  einzelnen  bedeutet,  so  gibt 
das  Wort  damit  noch  nicht  ohne  weiteres  den  Hufenbegriff 
wieder.  In  seiner  „Karolingerzeit",  Bd.  I,  S.  312,  hebt  D. 
übrigens  hervor,  sors  werde  in  Italien  mit  Vorliebe  für  mansus 
gebraucht.  D.  führt  jedoch  noch  einen  andern  entsprechenden 
römischen  Ausdruck  an,  accepta,  und  von  ihm  meint  er,  daß 
„hoba*'  wohl  aus  einer  Übersetzung  des  lateinischen  accepta 
entstanden  sein  könne  (S.  343).    Hierauf  wäre  erstens  zu  er- 


Wirtschaftsgeschichte.  329 

widern,  daß  accepta  bei  den  Römern  selten,  bei  den  Germanen 
(d.  h.  in  frühmittelalterlichen  Quellen)  ganz  vereinzelt  vor- 
kommt, zweitens,  daß  beide  Ausdrücke  auf  verschiedenen 
Vorstellungen  beruhen:  accepta  =:  empfangen,  d.h.  von  einem 
andern,  Hufe  (falls  es,  wie  auch  D.  annimmt,  mit  haben  zu- 
sammenhängt) =  habend,  d.  h.  aus  eigenem  Recht.  Dieser 
Unterschied  der  Grundauffassung  würde  gerade  in  D.s  System 
der  Beweisführung  wichtig  sein,  da  nach  ihm  —  wir  kommen 
darauf  zurück  —  die  betreffenden  Verhältnisse  bei  den  Römern 
und  Germanen  grundherrschaftlich  bestimmt  sind,  zu  welcher 
Auffassung  aber  das  deutsche  Wort  Hufe  nicht  ohne  weiteres 
paßt.  Wenn  D.  dann  weiter  (S.  343)  selbst  hervorhebt,  die 
älteste  fränkische  Form  für  Hufe  sei  houa,  welches  Wort  Stück 
bedeute,  so  würde  das  eben  nicht  der  Sinn  von  accepta  sein, 
und  wenn  er  auf  den  schwedischen  Ausdruck  mantal  (Manns- 
teil) hinweist,  so  würde  das  doch  nur  bedeuten,  daß  die  Ger- 
manen Vorstellungen  haben,  die  nicht  durch  accepta  oder  sors 
gedeckt  sind.  Sodann  müßte  noch  viel  mehr,  als  es  D.  ver- 
sucht, nachgewiesen  werden,  daß  die  allgemeinen  Vorstellungen, 
auf  denen  die  deutsche  Hufenverfassung  beruht,  den  Römern 
vertraut  gewesen  sind,  von  der  Frage  der  Übereinstimmung 
im  äußern  Maß  ganz  abgesehen.  Den  Einwand,  daß  auch  eine 
unabhängige  Entstehung  der  Bezeichnungen  hier  wie  dort 
stattgefunden  haben  kann,  macht  sich  D.  übrigens  selbst  (S.  343). 
Im  übrigen  würde  die  Benutzung  eines  römischen  technischen 
Ausdrucks  für  eine  deutsche  Einrichtung  noch  nicht  die  sach- 
liche Übereinstimmung  der  beiden  Einrichtungen  beweisen, 
wie  man  sich  ja  an  vielen  Beispielen,  z.  B.  an  dem  Wort  princeps, 
vergegenwärtigen  kann. 

D.  will  dann  aber  auch  die  Übereinstimmung  zwischen 
den  Römern  und  Germanen  in  der  Einrichtung  der  Allmende 
oder  die  Herkunft  der  germanischen  gemeinen  Mark  aus  der 
römischen  erweisen.  Er  operiert  hier  mit  der  römischen  iunctio 
(S.  344):  „es  wurden  behufs  Aufbringung  eines  möglichst  gün- 
stigen Steuererträgnisses  die  Kleinpächter  durch  die  . . .  Grund- 
herrschaften gezwungen,  zugleich  mit  ihrem  Ackerlos  auch 
einen  Zuschlag,  ein  Stück  vom  benachbarten  Ödland  mit  zu 
übernehmen,  dieses  zu  bebauen  und  zu  versteuern."  Im  Blick 
darauf  macht  D.  geltend,  daß  in  der  sog.  Pertinenzklausel  der 


330  Literaturbericht. 

frühfränkischen  Formelsammlungen,  bei  den  Formeln  für 
Schenkungs-  und  Traditionsurkunden,  häufig  die  Wendung 
„iunctis  vel  subiunctis''  begegne,  daß  allmählich  neben  „ad- 
iunctis''  „adiacenciis''  und  „appendiciis"  auftauche,  um  schließ- 
lich Worten  wie  „adiacenciis*'  die  Herrschaft  zu  überlassen. 
Wir  wollen  nicht  fragen,  wie  man  denn  anders  das  Zubehör, 
den  Anteil  des  Bauern  an  der  gemeinen  Mark,  bezeichnen 
sollte  als  yjunctis'*  oder  „cum  adiunctionibus  ad  memoratum 
locum  pertinentibus''  usw.;  setzen  wir  wirklich  den  Fall,  daß 
das  Wort  „iunctis''  aus  den  römischen  Formeln  direkt  über- 
nommen ist,  so  beweist  das  doch  noch  nichts  für  die  Sache. 
Denn  vor  allem  bezieht  sich  die  „iunctio''  auf  ein  Zwangs- 
verhältnis, welches  hingegen  den  deutschen  Verhältnissen  gänz- 
lich fremd  ist.  Oder  hören  wir  in  Deutschland  einmal  davon, 
daß  Mitglieder  einer  deutschen  Landgemeinde,  bzw.  Mark- 
genossenschaft gezwungen  werden,  ein  Stück  Ödland  aus  der 
Allmende  zu  bebauen,  damit  der  Landesherr  mehr  Steuern 
erhält?  Ganz  abgesehen  davon,  daß  auch  in  den  spätem  Jahr- 
hunderten der  stärkeren  Ausbildung  der  territorialen  Steuer- 
verfassung etwas  Derartiges  nicht  vorkommt,  in  die  frühe  deutsche 
Zeit  paßt  etwas  Derartiges  am  wenigsten  hinein.  Es  handelt 
sich  hier  um  den  allgemeinen  Gegensatz  zwischen  den  Organi- 
sationen der  römischen  Kaiserzeit  und  denen  der  Germanen: 
dort  sind  sie  Zwangsanstalten  und  dienen  außenstehenden 
Instanzen,  insbesondere  dem  Staat;  hier  dienen  sie  den  Zwecken 
der  Mitglieder  der  Organisation.  Ein  Unterschied,  der  ja  auch 
zwischen  römischen  und  deutschen  Zünften  sehr  greifbar  uns 
entgegentritt:  die  deutsche  Zunft  schafft  sich  der  Handwerker 
zur  Wahrnehmung  seiner  Interessen;  in  der  römischen  leistet  der 
Handwerker  Frondienst  für  den  Staat.  Soweit  es  sich  aber 
um  Reste  der  alten  römischen  Dorfallmende  handeln  könnte, 
so  sind  sie  in  dem  spätem  „ager  compascuus**  nur  noch  in  kümmer- 
lichen Resten  erkennbar  (Max  Weber,  Agrargeschichte  des 
Altertums;  Handw.  der  St.,  3.  Aufl.,   S.  144). 

Sollen  diese  Studien  mit  vollem  Erfolg  betrieben  werden, 
so  wird  man  grundsätzlich  ins  einzelne  gehen,  die  Verhältnisse 
der  Gegenden,  die  in  Betracht  kommen,  ganz  und  gar  im  ein- 
zelnen erforschen,  namentlich  auch  topographische,  archäolo- 
gische Untersuchungen  anstellen  müssen.  Wie  dies  Ad.  Schulten 


Wirtschaftsgeschichte.  331 

^ür  Italien  und  Afrika  unternommen  hat  (Die  römische  Flur- 
teilung und  ihre  Rechte,  Abhandlungen  der  Kgl.  Ges.  der 
Wissenschaften  zu  Göttingen,  philol.-hist.  Klasse,  N.  F.  Bd.  2, 
Nr.  7,  S.  11  ff.),  so  hat  etwas  Derartiges  für  den  deutschen  Boden 
soeben  G.  Wolff,  Antike  Klassikerstellen  im  Lichte  der  römisch- 
germanischen  Altertumsforschung,  Ilbergs  Jahrbücher,  Jahrg. 
1918,  Bd.  42,  S.  181  ff.  in  Angriff  genommen  (über  die  altern 
Arbeiten  Wolffs  s.  D.,  S.  103).  Vgl.  S.  188  über  die  „Kombi- 
nation der  antiken  und  mittelalterlichen  Überlieferung  mit  den 
Ergebnissen  der  archäologischen  Topographie  und  Boden- 
forschung", S.  193  über  den  Kulturfortschritt,  der  im  Main- 
gebiet zwischen  der  Zeit  des  Tacitus  und  der  Okkupation  durch 
die  Franken  gemacht  worden  und  römischem  Einfluß  zu  ver- 
danken ist,  ferner  über  die  Steigerung  der  durch  die  römische 
Okkupation  hier  geschaffenen  Kulturwerte  durch  dieses  Ein- 
dringen der  Franken,  die  ihrerseits  durch  die  unmittelbare 
Berührung  mit  den  Galloromanen  Frankreichs  römische  Kultur 
in  sich  aufgenommen  hatten,  endlich  über  die  Frage,  worauf 
sich  die  Notiz  des  Ammianus  Marcellinus  über  die  nach  römischer 
Art  gebauten  Häuser  der  Alemannen  am  Untermain  bezieht. 
Als  Gesamtresultat  wird  man  einstweilen  festzustellen  haben, 
daß  in  der  Anlage  einer  einzelnen  Ortschaft  (im  Straßenzug) 
mancher  römische  Einfluß  zu  beobachten  ist  (bei  dem  Main- 
kastell Großkrotzenburg  sind  die  Haupteingänge  und  Straßen 
des  heutigen  Dorfs  durch  die  entsprechenden  Teile  des  römischen 
Kastells  in  ihrer  Lage  bestimmt),  daß  im  technischen  viel 
Übernahme  stattfindet  (übrigens  gehen  die  gallischen  und  ger- 
manischen Töpfereien,  die  Bailisten  und  Katapulten  in  den 
Limeskastellen,  die  Formen  römischer  Lager  und  Kolonien 
mehr  auf  griechische,  hellenistische  Vorbilder  als  auf  römische 
zurück),  daß  aber  in  der  Flureinteilung,  wenn  überhaupt, 
nur  ganz  ausnahmsweise  etwas  an  römische  Einrichtungen 
erinnert. 

D.  wird  erwidern,  daß  neben  den  Einzelstudien  die  zu- 
sammenfassende Arbeit  auch  ihren  Platz  habe.  Allein  es  gibt 
Zeiten,  in  denen  eine  solche  noch  verfrüht  ist  oder  wenigstens 
kaum  mehr  leisten  kann  als,  wie  vorhin  bemerkt,  eine  kritische 
literarische  Überschau  zu  Hefern.  Von  Einzelzügen  ist  noch  so 
wenig  festgestellt,  daß  die  Gefahr  unberechtigter  Verallgemeine- 


332  Literaturbericht 

rung  besonders  nahe  Hegt.  Auch  hinsichtUch  der  Städte,  bei 
denen  man  schon  etwas  klarer  sieht,  besteht  die  Gefahr,  daß 
aus  einzelnen  Tatsachen  zu  weitgehende  Folgerungen  gezogen 
werden.  Was  man  hier  sicher  feststellen  kann,  ist:  die  Be- 
nutzung der  alten  baulichen  Anlagen  und  die  Fortwirkung  des 
engeren  Beisammenwohnens  der  Bevölkerung  und  ihrer  damit 
in  Zusammenhang  stehenden  gewerblichen  Tätigkeit.  Aber 
abzulehnen  ist  die  Annahme  irgendeines  Zusammenhanges  in 
der  Verfassung  zwischen  den  alten  römischen  und  den  deutschen 
mittelalterlichen  Städten.  D.  scheint  bei  mir  eine  besondere 
Gegnerschaft  gegen  die  Voraussetzung  irgendeines  Zusammen- 
hangs zwischen  dem  alten  und  dem  mittelalterlichen  Köln 
anzunehmen  (S.  149).  Indessen  ich  trete  nur  dafür  ein,  daß  die 
mittelalterliche  Stadt  mitten  aus  den  mittelalterlichen  Ver- 
fassungseinrichtungen heraus  erwachsen  ist.  Wenn  D.  durch 
die  Bestreitung  der  Existenz  einer  Allmende  beim  mittel- 
alterlichen Köln  die  Bahn  für  die  Auffassung  von  einer  Fortdauer 
des  alten  Köln  glaubt  freimachen  zu  müssen,  so  weiß  ich  nicht, 
was  er  damit  eigentlich  beweisen  will.  Denn  ob  nun  gerade 
eine  Allmende  vorhanden  gewesen  ist  oder  nicht,  jedenfalls 
betrachtete  man  in  Köln  beim  Aufkommen  der  Stadtverfassung 
die  Verfassungseinrichtungen  als  die  allgemein  deutschen,  wie 
schon  aus  der  Bezeichnung  der  Sondergemeinden  als  Bur- 
schaften hervorgeht.  Übrigens  hat  D.  selbst  am  wenigsten 
Anlaß,  das  Fehlen  einer  Allmende  zugunsten  römischen  Ur- 
sprungs der  Verfassung  zu  deuten,  da  er  ja  Allmende  und  Mark- 
genossenschaft von  den  Römern  durch  die  Germanen  über- 
nommen werden  läßt.  Doch  dies  nur  nebenbei.  Meine  Land- 
gemeindetheorie hindert  mich  anderseits  gar  nicht,  die  Be- 
deutung der  römischen  Stadt  Köln  für  das  Aufkommen  der 
mittelalterlichen  Stadt  in  wirtschaftlicher  Hinsicht  anzuer- 
kennen; ich  habe  ja  vielmehr  im  Gegensatz  zu  Seeliger  die 
Anknüpfung  des  mittelalterlichen  Handwerks  an  das  in  den 
alten  Römerstädten  betriebene  hervorgehoben  und  wiederholt 
betont,  daß  seit  den  Römerzeiten  auf  deutschem  Boden  das 
berufsmäßige  Handwerk  nie  ausgestorben  ist  (Vierteljahr- 
schrift f.  Soz.-  u.  Wirtschaftsgeschichte  1914,  S.  10).  Aber 
wenn  es  sich  weiter  entfaltete,  so  geschah  es  im  Rahmen  der 
deutschen  Gemeindeverfassung,  nicht  in  dem  der  alten  römi- 


Wirtschaftsgeschichte.  333 

sehen  Stadtverfassung.  Die  Form  der  deutschen  Landgemeinde 
schloß  es  ja  auch  nicht  aus,  daß  in  ihr  ein  bescheidenes  gewerb- 
liches Leben  (um  mehr  handelte  es  sich  nicht)  fortbestand. 

D.s  Neigung  zur  grundherrlichen  Theorie  in  der  Beurteilung 
der  Siedlungsfragen  habe  ich  schon  erwähnt.  Gerade  bei  diesem 
Punkt  wären  aber  noch  eindringende  Einzelforschungen  not- 
wendig. Wie  ist  das  Verhältnis  der  römischen  herrschaftlichen 
Höfe  zu  den  mittelalterlichen  Fronhöfen?  Diese  Frage  müßte 
ganz  planmäßig,  insbesondere  für  das  linke  Rheinufer  und  das 
Donaugebiet,  untersucht  werden.  Es  läßt  sich  aber  auch  hierfür 
voraussehen,  daß  eine  Fortdauer  der  römischen  Gemeinde- 
verfassung nicht  nachgewiesen  werden  wird.  Der  saltus  Sumelo- 
cennensis  hat,  wie  Schulten,  Bonner  Jahrbücher  Bd.  103, 
S.  35,  darlegt,  in  römischer  Zeit  eine  römische  Verfassung 
gehabt.    Im  Mittelalter  ist  nichts  davon  vorhanden. 

Um  noch  ein  paar  Einzelheiten  zu  berühren,  so  sind  manche 
kritische  Bemerkungen  über  Meitzens  wenig  kritische  Art 
(vgl.  H.  Z.  Bd.  78,  S.  471)  ebenso  willkommen  zu  heißen  wie 
die  wiederholte  Feststellung,  wie  oft  Waitz  den  gesunden  Sinn 
für  das  Richtige  bewährt  hat  (s.  m.  „Deutschen  Staat  des 
Mittelalters"  Bd.  1,  S.  67ff.).  Damit  aber,  daß  man  nachweist, 
daß  Meitzen  eine  Auffassung  unkritisch  verteidigt  hat,  ist  noch 
nicht  erwiesen,  daß  sie  an  sich  unrichtig  ist.  Die  rechtshistorische 
Schule  aus  Eigenarten  des  ,, Zeitalters  Darwins"  zu  erklären 
(S.  82)  geht  nicht  an,  da  sie  ja  viel  älter  als  Darwin  ist.  Die 
Benennung  eines  Orts  nach  einer  bestimmten  Person  (S.  116) 
beweist  nicht,  daß  der  Ort  erst  zur  Zeit  der  Benennung  be- 
gründet worden  ist.  Bei  ihrem  Vordringen  in  Süddeutschland 
fanden  die  Germanen  nicht  bloß  Römer  (S.  122),  sondern  auch 
den  homo  alpinus,  dessen  D.  wohl  eingehender  hätte  gedenken 
können,  vor.  Wenn  D.  es  als  bemerkenswert  anführt  (S.  287), 
daß  „schon  im  5.  Jahrhundert  sächsische  Edle  oder  Häuptlinge" 
einen  Schatz  haben,  so  dürfen  wir  den  Besitz  eines  solchen, 
eines  ,, Horts"  auch  schon  für  die  älteste  germanische  Zeit  an- 
nehmen. Aber  der  Häuptling,  der  über  einen  Hort  verfügt, 
ist  durchaus  kein  Beweis  dafür,  daß  in  seinem  Gebiet  die  ,, Grund- 
herrschaft" eine  maßgebende  Rolle  spielt;  der  Häuptling  kann 
ja  Häuptling  über  Gemeinfreie  sein.  Wenn  Beda  von  villici 
spricht  (S.  289),  so  versteht  er  darunter  gewiß  Vorsteher  einer 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  22 


334  Literaturbericht. 

Gemeinde;  an  das  später  in  Deutschland  nachweisbare  „Meier- 
recht" (ius  villici)  ist  dabei  gewiß  nicht  zu  denken. 

Gegenüber  der  Abneigung  von  D.  (S.  395),  ein  Umlegen 
von  Fluren  in  besiedelten  Gegenden  zuzugeben,  mag  an  die 
Vorgänge  bei  der  Kolonisierung  und  Germanisierung  des  Slaven- 
landes  erinnert  werden:  auch  da  wurden  Fluren  in  Gewanne 
umgelegt,  und  hier  war  die  Gegend  zweifellos  dichter  besiedelt 
als  im   Dekumatenland   beim   Einzug  der   Germanen. 

Zum  Schluß  dürfen  wir  nicht  unerwähnt  lassen,  daß  D., 
wenn  er  den  Zusammenhang  der  germanischen  mit  der  römischen 
Kultur  u.  E.  zu  stark  betont,  doch  dabei  die  Selbständigkeit 
der  germanischen  keineswegs  bestreitet.  Er  macht  vielmehr 
darüber  sogar  sehr  treffende  Bemerkungen.  Indessen  diese 
richtige  Erkenntnis,  die  wir  bei  ihm  finden,  steht  doch  im  Wider- 
spruch zu  dem,  was  er  sonst  so  sehr  hervorheben  zu  müssen 
meint. 

Frei  bürg  i.  B.  G.  v.  Below. 

Das  Bauerngut  der  alten  Grundherrschait.  Von  Johannes  Kfihn. 
(Leipziger  Historische  Abhandlungen,  Heft  38.)  Leipzig. 
Quelle  &  Meyer.     1912.    IX  u.  97  S. 

Johannes  Kühn  knüpft  in  seiner  wohldurchdachten  agrar- 
geschichtlichen  Untersuchung  an  die  Tatsache  an,  daß  die  Grund- 
herrschaft in  Südwestdeutschland  schon  verhältnismäßig  früh 
erstarrte.  Gerade  dadurch  wurde  hier  die  Bahn  frei  für  die  Ent- 
wicklung des  bäuerlichen  Gutes.  Sie  will  Verfasser  in  ihrem  Zu- 
sammenhang mit  dem  Auflösungsprozeß  der  Grundherrschaft  ver- 
folgen. Als  Untersuchungsgebiet  dient  ihm  das  Elsaß,  die  ba- 
dische Rheinebene  und  die  anstoßenden  Gegenden  der  Nordwest- 
schweiz; als  Quellenmaterial  die  umfassenden  Urkundensamm- 
lungen dieser  Landesteile,  in  geringerem  Grade  die  noch  nicht 
hinreichend  publizierten  Urbare.  Über  die  besonderen  Verhält- 
nisse der  Abtei  Musbach  vermag  er  auf  Grund  archivalischer 
Studien  zu  berichten.  Er  beginnt  mit  einer  Schilderung  der 
Grundherrschaft  am  Vorabend  ihrer  völligen  Umbildung  (um 
1100).  Wir  lernen  die  Villikation  als  betriebstechnische  Einheit 
kennen,  wobei  der  Eigenbetrieb  auf  Salland  in  seiner  technischen 
Bedeutung  wohl  etwas  überschätzt  wird,  da  die  Bewirtschaftung 
des   Sallandes   im   wesentlichen   parzellenweise   von   frondienst- 


Wirtschaftsgeschichte.  335 

Pflichtigen  Bauern  selbständig  durchgeführt  worden  sein  dürfte. 
Die  Veränderungen  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  erblickt  K.  in 
der  Preisgabe  dieses  Sallandbetriebes,  in  der  Unifizierung  der 
Leistungen  und  Abgaben  und  in  ihrer  Ablösung  durch  feste 
Renten,  womit  die  jüngere  Villikation  zur  bloßen  Rentenanstalt 
herabsinkt.  Im  Verlauf  dieser  Entwicklung  nun  macht  sich  die 
Erscheinung  geltend,  daß  an  die  Stelle  der  älteren  Maß-  und  Be- 
sitzeinheit der  Hufe  je  länger  je  mehr  kleinere  Einzelheiten,  die 
Schupposen,  hervortreten,  die  sich  als  Teilgrößen  jener  (meist 
als  ihr  vierter,  seltener  als  ihr  dritter  Teil)  darstellen.  Sie  sind 
in  ihrer  Gleichförmigkeit  nach  Größe,  Zins  und  Rechtsverhältnis 
das  Produkt  einer  allmählichen  Angleichung,  durch  ihre  Regel- 
mäßigkeit von  den  Kleingütern  der  älteren  Zeit  unterschieden, 
entstanden  als  grundherrliche  Schöpfung  durch  Aufteilung  des 
Sallandes  und  Zerschlagung  von  Hufen.  Aber  die  Entwicklung 
bleibt  bei  ihnen  nicht  stehen.  Noch  im  13.  Jahrhundert  fallen 
auch  sie  der  Zersplitterung  anheim,  da  die  Grundherren  jeden 
Einfluß  auf  die  Wirtschaft  verlieren  und  die  Bauern  in  ihrem 
Streben  nach  Beseitigung  der  Schranken  im  Verkehr  mit  Grund 
und  Boden  keinen  Widerstand  mehr  finden.  In  der  zweiten 
Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  sind  an  der  einzelnen  Schuppose 
gerade  so  wie  an  der  Hufe  viele  Besitzer  beteiligt.  Der  Besitz- 
wechsel wird  ein  außerordentlich  schneller.  Verfasser  glaubt  fest- 
stellen zu  können,  daß  an  manchen  Orten  sämtliche  Familien 
der  bäuerlichen  Besitzer  schon  nach  zwei  oder  drei  Menschen- 
alter gewechselt  haben.  Dazu  kommt  die  fortwährende  Abtren- 
nung von  Parzellen.  Das  alles  bewirkt,  daß  im  14.  und  15.  Jahr- 
hundert die  Unterscheidung  von  Hufen  und  Schupposen  Sinn 
und  Verständlichkeit  verloren  hat.  Das  Schlußergebnis  ist  eine 
Herabminderung  weniger  der  durchschnittlichen  bäuerlichen  Be- 
sitzgrößen als  vielmehr  der  Parzellengrößen,  aus  denen  die  Bauern- 
güter sich  zusammensetzen.  Den  Antrieb  zu  der  ganzen  Ent- 
wicklung bildet  nur  zum  kleinsten  Teil  die  wachsende  Volkszahl; 
denn  diese  wird  nach  K.s  Meinung  durch  die  innere  und  äußere 
Kolonisation  seit  dem  13.  Jahrhundert  im  wesentlichen  absor- 
biert. Ihm  scheint  es  sich  mehr  um  die  Landversorgung  der 
mit  dem  Verfall  der  älteren  Grundherrschaft  überflüssig  gewor- 
denen ländwirtschaftlichen  Arbeiter  zu  handeln.  Ein  letzter 
Abschnitt  ist  dem  Übergang  des  Eigentums  von  der  Grundherr- 

22* 


336  Literaturbericht. 

Schaft  auf  die  zwischen  ihr  und  dem  Bauern  sich  vielfach  ein- 
schiebende neue  Klasse  der  nichtbäuerlichen  Hufner  oder  auf 
die  Bauern  selbst  gewidmet.  Bei  der  Beschränktheit  des  Mate- 
rials versteht  es  sich,  daß  die  ganze  Untersuchung  mehr  nur  in 
ihren  Grundzügen  angedeutet  als  im  einzelnen  durchgeführt  wird. 
Gerade  dadurch  aber  gewinnt  sie  an  Klarheit.  Es  wäre  zu  wün- 
schen, daß  der  Verfasser  recht  bald  dazu  kommt,  sie  fortzusetzen 
und  seine  Ergebnisse  in  die  allgemeine  deutsche  Agrargeschichte 
einzuordnen.  Dabei  wäre  der  Möglichkeit,  daß  das  arithmetische 
Verhältnis  der  Schuppose  zur  Hufe  im  Einzelfall  ebensogut  durch 
Zusammenfassung  von  je  vier  Kleingütern  zur  Rechnungs-  oder 
Verwaltungseinheit  der  Hufe  wie  durch  die  Zerschlagung  einer 
Hufe  in  vier  Teile  entstehen  konnte,  vielleicht  etwas  mehr  Rech- 
nung zu  tragen. 

Prag.  P.  Sander  f. 

Das  britische  Weltreich.  Von  Dr.  Eduard  Meyer,  Geh.  Regie- 
rungsrat, ord.  Professor  der  Universität  Berlin.  Berlin, 
Carl  Heymann.  1918.  68  S.  (Macht-  und  Wirtschaftsziele 
der  Deutschland  feindlichen  Staaten.  Herausg.  von  der 
Handelshochschule  in  Königsberg  i.  Pr.    2.  Heft.) 

Aus  einem  Vortrage  am  17.  November  1917  erwachsen 
und  am  8.  Januar  1918  bevorwortet,  bietet  diese  Abhandlung 
einen  großartigen  Reichtum  von  trefflich  nach  der  Wichtigkeit 
ausgewählten  Tatsachen,  auch  aus  uns  ferneren  Gebieten,  wie 
Irland,  Kanada  und  Australien,  in  einer  Kürze,  eindrucksvollen 
Klarheit,  durchsichtigen  Anordnung  und  Urteilschärfe,  die  die 
Meisterhand  des  historischen  Darstellers  erkennen  lassen.  Dieses 
Heft  spricht  weit  maßvoller  und  reifer  als  das  oben  Bd.  117, 
S.  327  angezeigte  frühere  Buch.  Es  führt  vom  britischen  Welt- 
reich sowohl  äußere  Macht  und  Ausdehnung  anschaulich  vor, 
wie  es  auch  dessen  innere  Grundlage  aus  Geschichte  und  Volks- 
charakter, besonders  die  politischen  und  sozialen  Ideen,  ein- 
gehend erörtert.  Namentlich  die  Beziehungen  zu  Deutschland, 
etwa  seit  1884,  stellt  es  ausführlich  dar.  Der  Wissenschaft  neue 
Einzelheiten  zu  bringen  oder  verborgene  Zusammenhänge  auf- 
zuhellen, muß  eine  solche  Skizze  freilich  verzichten;  dennoch 
verbindet  sie  nicht  etwa  nur  bekannte  Züge  zum  wohlgetroffenen 
Bilde  oder  Vergangenes  mit  Heutigem,  wie  sie  z.  B.  erinnert, 


England.  337 


daß  schon  im   Krimkriege  England  die  Propagandaphrase  von 
seinem   Kampf  für  die  Zivilisation  verwendete.    Sondern  Ver- 
I  fasser  verwertet  hier,  für  die  deutsche  Literatur  zum  erstenmal, 
eine    Reihe   allerneuester   Veröffentlichungen   der   Angelsachsen, 
neben  allgemein   Politischem  auch  Wirtschaftliches  und   Sozio- 
j  logisches,  neben  den  Zeitungen   Times,  Daily  Chronicle,  Outlook 
I  die  Aufsatzsammlungen,  herausgegeben  von  Furniss  {Industrial 
i   Outlook)    und    Kirkaldy    (Labour,   finance  und  Credit,  industry), 
die  Schriften  von  D.  W.  Johnson  (Prussianism),  J.  Jones  (Tsing- 
tau),  Morel  (Truth),  Peddie  (Imports)  und  War  on  German  trade. 
I   Aus  dem  führenden  Wirtschaftshistoriker  Cunningham  (Capita- 
\   lism)  zitiert  er  das  Geständnis,  daß  auch  England,  und  zwar  auch 
I   kraft  Freihandels,  die  anderen  Völker  selbstisch  ausgebeutet  hat. 
j  Unter    den     Beweggründen    des    englischen     Kriegswillens 

sieht  M.   mit   Recht  nicht  den   Handelsneid,   dem  der   Kampf 
freilich  zunächst  diente,  als  den  entscheidenden  an,  sondern  den 
Imperialismus  als  den  tiefsten.    Daß  die  deutsche  Volksmeinung 
England  die  Hauptschuld  am  Kriege  mit  Recht  beimesse    und 
dessen  Vermittlung  vom  Juli   1914  als  Komödie  verachte,  hat 
er  aber   nicht   bewiesen.     Es   verketteten   sich   m.  E.   vielmehr 
ungewollte  Schwierigkeiten,  wie  denn  neuerdings  ein  englischer 
I   Malthusianer  auf  die   Übervölkerung  in  der  Arbeiterklasse  als 
;   eine  Kriegsursache  hingedeutet  hat.    Statt  die  Schuld  der  Men- 
I   sehen  von  1914  anzuklagen,  zeige  der  Historiker  lieber  bei  den 
!   Politikern  des  voraufgehenden  Menschenalters  die   Urteilsfehler 
'  und  den  Mangel  an   Voraussicht  der  wahrscheinlichen   Folgen, 
zu  denen  rücksichtslose  Machtgier  fürs  Vaterland  und  Völker- 
verhetzung führen  müssen;  letztere  verübten  auch  bei  uns  Tages- 
I  Schriftsteller  ohne  Verantwortungsgefühl.  —  Die  Mißstimmung 
der  Neutralen  gegen  uns  folgte  aus  unserem  Einmarsch  in  Belgien, 
'  nicht  aus  dem  freilich  unpolitischen  Bekenntnisse  unseres  Un- 
i  rechts  im  buchstäblichen  Sinne,  das  ein  geschickterer  Verteidiger 
!  höchstens  vielleicht  als  moralisches  Recht  erweisen  konnte. 
I  Klar  hebt  Verfasser  die  Überlegenheit  des  Weltreichs,  das 

I  klimatische  Gegensätze  vereint,  hervor  über  die  lokal  gebundene 
j  Wirtschaft  jeder  anderen  Nation.  Große  Staatsmänner  findet 
j  er  in  England  sehr  selten:  dann  muß  es,  um  nicht  alles  bhndem 
i  Glücke  zuzuschreiben,  das  ja  wirklich  Britannien  viel  in  den  Schoß 
;   warf,  drüben   besonders   zahlreiche   helle,   geschickte   Opportu- 


338  Literaturbericht. 

nisten  geben,  oder  die  alleinige  private  Initiative  heilsam  und  weit 
wirken.  Letztere  rühmt  Verfasser  mit  Recht  als  die  Grundlage 
von  Britanniens  Weltpolitik,  sieht  aber  Deutschlands  Handel 
und  Gewerbe  einseitig  aus  der  Uniformierung  staatlicher  Er- 
ziehung erblüht.  Der  Gegensatz  zwischen  Staatsorganisation 
in  Deutschland  und  jenem  Individualismus  in  England,  der  in 
des  einzelnen  Selbstsucht  das  Heil  auch  des  Ganzen  erblickt, 
wird  scharf  herausgearbeitet;  die  Angst,  England  selbst  könne 
jenem  Systeme  unterliegen,  formte  sich  den  Militarismus-Popanz. 
Zum  Kriege  aber,  glaube  ich,  trug  dieser  tiefe  Gegensatz  schwer- 
lich bei.  —  M.  bewundert  auch  am  Todfeinde  die  zähe  Willens- 
kraft, den  freiwilligen  Heerdienst,  die  Frauenarbeit,  die  kühne 
und  grundstürzende  und  dennoch  gesetzliche  Umwälzung  ge- 
heiligter Überlieferung,  wodurch  Frankreich  von  1789  und  Japan 
von  1869  übertroffen  sei.  Er  führt  davon  im  einzelnen  aus  die 
Wiederbelebung  der  Landwirtschaft,  den  Wehr-  und  Arbeits- 
zwang, die  Verstaatlichung  der  Verkehrsmittel,  die  gesetzliche 
Anerkennung  der  Gewerkvereine,  die  Arb^itslosenfürsorge  und 
das  gleiche  Wahlrecht,  auch  der  Frauen,  zum  Unterhaus.  Un- 
serer Finanz,  die  des  Reiches  Zukunft  mit  Anleihezinsen  über- 
bürdet, hält  M.  in  gerechtem  Zorne  als  Beispiel  die  Riesenopfer 
des  heutigen  englischen  Steuerzahlers  vor. 

M.  wägt  Englands  Vorteile  im  Kriege  einsichtig  ab:  es  ge- 
wann, wie  auch  Japan,  durch  die  deutsche  Zerstückelung  Ruß- 
lands die  Befreiung  von  einem  gefährlichen  Nachbar  und  errang, 
neben  den  Deutschland  und  der  Türkei  fortgenommenen  Län- 
dern und  Handelsmöglichkeiten,  die  Hegemonie  über  Bundes- 
genossen, Vasallen  und  Neutrale.  Belgiens,  Norwegens  und  Italiens 
Abhängigkeit  bezeichnet  Verfasser  treffend;  kraft  zauberischer 
Einflußmacht  erlaubt  sich  Britannien  Gewaltmaßregeln  gegen 
Neutrale,  die  kein  Schwächerer  wagt.  Bis  1914  unterschätzten 
die  Deutschen  (aber  nicht  alle!)  —  wie  sie  das  uns  militärisch  Mög- 
liche zu  hoch  anschlugen  (und  über  Wirtschaftliches  nachzudenken 
unterließen)  —  auf  schnellen  Sieg  über  Frankreich  trauend,  Bri- 
tanniens latente  Macht  und  Staatsgesinnung  sowie  die  innere 
Festigkeit  des  Imperiums.  Das  gibt  M.  zu  und  zeigt,  wie  letztere 
in  der  Not  noch  wuchs.  (Erwächst  aber,  wie  manche  planen, 
ein  Staatenbund  daraus,  so  büßt  der  Londoner  Mittelpunkt 
Macht  ein.)  Dennoch  hält  er  es  für  möglich,  daß  dank  Amerikas 


England.  339 

und  Japans  Aufstieg,  den  er  großzügig  klarlegt,  und  der  Auto- 
nomie Indiens  in  einem  Jahrhundert  kein  Europäer  in  Indien 
oder  Australien  leben  werde  (?).  Der  australische  Premier  Hughes, 
ober  dessen  Rücktritt  das  Vorwort  frohlockt,  verficht  weiter  den 
Ausschluß  deutscher  Kolonien  und  Marine  vom  Stillen  Ozean 
am  einflußreichsten.  Australiens  Gegensatz  gegen  den  ihm  von 
England  bestellten  Schützer  Japan  verdiente  als  schwacher 
Punkt  des  britischen  Systems  deutlicheren  Hinweis,  ebenso  die 
wirtschaftliche  Verselbständigung  zweier  Dominien  kurz  vor 
dem  Kriege. 

Die  Macht  der  öffentlichen  Meinung  bei  den  Angelsachsen 
begründet  Verfasser  (teilweise)  mit  Recht  mit  der  geringeren 
Zwangsgewalt  des  Staates.  Er  sieht  das  eigene  Gewissen  gegen 
die  konventionelle  Moral  seltener  auftreten;  ich  erblicke  darin 
allgemein  die  Schattenseite  einer  fest  umzirkten  Gesellschafts- 
ehre, die  auch  bei  uns  überall,  wo  Korpsgeist  herrscht,  den  einzel- 
nen in  Fesseln  schlägt.  Er  tadelt,  daß  Britanniens  Auslandspoli- 
tik und  Tagespresse  die  Selbstsucht  mit  verlogenen  Phrasen 
verhüllen:  mir  scheinen  andere  Länder  höchstens  gradweise 
verschieden  und  nur  jugendlich  ungeschickter  zu  verfahren. 

Richtig  aber  ist,  daß  drüben  Staatsmänner,  sogar  amtlich, 
auch  in  der  Innenpolitik  aus  Selbstsucht  oder  zum  Parteizweck 
unehrlicher  sprechen  als  bei  uns.  —  Nicht  den  Premier  wählt 
Britanniens  Volk;  es  entscheidet  nur  bei  der  Wahl  zum  Unter- 
hause, welche  der  beiden  Parteien  herrschön  solle;  und  deren 
Organisation  bestimmt  jenen.  Lloyd  Georges  Diktatur  bedeutet 
nur  einen  Staatsstreich  in  der  Not  der  Zeit;  keineswegs  nähert 
sie  oder  die  Wilsons  die  angelsächsische  Staatsform  der  deutschen 
1  an:  Herkunft,  Amtsdauer  sowie  aristokratische,  bureaukratische, 
militärische  und  landwirtschaftliche  Beeinflussung  gemäß  ge- 
j  schichtlicher  Überlieferung  scheiden  die  deutsche  Monarchie 
von  jener  organisch.  —  Übertrieben  klingt  der  Ausdruck,  daß 
jeder  Engländer  schon  seit  etwa  1900  Überfall  und  Aushungerung 
durch  die  deutsche  Flotte  fürchtete,  und  daß  die  Baumwoll- 
einfuhr durchs  U-Boot  „völlig"  stockte. 

Mit  erfrischender  Offenheit  bekennt  M.  Parteifarbe.  Er  tadelt 
unsere  Regierung,  die  Flaumacher  förderte  (?),  wegen  Verzöge- 
rung des  rücksichtslosen  U-Bootkrieges,  erblickt  in  diesem  unser 
Heil,  in  Amerikas  Kriegserklärung,  die  ja  England  freilich  nicht 


340  Literaturbericht. 

allseitig  willkommen  schien,  unseren  Vorteil.  Im  Gegensatz 
hierzu  steht  die  Riesengefahr  des  Angelsachsenbundes  S.  37 
richtig  erklärt.  Er  mißbilligt  die  auf  Verständigung  mit  England 
gerichtete  Politik,  da  ja  jenes  unser  Todfeind  bleiben  (?)  müsse 
und  unsere  bedingungslose  Unterwerfung  und  Zertrümmerung 
fordere,  was  für  uns  das  Schicksal  Irlands  und  Indiens  bedeute  (?). 
Durch  einen  Verzichtfrieden  schädige  der  deutsche  Arbeiter 
sich  selbst,  da  ja  Deutschlands  Seehandel  und  Ausfuhr  erst  neu 
wieder  aufbauen  muß.  Hinter  unserem  Friedensangebot  wähne 
der  Gegner  nur  unsere  Schwäche.  M.  hofft  auf  den  Waffensieg 
allein  und  auf  deutsche  Beherrschung  der  flandrischen  Küste. 
Mich  überzeugen  diese  Darlegungen  nicht.  —  Verfasser  empfiehlt, 
Irlands  Autonomie,  die  sich  deutscher  Ausfuhr  öffnen  werde, 
zu  unterstützen,  besonders  aber,  in  moralischer  Propaganda  an 
Irlands  Beispiel  zu  zeigen,  welches  Kriegsziel  England  hinter 
angeblicher  Völkerbefreiung  verbirgt.  Wenn  M.  meint,  die  deut- 
schen Verfechter  des  demokratisch-parlamentarischen  Regi- 
mentes (genauer:  einer  Annäherung  an  solches)  wünschten  damit 
unsere  Feinde  zu  versöhnen,  untergrüben  aber  die  Wurzeln  un- 
serer Kraft,  so  leugnen  fast  alle  jene  Absicht  und  durchweg  alle 
diesen  Erfolg. 

Ein  Halbjahr  dieser  gewaltigen  Zeit  bringt  der  Ereignisse 
zu  viele,  als  daß  diese  Kriegsschrift  noch  den  heutigen  Tag  spie- 
geln könnte.  Dennoch  bewahrt  sie  ihren  hohen  Wert,  da  sie  die 
Anschauung  eines  »kenntnisreichen  und  weitblickenden  Geistes 
zu  einem  bestimmten  Zeitpunkte  festhält.  Und  weitaus  über- 
wiegend bleiben  die  Urteile,  wie  z.  B.  über  Englands  wirtschaft- 
lichen Verlust  zugunsten  Amerikas  und  Japans,  als  geschieht* 
liehe  Wahrheiten  bestehen, 

Berlin,  Juli  1918.  F.  Liebermann. 

Ein  deutscher  Arzt  am  Hofe  Kaiser  Nikolaus'  I.  von  Rußland. 
Lebenserinnerungen  von  Professor  Martin  Mandt.  Heraus- 
gegeben von  Veronika  Luhe.  Mit  einer  Einführung  von 
Professor  Theodor  Schiemann.  München  und  Leipzig, 
Duncker  &  Humblot.     1917.    XVI  u.  544  S. 

In  seiner  Einführung  bezeichnet  Schiemann,  der  bedeutendste 
Kenner  der  Epoche  Nikolaus'  I.,  die  vorliegenden  Lebens- 
erinnerungen rückhaltlos  als  eine  der  intimsten  und  wichtigsten 


j 


England.  341 

,||uellen  zur  Geschichte  des  Kaisers  für  die  letzten  zwanzig 
Jahre  seiner  Regierung.  Mit  vollem  Recht.  Höchst  lebendig, 
mit  dem  durchdringenden  Auge  des  Arztes  und  des  Menschen- 
kenners gesehen,  stehen  nicht  nur  der  Kaiser,  sondern  auch  die 
Mitglieder  seiner  Familie  und  eine  Menge  anderer  Personen 
in  der  nähern  oder  weitern  Umgebung  des  Hofes  dem  Leser  vor 
Augen.  Obwohl  der  durchgehende  Faden  dieser  Erinnerungen 
eigentlich  aus  einer  Reihe  von  Krankheitsgeschichten  besteht, 
wird  man  vom  ersten  bis  zum  letzten  Wort  des  Buches  ge- 
fesselt. Es  ist  der  immer  siegreiche  Kampf  eines  bis  zum  äußer- 
sten aufrechten  deutschen  Charakters  mit  einer  Welt  von  Lüge 
und  Intrige  und  eines  innerlich  wahrhaft  freien  Mannes  mit 
dem  Tschinownikstaat,  die  einen  ganz  wesentlichen  Reiz  der 
Erinnerungen  ausmachen.  Dazu  gesellen  sich  in  diesen  selbst 
wie  in  den  angehängten  tiefgrabenden  Exkursen  —  über  Adel, 
I  Leibeigenschaft  und  Soldatenstand,  über  Höflingswirtschaft, 
j  über  Bildungs-  und  Erziehungswesen  —  Bilder  aus  der  russi- 
schen Gesellschaft,  die  einen  höchst  schätzenswerten  Beitrag 
i  zur  Kenntnis  der  Epoche  und  zum  guten  Teil  des  russischen 
I  Wesens  bis  zum  heutigen  Tag  hefern. 

I  Das  Hauptinteresse  des  historischen  Lesers  wird  sich  auf 

I  den  Kaiser  konzentrieren.  Mandt  verehrt  und  liebt  ihn  als  einen 
i  großen  Mann :  er  ergeht  sich  in  Ausdrücken  der  Bewunderung,  wie 
I  sie  ähnlich  auch  bei  Nikolaus'  preußischem  Schwager  Friedrich 
I  Wilhelm  IV.  wiederkehren.  In  der  Tat  zeichneten  den  Kaiser 
I  neben  einer  hervorragend  schönen  Erscheinung  die  männ- 
I  liehen  Eigenschaften  des  Mutes,  der  Kraft,  und  zwar  einer 
suggestiven,  von  M.  immer  wieder  betonten  Kraft  der  Stimme 
;  und  des  Auges,  und  eine  ehrliche  Überzeugungstreue  aus.  Aber 
I  man  weiß  ja  aus  Schiemanns  ausgezeichneter  Schilderung, 
^  daß  bei  eintretendem  Glückswechsel  der  Mut  in  Kleinmut,  die 
1  anscheinend  unerschütterliche  Willenskraft  in  vöHige  Nervosität 
!  umschlagen  konnten.  Und  nur  der  Unkundige  wird  sich  durch 
I  die  vor  allem  der  privaten  Persönlichkeit  gezollte  Verehrung 
:  zu  allgemeineren  Schlüssen  verleiten  lassen.  Der  Historiker 
1  dagegen  wird  zwar  M.s  helleren  Farbenauftrag  mit  Dank  akzep- 
I  tieren  und  der  Despotennatur  des  Herrschers  sich  rein  mensch- 
I  lieh  näher  fühlen,  auch  mit  besonderem  Interesse  das  Urteil 
:    des    Leibarztes    über    die    Bauernbefreiungspläne    des    Kaisers 


342  Literaturbericht. 

vernehmen  (S.  501  ff.),  aber  er  wird  bei  dem  allen  seine  An- 
schauung über  die  politische  Gestalt  Nikolaus'  I.  und  sein  poli- 
tisches Wirken  doch  kaum  wesentlich  zu  revidieren  brauchen. 
Zumal  in  M.s  eigener  Schilderung  auch  die  tiefen  Schatten 
nicht  fehlen:  ein  logisch  „wohlorganisierter  Kopf",  aber  mit 
völlig  mangelhafter  wissenschaftlicher  Vorbildung,  rein  mili- 
tärisch empfindend,  keinen  Widerspruch  ertragend,  mißtrauisch 
wegen  häufig  erfahrenen  schamlosen  Betrugs,  aber  trotz  dieses 
Mißtrauens  und  einer  bis  ins  einzelne  gehenden  Personalkenntnis 
in  den  Spezialgebieten  der  Verwaltung  immer  wieder  jahrelanger 
völliger  Täuschung  ausgesetzt. 

Das  System  des  Bureaukratismus  und  Absolutismus  feiert 
bekanntlich  in  Nikolaus  bei  aller  Ideenarmut  infolge  seiner 
Geschlossenheit  die  letzten  uneingeschränkten  Triumphe.  Aber 
der  Todeskeim  ist  längst  vor  dem  Krimkrieg  für  den  rück- 
schauenden Betrachter  deutlich  erkennbar,  und  auch  jene 
kaiserlichen  Maßnahmen  zur  Vorbereitung  der  bäuerlichen 
Reform  erscheinen  der  Geschichtsforschung  in  anderem  Licht, 
als  sie  M.  uns  darstellt,  wenn  er  in  dem  vorzeitigen  Tod  des 
Herrschers  den  einzigen  Grund  für  die  Nichtvollendung  des 
ganzen  Werkes  erblicken  will.  Gewiß  ist  ein  innerer  Zusammen- 
hang der  einzelnen  Gesetze  nicht  ganz  zu  verkennen,  aber  sie 
wurden  auf  dem  reinen  Kanzleiwege  erlassen;  es  war  obendrein 
nur  ein  schüchternes  Tasten  mit  häufigen  Unterbrechungen 
von  Anfang  an,  bis  ihm  dann  die  Revolution  von  1848  ein  defini- 
tives Ende  bereitete.  Indem  aber  M.  die  nicht  nur  nach  unten, 
sondern  auch  nach  oben  sittlich  und  kulturell  verheerenden 
Wirkungen  der  Leibeigenschaft  erkennt  und  brandmarkt,  wie 
sie  noch  zur  Zeit  seines  eigenen  Todes  (1858)  fortbestanden, 
sieht  er  auch  mit  Sicherheit  die  Zeit  voraus,  „wo  die  gesäten 
Drachenzähne,  gesät  durch  Jahrhunderte  hindurch,  eine  all- 
gemeine Ernte  der  bösen  Früchte  herbeiführen".  So  wird  er 
zum  Propheten  der  Zukunft,  und  die  Krankengeschichte  seiner 
hohen  Patienten  wird  zugleich  zu  einer  solchen  des  zeitgenössi- 
schen Rußlands. 

Straßburg  i.  E.  K.  Stählin. 


Rußland.  343 

Rußland.  Eine  geographische  Betrachtung  von  Volk,  Staat  und 
Kultur  von  Alfred  Hettner.  Zweite  erweiterte  Aullage  des 
Werkes:  Das  europäische  Rußland.  Mit  23  Textkarten. 
Leipzig,  Teubner.     1916.    X  u.  356  S. 

Die  I.Auflage  dieses  Buches  ist  auf  Grund  von  Reise- 
eindrücken und  umfassendem  Studium  deutscher,  französischer 
und  englischer  Literatur  während  des  Russisch- Japanischen 
Krieges  entstanden.  Die  vorliegende  2.  Auflage,  noch  vor  der 
jetzigen  Revolution  vollendet,  an  deren  Eintritt  währe'nd  des 
Krieges  der  Verfasser  übrigens  nicht  glaubte  (S.  337),  fügt  der 
Betrachtung  des  Menschen  und  seiner  Kultur  im  osteuropäischen 
Tiefland  einen  zweiten  politisch-geographischen  Teil  den  An- 
forderungen der  Gegenwart  gemäß  hinzu;  er  umfaßt,  indem  er 
die  Abschnitte  der  früheren  Darstellung  über  Rußlands  politische 
Stellung  in  sich  aufnahm,  das  russische  Reich  in  seiner  Gesamt- 
heit. 

Die  geographische  Wissenschaft  hat  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten mehr  und  mehr  die  Einbeziehung  auch  der  angrenzenden 
Gebiete  in  ihre  Forschung  und  Darstellung  als  unerläßlich 
erkannt,  ohne  darüber  das  eigentlich  geographische  Moment, 
Raum  und  Natur,  als  Ausgangspunkt  und  Grundlage,  aus  den 
Augen  zu  verlieren.  Und  gerade  für  das  Verständnis  unseres 
östlichen  Nachbars  ist  dieses  ja  von  besonderer  Bedeutung. 
Solcher  Art  ist  auch  Hettners  Werk.  Obwohl  nicht  auf  russischer 
Literatur  in  der  Originalsprache  fußend,  bildet  es  einen  höchst 
schätzenswerten  Beitrag  zur  tieferen  Erkenntnis  Rußlands  und 
seines  Wesens. 

Es  sind  in  diesen  Jahren  Urteile  über  Rußland  laut  geworden, 
deren  unduldsame  Einseitigkeit  wohl  aus  der  Kampfstellung 
inmitten  des  ungeheuren  Weltgeschehens  eine  gewisse  Ent- 
schuldigung finden  mag,  die  sich  aber  mit  den  Erfordernissen 
reiner  Wissenschaft  stellenweise  in  unleidlichen  Konflikt  setzen. 
Um  so  wohltuender  berührt  die  Vorsicht  und  Objektivität,  mit 
der  H.  den  Fragen  gegenübertritt.  Auch  der  Hauptfrage,  die  sich 
ihm  aus  der  Einwirkung  der  russischen  Geschichte  auf  die 
innere  Ausbildung  des  russischen  Wesens  ergibt:  Was  ist  bloße 
Rückständigkeit,  was  ist  Besonderheit  der  russischen  Kultur? 
Unter  Berücksichtigung  dieser  beiden  Hauptgesichtspunkte  und 
steter  Bezugnahme  auf  die  geographischen   Bedingungen,  vor 


344  Literäturbericht. 

allem  den  Unterschied  zwischen  Wald  und  Steppe,  unternimmt 
es  der  erste  Teil,  die  Völker,  die  Religionen,  den  Staat,  die 
Besiedlung,  den  Verkehr,  die  Volkswirtschaft,  die  materielle 
und  geistige  Kultur  zu  analysieren.  Alles  in  allem  stellt  sich 
uns  die  merkwürdige  Erscheinung  eines  halborientalischen 
Landes  in  rauhem  nordischem  Klima  und  als  Folge  der  späten 
und  bisher  immer  noch  oberflächlichen  Europäisierung  eine 
bloße  ,,Misclikultur"  vor  Augen.  Als  zweite  verhängnisvolle 
Tatsache  wird  mit  Recht  das  Überwuchern  der  Eroberungs- 
politik über  die  Kulturpolitik  bezeichnet.  Erst  die  Umkehrung 
dieses  Verhältnisses  und  die  Ablösung  des  despotischen  und 
korrupten  Polizeistaates  durch  einen  Verfassungsstaat  wird  in 
sicherer,  wenn  auch  langsamer  Entwicklung  ein  modernes 
Kulturvolk  an  unseren  Ostgrenzen  erstehen  lassen. 

Kunst  und  Literatur  sind,  dem  Rahmen  des  Werkes  ent- 
sprechend, nur  mit  wenigen  Sätzen  behandelt.  Immerhin 
wären  statt  des  etwas  vagen  Hinweises  auf  „manche  schöne 
Gemälde"  der  Tretjakowgalerie  einige  tiefergehende  Andeu- 
tungen, so  zumal  über  die  Rolle  am  Platz  gewesen,  die  nicht 
nur  die  Literatur  —  hier  ist  sie  vom  Verfasser  erwähnt  — , 
sondern  auch  die  Kunst  als  Trägerin  politisch-sozialer  Forde- 
rungen in  wohl  einzigartiger  Weise  spielte.  Der  Rezensent  darf 
dabei  an  seinen  eigenen  Versuch  einer  Darstellung  der  russischen 
Kunstentwicklung  erinnern. 

Indem  nun  der  zweite  Teil  Geschichte  und  Bestand  des 
russischen  Reiches,  seine  Eroberungspolitik,  seinen  inneren 
Zusammenhalt,  seinen  Macht- und  Kulturwert  behandelt,  müssen 
sich  freilich  einzelne  kleine  Wiederholungen  ergeben.  Im  ganzen 
bleiben  dennoch  die  beiden  Teile  gleichwertig  nebeneinander 
bestehen.  Und  es  ist  nur  mit  Dank  zu  begrüßen,  daß  H.  die 
jüngst  von  Supan  gegebene  Definition  der  politischen  Geographie 
mit  Heranziehung  auch  der  äußern  Politik  praktisch  über- 
schreitet. 

Drei  Wachstumsvorgänge  werden  im  europäischen  Ruß- 
land unterschieden:  die  erobernde  Kolonisation  gegenüber  den 
Finnen  im  nördlichen  und  östlichen  Waldland,  das  Vordringen 
in  das  südliche  und  südöstliche  Steppenland,  endlich  die  rein 
staatliche,  nicht  kolonisatorische  Eroberung  der  westlichen 
Nachbarländer.    Dazu  tritt  die  Erweiterung  in  Asien  mit  teils 


Rußland.  345 

ähnlichen,  teils  andersartigen  Erscheinungen.  Bei  dem  allen  ver- 
misse ich  nur  die  Auseinandersetzung  mit  einer  sehr  wichtigen 
Einzelfrage:  Woher  kamen  die  Siedler  an  der  obern  Wolga 
und  Oka?  Erfolgte  diese  Kolonisation  durch  die  Abwanderung 
des  Hauptbevölkerungsteils  der  Kiewer  Rus,  wie  es  uns  zuletzt 
noch  Kljutschewskij  so  eindringlich  vor  Augen  geführt  hat, 
oder  geschah  sie,  der  vorwiegend  baltischen  Geschichtsauffassung 
entsprechend,  im  wesentlichen  durch  Nowgorod? 

Das  Resultat  ist  ein  Eroberungs-  und  Kolonialreich  mit 
einverleibten  Fremdvölkern  im  Westen,  einer  riesigen  Siedlungs- 
kolonie im  Osten,  Wirtschaftskolonien  im  Norden,  Herrschafts- 
kolonien im  zentralen  und  östlichsten  Asien.  Besonders  aktuell 
berührt  uns  der  Inhalt  des  Kapitels  über  den  inneren  Zusammen- 
halt des  russischen  Reiches.  Alle  die  seither  mit  immer  größerer 
Heftigkeit  umstrittenen  Fragen  der  Randstaatenpolitik  sind 
hier  bereits  aufgeworfen  und  mit  der  dem  ganzen  Buche  inne- 
wohnenden Umsicht  behandelt.  Verfasser  trifft  vollständig  mit 
der  Ansicht  des  Rezensenten  überein,  wenn  er  die  Abgliederung 
Livlands  und  Estlands  als  eine  Maßnahme  bezeichnet,  die  zur 
Voraussetzung  hätte,  daß  wir  auf  lange  Zeit  bereit  sein  müßten, 
diese  langgestreckte  Grenze  zu  verteidigen,  und  wenn  er  ebenso 
die  außerordentlichen  Schwierigkeiten  einer  vollen  und  dauernden 
Abtrennung  der  Ukraine  statt  ihrer  bloßen  Autonomie  hervor- 
hebt. In  mehr  oder  weniger  veränderter  Gestalt  leben  diese 
Probleme  bis  heute  ungelöst  weiter. 

Zwei  von  H.  schon  anderwärts  verfochtene  Gedanken 
kommen  in  diesen  und  ähnlichen  Zusammenhängen  wieder 
zur  Aussprache:  die  Unrichtigkeit  einer  Politik,  die  es  unter- 
nehmen wollte,  Rußland  gegen  England  in  Persien  zum  Meer 
zu  verhelfen,  da  ein  solches  Vorrücken  eine  neue  Umklammerung 
der  Türkei  bedeuten  würde,  und  die  Notwendigkeit  für  Rußland, 
ein  autarktisches  Wirtschaftsgebiet  zu  werden,  statt  weiterhin 
wie  bisher  die  Ausgänge  zu  warmen  Meeren  zu  erstreben.  Die 
erste  dieser  Fragen  ist  durch  die  mittlerweile  eingetretenen 
kriegerischen  und  politischen  Entwicklungen  überholt.  Ob  die 
Formulierung  der  zweiten  These  nicht  allzu  theoretischer 
Natur  ist,  das  wird  erst  eine  noch  ferne  Zukunft  lehren. 

Wenn  auch  die  Menge  der  in  den  Text  gedruckten  Kärtchen 
nicht  selten  zur  guten  Erläuterung  dienen,  so  würde  man  doch 


346  Literaturbericht. 

häufig  auch  eine  größere  politisch-geographische  Kartenbeilage 
gern  zu  Rate  ziehen.  Für  beide  Teile  und  ihre  einzelnen  Kapitel 
zusammengestellte  Literaturangaben  erhöhen  den  Wert  des 
vortrefflichen  Buches,  das  mit  seiner  allseitigen  und  tiefdringen- 
den Betrachtung  immer  einen  ehrenvollen  Platz  unter  den 
wissenschaftlichen  Werken  über  Rußland  einnehmen  wird. 
Straßburg  i.  E.  K.  Stählin, 

Handbuch  für  Heer  und  Flotte.  Enzyklopädie  der  Kriegswissen- 
schaften und  verwandter  Gebiete.  Herausgegeben  von 
Generalleutnant  z.  D.  v.  Alten,  fortgeführt  von  Hauptmann 
a.D.  v.  Albert.  6.  Bd. :  Leissegues  —  Österreich-Ungarn. 
Mit  30  farbigen  und  schwarzen  Tafeln  und  227  Abbildungen 
im  Text.  Berlin,  Deutsches  Ve^lagshaus  Bong  &  Co.  1914. 
932  S. 

Der  vorliegende  Band  des  hervorragenden,  groß  angelegten 
Werkes  war  noch  vor  Ausbruch  des  Krieges  fertiggestellt  worden 
und  erschien  bereits  Ende  1914.  Der  gewaltige  Band  enthält 
eine  Fülle  von  Material,  dessen  Reichhaltigkeit  im  Rahmen  einer 
kurzen  Besprechung  nur  angedeutet  werden  kann.  Unter  den 
Verfassern  der  einzelnen  Aufsätze  bemerken  wir  eine  Reihe  von 
Namen  von  gutem  Klang,  die  auch  im  Laufe  des  Feldzuges 
hervortraten,  wie  v.  Beseler,  v.  Zwehl,  Frhr.  v.  Bissing,  Litz- 
mann, Frhr.  v.  Falkenhausen  sowie  viele  andere. 

Aus  der  Darstellung  der  einzelnen  Staaten  mit  ihren  Heeres- 
einrichtungen heben  wir  die  Aufsätze  über  Österreich-Ungarn, 
Marokko,  Niederlande,  Mexiko  hervor.  Einen  interessanten  Auf- 
satz „Offizier"  hat  der  Oberstleutnant  Frhr.  v.  der  Osten-Sacken 
verfaßt.  Unter  den  militärgeographischen  Aufsätzen  sind  die 
über  „Maas",  „Mosel",  „Mittelmeer",  „Narew-Niemen-Linie", 
„Neue  holländische  Wasserlinie",  „Nordsee"  besonders  beachtens- 
wert. Sehr  wertvoll  und  auf  mühsamer,  großer  Arbeit  beruhend 
ist  der  im  Aufsatz  „Literatur"  von  General  v.  Voß  gegebene 
Überblick  über  die  gesamte  Militär-  und  Marineliteratur  seit  dem 
Altertum.  Unter  den  Lebensbeschreibungen  ragt  der  von  General 
Frhr.  v.  Falkenhausen  verfaßte  Aufsatz  „Moltke"  besonders 
hervor.  Um  die  außerordentliche  Reichhaltigkeit  des  Inhaltes 
anzudeuten,  seien  z.  B.  die  Aufsätze  über  „Nationalökonomie 
des  Krieges",  „Neutralität",  „Linienschiff",  „London",  „Lilien- 


Heeresgeschichte.  347 




„Orden   und  Ehrenzeichen",  ,,MacchiavelH"  erwähnt. 

Leider  sind  die  Aufsätze  über  Waffenwesen  und  Munition, 

Nahkampf,  Nachrichtendienst  und  Nachrichtenmittel,  Minenkrieg, 

Luftfahrt  und  manches  andere  durch  die  Erfahrungen  des  großen 

Krieges  stark  überholt.    Dies  trifft  natürlich  auch  vielfach  den 

Inhalt  der  bereits  früher  erschienenen  Bände,  ein  Schicksal,  das 

dieses  ganze  Werk  mit  der  gesamten  Militärliteratur,  besonders 

in  bezug  auf  die  Technik,  teilt.   Wieweit  sich  dieser  Nachteil  für 

die  bereits  erschienenen  Bände  durch  Nachträge  beheben  läßt, 

muß  dahingestellt  bleiben.    Ob  die  Fortführung  und  Beendigung 

des  Werkes  unter  den  heutigen  Verhältnissen  möglich  ist,  läßt 

sich  zurzeit  nicht  übersehen.    Das  ganze  Werk  war  ursprünglich 

auf  9  Bände  veranschlagt.  Da  außer  den  Bänden  1 — 6  der  9.  Band 

I  früher  schon  außer  der  Reihe  erschienen  war,  so  fehlen  nur  der 

j  7.  und  8.  Band.    Es  wäre  sehr  zu  bedauern,  wenn  das  so  groß 

I  angelegte   und   bisher   durchgeführte   Werk,   das   ein    Denkmal 

I  deutschen  Fleißes  und  deutscher  Gründlichkeit  ist,  unvollendet 

I  bliebe.    Wir  möchten  dem  Verlagshaus,  das  sich  so  große  Ver- 

I  dienste    damit    erworben   hat,    sowie    dem    Herausgeber    Major 

I  V.  Albert,  der  bis  zum  Schluß  des  Krieges  im  Felde  gestanden 

j  hat,  wünschen,  daß  es  ihnen  vergönnt  sein  möge,  ihrem  Werk 

den  Schlußstein  anzufügen.  x. 


Notizen  und  Nadiriditen. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  die  sie  an  dieser  Stelle 
berücksichtigt  wünschen,  uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 

Allgemeines. 

Im  Verlage  von  Kurt  Schroeder,  Leipzig,  beginnen  zu  erscheinen: 
„Schriften  zur  europäischen  Geschichte  seit  dem  Mittel- 
alter", hrsgg.  von  Dr.  Herbert  Schönebaum.  Die  Schriftenreihe 
will  die  Bekanntschaft  mit  der  außerdeutschen  Geschichte  fördern. 

Als  Organ  des  Verbandes  Deutschland-Spanien  erscheint  „Spa- 
nien. Zeitschrift  für  Auslandskunde",  hrsgg.  vom  ibero-ameri- 
kanischen  Institut  Hamburg  (Schriftleitung:  B.  Schädel;  Verlag  von 
W.  Bangert,  Hamburg),  jährlich  4  Hefte  (7,50  M.).  Das  1.  Heft  ent- 
hält u.  a. :  Boelitz,  Das  Deutschtum  in  Spanien;  Eugen  Fischer, 
Rassenprobleme  in  Spanien;  C.  F.  Seybold,  Die  Araber  in  Spanien. 

Kein  Historiker  sollte  die  ganz  hervorragende  Zeitschrift:  „Der 
Neue  Orient,  Halbmonatsschrift  für  das  politische,  wirtschaftliche 
und  geistige  Leben  im  gesamten  Osten",  Verlag  „Der  Neue  Orient", 
Berlin  W.  50,  übersehen,  die  soeben  mit  dem  4.  Band  ihren  2.  Jahr- 
gang abschließt.  Die  überstürzten  Ereignisse  haben  das  hier  ein- 
gehend verfolgte  große  orientalisc  heDrama,  in  dem  Deutschland  zeit- 
weise mit  im  Mittelpunkt  stand,  schon  zur  Geschichte  gemacht.  Aber 
auch  an  der  politischen  Zeitschrift,  an  dieser  ersten,  glänzend  gelun- 
genen und  doch  leider  noch  wenig  beachteten  deutschen  Bestrebung, 
unser  Volk  aus  seinen  nur  allzusehr  erwiesenen  provinzialen  Inter- 
essen zu  weltpolitischem  Denken  zu  führen,  sind  wir  Historiker  leb- 
haft interessiert.  Die  stets  sehr  reichhaltigen  Hefte  beginnen  mit 
einer  politischen   Rundschau  im  Orient.    Hier  berichten  beste  Sach- 


Allgemeines.  349 

kenner,  denen  auch  reiches  offiÄelles  Material  zur  Verfügung  steht, 
über  die  neuen  Ereignisse  in  der  Türkei,  in  Ägypten,  Persien,  Zentral- 
asien, Rußland,  Indien,  Ostasien  (so  im  letzten  Doppelheft  auf  22 
inhaltreichen  Spalten).  Es  folgen  Aufsätze  mehr  gelegentlicher  Mit- 
arbeiter, im  letzten  Doppelheft  über  die  chinesische  Frage  und  den 
Völkerbund,  die  japanische  Administration  in  Korea,  die  Bewegung 
der  japanischen  Bevölkerung,  den  deutsch-chinesischen  Verband,  den 
Zionismus,  das  Größere  Hedschas,  die  militärische  Lage  in  Tripolis 
in  italienischem  Lichte  (zusammen  33  Spalten).  Die  folgenden  „kurzen 
Nachrichten  aus  den  Ländern  des  Orients"  bieten  eine  Fundgrube 
von  stets  sachkundig  gesichteten  Berichten  zur  Entwicklung  der  tür- 
kischen Gebiete,  Nordafrikas,  Arabiens,  Britisch- Indiens,  Niederlän- 
disch-Indiens,  Ostasiens  (25  kleingedruckte  Spalten).  Der  wirtschaft- 
liche Teil  des  beispielsweise  analysierten  Heftes  handelt  über  den 
Bergbau  in  den  Vereinigten  Malayenstaaten,  die  Wirtschaftslage  von 
Korea,  Sachalin  und  Kwantung,  ausländische  Handelsgesellschaften 
in  Japan,  den  persischen  Handel  (16  Spalten),  worauf  wieder  reiche 
wirtschaftliche  Einzelnachrichten  auf  27  enggedruckten  Spalten  folgen. 
Der  Abschnitt  über  „Kultur  und  Geistesleben  im  Orient"  enthält 
auf  28  Spalten  Aufsätze  über  chinesische  und  japanische  Kunst,  die 
Religion  im  täglichen  Leben  der  Hindus,  die  katholischen  Missionen 
im  Orient  vor  ihrer  Neugestaltung  sowie  eine  Zeitschriftenschau  über 
orientalische  Dinge.  Bücherbesprechungen  und  Abdrucke  von  Ur- 
kunden schließen  die  Hefte.  Die  offiziellen  Beziehungen  der  Zeit- 
schrift treten  nur  als  fördernd  hervor.  Sie  ermöglichen  auch  den 
unverhältnismäßig  niedrigen  Jahrespreis  von  20  M.  für  die  24  Hefte 
mit  reichlich  1000  Quartseiten.  Das  Abonnement  ist  besonders  auch 
für  Bibliotheken  höherer  Schulen  zu  empfehlen. 

Berlin.  Andr.  Walther. 

Oskar  Walzels  wertvolle  Darstellung  „Deutsche  Romantik" 
ist  in  der  4.  Auflage  auf  zwei  Bändchen  der  Sammlung  „Aus  Natur 
und  Geisteswelt"  verteilt  (I.  Welt-  und  Kunstanschauung.  VI  u. 
116  S.  II.  Die  Dichtung.  IV  u.  104  S.  Leipzig  u.  Berlin  1918,  Teub- 
ner).  Die  Bearbeitung,  die  sich  allenthalben  in  der  Nachtragung  und 
Verwertung  neuerer  Literatur  zeigt,  ist  aber  nur  im  zweiten  Teile  zu- 
gleich Erweiterung;  der  Gegenstand  des  ersten  Bändchens  war  in  der 
einbändigen  Ausgabe  teilweise  etwas  eingehender  behandelt. 

Aus  der  „Zeitschrift  für  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unter- 
richts" 6  (1916),  S.  225—280  erwähnen  wir  noch  nachträglich  S. 
Aschner,  Der  deutsche  Unterricht  und  die  Romantik.  Der  Aufsatz 
zeigt  im  einzelnen  das  rasche  Eindringen  der  Romantik  in  die  Schule 
und  ihre  allgemeine  Bedeutung  für  den  deutschen  Unterricht. 
Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  23 


350  Notizen  und  Nachrichten. 

In  hübschen  Gedenkworten  zur  100.  Wiederkehr  des  Stiftungs- 
tages der  Monumenta  Germaniae  gibt  W.  Erben  den  Lesern  der  Grazer 
Montagszeitung  (1919,  Januar  20)  einen  Begriff  von  den  Aufgaben 
und  der  Arbeitsleistung  des  großen  Unternehmens,  dessen  gemein- 
deutsche Bedeutung  er  besonders  hervorhebt. 

„Hans  Delbrück  der  Siebzigjährige"  wird  von  Martin  Hobohm 
in  einer  mit  lebhafter  Verehrung  geschriebenen,  vielfach  gut  charak- 
terisierenden Studie  begrüßt.  Ein  Bild  Delbrücks  ist  beigegeben. 
(Berlin  W.,  1918.    Engelmann.    24  S.    1,25  M.) 

Der  „Grundriß  einer  Geschichte  des  katholischen  Kirchenrechts" 
von  A.  M.  Koeniger  (Köln,  Bachem.  1918.  91  S.  3,20  M.)  ist  ein 
durch  Anmerkungen  bereicherter  Sonderabdruck  aus  den  „Monats- 
blättern für  den  kath.  Religionsunterricht  an  höheren  Lehranstalten" 
(1918,  Mai- Juli).  Diese  Herkunft  bezeichnet  die  besondere  Aufgabe 
der  Darstellung.  Aber  durch  Sachkenntnis,  pädagogisches  Geschick 
und  eine  erfreuliche  Leidenschaftslosigkeit  des  selbstverständlich  kirch- 
lich gegründeten  Urteils  vermag  der  Verfasser  dem  Buche  einen  über 
den  nächsten  Zweck  hinausweisenden  Wert  zu  geben.  Der  Historiker 
wird  diese  kurze  Darstellung,  die  bis  zu  dem  von  Pius  X.  geschaf- 
fenen, von  Benedikt  XV.  veröffentlichten  neuen  Codex  iuris  canonici 
hinführt,  mit  Nutzen  zur  Hand  nehmen.  Die  23  Seiten  starken  An- 
merkungen bringen  keinerlei  Literaturangaben  —  diese  hat  der  Ver- 
fasser leider  „absichtlich  vermieden"  — ,  wohl  aber  neben  kleinen 
Erläuterungen  ausgewählte  Quellenstellen,  darunter  manche  weniger 
bekannte,  gelegentlich  sogar  (S.  73,  Anm.  137)  eine  aus  einer  Hand- 
schrift (12.  Jahrhundert).  Das  eingehende  Register  zu  dieser  stoff- 
reichen, oft  allzu  stark  zusammengepreßten  Übersicht  wäre  noch  will- 
kommener, wenn  es  auch  den  Inhalt  der  Anmerkungen  berücksichtigt 
hätte.  V. 

Robert  Sieger,  „Der  österreichische  Staatsgedanke  und  seine 
geographischen  Grundlagen"  (österr.  Bücherei,  geleitet  von  R.  v. 
Wettstein,  9.  Bändchen.  Wien  u.  Leipzig,  Fromme.  95  S.  0,80  M.) 
ist,  wie  der  Verfasser  selbst  in  einem  Nachwort  vom  3.  November 
1918  noch  bemerken  konnte,  in  seinem  gegenwartspolitischen  Inhalt 
durch  den  Gang  der  Ereignisse  überholt,  behält  aber  mit  der  Ver- 
knüpfung geographischer,  geschichtlicher  und  politischer  Beobachtung 
und  Beurteilung  seinen  besonderen  Wert. 

Österreich-Ungarn  als  Verfassungsstaat.  Von  Fritz  Härtung. 
(Auslandsstudien  an  der  Universität  Halle -Wittenberg.  Heft  7.) 
(Halle,  Niemeyer.  1918.  32  S.)  —  In  diesem  am  24.  Januar  1918 
gehaltenen  Vortrag  gibt  Härtung  einen  guten  Überblick  über  die  Pro- 
bleme des  Habsburgerreiches,  deren  Unlösbarkeit  sein  Ende  nach  der 


I 


Allgemeines.  351 


Niederlage  herbeigeführt  haben.  Wenn  Härtung  S.  27  sagt,  daß  nicht 
mehr  der  Dualismus,  sondern  die  Auseinandersetzung  mit  den  Natio- 
nalitäten das  wichtigste  Problem  der  Monarchie  sei,  so  wird  m.  E. 
eine  rückschauende  Betrachtung  der  Epoche  von  1867 — 1918  lehren, 
daß  doch  der  Dualismus  das  Haupt-  und  Grundübel  war  und  ge- 
blieben ist,  insofern  es  alle  anderen  und  gerade  die  unvereinbaren 
Ansprüche  der  anderen  Nationalitäten  im  Gefolge  hatte,     schüßler 

Das  von  P.  Seidel  herausgegebene  Hohenzollern- Jahrbuch, 
20.  Jahrgang  (1916.  Giesecke  &  Devrient,  Berlin-Leipzig.  XXIV  u. 
211  S.)  enthält  folgende  Beiträge:  O.  Hintze,  Der  Weltkrieg  im  Jahre 
1916.  —  Schmitz,  Schloß  Charlottenhof  (das  Friedrich  Wilhelm  IV. 
als  Kronprinz  im  engsten  Einvernehmen  mit  Schinkel  errichten  ließ). 
—  Volz,  Zur  literarischen  Tätigkeit  Friedrichs  des  Großen.  1.  Die 
(1773  entstandene,  1775  und  1779  umgearbeitete)  Urfassung  der  Dar- 
stellung der  Teilung  Polens.  2.  Ein  neuer  Plan  zur  Verteidigung  Schle- 
siens (aus  der  Zeit  nach  1745).  3.  Aus  der  poetischen  Werkstatt  (Kor- 
rekturen an  Gedichten).  4.  Der  Eloge  de  M.  de  la  Mettrie  (Entstehungs- 
geschichte). 5.  Der  Eloge  de  M.  Diihan  (stammt  nur  teilweise  von 
Friedrich).  —  Klinkenborg,  Der  Ort  der  Abendmahlsfeier  Kurfürst 
Joachims  II.  am  1.  November  1539  (tritt  wieder  und  wohl  mit  Recht 
für  Spandau  ein).  —  Droysen,  (Chronologische  Zusammenstellung  der 
Ereignisse  am  kronprinzlichen  Hofe  in)  Rheinsberg  1736 — 1740.  — 
Backschat,  Beiträge  zur  Baugeschichte  von  Sanssouci  (auf  Grund 
neuen  Aktenmaterials).  —  Seidel,  Kammerherr  Fr.  H.  v.  Witzleben 
als  Porträtzeichner  am  Hofe  des  Prinzen  und  der  Prinzessin  von 
Preußen.  —  Schuster,  Aus  dem  Briefwechsel  des  Prinzen  Wilhelm 
des  Älteren  von  Preußen  und  seiner  Gemahlin,  der  Prinzessin  Marianne 
(Fortsetzung.  Aus  dem  Frühjahr  1813,  da  der  Prinz  in  Breslau  und 
dem  Hauptquartier  Blüchers  und  seine  Frau  in  Berlin  weilte).  — 
Tschirch,  Der  Fürst  von  Ligne  und  die  Hohenzollern  (Persönliche  Be- 
ziehungen zu  Friedrich  dem  Großen,  Friedrich  Wilhelm  III.  und  dem 
Prinzen  Louis  Ferdinand).  —  Bailleu,  Aus  dem  letzten  Jahrzehnt 
Friedrich  Wilhelms  III.  Briefe  des  Königs  an  seine  Tochter  Charlotte, 
Kaiserin  von  Rußland  (Der  König  erscheint  hier  als  Familienvater 
und  ruhebedürftiger  alter  Herr  in  recht  sympathischem  Lichte).  — 
Volz,  Der  Plan  einer  Mitregentschaft  des  Prinzen  Heinrich  (bei  einer 
Thronbesteigung  Friedrich  Wilhelms  II.)  und  Friedrichs  des  Großen 
Expose  du  gouvernement  prussien  (entstanden  in  der  ersten  Hälfte  des 
Jahres  1776,  wahrscheinlich  im  April).  —  Hintze,  Die  Hohenzollern 
und  die  wirtschaftliche  Entwicklung  ihres  Staates  (Jubiläumsrede).  — 
Fischer,  Die  Kaiser-Wilhelm-Spende  deutscher  Frauen.  —  Droysen, 
Zum  31.  Mai  1740.  —  Schuster,  Ein  Schicksalsring  des  Hauses  Hohen- 

23* 


352  Notizen  und  Nachrichten. 

zollern.  —  Seidel,  Eine  Erinnerung  an  den  Tod  des  Kurfürsten  Johann- 
Sigismund.  Ziekursch. 

In  weiter  gespanntem  Rahmen  und  auf  entschiedener  fachmänni- 
schem Grunde  als  dem  seiner  Schrift  über  ,,  Indien  unter  der  eng- 
lischen Herrschaft"  von  1915  handelt  Sten  Konow  über  Indien 
in  der  Sammlung  „Aus  Natur  und  Geisteswelt**  (Leipzig,  Teubner. 
1917).  Die  ältere  Geschichte,  die  geistige,  religiöse  und  soziale  Kultur 
treten  in  den  Vordergrund,  auch  in  dem  angehängten  Literaturver- 
zeichnis. Ein  Schlüssel  für  die  Aussprache  indischer  Wörter  wäre 
erwünscht.  Andr.  Walther. 

Die  Mitteilungen  des  Instituts  für  österr.  Geschichtsforschung 
28,2  enthalten  einen  lehrreichen  Bericht  von  E.  v.  Ottenthai  über 
Inhalt  und  wissenschaftliche  Bedeutung  der  im  Auftrage  der  Krakauer 
Akademie  der  Wissenschaften  von  Stanislaus  Krzyzanowski  ver- 
öffentlichten Monumenta  Poloniae  palaeographica,  die  in  Deutschland 
kaum  bekannt  geworden  sind. 

Neue  Bücher:  Weltgeschichte  in  gemeinverständlicher  Darstel- 
lung. In  Verbindung  mit  G.  Bourgin  hrsgg.  von  L.  M.  Hart  mann. 
Bd.  1  u.  3.  S.  Alte  Geschichte.  —  Moriz  Ritter,  Die  Entwicklung 
der  Geschichtswissenschaft  an  den  führ.  Werken  betrachtet.  (Mün- 
chen, Oldenbourg.  15  M.)  —  Thdr.  Lessing,  Geschichte  als  Sinn- 
gebung des  Sinnlosen.  (München,  Beck.  6  M.)  —  Schwann,  Vom 
Staate.  Abhandlungen  über  den  biologischen  Aufbau,  die  naturgesetz- 
liche und  geschichtliche  Entwicklung  von  Volk  und  Staat.  (Essen, 
Baedeker.  3  M.)  —  Schubert,  Kultur  und  Volkswirtschaft.  (Heidel- 
berg, Winter.  10  M.)  —  Wehberg,  Neue  Weltprobleme.  Gesammelte 
Aufsätze  über  Weltwirtschaft  und  Völkerorganisation.  (München, 
Duncker  &  Humblot.  8  M.)  —  Spahn,  Die  Großmächte.  (Berlin, 
Ullstein  <S  Co.  5,50  M.)  —  Frdr.  Curtius,  Hindernisse  und  Möglich- 
keit einer  ethischen  Politik.  (Leipzig,  Verlag  Naturwissenschaften, 
4,60  M.)  —  Freytag-Loringhoven,  Politik  und  Kriegführung. 
(Berlin,  Mittler  &  Sohn.  9,75  M.)  —  Brandi,  Deutsche  Geschichte. 
(Berlin,  Mittler  &  Sohn.  10,50  M.)—  Rachfahl,  Preußen  und  Deutsch- 
land in  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft.  (Tübingen,  Mohr. 
2,40  M.)  —  Stückelberg,  Der  Münzsammler.  Ein  Handbuch  für 
Kenner  und  Anfänger.  2.  verb.  und  verm.  Auflage.  (Zürich,  Grell 
Füßli.  16  M.)  —  Hubeny,  Das  Wappen  und  seine  Bestandteile. 
(Graz,  Moser.  4  M.)  —  Knetsch,  Das  Haus  Brabant.  Genealogie 
des  Herzogs  von  Brabant  und  des  Landgrafen  von  Hessen.  (1.  Teil.) 
(Darmstadt,  Histor.  Verein  für  das  Großherzogtum  Hessen.    12  M.) 


Alte  Geschichte.  353 

Alte  Geschichte. 

Sehr  zu  beachten  ist  Meisners  Arbeit:  Zur  Geschichte  des 
Chattireichs  nach  neuerschlossenen  Urkunden  des  chattischen  Staats- 
archivs im  Jahresbericht  der  Schlesischen  Gesellschaft  für  vaterlän- 
dische Kultur  95  (1917),  1. 

In  Klio  16,  1 — 2  sind  folgende  Arbeiten  veröffentlicht:  L.  Weni- 
ger, Die  monatliche  Opferung  in  Olympia.  3:  Die  heilige  Handlung; 
E.  Stein,  Beiträge  zur  Geschichte  von  Ravenna  in  spätrömischer 
und  byzantinischer  Zeit  und:  Des  Tiberius  Constantinus  Novelle  ns^i 
inißoXije  und  der  Edidus  domni  Chilperici  regis]  A.  G.  Roos,  Über 
einige  Fragmente  des  Cassius  Dio;  O.  Viedebantt,  Poseidonios,  Ma- 
rinos,  Ptolemaios.  Ein  weiterer  Beitrag  zur  Geschichte  des  Erdnies- 
sungsproblems  im  Altertum;  H.  Pomtow,  Delphische  Neufunde. 
4:  Die  Befreiung  Delphis  durch  die  Römer;  C.  F.  Lehmann-Haupt, 
Berossos'  Chronologie  und  die  keilinschriftlichen  Neufunde.  11:  Zur 
achten  und  neunten  Dynastie  der  babylonischen  Königsliste;  W.  Göz, 
Die  Zahl  der  atxofvkaxee  in  Athen.  Zu  Lysias  22  §8;  H.  Gummerus, 
Die  Bauspekulation  des  Crassus  (zu  Plutarch,  Crass.  2);  C.  F.  Leh- 
mann-Haupt, Gesichertes  und  Strittiges.  5:  Kad-aneg  ol  aUot  Xakxi- 
Serjs,  und:  Zur  ältesten  ägyptischen  Chronologie. 

Im  Rheinischen  Museum  72,  3  gehören  hierher  die  Aufsätze  von 
V.  Gardthausen,  Namen  und  Zensus  der  Römer;  Fr.  Wilhelm, 
Der  Regentenspiegel  des  Sopatros  (Stob.  IV  p.  212,  13);  E.  Schwyzer, 
Zu  griechischen  Inschriften.  1.  Zur  thessalischen  Sotairosinschrift 
(Solmsen,  Inscr.  sel.^  Nr.  11);  2.  Alwloi;  H.  Endres,  Krateros, 
Perdikkas  und  die  letzten  Pläne  Alexanders.  Eine  Studie  zu  Diod. 
XVIII  4,1 — 6,  worin  glücklich  und  richtig  die  eigentlichen  Beweg- 
gründe für  die  Haltung  des  Perdikkas  gegenüber  den  Plänen  Alexan- 
ders auseinandergesetzt  werden;  A.  W.  de  Groot,  Ptolemaios,  der 
Sohn,  behandelt  das  oft  erörterte  Problem,  wer  der  Mitregent  des 
zweiten  Ptolemaios  gewesen  sei  und  kommt  zu  dem  Schluß,  daß  der 
spätere  „Euergetes"  als  Mitregent  zu  betrachten  sei. 

Im  Hermes  54,  2  finden  sich  Aufsätze  von  A.  Rosenberg,  Zur 
Geschichte  dts  Latinerbundes;  M.  Bang,  Caesaris  servus,  der  lehr- 
reich den  Unterschied  zwischen  Caesaris  servus  und  Augusti  libertus 
erörtert;  F.  Graefe,  Taktische  Flottenmanöver  im  Altertum. 

In  den  Wiener  Studien  40,2  setzt  E.  Groag  seine  Studien  zur 
Kaisergeschichte  fort  (3:  Der  Sturz  der  Julia). 

Die  Abhandlungen  der  preußischen  Akademie  der  Wissenschaften, 
philos.-histor.  Kl.,  1918,  17  u.  1919,  1  enthalten  sehr  wichtige  und 
förderliche  Arbeiten  von  G.  Plaumann,  Der  Jdios  logos,  Untersuchung 


354  Notizen  und  Nachrichten. 

zur  Finanzverwaltung  Ägyptens  in  hellenistischer  und  römischer  Zeit, 
und  von  Ed.  Sachau,  Zur  Ausbreitung  des  Christentums  in  Asien. 

Nachdrücklich  sei  hingewiesen  auf  den  fördernden  Aufsatz  von 
H.  Lietzmann,  Die  Urform  des  apostolischen  Glaubensbekenntnisses 
in  Sitzungsberichten  der  preußischen  Akademie  1919,  17. 

In  der  Zeitschrift  für  neutestamentliche  Wissenschaft  18,  4  findet 
sich  der  Schluß  des  trefflichen  Aufsatzes  von  P.  Corssen,  Das  Marty- 
rium des  Bischofs  Cyprian. 

Aus  der  Theologischen  Quartalschrift  99,  4  notieren  wir  S.  Lan- 
dersdorf er,  Zur  Lage  von  Sephar-vajim  (hat  nichts  mit  dem  baby- 
lonischen Sippar  zu  tun,  ist  in  Syrien  zu  suchen  und  mit  Sipri  zwi- 
schen Euphrat  und  Libanon  gleichzusetzen);  R.  Storr,  Die  Unecht- 
heit  der  Mesa- Inschrift;  F.  Haase,  Der  Adressat  der  Aristides-Apo- 
logie. 

Anschließend  an  das  Buch  von  E.  de  Faye,  Gnostiques  et  Gno- 
sticisme  handelt  P.  Monceaux  über:  Les  Gnostiques  in  Journal  des 
savants  1918,  1  u.  2,  4,  5/6. 

Adolf  Bauers  kleine  Schrift  „Vom  Judentum  zum  Christentum" 
(Leipzig,  Quelle  &  Meyer.  1917)  will  das  Entstehen  der  christlichen 
Weltchroniken  erklären.  Mit  vollem  Rechte  sieht  er  in  ihnen  ein  Erbe 
des  Judentums,  und  in  gedankenvollen  Ausführungen  knüpft  er  des- 
halb die  Ideen  eines  Julius  Africanus  und  Hippolytus  an  die  jüdisch- 
hellenistische Apologetik  einer-  und  an  die  jüdischen  Prophetien  ander- 
seits an.  Bauers  Verdienste  um  die  Aufhellung  der  christlichen  Chro- 
niken sind  allbekannt,  und  es  ist  sehr  erfreulich,  aus  seiner  Feder  diese 
zusammenfassende  Darstellung  zu  erhalten,  die  auch  auf  die  Nachwir- 
kung dieser  eigentümlichen  Literaturgattung  bis  in  die  neueste  Zeit 
eingeht.  Um  so  eigentümlicher  berührt  daher  die  Auffassung  von  der 
Art  der  Einwirkung  der  griechischen  Historiographie.  Bauer  ist  der 
Ansicht,  daß  zunächst  einmal  eine  vorübergehende  Berührung  von 
Hellenentum  und  Judentum  in  der  jüdisch-hellenistischei\  Apologetik 
stattgefunden  habe,  daß  aber  eine  wirkliche  Verbindung  der  israeli- 
tisch-jüdischen und  der  griechisch-römischen  Literatur  sich  erst  durch 
das  Christentum  vollzogen  habe,  durch  „dessen  Annahme  die  Ciriechen 
für  das  alte  Testament  als  Religionsurkunde  gewonnen  worden  wären". 
Dieser  Auffassung  entsprechend  schildert  Bauer  in  den  drei  ersten 
Kapiteln  die  jüdische  Entwicklung  bis  einschließlich  der  hellenistisch- 
jüdischen Literatur,  um  in  Kap.  4 — 7  die  griechische  Geschichtschrei- 
bung bis  eben  zu  dieser  Zeit  zu  behandeln.  Aus  beiden  Zweigen  wird 
dann  in  Kap.  8  die  christliche  Weltgeschichte  entwickelt.  Dieser  Dar- 
legung kann  ich  nicht  zustimmen;  nicht  erst  in  der  christlichen  Welt- 
geschichte vereinen  sich  Judentum  und  Griechentum,  sondern  bereits 


Frühes  Mittelalter.  355 

im  hellenistischen  Judentum  liegt  die  Verbindung  fertig  vor,  und  folge- 
richtig entwickelt  sich  aus  dem  hellenistischen  Judentum  die  christ- 
liche Weltgeschichte  dadurch,  daß  nach  der  Zerstörung  Jerusalems 
sich  das  Judentum  isolierte  und  die  Christen  das  Erbe  des  hellenisti- 
schen Judentums  antraten.  Die  gegenseitige  Beeinflussung  von  Chri- 
stentum und  Hellenentum  tritt  in  christlicher  Zeit  nur  an  die  Stelle 
der  Durchsetzung  von  Judentum  und  Hellenentum.  Es  mußte  also 
die  ältere  griechische  Historiographie  nicht  nach  der  jüdisch-helleni- 
tischen  Apologetik,  sondern  vor  ihr  behandelt  werden;  dann  wäre 
die  Kontinuität  richtig  herausgekommen,  und  es  wäre  nicht  geschehen, 
daß  eine  für  die  ganze  Entwicklung  so  bedeutsame  Persönlichkeit  wie 
Josephus  in  der  Darstellung  ausgefallen  wäre.  In  der  Behandlung  der 
einzelnen  Historiker  zeigen  sich  bei  Bauer  die  Vorzüge  und  Nachteile 
der  bei  uns  nun  immer  noch  üblichen  Art  der  Betrachtung  geschicht- 
licher Werke  —  die  Vorzüge,  indem  Bauer  unter  liebevoller  Vertiefung 
in  zahlreiche  Einzelheiten  und  unter  voller  Beherrschung  der  modernen 
Forschung  ein  festes  Durchschnittsbild  der  wissenschaftlichen  Eigenart 
der  Persönlichkeiten  entwirft,  die  Nachteile,  indem  er  in  den  Histori- 
kern nichts  anderes  zu  sehen  vermag  als  Forscher  und  Schriftsteller 
mit  einem  von  vornherein  feststehenden  Lebensprogramm  und  nichts 
weiß  von  einer  geistigen  Entwicklung  und  von  einer  ständig  wirkenden 
politischen  Leidenschaft,  ohne  welche  Persönlichkeiten  wie  Thukydides 
und  Polybius,  um  nur  diese  zu  nennen,  nie  verstanden  werden  können. 

R.  Laquear. 
Neue  Bücher:  E.  Hanslik,  E.  Kohn  und  E.  G.  Klauber,  Ein- 
leitung und  Geschichte 'des  alten  Orients.  (Weltgeschichte  in  gemein- 
verständlicher Darstellung.  I.)  (Gotha,  Perthes.  5  M.)  —  v.  Bis- 
sing, Die  Kultur  des  alten  Ägyptens.  2.  verb.  Aufl.  (Leipzig,  Quelle 
&  Meyer.  1,25  M.)  —  L.  M.  Hartmann  und  J.  Kromayer,  Römische 
Geschichte.  (Weltgeschichte  in  gemeinverständlicher  Darstellung.  III.) 
(Gotha,  Perthes.  15  M.)  —  Wähle,  Feldzugserinnerungen  römischer 
Kameraden.  Lagerstudien  aus  den  Zeiten  der  Republik.  (Berlin, 
Siegismund.    2,50  M.) 

Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

Aus  der  Prähistorischen  Zeitschrift  10  (1918)  ist  der  ausführliche 
Bericht  von  Martin  Jahn  über  „Die  oberschlesischen  Funde  aus  der 
römischen  Kaiserzeit",  aus  dem  „Mannus",  Zeitschrift  für  Vorgeschichte 
9  (1917,  erschienen  1919),  Heft  3  und  4  der  Bericht  von  G.  Koßinna, 
„Meine  Reise  nach  West-  und  Ostpreußen  und  meine  Berufung  zu 
Generalfeldmarschall  von  Hindenburg  im  August  1915",  sowie  die 
Abhandlung  von  Rud.  Moschkau  über  „Beziehungen  zwischen  Form 


356  Notizen  und  Nachrichten. 

und  Technik  des  vorgeschichtlichen,  insbesondere  slawischen  Wellen- 
ornaments" zu  erwähnen. 

Im  3.  Heft  der  Neuen  Jahrbücher  für  das  klassische  Altertum, 
Geschichte  und  deutsche  Literatur  und  für  Pädagogik,  22.  Jahrgang, 
1919,  Bd.  43  u.  44  gibt  E.  Mogk,  ,, Altgermanische  Spukgeschichten", 
auf  Grund  der  isländischen  Sagas  und  des  Beowulf  einen  Einblick 
in  den  Glauben  unserer  Vorfahren  vom  Fortleben  und  -wirken  einzelner 
Individuen  nach  dem  Tode";  nicht  der  Seelenglaube  oder  Animismus 
ist  die  Wurzel  der  Religionen,  sondern  vor  dem  Seelenglauben  war 
„der  Glaube  an  die  Macht  der  Wesen  und  Dinge  einmal  allen  primitiven 
Völkern  eigen". 

Quellensammlung  zur  Geschichte  des  Mittelalters  und  der  Neu- 
zeit. Von  Alfred  v.  Weissembach.  1.  Bd.:  Quellen  zur  Geschichte 
des  Mittelalters  bis  zur  Mitte  des  13.  Jahrhunderts.  (Leipzig,  K.  F. 
Koehler.  1913.  XII  u.  235  S.  Geb.  5,75  M.)  —  Dank  dem  sehr  ver- 
späteten Versagen  eines  Rezensenten  können  wir  jetzt  erst  auf  dieses 
Buch  hinweisen,  das  durch  Vereinigung  der  wichtigsten  Urkunden  und 
ausgewählter  Stellen  aus  Geschichtschreibern  die  quellenmäßige  Be- 
schäftigung mit  der  mittelalterlichen  Geschichte  erleichtern  möchte. 
Diesen  Dienst  wird  es  in  der  Tat  leisten  können.  Es  bringt  in  der 
Hauptsache  nur  Stücke,  an  denen  ein  ernsthaftes  Studium  der  mittel- 
alterlichen Geschichte  nicht  vorübergehen  darf,  und  bringt  sie  fast 
ausnahmslos  nach  dem  besten  Drucke  (zu  S.  92  Nr.  9  vgl.  den  bei 
Haller,  Quellen  zur  Geschichte  der  Entstehung  des  Kirchenstaates 
S.  238  genannten  Druckort).  Aber  leider  fehft  vieles  Wichtige.  Kon- 
rad II.  ist  nur  vertreten  durch  das  italienische  Lehensgesetz  von  1037 
(Eingangs-  und  Schlußprotokoll  durften  nicht  weggelassen  werden!); 
Wipo  hätte  um  so  weniger  ganz  ausfallen  sollen,  als  dem  Widukind 
neun  Seiten  eingeräumt  sind.  Der  Friede  von  Venedig  (S.  170)  ist 
ohne  den  Vertrag  von  Anagni  nicht  zu  verstehen;  dennoch  fehlt  jeder 
Hinweis  auf  diesen.  Außer  dem  Papstwahlgesetz  von  1059  hätte  das 
von  1179  berücksichtigt  werden  sollen.  Zur  Geschichte  Heinrichs  des 
Löwen  mußte  mindestens  noch  die  Geinhäuser  Urkunde  von  1180 
abgedruckt  werden.  Ungern  vermißt  man  das  prachtvolle  Bischofs- 
schreiben an  Urban  III.  vom  November  1186.  Heinrich  VI.  tritt  über- 
haupt nicht  auf;  der  berühmte  Brief  vom  25.  Juli  1196  und  das  sog. 
Testament  hätten  wenig  Platz  beansprucht.  Die  Goldbulle  von  Eger 
wird  S.  187  Anm.  1  in  irreführender  Weise  als  Bestätigung  des  Ver- 
sprechens Ottos  IV.  von  1209  bezeichnet;  es  hätte  sich  empfohlen, 
die  Goldbulle  abzudrucken  unter  Hinweis  auf  die  Urkunde  von  1209. 
Von  dem  Mainzer  Landfrieden  von  1235  wird  nur  ein  unvollständiger 
Abdruck  des  lateinischen  Textes  gebracht.  Dem  Rundschreiben  Fried- 


Frühes  Mittelalter.  357 

richs  II.  vom  20.  April  1239  hätte  die  Exkommunikationsbulle  Gre- 
gors IX.  vorausgeschickt  werden  sollen.  Zur  Geschichte  der  ostdeut- 
schen Kolonisation  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  werden  lediglich 
Auszüge  aus  Helmold  und  der  älteren  Chronik  von  Oliva  gegeben. 
Auch  die  Absicht  des  Herausgebers,  besonders  bedeutende  Ereignisse 
durch  Zusammenstellung  der  wichtigsten  Quellen  zu  beleuchten,  wird 
man  nicht  immer  erreicht  finden;  das  gilt  namentlich  für  die  Zeit 
Heinrichs  IV.  und  Heinrichs  V.  Sollte  in  einer  neuen  Auflage,  die 
dem  nützlichen  Buche  zu  wünschen  wäre,  der  Umfang  nicht  vermehrt 
werden  können,  so  müßte  durch  Weglassung  alles  dessen,  was  nicht 
zur  mittelalterlichen  Geschichte  gehört,  Raum  geschaffen  werden. 
V.  Weissembach  hat  nämlich  auch  die  Anfänge  der  christlichen  Kirche 
und  die  altgermanische  Zeit  in  sein  Buch  einbezogen.  Wer  aber  wird 
in  einer  Quellensammlung  zur  Geschichte  des  Mittelalters  Cäsar  und 
Tacitus,  Plutarch  und  Dio  Cassius  suchen?  F.   Vigener. 

Über  „Die  Vorlage  der  gotischen  Bibel"  Wulfilas  handelt  H. 
Lietzmann  am  Beispiel  der  paulinischen  Briefe  in  der  Zeitschrift 
für  deutsches  Altertum  Bd.  56,  3.  u.  4.  Heft;  die  Rekonstruktion  Streit- 
bergs ist  unzureichend,  da  die  ihnen  zugrunde  liegenden  Arbeiten  von 
Südens  über  die  Textformen  des  Neuen  Testaments  „in  der  Haupt- 
sache ein  Fehlschlag"  sind. 

Im  Jahrbuch  der  Münchener  Orientalischen  Gesellschaft  1916/17 
fordert  Friedrich  Freiherr  Stromer  von  Reichenbach  zur  Mitarbeit 
an  seinem  „wissenschaftlichen  Institut  für  Geschichtsdaten-Statistik 
und  Historionomie"  auf,  mit  dessen  Hilfe  er  „aus  der  geschichtlichen 
Vergangenheit  die  Zukunft  (bis  zu  einem  gewissen  Grade)  voraus- 
zuberechnen" gedenkt.  Seine  Probe  von  Weltgeschichts-Tabellen  um- 
faßt die  Zeit  von  600—650. 

Die  „Bonifatiusf  ragen"  von  M.  Tan  gl,  Abhandlungen  der  Ber- 
liner Akademie  der  Wissenschaften  1919,  Phil.-Hist.  Kl.  Nr.  2  dienen 
im  1.  Teil  der  Auseinandersetzung  mit  Heinrich  Böhmers  Unter- 
suchungen (Zeitschrift  des  Vereins  für  hessische  Geschichte  50,  N.  F. 
40,  S.  171  ff.)  und  weisen  in  ihrer  2.  Hälfte  die  ganz  leichtfertigen 
Angriffe  Bendels  auf  Eigils  Vita  Sturmi  (vgl.  H.  Z.  120,  S.  147)  zurück. 
Besonders  hinzuweisen  ist  auf  die  Ausführungen  über  die  Nachrichten- 
und  Reisegeschwindigkeit  zwischen  Rom  und  Deutschland  im  Mittel- 
alter, für  die  sich  vom  9.  bis  zum  15.  Jahrhundert  dauernd  eine  (unter 
Umständen  noch  erheblich  zu  steigernde)  tägliche  Durchschnittsleistung 
von  30 — 40  km  ergibt. 

In  der  „Ostsee"  Heft  19  u.  20  (10.  u.  25.  Januar  1919)  berichtet 
R.  Hennig  über  „Neue  Gesichtspunkte  zur  Vineta-Frage" ;  er  weist 
die  Gleichsetzung  von  Jumme  mit  Julin  zurück  und  sucht  die  nach 


358  Notizen  und  Nachrichten.  | 

ihm  1098  oder  1115 — 19  von  den  Dänen  verwüstete  Stadt  im  Einklang 
mit  der  Volksüberlieferung  auf  der  heute  vom  Meere  überspülten  Nord- 
westspitze der  Insel  Usedom,  wo  dann  auch  auf  dem  entsprechend  weit 
ins  Meer  vorspringenden  Streckelberg  (bei  Coserow)  die  1041  oder 
1043  von  den  Dänen  zerstörte  Jomsburg  gelegen  haben  möge. 

Die  Untersuchung  von  F.  J.  Bendel  über  „Die  Gründung  der 
Abtei  Amorbach  nach  Sage  und  Geschichte"  in  den  Studien  und  Mit- 
teilungen zur  Geschichte  des  Benediktinerordens  und  seiner  Zweige 
Bd.  39  (N.  F.  8),  1.— 2.  Quartalsheft  erklärt  die  ganze- Geschichte  der 
Abtei  bis  zum  Ausgang  des  10.  Jahrhunderts  (Gründung  durch  Pirmin, 
erster  Abt  Amor,  Beziehungen  zum  Bistum  Verden)  für  eine  Erfindung 
des  16. — 18.  Jahrhunderts;  das  Kloster  sei  erst  nicht  lange  vor  993 
von  Cluny  aus  gestiftet. 

Sehr  wichtige  Aufschlüsse  über  die  älteste  Geschichte  Schlesiens 
und  die  Anfänge  des  böhmischen  und  des  polnischen  Staates  bringt 
die  Untersuchung  von  Robert  Holtzmann  über  „Böhmen  und  Polen 
im  10.  Jahrhundert"  in  der  Zeitschrift  des  Vereins  für  Geschichte 
Schlesiens  Bd.  52,  in  deren  Mittelpunkt  der  Bericht  Ibrahim-ibn- 
Jakubs  über  die  Slawenländer  von  965  und  die  von  Holtzmann  zu  990 
bis  992  gesetzte  und  auch  von  ihm  Misica  I.  zugewiesene  Schen- 
kung Polens  (der  civitas  Schinesne,  was  doch  lieber  als  „Stadt",  nicht 
als  „Reich"  Gnesen  wiederzugeben  sein  dürfte)  an  den  römischen 
Stuhl  durch  Dagone  (vgl.  H.Z.  112,  S.428f.)  stehen.  Einleuchtend  wird 
Name  und  Gründung  der  Stadt  Breslau  auf  den  Böhmenherzog  Wra- 
tislaw  I.  (t  921)  zurückgeführt,  dessen  Nachfolger  Schlesien  links  der 
Oder  erst  990,  das  nachträglich  gewonnene  Oberschlesien  und  Krako- 
vien  sogar  wohl  erst  999  an  Polen  verloren.  Anderes  bleibt  mehr  zweifel- 
haft, so  die  von  Holtzmann  ähnlich  wie  von  P.  L.  Schulte  angenom- 
mene normannische  Abstammung  des  ersten  Polenfürsten  Misica  I. 
Bemerkenswert  erscheint  mir  das  Fehlen  nordischer  oder  nordisch 
anklingcider  Namen  bei  seinen  nächsten  Nachkommen,  bei  denen 
etwaige  Doppelnamen  nicht  nordisch-slawisch,  sondern  deutsch-sla- 
wisch erscheinen.  Nordische  Heiraten  finden  sich  in  gleicher  Weise 
auch  bei  den  benachbarten  Ostsee-Wenden.  A.  H. 

In  seinen  „Beiträgen  zur  ältesten  Geschichte  Polens"  in  der 
Zeitschrift  des  Vereins  für  Geschichte  Schlesiens  Bd.  52  sucht  P.  Lam- 
bert Schulte  O.  F.  M.  aus  dem  Bericht  Ibrahim-ibn-Jakubs  und  aus 
der  Schenkung  des  Dagone  iudex  an  den  römischen  Stuhl  entgegen 
den  späteren  polnischen  Sagen  nachzuweisen,  daß  der  Begründer  des 
polnischen  Staates,  Misica,  ein  Nordmanne  mit  dem  ursprünglichen 
Namen  Dago  gewesen  sei,  der  „mit  fremden  Kriegern  die  slawischen 
Völkerschaften  und  Stämme  östlich  der  Oder  zu  einem  Reiche  gewalt- 


i 


Frühes  Mittelalter.  359 

sam  zusammengeschweißt"  habe,  das  erst  unter  seinem  Sohn  und 
Nachfolger  Boleslaw  zu  einem  polnischen  Nationalstaate  geworden  sei. 
Ganz  durchgreifende  Beweise  lassen  sich  freilich,  trotz  fördernder 
Kritik  im  einzelnen,  für  diese  an  sich  diskutable  Hypothese  nicht 
beibringen.  A.  H. 

Die  Nachrichten  über  den  Aufenthalt  von  „Papst  Eugen  III. 
in  Trier  1147 — 48"  stellt  P.  Stephan  Steffen  in  der  Zisterzienser- 
chronik, 30.  Jahrgang,  Nr.  356 — 358  zusammen. 

Die  „Studien  zur  Lebensbeschreibung  der  hl.  Hildegard"  (geb. 
1098/99,  t  17.  Sept.  1179)  von  F.  W.  E.  Roth  in  den  Studien  und 
Mitteilungen  zur  Geschichte  des  Benediktinerordens  und  seiner  Zweige 
Bd.  39  (N.  F.  8),  1.— 2.  Quartalsheft,  gehen  auch  auf  ihre  Schriften 
ein,  zum  Teil  mit  Heranziehung  der  hs.  Überlieferung,  und  geben  u.  a. 
ine  knappe  Übersicht  über  ihre  Briefe. 

In  der  Zeitschrift  des  Historischen  Vereins  für  Niedersachsen  81 
18),  S.  1—43  und  83  (1918),  S.  189—276  hat  K-  Schambach 
„noch  einmal  die  Geinhäuser  Urkunde  und  den  Prozeß  Heinrichs  des 
Löwen"  behandelt;  er  sucht  ,, die  ursprüngliche  Zweisätzigkeit"  des 
Berichtes  der  Geinhäuser  Urkunde,  die  Richtigkeit  der  Hallerschen 
Vermutung  trina  statt  quia  (die  Urkunde  hat  hier  im  Grunde  nur 
ein  Loch),  die  Bedeutung  des  reatus  maiestatis  als  contumacia  u.  a.  zu 
erweisen  und  prüft  dann  die  erzählenden  Quellen,  um  die  Verteilung 
der  Gerichtstage  zu  ermitteln  (im  landrechtlichen  Verfahren  1.  Termin 
Worms  13.  Januar  1179,  letzter  Termin  und  Acht  Magdeburg  Ende 
Juni  1179,  dann  noch  Unterwerfungstermin,  zuletzt  in  Kaina  August 
1179,  in  dem  darnach  beginnenden  lehnrechtlichen  Verfahren  3.  Termin 
und  Urteil  Würzburg  Januar  1180;  Oberacht  Regensburg  29.  Juni 
1180).  Wenn  diese  umständlichen  und  Tüfteleien  nicht  vermeidenden 
Ausführungen  wesentlich  knapper  zusammengefaßt  wären,  würde 
die  in  ihnen  gebotene  Übersicht  über  die  früheren  Lösungsversuche 
mehr  Nutzen  bringen,  und  richtige  eigene  Beobachtungen  würden 
besser  zur  Geltung  kommen.  A.  H. 

In  der  Zeitschrift  für  Deutsches  Altertum  Bd.  56,  3.  u.  4.  Heft 
legt  G.  Ehrl s mann  eingehend  und  belehrend  „die  Grundlagen  des 
ritterlichen  Tugendsystems"  dar;  besonders  werden  Thomasin  von 
Zirclaere,  Walther  von  der  Vogelweide,  Hartmann,  der  „die  Grund- 
lagen seiner  moralischen  Anschauungen  am  kräftigsten  herausgearbeitet" 
hat,  und  kürzer  Wolfram  und  Gottfried  besprochen.  —  Ebenda  gibt 
A.  Bömer  „Das  Vagantenlied  von  Phyllis  und  Flora"  nach  der  Ber- 
liner Hs.  vom  Ende  des  12.  Jahrhunderts  neu  heraus. 

„Die  gefälschten  Kaiserurkunden  der  Grafen  von  Arco"  werden 
von  Hans  von  Voltelini  in  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  öster- 


360  Notizen  und  Nachrichten. 

reichische  Geschichtsforschung  Bd.  38,  2.  Heft  besprochen  und  ab- 
gedruckt (falsch:  Philipp  von  Schwaben  1208,  Friedrich  II.  27.  Febr. 
1221;  echt:  Sigmund  4.  Sept.  1413,  4.  Okt.  1433,  Friedrich  III.  10.  März 
1453). 

Im  „Überall"  21.  Jahrgang,  Heft  3  (Dez.  1918)  beendet  Willy 
Cohn  seine  Darstellung  der  „Organisation  und  Verwaltung  der  Flotte 
Kaiser  Friedrichs  IL";  er  hebt  besonders  das  überall  erkennbare  „per- 
sönliche Interesse  des  Kaisers  an  seiner  Schöpfung"  hervor. 

In  den  Mitteilungen  des  Instituts  für  österreichische  Geschichts- 
forschung Bd.  38,  2.  Heft  unterwirft  B.  Bretholz,  „Zur  böhmischen 
Kolonisationsfrage"  die  Quellen,  die  von  der  kolonisatorischen  Tätig- 
keit König  Ottokars  II.  sprechen,  einer  eingehenden  Kritik  und  kommt 
mit  sehr  beachtenswerten  Gründen  wieder  zu  dem  Ergebnis,  daß  das 
Deutschtum,  wie  in  Böhmen  überhaupt,  so  insbesondere  in  Glatz 
erheblich  älter  als  das  13.  Jahrhundert  ist.  Nicht  ganz  klar  erscheint, 
ob  er  der  Regierung  Otakars  II.  in  diesem  Zusammenhange  über- 
haupt noch  eine  Bedeutung  beimißt;  ganz  leugnen  läßt  sie  sich  schon 
wegen  Dalimil  kaum. 

Willy  Hoppe,  Markgraf  Konrad  von  Meißen,  der  Reichsfürst 
und  der  Gründer  des  wettinischen  Staates.  (Dresden.  1919.  XII  u. 
53  S.)  —  In  dieser  Arbeit,  einem  um  Inhaltsverzeichnis  und  Literatur- 
übersicht vermehrten  Abdruck  aus  dem  Neuen  Archiv  für  Sächsische 
Geschichte  und  Altertumskunde  Bd.  40,  Heft  1  u.  2,  schildert  der  um 
die  Kolonisationsgeschichte  Nordostdeutschlands  im  Mittelalter  bereits 
mehrfach  verdiente  Verfasser  in  den  drei  Abschnitten  ,, Konrads  An- 
fänge", „Die  reichsfürstliche  Tätigkeit"  und  „Konrad  als  Landes- 
fürst" das  Leben  eines  Mannes,  der  neben  dem  vielleicht  etwas  jün- 
geren Albrecht  dem  Bären  auf  freilich  nicht  ganz  so  schwierigem  Boden, 
aber  für  die  Zukunft  nicht  weniger  fruchtbar  in  bewegten  Jahrzehnten 
die  Verwaltung  und  den  Schutz  der  deutschen  Ostmarken  geführt 
und  die  Stellung  seines  später  entscheidend  in  die  Geschicke  unseres 
gesamten  Volkes  eingreifenden  Hauses,  der  Wettiner,  dauernd  fest 
begründet  hat.  Die  Darstellung  ist  durchweg  wohl  durchdacht  und 
das  oft  recht  spröde  Quellenmaterial  wohl  vollständig  herangezogen 
und  gefällig  verarbeitet.  A.  Hofmeister. 

Auf  eine  wichtige  Aufgabe  weist  E.  Hennecke  mit  seinem  aller- 
dings sehr  gemeinverständlich  formulierten  „Plan  einer  zusammen- 
fassenden Untersuchung"  der  mittelalterlichen  Heiligen  Niedersachsens 
hin;  dankenswert  ist  auch  die  Anregung  neben  den  jüngeren  von 
Grotefend  gegebenen  Festkalendern  jetzt  auch  die  älteren  des  12.  und 
13.  Jahrhunderts  zu  veröffentlichen  und  durch  Heranziehung  noch 
älterer  Perikopenverzeichnisse  aus  Evangelienbüchern  den  rückwärtigen 


Frühes  Mittelalter.  361 

Anschluß  an  das  kirchliche  Altertum  auch  für  die  hervorragenden 
Heiligentage  zu  gewinnen  (Zeitschrift  des  Histor.  Vereins  für  Nieder- 
sachsen 83,  Heft  1/2). 

Otto  Forst-Battaglia,Vom  Herrenstande.  Rechts-  und  Stände- 
geschichtliche  Untersuchungen  als  Ergänzung  zu  den  Genealogischen 
Tabellen  zur  Geschichte  des  Mittelalters.  Heftl.  (Leipzig,  H.  Degener. 
1916.  101  S.)  —  Dem  zweiten,  schon  1915  erschienenen  Hefte  (vgl. 
H.  Z.  116,  178),  das  mit  dem  Katalog  des  westfälischen  Hochadels 
den  Anfang  der  erwünschten  vollständigen  Inventarisierung  der  Herren- 
klasse für  ganz  Deutschland  („Dynastenkatalog")  gebracht  hatte,  ist 
nach  Jahresfrist  das  zweite  Heft  gefolgt.  Nach  einem  Vorwort  und 
einer  ausführlichen  Einleitung,  die  eine  kritische  Übersicht  über  die 
zur  Aufklärung  des  Dynastenproblems  in  den  letzten  Jahrhunderten 
erschienene  Literatur  gibt  und  namentlich  bei  A.  Schulte  und  v.  Dun- 
gern verweilt,  wendet  sich  Forst  zum  Thema  selbst.  Der  „Herren- 
stand" wird  nach  Begriff,  Erwerb,  Verlust,  Gliederung  und  Rechten 
genau  definiert.  Nach  Festlegung  der  Grenzen  des  Hochadels  gegen- 
über den  anderen  Ständen  wird  das  Quellenmaterial  besprochen, 
ebenso  die  daraus  sich  ergebenden  Kriterien,  die  die  Stellung  einer 
Familie  zu  erkennen  ermöglichen.  Eine  eingehende  Würdigung  kann 
erst  erfolgen,  wenn  mit  den  noch  zu  erwartenden  acht  Heften  die 
Belege  zu  den   Aufstellungen   des   Verfassers  gebracht  worden  sind. 

Marburg.  C.  Knetsch. 

Als  23.  Heft  der  Schriften  der  Wissenschaftlichen   Gesellschaft 

in    Straßburg    erschienen    „Elsässische    Urkundeu    vornehmlich    des 

13.  Jahrhunderts,  hrsgg.  von  Alfred   Hesse  1"  (Straßburg,  Trübner. 

1915.    74  S.  mit  1   Lichtdrucktafel).  —  Die  aus  den  Vorarbeiten  für 

den  2.  Bd.  der  Straßburger  Bischofsregesten  entstandene  Sammlung 

bringt  aus  den  Jahren  1212 — 1308  etwa  50  Urkunden,  die  bisher  un- 

1  gedruckt  oder  nur  durch  Regest  bekannt  waren,  und  im  Anhang  päpst- 

!  liehe  und  bischöflich  bambergische  Urkunden  für  das  Kloster  Gengen- 

!  bach  aus  den  Jahren  1 139-46.    Über  die  landesgeschichtliche  Bedeutung 

•  hinaus  verdient   die   kleine  Sammlung   auch  wegen   einzelner  rechts- 

j  und  verfassungsgeschichtlich  wichtiger  Stücke  Beachtung.   Gerade  des- 

I  halb  ist  zu  bedauern,  daß  der  Herausgeber,  dem  wir  für  vielfach  förder- 

I  liehe  Anmerkungen  (zu  S.  9  Anm.  1  vgl.  Stutz  in  der  Zeitschrift  der 

j  Savigny-Stiftung,  German.  Abt.  36  [1915],  608)  und  ein  Verzeichnis 

'.  der  geographischen  und  der  Personennamen  zu  danken  haben,  nicht 

auch  ein  Wort-  und  Sachregister  ausgearbeitet  hat. 

Neue  Bücher:  Blümlein,  Bilder  aus  dem  römisch-germanischen 
Kulturleben.  (München,  Oldenbourg.  5  M.)  —  Muller,  Regesten  van 
het  ar Chief  der  bisschoppen  van  Utrecht  {722 — 1528).    Dl.  I.    (Utrecht, 


362  Notizen  und  Nachrichten. 

Oosthoek.  3,5  FL) —  Gaffrey,  Die  augustinische  Geschichtsanschauung 
im  über  ad  amicum  des  Bischofs  Bonitho  v.  Sutri.  (Langensalza,  Wendt 
<S  Klauwell.  3  M.)  —  Hoppe,  Markgraf  Konrad  von  Meißen,  der 
Reichsfürst  und  der  Gründer  des  wettinischen  Staates.  (Dresden, 
Buchdr.  d.  v.  Baensch-Stiftung.  2  M.)  —  Peitz,  Untersuchungen 
zu  Urkundenfälschungen  des  Mittelalters.  1.  Teil:  Die  Hamburger 
Fälschungen.  (Freiburg  i.  B.,  Herder.  25  M.)  —  v.  Gl  eichen -Ruß- 
wurm, Der  Ritterspiegel.  Geschichte  der  vornehmen  Welt  im  roma- 
nischen Mittelalter.  (Stuttgart,  Hoffmann.  11  M.)  —  Gosses,  De 
rechterlijke  organisatie  van  Zeeland  in  de  middeleeuwen.  {Groningen, 
Den  Haag,  Wolters,    5,25  Fl) 


Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

Andre  Simon  (Licencie  en  Theologie),  Vordre  des  Penitentes  de 
Ste.  Marie-Madeleine  en  Allemagne  au  XI IP  siede.  (Fribourg,  librairie 
de  rOeuvre  de  Sainte  Paul.  1918.  XXV  u.  289  S.)  —  Diese  ausgezeich- 
nete theologische  Doktorschrift  eines  Schülers  des  Dominikaners  Man- 
donnet  lehrt  uns  die  Entwicklung  und  verfassungsmäßige  Gestaltung 
des  noch  wenig  bekannten,  1227  in  Deutschland  entstandenan  Ordens 
der  „Reuerinnen"  (auch  Magdalenerinnen,  Weißfrauen),  der  es  als  die 
lebensvollste  Organisation  der  büßenden  gefallenen  Frauen  im  13.  Jahr- 
hundert auf  49  Konvente  brachte,  besonders  in  Städten  des  Westens 
und  Südens,  aber  auch  in  Thüringen,  Böhmen  und  anderwärts.  Die 
Wiederaufhebung  der  zeitweiligen  Unterstellung  unter  den  Domini- 
kanerorden (1286 — 88)  durch  Nikolaus  IV.  gereichte  den  Frauen  nicht 
zum  Besten.  Der  Anhang  enthält  auf  135  Seiten  besonders  die  Satzung 
der  Dominikanerinnen  zu  Rom  von  1232  und  die  der  Reuerinnen  in 
kritischer  Ausgabe,  außerdem  194  Urkunden  bzw.  Regesten. 

K.  Wenck. 

Hermann  Krabbo  veröffentlicht  in  den  Forschungen  zur  Bran- 
denburgischen und  Preußischen  Geschichte  31,2  eine  Untersuchung 
über  die  Erwerbung  der  Oberlausitz  durch  die  askanischen  Markgrafen 
von  Brandenburg.  Wenn  man  von  der  Zuweisung  eines  nicht  näher 
bekannten  Pfandbesitzes  durch  König  Wenzel  I.  von  Böhmen  im 
Jahre  1233  absieht,  der  nur  eine  Mitgift  sicherstellen  sollte,  so  er- 
geben sich  für  den  Übergang  zwei  entscheidende  Jahre:  1262  und  1283. 
Im  ersteren  wird  Markgraf  Otto  III.  von  Brandenburg  durch  Otto- 
kar II.  mit  der  Oberlausitz  belehnt,  im  Jahre  1283  verzichtet  König 
Wenzel  II.  auf  die  lehnsherrliche  Hoheit,  so  daß  das  brandenburgische 
Askaniergeschlecht  die  Oberlausitz  nun  bis  zu  seinem  Aussterben  als 
reichsunmittelbares  Lehen  besessen  hat. 


späteres  Mittelalter.  363 

Die  mit  einigen  Urkundenbeilagen  ausgestattete  Untersuchung 
von  Martin  Wutte  über  die  Erwerbung  der  Görzer  Besitzungen  durch 
das  Haus  Habsburg  (Mitteilungen  des  Instituts  für  österr.  Geschichts- 
forschung 28,  2)  behandelt  die  schrittweise  Verwirklichung  dieser 
über  nahezu  anderthalb  Jahrhunderte  sich  hinziehenden  Pläne.  Sie 
nehmen  ihren  Anfang  von  dem  Zeitpunkt,  da  Herzog  Albrecht  II. 
von  Österreich  die  Erwerbung  Tirols  ins  Auge  gefaßt  hatte,  weil  die- 
selbe nur  gelingen  und  von  Dauer  sein  konnte,  wenn  durch  den  Görzer 
Besitz  in  Oberkärnten  und  im  Pustertal  eine  unmittelbare  Verbindung 
mit  den  habsburgischen  Landen  erzielt  wurde,  und  sie  nehmen  greif- 
bare Gestalt  an  mit  Rudolf  IV.,  da  unter  ihm  der  erste  Schritt  zur 
Erwerbung  eines  Teiles  vom  Görzer  Besitz  getan  wird.  Die  Erbeini- 
gung vom  Juli  1394  schafft  dann  die  Grundlage  für  den  Gewinn  des 
Hauptbesitzes,  doch  hat  erst  der  Tod  des  Grafen  Leonhard  im  April 
1500  die  Frage  endgültig  zum  Abschluß  gebracht. 

In  der  Vierteljahrschrift  für  Geschichte  und  Landeskunde  Vor- 
arlbergs N.  F.  1,  1  u.  2  sucht  A.  Helbok  ein  schon  von  Laßberg  und 
Liliencron  veröffentlichtes  Spottgedicht  auf  die  vergebliche  Belagerung 
Feldkirchs  durch  die  Truppen  Ludwigs  des  Baiern  (1345 — 1346),  das 
er  nochmals  zum  Abdruck  bringt,  in  den  historischen  Zusammenhang 
einzuordnen  und  die  Frage  der  Verfasserschaft  zu  lösen.  Als  Verfasser 
betrachtet  er  einen  vielleicht  aus  dem  Rheintal  stammenden  Laien, 
der  mit  dem  Gang  der  Reichspolitik  wie  auch  mit  dem  Charakter  des 
Kaisers  und  seinen  Schwächen  wohl  vertraut  ist.  —  In  Heft  3  u.  4 
des  Jahrgangs  steuert  noch  Alois  Reich  einige  dem  Verständnis  des 
Gerichts  dienende  Bemerkungen  bei. 

Über  die  ortsgeschichtliche  Bedeutung  geht  erheblich  hinaus  und 
ist  deshalb  an  dieser  Stelle  zu  erwähnen  die  auch  ungedrucktes  Material 
verwertende  Abhandlung  von  Albrecht  Schäfer  über  die  Orden  des 
hl.  Franz  in  Württemberg  von  1350 — 1517,  eine  Fortsetzung  seiner 
Dissertation,  die  den  Zeitraum  bis  zum  Ausgang  Ludwigs  des  Baiern 
behandelt.  Bisher  sind  in  den  Blättern  für  württembergische  Kirchen- 
geschichte 1919,  1  aus  dem  ersten  Abschnitt,  dem  Jahrhundert  der 
Barfüßer  (1350 — 1445),  zwei  Kapitel  behandelt,  die  sich  mit  dem 
Zerfall  der  Disziplin  und  Sittlichkeit  und  der  Armutfrage  beschäf- 
tigen. 

Die  Darlegungen  von  Joseph  Neuwirth  über  die  Beziehungen 
des  Graudenzer  Altarwerks  der  Marienburg  zur  altböhmischen  Malerei 
(Mitteilungen  des  Vereines  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen 
56,  3)  liefern  über  das  eigentliche  Thema  hinaus  lehrreiche  Zeugnisse 
für  die  mannigfaltigen,  dem  späteren  Mittelalter  angehörenden  Be- 
ziehungen des  Deutschen  Ordens  zu  Böhmen. 


364  Notizen  und  Nachrichten. 

H.  J.  Smit  veröffentlicht  in  den  Bijdragen  en  mededeelingen  van 
het  historisch  genootschap  38  (1917),  1  ff.  die  sehr  viele  Einzelheiten 
vermittelnden  Einträge  der  im  Reichsarchiv  zu  Haag  erhaltenen  Re- 
gister über  die  Erhebung  des  Bierzolls  zu  Amsterdam  in  den  Jahren 
1352—54  und  1364—66,  die  sich  für  die  Kenntnis  der  Schiffahrtsent- 
wicklung in  Nordholland  und  Friesland  und  für  die  Handelsbeziehungen 
mit  Hamburg  als  sehr  belangreich  erweisen.  Gute  Register  erhöhen 
den  Wert  der  umfangreichen  Veröffentlichung. 

Einen  hübschen  kleinen  Beitrag  zur  Kulturgeschichte  des  späteren 
Mittelalters  bildet  die  von  K.  Sudhoff  veröffentlichte  Gesundheits- 
regel eines  Magisters  Henricus  de  Rodestock,  die  sich  in  einer  etwa 
1360  entstandenen  Handschrift  der  Breslauer  Universitätsbibliothek 
findet  (Mitteilungen  für  Geschichte  der  Medizin  und  der  Naturwissen- 
schaften 18,  1—2). 

Unter  eingehender  Prüfung  der  urkundlichen  Überlieferung  und 
der  Geschichtschreibung  (Engelbert  Wusterwitz!)  schildert  Julius 
V.  Pflugk-Harttung  in  den  Forschungen  zur  Brandenburgischen 
und  Preußischen  Geschichte  29,2  u.  31,2  die  Umstände,  unter  denen 
die  brandenburgische  Markgrafen-  und  Kurfürstenwürde  dem  Hause 
Hohenzollern  zugefallen  ist.  Die  widerspruchsvolle,  der  Stetigkeit  er- 
mangelnde Haltung  König  Sigmunds  wie  die  entschlossene,  selbstische 
Politik  Friedrichs  I.  treten  dabei  in  helles  Licht. 

Aug.  Neu  mann  stellt  in  den  Franziskanischen  Studien  1919, 
April  die  nicht  eben  reichlichen  Nachrichten  über  Wilhelm  von  Cöln 
(1393 — 1482)  zusammen.  Prior  des  Augustinerklosters  zu  Brunn,  dann 
nach  längerem,  mehr  als  ein  Jahrzehnt  dauernden  römischen  Aufent- 
halt Suffraganbischof  von  Olmütz,  ist  der  Genannte  namentlich  als 
Freund  und  Dolmetsch  des  Johann  von  Capistrano  zu  erwähnen. 

Ignaz  Zibermayr,  Die  Legation  des  Kardinals  Nikolaus  CusanuS 
und  die  Ordensreform  in  der  Kirchenprovinz  Salzburg  (=  Reforma- 
tionsgeschichtliche Studien  und  Texte,  hrsgg.  von  Joseph  Greving, 
Heft  29).  (Münster  i.  W.,  Aschendorff.  1914.  XVII  u.  128  S.  3,75  M.) 
—  Zibermayr  baut  seine  Darstellung  auf  einer  breiten  Grundlage  auf, 
indem  er  zuerst  die  gesamte  Tätigkeit  des  Legaten,  der  ja  in  erster 
Linie  als  Verkündiger  des  Jubelablasses  nach  Deutschland  kam,  in 
der  Kirchenprovirtz  Salzburg  schildert,  und  dann  insbesondere  seine 
ordensreformerische  Tätigkeit  in  Zusammenhang  mit  den  auf  diesem 
Gebiete  vorausgehenden  und  parallellaufenden  Bestrebungen  und  mit 
der  folgenden  Entwicklung  bis  in  die  Zeit  des  Humanismus  und  der 
Reformation  hinein  bringt  und  so  eine  gerechte  Würdigung  ermöglicht. 
Für  den  Benediktinerorden  ergibt  sich  als  Ausgangspunkt  die  Neu- 
besetzung des  Klosters  Subiaco  durch  deutsche  Mönche  im  Jahre  1364 


Späteres  Mittelalter.  365 

und  die  Übertragung  der  dort  erneuerten  strengen  Ordenszucht  zu- 
nächst auf  die  Konvente  von  Melk  und  bei  den  Schotten  in  Wien, 
für  die  Augustinerchorherrn  die  Gründung  des  Klosters  Raudnitz  an 
der  Elbe  im  Jahre  1333,  an  dessen  Stelle  dann  Wittingau  in  Südböhmen 
trat,  von  wo  aus  die  Reformbewegung  nach  dem  Kloster  Dürnstein 
an  der  Donau  und  St.  Dorothea  in  Wien  drang.  Im  Benediktiner- 
orden  und  bei  den  Augustinerchorherren  fand  Cusanus  wohl  vorberei- 
teten Boden.  Er  bezog  aber  auch  die  Zisterzienserklöster  mit  ein. 
Für  die  einzelnen  Orden  ernannte  er  Visitatoren,  die  die  Klöster  ein- 
zeln untersuchen  und  reformieren  sollten.  Zibermayr  schildert  ihr 
Vorgehen,  die  Zustände,  die  sie  vorfanden,  die  Erfolge,  die  sie  erzielten. 
Die  Reform  der  Zisterzienserklöster  kam  bei  der  eigentümlichen  Selb- 
ständigkeit und  Abgeschlossenheit  des  Ordens  nicht  vorwärts.  Ur- 
kundliche Beilagen  und  ein  Itinerar  des  Legaten  von  seiner  Abreise 
aus  Rom  am  31.  Dez.  1451  an  bis  Ende  1452  beschließen  die  fleißige, 
sorgfältige  und  klare  Arbeit.  Es  finden  sich  auch  treffliche  Einzel- 
bemerkungen, z.  B.  S.  3  u.  45  über  die  kluge  Ausnutzung  der  nach 
dem  Baseler  Konzil  in  den  reformerisch  gerichteten  Kreisen  zurück- 
gebliebenen Stimmung.  O.  Giemen. 

Die  Forschungen  und  Mitteilungen  zur  Geschichte  Tirols  und 
Vorarlbergs  14,  3  u.  4  bringen  aus  dem  Nachlaß  von  Ludwig 
Schön  ach  in  zahlreichen  Urkundenauszügen  aus  dem  Zeitraum  von 
1430 — 1488  neue  Belege  für  das  je  länger  je  mehr  zu  einer  ernsthaften 
Gefahr  für  die  ordentliche  Rechtsprechung  sich  entwickelnde  Eingreifen 
der  Femgerichte  in  weitabgelegenen  Gebieten,  in  diesem  Fall  im  tiro- 
lischen Hochgebirge. 

Ein  Aufsatz  von  Georg  Hertzog,  Friedrich  I.  der  Siegreiche, 
Kurfürst  von  der  Pfalz,  nach  zeitgenössischen  Schriften  (Mitteilungen 
des  Historischen  Vereins  der  Pfalz  37 — 38,  1918)  beschränkt  sich  auf 
lose  aneinandergereihte  Auszüge  aus  den  Chroniken  des  Matthias  von 
■  Kemnat,  Michael  Beheim  und  Eikhart  Artzt.  Der  Versuch  einer  kriti- 
schen Würdigung  ist  nicht  gemacht. 

Nach    Aufzeichnungen    im    Posener    Staatsarchiv    veröffentlicht 
Adolf  Kunkel  —  in  freilich  nicht  ganz  einwandfreier  Form  —  Pro- 
tokolle  über   Gnesener   Hussitenverhöre,  die   unter  dem   Vorsitz  des 
1  bischöflichen    Generalvikars,   des   dem   polnischen    Geschichtschreiber 
Dlugosz  eng  verbundenen  Sedziwoj  Czechelski,  in  den  Jahren  1450 — 52 
i  stattgefunden    haben    (Mitteilungen    des    Instituts   für   österreichische 
i  Geschichtsforschung  28,  2). 

!  Woldemar  v.  Seidlitz  widmet  in  der  Deutschen  Rundschau  1919, 

j  Mai  Leonardo  da  Vinci  einen  zusammenfassenden  Artikel,  in  dem  vor- 
1  nehmlich  die  neuen  Ergebnisse  der  in  den  letzten  zehn  Jahren  ver- 

Historlsche  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  24 


366  Notizen  und  Nachrichten. 

öffentlichten  Arbeiten  hervorgehoben  sind.  Neben  der  vollständigen 
Ausgabe  seiner  Schriften  wird  eine  kurze  volkstümliche  Auswahl  ge- 
fordert, um  die  von  ihm  ausgehende  anregende  Kraft  noch  zu  steigern. 
PI.  Butler  veröffentlicht  und  erläutert  in  den  Mitteilungen  zur 
Vaterländischen  Geschichte,  hrsgg.  vom  Historischen  Verein  in  St, 
Gallen  34,  141  ff.  die  auf  tagebuchartigen  Aufzeichnungen  beruhende 
Wiler  Chronik  des  Schwaben kriegs,  die  seiner  Ansicht  nach  von  Ulrich 
Huber,  gen.  Rüegger,  abgefaßt  ist  und  sich  durch  unbedingte  Zuver- 
lässigkeit auch  der  auf  entfernterem  Schauplatz  stattgehabten  Ereig- 
nisse auszeichnet. 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648). 

Ein  großer  Geist  ist  es  nicht,  dem  Fr.  Zoepfl  in  Grevings  „Re- 
formationsgeschichtlichen Studien  und  Texten"  eine  Monographie  wid- 
met: Johannes  Altenstaig,  ein  Gelehrtenleben  aus  der  Zeit  des  Huma- 
nismus und  der  Reformation  (VH  u.  72  S.  Münster,  Aschendorff.  1917. 
2  M.).  —  Aus  Mindelheim  gebürtig,  studierte  Altenstaig  in  Tübingen, 
war  Lehrer  in  Fölling,  Kaplan  in  Mindelheim,  wo  er  wahrscheinlich 
1525  starb.  Sein  Freundeskreis  wird  unter  Beifügung  dankenswerter 
biographischer  Notizen  gekennzeichnet,  seine  Schriften,  darunter  ein 
Vokabularius  und  ein  Kommentar  zu  H.  Bebeis  „triumphus  Veneris"' 
beschrieben.    Zur  Reformation  stand  er  ablehnend.  W.  K. 

Die  „Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Reformation  1500  bis 
1648"  von  A.  Reimann  (Berlin,  G.  Reimer.  1917.  343  S.  6  M., 
geb.  7,25  M.)  ist  eine  gediegene  Leistung,  wohl  speziell  für  den  höheren 
Schulunterricht  gearbeitet  und  dazu  auch  zweckdienlich.  Verfasser 
hat  die  Literatur  sorgfältig  durchgearbeitet  und  stellt  gut  dar.  Die 
Disposition  ist  die  übliche,  aber  der  Wert  eines  solchen  Buches  kann 
auch  nicht  in  Neuem,  sondern  in  selbständiger  Verarbeitung  des  Alten 
liegen.  Das  wird  geleistet.  Daß  das  Politische  stark  hervortritt,  ist 
keine  Schade.  Einige  Unebenheiten  auf  theologischem  Gebiete  wird 
man  verzeihen;  z.  B.  die  Darstellung  des  Nominalismus  S.  31  ff.  mit 
B.  V.  Clairvaux  als  „philosophischem  Theologen"  ist  mißglückt;  eine 
Aussöhnung  des  Wissens  mit  dem  Glauben  hat  der  Nominalismus 
gerade  nicht  erstrebt,  sondern  die  Trennung.  „Tat"  (S.  48)  darf  man 
Erasmus  nicht  zuschreiben,  die  hat  ihm  gefehlt.  Auch  die  Ablaßlehre 
(S.  77ff.)  ist  ungenau  dargestellt:  es  ist  nicht  richtig,  daß  man  die 
Fegefeuer-  und  Kirchenstrafen  durch  einen  Ablaßbrief  „einfach  ab- 
kaufen" konnte.  Daß  Luther  in  der  Frage  der  landgräflichen  Doppel- 
ehe endlich  einmal  als  Politiker  habe  handeln  wollen,  ist  falsch  (vgl. 
meine  Schrift:  Luther  und  die  Lüge.  1912).  Besondere  Anerkennung 
verdient  die  eingehende  Darstellung  der  Gegenreformation.  W.Köhler. 


Reformation  und  Gegenretormation  (1500 — 1648).  367 

Ein  wenig  schülerhaft  behandelt  H.  Ernst  „die  Frömmigkeit 
des  Erasmus".  Er  faßt  ihn  als  Vertreter  eines  von  der  platonisch- 
stoischen Philosophie  beeinflußten,  biblisch  begründeten,  moralistisch 
gerichteten  Christentums  und  führt  das  durch  die  Einzelpunkte  der 
Dogmatik  durch.  Daß  es  aber  „falsch"  sei,  die  Frömmigkeit  des  Eras- 
mus  als  antisupranaturalistisch  zu  bezeichnen,  ist  eine  bloße  Behaup- 
tung, die  Ernst  nicht  bewiesen  hat.  (Theol.  Stud.  u.  Kritiken.  1919. 
Heft  1.) 

Einen  sehr  glücklichen  Wurf  hat  das  Bibliographische  Institut 
in  Leipzig  mit  seinen  „Luthers  Werken,  hrsgg.  von  A.  E.  Berger", 
3  Bde.  (361,  383,  408  S.  1917.  Geb.  8,10  M.)  getan.  Der  Philologe 
bietet  den  Originaltext  in  kräftiger,  aber  richtiger  Polemik  gegen  „das 
Kauderwelsch  der  Erlanger  Ausgabe",  gibt  aber  in  den  Noten  sehr 
reichliche  Erklärungen  bei  und  am  Schluß  ein  Wörterverzeichnis. 
Dem  Charakter  der  Klassikerausgaben  entsprechend  sind  nur  deutsche 
Schriften  aufgenommen  bis  1539  und  in  Auswahl,  die  aber  eine  vor- 
treffliche ist.  Jede  Schrift  erhält  ihre  besondere  Einleitung,  und  dem 
Ganzen  ist  eine  Lutherbiographie  vorausgeschickt.  Leider  ist  sie  und 
ebenso  die  an  den  Schluß  des  dritten  Bandes  —  sie  hätten  besser  unter 
den  Text  gehört  —  gestellte  Sammlung  sachlicher  Anmerkungen  stark 
persönlich  gehalten.  Die  Reformation  wird  als  „eine  langsam  sich 
vollendende  Besinnung  der  deutschen  Seele  auf  die  ihr  wesenseigen- 
tümlichen Gedanken  von  Gott,  vom  Menschen  und  vom  Sinn  des 
Lebens"  gewertet.  Das  ist  geschichtsphilosophisch  mehr  als  anfechtbar, 
aber  zum  Glück  hängt  die  Güte  dieser  dreibändigen  Lutherausgabe 
nicht  an  dieser  Konstruktion.  W.  Köhler. 

I  Das   Buch  von   A.  V.  Müller,   „Luther  und  Tauler  auf  ihren 

theologischen  Zusammenhang  neu   untersucht"   (Bern,   Wyss.     1918. 
168  S.)  ist  gedacht  als  Vorstudie  zu  einem  größeren  Werke  über  „den 
I  Augustinismus  des  Mittelalters  und  Luther",  das  die  Existenz  einer 
I  mittelalterlichen  augustinischen  Schule  erweisen  will,  die  die  reforma- 
I  torischen  Gedanken,  wie  etwa  das  sola  fide,  schon  geboten  habe.    Der 
'  Mystiker  Tauler  soll  nun  zum  großen  Teile  auch  auf  dem  Boden  jener 
i  „alten  Theologie"  stehen,  also  wesentlich  Augustinist  sein   und  als 
!  solcher  auf  Luther  wirken.    Müller  sucht  für  die  Hauptpunkte  der 
I  ältesten   Theologie   Luthers   das   Vorhandensein   der    Grundgedanken 
schon  bei  Tauler  zu  erweisen.    Die  reichliche  Sammlung  von  Tauler- 
zitaten ist  dabei  von  hohem  Wert,  sehr  viel  Augustinisches  ist  auch 
darin,  oder  wo  wäre  das  im  Mittelalter  nicht?  Damit  kann  die  Grund- 
I  Stimmung  hüben  und  drüben  doch  eine  andere  sein  und  ist  es  auch 
gewesen,  da  Tauler  seinen  Augustinismus  stark  scholastisch  (Thomas 
v.  Aquino)  umkleidet,  Luther  aber  nicht.    Auf  alle  Fälle  geht  es  viel 

24* 


368  Notizen  und  Nachrichten. 

zu  weit,  wenn  Müller  die  zweifellos  vorhandenen  Parallelen  zwischen 
Luther  und  Tauler  sofort  in  Abhängigkeit  verwandelt.  Um  diese  fest- 
zustellen, bedürfte  es  weit  eingehenderer  Begründung,  vorab  des  Nach- 
weises, daß  die  betreffenden  Gedanken  Luther  nicht  schon  vorher 
bekannt  waren.  Wenn  die  Lutherforschung  gegenwärtig  der  Einfluß 
Taulers  auf  Luther  nicht  allzu  hoch  einschätzt,  so  hat  sie  nach  Er- 
scheinen des  Buches  von  Müller  noch  keine  Ursache,  ihr  Urteil  zu 
ändern;  sie  wird  nur  dankbar  das  beigebrachte  Material  nutzen. 

W.  Köhler. 

Auf  eine  Ungenauigkeit  in  der  Notiz  Bd.  119,  S.  339  (oben) 
macht  uns  Herr  A.  V.  Müller  aufmerksam.  Daß  das  erzwungene 
Gelübde  kirchenrechtlich  gültig  war,  hat  W.  Köhler  nicht 
schon  vor  Müller  betont,  vielmehr  nur,  daß  es  Luther  moralisch 
verpflichtete.  Scheel  hatte  die  moralische  und  kirchenrechtliche 
Freiheit  Luthers  von  dem  Gelübde  behauptet. 

Die  Studie  von  N.  Bonwetsch:  „Rom.  7,  14ff.  in  der  alten 
Kirche  und  in  Luthers  Vorlesungen  über  den  Römerbrief"  (Neue 
kirchl.  Zeitschr.  Bd.  30)  gibt  einen  dankenswerten  Beitrag  zu  der  in 
der  Theologie  zurzeit  viel  verhandelten  Frage,  ob  Paulus  an  jener 
Stelle  seinen  eigenen  Christenstand  schildere  (was  das  Abendland  und 
mit  ihm  Luther  behauptete)  oder  nicht  (so  die  griechischen  Theo- 
logen). 

Zur  Säkularfeier  der  Zürcher  Reformation  haben  die  ,,Zwing- 
liana"  (Verlag  Berichthaus  Zürich,  Redaktion:  G.  Meyer  v.  Knonau 
und  W.  Köhler)  eine  größere  Festnummer  herausgegeben,  deren  Auf- 
sätze zum  Teil  über  den  lokalen  Rahmen  hinausgehen.  O.  Farner 
gibt  eine  einleitende  Charakteristik  über  „Zwingli  und  sein  Werk", 
Abhängigkeit  von  Luther  und  Eigenart  ihm  gegenüber  gut  heraus- 
arbeitend; der  kritische  Punkt  ist  natürlich  die  beiderseitige  Stellung 
zur  Politik.  A.  Eekhof  in  Leiden  handelt  über  „Zwingli  in  Holland" 
und  überrascht  durch  die  Fülle  der  Mitteilungen  über  die  Wirkungen 
Zwingiis  auf  dieses  Land.  K.  Gauß  stellt  die  Beziehungen  Zwingiis 
zu  den  Pfarrern  des  Baselgebiets  zusammen,  und  Meyer  v.  Knonau 
referiert  über  die  erste  Lieferung  der  Aktensammlung  zur  Geschichte 
der  Berner  Reformation  von  Steck  und  Tobler.  Ed.  Bernoulli  hat 
in  einem  medizinischen  Bande  der  Zentralbibliothek  Zürich  zwei  vier- 
stimmige Sätze  des  Kappeler-Liedes  Zwingiis  entdeckt.  Man  kannte 
den  von  Bullinger  erwähnten  vierstimmigen  Satz  bisher  nicht;  mög- 
licherweise ist  Zwingli  selbst  der  Komponist.  W.  Köhler  macht  auf- 
merksam auf  eine  Notiz  des  Konstanzers  G.  Mangold  über  einen  Stu- 
dienaufenthalt Zwingiis  in  Paris,  erörtert  die  Möglichkeit  desselben 
und  unterstreicht,  daß  Zwingli  auf  alle  Fälle  ein  Schüler  der  Pariser 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648).  369 

Schule,  d.  h.  der  via  antiqua  war.  Das  Glanzstück  der  Festnummer, 
I  methodisch  programmatisch  wirkend,  bildet  der  Aufsatz  von  Joh. 
Ficker  über  Zwingiis  Bildnis.  Es  wird  das  im  Winterthurer  Museum 
befindliche  Bild  von  Hans  Asper  als  ältestes  Zwingliporträt  erwiesen. 
G.  Anrieh  und  Th.  Häring  berichten  über  die  Zwinglifeier  in  Straß- 
burg und  Tübingen  1819,  und  Helen  Wild  schließt  mit  einer  eingehen- 
den Darstellung  des  Zürcher  Reformationsjubiläums  von  1819. 

Die  Studie  von  Rudolf  Reuß,  „La  reforme  ä  Strasbourg  1525 — 
^550"  {Bulletin  de   la  societe  de  l'histoire  du  protestantisme  frangais, 
Okt.-Dez.  1918)  führt  über  den  Bauernkrieg,  den  Abendmahlstreit  und 
Augsburger  Reichstag  hinüber  zu  einer  Darstellung  des  weitherzigen 
I  und  freien   Geistes  von   Obrigkeit  und   Geistlichkeit.    Das  bekannte 
I  Bild  wird  nicht  wesentlich  geändert,  aber  durch  zahlreiche  Einzelzüge 
j  belebt.    Daß  gerade  diese  Studie  das  Heft  eröffnet,  ist  natürlich  Ab- 
i  sieht;  eine  Ungezogenheit  aber  bleibt  es,  daß  der  Redakteur,  N.  Weiß, 
I  in  einer  Fußnote  den  (streng  sachlich  verfahrenden)  Verfasser  öffent- 
i  lieh  beglückwünscht,  daß  er,  der  seine  drei  Söhne  im  Kriege  verlor, 
endlich  sehen  durfte  „le  jour  tant  attendu  de  la  justice  et  de  la  liberti, 
le  retour  de  VAlsace  ä  la  France''.    Derartiges  verbitten  wir  uns  für 
ein  wissenschaftliches  Organ!  —  G.  de  Pourtales  setzt  ebenda  seine 
Studie  über  Odet  de  la  Noue  fort  und  bietet  am  Schluß  eine  Biblio- 
graphie seiner  Werke.  W.  K. 

Th.  Trenkle  hat  im  Münchener  Reichsarchiv  das  Original  des 
Lutherbriefes  an  den  Rat  von  Regensburg  vom  8.  Mai  1528  (=  Enders 
5,  Nr.  922)  wieder  entdeckt.  (Beiträge  zur  bayer.  Kirchengeschichte 
25,  78.) 


Die   Bibliothek  des   Petrus  Martyr   Vermigli   kam  nach  seinem 
I  Tode  1562  in  den   Besitz  seines  Landsmannes  Giulio  Santerenziano, 
:  1565  äußerte  Th.  Beza  Bullinger  gegenüber  den  Wunsch  sie  zu  kaufen, 
(  aber  der  schließliche  Käufer  wurde  der  Rat  von  Genf,  der  sie  der  1560 
i  von  Calvin  begründeten  Bibliothek  der  Akademie  einverleibte.   Obwohl 
i  einiges  daraus  verschleudert  wurde,  gelang  es  Fr.  Gardy  noch   170 
I  Bücher  zusammenzubringen,  von  denen  einige  ehedem  dem  Straßburger 
I  Jak.  Bedrotus  gehörten.    („Les  livres  de  Pierre  Martyr  Vermigli  con- 
j  serves  ä  la  bibliothtque  de  Geneve'\  Anzeiger  für  schweizer.  Geschichte 
150,  Nr.  1.)  —  Ebenda  veröffentlicht  M.   Scherrer  die  verloren  ge- 
glaubte   Kampfschrift   Thomas   Murners,    „Des   alten   christl.    Bären 
Testament",  von  der  jetzt  vier  Exemplare  bekannt  sind.    Die  gegen 
die  Berner  Disputation  von  1528  gerichtete  Schrift  aus  den  Sommer- 
\  monaten  dieses  Jahres  ist,  wie  ein  beigegebener  Kommentar  und  eine 
l^ute  Einleitung  erweisen,  zwar  formell  nicht  auf  der  Höhe  Murner- 


370  Notizen  und  Nachrichten. 

sehen  Schaffens,  aber  inhaltlich  ein  lebhafter  Protest  gegen  die  Glau- 
bensspaltung. 

Dem  von  K.  Müller  gleichsam  wieder  entdeckten  Jak.  Acontius 
widmet  Ad.  Matthaei  in  der  Neuen  kirchl.  Zeitschr.  1919,  H.  6  eine 
Studie,  die  aber  noch  der  Vertiefung  bedarf  und  nicht  allenthalben 
überzeugend  wirkt.  Z.  B.  ist  ein  Verdacht  auf  Antitrinitarismus  und 
Täufertum  nicht  abzuweisen,  die  von  Acontius  gebotenen  Formeln 
schillern.  Seine  Toleranz  will  übrigens  nur  Toleranz,  pax  consensusque 
auf  christlichem  Boden,  nicht  die  allgemeine  bürgerliche  Toleranz. 
Wichtig  ist  die  Unterscheidung  zwischen  Wesentlichem  und  Unwesent- 
lichem in  den  Glaubensfragen;  sie  ist  übrigens  schon  bei  Bucer  und 
Zwingli  zu  finden.  Das  Referat  von  Matthaei  schließt  sich  an  Acon- 
tius' Hauptwerk  ,,Satanae  Stratagemata"  an.  W.  K. 

Unter  Benutzung  unbekannter  Quellen  handelt  G.  Castella  in 
den  ,, Annales  Fribourgeoises''  1919  Nr.  3  über  „r Intervention  de  Fri^ 
bourg  lors  de  la  conquke  du  pays  de  Vaud,  jouvier-jivrier  1536''.  Frei- 
burg, das  die  Umklammerung  durch  das  das  Wallis  erobernde  Bern 
fürchtete,  verhandelte  nach  beiden  Seiten,  mit  Bern  und  Savoyen, 
um  schließlich  einige  Walliser  Orte  zu  okkupieren,  die  es  auch  1577 
beim  Bündnisse  mit  Savoyen  nicht  herausgab. 

Unter  dem  Titel  „Some  old  unpublished  letters"  macht  Preserved 
Smith  Mitteilung  von  einigen  unbekannten  Reformatorenbriefen  aus 
der  Sammlung  von  F.  A.  Dreer,  jetzt  im  Besitz  der  Pennsylvania  Hi- 
storical  Society  in  Philadelphia.  Es  befinden  sich  darunter  ein  Brief 
Hedios  an  Philipp  v.  Hessen  über  den  Tod  Luthers  1546,  ein  Brief 
Farels  an  Calvin  1551,  Melanchthons  an  Joh.  Petreius  1555.  Der 
Verfasser  verbindet  damit  Notizen  über  einige  Bücher  aus  Luthers 
und  Melanchthons  Bibliothek  (z.  B.  einen  Homer,  den  Melanchthon 
1519  Luther  schenkte),  die  sich  im  Besitze  von  G.  A.  Plimpton  in 
New  York  befinden.    (Harvard  theolog.  Review  Bd.  12.) 

Der  7.  Bd.  der  Augsburger  Chroniken  (=  Die  Chroniken 
der  deutschen  Städte  vom  14.— 16.  Jahrhundert,  Bd.  XXXIl) 
(Leipzig,  Hirzel,  1917.  CXLIV  u.  589  S.)  enthält  in  der  gründlichen 
Bearbeitung  von  Friedrich  Roth,  dem  kundigen  Geschichtschreiber 
Augsburgs  im  Reformationszeitalter,  die  Veröffentlichung  der  von 
Paul  Hektor  Mair  verfaßten  Fortsetzung  der  Langenmantelschen 
Chronik  für  die  Jahre  1548—1563  bzw.  1565.  Unzweifelhaft  das  Inter- 
essanteste an  dieser  Publikation  ist  die  biographische  Einleitung,  in 
der  uns  der  Herausgeber  ein  auf  breiter  kultureller  Grundlage  auf- 
gebautes Lebensbild  des  Verfassers  dieser  Chronik  entwirft:  Mair, 
nach  außen  hin  im  Urteil  seiner  Mitbürger  ein  hochangesehener,  all- 
gemein geachteter  Bürger  und  Diener  des  Augsburger  Rates,  war  in 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648).  371 

AVahrheit  ein  gemeiner  Betrüger,  der,  um  seine  Großmannssucht,  seinen 
Hang  zu  prunkvollem,  glänzendem  Auftreten  zu  befriedigen,  die  ihm 
anvertraute  Stadtkasse  jahraus  jahrein  durch  gefälschte  Buchungen 
um  große  Summen  geschädigt  und  deshalb  nach  mehr  als  vierzigjäh- 
riger Dienstzeit  den  schimpflichen  Tod  am  Galgen  gefunden  hat.    So 
sehr  der  Verfasser  sich  bemüht  hat,  die  tiefen  Widersprüche  und  Gegen- 
sätze im  Charakter  seines  „Helden"  klarzulegen,  es  bleibt  doch  noch 
manches  Rätsel  ungelöst:  die  salbungsvolle  Art  und  Weise,  wie  Mair 
sich  in  seinen  schriftlichen  Aufzeichnungen  über  die  Vergehen,  welche 
er  tagtäglich  begeht,  bei  anderen  aufs  tiefste  entrüstet,  hat  fast  etwas 
Pathologisches.    Merkwürdig  ist  auch  das  Verhalten  des  Rates  nach 
der  Entlarvung  des  Verbrechers:  zunächst  tut  man  nichts,  um  sein 
Entweichen  zu  verhindern,  nach  der  Verhaftung  jedoch  kehrt  man 
eine  solch  rücksichtslose  und  erbarmungslose  Strenge  hervor,  daß  fast 
der  Verdacht  auftaucht,  gewisse  Ratsmitglieder  hätten  hier  mehr  zu 
verbergen  als  bloße  Vernachlässigung  ihrer  Aufsichtspflichten;  muß  es 
doch  billig  in  Erstaunen  setzen,  daß  das  verschwenderische  Auftreten 
i  des  Stadtkassierers  niemals  den  Verdacht  seiner  vorgesetzten  Behörde 
i  erregt  hat,  daß  erst  untergeordnete  Organe  auf  die  Veruntreuungen 
I   aufmerksam  gemacht  haben.  —  Wenn  Roths  4.  Bd.  von  Augsburgs 
j  Reformationsgeschichte  (vgl.  meine  Besprechung  in  dieser  Zeitschrift 
I  Bd.  1 10  (1913)  S.  590—592),  der  einen  großen  Teil  der  in  Mairs  Chronik 
I  geschilderten    Ereignisse    behandelt,    noch   nicht   erschienen   gewesen 
wäre,  würde  unsere  Publikation  sehr  viel  mehr  Neues  bieten;  aber 
gleichwohl  bleibt  die  Veröffentlichung  recht  dankenswert,  nicht  nur 
;  wegen  der  zahlreichen   Einzelnachrichten,  welche  wir  zu  Augsburgs 
j  Lokalgeschichte  und  zur  Reichsgeschichte  während  jener  entscheiden- 
I  den   Jahre  erhalten,  sondern  auch  wegen  der  interessanten,  kultur- 
historisch bedeutsamen  Beilagen,  welche  der  Herausgeber  aus  Mairs 
i  handschriftlichem   Nachlaß  im  Anhang  beisteuerte,   und   die  er  mit 
!  seinen  auf  gründlichster  Kenntnis  aller  einschlägigen  Verhältnisse  be- 
j  ruhenden  erläuternden  Anmerkungen  versehen  hat;  ich  hebe  nur  her- 
I  vor  die  dankenswerte  biographische  Zusammenstellung  der  Mitglieder 
'  des  kleinen  und  großen  Rates,  welche  jedem  Forscher  zur  Personal- 
geschichte jener  Zeit  unschätzbares  Material  liefert  (Beilage   Nr.  III 
i  und  V);  ich  erinnere  an  Mairs  Aufzeichnungen  über  das  Zeremoniell 
j  bei    Reichstagen    und    Begrüßungen   von    Fürstlichkeiten   (Beilage    I 
I  und  VI)  und  besonders  an  die  beiden  auch  literarisch  und  kultur- 
'  historisch  höchst  bedeutsamen  Stücke  aus  der  Pamphletliteratur  gegen 
den  Mair  aus  recht  persönlichen  Gründen  tief  verhaßten  Bürgermeister 
Jakob  Herbrot;  gegen  die  auf  ein   Ratsdekret  vom  8.  VI.  1553  sich 
:   stützende  Annahme  von  Roth,  Nikolaus  Mameranus  sei  der  Verfasser 
dieses    Pasquills,  wendet  sich,  freilich   ohne   Namennennung   Roths, 


372  Notizen  und  Nachrichten. 

mit  guten  Gründen  Nikolaus  Didier:  „Nikolaus  Mameranus  (Freiburg 
1.  Br.  1915)  S.  84,  Anm.  24,  wo  auch  das  Ratsdekret  abgedruckt  ist, 
wenngleich  es  ein  arges  Versehen  von  Didier  ist,  in  Herbrot  einen 
kaiserlichen  Parteigänger  zu  erblicken.  —  Eine  abschließende  Würdi- 
gung von  Mairs  schriftstellerischer  Tätigkeit  kann  erst  gegeben  wer- 
den, wenn  in  dem  druckfertig  vorliegenden  Bd.  8  der  Augsburger 
Chroniken  seine  weiteren  historischen  Arbeiten  veröffentlicht  wor- 
den sind. 

Halle  a.  S.  Adolf  Hasenclever. 

In  der  „Zeitschrift  für  französische  Sprache  und  Literatur" 
Bd.  45,  H.  5/6  setzt  K.  Glaser  seine  „Beiträge  zur  Geschichte  der 
politischen  Literatur  Frankreichs  in  der  2.  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts" 
fort  und  handelt  über  die  politischen  Theorien  zur  Zeit  der  Liga.  Die 
Situation  ist  diese:  „Für  die  Theoretiker  der  Liga  ist  der  Gedanke 
maßgebend,  die  Macht  ihrer  Partei,  der  „Saincte  Union''  auf  Kosten 
der  königlichen  Gewalt  zu  heben  und  infolgedessen  das  Ansehen  des 
Königs  und  der  Monarchie  nach  Möglichkeit  herabzusetzen.  Dazu 
dient  die  Hervorkehrung  der  Rechte  des  Volkes  nicht  minder  wie  die 
Betonung  der  Rechte  des  Papstes  gegenüber  dem  Herrscher  (bei  Bou- 
eher  z.  B.  schließen  Calvinismus  und  Kurialismus  in  der  Hinsicht 
einen  eigenartigen  Bund).  Im  Gegensatz  dazu  treten  die  Protestanten 
für  die  Thronansprüche  Heinrichs  von  Navara  ein  und  suchen  durch 
die  Verteidigung  der  königlichen  Rechte  gegen  Volk  und  Papst  nur 
die  zukünftige  Stellung  ihrer  Thronkandidaten  zu  stärken."  Das 
wird  an  Analyse  der  einzelnen  Schriften  erläutert. 

Neue  Bücher:  Kampinga,  De  opvattingen  over  onze  oudere  vader- 
landsche  geschiedenis  bij  de  Hollandsche  historici  der  XVI  en  XV H 
eeuw.  ('s-Gravenhage,  Nijhoff.  3,20  Fl.)  —  Heiler,  Luthers  religions- 
geschichtliche Bedeutung.  (München,  Reinhardt.  1,  50  M.)  —  Bil- 
ling,  151J — 1521.  EU  bidrag  tili  fragan  am  Luthers  religiösa  och  teolo- 
giska  ütvecklingsgang.  I.  (Uppsala,  Akad.  bokh.  1,75  K.) —  W.  Köh- 
ler, Ulrich  Zwingli  und  die  Reformation  in  der  Schweiz.  (Tübingen, 
Mohr.  1,20  M.)  —  Hotzelt,  Veit  II.  von  Würzburg,  Fürstbischof 
von  Bamberg,  1561—1577.  (Freiburg  i.  B.,  Herder.  7  M.)  —  Henner, 
Julius  Echter  von  Mespelbrunn,  Fürstbischof  von  Würtzburg  und  Her- 
zog von  Ostfranken  (1573 — 1617).  (München,  Duncker  &  Humblot. 
3,75  M.)  —  Briefe  und  Akten  zur  Geschichte  des  30jährigen  Krieges. 
Neue  Folge.  Die  Politik  Maximilians  I.  von  Baiern  und  seiner  Ver- 
bündeten 1618—1651.  II.  Tl.  2.  Bd.  1625.  Bearb.  von  Walter  Goetz. 
(Leipzig,  Teubner.    28  M.) 


Zeitalter  des  Absolutismus  (1648—1789).  373 

Zeitalter  des  Absolutismus  (1648—1789). 

Ausführlicher    als    kürzlich    A.  v.  Ruville    bespricht    Wolfgang 
Michael  aus  aktuellem  Interesse  heraus  ,, Englands  Friedensschlüsse" 
(Berlin    u.    Leipzig,   W.  Rothschild.     1918.    48   S.).     Die   Darstellung 
geht  aus  von  der  neuen  Vitalität  des  elisabethanischen  England  und 
ihrer  Umschaltung  in  der  Cromwellschen  Zeit,  behandelt  eingehender 
das  18.  Jahrhundert,   und   zwar   mit   Spezialisteninteresse  seine  erste 
Hälfte  und  schließt  im  allgemeinen  mit  1815  ab.    Von  den  Kolonial- 
kriegen  werden   nur   der   amerikanische   und   der   Burenkrieg   heran- 
gezogen.   Die  Art,  wie  Michael  seine  Ergebnisse  klassifiziert,   erweist 
I  kaum  entschieden  Charakteristisches  der  englischen  Politik  gegenüber 
den  üblichen  Praktiken  der  Kabinettspolitik,  der  nur  auf  dem  Fest- 
land die  Hände   viel  mehr  als  auf  der  gesicherten  Insel  gebunden  sind 
und    das    bewegliche    Moment    wechselnder    Parlamentsmajoritäten 
!  fehlt.   Das  Thema  drängt  eigentlich  zu  einer  entschlosseneren  Systema- 
I  tisierung  der  politisch-soziologisch-nationalpsychologischen  Grundlagen, 
j  aus  denen  die  Tendenzen  der  Haltung  in  jedem  Einzelfall  mit  einem 
I  gewissen  inneren  Zwang  erwachsen.   Michael  berührt  diese  Grundlagen 
j  teils  in   einem   kurzen   Anhang   über  die   Psychologie  des   englischen 
!  Volkes    und    besonders    dessen    eigentümliche    Staatsauffassung    und 
I  Nationalidee,  teils  einzeln  im  Anschlüsse  an  die  chronologische  Dar- 
I  legung;  so,  wenn  er  auf  den  Zwiespalt  und  die  Mischung  ausgreifen- 
j  der  Machtpolitik  und  religiösen   Impulses,  der  sich  zur  Idee  des  aus- 
I  erwählten  Volkes  steigert,  unter  und  seit  Cromwell  verweist  oder  den 
1  Zeitpunkt  der  Durchbildung  des  nach  außen  hin  gemeingefährlichen- 
I  Typus  John  Bull  andeutet,  oder  die  konstitutionelle  Abneigung  gegen 
!  ein  stehendes  Heer  erwähnt,  die  zur  Ausbildung  der  virtuosen  Kunst, 
die  anderen  gegeneinander  auszuspielen,  mitwirkte.     Andr.  Walther. 

Als  Nr.  5881  von  Reclams  Universalbibliothek  erschien  ,,Der 
allerchristlichste  Kriegsgott  (Mars  christianissimus).  Eine  Spottschrift 
'  wider  alle  Schwächen  des  Völkerrechts  aus  dem  Jahre  1683  von  Gottfr. 
I  Wilh.  Leibniz.  Übersetzt  und  eingeleitet  von  Paul  Ritter."  In 
!  der  Einleitung  ist  nachgewiesen,  daß  die  eigenhändige  lateinische 
I  Niederschrift  des  „Mars  christianissimus"  mit  den  zahlreichen,  stark 
I  eingreifenden  Korrekturen  jeden  Zweifel  an  der  Verfasserschaft  Leib- 
I  nizens  ausschließt. 

I  „Aus  Österreichs  Vergangenheit"  Heft  15  (Leipzig,  Schulwissen- 

i  schaftlicher  Verlag  A.  Haase.  1918)  betrifft  „Die  Verteidigung  Wiens 
I  im  Jahre  1683".  Der  Herausgeber  B.  Imendörffer  gibt  eine  histo« 
rische  Würdigung  des  Ereignisses,  hätte  aber  wohl  etwas  mehr  über 
,  die  Quellen  sagen  sollen.  Aus  diesen  werden  sodann  eine  lange  Reihe 
1  interessanter  Stücke  zum  Abdruck  gebracht,  Beschreibungen  von  der 


374  Notizen  und  Nachrichten. 

Flucht  der  Wiener  Bevölkerung  beim  Herannahen  der  Türken,  Schil- 
derungen der  Zustände  in  Wien  während  der  Belagerung  und  nach 
der  Entsatzschlacht,  aber  auch  ein  paar  Briefe  Rüdigers  von  Starhem- 
berg  an  Karl  von  Lothringen,  eine  Schilderung  der  Schlacht,  eine 
deutsche  Übersetzung  des  Bündnisvertrages  zwischen  Leopold  I.  und 
Johann  Sobieski;  Militärisches  und  Kulturgeschichtliches  nebeneinan- 
der.   Aber  das  Kulturgeschichtliche  überwiegt.  W.  M. 

Über  „Johann  Wilhelm",  dem  Herzog  von  Jülich  und  Berg  und 
Kurfürsten  von  der  Pfalz,  hat  R.  A.  Keller  am  7.  November  1916 
einen  Vortrag  im  Düsseldorfer  Geschichtsverein  gehalten,  der  in  er- 
weiterter Form  im  Jahrbuch  dieses  Vereins  erschienen  ist.  Er  will 
nur  einen  Begriff  geben  von  der  Aufgabe,  die  den  künftigen  Biographen 
dieses  Fürsten  erwartet.  Keller  stellt  das  Bild  des  in  Düsseldorf  als 
„Jan  Wellem"  so  volkstümlichen  Fürsten  der  wenig  freundlichen  Er- 
innerung gegenüber,  die  man  ihm  in  pfälzischen  Landen  bewahrt 
und  die  z.  B.  in  Häussers  Geschichte  der  rheinischen  Pfalz  ihren  Aus- 
druck gefunden  hat.  Aber  er  weist  auch  darauf  hin,  daß  es  sich  dort 
um  den  vortrefflichen  Landesvater  handelt,  der  aus  Düsseldorf  ein 
Florenz  am  Rheine  machen  wollte,  hier  um  den  Katholiken,  der  einer 
wesentlich  protestantischen  Bevölkerung  gegenüberstand,  um  den  Ur- 
heber der  berüchtigten  Rijswijker  Klausel.  Er  weist  ferner  auf  das 
ungeheuer  weit  zerstreute  archivalische  Material  hin,  welches  zu  be- 
nutzen wäre  und  endlich  auf  die  beste  Lösung  der  Aufgabe,  darin 
bestehend,  daß  ein  Kunsthistoriker  und  ein  Historiker  sich  hier  die 
Hand  reichten.  Die  damit  gegebene  Anregung  soll  inzwischen,  wie 
er  noch  mitteilt,  zu  einem  greifbaren  Plan  ausgewachsen  sein. 

W.  Michael. 

Im  Neuen  Archiv  für  Sächsische  Geschichte  und  Altertumskunde 
37,  3  u.  4  teilt  O.  Giemen  Proben  aus  den  Tagebüchern  H.  v.  Offen- 
bergs mit,  der  in  den  Jahren  1784  und  1785  den  Herzog  von  Kurland 
mit  seiner  Familie  als  Reisemarschall  nach  Italien  begleitete.  Auf 
der  Hin-  und  Rückreise  hielt  sich  die  Reisegesellschaft  in  Leipzig 
auf.  Die  hier  wiedergegebenen  Aufzeichnungen  zeigen,  was  das 
damalige  Leipzig  einer  vornehmen  Reisegesellschaft  besonders  an 
Kunstwerten  zu  bieten  vermochte  und  was  dieser  sehenswürdig 
erschien. 

Neuere  Geschichte  von  1789  bis  1871. 

Ein  kurzer  Bericht  E.  Beckers  über  das  Musee  Napoleon  im 
Louvre  (Preuß.  Jahrbücher  Bd.  171,  S.  106)  frischt  Erinnerungen  auf 
an  die  „Kulturpolitik",  wie  sie  die  Franzosen  während  der  napoleoni- 
schen   Eroberungen    befolgt   haben.    Anschaiüicher   und   eingehender 


Neuere  Geschichte  von  1789—1871.  375 

unterrichten  auf  diesem  Gebiet  die  drei  in  der  Internat.  Monatschrift 
XI  (1917)  erschienenen  Arbeiten  von  Degering,  „Französischer  Kunst- 
raub in  Deutschland  1793—1807",  Heft  I;  Steinmann,  Die  Plünde- 
rung Roms  durch  Bonaparte,  Heft  6  und  7;  Gronau,  Die  Verluste 
der  Casseler  Galerie  in  der  Zeit  der  französischen  Okkupation  1806 
bis  1813,  Heft  9  und  10. 

Die  seit  1918  in  der  Deutschen  Rundschau  durch  mehrere  Num- 
mern erscheinende  anonyme  Arbeit  über  Gentz  wird  erst  später  im 
I  Zusammenhang  zu  besprechen  sein  (Gentz,  ein  europäischer  Staats- 
I  mann  deutscher  Nation).   Ebenfalls  von  anonymem  Herausgeber  bringt 
i  dieselbe  Zeitschrift  (Okt.  1918)  den  Abdruck  von  Gentz'  sehr  beach- 
tenswertem Aufsatz  über  „den  ewigen  Frieden"  vom  Dezember  1800. 

Als  Nr.  16  der  Quellensammlung  „Aus  Österreichs  Vergangenheit" 
{Verlag  A.  Haase,  Wien  u.  Leipzig.  1918)  veröffentlicht  Eugen  Gug- 
I  IIa  das  Vorwort  zu  Gentz'  ,, Fragmenten  aus  der  neuesten  Geschichte 
':  des  politischen  Gleichgewichts  in  Europa"  von  1806.  Einem  knappen 
I  und  anschaulichen  Lebensabriß  als  Einleitung  ist  eine  kurze  Über- 
1  sieht  über  die  neueste  Gentz-Literatur  beigefügt.  Es  ist  zu  begrüßen 
I  und  von  innerer  sachlicher  Notwendigkeit  bedingt,  daß  sich  das  Augen- 
i  merk  der  Historiker  gerade  jetzt  diesem  unter  Deutschen  selten  be- 
gabten politischen  Kopf  und  glänzendeu  Stilisten  wieder  zuwendet. 

S.  Kahler. 

Chr.    Dettweiler,  ein   tapferer   Pfälzer  in  französischen    Kriegs- 
diensten, von  Dr.  Philipp  Keiper  (Pfälzische  Studien,  Heft  2)  (Kai- 
serslautern, Herrn.  Kayser.    1917.    66  S.).  —  Der  Verfasser  veröffent- 
I  licht  in  dieser  Studie  eine  Anzahl  von  nicht  besonders  interessanten 
I  Aktenstücken  zur  Lebensgeschichte  seines  Helden,  der  von  1804  bis 
'  1814  im  napoleonischen  Heere  diente  und  viele  Schlachten  mitmachte, 

und  liefert  eine   Einleitung,   Kommentare  und  Anhänge  dazu. 
'  Wahl. 

Adolf  Hasenclever  veröffentlicht  in  Bd.  30,  Heft  3  der  For- 
(  schungen  z.  brandenb.  u.  preuß.  Gesch.  16  Briefe  Th.  v.  Schöns  aus  den 
I  Jahren  1805 — 21  an  den  Hallenser  Staatswissenschaftler  L.  G.  v.  Jakob. 
I  Hervorzuheben  sind  unter  diesen,  meist  in  dem  bekannten  Ton  Schön- 
i  scher  Polemik  gehaltenen  Briefen  Nr.  9  mit  einer  interessanten  Gegen- 
'  überstellung  der  Systeme  der  „Staatskunst"  Colberts  und  der  ,,Staats- 
I  Wirtschaft"  A.  Smiths:  „Kraus  jubelt  im  Grabe."  Ferner  Nr.  15;  hier 
'  versteigt  Schön  sich  bei  der  Verteidigung  des  deutschen  Kolonisations- 
I  Werkes  in  der  Ostmark  —  gegen  „philanthropische"  Angriffe,  die  aus 
i  Kotzebues  „Preußens  ältere  Geschichte"  von  Jakob  entnommen  zu 
I  sein  scheinen  —  zu  der  für  diesen  Kantianer  bezeichnenden  Geschichts- 
■  konstruktion,  der  Orden  habe  ,, durch  das  Leben  in  der  Idee  alle 


376  Notizen  und  Nachrichten. 

Gemeinheit  entfernt"!  —  Derselbe  Brief  bringt  eine  beachtenswerte 
Auseinandersetzung  mit  Jakob  über  das  Steuergesetz  vom  30.  V.  1820. 
Sonst  steht  noch  manches  bittere  Urteil  in  diesen  Briefen  über  die 
Berliner  „Akten-Fabrikanten",  welche  zu  Schöns  Verzweiflung  fern 
der  „Wahrheit"  im  Dunkeln  tappen. 

Der  Vortrag  von  Th.  Sommerlad,  „Die  alte  und  die  neue  Kon- 
tinentalsperre" (Auslandsstudien  der  Universität  Halle-Wittenberg, 
Heft  12.  Halle,  Niemeyer.  1918.  30  S.)  bietet  eine  für  den  Laien 
lehrreiche  Darstellung  der  Entwicklung  der  Kontinentalsperre  Napo- 
leons und  eine  Reihe  von  Hinweisen  auf  ihre  Folgen  für  das  Wirt- 
schaftsleben Mitteleuropas  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  19.  Jahr- 
hunderts. 5.  K. 

Bd.  31,2  der  Forschungen  zur  Brandenburgisch-Preußischen  Ge- 
schichte bringt  auf  S.  410 — 15  eine  kurze  Mitteilung  K.  Brinkmanns 
über  „Das  Krockowsche  Freikorps"  von  1807.  Es  ist  lehrreich,  sich 
daran  zu  erinnern,  wie  schon  nach  der  Katastrophe  von  1806,  nach 
dem  Zusammenbruch  der  eigentlichen  Form  des  Heeres  die  aktive 
militärische  Energie  der  Führer  und  national  empfindender  Volks- 
kreise sich  eine  dem  Augenblick  angepaßte  Organisation  zu  schaffen 
wußte.  —  Die  Überschrift  des  im  gleichen  Heft  (S.  415 — 37)  erschie- 
nenen Aufsatzes  von  Fr.  Holtze,  „Die  Hundspost  von  Spandau  nach 
Berlin"  verrät  nichts  davon,  daß  dies  Kabinettstück  lokal-literarischer 
Kleinforschung  mit  seiner  stupenden  Belesenheit  und  intimen  Kennt- 
nis auch  der  geistigen  Niederungen  Berlins  nach  1800  in  höchst  er- 
götzlicher Weise  allerlei  verwirrte  Fäden  bloßlegt,  welche  sich  auf 
dem  Umweg  journalistischer  Afterliteratur  um  die  Gestalten  Jean 
Pauls  und  B.  T.  A.  Hoffmanns  schlingen  konnten. 

In  der  Deutschen  Revue,  Jahrgang  44,  Januar  1919  setzt  W. 
Windelband  seine  Veröffentlichung  der  Korrespondenz  von  Fr.  Eich- 
horn fort.  Mit  vier  aus  den  Jahren  1809  und  1811  stammenden  Num- 
mern beginnt  die  Mitteilung  der  Briefe  Eichhorns  an  Gneisenau,  soweit 
diese  noch  nicht  bei  Pertz  und  Pick  veröffentlicht  waren. 

Das  2.  Heft  des  30.  Bd.  (1918)  der  Forschungen  zur  branden- 
burg.  und  preuß.  Geschichte  bringt  als  einzigen  Beitrag  die  vierte 
Fortsetzung  der  von  P.  Haake  in  Bd.  26  (1913)  begonnenen  Auf- 
satzreihe über  „König  Friedrich  Wilhelm  III.,  Hardenberg  und  die 
preußische  Verfassungsfrage".  Da  Haake  noch  einen  Schlußaufsatz 
in  Aussicht  stellt,  ist  eine  abschließende  Bewertung  seiner  Arbeit  noch 
nicht  angezeigt.  Das  Wesentliche  an  seiner  Darstellung  scheint  dem 
Referenten  bisher,  daß  das  von  Haake  beigebrachte,  reichhaltige  Mate- 
rial an  Denkschriften  aus  den  Jahren  1817 — 19  erneut  erkennen  läßt, 
wie  im  Grunde  aussichtslos  der  Kampf  war,  den  Hardenbergs  leicht- 


Neuere  Geschichte  von  1789—1871.  377 

herziger  Optimismus  in  der  Verfassungssache  zu  führen  hatte  mit  dem 
glaubenslosen  Mißtrauen  des  Königs  gegen  seinen  ersten  Minister 
wie  gegen  sein  Volk.  Die  gänzliche  Hoffnungslosigkeit  dieses  Kampfes 
war  begründet  in  der  engen  Bundesgenossenschaft,  welche  der  König 
eingegangen  war  mit  dem  harten  Reaktionswillen  des  von  Wittgen- 
stein und  Ancillon  geleiteten  und  von  Metternich  beeinflußten  feudalen 
Konzerns  am  Hof  und  im  Ministerium.  Im  übrigen  sind  wirklich  neue 
Ergebnisse  der  Forschung  auf  diesem  von  den  besten  Köpfen  der 
letzten  Forschergeneration  bearbeiteten  Gebiet  wohl  kaum  zu  erwarten. 

Die  noch  nachträglich  zu  erwähnende  Freiburger  Dissertation 
(1914)  von  Siegfr.  Kahler  enthält  nicht  eigentlich  das,  was  man  nach 
ihrem  Titel  erwarten  sollte:  Beiträge  zu  W.  v.  Humboldts  Entwurf 
einer  ständischen  Verfassung  für  Preußen  vom  Jahre  1819.  Kahler 
bezeichnet  den  ,, Teildruck"  selbst  als  biographische  Einleitung  zu 
einer  Untersuchung  über  das  Wahlrecht  in  Humboldts  Verfassungs- 
entwurf von  1819,  die  in  eine  größere,  für  1915  versprochene  Arbeit 
über  Humboldts  Politik  übergehen  sollte.  Doch  ist  das  bisher  unter- 
blieben und  eben  jene  Untersuchung  1917  als  Aufsatz  in  der  Zeitschrift 
für  Politik  10  (s.  H.  Z.  118,  176)  erschienen.  Die  Dissertation  erörtert 
Humboldts  Stellung  zum  Staate,  speziell  zum  preußischen  Staate, 
die  staatsbürgerliche  Auffassung,  die  Humboldt  nicht  zuletzt  unter 
der  Einwirkung  der  Ereignisse  von  1813  angenommen  hat,  die  Auf- 
gaben, die  er  einer  weitsichtigen  und  zukunftgestaltenden  Staats- 
verwaltung und  im  Zusammenhang  damit  auch  einer  Verfassung  zu- 
wies, deren  Zustandekommen  er  als  selbstverständlich  ansah.  Die 
aus   Humboldts  ganzem  Wesen  hervorgehende,  zwischen  politischem 

i  Realismus  und  philosophischer  Abstraktion  sich  bewegende  Anschau- 
ungsweise ist  klar  hervorgehoben.  In  einem  Exkurs  weist  Kahler  die 
von  Gentz  und  Haym,  aber  auch  neuerdings  von  Gebhardt  und  ver- 
schärft von  Ernst  Meier  und  P.  Lenel  vertretene  Auffassung,  die 
Humboldt  zum  Gegner  einer  Repräsentativverfassung  macht,  zurück, 

i  ohne  das  Problem  nach  der  positiven  Seite  zu  behandeln  (s.  dazu 
auch  die  H.  Z.  119,354  angedeuteten  Gedankengänge  von  E.  Müse- 
beck).  K-  Jacob. 

E.  Szabos  (t)  Aufsatz:  „Aus  den  Parteien-  und  Klassenkämpfen 
in  der  ungarischen  Revolution  von  1848"  in  Grünbergs  Archiv  für 
die  Geschichte  des  Sozialismus  und  die  Arbeiterbewegung  8,  2/3  reicht 
j  nur  bis  in  den  Juni  1848  und  handelt  vornehmlich  von  Presseäuße- 
I  rungen  und  Arbeiterbewegung  in  Pest:  Radikalismus  und  Republi- 
'  kanismus  waren  anfänglich  bedeutungslos;  die  Dynastie  hat  die  Gelegen- 
:  heit,  sich  ohne  wesentliche  Opfer  an  die  Spitze  der  national-sozialen 
I  Bewegung  zu  stellen,  unbenutzt  gelassen;  die  Demokratie,  auch  ihre 


378  Notizen  und  Nachrichten.  . 

Wortführer,  sind  unreif  und  unklar  und  kommen  über  die  Schlagworte 
von  1848  nicht  hinaus;  deutlich  ist  die  Absage  an  jeden  Kommunismus^ 
die  ungarische  Nationalidee  überwiegt;  sehr  bald  ist  Ordnung  das 
allgemeine  Losungswort;  die  Arbeiterbewegung  ist  anfänglich  ganz  be- 
deutungslos, beschränkt  sich  in  der  Hauptsache  auf  Zunft-  und  Lohn- 
reformen, erst  im  April  wird  sie  lebhafter,  namentlich  unter  den  Setzern; 
mit  der  Verhängung  des  Belagerungszustandes  in  Pest  (Juni  1848> 
scheidet  das  städtische  Proletariat  aus  der  Revolution  aus  und  räumt 
zunächst  den  Bauern  den  Platz. 

Eine  eingehende  und  beachtenswerte  Besprechung  von  K.  Haufes 
Buch  über  „den  deutschen  Nationalstaat  in  den  Flugschriften  von 
1848/1849"  (1915)  von  J.  Hashagen  steht  in  den  Götting.  Gel.  An- 
zeigen 1919,3/4. 

Das  6.  Heft  von  Jahrgang  1  der  Zeitschrift  „Österreich"  ist 
ganz  den  Ereignissen  von  1848  gewidmet.  O.  Weber  gibt  eine  ein- 
leitende Würdigung.  Dann  handelt  ein  tschechischer,  des  Deutschen 
nicht  völlig  mächtiger  Pseudonymus  (Dr.  Boemus)  von  der  Entwick- 
lung des  tschechischen  staatsrechtlichen  Programms  1848:  das  Kreuzen 
der  verschiedenen  Strömungen  im  tschechischen  Lager,  insbesondere 
der  national  gemäßigten,  aber  politisch  radikalen  Demokraten  und 
der  national-radikalen,  aber  politisch  Gemäßigten  (Richtung  Palacky 
Havlicek);  gegenüber  dem  Deutschtum  zunächst  die  Forderung  der 
Gleichberechtigung,  sehr  bald,  infolge  der  scheinbaren  Schwäche  der 
Deutschen,  das  Verlangen  politischer  Vorherrschaft  und  staatsrecht- 
licher Selbständigkeit  im  Rahmen  eines  föderalistischen  österreichi- 
schen Staates  unter  Führung  von  Palacky  und  Havliöek;  zuerst  der 
Prager  Juniaufstand,  sodann  die  Kremsierer  Verfassung  machen  diese 
Pläne  zunichte.  —  Weiter  handelt  M.  Vangsa  über  Wenzel  Messen- 
hauser,  den  am  16.  November  1848  erschossenen  Führer  der  Wiener 
Oktoberrevolution,  als  Schriftsteller:  schon  als  k.  k.  Offizier  in  Wien 
und  Galizien  hat  er  nicht  nur  geschickte  historische  Kompilationen 
und  weiterhin  als  Literat  eine  Menge  phantasiereicher  und  schwül- 
stiger, aber  unbedeutender  Novellen,  Romane  und  Dramen  verfaßt. 
Schließlich  gibt  J.  Loserth  wertvolle  Beiträge  zur  Abdankung  Fer- 
dinands I.  und  zur  Thronbesteigung  Franz  Josephs.  Er  weist  darauf 
hin,  daß  wichtige  Akten  (so  das  Original  der  Adresse  des  Wiener  Reichs- 
tags vom  11.  Oktober  1848)  noch  heute  in  Privatbesitz  sind,  und 
macht  an  der  Hand  solcher  Materialien  darauf  aufmerksam,  daß  an  dem 
Abdankungsmanifest  und  der  Thronbesteigungsproklamation  noch  im 
letzten  Stadium  Änderungen  (in  zentralistischem  Sinne)  vorgenommen 
sind;  Entwürfe,  die  er  mitteilt,  sind  aus  Rücksicht  auf  Ferdinands 
Gattin  in  italienischer  Sprache  abgefaßt;  ein  bisher  unbekanntes,  eben- 


I 


Neuere  Geschichte  von  1789—1871.  379 

falls  italienisch  geschriebenes  Gutachten  über  die  Notwendigkeit  der 
Abdankung  rührt  nach  Loserths  Vermutung  vielleicht  von  Schwarzen- 
berg  eigenhändig  her. 

Über  „Paul  Heyse  und  die  Politik  mit  unveröffentlichten  Briefen 
aus  dem  Freundeskreis  des  Dichters"  hat  Erich  Petzet  in  der  Deut- 
schen Revue  (1919,  I  u.  II)  gehandelt.  Der  junge  Student  war  stark 
von  der  freiheitlichen  Bewegung  1848  ergriffen.  Aber  schon  1849 
schreibt  er  (28.  April):  es  gibt  etwas  Höheres  als  eine  gute  Ernte: 
die  Ehre  der  Nation"  und  weiter  (am  21.  Mai):  „Das  Volk  hat  sich 
unfähig  gezeigt,   die  Freiheit  sich  selbst  zu  geben  und  zu  erhalten." 

Bei  einer  Gedenkfeier  1918  hat  A.  O.  Meyer  in  einem  Vortrag 
die  Beziehungen  von  „Deutschland  und  Schleswig-Holstein  vor  der 
Erhebung"  von  1848  kurz  zusammengefaßt:  langes  deutsches  Sonder- 
und Stilleben  der  einzelnen  Landesteile  unter  dänischer  Herrschaft, 
Vordringen  deutscher  Sprache  und  Kultur,  besonders  durch  Kirche 
und  Schule,  aber  politisch  Zusammengehörigkeitsgefühl  mit  Dänemark 
bis  ins  19.  Jahrhundert,  begreiflich  auch  bei  der  Geltung  deutscher 
Kultur  (und,  was  hinzuzufügen  wäre,  speziell  schleswig-holsteinischer 
Politiker)  in  Kopenhagen;  dann  erst  nach  den  Freiheitskriegen  durch 
das  dänische  Vorgehen  Aufwerfen  der  Verfassungsfrage:  sie  führt  in 
den  Herzogtümern  erst  nach  der  Julirevolution  in  Verbindung  mit 
der  Erbfolgefrage  unter  Zurückdrängung  der  Neuholsteiner  (Olshausen) 
zur  nationalen  Frage:  „Die  Rechtsfragen  werden  aus  Kampfzielen 
Kampfwaffen  für  das  Deutschtum  Schleswig-Holsteins";  Christrans  VI  IL 
Versuch,  durch  scheinbare  Verfassungskonzessionen  im  Rahmen  des 
Gesamtstaates  die  nationalen  Separationstendenzen  zu  überwinden, 
scheitern;  Februarrevolution  und  Kasinoministerium  1848  führen  zur 
nationalen  Erhebung  vom  Rechtsboden  aus.  K.  Jacob. 

Im  Aprilheft  der  Deutschen  Rundschau  gibt  H.  Fried  jung  ein 
kurzes  Charakterbild  von  Kaiser  Franz  Joseph  von  Österreich,  jetzt 
erweitert  in   den   Histor.  Aufsätzen  (Stuttgart  1919). 

Dr.  med.  C.  H.  Alexander  Pagenstecher,  ein  angesehener  Arzt 
in  Düsseldorf,  bekannt  durch  seine  vor  einigen  Jahren  veröffent- 
lichten Jugenderinnerungen  als  Burschenschaftler  und  Denkwürdig- 
keiten von  1848,  war  Ende  der  fünfziger  Jahre  nach  Heidelberg  über- 
gesiedelt und  hat  sich  dann  am  politischen  und  kirchenpolitischen 
Leben  Badens  in  den  sechziger  Jahren  lebhaft,  auch  als  Abgeordneter, 
beteiligt.  Aus  seinen  Aufzeichnungen  für  die  Jahre  1860 — 66  (leider 
mit  dem  Kriege  abbrechend)  hat  F.  Schnabel  in  der  Zeitschrift 
für  die  Geschichte  des  Oberrheins  34,  2  interessante  Abschnitte  ver- 
öffentlicht. Mit  großer  Anerkennung,  aber  sehr  kurz,  wird  Mathys, 
mit  hoher  Wertschätzung  des  Großherzogs  Friedrich  gedacht.    Eine 


380  Notizen  und  Nachrichten. 

Ergänzung,  so  bezüglich  der  Wahlagitation  in  Weinheini-Ladenburg, 
und  Fortsetzung  wäre  erwünscht. 

Eugen  Stamm  kommt  in  einer  Schrift  „Konstantin  Frantz  und 
Bismarck"  (Deutsche  Verlagsanstalt  1917)  auf  Frantz  zurück,  über 
den  er  vor  zehn  Jahren  ein  verdienstliches  Buch  herausgegeben  hat 
und  der  neuerdings  wieder  stärker  beachtet  wird.  Die  (etwas  selbst- 
gefällige) Schrift  ist  ihrer  Art  nach  am  ehesten  ein  Feuilletonartikel, 
war  zuerst  auch  als  solcher  gedacht.  Besonders  eindringend  ist  sie 
nicht.  Rapp. 

Die  Fortsetzung  von  E.  Sc  h  ü  ß  1  e  rs  S.  1 72  erwähnter  Veröffentlichung 
aus  den  (zum  Teil  schon  von  E.  Vogt,  Hessische  Politik  1863 — 1871, 
benutzten) Tagebüchern  des  hessischen  Ministers  Frhr.  vonDalwigkzu 
Lichtenfels,  die  im  April- bis  Juliheft  der  Deutschen  Revue  1919  zu- 
nächst bis  zum  Juni  1867  reicht,  zeigt,  daß  uns  hier  eine  überaus  wertvolle 
Quelle  zur  Geschichte  der  Reichsgründung  erschlossen  wird;  ihre  Wür- 
digung wird  dem  angekündigten  Erscheinen  in  Buchform  vorbehalten 
bleiben  müssen.  Dalwigks  Haß  gegen  Preußen  und  Bismarck  spricht 
aus  jeder  Zeile  und  nimmt  der  Erklärung  vom  14.  April  1867  an  den 
preußischen  Gesandten  (anläßlich  der  Luxemburger  Frage;  daß  Hessen 
Preußen  bis  zum  letzten  Blutstropfen  zur  Seite  stehen  werde,  wenn 
es  sich  darum  handle,  deutsches  Gebiet  und  deutsche  Ehre  gegen 
Frankreich  zu  wahren,  vgl.  auch  Vogt  147  f.),  jeden  Wert.  Dalwigk 
erwartet  (8.  Februar  1867)  einen  großen  europäischen  Krieg:  in  diesem 
werde  Hessen  untergehen  oder  als  ein  bedeutendes  Königreich  aus 
ihm  hervorgehen.  —  Bei  der  beabsichtigten  Veröffentlichung  als  Buch 
ist  ein  umfassender  kritischer  und  literarischer  Kommentar  für  Laien 
und  Fachgenossen  dringend  erwünscht.  K.  J. 

In  Grünbergs  Archiv  für  die  Geschichte  des  Sozialismus  8,  2/3 
steht  eine  eingehende  Besprechung  der  von  N.  Rjasanoff  1917  heraus- 
gegebenen beiden  Bände  von  Engels'  und  Marx'  Ges.  Schriften  durch 
O.  Jenssen,  der  abweichend  von  Fr.  Mehring  (Marx  540)  den  Wert 
dieser  Bände  mit  Recht  hervorhebt.  —  Mehring  selbst  wehrt  sich 
a.  a.  O.  gegen  die  doch  sehr  berechtigten  Kritiken  an  seiner  Marxbio- 
graphie; seinerseits  kritisiert  er  das  Marxbüchlein  von  R.  Wilbrandt, 
von  dem  er  —  durchaus  zu  Unrecht  —  sagt,  daß  Wilbrandt  nicht 
auf  dem  Boden  des  Sozialismus,  sondern  auf  dem  der  bürgerlichen 
Gesellschaft  stehe;  nach  Kautsky  (auch  a.  a.  O.),  wenn  auch  von  an- 
derem Gesichtspunkt  aus,  ist  es  Wilbrandt  ebensowenig  wie  M.  Beer 
(Marx  1918)  gelungen,  Marxens  Lehre  richtig  darzustellen.  In  den 
Marxanalekten  will  M.  Nettlau  aus  Br.  Bauers  und  Marxens  Korre- 
spondenzen erweisen,  daß  nicht  Marx,  wie  G.  Mayer  a.  a.  O.  7,  3  be- 
hauptet hatte,  sondern  Bauer  selbst  der  Verfasser  des  2.  Teils  der 
Posaune  des  jüngsten  Gerichts  über  Hegel  usw.  sei  (s.  H.  Z.  117,  362). 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  381 

Eine  vortreffliche  und  eingehende,  historisch  orientierte  Kritik 
der  amtlichen  Entwürfe  zur  neuen  Reichsverfassung,  insbesondere  des 
von  dem  Staatsrechtslehrer,  jetzigem  Reichsminister  Hugo  Preuß  her- 
rührenden Entwurfs  bietet  Heinr.  Triepel  in  Schmollers  Jahrbuch 
43,  2. 

Neue  Bücher:  Briefe  aus  der  französischen  Revolution,  ausgew., 
übers,  und  erläut.  von  Gustav  Landauer.  2  Bde.  (Frankfurt  a.  M., 
I  Rücken  &  Loening.  30  M.)  —  Konschak,  Die  Klöster  und  Stifter 
I  des  Bistums  Hildesheim  unter  preußischer  Herrschaft  (1802 — 1806). 
!  (Hildesheim,  Lax.  4  M.)  —  Brandenburg,  Die  deutsche  Revolution 
!  1848.  2.  verb.  Aufl.  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer.  1,25  M.)  —  Reinöhl, 
i  Revolution  und  Nationalversammlung  1848.  Schwab.  Urkunden. 
j  (Stuttgart,  Strecker  &  Schröder.  3,60  M.)  —  Ingwersen,  Der  Ar- 
I  tikel  V  des  Prager  Friedens,  seine  Vorgeschichte,  Entstehung  und 
Geschichte  bis  zu  seiner  Aufhebung.    (Flensburg,  Soltau.    2,10  M.) 

^H  Neueste  Geschichte  seit  1871. 

^^m    Das    neueste    Zugangsverzeichnis    der    Bücherei    des    Britischen 
^useums  ist  als  zeitgeschichtliches  Hilfsmittel  auch  an  dieser  Stelle 
I  zu  erwähnen.    Von  den  , .Titeldrucken"  der  Preußischen  Staatsbiblio- 
thek  unterscheidet  es  sich  durch  eine  übersichtliche  sachliche  Anord- 
nung zu  seinem  Vorteile  (Subjed  Index  of  tht  modern  works  added  to 
ihe  library  of  the  British  Museum  in  the  years  1911/5.    1918).    Nach- 
i  ahmenswert   ist  ferner   der   vnn    Edith   E.  Clarke  1919    herausge- 
I  gebene  Guide  to  the  use  of  United  States  Government  Publications.    Die 
I  Bibliographie  der   Kriegsliteratur    wird   durch  das  Werk  von  J.  Vic 
bereichert:   La  litteraiure   de   guerre.    Manuel   methodique   et  critique 
de  publications  de  langue  frangaise  (aoüt  1914  —  aoüt  1916)  mit  Vor- 
wort von  G.  Lanson  1919. 

Perthes'  Schriften  zum  Weltkrieg.    15.  Heft:  Hermann  Oncken, 
Das  alte  und  das  neue  Mitteleuropa.  Historisch-politische  Betrachtungen 
über  deutsche  Bündnispolitik  im  Zeitalter  Bismarcks  und  im  Zeitalter 
i  des  Weltkriegs.    (Gotha,  Perthes.  1917.    150  S.)  —  Der  erste,  auf  die 
!  Bismarcksche  Politik  bezügliche  Teil  dieser  Arbeit  ist  eine  glänzende 
I  Leistung.    Gehörte  doch  zu  den  „Errungenschaften  der  Revolution" 
:  wenigstens  die  Öffnung  der  Archive,  so  daß  ein  Mann  wie  Oncken  uns 
eine  aktenmäßige  Darstellung  der  auswärtigen  Politik  des  Reichsgrün- 
'  ders  geben  könnte!  Daß  der  Ungar  Wertheimer  die  wichtigsten  Reichs- 
akten bearbeiten  konnte,  während  deutsche  Forscher  vor  den  Türen 
I  stehen  mußten,  ist  nebenbei  bemerkt,  auch  nur  in  Deutschland  mög- 
1  lieh  —  gewesen.    Wenn  Onckens  Schrift  wegen  dieser  rein  geschicht- 

I         Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  25 

f 
1 


382  Notizen  und  Nachrichten. 

liehen  Partien  ihren  dauernden  Wert  behält,  so  ist  der  größte  Teil, 
der  sich  auf  die  Einkreisungspolitik  und  das  „neue  Mitteluropa"  be- 
zieht, so  wie  man  es  sich  während  des  Krieges  erhoffte,  durch  die  Er- 
eignisse überholt.  Kein  Leser  wird  mehr  in  der  Ablehnung  des  eng- 
lischen Bündnisangebots,  in  dem  Schaukelspiel  zwischen  England  und 
Rußland,  schließlich  in  der  Schaffung  eines  selbständigen  König- 
reichs Polen  durch  die  Mittelmächte  auch  nur  Spuren  von  staats- 
männischer Weisheit  erblicken.  Haller  hat  mit  seinen  ebenso  scharf- 
sinnigen wie  glänzenden  Ausführungen  über  die  auswärtige  Politik 
des  Fürsten  Bülow  (Januarheft  1917  der  Südd.  Monatshefte),  die 
Oncken  1917  noch  ablehnen  zu  können  glaubte,  vollständig  recht 
behalten.  Schüßler. 

Die  14  letzten  Bogen  der  22.  Auflage  von  Weber-Baldamus* 
Weltgeschichte  IV  sind  gesondert,  ohne  Änderung  der  Seiten-  und 
Paragraphenzahlen,  erschienen  unter  dem  Titel:  Hellmuth  Schmidt- 
Breitung,  Weltgeschichte  der  neuesten  Zeit  1902—1918  (Leipzig, 
Wilh.  Engelmann.  1919.  4,80  M.).  —  Die  Hälfte  des  Raumes  gibt 
die  Geschichte  des  Weltkrieges,  im  wesentlichen  die  militärische,  gemäß 
der  offiziellen  deutschen  Auffassung.  Gesichtskreis  und  Stimmung 
sind  die  durchschnittlichen  von  Mitte  1918.  Gerade  in  ihrer  Anspruchs- 
losigkeit ist  die  präzise  und  durch  ein  Register  aufgeschlossene  Auf- 
reihung der  Ereignisse  nützlich.  Andr.  Walther. 

Dankenswert  sind  die  jetzt  in  vier  Heften  vorliegenden  biblio- 
graphischen Zusammenstellungen  von  W.  v.  Seidlitz  über  den  „Kultur- 
krieg" (Flugschriften  des  Dürerbundes  150,  162,  175,  182).  Über  sozia- 
listische Kriegsschriften  aus  den  Niederlanden  wird  im  Archiv  für 
Geschichte  des  Sozialismus  (6,  1916)  berichtet,  über  ähnliche  russische 
Erzeugnisse  in  der  auch  sonst  die  Aufmerksamkeit  des  Historikers 
fesselnden  Wiener  sozialistischen  Monatschrift  „Der  Kampf  (9,  1916), 
über  Dreibundliteratur  von  H.  F.  Helmolt  in  der  Zeitschrift  für 
Völkerrecht  11,  1919. 

An  wissenschaftlichem  Werte  werden  verschiedene  Teilenthül- 
lungen über  die  Vorgeschichte  des  Krieges  (zuletzt  die  des  serbischen 
Gesandten  in  Paris,  M.  R.  Vesnitsch,  im  Journal  desDebais  vom  13.  März 
1919)  durch  das  deutsche  Weißbuch  über  die  Verantwortlichkeit  der 
Urheber  des  Krieges  vom  Juni  1919  weit  in  den  Schatten  gestellt. 
Man  findet  hier  u.  a.  den  feindlichen  Rapport  über  die  Schuldfrage 
vom  29,  März  nebst  den  amerikanischen  Riserves  vom  4.  April  und 
den  deutschen  „Bemerkungen",  verfaßt  von  H.  Delbrück,  A.  Mendels- 
sohn Bartholdy,  Graf  M.  Montgelas,  M.  Weber.  Der  Hauptwert  dieser 
amtlichen  Veröffentlichung  liegt  jedoch  in  den  elf  Anlagen,  die  vor- 
nehmlich der  Bedeutung  der  russischen  Kriegsvorbereitungen  und  der 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  383 

russoserbischen  Aktionspolitik  gewidmet  sind.  Im  Gegensatze  zu  den 
feindlichen  Farbbüchern  wird  hier  zum  ersten  Male  der  historisch-? 
wissenschaftlich  allein  fruchtbare  Standpunkt  vertreten,  daß  die  Frage 
der  Schuld  am  Kriegsausbruch  nur  im  breiten  Rahmen  der  Vorge- 
schichte im  weiteren  Sinne  erörtert  werden  kann.  Wenigstens  bis  in 
die  Zeit  der  bosnischen  Annexionskrise  reichen  diese  Dokumente 
zurück. 

Für  die  letzten  Jahre  der  Vorgeschichte  des  Krieges  verfügen 
die  Franzosen  jetzt  über  ein  sechsbändiges  Werk,  das  seiner  Anlage 
nach  als  eine  Art  von  Seitenstück  zu  Schiemanns  Deutschland  und 
die  große  Politik  bezeichnet  werden  kann  (A.  Gauvain,  VEurope 
au  jour  le  jour,  1908—1914). 

Von  deutschen  Historikern  ist  als  eifriger  Kriegs-  und  Friedens- 
publizist R.  Fester  hervorgetreten.  Wir  notieren  aus  seiner  Feder 
die  vom  Mai  1918  bis  Februar  1919  in  der  Deutschen  Rundschau  er- 
schienenen Beiträge:  Die  Erben  Bismarcks,  Der  amerikanische  Kreuzzug 
und  seine  Weltwirkung,  Auf  neuen  Wegen,  Vom  Weltkrieg  zur  Welt- 
revolution, Vom  Bundesstaat  zum  Einheitsstaat,  Das  Selbstbestim- 
mungsrecht und  der  deutsche  Einheitsstaat.  In  derselben  Zeitschrift 
untersucht  von  einem  abweichenden  Standpunkte  aus  F.  Meinecke 
die  geschichtlichen  Ursachen  der  deutschen  Revolution.  Äußerlich 
steht  der  Entschluß  zum  unbeschränkten  U-Bootkrieg  bei  Meinecke 
an  der  Spitze  der  Unheilserscheinungen.  Innerlich  habe  u.  a.  die  Tat- 
sache, daß  die  Fehler  des  Preußentums  seine  Vorzüge  überwucherten, 
schließlich  revolutionär  gewirkt.  Doch  stellt  der  Aufsatz  noch  weit 
mehr  wichtige  Fragen  der  neuesten  Zeitgeschichte  zur  Diskussion. 

Die  seit  1917  von  Diederichs  in  Jena  herausgegebene  Broschüren- 
folge „Der  Tag  des  Deutschen"  enthält  im  5.  Hefte  bemerkenswerte 
Ausführungen  über  den  „Stufengang  des  deutsch-englischen  Gegen- 
satzes" von  L.  Rieß,  sowie  im  2.  Hefte  abschreckende  Zusammen- 
stellungen über  die  Kriegspsychose  in  Frankreich  von  J.  Kühn  (Fran- 
zösische Kulturträger  im  Dienste  der  Völkerverhetzung), 

Die  1918  bei  Niemeyer  in  Halle  veröffentlichten  Schriften  von 
E.  V.  Stern,  Die  russische  Agrarfrage  und  die  russische  Revolution 
(Auslandsstudien  11),  und  von  V.Löwe,  Das  neue  Rußland  und  seine 
sittlichen  Kräfte,  entsprechen  beide  nicht  ganz  ihrem  Titel.  Jene  legt 
den  Schwerpunkt  auf  eine  agrargeschichtliche  Kritik  der  Bauernbefrei- 
ung, diese  auf  eine  allgemeine  Kritik  der  Schäden  des  alten  Rußlands. 

Aus  naheliegenden  Gründen  verdient  die  Haltung  des  Sozialis- 
mus vor  dem  Kriege  und  während  des  Krieges  die  besondere  Aufmerk- 
samkeit des  Historikers.  Aus  der  Fülle  der  einschlägigen  selbständigen 
und  periodischen  Literatur  seien  hier  vier  Zeitschriftenaufsätze  ver- 

25* 


384  Notizen  und  Nachrichten. 

schiedener  Parteirichtung  hervorgehoben,  die  besonders  geeignet  sein 
dürften,  Aufklärung  und  Anregung  zu  bieten:  H.  Herkner,  Sozial- 
demokratie und  Ausiandspolitik  (Preußische  Jahrbücher  161,  1915), 
E.  Bernstein,  L' Impirialisme  iconomique  et  la  „Soziaidemokratie'* 
(Revue  Politique  Internationale  6 ,  1916),  J.  Rouge,  Le  socialisme  alle- 
mand  et  la  guerre  (Revue  Politique  et  Parlementaire  94,  1918)  und 
namentlich  G.  Mayer,  Der  deutsche  Marxismus  und  der  Krieg  (Ar- 
chiv für  Sozialwissenschaft  43,  1917).  Auch  K.  Emils  Artikelserie  über 
handelspolitische  Fragen  (Neue  Zeit  35,   I,  1917)  gehört  hierher. 

J.  Hashagen. 
Neue  Bücher:  Friedr.  Zahn,  Bayern  und  die  Reichseinheit. 
(München,  Gerber.  2,50  M.)  —  Zur  europäischen  Politik  1897—1914. 
Unveröffentlichte  Dokumente.  In  amtlichem  Auftrag  hrsgg.  unter 
Leitung  von  Beruh.  Schwertfeger.  (5  Bde.)  1. — 4.  Bd.  (Berlin, 
Mobbing.  Vollst.  20  M.)  —  Frdr.  Curtius,  Fürst  Chlodwig  zu  Hohen- 
lohe-Schillingsfürst.  Zu  seinem  100.  Geburtstag  31.  III.  1919.  (Stutt- 
gart, Deutsche  Verlags-Anstalt.  2  M.)  —  Schmidt-Breitung,  Welt- 
geschichte der  neuesten  Zeit  1902 — 1918.  (Leipzig,  Engelmann. 
4,80  M.)  —  Hal6vy,  Präsident  Wilson.  Eine  Studie  über  die  ameri- 
kanische Demokratie.  (Berecht.  Übertr.  aus  dem  Französischen  von 
Hans  Fritzsche.)  (Zürich,  Rascher  &  Cie.  7,20  M.)  —  Reventlow, 
Politische  Vorgeschichte  des  großen  Krieges.  (Berlin,  Mittler  &  Sohn. 
14  M.)  —  Graf  Pourtal^s,  Am  Scheidewege  zwischen  Krieg  und 
Frieden.  Meine  letzten  Verhandlungen  in  Petersburg,  Ende  Juli  1914. 
(Charlottenburg,  Deutsche  Verlagsgesellschaft  für  Politik  und  Ge- 
schichte. 3  M.)  —  G.  V.  Jagow,  Ursachen  und  Ausbruch  des  Welt- 
krieges. (Berlin,  Mobbing.  6  M.)  —  Dietr.  Schäfer,  Die  Schuld  am 
Kriege.  (Oldenburg,  Stalling.  2,25  M.)  —  Sauerbeck,  Der  Kriegs- 
ausbruch. Eine  Darstellung  von  neutraler  Seite  an  Mand  des  Akten- 
materials. (Stuttgart,  Deutsche  Verlags-Anstalt.  12  M.)  —  Melf- 
ferich.  Der  Weltkrieg.  1.  Bd.  (Berlin,  Ullstein  &  Co.  5  M.)  —  Egli, 
Zwei  Jahre  Weltkrieg.  2.  Aufl.  (Zürich,  Schultheß  &  Co.  8  M.)  — 
Lambach,  Ursachen  des  Zusammenbruchs.  (Mamburg,  Deutsch- 
nationale Verlagsanstalt.  2,40  M.)  —  Paul  Graf  v.  Moensbroech, 
Wilhelms  II.  Abdankung  und  Flucht.  (Berlin,  Curtius.  2,50  M.)  — 
Runkel,  Die  deutsche  Revolution  (bis  zum  Zusammentreten  der 
Nationalversammlung).  (Leipzig,  Grunow.  6  M.)  —  Werminghoff, 
Weltkrieg,  Papsttum  und  römische  Frage.    (Malle,  Niemeyer.    3  M.) 

Deutsche  Landschaften. 

Dem  jungen  Schweizer  die  Geschichte  seines  Landes  in  volks- 
tümlicher Gestalt  zu  vermitteln,  ist  der  Zweck  der  von  M.  Corray 


Deutsche  Landschaften.  385 

unter  dem  Titel  „Tapfer  und  treu'*  herausgegebenen  Sammlung  histo- 
rischer Materialien.  (Frauenfeld  und  Leipzig,  Huber  &  Co.  1916. 
X  u.  324  S.  Geb.  7,50  Fr.)  —  Sie  bietet  eine  Auswahl  von  Erzäh- 
lungen und  Schilderungen  aus  Chroniken,  Urkunden  und  Briefen,  läßt 
daneben  aber  auch  moderne,  besonders  schweizerische  Schriftsteller 
wie  Jeremias  Gotthelf  und  Gottfried  Keller  zu  Worte  kommen.  So 
ist  sie  dem  Stoffe  nach  etwas  mehr,  wissenschaftlich  betrachtet  aber 
weniger  als  ein  Quellenbuch  zur  Schweizer  Geschichte.  W.  M. 

Karl  Kiesel,  Petershüttly.  Ein  Friedensziel  in  den  Vogesen. 
(Berlin,  Dietrich  Reimer  (Ernst  Vohsen).  1918.  VIII  u.  215  S.  mit 
16  Textbildern  und  10  Lichtdrucktafeln  und  Karten.  Preis  geb.  8  M.) 
—  Ein  kluger  Laie  legt  hier  ein  prächtig  ausgestattetes  Buch  vor, 
dessen  geographische  und  geschichtliche  Lehren  weiterer  Beachtung 
wert  sind.  Schon  der  Titel  „Petershüttly",  der  einer  der  uralten  deut- 
schen Melkereien  unweit  der  „Schlucht"  und  des  französischen  Luft- 
kurorts Oerardmer  entlehnt  ist,  soll  daran  erinnern,  daß  sich  Jahr- 
hunderte lang  rittlings  des  Grenzkamms  eine  Reihe  einheitlicher  deut- 
scher Herrschafts-,  Rechts-  und  Wirtschaftsgebiete  diesseits  und  jen- 
seits der  Paßhöhen  von  Bussang  und  Ventron  (Winterung  der  elsässi- 
schen  Herden!)  bis  zu  den  flachen  Übergängen  von  Saal  und  Schirmeck 
erstreckte.  Leider  liegen  infolge  der  traurigen  Verhältnisse,  die  seit 
Jahrzehnten  im  Colmarer  Bezirksarchiv  herrschen,  bisher  nur  wenig 
ergiebige  Quellen  vor,  eingehend  und  anschaulich  das  Werden  und 
Wachsen  der  elsässischen  Einwanderung  in  Oberlothringen  zu  schildern. 
Aber  geschickt  versteht  es  der  Verfasser,  auch  geringfügige  Notizen 
zu  einzelnen  lebensvollen  Bildern  zu  vereinigen  und  alle  die  vielfältigen 
Beziehungen  zum  mindesten  anzudeuten,  die  Herren  und  Bauern  der 
Vogesentäler  noch  in  einer  Zeit  aufrechterhalten,  da  die  französische 
Ausdehnungspolitik  selbst  bereits  den  Boden  der  Rheinebene  erreicht 
hat.  Insbesondere  die  Geschichte  der  Hochweiden  des  Münstertales 
und  der  Reichsabtei  Remiremont  im  16.  und  17.  Jahrhundert  bietet 
treffliche  Beispiele  für  die  wirtschaftliche  Expansionskraft  des  deut- 
schen Volkes,  die  auch  in  den  bösen  Zeiten  nationaler  Schwäche  un- 
gebrochen fortwirkt.  Diese  Schilderung  auf  die  ganze  Kette  des 
„Grenz"- Gebirges  auszudehnen,  war  ein  außerordentlich  dankbares 
Thema  für  die  Forscher  der  Landesgeschichte,  die  eingehender  und 
umfassender  die  Aktenschätze  der  elsässischen  und  vor  allem  die  der 
oberlothringischen  Städte  und  Herrschaften  ausbeuten  konnten,  als  es 
der  Verfasser  der  vorliegenden  Skizzen  im  Feldlager  im  Oberelsaß, 
in  den  Argonnen  und  in  Nordfrankreich  vermochte.  Heute  ist  diese 
Anregung,  die  im  Sommer  1918  niedergeschrieben  wurde,  ein  from- 
mer Wunsch  geworden.  Der  Gedanke  selbst  aber  soll  unvergessen 
bleiben;  das  eigentümliche  geschichtliche  und  politische  Denken  der 

25** 


386  Notizen  und  Nachrichten. 

deutschen  Nation  läßt  vielleicht  in  der  Zukunft  mehr  Interesse  am 
verlorenen  Volksgut  jenseits  des  Rheines  erhoffen,  als  sich  das 
schöne  Land  im  letzten  halben  Jahrhundert  leider  erhalten  konnte. 

P.  Wentzcke. 
Die  Entwicklung  des  seit  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  in  den 
Breisgaustädten  Frei  bürg  und  Waldkirch  blühenden,  jetzt  fast  ganz 
verschwundenen  Kunsthandwerks  der  „Borer  und  Balierer"  — 
Bearbeiter  von  Halbedelsteinen  und  Edelsteinen  —  behandelt,  aus- 
schließlich auf  Grund  archivalischer  Quellen,  eine  Monographie  von 
E.  Schragmüller  (Volkswirtschaftliche  Abhandlungen  der  badischen 
Hochschulen.    Heft  30.    Karlsruhe,  Braun.    1914.    120  S.).  K. 

Entstehung  und  Entwicklung,  letztere  vornehmlich  im  19.  Jahr- 
hundert, des  Kultur-  und  Arrondierungswesens  des  Kraichgauer  Niede- 
rungsgebietes, im  besonderen  der  Domäne  Insultheim  im  heutigen 
Baden,  deren  Verhältnisse  manche  Ähnlichkeiten  aufweisen  mit  den- 
jenigen Nordostdeutschlands,  ist  Gegenstand  einer  umfassenden  Unter- 
suchung von  Fr.  W.  Zahn  (Volkswirtschaftliche  Untersuchungen  der 
badischen  Hochschulen.    Heft  24).   (Karlsruhe.    1914.    VIII  u.  229  S.) 

K. 

Nun  bekommt  auch  Württemberg  eine  Biographiensammlung. 
Der  um  die  württembergische  Geschichte  sehr  verdiente  Professor 
Dr.  Karl  Weller  hat  das  Unternehmen,  das  ein  entschiedenes  Bedürf- 
nis war,  angeregt  und  die  Kommission  für  Landesgeschichte  dafür 
gewonnen;  mit  Professor  Dr.  Viktor  Ernst  zusammen  gibt  er  nunmehr 
den  „Württembergischen  Nekrolog"  heraus,  der  je  in  einem 
Band  die  Lebensgeschichte  und  Charakteristik  der  Toten  eines  Jahres 
bringt,  bei  denen  nach  dem  Urteil  der  Herausgeber  solche  Arbeit  ein 
Bedürfnis  sein  kann.  Es  sind  Männer  aus  allen  Lebensgebieten;  das 
Geistesleben  ist,  wie  es  sich  gerade  bei  Württemberg  gebührt  und  von 
selbst  ergibt,  erfreulich  stark  vertreten.  Begonnen  wurde  mit  dem 
Jahre  1913.  („Württembergischer  Nekrolog  für  das  Jahr  1913".  Im 
Auftrag  der  Württembergischen  Kommission  für  Landesgeschichte 
herausg.  von  Karl  Weller  und  Viktor  Ernst.  Stuttgart,  Kohlhammer. 
1916.)  Der  Band  über  1914  schloß  sich  bald  (1917)  an,  er  bringt  bereits 
mehrere  im  Krieg  Gefallene,  die  wir  schwer  vermissen.  Besonders  her- 
vorgehoben und  zum  Lesen  empfohlen  seien  aus  eben  diesem  Band 
etwa  die  Biographien  über  Paul  Buder,  Hugo  Faißt,  K.  B.  Klun- 
zinger,  Hermann  Süskind.  —  Nachtrag  vom  Sommer  1919:  Inzwischen 
ist  auch  der  Nekrolog  für  1915  erschienen.  Rapp. 

Max  von  Rümelin,  der  Kanzler  der  Universität  Tübingen,  hat 
dort  bei  der  Feier  der  25jährigen  Regierung  des  Königs  eine  Rede 
gehalten,  die  gedruckt  vorliegt  (Tübingen,  Mohr.    1916.    1  M.):  „Gei- 


Deutsche  Landschaften.  387 

stiges  Leben  in  Württemberg  unter  der  Regierung  König  Wilhelms  IL'* 
Sie  beschäftigt  sich  einmal  mit  der  öffentlichen  Pflege  der  geistigen 
Güter  unter  einer  Regierung,  die  alte  Überlieferungen  schonend  im 
Sinne  „besonnenen  Fortschrittes"  weiterzubilden  strebt.  Sodann 
spricht  sie  erneut  von  der  vielerörterten  schwäbischen  Eigenart  und 
ihren  Veränderungen,  wobei  der  Sohn  Rümelin  die  Gedanken  seines 
Vaters  aufnimmt,  der  einst  als  Dozent  und  Kanzler  von  der  gleichen 
Stelle  aus  über  Württemberg  und  seine  Art  gesprochen  hat.    Rapp. 

Moritz  V.  Rauch  läßt  im  Bericht  des  Historischen  Vereins  Heil- 
bronn über  die  Jahre  1915 — 1918  eine  lesenswerte  Abhandlung  über 
das  Leben  des  Heilbronner  Großkaufmanns  und  Verkehrspolitikers 
Jakob  Friedrich  Gsell  (1744 — 1805)  erscheinen;  wenn  auch  Gsells 
Straßenbaupläne,  durch  die  er  den  Handel  Heilbronns  auf  ganz  andere 
Höhe  zu  bringen  hoffte,  Projekte  geblieben  sind,  ist  seine  energische 
und  rastlose  Tätigkeit  doch  von  großem  Nutzen  für  die  Stadt  gewesen. 
Außerdem  veröffentlicht  v.  Rauch  ein  achtundvierziger  Lied  aus  Heil- 
bronn, das  sich  mit  der  Abführung  des  revoltierenden  8.  Regiments  aus 
der  Stadt  beschäftigt.  Karl  Stieler  macht  Mitteilungen  über  die  Be- 
ziehungen seines  Großvaters  Franz  Michael  Stieler  zu  Adolf  Goppelt. 
W.  Nestle  druckt  Briefe  von  D.  J.   Strauß  an  Charles  Ritter  ab. 

Als  12.  Neujahrsblatt  der  Gesellschaft  für  fränkische  Geschichte 
erschien  eine  kurze  zusammenfassende  Darstellung  von  Max  Kahn 
über  „Die  Stadtansicht  von  Würzburg  im  Wechsel  der  Jahrhunderte" 
(München  und  Leipzig,  Duncker  &  Humblot.  1918.  49  S.  2  M.).  — 
Die  Werke  graphischer  Kunst,  die  Gesamtansichten  Würzburgs  geben, 
werden  mit  knapper  Beschreibung  vom  Ende  des  15.  bis  zur  Mitte 
des  19.  Jahrhunderts  begleitet.  Eine  zeitlich  geordnete  Liste  und 
zwölf  treffliche  Bildtafeln  sind  beigefügt. 

In  der  umstrittenen  Frage  der  Entstehungszeit  des  Liber  anna- 
lium  iurium  archiepiscopi  et  ecclesiae  Trevirensis  nimmt  Albert  Len- 
narz  das  Wort  im  Trierischen  Archiv,  Bd.  38/39;  auf  Grund  genauester 
Analyse  verlegt  er  sie  zwischen  den  25.  Dez.  1211  und  Ende  1217. 
Einen  Beitrag  zur  Geschichte  der  Mystik  liefert  J.  W.  E.  Roth  mit 
dem  Abdruck  von  dem  Trierer  Stadtarchiv  entnommenen  Visionen  aus 
dem  Kloster  St.  Thomas  an  der  Kyll.  F.  Michel  beschäftigt  sich 
mit  dem  1580  begründeten  Jesuitenkolleg  von  Coblenz,  speziell  mit 
der  Geschichte  seiner  Bauten.  Schließlich  ist  der  Schluß  der  an  dieser 
Stelle  schon  erwähnten  Arbeit  von  Lager  über  die  Visitationsreisen 
des  Bischofs  Mannay  in  der  Diözese  Trier  1807  zu  erwähnen. 

Einen  Beitrag  zur  Geschichte  der  Erweckung  in  Minden-Ravens- 
berg  und  zur  Familiengeschichte  des  gewesenen  Reichskanzlers  Michaelis 
will  Cajus  Fabricius  liefern  mit  seiner  Studie  über  Carl  vonTschirschky- 


388  Notizen  und  Nachrichten. 

Boegendorff,  der  in  den  dreißiger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  wegen 
seines  Konfliktes  in  der  Potsdamer  Bibelgesellschaft  mit  Bischof  Eylert 
und  seiner  Eidesverweigerung  aus  der  Armee  entlassen  wurde,  dann 
auch  in  Minden  als  Führer  der  Quäker  in  Konflikte  mit  der  Regierung 
geriet  (Jahrbuch  des  Vereins  für  die  evangelische  Kirchengeschichte 
Westfalens  1918).  Kl.  Löffler  berichtet  über  die  Versuche,  die  Refor- 
mation in  der  Stadt  Münster  einzuführen;  sie  haben  zunächst  vollen 
Erfolg  gehabt,  1533  wurde  Münster  durch  Übergabe  sämtlicher  Pfarr- 
kirchen rechtlich  als  evangelische  Stadt  anerkannt,  aber  schon  ein. 
Jahr  darauf  begann  das  Regiment  der  Wiedertäufer,  in  dessen  Konse- 
quenz die  ausschließliche  Herrschaft  des  Katholizismus  wieder  auf- 
gerichtet wurde.  G.  Schumacher  schildert  den  Abbruch  der  Petri- 
kirche  1810  und  den  Verkauf  der  Marienkirche  in  Höxter  1812. 

Eine  kurze  und  übersichtliche  Zusammenfassung  der  Geschichte 
der  Lande  Braunschweig  und  Lüneburg  seit  der  Teilung  des  Herzog- 
tums Sachsen  im  Jahre  1180  gibt  O.  Jürgens  in  den  Hannoverschen 
Geschichtsblättern  22,  1.  Das  Heft  enthält  auch  die  Fortsetzung  der 
in  Bd.  19  begonnenen  Übersicht  über  die  Bestände  des  Hannoverschen 
Stadtarchivs;  dieser  Teil  bringt  das  Verzeichnis  der  Stadtbücher  und 
Register. 

Zur  Feier  seines  50jährigen  Bestehens  hat  der  Historische  Verein 
Brandenburg  (Havel)  eine  von  Otto  Tschirch  herausgegebene  Fest- 
schrift erscheinen  lassen,  aus  deren  Inhalt  folgende  Aufsätze  genannt 
sein  mögen:  Georg  Draeger,  Verfassung  und  Verwaltung  von  Alt- 
und  Neustadt  Brandenburg  bis  zum  Dreißigjährigen  Kriege;  Hermann 
Krabbo,  Markgraf  Heinrich  ohne  Land  von  Brandenburg  (hingewiesen 
sei  auf  die  beigefügte  Ahnentafel  Markgraf  Heinrichs  und  seiner  Gattin 
Agnes  von  Bayern);  J.  H.  Gebauer,  Die  Ablagerpflicht  des  Branden- 
burger Domkapitels;  Karl  Schlottmann,  Die  Flurnamen  der  Bran- 
denburger Gegend,  und  schließlich  von  demselben  Verfasser:  Die 
Wüstungen  der  Brandenburger  Gegend.  Otto  Tschirch  schildert  die 
Gründung  des  Vereins  und  seine  Tätigkeit  in  den  verflossenen  fünfzig 
Jahren. 

Die  Fortsetzung  der  hier  schon  erwähnten  Arbeit  von  O.  Utten- 
dörfer  über  Zinzendorf  und  das  theologische  Seminar  der  Bruderunität 
bringt  die  Zeitschrift  für  Brudergeschichte  Jahrgang  12,  1918.  Dieser 
Teil  umfaßt  die  Arbeit  Zinzendorfs  am  Seminar  in  der  Wetterau  in 
den  Jahren  1743 — 1745.  E.  Teufel  macht  Mitteilungen  über  die  Ge- 
schichte der  Brüdergemeinde  in  Sorau  (Nieder-Lausitz). 

„Aus  Österreichs  Vergangenheit"  Heft  13  (Leipzig,  Haase)  bringt 
unter  dem  Titel  „Das  Werden  unserer  Volksschule*'  Schulrat  Anton 
Weiß  eine  Sammlung  der  wichtigsten  Schulvorschriften  für  die  öster- 


Deutsche  Landschaften.  389 

reichische  Volksschule  von  den  Beschlüssen  der  Salzburger  Synode 
1569  bis  zu  dem  ersten  österreichischen  Reichsvolksschulgesetz  vom 
6.  Dezember  1774  und  der  es  ergänzenden  Leopoldinischen  Studien- 
ordnung von  1791.  Mit  Recht  hebt  der  Herausgeber  es  als  eine  be- 
merkenswerte Erscheinung  hervor,  daß  in  Österreich,  wo  so  viele  und 
tiefe  Gegensätze  geographischer,  nationaler,  wirtschaftlicher  und  reli- 
giöser Natur  vorliegen,  Reichsgesetze  für  das  niedere  Schulwesen  seit 
fast  150  Jahren  bestehen  und  sich  entwickelt  haben. 

Frischeisen- Köhler. 
Der  elegant  geschriebene  Aufsatz  von  Emil  Utitz  über  „Wien" 
(Kunst  und  Künstler,  Heft  7,  1919)  bietet  auch  dem  Historiker  eine 
Fülle  kritisch  abgestimmter,  sehr  anregender  Betrachtungen  über  die 
alte  Kaiserstadt,  deren  Vergangenheit  einigermaßen  selbstgefällig  ihrer 
zeitgemäßen  Entwicklung  im  Wege  stand.  Ihre  Zukunft  als  großes 
Kulturzentrum  macht  Utitz  nur  von  einem  innigeren  Zusammenwirken 
mit  dem  gesamtdeutschen  Geistesleben  abhängig.  IV.  Andreas. 

Neue  Bücher:  Balzer,  Der  Kanton  Graubünden  in  der  Media- 
tionszeit (1803—1813).  (Chur,  Schuler.  6  M.)  —  Beusch,  Rechts- 
geschichte der  Grafschaft  Werdenberg.  (St.  Gallen,  Fehr.  4,50  M.)  — 
Mantel,  Geschichte  der  Zürcher  Stadtbefestigung.  1.  Teil.  (Zürich, 
Beer  &  Cie.  6  M.)  —  Wackernagel,  Geschichte  des  Elsasses.  (Basel, 
Frobenius  A.-G.  20  M.)  —  Westfälisches  Urkundenbuch.  Bd.  7.  (Re- 
gister, Nachträge  usw.)  (Münster,  Regensburg.  20  M.)  —  Lenz,  Ge- 
schichte der  Kgl.   Friedrich-Wilhelms-Universität  zu  Berlin.    2.   Bd., 

2.  Hälfte.  (Halle,  Buchh.  d.  Waisenhauses.  11  M.)  —  Diersch,  Die 
geschichtliche  Entwicklung  des  Landtagswahlrechts  im  Königreich 
Sachsen.    (Leipzig,  Glausch.    6,50  M.)  —  Salzburger  Urkundenbuch. 

3.  Bd.  Urkunden  von  1200 — 1246.  Gesammelt  und  bearbeitet  von 
Willib.  Hauthaler  und  Franz  Martin.  (Salzburg,  Höllrigl.  33  M.) 
—  Montanus,  Die  nationale  Entwicklung  Tirols  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten.   (Innsbruck,  Verlagsanstalt  Tyrolia.    4,20  M.) 

Vermischtes. 

Dem  (38.)  Jahresbericht  der  Gesellschaft  für  rheinische 
Geschichtskunde  über  das  Jahr  1918  entnehmen  wir  folgendes. 
Veröffentlicht  wurden:  1.  Die  Behördenorganisasion  der  Rheinprovinz 
seit  1815.  Von  Max  Bär  (Publikation  35,  1919).  2.  Köln  im  Mittel- 
alter. Topographie  und  Verfassung.  Von  Hermann  Keussen  (revi- 
dierter Sonderabdruck  aus  der  2.  Preisschrift  der  v.  Mevissen-Stiftung, 
1918).  —  Die  Einleitung  zu  dem  3.  (Schluß-)  Band  der  Werdener  Urbare 
(Kötzschke)  ist  im  Druck.  Der  unterbrochene  Druck  des  3.  Bandes 
(1589—1596)  der   Jülich-Berg.   Landtagsakten,   1.    Reihe  (H.    Gold- 


390  Notizen  und  Nachrichten. 

Schmidt)  ist  noch  nicht  wiederaufgenommen  worden ;  die  Vollendung 
des  Druckes  des  1.  Bandes  (1624—1630)  der  2.  Reihe  (Küch)  wurde 
wegen  der  hohen  Druckpreise  vorläufig  aufgegeben.  Der  im  Drucke 
fast  vollendete  2.  Band  der  Matrikel  der  Universität  Köln  (Keussen) 
soll  alsbald  erscheinen ;  bei  Besserung  der  Verhältnisse  soll  auch  mit  dem 
Druck  der  2.  Auflage  des  1.  Bandes  begonnen  werden.  —  Mit  0 p per- 
mann s  Untersuchungen  über  die  ältesten  rheinischen  Urkunden  (bis 
1100)  soll  eine  Reihe  „Vorstudien  zu  dem  rheinischen  Urkundenbuch 
bis  1250"  eröffnet  werden.  Von  den  Quellen  zur  Rechts-  und  Wirt- 
schaftsgeschichte der  rheinischen  Städte  sind  die  Dürener  Quellen 
(Schoop)  bis  auf  Register,  Einleitung  und  Stadtplan  fertig  gedruckt. 
Die  schon  beim  vorjährigen  Bericht  abgeschlossen  vorliegende  Neu- 
bearbeitung der  Kölner  Reimchronik  des  Gottfried  Hagen  (E.  Dorn- 
feld und  Luise  v.  Winterfeld)  konnte  noch  nicht  gedruckt  werden. 
Auch  die  Drucklegung  des  Verzeichnisses  der  Aufsätze  zur  rheinischen 
Geschichte  in  Zeitschriften  und  Sammelwerken  bis  zum  Jahre  1915 
(Bär)  stockt.  Wenn  die  Schwierigkeiten  im  Druckgewerbe  nachlassen, 
sollen  die  „Quellen  zur  inneren  Geschichte  des  Territoriums  Kleve" 
(Ilgen)  unter  die  Presse  kommen.  Von  den  „Rheinischen  Briefen 
und  Akten  zur  Geschichte  der  politischen  Bewegung  in  Preußen  und 
Deutschland  1830—1850"  ist  der  1.  Band  (bis  1845)  im  Druck  nahezu 
vollendet; -er  enthält  den  politischen  Briefwechsel,  die  Denkschriften, 
Tagebücher  und  andere  Aufzeichnungen  der  rheinischen  Führer  in  der 
Verfassungs-  und  nationalen  Einheitsbewegung,  ferner  Akten  über  die 
Entstehung  der  politischen  Presse  in  der  Rheinprovinz  sowie  erläu- 
ternde Akten  der  Berliner  Zentralbehörden  und  der  rheinischen  Regie- 
rungsbehörden. Der  Druck  des  2.  Bandes,  der  sich  insbesondere  mit 
dem  Vereinigten  Landtag  und  dem  Jahre  1848  befaßt,  soll  sich  un- 
mittelbar anschließen.  Das  „Grundbuch  des  Kölner  Judenviertels 
1135 — 1425"  (A.  Kober)  soll  demnächst  erscheinen.  —  Aus  dem  Be- 
richte über  das  Jahr  1917  erwähnen  wir  noch,  daß  im  37.  Berichtsjahre 
erschienen  sind:  Die  Urbare  der  Abtei  Werden  an  der  Ruhr,  hrsgg. 
von  R.  Kötzschke;  B:  Lagerbücher,  Hebe-  und  Zinsregister  vom 
14.^17.  Jahrhundert  (1917;  Publikation  20);  Quellen  zur  Geschichte 
des  Kölner  Handels  und  Verkehrs  im  Mittelalter,  hrsgg.  von  B.  Kuske; 
2.  Bd.:  1450—1500  (1918;  Publikation  33). 

Die  Historische  Kommission  für  Hannover,  Oldenburg, 
Braunschweig,  Schaumburg-Lippe  und  Bremen  veröffent- 
licht ihren  „8.  und  9.  Jahresbericht  über  die  Geschäftsjahre  1917/18 
und  1918/19".  Von  dem  Werke  „Die  Renaissanceschlösser  Nieder- 
sachsens" liegt  der  Tafelband  und  die  von  B.  Niemeyer  verfaßte 
erste  Hälfte  des  Textbandes  „Anordnung  und  Einrichtung  der  Bauten" 
im  Buchhandel  vor;  die  Vollendung  des  Werkes  ist  demnächst  zu  er- 


Vermischtes*  391 

warten.  Der  Niedersächsische  Städteatlas  (P.  J.  Meier)  steht  vor 
der  Drucklegung;  ein  kurzer  Text  soll  beigegeben  werden,  die  wissen- 
schaftlichen Untersuchungen  werden  später  als  besonderes  Buch  er- 
scheinen. Die  fertig  vorliegende  Biographie  des  Herzogs  Karl  Wil- 
helm Ferdinand  von  Braunschweig  von  Selma  Stern  wird  als  Ver- 
öffentlichung der  Kommission  gedruckt  werden. 

Dem  9.  Bericht  des  Schweizerischen  Wirtschaftsarchivs 
in  Basel  1918  (Basel,  April  1919)  ist  eine  Übersicht  über  den  Katalog 
der  Abteilung  III  (Volkswirtschaftliche  und  wirtschaftspolitische  Ab- 
teilung) beigegeben.  Die  Katalogisierung  der  Abteilung  „Zeitungen** 
(II)  ist  abgeschlossen,  die  ganze  Sammlung  jetzt  zugänglich. 

Preisaufgabe  der  Samsonstiftung  bei  der  Bayerischen  Aka- 
demie der  Wissenschaften  für  das  Jahr  1919.  Die  Bedeutung  der 
moralischen  Anschauungen  und  ihrer  Wandlungen  für  die  künstleri- 
schen Ausdrucksformen  in  der  deutschen  Dichtung  der  ersten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts.  —  Preis:  3000  M.    Einlief erung:  1.  Juni  1922. 

Rittergutsbesitzer  F.  Briest-Boltenhagen  hat  der  Philosophi- 
schen Fakultät  der  Universität  Greifswald  1500  M.  zur  Ausschreibung 
einer  Preisaufgabe  aus  dem  Gebiete  der  Ortsnamenforschung  Pom- 
merns zur  Verfügung  gestellt.  Näheres  durch  den  Dekan  der  Fakultät. 
Bewerbungen  mit  Kennwort  sind  bis  zum  15.  Mai  1922  an  diesen  ein- 
zureichen. 

Preisaufgabe  des  Norwegischen  Nobelinstituts:  Darstellung 
der  Geschichte  der  Freihandelsbewegung  im  19.  Jahrhundert  und  ihrer 
Bedeutung  für  die  Friedensbestrebungen.  Bearbeitung  in  deutscher, 
englischer  oder  französischer  Sprache.  Preis:  5000  norweg.  Kronen. 
Die  preisgekrönte  Schrift  bleibt  Eigentum  des  Nobelinstituts.  Die 
Beantwortungen  müssen,  von  geschlossenen  Namenszetteln  begleitet, 
bis  zum  1.  Juli  1922  an  das  Norwegische  Nobelinstitut,  Drammensvei  19, 
Christiania,  eingesandt  werden. 

Am  4.  Januar  1919  starb  zu  Ruhpolding  bei  Traunstein  in  Ober- 
bayern Georg  Frhr.  von  Hertling  (geb.  in  Darmstadt  31.  August 
1843).  Wir  gedenken  hier  nur  des  Gelehrten,  der  ein  charaktervoller 
Vertreter  des  der  Wissenschaft  zugewandten  deutschen  Katholizismus 
war  und  sich  um  dessen  geistige  Organisierung  namentlich  durch  die 
Begründung  der  Görresgesellschaft  (1876)  bemüht  hat.  Seine  grund- 
sätzlichen Erörterungen  über  „Das  Prinzip  des  Katholizismus  und 
die  Wissenschaft**  (1899)  und  viele  seiner  sozialpolitischen  und  zeit- 
geschichtlichen Aufsätze  dürften  für  den  Historiker  wichtiger  sein  als 
seine  Arbeiten  zur  Geschichte  der  Philosophie  oder  auch  sein  populäres 
Buch  über  Augustinus. 


392  Notizen  und  Nachrichten. 

Am  2.  Mai  1919  starb  im  53.  Lebensjahre  der  a.  o.  Professor 
der  Wirtschaftsgeschichte  an  der  deutschen  Universität  Prag,  Dr. 
Paul  Sander,  der  sich  vor  allem  durch  sein  gründliches  Werk  über 
den  „Reichsstädtischen  Haushalt  Nürnbergs"  (1902)  einen  dauernden 
Platz  in  der  historischen  Literatur  gesichert  hat.  Aus  erschöpfenden 
archivalischen  Studien  hat  er  hier  auf  beinahe  1000  Seiten  ein  sicheres 
Bild  von  Nürnbergs  Haushalt  im  15.  Jahrhundert  entworfen.  In  solcher 
gründlichen  konkreten  Forschung  lag  seine  Stärke.  Als  Schüler  Scheffer- 
Boichorsts  und  Breßlaus  hatte  er  einst  mit  einer  Arbeit  über  den 
„Kampf  Heinrichs  IV.  mit  Gregor  VII.  1080 — 1084"  promoviert,  sich 
dann  den  wirtschaftsgeschichtlichen  Forschungen  zugewandt  —  neben 
der  Nürnberger  Arbeit  sind  Aufsätze  über  das  mittelalterliche  Zunft- 
problem und  zur  Kritik  Peter  Harers  zu  nennen.  Daneben  galt  sein 
Bemühen  verfassungsrechtlichen  Problemen:  sein  Buch  von  1906 
„Feudalstaat  und  bürgerliche  Verfassung"  legt  davon  vor  allem  Zeugnis 
ab.  Seit  er  an  die  deutsche  Universität  in  Prag  berufen  war,  wandte 
er  sich  besonders  der  böhmischen  Wirtschaftsgeschichte  zu;  in  kriti- 
schen Besprechungen  und  Gutachten  hat  er  sich  auf  dem  neuen  Arbeits- 
gebiete noch  betätigt,  bis  ihn  der  Krieg  als  freiwilligen  Kämpfer  aus 
der  wissenschaftlichen  Tätigkeit  abrief.  Vorwiegend  in  Belgien  als 
Kompagnieführer  im  Besatzungsheere  tätig  hat  er  sich  dort  die  Krank- 
heit geholt,  die  nun  auch  ihn  dahingerafft  hat.  Um  ihn,  der  zugleich 
der  gewissenhafteste  Gelehrte  wie  der  treueste  Freund  und  ein  Mann 
von  edelster  Gesinnung  war,  werden  alle  schmerzlich  trauern,  die  ihm 
nahe  gestanden  haben.  Walter  Goetz. 

Im  Mai  1919  starb  in  Bonn  der  Professor  der  katholischen  Theo- 
logie Joseph  Greving  (geb.  1868  in  Aachen);  er  hat  sich  als  Heraus- 
geber der  „Reformationsgeschichtlichen  Studien  und  Texte"  und  durch 
eigene  Forschungen  um  die  Geschichte  der  Reformationszeit  verdient 
gemacht,  aber  auch  auf  dem  Gebiete  der  mittelalterlichen  Kirchen- 
geschichte, insbesondere  der  rheinländischen,  nützliche  Arbeit  ge- 
leistet. 


1 


über  den  Begriff  einer  historisdien 
Dialektik. 

3.  Der  Marxismus. 

Von 

Ernst  Troeltsdi. 


Im  letzten  Jahrzehnt  des  Vormärz  zerbrach  die  All- 
macht des  Hegeischen  Systems,  teils  unter  den  Zerklüftungen, 
die  aus  ihm  selber  hervorgingen,  teils  und  vor  allem  unter 
dem  neuen  Anprall  westeuropäischen  Denkens,  der  mathe- 
matisch-mechanischen Naturwissenschaften  und  politisch- 
praktischen Reformbestrebungen.  Die  veränderte  Atmo- 
sphäre hat  es  erstickt,  nicht  die  Logik  von  innen  her  über- 
wunden, so  anfechtbar  und  einseitig  seine  Logik  auch  war, 
die  dem  modern  naturwissenschaftlichen  Denken  eine  sichere 
Stellung  einzuräumen  nicht  imstande  war  und  die  Logik 
überhaupt  wesentlich  nur  von  der  historischen  Bewegung 
aus  konstruierte.  Von  da  ab  bis  heute  heißt  es,  die  Vernach- 
lässigung der  Naturwissenschaften  in  der  deutschen  Philo- 
sophie nach  Kant  habe  sich  gerächt  und  zu  deren  Sturz 
für  immer  geführt;  und  in  der  Tat  hat  erst  die  neueste  Zeit 
in  dem  Verhältnis  einer  historischen  Bewegungslogik  zu  der 
mechanistischen  Naturlogik  wieder  ein  echtes  und  dauerndes 
Problem  der  Philosophie,  ja  das  gegenwärtige  Hauptproblem, 
wieder  erkannt. i)   Die  mechanistisch-naturwissenschaftliche 

1)  Hierzu  s.  man  die  mannigfachen  vortrefflichen  Ausführungen 
bei  0.  Spengler,  Der  Untergang  des  Abendlandes,  1918,  der  mit  vollem 
Recht  auf  Goethes  Scheidung  von  Verstand  und  Vernunft  als  bedeu- 
tendste Fassung  des  Problems  hinweist  und  daher  von  Goethe  statt 
von  Hegel  ausgeht.  Es  ist  der  alte  Kampf  Goethes  gegen  Newton, 
bei  dem  von  der  besonderen  ,,Farbeolehre"  ganz  abgesehen  werden  kann. 
Historische  Zeitschrift  (120.  ßd.)  3.  Folge  24.  Bd.  26 


394  Ernst  Troeltsch, 

Logik  wurde  damit  für  lange  Zeit  auch  in  Deutschland  zum 
Typus  des  logischen  Denkens  überhaupt  und  ihm  die  histo- 
rische und  ethische  Welt  so  gut  es  ging  angepaßt.  Die 
Dialektik  verschwand  oder  wurde  zu  einem  märchenhaften 
Ungeheuer,  von  dem  man  nur  mit  unbestimmtem  Grausen 
oder  lächelnder  Überlegenheit  sprach.  Wenn  in  den  geistes- 
geschichtlichen Wissenschaften,  vor  allem  der  Kunst-, 
Literatur-  und  Wissenschaftsgeschichte,  starke  Nachwir- 
kungen der  Dialektik  lebendig  blieben  und  auch  in  der 
Hegel  so  nahe  benachbarten  Historie  vermöge  der  Fort- 
wirkungen Rankes  und  der  Romantik  starke  Anklänge  an 
sie  fortdauerten,  so  war  es  doch  nur  ein  Fortleben,  wie  das 
des  Polypen,  dem  man  die  Hauptteile  des  Rumpfes  abge- 
schnitten hatte.  Sie  hieß  dann  einfach  „Entwicklung"  und 
verstand  sich  ohne  nähere  Begründung  von  selbst,  wurde 
zu  einem  besonderen  Eigentum  des  historischen  Denkens 
und  Talentes,  das  sich  um  Philosophie  nicht  zu  bekümmern 
braucht  und  einen  ursprünglich  philosophischen  Gedanken 
unter  diesem  Rechtstitel  von  aller  Philosophie  emanzipiert. 
Die  Historie  lebte  und  lebt  großenteils  von  einer  Philosophie, 
die  sie  gegen  die  andersartige  moderne  Philosophie  nur 
durch  die  Behauptung  ihres  unphilosophischen,  einzelwissen- 
schaftlichen Charakters,  d.  h.  durch  Ablehnung  aller  Philo- 
sophie, zu  rechtfertigen  vermag. 

In  ihrem  eigentlichen  logischen  Sinne  aufrecht  erhalten 
und  über  Hegels  Erkenntnisse  hinaus  bedeutsam  und 
fruchtbar  fortgebildet  worden  ist  die  Dialektik  nur  im 
Marxismus.  Sie  ist  dabei  gründlich  verändert  und  vor 
allem  in  ihrer  philosophischen  Begründung  und  ihrem  geisti- 
gen Sinne  arg  verbogen  und  verdorben  worden,  aber  sie  hat 
doch  dabei  den  Grundgegensatz  gegen  die  mechanistische 
Reflexionsphilosophie  und  die  psychologistische  Kausalität, 
ebendamit  aber  auch  ihre  konstruktive  Kraft  und  ihre  Ein- 
schmiegung  in  die  grundsätzliche  Bewegtheit  des  Wirklichen 
bewahrt.  Das  volle  Verständnis  für  sie  findet  sich  freilich 
nur  bei  dem  Dioskurenpaar  der  Begründer,  bei  Marx  und 
Engels,  deren  wissenschaftliche  Geschichtstheorie  eben  des- 
halb so  lange  verborgen  und  einflußlos  blieb,  während 
ihre    praktische  Agitation    und    Organisation    bereits    die 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  395 

Augen  der  Welt  fesselte,  und  deren  Epigonen  bereits  der 
Dialektik  so  ferne  waren,  daß  sie  sie  nicht  mehr  recht  ver- 
standen, aus  Zeitverhältnissen  entschuldigten  und  durch  eine 
mechanistische  Kausalitätstheorie  ersetzten,  schließlich  den 
in  der  Dialektik  verbundenen  Zusammenhang  von  Sein, 
Bewegung  und  Ziel  lösten  und  neben  die  Kausalität  der 
Geschichte  eine  Kantische  Richtung  auf  den  ethischen  End- 
zweck setzten.  Das  war  unumgänglich,  sobald  man  die 
Dialektik  in  Kausalität  verwandelt  hatte  und  für  ihren  Zweck 
und  Sinn  dann  außerkausale,  ethische  Vernunftnotwendig- 
keiten einsetzen  mußte.  Dann  konnte  man  über  Kausalität 
und  Teleologie,  Determinismus  und  Freiheit  disputieren,  die 
—  in  Wahrheit  nicht  vorhandenen  —  Beziehungen  Marxens 
zu  Kant  und  Fichte  aufsuchen  und  Marx  zum  Kantianer 
stempeln  oder  fortentwickeln.  Man  konnte  weiterhin  die  von 
Marx  im  Stile  Hegels  und  Feuerbachs  konstruierte  Urge- 
schichte aus  Spencer  oder  Darwin  oder  ähnlichen  Theorien 
ergänzen  und  ersetzen,  um  ihn  auf  die  Höhe  der  Forschung 
und  der  rein  kausalen  Entwicklungserkenntnisse  zu  bringen. 
All  das  sind  zweifellos  Anpassungen  an  den  modernen  Stand 
der  „Wissenschaft*',  wie  sie  einer  lebendig  fortwirkenden 
Lehre  unvermeidlich  sind  und  vor  allem  zur  scholastischen 
Umdeutung  heilig  gesprochener  Mustertexte  gehören.  Aber 
der  stärkste  wissenschaftliche  Gehalt  und  die  eigentliche 
gedankliche  Kraft  ist  damit  zerbrochen  oder  zersplittert. i) 

^)  Die  Opposition  gegen  die  Dialektik  bei  Masaryk,  Die  philos. 
u.  soziologischen  Grundlagen  des  Marxismus,  1899,  und  Peter  v.  Struve, 
Die  Marxsche  Theorie  der  sozialen  Entwicklung,  Braunsches  Archiv 
XIV,  1899.  Die  Abbiegungen  zum  Kantianismus  hinüber  bei  Woltmann, 
Der  historische  Materialismus,  1900,  und  Max  Adler,  Kausalität  und 
Teleologie,  1904.  Bemerkenswert  ist,  daß  es  sich  dabei  stets  um  einen 
positivistisch  interpretierten  Kantianismus  oder  um  die  Marburger 
Kantschule  handelt;  das  letztere  wohl  deshalb,  weil  auch  sie  einen  moni- 
stischen Determinismus  mit  einer  naturrechtlich-absolutistischen  Ethik 
verbindet;  vgl.  K.  Vorländer,  Kant  und  Marx,  1911,  und  Staudinger, 
Wirtschaftliche  Grundlagen  der  Moral,  1907.  Auch  Stammlers  „Über- 
windung" des  Marxismus  ist  in  den  sehr  starken  Konzessionen  an  eine 
monistische  Kausalitätserklärung  und  in  der  Entgegensetzung  einer  durch 
Freiheit  erfolgenden  Regelung  von  da  aus  bestimmt,  s.  Wirtschaft  und 
Recht  nach  der  materialistischen  Geschichtsauffassung 2,  1906,  wozu 
Max  Webers  später  zu  erwähnende  grausame  Kritik  zu  vergleichen  ist. 

26* 


396  Ernst  Troeltsch, 

Wendet  man  sich  dagegen  van  der  gegenwärtigen  Marxi- 
stischen Literatur  zu  den  Begründern  zurück,  so  ist  gerade 
die  Dialektik  das  äußerUch  am  stärksten  hervortretende  und 
fremdartigste  Merkmal,  aber  auch  die  wissenschaftlich, 
geschichtstheoretisch  und  geschichtsphilosophisch  am  meisten 
fesselnde  Konzeption,  die  den  Schlüssel  zu  den  wichtigsten 
und  fruchtbarsten  Anschauungen  dieser  Denker  über  die 
historische  Welt  darbietet. 

Es  kommt  also  darauf  an,  sowohl  den  festgehaltenen 
Sinn  als  auch  die  gleichzeitige  Umbildung  der  Dialektik 
bei  den  Begründern  des  Marxismus  richtig  zu  verstehen  und 
deren  Tragweite  für  die  historische  Methode  und  Erkenntnis 
zu  erfassen,  woneben  die  praktische  Bedeutung  und  Ver- 
wertung für  die  sozialistische  Parteibildung  hier  nicht  näher 
in  Betracht  kommt.  Das  Letztere  ist  eine  viel  erörterte 
wichtige  Frage  für  sich.  Für  die  Sicherstellung  der  hohen 
wissenschaftlichen  Fortschritte  und  Gewinne,  die  im  Marxis- 
mus für  alles  historische  Denken  liegen,  kommt  sie  nicht  in 
Betracht ;  ja,  die  wissenschaftlichen  Gewinne  sind  schon  bei 
den  Begründern,  unter  denen  Marx  eine  hohe  und  große 
Gelehrtengestalt,  Engels  ein  überaus  kombinationsreicher, 
lebendiger  und  scharfblickender  Beobachter  und  Entdecker 
war,  schon  mehr  Nebengewinne  und  sind  in  ihrer  weiteren 


Für  alle  diese  Leute  existiert  die  Dialektik  überhaupt  nicht  mehr.  Struve 
versteht  die  Dialektik  geradezu  als  Konstruktion  der  Revolution  und 
Aufhebung  der  Kontinuität,  wogegen  er  die  Kantische  Lehre  von  dem 
Zusammenhang  des  Kontinuitäts-  und  Kausalbegriffes  ausspielt  und 
eine  realistische  Kausalitätsforschung  fordert.  „Dieses  Gesetz  der  Konti- 
nuität, welches  die  Hegelisch  angehauchten  Marxisten  —  nach  dem 
Vorgange  Hegels  (1)  —  als  sinnlose  Tautologie  hinstellen  und  so  etwas  wie 
reaktionären  Blödsinn  nennen,  hat  kein  geringerer  als  Kant  aufgestellt." 
Dabei  ist  aber  der  Sinn  der  Dialektik  ganz  entstellt,  ebenso  wie  in  dem 
Schema  S.  664.  Das  ist  der  grundsätzliche  Gegensatz  eines  statischen 
Denkens  gegen  das  dynamische:  „In  der  Starrheit  des  , Denkens'  liegt 
aber  nicht  sowohl  seine  Stärke  als  die  Bedingung  seiner  Möglichkeit 
eingeschlossen;  ohne  dieselbe  kann  es  eben  selbst  nicht  gedacht  werden. 
Das  Veränderliche  sowohl  wie  das  Unveränderliche  der  Welt  wird  durch 
konstante  Begriffe  der  menschlichen  Erkenntnis  einverleibt".  687  f. 
Das  ist  in  der  Tat  der  eigentliche  Gegensatz,  um  den  es  sich  hier  überall 
handelt.  Im  übrigen  sind  sachlich  die  realistischen  Korrekturen  Struves 
an  der  Dialektik  wohl  begründet  und  lehrreich. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  397 

Ausbeutung  durch  rein  wissenschaftliche  Forscher  immer 
unabhängiger  geworden  von  sozialdemokratischer  Dogmatik 
und  parteipohtischer  Praxis.  Hat  man  sie  aber  erst  einmal 
in  ihrer  relativen  Unabhängigkeit  erkannt,  so  ist  ihre  Frucht- 
barkeit eine  erstaunliche  und  die  von  ihnen  geschaffene 
Problemstellung  eine  der  allerlehrreichsten,  die  das  Jahr- 
hundert hervorgebracht  hat. 

An  der  Marxistischen  Fassung  der  Dialektik  haben  frei- 
lich alle  Mächte  der  Zeit,  die  wissenschaftlichen  und  prak- 
tischen, ihren  Anteil.  Sie  ist  insofern  ein  echtes  Produkt 
des  Zerfalles  der  Hegeischen  Schule  und,  wie  sich  bei  der 
immer  stärkeren  praktischen  Einstellung  von  selbst  ergibt, 
nicht  entfernt  so,  wie  die  Lehre  des  Meisters,  ein  Erzeugnis 
einheitlichen,  geschlossenen  und  rein  aus  der  Folgerichtig- 
keit der  philosophischen  Grundkonzeption  hervorgebildeten 
Denkens.  Sie  vereinigt  die  widersprechendsten  Anregungen 
und  stürmt  auf  den  praktischen  Zweck  los,  der  ebensosehr 
die  Rache  an  dem  gehaßten  feudal-bürgerlichen  System  als 
das  Mitgefühl  rhit  den  Enterbten  und  Opfern  der  modernen 
sozialen  Entwicklung  ist,  der  aber  die  Theorie  als  eine  seiner 
wichtigsten  Waffen  schmiedet  und  bei  dieser  Arbeit  von 
einem  ungeheuren  logischen  und  wissenschaftlichen  Ver- 
mögen oft  in  rein  objektive  und  äußerst  interessante  Unter- 
suchungen hineingerissen  wird.  Man  kann  also  nicht  erstaunt 
sein,  sehr  widerspruchsvolle  Gedankenverbindungen,  rein 
praktisch  motivierte  Theorien  und  gleichzeitig  einen  alles 
organisierenden  Durchblick  sowie  eine  außerordentliche  Sach- 
kenntnis zu  finden.  Das  eigentlich  Bleibende  oder  besser 
bleibende  Erkenntnisse  Anregende  ist  dabei  die  neue  Fas- 
sung der  Dialektik.  Aus  ihr  geht  eine  eigentümliche  Sozio- 
logie und  Geschichtsphilosophie,  ein  neuer  Begriff  vom 
inneren  Zusammenhang  aller  Kulturgebilde  und  von  der 
inneren  Bewegung  der  Geschichte  hervor;  ja  auch  die  größte 
Leistung  des  Marxismus,  die  Entdeckung  und  Analyse  der 
modernen  kapitalistischen  Gesellschaft  selbst,  ist  nur  aus 
diesen  Grundgedanken  zu  verstehen  und  hervorgewachsen, 
hat  ihre  wichtigste  —  wissenschaftliche  —  Bedeutung  in 
diesem  Zusammenhang  mit  einem  grundsätzlichen  histo- 
rischen Denken. 


398  Ernst  Troeltsch, 

Es  kommt  also  zunächst  auf  die  Mischung  der  Motive 
an,  die  aus  dem  Zerfall  der  Schule  an  Marx  und  Engels 
herandrangen.  Hier  scheiden  natürlich  die  orthodox-reak- 
tionären Gestaltungen  des  Hegelianismus  ohne  weiteres  aus 
oder  haben  doch  nur  die  Bedeutung,  Marx  gegen  die  theo- 
logische und  religiöse  Seite  des  Hegeischen  Systems  noch 
mehr  zu  erbittern,  als  es  seine  offenbar  in  der  Naturanlage 
begründete,  fast  völlige  Empfindungslosigkeit  für  das  Reli- 
giöse auch  ohne  das  mit  sich  gebracht  hätte.  Ebendeshalb 
hatte  ihm  auch  Friedrich  Straußens  ,, Leben  Jesu",  das  die 
Scheidung  der  kirchlich -dogmatischen  Anpassungen  des 
Systems  von  seinem  eigentlichen  kritisch-panentheistischen 
Geiste  eröffnete  und  damit  die  Schule  in  dem  wichtigsten 
Punkte  der  von  ihr  geschaffenen  Synthese  auflöste,  wenig 
zu  sagen;  das  war  nur  wichtig  für  den  vom  Wuppertaler 
Pietismus  herkommenden  und  durch  Schleiermacher  hin- 
durch sich  allmählich  zur  bedingungslosen  Kritik  hindurch- 
arbeitenden Engels,  der  als  junger  Kaufmann  sich  auf  diesem 
Wege  von  den  Traditionen  seiner  puritanischen  Familie  löste. 
Von  grundlegender  Bedeutung  wurden  dagegen  die  beiden 
anderen  großen  Haupttendenzen  in  der  Auflösung  der  Schule: 
der  Drang  zur  Unmittelbarkeit  des  sinnlich-konkreten  Lebens 
im  Gegensatze  gegen  die  ganz  verbegrifflichte  Spiritualität 
des  Systems  und  das  Bedürfnis  nach  vernunftnotwendigen 
Zukunftszielen  an  Stelle  der  bloßen  Beschauung  und  Durch- 
dringung des  vollendeten  Prozesses.  Von  da  aus  waren  An- 
näherungen an  Nominalismus,  Empirismus,  Irrationalismus 
und  Fleischesverherrlichung  ebenso  möglich  wie  Annäherungen 
an  Rationalismus,  Demokratismus  und  Fortschrittsidee  der 
Aufklärung.  Der  Marx  nahe  verbundene  Heinrich  Heine 
hat  in  seinen  Pariser  Berichten  über  diese  Dinge  den 
modernen  Journalismus  geschaffen,  der  ebenso  wie  das 
junge  poetische  Deutschland  zu  den  Kontrastwirkungen 
gegen  die  schwer  gerüstete  philosophische  Schulmeisterei 
des  biedermeierischen  Deutschland  gehörte  und  dem  Stil 
des  Marxismus  dauernd  gewisse  Züge  aufgeprägt  hat. 
Zwar  von  Max  Stirners  extremem  Realismus  und  Indivi- 
dualismus, der  die  Allgemeinbegriffe  und  die  Metaphysik  des 
Begriffs  überhaupt  zugunsten  eines  radikalen  Nominalismus 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  399 

!  auflöste  und  für  die  Ethik  und  Gesellschaftslehre  nur  den 
!  völlig  isolierten  Einzelnen  und  seinen  regellosen  Lebens- 
anspruch übrig  behielt,  brauchten  die  Männer  nichts  zu 
lernen,  die  zwar  auch  nach  Realismus  dürsteten,  aber  gerade 
Wesen  und  Ideal  der  Gesellschaft,  nicht  den  sich  an  deren 
Stelle  setzenden,  ins  Unendliche  aufgeblasenen  intellek- 
tuellen Bürger  suchten;  sie  haben,  nachdem  Engels  vorüber- 
I  gehend  starken  Eindruck  von  dem  revolutionären  Geist  des 
!  Buches  empfangen  hatte,  den  „heiligen  Max"  und  seine  un- 
;  vermittelte  Mischung  von  zufälligster  Einzelexistenz  mit 
j  Hegelscher  Unendlichkeit  lediglich  verspottet.^)  Bedeutsamer 
wurde  dagegen  der  Einfluß  Bruno  Bauers,  der  die  dialektische 
Kritik  auf  das  Hegeische  System  selbst  anwandte  und  das 
sich  entwickelnde,  von  Negation  zu  Negation  fortschreitende 
Selbstbewußtsein  zum  Kern  der  Philosophie  machte.  Na- 
türlich äußerte  sich  diese  Kritik  auch  bei  Bauer  vor  allem 
als  Zerstörung  des  religiösen  Definitivums,  das  Hegel  erreicht 
zu  haben  glaubte;  sie  wurde  bei  ihm  anders  als  bei  Strauß 
zu  der  berühmten  Auflösung  des  Christentums  in  eine  Er- 
scheinung der  spätrömischen  Decadence,  der  sich  die  fort- 
schreitende und  aufstrebende  Gegenwart  völlig  zu  entziehen 
habe.  Schon  bei  Bauer  traf  diese  Kritik  zugleich  auch  den 
bei  Hegel  mit  der  religiös-philosophischen  Idee  eng  verbun- 
denen Staatsbegriff.  Allein  die  Hauptsache  war  für  Marx, 
den  in  den  Junghegeischen  Berliner  Freundeskreis  hineinge- 
zogenen rheinischen  und  damit  auch  antipreußischen 
Liberalen,  die  Idee  einer  kritischen  Negation  des  Hegeli- 
anismus selbst,  einer  Fortbildung  der  Dialektik  in  die 
Zukunft  hinein,  die  Aufhebung  der  lediglich  kontemplativ 
die  prinzipiell  fertige  Entwicklung  durchdringenden  Kon- 
struktion, ein  Satz,  dem  er  von  da  ab  immer  treu  geblieben 
ist  und  dem  er  nur  immer  radikalere  Konsequenzen  entnahm. 

^)  über  Stirner  siehe  eine  sehr  gute  demnächst  erscheinende 
Berliner  Dissertation  von  Sveinstrup.  Nachwirkende  Einflüsse  Stimers 
erkennt  jedoch  Hammacher,  Das  philosophisch-ökonomische  System 
des  Marxismus,  1909,  S.  342  f .  in  dem  Kampfe  gegen  die  Hyposta- 
sierungen der  ökonomischen  Begriffe  „Kapital,  Boden,  Arbeit"  aus 
Funktionen  eines  besonderen  gesellschaftlichen  Zusammenhanges  zu 
wirkenden  Kräften,  ferner  in  der  Terminologie  von  dem  Fetisch- 
charakter der  Ware,  des  Zinses  usw. 


400  Ernst  Troeltsch, 

Freilich  war  schon  bei  Bauer  sehr  fühlbar,  daß  man  den 
Hegeischen  Schlußstein  nicht  ohne  die  Gefahr  der  Zertrüm- 
merung des  ganzen  Gewölbes  herausnehmen  konnte,  indem 
die  Entwicklung  nur  von  einem  Zielgedanken  aus  rekonstruier- 
bar ist,  bei  Verlust  des  Zielgedankens  aber  auch  ihre  logische 
Strenge  und  Gliederung  verliert,  ganz  abgesehen  davon, 
daß  aus  ihr  auf  diesem  Wege  ein  neuer  Zielgedanke  und 
wenigstens  zukünftiger  Ruhepunkt  nicht  konstruierbar  ist. 
Das  letztere  zeigte  sich  denn  auch  in  der  Ziellosigkeit  und 
bloßen  Negativität  der  Bauerschen  „Kritik  der  Kritik", 
mit  der  Marx  wenig  später  von  Paris  aus  in  der  seltsam 
romantischen  Groteske  „Die  heilige  Familie*'  nicht  ohne 
Achtung,  aber  mit  großer  Schärfe  abgerechnet  hat.  Der 
theologische  Radikalismus  Bauers  interessierte  ihn  nicht, 
seine  unendlich  progressive  Kritik  des  Selbstbewußtseins 
und  seiner  Produktionen  befriedigte  ihn  nicht.  Er  wollte 
über  Hegel  hinaus  zu  neuen  Zielen,  aber  auch  zu  wirklichen 
praktischen  Zielen.  Solche  boten  sich  ihm  nun  in  der  kurzen 
Zeit  seiner  Redaktionstätigkeit  an  der  vormärzlichen  Rhei- 
nischen Zeitung  in  scharf  liberal-demokratischen  Reform- 
ideen, deren  Herleitung  aus  der  Hegeischen  Entwicklung 
ihn  kurze  Zeit  mit  Arnold  Rüge  und  den  Männern  der 
„Hallischen  Jahrbücher**  verband,  bis  die  Eikenntnis  von 
der  bloßen  Gedankenhaftigkeit  auch  dieser  „klassenlosen 
Doktrinäre"  ihn  zu  viel  realistischeren  Begründungen  und 
Formungen  des  kommenden  Fortschrittes  veranlaßte.  Auch 
das  blieb  ihm  alles  von  da  an  bloße  Ideologie  spintisierender 
Kleinbürger,  unverträglich  mit  dem  großen  auf  Gemeingeist 
gehenden  Zug  der  Hegeischen  Lehre  und  lächerlich  ohn- 
mächtig gegenüber  den  wirklichen  Verhältnissen.  Er  hun- 
gerte, wie  übrigens  Hegel  selbst,  nach  Realität  und  wollte 
die  Dialektik  ebenso  wie  ihre  Fortführung  zur  revolutionären 
Umgestaltung  der  Dinge  lediglich  aus  der  realen  Lebens- 
bewegung selbst  heraus  gewinnen.  In  dieser  Lage  erfuhr  er, 
während  gleichzeitig  in  Paris  ihn  die  realistische,  die  poli- 
tischen Ideenkämpfe  auf  Klassengegensätze  zurückführende 
Historie  der  Franzosen  erfüllte,  die  Einwirkung  Ludwig 
Feuerbachs,  der  für  ihn  dauernd  Epoche  machte.  Dieser 
Einfluß  hat  seinen   Hegelianismus  für  immer  in  der  rea- 


i 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  401 

listischen  Weise  umgestülpt,  die  für  die  neue  Auffassung 
der  Dialektik  ihm  und  Engels  den  unglücklichen  Namen 
„Geschichtsmaterialismus" oder  „materialistische  Geschichts- 
philosophie** nahegelegt  hat. 

Von  dem  Materialismus  muß  und  kann  nun  aber  dabei 
zunächst  abgesehen  werden,  wenn  man'  die  Hauptsache 
richtig  verstehen  will.  Es  handelt  sich  im  Grunde,  für  Feuer- 
bach wie  für  Marx,  um  realistische  Dialektik,  nicht  um 
Materialismus.  Das  lehrt  fast  jeder  Blick  in  ihre  Original- 
schriften hinein,  die  man  freilich  hier  durchaus  einsehen  muß, 
wenn  man  nicht  das  Opfer  herkömmlicher  Mißdeutungen 
werden  will,  die  sich  von  Buch  zu  Buch  weiterschleppen. 
Feuerbach  insbesondere  wollte,  wie  die  führenden  Köpfe  der 
Generation  alle,  los  von  verschwimmender  Romantik,  speku- 
lativer Übergeistigkeit,  politischem  Quietismus,  abstrakten 
Spekulationen  und  hypostasierten  Begriffen.  Er  wollte  das 
Leben  in  seiner  vollen  Unmittelbarkeit  und  sinnlichen  Kraft. 
Dabei  aber  blieb  ihm  die  Dialektik  und  Entwicklungslehre  des 
Meisters  selbstverständlich.  So  bestritt  er  die  spekulativen 
Voraussetzungen  der  Dialektik,  die  Entfaltung  der  konkreten 
Erlebniswirklichkeit  aus  jener  parodoxen  und  chimärischen 
Selbstsetzung  des  Geistes,  aus  der  Hegel  die  Selbstverwan- 
delung des  Geistes  in  Natur  und  die  Rückverwandelung  der 
Natur  in  konkret  erfüllten  Geist  abgeleitet  hatte.  Er  nahm 
Welt  und  Wirklichkeit,  wie  sie  eben  sind,  ohne  die  unbeant- 
wortbare  Frage  nach  ihrem  Grund  und  Ursprung.  Aber 
ebenso  gewiß  blieb  ihm,  daß  diese  reale  Welt  von  einem 
dialektisch-logischen  Entwicklungsgesetz  durchwaltet  wird, 
das  durch  allerhand  Gegensätze  und  Synthesen  hindurch 
den  menschlichen  Geist  aus  sich  mit  logischer  Notwendigkeit 
hervortreibt  und  von  diesem,  wenn  er  erst  einmal  als  den- 
kendes Bewußtsein  aus  dem  Unbewußten  oder  Materiellen 
hervorgebildet  worden  ist,  dann  einfach  bei  richtigem  Denken 
erkannt  und  abgespiegelt  wird.  Die  Selbsterhebung  des  dialek- 
tischen Weltproze'sses  zum  menschlichen  Bewußtsein  und 
die  rekonstruierende  „Abspiegelung'*  dieses  Prozesses  in  dem 
so  entstandenen  Bewußtsein:  das  ist  seine  Philosophie.  Die 
Welt  ist  ihm  nicht  tote  mechanische  Materie,  sondern  dialek- 
tisch  bewegte    Realität   und   erzeugt  im    Bewußtsein   den 


402  Ernst  Troeltsch, 

Höhepunkt  des  Prozesses,  der  sich  infolgedessen  mit  Recht 
als  Inbegriff  und  Höhepunkt  des  Weltprozesses,  als  un- 
endlicher Wert  der  Vernunft  —  aber  nun  freilich  nicht  der 
mythischen  göttlichen,  sondern  der  allein  realen  menschlich- 
endlichen —  empfinden  darf.  Das  ist  eine  metaphysische 
Gedankenlosigkeit  und  eine  sehr  schlechte  Erkenntnis- 
theorie der  Abbildung,  aber  an  sich  kein  Materialismus.  Die 
Welt  behält  vielmehr  in  der  Dialektik  ein  unsichtbares  Ge- 
heimnis und  der  Mensch  in  seiner  Vernunft  einen  absoluten 
Wert.  Die  einzige  völlig  radikale  und  antispiritualistische 
Konsequenz  ist  lediglich  die  Vernichtung  der  Gottesidee,  der 
grundsätzliche  Atheismus,  die  Beseitigung  jeder  transzen- 
denten Mystik.  Die  Gottesidee  ist  nichts  als  die  aus  prak- 
tischen Bedürfnissen  leidender  und  Erlösung  wünschender 
Ohnmacht  aus  dem  Menschen  hinaus  in  einen  menschen- 
ähnlichen Weltgeist  projizierte  Vernunft,  die  phantastische 
Selbsterhöhung  der  endlichen  Vernunft  zu  einer  spukhaften 
Weltvernunft,  des  kranken  Weltplans  schlau  erdachter 
Retter,  den  Menschenwitz  des  Menschen  Notdurft  leiht. 
Die  aus  dem  dialektischen  Weltprozeß  verstandene  Anthro- 
pologie —  nicht  etwa  die  moderne  naturwissenschaftliche  — 
ist  das  enthüllte  Geheimnis  der  Theologie,  und  Feuerbachs 
Kritiker  haben  nicht  mit  Unrecht  gemeint,  daß  es  nicht 
allzu  schwer  sei,  einen  derart  mit  dem  Weltgeheimnis  bereits 
geladenen  und  die  Absolutheit  der  Vernunft  in  sich  tragenden 
Menschen  für  das  Geheimnis  der  Gottesidee  zu  erklären, 
wie  denn  ja  auch  Engels  später  gefunden  hat,  daß  der 
Feuerbachsche  Mensch  immer  noch  einen  „theologischen 
Heiligenschein  trage ".^)  Aber  indem  Feuerbach  diese  seine 
Grundthese  in  einer  historisch-systematischen  Analyse  des 
Christentums  und  später  dann  auch  noch  in  einer  solchen 
der  —  ihm  übrigens  nur  sehr  mangelhaft  bekannten  -- 
außer-  und  vorchristlichen  Religionen  stilistisch  glänzend 
durchführte,  hatte  er  doch  die  spiritualistische  und  mystische 
Seite  der  Hegeischen  Lehre  wenigstens  für  das  Gefühl  seiner 
begriffsmüden  und  der  Romantik  entwachsenen  Zeitgenossen 

^)  Briefwechsel  zwischen  E.  und  M.,  hg.  von  Bebel  und  Bern- 
stein, 1913  I  7;  eine  ganz  ähnliche  Bemerkung  bei  R.  Haym,  Feuer- 
bach und  die  Philosophie,  1847. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  403 

tödlich  getroffen.  Da  nun  aber  die  Theologie,  wie  Marx 
sagte^),  das  eigentliche  Aroma  der  ganzen  Welt  überempiri- 
scher und  mystischer  Begriffe  ist,  so  war  mit  ihr  die  ganze 
Philosophie  der  apriorischen  Konstruktionen  und  der  überem- 
pirischen Realitäten  zugleich  vernichtet  und  mit  beiden  zu- 
sammen vor  allem  die  ganze  Hegeische  Staatsmystik  und  spe- 
kulative Rechtsphilosophie,  von  welchen  beiden  nur  die ,, reale" 
bürgerliche  Gesellschaft  nebst  ihren  die  Staatsgewalt  und 
Rechtsidee  bestimmenden  materiellen  Interessen  übrig  blieb. 
An  Stelle  aller  Philosophie  trat  also  lediglich  ihr  verbleibender 
Rest,  die  realistisch  verstandene  Dialektik^),  die  logisch 
nachkonstruierbare  und  im  Bewußtsein  abbildbare  Selbst- 
bewegung der  Erlebniswirklichkeit  durch  Antagonismen  und 
Synthesen  hindurch,  die  von  jedem  Punkte  aus  nach  rück- 
wärts rekonstruiert  und  nach  vorwärts  mit  Rücksicht  auf 
ihren  mutmaßlichen  nächsten  Ertrag  konstruiert  werden 
konnte.  Diese  Dialektik  ging  nicht  mehr  aus  dem  Geiste 
hervor  und  empfing  nicht  mehr  von  seiner  logischen  Selbst- 
entfaltung das  Gesetz,  sondern  sie  erzeugte  umgekehrt  in 
ihrem  Verlaufe  selbst  den  Geist  und  drückte  sich  diesem  als 
Abbild  ihres  realen  Geschehens  ein.  Wie  der  Mensch  selbst 
das  Erzeugnis  des  realen  Prozesses  ist,  so  sind  auch  alle  seine 
politischen,  ethischen,  religiösen  Schöpfungen  lediglich  Wir- 
kungen realster  sinnlicher  und  interessenhafter  Erlebnisse 
und,  solange  sie  noch  in  eine  transzendente  Welt  hinüber- 
projiziert  werden,  lediglich  mystisch-phantastische  Reflexe 
eines  rein  empirischen  Geschehens  und  Erlebens.  Damit  ist 
der  Gipfel  des  Antispiritualismus,  der  äußerste,  ins  Reale 
verliebte  Tatsachensinn,  erreicht,  aber  den  Tatsachen  selbst 
doch  das  dialektische  Gesetz  ihres  Werdens,  ihrer  Entwick- 
lung und  Verknüpfung  als  selbstverständlich  unterlegt. 
Freilich  ist  damit  dann  nicht  nur  der  metaphysisch-logische 
Gehalt  der  Dialektik  vernichtet  und  schwebt  diese  sozusagen 
als  bloße  Selbstverständlichkeit  in  der  Luft,  sondern  es  ist 
ihr  damit  auch  das  Ziel  genommen,  das  ja  bei  Hegel  gerade 

*)  In  dem  überhaupt  sehr  lehrreichen  Fragment  einer  Kritik  der 
Hegeischen  Rechtsphilosophie,  Aus  dem  lit.  Nachlaß  von  Marx,  Engels 
und  Lassalle,  hg.  von  Mehring  I  (1902),  S.  384. 

*)  So  Engels  ausdrücklich  im  Anti-Dühring. 


404  Ernst  Troeltsch, 

nur  durch  das  Zusammenfallen  von  Sein,  Wert  und  Bewegung 
im  sich  entfaltenden  Weltgeist  behauptet  werden  konnte. 
Das  macht  sich  auch  bei  Feuerbach  sehr  bemerkbar,  indem 
er  gezwungen  ist,  das  Ziel  lediglich  aus  dem  rein  empirischen 
Menschen  und  den  in  der  Gegenwart  beobachtbaren  dialek- 
tischen Entwicklungstendenzen  zu  gewinnen.  Er  tut  es, 
indem  er  gerade  am  empirischen  M^enschen  die  gegenseitige 
Angewiesenheit  der  Individuen  aufeinander,  die  Realisation 
der  endlichen  Vernunft  nur  durch  gegenseitigen  Austausch 
und  Verkehr,  die  Absolutheit  der  Vernunft  erst  in  der  über- 
individuellen oder  besser  interindividuellen  Gemeinschaft  er- 
kennt und  indem  er  zugleich  die  demokratischen  und  kom- 
munistischen Tendenzen  der  Zeit  als  auf  dieses  Entwicklungs- 
und Versöhnungsziel  hin  gerichtet  aufgreift.  Daraus  ergibt 
sich  ihm  ein  etwas  sentimentaler  Gefühlskommunismus,  der 
immerhin  mehr  spekulativ  begründet  als  aus  den  realen 
politischen  Bewegungen  der  Zeit  heraus  entwickelt  war.  In 
dieser  letzteren  Hinsicht  war  daher  Feuerbach  dem  viel  prak- 
tischeren und  gerade  damals  die  sozialen  Bewegungen  der 
Zeit  an  der  Quelle  studierenden  Marx  von  vornherein  un- 
interessant, und  er  hat  später  darüber  in  seiner  grimmigen 
Weise  ziemlich  bitter  gehöhnt.^)  Aber  die  Umkehrung  der 
Dialektik,  die  Erzeugung  des  Geistes  und  aller  Geistes- 
schöpfungen aus  rein  endlich-empirischen  Entwicklungen, 
die  Vernichtung  aller  philosophischen  und  staatlichen  Be- 
griffsmystik gemeinsam  mit  dem  Absterben  ihres  theolo- 
gischen Kopfes,  die  bloße  Spiegelung  des  dialektischen 
Realprozesses  in  der  endlichen  menschlichen  Vernunft,  kurz 
die  ganze  Austreibung  alles  Spiritualismus  und  aller  Mystik 
aus  der  Dialektik:  das  ist  bei  ihm  für  immer  geblieben. 
Das  ist  der  Kern  seiner  Philosophie  gewesen,  soweit  er 
eine  solche  für  nötig  hielt,  und  das  Mittel  zu  einer  radikalen 
tatsachen  mäßigen  Erweiterung  der  Dialektik  geworden,  in- 
dem er  in  sie  die  ökonomisch-sozialen  Prozesse  als  Unterlage 
aller  geistigen  und  ideologischen  Bewegungen  einführte. 

In  alledem  ist  nun  aber  so  gut  wie  nichts  von  eigentlichem 
Materialismus  enthalten.    Es  ist  äußerster  Realismus  und 


1)  Briefwechsel  III,  370. 


J 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  405 

Empirismus  auf  dialektischer  Grundlage,  d.  h.  auf  Grund 
einer  Logik,  die  nach  Marxens  eigener  Äußerung  nicht  wie 
der  französische,  reflexionsmäßige,  unvermittelte  und  ab- 
strakte MateriaHsmus  aus  materiellen  Elementen  und  ihren 
Zusammensetzungen,  sondern  wie  die  konkrete,  vermittelnde 
dialektische  Philosophie  aus  dem   Gesetze  einer  beständig 
zerteilenden  und  versöhnenden,   alles  Einzelne  im  Ganzen 
verschmelzenden  Bewegung  die  Erlebniswirklichkeit  erklärt. i) 
Auch    die    Herleitung    der   ideologisch-geistigen    Welt    aus 
sinnlich-konkreten  Bedürfnissen  und  Gruppierungen  der  In- 
j  teressen,  die  starke  Betonung  der  ökonomisch-sozialen  Unter- 
I  lagen  und  Voraussetzungen  ist  an  sich  kein  Materialismus, 
I  sondern  nur  eine  sehr  einseitig  und  ausschließlich  realistische 
I  Erklärung,  die  aber  den  durch  diese  Interessen  in  Bewegung 
1  gesetzten  Geist  und  Willen  selbst  nicht  aus  Materie  erklärt. 
i  Ja,   die   ganze  Feuerbach-Marxsche    Erkenntnistheorie   der 
I  Abbildung  ist  zwar  äußerst  roh,  aber  nicht  materialistisch. 
j  Der  Materialismus  beginnt  erst,  wo  auch  diese  Abbildung 
i  selbst  als  Fortsetzung  materieller  Gehirnprozesse  bezeichnet 
}  wird  und  wo  die  realen  Interessen  nicht  nur  auf  Gefühl  und 
I  Willen,  sondern  Gefühl  und  Wille  selber  auf  Bewegungen 
1  und  Umformungen  von  Gehirnelementen  begründet  werden. 
Feuerbach  hat  sich  allerdings  zuletzt  solchen  Gedanken  unter 
dem  Druck  der  damaligen  neuen  Naturanschauungen  genähert, 
im  Grunde  aber  doch  immer  nur  aus  Enthusiasmus  für  alles 
echt  Reale  und  Sinnlich-Lebendige,  ohne  daraus  die  philo- 
sophischen  Konsequenzen  für  seinen  ganzen   Standpunkt, 
insbesondere  für  die  Dialektik,  zu  ziehen.   Auch  Marx  und 
Engels  haben  sich  nicht  ganz  selten  in  diesem  Sinne  aus- 
gesprochen, aber  auch  sie,  ohne  daraus  die  die  Dialektik 
zerstörenden  Konsequenzen  irgendwie  zu  ziehen;  auch  sie 
mehr   aus    dem   Trieb   nach   möglichster   Zerstörung   aller 
Religions-  und  Staatsmystik  und  aus  Freude  an  möglichst 
anschaulichem   und    überzeugendem    Realismus.     Nur   aus 
diesem  Grunde  können  sie  aueh  den  so  wenig  passenden  Aus- 
druck „Materialismus"  für  ihre  Fassung  der  Dialektik  ge- 
wählt haben.  Der , »Materialismus**,  den  sie  meinen,  haftet  an 


1)  S.  heilige  Familie   S.  231  ff.  (Aus  dem  lit.  Nachlaß  Bd.  II). 


I 

406  Ernst  Troeltsch,  | 

der  Zertrümmerung  aller  selbständigen  Ideologie  und  Begriffs- 
mystik sowie  an  der  Herleitung  aller  geistigen  Welten  aus 
zugrunde  liegenden  ökonomisch-sozialen  Prozessen.  Es  ist 
antiideologische,  antispiritualistische  und  antimystische  oder 
wesentlich  ökonomisch-sozial  begründete  Geschichtsanschau- 
ung, aber  keine  materialistische  Metaphysik,  wie  denn  auch 
Marx  die  Wanderapostel  des  Materialismus,  die  Büchner, 
Vogt,  Moleschott  mit  großer  Verachtung  behandelt  hat. 
Die  ökonomisch-sozial  erweiterte  und  antiideologisch  um- 
gestülpte Dialektik  ist  der  Kern  des  Ganzen.  Der  Materia- 
lismus geht  gelegentlich  und  inkonsequent  mehr  als  ein 
Moment  der  polemischen  Stimmung  und  der  triumphierenden 
Verstärkung  des  Antiideologismus  nebenher.  Ökonomismus 
und  Materialismus  berühren  sich  erst  da,  wo  das  Übergewicht 
der  ökonomischen  Lebensgrundlagen,  ihre  Dauer  und  ihre 
alles  bestimmende  oder  doch  wenigstens  beeinflussende  Wir- 
kung auf  das  Grundinteresse  des  Menschen  an  Produktion 
und  Reproduktion  seiner  physischen  Existenz,  also  auf  die 
unmittelbare  Abhängigkeit  von  körperlich-materiellen  Be- 
dürfnissen, begründet  wird.  Aber  auch  dieser  Gedanke  er- 
fordert nicht  den  metaphysischen  Materialismus,  wenn  der 
letztere  auch  gegebenen  Falls  durch  ihn  sehr  stark  unter- 
strichen wird.i) 

So  große  Bedeutung  also  auch  psychologisch  und  agita- 
torisch der  eigentliche  Materialismus  für  Marx  und  Engels  be- 
sessen haben  mag  bei  ihrer  Neigung  zur  Übertrumpfung  aller 
ideologischen  Denkweise  mit  den  stärksten  und  gröbsten 
Mitteln,  so  stark  der  in  den  Namen  der  Methode  aufgenommene 
Materialismus  als  materialistische,  antireligiöse  Welterklärung 
und  als  materielle  Zielsetzung  in  der  sozialen  Erlösung  dann 
insbesondere  auf  die  sozialdemokratischen  Massen  gewirkt  und 
so  sehr  er  dadurch  den  Sozialismus  bis  heute  geradezu  ver- 
giftet hat,  dieser  Geist  gehört  nicht  notwendig  zum  System 

1)  Zu  dieser  Materialismusfrage  s.  Benno  Erdmann,  Die  philo- 
sophischen Voraussetzungen  der  materialistischen  Geschichtsauffassung, 
in  Schmollers  Jahrbuch  f.  Gesetzgebung  u.  Verwaltung  XXXI,  1907; 
richtig,  aber  mit  Unterschätzung  der  Dialektik;  Woltmann,  Der  histo- 
rische Materialismus,  1900,  betont  mit  Recht  die  Unwesentlichkeit  des 
Materialismus  für  die  Wissenschaft  Marxens,  deutet  ihn  aber  mit  Un- 
recht in  einem  überdies  recht  verworrenen  Kantischen  Sinn. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  407 

und  vor  allem  nicht  zu  der  uns  hier  allein  beschäftigenden 
grundsätzlichen  Geschichtstheorie  und  ihrer  Durchführung. 
Für  diese  kommt  nur  die  realistisch  gefaßte,  ökonomisch 
H  erweiterte  und  berichtigte  Dialektik  in  Betracht. 
j        Wie  sehr  diese   das   ganze   Denken  beherrscht,    zeigt 
;  jeder  Blick   auf    die    methodischen   Auseinandersetzungen, 
auf  das  Ganze  des  geschichtsphilosophischen  Systems  und 
auf  die  Einzelheiten.     Nichts  springt  hier  aus  den  Schriften 
von  Marx  und  Engels  einem  Betrachter,  der  den  grundsätz- 
lichen Unterschied  zwischen  mechanistisch-psychologistischer 
Kausalität   und  Reihenbildung  einerseits   und    dialektisch- 
intuitiver Zusammenfassung  realer    Gegensätze  in  einheit- 
lichen  Entwicklungstendenzen  andrerseits   erfaßt    hat,    so 
sehr  entgegen   als   die  grundsätzlich   dialektische  Haltung 
beider,   die   ja  auch    bei  den    besten   Köpfen    der    sozia- 
listischen Literatur  sich  als  Fähigkeit  zur  Zusammenschau 
großer  Entwicklungen  behauptet  hat.  Die  Studien  von  Lensch, 
1  Otto  Bauer  und  Renner  zum  Weltkriege  i)  sind  die  geist- 
I  vollsten  Arbeiten,  die  er  hervorgebracht  hat,  und  Zeugnisse 
I  dieser  von  der  Dialektik  herstammenden  Kraft  und  Kunst. 
i  Das  alles  stammt  ganz  spezifisch  von  Marx  und  durch  Marx 
hindurch  von  Hegel.   Die  methodischen  Betrachtungen,  wie 
sie  im  Anti-Dühring,  dem  freilich  reichlich  dilettantischen, 
:  philosophischen  Hauptbuch  der  Schule,  und  in  dem  Brief- 
I  Wechsel  der  beiden  Häupter,  einem  ebenso  menschlich  fes- 
;  selnden  und  erschütternden  Dokument  als  sachlich  frucht- 
I  baren    Ideen-   und   Beobachtungsschatze,   massenhaft   aus- 
gest  eut  sind,  unte  scheiden  stets  genau  wie  Hegel  die  Dia- 
'  lektik  als  Bewegungslogik  von  der  statischen  Logik  der  ge- 
i  wohnlichen    naturwissenschaftlichen    Kausalitätslehre.     Ja, 
1  sie  fordern  die  Zurückführung  auch  der  Naturwissenschaften, 
j  einschließlich  des  tieferen  Verständnisses  der  Mathematik, 
auf  diese  Logik  der  Identität  der  Widersprüche  und  der  ent- 
wickelnden  Gegensätze  und  Synthesen.    Sie  erblicken  bei 
Darwin  und  Huxley,  Comte  und  Spencer  trotz  aller  schätz- 
baren Erkenntnisse  doch  gerade  im  Mangel  der  Dialektik 


*)  S.  PI  enge,    Drei    Jahre   Weltrevolution,    Schmollers    Jahr- 
buch XL II    1919   und  „Revolutionierung  der  Revolutionäre"    1918. 


408  Ernst  Troeltsch, 

die  wissenschaftliche  Schranke,  den  Mangel  der  tieferen 
konstruktiven  Zusammenschau.  Des  Unterschieds  gegen 
Hegel  sind  sie  sich  dabei  natürlich  bewußt  und  vermeiden 
selten,  ihn  gleichzeitig  hervorzuheben;  seine  Dialektik  sei 
mystifizierter  Realismus,  müsse  durch  Kritik  erst  gereinigt 
werden,  sei  eine  Verhimmelung  der  natürlichen  Gesetze  der 
Wirklichkeit;  die  wahre  Dialektik  und  Dynamik  müsse 
jedesmal  erst  aus  der  Analyse  der  Tatsachen  herausgegriffen 
werden,  indem  sie  bei  den  allen  Differenzierungen  zugrunde 
liegenden  einheitlichen  Tendenzen  einsetzen  lernt  und  dieses 
Verfahren  jedem  zusammenhängenden  Geschehen  gegenüber 
immer  von  neuem  anwendet.  Das  sind  gewiß  gründliche 
Veränderungen,  aber  für  die  historische  Konstruktion  bleibt 
doch  die  intuitiv  zusammenschauende  und  dann  durch 
Spaltung  und  Versöhnung  die  Einheit  explizierende  Logik 
das  einzige  Mittel  der  Erzeugung  jener  großen  Bilder  und 
Allgemeinbegriffe  der  historischen  Welt,  die  durch  keine 
induktive  Häufung  von  Parallelen  und  darauf  beruhende 
Reihenbildung  und  durch  keine  allgemeinen  psychologischen 
Gesetze  gewonnen  werden  können.  Die  echte  Analyse  zer- 
legt nie  in  bloße  Einzelvorgänge,  um  diese  dann  nach  all- 
gemeinen, immer  gleichen  Naturgesetzen  wieder  zusammen- 
zufügen, sondern  stößt  überall  auf  die  großen,  ganze  Perioden 
beherrschenden  Lebenszusammenhänge,  in  denen  die  innere 
geistige  Einheit  und  Notwendigkeit  des  Geschehens  trotz 
aller  Kreuzungen,  Wirren  und  Zufälle  begründet  ist.  Sie 
bleibt  nie  in  bloßen  allgemeinen  Formen,  Begriffen  und  Ge- 
setzen hängen,  sondern  sieht  in  diesen  immer  zugleich  den 
sachlichen  Gehalt  konkret  sich  herausbilden.  Sie  ist  und 
bleibt  gegenüber  allen  bloß  formalparallelen  Reihenbildungen 
Erfassung  des  Inhalts  und  des  Konkreten  mitten  im  Gesetz, 
wodurch  sie  z.  B.  dem  Comteschen  Positivismus  und  dem 
Lamprechtschen  Psychologismus  so  sehr  überlegen  ist.  Das 
ist  natürlich  trotzdem  die  Quelle  vieler  irrtümlicher  Gene- 
ralisationen,  aber  auch  die  jener  vielen  großen  und  lebendigen 
Erkenntnisse  von  Zusammenhang  und  Struktur  des  Ge- 
schehens, die  das  Marxistisch  geschulte  Denken -unter  den. 
modernen  Historikern  auszeichnet,  so  einseitig  und  monoton 
diese  Konstruktionen  inhaltlich  auch  oft  beschaffen  sein  mögen. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektilc.  409 

Hinreißend  tritt  diese  Leistungsfähigkeit  der  Dialektik 
jedenfalls  sofort  schon  in  der  ersten  großen  Gesamtdarstel- 
lung  des   universalhistorischen    Prozesses   zutage,    die    die 
beiden  Denker  in  ihrem  feurigen  Jugendwerke,  dem  „Kom- 
munistischen Manifest"  am  Vorabend  der  48  er  Revolution 
gaben  und  die  für  immer  der  Entwurf  ihres  geschichtsphilo- 
sophischen  Gesamtdenkens  leider  geblieben  ist.   Hier  finden 
wir  ohne  weiteres   die   Dreigliederung  der  Dialektik:  den 
indifferenten  Urzustand  des  Urkommunismus,   in  dem  alle 
Gegensätze  latent  und  gebunden  sind  und  aus  dem  sie  sich  erst 
durch  die  Geschlechtssklaverei  des  Weibes  herausentwickeln ; 
von  da  ab  die  große  Periode  sich  immer  steigernder  und  nach 
j  jeder  Synthese  wieder  vertiefender  Gegensätze,  die  in  den 
i  Klassenkämpfen  sich  aufgipfelt  bis  zum  letzten,  höchsten, 
I  reinsten  und  absolutesten  Gegensatz,  dem  von  Proletariat 
I  und   Bourgeoisie;  schließlich   das   Ende  und   die  Zukunft, 
I  den  Umschlag  des  von  der  Bourgeoisie  durch  Beraubung 
I  und  Aussaugung  auf  die  reine  bloße  Menschenqualität  herab- 
j  gedrückten  Proletariats  in  den  Träger  der  allgemein  mensch- 
I  liehen  Humanität,  deren  Aufrichtung  daher  sein  Werk  sein 
I  wird  und  in  dem  Kommunismus  der  vollendeten  Humanität 
I  die    Klassengegensätze  wieder   aufhebt,   die   bis   zu   seiner 
I  Hervortreibung  durchlaufen  werden  mußten.    Alle    Größe 
j  und  Gewalt  dieser  Bilder  stammt  zugleich  mit  ihrem  Eindruck 
I  völlig  übersubjektiver  Notwendigkeiten  aus  der  dialektischen 
I  Verarbeitung  der  massenhaft  ausgebreiteten  oder  angedeu- 
I  teten  Tatsachen.  Und  wie  fein  und  geistreich  ist  im  einzelnen 
\  bei  der  Charakterisierung  der  mittleren  Klassenkampfperiode 
'  die  dialektische  Durcharbeitung!    Denn  was  vom   Ganzen 
I  des  universalhistorischen  Prozesses  gilt,  gilt  natürlich  auch  von 
i  jedem  Einzelgegenstand.  Marx  hat  hier  in  der  Mühsal  seines 
I  Lebens  nicht  die  Zeit  zu  vielen  Einzeldarstellungen  gefunden. 
Doch  sind  seine  beiden  kleinen  Studien  über  die  französi- 
schen Revolution   von    1848  ganz   und  gar   in   den  Geist 
dialektischer    Notwendigkeit    und    Zusammenschau    einge- 
taucht und  haben  gerade  darin  ihren  aufreizenden,  symboli- 
schen  und   allgemein-bedeutsamen   Charakter.     Vor  allem 
aber  ist  sein   Hauptwerk,   die   Darstellung  der   modernen 
kapitalistischen    Kulturperiode,   ganz   und   gar  ätif   dieser 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  27 


410  Ernst  Trocltsch, 

Methode  aufgebaut.  Es  beginnt  mit  der  Analyse  der  Ware 
und  des  Tausches,  als  derjenigen  Eigentümlichkeiten  des 
auf  grenzenlose  Tauschwirtschaft  statt  auf  Eigenproduktion 
und  Kundenproduktion  gestellten  modernen  Kulturzustandes, 
von  denen  aus  sein  einheitlicher  Trieb  und  Geist  zu  erfassen 
ist,  indem  die  dialektische  Einheit,  innerhalb  deren  die 
Differenz  von  Käufer  und  Verkäufer  erst  entsteht,  den  einheit- 
lichen Grund  unserer  ganzen  Kultur  mit  allen  ihren  beständig 
steigenden  Spannungen  bildet.  Die  Herauswirtschaftung  des 
Mehrwerts  aus  dem  in  aller  modernen  Ware  steckenden  tieferen 
Grunde,  aus  der  Ware  Arbeitskraft:  das  ist  darnach  das  Prinzip 
unserer  Kultur,  und  aus  diesem  Prinzip  ergeben  sich  alle 
Spannungen,  Verwicklungen,  Entwicklungen  und  Lösungen. 
Das  ergibt  ein  eindrucksvolles  gewaltiges  Bild  von  dem 
konkret-individuellen  Charakter  der  modernen  Kultur  und 
von  den  mit  diesem  Charakter  gesetzten  Notwendigkeiten 
ihrer  Bewegungen,  wobei  ich  die  inhaltliche  Richtigkeit  des 
Satzes  selbst  nicht  beurteilen  will  und  kann.  Aber  metho- 
disch ist  das  großartig  und  tiefdringend  gedacht;  welch  ein 
Gegensatz  gegen  die  Methode  allgemeiner  psychologischer 
Gesetze,  die  den  Tausch  und  Erwerbstrieb  wie  ein  allgemeines 
Naturgesetz  behandelt,  das  durch  die  Menschheit  hindurch- 
geht und  sich  nur  gelegenheitsmäßig  unter  Einwirkung  anderer, 
ebenso  allgemeiner  psychologischer  Umstände  modifiziert !  AU 
das  aber  ist  das  Werk  der  Dialektik,  die  das  Allgemeine  über- 
haupt nur  in  individuellen  Besonderungen  kennt  und  jeden 
Umkreis  solcher  Besonderungen  daher  auf  sein  allgemeines 
Prinzip  und  Strukturgesetz,  auf  seine  Gesamtphysiognomie 
und  seine  besondere  Bewegungsart,  zu  analysieren  versteht: 
die  Idee  des  individuellen  Gesetzes  und  der  Einheit  der 
Gegensätze  und  Spannungen  in  ihm,  eine  Idee,  die  kein 
bloßer  Kausalitätsbegriff  und  keine  allgemeingesetzliche 
Psychologie  erreichen  kann.^) 


^)  Eine  eindringende  Würdigung  der  Bedeutung  der  Dialektik 
bei  J.  Plenge,  Marx  und  Hegel;  1911,  wo  die  Bedeutung  Feuerbachs 
stark  unterschätzt  ist,  und  bei  Hammacher,  wo  die  Dialektik  aber  nicht 
ganz  in  ihrer  philosophischen  Tiefe  erfaßt  ist.  Von  den  Schriften  der 
Schule  ist  hier  besonders  der  Anti-Dühring  lehrreich:  die  Entgegen- 
setzung  der   Dialektik,   auch   einer   dialektischen   Naturwissenschaft 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  411 

Aber  freilich,  die  Dialektik  ist  zugleich  gründlich  ver- 
ändert, und  es  ist  ebenso  wichtig,  sich  diese  Veränderungen 
klar  zu  machen.  Sie  sind  rein  philosophisch  angesehen  furcht- 
bare Verwüstungen  ihres  ursprünglichen  und  allein  möglichen 
Sinnes,  ihres  metaphysisch-logischen  Grundes  und  ihres 
metaphysisch-ethischen  Zieles,  ihres  doch  völlig  unentbehr- 
lichen Zusammenhangs  mit  der  Analyse  des  Selbstbewußt- 
seins und  ihrer  Zusammenbindung  von  Sein  und  Wert. 
Aber  rein  geschichtstheoretisch  angesehen  wirken  diese  Ver- 
wüstungen nicht  so  ungünstig,  wie  man  zunächst  glauben 
möchte.  Es  wird  im  Gegenteil  bei  Marx  der  rein  dynamische 
Sinn  der  Dialektik  freier  von  den  Fesseln  der  Metaphysik  und 
der  strengen  Methodik,  und  die  Erweiterung  der  historischen 
Triebkräfte  durch  die  ökonomisch-sozialen  Verhältnisse  wirkt 
als  realistische  Bereicherung  und  damit  sachlich  sogar  als  Ver- 
tiefung. Freilich  bleibt  des  Einseitigen,  Gewaltsamen,  Ten- 
denziösen und  Verbohrten  gerade  genug,  von  der  Finsternis 
des  gott-  und  ideenlosen  Hintergrundes  ganz  zu  schweigen, 
auf  den  dieses  aus  ökonomischem  Realismus,  ja  Fatalismus 
und  ethischem  Revolutionarismus  gemischte  Geschichtsbild 
aufgetragen  ist. 


und  Mathematik,  gegen  die  rationalistisch-metaphysisch-mechani- 
stische Naturwissenschaft  des  Tages,  der  echten  Dynamik  gegen  die 
bloße  Statik  und  gegen  die  nur  mechanistisch-gefaßte  unechte  Dynamik, 
s.  S.  96—118;  Begriff  der  Dialektik  als  Bewegungsbegriff  147;  Negation 
der  Negation  als  Naturgesetz  118;  Beispiele  der  Dialektik  aus  der 
Kriegsgeschichte  147,  der  Wirtschaftsgeschichte  218;  Dialektik  als 
unbewußter  Grund  alier  tieferen  Denker  auch  bei  Fourier  und  Rousseau 
aufgedeckt  218.  —  Ebenso  in  Engels'  Feuerbach-Buche'',  1910,  S.  19, 
22,  37,  40—43;  S.  45  geradezu  die  Hegeische  „List  der  Vernunft"  über- 
nommen; S.  4  dialektische  Lösung  des  Problems  der  Gegenwart; 
S.  36  die  Herauskonstruktion  der  eigenen  Position  aus  Hegels  Dialektik 
unter  Hinblick  auf  Strauß,  Stirner,  Bauer,  Feuerbach.  —  Ähnlich  im 
Briefwechsel:  II,  235  u.  243  die  Hegeische  Methode  mystifizierter 
Realismus ;  durch  Kritik  ist  an  den  Punkt  zu  kommen,  wo  sie  verwendbar 
ist;  11,364,426;  111,70  erstes  Bekanntwerden  mit  dem  Darwinismus,  der 
sachlich  begrüßt,  aber  als  englisch-plumpe  d.  h.  undialektische  Methode 
bezeichnet  wird.  III,  173,  287  Naturwissenschaft  und  Hegel;  auch  die 
Dialektik  der  Naturphilosophie  an  sich  richtig;  III,  382,  IV,  151  Hegel 
gegen  Comte  ausgespielt;  111,381—384,  424  Hegels  Dialektik;  IV,  266 
Dialektik  gegen  Huxley;  IV,  344,  361  Dialektik  gegen  moderne  Natur- 
wissenschaft; IV,  435  Hegel  und  die  Mathematik;  IV,  492  Dialektik 

27* 


412  Ernst  Troeltsch, 

Welches  sind  nun  aber  in  genauer  Formulierung  die 
Abweichungen  von  Hegels  Dialektik? 

In  Kürze  ist  zu  sagen :  die  dialektisch-realistische  Kon- 
templation ist  verkoppelt  mit  einem  revolutionären  Natur- 
recht. Die  Dialektik  ist  entgeistet  und  naturalisiert.  Die 
Dialektik  ist  ökonomisiert.  Die  dialektischen  Gegensätze 
formal-logischer  Bestimmtheiten  sind  in  reale  Klassengegen- 
Sätze  verwandelt.    Diese  vier  Punkte  gilt  es  zu  beleuchten. 

Das  erste  ist  die  Verbindung  der  rein  realistisch-deter- 
ministischen Entwicklung  mit  revolutionärer  Prophetie  und 
absoluter  Forderung.  Es  ist  ein  Punkt,  der  von  größter 
praktischer  Bedeutung  geworden  ist  und  dessen  tragische 
Schwierigkeit  wir  insbesondere  heute  bei  den  entgegen- 
gesetzten Auslegungen  dessen  erfahren,  was  Marx  wohl 
unter  der  „Diktatur  des  Proletariats**  sich  gedacht  haben 
mag.  Die  einen  sehen  darin  nur  die  äußere  Sichtbarmachung 
und  endgültige  Durchsetzung  eines  unter  der  Decke  der 
bisherigen  Verhältnisse  schon  vollendeten  Prozesses,  die 
Überführung  der  von  innen  heraus  zur  Sozialisierung  reif 
gewordenen  Wirtschaft  und  des  zur  demokratischen  Mehr- 
heit gewordenen  Proletariats  in  die  auch  äußere  Erscheinung 

der  Natur.  —  Engels  „Lage  der  arbeitenden  Klassen"  S.  299  Kommu- 
nismus als  dialektische  Lösung  der  Spannung  von  Bürgertum  und 
Proletariat.  —  Engels  „Entwicklung  des  Sozialismus  von  der  Utopie 
zur  Wissenschaft":  S.  4  Dialektik;  S.  7  dialektische  Bewegungslogik 
gegen  mechanische  Naturwissenschaft;  22,  34 — 41,  52 — 54  die  Zukunft 
als  Ergebnis  dialektischer  Synthese.  —  Über  die  dialektische  Auffassung 
gerade  auch  der  Naturwissenschaften  selbst  handelt  die  Artikelserie 
von  Enrico  Leone,  „Le  scienze  ndturali  nel  Marxismo''  in  der  Zeitschrift 
//  Divenire  Sociale  IV.,  die  Michels  „Probleme  der  Sozialphilosophie", 
1914,  S.  126  f.  anführt  und  exzerpiert.  „Die  Periode  des  Immobilismus, 
in  der  die  Phänomene  sowohl  des  natürlichen  Seins  als  auch  des  sozialen 
Lebens  als  zeitlich  und  räumlich  feststehend  betrachtet  wurden,  hat 
der  revolutionistischen  Methode  in  diesen  Wissenschaften  Platz  machen 
müssen",  und  zwar  „durch  das  dialektische  Prinzip  des  Widerspruchs"; 
also  Dynamik  gegen  Statik,  wie  ich  es  früher  im  Gegensatz  gegen  Rickert 
formuliert  habe.  —  Interessant  ist  in  den  „Klassenkämpfen  in  Frank- 
reich", Berlin  1911,  S.  24  die  Grundcharakteristik :  „Mit  einem  Worte: 
nicht  in  seinen  unmittelbaren  tragikomischen  Errungenschaften  brach 
Sich  xler  revolutionäre  Fortschritt  Bahn,  sondern  umgekehrt  in  der 
Erzeugung  einer  geschlossenen  mächtigen  Konterrevolution,  in  der 
Erzeugung  eines  Gegners,  durch  dessen  Erzeugung  erst  die  Um- 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  413 

und   Herrschaft,   die   Herausbildung  der  wahren  Mehrheit 
und  der  wahren  Entwicklungstendenz.    Die  anderen  sehen 
darin  die  in  einem  allgemeinen  revolutionären  Zusammen- 
!  bruch    der    Kulturwelt    ermöglichte    Herrschaft    klassen- 
bewußter Minoritäten,  die  durch  Terrorismus  und  Zwang 
hindurch  in  einer  lang  dauernden  Weltkrisis  die  stets  wider- 
strebenden und  verworrenen  Massen  schließlich  zum  klassen- 
losen Zustande  der  Gemeinwirtschaft  bringen.  Beide  können 
i  sich  auf  Marx  berufen,  der  über  diesen  Punkt  sich  in  ein  agi- 
i'  tatorisch  äußerst  wirksames  Dunkel  hüllte  und  dessen  Ab- 
neigung gegen  alle  utopische  Phantastik  nach  beiden  Seiten 
hin  nur  Andeutungen  gab.  Die  Sache  ist  aber  auch  von  großer 
wissenschaftlicher   und   begrifflich-symptomatischer   Bedeu- 
tung.   Ich  habe  mehrfach  hervorgehoben,  daß  die  Dialektik 
Hegels  sich  mit  innerer  Notwendigkeit  auf  den  Standpunkt 
der  prinzipiell  vollendeten  Entwicklung  stellen  mußte,  weil 
nur  aus   dem   dann   erst   ersichtlichen  Zusammenfall   von 
i  Grund  und  Zweck  die  Stufen  der  Selbstrealisation  der  Ver- 
I  nunft  konstruiert  werden  konnten.  In  seiner  Dialektik  hängt 
I  alles  an  der  Erkenntnis  des  vollendeten  Zweckes  und  der 
1   Interpretation  der  Weltbewegung  aus  einer  logischen  Selbst- 
I  bewegung  der  Vernunft  in  der  Richtung  auf  die  Realisation 
I  dieses  mit  ihr  selbst  identischen  Zweckes.    Beseitigt  man 
i  diesen  Standpunkt  einer  lediglich  kontemplativen  Rekon- 
I  struktion  des  tatsächlich  vollendeten  Prozesses,  dann  gerät 
!  man  bezüglich  der  letzten  Ziele  in  die  Ungewißheit  eines 
I  unendlichen   Prozesses  oder  man  muß  im   Sinne  relativer 
I  Wahrscheinlichkeit  die  vermutlichen  Entwicklungstendenzen 
der  jeweiligen   Gegenwart  zu  erkennen  versuchen,  um  die 
mutmaßlich  nächste  Station  zu  erraten,  in  beiden  Fällen 
verliert  man  die  Möglichkeit  einer  notwendigen  Konstruktion 

Sturzpartei  zu  einer  wirklich  revolutionären  Partei  heranreifte."  — 
Vom  „Kapital"  braucht  man  in  dieser  Hinsicht  ^ar  nicht  zu  reden; 
sein  ganzer  stets  den  Modernen  so  befremdender  Einsatzpunkt  ist  nur 
von  der  Dialektik  aus  zu  verstehen,  ebenso  wie  der  ganze  Aufbau; 
den  Gegensatz  gegen  den  modernen  nationalökonomischen  Psycho- 
logismus, der  allgemeine  psychologische  Naturgesetze  sucht  und  nur 
stets  den  historischen  Bedingungen  durch  Verfeinerungen  anpaßt,  s.  bei 
Hilferding  Marx-Studien  I  (1910)  die  Auseinandersetzung  mit  Böhm- 
Bawerk;  ebenso  in  der  erwähnten  Abhandlung  von  Leone. 


414  Ernst  Troeltsch, 

des  Gesamtprozesses.  Das  erste  war,  wie  gezeigt,  bei  Bruno 
Bauers  „Kritik  der  Kritik"  der  Fall,  das  zweite  bei  Feuer- 
bachs blassem  Kommunismus.  Marx  hatte  als  grundsätz- 
licher, ja  fanatischer  Revolutionär  von  vornherein  keine 
Lust,  bei  solchen  Bestimmungslosigkeiten  oder  Allgemein- 
heiten oder  Wahrscheinlichkeiten  stehen  zu  bleiben.  Er 
faßte  ein  unbedingtes  Ziel  mit  ethischer  Absolutheit  ins  Auge, 
den  Sturz  der  feudal-bürgerlichen  Gesellschaft  und  Staat- 
lichkeit zugunsten  einer  klassen-  und  staatslosen  Gesell- 
schaft, ,, worin  die  freie  Entwicklung  eines  jeden  die  Be- 
dingung für  die  freie  Entwicklung  aller  ist*'.  Die  Vieldeutig- 
keit dieser  berühmten  Worte  verdeckt  leicht  ihren  Sinn. 
Es  ist  aber  klar,  daß  das  inhaltlich  im  Sinne  iV^arxens  etwas 
ganz  anderes  ist  als  der  Hegeische,  der  Dialektik  zugrunde 
liegende  Fortschritt  im  ,, Bewußtsein  der  Freiheit",  welcher 
letztere  den  Fortschritt  der  Einsicht  in  die  innere  Notwen- 
digkeit des  Weltprozesses  und  damit  die  bewußte  Einord- 
nung der  Individuen  in  die  organischen  Einheiten  des  Staates 
bedeutet,  also  die  auf  eine  organische  Staatsauffassung  be- 
zogene spinozistische  Freiheit.  Bei  Marx,  dem  alten  rheini- 
schen Liberalen  und  Demokraten  und  späteren  Freunde  der 
französischen  Umsturzbewegung,  ist  es  aber  die  individua- 
listisch-naturrechtliche Freiheit,  die  nur  in  einer  klassen- 
und  staatslosen,  Produktion  und  Verteilung  als  Gesamt- 
interesse behandelnden  Gesellschaft  realisiert  werden  könne, 
nicht  in  einer  bloßen  formal-rechtlichen  Demokratie  des 
organischen  Staatsgedankens.  Dafür  setzt  er  denn  auch  die 
ganze  Leidenschaftlichkeit  einer  absoluten  Forderung  und 
einer  gewaltsamen  Durchsetzung  ein,  nur  daß  er  diesem 
Gewaltakt  und  der  Verwirklichung  des  Ideals  einen  großen 
vorbereitenden  Prozeß  realer  Ermöglichung  unterbauen  will. 
Das  aber  ist  etwas,  was  aus  der  ganz  relativistisch  gewordenen 
Dialektik  selber  nie  gewonnen  und  begründet  werden  konnte; 
es  stammt  aus  eigenen  Quellen  und  eigenem  Recht,  aus  einer 
nicht  relativistisch  bewegten,  sondern  absoluten  und  zeit- 
losen Vernunft.  Das  zeigt  sich  denn  auch  deutlich  in  der 
Unmöglichkeit,  dieses  Zukunftsideal  aus  der  lediglich  kri- 
tisch und  progressiv  gewordenen  Dialektik  abzuleiten,  ja 
auch  es  nur  damit  zu  verbinden.   Er  kann  den  „Umschlag" 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  415 

aus  der  bisherigen  Geschichtsperiode  der  dialektischen 
Klassenkämpfe  in  die  kommende  Weltperiode  der  kampf- 
und  klassenlosen,  jede  Individualität  frei  vollendenden  Kultur 
nur  durch  die  ganz  künstliche  Konstruktion  erreichen,  daß 
die  Verelendung  des  Proletariats  dieses  auf  die  bloße  Men- 
schenqualität überhaupt  zurückführe  und  daß  dadurch  dieses, 
zur  Herrschaft  emporgetragen,  zum  Träger  und  Organisator 
der  reinen  Humanität,  des  kulturell  voll  und  frei  ent- 
wickelten Individuums,  werde,  d.  h.  daß  die  Klassenherr- 
schaft des  Proletariats  ihrem  Begriffe  nach  die  Aufhebung 
aller  Klassen  überhaupt  bedeute.  An  einer  anderen  Stelle 
argumentiert  Marx  umgekehrt,  daß  die  volle  Entmenschung 
des  Proletariats  seine  Rückkehr  und  Erlösung  zur  Mensch- 
lichkeit und  damit  die  radikale  Aufhebung  derjenigen  Gesell- 
schaftsbedingungen fordere,  die  gerade  in  ihrer  Vollendung 
jene  Entmenschung  bewirken  mußten;  erst  dieZurückführung 
aller  aufdas  Niveau  der  reinenMenschlichkeitgewähreauch  dem 
Proletariat  die  Menschlichkeit  zurück,  wobei  unter  „Mensch- 
lichkeit'* der  Kommunismus  verstanden  ist.^)  Beides  aber  ist 
ganz  offenkundig  ein  Spiel  mit  Worten,  eine  Verdeckung  des 
Gegensatzes  zweiergeistigerWelten,  die  hier  zusammengebogen 
werden  sollen.  Denn  die  in  der  absoluten  Verelendung  übrig 
bleibende  bloße  Menschenqualität  ist  etwas  ganz  anderes 
als  die  ethisch-kulturell  erfüllte,  alle  wertvollen  und  geistigen 
Güter  sinnvoll  genießende  Humanität,  und  ebenso  ist  es 
undenkbar,  daß  der  durch  die  Verschärfung  bis  zum  abso- 
luten Gegensatz  getriebene  Klassenhaß  in  klassenlose  Men- 
schenliebe und  Menschengemeinschaft  „umschlagen"  könne. 
Auch  ist  die  ganze  Konzeption  eines  vom  indifferenten 
Urkommunismus  durch  die  Periode  der  Klassenkämpfe  zum 
kulturell  erfüllten  Idealkommunismus  fortschreitenden  Pro- 
zesses ebenso  offenkundig  ein  Rückfall  in  die  teleologische 
Auffassung  der  Dialektik,  die  Marx  doch  gerade  für  Mystik 
erklärt  hatte  und  die  hier  in  der  Tat  auch  äußerlich  genug  von 
Marx  konstruiert  wird,  wenn  er  der  Klassenkampfperiode  den 
Morganschen  Urkommunismus  vorne  und  eine  Art  Fourier- 

^)  Das  erste  in  der  Kritik  der  Hegeischen  Rechtsphilosophie, 
Nachlaß  I,  397,  das  zweite  im  Kommunistischen  Manifest,  das  dritte 
in  der  „heiligen  Familie",  Nachlaß  II,  132  f. 


416  Ernst  Troeltsch, 

sehen  Idealkommunismus  hinten  anflickt.  Gerade  die  inner- 
lich dialektischen  Übergänge  und  Übergangsmöglichkeiten 
fehlen  hier.  Die  Hegeische  Lehre  von  der  „Aufhebung" 
und  vom  „Umschlag"  ist  nur  in  Worten  erhalten  geblieben, 
im  Sinn  zerstört.  Es  bleibt  daher  gar  nichts  anderes  übrig, 
als  anzuerkennen,  daß  die  Dialektik  und  ihre  völlig  relati- 
vistisch gewordene  Entwicklungslehre  bei  Marx  zerbrochen 
wird  durch  den  Eintritt  einer  dogmatisch-absoluten,  natur- 
rechtlichen Forderung,  die  das  Gegenteil  jeder  Versenkung 
in  dialektisch-notwendige  Entwicklungen  ist  und  überdies 
auch,  um  das  bei  dieser  Gelegenheit  hervorzuheben,  das 
Gegenteil  jedes  Materialismus  ist.^)  In  dieser  völlig  ver- 
schiedenen Herkunft  der  beiden  Hauptgedanken  liegen  die 
oben  charakterisierten  praktischen  Widersprüche  begründet, 
die  ganze  in  der  Vorbereitung  der  heutigen  Revolution  so  viel 
verhandelte  Frage,  wie  der  Determinismus  der  notwendigen 
Entwicklung  des  Proletariats  zur  Herrschaft  sich  zu  dem  unent- 
behrlichen Freiheitsglauben  und  den  ethischen  Forderungen 
in  der  Herbeiführung  der  Revolution  und  der  Begeisterung 
der  Massen  für  sie  verhalte;  ebenso  die  nach  dem  Durch- 
bruch der  Revolution  heute  soviel  verhandelte  Frage,  ob 
die  Herrschaft  und  Weltorganisation  des  Proletariats  sich 
durch  organische  Weiterbildungen  und  Mehrheitsgewinnung 
oder  durch  terroristische  Herrschaft  einer  Minorität  voll- 
ziehen solle.  Die  Vorbereitung  wie  der  Vollzug  des  „Um- 
schlags" stehen  damit  unter  gleichzeitigen,  ganz  entgegen- 
gesetzten Begriffswelten.  Diese  Dunkelheiten  und  Wider- 
sprüche deuten  aber  auf  ein  von  diesen  praktischen  An- 
gelegenheiten ganz  unabhängiges  und  allgemeines  geschichts- 
theoretisches  Problem  hin,  die  Frage,  wie  man  den  Entwick- 

1)  Diese  Doppelheft  beachtet  auch  Hammacher  S.  377—388: 
„So  identifiziert  sich  als  künftiges  Ideal  nach  dem  gallo-germanischen 
Prinzip  Feuerbachs  das  deutsche  Selbstbewußtsein  mit  der  französischen 
Gleichheit"  377,  wobei  nur  die  zweite  viel  stärker  zu  betonen  ist  als 
das  erste.  Gut  ist  auch  der  Hinweis  darauf,  daß  nach  dem  Geschichts- 
materialismus mit  der  vollen  Selbsterkenntnis  aller  ideologischer  Über- 
bau schließlich  wegfällt,  also  die  nun  einsetzende  wahre  Ethik  der 
„sich  als  Selbstzweck  geltenden  Kraftentwicklung  oder  Freiheit"  aus 
anderen  Quellen  kommen  muß;  d.  h.  aus  dem  Naturrecht.  Bei  Lassalle 
fehlt  das  letztere  charakteristisch. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  417 

lungsbegriff  mit  dem  ihm  doch  ganz  unentbehrlichen  Begriff 
des  Zweckes  und  der  davon  ausgehenden  Zukunttsgestaltung 
verbinden  könne.    Hegel  hatte  sich  dem  Problem  entzogen, 
indem  er  es  für  heute  überhaupt  nicht  mehr  bestehend  er- 
klärte. Das  war  logisch  konsequent,  aber  praktisch  schwer 
erträglich.   Marx  hat  den  Enwicklungsgedanken  durch  den 
revolutionären   Rationalismus   einfach   durchschnitten,   wie 
das  im  Grunde  übrigens  doch  auch  schon  bei  Fichte  der  Fall 
war,  der  gleichfalls  Dialektik  und  Naturrecht  gemischt  hat. 
Das  ist  praktisch  befreiend  und   belebend,  aber  mit  dem 
Begriff  der  Dialektik  im  Widerspruch.    So  konnte  auch  an 
diesem  Punkte  das  Kantische  Naturrecht  in  das  System  ein- 
j  geschmuggelt  werden.     Ist    aber  beides    unmöglich,    dann 
ergibt  sich    für  die  historische  Methode  das  Problem  der 
j  Auffindung   einer   ganz  anderen  Weise,    Entwicklung  und 
I  gegenwärtige  Zwecksetzung  in  ihrem  gegenseitigen  Verhält- 
j  nis  zu  verstehen,  und  dem  Marxismus  kommt  jedenfalls 
j  das  Verdienst  zu,  dieses  Problem  praktisch  und  theoretisch 
I  recht  fühlbar  gemacht  zu  haben.  Oder  anders  ausgedrückt : 
I  Die  Dialektik  in  ihrem  technisch-logischen  Sinne  ist  durch 
ihn  von  diesem  Problem  aus  ad  absurdum  geführt  worden.^) 

1)  Diesen  Gegensatz  im  Marxismus  betont  Sombart,  Soziaiismus 
und  soziale  Bewegung ',  1919,  S.  99 — 145;  er  bezeichnet  die  „Dik- 
tatur des  Proletariats"  geradezu  als  Fremdkörper  im  Marxismus,  der 
dann  von  den  Bolschewisten  weiter  entwickelt  wird  zur  Idee  der  ter- 
roristischen Minderheitsherrschaft",  während  der  „Sozialismus"  eine 
Entwicklung  des  Gesamtkörpers  der  Gesellschaft  von  innen  heraus 
bedeute  und  in  Marxens  historisch-realistischer  Kontinuitäts-  und 
Entwicklungslehre  begründet  sei.  Auch  Struve  a.  a.  O.  674  sieht  darin 
„Elemente  des  Babouvismus  und  Blanquismus",  einen  jakobinisch- 
blanquistischen  Begriff  684,  macht  aber  dafür  gerade  die  Dialektik 
und  ihre  Lehre  vom  Umschlag  verantwortlich,  was  aber  nur  für  die 
Marxistische  Orthodoxie  und  teilweise  für  Marxens  Mißbrauch  der 
Dialektik  gelten  kann.  In  ihrem  ursprünglichen  Sinne  hat  sie  dafür  gerade 
keinen  Raum,  wie  Struve  S.  688  selbst  bemerkt:  „Der  dem  Marxismus 
eigene  Begriffsabsolutismus  (und  das  revolutionäre  Wunder  des  Um- 
schlagens  dieser  Begriffet  ist  in  gewissem  Sinne  das  Gegenteil  der  Dia- 
lektik." So  sieht  er  auch  ganz  richtig  den  Grund  dieser  Diskrepanzen: 
sie  sind  „aus  dem  irreführenden  Bestreben  erwachsen,  praktisch-poli- 
tische Postulate  in  theoretische  Begriffe  im  Dienst  einer  geschichtlichen 
d.  h.  kausal-genetischen  Betrachtung  umzuprägen",  S.  688.  „Der 
wissenschaftliche  Sozialismus  ist  keine  Reinkultur  der  Wissenschaft, 
als  soziales  Ideal  ist  er  notwendig  eine  Verbindung  von  Wissenschaft 


418  Ernst  Troeltsch, 

Das  zweite  ist:  Die  Dialektik  ist  naturalisiert.  Sie  ist 
aus  einem  Gesetz  der  sich  logisch  bewegenden  und  mit  ihrem 
Denken  das  Sein  setzenden  Weltvernunft,  das  aus  Wesen 
und  Sinn  dieser  Vernunft  abgeleitet  und  aus  seiner  Ent- 
haltenheit^in  der  endlichen  Einzelvernunft  regressiv  heraus- 
geholt werden  konnte,  zu  einem  lediglich  tatsächlich  gelten- 
den Naturgesetz  geworden,  zu  einer  Selbstverständlichkeit, 
die  man  mit  Hegel  teilte,  aber  nicht  ihm  verdanken  wollte, 
die  Hegel  mystisch  und  metaphysisch  verballhornt  habe 
und  die  man  in  ihrem  kritischen  und  empirischen  Sinn  als 
Mittel  der  Ordnung  der  Tatsachen  wieder  herzustellen  meinte. 
So  konnte  sich  die  äußerste  Schroffheit  gegen  Hegel  mit  der 
engsten  Gebundenheit  an  seine  dialektische  Methode  ver- 
binden, die  man  arglos  und  ohne  jedes  Gefühl  für  die  in  ihr 
liegenden  metaphysischen  Voraussetzungen  auf  anorganische, 
organische  und  historische  Welt  anwendete,  genau  wie  der 
Meister  selbst.  Deshalb  schreckte  Marx  und  Engels  auch 
nicht  vor  dem  Bekenntnis  zur  Methode  seiner  Naturphilosophie 
zurück,  und  bezogen  sie  sich  gerne  auf  Oken  und  verwandte 
Naturforscher,  interpretierten  Darwin  und  die  Mechanisten 
ohne  weiteres  in  dialektischem  Sinne,  in  der  Meinung,  sie 
lediglich  methodisch  zu  verbessern,  aber  ihren  rein  empi- 
ristischen und  naturalistischen  Gedanken  selbst  nicht  zu  ver- 
ändern. Eben  deshalb  darf  das  dialektische  Naturgesetz 
im  Sinne  des  Marxismus  durchaus  nicht  mit  dem  mathe- 
matisch-mechanischen oder  rein  induktiv-generalisierenden 
der  modernen  Naturwissenschaft  verwechselt  werden.  Aber 
ebensowenig  darf  es  mit  Hegelschem  Idealismus  und  irgend- 
einer spiritualistischen  Metaphysik  in  Verbindung  gebracht 


und  Utopie",  702  f.  —  Über  die  endlosen  Schwierigkeiten  des  Verhält- 
nisses von  Freiheit  und  Initiative  zu  Entwicklung  und  Notwendigkeit, 
die  sich  gleichfalls  aus  dieser  Kombination  und  dem  Verlassen  des 
kontemplativ-fertigen  Standpunktes  Hegels  ergeben  s.  Struve  703  f., 
Vorländer,  Kant  und  Marx,  und  Max  Adler,  Prinzip  oder  Romantik 
1917.  An  diesem  Punkte  geht  das  ganze  Problem  des  Verhältnisses 
von  historischer  Entwicklung  und  gegenwärtiger  Idealsetzung  auf, 
das  von  einer  progressiv  gemachten  Dialektik  nicht  gelöst  werden  kann, 
aber  auch  nicht  von  einer  bloß  kausal  genetischen  Denkweise.  Wie 
ich  mir  die  Lösung  denke,  zeigt  mein  Aufsatz  „Über  Maßstäbe  zur 
Beurteilung  historischer  Dinge**,  H.  Z.  1917. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  419 

werden.  Der  geistig-metaphysische  Welthintergrund  und 
die  geistig-kulturelle  Zwecksetzung  sind  verschwunden.  Die 
Dialektik  ist  ohne  Seinsgrund  und  ohne  Zusammenhang 
von  Sein  und  Wert  lediglich  relativistisch  und  positivistisch 
als  Verbindungsregel  beobachteter  Tatsachen  zu  verstehen, 
die  nach  dem  Grundsatz  der  Position,  Negation  und  Negation 
der  Negation  oder  Reaffirmation  sich  in  unendlicher  Kette 
bewegen.  Jedes  zu  analysierende  und  zu  erkennende  besondere 
Gebiet  muß  aufsein  allgemeines  Prinzip  vermöge  dieser  Analyse 
gebracht  werden,  und  aus  dem  Prinzip  müssen  dann  die 
einzelnen  Bewegungen,  Gegenbewegungen  und  Zusammen- 
fassungen verstanden  werden.  Jede  von  einem  solchen 
Prinzip  aus  erfaßte  Gruppeneinheit  muß  mit  den  anderen 
Gruppeneinheiten  nach  dem  gleichen  Grundsatz  auf  ein 
umfassenderes  und  noch  allgemeineres  Prinzip  gebracht 
werden,  und  aus  dessen  Bewegung  muß  dann  ihre  Fülle 
und  Folge  abgeleitet  werden.  Die  darin  liegende  Hypo- 
stasierung  von  Allgemeinbegriffen  stört  diese  empiristischen 
und  materialistischen  Logiker  nicht!  Sie  empfinden  nur  den 
Triumph  einer  derartig  monistisch  die  Dinge  erfassenden 
und  umfassenden  Logik  und  der  endlichen  Einbeziehung  der 
historischen  Wissenschaften  in  dieses  allgemeine  Naturgesetz. 
Wie  Natur  und  Geschichte  für  Hegel  auf  dem  gleichen  Prinzip 
beruhten,  so  auch  für  sie.  Aber  ihnen  schien  bei  der  Aus- 
schaltung jeder  Metaphysik  dieses  allgemeine  Weltgesetz 
identisch  mit  den  richtig  verstandenen  modernen  Natur- 
wissenschaften. Die  Dialektik  ist  damit  zum  Begriff  einer 
kontinuierlichen  Dynamik  geworden  ohne  Grund,  ohne 
Ziel,  ohne  Seele  und  Tiefe,  ohne  Geheimnis  und  Dunkelheit, 
ohne  ein  in  ihr  enthaltenes  wahrhaft  Allgemeines  und  ohne 
ein  aus  ihr  hervorgehendes  wahrhaft  Individuelles.  An  die 
Stelle  des  letzteren  tritt  der  Begriff  des  „Konkreten",  des 
aus  der  Bewegung  sich  bildenden,  relativ  einheitlichen  und 
aus  seiner  Einheitlichkeit  die  Einzelheiten  begreifenden  Zu- 
sammenhangs, ein  Begriff,  der  übrigens  der  Marxschen 
Historie  die  zentrale  Bedeutung  des  Individuellen  einiger- 
maßen zu  erhalten  imstande  war  und  der  sie  vor  den  Fana- 
tikern der  allgemeinen  Gesetze  der  Geschichte  dauernd  aus- 
zeichnet.   Die  Wirtschaftsstufen,  insbesondere  der  Kapita- 


420  Ernst  Troeltsch, 

lismus,  sind  für  sie  nicht  Anwendungsfälle  eines  allgemeinen 
psychologischen  Gesetzes  oder  durch  Vergleich  festgestellter 
allgemeiner  Entwicklungstendenzen,  sondern  konkret-indi- 
viduelle, historisch-einmalige  Gebilde,  die  innerhalb  der 
allgemein  historischen  Bewegung  jedesmal  in  besonderer 
Weise  sich  bilden  und  darum  jedes  auch  besonders  analysiert 
werden  müssen.  Nur  fehlt  jedem  solchen  konkreten  Gebilde 
die  Hindeutung  auf  einen  in  ihm  konkretisierten  Weltgrund 
und  jeder  selbständige,  aus  diesem  herstammende  geistige 
Gehalt.  Die  Tatsachen  werden  wesentlich  auf  dem  ökono- 
misch-sozialen Gebiete  gesucht,  und  die  hier  entstehenden 
dialektisch  erforschbaren  Einheitsgebilde  sind  darum  grund- 
legend wirtschaftliche  Einheiten,  die  vom  Prinzip  einer  be- 
stimmten Arbeitsform  und  Arbeitswertung  aus  grund- 
legend gestaltet  sind.  So  schlägt  heute  Rudolf  Goldscheid 
vor,  statt  von  Organismen  zu  sprechen  von  „Ökonomismen**! 
Diese  ökonomischen  Tatsachen  gelten  allein  als  erfah- 
rungsmäßig entscheidend,  und  die  Dialektik  hat  daher  als 
empirische  Logik  nur  sie  zu  beachten  und  zu  konstruieren. 
Das  jeweilige  Konkrete  ist  also  nicht  ein  individualisierter 
Stand  des  Geistes,  sondern  eine  konkrete  ökonomisch-soziale 
Lebensverfassung.  Das  fordert  die  Diesseitig-  und  Empirisch- 
Werdung  der  Dialektik  schon  von  sich  allein  aus;  auf  die 
weitere  Bedeutung  und  Begründung  dieser  Art  Auslese  des 
Wesentlichen  ist  gleich  später  noch  hinzuweisen.  So  kann 
auch  die  Illusion  entstehen,  als  vermöchte  diese  Dialektik 
vortrefflich  mit  dem  Materialismus  zusammen  zu  bestehen, 
da  sie  als  empirische  ja  nur  auf  die  ökonomischen  Grundtat- 
sachen der  Erhaltung  des  physischen  Lebens  gerichtet  ist 
und  den  Umschlag  der  Materie  in  Bewußtsein,  der  materiellen 
Bewegungen  in  ökonomische  Interessen  leicht  zu  zeigen 
imstande  sei.  Daher  konnte  sie  auch  so  leicht  in  den  Dienst 
des  Atheismus  treten  und  durch  die  bloß  faktische  Not- 
wendigkeit der  Entwicklung  alles  zu  verbürgen  scheinen, 
was  sonst  Gott,  Unsterblichkeit,  Erlösung  und  Eschatologie 
zu  verbürgen  hatten.  War  einmal  gezeigt,  daß  mit  natur- 
gesetzlicher Notwendigkeit  die  Bourgeoisie  sich  zum  geschlos- 
senen Ausbeutungsprinzip  zusammenfassen  und  sie  gerade 
dadurch  ihr  Gegenstück,  das  Proletariat,  in  die  Höhe  bringen 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  421 

müsse,  dann  war  Dialektik  und  Naturgesetz  an  Stelle  Gottes 
getreten  und  die  Religion  nicht  bloß  beseitigt,  sondern  auch 
ersetzt.  Es  kam  lediglich  auf  die  Richtigkeit  dieser  Induk- 
tionen und  ihrer  dialektischen  Deutungen  an,  und  daher 
wurde  die  Wissenschaft,  d.  h.  der  dialektische  Sozialismus, 
Ersatz  für  Religion  und  Philosophie,  von  welcher  letzteren 
überhaupt  nichts  als  die  Dialektik  in  ihrer  vermeintlich  empi- 
ristischen  und  materialistischen  Deutung  übrig  blieb.  Daher 
auch  die  geradezu  religiöse  Leidenschaft,  mit  der  die  Dia- 
lektik und  ihre  Ergebnisse  von  der  sozialistischen  Wissen- 
schaft gehütet  und  jeder  Irrlehre  entgegengestellt  werden. 
Freilich  zeigt  dieser  letztere  Umstand,  daß  die  Dialektik 
bei  aller  realistischen  und  positivistischen  Umformung,  vor 
allem  bei  aller  damit  gegebenen  Lösung  von  göttlichen  Welt- 
zwecken, in  Wahrheit  doch  aufs  engste  mit  dem  Zweck  und 
Wertgedanken,  mit  dem  Begriff  einer  aufsteigenden  Ent- 
wicklung zusammenhängend  geblieben  ist.  Die  Dynamik 
kann  nicht  zum  Grundbegriff  gemacht  werden,  ohne  ihre 
Gerichtetheit  mit  in  ihren  Begriff  aufzunehmen.  Engels 
kann  in  vollkommener  Naivität  die  Dialektik  bezeichnen 
als  den  ,, ursächlichen  Zusammenhang  des  durch  alle  Zick- 
zackbewegungen und  momentane  Rückschritte  hindurch 
sich  durchsetzenden  Fortschreitens  vom  Niederen  zum 
Höheren. **i)  Teleologische  Gerichtetheit  und  Wertsteigerung 
gehört  also  doch  auch  hier  zur  Dialektik,  nur  bedarf  das 
keines  kosmisch-geistigen  Grundes  und  keines  damit  erst 
begründeten  Sinnes  und  Zweckes,  sondern  es  ist  eine  selbst- 
verständliche Eigentümlichkeit  des  Naturgesetzes,  in  der  Ent- 
wicklung durch  die  Antagonismen  hindurch  die  Werte  zu 
steigern.  Freilich  welche  Werte?  Natürlich  die  ökonomi- 
schen, und  zu  diesen  gehören,  wie  gleich  zu  zeigen,  die 
geistig-kulturellen  von  selbst.  Und  wenn  die  letztere  Frage 
nach  den  geistigen  Werten  tiefer  und  selbständiger  gestellt 
Wird,  dann  tritt  das  soeben  geschilderte  zweite  Motiv  des 
Marxismus,  die  französisch-naturrechtliche  Freiheits-  und 
Individualitätsidee  als  Zweck  ein,  und  es  wird  möglich, 
wie   im    Kommunistischen   Manifest,    die   Weltentwicklung 

1)  Engels,  L.  Feuerbach^  1910,  S.  38;  ebenso  im  Anti-Dühring 
S.  143—145. 


422  Ernst  Troeltsch, 

als  beständigen  dialektischen  und  naturgesetzlichen  Fort- 
schritt von  der  Indifferenz  des  Urkommunismus  durch  die 
Klassenkämpfe  hindurch  zum  goldenen  Zeitalter  der  Frei- 
heit und  Gleichheit  aller  im  konkret  entfalteten  Kommu- 
nismus zu  konstruieren.  Es  ist  klar,  daß  alle  Naturalisierung 
der  Dialektik  die  in  ihr  nun  einmal  liegende  Mystik  der 
Identität  des  Allgemeinen  und  Besonderen,  der  Einheit  der 
Gegensätze  und  der  Wertsteigerung  in  der  Explikation  des 
Allgemeinen  nicht  hat  tilgen  können  und  daß  gerade  diesen 
unbewußt  mitgeschleppten  Resten  die  große  Wirkung  der 
Dialektik  verdankt  wird.  Das  heißt,  daß  rein  philosophisch 
genommen  diese  Naturalisierung  der  Dialektik  eine  Unge- 
heuerlichkeit ist.  Aber  rein  geschichtslogisch  genommen, 
ist  diese  Zertrümmerung  ihres  eigentlichen  Gefüges,  die  ja 
doch  großenteils  aus  wirklichen  historischen  Beobachtungen 
und  echtem  Realismus  stammt,  eine  Freisetzung  ihres  besten 
Wahrheitselementes,  des  Gedankens  der  historischen  Dyna- 
mik, der  deutbaren  und  darstellbaren  konkret-individuellen 
Einheit  aller  historischen  Gebilde,  der  Sinneinheit  und 
teleologischen  Gerichtetheit  aller  einzelnen  historischen  Tota- 
litäten und  auch  ihres  zu  vermutenden  Zusammenhanges 
untereinander  und  nacheinander.  Eben  deshalb  hat  diese 
naturalisierte  Dialektik  trotz  ihrer  philosophischen  Unge- 
heuerlichkeiten und  Banalitäten  rein  historisch  doch  sehr 
wichtige  Erkenntnisse  zu  vermitteln  vermocht. 

Das  dritte  ist:  Die  Dialektik  ist  ökonomisiert.  Sie  ist 
es  nicht  bloß  aus  dem  eben  angeführten  Grunde,  daß  sie  als 
empirische  oder  materialistische  Dialektik  ihre  Konstruktion 
an  die  alles  Empirische  beherrschende  Tatsache  der  Erhal- 
tung des  leiblichen  Lebens  anknüpfen  muß,  sondern  sie  ist 
es  in  erster  Linie,  weil  der  historische  Scharfblick  Marxens 
in  den  ökonomisch-sozialen  Tatsachen  ganz  selbständig  und 
ohne  jede  Rücksicht  auf  die  Theorie,  höchstens  belehrt  durch 
die  französische,  sozial  orientierte  Historie,  die  entschei- 
denden Grundlagen  oder  doch  Unterlagen  alles  geschichtlichen 
Lebens  und  aller  geistig-kulturellen  Bildungen  zu  erkennen 
glaubte.  Das  begann  schon  mit  der  Erkenntnis  der  Notlage 
der  rheinischen  Winzer  und  ihrer  wahren  Gründe,  also  schon 
vor  1848.   Er  lernte  immer  deutlicher  sehen,  daß  die  Ideen- 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  423 

weit  auf  dem  Grund  nicht  nur  der  Gemeinschaft  überhaupt, 
wie  Feuerbach  lehrte,  sondern  auf  dem  Grunde  ökonomisch 
und  technologisch  bestimmt  geprägter  und  von  bestimmten, 
damit  zusammenhängenden  Interessen  erfüllter  Gemeinschaft 
aufruht,  daß  alles  Recht,  alle  politische  Theorie,  alle  Sitte 
und  soziale  Idealbildung  oder  Ethik,  schließlich  aber  auch 
alle  Philosophie,  Kunst  Literatur  und  Religion  von  diesem 
Untergrunde  her  gefärbt,  mitbestimmt,  bewußt  oder  un- 
bewußt geleitet  ist;  nur  bei  den  Naturwissenschaften  glaubte 
er  davon  absehen  zu  dürfen,  sie  schienen  ihm  ebendeshalb 
durch  ihren  Einfluß  auf  die  Technik  fast  allein  eine  unabhängig 
bestimmende  Rolle  im  sozialen  Prozeß  zu  spielen.  Dazu 
kam  dann  weiter  die  Einsicht,  daß  bestimmte  Formationen 
der  technisch-ökonomisch-sozialen  Gestaltung  der  Arbeit 
und  Gütererzeugung  die  eigentlich  dauernden  Grundmassen 
in  der  Flucht  der  historischen  Erscheinungen  bildend,  in 
Recht  und  Institutionen  niedergeschlagen,  den  Strom  des 
historischen  Lebens  fassen  und  kanalisieren,  so  daß  in  den 
Wirtschaftscharakteren  die  eigentlichen  Mittel  der  Abgrenzung 
und  Bestimmung  der  großen  Geschichtsperioden  gegeben 
sind.  Nicht  der  Wandel  der  Ideen,  sondern  der  des  gesell- 
schaftHchen  Seins  entscheidet  im  ganzen  und  großen,  und 
diesem  Wandel  des  Seins  folgt  dann  jedesmal  rascher  oder 
langsamer  die  Umwälzung  der  aufruhenden  Ideenwelt.  All 
das  entsprang  nicht  aus  der  Theorie,  obwohl  es  von  Anfang 
an  als  solche  vorgetragen  wurde,  sondern  aus  der  Beobach- 
tung und  bestätigte  sich  vor  allem  bei  jeder  tieferen  Analyse 
der  modernen  politischen  und  geistigen  Kämpfe,  die  Marx 
vornahm,  weiterhin  aber  auch  als  Schlüssel  zum  Verständnis 
ganz  entlegener  Perioden  und  Kulturen.  Im  Briefwechsel 
tauchen  fortwährend  derartige  Einzelanalysen  und  die 
Spuren  eingehendster  Quellenstudien  auf  den  entlegensten 
Gebieten  auf;  bald  ist  es  indische  Religion  oder  Islam,  mittel- 
alterliche Sozialverfassung  oder  keltische  und  nordische 
Prähistorie;  im  „Kapital"  sind  dann  die  Ergebnisse  solcher 
mühevollen  Arbeit  allenthalben  gelegentlich  eingestreut. 
Vor  allem  die  beiden  kleinen  historischen  Schriften  sind  in 
dieser  Hinsicht  äußerst  lehrreich  und  fruchtbar.  Gerade  von 
solchen  Erkenntnissen  aus  bekämpfte  er  den  Spiritualismus 


424  Ernst  Troeltsch, 

der  Historiker,  die  lediglich  nach  Ideen  und  Religionen 
periodisieren  und  jede  Periode  nur  aus  geistigen  Prinzipien 
charakterisieren,  also  nach  den  Interessen  der  Wenigen,  die 
sich  dabei  ihres  Zusammenhanges  mit  den  realen  Lebens- 
grundlagen nicht  bewußt  sind  oder  sie  für  selbstverständlich 
und  nebensächlich  halten.  Von  da  aus  ist  vor  allem  seine 
Polemik  gegen  Hegel,  aber  auch  gegen  Feuerbach  und  gegen 
die  ideologischen  Junghegelianer  und  Demokraten  wie  Rüge, 
Grün,  Heß  usw.  zu  verstehen;  sie  sind  ihm  alle  „klassenlose 
Doktrinäre".  Aber  auch  gegen  den  ideologischen  Enthu- 
siasmus eines  Fourier,  Cabet,  Proudhon  wendete  er  sich 
von  da  aus,  weil  sie  die  Idee  umwälzen  wollten,  bevor  die 
äußerst  zähflüssige  reale  Unterlage  in  praktisch-realer  Arbeit 
umgestaltet  war.  Soweit  ist  das  alles  scharfe  Beobachtung 
und  in  der  Hauptsache,  soweit  die  bloßen  Tatsachen  noch 
ohne  weitere  und  tiefere  Begründung  in  Betracht  kommen, 
unzweifelhaft  richtig  und  eine  wirkliche  Bereicherung  und 
Vertiefung  des  historischen  Verständnisses,  i)  Auch  mit  dem 
dialektisch-dynamischen  Denken  an  sich  ist  es  insofern 
wohl  vereinbar,  als  die  Bildung  der  Arbeits-,  Wirtschafts- 
und Sozialverhältnisse  als  erste  Formung  des  historischen 
Lebens  sehr  wohl  bezeichnet  werden  kann,  in  welche  die 
übrigen  Tendenzen  des  Geistes  zunächst  eingeschlossen  sind, 
um  sich  dann,  wie  Arbeit  und  Gesellschaft  selbst,  zu  diffe- 
renzieren und  zu  verselbständigen,  wobei  sie  dann  immer 
in  erheblichem  Maße  an  den  realen  Gesellschaftsuntergrund 

^)  Die  Bedeutung  für  die  Periodisierung  anerkannt  bei  Lamprecht, 
„Moderne  Geschichtswissenschaft",  1905,  S.  105 — 108,  „der  ökonomische 
und  damit  der  soziale  Fortschritt  ist  das  Grundmotiv  der  normalen 
Entwicklung",  S.  108  (was  L.  freilich  nicht  hindert  S.  119  die  „Wer- 
tung und  Disponierung"  von  „den  höchsten  geistigen  Funktionen 
abzuleiten;  nicht  nach  der  Wurzel,  sondern  nach  den  Blüteerschei- 
nungen sind  die  Kulturzeitalter  abzugrenzen  und  zu  ordnen").  Ähnlich 
Breysig  mehrfach  in  „Stufenbau  und  Gesetze  der  Weltgeschichte"  1905. 
Auch  Lindner,  Geschichtsphilosophie»,  1912,  S.  116—123  denkt  im 
Grunde  doch  ebenso,  wenn  er  auch  die  alleinbestimmende  Kraft  des 
Ökonomisch-Sozialen  leugnet  und  die  gelegentliche  Selbständigkeit 
geistiger  Kräfte  und  Einwirkungen  betont.  Lehrreiche  Beleuchtung  der 
Frage  auch  bei  Reinhard  Junge,  Das  Problem  der  Europäisierung  orien- 
talischer Wirtscliaft  I,  1915,  S.  2;  ebenso  Herkner,  Die  Arbeiterfrage 
11«,  1916,  S.  256. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik»  425 

gebunden  bleiben  und  freilich  auf  ihn  auch  wieder  stark 
zurückwirken,  ja  unter  Umständen  sich  vorübergehend  zu 
führender  Selbständigkeit  befreien.  Die  Hauptaufgabe  bleibt 
dann  freilich,  zu  zeigen,  wie  nicht  bloß  die  Gesellschaft  un- 
bewußt auf  die  Ideologie  wirkt,  sondern  wie  umgekehrt 
geistige  Mächte  schon  unbewußt  mit  in  der  Arbeits- und  Gesell- 
schaftsformation selber  stecken  und  richtunggebend  wirken. 
Soweit  wäre  alles  vermuthch  richtig  und  eine  tief  ein- 
schneidende Bereicherung  der  historischen  Forschung  und 
Fragestellung.  Aber  da  kommt  nun  der  strenge  Monismus 
der  rein  logischen  Dialektik,  und  zwar  der  materialisierten 
und  naturalisierten  Dialektik,  zugleich  mit  der  dieser  Dia- 
lektik stets  benachbarten  revolutionär-agitatorischen  Tendenz. 
Da  wird  dann  das  Übergewicht  und  die  Priorität  dieser 
ökonomisch-sozialen  Lebensformen  sofort  zur  einzigen  un- 
abhängigen Variabein  in  diesem  System,  weil  sie  allein  mit 
dem  materiellen  Interesse  und  dem  physischen  Lebens- 
prozesse unmittelbar  zusammenhängen.  So  bedürfen  sie  für 
Marx  nach  unten  hin  ihrerseits  allein  keiner  Erklärung  mehr, 
insofern  sie  sich  aus  dem  Bedürfnis  der  „Produktion  und 
Reproduktion  des  physischen  Lebens",  aus  Hunger  und  aus 
Liebe,  ohne  weiteres  erklären;  der  in  das  ökonomische 
Schema  nicht  ganz  passende  Hinweis  auf  das  Sexualleben 
stammt  von  Engels,  seit  er  die  Morgansche  Prähistorie  in 
die  Dialektik  einführte,  und  entsprach  wenigstens  dem  Natu- 
ralismus. Das  Menschentier  unterscheidet  sich  somit  vom 
vormenschlichen  Tier  nur  durch  die  im  Gehirnprozeß  heraus- 
gebildete Bewußtheit,  mit  der  es  die  Arbeit  planmäßig  und 
organisiert  betreiben  muß  und  sich  in  den  technischen  Werk- 
zeugen die  Mittel  der  Produktion  über  die  physischen  Organe 
hinaus  anbildet.  Anderseits  müssen  nach  obenhin  alle 
weiteren  Kulturschöpfungen  aus  dieser  materiellen  Inter- 
essengrundlage bedingungslos  abgeleitet  werden  als  Umfor- 
mungen und  Verkleidungen  des  wirtschaftlichen  Interesses, 
als  das  „falsche  Bewußtsein**  um  ideologische  Verklärungen 
und  Verzweigungen  der  ökonomischen  Nützlichkeiten  und 
Bedürfnisse,  deren  Entstehungsgrund  man  sich  verbirgt  und 
vergißt  und  die  man  daher  in  der  „Selbstentfremdung  der 
Idee  gegen  die  Wirklichkeit"  für  überirdische  oder  apriorisch- 
Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  28 


4^  Ernst  troeltsch, 

selbständige  Ideen  erklärt,  für  Erfindungen  eines  Triebes 
zum  Generalisieren  und  Hypostasieren,  der,  an  sich  leer, 
die  realen  Erfahrungen  —  und  solche  gibt  es  nur  in  der 
ökonomisch-sozialen  Sphäre  —  zu  irgendwelchen  Ideen, 
Normen,  ewigen  Wahrheiten  und  Idealen  „verhimmelt**.  Nur 
die  Naturwissenschaften  und  die  eigene  Sozialtheorie  und 
revolutionäre  Ethik  Marxens  sind  von  dieser  Abhängigkeit 
und  diesem  Selbstbetrug  ausgeschlossen,  ohne  daß  recht  klar 
wird,  wieso  diese  beiden  Ausnahmen  bei  der  vorausgesetzten^ 
keinerlei  produktive  Selbständigkeit  des  Geistes  anerkennen- 
den Theorie  möglich  sein  sollen.  Es  ist  die  berühmte  oder 
berüchtigte  Kernlehre  des  ,, historischen  Materialismus**  von 
dem  ,, materiellen  Unterbau  und  dem  ideologischen  Überbau.**" 
Infolgedessen  ist  dann  aber  auch  die  dialektische  Entwicklung 
selbst  in  ihrem  Kerne  keine  geistige  Entwicklung,  keine  Folge 
von  sich  differenzierenden  und  versöhnenden  Gedanken- 
bestimmungen, was  man  doch  eigentlich  allein  unter  Dialektik 
sich  vorstellen  kann  und  was  sie  bei  Hegel  gewesen  war, 
sondern  lediglich  eine  Folge  sozialökonomischer  Zustände, 
deren  jeder  unmittelbar  aus  dem  materiellen  Bedürfnis  der 
Lebenserhaltung  entsteht  und  jeder  in  seinem  eigenen 
Schöße  durch  Vorbereitung  einer  gegensätzlichen  Form  der 
Bedürfnisbefriedigung  die  nächste  Stufe  herbeiführt.  Der 
Übergang  von  einer  Stufe  zur  andern  stellt  sich  dann  als 
mehr  oder  minder  gewaltsame  ökonomisch-soziale  Revo- 
lution dar,  wie  denn  diese  Revolutionen  allein  die  ,,  Loko- 
motiven** der  Weltgeschichte  seien.  Die  verschiedenen  Formen 
der  ideellen  Welt  dagegen  haben  keinen  unmittelbaren 
dialektischen  Zusammenhang  und  Fortschritt  unter  sich, 
sondern  verdanken  diesen  und  damit  den  Schein  einer  eigenen 
Entwicklung  nur  mittelbar  dem  Zusammenhang  der  öko- 
nomischen Fortschritte  und  Umwälzungen,  denen  ihre  Ge- 
staltungen folgen,  wie  die  Änderungen  des  Schattens  den 
Änderungen  des  Lichtes.  Das  ist  natürlich  erst  recht  das 
Gegenteil  der  Hegeischen  Dialektik,  die  den  Faden  der 
Entwicklung  an  der  religiös-metaphysisch-politischen  Idee 
spann  und  diese  Dialektik  auch  auf  die  Natur  nur  dadurch 
auszudehnen  imstande  war,  daß  ihr  die  Natur  als  Entäuße- 
rung, unbewußte  Verhüllung  geistiger  Tendenzen  und  Kräfte 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  427 

galt.  Bei  Marx  ist  umgekehrt  der  Geist  die  Selbstentäußerung 
oder  Selbstentfremdung  der  Natur  und  spinnt  sich  der  Faden 
der  historischen  Dialektik  lediglich  am  Wechsel  der  ineinander 
übergehenden,  sich  auseinander  hervortreibenden  techno- 
logisch-sozial-ökonomischen Zustände  fort.  Das  ist  es,  was  ich 
die  Ökonomisierung  der  Dialektik  nenne,  ihre  Verwandlung 
in  eine  gesetzlich  auseinanderfolgende  Reihe  ökonomischer 
Zustände,  die  nicht  in  ihrem  geistigen  Gehalte,  sondern  in 
ihrer  Organisation  der  Bedürfnisbefriedigung  das  Prinzip  der 
Bewegung  haben.  Die  agitatorische  Wirkung  davon  liegt  auf 
der  Hand:  alle  Ideologie  der  Religion,  des  Staates,  der  Ethik 
usw.  erscheint  von  hier  aus  als  Ablenkung  des  Proletariats 
von  seinen  natürlichen  Interessen,  der  ökonomisch-soziale 
Umsturz  als  Bürgschaft  der  ideell-kulturellen  Vollendung 
aller,  das  ,, falsche  Bewußtsein''  und  die  Ideologie  der  herr- 
schenden Klassen  als  Heuchelei  und  Selbstbetrug,  alle  gei- 
stigen Schutzwehren  gegen  den  Umsturz  und  alle  von  der 
Ökonomie  unabhängigen  Werte,  Wahrheiten  und  Gemein- 
gefühle als  ohnmächtige  und  in  ihrer  Ohnmacht  enthüllte 
Attrappe.  Nur  die  Ideologie  des  Proletariats  und  seine 
Wissenschaft  ist  diesem  Schicksal  entnommen,  weil  sie  auf 
einem  reinen  Naturgesetz  beruhen  und  weil  sie  am  Ende  der 
vorläufigen,  durch  die  Selbstentfremdung  der  Natur  ge- 
trübten Geschichtsperiode  stehen,  also  mit  dem  ins  Absolute 
gesteigerten  Gegensatz  den  Umschlag  zur  wahren  Erkenntnis 
und  zu  einer  glücklicheren  Weltperiode  bedeuten.  Alles 
das  ist  denn  auch  von  den  Kritikern  oft  genug  hervorgehoben 
worden.  Auch  auf  die  Vieldeutigkeit  und  Unklarheit  der 
dem  sozialen  System  zugrunde  gelegten  angebhch  allein 
selbständigen  Variablen,  der  „Produktivkräfte  und  Pro- 
duktionsverhältnisse", ist  oft  hingewiesen  worden,  die  in 
Wahrheit  zwei  verschiedene  Prinzipien  bedeuten  und  den 
Sachverhalt  überdies  nicht  erschöpfen  i);  ebenso  auf  die 
Verallgemeinerung  eines  spezifisch  modernen,  mit  Technik, 


^)  Über  diese  Formel  s.  Herkner  II«,  S.  254,  Hammacher  160; 
auch  Stammlers  Kritik  setzt  an  diesem  Punkte  ein,  wobei  ihm  Struve 
a.  a.  0.  S.  667  f.  zustimmt,  aber  seinerseits  auf  die  höchst  komplizierte, 
immer  nur  von  Fall  zu  Fall  feststellbare  Wechselwirkung  von  Wirt- 
schaft (Produktivkräfte)  und  Recht  (Produktionsverhältnisse)  hinweist. 

28* 


428  Ernst  Troeltsch, 

Bevölkerungssteigerung  und  Großstaat  zusammenhängenden 
Übergewichtes  der  sozial-ökonomischen  Elemente  über  alle 
anderen,  was  in  dieser  Weise  von  keiner  anderen  Periode 
gegolten  und  darum  auch  nicht  in  deren  Bewußtsein  gelegen 
habe^);  nicht  minder  natürlich  auch  auf  die  erfahrungs- 
mäßig vorliegende  Andersartigkeit  und  Selbständigkeit  der 
nicht-ökonomischen  Geistesinhalte,  wie  sie  die  von  Marx 
völlig  mißachtete  Psychologie  und  die  wirkliche  Geschichte 
zeigen. 2)  Ja,  die  Urheber  selbst  haben  die  Methode  doch 
zuletzt  nur  als  Leitfaden  und  Fragestellung  bezeichnet  und 
betreffs  des  ideologischen  Überbaus,  seiner  relativen  Selb- 
ständigkeit, Bewegungsfreiheit  und  Rückwirkungsfähigkeit 
immer  größere  Zugeständnisse  gemacht.  3)  Die  Äußerungen 
Marxens  über  die  Kunst  z.  B.,  die  er  an  dem  klassischen 
Hauptort  der  Theorie,  der  Vorrede  zur  „Kritik  der  politi- 
schen Ökonomie"  macht,  sind  sehr  vernünftig,  aber  fallen 
völlig  aus  dem  System  heraus,  anderseits  sind  manche  Äuße- 
rungen von  Engels  ohne  weiteres  als  Verlegenheitsausflüchte 
erkennbar.  Aber  die  wirkliche  Historie  darf  von  diesem 
ganzen  Streite  absehen,  dessen  Quelle  der  dogmatische 
Monismus  ist  und  der  für  sie  gegenstandslos  ist,  einerlei  ob 
die  monistische  Ableitung  vom  Geiste  oder  vom  materiellen 
Produktionsbedürfnis  ausgeht.  Für  sie  ist  dagegen  die  ganze 
Marxistische  Fragestellung  selbst,  soweit  sie  aus  Beobach- 
tung hervorgeht  und  soweit  sie  von  da  aus  einer  lebendigen 
Einheit  und  Wechselwirkung  materiell-ökonomischer  und 
geistiger  Tätigkeiten  nachgeht,  eine  wirkliche  Entdeckung 
und  ist  die  Zerbrechung  jeder  wesentlich  oder  einseitig  ideolo- 
gischen Konstruktion  ein  Fortschritt.  Es  bleibt  die  Tatsache, 
daß  der  sozial-ökonomische  Unterbau  in  der  Tat  dem  ganzen 
historischen  Leben  als  festeste  und  dauerndste,  am  schwer- 
sten sich  wandelnde  und  mit  seinem  Wandel  alles  andere 
umwälzende  Unterschicht  zugrunde  liegt.  Die  nähere  Er- 
klärung und  Deutung  dieser  Tatsache,  die  Erklärung  jenes 

^)  S.  Lindner,  Geschichtsphilosophie  122. 

2)  S.  Erdmann,  S.  27,  69—51. 

3)  Steilen  namentlich  aus  späteren  Briefen  von  Engels  bei  Welt- 
mann 238 — 251.  Diese  Äußerungen  lösen  in  Wahrheit  das  ganze 
System  auf. 


f 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  429 


Unterbaus  und  seiner  jeweils  besonderen  Art  selbst,  das 
Wechselverhältnis  zwischen  Oberbau  und  Unterbau,  der 
Zusammenhang  von  Wirtschaftsgesinnung  und  Wirtschaft 
und  die  jeweils  besondere  Erklärung  der  ersteren,  die  gelegent- 
liche volle  Verselbständigung  außerökonomischer  Gewalten 
und  die  Wirkungen  eben  dieser  auf  Wandelungen  der  öko- 
nomisch-sozialen Zuständlichkeiten:  das  alles  bleiben  dabei 
Fragen  für  sich,  die  von  Fall  zu  Fall  selbständig  durchforscht 
werden  müssen.  Jedenfalls  ist  die  Abhängigkeit  des  ideolo- 
gischen Überbaus  weitaus  die  Regel  und  liegen  hier  in  der 
Tat  viele  unbewußte  oder  von  einseitig  bildungsmäßig  oder 
religiös  oder  politisch  interessierten  Forschern  nicht  oder 
wenig  beachtete  Zusammenhänge  vor.^)  Die  großen  Perioden 
der  Kulturgeschichte  können  in  der  Tat  am  ehesten  nach 
den  Merkmalen  dieses  Unterbaus  charakterisiert  werden, 
und  diese  Charakterisiesung  wird  um  so  begründeter  sein, 
wenn  man  zeigen  kann,  daß  allerdings  in  den  Fundamenten 
dieses  Unterbaus  selber  schon  eine  bestimmte,  dem  betref- 
fenden Kulturkreis  eignende  seelische  Art  steckt,  die  schon  der 
elementarsten  Lebensordnung  gewisse  Färbungen  und  Rich- 
tungsbestimmtheiten gegeben  hat,  oder  daß  bestimmte 
ökonomische  Umwälzungen  erst  durch  das  Hinzutreten 
geistiger  Einstellungen^  ihre  Bedeutung  und  Kraft  erhalten. 2) 
Die  ökonomisierte  Dialektik  ist  also  trotz  aller  Übertrei- 
bungen und  Ungeheuerlichkeiten  doch  eine  äußerst  frucht- 
bare  Fragestellung  und   eine   Einstellung  auf  dynamische 

1)  Interessante  Beispiele  bei  J.  Plenge,  Realistische  Glossen  zu 
einer  Gesch.  des  deutschen  Idealismus,  Schmollers  Jahrbuch  1911,  und 
G.  V.  Lukäcs,  Zur  Soziologie  des  modernen  Dramas,  Archiv  f.  Soz. 
Wiss.  XXXII,  1908  und  XXXVIII,  1914;  aber  auch  Carl  Neumann 
in  dem  Kapitel  „Kunst  und  Publikum"  in  der  „Kampf  um  die  neue 
Kunst",  1896;  übrigens  finden  sich  schon  bei  Schnaase  viele  Be- 
merkungen dieser  Art. 

2)  Hierher  gehören  Sombarts  Untersuchungen  über  die  jeweilige 
„Wirtschaftsgesinnung"  und  deren  Gründe,  vor  allem  Max  Webers 
Untersuchung  über  den  „Geist  des  Kapitalismus",  der  zum  rein  öko- 
nomisch-technologischen Kapitalismus  hinzukommen  mußte,  eine 
Unterscheidung,  die  Rachfahl  so  wenig  verstanden  hat,  weil  er  in  die 
Feinheit  Marxistischer  Problemstellungen  nicht  eingedrungen  ist, 
sondern  alles  mit  dem  bloß  psychologischen  Schema  „Erwerbstrieb" 
abmacht. 


430  Ernst  Troeltsch, 

Lebenszusammenhänge,  die  in  der  letzten  Wirkung  der 
Historie  ein  stärkeres  und  konkreteres,  ein  tieferes  und 
breiteres  Leben  zugleich  mit  einer  sichereren  Gliederung 
mitzuteilen  imstande  sind. 

Das  vierte  ist  die  Auflösung  der  logischen  Gegensätze 
des  dialektischen  Prozesses  in  reale  und  materiell  interessierte 
Lebensgegensätze,  d.  h.  in  Klassenkämpfe.  Das  könnte  schon 
aus  dem  Bisherigen  zu  folgen  scheinen,  ist  aber  doch  keineswegs 
mit ihmlediglich einerlei.  DieZentralstellung desökonomischen 
im  Kultursystem  der  sozialen  d.  h.  der  Völkergruppen  und 
die  daraus  folgende  Unterbau-Überbau-Lehre  ist  —  nach 
ihrer  systematischen  Seite  —  zunächst  lediglich  eine  Folge 
der  Feuerbachschen  Umkippung  der  Dialektik,  der  Ent- 
wicklung des  Ideellen  aus  dem  Realen,  unter  gleichzeitiger 
Festlegung  des  Realerr  im  Ökonomischen.  Aber  auf  diesem 
Standpunkt  bliebe  der  Prozeß  immer  noch  ein  solcher  der 
Gesamtgruppe  und  überdies  ein  reichlich  abstrakter, 
Insofern  er  vor  allem  jene  Umkehrung  des  Bewußtseins 
bedeutet,  vermöge  deren  das  Reale  sein  Spiegelbild 
ejzeugt  und  diese  für  das  eigentlich  Reale  hält;  dabei  hätte 
diese  merkwürdige,  schicksalsvolle  Umkehrung  zum  Motiv 
die  bloße  Unbefriedigtheit  des  einzelnen  Individuums 
im  Verhältnis  zu  dem  nur  in  der  Gattung  realisierbaren 
Glück  und  Wesen  des  Menschen.  Gegen  diese  Kon- 
struktion hat  Marx  sich  schon  in  den  von  Engels  in  seinem 
Feuerbachbuche  mitgeteilten  Glossen  charakteristisch  da- 
hin erklärt,  daß  jene  „Selbstentfremdung''  oder  Selbst-- 
verdoppelung  nicht  aus  theoretischen  Gründen  und  Bedürf- 
nissen, sondern  ,,eben  nur  aus  der  Selbstzerrissenheit  und 
dem  Sich-selbst-Widersprechen  der  weltlichen  Grundlage, 
d.  h.  aus  ihrer  Zerklüftung  in  feindliche  Klassen  und  vor 
allem  aus  der  Verelendung  und  Entmenschung  der  ausge- 
beuteten Klasse  sich  erkläre".  ,,Die  weltliche  Grundlage 
selbst  muß  also  erstens  in  ihrem  sozialen,  nicht  bloß  ideolo- 
gischen Widerspruch  verstanden  und  sodann  durch  Besei- 
tigung des  Widerspruchs  praktisch,  nicht  bloß  literarisch, 
revolutioniert  werden."  Damit  ist  zunächst  natürlich  die  mo- 
derne Lage  und  die  Scheidung  von  Bourgeoisie  und  Proletariat 
gemeint.  Aber  wie  hier  und  heute  den  dialektischen  Gegen- 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  431 

Sätzen  sich  Klassengegensätze  unterschieben,  so  glaubt  Marx 
alle  sozialen  Systeme  analog  begreifen  zu  sollen  und  überall 
und  immer  die  dialektischen  Spannungen  in  Klassenspannungen 
umsetzen  zu  müssen.  Darin  befestigte  ihn  die  St.  Simonistisch 
angeregte  französische  Historie,  die  die  ganze  abendländische 
Geschichte  unter  diesem  Gesichtspunkt  bearbeitete,  und  das 
heute  noch  fesselnde  Buch  von  Lorenz  Stein,  der  in  dieser 
Einstellung  des  Proletariats  in  die  dialektischen  Gegensätze 
und  in  der  Konstruktion  der  Zukunft  von  da  aus  vorange- 
gangen war.  Damit  aber  entwickelte  die  Überbau-Unterbau- 
lehre erst  ihre  schärfsten  und  historisch  lehrreichsten  Kon- 
sequenzen, insofern.es  sich  bei  ihr  nicht  mehr  um  das  ganze 
soziale  System  als  solches,  sondern  um  dieses  als  in  Klassen- 
gegensätze eingespannt  handelt  und  nun  die  Erklärung  des 
,  Bewußtseins  aus  dem  gesellschaftlichen  Sein  vor  allem  die 
I  Aufhellung  der  Klassenideologien,  ihrer  notwendigen  Selbst- 
:  täuschungen  und  ihrer  Heucheleien,  bewirkt.    Nirgends  ist 
!  Marx  so  diabolisch  scharfsichtig  gewesen    als  in  der  Ent- 
I  hüllung  dieser  Zusammenhänge  und  in  der  Zurückführung 
I  alles  politischen,  ethischen  und  religiösen  Pathos  auf  mate- 
1  rielle  Klasseninteressen.    Von  da  aus  hat  er  dann  völlig  im 
!  Sinne  der  Hegeischen  Lehre  von  der  List  der  Vernunft,  die 
I  die  Leidenschaften  und  individuellen   Interessen  als  Hebel 
I  und  Hüllen  der  geistigen  Entwicklung  benutzte,  die  Klassen- 
i  Egoismen,  -Ideologien  und  -kämpfe  samt  den  daraus  ent- 
'  springenden    Revolutionen   als   das   eigentliche   Mittel   des 
'  Fortschrittes  betrachtet;  mit  dem  modernen  Gegensatz  von 
;  Bourgeoisie  und  Proletariat  auf  den  Gipfel  gekommen,  habe 
dieses  Mittel  die  erste  Epoche  der  Menschheit  beendet  und  werde 
I  es  die  klassenlose  Gesellschaft  der  Freien  und  Gleichen  herbei- 
j  führen,  deren  nun  nicht  mehr  klassenbedingte,  weil  lediglich 
j  auf  Naturwissenschaft  und  Gesetz  gestützte  Ideologie  Marx 
I  selbst  geschaffen  zu  haben  überzeugt  war.  Von  da  aus  konnte 
!  er  sich  dann  auch  mit  Darwin  berühren,  der  die  Vorstufen 
;  dieser  Klassenkämpfe  schon  im  Tierreich  aufwies,  und  damit 
:  den   Darwinismus   dialektisch   verdauen.    Auch   hier  kann 
j  man  natürlich  die  alles  übertreibende  Einspannung  in  die 
I  monistisch-dialektische  Theorie  bedauern,  die  Unterschätzung 
j  oder   Ignorierung  aller  überklassenmäßigen   Interessen,  Ge- 


432  Ernst  Troeltsch, 

meingefühle,  ethischen  Werte,  die  Ausschließlichkeit  der 
Lösung  all  dieser  Spannungen  durch  Revolutionen,  vor  allem 
die  Undenkbarkeit,  daß  aus  dem  systematisch  gezüchteten 
Klassenhaß  die  neue  kommende  Epoche  der  Freiheit  und 
Gleichheit,  des  Glückes  aller,  geboren  werden  soll.  Diese 
Geburtswehen  erleben  wir  ja  heute  schaudernd  und  mit 
wenig  Aussicht  auf  Erfüllung  der  Prophetie.  Hier  liegt 
in  der  Tat  wieder  viel  Persönliches  zugrunde,  zum  Teil 
der  fanatische,  in  den  Briefen  unflätig  sich  austobende  Haß 
des  Exulanten  und  Rebellen  gegen  die  herrschenden  Klassen, 
zum  Teil  klug  berechnete  agitatorische  Bearbeitung  der 
Massen;  zum  Teil  auch  die  gewaltsame  und  doktrinäre 
Konsequenz  der  dialektischen  Konstruktion.  Allein  auch 
hier  sind  diese  praktisch  für  die  soziale  Bewegung  so  bedeut- 
samen Züge  ziemlich  gleichgültig  für  den  historischen  Wert. 
Eine  Dialektik,  die  nicht  mehr  mit  logischen  oder  logisch 
verkleideten  ethisch-religiösen  Gegensätzen  arbeitet,  ist  fak- 
tisch überhaupt  keine  eigentliche  Dialektik  mehr.  Aber  das 
dynamische  Element  der  Dialektik,  das  von  Anfang  an  ihren 
historischen  Wert  vor  allem  ausmachte,  ist  in  dieser  Durch- 
leuchtung der  soziologischen  Strukturen  und  ihrer  Klassen- 
spannungen erhalten  geblieben,  ja  mehr  als  das:  es  ist  ganz 
außerordentlich  verlebendigt  und  konkretisiert  worden.  Denn 
es  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  ein  großer  Teil  aller  Geschichte 
und  aller  Ideologien  in  der  Tat  mit  Klassengegensätzen  zu- 
sammenhängt, daß  die  letzteren  zum  mindesten  alles  färben 
oder  mitbedingen,  erleichtern  oder  erschweren,  befördern  oder 
hemmen,  und  daß  die  großen  Umwälzungen  der  Geschichte 
immer  auch  mit  dem  Sinken  alter,  dem  Aufsteigen  neuer 
Klassen  zusammenhängen.  Das  geht  bis  in  Literatur,  Kunst 
und  Philosophie  hinein,  von  den  Religionen  gar  nicht  zu 
reden.  Auch  hier  also  handelt  es  sich  um  neue  und  höchst 
bedeutsame  Fragestellungen  für  alle  Geschichte.^) 


^)  Daß  die  Klassengegensätze  doch  nur  in  der  modernen  Ge- 
schichte eine  so  große  und  alle  Ideologie  durchfärbende  Rolle  spielen, 
zeigt  Lindner  S.  122  f.  „Klassenkämpfe  begegnen  nur  bei  den  politisch 
weiter  fortgeschrittenen  indogermanischen  Völkern  als  Folge  des  Ge- 
nossenschaftstriebes und  der  daraus  entspringenden  ständischen  Nei- 
gungen."   Auf  die  Antike  hat  den  Marxistischen  Gesichtspunkt  des 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  43S 

Man  sieht :  monistische  Dogmatik  und  historische  Theorie 
treten  fortwährend  auseinander.  Ihre  enge  Verklammerung 
ist  von  höchster  Bedeutung  für  die  praktisch-agitatorische 
Wirkung  als  Weltanschauung  einer  revolutionären  Partei, 
von  sehr  viel  geringerer  für  die  rein  historische  Leistung  und 
Methode,  die  uns  hier  allein  interessieren.  Immerhin  kommt 
von  der  Dialektik  und  ihrer  eigentümlichen  ökonomischen 
Bereicherung  her  ein  großer  konstruktiver  Zug  des  sozio- 
logisch-geschichtsphilosophischen  Denkens,  der  freilich,  rein 
logisch  genommen,  einer  neuen  Fassung  und  Formulierung 
bedürfte,  der  aber  an  sich  die  große  Leistung  des  Marxismus 
für  die  Wissenschaft  bedeutet.^) 

Es  muß  daher  das  durch  diesen  konstruktiven  Zug 
entstehende  Gesamtbild  der  historischen  Dinge  noch  in  Kürze 
beleuchtet  werden. 

Die  Historie  hat,  wie  bei  Hegel,  einen  zentralen  Gegen- 
stand, eine  grundlegende  Einheit  der  Forschung:  das  ist  die 
soziologische  Gruppe  oder  das  Volk.  Nur  erscheint  die  Gruppe 
bei  Marx  nicht  als  vernunftgeeintes  Ganzes  oder  als  Staat 

I   Klassenkampfes  angewendet  Pöhlmann,  Gesch.  des  antiken  Sozialismus 
und  Kommunismus,  1893  u.  1901,  der  aber  zu  stark  moderne  Kategorien 
einträgt;  s.  meine  „Soziallehren"  S.  20  f.   Auch  Hammacher  kritisiert 
vielfach  die  Übertreibung  der  Herleitung  aller  Ideologien  aus  dem 
j   Klassenkampf,  Sombart  betont  das  mephistophelische  Element  in  diesen 
!  Darlegungen  Marxens.   Interessante  Beispiele  für  das  moderne  England 
!  gibt  H.  Levy,  Die  Grundlagen  des  ökonomischen  Liberalismus  in  der 
'   Gesch.  der  englischen  Volkswirtschaft.    Die  Gewaltsamkeit  und  über- 
triebene  Generalisation  im  Marxistischen   Klassenbegriff,  die  immer 
'  neuen  Differenzierungen  innerhalb  jeder  Klasse  und  die  Existenz  von 
klassenmäßig  nicht   qualifizierbaren    Gruppen   zwischen   den   Haupt- 
!  klassen  zeigt  lehrreich  Rob.  Michels  „Soziologie  des  Parteiwesens  in 
j  der  modernen  Demokratie",  1911,  und  „Probleme  der  Sozialphilosophie" 
!   1914;  hier  bes.  S.  204.  —  Daß  auch   noch  ganz  andere    Gegensätze 
I  Gesellschaft  und  Staat  bestimmen,  zeigt   das  kecke,  aber  gescheite 
!  und  lehrreiche  Buch  von  Hans  Blüher  Die  Rolle  der  Erotik  in  der 
i  männlichen  Gesellschaft 2,  1917/19.  Die  Probleme  der  Gesellschaf tsbil- 
I  düng  sind  eben  viel  komplizierter  als  Marx  annimmt. 
I  1)  Auch  der  Grundgedanke  bei  Hammacher  S.  244,  der  auch  für 

das  Folgende  S.  258 — 388  gute  Zusammenstellungen  und  Analysen 
gibt,  vor  allem  reichliche  Zitate.  S.  auch  die  Bemerkung  S.  345:  „Marx 
fehlt  der  Begriff  der  intellektualen  Anschauung",  die  er  doch  tatsächlich 
^  befolgt,  aber  für  die  sein  dialektischer  Materialismus  die  Voraus- 
setzung zerstört  hat. 


434  Ernst  Troeltsch, 

und  Rechtsinstitution,  sondern  als  ökonomisch  bedingte 
Struktur  der  Gesellschaft.  Diese  Struktur  ist  überall  wesent- 
lich auf  dem  gleichen  Prinzip  aufgebaut,  soweit  es  sich  um 
die  Zeiten  der  dokumentierten,  arbeitsteiligen  und  klassen- 
bedingten Geschichte  handelt,  in  welche  die  kommunistische 
Prähistorie  durch  den  Bruch  des  Mutterrechts  und  die  wesent- 
lich ökonomisch  bedingte  Versklavung  des  Weibes  einmündet. 
In  letzterer  Hinsicht  haben  sich  Engels  und  Marx  noch  an 
Morgans  urgeschichtliche  Forschungen  über  die  Gentilver- 
fassung  angeschlossen ;  neuere  sozialistische  Ethnographen,  wie 
H.  Cunow,  haben  diese  heute  veraltete  Ethnographie  dann 
vor  allem  unter  Spencerschen  Anregungen  auf  den  modernen 
Stand  gebracht,  aber  die  konstruktive  Einmündung  in  die 
Periode  des  Klassenkampfes  natürlich  beibehalten.  Erst  an 
dieser  letzteren  Periode  haftet  die  eigentümliche  Marxistische 
Konstruktion  der  soziologischen  Struktur:  überall  ist  die  Orga- 
nisation der  auf  bestimmten  technischen  Mitteln  beruhenden 
Arbeit  derart,  daß  daraus  für  die  herrschenden  Klassen 
ein  ihnen  zugute  kommender  und  ihr  von  der  groben,  eigent- 
lich physisch  produktiven  Arbeit  befreites  Herrendasein  er- 
möglichender Mehrwert  herausspringt.  Das  ist  das  allgemeine 
Prinzip  aller  soziologischen  Strukturen  dieser  Periode.  Erst 
innerhalb  seiner  bilden  sich  dann  die  individuellen  Konkre- 
tionen, insoferne  die  Herauswirtschaf tung  des  Mehrwertes  je 
nach  den  allgemeinen  Umständen  und  dem  Stande  der  Technik 
verschiedener  Art  sein  kann.  Sie  formt  sich  in  Gestalt  von 
Sklavenarbeit  odeT  von  freier  Arbeit,  unter  Überwiegen  des 
Gebrauchs-  oder  des  Tauschwertes  jeweils  ganz  verschieden 
und  hat  dann  auch  jedesmal  ganz  verschiedene  ideologische 
und  rechtliche  Korrelate.  An  diesem  Faden  lassen  sich 
die  verschiedenen  Stufen  der  Entwicklung  als  jedesmal  neue 
einmalige  Formationen  aufreihen,  und  durch  ihn  ist  ander- 
seits doch  der  immer  gleiche  Grundsatz  der  Analyse  jeder 
einzelnen  gegeben.  Es  ist  im  Grunde  eine  stets  die  Einheit- 
lichkeit eines  Kulturganzen  von  diesen  Gesichtspunkten  aus 
herausfühlende  Intuition,  deren  Allgemeines  dann  nach 
Möglichkeit  dialektisch  im  einzelnen  expliziert  wird,  um  auf 
diese  Weise  das  jeweilige  Ganze  aus  seinen  konkreten  Einzel- 
zügen zu  konstruieren. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  435 

Marx  hat  selbstverständlich  nicht  alle  vorhandenen  und 
vorhanden  gewesenen  Sozialgebilde  derart  analysieren  können. 
Das  wäre  bei  der  Unübersehbarkeit  der  individuellen  Bil- 
dungen und  dem  Stande  der  Quellen  so  zwecklos,  wie  es 
unmöglich  ist.  Es  handelte  sich  vielmehr  für  ihn  darum,  den 
Weg  von  den  unübersehbaren  Massen  des  historisch  für  uns  Be- 
deutungslosen zu  den  großen,  dauernden  und  die  Gegenwart 
erfüllenden  Bildungen  zu  finden,  also  um  den  Begriff  einer 
auf  uns  zu  aufsteigenden,  progressiven  Entwicklung.  Marx 
ist  wie  Hegel  und  fast  alle  Modernen  von  einer  solchen  ins 
Unbegrenzte  aufsteigenden  Entwicklung  des  Ganzen  als 
Ganzem  grundlegend  überzeugt^)  und  mißt  sie  nach  der 
Steigerung  der  Produktionskraft,  die  immer  größeren  und 
organisierteren  Bevölkerungsmassen  ein  auskömmliches  Leben 
und  Freiheit  für  Kulturzwecke  ermöglicht;  daraus  ergibt 
sich  dann  das  eigentlichste  Problem  des  Fortschrittes,  die 
derart  mit  Hilfe  schärfster  Klassenteilung  gesteigerte  und  auf 
Kosten  der  ausgebeuteten  Klasse  entwickelte  technische  Pro- 
duktivkraft zu  erhalten,  aber  ihren  Nutzeffekt  allen  Gesell- 
schaftsgliedern gleichmäßig  zugänglich  zu  machen.  In  diesem 
Sinne  kommt  es  auch  bei  ihm  zu  dem  Gedanken  der  univer- 
salhistorischen Entwicklung.  Auch  in  deren  Konstruktion 
folgt  er  mithin  seinem  Meister  Hegel.  Er  untersucht  nicht, 
wie  kausal-induktiv  vergleichende  Positivisten  die  parallelen 
Gesetzmäßigkeiten  der  Entwicklungen  einzelner  Gruppen, 
die  sich  dann  nur  dadurch  unterscheiden,  wieweit  sie  alle 
typischen  Entwicklungen  durchlaufen  oder  schon  auf  unteren 
Stufen  erlahmen,  so  daß  nur  einige  Elitevölker  zur  Heran- 
bildung der  letzten  gesetzmäßigen  Stufen  gelangen.  Viel- 
mehr faßt  er  den  Fortschritt  als  einen  solchen  der  Gesamt- 
menschheit, die  sich  als  Ganzes  entwickelt,  indem  aus  der 
großen  und  trägen  Masse  einige  führende  Völker  die  Mensch- 
heitsaufgabe sozusagen  repräsentativ  ergreifen  und  ihre 
Lösung  dann  dem  folgenden  welthistorisch  führenden  Volke 
übergeben.  Es  ist  das  Wandern  der  Fackel  des  Menschheits- 
fortschrittes von  einem  Führervolk  zum  andern;  für  diese 


^)  S.  hierzu  meine  Anzeige  von  Barths  „Soziologie  als  Geschichts- 
Philosophie"  im  „Weltwirtschaftlichen  Archiv",  1917. 


436  Ernst  Troeltsch, 

Zeiten  denkt  Marxwie  Hegel  völlig  aristokratisch,  i)  Die  Mensch- 
heitsgeschichte ist  ihm  daher  nicht  ein  nach  überall  gleichen 
Gesetzen  anwachsender  und  sich  vereinigender  Strom,  son- 
dern eine  Fuge,  wie  bei  Goethe,  wo  jeder  neue  Führer  durch 
den  vorhergehenden  dialektisch  vorbereitet  ist.  Auch  die 
Auswahl  der  führenden  Völker  ist  ähnlich  wie  bei  Hegel. 
Wie  dieser  Asiaten,  Antike,  Mittelalter  und  moderne  Welt 
unterschied  und  alles  übrige  beiseite  ließ,  so  sind  auch  für  Marx 
die  welthistorischen  Wirtschaftsstufen  die  asiatische,  antike, 
feudale  und  schließlich  die  moderne  oder  kapitalistische.  Allein 
auch  in  diesem  engeren  Kreise  war  es  natürlich  nicht  möglich, 
jede  dieser  Stufen  eingehend  zu  analysieren.  Marx  hat  sich 
bezüglich  der  drei  ersteren  mit  gelegentlich  eingestreuten, 
übrigens  sehr  geistreichen  und  oft  ungeheuer  treffenden  Be- 
merkungen begnügt.  Was  er  über  die  Zuordnung  der  ideo- 
logischen Korrelate,  besonders  der  Religionen,  dabei  bemerkt, 
ist  freilich  oft  auch  im  Übeln  Sinne  geistreich  und  gelegent- 
lich: widerspruchsvoll  hingeworfene  Apercus  und  sophi- 
stische Klügeleien,  wie  etwa  die  Erklärung  der  universalen 
Menschheitsidee  des  Christentums  aus  dem  allgemein  tausch- 
baren Charakter  der  Ware  seit  Eintritt  der  antiken  Tausch- 
gesellschaft und  ähnliches.  Aber  das  ist  Nebensache.  Das 
Wichtige  ist  der  große  Zug  und  Gang  der  Dinge. 

Die  asiatische  Wirtschaft  veranschaulicht  er  an  der 
indischen  Dorfwirtschaft  mit  ihrem  Zusammenfall  von 
Agrikultur  und  Handwerk  und  ihrem  absolut  tradi- 
tionalistischen Wirtschaftsgeiste,  woraus  sich  die  geringe 
Produktivität  und  damit  die  allgemeine  Stagnation  erklärt. 
Die  antike  Wirtschaft  faßt  er  als  Steigerung  der  Produk- 

1)  Engels  und  Marx  sind  dementsprechend  auch  durchaus  keine 
Pazifisten  und  keine  Schwärmer  für  die  Gleichberechtigung  aller 
Völker,  einerlei  welche  Kulturhöhe  sie  haben.  Engels,  der  überhaupt 
etwas  Kavaliermäßiges  hat,  war  ein  glänzender  Militärkritiker  und 
Marx  hat  durchaus  im  Geiste  Hegels  die  Herrschaft  der  berufenen 
großen  Völker  mit  scharfem  realpolitischen  Blick  gewollt.  Das  wird 
mit  Genugtuung  als  Übereinstimmung  mit  dem  Rankeschen  Ge- 
schichtsdenken festgestellt  von  H.  Oncken,  Preuß.  Jahrb.  1914.  Hier 
hatten  eben  Marx  und  Ranke  gemeinsamen  ideellen  Untergrund  in 
Hegel.  Bei  Lensch  und  Renner  kehren  diese  Einstellungen  heute 
sehr  stark  wieder,  bei  Lassalle  galt  sie  nicht  bloß  für  die  Vorbe- 
reitnngszeit,  sondern  überhaupt. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  437 

tivität  durch  die  Sklavenwirtschaft,  die  eben  damit  eine 
bis  zum  Handels-,  Wucher-  und  Steuerkapitalismus 
aufsteigende  Wirtschaft  gestattet,  in  den  herrschenden 
Schichten  keine  eigentlichen  Klassenunterschiede,  sondern 
nur  den  Gegensatz  von  Gläubigern  und  Schuldnern  kennt 
und  schließlich  an  dem  Versiegen  der  Sklavenwirtschaft 
und  der  Arbeitsscheu  der  alten  Herrenschichten  zugrunde- 
geht, d.  h.  in  traditionalistische  Naturalwirtschaft  sich  zu- 
rückbildet. Die  feudale  Wirtschaft  ruht  auf  eben  dieser 
von  der  Spätantike  zunächst  übernommenen  und  mit  ihr 
geteilten  Naturalwirtschaft  auf,  bildet  aber  aus  ihr  durch 
Umwandlung  der  freien  Bauern  in  Hörige  und  Leibeigene 
die  Großgrundwirtschaft  aus,  die  die  Produktivität  in  der 
unter  diesen  Verhältnissen  allein  möglichen  Weise  steigert, 
und  neben  der  sich  die  auf  der  freien  Arbeit  beruhende  ge- 
werbliche Stadt  als  zweites  Mittel  der  Produktionssteigerung 
allmählich  verselbständigt.  Aus  der  Zersetzung  der  feudalen 
Wirtschaft,  aus  der  Masse  der  durch  Bauernlegen  proleta- 
risierten  Bauern  und  der  Masse  der  durch  Sprengung  der 
Zünfte  von  ihren  Arbeitsmitteln  getrennten  und  zu  bloßen 
Verkäufern  ihrer  Arbeitskraft  werdenden  Handwerker,  aus 
der  diese  Massen  in  organisierter  Arbeit  ausbeutenden  Akku- 
mulation von  Kapital,  das  seinerseits  teils  aus  Grundrente, 
teils  aus  Handelsgewinn  stammt :  aus  alledem  geht  die  moderne 
Periode,  der  moderne  gewerbliche  Kapitalismus  hervor,  die 
Periode  also,  wo  die  Besitzer  der  Produktionsmittel  und 
der  freie  Lohnarbeiter  den  bestimmenden  Menschentypus 
bilden.  Damit  ergibt  sich  eine  märchenhafte  Produktions- 
steigerung, eine  totale  Umwandlung  der  ganzen  Kultur, 
die  grundsätzliche,  nicht  mehr  auf  Eigenproduktion  und 
Kundenproduktion  beruhende  Tauschgesellschaft,  die  auf 
den  abstrakten  Warencharakter  und  die  Massenware,  sowie 
!  auf  Technik  und  Maschine  aufgebaute  moderne  Zivilisation, 
deren  Fortschritte  und  Leiden  allen  bekannt  sind,  wenn  auch 
I  ihre  letzten  Gründe  den  meisten  verborgen  bleiben.  Der 
I  Analyse  dieser  Gesellschaft,  ihrer  führenden  Völker,  ihrer 
;  Produktion  und  ihres  Geistes  hat  Marx  allein  die  volle  Kraft 
I  gewidmet,  doch  auch  hier,  ohne  über  den  mächtigen  Torso 
i  eines  gigantischen  Planes  hinauszukommen.  Dieses  sein  Bild 


438  Ernst  Troeltsch, 

der  modernen  Welt  ist  viel  dargestellt  und  viel  kritisiert 
worden  1),  so  daß  hier  ein  Eingehen  auf  die  unendlich  schwie- 
rigen und  verwickelten  Dinge  nicht  nötig  ist.  Es  kommt 
ja  auch  nur  auf  die  Stellung  dieses  Ganzen  in  der  allgemeinen 
Entwicklung  und  auf  die  Methode  der  Zusammenschau  an, 
die  hier  im  Grundsatz  die  gleiche  ist  wie  überall  und  die 
Lassalle  in  einem  Briefe  an  Marx  geradezu  mit  einem  Kapitel 
der  Phänomenologie,  Hegels  berüchtigt  schwierigem  und  ab- 
straktem Jugendwerke,  verglich.  Das  „Kapital''  ist  eine 
äußerst  erleuchtende  und  scharfsinnige  Analyse  der  modernen 
Kultur  von  dem  ökonomischen  Zentrum  ihrer  spezifischen 
Arbeits-  und  Produktionsverfassung  aus,  keine  allgemeine 
nationalökonomische  Theorie:  das  ist  die  Hauptsache.  Es 
schildert,  freilich  unter  starker  Betonung  der  negativen  Seiten, 
den  Aufschwung,  den  Fortschritt,  die  Leiden  und  das 
kommende  Ende  der  modernen  Kultur.  Dieses  Ende  aber 
ist  kein  Untergang  der  Kultur  überhaupt,  sondern  der  Be- 
ginn und  die  Voraussetzung  der  neuen  Menschheitsepoche, 
die  Fortführung  der  im  Kapitalismus  erworbenen  Produk- 
tivität unter  gleicher  Beteiligung  aller  an  ihren  Früchten. 
Der  dazu  führende  Umschlag  wird  die  unvermeidliche  Welt- 
revolution sein,  von  der  Marx  nicht  zweifelt,  daß  sie,  un- 
haltbare und  überkünstliche  Verhältnisse  beseitigend,  den 
wahren  Fortschritt  und  das  wahre  Glück  aller  bedeuten  wird, 
darin  der  Widerpart  Nietzsches,  der,  mit  ähnlicher  konstruk- 
tiver Kraft  ausgestattet,  in  all  diesen  Dingen  die  beginnende 
Selbstauflösung  der  abendländischen  Kultur  ohne  Wieder- 
aufstieg und  Rettung  zu  erkennen  meinte. 

Innerhalb  der  sozialistischen  Parteiliteratur  haben  diese 
universalhistorischen  Bilder  freilich  wenig  Wirkung  gehabt. 
Sie  ist  wesentlich  mit  der  Apologetik  und  Verbesserung  der 
Analyse  des  Kapitalismus  beschäftigt,  und  auch  das  wesentlich 
unter  dem  Gesichtspunkt  ihres  Zusammenhangs  mit  den 
revolutionäridealen  Forderungen  sowie  mit  dem  Problem  des 
Übergangs  aus  dem  Kapitalismus  in  die  Zukunftsgesellschaft. 
Dabei  werden  nach  und  nach,  wie  bereits  anfangs  bemerkt, 
die  philosophischen  Fundamente  ausgewechselt;   die  Kombi- 

*)  Sehr  interessante  Bemerkungen  bei  Plenge,  Die  Revolutio- 
nierung der  Revolutionäre,  1918,  S.  53 — 88. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  439 

nation  von  Jung-Hegelscfiem  materialistischem  Radikalismus 
und  französischer  Klassenkampftheorie  wird  dem  Kantischen 
Dualismus  einer  kausalen  Entwicklung  der  Geschichte  und 
eines  Sozialideals  der  rationalen  Freiheit  angenähert^  die 
Dialektik  vielfach  als  nur  zeitgeschichtlich  bedingte  Scho- 
lastik preisgegeben  und  gar  nicht  mehr  verstanden  So  ist 
es  in  historischer  Hinsicht  nur  zu  wenigen  ernsthaften 
Leistungen  gekommen.  Die  „Geschichte  des  Sozialismus  in 
Einzeldarstellungen'',  die  bei  der  zweiten  Auflage  in  selb- 
ständige Werke  aufgelöst  wurde,  enthält  viel  lehrreiche 
Arbeiten,  namentlich  von  Bernstein,  hat  aber  doch  ein  enges 
Thema  und  ist  nicht  eigentlich  historisch  gedacht.  Das 
interessanteste  Problem  der  Marxistischen  Geschichtsphilo- 
sophie, die  Unterbau-Überbaulehre,  ist  fast  nur  als  Kampf- 
mittel gegen  die  Religion  gebraucht  worden,  wie  Kautskys 
gegen  alles  Religiöse  völlig  verständnislosen  Untersuchungen 
zur  Entstehung  des  Christentums  zeigen.  Die  prähistorisch- 
ethnologischen Grundlagen  hat  der  treffliche  Ethnologe 
H.  Cunow  im  Sinne  der  fortschreitenden  Wissenschaft  revi- 
diert und  dabei  auch  der  Religionsgeschichte  Beachtung 
geschenkt.  Aber  diese  besteht  lediglich  in  der  Einführung 
der  Spencerschen  Geistertheorie,  der  Verwandlung  der  Reli- 
gion in  Reflexe  der  Gesellschaftsbildung,  wobei  z.  B.  die 
Propheten  Israels  ganz  ausfallen  und  der  israehtische  Mono- 
theismus einfach  zum  Spiegelbild  der  Davidischen  Reichs- 
bildung wird;  die  Emporhebung  von  Naturgottheiten  über 
den  Geister-  und  Ahnenglauben  erfolgt  in  dem  Maße,  als 
Naturkräfte  für  den  ökonomischen  Prozeß  wichtig  werden 
usw.i)    Das  Verhältnis  der  Kunst  zum  Unterbau  hat  Hausen- 


1)  S.    „Theologische    oder   ethnologische    Religionsgeschichte?", 
Ergänzungshefte  zur  „Neuen  Zeit",  Nr.  8,  1909/10.    Hier  der  für  all 
i  diese  Wissenschaft  charakteristische  Satz  S.  76:  „Wenn  die  Arbeiter- 
schaft eingeführt  werden  soll  in  das  schwierige  Gebiet  der  Religions- 
i  geschichte,  dann  darf  man  verlangen,  daß  diese  Einführung  streng 
:   auf   der    Basis    der    materialistischen    Geschichtsauffassung    erfolgt, 
:  nicht  aber  in  der  Weise,  daß  die  orthodox-dogmatische  Theologie  aus- 
:  getrieben   wird   durch   die  freisinnig-spekulative  Theologie";   als   das 
i  letztere  erscheint  aber  jede  Lehre,  die  der  Religion  einen  selbständigen 
;  geistigen  Gehalt  und  irgendwo  eine   Initiative  in  der  geschichtlichen 
Entwicklung  zuschreibt.    Der  gleiche  Gedanke  in  desselben  Verfassers 


440  Ernst  Troeltsch, 

stein  in  einem  sehr  interessanten,  aber  auch  sehr  subjektiven 
Buch  behandelt;  an  ein  so  charakteristisches  Problem  wie 
etwa  das  Verhältnis  der  Musik  zum  „Unterbau**,  an  welchem 
als  einem  äußersten  Fall  die  Frage  hätte  sehr  lehrreich  und 
entscheidend  geklärt  werden  können,  hat  niemand i)  gedacht. 
Vollends  über  die  Stellung  der  Philosophie  in  diesem  Ver- 
hältnis ist  kein  ernsthaftes  Buch  erschienen ;  die  Arbeit  von 
Eleutheropulos  ist  kein  solches.  Die  soziahstische  Literatur 
ist  gewiß  nicht  ohne  Geist,  aber  jedenfalls  ohne  den  histori- 
schen Geist  des  Meisters,  und  ist  dogmatisch  überall  gebunden. 
So  finden  sich  denn  die  geschichtswissenschaftlichen 
Wirkungen  der  marxistischen  Dialektik  in  größerem  Stil 
nur  bei  Werken  ohne  die  sozialistisch-praktische  Tendenz 
und  ohne  die  dogmatische  Bindung  der  Revolutionspartei. 
Aber  auch  bei  ihnen  tritt  die  Dialektik  zurück  oder  wird  ganz 
verworfen.  Aber  das  bezieht  sich  dann  doch  immer  nur  auf 
die  technische  Form  und  die  Logisierung  des  Prozesses. 
Dagegen  bleibt  von  ihr  der  Grundsatz  oder  Instinkt  der  Zu- 
sammenschau, die  das  Ganze  der  Gesellschaft  suchende 
intellektuale  Anschauung  und  die  Erläuterung  des  Einzelnen 
aus  dem  Ganzen,  die  Zerlegung  und  Zusammenbindung  der 
Fäden  innerhalb  eines  einheitlichen  Gewebes,  die  Behandlung 
der  einzelnen  Sozialgebilde  und  Epochen  als  individuell- 
konkreter, jedesmal  eigenen  Wert  und  Sinn  besitzender 
Totalitäten,  in  denen  aber  doch  ein  Allgemeines  nur  besondert 
wird,  die  Herleitung  der  entscheidenden  Bestimmung  für 

„Religionsgeschichtlichen    Streifzügen",    Feuilleton    der    Neuen    Zeit 
1910  u.  1911. 

1)  Einen  einzelnen  Punkt  aus  diesem  Problem  hat  Bücher  be- 
handelt in  seinem  bekannten  Buche  „Arbeit  und  Rhythmus"*,  1909, 
Hier  zeigt  sich  in  der  Tat  ein  enger  Zusammenhang,  der  nun  freilich  nicht 
ökonomisch  begründet  ist,  sondern  umgekehrt  in  einem  noch  nicht 
ökonomischen  Charakter  der  Arbeit!  Bei  der  späteren  Differenzierung 
zeigt  sich  dann  die  Heterogenität  der  in  dem  ursprünglichen,  dem  Spiel 
verwandten  Charakter  der  Arbeit  vereinigten  Geisteskräfte;  von  dem 
ökonomischen  Monismus  bleibt  nichts  übrig.  Interessant  ist  es  übrigens, 
damit  zu  vergleichen,  wie  Spengler,  Der  Untergang  des  Abendlandes, 
1918,  Mathematik,  Physik,  Musik,  Kunst  und  Religion  einer  Epoche 
in  innere  Verbindung  bringt,  die  den  „Geist"  sehr  selbständig  den 
materiellen  Lebensbedingungen  gegenüberstellt  und  die  Gesellschafts- 
formen schon  selbst  vom  „Geiste"  mitbestimmt  sein  läßt. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  441 

diese  Totalitäten  von  ihrer  ökonomisch-sozialen  Grund- 
struktur, wobei  freilich  wieder  diese  selbst  auf  die  in  ihr 
unbewußt  enthaltenen  geistigen  Elemente  untersucht  werden 
muß.  Der  starre,  übrigens  schon  bei  Marx  selbst i)  nicht 
bedingungslos  durchgeführte  Monismus  und  ausschließliche 
Zwang  des  Ökonomischen  ist  überall  gesprengt.  Aber  es  bleibt 
ein  philosophischer  und  allgemeiner  Geist  in  diesen  Unter- 
suchungen, eine  Richtung  auf  die  dynamisch-lebendige  Auf- 
fassung der  einzelnen  Totalitäten  und  auf  eine  entwickelnde 
dynamische  Verknüpfung,  vor  allem  die  Einstellung  des 
Blickes  auf  die  Bedeutung  der  ökonomisch-sozialen  Grund- 
lagen für  all  diese  Bewegungen  und  Zusammenhänge,  lauter 
Charakterzüge,  die  diese  Forschungen  von  der  sonstigen 
aller  Philosophie  ganz  entfremdeten  Fachhistorie  und  von 
der  mit  bloß  kausalen  Naturgesetzen  des  Geistes  kokettieren- 
den Historie  unterscheidet.  All  das  aber  stammt  aus  dem 
Marxismus. 

Vor  allem  in  Betracht  kommen  die  Forschungen  von 
Plenge,  Tönnies,  Bücher,  Sombart  und  Max  Weber;  an 
Arbeiten,  wie  die  Griechische  Geschichte  von  Beloch,  an 
die  Studien  über  antiken  Sozialismus  und  Kommunismus 
von  Pöhlmann,  auch  an  den  unverkennbaren  Marxistischen 
Einschlag  in  Delbrücks  großer  Kriegsgeschichte  sei  nur 
nebenbei  erinnert,  weil  sie  wie  viele  andere  Arbeiten  nur 
mehr  nebenher  von  dieser  philosophischen  Methode  be- 
rührt sind. 

Der  Dialektik  am  nächsten  steht  Tönnies,  selbst 
Nationalökonom  und  Philosoph  zugleich.  Als  Philosoph 
steht  er  der  Marburger  Schule  nahe  und  hat  wie  diese  die 
monistische  Neigung  zu  einer  dialektischen  Überleitung  aus 
dem  Geiste  in  die  Materie  und  aus  der  Materie  in  den  Geist, 
womit  sich  die  Ablehnung  von  Hegels  eigentlicher  Metaphysik 
und  vor  allem  seiner  konservativen  ethisch-politischen  Ziel- 
setzung wohl  verträgt;  vor  allem  aber  ist  dieses  abstrakte 
Gedankengefüge  bei  ihm  erfüllt  mit  einer  überaus  lebendigen 
und  reichen  historisch-psychologischen  Anschauungsfülle. 
So  denkt  er  im   Sinne  der  Dialektik  grundlegend  an  den 


1)  S.  Hammacher  S.  412  ff.,  auch  weiter  oben. 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  29 


442  Ernst  Troeltsch, 

gesamten  Lebensprozeß  der  Geschichte,  wenn  er  die  Ur- 
formen der  Geschichte  in  der  „Gemeinschaft"  und  dem 
,, Wesenwillen",  dem  Überwiegen  des  Instinktiv- Gemein- 
schaftlichen und  Organischen  über  alles  bewußte  und  zweck- 
hafte Verhalten  sieht,  darauf  eine  Periode  der  „Gesellschaft" 
oder  des  ,, Willkürwillens",  der  bewußten  und  berechneten 
Gestaltung  aller  Gruppeneinheit  und  aller  Kultur  mit  dem 
Gipfel  im  modernen  Kapitalismus  folgen  läßt  und  von  hier 
aus  den  Ausblick  auf  eine  Synthese  von  Wesenwillen  und 
Willkürwillen  im  Sozialismus  eröffnet.  Entscheidend  ist  ihm 
für  die  genauere  Konstruktion  die  Einsicht,  ,,daß  nicht  in 
erster  Linie  politische  Verhältnisse,  noch  weniger  geistige 
Strömungen  —  wissenschaftliche,  künstlerische,  ethische  — 
die  treibenden  Faktoren  der  sozialen  Bewegungen  sind,, 
so  stark  sie  auch  dazu  mitwirken,  sondern  die  groben 
materiellen  Bedürfnisse,  Empfindungen  und  Gefühle  des 
wirtschaftlichen,  ,,tägljchen"  Lebens,  die  sich  je  nach  den 
sozialen  Lebensbedingungen,  also  in  verschiedenen  Schichten 
und  Klassen  verschieden,  gestalten;  daß  diese  relativ  un- 
abhängige Variable  auch  auf  die  politischen  Verhältnisse  und 
die  geistigen  Strömungen  bestimmend  einwirkt,  durch  deren 
Rückwirkungen  sie  fortwährend  gefördert,  aber  auch  ge- 
hemmt, immer  in  bedeutsamer  Weise  modifiziert  wird.**^ 
Das  dürfte  wohl  die  treffendste  Formulierung  der  neuen 
Einsichten  sein,  die  sich  zum  großen  Teil  gerade  von  Tönnies 
Buche  über  „Gemeinschaft  und  Gesellschaft"  seit  1887 
immer  breiter  durchgesetzt  haben.  ^) 

Näher  bei  Hegel  und  Marx,  aber  ferner  von  der  Dialektik 
steht  PI  enge.  Er  erkennt  die  letztere  nur  für  einzelne 
Strecken  und  Zusammenhänge  der  Wirklichkeit  an,  nicht  als. 
Weltgesetz,  vielmehr  sucht  er  den  allgemeinen  Zusammen- 
hängen mehr  durch  eine  vergleichende  Untersuchung  der 
verschiedenen  Kulturformen  und  Ideenentwicklungen  in  der 


1)  Erst  1912  konnte  eine  zweite  Auflage  erscheinen;  hier  s.  S.  Xf.. 
Außerdem  hat  Tönnies  Hobbes,  den  Vater  der  naturrechtlich-rational 
gedachten  Gesellschaftslehre  historisch  behandelt  und  seine  metho- 
dischen Begriffe  in  zahlreichen  Abhandlungen  auseinandergesetzt. 
S.  hierzu  meinen  Aufsatz  „Konservativ  und  Liberal"  in  „Christliche. 
Welt",  1917. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  443 

Weise  der  vergleichenden  Biologie  nahezukommen,  ebenso 
wie  er  die  Ideologien  des  ethisch-sozialen  Ideals  nicht  aus 
der  geschichtlichen  Entwicklung  durch  ökonomische  Ab- 
leitung dialektisch  herausdeduziert,  sondern  für  freie  persön- 
liche Bildungen  in  niemals  restlos  definierbarem  Zusammen- 
hang mit  der  materiellen  Entwicklung  erklärt.  Aber  seine 
Bilder  von  den  historischen  Zusammenhängen,  die  er  bei 
derartiger  Vergleichung  gewinnt  und  nebeneinander  stellt, 
sind  nicht  mit  der  psychologistisch-kausalen  Methode  ge- 
schaffen, sondern  sind  ,, Lebensbegriffe'',  geschaute  Tota- 
litäten und  dynamische  Werdezusammenhänge  im  Sinne  einer 
intellektuaien  Anschauung.  Er  schlägt  daher  auch  einen 
neuen  Namen  für  dieses  Verfahren  vor:  die  makroskopische 
Methode.  In  dem  Namen  steckt  der  Gegensatz  gegen  die 
mikroskopische  Kausalitätslehre  des  „Reflexionsstandpunk- 
tes**; es  ist  also  im  Grunde  doch  der  alte  Hegeische  Ge- 
gensatz, den  auch  Marx  beibehalten  hat;  indem  er  ihn 
einer  „orthoskopischen"  Behandlung  entgegensetzt,  löst 
er  die  „statische**  Betrachtung  in  eine  dynamische  auf.  Daß 
in  diesen  makroskopisch  geschauten  Totalitäten  dann 
gleichfalls  die  ökonomisch-soziale  Grundlage  die  relative 
Invariable  ist,  aber  allerdings  in  den  verwickeltsten,  jedes- 
mal von  Fall  zu  Fall  erst  aufzuhellenden  Beziehungen  zu  den 
geistigen  Kräften  steht,  das  gehört  auch  bei  ihm  zu  den  ent- 
scheidenden Grundzügen  der  Methode,  von  der  aus  er  bis 
jetzt  eine  Fülle  der  anregendsten  und  scharfsinnigsten  Ein- 
zelbeobachtungen, aber  noch  kein  großes  zusammenfassen- 
des Werk  gegeben  hat.  Dafür  tritt  bei  ihm  der  Zusam- 
menhang jedes  solchen  Geschichtsdenkens  mit  der  Zukunfts- 
gestaltung und  insoferne  mit  der  Ethik  stärker  hervor,  als 
bei  irgend  einem  anderen.  Vorwiegend  dem  Programm  und 
der  wissenschaftlichen  Prophetie  sich  widmend,  empfindet 
er  sich  in  dieser  Hinsicht  als  Nachfolger  und  idealistischen 
Überwinder  von  Karl  Marx.^) 


1)  Außer  den  schon  genannten  Arbeiten :  Gründung  und  Geschichte 
des  Credit  mobilier,  1903;  bes.  Die  Zukunft  in  Amerika,  1912;  dann:  1789 
und  1914,  die  symbolischen  Jahre  in  der  Geschichte  des  politischen  Geistes, 
1915.  Dazu  kommt  die  Grundlegung  seiner  eigentlichen  Theorie,  begon- 
nen in  Brauns  Annalen  Bd.  IV:  „Wirtschaftsstufen  und  Wirtschaftsent- 

29* 


444  Ernst  Troeltsch, 

Bücher  vermeidet  jede  ausdrückliche  Beziehung  auf 
philosophische  Hintergründe.  Allein,  wie  er  das  nach- 
gelassene Werk  Schäffles  herausgegeben  und  diesem  sein 
Buch  über  die  „Entstehung  der  Volkswirtschaft"  gewidmet 
hat,  so  deutet  er  doch  einen  tatsächlichen  Zusammenhang 
mit  diesem  Spencersche  Anregungen  und  deutschen  Idea- 
lismus verbindenden  Geschichtsdenker  an;  auch  bezieht  er 
sich  mit  Vorliebe  auf  Rodbertus,  den  Schüler  deutsch- 
idealistischer Entwicklungslehre,  und  hängt  die  von  ihm 
weitergeführte  Stufenlehre  von  Hauswirtschaft,  Stadtwirt- 
schaft und  Volkswirtschaft  mit  Schönberg  zusammen,  der 
seinerseits  nach  Plenges  Mitteilung  von  Lassalle  angeregt 
war,  also  mittelbar  von  Hegeischen  Grundgedanken  der 
Methode  ausgieng.  Dementsprechend  ist  auch  Büchers 
„Entstehung  der  Volkswirtschaft'*  ein  Aufriß  des  Ganzen 
der  Kulturentwicklung  überhaupt,  der  sich  nach  den  großen 
Perioden  der  ökonomischen  Stufen  bestimmt  und  charakteri- 
siert, ein  Gedanke,  der  durchaus  dem  Marxens  entspricht. 
Auch  sind  die  einzelnen  Stufen  nicht  in  dem  Sinne  Spencers 
kausalgesetzlich  konstruiert  und  miteinander  verbunden, 
sondern  als  jedesmal  individuelle  Sinneinheiten  lebendig  ge- 
schaut und  ist  ihr  fortschreitender  Übergang  ineinander  im 
Sinne  einer  oft  an  die  Dialektik  erinnernden  Kontinuierlich- 
keit als  einmaliger  teleologischer  Zusammenhang  erfaßt.  In 
einem  solchen  Zusammenhang  ist  der  Aufstieg  von  der  pri- 
mitiven Stufe  der  individuellen  Nahrungssuche  zu  der  immer 
strenger  sich  schließenden  und  die  wichtigsten  wirtschaftlichen 
Kategorien  schon  ausbildenden  Hauswirtschaft  begründet,  von 
wo  aus  der  Übergang  zu  der  ein  größeres  Territorialgebiet 
vereinigenden  Stadtwirtschaft  oder  Kundenproduktion  und 
von  da  aus  zu  der  Riesengebiete  umfassenden  Staatswirtschaft 

Wicklung",  auch  selbständig  Berlin  1916,  und  „Grundlegung  der  ver- 
gleichenden Wirtschaftstheorie*'  Bd.  V,  selbständig  Berlin  1917;  die 
dabei  vorausgesetzte  Biologie  ist  offenbar  derjenigen  Bergsons  verwandt 
und  grundsätzlich  antimechanistisch,  V,  60;  das  Entwicklungsgesetz 
jedes  einzelnen  Verlaufes  ein  „individuelles  Gesetz"  im  Sinne  Simmeis 
63,  jedes  Volk  und  jede  Kultur  ein  „Geschichtsindividuum"  im  Sinne 
Rickerts  64;  die  teleologisch-dialektische  Art  der  geistig-gesellschaft- 
lichen Dynamik  S.  66  f.  S.  dazu  meinen  Aufsatz  in  denselben  Annalen 
V:  „Plenges  Ideen  von  1914". 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  445 

oder  grundsätzlichen  Warenproduktion  und  Tauschgesellschaft 
stattfindet:  ein  Prozeß,  den  der  Stand  unserer  Kenntnisse 
nach  Bücher  allerdings  uns  nur  an  der  europäischen  Welt 
genau  festzustellen  gestattet,  und  der  hier  vor  unseren  Augen 
in  eine  sozialistische  Ordnung  übergeht.  Man  sieht  deutlich, 
wie  die  beiden  letzten  Stufen  dem  Marxistischen  Gedanken 
entsprechen;  und  formell  ähnlich  wie  bei  diesem  ist  die  ganze 
Entwicklung  an  dem  Faden  der  jeweils  individuellen  Modi- 
fikation eines  allgemeinen  Prinzips,  dem  des  Weges  von  der 
Produktion  zur  Konsumtion,  aufgereiht.  Wenig  ausdrück- 
liche Beachtung  schenkt  er  allerdings  dem  hierbei  allgemein- 
historisch wichtigsten  Problem,  dem  Unterbau-Überbau- 
problem. Doch  ist  auch  hier  klar,  daß  Bücher  die  ökonomi- 
schen Zuständlichkeiten  als  die  begründenden  Dauerforma- 
tionen betrachtet,  die  allem  individueller  beweglichen  Histo- 
rischen den  Rahmen  und  Untergrund  geben,  die  aber  die  Selb- 
ständigkeit der  Wirkung  des  geistigen  Lebens  neben  sich 
nicht  aufheben  und  den  letzteren  vor  allem  eine  immer 
steigende  Differenzierung  gestattet.  ,, Unsere  Konsumtion 
ist  nur  etwa  in  der  Ernährung  eine  naturnotwendige,  alles 
andere  ist  Kulturprodukt,  Folge  freischöpferischer  Tätig- 
keit des  Menschengeistes.  Ohne  diese  wäre  der  Mensch 
immer  ein  wurzelgrabendes,  früchtesuchendes  Tier  ge- 
bUeben."!) 

Sombart  hat  den  Zusammenhang  mit  der  Dialektik 
grundsätzlich  gelöst,  zerreißt  vor  allem  den  für  sie  charak- 
teristischen Zusammenhang  von  Sein  und  Wert,  Werden 
und  Zweck  und  behauptet  für  die  historische  Forschung 
eine  wertfreie,  rein  kausale  Methode,  in  deren  Handhabung 
und  Ergebnissen  alle  klar  Denkenden  übereinstimmen  können 
und  müssen,  während  das  Ziel  und  die  Ideensetzung  nach 
ihm  Sache  eines  freien  persönlichen  und  unbeweisbar  indi- 
viduellen ethischen  Urteils  sei.    Das  klingt  nach  Neukanti- 


1)  Entstehung  der  Volkswirtschaft*,  1904,  S.  34.  Die  Individua- 
lität jeder  Periode  S.  102  f.,  das  Verhältnis  „der  Zeitepochen,  nach  denen 
der  Historiker  seinen  Stoff  einteilt",  zu  den  „Entwicklungsstufen  der 
Wirtschaft"  S.  104;  die  Entwicklungshöhe  im  Sozialismus  S.  164—166; 
Andeutungen  zur  Überbaulehre  S.  154,  171;  auch  in  „Arbeit  und 
Rhythmus". 


446  Ernst  Troeltsch, 

anismus  und  damit  nach  kausal-psychologischer  Behandlung 
der  Historie,  wie  denn  Sombart  überhaupt  reich  ist  an 
angeflogenen  philosophischen  Reflexionen.  Aber  man  darf 
sich  auch  hier  durch  die  Aussagen  eines  Forschers  über 
dasjenige,  was  er  für  seine  Methode  hält,  nicht  täuschen 
lassen  betreffs  desjenigen,  was  seine  wirkliche  Methode  ist. 
In  Wahrheit  folgt  Sombart  ganz  demjenigen,  was  der  eigent- 
liche Kern  und  Sinn  der  dialektischen  Methode  ist.  Er 
sucht  die  Geschichte  nach  Kulturperioden  zu  gliedern,  ver- 
steht jede  Periode  als  ein  ,, System"  von  bestimmtem 
„Geist''  und  „Stil'',  dessen  Grundgedanke  sich  begriffHch 
fassen  läßt  und  von  dessen  Begriff  aus  das  Empirisch- 
Einzelne  gegliedert  und  geordnet  werden  kann,  betrachtet 
schließlich  jede  dieser  Perioden  als  eine  individuelle  und  ein- 
malige Abwandlung  des  menschlichen  Geistes  überhaupt, 
wobei,  wie  bei  Marx,  die  ökonomischen  Funktionen  die 
Grundlagen  und  die  eigentlichen  Dauerformen  der  Periode 
bestimmen,  selbst  aber  —  und  das  ist  der  grundlegende 
Unterschied  von  Marx  —  durch  eine  jedesmal  eigentümlich 
geartete  und  besonders  zu  erklärende  „Wirtschaftsgesinnung" 
beseelt  sind.  Ähnlich  wie  bei  Riegl  das  Kunstwollen  spielt 
bei  Sombart  die  Wirtschaftsgesinnung  eine  entscheidende 
und  erleuchtende  Rolle.  In  der  Aufeinanderfolge  der  ver- 
schiedenen Systeme  schließlich  sieht  er  eine  innere  Kon- 
tinuierlichkeit, die  den  Gegensatz  der  folgenden  Periode 
schon  im  Schoß  der  vorausgehenden  vorbildet  und  sich  los- 
lösen sieht,  ein  durch  und  durch  dialektischer  Gedanke 
wie  bei  Hegel  und  Marx.  Von  der  Dialektik  fehlt  in 
Wahrheit  nur  ihre  technische  Form  und  ihre  Welt- 
gesetzlichkeit, sowie  ihre  Ausmündung  in  ein  absolutes 
und  alles  vereinigendes  Ziel,  also  diejenigen  Punkte,  die 
in  der  Tat  für  den  Historiker  unerträglich  sind.  Seine 
eigene  sozialistische  Überzeugung  betrachtet  Sombart  weder 
als  logisch  notwendiges  Ergebnis  des  Prozesses  noch  deren 
Verwirklichung  als  ein  gesetzlich  notwendig  eintretendes 
Ereignis.  Im  übrigen  steht  er  völlig  in  der  hier  charakteri- 
sierten Überlieferung  und  Methode  des  Denkens,  ja  er  ist  ge- 
radezu ein  Virtuose  in  ihrer  Handhabung,  in  der  dyna- 
mischen Beseelung  des  Materials  und  in  der  Aufzeigung  der 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  447 

Wechselwirkungsverhältnisse  zwischen  ökonomisch-sozialen 
und  geistig-rechtlichen  Elementen.  So  war  er,  wie  wenige, 
berufen,  die  Wirtschaftsgeschichte  des  Abendlandes  mit  ihrer 
Aufgipfelung  zum  Kapitalismus  eingehend  zu  schildern, 
systematisch  und  empirisch  zugleich,  und  damit  Rahmen 
und  Voraussetzung  für  alle  historische  Erkenntnis  des  euro- 
päischen Lebens  in  einem  ersten  Wurf  zu  umreißen:  der 
erste  Anfang  einer  neuen  Grundierung  unseres  historischen 
Gesamtbildes  überhaupt. i) 

Max  Weber  schließlich,  der  eine  ungewöhnlich  ein- 
dringende logische  Selbstbesinnung  mit  ebenso  ungewöhn- 
licher Kraft  der  Forschung  verbindet,  hat  methodisch  seinen 
Anschluß  an  Rickert  erklärt,  und  innerhalb  der  Rickert- 
schen  Lehre  in  erster  Linie  an  wesentliche  Grundgedanken 
der  deutsch-idealistischen  Geschichtsphilosophie,  an  die 
Auffassung  der  Gruppen  und  Zusammenhänge  als  Sinn- 
einheiten und  individuelle  Totalitäten,  an  die  innere 
Verbindung  von  Sein  und  Wert  im  geschichtlichen  Ge- 
schehen, an  die  „entwicklungsdynamische'*  Kontinuierlich- 
keit des  Werdens.  Von  da  aus  ist  er  der  positivistischen 
und  psychologistischen  Geschichte  vielfach  gedankenreich 
und  wirksam  entgegengetreten.  Freilich  wie  Rickert  ist  auch 
er  andrerseits  ein  schroffer  Gegner  aller  Metaphysik  und  alles 
,1   Mystisch- Intuitiv-Unklaren,    somit   auch   der  Dialektik  als 

I^B  1)  Sombarts  eigene  Erklärung  über  seine  Methode  s.  Sozialismus 
I^Bnd  soziale  Bewegung',  1919,8.99,  auch  sonst  oft  ausgesprochen; 
P^He  wirkliche  Methode  in  Vorrede  und  Einleitung  seines  Modernen 
I  Kapitalismus^,  1916,  S.  21 — 26;  eine  geradezu  dialektische  Formulie- 
rung für  alle  Neubildungsprozesse  S.  26:  „Vom  Standpunkt  des  neuen 
Wirtschaftssystems  aus  ist  diese  Epoche,  in  der  die  neuen  Wirtschafts- 
prinzipien im  Rahmen  der  alten  Ordnung  sich  betätigen,  seine  Früh- 
epoche, vom  Standpunkt  des  alten  Wirtschaftssystems  aus  seine 
Spätepoche.  Dazwischen  liegt  die  Hochepoche  eines  Wirtschafts- 
systems, in  welcher  der  Geist  nur  eines  Wirtschaftssystems  zur  reinen 
Entfaltung  gelangt.  Dieses  Schema  einer  genetischen  Betrachtungs- 
weise, auf  empirisch  bestimmte  Wirtschaftsepochen  angewandt,  ist  es 
nun,  was  den  folgenden  Untersuchungen  zugrunde  liegt."  Das  ist  keine 
kausale  und  keine  psychologische  Genese,  sondern  eine  logisch-dialek- 
tische Ordnung  oder  Dynamik.  S.  scheint  neuerdings  doch  einige 
philosophische  Beklemmungen  bei  diesem  Gegensatz  zu  fühlen  und 
Anschluß  bei  Husserl  und  Scheler  zu  suchen. 


448  Ernst  Troeltsch, 

einer  „emanatistischen  Logik**,  wie  er  mit  Lask  sagt.    Er 
verlangt  daher    die  Kontrolle    aller    durch  Deutung,    Ein« 
fühlung  und    intellektuale   Anschauung  gefundenen   Seins- 
gebilde und  Werdezusammenhänge  durch  eine  streng  kau- 
sale Aufhellung  der  Motivationszusammenhänge,  soweit  eine 
solche  möglich  ist,  und  deren  restlose  Voraussetzung,  soweit 
eine  solche  bei  der  Kompliziertheit  der  Dinge  nicht  möglich 
ist.    Mit  dieser  Heranziehung  der  Kausalitätsforschung,  die 
er  sehr  schwierig  mit  Mill  und  ähnlichen  Denkern  auf  Wahr- 
scheinlichkeits-  und  objektive  Möglichkeitsurteile  begründet 
und    durchaus   nur   von    den    Motivationskausalitäten    der 
Einzelmenschen  ausgehen  läßt,  hebt  er  dann  freilich  gleich 
Rickert  jeden  mystischen  Charakter  der  Totalitäten  und  des 
Werdens,   die   überindividuelle   Realität  des   Gemeingeistes 
wie  des  Entwicklungszusammenhanges,  vor  allem  die  Auf- 
fassung der  Individualität  als  Konkretion  eines  allgemeinen 
Geistes,  auf.  Es  ist  die  Einfügung  eines  nahezu  atomistischen 
und  eines  streng  kausalitätslogischen  Elementes  in  die  Ge- 
schichtslogik des  deutschen  Idealismus,  weshalb  natürlich  auch 
jeder  Gedanke  an  eine  Konstruktion  des  universalhistorischen 
Prozesses  mit  einem  einheitlichen  und  absoluten  Mensch- 
heitsziel wegfällt  und  an  deren  Stelle  wie  bei  Rickert  formal- 
ethische Ideale  im  Stile  Kants  treten.    In  der  Praxis  seiner 
Forschung  überwiegt  aber  auch  bei  ihm  die  intellektuale  An- 
schauung der  großen  soziologischen  Komplexe  und  der  großen 
Entwicklungszusammenhänge.     Hier   scheint    insbesondere 
gerade  Marx  auf  ihn  einen  tiefen  und  dauernden  Eindruck 
gemacht   zu    haben.     Die    begleitende    kausale    Kontrolle 
und    Rücksicht    auf    die    einzelmenschlichen    Motivations- 
kausalitäten gibt  dann  nur  gleichzeitig  jene  enorme  und  an- 
schauliche Wirklichkeitssättigung,  die  Webers  Arbeiten  alle 
auszeichnet.    Auch  hat  er  auf  die  Bilder  dieser  großen  Zu- 
sammenhänge überall  die  Marxistische  Fragestellung  nach 
dem  Zusammenhang  von  Unterbau  und  Überbau  angewendet 
und  gerade  hiermit  die  interessantesten  und  bedeutsamsten 
Ergebnisse  seiner  Forschung  erzielt.    So  hat  er  in  seiner  rö- 
mischen Agrargeschichte  die  Geschichte  des  Grundbesitzes 
oder,  wie  Marx  sagt,  die  Geheimgeschichte  des  Römertums 
erleuchtet,  von  hier  aus  den  Untergang  der  Antike  und  den 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  449 

Übergang  oder  die  Rückkehr  von  der  Städtewirtschaft  zur 
Naturalwirtschaft  des  Mittelalters  klargemacht.  Seine  Arbeit 
über  Agrargeschichte  im  Handwörterbuch  der  Staatswissen- 
schaften hat  die  gleiche  Fragestellung  auf  das  gesamte  Alter- 
tum auch  Ägyptens  und  Asiens,  die  großen  auf  Fronarbeit 
beruhenden  Stromstaaten,  ausgedehnt  und  konstruiert  ihren 
Gegensatz  gegen  die  binnenländische,  auf  freier  Arbeit 
beruhende  Struktur  des  westeuropäischen  Abendlandes, 
sowie  den  Gegensatz  der  antiken  Polis  gegen  die  mittel- 
alterliche Gewerbestadt.  Die  Entstehung  des  modernen 
Kapitalismus  hat  er  dann  glänzend  erhellt  durch  Unter- 
suchungen über  die  Entstehung  der  ihm  nötigen  Wirtschafts- 
gesinnung aus  dem  calvinistischen  Puritanismus,  ohne  zu 
verkennen,  daß  dann  dieser  selbst  unter  die  Räder  der  öko- 
nomischen Klassenschichtung  kommt,  auch  ohne  zu 
übersehen,  daß  zu  dieser  Ursachenkomponente  noch 
viele  andere  hinzukommen.  Schließlich  hat  er  die  hier- 
mit eröffnete  Fragestellung  auf  die  Gesamtheit  der  großen 
Religionen  in  seinen  Studien  über  die  ,, Wirtschaftsethik 
der  Weltreligionen**  übertragen  und  hier  gezeigt,  wie 
das  Unterbau-Überbauproblem  überhaupt  keine  allgemeine 
Lösung  zuläßt,  sondern  immer  und  überall  im  Zusammen- 
hang besonderer  Verhältnisse  ein  individuell  verschiedenes 
Bild  darbietet.  Alles  Fragmente  einer  großen  entwicklungs- 
geschichtlich-soziologischen Gesamtanschauung,  die  den  Ge- 
danken Hegels  und  Marxens  auf  völlig  eigene  Weise  neu 
durchdenkt  und  der  Historie  damit  neue  Durchsichten  von 
größter  Bedeutung  gibt.^) 

^)  Ich  nenne  die  wichtigsten  weit  zerstreuten  Arbeiten:  1.  die 
logischen:  Die  Objektivität  sozialwissenschaftlicher  und  sozialpolitischer 
Erkenntnis,  Archiv  für  Soz.  Wiss.  XIX  (neue  Zählung  I);  Kritische 
Studien  auf  dem  Gebiete  der  kulturwissenschaftlichen  Logik,  ebd.  XXII 
(IV);  Stammlers  Überwindung  der  materialistischen  Geschichtsauf- 
fassung, ebd.  XXIV  (VI);  Röscher  und  Knies  und  die  logischen  Pro- 
bleme der  historischen  Nationalökonomie,  Schmollers  Jahrbuch  XXVII, 
XXIX,  XXX;  Über  einige  Kategorien  der  verstehenden  Soziologie, 
Logos  IV,  1913;  hier  die  Stellen  über  die  Kontrolle  der  intellektualen 
Anschauung  durch  die  strenge  Kausalitätsforschung  254  und  261,  über 
die,. Entwicklungsdynamik"  S. 263.  2.  Die  historischen :  Rom. Agrargesch. 
1891 ;  Agrargesch.  im  Handwörterb.  d.  Staatswissensch. ;  Die  Protestant. 
Ethik  und  der  Geist  des  Kapitalismus,  Archiv  XX  (II),  XXI  (III), 


450  Ernst  Troeltsch, 

Wenn  derart  einige^)  aus  der  Volkswirtschaftslehre  her- 
kommende Denker  und  Forscher  das  moderne  historische 
Denken  am  stärksten  angeregt  und  fortgebildet  haben  — 
und  das  wird  man  von  den  Genannten  sagen  können  — ,  so 
danken  sie  das  nicht  der  Nationalökonomie  als  solcher  und 
auch  nicht  der  Einfügung  der  Rücksicht  auf  das  Öko- 
nomische, die  ohnedies  längst  in  fortwährendem  Steigen  be- 
griffen war,  sondern  eben  jener  engen  Verbindung  des  Ökono- 
mischen und  Philosophischen,  die  von  Marx  unternommen 
worden  ist,  und  die  bei  Marx  selbst  aus  der  Verbindung  des 
radikalen  Junghegelianismus  mit  der  französischen  Klassen- 


XXX  (XII),  XXXI  (XIII);  die  Wirtschaftsethik  der  Weltreligionen, 
ebd.  41 — 44.  —  Ich  darf  bei  dieser  Gelegenheit  auch  auf  mein  Buch 
„Die  Soziallehren  der  christlichen  Kirchen  und  Gruppen",  1912,  hin- 
weisen, das  in  der  Hauptsache  einer  von  Rickert  stark  beeinflußten 
Methode  der  intellektualen  Anschauung  und  Dynamik  bei  gleichzeitig 
möglichster  Materialsättigung  folgt  und  die  Marxistische  Fragestellung 
überall  in  Anwendung  bringt,  allerdings  mit  dem  Ergebnis  der  grund- 
sätzlichen Selbständigkeit  des  Religiösen  neben  dem  Ökonomisch- 
Sozialen  bei  sehr  starker  Wechselwirkung.  Ich  versuchte  damit  nach 
der  großen  wesentlich  ideologisch-dogmatischen  Darstellung  des  Chri- 
stentums, die  Harnack  gegeben  hat,  eine  wesentlich  soziologisch-reali- 
stisch-ethische zu  begründen. 

1)  Sie  sind  natürlich  auch  unter  den  Nationalökonomen  eine 
Ausnahme  und  in  Wahrheit  Soziologen  oder,  im  älteren  Stile, 
Geschichts-  und  Kulturphilosophen.  Das  Wichtige  dabei  ist  nur, 
daß  ökonomische  Kenntnisse  heute  ein  gutes  Sprungbrett  für  solches 
Denken  geben.  Immerhin  gibt  es  außer  ihnen  noch  andere, 
die  ich  nur  nicht  näher  kenne.  Wenn  ich  Schmoller  in  diesem  Zu- 
sammenhange nicht  nenne,  so  soll  das  keine  Unterschätzung  seiner 
gewaltigen  Leistung  sein;  allein  diese  ist  in  ihrem  soziologisch-geschichts- 
philosophischen  Bestandteil  sehr  eklektisch  und  folgt  hier  mehr  Spencer 
als  Marx  und  Hegel;  auch  interessiert  ihn  das  Überbauproblem  wenig, 
er  denkt  vielmehr  an  eine  Konkurrenz  verschiedener  psychologischer 
Triebe  und  deren  Ausgleichung,  wenn  auch  die  technisch-ökonomischen 
Grundformen  „in  gewissen  großen  Umrissen  der  Struktur"  stets  sich 
als  bedingend  zeigen,  Grundriß  1901,  I,  227.  Auch  ein  so  feiner  kultur- 
philosophischer Kopf  wie  Heinrich  Dietzel  gehört  nicht  hierher,  weil 
er  wesentlich  dogmatisch  die  Begriffe  sozialer  Formen  und  das  von 
ihnen  gedeckte  empirische  Material  genau  bestimmt,  aber  gerade  die 
entwicklungsgeschichtlichen  Probleme  nicht  liebt;  s.  seinen  Rodbertus 
und  die  „Beiträge  zur  Geschichte  des  Sozialismus  und  Kommunismus" 
in  Zeitschr.  f.  Gesch.  u.  Lit.  der  Staatswiss.  I,  V,  die  äußerst  klärend 
wirken. 


über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik.  451 

historie  ursprünglich  hervorgegangen  ist,  um  dann  erst  nach- 
träghch  die  eigenthche  Wirtschaftslehre  in  sich  aufzunehmen. 
Dabei  ist  dann  die  anfängliche  und  eigentliche  zusammenhal- 
tende logische  Idee  der  Dialektik  allerdings  zertrümmert  wor- 
den. Weder  ihre  einseitig  spiritualistische,  noch  ihre  ebenso 
einseitige  ökonomisch-materialistische  Fassung  hat  sich  be- 
hauptet. Ihr  ganzer  Monismus  und  die  diesem  Monismus 
zugrunde  liegende  sei  es  spinozistische  sei  es  materialistische 
Metaphysik  ist  zerbrochen,  das  Verhältnis  des  geschichtlichen 
Geschehens  zum  Weltgrund  und  zu  absoluten  Menschneits- 
zielen  verdunkelt.  Die  treibenden  Kräfte  der  Geschichte 
erscheinen  als  mannigfache,  aufeinander  nicht  reduzierbare, 
aus  verborgenem  Grunde  auftauchende  und  vorbereitete 
Strebungen,  deren  innere  Einheit  jedesmal  eine  nur  funk- 
tionelle und  keine  substanzielle  ist  und  deren  Bewegung 
nicht  als  geradlinig  auf  ein  absolutes  Ziel  gerichteter  Fort- 
schritt betrachtet  werden  kann,  sondern  nur  auf  großen  Jahr- 
tausendstrecken einzelne  Sinngebilde  und  Seinszusammen- 
hänge von  relativem  Wert  in  beständigem  Kampf  mit  bru- 
talen und  stumpfen  niederziehenden  Gewalten  verwirklicht. 
IAber  geblieben  ist  der  eigentliche  Kerngedanke  der  Dialektik, 
hie  intellektuale  Anschauung  von  Totalitäten  und  Werde- 
lusammenhängen,  die  Individualität  aller  großen  und  kleinen 
historischen  Gebilde,  in  der  sich  ein  Kosmisch-Allgemeines 
Konkretisiert,  die  Kontinuierlichkeit  und  Dynamik  der  Ent- 
wicklung, der  die  Psychologie  und  Kausalität  allein  nicht 
gewachsen  sind,  die  innere  Verwebung  des  historischen 
Werdens  mit  einem  Streben  nach  letztem  Sinn  und  Gehalt. 
Das  sind  die  Dinge,  die,  wie  nunmehr  klar  sein  wird,  nicht 
nur  dem  Instinkt  und  der  Begabung  des  Historikers  allein 
überlassen  bleiben  können,  wenn  auch  sein  intuitives  Genie 
—  ein  solches  einmal  vorausgesetzt  —  hierbei  die  Wege  bahnt. 
Sie  verlangen  nach  philosophischer  Klärung  und  Begründung. 


Das  politische  Testament  Karls  V, 
von  1555. 

Von 

E.  W.  Mayer.  1) 


I.  Die  Überlieferung.  —  II.  Analyse  und  Varianten  des  Textes.  — 
III.  Kritische  Kommentierung.  —  IV.  Die  Fälschung  der 
Testamente   Karls  V.  von  1555  und  Philipps  II.  von  1598. 

I. 

Das  Schriftstück,  dessen  Untersuchung  hier  zur  Auf- 
gabe gestellt  ist,  zieht  unser  Augenmerk  nicht  nur  deshalb 
auf  sich,  v^eil  es  der  historischen  Kritik  einen  interessanten 
Stoff  bietet.  Mag  der  Verfasser  sein,  wer  er  v^olle,  er  hat 
sich  jedenfalls  mit  wichtigen  Fragen  der  Staatskunst  Karls  V. 
auseinandergesetzt.  Deshalb  vermag  die  Kritik  an  seiner 
Arbeit  auch  zu  Überlegungen  über  bedeutsame  historische 
Phänome  anzuregen. 

Es  ist  das  Verdienst  Bruno  St  Übels,  zuerst  wieder  auf 
das  Vorhandensein  einer  Instruktion,  die  Karl  V.  für  Phi- 
lipp II.  in  der  Zeit  seiner  Abdankung  erlassen  haben  soll, 
aufmerksam  gemacht  zu  haben. 2)  Er  erinnerte  an  die  fran- 
zösische   Übersetzung   dieser   Schrift   und   eines   ähnlichen 


1)  Der  am  17.  September  1917  verstorbene  Verfasser  (vgl.  über 
ihn  H.  Z.  118,  554)  hat  noch  1914  vor  Ausbruch  des  Krieges  während 
seiner  Tätigkeit  am  Preußischen  Historischen  Institut  in  Rom  diese 
Untersuchung  abgeschlossen. 

2)  Mitteil.  d.  Instit.  f.  öst.  Geschichtsforsch.  22  (1901)  452  f.  — 
Ebenda  23  (1902),  619—633  in  dem  Aufsatz:  Die  Instruktionen 
Karls  V.  für  Philipp  II. 


M 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  453 

Testaments  Philipps  II.  für  Philipp  III.,  die  Antoine  Teissier, 
Rat  und  Historiograph  des  Kurfürsten  Friedrich  III.  von 
Brandenburg,  im  Jahre  1699  zu  Berlin  hat  drucken  lassen 
mit  der  Bestimmung,  daß  sie  dem  Kurprinzen  Friedrich 
Wilhelm  zur  Lektüre  dienen  solle. i)  Bei  seinen  Forschungen 
stieß  Stübel  dann  auch  auf  eine  deutsche  Übersetzung  der 
Instruktion,  die  in  einem  Kodex  der  Dresdner  Kgl.  Bibliothek 
vorliegt,  und  veröffentlichte  diesen  deutschen  Text  unter  dem 
Titel:  Die  Instruktion  Karls  V.  für  Philipp  II.. vom  25.  Ok- 
tober 1555.2) 

Zweifel  an  der  Echtheit  dieses  Dokuments  wurden  von 
Stübel  nicht  geäußert.  Dagegen  hat  Konrad  Häbler,  der 
in  seiner  Geschichte  Spaniens  mit  wenigen  Sätzen  auf  die 
Instruktion  zu  sprechen  kommt,  seine  Meinung  dahin  aus- 
gesprochen, daß  sie  in  der  Form  der  vorliegenden  Bearbeitung 
jedenfalls  apokryph  sei  und  eine  italienische  Stilübung  zu 
sein  scheine,  wobei  er  die  Frage  offen  läßt,  ob  und  wie  weit 
ihr  eine  echte  Instruktion  zugrunde  gelegen  hat.^) 

Jede  weitere  Untersuchung  macht  nun  in  erster  Linie 
eine  Prüfung  der  italienischen  Version  des  Textes  nötig,  auf 
deren  Vorhandensein  schon  Stübel  aufmerksam  gemacht  hat. 
Sie  muß  in  Italien  handschriftlich  vielfach  verbreitet  worden 
sein.  Allein  in  römischen  Bibliotheken  habe  ich  13  Abschrif- 
ten notiert,  über  die  ich  im  folgenden  genauere  Mitteilungen 
mache,  da  die  Art  und  der  Zusammenhang  der  Überlieferung 
Indizien  für  die  Entstehung  des  Dokumentes  abgeben  könnten : 

Vatikanische  Bibliothek: 
1.  Codex  vaticanus  latinus  6533  fol.  1—46:  Parlamento 
di  Carlo  V.  al  re  suo  figliuolo  nella  consegna  de'  suoi  regni  e 
statt.  —  Schrift  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts.  — 


1)  Instructions  de  l'empereur  Charles  V  ä  Philippe  II  roi  d'Es- 
pagne,  et  de  Philippe  II  au  prince  Philippe  son  fils.  Mises  en  Fran- 
9ois  pour  i'usage  de  Monseigneur  le  prince  electoral  par  Antoine  Teis- 

ssier,   Conseiller  et   Hist.   de   S.  S.  E.   de   Brandebourg.    Berlin   chez 
tobert  Roger,  imprimeur  et  libraire  de  la  cour.    1699. 

2)  Archiv  für   österreichische    Geschichte   Bd.  93   (1905)   S.  181 
>is  248. 

3)  Geschichte  Spaniens  unter  den  Habsburgern  Bd.  1  (1907) 
J61f. 


454  E.  W.  Mayer, 

In  dem  Kodex  sind  Briefe  und  Akten  aus  dem  16.  und 
1 7.  Jahrhundert,  geschrieben  von  ganz  verschiedenen  Händen, 
zusammengebunden. 

2.  Cod.  vat.  lat.  7244:  Ragionamento  di  Carlo  V.  im- 
peratore  al  re  Filippo  suo  figliuolo  nella  consignatione  del  go- 
verno  de'  suoi  stau  et  regni.  Dove  si  contiene  come  si  debba  go- 
vernare  in  tempo  dello  pace  et  della  guerra.  —  1 7.  Jahrhundert. 

—  Das  Bändchen  von  79  Blättern  enthält  nur  diese  Instruk- 
tion Karls  V. 

3.  Codex  vat.  barberinianus  latinus  5185  fol.  219 — 306: 
Parlamento  al  re  Filippo  di  Carlo  V.  imperatore  nella  conseg- 
natione  de'  suoi  stati.  Nel  quäle  si  tratta  come  Sua  Maestä 
Cattolica  si  debba  reggere  et  governare  in  tempo  di  pace  et  di 
guerra  con  tutti  i  suoi  stati.  —  1 7.  Jahrhundert.  —  Der  Kodex 
enthält  im  übrigen  venetianische  Relationen  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts. 

4.  Cod.  vat.  barb.  lat.  5235  fol.  1—116:  Titel  wie  Cod. 
vat.  lat.  7244:  Ragionamento  etc.  —  Ende  des  16.  Jahr- 
hunderts. —  Der  von  einer  Hand  geschriebene  Kodex 
enthält  außerdem  Relationen  des  Venetianers  Michel  Soriano 
vom  Hof  Philipps  H.,  über  Portugal  (1577)  und  über  die 
Niederlande  (1578). 

5.  Cod.  vat.  barb.  lat.  5314  fol.  171—221 :  Ragionamento 
etc.  —  17.  Jahrhundert. 

6.  Codex  vat.  ottobonianus  1257  fol.  115—199:  Ragio- 
namento etc.  —  17.  Jahrhundert. 

7.  Cod.  vat.  ottob.  2434  fol.  574—671 :  Ragionamento  etc. 

—  Die  Handschrift  ist  die  gleiche  wie  in  Cod.  barb.  5235: 
Ende  des  16.  Jahrhunderts. 

8.  Cod.  vat.  ottob.  2480  fol.  437—505:  Ragionamento  etc. 

—  Ende  des  17.  Jahrhunderts.  —  Auf  fol.  411—436  findet 
sich,  von  der  gleichen  Hand  geschrieben,  eine  italienische 
Übersetzung  der  nachweislich  echten  Instruktion  Karls  V. 
für  seinen  Sohn  von  1548;  fol.  506 — 532  das  angebliche  Te- 
stament Philipps  II.  für  Philipp  III. 

9.  Cod.  vat.  ottob.  3140  I  fol  113—140:  Ragionamento 
etc.  —  18.  Jahrhundert.  —  Auf  fol.  141—150  steht  die 
Instruktion  von  1548. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  455 

Vatikanisches  Geheimarchiv: 
Der  Katalog  Garampis  verzeichnet  unter  Arm.  III  55 
fol.  7:  Avvertimenti  di  Carlo  V.  a  Filippo  re  di  Spagna  ml 
rinunciargli  il  regno  e  modo  di  governarsi.  Vermutlich  liegt 
auch  hier  eine  Abschrift  unserer  Instruktion  vor.  Der  Band 
ist  aber  im  Archiv  nicht  auzfufinden. 

10.  Bolognettifonds  n.  139  fol.  1— -127:  Ragionamento 
etc.  —  Der  Kodex  hat  im  übrigen  Aufzeichnungen  von  an- 
deren Händen.  Dagegen  steht  vor  dem  Ragionamento,  von 
der  gleichen  Hand  geschrieben  wie  dieses,  ein  Schreiben  des 
Guglielmo  Palmierii)  aus  Siena  an  Nicolö  Fantoni  Ricci,. 
Auditore  des  Großherzogs  von  Toscana,  in  dem  er  ihm  das 
Buch,  das  durch  Zufall  in  seine  Hände  gekommen  sei,  widmet: 

AIV  Illüstrissimo  Signore  e  Padrone  colendissimo 
Nicolö  Fantoni  Ricci,  Auditore  di  S.  A.  S. 

II  presente  libro  e  capitato  nelle  mie  mani  per  mera 
fortuna,  la  quäle  ha  voluto  deludermi  con  un  acquisto  in- 
früttuoso  conoscendo  la  mia  molta  ignoranza,  ed  io  non 
posso  meglio  dileggiarla  che  con  far  parte  a  V.  S.  Illustris- 
sima  de'  miei  acquisti,  conoscendo  la  sua-  infinita  virtü.  A  lei 
dunque  la  consacro,  non  senza  speranza  che,  accreditatosi 
il  libro  fra  le  mani,  sia  in  breve  per  nobilitarsi  fra  regi  applausi 
di  que'  regnatori  che  hanno  piü  conformitä  con  l'autore  e 
per  la  nascita  e  pel  regno.  Se  potessi  darne  giudicio,  ardirei 
di  canonizar  quest'  opera  per  la  piü  sublime  che  uscisse 
giammai  da  penna  politica;  ma  peroche  non  ^  lecito,  ardisco 
bene  d'affermare  che  in  quest'  opera  dedico  di  nuovo  a 
V.  S.  Illustrissima  tutte  le  mie  per  altro  obligate  affettioni, 
perche  in  essa  ho  collocato  tutti  i  miei  affetti.  Gradisca, 
la  supplico,  il  dono  ed  in  questo  un'  affetto  riverente  e  par- 
ziale,  col  quäle  honoro  sempre  l'infinito  merito  di  V.  S. 
Illustrissima,  alla  quäle  m'  inchino. 

Siena  li  24.  giugno  1639. 

Di  V.  S.  Illustrissima  devotissimo  Servitore 
Guglielmo  Palmieri. 

1)  Girolamo  Gigli,  Diario  Sanese  (Lucca  1723)  parte  II414sg. 
gibt  eine  kurze  Geschichte  der  Familie  Palmieri  in  Siena,  ohne  aber 
Guglielmo  Palmieri  zu  erwähnen. 


456  E.  W.  Mayer, 

Das  Schreiben  macht  anschauHch,  wie  diese  Abschriften 
von  Hand  zu  Hand  gegeben  wurden  und  Glauben  fanden. 
Das  jetzt  im  Bolognettifonds  befindliche  Exemplar  ist  eine 
Kopie  jenes  von  Palmieri  dem  Fantoni-Ricci  geschenkten 
Exemplars. 

Bibliotheca  Corsiniana: 

11.  Ms.  686  fol.  1—34:  Ragionamento  etc.  —  c.  1700; 
fol.  35—47  enthält  Karls  V.  Instruktion  von  1548,  fol.  48—58 
das  angebliche  Testament  Philipps  II. 

12.  Ms.  705  fol.  454— 483:  Discorso  o  Parlamento  di 
Carlo  V.  etc.  —  17.  Jahrhundert. 

Bibliotheca  Casanatense: 

13.  Ms.  2904  fol.  1—62:  Ragionamento  etc.  —  18.  Jahr- 
hundert. —  Der  Kodex  enthält  im  übrigen  venetianische 
Relationen  aus  dem  16.  und  17.  Jahrhundert. 

Von  einer  weiteren  Abschrift  der  Instruktion  in  italie- 
nischer Sprache,  die  sich  in  der  Dresdner  Kgl.  Bibliothek 
befindet  (Ms.  F.  79.  —  Schrift  des  18.  Jahrhunderts),  spricht 
Stübel.*)  Nach  den  wenigen  Angaben,  die  er  macht,  scheint 
sie  mit  den  übrigen  italienischen  Redaktionen  überein- 
zustimmen. 

Unter  den  von  mir  eingesehenen  italienischen  Hand- 
schriften herrscht  —  von  unbedeutenden  Zusätzen  und  Flüch- 
tigkeitsfehlern abgesehen  —  Übereinstimmung. 

Die  Instruktion  ist  nun,  ähnlich  wie  die  Relationen  vene- 
tianischer  Gesandter  und  oft  mit  diesen  vereinigt,  als  ein 
Dokun.ent,  aus  dem  Fürsten  und  Staatsmänner  lernen 
konnten,  verbreitet  worden  und  ist  auf  diese  Weise  auch  an 
die  deutschen  Fürstenhöfe  gelangt.  Teissier  erklärt  in  der 
Vorrede,  daß  er  seine  Übersetzung  nach  einem  italienischen 
Text,  der  aus  dem  Besitz  der  Königin  Christine  von  Schweden 
stamme,  angefertigt  habe.  Er  hat  zwar  vielfach  gekürzt, 
es  finden  sich  aber  keinerlei  Zusätze. 

Daß  auch,  der  deutsche  Text  auf  Grund  einer  italie- 
nischen Version  hergestellt  ist,  ergibt  sich  schon  daraus, 


1)  Arch.  f.  öst.  Gesch.  93  S.  183  f. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  457 

daß  er  zusammen  mit  mehreren  deutschen  Bearbeitungen 
venetianischer  Gesandtschaftsrelationen  aus  den  Jahren 
1572—1580  in  einem  von  einer  Hand  des  16.  Jahrhunderts 
geschriebenen  Kodex  überliefert  ist.i)  Während  Teissier 
ziemlich  wortgetreu  übersetzt,  ist  der  deutsche  Text  mehr 
eine  Paraphrasierung  des  Originals.  Bei  der  Übertragung  in 
das  gemütvolle  Deutsch  der  Zeit  um  1600  ist  der  Sinn  der 
Instruktion  zuweilen  so  verändert  worden,  daß  sie  nicht 
wiederzuerkennen  ist.  Vor  allem  moralisiert  der  deutsche 
Übersetzer  noch  mehr  als  der  Verfasser  der  Instruktion. 
Die  Tendenz  ist  deutlich,  wenn  er  die  vorsichtige  Äußerung, 
bei  etwaigen  Differenzen  mit  dem  Papst  „ohne  Ärgernis" 
vorzugehen,  unterdrückt  und  dafür  strengtse  Devotion  gegen 
den  Papst  fordert. 2)  Oder  wenn  er  der  Ausführung,  daß  der 
Fürst  das  Billigkeitsrecht  zur  Geltung  bringen  müsse,  will- 
kürlich und  offensichtlich  unter  dem  Eindruck  naturrecht- 
licher Theorien  den  Satz  einfügt,  daß  der  Fürst  nicht  von 
jedem  Gesetz  entbunden,  vielmehr  der  „Vernunft"  unter- 
worfen sei.^) 

Der  „spanische  Originaltext",  den  Stübel  annahm,  ist 
bisher  nirgends  entdeckt  worden.  Die  formale  Kritik  ergibt 
einstweilen,  daß  die  uns  bekannten  Versionen  auf  eine  außer- 
ordentlich verbreitete  italienische  Quelle  zurückgehen. 
Das  Weitere  muß  der  Sachkritik  überlassen  werden. 

Irgendwelche  ÜberHeferung  über  das  Testament  vermag 
ich  im  16.  Jahrhundert  nicht  aufzufinden.  Wir  haben  ja 
eine  Reihe  testamentarischer  Aufzeichnungen  Karls  V.  aus 
früheren  oder  späteren  Jahren.  Es  ist  mir  aber  keine  Nach- 
richt bekannt,  daß  Karl  in  den  Tagen  seiner  Abdankung  eine 
Instruktion  an  Philipp  überreicht  habe.^) 

Bei  der  Ausdehnung  des  Ragionamento  halte  ich  es  nicht 
für  angemessen,   den  italienischen  Text  in  extenso   abzu- 


1)  A.  a.  O.  S.  183. 

2)  A.  a.  O.   S.  244.    —   Vgl.  Cod.   barb.  lat.  5235  fol.  111^111^. 

3)  A.  a.  O.  fol.  49.  —  Arch.  Ost.  G.  93  S.  207. 

*)  Herr  Professor  Alfred  Morel-Fatio  in  Paris  hatte  die  Güte, 
mir  auf  eine  Anfrage  mitzuteilen,  daß  er  bei  seinen  Studien  über  cie 
Anfänge  der  Literatur  über  Karl  V.  niemals  auf  eine  Erwähnung  dieses 
angeblichen  Testaments  von  1555  gestoßen  ist. 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  30 


458  E,  W.  Mayer, 

drucken.  Ich  gebe  deshalb  eine  Analyse,  in  der  ich  nament-^ 
lieh  alle  Anspielungen  auf  die  Zeitgeschichte  heraushebe, 
und  einzelne  Proben,  bei  denen  die  wesentlichen  Abwei- 
chungen von  den  beiden  gedruckten  Versionen  —  zumal  dem 
allgemein  zugänglichen  deutschen  Text  —  besondere  Berück-^ 
sichtigung  erfahren.  Ich  halte  mich  dabei  vornehmlich  an 
Cod.  vat.  harb.  lat.  5235  als  die  vermutlich  älteste  und  den 
besten  Text  enthaltende  Überlieferung.  Vorweg  sei  bemerkt, 
daß  der  Verfasser  der  Schrift  seine  Gedanken  vielfach  durch 
Erzählungen  aus  der  Antike  veranschaulicht. 

II. 

Die  Instruktion  wird  mit  der  Erklärung  Karls  einge- 
leitet, er  wolle  seinem  Sohne  nach  der  ihm  schon  mehrfach 
mitgeteilten  Absicht  ,,die  Verwaltung  des  Reichs  und  die 
Herrschaft  über  seine  anderen  Staaten"  abtreten.  Philipp 
solle  die  nötigen  Anordnungen  treffen  für  die  feierliche  Hand- 
lung, die  auf  den  Morgen  des  folgenden  Tages  festgesetzt  sei, 
und  dafür  sorgen,  daß  ihm  von  den  Völkern  und  den  Beamten, 
wobei  die  des  ,, Reichs**  ausdrücklich  ausgenommen  werden^ 
der  Treueid  geleistet  werde. i) 

Die  Tatsache  der  Abdankung  müsse  ihm  ein  Beweis 
seiner  väterlichen  Liebe  sein;  denn  nur  sehr  wenige  Fürsten 
hätten  ihren  Ehrgeiz  so  weit  überwunden  und  auf  die  Herr- 
schaft verzichtet.  Zu  diesem  Entschluß  bestimme  ihn  ferner 
seine  körperliche  Ermüdung,  der  Wunsch,  noch  Zeit  zu 
gewinnen,  um  die  Forderungen  der  christlichen  Religion  zu 
erfüllen,  schließlich  die  Erwägung,  daß  Philipp  alt  genug  sei 

1)  Cod.  barb.  lat.  5235  fol.  F:  lo  mi  son  risoluto,  figliuolo  dilet- 
tissimo,  di  venire  hormai  all'effetto  di  cedere  nelle  mani  vostre  l'am- 
ministratione  deirimperio  et  il  dominio  degli  altri  miei  stati  et  regni, 
si  come  piü  volte  vi  ho  ragionato  di  voler  fare.  Et  perö  farete  per 
domattina  dar' ordine,  che  i'atto  con  le  debite  solennitä  et  cerimonie 
in  publice  se  ne  faccia.  Farete  ancora  quanto  prima  ordinäre  a  quelii,. 
che  gli  governano,  l'espeditioni  opportune,  perch^  da  essi  et  da  popoli 
et  da  magistrati  ioro  voi  siate  per  superiore  riconosciuto  et  a  voi  ren- 
dino  l'obedienza  et,  da  quelii  deil'imperio  in  fuori,  a  voi  il  giuramento 
di  fedeltä  si  presti;  et  similmente  ai  generali  degli  esserciti  et  dell'ar- 
mate  et  ai  capitani  delle  fottezze  tutto  quello  che  fa  di  bisogno,  perchfc 
da  voi  totalmente  dipendano. 


J 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  459 

und  in  Spanien  schon  Proben  seines  Herrschertalents  ab- 
gelegt habe. 

Zu  allgemeinen  Ermahnungen  übergehend,  wünscht 
Karl,  daß  sein  Sohn  immer  in  der  Furcht  Gottes  und  in  der 
Devotion  gegen  den  Statthalter  Gottes  auf  Erden  verbleibe. 
Die  Erinnerung  an  seine  Vorfahren  soll  ihm  ein  Ansporn  sein, 
sich  auch  seinerseits  einen  guten  Namen  zu  erwerben.  Die 
Regierung  so  großer  Staaten  bringe  viel  Sorgen  und  Kummer. 
Insbesondere  seien  die  Staaten,  die  er  „heute"  auf  ihn  über- 
trage, schwerer  zu  regieren  als  Spanien :  hier  sei  die  Dynastie 
fest  eingewurzelt,  während  „die  Staaten  von  Flandern, 
Italien  und  Deutschland"  ein  jüngerer  Erwerb  der  Krone 
und  zu  Unruhen  leichter  geneigt  seien. i)  Eine  derartige  Er- 
weiterung der  Herrschaft  legt  dem  Monarchen  große  Lasten 
auf  und  ist  auch  wider  die  Natur:  Wie  jedes  Schiff  seinen 
eigenen  Steuermann,  jedes  Heer  seinen  eigenen  Führer 
braucht,  so  ist  es  noch  viel  mehr  gerechtfertigt  und  notwendig, 
daß  jedes  Königreich  seinen  eigenen  König  hat.  Aber  die 
Habsucht  kennt  keine  Grenzen,  und  es  gilt  als  feige,  nicht 
alle  Mittel  zu  benutzen,  um  neue  Erwerbungen  zu  machen. 
Da  Vernunftgründe  dagegen  nichts  vermögen,  will  Karl 
nicht  viel  Worte  verlieren,  entschuldigt  sogar  diesen  Miß- 
brauch, da  alle  Menschen,  auch  die  edelsten,  so  handelten; 
nur  bittet  er  Philipp,  den  Fehler  dadurch  auszugleichen, 
daß  er  sich  die  gute  Regierung  seiner  Untertanen  zum  Ziel 
setzt.2) 

1)  A,  a.  0.  fol.  7^:  N6  vi  crediate  ancora,  che  il  reggimento  della 
Spagna  faccia  alcuna  proportione  al  tanto  maggiore  carico  che  hoggi 
vi  si  soprapone;  si  perch^  la  Spagna  6  regne  di  ferma  e  si  puö  dire 
d'anticata  successione  et  perö  stabile  et  sicuro,  ove  gli  stati  di  Fiandra 
et  d'Italia  et  di  Germania  et  gli  altri  sono  a  voi  piü  nuovi  et  ancora 
di  loro  natura  piü  turbulenti  et  alterabili,  et  massimamente  per  essere 
con  piü  commoditä  da  vicini  potenti  et  travagliosi  confinati.  —  Ger- 
mania haben  alle  italienischen  Texte.  Teissier  übersetzt 
aber  (p.  9):  Au  Heu  que  Taquisition  des  fitats  de  Flandres,  d' Italic 
et  des  autres  provinces,  dont  vous  entrez  en  possession,  est  plus 
nouvelle. 

*)  Die  in  diesem  und  dem  vorangehenden  Abschnitt 
wiedergegebenen  Partien  des  italienischen  (und  des  fran- 
zösischen) Textes  (fol.  2—9)  fehlen  im  Deutschen  bis  auf 
wenige  Sätze.    (Arch.  Ost.  G.  Bd.  93  S.  187f.) 

30« 


460  E.  W.  Mayer, 

Ein  Fürst  muß  darauf  bedacht  sein,  sich  die  Zuneigung 
und  das  Vertrauen  seiner  Untertanen  zu  gewinnen,  da 
hierin  sein  sicherster  Schutz  gegen  auswärtige  Feinde  besteht. 
Die  oft  besprochene  Frage,  ob  es  einem  Herrscher  mehr  zu 
raten  sei,  daß  er  bei  seinen  Untertanen  Furcht  errege  als 
Liebe,  wird  zugunsten  der  letzteren  entschieden.  Die  Herr- 
schaft, die  auf  diesem  Grunde  ruht,  ist  zwar  weniger  absolut, 
aber  dafür  dauerhafter. i)  Die  Furcht  unterwirft  wohl  die 
Untertanen  mehr  dem  Willen  des  Monarchen,  aber  der  Haß, 
den  sie  erregt,  führt  zu  Unruhen.  Eine  kluge  Politik  muß 
daher  auf  Erhaltung  des  guten  Willens  bei  den  Untertanen 
bedacht  sein.  Dazu  sind  vor  allem  drei  Eigenschaften  dien- 
lich: Treue,  Enthaltsamkeit  und  Gerechtigkeit;  namentlich 
dürfen  richterliche  Entscheidungen  nicht  käuflich  sein.  Es 
ist  auch  ein  falscher  Satz,  daß  man  das  Volk  arm  halten  solle. 
Gerade  die  Sorge  für  den  wirtschaftlichen  Erwerb  des  ein- 
zelnen trägt  dem  Fürsten  die  Liebe  seiner  Untertanen  ein. 
Für  Zeiten  der  Hungersnot  sind  Vorkehrungen  zu  treffen, 
daß  aus  öffentlichen  Vorräten  dem  Volk  Getreide  verkauft 
werden  kann.  Doch  darf  der  Fürst  daraus  nicht  ein  kauf- 
männisches Geschäft  machen  und  für  sich  einen  Gewinn 
erzielen  wollen. 2)    Zusammenfassend  sagt  die    Instruktion: 


1)  Cod.  barb.  lat.  523$  fol.  11^:  Et  un  principe  debbe  di  gran 
lunga  preferire  di  lasciar  piü  presto  per  la  via  della  benevolenza  a'  suoi 
descendendi  li  stati  meno  assoluti  e  piü  durabili,  che  piü  assoluti  e 
men  durabili  per  via  del  timore. 

2)  Die  Texte  variieren  hier  sehr,  und  der  italienische 
ist  nicht  eindeutig.  A.  a.  O.  fol.  15^:  ...  et  questo  si  conse- 
guirä  sempre  facilmente  con  antivedere  le  carestie  et  fare  a'  tempi 
debiti  le  provisioni  opportune,  le  quali  per  avantaggio  et  godimento 
de'  popoli  et  non  in  loro  aggravio  et  a  farne  mercantia  cedino,  dovendo 
un  principe  riputarsi  assai  ricco,  se  ha  ricchi  i  sudditi  suoi  (so  auch 
Teissier  p.  19).  Damit  deckt  sich  nicht,  was  der  italienische 
Text  weiterhin -sagt,  von  Teissier  aber  übergangen  wird, 
a.  a.  O.  fol.  16:  Et  a  un  buon  principe  in  questo  caso  deve  bastare 
di  non  ci  mettere  del  suo  0  almeno  contentarsi  di  quello  honesto  gua- 
dagno,  di  che  un  mercante  di  buona  conscienza  si  contentarebbe,  che 
sino  a  questi  segni  et  a  questi  fini  sono  a  un  principe  tali  incette  di 
viveri  et  non  piü  oltra  permesse.  Der  deutsche  Übersetzer  sucht 
auf  eigene  Faust  Klarheit  in  den  Gedankengang  zu  bringen 
S.  191:  Ob  aber  gleich  auch  ein  ehrlicher  und  leidlicher  gewin  nicht 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  461 

die  Untertanenschaft  ist  von  Natur  verhaßt  und  muß  ent- 
weder durch  Furcht  erzwungen  oder  durch  väterliche  Güte 
versüßt  werden.  Das  letztere  ist  bei  weitem  sicherer.  Feste 
und  Spiele  sind  aber  nur  dann  ein  geeignetes  Mittel,  die 
Gunst  des  Volkes  zu  erwerben,  wenn  dieses  auch  sonst  mit 
seiner  Behandlung  zufrieden  ist. 

In  seinen  finanziellen  Ansprüchen  soll  Philipp  Maß 
halten,  da  alle  Macht  eines  Herrschers  auf  der  Zustimmung 
der  Untertanen  ruht.^)  Karl  selbst  sei  gegen  seinen  Wunsch 
gezwungen  worden,  seinen  Völkern  schwere  Lasten  aufzu- 
erlegen. 

Die  Einnahmen  können  gesteigert  werden  durch  Ver- 
mehrung der  bestehenden  und  durch  Schaffung  neuer  Ein- 
nahmequellen. Dabei  ist  der  erzwungenen  Zahlung  die  frei- 
willige, der  Steigerung  von  Steuern  der  Verkauf  von  Zöllen, 
Gefällen,  Ämtern  und  jeder  Art  von  staatlichen  Einnahmen 
vorzuziehen.  Karl  sei  zu  seinem  Bedauern  immer  verhindert 
worden,  den  Ämterkauf  und  die  Errichtung  von  Monti  a  vita, 
wie  sie  am  römischen  Hof  üblich  seien,  auch  in  seinen  Landen 
einzuführen.  Der  Papst  finde  auf  diesem  Wege  auch  in 
Zeiten  der  größten  Not  immer  Geld.  Freilich  zieht  der  Ver- 
kauf richterlicher  Ämter  in  Rom  nicht  die  Nachteile  nach 
sich,  die  er  anderswo  leicht  im  Gefolge  hat,  da  hier  diese 
Ämter  nicht  aus  Habsucht  gekauft  werden,  sondern  um  zu 
höheren  Ämtern  zu  gelangen  und  weil  man  leicht  an  einen 
übergeordneten  Richter  appellieren  kann.  Aber  auch  welt- 
liche Staaten  können  sich  diese  Vorteile  zu  eigen  machen.^) 

Unter  den  Steuern  scheidet  die  Instruktion  wieder 
zwischen  einmaligen  (balzelli,  accatti)  und  wiederkehrenden 


getadelt  werden  kann,  so  stehet  doch  solches  den  kaufleuten  besser 
an  als  den  fursten. 

1)  Cod.  barb.  lat.  5235  iol.  if\  ...  Popoli,  dal  solo  consenso  de 
quali  d'obedire  tutta  la  potestä  dl  chi  gli  commanda  dipende. 

2)  Diesen  letzten  Satz  hat  nur  der  italienische  Text. 
A.  a.  O.  fol.  19^:  Ma  anco  un  principe  mondano  puö  ne  i  suoi  offi- 
ciali  intromettere  per  il  principal  lor  fine  Tambitione,  con  premiare 
di  maggiori  honori  chi  si  porta  bene  et  col  frenare  con  la  vergogna  et 
con  li  castighi  chi  si  porta  male;  che  quello  supplisce  al  rimorso  del- 
l'avaritia,  ch'e  quasi  sempre  airambitione  accessoria  et  minor  com- 
pagna.    Et  questo  vi  ecciterebbe  per  principale  oggetto  l'ambitione. 


462  E.  W.  Mayer, 

(gabelle,  censi),  von  denen  sie  den  ersteren  den  Vorzug  gibt. 
Besonders  verhaßt  sind  die  Aufschläge  und  Gebühren,  die 
die  Beamten  und  Einnehmer  erheben.  In  seiner  Zollpolitik 
soll  sich  der  Fürst  davor  hüten,  nicht  den  Import  oder  Export 
notwendiger  Handelsprodukte  zu  hemmen,  wie  etwa  den 
Export  von  Getreide  in  Sizilien,  von  Wein  und  Seide  in 
Neapel;  er  muß  bedenken,  daß  je  mäßiger  die  Zollsätze  sind, 
desto  mehr  der  Handel  begünstigt  wird  und  dadurch  indirekt 
auch  die  Interessen  des  Fiskus  gefördert  werden.^)  Dagegen 
ist  es  durchaus  gerechtfertigt,  wenn  auf  Luxusprodukte  ein 
hoher  Zoll  gesetzt  wird.  Auch  sind  die  Einnahmen  möglichst 
durch  Beschränkung  des  Gewinns  der  Steuerpächter  zu 
erhöhen.  Bei  allen  Auflagen  ist  Rücksicht  zu  nehmen  auf 
die  Eigenart  des  Landes:  ein  Land,  das  dem  Fürsten  Truppen 
stellt,  darf  nicht  auch  noch  zur  Deckung  des  Geldbedarfs 
herangezogen  werden.  Philipp  kann  aus  Spanien  und  Deutsch- 
land bloß  Truppen,  aus  Flandern  Geld,  aus  Italien  beides 
beziehen. 2)  Steuerverminderungen  sollte  allein  der  Fürst 
verfügen;  denn  alle  Gnaden  müssen  vom  Souverän  ausgehen, 
alles,  was  Haß  erregen  kann,  ist  seinen  Ministern  zu  über- 
lassen. Bei  den  Kaufleuten  hat  der  Monarch  seinen  Kredit 
aufrecht  zu  erhalten.    Für  Philipp  kommen  besonders  die 

1)  A.  a.  0.  fol.  22^:  Et  perö  in  questi  casi  si  ha  a  cercare  che 
l'entrate  del  principe  rispondano  bene  piü  presto  con  gli  assai  pochi 
che  con  i  pochi  assai;  perch^  quanto  piü  moderate  stanno  tali  gabelle, 
tanto  piü  di  fuora  vengono  delle  robbe  necessarie  alli  suoi  per  il  van- 
taggio  di  tanto  piü  care  poterle  contrattare,  et  per  il  medesimo  rispetto 
tanto  piü  delle  superflue  a  suoi  paesi  da  i  suoi  sudditi  fuora  sene 
mandano;  di  maniera  che  col  tanto  piü  spaccio  di  esse  si  viene  a  ra- 
guagliare  et  a  passare  il  segno  della  rendita  delle  loro  gabelle  di  piü 
alta  impositione.  Et  cosi  i  suoi  popoli  non  patiscono  delle  cose  esterne 
a  loro  necessarie,  et  si  riempiano  de  denari  con  l'essito  delle  loro  super- 
flue, che  cosi  possono  poi  tanto  meglio  ai  tributi  del  principe  et  all' 
-altre  loro  occorrenze  satisfare. 

2)  A.  a.  0.  fol.  25:  donde  puö  solamente  un  principe  cavar  genti, 
non  vi  debbe  disegnare  de  denari  ancora,  come  voi  dell'  Ispagna  et 
deirAlemagna,  sicome  di  Fiandra  qualche  danaro  et  d'  Italia  denari 
et  genti  disegnar  potete.  —  So  auch  Teissier  S.  28.  Anders  der 
deutsche  Text  S.  195:  Mit  dir  hat  es  zwar  diese  gelegenheit,  dass 
du  aus  sonderbahren  guten  gluck  fast  eitel  solche  lender  bekommen, 
die  dir  alles  beides  geben  können. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  463 

Genuesen  in  Betracht,  die  als  seine  Gläubiger  ganz  in  seiner 
Hand  sind,  ohne  daß  er  in  Genua  eine  Festung  zu  bauen 
brauchte,  die  sie  doch  nicht  ertragen  würden.  So  waren  auch 
einst  die  Florentiner  durch  den  Handel  in  Lyon  an  den  König 
von  Frankreich  gefesselt. 

Auf  die  Auswahl  geeigneter  Diener  muß  der  Fürst  be- 
sondere Sorgfalt  verwenden.  Den  wenigsten  ist  es  gegeben, 
aus  eigener  Kraft  allen  Aufgaben  der  Regierung,  noch  dazu 
mehrerer  Staaten,  gerecht  zu  werden.  Um  die  natürhche 
Abneigung  der  Menschen,  gerade  der  tüchtigen  und  gescheiten, 
gegen  den  Fürstendienst  zu  überwinden,  sind  den  Ministern 
die  ihnen  zukommenden  Ehrungen  und  Belohnungen  zu 
erweisen;  das  Talent  (virtu)  kann  nicht  hoch  genug  bezahlt 
werden.  Die  drei  Kardinaltugenden  der  Fürstendiener  sind: 
Klugheit,  Treue  gegen  den  Herrn  und  Tugend  (bontä).  Außer- 
dem müssen  sie  verstehen,  sich  der  Eigenart  der  Völker  an- 
zupassen: in  Italien  dürfen  nur  Männer  angestellt  werden, 
die  der  Eigenart  des  Landes  gerecht  zu  werden  vermögen, 
ebenso  in  Spanien  und  den  anderen  Ländern. i)  Der  Monarch 
darf  sich  nicht  auf  einen  Minister  allein  verlassen,  sondern 
muß  mehrere  zur  Auswahl  haben.  Auch  sollen,  besonders 
in  seinem  Rat,  alle  Lebensalter  vertreten  sein. 2)   Um  seine 

1)  Cod.  barb.  lat.  5235  fol.  31^:  Et  oltre  alla  prudenza,  alla  fede 
et  bontä,  che  come  vi  ho  detto,  vi  si  ricercano  dalla  banda  loro,  ponete 
poi  voi  dalla  banda  vostra  non  picciola  cura,  che  alle  cose  d'  Italia 
sieno  impiegati  quelli,  che  agli  humori  et  conditioni  de  popoli  d'  Italia 
appropriati  *sono  et  di  essi  senza  loro  Interesse  sono  instrutti.  Et 
cosi  di  Spagna  et  degli  altri  vostri  stati  et  regni,  perch^  questa  atti- 
tudine  negli  officiali  h  di  importanza  grandissima. 

2)  Im  deutschen  Text  (S.  201)  ist  folgende  Stelle  aus- 
gelassen (Cod.  barb.  lat.  5235  fol.  34°):  Et  perö,  oltre  a  questi 
riscontri  communi  de'costumi  et  delle  parti  loro  secondo  l'etä  et 
l'altre  conditioni  di  ciascuno,  cercate  sempre  d'havere  delle  nature 
et  qualitä  loro  riscontro  particolare.  Sicome  non  debbe  bastare  a  un 
generale,  che  guida  un'essercito  per  un  paese,  la  regola  generale  de 
simili  paesi  havere,  ma  di  quello  stesso,  dove  si  truova,  particolar 
notitia  ancora,  0  se  sia  d'acqua  0  d'altro  abbondante  0  penurioso, 
et  cosi  dell'altre  sue  pertinenze.  Presupponendovi  sempre  che  sebene 
la  docilitä  et  destrezza  d'alcuni  presto  gli  fä  pigliare  informatione  delle 
nuove  eure  et  l'attitudine  al  governarle,  li  piü  nondimeno  per  un 
tempo  ne  restano  incapaci;  et  anco  quelli  possono  su  quei  principii 
fare  de'  dissordini  et  a  popoli  nelle  loro  consuetudini  et  privilegii  et 


464  E.  W.  Mayer, 

Minister  gut  beurteilen  zu  können,  muß  er  wissen,  daß  Klug- 
heit auf  viererlei  Weisen  erworben  wird:  durch  Erfahrung, 
durch  Studium,  durch  Reisen  und  durch  langes  Leben.  Die 
Tugend  bewährt  sich  in  guten  Taten,  und  auch  unter  diesen 
scheidet  die  Instruktion  vier  verschiedene  Arten:  sie  ent- 
stehen aus  Zufall  oder  aus  dem  Wunsche,  gut  zu  scheinen 
—  in  beiden  Fällen  fehlt  in  Wahrheit  der  gute  Wille  — ,  aus 
beginnender  Gewöhnung  oder  aus  fester  Gewohnheit;  wer 
auf  diese  Unterschiede  achtet,  wird  die  echte  Tugend  zu  er- 
kennen vermögen.^)  Die  Treue  gegen  den  Herrn  schließlich, 
das  wird  nochmals  eingeschärft,  kann  nur  durch  Belohnungen 
gesichert  werden.  Der  Meinung  vieler,  daß  man  unter  den 
Ministern  das  gegenseitige  Mißtrauen  nähren  müsse,  habe 
Karl  nie  beipflichten  können;  es  genügt,  daß  Wetteifer 
unter  ihnen  herrscht,  aber  dieser  darf  sich  nicht  in  Haß  ver- 
wandeln.2)   Der  Monarch  kann  so  geschickt  vorgehen,  daß 


nelli  loro  stili  pregiudicare,  che  per  minime  cose  che  siano,  et  per  loro 
istesse  per  altro  di  poca  consideratione,  sono  perö  (se  sono  licite)  da 
stimare  assai  per  il  gran  conto,  che  ne  tengono,  et  per  il  gran  disturbo, 
che  in  essi  si  produce  per  l'inosservanza  di  esse. 

1)  Der  deutsche  Text  kürzt  hier  stark  (S.  203).  Der 
Schluß  der  Ausführungen  lautet  Cod.  barb.  lat.  5235  fol.  39*»: 
Quelli  ancora,  che  per  arte  vogliono  parer  buoni,  per  il  continuo  timore 
di  non  essere  di  prava  intentione  conosciuti,  standosene  di  mero  al 
segno  commune  degli  altri  huomini,  si  piegano,  a  foggia  d'arco  ritorto, 
in  tutto  dall'estremo;  et  perciö  stanno  del  continuo  appensierati  et 
malinconosi  et  sospesi  ad  ogni  rumore  del  vulgo  et  con  ansietä  grande 
et  sempre  pieni  d'ombre  et  di  scrupolositä  vivono,  n^  mai  si  quietano 
ne  contentano;  et  perö  di  questi  disse  il  Nostro  Salvatore:  Hipocrita 
tristes.  Ma  i  veramente  buoni  et  virtuosi,  in  essa  lor  bontä  sola  et 
sola  virtü  quietandosi,  se  ne  stanno  con  l'animo  riposato  et  in  pace 
et  senza  alcuna  cautela  se  ne  vivono.  Quelli  poi,  che  a  caso  operano 
bene,  ne  in  esse  loro  buone  opere  confidano  0  premono,  ne  delle  con- 
trarie,  per  non  pensarvi,  molto  si  comovono;  et  dalle  dispositioni  di 
questi  quella  di  quelli,  che  operano  bene  per  principio  di  buono  habito^ 
considerare  facilmente  si  puote  per  la  conformitä  della  buona  inten- 
tione di  essi  con  quelli,  che  per  perfetto  habito  operano  bene  0  in  ogni 
caso  per  la  loro  intentione  non  assolutamente  mala. 

2)  A.  a.  0.  fol.  42^:  Hanno  alcuni  lodato  fra  i  ministri  la  diffi- 
denza;  ma  a  me  non  e  mai  piaciuto  tal  procedere,  non  mi  parendo 
che  dalla  loro  discordia,  come  da  mala  causa,  se  ne  possa  sperare  effetto 
alcuno  buono,  ne  alcun  servitio  del  principe.  Vi  si  puö  ben  compor- 
tare  una  mediocre  emulatione,  che  riguardi  perö  al  stimolarli  di  mo- 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  465 

die  Leistungen  seiner  Minister  ihm  zugeschrieben  werden; 
er  kann  auch  zuweilen  ihre  Ansicht  erfragen,  ohne  seine  Ge- 
heimnisse aufzudecken.  Der  Wechsel  der  Beamten,  sofern 
er  nicht  zu  häufig  eintritt,  ist  einer  ständigen  Verwaltung 
durch  denselben  Mann  vorzuziehen. i) 

Der  Fürst  soll  seinen  Untertanen  leicht  Gelegenheit 
geben,  vor  ihn  zu  kommen,  und  auch  von  Zeit  zu  Zeit  sein 
Land  selbst  bereisen.  In  Sachen  der  Rechtsprechung  soll 
er  ohne  Ansehen  der  Person  urteilen.  Der  Berufung,  die  die 
Parteien  gegen  Entscheidungen  seiner  Beamten  (officiali) 
bei  ihm  einlegen,  hat  er  so  bereitwillig  wie  möglich  nachzu- 
kommen und  ein  neues  Gericht  (nuovi  giudici)  zu  bestellen. 
Das  wird  auch  ein  wirksames  Mittel  sein,  die  Richter  und 
Beamten  bei  ihrer  Pflicht  zu  halten.  Freilich  muß  darauf 
geachtet  werden,  daß  dies  Berufungswesen  ihre  Autorität 
nicht  untergräbt.  Wichtige  Prozesse  sollen  genau  geprüft, 
weniger  wichtige  rasch  erledigt  werden.    Zu  den  letzteren 


strarsi  ciascuno  ogni  di  püj  degno  della  gratia  del  superiore,  et  di  piü 
merito  appresso  di  lui,  et  degno  di  maggior  gradi  et  honori  come  di 
due  caporali  di  Cesare  si  legge.  Gleichlautend:  Teissier  pag.  48. 
Ähnlich,  aber  ohne  die  antike  Reminiszenz,  der  deutsche 
Text  auf  S.  204. 

1)  Der  deutsche  Text  kürzt  hier  und  verwischt  den 
Gedankengang,  der  italienische,  mit  dem  Teissier  überein- 
stimmt (pag.  50  f.),  lautet  a.a.O.  fol.  44,  wie  folgt:  Ho  voluto 
circa  questo  capo  de  ministri  con  voi  si  a  lungo  ragionare,  parendomi 
!  che  l'importanza  del  soggetto  cosi  ricercasse,  ch'e  tale,  ch'io  vi  re- 
I  plico,  che  io  credo,  che  un  principe  non  possa  diventare  o  mantenersi 
'  grande  senza  l'aiuto  de  buoni  et  sufficienti  ministri.  Et  perö,  figliuolo 
j  dilettissimo,  circa  la  elettione  et  applicatione  di  essi  aprite  molto  bene 
!  gli  occhi,  et  ogni  possibile  cura  et  studio  vi  ponete.  Gli  officii  et  am- 
!  ministrationi  et  i  carichi  dati  ä  tempo  determinato  et  breve  sono  piü 
!  sicuri  da  sospetti  et  dalle  gelosie,  che  recano  seco  le  diuturnitä  de 
'  magistrati  et  de  governi,  non  si  possendo  in  poco  tempo  procacciare  i 
I  seguiti  ne  fare  le  dipendentie.  Ma  dall'altro  canto  portano  anco  seco 
:  Tincommodo  et  pericolo,  che  Tinesperienza  et  novitä  apportar  suole. 
!  Nondimeno  una  moderata  mutatione  a  una  perpetua  durabiltä  e  ordi- 
!  nariamente  d'anteporsi,  perche  i  popoli,  ancorche  i  rettori  sieno  buoni, 
i  alla  fine  se  ne  satiano,  si  come  godeno  di  quella  variatione,  che  in 
!  tutte  l'altre  cose  ancora  pare  che  possa  esser  gioconda  et  dilettevole, 
•  per  contrapeso  di  quel  diletto,  che  la  natura  finalmente  da  una  invete- 
I   rata  consuetudine  et  lungo  uso  d'una  cosa  parimente  sentir  suole. 


466  E.  W.  Mayer, 

gehören  die  Prozesse  der  Kirchen,  Witwen  und  Waisen, 
auch  der  Handwerker,  Kaufleute  und  Bauern,  weil  diese  mit 
Prozessieren  nicht  viel  Zeit  verlieren  wollen.  Die  Sachen, 
die  in  einer  Audienz  erledigt  werden  können,  soll  Philipp 
selbst  entscheiden,  die  anderen  seinen  Ministern  überlassen. i) 
Bei  Kriminalprozessen  müssen  Strenge  und  Milde  in  richtiger 
Mischung  zur  Geltung  kommen,  und  vor  allem  soll  den  be- 
sonderen Verhältnissen  des  einzelnen  Falles  Rechnung  ge- 
tragen werden.  Es  wird  der  Gedanke  ausgeführt,  daß  die 
strengen  Rechtssätze  je  nach  der  Verschiedenheit  der  Fälle 
verschieden  ausgelegt  werden  müssen,  daß  den  unveränder- 
lichen Bestimmungen  des  ,, toten  Gesetzes"  das  „lebendige 
Gesetz'*  gegenübertrete,  das  im   Fürsten  verkörpert  sei. 2) 

^)  A.  a.  0.  fol.  48:  Et  quello  che  per  voi  stesso  in  una  sola  au- 
dientia  potete  consideratamente  terminare,  fatelo.  L'altre  per  via  de 
memoriali  a  vostri  ministri  a  spedire  compartite,  dando  a  ciascuno 
le  sue  particolari  eure  et  provincie,  per  piü  celere  et  faciie  speditione 
et  per  la  difficultä  che,  come  ho  detto,  si  ha,  che  uno  sia  a  piü  eure 
bastante.  Et  in  caso  di  necessitä  questi  cumuli  far  solamenti  a' mini- 
stri si  debbono  a  imitatione  del  costello  {Cod.  barb.  lat.  5185  fol.  254b'. 
coltelio),  che  si  adoperava  in  Delfi  a'  sacrificii,  il  quäle  per  sovveni- 
mento  della  povertä  fu  di  tal  foggia  trovato  che  un  solo  potera  con 
le  sue  molte  parti  a  tutti  li  ministri  di  essi  servire.  Die  Sätze  fehlen 
im  deutschen  Text  und  bei  Teissier. 

2)  Cod.  barb.  5235  fol.  4g.  Et  questo  non  h  havere  accettione  di 
persone,  ma  con  prudenza  secondo  la  qualitä  de'  casi  in  essi  gover- 
narsi,  et  dove  concorrono  i  medesimi  rispetti,  proceder  sempre  nel 
medesimo  modo,  perch^  non  il  fare  nelle  cause  questa  0  quella  deter- 
minatione  0  benigna  0  severa  che  sia,  ma  il  variarle  nell'occorrenze 
simili  senza  qualche  diverso  rispetto  apparente  i  popoli  et  la  giustitia 
offende.  Et  sebene  questo  pare  in  parte  contrario  a  quello  che  si  dice, 
ehe  le  leggi  sono  inflessibili,  eguali  et  immutabili,  ciö  procede  nella 
legge  morta,  che  come  sempre  dice  et  dispone  ad  un  modo,  cosi  debbe 
di  sua  proprietä  indifferentemente  fra  tutti  eseguirsi.  Ma  e  diversa 
ragione  nella  legge  viva  ch'fe  il  principe  et  li  suoi  ministri,  massima- 
mente  nelle  speciali  commissioni  che  da  esso  ricevono.  Perche  questi 
in  far  osservare  et  eseguire  la  legge  morta,  debbono  con  i  sopradetti 
rispetti  et  temperamento  procedere  pur  che  la  torchino  et  non  la  rom- 
pino.  Et  perciö  al  principe  k.  data  facoltä  sopra  le  leggi,  et  alFarbitrio 
suo  et  de  giudici  totalmente  la  consideratione  de  tali  circumstanza 
si  rilassa.  Et  per  questo  ancora  da  la  legge  morta  si  dispone,  che 
quello  che  il  principe  per  qualche  particolare  rispetto  in  una  persona 
o  in  un  caso  dispone  arbitrariamente,  tanto  rimettendone  et  accrescen- 
done  la  pena  ordinaria  d'un  delitto  quanto  diminuendo  0  augumen- 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  467 

Die  Instruktion  verficht  das  Prinzip  des  ius  aequum  gegenüber 
dem  ius  strictum  und  macht  jenes  zum  Ausdruck  fürstlicher 
Machtvollkommenheit.  Stets  ist  eher  Milde  als  Strenge  an- 
zuwenden. Den  kleinen  Vergehungen  des  Privatlebens  soll 
nicht  besonders  nachgespürt  werden.  Parteilichkeit  muß 
vermieden  werden;  vor  allem  darf  PhiHpp  keine  Sache  im 
Zorn  entscheiden. 

Über  Familie  und  Hof^),  sagt  Karl,  habe  er  früher 
einmal  mit  ihm  gesprochen.  In  seinen  persönlichen  Ausgaben 
müsse  er  die  richtige  Mitte  halten  zwischen  zu  großem  Luxus 
und  verächtlich  machender  Sparsamkeit. 

In  Friedenszeiten  hat  der  Fürst  auch  Kulturaufgaben 
zu  erfüllen,  wie  Brücken-,  Straßen-  und  Wasserbauten,  die 
Errichtung  von  Kirchen,  Palästen  und  Plätzen,  den  Mauer- 
bau in  den  Städten,  die  Gründung  von  Orden,  Schulen, 
Universitäten  und  Gerichten;  aber  das  muß  geschehen, 
ohne  daß  die  Untertanen  durch  besondere  Auflagen  belastet 
werden. 


Die  zweite  Hälfte  der  Instruktion  {Parte  seconda)  handelt 
vom  Kriege  {Del  tempo  della  guerra).  Von  den  Türken  und 
feindlichen  christlichen  Mächten  umringt,  müsse  sich  Philipp 
auf  viele  Kriegssorgen  gefaßt  machen,  Aber  diese  Notwen- 
digkeit ist  heilsam.  Denn  in  langen  Friedenszeiten  erschlaffen 
die  Völker.  Sie  entwöhnen  sich  der  Steuerlasten,  die  im 
Frieden  verringert  werden  müssen  und  später  nicht  leicht 
wieder  aufzuerlegen  sind.  Auch  die  Truppen  fügen  sich  nach 
der  Willkür  des  Kriegs  schwer  in  friedliche  Zeiten  und  erregen 
Aufstände  und  Unruhen. 

Die  Instruktion  behandelt  zunächst  die  Fragen,  wie 
hoch  die  Zahl  der  Truppen  zu  bemessen  ist,  wie  der  Geist 


tando  il  premio  o  la  recognitione  d'una  buona  opera,  non  si  debba 
tirare  in  conseguenza  n^  in  essempio  agli  altri.  —  Auf  die  Eigen- 
mächtigkeit der  deutschen  Übersetzung  an  dieser  Stelle 
ist  oben  S.  457  hingewiesen.  Teissier  (pag.  56)  stimmt  mit 
dem  italienischen  Text  überein. 

1)  Circa  la  vostra  famiglia  et  corte.     In  der  deutschen  Über- 
I    Setzung  heißt  es  S.  209:  Von  deiner  hoffhaltunge  und  hoff  dienern. 


468  E.  W.  Mayer, 

der  Disziplin  ihnen  eingepflanzt  wird  und  welche  Schlacht- 
ordnung empfehlenswert  ist. 

Ein  Heer  von  etwa  30000  Mann  zu  Fuß  und  4000  Reitern 
ist  genügend.  Das  zeigt  das  Beispiel  der  Alten.  Zudem  ist 
nur  diese  Zahl  ohne  Schwierigkeit  zu  ernähren  und  auch 
in  gebirgigem  Gelände  zu  verwenden.  Sie  muß,  wie  die 
Janitscharen  der  Türken  und  die  zehnte  Legion  Cäsars,  eine 
Elitetruppe  sein.  Bei  Detachierungen  und  nach  Verlusten 
ist  sie  immer  wieder  auf  den  gleichen  Stand  zu  bringen. i) 

Die  Disziplin  gründet  sich  auf  Religiosität  und  den 
anerzogenen  Gehorsam  gegen  den  Vorgesetzten;  sie  verlangt 
ständige  Übung. 

An  der  üblichen  Form  der  Schlachtordnung  hat  die 
Instruktion  vor  allem  zweierlei  auszusetzen :  da  die  Truppen 
in  einem  Treffen  aufgestellt  werden,  besteht  die  Gefahr, 
daß  die  vorderen  Reihen,  wenn  sie  fliehen,  die  hinteren  mit 
sich  reißen;  zumal  da  der  zweite  Fehler  begangen  wird,  daß 
die  tüchtigsten  Truppen  in  die  vordersten  Reihen  gestellt 
werden.  Demgegenüber  empfiehlt  die  Instruktion  —  unter 
Berufung  auf  besondere  Pläne  (fantasie),  die  Karl  namentlich 
im  Hinblick  auf  den  Türkenkrieg  aufgezeichnet  habe,  aber 
selber  nie  habe  ausführen  können  — ,  auf  die  Grundsätze  der 
römischen  Schlachtordnung  zurückzugehen.  Die  drei  Ab- 
teilungen des  Heeres  sind  in  Form  eines  Dreiecks  aufzustellen, 
so  daß  die  eine  die  Spitze,  die  anderen  die  beiden  Seiten  dar- 
stellen^);  auf  die  Weise  kann  die  zweite  oder  die  dritte  Ab- 

1)  Der  deutsche  Text  überschlägt  hier  (S.  215)  mehrere 
Sätze.  Z.  B.  cod.  barb.  lat.  5235  fol.  60«:  Et  per  questa  medesima 
ragione  Cesare  ancora  la  somma  della  riputatione  e  del  credito  attri- 
buiva  alla  decima  legione,  ma  con  altro  temperamento  et  riguardo 
verso  gli  altri  suoi  che  non  fa  il  Turco.  Pare  bene  ad  alcuno  che  per 
li  presidii  et  altre  simili  dismembrationi  et  diminutioni  che  accagiono, 
l'essercito  sia  da  terminarsi  di  maggior  numero.  Ma  a  chi  havera  l'arte 
Vera  della  guerra,  poträ  senza  dubbio  bastare  del  numero  sopradetto; 
purche,  si  come  si  venga  secondo  l'occorenza  scemando,  si  ritorni 
subito  et  mantenga  sempre  al  medesimo  numero,  che  cosi  sara  sempre 
il  medesimo  essercito,  sicome  era  sempre  la  medesima  decima  legione 
di  Cesare. 

2)  A.  a.  0.  fol.  64^:  Et  perö  per  un  gran  principio  della  intro- 
duttione  de'  buoni  et  nuovi  ordini,  si  potriano  mettere  i  tre  corpi,, 
in  che  si  divide  hora  un  essercito,  vanguardia,  battaglia  et  retroguardia 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  469 

teilung  sehr  leicht  an  Stelle  der  ersten  treten.  Ebenso  muß 
wieder  das  Prinzip  durchgeführt  werden,  daß  die  besten  Trup- 
pen nicht  in  der  vordersten,  sondern  in  der  hintersten  Reihe 
stehen.  Der  Einwand,  daß  die  Artillerie  die  antiken  Formen 
der  Schlachtordnung  entwerte,  wird  zurückgewiesen.  Sie 
sei  eine  unsichere  Waffe  und  wirke  jedenfalls  bei  der  üblichen 
Form  der  Aufstellung  in  einem  und  ungegHederten  Treffen 
verheerender  als  bei  der  vorgeschlagenen  Gruppierung. 

Was  den  Seekrieg  anlangt,  so  spricht  sich  die  In- 
struktion für  die  Schaffung  öffentlicher,  staathcher  Flotten 
aus  an  Stelle  der  Miete  privater  Flotten. i)  Wenn  die  Ad- 
mirale  mit  eigenen  Schiffen  kämpfen,  suchen  sie  sie  möglichst 
zu  schonen,  und  dadurch  gehen  die  besten  Gelegenheiten 
verloren. 

Die  Festungen  sind  oft  zu  visitieren  und  mit  besonders 
tüchtigen  und  zahlreichen  Truppen  zu  belegen.  Die  Römer 
legten  deshalb  mehr  Wert  auf  tapfere  Besatzungen  als  auf 
die  Stärke  der  Mauern.  An  der  Grenze  und  im  Innern  sind 
wenige,  aber  starke  Festungen  zu  unterhalten.  Statt  sie 
zu  verteidigen  und  zu  belagern,  ist  es  besser,  dem  Feind  auf 
freiem  Feld  entgegenzutreten  und  dort,  von  Feldverschan- 
zungen aus,  den  Kampf  aufzunehmen.  Welche  Fürsorge 
man  auch  nehmen  mag,  Festungen  sind  nie  uneinnehmbar; 
sie  müssen  aber  so  stark  sein,  daß  der  Feind  die  Zeit  und 
das  Geld  scheut,  sie  zu  belagern. 2) 

Hinsichtlich  der  Finanzierung  des  Krieges  wird  ein 
neues  Projekt  vorgeschlagen,  das  den  Grundsatz  durchführt: 
der  Krieg  muß  sich  selbst  ernähren.  Von  der  Beute  an  öffent- 
lichen Gütern  (prede  di  cose  publiche),  die  bei  der  Plünderung 

in  tre  squadroni,  di  modo  posti  per  fianco  l'uno  ali'altro  che  venissero 
a  fare  insieme  come  un  triangolo,  che  il  primo  squadrone  rapresentasse 
la  punta  et  gli  aitri  due  i  lati. 

1)  A.  a.  O.  fol.  6g^:  Et  sopratutto  introducete  per  ogni  modo, 
che  le  galere  et  aitri  legni  delle  nostre  armate  siano  dei  publico  de' 
nostri  stati,  et  non  privatamente  de'  nostri  ammiragU  et  capitani. 

2)  A.  a.  O.  fol.  ']2^\  Restando  circa  le  fortificationi  in  questa  riso- 
lutione  che  non  si  possono  disegnare  de!  tutto  inespugnabili,  ma  che 
bastino  tali,  che  al  nemico,  0  per  il  tempo  0  per  la  spesa  che  vogliono 
o  per  altro  dispendio  ö  disastro  0  poco  profitto,  l'acquisto  di  esse  non 
mette  conto. 


470  E.  W.  Mayer, 

gemacht  wird,  soll  ein  Teil  sofort  der  fürstlichen  Kammer 
zufallen;  von  dem  übrigen  sollen  die  Soldaten  gewisse  Artikel 
zu  angemessenem  Preis  an  die  Kammer  verkaufen,  die  sie 
dann  ihrerseits  mit  Vorteil  weiter  verkauft.  Außerdem  soll 
—  nach  dem  Beispiel  der  Feldherrn,  die,  um  sich  der  Soldaten 
zu  versichern,  von  ihren  Führern  Geld  geborgt  haben  — 
bei  dem  Heere  eine  Bank  errichtet  werden,  in  der  die  Soldaten 
ihre  Gelder  deponieren  und  damit  einen  sicheren  Aufbewah- 
rungsort gewinnen.  Der  Ertrag  des  Bankgeschäfts  —  etwa, 
wenn  im  Todesfall  und  bei  Fehlen  von  Erben  Deposita  ein- 
gezogen werden  —  fließt  in  die  fürstliche  Kasse.  Mit  diesen 
Mitteln  kann  dann  ein  Train  (carriaggi  del  campo)  geschaffen 
werden,  dessen  Wagen  die  Habe  des  einzelnen  Soldaten 
aufnehmen,  außerdem  für  etwaige  Verschanzungen  dienen 
und  deshalb  besonders  gestaltet  sein  müssen  (a  foggia  di 
Gabbioni).  All  diese  Maßregeln  bringen  den  Besitz  der  Trup- 
pen in  die  Hand  des  Fürsten  und  machen  es  ihm  möglich, 
durch  kaufmännische  Verwertung  die  Kriegskosten  zu  be- 
streiten. Die  bisherige  Art  der  Finanzierung  führt  bei  glück- 
lichem ebenso  wie  bei  unglücklichem  Ausgang  des  Krieges 
zu  finanzieller  Erschöpfung.  Voraussetzung  für  die  vorge- 
schlagenen Reformen  ist  allerdings,  daß  der  Fürst  mit  tüch- 
tigen Truppen  versehen  ist.^) 

Die  Rekrutierung  ist  möglichst  in  den  eigenen  Landen 
vorzunehmen,  da  die  eigenen  Untertanen  mehr  Garantien 
bieten,  zumal  wenn  Vermögende  ausgehoben  werden. 2) 
Söhne  aus  kinderarmen  Familien  sind  nicht  heranzuziehen. 


^)  A.  a.  0.  fol.  y6^:  Ma  fra  tutte  l'altre  provisioni  della  guerra 
quella  fe  la  principale  de  buon  soldati,  de  buon  capi  et  de  buon  ordini, 
ancora  che  il  vulgo  dica  principalmente  de  denari;  perch^  date  queste 
habilitä  nelle  forze  d'un  principe  nella  lor  vera  perfettione,  la  guerra 
si  nutrisce  da  se  medesima. 

«)  A.a.O.  fol.  yg'^  (im  deutschen  Text,  S.  227,  gekürzt). 
Et  in  tale  descrittione  di  quelli,  che  di  lor  natura  sonoi  nclinati  alla 
guerra  et  atti  per  la  dispositione  della  persona,  et  che  sono  di  qualche 
facultä,  et  che  siano  affamigliati,  far  elettione  si  debbe,  perch^  di  tali 
si  puö  sperar  miglior  riuscita  et  piü  ^idarsene,  per  havere  a  casa  che 
perdere  et  perchfe  stimano  piü  l'honore  et  temono  piü  la  vergogna  et 
le  pene,  le  quali  almeno  nei  beni  non  possono  fuggire,  come  possono 
quelli  di  nessuna  facoltä. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  471 

Schon  im  Interesse  eventueller  Truppenwerbungen  muß 
sich  Philipp  mit  dem  „Hause  Österreich"  gut  stellen,  — 
eine  Mahnung,  die  weiterhin  noch  einmal  in  der  Form  wieder- 
holt wird,  daß  Philipp  dem  König  von  Böhmen,  seinem  Vetter, 
mit  Achtung  begegnen,  überhaupt  seinen  Verwandten  gegen- 
über nachgiebig  sein  solle.  Die  Mischung  verschiedener 
Nationalitäten  im  Heer  kann  wohl  gelegentliche  Reibungen 
hervorrufen,  befördert  aber  auch  den  Wetteifer.^) 

Es  folgen  eine  Reihe  einzelner  Vorschriften,  z.  B.:  der 
Fürst  muß  über  seine  eigenen  Kräfte  und  die  des  Feindes 
genau  informiert  sein;  er  soll  als  wichtigste  Waffe  weder 
die  Kavallerie  noch  die  Flotte,  sondern  die  Infanterie  be- 
trachten. 

Zahlreich  sind  in  diesem  Abschnitt  über  das  Heerwesen 
die  Verweise  auf  besondere  Denkschriften  und  Auf- 
zeichnungen^),  die  Karl  seinem  Sohn  hinterlasse. 

Den  Schluß  der  Instruktion  nimmt  die  Erörterung  der 
einzelnen  Kriege  ein,  auf  die  Philipp  sich  gefaßt  machen 
müsse.  Die  Türken  sind  wegen  ihrer  Religion  und  wegen 
ihrer  zum  Kriege  zwingenden  Einrichtungen  seine  gefähr- 
Hchsten   Feinde. 3)    Philipp  hat  von  den  Türken  mehr  zu 

^)  A.  a.  0.  fol.  81°'  (der  deutsche  Übersetzer  verändert 
den  Text,  S.  229):  Haverete  ancora,  stände  cosi  uniti  insieme,  como- 
ditä  grande  oltre  alle  spagnuole  et  italiane  de'  genti  tedesche,  ch'  fe 
pur  natione  armigera  et  honorata.  Et  sebene  questi  miscugli  possono 
alle  volte  causare  de'  disordini,  possono  ancora  de'  buoni  et  grandi 
effetti,  a  chi  gli  sa  bene  usare  et  con  una  moderata  emulatiqne  tem- 
perare,  esser  cagione,  et  per  la  maggiore  difficultä,  che  hanno,  di  quasi 
mai  non  convenire  tutte  insieme  n^  accordarsi  a  far  mutini  n^  altri 
risentimenti  et  disobedienze. 

2)  In  allen  Texten  sind  erwähnt  Abhandlungen  über  die 
Schlachtordnung  und  über  die  Artillerie.  Der  französische 
und  die  italienischen  geben  solche  Verweise  bei  Erörterung 
des  Trainwesens,  die  italienischen  und  der  deutsche  für 
den  Festungsbau  und  die  strategischen  Aufgaben  des  Für- 
sten. Allein  in  den  italienischen  Texten  sind  überdies  er- 
wähnt: Aufzeichnungen  über  jenen  Plan  einer  Soldaten- 
bank, über  die  Aushebung  von  Landeskindern,  über  den 
Vorzug  der  Infanterie  vor  der  Kavallerie,  weiterhin  auch 
über  den  Türkenkrieg  und  über  Feldbefestigungen. 

^)  Cod.  barb.  5235  fol.  88^:  ...  II  piü  certo  per  il  rispetto  della 
fede  et  per  la  necessitä  de'  suoi  instituti,  che  lo  sforzano  a  star  su  rarmi. 


472  E.  W.  Mayer, 

fürchten  als  der  König  von  Ungarn  und  der  Schah  von  Per- 
sien, da  deren  Grenzen  gesicherter  sind,  während  die  Inseln 
und  Länder  Italiens  offen  daliegen  und  den  Angriffen  der 
türkischen  Flotte  ausgesetzt  sind.  Es  ist  auch  nicht  zu  er- 
warten, daß  die  Türken  eher  die  Venetianer  angreifen  als 
ihn  oder  daß  die  Venetianer  ihn  im  Kriege  unterstützen; 
denn  ihres  Handels  und  der  Inseln  Candia  und  Cypern  wegen 
sind  sie  von  den  Türken  abhängig. i)  Obwohl  es  scheine, 
daß  nur  eine  christliche  Liga  gegen  die  Türken  etwas  auszu- 
richten vermöge,  dürfe  er  sich  doch  nur  auf  die  eigene  Kraft 
und  die  Hilfe  des  Hauses  Österreich  verlassen.  Gegen  die 
Türken  ist  weder  die  reine  Offensive  noch  die  Defensive, 
weder  ein  Präventiv-  noch  ein  Diversionskrieg  zu  emp- 
fehlen, sondern  eine  Mischung  dieser  Grundformen  der  Krieg- 
führung. 2)  Es  muß  ein  geeigneter  Moment  abgepaßt  und  dann 
der  Krieg  im  Bunde  mit  dem  Hause  Österreich  in  Ungarn 
begonnen  werden.  Dabei  ist  darauf  zu  achten,  daß  der 
Krieg  von  den  Ebenen  ferngehalten  wird,  damit  die  Türken 
nicht  ihre  Kavallerie  entfalten  können;  der  Krieg  in  ge- 
birgigen Gegenden  ist  für  sie  besonders  schwierig,  wie  das 
Beispiel  Albaniens  zeigt. 2) 

^)  A.  a.  0.  go^:  .  .  .  si  ancora  per  haverli  esso  (sc.  il  Turco)  litte 
Vunghie  a  dosso  et  ouasi  il'freno  in  bo^ca  posto  per  rispetto  dell'isole 
di  Candia  et  di  Cipri,  et  in  somma  et  per  l'instituto  di  quella  cittä 
della  mercantia  .  .  . 

2)  A.  a.  0.  fol.  g2^\  si  debba  per  necessitä  presupporre  la  difen- 
siva  in  atto,  in  virtü  difensiva,  non  perö  ne  i  loro  semplici  termini, 
ciie  cosi  tutti  si  sono  escluse,  ma  mescolata  con  la  diversiva,  la  quäle 
a  poco  a  poco  possa  et  habbia  a  pigliare  le  parti  della  pura  preven- 
tiva,  che  alla  fine  si  possa  convertire  in  pura  offensiva. 

3)  A.  a.  0.  fol.  93^  (im  deutschen  Text,  S.  235/36,  gekürzt): 
Et  da  questo  modo  di  guerra  et  dalle  bände  d'Ungheria  potreste  poi 
disegnarne  con  progresso  di  tempo  et  con  qualche  buon  successo  altro 
modo  d'altra  guerra  seco  et  da  altre  bände.  Et  perö  al  re  de'  Romani 
vostro  zio  havete  a  concedere  et  offerire  et  porgere  sempre  di  lä  ogni 
aiuto  di  genti,  di  denari  et  d' altro,  che  vi  servira  anco  tanto  piü  a 
potere  aspettare  altra  miglior  occasione.  Et  perche  nella  vittoria 
d'una  giornata  consiste  assai  la  declinatione  dell'armi  turchesche, 
si  ha  a  porre  ogni  cura  di  venire  a  ciö  seco  et  vincerla,  —  cosa  che 
solo  si  puö  sperare  per  mezo  de' stratagemi,  come  sarebbe:  tenersi 
in  luoghi  stretti  et  dove  gli  e  piü  difficile  la  guerra,  come  si  e  detto 
et  si  e  veduto  per  esperienza  nell'Albania. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  473 

In  einem  Krieg  mit  Frankreich  hat  Philipp  den  Vor- 
teil, daß  er  von  verschiedenen  Seiten  angreifen  kann,  Frank- 
reich den,  daß  es  leicht  Bundesgenossen  gewinnt,  vor  allem 
unter  den  Italienern,  die  das  spanische  Joch  abwerfen  wollen. 
Eine  gewonnene  Schlacht  kann  den  Franzosen  viel  Gewinn 
bringen;  ihr  Sieg  bei  Ceresole  und  die  Einnahme  von  Casale 
sowie  die  Niederlage  der  kaiserlichen  Flotte  im  Kampf 
gegen  die  Türken  hätten  von  ihnen  anders  ausgenutzt  werden 
können.!)  Der  Krieg  in  Piemont  ist  Schritt  für  Schritt  zu 
führen  {a  pulmo  a  palmo),  Karl  habe  geplant,  durch  Weg- 
nahme einiger  Plätze  zwischen  Turin  und  den  Alpen  ihnen 
die  Zufuhr  aus  Frankreich  abzuschneiden.  Der  Einfall  in 
das  Land  des  französischen  Königs  kann  auf  zwei  Weisen 
geschehen:  einmal  indem  man  in  das  Innere  eindringt,  so- 
dann indem  man  sich  mit  der  Belagerung  und  Eroberung 
der  Grenzfestungen  begnügt.  Vor  allem  aber  ist  es  nötig, 
den  einmal  gewählten  Weg  zu  Ende  zu  gehen.  Als  Karl 
Frankreich  bei  Landrecies  angriff  und  ins  Innere  dringen 
wollte,  habe  er  sich  an  der  Grenze  aufhalten  lassen,  und  so 
sei  das  Unternehmen  gescheitert. 2)  Von  einer  etwaigen 
Niederlage  im  Innern  des  Landes  könne  sich  Philipp  rasch 
wieder  erholen. 3)    Mit  langen  Belagerungen  dürfe  er  sich 

^)  A.  a.  0.  fol.  gg^:  Sene  sarebbe  da  qualche  anno  in  qua  veduto 
I'effetto,  se  vi  havessero  saputo  usare  et  spiegare  intieramente  il 
oorso  di  quelle,  che  vi  hanno  havuto,  di  Ciregiola  et  della  presa  di 
Casale  et  della  rotta  della  armata  nostra  daila  turchesca  nei  mari  di 
Sicilia  su  la  ribellione  di  Siena. 

2)  A.  a.  O.  fol.  103:  Et  quando  io  assaltai  quel  Regno  verso 
Landresi,  cosi  disegnai  d'entrarli  nelle  viscere,  prima  che  11  Svizzeri 
arrivassero.  Ma  il  fermarmi  poi  all'oppugnatione  di  alcuna  delle 
frontiere  per  ia  facilitä  che  si  trovö  nell'espugnatione  d' alcuna  delle 
dette  frontiere  et  delle  prime,  che  vi  si  tentarono,  mi  fece  per  la  spe- 
ranza  che  io  presi  di  poterle  conseguire  tutte,  prima  che  il  re  fusse 
in  essere,  mutar  proposito  et  impegnarmivi.  Onde  soprastatovi  poi 
oltre  al  mio  credere  et  volere,  hebbe  agio  il  re  d'ingrossarmi  (cod.  vat. 

Ry244   fol.  y2:    d'ingrossarvi)   et   difendersi  poi  tanto  sicuramente 
quasi  constringermi  per  viva  forza,  ä  ritirarmi   et  ä  fare  quello 
ordo  che  si  fece  pi''i  per  dar  colore  alla  ritirata  che  ad  altro  effetto. 
*)  A.  a.  0.  fol.  104:  Ma  se  vi  andasse  in  sinistro  ä  voi,  haverete 
ipre  grande  agio  ä  rifarvi.  —  Der  deutsche  Text  nennt  (S.  241) 
i    ausdrücklich   das    Niederlandt,   darinnen   du   dich   wieder   erholen 
I  kannst. 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folg?  2\.  Bd.  31 


474  E.  W.  Mayer, 

nicht  aufhalten.  Die  Belagerung  von  Marseille  habe  den 
Zug  in  die  Provence  verdorben  und  den  Einfall  Franz'  I. 
in  Italien  veranlaßt.  Eine  Wiederholung  dieses  Einfalls 
muß  Philipp  vor  allem  verhindern.  Deswegen  soll  er  sich 
bemühen,  Siena  wieder  in  seine  Hand  zu  bekommen,  was 
mit  Hilfe  Cosimo  Medicis  nicht  schwer  sein  wird^),  und  so- 
dann die  Franzosen  aus  Piemont  entfernen.  Dieses  Ziel 
wäre  vielleicht  auch  durch  eine  Heirat  zu  erreichen. 

Bei  allen  Verhandlungen  mit  Frankreich  muß  Philipp 
sich  von  dem  Gedanken  leiten  lassen,  daß  Italien  der 
stärkste  Nerv  seiner  Macht  und  für  ihn  wichtiger  ist  als 
Flandern. 2)  In  ItaHen  muß  er  vor  allem  ein  gutes  Verhältnis 
zum  Papst  unterhalten.  Bei  den  Papstwahlen  soll  Philipp 
nicht  die  ihm  zugetanen  Kardinäle  zur  Wahl  eines  bestimmten 
Kandidaten  veranlassen,  sondern  nur  darauf  achten,  daß- 
ein  würdiger  Mann  Papst  wird.  Wenn  ein  ihm  nicht  gewo- 
gener Papst  gewählt  wird,  kann  er  ihn  durch  Heiratsschlie- 
ßungen oder  durch  Begünstigung  seiner  Nepoten  leicht  auf 
seine  Seite  ziehen.  Überdies  ist  der  Kirchenstaat  von  Phi- 
lipps Gebiet  umgeben,  zumal  wenn  Siena  zurückerobert  ist. 
Falls  ein  Krieg  mit  dem  Papst  nötig  wird,  soll  Philipp  aller 
Welt  zu  wissen  tun,  daß  die  Schuld  nicht  an  ihm  liegt  und 
daß  er  zu  jedem  friedlichen  Übereinkommen  bereit  ist.  In 
Sachen  des  Konzils  möge  er  im  Einverständnis  mit  dem 
Papst  vorgehen;  wenn  eine  kleine  Abweichung  nötig  ist,, 
soll  es  „ohne  Ärgernis"  geschehen. 3) 

^)  A.  a.  O.  fol.  io6^:  Et  perö  havete  ä  fare  ogni  sforzo  di  ricu^ 
perare  Siena,  che,  ingelositosi  il  duca  di  Fiorenza  del  loro  essere,  con 
la  vicinitä  et  possanza  del  suo  stato  vi  sarä  facile. 

^)A.  a.  O.  fol.  loy'":  Et  anco  cosi  verrete  a  restare  piü  sicuro^ 
delle  cose  d'  Italia,  ch'e  dove  alla  fine  si  posa  tutto  ii  nervo  della  vostra 
potenza.  Et  perö  a  questo  haviate  fermamente  la  mira.  Ne  e  la  me- 
desima  ragione  ch'  era,  inanzi  che  i  Francesi  havessino  il  Piemonte,. 
il  non  haverlo,  che  hora  che  l'hanno  sarebbe  a  perderlo  per  il  credito,. 
che  vi  gli  torrä  piü  la  perdita,  che  non  vi  gli  ha  dato  di  seguito  l'ac- 
quisto.  Et  perciö  negli  accordi  seco  sia  volto  a  tal  fine  tutto  il  vostro 
intento,  perchö  vi  sarä  di  piü  importanza  questo,  che  se  di  verso  Fi-^ 
andra  gli  togliesse  il  terzo  del  suo  proprio  regno. 

^)  A.  a.  0.  fol.  iii^:  Delle  cose  del  concilio  conformatevene 
sempre  con  l'infallibile  volontä  del  santo  padre  et  della  parte  catholica. 
Et  quando  pure  i  rispetti  delli  stati  vostri  et  del  mondo  vi  constrin- 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  475 

Mit  den  Venetianern  kann  Philipp  leicht  Frieden 
halten,  da  sie  des  Krieges  entwöhnt  und  deswegen  in  Gefahr 
sind,  ohne  viel  Widerstand  die  Beute  einer  kriegführenden 
Macht  zu  werden.  Wenn  die  Türken  ihnen  Korfu  abnehmen, 
werden  sie  auch  Candia  und  Cypern  leicht  gewinnen. i)  Ini 
Kriegsfall  ist  es  geboten,  ihr  Land  rasch  anzugreifen,  damit 
sie  sich  nicht  im  Königreich  Neapel  festsetzen,  wo  sie  noch 
in  gutem  Angedenken  stehen.  Wenn  Philipp  in  ihr  Land 
einfällt,  müssen  sie  einen  großen  Teil  des  Heeres  in  die 
Festungen  legen.  Von  diesen  ist  sicher  manche  durch  Be- 
stechung zu  gewinnen,  und  dann  haben  die  anderen  auch 
keinen  Halt  mehr. 

In  Italien  darf  keine  Macht,  auch  wenn  sie  von  Phi- 
lipp abhängig  ist,  zu  mächtig  werden.  Weil  das  Land  so 
zerteilt  ist,  ist  es  zwar  schwer  zu  erobern,  aber  leicht  zu  be- 
herrschen. Alle  italienischen  Staaten  wünschen,  daß  Mailand 
und  Neapel  wieder  selbständig  werden. 2)  Gegen  diese  Be- 
strebungen muß  sich  Philipp  dadurch  schützen,  daß  er  den 
Zwiespalt  unter  den  italienischen  Staaten  wach  erhält  und  die 
Freundschaft  mit  dem  Papst  pflegt.  Zu  fürchten  hat  er  nur 
dann  etwas,  wenn  die  italienischen  Fürsten  sich  mit  Frank- 
reich verbünden. 

Am  Schluß  sagt  Karl,  er  habe  eigentlich  noch  über  die 
italienischen  Staaten  im  einzelnen,  sowie  über  England, 
Deutschland,  Flandern  und  die  Schweiz  zu  handeln.   Aber 

gessero  a  chiudere  gli  occhi  a  qualche  non  molto  importante  trans- 
gresso,  ancora  bisogna  che  si  faccia,  se  si  fa,  senza  dare  in  modo  alcuno 
scandalo  a  quella  santa  sede,  che  cosi  prospererä  sempre  Iddio  le  vostre 
imprese  et  le  laudera  il  mondo. 

1)  A.  a.  0.  fol.  112'.  11  Turco  serratoli  Corfü  le  vorrebbe  a  pri- 
vare  di  Candia  et  di  Cipri  et  molto  a  restringere  di  tutto  il  resto,  ri- 
spetto  all'instituto  di  quella  cittä  della  mercantia.  —  Dagegen  heißt 
es  im  deutschen  Text  S.  245:  Dann  wann  ihnen  der  Turcke  die 
insul  Corcyra  nehme,  so  könnte  er  ihnen  Cypern  und  Morea  auch 
leichtlich  abnehmen. 

2)  Die  vom  deutschen  Übersetzer  völlig  mißverstan- 
dene Stelle  (S.  248)  lautet  im  italienischen  Text  fol.  115«: 
Havete  in  oltre  a  presupporre,  che  con  tutta  la  mira  le  potentie  d*  Italia 
desidereno  un  duca  particolare  a  Milano  et  un  re  a  Napoli,  che  tutto 
tende  a  smembrare  la  vostra  grandezza  unita  et  a  liberarsi  a  poco 
a  poco  da  ogni  servitü  esterna. 

31* 


476  E.  W.  Mayer, 

die  Zeit  sei  vorgerückt,  überdies  habe  er  schon  früher  einmal 
diese  Fragen  besprochen.  Er  wiederhole  nur  noch  einmal, 
daß  Philipp,  wenn  er  seinen  Ratschlägen  folge,  sich  von  der 
Unrichtigkeit  des  Satzes  überzeugen  werde,  daß  der  Zufall 
den  Ausgang  des  menschlichen  Handelns  bestimme,  i) 

III. 

Um  über  den  Charakter  des  uns  vorliegenden  Regierungs- 
programms zu  einiger  Klarheit  zu  kommen,  ist  es  geraten, 
seinen  Inhalt  kurz  zu  kommentieren  und  seine  Beziehungen 
zur  praktischen  Politik  und  zu  den  Anschauungen  Karls  V. 
zu  untersuchen. 

Nach  dem  Wortlaut  der  Instruktion  wäre  sie  am  Tage 
vor  der  feierlichen  Übertragung  der  nichtspanischen  Länder 
Karls  V.  auf  Philipp  II.  erlassen  worden.  Damit  kann  nur 
der  24.  Oktober  1555  gemeint  sein. 2)  Der  Schreiber  des 
Testaments  hat  aber  von  den  damaligen  Vorgängen  eine  sehr 
falsche  Vorstellung.  Nach  ihm  sollte  die  feierliche  Handlung 
„am  folgenden  Morgen"  stattfinden.    Tatsächlich  fand  sie. 


^)  Der  Schluß  der  Instruktion  fehlt  im  deutschen  Text. 
Teissier  übersetzt  den  italienischen  Text  wörtlich.  Cod. 
barb.  lat.  5235  fol.  115*:  Vi  haverei  ancora  a  dire  alcun  altre  cose 
deir  universale  d'Italia  et  in  particolare  di  ciascuna  di  quelle  signorie 
et  parimente  a  ragionardelle  cose  d'Inghilterra,  di  Germania  di,  Fiandra 
et  di  Svizzeri.  Ma  perch^  l'hora  h  tarda  et  altre  volte  ve  n'  ho  par- 
lato  a  lungo,  voglio  che  per  hora  sia  posto  fine  a  questo  ragionamento, 
replicandovi  solo  per  intiero  complimento  di  esso,  che  con  questi  ricordi 
virtuosamente  et  con  magnanimitä  procedendo  farete  scoprire  la  fal- 
lacia  del  vulgare  applauso,  che  per  poco  vedere  attribuisce  gli  eventi 
deir  humane  attioni  alla  fortuna.  II  che  da  Cesare  et  dagli  altri  pru- 
denti  et  valorosi  capitani  solo  si  6  consentito,  et  per  esser  tenuti  dalli 
suoi  in  maggiore  stima  et  veneratione  come  privilegiati  da  cieli  et 
per  non  essere  da  nemici  imitati,  come  che  per  favore  et  gratia  sopra 
humana  a  cosi  operare  eletti  fussero.  Et  tutto  sia  a  laude  di  Dio  omni- 
potente, nel  cui  glorioso  nome  con  la  sua  santa  benedittione  et  mia 
in  pace  ve  ne  restate. 

2)  Stübel  hat  der  Instruktion  das  Datum  des  25.  Oktober  gegeben; 
vermutlich  weil  Karl  einmal  sagt,  daß  er  die  Staaten  „heute"  auf 
Philipp  übertrage.  Aus  den  ersten  Sätzen  geht  aber  mit  voller  Klar- 
heit hervor,  daß  der  feierliche  Akt  als  am  „folgenden  Morgen"  {domat- 
iina)  stattfindend  gedacht  wird. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  477 

aus  Rücksicht  auf  die  Gesundheit  des  Kaisers,  am  25.  Ok- 
tober nachmittags  3  Uhr  statt. i)  Nach  einwandfreier 
Überlieferung  läßt  der  Verfasser  der  Instruktion  den  Kaiser 
an  diesem  Tage  Flandern,  Italien  und  Deutschland 
oder,  wie  es  anfänglich  heißt,  die  „Verwaltung  des  Reichs"^) 
übertragen;  Spanien  gilt  als  schon  abgetreten.  Nun  hat 
Philipp  seit  1542  mehrfach  die  Regentschaft  in  Spanien 
geführt  mit  zuletzt  sehr  ausgedehnten  Vollmachten^);  aber 
die  formelle  Abdikation  ist  für  Spanien  erst  am  15.  Januar 
1556  erfolgt.  Anderseits  waren  Neapel  und  Mailand  schon 
seit  Philipps  Vermählung  mit  Maria  von  England,  also 
seit  dem  Sommer  1554,  in  seinem  Besitz.  Am  25.  Oktober 
1555  sind  nur  die  Niederlande  übertragen  worden. 

Es  ist  offensichtlich,  daß  der  Verfasser  in  der  Vor- 
stellung befangen  ist,  Philipp  erbe  die  gesamte  Macht  Karls  V. 
einschließlich  des  Kaisertums.  Wenn  er  anderseits  später- 
hin betont,  daß  Philipp  im  Interesse  der  Truppenaushebungen 
und  des  Türkenkriegs  gute  Beziehungen  zum  Hause  Öster- 
reich erhalten  müsse,  so  denkt  er  wohl,  daß  das  gesamte 
rechtliche  und  persönliche  Verhältnis  Karls  und  Ferdinands 
sich  auch  auf  ihre  Nachkommen  vererben  solle.  Dieser  Ge- 
danke lag  dem  Sukzessionsplan  Karls  V.  zugrunde,  der  aber 
für  die  leitenden  Stellen  im  Oktober  1555  sicher  schon  ab- 
getan war.*) 

Auch  wird  der  imperiale  Gedanke,  der  das  Leben  Karls  V. 
bestimmt  hat  und  den  Sukzessionsplan  entstehen  ließ,  von 
dem  Schreiber  unserer  Instruktion  verleugnet,  wenn  er  sagt, 
es  sei  natürlicher,  daß  jedes  Land  seinen  eigenen  König 
habe. 


1)  Gachard,  Retraite  et  mort  de  Charles-Quint  1854,  pag.  80. 

*)  Daß  der  deutsche  und  der  französische  Übersetzer  eigen- 
mächtig die  Korrektur  vornehmen  und  Deutschland  in  dieser  Auf- 
zählung ausmerzen,  verraten  sie  später  an  der  weniger  auffallenden 
Stelle,  wo  davon  die  Rede  ist,  daß  Philipp  aus  jedem  seiner  Staaten 
nur  entweder  Truppen  oder  Geld  beziehen  könne :  aus  Flandern  Geld, 
aus  Spanien  und  Deutschland  Truppen. 

»)  Häbler,  Geschichte  Spaniens  I,  312,  343. 

*)  Ranke,  Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Reformation 
S.  W.  5  S.  296. 


478  E,  W.  Mayer, 

Was  Über  die  Gewinnung  der  Zuneigung  der  Unter- 
tanen gesagt  wird,  ist  vom  Standpunkt  der  letzteren,  nicht 
dem  des  Fürsten  geschrieben,  zumal  der  Satz,  daß  alle  seine 
Gewalt  auf  ihrem  guten  Willen  und  Gehorsam  ruhe. 

Der  Ankauf  von  Getreide  auf  öffentliche  Kosten  war 
in  vielen  der  italienischen  Staaten  —  und  auf  Italien  ist, 
wie  sich  immer  deutlicher  ergeben  wird,  der  Gesichtskreis 
des  Verfassers  der  Instruktion  beschränkt  —  ein  gebräuch- 
liches Mittel  sowohl  der  Wohlfahrts-  wie  der  Finanzpolitik. 
Um  die  Verproviantierung  der  Städte  sicherzustellen,  waren 
in  Rom  und  in  Neapel  öffentliche  Proviantämter  (annone) 
gegründet  worden,  die  ihrem  ursprünglichen  Zweck  nach 
teils  der  Regulierung  der  Preise,  teils  als  Vorratskammer 
für  die  Zeiten  der  Hungersnot  dienen  sollten. i)  Es  ist  be- 
kannt, daß  diese  Monopolisierung  oft  zu  einem  im  Namen 
des  Staats  betriebenen  Kornwucher  führte,  und  solche  Er- 
fahrungen scheinen  dem  Schreiber  der  Instruktion  bei  seinen 
Ermahnungen  vorzuschweben.  Besonders  liefert  das  Ver- 
fahren Cosimo  Medicis  in  Toskana  eine  Illustration  für  seine 
Ausführungen :  Cosimo  hat,  zumal  bevor  er  das  fruchtbarere 
Siena  erwarb,  viel  Geld  auf  die  Füllung  der  öffentlichen 
Speicher  verwandt 2)  und  dadurch  der  Brotnot  vorgebeugt; 
freilich  hat  er  auch,  als  geriebener  Geschäftsmann,  das  Korn 
zu  sehr  hohen  Preisen  an  seine  Untertanen  weiter  verkauft.^) 

Die  Bemerkungen  über  das  Finanzwesen  verraten, 
daß  dem  Verfasser  die  Interessen  des  Steuerzahlers  näher 
liegen  als  die  des  Fiskus.  Gerade  die  ungesunden  Mittel  der 
Finanzpolitik  Karls  V.  will  er  zur  Regel  erheben.  Der  Ver- 
kauf von  Grundbesitz,  Zöllen  und  Steuern  zu  Anleihe- 
zwecken war,  zumal  in  den  italienischen  Ländern  Karls  V., 
ein  oft  angewandtes  Mittel  der  Geldbeschaffung,  das  aber 


^)  W.  Naud6,  Die  Getreidehandelspolitik  der  europäischen 
Staaten  (Acta  Borussica)  Bd.  1  (1901)  S.  1461,  156.  —  L.  Pastor, 
Geschichte  der  Päpste  11*  S.  649  f. 

2)  Ranke,  Fiiippo  Strozzi  und  Cosimo  Medici,  der  erste  Groß- 
herzog von  Toscana  S.  W.  40/41   S.  413. 

3)  A.  a.  O.  S.  435 f.  —  Narde,  a.  a.  O.  S.  142.  —  Schmoller, 
Die  Epochen  der  Getreidehandelsverfassung  und  -politik  (Umrisse  und 
Untersuchungen  zur  Verfassungs-,  Verwaltungs-  und  Wirtschafts- 
geschichte (1898)  S.  668). 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  479 

an  der  finanziellen  Kalamität  Karls  V.  vornehmlich  die 
Schuld  trägt  und  deshalb  stets  nur  ungern  von  ihm  zuge- 
standen wurde.  Insbesondere  hat  er  den  in  der  Instruktion 
empfohlenen  Ämterverkauf  nach  römischem  Muster  niemals 
in  seinen  Landen  einführen  wollen,  wie  die  Instruktion 
behauptet,  sondern  war  im  Gegenteil  diesen  Künsten 
kurialer  Finanzpolitik  völlig  abgeneigt. i)  In  Sizilien,  wo 
mehrfach  Ämtervermehrungen  und  -verkaufe  stattfanden, 
geschahen  sie  gegen  seinen  Wunsch,  und  der  Vizekönig 
griff  zu  diesem  „ihm  selbst  verhaßten"  Mittel  nur,  weil  er 
keinen  anderen  Ausweg  sah. 2)  Verkäufe  von  staatlichem 
Grundbesitz  sind  besonders  oft  in  Neapel  vorgenommen  wor- 
den, wo  auf  diese  Weise  viele  Güter  in  die  Hand  der  Genuesen 
kamen.  Auch  in  Mailand  haben  die  Spanier,  nachdem  sie 
die  Regierung  übernommen  hatten,  bald  mit  dem  Verkauf 
von  Erträgen  des  Salzzolls  begonnen^);  aber  die  Einführung 
eines  neuen  Zensus,  der  auch  den  städtischen  Adel  zu  Lei- 
stungen für  seinen  Landbesitz  heranzog,  zeigt,  daß  das 
spanische  Regiment  sehr  wohl  die  Steuerschraube  anzuziehen 
wußte,  wenn  es  die  Möglichkeit  dazu  hatte.*)  In  Spanien 
selbst  hat  Karl  V.  in  Zeiten  der  Schwäche  es  vorgezogen, 
Staatseinkünfte  zu  verpfänden,  anstatt  mit  den  Cortes  um 
die  Bewilligung  neuer  Steuern  zu  streiten;  aber  sein  stetes 
i  Bemühen  war  es  gerade  gewesen,  diesen  Übelständen  abzu- 
helfen und  die  Cortes  zu  einer  gesunden  Steuerpolitik  zu 
bestimmen.^) 

Von  besonderem  luteresse  sind  die  Ausführungen  über 
die  Zollpolitik.  In  Sizilien  war  die  tratta,  der  Kornaus- 
fuhrzoll, eine  der  wichtigsten  Einnahmen.    Die  Regierung 


1)  Häbler  a.  a.  0.  S.  362. 

2)  Gaetano  Capasso,  II  Governo  di  Don  Ferrante  Gonzaga  in 
Sicilia  dal  1535  al  1543.  (Arch.  stör,  siciliano  N.  S.  XXX  429;  XXXI, 
6.  33.  382.) 

I  ^)  Marco   Formentini,    La  Dominazione   Spagnuola    in   Lom- 

I    bardia.    Milano  1881,  pag.  78. 

i  *)  A.  a.  O.  pag.  87sgg.  —  Vgl.  auch  Ettore  Verga,  La  congre- 

j   gazione  del  ducato  0  Tamministrazione  deü'antica  provincia  di  Milano 

1   <Arch.  stör.  lomb.  Serie  III  Vol.  3  (1895)  pag.  386). 

I  ^)  Häbler  a.  a.  O.  S.  277 ff. 


480  E.  W.  Mayer, 

setzte  die  Höhe  des  Zolls  je  nach  der  Konjunktur  fest^), 
und  es  ist  vorgekommen,  daß  die  Zölle  höher  waren  als 
die  Preise.  Freilich  war  dann  auch  die  Wirkung  einge- 
treten, daß  die  Käufer  fortblieben. 2)  Ähnliche  Erfahrungen 
wurden  noch  zu  Philipps  Zeiten  mit  dem  Ausfuhrzoll  auf 
Seide  in  Neapel  gemacht.  3)  Ferrante  Gonzaga  hat  als  Vize- 
könig von  Sizilien  ein  Finanzreformprojekt  ausgearbeitet, 
demzufolge  eine  gleitende  Skala  von  Zöllen,  je  nach  dem 
Stand  der  Preise,  festgesetzt  werden  sollte.*)  Die  Instruktion 
ist  noch  viel  stärker  auf  die  Schonung  des  Handels  bedacht 
und  arbeitet  mit  ganz  freihändlerischen  Argumenten:  die 
durch  Minderung  der  Zölle  erreichte  Steigerung  des  Handels 
komme  auch  dem  Staat  zugute,  weil  sie  die  Steuerkraft 
erhöhe. 

Die  Charakterisierung  der  verschiedenen  Länder  des 
Weltreichs  Karls  V.  nach  ihren  Leistungen  für  das  Ganze 
kann  als  richtig  gelten.  Spanien  hat  in  der  Tat  für  die  Auf- 
gaben der  Weltpolitik  Karls  V.  mehr  militärische  Hilfen 
geboten,  während  die  finanziellen  Lasten  überwiegend  von 
den  Niederlanden  getragen  wurden.  Ähnlich  kam  Deutsch- 
land mehr  als  Werbeplatz  in  Betracht,  während  Italien  zu- 
gleich seine  militärischen  wie  seine  finanziellen  Kräfte  her- 
geben mußte.*) 

Gut  beobachtet  ist  auch,  daß  die  finanzielle  Abhängig- 
keit des  Kaisers  von  den  Genueser  Kaufleuten  die  stärkste 
politische  Bindung  der  Republik  an  das  Interesse  des  Kaisers 
zur  Folge  gehabt  hat.®)  Der  Zusatz,  der  Kaiser  brauche 
deshalb  keine  Festung  in  Genua  zu  bauen,  richtet  sich  gegen 
den   namentlich    von    Ferrante    Gonzaga,    dem    damaligen 

1)  Capasso  a.  a.  O.  XXXI  352:  Auf  die  Kunde,  daß  in  Vene- 
dig Hungersnot  herrsche,  wird  1540  der  Ausfuhrzoll  stark  erhöht. 

«)  A.  a.  O.  XXX,  426. 

8)  Relazione  di  Napoli  di  Aloise  Lando  1580.  (Albferi,  Le  Rela- 
zioni  degli  ambasciatori  veneti  Ser.  II  Vol.  V470.) 

*)  Capasso  a.  a.  O.  XXXI,  392 sg. 

')  Häbler  a.  a.  O.  S.  282. 

•)  So  auch  schon  Badoero  in  seiner  Relation  über  den  Staat 
Karls  V.  und  Philipps  (Alb^ri  a.  a.  O.  Ser.  I  Vol.  III  208).  —  Vgl. 
R.  Ehren berg,  Das  Zeitalter  der  Fugger  (Anastatischer  Neudruck 
1912)  S.  352. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  481 

Governatore  Mailands  und  von  Figueroa,  dem  kaiserlichen 
Gesandten  in  Genua,  befürworteten  Plan,  der  Stadt  eine 
Festung  aufzuzwingen.^) 

An  den  Ausführungen  über  die  Rechtsprechung 
interessieren  die  über  das  Appellationswesen.  Dieses  war 
in  den  meisten  Staaten  Karls  V.  gut  geordnet.  In  Italien 
hatte  Neapel  nach  der  Justizreform  des  Vizekönigs  Toledo 
einen  fest  geregelten  Instanzenweg.  2)  Dagegen  gab  in  Mai> 
land  das  Eingreifen  des  Governatore  in  die  Jurisdiktion  des 
Senats  zu  Konflikten  Anlaßt),  und  für  die  Justiz  Siziliens 
war  gerade  die  Regelung  des  Berufungswesens  bis  in  die 
Zeiten  Philipps  eine  ungelöste  Frage,  da  die  Appellationen 
an  die  Gran  Corte  und  an  den  Vizekönig  konkurrierten.*) 
Die  Ausführungen  der  Instruktion  scheinen  sich  aber  auf 
noch  unfertigere  Verhältnisse  zu  beziehen,  wie  sie  etwa  in 
den  absolutistischen  kleinen  Fürstenstaaten  Italiens  bestan- 
den.  Dahin  deutet  auch  das  ihr  vorschwebende  primitive 
Verfahren,  wonach  der  Herrscher  bei  jeder  einzelnen  Be- 
rufung nach  Belieben  die  neuen  Richter  bestellt.^) 

In  der  Instruktion  heißt  es,  über  Familie  und  Hof 
habe  Karl  seinen  Sohn  schon  ein  anderes  Mal  informiert. 
Wo  Karl  V.  in  den  Instruktionen  vom  5.  November  1539, 
vom  4.  Mai  1543,  vom  18.  Januar  1548  von  Philipps  An- 
gehörigen spricht,  geschieht  es  fast  ausschließlich  mit  Bezug 
auf  seine  Ileiratspolitik,  die  natürlich  ein  jedesmal  wieder 
andere  Projekte  zeitigt;  daher  wäre  es  verwunderlich,  wenn 
er  in  diesem  letzten  Testament  darüber  schwiege.  Über  seine 
Ratgeber  hat   Karl  seinem   Sohn  in  dem   Schreiben  vom 


1)  F.  Donaver,  La  Storia  della  Repubblica  di  Genova  1913 
Vol.  II  S.  208. 

*)  Ranke,  Die  Osmanen  und  die  spanische  Monarchie  im  16. 
und  17.  Jahrhundert  (S.  W.  35/36  S.  227).  —  P.  Giannone,  Istoria 
Civile  de^Kegno  di  Napoli  (Milano  1823)  Vol.  1X266—284. 

3)  Ranke  a.  a.  0.  S.  236  f.  —  Relation  des  Anonymus  von  1587 
(bei  Alb^ri  a.  a.  O.  Ser.  II  Vol.  II,  494. 

*)  Ranke  a.  a.  O.  S.  212.  —  Capasso  a.  a.  O.  XXXI,  15  sg. 

*)  Bei  Giannone  IX,  142  finde  ich  für  Neapel  eine  Parallele: 
wenn  bei  dem  Vizekönig  gegen  Entscheidungen  des  Auditor  generale, 
der  die  Militärgerichtsbarkeit  unter  sich  hatte,  Berufung  eingelegt 
wurde,  setzte  er  nach  Belieben  neue  Richter  ein. 


L 


482  E.  W.  Mayer, 

6.  Mai  1543  vertrauliche  Mitteilungen  gemacht. i)  Die  Be- 
kanntschaft mit  diesen  ist  aber  bei  dem  Verfasser  unserer 
Instruktion  völlig  ausgeschlossen,  er  hätte  sonst  in  den  Aus- 
führungen über  den  Fürstendienst  genauere  Kenntnisse 
verraten  müssen. 


Was  über  das  Kriegswesen  gesagt  wird,  klingt  viel- 
fach an  an  Sätze,  die  den  Theoretikern  des  16.  Jahrhunderts 
geläufig  und  gerade  in  Italien  durch  Machiavellis  Arte 
della  guerra  verbreitet  waren.  Mit  diesem  Werke  teilt  die 
Instruktion  die  Sorge  vor  der  Unbrauchbarkeit  zu  großer 
Heere^),  wenn  sie  auch  über  die  von  Machiavelli  nach  dem 
Muster  der  Alten  empfohlene  Zahl  von  25 — 30000  Mann 
hinausgeht  und  30000  Mann  zu  Fuß,  4000  zu  Pferd  als  Normal- 
größe festsetzt.  Diese  Summen  kommen  der  durchschnitt- 
lichen Truppenzahl  der  Heere  Karls  V.  nahe,  wenn  auch 
die  Kavallerie  meist  einen  größeren  Anteil  hatte.  Bei  Pavia 
betrug  das  kaiserliche  Heer  nicht  viel  über  20000  Mann. 3) 
1527  zogen  gegen  Rom  22000  Mann,  während  12000  unter 
de  Leyra  in  Bologna  zurückblieben.^)  Im  schmalkaldischen 
Krieg  hatte  der  Kaiser  etwa  45000  Mann  zu  Fuß  und  10000 
Reiter  zur  Verfügung^),  die  Schlacht  bei  Mühlberg  wurde 
von  23000  Mann  zu  Fuß  und  6300  Reitern  geschlagen.*) 

Schon  Machiavelli  hatte  an  der  üblichen  Schlacht- 
ordnung jener  Zeit  die  mangelnde  Gliederung  getadelt 
und  eine  Aufstellung  gefordert,  die  es  den  hinteren  Treffen 
ermögliche,  an  die  Stelle  der  vorderen  zu  treten  und  sie  auf- 
zunehmen, ohne  von  ihrem  Rückzug  mitgerissen  zu  werden. 
Unsere  Instruktion  bringt  den  gleichen  Einwand.  Die  Auf- 
stellung in  triangulo,  die  sie  statt  der  üblichen  vorschlägt, 


1)  Forsch,  z.  deutsch.  Gesch.  III,  299  f. 

^)  Vgl-  Jahns,  Geschichte  der  Kriegswissenschaften  I  (1889)  466. 

3)  Häbler,  Die  Schlacht  bei  Pavia  (Forsch,  z.  deutsch.  Gesch. 
XXV  516). 

*)  Pastor,  Geschichte  der  Päpste  IV2*,  248. 

^)  Bericht  Vitellos  vom  15.  September  1546  (Nuntiaturberichte 
aus  Deutschland,  I.  Abtlg.   IX,  252). 

«)  Lenz,  Die  Schlacht  bei  Mühlberg  (1879)  S.  100 f.  —  Bericht 
Concinos  vom  20.  April  1547  (Nuntiaturberichte  IX,  675). 


I 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  483 


gehört  zum  eisernen  Bestand  der  Kriegstheorie  des  16.  Jahr- 
hunderts.^) 

Seit  1528  stand  die  Flotte  des  Genuesen  Andrea  Doria 
in  kaiserlichen  Diensten  und  bildete  den  Kern  der  Marine 
Karls  V.  Die  Hemmungen,  die  jedes  Kondottierewesen  der 
kriegerischen  Energie  setzt,  waren  auch  hier  nicht  ausge- 
blieben. Insbesondere  hatten  die  Vorgänge  bei  Prevesa  im 
Jahre  1538  —  die  versäumte  Gelegenheit  eines  Kampfs 
gegen  Barbarossa  —  zu  schweren  Vorwürfen  gegen  Andrea 
Doria  Anlaß  gegeben. 2)  Es  wurde  deshalb,  wie  auch  in 
unserer  Instruktion,  vielfach  gefordert,  daß  die  Flotte  in 
straffere  Abhängigkeit  vom  Kaiser  käme,  daß  sie  verstaat- 
licht würde. ^) 

In  der  Wertung  der  Festungen  hält  es  der  Verfasser 
mehr  mit  den  geringschätzigen  Urteilen  Machiavellis  als 
mit  der  Praxis  Karls  V.*)  Karl  V.  hat  gerade  in  Italien 
besonderen  Wert  darauf  gelegt,  die  Festungen  in  seiner 
Hand  zu  haben.  Nach  1529  gab  er  dem  Herzog  von  Mailand 
die  Kastelle  in  Mailand  und  Como  lange  Zeit  nicht  heraus, 
nach  dem  Frieden  von  1538  hielt  er  die  Festungen  in  Piemont 
besetzt.  Der  Anlaß  des  Aufstandes  von  Siena  war  der  Bau 
eines  Kastells.  Eine  Festung  in  Genua,  die  die  Instruktion 
für  entbehrlich  hält,  ist  tatsächlich  von  Karl  geplant  gewesen. 

Für  die  merkwürdigen  Vorschläge  zur  Finanzierung 
eines  Heeres  fehlen  mir  Parallelen.  Von  der  Aufbringung 
der  Kosten  eines  Krieges  ist  in  den  theoretischen  Schriften 
der  Zeit  wenig  die  Rede. 

Ein  schwer  lösbares  Rätsel  gibt  uns  die  Instruktion 
auf  mit  dem  Hinweis  auf  verschiedene  Aufzeichnungen 
Karls  V.  über  Fragen  der  Kriegskunst.  Verdacht  erregen  muß, 
daß  die  deutsche  und  die  französische  Version  bloß  an  vier 


1)  Vgl.  z.  B.  den  Traktat  Vallo  des  Valle  di  Venafro  (Venezia 
1550)  f 01^39—41. 

2)  Manfroni,    Storia   della   marina   italiana    III,    Roma    1897, 
325  sgg. 

3)  Relation  Badoeros  von  1557    (Aiberi  a.  a.  O.  Ser.  I  Vol.  III 
288). 

*)  Edward   Armstrong,   The   emperor   Charles  V.   (1910)   Vol. 
11,287. 


484  E.  W.  Mayer, 

bzw.  drei  Stellen  auf  solche  Papiere  Bezug  nehmen,  während 
sie  in  den  uns  bekannten  italienischen  Redaktionen  zehnmal 
zitiert  werden.  Uns  ist  von  solchen  Aufzeichnungen  Karls  V. 
nichts  erhalten.  1)  Es  existiert  ein  Reglement  für  die  Artil- 
lerie —  wohl  das  erste  dieser  Art  — ,  das  Karl  am  5.  April 
1551  erließ.2)  Aber  das  damit  bekundete  Interesse  für  diese 
Waffe  paßt  schlecht  zu  ihrer  geringschätzigen  Beurteilung 
an  der  Stelle,  wo  die  Instruktion  eine  solche  artilleristische 
Abhandlung  Karls  V.  zitiert.  3) 

Bei  der  Besprechung  des  Türkenkrieges,  die  infolge 
ihrer  schulmäßigen  Disposition  besonders  matt  wirkt,  wird 
ein  Rat  gegeben,  der  den  früher  von  Karl  gegebenen  Direk- 
tiven diametral  widerspricht.  Im  Testament  von  1548 
erklärt  er  ausdrücklich,  daß  der  Türkenkrieg  in  Ungarn 
nach  Karls  Tod  Ferdinand  allein  überlassen  werden  müsse, 
daß  die  finanzielle  Lage  Spaniens  eine  Unterstützung  der 
österreichischen  Linie  nicht  erlaube.*) 

Ein  Kampf  zum  Schutz  der  Küsten  Italiens  mußte  vor 
allem  zur  See  geführt  werden,  wie  er  späterhin  tatsächlich 
geführt  worden  ist.  Von  diesem  Seekrieg  spricht  die  Instruk- 
tion nicht.    Auch  der  zukunftsreiche  Gedanke  einer  christ- 


^)  Die  von  Stübel  Mitteil.  d.  Instit.  f.  öst.  G.  33, 629  nach  einem  Zitat 
Kervyn  de  Lettenhoves  erwähnte  artilleristische  Abhandlung  Discorso 
de  Vartilkria  de  V  Imperator e  Carolo  V.  scritto  a  mano  1552  ist  wohl 
identisch  mit  dem  Discorso  del  Artilleria  del  Invictissimo  Emperador 
Carlo  V.  etc.  1552,  von  dem  Jahns  a.  a.  O.  I,  620  sagt,  daß  er  eine 
bloße  Beschreibung  des  Geschützmaterials  darstellt,  und  der  nach 
dem  Titel  gar  nicht  von  Karl  selbst  verfaßt  ist.  Vgl.  A.  Morel-Fatio, 
Historiographie  de  Charles-Quint  P.  I  (1913)  353. 

*)  Erwähnt  bei  Jahns  S.  751.  Ein  spanischer  Text  findet  sich 
im  Cod.  Vat.  lat.  7750  fol.  87a:  Instruicion  y  Horden  determinada  y  hecha 
por  el  emperador  sobre  la  conduta  del  general  y  officiales  de  su  artilleria 

en  sus  estados  de  flandes En  agusta  5  de  april  1551  despues  de 

pascua  firmada. 

3)  Die  von  Stübel  S.  629  erwähnte  Notiz  des  Jean  de  Silhou 
(Vorrede  zur  Abhandlung  des  Duc  Henri  de  Roban:  De  l'inter^t  des 
princes  et  estats  de  la  Chrestienk.  Paris  1658),  daß  Karl  bei  seiner 
Abdankung  seinem  Sohn  einen  Traiti  de  Vart  de  faire  la  guerre  über- 
geben habe,  wäre  daraufhin  zu  prüfen,  ob  sie  sich  nicht  auf  den  zweiten 
Teil  unserer  Instruktion  bezieht. 

*)  Papiers  d'etat  du  cardinal  de  Granvelle  (ed.  Weiß)  t.  III 
(1842)  275  suiv. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  485 

liehen  Liga  gegen  die  Türken  wird  als  unausführbar  ab- 
gelehnt. 

Die  ausgiebige  Behandlung  des  Türkenkriegs  in  Ungarn 
wird  verständlicher,  wenn  wir  uns  daran  erinnern,  daß  der 
Verfasser  des  Glaubens  lebt,  Philipp  erbe  die  gesamte  Macht 
seines  Vaters,  auch  seine  Stellung  in  Deutschland.  Die  Teil- 
nahme der  Spanier  an  den  ungarischen  Kriegen  wäre  ja 
auch  die  selbstverständliche  Folge  einer  Durchführung  des 
Sukzessionsplanes  gewesen,  i) 

Von  den  Vorgängen  bei  Landrecies  im  Jahre  1543 
wird  ein  Bild  entworfen,  das  mit  den  Tatsachen  nicht  in  Ein- 
klang zu  bringen  ist.  Karl  hat  den  Feldzug  erst  spät  im  Jahr 
beginnen  können,  da  er  den  Sommer  auf  den  Krieg  gegen 
den  Herzog  von  Cleve  verwandte.  Diesen  Kampf  scheint 
der  Verfasser  der  Instruktion  von  dem  französischen  nicht 
zu  scheiden;  denn  wenn  er  von  leicht  „eroberten"  Grenz- 
plätzen spricht,  kann  er  nur  Düren,  Jülich  u.  a.  meinen. 
Von  einer  Expedition  ins  Innere  Frankreichs  war  bei  der 
fortgeschrittenen  Jahreszeit  nicht  mehr  die  Rede.  Man  machte 
sich  an  die  Grenzfestungen,  vor  allem  an  Landrecies,  das 
die  Franzosen  im  Frühjahr  besetzt  hatten.  Gegen  Ende 
Oktober  erschien  König  Franz  in  der  Nähe  dieser  Stadt, 
und  es  gelang  ihm,  Verstärkungen  und  Proviant  in  die  be- 
lagerte Festung  zu  werfen.  Darauf  bezieht  sich  wohl  die 
Notiz  der  Instruktion,  daß  Franz  sich  verstärken  konnte. 
Wenn  sie  weiterhin  besagt,  Karl  sei  zum  Rückzug  gezwungen 
worden,  so  ist  daran  so  viel  richtig,  daß  er  die  Belagerung 
Landrecies  aufgeben  mußte  und  daß  ein  Kriegsrat  den  Rück- 
zug beschlossen  hatte. 2)  Aber  ehe  dieser  Beschluß  ausge- 
führt wurde,  trat  Franz  selbst  den  Rückzug  an,  und  Karl 
hat  den  Ausgang  des  Feldzugs  als  einen  persönlichen  Erfolg 
betrachtet:  Wenn  Franz  sich  rühmen  könne,  Landrecies 
Hilfe  gebracht  zu  haben,  werde  er  sagen  können,  daß  er 
ihn  in  die  Flucht  geschlagen  habe.^)  Gar  von  einem  Ver- 

I  1)  Ranke,  Deutsche   Geschichte  im  Zeitalter  der  Reformation 

'^S.  W.  5  S.  91). 

H       2)  Lanz,  Korrespondenz  Kaiser  Karls  V.    II  (Leipzig  1845)  408. 
"       3)  G.  de  Leva,  Storia  documentata  di  Carlo  V.    III  (Venezia 
1867)  495. 


486  E.  W.  Mayer, 

trag,  der  den  Rückzug  maskiert  habe,  ist  nirgends  etwas  zu 
finden. 

Ecliter  klingen  die  Bemerkungen  über  das  Verhältnis 
zum  Papsttum.  Daß  es  ihm  bei  der  Papstwahl  vor  allem 
darauf  ankomme,  daß  ein  dem  Wohl  der  Kirche  dienlicher 
Mann  gewählt  werde,  war  eine  von  Karl  gern  gebrauchte 
Redensart  1),  und  die  Praxis,  auf  den  gewählten  Papst 
durch  Anknüpfung  verwandtschaftlicher  Verbindungen  Ein- 
fluß zu  gewinnen,  hat  er  bei  Klemens  VII.  und  Paul  III. 
erprobt.  Die  Mahnung,  bei  einem  etwaigen  Konflikt  mit 
dem  Papsttum  die  Ursache  des  Kampfes  aller  Welt  bekannt 
zu  geben,  erinnert  an  die  große  Anklageschrift  von  1526, 
die  Alfons  de  Valdes  im  Auftrag  Karls  verfaßt  hat  und  Karl 
im  folgenden  Jahr  in  Spanien  und  Deutschland  drucken  ließ.^) 

Die  ausführliche  Behandlung  des  Krieges  mit  Venedig 
wird  nur  dadurch  verständlich,  daß  die  Instruktion  von  ita- 
lienischem Gesichtspunkt  aus  geschrieben  ist.  Denn  für 
Karl  V.  hat  dieser  Krieg  keine  Bedeutung  gehabt.  Venedig 
hat  nur  einmal  seine  vorsichtige  Neutralitätspolitik  auf- 
gegeben und  hat  sich  1526 — 1529  an  dem  italienischen  Un- 
abhängigkeitskrieg beteiligt.  Damals  hatten  sich  die  Vene- 
tianer  auch  in  Apulien  festgesetzt,  und  die  Regierung  von 
Neapel  rechnete  mit  einer  Wiederholung  dieses  Versuchs.^) 
Auch  die  Künste  der  Intrigue,  mit  denen  die  Spanier  die 
Unzufriedenheit  der  Terra  firma  gegen  Venedig  auszunutzen 
suchten,  sind  dem  Verfasser  der  Instruktion  bekannt.  An- 
gesichts des  drohenden  Krieges  zwischen  Kaiser  und  Papst 
im  Jahre  1547  wurde  der  Feindschaft  Venedigs  dadurch 
vorgebeugt,  daß  mit  dem  unzufriedenen  Adel  in  Crema, 
Bergamo  und  Brescia  von  Mailand  aus  Verbindungen  an- 
geknüpft wurden.*) 

Die  Bezeichnung  Italiens  als  des  Nervs  der  Macht 
Philipps   II.  muß  erstaunen.    Daß  in  Spanien  die  GewaR 

1)  Instruktion  für  Philipp  vom  18.  Januar  1548  (Papiers  d'^tat 
du  Cardinal  de  Granvelle  III  280).  —  Karls  Schreiben  an  das  Kardi- 
nalskollegium vor  der  Wahl  Julius'  III.  bei  Lanz  a.  a.  O.  II  639. 

2)  Baumgarten,  Geschichte  Karls  V.  112,520.  —  Pastor,  Ge- 
schichte der  Päpste  IVg,  242. 

8)  Relation  Badoeros  von  1557  (a.  a.  O.  p.  287). 
*)  Armstrong  a.  a.  O.  II,  183. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  487 

Karls  V.  am  sichersten  fundiert  war,  schien  nicht  zu  be- 
zweifeln. Ein  Streit  bestand  nur  über  die  Frage,  ob  Mailand 
oder  Flandern  vorzuziehen  sei  im  Falle,  daß  man  zwischen 
beiden  Ländern  zu  wählen  hätte. 

Die  Politik  des  divide  et  impera,  die  die  Instruktion 
neben  der  Freundschaft  mit  dem  Papst  als  die  sicherste 
Garantie  gegen  die  italienischen  Unabhängigkeitsgelüste  be- 
zeichnet, kann  nicht  als  das  hervorstechende  Charakteri- 
stikum der  italienischen  Politik  Karls  V.  gelten.  Vielmehr 
gibt  ihr  das  Gepräge  die  Bemühung,  jeden  der  italienischen 
Staaten  an  den  Kaiser  zu  fesseln,  sei  es  durch  verwandt- 
schaftliche Bande  —  so  Mantua  und  die  Medici  — ,  sei  es 
durch  besondere  Vergünstigungen:  den  Herzog  von  Ferrara 
durch  die  Entscheidung  über  Modena  und  Reggio  zu  seinen 
Gunsten,  Genua  durch  die  finanziellen  Beziehungen  und  die 
Verwendung  Andrea  Dorias  im  kaiserlichen  Dienst. i)  Ein 
derartig  gesicherter  Bund  mit  den  italienischen  Staaten  ist 
seit  der  Aufrichtung  der  spanischen  Hegemonie  nach  1529 
das  Ziel  der  italienischen  Politik  Karls  V.  gewesen. 2) 

Am  Schluß  wird  hinsichtlich  der  Angelegenheiten  Eng- 
lands, Deutschlands,  Flanderns  und  der  Schweiz  sowie  der 
einzelnen  italienischen  Staaten  auf  frühere  Mitteilungen  ver- 
wiesen. Von  England,  der  Schweiz  und  den  italienischen 
Staaten  hat  Karl  in  der  Instruktion  von  1548  gehandelt, 
nicht  aber  von  Flandern  oder  gar  von  Deutschland.  Zu  be- 
achten ist  auch,  daß  nach  der  Disposition  der  uns  vorliegenden 
Schrift  gar  nicht  die  gesamte  auswärtige  Politik,  sondern 
nur  die  Kriege,  die  Philipp  zu  führen  hat,  behandelt  werden 
sollen. 

IV. 

Die  Instruktion  weist  so  viele  Widersprüche  mit  den 
Tatsachen  und  mit  den  bekannten  Anschauungen  Karls  V. 
auf,  daß  ihre  Abfassung  durch  diesen  selbst  oder  auch  nur 
in  seinem  Auftrag  als  ausgeschlossen  erscheint.  Da  solche 
Unstimmigkeiten  die  ganze  Schrift  durchziehen  und  nirgends 


1)  Vgl.  die  Darlegungen  in  der   Instruktion  von   1548  (a.  a.  O. 
pag.  281  suiv.). 

2)  Armstrong  a.  a.  O.  11,295. 


488  E.  W.  Mayer, 

eine  unmittelbare  Vertrautheit  mit  den  politischen  Aufgaben 
Karls  V.  zutage  tritt,  halte  ich  auch  die  Annahme  für  un- 
durchführbar, daß  ein  echtes  Testament  zugrunde  liegt  und 
bearbeitet  wurde.  Am  meisten  auffallen  muß  ja  die  Er- 
wähnung früherer  Instruktionen  und  angeblicher  Denk- 
schriften über  die  Kriegskunst.  Was  die  letzteren  betrifft, 
haben  wir  oben  schon  unsere  Zweifel  geäußert,  und  auch  das, 
was  in  der  Instruktion  über  die  früheren  Testamente  gesagt 
wird,  deckt  sich  nicht  völlig  mit  deren  Inhalt.  Es  liegt  be- 
gründeter Verdacht  vor,  daß  es  sich  bei  diesen  Zitaten  nur 
um  ein  Stilmittel  handelt,  mit  dessen  Hilfe  der  Verfasser 
seinem  Elaborat  größere  Glaubwürdigkeit  zu  verschaffen 
sucht.  Sehr  wohl  möglich  ist  ja  auch,  daß  ein  Mann,  der 
Informationen  über  den  Hof  hatte,  von  dem  Vorhandensein 
früherer  Aufzeichnungen  wußte.  Was  im  besonderen  die 
Instruktion  von  1548  anlangt,  so  ist  sie  wenigstens  in  späteren 
Zeiten  in  Italien  abschriftlich  verbreitet  worden,  zuweilen 
auch  in  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  dem  angeblichen 
Testament  von  1555. 

Dieses  Pseudotestament  Karls  V.  hat  nun  große  Ähn- 
lichkeit mit  einer  Instruktion,  die  Philipp  II.  1598  kurz 
vor  seinem  Tod  an  seinen  Sohn  Philipp  III.  übergeben  haben 
soll,  und  von  der,  ebenfalls  in  Rom  und  mehrmals  in  Ver- 
bindung mit  dem  Pseudotestament  Karls  V.,  verschiedene 
italienische  Texte  aufgefunden  und  als  ein  echtes  Testament 
Philipps  II.  publiziert  worden  sind.^)  Auch  diese  Instruktion 
ist,  wie  die  unter  Karls  Namen  gehende,  charakterisiert 
durch  einen  sehr  moralisierenden  Ton  und  durch  eine  fast 
noch  größere  Fülle  an  Belegen  aus  der  Antike;  die  Helden 
der  antiken  Geschichte  von  Numa  Pompilius  bis  Augustus 
müssen  dem  Verfasser  Zeugnis  leisten.  Sie  ist  beträchtlich 
kürzer  als  jene,  sucht  aber  auch  alle  wichtigen  Fragen  der 
Staatskunst  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtungen  zu  ziehen. 

Von  dieser  angeblichen  Instruktion  Philipps  II.  glaubte 
man  nun  in  Simancas  den  spanischen  Originaltext  gefunden 


1)  Veröffentlicht  von  Gustav  Turba,  Arch.  f.  österr.  Gesch. 
Bd.  86  (1899)  S.  427—451  als  Anhang  zu  seinem  Aufsatz:  Beiträge  zur 
Geschichte  der  Habsburger. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  489 

ZU  haben. ^)  Der  Güte  von  Herrn  Professor  Dr.  Turba 
verdanke  ich.  den  Einblick  in  eine  Abschrift  des  Dokuments, 
um  das  es  sich  dabei  handelt.  Es  ist  weder  der  spanische 
Urtext  jener  in  italienischer  Sprache  überlieferten  Instruk- 
tion, noch  das  wirkliche  Testament,  sondern  ein  Zusatz  zu 
diesem,  der  vom  5.  August  1598  datiert  i?t  und  an  dessen 
Echtheit  nicht  zu  zweifeln  ist.^)  Das  Testament,  auf  das  es 
sich  ausdrücklich  an  zwei  Stellen^)  bezieht,  muß  einige 
Jahre  vorher  verfaßt  sein,  ist  also  wohl  das  vom  7.  März 
1594,  von  dem  Turba  ein  paar  Stücke  mitteilt.*)  Jedenfalls 
ergibt  sich  aus  dieser  Aufzeichnung  vom  5.  August  1598 
mit  Sicherheit,  daß  1598  kein  neues  Testament  erlassen  wurde, 
daß  also  die  in  italienischer  Sprache  überlieferte  Instruktion, 
die  die  Eroberung  Ferraras  erwähnt  und  nach  Turbas  Mei- 
nung nur  im  Juni  oder  Juli  1598  entstanden  sein  könnte, 
nicht  echt  ist.  Zugleich  zeigt  der  Inhalt  dieses  spanischen 
Schreibens  —  Philipp  empfiehlt  seinem  Sohn,  Portugal  gut 
zu  behandeln  und  seine  Privilegien  zu  wahren,  bespricht  die 
Angelegenheiten  zweier  Priorate  des  Johanniterordens,  be- 
zieht sich  auf  eine  seinem  Sohn  bekannte  Verordnung  für 
das  consejo  und  rät  ihm,  die  ursprünglich  nur  für  die  Zeit 
seiner  Minderjährigkeit  bestimmte  Junta  beizubehalten  — , 
wie  weit  ein  von  konkreten  Institutionen  und  Aufgaben  han- 
delndes echtes  Testament  von  den  allgemeinen  und  ab- 
strakten Ermahnungen  jenes  Pseudotestaments  entfernt  ist. 

1)  Turba  a.  a.  O.  S.  453. 

2)  Consejos  de  Filipe  II  ä  su  hijo  Felipe  III.    Fecha  5  de  agosto 
de  1598  (Archfvo  General  de  Simancas  Patronato  Real  Legajo  2  fol.  12). 

^)  Die  erste  dieser  Stellen,  zugleich  der  Anfang  des  Schriftstücks, 
lautet:  En  mi  testamento  cerrado  ay  una  clausula,  en  que  mando,  que 
qualquier  papel  {aunque  sea  suelto),  que  pareciere  firmado  de  mi  mano 
en  materia  que  träte  de  algo  que  toque  a  mi  ultima  disposigion,  tenga  la 
fuerga  que  el  nuismo  testamento;  y  assi  quiero  que  la  tenga,  lo  que  en  este 
papel  se  signe.  —  An  der  zweiten  Stelle  heißt  es:  De  la  Junta,  que  se 
tiene  en  presengia  del  Pringipe  mi  hijo,  y  de  lo  que  se  haze  en  ella,  ha 
resultado  y  resulta  macho  servigio  de  Dios  y  bien  destos  reynos,  como 
mi  hijo  mismo  puede  averlo  echado  bien  de  ver;  y  por  entenderlo  yo  assi 
ordene  en  mi  testamento  cerrado,  que  faltando  yo  se  continuasse,  hasta 
que  el  Pringipe  huoiesse  cumplido  los  20  anos,  advirtiendole  juntamente, 
que  aun  despues  dellos  se  hallaria  muy  bien  con  esta  ayuda  en  todo  tiempp. 
*)  A.  a.  O.  S.  414. 
Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd  32 


490  E.  W.  Mayer, 

Da  auch  hier  mehr  von  Italien  als  von  Spanien  die 
Rede  ist  und  die  Überlieferung  nach  Italien  weist,  wird  auch 
diese  Fälschung  des  Testamentes  Philipps  II.  auf  italienischem 
Boden  entstanden  sein. 

Man  könnte  nun  versucht  sein,  zu  glauben,  daß  beide 
Fälschungen  auf  denselben  Mann  zurückgehen.  Das  ist  je- 
doch ausgeschlossen,  weil  wir  feste  Anhaltspunkte  für  die 
Datierung  haben  und  danach  die  Entstehung  des  Testa- 
mentes Karls  V.  kaum  später  als  1555  ansetzen  dürfen.  Es 
ist  in  der  Meinung  geschrieben,  daß  Philipp  die  Gesamt- 
macht seines  Vaters  erbe.  Diese  Vorstellung  konnte  nach 
der  rechtsgültigen  Übertragung  des  Kaisertums  auf  Ferdinand 
im  Frühjahr  1558  nirgends  mehr  bestehen.  Aber  auch  in 
den  Jahren  1556  und  1557  ist  ihre  Existenz  angesichts  der 
Handlungen  und  Versicherungen  Karls  nicht  wahrscheinlich,  i) 

Dazu  kommt  ein  Zweites:  die  ironischen  Ausführungen 
über  das  Papsttum  können  schwerlich  nach  einer  Zeit  ge- 
schrieben sein,  in  der  jenes  in  den  offenen  Kampf  mit  Spa- 
nien eintrat,  also  nicht  nach  dem  Sommer  1556. 

Wir  sind  sogar  gezwungen,  noch  hinter  das  Datum,  an 
dem  die  Instruktion  selbst  erlassen  zu  sein  vorgibt  (Oktober 
1555),  zurückzugehen  und  anzunehmen,  daß  ein  erster  Ent- 
wurf schon  im  Winter  1554/55  verfaßt  worden  ist.  Es  wird 
an  zwei  Stellen  gesagt,  Philipp  müsse  für  die  Wieder- 
gewinnung Sienas  sorgen  und  Siena  ist  tatsächlich  schon  im 
April  1555  wiedererobert  worden.  Wenn  wir  nun  nicht  zu 
der  schwer  durchführbaren  Hypothese  greifen  wollen,  daß 
der  Schreiber  der  Instruktion  sich  bewußt  auf  einen  früheren 
Standpunkt  zurückversetzt,  müssen  wir  annehmen,  daß  sie 
im  Winter  1554/55,  also  zu  einer  Zeit,  wo  man  von  den  Rück- 
trittsabsichten Karls  V.2)  schon  Kunde  hatte,  entworfen 
und  später,  auf  die  Nachricht  von  dem  feierlichen  Akt  der 
Abdikation,  mit  der  jetzigen  Einleitung  versehen  worden  ist. 
Einer  solchen  späteren  Redaktion  müßte  auch  die  Erwähnung 


1)  Gachard,  Retraite  et  mort  de  Charles- Quint  I  138. 
*)  Das  Gerücht  hiervon  war  im  August  1554  schon  in  ganz  Kasti- 
lien  verbreitet ;  vgl.  den  Brief  Ortegas  bei  Gachard  a.  a.  O.  1 45. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  491 

der  Einnanme  von  Casale  durch  die  Franzosen^)  angehören, 
die  im  März  1555  erfolgte. 

Wenn  wir  nach  dem  Zweck  fragen,  den  der  Verfasser 
mit  seiner  Fälschung  verfolgte,  so  ist  zunächst  festzustellen, 
daß  keinerlei  politische  Tendenz  aufzufinden  ist.  Der  lehr- 
hafte Ton  und  das  Bestreben,  das  ganze  Gebiet  der  Staats- 
kunst zu  durchmessen,  deuten  darauf,  daß  der  Verfasser 
eine  allgemeine  Lehrschrift,  einen  Fürstenspiegel,  liefern  will. 
Der  Untertitel  der  meisten  Handschriften  lautet  ja  auch: 
„Worin  enthalten  ist,  wie  man  in  Friedens-  und  Kriegszeiten 
die  Regierung  zu  führen  hat."  Dann  hätte  der  Fälscher 
seinen  Traktat  in  die  Form  einer  Ansprache  Karls  V.  an 
seinen  Sohn  gekleidet,  um  ihm  damit  größere  Beachtung  und 
Autorität  zu  sichern. 

Das  kürzere  Testament  Philipps  II.  für  Philipp  III. 
läßt  noch  eine  andere  Vermutung  aufkommen:  daß  der 
Schreiber  nicht  so  sehr  ein  Lehrer  als  ein  Schüler  war,  der 
diesen  Stoff  als  Stilübung  wie  ein  Aufsatzthema  behandelte 
und  mit  möglichst  viel  gelehrten  Reminiszenzen  schmückte. 2) 
Gegen  diese  Annahme  spricht  aber  wenigstens  bei  dem  Te- 
stament Karls  V.  die  Sorglosigkeit,  mit  der  gerade  der  Stil 
behandelt  ist,  und  der  Umstand,  daß  die  darin  verwerteten 
Kenntnisse  doch  einen  erfahreneren  Mann  voraussetzen. 

Die  Feststellung  des  Verfassers  ist  außerordenthch 
erschwert.  Es  fehlt  jede  Tradition,  wie  ich  überhaupt  keine 
Erwähnung  der  Schrift  finde.  Der  Mangel  an  einer  festen 
politischen  Tendenz  macht  das  Mittel,  das  bei  solchen  Fäl- 
schungen in  erster  Linie  dazu  dienen  muß,  dem  Fälscher 
auf  die  Spur  zu  kommen,  unanwendbar.  Wohl  verraten  die 
fast  ausschließlich  der  italienischen  Politik  entnommenen 
Belege  die  italienische  Nationalität  oder  zum  mindesten 
die  besondere  Vertrautheit  des  Verfassers  mit  italienischen 
Verhältnissen,  die  zahlreichen  Beispiele  aus  der  Antike  seine 

1)  Vgl.  oben  S.  473. 

*)  Im  Vatikanischen  Archiv  findet  sich  Var.  Politic.  XVI  fol.  17 
■—28  (Misceil.  Arm.  II,  16)  ein  Discorso  cd  Re  Filippo  per  la  rinunzia 
fatta  da  Carlo  V.,  dessen  Schrift  auf  dieselbe  Hand  deutet  wie  die  der 
Cod.  barb.  lat.  5235.  Hier  handelt  es  sich  offensichtlich  um  eine  Stil- 
übung. 

32* 


492  E.  W.  Mayer, 

humanistische  Schulung,  wobei  allerdings  einige  Unbeholfen- 
heiten des  Stils  verwunderlich  bleiben.  Aber  das  Material 
an  Erfahrungen  und  Vorstellungen,  das  die  Instruktion  ent- 
hält, weist  auf  keine  bestimmte  Fährte.  Die  Schrift  kann 
ebensogut  in  Rom  oder  Venedig  wie  in  Mailand  entstanden 
sein;  wir  wiesen  darauf  hin,  daß  dem  Verfasser  zuweilen  Ver- 
hältnisse vorzuschweben  scheinen,  wie  sie  in  den  kleineren 
italienischen  Staaten  anzutreffen  sind.  Es  findet  sich  nichts, 
was  ein  Mann,  der  nur  einige  Fühlung  mit  pohtischen  Per- 
sönlichkeiten hatte,  nicht  wissen  konnte.  Der  einzige  Vor- 
gang, der  etwas  detaillierter  geschildert  wird,  sind  die  Kämpfe 
um  Landrecies,  und  diese  Schilderung  kann  unmöglich  von 
einem  Augenzeugen  geschrieben  sein.  Es  ergibt  sich  nur  so 
viel  daraus,  daß  der  Verfasser  zu  einem  der  Mitkämpfer, 
unter  denen  viele  Italiener  waren i),  Beziehungen  hatte  und 
dessen  Erzählung  nach  dem  Gedächtnis  ungenau  wiedergibt. 
Aber  wir  dürfen  den  Verfasser  auch  nicht  in  zu  großer 
Entfernung  von  den  politisch  wirksamen  Kreisen  suchen. 
Seine  Schrift  beweist,  daß  er  einen  guten  Überblick  über  die 
Aufgaben  des  Staates  in  Italien  hatte.  Über  die  Zollpolitik 
in  Sizilien  weiß  er  ebenso  Bescheid  wie  über  die  Mängel 
der  Seerüstung  des  Kaisers,  über  die  finanzielle  Abhängig- 
keit Genuas  ebenso  wie  über  die  wunden  Punkte  Venedigs 
und  Neapels  in  einem  etwaigen  Kampfe.  Wenn  man  sich 
überhaupt  auf  Vermutungen  einlassen  will,  so  würde  ich 
den  Verfasser  am  ehesten  in  dem  Kreise  jener  humanistisch 
gebildeten  Sekretäre  suchen,  die  im  Dienste  italienischer 
Politiker  verwandt  wurden,  oder  in  der  ihnen  verwandten 
Gruppe  politisierender  Literaten,  wie  wir  sie  etwa  in  Venedig 
finden,  von  wo  Ende  der  50er  und  in  den  60er  Jahren  die 
ersten  italienischen  Schriften  über  Karl  V.  ausgingen.  2) 


1)  Nach  Alfonso  Ulloa,  Vita  di  Ferrante  Gonzaga  (Venezia 
1563)  pag.  119  war  im  Feldzug  von  1543  Ferrante  Gonzaga  luogote- 
nente  und  capitano  generale,  Camillo  Colonna  und  Antonio  Doria 
führten  die  4000  Italiener,  Stefano  Colonna  war  Maestro  di  Campo, 
Giangiacomo  Medici  leitete  die  Artillerie,  Francesco  d'Este  die  Ka- 
vallerie. 

*)  Morel-Fatio  a.  a.  O.  pag.  123—154. 


Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555.  493 

Von  dieser  Annahme  aus  würde  auch  leichter  erklärt 
werden  können,  wie  das  Testament  in  den  Handel  gebracht 
worden  ist.  Seit  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  wurden  die 
Relationen  der  venetianischen  Gesandten  für  Fürsten  und 
Politiker  kopiert. i)  Unter  solche  Kopien  fanden  wir  die 
Fälschung  am  häufigsten  eingereiht.  — 

Als  gesichert  kann  einstweilen  nur  so  viel  gelten: 
Das  unter  dem  Namen  Ragionamento  (Parlamento)  di  Carlo  V. 
imperatore  al  re  Filippo  suo  figliuolo  nella  consegnatione  del 
governo  de'  suoi  statt  et  regni  handschriftlich  vielfach  ver- 
breitete politische  Testament  Karls  V.  ist  eine  um  das  Jahr 
1555  in  Italien  verfaßte  Fälschung,  die  keine  bestimmten 
politischen  Zwecke  verfolgt,  sondern  offenbar  als  Lehrschrift 
der  Staatskimst  gedacht  ist.  Eine  italienische  Fälschung 
ähnlicher  Art  ist  auch  das  Philipp  II.  zugeschriebene  Testa- 
ment von  1598.2) 

Italien  darf  sich  rühmen,  wie  die  humanistische  Historio- 
graphie auch  die  humanistische  Quellenfälschung  ins  Leben 
gerufen  zu  haben. ^)  Es  hat,  wie  wir  jetzt  sehen,  mit  diesen 
beiden  Testamenten  Karls  V.  und  Philipps  II.  auch  jene 
Reihe  von  Fälschungen  politischer  Testamente  eröffnet,  die 
eine  eigene  Gruppe  der  modernen  GeschichtsHteratur  dar- 
stellen. Den  Verfassern  dieser  beiden  Fälschungen  wird  man 
aber  mildernde  Umstände  zubilligen  dürfen,  wenn  man  an 
ihre  Nachfolger  denkt.  Als  Courtily  de  Sandras  die  Testa- 
mente Colberts  und  Louvois',  als  der  Abbe  Chevremont  das 
Testament  Herzog  Karls  V.  von  Lothringen  fälschten, 
handelten  sie  aus  Gewinnsucht :  durch  den  buchhändlerischen 
Erfolg  oder  durch  die  Vertretung  der  Interessen  einer  poli- 
tischen Macht  hofften  sie  Geschäfte  zu  machen.*)  Den  beiden 


1)  Alb^ri  a.  a.  O.  Appendice  pag.  XII. 

2)  Nach  dem  Tode  Philipps  II.  sind  in  Italien  wie  auch  in  Frank- 
reich eine  Reihe  von  Testamenten  auf  seinen  Namen  gefälscht  worden. 
(Gütige  Mitteilung  von  Professor  Morel-Fatio.) 

3)  E.  Fueter,  Geschichte  der  neueren  Historiographie  (1911) 
S.  135. 

*)  R.  Koser,  Das  Politische  Testament  Karls  V.  von  Lothringen 
von  1687  (H.  Z.  48  S.  75,  81). 


494    E.  W.  Mayer,  Das  politische  Testament  Karls  V.  von  1555. 

Italienern  ist  von  politischer  Liebedienerei  nichts  nachzu- 
weisen, und  falls  ihnen  ihre  Manuskripte  überhaupt  einen 
finanziellen  Ertrag  geliefert  haben,  kann  er  nur  gering  ge- 
wesen sein.  Jedenfalls  zeugen  ihre  Elaborate  von  dem 
wissensstolzen  Drang  zur  Belehrung,  wie  sie  dem  Humanis- 
mus eigen  ist,  und  zugleich  von  der  politischen  Phantasie, 
der  Neigung  zum  ragionamento,  die  die  italienische  Renais- 
sance gezeitigt  hat. 


J 


Literaturberidit. 


Edmund  Burke  in  Deutschland.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des 
historisch-politischen  Denkens.  Von  Frieda  Braune.  (Hei- 
delberger Abhandlungen  zur  mittleren  und  neueren  Ge- 
schichte, begr.  V.  Erich  Marcks  u.  Dietr.  Schäfer,  herausg. 
V.  Karl  Hampe  u.  Herm.  Oncken,  Heft  50.)  Heidelberg, 
Carl  Winter.     1917.    X  u.  227  S.    7,70  M. 

Den  reichen  Anregungen,  die  von  Meineckes  „Weltbürger- 
tum" ausgingen,  verdanken  wir  bereits  eine  ganze  Literatur. 
Dinge,  die  dort,  in  einen  großen  Zusammenhang  gestellt,  natur- 
gemäß etwas  summarisch  behandelt  werden  mußten,  finden 
nach  und  nach  eine  selbständige  und  ins  einzelne  gehende 
Untersuchung.  Das  braucht  keineswegs  nur  Kärrnerarbeit  zu 
sein.  Und  wenn  in  der  vorliegenden  Arbeit  eine  Schülerin 
Hermann  Onckens  das,  was  Meinecke  über  die  Wirkung  Burkes 
auf  die  deutschen  politischen  Denker,  vor  allen  auf  Adam 
Müller,  sagt,  nach  allen  Seiten  hin  ausbaut,  so  dürfen  wir  an- 
standslos urteilen,  daß  sie  das  mit  feinem  Verständnis  und 
gutem  Ergebnis  tut. 

Nach  zwei  einleitenden  Kapiteln  über  die  in  Deutschland 
erschienenen  Übersetzungen  Burkescher  Schriften  und  über 
die  Diskussion  seiner  Ansichten  in  der  damaligen  deutschen 
Zeitschriftenliteratur  werden  der  Reihe  nach  jene  vier  Männer 
behandelt,  deren  politische  Entwicklung  unter  dem  entschei- 
denden Einfluß  Burkescher  Ideen  sich  vollzog  und  die  vor 
allen  anderen  Burkes  Ideen  weiterverbreiteten,  sie  dabei  im 
einzelnen  vielfach  umbildend:  Brandes,  Rehberg,  Friedrich 
Gentz,  Adam  Müller. 


496  Literaturbericht. 

Wenn  jede  der  behandelten  Persönlichkeiten  als  politischer 
Denker  eine  individuelle  Note  besitzt,  so  hängt  das  mit  der 
ganzen  menschlichen  Eigenart  dieser  Personen  und  ihrem 
Werdegange,  den  Einflüssen,  die  auf  sie  wirkten,  und  den 
Erfahrungen,  welche  sie  machten,  zusammen.  In  sehr  feiner 
Weise  analysiert  die  Verfasserin  die  äußeren  Bedingungen  der 
politischen  Ideenbildung  bei  den  einzelnen  Denkern:  das  soziale 
Milieu,  in  dem  sie  erwachsen,  die  theoretischen  Anschauungen, 
von  denen  sie  berührt  werden,  die  Beobachtungen,  die  sie  in 
der  praktischen  Politik  machen,  endlich  die  großen  politischen 
Ereignisse,  unter  deren  Eindruck  sie  stehen.  Dagegen  vermißt 
man  —  um  so  mehr  als  auch  ein  Register  fehlt,  welches  das 
Auffinden  des  sachlich  Zusammengehörigen  erleichtern  würde, 
—  ein  Schlußkapitel,  das  die  entscheidenden  geistigen  Zu- 
sammenhänge, nach  sachlichen  Kategorien  geordnet,  vorge- 
führt hätte,  wobei  dann  die  Einzelpersönlichkeiten  im  Fluß 
einer  großen  Ideenbewegung  stehend  erschienen  wären.  Zur 
Einführung  in  letzte  geistige  Grundlagen  hätte  etwa  eine  Unter- 
suchung gedient,  die  von  den  Wandlungen  ausgegangen  wäre, 
welche  der  ,,Natur**begriff  im  Zusammenhang  mit  der  Wand- 
lung der  gesamten  Weltanschauung  damals  durchmachte. 
Der  abstrakte  Naturbegriff  der  Aufklärung  —  abstrakt,  einmal 
weil  er  von  der  (wahrhaft  natürlichen)  organischen  Verbunden- 
heit des  Menschen  mit  seiner  sozialen  und  politischen  Umwelt 
künstlich  absah,  sodann  weil  er  durch  reine  Vernunftspeku- 
lation und  -konstruktion  zu  ermitteln  suchte,  was  „Natur" 
sei,  sodaß  das  sog.  Naturrecht  vielmehr  ein  von  der  natür- 
Hchen  Wirklichkeit  künstlich  absehendes  reines  Vernunftrecht 
darstellte,  —  dieser  abstrakte  Natiirbegriff  der  Aufklärung, 
insbesondere  Rousseaus  (auch  die  Physiokraten  gehören  hier- 
her), wird  verdrängt  durch  den  neuen,  konkreten,  am  unmittel- 
baren Leben  gebildeten  Naturbegriff,  der  nun  seinerseits  in 
dem  sich  „natürüch"  dünkenden  Rationalismus  nur  noch 
„Metaphysik",  ja  vollendete  Unnatur  und  Widernatur  er- 
blickt, —  eine  künstliche  Vergewaltigung  der  Natur  durch  die 
reine  Vernunft.  Dieser  neue  Naturbegriff  widerstrebt  grund- 
sätzHch  einer  Rationalisierung  des  Irrationalen,  er  will  gerade 
das  Irrationale  pflegen  (s.  Burkes  ,,Urgefühle  der  Natur": 
S.  107,    110)  und   betont  darum  das   Unbewußte,   Triebhafte 


Allgemeines.  497 

im  Gegensatz  zum  Menschlichen  als  dem  persönlich  Bewußten. i) 
Diese  Tendenz  erzeugt  bei  einzelnen,  z.  B.  bei  Brandes,  eine 
gewollt  unphilosophische,  ja  philosophiefeindliche  Stimmung 
(S.  78,  107).  Man  will  das  wirkliche  Leben  in  seiner  Unmittel- 
barkeit und  Fülle  (Burke,  Brandes;  S.  104),  in  seiner  natür- 
lichen Einheit  und  Ganzheit,  in  seiner  .„Totalität"  (Adam 
Müller)  erfassen,  und  man  wendet  sich  hinweg  von  jenen  wider- 
natürlichen Trennungen,  die  ohne  Verständnis  das  organisch 
Zusammengehörige  begrifflich  zerreißen  (S.  186).  Dieser  über 
den  alten  Naturalismus  sich  erhebende  Biologismus  (der  u.  a. 
auch  Burkes  ästhetische  Theorie  bestimmt)^)  läßt  einen 
Gegensatz  zwischen  ,, Natur"  und  ,, Geschichte",  wie  er  der 
Aufklärung  geläufig  gewesen  war,  nicht  mehr  bestehen,  weil 
der  neue  Naturbegriff  selbst  bewußt  irrational,  ja  antirational 
gerichtet  ist.  Der  Naturbegriff  erscheint  historisiert  und  der 
Begriff  der  Geschichte  naturalisiert.  Burke  erblickt  in  der 
Geschichte  nicht  eine  Entwicklung  zu  höheren  Stufen,  sondern 
eher  eine  Wiederkehr  des  Gleichen,  wie  sie  die  Natur  kennen 
lehrt:  er  sieht,  wie  das  Ganze,  unter  den  ewig  wechselnden 
Gestalten  von  Verfall  und  Untergang,  Erneuerung  und  Wachs- 
tum, in  einem  Zustande'  unwandelbarer  Gleichförmigkeit  fort- 
lebt und  dahintreibt"  (zit.  S.  197);  in  allen  Jahrhunderten 
findet  er  die  gleichen  Kräfte  wirksam,  nur  die  Formen  ihres 
Auftretens  wechseln  (S.  200).  Das  ergibt  dann  freiüch  leicht 
eine  recht  melancholische  Vorstellung  vom  unvermeidlichen 
Auf  und  Nieder  im  Schicksal  der  Staaten,  —  eine  Geschichts- 
auffassung, die  Adam  Müller  als  „heidnisch"  verwirft  (S.  194; 
vgl.  auch  226).  Ihm,  dem  „Natur"  und  „Gott"  ein  und  das- 
selbe sind,  ist  der  Staat  ein  Natürliches  und  ein   Göttliches 


1)  Ähnlich  neuestens  Kjell^n  in  seinem  Buch  „Der  Staat 
1  als  Lebensform".  (Vgl.  auch  die  Besprechung  von  Albert  Elkan, 
I  Deutsche  Literaturzeitung  1918,  Sp.436.) 

I  ^)  Die  Verfasserin   behandelt   diese  (in  Burkes  Jugendwerk 

1  von  1756  „Origine  of  our  Ideas  of  the  Sublime  and  Beautiful" 
'  enthaltene)  Theorie  ausführlich,  ohne  indes  diesen  inneren  Zu- 
sammenhang anzudeuten.  Diese  psychologisch  orientierte  Ästhe- 
tik, die  nicht  rational  abstrahierend,  sondern  empirisch  verfährt, 
I  ist  das  genaue  Seitenstück  zur  biologischen  Grundlegung  der 
I  Staatswissenschaft. 


498  Literaturbericht. 

zugleich,  ein  ganz  in  sich  Ruhendes,  „unabhängig  von  mensch- 
licher Willkür  und  Erfindung"  (zit.  S.  198),  ein  Lebendiges, 
Organisches,  Dynamisches,  mit  seinen  eigenen  Gesetzen  des 
Werdens,  der  Bewegung  und  Veränderung.  Aufbau  eines 
„naturgemäßen"  Staatslebens  heißt  daher  die  Forderung  — 
im  Gegensatz  zu  dem  Staat  als  einer  komplizierten  Maschine, 
wie  ihn  sich  die  alte  mechanische  Staatskunst  vorstellte.  Die 
neue  Staatslehre  hat  auch  ein  neues  „Freiheits"ideal,  das 
auf  Montesquieu  zurückgeht:  das  Ideal  einer  „sittlichen 
und  geordneten"  Freiheit  (Burke;  z\U  S.  100).  Die  charak- 
teristischen Abwandlungen  des  Freiheitsbegriffs,  die  bei  den 
deutschen  Burkeschülern  zu  beobachten  sind,  hätten  eben- 
falls eine  zusammenhängende  Darstellung  verdient,  für  deren 
Fehlen  die  hier  und  da  verstreuten  Bemerkungen  (S.  24,  27, 
36,  56,  59,  62,  91,  lOOf.,  109,  151  f.,  197)  nicht  entschädigen; 
das  Verhältnis  von  Freiheit  und  Autorität  (s.  S.  106,  109), 
von  Freiheit  und  Macht  (s.  etwa  S.  191  f.,  vgl.  auch  S.  52) 
hätte  da  einen  bedeutsamen  Platz  gefunden;  nicht  minder 
die  Frage  nach  dem  Recht  zur  Revolution  (S.  25,  63,  134). 
Ebenso  hätte  man  sich  Zusammenfassendes  über  die  Stellung- 
nahme der  neuen  Lehre  zu  den  politisch-moralischen  Grenz- 
fragen gewünscht  (vgl.  z.  B.  S.  95  f.,  130,  204)  —  für  Rehberg 
wäre  besonders  das  (von  der  Verfasserin  nicht  erwähnte)  grund- 
sätzliche Bekenntnis  Unters.  I,  S.  9  heranzuziehen  gewesen  — ; 
auch  die  Frage  der  pazifistischen  oder  militaristischen  Orien- 
tierung (z.  B.  S.  161  ff.  —  vgl.  auch  S.  97  — ,  223  f.)  hätte  in 
diesen  Zusammenhang  gehört.  Reiches  Material  stand  für  die 
Frage  der  Bedeutung  des  religiösen  Moments  innerhalb  der 
politischen  Grundanschauungen  —  insbesondere  soweit  sie  das 
Verhältnis  von  Staat  und  Kirche  betreffen  —  zu  Gebote:  auch 
hier  hätte  sich  aus  den  da  und  dort  gegebenen  Andeutungen 
(S.  25  f.,  30  f.,  37,  51,  55,  67,  90  f.,  109  f.,  179—181,  224—227) 
ein  Gesamtbild  gestalten  lassen.  Endlich  das  wichtigste  Pro- 
blem: wie  aus  kosmopolitischem  Milieu  (vgl.  S.  59,  63,  166, 
169)  allmählich  die  Idee  des  „Volkes",  der  „Nation"  sich 
erhob  (S.  131  f.,  205  ff.,  216  ff.). 

Eine  ideengeschichtliche  Studie  sollte  mehr,  als  die  vor- 
liegende Arbeit  es  tut,  dem  Eigenleben  der  Ideen  gerecht 
werden.    Die  Verfasserin  hat  ihre  Aufgabe  darauf  beschränkt, 


19.  Jahrhundert.  499 

der  Ideenbildung  in  ihrer  singulären  Ausgestaltung  nachzu- 
gehen, die  sie  in  der  geistigen  Physiognomie  der  einzelnen 
Persönlichkeiten  annimmt.  Auf  diesem  Gebiet  hat  die 
Arbeit  ihre  sehr  beträchtlichen  Qualitäten.  Viele  feinsinnige 
Bemerkungen  bekunden  ein  einfühlendes  Verständnis,  das 
nicht  alltäglich  ist.  Freilich  laufen  auch  einzelne  nicht  ganz 
einwandfreie  Behauptungen  und  nicht  ganz  schlüssige  Folge- 
rungen mit  unter;  wenn  Adam  Müller  der  deutschen  politischen 
Literatur  ihre  akademische  Kühle  und  mangelnde  Lebenswärme 
vorwirft,  so  folgt  daraus  doch  noch  nicht,  daß  er  in  jener  Un- 
zulänglichkeit die  alleinige  Ursache  für  das  Stagnieren  des 
politischen  Lebens  in  Deutschland  sieht!  (S.  193 f.)  Auffallend 
ist  endlich,  daß  Burkes  Schriften  durchgängig  —  auch  da, 
wo  es  sich  um  seine  persönlichen  Auffassungen  im  Gegensatz 
zu  denen  seiner  Übersetzer  und  Interpreten  handelt  —  nicht 
im  Original  (Works,  London  1854)  zitiert  werden,  —  obwohl 
die  „Freiheit"  vieler  der  benutzten  Übersetzungen  ausdrück- 
lich kritisiert  wird  (S.  24,  29,  33):  die  trotz  „aller  Freiheit" 
erstrebte  „sinngemäße  Treue"  (S.  29)  ist  nach  der  Verfasserin 
selbst  nur  „fast  überall"  (S.  24)  oder  „meist"  (S.  33)  gewahrt! 
Frankfurt  a.  M.  Alfred  v.  Martin. 

(inister  Freiherr  von  Brück,  der  Vorkämpfer  Mitteleuropas.   Sein 
i       Lebensgang  und  seine  Denkschriften.    Von  Richard  Char- 
i       matz.     Leipzig,  S.  Hirzel.     1916.    281  S. 
Charmatz  ist  ein    Historiker,   dessen   Arbeiten  sich  durch 
besonnenes  Urteil,  fleissige  Benutzung  der  Quellen  und  anmutende 
Darstellung  auszeichnen;  diese  Vorzüge  findet  man  auch  im  vor- 
liegenden Buche  vereint.     Er  schildert  die  Geschichte  eines  un- 
gewöhnlich bedeutenden  Mannes,  dessen  Wirken  viel  zu  wenig 
I    bekannt  ist  und  gewürdigt  wird.    Ein  Elberfelder  Sohn,  aus  ein- 
I    fachen  Kreisen  stammend,  kam  Karl  Ludwig  Brück  1821  nach 
j    Triest  auf  der  Durchreise  nach  Griechenland,  wo  er  für  die  helleni- 
sche Freiheit  kämpfen  wollte.     Er  blieb  aber  in  der  schönen 
\    Hafenstadt.     Emsiger  Fleiß,  gepaart  mit  reicher  Begabung  und 
I    einem  gewinnenden  Äußeren  Heßen  ihn   rasch  emporkommen; 
j    er  wurde  der  Schöpfer  des  österreichischen  Lloyd,   dessen  Be- 
!    deutung  für  den  österreichisch-ungarischen  Handel    nicht   hoch 
I    genug  eingeschätzt  werden  kann.    Das  Jahr  1848  rief  Brück  nach 


500  Literaturbericht. 

Frankfurt;  bald  wurde  er  von  dort  zurückgeholt,  um  österreichi- 
scher Handelsminister  unter  Felix  Schwarzenberg  zu  werden. 
Der  deutsche  Protestant  wußte  sich  unter  der  österreichischen 
Bureaukratie  eine  glänzende  Stellung  zu  erringen.  Lebhaft  ist 
er  stets  eingetreten  für  engen  Anschluß  an  Preußen ;  sein  glühendster 
Wunsch  war  es  aber,  sein  Adoptivvaterland  mit  dem  Deutschen 
Zollvereine  zu  vereinigen;  seine  Denkschriften  darüber,  seine 
Programme  für  Österreichs  Weiterentwicklung  sind  in  diesem 
Buche  verwertet  und  abgedruckt.  Im  Jahre  1851  wich  er  der 
beginnenden  Reaktion,  ging  zuerst  nach  Triest  zurück,  führte  dann 
die  Verhandlungen  mit  Preußen,  die  im  Abschlüsse  des  Handels- 
vertrages vom  Februar  1853  gipfelten,  kam  darauf  als  Gesandter 
nach  Konstantinopel,  von  wo  er  im  Frühjahre  1855  zurückkehrte, 
um  in  Wien  das  Finanzministerium  zu  übernehmen.  Auch  hier 
konnte  der  neue  österreichische  Freiherr  seine  Arbeitskraft  und 
seinen  Ideenreichtum  verwerten;  weit  über  sein  eigentliches 
Ressort  griff  er  hinaus:  der  Bau  von  Eisenbahnen,  die  Schaffung 
der  österreichischen  Gewerbefreiheit  sind  ebenso  mit  seinem 
Namen  verknüpft  wie  die  Gründung  der  österr.  Kreditanstalt, 
die  Aufnahme  der  Barzahlungen  in  Österreich,  das  Eintreten  für 
die  Ausführung  des  Suezkanals. 

Schwer  traf  seine  Bemühung  um  die  Gesundung  der  öster- 
reichischen Finanzen  der  Italienische  Krieg  von  1859.  Dieser 
schuf  eine  gewitterschwere  Atmosphäre  von  Mißtrauen  und 
Unzufriedenheit  in  Österreich:  den  Verdächtigungen  und  Be- 
schuldigungen jener  Tage  erlag  auch  Brück,  obwohl  vollständig 
unschuldig.  Es  gibt  zwei  höfische  Trauerspiele  in  der  neuen 
Geschichte  Österreichs,  denen  verdiente  Männer  zum  Opfer  ge- 
fallen sind:  Brück  und  Benedek.  Sie  haben  ihr  Schicksal  ver- 
schieden getragen  —  der  letztere  litt  und  duldete,  der  erstere 
ging  freiwillig  in  den  Tod.  Endlich  erinnert  man  sich  im  Donau- 
staate dieses  Mannes  wieder;  vielleicht  kommt  noch  die  Zeit, 
da  die  Stadt  Triest  ihre  ungeheure  Dankesschuld  gegen  Brück 
abtragen  und  es  wagen  wird,  einem  Deutschen  ein  Denkmal 
zu  setzen! 

Die  schon  eingangs  ausgedrückte  Anerkennung  der  wert- 
vollen Arbeit  Ch.s  soll  nicht  eingeschränkt  werden  durch  zwei 
Bemerkungen,  zu  denen  Referent  sich  veranlaßt  sieht.  Im  Ab- 
schnitte „Letzte  Kämpfe  und  Reformen"  ist  die  chronologische 


19.  Jahrhundert.  501 

Darstellung  nicht  ganz  übersichtlich ;  ferner  scheint  Ch.  in  seinem 
begründeten  und  begreiflichen  Eintreten  für  Brucks  Integrität 
zu  weit  gegangen  zu  sein,  wenn  er  auch  als  Argument  den  Um- 
stand heranzieht,  daß  Brucks  Vermögen  nur  geringfügig  gewesen 
sei.  Referent  kann  diese  Behauptung  nicht  richtig  finden:  für 
jene  —  im  Vergleiche  zu  heute  —  billigen  und  unschuldsvollen 
Tage  ist  die  hinterlassene  Summe  (560000  Gulden)  keineswegs 
gering,  besonders  da  sie  in  einem  Zeitraum  von  wenig  über  zehn 
Jahren  erworben  sein  mußte  (s.  S.  28).  Doch  ebensowenig  wie 
diese  Bemerkung  der  Uneigennützigkeit  und  tadellosen  Amts- 
führung Brucks  Eintrag  tun  soll,  kann  sie  auch  dem  schönen 
Buch  Ch.s  schaden. 

Prag.  0.  Weber. 


Carl  Bertuchs  Tagebueh  vom  Wiener  Kongreß.  Herausgegeben 
von  Hermann  Freiherrn  v.  Egloffstein.  Mit  einem  Bildnis. 
Berlin,  Paetel.     1916.    VIII  u.  287  S. 

Der  Band  ist  kein  einfacher  Wiederabdruck  der  Veröffent- 
Hchung  in  der  Deutschen  Rundschau  1915/16.  Dem  bei  der 
Spärlichkeit  der  Berichte  über  den  Kongreß  erwünschten  Tage- 
buch Karl  Bertuchs,  des  Verfassers  der  ältesten  Beschreibung 
der  Leipziger  Völkerschlacht,  den  ein  Auftrag  des  deutschen 
Buchhandels  zur  Erwirkung  eines  deutschen  Gesetzes  gegen  den 
Nachdruck  gemeinsam  mit  Cotta  zum  Kongreß  entsendet  hatte, 
ist  eine  wertvolle  Auswahl  aus  den  Briefen  Bertuchs  an  seinen 
rühmlich  bekannten  Vater  in  Weimar  hinzugefügt.  Sie  bildet 
den  Anhang,  ist  andernteils  benutzt  für  die  Anmerkungen  und 
für  eine  Synthese  des  Herausgebers  über  die  Tätigkeit  Karls  in 
Wien  im  Interesse  des  Buchhandels.  Diese  Dreiteilung  des  Stoffs 
ist  schwer  verständlich,  um  so  weniger  als  sie  dem  Herausgeber 
den  Überblick  erschwert  hat,  so  daß  Verweise  in  den  Anmerkungen 
und  sonst  auf  Briefe  im  Anhang  hier  fehlen  (vgl.  z.  B.  Anmerkung 
208).  Die  zahlreichen  Anmerkungen  dienen  fast  ausschließlich 
der  Feststellung  im  Tagebuch  vorkommender  Persönlichkeiten, 
schweigen  aber  fast  völlig  über  Sachliches.  Die  Leser  würden 
sicherlich  gern  erfahren,  was  es  mit  dem  gerügten  Nachdruck 
in  Baden  und  Nassau  (Wielands  Werke!),  von  dem  nicht  einmal 
der  Freiherr  vom  Stein  Kenntnis  besaß,  auf  sich  gehabt  hat. 


502  Literaturbericht. 

Das  Register  erweist  sich,  soweit  ich  sehe,  als  zuverlässig. 
Nur  selten  bleibt  es  stumm,  wie  bei  der  rätselhaften  Notiz  S.  47 
vom  3.  November:  „Gethe(!)  ganz  höflich  komplimentierend". 

In  Verbindung  mit  Briefen  des  Herzogs  an  seine  Gemahlin, 
die  Egloffstein  in  seinem  Buch:  Karl  August  auf  dem  Wiener 
Kongreß  veröffentlicht  hatte,  geben  die  Eintragungen  und  Briefe 
Bertuchs,  für  die  Zeit  vom  30.  September  1814  bis  28.  Mai  1815, 
ein  eindrucksvolles,  lehrreiches  Bild  des  „Wirrwarrs"  unter  den 
Kongreßteilnehmern,  der  öffentlichen  wie  der  auffallend  gering- 
fügigen privaten  Geselligkeit,  und  vor  allem  auch  der  Kunst- 
schätze und  des  musikalischen  und  theatralischen  Lebens  in  der 
schönen  Kaiserstadt,  aus  der  aber  schließHch  alle  mit  heißem 
Begehren  sich  fortsehnten. 

Eine  nicht  geringe  Anzahl  hervorragender  Kongreßteil- 
nehmer —  ich  nenne  nur  Stein,  Kaiser  Alexander,  Metternich, 
Gentz,   Humboldt  —  werden  in  scharfe  Beleuchtung  gerückt. 

Man  erfährt  hier  meines  Wissens  zuerst,  daß  der  kaiserliche 
Leibarzt  Freiherr  von  Stift  als  eine  bei  seinem  Gebieter  sehr 
einflußreiche  Persönlichkeit  galt,  zu  der  Bertuch  im  Verfolg  seiner 
Hauptaufgabe  in  Beziehung  getreten  ist.  Erstaunlich  fast  ist, 
wie  rasch  es  dem  —  wohl  allzusehr  arglosen  und  offenen  — 
Buchhändler  gelungen  ist,  in  Kreise  vornehmer  Kunstsammler 
Eingang  zu  finden.  Wohl  mag  der  Umstand  dienlich  gewesen 
sein,  daß  Karl  August  ihn  gleichsam  zum  „wissenschaftlichen 
Adjutanten"  bestellt  hatte.  Aber  B.  ist  weit  davon  entfernt,  die 
Urteile  seines  fürstlichen  Gönners  nachzusprechen.  Auch  nicht 
in  politischen  Dingen.  Im  Anfang  wie  im  späteren  Verlauf  des 
Kongresses  (246  und  255)  heißt  es  in  B.s  Briefen:  „Die  Franzosen 
vermeidet  hier  jeder  Deutsche  und  mit  Recht."  Er  hält  es  für 
höchst  unklug,  sich  ihres  Einflusses  zu  bedienen  usw.  Der  Herzog 
dagegen  schreibt  am  26.  Dezember  seiner  Gemahlin,  die  Franzosen 
seien  die  einzigen,  die  klar  sähen  und  konsequent  und  vornehm 
handelten.  Im  allgemeinen  zeigt  sich  B.  über  die  schwebenden 
politischen  Fragen  vielfach  zeitig  und  auch  zuverlässig  unter- 
richtet. Freilich,  über  Englands  Absichten  bei  Anbahnung  des 
Bündnisses  vom  3.  Januar  1815  scheint  er  durch  Kongreßklatsch 
irregeführt  (S.  72).  An  diesem  Beispiel  mag  es  genug  sein.  Ebenso 
übergehe  ich  einzelne,  in  einem  Tagebuch  begreifliche  Unstimmig- 
keiten (z.B.   S.  40  die  Anrede  „mein   Freund"). 


Rechtsgeschichte.  503 

Egloffstein  hat  seinem  Verdienste  um  die  Erfassung  der  Per- 
sönlichkeit Karl  Augusts  von  Weimar  durch  vorliegende  Ver- 
öffentlichung nicht  nur  ein  neues  hinzugefügt,  er  hat  auch  die 
sittengeschichtliche  Seite  des  großen  Wiener  Kongresses  in  er- 
freulicher ^yeise  geklärt.  Privates  Verständnis  hat  die  Hebung 
dieses  Schatzes  ermöglicht,  aber  die  zweckentsprechende  Fassung 
war  gebunden  an  die  Benutzung  des  Haus-  und  des  Staatsarchivs 
in  Weimar  durch  den  Herausgeber.  Es  ist  sehr  erfreulich,  daß 
dort  mit  der  engen  Anschauung,  durch  welche  die  Forscher  (so 
ich  selbst  in  den  neunziger  Jahren)  von  der  Einsicht  in  die  Papiere 
Karl  Augusts  ausgesperrt  blieben,  endlich  gebrochen  ist. 

Darmstadt.  H.  Ulmann. 


Das  Rechtsbuch  Ruprechts  von  Freising  (1328).  Von  Dr.  Hermann 
Knapp.    Leipzig,  Voigtländer.    1916.    145  S. 

Ruprecht  von  Freising  ist  in  der  germanistischen  Literatur 
nicht  unbekannt.  Wir  wissen,  daß  er  ein  Stadtrechtsbuch  ver- 
faßt hat,  herausgegeben  nach  einer  Handschrift  von  1328  von 
Westenrieder  im  7.  Bande  seiner  „Beiträge  zur  vaterländischen 
Historie"  sowie  in  einem  Separatabdrucke  1802.  Das  Rechts- 
buch ward  später  wiederholt  bearbeitet  und  in  solcher  Gestalt 
mit  einem  Landrechtsbuche  verbunden.  Die  jüngste  dieser 
Handschriften  (von  1473)  hat  Ludwig  von  Maurer  unter  Benut- 
zung von  vier  anderen  Handschriften  veröffentlicht:  Das  Stadt- 
und  das  Landrechtsbuch  Ruprechts  von  Freysing,  1839.  (Dazu 
Stobbe,  Geschichte  der  deutschen  Rechtsquellen  Abt.  1,  1860, 
S.  435 ff.)  Knapp  findet  (Vorwort  des  vorliegenden  Werkes 
S.  5 f.),  daß  das  Stadtrechtsbuch  besonders  wichtig  sei,  aber 
ebenso  gering  bewertet  wie  unrichtig  beurteilt  werde,  und  daß 
die  Ausgabe  Westenrieders  keineswegs  mustergültig  sei  (auch 
S.  22);  darum  habe  er  dessen  erneute  Herausgabe  unternommen, 
—  daß  es  sich  um  eine  Ausgabe  handelt  läßt  übrigens  der  Titel 
nicht  erkennen.  „Und  so  möge  denn  dies  Buch,"  sagt  er  am 
Schlüsse  des  Vorwortes  (S.  6),  „das  nach  des  Verlegers  Wunsch 
eine  möglichst  volkstümliche  Fassung  erfuhr,  sowohl  den  An- 
forderungen der  Wissenschaft  genügen,  als  auch  dem  gebildeten 
Laien  zum  Studium  dienen."  Soll  mit  „diesem  Buche"  ias 
Stadtrechtsbuch  oder  das  vorliegende  Werk  gemeint  sein  ?    Ver- 


504  Literaturbericht. 

mutlich  dieses,  obwohl  der  Satz  in  seinem  Zusammenhange  mit 
den  ihm  vorhergehenden  Worten  mehr  auf  jenes  bezogen  werden 
könnte. 

Wie  steht  es  nun  aber  mit  der  „volkstümlichen  Fassung"? 
Nach  einer  „Einleitung"  (S.  7 — 25)  und  einer  kurzen  Übersicht 
über  das  „System  des  Rechtsbuchs"  (S.  27)  ist  der  Text  der  Hand- 
schrift von  1328  wörtlich  —  nicht  in  modernem  Deutsch  — 
abgedruckt  (S.  28 — 133),  unter  Beifügung  von  im  ganzen  20 
kurzen  Anmerkungen  (fast  durchweg  Erklärung  einzelner  Wörter) ; 
dann  folgen  ein  „Sachregister"  (S.  134 — 136)  und  ein  „Glossar" 
(S.  137—142).  Wir  glauben  nicht,  daß  der  „gebildete  Laie" 
viel  Gewinn  von  dem  Lesen  der  Quelle  haben  wird,  zumal  da  auch 
die  Einleitung  ihm  in  dieser  Beziehung  keinerlei  Hilfe  gewährt. 
Dagegen  scheint  der  Textabdruck,  soweit  man  ohne  Vergleichung 
der  Handschrift  zu  urteilen  vermag,  sehr  wohl  den  wissenschaft- 
lichen Anforderungen  zu  entsprechen.  Die  Einleitung  ist  jedoch 
weder  volkstümlich  noch  streng  wissenschaftlich. 

Sie  ist  unübersichtlich  gegliedert  und  wird  inhaltlich  nicht  den 
Anforderungen  gerecht,  die  man  an  die  Einleitung  einer  Edition 
stellen  muß,  —  gute  Vorbilder  hätte  K.  zur  Genüge  gehabt.  Vor 
allem  war  der  Charakter  der  Rechtsaufzeichnung  zu  bestimmen. 
Diese  wird  zwar  als  „Rechtsbuch",  gelegentlich  auch  als  „schlichte 
Privatarbeit"  (S.  9)  bezeichnet;  aber  nur  einmal  (S.  11)  ist  K. 
an  versteckter  Stelle  das  Wort  Stadtrechtsbuch  aus  der  Feder 
geflossen.  Er  spricht  aber  auch  von  einer  „Kodifikation"  (S.  9), 
von  „Satzungen"  (S.  14)!  Seine  Ansicht,  daß  die  Handschrift 
eine  Abschrift  des  Originals  ist  (S.  18f.,  25)  begründet  K.  nicht 
ausreichend.  Hinsichtlich  der  Entstehungszeit  der  Rechts- 
aufzeichnung macht  er  sich  (S.  18)  ohne  weiteres  v.  Maurers 
Meinung  zu  eigen.  Von  Wichtigkeit  war  auch  die  Feststellung, 
aus  welchen  Quellen  Ruprecht  geschöpft  hat.  Das  hat  offenbar 
auch  K.  erkannt.  Allein,  was  er  hier  bringt  (S.  lOff.),  ist  weit 
entfernt  von  einer  systematischen  Untersuchung  der  Frage. 
Was  insbesondere  den  sog.  Schwabenspiegel  anlangt,  so  sagt  K. 
{S.  11),  es  sei  die  Behauptung  zurückzuweisen,  daß  sich  Ruprecht 
sklavisch  demselben  angelehnt  habe.  Diese  Behauptung  hat 
unseres  Wissens  niemand  aufgestellt.  Daß  der  Schwabenspiegel 
von  Ruprecht  benutzt  worden  ist,  vermag  auch  K.  nicht  zu 
bestreiten;  ob  er  das  Richtige  getroffen  hat,  wenn  er  lehrt,  nicht 


Wirtschaftsgeschichte.  505 

V  el  mehr  als  ein  Fünftel  sei  nachweislich  diesem  entnommen 
(S.  11,  auch  S.  143),  kann  nur  eine  eingehende  Vergleichung 
beider  Quellen  ergeben.  Daß  im  übrigen  unbekannte  Satzungen 
der  Stadt  Freising  benutzt  worden  sind,  hatte  bereits  v.  Maurer 
betont;  ob  es  sich  dabei,  wie  K.  (S.  12)  ohne  Beweisführung  an- 
gibt, um  ein  „Stadtbuch"  gehandelt  hat,  ist  nicht  sicher.  Dem 
Inhalte  des  Rechtsbuches  widmet  die  Einleitung  (S.  16)  nur  ein 
paar  Bemerkungen;  wenn  es  heißt,  „der  wichtigste  Teil"  seien 
„die  Strafsatzungen"  (S.  13,  auch  S.  10),  so  ist  diese  Auffassung 
wohl  auf  das  überwiegende  persönliche  Interesse  des  Heraus- 
gebers für  die  Geschichte  des  Strafrechtes  zurückzuführen.  Es 
soll  nicht  geleugnet  werden,  daß  wir  es  mit  einer  wichtigen  Quelle 
zu  tun  haben.  Der  Satz  K.s  (S.  9):  „Sicher  fordert  kein  Rechts- 
denkmal aus  dem  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  so  sehr  unser 
Interesse  heraus  als  Ruprechts  Rechtsbuch",  enthält  jedoch  eine 
starke  Übertreibung,  und  gänzlich  ins  Reich  reinster  Phantasie 
gehört  die  ^'Vermutung,  daß  die  „Geltung"  des  Rechtsbuches 
sich  nicht  auf  die  Stadt  Freising  beschränken  sollte,  ihm  vielmehr 
ein  größerer  „Wirkungskreis"  zugedacht  war,  daß  dieser  Traum 
Ruprechts  aber  „leider"  nicht  zur  Wirklichkeit  werden  sollte, 
da  die  bald  einsetzende  oberbayerische  Gesetzgebung  seiner 
Schöpfung  den  Ruhm  verlegte,  zum  Bayernspiegel  zu  werden 
(S.  9f.). 

Halle.  Paul  Rehme. 

Rheinische  Urbare.  Sammlung  von  Urbaren  und  anderen 
Quellen  zur  rheinischen  Wirtschaftsgeschichte.  Publika- 
tionen der  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichtskunde  XX. 
3.  Bd.:  Die  Urbare  der  Abtei  Werden  a.  d.  Ruhr. 
B.  Lagerbücher,  Hebe-  und  Zinsregister  vom  14.  bis  ins 
17.  Jahrhundert.  Herausgegeben  von  Rudolf  Kötzsdike. 
j  Bonn,  Herrn.  Behrendt.    1917.    892  S. 

I  Elf  Jahre  nach  dem  ersten  erscheint  der  zweite  Band  der 

I  Werdener  Urbare;  dem  damals  gegebenen  Versprechen  gemäß 
i  enthält  er  die  „Heberegister  der  Klosterämter  Werdens  nebst 
i  Auszügen  aus  den  Rechnungsakten  1311 — 1474",  d.i.  die  Zeit 
I  des  Verfalls,  und  „Die  Lagerbücher  und  Zinsregister  des  Stifts 
I  Werden  von  der  Klosterreform  (1474)  bis  in  die  Zeiten  Abt 
Heinrich  Dudens  (f  1601)",  dessen  Name  die  zweite  Kloster- 
Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  33 


506  Literaturbericht. 

reform  bezeichnet,  „und  seiner  Nachfolger"  mit  Anhang  C:  „Aus- 
züge aus  den  Rechnungsakten  nach  der  Klosterreform".  Er  bringt 
aber  noch  nicht  die  versprochene  Einleitung  und  die  Register, 
deren  Erscheinen  als  dritter  Band,  im  August  1917  in  wenigen 
Monaten  vorausgesagt,  die  Zeitumstände  wohl  leider  noch  ver- 
hindern. Erst  mit  Hilfe  der  Register  aber  wird  es  möglich  sein 
in  den  Stoff  einzudringen,  dessen  Inhalt  und  Behandlung  hier 
nur  kurz  angezeigt  sei. 

Gegenüber  dem  ersten  Bande,  in  welchem  wenige  aber 
umfassende  Urbare  zum  Ausdruck  gelangten,  ist  der  Stoff 
des  zweiten  viel  ungleichmäßiger  geworden.  In  der  Zeit  des 
Verfalls  sind  keine  größeren  Güterverzeichnisse  angelegt  worden; 
erst  die  beiden  Reformationen  hatten  solche  im  Gefolge.  Der 
Herausgeber  stand  vor  der  schweren  Aufgabe  mit  Hilfe  einiger 
kleinerer  Heberegister  und  einer  Auswahl  aus  dem  übrigen 
weitschweifigen  Stoff,  bes.  den  Rechnungen,  die  Lücken  auszu- 
füllen. Auf  die  Schwierigkeit  solcher  Auswahl  hat  er  schon 
seinerzeit  hingewiesen  und  dennoch  jetzt  durch  individuelle 
Behandlung  der  einzelnen  Stücke,  durch  reichliche  Verwen- 
dung von  Auszügen  und  Tabellenform,  durch  eine  sehr  ge- 
schickte Druckanordnung,  endlich  durch  einen  großen  Apparat 
von  Verweisungen  und  Ortserklärungen  eine  sehr  schöne, 
übersichtliche,  handliche  Ausgabe  hergestellt. 

In  solcher  Ausführlichkeit  liegen  urbariale  Aufzeichnungen 
so  später  Zeit  noch  kaum  vor.  Wir  fragen,  ob  denn  nicht  an 
ihre  Fortführung  bis  zum  Untergang  der  Werdener  Grund- 
herrschaft gedacht  wird?  Dabei  müßte  dann  freilich  in  noch 
weiterem  Maße  an  die  Stelle  der  einfachen  Quellenausgabe 
die  Verarbeitung  des  Stoffes  treten. 

Wirtschaftsgeschichtlich  wertvoll  ist  der  vorliegende  Band 
vor  allem  deshalb,  weil  er  den  Verfall  der  alten  Villikations- 
verfassung  und  das  fortschreitende  Eindringen  der  Geldwirt- 
schaft in  allen  Einzelheiten  beobachten  läßt.  Richtig  erholt 
hat  sich  die  Werdener  Großgrundherrschaft  nie  mehr.  Es 
mangelt  auch  durchaus  an  großzügigen  Ideen,  ihr  System  aus 
der  Stagnation,  in  die  es  durch  die  erbliche  Festlegung  der 
Leistungen  von  den  Bauerngütern  geraten  war,  herauszureißen. 
Wertvolle  Beiträge  enthält  der  Band  außerdem  zur  Geschichte 
der   Unfreien  (Ministerialen,   Wachszinser,   Vollschuldige)  und 


Kirchengeschichte.  507 

auch    die    verstreuten    Nachrichten    zur   allgemeinen    Kultur- 
geschichte sind  der  Beachtung  wert. 

Bonn.  Hermann  Aubin. 

Hagios  Nikolaos.  Der  heilige  Nikolaos  in  der  griechischen  Kirche. 
Texte  und  Untersuchungen.  Von  Gustav  Anrieh.  Bd.  2: 
Prolegomena.  Untersuchungen.  Indices.  Mit  Unterstützung 
der  Cunitz-Stiftung  in  Straßburg.  Leipzig  und  Berlin,  Teub- 
ner.     1917.    XII  u.  592  S.    24  M. 

Der  1.  Band  des  Werkes  wurde  im  113.  Bande  der  H.  Z. 
S.  652  kurz  angezeigt.  Er  brachte  uns  die  Texte  zum  Leben 
des  hl.  Nikolaos.  Nunmehr  ist  der  abschließende  2.  Band  gefolgt, 
der  die  Prolegomena,  Untersuchungen  und  Indices  enthält.  Die 
Hauptbedeutung  des  groß  angelegten  Werkes  liegt  natürlich 
darin,  daß  die  Quellen  zum  Leben  unseres  Heiligen  zum  ersten 
Male  mit  den  Mitteln  der  modernen  Philologie  geprüft,  gesichtet 
und  ediert  werden.  Dabei  ist  wohl  das  wichtigste  Resultat,  daß 
seit  der  sog.  Vita  compilata  (entstanden  zwischen  860 — 975  n.  Chr., 
s.  S.  311)  zwei  Viten  ineinander  verflochten  sind,  die  ursprüng- 
lich gar  nichts  miteinander  zu  tun  hatten.  Es  handelt  sich  um 
die  Lebensbeschreibung  des  Abtes  Nikolaos  von  Sion  (im  lykischen 
Dorfe  Tragalassos  gelegen),  der  um  die  Mitte  des  6.  Jahrhunderts 
gelebt  hat  und  sicher  eine  historische  Persönlichkeit  gewesen  ist 
(gest.  wahrscheinlich  10.  12.  564,  s.  S.  216),  sowie  um  die  des 
Bischofs  Nikolaos  von  Myra,  den  wir  zeitlich  nicht  genau  fixieren 
können,  ja  dessen  Geschichtlichkeit  überhaupt  zwar  wahrschein- 
Hch,  doch  nicht  sicher  nachzuweisen  ist  (S.  544).  Denn  daß  er 
am  nikänischen  Konzil  teilgenommen  und  den  Ketzer  Areios 
durch  eine  Ohrfeige  gezüchtigt  habe,  ist  sicher  spätere  Erfindung 
(S.  301—303,  498,  512),  durch  die  man  den  Bischof  von  Myra 
zum  Konfessor  zu  stempeln  suchte.  Allein  Nikolaos  war  weder 
Märtyrer  noch  Konfessor,  sondern  gehörte  zum  Typus  der  bi- 
schöflichen Heiligen,  der  seit  der  2.  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts 
sich  ausgebildet  hat  (S.  512).  Was  dazu  führte,  diesen  Bischof  in 
Lykien  populär  und  schließlich  zum  Landesheiligen  (S.  499)  zu 
machen,  wissen  wir  nicht;  jedenfalls  geht  aus  der  Vita  des  Abtes 
Nikolaos  von  Sion  hervor,  daß  er  um  die  Mitte  des  6.  Jahr- 
hunderts diese  Geltung  bereits  besessen  hat  (S.  208,  230,  260). 
Dann  aber  breitete  sich  sein  Ruhm  in  immer  weitere  Kreise  aus. 

33* 


508  Literaturbericht. 

Unter  Kaiser  Justinian  erscheint  sein  Kultus  zum  ersten  Male 
in  der  Reichshauptstadt  —  der  Monarch  baut  für  die  Hll.  Niko- 
laos  und  Priskos  gemeinsam  eine  große  Kirche  in  der  Blachernen- 
vorstadt  (S.  454 — 455)  — ,  schließlich  wurde  er  zum  eigentlichen 
Nationalheiligen  des  byzantinischen  Reiches  (S.  473).  Was  den 
fabelhaft  schnellen  Aufstieg  in  der  Verehrung  des  hl.  Nikolaos, 
der  ins  9.  Jahrhundert  fällt,  veranlaßt  hat,  können  wir  nur  ver- 
muten. Der  Verfasser  ist  der  Meinung,  daß  die  Erzählung  von 
den  Feldherren  des  Kaisers  Konstantin  (Praxis  de  stratelatis) 
diese  ungemeine  Popularität  bewirkt  habe.  In  dieser  Geschichte 
erscheint  der  Bischof  als  der  mutige  Verteidiger  der  unschuldig 
angeklagten  Feldherren  gegenüber  einem  allmächtigen  Minister, 
also  als  Vertreter  der  unabhängigen,  allein  von  Gott  ressortierenden 
geistlichen  Gewalt  gegenüber  der  weltlichen  Obrigkeit.  Das  sind 
Gedanken,  die  im  Abendlande  gang  und  gäbe  sind,  in  der  morgen- 
ländischen Kirche  aber  nur  gelegentlich  mit  größerer  Wucht  in 
die  Erscheinung  treten.  Am  stärksten  wirkten  sie  sich  in  der 
Zeit  des  Bilderstreites  aus,  und  so  hält  es  Anrieh  nicht  für  aus- 
geschlossen, daß  gerade  die  kirchenpolitischen  Kämpfe  dieser 
Periode  zur  Popularität  unseres  Heiligen  beigetragen  haben 
(S.  502).  Diese  Vermutung  gewinnt  an  Wahrscheinlichkeit,  wenn 
wir  bedenken,  daß  Theodor  von  Studion,  der  Hauptkämpfer  im 
Streite,  einen  Hymnus  auf  den  hl.  Nikolaos  verfaßt  hat  (S.  360  f., 
466),  und  daß  auch  andere  Bilderfreunde  als  besondere  Verehrer 
unseres  Heiligen  bekannt  sind  (S.  466). 

Man  sieht,  bei  aller  Dürftigkeit  der  Vita  des  hl.  Nikolaos 
an  historischem  Tatsachenmaterial  ist  die  Geschichte  seiner  Ver- 
ehrung von  um  so  größerer  historischer  Bedeutung.  Ich  will 
hier  ganz  schweigen  von  der  Stellung  des  Heiligen  in  der  kunst- 
geschichtlichen Entwicklung,  von  den  Stätten  seiner  Verehrung 
und  der  Art  seiner  Darstellung  (S.  478  ff.),  auch  von  der  Ge- 
schichte seines  Grabes  und  der  zweimaligen  Translation  seiner 
Gebeine  —  durch  die  Barenser  und  die  Venetianer  (S.  514  ff.)  — » 
die  in  der  Geschichte  der  Kreuzzüge  eine  Rolle  spielt.  Nur  auf 
einen  wichtigen  Punkt  sei  noch  hingewiesen.  Es  handelt  sich 
um  die  Frage,  wie  steht  es  mit  der  Beziehung  zum  sinkenden 
Heidentum,  lassen  sich  Anknüpfungspunkte  zwischen  der  Ver- 
ehrung des  hl.  Nikolaos  und  antiken  Gottesdiensten  finden? 
Der  Verfasser  ist  bei  Beantwortung  dieser  Frage  (S.  502  ff.)  sehr 


Kirchengeschichte.  509 

vorsichtig  und  mit  entschiedener  Ablehnung  früherer  metho- 
discher Fehler  (S.  448  u.  502)  vorgegangen.  Das  Resultat  ist,  daß 
die  Gleichung  Poseidon  =  Nikolaos  durchaus  zu  verwerfen, 
Beeinflussung  durch  lokale  religiöse  Gebräuche  (der  Dienst  der 
Artemis  Eleuthera)  aber  wahrscheinlich  sei.  Ich  halte  gerade 
diesen  Teil  des  Werkes  für  einen  Glanzpunkt  der  gesamten  Unter- 
suchung und  kann  überhaupt  nicht  umhin,  die  Gesamtleistung 
als  eine  der  erfreulichsten  und  bedeutendsten  auf  dem  Gebiete 
der  Hagiologie  zu  bezeichnen.  Es  ist  ein  ästhetischer  Genuß, 
an  der  Hand  eines  so  kundigen  Führers  sich  durch  den  Irrwald 
hagiographischer  Texte  und  moderner  Hagiologie  —  oder  was 
sich  in  früheren  und  späteren  Jahrhunderten  als  solche  ausgab  — 
hindurchzufinden.  (Zum  Schlüsse  noch  zwei  Bemerkungen  zu  den 
Konzilslisten  und  den  Notitiae  episcopatuum  (vgl.  S.  246):  1.  In 
der  Liste  von  Chalkedon  muß  die  Lesart  navog/nov  bestehen  blei- 
ben; Pinara  und  Sidyma  sind  tatsächlich  nicht  vertreten.  2.  Im 
Codex  Encydius  des  Kaisers  Leo  ist  statt  narensis  zu  lesen  ar- 
nensis;  die  Konjektur  pinarensis  billige  ich  nicht.) 

Bad  Homburg  v.  d.  H.  E.  Gerland. 

Die  Ketzerverfolgungen  im  H.  und  12.  Jahrhundert.  Ein  Beitrag 
zur  Geschichte  der  Entstehung  des  päpstlichen  Ketzer- 
I^K  inquisitionsgerichts.  Von  Hermann  Theloe.  (A.  u.  d.  T.: 
v^m  Abhandlungen  zur  mittleren  und  neueren  Geschichte,  her- 
V^m  ausgegeben  von  G.  v.  Below,  H.  Finke,  F.  Meinecke.  Heft  48.) 
Ik       Berlin  und   Leipzig,  W.  Rothschild.     1913.     176  S.    5,40  M. 

Der  von  H.  Finke  angeregten  Arbeit  des  Verfassers  (in  glei- 
chem Umfang  als  Freiburger  Dissertation  erschienen)  liegt  die 
Absicht  zugrunde,  „den  Ursprung  und  die  Anfänge  des  päpst- 
i   liehen    Ketzerinquisitionsgerichtes    darzustellen",    die    Entwick- 
lungsreihen  bloßzulegen,   die   der   Begründung   jenes    Gerichtes 
i   vorausgingen,  und  damit  die  Frage  zu  beantworten:  „Wie  war 
1  die  Behandlung  der  Ketzer  vor  der  Entstehung  der  päpstlichen 
!   Ketzergerichte?"    Leider  haben  äußere  Gründe  von  vornherein 
I  die  vollständige   Durchführung  dieser  Absicht  durchkreuzt:  da 
j  „die  Arbeit  als  Dissertation  dienen  sollte  und  deshalb  einen  ge- 
wissen Umfang  nicht  überschreiten  durfte"  (?),  hat  der  Verfasser 
seine  Untersuchung  nur  bis  vor  den  Pontifikat   Innozenz*   HL 
I  geführt,   der  zur   Klärung  des   Sachverhaltes  notwendigerweise 


510  Literaturbericht. 

mitbehandelt  werden  mußte.  —  Die  Ketzerverfolgungen  des  11. 
und  12.  Jahrhunderts  sind  in  den  letzten  Jahrzehnten  Gegen- 
stand einer  Reihe  von  wissenschaftlichen  Untersuchungen  ge- 
wesen. Man  wird  aber  gerne  anerkennen,  daß  an  vielen  Punkten 
der  Verfasser  den  Stand  der  Forschung  über  jene  Arbeiten  hinaus- 
geführt hat.  Ihm  selbst  ist  freilich  die  Lösung  der  Frage  nach 
dem  Ursprung  der  päpstlichen  Inquisitionsgerichte,  die  ja.  auch 
von  einer  Erstlingsarbeit  kaum  zu  erwarten  war,  nicht  beschieden 
gewesen. 

Im  ersten  Kapitel  seiner  Schrift  behandelt  Theloe  mit  großer 
Sorgfalt  die  Ketzerverfolgungen  des  11.  Jahrhunderts,  über  die 
uns  nur  spärliche  Nachrichten  vorliegen.  Diese  Verfolgungen 
sind  meist  durch  die  weltliche  Macht,  vielfach  durch  die  Volks- 
justiz in  die  Wege  geleitet  worden;  die  Kirche  spielte  bei  den  uns 
überlieferten  Ketzerprozessen  keine  führende  Rolle.  Die  An- 
nahme, daß  der  über  die  Ketzer  verhängte  Feuertod  im  Anschluß 
an  die  ältere  Behandlung  des  verwandten  Verbrechens  der  Zau- 
berei im  Laufe  der  Zeit  die  allgemeine  Strafe  für  die  Ketzerei 
geworden  sei,  weist  der  Verfasser  zurück,  ohne  freilich  hier  gründ- 
lich genug  vorzugehen.  Seine  Annahme,  daß  die  1022  zu  Orleans 
erfolgte  Ketzerverbrennung  auf  weithin  vorbildlich  gewesen  sei, 
dürfte  kaum  zu  erhärten  sein.  —  Das  zweite  Kapitel  stellt  die 
Nachrichten  über  die  Ketzerprozesse  des  12.  Jahrhunderts  nach 
Ländern  getrennt  zusammen.  So  läßt  sich  erkennen,  daß  die 
Behandlung  der  Ketzer  in  den  verschiedenen  Ländern,  den  dort 
vorliegenden  besonderen  Verhältnissen  gemäß,  eine  sehr  ver- 
schiedenartige gewesen  ist.  Aber  jedenfalls  haben,  wie  T.  gegen- 
über Maillet  überzeugend  nachweist,  in  den  nördlichen  Ländern 
namentlich  die  Bischöfe  durch  ihre  Mitwirkung  und  Zustimmung 
zu  den  Ketzerverbrennungen  bestimmenden  Einfluß  auf  die 
Heranbildung  eines  Gewohnheitsrechtes  der  Hinrichtung  der 
Ketzer  ausgeübt.  Die  Kapitel  3  und  4  sind  der  Entwicklung  der 
kirchlichen  und  weltlichen  Gesetzgebung  des  behandelten  Zeit- 
abschnitts gewidmet  und  stellen  der  sorgfältigen  Arbeitsweise 
des  Verfassers  ein  gutes  Zeugnis  aus.  Recht  willkommen  ist  die 
im  Schlußkapitel  gegebene  Übersicht  über  die  Beurteilungen,  die 
das  Verfahren  gegen  die  Ketzer  in  der  Literatur  des  11.  und 
12.  Jahrhunderts  und  seitens  einzelner  Persönlichkeiten  gefunden 
hat.    Es  zeigt  sich,  daß  mit  der  zunehmenden  Ausbreitung  der 


Deutsche  Landschaften.  511 

Ketzerei  und  mit  der  Festlegung  der  Strafgesetzgebung  die 
schärfere  Richtung  immer  allgemeiner  durchdrang,  so  daß  die 
früher  häufig  geäußerten  milderen  Auffassungen  ganz  zurück- 
gedrängt wurden.  In  Anhang  1  weist  der  Verfasser  nach,  daß 
die  Chronik  des  Alberich  von  Trois-Fontains  die  Ketzer  Eon 
und  Heinrich  von  Lausanne  verwechselt  hat;  in  Anhang  2 
wird  die  zeitliche  Ansetzung  der  Synodalstatuten  des  Bischofs 
Otto  von  Paris  (Manci  XXII,  675  ff.)  richtiggestellt.  Wertvolle 
Ergänzungen  und  Berichtigungen  zu  T.s  Arbeit  bringen  die  Be- 
sprechungen von  G.  Kallen  in  der  Zeitschrift  für  Rechtsgeschichte 
Bd.  24,  Kanonist.  Abtlg.  III  (1913),  S.  509 ff.  und  von  F.  Kern 
in  der  Theologischen  Literaturzeitung  Jahrg.  1914,  Nr.  26,  S.  678f. 
Gießen.  H.  Haupt 

Badens  Rechtsverwaltung  und  Rechtsverfassung  unter  Markgraf 
Karl  Friedrich  1738—1803.  Von  Paul  Lenel.  (Freiburger 
Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  des  öffentlichen  Rechts, 
herausg.  von  Woldemar  v.  Rohland,  Heinr.  Rosin,  Richard 
Schmidt.   Heft  23.)    Karlsruhe  i.  B.,  Braun.     1913.    254  S. 

Meine  Teilnahme  am  Feldzug  hat  die  Abfassung  dieser 
Besprechung  jahrelang  verzögert.  Daß  sie  jetzt  erst  erscheint, 
ist  mir  besonders  schmerzlich,  weil  Paul  Lenel  bei  dem  Rück- 
zug im  Westen  gefallen  ist.  Was  Rechtswissenschaft  und  Ge- 
schichtschreibung an  ihm  verloren  haben,  das  habe  ich  an 
anderem  Ort  auszusprechen  versucht  (Zeitschrift  für  Geschichte 
des  Oberrheins  1919,  4).  Sein  Werk,  das  ich  hier  anzuzeigen 
habe,  ist  mir  in  allen  Phasen  seiner  Entstehung  vertraut.  Es 
ist  mit  meinen  eigenen  Arbeiten  auf  diesem  Gebiet  verwachsen. 
Sein  Verfasser  hat  mir  in  viele  seiner  Quellen  im  Archiv  Ein- 
blick gewährt.  Ich  kenne  seine  Art  zu  forschen  genau:  er  hat 
die  Akten  auf  breitester  Grundlage  durchgearbeitet,  und  zwar 
sind  es  in  der  Hauptsache  unbekannte  Bestände,  aus  denen  er 
schöpfte;  er  hatte  überdies  einen  außerordentlichen  Spürsinn 
im  Auffinden  auch  scheinbar  abseits  liegender  oder  verborgener 
Beziehungen.  Er  suchte  der  Tätigkeit  der  Behörden  auf  den 
Grund  zu  kommen,  sie  waren  ihm  mehr  als  eine  klappernde 
Mühle,  die  nur  Verordnungen  hervorbringt.  Dahinter  erkannte 
er  überall  Menschen  und  Verhältnisse  in  lebensvollen  Ver- 
knüpfungen.   Er  hatte  eine  eigene  Gabe,  die  spröden  Akten 


512  Literaturbericht 

zum  Sprechen  zu  bringen,  klar  zu  machen,  daß  auch  in  den 
trockensten  Äußerungen  Persönlichkeiten,  Gegensätze,  Geist 
um  Ausdruck  ringen.  L.  bewältigte  den  Stoff  mit  eisernem 
Fleiß  und  musterhafter  Gründlichkeit,  nie  genügsam,  eher 
mißtrauisch  gegen  seine  eigenen  Ergebnisse,  immer  geneigt,  sie 
in  Frage  zu  stellen.  War  er  gegen  andere  Gelehrte  in  hohem 
Maße  kritisch,  so  ging  er  gegen  sich  selbst  überkritisch  vor, 
und  die  Schärfe,  wie  sie  in  mehreren  Auseinandersetzungen 
zutage  tritt,  entsprang  dem  heißesten  Eifer  um  Erkenntnis 
und  seinem  hochgespannten  Verantwortungsgefühl  gegen  die 
Wissenschaft.  Seine  Lösungen  haben  weit  über  die  bisher  vor- 
liegenden Ergebnisse  hinausgeführt.  Er  hat  die  ältere  Lite- 
ratur, soweit  sie  noch  wie  Freiherr  v.  Drais  aus  eigener  Er- 
innerung an  altbadische  Einrichtungen  anknüpfen  konnte,  an 
Höhe  und  Weite  des  Gesichtspunktes  überholt  und  sie  selbst- 
verständlich quellenmäßig  vertiefen  können,  er  hat  schwach- 
begründete Urteile  wie  sie  in  der  Dissertation  von  H.  Dietrich 
oder  von  dem  glatten  Friedrich  von  Weech  über  die  Ver- 
waltung Karl  Wilhelms  gefällt  werden,  zurechtgerückt;  er  war 
in  der  Lage,  selbst  einen  so  glänzenden  Kenner  wie  Gothein 
an  einigen  Orten  berichtigen  zu  können.  In  der  geistesgeschicht- 
lichen Einschätzung  Schlossers  dürfte  L.  ihm  wie  dem  Schlosser- 
biographen Nicolovius  gegenüber  wohl  recht  behalten.  An- 
regungen aller  Art  sind  von  ihm  ausgestreut,  seine  Anmer- 
kungen eine  Fundgrube  für  die  Einzelforschung.  Streng  ge- 
schult wie  er  war,  blieb  er  sich  bewußt,  daß  jede  Geschicht- 
schreibung von  der  schlichten  Ermittelung  der  Tatsachen  aus- 
zugehen hat. 

Freihch  darüber  hinaus  stellte  er  sich  höhere  Ziele:  Er 
vergeistigte  sein  Aktenstudium  von  vornherein  durch  tief- 
schürfende Kenntnis  der  Literatur.  Er  konnte  schon  darum 
nicht  im  Stofflichen  versinken,  weil  er  Maßstäbe  an  der  Hand 
hatte,  die  ihm  gestatteten,  das  Wesentliche  aus  dem  Wüste 
des  Gleichgültigen  auszuscheiden.  L.  zog  nicht  nur  die  ein- 
schlägigen verfassungsgeschichtlichen  Werke  heran.  Er  be- 
herrschte die  badische  Sonderliteratur  vollkommen  und  schaute 
weit  hinaus  in  die  deutsche  Aufklärung.  Er  hatte  sich  in  die 
Schriften  der  damaligen  Rechtslehrer  eingelesen  und  war  über 
ihre    Reformbestrebungen   wohlunterrichtet.     Das   bedeutende 


Deutsche  Landschaften.  513 

Werk  von  Landsberg,  das  uns  die  Hauptströmungen  vergegen- 
wärtigt und  gleichzeitig  eine  Fülle  peinlichster  Kleinarbeit  aus- 
geschüttet hat,  wurde  von  ihm  mit  größtem  Nutzen  für  seine 
Zwecke  ausgebeutet.  Schon  das  Verzeichnis  der  benuzten 
Schriften  gibt  von  dem  weitgesteckten  Kreis  seiner  Interessen, 
seiner  Naigungen,  über  seine  eigenartige  und  festumrissene 
wissenschaftliche  Persönlichkeit  Auskunft.  L.s  Buch  ist  ein 
hervorragender  Beitrag  zur  Geschichte  der  deutschen  Auf- 
klärung: der  Jurist  wie  der  allgemeiner  eingestellte  Historiker 
sind  ihm  zu  gleichem  Danke  verbunden.  Wenige  sind  berufen, 
etwa  über  die  beginnende  Scheidung  der  Geister  zu  Ausgang 
des  18.  Jahrhunderts,  über  die  Anfänge  der  historischen  Schule 
und  ihren  Kampf  gegen  das  Naturrecht  so  mitzusprechen  wie 
Paul  Lenel  es  war. 

Den  wertvollen  und  mannigfaltigen  Inhalt  des  Buches 
hat  Wilhelm  van  Calker  in  der  Savignyzeitschrift  (Germ.  Abt. 
XXXIV,  1913)  eingehend  dargelegt.  Vom  Standpunkt  des 
Historikers  ist  etwa  folgendes  dazu  zu  bemerken:  Die  L.schen 
Untersuchungen  erstrecken  sich  auf  das  gesamte  Gebiet  der  Ge- 
setzgebung und  Justizverwaltung  der  Markgrafschaften  Baden- 
Durlach  und  Baden-Baden  vom  Regierungsantritt  Karl  Friedrichs 
bis  zur  Erhebung  zum  Kurfürsten,  also  bis  zur  Auflösung  des 
Reiches  und  dem  Anbruch  der  mittelstaatlichen  Ära.  Die  Lei- 
stungen dieses  Fürsten  und  seiner  Ratgeber  werden  einer  Würdi- 
gung unterzogen;  das  günstige  Gesamtbild  seines  aufgeklärten 
Regiments  bestätigt  sich  aufs  neue,  aber  im  einzelnen  ist  doch, 
wie  mir  scheint,  ein  viel  abgetönteres  Urteil  erreicht,  mag  es 
auch  in  manchem  kühler  gestimmt  sein  als  in  früheren  Dar- 
stellungen, die  einer  gewissen  Neigung  zu  fast  uneingeschränkter 
Bewunderung  unterlagen.  Es  ist  ein  Verdienst  Richard  Schmidts, 
daß  er  L.  darauf  hingewiesen  hat,  nun  einmal  auch  die  Errungen- 
schaften der  Gerichtsverfassung,  des  bürgerlichen  und  pein- 
lichen Rechts,  des  Straf-  und  Zivilprozesses  nachzuprüfen. 
Seine  Anregung  hat  schöne  Frucht  getragen.  Die  Ergänzung 
nach  dieser  Seite  hin  war  notwendig,  nachdem  die  wirtschaft- 
lichen Experimente  Karl  Friedrichs  und  seine  Verbindung  mit 
der  Physiokratie  solange  im  Vordergrund  gestanden  sind. 
L.  hat  der  anziehenden  Studie  Ludwigs  über  den  badischen 
Bauern  eine  Untersuchung  verwandten  Geistes  und  eine  Lösung 


514  Literaturbericht. 

zur  Seite  gestellt,  die  sich  neben  diesem  intimen  Kabinettstück 
landesgeschichtlicher  Darstellung  behaupten  kann.  Auch  er 
hatte  bei  aller  Vertiefung  in  partikulare  Besonderheiten  und 
nachbarliche  Territorien  wie  Württemberg  den  Blick  durchaus 
auf  die  allgemeine  deutsche  Entwicklung  eingestellt.  Er  hatte 
sich  überdies  am  Vorbild  der  führenden  preußischen  Verwal- 
tungshistoriker geschult,  er  brachte  zu  seiner  Aufgabe  eine 
starke  Bewunderung  für  Preußen  und  den  friderizianischen 
Staat  und  daher  einen  empfindlichen  Sinn  für  die  Kleinheit 
der  badischen  Verhältnisse  mit.  Wie  vieles  an  dieser  Enge,  an 
den  kleinstaatlichen  Schranken  gescheitert  ist,  zum  Teil  auch 
am  Mangel  geeigneter  Beamter,  trotzdem  einzelne  bemerkens- 
werte Männer  vorhanden  waren,  hat  L.  am  Schicksal  de'r 
früheren  Kodifikationsbestrebungen  nachgewiesen.  Daß  auch 
der  erleuchtete  Despotismus  des  Markgrafen  allerlei  Über- 
lebtes mitschleppte  und  nicht  ausschließlich  im  Zeichen  des 
Fortschritts  und  der  Humanität  stand,  geht  aus  dem  Kapitel 
über  Machtsprüche  in  Zivilsachen,  noch  mehr  aber  aus  der 
badischen  Strafrechtspflege  und  den  höchst  unerquicklichen 
Zuchthausverhältnissen  hervor.  Die  vergleichende  Basis  der 
L.schen  Fragestellung  bildet  einen  der  stärksten  Vorzüge  des 
Buches.  Überall  rückt  da  die  Praxis  ins  Licht  der  allgemeinen 
Aufklärungsbestrebungen  und  des  Ideenkampfes.  Das  rein 
Zuständliche  ist  mit  sicherem  Takt  erfaßt.  Die  Ausführungen 
über  die  Advokatur  sind  ein  lebensvoller  Ausschnitt  aus  der 
Geschichte  eines  damals  viel  geplagten  und  viel  angefeindeten 
Standes.  Die  Art  des  Strafvollzugs  im  Pforzheimer  Zuchthaus, 
ein  kleines  Sittenbild  für  sich,  dürfte  auch  den  Verehrer  Karl 
Friedrichs  überzeugen,  daß  das  Musterländle  seine  Schatten- 
seiten hatte.  Mit  einem  kurzen  Exkurs  zur  Landplage  des 
Jaunerwesens  im  schwäbischen  Kreis  hat  L.  sein  Werk  ge- 
schlossen; der  Ernst  klingt  aus  in  einen  Hauch  heimatlichen 
Humors,  wie  wir  ihn  aus  den  Erzählungen  Hebels,  aus  der 
Welt  des  Zundelheiner  und  Roten  Dieter  kennen,  eine  Spitz- 
bubenpoesie, die  sich  allerdings  in  der  Wirklichkeit  weniger 
liebenswürdig  und  sonnig  ausnahm  als  im  Rheinischen 
Hausfreund  des  behaglich  schmunzelnden  Prälaten. 

Savigny  bemerkt  einmal,  es  gelinge  nicht  immer,  der  Ge- 
schichte ihren  eigentümlichen  Geist  abfragen  zu  wollen.    Der 


I 


Deutsche  Landschaften.  515 

Vorsatz,  um  keinen  geringeren  als  nur  um  diesen  Preiszu  arbei- 
ten führe  unvermeidlich  zu  einer  oberflächlichen  Behandlung,  die 
bei  leerem  Anspruch  auf  Geist  in  der  Tat  fruchtloser  sei  als 
das  entgegengesetzte  ganz  materielle  Bemühen.  Savigny  ver- 
langt demgegenüber  wahrheitsliebende  Genügsamkeit  und  einen 
Ernst,  der  auf  den  Grund  zu  dringen  strebe,  als  erste  Erforder- 
nisse der  historischen  Forschung.  L.  war  gleichweit  davon 
entfernt,  im  StoffHchen  zu  versinken,  wie  den  Dingen  blendende 
Formeln  abpressen  zu  wollen.  Mit  innerem  Recht  hat  er  jenes 
edle  und  tiefsinnige  Wort  seinem  Buch  gleichsam  als  Leitspruch 
voraussenden  dürfen.  Er  hat  sich  gewünscht,  diesem  Pro- 
gramm zu  genügen.  Dem  VerbHchenen  wüßte  ich  kein  ehren- 
volleres Urteil  nachzurufen,  als  daß  er  im  Sinne  des  Meisters 
gearbeitet  und  seine  Aufgabe  gelöst  hat. 

Rostock.  W.  Andreas. 

Die  Gründung  der  Münchener  Hofbibliothek  durch  Albrecht  V 
und  Johann  Jakob  Fugger.  Von  Otto  Hartig.  412  S.  und 
8  Tafeln.  (Abhandlungen  d.  Bayer.  Akad.  d.  Wiss.  Histor.  Kl. 
1917.) 

Was  man  bisher  über  die  Anfänge  der  Münchener  Hof-  und 
Staatsbibliothek,  der  an  Handschriften  und  Frühdrucken  in 
Deutschland  unerreichten  Büchersammlung,  wußte,  beruhte  auf 
den  Arbeiten  von  Steigenberger  (1784)  und  Muffat  (1832).  Wie 
unzulänglich  bei  allem  Verdienst  diese  Versuche  waren,  zeigt  die 
reichhaltige  Veröffentlichung  Hartigs,  der  als  Kustos  an  dieser 
Bibliothek  waltet.  Der  liebevollen  Sorgfalt,  mit  der  er  außer 
den  Bibliothekbeständen  die  ergiebigen  archivalischen  Quellen, 
in  erster  Reihe  im  Münchener  Kreisarchiv  die  Hofzahlamts- 
rechnungen  und  Hofkammersessionsprotokolle  durchforschte, 
seiner  staunenswerten  Gelehrsamkeit  und  scharfsinnigen  Beweis- 
führung verdankt  man  eine  Fülle  von  neuem,  oft  überraschendem 
Licht.  Immer  wieder  vorgetragene  Überlieferungen  werden  als 
Fabeln  erwiesen,  so  die  Annahme,  daß  schon  die  Vorfahren 
Herzog  Albrechts  V.  etwas  besaßen,  was  den  Namen  einer  Biblio- 
thek verdiente.  Als  der  erste  Schritt  zur  Gründung  einer  solchen 
am  bayerischen  Hofe  ist  zu  betrachten  der  um  den  lächerlich 
geringen  Preis  von  1000  fl.  1558  vollzogene  Ankauf  der  Bücher- 
sammlung des  Humanisten  Joh.  Albrecht  Widmanstetter,  der 


516  Literaturbericht. 

eine  natürliche  Tochter  Herzog  Albrechts  V.  geheiratet  hatte. 
Der  gleich  seinem  Jugendfreunde  Fugger  nach  Bayern  über- 
gesiedelte Reichsvizekanzler  Seid  aus  Augsburg  schlug  Albrecht 
vor,  diese  „Liberey"  (an  deren  Erwerb  auch  Erzherzog  Maximilian, 
der  spätere  Kaiser,  gedacht  hatte),  von  Landshut  nach  München 
führen  zu  lassen  und  damit  eine  Hofbibliothek  zu  begründen. 
Am  26.  Februar  1561  erfolgte  die  Ernennung  des  ersten  herzog- 
lichen Bibliothekars,  des  Nürnbergers  Ägidius  Oertel;  sein  Be- 
stallungsbrief enthält  zugleich  die  erste  kurze  Bibliothekinstruktion. 
Den  nächsten  größeren  Zuwachs  brachte  die  Hinterlassenschaft 
des  Herzogs  Ernst,  des  Oheims  Albrechts  V.  Entscheidend  für 
den  Abschluß  und  die  Bedeutung  der  Gründung  war  aber  1571 
der  Ankauf  der  Bibliothek  des  seit  1565  an  den  Münchener  Hof 
übergesiedelten  Johann  Jakob  Fugger,  des  großen  Mäcenas  aus 
Augsburg.  Daß  diese  damals  die  berühmte  Schedeische  Bücher- 
sammlung bereits  in  sich  aufgenommen  hatte,  hat  schon  Stauber 
in  seiner  Dissertation  nachgewiesen.  Als  die  Ankaufssumme 
der  Fuggerschen  Bibliothek  nennt  der  Jesuit  Hoffäus  50000  fl.; 
der  Wert  war  nach  allgemeiner  Ansicht  70—80000  fl.  Den  Be- 
stand vermag  H.  im  einzelnen  genau  nachzuweisen.  Mit  diesen 
Erwerbungen  war  ein  reicher  Grundstock  besonders  in  lateinischen, 
griechischen  und  orientalischen  Handschriften  gewonnen;  neben 
ungefähr  1 1 000  Büchern  zählte  man  um  das  Ende  der  Gründungs- 
periode (1582)  ca.  650  lateinische  Handschriften,  ca.  150  deutsche, 
219  griechische,  256  hebräische,  60  andere  orientalische.  1602 
wurde  das  262  Nummern  umfassende  Verzeichnis  der  griechischen 
Handschriften  veröffentlicht,  der  erste  gedruckte  Handschriften- 
katalog einer  fürstlichen  Bibliothek  und  einer  der  frühesten  in 
Deutschland  überhaupt.  Wenn  einer,  schrieb  der  Antiquar 
Jakob  Strada  aus  Mantua  1575,  auf  die  gefeierten  Bibliotheken 
Italiens,  Frankreichs,  Spaniens,  Deutschlands  und  anderer  Länder 
verweisen  möchte,  so  werfe  er  mit  mir  einen  Blick  in  die  von 
München  und  ohne  Widerrede  wird  er  ihr  die  Palme  und  den 
Vorrang  unter  allen  zuerkennen,  was  fürwahr  nicht  wunder- 
nehmen kann,  wenn  man  erfährt,  daß  Johann  Jakob  Fugger  ihr 
Urheber  und  Schutzherr  war.  H.  hat  denn  auch  Fuggers  Anteil 
an  der  Gründung  so  hoch  bewertet,  daß  er  ihn  schon  im  Titel 
seiner  Schrift  neben  dem  Herzog  als  Mitgründer  erscheinen  läßt. 
1584  sind  einer  zweiten  Witteisbacher  Bibliothek,  der  Heidel- 


Deutsche  Landschaften.  517 

berger,  die  Bücherschätze  eines  Fugger  (Ulrich)  zugeflossen. 
Der  Seitenblick  auf  diese  Tatsache  gibt  dem  Verfasser  Anlaß, 
die  Verwirrung  zu  lösen,  die  —  nicht  zuletzt  durch  die  Schuld 
der  alten  Historiographen  des  Hauses  Fugger  —  hinsichtlich  der 
Fuggerschen  Bibliotheken  bisher  herrschte.  In  München  wurden 
Stradas  Ratschläge  für  den  1569  begonnenen  Prachtbau  der 
Bibliothek  und  des  Antiquariums  (in  der  alten  Residenz)  maß- 
gebend. Für  die  Einteilung  der  Bestände  wurde  das  biblio- 
graphische System  des  Fuggerschen  Organisators  Samuel  Quicchel- 
berg  durchgeführt,  der  gleichzeitig  mit  Fugger  in  München  ein- 
gezogen war.  Die  Zulassung  zur  Bibliothek  beschränkte  sich 
auf  einen  engen  Kreis  von  Personen,  die  dem  Hofe  näherstanden. 
Als  die  Beweggründe,  die  Albrecht  V.  bei  seiner  Gründung  die 
Richtung  wiesen,  bezeichnet  H.  mäcenatischen  Ehrgeiz,  nicht 
weniger  aber  auch  die  Absicht,  die  theologischen  Studien  zu 
fördern  und  literarisches  Rüstzeug  für  den  Dienst  der  Gegen- 
reformation anzuhäufen.  Das  stimmt  nicht  ganz  mit  dem  Inhalt 
der  freimütigen  Denkschrift  der  fürstlichen  Räte,  worin  der 
jugendliche  Fürst  als  indolent  und  jeder  ernsten  Beschäftigung 
abhold  erscheint.  Der  Schluß,  der  —  im  Zusammenhang  mit 
anderen  Zeugnissen  —  aus  diesem  Widerspruche  zu  ziehen  ist, 
ist  nicht,  daß  das  von  den  Räten  entworfene  Bild  Albrechts, 
dessen  hoher  Quellenwert  auch  von  H.  anerkannt  wird,  ver- 
zeichnet ist  und  keinen  Glauben  verdient,  sondern  daß  Albrecht  mit 
den  Jahren  ein  anderer,  seine  Lebensauffassung  eine  ernstere 
wurde,  insbesondere  an  Stelle  religiöser  Lauheit  der  ganze  Eifer 
der  katholischen  Restauration  trat.  Merkwürdig  ist  daneben 
die  von  H.  hervorgehobene  Beobachtung,  daß  die  Münchener 
Bibliothek  bis  zur  Aufhebung  der  Zensur  an  reformatorischer 
Literatur  nie  reicher  war  als  gerade  zur  Zeit  der  Gegenreformation. 
Mit  der  Bibliothek  Fuggers  war  der  Besitzstand  an  häretischen 
Büchern  bedenklich  angeschwollen.  Albrecht  aber  dachte  nicht 
daran,  sich  dessen  zu  entäußern,  vielmehr  hatte  er  1567  dem 
päpstlichen  Legaten,  Kardinal  Morone  vortragen  lassen,  daß 
seine  Bibliothek  nicht  nur  eine  ungeheuere  Zahl  verbotener 
Bücher  beherberge,  sondern  auch,  „cum  perfectissima  esse  debeaV\ 
noch  weiter  durch  solche  vergrößert  werden  müsse.  Morone  riet 
ernstlich  ab,  stellte  aber  die  Erlaubnis  in  Aussicht  unter  der 
Bedingung,  daß  die  verbotenen   Bücher  abgesondert  und  den 


I 


518  Liieraturbericht. 

Besuchern  der  Bibliothek  nicht  zugängHch  gemacht  würden. 
Man  beschränkte  sich  dann  darauf,  daß  man  unter  den  theoT 
logischen  Werken  eine  Abteilung  „NeotericV  ausschied,  bei  den 
weltlichen  aber  die  Titel  der  libri  prohibiti  in  den  Katalogen 
bei  der  endgültigen  Numerierung  überging,  so  daß  man  aus  der 
Art  der  Signatur  noch  jetzt  ersehen  kann,  was  als  unverdächtig, 
was  als  häretisch  galt.  Auch  V/ilhelm  V.  erhielt  (s.  das  S.  290 
gedruckte  Indultum  von  1579)  wie  sein  Vater  (dem  bei  diesem 
Anlaß  das  Prädikat  „sanctae  memoriae''  erteilt  wird),  die  Er- 
laubnis, alle  häretischen  und  verdächtigen  Bücher  ohne  Belastung 
seines  Gewissens  zu  behalten,  zu  lesen  und  im  Kampfe  gegen 
die  Ketzer  durchforschen  und  verwerten  zu  lassen,  nur  sollten  sie 
aus  der  allgemeinen  Bibliothek  entfernt,  an  einem  besonderen  Ort 
unter  doppeltem  Verschluß  gehalten  und  nur  denen  zugänglich 
gemacht  werden,  welche  die  Erlaubnis  des  päpstlichen  Stuhls 
oder  seiner  Nuntien  erhalten  haben. 

Nachdem  im  ersten  Teile  der  Schrift  der  äußere  Verlauf  der 
Gründung  festgestellt  wurde,  behandelt  der  zweite  Umfang  und 
Inhalt  der  vereinigten  Sammlungen.  In  den  Beilagen  sind 
teils  wichtigere  Urkunden,  Briefe,  Aktenstücke,  Inventare  usw. 
abgedruckt,  teils  Exkurse  niedergelegt,  in  denen  man  neuen 
positiven  Aufschlüssen  oder  doch  der  Widerlegung  hergebrachter 
haltloser  Ansichten  begegnet.  Das  gilt  vornehmlich  von  den 
Nachweisen  für  die  wichtigsten  Miniaturhandschriften  der  Biblio- 
thek. Die  bisher  nach  Albrecht  IV.  und  Albrecht  V.  benannten 
Gebetbücher  sind  diesen  Fürsten  niemals  zu  Gesicht  gekommen. 
Das  erstere —  in  keiner  Bibliothek  Europas,  meint  der  bücher- 
kundige Dibdin,  findet  sich  ein  kostbareres  Kleinod  dieser  Art  — 
wurde  1485  von  Sinibaldi  für  Lorenzo  den  Prächtigen  gemalt 
und  kam  erst  aus  dem  Besitze  der  Medici  an  Albrecht  V.,  viel- 
leicht sogar  erst  an  Wilhelm  V.  oder  Maximilian  I.  Das  sog. 
Gebetbuch  Albrechts  V.  von  Hoefnagel  ist  vielmehr  von  Maxi- 
milian I.  und  rührt  von  einem  unbekannten  Künstler.  Der  von 
Jean  Fouquet  gemalte  Boccaccio  zählt  nicht  zu  den  Erwerbungen 
Herzog  Maximilians;  die  Herkunft  ist  unbekannt,  in  erster  Linie 
darf  man  wohl  an  J.  J.  Fugger  denken,  wenn  auch  eine  Vermitt- 
lung niederländischer  Agenten  an  Albrecht  V.  nicht  ausgeschlossen 
ist.  Für  das  berühmte  Gebetbuch  Kaiser  Maximilians  I.  von 
Dürer  scheint  der  Hinweis  der   Schlußbemerkung,   S.  345,  be- 


j 


Deutsche  Landschaften.  519 

sonders  beachtenswert,  daß  der  Berater  Wilhelms  V.,  der  Augs- 
burger Patrizier  und  Kunstsammler  Philipp  Hainhofer,  um 
1609  Stücke  aus  der  Sammlung  Granvellas  an  sich  brachte.  Die 
Münchener  Handschrift  des  Fuggerschen  Ehrenspiegels  ist  die 
Urschrift,  das  bisher  dafür  gehaltene  Wiener  Exemplar  eine  ein 
halbes  Jahrhundert  später  angefertigte  Kopie  (eine  andere  liegt 
in  Dresden).  Unter  den  Beilagen  wird  auch  (S.  352f.)  der  älteste, 
von  dem  zweiten  Bibliothekar  Prommer  verfaßte  Landkarten- 
katalog der  herzoglichen  Bibliothek  vom  Jahre  1577  mit  den 
erforderlichen  Kommentaren  abgedruckt,  eines  der  lehrreichsten 
Dokumente  zur  Geschichte  der  Kartographie.  Nahezu  die  Hälfte 
der  hier  verzeichneten  Karten  ist  noch  nicht  aufgefunden,  in  der 
Münchener  Bibliothek  selbst  hat  sich  außer  der  des  Olaus  Magnus 
keine  erhalten.  Was  die  große  Einbuße  betrifft,  welche  die 
Bibliothek  1632  durch  die  Plünderung  der  Schweden  erlitt,  be- 
merkt H.  bei  Besprechung  der  unermittelten,  vermißten  und 
entfremdeten  Handschriften  (S.  123),  daß,  abgesehen  von  den 
aus  der  Kunstkammer  entführten  illustrierten  Drucken  und 
Handschriften  nach  Abzug  des  Feindes  in  der  Büchersammlung 
nahezu  2000  Werke,  darunter  50  namentlich  aufgeführte  deutsche 
Handschriften  vermißt  wurden.  Treffliche  Orts-  und  Sach- 
register, Personen-  und  Verfasserverzeichnisse  erhöhen  den  Wert 
der  gediegenen  Arbeit.  Die  Tafeln  geben  zumeist  alte  Einbände 
wieder.  In  der  Aufzählung  der  veröffentlichten  Handschriften- 
kataloge der  Bibliothek  (S.  III)  vermißt  man  die  von  zwei  Biblio- 
theksbeamten rührende,  1892  und  1894  erschienene  Neubearbei- 
tung des  Katalogs  der  lateinischen  Handschriften  Nr.  1 — 5250, 
die  gegenüber  der  ersten  Ausgabe  doch  sehr  viele  Ergänzungen 
und  Verbesserungen  brachte  (S.  108  wird  diese  Editio  altera  nur 
nebenbei  und  ganz  kurz  erwähnt). 

München.  5.  Riezler. 


Geschichte  der  Familie  Hoesch.    Von  Justus  Hashagen.    2.  Bd.: 

Vom   Zeitalter   der   Religionsunruhen    bis   zur   Gegenwart. 

2  Tle.    Unter  Mitwirkung  von  Fritz  Brüggemann.    Köln, 

Paul  Neubner.     1916.    XIX  u.  654  S. 

Das  hohe  Lob,  das  der  allzu  früh  seinen  Freunden  und 

der  Wissenschaft  entrissene  Hermann  Thjmme  für  die  „An- 


520  Literaturbericht. 

fange"  dieser  groß  und  tief  angelegten  Familiengeschichte  hier 
(Bd.  113,  1914,  S.  386  ff.)  gefunden  hat,  darf  füglich  auch 
für  die  beiden  folgenden  Bände  gelten,  die  in  rascher  Folge 
erschienen  sind.  Wie  schon  früher  hat  Fritz  Brüggemann 
umfangreiche  Vorstudien,  insbesondere  die  Aufstellung  eines 
Stammbaums  zur  Verfügung  gestellt,  die  Hashagen  selbst  rest- 
los verarbeiten  konnte. 

Mit  besonders  freudigem  Stolz  darf  der  Verfasser  mit  der 
Feststellung  beginnen,  daß  ein  von  ihm  im  ersten  Bande  ge- 
führter „Indizienbeweis"  über  die  wichtigste  genealogische 
Grundlage  der  Familienüberüeferung  durch  ein  neues,  ent- 
legenes Zeugnis  inzwischen  glänzend  bestätigt  wurde.  Auf  die 
Einzelheiten  dieser  Entdeckung,  die  aufs  neue  den  inneren 
Zusammenhang  der  Ausbildung  der  rheinischen  Industrie  mit 
den  konfessionellen  Kämpfen  des  16.  Jahrhunderts  erhärtet, 
kann  hier  nicht  eingegangen  werden.  Aber  dieser  Zufall  allein 
wirft  doch  ein  helles  Licht  auf  die  Zuverlässigkeit  und  Gründ- 
lichkeit der  Vorarbeiten,  die  Hashagen  seinem  Werke  gewid- 
met hat. 

Waren  im  ersten  Bande  auch  für  die  allgemeine  Geschichts- 
forschung die  kultur-  und  verfassungsgeschichtlichen  „Ex? 
kurse"  und  die  breite  Erörterung  der  reformatorischen  Be- 
wegung im  Herzogtum  Limburg  besonders  wichtig,  so  weitet 
sich  in  den  vorliegenden  Bänden  die  eigentliche  Familien- 
geschichte zu  eingehender  Darstellung  der  wirtschaftlichen 
Zusammenhänge.  Dem  schönen  Ziel,  das  H.  selbst  in  einem 
allgemein  orientierenden  Aufsatze  über  „Familiengeschichte  — 
Industriegeschichte  —  Landesgeschichte"  (Deutsche  Geschichts- 
blätter Bd.  18,  1917,  S.  187  ff.)  aufstellt,  daß  Industrie-  und 
Familiengeschichte  schon  wegen  des  ,,famiHenhaften  Charakters 
der  älteren  Unternehmung"  aufs  engste  verbunden  werden 
müssen,  kommt  er  hier  vor  allem  für  die  Darstellung  des  17. 
und  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  in  erfreulicher  Weise 
nahe.  Eine  allgemeine  Kulturgeschichte  des  ganzen  Eifelvor- 
landes  sprengt  geradezu  zeitweise  den  überlieferten  Rahmen  der 
Stammbaumforschungen.  Plastisch  treten  einzelne  Persön- 
lichkeiten aus  der  Zeitgeschichte  hervor.  An  den  Lebensgang 
des  eigentlichen  Gründers  der  „UnternehmerfamiUe"  z.  B.,  des 
jüngeren  Jeremias  Hoesch  (1610 — 1653),  knüpfen  sich  außer- 


Deutsche  Landschaften.  521 

ordentlich  lehrreiche  Ausführungen  über  die  Anfänge  der 
Aachener  Messingindustrie,  über  die  Kupfermühlen  in  den 
Eifeltälern  und  über  die  Lage  und  Entwicklungsfähigkeit  der 
Hüttenwerke.  Umfangreiche  Aktenstudien  über  Rechtshändel 
bieten  erwünschten  Einblick  in  Zoll-  und  Steuerfragen,  in 
Wasserrechte  und  Grunderwerb  der  einzelnen  Familienmit- 
glieder. Erst  in  der  Zeit  der  Revolutionen  aber  gelingt  es 
dem  Geschlecht,  aus  all  den  kleinen  Teilunternehmungen  zu 
neuzeithcher  Konzentration  vorzuschreiten.  Die  Familie  selbst 
teilt  sich  in  verschiedene  Zweige,  von  denen  jeder  einzelne 
seine  Kräfte  in  besonderen  Unternehmungsgruppen  zur  Geltung 
zu  bringen  sucht.  Die  Ausnutzung  der  Wasserkräfte  aber 
bleibt  auch  für  sie  zunächst  das  Entscheidende,  bis  die  eigent- 
lich ,, gemischten  Werke**  der  jüngsten  Entwicklung  wiederum 
das  Auseinanderstrebende  zu  neuer  Einheit  zusammendrängen. 
Mit  Hütten-,  Hammer-  und  Walzwerken  wird  ausgedehnter 
Grubenbesitz  verbunden.  Diese  ganze  überreiche  Entwicklung 
der  letzten  Jahrzehnte  kommt  vielleicht  nicht  so  stark  zur 
Geltung,  wie  die  Anfänge  der  einzelnen  Unternehmungen. 
Die  Überfülle  des  Stoffes  zwingt,  wie  mir  scheint,  hier  doch 
recht  häufig  zu  schnellem  Überblick,  wo  der  Leser  gern  ein 
tieferes  Eingehen  auf  die  großen  Wirtschaftsfragen  der  jüngsten 
Vergangenheit  erwartet  und  erhofft.  Ein  abgeschlossenes 
Stück  deutscher  Industriegeschichte  liegt  also  hier  nicht  vor. 
Die  letzten  Kapitel  des  schönen  Buches  locken  geradezu  zur 
Fortsetzung  und  Erweiterung. 

Schon  jetzt  aber  liegt  ein  überaus  erfreuliches  Beispiel  vor, 
wie  sich  aus  umfassender  historischer  Bildung  heraus  auch 
ein  so  spröder  Stoff,  wie  es  genealogische  Forschungen  im 
allgemeinen  doch  sind,  zu  belebender  Darstellung  gestalten 
läßt.  Gerade  in  dieser  Beziehung  wünschen  wir  dem  trefflichen 
Buche  recht  zahlreiche  Nacheiferer.  Dank  sei  dabei  auch  der 
verständnisvollen  Förderung  des  Unternehmens  durch  die 
Familie  selbst  gesagt,  deren  Unterstützung  die  Beigabe  zahl- 
reicher Karten  und  Zeichnungen  sowie  einer  Fülle  von  Ab- 
bildungen aller  Art  ermöglicht  hat. 

Düsseldorf.  P.  Wentzcke. 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  34 


522  Literaturbericht. 

Das  Haus  Brabant.  Genealogie  der  Herzoge  von  Brabant  und 
der  Landgrafen  von  Hessen.  Von  Dr.  C.  Knetsdi.  Darm- 
stadt, im  Selbstverlag  des  Historischen  Vereins  für  das 
Großherzogtum  Hessen.    4^     12  M. 

Eine  wissenschaftlichen  Anforderungen  genügende  Genealogie 
dieses  Hauses  hat  es  bisher  nicht  gegeben.  Insofern  ist  dieses 
Buch  etwas  neues.  Das  Haus  Hessen  rechnet  man  vom  Aus- 
sterben der  thüringischen  Landgrafen  (1247)  oder  vom  Ende 
des  thüringischen  Erbfolgestreites  (1263).  Ältere  Genealogen 
haben  als  die  ältere  Stammreihe  der  Landgrafen  von  Hessen 
immer  die  Landgrafen  von  Thüringen  betrachtet,  die  der  erste 
Landgraf  von  Hessen  als  Sohn  der  Tochter  der  heiligen  Elisabeth 
von  Thüringen  beerbt  hat.  Um  die  Ahnen  von  Vaters  Seite 
hat  man  sich  weniger  gekümmert,  da  sie  dem  Lande  Hessen 
fremd  waren.  Knetsch  faßt  nun  als  erster  die  Dynastie  als 
etwas  Zusammengehöriges  und  gibt  uns  eine  ganz  aus  den 
Quellen  gearbeitete  Genealogie  dieses  uralten  Geschlechts 
(„des  ältesten  Europas")  bis  zu  seinem  erkennbaren  Ursprung 
in  den  Zeiten  der  älteren  Karolinger.  Heute  liegt  erst  der  erste 
Teil  der  ganzen  Arbeit  vor,  der  uns  in  17  Geschlechtsfolgen 
die  hennegauischen  Grafen  von  Loewen,  seit  1106  Herzöge  von 
Niederlothringen  (seit  etwa  1191  auch  Herzöge  von  Brabant, 
1287  kam  Limburg  hinzu)  bis  zu  dem  völligen  Aussterben  in 
dem  herzoglichen  Hauptzweige  im  Jahre  1406  vorführt.  Ein 
Seitenzweig  1)  gelangte  in  einem  Sohne  Herzog  Heinrichs  IL 
von  Brabant  1264  nach  Hessen  und  begründete  hier  eine  neue 
Dynastie,  das  in  seinem  Hauptzweige  1866  entthronte  Kurhaus 
Hessen  mit  seinen  Nebenlinien  und  das  in  seinem  jüngsten 
Zweige  bisher  in  Darmstadt  regierende  großherzogliche  Haus 
Hessen.     Die    Genealogie    dieses    heutigen    Hauses    Brabant 


^)  Theoretisch  hat  demnach  auch  heute  noch  das  Haus  Hessen 
einen  Erbanspruch  auf  Brabant  (vgl.  desselben  Verfassers  Schrift- 
chen: „Des  Hauses  Hessen  Ansprüche  auf  Brabant".  Marburg, 
Elwert.  1915).  Gegenwärtig  gehört  das  Stammland  des  Hauses 
Hessen  zu  den  von  England  beschützten  kleinen  Staaten.  Der 
Weltkrieg  wird  auch  über  diese  nun  halbtausendjährigen  An- 
sprüche hinweggehen. 


Deutsche  Landschaften.  523 

führt  K.  in  dem  ersten  Teile  der  Arbeit  bis  auf  Landgraf 
Philipp  den  Großmütigen.  Der  zweite  Teil  soll  dann  das  Ge- 
samthaus Hessen  seit  der  Teilung  im  Jahre  1567  bis  auf  den 
heutigen  Tag  darstellen  und  von  jenem  Grafen  Giselbert  im 
Maasgau  und  dessen  Gemahlin,  einer  Urenkelin  Karls  des 
Großen,  bis  auf  den  heutigen  Großherzog  Ernst  Ludwig  von 
Hessen  und  bei  Rhein  bis  in  die  32.  Geschlechtsfolge  geführt 
werden. 

Mit  diesem  Buche  hat  der  Verfasser,  der  als  Genealoge 
im  besten  Sinne  besonders  durch  sein  Buch  „Goethes  Ahnen" 
(1908)  weiteren  Kreisen  vorteilhaft  bekannt  geworden  ist, 
eine  Arbeit  geliefert,  die  schlechthin  als  vorbildlich  gelten  kann. 
Arbeitsmethode,  Anordnung  und  Ausstattung  sind  gleich  vor- 
trefflich. Die  heraldischen  Beigaben  von  Otto  Ubbelojides 
Meisterhand  könnten  von  keinem  besser  gemacht  werden.  Wenn 
K.  auch  die  Bastarde  des  Hauses  Brabant  verzeichnet,  so  er- 
füllt er  eine  selbstverständliche  wissenschaftliche  Forderung. 
Doch  muß  gesagt  werden,  daß  man  den  angeblichen  spurius 
Heinrich  Landgrebe  (S.  59)  und  erst  recht  den  secretarius 
Johann  Nordeck  (S.  68)  in  einer  Genealogie  des  Hauses  Brabant 
lieber  vermissen  würde.  Zu  S.  6  kann  hinzugefügt  werden,  daß 
auch  Philipps  des  Großmütigen  Tochter,  Herzogin  Christine 
von  Holstein,  die  Wand  eines  Saales  im  Kieler  Schlosse  mit 
einem  Stammbaum  in  aufsteigender  Linie  hat  schmücken 
lassen,  worauf  ihre  väterlichen  Ahnen  bis  auf  Karl  den  Großen 
hinaufgeführt  waren.  „Es  ist  aber  zu  besorgen,"  schrieb  1775 
Joh.  Heinrich  Fehse  in  Schwarzes  Gesammelten  Nachrichten 
von  der  Stadt  Kiel  im  Holsteinischen,  „daß  dies  merkwürdige 
Stück,  da  es  bei  der  letzten  Reparatur  des  Schlosses  ziemlich 
vermodert  abgenommen  und  noch  nicht  wieder  hergestellet, 
wegen  Mangel  der  Kenner  nicht  geachtet  wird."  Diese  Be- 
fürchtung Fehses  ist  leider  eingetroffen,  heute  ist  keine  Spur 
mehr  davon  vorhanden  (vgl.  Volbehr,  Beiträge  zur  Topo- 
graphie der  Stadt  Kiel  in  den  letzten  drei  Jahrhunderten. 
Kiel  1881,  S.  l-6f.  [Mitt.  d.  Ges.  f.  Kieler  Stadtgeschichte,  Heft  3 
und  4]). 

Kiel.  Franz  Gundlach, 


34' 


i 


524  Literaturbericht. 

Die  protestantischen  Schulen  der  Steiermark  im  16.  Jahrhundert. 
Von  Dr.  Joh.  Loserth,  Berlin,  Weidmannsche  Buchhand- 
lung. 1916.  XVIII  u.  217  S.  6  M.  {Monumenta  Germaniae 
PaedagogicUy  Bd.  LV.) 

Das  G.  Loesche  gewidmete  Werk  bietet  dem  Leser  ein  lebens- 
volles Bild  von  dem  kurzen  Aufstieg  des  protestantischen  Schul- 
wesens in  der  Steiermark  und  seinem  plötzlichen  Zusammen- 
bruch durch  die  Gegenreformation,  die,  im  Oktober  1579  be- 
ginnend, im  letzten  Jahrzehnt  des  Jahrhunderts  unter  Ferdinand  1 1. 
mit  voller  Wucht  einsetzend,  die  Schließung  der  protestantischen 
Schulen  durchsetzte.  In  der  Einleitung  weist  L.  darauf  hin, 
daß  vor  dem  Humanismus  trotz  der  Bemühungen  der  Mendikanten- 
klöster  und  des  Deutschen  Ordens  das  Schulwesen  in  der  Steier- 
mark ziemlich  danieder  lag  und  daß  erst  die  Reformation  in  der 
zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  eine  wesentliche  Besserung 
brachte.  Schon  die  Aufrichtung  eines  protestantischen  Schul- 
wesens stand  im  Zeichen  des  religiösen  Gegensatzes.  Der  steirische 
Adel,  der  seine  Söhne  mit  Vorliebe  auf  die  protestantischen 
Universitäten  in  Deutschland  schickte,  beschloß  ein  selbständiges 
protestantisches  Schulwesen  zu  gründen,  als  der  Salzburger  Erz- 
bischof Ernst,  gestützt  auf  das  Interim,  1549  durch  die  Beschlüsse 
der  Salzburger  Provinzialsynode  eine  katholische  Reform  der 
Kirchenprovinz  in  die  Wege  leiten  wollte.  Dieser  Vorstoß  führte 
in  Steiermark  und  Kärnten  im  Gegenteil  dazu,  daß  Adel  und 
Städte  sich  offen  zur  Augsburgischen  Konfession  bekannten  und 
fremde  protestantische  Lehrer  in  das  Land  beriefen.  Der  Augs- 
burger Religionsfrieden,  den  die  steirischen  Stände  und  Städte, 
zunächst  ohne  Widerspruch  zu  verfahren,  auch  auf  sich  bezogen, 
förderte  diese  Bestrebungen,  zumal  der  schon  beginnende  Wett- 
bewerb der  Jesuiten  besonders  in  Graz  zur  Eile  riet.  So  schritt 
man  1569  vor  allem  zum  Neubau  der  aus  der  vorprote- 
stantischen Zeit  schon  bestehenden  Stifts-  oder  Landschafts- 
schule, die  vom  Adel  für  die  Erziehung  seiner  Söhne  gegründet 
worden  war,  beauftragte  den  Rostocker  Professor  Chyträus  mit 
der  Ausarbeitung  einer  Schulordnung  und  suchte  durch  Heran- 
ziehen der  Grazer  Bürgersöhne  die  Lebensfähigkeit  der  Schule  zu 
sichern.  Von  dieser  Stiftsschule,  der  der  Hauptteil  der  Darstel- 
lung gewidmet  ist,  werden  nun  Organisation,  Schulordnungen, 
Klassen,   Lernstoff,    Inspektion,    Lehrpersonen,    Schüler,    Stifts- 


J 


England.  525 

Ökonom  und  Bibliothek  anschaulich  geschildert  und  die  Ent- 
wicklung der  Anstalt,  die  nicht  immer  den  gehegten  Erwartungen 
und  den  großen  aufgewendeten  Kosten  entsprach,  in  den  folgenden 
zwei  Jahrzehnten  verfolgt  bis  zur  reformierten  Schulordnung 
von  1594  und  der  Aufhebung  der  Schule  vier  Jahre  später.  Eine 
knappere  Behandlung  erfahren  infolge  des  dürftigen  Quellen- 
materials die  Landschaftsschule  in  Judenburg  und  die  kleineren 
protestantischen  städtischen  Schulen  in  den  anderen  steirischen 
Städten  und  Märkten.  In  einem  Schlußkapitel  wird  dann  die 
vernichtende  Wirkung  der  Religions-Reformationskommissionen 
und  der  letzte  vergebliche  Versuch  des  protestantischen  Adels, 
eine  neue  Landschaftsschule  in  Schwanberg  zu  gründen,  geschildert. 
45  geschickt  ausgewählte  Beilagen,  die  Verträge,  Bestallungen, 
Schulordnungen,  Urkunden  über  die  Stiftsbibliothek,  allgemeine 
Dekrete,  Stiftungen,  Rechnungen  und  Statistisches  enthalten, 
sowie  ein  gutes  Register  ermöglichen  eine  Nachprüfung  der  vorauf- 
gehenden Darstellung. 

Breslau.  E.  Maetschke. 


W»  A,  Dunning,  The  British  Empire  and  the  United  States. 
A  review  of  their  relations  daring  the  Century  of  peace  fol- 
lowing  the  treaty  of  Ghent.  London,  George  Allen.  1914. 
XL  u.  381  S. 

Dunnings  stoffreiches  Werk  verdient  schon  deshalb  Auf- 
merksamkeit, weil  es  die  bezeichnenden,  nicht  immer  genügend 
gewürdigten  Merkmale  des  angelsächsischen  Geschichtsbuches 
in  charakteristischer  Vereinigung  an  sich  trägt:  eine  klare,  ge- 
schmackvolle, man  möchte  beinahe  sagen  vornehme  Schreibart, 
eine  übersichtHche,  entgegenstehende  Schwierigkeiten  mit  einer 
gewissen  Eleganz  beseitigende  Gliederung  beträchtlicher  Material- 
massen, aber  nicht  nur  formale  Vorzüge,  sondern  auch  sach- 
lich Beherrschung  wichtiger  Teile  des  Gegenstandes,  gute  Quellen- 
und  Literaturkenntnis,  verbunden  mit  treffendem  historisch- 
politischen und  völkerrechtlichem  Urteil.  Aber  das  in  diesen 
schönen  Rahmen  eingespannte  Bild  zeigt  auch  Flecken.  Denn 
die  auch  in  der  Geschichtswissenschaft  bewährte  Devise:  non 
admirari,  sed  intelligere  ist  für  den  Verfasser  nicht  in  erster  Linie 
maßgebend.  Der  Zweck  seines  Buches  ist  offenbar  nicht  in  erster 


526  Literaturbericht. 

Linie  historisch-wissenschaftlich,  sondern  poHtisch.  Welcher  Art 
seine  gewiß  nicht  immer  bewußte  Tendenz  ist,  ergibt  sich  mit 
annähernder  Sicherheit  schon  aus  dem  Erscheinungsjahre  des 
Werkes.  Es  stammt  aus  der  Zeit  wachsender  englisch-amerikani- 
scher Annäherung  und  soll  zu  seinem  Teile  dazu  beitragen.  Man 
lese  die  höchst  bemerkenswerte  Einleitung  aus  der  Feder  von 
James  Bryce,  dessen  Beurteilung  in  deutschen  Fachkreisen  jetzt 
auch  wohl  einer  Nachprüfung  bedarf.  Dunning  selbst  ist  geneigt, 
die  großen  Gegensätze  zwischen  England  und  den  Vereinigten 
Staaten  in  der  Vergangenheit  abzuschwächen,  gelegentlich  mehr 
auf  „Mißverständnisse"  als  auf  Interessenkonflikte  zurückzu- 
führen und  anderseits  die  lange  und  hoffnungsvolle  Geschichte 
der  Wiederannäherung  zwischen  den  beiden  sprachverwandten 
Nationen  dem  Leser  eindringlich  vor  die  Augen  zu  malen.  Von 
jeder  Aufdringlichkeit  hält  sich  der  durchweg  mit  amerikanischer 
Nüchternheit  urteilende  Verfasser  im  allgemeinen  frei.  Nur  die 
Überschrift  des  vierten  Kapitels:  ,yThrough  threefold  tension  to 
harmony''  mutet  dem  kritischen  Leser  etwas  zu  viel  zu,  da  sie 
sich  nicht  auf  das  20.  Jahrhundert,  sondern  auf  die  Zeit  vor  dem 
Bürgerkriege  bezieht.  Auch  erklären  sich  gewisse  auffallende 
Lücken  der  sonst  stellenweise  ziemüch  eingehenden  Darstellung 
zum  Teil  aus  dieser  Tendenz:  so  die  Vernachlässigung  des  im- 
perialistischen Kernes  schon  der  Urgeschichte  der  Monroelehre, 
ferner  später  die  mangelhafte  Berücksichtigung  der  beiderseitigen 
Presse  und  ihres  Versöhnungswerkes  und  anderseits  der  auch  nach 
dem  Spanischen  Kriege  fortdauernden  Spannung  sowie  der  amerika- 
nischen Irenfrage.  Die  interessante  Darstellung  der  innerpoliti- 
schen Verständigung  hätte  kulturpolitisch  tiefer  greifen  sollen. 
Dann  wären  auch  die  älteren  Pioniere  des  anglo-amerikanischen 
Ausgleichs,  wie  Dickens  und  namentlich  Irving,  mehr  zur  Geltung 
gekommen.  Die  äußerpoHtischen  Teile  verraten  weltpolitisch 
und  weltwirtschaftlich  öfters  einen  zu  schmalen  Unterbau.  Auf 
Einzelheiten  einzugehen,  fehlt  hier  der  Raum.  Vielleicht  darf 
aber  auf  den  zehnten  Band  des  Weltwirtschaftlichen  Archivs 
(1917)  verwiesen  werden,  wo  einiges  Weitere  zur  Kritik  D.s  in 
einen  Aufsatz  des  Referenten  „Zur  Entwicklungsgeschichte  der 
äußerpolitischen  Beziehungen  zwischen  England  und  den  Ver- 
einigten   Staaten   von   Amerika'*   eingeflochten   ist. 

Bonn.  y.  Hashagen, 


Italien.  527 

Istituto  Storlco  Italiano.  Kgl.  Preußisches  Historisches  Institut. 
Regesta  Chartarum  Italiae  Nr.  4,  5,  6,  7,  8,  9 : 

Regesto  di  Coltibuono  a  cura  di  D,  Luigi  Pagliai,  XI  U.313S. 
—  Regesto  di  Camaldoli  a  cura  di  L,  ScbiaparelU  e 
F,  Baldasseronl.  Vol.  II.  VII  u.  336  S.  —  Regesto  del 
capitolo  di  Lucca  a  cura  dei  canci  P,  Guidi  e  O,  ParentL 
Vol.  I,  II.  XI  u.  446,  359  S.  —  Regesto  detla  chiesa  di  Ra- 
venna,  Le  carte  delV  archivio  Estense  a  cura  di  V,  Federicl 
e  G.  BuzzL  Vol.  I.  II  u.  387  S.  —  Regestum  Senense. 
Regesten  der  Urkunden  von  Siena,,  bearbeitet  von  Fedor 
Schneider.  Bd.  1.  XCV  u.  458  S.  —  Roma,  Ermanno  Loescher 
&  Co.  (W.  Regenberg).    1909—1912. 

In  gemeinsamer  Arbeit  zweier  führender  historischer  In- 
stitute, des  Preußischen  Historischen  Instituts  in  Rom  und  des 
Istituto  Storico  Italiano,  begonnen  und  vor  dem  Kriege  rasch 
vorwärts  schreitend,  werden  die  Regesta  Chartarum  Italiae 
immer  als  Denkmal  fruchtbarster  gemeinsamer,  des  eigenen 
Volkstums  stets  bewußter  und  doch  nicht  an  politischen  oder 
nationalen  Grenzen  Halt  machender  Arbeit  einen  Ehrenplatz 
in  der  Geschichte  unserer  Wissenschaft  behaupten,  an  deren 
beste  Oberlieferungen  sie  mit  dem  Titelmedaillon  von  Muratori 
und  Leibniz  erinnern.  Auf  einem  gemeinsamen  Plan  beruhend, 
aber  im  einzelnen  sowohl  in  der  Fassung  der  Regesten  wie  in 
der  Umgrenzung  des  Stoffes  mannigfach  verschieden  aus- 
geführt, trägt  das  Unternehmen  im  allgemeinen  schon  in  dem 
Namen  der  beiden  großen  Institute  die  Gewähr  solider  Arbeit 
in  sich,  die  mit  der  Erschließung  neuen  umfangreichen,  wenn 
auch  wesentlich  lokalen  Quellenstoffes  nicht  nur  die  Territorial- 
und  Ortsgeschichte  Italiens,  sondern  auch  die  Geschichte  der 
örtlichen  Reichsverwaltung  und  Reichspolitik  in  der  Zeit  der 
deutschen  Kaiserherrschaft,  besonders  im  13.  Jahrhundert, 
wesentlich  fördert  und  auf  dem  Gebiete  der  Handels-  und  Finanz- 
geschichte mitunter  sogar  wichtige  neue  Erkenntnisse  von 
allgemeiner  Bedeutung  begründet.  Die  regional  angelegten 
deutschen  Bände,  die  natürlich  von  vornherein  dem  Reiche 
enger  verbundene  Gebiete  ins  Auge  faßten  und  darum  für  die 
Reichsgeschichte  unmittelbar  weit  ergiebiger  sind,  suchen  ihr 
Ziel,  mit  Beschränkung  auf  die  Zeit  vor  1300,  durch  eine  Aus- 
wahl des  mehr  als  ein  nur  örtliches  Interesse  bietenden  Stoffes  zu 


528  Literaturbericht. 

erreichen  und  machen  deshalb  gedruckte  Archivinventare,  wie 
sie  für  Siena  A.  Lisini  im  Bull. Senese  di  storia  patriaXlU — XVI, 
vgl.  XVIII,  bietet,  nicht  überflüssig,  zeichnen  sich  aber  durch 
die  größere  kritische  Durchdringung  und  eine  bereits  mehr 
oder  weniger  weit  geführte  Verarbeitung  des  Materials  aus. 
Die  italienischen  Bände,  denen  durchweg  der  Rat  von  L.  Schia- 
parelli  zugute  gekommen  ist,  gehen  dagegen  auf  Vollständig- 
keit in  der  Verzeichnung  der  einschlägigen  Urkundenfonds 
aus  und  stellen  sich  somit  als  institutionell  begrenzte  Archiv- 
inventare dar.  Zeitlich  verteilt  sich  der  Inhalt  der  vorliegenden 
Bände  folgendermaßen: 

R.  Cam.  II 


R.  Sen.  I 
(713-1235): 

vor     800:         2 

801-900:         6 

R.Luc.  I.  II 
(774—1186): 

1 

1 

;?.  Rav.  I 
(896-1247): 

1 

R.Cul 
(945-121 

901-961: 

7 

17 

— 

2 

962-1000: 

7 

37 

— 

4 

1001-1100: 
1101-1200: 
seit      1200: 

119 
253 

635 

556 
938 

2 

129  +  38 
393+197 

216 
334 

739 


Die  große  Mehrzahl  dieser  Stücke  war  bisher  ungedruckt. 

Während  die  italienischen  Bände  sich  auf  kurze  Angaben 
über  die  archivalischen  Quellen  und  einige  Formalien  be- 
schränken und  zum  Teil  ausführlichere  Nachweisungen  für 
später  in  Aussicht  stellen  und  den  einzelnen  Nummern  nur 
sehr  selten  sachliche  Erläuterungen  beigeben,  ist  das  inhaltlich 
sehr  interessante  Reg.  Sen.  nicht  nur  weit  öfter  mit  lehrreichen 
sachlichen  Anmerkungen  und  einer  umfangreichen  Einleitung 
versehen,  die  u.  a.  einen  erwünschten  „Überblick  über  Sienas 
Entwicklung  zur  freien  Reichsstadt  und  seine  politische  Ge- 
schichte bis  1235"  und  Verzeichnisse  der  Bischöfe  Sienas  465 
bis  1307  und  seiner  Konsuln  und  Podestä  1125—1235  enthält. 
Für  die  Arbeitsweise  des  rührigen  und  gelehrten,  aber  zu- 
weilen zu  Übertreibungen  neigenden  Bearbeiters,  dessen  Werk 
trotz  einiger  Versehen  und  Unausgeglichenheiten.  Dank  und 
alle  Anerkennung  verdient,  gilt  das  Hist.  Zeitschr.  103,  S.  413  ff. 
anläßlich  des  Reg.  Volaterranum  Bemerkte.  Auf  Schneiders 
polternde  Polemik  dagegen  einzugehen,  liegt  um  so  weniger 
Grund  vor,  als   Schneider  einerseits  meine  Worte  mehrfach, 


i 


Italien.  529 

ich  will  nicht  sagen  „illoyal",  aber  höchst  „wenig  sorgsam** 
verdreht,  anderseits  aufs  ausdrücklichste  die  Berechtigung  von 
Breßlaus  großenteils  die  gleichen  Punkte  betreffender,  eher 
schärfer  urteilender  Kritik  im  Neuen  Archiv  33,  S.  267  f.  an- 
erkennt. Sehr  schwierig  liegt  oft  hier  und  noch  mehr  in  den 
italienischen  Bänden  die  Datierungsfrage,  die  als  einziger 
Seh.  in  dankenswerter,  aber  doch  noch  nicht  erschöpfender 
Weise  näher  erörtert.  Der  Grundsatz,  in  Zweifelsfällen  für 
die  Einreihung  einfach  dem  Inkarnationsjahr  den  Vorzug  zu 
geben  (so  ausdrücklich  R,  Camald.  II,  R,  Cultusboni  S.  X), 
scheint  mir  allgemein  und  besonders  in  den  Fällen  nicht 
berechtigt,  wo  zwei  andere  Angaben  übereinstimmend  von 
diesem  abweichen  (so  z.  B.  R.  Cult.  Nr.  30  eher  zum  April 
1039  als  1038);  zu  warnen  scheint  mir  auch  vor  der  üblichen 
Geringschätzung  der  Indiktionsangaben,  bei  deren  kleinen 
Zahlen  Irrtümer  in  der  Berechnung  oder  Schreibfehler  viel 
seltener  vorkommen  dürften,  als  bei  den  hohen  Zahlen  der 
Inkarnationsjahre;  Beispiele  dafür,  daß  diese  im  früheren 
MA.  oft  gerade  das  unsicherste  Element  der  Datierung  sind, 
ließen  sich  unschwer  erbringen.  Die  Originaldatierung  sollte, 
abgesehen  etwa  von  genau  bekannten  Papst-  und  Kaiserurkunden, 
immer,  nicht  nur  bei  Inedita,  angegeben  werden.  /?.  Sen.  I 
Nr.  17  gehört  zu  966,  nicht  969,  Nr.  116  zum  19.  Dez.,  nicht 
Nov.  1087,  Nr.  124  wohl  eher  zum  17.  Sept.  1092  als  1091, 
Nr.  10,  wie  Seh.  bereits  selbst  in  Qu.  u.  F.  a.  it.  Arch.  u.  Bibl. 
XVI,  19  Nr.  II  verbessert  hat,  zu  1059,  nicht  zu  924.  —  Aus 
R.  Camald.  II  sei  Nr.  1247,  ein  altes  Regest  einer  Urkunde 
König  Heinrichs  VI.,  Foligno  1187  Jan.  28.  hervorgehoben 
(vom  gleichen  Tage  Nr.  1246  =  Stumpf  4603).  In  Nr.  1107 
vom  Juni  1154  ist  Thederico  rege  in  Federico  (vielleicht  Ffed.?) 
zu  verbessern.  —  Im  R.  Ravenn.  /,  dem  gesondert  ein  Ver- 
zeichnis von  235  heute  verlorenen  Urkunden  aus  dem  Inventar 
von  1545  beigegeben  ist,  belegt  Nr.  68  (8.  Sept.  1177)  die  aus 
MG.  SS.  XIV,  84  {Hist.  duc.  Yen.)  bekannte  Anwesenheit  des 
Erzbischofs  Gerhard  von  Ravenna  in  Venedig,  also  bei  Ab- 
schluß des  Friedenswerkes  zwischen  Kaiser  und  Papst,  das 
sich  auch  in  der  Datierung  dieses  Stückes  widerspiegeln  dürfte. 
Nr.  19  gehört  zum  2.  August  1163  nicht  1133.  Von  Datierungen 
nach  deutschen  Königen,  für  die  alle  Bände  dieser  Sammlung 


530  Literaturbericht. 

viele  und  interessante  Beispiele  bringen  (im  R.  Luc,  nur  bis 
zum  Tode  Konrads  II.),  sei  Nr.  6  vom  23.  April  1122,  also 
noch  vor  dem  Wormser  Konkordat,  bemerkt,  weil  Erzbischof 
Walter  von  R.  der  päpstlichen  Partei  angehörte.  Auch  die 
Zeugenaussagen  über  die  Hoheitsrechte  des  Erzbischofs  von  R. 
in  einigen  Burgen  derRomagna  gegenüber  Ansprüchen  des  Reichs 
Nr.  120  (1194—1204)  seien  nicht  übergangen.  Nr.  38,  1160 
Sept.  8.  tritt  der  mag.  Johannes  Federici  imp.  ad  partes  Ferarie 
legatus  et  capellanus  auf,  den  Ficker  zum  Jahre  1161  kennt.  — 
Das  rechts-  und  kulturgeschichtlich  wie  auch-  sprachHch  recht 
interessante  R.  Cultusboni  (Coltibuono  im  oberen  Arnotal,  Diöz. 
Fiesole,  zur  Kongregation  von  Vallumbrosa  gehörig)  ist  als 
einziger  der  hier  anzuzeigenden  Bände  bereits  mit  einem  be- 
sonders durch  die  Aufnahme  zahlreicher  Sachausdrücke  sehr 
nützlichen,  wenn  auch  nicht  ganz  vollständigen  Register  ver- 
sehen; doch  dürfte  sich  für  die  Zukunft  die  Trennung  in  ein 
Namen-  und  ein  zugleich  als  Glossar  auszugestaltendes  Sach- 
register empfehlen.  Vermißt  wird  z.  B.  ein  Artikel  Salici  2, 
23,  79,  216,  269  und  Franci  23.  Es  fehlen  auch  die  Lambardi 
de  Selvole  537;  bei  Lambardi  de  la  Gerda  ergänze  92;  mit  den 
Lambardi  wären  die  Langobardi  de  Prisciano  zusammenzufassen 
und  bei  diesen  wieder  noch  weitere  Stellen,  wie  229,  anzu- 
führen. Für  die  Bedeutung  des  germanischen  Elements  in  der 
italienischen  Gesellschaft  des  früheren  Mittelalters  sind  übrigens 
auch  das  R.  Sen.  und  das  R.  Luc.  (z.  B.  I  Nr.  372,  377  von 
1071:  Alamanne;  Nr.  696  von  1109:  Salier;  Nr.  1365  von  1177: 
Rugerius  Teutonicus;  oft  Langobarden)  recht  ergiebig  (vgl. 
R.  Rav.  I  Nr.  46,  47,  124  von  1164  und  1196:  Teutonici).  Aus 
diesem  und  anderem  Material  ließe  sich  eine  lehrreiche  Zu- 
sammenstellung über  dieses  Thema  machen.  R.  Cult.  Nr.  179 
(Okt.  1087  oder  1085)  betrifft  die  Übergabe  der  Braut  an  den 
Gatten  durch  ihre  Mundwalde.  Nr.  27  gehört  sicherHch  nicht 
zu  1037,  sondern  zu  1049  oder  1050.  —  Das  R.  Luc.  bringt, 
so  oft  auch  bereits  die  gerade  für  die  frühere  Zeit  ganz  außer- 
ordentlich großen  Urkundenbestände  Luccas  ausgewertet  sind 
und  so  viel  daraus,  aber  namentlich  aus  dem  für  das  9.  und 
10.  Jahrhundert  unvergleichlich  reicheren  Archiv  des  Bistums, 
nicht,  wje  hier,  des  Domkapitels,  auch  bereits  veröffentlicht 
worden    ist,    doch    noch    eine    Menge    neuen    Materials;    die 


Italien.  531 

Hauptstücke  von  allgemeinerer  Bedeutung,  wie  Papst-  und 
Königsurkunden  vor  dem  13.  Jahrhundert,  sind  freilich  hier, 
wie  meist  auch  bei  den  andern  Bänden,  schon  anderweitig  ge- 
druckt. Die  neue  Veröffentlichung  soll  bis  1200  geführt  werden 
und  alle,  heute  im  Kapitelsarchiv  beruhenden  Stücke  umfassen, 
also  auch  die  erst  später  damit  verschmolzenen  Fonds  von 
fünf  anderen  Stiftern.  Als  sachlich  interessant  seien  z.  B.  an- 
gemerkt Nr.  649,  650,  693  vom  2.  April  1105  und  2.  April  1109, 
wo  für  bestimmtes  Land  jenseits  des  Serchio  der  Fall  vorge- 
sehen wird,  daß  es  per  ostem  regis  aut  marchionis  verwüstet 
werde;  Nr.  872  vom  3.  Juni  1130:  Testament  eines  Singno- 
rellus,  der  nach  Jerusalem  ziehen  will;  Nr.  891  vom  13.  April 
1132:  ein  Wido  lebte  nach  römischem  Recht,  weil  sein  väter- 
licher Großvater  GeistHcher  war;  Nr.  931  vom  I.Juli  1139: 
ein  Sulimannus  qd.  Feralficci.  Die  Erinnerung  an  das  Walten 
König  Konrads,  des  Sohnes  Heinrichs  IV.,  in  Italien  lebt  foVt 
in  dem  Vilielmus  regis  Cunradi  not.  in  Buggiano  9.  Mai  1118 
(oder  1117),  Nr.  760,  761.  Nr.  849  und  850  gehören  zum  28. 
nicht  27.  Febr.  1128,  Nr.  15  vielleicht  zum  23.  Nov.  960  (wenn 
man  „A.  rengni  Berengarii  et  Adalberti  eins  f.  regum  X.,  Villi'' 
kal.  Decr  statt  ./egurn,  XVIIIP  k.  D."  lesen  darf).  In  der 
Arbeit  von  R.  Endres.  über  „Das  Kirchengut  im  Bistum  Lucca 
vom  8.  bis  10.  Jahrhundert",  Zeitschr.  f.  Sozial-  u.  Wirt- 
schaftsgesch.  XIV  (1918),  S.  240  ff.  ist  das  R.  Luc.  noch 
nicht  benutzt. 

Berlin-Steglitz.  A.  Hofmeister. 


Notizen  und  Nadiriditen. 


Die  Herren  Verfasser  ersuchen  wir,  Sonderabzüge  ihrer 
in  Zeitschriften  erschienenen  Aufsätze,  die  sie  an  dieser  Stelle 
berücksichtigt  wünschen,  uns  freundlichst  einzusenden. 

Die  Redaktion. 

Allgemeines. 

Im  Verlag  Trowitzsch  &  Sohn,  Berlin,  erscheint  Die  Ostsee, 
Deutsche  Zeitschrift  für  Wirtschaft  und  Kultur  der  Ostseeländer. 
Herausgeber  Dr.  Rieh.  Po  hie.  Monatlich  2  Hefte.  Preis  halbjähr- 
lich 7  M. 

Erich  Marcks  kann  seine  prächtige  Sammlung  „Männer  und 
Zeiten.  Aufsätze  und  Reden  zur  neueren  Geschichte"  schon  in  5.  Auf- 
lage vorlegen  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  1918.  2  Bde.  XII,  456  u. 
417  S.,  geb.  18  M.).  Gegenüber  der  4.  Auflage,  über  die  im  vorigen 
Bande  S.  510  ff.  eingehend  berichtet  worden  ist,  besteht  die  Änderung 
darin,  daß  die  Reden  „Luther  und  Deutschland"  und  „1813.  Ideen 
und  Kräfte  der  deutschen  Erhebung"  hinzugekommen,  dagegen  — 
leider!  —  die  Abhandlungen  über  „Ludwig  XIV.  und  Straßburg" 
und  „Wettiner  und  Hohenzollern"  herausgenommen  sind. 

Im  Felde  geschriebene  knappe,  aber  nicht  oberflächliche  Er- 
örterungen „Von  der  Eigentümlichkeit  des  historischen  Objekts",  die 
Fritz  Kaphahn  in  der  Zeitschrift  für  Sozialwissenschaft  N.  F.  10 
(1919),  Heft  5/6,  S.  245—266  veröffentlicht,  lassen  für  die  Zukunft 
mehr  erwarten.  Der  Verfasser,  der  manche  kritische  Bemerkungen 
zu  dem  Lehrbuch  der  Geschichtsphilosophie  von  Mehlis  bringt,  sieht 
das  —  etwas  einfach  gefaßte  —  grundlegende  Prinzip  der  Historie 
in  dem  zeitlich  fixierten  Wandel. 

„Der  Wert  geschichtlicher  Erkenntnis  für  das  Leben"  wird  von 
Heinrich  Hoffmann  kurz  behandelt  (Kirchenblatt  für  die  refor- 
mierte Schweiz  34  [1919],  Nr.  35  u.  36).     Die  Betrachtungen  gelten 


j 


Allgemeines.  533 

vornehmlich  der   Kirchengeschichte,   berühren   aber   auch  allgemeine 
Fragen  geschichtlicher  Auffassung  und  Darstellung. 

Einen  interessanten  Beitrag  auch  zur  historischen  Methodologie 
gibt  P.  Wilh.  Koppers,  S.  V.  D.,  in  der  Schrift:  Die  ethnologische 
Wirtschaftsforschung,  eine  historisch-kritische  Studie,  Wien,  Mechi- 
tharisten-Buchdruckerei,  1917,  150  Quartseiten  (Sonderabdruck  aus 
„Anthropos"  1915/16).  Die  Schrift  dient  einer  Schule,  ist  aber  durch 
viele  feine  und  klar  formulierte  wissenschaftsgeschichtliche  Beobach- 
tungen besonders  auch  über  Beziehungen  über  die  Fachschranken 
hinüber  ausgezeichnet.  Zunächst  wird  verfolgt,  wie  die  Dreistufen- 
lehre, die  in  der  Antike  in  bezug  auf  die  erste  Stufe  noch  schwankte 
zwischen  der  Annahme  eines  goldenen  Zeitalters  oder  völliger  Wild- 
heit, sich  im  18.  Jahrhundert  unter  der  Herrschaft  evolutionistischer 
Denkweise  zu  dem  Jäger-Hirten-Ackerbauer-Schema  verfestigte,  wie 
das  Bekanntwerden  neuen  Materials  über  der  Viehzucht  entbehrende 
Kulturkreise  zuerst  in  Vorläufern  wie  A.  v.  Humboldt  die  Hirtenstufe 
herausbrach,  wie  aber  erst  der  neuesten  Zeit  ein  genügend  großes  Ver- 
gleichsmaterial zum  Neuaufbau  zur  Verfügung  steht.  Die  Kampf- 
stellung des  Verfassers  gegen  den  Evolutionismus  läßt  ihn  Bücher 
und  Schmoller,  Morgan  und  Engels,  Lamprecht  und  Breysig  mit  vielen 
andern  scharf  ablehnen,  vielfach  auf  v.  Below  sich  stützend.  Den 
evolutionistischen  Konstruktionen  stellt  er  pointiert  die  spezifisch 
historische  Methode  gegenüber,  einerseits  Roscher-Knies-Hildebrandt, 
anderseits  das  nach  Koppers  epochemachende,  seit  1890  durchschla- 
gende Übergreifen  der  historisch-kritischen  Methode  der  eigentlichen 
Historiker  (S.  42,  48,  89,  106,  118).  Damit  schwinde  die  charakte- 
ristische Hemmung  des  radikalen  Evolutionismus,  die  Vorstellung 
von  der  kompakten  Homogenität  der  ganzen  primitiven  Welt,  und 
es  werde  der  Weg  frei  zur  Auffassung  ganz  verschiedenartiger  Kultur- 
kreise schon  bei  den  Primitiven,  zu  einer  „Historisierung  der  Ent- 
wicklung der  sog.  geschichtslosen  Völker".  Die  seit  1890  sich  entfal- 
tenden reichen  Beiträge  von  Geographen  und  Ethnologen,  National- 
ökonomen und  Historikern  werden  im  einzelnen  besprochen,  unter 
Verweilen  besonders  bei  E.  Hahn,  dessen  Einreihung  der  Hirtenvölker 
als  degenerierter  Ackerbauer  und  dessen  religiös-magische  Begründungen 
Ablehnung  finden.  Überall  weist  die  kritische  Auseinandersetzung 
schon  auf  die  „neue  kulturhistorische  Schule  in  der  Ethnologie"  voraus, 
die,  auf  Ratzel  und  Grosse  weiterbauend,  durch  die  Namen  Graebner, 
Foy  und  besonders  P.  W.  Schmidt  bezeichnet  ist.  Dem  neutralen 
I  Beobachter  scheinen  freilich  die  Aufstellungen  dieser  Schule,  ihre 
Atomisierung  von  Kulturkreisen  und  ihre  Annahme  kompliziertester 
I  Verschmelzungen,  Wechselwirkungen  und  Wanderungen  über  schwin- 
I    delnd  weite  Räume  hinweg  den  Konstruktionen  der  Evolutionisten  an 


534  Notizen  und  Nachrichten. 

Kühnheit  und  an  mehr  oder  weniger  bewußter  Weltanschauungs- 
bindung nicht  nachzustehen,  ohne  dabei  die  großartige  Einfachheit 
des  evolutionistischen  Gedankens  zu  teilen.  Aber  die  klugen  Aus- 
führungen von  Koppers  führen  in  der  Tat  die  noch  vielfach  herrschen- 
den plump-schematischen  Ausprägungen  des  Evolutionismus  ad  ab- 
surdum. —  Für  den  allgemeinen  geschichtsphilosophischen  Hinter- 
grund sei  auf  das  sehr  materialreiche  Buch  von  F.  Squillace,  Die  sozio- 
logischen Theorien  (1911;  352  S.)  verwiesen.  Andr.  Waltfier. 

Der  Terminus  „Kapitalismus"  ist  neuerdings  besonders  durch 
Sombart,  Max  Weber,  Troeltsch  auch  in  der  historischen  Literatur 
so  in  Aufnahme  gekommen,  daß  die  scharfe  Kritik,  die  Richard  Passow 
an  diesem  noch  äußerst  schwankend  und  vieldeutig  gebrauchten,  dazu 
mit  Parteiwertungen  belasteten  Begriff  übt,  von  Interesse  ist  („Kapi- 
talismus", eine  begrifflich-terminologische  Studie,  Jena,  Gust.  Fischer, 
1918,  136  S.).  Als  wirtschaftswissenschaftlichen  Terminus  will  Passow 
ihn  überhaupt  ablehnen  und  anstatt  dessen  einfacher  und  klarer  von 
der  Epoche  der  Entwicklung  und  Ausbreitung  der  großen  Unter- 
nehmungen sprechen.  Dabei  scheidet  er  die  Frage  nach  einer  Be- 
nennung des  neuen  „Wirtschaftsgeistes"  und  nur  wirtschaftsverwandter 
Charakteristika  der  Gegenwartsepoche  aus  (S.  106,  125).  Aber  gerade 
als  allgemein  kulturgeschichtlicher  Terminus  dürfte  der  Aus- 
druck Recht  und  Geltung  behalten,  weil  er,  freilich  in  der  stets  be- 
denklichen Weise  all  solcher  Schlagworte,  eine  wesentlichste  Wand- 
lung nicht  nur  des  wirtschaftlichen,  sondern  zugleich  auch  des  poli- 
tischen, sozialen,  ethischen  Lebens  «iner  ganzen  Kulturepoche  zusam- 
menfassend beleuchtet.  Zu  der  Vorsicht,  welche  die  Anwendung  der- 
artiger Termini  erfordert,  kann  das  große  Material,  das  Passow  aus 
hundert  Autoren  zusammenträgt,  helfen.  Andr.  Walther. 

Die  2.  Auflage  von  P.  Barths  verdienstlicher  „Geschichte  der 
Erziehung  in  soziologischer  und  geistesgeschichtlicher  Beleuchtung" 
(Leipzig,  Barth  1916)weist  gegenüber  der  ersten  eine  Reihe  beträchtlicher 
Erweiterungen  auf.  So  ist  der  geistesgeschichtliche  Hintergrund  be- 
sonders für  das  Zeitalter  der  Renaissance,  wo  eine  durchgeführte 
Vergleichung  zwischen  Petrarca  und  Dante  den  noch  vollständig 
mittelalterlichen  Charakter  der  Weltanschauung  des  letzteren,  den  ge- 
brochenen, halb  antiken,  halb  christlichen  Charakter  der  Weltanschau- 
ung des  ersteren  erweist,  und  für  das  Zeitalter  der  Aufklärung,  wo 
die  Weltansicht  Voltaires  eingehender  dargestellt  worden  ist,  vertieft 
worden.  Von  den  speziell  pädagogischen  Erscheinungen  ist  das  Er- 
ziehungswesen der  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  sowie  die 
Entwicklung  der  deutschen  Realschule  eingehender  behandelt  worden. 
Im  einzelnen  finden  sich  zahlreiche  Verbesserungen,  vielfach  wurden 


Allgemeines.  535 

die  Quellen  ausgiebiger  herangezogen,  das  Ergebnis  der  Erziehung 
jeder  Epoche  wird  prinzipiell  zu  bestimmen  gesucht.  An  seinen  all- 
allgemeinen Anschauungen  über  das  Wesen  der  Soziologie  und  ihres 
Verhältnisses  zur  Pädagogik  hat  jedoch  der  Verfasser  nichts  zu  än- 
dern gefunden.  Frischeisen-Köhler. 

Die  klare  und  stoff reiche  Darstellung,  die  Claudius  Frhr,  v.  Schwe- 
rin über  Rechtsquellen,  Privatrecht,  Straf  recht  und  Rechtsverfahren 
des  deutschen  Mittelalters  und  der  Neuzeit  in  Meisters  Grundriß  der 
Geschichtswissenschaft  veröffentlicht  hat,  liegt  seit  vier  Jahren  in 
einer  zweiten,  vielfach  verbesserten  und  wesentlich  bereicherten  Auf- 
lage vor  unter  dem  Titel  „Deutsche  Rechtsgeschichte  (mit  Ausschluß 
der  Verfassungsgeschichte)."  2.,  veränderte  Aufl.  (Leipzig  u.  Berlin, 
Teubner,  1915.  199  S.).  Man  vergleiche  zu  K.  Haffs  Anzeige  der  1.  Aufl. 
(H.  Z.  112,  1914,  S.  396— 398)  die  Bemerkungen  in  dem  Vorworte 
v.  Schwerins. 

Lesenswerte  Betrachtungen  über  „Theoretisches  und  Histori- 
sches zur  politischen  Tätigkeit  des  Feldherrn",  die  zugleich  kritische 
Bemerkungen  über  Heeresleitung  und  Staatsregierung  im  Weltkriege 
bringen,  veröffentlicht  Max  v.  Szczepanski  im  Juli-  und  August- 
heft der  Deutschen  Revue. 

Johannes  Werners  kritisches  Referat  über  „Die  neuen  theo- 
logischen Enzyklopädien"  (Leipzig,  M.  Heinsius  Nachfolger.  1916. 
52  S.)  ist  eine  Sonderausgabe  aus  Bd.  32  des  „Theologischen  Jahres- 
berichtes". —  In  eindringender  und  sachkundiger  Weise  behandelt 
Werner  nicht  weniger  als  dreizehn  in  jüngster  Zeit  erschienene  deutsche, 
dänische,  französische,  englische,  amerikanische  und  russische  Enzy- 
klopädien aus  dem  Gebiete  der  Theologie.  Er  darf  mit  Genugtuung 
feststellen,  daß  die  deutsche  Forschung,  die  mit  der  Herausgabe  der 
Herzog-Hauckschen  Realenzyklopädie  und  des  Wetzer- Welteschen 
Kirchenlexikons  hinsichtlich  der  soliden,  wenn  auch  etwas  schwer- 
fälligen Gelehrsamkeit  bisher  an  der  Spitze  gestanden  hatte,  nun  im 
kirchlichen  Handlexikon  und  in  der  „Religion  in  Geschichte  und 
Gegenwart"  auch  die  besten  neuzeitlichen,  praktisch  gestalteten  und 
doch  zugleich  gut  wissenschaftlichen  Nachschlagewerke  herausgebracht 
hat.  H.  Haupt. 

Zwei  für  die  Geschichte  des  Balkans  beachtenswerte  Werkchen 
gelangen  wegen  der  Kriegsjahre  erst  jetzt  zur  Anzeige.  Nikolaus 
v.  Philippovich,  Das  Leben  und  Wirken  eines  österreichischen 
Offiziers,  mit  15  farbigen  Bildern  und  17  Schwarz- Weiß-Zeichnungen 
i  (Wien  u.  Tübingen,  Gerold  &  Co.,  J.  C.  B.  Mohr,  1913.  IX  u.  150  S.), 
'  ist  eine  höchst  lesenswerte  Biographie,  von  dem  Sohn  Eugen  geschrie- 
ben und  seinen  eigenen  Söhnen  gewidmet.    Die  Philippovich  sind  ein 


536  Notizen  und  Nachrichten. 

aus  Bosnien  stammendes  altes  Adelsgeschlecht,  das  seinem  neuen 
Vaterland  Österreich  durch  ein  Jahrhundert  hervorragende  Offiziere 
lieferte.  Zwei,  darunter  Joseph,  der  1878  die  Okkupation  Bosniens 
und  der  Herzegowina  durchführte,  erlangten  den  Rang  eines  Feld- 
zeugmeisters und  wurden  in  den  Freiherrnstand  erhoben.  Eugen, 
der  Verfasser  des  vorliegenden  Buches,  ist  der  berühmte  National- 
ökonom. Der  Feldmarschallleutnant,  von  dem  er  hier  handelt,  wird 
erst  damit  weiteren  Kreisen  bekannt.  Seine  vornehmste  Tätigkeit 
umfassen  die  Jahre  seiner  militärischen  und  diplomatischen  Kom- 
mandos auf  dem  Balkan  in  der  ersten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts, 
wo  er  als  Pionier  der  modernen  österreichischen  Orientpolitik,  zumal 
in  Serbien  am  Hofe  Milosch  Obrenowitschs  und  Alexander  Kara- 
georgewitschs,  wirkte.  Nur  mit  wehmütigen  Gefühlen  freilich  be- 
gleiten wir  heute  diesen  prächtigen  Vertreter  des  alten  Kaiserstaates. 
Er  hat  die  erste  Postverbindung  von  Konstantinopel  nach  Wien  über 
Belgrad  hergestellt  und  das  erste  Dampfschiff  durch  das  Eiserne  Tor 
nach  Galatz  geführt.  Seine  im  Anhang  enthaltenen  Berichte  an  den 
General  Frhr.  v.  Hauer  und  an  den  Fürsten  Metternich  über  die  Bal- 
kanvölker und  insbesondere  die  Zustände  Serbiens  mit  der  Charak- 
teristik der  dortigen  leitenden  Persönlichkeiten  haben  vorzüglichen 
Quellenwert.  Die  Menge  der  beigefügten  Skizzen  und  Aquarelle  von 
seiner  Hand  zeigen,  daß  Philippovich  Menschen  und  Länder  auch 
mit  offenem  Künstlerauge  zu  betrachten  verstand.  —  Eine  Publi- 
kation von  A.  Kutschbach,  Die  Serben  im  Balkankrieg  1912 — 1913 
und  im  Kriege  gegen  Bulgarien,  auf  Grund  amtlichen  Materials  des 
Generalkommandos  der  serbischen  Armee  bearbeitet,  mit  zahlreichen 
Abbildungen  und  Karten  (Stuttgart,  Franckh,  1913.  150  S.)  schildert 
die  Operationen  und  Schlachten  in  dankenswerter  Weise.  Eingestreut 
sind  in  volkstümlich  erzählender  Weise  kleine  Episoden,  in  denen  der 
von  starken  Sympathien  für  die  Serben  erfüllte  Verfasser  sie  uns 
menschlich  wie  politisch  nahebringt.  Er  hat  sicherlich  nicht  unrecht, 
wenn  er  im  Vorwort  ausspricht,  daß  man  auch  in  Deutschland  alles 
Serbische  lange  Zeit  nur  durch  eine  mißgünstig  gefärbte  Brille  ansah. 
Die  letzten  Abschnitte:  „Die  Lehren  der  beiden  Kriege"  und  „Aus 
der  serbischen  Heeresverwaltung"  sind  rein  militärtechnischer  Natur. 

Leipzig.  K.  Stählin. 

Dr.  Georg  Eugen  Kunzer  in  Sofia,  Bulgarien  (Perthes'  Kleine 
Länder-  und  Völkerkunde,  5.  Bd.),  Gotha,  Fr.  A.  Perthes,  1919.  XI 
u.  169  S.  5  M.  —  Das  Büchlein  behandelt  in  7  Abschnitten:  Land  und 
Leute,  Geschichte,  Staatswesen,  Kunst  und  Schrifttum,  Bodenschätze 
und  Industrie,  Handel,  Verkehrswesen.  Ein  statistischer  Anhang 
sowie  ein  alphabetisches  Namen-  und  Sachverzeichnis  bilden  den 
Beschluß.  Wir  erhalten  in  handlicher  Form  eine  geschickte  Zusammen- 


Allgemeines.  537 

fassung  des  Wissenswerten  über  Bulgarien.  Leider  hat  der  Verfasser 
es  sich  nicht  zur  Aufgabe  gemacht,  die  gesamte  Literatur  gründlich 
zu  verarbeiten,  auch  wird  der  Text  durch  mancherlei  Fehler  und 
Flüchtigkeiten  entstellt.  Man  muß  aber  anerkennen,  daß  sich  Kunzer 
in  das  offizielle  statistische  Material  Bulgariens  —  er  kennt  das  Land 
aus  eigener  Anschauung  und  beherrscht  die  Sprache  —  eingearbeitet 
und  auch  ein  Bild  von  der  geschichtlichen  Entwicklung  des  Landes 
zu  gewinnen  versucht  hat.  Neben  den  Werken  von  K.  Kassner,  Bul- 
garien, Land  und  Leute  (Bibliothek  des  Ostens,  hrg.  von  W.  Kosch, 
2.  Bd.,  1916),  A.  Ischirkoff,  Bulgarien,  Land  und  Leute,  2  Teile  (Bul- 
garische Bibliothek,  hrg.  von  G.  Weigand,  Bd.  1 — 2,  1916)  und 
W.  K.  Weiß-Bartenstein,  Bulgariens  Volkswirtschaft  und  ihre  Ent- 
wicklungsmöglichkeiten (1918)  tritt  das  Buch  an  Bedeutung  zurück. 
Die  oben  betonten  Mängel  können  aber  bei  einer  zweiten  Auflage 
mit  leichter  Mühe  beseitigt  werden;  sie  berühren  nur  die  Oberfläche, 
während  das  Werk  als  Gesamtleistung  betrachtet  einen  durchaus 
erfreulichen  Eindruck  macht.  E.  Gerland. 

Chronologische  Mitteilungen,  die  neue  Ergebnisse  bringen  oder 
zu  weiterer  Beschäftigung  mit  dem  Stoff  anregen,  macht  H.  Grote- 
fend  im  Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Ge- 
schichts-  und  Altertumsvereine  1919,  Mai-August.  Es  handelt  sich 
um  die  Bezeichnungen:  Alter  Maitag;  Brodenreigentag;  Carnispri- 
vium;  Erbessonntag;  Jahresbezeichnung;  Larremisse;  Midäeweken, 
do  de  fasten  den  rugge  untwei  vel;  Pascha  ultimum;  Peters  dach  in 
dem  buwede;  Simperstag;  Sonntag  als  Vigilie;  Unsen  abent;  vier 
tage,  vier  nonen;  Vinczendtag  alz  sich  die  vöglein  zw^yend;  Walstag, 
Weizentag;  Dies  antepenultimus;  Aller  heiligen  vorfyr. 

Neue  Bücher:  AI.  Cartellieri,  Grundzüge  der  Weltgeschichte 
378 — 1914.  (Leipzig,  Dyk.  8  M.)  —  Weltgeschichte.  Begr.  von  Hans 
F.  Helmolt . . .  hrsg.  v.  A.  Tille.  2.  neubearb.  u.  verm.  Aufl.  Band  4: 
Balkanhalbinsel.  Von  K.  G.  Brandis,  R.  v.  Scala,  N.  Jorga, 
H.  Zimmerer,  W.  Milkowicz  u.  J.  Hohlfeld.  (Leipzig,  Bibliograph. 
Institut.  20  M.)  —  Fried  jung,  Historische  Aufsätze.  (Stuttgart, 
Cotta.  20  M.)  —  Wolzendorff,  Der  Polizeigedanke  des  modernen 
Staates.  (Breslau,  Marcus.  10  M.)  —  Dietr.  Schäfer,  Die  Grenzen 
deutschen  Volkstums.  (Berlin,  Curtius.  1,80  M.)  —  Gustav  Wolf, 
Deutschlands  Friedensschlüsse  seit  1555.  (Leipzig,  Dieterich.  5  M.) 
—  Erichsen  og  Krarup,  Dansk  historisk  Bibliografi.  i.  Bind,  i.  Haefte. 
{Kopenhagen,  Gad.  2  K.)  —  W hitton,  A  history  of  Poland  from  the 
earliest  times  to  the  present  day.  {London,  Constable.  8,6  Sh.)  —  Die 
Schausammlung  des  Münzkabinetts  im  Kaiser-Friedrich-Museum. 
Eine  MüHzgeschichte  der  europäischen  Staaten.  Hsg.  von  der  General- 
verwaltung.   (Berlin,  Reimer.   5  M.) 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  35 


538  Notizen  und  Nachrichten. 

Alte  Geschichte. 

P.  Thomsen,  Das  Alte  Testament.  Seine  Entstehung  und  seine 
Geschichte.  Leipzig  u.  Berlin,  Teubner,  1918.  (Aus  Natur  u.  Geistes- 
welt 669.)  —  Ein  Buch,  wie  wir  deren  jetzt  so  viele  haben.  Ein  An- 
hänger der  kritischen  Schule  stellt  darin  in  kürzester  Form  ihre  Er- 
gebnisse dar.  Wir  Theologen  haben  uns  leider  daran  gewöhnt,  in  sol- 
chen allgemein  verständlichen  Schriften  auch  nur  das  allgemein  An- 
erkannte, meist  ohne  jede  besondere  persönliche  Note  zu  sagen,  so  daß 
man  also  auch  hier  nichts  dem  Verfasser  Eigentümliches  suchen  darf. 
Und  ob  die  „Ergebnisse",  die  er  vorträgt,  wirklich  so  gesichert  sind, 
wie  die  herrschende  Schule  annimmt,  das  möge  die  Zukunft  entscheiden. 
Leider  gehört  der  Verfasser  auch  insofern  lur  „literarkritischen" 
Schule,  als  ihm  das  neue  Ideal  einer  israelitischen  Literaturgeschichte 
noch  nicht  aufgegangen  ist:  wie  viel  lebensvoller  hätte  er  seine  Schrift 
gestalten  können,  wenn  er  sich  zum  Ziele  gesetzt  hätte,  den  Geist  des 
israelitischen  Schrifttums,  dessen  Stoffe,  Formen  und  klassischen 
Schriftsteller  zu  schildern,  um  dann  am  Schluß  des  Ganzen  zu  zeigen, 
wie  die  Sammlung  des  Alten  Testaments  aus  diesem  Schrifttum  her- 
vorgegangen ist.  Wieviel  besser  würde  eine  solche  Darstellung  seinem 
Zwecke  dienen,  dem  Laien  zum  Lesen  der  alten  Schriften  Lust  zu 
machen,  als  seine  trockene  Aneinanderreihung  kritischer  Fragen  und 
Antworten!  Ziel  und  Arbeitsweise  einer  solchen  höheren  Forschung 
ist  schon  längst  gezeigt  worden.  Aber  unsere  Wissenschaft  will  und 
kann  nicht  vorwärts,  sondern  bewegt  sich  ständig  auf  den  alten  aus- 
gefahrenen Gleisen.  So  fürchten  wir,  der  Laie,  der  auf  andern  Ge- 
bieten Besseres  kennt,  wird  eine  solche  Einführung  ins  Alte  Testa- 
ment als  unfruchtbar  ablehnen.  Dem  Studierenden  aber,  der  das 
Buch  kritisch  lesen  kann,  würden  wir  es  als  eine  übersichtliche 
Zusammenfassung  der  gegenwärtig  noch  immer  geltenden  Urteile 
empfehlen.  Hermann  Gunkel. 

Herodes.  Beiträge  zur  Geschichte  des  letzten  jüdischen  Königs- 
hauses. Von  Walter  Otto.  Stuttgart,  Metzler.  1913.  XIV,  254  S., 
2  Tab.  6  M.  —  Das  Buch  ist  ein  nicht  wesentlich  veränderter  Abdruck 
des  Artikels,  den  der  Verfasser  für  die  Neuauflage  der  Pauly-Wissowa- 
schen  Realenzyklopädie  der  klassischen  Altertumswissenschaft  geliefert 
hat.  Dabei  ist  „Herodes"  ein  Sammelname.  Denn  unter  dieser  Eti- 
kette sind  die  den  Namen  „Herodes"  führenden  übrigen  Mitglieder 
dieses  Königsgeschlechts  mitbefaßt.  So  steht  an  der  Spitze  Herodes 
von  Askalon,  der  fiktive  Großvater  Herodes  l. ;  nach  der  Hauptperson 
selbst  werden  dann  u.  a.  behandelt  Herodes  Archelaos,  Herodes  Antipas. 
Sogar  Herodias,  die  Enkelin  des  Idumäers,  ist  miteingegliedert!  Über 
alle  diese  Personen  hat  Otto  gleichfalls  Sonderartikel  für  die  genannte 


Alte  Geschichte.  539 

Enzyklopädie  geschrieben  und  sie  nun  hier  wieder  abgedruckt.  Sehen 
wir  von  dieser  wenig  glücklichen  lexikalischen  Zusammenstellung 
der  Einzelporträts  ab,  so  ist  der  Hauptartikel  Herodes  I.  Sp.  3 — 164 
wohl  die  umfangreichste,  gründlichste  und  eingehendste  moderne 
Biographie,  die  wir  über  den  Begründer  des  letzten  jüdischen  Königs- 
hauses besitzen.  Überall  begegnet  der  Leser  dem  geschulten,  ruhig 
und  sachlich  abwägenden  Urteil  des  Literarhistorikers,  der  Strichel- 
chen an  Strichelchen  reiht  und  so  ein  naturwahres  Lebensbild  wieder- 
herzustellen sucht.  Allerdings  weicht  die  Gesamtskizze  nicht  von 
dem  wesentlich  ab,  was  andere  namhafte  Historiker  über  Herodes 
gesagt  haben,  aber  das  einzelne  wird  lebendiger  bei  Otto  als  bei  seinen 
Vorgängern.  Wie  Wellhausen  (in  seiner  Israelitischen  und  Jüdischen 
Geschichte)  tritt  auch  Otto  für  Herodes  ein,  über  den  jüdische  und 
christliche  Polemik  meist  nur  Schlechtes  zu  berichten  weiß.  Es  bleibt 
etwas  Großes  an  dem  Mann,  obwohl  der  Beiname  „der  Große"  ihm 
besser  vorenthalten  wird.  Denn  was  Herodes  Großes  schuf,  ging  schon 
mit  seiner  Person  zu  Grabe.  Die  Zeit  der  Herrschaft  der  Herodes 
37 — 4  V.  Chr.  teilt  Otto  wie  Schürer  in  seiner  Geschichte  des  jüdischen 
Volkes  I3,  1901,  S.  377  in  drei  Perioden:  1.  die  Zeit  der  Befestigung 
der  Regierung  37—28/7  (Schürer:  25);  2.  die  Blütezeit  bis  14  (Schürer 
13);  3.  die  Zeit  des  häuslichen  Elends  bis  4.  Die  mit  einer  eingehenden 
Inhaltsangabe,  Registern,  Zeittafeln  und  einem  Stammbaum  der 
Herodeer  versehene  Studie  verleugnet  nicht  den  treuen  Fleiß  der 
deutschen  Studierstube  und  ist  darum  für  Historiker  und  namentlich 
Theologen,  die  nicht  überall  den  Pauly-Wissowa  zur  Verfügung  haben, 
ein  gutes  Enchiridion  über  Einzelfragen  aus  der  Geschichte  der  Herodeer. 
Heidelberg.  Georg  Beer. 

Feldzugserinnerungen  römischer  Kameraden.  Lagerstudien  aus 
den  Zeiten  der  Republik  von  Otto  Wähle,  Generalmajor  a.  D.  Berlin, 
Siegismund,  1918,  88  S.  —  Der  Verfasser  versucht  die  Ergebnisse 
von  Schultens  Ausgrabungen  vor  Numantia  in  belletristischer  Form 
einem  weiteren  Leserkreis  nahezubringen,  indem  er  römische  Offiziere 
in  fingierten  Briefen  über  das  Lagerleben  in  jenen  spanischen  Kriegen 
nach  Hause  berichten  läßt.  Es  sei  ihm  gerne  zugegeben,  daß  viele 
Einzelheiten  des  römischen  Heerwesens  und  römischer  Kriegführung 
hübsch  anschaulich  gemacht  werden.  Aber  als  Belletristik  sind  diese 
Briefe  allzu  steifleinen,  pedantisch  und  antiquarisch,  und  wenn  ihr 
Herausgeber  beabsichtigt,  ihnen  hiermit  color  Romanus  zu  verleihen, 
so  muß  ich  als  Altertumsforscher  dagegen  Widerspruch  erheben.  In 
den  römischen  Nobilitätskreisen  dachte,  redete  und  schrieb  man 
nicht  so. 

Frankfurt  a.  M.  M-  Geizer. 

35* 


540  Notizen  und  Nachrichten. 

Theodor  Birt  gibt  in  seinem  Buche  „Aus  dem  Leben  der  Antike" 
(Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  1918)  kulturgeschichtliche  Einzeldarstel- 
lungen aus  der  römischen  Kaiserzeit.  Sie  sind  auf  einen  gebildeten 
Leser  berechnet,  enthalten  aber  trotzdem  auch  für  den  Gelehrten, 
für  welchen  im  besonderen  ein  Anhang  beigefügt  ist,  manch  bedeut- 
samen Hinweis.  Es  ist  Kulturgeschichte  im  Friedländerschen  Sinne, 
die  uns  geboten  wird,  nicht  in  dem  von  Jakob  Burckhardt.    R.  Laqueur. 

Der  6.  Band  der  großen  Philo-Ausgabe  von  Cohn  und  Wend- 
land (vgl.  H.  Z.  99,  435),  der  während  des  Krieges  1915  fertig  ge- 
worden ist,  nachdem  Wendland  bereits  aus  der  Arbeit  abgerufen  war, 
kurz  ehe  auch  L.  Cohn  die  fleißige  Feder  hinlegte,  bringt  in  Cohns 
Bearbeitung  die  drei  einst  hart  umstrittenen,  jetzt  immer  allgemeiner, 
auch  von  dem  Herausgeber,  als  echt  anerkannten  Schriften  quod 
omnis  probus  über  sit,  de  vita  contemplativa  und  de  aeternitate  mundi; 
dazu  die  zwei  historischen  Schriften  in  Flaccum  und  legatio  ad  Gaium, 
bearbeitet  von  S.  Reiter  in  Prag.  Die  Überlieferung  ist  bei  allen, 
zumal  den  beiden  letzten,  verhältnismäßig  schwach.  Cohn  bringt 
wieder  die  indirekte  der  Florilegien,  neben  den  Zitaten  bei  den  Vätern, 
zu  verdienter  Geltung.  Seine  Textbehandlung  stellt  in  jeder  Hin- 
sicht einen  Fortschritt  dar;  das  gleiche  darf  auch  von  Reiters  Teil 
gesagt  werden.  Teilweise  sind  jetzt  erst  die  Eigennamen  sichergestellt; 
Wortbildungen,  bezeichnend  für  die  Sprache  jener  Zeit,  erscheinen 
hier  neu.  Manchmal  sind  Lesarten  aufgenommen,  die  auf  den  ersten 
Blick  nach  Mischlesarten  aussehen  und  doch  der  Sprache  Philos  an- 
gemessen sind.  Hoffentlich  ist  die  Fortsetzung,  die  wohl  noch  min- 
destens 2  Bände  umfassen  wird,  gesichert  und  wird  uns  auch  das 
umfassende  Philowörterbuch,  das  Wendland  besaß,  nicht  vorenthalten. 
Inzwischen  hat  Cohns  Fleiß  uns  auch  die  sehr  willkommene  Über- 
setzung wenigstens  eines  Teils  der  Philoschriften,  als  ersten  Teil  der 
Schriften  der  Jüdisch-hellenistischen  Literatur  in  deutscher  Über- 
setzung, Breslau,  M.  &  H.  Marcus,  1909/10,  beschert.  In  Gemeinschaft 
mit  einer  Reihe  jüdischer  Gelehrter  legt  er  hier  zunächst  unter  Vor- 
anstellung von  de  opificio  mundi  (aus  Bd.  3  der  griechischen  Ausgabe) 
die  Einzelschriften  aus  Bd.  4  und  5  vor;  der  große  Genesiskommentar 
(Bd.  I — ^3)  steht  noch  aus.  Diese  Umordnung  ist  wohlbegründet; 
sie  fördert  die  Einsicht  in  den  Aufbau  des  Gesamtwerks  wie  der  Einzel- 
gedanken Philos.  Philo  ist  nicht  leicht  zu  übersetzen:  es  ist  nicht  zu 
verwundern,  wenn  manche  Periode  zerlegt,  der  Wortschwall  der  Sy- 
nonyme gelegentlich  gekürzt  wurde.  Auf  Wortspiele,  die  sich  nicht 
wiedergeben  ließen,  machen  die  Anmerkungen  aufmerksam.  Bisweilen 
hätte  die  Wiedergabe  eines  Wortes  besser  durchgeführt,  ein  bildlicher 
Ausdruck  in  seiner  Konkretheit  festgehalten  werden  können.  Im 
ganzen  aber  ist  die  Übersetzung  gut,  ausgezeichnet  knappe  Einlei- 


j 


Frühes  Mittelalter.  541 

tungen  und  treffliche  Anmerkungen  begleiten  sie,  die  die  Abhängig- 
keit sowohl  von  der  griechischen  Philosophie  wie  von  dem  rabbinischen 
Schulbetrieb  dariegen.  Auch  manche  Konjektur  findet  sich  hier,  die 
in  dem  Apparat  der  griechischen  Ausgabe  noch  nachzutragen  ist. 
Es  ist  nur  zu  hoffen,  daß  auch  diese  Übersetzung  bald  fortgesetzt 
und  vor  allem  auch  auf  die  übrigen  Jüdisch-hellenistischen  Schrift- 
steller ausgedehnt  wird,  die  bisher  noch  unbequem  zugänglich  waren. 

Halle  a.  S.  v.  Dobschütz. 

Neue  Bücher:  Kari  Ludwig  Schmidt,  Der  Rahmen  der  Ge- 
schichte Jesu.  (Beriin,  Trowitzsch  &  Sohn.  19  M.)  —  Otto  Th.  Schulz, 
Vom  Prinzipat  zum  Dominat.  Das  Wesen  des  römischen  Kaisertums 
des  3.  Jahrhunderts.  (Paderborn,  Schöningh.  15,60  M.)  —  Seeck, 
Regesten  der  Kaiser  und  Päpste  für  die  Jahre  31 1 — 476  n.  Chr.  2.  Halb- 
band.   (Stuttgart,  Metzler.    60  M.) 

Römisch-germanische  Zeit  und  frühes  Mittelalter  bis  1250. 

„Die  rechtsrheinischen  Alamannenorte  des  Geographen  von 
Ravenna"  sucht  Jos.  Schnetz  im  Archiv  des  Histor.  Vereins  von 
Unterfranken  und  Aschaffenburg  Bd.  60  (1918)  zu  bestimmen,  ohne 
zu  entscheiden,  ob  das  Verzeichnis  vor  oder  nach  496  entstanden  ist 
(Augusta  nova  =  Kaiser-Augst,  Rizinis  =  Riesen-  oder  Reisenburg 
in  der  Gemeinde  Duchingen  nö.  Villingen,  Turigoberga  =  Dürreberg 
unterhalb  Tübingen,  Ascis  =  Hohenasberg,  Ascapha  =  Aschaffenburg 
oder  Mainaschaff,  Uburzis  =  Würzburg,  Solist  zweifelnd  als  „Ver- 
lesung aus  Solire,  Soliri"  (!)  =  Zollern,  Hohenzollern). 

H.  Glitsch,  Der  alamannische  Zentenar  und  sein  Gericht  = 
Berichte  über  die  Verhdlg.  der  Kgl.  Sachs.  Ges.  d.  Wissenschaften, 
69.  Bd.,  2.  Heft,  Leipzig,  Teubner,  1917,  156  S.  —  Im  ersten  Teil 
der  schlicht  und  ansprechend  geschriebenen  Darstellung  untersucht 
der  Verfasser  die  Stellung  des  alamannischen  Zentenars  der  fränkischen 
Zeit.  Derselbe  ist  neben  dem  Grafen  (auch  in  causae  maiores,  soweit 
Verhandlung  und  Urteil,  nicht  die  finitio  causae  in  Betracht  kommt) 
Vorsitzender  und  —  bis  zur  karolingischen  Gerichtsreform,  die  im 
übrigen  auf  das  alamannische  Rechtsgebiet  nur  beschränkten  Einfluß 
hatte  —  auch  Rechtsprecher  im  Hundertschaftsgericht,  nicht  dagegen 
Vollstreckungsbeamter.  Das  „finire''  hat  er  erst  zur  Karolingerzeit 
und  höchstens  für  Grundstücks-  und  Statusprozesse  verloren,  die 
peinliche  Gerichtsbarkeit  aber  im  vollen  Umfange  dauernd  behalten. 
Eine  Abhängigkeit  des  vom  Volk  gewählten  Zentenars  vom  könig- 
lichen Grafen  hat  sich  auch  am  Ausgang  der  fränkischen  Zeit  jedenfalls 
nicht  prinzipiell  entwickelt;  noch  im  10.  Jahrhundert  gehört  er  der 
höchsten  Freienschicht  an.   Bei  Untersuchung  der  finanziellen  Stellung 


542  Notizen  und  Nachrichten. 

des  Zentenars  glaubt  der  Verfasser  feststellen  zu  können,  daß  die 
bisher  herrschende  Meinung,  der  fränkische  Graf  habe  ein  Drittel  der 
Friedensgelder  für  sich  bezogen,  nicht  beweisbar  sei.  Überhaupt 
erhalte  der  Graf  in  fränkischer  Zeit  nicht  als  solcher,  sondern  nur  für 
gerechten  Urteilsvorschlag  seinen  Anteil;  wo  also  der  Zentenar  den 
Vorschlag  gemacht  habe,  sei  das  Drittel  auch  ihm  verfallen.  Diese 
Ausführungen  gehören  m.  E.  zu  den  anfechtbarsten  Teilen  der  Schrift. 
Im  zweiten  Teil  sucht  Verfasser  die  Zentenargerichte  ins  Mittelalter 
hinein  zu  verfolgen.  Die  Theorie  von  F.  v.  Wyß,  die  späteren  Frei- 
gerichte seien  mit  ihnen  zu  identifizieren,  wird  nach  eingehender 
Nachprüfung  abgelehnt;  hier  scheint  mir  mancher  Einwand  beachtens- 
wert. Die  Freigerichte  sind  nach  Ansicht  des  Verfassers  vielmehr 
entweder  alte  fiskalische  grundherrliche  Gerichte  oder  vor  allem  „Zer- 
fallsprodukte der  alten  Grafschaftsgerichte'*.  Dagegen  sind  die  bäuer- 
lichen Blutgerichte,  die  in  Konkurrenz  mit  den  hier  und  da  erhalten 
gebliebenen  alten  Grafengerichten,  z.  B.  in  Dießenhofen,  Kyburg, 
Wil  und  an  anderen  Orten  bestanden,  mitunter  sogar  das  gräfliche 
Landgericht  verdrängt,  neben  der  peinlichen  Gerichtsbarkeit  auch  die- 
jenige über  bäuerliches  Eigen  an  sich  gezogen  haben,  als  Abkömm- 
linge der  Zentenargerichte  anzusprechen.  Ob  dem  Verfasser  der 
schwierige  Nachweis  wirklich  gelungen  ist,  kann  hier  nicht  nachge- 
prüft, wohl  aber  anerkannt  werden,  daß  seine  Arbeit  einen  willkom- 
menen Beitrag  zur  Gerichtsverfassungsgeschichte  darstellt. 

Marburg  a.  d.  L.  Mayer-Homberg. 

Spuren  englischen  Kultureinflusses  in  Jütland  in  der  1.  Hälfte 
des  12.  Jahrhunderts  sucht  Francis  Beckett,  Venge  Klosterkirke, 
in  Aarbeger  for  Nordisk  Oldkyndighed  og  Historie  igi8,  III.  Raekke, 
8.  Bind  nachzuweisen. 

Aus  den  Aarbeger  for  Nordisk  Oldkyndighed  og  Historie  III.  Raekke, 
7.  Bd.  ist  die  quellenkritische  Untersuchung  von  Lauritz  W ei  bull 
über  König  Erich  den  Heiligen  von  Schweden  (j  1160)  hervorzuheben, 
die  zu  einem  vernichtenden  Urteil  über  die  zwischen  1280  und  1344 
entstandene  Vita  Erichs  kommt,  aber  in  der  Verwerfung  sämtlicher 
nicht  anderweitig  beglaubigter  Nachrichten  derselben  doch  wohl  zu 
weit  geht. 

Gegen  F.  Vetters  Abhandlung  „Sankt  Otmar,  der  Gründer 
und  Vorkämpfer  des  Klosters  St.  Gallen"  im  Jahrbuch  für  Schwei- 
zerische Geschichte  Bd.  43  (1918)  wendet  sich  P.  Otmar  Schei- 
willer,  „Zur  Biographie  des  hl.  Abtes  Otmar  von  St.  Gallen"  in  der 
Zeitschr.  f.  Schweizerische  Kirchengeschichte  13,  1.  u.  2.  Heft  (1919). 

„Les  Saints  frangais,  viniris  en  Suisse''  stellt  E.  A.  Stückel- 
berg  im  Anzeiger  für  Schweizerische  Altertumskunde  N.  F.  20,  3.  Heft 
zusammen. 


Frühes  Mittelalter.  543 

Magistri  Adam  Bremensis  Gesta  Hammaburgensis  ecclesiae  ponti- 
ficum.  Editio  tertia.  Adam  von  Bremen,  Hamburg.  Kirchengeschichte, 
3.  Aufl.,  hrsgg.  von  Bernhard  Schmeidler,  Hannover  u.  Leipzig, 
Hahnsche  Buchhandlung.  1917.  LXVIII  u.  353  S.  10  M.)  —  Schmeid- 
ler dürfte  die  Probleme,  die  Adams  handschriftliche  Überlieferung 
bieten,  endlich  befriedigend  gelöst  haben;  seine  Auffassung,  die  er 
inzwischen  in  einer  seiner  „Hamburg-Bremen  und  Nordost-Europa 
vom  9.— 11.  Jahrhundert"  betitelten  kritischen  Untersuchungen  (Leip- 
zig. 1918.  S.  1—122)  des  näheren  erwiesen  hat,  läßt  sich  dahin  zu- 
sammenfassen, daß  Lappenbergs  A-KIasse  auf  Adams  Konzept  und 
Reinschrift  (A  und  a,  beide  verloren)  zurückgeht;  die  Reinschrift  a 
wird  von  A^  ziemlich  getreu  wiedergegeben,  während  die  gemeinsame 
Vorlage  von  A  2,  3  schon  durch  die  jüngeren  Fassungen  des  Werkes 
B,  C  beeinflußt  erscheint,  Adam  behielt  sein  Konzept  A  und  arbeitete 
nach  Vollendung  der  ersten  Rezension  unermüdlich  weiter  daran,  indem 
er  sein  Werk  teils  erweiterte,  teils  umgestaltete;  so  ward  A  zu  X, 
d.  h.  dieselbe  Handschrift,  die  das  Konzept  der  A-Rezension  war, 
stellte  auch  die  gemeinsame  Vorlage  der  B-  und  C- Klasse  dar;  deren 
Archetypi  „waren  zwei  Abschriften,  die  von  Fremden  ohne  Mitwirkung 
Adams  aus  X  genommen  worden  sind;  die  Übereinstimmung  BC  kenn- 
zeichnet den  Zustand  von  X"  (S.  XXXVIII).  Der  Nachweis  der  Iden- 
tität von  X  und  A,  der  die  Probleme  der  Überlieferung  ebenso  über- 
raschend wie  einfach  klärt,  ist  wohl  Schmeidlers  wichtigstes  Ergebnis. 
Ferner  hat  der  verdiente  Editor  keine  Mühe  gescheut,  die  Herkunft 
von  Adams  Schollen  einwandfrei  zu  bestimmen;  die  meisten  sind  ganz 
oder  nahezu  sicher  vom  Autor  selbst,  besonders  die  in  BC  =  X  über- 
lieferten. Hat  X  manches  Plus,  so  hat  Adam  auch  den  Archetyp  der 
A-Klasse  (Reinschrift  ä)  gegenüber  dem  Konzept  A  =  X,  der  Vorlage 
der  Rezensionen  BC,  durch  Zusätze  erweitert.  Wichtig  ist  auch  der 
Nachweis  (Hamburg-Bremen  S.  105  A.  1),  daß  Adam  mit  den  Schollen 
keinen  Autokommentar  seines  Werkes  zu  geben,  sondern  sie  in  den 
Text  der  späteren  Auflagen  einzuarbeiten  beabsichtigte;  damit  fällt 
das  einzige  Beispiel,  das  Manitius  für  Selbstkommentierung  eines  Pro- 
;  saikers  anführt,  und  diese  wird  auf  poetische  Werke  (Manitius,  Lat. 
1  Literatur  des  MA.  I,  503),  wie  z.  B.  einen  Teil  der  Schollen  zu  den 
I  Gesta  Berengarii  beschränkt.  So  erhält  auch  die  Meinung,  die  die 
I  Schollen  zu  Attos  von  Vercelli  Polipticum  (sicher  echt  gegen  Ebert, 
vgl.  Wattenbach,  GQ'I,  481  A.  3  a.  E.,  ich  komme  darauf  später  zu- 
rück) dem  Autor  abspricht,  prinzipiell  eine  neue  Stütze.  —  Bei  einem 
so  gelehrten  und  inhaltreichen  Werke  wie  dem  Adams  ist  die  Kom- 
I  mentierung  ebenso  wichtig  wie  schwierig;  Schmeidler  hat  in  dieser 
'  Hinsicht  allen  billigen  Anforderungen  genügt  und  seinen  Vorgänger 
Lappenberg  beträchtlich  ergänzt.    Ein  ansprechender  Indizienbeweis 


544  Notizen  und  Nachrichten. 

(bei  dem  freilich  Adams  consanguineus  Oddar,  nach  II  43  im  Jahre 
1018  maior  prepositus  von  Oldenburg,  unberücksichtigt  bliebe!)  führt 
ihn  dazu,  Adams  Heimat  „in  der  Nähe  des  Würzburger  Bistums  zu 
vermuten"  und  ihn  der  Bamberger  Schule,  vielleicht  dem  Bamberger 
Bistum  (S.  LV)  zuzuweisen.  Die  besonders  auf  Ottos  III.  Büchern 
beruhende  Bamberger  Dombibliothek,  über  die  wir  Traube  und  Hans 
Fischer  die  wertvollsten  Aufschlüsse  verdanken,  hätte  somit  außerhalb 
der  engeren  Heimat  außer  Lampert  noch  einen  zweiten  unserer  be- 
rühmtesten mittelalterlichen  Schriftsteller  gebildet.  Freilich  fehlen  in 
seinen  Quellen  die  für  Bamberg  charakteristischen;  doch  das  nimmt 
bei  ihm,  der  in  weiter  Ferne  schrieb,  kaum  wunder.  Verdienstvolle, 
wenn  auch  nicht  erschöpfende  (Schmeidler  S.  LXIII  A.  3)  Zusammen- 
stellung der  Vorbilder  von  Kohlmann,  Adam  von  Bremen.  1908. 
Sollte  nicht  die  Überlieferung  der  Klassikerzitate,  der  Schmeidler 
nicht  nachgeht,  weiterführen?  Eine  Anzahl  jener  Quellen,  besonders 
die  rätselhaften  Gesta  oder  Bella  Saxonum,  die  unter  Einhards  Namen 
zitiert  werden  und  sich  in  Wirklichkeit  größtenteils  mit  Rudolfs  Trans- 
latio  s.  Alexandri  decken,  sind  nicht  nachzuweisen  (S.  LVIIIf.).  Jene 
Sachsengeschichte  gehörte  aber  doch  wohl  nach  Fulda,  und  auf  dieses 
weist,  was  auch  für  die  Heimatfrage  immerhin  zu  bedenken  wäre, 
doch  auch  die  Benutzung  der  Fulder  Annalen  (freilich  mit  der  Regens- 
burger Fortsetzung);  vgl.  auch  der  V.  Karoli  von  Einhard.  Für  II8ff. 
scheint  mir  eine  wichtige  gleichzeitige  Quelle  unabweisbar,  die  ich  in 
einer  Aufzeichnung  aus  der  Umgebung  Adaldags  über  Ottos  I.  Rom- 
fahrt suche.  Die  problematische  Kenntnis  Ovids  (S.  LXIV  A.  3)  wird 
sich  durch  Benützung  eines  Florilegs  erklären,  dem  dann  noch  andere 
Zitate  entstammen  können.  Übrigens  tritt  auch  bei  Lampert  Ovid 
ganz  zurück,  vgl.  den  Index  locutionum  in  Holder-Eggers  vorbildlicher 
Ausgabe.  Zu  den  S.  LIX  A.  4  verzeichneten  Berührungen  mit  Regino 
vgl.  noch  I  52  In  isto  Ludovico  vetus  Karoli  finit  prosapia  und  Regino 
a.  880  sua  aliorumque  regum  Francorum  prosapia  pullulaverat.  Zu  II  18 
ist  eine  Grenzweisung  des  limes  Saxoniae  Vorlage  gewesen;  vgl. 
auch  Rubel,  Die  Franken,  S.  100  ff.  Reimprosa  liegt  z.  B.  II  67  epi- 
scopaliter  exornavit:  pastoraliter  educavit  vor.  Zu  opere  Italico  II  69 
notierte  ich  mir  Baeda  Hist.  Angl.  V  21  architedos  . . .,  qui  iuxta  morem 
Romanorum  ecclesiam  de  lapide  ...  facerent,  vgl.  III 25  gegen  An- 
fang: auch  Schmoller,  Grundriß  der  allgemeinen  Volkswirtschaftslehre 
P  (1908)  S.  209,  läßt  den  Steinbau  der  Kirchen  bis  ins  11.  Jahrhundert 
Sache  italienischer  Arbeiter  (=  opus  Italicum)  oder  der  Kleriker  sein; 
ob  also  wirklich  =  opus  Gallicum?  —  Schmeidler,  der  (S.  LXVI)  be- 
rechtigt ist,  seiner  langjährigen  und  mühevollen  Arbeit  ausdrücklich 
Erwähnung  zu  tun,  hat  sich  wieder  wie  beim  Helmold  als  gründlicher 
und  gewissenhafter  Editor  bewährt.  Fedor  Schneider. 


i 


I 


Frühes  Mittelalter.  545 

Die  oben  S.  359  angezeigte  Abhandlung  von  K.  Schambach 
„Noch  einmal  die  Geinhäuser  Urkunde  und  der  Prozeß  Heinrichs 
des  Löwen"  ist  jetzt  mit  unveränderter  Seitenzählung  als  selbständige 
Schrift  erschienen  (Hannover,  Kommissionsverlag  von  Friedrich  Gers- 
bach, 1918). 

In  den  Aarbeger  for  Nordisk  Oldkyndighed  og  Historie  igi8, 
III.  Raekke,  8.  Bind  sucht  Finnar  Jönsson  nachzuweisen,  daß  das 
Bruchstück  des  Saxo  Grammaticus  aus  Angers  mit  seinen  zahlreichen 
Parallellesarten  und  Zusätzen,  die  nach  ihm  alle  von  derselben  Hand 
wie  der  ursprüngliche  Text  herrühren,  zu  einer  ersten  von  Schreiber- 
hand gefertigten  Reinschrift  gehörten,  in  die  der  Verfasser  darauf 
denselben  Schreiber  seine  nachträglichen  Besserungen  und  Zusätze 
nach  seinem  Diktat  habe  eintragen  lassen.  Das  verdient  hohe  Be- 
achtung, falls  die  Schrift  des  Fragments,  wie  er  gegen  Holder-Egger 
(Ende  des  13.  Jahrhunderts)  annimmt,  sicher  noch  dem  1.  Viertel 
oder  der  1.  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  angehört.  Die  ganze  spätere 
Überlieferung  geht  auf  die  vollständige  Angershandschrift  zurück. 

Philipp  Heck,  Pfleghafte  und  Grafs chaftsbauern  in  Ostfalen. 
Tübingen,  Verlag  von  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck),  1916,  206  S. 
Veranlaßt  durch  Beyerles  eindringende  Untersuchung  über  die  Pfleg- 
haften (vgl.  H.  Z.  114,  S.  445  f.),  unterzieht  Heck  einige  Hauptpunkte 
seiner  heftig  umstrittenen  Auffassung  der  sächsischen  Gerichts-  und 
Standesverhältnisse  an  der  Hand  der  seit  1905  erschienenen  Literatur 
einer  erneuten  Prüfung.  In  steter  und  zum  Teil  sehr  scharf  pole- 
mischer Auseinandersetzung,  namentlich  mit  Amira  und  Beyerle, 
sowie  mit  EcKard  Meister  u.  a.,  hält  er  seine  früheren  Aufstellungen 
in  allem  Wesentlichen  aufrecht.  Was  sich  dafür  sagen  läßt,  ist  dialek- 
tisch recht  geschickt  und,  wenigstens  was  die  seinerzeit  z.  B.  von 
Zeumer  gebilligte  Deutung  der  „Pfleghaften"  des  Sachsenspiegels 
auf  die  städtische  Bevölkerung  oder,  wie  Heck  jetzt  mit  Recht  ein- 
schränkend sagt,  auf  die  unteren  Schichten  der  städtischen  Bevölke- 
rung angeht,  sehr  eindrucksvoll  hervorgehoben.  Doch  mit  dem  Ver- 
such wird  man  sich  schwer  befreunden,  die  beiden  einzigen  Stellen, 
wo  das  Wort  „pfleghaft"  sicher  urkundlich  auftritt,  aus  der  Erörterung 
auszuscheiden  und  für  sie  einen  vom  Sachsenspiegel  völlig  abweichen- 
den „thüringischen"  Sprachgebrauch  von  „pfleghaft"  =  „hörig"  in 
Beziehung  auf  Villicationsleute,  vielleicht  einfach  Laie,  anzunehmen. 
Volle  Klarheit  ist  also  noch  nicht  geschaffen.  Daß  der  Dreihufengrenze 
keine  Bedeutung  als  Standesmerkmal  zukommt,  sucht  Heck  jetzt 
durch  eine  neue  Beobachtung  zu  stützen,  indem  er  Sachsenspiegel 
Ldr.  III,  80  und  81  eine  doppelte  Dreihufengrenze  findet,  „zwei  ver- 
schiedene Maße,  die  nicht  zugleich  auf  dieselbe   Standesgrenze  be- 


546  Notizen  und  Nachrichten. 

zogen  werden  können."  Während  so  der  1.  Teil  sich  wesentlich  mit 
der  Auslegung  des  Sachsenspiegels  beschäftigt,  handelt  der  2.  Teil 
(„Die  Grafschaftsbauern  und  ihre  statistische  Verbreitung")  über 
Grafschaftssteuer  und  Grafschaftsgut  in  Sachsen,  namentlich  im  öst 
liehen  Sachsen.  Beyerles  positive  Ergebnisse  werden  abgelehnt. 
„Pfleghafte  und  Grafschaftsbauern  haben  nichts  miteinander  gemein." 
Eine  Heersteuer  freier  Grundeigentümer  hat  überhaupt  nicht  existiert ; 
eine  andere  Grafschaftssteuer  als  die  Bede  hat  es  nicht  gegeben.  Phi- 
lippis  Hypothese  über  „Eigen"  und  „Erbe"  (vgl.  H.  Z.  114,  S.  671) 
wird  mit  Recht  zurückgewiesen.  Die  von  Beyerle  neu  herangezogenen 
llfelder  Urkunden,  zu  deren  Auslegung  inzwischen  auch  Phiiippi  einen 
wesentlichen  Beitrag  geliefert  hat  (vgl.  H.  Z.  118,  S.  158  f.),  werden 
anders  erklärt;  die  Wendung  „de  foro  nostro''  soll  „vom  Hofe"  oder 
„vom  Hofgerichte",  nicht  „vom  Gerichte"  schlechthin  bedeuten  und 
nicht  auf  Grafschaftsgut,  sondern  auf  Ministerialengut  zu  beziehen 
sein,  wie  auch  im  1.  Teil  das  ius  forense  quorundam  fiominum,  qui  in 
vulgär i  dicuntur  plaeccathte  der  Walkend eder  Urkunde  von  1214  als 
„Hofrecht"  gedeutet  wird  (??).  Hier  bleibt  doch  allzuvieles  zweifel- 
haft. Daß  die  Einwendungen  gegen  Hecks  Gleichsetzung  der  nobiles 
mit  den  Gemeinfreien  in  keiner  Weise  entkräftet  werden,  bedarf  kaum 
besonderer  Betonung.  Hinfällig  sind  die  Folgerungen,  die  Heck  aus 
Zeumers  Annahme,  daß  Eike  von  Repgau  auch  der  Verfasser  der 
Sächsischen  Weltchronik  sei  (vgl.  dazu  H.  Z.  115,  S.  207),  und  aus 
F.  Salomons  verfehltem  Versuch,  die  Chronik  Ekkehards  von  Aura 
als  Quelle  des  Sachsenspiegels  zu  erweisen,  ziehen  zu  können  meint. 
Siehe  dazu  meine  Ausführungen  in  der  Festschrift  zum  70.  Geburtstag 
von  Dietrich  Schäfer  (Forschungen  und  Versuche  zur  Geschichte  des 
Mittelalters  und  der  Neuzeit,  Jena  1915,  S.  112  ff.)  und  die  BerHner 
Dissertation  von  H.  Ballschmiede  über  die  Sächsische  Weltchronik 
(1914,  auch  Niederdeutsches  Jahrbuch  XL,  81  ff.),  in  der  die  Ver- 
schiedenheit der  Verfasser  der  drei  Rezensionen  dieser  Chronik  er- 
wiesen ist.  In  der  Luft  stehen  auch  die  weiteren  Vermutungen  über 
Eike,  der  wahrscheinlich  Stadtbewohner  gewesen  sei,  aber  doch  den 
Sachsenspiegel  für  die  Zwecke  einer  bischöflichen  Zentralverwaltung 
(S.  28),  als  Handbuch  für  die  Rechtsprechung  der  ländlichen  Gerichte, 
nicht  für  die  Stadtgerichte  abgefaßt  habe  (S.  31,  47).    A.  Hofmeister. 

Den  Beginn  der  zweiten  Herrschaft  Heinrichs  des  Bärtigen  von 
Schlesien  in  Krakau  berechnet  M.  Witold  Lodynski  in  der  Zeitschrift 
des  Vereins  für  Gesch.  Schlesiens  Bd.  52  auf  die  Zeit  zwischen  dem 
30.  Juni  und  dem  2.  Oktober  1232. 

Adalbert  Matthaei  hat  seine  treffliche  Übersicht  über  die 
„Deutsche  Baukunst  im  Mittelalter"  jetzt,  da  sie  ihre  4.  Auflage  er- 


Späteres  Mittelalter.  547 

lebt,  in  2  Bändchen  zerlegt  („Aus  N^atur  und  Geisteswelt"  8  u.  9, 
Leipzig,  Teubner,  1918,  VI  u.  104  S.  mit  35  Abbild.,  117  S.  mit  67  Ab- 
bild.); die  Darstellung  der  Gotik  und  „Spätgotik"  ist  dabei  erweitert 
worden.  Ihr  schließt  sich  an  „Deutsche  Baukunst  in  der  Renaissance- 
und  Barockzeit  bis  zum  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts",  in  2.  wesent- 
lich bereicherter  Auflage  als  Bd.  326  derselben  Sammlung  1919  (116  S. 
mit  63  Abbild.)  erschienen. 

Neue  Bücher:  Tangl,  Bonifatiusf ragen.  (Berlin,  Akademie  d. 
Wissenschaften.  4  M.)  —  Barnewitz,  Die  Kaiserkrönungen  in  Rom 
und  die  Römer,  von  Karl  dem  Großen  bis  Friedrich  II.  (800 — 1220). 
(Freiburg  i.  B.,  Herder.  4  M.)  —  Gertz,  Scriptores  minores  historiae 
Danicae  medii  aevi.  Ex  codicibus  denuo  recensuit.  i.  Bind,  2.  Haefte. 
{Kopenhagen,  Gad.    3  K.) 

Späteres  Mittelalter  (1250—1500). 

Das  Archiv  für  Straf  recht  und  Strafprozeß  67,  I — 4  enthält 
eine  rechts  vergleichende  Studie  von  Herm.  Knapp  über  den  Beweis 
im  Strafverfahren  des  Schwabenspiegels  und  des  in  ganz  Oberdeutsch- 
land zu  außerordentlicher  Bedeutung  gelangten  Augsburger  Stadt- 
rechts, die  beide  ungefähr  gleichzeitig  —  um  1275 — 1276  —  ins  Leben 
getreten  sein  dürften. 

Rob.  Andre-Michel  zeigt  am  Beispiel  eines  gegen  Juden  von 
Uz^s  im  Jahre  1297  angestrengten  Verfahrens  das  Eingreifen  der 
königlichen  Gewalt,  die  die  lokalen  Instanzen  auszuschalten  sucht 
und  die  Beschuldigten  als  Juden  des  Königs  für  sich  in  Anspruch  nimmt 
{BiblioMque  de  l'Ecole  des  chartes  75,  1—2). 

Auguste  Stör  mann,  Studien  zur  Geschichte  des  Königreichs 
Mallorka  (Abhandlungen  zur  Mittl.  u.  Neuer.  Gesch.,  hsg.  von  v.  Below, 
Finke,  Meinecke,  Heft  66),  Berlin  u.  Leipzig,  Rothschild,  1918,  92  S. 
—  Im  Mittelpunkte  der  Arbeit  steht  die  eigentümliche  Gestalt  jenes 
aragonischen  Prinzen  Philipp  von  Mallorka,  des  Bruders  der  Königin 
Sancia  von  Neapel,  der  Gemahlin  König  Roberts.  In  größerem  Zusam- 
menhang hatte  über  ihn  (H.  38  ders. Sammlung) M.  van  Heuckelum,  Spiri- 
tualistische Strömungen  an  den  Höfen  von  Aragon  und  Anjou  berichtet. 
Der  merkwürdige  prinzliche  Asket  und  spätere  Führer  der  italienischen 
Fraticellen,  ihr  Wortführer  am  Hofe  von  Neapel,  erscheint  hier  als 
Politiker  und  Regent  des  kurzlebigen  Königreichs  Mallorka  in  den 
Jahren  1324 — 1329.  Er  zeigte  sich  seiner  schwierigen  Aufgabe  in  dem 
wilden  Parteitreiben  der  Zeit  keineswegs  gewachsen.  Der  Wert  der 
Arbeit  beruht  in  der  Benutzung  noch  ungedruckter  Materialien  H.  Finkes 
für  einen  dritten  Band  seiner  Acta  Aragonensia,  die  wieder  außerordent- 
lich interessante  und  lebendige  Schilderungen  politischer  Persönlich- 


548  Notizen  und  Nachrichten, 

keiten  und  besonders  auch  Johanns  XXII.  und  der  Kurie  bringen. 
Mit  Hilfe  der  neuen  Quellen  werden  namentlich  die  französischen  Ar- 
beiten von  Lecoy  de  la  Marche,  Vidal  u.  a.  über  die  mallorkanische 
Politik  dieser  Jahre  wesentlich  berichtigt.  Möchte  es  möglich  sein, 
die  neuen  Quellen  bald  vollständig  der  allgemeinen  Benutzung  zu- 
gänglich zu  machen. 

Leipzig.  R.  Scholz. 

Eine  seit  1476  im  Franziskanerkloster  zu  Freiburg  i.  Ü.  befind- 
liche Handschrift  der  bekannten  Papstchronik  des  Bernard  Gui  (Gui- 
donis),  die  unter  dem  Namen:  Flores  chronicarum  seu  catalogus  pon- 
tificum  Romanorum  während  der  Jahre  1315 — 1331  in  zahlreichen 
Redaktionen  verbreitet  worden  ist,  untersucht  Gustav  Schnürer  in 
den  Freiburger  Geschichtsblättern  25,  S.  1  ff.  In  der  vorliegenden 
Gestalt  zwischen  1393  und  1431  entstanden,  geht  sie  in  letzter  Linie 
auf  ein  Exemplar  der  zweiten,  im  Jahre  1320  in  die  Öffentlichkeit 
gebrachten  Redaktion  zurück;  das  MittelgHed  bildet  eine  Abschrift, 
die  1392  in  Limoges  angefertigt  ist. 

Die  von  guter  historischer  Methode  zeugende  und  bei  aller  Knapp- 
heit gehaltvolle  Abhandlung  von  Hermann  Junghanns:  Zur  Ge- 
schichte der  englischen  Kirchenpolitik  von  1399 — 1413  (Freiburg  i.  Br., 
Caritasdruckerei,  1915)  schließt  sich  an  eine  andere  Freiburger  Doktor- 
dissertation (Wagner,  Englische  Kirchenpolitik  unter  Richard  IL, 
Bonn  1904)  an  und  behandelt  „Englands  Stellung  zum  abendländischen 
Schisma  während  der  Regierungszeit  Heinrichs  IV."  und  „die  eng- 
lische Staatskirche  unter  Heinrich  IV.",  zum  Schluß  in  einem  Exkurs 
Heinrichs  IV.  Beziehungen  zum  Orient,  während  für  sein  Vorgehen 
gegen  die  Lollarden  auf  James  Gairdner  (Art.  Arundel  in  Dict.  of 
Nat.  Biogr.  I,  609  u.:  Lollardy  a.  the  Reformation  in  England,  3  vols., 
London  1911)  verwiesen  wird.  C. 

In  Nr.  35  der  dritten  Abteilung  der  Abhandlungen  der  tschechi- 
schen Akademie  (Prag  1917,  Verlag  der  Akademie)  behandelt  Arnost 
Kraus  den  „Hussitismus  in  der  Literatur,  vornehmlich  in  der  deut- 
schen (Husitstvi  V  literature,  zejmena  nemeckiy.  Vorläufig  liegt  der 
erste  Teil  vor,  der  die  beiden  ersten  Jahrhunderte  umfaßt.  Es  ist 
im  wesentlichen  das,  was  man  den  Leumund  des  Hussitismus  bei  den 
einzelnen  Völkern  des  Abendlandes  nennen  darf.  Ist  er  bei  den  ent- 
fernteren Nationen  aus  kirchlichen  Beweggründen  kein  guter,  sofern 
man  von  den  englischen  Wiclifiten  absieht,  so  kommt  bei  den  deut- 
schein Nachbarn  noch  der  schon  in  älterer  Zeit  (Ludolf  von  Sagan 
bringt  da  die  sprechendsten  Belege)  vorhandene,  in  der  Hussitenzeit 
kräftig  entfaltete  nationale  Gegensatz  hinzu,  der  diesen  Leumund  noch 
schlechter  macht.  Hier  werden  in  acht  Abschnitten  die  einzelnen 
Perioden  der  Entwicklung  des  tschechischen  Wiclifismus  mit  der  in 


Späteres  Mittelalter.  549 

Zusammenhang  stehenden    Gegenbewegung  in  einzelnen  Äußerungen 
der  Zeitgenossen  —  Invektiven  in  gebundener  und  ungebundener  Rede 

—  behandelt:  zuerst  die  mehr  literarischen  Reibungen  an  der  Uni- 
versität in  ihrer  Verquickung  mit  nationalen  Motiven,  dann  die  mit 
Konstanz  und  der  folgenden  Bewegung  in  Prag  zusammenhängenden 
Dinge  über  die  Jahre  des  Hussitenkrieges  hinaus  bis  in  das  16.  Jahr- 
hundert. Da  von  den  Invektiven  bisher  noch  lange  nicht  alles  ge- 
druckt, das  Gedruckte  handschriftlich  oft  mehrfach  vorhanden  ist, 
hier  aber  weder  auf  das  eine  noch  auf  das  andere  des  näheren  ein- 
gegangen wird,  so  kann  bei  aller  sonstigen  Verdienstlichkeit  der  Arbeit 
diese  selbst  nichts  Vollständiges  bieten.  Gibt  es  doch  kaum  eine  größere 
Klosterbibliothek  in  Deutschland  und  Österreich,  die  nicht  durch  ein 
oder  das  andere  Stück  polemischer  Natur  den  Zusammenhang  mit 
dieser  Bewegung  erweisen  würde.  Hier  wird  sonach  noch  ein  tieferes 
Eindringen  in  den  Gegenstand  nottun,  um  so  mehr  als  das  Meiste 
an  Material,  was  bisher  zutage  gefördert  wurde,  meist  wie  es  der  Zufall 
darbot,  veröffentlicht  wurde.  Manches  Gedicht  erscheint  in  mehreren 
Handschriften,  oft  mit  bedeutsamen  Abänderungen,  hier  und  da  ist, 
wenn  nicht  schon  der  Name  des  Autors,  doch  der  des  Schreibers  ge- 
nannt, wie  z.  B.  in  der  Grazer  Handschrift  II,  253,  wo  das  sog.  Angst- 
gedicht eines  böhmischen  Mönchs  beim  Ausbruch  des  Hussitensturms 
in  anderer  Folge  der  einzelnen  Strophen  mit  neuen  Schlußversen  er- 
scheint und  wo  man  am  Schlüsse  liest:  Hans  Gretzer,  du  edles  blut 

—  got  hab  dich  allezeit  in  seiner  hut  — .  Daß  auch  das  gedruckte 
Material  nicht  immer  vollständig  zu  Rate  gezogen  ist,  mag  noch  be- 
sonders angemerkt  werden.  Aus  schlesischen  und  mährischen,  aber 
auch  aus  österreichischen  Quellen  läßt  sich  noch  einzelnes  beibringen. 
Die  Leipziger  Handschrift,  aus  der  hier  die  erste  Nummer  genommen 
ist,  sagt  vom  König  Wenzel:  Qui  scelus  amavit,  hunc  mors  amarissima 
stravit,  oder:  De  cuius  obitu  pauci  lugent  vero  fletu  usw.  Petschachers 
Gedichte  finden  sich,  wie  ich  einer  schon  vor  40  Jahren  gemachten 
Eintragung  entnehme,  auch  in  einer  Wittingauer  Handschrift.  Das 
Gedicht  Hussite  pugnaverunt  contra  Australes  beginnt  mit  den  Worten : 
Nunc  Herum  repetis  tua  furta  Bohemia  fallax  —  Australes  iustos  expo- 
liare  cupis.  . . .  Daß  auch  die  Werke  Stephans  von  Dolein  hierher 
gezogen  werden  müssen,  ist  eigentlich  selbstverständlich,  ist  er  doch 
unter  den  gleichzeitigen  einheimischen  Gegnern  des  Huß  der  bedeu- 
tendste. Vom  Dialogus  volatilis  liest  man :  Qui  sie  dicitur,  quia  sub 
figura  volatilium  agitur,  vel  alias  quia  Wiclefitis  levis  et  momentaneus 
videtur.  Schärfer  gegen  den  Hussitismus  gehen  die  Epistolae  ad  Hus- 
sitas  vor.  Schon  die  Wortspiele,  die  sich  hier  finden,  sind  beachtens- 
wert, z.  B.  Fistula  dulce  canit,  volucrem  dum  decipit  auceps. 

Graz.  j.  Loserth, 


550  Notizen  und  Nachrichten. 

In  den  Freiburger  Geschichtsblättem  25,  S.  24  ff.  schildert 
A.  Büchi  die  Verhandlungen  des  vom  französischen  König  im  Inter- 
esse seiner  Schwester,  der  Herzogin  von  Savoyen,  angeregten  Friedens- 
kongresses zu  Freiburg  (Juli-August  1476),  zu  dem  sich  Vertreter 
der  am  Kampf  gegen  Karl  den  Kühnen  beteiligten  Länder,  Städte 
und  Gewalten  eingefunden  hatten. 

In  den  Mitteilungen  zur  Vaterländischen  Geschichte,  herausgeg. 
vom  Historischen  Verein  in  St.  Gallen  34  veröffentlicht  PI.  Butler 
nach  ausführlicher  Einleitung  die  Akten  des  Varnbülerprozesses,  in 
dem  es  sich  letzten  Endes  weniger  um  das  Vorgehen  des  einstigen 
St.  Gallischen  Bürgermeisters  gegen  seine  Vaterstadt  handelt  als 
um  die  Frage,  ob  die  zugewandten  Orte  der  Eidgenossenschaft  noch 
unter  der  Oberhoheit  und  der  Jurisdiktion  des  Reichstags  und  des 
königlichen  Kammergerichts  stehen  sollten  oder  nicht.  Der  Handel 
ist  schließlich  1498  durch  einen  Kompromiß  zwischen  Maximilian 
und  den  Eidgenossen  beendet  worden,  der  aber  in  der  grundsätzlichen 
Frage  keine  Entscheidung  gebracht  hat:  der  König  vermochte  nur 
den  Schein  zu  retten,  die  Jurisdiktion  des  Reichskammergerichts 
ward  von  den  Eidgenossen  nach  wie  vor  bestritten.  So  vertieft  die 
Veröffentlichung  unsere  Kenntnis  von  den  Gegensätzen  zwischen 
Reich  und  Eidgenossenschaft  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  15.  Jahr- 
hunderts, die  dann  im  Schwabenkrieg  zum  offenen  Ausbruch  gekommen 
sind. 

Neue  Bücher:  Katterbach^  Der  zweite  Hterarische  Kampf 
auf  dem  Konstanzer  Konzil  im  Januar  und  Februar  1415.  (Fulda, 
Fuldaer  Aktiendruckerei.  3  M.)  —  Paul  Ostwald,  Die  wirtschaft- 
liche Entwicklung  Preußens  unter  dem  deutschen  Ritterorden.  (Berlin- 
Schöneberg,  Wartburg- Verlag.    4  M.) 

Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648). 

Das  schwierige  Problem  „Reformation  und  deutscher  Idealismus" 
behandelt  Joh.  Wen  dl  and  in  den  „Studien  zur  systematischen  Theo- 
logie, Theodor  v.  Häring  zum  70.  Geburtstag"  dargebracht"  (Tübingen, 
Mohr.  1918.  Auch  sep.  1  M.).  —  In  Erläuterung  an  Kant,  Fichte, 
Schleiermacher,  Hegel  werden  Berührungspunkte  wie  Fundamental- 
unterschiede beider  Geistesbewegungen  gut  herausgearbeitet.  Der 
Idealismus  verkörpert  einen  Rückgriff  auf  das  Erbe  der  Antike,  sofern 
er  den  im  geistigen  Wesen  des  Menschen  liegenden  Teil  als  das  eigent- 
lich Göttliche,  als  allgenugsam  ansieht;  das  religiös-sittliche  Leben  hat 
nur  diese  Anlagen  zur  kraftvollen  Durchführung  zu  bringen.  In  der 
Reformationszeit  hat  Seb.  Franck  diese  Gedanken  vertreten,  nicht 
aber  die  Reformatoren.    Für  sie  ist  die  menschliche  Anlage  durch  die 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648).  551 

Sünde  zerbrochen  und  bedarf  der  Erlösung;  Supranaturalismus  und 
Rationalismus  stehen  sich  gegenüber.  w.  K. 

Archiv  für  Reformationsgeschichte  Bd.  16,  H.  1/2  enthält  fol- 
gende Aufsätze:  P.  Veiten:  Thomas  Naogeorgs  Flucht  aus  Kur- 
sachsen (nach  Weimarer  Akten;  N.  mußte  aus  Kahla  flüchten  wegen 
Verdachts  auf  Zwinglianismus  und  Karlstadtianismus);  R.  Stölzle: 
Joh.  Friedrich  Coelestin  als  Erziehungstheoretiker  (Schluß  des  in 
Bd.  15  begonnenen  Aufsatzes);  K.  Schornbaum:  Aus  dem  Brief- 
wechsel G.  Kargs  (Briefe  von  V.  Strigel  an  ihn);  P.  Di  et ze:  Lutherana 
aus  Altenburger  Archiven  (Nachschrift  der  Predigt  Luthers  von 
Glauben  und  Werken,  Erfurt  1522,  ein  unbekannter  Brief  des  Stadt- 
rats von  Altenburg  an  Luther  vom  13.  Nov.  1542,  eigenhändige  No- 
tizen Luthers  betr.  Stipendien  für  Wittenberger  Studenten  der  Theo- 
logie und  Medizin). 

„Zum  Gedächtnis  der  Zürcher  Reformation  1519 — 1919"  gaben 
das  Staatsarchiv,  die  Zentralbibliothek,  die  Stiftung  für  wissenschaft- 
liche Forschung  an  der  Universität,  der  Zwingli-Verein,  die  Buch- 
druckerei Berichthaus  ein  Prachtwerk  „Ulrich  Zwingli"  heraus,  das 
nach  dem  Urteil  von  Johannes  Ficker  (Zeitschr.  des  deutschen  Vereins 
für  Buchwesen  und  Schrifttum  1919,  S.  39  ff.)  als  geschichtliches  und 
künstlerisches  Gesamtwerk  unter  den  Gedächtnisschriften  säkularer 
Reformationsfeiern  dieses  Jahrhunderts  wie  der  voraufgehenden  über- 
haupt an  erster  Stelle  steht.  Es  enthält  außer  184  Tafeln  (Ansichten, 
sine  Porträtgalerie  der  Reformatoren,  Handschriftenproben)  folgende 
historische  Aufsätze:  G.  Meyer  v.  Knonau,  Zürich  im  Jahre  1519; 
W.  Köhler,  Zwingli  als  Theologe;  W.  Oechsli,  Zwingli  als  Staats- 
mann; O.  Farner,  Zwingiis  häusliches  Leben;  H.  Lehmann,  Zwingli 
und  die  zürcherische  Kunst  im  Zeitalter  der  Reformation.  (Zürich, 
Berichthaus.    450  S.    70  Fr.) 

Einen  nicht  unwichtigen  Streit  fechten  in  der  „Theol.  Tijd- 
schrift"  Bd.  53,  H.  2  P.  H.  Veen  und  K.  Vos  über  den  Charakter 
der  Wiedertäufer  aus,  den  dieser  als  politisch-revolutionär,  jener  als 
rein  religiös  bestimmen  möchte.  Veen  erreicht  schließlich  das  richtige 
Sowohl-als-auch,  das  sich  je  nach  den  einzelnen  Gruppen  abstuft. 
English  historical  Review  Bd.  33  (H.  1—4)  enthält  folgende  Ar- 
beiten zur  Reformationsgeschichte:  W.  H.  Grattan  Flood,  Queen 
Marys  Chapel  Royal  (Mitteilung  der  Mitgliederliste  von  1554,  über 
Musikaufführungen  der  Kapelle);  M.  Letts,  Some  Sixteenth-century 
Travellers  in  Naples  (Fichard,  Leopold  von  Wedel,  Samuel  Kiechel 
in  ihren  Reiseberichten);  W.  P.  M.  Kennedy,  Fines  under  the  Eliza- 
bethan  Art  of  Uniformity  (nach  den  Visitationsberichten,  betr.  the 
twelve-penny  fine  for  non  conformity,  die  Steuer  wurde  zwangsweise 


552  Notizen  und  Nachrichten. 

von  Katholiken  und  Puritanern  eingetrieben);  V.  F.  Boyson,  Ostend 
in  1587  (betr.  die  Befestigung  der  damals  im  Besitz  der  Niederländer 
und  Engländer  befindlichen  Stadt).  —  In  Bd.  34,  1  schreibt  M.  Christy 
über  „Queen  ElizaheWs  Visit  to  Tilbury  in  1388''  (genaue  Darstellung 
der  hier  kurz  vor  dem  Auslaufen  der  spanischen  Armada  abgehal- 
tenen Truppenrevue  und  der  Ansprache  der  Königin  nach  den  zeit- 
genössischen Quellen,  insbesondere  dem  Dichter  Aske). 

Der  Gattin  Wilhelms  V.  von  Bayern,  der  Herzogin  Renata  von 
Lothringen,  hat  Anna  de  Crignis-Mentelberg  in  der  Sammlung 
katholischer  „Frauenbilder"  eine  Darstellung  gewidmet,  der  man  wohl 
den  guten  Willen  nachrühmen  kann,  die  aber  doch  trotz  archivali- 
scher  Vorarbeiten  auf  eine  wirklich  historische  Auffassung  keinen  An- 
spruch erheben  kann  (Freiburg  i.  B.,  Herder.  1912).  Das  zeigt  bereits 
der  Titel,  worin  Renata  als  die  Mutter  „Maximilians  des  Großen  von 
Bayern"  bezeichnet  wird,  und  der  erste  Satz  des  Vorworts,  wo  Maxi- 
milian auf  gleiche  Stufe  mit  dem  Großen  Kurfürsten  gestellt  wird. 
Wer  diese  Art  von  Lokalpatriotismus  noch  nicht  überwunden  hat, 
charakterisiert  seinen  geschichtlichen  Standpunkt  von  Anfang  an  als 
dilettantisch,  und  so  ist  nun  auch  das  ganze  Buch:  die  Fähigkeit  zur 
wissenschaftlichen  Verarbeitung  des  an  sich  reichen  Materials  fehlt 
leider  ganz.  Wenn  die  Verfasserin  am  Schlüsse  meint,  das  Leben  der 
Renata  sei  „süß  und  stark  wie  Lilienduft  an  uns  vorübergezogen",  so 
wird  der  Historiker  sich  von  der  Mischung  eines  ästhetischen  und 
religiösen  Genusses  nicht  befriedigt  erklären  können.         W.  Goetz. 

Als  reife  Frucht  viel  jähriger  Studien  legt  Andreas  Veress  im 
3.  Bande  seiner  großangelegten  Quellensammlung  {Fontes  rerum  Hun- 
garicarum)  die  auf  Kosten  des  Bischofs  Wilhelm  Fraknöi  herausgege- 
benen Rationes  Curiae  Stephani  Däthory  regis  Poloniae  historiam  Hun- 
gariae  et  Transylvaniae  illustrantes  (Budapest,  Typis  societatis  Stepha- 
neum  typographicae  1918,  XII  u.  312  S.)  vor,  die  den  ersten  Band 
einer  eigenen  Sonderreihe  {Monumenta  Hungariae  in  Polonia)  der 
ganzen  Sammlung  bilden.  Die  neue  Reihe  soll  die  Zeiten  und  das 
Wirken  ungarisch-siebenbürgischen  Einflusses  in  Polen  bis  1666  näher 
beleuchten.  Hier  sind  es  die  Einnahmen-  und  Ausgabenregister  des 
Hofes  Stephan  Bäthorys  während  der  zehn  Jahre  seiner  Herrschaft 
in  Polen  (1576 — 1586),  die  Veress  in  mühevoller,  in  der  Einleitung 
geschilderter  Arbeit  gesammelt  hat  und  die  nun  einen  guten  Einblick 
in  die  Finanzgebahrung  am  polnischen  Hofe  gewähren.  Für  die  all- 
gemeinen politischen  Verhältnisse  werden  zweifellos  die  folgenden 
Bände  der  Sonderreihe  noch  bedeutendere  Ergebnisse  erzielen,  da  sie 
die  Akten  und  Korrespondenzen  der  am  Hofe  lebenden  Ungarn,  den 
Briefwechsel   Johann   Zamoyskis   mit   ungarischen   Zeitgenossen,   die 


Reformation  und  Gegenreformation  (1500—1648).  553 

Briefe  päpstlicher  Nunzien  und  anderer  Gesandten  am  polnischen 
Hofe  über  ungarische  Angelegenheiten  enthalten.  Wie  in  den  früheren 
Bänden  finden  sich  auch  hier  sehr  sorgsam  ausgearbeitete  Indices, 
von  denen  der  erste  ein  ausführliches  Verzeichnis  der  archivalischen 
Fundorte  enthält.  Beigegeben  ist  dem  Band  ein  gutes  Porträt  König 
Stephans  und  eine  Anzahl  von  Faksimiles. 

Graz.  j,  Loserth. 

Sehr  lehrreich  ist  der  Aufsatz  von  Ch.  de  la  Ronci^re,  „Le 
passage  Nord-Est  et  la  compagnie  frangaise  du  pole  arctique  au  temps 
de  Henri  IV  (Bibl.  de  Vecole  des  Charles  78,  1917).  Es  handelt  sich 
nach  früheren  Ansätzen  um  den  Plan  von  Isaac  le  Maire  und  Henry 
Hudson,  über  den  Nordpol  nach  Indien  zu  gelangen,  es  bildete  sich 
eine  besondere  Nordpolgesellschaft  „pour  Vitablissement  du  commerce 
des  Indes  par  le  nord'\  Dokumente,  darunter  ein  Memoire  von  le 
Maire  für  die  Schiffsausrüstung  sind  beigegeben.  L.  Dorez  bringt 
ebenda  seine  „nouvelles  recherches  sur  Michel-Ange  et  son  entourage*' 
zum  Abschluß  (u.  a.  Brief  der  Cornelia  Colonelli  über  Michelangelos 
Tod,  Brief  betr.  das  Grabmal  Philiberts  v.  Chalon),  und  C.  Coudex 
gibt  dokumentarische  Belege  über  die  Vermögenslage  der  Familie  des 
Cartesius. 

Die  in  der  „Cistercienser-Chronik"  Bd.  31  mitgeteilten  „Cister- 
ciensia  aus  dem  Tagebuch  des  Laibacher  Fürstbischofs  Thomas  Chrön" 
(1598 — 1630)  enthalten  zumeist  statistische  Angaben,  wertvoll  für  die 
Personalgeschichte. 

Als  „Untersuchungen  zur  Geschichte  des  Noviziates  in  der  Ge- 
sellschaft Jesu"  legt  H.  Stoeckius  den  in  Paris  (Bibliotheque  Ma- 
zarine  Ms.  Nr.  1793)  befindlichen  Text  der  Instruction  pour  le  Noviciat 
des  Jesuites  vor  und  erläutert  ihn  in  voraufgehender  Abhandlung  über 
„die  Ordnung  des  täglichen  Lebens"  (IX,  235  S.,  Bonn,  A.  Falken- 
roth, 1918).  Die  Handschrift  war  bisher  nur  in  (fehlerhaften)  Aus- 
zügen bei  A.  Schirnberg:  L'education  morale  dans  les  colUges  de  la 
Compagnie  de  Jesus  en  France  sous  fanden  regime  1913  bekannt,  ihren 
hohen  Wert  lehrt  Stoeckius  kennen.  Zwar  gehört  sie  dem  17.  Jahr- 
hundert an,  aber  sie  konnte  doch  die  Grundlage  bilden  für  eine  Dar- 
stellung des  täglichen  Lebens  der  Novizen  auch  im  16.  Jahrhundert, 
zumal  Stoeckius  in  methodisch  sorgfältigster  und  einwandfreier  Weise 
früheres  Material  heranzieht  und  einstellt.  Die  Schilderungen  sind 
außerordentlich  interessant  und  wertvoll,  vorab  nach  der  pädago- 
gischen Seite  hin.  Können  hier  Einzelheiten  nicht  gebracht  werden, 
so  sei  doch  das  Schlußurteil  erwähnt:  „Die  gesamte  Zeit  des  Novi- 
ziates verbringt  der  Zögling  in  einer  fortwährenden  Zucht  des  Körpers 
und  des  Geistes.    Es  mutet  an,  als  ob  der  Noviziat  ein  einziges  exer- 

Historische  Zeitschrift  (120.  Bd.)  3.  Folge  24.  Bd.  36 


'554  Notizen  und  Nachrichten. 

citium  corporate  et  spirituale  sei.  Indem  seinem  Willen  ganz  genau 
vorgeschrieben  wird,  in  welchen  Bahnen  er  sich  zu  bewegen  hat,  wird 
alles  individuelle  Wollen  gelähmt."  Der  Wille  als  solcher  aber  wird 
gestählt  im  Dienste  des  Ordenswillens.  Die  außerordentlich  reichen 
Anmerkungen  (z.  B.  S.  90  zu  dem  Thema:  Der  Jesuitenorden  und 
die  Frauen)  bieten  nach  verschiedensten  Seiten  hin  Anregung. 

W.  Köhler. 

Zu  den  zahlreichen  Arbeiten,  welche  die  Kriegswirtschaft  des 
Weltkrieges  an  Zuständen  der  Vergangenheit  erläutern,  gehört  de 
interessante  Darstellung  von  Karl  v.  Peez:  Die  Landsverleger-Com- 
pagnia  zu  Wienn,  die  erste  Kriegsversorgungs-Gesellschaft  1622 — 1624 
(Wien,  Gerlach  &  Wiedling,  1918,  113  S.).  Es  handelt  sich  um  eine 
Kommanditgesellschaft,  indem  jeder  Kompagnist  (ein  Kreis  von  zu- 
verlässigen und  dem  Hofe  ergebenen  Personen  von  bekannter  Kapital- 
kraft) sich  nur  nach  Maßgabe  seiner  Einlage  am  Gewinn  beteiligte 
und  in  diesem  Ausmaße  haftbar  war,  also  eine  Vorläuferin  der  mo- 
dernen Kriegslieferungsgesellschaften.  Der  nähere  Zweck  war  die 
Versorgung  der  kaiserl,  Erbländer  u.  a.  Provinzen  mit  Fleisch,  indem 
der  alleinige  Kauf  des  ungarischen  Viehs  und  der  Handel  mit  Häuten 
der  Compagnia  durch  Ferdinand  II.  garantiert  wurde.  Die  Gesellschaft 
hat  sich  nur  zwei  Jahre  gehalten,  dann  wurde  s.ie  aus  verschieden- 
artigsten Gründen  wieder  aufgelöst. 

Neue  Bücher:  Fueter,  Geschichte  des  europäischen  Staaten- 
systems von  1492 — 1559.  (München,  Oldenbourg.  15  M.)  —  Schöne- 
baum, Kommunismus  im  Reformationszeitalter.  Humanisten  — 
Reformatoren  —  Wiedertäufer.  (Bonn,  Schfoeder.  1,50  M.)  —  Mitt- 
ler, Die  militärisch-diplomatischen  Sendungen  des  Seigneur  v.  Sancy 
nach  der  Schweiz  und  nach  Deutschland  in  den  Jahren  1589 — 1591 
(Zürich,  Gebr.  Leemann  &  Cie.    5,60  M.) 


Zeitalter  des  Absolutismus  (1648—1789). 

In  einer  am  12.  Juni  1918  bei  der  Enthüllung  von  Jeltsemas 
Standbild  von  Johann  de  Witt  gehaltenen  Festrede  gibt  N.  Japikse 
eine  Schilderung  des  großen  niederländischen  Staatsmanns.  Er  wieder- 
holt in  schwungvollen  Worten  die  Gedanken  und  die  Resultate  seines 
größeren,  dem  Leben  De  Witts  gewidmeten  Werkes.  Er  will  seinem 
Helden  endlich  die  Würdigung  zuteil  werden  lassen,  auf  die  er  ein 
Recht  habe.  Er  sieht  in  ihm  neben  anderen  politischen  Größen  Nieder- 
lands, neben  den  Seehelden  und  den  Entdeckern,  neben  den  Künst- 
lern und  Gelehrten  einen  der  bedeutendsten  Baumeister  an  dem  Werke 
der  niederländischen  Kultur  des  17.  Jahrhunderts  und  einen  Staats- 
tnann,  der  mit  Cromwell  und  Mazarin  und  den  großen  Ministern  Lud- 


Zeitalter  des  Absolutismus  (1648—1789).  555 

wigs  XIV.  in  einer  Linie  steht.  Ohne  der  demnächst  folgenden  Be- 
sprechung der  erwähnten  Biographie  De  Witts  vorgreifen  zu  wollen, 
mag  hier  nur  auf  die  vielseitige  Erfassung  des  Charakterbildes  hin- 
gewiesen sein,  die  auch  in  dieser  Skizze  enthalten  ist.  Die  ungeheure 
Arbeitskraft  De  Witts,  für  die  schon  die  erhaltenen  ausgedehnten 
Korrespondenzen  Zeugnis  ablegen,  seine  Geistesschärfe,  seine  Ini- 
tiative, sein  Durchsetzungsvermögen  (wenn  wir  den  holländischen 
Ausdruck  hier  übernehmen  dürfen)  werden  ebenso  stark  hervorgehoben 
wie  die  positiven  Leistungen  des  Staatsmanns,  seine  Arbeit  für  die 
Finanzen,  für  die  Marine.  In  der  Darstellung  der  inneren  Politik  ist 
vielleicht  De  Witts  Stellung  zur  oranischen  Partei  nicht  ganz  über- 
zeugend geschildert,  in  der  Behandlung  der  auswärtigen  richtig  darauf 
hingewiesen,  daß  er  zu  lange  den  Anschluß  an  Frankreich  gesucht 
und  darüber  die  seit  der  Tripelallianz  drohende  französische  Gefahr 
nicht  voll  erkannt  habe.  Das  hier  geschaffene  biographische  Bildnis, 
das  sich  dem  in  Marmor  ausgeführten  würdig  zur  Seite  stellt,  sollte 
auch  deutschen  Lesern  in  einer  geschickten  Übersetzung  zugänglich 
gemacht  werden.  {Waardeering  van  Johan  de  Witt.  Rede,  uitgesproken 
op  12  Juni  igi8  in  Pulchri  Studio  door  N.  Japikse.  38  S.  'sGraven- 
hage,  Nijhoff,  1918.)  W.  Michael. 

Klemens  Hamacher,  Die  Beurteilung  der  Franzosen  in  den 
deutschen  Zeitungen  und  in  der  deutschen  Publizistik  während  der 
drei  schlesischen  Kriege.  Bonn  1915.  —  Eine  Dissertation,  wie  sie 
nicht  möglich  sein  sollte.  Der  Zweck  einer  solchen  Arbeit  ist  doch 
der  Nachweis,  daß  der  Verfasser  wissenschaftlich  zu  arbeiten  gelernt 
hat.  Es  ist  nicht  zu  erkennen,  worin  dieser  Nachweis  hier  bestehen 
soll.  Überaus  dürftige  Auszüge  und  Notizen  aus  der  längst  nicht  voll- 
ständig behandelten  publizistischen  Literatur,  verbunden  durch  einen 
Text,  wie  er  primitiver  kaum  gedacht  werden  kann.  Keine  Spur  von 
einer  wirklichen  Analyse  der  einzelnen  Schriften,  von  einer  Erfassung 
dessen,  was  Schema,  was  ein  neuer  Gesichtspunkt,  ein  herkömmliches 
oder  neu  auftretendes  Motiv  ist,  auch  nicht  ein  Versuch,  die  Unter- 
suchung auf  breiterem  Grunde  zu  verankern.  Und  für  wen  sollen  denn 
die  letzten  10  Seiten  mit  der  Zusammenstellung  der  bekanntesten 
Urteile  Friedrichs  des  Großen  über  die  Franzosen  geschrieben  sein? 
Verfasser  beherrscht  die  Literatur  über  den  österreichischen  Erbfolge- 
krieg so  wenig,  daß  er  nicht  einmal  die  1742  entstandenen  Pläne  auf 
die  Wiedereroberung  der  avulsa  imperii  kennt.  Zu  den  Ausführungen 
über  die  Frankfurter  Presse  sei  berichtigend  bemerkt,  daß  unter 
Kari  VII.  das  Haus  Taxis  auf  die  bayerische  Seite  getreten  war. 

V.  Karg- Bebenburg. 

Niklas  Vogt  (geboren  in  Mainz  1756,  gestorben  als  Frankfurter 
Senator  1836)  ist  heute  fast  nur  noch  als  Verfasser  der  „Rheinischen 

36* 


556  Notizen  und  Nachrichten. 

Geschichten  und  Sagen"  (4  Bde.  1817—1833)  bekannt.  Die  fleißige 
Münchner  Dissertation  von  Magdalene  Herrmann  (N.  V.,  ein  Histo- 
riker der  Mainzer  Universität  aus  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahr- 
hunderts [1916]  126  S.)  untersucht  zum  erstenmal  genauer  seine  Lehr- 
tätigkeit und  seine  Schriften  bis  1792.  V.,  der  sich  später  zur 
romantischen  Geschichtsauffassung  bekannte,  begann  schon  in  seiner 
„Europäischen  Republik"  (5  Bde.  1787—1792)  unter  Herders  und 
Mosers  Einfluß  sich  von  der  Aufklärung  abzuwenden.  Namentlich 
seine  Bemerkungen  über  das  Mittelalter  sind  beachtenswert,  doch 
darf  man  kraftvolle  Selbständigkeit  und  Tiefe  bei  ihm  nicht  suchen. 
Landsmannschaftliche  Vorliebe  hat  die  Verfasserin  gelegentlich  etwas 
zu  mitteilsam  werden  lassen;  die  Erzählungen  der  Bettina  (Goethes 
Briefwechsel,  S.  168  f.  der  Reclam-Ausgabe,  dazu  Goethes  Antwort 
S.  171)  und  J.  Fr.  Böhmers  Bemerkungen  über  Vogt  (Janssen,  Böh- 
mers Leben  II,  332;  vgl.  das  Register  I,  475)  scheinen  ihr  unbe- 
kannt geblieben  zu  sein.  F.  V. 

Neue  Bücher:  Schröder,  Heringen  af  Choiseul.  Et  tidsbillede 
fra  Ludvig  XV' s  Hof.    (Kristiania,  Aschehoug  &  Co.    3  K.) 

Neuere  Geschichte  von  1789  bis  1871. 

Das  Prinzip  der  Wahlkreiseinteilung  und  seine  Entstehung  in 
Frankreich.  Würzburger  Inauguraldissertation  1918  von  Erich  Leh- 
mann, 73  S.  —  Diese  tüchtige  Erstlingsarbeit  behandelt  in  ihrem  ersten 
Teil  „das  Prinzip  der  Wahlkreiseinteilung  in  theoretischer  Betrach- 
tung", im  zweiten  „die  Entstehung  dieses  Prinzips  in  Frankreich". 
Der  Verfasser  begründet  seine  Gegnerschaft  gegen  das  Prinzip  in 
beachtenswerter  Weise  und  zeigt  mit  eindringender  Literaturkenntnis, 
wie  trotz  allem  bewußten  Radikalismus  der  Französischen  Revolution 
der  Gedanke  der  Wahlkreiseinteilung  aus  der  Vergangenheit  in  die 
neue  Zeit  herübergenommen  wurde.  Er  blieb  dann  maßgebend  für 
die  kontinentalen  Staaten  bis  in  unsere  Tage.  —  Ein  Blick  auf  Eng- 
land, das  für  so  viele  führende  Männer  der  ersten  Zeiten  der  Revo- 
lution und  dann  wieder  des  19.  Jahrhunderts  als  Vorbild  in  Verfas- 
sungsfragen galt,  wäre  der  Arbeit  sicher  förderlich  gewesen.     Wahl. 

Adrien  Robinet  de  Cl^ry,  der  Verfasser  der  einen  ganzen  Band 
füllenden  Basler  Dissertation  „Les  idees  politiques  de  Frederic  de  Gentz'* 
(Lausanne,  Payer  &  Cie.  1917.  310  S.),  legt  das  Hauptgewicht  seiner 
Studie  auf  den  Nachweis,  daß  Gentz  nicht  nur  ausgegangen  ist  von 
dem  Rationalismus  des  18.  Jahrhunderts,  sondern  auch  zeitlebens  in 
seinen  politischen  Anschauungen  von  ihm  allein  sich  leiten  ließ,  eine 
keineswegs  neue,  schon  von  Guglia  in  seiner  Gentzbiographie  aus- 
gesprochene  Ansicht.     Daher   konnte   er,   so   wertvoll   und   lehrreich 


Neuere  Geschichte  von  1789  —  1871.  557 

namentlich  seine  Hinweise  auf  die  Bedeutung  von  Neckers  Schriften 
für  Gentz  sind,  der  vollen  Persönlichkeit  des  vielseitigen  Publizisten 
nicht  gerecht  werden,  so  wenn  er  sein  Verhältnis  zu  der  romantischen 
Bewegung  mit  wenigen  dürftigen  Bemerkungen  beiseite  schiebt.  Gewiß 
ist  der  Realpolitiker  Gentz  in  keiner  Periode  seines  Lebens  trotz  seiner 
Freundschaft  mit  Adam  Müller  ein  Romantiker  gewesen,  aber  des- 
wegen müssen  doch  gewisse  „romantische  Elemente"  (vgl.  die  Arbeit 
von  A.  Gerhardt)  in  seinen  politischen  Anschauungen  anerkannt  wer- 
den. Wenn  sodann  Cl^ry  ausdrücklich  den  Menschen  von  seinen  poli- 
tischen Ideen  trennen  will,  auch  indem  er  in  seiner  Einleitung  einen 
knappen  Lebensabriß  von  Gentz  vorausschickt,  so  erscheint  dieser 
Versuch  nicht  als  gelungen,  da  verschiedene  Kapitel  im  Widerspruch 
zu  dieser  Absicht  stehen  und  mit  einer  Fülle  von  Einzelheiten  doch 
wieder  auf  die  äußeren  Lebensschicksale  zurückgreifen.  Der  Verfasser 
hat  die  von  ihm  verzeichnete  Gentz-Literatur  herangezogen,  doch, 
wie  z.  B.  den  Briefwechsel,  nicht  genügend  durchgearbeitet.  Für  das 
Verhältnis  zu  Burke  wäre  noch  Fr.  Braunes  Untersuchung  über  „Ed- 
mund Burke  in  Deutschland"  (1917)  zu  benützen,  zur  Motivierung 
von  Gentz'  „Bekehrung"  zum  Gegner  der  Revolution  die  Bemer- 
kungen Rankes,  der  sich  mit  Gentz  in  Wien  noch  persönlich  unter- 
redet hat  (S.  W.  53/54,  S.  178.  181.  638  f.),  und  bei  der  Besprechung 
der  Schrift  Hauterives  die  Ausführungen  von  Th.  Ebbinghaus  („Napo- 
leon, England  und  die  Presse".  1914.  S.  126  ff.).  Überhaupt  aber 
wird  die  Stellung  von  Gentz  inmitten  der  nationalen  geistigen  Bewegung 
in  Deutschland  nur  spärlich  beleuchtet,  wie  man  auch  mit  Staunen 
Meineckes  grundlegendes  Werk  mit  seiner  Behandlung  auch  von  Gentz 
nirgends  angeführt  findet.  Aber  für  mannigfache  Beobachtungen 
und  Anregungen  wird  man  Cl^ry  dankbar  sein. 

Kiel.  Otto  Brandt. 

In  Reclams  Universalbibliothek  Nr.  6026— 6030  ist  Kotzebues 
Darstellung  seiner  Erlebnisse  in  Rußland  und  Sibirien  (1800)  „Das 
merkwürdigste  Jahr  meines  Lebens"  (2  Bde.  1801)  wieder  abgedruckt, 
doch  ist  der  Anhang  „Über  die  memoires  secrets  sur  la  Russie"  weg- 
gelassen. Der  Herausgeber  R.  Steiner t  hat  eine  kurze  Einleitung 
und  einige  Bemerkuugen  beigegeben. 

In  den  auch  in  der  H.  Z.  wiederholt  genannten  kleinen  „Quellen- 
büchern zur  österreichischen  Geschichte"  „Aus  Österreichs  Vergangen- 
heit" hat  A.  Kleinberg  aus  amtlichen  Akten  und  aus  Aufzeichnungen 
bekannter  Persönlichkeiten  des  politischen  und  geistigen  Lebens  jener 
Epoche  Quellenzeugnisse  über  „Denken  und  Fühlen  im  Vormärz" 
und  „Die  Zensur  im  Vormärz"  (Heft  7  u.  9,  Leipzig,  A.  Haase,  1917, 
je  1,20  M.,  92  u.  101  S.)  in  zweckentsprechender  Weise  und  geschickter 
Auswahl  zusammengestellt.    Der  wenig  schöne,  aus  dem  schon  länger 


558  Notizen  und  Nachrichten. 

gebräuchlichen  Eigenschaftswort  gebildete  Ausdruck  „Vormärz"  soll 
die  Epoche  von  1815  an  bezeichnen.  —  Im  17.  Heft  derselben  Samm- 
lung (1918,  93  S.,  1,50  M.)  hat  R.  Slawitschek  Quellenstellen  zum 
„Werdegang  der  österreichischen  Verfassung"  zusammengestellt,  vom 
Beginn  der  Märzbewegung  bis  zur  Verfassung  von  Kremsier  (nicht 
bis  1851);  s.  f.  d.  Forts.  H.  Z.  118,  541.  K.  J. 

Zum  Säkulargedächtnis  des  Wartburgfests  von  1817  hat  R.  Stei- 
nert  in  Reclams  Univ-Bibl.  5943  die  kleine  Schrift  des  Burschen- 
schafters und  späteren  Germanisten  Fr.  Maß  mann  über  jene  Feier, 
sowie  die  Reden  von  Fries  und  Riemann  und  einige  dabei  gesungene 
Lieder  mit  einer  kurzen  Einleitung  herausgegeben. 

Im  Augustheft  der  Preußischen  Jahrbücher  gibt  L.  Berg- 
sträßer  eine  summarische,  keineswegs  erschöpfende  Übersicht  über 
„Parteien  von  1848",  d.  h.  die  Fraktionsbildungen  in  der  Paulskirche, 
die  immerhin  über  den  wenig  befriedigenden  Abschnitt  von  Valentins 
Buch  über  die  erste  Nationalversammlung  hinausführen.  —  In  den 
„Stimmen  der  Zeit"  März  und  Juli  1919  hat  R.  v.  Nostitz-Rieneck 
über  die  Frankfurter  Nationalversammlung  gehandelt:  I.  Aufgaben 
und  Anfänge,  II.  Staat  und  Kirche. 

Das  wichtige,  nach  seiner  Tragweite  in  Wissenschaft  und  Judi- 
katur umstrittene  Kabinettschreiben  Kaiser  Ferdinands  vom  8.  April 
1848  für  Böhmen  hatte  bei  den  im  Zentralausschuß  (10.— 17.  April) 
versammelten  deutschen  Abgeordneten  der  verschiedenen  Kron- 
länder alsbald  die  Befürchtung  erweckt,  daß  durch  die  Zusagen  be- 
züglich Landtagskompetenz  und  Errichtung  von  Landeszentralbehörden 
für  Böhmen  eine  mit  Reichseinheit  und  Reichsministerialkompetenz 
unvereinbare  Sonderstellung  geschaffen  sei.  Auf  Antrag  des  Tiroler 
Abgeordneten  Schuler  wurde  eine  von  der  Mehrzahl  (oder  allen?) 
Abgeordneten  unterschriebene  Protestadresse  am  16.  April  (wem? 
dem  Ministerium?  Pillersdorf ?)  überreicht.  Ihr  Wortlaut  ist  trotz 
sorgfältit^ster  Nachforschung  in  den  verschiedensten  Landesarchiven 
nicht  zu  eruieren  gewesen.  Dagegen  ist  es  den  unablässigen  Be- 
mühungen K.  Hugelmanns  gelungen,  durch  A.  v.  Jaksch  im  Kärntner 
Landesarchiv  die  Antwort  Pillersdorfs  vom  23.  April  zu  ermitteln 
und  zu  veröffentlichen  (Jahrb.  d.  V.  f.  Landeskunde  v.  Niederöster- 
reich 1916).  Sie  ist  an  den  Leiter  des  Zentralausschusses,  Landmar- 
schall Graf  Montecuccoli,  gerichtet.  P.  erklärt,  es  liege  nicht  in  der 
Absicht  der  Regierung,  dem  böhmischen  Landtag  ein  weiteres  als  das 
Feld  der  eigentlichen  Landesangelegenheiten  für  seine  Beratungen 
und  Beschlüsse  einzuräumen,  daß  daher  auch  dortlands  die  allgemeinen 
den  Organismus  der  ganzen  Monarchie  berührenden  Angelegenheiten 
den  Beschlüssen  der  Reichs  Versammlung  vorbehalten  bleiben  müssen 


Neuere  Geschichte  von  1789—1871.  559 

und  daß  durch  die  Bildung  verantwortlicher  Landeszentralbehörden 
dem  ....  Ministerium  in  dem  Umfange  seiner  Verpflichtung  keine 
Grenze  gesetzt  werden  darf."  P.  h^t  zwar  dem  Monarchen  für  jene 
Zeit  das  Recht  vindiziert,  „die  Tragweite  seiner  Zugeständnisse  näher 
zu  bezeichnen",  daß  aber  eine  klare  Kompetenzabgrenzung  und  eine 
Beseitigung  der  deutschen  Besorgnisse  durch  das  Schreiben  vom  23. 
4.  48  erfolgt  sei,  wird  man  nicht  behaupten  können.  Auf  die  Gründe 
kann  hier  nicht  eingegangen  werden. 

Kritische  Bemerkungen  zu  den  Büchern  von  Herb.  Schmidt 
über  Stahl  und  B.  Michniewicz  über  Stahl  und  Bismarck  macht 
H.  Dreyhaus  in  Forschungen  z.  brandenb.  u.  preuß.  Gesch.  31,  2. 

Über  die  Haltung  der  sächsischen  Parteien  zur  deutschen  Frage 
in  den  60er  Jahren  ist  eine  tüchtige,  ausführliche  Arbeit  erschienen, 
die  ein  im  Feld  gefallener  tapferer  junger  Patriot,  Herbert  Jordan, 
nicht  ganz  fertig  hinterlassen  hat  und  die  dann  ein  Freund  druckfertig 
machte  (,,Die  öffentliche  Meinung  in  Sachsen  1864 — 1866  "  Kamenz 
1918,  VIII  u.  256  S.).  Von  besonderem  Interesse  ist  die  Darstellung 
des  sächsischen  Sondertums;  z.  B.  auf  S.  31  ff.  die  Proben  aus  den 
Geschichtslehrbüchern  der  Schulen:  der  Inhalt  des  Unterrichts  war 
lediglich  die  GeSvChichte  des  Königreichs  Sachsen;  Herrscherhaus  und 
Einrichtungen  werden  verherrlicht;  durch  seine  Bildung  und  Ver- 
waltung steht  das  Land  voran  unter  den  Staaten  der  Welt;  ein  Ober- 
lehrer nennt  es  1866  den  geistigen  Mittelpunkt  der  Erde.  Bei  der  Schil- 
derung der  Volksart  S.  15—17  u.  70  (die  allerdings  nicht  in  die  Tiefe 
geht)  kommen  die  entschieden  slawischen,  ungermanischen  Züge 
lebhaft  zum  Bewußtsein.  Die  Parteinahme  im  österreichisch-preußi- 
schen Entscheidungskampf  war  eine  besonders  schwere  Sache  gerade 
für  dieses  Land,  das  zwischen  den  Gegnern  lag,  durch  geistige  und 
wirtschaftliche  Belange  auf  die  preußische  Seite  gezogen  wurde,  der 
straffen  preußischen  Art  zugleich  heftig  widerstrebte  und  in  altem 
gekränktem  Selbstgefühl  nichts  mehr  verabscheute  als  die  Unter- 
werfung unter  den  Staat  Friedrichs  d.  Gr.  Bei  der  Stärke  dieses  Preußen- 
hasses und  Sondertums  hebt  sich  die  Tätigkeit  von  Karl  Biedermanns 
Partei  um  so  viel  mehr  heraus.  1866  scheint  man  auffallend  lange 
Zeit  an  der  Hoffnung  auf  eine  Niederlage  Preußens  festgehalten  zu 
haben  (S.  142). 

Tübingen.  RapP- 

Im  Augustheft  der  Deutschen  Revue  setzt  W.  Schuß  1er  die 
Veröffentlichung  aus  Dalwigks  Tagebüchern  (s.  S.  380)  fort:  vom 
15.  6.  bis  14.  12.  1867;  darin  bemerkenswerte  Unterredungen  mit 
Gortschakow  und  Alexander  II.  im  Juni  in  Darmstadt,  mit  Napoleon  III., 
Eugenie  und  Moustier  im  Oktober  auf  der  Ausstellung  in  Paris.   Dal- 


560  Notizen  und  Nachrichten. 

wigk  tadelt  wiederholt  Frankreich,  daß  es  nicht  den  Prager  Frieden 
mit  unterzeichnet  habe,  tadelt,  daß  der  hessische  Gesandte  Graf  Enzen- 
berg  Preußen  zur  Kenntnis  von  Zeichnungen  der  Mitrailleusen  ver- 
hilft; im  übrigen  spielen  neben  üblichem,  grundlosem  diplomatischem 
Gerede  die  Erörterungen  über  den  Eintritt  ganz  Hessens  in  den  Nord- 
deutschen Bund  und  Differenzen  über  die  preußische  Haltung  von 
Prinz  und  Prinzessin  Ludwig  eine  große  Rolle;  Dalwigk  würde  den 
Augenblick  segnen,  wo  (durch  einen  französischen  Sieg)  Baden  von 
der  Landkarte  verschwände. 

In  einem  schon  im  März  1914  gehaltenen,  jetzt  unverändert 
veröffentlichten  Vortrag  (Preuß.  Jahrbb.  Juli  1919)  hat  sich  Oberst 
V.  Haeften  über  die  Verstimmungen  und  Konflikte  verbreitet,  die 
zwischen  „Bismarck  und  Moltke"  durch  Bismarcks  Ansprüche  auf 
Hinzuziehung  zu  den  militärischen  Beratungen  und  auf  eingehende 
Kenntnis  der  Kriegslage  1866  und  1870/71  erhoben  haben:  sie  sind 
durch  (zweifellose)  Übergriffe  Bismarcks  1866  (schon  im  Juli:  Be- 
lassung des  8.  A.-K.  im  Westen,  Telegramm  an  Vogel  v.  Falkenstein, 
Vorschlag  der  Umgehung  der  Floridsdorfer  Verschanzungen)  hervor- 
gerufen. 1870  entsteht  sogleich  Mißtrauen  bei  Bismarck  durch  die 
zufällig  gehörten  Äußerungen  von  Podbielski;  es  folgen  Übergriffe 
der  Zivilverwaltung  in  der  Etappe;  Differenzen  über  die  Ratsamkeit 
des  Vormarsches  auf  Paris,  nachträglich,  als  sich  die  Belagerung  in 
die  Länge  zieht  (s.  dazu  auch  Jacob,  Bismarck  und  die  Erwerbung 
Elsaß-Lothringens  S.  13  f.),  über  die  militärische  Nachrichten  Ver- 
breitung, über  die  Beschießung;  Bismarcks  wiederholtes  Klagen  sei 
sicher  z.  T.  berechtigt  gewesen,  aber  Bismarck  nicht  schuldlos  daran 
und  zu  weit  gegangen  (so  bez.  des  militärischen  Briefes  an  Trochu 
nach  dem  Gefecht  bei  Vendöme;  es  kommt  zu  ungnädigen  Ordres  von 
Wilhelm  an  Moltke,  der  sich  ehrerbietig  aber  gebührend  verteidigt 
und  seinerseits  Zuziehung  zu  den  politischen  Vorträgen  fordert.  Wenn 
dieses  Schriftstück  vom  27.  Januar,  das,  wie  v.  Haeften  (wohl  zu  weit 
gehend)  meint,  dem  König  nur  die  Wahl  zwischen  Bismarck  und 
Moltke  ließ,  nicht  mehr  abgesandt  wurde,  so  dürfte  das  doch  nicht 
wohl  aus  Moltkes  Selbstüberwindung  (so  v.  Haeften)  zu  erklären  sein, 
sondern  daraus,  daß  eben  damals  mit  der  Kapitulation  von  Paris  der 
Krieg  trotz  Bourbaki  sichtbar  zu  Ende  ging.  K.  J. 

Aus  Poschingers  Bismarck-Materialien  hat  L.  Raschdau  eine 
Anzahl  von  „neuen  Schriftstücken"  „aus  der  Werkstatt  des  ersten 
deutschen  Kanzlers"  im  Mai-,  Juni-  und  Juliheft  der  Deutschen 
Rundschau  veröffentlicht.  Sie  betreffen  vornehmlich  den  Abbau  der 
Maigesetzgebung  und  zeigen  in  Berichten  an  König  Wilhelm,  Voten  für 
das  Staatsministerium  und  Weisungen  an  den  Kultminister  deutlicher, 
als  wir  sie  bisher  kannten,  die  Stellungnahme  und  Einwirkung,  die 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  561 

ßismarck  bei  den  gesetzgeberischen  Maßnahmen  der  80er  Jahre  ein- 
genommen hat.  U.  a.  lehnt  er  wiederholt  jede  formale  oder  moralische 
konkordatsmäßige  Bindung  ab  und  legt  den  größten  Wert  auf  die 
gesetzliche  Möglichkeit  diskretionärer  Vollmachten  für  die  Hand- 
habung der  in  ihren  Grundlagen  festzuhaltenden  staatlichen  Gesetz- 
gebung; er  betont  die  Notwendigkeit  energischer  Abwehr  klerikal- 
polnischer Agitation.  Bemerkenswert  erscheint,  daß  Bismarck  schon 
1883  auf  die  Anzeigepflicht  eine  geringere  Bedeutung  legt.  —  Das  im 
Juliheft  S.  56  abgedruckte  „Votum  im  Staatsministerium"  ist  irrig 
auf  den  17.  März  1881  datiert;  es  ist  zweifellos  vom  gleichen  Tage 
1880  (s.  Juniheft  S.  336,  Votum  vom  7.  Mai  1880,  1.  Zeile).  —  Unter 
den  andern  Schriftstücken  ist  das  Schreiben  vom  22.  Juni  1880  an  den 
Vizepräsidenten  des  Staatsministeriums  Graf  Stolberg  hervorzuheben, 
in  dem  sich  Bismarck  scharf  gegen  den  konservativen,  auf  Kosten  der 
Nationalliberalen  gehenden  Einbruch  in  Hannover  ausspricht.  K.  J. 
Neue  Bücher:  Pingaud,  La  domination  frangaise  dans  VItalie 
du  Nord  jyg6 — 1803.  2  vol.  {Paris,  Perrin.  13  fr.)  —  Kircheisen, 
Napoleon  im  Lande  der  Pyramiden  und  seine  Nachfolger  1798 — 1801. 
(München,  Georg  Müller.  18  M.)  —  Williams,  The  life  and  letters 
of  Admiral  Sir  Charles  Napier.  (London,  Hutchinson.  16  S/z.)  —  Va- 
lentin, Die  erste  deutsche  Nationalversammlung.  Eine  geschichtl. 
Studie  über  die  Frankfurter  Paulskirche.  (München;  Oldenbourg. 
6  M.)  —  Westphal,  Welt-  und  Staatsauffassung  des  deutschen  Libe- 
ralismus. Eine  Untersuchung  über  die  Preuß.  Jahrbücher  und  den 
konstitutionellen  Liberalismus  in  Deutschland  von  1858 — 1863.  (Mün- 
chen, Oldenbourg.  11  M.)  —  Katsch,  Heinrich  v.  Treitschke  und  die 
preußisch-deutsche  Frage  von  1860—1866.  (München,  Oldenbourg. 
6  M.) 

Neueste  Geschichte  seit  1871.*) 

Als  ein  selbständiger  politischer  Denker  von  Kenntnis,  Übersicht 
und  Denkentschlossenheit,  dem  man  nur  wünschen  kann,  daß  seine 
große  Ausdrucksbegabung  ihn  nicht  zu  ephemerer  Schnellarbeit  ver- 
leiten möge,  erweist  sich  Dr.  Karl  Hoff  mann  in. den  Schriften:  „Das 
Ende  des  kolonialpolitischen  Zeitalters,  Grundzüge  eines  wirtschafts- 
organischen Genossenschafts- Imperialismus,"  (4. — 7.  Tausend,  Leipzig, 
Grunow,  1918,  149  S.)  und:  „Der  kleineuropäische  Gedanke"  (3.  Aufl., 
ebenda,  1918,  190  S.).  Beide  Schriften  gehören  noch  zur  Kriegsliteratur 
zugunsten  des  mitteleuropäisch-vorderasiatischen  Gedankens,  der 
als  der  organischere  und  zukunftsgewissere  gegenüber  kolonialer 
Verzettelung  erwiesen  wird  mit  einer  drängenden  Fülle  von  Gedanken, 
deren  viele  Bestand  behalten.    Die  Ansicht  freilich,  daß  mit  entwick- 


^)  Wo  nicht  anders  bemerkt,  ist  das  Erscheinungsjahr  1919. 


5^62  Notizen  und  Nachrichten. 

lüngsgeschi  cht  Hoher  Notwendigkeit  jedes  zerstreute  Kolonialreich 
auseinanderfallen  müsse,  ist  in  der  Anwendung  auf  das  englische  nur 
möglich  bei  der  irrigen  Annahme  einer  „kulturellen  Indifferenz"  des- 
selben. In  diesem  letzten  Urteil  sehe  ich  die  entscheidend  verhängnis- 
volle Unterschätzung  des  Angelsachsentums,  welches  vielmehr  in  der 
Hauptsache  eben  aus  seinen  geistigen  Gemeinsamkeiten  seine  elastische 
Vitalität  und  seine  Werbekraft  schöpft.  Richtig  ist  wieder,  daß  wir 
das  englische  Kolonialreich  schematisch  nachahmten,  als  wir  nach 
Erringung  unserer  Einheit  „den  inneren  Zwang,  imperiumartig  zu 
leben,  fühlten  und  nicht  wußten,  wie  wir  das  anfangen  sollten";  und 
auf  unser  noch  allzu  junges  Kolonialreich  trifft  dann  in  der  Tat  das 
Merkmal  der  kulturellen  Indifferenz  eher  zu.  Das  ist  auch  die  Sünde 
unserer  Führer  ah  der  großen  Konzeption  des  mitteleuropäisch-vorder- 
asiatischen Blocks,  daß  sie  in  veralteter  Nurmachtstaats-Auffassung 
das  grundlegende  Erfordernis  des  Bauens  geistiger  und  seelischer 
Brücken,  wozu  wir  Geistesarbeiter,  die  der  Krieg  zu  denBundesgenossen 
verschlug,  vergeblich  drängten,  nicht  sehen  wollten.  Der  Verfasser 
betont  zwar  mit  Recht,  wie  die  Ausführung  jenes  größten  und  gesun- 
desten Gedankens  deutscher  Politik  Hindernisse  fand  an  dem  Wider- 
sta^nd  unserer  kolonial  und  seewärts  gerichteten  Kreise  und  an  dem 
„verfluchten  divide  et  impera"  besonders  in  seiner  Anwendung  auf 
den  bulgarischen  Schlüsselpunkt  unserer  Position.  Verhängnisvoller 
aber  noch  war  die  erschreckende  Unfähigkeit  unserer  Führerschicht 
zur  Sympathieerweckung  und  ihre  Unterstützung  ungezügelter  Aus- 
beutelust unserer  Wirtschaftsaristokratie. 

Berlin.  Andr,  Walther. 

Beachtung  verdienen  die  kurzen  „Württembergischen  Erinne- 
rungen" des  langjährigen  schwäbischen  Ministerpräsidenten  C.  v.  Weiz- 
säcker über  das  Verhältnis  der  Einzelstaaten  zum  Reich  und  über 
auswärtige  Reichspolitik  namentlich  unter  Bethmann  (Dt.  Revue, 
August  1919). 

Als  Heft  3  vom  Verlage  F.  A.  Perthes  A.-G.  in  Gotha  ver- 
anstalteten Schriftenreihe  „Das  neue  Reich",  deren  Erscheinen  schon 
vor  der  deutschen  Revolution  begonnen  hat,  gibt  A.  Grabowsky 
(1918)  unter  dem  etwas  weit  ausschauenden  Titel  „Wege  ins  neue 
Deutschland"  eine  Sammlung  von  34  Artikeln  heraus,  die  er  für  die 
Kriegsjahrgänge  der  von  ihm  geleiteten  Wochenschrift  „Das  neue 
Deutschland"  verfaßt  hat.  Sie  vertreten  den  Standpunkt  des  „Kultur- 
konservatismus" und  beschäftigen  sich  außer  mit  einzelnen  Wen- 
dungen der  Zeitgeschichte  mehr  mit  grundsätzlichen  Fragen,  beson- 
ders mit  einer  Art  von  Vergeistigung  der  inneren  und  äußeren  Politik. 
Daneben  werden  auch  volkspädagogische,  wirtschaftliche,  Völkerrecht- 


Neueste  Geschichte  seit  I87I.  563 

liehe,  staatsrechtliche  u.  a.  Gegenstände  besprochen.  Auf  eine  Einzel- 
Icritik  der  durchweg  lesenswerten  Aufsätze  muß  hier  verzichtet  werden. 

Zu  den  bemerkenswerten  Stücken  dieser  reichhaltigen  Sammlung 
genört  ein  Aufsatz  über  äußere  und  innere  Politik.  Das  gleiche  Thema 
behandelt  H.  Oncken  in  einem  am  S.Oktober  1918  in  der  Gehe- 
stiftung gehaltenen  Vortrage  9  (Leipzig,  Teubner.  1919),  zwar  im  An- 
schlüsse an  Ranke,  aber  nach  links  über  ihn  hinausgehend.  Weit  radi- 
kaler wird  der  klassenhafte  Charakter  der  Auslandspolitik  von  K. 
Kautsky  betont  (Neue  Zeit  34,  I,  1916:  Äußere  und  innere  Politik). 

Ungewöhnlich  Inhalt-  und  gedankenreich  ist  die  inzwischen  auch 
gesondert  erschienene  Studie  „Zur  Soziologie  der  Imperialismen", 
die  der  Grazer  Nationalökonom  J.  Schumpeter,  ein  begabter  Schüler 
Böhm-Bawerks  und  extremer  Vertreter  seiner  Schule,  zum  Archiv  für 
Sozialwissenschaft  (46,  1918/9)  beigesteuert  hat.  Wenn  auch  gerade 
die  Abschnitte,  in  denen  die  neueste  Geschichte  einbezogen  wird,  be- 
sonders mit  ihrer  merkwürdigen  Unterschätzung  des  angelsächsischen 
Imperialismus  zum  Widerspruch  herausfordern  müssen,  so  entschädigt 
der  geistvolle  Verfasser  an  anderen  Stellen  durch  zahlreiche  An- 
regungen gerade  den  Historiker  reichlich.  Besonders  zu  rühmen  sind 
die  universalgeschichtliche  Weite  des  Gesichtskreises  und  die  begriffliche 
Energie,  mit  der  ein  weitschichtiger  Stoff  gemeistert  ist. 

Im  Märzheft  der  Süddeutschen  Monatshefte  sind  atht  Briefe 
des  Geheimrats  Frhrn.  v.  Holstein  aus  dem  Jahre  1906  an  den 
Schriftleiter  eines  süddeutschen  Blattes  abgedruckt.  Der  Schatten 
derselben  vielumstrittenen  Persönlichkeit  wird  vom  Prinzen  Alexander 
zu  Hohenlohe  in  der  Deutschen  Revue  44,  I  heraufbeschworen  (Eine 
graue  Eminenz.  Erinnerungen  aus  dem  Auswärtigen  Amt  in  Berlin). 

Die  völkerrechtlichen  Grundlagen  des  Weltkrieges,  II.  Bd.  Poli- 
tische Urkunden  zur  Entwicklung  des  Weltkrieges.  Herausgeg.  von 
Th.  Niemeyer  (Jahrbuch  des  Völkerrechts  Bd.  IV).  München  u. 
Leipzig,  Duncker  &  Humblot,  1918,  .755  S.,  24  M.  —  Der  neue  Band 
des  Werkes,  dessen  ersten  Teil  wir  in  dieser  Zeitschrift  119,  309  an- 
zeigten, ist  für  den  Historiker  wesentlich  brauchbarer  dadurch,  daß 
der  Rahmen  der  aufgenommenen  Stücke  weiter  gespannt  wurde; 
offiziöse  Auslassungen  der  Regierungen,  Parlamentsreden  und  sonstige 
wichtige  Darstellungen  der  Minister  (z.  B.  Sonninos  Ansprache  auf 
dem  Kapitol,  auch  die  bulgarische  Denkschrift  über  die  Notwendigkeit 
der  Kriegserklärung)  sind  mit  abgedruckt.  Vielerlei  Urkunden  sind 
dem  Herausgeber  von  besonderer  Seite  zugänglich  gemacht  worden, 
darunter  auch  Stücke,  die  die  zugrunde  gelegten  Buntbücher  ergänzen. 
Bei  den  diesen  entnommenen  Stücken  ist  jeweils  die  Nummer  mit- 
angegeben, unter  der  sie  in  der  Originalveröffentlichung  erscheinen. 
Inzwischen   veröffentlichte   Aktenstücke  sind  nachgetragen,  so   auch 


564  Notizen  und  Nachrichten. 

die  wichtigen  Aussagen  im  Suchomlinowprozeß,  diese  sogar  in  zwei 
Berichten  verschiedener  Blätter;  auch  die  von  der  bolschewistischen 
Regierung  veröffentlichten  Korrespondenzen  fehlen  nicht;  nur  ist  der 
Herausgeber  bei  ihnen  leider  nicht  auf  die  offiziellen  Blätter  zurück- 
gegangen, sondern  hat  sich  auf  die  Auszüge  der  Norddeutschen  All- 
gemeinen Zeitung  beschränkt;  so  bleibt  dem  Benutzer  noch  der  um- 
ständliche Weg;  für  einige  Stücke  wären  die  Übersetzungen  in  den 
Nachrichten  der  Auslandspresse  heranzuziehen  gewesen.  Dies  ist  aber 
auch  die  einzige  Ausstellung  an  dem  großen  Sammelwerke,  das  dies- 
mal die  Urkunden  über  den  Eintritt  der  verschiedenen  Mächte  in  den 
Krieg  enthält.  Die  auf  die  Vereinigten  Staaten  bezüglichen  sollen  in 
emem  besonderen  Bande  folgen;  gleiches  gilt  wohl  von  dem  Material 
über  die  neutral  gebliebenen  Staaten.  Zugleich  häufen  sich  die  Nach- 
träge, und  damit  wächst  die  Bedeutung  dieser  Sammlung.  Die  Re- 
gister sind  dem  Bedürfnis  des  Benutzers  emtsprechend. 

Berlin-Lichterfelde.  Bergsträßer. 

Einige  Besprechungen  des  durch  den  Ausgang  des  Krieges  nicht 
entwerteten  Teubnerschen  Sammelwerkes:  „Deutschland  und  der 
Weltkrieg"  seien  hier  nachgetragen:  März  9,  IV,  1915;  Preußische 
Jahrbücher  (H.  Delbrück)  161,  1915;  Toekomst  1,  II,  1916;  Revue 
Historique  41,  1916. 

Zur  Chronistik  des  Weltkrieges  sind  in  fast  allen  Ländern  viel- 
bändige, verschiedenwertige  Werke  erschienen.  Auf  feindlicher  Seite 
halten  sich  u.  a.  folgende  auf  einer  gewissen  Höhe:  The  Times  Docu- 
mentary  History  of  the  War,  The  New  York  Times  Current  History  of 
the  War,  die  beide  durch  zusammenfassende  Darstellungen  ausgezeichnet 
sind,  ferner  die  Commentaires  de  Polybe  aus  der  Feder  des  a^uch  auf 
dem  Gebiete  der  Vorgeschichte  des  Krieges  bewanderten  J.  Rein  ach. 
Von  der  Publikation :  La  grande  guerre  d' apres  la  presse  Parisienne 
sind  bis  1917  zwei  Bände  erschienen,  die  erst  bis  zum  Ende  des  ersten 
Kriegshalbjahres  reichen. 

Einen  Überblick  über  englische  politische  Kriegsliteratur  gibt 
W.  G.  Randall  in  der  Revue  Politique  Internationale  11,  desgl.  B.  Mer- 
win  über  polnische  Kriegsliteratur  in  der  österreichischen  Rundschau 
51,  1917  und  K.  v.  Roretz  ebd.  49,  1916  über  philosophische  Kriegs- 
literatur des  feindlichen  Auslands. 

Geschichtsphilosophischen  Charakter  trägt  der  gedankenreiche 
Artikel  A.  Walthers  über  die  Idee  der  (angelsächsischen)  Diktatur: 
Das  Neue  Deutschland  7. 

Die  Zahl  der  für  den  Historiker  wichtigen  Zeitschriften  hat  unter 
dem  Einflüsse  von  Krieg  und  Revolution  beträchtlich  zugenommen. 
Ein  Seitenstück  zum  deutschen  Beifried,  jedoch  weniger  retrospektiv 
gehalten  und  mit  schärferer  Tendenz,  ist  die  Monatsschrift  Revue 


Neueste  Geschichte  seit  1871.  565 

Beige,  deren  Erscheinen  1918  in  Paris  begonnen  hat.  Sie  bringt  Bei- 
träge prominenter  belgischer  Persönlichkeiten  und  eine  ausführliche 
Zeitungs-,  Zeitschriften-  und  Bücherschau. 

Ebenso  alt  ist  die  von  G.  Oltramare  in  Genf  herausgegebene 
gleichfalls  deutschfeindliche  Monatsschrift  Revue  des  Idies.  Sie 
widmet  sich  trotz  ihres  irreführenden  allgemeinen  Titels  besonders 
dem  angelsächsischen  Kulturkreise  und  steht  im  übrigen  auf  dem 
Boden  der  französischen  Klassik.  Auch  die  Neue  Züricher  Zeitung 
Nr.  1009  vom  6.  Juli,  der  diese  Notiz  entnommen  ist,  kritisiert  ihre 
.Einseitigkeit. 

P  Als  Monatsschrift  vom  Standpunkte  der  deutschen  demokra- 
tischen Partei  wird  herausgegeben:  Die  Deutsche  Nation,  eine 
Zeitschrift  für  Politik,  mit  äußerpolitischen  Berichten  von  F.  v.  Stumm 
und  einem  bemerkenswerten  Beitrage  zur  Vorgeschichte  des  Krieges 
von  B.  W.  V.  Bülow.  In  ähnlicher  Richtung  arbeitet  die  Gerechtig- 
keit ((Monatshefte  für  auswärtige  Politik).  Zwei  Essays  von  Histo- 
rikern ragen  hervor,  die  sich  bemühen,  Zeitereignisse  auf  weltgeschicht- 
lichem Hintergrunde  zu  sehen:  H.  Oncken,  Weltgeschichtliche  An- 
sicht des  Versailler  Friedensvertrages,  und  F.  Meinecke,  Welt- 
geschichtliche Parallelen  unserer  Lage.  G.  Roloff  und  0.  Hoetzsch 
verweisen  auf  1807  (Deutsche  Politik  4,  I  und  Eiserne  Blätter  1,  Nr.  8). 

Dazu  kommt  die  jetzt  von  L.  Bergsträßer  geleitete  Wochen- 
schrift: Das  Demokratische  Deutschland,  in  der  sich  verschiedene 
Verfasser  über  die  Demokratie  in  den  deutschen  Einzelstaaten  äußern. 

Aus  der  Zeit  unmittelbar  vor  dem  Zusammenbruch  stammt 
P,  Wentzckes  knappe  Übersicht:  „Was  ist  Elsaß-Lothringen  dem 
Reich?"  (Straßburg,  Trübner  1918).  Weitere  Kriegsliteratur  über 
das  verlorene  Reichsland  wird  in  der  Münchener  Allgemeinen  Zeitung 
Nr.  9  vom  23.  Februar  besprochen. 

Eine  scharfe  Kritik  der  Bethmannschen  Betrachtungen  zum 
Weltkrieg  gibt  Fürst  Bülow  im  Hamburger  Fremdenblatt  Nr.  429 
vom  24.  August.  „Souvenirs  de  mon  Ministere''  von  Bülows  jüngst 
verstorbenem  Gegenspieler  Iswolski  beginnen  in  der  Revue  des  Deux 
Mondes  zu  erscheinen.  Die  Kenntnis  der  Vorgeschichte  des  fran- 
zösisch-russischen Bündnisses  wird  durch  P.  Darmstädter  wesent- 
lich gefördert  (Preußische  Jahrbücher  176). 

„Sozialdemokratie  und  auswärtige  Politik"  ist  der  Titel  eines 
allgemeineren  kritischen  Rückblicks  auf  die  deutsche  auswärtige 
Politik,  den  R.  Kunze  in  der   Glocke  5  I  gibt. 

Unter  dem  Titel:  „German  Misrepresentations"  beschäftigt  sich 
der  an  der  deutschfeindlichen  Kriegsliteratur  stark  beteiligte  englische 
Napoleonforscher  J.  H.  Rose  in  drei  kritischen  Artikeln  mit  einzelnen 
wichtigen  Etappen  der  Vorgeschichte  des  Krieges  (Saturday  Review 


8)^  Notizen  und  Nachrichten. 

120,  1915).  Im  folgenden  Jahrgange  derselben  Wochenschrift  finden 
sich  lesenswerte  Erinnerungen  an  große  deutsche  Heerführer  aus  der 
Feder  des  Generalmajors  Sir  Alfred  E.  Turner. 

Die  unter  der  Jahreszahl  „1914"  zusammengefaßten  Enthül- 
lungen des  Feldmarschalls  Viscount  French  haben  wegen  ihrer  Kritik 
an  der  Regierung  beträchtliches  Aufsehen  erregt,  wie  auch  die  Berichte 
darüber  von  Major  C.  Bassine  und  von  Generalmajor  G.  Aston 
erkennen  lassen  {Fortnightly  Review  und  Nineteenth  Century  and  After, 
Julihefte). 

Daß  die  historisch-politische  Kritik  der  politischen  und  mili- 
tärischen Geschichte  des  Krieges  auch  in  Italien  kräftig  und  nicht 
immer  zugunsten  der  Bundesgenossen  eingesetzt  hat,  lehren  die  mit 
P.  Q.  unterzeichneten  „Discussions  en  Italie  sur  la  guerre"  im  Journal 
des  Debüts  Nr.  211  vom  31.  Juli. 

Einen  anregenden  Überblick  über  die  Entwicklung  der  öster- 
reichisch-ungarischen Politik  im  Weltkriege  gibt  A.  Ritter  in  dem 
erwähnten  Hefte  der  Süddeutschen  Monatshefte. 

Hugo  Haase  hat  seine  „Reichstagsreden  gegen  die  deutsche 
Kriegspolitik"  zu  einer  besonderen  Broschüre  vereinigt. 

Mit  den  neuesten  Schwierigkeiten  und  Entwicklungen  staats- 
rechtlicher Fragen  setzt  sich  eine  lehrreiche  Untersuchung  von  L.  Witt- 
mayer auseinander:  Herrschaftliche  und  genossenschaftliche  Ele- 
mente im  deutschen  und  österreichischen  Ministerialsystem  (Schmol- 
lers Jahrbuch  43,  III/IV,  1918). 

Ebd.  II  veröffentlicht  H.  Pohl  einen  auch  dem  Historiker  vieles 
bietenden  inhaltreichen  und  übersichtlichen  Vortrag  über  Rechts- 
schutz auf  dem  Gebiete  der  auswärtigen  Verwaltung.  Wir  erwähnen 
ferner  aus  dem  laufenden  Jahrgang  (43,  III)  die  Darlegungen  über  die 
Wirtschaftsblockade  im  Weltkrieg  von  G.  Brodnitz  und  die  Studie 
von  A.  Günther  über  W.  Rathenau  und  die  gemeinwirtschaftlichen 
Theorien  der  Gegenwart  (Weltwirtschaftliches  Archiv  15).  J.  Hashagen. 

Höchst  bemerkenswert  und  vortrefflich  geschrieben  sind  die 
„Erfahrungen  mit  den  Soldatenräten",  die  Oberst  Reinhardt  beim 
Rückzug  unseres  Heeres  und  besonders  als  Kommandant  von  Stutt- 
gart Januar  bis  März  1919  gemacht  hat  (Dt.  Revue,  August). 

Neue  Bücher:  Bastgen,  Die  römische  Frage.  Dokumente  und 
Stimmen,  hrsg.  3  Bd.  (2  Tle.)  (Schluß.)  (Freiburg  i.  B.,  Herder.  24  M.) 
—  Tweedie,  Mexico  front  Diaz  to  the  Kaiser.  {London,  Hutchinson. 
i6  Sh.)  —  Hiltebrandt,  Das  europäische  Verhängnis.  Die  Politik 
der  Großmächte,  ihr  Wesen  und  ihre  Folgen.  (Berlin,  Gebr.  Paetel. 
6  M.)  —  V.  Bethmann-Hollweg,  Betrachtungen  zum  Weltkriege. 
2  Tle.    1.  Tl.  (Berlin   Hobbing.   vollst.  18  M.)  —  Guichoff,  La  genese 


i 


Deutsche  Landschaften.  567 

de  la  guerre  mondiale.  (Bern,  Haupt.  6  M.)  —  Bischoff,  Die  Lei- 
stungen der  deutschen  Flotte  im  Weltkrieg.  (Zürich,  Orell  Füßli. 
4  M.)  —  V.  Freytag-Loringhoven,  Geschichte  der  russischen  Re- 
volution. 1.  Teil.  (München,  Lehmann.  6  M.)  —  Paquet,  Der  Geist 
der  russischen  Revolution.    (Leipzig,  Wolff.    2,50  M.) 

Deutsche  Landschaften. 

A.  Marbe,  Die  Siedlungen  des  Kaiserstuhlgebirges  (Abhand- 
lungen zur  badischen  Landeskunde  Heft  5)  Karlsruhe,  G.  Braunsche 
Hofbuchdruckerei,  1916.  —  Vielerlei  Probleme  werden  in  dem  Büch- 
lein gestreift,  mit  Glück  der  Versuch  unternommen,  den  besiedelungs- 
geschichtlichen  Aufbau  der  Gegend  in  seinen  Beziehungen  zum  geo- 
graphischen Landschaftsbild  zu  erörtern,  manches  bleibt  aber  noch 
im  Dunkeln,  was  gerade  den  Historiker  interessieren  könnte.  Auf 
weitgehende  Kontinuität  römischer  Kulturverhältnisse  rings  um  den 
Kaiserstuhl  deuten  mancherlei  Umstände,  auf  die  von  der  Verf.  mit. 
Recht  angespielt  wird.  Fraglich  muß  freilich  immer  noch  bleiben, 
inwiefern  mit  dieser  Tatsache  auch  der  beträchtliche  Umfang  früh- 
mittelalterlichen Königsgutes  im  Zusammenhang  stehen  könnte,  wie 
es  sich  hier  auf  beschränktem  Räume  findet.  Eine  genauere  Zusammen- 
stellung dessen,  was  sich  über  seine  Ausdehnung  nachweisen  läßt, 
wäre  notwendige  Voraussetzung  eingehenderer  Erörterung.  Wertvolle 
Nachrichten  scheinen  für  Ihringen  vorzuliegen.  Danach  muß  der 
auch  heute  noch  sehr  ausgedehnte  Ort  früher  in  eine  ganze  Reihe  von 
Siedelungen  zerfallen  sein.  Bachheim,  Westheim,  Nordheim,  Ostheim, 
Schatheim,  Riedheim,  Kirchhöfen  werden  in  mittelalterlichen  Ur- 
kunden als  Namen  der  einzelnen  Gruppen  genannt.  Nicht  mit  zer- 
streuter keltischer  Wohnweise,  wie  Verf.  will,  ist  diese  Erscheinung 
in  Verbindung  zu  bringen.  In  ihrer  charakteristischen  farblosen  Form 
weisen  die  genannten  Ortsnamen  deutlich  auf  karolingisches  Königs- 
gut später  Gründung.  Nachträgliche  systematische  Aufteilung  einer 
ursprünglichen  Sippensiedelung  wäre  also  hier  anzunehmen.  Ist  diese 
Deutung  richtig,  dann  gewähren  uns  die  hier  angetroffenen  Verhält- 
nisse interessante  Einblicke  in  das  Vorgehen  bei  der  Angliederung 
des  Landes  an  den  fränkischen  Staat.  —  Bauliche  Reste  aus  den  Tagen 
Karls  des  Dicken  habe  ich  am  Breisacher  Münster  noch  nicht  ent- 
decken können.  G.  Weise. 

Zur  Geschichte  der  Vertreibung  der  Juden  aus  Rothenburg  o.  T. 
1519/20.  Von  Aug.  Schnizlein  (Monatsschrift  für  Geschichte  und 
Wissenschaft  des  Judentums,  herausg.  von  M.  Brann,  61.  Jahrg., 
S.  263—284).  —  Ein  gutes  Beispiel  eingehender  Lokalgeschichts- 
darstellung!    Von  besonderem  Wert  ist  die  Heranziehung  und  Aus- 


568  Notizen  und  Nachrichten. 

beutung  bisher  unbekannten  Aktenmaterials:  die  von  dem  Archivar 
A.  Ehrhard  1661 — 1718  zusammengestellten  Schriftstücke  und  Ma- 
terialien in  den  Missivenbüchern  des  Rats  aus  den  Jahren  1518 — 1523 
und  in  einem  Band  „Consilia  doctorum  variorum/' 

Heidelberg.  Georg  Beer. 

J.  Linneborn,  „Die  kirchliche  Baulast  im  ehemaligen  Fürst- 
bistum Paderborn"  (Paderborn,  F.  Schöningh.  1917.  VIII  u.  299  S.) 
behandelt,  geistützt  auf  Urkunden  und  Akten,  die  der  Verfasser  oft 
genug  zum  Leser  sprechen  läßt  (s.  auch  den  Anhang  mit  dem  Ab- 
druck von  Verzeichnissen  und  wichtigen  Dokumenten  S.  215  ff.),  die 
Geschichte  der  kirchlichen  Baulast  bis  zur  unmittelbaren  Gegenwart. 
Für  die  mittelalterliche  Kirchenrechtsgeschichte  ist  der  erste  Abschnitt 
von  größtem  Interesse,  vor  allem  dank  der  klaren  und  übersichtlichen 
Sonderung  aller  Kirchen  jenes  Gebietes  je  nach  ihrer  Entstehungsart 
und  Rechtsstellung,  die  zugleich  die  Verwaltung  der  Diözese  und  ihrer 
Archidiakonate,  dazu  die  Entfaltung  des  kirchlichen  Lebens  trefflich 
veranschaulicht.  Linneborns  Darlegungen  werden  durch  die  Mitteilung 
zahlreicher  Belege  gestützt,  die  zu  ihrem  Teile  jene  Thesen  über  die 
kirchliche  Baulast  als  unbestreitbar  dartun,  mit  denen  er  seine  Arbeit 
beschließt  (S.  213  f.).  Über  das  Mittelalter  hinaus  führen  die  Erörte- 
rungen über  die  Bedeutung  des  Gegensatzes  zwischen  kirchlicher  und 
politischer  Gemeinde.  Auf  seine  Tragweite  für  die  Entscheidung  der 
Frage,  von  wem  die  kirchliche  Baulast  zu  tragen  sei,  hatte  im  Hin- 
blick auf  die  partikulare  Entwicklung  des  brandenburgischen  Rechtes 
bereits  J.  Niedner .  auf  merksam  gemacht;  für  den  Bereich  des  alten 
Fürstbistums  Paderborn  gelangt  Linneborn  zu  ähnlichen  Ergebnissen, 
d.  h.  zur  Feststellung,  daß  in  ihm  die  Baulast  auf  den  politischen  Ge- 
meinden ruhe,  die  ihrer  aber  durch  Ablösung  an  die  Kirchengemeinden 
sich  zu  entschlagen  imstande  seien.  A.  Werminghoff. 

Die  Schrift  von  W.  Schwinkowski,  Das  Geld-  und  Münzwesen 
Sachsens.  Beiträge  zu  seiner  Geschichte.  Dresden,  Buchdruckerei 
der  Wilhelm  u.  Bertha  v.  Baensch-Stiftung,  1918,  79  S.,  aus  einem 
Vortrag  im  Sachs.  Altertumsverein  erwachsen,  aber  mit  wertvollen 
Beigaben  ausgestattet,  gibt  nach  einer  kurzen  Behandlung  von  Münz- 
recht, Bergregal  und  Münzbetrieb  eine  Übersicht  über  die  Geschichte 
der  meißnisch-sächsischen  Münzsorten  von  den  Brakteaten  Markgraf 
Heinrichs  II.  ab  und  ergänzt  sie  durch  eine  sechsspaltige  Tabelle  über 
den  Münzfuß  1300—1873  (S.  44—69);  eine  zweite  Tabelle  gibt  Auf- 
schluß über  den  Umfang  der  Prägung,  Münzgewinn  und  Silberpreis 
für  die  Zeit  1353 — 1485.  Das  Heft  ist  um  so  dankenswerter,  als  seit 
dem  Werke  von  Klotzsch  1780/81  keine  Gesamtdarstellung  des  so 
wichtigen  sächsischen  Münzwesens  erschienen  ist  und  nun  wohl  auf 


Deutsche  Landschaften.  569 

absehbare  Zeit  hinaus  keine  Aussicht  besteht,  diese  Lücke  ausgefüllt 
zu  sehen.  e.  S. 

Aus  den  Hansischen  Geschichtsblättern  Bd.  24:  Otto  Held  be- 
richtet über  die  beachtenswerten  hansischen  Einheitsbestrebungen  auf 
dem  Gebiet  des  Maß-  und  Gewichtswesens  bis  zum  Jahre  1500.  Fried- 
rich Techen  behandelt  Bürgerrecht  und  Lottacker  zu  Wismar.  Ludwig 
Lahaine  schließt  seine  Arbeit  über  die  Beziehungen  der  Hanse  zu 
Holland  in  den  Jahren  1474—1525  ab.  Er  schildert  die  vergeblichen 
Versuche  Lübecks,  die  Holländer  dem  Stapelzwang  zu  unterwerfen, 
und  die  ebenso  erfolglos  gebliebenen  Bestrebungen,  eine  dauernde 
Beschränkung  der  Sundfahrt  durchzusetzen.  Die  absterbende  Macht 
der  Hanse  genügte  eben  nicht  mehr,  um  den  immer  stärkeren  Wett- 
bewerb Hollands  einzudämmen  und  die  wirtschaftliche  Beherrschung 
der  skandinavischen  Staaten  aufrechtzuhalten. 

Aus  der  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  schleswig-holsteinische 
Geschichte,  Bd.  47:  Richard  Haupt  nimmt  aufs  neue  das  Wort  in 
der  Streitfrage  nach  der  Bedeutung  des  Reliefs  an  der  Peterstüre 
des  Schleswiger  Doms;  er  bezieht  sie  auf  die  Rückführung  des  1138 
gleich  nach  der  Besteigung  des  Bischofsstuhles  von  der  deutsch- 
gesinnten Partei  vertriebenen  Bischofs  Hermann.  G.  Wegemann 
berechnet  die  Volkszahl  Schleswig-Holsteins  seit  dem  Mittelalter; 
genaue  Zahlen  liegen  vor  für  die  Zeit  seit  1803,  für  das  18.  Jahrhundert 
rechnet  der  Verfasser  mit  einer  Unsicherheit  von  1 — 2%,  sie  steigert 
sich  natürlich  mit  dem  zunehmenden  Versiegen  der  Quellen,  je  tiefer 
man  in  die  Vergangenheit  zurückgreift;  für  das  Jahr  600  nimmt  er 
sie  auf  etwa  20%  an.  Für  die  älteren  Zeiten  ergeben  sich  also  nur  An- 
näherungswerte, der  Verfasser  glaubt  aber,  daß  Sonderuntersuchungen 
nach  der  von  ihm  befolgten  Methode  doch  wesentlich  genauere  Er- 
gebnisse liefern  könnten.  Etwas  zuviel  verspricht  der  Titel  der  Ab- 
handlung von  Martin  Rohkohl:  Albert  Suerbeer,  Erzbischof  von 
Livland,  Estland  und  Preußen;  der  Inhalt  erstreckt  sich  nicht  auf  die 
Tätigkeit  Suerbeers  in  dieser  Stellung,  sondern  nur  auf  sein  Verhältnis 
zum  Bistum  Lübeck,  das  er  von  1247  bis  1253  verwaltet  hat.  F.  Ber- 
the au  führt  seine  Darstellung  der  Wirtschaftsgeschichte  des  Klosters 
Preetz  bis  zum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.  Die  Kenntnis  der  Ge- 
schichte der  holsteinischen  Gilden  im  Mittelalter  erweitert  Max  Pap- 
penheim durch  seine  Bemerkungen  zur  ölixdorfer  Gildesatzung. 
H.  Hansen  referiert  über  die  Erörterungen,  die  in  den  schleswigschen 
Ständeversammlungen  der  Jahre  1853—1860  über  die  Kirchen-  und 
Schulsprache  stattgefunden  haben.  Seine  Untersuchungen  zur  Ge- 
schichte der  nordelbischen  Lande  in  der  ersten  Hälfte  des  11.  Jahr- 
hunderts erweitert  Biereye  durch  drei  Abhandlungen  über  das  Deutsche 
Reich  und  Dänemark  im  11.  Jahrhundert,  das  Bistum  Hamburg-Bremen 

Historische  Zeitschrift  020.  Bd.)  %.  Folge  24.  Bd.  37 


570  Notizen  und  Nachrichten. 

und  die  dänische  Kirche  bis  zum  Jahre  1065,  und  Holstein  und  das 
Bistum  Oldenburg  vom  Jahre  1000—1043. 

Aus  Bd.  48  derselben  Zeitschrift:  Unter  dem  Titel  „Ein  Gang 
durch  das  Gewerbe  unserer  Vergangenheit"  gibt  Paul  v.  Hedemann- 
Heespen  einen  Überblick  über  die  bisher  im  Druck  vorliegenden 
Materialien  zur  Geschichte  des  schleswig-holsteinischen  Gewerbes. 
F.  Bertheau  behandelt  die  Reformation  des  Klosters  Preetz.  Ludwig 
Andresen  gibt  ein  Verzeichnis  der  landesherrlichen  Oberbeamten 
in  Tondern  vom  14.  Jahrhundert  bis  1865.  Harry  Schmidt  be- 
schäftigt sich  mit  den  bildlichen  Darstellungen  des  Kanzlers  Johann 
Adolf  von  Kielmannseck,  der  um  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  der 
einflußreichste  Mann  am  Hofe  der  Gottorffer  Herzöge  gewesen  ist, 
dann  aber  sein  Leben  in  dänischer  Gefangenschaft  beschlossen  hat. 
Verwaltungsgeschichtlich  bedeutsam  ist  die  Arbeit  von  Hermann 
Schmidt  über  die  Glückstädter  Regierungs-  und  Justizkanzlei  des 
königlichen  Anteils  in  den  Herzogtümern  Schleswig  und  Holstein 
1648—1774. 

Neues  Material  zur  Geschichte  der  schleswig-holsteinischen  Frage 
in  den  Jahren  1848 — 1850  bietet  der  Nachlaß  des  Generals  Eduard 
von  Bonin,  des  Nachfolgers  Wrangeis  als  Oberbefehlshaber  der  Bundes- 
truppen in  Schleswig-Holstein.  Die  auf  diese  Tätigkeit  bezüglichen 
Teile  veröffentlicht  Reimer  Hansen  in  den  Quellen  und  Forschungen 
zur  Geschichte  Schleswig-Holsteins,  Bd.  6.  An  der  gleichen  Stelle  beginnt 
Harry  Schmidt  mit  dem  Abdruck  des  um  das  Jahr  1740  von  Gerd 
V.  Rinteln  und  Leonhard  Plovier  angefertigten  Auszugs  aus  den 
Magistratsprotokollen  der  Stadt  Friedrichstadt  vom  30.  Jan.  1623 
bis  14.  Sept.  1712,  also  während  der  ersten  90  Jahre  des  Bestehens 
dieser  holländischen  Gründung.  Der  Auszug  stellt  eine  ergiebige  Quelle 
nicht  nur  für  die  Lokalgeschichte  von  Friedrichstadt  dar,  sondern 
überhaupt  für  die  schleswig-holsteinische  Landesgeschichte.  Der  vor- 
liegende erste  Teil  enthält  den  Stadt-  und  landesgeschichtlichen  Stoff. 

In  der  Zeitschrift  des  Vereins  für  Geschichte  Schlesiens  Bd.  52 
gibt  Paul  Knötel,  indem  er  die  Jakobskirche  als  alte  Pfarrkirche 
erweist,  Aufschlüsse  über  die  räumliche  Entwicklung  der  Stadt 
Ratibor.  Martin  Feist  beschreibt  das  Leben  und  die  Regententätig- 
keit von  Sylvius  Nimrod,  dem  ersten  Herzog  von  Öls  aus  dem  württem- 
bergischen Hause.  Hingewiesen  sei  schließlich  auf  die  Fortsetzung 
der  an  dieser  Stelle  schon  erwähnten  Arbeit  von  Julius  Krebs:  Aus 
der  Vergangenheit  des  Reichensteiner  Bergbaus  (1540 — 1811),  auf 
die  Zusammenstellung  der  Literatur  zur  schlesischen  Geschichte  für 
das  Jahr  1917  durch  Heinrich  Nentwig  und  auf  die  von  Artur  König 
und  Paul  Bretschneider  verfaßten  Nachrufe  auf  den  um  die  schle- 
sische  Geschichte  hochverdienten  Joseph  Jungnitz. 


Vermischtes.  571 

Von  den  in  der  Hist.  Zeitschr.  wiederholt  genannten  (vgl.  119, 
321  f.  und  oben  S.373  u.  388f.)  Quellenbüchern  „Aus  Österreichs  Ver- 
gangenheit" (Leipzig,  A.  Haäse)  seien  hier  kurz  erwähnt  die  Bändchen  8: 
„Römerzeit  und  Völkerwanderung  auf  österreichischem  Boden"  von 
J.  Weiß  (Auswahl  aus  Schriftstellern,  Inschriften  und  Urkunden  in 
deutscher  Übersetzung);  14:  „Das  Siedlungswesen  der  Deutschen  in 
Mähren  und  Schlesien  bis  zum  14.  Jahrhundert"  von  Hand  Reutter 
(in  der  Einleitung  bekennt  sich  Reutter  zu  der  Auffassung  von  Bret- 
holz,  daß  sich  die  altgermanische  Siedlung  im  ganzen  behauptet,  eine 
Masseneinwanderung  und  Kolonisation  Deutscher  aus  dem  Auslande 
nie  stattgefunden  habe);  19:  „Die  österreichischen  Alpenstraßen  in 
früheren  Jahrhunderten"  von  Anna  Frey  (vornehmlich  Auszüge 
aus  Reisebüchern  vom  Ende  des  16.  bis  zum  19.  Jahrhundert);  20: 
„Die  Entstehung  der  österreichisch-ungarischen  Monarchie"  von  Martin 
Wutte  (Hauptteil:  Urkunden  über  die  Vereinigung  der  österreichischen, 
böhmischen,  ungarischen  Länder  und  über  Erweiterung  der  Grenzen 
bis  zu  dem  Vertrag  mit  der  Pforte  1909). 

Neue  Bücher:  Walter  Köhler,  Armenpflege  und  Wohltätigkeit 
in  Zürich  zur  Zeit  Ulrich  Zwingiis.  (Zürich,  Beer  &  Cie.  3,90  M.)  — 
Keussen,  Köln  im  Mittelalter.  (Bonn,  Hanstein.  12  M.)  —  Jürgens, 
Die  Lande  Braunschweig  und  Lüneburg.  (Hannover,  Gersbach. 
2,50  M.)  —  Laufköter,  Die  wirtschaftliche  Lage  der  ehemaligen 
braunschweigischen  Zisterzienserklöster  Michaelstein,  Mariental  und 
Riddagshausen  bis  zum  Jahre  1300.  1.  Tl.  (Hildesheim,  Lax.  7  M.) 
■ —  Fehling,  Marksteine  lübischer  Geschichte.  (Berlin,  Curtius.  5  M.) 
—  Benary,  Zur  Geschichte  der  Stadt  und  Universität  Erfurt  am 
Ausgang  des  Mittelalters.  Hrsg.  von  A.  Overmann.  (Gotha,  Perthes. 
15  M.)  —  Festgabe  des  Vereins  für  Geschichte  Schlesiens  zum  70.  Ge- 
burtstage seines  Ehrenmitgliedes  Oberbürgermeisters  a.  D.  Dr.  Georg 
Bender  am  31.  Dez.  1918.    (Breslau,  Hirt.    5,20  M.) 

Vermischtes. 

Historische  Kommission  für  die  Provinz  Sachsen  und 
für  Anhalt.  Der  6.  Bd.  der  „Kirchenvisitationsprotokolle  des  Kur- 
kreises" (Ephorien  Schlieben  und  Gommern)  von  Pallas  ist  heraus- 
gegeben. Das  Register  sowie  die  Übersichtskarte  der  10  Ephorien  und 
der  rund  150  Parochien  der  Provinz  Sachsen  von  Reis  che  1  sind  in 
Arbeit.  Im  Drucke  sind  die  „Stadtbücher  von  Neuhaldensleben" 
(Sorgenfrey),  das  „Urkundenbuch  des  Hochstifts  Naumburg"  Bd.  1 
(bis  1304),  bearbeitet  von  Rosenfeld  (f).  Der  Drucklegung  stehen 
nahe:  „Goslarer  Urkundenbuch"  Bd.  5  (Wiederhold);  die  „Brotuff- 
schen  Schriften  über  das  Peterskloster  in  Merseburg"  (Möllenberg); 

37» 


572  Notizen  und  Nachrichten. 

„Urkundenbuch  der  Geschichte  der  Universisät  Wittenberg"  1  (Frie- 
densburg); „Kirchenvisitations-Protokolle  von  Anhalt"  (Heine). 
Das  Neujahrsblatt  für  das  Jahr  1918  von  Mollen berg,  „Aus  dem 
geistigen  Leben  der  Stadt  Magdeburg  im  Mittelalter"  ist  zur  Ausgabe 
bereit.  Folgende  Abhandlungen  sind  in  Aussicht  genommen:  für  1919 
,,Die  sozialen  und  religiösen  Wirren  der  Stadt  Mühlhausen  1523 — 1525" 
von  Bemmann;für  1920  „Bilder  aus  der  inneren  Universitätsgeschichte 
Wittenbergs"  von  Friedens  bürg;  für  1921  „Die  Anfänge  des  Christen- 
tums zwischen  Saale  und  Unstrut"  von  Voigt.  Da  die  Provinzialdenk- 
mälerkommission  die  Inventarisierung  der  Bau-  und  Kunstdenkmäler 
übernommen  hat,  wird  die  Historische  Kommission  nur  noch  die  Be- 
schreibung für  die  Stadt  Quedlinburg  durch  Brinkmann  in  der  bis- 
herigen Weise  herausgeben.  —  Die  geschichtliche  Karte  des  Kreises 
Ballenstedt  ist  fast  fertig.  Infolge  forsgesetzter  Schwierigkeiten  in 
der  Druckerei  ist  kein  Druckbogen  der  Wüstungen  der  Kreise  Bitter- 
feld und  Delitzsch  gesetzt  worden,  so  daß  auch  die  fertige  Karte  nicht 
ausgegeben  werden  konnte.  Die  Karte  der  Wüstungen  der  Kreise 
Jerichow  I  und  Jerichow  II  soll  noch  im  Laufe  des  Jahres  ausgegeben 
werden.  Die  Grundkarten  Lenzen-Wittenberge  239/240,  Klötze-Öbis- 
felde  264/289  und  Nordhausen-Bleicherode  361/386  sind  fertig  gedruckt. 

Georg  Simmel  (geb.  1858  in  Berlin)  ist  am  28.  September  1918 
in  Straßburg  gestorben.  Wir  erinnern  hier  nur  an  seine  „Probleme 
der  Geschichtsphilosophie"  (1892,  neu  bearbeitet  1905,  3.  Aufl.  1907) 
und  verweisen  im  übrigen  auf  die  eindringende  Darstellung  seiner 
philosophischen  Entwicklung,  die  M.  Frischeisen-Köhler  in  den 
Kant-Studien  24  (1919),  Heft  1/2,  S.  1—51  veröffentlicht  hat.  Auch 
die  Charakteristik  verdient  gelesen  zu  werden,  die  K[roner]  von 
dem  Denker  Simmel  im  Anschlüsse  an  dessen  letzte  Schrift  „Der 
Konflikt  der  modernen  Kultur"  mit  wenigen  Sätzen  gibt  (Logos  8 
[1919],   Heft  1,  S.  99  f.). 

Warme  Worte  der  Erinnerung  an  den  um  die  mitteralterliche 
Stadtgeschichte  verdienten  Johannes  Lahusen  (geb.  1884  in  Bremen, 
gefallen  am  Kemmelberg  7.  Mai  1918)  veröffentlicht  Oswald  Redlich 
in  den  Mitt.  d.    Instit.  f.  österr.  Geschichtsforsch.   38,   Heft  3. 

G.  Seeligers  Nachruf  auf  Lamprecht  (Histor.  Viertel jahrschrift 
19  [1919],  Heft  1,  S.  133—144)  bietet  eine  kritische  Auseinander- 
setzung mit  der  menschlichen  und  wissenschaftlichen  Persönlichkeit 
Lamprechts. 


SEP  24  1968 


H7^ 
Bd. 120 


Historische  Zeitschrift 


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